[][][][][][][[I]]
DIE
PREUSSISCHE EXPEDITION

NACH
OST-ASIEN.

DRITTER BAND.

[[II]][[III]]
DIE
PREUSSISCHE EXPEDITION

NACH
OST-ASIEN.

NACH AMTLICHEN QUELLEN.
DRITTER BAND
.

MIT I KARTE

[figure]
BERLIN: MDCCCLXXIII.
VERLAG DER KÖNIGLICHEN GEHEIMEN OBER-HOFBUCHDRUCKEREI
(R. v. DECKER).

[[IV]]
[[V]]

VORWORT.


[[VI]][[VII]]

Die Vollendung dieses Werkes und der »Ansichten aus
Japan, China und Siam« musste sich nothwendig lange
verzögern, weil gegen meine schweren Bedenken das Ganze,
nicht nur die in meinen Beruf schlagende künstlerische,
sondern auch die schriftstellerische Arbeit mir allein über-
tragen wurde. Die Herstellung von sechszig grossen Blättern
für das Folio-Werk und achtundvierzig kleineren für das
Octav-Werk erforderte beträchtliche Zeit, wegen des fremd-
artigen Details, ohne dessen eingehende Charakteristik Dar-
stellungen exotischer Gegenstände wenig Werth haben, und
wegen der für die meisten Blätter gewählten Technik der
Federzeichnung, welche allein die Sicherheit der photo-
lithographischen Facsimilirung verbürgte. Die beiden letzten
Hefte des Folio-Werkes sollen noch im Laufe des Winters
erscheinen; der Druck des vierten, letzten Bandes dieses
Octav-Werkes kann schnell gefördert und im Frühjahr
vollendet werden.


Die schriftstellerische Arbeit, die mich Jahre lang meinem
Beruf entfremdete, hätte ich bei richtiger Würdigung der
[VIII]Vorwort.
Schwierigkeiten kaum übernommen. Erst bei der Redaction
wurde mir klar, dass mit der blossen Schilderung unserer
Erlebnisse in Ost-Asien wenig gethan sei. Der Abschluss
der preussischen Verträge mit Japan und China ist eine
kurze Episode in der Entwickelung des Verkehrs mit diesen
Ländern, eine einzelne Scene aus einem inhaltreichen Drama,
deren Vorgänge Bedeutung und Leben nur als Theile des
Ganzen gewinnen. Die Thätigkeit des Grafen zu Eulenburg
in beiden Ländern fiel in merkwürdige Perioden dieser Ent-
wickelung. In Japan war es die Zeit der blutigsten An-
schläge gegen die Fremden und heftiger politischer Gährung,
welche, damals in tiefes Dunkel gehüllt, die bald nachher
erfolgte Umwälzung einleitete. In China war die angemaasste
Oberhoheit des Himmelssohnes über alle Reiche des Erden-
rundes von den Westmächten eben zum ersten Mal äusser-
lich gebrochen worden, im Bewusstsein des Kaisers und
seiner vertrauten Räthe aber keineswegs so vollkommen
erstorben, dass sie sich nicht gegen den preussischen Ver-
trag noch in heftigen Paroxysmen gewehrt hätte. Die Ge-
nehmigung des Vertrages war der letzte amtliche Act des
Kaisers Hien-fuṅ und wurde unter sonderbaren Umständen
ertheilt. Unter den Vertragsverhandlungen bereitete sich
der Staatsstreich vor, welcher gleich nach unserer Abreise
aus Pe-kiṅ die fremdenfeindlichen Grossen beseitigte und das
Fortbestehen der Gesandtschaften in der Hauptstadt mög-
lich machte. Das Alles zu vollem Verständniss zu bringen,
bedurfte es einer Darstellung der ganzen Entwickelung des
Fremdenverkehrs, der Verträge und Kriege mit jenen
[IX]Vorwort.
Ländern. Im Zusammenhang und mit einiger Gründlichkeit
ist dieser Stoff niemals behandelt worden; selbst die Vor-
arbeiten sind dürftig.


Die Geschichte des Fremdenverkehrs mit China, das
wichtigste Stück dieses Bandes, machte grosse Schwierig-
keit. Diese Arbeit ist in der Form keineswegs abgerundet;
sie wäre kürzer und klarer geworden, wenn ich sie auf
einige Monate fortgelegt, dann nochmals durchgearbeitet
hätte, was weder den Wünschen der Königlichen Regierung,
noch meiner Neigung entsprach. So möge denn der Leser
sich durcharbeiten. Die Substanz ist aus zuverlässigen
Quellen geschöpft; für die letzten ereignissreichen zwanzig
Jahre boten die in den Archiven zu Kan-ton, im Sommer-
palast bei Pe-kiṅ und an anderen Orten erbeuteten chine-
sischen Documente, deren grösster Theil bis jetzt nur in
den Publicationen des englischen Parlamentes abgedruckt
ist, ein reiches Material. Des Chinesischen unkundig musste
ich die von den bewährtesten englischen Dolmetschern ge-
lieferten Uebersetzungen benutzen, die ich gewissenhaft
wiedergab. Alle Citate stammen aus unzweifelhaft echten
Documenten. — Für den Tae-piṅ-Aufstand, der einen
wesentlichen Theil dieser merkwürdigen Entwickelung bil-
det, hielt ich mich an die zuverlässigen Werke von Meadows,
Lindesay Brine und Andrew Wilson. Die ersten Acte dieses
Dramas enthält der einleitende Theil, die weitere Entwicke-
lung während unserer Anwesenheit in China der Reise-
bericht, und das Ende ein Anhang am Schluss des vierten
Bandes.


[X]Vorwort.

Fehler enthält der China behandelnde Theil gewiss so
gut wie der japanische, doch glaube ich im Wesentlichen
die Wahrheit berichtet zu haben. Ich bin mir bewusst,
dem Stoff unpartheiisch, ohne vorgefasste Meinung gegen-
übergestanden, und keine Mühe gespart zu haben, bin mir
aber eben so klar bewusst, in der historischen Forschung,
— wie in der Behandlung der deutschen Sprache, — nur
ein Dilettant zu sein.


Die Würden und Titel der chinesischen Staatsdiener
gab ich nach den englischen Uebersetzungen wieder, die
ungefähr eben so treu sein mögen, wie Rangbezeichnungen,
aus antiken Sprachen in moderne übersetzt.


Die chinesischen und die siamesischen Namen in diesen
beiden Bänden und auf den Karten sind, so weit sie nicht
im Deutschen feste Schreibart angenommen haben, in Pro-
fessor Lepsius’ Alphabet gedruckt. In vielen Fällen kann
ich aber nicht dafür bürgen, dass die gegebene Aussprache
auch nur annähernd die richtige ist. Die meisten im ein-
leitenden Abschnitt vorkommenden Namen hörte ich nie-
mals nennen, sondern kenne sie nur aus englischen, theils
auch aus deutschen Büchern. Oft ist in verschiedenen
Werken die Schreibart so grundverschieden, dass nur der
Zusammenhang die Identität der abweichenden Versionen
erkennen lässt. Die feinen Nuancen der Aussprache, für
welche Professor Lepsius diakritische Zeichen giebt, sind nur
Sinologen geläufig.


Die Uebersichtskarten in diesem und dem letzten Bande
sind lediglich zu Orientirung des Lesers bestimmt und
[XI]Vorwort.
machen keinen anderen Anspruch; dem genannten Zweck
sind alle anderen Rücksichten geopfert. Für China wurden
die Karten der neuesten englischen Werke benutzt, für
Siam die Karte des Herrn Professor Kiepert in Dr. Bastian’s
Reisewerk.


Die Illustrationen zum Reisebericht über China sollen
mit den auf Siam bezüglichen dem 4. Bande beigegeben
werden. Ein Register zu diesen beiden Bänden und eine
Liste der benutzten Werke folgen am Schlusse des vierten
Bandes.


Die Fahrten der Thetis und der Elbe sind in diesen
Bänden nicht beschrieben worden. Die interessante Reise
der Thetis, seit sie Shang-hae verliess bis zu ihrem Eintreffen
vor der Mündung des Menam verdiente erzählt zu werden.
Elbe lief nach dem Aufenthalt in Japan nur Puncte an,
welche auch Arkona besuchte; die persönlichen Erlebnisse
und Anschauungen ihres Commandanten sind aber in dessen
eigenem Werke niedergelegt.


Berlin, im Januar 1873.


A. Berg.


[[XII]][[XIII]]

INHALT.


  • CHINA’S BEZIEHUNGEN ZUM WESTEN BIS 1860.
  • Seite
  • I. Die älteren Berührungen und die Handelsbeziehungen bis zum Er-
    löschen des Monopols der englisch-ostindischen Compagnie 1834. 3
  • II. Der Opium-Handel und der Opium-Krieg. Bis 1842. 56
  • III. Die Zustände nach dem Frieden von Nan-kiṅ. Bis 1849. 130
  • IV. Die Tae-piṅ-Bewegung. Bis 1857. 151
  • V. Der Lorcha-Krieg. Bis 1858. 209
  • VI. Die Operationen der Tae-piṅ. Von 1857 bis 1860. 263
  • VII. Die Abweisung der Gesandten bei Ta-ku 1859 und der englisch-
    französische Feldzug gegen Pe-kiṅ 1860 285
  • REISEBERICHT.
    XIII. Shang-hae. Vom 7. März bis 22. April 1861. 375

[[XIV]][[XV]]

RECHTSCHREIBUNG
UND
AUSSPRACHE DER AUSSEREUROPÄISCHEN WORTE UND NAMEN.


Alle in dieser Arbeit vorkommenden aussereuropäischen Worte und Namen
sind, sofern dieselben nicht schon in europäische Sprachen übergegangen sind und durch
den Gebrauch eine bestimmte Orthographie angenommen haben, ihrem Klange nach
vermittelst der von Professor Lepsius in seinem »Standard Alphabet« (2. Ausgabe,
Berlin-London 1863) aufgestellten Buchstaben und diakritischen Zeichen ausgedrückt.
Um diese von den gewöhnlichen Lettern des Textes zu unterscheiden und als Schrift-
zeichen des Standard Alphabet kenntlich zu machen, werden sie als Capitälchen
gedruckt. Das folgende Verzeichniss nennt die Aussprache und Bedeutung der in
diesen Bänden vorkommenden Buchstaben und Zeichen.


Die Vocale haben, sofern sie nicht mit diakritischen Zeichen versehen sind,
den im Deutschen gewöhnlichen Klang. Länge und Kürze werden durch
die gebräuchlichen Zeichen - und ⏑ ausgedrückt, die getrennte Aussprache
zweier Vocale eines Diphthongen durch das Trema ¨. Unter den Consonanten
haben die Buchstaben B, D, F, G, H, K, L, M, N, P, T dieselbe Aus-
sprache wie im Deutschen.


R lautet wie das Zungen-R des Englischen und Italienischen (very, rabbia);
S wie das scharfe französische S (savoir, sûr);
V wie das V des Englischen und der romanischen Sprachen (Vision, Verdad, Voce);
W wie das englische W (water, William);
Z wie das englische und französische Z (zeal, zèle);
Ṅ lautet wie ng in Enge, Strang;
Ṙ wie das Gaumen-R deutscher und französischer Dialecte;
Š wie das deutsche Sch (Schuld);
Ž wie das französische J (jardin);
˂J wie das englische J (Joy).


[[XVI]]

CHINA’S BEZIEHUNGEN
ZUM
WESTEN
BIS 1860.


III. 1
[[2]][[3]]

I.
DIE ÄLTEREN BERÜHRUNGEN UND DIE HANDELSBEZIEHUNGEN BIS
ZUM ERLÖSCHEN DES MONOPOLES DER ENGLISCH-OSTINDISCHEN
COMPAGNIE 1834.


China’s Berührungen mit der antiken Welt waren weder unmittel-
bare noch folgenreiche; die Nachrichten darüber sind dürftig und
kaum der Aufzählung werth. Arrian spricht von Thinae oder
Sinae, die aus dem fernsten Asien Seide gebracht hätten. Nach
chinesischen Berichten schickte Ho-ti, ein Kaiser der Han-
Dynastie, 94 n. Chr. Gesandte nach dem Westen, und unter
Trajan soll ein chinesisches Heer, Tartaren verfolgend, bis an das
kaspische Meer gelangt sein. — Der zunehmende Gebrauch von
Seide im zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung lässt auf
Handelsverkehr zwischen dem römischen Reiche und China
schliessen, der aber wohl kaum direct betrieben wurde. Marcus
Antoninus
schickte 161 eine Gesandtschaft nach China, über deren
Schicksale man keine Nachrichten hat. — Constatirt ist eine frühe
hebräische Einwanderung in das chinesische Reich; die jüdische
Gemeinde von Kae-fuṅ-fu wurde im 17. und 18. Jahrhundert von
Europäern besucht und bestand noch vor wenigen Jahren 1).


1*
[4]Araber in China.

Erst die Araber brachten einige Kenntniss von China nach
dem Westen. Renaudot hat die Berichte zweier arabischen Reisen-
den aus den Jahren 850 und 877 übersetzt, welche nicht nur zu
denen des Marco Polo, sondern in vielen Stücken auch auf die
heutigen Zustände passen. Ihr »Kan-fu« ist wahrscheinlich Kan-ton,
wo noch jetzt eine sehr alte Moschee steht. »Die Stadt liegt an
einem grossen Flusse, einige Tagereisen von seiner Mündung, so
dass das Wasser dort süss ist.« Die Erzählungen von häufigen
Feuersbrünsten, von Verzögerungen im Schiffsverkehr, von der un-
redlichen Behandlung der fremden Kaufleute und Schiffseigner, die,
weil das Uebel einmal eingerissen ist, jede Unbilde und Bedrückung
leiden müssen, erinnern lebhaft an jüngst vergangene Zeiten. Die
Mündung des Perl-Flusses nennen die Araber das »Thor von China«,
wahrscheinlich eine Uebersetzung von Hu-men, das die Portugiesen
mit Bocca Tigris wiedergaben. — Die Reisenden erwähnen auch
die Ernährung des Volkes aus öffentlichen Speichern bei Hungers-
noth, die Salzsteuer, welche noch heute besteht, den Bambus als
Prügelwerkzeug; sie beschreiben den Gebrauch des Thees, das chi-
nesische Kupfergeld, Porcelan, den Reisbranntwein, die Anstellung
öffentlicher Lehrer, den buddistischen Götzendienst und die Un-
wissenheit der Chinesen in der Astronomie, in welcher die Araber
ihre ersten Lehrer wurden.


Aus diesen und anderen Berichten geht deutlich hervor, dass
die Araber lange vor der mongolisch-tartarischen Eroberung See-
handel nach China trieben. Ibn Batuta, welcher bald nach der-
selben das Reich der Mitte besuchte, gedenkt u. a. des von den
Mongolen eingeführten Papiergeldes und seiner Entwerthung durch
übermässige Ausgabe, aus welcher die Regierung unredlichen Ge-
winn gezogen habe. Chinesische Dschunken segelten damals bis
Calcutta. — Der Islam fand besonders im 13. Jahrhundert in China
starke Verbreitung; seine Bekenner haben dort ohne wesentliche
Störung bis auf den heutigen Tag freie Religionsübung genossen,
und wurden häufig zu wichtigen Staatsämtern befördert; in den
1)
[5]Die ersten christlichen Gesandten.
nordwestlichen Provinzen bilden sie einen starken Bruchtheil der
Bevölkerung.


Als erster christlicher Gesandter kam 1246 der Mönch Gio-
vanni Carpini
, von Papst Innocenz IV. abgeschickt, nach China.
Er begab sich durch Russland zunächst zu Baatu-Khan, der an
der Wolga lagerte, und wurde von da nach dem Hofe des Gross-
Khans der Mongolen geführt, welcher ihn gütig aufnahm und mit
einem huldreichen Schreiben an den Papst entliess. Carpini be-
schreibt die ungeheure Anhäufung von Schätzen bei den Mongolen-
fürsten; er freut sich über die Aehnlichkeit des buddistischen mit
dem römischen Ritus, und zieht daraus den Schluss, dass jene
Asiaten entweder schon Christen seien, oder bald werden müssten
— Nestorianische Gemeinden scheinen damals über weite Strecken
des nord-östlichen Asien verbreitet gewesen zu sein 2). Der Mönch
Rubruquis, den Ludwig der Heilige 1253, während seines Kreuz-
zuges, zu dem Mongolen-Khan sandte 3), spricht von einem nesto-
rianischen Bischof in Sin-gan und zehn Kirchen in verschiedenen
Städten. Auch er nahm den Weg über Russland und fand auf der
ganzen Reise viele Europäer als Sclaven und Handwerker unter den
Mongolen. Die auffallende Uebereinstimmung des buddistischen
Lama-Cultus mit den Gebräuchen der römischen Kirche liess
Rubruquis vermuthen, dass ersterer aus einem entstellten christlichen
Gottesdienst, vielleicht dem nestorianischen, abgeleitet sei. — Um
dieselbe Zeit ging der armenische König Haïton nach China, um
sein Reich dem Mongolen-Khan zu übergeben; er berichtet gleich-
falls von zahlreichen Christen, die er auf der Reise traf. Marco
Polo
fand nestorianische Gemeinden in Šen-si, damals einer der
blühendsten Provinzen von China, und in einer Stadt am Yaṅ-tse-
kiaṅ
, wo ein nestorianischer Christ, vom Kaiser auf drei Jahre mit
der Regierung betraut, 1274 mehrere Kirchen gebaut hatte.


Die Geschichte des Marco Polo ist bekannt. Zwei venetia-
nische Edele, Matthias und Nicolas Polo, gelangten an den Hof des
Kublai-Khan, der sie freundlich aufnahm und bei ihrer Abreise zu
[6]Marco Polo. Corvino.
baldiger Rückkehr nach China aufforderte. Schon 1274 erschienen
sie dort, begleitet vom jungen Marco, mit einem Schreiben Papst
Gregor X.
an den Mongolen-Kaiser. Marco gewann des Herrschers
Gunst, blieb siebzehn Jahre in dessen Dienst und erhielt nur schwer
die Erlaubniss zur Heimkehr. Was er von den Schätzen des
grossen Reiches und der Pracht des Mongolenhofes berichtet, trug
ihm bei den Venetianern den Namen Messer Marco Millione ein.
Neuere Erfahrungen haben die Glaubwürdigkeit seiner Erzählung in
besseres Licht gestellt.


Dem Aufenthalte des Marco Polo folgte unmittelbar der des
Giovanni de Corvino, welcher, von Rom gesandt, 1288 in Pe-kiṅ
erschien und gütig aufgenommen wurde. Trotz allen Wider-
standes der Nestorianer durfte er eine Kirche bauen, und soll
einige Tausend Chinesen getauft, auch viele Kinder in der lateini-
schen Sprache und den Glaubenslehren unterrichtet haben. Cle-
mens V.
machte ihn zum Bischof von Kam-ba-lu, — so hiess Pe-kiṅ
bei den Tartaren, — und sandte ihm einige Priester zur Unter-
stützung. Einen würdigen Nachfolger hat er nicht gefunden; nach
seinem Tode ging die Mission ein oder gerieth in Vergessenheit.


Das 14. und 15. Jahrhundert bilden, soweit die Kenntniss
des Verfassers reicht, in den Beziehungen des Westens zum chi-
nesischen Reich eine Lücke; es ist, als wäre China durch die Por-
tugiesen erst wieder entdeckt worden. Die Nachrichten über deren
erstes Auftreten und über das der Niederländer und Engländer sind
dunkel und verworren; die Abenteurer mochten weder den Wunsch
noch die Ehrlichkeit haben, die Wahrheit zu sagen. Sehr bezeichnend
ist die Thatsache, dass, — während in früheren Zeitaltern die Chi-
nesen durchaus keinen Widerwillen gegen Fremde bewiesen und
den Bekehrungsversuchen christlicher Missionare kaum Hindernisse
bereiteten, während ihre classischen Schriften die Wohlthaten des
Handels und den Nutzen preisen, welcher den Völkern aus dem
Austausch ihrer Ideen und Erzeugnisse erwachse, — seit dem Er-
scheinen der seefahrenden Nationen eine ausgesprochene Abneigung,
ja Feindschaft und Verachtung gegen dieselben hervortrat. Sie
steigerte sich erheblich seit der Invasion der Mandschu, deren Un-
sicherheit auf dem chinesischen Thron ihren Argwohn gegen die
Fremden genährt haben mag; begründet war sie aber wesentlich
im Charakter und Auftreten der Seefahrer und der Missionare.
Erstere gehörten grossentheils zum Auswurf ihrer Heimath; selbst
[7]Die Portugiesen.
die besseren scheinen wilde Abenteurer gewesen zu sein, denen
der Ruhm tollkühner Anschläge weit mehr galt als Unbescholtenheit;
die Menge der Ankömmlinge aber zeigte sich knechtisch und krie-
chend gegen überlegene Macht, zu jedem Opfer der Ehre bereit,
wo es ihr Vortheil erheischte; brutal, gewaltsam, treulos und jeden
Verbrechens fähig, wo sie als die Stärkeren dadurch Gewinn erzielen
konnten. Kein Wunder, wenn die Chinesen sie als feige Banditen
ansahen und behandelten.


Als bald nach den Portugiesen die Holländer und die Eng-
länder erschienen, machten die Fehden und die oft in Gewaltthat
ausartende Eifersucht dieser in Tracht und Antlitz einander so
ähnlichen Europäer den schlechtesten Eindruck; alle Fremden galten
für Hallunken, die keine andere Leidenschaft hätten als schranken-
lose Gewinnsucht, und kein Mittel verschmähten, das zur Befriedi-
gung ihrer Habgier führte. Die eifersüchtigen Ränke unter den
verschiedenen Mönchsorden, welche in China auftraten, die leiden-
schaftliche Erbitterung und parteiliche Eitelkeit, mit welcher sie
ihre Lehrstreitigkeiten führten, die widersprechenden Entscheidun-
gen der Päpste und deren Eingriffe in die Hoheitsrechte der chi-
nesischen Kaiser brachten dann auch den Christenglauben in Miss-
credit bei den Machthabern. Geringschätzung, Argwohn und syste-
matische Ausschliessung waren die natürlichen Folgen.


Der früheste Verkehr der seefahrenden Nationen mit China
soll hier nur in allgemeinen Umrissen gezeichnet werden; eine
kritische Geschichte desselben liegt ausser dem Bereiche dieser
Blätter. Für die späteren Perioden hat man nur mit den Resultaten
dieses Abschnittes zu rechnen, die klarer zu Tage liegen als die
Ereignisse.


Die ersten Seefahrten der Portugiesen nach China folgten
bald auf die Gründung von Malacca. Von da sandte Alfons Albu-
querque
1516 den Rafael Perestrello in einer chinesischen Dschunke
ab, welche nach der Mündung des Tšu-kiaṅ4) segelte. Perestrello
scheint freundlich behandelt und nach Malacca zurückgekehrt zu
sein, wo ein Geschwader von acht Schiffen ausgerüstet wurde, das
unter Perez de Andrade 1517 vor dem Perl-Flusse erschien. Die
[8]Die Andrade. Pirez. Alfons de Mela.
portugiesischen Fahrzeuge wurden von Kriegsdschunken umringt
und scharf bewacht; ihr Befehlshaber erlangte aber durch Be-
stechung und verständiges Betragen die Erlaubniss, mit zwei Schiffen
nach Kan-ton hinaufzugehen, während die übrigen bei der Insel
Hiaṅ-šan zurückblieben. Andrade machte in Kan-ton gute Geschäfte
und betrug sich untadelhaft, erhielt aber plötzlich die Nachricht,
dass sein Geschwader vor der Flussmündung von Piraten bedrängt
sei und eilte zurück. — Der Ausgang des Unternehmens war günstig:
mehrere Schiffe führten reiche Frachten nach Malacca, andere
gingen mit Dschunken der Liu-kiu-Inseln nach der Küste von
Mittel-China, wo Niederlassungen in Tsiuen-tsin, Niṅ-po und auf
Tšu-san gegründet wurden. Die portugiesischen Ansiedler trieben
dort eine Reihe von Jahren einträglichen Handel nach den benach-
barten Küsten und nach Japan, bis die Provinzial-Regierung sie
wegen schlechter Führung verbannte.


Bald nach der Reise des Perez de Andrade kam dessen Bruder
Simon mit einem Geschwader nach China und landete auf der Insel
Hiaṅ-šan. Er trat gewaltsam gegen die Landesbewohner auf und
suchte sich auf der Insel festzusetzen, wurde aber mit Gewalt
vertrieben. Die Portugiesen verlegten sich nun auf Seeraub
und brachten durch wilde Grausamkeit ihr Geschlecht in den übel-
sten Ruf. Schlimme Folgen hatte die Ruchlosigkeit des Simon
Andrade
zunächst für den ersten portugiesischen Gesandten, Thomas
Pirez
, welcher 1520 von Kan-ton nach Pe-kiṅ reiste, um vom Kaiser
die Erlaubniss zum Bau von Factoreien zu erwirken. Bei seiner
Ankunft war man dort schon von den Missethaten des Andrade
unterrichtet; Pirez wurde nach vielen Demüthigungen unter strenger
Bewachung wieder nach Kan-ton geschleppt, dort misshandelt, ein-
gekerkert und muthmaasslich hingerichtet. — Die Provinzial-Regie-
rung scheint schon damals auf jeden directen Verkehr der Europäer
mit dem Kaiserhofe eifersüchtig gewesen zu sein.


Alfons de Mela, der bald nach Simon Andrade und ohne
von dessen Gewaltthaten zu wissen, mit acht Schiffen nach dem
Perl-Flusse kam, wurde von vornherein feindselig behandelt und
verlor viele Leute. Nachher scheinen die Beziehungen sich fried-
licher gestaltet zu haben. Die neuen Ankömmlinge mussten durch
Unterwürfigkeit gut machen, was die wilde Rohheit ihrer Vorgänger
verdarb; sie würgten jede Demüthigung hinunter, um die Vor-
theile des Handels zu geniessen. Ueber die Umstände, unter welchen
[9]Vortheile des fremden Handels für China.
die festere Gestaltung des Verkehrs sich vollzog, fehlen die
Nachrichten; von rühmlichen Thaten mag sie kaum begleitet ge-
wesen sein. Die Portugiesen erwirkten wohl alle Zugeständnisse
der Mandarinen durch Schmeichelei und Bestechung; denn einer
Machtentfaltung, welche ihren Forderungen hätte Nachdruck geben
können, waren sie nicht fähig. Die Chinesen mögen unterscheiden
gelernt haben zwischen friedfertigen Kaufleuten und gesetzlosen
Abenteurern, wenn auch der Schatten, welchen das Auftreten der
letzteren auf die ganze Nation und alle Europäer warf, sich so bald
nicht verwischte. Die grösste Wirkung muss auf die Landes-
bewohner der reiche Vortheil geübt haben, welchen sie selbst aus
dem fremden Handel zogen. Ein beredtes Zeugniss bietet dafür
die an den Kaiser gerichtete Petition eines Kantonesen, welche, von
Davis ohne Datum abgedruckt, nach Inhalt und Zusammenhang in
die letzte Zeit der Miṅ-Dynastie gehört. Der fremde Handel war,
wie nach ernsten Conflicten häufig geschah, verboten worden. Der
Bittsteller macht nun geltend, dass ein grosser Theil der öffent-
lichen Ausgaben durch die von den ausländischen Kaufleuten er-
hobenen Steuern aufgebracht werde; dass, wenn keine fremden
Schiffe kämen, sowohl öffentliche als Privat-Interessen darunter
litten. Er bittet deshalb, dass den Franken der Handel wieder
gestattet werde und zählt die daraus entspringenden Vortheile auf:
den regelmässigen Tribut der fremden Völker und die von den
Kaufleuten zu Bestreitung der localen Ausgaben erhobenen Zölle;
den zum Unterhalt der Garnison erforderlichen Zuschuss, der nur
durch Steuern auf den fremden Handel aufgebracht werden könne;
den Gewinn der einheimischen Kaufleute, dessen Wohlthaten die
ganze Bevölkerung fühle u. s. w. — Dieses Gesuch und einige
andere Documente — statistische Aufstellungen chinesischer Beam-
ten über den fremden Handel — beweisen deutlich, dass man die
dem Lande daraus entspringenden Vortheile wohl zu schätzen
wusste, wenn auch den Ausländern gegenüber stets vorgegeben
wurde, man dulde sie nur aus Gnade und trotz dem aus ihrer An-
wesenheit dem Lande erwachsenden Schaden.


Vielfach mögen freilich die Nachtheile des Fremdenverkehrs
dessen Vortheile überwogen haben; das beweist u. a. die Vertrei-
bung der Portugiesen aus Niṅ-po im Jahre 1545. Dem friedfertigen
Theile der Ansiedler mussten die wilden Freibeuter, die in zahl-
reichen Horden die Küsten beunruhigten und frech das Innere des
[10]Pinto. — Gründung von Macao.
Landes durchstreiften, oft einen schweren Stand bereiten. Es gab
darunter merkwürdige Naturen, deren Verwegenheit, Unterneh-
mungslust und Zähigkeit Bewunderung erregen, wenn auch die
meisten kaum mehr als rohe Banditen waren. Hier möge noch ein-
mal des Mendez Pinto5) gedacht werden, welcher als würdiger
Vertreter dieser Menschenclasse gelten kann. An den Küsten von
Tše-kiaṅ kreuzend, erkundet er eine Insel bei Niṅ-po, wo die mit
reichen Schätzen gefüllten Gräber siebzehn chinesischer Fürsten
liegen. Pinto und seine Gesellen beladen dort ihre Fahrzeuge mit
Gold und Silber, müssen aber einen Theil der Beute an die nach-
setzenden Chinesen wieder ausliefern. Dann leiden sie Schiffbruch;
nur vierzehn retten das Leben, werden aber aufgefangen, gemartert,
nach Nan-kiṅ geschleppt, dort zu öffentlicher Peitschung und Ver-
lust eines Daumens verurtheilt. Man schickt sie nach Pe-kiṅ. Auf
der Reise haben sie Gelegenheit, die guten Sitten, bürgerliche Ord-
nung, den Gewerbfleiss und die Gerechtigkeitsliebe der Landes-
kinder zu bewundern, wovon Pinto lebendige Schilderungen giebt.
In Pe-kiṅ verurtheilt man die Portugiesen nochmals zu einjähriger
Zwangsarbeit; aber noch vor Ablauf des Strafmaasses gewinnen sie
die Freiheit, erreichen die Küste und schiffen sich nach Niṅ-po ein,
werden aber vom Schiffer auf einer wüsten Insel ausgesetzt, von
Piraten aufgenommen und kommen, durch Stürme verschlagen, nach
Japan. — Ein Kern von Wahrheit ist in Pinto’s Berichten leicht
zu erkennen, nicht aber die Grenze der Lüge.


Die Gründung von Macao und das frühere Verhältniss dieser
Colonie zur chinesischen Regierung sind in Dunkel gehüllt. Die
Halbinsel Gaü-men, auf welcher die Stadt entstand, bildet die süd-
östliche Spitze der grossen Insel Hiaṅ-šan und hängt mit derselben
durch einen schmalen Isthmus zusammen. Schon 1537 sollen die
bestochenen Mandarinen den Portugiesen erlaubt haben, auf dem
unbewohnten Vorgebirge Schuppen zum Trocknen ihrer Waaren
zu bauen, welche unter der Bezeichnung »Tribut« eingeführt wur-
den. Bald entstanden auch steinerne Wohngebäude; ohne Ein-
spruch liess man die Bevölkerung anwachsen. Die Portugiesen
bauten Festungswerke und richteten eine eigene Regierung ein,
ohne Zweifel unter Connivenz der erkauften Local-Behörden,
aber ohne ausdrückliche Zustimmung des Kaiserhofes, mit welchem
[11]Macao. — Die Spanier.
ein Vertrag darüber niemals geschlossen wurde. Die Hoheitsrechte,
welche die Regierung von Lissabon wiederholt beanspruchte, sind
ihr in der That bis in neuere Zeit hartnäckig verweigert worden 6).
Die Portugiesen haben immer behauptet, das Territorium sei ihnen
als Ersatz für gewisse Dienste abgetreten worden, welche sie den
Chinesen zur Unterdrückung der Seeräuber geleistet hätten. Dem
widersprechen aber die Thatsachen. Sie entrichteten jährlich
eine bestimmte Summe als Grundzins an den Hof von Pe-kiṅ und
erhielten dafür die Erlaubniss, auf der Halbinsel zu wohnen und
sich selbst zu regieren, übten diese Rechte aber nur ad nutum
des Kaisers, der sie jeden Augenblick vertreiben konnte. Ein chi-
nesischer Civil-Gouverneur bewachte, in Macao wohnend, unter
dem Statthalter von Kuaṅ-tuṅ die portugiesischen Behörden und
regierte die dort ansässigen Chinesen im Namen des Kaisers; chi-
nesische Officiere untersuchten jährlich die portugiesischen Festungs-
werke, und chinesische Zollbeamte erhoben Abgaben von portu-
giesischen Schiffen. Kein neues Haus, keine Kirche durfte ohne
Einwilligung der Mandarinen gebaut werden. Schon 1573 zogen
diese eine Mauer quer über die Landenge und schnitten jeden freien
Verkehr mit dem Inneren ab. Die Mandschu-Kaiser erklärten nach
Unterwerfung des Reiches die Colonisten in Macao ausdrücklich
für Unterthanen der Ta-tsiṅ-Dynastie. Erst in neuester Zeit hat
Portugal einen ähnlichen Vertrag mit der chinesischen Regierung
geschlossen, wie die anderen westlichen Völker.


Die Spanier erlangten für den Verkehr in Macao und Kan-ton
bald ähnliche Zugeständnisse wie die Portugiesen. Der Besitz der
Philippinen bot ihnen wesentliche Vortheile; dennoch blieb ihr
Handel unbedeutend. Man glaubt, dass ein grosser Theil des
Waarenverkehrs sich in Manila concentrirt hätte, wenn dort Speicher
zur zollfreien Wiederausfuhr eingerichtet worden wären. Zuweilen
berührten fremde Schiffe Manila, um Reisladungen einzunehmen und
dadurch die schweren Hafengebühren in Kan-ton zu vermeiden;
aber selbst diesen Handelszweig drückte die spanische Regierung.


[12]Die Jesuiten. Ricci. Schall.

Nach dem Eingehen der von Giovanni de Corvino in Pe-kiṅ
errichteten Mission zu Anfang des 14. Jahrhunderts scheint in China
das Christenthum nicht wieder gepredigt worden zu sein, bis 1579
die ersten Jesuiten nach Kan-ton kamen. Miguel Ruggiero und
Matteo Ricci wurden damals die Gründer der katholischen Missionen
in China. Letzterer trat anfangs in Bonzentracht auf, fand aber
darin bei den gebildeten Classen wenig Eingang. Er nahm nun
die Kleidung der Studirten an und erwarb sich schnell deren Gunst
durch seine physikalischen Kenntnisse. Man hörte seine Vorträge
gern und zeigte sich auch zur Annahme des Christenglaubens ge-
neigt, soweit derselbe zu den Satzungen des Confucius stimmte,
nahm aber Anstoss an den Lehren von der Fleischwerdung, der
Dreieinigkeit, von der Erbsünde und der Hölle. Ricci sah ein,
dass der Versuch, das Vorurtheil der Chinesen gewaltsam zu durch-
brechen, ihre alten Sitten zu ändern, die Todtenopfer und andere
abergläubische Gebräuche als gottlos abzuschaffen, ihm jede Aussicht
auf Erfolg verschliessen würde. Er statuirte deshalb einen Unter-
schied zwischen bürgerlichen und kirchlichen Verrichtungen, liess
viele durch uraltes Herkommen geheiligte und im frommen Gefühle
der Chinesen eingewurzelte Gebräuche unangetastet, und sah seine
Bekehrungsversuche bald mit glänzendem Erfolge gekrönt. Nach
siebzehnjährigem Aufenthalt im südlichen China ging Ricci nach
Pe-kiṅ und wurde durch Gunst eines Eunuchen dem Kaiser genannt,
der seine Geschenke annahm und ihm eine Wohnung anweisen
liess. Andere Jesuiten kamen nach und gründeten, der Bekehrungs-
art des Ricci folgend, Gemeinden in mehreren Städten zwischen
Kan-ton und Pe-kiṅ. In den nächsten Jahrzehnten blühten durch
ganz China christliche Genossenschaften auf; Kirchen soll es um
die Mitte des 17. Jahrhunderts in allen grösseren Städten des
Reiches gegeben haben; die Bekehrten wurden nach Hundert-
tausenden gezählt.


In Pe-kiṅ, wo die Jesuiten schon zwei Kirchen hatten, ge-
gewann um die Mitte des 17. Jahrhunderts ein Deutscher, Pater
Adam Schall aus Cöln, bedeutenden Einfluss. Er goss für den
letzten Miṅ-Herrscher Kanonen, wusste dann auch die Gunst des
jungen Mandschu-Kaisers Šun-tši zu gewinnen, wurde dessen Leh-
rer und Director des astronomischen Bureau. Sein Freimuth und
vielseitiges Wissen, besonders physikalische Kenntnisse, verschafften
ihm grosses Ansehen und seine Erfolge waren so ausserordentlich,
[13]Jesuiten und Dominicaner.
dass spätere Jesuiten sie als übernatürliche Gnadenwunder berich-
ten. Ein anderer Deutscher, Ferdinand Verbiest, wurde Schall’s
Amtsgehülfe und Nachfolger.


Wie in Japan, so hatte auch in China die Bekehrung guten
Fortgang, so lange die klugen Jesuiten allein arbeiteten. Bald
folgten aber andere Mönchsorden, deren Wüthen gegen die aber-
gläubischen Gebräuche der Chinesen Aergerniss erregte. Freilich
gab die Lehre des Ricci ihrer Eifersucht eine bequeme Handhabe,
denn sie vertrug sich keineswegs mit strenger Rechtgläubigkeit.
Die Todtenopfer und andere Gebräuche, welche er als bürgerliche
duldete, wurden von den Dominicanern als götzendienerisch ver-
dammt und allen chinesischen Christen unter Androhung der Höllen-1644.
strafen verboten. Papst Innocenz X. bestätigte dieses Urtheil, das1655.
Alexander VII. auf Vorstellung der Jesuiten wieder aufhob. Die
Einmischung der Päpste und die erbitterten Angriffe der Domini-
caner, welche sich auch auf andere von den Jesuiten mit grosser
Einsicht der chinesischen Auffassung angepasste Formen der Lehre
bezogen, machten bald die Mandschu-Regierung argwöhnisch gegen
alle Missionare; während der Minderjährigkeit des Kaisers Kaṅ-gi1662.
wurde ihr Bekehrungseifer als staatsgefährlich verdammt. Schall
soll vor Gram gestorben sein; Verbiest musste sich verstecken.
Letzteren erhob Kaṅ-gi, als er grossjährig die Regierung antrat, zum
Director der Sternwarte; die vertriebenen Geistlichen durften zu
ihren Kirchen zurückkehren. Der Kaiser erklärte sogar 1692 in1692.
einem Edicte den Christenglauben für erlaubt und nahm im Lehr-
streit Partei für die Jesuiten; ein Decret vom Jahre 1700 bestätigt,1700.
dass der Ausdruck Tien, wörtlich Himmel, allein den wahren Gott
bezeichne, und dass die von Ricci erlaubten Ceremonieen bürger-
licher, nicht kirchlicher Art seien. Dem trat aber, trotz Alexan-
der VII.
Entscheidung, ein Bischof Maigrot entgegen, welcher den
Ausdruck Tien für »Gott« verbot und jene Gebräuche als Götzen-
dienst verdammte. Papst Clemens XI., welchem das Decret des
chinesischen Kaisers vorlag, entschied wieder zu Gunsten der Do-
minicaner, und der zu Schlichtung des Streites entsandte aposto-
lische Vicar Tournon verbot nach Empfang des päpstlichen Edictes
1705 den chinesischen Christen die Ausübung aller durch dasselbe1705.
verdammten Ceremonieen. — Nun erliess Kaṅ-gi einen Befehl, nach
welchem die der Lehre des Ricci folgenden Missionare im Lande
geduldet, alle anderen aber mit Verfolgung bedroht wurden. —
[14]Christenverfolgungen.
1720.Der Patriarch Mezzabarba, der 1720 in China erschien, um den päpst-
lichen Willen durchzusetzen, fand den Kaiser unbeugsam in seinem
Entschluss, den Päpsten keinerlei Gewalt über seine Unterthanen
einzuräumen, und musste Zugeständnisse machen, um den katholischen
Glauben nicht gänzlich aus dem Reiche der Mitte verbannt zu sehen.


Der folgende Kaiser, Yuṅ-tšin, vertrieb bei seiner Thron-
1723.besteigung 1723 alle Missionare als Ruhestörer. Einige hielten sich
unter Verkleidungen in den Provinzen versteckt; wenige Jesuiten
durften unter dem Einflusse mächtiger Beschützer in Pe-kiṅ blei-
1735.ben. — Kien-loṅ, welcher 1735 den Thron bestieg, verfuhr mit
äusserster Strenge gegen die Christen; die in den Provinzen ver-
steckten Geistlichen wurden eingekerkert, die Gemeinden ausein-
andergesprengt. Wer den Glauben nicht abschwören wollte, musste
fliehen. Die Jesuiten in Pe-kiṅ wandten vergebens alle Mittel auf,
1785.den Kaiser zur Milde zu stimmen; erst 1785 befreite Kien-loṅ die
noch lebenden Priester aus dem Kerker und erlaubte ihnen, das
Land zu verlassen.


Einzelne katholische Missionare sammelten seitdem im Ver-
borgenen wieder Gemeinden um sich, wurden aber zu Zeiten mit
Härte verfolgt. Der letzte Jesuit verliess Pe-kiṅ erst 1823 aus eige-
nem Antriebe. Eine zahlreiche Christengemeinde hielt sich dort
trotz aller Verbote unter eingeborenen Priestern bis in die neueste Zeit.
Das Religionsedict, das Tau-kuaṅ nach dem Frieden von Nan-kiṅ zu
Gunsten der Christen erlassen musste, scheint kaum praktische Folgen
gehabt zu haben. Erst die französischen Verträge von 1858 und
1860 setzten die katholischen Missionare in ihre alten Rechte ein.


Nach den Portugiesen und Spaniern kamen im Laufe des
17. und 18. Jahrhunderts zunächst Holländer, dann Engländer,
Dänen, Schweden, Franzosen, Americaner nach Kan-ton. Deutsche
Schiffe erschienen dort wahrscheinlich erst in diesem Jahrhun-
dert. — Die Russische Regierung liess 1806 durch Krusenstern in
Kan-toṅ Versuche zu Anknüpfung des Seehandels machen, dem die
chinesische durch ein Verbot begegnete; nur über Kiak-ta sollten
mit dem Slavenreiche Waaren getauscht werden. Dieser Land-
handel konnte einzig unter dem Schutz von Monopolen gedeihen,
und wurde von russischer Seite durch Verbote der Einfuhr chi-
nesischer Producte zur See lange begünstigt.


[15]Der Handel in Kan-ton.

Während Macao Hauptsitz des Handels der Portugiesen und
Spanier blieb, wandten sich alle anderen Nationen fast ausschliess-
lich nach Kan-ton. Ihre grösseren Schiffe mussten wegen der
Wassertiefe bei Wam-poa, etwa eine Meile stromabwärts, ankern;
der Geschäftsverkehr aber concentrirte sich in Kan-ton selbst, wo
im Laufe der Zeit die Handelsgesellschaften der verschiedenen
Nationen am Ufer des Perl-Flusses Factoreien gründeten. Jede
derselben hatte ihren Vorsteher, der als verantwortliches Haupt
seiner Landsleute galt, die heimische Regierung aber keineswegs
amtlich vertrat. Wären sie dazu ermächtigt gewesen, so hätten
doch die Mandarinen jede Beziehung zu denselben als unter ihrer
Würde zurückgewiesen; denn in China können Kaufleute nicht
Beamte sein, nicht mit Beamten auf dem Fusse der Gleichheit ver-
kehren. Schon dadurch wurde ein solches Verhältniss unmöglich,
dass die chinesischen Kaiser bis in die neueste Zeit die Souveräne-
tät auswärtiger Staaten nicht gelten liessen. Der ernste Kampf um
solche Anerkennung begann erst, als nach Aufhebung des Mono-
poles der englisch-ostindischen Gesellschaft für China die gross-
britannische Regierung zu Wahrung der Handelsinteressen 1834
königliche Commissare nach China sandte. Der Frieden von Pe-kiṅ
endete diesen Kampf 1860. Vor Aufhebung jenes Monopoles wurde
aller Verkehr mit den Mandarinen durch chinesische Kaufleute
vermittelt.


Der Geschäftsbetrieb in Kan-ton muss bald nach Gründung
der ersten Factoreien die feste Gestalt angenommen haben, die er
mit geringen Modificationen bis 1834 behielt: die chinesische Regie-
rung verlieh das Monopol für den ausländischen Handel einer be-
schränkten Zahl einheimischer Kaufleute, welche für das gute Be-
tragen der Fremden bürgten und deren Verkehr mit den Behörden
vermittelten. Diese Hoṅ-Kaufleute 7) standen unter Aufsicht der
Mandarinen, mit welchen sie ihren Gewinn theilten. Die Fremden
durften die Stadt nicht betreten und wurden in den Factoreien
streng bewacht. Den Chinesen gegenüber waren sie formell und
factisch rechtlos und hatten kein Mittel in Händen, der willkür-
lichen Bedrückung zu begegnen. Die Mandarinen erpressten das
Aeusserste und schraubten ihre Ansprüche immer höher. Das
veranlasste periodische Conflicte, die häufig zu Suspendirung des
[16]Die Stellung der Fremden.
Handels führten; die Vortheile desselben waren aber auf beiden Seiten
so gross, dass Wege zur Einigung immer wieder gesucht und
gefunden wurden. Wollten die Ausländer willkürlichen Ueber-
griffen entgegentreten und sich des despotischen Verfahrens der
chinesischen Justiz erwehren, so sperrten die Mandarinen gleich-
falls den Handel; der Gewalt gegenüber waren Jene einzig auf
innere Tüchtigkeit angewiesen. Die Rohheit und der Nationalhass
der Schiffsmannschaften in Wam-poa und Kan-ton erzeugten oft
blutige Händel der Seeleute unter sich und mit der chinesischen
Bevölkerung, aus welchen den Handelsvorstehern schlimme Ver-
legenheiten erwuchsen. Vom europäischen Völkerrecht hatten die
Chinesen keine Ahnung; sie betrachteten alle Fremden als Unter-
thanen des Himmelssohnes und glaubten sich berechtigt, gegen
deren Vergehen mit der landesüblichen Grausamkeit zu verfahren,
die Blut für Blut fordert und auch den Schuldlosen trifft. So fiel
in Kan-ton mancher Unschuldige unter dem Schwerte des chinesi-
schen Henkers, ein Opfer der Habgier und Schwäche seiner Lands-
leute, die ihn lieber auslieferten, als den Vortheil des Handels ent-
behrten. Am häufigsten fehlten darin die Portugiesen, welche eher
jede Schmach ertrugen, als die Freundschaft der Mandarinen auf
das Spiel setzten.


Die Portugiesen konnten niemals verwinden, dass sie den
Handel mit anderen Völkern theilen mussten, dessen Vortheile sie
so lange allein genossen; ihre eifersüchtigen Ränke, das Con-
spiriren mit den Mandarinen gegen die anderen Nationen dauerten
bis in dieses Jahrhundert. Ganz ist wohl keines der seefahrenden
Völker von dem Vorwurf freizusprechen, dass es in China seine
Ehre dem Vortheil opferte. Den Engländern aber, deren Handel
bald jeden anderen überflügelte, gebührt trotz vielen Missgriffen der
Ruhm, zuerst der Willkür würdig begegnet zu sein und der Gesittung
des Westens die gebührende Stellung in China erkämpft zu haben.


Eine zusammenhängende Darstellung derjenigen Periode,
welche mit dem Jahre 1834 abschliesst, wäre eine dankenswerthe
Arbeit, wenn sie die Verfassung der verschiedenen Handelsgesell-
schaften, die Einrichtung des fremden Gemeinwesens in Kan-ton,
seine Beziehungen zu den Chinesen, die Art des Geschäftsbetriebes,
kurz die ganze Gestaltung und die Wandlungen des Verkehrs in
klares Licht setzte. Vielleicht gingen die wichtigsten Fundgruben
für solche Arbeit beim Brande der Factoreien mit deren Archiven
[17]Die Stellung der Fremden.
unter? Die dem Verfasser zugänglichen Berichte sind fragmen-
tarisch und lückenhaft; viele Thatsachen entbehren darin der Be-
gründung; die Einrichtungen stehen fertig da, ohne dass sich ihre
Entwicklung erkennen lässt; so muss denn Manches dunkel bleiben.


Die Fremden verkehrten in diesem Zeitraum mit den Kan-
tonesen ohne den Schutz und Zügel einer legalen Autorität. Die
Unmöglichkeit, auf gesetzlichem Wege Recht zu erlangen, und die
Nothwendigkeit, durch das eigene Auftreten sich Ansehn zu ver-
schaffen, machte sie schlau und vorsichtig, aber auch willkürlich
und anmaassend. Die verachtete Stellung, welche ihnen durch
Verschliessung der Stadt angewiesen wurde, erhöhte die Reizbar-
keit der Ausländer, die sich, je niedriger ihre Bildungsstufe und
sociale Stellung, desto erhabener wähnten über jeden Sohn der
blumigen Mitte. Die Art der Berührung, wie sie sich zwischen den
Fremden und den Kantonesen gestaltete, musste zu gegenseitigem
Verkennen, zu Hass und Verachtung führen. Wenn auch unter
den Handelsvorstehern und den Hoṅ-Kaufleuten immer achtbare
Charaktere waren, die einander schätzen lernten, so konnte dieser
stillere Verkehr doch wenig Einfluss auf die öffentliche Meinung
üben. Die Factorei-Beamten, Supercargos und Schiffsmannschaften
kamen fast nur mit habgierigen Officianten des Zollamtes und dem
Gesindel der Vorstädte in Berührung. Ihr Auftreten gegen diese, —
das ihrer Gesittung zufolge gewaltsamer und willkürlicher gewesen
sein mag als billig, — und die blutigen Schlägereien der Schiffs-
mannschaften unter sich bestimmten vorwiegend den Ruf der Aus-
länder bei dem besseren Theil der kantonesischen Bevölkerung. Der
Hass derselben steigerte sich im Laufe der Jahrzehnte zu leidenschaft-
licher Wuth und wurde zu einer Hauptwurzel der späteren Uebel.
Wie aber diese Feindschaft wirklich auf der Abschliessung beruhte,
zeigt in schlagender Weise der Umstand, dass jede Spur davon
geschwunden ist, seitdem Kan-ton einige Jahre von einer englischen
Garnison besetzt war, seit die besseren Classen seiner Bevölkerung
und die Fremden sich im täglichen Umgang kennen lernen mussten.


Die Unmöglichkeit, durch indirecten Verkehr mit einfluss-
reichen Mandarinen in Kan-ton Abhülfe gegen Unrecht und drückende
Uebelstände zu erlangen, trieb die Fremden zu vielfachen Ver-
suchen, in Berührung mit dem Kaiserhofe zu treten, durch Ge-
sandtschaften in Pe-kiṅ Einrichtungen für den Handel zu erwirken,
welche ihn auf die feste Basis gesetzlicher Bestimmungen stellen
III. 2
[18]Die Stellung der Fremden.
und vor Eingriffen der Provinzial-Behörden sichern möchten,
— zugleich auch den directen Verkehr mit letzteren anzubahnen.
Von diesen wurden alle solche Versuche als Eingriffe in ihre
Rechte angesehen, der Erfolg derselben von vorn herein mit allen
Mitteln hintertrieben. So unumschränkt durch das weite Reich
der Wille des [Himmelssohnes] gilt, — welcher jeden Augenblick
frei verfügen kann über Leben und Eigenthum des höchsten Wür-
denträgers wie des geringsten Tagelöhners, — so ist doch China in
gewissem Sinne als ein Staaten-Bund unter gemeinsamem Ober-
haupte anzusehen. Die Statthalter sind thatsächlich unumschränkte
Herren in den Provinzen und werden von Pe-kiṅ aus erst dann zur
Rechenschaft gezogen, wenn ihre Verwaltung zu Aufständen ge-
führt hat, welche sie nicht selbst bezwingen können. Sie sind für
den fremden Handel in gleichem Maasse verantwortlich, wie für
alle anderen Vorgänge in ihrem Gebiete. So lange die Ausländer
nicht »rebellirten«, so lange ihre »Auflehnung« von den Statthaltern
unterdrückt werden konnte, mochte die Central-Regierung niemals
eingreifen; sie blieb häufig selbst dann indifferent, wenn die Frem-
den durch gewaltsames Auftreten sich eigenmächtig zu ihrem Rechte
verhalfen und von den Statthaltern wichtige Zugeständnisse er-
zwangen. Im sittlichen Bewusstsein der Chinesen ist jede Aufleh-
nung gegen Unrecht und Willkür gerechtfertigt. Die Conflicte der
Fremden in Kan-ton hatten keine andere Bedeutung, als die Auf-
lehnung der eigenen Unterthanen gegen die Behörden; — denn
das Bewusstsein, dass der Himmelssohn der alleinberechtigte
Herrscher der Welt sei, war noch bis in die neueste Zeit so stark
bei den Chinesen, dass es ihnen garnicht einfiel, die Fremden anders
anzusehen, als für Unterthanen ihres Kaisers. So konnten diese in
der späteren Zeit zu Kan-ton Gewalt üben, welche in jedem anderen
Lande zum Kriege geführt haben müsste. Fand man in Pe-kiṅ ihre
Forderungen gerecht oder fühlte man sich zu schwach zum Wider-
stande, so wurde, — ganz wie bei Auflehnungen der eigenen
Unterthanen, — der Statthalter abberufen, getadelt, vielleicht
degradirt. Man schickte einen anderen hin, mit dem Auftrage, die
rebellischen Barbaren zu zähmen, zu zügeln; aber an einen Krieg
dachte man eben so wenig, als den Fremden bestimmte Rechte zu
gewähren, welche ja den absoluten Willen des Himmelssohnes
beschränkt hätten. In diesem einen Punkte liegt die grosse, im
früheren Verkehr mit China verkannte Schwierigkeit. So viele Ge-
[19]Politische Anschauungen der Chinesen.
sandten nach Pe-kiṅ gingen, um feste Zugeständnisse zu erlangen:
keinem scheint eingefallen zu sein, dass jeder Vertrag bei den chi-
nesischen Herrschern das Bewusstsein der Gleichberechtigung an-
derer Souveräne voraussetzte, ein Bewusstsein, das ihnen nicht
durch reiche Geschenke und prächtige Aufzüge, sondern nur da-
durch einzupflanzen war, dass ihre Macht einmal angesichts der
Hauptstadt und des ganzen Reiches gebrochen, ihre Dynastie be-
droht wurde. Das geschah erst 1860. Alle früheren Gesandt-
schaften hatten gar keinen, die Kriege nur geringen Erfolg, gleich
localen Aufständen, die den Thron nicht bedrohten. Die Gesandten
wurden, mochten sie sich den von der chinesischen Etiquette ge-
forderten bedeutsamen Formen der Unterthänigkeit fügen oder nicht,
ohne jedes Zugeständniss eines Rechtes und höchstens mit gnädigen
Redensarten fortgeschickt, alle Verträge abgelehnt. Die Kriege
betrachtete man in Pe-kiṅ als Rebellionen gegen die Statthalter; die
erzwungenen Verträge wurden nicht gehalten. Denn wer durfte dem
Willen des Himmelssohnes Gesetze vorschreiben? Der Uebergang
zu vertragsmässigen Beziehungen mit China war kaum ein anderer,
als der Uebergang vom Absolutismus zur Verfassung im Leben
europäischer Staaten; der Herrscher entäussert sich zu Gunsten des
Volkes eines Theiles der Rechte, welche seine Vorgänger durch
alle Zeitläufte besessen haben; das Volk, das früher rechtlos seinem
Willen unterworfen war, soll ihm nun in einem Vertragsverhält-
nisse gegenüberstehen. So entäussert sich der Himmelssohn durch
jeden Vertrag mit fremden Fürsten der angestammten Oberhoheit.


In China ist das Bewusstsein von der Berechtigung der un-
umschränkten Macht des Kaisers, nicht nur über das eigene Reich
sondern über die ganze Welt, eng und unzertrennlich verwachsen
mit der auf zweitausendjähriger Entwickelung fussenden, tief ein-
gewurzelten Weltanschauung des Volkes. Das Reich der Mitte ist
so gross, seine Gesittung so ausgeprägt, dass alles ausserhalb
Liegende nur Zubehör, alle fremde Cultur nur mangelhaft sein kann.
Von den wirklichen Verhältnissen der Raumvertheilung hatte man
ebensowenig eine Ahnung als von der Bildung anderer Völker.
China ist die Welt, an deren äussersten Grenzen in rauher nebliger
Ferne Barbarenstämme hausen, welche die Sonne nur düster be-
leuchtet. Weit weniger als wir Europäer den Papua, sahen die
Söhne der blumigen Erde den Fremdling aus dem Westen für
Ihresgleichen an; in der öden Ferne, an den Grenzen der Natur
2*
[20]Politische Anschauungen der Chinesen.
wohnend, gehörte er gleichsam einem anderen Elemente an 8). —
Der Kaiser ist nach der uralten Weltanschauung der Chinesen der
Sohn des Himmels »Tien«. Dieses Wort bedeutet übertragen Vor-
sehung, Weltordnung, ewige Gerechtigkeit, und bezeichnet so ganz
das höchste geistige weltregierende Princip, dass die Jesuiten ge-
wiss mit Recht den Ausdruck »Gott« durch »Tien« übersetzten.
Zur vollen Gleichbedeutung mit dem monotheistischen Begriff fehlt
ihm allerdings, aber auch nur eine einzige Eigenschaft: es drückt
nicht den persönlichen Gott, den bewussten Willen aus.
Diesen Begriff kennen die Chinesen nicht; sie haben ihn, wie es
scheint, verloren 9). Tien bezeichnet die Ewigkeit, Vollkommenheit,
Unendlichkeit, sittlich das höchste Gute, Wahre, Rechte, die un-
umstössliche Weltordnung, und in diesem Sinne ist der chine-
sische Kaiser der erwählte Sohn, der Vertreter des Himmels, be-
rufen, die Welt zu regieren, die göttliche Ordnung auf Erden auf-
recht zu halten; er ist nicht nur der rechtmässige Beherrscher von
China, sondern der vom Himmel eingesetzte Herr der Welt, sein
Willen unumschränkt und unantastbar.


Als erwählter Sohn des Himmels ist nun der Kaiser nicht
nur absoluter Herr, sondern er ist auch für das Wohl und Wehe
des Reiches, — der Welt, — und das Glück seiner Unterthanen —
aller Menschen — verantwortlich. Alles Unheil, das dieselben von
aussen betrifft, verschuldet der Kaiser. Lebt er nicht mehr im Ein-
klange mit der himmlischen Weltordnung, so werden die Menschen
heimgesucht; dann thut der Herrscher Busse, legt ein öffentliches
Schuldbekenntniss ab und strebt, sich durch Opfer und Gebet wie-
der in Harmonie mit der höchsten Wesenheit zu setzen. Grosse
Calamitäten, welche das Reich betreffen, sind ein Zeichen, dass der
Kaiser nicht mehr der Erwählte des Himmels, in monotheistischem
Sinne ausgedrückt, »dass die göttliche Gnade von ihm gewichen
ist«. Nicht nur Bedrückungen und Invasionen, sondern auch Miss-
wachs, Erdbeben, Ueberschwemmungen und andere Paroxysmen
der Natur haben, als Zeichen, dass nicht der rechte Himmelssohn
[21]Politische Anschauungen der Chinesen.
auf dem Throne sitzt, in China zu Aufständen und zum Sturze von
Dynastieen geführt. Legitimität in unserem Sinne kennt die chine-
sische Anschauung nicht; durch seine Geburt hat Niemand ein
Recht auf den Thron, und die Primogenitur hat gar keine Bedeu-
tung. Als erwählter Himmelssohn muss aber der Kaiser am besten
wissen, wer berufen und würdig ist, sein Nachfolger zu werden;
er wählt denselben natürlich unter seinen Söhnen und Agnaten,
denn die Familie des Erwählten ist selbstredend auch die vor-
nehmste, die vorzüglichste des Reiches. Nur in diesem Sinne ist
der Thron von China erblich. Der Kaiser ernennt seinen Nach-
folger im Testament; dieser hat aber erst durch seine Handlungen
und durch den Segen, den er über das Reich verbreitet, zu be-
weisen, dass er wirklich der Erwählte des Himmels ist. Das Volk
glaubt es, so lange es ihm wohl geht. Wird es aber von Unheil
betroffen, so folgt es leicht jedem Führer zum Kampfe gegen den
vermeintlichen Usurpator, der, unberufen auf dem Throne sitzend,
das Verderben des Reiches verschuldet. Das hereingebrochene
Unheil beweist ja, dass die Verbindung mit der lenkenden Welt-
ordnung unterbrochen ist. Der Kaiser allein darf zum Himmel
beten; als dessen Vertreter regiert er das Volk. Sitzt nun ein
Falscher auf dem Throne, so ist der Aufruhr berechtigt, geboten.
Rebellen kämpfen mit dem Fanatismus von Gottesstreitern, die be-
rufen sind, den Willen der Vorsehung durchzusetzen, das Reich
von dem unrechtmässigen, weil nicht mehr begnadigten Herrscher
zu befreien und den rechtmässigen, erwählten Himmelssohn auf den
Thron zu setzen. Das ist, abgesehen von den menschlichen Leiden-
schaften, auf deren Boden ja die meisten politischen Bewegungen
wurzeln, der ostensible Zweck aller chinesischen Rebellionen und
die Idee, welche die Massen treibt, für die Selbstsucht der Führer
ihr Leben zu lassen. So viele Umwälzungen es im Laufe der Jahr-
tausende in China gegeben hat: die unumschränkte Macht des
Herrschers ist niemals, vielleicht auch nicht in Gedanken angetastet
worden. Das politische Grundprincip steht auch heute noch un-
angefochten da und wurzelt so tief im Bewusstsein des Volkes, vor
allem der gebildeten Classen, welche seinen Kern bilden, dass man
sich über den fremdenfeindlichen Fanatismus der altchinesischen
Partei nicht wundern darf. Die einheimischen Umwälzungen waren
immer nur Rebellionen, niemals Revolutionen; sie richteten sich nie-
mals gegen ein politisches Princip, sondern immer nur gegen Per-
[22]Die Niederländer.
sonen; sie bezweckten keine Umgestaltung des Systemes, keine Er-
kämpfung von Rechten für die Unterthanen. Und was den Söhnen
des blumigen Reiches niemals eingefallen war, das wollten jetzt die
fremden Barbaren erzwingen! Der Kaiser sollte nicht mehr unum-
schränkter Gebieter sein, und Fremdlinge waren es, die ihm Gesetze
vorschrieben! Das war unerhört und widersinnig!


Die Niederländer, welche zunächst nach den Portugiesen
kamen, hatten wenig Erfolg mit ihren Handelsunternehmungen nach
1624.China, bis von Batavia aus 1624 eine Niederlassung auf der Süd-
westküste von Formosa gegründet wurde. Die dort angelegte
Festung nannte man Zeeland. Das Aufblühen dieser Colonie sahen
die Spanier und Portugiesen mit grossem Neide; sie hatten alle
Versuche der Niederländer, in China Fuss zu fassen, offen und
heimlich hintertrieben, und die chinesische Regierung verbot den-
selben auch jetzt noch den Handelsverkehr. Die Holländer schei-
nen nun aber von Zeeland aus die chinesische Schiffahrt so lange
gestört zu haben, bis man ihnen die gewünschten Zugeständnisse
machte. Dagegen mussten sie die Pescadores-Inseln räumen und
sich auf die Festung Zeeland beschränken, wo sie Verbindungen
mit den Eingeborenen anknüpften und die angrenzenden Landstriche
anbauten. Nach dem Sturze des Miṅ-Hauses flüchteten zahllose
Chinesen in das Ausland; 25,000 Familien sollen sich damals auf
Tae-waṅ oder Formosa niedergelassen haben. Die Holländer be-
günstigten anfangs die Einwanderung in der Nähe ihrer Colonie; in
der Folge wuchs sie ihnen über den Kopf und förderte wesentlich
ihre Vertreibung von der Insel.


Sonderbarer Weise scheint der Festung Zeeland von den
1654.holländischen Gesandten, welche 1654 von Batavia nach der chine-
sischen Hauptstadt gingen, in ihren Verhandlungen mit den
kaiserlichen Räthen niemals gedacht worden zu sein. Die
Tartaren mögen, damals ganz neu in der Herrschaft, von der Geo-
graphie des Landes wenig gewusst, vielleicht auch nicht geahnt
haben, dass die batavischen Sendboten und die Ansiedler auf For-
mosa
demselben Barbarenstamme angehörten. Jene aber mussten
sich freuen, dem Usurpator gegenüber von der Colonie zu schwei-
gen; denn das frühere Abkommen war noch mit Beamten des Miṅ-
Kaisers geschlossen worden. — Die Gesandtschaft wurde in Kan-ton
[23]Niederländische Gesandtschaften.
mehrere Monate aufgehalten, ehe sie die Reise nach Pe-kiṅ an-
treten durfte; unterwegs empfingen die tartarischen Behörden sie
überall höflich. In Pe-kiṅ sollen ihr die Jesuiten entgegengewirkt
haben; die Gewährung von Handelsprivilegien, nach welcher sie
strebten, hätten die Holländer auch ohne das wohl kaum erreicht,
trotz allen Demüthigungen, welche sie duldeten. Man scheint
sie gefoppt und verspottet zu haben 10). Sie verrichteten willig den
knechtischen Gruss des Ko-to nicht nur vor der Person des Kai-
sers, sondern auch vor den ihnen von seiner Tafel zugetheilten
Bissen. Die Sitte des Ko-to besteht darin, dass der Grüssende
sich auf beide Knie niederwirft, die Hände auf den Boden stützt
und mit der Stirn dreimal die Erde berührt. Dreimaliges Nieder-
werfen und neunmaliges Kopfstossen ist der Gruss der tributpflich-
tigen Vasallen; als solche bekannten sich die Niederländer durch
Vollziehung dieser Form, als sie mit den Gesandten abhängiger
Staaten vor den Kaiser geführt und gleich diesen behandelt wur-
den. Trotz aller Willfährigkeit und der reichen Bestechung der
kaiserlichen Räthe mussten sie Pe-kiṅ ohne das geringste Zugeständ-
niss oder Versprechen verlassen; das kaiserliche Geschenk von
300 Unzen Silber für den Statthalter von Batavia mag gegen die
Kosten der Sendung kaum in Anschlag gekommen sein.


Der Vertreibung der Holländer aus Formosa durch den chi-
nesischen Seehelden Kuo-Šin oder Coxinga, welcher 1662 die Festung
Zeeland nahm, ist schon im I. Bande dieses Werkes gedacht.
Coxinga hatte mit seiner starken Flotte den Tartaren in Mittel-
China
lange Widerstand geleistet, musste sich aber nach einer
Niederlage bei Nan-kiṅ an die Küste von Fu-kiaṅ zurückziehen
und betrieb von da aus die Eroberung von Formosa. Er gründete
dort ein eigenes Reich, welches erst sein Enkel 1683 den Mandschu-
Herrschern übergab.


Eine zweite holländische Gesandtschaft, welche 1667 nach1667.
Pe-kiṅ ging, scheint nicht besser behandelt worden zu sein und
hatte eben so wenig Erfolg als die erste. — 1795 schickte die1795.
batavische Regierung abermals eine glänzende Gesandtschaft unter
Titsingh nach der chinesischen Hauptstadt. Man glaubte in der
[24]Die Engländer. — Weddell.
Colonie, dass die Sendung des Lord Macartney an seinem vorneh-
men Auftreten und seiner Unwillfährigkeit, sich dem chinesischen
Hof-Ceremoniel zu unterwerfen, gescheitert sei, und befahl deshalb
Titsingh, sich jede Demüthigung gefallen zu lassen 11). Die Holländer
erreichten aber eben so wenig ein Zugeständniss, als Lord Macartney,
und hatten, wahrscheinlich wegen ihrer knechtischen Fügsamkeit,
auf der Rückreise die schimpflichste Behandlung zu erdulden.


1596.Von England ging 1596 das erste Unternehmen zu An-
knüpfung des Handels mit China aus. Die drei zu diesem Zwecke
ausgerüsteten Schiffe scheiterten jedoch auf der Reise, und der
Versuch wurde unter Königin Elisabeth nicht erneut. Erst im
Frühjahr 1637 gelangten vier englische Schiffe unter Capitän
Weddell nach Macao, wo die Portugiesen jede Anknüpfung des
Handels hintertrieben. Nach vergeblichem Bemühen, seinen Unter-
händlern Eingang in Kan-ton zu verschaffen, beschloss Weddell,
mit den Schiffen selbst den Fluss hinaufzugehen. Sie erreichten
die Festungswerke an der Bocca Tigris, wo ihnen kaiserliche
Dschunken mit Mandarinen und Dolmetschern entgegen kamen.
Weddell gab seine friedfertigen Absichten kund und bat, gleich
den Portugiesen zum Handelsverkehr zugelassen zu werden. Die
Mandarinen versprachen auch, günstig an ihre Vorgesetzten in
Kan-ton zu berichten und nach sechs Tagen das Gesuch zu beant-
worten; die englischen Schiffe gingen im Flusse unter der weissen
Flagge vor Anker. Die Portugiesen hatten die Briten aber als See-
räuber verschwärzt, und als solche wurden diese nun behandelt.
Zur Nachtzeit armirten die Chinesen ihre Werke an der Bocca
und feuerten am Morgen mehrere Schüsse auf ein Boot der
Engländer, das zum Wasserholen nach dem Ufer ruderte. Sie
trafen nicht. Die Engländer aber hissten ohne Weiteres die Blut-
flagge, legten sich, die einströmende Fluth benutzend, dicht unter
die chinesischen Werke und brachten mit vollen Breitseiten das
schlecht gezielte Feuer derselben in wenig Stunden zum Schwei-
gen. Als ihre Boote mit etwa hundert Mann sich den Werken
[25]Handel mit den mittelchinesischen Häfen.
näherten, lief die Besatzung davon. Die Briten landeten unge-1637.
hindert, hissten auf den Wällen ihre Flagge, schifften während
der Nacht sämmtliche Geschütze ein und demolirten die Schutz-
wehren. Weddell liess nun mehrere Dschunken anhalten und
sandte durch deren Boote ein Schreiben nach Kan-ton, worin er
die Mandarinen des Treubruches zieh, seinen Angriff als Nothwehr
rechtfertigte und in höflicher Sprache um Handelsfreiheit bat.
Schon am nächsten Tage kam ein chinesisches Boot unter weisser
Flagge mit einem Mandarinen niederen Ranges, dessen Vorgesetzte
sich auf kaiserlichen Dschunken hinter einer Landspitze befanden.
Weddell gab nochmals seine friedfertigen Absichten kund und erhielt
nun die Erlaubniss, Unterhändler nach Kan-ton zu schicken, wo
man die ganze Schuld auf die Portugiesen schob und den Engländern
gegen Herausgabe der Geschütze die gewünschten Ladungen lieferte.


Das war das erste Auftreten der Briten, bedeutsam für die
Zukunft. Das Beispiel von Weddell’s Entschlossenheit scheint
durch die ganze Geschichte der englischen Beziehungen zum Reiche
der Mitte fortgewirkt zu haben.


Die politischen Umwälzungen in China und die Seeräuber-
flotten, welche damals die Küsten beunruhigten, mögen die Eng-
länder von der Fortsetzung ihrer Unternehmungen in den nächsten
Jahrzehnten abgeschreckt haben. 1664 kamen einige Schiffe der1664.
ostindischen Compagnie nach Macao; die Handelsagenten durften
landen und in der Stadt wohnen; aber die Mandarinen verlangten
übermässige Hafengelder für jedes Schiff, das nach Kan-ton hinauf-
ginge, und behandelten die Engländer mit wachsendem Argwohn.
Diesen wurde die verschärfte Bewachung unerträglich; sie zogen
sich nach vielen Vexationen auf ihre Schiffe zurück und segelten
wieder nach Bantam. Die Ränke der Portugiesen bewirkten
auch in diesem Falle das Scheitern der englischen Bemühungen. —
In den folgenden Jahren richteten die Agenten der ostindischen
Compagnie in Bantam ihr Augenmerk auf die mittelchinesischen
Häfen; sie knüpften Handelsbeziehungen in A-moi und Niṅ-po an
und traten 1670 in Verbindung mit dem in Tae-waṅ herrschenden1670.
Coxinga, welcher die Engländer wahrscheinlich als Rivale der
Holländer stark begünstigte. Mit ihm schlossen sie einen förm-
lichen Vertrag, »dass sie ihre Waaren nach Gefallen an Jeden ver-
kaufen oder vertauschen und ebenso kaufen dürften; dass der
König ihnen gegen jede Beschädigung durch seine Unterthanen
[26]Die Engländer in Tae-waṅ, Niṅ-po, Fu-tšau, A-moi.
Recht schaffen sollte; dass sie immer Zutritt zu seiner Person
hätten; dass sie ihre Dolmetscher und Schreiber nach eigeuem
Ermessen wählen dürften; dass keine Soldaten oder andere
chinesische Beamten ihnen zur Bewachung oder Begleitung auf-
gedrängt würden; dass alle vom König angekauften Waaren zollfrei
wären, alle andere Einfuhr aber eine Werthsteuer von drei Procent
zahlen sollte«. Die Bestimmungen dieses merkwürdigen Vertrages
beweisen, dass die Schwierigkeiten des Verkehrs damals ganz ähn-
liche waren, wie in unseren Tagen. Ihre Geschütze und Munition
mussten die englischen Schiffe während des Aufenthaltes im Hafen
abgeben. — Mit der Zeit wurde dieser Handel unbequem; die Com-
1681.pagnie gab 1681 ihre Beziehungen zu Tae-waṅ und A-moi wieder
auf und trachtete, sich in Fu-tšau und Kan-ton einzurichten.


Der englische Handel in Niṅ-po und A-moi scheint nur so
lange geblüht zu haben, als diese Plätze vom Tartarenjoche frei
blieben; die neue Dynastie war unsicher auf dem Throne und
1685.wohl deshalb dem Fremdenverkehr besonders abhold. Um 1685
versuchte die East-India-Company in A-moi wieder Fuss zu
fassen und bemühte sich ernstlich, in regelmässige Verbindung mit
Kan-ton zu treten. Aber die eifersüchtigen Ränke der Portugiesen,
welche alle Schiffe der Briten von Macao ausschlossen und die Manda-
rinen gegen sie aufhetzten, blieben ein unüberwindliches Hinderniss.


Bei den Tartaren setzte sich der Argwohn fest, dass die
Engländer unter dem Schein des Handels politische Zwecke ver-
1689.folgten. — Als 1689 das englische Schiff Defence nach Kan-ton
kam, forderte der Hop-po oder Steuer-Director 2484 Tael12) Hafen-
gelder, begnügte sich aber schliesslich mit 1500 Tael. Einer von
der Schiffsmannschaft tödtete einen Chinesen, und in dem daraus
entstandenen Strassen-Krawall wurden der Schiffsarzt und mehrere
Matrosen erschlagen. Nun wollten die Mandarinen das Schiff nicht
segeln lassen, wenn nicht eine Busse von 5000 Tael erlegt würde;
der Capitän bot 2000, führte aber, als diese nicht angenommen
wurden, sein Schiff ohne Weiteres den Fluss hinab und gewann
unangefochten die See. — Bald nach diesem Ereignisse muss die
[27]Die Engländer in Kan-ton.
englische Factorei entstanden sein. In einem Schreiben des Direc-
toriums der Compagnie an ihren Handelsvorsteher in Kan-ton vom
Jahre 1699 heisst es: »Wir haben den Auftrag von Seiner Majestät1699.
erhalten, Euch und Diejenigen, welche nach Euch zu unseren
Handelsvorstehern in China ernannt werden, zum königlichen Be-
vollmächtigten (minister) oder Consul für das englische Volk zu
ernennen, und denselben alle mit diesem Posten verbundene Amts-
gewalt zu verleihen.« 13)


Das ganze 18. Jahrhundert hindurch hatte der Handel mit
grossen Schwierigkeiten, vor Allem mit der Habgier der Beamten,
zu kämpfen, welche sich an den Fremden zu bereichern suchten.
Zwischen ehrenhaften Kaufleuten und gewissenlosen Abenteurern
machte man wenig Unterschied; alle Fremden hafteten solidarisch
für die Vergehen Einzelner. Die Maxime, nach welcher man sie
behandelte, drücken folgende von Père Prémare aus einer chinesi-
schen Schrift übersetzten Worte aus: »Die Barbaren sind gleich
Bestien, und nicht nach denselben Grundsätzen zu regieren wie
Chinesen. Wollte man versuchen, sie nach den hohen Gesetzen
der Weisheit zu leiten, so würde das nur zur ärgsten Verwirrung
führen. Die alten Könige haben das wohl gewusst und regierten
deshalb die Barbaren durch Missregierung. Deshalb ist Missregie-
rung bei weitem die beste Art, sie richtig zu leiten.« Nach diesen
Grundsätzen entzog man ihnen selbst die Wohlthaten der chinesi-
schen Rechtspflege. »Die Fremden«, heisst es in den Aufzeich-
nungen der englischen Factorei, »werden nicht nach Gesetzen,
sondern nach der Willkür der Mandarinen regiert, und der Grund,
dass nicht noch mehr Unzuträglichkeiten vorkommen, liegt nur darin,
dass die Rgierungsbeamten noch lieber durch Erpressung ihre
Taschen füllen, als harte Maassregeln ergreifen.« — Oft mussten,
wie gesagt, schuldlose Menschen für geringe Versehen, die schlimme
Folgen gehabt hatten, der chinesischen Justiz ausgeliefert werden,
nicht zum Verhör, sondern zu grausamer Hinrichtung. Solches
Verfahren erbitterte natürlich auch den besseren Theil der Frem-
den; die gewissenloseren rechtfertigten damit ihre eigenen Gewalt-
thaten, welche sie Vergeltung nannten, die aber unter geordneten
Verhältnissen Mord, Seeraub und Brandstiftung geheissen hätten.


[28]Entwickelung des Handels in Kan-ton.

Schon zu Anfang des 18. Jahrhunderts führten die Conflicte
1727.häufig zu Sperrungen des Handels; 1727 forderten die Engländer
zuerst Befreiung von den unerträglichen Lasten. Ausser dem
sogenannten »Geschenk« von 1950 Tael, das jedes Schiff neben
den ansehnlichen Hafengebühren erlegen musste, hatten die Chi-
nesen den Handel mit einer Werthsteuer von 16 Procent belastet
und für die Verproviantirung der Schiffe schwere Abgaben gefor-
dert. — Anfangs ertheilten sie einem einzigen Kantonesen, den sie
den »kaiserlichen Kaufmann« nannten, später mehreren »Hoṅ-Kauf-
leuten« das Recht des Handels mit den Ausländern. Diese Monopol-
Kaufleute wollten sich nun zu einem »Hoṅ«, einer Compagnie-Firma,
vereinigen, um die Fremden nach Willkür drücken zu können,
wogegen letztere sich mit gutem Erfolg beim Vicekönig von
Kuaṅ-tuṅ verwahrten. In den übrigen Punkten wurde auf die
Drohung, den Handel nach A-moi oder einer anderen Küstenstadt
1728.zu verlegen, Abhülfe versprochen, aber nicht geleistet. 1728 belegte
man sogar die Ausfuhr der ostindischen Compagnie mit einer neuen
Steuer von 10 Procent. Das Monopol der Gesellschaft erstreckte
sich nämlich nur auf den directen Handel mit England, nicht
auf den Handel zwischen China und Ostindien, welcher ganz frei
war. Die sogenannten »country-ships«, welche letzteren vermittel-
ten, pflegten nun reiche Ladungen von Rohmaterial aus Indien und
der Malacca-Strasse nach Kan-ton zu bringen, während die euro-
päischen Compagnie-Schiffe wenig importirten. Da nun aus der
Einfuhr der »country-ships« bedeutende Abgaben in die kaiserlichen
Kassen flossen, aus der der Compagnie-Schiffe aber fast gar keine,
so fanden die Chinesen billig, deren Ausfuhr recht hoch zu besteuern.


In den nächsten Jahren scheint sich der Zustand kaum
1734.gebessert zu haben; 1734 sandte die Compagnie nur ein Schiff nach
Kan-ton. Ein anderes, der Grafton, wurde versuchsweise nach
A-moi geschickt; die dortigen Mandarinen waren aber noch raub-
süchtiger als die in Kan-ton; chinesische Kaufleute, die nicht mit
ihnen verbündet waren, durften gar nicht mit den Engländern ver-
kehren, und der Grafton segelte schliesslich nach Kan-ton zu-
1736.rück. — Aehnlich ging es 1736 dem Compagnie-Schiff Normanton
in Niṅ-po; die Mandarinen verlangten das Unmögliche und der Nor-
manton ging ebenfalls nach Kan-ton.


Kien-loṅ erliess den Fremden bald nach seiner Thron-
besteigung den Ausfuhrzoll von 10 Procent und das sogenannte
[29]Der Centurion.
»Geschenk«; an Hafengeldern sollten nur die unter der Bezeichnung
»Measurage« begriffenen Abgaben fortbestehen. Als das betreffende
Decret in der öffentlichen Audienzhalle zu Kan-ton feierlich verlesen
werden sollte, theilten die Hoṅ-Kaufleute den Fremden vorher mit,
dass sie sich dabei auf beide Kniee niederzuwerfen hätten. In
einer allgemeinen Versammlung gab man sich jedoch das Wort,
diese Zumuthung abzuweisen und verharrte auch dabei. Unfehlbar
hätte solche Demüthigung viele andere nach sich gezogen und die
Lage der Fremden noch verschlimmert. — In demselben Jahre,
1736, kamen im Ganzen zehn europäische Schiffe nach Kan-ton:
vier englische, zwei holländische, zwei französische, ein dänisches
und ein schwedisches. — Der Erlass des Kien-loṅ verbesserte
nicht wesentlich die Lage; die Behörden fuhren bis zum Jahre
1829 fort, das »Geschenk« in seinem vollen Betrage zu erheben,
und die Erpressungen steigerten sich trotz aller Vorstellungen. Die
Hoṅ-Kaufleute scheinen die Mandarinen und die Fremden, welche
sich früher nicht so fern standen, gegen einander aufgehetzt und
das Aufhören jedes unmittelbaren Verkehrs zwischen denselben
absichtlich herbeigeführt zu haben. Der Zweck war, beide Theile
zu hintergehen und im Trüben zu fischen.


Gegen Ende des Jahres 1741 kam zuerst ein englisches
Kriegsschiff nach China: der Centurion unter Commodor Anson
lief, auf einer Weltumsegelung begriffen, Macao an, nahm auf der
Weiterreise das von Acapulco kommende spanische Silberschiff und
brachte dasselbe, um Proviant verlegen, in den Perl-Fluss. Den
Chinesen war die Wegnahme des fremden Schiffes sehr fatal. In
Kan-ton wollten die Hoṅ-Kaufleute dem Commodor die verlangten
Lebensmittel nicht liefern, wenn er nicht persönlich nach Macao
übersiedele; denn wenn er in der Factorei bleibe, so seien sie
Bürgen für ihn und würden schweren Ersatz, vielleicht gar ihr
Leben verwirken, sollte es dem Commodor einfallen, an der chinesi-
schen Küste ein Schiff zu nehmen. Dieser antwortete schliesslich,
er habe nur noch Brod für fünf Tage an Bord und werde Kan-ton
ohne Proviant nicht verlassen. Der Handelsvorsteher drängte die
Hoṅ-Kaufleute, auf die Mandarinen zu wirken, aber vergebens; »die
Beamten, hiess es, hätten ihre besonderen Ansichten über Schiffe,
die sich auf dem Meere herumtrieben, um andere fortzunehmen«.
Zuletzt wurde Jenen aber die Gegenwart des englischen Schiffes so
unheimlich, dass sie unter der Hand einem Kaufmann die Lieferung
[30]Schwierigkeiten des Handels in Kan-ton.
der Lebensmittel erlaubten. — Die Wegnahme ihres Silberschiffes
veranlasste die spanische Regierung, Kriegsschiffe vor den Kan-ton-
Fluss
zu legen, wodurch dem Handel der Engländer in den folgen-
den Jahren viel Abbruch geschah. Ein Versuch, mit A-moi in Ver-
kehr zu treten, scheiterte abermals an den maasslosen Forderungen
der dortigen Beamten.


Um die Mitte des 18. Jahrhunderts erneuten die Fremden
in Kan-ton ihre Bemühungen, den Unbilden ein Ziel zu setzen.
Hauptpunkte ihrer Beschwerde waren damals folgende: Die will-
kürlich verzögerte Ausladung der Schiffe; Diebstähle an den auf-
gestapelten Waaren; Verunglimpfung der Fremden durch periodisch
erneute öffentliche Anschläge, worin sie der schändlichsten Ver-
brechen geziehen und der Verachtung des Volkes preisgegeben
wurden; Erpressungen der Unterbeamten unter falschen Vorwänden,
und die Verweigerung des Zutritts zu den höheren Beamten.
Wahrscheinlich hätten die Fremden durch feste Haltung und Ein-
müthigkeit Abhülfe erlangt, denn die Chinesen zogen aus dem
Handel zu grossen Gewinn, um nicht jede mögliche Forderung zu
1754.gewähren. Das 1754 versuchte Mittel musste, consequent an-
gewendet, unfehlbar wirken; die ankommenden Schiffe blieben näm-
lich vor der Flussmündung, bis der Vicekönig versprochen hatte,
jene Beschwerden in Erwägung zu ziehen. Aber man gab zu
schnell nach und es blieb bei dem leeren Versprechen. — Gewiss
war es schwierig, die kleine, aus den verschiedensten Elementen
bestehende, durch keine Stammverwandtschaft, Gesetze oder Auto-
rität verbundene Gemeinde in Kan-ton zu einmüthigem Handeln zu
vermögen. Die niedrige Gesinnung, Eifersucht und Schwäche Ein-
zelner musste jedes energische Auftreten der Gemeinschaft hemmen.
Die Portugiesen wussten geschickt zu intriguiren, und sobald auch
nur ein einziges Supercargo sich unzeitig den Forderungen der
Chinesen fügte, so gaben diese sicher nicht nach. Die Vorsteher
der Factoreien hatten wohl Autorität über ihre Unterbeamten und
die ihnen zugewiesenen Schiffe, nicht aber über die anderen, welche
keiner Handelsgesellschaft gehörten. Praktisch scheint auch die
im Jahre 1699 den englischen Handelsvorstehern verliehene con-
sularische Amtsgewalt niemals ausgeübt worden zu sein; im Gegen-
theil geht aus besonderen Fällen deutlich hervor, dass die Vor-
steher keine Autorität über die der ostindischen Compagnie nicht
gehörenden »country-ships« hatten. Unter sich waren die Handels-
[31]Handel in Niṅ-po.
vorsteher durch keine Art von Verfassung zu einer Gemeinschaft
verbunden, und gewiss schon aus Nationalstolz auf Vorrang und
und Führung sehr eifersüchtig. So mussten die Zustände hoff-
nungslos bleiben. Die blutigen Händel der Schiffsmannschaften
unter sich waren auch nicht geeignet, den Chinesen Achtung vor
den Ausländern einzuflössen: bei Wam-poa mussten damals den
Matrosen verschiedener Nationalitäten besondere Inseln zur Erholung
angewiesen werden, um den mörderischen Schlägereien ein Ende
zu machen.


Da 1754 nichts erreicht worden war, so trachteten die
Engländer ernstlich, ihren Handel nach Niṅ-po zu verlegen, wohin
im folgenden Jahre die Factorei-Beamten Harrison und Flint abgingen.
Sie wurden gut aufgenommen; die verlangten Abgaben schienen
geringer als in Kan-ton. Der Fu-yuen oder stellvertretende
Gouverneur zeigte sich den Fremden geneigt und versprach die
Erfüllung fast aller ausgesprochenen Wünsche. Wahrscheinlich
überschritt er damit seine Befugniss; denn als 1756 die Holder-1756.
nesse in Folge jener Zusagen nach Niṅ-po kam, befahl der Vice-
könig der Provinz, dass alle Feuerwaffen und Munition aus dem
Schiffe genommen und dieselben Zölle bezahlt werden sollten, wie
in Kan-ton. Der Fu-yuen konnte sich diesem Befehle nicht offen
widersetzen, vollzog ihn aber ebensowenig, sondern sandte ihn
zur Entscheidung nach Pe-kiṅ. Unterdessen erklärten die Manda-
rinen sich zu Handelsgeschäften bereit, wenn ihnen die Hälfte der
Kanonen ausgeliefert würde: sie erhielten für sich 2000 Tael und
wussten es so zu wenden, dass zuletzt die Abgaben ungefähr das
Doppelte der in Kan-ton üblichen betrugen. Kein Engländer durfte
am Lande wohnen, und bei der Abreise wurden sie, offenbar auf
höhere Eingebung, bedeutet, dass für die Zukunft in Niṅ-po kein
Handel erlaubt sei, »weil der Kaiser die bedeutenden Einkünfte aus
den Zwischenzöllen für die zu Lande nach Kan-ton gehenden chinesi-
schen Waaren nicht einbüssen wolle«. Auch den Fremden in
Kan-ton wurde amtlich mitgetheilt, dass ihr Handel auf diesen
Platz beschränkt bleiben müsse.


Trotzdem gaben die Engländer ihr Vorhaben nicht auf.
Die chinesische Regierung hatte durch Zerstörung der alten Factorei
in Niṅ-po, durch Verbannung aller Kaufleute, welche 1756 mit den
Engländern handelten, und durch Aufstellung von Kriegsdschunken,
die jedem fremden Schiffe den Weg verlegen sollten, den Ernst
[32]Flint.
1759.ihres Willens bewiesen. Dessen ungeachtet begab sich Flint 1759
abermals nach Niṅ-po, wurde aber ausgewiesen. Des Chinesischen
vollkommen mächtig, wusste er nun auf eigene Hand nach Pe-kiṅ
zu gelangen, dort die Gunst angesehener Männer zu gewinnen und
seine Klagen vor den Kaiser zu bringen. In Begleitung eines
kaiserlichen Bevollmächtigten kam er nach Kan-ton zurück 14); die
Fremden aller Nationalitäten wurden vor die Mandarinen beschieden
und benachrichtigt, dass der Hop-po, — gegen den sich besonders
ihre Klagen richteten, — degradirt und ein anderer an seiner Stelle
ernannt sei; dass ihnen ausser der Steuer von 6 Procent auf alle
Waaren und dem »Geschenk« von 1950 Tael sämmtliche Abgaben vom
Kaiser erlassen seien. — Dabei blieb es aber nicht. Der Vice-König
erwartete wohl nur die Abreise des kaiserlichen Special-Commissars,
um die Fremden ihre unverzeihliche Frechheit büssen zu lassen.
Er liess zunächst Flint zu sich rufen, gewährte jedoch das Gesuch
der Handelsvorsteher, denselben begleiten zu dürfen. Am Thore
des Palastes verlangten die Hoṅ-Kaufleute, dass die Fremden
einzeln hineingingen; diese bestanden aber darauf, sich nicht zu
trennen. Im inneren Hofe der Audienzhalle wurden sie nun von
den Officianten ergriffen und vor den Vice-König gezerrt; es ent-
stand eine Balgerei, in welcher die an Zahl stärkeren Chinesen die
Fremden zu Boden warfen: diese sollten nach Landessitte vor dem
Vice-König knieen. Als sie sich aber faustgerecht wehrten und
jede Erniedrigung gewaltsam zurückwiesen, befahl der Vice-König,
von ihnen abzulassen. Er theilte ihnen einen Erlass mit, durch
welchen Flint für seinen Versuch, gegen den Befehl der Behörden
in Niṅ-po einzudringen, des Landes verwiesen und ein Kantonese,
der vorgeblich die Fremden durch Abfassung einer Bittschrift an
den Kaiser verrätherisch unterstützt haben sollte, zum Tode
verurtheilt war. Bei Degradirung des Hop-po, welcher Anlass zu
Beschwerden gegeben habe, sollte es bleiben. — Die Hinrichtung
eines den Fremden ganz unbekannten Chinesen wurde alsbald in
ihrer Gegenwart vollzogen. Flint hielten die Mandarinen fest und
setzten ihn in einem Hause bei Macao gefangen, wo man ihn
glimpflich behandelte, aber von jedem Verkehr abschnitt. Ein von
den Franzosen, Dänen, Schweden und Niederländern in der eng-
[33]Feigheit der Portugiesen.
lischen Factorei unterschriebener Protest gegen seine Verhaftung
blieb unbeachtet. Flint wurde vom März 1760 bis zum November
1762 festgehalten, dann in Wam-poa an Bord eines eben absegelnden1762.
englischen Schiffes gebracht.


Die Provinzial-Behörden verzeihen es niemals, wenn Fremde
sich mit Beschwerden an den kaiserlichen Hof wenden. Selbst
jetzt, da die Verträge geschlossen sind und Vertreter der west-
lichen Mächte in unmittelbarem Verkehr mit den höchsten Beamten
der Centralgewalt stehen, umgehen die Mandarinen in den geöff-
neten Häfen oft deren Befehle.


Die erzählten Vorfälle steigerten in Kan-ton das gegenseitige
Uebelwollen; in den darauf folgenden Jahrzehnten waren die
Zusammenstösse zwischen Ausländern und Chinesen häufiger und
blutiger als jemals. Nur die Portugiesen liessen sich nach den
englischen Berichten Alles gefallen und opferten dem Vortheil
Ehre und Bewusstsein. Aus dem Jahre 1773 wird folgendes Ereig-1773.
niss berichtet. Ein Chinese war in Macao erschlagen worden; der
Verdacht des Mordes fiel auf einen Engländer Scott, der von den
Colonialbehörden verhaftet wurde. Der portugiesische Gerichtshof
fand trotz allen Zeugenverhören nicht den schwächsten Beweis für die
Schuld des Angeklagten; trotzdem forderten die Mandarinen perem-
torisch dessen Auslieferung und drohten mit Sperrung des Handels.
Die Portugiesen waren überzeugt von der Unschuld des Scott; ein
Mitglied des Senates sprach offen aus, dass dessen Auslieferung
ehrlos wäre; trotzdem beschloss die Majorität sich zu fügen, und
lieferte wirklich den Schuldlosen zur Schlachtbank.


Die despotische Willkür der Chinesen und die damalige
Rechtlosigkeit der Fremden beweist unter vielen anderen folgender
Vorfall. Am 24. November 1784 gelangte die Nachricht nach1784.
Kan-ton, dass drei Chinesen eines Proviantbootes durch einen Salut-
schuss des indischen Schiffes Lady Hughes schwer verletzt seien.
Einer davon starb am folgenden Morgen. Der Feuerwerker, der
ganz schuldlos war, kannte die rachsüchtige Grausamkeit der
Landesjustiz und verbarg sich. — An demselben Tage kam ein
Mandarin zum englischen Handelsvorsteher und verlangte Unter-
suchung, gab aber zu, dass nach allem Anschein ein Zufall das
Unglück herbeigeführt habe. Der Handelsvorsteher hatte keine
Gewalt über das indische Schiff (country-ship), das der Compagnie
nicht gehörte, versprach aber seinen Einfluss bei dem Supercargo
III. 3
[34]Justizmorde.
unter der Bedingung aufzubieten, dass die Untersuchung in der
Factorei geführt werde. Solche Zusage wurde anfangs gegeben,
dann aber zurückgezogen: in der Stadt sollte das Verhör
vor dem Fu-yuen stattfinden. Als dem nicht sofort entsprochen
wurde, lockten die Chinesen, nachdem sie den Argwohn der Eng-
länder durch geheuchelte Nachgiebigkeit beschwichtigt hatten,
den Supercargo Smith aus der Factorei auf die Strasse und
schleppten ihn in die Stadt. Zugleich wurden die Zugänge zu
den Factoreien von aussen gesperrt und jede Verbindung mit
Wam-poa abgeschnitten; alle chinesischen Diener und Dolmetscher
flohen. Den Handelsvorstehern gelang es, einen Befehl nach
Wam-poa zu senden, dass alle Boote der Schiffe armirt und nach
Kan-ton geschickt werden sollten; die meisten erreichten auch trotz
dem Feuer der Dschunken und Strandbatterieen die Stadt; man
stand sich drohend gegenüber. Nun suchten die Chinesen zu
beschwichtigen: der Fu-yuen wolle Herrn Smith nur Einiges
fragen und dann befreien. Als darauf die Fremden nicht wichen,
erliess der Fu-yuen ein Vernichtung drohendes Decret und liess
Boote mit Soldaten vor den Factoreien auffahren. Dort unterzeich-
neten am 28. November alle Ausländer ein Gesuch um Freigebung
des Smith, und an demselben Abend empfing der Fu-yuen eine
Deputation derselben; er war sehr aufgeregt und wünschte sich
offenbar aus dem Handel zu ziehen, machte aber noch keine Zu-
sagen. Etwas Festigkeit von Seiten der Fremden hätte sicher zu
gutem Ende geführt. — Nun gelangte aber ein Schreiben des
Supercargo Smith nach den Factoreien: man möge doch den Feuer-
werker oder sonst Jemand zum Verhör in die Stadt senden; der
Vorsteher der englischen Factorei schickte nach Wam-poa, und der
unglückliche Feuerwerker, ein ältlicher Mann, wurde gegen die
Versicherung vornehmer Mandarinen, dass für sein Leben nicht zu
fürchten sei und nur die kaiserliche Entscheidung abgewartet
werden müsse, der chinesischen Justiz am 30. November aus-
geliefert. Eine Stunde darauf kam Smith nach der Factorei zurück;
er war höflich behandelt worden. Der Feuerwerker wurde am
8. Januar 1785 zu Kan-ton strangulirt.


Die Engländer sahen sich durch diesen und ähnliche frühere
Vorfälle gewarnt und lieferten nachher niemals wieder einen Lands-
mann aus. Gegen andere Völker aber, die unsicher auftraten, sind
Fälle brutalen Justizmordes auch später verübt worden. Ameri-
[35]Earl Macartney.
caner lieferten noch 1821 einen unschuldigen Italiener auf die
Schlachtbank.


Der Handel der Engländer hatte im Laufe des 18. Jahr-
hunderts trotz allen Bedrückungen erhebliche Ausdehnung gewonnen,
und die Regierung musste ernstlich darauf bedacht sein, ihre zahl-
reichen Unterthanen in China nach dem Maasse ihrer Kraft zu
schützen, ihnen die geachtete Stellung zu vindiciren, welche dem
nationalen Bewusstsein eines mächtigen Volkes entspricht. Die Hin-
richtung jenes unglücklichen Feuerwerkers wurde in England in
den weitesten Kreisen erörtert, erweckte lebhafte Entrüstung und
stellte die Rechtlosigkeit der Fremden in China in grelles Licht.
Wie sehr dieses Ereigniss dazu beitrug, die Lage ihrer Unterthanen
zum Bewusstsein der englischen Regierung zu bringen, beweist die
ausdrückliche Erwähnung desselben in der allen Mitgliedern von
Lord Macartney’s Gefolge mitgetheilten Instruction. Wie richtig
die Regierung auch ihre eigenen Unterthanen in China schätzte,
zeigt ein Passus dieser Instruction, in welchem allen Betheiligten
anständiges Benehmen eingeschärft wird, damit die Chinesen eine
bessere Meinung von den Engländern erhielten; »denn der Eindruck,
den sie jetzt in Folge der von ihren Landsleuten begangenen Un-
regelmässigkeiten hätten, sei so ungünstig, dass man sie sogar für
die schlechtesten aller Europäer halte.«


Schon 1788 wurde von England eine Gesandtschaft nach1788.
China abgeschickt. Der Träger derselben, Colonel Cathcart, starb
aber auf der Reise, und da der Fall nicht vorgesehen war, so
kehrte die Fregatte Vestalin mit dem Gefolge von der Sunda-
Strasse
nach der Heimat zurück. Vier Jahre darauf wurde, nach-1792.
dem man sich vorher der Geneigtheit des Kaisers Kien-loṅ, einen
Botschafter Seiner Grossbritannischen Majestät zu empfangen, gehörig
versichert hatte, abermals eine Gesandtschaft unter Earl Macartney
ausgerüstet. Das Gefolge war sehr glänzend. Ausser dem Secretär
Sir George Staunton und zahlreichen Attaché’s begleiteten den Bot-
schafter mehrere Aerzte, Mechaniker, Maler und Zeichner. Die
Ehrenwache bildete ein aus Infanterie, Cavallerie und Artillerie
combinirtes Detachement von 50 Mann, commandirt von einem
Oberst-Lieutenant und zwei Subaltern-Officieren. Unter der
20 Köpfe starken persönlichen Bedienung des Botschafters waren
Bäcker, Tischler, Gärtner, Uhrmacher, Schneider und Musikanten.
Mit diesem Gefolge schiffte Lord Macartney sich Ende September
3*
[36]Earl Macartney.
1792 zu [Portsmouth] auf dem Kriegsschiffe Lion (64 Kanonen) ein.
Der Ostindienfahrer Hindostan und die Brigg Jackall, — letztere
als Tender — begleiteten den Lion; die Reise bis zum Pei-ho
dauerte zehn Monate. Der Empfang des Botschafters war durch
Commissare der ostindischen Compagnie vorbereitet worden, welche
ihn durch die Behörden in Kan-ton der kaiserlichen Regierung
anmeldeten.


An der Pei-ho-Mündung erwarteten die Gesandtschaft zwei
Mandarinen hohen Ranges, welche an Bord des Lion kamen und
für die Ausschiffung sorgten. Sie machten den Engländern die
Reise nach Pe-kiṅ so angenehm als möglich, behandelten sie aber
durchaus als tributbringende Gesandtschaft. So lautete die Be-
zeichnung auf allen Flaggen der für die Flussreise gestellten Boote;
und nicht nur alle Bedürfnisse, sondern auch die Ankäufe der
Engländer wurden aus dem kaiserlichen Säckel bezahlt. —
Kien-loṅ befand sich auf dem Jagdschlosse Džehol in der Tartarei,
etwa dreissig deutsche Meilen nördlich von Pe-kiṅ; dort wollte er
die Gesandtschaft empfangen. — In einer Villa zwischen dem Dorfe
Hae-tien und dem Sommerpalast Yuaṅ-miṅ-yuaṅ, wo Lord Ma-
cartney
bei Pe-kiṅ einquartiert wurde, versuchten die begleitenden
Mandarinen ihn zur Einübung des Ko-to zu bewegen; er machte
die Bedingung, dass ein chinesischer Beamter von seinem
Range dem Bilde des Königs von England dieselbe Ehrfurcht
erweise, und man stand einstweilen davon ab. — Nach kurzem
Aufenthalte in Pe-kiṅ wurde die Reise fortgesetzt. In Džehol ver-
suchte man wieder, dem Botschafter vor der Audienz das Ver-
sprechen des Ko-to abzudringen, wahrscheinlich auf Veranlassung
der Behörden in Kan-ton, deren Einfluss sich fühlbar machte;
Kien-loṅ willigte aber unverzüglich in seinen Gegenvorschlag, ein
Knie vor ihm zu beugen, wie vor seinem eigenen Könige.


Lord Macartney hatte mehrere Audienzen, bei denen weder
grosses Gepränge noch beengendes Ceremoniel herrschte. Kien-loṅ
behandelte ihn gnädig und ehrenvoll; seine Einfachheit und un-
befangene Würde machte auf die Engländer den besten Eindruck.
Die Hoffnungen jedoch, welche sie auf den guten Empfang bauten,
erfüllten sich nicht. Der Kaiser erklärte freundlich aber bestimmt,
dass er keine schriftliche Uebereinkunft, keinen Vertrag mit der
Krone England unterzeichnen werde, da solcher Schritt gegen das
alte Herkommen, in der That ein Bruch der Reichsverfassung
[37]Earl Macartney.
wäre. Er habe hohe Achtung vor Seiner Grossbritannischen
Majestät und fühle sich geneigt, dessen Unterthanen grössere Zu-
geständnisse zu machen als anderen Europäern, auch die neuen
Einrichtungen für den Handel in Kan-ton zu treffen, welche Haupt-
zweck der Gesandtschaft zu sein schienen; er werde aber stets vor
Allem das Wohl und den Vortheil seiner eigenen Unterthanen im
Auge behalten und niemals eine Spur davon opfern. Jeder fremden
Nation, deren Interessen sich nicht mit den chinesischen vertrügen,
werde er seine Gunst entziehen; die Engländer könnten die ihnen
gewährten Vortheile durch schlechtes Betragen wieder verwirken.
Dieser Ausdruck seines bestimmten Willens, erklärte der Kaiser,
bedürfe keiner Aufzeichnung oder Unterschrift. — Noch deutlicher
sprach der Minister, mit welchem Lord Macartney verkehrte: es
könnten keine Verhandlungen auf der Basis gegenseitiger Vortheile
stattfinden; alle Zugeständnisse seien nur als Gnade und Herab-
lassung des chinesischen Kaisers aufzufassen.


Bei der Abschieds-Audienz in Džehol übergab Kien-loṅ dem
Botschafter mit den gnädigsten Worten einige kostbare Steine, die
seit 800 Jahren in seiner Familie seien, und eigenhändig geschriebene
Verse für den König von England15); Lord Macartney reiste noch
voll Hoffnung auf den schliesslichen Erfolg seiner Mission nach
Pe-kiṅ zurück, wo er am 26. September wieder eintraf. Er hatte in
dem ihm dort angewiesenen Palast während seiner Abwesenheit
glänzende und bequeme Einrichtungen für einen längeren Aufenthalt
treffen lassen, denn man hoffte da den Winter durch von den
Mühsalen der Reise auszuruhen. Die Decoration des Staatszimmers
mit Thronhimmel und königlichem Wappen in Purpurseide und
reicher Goldstickerei, kostbaren Teppichen und den lebensgrossen
Bildnissen der Königsfamlie muss sehr prächtig gewesen sein.
Die Repräsentation sollte erst hier beginnen, denn der Kaiser wurde
unverzüglich erwartet. In Džehol war wenig Gelegenheit zu
[38]Earl Macartney.
Gepränge; auf der mühseligen Landreise hatte man nur kleines
Gepäck mitführen können; die Staats-Processionen zu den Audienzen,
welche nach chinesischer Sitte bei Sonnenaufgang stattfanden,
werden von den Theilnehmern selbst als lächerlich geschildert. —
Beim Einzuge des Kaisers in Pe-kiṅ stellte Lord Macartney sich
nach Landessite am Wege auf und wurde freundlich begrüsst. Die
königlichen Geschenke — nur ein Theil war nach Džehol mit-
genommen worden — mussten sofort im Sommer-Palast aufgestellt
werden; Alles wurde von den Chinesen in grösster Eile betrieben.
Der Ko-lao oder erste Minister scheint damals gleich mit dem
Vorschlag zu schleuniger Abreise hervorgetreten zu sein, welchen
er mit dem baldigen Eintritt des kalten Winters motivirte; aber
noch am 2. October gab der Botschafter nach einer Conferenz mit
den Ministern den Befehl zu weiteren häuslichen Einrichtungen.
Die Ueberführung der reichen Geschenke nach Yuaṅ-miṅ-yuaṅ
dauerte mehrere Tage; der Kaiser schien Gefallen daran zu finden
und erwiederte sie mit eben so reichen Gaben, die sich sogar auf
die Mannschaft der bei Tšu-san ankernden englischen Schiffe er-
streckten. — Die Mandarinen gaben unterdessen immer deutlicher
zu verstehen, dass der Botschafter gleich nach Empfang des kaiser-
lichen Schreibens um Erlaubniss zur Abreise bitten müsse. Das
Object der Gesandtschaft sei lediglich, Geschenke zu bringen und
Festen beizuwohnen; nach Empfang der Gegengeschenke und des
Antwortschreibens müsse dem chinesischen Ceremoniel gemäss
sofort die Rückreise angetreten werden. Auf geschäftliche Unter-
redungen liessen sich die Minister nicht mehr ein; der Ko-lao,
welcher den Fremden ungünstig gewesen sein muss, erbat sich
einen kurzen Auszug der englischen Anträge. Nachdem der Bot-
schafter das kaiserliche Schreiben im Palast feierlich in Empfang
genommen hatte, scheint ihm der Befehl, Pe-kiṅ binnen zwei Tagen
zu verlassen, ohne Förmlichkeiten insinuirt worden zu sein 16). Der
Kaiser liess Höflichkeiten sagen, empfing die Gesandtschaft aber
nicht mehr. Die eben eingetroffene Nachricht vom Ausbruche des
[39]Earl Macartney.
Krieges mit Frankreich gab willkommenen Vorwand zu scheinbar
freiwilliger Abreise; in der That aber wurden die Engländer aus-
gewiesen. Auf der Rückreise durch das Land 17) nach Kan-ton, —
dem vorgeschriebenen Wege der tributbringenden Gesandten, —
wurden sie freundlich behandelt; die begleitenden Mandarinen
benahmen sich bis zum letzten Augenblick sogar herzlich und
sorgten mit persönlicher Aufopferung für die Bequemlichkeit der
Fremden. — In Kan-ton, wo die Gesandtschaft am 19. December
1793 eintraf, war der Empfang von Seiten der Chinesen sehr ehren-
voll: die den Fluss auf lange Strecken säumenden Festungswerke
und Kriegsdschunken salutirten; die Besatzungen waren am Ufer
aufmarschirt und beugten das Knie, als der Botschafter vor-
überfuhr.


Lord Macartney blieb noch bis zum 8. März 1794 in
Kan-ton und Macao. Bei der Einschiffung nahm Suṅ-Tadžen, der
chinesische Reisemarschall, unter Thränen von ihm Abschied. Da-
mals schon Mandarin ersten Ranges, wurde dieser liebenswürdige
Mann später Vice-König von Kuaṅ-tuṅ und erwarb sich auch in
dieser schwierigen Stellung die höchste Achtung der Fremden,
welche sein Unglück werden sollte. Als nachher Suṅ-Tadžen eine
der einflussreichsten Stellungen am Hofe bekleidete, beschloss die
englische Regierung 1812 — also zwanzig Jahre nach Lord Ma-
cartney’s
Reise — ihm ein werthvolles Ehrengeschenk zu senden,
mit dessen Ueberreichung ein chinesischer Dolmetscher der eng-
lischen Factorei in Kan-ton beauftragt wurde. A-yen kehrte mit
einer Karte des Suṅ-Tadžen dahin zurück, wurde jedoch alsbald
von den dortigen Behörden verhaftet und nach summarischem Ver-
fahren für unerlaubte Beziehungen zu den Barbaren in die Tartarei
verbannt. Bald darauf erfuhr man, dass Suṅ-Tadžen in Ungnade
gefallen, das Ehrengeschenk aber zurückgesandt worden sei. Er
soll niemals wieder ein einflussreiches Amt bekleidet haben.


Ein Hauptzweck von Lord Macartney’s Sendung war
die Freigebung von Niṅ-po, Tšu-san, Tien-tsin und anderen
Häfen für den englischen Handel; die Minister lehnten aber jede
darauf zielende Erörterung ab. In seinem Schreiben an den König
von Grossbritannien betont Kien-loṅ, dass der Handel auf
Kan-ton beschränkt bleiben müsse: »Ihr werdet Euch nicht
[40]Schreiben König Georg III.
beklagen können, dass ich Euch nicht deutlich gewarnt hätte. Lasst
uns deshalb in Frieden und Freundschaft leben, und achtet meine
Worte nicht gering.« — Die Freigebung von Tšu-san hätte wenig
Bedeutung gehabt. Für den Ostindienfahrer Hindostan gewährte
der Kaiser volle Handelsfreiheit und Befreiung von allen Abgaben,
weil derselbe zum Geschwader des Botschafters gehörte. Die
Mandarinen und Kaufleute zeigten in Tšu-san den besten Willen;
Thee und Seide waren viel billiger als in Kan-ton, aber nur in
geringer Menge vorhanden, und die Ladung des Hindostan fand so
wenig Absatz, dass die vorhandenen Ausfuhrartikel mit baarem
Silber hätten bezahlt werden müssen. Darauf war der Supercargo
nicht vorbereitet, und das Schiff segelte mit der ganzen Ladung
nach Kan-ton zurück. Tšu-san ist auch in neuerer Zeit kein
Handelsplatz geworden; dazu fehlen ihm viele Bedingungen.


Da man in England glaubte, dass Lord Macartney’s Mission
günstige Folgen für den Handel haben werde, so erliess Georg III.
abermals ein Schreiben an den chinesischen Kaiser, das, von werth-
vollen Gaben begleitet, im Januar 1795 zu Kan-ton eintraf. Den
königlichen Brief und die Geschenke für den Kaiser nahm der
Vice-König bereitwillig an und beförderte sie nach Pe-kiṅ, von wo
alsbald eine Antwort und Gegengeschenke eintrafen. Die von den
englischen Ministern und der ostindischen Compagnie dem Vice-
König bestimmten Gaben und Briefe wurden dagegen zurück-
gewiesen, »da es chinesischen [Staatsdienern] nicht erlaubt sei, mit
Beamten fremder Länder in Beziehungen zu treten«. — Die Chinesen
bezeichneten die vom Kaiser angenommenen Geschenke in späteren
Verhandlungen immer als Tribut, trotz allen Protesten der englischen
Diplomaten.


Obgleich Lord Macartney’s Sendung keinen positiven Erfolg
hatte, so erfüllte sich doch die Hoffnung der Engländer, ihre Lage
in China gebessert zu sehen. Ohne Zweifel waren aus Pe-kiṅ
Instructionen eingetroffen; die Mandarinen in Kan-ton merkten,
dass die Fremden Einfluss in der Hauptstadt üben konnten und
suchten dem für die Zukunft vorzubeugen. Wahrscheinlich trug
auch Suṅ-Tadžen’s Persönlichkeit viel dazu bei, dass die Be-
ziehungen sich günstiger gestalteten; bis zum Jahre 1807 wurden
sie durch kein Ereigniss getrübt, das eine Handelssperre herbei-
geführt hätte; man konnte sich über willkürliche Bedrückung nicht
beklagen. Gleichwohl blieb es bei den hohen Abgaben und Lasten;
[41]Todtschlag in Kan-ton.
die Einrichtungen waren für die Mandarinen und Hoṅ-Kaufleute
zu vortheilhaft, um so leicht aufgegeben zu werden, und die Frem-
den müssen trotz denselben grossen Gewinn aus dem Handel ge-
zogen haben.


Der Vorfall, welcher 1807 die Beziehungen trübte, war an1807.
sich unerheblich, aber bezeichnend für die Verhältnisse durch
seinen Ausgang. Matrosen vom englischen Schiffe Neptune hatten
sich in einem Schnapsladen der an die Factoreien grenzenden
Gassen betrunken und eine Schlägerei mit Chinesen angefangen —
das war ein alltägliches Ereigniss. Die Officiere des Neptune sam-
melten ihre Leute und brachten sie in die englische Factorei; der
chinesische Pöbel aber begann die verrammelten Thore mit Steinen
zu bombardiren; die aufgeregten Seeleute brachen durch Schloss
und Riegel und fielen über den Pöbel her, der schnell auseinander-
stob. Dabei erhielt ein Chinese einen Hieb über den Schädel und
starb daran. — Bei der an Bord des Neptune angestellten Unter-
suchung konnte der Thäter nicht ermittelt werden; die Mandarinen
verlangten aber peremtorisch dessen Auslieferung und sperrten den
Handel. Ihrer Forderung, dass die Untersuchung in der chine-
sischen Stadt geführt werde, entsprach man nicht, sondern
verstand sich nur dazu, das Verhör in der englischen Factorei vor
dem Ausschuss-Comité derselben und den chinesischen Richtern
in Gegenwart des Capitän Rolles vom englischen Kriegsschiffe Lion
stattfinden zu lassen. Seesoldaten mit aufgestecktem Bajonet hielten
dabei Wache. In dem Tumult waren so viele Streiche gefallen, dass
der des Todtschlages schuldige Matrose sich nicht ermitteln liess;
um die Chinesen aber zu beschwichtigen, beschloss das Comité,
einen, der besonders heftig um sich gehauen hatte, in Gewahrsam
zu behalten. Es wurde abgemacht, dass eine Geldbusse an die
Verwandten des Gefallenen erlegt werden solle. Als aber das
Ausschuss-Comité zur gewohnten Jahreszeit nach Macao über-
siedeln wollte, verlangten die Mandarinen, dass der verhaftete
Matrose in Kan-ton zurückbleibe. Nun erklärte Capitän Rolles,
er werde denselben an Bord seines Schiffes nehmen; die Man-
darinen fügten sich nach einigem Sträuben. Sie waren, wie bei
jedem ernsthaften Widerstande, in arger Verlegenheit. Nach
Pe-kiṅ mussten derartige Vorfälle berichtet werden; den Handel
wollte man nicht missen; so erfanden sie denn eine Erzählung, die
den Angeklagten, dessen sie nicht habhaft werden konnten, schuldlos
[42]Englische Besatzung in Macao.
erscheinen liess. Der Matrose, wurde nach Pe-kiṅ berichtet, habe
beim Oeffnen eines Fensters im oberen Stockwerk der Factorei aus
Versehen an ein Stück Holz gestossen, durch dessen Fall der
Chinese getödtet wurde. Der kaiserliche Spruch befreite den An-
geklagten von aller Schuld und verlangte nur eine Geldbusse von
12 Tael für die Verwandten des Erschlagenen. — So plumpe
Lügen wurden dem Hofe später häufig aufgetischt, wenn die Beamten
in Kan-ton sich verrannt hatten.


1802.Politische Ereignisse drohten schon zu Anfang des 19. Jahr-
hunderts die Stellung der Fremden in China zu erschweren. Lord
Wellesley, damals General-Gouverneur von Indien, glaubte 1802 die
portugiesischen Niederlassungen in Asien vor den Anschlägen Frank-
reichs
sichern zu müssen und schickte auch nach Macao Truppen.
Der Vice-König von Kuaṅ-tuṅ protestirte gegen die Anmaassung,
irgend einen Theil des chinesischen Reiches besetzen zu wollen,
und verlangte schleunige Entfernung der Engländer. Glücklicher-
weise beugte die Nachricht vom Friedensschlusse weiteren Er-
örterungen vor und die Truppen kehrten [auch]Bengalen zurück. —
1808.Als im Jahre 1808 abermals die Gefahr eines Handstreiches eintrat,
liess die englische Regierung des kantonesischen Handels wegen
Macao wieder besetzen. Der portugiesische Gouverneur war von
Goa aus zu Aufnahme der englischen Truppen angewiesen und
hätte sich mit seiner Handvoll schwarzer Soldaten derselben
wohl kaum erwehren können; er unterzeichnete also gegen
die Weisungen der chinesischen Behörden eine Convention und
liess am 21. September die englischen Truppen landen, beklagte
sich aber im Geheimen beim Vice-König über Gewalt und warnte
ihn vor englischen Eroberungsgelüsten. Aehnlich hatten die Portu-
giesen 1802 gehandelt. — Der Vice-König verlangte jetzt perem-
torisch die Einschiffung der Truppen, verbot auch alle Handels-
geschäfte und die Proviantirung aller englischen Schiffe: »Ihr
wisst,« heisst es in seinem Erlass, »dass das von den Portugiesen
bewohnte Gebiet zum himmlischen Reiche gehört, und könnt nicht
glauben, dass die Franzosen sie dort zu belästigen wagen. Sollten
sie es dennoch thun, so werden unsre tapferen Truppen sie an-
greifen, schlagen und aus dem Lande jagen.«


Admiral Drury schlug nun dem Vice-König eine Zusammen-
kunft in Kan-ton vor, erhielt aber keine Antwort. Darauf wies
er alle dortigen Briten an, sich auf ihre Schiffe zu begeben; das
[43]Admiral Drury.
Kriegsgeschwader fuhr weiter den Fluss hinauf. Der Vice-König
weigerte sich beharrlich der Anerkennung einer englischen Behörde
ausser dem Factorei-Vorsteher und wies jeden Verkehr mit dem
Admiral von sich. Dieser ging nun selbst nach Kan-ton, forderte
eine Zusammenkunft und liess dem Vice-König sogar sagen, »er
werde in einer halben Stunde bei ihm sein«, kehrte aber statt
dessen auf sein Schiff zurück. — Der Vice-König blieb standhaft.
Nach einiger Zeit erhielten alle Kriegsschiffe und Indienfahrer Be-
fehl, ihre Boote zu bemannen, um abermals in Kan-ton einzu-
dringen. Die Chinesen hatten eine Reihe Dschunken quer über den
Fluss gelegt. Admiral Drury fuhr den anderen Booten voran, um
zu parlamentiren, wurde aber mit einem Kugelregen empfangen.
Er gab nun das Zeichen zum Angriff, das nicht verstanden, eben-
sowenig aber wiederholt wurde; der Admiral besann sich eines
Besseren, machte kehrt und fuhr mit allen Booten zum Geschwader
zurück. — Die triumphirenden Chinesen aber bauten am Orte ihres
Sieges eine Pagode.


Der Stillstand des Handels brachte den Fremden grossen
Verlust, und der Vice-König erklärte das Verbot aufrecht halten
zu wollen, so lange ein englischer Soldat in Macao wäre. So be-
schloss man denn am 8. December, sich nach einem eben ein-
gelaufenen kaiserlichen Erlass zu richten, der einen leidlichen Vor-
wand zum Nachgeben bot. In Macao wurde eine Convention unter-
zeichnet; die Truppen schifften sich ein und segelten nach Ben-
galen
. — Die Chinesen trugen diesmal einen vollständigen Sieg
davon, welcher der Stellung der Fremden wesentlich schadete und
den guten Eindruck verwischte, welchen die Haltung des Capitän
Rolles 1807 hinterliess.


Der englische Handelsvorsteher18)Roberts war wegen seines
Verfahrens in dieser Angelegenheit vom Directorium der Compagnie
getadelt und zurückberufen worden. Als er 1813 wieder einen Sitz
im Ausschuss-Comité erhalten und sich in Macao eingefunden hatte,
erklärte der Hop-po durch öffentlichen Erlass, dass jener wegen
seines früheren Benehmens nicht nach Kan-ton kommen dürfe.
Die Portugiesen sollen auch bei dieser Gelegenheit das Feuer ge-
schürt haben. Unwohlsein hielt Roberts in Macao zurück; der
Ausschuss aber war entschlossen, den Mandarinen keine Einwirkung
[44]Feindselige Stimmung in Kan-ton.
auf seine Zusammensetzung einzuräumen. Die Beamten der Factorei
begaben sich zur gewohnten Zeit — Ende September — nach
Kan-ton, verboten jedoch das Ausladen der Schiffe, bis der Hop-po
seinen Erlass zurückgezogen hätte. — Roberts starb am 22. No-
vember in Macao. Der englische Handelsvorsteher verlangte nun,
dass die Angelegenheit ohne Rücksicht auf diesen Zwischenfall im
Princip entschieden werde, und erlaubte den Handel erst wieder,
als der Hop-po sich namens der Regierung schriftlich jedes Rechtes
begeben hatte, auf die Ernennung der Compagnie-Beamten Einfluss
zu üben.


So steigerte sich seit 1807 die gegenseitige Verstimmung der
Engländer und Chinesen; es war ein sonderbarer und ungleicher
Kampf zwischen dem Nationalstolz und der Habgier der beiden
Partheien. So sehr die Engländer im Nachtheil waren, so gewannen
sie doch immer mehr Boden und lernten allmälich den Mandarinen
die Spitze bieten. Einen gewissen Abschluss findet diese Periode
1814.in den Ereignissen des Jahres 1814. — Damals übte das englische
Kriegsschiff Doris eine wirksame Blockade gegen die im Perl-Fluss
liegenden americanischen Fahrzeuge, und nahm — im April 1814 —
das Schiff Hunter. Die chinesischen Behörden forderten nun vom
Handelsvorsteher, er solle die Doris fortschicken, wozu derselbe
keine Macht hatte. Im Mai jagten die Boote des englischen Kriegs-
schiffes einen americanischen Schooner den Perl-Fluss hinauf bis
Wam-poa und nahmen ihn dort, mussten ihre Prise aber im Stiche
lassen, als die Boote der anderen Americaner über sie herfielen.
Nun ergriffen die Mandarinen feindselige Maassregeln gegen die
englische Factorei: zuerst wurden alle dort dienenden Chinesen
durch Polizeidiener unter Androhung von Strafen entfernt, dann
die Boote der Indienfahrer auf dem Flusse belästigt und Versuche
gemacht, die Verbindung mit dem Kriegsschiffe abzuschneiden.
Dem begegnete das Ausschuss-Comité durch Einstellung des Han-
dels. Ueberrascht, die eigenen Waffen gegen sich gekehrt zu
sehen, lenkten die Behörden ein. Ein Mandarin erhielt den Auf-
trag, mit dem Bevollmächtigten des Ausschusses, Sir George
Staunton
, zu unterhandeln; dieser brachte in mehreren Conferenzen
viele Beschwerden zur Sprache. Seit Jahren hatte sich der Zünd-
stoff angehäuft und drohte gewaltsamen Ausbruch. Man machte
aber mit dem Aufräumen wenig Fortschritt, und der Vice-König
befahl die Verhandlungen abzubrechen. Darauf forderte das Aus-
[45]Lord Amherst.
schuss-Comité alle britischen Unterthanen auf, Kan-ton zu verlassen,
und das ganze Handels-Geschwader fuhr den Fluss hinab.


Diese Maassregel brach die Hartnäckigkeit des Vice-Königs.
Er schickte den Engländern eine Deputation von Hoṅ-Kaufleuten
nach und versprach Erörterung aller Beschwerden, wenn Staunton
zurückkehren wolle. Als dieser in Kan-ton erschien, suchten die
Chinesen ihr Versprechen zu umgehen, scheiterten aber an seiner
Entschlossenheit. Nach langem Streit wurden die Hauptforderun-
gen bewilligt und eine amtliche Urkunde darüber aufgenommen, die
der Vice-König unterschrieb. Zum ersten Male gestand man darin
den Engländern das Recht zu, unter Siegel und in chinesischer
Sprache mit der Provinzial-Regierung zu correspondiren; kein
chinesischer Beamte sollte ohne Erlaubniss des Handelsvorstehers
die Factorei betreten, kein Chinese gehindert werden, bei den Eng-
ländern Dienste zu nehmen u. s. w. Das war ein grosser Erfolg.


In England fand das Auftreten des Ausschusses grosse An-
erkennung sowohl im Parlament als bei den Directoren der ostin-
dischen Compagnie. Die schriftlichen Versprechen des Vice-Königs
erweckten die Hoffnung, dass im Wege der Verhandlung ein
Weiteres zu erreichen wäre, und den Wunsch, noch einmal mit
dem Kaiserhofe in Verbindung zu treten. Man hoffte noch immer
Verträge zu erzielen, durch welche der Handel auf fester Grund-
lage aufgebaut, den englischen Unterthanen voller Rechtsschutz
und eine geachtete Stellung gesichert würde. Die Sendung des
Lord Amherst 1816 bezweckte, bleibende Beziehungen zu den1816.
kaiserlichen Behörden in Pe-kiṅ anzubahnen; denn seit einer Reihe
von Jahren hatte sich gezeigt, dass die Willkür und Doppelzüngig-
keit der Provinzial-Beamten eine Hauptquelle der Widerwärtigkeiten
waren, dass von der kaiserlichen Regierung eine billigere Beurthei-
lung der Verhältnisse zu erwarten sei. In England träumte man
damals sogar von Einrichtung einer stehenden Gesandtschaft in
Pe-kiṅ; doch erreichte Lord Amherst eben so wenig als Lord
Macartney.


Die Gesandtschaft verliess England am 10. Februar 1816 an
Bord der Fregatte Alceste, in Begleitung der Kriegs-Brig Lyra und
des Indienfahrers General Hewett. Am 12. Juli ankerten sie vor
Macao; dort schifften sich Sir George Staunton und die chinesi-
schen Secretäre der englischen Factorei ein. Am 28. Juli erreichten
sie die Pei-ho-Mündung; die Gesandtschaft durfte am 9. August
[46]Lord Amherst.
landen und traf am 12. in Tien-tsin ein, wo ihr im Namen des
Kaisers ein glänzendes Fest gegeben, zugleich aber von den Man-
darinen zugemuthet wurde, das Ko-to oder Kopfstossen vor einem
gelben Schirme einzuüben. Die Gesandten aller China tribut-
pflichtigen Reiche müssten diesen Gruss vor dem Kaiser verrichten,
also auch die Engländer. Lord Amherst weigerte sich und wies
darauf hin, dass Kien-loṅ sich von Lord Macartney nach der vor
dem eigenen Monarchen üblichen Sitte habe begrüssen lassen,
wurde aber von dem Augenblick an und auf der weiteren Reise
schlecht behandelt. In Pe-kiṅ angelangt, erhielt er von Kaiser
Kia-kiṅ die Weisung, sofort vor ihm zu erscheinen. Staubig
und müde von der Reise, die in Karren auf holprigem Wege
zurückgelegt wurde, liess Lord Amherst sich mit Unwohlsein ent-
schuldigen. Der Kaiser sandte seinen Leibarzt, und gab auf dessen
Bescheid, dass nur Ermüdung Lord Amherst von der Befolgung
seines Willens abhalte, den Befehl zu schleuniger Abreise der Ge-
sandtschaft. Sie kehrte also nicht nur unverrichteter Sache, son-
dern ohne überhaupt vorgelassen zu sein, auf dem Landwege nach
Kan-ton zurück, wurde aber auf der Rückreise etwas besser
behandelt, als vor der Ankunft in Pe-kiṅ.


Die Ansicht, dass Lord Amherst’s Sendung an seinem vor-
nehmen Betragen gescheitert sei, ist sicher ungegründet. Die
holländischen Gesandten, welche sich jeder Demüthigung unter-
zogen, wurden verspottet und beschimpft, während die Engländer
wenigstens anständige Behandlung erfuhren. Obgleich auch diese
formell nichts erreichten, folgte doch ihren beiden Gesandtschaften
factisch eine Periode des besseren Vernehmens mit den Behörden
in Kan-ton. Durch Ausführung des Ko-to hätten die Gesandten
die Lehnspflicht ihres Landesherrn und die Unterthänigkeit ihrer
Landsleute gegen die Krone China, welche diese beanspruchte,
öffentlich bekannt. Es ist Thatsache, dass Chinesen das Ko-to
niemals vor einem fremden Monarchen vollzogen haben, dass
chinesische Gefangene sich weigerten, vor siegreiehen Königen zu
knieen, dass chinesische Gesandte lieber unverrichteter Sache, ohne
Mittheilung ihrer Aufträge aus Japan heimkehrten, als sich zu jener
Demüthigung verstanden. Die Frage hat politische Bedeutung; die
Wahrung nationaler Würde und Unabhängigkeit ist die erste Be-
dingung des Erfolges im diplomatischen Verkehr mit China, und
selbst die Anwendung von Gewalt hat immer gute Früchte getragen,
[47]Lord Amherst.
wo es sich um den Ehrenpunkt handelte. — Die Sendung des Lord
Amherst scheiterte, weil sie die Herstellung directer Beziehungen
zum Kaiserhofe bezweckte, weil die Beamten in Kan-ton wohl
wussten, dass bittere Beschwerde über sie geführt werden solle.
Sie hatten in der Umgebung des Kaisers einflussreiche Freunde,
welche den übelen Empfang der Gesandtschaft vorbereitet und
dem Herrscher die schlechteste Meinung von den Fremden über-
haupt und besonders von Sir George Staunton beigebracht hatten.
Dieselben Beamten versuchten in Kan-ton, während die Gesandt-
schaft in Pe-kiṅ war, ihr Uebelwollen in der unverschämtesten
Weise an deren Schiffen auszulassen. Zunächst wurde dem Ge-
neral Hewett die Ladung verweigert, »weil es ein Tributschiff sei«.
Dann verbot der Vice-König der Alceste und der Lyra, in den
Perl-Fluss einzulaufen. Die Fregatte, unter Capitän Maxwell’s
Befehl, segelte aber ohne Aufenthalt langsam stromaufwärts, brachte
das Feuer der Kriegs-Dschunken mit einem wohlgezielten Schuss,
die Werke der Bocca mit einer Breitseite zum Schweigen und warf
bei Wam-poa Anker. Nun wurde dem General Hewett sofort
die Ladung geliefert, die Alceste auf das beste proviantirt. Der
Vice-König erklärte sogar durch öffentliche Bekanntmachung, die
Dschunken und Festungswerke hätten die Alceste nur salutirt.


Bald darauf kam Lord Amherst in Kan-ton an. Er hatte
das Schreiben des Regenten in Pe-kiṅ zurückgelassen. Dem Vice-
König von Kuaṅ-tuṅ wurde nun von dort ein kaiserliches Ant-
wortschreiben zugestellt, zu dessen persönlicher Ueberreichung an
den englischen Gesandten er verbunden war. Dieser machte zur
Bedingung der Zusammenkunft, dass ihm und seinen Begleitern die
Ehrenplätze eingeräumt würden. Das war eine harte Zumuthung,
denn die höheren Mandarinen hatten bis dahin immer den Vortritt,
vor allen Europäern beansprucht. Die Stellung der Engländer in
Kan-ton erforderte aber, dass öffentlich ein Beispiel statuirt werde,
und man durfte die Gelegenheit nicht versäumen. — In einem gelb-
seidenen Zelte fand die Ueberreichung statt. Der Vice-König hob
das kaiserliche Schreiben ehrerbietig über sein Haupt und legte es
dann in die Hände des Gesandten. Man begab sich darauf zur
Collation in ein anderes Zelt; Lord Amherst und Sir George
Staunton
sassen zur Linken, der Vice-König und der Hop-po zur
Rechten. Letzterer war die Triebfeder aller den Engländern vor
kurzem angethanen Beschimpfungen. Sein Versuch, auch bei dieser
[48]Chinesische Justiz.
Gelegenheit unhöflich zu sein, wurde aber so barsch zurückgewiesen,
dass er sich schleunigst entfernte. — So endete Lord Amherst’s
Gesandtschaft.


Bis 1829 folgte nun wieder ein Zeitraum der Ruhe, in wel-
chem der Handel nur zwei unbedeutende Unterbrechungen erlitt;
in beiden Fällen thaten die Mandarinen die ersten Schritte zur
1821.Ausgleichung. — 1821 geschah es, dass Boote von einem der Com-
pagnie-Schiffe am Ufer des Perl-Flusses Wasser einnahmen, dabei
von einer Pöbelrotte überfallen und mit einem Steinhagel begrüsst
wurden. Der die Boote commandirende Officier feuerte einen
Schuss über die Köpfe der Angreifenden; weit dahinter spiel-
ten auf der hohen Uferböschung Knaben, deren einen die Kugel
tödtete. Die Mandarinen verlangten nun die Auslieferung eines
Engländers zur Sühne; der Handelsvorsteher aber weigerte sich
sogar jeder Bestrafung, da das Unglück durch Nothwehr und
Zufall herbeigeführt sei. — Bald darauf entleibte sich der Schlächter
eines der Compagnie-Schiffe, und die Chinesen beschlossen in ihrer
Verlegenheit, diesen für den Mörder des Knaben anzusehen. Sie
drangen darauf, eine Todtenschau vorzunehmen, und die an Bord
gelassenen Mandarinen erklärten den Selbstmörder ohne Umstände
für den Schuldigen 19); die Behörden waren befriedigt und gaben
den Handel wieder frei. — Die Fälschung erregte sogar bei der
besseren Classe der Chinesen Anstoss: ein angesehener Bürger
von Kan-ton bewog den Vater des getödteten Knaben zu der
Erklärung, dass er den Schlächter nicht für den Thäter halte;
darauf wurden beide verhaftet und als Unruhestifter bestraft, womit
die Sache abgethan war.


Der zweite Fall war ernster. Die englische Fregatte To-
1821.paze ankerte gegen Ende des Jahres 1821 bei der kleinen Insel
Lin-tin vor der Mündung des Perl-Flusses. Eine Abtheilung
unbewaffneter Matrosen nahm am 15. December dort eben Wasser
ein, als eine zahlreiche Bande hinterlistig über sie herfiel. Der
commandirende Officier an Bord sah den Angriff, schickte ein Boot
mit Seesoldaten ab, welche durch ihr Feuer den Rückzug der
Matrosen deckten, und sandte, um weiterem Zuzug vorzubeugen,
einige Vollkugeln nach dem benachbarten Dorfe. Vierzehn Matrosen
[49]Conflicte. — Der Topaze.
wurden verwundet an Bord gebracht; die Chinesen hatten zwei
Todte und vier Verwundete. Der Commandant des Topaze
richtete eine Beschwerde an den Vice-König; dieser lehnte jede
Mittheilung desselben ab, drohte dagegen das Ausschuss-Comité
verantwortlich zu machen und den Handel zu verbieten, bis zwei
Engländer vom Topaze zur Sühne ausgeliefert würden. Nach
fruchtlosen Gegenvorstellungen beschlossen die Beamten der eng-
lischen Factorei, sich an Bord ihrer Schiffe zu begeben; am
11. Januar 1822 wurde in Kan-ton die englische Flagge ge-
strichen; das Handelsgeschwader fuhr den Strom hinab und legte
sich bei der zweiten Barre vor Anker. Der Vice-König änderte
darauf den Ton und erklärte schon am 13. Januar, durch die Abreise
der Factorei-Beamten die Ueberzeugung gewonnen zu haben, dass
sie keine Gewalt über das Kriegsschiff hätten; er ersuche sie des-
halb zurückzukehren; der Handel könne jedoch erst wieder be-
ginnen, wenn zwei Engländer ausgeliefert wären. Darauf ging
man natürlich nicht ein, und der Vice-König suchte neue
Auskunftsmittel. Als die Fregatte nach Macao ging, liess er
verbreiten, sie habe sich versteckt; darauf legte sich Capitän
Richardson wieder vor den Perl-Fluss. Den Vorschlag, die Sache
zur Entscheidung nach England zu berichten, wies der Vice-König
zurück und liess durch eine Deputation von Hoṅ-Kaufleuten aber-
mals die Auslieferung fordern. Da lichteten die englischen Schiffe
die Anker und segelten stromabwärts, mit geladenem Geschütz
und gefechtsklar für den Fall eines Angriffs von den Strand-
batterieen.


Die chinesischen Behörden hatten mit Abbruch der Ver-
handlungen gedroht, wenn das Geschwader den Fluss verliesse,
forderten aber schon am 29. Januar die Engländer auf, eine Mit-
theilung an den Vice-König zu richten, dass zwei Seeleute von der
Fregatte verschwunden seien; er werde solche als die Schuldigen
ansehen und sich damit in Pe-kiṅ rechtfertigen können. Nach Ab-
lehnung dieses sauberen Vorschlages bat man, dass die Fregatte
sich nur auf einige Tage entferne, damit der Vice-König berichten
könne, sie sei geflüchtet. Der Ausschuss aber beharrte auf seinem
Beschluss, nicht eher nach Kan-ton zurückzukehren, bis man ihn
von jeder Verantwortlichkeit für die Kriegsschiffe entbände und
den Handel ohne Bedingung freigäbe. Um falschen Auslegungen
vorzubeugen, erklärte jetzt Capitän Richardson, dass seine Instruc-
III. 4
[50]Feuersbrunst in Kan-ton.
tionen ihn zu baldiger Abreise zwängen. — Der Vice-König
schickte darauf Beamte zur Untersuchung nach Lin-tin; am 4. Fe-
bruar kam mit Erlaubniss des Commandanten ein Mandarin an Bord
des Topaze und inspicirte die Verwundeten. Der chinesische
Admiral der Station wechselte Höflichkeitsbesuche mit dem Handels-
vorsteher und Capitän Richardson, und am 8. Februar ging die
Fregatte in See. — Die Chinesen erschöpften sich noch mehrere
Wochen lang in Bemühungen, die Factorei-Beamten zu falschen
Angaben zu vermögen, welche ihre Nachgiebigkeit rechtfertigten.
Endlich kam ein Erlass des Vice-Königs, welcher die bedingungs-
lose Freigebung des Handels und die Anerkennung des von den
Factorei-Beamten aufgestellten Principes aussprach. Am 23. Februar
kehrte das Geschwader nach Kan-ton zurück.


Anfang November 1822 verwüstete eine furchtbare Feuers-
brunst die Stadt und legte auch die Factoreien in Asche. 50,000
Chinesen verloren ihr Obdach. Chinesische Polizei-Mannschaften
schützten im Verein mit den Matrosen der fremden Schiffe die am
Ufer aufgehäuften Bestände gegen Diebesbanden; eine grosse Menge
Waaren aber verbrannte in den Factoreien. Die gewölbten Keller
des englischen Gebäudes, wo etwa eine Million Silber-Dollars
lagerte, blieben unversehrt. Die meisten Europäer mussten längere
Zeit nach diesem Brande auf dem Wasser leben; nur den Beamten
der englischen Factorei räumten die Hoṅ-Kaufleute ein Haus ein,
wo sie nach einer Woche ihre Geschäfte fortsetzen konnten.


Der Handel litt dann lange keine Störung, bis im Frühjahr
1828.1828 Verhältnisse wiederkehrten, die schon früher einmal die Be-
ziehungen zu trüben drohten. Die Unsitte hatte sich eingeschlichen,
dass Fremde den Hoṅ-Kaufleuten bedeutende Geldsummen zu
hohen Zinsen liehen. 1782 sollen die geschuldeten Capitalien
eine Million Pf. St. betragen haben. Die Gläubiger wandten
sich damals nach vergeblichen Bemühungen um Rückzahlung an
die ostindische Regierung, welche eine Fregatte nach dem Perl-
Fluss
schickte und durch deren Commandanten eine Vorstellung an
den Vice-König von Kuaṅ-tuṅ überreichen liess. Auf den Bericht
des Letzteren entschied der Kaiser, dass die sämmtlichen Hoṅ-
Kaufleute solidarisch verpflichtet seien und für ihre zahlungs-
unfähigen Genossen einzutreten hätten; in Zukunft dürfe keiner
ein Darlehn von den Fremden annehmen. — Der erste Theil
dieses Befehls machte aber das Verbot, Schulden zu contrahiren,
[51]Bankerott von Hoṅ-Kaufleuten.
illusorisch; denn die Sicherheit, welche der Kon-su, ein aus
bestimmten Steuern sich jährlich ergänzender eiserner Fonds des
Hoṅ-Verbandes, gewährte, liess die Mitglieder desselben bei dem
hohen Zinsfusse (12 Procent) immer bereitwillige Gläubiger finden.
Welches auch das Schicksal des Schuldners sein mochte: das
Capital war durch jenen Erlass gesichert.


In den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts belief sich
die Zahl der Hoṅ-Kaufleute gewöhnlich auf zehn bis elf. Zwei
der weniger bemittelten stellten ihre Zahlungen ein, ohne dass der
Handel wesentlich darunter litt. Im Frühjahr 1828 aber fallirte
eine grössere Firma mit einer Million Dollars; der Eigenthümer
wurde in die Tartarei verbannt und starb auf der Reise. Im
folgenden Jahre machte ein zweiter Hoṅ-Kaufmann einen betrüge-
rischen Bankerott von gleichem Belang, flüchtete mit dem grössten
Theile des Geldes, erwirkte sich durch den Einfluss angesehener
Verwandten Straflosigkeit und überliess seine Schulden dem Hoṅ-
Verbande. — Einem darüber getroffenen Abkommen gemäss wurden
die zwei Millionen in regelmässigen Zahlungen bis zum Jahre 1833
abgetragen. Die kaiserliche Regierung aber merkte die schlechten
Folgen ihrer Verordnung und hob dieselbe auf. Ein wirklicher
Schaden erwuchs den Fremden daraus nicht; denn der hohle Credit
leistete nur dem Leichtsinn gewissenloser Speculanten Vorschub,
und die den Fremden erstatteten Summen kamen aus ihrer eigenen
Tasche. Die Chinesen schrieben zur Tilgung der zwei Millionen
eine besondere Steuer auf die Einfuhr aus, welche nachher nicht
wieder abgeschafft wurde.


Die Zahl der Hoṅs hatte sich durch jene Vorfälle auf sechs
vermindert, und diese waren der Ausdehnung des Handels nicht
gewachsen. Das Monopol brachte glänzenden Gewinn, aber die
Erpressungen der Beamten und die Verantwortlichkeit für die
Fremden machten die Stellung der Hoṅ-Kaufleute schwierig und
unbequem. Die meisten Capitalisten verschmähten sie; die Hoṅ-
Kaufleute selbst trugen kein Verlangen, ihren Gewinn mit mehreren
zu theilen, und die kantonesische Regierung behandelte die Sache,
welche bald Gegenstand ernster Vorstellungen wurde, mit Indiffe-
renz. Der englische Ausschuss liess deshalb das Handelsgeschwader
der Compagnie 1829 vor der Flussmündung Anker werfen und1829.
richtete am 8. September ein Schreiben an den Vice-König, in
welchem neben dem Gesuche um Vermehrung der Hoṅ-Kaufleute
4*
[52]Weitere Conflicte.
auch andere Härten zur Sprache kamen, vor allem die über-
mässige Höhe der Hafengebühren und die willkürlichen Erpressun-
gen der Zollbeamten. In seiner Antwort zeigte der Vice-König
sich nachgiebig im ersten Punkt, wies aber die anderen Beschwer-
den zurück und blieb gegen alle Vorstellungen taub. Der Aus-
schuss wandte sich nun an den General-Gouverneur von Indien
mit der Bitte, ein Schreiben an den chinesischen Kaiser zu richten,
wurde aber abschläglich beschieden. Die Verlegenheit der Eng-
länder steigerte sich; im Ausschuss war man nicht einig; der Ver-
lust aus der Verzögerung der Handelsgeschäfte stand zu den
angestrebten Zwecken ausser Verhältniss. Als daher am 2. Februar
der Vice-König erklärte, dass ein neuer Noṅ-Kaufmann ernannt
sei und weitere Ernennungen bevorständen, die übrigen Vorstellung-
gen aber zur Entscheidung nach Pe-kiṅ berichtet wären, gaben die
Engländer bereitwillig nach. Das Handelsgeschwader ging nach
Wam-poa, die Geschäfte begannen, und bis zum 1. März wurden
dem Hoṅ-Verbande drei neue Mitglieder hinzugefügt.


Die nächste Handels-Saison war wieder sehr unruhig.
Einige Parsees tödteten in einer nächtlichen Schlägerei einen Eng-
länder, wurden festgenommen und zur Aburtheilung nach Bombay
eingeschifft. Die chinesischen Behörden verlangten ihre Auslieferung
und bezogen sich dabei auf einen 1780 vorgekommenen Fall: ein
französischer Matrose, der damals einen Portugiesen erschlug, war
von den französischen Beamten der einheimischen Justiz ausgeliefert
worden, die denselben ohne Umstände stranguliren liess. — Der
englische Ausschuss wies nun aber jenes Ansinnen zurück. Darauf
befahl der Vice-König die schleunige Entfernung der Gemahlin des
Handelsvorstehers, welche gegen die alten Vorschriften nach
Kan-ton gekommen war; denn europäische Frauen durften nur
in Macao wohnen. Die Androhung von Gewalt, welche jenen Be-
fehl begleitete, veranlasste den Ausschuss, hundert bewaffnete Ma-
trosen und zwei Achtzehnpfünder von Wam-poa kommen zu lassen;
die Chinesen erklärten nun aber, dass kein Zwang beabsichtigt
werde, und die Seeleute wurden nach vierzehntägigem Aufenthalt
in den Factoreien wieder fortgeschickt.


Die Zurückhaltung der Schiffe vor der Flussmündung im
Jahre 1829 war von dem Directorium der Compagnie missbilligt
und der Ausschuss durch neue Beamte ersetzt worden, welche bald
nach den erzählten Vorfällen im November 1830 in Kan-ton ein-
[53]Neue Beschränkungen.
trafen. Die Erbitterung zwischen den Fremden und den Chinesen1830.
hatte sich keineswegs gelegt, und die neuen Beamten wurden mit
Anträgen des Vice-Königs bestürmt, alle fremden Frauen aus
Kan-ton zu entfernen. Er erlaubte schliesslich den anwesenden,
bis zum Schluss der Handels-Saison zu bleiben, und die Engländer
selbst verschmähten es nachher, ihre Frauen nach Kan-ton zu
bringen, wo man sie durch öffentliche Anschläge beschimpfte. Die
nationale Abneigung trat in dieser Zeit immer stärker zu Tage, und
man kann, wenn damit das gute Einvernehmen in anderen Perioden
vergleichen wird, die gegenseitige Erbitterung kaum anders als aus
persönlichen Leidenschaften erklären. — Beim Neubau der Fac-
toreien nach dem grossen Brande 1822 war die Uferfront derselben
ziemlich weit in den Fluss hinausgerückt worden. Nur eine Ecke
vor dem Gebäude der ostindischen Compagnie blieb noch auszu-
füllen zu Ergänzung eines kleinen Platzes, der mit Sträuchern
bepflanzt und zum Vorgarten eingerichtet werden sollte. Das
ärgerte die Chinesen. Der frühere Ausschuss war wiederholt von
den Behörden aufgefordert worden, von der Anlage des Gartens
abzustehen, hatte sich aber nicht daran gekehrt und den Platz
sogar durch englische Seeleute wieder herstellen lassen, als die
Chinesen ihn im Sommer demolirten. Der neue Ausschuss blieb
unbehelligt, so lange die Handels-Saison dauerte. Gleich nach
Abfahrt des letzten Schiffes erschien aber der Fu-yuen in der
englischen Factorei, liess die Hoṅ-Kaufleute und Dolmetscher rufen
und stellte sie zur Rede über die gegen Befehl des Vice-Königs
ausgeführten Arbeiten. Er gebot dem Vorsteher des Hoṅ-Ver-
bandes und dem ersten Dolmetscher bei Todesstrafe, den Bau zer-
stören zu lassen, liess im Empfangssaale der Factorei die Hülle
vom Bilde des Königs reissen, setzte sich mit dem Rücken gegen
dasselbe und betrug sich mit gesuchter Grobheit. — Bald darauf
wurde ein Erlass veröffentlicht, dessen Inhalt berechnet war, die
Fremden zu beschimpfen, ihre Lage unerträglich zu machen: den
Sommer über dürfte kein Fremder in Kan-ton bleiben; die ein-
gebornen Diener sollten strenger beaufsichtigt werden, die Fremden
sich unweigerlich allen Befehlen der Hoṅ-Kaufleute unterwerfen
und niemals die Factoreien verlassen, auch ohne besondere Erlaub-
niss den Fluss nicht befahren; das 1814 gewährte Recht des
schriftlichen Verkehrs mit den chinesischen Behörden sollte auf
das äusserste beschränkt werden. — Diesen Bestimmungen trat der
[54]Erlöschen des Monopoles der ostindischen Compagnie.
Ausschuss mit der Erklärung entgegen, dass er den Handel am
1. August suspendiren werde, falls sie nicht zurückgenommen wür-
den; er ersuchte zugleich den General-Gouverneur von Indien, eine
Vorstellung an den Vice-König von Kuaṅ-tuṅ zu richten und ein
Kriegsschiff nach China zu schicken. Ende Mai 1831 veröffentlich-
ten die englischen Kaufleute und Agenten in Kan-ton eine Reihe
von Resolutionen, durch welche sie das Verfahren des Ausschusses
billigten und als einziges Schutzmittel gegen künftige Uebergriffe
anerkannten.


Am 9. Juni ging dem Handelsvorsteher ein Erlass des Vice-
Königs zu, welcher die in seiner Abwesenheit getroffenen Maass-
regeln des Fu-yuen billigte und die Sanctionirung jener Bestim-
mungen durch den Kaiser mittheilte. Nun war jede Aenderung
derselben durch die Provinzial-Regierung abgeschnitten. Der Aus-
schuss zog deshalb seine Drohung der Handelssperre zurück und
beschloss die Antwort des General-Gouverneurs von Indien abzu-
warten. Einigen Eindruck scheint sein Auftreten aber gemacht zu
haben: die Chinesen trafen keine Anstalt zu Ausführung jener Be-
stimmungen; die Engländer in Kan-ton blieben unbelästigt, und der
Handel nahm ungestörten Fortgang.


1831.Im November 1831 kam das Kriegsschiff Challenger aus
Bengalen mit dem erbetenen Schreiben des General-Gouverneurs,
das nach einigen Umständlichkeiten in angemessener Weise über-
reicht wurde. Des Vice-Königs schriftliche Antwort verneinte
zwar die Absicht, die Fremden zu beschimpfen, war aber im übrigen
so unbefriedigend und in der Form so unziemlich, dass der Aus-
schuss die Annahme verweigerte. — Dabei hatte es sein Bewen-
den; denn die aus England einlaufenden Instructionen setzten
weiterem Vorgehen ein Ziel. Das Monopol der ostindischen Com-
pagnie für China war seinem Erlöschen nahe; in England beschäf-
tigte man sich lebhaft mit der Frage seiner Erneuerung, welche zu
heftigen Debatten im Parlament führte. Bei Beleuchtung der in
China zu befolgenden Politik hatten die durch eigene Erfahrung
der Verhältnisse Kundigen allerlei Theorieen und die Sonder-
Interessen einflussreicher Männer zu bekämpfen. Das von der Ma-
jorität der Landesvertretung gebilligte Verfahren der Regierung
war wohl kaum das richtige und ist auch von englischen Staats-
männern verurtheilt worden. Dennoch darf man zweifeln, dass
eine gemässigte, allen Verhältnissen Rechnung tragende Politik die
[55]Englands Politik.
Differenzen so gründlich zum Austrag gebracht und den Europäern
jemals diejenige Stellung errungen hätte, welche das geistige Ueber-
gewicht und die materielle Kraft der Grossmächte für ihre Unter-
thanen auf dem ganzen Erdenrund in Anspruch nehmen müssen.
Die Geschichte hat die englische Politik gerechtfertigt, so scharf
dieselbe sich vom sittlichen und in vielen Stücken auch vom prac-
tischen Standpunkte anfechten lässt.


[[56]]

II.
DER OPIUM-HANDEL UND DER OPIUM-KRIEG.

BIS 1842.


Am 22. April 1834 erlosch das Monopol der ostindischen Com-
pagnie für den Handel mit China nach zweihundertjährigem Be-
stehen. Dieser Wendepunkt wurde besonders wichtig durch den
Aufschwung, welchen der Opium-Handel in den letzten Jahren des
Monopols genommen hatte.


Die Einfuhr des indischen Opium nach China mag um die
Mitte des 18. Jahrhunderts begonnen haben; vor 1767 betrug sie
kaum 200 Kisten (zu 140 Pfund) jährlich. In den folgenden Jahren
wurden durch Portugiesen in Macao, welche damals diesen Handel
fast ausschliesslich in Händen hatten, etwa 1000 Kisten eingeführt,
die reichen Gewinn brachten. Die chinesische Regierung, welche
bis dahin die Einfuhr gegen eine geringe Abgabe erlaubt hatte,
erkannte jetzt den dem Volke dadurch zugefügten Schaden und
verbot die Einfuhr wie den Gebrauch des Opium, welches seitdem
nur geschmuggelt wurde. In kurzem stieg der Preis auf das
Doppelte. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts verbreitete sich das
Opium-Rauchen über das ganze Reich. Der Schleichhandel nahm
grosse Dimensionen an, ging aber allmälich in die Hände der Eng-
länder über, deren indische Besitzungen das meiste und das beste
Opium lieferten. Lange Zeit blieb Macao trotzdem ausschliesslicher
Stapelplatz der Opium-Schmuggler, bis die Engländer, der portugie-
sischen Chicanen müde, ihren Vertrieb nach der kleinen Insel Lin-tin
an der Mündung des Perl-Flusses verlegten. So bestand der ein-
trägliche Schleichhandel viele Jahre unter Connivenz der Manda-
rinen, die mit namhaften Summen dafür bestochen, zugleich aber
gezwungen waren, alle dabei vorkommenden Ungesetzlichkeiten zu
dulden, weil sie des strengen Verbotes wegen den ganzen Verkehr
ignoriren mussten. Das setzte die Behörden von Anfang an in eine
falsche Stellung: während sie den kleinsten bei dem erlaubten
[57]Schleichhandel. — Der Lord Amherst.
Handel vorkommenden Unregelmässigkeiten mit blutiger Härte ent-
gegentraten, sahen sie ruhig den Gewaltthaten der Schmuggler zu,
welche mit frechem Trotz die Gesetze höhnten. Die verwilderte
Mannschaft der Opium-Schiffe bediente sich ihrer Waffen mit
brutalem Leichtsinn. Oft wurden auf Lin-tin Chinesen erschossen,
die sich nicht blind der Willkür dieses Gesindels fügten. Klagten
die Verwandten bei den Mandarinen, so wiesen diese sie entweder
ab, oder liessen die an den Factorei-Ausschuss gerichteten Anträge
auf Bestrafung der Schuldigen sogleich wieder fallen; denn jede
Untersuchung hätte das ungesetzliche Treiben an den Tag gebracht
und die Mandarinen ihrer besten Einkünfte beraubt. Der Aus-
schuss aber verwahrte sich gegen jede Verantwortlichkeit für die
Schmuggler.


Die glänzenden Erfolge des Schleichhandels mit Opium
und die dadurch bewiesene Möglichkeit, dem Handel auf ungesetz-
lichem Wege grössere Ausdehnung zu geben, durch Bestechung
der Mandarinen höheren Gewinn zu erzielen, als auf gesetzlichem
Wege möglich war, erweckten bei den Engländern den Gedanken,
denselben auch auf andere Artikel auszudehnen und systematisch
zu treiben. Einige Schiffe gingen zunächst nach den Küsten östlich
von Kan-ton, fanden aber für englische Manufacturen keinen Ab-
satz; nur Opium und etwas Salpeter liessen sich verkaufen. Die
Sache beschäftigte aber so sehr alle am chinesischen Handel Be-
theiligten, nicht nur in Kan-ton sondern auch in England, — wo
Viele die grössten Hoffnungen darauf setzten und aus diesem
Gesichtspunkt die Aufhebung des Monopoles wünschten, — dass
der Ausschuss der Compagnie-Beamten selbst einen Versuch zu
machen beschloss. Ein ostindisches Fahrzeug, der Lord Amherst,
wurde mit allen möglichen dem Bedürfniss und Geschmack der
Chinesen angepassten Artikeln befrachtet und unter den Befehl
eines Beamten der Compagnie gestellt. Der Missionar Gützlaff
begleitete denselben als Dolmetscher. Am 26. Februar 1832 segelte
das Schiff von Kan-ton ab und kehrte am 4. September dahin
zurück. Es hatte die Häfen A-moi, Fut-šau, Niṅ-po, Shang-hae
berührt, auf dem Rückwege Korea und die Liu-kiu-Inseln an-
gelaufen. Fast überall wurden die Engländer freundlich aufgenom-
men, scheiterten aber in ihren Bestrebungen. Wo die Mandarinen
sich abweisend verhielten, stürmten jene geständlich deren Woh-
nungen, rannten ihre Dschunken an und schlugen die Thüren der
[58]Gewaltthaten der Schmuggler.
Cajüten ein. Alle Kunstgriffe der Schmeichelei, Bestechung und
Einschüchterung blieben erfolglos; die Wachsamkeit der Behörden
vereitelte jedes Geschäft. Man hatte wohl nicht erwogen, dass
ausserhalb Kuaṅ-tuṅaller Handel mit Fremden verboten war,
dass also den Mandarinen jeder Deckmantel der Connivenz fehlte.
Der Amherst brachte den grössten Theil seiner Ladung nach
Kan-ton zurück; Einiges hatte man verschenkt, verkauft fast gar
nichts; der Verlust an dem Unternehmen war bedeutend. Von den
Directoren der Compagnie wurde dasselbe getadelt, und besonders
scharf gerügt, dass die Leiter und Theilnehmer sich falsche Namen
beigelegt hatten; »denn solche Aufführung passe schlecht zu den
Beschwerden über die Doppelzüngigkeit der Chinesen, und sei ganz
und gar ungesetzlich«.


Gegen Ende des Jahres 1833 kam es zwischen den engli-
schen Schmugglern und den Chinesen von Lin-tin zu blutigen
Kämpfen; ein Chinese wurde erschossen.20) Seine Gefährten mor-
deten aus Rache einen gefangenen Lascaren. Nun rückten die
bewaffneten Boote der Opium-Schiffe zu förmlichem Angriff auf
das nächste Dorf vor, erhielten aber ein so mörderisches Feuer,
dass sie umkehren mussten. — Das war einer von vielen Fällen.
Seeraub, Gewalt und Verbrechen jeder Art wurden straflos von
den frechen Abenteurern verübt, die allen Leidenschaften freies
Spiel gaben und sich in schrankenloser Willkür gefielen. In
Kan-ton scheint man den sittlichen Maassstab für dieses Treiben
verloren zu haben; die angesehensten Kaufleute waren am Opium-
Handel betheiligt; englische Unterthanen durften sich öffentlich
rühmen, das Haus eines Mandarinen angesteckt zu haben.


Vor der vom englischen Parlamente 1830 zu Berichterstattung
eingesetzten Commission erklärten die besten Kenner der Zustände in
Kan-ton, dass eine starke Zunahme des Schleichhandels und seiner
schlimmen Folgen zu erwarten sei, wenn den Beamten der ostindischen
Compagnie die Aufsicht über den gesetzlichen Handel entzogen würde;
[59]Debatten über Freigebung des Handels.
solche Maassregel müsse die englische Regierung in Conflicte mit
der chinesischen bringen und »früher oder später einen verderb-
lichen Krieg zur Folge haben«. Die Commission drückte sich vor-
sichtig aus und empfahl keineswegs die gänzliche Abschaffung einer
Behörde, unter welcher der britische Handel sich sogar zu grösserer
Bedeutung aufgeschwungen hätte, als der ganz freie Handel anderer
Völker, z. B. der Americaner. Von verständigen Männern wurde
geltend gemacht, dass man auch bei gänzlicher Freigebung des
englischen Handels die Factorei der ostindischen Compagnie mit
dem Ausschuss-Comité als derjenigen Behörde, welche seit
lange für berechtigt zu Vermittelung der Beziehungen von der
chinesischen Regierung anerkannt sei, fortbestehen, und die eng-
lischen Schiffe in ein ähnliches Verhältniss zu derselben treten
lassen könne, in welchem bis dahin die ostindischen, sogenannten
»country-ships« gestanden hätten. Ein Recht zu deren Beauf-
sichtigung scheint zwar der Handelsvorsteher der Compagnie in
Kan-ton nur in so fern gehabt zu haben, als es aus der Bestal-
lung vom Jahre 1699 hergeleitet werden konnte, welche zwar ver-
gessen, aber niemals widerrufen wurde; thatsächlich vermittelte jedoch
die Ausschuss-Commission alle Beziehungen der ostindischen Schiffe
zu den chinesischen Behörden, soweit ihr Handel gesetzlich war.
Der sicherste Weg der Ueberleitung in ein neues Stadium wäre
wohl gewesen, die den Chinesen gewohnte Behörde noch eine
Weile in der alten Form zu erhalten und nach den Forderungen
der veränderten Umstände allmälich umzugestalten. Dass die Ein-
setzung einer neuen, den Chinesen ganz unbekannten Vertretung,
deren Verhältniss zur Landesregierung vorher nicht festgestellt und
vom Kaiser gebilligt war, zu Verwickelungen führen musste, ist
leicht zu begreifen. Man vermauerte sich ein Thor, durch das man
bequem ein- und ausging, um von neuem Bresche zu schiessen.
Der Herzog von Wellington protestirte gegen solches Verfahren,
als Lord Grey den Antrag auf gänzliche Einziehung der Compagnie-
Behörden in Kan-ton stellte, welcher trotzdem angenommen wurde.
Ein Parlaments-Beschluss ermächtigte den König, drei Aufsichts-
Beamte für den englischen Handel mit China zu ernennen, den-
selben gewisse Vollmachten und Befugnisse zu ertheilen. Die ost-
indische Compagnie wurde nicht nur ihres ausschliesslichen, son-
dern überhaupt jeden Rechtes zum Handel mit China beraubt, das
alle anderen britischen Unterthanen fortan genossen; und die
[60]Lord Napier in Kan-ton.
Durchführung dieser Maassregel geschah so eilig, dass die Com-
pagnie ihre Schiffe und anderen Besitzthümer in Kan-ton mit Scha-
den verkaufen musste. Den dortigen Engländern kam die Nachricht
von dieser völligen Umgestaltung aller Verhältnisse fast eben so
überraschend, als den Chinesen; und bevor noch die nöthigsten
Anstalten für den Wechsel getroffen waren, erschien der Ober-
1834.Commissar21) Lord Napier am 15. Juli 1834 in Macao.


Zum zweiten Mitgliede der Commission war der letzte Han-
delsvorsteher (President of the select committee) Mr. Davis er-
nannt, als dritter vorläufig Sir George Robinson gewählt worden.
Davis ist gewiss der vorzüglichste Kenner chinesischer Zustände
und ein Mann von klarem besonnenen Urtheil gewesen, wohl ge-
eignet, die Dinge in die richtige Bahn zu leiten; Lord Napier selbst
wird als ein Staatsmann vom liebenswürdigsten Charakter und den
lautersten Absichten geschildert; aber ihre Instructionen waren so
beengend, den Verhältnissen so widerstrebend, dass jede ange-
messene Maassregel unterbleiben musste. — Die Gerüchte von den
ausgedehnten Vollmachten der Commissare beunruhigten die arg-
wöhnischen Chinesen. Der Regierung war keine Anzeige gemacht
von Lord Napiers Ernennung; »Er selbst,« befahl die Instruction,
»solle dem Vice-König seine Ankunft in Kan-ton schriftlich melden.«
— Am 23. Juli schifften die Commissare sich in Macao auf der
Andromache ein, segelten nach dem Ankerplatz bei Tšuen-pi, un-
terhalb der Bocca Tigris, und fuhren am folgenden Tage im Cutter
der Fregatte nach Kan-ton. Lord Napier richtete an den Vice-König
ein seine Ankunft und amtliche Sendung meldendes Schreiben,
welches an der zu Ueberreichung der Eingaben bestimmten Stelle
eingeliefert, von den Mandarinen aber zurückgewiesen wurde, weil
es die Ueberschrift »Mittheilung« trug. Sie verlangten, dass statt
dessen der Ausdruck »Gesuch« (Petition) gebraucht werde; so
müssen alle von Kaufleuten an chinesische Behörden gerichtete
Schreiben bezeichnet sein. Lord Napier verbot nun seine Stellung,
diesem Ansinnen zu entsprechen und die Mittheilung unterblieb.
Auch der Aufforderung, mit den Hoṅ-Kaufleuten zu unterhandeln,
konnte er ohne Erniedrigung nicht nachkommen; das wusste der
Vice-König, der offenbar nur wünschte, die Commissare aus Kan-ton
[61]Lord Napier’s Rückzug und Tod.
zu vertreiben. Er sperrte den Handel, entzog Lord Napier seine
chinesische Dienerschaft, schnitt ihm die Lebensmittel ab und liess
seine Wohnung mit Soldaten umstellen. Nun ersuchte der Ober-
Commissar den commandirenden Flotten-Officier, mit den Kriegs-
schiffen nach Wam-poa zu kommen. — Am Morgen des 7. September
gingen Andromache und Imogen, gegen den Nordwind kreuzend,
an den Batterieen der Bocca Tigris vorbei und brachten deren Feuer
leicht zum Schweigen, mussten aber der Ebbe wegen unterhalb der
Tiger-Insel ankern. Erst am 9. September wurde der Wind günstig.
Die Werke der Insel liessen alle Geschütze auf die Fregatten spielen,
jede hatte einen Todten und mehrere Verwundete. Sie fuhren,
volle Breitseiten feuernd, auf Pistolenschussweite an den Werken
vorüber, deren Trümmer der Besatzung um die Köpfe flogen. Wind-
stillen verzögerten die Ankunft der Schiffe bei Wam-poa noch bis
zum 11. September; die Chinesen hatten jeden Verkehr der dort
ankernden Kauffahrer mit Kan-ton abgeschnitten.


Nun forderte der Vice-König als Bedingung für Aufhebung
des Handelsverbotes die Entfernung der Kriegsschiffe aus dem Perl-
Fluss
und die Abreise des Lord Napier aus Kan-ton. Letzterer
theilte der englischen Gemeinde mit, dass er alle ihm zu Gebote
stehenden Mittel erschöpft habe, der Commission die ihr zukom-
mende Stellung zu bereiten, und sich nicht für befugt halte, durch
unfruchtbares Beharren auf seinen Ansprüchen die Interessen des
Handels zu schädigen. — Die Kriegsschiffe gingen nach Lin-tin.
Lord Napier reiste krank auf einem Proviantboot durch die süd-
liche Flussmündung nach Macao und starb dort nach wenigen
Wochen. Nach seiner Abreise wurden in Kan-ton die Handels-
geschäfte wieder aufgenommen.


Nach Davis’ öffentlich ausgesprochenem Urtheil wäre diesen
Verwicklungen durch eine an den Hof von Pe-kiṅ gerichtete, den
Behörden in Kan-ton zur Beförderung übergebene Mittheilung der
englischen Regierung von der Ernennung und amtlichen Stellung
der Commissare vorzubeugen gewesen. Auf solche Meldung hatte
die kaiserliche Regierung wohl ein Recht; sie erklärte später
unumwunden, dass sie dieselbe erwarten müsse und sich die Be-
fugniss wahre, die Beziehungen fremder Bevollmächtigten zu den
einheimischen Behörden zu sanctioniren. — Das wäre auch nur dem
Exequatur europäischer Souveräne entsprechend. — Die Unterlassung
dieses Schrittes brachte Lord Napier von Anfang an in eine falsche
[62]Davis. Robinson. Elliot.
Stellung. Es war ihm sogar verboten, ohne ausdrückliche Erlaubniss
der heimathlichen Regierung sich an den Hof von Pe-kiṅ zu wen-
den, eine Maassregel, zu welcher Davis auch nach dem schlechten
Empfange in Kan-ton drängte. Die Erlaubniss dazu konnten die
Commissare selbst in den nächsten Jahren nicht erlangen; ihre
Mittel waren allerdings erschöpft, ihre Stellung unhaltbar.


Nach Lord Napiers Tode wurde Mr. Davis Ober-Commissar,
und ernannte Capitän Elliot, welcher bis dahin »Master Attendant«
oder Zoll-Commissar der englischen Regierung im Kan-ton-Flusse22)
gewesen war, zum Secretär der Commission. Anfang 1835 ging
Davis nach England; Sir George Robinson wurde sein Nachfolger
und Elliot trat als Mitglied in die Commission ein. Sie lebten ohne
amtliche Thätigkeit in Macao und enthielten sich jeder Mittheilung
an die Regierung in Kan-ton. Die dortige Gemeinde der englischen
Kaufleute war ohne Organ den chinesischen Behörden gegenüber,
und die Uebelstände dieser Lage machten sich fühlbar. Der Vice-
König befahl den Engländern wiederholt, einen provisorischen
Tae-pan oder Vertreter aus ihrer Mitte zu Beaufsichtigung des
Schiffsverkehrs und Unterdrückung des Schleichhandels zu bestellen,
und die Absendung eines Handelsvorstehers aus der Heimath zu
erwirken, der aber Kaufmann sein müsse, nicht königlicher Beamter.
Die Nachtheile der Lage trafen aber vorzugsweise die Chinesen;
man liess deshalb ihre Anträge unbeachtet und wartete auf ihr
Entgegenkommen. — Die Jahre 1835 und 1836 vergingen ohne we-
sentliche Störung, die gleichen Interessen förderten den ruhigen
Betrieb der Geschäfte. Die englischen Commissare ersuchten unter-
dessen vergebens die heimathliche Regierung um Erweiterung ihrer
Befugnisse. Sir George Robinson gab seinen Posten auf, und Capitän
Elliot wurde Ober-Commissar.


1834.Wie zu erwarten war, hatte der Schleichhandel seit 1834 unge-
heure Dimensionen angenommen und erstreckte sich zum Schaden
des gesetzlich erlaubten Handels bald auf alle möglichen Artikel.
Die Opium-Einfuhr war streng verboten; die Behörden konnten
sie um des grossen Gewinnes willen nur so lange dulden, als sich
dieser Handel in die einsamen Buchten der Felsen-Eilande vor
dem Perl-Flusse versteckte. Schon 1833 zwang die offene Gewalt
[63]Schleichhandel im Perl-Fluss.
der Schmuggler bei Lin-tin die Provinzial-Regierung zum Schein
des Widerstandes. In den folgenden vier Jahren dehnte sich der
Schleichhandel auf die östlich von Kan-ton gelegenen Küsten
aus und drang selbst in den Perl-Fluss ein. 1837 steigerte sich1837.
die Frechheit der Schmuggler zu höhnischem Trotz. Bis nach
Wam-poa wurde das Opium in kleinen Booten hinaufgeführt, deren
Bemannung, das frechste Raubgesindel, mit dem Auswurf der chi-
nesischen Bevölkerung verbrüdert war. Die Fluss-Ufer sind in
jener Gegend dicht bewohnt, und der Strom wimmelt von Fahr-
zeugen; unter den Augen dieser Volksmenge trotzten die Schleich-
händler den Zollbeamten mit bewaffneter Hand. Eine Räuberbande
im fernen Waldgebirge pflegt die Obrigkeit kaum zu reizen; dringt
sie aber in eine volkreiche Stadt, so folgt ein Vernichtungskampf.
Zur Zeit des Monopol-Handels hatten die Beamten der Compagnie
die Macht, den Schleichhandel auf Lin-tin zu beschränken und
allen Ungesetzlichkeiten im Flusse mit Hülfe der chinesischen
Obrigkeit zu steuern; letztere konnte mit einer Behörde verhandeln,
welcher Aufrechthaltung der Gesetze und das Wohl der Gesammt-
heit am Herzen lag. Eine solche bestand jetzt nicht mehr. Bei
gänzlicher Freigebung des Handels brauchten die englischen
Commissare weitreichende Amtsgewalt und eine angemessene See-
macht zu deren wirksamer Ausübung; sie scheinen aber trotz allen
Vorstellungen Jahre lang ohne Instruction geblieben zu sein.23)
Ohne Machtvollkommenheit, ohne Mittel, dem Unwesen zu steuern
und die drohende Katastrophe abzuwenden, sassen sie müssig in
Macao. »Die freche Ausübung des Schleichhandels,« sagt Elliot in
einer Depesche, »hat wahrscheinlich am meisten dazu beigetragen,
die chinesische Regierung von der dringenden Nothwendigkeit zu
überzeugen, der steigenden Verwegenheit der fremden Schmuggler
entgegenzutreten und ihre Verbindung mit dem räuberischen
[64]Elliot in Kan-ton.
Gesindel der grossen Städte zu unterdrücken.« .... »So lange ein
solcher Handel im Schoosse unseres gesetzlichen Handelsverkehrs
besteht, hat die chinesische Obrigkeit guten Grund zu strengen
Maassregeln auch gegen diesen, da sie nicht in der Lage ist,
zwischen beiden zu unterscheiden.« — Capitän Elliot ersuchte des-
halb immer dringender die heimathliche Regierung um »deutlich
begrenzte und ausreichende Amtsgewalt zu Zügelung einer Men-
schenclasse, deren freches und unbesonnenes Handeln nicht ohne
grosse Uebelstände dem chinesischen Gerichtsverfahren preisgegeben
werden könnte, deren Straflosigkeit aber den Ruf und das Wohl-
ergehen der englischen Unterthanen schädigten«.


In Kan-ton wurde die Stimmung immer trüber. Zwei Hoṅ-
Kaufleute stellten dort wieder ihre Zahlungen ein, und die Fremden,
welchen sie drei Millionen Dollars schuldeten, hatten wenig Aus-
sicht auf Befriedigung; denn die solidarische Verpflichtung der
Hoṅ-Kaufleute war seit 1828 aufgehoben, und die Ausschussbehörde,
welche früher die Steuerzahlung vermittelte und sich immer schad-
los halten konnte, bestand nicht mehr. Die Gläubiger mussten
auf harte Bedingungen eingehen, für deren Erfüllung doch Nie-
mand bürgte.


1838.Im Juli 1838 kam Admiral Sir Frederick Maitland mit zwei
Kriegsschiffen nach Macao. Capitän Elliot ging mit denselben nach
der Mündung des Perl-Flusses und erhielt dort einen an die Hoṅ-
Kaufleute gerichteten Erlass des Vice-Königs, den er uneröffnet mit der
Erklärung zurückwies, dass nach gemessenem Befehl seiner Vorgesetz-
ten keine Mittheilung in dieser Form angenommen werden dürfe. Elliot
fuhr darauf nach Kan-ton und liess am Stadtthor ein Schreiben
unversiegelt zur Beförderung an den Vice-König übergeben, damit
kein Chinese wähnen könne, er habe dasselbe als »Gesuch« bezeich-
net. Es wurde ohne Antwort zurückgeschickt. Nun machte Elliot
öffentlich bekannt, er habe nur die friedlichen Absichten des Ad-
mirals constatiren wollen und werde Kan-ton verlassen, wenn der
Vice-König seine Erklärungen unbeachtet lasse. — Unterdessen war an
der Bocca Tigris ein englisches Boot mit Kugeln begrüsst und angehal-
ten worden; ein Mandarin kam zur Untersuchung an Bord und erklärte,
dass weder der Admiral noch andere Flottenofficiere stromaufwärts
passiren dürften. Auf diese Nachricht fuhr Sir Frederick Maitland
nach der Bocca hinauf und verlangte von dem chinesischen Admiral
Kwan Genugthuung für jenen Angriff, die nach einigem Parlamen-
[65]Bedrohung der Factoreien.
tiren in angemessener Form geleistet wurde. Admiral Maitland
kehrte auf den früheren Ankerplatz zurück und segelte bald darauf
ab. Seine Anwesenheit hatte weder auf die Schuldregulirung noch
sonst auf die Verhältnisse Einfluss; es fehlte an ausreichender
Vollmacht.


Zwei Monat später wurde in Kan-ton eine Quantität Opium
fortgenommen, und der Hoṅ-Kaufmann, der, unkundig der verbote-
nen Fracht, für das englische Schiff gebürgt hatte, mit dem Kaṅ-go24)
bestraft, auch der Handel so lange gesperrt, bis der Schuldige
Kan-ton verlassen hatte. — Um die Fremden zu schrecken, wollte
die Obrigkeit ein Beispiel statuiren und liess auf dem Platz vor
den Factoreien Anstalten zu Strangulirung eines chinesischen
Schmugglers treffen. Die Fremden vertrieben jedoch die Schergen,
ohne von der müssigen Volksmenge gehindert zu werden. Als nun
der Haufen sich mehrte, schlugen unbesonnene Kaufleute aus den
Factoreien ohne Provocation mit Stöcken dazwischen, wurden aber
mit einem Steinhagel zurückgewiesen und in ihre Wohnungen
gedrängt, deren Thore sie schlossen. Die Wuth der Volksmenge,
welche die Factoreien stürmen wollte, hätte tragische Folgen
gehabt, wenn nicht chinesisches Militär eingeschritten wäre. »Und
solchen Gefahren,« schreibt Elliot in einer Depesche, »setzte man
sich wegen des unredlich zusammengescharrten und verhältniss-
mässig geringen Gewinnes ruchloser Menschen aus, welche sowohl
den englischen als den chinesischen Gesetzen trotzen zu dürfen
glaubten.«


Capitän Elliot sah die wachsende Gefahr und berief eine
Versammlung der Engländer in Kan-ton, welcher auch viele andere
Fremde beiwohnten. Er stellte denselben vor, dass der Grund der
Uebelstände in dem mit schrankenloser Frechheit betriebenen
Opium-Handel im Perl-Flusse liege; Folgen davon seien die Schä-
digung und Unterbrechung des erlaubten Handels, Verhaftung und
Bestrafung von Unschuldigen, übele Beleumdung aller Fremden
und die Gewissheit, dass dieser ungesetzliche und gewaltsame
Handel den wildesten Verbrechern und dem Auswurf aller Länder
anheim fallen werde. — An die englischen Schmuggel-Schiffe
erging der Befehl, den Perl-Fluss binnen drei Tagen zu verlassen.
III. 5
[66]Der Opiumhandel vom sittlichen Standpunkt.
Elliot bot auch der chinesischen Obrigkeit seine Mitwirkung zu
völliger Ausrottung des Schleichhandels im Flusse an; da wurde
ihm zum ersten Male das wichtige Zugeständniss eines directen
Verkehrs mit den Mandarinen ohne Vermittelung der Hoṅ-Kaufleute
gemacht. — Die gemeinsamen Maassregeln bewirkten nun zwar in
den nächsten Monaten einen Stillstand im Opiumhandel; der
heraufbeschworene Sturm war aber nicht mehr abzuwenden.


Die chinesische Gesetzgebung steht durchaus auf sittlichem
Boden: das Opiumverbot sollte das Volk vor einem verzehren-
den Gift bewahren, zu dessen Gebrauch es neigte. Freilich wird
auch in China Opium bereitet, der Genuss ist dort wahrscheinlich
nicht auszurotten; ohne Frage beförderte und steigerte ihn aber die
Einfuhr erheblich, die chinesische Regierung war formell und
sittlich berechtigt, demselben entgegenzutreten. Die Frechheit der
Schmuggler beschimpfte sie offen vor den Augen des Volkes, sie
musste sich in ihrer Ehre tief gekränkt fühlen. Sie wurde zudem
beunruhigt durch die steigende Ausfuhr baaren Silbers; denn der
Werth des eingeführten Opium überwog damals bedeutend den
der ganzen Ausfuhr, während heutigen Tages letztere die gesammte
Einfuhr weit hinter sich lässt.25) — Der Hof von Pe-kiṅ zog die
Lage in ernste Erwägung und liess sich Vorschläge machen, wie
dem Uebel zu steuern sei.26) Es gab aber nach chinesischer An-
schauung nur einen Weg. Der Sohn des Himmels vertritt ohne
Rücksicht auf Zweckmässigkeit und Vortheil die himmlischen Ge-
bote; der Gebrauch des Opium ist unsittlich und durfte deshalb
nicht geduldet werden. So abscheulich oft die Mandarinen han-
deln, die kaiserliche Regierung wird sich principiell immer auf den
Standpunkt der reinsten Sittlichkeit stellen, und muss es, weil sie
[67]Bedrohung der Fremden.
im Bewusstsein des Volkes die sittliche Weltordnung vertritt. Sie
verachtet deshalb ganz besonders die Regierungen christlicher
Staaten, weil diese die Laster des Volkes besteuern und dadurch
legalisiren; weil sie daraus Vortheil ziehen, statt sie zu verfolgen;
weil sie den Schranken der Wirklichkeit und des praktischen
Lebens Rechnung tragen, statt aus der idealen Weltordnung heraus
zu regieren. Die extremen Widersprüche dieser Anschauung mit
den Bedingungen der Körperwelt gehen durch alle chinesischen
Verhältnisse und geben dem Volkscharakter jene sonderbare,
zwischen Idealität und Gemeinheit schillernde Färbung.


Man fragte sich in Pe-kiṅ also nicht, ob es möglich sei
das Laster zu unterdrücken und den Schleichhandel auszurotten,
ob aus Legalisirung der Einfuhr dem Reiche nicht grösserer Nutzen
erwachsen könne als aus ihrer theilweisen Unterdrückung und
geheimen Fortsetzung, sondern man hielt es für unbedingt geboten,
sie mit allen Mächten zu befehden. Trug zu diesem Beschluss auch
leidenschaftliche Erbitterung bei, so war sie durchaus natürlich.


Die Hoṅ-Kaufleute kündigten den Ausländern in Kan-ton
einen mit weitgehenden Vollmachten versehenen Special-Commissar
an, welcher gegen den Opiumhandel strenge Maassregeln ergreifen
werde. Im Januar 1839 erschien ein in ganz ungewöhnlicher Form
direct an die fremden Kaufleute gerichteter Erlass, worin unter An-1839.
drohung von Gewalt schleunige Entfernung der ausserhalb des
Flusses geankerten Opiumschiffe gefordert und das Erscheinen
eines kaiserlichen Bevollmächtigten verheissen wurde, »der, sollte
die Axt in seiner Hand auch brechen oder das Boot unter seinen
Füssen sinken, nicht eher ablassen werde, bis das Werk vollen-
det sei.« — Eines Tages wurde plötzlich ein chinesischer Schmuggler
unter starker Bedeckung auf den Platz vor der Factorei geschleppt
und angesichts der Fremden erdrosselt. Diese strichen ihre Flaggen
und richteten an den Vice-König heftige Vorstellungen, welche
unbeachtet blieben. Nun tauchten vielerlei Gerüchte auf und die
Anzeichen des Sturmes mehrten sich. Bei der Bocca Tigris wur-
den alte Kriegs-Dschunken in Brander umgestaltet. Bei Macao
bezogen chinesische Truppen ein grosses Zeltlager. Man glaubte,
dass der Opium-Commissar seine Operationen dort beginnen werde;
statt dessen erschien er am 22. März 1839 plötzlich in Kan-ton
und verkündete seine Gegenwart durch Maassregeln, die jede Er-
wartung übertrafen.


5*
[68]Lin-Tse-tsiu.

Lin-Tse-tsiu war ein Mann von seltenen Gaben des Cha-
rakters, der eingefleischte Vertreter der altchinesischen Gesittung.
Von unbedeutendem Herkommen, hatte er sich durch wohlbestandene
Prüfungen, geschickte Verwaltung, Energie und Zuverlässigkeit zu
den höchsten Aemtern emporgeschwungen; seine Integrität und
Gewissenhaftigkeit standen über jedem Zweifel.27) Er blieb seinen
Anschauungen selbst dann und bis an sein Ende treu, als er die
Macht der Barbaren kennen lernte, und wegen schlechten Erfolges
seiner Politik in Ungnade fiel. In das Privatleben zurücktretend
strebte er mit rastlosem Eifer, durch literarische Studien sich über
die Fremden zu unterrichten, um die Wege zu ihrer Vernichtung
zu finden, und liess aus eigenen Mitteln einen Truppenkörper
zu ihrer Bekämpfung ausbilden. Furchtlos sagte er auch im Unglück
dem Himmelssohne seine Meinung; Tüchtigkeit, Treue der Gesin-
nung und unbeugsame Thatkraft erhielten ihm Ansehn und Ein-
fluss bis an sein Lebensende; er blieb trotz seiner Degradirung
eine politische Grösse. Lin war die Verkörperung der altchine-
sisch
reactionären Parthei, welche im Gegensatz zu der den Um-
ständen grössere Rechnung tragenden, zur Vergleichung neigenden,
damals besonders durch tartarische Staatsmänner vertretenen
Richtung die Aufrechthaltung unbedingter Oberhoheit und Unter-
drückung der Barbaren durch unversöhnlichen Krieg bis aufs
Messer wünschte.


Lin begnadigte nach seiner Ankunft in Kan-ton alle des
Schleichhandels verdächtigte Eingeborne, drohte aber den Hoṅ-
Kaufleuten mit der äussersten Strenge, wenn sie sich zweideutig be-
nähmen. An die Fremden richtete er einen Erlass, in welchem
ihnen zunächst die Wohlthaten und der grosse Gewinn vorgehalten
wurden, deren sie im Handel mit China durch die Gnade des Himmels-
sohnes genössen. Dann kommen Vorwürfe über den unverzeihlichen
durch schmachvolle Einführung des Opium bewiesenen Undank.
»Da ihr euch im Lande der Ueberausreinen Dynastie befindet, so
müsst ihr, ebensogut wie die Eingeborenen, den Gesetzen gehorchen.
Ich höre, dass die bei Lin-tin ankernden Schiffe viele tausend
Kisten Opium an Bord haben, die eingeschmuggelt werden sollen.
Nun höret meinen Befehl, und mögen die fremden Kaufleute ihn
[69]Zwang gegen die Fremden.
eiligst befolgen, sobald er ihnen zu Gesicht kommt: sie müssen
der Regierung das auf ihren Schiffen lagernde Opium bis auf die
letzte Kiste ausliefern, ohne auch nur eine Spur davon zu-
rückzubehalten. — Zugleich müssen die Fremden in chinesischer
und in ihrer eigenen Sprache das schriftliche Versprechen geben,
dass ihre Schiffe in Zukunft kein Opium mehr bringen, und wenn
es heimlich geschähe, dem Staate die ganze Ladung verfallen sein
sollte; dass die an der Einführung Schuldigen das Leben verwirken
und sich der Strafe willig unterziehen wollen.« Nun folgen Ver-
heissungen und Drohungen. »Ich schwöre, dass ich diese Sache
bis zum Ende verfolgen, und nicht einen Augenblick auf halbem
Wege stehen bleiben will. Die Volksstimmung ist so deutlich gegen
euch, dass, sollte das Ohr sich der Reue verschliessen, die vernich-
tende Wirksamkeit unserer Land- und Seemacht gar nicht auf-
geboten zu werden braucht. Es bedarf nur eines Aufrufes an
die wehrhafte Bevölkerung, um euer Leben in meine Hand zu
liefern u. s. w.«


Capitän Elliot fuhr, von den Vorgängen unterrichtet, in der
Gig des englischen Kriegsschiffes Larne den Fluss hinauf und traf
am Abend des 24. März 1839 bei den Factoreien in Kan-ton ein,
wo die furchtbarste Aufregung herrschte. Lin verlangte peremto-
risch, dass einer der angesehensten Kaufleute, Launcelot Dent, in
die Stadt kommen und vor ihm erscheinen solle. Dieser weigerte
sich, ohne Bürgschaft für seine Sicherheit Folge zu leisten und blieb
gegen alle Vorstellungen der Hoṅ-Kaufleute taub. Er war im
eigenen Hause in grosser Gefahr; Elliot führte ihn deshalb noch
am Abend seiner Ankunft persönlich nach der englischen Factorei,
und erbot sich, Herrn Dent in seiner Begleitung nach der Stadt
gehen zu lassen, aber nur gegen die vom kaiserlichen Commissar
besiegelte Zusicherung, dass Jener seinen Blicken nicht einen Mo-
ment entzogen würde. — Noch in derselben Nacht wurden die
chinesischen Diener der Fremden entfernt und die Zufuhr abge-
schnitten. Auf dem Flusse cernirte man die Factoreien durch eine
Kette von Booten; die Plätze vor und hinter denselben füllten sich
mit bewaffneten Haufen; vor den Thoren hielten die Hoṅ-Kaufleute
und ein Detachement Soldaten Tag und Nacht mit gezogenen Säbeln
Wache. — Die Fremden schwebten in grosser Gefahr. Lin’s Ab-
sicht scheint gewesen zu sein, durch Einschüchterung und Verhaf-
tung einzelner Kaufleute die Gesammtheit zum Nachgeben und zu
[70]Elliot’s Erlass.
Unterzeichnung jenes Reverses zu vermögen. Dem musste auf jede
Weise vorgebeugt werden; deshalb beschloss Elliot, welcher ohne
getadelt zu werden jede Verantwortung für den Opiumhandel von
sich weisen konnte, die ganze Verantwortlichkeit im Gegentheil auf
seine Schultern zu nehmen. Folgender Erlass desselben wurde dem
kaiserlichen Commissar mitgetheilt:


»Ich, Carl Elliot, Ober-Aufseher des englischen Handels in
China, gegenwärtig mit allen Kaufleuten meines Landes und denen der
anderen fremden Nationen von der Provincial-Regierung gewaltsam ein-
geschlossen, ohne Lebensmittel, Bedienung und Verbindung mit dem
Heimathlande, habe von dem kaiserlichen Bevollmächtigten die Weisung
erhalten, ihm alles Opium auszuliefern, welches im Besitze der Kauf-
leute meines Volkes ist. Durch die dem Leben und der Freiheit aller
zu Kan-ton ansässigen Fremden drohende Gefahr und andere wichtige
Gründe gezwungen, befehle ich den in Kan-ton gegenwärtigen Unter-
thanen Ihrer Grossbritannischen Majestät, mir alles Opium auszuliefern.
Ich, besagter Ober-Aufseher des Handels, leiste Bürgschaft im vollsten
Sinne des Wortes und ohne Vorbehalt, Namens der Regierung Ihrer
Grossbritannischen Majestät, für alles Opium, das mir überwiesen wird.
Der Werth desselben soll nach einer von der Regierung Ihrer Majestät
später zu bestimmenden Norm ermittelt und den Eigenthümern erstattet
werden.«


Mit den chinesischen Behörden wurde am 3. April aus-
gemacht, dass der zweite englische Commissar mit den Mandarinen
und Hoṅ-Kaufleuten den Fluss hinabfahren und 20,283 Kisten
Opium von den Schiffen ausliefern sollte, die zu diesem Zwecke
unterhalb der Bocca Tigris versammelt wurden. In der Zwischen-
zeit hielt Lin die Blockade der Fremden aufrecht, erlaubte ihnen
aber zum Einkauf von Lebensmitteln auszugehen und suchte durch
Drohung und Bestechung die Ausstellung jenes Reverses zu
erzwingen, welcher ihr Leben und Eigenthum in die Hände der
chinesischen Obrigkeit gegeben hätte. Sie blieben aber einig. —
Dieser Zustand dauerte fast sechs Wochen; erst am 4. Mai, als
alles Opium abgeliefert, von den Chinesen mit Kalk gemischt und
in das Wasser geschüttet worden war, erhielten die Engländer bis
auf sechszehn Kaufleute die Erlaubniss zur Abreise. Capitän Elliot
blieb in Kan-ton, bis am 25. Mai auch diese mit der Wei-
sung, niemals zurückzukehren, aus der Haft entlassen wurden. Nun
waren keine englischen Unterthanen mehr gefährdet.


[71]Zunahme des Opiumhandels.

In Kan-ton wurden alle chinesischen Kaufleute und Laden-
besitzer, die ohne ausdrückliche Ermächtigung mit den Fremden
gehandelt hatten28), entfernt, ihre Strassen gesperrt, die Factoreien
mit Palisaden eingefriedigt, Terrassen eingerissen, und die Fremden
gleichsam zu Gefangenen in ihren eigenen Wohnungen gemacht.
Die Americaner liessen diese Beschränkungen über sich ergehen;
die Engländer berührten sie nicht, denn Elliot hatte seine Schutz-
befohlenen angewiesen, sich ausserhalb des Perl-Flusses zu begeben,
wenn sie nicht auf eigene Gefahr in Kan-ton bleiben wollten. Er
verbot auch die Unterzeichnung eines von allen in die Fluss-
mündung einlaufenden Schiffen geforderten, mit jenem ersten fast
identischen Reverses, durch welchen die Fremden ihr Leben und
Eigenthum in die Hand der chinesischen Justiz und der kaiserlichen
Beamten geben sollten. Lin verweilte noch in Kan-ton, denn seine
Aufgabe war nicht eher gelöst, bis nicht nur der Schleichhandel
ausgerottet, sondern auch der gesetzliche Handel in seine alte Bahn
zurückgeführt wäre. Sein dringendes Verlangen danach spricht
aus mehreren an die Engländer gerichteten Aeusserungen. Aber
auch auf den Schleichhandel übte seine Strenge nicht die erwartete
Wirkung. Trotz der auf den Gebrauch des Opium gesetzten Todes-
strafe stieg die Nachfrage in unerhörtem Maasse. Der Schleich-
handel wendete sich nach den Küsten östlich von Kan-ton, wo
ein Labyrinth von Inseln und Buchten jede wirksame Beaufsichti-
gung vereitelt. Mit dem Preise des Opium steigerte sich auch die
Anfuhr aus Indien; der Schleichhandel artete in die wildeste See-
räuberei aus, welcher die englische Regierung ruhig zusah. Es ist
kaum zu verwundern, wenn die Chinesen, ohnmächtig, diesem Un-
wesen zu steuern, als Repressalie den gesetzlichen Handel der
Fremden drückten.


Die meisten Engländer hatten sich in Macao nieder-
gelassen29); auf der sicheren Rhede von Hong-kong, einer damals
fast unbewohnten Felsen-Insel, ankerte das zahlreiche Geschwader
der englischen Kauffahrtei-Schiffe. Dort wurde in einem Zusammen-
stoss britischer und americanischer Matrosen mit Chinesen einer
[72]Kriegszustand.
der letzteren erschlagen. Die Behörden schoben die ganze Schuld
den Engländern zu und verlangten in der hergebrachten Weise die
Auslieferung eines Matrosen. Als dem nicht entsprochen wurde,
rückte Lin mit 2000 Mann gegen Macao und verlangte, dass das
englische Handelsgeschwader in den Fluss einliefe. Er liess auch
alle chinesischen Dienstboten aus der Stadt entfernen und die Zu-
fuhr abschneiden; der portugiesische Gouverneur erklärte sich un-
fähig, die englischen Unterthanen zu schützen. Um dieselbe Zeit
traf das erste von den Kriegsschiffen vor dem Perl-Flusse ein, um
welche Elliot den General-Gouverneur von Indien ersucht hatte.
Der Commandant des Volage bot sofort dem Gouverneur von Macao
Unterstützung zur Sicherung seiner Unabhängigkeit an; dieser
antwortete ablehnend, er glaube sich zu strenger Neutralität ver-
bunden. Sämmtliche Engländer verfügten sich nun an Bord der
vor Hong-kong ankernden Schiffe.


In den folgenden Wochen kam es in den Gewässern um
Hong-kong mehrfach zu blutigen Reibungen und Seegefechten. Chi-
nesen überfielen kleine englische Fahrzeuge und mordeten die Be-
satzung; englische Boote griffen die Zufuhr abschneidende Kriegs-
Dschunken an; so bildete sich allmälich ein Kriegszustand aus, ohne
dass der Krieg erklärt war. Ende October zeigte sich noch
eine Aussicht der friedlichen Lösung. Lin musste auf jede Weise
die Fortsetzung des erlaubten Handels wünschen, dessen Ausfall
in Kan-ton lebhaft gefühlt wurde. Er verständigte sich mit Elliot
dahin, dass bis auf Weiteres der Handelsverkehr ausserhalb der
Bocca Tigris erlaubt würde. Die englischen Kaufleute richteten
sich wieder in Macao ein, und die Schiffe löschten ihre Ladungen
bei Tšuen-pi. Elliot hatte sich bei diesem Abkommen ausdrück-
lich gegen Unterzeichnung jenes Reverses und Auslieferung eines
englischen Seemannes verwahrt, auf welche die Chinesen immer
noch bestanden, und es wäre bei dauernder Eintracht und Zähig-
keit vielleicht zu vollem Ausgleich gekommen; aber ein britischer
Schiffseigner lief, von Singapore kommend, ohne Hong-kong zu
berühren, direct in den Perl-Fluss ein, unterzeichnete an der Bocca
Tigris
den verrufenen Revers und erhielt sofort die Erlaubniss nach
Wam-poa zu gehen. Da trat Lin von dem getroffenen Abkommen
zurück und verlangte unter Androhung von Gewalt, dass die ganze
englische Handelsflotte unter denselben Bedingungen in den Fluss ein-
laufe oder binnen drei Tagen die chinesischen Gewässer verlasse.


[73]Seetreffen bei Tšuen-pi.

Ein Dschunken-Geschwader von beträchtlicher Stärke lag,
die englischen Schiffe bedrohend, unter Admiral Kwan bei Tšuen-pi;
dort gingen nun auch die englischen Kriegsschiffe Volage und Hyacinth
zu Anker. Der commandirende Officier Capitän Smith richtete unter
Elliot’s Mitwirkung eine Vorstellung an den kaiserlichen Commissar,
welche Admiral Kwan sogleich zu befördern versprach. Lin
befand sich in der Nähe. — Dem höflichen Ersuchen, dass
die englischen Kriegsschiffe etwas weiter stromabwärts ankern
möchten, entsprach Capitän Smith, um seine friedlichen Absichten
zu bekunden. Am Abend des 2. November und am folgenden
Morgen versuchten die Chinesen wiederholt neue Verhandlungen
anzuknüpfen, erhielten jedoch die Antwort, dass die Engländer
ihren Mittheilungen nichts hinzuzufügen hätten. Darauf verliess
Kwan seine Stellung und setzte sich gegen die englischen Schiffe
in Bewegung, welche ihm entgegenfuhren. Die 29 Kriegs-Dschunken
warfen in guter Ordnung Anker und es folgte ein kurzer Noten-
wechsel, in welchem die Chinesen peremtorisch die Auslieferung
eines Engländers forderten. — Capitän Smith hielt es für bedenk-
lich, ein so starkes Geschwader über Nacht im Besitze des Flusses
zu lassen, wo es offen die englische Handelsflotte bedrohte; einer
auf Einschüchterung zielenden Bewegung gegenüber den Rückzug
anzutreten, hätte sich mit der Ehre der Flagge nicht vertragen.
Um die Chinesen auf ihren früheren Ankerplatz zu drängen, gab er
deshalb gegen Mittag das Signal zum Angriff. Der Wind war
günstig. Die Engländer segelten, volle Breitseiten feuernd, vorwärts
und rückwärts die chinesische Schlachtlinie entlang. Eine Dschunke
flog auf Pistolenschussweite in die Luft; drei andere sanken und
viele wurden leck. Admiral Kwan kappte sein Kabel und griff
tapfer an; aber nach Dreiviertel-Stunden suchte das ganze Ge-
schwader retirirend seinen alten Ankerplatz zu gewinnen. Die
Engländer, welche die Dschunken auch am folgenden Tage noch
leicht zerstören konnten, liessen sie unbehelligt. Solche Schonung
aber legen die Chinesen immer als Schwäche aus: sie hielten sich
für die Sieger und mochten in diesem Wahn durch die Abfahrt
der englischen Schiffe nach Macao bestärkt werden, wo jetzt die
Einschiffung der britischen Unterthanen zu decken war.


Nun untersagte der kaiserliche Commissar jeden Verkehr
mit den Briten. Eine Zeit lang nahmen noch americanische Schiffe
die Ladung der englischen an Bord und führten sie nach Kan-ton,
[74]Englische Streitmacht in Hong-kong.
brachten ihnen auch Thee-Ladungen vor die Flussmündung hinaus;
dem wurde aber bald ein Ende gemacht. Im December publicirte
Lin einen kaiserlichen Erlass, welcher alle englischen und indischen
Schiffe und Waaren auf ewige Zeiten verbannte. »Die Engländer,«
hiess es, »sind vogelfrei; wie wilde Thiere sollen sie gehetzt
werden.« Auch die Parsen, Hindu und Mohamedaner mussten als
englische Unterthanen Kan-ton verlassen. Die anderen Fremden
durften unter den früheren Bedingungen bleiben und ihren Handel
fortsetzen; nur wurden die Zölle erhöht.


Der General-Gouverneur von Ostindien war ermächtigt
worden, China den Krieg zu erklären. Im Mai und Juni 1840 ver-
sammelte sich die englische Flotte bei Singapore und segelte dann
nach Hong-kong; drei Linienschiffe und vier Dampfer bildeten den
Kern der Seemacht. Auf Transportschiffen kamen 4000 Mann
Landtruppen. Als englische Bevollmächtigte fungirten Capitän
Elliot und sein Vetter Admiral Elliot. Die Beschwerden der Briten
waren in einem ernst und höflich gefassten Schreiben Lord
Palmerston’s niedergelegt, das später am Pei-ho übergeben wurde.
Lin richtete unterdessen einen mit Drohungen gewürzten Brief voll
sittlicher Entrüstung an die Königin Victoria, »deren Vorfahren
sämmtlich unterthänig gewesen seien«, und forderte sie zum alten
Gehorsam gegen die ewigen Gesetze des Himmlischen Reiches auf.


Natürlich glaubten die Chinesen, dass ein Reich von über
300 Millionen sich einiger Schiffe und einer Streitmacht von 4000
Mann, die noch dazu Tausende von Meilen von der Heimath ent-
fernt waren, leicht erwehren könne. In China hatte Niemand, und
am wenigsten der kaiserliche Hof, eine Ahnung von den materiellen
Hülfsmitteln, der Stärke und Thatkraft der westlichen Völker;
die wenigen Kriegsschiffe, welche vereinzelt in langen Zwischen-
räumen an den Küsten erschienen, konnten davon keinen Begriff
geben. Die meisten Chinesen hatten niemals Europäer gesehen und
hielten sie für seegeborne Unthiere, die unter Wasser lebten und
nur selten auf festen Boden kämen. So dachten Kaiser Tau-kwaṅ
und seine Grossen nun wohl nicht; aber sie achteten die Eng-
länder kaum höher, als der Europäer den Neu-Seeländer und
andere wilde Völker der niedrigsten Stufe. — Die Entrüstung
am Kaiserhofe ist um so begreiflicher, als man dort die Sach-
lage nur aus den gefärbten Berichten der Mandarinen in Kan-
ton
kannte; denn selbst ohne diese hätten die Ruchlosigkeit
[75]Das englische Geschwader segelt nach Tšu-san.
des Schleichhandels und Seeraubes, der freche Trotz gegen
die Obrigkeit, die Thatsache, dass die angesehensten Häuser
an dem sauberen Handel betheiligt waren, dass die englische
Regierung ihn schützte, wohl hingereicht, den Hof von Pe-kiṅ
zu reizen. — Wenn die Erbitterung sich in Kan-ton selbst
bei der von den Nachtheilen des Schleichhandels nicht betroffenen
Bevölkerung zu unbezähmbarer Wuth steigerte, so ist der Grund
dazu theils in deren anerkannt händelsüchtigem Charakter zu
suchen, theils aber auch in dem Betragen der angesiedelten
Kaufleute. Bezeichnend ist, dass die englische Land- und See-
macht während der folgenden Kriege gegen China, wo immer ihre
Landsleute noch unbekannt waren, bei der Bevölkerung nach Ueber-
windung des ersten Schreckens freundliches Entgegenkommen
fanden und zu ihr in das beste Verhältniss traten. Selbst in
Kan-ton verschwand der durch Jahrzehnte genährte bittere Hass,
als englische Truppen die Stadt geraume Zeit besetzt hielten,
bis auf die letzte Spur.


Die Chinesen erwarteten einen Angriff auf Kan-ton und
machten dort grosse Rüstungen. Die Engländer liessen aber nur
wenige Schiffe zur Blockade des Perl-Flusses zurück und segelten
mit dem grössten Theil des Geschwaders nach der Insel Tšu-san.
An den Küsten von Tše-kiaṅ und Fu-kian wurden Recognoscirun-
gen vorgenommen.30)


Die Tšu-san-Gruppe liegt in der Nähe von Niṅ-po; die
Inseln sind fruchtbar, stark bevölkert und gesund; einen Hafen
[76]Einnahme von Tšu-san.
besitzt nur die grösste. Die Bevölkerung hatte keine Ahnung vom
Kriege mit England; unbefangen fuhren die Fischer dem Feinde
entgegen und boten ihre Dienste an. Bei der Hauptstadt Tiṅ-hae
legten sich die anwesenden Kriegs-Dschunken vor die Handels-
flotte; die Ufer wimmelten von Menschen als das Geschwader
erschien. Der chinesische Admiral kam an Bord des Flagg-Schiffes
Wellesley, liess sich die Ursachen und den Zweck der Feindselig-
keiten erklären und beklagte sich bitter, dass Unschuldige für die
Fehler der Kantonesen leiden sollten; gegen diese möchten die
Engländer kämpfen. »Wir erkennen euere Uebermacht; unser Wider-
stand ist nutzlos, und doch müssen wir Widerstand leisten. Ver-
lieren wir gleich das Leben, so haben wir doch unsere Pflicht
5. Juli 1840.erfüllt.« Am folgenden Morgen waren auf den Uferhügeln Ge-
schütze aufgestellt; geschäftig lief die Mannschaft durcheinander.
Alle Kriegs-Dschunken lagen vor dem Hafen, ihnen gegenüber
das englische Geschwader. Commodore Bremer wartete bis zwei
Uhr auf friedliche Uebergabe und liess dann Truppen ausschiffen,
die auf der anderen Seite der Insel landeten. Um halb drei fiel
auf dem Wellesley der erste Schuss; sämmtliche Kriegs-Dschunken
und Ufer-Geschütze antworteten. Die Engländer feuerten nur
neun Minuten und liessen darauf die einzelnen Schüsse der Chinesen
unbeantwortet, denn der Zweck war erreicht. Die Dschunken und
ein Theil der Stadt lagen zerstört, und unter den Trümmern
viele Einwohner begraben. Grosse Volkshaufen flohen in das
Innere der Insel. Die Engländer konnten ohne Widerstand
Tiṅ-hae besetzen, hatten aber Mühe, den Diebesbanden zu
steuern, welche die verlassenen Häuser und die öffentlichen Kassen
plünderten. — Der chinesische Admiral wurde schwer verwundet, der
erste Civilbeamte ertränkte sich aus Verzweiflung; andere fielen,
die meisten flohen.


Die Engländer richteten sich auf längere Zeit ein, denn
Tšu-san ist die beste Operationsbasis gegen die Mündung des
Yaṅ-tse-kiaṅ und den Norden. Sie gewannen bald das Vertrauen
der Bevölkerung, die schaarenweise zurückkehrte. Die Mandarinen
des nahe gelegenen Festlandes liessen aber durch Streifbanden
jeden Engländer aufgreifen, der sich aus der Stadt entfernte. Es
war unmöglich, diesem Unwesen gänzlich zu steuern; oft wurden
Soldaten durch verrätherische Freundlichkeit in die Falle gelockt
und grausam ermordet oder fortgeschleppt. Die Mandarinen terro-
[77]Berichte der Mandarinen.
risirten auch die ländliche Bevölkerung der Insel dermaassen, dass
die Garnison von Tiṅ-hae bald Mangel litt an frischen Nahrungs-
mitteln. So brachen denn Seuchen aus, welche die Reihen der
Engländer bedenklich lichteten.


Die Statthalter der Küsten-Provinzen wetteiferten unterdess
in grossmäuligen Berichten nach Pe-kiṅ, besonders Teṅ, der vorher
als Gouverneur von Kuaṅ-tuṅ dem Opiumhandel thätigen Vor-
schub geleistet haben soll, und Yu-kien, ein grausamer Mongole,
der sich in Turkestan einen Namen gemacht hatte.31)


Dieser rüstete als Statthalter von Kiaṅ-su mit Eifer und
schilderte die Engländer als eine verächtliche Räuberbande, welche
leicht vom Angesichte der Erde zu vertilgen sei. »Ich habe einen
früheren Commandeur der Flottenstation von Tšu-san ersucht,«
schreibt er nach der Wegnahme, »die nöthigen Maassregeln zur
Wiedergewinnung der Insel zu treffen. Zu dem Ende wird er sich
verkleidet dahin begeben und die Stellung des Feindes erforschen.
Dieser wird natürlich seine Streitkräfte vertheilt haben, um die
wichtigsten Punkte zu besetzen, und unsre Soldaten können, sobald
ihre Anzahl genügt, in der Stadt über sie herfallen und dieselbe
wieder in Besitz nehmen u. s. w.« Ferner: »Da die Barbaren jetzt
furchtsam in den Meeren von Tše-kiaṅ herumirren, so werden sie
nach ihrer Niederlage in jener Provinz wahrscheinlich auch unsre
[78]Chinesische Kriegsrüstungen.
Küste heimsuchen. Ich habe deshalb mit dem Commandeur der
Truppen Maassregeln zu ihrer Vertreibung verabredet. Das Land
dieser Barbaren ist über 10,000 Li von hier entfernt. Da ihr
Handel mit Opium in Kan-ton und Macao, überhaupt ihr ganzer
Handelsverkehr abgeschnitten wurde, so kamen sie nach Fu-kian,
wo man sie ebenfalls verjagte, und nun haben sie den Wind be-
nutzt, um diese nördlichen Küsten zu besuchen..... Ich sehe
diese Feinde als schwache Binsen an, da ich von Jugend auf mili-
tärische Schriften las und den Schrecken meines Namens in Tur-
kestan
über Myriaden von Meilen verbreitete. Seitdem der Handel
in Kan-ton geschlossen ist, traf ich Vorsichtsmaassregeln; und wenn
sie wagen an unsere Küsten zu kommen, so werden sie sein wie
die Motte in der Kerze, oder der Fisch im Netz u. s. w.« — Einige
Kriegsschiffe recognoscirten die Küsten des mittel-chinesischen
Festlandes und die Mündung des Yaṅ-tse-kiaṅ; überall waren
die Anstalten zur Abwehr kindisch und lächerlich. Schon bei
Vertheidigung von Tiṅ-hae thaten die chinesischen Geschütze der
Bedienungsmannschaft mehr Schaden als dem Feinde; viele Stücke
zersprangen, andere fielen von den Laffetten. Die Brander, auf
welche die Chinesen in diesem und den folgenden Kriegen Millio-
nen verschwendeten, erwiesen sich durchgängig unwirksam; die
englischen Boote pflegten sie in aller Ruhe an das Ufer zu bug-
siren. Die Schanzen und Festungswerke boten unnahbare Fronten,
waren aber niemals im Rücken und in den Flanken gedeckt und
konnten von da mit Leichtigkeit genommen werden. Das verschrieen
freilich die Chinesen als Feigheit und falsches Spiel und konnten
überhaupt nicht begreifen, warum sie nicht an ihren stärksten
Punkten angegriffen wurden. Wie die Kinder glaubten sie durch
Lärm und Grosssprecherei den Feind nicht nur schrecken, sondern
auch schlagen zu können. Der Kaiser wurde durch die lügenhaften
Rodomontaden seiner Statthalter lange getäuscht; er glaubte nicht
nur in Pe-kiṅ vollkommen sicher, sondern auch in kürzester Zeit
von dem lästigen Geschmeiss befreit zu sein.


Die Chinesen erwarteten zunächst einen Angriff auf die
reiche Handelsstadt Haṅ-tšau, welche durch unbezwingliche Fluth-
strömungen gegen jeden Flotten-Angriff gesichert ist. Statt dessen
fuhren die englischen Bevollmächtigten mit dem grössten Theil des
Geschwaders nach dem Norden und erschienen am 28. Juli vor der
Pei-ho-Mündung. Das war sehr unverhofft; an Rüstungen hatte
[79]Elliot vor der Pei-ho-Mündung.
hier niemand gedacht; der Weg nach der Hauptstadt lag dem
Feinde offen. Capitän Elliot hatte auch die Absicht, eine Truppen-
bewegung auf Pe-kiṅ zu veranlassen, wurde aber von der Schlau-
heit eines Mandarinen überlistet und kehrte unverrichteter Sache
nach dem Süden zurück.


Ki-šen, ein Mandschu-Tartar vom höchsten Range und
persönlicher Freund des Kaisers Tauk-waṅ, hatte vor Ausbruch
des Krieges alle Mittel zu dessen Abwendung aufgeboten. In einer
Immediat-Eingabe erklärte er damals die strenge Ausübung der
Strafgesetze gegen das Opiumrauchen und verschärfte Bewachung
der Küsten für genügend, um dem Uebel zu steuern, und widerrieth
jeden Gewaltschritt gegen die Fremden. Ki-šen war der vor-
nehmste Vertreter der gemässigten Parthei und entschiedener Gegner
des Lin, dessen Ansicht im kaiserlichen Rathe durchdrang. Das
unverhoffte Erscheinen der Engländer vor der Pei-ho-Mündung
erzeugte nun aber ernste Zweifel an dessen Politik, und Tauk-waṅ
befahl Lin’s entschiedenstem Gegner, den Feind zur Umkehr zu
vermögen. Ki-šen’s feiner Takt und aalglatte Liebenswürdigkeit,
seine unerschütterliche Ruhe und vollkommene Selbstbeherrschung
machten ihn zu dieser Sendung sehr geeignet. Er konnte die
widerwärtigsten Discussionen mit den schönsten Phrasen und Um-
gehung jeder Schärfe Stunden lang fortspinnen und, ohne sich
durch Zusagen zu binden, dem Gegner den Wahn eines Erfolges
beibringen. Bei den Verhandlungen an der Pei-ho-Mündung
muss er nach beiden Seiten falsch gespielt haben; denn sicher
theilte er das ihm übergebene Schreiben Lord Palmerston’s dem
Kaiser nicht mit, noch auch dessen wirkliche Antwort auf seine
den Barbaren in den Mund gelegten Vorstellungen den Engländern;
sonst war die Verständigung unmöglich.32) Capitän Elliot erreichte
[80]Lin degradirt.
nur die leere Verheissung, dass alle Beschwerden streng untersucht
und für das zerstörte Opium einige Entschädigung geleistet werden
sollten. »In Kan-ton,« betheuerte Ki-šen bei den Verhandlungen
immer wieder, »sei der Streit entstanden, nur dort könne die Unter-
suchung geführt werden,« und drang damit durch. Das englische
Geschwader segelte nach dem Süden.


Elliot’s Umkehr scheint nach unserer jetzigen Kenntniss der
chinesischen Zustände unbegreiflich und wurde auch heftig ange-
fochten; zu bedenken ist aber, dass man damals im Umgang mit
den Grossen des Kaiserhofes noch keine Erfahrung hatte, dass
ein günstiges Vorurtheil für deren redliche Gesinnung waltete.
Erwägt man ferner, dass Elliot über sehr geringe Streitkräfte ver-
fügte, nur unvollkommene Karten von den chinesischen Küsten
besass und sich nothwendig eine falsche Vorstellung von der
Wehrkraft des Landes machen musste, so erscheint die äusserste
Mässigung nur gerechtfertigt.


Lin wurde nun degradirt, Ki-šen an seiner Stelle zum
kaiserlichen Special-Commissar in Kan-ton ernannt und mit den
Verhandlungen beauftragt. »Die englischen Barbaren,« lautete seine
Instruction, »beklagen sich, dass die degradirten Beamten Lin und
Teṅ ihre ursprünglichen Zusagen nicht hielten und so die jetzigen
Zerwürfnisse herbeiführten. Da ihre Sprache unterwürfig und nach-
giebig ist, so soll Ki-šen, zum stellvertretenden Statthalter von
Kuaṅ-tuṅ ernannt, die Sache sorgfältig untersuchen. Wollen die
Barbaren Reue zeigen und sich demüthig und unterthänig betragen,
so mögen sie noch an der zärtlichen Gnade unserer himmlischen
Dynastie für die Fremden Theil haben. Nichts darf übereilt
32)
[81]Tšuen-pi und Ti-kok-to zerstört.
werden. Ki-šen soll diese Angelegenheit in Treue schlichten und
meine Absichten ausführen. Danach richtet euch!« — Die Küsten-
behörden erhielten Befehl zu Einstellung jeder herausfordernden
Feindseligkeit gegen die britischen Schiffe für die Dauer der Ver-
handlungen.


Ki-šen fand seine Stellung in Kan-ton schwierig, denn die
Bevölkerung nährte den bittersten Fremdenhass und trat dem neuen
Bevollmächtigten feindlich entgegen, sobald dessen Absicht einer
friedlichen Lösung bekannt wurde. Der grosse Haufen wähnte mit
den rebellischen Barbaren leicht fertig zu werden und drängte zu
rascher Entscheidung; der degradirte Lin war noch immer sein
Abgott. Ernstlich glaubte wohl Ki-šen selbst nicht an fried-
liche Vergleichung; seine erste Sorge in Kan-ton war die Ver-
stärkung der Werke an der Flussmündung. Er gab dafür grosse
Summen aus, aber die Anstalten blieben kindisch und unwirksam.
Ki-šen setzte sich auch mit Lin in Verbindung, der einige Hundert
Freiwillige auf eigene Kosten einüben liess, denn der Kampf war
unvermeidlich. Der neue Bevollmächtigte wusste wohl, dass der
Kaiser befriedigende Zugeständnisse an die Engländer niemals ge-
nehmigen würde; als Aeusserstes mochte ihm die Aufhebung des
Handelsverbotes und eine Entschädigung für das Opium gelten, die aus
den dafür aufzulegenden Zöllen in jährlichen Raten bezahlt werden
könnte. Durch Verhandlungen suchte er Zeit zu gewinnen. Die
Engländer liessen sich eine Weile täuschen, entdeckten aber am
6. Januar 1841 einen geheimen Erlass, nach welchem alle englischen1841
Unterthanen und Schiffe, wo man sie auch treffen möchte, vernichtet
werden sollten. Schon am folgenden Tage antwortete die englische
Flotte durch Zerstörung der Werke vor der Flussmündung. Zuerst
bewarfen ihre Geschütze Tšuen-pi mit solchem Frfolge, dass die
Besatzung nach 25 Minuten ausriss. Eben so schnell ging es mit
dem gegenüberliegenden Ti-kok-to. Die Werke wurden in Trüm-
mer gelegt, 173 Geschütze unbrauchbar gemacht. Die chinesische
Flotte stob auseinander als bei Beginn des Kampfes eine grosse
Dschunke in die Luft flog; die anderen rannten an das Ufer und
die Besatzung floh landeinwärts. Dreizehn grosse Kriegs-Dschunken
wurden verbrannt.33) Am folgenden Morgen bat Admiral Kwan
um Waffenstillstand.


III. 6
[82]Abtretung von Hong-kong.

Die Chinesen hatten sich für unüberwindlich gehalten; am
Ufer harrten dichte Volkshaufen des sicheren Unterganges der
Engländer; desto grösser war die Bestürzung und Rathlosigkeit.
Die Verhandlungen begannen von neuem und führten zu einer
zwischen Elliot und Ki-šen geschlossenen Convention, nach welcher
die Insel Hong-kong der englischen Regierung abgetreten, eine Ent-
schädigung von sechs Millionen Dollars für das zerstörte Opium
gezahlt, der Handel binnen zehn Tagen eröffnet und den englischen
Beamten der directe amtliche Verkehr mit den Mandarinen auf dem
Fusse der Gleichberechtigung zugestanden werden sollte. In Folge
dessen nahmen die englischen Bevollmächtigten Hong-kong am
26. Januar 1841 förmlich in Besitz und sandten nach Tšu-san den
Befehl, die Insel zu räumen.


Ki-šen hatte keine Wahl, denn von den Forts an der Bocca
Tigris
war kein Widerstand zu erwarten; der Weg nach Kan-ton
lag dem Feinde offen. Die Zerstörung von Tšuen-pi und Ti-kok-to
berichtete Ki-šen sogleich an den Kaiser: »Der Admiral gesteht,
dass er die strengste Strafe verdient. Er weicht nur der Noth-
wendigkeit und hat sich zu einem Waffenstillstand mit den Bar-
baren verpflichtet, um Zeit zu gewinnen und sich neu zu rüsten....
Es scheint den Sclaven Deiner Majestät, dass es uns gar zu sehr an
Vertheidigungsmitteln fehlt; wir haben nicht die Bomben und Raketen
der Barbaren. Deshalb müssen wir sie auf andere Weise hinhalten,
und das wird leicht sein, da sie Verhandlungen angeknüpft haben.«


Den Kaiser versetzte die Nachricht in maasslosen Zorn; am
Tage des Empfanges erliess er drei fulminante Decrete: »Ki-šen
hat, mit so wichtigen Angelegenheiten betraut, angesichts des hoch-
fahrenden und ruchlosen Betragens der Barbaren nichts gethan,
um Widerstand zu leisten. Jetzt erkennt man erst die wahren
Absichten des Feindes. Sie billig zu behandeln ist nun ausser
Frage; sie sollen vom Zorn des Volkes heimgesucht werden. Des-
halb haben wir die Truppen verschiedener Provinzen nach Kan-ton
entboten. Ki-šen und Kwan sollen streng bestraft werden.«
Ferner: »Sie haben unsere Officiere und Soldaten in Tšuen-pi an-
gegriffen, verwundet, getödtet. Die Heimsuchung des Himmels zu
offenbaren, wollen wir die Barbaren vom Angesichte der Erde weg-
fegen. Zu dem Zweck wird unser Heer Tiṅ-hae wiedernehmen.
Ki-šen hat Befehl, den Patriotismus des Volkes zu wecken und die
Köpfe der Barbaren in Körben nach Pe-kiṅ zu senden.«


[83]Ki-šen’s Bericht.

Die Convention stellt Ki-šen nach dem Abschluss als ein
vorübergehendes Nothmittel dar. »Die englischen Barbaren haben
schon einen Boten nach Tšu-san gesendet, um die Insel auszu-
liefern; sie haben auch die Werke von Tšuen-pi und die genom-
menen Dschunken wieder herausgegeben. Ohne auf Befehl zu
warten, hat Dein Sclave es in seiner Beschränktheit übernommen,
für die Engländer um Gnade zu flehen, die sich verpflichteten, ihre
Kriegsschiffe zurückzuziehen. Obwohl ich dieses that, um das
Volk vor Schaden zu wahren, muss ich doch um strenge Be-
strafung bitten. Ich erhielt Deiner Majestät Befehl, dass die Eng-
länder nicht billig behandelt werden dürften, dass deshalb von mir
im Verein mit den Beamten Lin und Teṅ die Feindseligkeiten wie-
der begonnen werden müssten, sobald die viertausend Mann Verstär-
kung einträfen. Dein Knecht hat diesen Befehl knieend gelesen und
darauf die Oeffnung des Hafens hinausgeschoben, obgleich er die-
selbe den Engländern auf einen bestimmten Tag versprochen hatte.
Sie haben unterdessen die Herausgabe von Tšu-san an I-li-pu an-
geordnet und sich auch sonst sehr nachgiebig gezeigt. Aber ich
habe mir nichts vergeben, sondern versprach nur, um Gnade für
sie zu flehen. Ich bin sehr erzürnt auf sie wegen der schwierigen
Lage, in die sie mich versetzten, und warte nur meine Zeit ab, um
sie zu vernichten, sobald es möglich ist. Nach genauer Unter-
suchung des Flusses, der Werke an der Mündung und aller Zu-
gänge der Stadt bin ich aber mit anderen Beamten der Ansicht,
dass Kan-ton nicht zu halten ist. Die Verstärkung ist noch weit
entfernt, daher die Nothwendigkeit einer vorübergehenden Ver-
ständigung.« In einer zweiten Eingabe schildert Ki-šen die
Barbaren als »so unbezähmbar, dass ihre Officiere sie vom An-
griff auf Tšuen-pi nicht abhalten konnten. Seitdem haben sie aber
Reue und Furcht gezeigt und schicken ihre Kriegsschiffe fort. Die
einzige himmlische Gunst, die sie erflehen, ist die Zulassung zum
Handelsverkehr, da durch die Stockung des Handels ihr ganzes
Volk der Mittel zum Lebensunterhalt beraubt ist.«


Ki-šen brach also die Convention auf des Kaisers Weisung,
rettete sich aber dadurch ebensowenig als durch die abgeschmack-
ten Zuthaten seiner Berichte. Auf die Nachricht vom Abschluss
war Tau-Kwaṅ’s Erbitterung nicht zu beschwichtigen. »Da die
Engländer in ihren Wünschen täglich ausschweifender wurden, so
schärfte ich Ki-šen Wachsamkeit ein; bei jeder Gelegenheit sollte
6*
[84]Räumung von Tšu-san.
er sie angreifen. Er hat sich aber von den Barbaren bestricken
lassen und nicht einmal seine Amtsgenossen zu Rathe gezogen.
Den Engländern Hong-kong abtreten, damit sie es zum Waffenplatz
machen und dort Festungswerke bauen, und ihnen die Fortsetzung
des Handels in Kan-ton erlauben, geht über alle Grenzen der
Vernunft hinaus. Warum liess er sie von der Insel Besitz ergrei-
fen? Gehört nicht jeder Zollbreit Landes und jeder einzelne Unter-
than dem Staat? Und doch wagt er, solche Gnaden für die Bar-
baren zu erflehen und verbreitet sich obendrein über den erbärm-
lichen Zustand von Kan-ton, um unsere Zustimmung zu erlangen.
Wie gross ist Ki-šen’s Anmaassung und Schamlosigkeit! Er soll
degradirt, in Ketten gelegt und unter Bedeckung nach Pe-kiṅ
geführt, alle seine Besitzthümer sollen sofort eingezogen wer-
den.« Noch an demselben Tage wurde mit der Confiscirung be-
gonnen. Man schätzte Ki-šen’s in den höchsten Aemtern ange-
häuftes Vermögen auf acht Millionen Pfund Sterling, fand aber bei
der Einziehung weit mehr. Das Alles verschwand auf den Wink
des Monarchen. Als dessen alter Günstling mit Ketten beladen nach
Pe-kiṅ kam, konnte er kaum hundert Kupferpfennige auftreiben, um
sich Nahrung für den Kerker zu kaufen; seine Frauen und Ge-
nossinnen wurden öffentlich versteigert.


Tšu-san räumten die britischen Truppen auf Elliot’s vor-
eilige Weisung am 24. Februar, nachdem im Süden die Convention
schon den Tag zuvor gebrochen war. Der Kaiser erliess,
durch lügenhafte Berichte gereizt, ein donnerndes Decret, worin
die Engländer der Gewalt gegen Frauen und der gemeinen
Räuberei beschuldigt wurden; sie hätten sich ferner herausgenom-
men, auf der Insel Befestigungen anzulegen, einen Canal zu graben
und durch einen vorgeblichen Mandarin Steuern erheben zu lassen.
»Nach ihren Gewaltthaten an der Flussmündung bleibt nichts
übrig, als sie zu vernichten. Da Götter und Menschen gleich ent-
rüstet sind über so ruchlose Geschöpfe, so kann ihre Vertilgung
nicht fern sein.« Von Frieden durfte Niemand reden; Tau-kwaṅ
betheuerte, ein Volk wie die Engländer dürfe nicht leben.


Der Pöbel in Kan-ton forderte nach dem ersten Schrecken
in wilder Verblendung die Fortsetzung der Feindseligkeiten und
verfluchte offen die Anknüpfung von Verhandlungen. Als nach
dem Bruch der Convention bekannt wurde, dass die Engländer die
Werke an der Bocca angreifen wollten, brach das Volk in lauten
[85]Die Werke an der Bocca zerstört.
Jubel aus und zog in hellen Haufen hin, ihre Vertilgung mit
anzusehen; die Uferhänge bedeckten sich mit Tausenden.
Ki-šen, dem sein Schicksal noch unbekannt war, liess am Vorabend
des Kampfes fünftausend Dollars unter die chinesischen Truppen ver-
theilen und versicherte in einer Ansprache die Bewohner von Kan-ton,
dass alle Zugänge zur Stadt gut bewacht und ungefährdet seien. —
Am 26. Februar legte Sir Gordon Bremer sein verstärktes Ge-
schwader, in welchem sich drei Linienschiffe, mehrere Fregatten
und Dampfer befanden, vor die Werke an der Bocca und schoss
sie zusammen. Die landenden Truppen fanden wenig Widerstand.
Den braven Admiral Kwan durchbohrte das Bajonet eines Marine-
soldaten; sein Heldenmuth fand aber wenig Nachfolge.34) In einer
Strand-Batterie bemächtigten sich sogar die Officiere, als das
Feuer zu heiss wurde, der vorhandenen Boote und ruderten davon;
die Mannschaft aber kehrte die Geschütze gegen ihre fliehenden
Vorgesetzten. — Die chinesischen Truppen bestanden im Auswurf
der Bevölkerung; nur auf die Ueberzahl setzten die Führer ihr
Vertrauen. Von Disciplin und Waffenübung hatte man kaum eine
Ahnung; die Geschütze wurden oft bis zur Mündung vollgestopft
und richteten dann platzend grosse Verheerung an.


Tau-kwaṅ’s Bestürzung über die neue Niederlage zeigt sich
in dem gleich darauf erlassenen Aufgebot an fünftausend Mann aus
den acht Tartarenbannern. Diese gelangten niemals nach Kan-ton,
sondern blieben zum Schutze der Hauptstadt im Norden. Mit dem
Oberbefehl im Süden hatte der Kaiser ein Triumvirat betraut:
seinen Neffen und Günstling Yi-šan, den Mongolen Luṅ-wun und
den siebzigjährigen Yaṅ-faṅ; nur dieser hatte die militärische
Laufbahn gemacht und sich im Kampf gegen den einheimischen
Gebirgsstamm der Miao-tse ausgezeichnet. Yaṅ-faṅ traf gleich
nach der Niederlage an der Bocca mit einem Truppenkörper in
Kan-ton ein und detachirte zweitausend Mann flussabwärts gegen die
Engländer. Deren leichtes Geschwader unter Sir Thomas Herbert
richtete aber am 1. März grosse Verwüstung unter ihnen an und
sprengte ein europäisches Schiff in die Luft, das die Chinesen ge-
kauft und zum Kampf gegen die Engländer gerüstet hatten. Darauf
berichtete Yaṅ-faṅ seinem Herrn: »Die Soldaten aus Ho-nan
haben den Barbaren eine Schlacht geliefert, in der sie viele tödteten
[86]Waffenruhe und Rüstungen.
und grosse Haufen in das Wasser jagten. Die Truppen schlugen
sich brav. 30 Officiere, 450 Mann und der Commandeur der
Abtheilung sind gefallen.« In Wahrheit lief das ganze Corps aus-
einander und durchstreifte plündernd das Land. Schon am 2. März
konnte Yaṅ-faṅ keinen Widerstand leisten, als die Engländer vor-
rückten. Am 3. kamen der Präfect Yu und der Vorsteher des
Hoṅ-Verbandes auf einem Floss unter weisser Flagge den Strom
herab und ersuchten Capitän Elliot um Gehör: Man wolle den
Handel gestatten, wenn die Briten ihre Kriegsschiffe zurückzögen;
aber nur in Pe-kiṅ könne über die schwebenden Differenzen unter-
handelt werden. — Die Engländer besetzten darauf am 6. März
»Fort Napier« in der Nähe von Kan-ton und nahmen Stellungen ein,
aus welchen sie die Stadt und den Fluss vollkommen beherrschten.
Den Kantonesen ertheilten sie die Weisung, ruhig bei ihren Ge-
schäften zu bleiben, wenn die Stadt geschont werden solle.


Nun trat eine merkwürdige Waffenruhe ein; der friedliebende
Elliot mag wieder auf eine Lösung gehofft und die momentanen
Vortheile des Handels berücksichtigt haben. Die Kaufleute bezogen
unter dem Schutze der englischen Waffen ihre Wohnungen in
Kan-ton und betrieben ihre Handelsgeschäfte wie im tiefsten Frie-
den. Man verlor aber dadurch die kühlen trockenen Wochen des
Frühjahrs und gewährte den Chinesen Musse zu neuen Rüstungen.
Yi-šan, das Haupt des Triumvirates, traf am 14. April in Kan-ton
ein, und fast täglich rückten Truppen aus den Provinzen in die
Stadt. Am Ufer wurde eine schwimmende Batterie von mächtigen
Dimensionen gebaut und mit Sandsäcken schussfest gemacht; die
Chinesen hatten zum Glück das Gewicht der Geschütze ausser Rech-
nung gelassen, welche sie unter Wasser drückten. Die Mandarinen
liessen Kanonen giessen, Pulver bereiten, Brander und Feuerflosse
in grosser Menge rüsten, und übten eifrig ihre Soldaten ein. Es
konnte dem blödesten Auge nicht entgehen, dass ein Angriff bevor-
stand; dennoch liessen die Engländer die heisse Jahreszeit heran-
kommen, ohne sich zu rühren. Mitte Mai begannen die in der
Nähe der Factoreien wohnenden chinesischen Krämer mit Hab’ und
Gut abzuziehen, und nun mussten auch die fremden Kaufleute auf
Sicherheit bedacht sein; der Präfect Yu versuchte aber noch
am Tage vor dem Angriff ihre Wachsamkeit durch eine Bekannt-
machung einzuschläfern, dass ihre Person und ihr Eigenthum keine
Belästigung zu fürchten hätten.


[87]Angriff auf Kan-ton.

Die Kaufleute hatten sich mit ihrer Habe an Bord der
Handelsschiffe unterhalb Wam-poa geborgen; vor den Factoreien
in Kan-ton ankerten nur noch ein englischer Schooner und ein
Cutter, auf welche die Chinesen am 21. Mai plötzlich Brander los-
liessen und aus versteckten Geschützen feuerten. Die Engländer
brauchten noch einige Tage zu Vorbereitungen und thaten dann
den Chinesen wieder nicht den Gefallen, sie an ihren stärksten
Punkten anzugreifen. Gross war die Ueberraschung, als der Com-
mandirende der Landtruppen, Sir Hugh Gough, ein starkes Corps
unterhalb der Stadt ausschiffen liess, dieselbe umging und die
Höhen besetzte, welche sie von Norden beherrschen. Dort liegen
einige Aussenwerke, deren Besatzung in panischem Schrecken
davon lief. Die Engländer stiegen von den Höhen herab und
warfen die auf dem abschüssigen Boden vor der Stadtmauer auf-
gestellen Chinesen aus allen Positionen. Das geschah am 25. Mai.
Das schlecht gerichtete Geschützfeuer von der Mauer that wenig
Schaden; dagegen litten die Engländer sehr von der Hitze und
Feuchtigkeit. Sie hatten noch keine Artillerie und verschoben die
weiteren Operationen auf den folgenden Morgen.


In der Stadt herrschte wilde Verwirrung; die Bewohner
flohen haufenweise durch die unbesetzten Thore. Das Geschütz
der englischen Schiffe entzündete Feuersbrünste, welche von Ban-
diten angefacht und fortgepflanzt wurden. Die kantonesischen
Truppen verstärkten das Raubgesindel und fielen nach Plünderung
der Factoreien über die Stadt her; die Bürger vertheidigten ihr
Eigenthum und das Blut floss in Strömen. Durch das Nord-Thor
stürmten in voller Auflösung die von den Engländern geworfenen
Truppen aus den nördlichen Provinzen herein, warfen sich auf die
kantonesischen Soldaten, welche sie Verräther schalten, und mach-
ten Alles vor sich nieder; nun stand auch das Volk in Masse auf
und die Metzelei wurde allgemein. Die Behörden waren ohne Macht
und Ansehn.


Am Morgen des 26. Mai regnete es in Strömen; die eng-
lischen Truppen erwarteten den Befehl zum Angriff, hatten aber
noch immer kein Geschütz. Da wehte auf den Wällen die weisse
Flagge; der alte Yaṅ-faṅ bestieg die Stadtmauer, warf dem Feinde
seine goldenen Armspangen hinab und wünschte zu unterhandeln.
Elliot befand sich auf der anderen Seite der Stadt; die Verhand-
lungen dauerten bis in die Nacht. Während dieses Waffenstill-
[88]Die Convention von Kan-ton.
standes brachen Marodeure von den englischen Truppen bei den
rückwärts gelegenen Dörfern einige Gräber auf, — eine Schand-
that, welche die chinesische Pietät niemals verzeiht. Das Landvolk
rottete sich zusammen und griff die Colonne im Rücken an; aus
allen Dörfern kam Zuzug und der Haufen zählte bald Tausende.
An Waffen fehlte es nicht; zwei Mandarinen, welche dort eben den
Landsturm organisirten, führten ihn jetzt auch zum Kampfe.
Der englische Bevollmächtigte drohte die Verhandlungen abzu-
brechen, wenn dem Unfug nicht gesteuert werde; da bewog der
Präfect Yu mit grosser Mühe den Haufen zum Auseinandergehen.


Am Morgen des 27. Mai waren die Geschütze schon in
Position gebracht und alle Vorbereitungen zum Angriff getroffen,
als zum Aerger der Truppen die Meldung kam, der Frieden sei
geschlossen. Elliot’s Bedingungen waren schleunige Zahlung von
sechs Millionen Dollars für das Opium und Eröffnung des Handels,
wogegen er sich zur Zurückziehung der Kriegsschiffe aus dem
Perl-Flusse verpflichtete.


Die Engländer erbeuteten in dem kurzen Feldzuge zwölfhundert
Geschütze, eine grosse Zahl Wallbüchsen und andere Waffen; sie
hatten nur funfzehn Todte. Die Truppen zogen sich nach Hong-kong
zurück, wo in Folge der Anstrengung und des heissen feuchten Wetters
bald verheerende Seuchen unter ihnen ausbrachen. Ein furchtbarer
Tai-fun richtete auch unter den englischen Schiffen und Uferbauten
argen Schaden an; darin sahen die Chinesen eine Strafe des
Himmels, und hofften wieder auf schleunige Vernichtung der Bar-
baren35).


Der Abschluss der Convention wurde als ein grosser Fehler
angesehen; in der That konnte die Stadt in wenig Stunden ge-
nommen sein; dann wäre der Uebermuth des Pöbels mit einem
[89]Berichte des Yi-šan.
Schlage gebrochen und künftigem Uebel vorgebeugt worden. Der
Frieden war mit geringen Opfern erkauft und konnte dem Kaiser
in günstigem Lichte dargestellt werden: man bürdete die sechs Millio-
nen Dollars den Hoṅ-Kaufleuten, also indirect dem fremden Handel
auf und bat den Kaiser, die Summe nur einstweilen vorzustrecken.
Ueberdies hatte man den besten Grund der Niederlage in dem Bei-
stand chinesischer Verräther entdeckt, welche nicht nur jede Kund-
schaft gaben, sondern sogar in den feindlichen Reihen kämpften.
Nicht Engländer, sondern Chinesen hatten China besiegt. Auch an
Trophäen fehlte es nicht; man erbeutete die Leiche eines englischen
Soldaten, dessen abgeschnittener Kopf als der des Sir Gordon
Bremer
nach Pe-kiṅ wanderte.


Des Kaisers Auffassung bezeichnet folgender Erlass an Yi-šan:
»Ich habe die Vorstellung des Yi-šan gelesen, nach welcher der
Angriff der Barbaren zweimal abgeschlagen und die Stadt vor allem
Schaden bewahrt wurde. Unser Kriegsmuth hat den Feind in die
äusserste Bedrängniss gebracht. Besagte Barbaren kamen und baten
um Fürsprache, damit die kaiserliche Gnade für sie erfleht würde.
Es scheint, dass dein Pflichtgefühl dir nicht erlaubte, ihnen den
Handel zu verweigern; aber du musst ihnen befehlen, ihre Schiffe
sofort in die offene See hinauszuschicken, die Festungen heraus-
zugeben und den herkömmlichen Satzungen Folge zu leisten. Die
Engländer dürfen keine verbotenen Artikel einführen; die Behörden
sollen wirksame Maassregeln dagegen ergreifen. Die Festungen
müssen hergestellt und gut bewacht werden; und wenn die Eng-
länder die geringste Anmaassung zeigen, so sollst du sie durch
deine Soldaten niederhauen lassen. Der Statthalter hat die zer-
störten Häuser wieder aufzubauen. Die den Hoṅ-Kaufleuten vor-
geschossenen 2,800,000 Tael müssen in zehn jährlichen Raten
erstattet werden.«


In Yi-šan’s Berichten kommen folgende Stellen vor: »Der
Raum vor der Stadt war zu eng, um die chinesische Streitmacht
zu Vertreibung der Barbaren gehörig aufzustellen. Bald machte
sich auch Mangel an Lebensmitteln fühlbar, und da alle Zu-
gänge vom Feinde besetzt waren, so konnten keine Vorräthe in die
Stadt gelangen. Der Verlust der Provincial-Hauptstadt hätte viel
Elend über die ganze Landschaft gebracht und eine allgemeine
Plünderung herbeigeführt; deshalb war es unsere Pflicht, die ganze
Truppenmacht innerhalb der Mauern zu ihrer Vertheidigung zurück-
[90]Brief des Oberrichters von Kan-ton.
zuhalten. Als wir nun über die zu ergreifenden Maassregeln zweifel-
haft waren, bestürmte das Volk uns mit Bitten, durch Friedens-
schluss dem Jammer ein Ende zu machen. Nun hörten wir, der
Feind wünsche zu parlamentiren, und schickten einen Officier hinaus.
Als der Dolmetscher die Engländer über die Veranlassung ihrer
Gewaltthaten und ihres rebellischen Auftretens befragte, antworte-
ten sie, sie hätten, so lange schon am Handel und am Austausch
ihrer Waaren verhindert, grosse Verluste erlitten und könnten ihre
Schulden nicht bezahlen; während des Donners der Kanonen hätten
sie ihre Wünsche nicht sagen können, deshalb erflehten sie jetzt
die Fürsprache des Ober-Generals beim Kaiser, damit er ihnen
Gnade angedeihen lasse, und, nach Tilgung ihres Guthabens, die
Fortsetzung des Handels erlaube; dafür wollten sie sofort ihre
Kriegsschiffe zurückziehen und die Festungen herausgeben. Da nun
die Hoṅ-Kaufleute ähnliche Vorstellungen machten und die Bevöl-
kerung solcher Maassregel Beifall zollte, so beschlossen wir, sie
durch eine Summe Geldes abzufinden, da es bei weitem das Wohl-
feilste war. Das Elend des Volkes war entsetzlich, und man konnte
die Folgen nicht berechnen, wenn solcher Zustand länger dauerte.
Wir beauftragten deshalb den Präfecten Yu, ein solches Abkom-
men zu treffen. Sind wir die Barbaren aber einmal los und haben
erst alle Wege nach Kan-ton versperrt, so können wir den Han-
del wieder abschneiden und sie in die schlimmste Lage bringen.«
— »Als ich auf Herausgabe von Hong-kong bestand, sagten sie,
die Insel sei ihnen von Ki-šen abgetreten worden, und sie könn-
ten eine Schrift zeigen, die das bewiese...... Ich werde aber
Maassregeln treffen, um unser Gebiet von Hong-kong bald wieder zu
nehmen.« — Am ersten Tage des Kampfes hatte Yi-šan Sieges-
berichte nach Pe-kiṅ gesandt.


Ein Privatbrief des Oberrichters von Kan-ton malt die wirk-
liche Lage in grellen Farben: »Wir hatten ein Heer von siebzehn-
tausend Mann, gaben alles Geld in unseren Schatzkammern zum
Betrage von mehreren Millionen aus, liessen Bauholz aus Kuaṅ-si,
Pulver, Luntenflinten und alles mögliche Kriegsgeräth aus Kiaṅ-su
kommen; und doch sind wir total geschlagen worden, ein Miss-
geschick, das mich mit Scham erfüllt und das ich kaum niederzu-
schreiben wage. Die Festungswerke, die gleich Schachfiguren
ringsum postirt sind und die zum Schutz unserer Vorfahren aus-
reichten, hat diese Generation preisgegeben. Wir fürchteten die
[91]Die Conservativen von China.
Engländer wie Tiger, gaben unsere Werke auf und zogen uns
schliesslich in die Stadt zurück, um zu capituliren. Wenn die Schiffe
des Feindes Orte passirten, wo Dschunken versenkt waren, so
zeigte sich kein Soldat, ihnen die Durchfahrt streitig zu machen.
Während zahlreiche chinesische Verräther ihnen als Kundschafter
dienten, wollte nicht ein einziger Barbar uns die Bewegungen der
Engländer verrathen. Das setzte sie in Stand, die Tiefe des Wassers
zu messen, uns überall zu überraschen. Unbegreiflich ist es, wie
wir die Gelegenheit vorübergehen lassen konnten, Hong-kong wieder-
zunehmen und ihnen in den Rücken zu fallen, als sie alle ihre
Truppen nach Kan-ton eingeschifft hatten; aber es unterblieb. Die
Soldaten, welche die Aussenwerke vor den nördlichen Thoren ver-
theidigen sollten, verliessen ihre Posten wie Feiglinge. Als die
Barbaren die Stadt bombardirten und mehr als tausend Häuser ver-
brannten, öffnete man die Thore, um die flüchtigen Soldaten auf-
zunehmen; aber von den Stadtbewohnern durfte Niemand hinaus.
Selbst als das Volk in Masse die Fremden im Rücken angriff, wag-
ten die zahlreichen Truppen nicht Stellung zu nehmen und von vorn
auf sie einzudringen. — Wie leicht konnte man Elliot im Fremden-
Quartier aufheben; aber das wollte Niemand unternehmen. — Als
unsere Soldaten in die Stadt getrieben wurden, entbrannte ein wüthen-
der Kampf mit den kantonesischen Truppen; bald bedeckten zahl-
lose Leichen die Strassen. Alle Disciplin hörte auf; wildes Geschrei
erfüllte die Stadt; überall sah ich Raub und Mord. Mehrere tau-
send Soldaten rannten davon, beladen mit gestohlenem Gut, und
schützten dann vor, ihren Weg bei Verfolgung des Feindes ver-
loren zu haben. Von der Schmach dieser Ereignisse bin ich ganz
überwältigt und möchte mir das Leben nehmen; aber das würde
wenig helfen. Wir werden für andere Völker fortan ein Gegenstand
der Verachtung sein; das Gesindel des Landes wird Macht gewinnen
und der Regierung Trotz bieten.«


Aehnlich fühlten Tausende aus den gebildeten Ständen; seit
Kien-loṅ, unter welchem China noch in hoher Macht blühte, waren
ja kaum funfzig Jahre verflossen. Die Classe der Studirten ergänzt
sich dort beständig aus der grossen Zahl Derjenigen, welche
Jahre lang für die Prüfung gearbeitet, aber keine Stellung erhalten
haben, entweder weil sie durchfielen, oder weil kein Platz für sie
war. Sie bilden, durch das ganze Reich verbreitet, den Kern der
Bevölkerung, die würdigen Vertreter der in mehrtausendjähriger
[92]Aeusserungen des Lin.
Geschichte entwickelten chinesischen Gesittung. Von allen Volks-
classen blieben die Studirten am längsten unversöhnlich gegen die
Fremden; ihr Patriotismus war uneigennützig, im guten Bewusstsein
des Rechtes und im Wahn überlegener Gesittung begründet. Weniger
unverdächtig scheint die Vaterlandsliebe vieler Mandarinen, welche,
dem Kaiser schmeichelnd und die Fremden gegen besseres Wissen
herabsetzend, auf Vortheil und Beförderung ausgingen. Aber auch
unter den Beamten gab es ächte Patrioten, wie den strengen un-
beugsamen Lin. Sein Treubruch gegen die Fremden wirft weniger
Schatten auf seinen Charakter, als auf die chinesische Anschauung,
welche, des Völkerrechtes spottend, jeden den himmlischen Satzungen
trotzenden Rebellen mit allen Mitteln zu bekämpfen gebietet. Der
von den angesehensten Kaufleuten getragene, angesichts der chi-
nesischen Obrigkeit verübte seeräuberische Schleichhandel gab wohl
einige Veranlassung, die Engländer für ruchlose Wilde zu halten.
Lin blieb nach seiner Degradirung und den bitteren Erfahrungen,
die er an den eigenen Landsleuten machte 36), seiner Gesinnung durch-
aus treu. Nach der Capitulation schilderte er brieflich einem Ver-
wandten mit tiefem Schmerze die tollen Excesse der chinesischen
Soldaten, die Selbsucht des alten Yaṅ-faṅ, — der mitten
unter dem Blutvergiessen nur darauf bedacht war, die Beute aus
den Factoreien gegen baares Geld zu verkaufen —, das unwürdige
Betragen sämmtlicher Beamten ausser dem Richter, und den Ver-
rath des Präfecten Yu, welcher den Angriff des Landvolks unter-
drückte.


Die chinesische Regierung ergriff auch später nur halbe
Maassregeln; sie hetzte und bewaffnete das Volk gegen die Frem-
den, führte es aber niemals in den Kampf. Und doch hätten die
Engländer in der ansässigen Landbevölkerung achtbare Gegner ge-
funden, während die regulären Truppen sich aus dem niedrigsten
Gesindel recrutirten, das mit wenig Ausnahmen beim ersten
Schusse davon lief, und, die Dörfer plündernd, eine Geissel des
Landes wurde. Nach dem Abzug der Engländer wurden Milizen
in der Umgegend vertheilt, um dem Unfug dieser Banditen zu steuern.
Die Truppen aus den nördlichen Provinzen betrugen sich gegen die
Bevölkerung so unbändig, dass sie zurückgezogen werden mussten.
Der Aufruhr während der Einschliessung erzeugte anarchische Zu-
[93]Gährung in Kan-ton.
stände, deren die Behörden in vielen Jahren nicht Meister wurden.
Das Gesindel von Kan-ton und Tausende fahnenflüchtiger Soldaten
durchstreiften raubend und brennend das Land, und vielen der Be-
raubten blieb keine Wahl, als ihnen zu folgen. So wuchs in den
Provinzen Kuaṅ-tuṅ und Kuaṅ-si ein Zustand der Auflösung heran,
der aller Anstrengung der Behörden spottete und den Keim der
späteren Tae-piṅ-Bewegung legte. Der Heerd der Anarchie
war Kan-ton; die Mandarinen hüteten sich dort aus Furcht vor
offener Empörung, den Zügel allzu straff zu führen. Die Capitu-
lation hatte ihrem Ansehn den ärgsten Stoss versetzt; denn bei der
Bevölkerung schlug der Glauben Wurzel, dass sie ohne die
Einmischung des Präfecten Yu die Engländer geschlagen hätte.
Nach deren Abzug erschien in Kan-ton folgender Maueranschlag:
»Wir sind die Kinder des himmlischen Reiches und fähig unsere
Heimath zu vertheidigen. Wir können euch ohne Hülfe der Man-
darinen vernichten. Das Maass eurer Missethaten ist voll. Wären
wir nicht durch das Abkommen der Behörden an Ausführung
unseres Vorhabens gehindert worden, so hättet ihr den Arm
der Bürger fühlen sollen. Waget nicht, uns ferner zu beschimpfen,
sonst machen wir ein Exempel aus euch, und wenn ihr Feinde in
jeder Ritze und in jedem Winkel sehet, so werdet ihr nicht mehr
entschlüpfen können.« — Placate von ähnlichem Inhalt wurden durch
eine Reihe von Jahren häufig in den Strassen von Kan-ton an-
geheftet. Die Mandarinen thaten ihr Bestes, den Fremdenhass zu
nähren, zogen aber zugleich bei der Bevölkerung ein gefährliches
Bewusstsein der Selbstständigkeit und Autonomie gross.


Yi-šan’s Niederlage konnte auf die Länge nicht verborgen
bleiben, der Kaiser schonte ihn nur als nahen Verwandten. Er
verschwand damals vom Schauplatz, wurde aber nach dem Frieden
von Nan-kiṅ der Verschleuderung öffentlicher Gelder angeklagt,
verhaftet und nach Pe-kiṅ abgeführt. Bis die Volkswuth sich
gelegt hatte, blieb er eingekerkert und erhielt dann ein untergeord-
netes Amt im chinesischen Turkestan. — Der zweite Commandeur
Lūṅ-wun starb bald nach Abschluss der Convention. Der alte
Yaṅ-faṅ bat um Urlaub nach seiner Heimath, dann um seinen Ab-
schied, der ihm in Gnaden gewährt wurde.


[94]Lin’s Schicksale und Arbeiten.

Lin musste nach der Convention von Kan-ton zur Verant-
wortung in Pe-kiṅ erscheinen; »nicht«, wie der Kaiser ausdrücklich
sagt, »auf die Vorstellungen der Barbaren, sondern weil der wirk-
liche Sachverhalt jetzt vollständig bekannt geworden sei. Der durch
seine fehlerhafte Amtsführung verursachte Schaden habe diese
Maassregel veranlasst, keineswegs irgend eine Rücksicht auf die
englischen Vorstellungen.« — Lin wurde um vier Rangstufen degra-
dirt und nach Ili verbannt, richtete aber an den Kaiser eine frei-
müthige Rechtfertigung seiner Politik, und bat sich der Armee
anschliessen zu dürfen, welche damals in Tše-kiaṅ operirte. Das
wurde ihm gewährt. Seine Rathschläge bewirkten nachher die Auf-
stellung bei Tse-ki, welche zur Niederlage führte. — Darauf
scheint Lin sich in das Privatleben zurückgezogen und mit littera-
rischen Arbeiten beschäftigt zu haben, bis er 1851 hochbejahrt vom
Kaiser Hien-fuṅ zu Unterdrückung der Tae-piṅ-Rebellion nach
Kuaṅ-si geschickt wurde. Er starb auf der Reise. Die Wichtig-
keit des schwierigen Auftrages aber beweist, wie hoch man damals
seine Begabung und Thatkraft schätzte.


Schon in Kan-ton hatte Lin eifrig gestrebt, sich Kenntnisse
über die Länder des Westens zu erwerben. Alle möglichen frem-
den Bücher und Zeitungen liess er übersetzen und verarbeitete die
gesammelten Auszüge zu einem Werke in funfzig Büchern und
zwölf Bänden: »Statistische Notizen über die Königreiche des
Westens.« Ein Ministerial-Beamter in Pe-kiṅ, welchem das Manu-
script übergeben wurde, ergänzte und erläuterte dasselbe durch Zu-
sätze aus den kaiserlichen Archiven. So wurde es 1844 gedruckt
und unter die höheren Staatsbeamten vertheilt 37). Das Werk ist
ein Gemisch von Scharfsinn und Unverstand, von Richtigem und
Falschem, wie es bei den unzuverlässigen Uebersetzungen und des
Verfassers Unfähigkeit zu jeder Kritik europäischer Verhältnisse
nicht anders sein konnte; die meisten Vorschläge zur Vertheidigung
China’s sind chimärisch und abgeschmackt, wenn auch einzelne kluge
Einfälle mit unterlaufen; es ist aber merkwürdig als Aeusserung
eines begabten und ehrlichen Chinesen, und weil es, das einzige
Werk dieser Art, damals grossen Einfluss auf die Ansichten der
leitenden Politiker geübt haben muss.


Lin’s auswärtige Politik geht von dem Grundsatz aus, dass
[95]Lin’s auswärtige Politik.
Barbaren durch Barbaren bekämpft werden müssen. »Wir pflegen
Piraten durch Piraten zu bezwingen; warum sollten wir nicht in
derselben Weise Barbaren bekämpfen, die viele Tausend Li über
das Meer kommen? Um das aber mit Erfolg zu thun, müssen wir
uns über die Verhältnisse der auswärtigen Angelegenheiten unter-
richten. Die Engländer fürchten drei feindliche Mächte: Russland,
Frankreich und America; sie fürchten ferner vier von unseren Tri-
but-Staaten: Cochinchina, Siam, Ava und Nepal. Im Kriegsfall
kann man sie entweder zu Lande oder zu Wasser angreifen.


»Ihre schwächste Stelle für den Angriff zu Lande ist Indien,
gegen das wir Russland und Nepal in Gang setzen können. Indien
liegt südlich vom Himalaya-Gebirge, welches dasselbe von Tibet
scheidet; von England ist es viele Tausend Li entfernt, während
Nepal und Birma daran grenzen. Die russische Armee würde über
das Schwarze oder das Kaspische Meer kommen müssen, wo dann
noch das Gebiet einiger Hirtenstämme dazwischen liegt, welche sie
erst unterjochen müsste; dann trennt sie nur noch ein mit starker
Heeresmacht besetztes Schneegebirge von Indien.


»Bengalen, Malacca, Bombay und Madras erzeugen Opium in
Fülle, aus welchem die Engländer ein Einkommen von über zehn
Millionen jährlich beziehen. Die Russen haben lange den Besitz
dieses Geldes begehrt; und während die Engländer das Himmlische
Reich bekriegten, fürchteten sie, dass Jene nur einer Gelegenheit
harrten, um ihnen Hindostan fortzunehmen. Damals wurde berich-
tet, ein russischer Gesandter sei nach China gegangen.


»Während der Regierung des Kaṅ-gi wurden Fremde gebraucht,
um einen Vertrag mit den Russen zu schliessen; nachher bediente
man sich dieser, um Tšaṅ-ki-hur38), einen mohamedanischen
Häuptling, einzufangen, der China sehr gefährlich war. Warum
sollten sie uns nicht in Bezug auf Indien gleiche Dienste leisten?
Nepal liegt westlich von Tibet. Als wir unter Kia-kiṅ die Gorka
angriffen, fielen auch die Engländer über sie her. Deshalb erklär-
ten Jene unserem Residenten in Tibet, dass sie mit Heeresmacht
aufzubrechen und Indien zu überfallen gedächten. Hätten wir den
Nepalesen erlaubt, den Osten von Indien zu belästigen, während
die Russen eine Diversion im Westen machten, so wäre Hindostan
in Gefahr gekommen, und die Schiffe dieser Barbaren hätten voll-
[96]Lin’s auswärtige Politik.
auf zu thun gehabt mit dem Schutze ihrer eigenen Besitzungen.
Diese Pläne sollten zur Geltung kommen, aber wir müssen sie durch
Fremde zur Ausführung bringen.


»Um die Engländer zur See anzugreifen, können wir uns der
Franzosen und der Americaner bedienen. Frankreich ist von Eng-
land
nur durch eine Meerenge getrennt, America durch einen
Ocean. Ersteres hatte Colonieen gegründet, welche die Engländer
fortnahmen; daher bestand eine tiefgewurzelte Feindschaft. Als die
Americaner wegen der drückenden Steuern gegen die Engländer
aufstanden, unterstützten die Franzosen sie mit einer mächtigen
Flotte, um den Feind durch Abschneidung seiner Vorräthe zu ver-
treiben. So wurden die Engländer zu einem Frieden gezwungen,
bei dem sie viele Staaten verloren und nur vier im nordöst-
lichen Theile behielten. — In Indien hatten sowohl die Franzosen
als die Holländer Niederlassungen. Die Engländer aber bekriegten
sie und nahmen alle Ansiedelungen der anderen europäischen Staa-
ten in Besitz.


»Von allen in Kan-ton verkehrenden Nationen haben nur
die Engländer sich hochmüthig und unverschämt betragen, während
die Franzosen und Americaner immer die ehrfurchtsvollste Unter-
würfigkeit zeigten. Als der Handel verboten wurde, gaben die
Engländer durch Blockirung unserer Häfen allen anderen Nationen
Anlass zu grosser Unzufriedenheit. Nach dem Kampfe bei Kan-ton
vermittelte das Oberhaupt der Americaner einen Vergleich, und
Elliot verlangte nur den gesetzlichen Handel. Als unsere Soldaten
die fremden Factoreien stürmten und aus Irrthum einige Ameri-
caner verwundeten, erhob ihr Oberhaupt deshalb keine Be-
schwerde u. s. w.«


»Was haben wir nun gethan? Nach zweihundertjährigem
Handelsverkehr fragen wir uns noch immer, auf welchem Wege
wir nach England gelangen können. Welches ist die Entfernung
von Russland nach England? Wie weit erstrecken sich die moha-
medanischen Stämme der Tartarei? Wir weisen die Gorka zurück,
da sie, ihre Ergebenheit zeigend, Indien angreifen wollen! Wir
hegen Argwohn, da die Franzosen und Americaner ihre Vermit-
telung anbieten! Kann das Würdigung unserer Beziehungen zu
fremden Staaten genannt werden? Die Han-Dynastie benutzte die
Bewohner von Central-Asien zum Angriff auf die Hunnen; die
Taṅ-Dynastie brauchte die Turfanen, um Indien zu überfallen, und
[97]Lin’s auswärtige Politik.
Kaṅ-gi bediente sich holländischer Schiffe zu Befehdung von For-
mosa
. Wir sind nur darauf bedacht, dass Niemand unseren Fein-
den gegen uns helfe, während wir gar nicht daran denken, ein
Bündniss zu unseren Gunsten gegen den Feind zu schliessen. Wir
streben nur, unsere eigenen Angelegenheiten vor dem Auslande zu
verbergen, nicht aber den Zustand der Dinge in fremden Ländern
zu erforschen. Und doch ist der einzige Weg, in unseren eigenen
Sachen das Richtige zu treffen, dass wir auf genügende Kenntniss
der Fremden ausgehen. Dazu brauchen wir aber eine Anstalt zu
Uebersetzung fremder Werke.


»Wir sollten uns nun in der Zeit des Friedens die über-
legenen Verbesserungen der Barbaren aneignen, um die Barbaren
wirksamer zu zügeln, so wie wir vorher vorschlugen, Barbaren
durch Barbaren zu bekämpfen. Drei Arten der Verbesserung sind
nothwendig: eine Flotte, gute Feuerwaffen und ein reguläres Heer.


»Die Engländer sind jetzt im Besitz von Hong-kong und hoch-
müthig vor allen Barbaren; ihr Reichthum vermehrt ihren Einfluss.
Folgen wir nun ihrem Beispiel; nehmen wir eine gebietende Stellung
im Osten an. Wenn wir Docks einrichten wie andere Nationen,
wenn wir schnellsegelnde gute Schiffe bauen, so wird das sehr
zweckmässig sein. Wir haben durch das Opium schweren Schaden
erlitten; aber sollten wir nicht auch wieder von der überlegenen
Geschicklichkeit der Fremden grossen Vortheil ziehen können?
Sowohl die Franzosen als die Americaner haben Arbeiter nach
Kan-ton geführt, die Schiffe bauen können; sollten wir nicht euro-
päische Seeleute anstellen, um uns das Segeln zu lehren, wie wir
früher auch von europäischen Astronomen lernten?«


Einen bedeutenden Theil des Buches bilden Auszüge mili-
tärischer und artilleristischer Werke. Lin’s Verbesserungsvor-
schläge für die Armee und Flotte scheiterten aber an Tau-kwaṅ’s
Sparsamkeit. Auch finanzielle Fragen behandelt er, und beweist,
dass die Silber-Ausfuhr für das Opium den Ruin des Landes nach
sich ziehen müsse.


Ki-šen, dessen Ansichten später in weiterer Ausdehnung
zur Geltung kamen, als er selbst sie jemals aussprach, wurde der
Sündenbock für alle von Anderen begangenen Fehler; am kaiser-
lichen Hofe liefen zahlreiche Adressen ein, welche ihn der schimpf-
lichsten Feigheit und Verrätherei ziehen. Als die Festungen am
Perl-Fluss fielen und Kan-ton capitulirte, wälzte man alle Schuld
III. 7
[98]Ki-šen’s Verantwortung.
auf Ki-šen, der doch Alles gethan hatte, was Chinesen zur
Abwehr des Feindes thun konnten. Zu seinen Gunsten erhoben
sich wenige Stimmen; diese wurden überschrieen in hundert
schmähenden Flugschriften, welche namentlich die conservative
Classe der Studirten gegen den unglücklichen Staatsmann
schleuderte.


Die dreizehn Artikel der gegen Ki-šen erhobenen Anklage
und seine Verantwortung gewähren einen Einblick in die chinesische
Auffassung von amtlicher Pflichterfüllung.


  • »1) Warum hast Du die Engländer nicht sofort angegriffen?
  • Ich wünschte sie erst durch vernünftige Vorstellungen zu
    leiten und argwöhnte nicht, dass sie mit brutaler Gewalt die
    Werke von Tšuen-pi angreifen würden.
  • 2) Warum beriethest Du Dich nicht mit dem zweiten Gouverneur
    und den Uebrigen, ehe die Werke genommen wurden?
  • Die Beziehungen zu den Barbaren waren der vertraulichsten
    Art und gestatteten keine Behandlung vor der Oeffentlichkeit.
  • 3) Warum entliessest Du die Fluss-Miliz und sandtest eine so
    geringe Anzahl Leute nach der Bocca, dass Admiral Kwan zu
    Grunde gehen musste?
  • Ich entliess die Fluss-Miliz keineswegs; sie nahm sogar am
    Kampfe Theil. Die Streitmacht in den Batterieen brachte ich auf
    400 Geschütze und 8900 Mann.
  • 4) Du hattest eine Unterredung mit dem Oberhaupt der Fremden
    und hast ihn bewirthet. Nur ein Comprador war als Dol-
    metscher zugegen.
  • Ich unterhielt mich mit ihm über die Einrichtungen des
    Handelsverkehrs, über Schleichhandel und die Bestimmungen
    gegen die Opiumeinfuhr, und da er nicht gegessen hatte, so
    gab ich ihm eine Mahlzeit. Unsere Unterredung war keine
    geheime; mehrere Civil- und Militär-Beamte wohnten ihr bei.
    Die zweite Unterredung war eine zufällige; denn ich ging nach
    den Werken der Bocca, um mich mit dem Admiral über ihre
    Vertheidigung zu besprechen, nicht um das Oberhaupt der
    Fremden zu treffen. Aber dieser kam und verlangte die amt-
    liche Bestätigung der Abtretung von Hong-kong, stellte auch
    andere verrätherische Anträge, denen ich meine Zustimmung
    versagte.
  • 5) Du hast Dich zur Vermittelung eines gemeinen Compradors,
    Pau-peṅ, bedient, der schon früher der Verrätherei beschul-
    digt wurde.
[99]Ki-šen’s Verantwortung.
  • Ich fand ihn in Šan-tuṅ und brauchte ihn als Dolmetsch.
    Ich untersuchte die gegen ihn gerichtete Anklage und fand
    keine genügenden Beweise für seine Schuld.
  • 6) Du gabst den Barbaren Hong-kong als Wohnort gegen unser
    Gesetz von der Untheilbarkeit des Reiches.
  • Ich stellte mich so, durch die Umstände gezwungen, um sie
    eine Weile hinzuhalten, hegte aber niemals ernstlich den Ge-
    danken einer Abtretung.
  • 7) Du hast zuerst dem Kaiser von diesem Zugeständniss ab-
    gerathen und Dich nachher doch dazu bereit finden lassen.
  • Ich rieth ab, aus Besorgniss, die Engländer möchten dort
    Festungen bauen, und gab dann zum Schein meine Zustim-
    mung, weil ich in die äusserste Noth gerieth.
  • 8) Du erhieltest den Befehl, die Engländer zu vernichten, hast es
    aber aufgeschoben.
  • Die Barbaren waren zuerst demüthig und gehorsam; erst
    später wurden sie unverschämt. Und in meiner Beschränktheit
    wollte ich diese Maassregel nicht wagen, ehe die grosse Armee
    versammelt wäre.
  • 9) Du hast trotzdem Mittheilungen von den Barbaren entgegen-
    genommen.
  • Das that ich, um sie hinzuhalten und ihren Angriff abzu-
    wenden.
  • 10) Du wagtest die Freigebung von A-moi, dem Schlüssel der Pro-
    vinz Fu-kian, vorzuschlagen, wodurch Kan-ton Schaden ge-
    litten hätte.
  • In meiner Beschränktheit glaubte ich, dass dieses Recht
    den Engländern gewährt werden möchte, da andere Fremde
    dort zugelassen werden; nicht dass sie dort wohnen sollten,
    sondern nur zu Handelszwecken.
  • 11) Du erlaubtest dem Schiff, das den Befehl zur Auslieferung
    nach Tšu-san beförderte, unterwegs Lebensmittel zu kaufen.
  • Das that ich, um jedem Verzuge in Erreichung dieses wich-
    tigen Zweckes vorzubeugen.
  • 12) Warum stelltest Du die kriegerischen Antalten in Kan-ton
    als mangelhaft dar und entmuthigtest so die Soldaten?
  • Ich gab nur eine wahrheitsgetreue Darstellung der Wirk-
    lichkeit, nicht um Furcht einzuflössen, sondern meine Pflicht
    gegen den Kaiser zu erfüllen.
  • 13) Warum hast Du nach der Einnahme der Werke von Tšuen-pi
    nochmals unterhandelt?

7*
[100]Erneuung des Krieges.
  • Um die Barbaren von weiteren Gewaltthaten abzubringen;
    es war nur Verstellung und durchaus nicht ernst gemeint.« —

Der Staats-Gerichtshof erklärte Ki-šen für einen Hoch-
verräther und des schleunigen Todes würdig; der Kaiser aber
milderte den Spruch dahin, dass er der Hinrichtung gewärtig ein-
gekerkert bleiben sollte. Ki-šen schmachtete, den Tod vor Augen,
geraume Zeit im Kerker; die spätere Wendung der Dinge be-
wies jedoch, dass er nur der Gewalt der Umstände gewichen sei.
Er wurde dann entlassen und gegen Ende 1841 ohne Rang und
amtliche Stellung mit der gemessenen Weisung nach Tše-kiaṅ ge-
schickt, die Barbaren zur Umkehr zu vermögen; seine alte an der
Pei-ho-Mündung so gut gespielte Rolle sollte er nochmals ver-
suchen. Ki-šen reiste Tag und Nacht bis Haṅ-tšau; der Com-
mandirende der Truppen aber liess dem »Verräther«, der keine
schriftliche Vollmacht hatte, die Thore schliessen. Er kehrte nach
Pe-kiṅ zurück und lebte dort eine Zeit lang ohne Stellung; dann
berief ihn der Kaiser zur Dienstleistung bei seiner Person. Nach
dem Frieden von Nan-kiṅ wurde Ki-šen kaiserlicher Resident
in Tibet, wo Père Huc ihn sprach, und später Statthalter der Pro-
vinz Se-tšuen.


Die englische Regierung missbilligte die Convention von
Kan-ton und enthob Elliot und Sir Gordon Bremer ihrer Aemter
in China. An des Ersteren Stelle trat Sir Henry Pottinger als
einziger Bevollmächtiger; Sir William Parker erhielt den Ober-
befehl der Flotte; sie trafen Mitte August 1841 in Macao ein und
beschlossen, unverzüglich einen Feldzug gegen die mittelchinesischen
Küsten zu unternehmen. Das kam den Mandarinen unverhofft. Der
Präfect Yu eilte nach Macao, um die Expedition zu hintertreiben,
deren Ausführung auf die Häupter der kantonesischen Regierung
Ungnade und Verderben bringen musste, trat aber so unverschämt
auf, dass Pottinger ihn gar nicht vorliess. Obwohl ihm nun die
Engländer ihre Absicht deutlich meldeten, so berichtete Yu doch
dem Kaiser, »es seien Gerüchte in Umlauf, dass die Barbaren nach
dem Norden gehen wollten; er halte das für müssige Erfindung,
werde aber wachsam sein u. s. w.« An die Behörden in A-moi
schrieb der Präfect: »die Engländer hätten sich einiger Dschunken
[101]Rüstungen der Chinesen.
bemächtigt und würden wohl heimlich in den Hafen zu schlüpfen
suchen.« Der Kaiser wurde von allen Seiten getäuscht. Er hatte
in Erwägung der Gefahr, welche das Eindringen der Engländer in
den Yaṅ-tse-kiaṅ dem Reiche bringen könnte, Berichte über den
Zustand des Fahrwassers u. s. w. eingefordert, und erhielt von allen
Uferbehörden die übereinstimmende Versicherung, das Einlaufen der
Flotte sei ganz undenkbar.


Die Behörden der mittelchinesischen Provinzen hatten wäh-
rend der Ereignisse im Süden nicht aufgehört zu rüsten. Als Vice-
König der »beiden Kiaṅ« fungirte der alte Tartare I-li-pu, welcher
mit Ki-šen als vertrauter Rath des Kaisers seinen ganzen Einfluss
zu Abwendung des Krieges aufgeboten hatte, trotz der Proscri-
birung aller friedfertigen Gesinnung seinen Ansichten auch treu
blieb und eifrig eine Ausgleichung herbeizuführen strebte. Als das
am Pfi-ho mit Ki-šen geschlossene Abkommen bekannt wurde,
befahl I-li-pu in seinen Provinzen die Einstellung aller Feindselig-
keiten und sandte, wie Ki-šen am Pei-ho, den Engländern auf
Tšu-san eine Rinderheerde zum Geschenk. Dafür zieh man Beide
nachher des Landesverrathes. Er behandelte auch die auf Tšu-san
aufgehobenen Engländer mit grosser Milde und lieferte, gegen die
Befehle aus Pe-kiṅ, bei Uebergabe der Insel die Gefangenen aus.
— Als Hüter der Küste rüstete er aus allen Kräften.


Eine der ersten Maassregeln bei Ausbruch des Krieges war
ein Verbot des Küstenhandels gewesen; keine Handelsdschunke
durfte auslaufen. Man glaubte, die Engländer bedürften, aus so
weiter Ferne kommend, der Lebensmittel, und wollte sie aushungern.
Der ungeheuere Ausfall an Steuern brachte aber die Regierung bald
zur Besinnung, und das Verbot wurde aufgehoben. — Nach der
Einnahme von Tšu-san erhielt I-li-pu den Befehl, sofort drei Linien-
schiffe nach englischem Muster bauen zu lassen. Der kaiserliche
Willen leidet keinen Einspruch; der Beamte aber, welchem I-li-pu
das Unmögliche auftrug, nahm sich das Leben. Dann sollten in
Eile Kanonen gegossen werden, wozu alle Vorbereitungen fehlten.
Endlich gelang es, eine Giesserei einzurichten; man stellte aus
schlechtem Metall eine Menge Rohre vom grössten Kaliber her, die
beim ersten Schuss platzten. Später wurden bessere Stücke aus Bronze
und Eisen gegossen, die fast sämmtlich in die Hände der Engländer
fielen. Die Chinesen glaubten immer, dass ihr Heil vom Umfange
ihrer Rüstungen abhinge, und verschleuderten unmässige Summen.


[102]Die chinesischen Rüstungen.

Die Aushebungen hatten anfangs guten Fortgang; nach dem
Aufruf des I-li-pu stellten sich binnen Monatsfrist über zehntausend
Recruten. Viele desertirten aber schon mit dem ersten Soldvorschuss,
und die Reihen lichteten sich immer mehr, da die Commandeure
den grössten Theil der Löhnung unterschlugen. So war denn, ab-
gesehen von der Qualität, auch die Anzahl der Truppen unzu-
länglich. Da die Kassen der Küsten-Provinzen dem Geldbedarf
nicht genügen konnten, so erliess die Regierung einen Aufruf um
freiwillige Beiträge der Bemittelten und stellte dafür Rang und
Würden in Aussicht; der grösste Theil des Gesteuerten verschwand
aber wieder in die Taschen der Mandarinen. Es fehlte durchaus
an Ordnung, Ehrlichkeit, Tüchtigkeit, Organisation; nur der Schein
wurde gewahrt. Man baute Festungswerke, warb Soldaten, be-
reitete Pulver, kaufte Luntenflinten und goss Kanonen; aber die
Werke waren unhaltbar, die Soldaten verhungertes Gesindel, die
Flinten nicht zu brauchen, das Pulver schwach und die Geschütze von
schlechtem Metall. In der chinesischen Armee hatte man keine Ahnung
von den einfachsten Regeln der Taktik und Strategie, die Bewaffnung
war elend, und alle sittlichen Eigenschaften eines Soldaten mangelten
nicht nur den Gemeinen, sondern auch den Führern. Bei jedem auf
chinesische Truppen gemachten Angriff hörte nach dem ersten Ab-
schiessen der Gewehre alle Ordnung auf; Jeder that was er wollte, die
Glieder lösten sich, die Mehrzahl gab Fersengeld. Manche kämpften
mit persönlicher Bravour und fielen im sinnlosen Einzelnkampf gegen
geschlossene Colonnen. Die ehrliebenden Führer nahmen sich das
Leben, die feigen liefen davon. So fielen in jeder Action nur die
Besten. Die Verpflegung war elend; auf ihren Märschen wussten
die Truppen sich an der Bevölkerung schadlos zu halten und be-
gingen plündernd die gröbsten Excesse. Oft rotteten sich die Land-
leute zusammen, ihnen Schlachten zu liefern; jeder Nachzügler
wurde niedergemacht. Wo Truppen marschirten, hörten Handel
und Gewerbe auf, denn es gab keine Sicherheit des Eigenthums.
Um Sold-Rückstände zu bezahlen, nahmen die Mandarinen das
Geld unter dem Namen patriotischer Beiträge oft wo sie es fanden;
wer irgend konnte, floh aus dem Bereich der Erpressungen. Des-
halb waren die besitzenden Classen den kaiserlichen Heeren eben
nicht hold, und das Erscheinen der Engländer galt überall nur als
Erlösung.


Am Hofe von Pe-kiṅ muss man den Zustand des Heeres
[103]Mittel gegen die Barbaren.
gekannt haben 39) und nährte trotzdem den Wahn von China’s un-
endlicher Ueberlegenheit. Von den Mandarinen aller Provinzen
liefen Denkschriften ein, welche den Kaiser um rücksichtslose Ver-
nichtung der Barbaren baten und ihm die Mittel dazu nannten.
»Der einzige richtige Weg ist, den Engländern kühn die Stirn zu
bieten. Die Russen sind jetzt unsere Freunde; ihr Land liegt nicht
weit von England und grenzt an das unsere. Wir sollten deshalb
eine kühne Armee werben — was etwa dreissig Millionen Tael
kosten würde — und durch Russland direct nach England marschiren.
Wenn wir den Krieg in ihre Heimath tragen und ihr Land besetzen,
so verbannen wir sie auf immer von unseren Küsten. Da die Russen
Feinde der Engländer sind, so würden sie unser Unternehmen för-
dern, uns, wenn wir in ihr Land kommen, Geschütze stellen und
Hülfstruppen zuführen. — Sollte dieser Vorschlag verworfen wer-
den, so müssen wir sie zu Wasser angreifen. Es ist bekannt, dass
die Gorka bereit sind, die Engländer im Rücken anzugreifen, und
dass die Cochinchinesen uns ebenfalls beistehen werden, wenn wir
sie zur See angreifen. Zu dem Zweck sollte eine Flotte gerüstet
werden — was ungefähr fünf Millionen Tael kosten würde — mit stär-
kerer Bemannung und schwererem Geschütz als die der englischen
Schiffe. Damit könnten wir ihnen die Spitze bieten und der Sieg
wäre uns gewiss. Dann sollten wir Singapore besetzen, in der
Sunda-StrassePosto fassen, ihnen die Zufuhr abschneiden und
ihre Schiffe fortnehmen. So würden wir das Barbarenauge in die
äusserste Noth bringen und es müsste unterliegen. Es bäte
dann um Frieden und fügte sich demüthig unseren Befehlen. So
nah an Bengalen könnten wir dann auch die Opiumzufuhr verhin-
dern und diesem Handel für immer ein Ende machen u. s. w.«


»Während die Hülfsmittel des Feindes erschöpft sind,« heisst es
[104]Mittel gegen die Barbaren.
in einem auf Ki-šen gemünzten Aufsatz, »haben wir Verstärkungen
erhalten, und brauchen nur die Dunkelheit der Nacht zu benutzen,
um ihre Schiffe zu verbrennen. In einer von den Barbaren zu
Kan-ton veröffentlichten Schrift ist anerkannt, dass, wenn auch
unsere Armee und Flotte in ihrem jetzigen Zustande ganz unwirk-
sam sind, doch die Leute sich zu trefflichen Soldaten eignen. Auch
in Betreff des Opium haben sie Ansichten ausgedrückt, die der Ein-
führung in unser Land ungünstig sind. Gründen wir also unsere
eigene Schätzung auf die ihrige, so mögen wir ihnen wohl Wider-
stand leisten. Im vorigen Jahre waren ihre Seeleute bestürzt, als
sie von unseren Rüstungen zur See hörten, und ebenso war es bei A-moi,
wo ihre Schiffe sich zurückzogen. Ihre ganze Kriegsmacht beläuft
sich jetzt auf sechstausend Mann; und wenn die opiumschmuggeln-
den Schurken ihnen nicht als Augen, Ohren und Flügel dienen, so
werden sie unfehlbar Opfer unserer Rache. Wir dürfen nur unsere
tapferen Soldaten reichlich belohnen, dann sind wir ihre Gegen-
wart bald los. Da ihre Geschütze auf die beiden Langseiten der
Schiffe vertheilt sind, so müssen wir sie von vorn und von hinten
angreifen, wo ihre Schüsse uns nicht treffen können; dann können
wir sie ungestraft in Brand stecken.« .... »Das ganze Land muss
gegen die Eindringlinge aufstehen; jede Fischerbarke soll als
Kriegs-Dschunke ausgerüstet werden; jedes Ding, das schwim-
men kann, ist von der Regierung in Beschlag zu nehmen,
um den Feind zu vertreiben. Wo immer die Engländer
landen, sollten unzählige Milizen aufmarschiren. ..... An der
Pei-ho-Mündung hätten die Barbaren mit Schimpf und Schande
abgewiesen werden sollen wie 1816, als ihre Gesandtschaft nach
der Hauptstadt ging und sich vor dem Kaiser nicht nieder-
werfen wollte. Ihre unverschämten Forderungen in Kan-ton waren
Folge dieses Fehlers, und Ki-šen bestärkte sie nur in ihrem über-
müthigen Auftreten. Vernichtet könnten sie werden von den chi-
nesischen Truppen, wenn deren Führer nur mehr Ernst und Kühn-
heit zeigen wollten. Ki-šen sprach nicht ein Wort von Besiegung
der Barbaren; er buhlte um ihre Gunst. Man denke nur, dass ein
Barbarenauge sich »Gesandter und Hoher Staatsbeamter« nennen
konnte, und dass Ki-šen solche Titel gelten liess! Werden nicht
durch solche Zugeständnisse die anderen Völker alle Ehrfurcht ver-
lieren? Verträgt sich solche Erniedrigung mit der Würde des
Reiches? Werden nicht alle westlichen Nationen unsere Schwäche
[105]Die Herausgabe von Tšu-san.
verachten, und werden sie uns nicht, wie die Engländer, be-
schimpfen, wenn diese siegen? Es bleibt nichts übrig, als sie mit
dem Schwert zu vertilgen.«


Dem entsprach die Stimmung in Pe-kiṅ; kein Frieden durfte
mit den schändlichen Barbaren geschlossen, kein Zollbreit Landes
abgetreten, keine Entschädigung, kein Handel zugestanden werden.


Während in Kan-ton unterhandelt wurde, schickte der
Kaiser einen Statthalter nach Kiaṅ-nan, der, jener Auffassung
huldigend, sowohl seinem Vorgesetzten I-li-pu als Ki-šen feind
war, und sie arglistig zu verdächtigen wusste. Lu Tad-žen brachte
dem Kaiser den Glauben bei, dass die Engländer an Herausgabe
von Tšu-san gar nicht dächten. Dieser wiederholte nun den perem-
torischen Befehl, I-li-pu solle die Insel mit Gewalt nehmen. Der
Vice-König hatte schon früher berichtet, dass er nur über zweitau-
send Mann verfüge und den Engländern nicht gewachsen sei. Jetzt
musste er ohne Aussicht des Erfolges Anstalten treffen; aber die
gepressten Seeleute desertirten in solcher Anzahl, dass die Ein-
schiffung der Truppen unterblieb. Die bald darauf an die Garnison
von Tšu-san ergangene Weisung, die Insel zu räumen, befreite
I-li-pu von schweren Sorgen; er durfte jetzt hoffen das drohende
Verhängniss abzuwenden: »Briefe von Ki-šen und Bourchier,«
schreibt er dem Kaiser, »hatten mich benachrichtigt, dass Tšu-san
herausgegeben werden solle. Deshalb liess ich die englischen Ge-
fangenen frei und schickte die Officiere nach der Insel zurück. Drei-
tausend Mann rückten nun unter Befehl von drei Generalen in drei
Divisionen, an Bord von 130 Booten vertheilt, gegen Tiṅ-hae. Um
verrätherischen Absichten vorzubeugen, gab ich zehntausend Tael für
Brennholz aus, um die Barbaren-Flotte anzustecken, wenn ein Ver-
such gemacht werden sollte, die Insel wiederzunehmen, stellte auch
einen grossen Haufen Miliz auf, um im Falle der Noth über sie
herzufallen, während ich selbst in Tšin-hae (am gegenüberliegen-
den Festlande) gute Wacht hielt. Als unsere Streitmacht sich
Tšu-san näherte, verliessen die Barbaren, die zur Hälfte schon ein-
geschifft waren, Tiṅ-hae in grosser Verwirrung. Dann brannten
wir ihre Baracken nieder u. s. w.«


Diese Entstellung rettete ihn nicht. »I-li-pu,« schreibt der
Kaiser, »hat seine Operationen aufgeschoben, während in Kan-ton
unterhandelt wurde. Da das Barbarenauge sich unlenksam zeigte,
so war I-li-pu schon vor langer Zeit befohlen worden, Tšu-san mit
[106]I-li-pu verbannt.
seinen Truppen wiederzunehmen. Statt diesem Befehl zu gehorchen,
hat er Verzögerungen herbeigeführt, unter dem Vorwande, dass
weder Geschütze noch Truppen bereit wären. Sobald er aber hörte,
dass die Engländer zum Abzug entschlossen seien, schickte er Sol-
daten hin. Da nun offenbar die Engländer von der Insel flohen,
weil sie von den in Kan-ton zu ihrer Vernichtung getroffenen
Maassregeln hörten, so war es Pflicht des I-li-pu, grausame Rache zu
üben, die Befehle des Himmels durch völlige Vernichtung der Ein-
dringlinge zu vollziehen, und durch kräftige Maassregeln das Herz
des Volkes zu erfreuen. Deshalb befehlen wir, dass I-li-pu aus
dem Staatsrath ausscheide und seine Pfauenfeder verliere, sein Amt
als General-Gouverneur aber behalte.« Diesem Erlass folgte auf
dem Fusse ein zweiter in den bittersten Ausdrücken: I-li-pu habe,
den kaiserlichen Befehlen ungehorsam, Ki-šen’s Rathschlägen Gehör
gegeben. Der Mongole Yu-kien, bis dahin Statthalter von Kiaṅ-su,
der bitterste Feind der Engländer, wurde zu seinem Nachfolger als
kaiserlicher Commissar ernannt. Dieser sollte nicht zögern, die
ganze Brut der verhassten Fremden zu vernichten. Ein drittes
Decret befahl I-li-pu zur Verantwortung in Pe-kiṅ zu erscheinen.
— Drei Tage kniete er am Thore des Palastes und flehte um den
Richterspruch: der Greis von 75 Jahren, der als kaiserlicher Rath,
Statthalter und Vice-König lange die höchsten Aemter bekleidet
hatte, musste wie ein gemeiner Verbrecher nach der sibirischen
Grenze wandern, wo die Verbannten am Amur Schiffe ziehen oder
den Pelzjägern als Sclaven dienen.


Nach Herstellung des durch den Tai-fun angerichteten Scha-
1841.dens segelte das britische Geschwader gegen den 20. August 1841
nach Norden. Auf Hong-kong blieb eine schwache Besatzung
zurück, die trotz aller Prahlereien der Chinesen ausreichte, die
Insel zu halten. Die Mandarinen in Kan-ton schrieben dem Kaiser,
die Engländer brächen nach dem Norden auf, weil sie gegen
Kan-ton nichts mehr ausrichten könnten; nun solle Hong-kong
schleunigst wiedergenommen werden.


Tau-kwaṅ befahl in einem Erlass an die Statthalter der
Küsten-Provinzen die völlige Ausrottung des Feindes; »Yi-šan hat
in Kan-ton ihre Schiffe zerstört und verbrannt; deshalb verliessen
sie diese Gegend. Die Beamten sollen ihre Ansicht aussprechen,
wie die Ueberbleibsel des Geschwaders zu vernichten sind.« — Die
[107]A-moi genommen.
englische Flotte steuerte zunächst nach der Küste von Fu-kian,
deren Bewohner ein unternehmender zäher Menschenschlag, vor-
zügliche Seeleute und mehr als alle anderen Chinesen mit Euro-
päern bekannt sind; denn sie wandern zu Tausenden nach den
Colonieen in Hinter-Indien und kehren, sobald sie genug erworben
haben, an ihre heimathlichen Küsten zurück. Deshalb mag die
chinesische Regierung auf dieses Gebiet und besonders A-moi ihr
Augenmerk gerichtet haben. Seit der Recognoscirung der Fregatte
Blonde im Juli 1840 war der Hafen stark befestigt worden; von
der Stadt lief eine Steinmauer von unmässiger Dicke bis zur Hafen-
mündung. — Am Abend des 25. August fuhr das englische Ge-
schwader in den Hafen und beschoss sich am folgenden Morgen
eine Weile mit jener steinernen Schanze; dann landete eine Ab-
theilung Infanterie und stürmte sie fast ohne Widerstand in der
ungedeckten Flanke. Die Chinesen warfen ihre dicken Schilde auf
den Rücken und liefen davon; der Commandeur wandelte bedäch-
tig in das Wasser und ertränkte sich angesichts der Flotte. Am
Morgen des 27. August drangen die Truppen ohne Widerstand in
die Stadt; ihr Verlust an beiden Tagen betrug zwei Todte und
funfzehn Verwundete.


Der Gouverneur der Provinz Yen-Tad-žen hatte vor dem
Angriff nach Pe-kiṅ berichtet, die Werke würden die feindliche
Flotte in verheerendes Feuer hüllen und ihr keinen Weg zum
Entschlüpfen lassen. Bei Beginn des Geschützkampfes bestieg er
einen Hügel um Alles zu übersehen, und machte sich nach Erstür-
mung der langen Schanze aus dem Staube. »Ich selbst«, schreibt
er dem Kaiser, »führte die Soldaten zur Schlacht. Wir versenkten
einen ihrer Dampfer und vier Kriegsschiffe durch unser schreck-
liches Feuer; aber die Barbaren antworteten. Der Südwind blies
unseren Soldaten den Pulverdampf in das Gesicht, und so ging
A-moi verloren.« 40)


[108]Finanznoth.

Die Engländer blieben nur kurze Zeit in A-moi, liessen aber
eine Besatzung auf der gegenüberliegenden Felseninsel Ku-laṅ-su,
welche Stadt und Hafen vollkommen beherrscht. Hier blieb die
kleine Garnison den ganzen Krieg hindurch und noch einige Zeit
nachher in ruhigem Besitz; die Bewohner von A-moi zeigten keine
Spur von Feindseligkeit, versahen im Gegentheil die Engländer mit
guten Lebensmitteln und behandelten sie wie ihre Beschützer. Der
Dschunken-Handel mit Formosa wurde, ohne Belästigung von den
englischen Schiffen, wie im tiefsten Frieden betrieben. — Nachdem
die Stadt geräumt war, schickten die Mandarinen einen Sieges-
bericht nach Pe-kiṅ: die Barbaren seien nach wiederholten An-
griffen der Miliz geflohen. »A-moi ist nun wieder in unserem Besitz,
und die wenigen Schiffe auf dem Wasser flössen keine Besorgniss
ein.« Von Ku-laṅ-su sagt der Bericht kein Wort. Nach einiger
Zeit muss die Wahrheit bekannt geworden sein, denn der Gouver-
neur litt strenge Bestrafung.


Für die Kriegsparthei war der Fall des stark befestigten
A-moi ein harter Schlag; man musste nun auch für andere Plätze
fürchten. Dazu die Forderungen an den Staatsschatz! Der spar-
same Tau-kwaṅ hatte im ersten Zorn befohlen, dass nicht gespart
werden solle; das liessen sich die Mandarinen nicht zweimal sagen.
Während früher aus allen Provinzial-Kassen namhafte Ueberschüsse
nach Pe-kiṅ flossen, forderte jetzt Fu-kian allein 3,000,000 Tael,
eine benachbarte Landschaft 5,900,000 Tael aus dem kaiserlichen
Schatz. In Tše-kian waren 1,500,000 Tael verausgabt, eine
Million noch erforderlich.


Die ohnmächtige Wuth der kriegslustigen Räthe machte die
abgeschmacktesten Vorschläge: man sollte die feindliche Flotte in
dichte Rauchwolken einhüllen, dann in der Verwirrung angreifen;
Taucher sollten die Steuerruder verderben und den Rumpf der
Schiffe anbohren u. s. w. Das grösste Vertrauen setzte der Kaiser
auf Yu-kien, der versprochen hatte, die Briten »lebendig zu schin-
den und auf ihren Häuten zu schlafen«. 41) Der Hass des Mon-
[109]Yu-kien.
golen artete in Raserei aus und steckte seine Umgebung an; Jeder
war sein Freund, der ihnen Schaden zufügte; wer nur entfernt an
Vergleichung dachte, fiel als Opfer seines Zornes. Am meisten
hasste er I-li-pu, der es verschmähte, seine Hände mit dem Blute
der Gefangenen zu besudeln, und in richtiger Würdigung seines
Nachfolgers dieselben den Engländern auslieferte. 42)


Der Umstand, dass Yu-kien kurz vor Räumung von Tšu-san
zum kaiserlichen Commissar für die Küsten-Vertheidigung ernannt
wurde, mag seine aufgeblasene Ueberhebung gesteigert haben; der
Schrecken seines Namens, schrieb er, habe die Flucht der Barbaren
beschleunigt. Yu-kien betrieb die Rüstungen mit grossem Eifer
und gab für Vermehrung der Truppen, in welche das schlechteste
Gesindel eingestellt wurde, so viel Geld aus, dass selbst Tau-kwaṅ
Reductionen verlangte. Am Hafen von Tiṅ-hae43) wurde ein grosses
Erdwerk erbaut und mit bronzenen Geschützen armirt. Eine Menge
Soldaten sollten sich, als Kaufleute verkleidet, auf den Schiffen
einschleichen und sie in ihre Gewalt bringen. 44) Alle Kunde von
Operationen der feindlichen Flotte wies Yu-kien als eiteles Gerede
zurück und spottete öffentlich der Ohnmacht der Barbaren: sie
hätten zu seinem Verdrusse niemals gewagt, sich mit ihm zu
messen. Dem Kaiser schmeichelte er durch grossmäulige Be-
richte, welche jede Spur von Gefahr fortdemonstrirten 45) und
ein gläubiges Ohr gefunden hätten, wenn der Traum der Sicher-
heit nicht durch den Verlust von A-moi gestört worden wäre.
Dennoch war Yu-kien der Held des Tages, der Retter von China;
das lange Zögern der durch widrige Winde aufgehaltenen englischen
Flotte bestärkte die Zuversicht.


Der flachgehende Dampfer Nemesis lief auf dem Wege nach
[110]Die englische Flotte vor Tiṅ-hae.
Tšu-san die Küstenstadt Tši-pu an, wo eine Strandbatterie ge-
stürmt und die Besatzung verjagt wurde. Der Phlegeton verwüstete
einen anderen Ort, wo kurz vorher ein englischer Seemann auf-
gehoben war, den Yu-kien grausam hinrichten liess. Diesem
scheint jetzt unheimlich geworden zu sein. »Es sind Gerüchte ver-
breitet,« schreibt er dem Kaiser, »als hätte ich zwei Barbaren
lebendig geschunden; ich habe aber nur einen Gefangenen gehabt,
den ich hinrichten liess; es ist abgeschmacktes Gerede, dass die
Engländer dafür Rache nehmen wollen. Sie haben aber irgend
einen unergründlichen Plan, und es ziemt uns auf der Hut zu sein.
Da Tšu-san und Tšin-hae stark befestigt sind, so werden sie
wahrscheinlich an irgend einem anderen Orte Störungen bereiten.
Deshalb bin ich nach Shang-hae gegangen, um die nöthigen
Rüstungen anzuordnen, damit wir nicht die Vertheidigung des
einen Ortes über die des anderen versäumen. Es ist sehr wichtig,
die bedürftigen Bezirke mit Reis zu versehen; darum erhielten die
Kaufleute Erlaubniss, solchen auszuführen. So hoffe ich jeden
Anflug von Unzufriedenheit zu verwischen und bin überzeugt, dass
die getroffenen Maassregeln jede Besorgniss verbannen werden.«
Yu-kien’s Streben nach Popularität war sehr unfruchtbar; denn
Jeder kannte seine Willkür, Grausamkeit und jähzornige Rachsucht.
Er liess auch die öffentlichen Gelder ungern in die Taschen Anderer
fliessen und hatte daher selbst unter den Mandarinen wenig An-
hang. Auf die Nachricht vom Erscheinen der englischen Flotte
vor Tšu-san versank Yu-kien in dumpfes Brüten; Niemand durfte
ihm nahen; er ass und schlief mehrere Tage und Nächte nicht.
Endlich ermannte er sich zu einem polternden Aufruf an das Volk,
sandte aber nach der bedrohten Insel keine Verstärkung.


Die Besatzung von Tiṅ-hae soll zehntausend Mann betragen
haben. Als die Dampfer Nemesis und Phlegeton recognoscirend
in den Hafen liefen, feuerte der commandirende General mit eigener
Hand den ersten Schuss und berichtete nach Abfahrt der Schiffe
an Yu-kien, er habe das eine in den Grund gebohrt, dem anderen
den Mast weggeschossen. Dieser machte in seinem Schreiben an
Tau-kwaṅ einen vollständigen Sieg daraus: die feindliche Vorhut
sei gänzlich vernichtet. 46) — Erst in den letzten Tagen des Sep-
tember war die englische Flotte vor Tšu-san versammelt; der An-
[111]Tiṅ-hae genommen.
griff erfolgte am 1. October. Zum Sturm auf das grosse Erdwerk
am Hafen schifften die flachgehenden Dampfer Truppen aus, die
von der rechten Flanke eindrangen und die Besatzung aufrollten.
Ernster Widerstand wurde an wenigen Stellen geleistet; der Com-
mandirende fiel im Handgemenge. Eine auf ein Inselchen postirte
Batterie säuberte die Hügel und warf mit den dicht am Ufer
geankerten Schiffen Granaten in die Stadt; bald waren auch die
Höhen in den Händen der Engländer, welche nun über einen in
die Stadt einschneidenden Felssporn die Mauern stürmten. Sie
hatten 2 Todte, 27 Verwundete. Die Chinesen beklagten sich
bitter über den unbilligen Angriff auf die ungedeckte Flanke des
Erdwerkes, dessen Vorderfronte allerdings stark genug war. —
Ihr Ober-General war gefallen; zwei andere entleibten sich. 47)


Von den Bewohnern auf das freundlichste empfangen mach-
ten die Engländer bekannt, dass ihr Aufenthalt voraussichtlich
mehrere Jahre dauern würde, und bannten dadurch alle Furcht vor
den Mandarinen. Sie ordneten die Communal- und Justiz-Verwal-
tung unter Aufsicht ihrer eigenen Beamten und organisirten aus
den Truppen eine Sicherheits-Polizei, welche dem Unwesen des
Wegfangens Einzelner nach Möglichkeit steuerte. Der Aufenthalt
der englischen Garnison auf Tšu-san dauerte bis 1847, und das
Verhältniss gestaltete sich immer freundschaftlicher; Handel und
Wandel blühten auf, und die Insel erfreute sich bald eines nie
gekannten Wohlstandes, den sie dem Gelde der Engländer verdankte.
An frischen Lebensmitteln fehlte es während dieser Occupation
keineswegs, und der Gesundheitszustand war vortrefflich.


Yu-kien’s Bericht über den Fall von Tšu-san war noch
lügenhafter als alle früheren: neunundzwanzig englische Schiffe
waren zurückgeschlagen worden; viele trieben als Wracks ohne
Mannschaft und Geschütze auf dem Meere. Hunderte der Landen-
[112]Die Engländer vor Tšin-hae.
den fielen unter dem chinesischen Feuer u. s. w. Sechs Tage
dauerte der blutige Kampf, bis die chinesischen Truppen der
Uebermacht weichen mussten. »Als ich das hörte, stand mir das
Haar zu Berge über die Frechheit dieser Schufte; ich berieth mich
sofort mit Yu-yu-pun über die Sicherung von Tšin-hae, ohne
auch nur einen Zollbreit zu weichen. Für jetzt werde ich ver-
kleidete Soldaten nach Tšu-san schicken u. s. w.« — In seiner
Antwort mahnt der Kaiser Yu-kien, sich seiner Abstammung
würdig zu zeigen, und ermächtigt ihn so viel Truppen aufzustellen,
als zur Vernichtung des Feindes nothwendig seien, »sobald derselbe
nah genug käme«. — Yu-kien rief nun wieder das Volk an, in
Masse aufzustehen, und verhiess reiche Belohnung. Mit 130,000
Mann drohte er auf Tšu-san zu landen und die Barbaren vom An-
gesichte der Erde wegzufegen; nicht einem soll das Leben ge-
schenkt werden. Seiner Umgebung befahl er in fieberhaftem Wahnwitz
unablässig, den Feind zu morden, zu ersäufen, in Stücke zu hauen,
das Land von dieser Geissel zu erlösen.


Am Morgen des 10. October erschien die englische Flotte
vor Tšin-hae, dem uneinnehmbaren »Bollwerk am Meere«, das auf
einer Landzunge an der Mündung des Flusses von Niṅ-po liegt.
Die Luft war heiter und ruhig, das Wasser spiegelglatt; die eng-
lischen Linienschiffe lagen, an ihren Ankerplatz bugsirt, so still
wie Land-Batterieen; flachgehende Dampfer schifften ohne Störung
die Truppen aus. Die am linken Ufer gelegene Stadt und Festung
wurde den Schiffen überlassen; am rechten Ufer stand in befestig-
tem Lager die chinesische Streitmacht, gegen welche die gelandeten
Truppen, 2200 Mann, in drei Colonnen marschirten. Der über fünf-
tausend Mann starke chinesische Heerkörper rückte der Mittelcolonne
muthig entgegen, formirte sich in guter Ordnung und brachte seine
Artillerie in Thätigkeit. Die englische Mittelcolonne gab nun auch
Feuer, während zu ihren Seiten die beiden anderen Colonnen de-
ployirten. Die chinesische Schlachtordnung stutzte, wankte und
zerriss; viele Todte blieben auf dem Platze. Die Mehrzahl der
Chinesen rannte in das Wasser; wenige gaben sich gefangen, denn
der Chinese kennt die Sitte des Pardongebens nicht. Die Englän-
der hatten acht Todte und sechszehn Verwundete; der Verlust
der Chinesen soll gegen funfzehnhundert betragen haben.


Unterdess überschütteten die Schiffe die Festung mit einem
Hagel von Geschossen. Die Pulverkammern, welche die Chinesen
[113]Tšin-hae genommen.
immer mit blindem Fatalismus exponiren, flogen eine nach der an-
deren auf. Die Festungs-Artillerie hatte strengen Befehl, ihr Feuer
zu sparen, bis der Feind in sicherer Schussweite wäre; dazu kam
es aber nicht, denn die englischen Geschütze reichten viel weiter.
Yu-kien soll sich das eine kurze Weile mit angesehen haben,
konnte aber den dichten Eisenhagel und den Lärm der platzenden
Geschosse nicht ertragen, vergass alle Prahlerei und lief davon.
Unterwegs machte er einen schwächlichen Versuch sich zu erträn-
ken, wurde aber von seinen Begleitern aus dem Wasser gezerrt und
weiter geschleppt; am folgenden Tage vergiftete er sich. In
Tšin-hae erbeuteten die Engländer seine ganze Correspondenz und
viele wichtige Staatsschriften. — Der Gouverneur Yu-yu-pun, einer
der kriegslustigsten Mandarinen, der sehnlichst verlangt hatte sich
mit dem Feinde zu messen, hielt auch nicht lange aus. Nach einem
auf der Flucht gemachten Scheinversuch, sich zu ertränken, sam-
melte er den Rest der chinesischen Truppen und trug vergebens
auf Waffenruhe an. — Am Ende des Krieges wurde er wegen Feig-
heit zum Tode verurtheilt.


Der Statthalter Lu-Ta-džen stellte dem Kaiser das Ende
Yu-kien’s im Lichte des Heldenthums dar, und Tau-kwaṅ ehrte
seine »standhafte Seele« durch die höchsten Gnaden. Sein Sarg wurde
von Würdenträgern nach Pe-kiṅ geleitet und unterwegs von allen
Ortschaften feierlichst eingeholt; der Bruder und der Neffe des be-
rühmten Helden erhielten hohe Aemter. Später entdeckte man aber
seine maasslosen Unterschlagungen und die Lügenhaftigkeit seiner
Berichte; da wurde sein Namen vor der Nachwelt als der eines
Schwindlers gebrandmarkt, die Verwandten mussten auf kommen für
die veruntreuten Summen.


Am Abend des 10. October besetzten die Engländer Tšin-hae
ohne Widerstand und steckten das chinesische Lager an. Weit und
breit waren die Felder mit den Leichen Neugieriger besät, welche
dem Kampfe zu nah kamen. Am 13. October rückten die Truppen
nach Niṅ-po hinauf, dessen Garnison angesichts der heranbrausen-
den Dampfer durch die Thore abmarschirte. Auch die Einwohner
flohen zu Hauf mit ihrer beweglichen Habe; das Gesindel fiel plün-
dernd über die Stadt her, und die Engländer konnten nur durch
gewaltsames Einschreiten Ruhe und Ordnung stiften. Ein Theil der
Armee bezog hier Winterquartiere, denn der um diese Zeit ein-
setzende Nordost-Monsun setzte den weiteren Operationen der
III. 8
[114]Winterquartiere in Niṅ-po.
Flotte ein Ziel. Die Engländer hielten in Niṅ-po strenge Manns-
zucht, bezahlten alle Bedürfnisse und traten mit der Bevölkerung
in das beste Verhältniss. Viele der Geflohenen kehrten zu ihrem
Heerde zurück; an guten Lebensmitteln herrschte Ueberfluss; selbst
benachbarte Städte sandten unaufgefordert ihre Beisteuer, die man
gewissenhaft bezahlte. Die Sicherheit war in den ersten Monaten
vollkommen, denn weit und breit gab es keinen chinesischen Sol-
daten; wie im tiefsten Frieden konnte man die Umgegend durch-
streifen.


Ganz Tše-kiaṅ stand den Engländern offen; die rathlosen
Mandarinen, welche auf ihre Truppen nicht bauen konnten, wandten
sich um Hülfe nach Pe-kiṅ. Tau-kwaṅ befahl aber in der Defen-
sive zu bleiben, bis die grosse Armee zur Vernichtung der ganzen
Horde versammelt wäre. Ein Erlass an das Volk erklärte, die Bar-
baren hätten jede Spur von Gehorsam verloren und drei Provinzen
angegriffen, die Bevölkerung sei nach allen Richtungen zerstreut;
die entsetzlichen Berichte raubten den kaiserlichen Augenlidern den
Schlaf, dem himmlischen Magen die Esslust: »Deshalb befehle ich,
dass Yi-kiṅ unter dem Titel »Schreckenverbreitender Feldherr« mit
Wun-wei und Tšun als Helfern nach Tše-kiaṅ aufbreche. Die
grosse Armee wird sich zur anberaumten Zeit dort sammeln und
beweisen, dass sie sich um das Land verdient macht.« — Die
Strenge des Winters 1841—42 verzögerte den Zuzug aus dem Nor-
den. Von Tartaren-Truppen gelangten überhaupt nur kleinere Ab-
theilungen nach den bedrängten Provinzen; die Hauptmacht blieb
zum Schutze von Pe-kiṅ bei Tien-tsin stehen.


Yi-kiṅ war, wie Yi-šan, ein Verwandter des Kaisers und
ein Mann von demselben Schlage, der sich besser auf lustigen
Lebensgenuss verstand als auf den Krieg. Sein Hauptquartier
schlug er in Su-tšau auf, einer der reichsten Städte von China,
dem Sitze üppiger Schwelgerei und hoffährtiger Eleganz. Die gegen
die Engländer von da aus angeordneten Operationen waren kaum
militärische zu nennen; sie beschränkten sich anfangs auf Organi-
sation von Streifbanden, welche auf Tšu-san und in der Umgegend
von Niṅ-po einzelnen Soldaten auf lauern und die Bevölkerung terro-
risiren mussten. Aus dem schlechtesten Gesindel zusammengeschaart,
wurden sie den Engländern wie den Chinesen sehr unbequem, übten
aber auf den Gang des Krieges keinen Einfluss. In Folge von
Yi-kiṅ’s Drohungen verliessen viele wohlhabende Bürger Niṅ-po;
[115]Yi-kiṅ.
die Kaufläden wurden einer nach dem anderen geschlossen und die
Stadt verödete. Die Bewohner von Tšu-san liessen sich dagegen
nicht einschüchtern; sie vertrauten dem Schutze der Engländer, die
in summarischem Verfahren Yi-kiṅ’s auf der Insel betroffene Ban-
diten am nächsten Baum aufzuknüpfen pflegten. In der Voraus-
setzung, dass viele Chinesen in den Reihen und der Uniform des
Feindes kämpften, erliess der »Schreckenverbreitende Feldherr«
Proclamationen, welche seinen Landsleuten und den schwarzen Sol-
daten, »die gezwungen dem Heere folgten«, Straflosigkeit und Be-
lohnung verhiessen: »Wer einen der Haupt-Führer der Barbaren
verräth, soll Beamtenrang erhalten; für Aufhebung eines unter-
geordneten Teufels wird eine Geldsumme bezahlt, und wer ein
Schiff ausliefert, erhält die Ladung.« — Maueranschläge in den be-
setzten Städten forderten die fremden Soldaten auf, nach Hause zu
gehen und für Vater und Mutter zu sorgen, statt China zu be-
lästigen. Yi-kiṅ liess sogar unter der Hand den Engländern eine
grosse Summe anbieten, wenn sie das Reich der Mitte auf immer
verlassen wollten. Das Lustigste war aber eine an den Barbaren-
General gerichtete Ermahnung, seine ganze Streitmacht in die Hände
Yi-kiṅ’s zu liefern, der ihn in Betrachtung solchen Gehorsams der
gnädigen Rücksicht des Himmelssohnes empfehlen wolle. Ein Theil
der Truppen müsse in die Gewalt der Behörden gegeben werden;
die übrigen möchten nach Hause gehn. Wer in die chinesische
Armee einzutreten wünsche, könne Aufnahme finden. Würde
dieser Vorschlag binnen einer bestimmten Frist nicht angenommen,
so müssten alle Barbaren sterben.


Yi-kiṅ erliess, in Su-tšau schwelgend, vergebens einen
Aufruf nach dem anderen um Geld und Leute; niemand stellte sich
und die Kassen blieben leer. Aber der Kaiser verlangte immer
dringender, dass die Engländer aus Niṅ-po und Tšiṅ-hae ver-
trieben würden, und etwas musste geschehen. Der Feldherr er-
mannte sich zu Anwerbung einer Armee von zwanzigtausend Mann,
denen er sechs Dollars Handgeld versprach, und rüstete einen An-
schlag auf die besetzten Städte.


Die Engländer lebten in ihren Winterquartieren, durch chi-
nesische Kundschafter von allen Bewegungen des Feindes unter-
richtet, in voller Sorglosigkeit. Die Landeskinder widmeten sich
eifrig der Spionage, und wenn einzelne aufgegriffen und grausam
hingerichtet wurden, so drängten sich gleich andere zu dem ein-
8*
[116]Angriff auf Niṅ-po.
träglichen Gewerbe. Yi-kiṅ war eben so gut bedient; die Engländer
wussten sich von Verrath umgeben und entdeckten sogar Anschläge
auf das Leben des Commandirenden in Niṅ-po. Trotzdem herrschte
dort das Gefühl der vollsten Sicherheit; man glaubte, nachdem
häufig falscher Lärm geschlagen war, kaum noch an einen Angriff,
1842.als die Chinesen Anfang März 1842 ernstlich davor warnten. Am
10. verliessen aber viele angesehene Einwohner plötzlich die Stadt,
deshalb wurde den nächtlichen Posten Wachsamkeit empfohlen. 48)
Gegen vier Uhr Morgens griff eine starke Colonne das westliche
Thor mit verzweifelter Heftigkeit an, wurde aber geworfen. Sobald
die Besatzung sich verstärkt hatte, öffnete sie die Thorflügel, trieb
mit Kartätsch- und Gewehrfeuer den Feind durch die Hauptstrasse
der Vorstadt 49) und verfolgte ihn bis auf das freie Feld, wo die
Landbevölkerung dem Blutbade mit sichtlichem Vergnügen zu-
schaute. — Unterdessen war das südliche Thor von einer anderen
Colonne erstürmt worden, welche den Weg nach dem englischen
Hauptquartier einschlug. Im Strassenkampf mit der feindlichen
Infanterie zog sie aber gegen deren Schnellfeuer bald den Kürzeren
und floh in toller Verwirrung. Die Chinesen liessen gegen vier-
hundert Todte auf dem Platz. — Auf die vor der Nordost-Ecke
der Stadt im Fluss geankerte Fregatte Modeste richteten die Chi-
nesen gegen Morgen ein Feuer aus maskirten Geschützen, welche
durch einige Breitseiten beruhigt wurden, und liessen unschädliche
Brander los.


Einen Angriff auf Tšin-hae in derselben Nacht wies die durch
sichere Kundschaft vorbereitete Garnison leicht zurück. Auch Tšu-
san
ward nicht vergessen, aber die in den Hafen gesandten Brander
thaten keinen Schaden, und die übrigen Rüstungen auf einer benach-
barten Insel machten die Engländer bei Zeiten unschädlich.


Nach diesen misslungenen Anschlägen nahm die Armee von
Tše-kiaṅ bei Tse-ki in der Nähe von Niṅ-po Stellung, wo sie
von zwölfhundert Mann auseinandergesprengt wurde. Die Chinesen
[117]Erlass des Tau-kwaṅ.
schlugen sich besser als in der Campagne des vorhergehenden Win-
ters, verloren aber auch hier viele Leute durch das Schnellfeuer
der Engländer. 50) Diese übernachteten im feindlichen Zeltlager, 51)
marschirten am folgenden Morgen noch einige Meilen landeinwärts
und kehrten am 17. März nach Niṅ-po zurück.


Tau-kwaṅ hatte allmälich einen Begriff von der Stärke des
Feindes bekommen; kein Ort, erklärte er offen, sei vor der unver-
schämten Dreistigkeit der räuberischen Barbaren sicher. — Der
Kaiser-Canal, die Pulsader des Reiches war bedroht, durch welche
Pe-kiṅ und die nördlichen Provinzen ihre Zufuhr erhalten. Die
Mündungen des Canals in den Yaṅ-tse-kiaṅ bei Tšiṅ-kiaṅ-fu
sollten jetzt befestigt, auch Nan-kiṅ, Wu-soṅ und Shang-hae in
Vertheidigungszustand gesetzt werden. — Tau-kwaṅ machte noch
einen letzten Versuch, zum Herzen seiner Unterthanen zu reden:
»Ich wünschte mein Volk von der furchtbaren Geissel des Opium
zu befreien und schickte deshalb Lin Tse-tsiu als hohen Bevoll-
mächtigten nach Kan-ton. Alle unterwarfen sich seinem Gebot
ausser den Engländern, welche die Verbrennung des Opium zum
Vorwande von Feindseligkeiten machten. Als sie am Pei-ho eine
Darlegung ihrer Klagen überreichten, entliess ich Lin wegen un-
gehöriger Amtsführung und beauftragte Ki-šen mit Untersuchung
der Beschwerden; als sie Tšu-san herausgaben, schenkte ich ihren
Gefangenen das Leben und liess sie heimkehren. Dann betrugen sie
sich in Kan-ton mit maassloser Gewaltsamkeit und Frechheit; aber
auch da noch bequemte Yi-šan sich ihren Forderungen. Die den
Kaufleuten geschuldeten Summen wurden bezahlt, und man erlaubte
ihnen den sehnlichst begehrten Handel. Und doch waren sie wieder
auf Schaden bedacht. Sie eilten nach dem Norden, besetzten aber-
mals Tšu-san und wurden der Schrecken meines Volkes. Was habt
ihr nur gethan, dass solche Leiden über euch ergehen mussten?
Wenn ihr euch zusammenschaaret, um dieser Invasion Widerstand
zu leisten, so will ich meinen Officieren befehlen, das Vaterland
[118]I-li-pu zurückberufen.
tapfer zu vertheidigen und sie streng bestrafen, wo sie es daran
fehlen lassen. Diejenigen meiner Unterthanen, welche sich ver-
führen liessen oder mit den Barbaren gemeinschaftliche Sache mach-
ten, rufe ich jetzt zurück und verspreche ihnen Verzeihung für
den Verrath. Alle meine Diener werden aufgefordert, sich mit
ganzer Seele und allen Kräften zur Vernichtung dieses hassens-
werthen Volkes zu verbinden.« — Dieser Erlass wurde in allen
Heeresabtheilungen verlesen und auf öffentlichen Plätzen angehef-
tet, that aber gar keine Wirkung. Bei den chinesischen Truppen
hatte der unaufhaltsame Siegeslauf der Engländer den Wahn er-
zeugt, sie seien durch Zaubermittel gefeit, die ihr Anstürmen un-
widerstehlich, ihr Zielen unfehlbar machten. 52) — Kaum war der
kaiserliche Erlass verbreitet, so kam aus Hong-kong die Nachricht,
dass eine grosse Flotte dort eingetroffen und ein Theil schon nach
dem Norden aufgebrochen sei. Nun stieg am Hofe wieder die Furcht
auf, die Hauptstadt bedroht zu sehen. Auf das Heer konnte man
nicht bauen, und die Ueberzeugung, dass Unterhandlungen an-
geknüpft werden müssten, scheint endlich durchgedrungen zu sein.
Das erste Symptom davon war die Rückberufung des I-li-pu, den
die kaiserlichen Couriere auf dem Wege nach dem Amur noch ein-
holten. Ohne Rang und Vollmacht erhielt er nur den gemessenen
Befehl, dem Vordringen des Feindes ein Ziel zu setzen.


1842.Am 7. Mai 1842 räumten die englischen Truppen Niṅ-po
um sich zu weiteren Operationen einzuschiffen. Yi-kiṅ berichtete
nun, er habe mit seinen Tapferen den Feind verfolgt und gänzlich
aus dem Flusse vertrieben, viele Waffen und Munition erbeutet.
Auch auf Tšu-san hatte er die Engländer geschlagen, »wo eine
Menge ihrer Schiffe in die Luft gesprengt, viele Soldaten getödtet
und Todesschrecken der ganzen Schaar eingeflösst wurden. Da sie
nun Tag und Nacht bedrängt wurden, viele Leute verloren und
Mangel litten an Lebensmitteln, so beschlossen sie abzuziehen.«
Auf Tšu-san war indessen nicht die geringste Störung vorgekom-
men, und die Einschiffung in Niṅ-po ging ohne jeden Anstoss
vor sich. Yi-kiṅ’s Siegesberichte fanden denn auch in Pe-kiṅ
[119]Tša-pu genommen.
wenig Glauben; die Nachricht, dass die englische Flotte vor Tša-pu53)
ankere, folgte ihnen auf dem Fusse.


Widrige Winde hatten die Ankunft der Briten vor dieser
Feste bis zum 17. Mai verzögert; am 18. Morgens landeten sie.
Die chinesische Streitmacht stand ausserhalb der Stadt auf
einem Hügelrücken, wo englische Truppen sie in der Flanke an-
griffen und vertrieben; eine zweite Colonne schnitt den Flüchtigen
den Rückzug ab und sprengte sie ganz auseinander. Die Mauern
der in einiger Entfernung vom Ufer liegenden Festung wurden
leicht erstiegen; innerhalb fand man keinen Widerstand. Etwa
dreihundert Tartaren hatten sich, von der Stadt abgeschnitten, in
einen grossen Tempel geworfen und leisteten dort mehrere Stun-
den lang verzweifelte Gegenwehr; man musste Geschütze holen
und das Gebäude in Brand schiessen. Nur dreiundfunfzig Tartaren
blieben am Leben und diese meist verwundet. Die Engländer, die
so achtbaren Widerstand in China noch nicht gefunden hatten,
schenkten den erstaunten Gefangenen sofort die Freiheit. Sie selbst
hatten bei Tša-pu neun Todte und funfzig Verwundete, die fast
sämmtlich bei jenem Tempel fielen.


Bei Untersuchung der Stadt entdeckten die Briten, dass alle
Frauen der tartarischen Garnison sich selbst und ihre Kinder
gemordet hatten; man fand sie erhängt, erdrosselt, ertränkt.
Diebesbanden plünderten, wie in allen genommenen Städten, mit
unerhörter Frechheit die friedlichen Bewohner. Der Commandeur
erhielt eine schwere Wunde und starb mit grosser Standhaftig-
keit unter den Händen der englischen Aerzte.


Der amtliche Bericht über den Verlust von Tša-pu stellte
die Thatsache ohne Umschweif und Bemäntelung dar. Yi-kiṅ, der
ausser Schussweite blieb, wurde zur Verantwortung gezogen und
durch einen anderen Verwandten des Kaisers, den bekannten
Ki-yiṅ ersetzt, der von da an auf China’s Beziehungen zum Aus-
land lange Zeit grossen Einfluss übte. Er erkannte von vornherein
die Hoffnungslosigkeit des Widerstandes und strebte eifrig dem
Kampfe ein Ende zu machen, welcher bei längerer Dauer den
Thron der Mandschu gefährden musste. Mit I-li-pu vereinigt be-
[120]Die englische Flotte in Yaṅ-tse-kiaṅ.
trieb er durch dringende Vorstellungen das Friedenswerk, das am
kaiserlichen Hofe von den meisten Räthen tartarischer Abstammung
gefördert, von den chinesischen Mandarinen noch immer angefeindet
wurde. Ki-yiṅ ward zum Tartaren-General der Armee von Haṅ-
tšau
und kaiserlichen Special-Commissar ernannt. Der Statt-
halter der Provinz, Lu-Yun-ko, ein eingefleischter Chinese von
der extremen Kriegsparthei, blieb in seinem Amte. Aber selbst
dieser erklärte jetzt dem Kaiser das ihm anvertraute Gebiet nicht
halten zu können, und bat in hergebrachter Weise um strenge
Bestrafung.


Gnu-Ta-džen, General-Gouverneur der »beiden Kiaṅ«,
hatte Befehl erhalten, »die Mündung des Yaṅ-tse zu verstopfen«;
seine Anstalten beschränkten sich aber auf den Bau einer langen
Schanze am Ausfluss des Wu-soṅ, hinter welcher Truppen-
massen in befestigten Lagern standen; 54) doch sandte er zu-
versichtliche Berichte nach Pe-kiṅ, welche das Einlaufen der
feindlichen Flotte für unmöglich erklärten. — Am 13. Juni ging
das britische Geschwader, durch die Fregatte Dido und Transport-
schiffe mit 2500 Mann Landtruppen verstärkt, eine halbe Meile
unterhalb jener Schanze im Yaṅ-tse-kiaṅ zu Anker. Am 14. und
15. liefen flachgehende Dampfer unter den feindlichen Kanonen in
den Wu-soṅ-Fluss. Kein Schuss wurde gefeuert, als ihre Boote
die Ankerplätze für die grossen Schiffe durch Bojen markir-
ten; am Ufer tanzten, jauchzten und lachten die Soldaten dazu.
Gnu-Ta-džen hielt seinen Truppen eine befeuernde Rede und
liess ein Flugblatt voll begeisterter Citate verbreiten: »Die Nation
stehe unter dem Schutz des Heeres, das sie unterhalte; der
Sold der Truppen sei das Mark des Landes. Der Kaiser, der
sein Volk wie seine Kinder liebe, gebe für die Armee viele Millionen
Tael aus, um dasselbe zu schützen. Sie möchten aus allen Kräften
streben, ihre hohe Bestimmung zu erfüllen u. s. w.«


Am 16. Juni früh bugsirten Dampfer die grösseren Schiffe
an ihre Ankerplätze im Wu-soṅ-Fluss, den Schanzen gegenüber.
[121]Die Engländer in Shang-hae.
Die Chinesen eröffneten das Feuer und schossen besser als bei
allen früheren Treffen; fast alle englischen Schiffe erhielten Kugeln
in den Rumpf und das Takelwerk, sie hatten im Ganzen zwei Todte
und fünfundzwanzig Verwundete. Erst als sie fest geankert lagen,
antworteten die Briten und landeten nach zweistündiger Kanonade
einige hundert Seeleute, welche die Chinesen aus sämmtlichen
Werken trieben. Der Truppen-Commandeur fiel tapfer kämpfend;
Gnu-Ta-džen floh dagegen zu allererst; die Engländer erbeuteten
in seiner Wohnung viele wichtige Papiere. Sein erster Bericht an
den Kaiser war sehr kurz: »Die Rebellen haben den Weg nach
Wu-soṅ erzwungen; Admiral Tšiṅ ist todt, Pau-šan55) verloren.«
In der Folge muss er sich besonnen haben: »Der Truppen-Com-
mandeur hielt sieben Tage Stand, versenkte drei Schiffe, verwun-
dete und tödtete eine Menge Barbaren. Diese aber feuerten von
ihren Masten in die Schanzen und die Stellung wurde unhaltbar.«
Der nächste Bericht war noch toller. — Die Engländer erbeuteten
253 Geschütze, darunter 43 von Bronze. An Mannschaft hatten die
Chinesen geringen Verlust; denn die Erdwerke waren sehr dick,
und beim Angriff liefen die Soldaten davon.


Die Stadt Wu-soṅ ergab sich ohne Widerstand, ebenso
Shang-hae, wohin eine englische Colonne am 19. Juni marschirte,
während ein Theil des Geschwaders den Fluss hinauffuhr. In
den Ufer-Batterieen, die nur wenige Schüsse gaben, fanden sich
noch 111 Kanonen. Chinesische Feldarbeiter halfen den Land-
truppen freiwillig unter fröhlichem Gelächter die Geschütze über
schwierige Stellen des Weges ziehen. In Shang-hae demolirte
das Volk den Ya-mum eines verhassten Mandarinen, der vor den
Engländern fortlief, und empfing diese mit dienstbereiter Freund-
lichkeit. I-li-pu stellte sich dort mit unmöglichen Vorschlägen
ein; er berief sich auf die Freigebung der Gefangenen 56) und
suchte durch dringende Bitten den Feind von weiterem Vorrücken
abzuhalten. Unterdessen fuhr der Dampfer Nemesis jenseit
Shang-hae noch eine Strecke flussaufwärts, ohne Truppen zu
finden. Sein Rauch war aber in der endlosen Fläche auf viele
Meilen sichtbar. Da er nun in einiger Entfernung von der reichen
[122]Die Engländer vor Tšiṅ-kiaṅ-fu.
Stadt Suṅ-kiaṅ wegen seichten Wassers umkehren musste, so
berichtete der dortige Commandeur einen grossen Sieg nach Pe-kiṅ.
Der Kaiser liess sich noch einmal täuschen und wurde in seinem
Wahn durch die Bewegungen der Engländer bestärkt, welche am
23. Juni Shang-hae schon wieder räumten.


Die damals im Yaṅ-tse-kiaṅ versammelte Streitmacht be-
stand aus funfzehn Kriegsschiffen, fünf Dampfern und beinahe
funfzig Transport- und Truppenschiffen. Einschliesslich der See-
soldaten waren neuntausend Bajonete an Bord, ausserdem drei-
tausend exercierte Seeleute zum Dienst am Lande disponibel. —
Während am 8. Juli das Geschwader bei Fo-šan ankerte, trat eine
totale Sonnenfinsterniss ein; der chinesische Aberglauben zog
daraus seine Schlüsse. Ki-yiṅ rückte mit seiner durch Desertionen
stark reducirten Armee den Engländern langsam nach; aber ein
ernster Versuch das Geschwader aufzuhalten wurde nirgends
gemacht, so passende Stellen sich dazu boten. Die Tiefe
und Schiffbarkeit des Stromes übertraf alle Erwartungen; von
Wu-soṅ bis Nan-kiṅ, auf eine Entfernung von funfzig deutschen
Meilen, war das Fahrwasser tief genug für grosse Linienschiffe.
Einige unbedeutende Schanzen feuerten auf das Geschwader, wur-
den aber leicht zum Schweigen gebracht; andere fand man ver-
lassen. Unterhalb Tšiṅ-kiaṅ-fu beherrschten günstig gelegene
Erdwerke eine Wendung des Stromes; sie hätten, wirksam ver-
theidigt, den Lauf der Schiffe wohl aufhalten können; die Besatzung
feuerte aber nur wenige Schüsse und lief vor den gelandeten
Truppen davon. Die Werke von Tšiṅ-kiaṅ-fu gaben keinen
Schuss ab, als am 19. Juli das englische Geschwader davor
ankerte.


In dieser wichtigen Festung, dem Schlüssel zum Kaiser-
Canal
, commandirte ein braver Tartar, der umsonst Verstärkung
und Solderhöhung für seine Truppen verlangt hatte. Die Besatzung
war ganz unzureichend. Hae-liṅ hielt mächtige Brander und
Feuerflosse bereit, die nur, zu früh angezündet, in dem Canal ver-
brannten, wo sie geankert lagen. Auch missglückten alle Versuche,
brennende Dschunken an die Schiffe zu hängen. — Am Morgen des
21. Juli wurden die englischen Truppen ausgeschifft. Eine Colonne
stürmte das nordöstliche Stadtthor, fand jedoch innerhalb heftigen
Widerstand und brauchte mehrere Stunden heissen Kampfes, um
das westliche Thor zu gewinnen, das die zweite Colonne nach
[123]Tšiṅ-kiaṅ-fu genommen.
langem Marsch durch die Vorstädte nahm. Der Strassenkampf
wurde mit Erbitterung fortgesetzt; die Tartaren vertheidigten sich
hartnäckig in Häusern und hinter Gartenmauern; viele Gebäude
mussten in Brand geschossen werden. Da Alles verloren war, ver-
brannte Hae-liṅ sich in seinem Hause auf einem aus Holz und
amtlichen Schriften aufgethürmten Scheiterhaufen; man fand nur
den Schädel und die Knochen seiner Füsse. — Nachher begannen
wieder die Greuel unter den Tartaren-Frauen; nur wenige konnten
verhindert werden, sich selbst und ihre Kinder grässlich zu morden.
Den Schlussact spielten die unvermeidlichen Banditen, die auch
hier mit ruchloser Frechheit plünderten.


Die Tartaren hatten sich bis auf den letzten Mann geschla-
gen; die ausserhalb der Stadt aufgestellten chinesischen Truppen
jagte die dritte englische Colonne leicht auseinander. Ein grosser
Theil der Stadtmauern wurde gesprengt. — Die Einnahme von
Tšiṅ-kiaṅ-fu entschied den Krieg; denn die Briten konnten nun
den Kaiser-Canal sperren und, da sie auch die See beherrschten,
die nördlichen Provinzen leicht aushungern. China war in zwei
Hälften zerschnitten, der Süden vom Norden abgetrennt und sich
selbst überlassen; wie leicht mochte dort der Aufruhr sein Haupt
erheben! Den alten Wahn von der Unbesiegbarkeit tartarischer
Truppen hatten die Engländer in Tša-pu und Tšiṅ-kiaṅ-fu gründ-
lich zerstört, und die Mandschu auch dadurch einer wichtigen
Stütze beraubt.


Der Krieg bewirkte in den von ihm berührten Gegenden
eine Auflösung aller bürgerlichen Ordnung. Fast überall bildet in
China das Proletariat den überwiegenden Theil der Bevölkerung
und wird den besitzenden Classen furchtbar, sobald der Druck der
Autorität aufhört. In den bedrohten Gegenden pflegten die Manda-
rinen den Kopf zu verlieren; ihre Bestürzung und Rathlosigkeit
gab dem Gesindel freies Spiel. Tausende von Räubern rotteten
sich zusammen, plünderten das Land und schleppten alle beweg-
liche Habe, ja die Thüren und Fenster mit fort; andere Banden
fielen über sie her und kämpften mit ihnen um die Beute. Auf
den Gewässern trieben Piraten ihr Handwerk, und nirgends
gab es Sicherheit, bis die englischen Truppen erschienen. Deren
Anwesenheit war überall eine Befreiung für die ruhige Bevölkerung;
denn sie hielten strenge Mannszucht, bezahlten ihre Bedürfnisse
und wehrten energisch den heimischen Banditen. Ihr Betragen
[124]Bestürzung in Pe-kiṅ.
musste gegen das der kaiserlichen Beamten und Heere sehr vor-
theilhaft abstechen; für die Mandschu-Herrschaft ist das Volk fast
nirgends in China begeistert, und man darf annehmen, dass die
Briten sich an den Orten, welche sie gegen die kaiserlichen Heere
halten konnten, ohne Widerstand der angesessenen Bevölkerung
bleibend hätten einrichten mögen. Ueberall ausser in Kan-ton
kam man ihnen mit offenen Armen entgegen, und bei längerem
Aufenthalt gestaltete sich das Verhältniss immer freundlicher.


Die Gefahr solchen Zustandes für die Mandschu-Herrschaft
musste Ki-yiṅ um so mehr ängstigen, als er, der europäischen
Politik durchaus fremd, allen Grund hatte, die Engländer für
Eroberer anzusehen. Seine und I-li-pu’s amtliche Berichte hatten
längst alle Hoffnung vernichtet, den Siegeslauf der Briten aufzu-
halten. In seinen vertraulichen Mittheilungen an den Kaiser soll
Ki-yiṅ hartnäckig auf unmittelbaren Friedensschluss gedrungen
haben, während I-li-pu die Meinung vertreten hätte, dass erst
unter den Mauern von Nan-kiṅ unterhandelt werden dürfe. Der
Kaiser, argumentirte dieser, müsse seine Würde vor dem Volke
wahren. Nachdem er so oft die Vernichtung der Barbaren ver-
heissen und sein Bedauern ausgesprochen habe, dass er nicht selbst
zu Felde ziehen könne, dürfe er nicht plötzlich, zu Friedensanträgen
überspringend, sich in den Augen des Volkes erniedrigen; nur
durch die härteste Noth müsse er zum Nachgeben gezwungen
erscheinen; die Gründe dafür sollten schlagend und unbestreitbar
sein. Zudem sei es ja doch möglich, dass die Expedition im
Yaṅ-tse scheitere. — Die Kriegsparthei, deren Vertreter noch
immer im Rathe des Kaisers sassen, scheint erst nach dem Fall
von Tšiṅ-kiaṅ-fu kleinlaut geworden zu sein; solche Bestürzung
trat auf diese Nachricht ein, dass der Hof in aller Eile zum Aufbruch
nach der Tartarei rüstete. Der Schatz wurde schleunigst verpackt;
dabei kamen nicht weniger als neun Millionen Tael abhanden, die
niemals wieder gefunden wurden.


Die Entfernung von Pe-kiṅ war zu gross, um Verhaltungs-
befehle abzuwarten. Nan-kiṅ musste um jeden Preis gerettet
werden, und die kaiserlichen Commissare sahen sich gezwungen,
auf eigene Verantwortung die ersten Schritte zu thun. Noch ehe
die Flotte von Tšiṅ-kiaṅ-fu absegelte, erschien dort Šu, der
frühere Gouverneur von Tšu-san, der wegen seiner ehrlichen Ge-
sinnung bei den Engländern in gutem Ansehen stand und schon
[125]Die Flotte vor Nan-kiṅ.
früher mit Aufträgen des I-li-pu in ihrem Lager gewesen war,
mit friedlichen Eröffnungen. Mangel an Wind hielt das Geschwader
noch einige Tage zurück; aber am 8. August ankerte der grösste
Theil desselben vor Nan-kiṅ, von dessen Mauern überall die weisse
Flagge wehte.


Ki-yiṅ und I-li-pu hatten dort den Einfluss des General-
Gouverneurs Gnu-Ta-džen zu bekämpfen, der, zum dritten Bevoll-
mächtigten ernannt, keine ehrlichen Verhandlungen wollte und den
Feind in gewohnter Weise durch Täuschung und Aufschub zum
Rückzug zu bewegen hoffte. Er ordnete allerlei kriegerische De-
monstrationen an, und die Verhandlungen drohten sich zu zer-
schlagen. — Das Linienschiff Cornwallis ankerte im Strom, die
Fregatte Blonde in einem westlich die Stadt bespülenden Canal,
beide dicht unter den Mauern, in welche sie Bresche schiessen
sollten. Truppen wurden ausgeschifft und alle Anstalten zum
Sturm getroffen.


An Vertheidigung war nicht zu denken. Die Mauern von
Nan-kiṅ umschliessen ein ausgedehntes Areal, dessen grössere
Nordhälfte Felder und Gärten einnehmen. Die Tartarenstadt, deren
Mitte die Citadelle bildet, füllt den südöstlichen, die volkreiche
Chinesenstadt den südwestlichen Winkel des Mauerumkreises aus,
dessen südliche und westliche Seite ein Canal säumt. Südlich von
diesem liegen, dem bewohnten Theil von Nan-kiṅ gegenüber, aus-
gedehnte Vorstädte. — Ein ungewöhnlich hoher Wasserstand hatte
das Land in grosses Elend versetzt, zugleich die Abwehr und die
Zufuhr erschwert. Die Garnison — nach den englischen Berichten
nur zweitausend Mandschu-Tartaren — war der Vertheidigung
der Ringmauer nicht entfernt gewachsen, noch weniger die Anzahl
der Geschütze. Dazu kamen Mangel an Lebensmitteln und die
Indifferenz der Landbewohner, die, weit entfernt ihren Unter-
drückern gegen die Engländer Hülfe zu leisten, den Anstalten zum
Angriff gleichgültig zusahen. Selbst der Tartaren-Commandeur ge-
wann die Ueberzeugung seiner Hülflosigkeit und erklärte, die Stadt
nicht halten zu können. Die Vorbereitungen zum Sturm brachten
auch Gnu-Ta-džen zur Besinnung; er schloss sich endlich der Bot-
schaft der anderen Bevollmächtigten an den Kaiser an: »Wir sind
von Gefahren umringt und in solcher Bedrängniss, dass jedes unvor-
gesehene Ereigniss Verderben bringen kann. Wir haben daher auf
die Gefahr hin, das Leben zu verlieren, die Forderungen der Bar-
[126]Bericht an den Kaiser.
baren bewilligen müssen, um das Land zu retten. Indem wir uns
nun den auferlegten Bedingungen fügen, erflehen wir für uns selbst
die strengste Bestrafung.« — Nach Mittheilung der Friedens-
bedingungen fahren sie fort: »Die Engländer erklärten, dass nach
Bewilligung ihrer Forderungen ewiger Frieden walten solle; für den
Fall der Zurückweisung seien sie jedoch zu weiterem Vorrücken ge-
rüstet. Während der Verhandlungen drang zu den Barbaren ein
falsches Gerücht, dass sie von unseren Truppen überfallen und
vernichtet werden sollten. Da hissten sie die rothe Flagge und er-
klärten, dass sie am folgenden Morgen angreifen wollten. Da sie
nun wild und gewaltsam sind, so liessen wir unsere Truppen auf-
marschiren; als diese aber auf einen Umkreis von sechszig Li ver-
theilt waren, stellte sich heraus, dass ihre Zahl zur Abwehr nicht
ausreichte. Die Truppen aus den Provinzen sind entmuthigt und
unzuverlässig; zudem beherrschen die Höhen von Tšuṅ die ganze
Stadt, die Barbaren können auf uns herabschiessen. Dazu kommt,
dass die Bewohner von Schrecken gelähmt sind; Myriaden bestürm-
ten unsere Beamten, mit Thränen um Rettung ihres Lebens flehend.
— Blicken wir zurück auf den Zeitraum, seit die Barbaren gegen
uns aufstanden, so gewahren wir, dass keiner unserer Feldherren
etwas gegen sie ausrichten, ihren Todesmuth bändigen konnte. Die
Zahl ihrer Schiffe ist jetzt auf achtzig vermehrt. Sie beherrschen
den Yaṅ-tse, haben den grossen Canal besetzt und das Reich in
zwei Hälften getheilt. Die Sache wird dadurch noch schlimmer,
dass sie Nan-kiṅ bedrohen und mit Gewalt zur Entscheidung
drängen. Wir sehen die unentwirrbaren Verwickelungen unserer
Lage. Bleiben wir hartnäckig, so ist Nan-kiṅ verloren; dann stehen
Gan-wui, Kiaṅ-si und Hu-pi den Barbaren offen; und wohin ihre
Erfolge sie nicht führen, da werden einheimische Verräther Unruhen
stiften und das Land verwüsten. — Aus diesen Gründen schlagen
wir vor (obgleich der Tod dafür zu gelinde Strafe ist), dass die
Forderungen der Engländer bewilligt werden. Wir sehen wohl,
dass ihre Anträge unersättliche Gier verrathen; und doch beschrän-
ken sie ihre Ziele auf den Handel und hegen nicht andere unheil-
drohende Absichten. Zur Erhaltung von Kiaṅ-nan und um das
furchtbare Drangsal des Krieges zu enden, beschlossen wir
auf ihre Bedingungen einzugehen. Wir verbürgten uns endlich,
dass, wenn sie Reue über das angerichtete Elend zeigten und einen
Waffenstillstand schlössen, ihre Vorschläge bestätigt werden sollten;
[127]Tau-kwaṅ’s Antwort.
würden sie dagegen wortbrüchig und unlenksam, so müssten wir
unsere Soldaten zu tapferer Vertheidigung der Stadt aufrufen,
gleichviel ob Sieg oder Niederlage die Folge wäre. — Wir fühlen
wohl unseren Undank gegen die kaiserliche Gnade. Mit den wich-
tigsten Aufträgen betraut, waren wir unfähig zur Unterjochung
dieser Feinde Schrecken einzuflössen. Wir erkennen unsere Dreistig-
keit, indem wir diese Anträge stellen, und unsere Verbrechen sind
unzählbar. Mit Furcht und Zittern harren wir bei Ueberreichung
dieser Denkschrift der strengsten Bestrafung.«


Tau-kwaṅ antwortete: »Was die Wohlfahrt unzähliger leben-
der Wesen fördert, das muss ich bewilligen. Die Vorstellungen
meiner Diener beweisen die Nothwendigkeit, den Drangsalen ein
Ende zu machen und das Reich zu retten. Deshalb sollen die mit-
getheilten Forderungen erörtert werden. Da die Barbaren sich aus
dem Yaṅ-tse zurückziehen und Tšau-Pau-šan (die Citadelle von
Tšin-hae) zurückgeben wollen, so möge der Handel in vier von
den Häfen bewilligt werden; nur Fu-tšau muss ausgenommen sein.
Ihr, meine Beamten, werdet ihnen klar beweisen, dass seit zwei-
hundert Jahren ihr Handel immer friedlich durch die Hoṅ-Kauf-
leute vermittelt wurde, ohne Einmischung der Mandarinen in diese
Dinge. In allen solchen Angelegenheiten führt die Bestimmung der
Preise zu endlosen Auseinandersetzungen, und unsere Beamten sind
der Sprache der verschiedenen Völker unkundig. Die Behörden
können nicht mehr thun, als die einheimischen Händler bestrafen,
die sich Unredlichkeiten zu Schulden kommen lassen. — Die ersten
sechs Millionen sollen sofort bezahlt werden, als ein Zeichen, dass
wir Wort halten wollen.« Dann folgt die Genehmigung der anderen
Bestimmungen. Die Bevollmächtigten sollen den Engländern er-
klären, dass der Kaiser sie mit Offenheit behandele und ihre wich-
tigsten Forderungen bewillige; der Handel müsse nun in Frieden
und Eintracht weitergehen. »Wir werden unsere beschädigten
Festungen ausbessern und nach unserem Bedünken über unsere
Truppen verfügen. Das darf den Barbaren keinen Argwohn ein-
flössen. Habet Acht solche Einrichtungen zu treffen, die für immer
alle Ursachen des Krieges beseitigen, und lasset nichts unvoll-
ständig oder zweifelhaft.«


Nachdem der Entwurf des Friedensvertrages zur Bestätigung
nach Pe-kiṅ abgefertigt war, machten — am 20. August — die drei
kaiserlichen Commissare Sir Henry Pottinger einen Besuch auf dem
[128]Der Frieden von Nan-kiṅ.
Cornwallis. Am 24. erwiederte dieser die Aufmerksamkeit und wurde
mit grossem Gefolge in einem Tempel ehrenvoll empfangen. Die
Unterzeichnung des Vertrages geschah am 29. August 1842 an Bord
des Cornwallis. I-li-pu litt schon damals an seiner Todeskrankheit;
er musste an Bord getragen werden. »Ich bin ein alter Mann,«
sprach er, »und stehe nun am Rande des Grabes, nachdem ich so
viele Jahre dem Lande diente. Unbekümmert um die Entrüstung,
die meine versöhnlichen Rathschläge hervorrufen mögen, oder die
Strafe, die mich vielleicht noch für meine Bemühungen um den
Vertrag ereilen wird, will ich mit dem letzten Athemzuge um Frie-
den für mein Vaterland bitten und damit meine Lauf bahn be-
schliessen. Der Tod wird mich von dem bösen Leumund befreien,
den dieser Schritt mir bereiten mag; mit der Zeit wird die heilsame
und nothwendige That selbst für mich reden.« — Ki-yiṅ war der
Frieden das unvermeidliche Ergebniss der waltenden Umstände.
Für ihn handelte es sich um Rettung der Dynastie; unüberwindlich
scheinende Schwierigkeiten schnitt er bei den Verhandlungen mit der
Betrachtung ab: wenn wir nicht Frieden machen, so ist Alles ver-
loren. »Ich war ein vertrauter Freund Ki-šen’s,« sagte er nach Unter-
zeichnung des Vertrages zu Gützlaff: »wir hegten durchaus dieselben
Ansichten; ich ging weiter als er jemals gewagt oder gekonnt hätte;
aber die Lage forderte es und ich habe meine Pflicht gethan.«
Gnu-Ta-džen bequemte sich nur mit heftigem Widerstreben der
Noth; am meisten verdross ihn die im Vertrage stipulirte Gleich-
stellung der Barbarenstaaten mit China. In mürrischem Schwei-
gen wohnte er den Verhandlungen bei, und redete nur, wenn er
musste. In keine rosige Zukunft mochte er blicken, denn als
einer der heftigsten Vertreter der Kriegsparthei hatte er durch seine
grossmäuligen Berichte viel dazu beigetragen, dass es zum Aeusser-
sten kam.


Sir Henry Pottinger verkündete seinen Landsleuten den
wesentlichen Inhalt des Friedensvertrages am Tage der Unterzeich-
nung: »China hat im Laufe dieses und der drei folgenden Jahre
einundzwanzig Millionen Dollars an England zu zahlen. Die Häfen
Kan-ton, A-moi, Fu-tšau, Niṅ-po und Shang-hae sind dem Han-
del aller Nationen geöffnet; dort werden Consuln zugelassen, welche
über die Einhaltung des später festzustellenden Tarifes der Ein- und
Ausfuhr- sowie der Binnen-Zölle zu wachen haben. Die Insel
Hong-kong ist für ewige Zeiten der Krone England abgetreten.
[129]Abfahrt der englischen Flotte.
Alle gefangenen britischen Unterthanen sollen ausgeliefert, und eine
vom Kaiser unterzeichnete Bekanntmachung erlassen werden, worin
den Chinesen im Dienste der Engländer, und solchen die mit ihnen
in Verbindung gestanden oder unter ihrem Schutze gelebt haben,
volle Verzeihung gelobt und unverbrüchlich gehalten wird. Die
Verhandlungen zwischen Beamten der beiden Staaten, England und
China, müssen künftig auf dem Fusse vollkommener Gleichstellung
und Ebenbürtigkeit gepflogen werden.«


Unmittelbar nach Unterzeichnung des Vertrages ward die
Flusssperre aufgehoben und der Handel eröffnet. Die Flotte blieb
aber noch im Yaṅ-tse, bis am 15. September das ratificirte Frie-
dens-Instrument aus Pe-kiṅ zurückkam und die ersten sechs Mil-
lionen der Kriegsentschädigung gezahlt waren. Dann wurde auch
Tšin-hae herausgegeben. Tšu-san und die vor A-moi gelegene
Insel Ku-laṅ-su sollten bis zur gänzlichen Tilgung der Kriegs-
schuld von den Engländern besetzt bleiben. — In der amtlichen
Zeitung von Pe-kiṅ machte die kaiserliche Regierung die wesent-
lichsten Vertragsbestimmungen bekannt: »sie sind klar und deutlich
abgefasst,« heisst es am Schluss; »selbst die geringsten Einzeln-
heiten fanden Beachtung, so dass für die Zukunft keine Schwierig-
keiten mehr obwalten.«


Gegen Ende October verliess das ganze englische Geschwader
das Mündungsgebiet des Yaṅ-tse und segelte nach Hong-kong.


III. 9
[[130]]

III.
DIE ZUSTÄNDE NACH DEM FRIEDEN VON NAN-KIṄ
.
BIS 1849.


Als Tau-kwaṅ den Frieden von Nan-kiṅ genehmigte, ent-
leibte sich sein vornehmster Minister. Die Yu-se oder Censoren
— Staatsdiener vom höchsten Range, deren Amt die Kritik der
öffentlichen Handlungen bedingt — tadelten den Kaiser wegen ver-
derblicher Nachsicht gegen unfähige und treulose Räthe. Durch
das ganze Reich ging ein Schrei der Entrüstung. Abseits vom
Schauplatz des Krieges ahnte ja Niemand die Ueberlegenheit der
englischen Waffen; man begriff nicht die Möglichkeit, dass das un-
ermessliche Reich der Mitte, dessen Weltherrschaft durch Jahr-
tausende währte, von einem Häuflein Barbaren, wilden Inselbewoh-
nern von der fernsten Grenze des Oceans bezwungen werden könne,
dass Fremde den strahlenden Himmelssohn beschränkten. Am
Kaiserhofe gingen viele Denkschriften namhafter Männer aus der
Classe der Studirten ein, welche, wie die folgende, den Bruch des
Vertrages forderten.


»Tsuṅ-tsuṅ-yuen überreicht eine Denkschrift, worin die Auf-
stellung eines Heeres vorgeschlagen wird, um die Barbaren mit dem
Zorn des Himmels heimzusuchen und diese Gelegenheit zu ihrer Aus-
rottung nicht ungenutzt zu lassen.


Die Barbaren sind bis Nan-kiṅ vorgedrungen, und die Bevoll-
mächtigten haben unter dem Druck der Gefahren die Erlaubniss nach-
gesucht, Frieden schliessen zu dürfen, was der grosse Kaiser aus
Mitleid für das Leben seiner Unterthanen in seiner allumfassenden
Güte ihnen im Drange der Umstände gestattete.


Sollte das nun zur Ausführung kommen, so entspringen daraus
unfehlbar vier Uebel: 1) die Majestät des Reiches wird verletzt; 2) die
Pulsader des Staates wird durchschnitten; 3) Rebellen werden das
Haupt erheben; 4) die Völker an den Grenzen und fremde Staaten

[131]Denkschrift an den Kaiser.
werden Störungen bereiten. — Besser wäre deshalb, bei dieser Gelegen-
heit einen Sieg zu erringen, als die Schmach hinunter zu würgen und,
um Frieden zu haben, so viel bleibendes Unheil zu stiften.


1. Die Commissare behaupten, dass die Barbaren in ihren mör-
derischen Anschlägen noch niemals von einem Heere bezwungen wur-
den, obgleich wiederholt erhebliche Streitkräfte gegen sie ausrückten.
Wird nicht das an Yu-yu-pun
57)vollzogene Exempel andere Führer
zu besserem Betragen leiten? An den Ufern des Yaṅ-tse zog das
Heer sich zurück; der grosse Canal ist im Besitze des Feindes; die
Commissare wagen sogar zu berichten, dass Nan-kiṅ nicht zu halten
ist. Statt Furcht und Schrecken einzuflössen, sind sie selbst ganz in
Angst und Zittern versunken und verpflichten sich den Engländern
über zwanzig Millionen zu zahlen! Sie fordern ferner, dass die von
ihnen abgeschlossene Convention mit dem kaiserlichen Siegel versehen
werde, ganz wie wenn ein Schuldner eine Verschreibung ausstellt oder
ein Verkäufer einen Kaufact aufnimmt. Bedenken diese Männer wohl,
welchem Hause sie dienen? und werden nicht Tributvölker, die
davon hören, mit Verachtung auf China herabschauen? — Das ist der
Schaden, den des Reiches Majestät erleidet.


2. Die Commissare verlangen für diese Barbaren zwanzig Mil-
lionen Dollars, als Entschädigung für das Opium, für Schulden der
Hoṅ-Kaufleute und für Kriegskosten. Aber ist es nicht Unrecht, einen
verbotenen Gegenstand zu bezahlen? — um so mehr, da der am zer-
störten Safte erlittene Verlust schon durch ein Geschenk von Thee und
Rhabarber ersetzt wurde? Wie kann nun ein so ausschweifender Preis
verlangt werden? — Für die Schulden der Hoṅ-Kaufleute mögen
diese selbst aufkommen; aber wie wird man einem Feinde Kriegskosten
vergüten? Kann man ertragen, dass solche Summen aus den beschränk-
ten Mitteln unseres Schatzes, vom Fett und Mark unseres Volkes ge-
nommen werden? Welche Bürgschaft haben wir, dass die Engländer
in Zukunft ruhig bleiben und ihre Forderungen nicht steigern? Wenn
also doch am Ende der Vertrag gebrochen und der Krieg erklärt wer-
den muss, — welchen Vortheil kann dieser Frieden dem Volke bringen,
wenn, neben den enormen Ausgaben für den dreijährigen Krieg, diese
Contributionen unsere bereiten Mittel gänzlich erschöpfen? — Des-
halb wird mit Genehmigung dieses Vertrages die Pulsader des Staates
zerschnitten.


3. Die Commissare fordern Verzeihung für die treulosen Landes-
kinder, welche dem Feinde beistanden. Haben wir auch nichts da-

9*
[132]Denkschrift an den Kaiser.
gegen, ihre Gefangenen freizugeben, so ist es doch die Höhe des Un-
verstandes, die Nichtswürdigen zu begnadigen, welche ihnen vorwärts
geholfen haben, — abscheuliche Schurken, deren Fleisch das Volk ver-
schlingen, auf deren Fell es schlafen möchte, deren Verbrechen laut
nach Rache schreien! Wird das Volk nicht den Gehorsam gegen das
Gesetz verlernen? — wird es nicht der Obrigkeit widerstreben? —
wird dieses Beispiel nicht die Quelle künftigen Aufruhrs werden?


4. Die Commissare bemerken, dass wir durch kriegerische
Maassregeln niemals etwas ausrichten können, deshalb den Umstän-
den weichen und dem Krieg auf immer ein Ziel setzen müssen. Aber
bezweckt diese Sprache nicht uns zu hintergehen? Erhielten nicht die
Barbaren in Kan-ton sechs Millionen für ihr Opium und überfielen
sie nicht trotz dem Versprechen, ihre Truppen zurückzuziehen, noch
ehe die Dinte jener Convention trocknete, unser Land, und schlossen
Nan-kiṅ ein? Und würden sie jetzt nicht noch andere Forderungen
stellen, sobald die stipulirten Summen bezahlt wären? Schifften sie
nicht mitten unter den Friedens-Verhandlungen Truppen aus? Welche
Bürgschaft haben also die Commissare, dass nicht weitere Erörterungen
folgen?


Der Ausspruch der Commissare, dass die Freigebung der
fünf Häfen uns die Gunst, den guten Willen und das Vertrauen der
Engländer erwerben wird, dass sie jene Häfen schützen und uns da-
durch grosse Dienste leisten werden, ist eitel Geschwätz von Träu-
mern. Ein Kind sieht ein, dass sie nach Willkür herrschen und uns
ihren Willen dictiren werden, wenn wir ihnen die wichtigsten Punkte
einräumen und sie zu Thorwächtern des Reiches machen.


Die Bevollmächtigten wollen ohne Rücksicht auf die Zukunft nur
für den Augenblick Ruhe schaffen. Aber auch das werden sie nicht
erreichen; denn wo soll es enden, wenn ihre jetzt gestellten maasslosen
Forderungen als Beispiel für die Zukunft dastehen? Immer mehr wird
der Feind erdreisten, mit der tiefsten Verachtung wird er das Reich
der Mitte ansehen, und seine unersättliche Gier wird keine Grenzen
kennen.


Dein Diener erklärt dir nun aufs eindringlichste, dass, obgleich
die Stadt Nan-kiṅ Alles birgt, was ihm theuer ist, er lieber eine Ent-
scheidungsschlacht an dieser Stelle geschlagen und das Leben seiner
Familie gefährdet sehen möchte, als dass solche Vorschläge angenom-
men würden. Ist auch die südliche Einfahrt des Kaiser-Canals in der
Gewalt des Feindes, so halten wir doch noch die nördliche bei Yaṅ-
tšau-fu
besetzt. Wir können ein grosses Heer unter Befehl eines
hohen Staatsbeamten senden, die Contingente aus Kiaṅ-su und Gan-

[133]Finanznoth. Zustände in Kan-ton.
wui an uns ziehen, Nan-kiṅ entsetzen und den Feind von allen Sei-
ten umzingeln. Der Herbst naht heran, das Wasser muss bald fallen;
dann stranden ihre schweren Schiffe, dann werden die Schwachen
stark sein. Vergessen wir nicht, dass die Taṅ- und die Suṅ-Dynastie
durch Vergleiche Unheil über sich brachten. Der grosse Kaiser wird
in seiner Einsicht, Weisheit und Entschlossenheit den Irrthum einsehen
und diese Gelegenheit ergreifen, sein Land aus Gefahr zu retten.«


Aber die Noth war zwingend, es gab keinen Ausweg. Der
Frieden musste geschlossen und gehalten werden; denn durch
die aus den Provinzen einlaufenden Berichte wurden allmälich die
ungeheueren Ausgaben des Krieges bekannt. Wanderte auch der
grösste Theil in die Taschen der Mandarinen, für den Staat war
das Geld verloren. Der sparsame Tau-kwaṅ befahl in maasslosem
Zorn den verantwortlichen Beamten, Alles zu ersetzen, und ordnete
Untersuchungen an; viele der Schuldigen entleibten sich, einige
wanderten in die Verbannung, andere harrten im Kerker des
Richterspruches; aber nicht der zwanzigste Theil des Geraubten
kam wieder ein. Von Kan-ton bis Pe-kiṅ waren im ganzen Reiche
die Kassen leer, und das lauteste Kriegsgeschrei musste verstummen
vor dem Bewusstsein der finanziellen Erschöpfung.


In Kan-ton hatte die Erbitterung sich keineswegs gelegt.
Nachdem 1841 das britische Geschwader aus dem Flusse zurück-
gezogen und die Festungen an der Mündung ausgeliefert waren,
sandten die Volksführer einen ruhmredigen Bericht nach Pe-kiṅ,
wurden vom Kaiser gelobt und zu Befehdung der Barbaren
angespornt. Bombastische Maueranschläge erschienen zu Hunderten.
Das Volk bildete Vereine, in deren Versammlungen politische
Reden gehalten und Maassregeln gegen die Fremden erörtert
wurden. Diese Clubs emancipirten sich von der Obrigkeit und
erwuchsen zu einer Gewalt, welche den Mandarinen offen trotzte;
vermochten sie doch den verhassten Präfecten Yu aus dem Amte
zu treiben! Die Behörden mussten sich um die Gunst der Volks-
führer bewerben und fürchteten deren Macht; sie benutzten die
Bewegung für ihre Zwecke, mussten aber ruhig zusehen, wo sie
ihnen entgegentrat, und waren unfähig, der Gewaltsamkeit des
grossen Haufens zu steuern, die Frevler zu strafen.


Als zu Kan-ton die Nachricht vom Friedensschluss eintraf,
gerieth das Volk in wilde Erregung. In allen Strassen erschienen
Placate voll Schmähungen gegen den Vertrag, voll Geschrei über
[134]Verbrennung der englischen Factorei.
Landesverrath: die Engländer wollten das Gebiet von Kan-ton
nehmen, die Stadt besetzen; das sei nicht zu dulden. — Im Decem-
1842.ber 1842, also wenige Monate nach dem Friedensschluss, zog ein
Pöbelhaufen nach der englischen Factorei und steckte sie an allen
Ecken an; schallender Volksjubel begrüsste das Zusammenstürzen
des Flaggenmastes. Die politische Bedeutung dieser That gab sich
auch darin kund, dass die Volksmänner der Plünderung wehrten.
— Die Bewohner retteten sich, doch alle Gebäude verbrannten. Im
Bericht an den Kaiser sagte der Gouverneur, die Bevölkerung habe
in gerechter Entrüstung einige Excesse gegen die Barbaren begangen.
Die Regierung zahlte ohne Umstände eine Geldbusse für den an-
gerichteten Schaden, aber die Thäter blieben straflos; der grosse
Haufen bestärkte sich im Wahn seiner Macht.


In früheren Jahren hatte die Mandschu-Regierung dem Volke
niemals Waffen erlaubt; während des Krieges waren aber in Kan-
ton
und der Umgegend viele vertheilt und nachher nicht wieder
abgeliefert worden. Mit diesen exercierten die Kantonesen unter
selbstgewählten Führern — nicht, wie die Milizen, unter kaiser-
lichen Officieren — und bildeten sich selbstständig zu Soldaten aus.
Gleich nach dem Brande der Factorei kam von den umliegen-
den Dorfschaften das Erbieten, sich den bewaffneten Vereinen an-
zuschliessen. Auf den Bericht darüber antwortete der Kaiser sehr
gnädig; die Mandarinen förderten die Bewaffnung und Einübung der
Landbewohner; auch entferntere Bezirke traten in den Verband.
Der Vice-Gouverneur inspicirte bald darauf die nach Zehntausenden
zählenden Schaaren und berichtete dem Kaiser: bei so vollkom-
mener Wehrhaftigkeit sei künftig nichts zu fürchten. Die Namen
der Führer wurden in Pe-kiṅ genannt, und sechszigtausend Dollars
zur Vertheilung angewiesen. Die Häupter der Bewegung erhöhten
den Werth ihrer Dienste durch Geldsammlungen für den Bau von
Festungswerken, und erweckten im Volke eine Freude am Waffen-
handwerk, ein männliches Bewusstsein der eigenen Kraft und
Selbstständigkeit, welche einer despotischen Regierung auf die Länge
Gefahr bringen konnten. — Der Central-Verein tagte in Kan-ton
und hielt seine Versammlungen in einer zum Confucius-Tempel ge-
hörigen Halle, wo die Berichte der Zweigvereine vorgetragen und
alle wichtigen Schritte beschlossen wurden. Die Volksmänner schal-
teten mit schrankenloser Willkür, brannten die Amtsgebäude ver-
hasster Mandarinen nieder und liessen unredliche Polizei-Beamten
[135]Der französische und der americanische Vertrag.
öffentlich hinrichten. In der Folge führten diese Selbstregierung
und der Fremdenhass anarchische Zustände herbei, die gewaltsam
unterdrückt werden mussten.


Im Sommer 1843 kamen die Handelsbestimmungen und der
Zoll-Tarif zum Vertrage von Nan-kiṅ zu Stande, und am 8. October
wurde ein Additional-Vertrag unterzeichnet, nach welchem in Zu-
kunft alle civilisirten Völker des Westens unter denselben Be-
dingungen wie die Engländer zum Handel in den fünf geöffneten
Häfen berechtigt sein,58) die Engländer aber alle Rechte, welche
jemals einem anderen Volke zugestanden würden, ohne weiteres
ebenfalls geniessen sollten. Dieser Artikel der »meistbegünstigten
Nation«, durch welchen die Verträge der westlichen Völker mit China1844.
eine gewisse Solidarität erhalten, ging in alle später abgeschlossenen,
zunächst in diejenigen von America und Frankreich über, welche,
im Sommer 1844 in Macao verhandelt, ersterer am 3. Juli, letzterer
am 24. October unterzeichnet wurden. Beide enthielten die wesent-
lichen Bestimmungen des Vertrages von Nan-kiṅ. Neu waren im
americanischen Vertrage einige Erleichterungen für den Schiffsver-
kehr und die Bestimmung, dass die Fremden chinesische Unter-
thanen als Sprachlehrer annehmen und nach Gefallen chinesische
Bücher kaufen dürften, — worauf früher harte Strafen standen.
Der französische Vertrag enthielt das neue Zugeständniss, dass jedes
Kriegsschiff in alle chinesischen Häfen einlaufen und sich mit
Lebensmitteln versehen dürfe. In beiden Verträgen wurde die Be-
stimmung getroffen, dass sie mit den Tarifen nach zwölf Jahren
einer Revision unterliegen sollten. Die Gültigkeit dieses Artikels
auch für den englischen Vertrag erkannten die Chinesen mit der
ausdrücklichen Erklärung an, dass dessen Dauer über diesen Zeit-
raum hinaus dadurch nicht angefochten würde; die contrahirenden
Mächte sollten nach Ablauf jener Frist nur Bevollmächtigte ernen-
nen, welche sich über das Bedürfniss von Neuerungen verständigten.
[136]Hindernisse des Handels.
Kleine Aenderungen bewirkten die Aufseher des Handels schon in
den nächsten Jahren. — Das Schreiben des americanischen Prä-
sidenten Tyler an den Kaiser von China,59) welches der Gesandte
Caleb Cushing seiner Instruction gemäss in Pe-kiṅ überreichen
sollte, war schlecht geeignet für den Himmelssohn; die Erlaub-
niss zur Reise nach der Hauptstadt wurde kategorisch verweigert.
Bei Ratification des americanischen Vertrages entdeckte man, dass
der Bericht des Staatsrathes darüber in zwei verschiedenen Aus-
gaben gedruckt wurde: in der für die Chinesen bestimmten hiessen
die Fremden überall Barbaren, in der zweiten war der anstössige
Ausdruck durch einen milderen ersetzt. — Der französische Bevoll-
mächtigte, Herr von Lagrené, erreichte nach langen Kämpfen,
dass sein König im Vertrags-Instrument dieselben Hoheits-
Titel erhielt, wie der Kaiser von China.60) Den chinesischen Katho-
liken erlaubte Tau-kwaṅ nur durch ein nach seinem Willen wider-
rufliches Edict freie Religionsübung; im Vertrage erhielten sie nur
die französischen Unterthanen.


Neben den nur die Engländer betreffenden Schwierigkeiten
waren besonders folgende Umstände der Entwickelung des Handels-
verkehrs hinderlich gewesen:


  • 1) Die Beschränkung des Handels auf Kan-ton; die Lage
    dieses Hafens am südlichsten Ende des Reiches, in grösster Ent-
    fernung von der Hauptstadt und den die wichtigsten Ausfuhr-
    artikel erzeugenden Landschaften, von denen zugleich der stärkste
    Verbrauch der Einfuhr zu erwarten war.
  • 2) Das der kleinen Gesellschaft der Hoṅ-Kaufleute ertheilte
    Handelsprivilegium und die Beaufsichtigung der Fremden durch
    diese Monopolisten, welche wie eine Mauer zwischen Jenen und
    der Obrigkeit des Landes standen.
  • 3) Die Höhe der Abgaben, die drückende Art ihrer Erhebung
    und die fiscalischen Bestimmungen, welchen der Handelsverkehr
    unterworfen war.
  • 4) Die Anmaassung der Jurisdiction über die Fremden und
    die willkürliche Handhabung der chinesischen Gesetze, besonders
    in Fällen des Todtschlages.
[137]Inhalt der ersten Verträge.
  • 5) Die erniedrigenden Formen, welche die chinesische Re-
    gierung im Verkehr mit den westlichen Völkern anwendete, und die
    angemaasste Ueberhebung der Mandarinen in ihren amtlichen Mit-
    theilungen an die Vertreter der fremden Staaten.

Diese Hauptübel sollten die wesentlichen Bestimmungen der
ersten Verträge beseitigen.


  • 1) Unterthanen der fremden Mächte sollten »ohne Belästigung
    oder Beschränkung« in Kan-ton, A-moi, Fu-tšau, Niṅ-po,
    Shang-hae
    wohnen und Handel treiben.
  • 2) Der Kaiser von China willigte in die Aufhebung des
    Monopoles der Hoṅ-Kaufleute und erlaubte den Fremden in
    allen fünf Häfen Handelsverbindungen anzuknüpfen mit wem
    sie wollten.
  • 3) Er willigte in die Aufstellung und Veröffentlichung eines
    festen und billigen Tarifes für die Ein- und Ausfuhrzölle.
  • 4) Die fremden Unterthanen sollten unter der Gerichtsbar-
    keit der Consularbeamten und Bevollmächtigten ihres Heimathlandes
    stehen und nach dessen Gesetzen behandelt werden.
  • 5) Die Vertreter der fremden Staaten sollten mit den chine-
    sischen Behörden sowohl der Hauptstadt als der Provinzen auf dem
    Fusse völliger Gleichstellung verkehren.

Das war der wesentliche Inhalt der ersten durch die Gewalt
der englischen Waffen erzwungenen Verträge, deren Ausführung
gegen den Willen der Chinesen grosse Schwierigkeiten gemacht
hätte. Der alte Kaiser wusste aber, dass er einem neuen Kampfe
nicht gewachsen sei, und fügte sich, so weit nothwendig, den Um-
ständen mit staatsmännischer Weisheit. Wirkliche Verletzungen,
ein Bruch der Verträge, kamen unter ihm nicht vor, wenn auch
vielfache Versuche der Umgehung von ihm gebilligt und fremden-
feindliche Beamten mit besonderer Gunst behandelt wurden. Sein
ernstes Streben nach Erhaltung des Friedens bewies Tau-kwaṅ
durch Ernennung zuerst des I-li-pu, dann des Ki-yiṅ zu bevoll-
mächtigten Commissaren für den fremden Handelsverkehr. Ki-yiṅ
traf, zugleich als General-Gouverneur von Kuaṅ-tuṅ und Kuaṅ-si,
im Mai 1844 zu Kan-ton ein. Um dieselbe Zeit kam Sir John1844.
F. Davis als englischer Bevollmächtigter zu Ablösung des Sir
Henry Pottinger nach Hong-kong, welcher bald darauf nach Eng-
land
ging. Dem gemässigten Auftreten jenes mit den chinesischen
Verhältnissen innig vertrauten Staatsmannes dankte man, dass die
[138]Ki-yiṅ’s Charakter und Auftreten.
Verträge Kraft gewannen und der Handel eine Reihe von Jahren
ohne Störung blühte.


Ki-yiṅ, welcher den verhassten Frieden schloss und jetzt
zu dessen Aufrechthaltung berufen war, hatte der Bevölkerung von
Kan-ton gegenüber eine schwierige Stellung. Davis nennt ihn
den schätzbarsten Charakter, mit welchem Vertreter westlicher
Staaten in China jemals in Berührung kamen, und schreibt seine
seltenen Umgehungen der Verträge weit mehr zwingenden Umstän-
den als seiner Gesinnung zu. Die Liebenswürdigkeit und einfache
Würde seines Charakters zeigten sich damals bei jeder Gelegenheit
und erleichterten wesentlich den Verkehr; besonders freundlich
gestalteten sich die Beziehungen, nachdem Ki-yiṅ im November
1845 Hong-kong besucht hatte. Mit Staunen betrachtete er dort
die stattlichen Bauten und Kunststrassen, die grossartigen Werfte
und Maschinen der Engländer. Er dankte Davis in warmen Aus-
drücken für den freundlichen, ehrenvollen Empfang und sprach
brieflich die Hoffnung aus auf »ewige Freundschaft zwischen den
beiden Völkern, welche gleichmässigen Antheil haben sollten an
den Segnungen des Friedenswerkes«. Seinem klaren Verstande
konnte die Bedeutung der Cultur des Westens, ihrer sittlichen und
materiellen Kraft nicht entgehen; und wenn er sich in seinen Be-
richten an den Hof61) herabwürdigend über die Fremden äusserte,
so mochte dem Kaiser gegenüber, der von seinen Vorurtheilen
kaum geheilt sein konnte und nur so weit er musste dem Zwange
wich, solche Sprache erfordert werden. Auch sein zweideutiges
Auftreten beim Friedensschluss zu Tien-tsin 1858, welches zu
seinem tragischen Ende führte, mag durch die Unmöglichkeit
seiner Aufgabe und den bösen Ruf veranlasst worden zu sein, den
er als Freund der Fremden am Hofe des Hien-fuṅ genoss.62)


[139]Auslegung der Verträge.

Die Auslegung der Verträge musste auch bei redlichem
Wollen Schwierigkeiten machen. Die Chinesen hielten sich, der
fremden Sprachen unkundig, an ihren eigenen Text; Uebersetzun-
gen sind aber um so ungenauer, als die Begriffe und Anschauun-
gen des Volkes, in dessen Sprache übersetzt wird, von denen
des anderen abweichen. Davis pflog mit Ki-yiṅ über viele wesent-
liche Punkte Erörterungen, in welchen der Chinese meist nach
gelindem Widerstande nachgab. So wollte letzterer anfangs die
Gleichstellung der englischen mit den chinesischen Beamten auf
den schriftlichen Verkehr beschränken, drang aber nicht damit
durch. Auch die alte Monopolisirung des Handels durch die
Hoṅ-Kaufleute hätte er gern wieder eingeführt. Diese schuldeten
dem Kaiser noch die im Lösegelde für Kan-ton vorgeschossenen
drei Millionen Dollars, welche bei Fortdauer des Monopoles leicht
ersetzt werden konnten. Ki-yiṅ wollte nun statt der früheren
geringen Anzahl hundert Hoṅ-Kaufleute ernennen und schützte
Besorgniss vor, dass bei gänzlicher Freigebung keine Aufsicht über
die chinesischen Händler möglich sei, und dass die Fremden durch
deren Unredlichkeit Verluste erleiden möchten. Davis urgirte da-
gegen den Wortlaut des Vertrages, worauf Ki-yiṅ seinen Vorschlag
zurückzog.


Sir John Davis zeigte bei jeder Gelegenheit, dass er nicht
nur zum Schutze der englischen Unterthanen, sondern, wo sie
die Eingebornen beschädigten, auch zu ihrer Bestrafung ver-
bunden sei; und Ki-yiṅ liess sich, so schwierig seine Stellung
gegen die von blindem Hass gegen die Engländer erfüllte Bevölke-
rung war und so sehr strenge Maassregeln deren Erbitterung gegen
ihn steigerten, niemals antreiben, wo es sich um Ahndung von
Vergehen seiner Landsleute gegen Engländer handelte. Sein sum-
marisches Verfahren gegen einige Chinesen, welche in Hong-
kong
einen Raub verübt und ihre Beute nach dem Festlande ge-
schleppt hatten, schreckte für alle Zukunft von solchen Versuchen
ab. Den englischen Behörden machten ihre eigenen Landsleute die
grösste Noth; die »Pioneers of civilisation«, welche sich in den
62)
[140]Ausführung der Verträge.
neu geöffneten Häfen ansiedelten, gehörten nicht alle zur ehren-
haften Classe der Kaufleute. Viele machten ein Gewerbe daraus,
sich beschimpfen oder schädigen zu lassen, um dann eine grosse
Kostenrechnung »für erlittenes Ungemach« oder »vereitelte Aussichten
auf Handelsgewinn« aufzustellen. Solches Mühen fand bei Davis
[wenig] Förderung.


Ki-yiṅ hielt sich ängstlich an den Wortlaut der Verträge,
was zu sonderbaren Irrungen führte. So kam 1846 ein englischer
Handelsdampfer nach Kan-ton; der Zolldirector verweigerte
aber die Erlaubniss zum Laden, »weil Dampfer im Vertrage nicht
als Handelsschiffe genannt seien«. Ki-yiṅ schloss sich dieser Auf-
fassung an und wies auf die Gefahr hin, welche die Frequenz der
Dampfer im belebten Strome verursachen müsse; es kostete einen
langen Schriftwechsel, ihn über den Irrthum aufzuklären. Bei
dieser Gelegenheit kam auch das Recht der Kriegsschiffe zur
Sprache, alle chinesischen Häfen anzulaufen. — Ziemlich fruchtlos
waren die Bestrebungen der Engländer, die Ausführung der im
Frieden von Nan-kiṅ versprochenen Amnestie durchzusetzen. Der
Kaiser begünstigte stillschweigend die harten Maassregeln seiner
Beamten gegen alle Chinesen, welche den Barbaren gedient hatten;
sie lebten unter polizeilicher Aufsicht und wurden bei der gering-
fügigsten Anklage mit schweren Strafen heimgesucht. Viele ver-
schwanden in den geöffneten Häfen unter den Augen der Englän-
der; von einigen weiss man, dass sie gefoltert und zu Tode ge-
prügelt wurden; die Verwendung der Consuln rettete wenige. Die
grausamen Mandarinen wurden, auch wo die auf Antrag der Eng-
länder eingeleitete Untersuchung ihre Schuld klar zu Tage brachte,
vom Kaiser nur scheinbar gelinde bestraft, nachher aber durch
schnelle Beförderung für ihre Treue belohnt.


Grosse Schwierigkeit machte die Behandlung der Opium-
frage. Der Schleichhandel damit wurde in ungeheuerer Ausdehnung
betrieben, die angesehensten englischen Häuser waren daran
betheiligt. Natürlich wussten die Behörden davon und konnten
dem Treiben nicht wehren, widersetzten sich aber allen Vor-
schlägen zu seiner Legalisirung. Ki-yiṅ erklärte dem englischen
Bevollmächtigten gleich nach seiner Ankunft in Kan-ton 1844 in
einer amtlichen Note, dass die Regierung den Opiumhandel still-
schweigend dulden und keine weiteren Verbote dagegen erlassen
werde. Wenn ein Consul dem Vertrage gemäss Opiumschiffe an-
[141]Der Opiumhandel.
zeigte, so wiesen die Mandarinen ihn ab. Das Gift wurde auf allen
Gassen von Kan-ton öffentlich feil geboten wie jeder andere
Artikel; im Perl-Fluss war der Handel systematisch organisirt
unter dem Schutz der chinesischen Unterbeamten, welche, durch
die Aufstellung fester Tarife für den gesetzlichen Handel reichen
Gewinnes beraubt, sich jetzt am Opium schadlos hielten. Nur
die formelle Legalisirung fehlte. Umsonst stellte Sir John Davis
den Chinesen vor, dass bei Besteuerung des Artikels der Re-
gierung ein reiches Einkommen zufliessen und zugleich die Con-
sumtion abnehmen möchte; Ki-yiṅ glaubte, dass der Schleich-
handel trotz der Legalisirung fortbestehen und die Zolleinnahme
nicht wachsen würde. Er wagte dem Kaiser auch wohl deshalb
keine Vorschläge zu machen, weil chinesische Beamte für den
Erfolg ihrer Maassregeln mit dem Kopfe verantwortlich sind,
und weil Tau-kwaṅ durch seine fulminanten Edicte sich selbst
den Rückzug verschlossen hatte. Offen wenigstens durfte die
Regierung nicht nachgeben; und wenn man auch in den geöffneten
Häfen von ihrer Connivenz wusste, so berührte das des Kaisers
Würde vor dem unermesslichen Reich nicht so wesentlich als
eine offene Legalisirung. Der Himmelssohn wahrte das sittliche
Princip.


In Folge des Opiumhandels wurden nun auch alle anderen
Import-Artikel geschmuggelt. 1845 gedieh das Unwesen bei1845.
Wam-poa zu solcher Höhe, dass Sir John Davis und Ki-yiṅ
scharfe Maassregeln ergriffen; alle Schmuggelschiffe wurden
damals aus dem Perl-Flusse entfernt. Der erlaubte Handel
konnte diese Concurrenz um so weniger tragen, als die hoch-
gespannten Erwartungen der fremden Kaufleute von den Folgen
der Verträge sich keineswegs erfüllten. Die hohen Zölle auf Thee
und Seide in England drückten noch immer die Ausfuhr; die Ein-
fuhr fand wenig Absatz. Der Opiumhandel verschlang den
grössten Theil des Capitals; englische Manufacturen brachen sich
nur langsam Bahn. Anfangs kauften die Chinesen neben indischen
Artikeln fast nur Rohstoffe, die sie selbst verarbeiten konnten, in
erheblicher Menge, und an verarbeiteter Baumwolle nur ungefärbte
Stoffe, um sie nach eigenem Geschmack zurecht zu machen.


Auch der Handel in den neu geöffneten Häfen blieb weit unter
den darauf gesetzten Hoffnungen der Kaufleute, besonders in A-moi
und Fu-tšau, wo der fanatische Statthalter von Fu-kian den
[142]Die neuen Häfen.
Fremden sogar das vertragsmässige Recht des Eintritts in die chine-
sischen Städte abschnitt. Sir John Davis setzte erst nach langen
Kämpfen durch, dass die englischen Consuln dort innerhalb der
Mauern wohnen durften. — Es fehlte an Capital und kaufmännischem
Trieb. Zudem war die Schiffahrt auf dem nach Fu-tšau hinauf-
führenden Fluss so gefährlich, dass die Engländer ernstlich daran
dachten, diesen Hafen aufzugeben und dafür die Freigebung eines
anderen zu verlangen. Erst nach einer Reihe von Jahren gestalteten
die Verhältnisse sich günstiger. Selbst in Niṅ-po blühte der
Handel trotz dem freundlichen Entgegenkommen der Bewohner nur
langsam auf. Shang-hae allein nahm raschen Aufschwung, wozu
die Mitwirkung der Behörden beitrug, welche dort die Unterneh-
mungen der Fremden kräftig förderten. In allen anderen Häfen
suchten die Mandarinen den Verkehr zu drücken und in seinen
alten Weg nach Kan-ton zurückzuleiten. Man erfuhr sogar, dass
die Behörden im Innern des Landes den Waarentransport nach
neuen Häfen hinderten; der Kaiser wollte die auf der langen
Reise nach Kan-ton namentlich vom Thee in jedem Bezirk er-
hobenen Durchgangszölle nicht missen; so entging den Fremden
ein Hauptvortheil der Freigebung jener Plätze. Die chinesische
Obrigkeit versuchte trotz der in den Verträgen deutlich ausge-
sprochenen Befreiung des Handels von jedem Monopol auch wieder-
holt, einzelne Kaufleute durch Privilegien für diesen oder jenen
Artikel zu begünstigen, und belastete die Einfuhr in das Innere
mit schweren Abgaben. Die Beseitigung dieser Uebelstände kostete
langen Kampf.


Nur die gebietende Stellung der Engländer in Hong-kong
konnte überhaupt den Verträgen Geltung schaffen. Dort blühte in
wenig Jahren die Stadt Victoria auf und wurde der Centralpunkt
des englischen Handels in China. Wenn sich auch das Waaren-
geschäft in den geöffneten Häfen abwickelte, so hatten doch alle
angesehenen Häuser ihren Hauptsitz in der Colonie und leiteten
von da aus die Operationen ihrer Filiale. Die Insel ist als Flotten-
station durch ihre sichere Rhede unschätzbar. Viele Tausend be-
triebsame Chinesen siedelten sich bald unter dem Schutze der
Colonial-Behörden dort an, in voller Sicherheit vor Erpressungen
der Mandarinen. Diese machten einige zaghafte Versuche, dort,
wie in Macao, Steuern zu erheben und Jurisdiction zu üben, wurden
aber derb zurückgewiesen. Die grossbritannische Regierung be-
[143]Hong-kong und Tšu-san.
trachtete Hong-kong als ihr Eigenthum durch Eroberung; im
Friedensvertrage war die Insel auf ewige Zeiten abgetreten, »unter
solchen Gesetzen und Verordnungen regiert zu werden, als Ihre
Majestät geruhen würden zu befehlen«. Dieses Hoheitsrecht musste
illusorisch werden, sobald chinesische Beamten dort walteten.


Oft ist die Frage erörtert worden, ob nicht der Besitz der
Tšu-san-Gruppe dem von Hong-kong vorzuziehen wäre. Während
Herr von Lagrené den französischen Vertrag negocirte, ging das
Gerücht, dass Frankreich sich die Tšu-san-Inseln anzueignen
wünsche. Es mag müssiges Gerede gewesen sein; die Absicht
wurde auch amtlich geleugnet. In der That begreift man nicht,
wozu Frankreich bei der geringeren Bedeutung seines Handels mit
China eine so theuere Colonie hätte dienen sollen. Seine Theil-
nahme an den späteren Kriegen war freilich durch die Umstände
auch nicht geboten; aber Kriegsruhm bezahlte das französische
Volk immer gern, während die künstliche Erhaltung einer Colonie
ohne innere Lebensfähigkeit schwerlich Anklang gefunden hätte. —
Ohne Kampf wären die Inseln sicher nicht hergegeben worden; das
beweisen die Geständnisse des Sir John Davis, welcher die Ab-
tretung an England anbahnen sollte. Ki-yiṅ wies alle darauf zielenden
Anträge kurz von der Hand. Die Chinesen mögen die strategische
Bedeutung der Gruppe erkannt haben, deren Besitz für die Integri-
tät des Reiches viel wichtiger war, als das an der fernsten Grenze
gelegene Hong-kong; denn die Tšu-san-Inseln bilden ein aus-
gedehntes und dicht bevölkertes Gebiet dicht am Herzen des Lan-
des, während Hong-kong nur ein kahler, von armen Fischern be-
wohnter Felsen war. Ihre Wichtigkeit für den Handel wurde nur
anfangs überschätzt. Als Shang-hae damals schnell emporblühte
und sogar Kan-ton zu überflügeln drohte, konnte in Tiṅ-hae,
der Hauptstadt von Tšu-san, welches alle Vortheile eines Frei-
hafens bot, während der vierjährigen Occupation kein Geschäft von
Bedeutung angeknüpft werden. Es war kein Handelsplatz, keine
Mündung der Wege aus dem Inneren; alle Waaren mussten von
den Canal-Booten erst umgeladen werden, um nach den Inseln zu
gelangen. — Ihre strategische Bedeutung in der Nähe der Yaṅ-tse-
Mündung
ist dagegen unzweifelhaft.


Welchen Werth die chinesische Regierung auf die Räumung
von Tšu-san legte, geht auch daraus hervor, dass sie trotz der
Geldnoth die im Vertrage stipulirte Kriegsentschädigung pünktlich
[144]Die Engländer auf Tšu-san.
zahlte. Ku-laṅ-su ward schon 1844 geräumt,63) da der englischen
Regierung die kostspielige Erhaltung einer Garnison auf dem un-
1846.gesunden Platze zwecklos schien. Zu Anfang des Jahres 1846 zahlte
China die letzte Rate der bedungenen einundzwanzig Millionen und
erlangte dadurch ein Recht auf Herausgabe von Tšu-san. Die ein-
heimische Bevölkerung sah ungern die Engländer scheiden, unter
deren Schutz sie ungeschoren von habgierigen Mandarinen in
patriarchalischer Glückseligkeit lebte. Die ackerbauenden Bewohner
zahlten keine Steuern, Handwerker und Kaufleute fanden Beschäf-
tigung und reichen Gewinn; statt der früheren Kupfermünzen diente
jetzt Silber als allgemeines Tauschmittel. Nur die conservative
Classe der Studirten grollte den Fremden. Die kaiserlichen Behör-
den strebten nach dem Friedensschluss eifrig, ihre Autorität über
die einheimischen Unterthanen wiederzugewinnen; aber die Englän-
der hatten bei der ersten Occupation zu üble Erfahrungen gemacht,
um Mandarinen auf der Insel zu dulden. Selbst Ki-yiṅ unterstützte
die Vorstellungen des Statthalters von Fu-kian,64) der einen Noth-
schrei über Bedrückung der Tšusaniten erhob. Davis blieb jedoch
[145]Zustände in Tšu-san und Kan-ton.
fest. Emissäre des Statthalters, die sich einschlichen, wurden ver-
haftet, nach Kan-ton transportirt und an Ki-yiṅ ausgeliefert, der
ferneren Versuchen ein Ziel setzte. Die Tšusaniten lebten sich in
den Glauben ein, dass England die Inseln behalten wolle, und
dieser Wahn konnte schwerlich so feste Wurzel schlagen, wenn
er nicht anfangs genährt wurde. Als nun der Termin der
Räumung herankam, fürchtete Davis mit Recht, dass sie ihr gutes
Betragen büssen würden. Auf sein Ersuchen richtete Ki-yiṅ einen
öffentlichen Erlass an die Bevölkerung, welcher strenge Aufrecht-
haltung der Amnestie und volle Sicherheit nach der Einschiffung
der Engländer gelobte. Jeder, der wollte, erhielt einen Pass in eng-
lischer und chinesischer Sprache, worin dem Inhaber unter Berufung
auf den Friedensvertrag und jene Proclamation der Schutz der Be-
hörden gesichert wurde. Wie unwirksam solche Maassregel bleiben
musste, ist leicht zu erkennen. Selbst wenn die Bedrängten gegen
die Wortbrüchigkeit und Willkür fanatischer Mandarinen den Consul
anrufen konnten, so war damit noch wenig erreicht; aber die Eng-
länder hatten kein anderes Mittel ihre Freunde zu schützen.


In den anderen Häfen gestaltete sich das Verhältniss zur ein-
heimischen Bevölkerung fast eben so günstig wie auf Tšu-san; nur
in Kan-ton gab es Streit beim geringsten Anlass. Die Wetter-
fahne auf dem Flaggenmast des americanischen Consulats zeigte,
der herrschenden Windrichtung gemäss, die meiste Zeit auf eine
zufällig von Krankheiten heimgesuchte Gasse. Das musste ein Zauber
sein, der das Uebel erzeugte. Der Pöbel rottete sich zusammen
und suchte das Consulat zu stürmen, wurde aber vertrieben. — Bald
darauf erschien ein beschimpfender Maueranschlag gegen die Eng-
länder, die sich zum Neubau der Factoreien anschickten: Die neuen
Gebäude würden wieder in Flammen aufgehen und »kein Frieden
erflehender Präfect« sollte die Engländer vor der Rache der mäch-
tigen Patrioten schützen. Es war eine beständige Gährung, welcher
die in Kan-ton geleisteten Theilzahlungen der Kriegsentschädigung
periodisch neuen Stoff zuführten. Die Furcht vor Collisionen mag
die kantonesischen Behörden 1845 veranlasst haben, in offenem1845.
Widerspruch zu den Bestimmungen der Verträge die Ausflüge der
Fremden wieder in die alten Grenzen einzuengen. Die Ausübung
des Rechts, die Stadt Kan-ton zu betreten, urgirte Davis wegen
der dort herrschenden Aufregung eine Reihe von Jahren nicht; er
bestand jedoch auf einer öffentlichen Bekanntmachung der Behörden,
III. 10
[146]Zustände in Kan-ton.
welche dieses Recht anerkannte, und auf einem sogenannt »eigen-
händigen« kaiserlichen Rescript65) desselben Inhalts, ehe er die
Räumung von Tšu-san vollzog. Nach derselben verschlimmerte
sich die Lage der Fremden in Kan-ton; der unbändige seiner
Macht bewusste Volkswillen suchte beständig Anlass zu blu-
1846.tigen Reibungen. Im Juli 1846 griff der Pöbel nach einer gewöhn-
lichen Schlägerei mit verzweifelter Wuth die Wohnungen der Eng-
länder und Americaner an; diese brauchten ihre Feuerwaffen und
vertrieben die Chinesen, deren mehrere auf dem Platze blieben.
Drei Stunden lang gaben die Sicherheitsbehörden kein Zeichen ihres
Daseins und wären vielleicht gar nicht eingeschritten, wenn der
Pöbel gesiegt hätte. Ki-yiṅ musste in solchen Fällen der Volks-
stimmung Rechnung tragen und forderte nach dem damals allgemein
geltend gewordenen Grundsatze Lin’s »Barbaren durch Barbaren zu
bezwingen«, wieder ausschliesslich von den Engländern Sühne für
das vergossene Blut. Davis aber verweigerte, wie immer, jede Be-
strafung des in der Nothwehr begangenen Todtschlages.


Im October desselben Jahres wurden aus vielen Wunden blu-
tend zwei englische Matrosen in das Consulat getragen, welche man in
abgelegene Gassen gelockt, dann geprügelt, gesteinigt und mit Mes-
sern verletzt hatte. Der Consul forderte von Ki-yiṅ vergebens
Bestrafung der Schuldigen; die Erbitterung des Volkes war zu
mächtig. »Wenn ein Menschenleben verloren geht,« lautete eine
öffentliche Kundgebung der Volksmänner, »und die Provinzial-
Beamten die geringste Partheilichkeit bei der Untersuchung zeigen
oder in ihren amtlichen Berichten von den Aussagen der Ver-
wandten des Erschlagenen abweichen, so müssen diese Beamten
sofort dem Kaiser angezeigt und bestraft werden. Aber noch
grössere Strenge muss walten, wo das Leben von Chinesen mit
dem von Fremden in Vergleichung kommt; tödtet ein ausländischer
Teufel einen Chinesen, so soll dafür das Leben von zwei Auslän-
dern verfallen sein. Im 5. Mond (Juli) des gegenwärtigen Jahres
wurden über zwanzig Chinesen66) von den fremden Teufeln gemordet
[147]Zustände in Kan-ton.
und ihre Leichen in den Fluss geworfen, um im Bauch der Fische
begraben zu werden. Und doch behandelt die hohe Obrigkeit die
Sache als wenn sie nicht davon gehört hätte, und sieht die aus-
ländischen Teufel als Götter an, vor welchen nichts dunkel ist; die
Chinesen aber schätzt sie gleich den Bestien und betrachtet Menschen-
leben so verächtlich, wie Härchen auf einer Mütze, Stäubchen die
man wegblasen kann. Sie berichtete weder dem Kaiser darüber,
noch traf sie hier die nöthigen Maassregeln. Das gesammte Volk
klagt und stöhnt, und sein Kummer dringt in das Mark der
Knochen. — Alle öffentlichen Vereine glühen von Eifer und ein-
müthigem Hass gegen die fremden Teufel, und da kein anderer
Ausweg bleibt, so sind sie zu Bestimmung eines Tages gezwungen,
an welchem sie hervortreten und selbstständig handeln werden. Um
kurz zu sein: der Bürgschaftskaufmann Miṅ-kwa67) soll aufgefor-
dert werden, die am Kampfe betheiligten Haupt- und Nebenpersonen
unter den ausländischen Teufeln zu nennen, auf dass sie mit Feuer
verbrannt werden können; oder es müssen Schritte geschehen, um
sie zu ergreifen, damit kein einziges Chinesen-Leben ungerächt
bleibe; — denn sonst möchten die fremden Teufel ganz toll und
unbändig werden, und die Würde unseres himmlischen Reiches
wäre schwer verletzt. Sollte Miṅ-kwa, auf Gewinn bedacht, die
ausländischen Teufel schützen und ihre schleunige Nennung ver-
weigern, so wollen wir nicht rasten bis wir sein Fleisch essen und
auf seiner Haut schlafen, was des ganzen Volkes Herz innig freuen
würde.«


Diese Stimmung68) musste Einfluss üben auf die Haltung des
Ki-yiṅ, welcher damals den auf Sicherung der Fremden zielenden
Anträgen des englischen Consuls mit ungewohnter Grobheit begeg-
nete. Es handelte sich um bauliche Veränderungen zu Erschwerung
10*
[148]Davis’ Expedition nach Kan-ton.
der Communication mit den an die Factoreien grenzenden, vom
schlechtesten Gesindel bewohnten Gassen. Ki-yiṅ gebot nun dem
Consul nicht nur, »die fraglichen Einrichtungen in Rücksicht auf
die Volksstimmung sofort zu inhibiren«, sondern auch »sich jeder
ausserhalb des gewöhnlichen Geschäftslaufes liegenden Erörterung
zu enthalten«. Sir John Davis gab darauf die geziemende Antwort,
sollte aber bald zu thätigem Eingreifen gezwungen werden.


1847.Anfang März 1847 wurden der Commandeur der in Hong-
kong
garnisonirenden Artillerie und fünf andere Engländer auf einem
Ausfluge an den Ufern des Perl-Flusses ohne jede Veranlassung
beschimpft und angegriffen, und wären ohne den Schutz eines Man-
darinen sicher umgebracht worden. Gleich nach diesem Ereigniss
erhielt Davis aus der Heimath deutliche Instructionen, hervor-
gerufen durch seinen Bericht über die Misshandlung der beiden
Seeleute: »Sie werden der chinesischen Obrigkeit in klarer und be-
stimmter Sprache mittheilen, dass die britische Regierung die un-
gestrafte Misshandlung ihrer Unterthanen durch chinesischen Pöbel,
welcher solche in seine Gewalt bekommt, nicht dulden wird, und
dass, wenn die chinesische Obrigkeit nicht durch Ausübung ihrer
Macht solche Unbilden verhindern und bestrafen will, die britische
Regierung gezwungen sein wird, selbst die Sache in die Hand zu
nehmen, und dass es nicht ihre Schuld ist, wenn in solchem Falle
Unschuldige unter Strafmaassregeln leiden müssen, welche auf die
Schuldigen gemünzt sind.«


Der englische Bevollmächtigte war nun zu peremtorischer
Sprache gezwungen, erhielt aber keine Antwort. Darauf ging er
mit einigen Kriegsschiffen den Perl-Fluss hinauf. Alle Widerstand
leistenden Batterieen wurden genommen und die darin befindlichen
Geschütze unbrauchbar gemacht. Sechsunddreissig Stunden nach
der Abfahrt von Hong-kong ankerten die Briten vor Kan-ton.


Ki-yiṅ kam zur Conferenz in das englische Consulat und
gewährte nun ohne Anstand alle Forderungen, auch die vom
Consul früher gewünschten baulichen Einrichtungen in der wei-
testen Ausdehnung. An der östlichen und der westlichen Seite
des Fremdenquartiers mündeten zwei chinesische Gassen, deren
kürzeste Verbindung mitten hindurch führte, ein bequemer Weg
für die dort hausenden Krämer. Schon nach dem Angriff
auf das americanische Consulat war eine Abstellung dieses
Uebelstandes in Aussicht genommen worden, denn die meisten
[149]Hoglane vermauert.
Händel veranlassten Vagabonden aus der Hefe des Volkes, die sich,
auf das Recht des Durchganges fussend, haufenweise im Fremden-
quartier herumtrieben. Aus Furcht vor dem Pöbel lehnte die Obrig-
keit bis dahin die Beseitigung dieses Rechtes immer ab. Jetzt be-
schloss man die auf der einen Seite mündende, von den Engländern
»Hoglane« getaufte Gasse abzusperren und in der Lücke eine pro-
testantische Capelle zu bauen. Die winkligen Gässchen um die Fac-
toreien waren immer ein Abgrund für die fremden Seeleute gewesen,
welche dort zum Trinken verleitet, oft durch narkotische Mittel
betäubt, dann ausgeplündert oder misshandelt wurden. — Bis zur
Vollendung der Hoglane absperrenden Mauer blieben englische
Truppen in Kan-ton, nachher bezogen auf den Wunsch der Frem-
den chinesische Wachtmannschaften die bei den Factoreien gelegene
Kaufhalle. Die Vermauerung des Gässchens, aus welchem 1843
die Brandstiftung erfolgte, erwies sich äusserst segensreich.


Nachdem alles Andere zur Genugthuung der Engländer er-
ledigt, auch für die Zulassung der Fremden in die Stadt Kan-ton
ein fester Termin bestimmt war, verlangte Davis, dass die ver-
sprochene Bestrafung der an dem letzten Angriff auf seine Lands-
leute betheiligten Chinesen vor seiner Abreise stattfände. Ki-yiṅ
weigerte sich. Darauf schrieb ihm Jener: »Ich benachrichtige Ew.
Excellenz, dass ich morgen nach Hong-kong zurückkehren wollte.
Da Sie aber, treulos ihren Verpflichtungen ausweichend, die Strafe
an den Schuldigen in Gegenwart der dazu bestellten Beamten nicht
vollziehen wollen, so lasse ich die Truppen in Kan-ton bleiben
und werde morgen auf einem Dampfer nach Fo-šan (dem Schau-
platz des Angriffs) gehn, und, wenn ich insultirt werde, die Stadt
niederbrennen.« Um Mitternacht kam die Antwort. Um fünf am
folgenden Morgen brachten chinesische Schergen drei der Schul-
digen nach dem Wachthause vor dem Fremdenquartier und trac-
tirten sie mit dem Bambus; dann theilte ein Mandarin dem dicht-
gedrängten Zuschauerhaufen den Grund der Bestrafung mit und
drohte mit gleicher Busse für ähnliche Vergehen. Ausser den eng-
lischen Consular-Beamten wohnte ein Mandarin von hohem Range
mit ansehnlichem Gefolge der Procedur bei. — Am 8. April 1847,
gerade eine Woche nach ihrer Ankunft, schiffte die englische Streit-
macht — eine Compagnie Infanterie — unter Zurücklassung eines
kleinen Detachements sich wieder ein.


Von da an zeigten Ki-yiṅ und seine Untergebenen den festen
[150]Engländer bei Kan-ton ermordet.
Willen die Ordnung aufrecht zu halten, und die Bevölkerung von
Kan-ton schien für einige Zeit eingeschüchtert. In der Umgegend
war es nicht geheuer; das wehrhafte Landvolk bedrohte jeden Frem-
den, und diese gingen nur bewaffnet hinaus. Anfang December 1847
wurden sechs Engländer auf einem Ausflug in die Umgegend von
einem Volkshaufen ermordet, nachdem sie mit Taschenpistolen einen
Chinesen erschossen und einen anderen im Unterleib verwundet
hatten. Ki-yiṅ traf die wirksamsten Maassregeln zu Verhaftung
der schuldigen Chinesen und liess ungesäumt die vier Rädelsführer
in ihrem Dorfe, wo sie die That verübten, in Gegenwart eines eng-
lischen Militär-Detachements enthaupten. Ueber elf andere berich-
tete er an den Kaiser, welcher die gefällten Urtheile bestätigte. 69)


Einige Jahre vergingen nun ohne blutige Reibungen; aber das
Feuer des Hasses glomm unter der Asche, und die Obrigkeit ge-
wann ihr Ansehn bei der Bevölkerung so bald nicht wieder. Als
mit dem Jahre 1849 der für die vertragsmässige Freigebung der Stadt
Kan-ton zuletzt bestimmte Termin eintrat, erklärte die chinesische
Regierung abermals, gegen den Willen der Bewohner nichts aus-
richten zu können, und die Engländer kannten die Stimmung zu
gut, um auf Einhaltung der Frist unbedingt zu bestehen.


[[151]]

IV.
DIE TAE-PIṄ-BEWEGUNG

BIS 1857.


Der Opiumkrieg erschütterte die Autorität der Mandschu-Regie-
rung in ihren Grundfesten. So leicht konnte nur ein morscher
Bau ins Wanken kommen; bis dahin arbeitete jedoch die Ver-
waltungsmaschine in geordnetem Gange und ohne bedenkliche Stö-
rung. Betrachtete gleich das Volk die Tartaren als fremde Unter-
drücker, so brütete doch der Hass nur im Dunkelen oder ermannte
sich einmal zu hoffnungslosem Ringen. Die im Reiche zerstreuten
Tartaren-Garnisonen genügten zu Aufrechthaltung der Ordnung im
Grossen; das Volk zahlte seine Steuern; die Provinzial-Behörden
konnten Ueberschüsse nach der Hauptstadt senden und der kaiser-
liche Schatz war reich gefüllt. Erst der Opiumkrieg stellte die
Schwäche der Mandschu-Herrschaft in helles Licht und führte
mittelbar die grosse Tae-piṅ-Bewegung herbei, welche funfzehn
Jahre lang den Thron bedrohte und über den grössten Theil des
Reiches unsägliches Elend brachte.


Die Geschichte von China’s Eroberung durch die Mandschu
ist in Kurzem folgende:


Die letzten Miṅ-Kaiser waren entartete Sprossen des grossen
Hauses, dessen Gründer 1368 die mongolischen Nachkommen des
Džengis-khan nach kaum hundertjähriger Herrschaft aus China
vertrieb; sie lebten, von Eunuchen beherrscht, in tiefster Ver-
weichlichung. Das leidende Volk scheint sie längst nicht mehr als
echte Himmelssöhne angesehen zu haben und bediente sich reich-
lich des in der Theorie des chinesischen Staates begründeten
Rechtes der Rebellion: die letzten fünfundzwanzig Jahre der Miṅ-
Herrschaft bekämpften kaiserliche Heere unablässig Insurgenten in
den Provinzen und die von Norden und Westen eindringenden
[152]Gründung der Mandschu-Herrschaft.
Tartaren-Stämme. Ein chinesischer Rebellen-Führer Lise-tšiṅ
drang nach achtjährigem Kriege 1644 in Pe-kiṅ ein; da erhängte
sich der letzte Miṅ-Kaiser, von Allen verlassen, im Garten der
Marmor-Insel. Sein an der Nordgrenze gegen die Mandschu-Tar-
taren kämpfender Feldherr Wu-san-kwei gab aber die Dynastie
nicht verloren. Zu schwach den Rebellen allein zu begegnen, schloss
er Frieden mit dem tartarischen Landesfeind und zog mit diesem
gegen Pe-kiṅ. Nach Einnahme der Hauptstadt überliessen die
Tartaren Wu-san-kwei die Verfolgung des Feindes und erhoben
ihren König auf den chinesischen Thron. Wu-san-kwei musste
sich fügen. Der neue Herrscher gab ihm nach dem feudalen Her-
kommen seines Stammes eine Provinz im Westen des Reiches zu
Lehen und erwarb sich durch Belehnung mit den südlichen Pro-
vinzen Kuaṅ-tuṅ, Kuaṅ-si und Fu-kian, welche erst nach
siebenjährigen blutigen Kämpfen unterlagen, die Gunst anderer chi-
nesischen Feldherren. Diese und Wu-san-kwei[wähnten] sich unter
dem nächsten Kaiser Kaṅ-gi stark genug zum Abschütteln des
Joches und wurden erst nach langen Kriegen bezwungen. Damals
fiel auch Formosa, das unter Koxinga und seinem Nachfolger sich vier-
zig Jahre lang der Mandschu-Herrschaft erwehrt hatte. Als äusseres
Zeichen der Unterwerfung mussten alle Chinesen die Tracht der
Eroberer, den seitlich aufgeschlitzten Rock, annehmen, das Haar
rund um den Kopf scheeren und den Schopf in der Mitte nach Tar-
taren Art in einen Zopf flechten, während unter den Miṅ-Kaisern
das Haar frei herabhangend und ein mitten auf der Brust geknöpf-
ter Rock getragen wurden.


Kaṅ-gi besass ungewöhnliche Gaben. Er hatte eine sorg-
fältige chinesische Erziehung genossen und begriff, dass der einzige
Weg zu Erhaltung der Herrschaft die Aneignung der chinesischen
Cultur, Durchführung der darin begründeten Staatsverfassung und
Centralisation der Verwaltung sei. Nach Besiegung jener Vasallen
verlieh er keine neuen Lehen. Das Ansehn der Mandschu reichte
aber nicht aus, um durch blosse Nachahmung der altherkömmlichen
chinesischen Einrichtungen den Thron zu sichern; sie mussten sich
auf eine Hausmacht stützen und vor Allen ihre Stammverwandten
verbinden. Diese Nothwendigkeit bedingte einen starken Eingriff
in eine der ältesten und wichtigsten Einrichtungen des chine-
sischen Staatslebens.


China hat seit vielen Jahrhunderten keinen Adel und keinen
[153]Die öffentlichen Prüfungen.
bevorzugten Stand gehabt als den der Studirten, welcher sich fort-
während aus allen Classen des Volks ergänzt und Jedem die Wege
zu den höchsten Würden öffnet. Die Einrichtung der öffentlichen
Prüfungen soll in China seit etwa tausend Jahren bestehen und
bezweckt, dem Reiche den Dienst seiner besten Kräfte zu sichern.
Zweimal alle drei Jahre findet in jeder Bezirksstadt (Fu) unter
Leitung eines Provinzial-Commissars die erste Prüfung statt, zu
welcher sich Jeder melden kann, während nur eine gesetzlich
bestimmte Zahl Candidaten aus jedem Bezirke das Zeugniss der
Reife, den ersten Grad erhält. Schon diese Prüfung erfordert weit-
greifende literarische Studien, welche erhebliche Früchte für die
Volksbildung tragen. Denn bei der beschränkten Zahl der Aemter
kann nur eine kleine Zahl unter den Fähigsten graduirt werden;
alle übrigen treten in das Privatleben zurück, sie sind der Kern
der gebildeten Bevölkerung. — Alle drei Jahre findet in der Pro-
vinzial-Hauptstadt unter Aufsicht von zwei aus Pe-kiṅ gesandten
Commissaren die weitere Prüfung der in der ersten graduirten Can-
didaten, der Siu-tsae statt. Von den fünf- bis zehntausend Exa-
minanden pflegen hier nur siebzig zu bestehen; sie erhalten den
Titel Keu-žin. Diese dürfen sich zu den alle drei Jahre in Pe-kiṅ
abgehaltenen Prüfungen melden, aus denen jedesmal zwei- bis drei-
hundert Tsin-tse oder Doctoren hervorgehen.


Alle diese Prüfungen erfordern keine Fachkenntnisse, son-
dern nur Verständniss und Beherrschung der gesammten philoso-
phischen, historischen und schönwissenschaftlichen Literatur. Die
den Examinanden gestellten Aufgaben bedingen aber keineswegs
nur Gedächtniss-Thätigkeit, sondern eigenes Urtheil und Durch-
dringung der geistigen Entwicklung China’s seit urältester Zeit. Der
Grad des Siu-tsae berechtigt bloss zur zweiten Prüfung; ein
Keu-žin hat Anwartschaft auf Anstellung, welche bei normalen
Verhältnissen nach wenig Jahren erfolgt. Ein Tsiu-tse erhält
sofort zum geringsten die Verwaltung eines Bezirkes.


Die Mandschu liessen nun die Prüfungen fortbestehen und
beförderten keinen nicht graduirten Chinesen, vergaben aber viele
Aemter ohne Prüfung an ihre Stammgenossen. Da der kaiserliche
Willen absolut ist, so kann auch solche Stellenbesetzung nicht an-
gefochten werden; aber bleibende Erbitterung erzeugte es in allen
Theilen des Reiches beim Volke und vorzüglich bei der einfluss-
reichen Classe der Studirten, dass so viele Aemter ihnen genommen
[154]Die Bevölkerung der südlichen Provinzen.
wurden, dass Vortheile, die der höher gebildete Chinese nur durch
angestrengte Arbeit erringen konnte, dem rohen Tartaren als un-
gesäte Früchte seiner Abstammung in den Schooss fielen. Dieses
Missverhältniss wird eben so lange bestehen wie die Mandschu-
Regierung und scheint selbst in den glänzendsten Zeiten ihrer
Herrschaft eine Wurzel nagenden Grolles gewesen zu sein. Der
chinesische Staat beruht wesentlich auf dem Princip, dass die
sittliche Weltordnung durch sittliche Mittel zur Geltung gebracht
werden muss, nicht durch Willkür und Gewalt. Nur diese,
das tiefste Volksbewusstsein durchdringende Macht hält das
colossale Reich zusammen. In diesem Sinne nennt Meadows die
chinesische die höchste Gattung von Cultur. Unter der glän-
zenden Herrschaft des Kaṅ-gi und des Kien-loṅ, welche Jeder
60 Jahre regierten, hob China sich zu hoher Blüthe. Beide
waren sparsam in Verleihung der Aemter an ihre Stammgenossen.
Dennoch gab es in allen Provinzen tartarische Beamte und tarta-
rische Garnisonen, welche den Chinesen in aller bürgerlichen Glück-
seligkeit immer wieder an das fremde Joch erinnerten. Am leben-
digsten blieb dieses Gefühl in den südöstlichen Provinzen.


Fu-kian und Kuaṅ-tuṅ sind Küstenlandschaften, durch
hohes Gebirge vom übrigen China geschieden. Nur wenige schwie-
rige Pässe vermitteln den Verkehr. Der Nordhang des Gebirges
sendet seine Gewässer in den Yaṅ-tse, der Südhang nach den
mit tausend Inseln gesäumten Küsten. Etwa Tšu-san gegenüber
tritt der östliche Vorsprung der Berge in das Meer; der südliche
Theil von Tše-kiaṅ gleicht seiner Natur nach Fu-kian. Nördlich
liegen ungeheuere Ebenen, und die Küsten, meist angeschwemmtes
Land, sind fast hafenlos; südlich giebt es wenig ebenes Land und
eine grosse Zahl vorzüglicher Häfen und Buchten. — Kuaṅ-si ist
Binnenland; der bei Kan-ton fliessende Tšu-kiaṅ oder Perlfluss
entspringt in seinen unwegsamen Gebirgen. Deren Urbewohner, die
Miao-tse, wurden von keiner chinesischen Dynastie vollständig
bezwungen und bewahren noch heute ihre eigenthümliche Tracht
und Sitte. In den Thälern leben Eingewanderte aus Kuaṅ-tuṅ.
Die Bewohner dieser Provinz und der Landschaft Fu-kian sind
ein beherzter, unternehmender Schlag, sehr verschieden von dem
stätigen, an der Scholle klebenden Chinesen der grossen Ebenen
in Norden. Ihre buchtenreichen Gestade haben sie von jeher auf das
Meer getrieben; namentlich gehen aus Fu-kian beständig starke
[155]Die Geheimbünde.
Züge nach der Malacca-Strasse, den Sunda-Inseln, Siam, Cochin-
china
, den Philippinen, Formosa und Californien. Die Männer von
Kuaṅ-tuṅ und Fu-kian sind abgehärtete, kühne und ausdauernde
Seeleute; viele leben ganz vom Fischfang. Seeräuberei und
Schleichhandel, welchen die Vorgebirge und Inseln tausend
sichere Schlupfwinkel bieten, werden hier schwerlich ausge-
rottet werden.


Die letzten Prinzen des Miṅ-Hauses sollen in die rauhen
Gebirge von Kuaṅ-si geflüchtet sein; im südchinesischen Volke
lebte der Glauben fort, dass von dort aus ein kaiserlicher Sprosse
das Reich einmal vom Barbarenjoche befreien werde. Seit der
Unterwerfung bestanden in den drei Provinzen geheime Gesell-
schaften mit politischer Tendenz; die wichtigste war der Dreifaltig-
keitsbund, dessen Wahlspruch Fan Tsiṅ Fu Miṅ, »Nieder mit den
Mandschu, hoch die Miṅ«, deutlich genug ist. Die Mitglieder oder
»Brüder« verpflichteten sich nach Art der Freimaurer zu gegen-
seitiger Hülfe und lockerten dadurch ihre Beziehungen zur Familie
und bürgerlichen Gesellschaft; oft traten sie als mächtige Räuber-
banden auf, welche zur See wie zu Lande die bestehende Ordnung
befehdeten und den Provinzialbehörden Jahre lang zu schaffen
machten. War der politische Zweck hier auch nur Deckmantel,
so wurde er doch niemals vergessen; der Bund bildete einen
Stamm, um den sich alle Unzufriedenen schaarten.


Den grössten Theil des 18. Jahrhunderts hindurch scheinen
die geheimen Gesellschaften sich nach aussen wenig geregt zu
haben; aber in den letzten Regierungsjahren des Kien-loṅ brachen
Unruhen in mehreren Provinzen aus. Kia-kiṅ musste bei seiner
Thronbesteigung einen Frieden mit den Miao-tse schliessen, der
viel Geld kostete. Seine Hofhaltung verschlang ebenfalls grosse
Summen; er scheint zuerst den Verkauf von Aemtern eingeführt zu
haben, welcher den berechtigten Stolz der studirten Chinesen auf
das tiefste verletzte und dem Ansehen der Mandschu neue Wun-
den schlug. — In den ersten Jahren dieses Jahrhunderts erhoben
sich die Unzufriedenen in mehreren Provinzen; ein grosser Theil
des Reiches wurde von zahlreichen Schaaren der Aufrührer und
den schlecht bezahlten kaiserlichen Soldaten verwüstet. Die
rebellischen Bewegungen scheiterten damals mehr an mangelnder
Lebensfähigkeit, Organisation, Führung und am Widerstande der
besitzenden Classen, als an der Macht der kaiserlichen Heere,
[156]Rebellionen im Anfang des 19. Jahrhunderts.
die, wo sie keinen Sold erhielten, sich oft zu den Insurgenten
schlugen. Von 1805 bis 1810 bot eine Piratenflotte, die nach
Gützlaff aus achthundert Dschunken und tausend Booten mit
einer Bemannung von siebzigtausend Seeleuten bestand, an den
südöstlichen Küsten der Regierung offenen Trotz, schlug alle
kaiserlichen Flotten und konnte erst, nachdem Zwietracht unter
den Führern gesät war, durch Compromisse gebändigt werden. 70)
1812 veranlasste Misswachs im Norden des Reiches einen Aufstand,
der sich über fünf Provinzen verbreitete; diese Rebellen nannten
sich Tien-li (himmlisches Recht) und gingen offen auf den Sturz
der Mandschu aus. Am Kaiserhofe selbst müssen sie Theilnehmer
gehabt haben; Kia-kiṅ wurde 1813 in seinem Palast überfallen und
entging dem Tode mit genauer Noth. Er befahl damals die
strengste Verfolgung aller Geheimbünde durch das ganze Reich; 1816
sollen über 10,000 Menschen zum Tode verurtheilt in den Kerkern
geschmachtet haben.


Misswachs, Erdbeben und Ueberschwemmungen verwüsteten
das Reich gegen das Lebensende des Kia-kiṅ. Sein Nachfolger
Tau-kwaṅ muss ein ehrlicher Charakter gewesen sein; er stellte
am Hofe ein sittliches Leben her, brachte Ordnung in die Finanzen
und strebte nach dem Zeugniss der Zeitgenossen mit Ernst seinen
Beruf zu erfüllen. Der Zustand des Reiches besserte sich; in den
[157]Finanznoth.
ersten zwanzig Jahren seiner Regierung gab es nirgends bedenk-
liche Unruhen. Dann aber kam der Opiumkrieg. Tau-kwaṅ,
dessen ältester Sohn ein Opfer des Giftes geworden sein soll, trat
anfangs dem Uebel scharf entgegen und gelobte ein über das
andere Mal, das »Barbaren-Auge« vom Antlitz der Erde zu ver-
tilgen, musste sich aber statt dessen den härtesten Bedingun-
gen fügen.


Die Mandschu-Truppen, auf deren Ruf der Unbesiegbarkeit
die Sicherheit der Dynastie wesentlich beruhte, kämpften zwar
todesmuthig, fielen aber wie schwaches Rohr vor den fremden
Waffen. Die Finanzen zerrüttete der Krieg auf Jahrzehnte.
27 Millionen Dollars erhielten im Ganzen die Engländer; die
Rüstungen und Unterschleife verschlangen aber viel grössere Sum-
men. Die Beeinträchtigung des Handels machte sich im Ausfall
der Zölle fühlbar. In der Grundsteuer, welche eine Haupt-
quelle des chinesischen Staatseinkommens ist, konnte der Kaiser
bei aller absoluten Gewalt keine Aenderung der uralt-hergebrach-
ten Normen treffen. Tau-kwaṅ wusste sich nicht zu helfen
und griff zu dem revolutionären Mittel des Stellenverkaufes,
der unter Kia-kiṅ nur vereinzelt, jetzt systematisch betrieben
wurde.


Neben der tiefen Wunde, welche diese Einrichtung der
Classe der Studirten schlug, erzeugte sie noch andere Uebelstände.
Zunächst die schwere Bedrückung des Volkes, an welchem der
durch Geld zu Amt und Würden gelangte Mandarin sich durch
Erpressungen schadlos hielt. Dann das Uebergewicht des Geldes
über das Verdienst, welches der sittlichen Anschauung des Chi-
nesen auf das schärfste widerspricht, nun aber vom Himmels-
sohne öffentlich anerkannt wurde. Für den gesitteten Chinesen verlor
das käufliche Amt jeden Nimbus der Autorität; die besseren Volks-
classen verachteten den neuen Beamtenstand; die Regierung musste
an Ansehn einbüssen, was sie an Gelde gewann. Verdiente Män-
ner, welche ihre Aemter der eigenen Arbeit und Redlichkeit
dankten, wurden ungerecht daraus verstossen. Denn als die
Käuflichkeit der Stellen aufkam, drängte sich eine Ueberzahl
dazu; die Regierung nahm das Geld der Candidaten und gab
ihnen Anwartschaft für die nächste Erledigung. Bald aber fand
sich, dass die meisten nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge
kaum in zehn Jahren Platz finden würden; sie schneller zu be-
[158]Geldstrafen. Ersparungen.
friedigen, entliess man verdiente Mandarinen unter nichtigem
Vorwande.


Fast noch tiefer als der Stellenhandel verletzten das chine-
sische Volksgefühl die von Tau-kwaṅ eingeführten Geldstrafen.
China hat ein Strafgesetzbuch, dessen Grundlage zweitausend Jahre
alt ist, das aus seiner Cultur herausgewachsen und deren Entwicke-
lung gefolgt ist. Neuere Dynastieen änderten Einzelnes nach ihren
Eigenthümlichkeiten; im Ganzen aber ist der Codex ein nationaler,
kein dynastischer. Wohlfeile Ausgaben davon sind überall käuf-
lich; der gemeine Chinese kennt und verehrt dieses Gesetzbuch,
denn es ist streng unpartheiisch, wenn auch nach unseren Begriffen
hart und grausam. Die Gleichstellung vor dem Gesetz, die Grund-
lage aller politischen Freiheit, kann aber keinen härteren Stoss
erleiden als durch die Möglichkeit, Leibes- oder Freiheitsstrafen
in Geldbussen zu verwandeln. Gross muss die Geldnoth gewesen
sein, welche zu diesem Schritte trieb. Mit Ausnahme einiger
Todesstrafen für die gröbsten Verbrechen sollten fortan alle Strafen
abgekauft werden können. Die Möglichkeit dieser Neuerung be-
weist wohl am schlagendsten den tiefen Verfall des chinesischen
Reiches.


Wie unter den neuen Quellen des Gewinnes, so musste das
Volk auch unter den Ersparnissen leiden. Tau-kwaṅ entzog den
Studirten die bis dahin zu den Prüfungsreisen gezahlten Zuschüsse.
War er in den Tagen des Ueberflusses schon karg, so stellte
er jetzt die nöthigsten Ausgaben ab. Der Gelbe Fluss ver-
wandelte durch Ueberschwemmung die weiten Thäler von Ho-nan in
Sümpfe und riss die Mauern der Hauptstadt Kae-fuṅ-fu fort; aber
das Flehen der schwer betroffenen Bevölkerung ward nicht erhört, die
nothwendige Eindämmung unterblieb, und Hunderttausenden ging
aller liegende Besitz verloren. Wie in allen anderen Zweigen, so
nahm die Regierung auch in der Armee starke Reductionen vor.
Die entlassenen Truppen zogen sengend, mordend und plündernd
durch das Land, und die geschwächte Executive konnte ihnen nicht
wehren. Seeräuber vertrieben die Mandarinen aus den Küsten-
städten von Fu-kian und Tše-kiaṅ; die Behörden mussten einen
schmachvollen Vergleich mit den Führern schliessen, um sie los
zu werden. Nun flüchtete der grösste Theil des Gesindels in die
Berge, auf das Meer, und verwüstete von da aus viele Jahre
lang unangefochten die Ebenen und Küsten; Handel und Wandel
[159]Zerrüttung des Reiches.
kamen zu Schaden. In Kuaṅ-tuṅ trieb die von den Behörden
bewaffnete Küstenbevölkerung das Piratenhandwerk mit bestem
Erfolge. Die durch den Krieg geschwächte kaiserliche Marine war
ganz unvermögend. Bald wagten sich Handelsdschunken nur unter
dem Schutz europäischer Kauffahrer auf das Meer; aber auch diese
gewährten in der Folge keine Sicherheit. Bei A-moi überfielen
Piraten zwei Opiumschiffe, mordeten die Mannschaft und raubten
bedeutende Geldsummen. Als bald darauf in derselben Gegend
eine werthvolle Handelsdschunke gekapert wurde, gelang es der
englischen Corvette Scout die Piraten mit ihrer Prise zu fassen.
Der Commandant lieferte den Behörden von A-moi unter lautem
Volksjubel sechsundachtzig Seeräuber zur Hinrichtung aus. Nach
diesem Vorfall führten die Engländer mehrere Jahre lang gegen die
Seeräuber einen Vernichtungskrieg.


Die vom Meere vertriebenen Piraten verstärkten die Räuber-
banden auf dem Lande. In Schaaren von Tausenden zogen sie
durch das Land, griffen volkreiche Städte an und schlugen überall
die kaiserlichen Truppen. Das Volk bewaffnete sich nun auch in
Fu-kian, und das Ansehn der Regierung sank immer tiefer.
Ueberall zeigte sich die Wirksamkeit der Geheimbünde, wenn auch
planlos auf den Umsturz ausgehend. Oft wurden Emissäre des
Dreifaltigkeitsbundes auf Hong-kong verhaftet und den kaiserlichen
Behörden ausgeliefert; ihre Papiere waren in Geheimschrift geschrie-
ben, aber so viel liess sich daraus entnehmen, dass die Brüderschaft
auf den Sturz der Tartarenherrschaft ausging und weit und breit
durch das Volk verzweigt war. — Gegen Erpressungen der Man-
darinen erhob das früher so geduldige Volk sich nach dem Opium-
kriege häufig unter Führung der Studirten. So misshandelten
und tödteten 1845 die anerkannt ruhigen Bürger von Niṅ-po meh-
rere hohe Beamten und schlugen die gegen sie gesandte Miliz.
Ganze Landschaften verweigerten die Steuerzahlung und konnten
selten dazu gezwungen werden. Meist vertuschten die Behörden
solche Vorfälle, damit die Erbitterung nicht weiter griffe.


In Kan-ton hatte 1847 ein Tartare der Garnison unabsicht-
lich den Tod eines chinesischen Mädchens veranlasst; darauf zer-
störte der Pöbel das Haus des tartarischen Commandanten, und
die Behörden konnten nur durch Nachgiebigkeit einem allgemeinen
Aufstand vorbeugen. Die Fälle widerstrebenden und eigenmächtigen
Handelns mehrten sich; ihre politische Bedeutung trat immer klarer
[160]Anarchie in Kan-ton.
zu Tage. Wurde das Haus eines verhassten Beamten nieder-
gebrannt, so handelte das Volk genau nach Vorschrift seiner
Führer, enthielt sich der Plünderung und schützte alle an die
Brandstätte grenzenden Gebäude. Die obersten Behörden liessen
solche Excesse ungerügt oder bestraften obenein den unbeliebten
Beamten. Das Volk, zur Abwehr der Briten und der heimischen
Banditen bewaffnet, liess die Obrigkeit seine Macht fühlen und
bestritt ihr auch in der Umgegend von Kan-ton das Recht der
Steuererhebung. Anfangs hatte Ki-yiṅ die Bewaffnung empfohlen,
erkannte aber bald seinen Irrthum und warnte den Kaiser. Tau-
kwaṅ
aber wiegte sich in den Friedensjahren wieder in Träume
von China’s Ueberlegenheit und lieh der Reaction sein Ohr. Er
glaubte, dass die Macht der Engländer im Sinken, ihre Stellung
auf Hong-kong gefährdet, ihr Handel im Abnehmen sei, und
sprach von ihnen als viehischen Geschöpfen, die keiner Beachtung
werth, keiner anderen Leidenschaft fähig wären als der Habgier.
Die Einfuhr englischer Baumwollenzeuge war ihm ein Dorn im
Auge; der Gebrauch des Opium, hatte er sich einreden lassen,
werde bei gänzlicher Ignorirung in wenigen Jahren von selbst auf-
hören. An der Bewaffnung des Volkes hatte Tau-kwaṅ besondere
Freude und glaubte nicht, dass es jemals andere Rechte bean-
spruchen könne, als die auf uraltem Herkommen fussenden oder
vom Himmelssohne gnädigst gewährten. Er hielt Ki-yiṅ für zu
ängstlich, rief ihn 1848 nach Pe-kiṅ zurück und schickte den Siu-
kwaṅ-tsin
nach Kan-ton, der zu seiner Freude in einem Monat
hunderttausend Mann auf die Beine brachte und mehrere hundert-
tausend Tael zu ihrer Unterhaltung sammelte; so lautete wenigstens
dessen Bericht.


Ki-yiṅ erhielt eine ehrenvolle Stellung bei der Person des
Kaisers, der in den letzten Lebensjahren auf seinen Rath wenig
gehört zu haben scheint. Nach Tau-kwaṅ’s am 25. Februar 1850
erfolgtem Tode gab ihm dessen Wittwe durch den Befehl zur Lei-
tung der Exequien ein Zeichen des höchsten Vertrauens. Nach
der Thronbesteigung des kaum zwanzigjährigen Hien-fuṅ71) gewann
aber die Reaction grössere Macht. Gegen die Ansichten Ki-yiṅ’s
und Mu-tšan-ga’s, welcher seit dem Opiumkriege die Seele der
Regierung und Ki-yiṅ’s stärkste Stütze in Pe-kiṅ gewesen war,
liess der junge Kaiser eine zu seiner Beglückwünschung geschickte
[161]Ki-yiṅ degradirt.
englische Gesandtschaft in Tien-tsin zurückweisen und trat ihrem
auf endliche Freigebung der Stadt Kan-ton gerichteten Antrage
mit schroffer Weigerung entgegen. Als darauf keine Gewalt-
schritte folgten, wähnte des Kaisers Umgebung, durch abwehren-
des Verhalten die Barbaren auch ferner schrecken zu können.
»Des Reiches Würde sollte hergestellt, die unglückliche Wirkung
des Krieges beseitigt, die Verträge sollten umgangen werden. Die
Barbaren an des Reiches Grenzen müssten zu ihrer früheren Ehr-
furcht vor der himmlischen Macht zurückkehren und, wie sonst,
dem Himmelssohne unbedingten Gehorsam leisten.« Mu-tšan-ga,
Ki-yiṅ
und andere um den Abschluss und die Ausführung der
Verträge verdiente Männer wurden degradirt und schimpflich be-
straft. Der Erlass des jungen Kaisers lässt Tau-kwaṅ als gut-
müthigen Schwächling erscheinen und bezeichnet Ki-yiṅ als
schamlos und lasterhaft, frech, reuelos, feige, unpatriotisch und
unfähig. »In Kuaṅ-tuṅ hat er den Barbaren zu Gefallen das Volk
unterdrückt. Das Wohl des Staates kümmerte ihn niemals, was
sich besonders bei den Verhandlungen über den Eintritt der Bar-
baren in die Stadt Kan-ton deutlich zeigte. So fremd war er
allen Grundsätzen der himmlischen Gerechtigkeit und allen mensch-
lichen Gefühlen, dass Feindseligkeiten entstanden, wo sie gar nicht
erwartet werden konnten. Zum Glück erkannte des hingeschiede-
nen Kaisers Majestät die Zweideutigkeit des Mannes und befahl
ihm nach der Hauptstadt zu kommen. So oft Ki-yiṅ im Laufe
dieses Jahres vor uns beschieden wurde, sprach er immer von der
Furchtbarkeit der englischen Barbaren; man müsse sich bei allen
Differenzen ihren Wünschen fügen. Er wollte mit diesen Reden
nur seinen Verrath bemänteln, sein Amt und sein Einkommen
wahren u. s. w.« 72)Mu-tšan-ga wurde einfach seines Amtes ent-
hoben, um niemals wieder angestellt zu werden, Ki-yiṅ in die
fünfte Beamtenclasse degradirt und als überzähliger Schreiber einem
Ministerialbureau zugewiesen.


In Kuaṅ-tuṅ und den angrenzenden Landschaften wuchs
seit Ki-yiṅ’s Entfernung 1848 das gesetzlose Treiben, wozu das
unkluge Benehmen des neuen Vice-Königs beitrug. Räuberbanden
des Dreifaltigkeitsbundes lebten in beständigem Krieg mit den
besitzenden Classen und ergänzten sich aus der Zahl der Beraubten.
III. 11
[162]Die Insurgenten von Kuaṅ-si.
Der Hass gegen die schwache und gleichgültige Obrigkeit, welche
dem bürgerlichen Leben keinen Schutz gewährte, steigerte sich mit
dem Selbstgefühl, das die eigene Bewaffnung dem Volke einflösste.
Grossen Zuwachs erhielten die Räuberbanden auch durch die
Bemannung einer Piraten-Flotte von achtundfunfzig Segeln,
1849.welche im October 1849 in einer Bucht des südwestlichen Kuaṅ-
tuṅ
von englischen Schiffen vernichtet wurden; zweitausend
Mann retteten sich mit ihren Waffen und traten zu den
Schaaren der Provinz Kuaṅ-si über. Die amtliche Zeitung
von Pe-kiṅ meldete bald darauf, dass eine starke Rebellenmacht
den kaiserlichen Truppen dort in offenem Felde die Spitze biete.
Seitdem wurden die Zustände immer verzweifelter. So dunkel und
verwirrt die darüber nach Kan-ton gelangenden Nachrichten waren,
so bewiesen sie doch, dass damals mehrere unter sich in keiner
Beziehung stehende Aufrührerbanden, jede für sich stark genug,
um kleine Städte zu nehmen und den Kaiserlichen zu trotzen, in
Kuaṅ-si hausten, von der Bevölkerung aber kaum so sehr
gefürchtet wurden als die Truppen der Regierung, welche wehr-
lose Städte ausraubten, wo die Rebellen nur Vorräthe requirirten.
Die Rebellen kämpften planlos für die Vertreibung der Tartaren
und Herstellung der Miṅ-Dynastie. Eine alte Prophezeiung ver-
kündete, an die Entthronung der Mongolen vor fünfhundert Jahren
anknüpfend, den Sturz der Mandschu für 1851. Im Juli 1850 wurde
am Nordthor von Kan-ton eine aus dem 6. Monat des 2. Jahres
Tien-ti (Himmlische Tugend) datirte Proclamation eines Präten-
denten angeschlagen, der seiner Regierung schon jenen Namen ver-
liehen hatte und als Miṅ-Fürst Münzen prägen liess. Se. Majestät
bot in diesem Aufruf zehntausend Tael Demjenigen, der ihm den
Vice-König Siu-kwaṅ-tsin gefangen zuführen würde. Tien-ti galt
den Fremden in Kan-ton noch lange als das Haupt der Insurrec-
tion, nachdem die Führung in die Hände der Tae-piṅ-Secte über-
gegangen war. Durch Concentrirung um diesen Kern einer kleinen
Schaar religiöser Fanatiker, deren Lehren an die Schriften des
Alten und Neuen Testamentes anknüpften, gewann die Bewegung —
gegen October 1850 — erst wirkliches Gewicht. Die Fremden
blieben mehrere Jahre lang in völliger Unwissenheit von dem
vorgeblichen Christenthume der Rebellen; 1852 gelangte eine aben-
theuerlich klingende Nachricht darüber nach Hong-kong, fand aber
wenig Glauben und Verbreitung. Erst durch die Reise des eng-
[163]Geschichte des Huṅ-siu-tsuen.
lischen Bevollmächtigten Sir G. Bonham, welchen Herr Taylor
Meadows Ende April 1853 auf dem Dampfer Hermes nach Nan-kiṅ
begleitete, erhielt man Gewissheit. Die Mandarinen mögen den
Fremden die religiösen Satzungen der Rebellen aus Besorgniss vor
ihrer Theilnahme verhehlt haben, aber unbegreiflich bleibt es, dass
nicht die Insurgenten, auf Beistand der Christen aus dem
Westen hoffend, mit ihnen Verbindungen anzuknüpfen suchten.
Die ersten verworrenen Darstellungen der Insurrection lassen, auf
dunkele Gerüchte fussend, die Thatsachen nicht mehr mit Sicher-
heit erkennen; die früheste Geschichte der Tae-piṅ-Secte klingt
schon jetzt fast mythisch. Meadows lieferte die gründlichste und
zuverlässigste Arbeit darüber; seinen Berichten ist die folgende Er-
zählung entnommen.


In einem Dorfe des Bezirkes Wu, etwa sieben deutsche Meilen
nordöstlich von Kan-ton, ward 1813 ein Knabe geboren, der schon
in frühester Jugend grosse Begabung zeigte. Seine Eltern, arme
Landleute, machten ihm mit Hülfe von Verwandten den Schul-
besuch bis zum sechszehnten Jahre möglich; dann musste er eine
Weile des Vaters Vieh auf die Weide treiben. Darauf wurde er
Schulmeister im heimathlichen Dorfe, fand Musse zu Fortsetzung
seiner Studien und bereitete sich zur ersten Staats-Prüfung vor.
Wiederholt stellte Huṅ-siu-tsuen sich dazu in Kan-ton, erlangte
aber niemals den ersten Grad. Bei einem solchen Aufenthalt in
der Provinzial-Hauptstadt, wahrscheinlich 1833, erhielt er von einem
bekehrten Chinesen Liaṅ-a-fa, der mit aufrichtigem Glaubenseifer
für die protestantische Mission arbeitete und in jener Zeit viele
religiöse Schriften vertheilte, eine Sammlung von Aufsätzen mit dem
Titel Kiuen-še-liaṅ-yen, »Gute Worte zu Ermahnung des Zeit-
alters«. Einige Capitel aus dem Alten und dem Neuen Testament in
Morrisons Bibel-Uebersetzung waren darin mit Betrachtungen und
Predigten des Verfassers abgedruckt. Huṅ-siu-tsuen scheint das
Buch damals nur obenhin angesehen, dann bei Seite gelegt zu
haben. 1837 liess er sich zu Kan-ton abermals ohne Erfolg prüfen
und verfiel dort, geistig und körperlich erschöpft, in so schwere
Krankheit, dass er im Tragstuhl nach dem heimathlichen Dorfe
gebracht werden musste. Vierzig Tage litt er heftig, glaubte zu
sterben und hatte im Fieber allerlei Visionen. »Er sah einen
Drachen, einen Tiger und einen Hahn, dann viele Männer mit
musicalischen Instrumenten und einen prächtigen Tragstuhl, in
11*
[164]Vision des Huṅ-siu-tsuen.
welchem sie ihn seiner Wohnung entrückten .... Bald gelangten
sie an eine glänzende Stätte; auf beiden Seiten standen schöne
Männer und Weiber, die ihn freudig jubelnd begrüssten. Eine alte
Frau führte ihn vom Tragstuhl zn einem Fluss hinab und sprach:
Du schmutziger Mensch, warum hast du mit jenen Leuten Gemein-
schaft gehabt und dich erniedrigt? Ich muss dich jetzt rein waschen.
— Nach der Waschung trat Huṅ-siu-tsuen mit einer Schaar
tugendhafter Greise, unter denen er viele der alten Weisen
erkannte, in ein grosses Gebäude, wo sie seinen Leib mit einem
Messer öffneten, das Herz und andere Eingeweide herausnahmen
und durch neue von rother Farbe ersetzten. Die Wunde wurde
dann verschlossen und er konnte keine Spur des Einschnittes wahr-
nehmen..... Darauf traten sie in eine grössere Halle, deren Glanz
und Schönheit unbeschreiblich waren. Ein ehrwürdiger Greis mit
goldenem Bart und schwarzen Gewändern sass da auf dem höch-
sten Platz in ausdrucksvoller Stellung. Beim Anblick des Huṅ-siu-
tsuen
vergoss er Thränen und sprach: Alle menschlichen Wesen
in der Welt werden von mir erschaffen und erhalten; sie essen
meine Nahrung und tragen meine Kleidung; aber nicht ein Einziger
hat ein Herz meiner zu gedenken, mich zu verehren. Doch noch
schlimmer: sie nehmen meine Gaben und verehren damit Dämonen;
sie erheben sich gegen mich und reizen meinen Zorn. Ahme du sie
nicht nach. — Darauf gab er Huṅ-siu-tsuen ein Schwert, damit er
die Dämonen ausrotten sollte, — aber seine Brüder und Schwestern
möchte er schonen, — ein Siegel, durch das er die bösen Geister
bezwingen würde, und eine gelbe Frucht von süssem Geschmack.
Gleich nach Empfang dieser Zeichen der königlichen Würde begann
Huṅ-siu-tsuen die in der Halle Versammelten zu ermahnen, dass
sie zu ihrer Pflicht gegen den Alten auf dem Thron zurückkehrten.
Einige antworteten: Wir haben wahrhaftig unsere Pflicht gegen den
Ehrwürdigen versäumt. — Andere sagten: Warum sollen wir ihn
verehren? Lasset uns fröhlich sein und mit unseren Freunden zechen.
Huṅ vergoss Thränen über ihre Verstockung und liess nicht ab mit
Ermahnungen. Der Alte aber sagte ihm: Fasse Muth und verrichte
dein Werk, ich will dir helfen in jeder Noth. — Dann wandte er
sich an die Versammlung der Alten und Tugendhaften und sprach:
Huṅ-siu-tsuen ist seiner Sendung gewachsen. — Er führte ihn hinaus
und liess ihn von oben hinabblicken: Betrachte die Menschen auf
Erden! Hundertfältig ist die Verderbniss ihrer Herzen. Huṅ schaute
[165]Die Schrift des Huṅ-džin.
hinab und erblickte einen solchen Abgrund von Bosheit und Laster, dass
seine Augen den Anblick nicht ertragen, noch sein Mund ihre Thaten
aussprechen konnten u. s. w.« — »Im Verlaufe seiner Krankheit sah
Huṅ vielfach einen Mann in mittleren Jahren, den er seinen älteren
Bruder nannte. Dieser begleitete und belehrte ihn auf seinen Wegen
in die fernsten Weltenden zur Vertilgung der bösen Geister, und
half ihm dieselben überwinden.«


Diese Worte sind den Aufzeichnungen des Huṅ-džin, eines
nahen Verwandten des Huṅ-siu-tsuen, entnommen, welcher im
April 1852 nach Hong-kong flüchtete und dort dem Missionar Ham-
berg
vorgestellt wurde. Er hatte aus der Erinnerung nieder-
geschrieben, was er während einiger Jahre mit Huṅ-siu-tsuen
erlebte. Hamberg zeigte die Hefte im October 1852 dem Missionar
Roberts, der in Huṅ-siu-tsuen einen 1847 von ihm unterrichteten
Chinesen erkannte. Im Februarheft des zu London erscheinenden
Chinese and Missionary Gleaner gab Roberts 1853 darüber eine
Notiz, welche sicher beweist, dass das später publicirte Buch mit
Huṅ-džin’s Erzählung nicht, wie Manche glaubten, eine auf die im
Frühjahr 1853 zu Nan-kiṅ gesammelten Nachrichten gegründete
Fälschung sei. Die vollkommene Uebereinstimmung mit Allem, was
man später durch persönlichen Verkehr mit den Tae-piṅ und durch
ihre Schriften erfuhr, gab aber jener Erzählung historischen Werth.
Man darf kaum zweifeln, dass Huṅ-džin in gutem Glauben berich-
tete. Er blieb später als chinesischer Katechist und Prediger meh-
rere Jahre im Dienste der Missionare zu Hong-kong und erwarb
sich deren unbedingtes Vertrauen, erreichte dann nach mehr-
fachen Versuchen Nan-kiṅ und spielte in den letzten Jahren der
Tae-piṅ-Herrschaft als erster Minister seines Verwandten eine
grosse Rolle. Die schlimme Wandlung, welche der Besitz der
Macht in seinem Charakter bewirkte, ist ebenso wenig ein Beweis
gegen seine frühere Ehrlichkeit, als die mit Huṅ-siu-tsuen vor-
gegangene Wandlung in einen blutdürstigen Despoten die frühere
Wahrhaftigkeit seiner religiösen Schwärmerei in Frage stellt.


Nach des Huṅ-džin Bericht war Huṅ-siu-tsuen während seiner
ganzen Krankheit ohne klares Bewusstsein; seine Verwandten hielten
ihn für irrsinnig. Zuweilen gab er sich für den erwählten Kaiser
von China aus. Der schlechte Erfolg bei den Prüfungen kränkte
offenbar seinen Ehrgeiz; jene Fieberphantasieen erklären sich aber
aus Vorstellungen der buddistischen Anhänger des Confucius und
[166]Bekehrung des Huṅ-siu-tsuen.
aus Erinnerungen an Kapitel der Offenbarung [Johanns] in Liaṅ-a-fa’s
Buch. — Allmälich genas Huṅ-siu-tsuen: »sein Aeusseres und sein
Charakter waren ganz umgewandelt. Er betrug sich umsichtig, offen
und freundlich, und nahm zu an Höhe und Gestalt. Sein Schritt
wurde fest und gemessen, seine Anschauung frei und grossartig.«
Von seinen Visionen pflegte er als einer sonderbaren aber keines-
wegs wichtigen Sache zu reden. Er trat wieder in sein Amt als
Schulmeister und unterzog sich abermals vergebens der Staats-
prüfung in Kan-ton.


Erst nach dem Frieden von Nan-kiṅ scheint Huṅ-siu-tsuen
auf die Fremden des Westens aufmerksam geworden zu sein, deren
Religion er, in den Grundsätzen der heiligen Schriften China’s
erzogen, für finsteren Aberglauben halten musste. Jetzt las er,
durch einen Freund veranlasst, das Buch des Liaṅ-a-fa mit
Aufmerksamkeit: »Er fand darin mit Erstaunen den Schlüssel zu
seinen Visionen..... Er erkannte, dass der ehrwürdige Alte auf
dem höchsten Platze, den alle Menschen anbeten sollten, Gott, der
himmlische Vater, der Mann in mittleren Jahren aber, der ihn bei
Ausrottung der bösen Geister unterwiesen und gestärkt hatte,
Jesus, der Welterlöser sei. Die Dämonen mussten die Götzen sein;
seine Brüder und Schwestern die Menschen auf Erden: Huṅ-siu-
tsuen
glaubte aus einem langen Traum zu erwachen; er freute
sich den richtigen Weg zum Himmel und sichere Hoffnung auf
ewiges Leben und Glückseligkeit gefunden zu haben.« So erzählt
Hamberg nach dem Bericht des Huṅ-džin.


Huṅ-siu-tsuen glaubte sich nun berufen, die Welt, d. h.
China, zu Anbetung des wahren Gottes, des Šan-ti, zurückzu-
führen, welchen der erste Herrscher der ruhmwürdigen Tšau-Dynastie
verehrt hatte. Denn das früheste chinesische Zeitalter kannte einen
persönlichen Gott; dieser Begriff ging erst in den Lehren des Con-
fucius
, im Buddismus und Taoismus unter. — Der Glauben an
Šaṅ-ti musste den Fremden den Sieg über die götzendienerischen
Mandschu verliehen haben. Huṅ-siu-tsuen und sein Freund Li
tauften sich selbst und begannen in ihrem Dorfe nach dem Beispiel
Liaṅ-a-fa zu predigen, dessen Missionsthätigkeit in seinem Buche
beschrieben war. — Wie weit damals schon die Schwärmerei
des Huṅ-siu-tsuen mit Ehrsucht versetzt war, lässt sich nicht
ermessen. Seine Haltung in späteren Jahren zeigt, dass diese
Leidenschaft sogar zu maasslosem Grössenwahn in ihm ausartete
[167]Die Gemeinden der Gottesverehrer.
und alle anderen Regungen verschlang. Aber das steht fest,
dass er Jahre lang seine Lehren ohne selbstsüchtiges Streben pre-
digte, den Götzendienst ohne Menschenfurcht verfolgte, eine grosse
Gemeinde um sich sammelte und seine Schaaren zu unerhörten
Erfolgen führte. Seine unbedingte Herrschaft über die Geister lässt
sich kaum anders erklären, als aus der Tiefe und Festigkeit seiner
Ueberzeugung und dem Glauben an seine göttliche Sendung.


Einer der eifrigsten Convertiten des Huṅ-siu-tsuen war
Fuṅ-yuṅ-san, Schulmeister eines Nachbardorfes. Da Beide die
Gedächtnisstafeln des Confucius aus ihren Schulstuben entfernten,
so verödeten diese bald gänzlich. Huṅ und Fuṅ mussten nach
neuem Broderwerbe umschauen und zogen mit Pinseln und Tusche
hausirend durch das Land. Anfang 1844 gelangten sie, durch die
Provinz Kuaṅ-si wandernd, in das Gebiet der Miao-tse, unab-
hängiger Bergbewohner, auf deren Bekehrung sie grosse Hoffnungen
setzten, mussten aber wegen Unkunde der Sprache umkehren
und fanden Zuflucht bei einem Verwandten des Huṅ-siu-tsuen im
Bezirke Kwei, wo sie fünf Monat blieben und eine Gemeinde von
etwa hundert Seelen stifteten. Fuṅ-yuṅ-san trat darauf die Rück-
reise an, begegnete aber einigen ihm bekannten Erdarbeitern und
begleitete sie nach dem »Distelberge« im Kwei-piṅ-Bezirk. Hier
schleppte er mit ihnen Erde und bekehrte in kurzer Zeit nicht nur
viele der Tagelöhner, sondern den Arbeitgeber selbst zu der neuen
Lehre. Er blieb mehrere Jahre in dieser Gegend und gründete am
Distelberge Gemeinden von »Gottesverehrern«, welche später der
Kern der politischen Bewegung wurden.


Einen Monat nach Fuṅ verliess auch Huṅ-siu-tsuen seinen
Verwandten Waṅ in Kuaṅ-si und wanderte nach der Heimath, wo
er während der Jahre 1845 und 1846 predigte, religiöse Oden und
Aufsätze schrieb. Im Sommer 1847 soll er nach Kan-ton gegangen
und dort von dem americanischen Geistlichen Roberts zwei Monate
lang unterrichtet worden sein. Dann schien er sich im Dienst der
fremden Missionare dem Predigtamte widmen zu wollen und
verlangte die Taufe, wurde aber abgewiesen, weil er zugleich um
Unterstützung bat, 73) und verliess darauf Kan-ton. Er zog wieder
[168]Bildersturm in Kuaṅ-si.
nach Kuaṅ-si und hörte dort erst bei seinem Verwandten Waṅ
von den Gemeinden der Gottesverehrer am Distelberge, wohin er
sich unverzüglich begab. Die Gesellschaft zählte damals im Kwei-
piṅ
-Bezirk
schon über zweitausend Mitglieder, und die Lehre ver-
breitete sich schnell über die angrenzenden Bezirke. 74) Obwohl
Fuṅ-yuṅ-san die Gemeinden gegründet hatte, wurde doch die
Ueberlegenheit seines Lehrers sofort von Allen anerkannt. Dessen
Wahn seiner göttlichen Sendung und seine in Kan-ton erworbene
Bibelkenntniss mögen ihm die Autorität gesichert haben.


Meadows hat mit Recht darauf hingewiesen, wie sehr
namentlich die Apostelgeschichte auf die Chinesen wirken musste;
die bürgerlichen Verhältnisse hatten mit denen des römischen
Reiches grosse Aehnlichkeit. Da gab es Gilden und Handelszünfte,
welche selbstständig auftraten und Feste zu Ehren ihrer Schutz-
götzen feierten; da kam der Bezirkshauptmann gleich dem Stadt-
schreiber von Ephesus in seinem Tragstuhl und redete zum Volke.
Der gröbste Aberglauben beherrschte die Menge. Begriffe wie
Teufelsbeschwörer, Geisterbanner, Zauberer, böse Geister und
Götzen, mit denen wir keine lebendige Vorstellung mehr verbinden,
sind der Anschauung des heutigen Chinesen so geläufig wie sie dem
alten Römer waren. Huṅ-siu-tsuen mag sich dem Apostel Paulus
verglichen haben und ahmte ihn nach im Feuereifer gegen den
Götzendienst. Er drohte den Ungläubigen die schlimmsten Höl-
lenstrafen: »Zu viel Geduld und Demuth passen nicht in unsere
Zeiten, denn damit könnte man dieses verstockte Geschlecht nicht
zügeln.« Er zerstörte ein in Kuaṅ-si weit berühmtes Götzenbild
und veranlasste einen wüthenden Bildersturm, welcher die Gottes-
verehrer zuerst mit der Obrigkeit in Collision brachte. Ein reicher
Mann aus der Classe der Studirten, Waṅ, trat öffentlich als An-
kläger auf und beschuldigte die Gottesverehrer rebellischer Absichten.
Fuṅ-yuṅ-san und einer seiner Gefährten wurden eingekerkert; die
Bestechungen des fanatischen Waṅ machten ihre Lage bedenklich.
Huṅ-siu-tsuen eilte nach Kan-ton um den Schutz des Ki-yiṅ an-
zuflehen. Dieser war jedoch kurz zuvor abgereist und Huṅ-siu-tsuen
kehrte nach Kuaṅ-si zurück.


[169]Verzückungen der Gottesverehrer.

Unterdessen war Fuṅ-yuṅ-san’s Gefährte im Kerker an Miss-
handlungen gestorben, er selbst unter Bewachung zweier Polizei-
diener nach seiner Heimath abgeschickt worden. »Auf der Reise
aber sprach Fuṅ in seiner gewöhnlichen Art mit grosser Ueber-
zeugung und Beredsamkeit von der wahren Lehre, und sie waren
nicht viele Meilen [gegangen], als die beiden Wächter sich bekehren
liessen.« Sie setzten ihn nicht nur in Freiheit, sondern folgten ihm
auch zum Distelberge und wurden bei der Gemeinde als Taufbedürf-
tige eingeführt. Auf die Nachricht von Huṅ-siu-tsuen’s Reise nach
Kan-ton folgte ihm Fuṅ dahin, fand ihn aber nicht mehr und kehrte
in sein Heimathdorf zurück. Auch Huṅ-siu-tsuen kam im Novem-
ber 1848 wieder in sein Dorf. Er pflegte dort mit seinen älteren
Brüdern die Heerde der Gemeinde zu hüten und traf an den Grenz-
marken oft mit Fuṅ zusammen, der ein ähnliches Hirtenleben führte.
Sie lasen ihren Gefährten auf freiem Felde häufig Abschnitte aus
dem Alten und dem Neuen Testamente vor: »viele der jüngeren
Burschen«, erzählt Huṅ-džin, »welche ihre Ochsen auf den Weide-
platz trieben, sammelten sich um Beide und horchten mit Spannung
ihren Lehren.«


Im Juli 1849 kehrten sie nach dem Distelberge zurück, wo1849.
sich »während ihrer Abwesenheit in Kuaṅ-tuṅ bei der Gemeinde
der Gottesverehrer allerlei Merkwürdiges zugetragen hatte, das
Zwietracht unter den Brüdern erregte. Zuweilen geschah es näm-
lich, dass, wenn sie versammelt zum Gebet niederknieten, Einer
oder der Andere plötzlich einen Zufall bekam, so dass er nieder-
stürzte und sein Körper sich über und über mit Schweiss bedeckte.
In solchem ekstatischen Zustande stiess er dann, vom Geiste ge-
trieben, Worte der Ermahnung, des Vorwurfs oder der Weissagung
aus. Die Sätze waren oft unverständlich, und meistens rhythmisch
geordnet. Die merkwürdigsten dieser Aeusserungen hatten die
Brüder in einem Buche niedergeschrieben und legten sie nun Huṅ-
siu-tsuen
vor, der die Geister nach der Wahrheit der Lehre be-
urtheilte, und entschied, dass die Reden der Verzückten theils
wahr, theils falsch seien. Er bestätigte damit die von Yaṅ-sin-tsiṅ
schon ausgesprochene Ansicht, dass sie theils von Gott und theils
vom Teufel seien.«


Yaṅ-sin-tsiṅ war ein Mann von geringem Herkommen und
grosser Begabung, der sich dem Bekehrungswerke eifrig gewidmet
und damals schon bei den Gemeinden Einfluss gewonnen hatte.
[170]Vorspiele der Auflehnung.
Seine Verzückungen und die eines anderen »Bruders« Siao-tšao-wui
bezeichnete Huṅ-siu-tsuen als gottgesandt. Yaṅ-sin pflegte im Namen
des himmlischen Vaters zu reden, Siao-tšao im Namen Jesu. Des
Ersteren Worte waren ernst und furchtbar; er weissagte künftige
Ereignisse, ermahnte zur Tugend, brandmarkte das Laster und heilte
oft Kranke durch Gebet. Siao-tšao redete milder und gütiger. —
So berichtet Huṅ-džin im Einklang mit den viel späteren Mitthei-
lungen der Tae-piṅ-Fürsten zu Nan-kiṅ, unter welchen jene Beiden
selbst die vornehmsten waren.


Trotz seiner längeren Abwesenheit und trotz den Ver-
zückungen des Yaṅ und des Siao sahen die Gottesverehrer Huṅ-
siu-tsuen
beständig als ihr Haupt an. Er zählte jetzt siebenund-
dreissig Jahre und hatte sich sehr verändert. Ernst und zurückhaltend
in seinem Wesen und rein von Sitten strafte er rücksichtslos jeden
Fehler der Seinen, und Alle duldeten es ohne Murren. Einige Monat
nach dem Tode des Kaisers Tau-kwaṅ — im Juni oder Juli 1850 —
sandte er drei Brüder der Gemeinde nach seiner Heimath, um seine
ganze Familie holen zu lassen. Nach Huṅ-džin’s Erzählung hätte
er damals schon den Gedanken der Auflehnung gegen die Mandschu
gefasst. Die Zahl seiner Anhänger war dermaassen gewachsen und
ihr Bekenntniss stritt so heftig gegen die bestehende Ordnung, dass
die Nothwendigkeit des Kampfes zu Tage lag. Die Aussichten einer
Erhebung schienen günstig; denn in Kuaṅ-si war das Ansehn der
Dynastie tief erschüttert; überall boten Rebellenschaaren den kaiser-
lichen Truppen offenen Trotz, und die angesessene Bevölkerung
hasste letztere weit mehr als die Aufrührer. Dazu kam eine natür-
liche Spaltung in der Bevölkerung von Kuaṅ-si. Neben den in die
Berge gedrängten Miao-tse wohnten dort Chinesen, deren Vor-
fahren in zwei weit von einander entfernten Perioden aus Kuaṅ-tuṅ
einwanderten. Die Nachkommen der älteren Colonie hiessen Pun-ti,
die der jüngeren Kei-kia. Die Pun-ti müssen sehr früh nach Kuaṅ-si
gekommen sein, denn das Wort bedeutet »eingeboren«. Sie besitzen
die wohlhabendsten Städte und Dörfer und bilden das conservative
Element der Bevölkerung. Die Kei-kia, »Fremden«, wohnen auch
schon seit mehreren Generationen in Kuaṅ-si und haben dort Städte
und Dörfer; ihr Dialect gleicht aber dem von Kuaṅ-tuṅ viel mehr
als der der Pun-ti, mit welchen sie immer in Spannung lebten.
Alle Dreifaltigkeitsbündler in Kuaṅ-si gehörten zu den Kei-kia,
ebenso alle »Gottesverehrer« der Gemeinden des Huṅ-siu-tsuen.
[171]Concentrirung und Gütergemeinschaft der Tae-piṅ.
Nun entspann sich im Sommer 1850 zwischen den Pun-ti und
Kei-kia um den Besitz eines Mädchens eine heftige Fehde, in
welcher die Obrigkeit auf Seite der ersteren trat. Zu schwach
oder zu indolent ihnen thätig zu helfen, scheint sie die Pun-ti zur
Selbsthülfe getrieben zu haben, und veranlasste einen Bürgerkrieg,
welcher die ganze Kei-kia-Bevölkerung zum Aufstande trieb.


So bedurfte es nur der Concentrirung um einen Führer,
um den Kaiserlichen gleich mit gewaltiger Masse entgegenzutreten;
aber dazu scheint Huṅ-siu-tsuen die bewegende Thatkraft und
militärische Begabung gefehlt zu haben. Hatte er die Absicht die
Mandschu zu stürzen, so liess er sich doch von den Ereignissen treiben
und blieb auch in der Folge nur das geistliche Haupt der Bewegung.
Während die militärische und politische Leitung in die Hände An-
derer, vorzüglich des Yaṅ-sin-tsiṅ überging, fuhr Huṅ-siu-tsuen
fort sich der Ausbildung seiner Lehre zu widmen und sittlich auf seine
Schaaren zu wirken, welche er mit puritanischer Strenge discipli-
nirte und durch Erweckung des Glaubens an göttliche Hülfe unüber-
windlich machte. Dass damals Entschlüsse in ihm reiften, beweist
der Umstand, dass er im Sommer 1850 seine Anhänger zum Ver-
kauf aller liegenden Habe und Ablieferung des Geldes in die gemein-
schaftliche Kasse antrieb, aus der alle genährt und gekleidet wur-
den. Aller Besitz sollte gemeinsam sein, Keiner etwas Eigenes
haben. Wie gross sein Ansehn gewesen sein muss, lässt die Durch-
führung dieser radicalen Maassregel erkennen.


Im Spätsommer 1850, um dieselbe Zeit, als die Kei-
kia
aufstanden, waren auch die Gottesverehrer am Distelberge
wieder in Conflict mit der Obrigkeit gerathen. Ein wegen Bil-
dersturmes eingekerkerter Verwandter des Huṅ-siu-tsuen starb
an Misshandlungen; er selbst und Fuṅ-yuṅ-san sollten ver-
haftet werden als Gründer einer Gesellschaft, »die nicht nur
beschuldigt sei, den Gottesdienst Anderer zu stören, sondern
auch die Banditen zu begünstigen und insgeheim verbrecherische
Absichten gegen die Obrigkeit zu hegen«. Huṅ und Fuṅ flüch-
teten mit wenigen Begleitern nach dem Hause eines Freundes in
enger auf einem einzigen schmalen Pfade zugänglicher Gebirgs-
schlucht. Die Mandarinen erkundeten ihre Zuflucht und besetzten
den Pass mit Soldaten; Huṅ und die Anderen wurden dort aus-
gehungert oder gefangen, wenn nicht Hülfe kam. Da zeigte Yaṅ-
sin-tsiṅ
zum ersten Male seine Kraft und Fähigkeit. Von der Ge-
[172]Die ersten Operationen der Tae-piṅ.
fahr seiner Freunde unterrichtet, fiel er in Verzückung und be-
geistete die Brüder am Distelberge zu schnellem Handeln. Sie
rückten vor den Engpass, schlugen die Kaiserlichen und entführten
1850.ihre Freunde im Triumph. Das geschah im October 1850.


Nun waren die Würfel gefallen. Huṅ-siu-tsuen sandte zu
den zerstreuten Gemeinden und entbot sie alle zu sich. In dichten
Schaaren strömten die Gottesverehrer herbei; ein gewisser Wei-
tšiṅ
, der spätere »Fürst des Nordens« kam allein mit Tausend
seines Stammes.


Die erste militärische Bewegung im November oder Decem-
ber 1850 galt der reichen Marktstadt beim Distelberge, wo zahl-
reiche Verstärkungen zu den Tae-piṅ stiessen. Kaiserliche Truppen
bezogen ein Lager in respectvoller Entfernung und wagten nicht,
die befestigte Stadt anzugreifen. Nachdem die Tae-piṅ ihre Vor-
räthe aufgezehrt und die Kaiserlichen sich so weit verstärkt hatten,
dass Einschliessung drohte, räumte Huṅ-siu-tsuen den Platz bei
Nacht und zog sich in guter Ordnung zurück. Die nachgeschick-
ten Truppen litten starken Verlust und rächten sich durch
Plünderung der wehrlosen Stadt, welche die Tae-piṅ geschont
hatten. Diese boten den Kaiserlichen die Spitze in einer neuen
festen Stellung und verliessen sie erst wieder, als Mangel eintrat
und Umzingelung drohte. Aehnlich operirten sie in den nächsten
Monaten; sie schlugen alle Angriffe ab, wussten immer einen geord-
neten Rückzug zu bewirken und verstärkten sich bei jedem Schritt.
Die amtliche Zeitung von Pe-kiṅ verkündete lauter Siege; die
Tae-piṅ gewannen aber mit jeder Bewegung eine wichtigere Po-
sition, zuerst Landstädte, dann Bezirks-, dann Kreisstädte.


Vor der Tae-piṅ Concentrirung war die Regierung in
Pe-kiṅ den Aufständen in Kuaṅ-si nur dadurch begegnet, dass sie
dem Vice-König Siu-kwaṅ-tsin die Dämpfung derselben befahl.
Jetzt sandte sie den hochbetagten Lin-tse-tsiu als kaiserlichen
Bevollmächtigten, welcher auf der Reise starb. Darauf kamen zwei
andere Commissare, Li-siṅ-yuen und Tšan-ten-kio, letzterer
zugleich als Statthalter von Kuaṅ-si. Diese Beiden und der Vice-
König Siu-kwaṅ-tsin, der sich in der Provinzial-Hauptstadt
Kwei-liṅ festsetzte, waren die Commandeure, welche den Tae-piṅ
in den ersten sechs Monaten mit unzureichender Streitmacht begegne-
ten. In diesem Zeitraum wussten aber die Häupter der Bewegung
ihre Schaaren so fest und sicher zu organisiren, wie die Grösse des
[173]Tae-piṅ-Manifest.
Unternehmens forderte. Huṅ-siu-tsuen nannte sich jetzt »Himm-
lischer Fürst« und »Jüngerer Bruder Christi«. Folgendes Manifest
bezeichnet die von den Tae-piṅ bald nach ihrer Constituirung als
politische Parthei eingenommene Stellung, welche sie lange Zeit
ohne Rücksicht auf momentanen Vortheil festhielten:


»Unser himmlischer Fürst hat die göttliche Sendung erhal-
ten, die Mandschu auszurotten, — sie von Grund aus zu vertilgen,
Männer, Weiber, Kinder, — alle Götzendiener auszurotten und das
Reich als sein rechtmässiger Herr in Besitz zu nehmen. Das
Reich und Alles was darin ist, gehört ihm; seine Berge und Flüsse,
seine weiten Ebenen und öffentlichen Schatzkammern; ihr und
Alles was ihr habt, euere Familie männlich und weiblich von euch
selbst bis zu euerem jüngsten Kinde und euer Eigenthum vom
ererbten Stammgut bis zum Armband des Neugebornen. Wir ver-
fügen über die Dienste Aller und wir nehmen Alles. Alle, die uns
widerstreben, sind Rebellen und teuflische Götzendiener; wir tödten
sie ohne Jemand zu schonen. Wer unseren himmlischen Fürsten
aber anerkennt und sich in unserem Dienste bemüht, soll vollen
Lohn erhalten, gebührende Ehre und Rang im Heer und am Hof
unseres himmlischen Hauses.«


Folgende aus den ersten Jahren der Tae-piṅ-Bewegung
stammende Proclamationen, welche in dem 1852 zu Nan-kiṅ ge-
druckten »Buch der himmlischen Befehle und Bestimmungen des
kaiserlichen Willens« zu finden sind, geben einen Begriff von
der damaligen Gestalt ihres Aberglaubens und ihrer sittlichen
Haltung. 75)


[174]Proclamationen der Tae-piṅ.

»Am vierzehnten Tage des dritten Mondes des Sin-kae-Jahres
redete der himmlische Vater im Dorfe Tuṅ-hiaṅ die Menge also an:
O meine Kinder! Kennet ihr euren himmlischen Vater und euren
himmlischen älteren Bruder? Worauf Alle antworteten: Wir kennen
unseren himmlischen Vater und unseren himmlischen älteren Bruder.
Der himmlische Vater sprach: Kennet ihr auch eueren Herrn, gewiss
und wahrhaftig? Worauf sie alle antworteten: Wir kennen unseren
Herrn sehr gut. Der himmlische Vater sagte: Ich habe eueren Herrn
auf die Erde hinabgesandt, damit er der himmlische König werde.
Jedes Wort, das er redet, ist ein himmlischer Befehl. Ihr müsst ge-
horsam sein; ihr müsst in Wahrhaftigkeit euerem Herrn dienen und
eueren König achten. Ihr dürfet nicht wagen, zügellos zu handeln
oder euch unehrerbietig zu gebahren. Wer von euch seinen Herrn und
König nicht scheuet, wird in Bedrängniss gerathen.«


»Am achtzehnten Tage des dritten Mondes des Sin-kae-Jahres
redete der himmlische ältere Bruder, der Heiland Jesus, im Dorfe
Tuṅ-hiaṅ zu der Menge und sagte: O meine jüngeren Brüder! Ihr
müsset die himmlischen Gebote halten und den euch ertheilten Befehlen
gehorchen und in Frieden mit einander leben. Ist ein Höherer im
Unrecht und ein Niederer einigermaassen im Recht, oder ist ein Nie-
derer im Unrecht und ein Höherer einigermaassen im Recht, so schrei-
bet nicht wegen des einzelnen Ausdrucks die Sache in ein Buch, noch
knüpfet Fehde und Feindschaft an. Ihr sollet pflegen was gut ist und
eueren Wandel reinigen; ihr sollet nicht in die Dörfer gehen und das
Geld und Gut der Leute plündern. Wenn ihr in Reihen zum Kampfe
gehet, so sollet ihr nicht weichen. Wenn ihr Geld habet, so müsst
ihr das sagen und nicht glauben, dass es dem Einen oder dem Anderen
gehört. Ihr müsset mit einigem Herzen und einiger Stärke die Berge
und Flüsse erobern. Ihr sollet den Weg zum Himmel finden und
darauf wandeln. Ist auch jetzt die Arbeit mühselig und qualvoll, so
werdet ihr doch allmälich in hohe Aemter gelangen. Wenn, nachdem
ihr unterwiesen seid, noch Jemand die Gebote des Himmels bricht
und die euch gegebenen Befehle missachtet, wenn ihr eueren Officieren
nicht gehorchet oder, in die Schlacht geführt, zurückweichet, so
wundert euch nicht, wenn ich, euer erhabener älterer Bruder, euch zu
tödten befehle.«


Ueber die Einzelnheiten des Winterfeldzuges fehlt es an
75)
[175]Beziehungen der Tae-piṅ zum Dreifaltigkeitsbunde.
Nachrichten, aber das ist sicher, dass die Tae-piṅ, obwohl in
der Defensive bleibend, immer wichtigere Plätze gewannen und sich
beständig verstärkten. So stiessen zwei weibliche Rebellenführer,
jede mit zweitausend Mann, zu Huṅ-siu-tsuen, unterwarfen sich
seinem Befehl und nahmen seine Lehre an. Bald darauf liessen
ihm acht Bandenführer des Dreifaltigkeitsbundes ihre Bereitschaft
zum Beitritt melden. Huṅ-siu-tsuen stellte die Bedingung, dass
sie den wahren Gott verehrten und schickte acht Brüder zu ihrer
Unterweisung, welche jeder mit einem Geldgeschenk zurückkehrten.
Die Dreifaltigkeitsbündler marschirten darauf zum Tae-piṅ-Heere
und lagerten sich in der Nähe. Nun hatte einer der zu ihrer Unter-
weisung gesandten Brüder das Geld nicht an die allgemeine Kasse
abgeliefert; Huṅ beschloss dessen Bestrafung nach der vollen
Strenge des Gesetzes und liess ihn enthaupten. Das schreckte
sieben von den Bandenführern dermaassen, dass sie mit ihren
Schaaren wieder abzogen. 76)


Huṅ-siu-tsuen äusserte sich damals über den Dreifaltig-
keitsbund sehr deutlich: er verabscheue dessen abergläubische Ge-
bräuche; auch sei wohl die Ausrottung der Tsiṅ-, nicht aber die
Aufrichtung einer neuen Miṅ-Dynastie zu erzielen. Auf die Zahl
der Anhänger komme es nicht an: »Wenn wir die wahre
Lehre predigen und auf Gottes mächtige Hülfe bauen, so werden
Unserer wenige eine grosse Zahl der Anderen aufwiegen.« Er
befahl auf das strengste, keinen Dreifaltigkeitsbündler aufzu-
nehmen, der nicht den abergläubischen Gebräuchen entsage und
sich zur wahren Lehre bekenne. — Diese puritanische Strenge
und die Gütergemeinschaft scheinen mehrere Jahre lang dem
Tae-piṅ-Heere die Kraft verliehen zu haben, welche zu unbeding-
tem Erfolge führt. Mit dem Aufhören derselben begann der Ver-
fall ihrer Herrschaft.


Im Frühjahr 1851 sandte die kaiserliche Regierung den1851.
Mandschu-General Wu-lan-tae und bald darauf einen anderen
Mandschu vom höchsten Range, den ersten Minister Sae-haṅ-a,
nach Kuaṅ-si. Letzterer kam als Generalissimus mit einem zahl-
[176]Die Lage im Frühjahr 1851.
reichen Stabe auserlesener Mandschu- und Mongolen-Officiere und
einer Leibwache von 200 Tartaren. Ueber den Stand der Dinge
giebt ein Ende April geschriebener Privatbrief des Gouverneurs
von Kuaṅ-si an den Statthalter der Provinz Hu-pi die beste Aus-
kunft. 77) Nach ausführlichen Mittheilungen über seinen Feldzug
seit Anfang März, worin bitter geklagt wird über die Unfähigkeit
und Lässigkeit der Führer und die Feigheit der Truppen, fährt er
fort: »Tae-piṅ und Nan-niṅ (zwei Kreise im Südwesten von
Kuaṅ-si) melden eben, dass sie hart bedrängt werden; Yu-lin und
Po-pi (Bezirke im Süden) sind so gut wie verloren; in Piṅ-lo und
Ho (Bezirke im Westen) ist der General geschlagen und man
weiss nichts von seinem Schicksal. In anderen Gegenden ist das
Land von Rebellen überfluthet. Unsere Geldmittel sind fast
erschöpft und unsere Truppenzahl gering; unsere Officiere sind
uneinig und die Gewalt ist nicht concentrirt. Der Commandeur
der Truppen will eine Fuhre brennender Scheite mit einer Tasse
Wasser löschen. Er lässt auch den Truppen keine Ruhe und
sendet sie bald hier- bald dorthin, so dass sie von den Mär-
schen erschöpft sind...... Ich fürchte, dass wir ein ernstes Un-
glück bekommen, dass die grosse Menge gegen uns aufsteht und
unsere eigenen Leute uns verlassen.« Dann kommen wieder Klagen
über die Eifersucht und Gewissenlosigkeit der Führer und einige
Nachrichten über die Tae-piṅ: »Die Rebellen haben fünf Haupt-
führer: Huṅ-siu-tsuen ist der erste, Fuṅ-yuṅ-san der zweite,
Yaṅ-sin-tsiṅ der dritte, Hu-yi-sien und Tsaṅ-san-su sind die
folgenden. — Huṅ-siu-tsuen ist nicht ein Mann vom Namen Huṅ;
er ist eine Art Barbare. Fuṅ-yuṅ-san ist ein Graduirter des ersten
Grades. Beide sind geschickt im Gebrauch der Truppen. Huṅ-siu-
tsuen
ist ein Barbar, der die alte Kriegskunst übt. Erst verbirgt er
seine Stärke, dann zeigt er sie etwas, dann noch mehr, und zuletzt
kommt er mit grosser Macht heran. Er gewinnt immer zwei Siege
für eine Niederlage....... Die Zahl der Rebellen wächst immer
mehr; je länger unsere Truppen gegen sie kämpfen, desto grösser
wird deren Furcht. Die Rebellen sind meistens kräftig und ver-
wegen; man kann sie auf keine Weise mit einem unordentlichen
Haufen vergleichen, denn ihre Gesetze und Vorschriften sind streng
und deutlich. Unsere Truppen haben keine Spur von Disciplin;
[177]Besetzung von Yuṅ-nan.
der Rückzug wird ihnen leicht, der Vormarsch schwer, und, noch
so sehr ermahnt, bleiben sie schwach und furchtsam wie zuvor.
Persönlich commandirend in jenen Schlachten fand ich die Truppen,
welche aus den verschiedensten Gegenden stammten, alle gleich
unbrauchbar u. s. w.«


Eine etwas später verfasste Denkschrift des Tartarengenerals
Wu-lan-tae schreibt den Verfall des Heeres seinen Niederlagen
im Kriege mit den Barbaren zu. Die Truppen sehen Flucht am
Vorabend der Schlacht als »alte Gewohnheit«, das Aufgeben einer
Stellung als »gewöhnlichen Hergang« an. Sie handeln ohne und
gegen den Befehl ihrer Officiere. Die grosse Zahl der Banditen und
Anhänger verbrecherischer Genossenschaften sind der Ohnmacht
des Heeres im Kriege mit den Barbaren inne geworden und fürch-
ten es nicht mehr.


Die amtliche Zeitung von Pe-kiṅ brachte den Sommer 1851
hindurch viele Siegesnachrichten, daneben aber auch Denkschriften
wie die erwähnte, und kaiserliche Decrete voll scharfen Tadels
gegen die Truppenführer und Beamten in Kuaṅ-si, deren mehrere
degradirt wurden. Im Mai durchbrachen die Tae-piṅ die Stellung
der Kaiserlichen an ihrem stärksten Punkt und rückten in den bis
dahin unberührten Siaṅ-Bezirk. Ueber ihre nächsten Bewegungen
ist man im Unklaren. Am 27. August aber besetzten sie die Be-
zirksstadt Yuṅ-nan, wo sie den ganzen Winter blieben. Sie rich-
teten hier zuerst eine Hofhaltung ein und gaben ihrer politischen
Verfassung festere Gestalt. Huṅ-siu-tsuen hielt einen pomphaften
Umzug und liess sich als ersten Kaiser der neuen Dynastie ausrufen.
Ende November erliess er folgendes Manifest:


»Unser himmlischer Vater, der grosse Gott und höchste Herr
ist ein einiger wahrer Geist. Neben unserem himmlischen Vater dem
grossen Gott und höchsten Herrn giebt es keinen Gott. Der grosse
Gott unser himmlischer Vater und höchster Herr ist allwissend, all-
mächtig und allgegenwärtig, der Höchste über Alles. Es giebt kein
Wesen, das nicht von ihm geschaffen und erhalten wird. Er ist Šaṅ
(der Höchste); er ist Ti (der Herr). Ausser dem grossen Gott unserem
himmlischen Vater und höchsten Herrn giebt es Niemand der Šaṅ und
Niemand der Ti genannt werden kann.


Deshalb möget ihr Soldaten und Officiere uns von nun an als
eueren Herrn bezeichnen; und das ist Alles. Ihr dürft mich nicht den
höchsten nennen, sonst fehlt ihr gegen den Namen unseres himmlischen

III. 12
[178]Tae-pin-Manifest.
Vaters. Unser himmlischer Vater ist unser heiliger Vater, und unser
himmlischer älterer Bruder ist unser heiliger Herr der Erlöser der
Welt. Unser himmlischer Vater und unser göttlicher älterer Bruder
allein sind also heilig; und von jetzt an möget ihr Soldaten und
Officiere uns als eueren Herrn bezeichnen; das ist Alles. Aber ihr
dürft mich nicht heilig nennen, sonst fehlt ihr gegen die Benennung
unseres himmlischen Vaters und unseres göttlichen älteren Bruders.
Der grosse Gott unser himmlischer Vater ist unser geistiger Vater und
unser geistlicher Vater. Früher hatten wir euch befohlen, den ersten
und zweiten Staatsminister und die commandirenden Generale der Vor-
hut und der Nachhut des Heeres mit dem Namen »königlicher Vater«
zu bezeichnen, was ein vorübergehendes Zugeständniss an die verderb-
ten Gebräuche der heutigen Welt war. Es war aber nach der wahren
Lehre eine kleine Beeinträchtigung der Vorrechte unseres himmlischen
Vaters; denn unser himmlischer Vater allein ist zu dem Vaternamen
berechtigt. Wir haben nun angeordnet, dass unser erster Staats-
minister und Obergeneral als König des Ostens bezeichnet werden
soll, welcher über alle Staaten der östlichen Gegenden gesetzt ist.
Wir haben ferner angeordnet, dass unser zweiter Staatsminister und
Hülfs-Obergeneral als König des Westens bezeichnet werde, welcher
über alle Staaten der westlichen Gegend gesetzt ist. Wir haben auch
angeordnet, dass der Commandirende der Vorhut als König des
Südens bezeichnet werde, der über alle Staaten der südlichen Gegend
gesetzt sein soll. Wir haben ferner angeordnet, dass der Comman-
dirende der Nachhut als König des Nordens bezeichnet werde, welcher
über alle Staaten der nördlichen Gegend gesetzt sein soll. Wir haben
endlich unseren Bruder Ši-ta-kae zum Hülfskönig ernannt, damit er
unseren himmlischen Hof stützen helfe. Alle oben genannten Könige
sollen unter Leitung des Königs von Osten stehen. Wir haben
auch eine Kundgebung erlassen, durch welche unsere Gemalin als Frau
aller Frauen (Kaiserin) und unsere Nebenfrauen als königliche Frauen
bezeichnet werden. Beachtet Dieses.«
78)


[179]Aufbruch aus Yuṅ-nan.

Der Fürst des Ostens war Yaṅ-sin-tsiṅ, Fürst des Westens
Siao-tšao-wui, Fürst des Südens Fuṅ-yuṅ-san, Fürst des Nordens
Wei-tšiṅ. Diesen zunächst scheinen neun hohe Staatsbeamte den
verschiedenen Zweigen der Verwaltung vorgestanden zu haben.
Nach dem Privatbriefe des Gouverneurs von Kuaṅ-si hätte das
Tae-piṅ-Heer schon im Frühjahr 1851 aus neun »Armeen« zu
13,270 Mann bestanden, was durchaus nicht zu anderen von
Meadows eingezogenen Nachrichten passt, nach denen um die Zeit
der Besetzung von Yuṅ-nan die ganze Zahl nur 16,000 be-
tragen hätte. Jene Angabe ist sicher zu hoch; aus den in
dieser Zeit an das Heer gerichteten Manifesten spricht ein strenger
puritanischer Geist, der wohl auf eine kleine Schaar fanatischer
Streiter von ernster Ueberzeugung, nicht aber auf zusammen-
gelaufene Massen wirken konnte. — Aeusserlich hatte das Heer
eine feste Organisation. Die Tracht der Officiere bis zu den
Königen hinauf war genau vorgeschrieben und sehr bunt. Als
gemeinsames Zeichen der Auflehnung gegen die Mandschu schnitten
alle Tae-piṅ sich den Zopf ab und liessen das Haar auf dem gan-
zen Kopfe wachsen.


Während des Winters wurden die Rebellen in Yuṅ-nan von
den Kaiserlichen immer enger eingeschlossen und verloren allmälich
alle Stellungen ausserhalb der Stadt. Das Pulver ging ihnen aus
und der Mundvorrath wurde immer knapper; sie mussten sich durch-
schlagen. In der Nacht zum 7. April 1852 rückten sie in drei1852.
Colonnen aus, durchbrachen unter starkem Verlust die kaiserlichen
Linien und marschirten unangefochten weiter, da das feindliche Heer
in gänzliche Auflösung gerieth. 79) Sie rückten vor die Provinzial-
78)
12*
[180]Feldzug 1852—53.
Hauptstadt Kwei-liṅ, das Hauptquartier des Vice-Königs, und be-
lagerten dieselbe einen Monat lang vergebens. Am 19. Mai brach
das Tae-piṅ-Heer nach Norden auf, überschritt die grosse süd-
liche Wasserscheide und trat in die Provinz Hu-nan ein, wo zu-
nächst die Bezirksstadt Tao-tšau genommen wurde. Den Juli, August
und September marschiren sie langsam nordwärts, nehmen eine
Stadt nach der anderen und erheben überall Contributionen.
Den October und November hindurch belagern sie die Provinzial-
Hauptstadt Tšaṅ-ša, um welche die Kaiserlichen allmälich über-
legene Streitkräfte zusammenziehen. Die Tae-piṅ haben unterdessen
eine Flotte von Flussbarken gesammelt, auf der sie, die Belagerung
am 30. November aufhebend, den Fluss Siaṅ hinab nach dem Tuṅ-
tiṅ
-See
fahren. Diesen durchkreuzen sie am 13. December und
gelangen bei Yo-tšaṅ in den Yaṅ-tse-kiaṅ, dann stromabwärts
nach der berühmten DreistadtHan-kau, einem der reichsten Handels-
plätze von China. Hier mündet der Han in den grossen Strom; zu
seinen beiden Seiten liegen die Städte Han-kau und Han-yaṅ, und
auf dem gegenüberliegenden Ufer Wu-tšaṅ, die Hauptstadt der
Provinz Hu-pi, zusammen mit einer Bevölkerung von drei bis vier
Millionen. Am 23. December besetzten die Tae-piṅ die beiden
1853.ersteren Städte; am 12. Januar 1853 erstürmten sie Wu-tšaṅ. Hier
blieben sie einen Monat, mit Rüstungen und Einschiffung der unter-
wegs gesammelten Schätze beschäftigt. Dann segelten sie weiter
stromabwärts, nahmen am 18. Februar Kiu-kiaṅ, einen wichtigen
Platz am Eingang des Po-yaṅ-Sees, und am 24. Februar Gan-kiṅ,
die Hauptstadt der Provinz Gan-wui. In diesen und den benach-
barten Städten bis zur Entfernung von zwei Tagereisen von beiden
Flussufern sammelten sie Geld und Vorräthe, die bald ohne Wei-
teres genommen, bald als Lösegeld eingezogen wurden.


Am 8. März erschien das Tae-piṅ-Heer vor Nan-kiṅ; 80) am
79)
[181]Nan-kiṅ und Tšiṅ-kiaṅ genommen.
19. März sprengten sie ein Stück der nördlichen Stadtmauer und
stürmten die Bresche. Die chinesischen Truppen aus Šan-tuṅ und
Kwei-tšau hielten nicht Stand. Die Tartaren-Garnison war nomi-
nell fünftausend Mann stark; so viele wurden in den Listen geführt
und besoldet. Die Familien hatten sich aber während des zwei-
hundertjährigen Aufenthaltes stark vermehrt; nach Meadows wären
der wehrhaften Männer über siebentausend, und mit Greisen, Frauen
und Kindern über zwanzigtausend Tartaren in Nan-kiṅ gewesen.
Sie wussten, dass sie von den Tae-piṅ keine Gnade erwarten durf-
ten; sie standen zum Schutze des angestammten Herrscherhauses
da, dessen Brod ihre Familien seit Jahrhunderten assen; sie hatten
Weib und Kind, Haus und Hof, Freiheit und Leben zu ver-
lieren und rührten doch keine Hand zum Kampfe. Sie fielen
um Gnade flehend vor den eindringenden Rebellen nieder und liessen
sich ohne Widerstand hinschlachten. »Wir erschlugen sie alle,«
erzählte bald darauf ein Rebellenführer Herrn Meadows, »bis auf
den Neugebornen im Arm der Mutter, und liessen nicht eine Wurzel
zum Aufspriessen. Ihre Leichen wurden in den Yaṅ-tse geworfen.«


Am 1. April fuhr die Flotte der Insurgenten den Strom hinab
nach Tšiṅ-kiaṅ-fu. Die kaiserlichen Dschunken ergriffen schmälich
die Flucht, und die Stadt fiel ohne Gegenwehr. Die Tartaren
waren davongegangen; einige Hundert wurden in den umliegenden
Ortschaften niedergemacht. Am 2. April besetzten die Tae-piṅ
Kwa-tšau
auf dem Nordufer des Stromes und die anderthalb Meilen
davon am Kaiser-Canal gelegene reiche Stadt Yaṅ-tšau. Eine
Strandbatterie von dreiviertel Meilen Länge fiel mit allen Geschützen
in ihre Hände, ohne dass ein Schuss gefeuert wurde. — So eroberten
sie in wenig Tagen die wichtigste strategische Position des chine-
sischen Reiches und hätten den Norden aushungern können, wenn
sie, wie die Engländer zehn Jahre zuvor, auch Herren des Meeres
gewesen wären.


Nan-kiṅ, Tšiṅ-kiaṅ und die anderen wichtigen Punkte wur-
den in kurzer Zeit stark genug befestigt und verproviantirt, um dem
Feinde sicher zu trotzen. Der kaiserliche General der Provinz nahm
mit seinen Truppen eine beobachtende Stellung südlich von Nan-
kiṅ
ein und liess sein Dschunkengeschwader mehrere Meilen ober-
halb der Stadt ankern, wagte aber nicht anzugreifen. — Die Zahl
80)
[182]Tae-piṅ-Herrschaft in Nan-kiṅ.
der Tae-piṅ-Truppen um diese Zeit ist schwer zu schätzen; man
rechnete ihre gegen Nan-kiṅ rückende Streitmacht auf sechszig-
bis achtzigtausend. Dazu kamen wenigstens hunderttausend, viel-
leicht die doppelte Zahl zurückgebliebener Bewohner der besetz-
ten Städte, welche für die Insurgenten arbeiten mussten. Die
waffenfähigen Männer darunter wurden zu Soldaten gepresst und in
die nach dem Norden und Westen detachirten Armeen eingestellt,
während ihre Angehörigen als Geisseln zurückblieben. — Die Tae-
piṅ
nahmen Alles, Mann, Weib, Kind und jede Sache vom gering-
sten Werth, inventarisirten und speicherten Alles, um aus dem
gemeinsamen Vermögen alle Ausgaben zu bestreiten. In dieser
methodischen Ordnung lag noch viele Jahre lang ihre Stärke; denn
der gemeine Mann gab sich rücksichtslos seinen Führern hin, die
für ihn dachten und sorgten. Nan-kiṅ wurde der Mittelpunkt, die
grosse Schatzkammer ihrer Herrschaft; sie behaupteten sich dort
elf Jahre lang. Huṅ-siu-tsuen und seine Könige scheinen geglaubt
zu haben, dass mit der Einnahme der alten südlichen Hauptstadt
der wichtigste Theil ihrer Aufgabe gelöst sei, dass sie von diesem
Mittelpunkt aus das Reich ohne Schwierigkeit unterwerfen könnten.
Hätten sie die begonnene Laufbahn weiter verfolgt, hätten sie sich
mit der ganzen Wucht ihrer sieggewissen Schaaren auf den Norden
geworfen, so möchte sie schwerlich ein kaiserliches Heer vor
Pe-kiṅ aufgehalten haben, und es war, so weit man in der Ge-
schichte mit Wahrscheinlichkeiten rechnen darf, um die Mandschu-
Herrschaft geschehen. Sie gingen aber seit der Besetzung von Nan-
kiṅ
mehr auf Befestigung ihres Ansehns und politische Organisation
als auf Eroberung aus. Huṅ-siu-tsuen umgab sich mit allen Attri-
buten der Kaiserwürde, richtete eine glänzende Hofhaltung ein und
verschloss sich, nur wenigen Vertrauten zugänglich, mehr und mehr
in seinen Palast, wo er, von vielen Frauen umgeben, in theo-
logisches Grübeln versunken sein soll. Die Leitung der Geschäfte
besorgten die fünf Könige, und ordneten die ganze Staatsverwal-
tung nach dem Muster der Einrichtungen in Pe-kiṅ. Mit diesem
Verfahren spachen die Tae-piṅ sich selbst das Urtheil. Als Eroberer
konnten sie wahrscheinlich die Mandschu stürzen, die ihnen weder
an Kriegsmacht noch an Ueberzeugung gewachsen waren. Als
Organisatoren mussten sie unterliegen; denn ihren Besten fehlte die
Einsicht und höhere Bildung, welche das Verständniss der alten
politischen Einrichtungen und deren Umgestaltung in neue lebens-
[183]Die spätere Entwickelung.
fähige forderten. Sie ahmten nur nach; aber ihre communistischen
Satzungen raubten der alten Staatsordnung einen Theil ihrer Grund-
lage; auch war die Masse des Bestehenden, Eingelebten bei aller
inneren Zerrüttung viel zu mächtig, um einer neuen künstlichen
Ordnung zu weichen, welche sich so schwächlich, in so geringem
Umfang geltend machte. — Statt mit dem ganzen Heere nach Nor-
den zu ziehen, blieben die Führer mit dem grössten Theil ihrer
Kerntruppen in Nan-kiṅ. Tšiṅ-kiaṅ und Kwa-tšau erhielten
zuverlässige Garnisonen unter bewährten Führern; das stra-
tegisch unwichtige Yaṅ-tšau, das sie nur seiner Schätze wegen
besetzt hatten, wurde bald wieder aufgegeben. Nach dem Norden,
gegen die Hauptstadt des Reiches zog keiner der fünf Könige;
diesen wichtigsten Feldzug vertrauten sie Untergebenen und schick-
ten nur einen Theil der alten Kerntruppen mit. Einen grossen
Theil des nach Norden marschirenden Heeres scheinen gepresste
Recruten gebildet zu haben; seine unglaublichen Leistungen beweisen
nur die Schwäche des Widerstandes, lassen aber als gewiss an-
nehmen, dass das gesammte Tae-piṅ-Heer unter den alten Führern
sein grosses Ziel erreicht hätte.


Der Zug nach Norden war der einzige Eroberungszug der
Tae-piṅ nach der Besetzung von Nan-kiṅ; ihre späteren Feldzüge
nahmen, nicht unmittelbar auf den Sturz der Mandschu ausgehend,
mehr und mehr den Charakter von Raubzügen an, welche Nan-kiṅ
mit Schätzen und Proviant versorgen mussten. Jedes Jahr rückten
die Heere aus und plünderten einige Provinzen, hielten aber keine
bleibend besetzt. Nur wenige Städte am grossen Strom und die
daran grenzenden Landstriche blieben beständig in ihren Händen.
Huṅ-siu-tsuen’s religiöse Ueberspannung bildete sich zum Irrsinn
aus; seine Lehre entartete in Vergötterung der eigenen kaiserlichen
Person. Auch die Könige bewahrten keineswegs die alte Strenge,
welche die Stärke ihrer Heere war; mehrere sollen ehrgeizige Ab-
sichten gehegt haben und kamen zu jähem Sturz. Neue Würden-
träger wurden ernannt, darunter fähige, zuverlässige und überzeugte
Männer. Seit aber die Eroberung nicht mehr Hauptziel war, ge-
riethen die Tae-piṅ mehr und mehr in die Defensive. Die alten
Kerntruppen starben weg; sie in der früheren Weise zu ergänzen,
fehlte es an Glaubenswahn und Strenge. Man bedurfte der Massen,
und, wenn auch einzelne Vorschriften bleibend aufrecht gehalten
wurden, so ergänzten sich doch die Tae-piṅ-Heere in den späteren
[184]Gefahr für Shang-hae.
Jahren fast durchgängig aus eben so schlechtem Gesindel, wie die
kaiserlichen, und wetteiferten mit diesen in allen Verbrechen.


Als die Rebellen Nan-kiṅ genommen hatten, begann die Be-
völkerung der in dem Landstrich zwischen Tšiṅ-kiaṅ und dem
Meere gelegenen Städte mit ihrer fahrenden Habe auszuwandern;
Shang-hae füllte sich mit Flüchtigen. Der Weg dahin stand dem
Insurgentenheere offen und wäre ihm von kaiserlichen Truppen
kaum bestritten worden. Die fremden Ansiedler organisirten sich
zu einem Freicorps und liessen Erdwerke zum Schutz der Nieder-
lassung aufwerfen, denn man fürchtete das Schlimmste. Wu, der
Präfect von Shang-hae, ein Kantonese, welcher sein Amt erkaufte, 81)
hatte sich schon früher um die Rüstungen bemüht und die kaiser-
liche Flotte im Yaṅ-tse durch eine Anzahl Lorchas verstärkt,
welche, beweglicher und besser bemannt als die Kriegsdschunken,
der Tae-piṅ-Flotte bei Tšiṅ-kiaṅ kurzen Widerstand leisteten.
Jetzt meldete Wu dem englischen Consul, er wünsche die vor
Shang-hae ankernde Corvette Lily zu miethen, und bat, über
die Unziemlichkeit solchen Antrages belehrt, dass für die Opera-
tionen im Yaṅ-tse einige Kriegsdampfer aus Hong-kong ver-
schrieben würden. Vergebens wiederholte er sein Gesuch um Bei-
stand, als der englische Bevollmächtigte Sir George Bonham am
21. März 1853 mit den Dampfern Hermes und Salamander vor
Shang-hae eintraf. Im Verein mit dem Präfecten von Niṅ-po
hatte Wu unterdessen eine Anzahl grösserer Lorchas aus Macao
gerüstet und americanische Schiffe gekauft, welche mit Seeleuten
aller Länder bemannt wurden. Der hohe Sold verführte selbst
Matrosen der Kriegsschiffe zur Desertion. Um die Bevölkerung zu
beruhigen und die Tae-piṅ zu schrecken, verbreiteten die Man-
darinen in der Provinz, dass die Fremden die kaiserliche Flotte
[185]Sir George Bonham vor Nan-kiṅ.
mit ihren Schiffen unterstützen würden. Diese Nachricht, verbun-
den mit der Anwesenheit fremdgetakelter Schiffe im Strom, konnte
die Tae-piṅ gegen die Ausländer reizen. Um nun Jenen die Neu-
tralität der Briten anzuzeigen und Kenntniss vom Stande der Dinge
zu gewinnen, beschloss Sir George Bonham auf dem Hermes nach
Nan-kiṅ hinaufzugehen.


Die Fahrt war glücklich. Am 26. April 1853 ankerte der
Hermes bei der »Silberinsel« unterhalb Tšiṅ-kiaṅ. Als er darauf
bei dem durch die americanischen Schiffe verstärkten Geschwader
vorbeifuhr, folgten ihm diese und griffen die Werke der Rebellen
an, welche deshalb auch auf den Hermes schossen. Ohne zu ant-
worten dampfte die Corvette weiter und ankerte am Morgen des
27. April vor der nördlichen Ecke von Nan-kiṅ. Die Ufer-Batte-
rieen feuerten mehrere Schüsse, schwiegen aber sobald die Eng-
länder durch unterwegs aufgegriffene Chinesen den Tae-piṅ ihre
Friedfertigkeit schriftlich meldeten. Einige Officiere brachten die
Antwort, worauf Sir George Bonham den Secretär Herrn Mea-
dows
nach dem Ufer sandte. Lieutenant Spratt begleitete den-
selben. Am Landungsplatz liefen viele Soldaten zusammen.
Meadows fragte nach dem höchsten Beamten, zu welchem Zutritt
zu erlangen sei, und wurde nach einem Hause der nördlichen Vor-
stadt geleitet. Aus der Thür traten zwei Männer in gelbseidenen
Gewändern. Die Spalier bildenden Soldaten schrieen den Englän-
dern zu, sich niederzuwerfen; Meadows aber grüsste europäisch
und sagte den Beiden seinen Auftrag, eine Zusammenkunft des eng-
lischen Bevollmächtigten mit dem höchsten Würdenträger in Nan-
kiṅ
zu verabreden. Die Gelbgekleideten traten aber schweigend
in das Haus zurück, wohin Meadows und Spratt ohne Umstände
folgten. — Draussen gab es Tumult: Der den Engländern als Führer
gedient hatte, bekam von den Anderen Schläge. — Die Gelben
waren, wie sich später zeigte, der König des Nordens und der
Hülfskönig. Ersterer fragte, nachdem sie sich niedergelassen, Herrn
Meadows, ob er Gott den himmlischen Vater anbete. Auf die Ant-
wort, dass die Engländer das seit achthundert Jahren thäten,
wechselten die Beiden zufriedene Blicke und liessen Stühle bringen.
Nun entspann sich zwischen Meadows und dem Nordkönig ein Ge-
spräch: Jener forschte nach dem Rang und der Stellung der Tae-
piṅ
-Häupter, meldete den Wunsch der englischen Regierung, beim
Kampfe derselben mit den Mandschu vollkommen neutral zu bleiben
[186]Meadows und die Tae-piṅ-Könige.
und fragte nach der Haltung, welche sie im Falle eines Marsches
auf Shang-hae gegen die Fremden zu beobachten dächten. Zugleich
erklärte er, dass der Hermes zu den fremdgetakelten Schiffen im
Flusse, welche, ihm folgend, die Werke bei Tšiṅ-kiaṅ angegriffen
hatten, in keiner Beziehung stehe, und dass die Verheissung der
Mandarinen von der Hülfe der Fremden grundlos sei. Den Verkauf
fremder Fahrzeuge an Chinesen könnten die Consularbehörden nicht
hindern; unter ihrer früheren National-Flagge dürften solche aber
nicht mehr fahren.


Der Nordkönig ging auf diese Auseinandersetzungen wenig
ein, sprach fast nur von seinem Glauben und forschte nach dem
der Engländer: als Kinder und Anbeter Gottes seien alle Menschen
Brüder; ob Meadows die »Himmlischen Gebote« kenne. Dieser
fragte ob deren nicht zehn seien und begann den Anfang herzu-
sagen. Da legte der Nordkönig ihm freudig die Hand auf die
Schulter und sagte wiederholt: »Dieselben wie unsere!« Auch der
Hülfskönig drückte seine Freude aus. Nicht nur Frieden, hiess
es jetzt, sondern innige Freundschaft könne zwischen ihnen sein;
die Engländer möchten landen und nach Gefallen in Nan-kiṅ um-
herwandeln. — Der Nordkönig fragte auch nach Roberts in Kan-
ton
, der ein sehr guter Mann sei, und kam im Laufe des Gespräches
immer wieder darauf zurück, wie er und seine Waffengefährten des
besonderen göttlichen Beistandes genössen, ohne den sie gegen so
überlegene Massen und Rüstungen nichts hätten ausrichten können:
»Es wäre unrecht, wenn ihr den Mandschu helfen wolltet, und
noch mehr, es wäre unnütz. Unser himmlischer Vater hilft uns;
gegen ihn kann niemand kämpfen.«


Man verabredete, dass folgenden Tages ein Tae-piṅ-Beamter
an Bord des Hermes kommen und Sir George Bonham zu der Zu-
sammenkunft abholen solle. Meadows erhielt die Versicherung,
dass derselbe in einem Ya-mum der inneren Stadt Männer von an-
gemessenem Range treffen solle, erreichte aber keine nähere Bezeich-
nung derselben. »Wie hoch der Rang des englischen Commissars
auch sein möge«, sagte der Nordkönig, »er kann nicht so hoch sein,
als der Rang Derjenigen, vor denen Ihr jetzt sitzet. Auf die Frage
über den Tae-piṅ-Kaiser erwiederte der Nord-König, er sei der
»wahre Herr« und als Beherrscher von China auch Herr der ganzen
Welt: »Er ist der zweite Sohn Gottes und alle Völker der Welt
müssen ihm gehorchen.« Und als Meadows nicht antwortete: »Der
[187]Weitere Begegnungen.
wahre Herr ist nicht nur der Herr von China, nicht nur unser
Herr, sondern auch euer Herr!« Meadows sprach von anderen
Dingen und man schied in Freundschaft.


Der vom Nordkönig bezeichnete Beamte kam am folgenden
Morgen nicht; am Nachmittage überreichten zwei andere Officianten
an Bord des Hermes folgenden »Befehl« offen und unversiegelt:


»Durch gegenwärtigen Befehl sollen die Brüder aus der Ferne
von den Regeln des Ceremoniels unterrichtet werden.


Da Gott der himmlische Vater unseren Herrn auf die Erde ge-
sandt hat als wahren Beherrscher aller Völker der Welt, so müssen alle
Menschen der Erde, welche an seinem Hofe erscheinen, den Regeln
des Ceremoniels Gehorsam leisten. Sie müssen Meldungen verfassen,
wer und was sie sind und von wo sie kommen. Erst nach Ueber-
reichung derselben kann eine Audienz bewilligt werden. Gehorchet
diesem Befehl.


Am 24. Tage des 3. Monats des 3. Jahres des himmlischen
Reiches von Tae-piṅ (28. April 1853).


Bemerkung: Es ist kein Siegel beigedruckt, weil euer gestriges
Gesuch keines hatte.«


Meadows schickte dieses Schreiben mit der deutlichen Er-
klärung an die Absender zurück, dass England nationale Gleich-
berechtigung mit allen Staaten der Welt beanspruche. Um das
Verhältniss zur Mandschu-Regierung zu beleuchten, wurde dieser
Mittheilung ein Exemplar des englischen Vertrages beigefügt.


Am folgenden Nachmittage kam Lae, ein gleich nach den
Königen rangirender Würdenträger an Bord und suchte die Wirkung
jenes »Befehles« abzuschwächen, dessen Ton er mit Unkenntniss
der Stellung der »fremden Brüder« entschuldigte. Er zeigte Ver-
ständniss für die Belehrungen des Herrn Meadows und versprach
am folgenden Morgen mit einer angemessenen Zahl Sänften und
Pferden am Ufer zu erscheinen, um den englischen Bevollmächtigten
und sein Gefolge zu den Königen des Ostens und des Nordens zu
führen. — Das Wetter war am 30. April stürmisch. Sir George
Bonham
entschuldigte sich wegen Unwohlsein und schickte Herrn
Meadows, welchen mehrere Officiere des Hermes begleiteten. Sie
erhielten am Ufer Pferde und wurden nach einem Hause geführt,
wo vier Würdenträger sie empfingen. Lae hatte sich zum Ost-König
begeben und kam erst später. Er bat die Engländer dringend, über
Nacht bei ihm zu bleiben. Herr Meadows musste aber wegen der
[188]Die englischen Schiffe gehen stromaufwärts.
von seinem Vorgesetzten gefassten Entschlüsse ablehnen und über-
gab nur ein Schreiben desselben, welches sich über die Macht-
stellung und Neutralität der Engländer verbreitete und Aufschluss
verlangte über die Absichten der Tae-piṅ gegen die Fremden im
Falle eines Angriffes auf Shang-hae. Sir George Bonham meldete
zugleich sein Vorhaben, am folgenden Tage auf dem Hermes weiter
stromaufwärts zu fahren und erbat sich Antwort bei seiner Rückkehr.


Am Morgen des 1. Mai dampfte die Corvette den Yaṅ-tse
hinauf und traf etwa zwanzig kaiserliche Dschunken, von denen
einige Feuer gaben. Sie hatten eine unregelmässige Bemannung,
allem Anschein nach von Kuaṅ-tuṅ-Piraten; Mandarinen waren
nicht an Bord. Kaiserliche Truppen zeigten sich nirgends. Am
folgenden Tage kehrte der Hermes nach Nan-kiṅ zurück, und am
Morgen des 3. Mai wurde folgende auf ein langes Stück gelber
Seide geschriebene Mittheilung an Bord geschickt.


»Von dem himmlischen Tae-piṅ-Reiche durch wahres
göttliches Gebot
Wir


Yaṅ, König des Ostens, Honae (?)
Meister, Herr und Heiler von
Krankheiten, erster Minister und
Oberfeldherr des Heeres


Siao, König des Westens, Hülfs-
minister und zweiter Oberfeld-
herr des Heeres


richten hiermit einen Erlass an die Engländer aus der Ferne, welche
längst den Himmel verehrt haben und jetzt hergekommen sind, unserem
Herrscher ihre Unterwürfigkeit zu beweisen. Wir befehlen ihnen
dringend, keine Zweifel zu hegen und ihre Gemüther zu beruhigen.


Der grosse Gott, der himmlische Vater schuf zu Anfang in
sechs Tagen Himmel und Erde, Land und Meer, Menschen und Dinge.
Von jener Zeit bis jetzt ist die ganze Welt ein Haus gewesen und
Alle innerhalb der vier Meere wohnenden waren Brüder. Es kann
keine Verschiedenheit geben zwischen den Menschen, kein Unterschied
gemacht werden zwischen hoch und niedrig geborenen. Aber seit der
Zeit, da böse Geister in die Herzen der Menschen eindrangen, haben
sie die grosse Gnade Gottes des himmlischen Vaters, Leben zu geben
und zu erhalten, nicht mehr erkannt; sie haben nicht mehr anerkannt
das grosse Verdienst Jesus, des himmlischen Bruders, im Werke der
Erlösung; und sie haben Klumpen von Thon, Holz und Stein in dieser
Welt sonderbare Dinge verrichten lassen. Darum gelang es den Tar-
taren, den teuflischen Hunnen, unser himmlisches Land in Besitz zu
nehmen.


[189]Tae-piṅ-Manifest an Bonham.

Zum Glück aber gaben der himmlische Vater und der himm-
lische Bruder seit frühen Zeiten euch Engländern Offenbarungen; und
ihr verehret seit lange Gott den himmlischen Vater und Jesus den
himmlischen Bruder, so dass die wahre Lehre erhalten blieb und das
Evangelium seine Hüter hatte.


Nun hat glücklicherweise der grosse Gott, der himmlische Vater,
der höchste Herr seine grosse Gnade wieder offenbart. Er hat Engel
gesandt, den himmlischen Fürsten unseren Herrscher in den Himmel
zu bringen, und hat ihm dort in Person die Macht gegeben, aus den
dreiunddreissig Himmeln die bösen Geister wegzufegen, welche er von
dort in diese niedere Welt vertrieben hatte. Zu unserem grossen Heil
hat in dem dritten Mond des Mo-šin-Jahres (April 1848) der grosse
Gott abermals seine unendliche Gnade und Erbarmung gezeigt, indem er
auf die Erde herabstieg, und im neunten Monat hat der Herr, der
Welt-Erlöser, der himmlische Bruder ebenfalls seine grosse Gnade
und Erbarmung gezeigt, indem er zur Erde herabstieg. Seitdem haben
der himmlische Vater und der himmlische Bruder sechs Jahre lang
unsere Angelegenheiten herrlich geleitet und uns mit mächtigem Arme
beigestanden, indem sie zahllose Offenbarungen und Zeugnisse gaben,
viele böse Geister ausrotteten, und unserem himmlischen Fürsten halfen,
die Herrschaft der Welt anzutreten.


Da nun die Engländer weite Strecken nicht zu fern gefunden
haben, sondern gekommen sind ihre Botmässigkeit zu beweisen, so
so sind nicht nur die Heere unseres himmlischen Herrscherhauses in
grosser Freude und Entzückung, sondern auch der himmlische Vater
und der himmlische Bruder werden mit Vergnügen diesen Beweis
euerer Loyalität und Aufrichtigkeit sehen. Deshalb erlassen wir diesen
Specialbefehl, und gestatten euch, dem englischen Häuptling, mit den
Brüdern eueren Untergebenen freien Eingang und Ausgang in vollem
Einklang mit euerem Begehren und Wünschen, sei es, uns bei Aus-
rottung der Teufel zu helfen, sei es, euere gewöhnlichen Handels-
geschäfte zu treiben. Und es ist unsere ernstliche Hoffnung, dass ihr
mit uns das Verdienst haben werdet, eifrig unserem Herrscher zu
dienen und mit uns die Güte des Vaters der Seelen zu vergelten.


Wir gewähren euch Engländern nun die neuen Bücher der Ver-
ordnungen der Tae-piṅ-Dynastie, damit die ganze Welt lernen möge,
den himmlischen Vater und den himmlischen Bruder anzubeten und
zu verehren, auch zu erfahren, wo der himmlische König lebt, damit
Alle dort ihre Huldigungen darbringen mögen, wo die wahre Berufung
geschehen ist.


Ein Specialbefehl zu Belehrung aller Menschen, gegeben am
[190]Bonham’s Antwort und Rückkehr.
26. Tage des 3. Mondes des Kwei-hao-Jahres (1. Mai 1853) des himm-
lischen Reiches von Tae-piṅ


Sir George Bonham antwortete kurz, dass ihm derjenige Theil
dieser Mittheilung ganz unverständlich sei, in welchem die Engländer
als Unterthanen des Tae-piṅ-Herrschers bezeichnet seien; dass die
englische Regierung durch Vertrag mit der chinesischen für ihre
Unterthanen das Recht erlangt habe, in fünf Häfen des Reiches
Handel zu treiben, und dass, wenn die Tae-piṅ wagen sollten,
britische Unterthanen irgendwie an Person oder Eigenthum zu
schädigen, solches Beginnen sofort in ähnlicher Weise gestraft wer-
den solle, wie zehn Jahre zuvor durch Einnahme von Tšiṅ-kiaṅ
und anderen Städten an der kaiserlichen Regierung geschehen sei.


Am 4. Mai in der Frühe verliess der Hermes seinen Anker-
platz vor Nan-kiṅ. Trotz der Versicherung, dass er nicht belästigt
werden solle, sandten die Batterieen am Eingang des Kaiser-Canals
ihm einige Kugeln, ebenso die Werke bei Tšiṅ-kiaṅ. Der Hermes
glitt langsam daran vorbei, gab die Begrüssung mit Zinsen zurück
und ankerte Nachmittags bei der Silberinsel. Alsbald erschien der
Commandant von Tšiṅ-kiaṅ am Ufer und entschuldigte sich wegen
der durch Missverständnisse bewirkten Angriffe.


Der Eindruck des Erlebten war bei den Engländern ein ge-
mischter, und verschieden nach der Auffassung der Betheiligten.
Meadows, der die Verhandlungen führte und besonders durch seine
Sprachkenntniss zu selbstständigem Urtheil berechtigt war, fasste
die günstigste Meinung von den Tae-piṅ, deren Glauben er für rein
und ehrlich, deren Organisation er für lebensfähig hielt. Er glaubte
sie stark genug und berufen die Mandschu zu stürzen, und blieb
dieser Ansicht noch Jahre lang treu, nachdem ihre Lehre schon
zu lästerlichem Aberglauben degenerirt, ihre Führer in wahnwitzige
Selbstvergötterung versunken, die Heere zu wilden Räuberbanden
ausgeartet waren. Das Alles musste Meadows einsehen; er verglich
aber die Tae-piṅ mit den Kaiserlichen, fand alle ihre Schatten-
seiten noch dunkler bei dem Gegner, und die Thatkraft grösser bei
den Rebellen. Er vergass jedoch die Macht des Bestehenden,
durch Jahrhunderte Eingelebten gegenüber jeder schwächlichen
Neuerung; er vergass die Macht der chinesischen Cultur, den tiefen
sittlichen Inhalt der nationalen Moral-Philosophie gegenüber der
sinnlosen Leere des aus missverstandenen Axiomen des Christen-
thumes durch schwachköpfige Schwärmer entwickelten groben
[191]Taylor und Meadows in Tšiṅ-kiaṅ.
und sinnlichen Aberglaubens, welcher das Gehirn der Gründer ver-
zehren musste.


Anfang Juni 1853 besuchte der americanische Missionar
Taylor auf eigene Hand Tšiṅ-kiaṅ, wurde freundlich behandelt
und mit Büchern beschenkt. Der Commandant gab ihm aber ein
an die »fremden Brüder« in Shang-hae gerichtetes Schreiben mit,
in welchem unter Hindeutung auf den durch die fremdgetakelten
Schiffe bei Anwesenheit des Hermes verübten Angriff in freund-
lichem Ton um Unterlassung ähnlicher Besuche gebeten wird, bis
in einigen Monaten die Tartaren gänzlich ausgerottet wären. — Dieser
Wahn war damals bei den Rebellen allgemein; so sicher glaubten
ihre Führer, dass die gegen Norden gesandte Heersäule solchem
Unternehmen gewachsen sei.


Im Juli 1853 ging Herr Meadows in Begleitung des Lieute-
nant Spratt noch einmal in amtlicher Sendung den Yaṅ-tse hinauf.
Durch den hohen Sold verlockt, waren von den englischen Schiffen
viele Matrosen desertirt, und wenn man auch deren Auslieferung
nicht erwarten konnte, so sollte doch eine Demonstration die kaiser-
lichen Behörden abschrecken, in Zukunft Deserteure in Dienst zu
nehmen. Meadows blieb mit seinen Booten mehrere Tage bei dem
unterhalb Tšiṅ-kiaṅ geankerten kaiserlichen Geschwader und forschte
vergebens nach Deserteuren. Darauf gelang es ihm, nach Tšiṅ-
kiaṅ
hinein zu kommen, wo er, vom Commandanten 82) freundlich
aufgenommen, seine gute Meinung von den Rebellen befestigte. Der
persönliche Verkehr mit ihren besten Führern, deren ernste Ge-
sinnung und tiefe Ueberzeugung, die Einigkeit, strenge Zucht und
Sitte, welche damals bei den Garnisonen am Yaṅ-tse, dem vor-
züglichsten Theile des alten Heeres herrschten, machten dem trägen,
gleichgültigen, zucht- und haltungslosen Wesen bei den Kaiserlichen
gegenüber den besten Eindruck. Bei vielen in Shang-hae an-
gesiedelten Fremden fand seine Meinung Anklang: die protestan-
tischen Missionare erwarteten, auf die damals gesammelten Nach-
richten fussend, schnelle Bekehrung des chinesischen Reiches zum
Christenthum. Die Kaufleute hofften von der Tae-piṅ-Herrschaft
Befreiung des Handels von den immer noch drückenden Fesseln;
andere dachten an den grossen Gewinn, den sie durch Waffen-
lieferungen an die Insurgenten erzielen könnten. So bildete sich
[192]Shang-hae von Dreifaltigkeitsbündlern genommen.
eine Parthei, die Jahre lang aus allen Kräften zu Begünstigung der
Rebellen trieb.


Wären die Tae-piṅ im Herbst 1853 auf Shang-hae marschirt,
so konnten sie es ohne Weiteres besetzen. Eine Schaar Dreifaltig-
keitsbündler, etwa fünfzehnhundert Mann, bemächtigte sich am
7. September des Platzes und vertrieb die kaiserlichen Behörden.
Sie hissten ihre eigene und die Flagge der Tae-piṅ, und forderten
Diese zum Bündniss auf. Zwei Emissäre aus Nan-kiṅ sollen damals
nach Shang-hae gekommen sein; sie hätten aber die Götzen in allen
Tempeln aufrecht stehend, das Opiumrauchen und andere Greuel
in vollem Schwange gefunden und deshalb von der Verbindung ab-
gerathen. Auf sich selbst angewiesen behaupteten die Dreifaltig-
keitsbündler sich trotz der Belagerung achtzehn Monate; sie pressten
die waffenfähigen Bewohner zu Soldaten, schlugen sich tapfer und
hätten wohl noch länger ausgehalten wenn sie nicht mit den Fran-
zosen, deren Ansiedelung der Chinesenstadt am nächsten liegt, in
Collision gerathen wären. Die Commandanten der französischen
Kriegsschiffe unterstützten nun die Kaiserlichen mit Mannschaft und
Geschütz. Sie schossen Bresche, aber der Sturm wurde trotz der
Theilnahme von zweihundert französischen Seeleuten abgeschlagen.
Dann bewirkten sie eine engere Einschliessung und schnitten die
Zufuhr ab, worauf Mangel und Unfrieden im Platze entstand, so
dass die Kaiserlichen am 17. Februar 1855 fast ohne Widerstand
eindringen konnten. Viele Insurgenten entkamen. Unter den
unschuldigen Bewohnern, die nur aus Anhänglichkeit für ihre be-
jahrten Eltern, ihre Frauen und Kinder in der Stadt geblieben
waren und gezwungen den Aufrührern dienten, wütheten die Man-
darinen mit ruchloser Blutgier.


In ähnlicher Weise war A-moi im Mai 1853 von Dreifaltig-
keitsbündlern besetzt worden, welche sich sechs Monat hielten und
dann, hart gedrängt, zu Schiffe entflohen. Auch hier übten die
Mandarinen an den unschuldigen Bewohnern Rache.


Im December 1853 fuhr der französische Bevollmächtigte
für China auf dem Kriegsdampfer Cassini den Yaṅ-tse hinauf und
blieb acht Tage vor Nan-kiṅ. — Ende Mai 1854 besuchte der
americanische Gesandte auf dem Susquehanna die Rebellenhaupt-
stadt und fuhr den Strom noch weiter hinauf bis Wu-hu. Ende
Juli desselben Jahres schickte der neue englische Commissar Sir
John Bowring seinen dolmetschenden Secretär Herrn Medhurst
[193]Die fernere Haltung der Tae-piṅ.
mit den Kriegsdampfern Styx und Rattler hin, welche ebenfalls
einige Zeit vor Nan-kiṅ blieben. — Bei diesen Besuchen kamen
die Fremden nur mit Tae-piṅ-Beamten untergeordneten Ranges in
Berührung und konnten nicht Zutritt zu den »Königen« erhalten.
Die Anmaassung der Oberhoheit über alle Länder der Welt stei-
gerte sich mit jedem Besuch. Man bedeutete die Engländer und
Americaner 1854 sogar ausdrücklich, dass es ihre Pflicht sei, dem
himmlischen Kaiser als ihrem Lehnsherrn den Tribut der Vasallen
zu bringen; man nannte sie nicht mehr »fremde Brüder«, sondern
»Barbaren«. Für Chinesen war es unfasslich, dass fremde
Nationen China’s Weltherrschaft nicht anerkannten; bei den
Tae-piṅ mochte deshalb der Verdacht aufsteigen, dass sie ins-
geheim den Mandschu huldigten, mit welchen sie ja Verträge
hatten. Die Besuche der Ausländer mussten ihnen zwecklos schei-
nen und den Argwohn erwecken, dass sie für die Kaiserlichen
Kundschaft einzögen. Während Sir George Bonham im Mai 1853
unbeschränkte Handelsfreiheit für seine Landsleute gewährt wurde,
verlangte man jetzt, dass alle Handelsschiffe bei Tšiṅ-kiaṅ ankern
und sich den Bestimmungen des dortigen Commandanten fügen
sollten. Im Privatverkehr blieben die Tae-piṅ freundschaftlich;
die Fremden konnten sich dem Eindruck nicht verschliessen, dass
ihre Macht im Wachsen sei. — Nach dem Styx und dem Rattler
kamen mehrere Jahre lang, bis zum November 1858, keine fremden
Kriegsschiffe nach den von den Insurgenten besetzten Städten
am Yaṅ-tse.


Die nach der Einnahme von Nan-kiṅ gegen Norden ziehende
Streitmacht der Tae-piṅ setzte am 12. Mai 1853 über den Yaṅ-tse
und schlug ein Tartarencorps von der Nordgrenze der Mandschurei,
auf das der Kaiser grosse Hoffnungen setzte. Am 15. Mai über-
wand sie ein zweites Tartarencorps. Ende Mai nahm sie die Kreis-
hauptstadt Fuṅ-yan und rückte gegen Kae-fuṅ, die Hauptstadt
der Provinz Ho-nan. Ein Sturm auf dieselbe wurde am 22. Juni
abgeschlagen. Nun überschritten die Tae-piṅ den Gelben Fluss
und marschirten auf die Kreisstadt Wae-kiṅ, welche sie, im Felde
von kaiserlichen Truppen bedrängt, zwei Monate lang vergebens
belagerten. Dieser Platz beherrscht den weiter abwärts Wei ge-
nannten Tan-Fluss, welcher in den Kaisercanal mündet. Sie
III. 13
[194]Der Feldzug nach Norden.
hätten von da eine ununterbrochene Wasserstrasse bis Tien-tsin
gehabt, die zwar nicht, wie der Yaṅ-tse, zur Beförderung des
Heeres, wohl aber für den Transport von Munition und Vorräthen
geeignet war. Ein anderer Fluss strömt aus der Gegend von Wae-
kiṅ
nach dem Gelben Strom.


Die Thatsache, dass die Tae-piṅ am 1. September 1853 die
Belagerung von Wae-kiṅ aufhoben und westlich in die Provinz
Šan-si rückten, beweist, dass die Kaiserlichen stark genug waren,
sie von jener Wasserstrasse abzuschneiden. Westlich marschirend,
nahmen die Rebellen jetzt in rascher Folge einige Städte von
Bedeutung, wandten sich von Piṅ-yaṅ zuerst östlich, dann nord-
östlich nach der Gebirgskette, welche die Provinzen Ho-nan und
Tši-li scheidet, überschritten dieselbe auf dem Lin-miṅ-Passe,
schlugen ein Tartarencorps und debouchirten am 29. September in
die Provinz Tši-li, in welcher Pe-kiṅ liegt. In mehreren Colon-
nen marschirend nahmen sie darauf bis zum 6. October mehrere
Städte, schlugen am 8. eine Schiffbrücke über den Fluss Hu-to
und nahmen am 9. die Kreisstadt Tsin-tšau, wo sie vierzehn Tage
rasteten. Am 25. October gelangten sie an den Kaisercanal und
längs desselben nach der Bezirksstadt Tsiṅ-hae und dem etwas
nördlicher gelegenen Tu-lin, einer offenen kleinen Handelsstadt,
die sie am 28. October besetzten. Sie standen hier nur vier
deutsche Meilen von Tien-tsin und kaum über zwanzig von Pe-kiṅ
entfernt. Ein Streifcorps der Tae-piṅ erschien am 30. October vor
Tien-tsin, musste aber mit Verlust umkehren. Schon in den
ersten Tagen des November wurde das Heer in Tsiṅ-hae und
Tu-lin von überlegenen Streitkräften eingeschlossen, welche ihm
theils von Kae-fuṅ gefolgt, theils von Pe-kiṅ entgegengesandt
waren; darunter befanden sich die Mandschu-Garnison der Haupt-
stadt und das Aufgebot von zwei Mongolen-Fürsten, 4500 echte
Nomaden, die von jenseit der Grossen Mauer kamen. In Pe-kiṅ
scheint man in grosser Angst gelebt zu haben. Der Kaiser griff
bei Aufbietung der Mongolen zu seinem letzten Mittel; denn die
Mandschu rufen ungern diese Fürsten zu Hülfe, welche, ihrer Ab-
stammung von Džengis-Khan eingedenk, die Herrschaft nicht
nur über China, sondern über ganz Asien beanspruchen. Die be-
rittenen Nomaden, denen sie gebieten, zählen nach Hunderttausen-
den; ihnen könnten die Mandschu nicht widerstehen, wenn sie ein-
mal über das Reich hereinbrächen. Deshalb suchte die Tsiṅ-
[195]Weitere Operationen im Norden.
Dynastie von jeher sich die Mongolen-Fürsten durch Heirathen zu
verbinden, nahm aber ungern ihren Beistand an.


Die Streitmacht der Tae-piṅ war seit dem Tage, da sie die
Ufer des Yaṅ-tse verliess, von jeder Verbindung mit Nan-kiṅ
abgeschnitten und ganz auf sich selbst angewiesen. Nur verkleidete
Boten konnten sich durchschleichen. Von Anfang seines Marsches
folgte dem Heere ein Theil des Nan-kiṅ gegenüberstehenden Ob-
servationscorps, und die Truppen in den Provinzen verlegten ihm
überall den Weg. Trotzdem durchmaass es in fünf Monaten eine
Strecke von über 250 deutschen Meilen. Unterwegs müssen die
Tae-piṅ aber schwere Verluste erlitten haben, und die Thatsache,
dass sie von der strategisch unwichtigen Stellung in Tsiṅ-hae und
Tu-lin nicht weiter vorrückten, beweist, dass sie es nicht konnten.
Sie waren in der Ebene den wilden Reiterschaaren nicht gewachsen,
welche alle ihre Ausfälle zurückwiesen.


Auf die Nachricht von der Einschliessung ihrer Nordarmee
rüsteten die Tae-piṅ-Führer in Nan-kiṅ ein Heer zu deren Ent-
satz. Ein anderes Corps war ungefähr zu gleicher Zeit mit der
nördlich marschirenden Streitmacht den Yaṅ-tse hinauf nach dem
Po-yaṅ-See gerückt und liess in Gan-kiṅ, der Hauptstadt von
Gan-wui, eine starke Garnison. Dieser Platz diente als Basis für
die ferneren Operationen. Ueber die Bewegungen des nach Norden
gesandten Hülfscorps weiss man wenig Genaues; es überschritt den
Gelben Fluss, rückte am 17. März 1854 in die Hauptstadt des Be-
zirkes Fuṅ ein, nahm, wie der Kaiser sich in einem an seine Feld-
herren gerichteten Erlass ausdrückt, eine Stadt nach der anderen
und erschien am 1. April vor der wichtigen Kreisstadt Lin-tsiṅ.
Auf dieser Strecke muss die Heersäule täglich drei bis vier deutsche
Meilen marschirt sein. Bei Lin-tsiṅ wurde sie von kaiserlichen
Truppen angegriffen, welche den Winter über vor Tsiṅ-hae ge-
standen hatten. Wahrscheinlich bewirkte diese Diversion, dass
die dort eingeschlossenen Tae-piṅ am 5. Februar 1854 den Rück-
marsch antreten konnten. Im März lieferten sie den Kaiserlichen
eine Schlacht und scheinen sich bald nachher mit dem Hülfscorps
vereinigt zu haben, das am 12. April angesichts der kaiserlichen
Truppen, der Mongolen und Mandschu-Reiter Lin-tsiṅ mit Sturm
nahm. Ein Theil der vereinigten Nord-Armee besetzte am 3. Mai
wieder die Bezirksstadt Fuṅ am Gelben Fluss und marschirte dann
nach Süden; der grössere Theil hielt aber noch bis zum März 1855
13*
[196]Raubzüge 1854 und 1855.
verschiedene Gegenden der Provinz besetzt. Nach diesem Datum
sollen keine Tae-piṅ mehr nördlich vom Gelben Flusse gestan-
den haben.


Die nach dem Po-yaṅ-See detachirte Abtheilung begann
im Juni 1853 die Belagerung von Nan-tšaṅ, der Hauptstadt von
Kiaṅ-si, welche im September von kaiserlichen Truppen entsetzt
wurde. Mehrere Tae-piṅ-Corps zogen dann durch die Provinz,
nahmen viele Städte, räumten sie wieder und sammelten Geld und
Vorräthe aller Art, die nach Nan-kiṅ geschleppt wurden. Aehn-
liche Expeditionen in die umliegenden Provinzen unternahmen die
Tae-piṅ im Sommer 1854 und dehnten ihre Feldzüge südwestlich
bis über Tšaṅ-ša, die Hauptstadt von Hu-nan hin aus, westlich in
Hu-pi bis zur Stadt I-tšaṅ am Yaṅ-tse-kiaṅ. Die Dreistadt
Han-kau wurde am 26. Juni 1854 zum zweiten Male genommen
und lieferte neue Schätze. Auf die Nachricht von ihrem Verlust
befahl der Kaiser, den Statthalter der Provinz hinrichten
zu lassen.


Nach dreimonatlicher Occupation räumten die Tae-piṅ
Han-kau
und die meisten anderen Plätze jener Gegend und fuhren
beutebeladen nach Nan-kiṅ; aber schon Anfang 1855 nahmen sie
die Dreistadt abermals mit Sturm. Den ganzen Sommer durch
wüthete der Krieg in Hu-pi und Kiaṅ-si; viele Städte wurden
genommen und wiedergenommen; locale Aufstände mehrten die
Verwüstung. Der jenseit des Gelben Flusses zurückgebliebene
Theil der Nord-Armee insurgirte auf dem Rückmarsch viele Städte
und verstärkte sich durch deren Gesindel; überall stiessen Räuber-
banden zu den Tae-piṅ, welche solche Gemeinschaft jetzt nicht
mehr verschmähten. Mehr und mehr verwilderten ihre Heere; die
Berichte von rohen Verwüstungen und Schandthaten wurden immer
häufiger. »Sie erschlagen die Beamten,« schreibt ein Mandarin aus
Gan-wui, »verfolgen das Volk und zertreten es nach Lust mit den
Füssen. Von Gan-wui westlich nach Ho-nan hinein, durch ein
Gebiet von 300 Li Breite und 1000 Li Umfang liegen die Dörfer
in Trümmern, Leichname sind in allen Richtungen umher-
gestreut. .... Ihre Stärke beträgt nicht ganz 100,000 Mann; sie
breiten sich östlich nach Kiaṅ-su hinein und nördlich bis an die
Grenzen von Šan-tuṅ aus. .... Die Gewässer des Gelben Stro-
mes
sind neulich beunruhigt worden, und die betroffenen Bewoh-
ner, welche kein Obdach mehr haben, werden verführt, sich die-
[197]Die Lehre des Huṅ-siu-tsuen.
sen Banden anzuschliessen.« 83) — Die Provinz Ho-nan war über-
dies von Hungersnoth heimgesucht und im Zustande der furchtbar-
sten Anarchie.


Die blosse Aufzählung dieser Feldzüge, welche, ausgenom-
men den gegen Norden, lauter Raubzüge waren, zeigt schon, dass
die Tae-piṅ-Bewegung ihre politische Bedeutung verloren hatte.
Die Insurgenten verwüsteten von 1853 bis 1856 immer wieder die
grosse Länderstrecke, welche zwischen I-tsaṅ westlich und Tšiṅ-
kiaṅ
östlich zu beiden Seiten des Yaṅ-tse liegt, und drangen bis
in das Herz der Provinzen Gan-wui, Hu-pi, Hu-nan und Kiaṅ-si.
Bleibend hielten sie aber nur Nan-kiṅ und die umliegenden Städte
besetzt, wo unermessliche Schätze aufgehäuft wurden. Sie thaten
den Mandschu durch Verwüstung jener Landschaften nur mittelbar
Schaden, sich selbst aber weit grösseren, da ihr Namen gehasst
und verflucht wurde, so weit man ihn kannte. Ueber gewaltige
Mittel verfügend ermannten sich ihre Führer diese ganze Zeit und
auch später nicht zu einem einzigen Unternehmen von politischer
Bedeutung, sondern lebten planlos in den Tag hinein und gingen
lediglich auf Raub und auf die Behauptung von Nan-kiṅ aus, wel-
ches schon in diesem Zeitraume beständig von kaiserlichen Truppen
belagert, wenn auch nicht wirksam eingeschlossen wurde.


Die Lehre des Huṅ-siu-tsuen in ihrer ursprünglichen Ge-
stalt ist in so fern ein merkwürdiges Phänomen, als sie gewisser-
maassen die unvermittelte Wirkung des Alten und Neuen Testa-
mentes auf den Chinesen darstellt, wobei freilich der sehr unvoll-
kommenen Uebersetzung von Morrison von vorn herein Rechnung
zu tragen ist. Welchen Eindruck unsere heiligen Schriften ohne
die Unterweisung confessioneller Glaubenslehrer auf den in fremder
Gesittung erzogenen Menschen machen, können wir kaum ermessen;
ein rechtgläubiger Katholik oder Protestant würde schwerlich selbst
bei uns aus freier Durchdringung der Bibel hervorgehen. Das
christliche Dogma in seiner heutigen Gestalt ist unter dem Einfluss
der Anlagen und Anschauungen einer bestimmten Völkerfamilie,
bestimmter historischer Ereignisse erwachsen; unter anderen Lebens-
bedingungen würden sich andere Confessionen entwickeln. Jedes
[198]Die Lehre des Huṅ-siu-tsuen.
Bekenntniss hat sein historisches Element. Neben den rein mensch-
lichen Anschauungen, der gemeinsamen Grundlage der Gesittung
aller verschiedenen Völker, hat jeder Stamm seine eigenthümlichen,
nationalen, welche seine Gesittung bedingen. Je stärker ausgeprägt,
je weiter durchgebildet diese sind, desto abweichender müssen
sich, von denselben Grundlagen ausgehend, die Bekenntnisse
der verschiedenen Stämme entwickeln. Die angebornen und
anerzogenen Anschauungen der heutigen Chinesen sind himmelweit
verschieden von denen der Indogermanen. — Huṅ-siu-tsuen eig-
nete sich in seiner Jugend die altchinesische Moral-Philosophie,
wie sie in den heiligen Büchern und den darauf fussenden classi-
schen Schriften enthalten ist, in ihrer vollen Ausdehnung an; von
diesem Standpunkt aus betrachtete er die christlichen Glaubens-
lehren. Der kurze Unterricht des Missionars Roberts scheint wenig
auf ihn gewirkt zu haben, eben so wenig das Buch des Liaṅ-a-fa,
das von geringer Bildung und plumpem Geiste zeugen soll. Huṅ-
siu-tsuen
war dreissig Jahre, als er auf dasselbe aufmerksam
wurde; dass er nachher die Bibelübersetzung von Morrison las,
beweisen seine Schriften. Durch das Studium der heiligen Bücher
seines Volkes hatte sein Seelenleben feste Richtung gewonnen; er
war durch und durch Chinese. Der historische Inhalt der Bibel
mag in der Uebersetzung kaum anders lauten, als Erzählungen von
fernen Stämmen des chinesischen Alterthums. In seinem nationalen
Bewusstsein knüpfte Huṅ an Šaṅ-ti, den höchsten Herrn, an, welchen
uralte Herrscher angebetet haben. Diesen Šaṅ-ti, welcher in den
heiligen Büchern der Chinesen nur selten vorkommt, fand er in der Bibel
auf jedem Blatt; er fand dessen zweiten Namen, Vater, Fu, einen
jedem Chinesen heiligen Begriff, mit dem Worte Himmel, Tien,
verbunden, welches Vorsehung, göttliche Weltordnung, höchstes
Gutes bedeutet, welchem nur der dem Worte Fu beiwohnende Be-
griff der Persönlichkeit fehlt, um die Gottheit selbst zu bezeichnen.
Als Mensch von religiösem Bedürfniss mochte Huṅ-siu-tsuen kaum
zu der atheistischen Deutung neigen, welche die meisten chinesi-
schen Philosophen den Ausdrücken Šaṅ-ti und Tien geben, und
sich schon früh zur deistischen Auslegung derselben bekannt
haben, soweit die Lehren des Confucius das zuliessen. Der Ueber-
gang war um so leichter, als die Sittengesetze in den heiligen
Büchern mit denen der Bibel in Einklang stehen. So knüpft Huṅ-
siu-tsuen
in seinen frühesten Schriften an bekannte chinesische
[199]Die Lehre des Huṅ-siu-tsuen.
Weisheitslehren an und substituirt nur dem »Urgrund aller Dinge«,
der gewöhnlichen Deutung von Saṅ-ti, den uralten Begriff des
höchsten persönlichen Gottes. Sein wichtigstes Werk, das Tae-
piṅ-Tšao-šu
oder Buch der Belehrungen, welches 1853 bekannt
wurde, ist eine an die gebildeten Classen in China gerichtete Recht-
fertigung seiner Glaubenslehren, welche den psychologischen Vor-
gang seiner Bekehrung in klares Licht stellen soll und nach
Meadows’ Ausspruch mit tiefer Kenntniss der chinesischen Literatur
im einfachen Ausdruck eines ernsten Mannes geschrieben ist, dem
mehr daran liegt zu überzeugen als zu glänzen. Er bringt darin
viele Belege aus den heiligen Büchern der Chinesen, stellt aber die
Bibel als unfehlbare Quelle der Wahrheit über dieselben.


In Huṅ-siu-tsuen’s Lehre ist Šaṅ-ti oder Tien-fu der
höchste Gott, der himmlische Vater, den er sich nach alttestament-
licher Weise in menschlicher Gestalt denkt; der allmächtige,
allweise, allgegenwärtige Schöpfer und Erhalter der Welt. Die
Vorsehung ist der Willen dieses persönlichen Gottes. Šaṅ-ti
allein ist Gott: »Selbst der Heiland, der Herr Jesus, wird nur
Herr genannt. Nun ist doch oben im Himmel, unten in der Erde
und unter den Menschen niemand grösser als Jesus. Ist nun selbst
Jesus nicht »Ti«, Gott, wer wagt dann noch sich den Namen »Ti«
anzumaassen.« Hiermit ist die Stellung des Erlösers in Huṅ-siu-
tsuen
’s
Lehre deutlich bezeichnet; Jesus wird nicht als ewiges,
sondern als erschaffenes Wesen gedacht. — Alle Menschen sind
Brüder; ihre Seelen erzeugt der Odem des Schöpfers. Für die
unsterbliche Seele musste Huṅ ein neues Schriftzeichen erfinden,
das er aus den Elementen Mensch und Dunst componirte; denn
die orthodoxe Lehre des Confucius weiss nichts vom künftigen
Leben. Aus dieser hielt Huṅ-siu-tsuen den Grundsatz fest, dass
der Mensch von Ursprung gut ist. Das Böse schreibt er dem be-
ständigen Wirken des Schlangenteufels zu, den er in der Bibel
findet; in der chinesischen Sage nehmen nur gute Geister zuweilen
die Gestalt der Schlange an. Im Bewusstsein der Tae-piṅ trat
der Schlangenteufel an die Stelle des Höllenkönigs Yen-lo-waṅ, wel-
chem man, wie vielen anderen Dämonen, aus abergläubischer
Furcht opfert. Die Götzen sind dem gebildeten Chinesen nur Bil-
der furchtbarer Dämonen, dem grossen Haufen aber die Dämonen
selbst; daher die Lust der Tae-piṅ an Vernichtung, »Tödtung« die-
ser »Teufel«, welche sie so lange in abergläubischer Furcht als
[200]Die zehn Gebote.
die Herren ihrer Geschicke betrachtet hatten. — Die in chine-
sischen Tempeln übliche Anbetung von grossen Männern ver-
urtheilte Huṅ als unverständig, »da sie ja längst gen Himmel ge-
gangen seien«.


Gott ist der »himmlische Vater«; alle Menschen sind Brüder
und Gotteskinder. Jesus ist der Erstgeborene, Tien-Hiuṅ, der
»himmlische ältere Bruder«. Von allen anderen ist Huṅ-siu-tsuen
der grösste; denn er wurde in den Himmel entrückt und sah Gott
von Angesicht zu Angesicht. Er ist Gottes zweiter Sohn, zur
Herrschaft der Welt berufen, also Tien-waṅ der »himmlische
Fürst«, oder Tšiṅ-tšu der »wahre Herr«. In der Vermischung
der biblischen Lehren mit seinen eingebildeten Visionen und im
tiefen Ehrgeiz seiner Gesinnung, welcher schon in dem leiden-
schaftlichen Streben nach literarischer Auszeichnung hervortrat,
liegt wohl der Keim zu Huṅ-siu-tsuen’s späterem Irrsinn. Er
arbeitete sich beim Lesen der Bibel in die Ueberzeugung hinein,
dass er wirklich in den Himmel entrückt und zum Propheten be-
rufen worden sei. — Vor der Einnahme von Nan-kiṅ legte er das
Beiwort »heilig« nur dem himmlischen Vater und dem himmlischen
älteren Bruder bei, wie das in Yuṅ-nan erlassene Decret deutlich
beweist. Er verband damit in chinesischem Sinn den Begriff voll-
kommener Reinheit und Güte, alldurchdringender Anschauung der
Wahrheit, nicht aber der Allmacht und Allgegenwart.


Das Sittengesetz der Tae-piṅ bildeten die zehn Gebote in
folgender Fassung:


  • 1) Du sollst den grossen Gott ehren und anbeten.
  • 2) Du sollst keine falschen Geister anbeten.
  • 3) Du sollst den Namen des grossen Gottes nicht miss-
    brauchen.
  • 4) Am siebenten Tage, dem Tage der Anbetung, sollst du
    den grossen Gott für seine Güte preisen.
  • 5) Du sollst Vater und Mutter ehren, auf dass deine Tage
    gemehret werden.
  • 6) Du sollst nicht Menschen tödten noch schädigen.
  • 7) Du sollst nicht Ehebruch oder andere Unreinheit be-
    gehen.
  • 8) Du sollst nicht rauben und stehlen.
  • 9) Du sollst nichts Falsches sagen.
  • 10) Du sollst kein böses Gelüste haben.
[201]Erlösung durch Busse und Gebet.

Den einzelnen Geboten sind kurze Erklärungen beigefügt,
welche sich dem Bibeltext anschliessen und echtes Verständniss
des Decaloges beweisen. Unter den »Unreinheiten« ist beim 7. Gebot
der Genuss des Opium angeführt, das ebenso wie der Tabak bei
den Tae-piṅ verboten war.


Alle Menschen haben die »himmlischen Gebote« verletzt,
und bisher war es unbekannt, wie man von den Folgen dieser Ver-
gehen befreit werden könne. »Wer aber hinfort für seine Schuld
vor Waṅ-šaṅ-ti Busse thut, sich des Götzendienstes, der Sünde
und des Bruches der himmlischen Gebote enthält, wird gen Him-
mel fahren und ewige Glückseligkeit geniessen.« 84) Wer es nicht
thut, fährt zur Hölle und leidet ewige Qualen. Um Busse zu thun,
soll man »vor dem Himmel niederknieen und Waṅ-šaṅ-ti um Ver-
gebung seiner Schuld anflehen«. Dann soll man »seinen Körper
mit Wasser aus einem Becken waschen, oder besser, in einem
Fluss baden«. Das ist die Taufe. Dann sollen die Gläubigen
Waṅ-šaṅ-ti anbeten Morgens und Abends, ihn um Schutz anflehen
und um die Gabe des heiligen Geistes, um ihre Herzen zu erneuen.
Sie sollen ihm vor jeder Mahlzeit danken, ihn am siebenten, dem
Tage der Anbetung, für seine Güte preisen, jeder Zeit die himm-
lischen Gebote befolgen und niemals die falschen Götter der Welt
anbeten, noch die Schlechtigkeiten der Welt mitmachen. So werden
sie Söhne und Töchter des Waṅ-šaṅ-ti werden u. s. w.


Die Menschen, d. h. die Chinesen, haben durch das ganze
Alterthum den wahren Gott verehrt. Allmälich verderbten sie Aber-
glauben und Götzendienst, welche unter dem Kaiser Tši-waṅ all-
gemein wurden. Eine Art Gottesverehrung blieb am Kaiserhofe
dennoch erhalten; aber der Himmelssohn allein durfte die höchste
Wesenheit anbeten. Nach des Tien-waṅ Lehre ist jeder Mensch
dazu berechtigt. Die Tae-piṅ hatten keinen vermittelnden Priester-
stand; ihr Gottesdienst war patriarchalischer Art. Für das Morgen-,
Mittag- und Abend-Gebet, auch für häusliche Ereignisse, wie Ge-
burtstage, Hochzeiten, Begräbnisse brauchten sie bestimmte For-
meln. Einige dieser Gebete waren mit Speise- und Trankopfern
verbunden. Kirchen hatten die Tae-piṅ eben so wenig als Geist-
liche; doch scheinen zum sonntäglichen Gottesdienste die politisch
oder militärisch verbundenen Sectionen zusammengetreten zu sein.
[202]Gottesdienst.
Der Vorgesetzte sollte dann die heilige Schrift auslegen; vor seiner
Umgebung übte Huṅ-siu-tsuen selbst am Sabbath dieses Amt.
Im Uebrigen bestand der Gottesdienst im gemeinsamen Absingen von
Litaneien, wozu die gewöhnlichen chinesischen Instrumente spielten.
Nachher knieten Alle nieder und schlossen andächtig die Augen,
während einer aus der Versammlung ein Gebet recitirte.


Folgende Verse waren für den Sonntags-Gottesdienst
bestimmt:


Wir preisen und rühmen Šaṅ-ti als himmlischen heiligen Vater.

Wir preisen und rühmen Jesus als Welt-Erlöser, den heiligen Herrn.

Wir preisen und rühmen den heiligen Geist als die heilige Einsicht.

Wir preisen und rühmen die drei Personen als den geeinigten wahren

Gott.

Die wahren Lehren sind wahrhaftig von weltlichen Lehren ver-

schieden.

Sie erlösen des Menschen Seele und führen zu ewiger Seligkeit.

Die Klugen nehmen sie freudig an als Mittel zur Seligkeit.

Den Einfältigen wird, wenn sie erwachen, durch sie der Weg zum

Himmel geöffnet.

Der himmlische Vater in seiner grossen Güte, gross ohne Grenzen,

Verschonte nicht seinen ältesten Sohn, sondern sandte ihn in die Welt

herab,

Der sein Leben hingab unsere Missethaten zu sühnen.

Wenn die Menschen büssen und sich bessern, so werden ihre Seelen

fähig, gen Himmel zu fahren. 85)

Die Fremden, welche 1853 Nan-kiṅ besuchten, erzählen,
dass alle Tae-piṅ, auch die nicht lesen konnten, die zehn Gebote
auswendig wussten und sie vor allen Mahlzeiten, welche durch das
ganze Heer in Sectionen von acht Köpfen genossen wurden, laut
hersagten. In der Stadt herrschte die grösste Ordnung; Jedem war
seine Beschäftigung zugewiesen; das Ganze arbeitete wie ein Uhr-
werk. Die waffenfähige Mannschaft war in das Heer eingestellt
worden; die Frauen lebten gesondert in bestimmten Stadtvierteln,
wo kein Mann sich sehen lassen durfte, mit Anfertigung von Mu-
[203]Zustände in Nan-kiṅ 1853.
nition und anderen Arbeiten beschäftigt. Die Kinder wurden gut
gekleidet und gepflegt, die Knaben unter streng militärischer Auf-
sicht in den Waffen geübt und in den Lehren der Tae-piṅ unter-
richtet. Die neue Ordnung der Dinge schien niemand zu drücken,
überall herrschten Frohsinn und gute Laune. Die Disciplin soll
damals so streng gewesen sein, dass nicht nur schwere Vergehen
und Ungehorsam, sondern sogar Nachlässigkeiten mit dem Tode
bestraft wurden. Auch auf den Opiumgebrauch stand Todesstrafe,
während man Tabakraucher nur mit dem Bambus züchtigte. Die
Obrigkeit führte die strengste Gütergemeinschaft durch; sie nahm
Alles, nährte, kleidete und beschäftigte Alle. Natürlich hörte der
Handel auf; Kaufläden gab es damals in Nan-kiṅ nicht. Die Obrig-
keit bezahlte reichlich alle [Vorräthe], welche Landleute aus nicht
besetzten Gegenden nach den Tae-piṅ-Städten brachten. Inner-
halb derselben gab es aber kein Privateigenthum. In Nan-kiṅ
konnten die Fremden keine Boote miethen; sie gehörten niemand,
standen aber zur Verfügung Derjenigen, welche sie brauchten.


Unter den früh bekehrten Tae-piṅ, den Schülern des Huṅ-
siu-tsuen
und des Fuṅ-yuṅ-san fand Meadows ernste, von der
tiefen Ueberzeugung beseligte Männer, dass sie unter Gottes un-
mittelbarem Schutze ständen. Die überwundenen Mühsale und
Gefahren, ihre oft wunderbare Rettung, die beispiellosen Erfolge
gegen weit überlegene Massen und Mittel waren ihnen Prüfungen
Gottes und Offenbarungen seiner besonderen Gnade. Sie redeten
beständig davon und bezogen sich in puritanischer Weise
bei jedem Anlass auf den Allmächtigen. Mit stolzer Demuth
und dankbar glänzenden Augen erinnerten sie daran, dass sie zu
Anfang ihrer Unternehmung, vier Jahre zuvor, nur wenige Hun-
dert stark waren und dass sie ohne des himmlischen Vaters un-
mittelbaren Beistand niemals hätten vollbringen können, was ihnen
gelang. »In Yuṅ-nan bedrängten uns ringsum grosse Massen. Wir
hatten kein Pulver mehr; unsere Vorräthe waren aufgezehrt. Aber
unser himmlischer Vater stieg herab und zeigte uns den Weg. So
nahmen wir unsere Weiber und Kinder in die Mitte und erzwangen
nicht nur den Durchgang, sondern schlugen völlig unsere Feinde.
Ist es Gottes Willen, dass unser Tae-piṅ-Fürst Herrscher von
China werde, so wird er Herrscher von China. Wo nicht,
so wollen wir alle hier sterben.« So dachte der Kern des
Heeres.


[204]Entartung der Lehre.

In der ersten Zeit nach der Einnahme von Nan-kiṅ scheint
der Tien-waṅ noch für Ausbreitung seiner Lehre gewirkt zu haben;
1853 wurde dort an der Bibelübersetzung gedruckt, die Gemeingut
werden sollte. Bald darauf muss sein Geist sich verwirrt haben;
nach den Ausflüssen seiner Thätigkeit zu urtheilen, grübelte er nur
noch über die Göttlichkeit seiner Person. Damit entartete die ganze
Lehre zu crassem Aberglauben; schon 1854 zeigte sich die Tendenz,
Gott Vater nicht nur in menschlicher Gestalt, sondern auch mit
menschlichem Körper und in Mannskleidern zu denken. Die Jungfrau
Maria galt wenigstens dem grossen Haufen als seine Gattin und Mutter
mehrerer Söhne; sie wurde in der Vorstellung der Tae-piṅ mit der
»himmlischen Mutter« des chinesischen Pantheon verschmolzen.
Selbst Jesus scheint man mit einer Göttin der Tao-Secte vermält
und als Vater einer zahlreichen Familie von Söhnen und Töchtern,
den Enkeln des himmlischen Vaters, gedacht zu haben. — Huṅ-
siu-tsuen
überliess sich im Wahn seiner Göttlichkeit immer mehr
allen Gelüsten und Leidenschaften, lebte fast nur in Gesellschaft
von Frauen und strafte mit ruchloser Gewaltsamkeit die geringste
Verletzung seiner tyrannischen Laune. Mit den Jahren steigerte
sich die despotische Wuth zur wahnwitzigen Blutgier, welche den
kleinsten Fehler mit schneller Hinrichtung ahndete. Nichtsdesto-
weniger überlebte seine Autorität alle tüchtigen Männer, welche
seine Macht begründen halfen. Seine Abschliessung scheint den
Nimbus der Göttlichkeit gestärkt zu haben; der Gewalt seiner noch
so unsinnigen Befehle fügten sich Alle, und es ist ein merkwürdiges
Phänomen, dass brave verständige Männer, die von seinem Irrsinn
überzeugt sein mussten, ihm bis zum letzten Augenblick treu blie-
ben und als einem höheren Wesen gehorchten.


Der militärische Lenker und politische Organisator der
Tae-piṅ-Bewegung scheint von Anfang an der Ost-König, Yaṅ-sin-
tsiṅ
gewesen zu sein. Huṅ-siu-tsuen selbst hatte ihn als Organ
des himmlischen Vaters anerkannt und dadurch zu grossem Ein-
fluss erhoben, den er ihm später nicht mehr nehmen konnte; denn
die Enthüllungen und Befehle, welche Yaṅ bei jeder wichtigen Be-
wegung in seinen Verzückungen empfing, mussten die Massen
fanatisiren; auch hätte ihn niemand als Feldherrn und Regenten
ersetzen können. Nach der Einnahme von Nan-kiṅ mag der Ost-
König die Zurückgezogenheit des Tien-waṅ begünstigt haben, um
freier schalten zu können. 1853 und 1854 fanden die Fremden
[205]Yaṅ-sin-tsiṅ, der Ost-König.
seine Unterschrift unter allen Proclamationen; seine Thätigkeit
erstreckte sich auf die kleinsten Einzelnheiten der Verwaltung. 86)
Die Vermuthung, dass er nach der Herrscherwürde strebte, liegt
sehr nahe; aber jeder Versuch, den zweiten Sohn Gottes zu stür-
zen, musste zu hoffnungslosem Kampf mit dem Kern der Armee,
dem gläubigen Häuflein der »Gottesverehrer« führen. Als Organ
des »himmlischen Vaters« mochte er hoffen, den Tien-waṅ allmälich
zu überflügeln, und brauchte diese Eigenschaft zunächst zu dessen
Demüthigung. Die Erzählung davon ist psychologisch zu merk-
würdig, zu bezeichnend für die Sinnesart der Betheiligten und die
Verhältnisse des Tae-piṅ-Hofes, um nicht hier in einiger Breite
wiedergegeben zu werden. Eine 1854 in Nan-kiṅ gedruckte amt-
liche Schrift berichtet den ganzen Hergang.


Am Morgen des 25. December, der ein Sabbath war, begab
sich der Nord-König mit Gefolge zu Besprechung von Staats-
geschäften in den Palast des Yaṅ-sin-tsiṅ; bald nach seinem Fort-
gehen fiel dieser in Verzückung. Als »himmlischer Vater« liess der
Ost-König einige Frauen seines Haushaltes rufen, hielt ihnen einen
Sermon über ihre Fehler und befahl, dem Nord-König zu melden,
dass der himmlische Vater ihn in seine Gegenwart entbiete. Unter-
dessen theilte er den Anwesenden einige Aufträge an sich selbst,
den Ost-König mit, — denn in der Verzückung hatte Yaṅ kein
Bewusstsein von seiner Person —: er solle sich an den Hof be-
geben und dem Tien-waṅ die gegen seine Umgebung geübte Hef-
tigkeit und Strenge verweisen; auch solle er dessen Aufmerksam-
keit auf die Erziehung des Thronerben lenken, dass er demselben
nicht zu viel Freiheit lasse und ihn seiner Bestimmung gemäss
unterweise, dem Reiche als Beispiel und der ganzen Welt als
Muster zu dienen. Nach einigen weiteren Aufträgen sagt der himm-
lische Vater: »Nun werde ich in den Himmel zurückkehren.«


Dem Nord-König wurde bei seiner Ankunft mitgetheilt, der
himmlische Vater habe sich entfernt, aber den Befehl hinterlassen,
dass er und sein Gefolge den Ost-König zum Tien-waṅ begleiten
müssten. Auf dem Wege fiel Yaṅ in seiner Sänfte wieder in Ver-
zückung: als »himmlischer Vater« befahl er dem Nord-König, ihn
in die Audienzhalle tragen zu lassen. Der Tien-waṅ, der unter-
[206]Verzückungen des Ost-Königs.
richtet worden war, kam nun dem »himmlischen Vater« zu Fuss
bis zum zweiten Palastthore entgegen; letzterer zürnte aber und
rief: »Siu-tsuen87), du begehst arges Unrecht! Ist dir das be-
wusst?« Der Tien-waṅ kniete mit dem Nord-König und allen
Anwesenden nieder und sprach: »Dein unwürdiger Sohn weiss,
dass er unrecht handelt und bittet den himmlischen Vater, ihm
gnädig zu vergeben.« Dieser antwortete mit lauter Stimme: »Da
du deinen Fehler eingestehst, so musst du mit vierzig Streichen
gestraft werden.« Darauf werfen sich der Nord-König und alle
Anwesenden mit dem Antlitz zur Erde, flehen thränenden Auges,
dass ihrem Herrn die verdiente Strafe erlassen werde und erbieten
sich, sie statt seiner zu leiden. Der Tien-waṅ verweist ihnen ihre
Fürbitte, weil er die Strafe verdiene, und da der »himmlische
Vater« auf Vollziehung derselben besteht, so streckt der Tien-waṅ
sich zur Erde, um die Streiche zu empfangen. Da spricht der
himmlische Vater: »Da du gehorsam bist, so will ich dir die Strafe
erlassen.« Dann bezeichnet er ihm vier Frauen, die er von seinem
Hofe entlassen solle, verweist ihn für weitere Verhaltungsbefehle
an den Ost-König, dem er dieselben mitgetheilt habe und kehrt in
den Himmel zurück. Der Nordfürst und sein Gefolge geleiten den
Tien-waṅ ehrfurchtsvoll in seine Gemächer, während Yaṅ sich
aus seiner Verzückung erholt und wieder Ost-König wird. Der
Nord-König berichtet ihm dann das zweite Herabsteigen des
himmlischen Vaters, von welchem Yaṅ natürlich noch nichts weiss.


Nun begiebt sich der Ost-König zum Tien-waṅ, um ihm
die während der ersten Verzückung gegebenen Befehle des himm-
lischen Vaters auszurichten, welche die Frauen ihm mitgetheilt
haben. Huṅ-siu-tsuen nimmt sie mit grosser Zerknirschung auf
und rühmt die Weisheit von Yaṅ’s Belehrungen. Dieser verwahrt
sich in ehrerbietiger Rede gegen jeden Antheil an den Weisungen,
welche der reine Ausfluss des himmlischen Vaters seien. Zunächst
soll Tien-waṅ den Thronerben sorgfältiger erziehen und vor den
Einflüssen der Witterung hüten. Dann sollen die bei öffent-
lichen Arbeiten beschäftigten Frauen nicht so grausam behandelt
werden. Die dritte Verwarnung lautet, dass er Männer und Frauen,
die sich gegen ihn vergingen, nicht sofort mit dem Tode bestrafen
müsse; alle solche Fälle, bittet der Ost-König, möchten ihm selbst
[207]Verwarnung des Tien-waṅ.
zur Untersuchung mitgetheilt werden. Der Tien-waṅ antwortet:
»Was du, mein jüngerer Bruder, gesagt hast, ist ganz richtig und
in wahrhaftem Einklang mit den gütigen Absichten unseres himm-
lischen Vaters, welcher liebt was gut, und hasst was böse ist, und
genau zwischen beiden unterscheidet. Deines älteren Bruders Be-
tragen war heftig, und wenn mein jüngerer Bruder mich nicht ge-
warnt hätte, so möchte es geschehen sein, dass ich einige Men-
schen unschuldig hinrichten liess. Deine Anweisungen werden mich
nicht nur behüten, ungerechte Strafen zu verhängen, sondern auch
künftige Geschlechter werden nach diesem unserem Beispiel nicht
mehr unbedacht zu handeln wagen.« Nun folgt eine lange Unter-
haltung über die Pflichten mächtiger Herrscher. In Bezug auf die
Frauen sagt Yaṅ: »Unter den weiblichen Officianten des himm-
lischen Hofes und im Palast deines jüngeren Bruders sind alle die-
jenigen sehr gehetzt, welche für den Staat zu arbeiten haben.
Einige sind die Gattinnen, andere die Mütter verdienter und treuer
Beamten; einige haben für junge Kinder zu sorgen, andere alte
Verwandte zu pflegen. Manche haben verdiente Ehemänner, die
dem Lande zu Liebe ihr Hauswesen auflösten. Haben nun Frauen
ihr häusliches Glück dem Wohl des Staates untergeordnet und den
eigenen Vortheil dem allgemeinen Besten geopfert, so muss der
König ihre treue Hingebung achten und ihnen gestatten, alle sechs
Wochen nach ihren Verwandten zu sehen, alle Monat oder alle
sechs Wochen ihren Hausstand zu besichtigen, oder auch alle
Woche, alle vierzehn Tage ihren häuslichen Heerd zu besuchen,
sei es, um ihre Kinder zu herzen, ihren alten Verwandten Liebe
zu erweisen, oder ihren Gatten zu dienen. Auf diese Weise wer-
den sie ihre Pflichten erfüllen können für die Wohlfahrt des Lan-
des und das Gedeihen ihrer Familie.« Yaṅ verbreitet sich dann
weitläufig über die Frauen am Hofe des Tien-waṅ und schliesst:
»Wenn die Frauen meinem älteren Bruder aufwarten, so ist das
gewiss ihre Pflicht. Aber zuweilen mögen sie deinen gerechten
Unwillen erwecken. Dann musst du sie milde behandeln und ihnen
nicht Fusstritte geben mit dem Stiefel am Fuss. Denn, trittst du
sie mit dem Stiefel am Fusse, so kann es ja sein, dass sie grade
in der Lage sind, die Glückwünsche ihrer Freunde zu empfangen;
dann störst du die gütigen Absichten unseres himmlischen Vaters,
der gern das Menschenleben heranpflegt. Ferner: wenn Frauen in
dem bezeichneten Zustande sind, so wäre es wohl gut, etwas
[208]Banket beim Tien-waṅ.
gnädige Rücksicht zu nehmen und ihnen etwas Ruhe von der Ar-
beit zu gönnen, indem du ihnen eine getrennte Wohnung zum
Wohnen und Ausruhen anwiesest. Deshalb kannst du doch ver-
langen, dass sie dir Morgens und Abends ihre Aufwartung machen.
Solche Behandlung wäre billig. Und wenn doch eine der Damen
durch ein kleines Versehen den Zorn meines Herrn erregen sollte,
so wäre wohl rathsam, sie deshalb nicht gleich mit dem Bambus
schlagen zu lassen. Du kannst sie ja tüchtig ausschelten und
warnen, dass sie künftig achtsamer sein sollen. Sollte eine ein
arges Verbrechen begehen, so musst du bis nach ihrer Entbindung
warten und sie dann erst bestrafen.« — Huṅ-siu-tsuen erzählte
dann noch von seinen eigenen Visionen und der Ost-König schied.
Er fragte seine Begleiter, ob er recht gehandelt habe und ermahnte
sie auf ihre Bejahung, ihren Vorgesetzten, besonders ihm selbst,
ebenfalls alle Fehler vorzuhalten.


Zwei Tage darauf entbot Yaṅ den Nord-König und den
»Markgrafen Tiṅ-tien« zu sich und theilte ihnen seine nach reif-
licher Ueberlegung gewonnene Ansicht mit, dass der vom himm-
lischen Vater dem Tien-waṅ ertheilte Verweis eigentlich auf sie
alle Anwendung finde. Er wolle sich nun mit ihnen zu Hofe be-
geben und durch Darstellung der Sache in diesem Lichte den
Herrscher beruhigen. In dessen Palast angelangt, werden sie aus
besonderer Gnade zu einem Banket eingeladen. Vor und bei der
Mahlzeit spricht der Ost-König wieder zum Tien-waṅ in längerer
Rede, sucht dessen Kummer zu beschwichtigen, wiederholt seine
Rathschläge wegen Behandlung der Frauen und Erziehung des
Thronerben, und berührt unter anderem das Wesen des Drachen,
welcher seit alter Zeit ein Wappen-Emblem der chinesischen Kai-
ser ist und von Vielen als ein Geist gedacht wird. Der Ost-Fürst
sagt, nach den früheren Vorschriften des Tien-waṅ seien alle
Drachen für Teufel zu halten; das National-Emblem müsse aber
wohl ausgenommen werden. Huṅ-siu-tsuen erwiedert, er habe
einst beim Herabsteigen des himmlischen älteren Bruders, — d. h.
bei einer Verzückung des West-Königs, — gefragt, ob der Drachen
ein Teufel sei, und eine verneinende Antwort erhalten. Ferner: bei sei-
nem Besuche im Himmel habe er dort einen goldenen Drachen gesehen,
und auf dem Marsche durch Han-yaṅ von einem Drachen geträumt,
der ihm seine Ehrfurcht bezeigte. Aus diesen Gründen beschliesst er,
dass der Drachen kein Teufel, sondern auch in Zukunft das Emblem
[209]Yaṅ zum heiligen Geist ernannt.
der kaiserlichen Macht sein soll. — Unter Beziehung auf die vom
himmlischen älteren Bruder im Lande Judaea gegebene Verheissung,
dass an einem künftigen Tage der »Tröster« in die Welt kommen
solle, erklärt der Tien-waṅ am Schlusse der Audienz, der Ost-
König habe durch seine Thaten und Reden bewiesen, dass er der
Tröster oder heilige Geist sein müsse.


Der in Nan-kiṅ gedruckte Bericht enthält des Abgeschmack-
ten noch viel mehr. Die handelnden Personen waren jedoch Urheber
und Leiter eines Aufstandes, der über funfzehn Jahre lang am
Throne rüttelte, seine Heereszüge über elf von den achtzehn Pro-
vinzen des eigentlichen China ausdehnte und die alte Hauptstadt
Nan-kiṅ, die wichtigste strategische Stellung des Reiches be-
hauptete. Das psychologische Räthsel dieser Erscheinung wird bei der
Unzulänglichkeit der Nachrichten schwerlich zu lösen sein. Wahr-
scheinlich spielten alle Betheiligten, jeder auf eigene Hand, vor ein-
ander Comödie. Dem zerrütteten Gehirn des Tien-waṅ ist ehrlicher
Blödsinn allenfalls zuzutrauen; dagegen kann man schwer an die
Redlichkeit des Yaṅ, des klaren Kopfes, glauben, der als Feldherr
und Organisator mit sicherer Hand die Massen leitete. Den Titel
des »Trösters« und »heiligen Geistes« erhielt er fortan in allen amt-
lichen Handlungen und Schriften. Auch wurden die ersten Verse
der Sonntags-Litanei 1854 durch folgende ersetzt:


Wir preisen den höchsten Herrn, der da ist der himmlische Vater, der

einige wahre Gott.

Wir preisen den himmlischen älteren Bruder, den Erlöser der Welt,

der sein Leben für die Menschen hingab.

Wir preisen den Ost-König, den heiligen göttlichen Athem (Geist),

der die Sünden tilgt und die Menschen erlöst.

Wir preisen den West-König, den Regenmacher, einen himmelhoch

ehrenwerthen Mann.

Wir preisen den Süd-König, den Wolkensammler, einen himmelhoch

aufrichtigen Mann.

Wir preisen den Nord-König, den Donnerschleuderer, einen himmel-

hoch gütigen Mann.

Wir preisen den Hülfs-König, den Blitzschleuderer, einen himmelhoch

gerechten Mann.

Nachdem die Könige in die Litanei aufgenommen sind, muss
es auffallen, dass des Tien-waṅ darin nicht gedacht wird; der
Einfluss des mächtigen Ost-Königs, welcher als heiliger Geist un-
III. 14
[210]Schicksale der Tae-piṅ-Könige.
mittelbar nach dem Erlöser folgt, lässt sich hier vermuthen. Ihm
mag auch die Veröffentlichung jener auf Demüthigung des Tien-waṅ
berechneten Erzählung zuzuschreiben sein; sonderbar ist nur,
dass letzterer sie gestattete. Yaṅ mochte hoffen, in seinen Eigen-
schaften als Organ des »himmlischen Vaters«, »heiliger Geist« und
wirklicher Lenker des Tae-piṅ-Staates den Tien-waṅ allmälich
verdunkeln und im passenden Augenblick beseitigen zu können.
Alle Gesetze und Verordnungen wurden fortan nur von ihm unter-
zeichnet, und Huṅ-siu-tsuen verschwand so sehr vom Schauplatz,
dass Viele ihn gestorben wähnten. Im Laufe des Jahres 1856 scheinen
die Pläne des Ost-Königs zur Reife gelangt, aber verrathen worden
zu sein. Man weiss nichts Zuverlässiges über den Hergang; nur
so viel steht fest, dass Yaṅ mit seinem ganzen Anhang im August
genannten Jahres auf Befehl des Tien-waṅ ermordet wurde. 88)
Trotz oder vielleicht wegen seiner Abschliessung beherrschte die-
ser unbedingt die Massen. — Auch der Nord-König wurde damals
beseitigt. Ernste Unruhen sollen diesen Ereignissen in Nan-kiṅ
gefolgt sein.


Nun waren die Tae-piṅ ihrer besten Führer beraubt. Daraus
erklärt sich ihre Unthätigkeit in den nächsten Jahren, welche um
so mehr auffällt, als locale Insurrectionen und der englische Krieg
ihnen Vorschub leisteten. Fuṅ-yuṅ-san, der Süd-König und
Siao-tšao-wui, der West-König fielen; aus der ursprünglichen
Zahl blieb nur des Tien-waṅ älterer Bruder, der Hülfs-König
Ši-ta-kae, übrig, der, allem Anschein nach durch Argwohn
vertrieben, in der Provinz Se-tšuen an der Spitze eines starken
Heerhaufens lange Zeit auf eigene Hand operirte.


Schon Anfang 1856 hatten kaiserliche Truppen die Dreistadt
Han-kau wiedergenommen und Nan-kiṅ hart bedrängt. In
Kiaṅ-si, Hu-nan und Hu-pi gewannen die Kaiserlichen einige
grosse Städte; die amtliche Zeitung von Pe-kiṅ berichtete eine
Reihe von Siegen. Aber locale Aufstände brachen in mehreren
Provinzen aus. In den beiden Kiaṅ vernichteten Heuschrecken-
schwärme die Aernten. In Yun-nan erhob sich 1857 die mohame-
[211]Locale Aufstände.
danische Bevölkerung und nahm mehrere Städte. Rebellionen,
Hungersnoth und Ueberschwemmungen brachten tiefes Elend über
das Reich. Die amtliche Zeitung klagt im Ausdruck wilden
Schmerzes über diese Heimsuchungen und ermahnt die Reichen
dringend zu Unterstützung ihrer bedürftigen Mitbürger.


1857 besassen die Tae-piṅ nur wenige Städte auf dem Süd-
ufer des Yaṅ-tse von Tšiṅ-kiaṅ aufwärts bis Gan-kiṅ. Im fol-
genden Jahre räumten sie sogar Tšiṅ-kiaṅ aus Mangel an Vor-
räthen und litten in Nan-kiṅ grosse Noth. Sie sandten starke
Heerhaufen nach Kiaṅ-si, um sich Lebensmittel zu schaffen, wäh-
rend Nan-kiṅ von den Kaiserlichen belagert blieb. Das war ihr
einziger Feldzug 1858. Erst in den folgenden Jahren gewannen sie
wieder tüchtige Führer, welche, zu aggressiver Thätigkeit über-
gehend, der Herrschaft des Tien-waṅ noch ein kurzes Dasein
fristeten.


Locale Aufstände erschütterten die ganze Zeit hindurch auch
die südlichen Provinzen. So bemächtigte sich schon 1854 eine
starke Schaar von Dreifaltigkeitsbündlern in Kuaṅ-tuṅ der reichen
Handelsstadt Fu-šan, nur drei Meilen von Kan-ton, und schloss
von da aus letztere Stadt immer enger ein. Das ganze Flussnetz
des Tšu-kiaṅ war in ihrer Gewalt; sie konnten Kan-ton aus-
hungern, wenn nicht die Fremden, welche sie nicht anzutasten
wagten, Lebensmittel für die Bevölkerung herbeigeschafft hätten.
Die Zahl dieser Rebellen soll über 30,000 betragen haben; die
Garnison von Kan-ton konnte nichts gegen sie ausrichten. End-
lich ermannte sich die Bevölkerung und vertrieb, zu den Waffen
greifend, im Februar 1855 den Feind aus der nächsten Umgebung.
Die Rebellen verbreiteten sich nun über den Osten von Kuaṅ-tuṅ
und über Kuaṅ-si, wo in den nächsten Jahren beständig gekämpft
wurde; nur die Hauptstadt Kwei-liṅ soll allen Belagerungen
widerstanden haben. Von Kuaṅ-si aus überschwemmten sie die
Provinz Hu-nan und drangen bis zum Tuṅ-tiṅ-See vor. — In
Hu-pi trotzten zahlreiche Insurgentenschaaren den Kaiserlichen.
Die Aufstände in den nördlichen Provinzen Ho-nan und Šan-tuṅ
beunruhigten sehr ernstlich die Behörden von Pe-kiṅ; am Gelben
Fluss
wurden mehrere Städte zerstört und zeitweise jede Ver-
bindung mit dem Süden abgeschnitten. Diese Rebellen standen
nach der amtlichen Zeitung von Pe-kiṅ zu den Tae-piṅ in naher
Beziehung.


14*
[212]Blutgericht in Kan-ton.

Kan-ton wurde nach jener Belagerung der Schauplatz eines
furchtbaren Blutgerichtes. Die Obrigkeit setzte Prämien auf Ein-
lieferung der Meuterer und bedrohte alle Ortschaften, welche nicht
eine bestimmte Anzahl steuerten. Tausende auf Tausende wurden
nach Kan-ton geschleppt und ohne Untersuchung geköpft. Meadows
spricht von 70,000, die in einem Jahre dort gerichtet wären, gesteht
aber, dass diese Zahl nicht sicher ist.


[[213]]

V.
DER LORCHA-KRIEG.

BIS 1858.


Bei Davis’ Anwesenheit in [Kan-ton] 1847 wurde in den Ver-
handlungen mit Ki-yiṅ auch das im Vertrage von Nan-kiṅ
den Engländern gewährte Recht auf freien Zutritt in die Stadt
Kan-ton erörtert, und ausgemacht, dass die Ausführung dieser Be-
stimmung wegen der feindseligen Haltung des Volkes auf weitere zwei
Jahre hinausgeschoben werden solle. Nach Ablauf dieser Frist
brachte Davis’ Nachfolger, Herr Bonham, die Sache wieder zur
Sprache, wechselte mehrere Schreiben darüber mit dem Vice-
König Siu und überzeugte sich schliesslich, dass der Zeitpunct
nicht geeignet sei auf die Zulassung zu dringen. Er erklärte den
Chinesen, dass die Frage in ihrer Integrität ruhen und zur Erledi-
gung offen bleiben müsse. Gützlaff übersetzte die betreffenden
Worte 89) in Ausdrücken, die zwar nach dem Zeugniss der kundigsten
Dolmetscher nicht missverstanden werden konnten, von den Chi-
nesen aber so gedeutet wurden, als gäbe England seine Ansprüche
auf. Bonham erhielt für die unklare Fassung von seinem Vor-
gesetzten eine Rüge, und in der That hat dieselbe zur Verschlim-
merung der Beziehungen wesentlich beigetragen. Siu und sein
Nachfolger Yi kamen bei allen späteren Erörterungen darauf zu-
rück und verwiesen auf Bonham’s öffentliche Bekanntmachungen
durch Maueranschlag und die Zeitungen, in welchen den englischen
Unterthanen der Eintritt in die Mauern von Kan-ton unter-
sagt wird. 90)


[214]Sir George Bonham und Dr. Bowring.

Bonham’s Amtsführung zeichnete sich durch Mässigung aus;
er blieb im besten Einvernehmen mit den Mandarinen, der Handel
blühte. Seinen Nachfolgern hielten die Chinesen oft in kindischer
Weise sein gutes Betragen und die Standeserhöhung vor, mit wel-
1852cher die Königin ihn dafür belohnt habe. Anfang 1852 ging Sir
George Bonham auf Urlaub nach England; als sein Stellvertreter
fungirte etwa ein Jahr lang Dr. Bowring. Alle an Letzteren wäh-
rend dieser Zeit gerichteten Depeschen seiner Vorgesetzten befehlen
ihm die äusserste Mässigung den chinesischen Behörden gegenüber
und die Vermeidung jeden Schrittes, der zu Conflicten führen
könne; seine Haltung solle durchaus passiv sein, damit die Han-
delsinteressen nicht litten, England nicht in die Lage komme,
Kriegsschiffe nach China zu senden. 91)Bowring’s sehnlichster
Wunsch war schon damals ein feierlicher Empfang beim Vice-
König in Kan-ton. Dieser entschuldigte sich höflich mit der durch
den Andrang der Rebellen verursachten Häufung der Geschäfte,
und Bowring erhielt den gemessenen Befehl, auf den Empfang nicht
weiter zu dringen. 92)


1854.Anfang 1854 gab Bonham seine Stellung in China auf und
Bowring wurde zu seinem Nachfolger ernannt. In dem betreffen-
den Schreiben sagt Lord Clarendon: »Ohne Frage giebt es Puncte,
deren wir uns versichern möchten und auf die wir sogar ein Ver-
90)
[215]Dr. Bowrings Schriftwechsel mit Yi.
tragsrecht haben; und darunter möchte ich nennen den freien und
unbeschränkten Verkehr mit den chinesischen Behörden und freien
Zutritt in einige chinesische Städte, besonders Kan-ton. Die Be-
handlung dieser Fragen fordert aber grosse Vorsicht; denn wenn
wir sie in drohender Sprache urgiren und doch nichts durchsetzen,
so würde die nationale Ehre uns zur Anwendung von Gewalt
zwingen, und wir würden, um Resultate zu erlangen, deren prac-
tische Vortheile nicht klar zu Tage liegen, die bedeutenden Han-
delsinteressen gefährden, welche uns in China schon erwachsen
sind und die bei guter und gemässigter Leitung täglich grössere
Ausdehnung gewinnen werden.« — Diese Worte veranlassten
Bowring, sofort freien Zutritt in Kan-ton für seine Landsleute und
seinen eigenen feierlichen Empfang in einem Ya-mūm dieser Stadt
zu verlangen. Der Vice-König Yi lehnte jene Forderung wegen
der noch immer feindseligen Volksstimmung nochmals ab und ant-
wortete, Ueberbürdung mit Geschäften vorschützend, auf den
zweiten Punct anfangs höflich und dilatorisch. Nun entspann sich
eine Correspondenz über das vertragsmässige Recht der englischen
Behörden, mit den chinesischen auf gleichem Fusse zu verkehren,
welches Yi nicht anerkannt zu haben scheint. Er erklärte sich
zum Empfange des englischen Bevollmächtigten bereit, brachte
aber Oertlichkeiten dafür in Vorschlag, welche Bowring nicht an-
gemessen schienen. So wichtig die Fragen der Etiquette im Ver-
kehr mit den Chinesen nun auch sind, so war doch Bowring’s
fieberhaftes Begehren nach feierlichem Empfang nicht in den Um-
ständen begründet; es musste den Chinesen lächerlich erscheinen
und sie zur Hartnäckigkeit reizen. Der Ton der Correspondenz
wurde immer bitterer; Yi verweigerte unbedingt den Empfang in
einem Ya-mūm und die Freigebung der Stadt für den Fremden-
verkehr, berief sich auch in beiden Puncten auf Sir George Bon-
ham
, der niemals den Empfang beansprucht, und über die Zulassung
in Kan-ton jene unklare Aeusserung gethan hatte.


Am 24. Mai 1854 meldete Bowring dem Vice-König, dass
er, auf weitere Erörterungen verzichtend, mit den anwesenden
Kriegsschiffen nach dem Norden gehe. In Shang-hae traf er den
americanischen Bevollmächtigten Mr. Maclane, welcher seine Cre-
ditive in Pe-kiṅ zu übergeben wünschte. — Bowring richtete am
10. Juli ein Schreiben an den in Su-tšau residirenden Vice-König
der beiden Kiaṅ, klagte darin über Yi’s Unhöflichkeit und
[216]Dr. Bowring und Mr. Maclane in Shang-hae.
betheuerte, seine hochwichtigen Aufträge nur mit einem vom Kaiser
ausdrücklich dazu bevollmächtigten Beamten vom höchsten Range
besprechen zu können. I-liaṅ antwortete sarkastisch und wies
Bowring an Yi als kaiserlichen Specialcommissar für alle den
Fremdenverkehr betreffenden Angelegenheiten zurück. — Herrn
Maclane beschloss der Vice-König zu empfangen, aber nicht in
seiner Residenz, sondern in einem Dorf auf dem Wege nach
Su-tšau. Er stellte ihm dort das Ungehörige seiner Absicht, nach
Pe-kiṅ zu gehen, eindringlich vor und glaubte, wie aus seinem
später in Kan-ton erbeuteten Schreiben an Yi hervorgeht, den Ameri-
caner beredet zu haben. Etwas später schrieb er mit Anspielung
auf Bowring’s Beschwerden an den Kaiser: »Was auch diese
Häuptlinge gegen Yi-Miṅ-Tšin sagen mögen, — das ist klar,
dass Yi der Mann ist, den sie zu fürchten gewohnt sind. Sie be-
haupten, dass sie nach Tien-tsin gehen. Das mögen sie aber nur
vorgeben, um ihren Forderungen Gewährung zu verschaffen. Dein
Knecht hat ihnen mit liebevollem Ernst befohlen, zu bleiben, und
die Schiffe des Oberhauptes sind noch nicht abgefahren. Aber
sicher ist es nicht, — so unbeständig und launenhaft ist der Bar-
baren Charakter, — dass sie nicht doch am Ende nach dem Nor-
gen segeln und so versuchen, dem kaiserlichen Ansehen und den
hohen Behörden der Küstenbezirke Zwang anzuthun.« Der Kaiser
antwortete: »Es ist der Barbaren Natur, listig und boshaft zu sein.«
I-liaṅ soll sie bedeuten, »dass in Tien-tsin eine Streitmacht versam-
melt ist, an Zahl gleich den Wolken«.


Bowring und Maclane erschienen vor der Pei-ho-Mündung
mit einem englischen und drei americanischen Schiffen, von denen
nur eines über die Barre ging. Ihre Dolmetscher Parker und Med-
hurst
mussten mit zwei untergeordneten Mandarinen, Wan-Kien
und Šwan-Ziṅ, in Verhandlung treten, deren Bericht unter den Pa-
pieren in Yi’s Palast gefunden wurde. Sie beklagen sich bitter
über die Unlenksamkeit der Barbaren und die Schwierigkeit, »deren
Eitelkeit und Anmaassung zu brechen, ihre boshafte Sophistik zu
schlagen«..... »Es ist auch gar nicht gewiss, dass sie nicht
schlimme Anschläge verbergen; denn eigentlich bezwecken sie, einen
Vorwand zu Zerwürfnissen zu finden..... Deine Knechte hielten
ihnen eine Rede über die Forderungen der Pflicht. Medhurst und
Parker hingen die Köpfe, da sie nichts zu erwiedern wussten, und
entschuldigten sich wegen ihrer Verirrung. Sie sagten ferner, da
[217]Dr. Bowring und Mr. Maclane an der Pei-ho-Mündung.
nun ein hoher Würdenträger zu Erörterung der Fragen nach
Tien-tsin kommen solle, so würde Frieden zwischen uns sein;
und, — so sehr freute sie das, — wenn sie auch sterben müssten,
so schmerze es sie nicht. Sie schienen sehr beschämt und führten
die ehrerbietigste Sprache.«


Bald darauf erschienen Tau, General-Gouverneur von Tši-li,
und Tsuṅ-luen, Director der kaiserlichen Getreidespeicher, an der
Pei-ho-Mündung und empfingen Bowring und Maclane auf deren
Ersuchen in einem am Ufer aufgeschlagenen Zelt. — Sie berichten
an den Kaiser, dass sie sich peremtorisch weigerten auf die For-
derungen der Barbaren zu hören, und bezeichnen die Mittel, durch
welche dieselben zum Rückzug zu bewegen wären: »Würden deine
Knechte, nachdem sie angewiesen waren die Angelegenheiten der
Barbaren zu ordnen — wenn sie dieselben durch Vorstellungen vom
Richtigen so hätten überzeugen können, dass sie verhindert würden,
von ihren Verpflichtungen zurückzutreten —, würden sie dann ge-
wagt haben, deine geheiligte Majestät mit Gegenständen zum Nach-
denken zu behelligen, indem sie ehrfurchtsvoll um die himmlische
Entscheidung bitten? — Die englischen Barbaren sind voll hinter-
listiger Anschläge, unbezähmbar wild und gebieterisch; die Ameri-
caner folgen nur ihrer Leitung. Der Anblick des eingereichten Ver-
zeichnisses ihrer Forderungen beweist, dass sie nur ihr eigenes Ich
im Auge haben; weder mit dem Rechtsgefühl noch mit billigen
Grundsätzen sind dieselben vereinbar. Wir haben milde dagegen
remonstrirt; aber so verschlagen und schlüpfrig ist ihr Gemüth,
dass es schwer ist, ihnen das Rechte klar zu machen. — Nach
reiflicher Berathung beschlossen deine Knechte, ihnen diejenigen
Artikel in ihrer Eingabe zu bezeichnen, welche eine Erörterung zu-
liessen, und sie zur Verhandlung über dieselben — gleichviel ob
sie wichtig wären oder nicht — nach einem der fünf geöffneten
Häfen zu weisen. Deine Knechte würden dann denjenigen Platz,
nach welchem sie sich am liebsten begeben möchten, dem Throne
bezeichnen; die hohen Behörden der Provinz, in welchem derselbe
läge, würden von deiner Majestät den Befehl erhalten, mit einander
Rath zu pflegen, ihre Entscheidung nach den Eigenthümlichkeiten
des Falles zu treffen, über welche sie sich durch Untersuchung
belehrt hätten, und die Barbaren zur Rückkehr zu vermögen. (Sie
beschlossen) den Ausgang abzuwarten, die übrigen Vorschläge
sämmtlich zu verwerfen, und, sobald deine Majestät dieses Ver-
[218]Tsuṅ-luen’s Berichte.
fahren gebilligt hätte, ihnen einen zweiten Brief zur Unterweisung
zu schreiben und ihre Eingabe mit den Artikeln zurückzustellen.
Sollten sie muthwillig verstockt sein, (so müsste man) dessen nicht
achten und thätiger als jemals an unseren geheimen Rüstungen
arbeiten, den Speer in der Hand warten. Mit dem Rechte auf
unserer und dem Unrecht auf ihrer Seite scheint es, dass sie nichts
gegen uns ausrichten können. Es ist die Natur der Mwan und Ei
(Barbaren) den Schwachen zu beschimpfen und den Starken zu
fürchten. Ohne einige Machtäusserung werden sie wohl nicht ab-
zuschrecken sein von ihrem Vorhaben, Alles auszukundschaften. —
Wir schlagen vor, bei ihrer Bescheidung eine gewisse Gleichgültig-
keit zu zeigen, um so die Würde des Staates zu heben und ihre
verrätherischen Anschläge zu verderben. Die Barbaren dürfen keines-
wegs erfahren, dass das von ihnen eingereichte Verzeichniss ihrer An-
träge dem Throne vorlag. Man sagte ihnen, dass sie zur genaueren
Prüfung entgegengenommen wären; dass über alles darin Enthaltene,
das beiden Seiten Vortheil oder keiner Nachtheil bringen könne,
deiner Majestät Befehl für sie erbeten werden solle; dass das Uebrige
Punct für Punct wegen seiner Schädlichkeit und Frechheit abge-
lehnt werde, da es nachtheilig und unausführbar sei, und dass die
Eingabe ihnen am 18. zurückgestellt werden solle. Niemals wurde
den Barbaren gemeldet, dass deine Majestät eine Abschrift davon
zur Einsicht erhielten.«


In einer anderen Denkschrift sagt Tsuṅ-luen: »Veranlassung
(ihres Erscheinens) waren die in Shang-hae rückständigen Abgaben,
der Aufschlag auf die Theesteuer in Kan-ton und der Handel auf
dem Yaṅ-tse-kiaṅ. Die übrigen Forderungen sind leeres Ge-
schwätz (Lügen), das Effect machen soll.« — Der Staatsrath be-
richtete über die Verhandlungen mit Bowring und Maclane an Yi:
»Sie stellten eine Reihe Forderungen, mehr als eine wegen ihrer
Unvernunft und Frechheit unannehmbar. Wir befahlen Tsuṅ-luen
und seinen Genossen vertraulich, sie alle zu missbilligen und abzu-
lehnen, aber eine Erwiederung zu schreiben, als käme sie von ihnen
selbst: dass drei Puncte — nämlich die Zerwürfnisse zwischen dem
Volk und den Barbaren, die in Shang-hae rückständigen Abgaben
und die Theesteuer — in Erwägung gezogen und erledigt werden
sollten. ..... Sie werden nach Kan-ton zurückkehren. Ihr Vor-
geben, dass sie nach ihrer Heimath gehen, um Instructionen von
ihrer Obrigkeit einzuholen, ist nur noch eine von ihren Erfindungen.«
[219]Die Ursachen des Krieges.
Der Staatsrath befiehlt Yi, die Barbaren eben so herrisch zu be-
handeln wie früher: »Vor Allem muss ihr Gesuch, auf dem Yaṅ-tse
zu handeln, peremtorisch verweigert werden; auch dürfen sie nicht den
Glauben fassen, dass dieser Gedanken uns jemals mitgetheilt wurde.«


Bowring erhielt also am Pei-ho nur leere Versprechungen
deren Werth die mitgetheilten Auszüge beleuchten, und kehrte im
August 1854 nach Hong-kong zurück. In den beiden folgenden
Jahren wurde das Verhältniss immer gespannter, und im October
1856 fing der angehäufte Zündstoff bei geringem Anlass Feuer. Die
Ereignisse, aus welchen der zweite Krieg mit China sich entwickelte,
veranlassten im englischen Parlament die heftigsten Debatten; an-
gesehene Männer sprachen dort offen aus, dass derselbe auf
ungerechte, jedes menschliche Gefühl empörende Weise begonnen
wurde. Bowring’s Betragen fand den schärfsten Tadel; Viele
schoben die ganze Schuld auf seine Eitelkeit und das reizbare
Temperament des Consul Parkes. Mag nun gleich die politische
Begabung des Dr. Bowring — welcher das Unglück hatte, den
Diplomaten für einen grossen Sinologen und den Sinologen für
einen tiefen Diplomaten zu gelten — keine glänzende gewesen sein,
so darf man ihn doch kaum für den Gang der Weltgeschichte ver-
antwortlich machen. Selten haben Einzelne die Schuld oder das
Verdienst, grosse Entwickelungen durch freies Handeln aus eigener
Kraft herbeigeführt zu haben; selbst der handelnde Staatsmann
wird oft mehr getrieben als er treibt; seine Aufgabe ist, die Ge-
walten richtig zu schätzen, welche im gegebenen Augenblick die
Welt bewegen. Das Bewusstsein, dass grössere Freiheit des Ver-
kehrs und eine geachtetere Stellung der Fremden in China durch
die Interessen des westländischen Handels geboten sei und nöthigen-
falls erzwungen werden müsse, lebte in Vielen und mag sich auch
der englischen Regierung mitgetheilt haben. — Ein sonst wohlunter-
richteter und unpartheiischer Engländer, welcher die Ereignisse in
China mit durchlebte und in nahen Beziehungen zu den Behörden
stand, erklärte in einem durch den Druck verbreiteten Werke, Dr.
Bowring sei von England aus angewiesen worden, keine Gelegenheit
zu Anknüpfung von Händeln mit China vorübergehen zu lassen. 93)
[220]Die Lorcha Arrow.
An die Wahrheit dieses Ausspruches darf man nicht glauben; aber
das geht aus den von der englischen Regierung veröffentlichten
Documenten hervor, dass sie nicht mehr, wie früher, der Krisis auf
jede Weise vorzubeugen strebte.


Die folgende Darstellung gründet sich ausschliesslich auf
englische Berichte, grösstentheils auf amtliche Schriften und das
Buch des Herrn Oliphant, welcher Lord Elgin als Privat-Secretär
begleitete.


In englischen Colonieen besteht die Einrichtung, dass fremde
Fahrzeuge gegen Erlegung von Gebühren in die englischen Schiffs-
register eingetragen werden, englische Legitimations-Papiere erhalten
und unter englischer Flagge fahren dürfen. Viele chinesische Schiffe
aus [Hong-kong] und Kan-ton bedienten sich dieses Vortheils, nicht
1856.immer zur Ehre der englischen Flagge. — Als Anfang October 1856
die Lorcha Arrow, unter deren Bemannung sich notorische Piraten
befanden, vor Kan-ton lag, war die Gültigkeit ihrer englischen
Schiffspapiere schon seit zwei Monaten erloschen. So unglaublich
es nun ist, dass der englische Consul die Führung der Flagge unter
seinen Augen einem Fahrzeug gestattete, dessen abgelaufene Papiere
er in Händen hatte, so wurde diese Thatsache doch durch Zeugen-
berichte constatirt. Selbst Engländer scheinen an deren Wahr-
haftigkeit gezweifelt zu haben und die Chinesen leugneten sie hart-
näckig; die englischen Behörden legten aber schweres Gewicht
darauf, dass die Flagge auf der Lorcha geweht habe und von
chinesischen Polizeibeamten niedergeholt worden sei, welche am
8. October deren chinesische Bemannung verhafteten. Unbedingt
hatte die Lorcha kein Recht auf die englische Flagge, und man
kann schwerlich den Behörden irgend eines Landes die Befugniss
absprechen, eine unrechtmässig geführte Flagge von einem ihm an-
gehörigen Schiffe zu entfernen. Die Lorcha war aber notorisch
Eigenthum eines chinesischen Unterthanen.


Consul Parkes beschwerte sich bei dem Vice-König Yi über
die vermeintliche Beschimpfung und verlangte peremtorisch die
unbedingte Auslieferung der Mannschaft. Yi erklärte, die Lorcha
sei kein englisches Fahrzeug, die Flagge von den Häschern nicht
niedergeholt, sondern im Schiffsraum gefunden worden; mehrere
von der Besatzung seien Seeräuber, die übrigen neun wolle er aus-
liefern. Herr Bowring billigte das Verfahren des Consuls und wies
ihn an, von Yi eine schriftliche Entschuldigung und feierliche
[221]Operationen im Perl-Fluss.
Zurücksendung der ganzen Mannschaft an Bord der Lorcha zu
verlangen. Sollten Einige davon an die chinesischen Behörden aus-
zuliefern sein, so müsse das durch Vermittelung des Consuls ge-
schehen. Yi bestand auf seinen Aeusserungen, versprach, sich
niemals an fremden Lorcha’s zu vergreifen, und ersuchte die Eng-
länder, das Recht auf ihre Flagge nicht an chinesische Schiffseigner
zu verkaufen. Unterdessen hatte Sir John Bowring den Vice-König
schon mit Feindseligkeiten bedroht und eine Handelsdschunke weg-
nehmen lassen, die man für eine kaiserliche hielt. — Am 15. October
unterrichtete Consul Parkes den Vice-König von dieser Beschlag-
nahme und von der Anwesenheit englischer Kriegsschiffe bei den
Werken der Bocca Tigris. Am 21. October stellte er, dazu an-
gewiesen, eine Frist von vierundzwanzig Stunden für Erfüllung der
bezeichneten Forderungen und drohte wieder mit Gewalt. Eine
Stunde vor Ablauf dieser Frist wurden die zwölf verhafteten Chi-
nesen nach dem englischen Consulat geschickt, aber ohne Begleitung
eines höheren Beamten und ohne schriftliche Entschuldigung. Consul
Parkes bestand auf Erfüllung dieser Förmlichkeiten. Unterdessen
hatte Yi noch am 21. October ein Schreiben an denselben gerichtet,
in welchem er alle seine Argumente wiederholte und sich gegen die
Wegnahme jener Dschunke verwahrte. Am 22. antwortete Consul
Parkes und forderte nochmals die feierliche Auslieferung der Ver-
hafteten durch einen hohen Beamten und schriftliche Entschuldigung.
Zugleich meldete er durch Circular den Fremden in Kan-ton das
drohende Beginnen der Feindseligkeiten. Die Engländer beschlossen,
sich der die Stadt beherrschenden Werke zu versichern. Am
23. October nahm Admiral Seymour die vier Festungen an der
Bocca ohne Verlust und fast ohne Widerstand, und verkündete Yi
seine Absicht, die Feindseligkeiten gegen die öffentlichen Gebäude
und kaiserlichen Schiffe so lange fortzusetzen, bis ziemende Genug-
thuung erfolgt sei. »Die Antwort Seiner Excellenz« — berichtete
der Adminal — »war sehr unbefriedigend.« Am folgenden Tag
wurden zwei Werke weiter stromaufwärts, Birdsnest und Ša-mien,
genommen und eine Garnison in die Factoreien gelegt, welche man
in Vertheidigungszustand setzte. — Eine Abtheilung americanischer
Seeleute übernahm den Schutz der americanischen Gemeinde.


Am 25. October besetzten die Engländer das vor Kan-ton
gelegene befestigte Inselchen »Dutch Folly« und beschlossen damit
eine Reihe von Operationen, von denen sie mit Unrecht grosse
[222]Weitere Entwickelung des Streites.
Wirkung erwartet hatten. Statt nachzugeben, liess Yi die Facto-
reien durch Truppen angreifen, die mit einem Verlust von etwa
vierzehn Todten und Verwundeten zurückgewiesen wurden. Am
nächsten Tage schloss er das Zollamt.


Die Beurtheilung, welche die folgenden Schritte des Bevoll-
mächtigten und des Admirals im englischen Parlament fanden, ent-
heben den Verfasser jeder Kritik; trockene Aufzählung möge hier
genügen. — Nachdem sich klar herausgestellt hatte, dass Yi durch
Einschüchterung nicht zur Erfüllung jener unwichtigen Forderungen
zu vermögen war, beschlossen Sir John Bowring und Admiral Sey-
mour
, die Sache auf ein wichtigeres Feld hinüberzuspielen: sie ver-
langten plötzlich die schleunige Freigebung der Stadt Kan-ton für
den Fremdenverkehr, ein Recht, das England nach dem Vertrage von
Nan-kiṅ zwar zustand, der Veranlassung des Streites aber ferne
lag. Yi’s Auffassung dieser unerwarteten Aenderung des Zieles
spricht sich in folgendem Erlass an die Bürger von Kan-ton aus:


»Da die englischen Barbaren unter falschen Vorwänden Unruhen
begonnen haben, während ihr wirkliches Ziel die Zulassung in der
Stadt ist, so hat der General-Gouverneur in Rücksicht auf den ein-
stimmigen Ausdruck des Widerstandes gegen diese Maassregel bei der
Bevölkerung von Kan-ton im Jahre 1849 diese Zumuthung rund ab-
gewiesen und ist entschlossen ihre Forderung nicht zu gewähren,
mögen sie in ihren Handlungen und Listen noch so weit gehen.«


Dem Unbefangenen musste einleuchten, dass Yi, welcher
sich unwesentliche Zugeständnisse nicht abzwingen liess, in einer
wichtigen Differenz von altem Datum, in welcher seine minder be-
gabten und thatkräftigen Vorgänger glücklichen Widerstand geleistet
hatten, der Gewalt nicht weichen würde. Bowring und Seymour
müssen anders gedacht haben, sonst bleiben ihre folgenden Schritte
unerklärlich: sie brachten Tod und Verderben über eben die Bevöl-
kerung von Kan-ton, zu welcher sie freien Zutritt verlangten.


Da Yi das am 27. October übergebene Ultimatum nicht be-
antwortete, so begann an demselben Nachmittag die Beschiessung
seines etwa zweihundert Schritt vom Flussufer entfernten Palastes.
Ein zehnzölliges Pivot-Geschütz des Encounter warf in Zwischen-
räumen von fünf bis zehn Minuten eine Granate auf denselben,
während der Baracuta in einen Flussarm unterhalb der Stadt ein-
lief und die auf den Höhen stehenden Truppen bombardirte. — Nun bot
Yi durch Maueranschlag dreissig Tael für den Kopf jeden Engländers.


[223]Fortsetzung der Feindseligkeiten.

Am 28. October begannen die Schiffe die Häuser vor Yi’s Palast
zusammenzuschiessen. Am 29. war die Bresche bis zu demselben
durchgelegt; Nachmittags landete Admiral Seymour mit seiner Mann-
schaft; die Chinesen leisteten einigen Widerstand; die Engländer
hatten drei Todte und elf Verwundete. Die folgenden drei Tage
wurde die Stadt bombardirt; ein grosser Theil der südlichen Vor-
stadt ging, »ohne dass es beabsichtigt wurde«, in Flammen auf. Am
1. November richtete Admiral Seymour abermals ein Schreiben an den
Vice-König. Yi blieb unerschütterlich und begründete seine Haltung
in angemessener Sprache. Eine Erwiederung des Admirals und die
darauf erfolgte Replik des Statthalters brachten die Sache nicht weiter.


Admiral Seymour lässt nun die an die Factoreien grenzenden
Strassen einreissen und bombardirt nachdrücklich die öffentlichen
Gebäude. Das Inselchen French Folly wird befestigt, und der
Baracuta zerstört dreiundzwanzig Kriegsdschunken. Admiral Sey-
mour
schreibt abermals an Yi, der nur noch kurz und schneidend
antwortet und zu Repressalien schreitet. Auf die Schiffe vor
Kan-ton werden nächtliche Angriffe gemacht und Brander los-
gelassen, deren sie sich kaum erwehren können. Alle fremden
Fahrzeuge erhalten Feuer von den Flussufern. Die Chinesen haben
die Werke an der Barre wieder armirt und beschiessen von da ein
americanisches Schiff. Der americanische Commodor Armstrong
fordert Genugthuung und schleift die Werke, da in vierundzwanzig
Stunden keine Antwort erfolgt. Darauf verspricht Yi künftig die
americanische Flagge zu respectiren, und der Consul Dr. Parker
tritt wieder in seine Functionen ein.


Unterdessen haben auch die Engländer einige Werke an der
Flussmündung geschleift. — Der reiche Kaufmann Hau-kwa und
andere angesehene Kantonesen richten eine gemässigte Vorstellung an
Bowring, in welcher sie den ganzen Streit sehr verständig beleuchten
und flehentlich bitten, mit Brennen und Morden doch nur einzuhalten.
Der englische Bevollmächtigte beruft sich auf die Ehre der Nation
und verweist die Bittsteller an Yi, damit dieser die Forderungen
gewähre. Am 17. November geht Bowring selbst nach Kan-ton
und ersucht den Vice-König vergebens um eine Zusammenkunft.
Am 24. Morgens erneut der Admiral das Bombardement, hält
aber gegen Mittag ein, da Bowring den Statthalter abermals um
ein Gespräch bittet. Dieser schlägt es ab und erhöht die Belohnung
für englische Köpfe auf hundert Tael.


[224]Die Engländer räumen Kan-ton.

Am 4. December vertrieben die Engländer die Chinesen noch-
mals von dem Inselchen French Folly, das diese wieder besetzt
hatten, und litten dabei einigen Verlust. In den folgenden Tagen
liess der Admiral hin und wieder eine Bombe in die Stadt werfen.
Am 14. December »hegt er noch die feste Hoffnung auf Wirksam-
keit seiner Maassregeln«. Am folgenden Tage aber brannten die
Chinesen die Factoreien nieder; nur die Kirche und ein als Kaserne
dienendes Haus blieben stehen. Am 17. December verschanzt sich
der Admiral im Garten der Factoreien und legt dreihundert Mann
als Besatzung dahin. — Yi setzt unterdessen seine Hetzjagd fort.
Alle Kaufleute und Soldaten werden fortgeschleppt, wo sie einzeln
betroffen werden. 94) Einige Chinesen lassen sich, wie täglich ge-
schah, als Passagiere an Bord des Dampfers Thistle aufnehmen,
ermorden unterwegs die elf Mann starke Besatzung und nehmen
deren Köpfe mit. Das Hong-kong gegenüber liegende Festland
hört auf Lebensmittel zu liefern; aller Handel mit den Engländern
ist verboten; kein Chinese darf bei schwerer Strafe in ihrem Dienst
bleiben. — Am 4. Januar 1857 greifen die Chinesen die bei »Fort
Macao« im Fluss geankerten Schiffe an und versenken viele Dschunken
zu Sperrung des Fahrwassers. — Am 12. Januar lässt Admiral Sey-
mour
den Rest der Vorstädte verbrennen, »weil seine Stellung im
Factorei-Garten bedroht ist«. Eine Abtheilung des 57. englischen
Infanterie-Regiments soll die Stadtmauer stürmen, wird aber zurück-
gewiesen. Am 14. Januar sieht Admiral Seymour sich gezwungen
seine letzten Stellungen in Kan-ton — den Factorei-Garten und
French Folly — zu räumen, und zieht sich flussabwärts auf die
Forts Birdsnest und Macao zurück. — Um diese Zeit ersuchte
er den General-Gouverneur von Ost-Indien um fünftausend Mann
Verstärkung. — Schon am 30. Januar musste auch Birdsnest auf-
gegeben werden, und Fort Macao blieb die einzige Stellung der
Engländer im Perl-Fluss; sie hatten dort viele ermüdende Angriffe
auszuhalten.


In den nächsten vier Monaten änderte die Lage sich wenig.
Die Engländer waren auf Hong-kong beschränkt und lebten auch
dort keineswegs in Sicherheit; man entdeckte ein Complott zu
Vergiftung der ganzen Bevölkerung. Verhandlungen wurden nicht
wieder angeknüpft. Die Chinesen fuhren fort, jeden Engländer,
[225]Krisis im englischen Parlament.
dessen sie habhaft werden konnten, fortzuschleppen oder zu mor-
den. Englische Kriegsschiffe machten Jagd auf kaiserliche und
Piraten-Dschunken und verbrannten Küstendörfer, welche feind-
selig auftraten. Zu ernstem Gefecht kam es den Winter über nur
einmal im Fa-tšan-Creek, einem Arm des Perlflusses. Achtung
vor den englischen Waffen konnte die damalige Kriegführung den
Chinesen nicht einflössen; Yi musste sich bestärkt fühlen im Ver-
trauen auf seine Hülfsmittel. So schlecht hatten die Engländer in
China noch niemals gestanden. Sie erreichten nichts mit allen Ge-
waltthaten, die unendliches Elend über die Bevölkerung brachten.
Auf Hong-kong wurden sie von Krämern und Gassenjungen ge-
höhnt und fühlten sich durchaus nicht sicher vor kopfabschnei-
derischen Ueberfällen.


Alle Maassregeln Bowrings und des Admirals wurden von
der englischen Regierung gebilligt; im Parlament erregten sie
einen Sturm der Entrüstung.95) Der Sieg der Opposition führte zu
Auflösung des Hauses; bei den Neuwahlen siegte jedoch die Regie-
rung. Cobden, Layard, Bright, Gibson und andere Vertreter der
Humanität wurden nicht wieder gewählt, und die Fortsetzung des
Krieges — ohne welche England in der That seine Stellung in
China aufgeben musste — war entschieden. Die englische Regie-1857.
rung dirigirte eine Streitmacht von fünftausend Mann nach China,
ernannte Lord Elgin zum Special-Commissar und Botschafter am
Hofe von Pe-kiṅ und schloss mit der kaiserlich französischen Re-
gierung, welche vorzüglich durch die Misshandlung von Missio-
naren96) zur Theilnahme bestimmt wurde, einen Vertrag zu gemein-
samen Operationen. Russland und America schickten ebenfalls
ausserordentliche Gesandte nach China, um bei den kommenden
Ereignissen vertreten zu sein. — Auf Ceylon erhielt Lord Elgin die
ersten Nachrichten vom Ausbruch des Meuterei-Krieges in Indien,
und kurz nach seiner Ankunft in Hong-kong wurden die Berichte
von da so ernst, dass er auf eigene Verantwortung einen grossen
Theil der nach China bestimmten Truppen von der Sunda-Strasse
nach der Ganges-Mündung dirigirte und sich selbst nach Calcutta
III. 15
[226]Graf Putiatine und Mr. Reed.
begab. Jene Truppen trugen wesentlich zu Unterdrückung des
Aufstandes bei; Lord Elgin durfte für den chinesischen Feldzug
nicht mehr auf sie rechnen und erhielt als Ersatz einstweilen nur
ein Infanterie-Regiment und fünfzehnhundert Marine-Soldaten. Der
Wunsch, mit dem französischen Commissar Baron Gros zu con-
feriren, veranlasste ihn Anfang September wieder nach Hong-kong
zu gehen; die dort versammelte Streitmacht war aber zu schwach
und die Jahreszeit zu vorgerückt zum Feldzug gegen den Norden
von China. Die Commissare beschlossen deshalb in Hong-kong zu
bleiben, nach Ankunft der erforderlichen Truppen Kan-ton zu
nehmen und erst im Frühjahr nach dem Golf von Pe-tši-li aufzu-
brechen.


Baron Gros traf Mitte October in Hong-kong ein; im No-
vember kamen auch der americanische und der russische Gesandte,
Herr Reed und Graf Putiatine. Letzterer hatte, durch Sibirien
reisend, in Kiakta umsonst versucht, Eintritt in das chinesische
Reich und die Erlaubniss zur Reise nach Pe-kiṅ zu erhalten. Er
ging nach dem Amur und von da auf eigene Verantwortung nach der
Pei-ho-Mündung, wo die Mandarinen sich nach grossen Schwierig-
keiten zu Annahme eines nach Pe-kiṅ bestimmten Schreibens an-
fangs nur unter der Bedingung verstehen wollten, dass der Gesandte
die Antwort in Kiakta abwarte. Nach einigen Wochen erhielt er
sie an der Pei-ho-Mündung: sein Besuch in Pe-kiṅ sei unerwünscht;
das »Ko-to« könne den Gesandten durchaus nicht erlassen werden.
— Die Bevollmächtigten mussten sich dadurch in ihrer Ansicht nur
bestärken, dass allein von imposanter Machtentfaltung gegen die
Hauptstadt eine angemessene Entwickelung des diplomatischen Ver-
kehrs mit der chinesischen Regierung zu erwarten sei.


Anfang December kam die letzte Abtheilung der erwarteten
Truppen nach Hong-kong. Lord Elgin und Baron Gros richteten
nun Noten identischen Inhalts an den Vice-König Yi, welche die
ersten Dolmetscher Herr Wade und Herr Marques unter Parlamentär-
Flagge am 13. December in Kan-ton überreichten. Die englische
Note lautete:


Der Unterzeichnete beehrt sich, dem kaiserlichen Bevollmächtig-
ten Yi u. s. w. zu melden, dass er der Träger von Creditiven ist,
welche ihn als Ausserordentlichen Botschafter Ihrer Majestät der Köni-
gin von Grossbritannien und Irland bei dem Kaiser von China beglau-
bigen; und ferner, dass er von Ihrer Majestät der Königin von Gross-

[227]Das Ultimatum.
britannien insbesondere zum Hohen Commissar und Bevollmächtigten
Ihrer Majestät in China eingesetzt und abgesandt worden ist, mit Voll-
machten unter Ihrer Majestät königlichen Handschrift und dem grossen
Siegel des Vereinigten Königreiches, um die Streitigkeiten beizulegen,
welche unglücklicherweise zwischen gewissen Behörden und Unter-
thanen Ihrer Majestät der Königin von Grossbritannien und gewissen
Behörden und Unterthanen des Kaisers von China entstanden sind,
auch mit dem Minister oder den Ministern, welche mit ähnlichen
Vollmachten und Befugnissen von Seiner kaiserlichen und königlichen
Majestät dem Kaiser von China ausgestattet sind, solche Verträge, Con-
ventionen und Abmachungen zu unterhandeln und abzuschliessen, welche
künftigen Missverständnissen vorbeugen und die Handelsbeziehungen
zwischen den beiden Ländern fördern können.


Die Regierung Ihrer Majestät der Königin von Grossbritannien
ist bei Absendung dieser besonderen Mission von den aufrichtig-
sten Gefühlen des Wohlwollens gegen das chinesische Volk und seine
Regierung beseelt. Sie hat mit Befriedigung die glücklichen Resultate
bemerkt, welche aus den durch den Vertrag von 1842 gewährleisteten
erweiterten Begünstigungen des Handelsverkehrs zwischen Grossbritan-
nien
und China entstanden sind. Die betriebsamen Unterthanen Seiner
Majestät des Kaisers von China haben daraus gesteigerte Einnahmen
für die Erzeugnisse ihrer Arbeiten bezogen. Die Zollabgaben brachten
dem kaiserlichen Schatz willkommene Zuschüsse. Der freie Verkehr
erweckte Gefühle gegenseitiger Achtung zwischen den Eingeborenen
und den Fremden. Mit einem Wort: in allen dem fremden Handel
geöffneten Häfen von China ausser einem einzigen war der Handel
von den gewohnten Folgen, nationalem Reichthum und internationalem
Wohlwollen begleitet.


Diesem günstigen Bilde steht unglücklicherweise eine Ausnahme
gegenüber. Die Behörden der Provinz Kuaṅ-tuṅ haben in dem be-
zeichneten Zeitraum durch häufig wiederholte Beschimpfung von Frem-
den und durch die Weigerung, die Vertragsbestimmungen treu aus-
zuführen, die friedlichen Beziehungen China’s zu den Vertrags-
mächten gefährdet. Grossbritannien, Frankreich und America wurden
nach einander gezwungen, durch Androhung oder Anwendung von Ge-
walt Genugthuung für muthwillig zugefügte Unbilden zu suchen, bis
endlich eine Beschimpfung der britischen Flagge, gefolgt von der Weige-
rung des kaiserlichen Commissars, angemessene Entschuldigungen zu
machen, ja selbst mit dem Vertreter Ihrer britannischen Majestät in
der Stadt zusammenzukommen, die mit Wahrnehmung der britischen
Interessen in dieser Gegend betrauten Beamten genöthigt hat, zu

15*
[228]Das Ultimatum.
Zwangsmaassregeln gegen Kan-ton zu schreiten. Der so begonnene
Kampf ist von den chinesischen Behörden in einer Weise fortgesetzt
worden, welche der Menschlichkeit und den Regeln der Kriegführung
unter civilisirten Völkern widerstrebt. Acte der Brandstiftung und des
Mordes wurden durch dafür gebotene Belohnungen gefördert. Unter
dem Einfluss dieser Aufforderungen wurden unschuldige Familien durch
das Aufgreifen von Privatleuten in die tiefste Trauer versetzt; Fahr-
zeuge, in friedlicher Betreibung des Handels begriffen, wurden auf
verrätherische Weise genommen, die europäischen Mannschaften und
Passagiere barbarisch ermordet.


Der Unterzeichnete findet es angemessen, den kaiserlichen Com-
missar zu erinnern, dass die Regierung Ihrer britischen Majestät, in
dem Bestreben, einem Zustande ein Ende zu machen, welcher so be-
klagenswerthe Folgen gehabt hat, ihre Bemühungen nicht auf Vor-
stellungen an die am Orte befindlichen kaiserlichen Beamten be-
schränkte. Im Jahre 1849 wurde auf ausdrücklichen Befehl des Vis-
count Palmerston, Ihrer Majestät Staatssecretär für die auswärtigen
Angelegenheiten, eine Mittheilung an die kaiserliche Regierung in
Pe-kiṅ übermacht, welche dieselbe vor den Folgen warnte, die aus
Nichterfüllung von Vertragsverpflichtungen entstehen würden, und mit
den Worten schloss: Die chinesische Regierung möge diese Dinge
wohl erwägen und bedenken, dass, was in Zukunft Unangenehmes im
Verkehr der beiden Völker geschehen mag, die chinesische Regierung
die Schuld davon tragen wird. Im Jahre 1854 stellte Ihrer Majestät
Bevollmächtigter Sir John Bowring den kaiserlichen Commissaren,
welche mit ihm an der Pei-ho-Mündung zu unterhandeln beauftragt
waren, eindringlich die Nothwendigkeit vor, den britischen Unter-
thanen den freien Eintritt in die Stadt Kan-ton zu gewähren. Diese
vom Geiste der Versöhnung und Humanität eingegebenen Vorstellungen
blieben aber unbeachtet, und der Erfolg diente nur zum Beweise,
dass die Nachsicht der britischen Regierung von der chinesischen miss-
verstanden wurde.


Grossbritannien steht nicht allein mit der Ueberzeugung, dass die
Zeit der Vorstellungen vorüber ist. Die Nichtbeachtung von Vertrags-
Verpflichtungen und die hartnäckige Weigerung der Abstellung von Uebel-
ständen, welche die britischen Behörden zu Anwendung von Waffen-
gewalt zwangen, haben die gerechte Entrüstung Seiner Majestät des
Kaisers der Franzosen erweckt. Die Regierungen von England und
Frankreich sind einig in dem Entschluss, durch kräftiges und entschie-
denes Handeln Genugthuung für frühere und Sicherheit gegen künftige
Unbilden zu suchen.


[229]Das Ultimatum.

Unter diesen Umständen hält der Unterzeichnete für seine
Pflicht, dem kaiserlichen Commissar deutlich zu erklären, dass er nicht
die Verantwortlichkeit auf sich nehmen kann, dem Fortgang feindlicher
Operationen gegen Kan-ton Einhalt zu thun, bis folgende Forderun-
gen der britischen Regierung unbedingt und rückhaltlos gewährt sind:
die volle Ausführung aller Vertragsverpflichtungen in Kan-ton, ein-
schliesslich des freien Eintrittes britischer Unterthannn in die Stadt;
Entschädigung britischer Unterthanen und solcher Personen, die briti-
schen Schutz beanspruchen können, für Verluste, welche sie durch die
letzten Störungen erlitten haben.


Wenn diese mässigen Forderungen und die von Seiten des
Kaisers der Franzosen durch Seiner kaiserlichen Majestät hohen Com-
missar und Bevollmächtigten gestellten von dem kaiserlichen Commissar
innerhalb einer Frist von zehn Tagen vom heutigen Datum an rück-
haltlos bewilligt werden, so soll die Blockade aufgehoben und die
Aufnahme des Handelsverkehrs gestattet werden. Die englischen
Truppen werden aber im Verein mit den französischen die Insel Ho-
nan
97)und die Forts am Fluss als eine materielle Bürgschaft besetzt
halten, bis die Bestimmungen eines Vertrages zu Regelung dieser und
aller anderen zwischen der Regierung von Grossbritannien und der-
jenigen von China schwebenden Fragen von dem Unterzeichneten und
einem vom Kaiser von China zum Unterhandeln mit ihm beauftragten
Bevollmächtigten von gleichem Range festgestellt und der so fest-
gestellte Vertrag von ihren betreffenden Souveränen ratificirt sein wird.


Sollte dagegen der kaiserliche Commissar diesen Forderungen
mit einer Weigerung, mit Stillschweigen oder mit ausweichenden und
aufschiebenden Vorwänden begegnen, so wird der Unterzeichnete es
als seine schmerzliche Pflicht ansehen, die Commandeure der Flotte
und der Landtruppen anzuweisen, mit erneuter Kraft die Operationen
gegen Kan-ton fortzusetzen, indem er sich in diesem Falle das Recht
vorbehält, seitens der britischen Regierung solche Zusatzforderungen
an die Regierung von China zu stellen, als die veränderte Lage in
seinen Augen gerechtfertigt erscheinen lässt.


Der Unterzeichnete u. s. w.


Elgin und Kincardine.


Yi antwortete unter dem 14. December: eine Beschimpfung
von Fremden sei weder in Kan-ton noch sonst wo vorgekommen;
[230]Yi’s Antwort.
die Frage der Zulassung in die Stadt sei weder im Vertrage von
1842 noch in dem Zusatzvertrage von 1844 berührt; Davis
habe sie 1847 plötzlich angeregt. Er habe eine Frist von zwei
Jahren dafür gestellt, sei aber schon ein Jahr nachher wegen
der über seine Führung von den Kaufleuten erhobenen Klagen
abberufen worden. Sein Nachfolger Bonham habe mit dem
kaiserlichen Commissar Siu 1849 eine lange Correspondenz darüber
gepflogen, die Frage der Zulassung in Kan-ton aber schliess-
lich fallen gelassen. Darauf habe Yi selbst, damals Gou-
verneur, mit dem Vice-König Siu an den verstorbenen Kaiser be-
richtet, dass die Engländer jene Forderung aufgegeben hätten, und
der Kaiser habe darauf die Antwort erlassen: »Der Zweck mauer-
umschlossener Städte ist dem Volke Schutz zu gewähren. In der
Beschirmung des Volkes liegt des Staates Sicherheit. Da nun die
Bevölkerung Kan-tons den Fremden den Zutritt in die Stadt nicht
gewähren will, wie könnten wir sie durch Befehle zwingen und
ihnen gebieten, was sie durchaus nicht thun wollen? Die chine-
sische Regierung will gewiss nicht des Volkes Wünschen entgegen-
treten, um Fremden zu gefallen. Diesen Fremden geziemt es, nach
der Stimmung unserer Völker zu forschen, wäre es auch nur,
damit ihre Person und ihr Eigenthum nicht gefährdet würden.
Das Volkswohl ist in unserem Reiche die Grundlage aller Hand-
lungen der Regierung. Liebt der Herrscher seine Unterthanen, so
gehorchen sie ihm. Das ist der Grundsatz, der immer bei uns
gegolten hat. Den Neigungen der Menschen Zwang anthun, hiesse
gegen die Natur, gegen den Himmel fehlen; das ist die Staats-
maxime unseres erhabenen Mittelreiches. Die Regierung Deiner Excel-
lenz wird es nicht weniger für ihre höchste Pflicht ansehen, nur
so zu handeln, wie sich mit dem himmlischen Rechte und den
Pflichten gegen die Menschheit verträgt.«


Es sei ferner aus englischen Zeitungen bekannt, fährt Yi
fort, dass Bonham’s Betragen von der Königin gebilligt und durch
eine Ordensverleihung belohnt worden sei. Auch die Haltung der
Kaufleute zeuge für die Richtigkeit seiner Handlungsweise; deshalb
zieme es Lord Elgin, ihn und nicht Davis nachzuahmen. 1850
habe Bonham von Shang-hae aus einen Beamten nach Tien-tsin
gesandt und um Zulassung in Kan-ton gebeten; 1854 habe Sir
John Bowring sich zu demselben Zweck dahin begeben und die
Beobachtung des Vertrages nachgesucht. Da aber von der Zu-
[231]Yi’s Antwort.
lassung in den Verträgen keine Rede sei, diese auch auf zehntau-
send Jahre zu Förderung des guten Vernehmens beider Nationen auf
ewige Zeiten abgeschlossen seien, da sie sich ferner der Förderung
der Handelsinteressen beider Völker zuträglich erwiesen hätten, so
habe der Kaiser keine Veranlassung gefunden, dieselben anzutasten.
Es gezieme ihm nicht, an den vom verstorbenen Kaiser ge-
billigten Bestimmungen Aenderungen zu treffen. In beiden Fällen
seien den in Tien-tsin erschienenen Bevollmächtigten die ge-
wünschten Neuerungen abgeschlagen und dieselben angewiesen
worden, »in gehorsamer Unterwerfung unter den Vertrag die Ge-
schäfte zu leiten«. Nachdem der Kaiser so deutlich seinen Willen
ausgesprochen habe, dürfe kein Beamter von noch so hohem
Range anders handeln als im Einklang mit diesem geheiligten
Willen. — Was die Veranlassung des Streites betreffe, so sei die
Lorcha Arrow Eigenthum eines Chinesen; keine Flagge habe auf
derselben geweht. Drei von der Bemannung seien geständige Pi-
raten gewesen; und doch habe Yi auf die Vorstellung des Consuls
Parkes alle zwölf Verhafteten ausgeliefert; dieser habe sie nicht
angenommen und ohne Weiteres Feindseligkeiten begonnen. Man
habe die Werke am Flusse genommen, die Stadt bombardirt und
angezündet, — das könnten Millionen von Chinesen und Fremden
aus eigener Anschauung bezeugen. Jeder Engländer und jeder
Fremde habe aus Rechtsgefühl Parkes beim Anfang des Streites
zu überreden gesucht, von seinem Beginnen abzustehen, aber er
wollte nicht hören. »Er erklärte dazu persönlich für jeden Schaden
verantwortlich sein zu wollen, den sie leiden möchten. Im Januar
ging er nach Hong-kong und stellte mit allen betroffenen Kauf-
leuten eine Rechnung über deren Verluste auf, was beweist, dass
er ihre Entschädigung auf sich nahm. Die Art, wie diese bewirkt
werden soll, ist lange festgestellt; China hat nichts damit zu thun.
Seine Kaufleute sind — leider — zu einem Betrage geschädigt
worden, der den von Deiner Excellenz Nation erlittenen Verlust weit
übersteigt. Aber dieselbe Regel gilt für beide. Mein Palast (Hof)
ist gedrängt voll Bürger und Volk aus der Stadt und den Vor-
städten, die mich anflehen, an Deine Excellenz zu schreiben, damit
Sie die Sache untersuche und unpartheiisch entscheide. Ich
habe ihre Bitten nicht zum Gegenstande einer Note ge-
macht u. s. w.«


Die Besetzung von Ho-nan und den Werken am Flusse
[232]Operationen gegen Kan-ton.
erklärt Yi für ganz unmöglich wegen der Thatkraft und Erbitterung
des Volkes, und warnt vor ernsten Misshelligkeiten, die daraus
entstehen könnten. Er schliesst mit einigen Schmeicheleien und
drückt sein festes Vertrauen auf die Weisheit, Unpartheilichkeit
und Rechtsliebe Lord Elgin’s aus, der nur von übelwollenden
Menschen aufgehetzt sei. Er bezieht sich dann auf dessen Worte,
dass der Handelsverkehr wieder aufgenommen werden solle und
erklärt sich damit einverstanden. Es sei nicht Schuld der Chinesen,
dass seit dem October des vergangenen Jahres kein fremdes Schiff
da gewesen sei; Lord Elgin werde sich durch Wiederherstellung
des Handels die Kaufleute aller Nationen verbinden.


Am 15. December wurde die Kan-ton gegenüberliegende
Insel Ho-nan von 400 englischen Seesoldaten und 150 franzö-
sischen Matrosen ohne Widerstand besetzt. Mehrere Kriegsschiffe
gingen kaum zweihundert Schritte von den Geschützen der Stadt-
mauer im Flusse vor Anker, ohne dass die Chinesen Anstalten der
Abwehr trafen. Die Bevölkerung schien sorglos ihren Beschäfti-
gungen nachzugehen. Haufen von Neugierigen sahen vom Ufer aus
den Arbeiten der Engländer auf dem Inselchen Dutch Folly zu,
wo eine Mörserbatterie gebaut wurde. Nur die in Kan-ton nach
Hunderttausenden zählende Flussbevölkerung verschwand; Boote
und schwimmende Häuser trieben gemächlich den Strom hinab,
um eine stille Bucht aufzusuchen. Am 17. December kam Lord
Elgin auf dem Furious nach Wam-poa hinauf und beschloss mit
Baron Gros, der Bevölkerung noch einige Tage zum Auswandern
und zum Bergen ihrer Habe zu geben. Riesenplacate in weithin
leserlichen Schriftzeichen wurden überall an den Stromufern ange-
schlagen, machten jedoch wenig Eindruck.


Am 24. December richtete Lord Elgin eine kurze Note an
den Vice-König: er entdecke in dessen Schreiben keine Willfährig-
keit, seinen mässigen Forderungen nachzukommen, und mache ihn
nochmals auf die für diesen Fall vorausgesagten Folgen auf-
merksam. Er habe die Commandeure der Flotte und der Land-
macht ersucht, die Feindseligkeiten gegen Kan-ton mit erneuter
Kraft wieder aufzunehmen und behalte sich das Recht vor, »seitens
der britischen Regierung solche Zusatzforderungen an die Regie-
rung von China zu stellen, als die veränderte Lage in seinen Augen
rechtfertigen werde«. Aehnlich drückte Baron Gros sich aus. —
Die Obercommandeure der Land- und Seemacht meldeten dem
[233]Berennung von Kan-ton.
Vice-König an dem demselben Tage, dass sie angreifen würden,
wenn die Stadt sich binnen 48 Stunden nicht ergäbe.


In seiner Erwiederung an Lord Elgin erörterte Yi nochmals
die Lorcha-Angelegenheit, bestritt die ihm vorgeworfene Unwill-
fährigkeit und berief sich abermals auf Bonham, der nach er-
schöpfender Discussion auf die Zulassung in Kan-ton verzichtet
habe. Die beiden Nationen ständen auf freundschaftlichem Fuss,
deshalb hindere nichts an gemeinsamer Berathung, auf welchem
Wege die von Lord Elgin gewünschte Herstellung des Handels zu
bewirken sei.


Der Furious mit der englischen und der Primauguet mit der
französischen Gesandtschaft gingen nun auch bis unter die Mauern
von Kan-ton hinauf, wo die anderen Kriegsschiffe ankerten. Erst
am 27. wurden die Vorbereitungen zum Angriff vollendet. Am
28. December früh landeten die Truppen unterhalb der Stadt; zu-
gleich begann das Bombardement und währte 27 Stunden lang
ohne Unterbrechung. Die alliirten Truppen rückten fast ohne
Widerstand gegen die nordöstliche Ecke der Stadt und besetzten
Lin’s Fort, ein Aussenwerk, dessen Garnison beim Platzen der ersten
Granate davonlief; sie drangen, die Chinesen vor sich hertreibend,
noch weiter nordwestlich vor und lagerten für die Nacht theils in
Lin’s Fort, theils im freien Felde. Die Geschütze der Stadtmauer
feuerten lebhaft, aber zu hoch, und verletzten niemand. — Am
folgenden Morgen schoben die Alliirten ihren rechten Flügel noch
weiter vor und rückten zugleich unter die Stadtmauer, deren Ge-
schütze sie auch jetzt nicht trafen, während das Feuer der eigenen
Schiffe, das erst um neun Uhr schwieg, einigen Verlust brachte.
Vor der nordwestlichen Ecke der Stadt wurden Kanonen zur Be-
schiessung von Magazine-hill aufgefahren, eines die Stadt beherr-
schenden Hügels, über welchen die Ringmauer läuft. Nun kam
das Corps der chinesischen Kuli’s,98) welches die ganze Zeit gute
[234]Einzug der Bevollmächtigten.
Dienste leistete, mit den Sturmleitern heran. Die Mauern wurden
auf dem linken Flügel von den Engländern und Franzosen noch
vor der festgesetzten Zeit und bald darauf auch auf dem rechten
Flügel ohne jeden Verlust erstiegen; denn die Besatzung floh in
dem Augenblick, da die Leitern angesetzt wurden. Die Truppen
drangen auf der fünfundzwanzig Fuss breiten Esplanade nach bei-
den Seiten vor, besetzten westlich Magazine-hill und warfen die
Chinesen, welche jenseit dieses Punctes einmal Stand hielten.
Nach Osten verbreiteten sie sich über die ganze Länge der Stadt-
mauer und stellten durch die Vorstadt eine Verbindung mit den
Schiffen her. Der rechte Flügel besetzte noch ein vor dem Nord-
thor gelegenes Aussenwerk, und die Stadt war genommen. — Die
fünftausend Engländer hatten acht Todte und einundsiebzig Ver-
wundete, die neunhundert Franzosen zwei Todte und dreissig Ver-
wundete. In der Stadt richtete das siebenundzwanzigstündige Bombar-
dement arge Verwüstungen an; im dichten Gewühl der Flüchtenden
sollen viele Frauen und Kinder erdrückt worden sein. Nach dem
Urtheil kundiger Engländer hätte eine dreistündige Beschiessung den
militärischen Forderungen genügt.


1858.Am Neujahrstage 1858 ergriffen die Botschafter durch feier-
liche Procession nach Magazine-hill Besitz von der Stadt; die
Truppen hatten sich Hütten auf der Esplanade der Ringmauer
gebaut, welche Kan-ton völlig beherrscht. Die Bevölkerung
wurde unterdessen von den einheimischen Behörden regiert. Der
Gouverneur Pi-kwei und andere hohe Beamten richteten eine Ein-
gabe an Lord Elgin, in welcher sie gegen die Handlungsweise des
Vice-Königs, der sie niemals zu Rathe gezogen habe, Verwahrung
einlegten und sich bereit erklärten, in jedem von den Siegern vor-
geschriebenen Sinne nach Pe-kiṅ zu berichten. — Am 5. Januar
beschlossen die Botschafter, Yi verhaften zu lassen. Ein Detache-
ment versicherte sich zunächst des Gouverneurs Pi-kwei und des
Tartarengenerals. Yi fand man erst nach längerem Suchen im
Hause des zweiten Tartarencommandeurs, der sich selbst für den
Vice-König ausgab, während dieser durch eine Hinterthür ent-
wischen wollte. Er benahm sich trotzig und aufgeregt und mochte
98)
[235]Einrichtungen in Kan-ton.
für sein Leben fürchten.99) Seine Archive bargen einen Schatz
wichtiger Documente, welche die früheren Beziehungen zu den
Fremden beleuchten und für deren Geschichte unschätzbar sind;
u. a. die ratificirten Exemplare der Verträge mit England, Frank-
reich
und America, welche wohl niemals nach Pe-kiṅ gelangten.


Die Botschafter beschlossen, Kan-ton als Unterpfand für
die Erfüllung ihrer Forderungen zu behalten, sahen aber wohl ein,
dass sie der Regierung der Stadt nicht gewachsen seien. Die
Ordnung lockerte sich zusehends; Diebesbanden plünderten unge-
straft und der Verkehr begann zu stocken. Der complicirte Or-
ganismus der Verwaltung, durch welchen chinesische Bevölkerun-
gen in den gewohnten Bahnen des bürgerlichen Verkehrs erhalten
werden, konnte den Europäern nicht geläufig sein; und selbst wenn
die der Sprache kundigen Dolmetscher fähig gewesen wären sich
in kurzem damit vertraut zu machen, so war doch ihre Zahl der
Geschäftslast nicht gewachsen. Die Botschafter unterrichteten
deshalb Pi-kwei von ihrer Absicht, Kan-ton der kaiserlichen Re-
gierung zurückzugeben, sobald ihre Forderungen erfüllt wären, und
ersuchten ihn, bis dahin unter ihrer Oberhoheit die Verwaltung der
mit seinem früheren Amte verbundenen Geschäfte zu übernehmen.
Pi-kwei willigte ein, wurde von den Botschaftern feierlich instal-
lirt und vermochte auch seine Unterbeamten, welche theilweise ge-
flohen waren, in ihre Functionen wieder einzutreten. Sein erstes
Gesuch an Lord Elgin ging auf Herstellung der Handelsbeziehun-
gen, durch deren Unterbrechung seit funfzehn Monaten die Stadt
schwer gelitten habe und deren Erneuung den freundschaftlichen
Verkehr wesentlich fördern werde. Darauf wurde durch eine vom
6. Februar datirte Proclamation die Blockade des Perl-Flusses,
welche wegen der vielen Mündungen niemals effectiv gewesen war,
[236]Weitere Schritte der Botschafter.
amtlich aufgehoben. Die Festlichkeiten des chinesischen Neujahrs
verzögerten die Aufnahme des Verkehrs noch einige Wochen; aber
der Aufschwung desselben in den nächsten Monaten rechtfertigte
die Maassregel vollständig. Wahrscheinlich litten die Kantonesen
von der Unterbrechung noch mehr als die Fremden; denn diese
konnten sich nach den anderen geöffneten Häfen wenden, wo die
Feindseligkeiten im Süden die ganze Zeit nicht die geringste Ver-
kehrsstockung bewirkten.


Kan-ton blieb vom 59. englischen Infanterieregiment und
einigen Hundert französischen Matrosen besetzt. Das chinesische
Zollamt wurde nach Wam-poa verlegt, wo auch die fremden Con-
suln sich niederliessen. Alle Zölle und Abgaben flossen, für Rech-
nung der Regierung erhoben, in die kaiserlichen Kassen. Nach
Kan-ton durften Fremde nur mit Pässen der Militärbehörden
kommen; der Belagerungszustand wurde dort bis auf Weiteres auf-
recht erhalten. Die Occupation dauerte mehrere Jahre und hatte
die besten Folgen; sie war vielleicht das einzige Mittel, den ein-
gewurzelten und künstlich genährten Hass der Kantonesen gegen
die Fremden zu tilgen; aber nur durch die Verantwortlichkeit der
einheimischen Obrigkeit konnte ein gutes Verhältniss erzielt
werden. Anfangs musste der chinesische Gouverneur mit grosser
Strenge verfahren; erst nach längerem Umgang entwickelten sich
freundschaftliche Beziehungen.


Im Frühling 1858 trafen Verstärkungen ein, welche es mög-
lich machten, das 59. Regiment aus Kan-ton zurückzuziehen und
mit anderen geeigneten Truppen zu den Operationen im Norden zu
verwenden. Die in Hong-kong versammelten Commissare von
England, Frankreich, Russland und America hatten beschlossen,
gemeinschaftlich Noten an die Regierung in Pe-kiṅ zu richten und
auf Sendung eines bevollmächtigten Würdenträgers nach Shang-hae
anzutragen, mit welchem sie ihre Beschwerden erörtern könnten.
Lord Elgins vom 4. Februar 1858 datirte Note war an den obersten
Staatssecretär Yu gerichtet. Unter Mittheilung der mit Yi gepflo-
genen Correspondenz sprach sie sich über die durch dessen Haltung
herbeigeführten Ereignisse und die Lage in Kan-ton aus, verkündete
die Absicht der Alliirten, bis zu Erfüllung derjenigen den veränderten
Verhältnissen entsprechenden Forderungen, welche sie sich vorbehal-
ten hätten, die Stadt besetzt zu halten, und zeichnete in allgemei-
nen Umrissen die Natur dieser Forderungen, welche die Beziehun-
[237]Noten der Botschafter in Su-tšau übergeben.
gen der Fremden zu China auf sicherer Basis begründen sollten.
Das Recht einer stehenden Gesandtschaft in Pe-kiṅ oder seiner
nächsten Umgebung und ein erweiterter Verkehr im Lande waren
die Hauptpuncte neben den Ansprüchen auf Entschädigung,
zu welchen England sich berechtigt glaubte. Lord Elgin’s Note
schloss mit der Erklärung, dass, im Falle ein Bevollmächtigter
garnicht oder mit mangelhaften Vollmachten erscheine, oder auf
billige Vorschläge der Vergleichung nicht eingehe, der Botschafter
»sich das Recht vorbehalte, ohne fernere Ankündigung oder Kriegs-
erklärung solche Maassregeln zur Wahrung der Ansprüche seines
Vaterlandes gegen China zu ergreifen, als nach seinem Urtheil för-
derlich und rathsam wären«. — Die Noten der anderen Gesandten
stimmten in den auf freieren Verkehr und die Stellung der Fremden
in China gehenden Hauptforderungen damit überein.


Lord Elgin’s Privatsecretär Mr. Oliphant und der Vicomte
de Contade
schifften sich mit den Noten der Botschafter am
11. Februar nach Shang-hae ein, fanden dort aber keinen Beamten
von angemessenem Rang, dem sie dieselben übergeben konnten.
Der Tau-tae hatte sich zur Neujahrsgratulation zu dem in Su-tšau
weilenden Statthalter verfügt. Die beiden Secretäre beschlossen
nun, letzteren selbst dort aufzusuchen und nahmen das russische
und das americanische Schreiben mit, welche inzwischen auf dem
Mississippi in Shang-hae eingetroffen waren. Am 24. Februar bra-
chen sie von da mit zahlreicher Begleitung in siebzehn Canalbooten
auf, ignorirten die unterwegs empfangene Mittheilung, dass der
Statthalter Tšaou sie in Kwan-šan erwarte, demselben Dorfe, wo
I-liaṅ 1854 den americanischen Gesandten abgefertigt hatte, —
und gelangten am 26. Februar wohlbehalten nach Su-tšau. Tšaou
empfing sie zuvorkommend, nahm die Noten entgegen und bat nur,
dass die Boote der Fremden während der Nacht ausserhalb der
Stadt bleiben möchten; am nächsten Morgen folgte er sogar mit
dem Tau-tae von Shang-hae der Einladung der Secretäre zum
Frühstück. — Der Verkehr der Diplomaten mit den Mandarinen
blieb auch nachher in Shang-hae so freundschaftlich, als ob nie-
mals Zerwürfnisse vorgekommen wären. Ende März traf Lord
Elgin auf dem Furious dort ein; bald darauf kam die Antwort auf
die nach Pe-kiṅ beförderten Noten.


Der Staatssecretär Yu liess sich nicht zu einer directen Er-
wiederung herab, sondern wies die höchsten Behörden der Kiaṅ-
[238]Die Botschafter gehen nach dem Pei-ho.
Provinzen an, den Bevollmächtigten seinen Willen mitzutheilen.
Lord Elgin wurde benachrichtigt, dass Yi in Folge der Vorfälle
zu Kan-ton degradirt und Waṅ zu seinem Nachfolger ernannt sei;
dieser allein sei zu Regelung der Barbaren-Sachen ermächtigt, und
zwar in Kan-ton, wohin Lord Elgin zurückkehren müsse, und an
keinem anderen Orte. »Da jedem Beamten,« schreibt Yu an die
Oberbehörden der beiden Kiaṅ, »bei der Regierung des himm-
lischen Reiches sein besonderer Wirkungskreis angewiesen ist und
der Grundsatz, dass zwischen ihnen und den Fremden kein Ver-
kehr stattfindet, von den Dienern der kaiserlichen Regierung immer
heilig gehalten worden ist, so würde es sich für mich nicht
schicken, das Schreiben des englischen Botschafters persönlich zu
beantworten. Mögen Ew. Excellenzen ihm also alles oben von mir
Gesagte mittheilen, dann wird sein Brief nicht unbeantwortet
sein.« Aehnlich lauteten die Mittheilungen an die anderen Gesandten;
nur wurde Graf Putiatine angewiesen, nach dem A-mur statt nach
Kan-ton zu gehen.


Lord Elgin liess die ihm zugegangene Note dem Statthalter
Tšaou zurückstellen, da nach dem Vertrage von Nan-kiṅ der Ver-
treter der Königin von England ein Recht hätte auf directe Mit-
theilungen der obersten Behörden in Pe-kiṅ, und meldete ihm zu-
gleich seinen Entschluss, sofort nach dem Norden aufzubrechen,
um mit den Würdenträgern des Kaiserhofes in nähere Beziehungen
zu treten. Die Vertreter der anderen Mächte hegten dieselbe An-
sicht, dass nur von energischem Auftreten an der Pei-ho-Mündung
Erfolg zu erwarten sei.


In Voraussicht dieser Entwickelung hatte Lord Elgin Admiral
Seymour schon Anfang März ersucht, zu Ende desselben Monats
in Shang-hae ein starkes Geschwader, besonders Kanonenboote,
zu versammeln. Anfang April waren aber erst wenige Schiffe dort
angekommen, und da der Admiral seine eigene Abreise von
Hong-kong verschob, so ersuchte Lord Elgin, auf schnelles Han-
deln bedacht, den in Shang-hae commandirenden Flottenofficier
auf eigene Verantwortung um so viele Schiffe als entbehrlich seien.
Am 10. April verliess er Shang-hae auf dem Furious in Begleitung
der Corvette Pique und der Kanonenboote Cormorant und Slaney.
Den Tag vorher war Graf Putiatine auf dem kleinen Dampfer
America vorausgegangen, und mit den Behörden an der Pei-ho-
Mündung
schon in Verbindung getreten, als die englischen Schiffe
[239]Neue Noten an Yu.
am 14. April vor der Barre erschienen. — Am 16. April lief das
Kanonenboot Slaney zu Recognoscirung der Werke nach der Fluss-
mündung und nahm eine Anzahl Dschunken fort, die zum Trans-
port von Truppen und Munition dienen sollten. In den nächsten
Tagen trafen der americanische Kriegsdampfer Mississippi mit Herrn
Reed an Bord und das englische Kanonenboot Nimrod auf der
Rhede ein. Baron Gros kam auf dem Primauguet erst am
21. April.


Von den vor dem Pei-ho versammelten Schiffen konnte
nur das Kanonenboot Slaney die Barre bei gewöhnlichem Wasser-
stande passiren, für Cormorant und Nimrod war das nur bei höch-
ster Springfluth möglich und dann noch bedenklich. In sicherer
Erwartung, dass in den nächsten Tagen mehrere innerhalb der
Barre verwendbare Fahrzeuge eintreffen würden, richteten nun die
vier Bevollmächtigten gleich nach Ankunft des Baron Gros Noten
an den Minister Yu. Lord Elgin meldet ihm unter Beziehung auf
sein Schreiben vom 1. April aus Shang-hae, dass er nach der
Pei-ho-Mündung gekommen sei, um in näheren Verkehr mit den
Würdenträgern der kaiserlichen Regierung in Pe-kiṅ zu treten,
dass er bereit sei, in Ta-ku oder an Bord seines Schiffes einen
gehörig bevollmächtigten Vertreter des Kaisers von China zu
treffen, mit welchem die in seinem Schreiben vom 11. Februar be-
rührten Differenzen im Wege der Verhandlung ausgeglichen werden
könnten. Sei nach Verlauf von sechs Tagen kein in passender Form
beglaubigter Staatsbeamter in Ta-ku erschienen, so werde Lord Elgin
seine friedfertigen Eröffnungen als zurükgewiesen erachten und sich
befugt glauben, solche ferneren Maassregeln zu Erzwingung
der gerechten Forderungen seiner Regierung gegen China zu treffen,
als er angemessen finde.


Am 24. April ruderten die Boote der vier Mächte nach der
Pei-ho-Mündung. Lord Elgins dolmetschender Secretär Mr. Wade
übergab dessen Note einem Mandarinen mit durchsichtig blauem
Knopfe, welcher viele Entschuldigungen machte, dass die Engländer
und Franzosen nicht landen dürften, während der russische und
der americanische Officier in einem Zelt am Ufer empfangen wurden.


In den folgenden Tagen kamen das englische Flaggschiff
Calcutta und das französische Geschwader unter Admiral Rigault
de Génouilly
an. Mit der nächsten Springfluth am 28. und 29. April
gelang es drei französische Kanonenboote, ferner den Nimrod, Cor-
[240]Zögerungen.
morant und den Tender des englischen Flaggschiffes, Coromandel
über die Barre zu bringen, so dass nun sieben Fahrzeuge zum Ein-
laufen in die Flussmündung bereit lagen. Am 30. April kam eine
Meldung von Tau, General-Gouverneur der Provinz Tši-li, dass
er selbst, der General-Director der Getreidespeicher Tsuṅ-Luen,
und Wu, Unter-Staatssecretär im kaiserlichen Cabinet, angewiesen
seien, mit den fremden Gesandten in Ta-ku zu unterhandeln. Auf
die Frage nach ihren Vollmachten erhielt Lord Elgin zur Antwort,
dass dieselben sich auf Uebermittelung der Eröffnungen nach Pe-
kiṅ
beschränkten. Die Botschafter glaubten nun ihre friedfertigen
Anträge erledigt. Am 1. Mai war die Frist abgelaufen und am
Morgen dieses Tages gingen von den Flaggschiffen Befehle aus,
welche unmittelbare Eröffnung der Operationen erwarten liessen.
Die Boote wurden zu Wasser gelassen, die Landungsgeschütze
darin aufgestellt, die Landungsmannschaften abgezählt und mit
Mundvorrath versehen, und die Erwartung war auf das höchste
gespannt, als am Nachmittag die Meldung kam, der Angriff sei auf
unbestimmte Zeit verschoben.


Nun folgte eine dreiwöchentliche Unthätigkeit, während
welcher Hunderte von Getreide-Dschunken in den Pei-ho liefen.
Das Abschneiden dieser Zufuhr war ein wesentliches Moment für
die Aussicht auf Erfolg; die Blockade der Flussmündung durfte aber
nicht erklärt werden, so lange die Admiräle sich nicht stark genug
glaubten, die Werke zu nehmen; denn die grössere Zahl der inner-
halb der Barre geankerten Kanonenboote konnte vor der nächsten
Springfluth nicht hinaus und musste beim Ausbruch von Feindselig-
keiten in die schlimmste Lage gerathen. Jeder Verzug kam den
Chinesen zu gut, welche emsig an Verstärkung der Werke arbei-
teten, die Flussufer auf eine Viertelmeile mit Batterieen säumten
und täglich schweres Geschütz in Position brachten. Politisch
wirkte aber das Zaudern noch schädlicher, denn es gab dem Auf-
treten der Botschafter den Anschein schwankender Unsicherheit.
Der Kaiser bestärkte sich im Wahn seiner Unüberwindlichkeit und
befahl damals dem neuen Vice-König von Kuaṅ-tuṅ, die Fremden
im Süden mit allen Mitteln zu befehden. Unter seiner Autorität
organisirte sich dort ein Comité der National-Vertheidigung, das in
Fa-yune bei Kan-ton tagte. Bewaffnete Banden lauerten vor der
Stadt jedem Fremden auf, und innerhalb hausten Meuchelmörder.
Der Commandant General Straubenzee fürchtete einmal ernstlich
[241]Vorbereitungen zum Angriff.
Kan-ton nicht halten zu können, und die kleine Garnison in Hong-
kong
sicherte keineswegs diese Colonie.


Die Botschafter an der Pei-ho-Mündung suchten ihre mate-
rielle Schwäche vor den Mandarinen durch dilatorische Corre-
spondenzen zu bemänteln; Lord Elgin schickte ihnen am 6. Mai eine
Abschrift der Ki-yiṅ und I-li-pu für den Abschluss des Vertrages
von Nan-kiṅ verliehenen Vollmachten und ersuchte sie, sich ähn-
liche Beglaubigungen zu erwirken. Tau und Tsuṅ-luen weigerten
sich aber kurz, darüber nach Pe-kiṅ zu berichten, und die Sache
war erledigt. Mit dem russischen und dem americanischen Ge-
sandten, die auf kleinen Dampfern in die Flussmündung eingelaufen
waren, verkehrten sie unterdessen ganz freundschaftlich.


Bis Mitte Mai traf die erwartete Verstärkung endlich
ein. England war jetzt durch vierzehn Kriegsschiffe vertreten,
darunter elf Kanonenboote100), welche die Barre passiren konnten;
Frankreich durch zwei Fregatten, zwei Dampfcorvetten und vier
Kanonenboote. Die Botschafter beschlossen nun mit den Admirälen,
die Werke an der Mündung zu nehmen und dann ohne fernere
Feindseligkeiten den Pei-ho hinaufzufahren. Sie meldeten den
kaiserlichen Commissaren, dass sie nothwendig fänden nach Tien-
tsin
zu gehen, um mit dem Kaiserhofe zu Pe-kiṅ in Verbindung
zu treten; vorläufig müssten aber die Werke an der Pei-ho-Mün-
dung
den Commandeuren der alliirten Streitmacht übergeben wer-
den. Letztere würden die Zeit bestimmen, innerhalb welcher die
kaiserlichen Truppen abmarschiren müssten. Nach Besetzung der
Werke durch Truppen der Alliirten würden die Botschafter den
Fluss hinaufgehen, in der Ueberzeugung, dass dann die kaiserliche
Regierung angemessen finden werde, ohne weiteren Verzug einen
passenden Vertreter für die Verhandlungen zu ernennen. — Der
Nimrod und der Cormorant hatten sich schon einige Tage zuvor
dicht unter die Geschütze der Chinesen gelegt, um diese zu reizen;
die Soldaten der Mitte machten dazu am Ufer drollige Sprünge,
schwenkten Fahnen und brüllten höhnisch, feuerten aber keinen
Schuss.


Als am 19. Mai sechs Kanonenboote der Alliirten die Boote
mit den Landungstruppen über die Barre schleppten, liess der
chinesische Commandeur ihnen durch Graf Putiatine sagen, sie
III. 16
[242]Einnahme der Ta-ku-Forts.
möchten nur kommen. Für die Nacht ankerte aber die Flottille
ausser Schussweite. Am 20. Morgens um acht Uhr übergaben die
Flaggenofficiere das Ultimatum der Admiräle, welches für die Räu-
mung der Werke eine Frist von zwei Stunden gewährte. Um zehn
Uhr nahmen die Schiffe Stellung: drei grössere Kanonenboote sollten
die Werke am nördlichen, drei andere diejenigen am südlichen
Flussufer engagiren; hinter ihnen lagen die kleineren mit den Lan-
dungsmannschaften im Schlepptau. Auf das Zeichen zum Angriff
schoss das Kanonenboot Cormorant vorwärts, durchbrach die aus
fünf siebenzölligen Bambuskabeln gefügte Sperrkette und lief in den
Fluss ein; die anderen folgten. Im Augenblick eröffneten die Werke
ein heftiges Feuer. Das der Nordforts verstummte nach achtzehn
Minuten, auf die südlichen Werke dagegen machte das schwere
Geschütz der Schiffe wenig Eindruck. Gegen elf gingen die Ad-
miräle mit den Landungstruppen den Fluss hinauf, landeten ober-
halb der südlichen Batterieen und liessen sie in der Flanke stürmen.
Als der erste Matrose hineinsprang, liefen die Chinesen so schnell-
füssig davon, dass die Engländer nicht folgen konnten. Die Werke
gewährten der Besatzung vollen Schutz gegen jeden Angriff von der
Wasserseite, waren aber damals sämmtlich nach der Landseite offen
und wurden nun schnell besetzt. Der Commandant entleibte sich.
— Die Garnison der Nordforts hatte sich auf zwei verschanzte Lager
zurückgezogen, welche eine starke Batterie deckte. Französische
Mannschaften stürmten diese in der Flanke, und nun war in den
Lagern, wo auch Cavallerie stand, kein Halten mehr. Die Truppen
besetzten noch an demselben Abend den grossen Flecken Ta-ku auf
dem Südufer und fanden freundliche Aufnahme bei den Bewohnern.
Viele Dschunken waren hier quer über den Fluss geankert und
sperrten den Kanonenbooten den Weg; chinesische Soldaten gab
es weit und breit nicht mehr.


Am 21. Mai war Ruhetag. Am Morgen des 22. durchbrachen
die Kanonenboote den Dschunkenknäuel und gingen den Fluss hin-
auf. Die erschrockene Bevölkerung fasste bald Vertrauen und zeigte
sich sehr dienstfertig. Die Admiräle liessen alles am Ufer aufge-
häufte Stroh verbrennen, damit es nicht zu Herstellung von Bran-
dern diene, und sandten alle Dschunken auf die Rhede hinaus,
damit sie den Fluss nicht sperrten. Eine Reiterschaar, die sich in
einiger Entfernung vom Ufer zeigte, erhielt einige Granaten und stob
auseinander. Berittene Mandarinen winkten den Kanonenbooten
[243]Die Engländer in Tien-tsin.
vielfach vom Ufer, um Mittheilungen zu machen, wurden aber nicht
beachtet.


Die Vertreibung der Dschunken aus dem Fluss raubte viel
Zeit; erst am 26. Mai gelangten die Admiräle nach Tien-tsin. Eine
Deputation der angesehensten Bewohner machte sogleich ihre Auf-
wartung und erbot sich zu Handelsgeschäften. Von einer politischen
Macht ausserhalb China hatten sie keine Ahnung, hielten alle Frem-
den für Kaufleute und baten um Waaren- und Preisverzeichnisse;
sie wollten trotz dem Verbot der Regierung Alles kaufen und reich-
lich bezahlen; dafür möchte man die Stadt schonen. Herr Lay,101)
der die Admiräle als Dolmetsch begleitete, machte mit Mühe be-
greiflich, dass man keinen Handel, sondern kaiserliche Bevollmäch-
tigte wünsche, und dass der Stadt Tien-tsin Unheil drohe, wenn
solche nicht erschienen; worauf Jene betheuerten, so lange an den
kaiserlichen Palast in Pe-kiṅ klopfen zu wollen, bis der Himmels-
sohn sich erweichen liesse: sie hofften, dass Ihre erhabenen Excel-
lenzen bis dahin dem angebotenen Mundvorrath zusprechen wollten,
liessen eine Ochsen-Heerde an den Fluss treiben und schlachteten
sie gleich als Friedensopfer.


Das Erscheinen der Engländer in Tien-tsin that die gehoffte
Wirkung. Am 29. Mai erhielt Lord Elgin auf dem Furious ein
Schreiben der Commissare Tau, Tsuṅ und Wu mit folgendem
kaiserlichen Decret als Einschluss:


»Wir befehlen dem Haupt-Staatssecretär Kwei-liaṅ, und Wa-
šana
, Präsidenten des Ministerium der Civilverwaltung, sich auf
dem Postwege nach Tien-tsin zu verfügen zu Untersuchung und Er-
ledigung der Geschäfte. Beachtet Dieses.«


Kwei-liaṅ konnte nach Yu als der erste Mann im Reiche
gelten; auch Wa-šana zählte unter die vornehmsten Staatsdiener.
Noch am Abend des 29. Mai fuhren Lord Elgin und Baron Gros
nach Tien-tsin hinauf, wo unterdessen Vorbereitungen für ihren
Aufenthalt getroffen waren. Der russische und der americanische
Gesandte folgten am 30. Mai und erliessen in Tien-tsin sofort eine
Proclamation, dass sie in friedlicher Absicht kämen. Am 3. Juni
meldeten die chinesischen Commissare ihre Ankunft und zeigten
sich bereit, schon am folgenden Tage die Verhandlungen zu be-
ginnen.


16*
[244]Friedensverhandlungen.

Der feierliche Empfang geschah in einem vor der Stadt ge-
legenen Tempel, wo zunächst die Vollmachten geprüft und von den
dolmetschenden Secretären gültig befunden wurden. Als aber Lord
Elgin nach dem Amtssiegel, dem Kuaṅ-faṅ fragte, erwiederten die
Chinesen, dass nur für bleibende Stellungen ein solches verliehen
werde, nicht aber für commissarische Aufträge. Darauf brach der
Botschafter die Unterhaltung ab, wies die gebotenen Erfrischungen
zurück und verabschiedete sich kurz mit der Bemerkung, dass er
sich schriftlich darüber aussprechen werde. Das that die gewünschte
Wirkung. Auf Lord Elgins amtliches Ersuchen wurde das Kuaṅ-
faṅ
unverzüglich aus Pe-kiṅ herbeigeschafft. Die Commissare baten
nun den Botschafter schriftlich, dass Herr Lay, welcher durch seine
Stellung als Zollinspector in chinesischen Diensten zum Vermittler
besonders geeignet war, sie besuchen und mit seinem Rath unter-
stützen dürfe; Lord Elgin aber konnte nur erwünscht sein, dass
derselbe täglich mit ihnen conferirte. — Auch die Gesandten von
Frankreich, Russland und America tauschten mit den chinesischen
Commissaren ihre Vollmachten aus.


Die Verhandlungen, welche von englischer Seite durch Lord
Elgins Bruder, den Botschaftssecretär Honourable Frederick Bruce,
Herrn Lay und Herrn Wade geführt wurden, waren schon im Gange,
als eines Tages der alte Ki-yiṅ dem Botschafter seine Ankunft
melden liess. Seit seiner Degradirung nach Hien-fuṅ’s Thron-
besteigung scheint er kein hohes Amt mehr bekleidet und keine
Beziehungen zum Kaiserhofe gehabt zu haben. Hien-fuṅ mochte
ihn, wie ein abgelegtes Werkzeug, dessen man nicht schont, in ver-
zweifelter Lage noch einmal benutzen wollen; er sandte ihn ohne
Vollmacht und amtliche Stellung, nur mit dem Auftrage, bei den
Verhandlungen die chinesischen Interessen zu wahren. Lord Elgin
erstaunte sehr, den alten Freund von Davis und Pottinger, welcher
mehr als irgend ein chinesischer Staatsmann das Vertrauen der
Europäer genossen hatte, noch einmal auf der Bühne erscheinen
zu sehen. Eine in Yi’s Archiven gefundene Denkschrift warf aber
einen Schatten auf die Ehrlichkeit seiner Gesinnung, weshalb Lord
Elgin seinen Besuch ablehnte und vorläufig die dolmetschenden
Secretäre zu ihm schickte. Herr Wade und Herr Lay fanden einen
fast erblindeten, hinfälligen Greis, der in Thränen ausbrach über
die Lage von China und seine eigene Mission, welche ihm verderb-
lich werden müsse. Herr Wade suchte ihn durch die Versicherung
[245]Ki-yiṅ in Tien-tsin.
zu trösten, dass Lord Elgin seine Mitwirkung bei den Vertrags-
arbeiten peremtorisch ablehnen werde; das behagte ihm aber nicht.
Er klagte, dass die Engländer China das Messer an die Kehle
setzten, und sprach sich so deutlich aus, dass die Dolmetscher an
seiner Feindschaft nicht mehr zweifelten. Unter den waltenden
Umständen konnten sie in der That keine andere Gesinnung von
einem Manne erwarten, dessen Friedenspolitik und gutes Einver-
nehmen mit den Fremden zu seinem Falle geführt hatte. Er musste
glühenden Barbarenhass zur Schau tragen um sein Leben zu retten,
benahm sich aber kopflos und rannte wirklich in sein Verderben.


Ki-yiṅ scheint ohne Ueberlegung und politische Rücksicht
in irrsinniger Angst nur darauf ausgegangen zu sein, um jeden
Preis fremdenfeindlich zu erscheinen. Den schlimmsten Einfluss
übte er auf die Bewohner von Tien-tsin. Während vorher die
Fremden sich in und ausserhalb der Stadt ohne jede Belästigung
frei bewegt hatten, wurden am Tage nach Ki-yiṅ’s Ankunft der
englische Admiral und mehrere Flottenofficiere in der Stadt vom
Pöbel angefallen, umgerannt und mit Steinen geworfen. Obwohl
das spät am Nachmittag geschah, so musste doch ein Detachement
Matrosen und Marinesoldaten sofort nach der Stadt marschiren.
Das Thor wurde ihnen vor der Nase zugeschlagen und barricadirt;
die Engländer kletterten jedoch über die Mauer, jagten den Pöbel-
haufen innerhalb mit Fusstritten auseinander und sprengten das
Thor. Dann rückten sie die Hauptstrasse hinauf nach dem Schau-
platz des Tumultes und verhafteten einige Hausbesitzer nebst dem
tartarischen Stadtcommandanten, welche für die Nacht eingesperrt
und erst am Morgen freigelassen wurden. Nach zuverlässigen Mit-
theilungen war die Anregung zu feindseligem Auftreten gleich nach
Ki-yiṅ’s Ankunft von den Ortsbehörden ausgegangen. Die Frem-
den erfuhren auch, dass dieser sich vor den anderen Commissaren
in der stärksten Sprache über die Barbaren äusserte, zu hartnäcki-
gem Widerstande und Fortsetzung des Krieges drängte. Da nun
Kwei-liaṅ und Wa-šana ihre Schritte zu Erzielung eines glimpf-
lichen Abkommens überall durchkreuzt sahen, so baten sie den
Kaiser unter dringenden Vorstellungen um Ki-yiṅ’s Abberufung.
Hien-fuṅ sandte ihm aber jetzt den ausdrücklichen Befehl zu blei-
ben und billigte dadurch stillschweigend seine Haltung.


Lord Elgin, welcher wünschen musste, sich des Ki-yiṅ um
jeden Preis zu entledigen, schickte am 11. Juni die Herren Wade
[246]Ki-yiṅ’s Denkschrift.
und Lay zu den Bevollmächtigten, wo Ki-yiṅ grade anwesend
war. Die Secretäre erklärten, dass eine eben an den Botschafter
ergangene Mittheilung in Geist und Haltung ganz anders, als nach
den früheren Zusagen erwartet werden durfte, und durchaus nicht
geeignet sei als Grundlage zu den Verhandlungen zu dienen.
Kwei-liaṅ und Wa-šana antworteten, so deutlich in Gegenwart
des Ki-yiṅ nur geschehen konnte, dass dieser den Inhalt der Note
verantworten müsse. Herr Wade erwiederte, Lord Elgin könne
zwar dem Kaiser keine Vorschriften machen für die Wahl seiner
Bevollmächtigten; Glaubwürdigkeit und ehrenhafte Gesinnung seien
aber nothwendige Erfordernisse zu Erledigung der schwebenden
Fragen, und es könne keiner Parthei Vortheil bringen, wenn eine
in dieser Rücksicht verdächtige Person auf die Verhandlungen
Einfluss übe. Er übergab darauf den Bevollmächtigten eine Ab-
schrift der in Yi’s Archiven gefundenen Eingabe Ki-yiṅ’s an den
Kaiser, welche Wa-šana mit gedämpfter Stimme vorlas. Dieses
Document spiegelt zu treu die Auffassung der Chinesen, um nicht
hier im vollen Wortlaut wiedergegeben zu werden.


Der Knecht Ki-yiṅ überreicht dem Throne knieend eine er-
gänzende Denkschrift. Die Details der Verwaltung in den Angelegen-
heiten der Barbaren-Staaten und die den Umständen angemessene
Behandlung von Barbaren-Gesandten bei ihrem Empfange seinerseits
bildeten den Gegenstand verschiedener Eingaben deines Sclaven.


Nachdem die ergänzenden Handelsbestimmungen auch von ihm
unterhandelt wurden, hatte er die Ehre, die darin enthaltenen Artikel
dem geheiligten Blick deiner Majestät zu unterbreiten, welche das
Finanzministerium beauftragte, dieselben zu prüfen und darüber zu
berichten. Das Alles ist bekannt. Es erinnert aber daran, dass im
17. Mond des 22. Jahres (August 1842) die englischen Barbaren durch
Friedensverträge gebunden wurden. Die Americaner und Franzosen
folgten nach einander im Sommer und Herbst dieses Jahres (1845).
In diesem Zeitraum von drei Jahren gingen die Barbaren-Angelegen-
heiten durch verschiedene Phasen, und im Verhältniss der neuen Ge-
staltung wurde es nothwendig, den Standpunkt zu wechseln und Aen-
derungen zu treffen in den Mitteln, durch welche sie gezügelt und im
Zaum gehalten werden möchten. Man muss sie natürlich gerecht be-
handeln und zu ihrem Gewissen reden; um sie aber in der Hand zu
behalten, ist Schlauheit erforderlich.


In manchen Fällen muss man ihnen Vorschriften machen, aber
ohne Angabe der Gründe; in anderen ist ihre Unruhe nur durch

[247]Ki-yiṅ’s Denkschrift.
Kundgebungen zu beschwichtigen, welche ihren Verdacht niederschla-
gen, und in einigen muss man sie zufriedenstellen und zu Dank ver-
pflichten durch Gewährung des Verkehrs auf dem Fusse der Gleich-
stellung; manchmal muss man, um Zwecke zu erreichen, ein Auge
zudrücken zu ihrer Falschheit, und die Schätzung (ihrer Handlungen)
nicht zu weit treiben.


Geboren und erzogen in den fremden Gegenden ausserhalb
können die Barbaren Vieles in der Verwaltung der himmlischen Herr-
schaft nicht begreifen, und sie geben Dingen, deren wirkliche Bedeu-
tung ihnen unverständlich ist, beständig eine gezwungene Auslegung.
So steht die Veröffentlichung der kaiserlichen Befehle (wörtlich: der
seidenen Klänge) den Mitgliedern des grossen Staatsraths zu; aber
die Barbaren achten sie für die eigenhändige Antwort deiner Majestät;
und wenn man ihnen deutlich sagte, dass sie nicht von der Hand-
schrift deiner Majestät sind, so würden sie kein festes Vertrauen
darauf setzen. Die Malzeit, welche die Barbaren zusammen essen,
nennen sie Mittagsmal (Ta-tsau). Sie lieben die Gewohnheit, eine
Anzahl Menschen zu einem grossen Feste zu versammeln, bei welchem
sie zusammen schmausen und zechen. Wenn dein Sclave den Barbaren
an der Bocca oder in Macao eine Ehre erwies, sind ihre Obersten und
Führer zusammengekommen zu zehn bis zwanzig und dreissig an
Zahl, und wenn im Laufe der Zeit dein Sclave Anlass hatte, sich in
die Barbarenwohnungen oder auf die Barbarenschiffe zu begeben,
setzten sie sich um ihn herum zu seiner Aufwartung und wetteiferten
im Anbieten von Speisen und Getränken. Um ihr Wohlwollen zu ge-
winnen, musste er ihren Löffel und Becher theilen.


Ein anderer Punct. Es ist eine Eigenschaft der Barbaren, viel
aus ihren Frauen zu machen. Besucht sie ein Mann von Rang, so
kommt sicher die Frau heraus, ihn zu empfangen. So haben z. B.
der americanische Barbar Parker und der französische Barbar Lagréné
ihre fremden Frauen mitgebracht, und wenn dein Knecht in Geschäften
nach den Barbarenwohnungen kam, erschienen plötzlich die Frauen
und grüssten ihn. Dein Knecht war verlegen und unbehaglich; sie
aber freuten sich im Gegentheil über die ihnen angethane Ehre. Das
beweist die Wahrheit, dass die Bräuche der westlichen Staaten nicht
nach dem chinesischen Ceremoniel zu gestalten sind, und wollte man sie
schelten, so diente das nicht zu ihrer Belehrung (wörtlich: spaltete
nicht ihre Stumpfheit), sondern erzeugte nur Verdacht und Uebel-
wollen.


Ferner: Seit Anknüpfung freundschaftlicher Beziehungen wurden
die verschiedenen Barbaren auf dem Fusse einer Art von Gleichstellung

[248]Ki-yiṅ’s Denkschrift.
empfangen. Ein solcher Empfang ist nichts Neues mehr, und immer
mehr wird es zur Pflicht, sie abzuwehren, sie auszuschliessen. Zu
dem Ende empfahl dein Knecht jedesmal, wenn eine Barbaren-Ange-
legenheit verhandelt wurde, dem Finanzcommissar Wan-aw-tuṅ, den
Gesandten zu bedeuten, dass ein chinesischer Würdenträger, der die
fremden Angelegenheiten verwaltet, niemals für seine Privatrechnung
etwas geben oder annehmen dürfe, dass er peremtorisch gezwungen sei,
alle Geschenke zurückzuweisen; denn würden sie heimlich angenommen,
so seien die Verordnungen der himmlischen Herrschaft darüber sehr
streng; und nicht zu gedenken des Schadens, den er der Würde seines
Amtes zufügte, möchte es (für den Uebertreter) schwer sein, der Strafe
des Gesetzes zu entgehen. Die fremden Gesandten waren so verstän-
dig, sich danach zu richten; aber sie boten bei den Zusammenkünften
deinem Knecht oft fremde Weine, Wohlgerüche und dergleichen von
ganz geringem Werthe an. Da sie dabei mehr oder minder freund-
liche Absichten hegten, so konnte er sie nicht, ihnen in’s Gesicht,
ganz und gar zurückweisen; aber er beschränkte sich darauf, ihnen
Schnupftabakflaschen, Börsen und solche Dinge, die man bei sich trägt,
zu schenken, und brachte den chinesischen Grundsatz zur Geltung, viel
zu geben, wenn auch wenig empfangen wurde. Ferner: als die Eng-
länder, Franzosen, Italiener und Americaner darum baten, beschenkte
sie dein Knecht mit einem Abdruck seines geringen Bildnisses.


Auf ihre Regierung zu kommen: Obwohl jeder Staat eine hat,
so sind Herrscher da, männliche und weibliche, welche ihr Amt blei-
bend oder für die gegenwärtige Zeit behalten. Bei den englischen
Barbaren z. B. ist der Herrscher ein Weib, bei den Franzosen und
Americanern ein Mann. Der englische und der französische Herrscher
regieren lebenslänglich; der americanische wird durch seine Landsleute
erwählt und alle vier Jahre gewechselt; nach seinem Rücktritt hat er
den Rang der Bürger (Nicht-Beamten).


Die Rangbenennungen sind auch verschieden bei jedem Volke.
Um sie auszudrücken, stehlen sie chinesische Schriftzeichen und
maassen sich prahlerisch eine Schreibweise an, auf welche sie kein
Recht haben, um sich das Ansehn grosser Macht zu geben. Dass sie
dadurch ihren Herrschern Ehre zu erweisen glauben, berührt uns
nicht; wollten wir aber die für abhängige Staaten geltende Regel auf
sie anwenden, so liessen sie sich das sicher nicht gefallen, da sie
weder die chinesische Zeitrechnung noch deiner Majestät Bestätigung
annehmen, (um nicht) in den Rang von Korea und Liu-kiu zurück-
zutreten. Und mit Leuten so uncivilisirt wie sie sind, so blind und
unverständig in der Art und im Styl der Anrede, würde ein zähes

[249]Ki-yiṅ’s Schicksal.
Festhalten an der Form der amtlichen Correspondenz, das nach Ge-
bühr den Höheren oben und den Niederen unten stellt, zu heftiger
Erörterung führen. In diesem Falle wäre das einzige Mittel, sich taub
zu stellen; dann würde der persönliche Verkehr unmöglich, und nicht
nur das, sondern eine Unverträglichkeit der Beziehungen würde
daraus folgen, welche den wesentlichen Zweck der Zügelung beein-
trächtigen müsste. Statt deshalb einen Streit über unwichtige Benen-
nungen zu erheben, der zu keinem greifbaren Erfolge führen kann,
wurde vorgezogen, diese Nebensachen unberührt zu lassen, um wichtige
politische Erfolge zu sichern.


Das sind die Mittel und Modificationen, welche nach genauer
Betrachtung der Barbaren-Angelegenheiten, Berechnung der zeit-
gemässen Erfordernisse und einer sorgfältigen Schätzung jeder
Frage, — ob unbedeutend oder wichtig, — unvermeidlich angewandt
werden mussten. Dein Knecht hat nicht gewagt, sie eine nach der
anderen deiner geheiligten Einsicht zu unterbreiten, theils weil sie an
und für sich von geringem Belang waren, theils weil es an Zeit fehlte.
Da jetzt die Geschäfte mit den Barbaren im Ganzen beendet sind, so
zählt er sie, wie seine Pflicht gebietet, hier eines und alle in dieser
ergänzenden Denkschrift auf, welche er ehrfurchtsvoll deiner Majestät
überreicht.


Die darunter stehende kaiserliche Antwort in Zinoberschrift
lautet: Es war die einzige passende Auskunft. Wir verstehen die
ganze Frage.


Merkwürdiger Weise änderte Ki-yiṅ, obgleich ihm der seine
Politik billigende Befehl, in Tien-tsin zu bleiben, eben zugegangen
war, nach Verlesung dieses Documentes sofort seine Haltung und
unterzeichnete mit Kwei-liaṅ und Wa-šana noch an demselben
Abend ein Schreiben an Lord Elgin, in welchem sie einwilligten,
auf Grund der anfangs verabredeten Präliminarien zu unterhandeln.
Ki-yiṅ scheint gänzlich den Kopf verloren zu haben. Er brach
zwei Tage darauf gegen den ausdrücklichen Befehl des Kaisers
nach Pe-kiṅ auf, nachdem er demselben berichtet hatte, »dass er
wichtige Vorschläge zu machen habe«. Unterwegs erhielt er noch
in Tuṅ-tšau die kategorische Weisung, auf seinen Posten zurück-
zukehren, gehorchte aber nicht. In Pe-kiṅ wurde er auf Antrag
des Fürsten von Wui (Mien Yu, eines Bruders von Tau-kwaṅ)
vor einen Gerichtshof gestellt, welchem der Bruder des regierenden
Kaisers Prinz von Kuṅ präsidirte, und zu Erdrosselung verurtheilt.
Bis zur nächsten kaiserlichen Bestätigung von Todesurtheilen, —
[250]Verträge der Neutralen.
welche alle drei Jahre erfolgt, — sollte er eingekerkert bleiben.
Dieser Spruch hätte seine Begnadigung nicht ausgeschlossen;
Hien-fuṅ »milderte« ihn aber dahin, dass Ki-yiṅ sich sofort zu
entleiben habe. Das dieses Urtheil motivirende Decret wurde dem-
selben von zwei kaiserlichen Commissaren zugestellt, in deren Ge-
genwart er den Giftbecher trank. Die Fremden in Tien-tsin er-
fuhren den Hergang noch vor Ende des Monats durch die amt-
liche Zeitung von Pe-kiṅ, welche auch jenes Decret wiedergab.102)


Die Vertragsarbeiten der Neutralen hatten unterdess guten
Fortgang. Am 14. Juni wurde der russische Vertrag mit folgenden
neuen Zugeständnissen unterzeichnet: Der russische Minister des
Auswärtigen sollte auf dem Fusse der Gleichstellung mit dem ersten
Minister des grossen Staatsrathes in Pe-kiṅ verkehren, und Russland
befugt sein, bei besonderem Anlass diplomatische Agenten dahin zu
senden; russische Missionare sollten mit Pässen im ganzen Reiche
umherreisen dürfen; ausser den schon geöffneten Häfen sollten
Swa-tau, ferner ein Hafen auf Formosa und einer auf Hae-nan
dem Handel offen stehen. Aehnlich lautete der vier Tage
später unterzeichnete Vertrag mit America. Beide enthielten die
Clausel der »meistbegünstigten Nation«, welche den Russen und
Americanern jedes künftig anderen Völkern zu gewährende Vor-
recht sicherte. — Ein Jahr vorher waren die Commissare beider
Staaten mit Anträgen von weit geringerem Belang abgewiesen
worden; sie erklärten unumwunden, dass sie ihre Erfolge nur dem
durch die Alliirten geübten Druck zu danken hätten.


Die einzelnen Bestimmungen des englischen Vertrages führ-
ten zu lebhaften Erörterungen. In dem erwähnten Schreiben vom
11. Juni erklärten die chinesischen Commissare, dass gegen den
bleibenden Aufenthalt eines Gesandten in Pe-kiṅ eigentlich nichts
einzuwenden sei; wegen der gegenwärtigen Collisionen sei es aber
besser, wenn derselbe in Tien-tsin verweile, während ihm sein
amtlicher Wohnsitz in Pe-kiṅ angewiesen werden möchte. Auf
Grund dieses Zugeständnisses wurde weiter verhandelt; am 21. Juni
aber zogen die Chinesen dasselbe zurück; ein kaiserliches Decret
gebiete ihnen, Lord Elgin zum Aufgeben jener Forderung zu ver-
mögen; »der Norden sei kalt und staubig, für Fremde unerträglich«.
Auch wurden die Freigebung von Tšin-kiaṅ, das Recht, im Innern des
[251]Der englische Vertrag.
Landes zu reisen und den Yaṅ-tse zu befahren, wieder zurück-
genommen. Am 24. Juni hatten die Commissare noch einen harten
Kampf darüber mit Herrn Bruce, welcher nicht nachgab. Man liess
die englischen und die chinesischen Exemplare vorbereiten und am
26. Juni sollte die Unterzeichnung stattfinden. Da baten aber Kwei-
liaṅ
und Wa-šana die Gesandten der anderen Mächte um Verwendung
bei Lord Elgin, weil nach einem eben eingegangenen Erlass ihnen
nicht nur Degradirung, sondern der Tod drohe, wenn sie jene For-
derungen gewährten. Die zu gleicher Zeit auftauchenden Gerüchte von
Ki-yiṅ’s Schicksal eigneten sich wohl, dem Anspruch an Lord
Elgin’s Barmherzigkeit Nachdruck zu geben. Zudem stand er mit
seinen Forderungen allein; Baron Gros hatte solche für Frankreich
nicht gestellt, konnte also auch nicht mit Waffengewalt dafür ein-
treten. Das Aufgeben derselben machte aber die anderen Vortheile
fast illusorisch; denn ein haltbarer Zustand war nur von directen
Beziehungen zu den Behörden in Pe-kiṅ, ein erheblicher Aufschwung
des Handels nur von unmittelbarem Verkehr mit den Producenten und
Consumenten im Inneren des Landes zu erwarten. Deshalb beharrte
der englische Botschafter trotz der kritischen Lage, in welche die
Isolirung ihn versetzte, auf seinen Forderungen und beauftragte
Herrn Bruce am 26. Juni Morgens, deren Erfüllung in peremtori-
scher Sprache zu verlangen. Er glaubte die Commissare am besten
vor dem kaiserlichen Zorn zu sichern, wenn er sie zu zwingen
schiene. Kwei-liaṅ und Wa-šana überzeugten sich nun von der
Fruchtlosigkeit ihres Widerstandes und unterzeichneten am Nach-
mittage des 26. Juni den Vertrag in demselben Tempel vor der
Stadt, wo sie die Botschafter empfangen hatten.


Neben jenen beiden enthielt der englische Vertrag noch
andere wichtige Zugeständnisse: zunächst die Freigebung von Niu-
tšwaṅ
in der Mandschurei, Teṅ-tšau in Šan-tuṅ und mehreren
Häfen am Yaṅ-tse-kiaṅ, darunter Han-kau, dem grössten Stapel-
platz des chinesischen Binnenhandels; dann die Regelung der Transit-
Abgaben, welche stets zu Collisionen geführt hatten. — Der Schaden-
ersatz für die Verluste in Kan-ton wurde auf 2,000,000 Tael,
etwa 650,000 Pf. St., festgestellt und ausserdem die Zahlung einer
gleichen Summe für Kriegskosten stipulirt. Bis zur Tilgung dieser
Summen sollte Kan-ton besetzt bleiben.


Wie Pottinger nach Abschluss des Vertrages von Nan-kiṅ,
so verlangte jetzt auch Lord Elgin die ausdrückliche Bestätigung
[252]Die kaiserliche Bestätigung.
des Kaisers und erhielt nach vier Tagen von den Commissaren
folgendes an dieselben gerichtete Decret:


»Wir haben euere Denkschrift gelesen und wissen Alles. Beachtet
dieses.«


Der Botschafter antwortete, er erwarte noch immer die
kaiserliche Bestätigung, worauf die Commissare erwiederten, »dass,
sobald sie persönlich die mit den Siegeln und Unterschriften ver-
sehenen Originale der verschiedenen Verträge Seiner Majestät in
der Hauptstadt vorgelegt und deren Ratification in der kaiserlichen
Handschrift erlangt haben würden, dieselbe in grösster Eile zu Lord
Elgins Kenntnissnahme nach Shang-hae befördert werden solle«. —
Der Botschafter meldete ihnen darauf, er werde die kaiserliche Be-
stätigung in Tien-tsin abwarten und sei genöthigt, ein eben auf
der Rhede von Ta-ku eingetroffenes Regiment — das 59. — dahin
befördern zu lassen. Zugleich wurden die städtischen Behörden
um Quartiere für dasselbe ersucht. Schon zwei Tage nach dieser
Mittheilung sandten die Commissare ein Schreiben mit folgendem
Einschluss:


»Am dreiundzwanzigsten Tage des 5. Mondes des 8. Jahres von
Hien-fuṅ (3. Juli 1858) hatte der grosse Staatsrath die Ehre, folgendes
Decret zu erhalten.


Kwei-liaṅ und sein College haben die Verträge der verschie-
denen Nationen zu unserer Kenntnissnahme vorgelegt. Diese wurden
verhandelt und untersiegelt von Kwei-liaṅ und seinem Collegen. Da
Kwei-liaṅ und sein College uns nun vorstellen, dass die verschiedenen
Nationen unsere handschriftliche Bestätigung als Zeugniss für deren
Gültigkeit zu haben wünschen, so (geben wir hiermit) allen Vorschlägen
in dem englischen, dem französischen, und in dem russischen und
americanischen Vertrage, wie sie uns von den Ministern in ihren
früheren Eingaben dargestellt wurden, unsere Zustimmung, und be-
fehlen, dass im Einklang damit gehandelt werde.


Beachtet dieses.«


Das 59. Regiment, das schon auf dem Wege war, musste
sich nun wieder einschiffen. Lord Elgin nahm am 6. Juli Abschied
von den Commissaren und fuhr noch an demselben Tage auf die
Rhede hinaus.


Der englische Botschafter hatte gewünscht, nach Abschluss
des Vertrages seine Creditive in Pe-kiṅ zu überreichen und möchte
diesen Gedanken vielleicht ausgeführt haben, wenn seiner Absicht
gemäss die Operationen zwei Monate früher begonnen hätten. Da-
[253]Lord Elgin in Shang-hae.
mals war Kan-ton noch ruhig und die Regierung in Pe-kiṅ unvor-
bereitet. Jetzt stand ein starkes Tartarencorps bei der Hauptstadt;
die Julihitze machte alle Operationen zu Lande für europäische
Truppen bedenklich. Aus dem Süden kamen ernste Nachrichten
beim Eintreffen des 59. Regimentes, bei dessen Abfahrt von Hong-
kong
noch keine Gefahr drohte. Bewaffnete Banden hatten Kan-
ton
angegriffen und wurden immer dreister, seitdem sie den Eng-
ländern in den Bergen der Weissen Wolken mit Erfolg die Spitze
geboten hatten. Man entdeckte einen Anschlag der als Volkswehr
organisirten Schaaren, die englische Gemeinde auf Hong-kong zu
überfallen, und verfügte keineswegs über hinreichende Truppen,
um sich dagegen zu sichern. Hätte die früher so erbitterte Bevöl-
kerung von Kan-ton die Feindseligkeiten begünstigt, so konnte die
Garnison sich kaum halten; sie stand aber jetzt mit derselben auf
dem besten Fusse, verrieth alle Banditen, die sich in die Stadt
schlichen, und nahm an deren Verhaftung thätigen Antheil. Trotz-
dem schien Kan-ton gefährdet. Wollte Lord Elgin nach Pe-kiṅ
gehen, so musste eine starke Garnison Tien-tsin halten; denn die
Folgen waren unberechenbar. Die Umstände aber geboten alle ver-
fügbaren Truppen nach dem Süden zu schicken.


In Shang-hae erhielt Lord Elgin die Meldung, dass Kwei-
liaṅ
, Wa-šana
und Ho-kwei-tsiṅ, General-Gouverneur der bei-
den Kiaṅ, angewiesen seien, die dem Vertrage beizufügenden Handels-
bestimmungen und den Zolltarif mit ihm auszuarbeiten. Da nun
jene erst in einigen Monaten dort eintreffen konnten, so be-
nutzte Lord Elgin die Zwischenzeit zur Reise nach Japan, wo er
den bekannten Vertrag schloss. Sein Bruder, Hon. Frederick
Bruce
ging direct nach England weiter, um den Vertrag von Tien-
tsin
zu überreichen. — Lord Elgin kehrte im September nach
Shang-hae zurück, wo die chinesischen Bevollmächtigten sich
Anfang October einstellten. Die Berichte aus Kan-ton lauteten
fortwährend bedenklich. Die Volkswehr setzte unter dem Schutz
der Provinzial-Behörden die Feindseligkeiten gegen die Fremden
fort, als ob kein Frieden geschlossen sei. Lord Elgin hatte in
Tifn-tsin die Ereignisse im Süden gegen die Commissare nur vor-
übergehend berührt, weil er wünschte, dass die englischen Truppen
selbst die Milizbanden züchtigen und zur Ruhe bringen möchten.
Da er aber in Shang-hae erfuhr, dass der Kriegsausschuss der
Mandarinen Luṅ, Lo und Su, welcher die patriotische Bewegung zu
[254]Verhandlungen in Shang-hae.
Vertilgung der Barbaren leitete, unter Autorität des General-
Gouverneurs Waṅ handele, weigerte sich Lord Elgin mit den Com-
missaren in persönlichen Verkehr und Unterhandlung zu treten,
bis die chinesischen Behörden der Befehdung im Süden ein Ziel
gesetzt hätten.


Kwei-liaṅ und Wa-šana antworteten, der Vertrag von
Tien-tsin sei noch nicht publicirt und keine Nachricht darüber nach
Kan-ton gelangt; deshalb beharre Waṅ noch in seiner früheren
Haltung; Luṅ, Lo und Su seien hohe Beamte, vom Kaiser mit
Organisation der Milizen beauftragt, welche in jeder von Unruhen
heimgesuchten Provinz aufgestellt würden. Sie legten zugleich
den Entwurf einer allgemein gehaltenen Friedens-Proclamation
vor, deren Veröffentlichung sie dem General-Gouverneur Waṅ be-
fehlen wollten. Lord Elgin verlangte dagegen die Entfernung des
Waṅ von seinem Posten und Auflösung des Kriegsausschusses, als
ein Zeichen, dass die kaiserliche Regierung es redlich meine mit
Aufrechthaltung des Friedens und der freundschaftlichen Beziehungen.
Beides versprachen die Commissare in Pe-kiṅ durchzusetzen, und
die Verhandlungen begannen. Der englische Botschafter liess sich
dabei durch Herrn Oliphant und Herrn Wade vertreten. Bei Be-
rathung der Handelsbestimmungen und des Tarifes kamen viele
wichtige Puncte zur Sprache.103) Unter anderem gewährte man der
chinesischen Steuerverwaltung das Recht, ohne Zuziehung der eng-
lischen Behörden jeden Engländer in ihre Dienste zu nehmen, den
sie bei den Zollämtern anstellen wollte. Zu dieser Auskunft trieb
die Chinesen die bittere Erfahrung von der Unredlichkeit der ein-
[255]Verhandlungen in Shang-hae.
heimischen Beamten, mit denen die ausländischen Kaufleute zum
Nachtheil der chinesischen Staatskassen vielfach conspirirten. —
Besonders entsittlichend wirkte der Schleichhandel mit Opium, der
eine regelmässige Einnahme-Quelle für die Unterbeamten der Zoll-
ämter bildete. Lord Elgin schlug daher Legalisirung des Opium-
handels unter hoher Eingangssteuer vor, welche jetzt bereitwillig
angenommen wurde. Dagegen sollte dieser Artikel an den allen
anderen für die Transitzölle gewährten Vortheilen nicht participiren.
Der Transport nach dem Inneren durch ausländische Kaufleute
konnte zu schlimmen Collisionen führen, und man fand nur gerecht,
dass die Regierung den Handel damit nach eigenem Ermessen be-
steuere. — Erst nach Erledigung aller dieser Fragen traten die chi-
nesischen Commissare mit dem wirklichen Zweck ihrer Sendung
hervor.


Es musste schon auffallen, dass Männer von so hohem
Range mit Verhandlungen beauftragt wurden, welche, ohne poli-
tische Bedeutung, nur eingehende Kenntniss der Zoll- und Han-
delsverhältnisse forderten. Ferner befremdete die lange Verzöge-
rung ihres Erscheinens in Shang-hae. Offenbar sollte der Eintritt
des Winters abgewartet werden, der den Chinesen Zeit gab zu
Herstellung der neuen Werke am Pei-ho. Ein kaiserlicher Erlass
vom 25. Juli, nach welchem die in den Fluss eindringenden »Bar-
baren« sich auf Kwei-liaṅ’s gütige Weisung entfernt hätten, war
ein übles Zeichen; denn hier brach die Regierung innerhalb
eines Monats nach Abschluss des Vertrages eine Bestimmung des-
selben, nach welcher der Ausdruck Ei, Barbaren, für die Fremden
nicht mehr gebraucht werden durfte. Unter den Chinesen in
Shang-hae ging das Gerede, die Commissare kämen weit eher,
um Krieg als um Frieden zu machen; Positives erfuhren aber die
Engländer über die kaiserliche Politik und deren unterirdisches Ge-
triebe erst viel später. Den merkwürdigsten, wenn auch nicht
erschöpfenden und vollkommen sicheren Aufschluss darüber gab
der Bericht eines untergeordneten von Waṅ zum Spioniren nach
Shang-hae gesandten Mandarinen, von welchem Consul Parkes
sich eine Abschrift verschaffte. Danach hätte der Kaiser die Com-
missare bei der Abschiedsaudienz positiv bedeutet, dass alle sechsund-
funfzig Artikel des Friedensvertrages umgestossen werden müssten.
Der dritte Bevollmächtigte, General-Gouverneur Ho-kwei-tsiṅ hätte
seine Collegen in Tšaṅ-tšan empfangen und bei gemeinsamer Be-
[256]Verhandlungen in Shang-hae.
rathung der einzuschlagenden Wege darauf bestanden, dass von
keiner Aenderung die Rede sein dürfe. Die Bevollmächtigten hätten
mehrere Vorstellungen in diesem Sinne an den Thron gerichtet,
jedesmal aber die peremtorische Weisung erhalten, den vorgeschrie-
benen Standpunct einzuhalten. Zuletzt hätte der Kaiser einge-
willigt, unter folgenden vier Bedingungen Frieden zu machen: dass
kein Handel nach den Häfen am Yaṅ-tse erlaubt würde; dass
kein Gesandter nach Pe-kiṅ käme; dass Fremde nicht im Innern
des Landes reisen dürften; dass Kan-ton schleunigst geräumt
würde. — »Die Commissare können unmöglich so dumm gewesen
sein, sich in Alles zu fügen.... Niemals, seit Anfang der Welt,
galt der Grundsatz, dass ein Beamter, statt den Räuber für seinen
Diebstahl zu strafen, ihn versöhnen soll, indem er Alles thut, was
dessen Bosheit gegen die beraubte Person vorschreibt.« — Der
Verfasser, offenbar ein Mann von geringer Bedeutung, erzählt
manches den Thatsachen Widersprechende und klagt über die
Heimlichkeit der Verhandlungen; der grösste Theil seines Berichtes
wurde aber durch später aufgefundene Papiere und durch die
Ereignisse vollkommen bestätigt; so die Angaben über Ho-kwei-
tsiṅ
, der während der Verhandlungen noch mehrere Vorstellungen
an den Thron gerichtet und endlich dem Kaiser geschrieben hätte,
derselbe möge, wenn er seine Vorschläge nicht billigte, die drei
Fürsten (die Prinzen von Wui, Kuṅ und Tšiṅ) nach Shang-hae
schicken, denen die oberste Leitung der auswärtigen Angelegen-
heiten anvertraut sei, worauf der Kaiser an den Rand geschrieben
hätte: »Seine Halsstarrigkeit wird ihm Verderben bringen«.


Nach der Schlussberathung über die Handelsbestimmungen
ersuchten nun die Commissare Lord Elgin in einer vom 22. October
datirten Note — unter Erörterung der Umstände, welche den Ab-
schluss des Vertrages von Tien-tsin bedingten — von Einrichtung
einer Gesandtschaft in Pe-kiṅ abzustehen und die englische Regie-
rung zu Wahl eines anderen Wohnsitzes für ihren Vertreter zu
vermögen. Sie stellten das Erscheinen fremder Gesandten in der
Hauptstadt als die grösste Beschädigung dar, welche China zugefügt
werden könne: es müsse die Lage der durch Rebellionen im Inneren
ohnedem schon bedrängten Regierung wesentlich verschlimmern
und könne zu Aufständen in Pe-kiṅ führen, deren Folgen sich
nicht absehen liessen. Die Commissare gaben zu, dass England
auf Erfüllung des unter dem Zwange der Waffengewalt bewilligten
[257]Das Gesandtschaftsrecht.
Vertragsrechtes bestehen könne, baten aber, dasselbe nicht zu
urgiren, versprachen auch dafür gewissenhafte Erfüllung aller
anderen Bestimmungen und Gewährung neuer Vortheile ausserhalb des
Vertrages. — Lord Elgin wechselte mit ihnen mehrere Noten darüber
und versprach schliesslich, unter Festhaltung des Rechtes einer
stehenden Gesandtschaft, ihr Gesuch dahin zu befürworten, dass,
— wenn der mit Auswechselung der Ratificationen beauftragte Di-
plomat zu Pf-kiṅ in angemessener Weise empfangen und der Ver-
trag in allen Stücken gehalten würde, — die Regierung von Gross-
britannien
ihren Vertreter anweisen möge, seinen Wohnsitz anderswo
als in der Hauptstadt zu nehmen und diese nur vorübergehend bei
dienstlichem Anlass zu besuchen.


Hier beginnt erst der ernste Kampf um Gleichberechtigung,
welchen die Diplomaten mit dem Vertrage von Tien-tsin aus-
gefochten wähnten. Der Himmelssohn, dessen Vorgänger seit
mythischer Zeit als Herren der Welt gegolten und nur Unterthanen
gekannt hatten, sollte in seiner Nähe Barbaren dulden, die ihm
nicht einmal gleiche Ehrfurcht erwiesen, wie die seinen Hof be-
suchenden asiatischen Fürsten; er sollte sie mit dem Bewusstsein
dulden, dass er sich von ihnen zwingen liess und sie mit
Achtung und Rücksicht behandeln müsse, um neuen Demüthigungen
vorzubeugen. Dem Herrscher über 300 Millionen, der keine
Ahnung hatte von der übrigen Welt, muss das unfasslich gewesen
sein. Ohne irgend verhältnissmässige Stützung auf physische Ge-
walt übte der Kaiser von China schrankenlose Macht über unbe-
grenzte Ländermassen, über ein Drittel der Erdenbewohner, und
diese uralt angestammte Eigenschaft des weltbeherrschenden Him-
melssohnes, dessen Willen anerkannt war als höchstes Gebot
nicht etwa nach menschlicher Satzung, sondern nach unabänder-
licher Weltordnung, sollte nun aufgegeben werden. Ein durch
Jahrtausende gereifter Wahn verschwindet nicht mit einem
Schlage. Der Frieden von Nan-kiṅ rüttelte daran. Hien-fuṅ lieh
aber von Anfang an der retrograden Parthei sein Ohr und musste
durch Yi’s Erfolge 1856 in der durch Schmeichler genährten An-
sicht bestärkt werden, dass zäher Widerstand zu gutem Ende
führe. Angesichts des Feindes konnte er wohl kurze Zeit den
Rath verständiger, den Machtverhältnissen Rechnung tragender
Männer hören; nachher aber erschien ihm die vorübergehende Be-
drohung wohl als böser Traum, den man abschüttelt, um sich zu
III. 17
[258]Das Gesandtschaftsrecht.
neuer Thatkraft zu ermannen. Das Gewissen des Himmelssohnes
ist seine inspirirte Neigung, denn über ihm giebt es keinen Richter,
und das Volkswohl rechtfertigt jeden Vertragsbruch gegen Räuber
und Rebellen, wie er die seinem Willen, d. h. der himmlischen
Weltordnung widerstrebenden Barbaren betrachten musste.


Neben der Verletzung des kaiserlichen Ansehns führten die
chinesischen Commissare in ihren Gesprächen mit Lord Elgin noch
einen anderen Grund gegen die stehende Gesandtschaft in Pe-kiṅ an.
Man hatte schlimme Erfahrungen gemacht mit Diplomaten und Con-
suln, deren Eitelkeit, heftiges Temperament und Eigensinn, deren
hochmüthige Trägheit oder Unfähigkeit, den in der chinesischen
Cultur begründeten Institutionen und Anschauungen Rechnung zu
tragen oder sich auch nur darüber zu unterrichten, oft jeden
erspriesslichen Verkehr unmöglich machten. »Die Lehre,« sagt Lord
Elgin in seiner das Gesandtschaftsrecht beleuchtenden Depesche
an Lord Malmesbury (Shang-hae, 5. November 1858), »dass jeder
Chinese ein Buhe und nur mit Hohn und Trotz zu bändigen ist,
wird häufig etwas zu weit getrieben in unserem Verkehr mit die-
sem Volke.« Männer von solchem Schlage fürchteten die Commissare,
wie sie offen bekannten, als Vertretr in Pe-kiṅ zu sehen, und be-
sorgten von deren Anwesenheit unheilbare Verstimmungen.


Lord Elgin hielt nicht für rathsam, das Vertragsrecht,
welches der englischen Regierung überliess, eine stehende
oder vorübergehende Gesandtschaften nach Pe-kiṅ zu schicken,
»in einer Weise zu brauchen, welche den Kaiser zu wählen
zwänge zwischen verzweifeltem Widerstande und passiver Dul-
dung Desjenigen, das er und seine Räthe für das grösste Unheil
ansahen, welches das Reich befallen könne«. Zudem fürchtete der
Botschafter wohl mit Recht, dass Kwei-liaṅ und Wa-šana hin-
gerichtet würden, und besorgte von solchem Beispiel eine übele
Wirkung auf die künftige Haltung chinesischer Staatsmänner. End-
lich hoffte er durch Nachgiebigkeit in diesem Puncte andere im
Vertrage nicht berührte Zugeständnisse, vor Allem die Erlaubniss
zu erlangen, mit einem Geschwader den Yaṅ-tse-kiaṅ hinaufzu-
gehen, wozu er vor Unterdrückung der Tae-piṅ-Rebellion und
Ratification des Vertrages kein Recht hatte. Lord Elgin wünschte
durch diese Expedition vor dem ganzen Reiche das ihm vom
Kaiser gewährte wichtige Recht der Besichtigung der neuen Häfen
zu constatiren und der englischen Flagge durch Mitführung eines
[259]Verhandlungen über Kan-ton.
stattlichen Geschwaders im voraus Achtung zu verschaffen. Nach-
dem er schriftlich versprochen hatte, über das Gesandtschaftsrecht
in dem bezeichneten Sinne an seine Regierung zu berichten, fügten
die Commissare sich ohne Umstände seinem Wunsch und gaben
ihm Mandarinen mit Briefen mit, welche gute Aufnahme bei den
kaiserlichen Behörden sicherten.


Nachdem auch die Vertreter von America und Frankreich
die von den Engländern ausgearbeiteten Handelsbestimmungen und
Tarife angenommen hatten, wurden diese am 8. November unter-
zeichnet. An demselben Tage trat Lord Elgin auf dem Furious in
Begleitung der Schiffe Retribution und Cruizer und der Kanonen-
boote Dove und Lee seine Reise nach den Häfen des Yaṅ-tse
an und kehrte in der zweiten Hälfte des December nach Shang-hae
zurück.


Der Kaiser hatte die Commissare auf ihre Eingabe um Ab-
berufung des Waṅ, Generalgouverneurs von Kuaṅ-tuṅ und Bevoll-
mächtigten für den fremden Handel, abschläglich beschieden, den-
selben gegen den Vorwurf vertheidigt, nach dem Friedensschlusse
feindlich gegen die Fremden gehandelt zu haben, und sich jeden
Einspruch in die ihm allein zustehende Beurtheilung desselben ver-
beten. Bei einem Zusammenstoss englischer Truppen mit Miliz-
banden in der Nähe von Kan-ton erbeuteten erstere nun im Januar
amtliche Documente aus dem Besitz des Kriegsausschusses, welche
die Mitwirkung des Statthalters deutlich bewiesen. Lord Elgin
drang deshalb nach seiner Rückkehr abermals auf dessen Abberu-
fung und Auflösung des Kriegsausschusses, und meldete den Com-
missaren, dass er auf strenger Ausführung des Separat-Artikels
über die Kriegsschuld und Kan-ton bestehen werde. Die Com-
missare betheuerten, das Ihre gethan zu haben, dem Kaiser aber
keine Vorschriften machen zu können; über Kan-ton mit ihm zu
unterhandeln, hätten sie bis dahin keine Zeit gefunden. Am 20. Ja-
nuar antwortete Lord Elgin, dass er über letztere Frage nicht
mehr mit ihnen correspondiren werde, da sie offenbar zu Be-
schlüssen darüber keine Vollmacht hätten; dass er die Comman-
deure der Land- und Seemacht in Kuaṅ-tuṅ dringend ersuchen
werde, dort mit äusserster Strenge aufzutreten, und dass bei Rati-
fication des Vertrages in Pe-kiṅ angefragt werden solle, ob die
Feindseligkeiten in jener Provinz vom Kaiser gebilligt wären. Die
Commissare äusserten sich darauf in den stärksten Ausdrücken
17*
[260]Kaiserliches Decret über Kan-ton.
über die Vorgänge und versicherten nochmals, dass Waṅ abgesetzt
werden solle.


Unterdessen war dem Consul Parkes ein Document in die
Hände gespielt worden, das, als geheimer Erlass der kaiserlichen
Regierung auftretend, die Volkswehr zu Feindseligkeiten gegen die
Engländer anfeuerte und die nichtswürdigste Politik der Hinterlist und
Lüge bekundete. Lord Elgin schickte den Commissaren eine Abschrift
davon und meldete, dass er selbst nach Kan-ton gehen und in
drei Wochen nach Shang-hae zurückkehren werde; fände er sie dann
nicht mehr anwesend, so werde er sich nach Pe-kiṅ begeben. Die
Commissare erklärten unverzüglich jenes Document für gefälscht
und betheuerten, dass binnen drei Wochen das die Absetzung des
Waṅ aussprechende Decret aus Pe-kiṅ eintreffen müsse; bis dahin
könne alles Andere erledigt werden; Lord Elgin möge doch blei-
ben. Dieser erwiederte am 25. Januar, dass sie in Bezug auf
Kan-ton nicht Wort gehalten hätten und dass er über diese An-
gelegenheit nicht mehr mit ihnen correspondiren könne; alles
Uebrige, das noch Erwägung fordere, werde er nach seiner Rück-
kehr mit ihnen abmachen, »friedlich oder anders, wie die chinesische
Regierung angemessen finde«. Darauf ging er Ende Januar nach
Hong-kong. Mitte Februar 1859 erhielt er dort ein Schreiben der
Commissare mit folgendem kaiserlichen Decret, welches am 31. Ja-
nuar durch die amtliche Zeitung von Pe-kiṅ publicirt wurde, als
Einschluss.


»Wir erhielten heut eine Eingabe von Kwei-liaṅ und Wa-šana,
des Inhalts, dass sie mit Schreiben von den Engländern ein falsches
kaiserliches Decret empfangen hätten, in der Fassung derjenigen,
welche direct vom kaiserlichen Hofe ausgehen. Man theilte ihnen mit,
dasselbe sei von einem Engländer in Kan-ton eingesandt. Wir haben
es mit äusserstem Erstaunen gelesen. Von jeher hielt China an den
Grundsätzen der höchsten Gerechtigkeit fest in seinen Maassregeln zur
Beruhigung der fremden Nationen; es schmiedete niemals Pläne, die-
selben zu schädigen. — Nach den Misserfolgen des Yi-miṅ-tsin
ernannten wir Waṅ-tsuṅ-han zum General-Gouverneur der beiden
Kuaṅ und gaben ihm das Siegel als kaiserlicher Bevollmächtigter in
unseren Gebieten. Was den Vice-Präsidenten Lo-tuṅ-yen und seine
Collegen betrifft, so warben sie, von patriotischem Eifer getrieben,
Freiwillige für die Landesvertheidigung, eine vollkommen rechtmässige
Beschäftigung für die Ortsbevölkerung. — Nachdem aber vor kurzem
die freundschaftlichen Verhandlungen von Kwei-liaṅ und seinen Amts-

[261]Lord Elgin’s Abreise.
genossen in Tien-tsin beendet wurden, hatte Waṅ-tsuṅ-han sich
nur mit inneren und militärischen Angelegenheiten zu befassen, wäh-
rend Lo-tuṅ-yen und seine Collegen, unseren Befehlen gehorsam,
nur einheimische Banditen verfolgten. Feindseligkeiten gegen die Eng-
länder und Franzosen wurden nicht bezweckt. Obwohl diese Nationen
noch nicht die Hauptstadt von Kuaṅ-tuṅ herausgegeben haben, so
mögen sie doch, wenn sie Ordnung unter ihren Truppen halten und
die Bewohner nicht belästigen, zusammen in Frieden leben, frei von
jeder Behelligung. — Es ist aber ein Hofdecret geschmiedet worden,
welches Schwierigkeiten zwischen Lo-tuṅ-yen und seinen Amts-
genossen einerseits und diesen beiden Nationen andererseits veranlasste
und im Gemüth der Engländer Zweifel und Argwohn erweckte. Wir
befehlen deshalb Waṅ-tsuṅ-han, scharfe Maassregeln gegen die
gesetzlosen Fälscher zu ergreifen und sie mit der äussersten Strenge
des Gesetzes zu strafen. So mögen alle Nationen wissen, dass China
seine Angelegenheiten in einem offenen, gerechten und freisinnigen
Geiste verwaltet, und dass, wenn einmal ein Vergleich geschlossen ist,
Argwohn und Zweifel beseitigt werden können, so dass kein Platz
bleibt für die Aufreizungen falscher Ränkeschmiede. — Da Shang-hae,
wo die auf den allgemeinen Handel bezüglichen Einrichtungen jetzt
getroffen werden, in beträchtlicher Entfernung von Kuaṅ-tuṅ liegt,
so ernennen wir hiermit den General-Gouverneur der beiden Kiaṅ,
Ho-kwei-tsiṅ
, zum kaiserlichen Commissar für die auswärtigen Ange-
legenheiten, und befehlen Waṅ-tsuṅ-han, ihm durch einen Special-
beamten das jetzt in seinen Händen befindliche Siegel eines kaiser-
lichen Bevollmächtigten zu übersenden. — Beachtet dieses.«


Lord Elgin bestätigte den Commissaren unter dem 3. März
den Empfang des Schreibens mit diesem Einschluss und meldete,
dass sein Bruder Honourable Frederick Bruce zu seinem Nach-
folger ernannt und zu Auswechselung der Ratificationen in Pe-kiṅ
angewiesen sei. Zugleich theilte er ihnen seine Abreise aus China
und die Zustimmung der englischen Regierung zu seinem Vor-
schlage mit, dass britische Gesandte auf die bewussten Bedingungen
nur vorübergehend Pe-kiṅ besuchen möchten. Der Botschafter sagte
in diesem Schreiben den Commissaren Lebewohl und schiffte sich
am 4. März nach England ein.


Kan-ton blieb dem Vertrage gemäss besetzt; die Verhält-
nisse gestalteten sich dort immer günstiger. Handel und Gewerbe
blühten, und die Ordnung und Reinlichkeit, an welche die englische
Polizei die Bevölkerung gewöhnte, übten bleibenden Einfluss. Der
[262]Zustand von Kan-ton.
Commandant von Kan-ton liess seine Truppen zuweilen einen
Uebungsmarsch in die Umgegend machen, wo sie von der ansässi-
gen Bevölkerung immer freundlich behandelt wurden. Die meist
aus Abenteurern zusammengesetzten Milizschaaren verloren durch
Auflösung des Kriegsausschusses von Fa-yune endlich ihren Mittel-
punct und liefen auseinander, so dass Ruhe und Sicherheit auch
auf dem Lande hergestellt wurden.


[[263]]

VI.
DIE OPERATIONEN DER TAE-PIṄ.

VON 1857 BIS 1860


Nach Unterzeichnung der Handelsbestimmungen zum Vertrage
von Tien-tsin am 8. November 1858 fuhr Lord Elgin von
Shang-hae aus unter Zustimmung der kaiserlichen Behörden mit
den Schiffen Furious, Retribution, Cruizer, Dove und Lee den
Yaṅ-tse-kiaṅ hinauf, um die laut jenem Vertrage dem Handel
freigegebenen Häfen zu besichtigen. Tšiṅ-kiaṅ hatten die Tae-piṅ
damals schon geräumt. Als das englische Geschwader am 20. November
sich Nan-kiṅ näherte, sandte der Commandeur das Kanonenboot Lee
unter Parlamentärflagge voraus, um Feindseligkeiten der Rebellen vor-
zubeugen. Diese aber beschossen die englischen Schiffe mit grösster
Heftigkeit. Der Furious erhielt mehrere Kugeln in den Rumpf, Retri-
bution hatte einen Todten und zwei schwer Verwundete; langsam
vorwärts dampfend erwiederten sie das Feuer mit guter Wirkung.
Das Geschwader ankerte für die Nacht oberhalb Nan-kiṅ, kehrte
jedoch am folgenden Morgen dahin zurück und bombardirte andert-
halb Stunden lang die Aussenwerke am Fluss, welche nur
schwächlich antworteten. Dann fuhren die Engländer stromauf-
wärts weiter und erreichten am Abend des 21. November die Stadt
Tae-piṅ, deren Commandant ein Gesuch um Hülfe gegen die
kaiserlichen Kriegsdschunken an Lord Elgin sandte und folgenden
Bescheid erhielt:


»Da eine Anzahl königlicher Kriegsschiffe auf dem Wege nach
Han-kau war, wünschte der Botschafter dringend, die Nan-kiṅ besetzt
haltende Parthei zu unterrichten, dass diese Schiffe ohne feindliche Ab-
sicht gegen dieselbe kämen. Zu dem Zwecke ging ein kleines Fahr-
zeug voraus. Eine Kanone wurde auf dasselbe abgefeuert, worauf es
seiner Instruction gemäss nicht antwortete, sondern eine Parlamentär-
flagge aufzog. Trotzdem fuhr die Garnison von Nan-kiṅ fort, dasselbe
zu beschiessen. In Folge dessen sind die das Fahrwasser beherrschen-

[264]Lord Elgin auf dem [Yaṅ-tse-kiaṅ].
den Werke genommen und zerstört worden, zur Warnung für Alle,
die sich hinfort an Ihrer Majestät Schiffen vergreifen sollten.«


Auf ihrer weiteren Fahrt erhielten die Engländer vor Gan-
kiṅ
abermals Feuer und bombardirten dafür eine halbe Stunde die
Stadt. — Die so oft genommene DreistadtHan-kau-Han-yaṅ-
Wu-tšaṅ
, früher der grösste Stapelplatz des chinesischen Binnen-
handels, war damals nur ein Trümmerhaufen, in dessen ver-
ödeten Strassen man Fasanen aufstörte. Auf dem Rückwege be-
suchte Lord Elgin mehrere von den Tae-piṅ besetzte Plätze, deren
Bevölkerung im tiefsten Elend lebte. Alle waffenfähigen Männer
waren zu Soldaten gepresst, alle Uebrigen völlig ausgesogen wor-
den. Die Meisten wohnten in Erdhütten auf dem Felde, denn die
Tae-piṅ duldeten innerhalb der Städte Niemand, den sie nicht
brauchten. Gan-kiṅ und Wu-hu fand man elend armirt; die Soldaten
gehörten zur schlechtesten Classe des chinesischen Gesindels und
sprachen die Dialecte aller Provinzen, eine zusammengelaufene Horde.
Sie liessen das Haar rings um den Kopf wachsen, ohne jedoch, wie
die alten Tae-piṅ, den Zopf abzuschneiden, den sie nur aufgesteckt
trugen, um nach Gefallen in die Reihen der Kaiserlichen überzutreten.
Das Amtszimmer des Commandanten von Wu-hu fand Herr Wade voll
lärmenden Gesindels, das sich von dem zugleich als Richter und
Oberpriester fungirenden General nicht zur Ruhe weisen liess. Der
Commandeur des Geschwaders erhielt dort ein Schreiben von den
Behörden zu Nan-kiṅ: der Tien-waṅ habe alle Diejenigen köpfen
lassen, die aus Unwissenheit auf die Engländer geschossen hätten.
Zugleich wurde folgendes an Lord Elgin gerichtete Manifest des
Tien-waṅ auf der Retribution abgegeben:


  • 1. Wir melden zu Unterweisung unserer fremden jüngeren Brüder
    vom westlichen Ocean.
  • 2. Die Dinge des Himmels unterscheiden sich sehr von denen
    der Welt.
  • 3. Der himmlische Vater Šaṅ-ti, der kaiserliche Šaṅ-ti.
  • 4. Der geheiligte Vater Eines und Aller, über welche der Himmel
    sich ausspannt.
  • 5. Unser leiblicher älterer Bruder ist Jesus.
  • 6. Unser leiblicher jüngerer Bruder ist Siu-tsuen.
  • 7. Im dritten Mond des Jahres Mo-šin (1848) stieg Šaṅ-ti herab
  • 8. Und befahl dem König von Osten, ein Sterblicher zu werden.
  • 9. Im 9. Mond dieses Jahres stieg der Erlöser herab,
[265]Manifest des Tien-waṅ.
  • 10. Und gebot dem König von Westen, göttliche Kräfte zu zeigen.
  • 11. Der Vater und der ältere Bruder veranlassten uns zu sitzen (auf
    dem Throne) des himmlischen Königreiches.
  • 12. Mit grossem Gepränge von Macht und Ansehn in der Halle des
    Himmels;
  • 13. Die himmlische Stadt104) zu unserer Hauptstadt zu machen, zu
    gründen das himmlische Reich;
  • 14. (Dass) der Gesandte und das Volk aller Nationen ihrem Vater
    Kaiser huldigen möchten.
  • 15. Der Tempel des wahren Geistes ist innerhalb des himmlischen
    Hofes.
  • 16. Der Tempel des Ki-tu (Christus) ist ebenso herrlich in Ewigkeit.
  • 17. Im Jahre Tiṅ-yu (1837) stiegen wir zum Himmel.
  • 18. Der Vater schenkte uns, mit Worten der Wahrheit, einen Band
    Verse.
  • 19. Und befahl uns, ihn gut zu lesen und als einen Beweis an-
    zusehen,
  • 20. Durch die Verse den Vater zu kennen, standhaft zu sein.
  • 21. Ferner befahl der Vater dem älteren Bruder, uns zu belehren,
    wie wir sie zu lesen hätten.
  • 22. Der Vater und der ältere Bruder unterrichteten uns persönlich
    und gaben uns wieder und wieder ihre Aufträge.
  • 23. Der himmlische Vater Šaṅ-ti gleicht in seiner Machtfülle der
    Tiefe des Meeres.
  • 24. Hinauf bis zum 33. Himmel haben die Dämonen des Meeres sich
    den Weg gebrochen.
  • 25. Der Vater und der ältere Bruder haben sie ein über das andere
    Mal vertrieben und uns dabei mitgenommen;
  • 26. Unterstützt durch die Officiere und Soldaten des Himmels auf
    beiden Seiten,
  • 27. Haben sie bei diesem Anlass zwei Drittel von ihnen erschlagen.
  • 28. Von einem Thore des Himmels zum anderen wurden die Dämonen
    und Kobolde zurückgeschlagen,
  • 29. Bis sie alle hinuntergejagt waren (unter die Erde),
  • 30. Und nur ein Rest von ihnen übrig gelassen wurde; so offenbarte
    sich die Erhabenheit des Vaters.
  • 31. Der Vater gebot uns dann, auf die Erde zurückzukehren, (ver-
    sprechend)
  • 32. In allen Dingen unsere Stütze zu sein.
[266]Manifest des Tien-waṅ.
  • 33. Er gebot uns, unser Herz zu beruhigen und nicht bekümmert
    zu sein;
  • 34. Er, der Vater, würde helfen. Seine Gebote wurden zweimal und
    nochmals wiederholt.
  • 35. Im Jahre Wu-šin (1848), als der König des Südens in Kwei-piṅ
    bedrängt wurde,105)
  • 36. Baten wir den Vater, herabzukommen und seine Bestimmungen
    zu offenbaren.
  • 37. Wir waren von Kuaṅ-si nach Kuaṅ-tuṅ zurückgekehrt.
  • 38. Der himmlische Vater kam wirklich herab und befreite den (König
    von) Süden.
  • 39. Der Ost-König erlöst von Krankheit; er ist ein heiliger Geist.
  • 40. Der Vater sandte ihn herab mit dem Befehl, die Dämonen zu
    vertilgen.
  • 41. Er zerstörte Kobold-Teufel ohne Zahl,
  • 42. Und war im Stande, ohne Verzug bei der Hauptstadt ein-
    zutreffen.
  • 43. Als der Vater in die Welt hinabstieg, gab er seinen heiligen
    Willen zu erkennen.
  • 44. Alles dieses wurde gelesen, und indem wir es wohl unserem Ge-
    dächtniss einprägten,
  • 45. Kannten wir des Vaters Unfehlbarkeit
  • 46. Und wurden durch den Vater und den älteren Bruder bewogen,
    die Tae-piṅ-Herrschaft zu gründen.
  • 47. Da der Vater den Ost-König bestellt hatte, von Krankheit zu
    erlösen,
  • 48. Für die Blinden, Tauben und Stummen,
  • 49. So litt er grosses Elend.
  • 50. Im Kampf mit den Dämonen wurde er im Nacken ermordet und
    stürzte zu Boden.
  • 51. Der Vater hatte durch heiliges Gebot erklärt,
  • 52. Dass unsere Krieger, wenn sie hinauszögen, unsägliche Trübsal
    dulden würden.
  • 53. Dass, wenn sie zum Hofe (von Nan-kiṅ) kämen, sie heftig
    leiden würden.
  • 54. (Die Worte) des heiligen Gebotes des Vaters wurden alle voll-
    endet.
  • 55. Der ältere Bruder gab sein Leben, Sünder zu erlösen.
  • 56. Er gab sich hin für Myriaden Myriaden Tausend Menschen in
    der Welt.
[267]Manifest des Tien-waṅ.
  • 57. Der Ost-König litt, indem er die Kranken erlöste, gleich dem
    älteren Bruder.
  • 58. Und kehrte, als er vom Unglück106) ereilt wurde, zum Orte des
    Geistes zurück, dem Vater für seine Güte zu danken.
  • 59. Welches die rechten sind unter den Schriften des Vaters und des
    älteren Bruders, ist unmöglich zu wissen.
  • 60. Wer die wahren wählte, muss zum Himmel aufsteigen.
  • 61. Die heiligen Befehle des Vaters sind unzählbar.
  • 62. Wir erklären den allgemeinen Inhalt von einem oder zwei.
  • 63. Es ist einige Jahre her, dass der himmlische Vater auf die Erde
    herabstieg,
  • 64. Begleitet von dem himmlischen Bruder, dessen Kummer so gross
    war als früher.
  • 65. Jesus ist euer erlösender Herr,
  • 66. Und fährt fort, euch mit ganzem Gemüth zu erlösen und zu er-
    mahnen.
  • 67. Der himmlische Vater erzeugte Tsuen, auf dass er euer Herr-
    scher sei.
  • 68. Warum seid ihr nicht auf das äusserste unterthänig? Warum
    beharrt ihr eigensinnig auf euerem früheren Betragen?
  • 69. Ihr waret oft (schuldig) ernstlichen Ungehorsams gegen die
    Befehle.
  • 70. Wenn wir nicht unsere Befehle erliessen, so wäre euere Kühn-
    heit gross wie der Himmel.
  • 71. Für wen ist der himmlische Vater herabgekommen?
  • 72. Für wen hat Jesus sein Leben hingegeben?
  • 73. Der Himmel hat euch einen König herabgesandt, euer wahrer
    Herr zu sein.
  • 74. Warum seid ihr so unruhig, sind euere Herzen so unstät?
  • 75. Lasset euere Söhne aller Orten ihre Häuser verlassen,
  • 76. Aus ihrer Heimath ausziehen, entschlossen, unterthänige Diener
    zu sein,
  • 77. Herbeikommen, ihrem König zu helfen, wild wie Tiger und
    Leoparden.
  • 78. Wissend, dass sie einen Herrn haben, mögen sie Männer sein.
  • 79. Wenn ihr nicht glaubet, dass der Beste der Welt in uns er-
    schienen ist,
  • 80. So bedenket doch, dass der Geist Vater nicht irrt in dem Herr-
    scher, den er einsetzt.
[268]Manifest des Tien-waṅ.
  • 81. Nehmet als Beweis der unabhängigen Machtvollkommenheit des
    Himmels,
  • 82. Dass, wenn (uns) auch Tausend umringen, sie mit Stärke und
    Kühnheit in Staub gebrochen werden.
  • 83. Die Myriaden Länder, Myriaden Völker drängen sich in Myriaden
    zu (unserem) Hof;
  • 84. Die Myriaden Berge, Myriaden Gewässer, auf unbegrenzte Ent-
    fernung.
  • 85. Eine Myriade Li drängen sich Myriaden Augen ihren Weg
    hinauf.
  • 86. Alles Wissen, alle Glückseligkeit, alles Verdienst (ist unser? oder
    des Himmels?)
  • 87. Will ein Mann etwas vor dem Himmel verbergen, so soll er nicht
    sagen, dass der Himmel nichts davon weiss.
  • 88. Der Himmel reicht so weit als das Meer tief ist, ja und weiter.
  • 89. Sehet nun euch selbst ohne Muth und Entschluss.
  • 90. Wie lange wollet ihr nicht treue Diener sein?
  • 91. Bedenket, dass, wenn ihr in der dritten Wache (der Nacht) auf
    der dunkelen Strasse entschlüpfet,
  • 92. Der rächende Dämon euch vor Tagesanbruch blenden wird.
  • 93. Gehet, Jeder von euch, im wahren Pfade eueres Königs.
  • 94. Glaubet an den himmlischen Vater und zweifelt nicht.
  • 95. Der Himmel erzeugte den rechtmässigen Herrscher, das Reich zu
    lenken.
  • Als Šaṅ-ti diesen heiligen Befehl herabsandte, gebot er uns,
    drei Sätze beizufügen. Wir fügten hinzu:
  • 96. Der himmlische Vater und der himmlische Bruder haben grosse
    Mühsal der Seele (haben viel zu sorgen).
  • 97. Alle Machtvollkommenheit und Gewalt kehrt zum höchsten Herr-
    scher zurück.
  • 98. Wie kann dem ganzen Tae-piṅ-Reich Glückseligkeit verliehen
    werden?
  • Šaṅ-ti sandte auch einen anderen heiligen Erlass, sprechend:
  • 99. Im neunfältigen Himmel lasst einen König des Ostens sein,
  • 100. Das Reich zu stützen als ein Rathgeber von langer Dauer.
  • Als Šaṅ-ti diesen beiden Zeilen seine Beistimmung gab, wollte
    er, dass wir zwei weitere beifügten. Im Einklang mit des
    Vaters heiligem Willen fügten wir diese beiden hinzu:
  • 101. Ho-nae der Lehrer, der zugleich der Herr Erlöser von Krankheit ist,
  • 102. Ist der grosse Beistand aller Menschen der Welt.
  • In späterer Zeit machte Šaṅ-ti eine Aenderung, sprechend:
[269]Manifest des Tien-waṅ.
  • 103. Lasset ein Paar Phönixe angestellt werden, einen im Osten, den
    anderen im Westen.
  • 104. Lasset den Osten, Westen, Norden und Süden ihnen Huldigung
    erweisen.
  • Šaṅ-ti machte eine zweite Aenderung, sprechend:
  • 105. Lasset ein Paar Phönixe angestellt werden, einen im Osten, den
    anderen im Westen.
  • 106. Und lasset sie in Dankbarkeit für die Gnadenfülle des Himmels,
    welche auf sie herabgestiegen ist, zusammen Huldigung dar-
    bringen.
  • 107. Diesen Inhalt von des Vaters heiligem Willen in allgemeinen Be-
    stimmungen
  • 108. Erklären wir wahrhaftig zu euerer Belehrung, unsere fremden
    jüngeren Brüder.
  • 109. Dass der himmlische Vater und der himmlische ältere Bruder
    wirklich auf die Erde herabgestiegen sind,
  • 110. Ist als wahr erwiesen durch die Verse des Vaters.
  • 111. Ihre (oder seine) göttliche Einsicht und Machtvollkommenheit
    können Worte nicht aussprechen.
  • 112. Kommet bald zum himmlischen Tempel und ihr werdet es em-
    pfinden.
  • 113. Der höchste ältere Bruder ist derselbe (oder von derselben Art)
    mit dem Vater.
  • 114. Kein halber Satz der (ihrer) heiligen Befehle soll geändert
    werden.
  • 115. Šaṅ-ti, der himmlische Vater, ist der wahre Šaṅ-ti.
  • 116. Jesus, der himmlische ältere Bruder, ist wirklich der ältere
    Bruder.

Dieses Manifest war grösstentheils in sehr mittelmässigen
siebenfüssigen Versen und in so schlechter Hand geschrieben, dass
jeder Chinese von Erziehung sich dessen geschämt hätte; sein In-
halt giebt den stärksten Beweis für die Geisteszerrüttung des
Tien-waṅ. Merkwürdig ist die Uebereinstimmung der seine Vision
und Fuṅ’s Kerkerhaft berührenden Verse mit der Erzählung des
Huṅ-džin. Aus den Versen über den Ost-König redet durch den
Irrsinn das ruhelose Bewusstsein der Gewaltthat.


Auf der Rückfahrt beauftragte Lord Elgin Herrn Wade, Er-
klärungen wegen Beschiessung des Geschwaders zu fordern. Li,
der Beamte, welcher als Statthalter von Kiaṅ-si damals an der
Spitze der Executive in Nan-kiṅ stand, entschuldigte sich ohne
[270]Zustände in Nan-kiṅ bis 1859.
Servilität und suchte wiederholt die Rede auf die gemeinsame
Religion zu bringen: als Christen seien die Engländer Brüder der
Tae-piṅ. Aber diese Betheuerungen klangen gezwungen und ent-
behrten der begeisterten Wärme, welche früher bei ihnen gefunden
wurde. Die Zahl ihrer Truppen gab Li auf mehrere Hundert-
tausende an. Er bat, dass zu Vermeidung künftiger Missverständ-
nisse vorher Meldung gemacht würde, wenn wieder englische Schiffe
den Yaṅ-tse hinaufführen.


Nach den bei diesem Besuch in Nan-kiṅ gesammelten Nach-
richten lebte der Tien-waṅ in tiefster Zurückgezogenheit, übte
jedoch unbeschränkte Macht über die Gemüther. Selbst seine
Minister scheinen ihn als höheres Wesen angesehen, an seine gött-
liche Sendung geglaubt zu haben, wie die Menge, die sich ohne
Murren seiner blutigen Willkür fügte. Die Einsicht, dass nur dieser
fanatische Wahn die Massen zusammenhielt, und das warnende
Schicksal des Ost-Königs mögen selbst diejenigen Führer von An-
schlägen gegen den Tien-waṅ abgeschreckt haben, welche seinen
Irrsinn erkannten. Immer mehr vertiefte er sich in den Traum
seiner göttlichen Abstammung und trat damals in seinen Decreten
schon als dritte Person der heiligen Dreifaltigkeit auf; nicht als
dem Vater und dem älteren Bruder gleichstehend, aber als dritter
im Range. Auch für seinen 1849 geborenen Sohn forderte er jetzt
göttliche Verehrung.


1858 und 1859 unternahmen die Tae-piṅ keinen Feldzug von
Bedeutung und wurden in Nan-kiṅ von den Kaiserlichen immer
enger eingeschlossen. Indessen gewannen sie in dem Kan-waṅ
oder Schild-König und dem Tšun-waṅ oder Treuen König wieder
zwei Führer, welche dem Aufstand neues Leben gaben und den
Kampf bis zu Ende fochten. Der Kan-waṅ war niemand anderes
als Huṅ-džin, der Vetter des Tien-waṅ, welcher dessen Bekeh-
rungsgeschichte schrieb.


Als Huṅ-siu-tsuen im Herbst 1850 gegen die kaiserlichen Be-
hörden aufstand, wollte auf seinen Ruf Huṅ-džin mit etwa funfzig
anderen Verwandten zu ihm stossen, konnte aber nicht durchdrin-
gen und kehrte in sein Heimathdorf zurück, wo die Behörden jetzt
Huṅ’s Ahnengräber zerstören und seine Verwandten einkerkern
liessen. Huṅ-džin musste fliehen, wurde nach wiederholten Ver-
suchen, sich durchzuschleichen, in einen localen Aufstand ver-
wickelt und festgenommen, entsprang jedoch und gelangte im April
[271]Der Kan-waṅ.
1852 nach Hong-kong, wo er dem Missionar Hamberg seine Schrift
über den Tien-waṅ einhändigte. Er erhielt bald darauf eine Stelle
als Schulmeister in einem Hong-kong gegenüberliegenden Dorf,
kehrte aber gegen Ende 1853 zu Herrn Hamberg zurück, der ihm
die Mittel zur Reise nach Shang-hae gewährte. Dort blieb er
mehrere Monate, suchte vergebens nach Nan-kiṅ zu gelangen und
ging endlich wieder nach Hong-kong. Hamberg war unterdessen
gestorben; einige Mitglieder der Londoner Missions-Gesellschaft
nahmen Huṅ-džin bei sich auf, unterrichteten ihn in den Glaubens-
lehren und stellten ihn als chinesischen Katechisten und Prediger
an. Dieses Amt versah er von 1855 bis 1858 zur vollsten Zufrieden-
heit seiner Lehrer. »Er gewann sich,« heisst es im Missionary
Magazine, »bald einen Platz im Vertrauen und in der Achtung der
Missionare und bei den ihnen befreundeten chinesischen Christen.
Seine literarische Bildung war achtungswerth, sein Temperament
liebenswürdig und heiter, sein Geist von einer bei Chinesen unge-
wöhnlichen Beweglichkeit. Seine Kenntniss der christlichen Lehre
mehrte sich erheblich, und seine aufrichtige Hingebung an dieselbe
konnte nicht bezweifelt werden.«


Im Juni 1858 verliess Huṅ-džin abermals Hong-kong, um
sich zu Lande nach Nan-kiṅ durchzuschleichen. Während das
englische Geschwader vor Han-kau lag, befand er sich in der
Nähe und schickte einen Brief für seinen Lehrer Chalmers in Hong-
kong
. Erst im Frühjahr 1859 gelangte er nach Nan-kiṅ und wurde
vom Tien-waṅ sofort zum Kan-waṅ und ersten Minister erhoben.
Ein Jahr darauf schrieb er dem Missionar Edkins, er fühle sich
zwar seiner Stellung nicht gewachsen, arbeite aber eifrig für Ver-
breitung der wahren Lehre; im täglichen Verkehr mit seinem Vetter,
dem Tien-waṅ, staune er über dessen Weisheit und Tiefe der
Anschauung, welche über die gewöhnlicher Menschen weit hinaus-
reiche. — Spätere Vorfälle zeigten, dass Macht und Glück sein
Gemüth verdarben; der sanfte Prediger wurde ein roher Tyrann,
der nicht verschmähte mit eigener Hand zu morden. Dass er als
Organisator Erhebliches leistete, beweisen die vermehrte Regsamkeit
und bessere Ordnung nach seinem Auftreten in Nan-kiṅ.


Diese Stadt wurde, wie gesagt, seit 1853 beständig von
kaiserlichen Heeren belagert, welche allmälich ihre drei dem Lande
zugekehrten Fronten einschlossen. Bis 1859 beherrschten aber die
Tae-piṅ den Yaṅ-tse; sie konnten die Beute ihrer Raubzüge zu
[272]Entsatz von Nan-kiṅ.
Schiffe nach Nan-kiṅ bringen und die Garnison von der Wasser-
seite mit Vorräthen versorgen. Während der langen Belagerung
befreundeten sich die Truppen der beiden Partheien und verkehrten
vielfach ganz unbefangen mit einander; vor einem der Stadtthore
war selbst ein regelmässiger Markt eingerichtet, wo kaiserliche den
Tae-piṅ-Soldaten ihre Vorräthe verkauften. Bis 1859 soll die Be-
satzung der Stadt 15,000 Mann, die Cernirungsarmee gegen 30,000
gezählt haben; im Spätherbst genannten Jahres wurde aber letztere
auf 300,000 Mann gebracht, die Stadt durch die verstärkte kaiser-
liche Stromflotte auch auf der Wasserseite völlig cernirt, und mit
der Belagerung Ernst gemacht. Schon in den ersten Monaten des
folgenden Jahres litt die Garnison Mangel, und es soll nahe daran
gewesen sein, dass sie Menschenfleisch verzehrte. Der Tien-waṅ
sah nach des Tšun-waṅ Erzählung den Ereignissen mit unerschütter-
lichem Gleichmuth zu: »er beschränkte sich darauf seinen Ministern
einzuschärfen, dass sie den Vorschriften des Himmels nachkämen,
und sagte, der Anblick, der sie umgebe, sei ein Zeichen grossen
Friedens.« Unterdessen suchten die Tae-piṅ-Führer ausserhalb
Nan-kiṅ die Cernirungs-Armee durch Diversionen zu theilen. Der
Hülfskönig Ši-ta-kae, — der einige Jahre lang in Se-tšuen auf
eigene Hand operirte, — rückte jetzt mit Heeresmacht in die Provinz
Tše-kiaṅ, nahm die Städte Ku-tšau und Yen-tšau, und verwüstete
die Landschaften westlich davon. Ein anderes Tae-piṅ-Corps über-
fiel das reiche Haṅ-tšau und besetzte die Vorstädte, musste sich
aber nach verzweifeltem Kampf um die Ringmauer zurückziehen.
Kleinere Abtheilungen nahmen einzelne Plätze in den Nachbar-
bezirken; aber die Kaiserlichen konnten überall Truppen genug auf-
stellen, ohne die Cernirungsarmee zu schwächen, und wähnten schon
die Uebergabe in wenig Wochen erzwingen zu können. Da zogen
die Tae-piṅ in der Nähe von Nan-kiṅ ein starkes Entsatz-Heer
zusammen, durchbrachen am 3. Mai 1860 die Linien der Kaiser-
lichen, zerstreuten die ganze Cernirungsarmee und erbeuteten alle
ihre Vorräthe. Auf den Tien-waṅ machte diese Befreiung so we-
nig Eindruck, dass er sie weder in seinen Manifesten erwähnte, noch
die siegreichen Feldherren zu sehen wünschte.


Die Cernirungsarmee war so vollständig geschlagen, dass sie
sich gar nicht wieder sammelte. Nan-kiṅ wurde von keiner Seite
bedroht; die kaiserlichen Heere standen in grosser Ferne und die
Tae-piṅ ergriffen die Offensive. Yiṅ-Waṅ, der Heldenkönig, brach
[273]Die Tae-piṅ in Su-tšau.
zum Entsatze des hart bedrängten Gan-kiṅ auf; in Kiaṅ-si bot
der Hülfskönig den Kaiserlichen die Spitze, und Tšun-waṅ, der
Treue König rückte in das unberührte reiche Gebiet, das sich öst-
lich von Nan-kiṅ nach der Flussmündung und der Meeresküste
erstreckt. Er schlug die Kaiserlichen in drei Schlachten, bemäch-
tigte sich des Grossen Canales auf die Strecke vom Yaṅ-tse-kiaṅ bis
zum Tai-ho-See und bedrohte Su-tšau. Diese in geringer Entfer-
nung von Shang-hae gelegene Stadt galt als die reichste und
blühendste von China. »Oben ist das Paradies, unten Su und Haṅ«;107)
»Um glücklich zu leben, muss man aus Su-tšau sein«, sagen chine-
sische Sprüche. Der Glanz seiner Marmorbauten, seiner Denkmäler,
Brücken, Strassen und Canäle, die Schönheit und Intelligenz seiner
Bewohner, die Vorzüglichkeit seiner Manufacturen waren im ganzen
Reiche berühmt. Su-tšau galt als Sitz der höchsten Lebensver-
feinerung und Eleganz. Die Stadt selbst soll zwei Meilen Um-
fang gehabt haben; ausserhalb dehnten sich vier mächtige Vor-
städte aus; die Bevölkerung wurde auf zwei Millionen geschätzt.


Beim Anrücken des Tšun-waṅ liess der in Su-tsau weilende
Statthalter Ho-kwei-tsiṅ die Vorstädte anzünden, um die Stadt
zu retten; da ergriff die kaiserlichen Truppen wilde Raublust; sie
stürzten sich in die brennenden Strassen, plünderten und übten die
schlimmste Gewalt. Die Auflösung war vollständig. Die Tae-piṅ
fanden keinen Widerstand, und das Volk jauchzte dem einziehen-
den Tšun-waṅ als Retter zu, während auf der entgegengesetzten
Seite die Kaiserlichen beutebeladen ausrückten. Das geschah am
24. Mai 1860.


Im amtlichen Bericht an den Kaiser über diese Ereignisse
steht Folgendes:


»Die Auflösung des vor Nan-kiṅ gelagerten Hauptkörpers
der Armee war nach der unterthänigsten Ansicht deiner Knechte
dadurch veranlasst, dass Ho-tšun (der commandirende Mandschu-
General) Vertrauen in Männer setzte, die es nicht verdienten. Da-
her Unzufriedenheit unter den Truppen schon von älterem Datum;
während Tšaṅ-kwo-liaṅ, verdrossen über die Unmöglichkeit seine
eigenen Maassregeln auszuführen, sich bei Tan-yaṅ in den Kampf
stürzte und starb. Darauf gerieth das ganze Heer in solchen
Zustand der Demoralisation, dass es sich auflöste, wo immer der
III. 18
[274]Bericht des Ho-kwei-tsiṅ.
Feind erschien: — und er rückte sofort auf Tan-yaṅ und Wu-si,
dann auf Tšaṅ-tšau und Wu-ni. Das Heer benahm sich gleich
schlecht bei jedem Zusammentreffen. In Su-tšau hatten sich
schon Spione eingeschlichen; ausserdem conspirirten desertirte
Soldaten und Freiwillige mit den Rebellen vor den Mauern,
so dass nach weniger als einem halben Tage plötzlich die
Nachricht kam vom Verluste des Platzes. Ho-tšun, der in
Hu-šu-kuan stand, sah mit eigenen Augen die Entmuthigung
der Truppen und die verzweifelte Lage, und entleibte sich vor der
Krisis; während auf der anderen Seite Tšaṅ-yu-liaṅ, als er
Su-tšau verloren sah, eilig nach Tše-kiaṅ floh. Nach-
dem also ihr erster und zweiter Commandeur sich verloren
gegeben hatten, blieb die Armee ohne Führer; Truppen und Frei-
willige, viele Myriaden an Zahl, wurden in einem Morgen zerstreut,
wie die Sterne; ihre Kriegs- und Mundvorräthe blieben dem Feinde.
In weniger als einem Monat erlitt man solche Zerstörung und
Vernichtung. Aus dem ganzen Alterthum wird kein ähnlicher Zu-
stand der Verwirrung berichtet.« — Am Schluss dieser gemein-
schaftlich mit dem Gouverneur der beiden Kiaṅ-Provinzen an den
Kaiser gerichteten Eingabe räth Ho-kwei-tsiṅ dem Kaiser, um jeden
Preis mit den Engländern Frieden zu schliessen und seine ganze
Kraft auf Vernichtung der Rebellen zu wenden.


Zu Shang-hae versammelten sich im Frühjahr 1860 die zum
Feldzug gegen den Norden bestimmten Streitkräfte der Alliirten.
Als die Tae-piṅ auf Su-tšau rückten, ersuchte der Tau-tae von
Shang-hae die Consuln von England und Frankreich, jene Stadt
mit ihren Truppen zu schützen, und wurde dabei von den katho-
lischen Missionaren unterstützt, welche für ihre etwa 3000 Seelen
starke Christengemeinde von der bilderstürmenden Wuth der Re-
bellen das Schlimmste fürchteten. Der französische Feldherr, Ge-
neral Montauban, wollte ein Corps von 1500 Mann gegen dieselben
schicken, wenn 500 englische Marine-Soldaten an dem Feldzuge
Theil nähmen; Herr Bruce fand aber das Unternehmen bedenklich.
Man war zu schlecht unterrichtet über die Stärke der Insurgenten,
um zu wissen, ob die disponibele Truppenzahl der Aufgabe ge-
wachsen wäre; ein Rückzug hätte den schlimmsten Eindruck ge-
macht und wichtige Erfolge in Frage gestellt. Die Aufwendung
einer stärkeren Macht musste die nach dem Norden bestimmte Ar-
mee erheblich schwächen; das wussten und wünschten die Man-
[275]Die Alliirten besetzen Shang-hae.
darinen, welche durch diese Diversion nicht nur die ihnen anver-
traute Provinz gerettet, sondern auch der kaiserlichen Regierung in
Pe-kiṅ den wesentlichsten Dienst geleistet hätten. Die Gesandten
und Feldherren der Alliirten kamen deshalb überein, sich auf Ver-
theidigung von Shang-hae zu beschränken. »Ich beschloss,«
schreibt Herr Bruce unter dem 30. Mai an Lord John Russel, »in
Uebereinstimmung mit Herrn von Bourboulon, dass es aus politischen
und Humanitätsrücksichten zweckmässig wäre, wo möglich den
Auftritten des Blutvergiessens und der Plünderung vorzubeugen,
deren Schauplatz Haṅ-tšau-fu wurde, als diese Stadt vor kurzem
von den Rebellen angegriffen wurde; und es schien mir, dass wir,
ohne an dem Bürgerkriege Theil zu nehmen oder eine Meinung über
die Rechte der Partheien auszusprechen, Shang-hae gegen Angriffe
schützen und den Behörden helfen könnten, in der Stadt Ruhe und
Ordnung zu erhalten, aus dem Grunde, dass sie ein dem Handel
geöffneter Hafen ist, und wegen der nahen Beziehungen, in welchen
die Interessen der Stadt zu denen der fremden Niederlassung stehen;
denn erstere kann nicht angegriffen werden ohne grosse Gefahr für
letztere. Wir erliessen deshalb getrennte Bekanntmachungen dieses
Inhalts in gleichlautenden Ausdrücken.«


Es war in der That die einzige Rettung; denn die Reste der
kaiserlichen Armee in Kiaṅ-su und Tše-kiaṅ konnten den Insur-
genten nicht entfernt die Spitze bieten. Soldaten der aufgelösten
Heerkörper plünderten in starken Banden Städte und Dörfer und
bedrohten selbst Shang-hae. Sie schlichen sich einzeln oder in
kleinen Haufen mit versteckten Waffen in die Stadt, und da man
befürchten musste, dass sie sich auch hier, nach ihrer gewöhn-
lichen Taktik, der Zugänge bemächtigen und die Mandarinen be-
seitigen wollten, so übergaben diese den Alliirten zwei Stadtthore.
Unter dem Schutze der englischen und französischen Besatzung
liessen sie dann die entlaufenen kaiserlichen Soldaten aufgreifen
und haufenweise köpfen.


Anfang Juni kam der Statthalter Ho-kwei-tsiṅ nach Shang-
hae
und bemühte sich vergebens, die Alliirten zu aggressivem Vor-
gehen und Säuberung seiner Provinz von den Rebellen zu vermögen.
Es war seine letzte, eitele Hoffnung, der drohenden Ungnade zu
entgehen: bald darauf wurde er degradirt, nach Pe-kiṅ berufen
und enthauptet. Ho-kwei-tsiṅ erfüllte damit das gewöhnliche
Schicksal unglücklicher Statthalter und zugleich die warnende Ver-
18*
[276]Die »Sieggewisse Schaar«.
heissung des Kaisers, dass seine Halsstarrigkeit — oder Ehrlichkeit
— ihn zu schlechtem Ende führen werde.


Noch ehe die Vertreter von England und Frankreich die
Vertheidigung von Shang-hae beschlossen, stellten reiche chine-
sische Kaufleute, welche von der Invasion Alles zu fürchten hatten,
dem Tau-tae ansehnliche Geldmittel für Organisirung eines Frei-
corps zur Verfügung. Zwei Americaner von abenteuerlichem Le-
benslauf, Ward und Burgevine warben damals etwa hundert Euro-
päer, Americaner und Leute aus Manila an und rückten mit diesen
im Juli auf die kaum vier Meilen von Shang-hae entfernte Stadt
Sun-kiaṅ, für deren Einnahme der Tau-tae eine namhafte Summe
bot. Beim ersten Anlauf abgewiesen, bemächtigte sich Ward in
der folgenden Nacht eines Stadtthores und hielt dasselbe bis zur
Ankunft kaiserlicher Truppen, welche die Tae-piṅ-Besatzung ver-
trieben. Das war die erste That der »Sieggewissen Schaar«, die
später unter dem Befehl englischer Linien-Officiere so wesentlich
zur Vernichtung der Tae-piṅ-Herrschaft beitrug. — Die Kaufleute
fuhren fort mit offener Hand zu steuern, und der hohe Sold von
100 Dollars monatlich lockte viele Abenteuerer. So konnte Ward
bald darauf mit 280 Mann und zwei Sechspfündern, unterstützt von
10,000 Mann kaiserlicher Truppen und 200 chinesischen Kanonen-
booten, welche auf dem von Canälen durchfurchten Terrain sehr
nützlich waren, gegen die Stadt Siṅ-pu rücken. Die Vertheidigung
leitete ein englischer Lootse Savage. Ward wurde beim ersten An-
griff geworfen und schmerzhaft verwundet, holte trotzdem Ver-
stärkung aus Shang-hae, musste aber der Uebermacht des Tšun-
waṅ
weichen, der von Su-tšau anrückte. Dieser überflügelte ihn,
nahm seine Geschütze und viele Gewehre weg und drängte das
Freicorps auf Sun-kiaṅ, welches den Anlauf der Rebellen noch
glücklich bestand.


Unterdessen bereiteten die Tae-piṅ sich zur Offensive.
Sicher hatten sie bei dem Unternehmen auf Su-tšau ebensowohl
die Verbindung mit den Fremden in Shang-hae, als die Reich-
thümer jener Stadt im Auge. Der Kan-waṅ, der so lange unter
den Engländern gelebt hatte, kannte die Macht der fremden Waffen
und die Sympathieen, die nicht bloss protestantische Missionare,
sondern auch viele unter den ansässigen Kaufleuten damals noch
für seine Parthei hegten. Die Engländer waren im Kriege gegen
die kaiserliche Regierung begriffen, und die Hoffnung der Insur-
[277]Missionare in Su-tšau.
genten, Verbündete an ihnen zu finden, wurde durch beschränkte
Missionare und gewissenlose Kaufleute genährt. Unter letzteren
gab es viele, die, der Verträge achtlos, durch Lieferung von
Kriegsbedarf an die Rebellen in Eile reich zu werden hofften.
Diese und die zahlreichen fremden Abenteurer in den chinesischen
Hafenplätzen mussten, abgesehen von jeder Gesinnung, im Fort-
leben des Aufstandes ihren Vortheil finden. Konnten die Tae-piṅ
in Shang-hae Dampfer kaufen, sich mit Schiesswaffen versorgen
und eine Anzahl Fremde als Schiffsführer, Ingenieure und Instruc-
toren für ihren Dienst gewinnen, so war ihnen auch ohne den Bei-
stand der fremden Truppen innerhalb gewisser Grenzen der Sieg über
die Kaiserlichen gewiss; und darauf hofften sie sicher.


Der Kan-waṅ traf bald nach der Besetzung von Su-tšau
dort ein, um die Verhältnisse zu ordnen. Er liess die Schätze der
Stadt an Silber und Seide nebst vielen Vorräthen nach Nan-kiṅ
schleppen und führte eine regelmässige Besteuerung der ländlichen
Bevölkerung ein. Gemeinschaftlich mit dem Tšun-waṅ richtete
Huṅ-džin an die Missionare Griffith John und Edkins in Shang-hae
eine Einladung, nach Su-tšau zu kommen, »zu Besprechung reli-
giöser Angelegenheiten«.


Am 30. Juli brachen diese Herren mit drei anderen Geist-
lichen von Shang-hae auf. Die Insurgenten, deren Vorposten kaum
zwei Meilen von da standen, waren dort sehr gemässigt verfahren;
das Landvolk arbeitete auf den Aeckern wie im Frieden; Mauer-
anschläge in den Dörfern forderten die Bevölkerung auf, ruhig zu
bleiben, ihren Beschäftigungen nachzugehen und als gehorsame
Unterthanen Beisteuern zu liefern. »Uns gilt es gleich,« sagten die
Bauern, »ob Hien-fuṅ regiert oder der Tien-waṅ, wenn man uns
nur in Ruhe lässt.« Es währte nicht lange bis sie den Unterschied
merkten. — Weiterhin lagen die grösseren Märkte und Städte in
Trümmern; Weiber und Greise irrten jammernd auf den rauchen-
den Brandstätten umher. Haufen von Leichen bedeckten die Ufer
der Canäle, auf welchen die Missionare reisten; diese legten
partheiisch die Verwüstungen vorwiegend den Kaiserlichen zur
Last. »Die Leute,« schreibt Griffith John an die Londoner
Missions-Gesellschaft, »reden im Allgemeinen Gutes von den älteren
Rebellen, sie seien menschlich in der Behandlung des Volkes;
aller Schaden werde von denen angerichtet, die sich ihnen erst
neuerlich anschlossen. Wir freuten uns sowohl in Su-tšau als in
[278]Manifest des Tšun-waṅ.
Kwun-šan zu sehen, wie das Landvolk sich ohne Furcht unter sie
mischte und ihnen verkaufte, und wie Alles nach dem vollen Werth
bezahlt wurde .... Am 2. August in der Frühe gelangten wir
nach Su-tšau und hatten an demselben Tage eine Zusammenkunft
mit dem Kan-waṅ. Er erschien in reichem Gewande und gold-
gestickter Krone, umgeben von vielen Officieren, welche sämmtlich
Gewänder und Mützen von gelber und rother Seide trugen .....
Am folgenden Tage besuchten wir ihn wieder. Ein fremder Kauf-
mann war da, als wir eintraten, und der Kan-waṅ schien erregt.
Bald erfuhren wir den Grund: eben war ihm gemeldet worden,
dass seine Schreiben an die Vertreter der fremden Mächte in
Shang-hae nicht geöffnet wurden, da die Stadt von englischen und
französischen Soldaten besetzt sei. Ersteres erklärte er für eine
persönliche Beschimpfung, letzteres für offene Verletzung des Neu-
tralitäts-Principes, das die Fremden den beiden kämpfenden Par-
theien gegenüber befolgen sollten.« Huṅ-džin verbreitete sich im
Laufe des Gespräches über religiöse Gegenstände und schilderte
den Tien-waṅ als einen frommen Mann, der am liebsten die Bibel
und The Pilgrims Progress läse. Sehr erbaut und hoffnungsvoll
kehrten die Missionare am 5. August nach Shang-hae zurück.


Am 16. August rückte der Tšun-waṅ gegen Shang-hae vor;
Sun-kiaṅ blieb eingeschlossen in seinem Rücken. Er schickte fol-
gendes Manifest an die Vertreter von England, Frankreich und
America.


»Li, der Treue König des Himmlischen Reiches u. s. w., an die
ehrenwerthen Gesandten u. s. w.


Ehe ich mein Heer von Su-tšau ausrücken liess, schrieb ich
euch, dass es bald nach Shang-hae kommen werde, und dass, wenn
die Wohnungen euerer ehrenwerthen Nationen und die Handlungs-
häuser gelbe Flaggen als unterscheidendes Zeichen aufzögen, ich sofort
meinen Officieren und Soldaten Befehl geben wollte, diese auf keine
Weise zu betreten oder zu behelligen. Da ihr nun mein Schreiben
empfangen und gelesen hattet, so glaubte ich, ihr würdet nach seinem
Inhalt gehandelt haben. Mir war jedoch unbekannt, dass euere ehren-
werthen Nationen an anderen Plätzen der Präfectur Sun-kiaṅ Kirchen
gebaut hätten, wo sie das Evangelium predigten, bis gestern, da meine
Armee auf eine Abtheilung Kobolde (Tartaren) stiess, welche ihrem
Vordringen entgegentrat; meine Soldaten griffen sie an und vernichte-
ten viele. Bei diesen Kobolden waren vier Fremde; Einen davon
erschlugen meine Soldaten, nicht wissend, aus welchem Lande er

[279]Angriff auf Shang-hae.
sei.108)Um nun mein gegebenes Wort zu halten, dass Fremde gut
behandelt werden sollen, liess ich den Soldaten, welcher den Fremden
getödtet hatte, sofort hinrichten, und hielt also mein Wort. Nachher
sah ich, dass in Se-kiṅ eine Kirche war, und erfuhr erst dadurch,
dass Leute euerer ehrenwerthen Nationen dahin kamen, das Evangelium
zu lehren, und dass sie, obwohl sie keine gelbe Flagge aufzogen, die
Kobolde doch nicht unterstützten.


Ist nun auch das Geschehene geschehen, so können doch für
künftig Vorsichtsmaassregeln getroffen werden. Meine Armee wird
jetzt unmittelbar auf Shang-hae rücken. Sollten in den Städten
und Dörfern auf ihrem Wege Kirchen sein, so hoffe ich ernstlich, dass
ihr den zugehörigen Leuten gebieten werdet, an den Thüren zu
stehen und zu melden, dass es Kirchen sind, damit künftig keine
Irrungen entstehen.


Meine Truppen gelangten schon nach Tsei-pan und werden
bald in Shang-hae sein. Deshalb hoffe ich ernstlich, dass ihr ehren-
werthen Gesandten die Leute euerer Nationen vor euch bescheiden
und anweisen werdet, ihre Thüren zu schliessen, darin zu bleiben und
gelbe Flaggen auf den Häusern aufzustecken; dann haben sie meine
Soldaten nicht zu fürchten, denn ich befahl schon, dass sie in diesem
Falle niemand belästigen oder beschädigen sollen.


Nach meiner Ankunft will ich selbst alle anderen Sachen mit
euch besprechen. Unterdessen sende ich dieses eilige Schreiben und
ergreife die Gelegenheit, mich nach euerem Befinden zu erkundigen.


Tae-piṅ Tien-kau 10. Jahr 7. Mond. 9. Tag
(18. August 1860).«


An demselben Tage rückten die Truppen des Tšun-waṅ, in
breiter Fronte Alles vor sich niederbrennend, gegen Shang-hae,
warfen die Kaiserlichen aus ihrem verschanzten Lager eine Viertel-
meile vor dem Westthore und jagten sie in die Stadt. Im Jesuiten-
hause Si-ka-be wurden mehrere chinesische Christen und ein fran-
zösischer Priester gemordet.


Indische Infanterie (Sepoys) und englische Seesoldaten hiel-
ten die Stadtthore besetzt; die Flussfronte beherrschten britische
Kanonenboote; alle Zugänge der fremden Ansiedlung waren durch
Barricaden gesperrt, bei welchen die Freiwilligen standen. Man
liess am 19. August die Tae-piṅ-Colonne bis dicht unter die Stadt-
mauer kommen und schoss sie dann zusammen. Der Angriff war
kindisch und ohne Chance des Erfolges. Für die Nacht zogen die
[280]Rückzug der Rebellen.
Rebellen, unter welchen man einige Fremde sah, sich ausser
Schussweite zurück. Am folgenden Morgen erneute der Tšun-waṅ
den Angriff. Im Dunkel der Nacht hatte sich eine Tae-piṅ-Schaar
in die zwischen der Stadt und der fremden Ansiedlung gelegene
Vorstadt geschlichen; mit ihr stürzte sich der Pöbel raubend und
mordend auf dieses reiche Viertel. Die Franzosen, an deren Colonie
dasselbe grenzte, glaubten es zur eigenen Sicherheit anzünden zu
müssen. Der Tag verging damit, die Rebellen durch Geschützfeuer
aus den brennenden Strassen auf das Feld zu treiben, wo sie auf
den schmalen zwischen bewässerten Aeckern laufenden Pfaden
meist von Büchsenkugeln ereilt wurden. Auf diesen Pfaden rück-
ten die Tae-piṅ am 20. August abermals im Gänsemarsch Fahnen
schwenkend gegen die Stadt vor, prallten aber vor dem mörderi-
schen Haubitzfeuer der Wälle zurück und schlugen die Richtung
gegen die englische Niederlassung ein, wo eine Raketensalve ihnen
den Rest gab. In der Nacht ging das Kanonenboot Pioneer den
Fluss hinauf [und] warf Granaten in das Lager der Insurgenten,
worauf sie dasselbe abbrachen und fortmarschirten. — Die Schwäch-
lichkeit des Angriffs und die geringe Truppenzahl der Tae-piṅ
lässt sich nur aus der Voraussetzung erklären, dass sie auf eine
Erhebung in der Stadt rechneten und an Betheiligung der Fremden
nicht glaubten. Ihr militärisches Auftreten machte den kläglichsten
Eindruck.


Am 21. August sandte der Tšun-waṅ folgendes Schreiben an
die fremden Consuln:


»Li, der Treue König des himmlischen Reiches u. s. w.
richtet folgende Mittheilung an euch, die ehrenwerthen Consuln von
Grossbritannien, America, Portugal und anderen Staaten.


Dass Wort gehalten werde, ist der Grundsatz, welcher unser
Reich in seinen freundschaftlichen Beziehungen zu anderen Staaten
leitet; aber betrügerische Vergessenheit früherer Verabredungen ist die
wahre Ursache, dass die fremden Nationen ein Unrecht begingen. Als
meine Armee nach Su-tšau gelangte, kamen Franzosen begleitet von
Männern anderer Nationen dahin, um Handel zu treiben. Sie warteten
mir persönlich auf und luden mich ein, nach Shang-hae zu kommen,
um über künftige Freundschaftsbeziehungen zwischen uns Rath zu
pflegen. Wissend, dass euere Nationen gleich uns Gott den himm-
lischen Vater und Jesus den himmlischen älteren Bruder anbeten, dass
sie gleiche Religion und gleichen Ursprung mit uns haben, setzte ich

[281]Manifest des Tšun-waṅ.
mein ganzes volles Vertrauen auf ihre Worte und kam deshalb nach
Shang-hae, um mit euch zusammenzutreffen. — Niemals kam mir in
den Sinn, dass die Franzosen, getäuscht durch die Kobolde, ihr Wort
brechen und den getroffenen Abreden den Rücken kehren würden.
Aber nicht nur erschienen sie nicht bei meiner Ankunft, um mit mir
Rath zu pflegen, sondern sie liessen sich in Verträge mit den Kobolden
ein, die Stadt Shang-hae gegen uns zu schützen, wodurch sie ihre
ursprüngliche Zusage brachen. Solche Handlungen sind gegen die
Grundsätze der Gerechtigkeit. — Gesetzt nun, die Franzosen nähmen
die Stadt Shang-hae und einige Li im Umkreis unter ihren Schutz,
wie werden sie innerhalb dieses engen Raumes ihre Waaren verkaufen
und mit Vortheil ihre Handelsgeschäfte treiben können? — Ich erfuhr
auch, dass die Franzosen von den Kobolden des Hien-fuṅ keine ge-
ringe Geldsumme erhielten, welche sie ohne Zweifel mit anderen
Nationen theilten. Habet ihr anderen Nationen kein Geld von den
Kobolden empfangen, — warum erschienen einige von eueren Leuten
mit den Franzosen, als diese nach Su-tšau kamen und mich zu Be-
sprechungen nach Shang-hae einluden? Es ist so klar wie der Tag,
dass euere Leute auch in Su-tšau erschienen und mich dringend
ersuchten nach Shang-hae zu kommen. — Noch klingen mir ihre Worte
in den Ohren; unmöglich kann die Sache vergessen sein. — Wenn die
Franzosen allein ihre Zusagen gebrochen und, nach dem Gelde der
Kobolde lüstern, deren Stadt beschützt hätten, — wie kommt es, dass
nicht ein Mann von eueren Nationen herauskam, sich mit mir zu be-
rathen, als mein Heer an dieser Stelle anlangte? Auch ihr müsst Geld
von Hien-fuṅ’s Kobolden genommen und es unter euch getheilt haben.
Wissentlich also thatet ihr Unrecht, ohne zu erwägen, dass ihr nach
anderen Orten als Shang-hae werdet gehen müssen, um Handels-
geschäfte zu machen. Offenbar erkennet ihr nicht, dass die Kobolde
des Hien-fuṅ auf die Wahrnehmung, dass euere Nationen dieselbe
Religion haben wie das himmlische Reich, Geld gaben, um mit euch
in Verbindung zu treten. Das heisst, Andere zum Tödten anstellen
und Listen brauchen, um Trennungen zu bewirken. — Die Franzosen
wurden durch die Schlauheit der Kobolde bestrickt, weil sie nur in
Shang-hae nach Gewinn trachten und den Handel anderer Plätze
nicht berücksichtigen. Sie haben nicht nur keine Entschuldigung gegen
mich, sondern auch keinen Boden, auf welchem fussend sie vor Gott
dem himmlischen Vater oder Jesus dem himmlischen älteren Bruder
oder selbst vor unseren Heeren und den anderen Nationen der Erde
bestehen könnten. — Unser souveräner Herr wurde vom Himmel ein-
gesetzt und regiert jetzt zehn Jahre. Eine Hälfte des von ihm be-

[282]Manifest des Tšun-waṅ.
herrschten Gebietes umfasst die reichen Landstriche im Osten und
Süden. Der Nationalschatz bietet hinreichende Mittel, um unsere
Heere mit allen Bedürfnissen zu versehen. Später, wenn das ganze
Angesicht des Landes unter unserer Herrschaft steht, wird jeder ein-
zelne Theil in unseren Listen aufgeführt werden, und von dem kleinen
Gebiet Shang-hae’s wird unser Erfolg nicht abhängen. — Aber im
menschlichen Gemüth und in menschlichen Beziehungen haben alle
Handlungen ihre Folgen. Die Franzosen verletzten ihr Wort und
brachen den Frieden zwischen uns. Wollen sie ferner in Shang-hae
bleiben und ihre Geschäfte treiben, nachdem sie vorher so unverständig
handelten, so mögen sie das thun. Wenn sie aber wieder zu uns kommen,
um zu handeln, oder in unsere Grenzen gelangen, so möchte wohl ich, so
weit ich damit zu thun bekomme, in Grossmuth davon abstehen, mit
ihnen über das Vergangene zu rechten; unsere Truppen und Officiere
aber, welche ihrer Täuschung verfallen sind, müssen voll Entrüstung
und Rachedurst sein, und ist zu fürchten, dass sie nicht mehr nach
ihrer Bequemlichkeit in unser Gebiet kommen dürfen. — Nach Su-tšau
gelangend hatte ich den Oberbefehl über tausend Officiere und mehr-
mal zehntausend Soldaten, ein tapferes Heer, voll Kraft, jeden Wider-
stand zu erdrücken, und von so gewaltiger Stärke wie die Berge.
Wollten wir wirklich Shang-hae angreifen, — welche Stadt hätten sie
denn nicht bezwungen? Welchen Platz haben sie denn nicht er-
stürmt? — Ich zog jedoch in Betracht, dass ihr und wir ge-
meinschaftlich Jesus anbeten, und dass schliesslich doch eine Ver-
wandtschaft gemeinsamer Grundlage und gemeinsamer Lehre zwischen
uns besteht. Ueberdies kam ich nach Shang-hae, einen Ver-
trag zu machen, um uns vereint zu sehen durch Handel und
Verkehr; nicht kam ich, mit euch zu kämpfen. Hätte ich begon-
nen die Stadt anzugreifen und die Leute zu tödten, so wäre das
gewesen, als wenn die Mitglieder einer Familie mit einander kämpf-
ten, und das hätte die Kobolde veranlasst, uns lächerlich zu machen.
— Ferner: unter den Fremden in Shang-hae müssen Verschiedenheiten
der Gemüthsart und Fähigkeiten sein; da müssen verständige Männer
sein, welche die Grundsätze des Rechten kennen und wohl begreifen,
was nützlich, was schädlich ist. Nicht alle können nach dem Gelde
der Kobolde geizen und die allgemeinen Handels-Interessen in diesem
Lande vergessen. — Deshalb will ich die Entrüstung dieses Tages für
jetzt unterdrücken und barmherzig einen Pfad öffnen, auf welchem
unser jetziges Verhältniss zu einander geändert werden kann. Ich
fürchte sehr, dass, wenn meine Soldaten Shang-hae nehmen, sie die
Guten und Bösen nicht werden unterscheiden können, in welchem

[283]Manifest des Tšun-waṅ.
Falle ich keinen Boden hätte, auf dem ich vor Jesus dem älteren
Bruder bestehen könnte. — Ein Gefühl tiefer Besorgniss um euch
zwingt mich, euch fremden Nationen ernste Vorstellungen darüber zu
machen, was weise und was thöricht ist in diesen Angelegenheiten,
und über das Maass des Nutzens und Schadens der verschiedenen
euch offenstehenden Wege. Ich bitte euch, fremde Nationen, noch-
mals reiflich zu erwägen, welcher Weg euch Vortheil, welcher Verlust
bringt. — Sollten Einige von eueren ehrenwerthen Nationen das Vor-
gefallene bereuen und Freundschaftsbeziehungen zu unserem Staate für
die zuträglichsten halten, so mögen sie ohne Besorgniss kommen, sich
mit mir zu besprechen. Ich behandele die Menschen nach Grundsätzen
der Gerechtigkeit und werde sie gewiss keiner Schmach aussetzen.
Fahren aber euere ehrenwerthen Nationen fort, sich von den Kobolden
täuschen zu lassen, ihrer Leitung in allen Dingen zu folgen, ohne
über den Unterschied zwischen euch nachzudenken, so müsst ihr mich
nicht tadeln, wenn ihr in Zukunft schwierig findet die Handelscanäle
zu passiren, und wenn die einheimischen Erzeugnisse nicht hinaus-
gelassen werden. — Ich muss euere ehrenwerthen Nationen bitten,
die Umstände wieder und wieder zu erwägen, schreibe nun diese
besondere Mittheilung und baue darauf, dass ihr mir eine Antwort
gönnet. — Ich möchte mich nach euerem Befinden erkundigen.


Tae-piṅ Tien-kau. 10. Jahr. 7. Mond. 12. Tag.«


Dieses Schreiben blieb unbeantwortet. Auffallend und
unerklärt ist die darin enthaltene Beschuldigung der Franzosen
und die fehlende Adresse des französischen Consuls in der Ueber-
schrift. Die katholischen Missionare waren die bittersten Feinde
der Tae-piṅ, und man vermuthet, dass französische Emissäre den
Tšun-waṅ in Sicherheit wiegten, um ihn zu verderben. Dass der-
selbe an Widerstand der Fremden nicht glaubte, beweist seine
ganz unzureichende Streitmacht und das wiederholte Vorgehen
schwacher Colonnen, die nicht zu ernstem Kampfe, wohl aber be-
stimmt sein konnten einen Handstreich von Verräthern in der
Stadt zu unterstützen. Dort gab es eine unzufriedene Parthei, welche
den Rebellen die Thore zu öffnen dachte und nur durch die
Truppen der Alliirten niedergehalten wurde; auch unter den Frem-
den waren, wie gesagt, viele Abenteurer und gewissenlose Specu-
lanten, die gern im Trüben fischten und den Tae-piṅ den Sieg wünschten.
Kein Wunder, wenn der Tšun-waṅ sich täuschen liess; sicher hatten
ihm sowohl Chinesen als Fremde, das disciplinirte Häuflein Engländer
und Franzosen unterschätzend, gewisse Aussicht auf den Sieg gemacht.


[284]Der Tšun-waṅ zurückberufen.

Herr Bruce sagt in einer Depesche über das Schreiben des
Tšun-waṅ: »Ich kann natürlich nicht auf mich nehmen zu sagen,
was für eine Sprache Individuen geführet haben, welche die Re-
bellen aufsuchten, um ihnen Waffen, Opium u. s. w. für die Beute-
schätze von Su-tšau einzutauschen. Wenn aber die Missionare,
welche zu ihnen kamen, sie auch durch unverständige Ausdrücke
der Sympathie und Deferenz irre führten, so sagten sie ihnen doch
klar und deutlich, dass sie beim Angriff auf Shang-hae Wider-
stand finden würden, diese Thatsache konnte ihnen nach unseren
Proclamationen wirklich nicht unbekannt sein, wenn man die ge-
naue Kenntniss von Allem was in Shang-hae vorging erwägt,
welche sie sich durch einheimische und fremde Agenten ver-
schafften.«


Der Tšun-waṅ verwüstete auf seinem Rückzug die Umge-
bung von Shang-hae und gab das Landvolk dem bittersten Elend
preis. Er schnitt darauf eine starke Abtheilung Kaiserlicher ab,
welche grösstentheils zu den Tae-piṅ übertraten. Dann berief
ihn der Tien-waṅ nach Nan-kiṅ. Dem Yiṅ-waṅ war die
Entsetzung von Gan-kiṅ missglückt; jetzt sollte der Tšun-
waṅ
den Kaiserlichen am Yaṅ-tse die Spitze bieten. Er beschwor
den Tien-waṅ auf Proviantirung von Nan-kiṅ zu denken und keine
Mittel zu sparen, so lange die Wege noch offen ständen; doch
dieser antwortete mitleidig: »Fürchtest Du den Tod? Ich, der
wahrhaft erwählte Herr, kann ohne Hülfe von Truppen gebieten,
dass der grosse Frieden seine Herrschaft über das ganze Land
verbreite.« »Was konnte ich dazu sagen«, fährt der Tšun-waṅ in
seinem Lebensabriss fort, »ich konnte nur seufzen und mit einem
Heere aufbrechen um das belagerte Gan-kiṅ zu entsetzen.« Dieser
Platz war der Schlüssel der Rebellenstellung im Yaṅ-tse-
Thale
.


[[285]]

VII.
DIE ABWEISUNG DER GESANDTEN BEI TA-KU 1859 UND
DER ENGLISCH-FRANZÖSISCHE FELDZUG GEGEN PE-KIṄ
1860.


Als Herr Bruce und der kaiserlich französische Gesandte Herr
von Bourboulon Anfang Mai 1859 nach Hong-kong kamen,
erhielten sie die befremdende Nachricht, dass Kwei-liaṅ und Wa-
šana
noch in Su-tšau weilten. Mit den umlaufenden Gerüchten
über die feindselige Haltung der chinesischen Regierung verglichen
liess diese Zögerung der Commissare vermuthen, dass sie angewie-
sen seien, die Gesandten auf dem Wege nach Pe-kiṅ aufzuhalten.
Herr Bruce schrieb ihnen deshalb, dass er sich zu Ueberreichung
seiner Creditive und Auswechselung der ratificirten Vertrags-Exem-
plare zu Schiffe nach Tien-tsin begeben wolle und erwarte, dass
dort seitens der chinesischen Regierung angemessene Vorbereitun-
gen zu seiner Beförderung nach Pe-kiṅ getroffen würden.


Bei seiner Ankunft in Shang-hae — Anfang Juni — fand
Herr Bruce drei Schreiben der Commissare vom 27. und 28. Mai
vor: Lord Elgin habe sie aufgefordert, bis zu seiner Rückkehr in
Shang-hae zu bleiben; sie hätten, auf sein Wort bauend, geduldig
gewartet; das verpflichte Herrn Bruce jetzt, alle schwebenden Fra-
gen dort mit ihnen zu erörtern, nämlich das Gesandtschaftsrecht,
das Reisen im Innern des Landes, die Schiffahrt auf dem Yaṅ-tse
und die Herausgabe von Kan-ton; die Vorbereitungen zum Em-
pfange in Tien-tsin und Pe-kiṅ sowie die Erledigung der mit
Ratification der Verträge verknüpften Förmlichkeiten und Geschäfte
könne nur durch sie selbst, die damit beauftragten Commissare be-
werkstelligt werden; ihre Reise nach Pe-kiṅ erfordere mindestens
zwei Monate; zudem sei es dort sehr heiss; deshalb möge Herr
Bruce lieber in Shang-hae bleiben und schleunig die Verhandlungen
mit ihnen beginnen, da der Termin der Ratification vor der Thür sei.


[286]Die Gesandten in Shang-hae.

Da diese Noten den Empfang von Lord Elgins Schreiben
vom 3. März bestätigten, — in welchem er die Entscheidung der
englischen Regierung über das Gesandtschaftsrecht mittheilte, für
alle anderen Punkte auf den Wortlaut des Vertrages verwies und
den Commissaren Lebewohl sagte, — so konnte über ihre Bedeutung
kein Zweifel walten: die chinesische Regierung wollte den Ver-
trag umgehen. Auf Umwegen suchten die Commissare sogar aus-
zuforschen, zuerst, ob die Gesandten sich wohl zum Austausch der
Ratificationsurkunden in Shang-hae verstehen würden; dann, ob sie
nicht auf dem Landwege nach Pe-kiṅ reisen möchten. Letzterer
ist der für tributbringende Gesandtschaften vorgeschriebene Weg,
welche auf ihren Reisen ganz in der Hand der chinesischen Regie-
rung und jeder Demüthigung ausgesetzt sind. — Herr Bruce ant-
wortete deshalb amtlich, dass er auf seinem Entschluss beharre,
dass jede Erörterung von Bestimmungen des Vertrages bis nach
Ratification desselben zu verschieben sei, dass er die Commissare
in Shang-hae nicht empfangen werde und für die möglichen Fol-
gen ungenügender Vorbereitungen zu seinem Empfange im Norden
verantwortlich mache. In ähnlichem Sinne äusserte sich Herr von
Bourboulon
. Herr Bruce machte Kwei-liaṅ und Wa-šana ferner
darauf aufmerksam, dass vor Shang-hae mehrere Dampfer unter
chinesischer Flagge ankerten, durch deren Benutzung sie noch zeitig
genug zu den Vorbereitungen in Tien-tsin und der durch den
Vertrag an ein bestimmtes Datum gebundenen Ratification eintreffen
könnten. Sie antworteten unter dem 12. Juni, dass sie dazu der
ausdrücklichen Erlaubniss des Kaisers bedürften; sie wollten aber
auf dem schnellsten Wege109) an denselben die Bitte richten, andere
Würdenträger zum Empfange der Gesandten nach Tien-tsin zu
schicken. In neun Tagen könne ihr Schreiben nach Pe-kiṅ gelan-
gen. »Bei den jetzt zwischen den beiden Nationen herrschenden
friedfertigen Beziehungen wird gewiss nichts geschehen, das nicht
in Einklang mit den Bestimmungen des Vertrages stände; die
Commissare bitten daher Herrn Bruce, sich jeder Unruhe über diesen
Punct zu entschlagen. Er braucht keine Besorgniss zu hegen.
Sie möchten wünschen, dass er, vor der Mündung des Tien-tsin-
Flusses
angekommen, seine Kriegsschiffe ausserhalb der Barre
[287]Admiral Hope vor der Pei-ho-Mündung.
ankern lasse und dann ohne viel Gepäck und mit mässigem Gefolge
zu Auswechselung der Verträge nach Pe-kiṅ reise. Da seine
Sendung eine friedfertige ist, so wird er von Seiten der chinesischen
Regierung durchaus höflich behandelt werden; und die Commissare
wünschen aufrichtig, dass die freundschaftlichen Beziehungen sich
von dieser Zeit an befestigen, und dass auf jeder Seite Vertrauen
walte zur Redlichkeit und Gerechtigkeit der anderen.«


Unterdessen redete man in Shang-hae unverhohlen von dem
Widerstande, welchen die Gesandten an der Peiho-Mündung fin-
den würden; der Statthalter Ho-kwei-tsiṅ soll erklärt haben, die
Engländer müssten der Regierung noch eine derbe Lection in Tien-
tsin
geben, ehe der Kaiser zur Einsicht gelange und sich dem
Frieden bequeme; er selbst möchte nicht nach dem Norden gehen,
dort gäbe es Streit. — Admiral Hope, der schon ein stattliches Ge-
schwader versammelt hatte, liess auf diese Gerüchte von Hong-
kong
noch ein Bataillon See-Soldaten kommen.


Vom Rendez-vous der Flotte bei den Ša-lu-tien-Inseln
im Golf von Pe-tši-li ging Admiral Hope am 16. Juni mit der
Fury und zwei Kanonenbooten nach der Peiho-Mündung, ankerte
vor der Barre, und schickte ein Boot nach den Ta-ku-Forts, um
die Gesandten bei den Behörden anzumelden. Ein bewaffneter
Haufen am Ufer hinderte die Engländer am Landen. Der das Boot
befehligende Officier verlangte eine Besprechung mit den Manda-
rinen, erhielt aber den Bescheid, es gebe dort weder Civil- noch
Militärbehörden; die Verzäunung im Flusse sei von den Orts-
bewohnern zum Schutz gegen Rebellen, nicht gegen die Engländer
hergestellt; die Garnison bestände in Milizen. Der Wortführer, der
sich für den Ingenieur der Werke ausgab, versprach ein Schreiben
nach Tien-tsin zu befördern und die Antwort auszuliefern.


Auf diese Meldung sandte Admiral Hope nochmals ein Boot
nach den Forts, mit dem Gesuch, die Flusssperre binnen drei Ta-
gen zu beseitigen, damit die englischen Schiffe einlaufen könnten.
Das wurde versprochen. — Admiral Hope kehrte darauf nach den
Ša-lu-tien-Inseln zurück, erschien am 18. Juni mit dem ganzen
Geschwader vor der Pei-ho-Mündung, und liess der hochgehenden
See wegen die Kanonenboote innerhalb der Barre ankern. Am
20. Juni trafen die beiden Gesandten auf der Rhede ein. Admiral
Hope fuhr selbst nach der Flussmündung, um sich über den Zu-
stand derselben zu unterrichten und ein an den Präfecten von
[288]Die Pei-ho-Mündung soll forcirt werden.
Tien-tsin adressirtes Schreiben zu übergeben. Er meldete darin,
dass das Geschwader während der Reise des Gesandten nach Pe-
kiṅ
auf der Rhede bleiben werde, und bat um Einrichtung eines
Marktes für die Mannschaft, welche in kleinen Abtheilungen landen,
den Bewohnern von Ta-ku aber nicht beschwerlich fallen sollte.
Am Ufer drängte sich wieder die bewaffnete Rotte; Einer drohte
mit blankem Säbel, als der Dolmetscher, Herr Mongan, aus dem
Boote sprang. Sie behaupteten Milizen zu sein und auf eigene
Verantwortung zu handeln; Behörden gebe es nicht; die Beseitigung
der Flusssperre [hätten] sie niemals versprochen. — Die Verzäunung
war im Gegentheil verstärkt worden. — Auf den Werken wehte
keine Flagge, noch zeigten sich dort Soldaten.


Herr Bruce und Herr von Bourboulon waren entschlossen,
auf Benutzung des Pei-ho, welcher als die Hauptstrasse nach Pe-
kiṅ
gilt unter allen Umständen zu bestehen, und ersuchten am
21. Juni Admiral Hope die zur Beseitigung der Flusssperre erfor-
derlichen Schritte zu thun. Dieser meldete den Chinesen sein Vor-
haben und traf während der beiden folgenden Tage die nöthigen
Anstalten. Unterdessen kam auch der americanische Gesandte Herr
Ward auf der Fregatte Powhattan, begleitet von einem kleinen
Dampfer auf der Rhede an; Kwei-liaṅ und Wa-šana hatten
ihn in Shang-hae ausdrücklich ersucht, mit den Gesandten von
England und Frankreich zu Auswechselung der Ratificationen nach
Pe-kiṅ zu gehen, wozu der americanische Vertrag ihn allerdings
nur unter starken Modificationen berechtigte. Er fuhr am 24. Juni
auf dem kleinen Dampfer nach der Flussmündung und verlangte
einzulaufen, wurde aber abgewiesen. Darauf ging Herr Ward inner-
halb der Barre zu Anker, um den Erfolg der Operationen abzu-
warten. — Während der Nacht zum 25. Juni liess Admiral Hope
einen Theil der dreifachen Verzäunung mit Pulver sprengen.


Frankreich war vor der Pei-ho-Mündung nur durch die
Fregatte Du Chayla vertreten. Die englische Fregatte Magicienne
und die Rädercorvette Fury ankerten mit jener vor der Barre; in-
nerhalb derselben lagen die Dampfer und Kanonenboote Nimrod,
Plover, Cormorant, Lee, Banterer, Starling, Opossum, Forrester
Kestrel, James, Haughty. Am Morgen des 25. Juni schleppten zwei
Dampfer die Boote mit der englischen Schiffsbrigade und sechszig
Mann vom Du Chayla über die Barre. Opossum und Plover liefen
in die Flussmündung und zogen mit ihren Ankern die starken Pfähle
[289]Niederlags der Alliirten.
der ersten Verzäunung heraus, drangen hindurch und nahmen die
zweite in Angriff. Da eröffneten die Werke, die bis dahin verlassen
schienen, ein wohlgezieltes Feuer von mörderischer Wirkung, das
vom ganzen Geschwader erwiedert wurde. Die Truppen landeten
auf dem durchweichten Strande unterhalb des südlichen Forts und
wateten bis an die Hüften einsinkend im Schlamme vorwärts. Viele
verschwanden in tiefen Wassergräben; die Hinübergelangten zer-
schmetterte das Kartätschfeuer der Wälle. Nun trat Ebbe ein;
mehrere Kanonenboote geriethen auf den Grund und wurden unter
der Wasserlinie getroffen. Lee, Cormorant und Opossum sanken;
die anderen Schiffe setzten, übel zugerichtet, das Feuer bis zehn
Uhr Abends fort um den Rückzug der Truppen und den Transport
der Verwundeten zu decken, welcher bis ein Uhr Nachts dauerte;
die Americaner leisteten dabei treuen Beistand. Der Verlust der
Engländer betrug 464 Todte und Verwundete, darunter 7 todte und
22 verwundete Officiere; die Franzosen hatten 4 Todte und 10 Ver-
wundete. Die ganze Streitmacht betrug 1300 Mann. Admiral Hope
wurde, auf dem Plover die Operationen leitend, an der Hüfte ver-
letzt, wollte aber den Befehl nicht abgeben und liess sich, als der
Plover sank, auf das Opossum bringen. Auf diesem zerschmetterte
eine Kugel die Brüstung der Commando-Brücke; der Admiral, der
sich daran lehnte, stürzte acht Fuss tief hinab und brach eine Rippe.
— Die meisten Schiffe konnten nur unter den äussersten Anstren-
gungen ausser Schussweite gebracht und in den folgenden Tagen
so weit ausgebessert werden, dass sie die See halten mochten. —
Der Admiral zeigte Herrn Bruce an, dass seine Streitkräfte nicht
ausreichten um den Eingang in den Pei-ho zu erzwingen. So
mussten die Gesandten ihre Mission als gescheitert betrachten und
kehrten nach Shang-hae zurück.


Am Morgen des 25. Juni um neun Uhr, als die Operationen
an der Flussmündung eben eingeleitet wurden, kam eine Dschunke
langseit der Magicienne, welche etwa neun Seemeilen von den
Ta-ku-Forts lag. Ein Mandarin von untergeordnetem Range über-
gab ein Schreiben des General-Gouverneurs von Pe-tši-li: er habe
Befehl erhalten, sich nach Pe-taṅ-ho, — der Mündung eines
kleinen Flüsschens zehn Seemeilen nördlich von der Pei-ho-Mün-
dung
, — zu verfügen und dem englischen Gesandten seine Dienste
anzubieten. Kwei-liaṅ und Wa-ša-na seien zurückberufen als die-
jenigen Beamten, welche die Auswechselung der Ratificationen be-
III. 19
[290]Mr. Ward in Pe-taṅ.
wirken und die Gesandten nach Pe-kiṅ führen müssten. Herr
Bruce werde deshalb ersucht zu verweilen, bis die Garnison von
Pe-taṅ-ho zurückgezogen wäre; dann würde der Statthalter auf
die Rhede hinauskommen und ihn nach dem dortigen Landungs-
platze führen, von wo er sich zu Lande nach Pe-kiṅ begeben
könne. — Dieses Schreiben war vom 23. Juni datirt, brauchte also
zwei Tage, um zehn Seemeilen zurückzulegen. Herr Bruce schickte
dasselbe zurück, weil der Name der Königin von England darin
eine Stufe tiefer stand als der des Kaisers von China. Wollte er
es berücksichtigen, so musste er die schon begonnene Action unter-
brechen. Die Gesandten betrachteten es zudem als ihr gutes Recht,
auf dem selbstgewählten Wege, der Hauptverkehrsstrasse, nach
Pe-kiṅ zu reisen, und sahen in der Insinuation der chinesischen
Regierung nur einen neuen Versuch, sie nach Art der tributbringen-
den Gesandten zu empfangen und in den Augen der Bevölkerung
herabzusetzen.


Herr Ward beschloss nach dem missglückten Unternehmen
der Alliirten gegen die Pei-ho-Mündung, die Auswechselung der
Ratificationen nach den Bedingungen des americanischen Vertrages
zu bewirken, welcher dem Gesandten der Vereinigten Staaten
erlaubt, einmal jährlich mit einem Gefolge von zwanzig Köpfen
die chinesische Hauptstadt zu besuchen, unter der Bedingung, dass
er dem kaiserlichen Ceremonien-Amt vorher davon Meldung
mache und seine Geschäfte ohne Verzug beende. Er schickte
den kleinen Dampfer nach der Pe-taṅ-Mündung; als dessen Boot
der Küste nahte, floh die Bevölkerung des dort gelegenen Dorfes.
Mit Mühe trieb man zwei Männer auf, welche die Beförderung des
von Herrn Ward an den Statthalter von Tši-li gerichteten Schrei-
bens übernahmen, zugleich aber vor dem Angriff eines in der Nähe
stehenden Cavalleriepostens warnten. Gleich darauf sprengten
Tartaren heran; die Americaner entwischten mit Noth in ihr Fahr-
zeug. Dann aber kam eine Dschunke mit Lebensmitteln hinaus und
brachte die Nachricht, dass das Schreiben befördert sei und in
kurzem beantwortet werden solle.


Einige Tage darauf schrieb der Statthalter Haṅ-fu dem Ge-
sandten, dass der Kaiser ihm erlaube, nach dem 19. Juli mit
zwanzig Personen über Pe-taṅ nach der Hauptstadt zu reisen, wo
nach Ankunft der Bevollmächtigten die Ratifications-Urkunden aus-
gewechselt werden sollten. Herr Ward landete am 20. Juli und
[291]Mr. Ward in Pe-kiṅ.
wurde bedeutet, dass er die Reise bis zu einem zwei Meilen ober-
halb Tien-tsin am Pei-ho gelegenen Dorfe in den landesüblichen
Karren machen müsse. — Chinesen von Stande reisen immer in
Sänften; in solchen wurden auch Lord Macartney, Lord Amherst
und ihr Gefolge befördert; nur ihre Dienerschaft reiste in Karren.
— Herr Ward bequemte sich dieser Demüthigung und hatte von
Staub, Hitze und den holprigen Wegen furchtbar zu leiden. Vom
Dorfe Pei-tsaṅ fuhr man den Pei-ho hinauf in Booten bis Tuṅ-tšau,
von da jedoch wieder in Maulthierkarren. Herr Ward konnte das
Rütteln auf den ausgefahrenen Granitplatten nicht ertragen und
ging in der glühendsten Sonne zu Fuss, bis ein mitleidiger Man-
darin ihm sein Pferd gab; vor Pe-kiṅ musste er aber wieder in
den Karren; sein Einzug war kläglich.


Man wies den Americanern ein geräumiges Haus an, dessen
Zugänge von Soldaten bewacht wurden; Herr Ward wurde zurück-
gewiesen, als er auf die Strasse hinaustreten wollte, und nur auf
seine Drohung, jeden amtlichen Verkehr abzubrechen, gestattete
man seinen Begleitern auszugehen, gab ihnen aber weder Pferde
noch Wegweiser, so dass die Erlaubniss illusorisch wurde. Mit-
glieder der seit mehreren Wochen in Pe-kiṅ weilenden russischen
Gesandtschaft wurden von den Wachen abgewiesen, als sie Herrn
Ward besuchen wollten, und ein Schreiben derselben gelangte erst
nach sechs Tagen in seine Hände. Man versprach den Ameri-
canern etwas mehr Freiheit, sobald die Geschäfte erledigt wären.
Es galt, sie durch Einschüchterung zu vermögen, bei der feier-
lichen Audienz, welche der Kaiser zu wünschen schien, das Ko-to
zu vollziehen. Dem fügte Herr Ward sich aber nicht, und nun
fragte ihn Kwei-liaṅ in einem groben Brief, warum er eigentlich
nach Pe-kiṅ gekommen sei, wenn er so hartnäckig auf seinem Sinne
beharren wolle. In seiner Antwort berief Herr Ward sich auf die
kaiserliche Einladung zur Auswechselung der Ratificationen und
Ueberreichung seines Beglaubigungsschreibens. Die chinesische
Regierung benutzte darauf, ihrem Grundsatze getreu, alle Beziehungen
zu fremden Völkern als rein commercielle anzusehen, welche mit
dem dafür ernannten Commissar verhandelt werden müssen, die
Erwähnung jenes Schreibens, um dessen Ueberreichung zum ein-
zigen Zweck von Herrn Wards Sendung zu stempeln, weigerte sich
aber dasselbe anzunehmen, wenn der Gesandte nicht schriftlich
erkläre, dass das Ko-to nicht aus Mangel an Achtung vor dem
19*
[292]Kaiserliche Decrete.
Kaiser auf seiner oder des americanischen Präsidenten Seite ver-
weigert werde. Herr Ward trug kein Bedenken, sich in diesem
Sinne auszudrücken und durfte nun Kwei-liaṅ das Schreiben über-
reichen. Für den Austausch der Ratificationen, sagte man ihm,
müsse er eigentlich nach Shang-hae zurückkehren; in Rücksicht
auf die weite Reise wolle man aber dem Vertrage in Pe-kiṅ das
Siegel beifügen und ihm später das ratificirte Exemplar durch den
Statthalter von Tši-li aushändigen lassen. Der Gesandte musste
dann auf demselben Wege nach Pe-taṅ zurückkehren, wo der
Statthalter ihm das besiegelte Vertragsexemplar übergab.


Folgender im October 1860 im Sommerpalast gefundene kai-
serliche Erlass in Zinoberschrift bezeichnet die Auffassung des
Kaisers:


»Wir haben heut die Antwort der americanischen Barbaren auf
die Mittheilungen des Kwei-liaṅ und seines Amtsgenossen gelesen.
(Sie zeigt dass) in Betreff ihrer Vorstellung bei Hofe nichts mehr ge-
schehen kann, um sie zur Vernunft zu bringen. Ausserdem stellen
diese Barbaren durch die Erklärung, dass ihr Respect vor Seiner Ma-
jestät dem Kaiser derselbe ist, wie der, welchen sie vor ihrem Fi-li-
si-tien-ti
(Präsidenten) hegen, China eben den Barbaren des Südens
und Ostens (Mi-van und ei) gleich, eine Anmaassung von Grösse, die
gradezu lächerlich ist. — Der Antrag von gestern, dass sie eine Zusam-
menkunft mit den Prinzen haben sollten, braucht auch nicht weiter be-
rücksichtigt zu werden.«


Bald nach Herrn Wards Abreise veröffentlichte die amtliche
Zeitung von Pe-kiṅ folgendes Decret:


»Am 11. Tage des 7. Mondes des 9. Jahres von Hien-fuṅ
(9. August 1859) hatte der Innere Rath die Ehre folgendes Decret zu
erhalten.


Im vorigen Jahre fuhren die Schiffe der Yaṅ-ki-li (Engländer)
in den Hafen von Tien-tsin und eröffneten das Feuer auf unsere Trup-
pen. Wir befahlen deshalb dem Kor-tšin-Fürsten Saṅ-ko-lin-sin,
Ta-ku
gut zu befestigen; und den Gesandten der verschiedenen
Völker, welche zu Auswechselung der Verträge heraufkamen, wurde
durch Kwei-liaṅ und Wa-šana mitgetheilt, dass Ta-ku so befestigt
sei, und dass sie den Umweg über den Hafen Pe-taṅ machen müssten.
Trotzdem hielt der Engländer Bruce, als er im 5. Mond nach der Küste
von Tien-tsin kam, seine Verabredung mit Kwei-liaṅ und Wa-šana
keineswegs, sondern erzwang sich sogar den Weg in den Hafen
von Ta-ku, indem er unsere Vertheidigungsanstalten zerstörte. Am

[293]Kaiserliche Decrete.
24. des 5. Mondes (24. Juni) kämpften unsere Truppen noch nicht,
obgleich seine Fahrzeuge bis Ki-ku-tan heraufkamen und die Ketten
mit Bomben sprengten. Am 25. rissen über zehn Dampfer mehr als
zehn der eisernen Pfähle aus, mit welchen der Fluss gesperrt war;
sie hissten sämmtlich rothe Flaggen als Zeichen ihrer Kampfbegier.
Der Statthalter von Tši-li, Haṅ-fu, sandte einen Brief des Präfecten
von Tien-tsin hinaus, aber die Engländer wollten ihn garnicht an-
nehmen und erkühnten sich zuletzt sogar, die Forts zu bombardiren.
Darauf erwiederten unsere Truppen das Feuer, versenkten mehrere
ihrer Schiffe und tödteten mehrere Hundert von ihrer Infanterie, als
sie landete.


So haben die englischen Truppen diese Niederlage wirklich
über sich selbst gebracht; es war dabei durchaus keine Art von Treu-
bruch auf Seiten von China.


Unterdessen blieb der americanische Gesandte John Ward seiner
Verabredung mit Kwei-liaṅ und dessen Collegen treu, fuhr nach
dem Hafen von Pe-taṅ und bat um Erlaubniss, nach Pe-kiṅ hinauf
zu gehen, um ein Schreiben seiner Regierung zu überreichen. Wir ge-
statteten deshalb seine Zulassung in Pe-kiṅ zu Aushändigung dessel-
ben, und, nachdem wir heute die vom americanischen Gesandten an
Kwei-liaṅ und Wa-šana gerichteten uns vorgelegten Briefe gelesen
haben, finden wir ihre Sprache so ehrerbietig, und von so wahrem
Herzen eingegeben, dass wir den bezeichneten Gesandten ermächtigten,
das Schreiben, mit dessen Ueberreichung er beauftragt ist, an Kwei-
liaṅ
und Wa-šana auszuliefern, welche wir zum Empfange des-
selben anwiesen.


Was die Auswechselung seines Vertrages betrifft, so sollte er
eigentlich nach Shang-hae zurückkehren, um ihn dort auszutauschen.
Aber in Rücksicht auf die weite Reise, die er machte, geben wir die
besondere Erlaubniss, dass dem Vertrage das Siegel angehängt und
dass derselbe Haṅ-fu überliefert werde, um ihn gegen ein anderes
Exemplar dem bezeichneten Gesandten auszuhändigen, damit vom Da-
tum der Auswechselung Frieden und Handel für immer sei. So zei-
gen wir unser inniges Verlangen, den Männern aus der Ferne sorg-
liche Zärtlichkeit und unsere Achtung vor Redlichkeit und gerechten
Grundsätzen zu beweisen.


Kwei-liaṅ und Wa-šana sollen dieses unser Belieben dem
Gesandten John Ward zu seiner Unterweisung melden. Beachtet dieses.«


Der folgende Erlass ist vom 5. Juli 1859 datirt:


»In einer heut von Saṅ-ko-lin-sin und Tsae-haṅ überreichten
zweiten Eingabe stellen dieselben uns dringend vor, dass, da die eng-

[294]Kaiserliches Decret.
lischen Barbaren so ihre Vasallenpflicht verletzten und sich empörten,
und die französischen Barbaren, ihnen verbündet, deren Bosheit Vor-
schub leisteten, das Verbrechen von beiden der Art ist, dass der Tod
keine genügende Strafe wäre; die jetzt gebotene Gelegenheit müsse be-
nutzt werden, um unsere Würde zu wahren und die Zügel mit solcher
Strenge anzuziehen, dass ihre Verstockung und Frechheit gebändigt
werde.


Seit dem 21. Jahre von Tau-kwaṅ (1841) suchten diese Bar-
baren fortwährend Streit; wieder und wieder lehnten sie sich gegen
die Erhabenheit des Himmels auf. Seine verewigte Majestät, kanonisirt
als der Vollkommene, konnten trotzdem nicht über sich gewinnen, —
so gross war die mütterliche Zärtlichkeit, welche er für die aus der
Ferne fühlte — ihre Ausschreitungen mit der ganzen Strenge des Ge-
setzes heimzusuchen. Ja, er erlaubte ihnen in den fünf Häfen Handel
zu treiben und gab Geld aus seinem Schatze her, sie zu begütigen und
zu trösten. Die den äusseren Völkern zugewendeten mildthätigen
Spenden waren nicht unbedeutend. Hätten dieselben eine Spur von
Gewissen gehabt, so wären sie ohne Zweifel, von Dankgefühl für Seiner
Majestät kaiserliche Grossmuth erfüllt, in Frieden ihrem Beruf nach-
gegangen und auf ihren Unterhalt bedacht gewesen, und, wäre irgend
eine Ursache der Unzufriedenheit bei ihren Beschäftigungen entstanden,
so wäre gegen die Besprechung und Erledigung solchen Falles, wie er
sich darstellte, nichts einzuwenden gewesen. Wozu also dieser Starr-
sinn, dieses wilde Gebahren und das beständige Prahlen mit ihrer
Tapferkeit? Sie sind ein zehrendes Gift für unser Volk gewesen; sie
sind rebellisch in unsere Grenzen eingedrungen; in den unerträglichen
Gewaltthaten, welche sie begingen, haben sie das Uebermaass ihres
Undankes gezeigt. Wollten wir unsere Truppen brauchen, was hin-
derte die schleunige Ausrottung dieser Soldätchen? Wir denken aber
daran, dass unsere Vorfahren ihre weite Herrschaft durch Menschen-
liebe und Biederkeit gründeten, dass sie die wilden Völker mit Gross-
muth und Milde begütigten und trösteten; dass mehrere Jahrhunderte
hindurch kein Soldat leichtsinnig gebraucht, keine Ration zwecklos aus-
gegeben wurde; und so haben die vier Barbarenstämme so allgemein
wie die Eingeborenen des Reiches zu den Geheiligten aufgeschaut, ihre
hohe Menschenliebe und die Tugend preisend, mit der sie schweigend
die lebende Menge erhielten. Sollten deshalb die Häupter der Bar-
baren ihr Antlitz ändern und sich erneuen, indem sie das aufrichtige
Anerbieten friedlicher Unterwerfung machen, so werden wir, — da wir
ja mit unserem weiten Reiche die Rathschlüsse unserer Vorfahren
erbten, — in ehrerbietiger Uebereinstimmung damit gewiss keinen

[295]Das Verfahren der Chinesen.
Menschen zu hart drücken. Aber wenn sie fortfahren dreist zu sein,
und Forderungen wiederholen, zu denen sie kein Recht haben, dann
werden wir sie in dem Augenblick vernichten. Nicht ein Sprosse,
das geloben wir, soll übrig bleiben dürfen.


Die Loyalität und der Muth der Fürsten, deren Eingabe uns
vorliegt, verdienen gewiss alles Lob, und es wäre sicher nicht leicht,
unter den Ministern und Dienern in und ausser der Hauptstadt solchen
Eifer für die Staats-Politik und die Wohlfahrt des Volkes zu
finden. Wir sind davon sehr erbaut und befriedigt. Was aber die
wirksame Zügelung durch straffes Anziehen des Zaumes betrifft, so
sind wir mit uns einig, dass es nicht recht wäre, in Anwendung von
Gewalt (wörtlich von Bösem) den ersten Schritt zu thun. Wir befehlen
deshalb, dass von dieser Denkschrift nicht Act genommen und dass sie
zurückgegeben werde. — Beachtet dieses.«


Der Mongolenfürst Saṅ-ko-lin-sin war 1859 und 1860 die
stärkste Triebfeder des Krieges; das wegwerfende Auftreten des
Herrn Lay gegen den alten Kwei-liaṅ hatte ihn heftig erbittert;
er hasste die Engländer ehrlich, hatte von der Ueberlegenheit der
europäischen Waffen keine Ahnung und glaubte sicher, ihnen trotzen
zu können. Hien-fuṅ scheint vor dem Kampfe bei Ta-ku nicht
ganz zuversichtlich gewesen zu sein. Zuerst sollten die Commissare
sich bemühen, die Gesandten auf friedlichem Wege von der Reise
nach Pe-kiṅ abzuhalten. Noch vor der Peiho-Mündung versuchte
man, dieselben zur Reise über Pe-taṅ zu bewegen; sie wären dann
eben so schimpflich behandelt worden wie Herr Ward, und hätten
sich kaum dagegen wehren können. Die Besatzung der Ta-ku-
Forts musste vorgeben, auf eigene Verantwortung zu handeln, damit
im Falle der Niederlage dem Kaiser eine Hinterthür offen bliebe.
Nach dem Siege warf er schnell die Maske ab; schon nach wenig
Tagen sah man von den zu Ausbesserung ihrer Schäden vor dem
Pei-ho zurückgebliebenen Schiffen auf den Werken die Feldzeichen
von fünf der acht Tartaren-Banner wehen, in welche die kaiserliche
Hausmacht eingetheilt ist, und in dem Erlass vom 9. August machte
der Kaiser kein Hehl aus dem Siege seiner Truppen. Die darin
enthaltenen Unwahrheiten, dass Kwei-liaṅ und Wa-šana die
Gesandten ersucht hätten, über Pe-taṅ zu gehen, und dass die
Engländer das Feuer eröffnet hätten, kommen vielleicht auf Rech-
nung der eingesandten Berichte. — Herr Ward fand die Manda-
rinen in Pe-kiṅ übermüthig und sieggewiss; der Erfolg an der
Pei-ho-Mündung hatte ihnen die Köpfe verdreht und den Eindruck
[296]Die Gesandten in Shang-hae.
der früheren Niederlage verwischt. Man glaubte, dass es bei Ab-
weisung der Gesandten sein Bewenden haben werde. Ho-kwei-
tsiṅ
, der Statthalter der beiden Kiaṅ und kaiserliche Bevoll-
mächtigte für den fremden Handel richtete — offenbar auf Befehl
— bald nach Ankunft der beiden Gesandten in Shang-hae ein
Schreiben an Herrn von Bourboulon: er habe gehofft, die Gesandten
würden den Austausch der Verträge in Pe-kiṅ bewirken; der
americanische Vertreter sei durch den Statthalter von Tši-li über
Pe-taṅ dahin geführt worden und lebe auf dem besten Fusse mit
den dortigen Würdenträgern; die Ratificationen würden ausgetauscht
werden, sobald Kwei-liaṅ und Wa-šana in der Hauptstadt ein-
träfen. Herr Bruce habe nicht gewusst, dass der Statthalter Haṅ-
fu
ihn in Pe-taṅ erwarte, und sei nach Ta-ku hineingegangen,
»was er nicht hätte thun sollen«; die Folge war, gewiss ohne Ab-
sicht auf beiden Seiten, ein Unfall, der nicht hätte vorkommen
müssen. Kwei-liaṅ und sein College seien jetzt wohl in Pe-kiṅ
eingetroffen und Herr von Bourboulon werde Zeit sparen, wenn
er sich unverzüglich nach der Küste von Tien-tsin begäbe und
seinen Vertrag zugleich mit Herrn Ward austauschte. Dem eng-
lischen Gesandten könne er solche Mittheilung nicht machen, weil
derselbe ihn niemals als kaiserlichen Bevollmächtigten angegangen
habe. Er ersuche aber Herrn von Bourboulon, Herrn Bruce »mit
sanften Worten von weiteren Gewaltschritten abzurathen und ihn
zu versichern, dass, wenn es ihm möglich wäre, Herrn von Bour-
boulon
nach dem Norden zu begleiten, er allen Argwohn entfernen
möge; dass Kwei-liaṅ und seine Amtsgenossen ihn in Pe-taṅ
gewiss in treuer Erfüllung früherer Verabredungen höflich behan-
deln würden.«


Der französische Gesandte erwiederte, dass Herr Bruce und
er selbst über die Vorfälle am Pei-ho an ihre Regierungen berich-
tet hätten und bis auf weitere Instructionen keine Schritte zur
Reise nach Pe-kiṅ thun würden. Darin sah Ho-kwei-tsiṅ
eine Friedensbotschaft. »Es wird nun keine Feindschaft mehr
geben«, schreibt er nun auch an Herrn Bruce, »die Waffen werden
abgelegt u. s. w.«; er bittet, einen Tag zu nennen, an welchem die
Gesandten nach dem Norden aufbrechen wollten, damit er an den
Kaiser berichte, und die chinesischen Bevollmächtigten Anstalten
für ihren Einzug in Pe-kiṅ träfen. Herr Bruce lehnte in seiner
Antwort jede Erörterung des Gesandtschaftsrechtes mit Ho-kwei-
[297]Friedfertige Demonstrationen.
tsiṅ ab, da dieser nur für die Handelsangelegenheiten bevoll-
mächtigt sei.


Des Kaisers Wunsch, den Frieden zu erhalten, geht auch
aus dem Erlass vom 5. Juli hervor. In Kan-ton betrugen sich die
Mandarinen auf Eingebung aus Pe-kiṅ sehr zuvorkommend.
Hien-fuṅ schickte jetzt sogar an die Stelle des fremdenfeindlichen
Waṅ einen neuen General-Gouverneur, welchem in zwei Edicten
eingeschärft wurde, »gelinde zu regieren, die Engländer und Fran-
zosen ruhig und ehrerbietig zu halten wie früher und ihnen keinen
Anlass zu Verdacht zu geben.... Wenn sie Reue zeigten, könnten
auch jetzt noch die freundschaftlichen Beziehungen hergestellt wer-
den.« »Die Engländer haben bei verschiedenen Anlässen Streit be-
gonnen, aber Ich, der Kaiser, muss nicht zu streng sein in meinem
Verkehr mit fremden Staaten. Wenn sie mit reuigem Herzen
Kwei-liaṅ’s Ankunft zum Austausch der Verträge abwarten wollen,
so kann über die Sache hinweggegangen, weiterer Waffengewalt
vorgebeugt und Einhalt gethan werden.... Die Kriegslust besag-
ten Volkes kann nicht als hinreichender Grund gelten zu Anord-
nung von Maassregeln, welche den Handel der Kaufleute der ver-
schiedenen Völker beeinträchtigen und sie an Besitz und Kapital
schädigen würden. Diese Angelegenheit habe Ich, der Kaiser,
in meinem Geiste ernstlich erwogen.« — Beide Edicte beginnen mit
einem kurzen Berichte über den Kampf bei Ta-ku: »Herr Bruce
sagte, er wolle die Vertheidigungsanstalten unseres Hafens beseiti-
gen.... Unter diesen Umständen blieb Saṅ-ko-lin-sin nichts
übrig, als den Feind zu treffen, und die Folge war, dass eine
grosse Zahl der Feinde getödtet und zwölf ihrer Schiffe zerstört
wurden.« Saṅ-ko-lin-sin commandirte also selbst in Ta-ku.


Die Regierungen von England und Frankreich billigten in
allen Stücken die Haltung ihrer Vertreter und den Versuch, die
Einfahrt in den Pei-ho zu erzwingen, und erneuten das Bündniss
zu gemeinsamer Action gegen die chinesische Regierung. Herr
Bruce wurde angewiesen, auf formeller Entschuldigung wegen des
Angriffes auf die englischen Schiffe bei Ta-ku zu bestehen, ehe er
auf weitere Anträge zu Ratification des Vertrages einginge. Er sollte
ferner auf der Forderung beharren, in einem englischen Schiffe nach
[298]Instruction der Gesandten.
Tien-tsin hinaufzufahren, um von dort durch die chinesischen Behör-
den mit gebührenden Ehren nach Pe-kiṅ befördert zu werden. Auf
Erfüllung dieser Bedingungen sollte er sich schleunigst nach der
Hauptstadt begeben, bei unpassender Behandlung von Seiten der chine-
sischen Behörden aber an die Pei-ho-Mündung zurückkehren und die
Sache in die Hände des Admirals legen, der ihn mit einem starken
Geschwader dahin zu begleiten habe. Ferner sollte er der chine-
sischen Regierung anzeigen, dass das wegen des Gesandtschafts-
rechtes gemachte Zugeständniss durch die Vorfälle an der Pei-ho-
Mündung
erledigt sei, und dass Ihrer Majestät Regierung ihren
Gesandten auf Grund der betreffenden Vertragsbestimmung anweisen
werde, seinen Wohnsitz bleibend in Pe-kiṅ zu nehmen. Sollten
bis zum Eintreffen dieser Instructionen keine friedlichen Anträge
an Herrn Bruce gelangt sein, so möge derselbe den ersten Minister
des Kaisers von Englands Forderungen unterrichten und ihm an-
zeigen, dass, wenn nicht binnen dreissig Tagen nach dem Datum
seiner Mittheilung eine Antwort mit der unbedingten Annahme
dieser Forderungen einliefe, die Commandeure der britischen See-
und Landmacht angewiesen werden sollten, geeignete Maassregeln
zu ergreifen, um den Kaiser von China zu Erfüllung der von ihm
durch seine Bevollmächtigten im Vertrage von Tien-tsin eingegan-
genen und durch sein kaiserliches Edict anerkannten Verpflich-
tungen zu zwingen. Ferner sollte der Gesandte der chinesischen
Regierung anzeigen, dass eine ansehnliche Geldentschädigung von
ihr gefordert werde. — Aehnliche Instructionen erhielt der Ver-
treter von Frankreich.


In der Voraussetzung, dass Hien-fuṅ einer imposanten
Machtentfaltung gegenüber leichter nachgeben werde, verzögerten
Herr Bruce und Herr von Bourboulon die Ueberreichung ihrer Ulti-
matum bis zum 8. März. Dieselben wurden an den ersten Staats-
secretär Paṅ-waṅ-tšaṅ gerichtet und dem bevollmächtigten Gene-
ral-Gouverneur Ho-kwei-tsiṅ zu Beförderung nach Pe-kiṅ über-
sandt. Das englische Ultimatum lautete:


»Der Unterzeichnete hat die Ehre u. s. w. an Seine Excellenz
den ersten Staatssecretär Paṅ-waṅ-tšaṅ und ihre Excellenzen die
Mitglieder des Grossen Staatsrathes Seiner Majestät des Kaisers von
China eine Mittheilung zu richten.


Der Unterzeichnete beehrt sich zu erklären, dass er seiner
Pflicht gemäss der Regierung Ihrer Britannischen Majestät einen voll-

[299]Das englische Ultimatum.
ständigen Bericht über alle Umstände vorlegte, welche Bezug haben
auf seine Reise nach der Mündung des Tien-tsin-Flusses im vorigen
Sommer zum Zwecke der Auswechselung der auf oder vor den
26. Juni anberaumten Ratificationen des Vertrages.


Ausser seiner ganzen Correspondenz mit den kaiserlichen Be-
vollmächtigten und anderen Beamten der kaiserlichen Regierung hat
der Unterzeichnete der Regierung Ihrer Britannischen Majestät die
Abschrift eines kaiserlichen Decretes vom 9. August 1859 eingeschickt,
welches auf den Wunsch des Kaisers dem Gesandten der Vereinigten
Staaten
am Abend vor seiner Abreise aus Pe-kiṅ eingehändigt wurde.
Darin heisst es:


»Im vorigen Jahre fuhren die Schiffe der Engländer in den
Hafen von Tien-tsin und eröffneten das Feuer auf unsere Truppen.
Wir befahlen deshalb dem Kor-tšin-Fürsten Saṅ-ko-lin-sinTa-ku
gut zu befestigen; und den Gesandten der verschiedenen Völker,
welche zu Auswechselung der Verträge heraufkamen, wurde durch
Kwei-liaṅ und Wa-šana mitgetheilt, dass Ta-ku so befestigt sei,
und dass sie den Umweg über den Hafen Pe-taṅ-ho machen müssten.
Trotzdem hielt der Engländer Bruce, als er im 5. Mond an die Küste
von Tien-tsin kam, seine Verabredung mit Kwei-liaṅ und dessen
Gefährten keineswegs, sondern erzwang sich sogar den Weg in den
Hafen von Ta-ku, indem er unsere Vertheidigungsanstalten zerstörte.«


Der Unterzeichnete verfehlte nicht, sofort Ihrer Majestät Regie-
rung anzuzeigen, dass der Kaiser sonderbar getäuscht worden sei.
Wäre ihm in der That von den Commissaren in Shang-hae mitgetheilt
worden, dass Seine Majestät beschlossen hätten, fremden Gesandten
die natürliche und bequemste Strasse nach seiner Hauptstadt zu ver-
sperren, so würde der Unterzeichnete solchen Beweis unfreundlicher
Gesinnung von Seiten der kaiserlichen Regierung gewiss als passenden
Anlass zu Beschwerde und Unterhandlung angesehen haben.


In den Schreiben der kaiserlichen Commissare gelangte jedoch
keine Mittheilung der Art an den Unterzeichneten. Niemals wurde der
Hafen von Pe-taṅ von ihnen genannt, noch traf der Unterzeichnete
irgend ein anderes Abkommen mit ihnen, als das in seinem Schreiben
vom 16. Mai enthaltene, in welchem er Seine Excellenz Kwei-liaṅ
von der Beschaffenheit und dem Zwecke seiner Sendung und seiner
Absicht, zu Schiffe nach Tien-tsin zu gehen, unterrichtete und Seine
Excellenz ersuchte, die nöthigen Befehle zu seiner Beförderung von
dieser Stadt nach Pe-kiṅ zu geben.


Er erlaubt sich, Abschrift dieser Mittheilung und der am
12. Juni von den Commissaren empfangenen beizufügen. Diese werden

[300]Das englische Ultimatum.
beweisen, dass man den Unterzeichneten in völliger Unkenntniss von des
Kaisers Absicht, ihm die Benutzung der gewöhnlichen Flussstrasse zu
verwehren, von Shang-hae abreisen liess.


Ein ähnliches Stillschweigen wurde gegen Admiral Hope, Ober-
befehlshaber von Ihrer Majestät Kriegsschiffen in diesen Meeren, beob-
achtet, als er zu Förderung des Seiner Excellenz Kwei-liaṅ in dem
oben bezeichneten Schreiben mitgetheilten Zweckes am 17. Juni vor
der Flussmündung erschien, um die bevorstehende Ankunft des Unter-
zeichneten und seines Collegen, des französischen Gesandten, zu mel-
den. Der Admiral erhielt die Versicherung, dass die Durchfahrt von
der sogenannten Miliz geschlossen sei, welche er die sperrenden Balken
bewachend fand, und zwar ohne Befehl ihrer Regierung, von deren
Beamten, wie die Milizen wiederholt versicherten, keiner in der Nähe
des Ortes war; sie sei ferner nicht zur Abwehr der Fremden, sondern
einheimischer Feinde gesperrt. Diese falschen Darstellungen be-
gleitete ein falscher Schein: die Batterieen der Werke waren maskirt,
keine Banner wehten darauf, kein Soldat zeigte sich. Ferner: um
jeder Verificirung der Aussagen der Milizen vorzubeugen, verhinderte
man allen Verkehr mit dem Ufer. Nachdem sie versprochen hatten,
die Hindernisse im Flusse zu beseitigen, leugneten die Milizen dieses
Versprechen. Sie betrugen sich grob und gewaltsam gegen die Offi-
ciere, welche abgeschickt wurden mit ihnen zu reden, und gingen in
einem Falle so weit, das Leben eines Herrn zu bedrohen, welcher mit
einer Botschaft vom Admiral beauftragt war.


Das war die Lage der Dinge, als der Unterzeichnete ausserhalb
der Barre eintraf. Da er fand, dass die Beamten fortfuhren unsichtbar
zu bleiben, während die Milizen auf der Aussage beharrten, dass die
Flusssperre ihr eigenes unautorisirtes Werk sei, so ersuchte er den
Admiral, Schritte zu thun, die ihn in Stand setzten, zur bestimmten
Zeit die Hauptstadt zu erreichen. Dieses wollte der Admiral — nach
gehöriger Anzeige an die Milizen und nachdem er den Abend vorher
von ihnen die Versicherung erhalten hatte, dass sie gewiss nichts
weiter mitzutheilen haben würden — am 25. Juni, dem achten Tage
nach seiner Ankunft, bewerkstelligen, als die Forts, welche diese acht
Tage lang allem Anschein nach verlassen gewesen waren, plötzlich
das Feuer auf sein Geschwader eröffneten. Offenbar haben die in den
Forts commandirenden Officiere, um diese verrätherische Handlungs-
weise zu verbergen, Seiner Majestät noch eine Erfindung aufgebun-
den, indem sie Dieselbe glauben machten, das britische Geschwader
hätte die Offensive ergriffen und die Forts bombardirt. Das ist ohne
jede Grundlage; kein Schuss wurde gefeuert, bis die Batterieen be-

[301]Das englische Ultimatum.
gonnen hatten, da die Schiffe keinen anderen Zweck verfolgten, als
die quer durch den Fluss gelegten Hindernisse zu beseitigen.


Die Thatsachen sind einfach die von dem Unterzeichneten dar-
gestellten, und die Regierung Ihrer Britischen Majestät hat nach reif-
licher Erwägung entschieden, dass, möge der Kaiser Kunde von die-
sem Act der Feindseligkeit gehabt, oder mögen seine Beamten sie an-
geordnet haben, derselbe eine Beschimpfung ist, für welche die kaiser-
liche Regierung verantwortlich gemacht werden muss. Ihrer Britischen
Majestät Regierung verlangt deshalb unmittelbare und bedingungslose
Annahme folgender Forderungen:


1. Dass ausreichende und befriedigende Entschuldigung ge-
macht werde für die Handlung der Truppen, welche im vergangenen
Juni von den Ta-ku-Forts aus auf die Schiffe Ihrer Britischen Majestät
feuerten, und dass alle Kanonen und alles Material, wie auch die
bei dieser Gelegenheit verlassenen Schiffe zurückgegeben werden.


2. Dass die Ratificationen des Vertrages von Tien-tsin unver-
züglich in Pe-kiṅ ausgewechselt werden; dass, wenn der Gesandte
Ihrer Britischen Majestät sich zu dem Zwecke nach Pe-kiṅ begiebt,
man ihm gestatte in einem Britischen Fahrzeug über Ta-ku den Fluss
hinauf nach der Stadt Tien-tsin zu gehen; und dass von den chine-
sischen Behörden Anstalt getroffen werde, ihn und sein Gefolge mit
der gebührenden Ehre von dieser Stadt nach Pe-kiṅ zu führen.


3. Dass den Bestimmungen des genannten Vertrages volle Aus-
führung gegeben werde, einschliesslich einer zufriedenstellenden Ein-
richtung für die schleunige Auszahlung der 4,000,000 Tael, welche in
dem Vertrage stipulirt sind für erlittene Verluste und militärische Aus-
gaben der Britischen Regierung, veranlasst durch das schlechte Be-
tragen der Behörden in Kan-ton.


Der Unterzeichnete ist ferner angewiesen zu erklären, dass, in
Folge des Versuches dem Unterzeichneten den Weg nach Pe-kiṅ zu
versperren, die zwischen Lord Elgin und den kaiserlichen Commissaren
im October 1858 getroffene Verabredung über den Wohnsitz des Briti-
schen Gesandten in China nichtig ist, und dass es nunmehr ausschliess-
lich Ihrer Britischen Majestät zusteht, im Einklang mit den Bestimmun-
gen von Artikel II. des Vertrages von Tien-tsin zu entscheiden, ob
oder nicht sie ihren Gesandten anweisen will, seinen Wohnsitz bleibend
in Pe-kiṅ zu nehmen.


Der Unterzeichnete hat ferner zu bemerken, dass die Be-
schimpfung am Pei-ho Ihrer Majestät Regierung gezwungen hat, ihre
Streitmacht in China mit beträchtlichem Kostenaufwande zu verstärken
und die Contribution, welche von der chinesischen Regierung zur Be-

[302]Antwort der Chinesen.
streitung dieser Ausgaben gefordert werden soll, wird grösser oder ge-
ringer sein, je nach der Eilfertigkeit, mit welcher die oben bezeich-
neten Forderungen von der kaiserlichen Regierung vollständig erfüllt
werden.


Der Unterzeichnete hat nur hinzuzufügen, dass, wenn er in
einem Zeitraum von dreissig Tagen vom Datum dieser Mittheilung an
gerechnet nicht eine Antwort mit der unbedingten Zustimmung Seiner
Majestät des Kaisers von China zu diesen Forderungen erhält, die
Commandeure der Britischen See- und Landmacht solche Maassregeln
ergreifen werden, als sie geeignet finden für den Zweck, den Kaiser
von China zu Erfüllung der durch seine Bevollmächtigten in Tien-
tsin
für ihn eingegangenen und durch sein kaiserliches Edict vom Juli
1858 gebilligten Verpflichtungen zu zwingen.


Shanghae, 8. März 1860.


gez. Frederick W. A. Bruce


Das französische Ultimatum lautete ähnlich.


Die Antwort traf in Gestalt eines an Ho-kwei-tsiṅ zu Mit-
theilung an den Gesandten gerichteten Schreibens des Grossen
Staatsrathes am 8. April 1860 in Shang-hae ein:


»Der Grosse Staatsrath schreibt eine Antwort zur Mittheilung.


Vor Kurzem erhielt der Staatsrath eine Depesche von dem
Commissar und zugleich eine von ihm eingesandte Mittheilung des
englischen Gesandten Bruce, deren Inhalt ihn in das höchste Erstaunen
setzte.


Er erklärt zum Beispiel, dass auf Pe-taṅ von den kaiserlichen
Commissaren Kwei-liaṅ und Collegen niemals angespielt wurde.
Nun ist bekannt, dass im vorigen Jahre Kwei-liaṅ und seine Colle-
gen in Shang-hae auf den britischen Gesandten warteten, zu dem
ausdrücklichen Zweck, mit ihm persönlich alle für die Auswechselung
eines Vertrages angemessenen Maassregeln zu erwägen. Sobald sie die
Ankunft des Gesandten Bruce in Wu-soṅ erfuhren, ersuchten sie ihn
wiederholt schriftlich, mit ihnen zusammenzutreffen; in der That war
ihre Absicht, ihm mitzutheilen, dass Ta-ku befestigt sei und dass er
über Pe-taṅ gehen müsse. Er aber wies sie zurück und weigerte
sich der Zusammenkunft. Die kaiserlichen Commissare Kwei-liaṅ
und Collegen meldeten ihm ferner, dass Kriegsschiffe unter keiner Be-
dingung über die Barre gehen dürften; aber der britische Gesandte
Bruce achtete nicht dieser Worte; und als, nach seiner Ankunft vor
der Küste von Tien-tsin, Haṅ, General-Gouverneur von Tši-li, einen
Beamten mit einem Geschenk von Proviant und der Mittheilung an ihn

[303]Antwort der Chinesen.
sandte, dass er über Pe-taṅ gehen müsse, wollte er nichts annehmen,
sondern führte plötzlich seine Schiffe nach Ta-ku und begann die
dortigen Anstalten der Schutzwehr zu zerstören. Wie kann er nun
behaupten, dass er niemals die geringste Andeutung erhielt, über Pe-
taṅ
zu gehen? Da er zum Austausch von Verträgen kam, warum
brachte er Kriegsschiffe mit? Offenbar bezweckte er, Streit zu machen.
Wie kann er nun China vorwerfen, ihm zu nahe getreten zu sein?


Die Vertheidigungsanstalten sind auch gar nicht hergestellt
worden, um die Engländer abzuwehren. Gesetzt, die Kriegsschiffe
einer anderen Nation kämen so weit her unter britischer Flagge; sollte
man ihnen gestatten, nach Gefallen den Anstand zu verletzen? Wohl
denn, die Vertheidigungswerke bei Ta-ku können nicht entfernt wer-
den, auch nachdem die Verträge ausgetauscht sind.


Noch viel unschicklicher ist die unter verschiedenen Benennun-
gen gestellte Forderung der Zurückerstattung von Kanonen, Waffen
und Schiffen. China’s Kriegskosten waren ungeheuere. Die Kosten
des Küstenschutzes von Kuaṅ-tuṅ und Fu-kian bis Tien-tsin hin-
auf belaufen sich vom ersten bis zum letzten auf mehrere Millionen.
Wollte es Ersatz von England fordern, so würde England finden, dass
seine Ausgaben nicht die Hälfte von denen China’s betragen.


Was die Erstattung von Geschützen betrifft, so zerstörte Eng-
land
im vorletzten Jahr die Ta-ku-Forts und nahm Besitz von einer
Anzahl Kanonen, welche China gehörten. Müsste es denn nicht seiner-
seits bedenken, wie es für diese Ersatz leisten sollte? Nebenbei aber
wurde die Hälfte der britischen Schiffe und Kanonen in das Meer
versenkt; sie sind garnicht in Besitz von China. So kann man denn
von beiden Seiten gleichmässig die Frage fallen lassen.


Dann ist da noch (die Meldung dass) die Abrede, laut welcher
nach Auswechselung der Verträge der britische Gesandte anderswo
wohnen sollte, aufgehoben sei. Das Abkommen, laut welchem der
britische Gesandte nach Austauschung der Verträge entweder einen an-
deren Wohnsitz wählen oder (die Hauptstadt) nur besuchen sollte,
wenn wichtige Geschäfte abzuthun wären, war deutlich abgeschlossen
von Lord Elgin in Verhandlung mit den Commissaren Kwei-liaṅ und
seinen Collegen. Die (jetzt angekündete) Widerrufung dieses Ueber-
einkommens ist noch unvernünftiger (als alle anderen Anträge).


Als im vorigen Jahre nach Ratificirung des americanischen Ver-
trages eine Aenderung in der Höhe der Tonnengelder eintrat und die
Häfen von Tai-waṅ und Tšaṅ-tšau (Swa-tau) dem Handel geöffnet
wurden, bat der britische Gesandte dringend um die gleiche Vergün-

[304]Antwort der Chinesen.
stigung.110)Die Engländer hatten ihren Vertrag nicht ausgetauscht; aber
Seine Majestät der Kaiser, grossmüthig gegen fremde Nationen und
voll zarter Rücksicht für die Interessen des Handels, gestattete gnädig
die Gewährung einer Gunst an die Engländer, für welche sie gleich-
falls dankbar sein müssten. Soll aber das fest geschlossene Ueberein-
kommen nichtig werden, so wird es von Seiten Chinas nicht unpassend
sein, die Bestimmung zu cassiren, durch welche es den Engländern die
den Americanern laut ihrem Vertrage zustehende Ermässigung von
Tonnengeldern gewährte.


Auf das Gesuch (des britischen Gesandten) um höfliche Behand-
lung bei seinem Erscheinen im Norden zur Auswechselung der Ver-
träge zu kommen: wenn er aufrichtig ist in seinem Verlangen nach
Frieden, so soll er dem Commissar überlassen, über alle Einzelnheiten
des Vertrages nachzudenken, über welche noch ein Abkommen zu
treffen ist. Und nachdem die Verhandlungen in Shang-hae eingeleitet
und die beiden Partheien vollkommen einig geworden sind, soll er ohne
Kriegsschiffe und mit mässigem Gefolge nach dem Norden kommen und
in Pe-taṅ zur Auswechselung der Verträge warten; dann wird ihn
China für das Geschehene gewiss nicht weiter belangen. Er muss an-
gewiesen werden, sich mit den für die Auswechselung des america-
nischen Vertrages aufgestellten Vorschriften bekannt zu machen, und
der einzuschlagende Weg soll weiter mit ihm besprochen werden.


Ist er aber entschlossen, eine Anzahl Kriegsschiffe mit hinauf-
zubringen, und besteht er darauf über Ta-ku zu reisen, so wird das
beweisen, dass seine wahre Absicht nicht die Austauschung der Ver-
träge ist, und es muss dem mit dem Küstenschutz betrauten hohen
Beamten überlassen bleiben, die erforderlichen Maassregeln zu treffen.


Die bei diesem Anlass (vom britischen Gesandten) geschriebene
Depesche ist grossentheils in der Sprache zu unbotmässig und aus-
schweifend, um seine Anträge anders als oberflächlich zu erörtern. In
Zukunft muss er die Schicklichkeit nicht so verletzen.


Die obigen Bemerkungen sollen von dem Commissar dem briti-
schen Gesandten mitgetheilt werden, welchem nicht geziemen wird,
halsstarrig auf seiner Ansicht zu beharren, da er durch solches Be-
tragen Veranlassung geben würde zu vielem späteren Leide.


Eine nothwendige Mittheilung.«


[305]Die Blockade des Pei-ho.

Die Antwort an Herrn von Bourboulon lautete ähnlich.


Von einer kaiserlichen Entscheidung ist in diesem Schreiben
nicht die Rede; auch fehlt die gewöhnliche Ueberschrift kaiserlicher
Decrete. Die Gesandten sollten glauben, man habe ihre Schreiben
zu unwichtig gefunden, um sie dem Kaiser vorzulegen. Von
arger Perfidie zeugt die Behandlung der Frage, ob Kwei-liaṅ die
Gesandten zur Reise über Pe-taṅ aufforderte; sie beweist deutlich,
dass weder der Kaiser noch die Commissare getäuscht, sondern die
Engländer hinterlistig in die Falle gelockt wurden. Die Entschä-
digungsfrage ist hier eben so naiv aufgefasst, wie bei anderen Ge-
legenheiten. Die Vertragsbestimmungen heissen Vergünstigungen,
und der herablassend befehlende Ton der Schlusssätze beweist,
dass alle früheren Lehren vergessen waren. Die Gesandten con-
statirten deshalb in getrennten Schreiben an Ho-kwei-tsiṅ die
Ablehnung ihrer Forderungen und verwiesen die kaiserliche Regie-
rung auf die am Schlusse ihres Ultimatum ausgesprochenen War-
nungen. Zugleich ermächtigten sie die Ober-Commandos der Land-
und Seemacht zu Einleitung der Feindseligkeiten.


Herr Bruce war von der englischen Regierung angewiesen
worden, den Golf von Pe-tši-li blockiren zu lassen. Man glaubte
zwar, dass diese Maassregel die Regierung in Pe-kiṅ drücken
würde, kannte aber die Communicationsmittel im Innern des Landes
nicht genug, um beurtheilen zu können, ob die Blockade wirklich
fühlbaren Mangel im Norden verursachen möge, und dachte wohl
mit Recht, dass sie den Kaiser nicht zum Nachgeben zwingen
würde. Die Alliirten mussten sich vor Allem das Vertrauen der Chi-
nesen in den geöffneten Häfen erhalten. Der ganze Getreidehandel
nach dem Golf von Pe-tši-li wird nun mit dem Capital von Kauf-
leuten in Shang-hae, Niṅ-po und anderen mittelchinesischen
Städten betrieben, und beschäftigt etwa 3000 Dschunken mit einer
Bemannung von über 100,000 Seeleuten.111). Die Unterbrechung
dieses Handels, das Aufbringen und Zerstören von Dschunken hätte
viele Tausende brodlos gemacht, deren Erbitterung und Unthätig-
keit den Fremden in den göffneten Häfen gefährlich werden konnte.
Unzweifelhaft hätten die Mandarinen jede feindselige Stimmung
der Bevölkerung benutzt. Man fürchtete ferner, dass die durch
III. 20
[306]Besetzung von Tšu-san.
die Tae-piṅ-Bewegung im Innern des Reiches bewirkte Auflösung
sich auch auf die Küstenprovinzen ausdehnen möchte, wenn dort
Erwerblosigkeit einträte, — dass die bürgerliche Ordnung gefährdet
und die regierende Mandschu-Dynastie ernstlich bedroht werden
möchte, eine Eventualität, welcher die englische Regierung drin-
gend vorzubeugen wünschte. Erhielt man sich das Vertrauen der
Bevölkerung in Mittel-China, so musste sich der gute Ruf der Ver-
bündeten, welche nur die kaiserliche Regierung bekriegten, das Volk
dagegen auf jede Weise schonten und alle Bedürfnisse bezahlten, auch
nach den nördlichen Provinzen verbreiten und den militärischen
Operationen grossen Vorschub leisten. Herr Bruce beschloss des-
halb auf eigene Verantwortung, die Blockade nicht zu verhängen.
Zu Befestigung des Vertrauens liessen die Gesandten Proclama-
tionen im Lande verbreiten, welche der Bevölkerung volle Sicher-
heit des Eigenthumes und der Familie versprachen, die Fortsetzung
des Handelsverkehrs und den Beschluss meldeten, nur gegen die
bewaffnete Macht und die Rathgeber des Kaisers zu kämpfen,
welche ihn zum Kriege drängten. Die Mandarinen unterstützten die
Verbreitung dieser Proclamationen und hinderten keinen Chinesen
den Verbündeten zu dienen. Dazu mag sie vor Allem die Angst
vor den Tae-piṅ getrieben haben. Man lebte in Shang-hae, wo
sich im April und Mai 1860 die Streitmacht der Alliirten versam-
melte, und in den anderen Häfen wie in Freundesland. Die Chi-
nesen stellten Pferde in Menge und meldeten sich haufenweise zu
contractlicher Lieferung von Lebensmitteln. Als die Absicht der
Alliirten bekannt wurde, Tšu-san zu besetzen, stiegen dort plötz-
lich die Miethspreise der Kaufläden; viele chinesische Speculanten
siedelten vom Festlande dahin über.


Die Besetzung der Tšu-san-Inseln wurde am 14. April von
den in Shang-hae versammelten Gesandten und Commandeuren
beschlossen; am 21. April erschienen die dazu bestimmten Schiffe
vor Tiṅ-hae. Die chinesischen Behörden fügten sich ohne Um-
stände der Sommation des englischen Oberfeldherrn, General Sir
Hope Grant, lieferten alle Waffen aus und übergaben den Alliirten
die militärischen Posten. Die chinesischen Truppen erhielten freien
Abzug. Zwei englische und zwei französische Commissare bildeten
die oberste Regierungsbehörde. Die Mandarinen vom Civil-Dienst
mussten ihre Functionen als richterliche, Administrativ-, Municipal-
und Steuerbeamten unter Aufsicht der Commissare fortsetzen. Aus
[307]Ho-kwei-tsiṅ’s Vermittelungsversuche.
den Reihen der Occupationstruppen wurde ein Polizei-Corps zu
Aufrechthaltung der Ordnung und Sicherheit organisirt.


Die Anträge des Tau-tae von Shang-hae auf militärischen
Beistand der Alliirten gegen die Su-tšau bedrohenden Rebellen im
Mai 1860 und die darauf folgenden Ereignisse übten keinen Einfluss
auf den Gang des Krieges. Anfang Juni kam der General-Gouver-
neur Ho-kwei-tsiṅ, aus seiner Residenz vertrieben, nach Shang-
hae
, und ersuchte die Gesandten von England und Frankreich um
eine Zusammenkunft, welche am 9. Juni bei Herrn Bruce stattfand.
Sein Mitbevollmächtigter für den fremden Handel, Schatzmeister
und Provincial-Gouverneur Sie und der Tau-tae von Shang-haeWu
waren dabei gegenwärtig. Ho dankte den Gesandten zunächst
für die Maassregeln zum Schutze der Stadt und bezeichnete als
Veranlassung seines Besuches zunächst den ausdrücklichen Auftrag,
die zwischen den Verbündeten und der kaiserlichen Regierung
schwebenden Differenzen auszugleichen; dann das Gesuch, dass die
Alliirten ihre Streitkräfte zu Pacificirung der Provinz brauchen
möchten, in welcher sie so erhebliche commercielle Interessen
hätten. Ohne nähere Erörterung des ersten Punctes ging er sofort
mit Eifer auf den zweiten über und machte die eindringlichsten
Vorstellungen. Herr Bruce antwortete im Laufe des Gespräches,
dass die zweite und alle Fragen von localer Bedeutung sich um die
erste drehten; das von Ho angerufene gute Einvernehmen der Ver-
bündeten mit der chinesischen Regierung bestehe nicht und könne
nur durch Erfüllung ihrer Forderungen hergestellt werden. Ho er-
klärte die Ta-ku-Affaire für ein Missverständniss, an welchem die
Verbündeten mitschuldig seien: sie hätten zur Ratification der Ver-
träge Kriegsschiffe mitgebracht und Kwei-liaṅ’s Ankunft nicht
abwarten wollen. Die Antwort des Staatsrathes auf das Ultimatum
habe wenig zu bedeuten, sei vielleicht nicht einmal vom Kaiser
sanctionirt. Wolle Herr Bruce die Unterhandlungen ihm und seinem
Collegen Sie anvertrauen, so könne Alles ausgeglichen werden; sie
seien jetzt ebenso dazu ermächtigt, wie früher Kwei-liaṅ und
Wa-šana; Abschrift des betreffenden Decretes solle eingesandt
werden. Herr Bruce widerlegte Ho’s Darstellung der Ta-ku-
Affaire und erklärte, auf weitere Unterhandlungen nicht eingehen
zu können, da er angewiesen sei, auf unbedingter Erfüllung der For-
derungen zu bestehen. Ho kam nochmals auf den eigentlichen
Zweck seines Besuches, Unterstützung gegen die Rebellen zurück,
20*
[308]Lord Elgin und Baron Gros Botschafter.
deren Gewährung ihn befähigen werde, auf den Kaiser zu Gunsten
der Alliirten zu wirken. Er sprach mit grosser Wärme; an der
Vertreibung der Tae-piṅ aus seinen Provinzen hing ja sein Leben.


Die versprochene Abschrift des kaiserlichen Decretes sandten
die Commissare nicht; Ho-kwei-tsiṅ zeigte aber das vom 13. Mai
datirte Original dem französischen Legationssecretär Grafen von
Klesczkowsky
, welcher ihn bald nach jener Zusammenkunft be-
suchte, aber nur die beiden ersten Colonnen des Decretes lesen
durfte. Darin befahl der Kaiser den Commissaren in allgemeinen
Ausdrücken, zu gewähren, was gewährt werden müsse, und zu ver-
weigern, was man verweigern müsse. Die Mandarinen waren wohl
selbst von der Unzulänglichkeit dieser Vollmacht überzeugt, welche
ausserdem Gehässiges gegen die Barbaren enthalten haben mag.


Ho-kwei-tsiṅ sprach die Absicht aus, in Gemeinschaft mit
dem Statthalter von Tše-kiaṅ eine Vorstellung an den Kaiser zu
richten, dass angesichts der durch die Rebellen-Invasion herein-
gebrochenen Noth die Forderungen der Verbündeten unbedingt er-
füllt werden müssten. Die Abschrift einer solchen Eingabe gelangte
in die Hände der Engländer und wurde wohl mit Unrecht ange-
zweifelt; denn der Freimuth dieser Darstellung stimmte durchaus
zu Ho-kwei-tsiṅ’s derber Sprache gegen den Kaiser bei früherem
Anlass, und selbst die darin ausgesprochene Unwahrheit, dass Herr
Bruce die Audienz nachgesucht und sich zu ihm begeben habe,
spricht für die Echtheit des Documentes. Ho’s Degradirung und
Ungnade, welche Ende Juli in Shang-hae bekannt wurde, brachte
man mit dieser Eingabe in Zusammenhang; sie war aber das ge-
wöhnliche Loos unglücklicher Statthalter, deren Provinzen die Re-
bellen besetzten. Von einer fulminanten Erwiederung des Kaisers,
welcher den Gedanken, die Barbaren um Beistand anzurufen, mit
Entrüstung zurückgewiesen hätte, hörte man in Shang-hae nur ge-
rüchtweise.


Unter dem Eindruck, dass die chinesische Regierung den-
jenigen Bevollmächtigten leichter Zugeständnisse machen werde,
welche die Verträge von Tien-tsin abschlossen, als denjenigen,
welche sie am Pei-ho mit Erfolg zurückwies, hatten die englische
und die französische Regierung Lord Elgin und Baron Gros als
ausserordentliche Botschafter mit weitreichenden Vollmachten nach
China gesandt. Ein Schiffbruch im Hafen von Point de Galle
(Ceylon) verzögerte bis Ende Juni ihre Ankunft in Shang-hae, von
[309]Die Alliirten landen bei Pe-taṅ.
wo sie in kurzem nach dem Golf von Pe-tši-li weitergingen.
Rendezvous der englischen Schiffe war die Bai von Ta-lien-waṅ
an der Nordküste, das der französischen die Bucht von Tši-fu am
Südufer des Golfes. Die Effectiv-Stärke der englischen Flotte im
nordchinesischen Meere betrug am 11. Juli 1860 2 Schrauben-Fre-
gatten, 3 Räder-Fregatten, 2 Segel-Fregatten, 5 Räder-Corvetten
(Sloops), 4 Segel-Corvetten, 5 grössere Kanonenboote (despatch-gun-
boats), 18 Kanonenboote, 1 Schiff der indischen Seemacht, 1 Ten-
der, — zusammen 41 Kriegs-Fahrzeuge mit 261 Geschützen. Ausser-
dem lagen damals 126 Transportschiffe in der Ta-lien-waṅ-Bai.
Die Gesammtstärke der Landmacht, welche lange am Ufer lagerte,
betrug am 11. Juli einschliesslich der Officiere 11,564 Köpfe (dienst-
fähige Mannschaft in Reih und Glied 10,202). — In der Bucht von
Tši-fu waren 29 französische Kriegsschiffe und an Landtruppen
8467 Mann mit 296 Officieren versammelt.


Die Rüstungen der Franzosen wurden erst im Juli fertig;
am 26. Juli fuhren beide Flotten nach dem Rendezvous vor der
Pei-ho-Mündung; mehrere Dampfer schleppten eine Anzahl
Dschunken mit den französischen Landtruppen dahin. Am 29. Juli
trafen auch die Kanonenboote mit Dschunken im Schlepptau ein,
welche Lebensmittel auf zehn Tage für die ganze Armee an Bord
hatten. Die Recognoscirungen hatten ergeben, dass in Pe-taṅ allein
eine Landung der Truppen möglich sei; am 30. Juli bewegte sich
also die ganze Flotte nach dieser Rhede und ankerte sechs See-
meilen vom Ufer. Dort lag auch eine russische Fregatte nebst
drei Kanonenbooten; der Gesandte, General Ignatief hatte kurz
zuvor mit den Botschaftern von England und Frankreich in
Shang-hae conferirt und sich erst eben wieder nach Pe-kiṅ
begeben.


Wegen stürmischen Wetters blieben die Alliirten am 31. Juli
unthätig. Am 1. August landete ihre Vorhut südlich von Pe-taṅ
und erreichte nach beschwerlichem Waten in tiefem Schlamm den
Dammweg, welcher von da längs dem Strande nach der Pei-ho-Mün-
dung
führt. Die Nacht über bivouaquirten die Truppen grossentheils
auf schlammigem Boden; zuweilen erschien eine tartarische Reiter-
patrouille. Sobald die Fluth erlaubte, liefen Kanonenboote in die
Flussmündung; sie fanden die Forts zu beiden Seiten sowie den
Flecken Pe-taṅ von der Garnison verlassen. Die Einwohner em-
pfingen die Truppen freundlich, als diese sich am 2. August dort
[310]Die Alliirten in Pe-taṅ.
einrichteten.112) Am 3. August wurde eine Recognoscirung auf dem
nach der Pei-ho-Mündung führenden Dammweg unternommen;
tartarische Reiterei gab Feuer auf die Truppen, warf sich aber
schnell in ein verschanztes Lager, als Geschütze gegen sie aufge-
fahren wurden. In den folgenden Tagen wurde die Ausschiffung
vollendet.


Am 5. August empfing Lord Elgin an Bord des Schiffes
Granada den americanischen Gesandten Herrn Ward, welcher kurz
vor den Alliirten auf der Rhede angelangt und mit dem General-
Gouverneur Haṅ in Correspondenz getreten war. Letzterer be-
theuerte, dass die Ratificirung des englischen und des französischen
Vertrages noch immer vollzogen werden könne, wenn die Gesandten
über Pe-taṅ nach Pe-kiṅ reisen wollten; der Kaiser denke nicht
daran, die 1858 von ihm erzwungenen Vertragsbestimmungen zu
halten, wünsche aber keinen Krieg; Herr Ward möge die Botschafter
von Seiner Majestät gnädiger Gesinnung unterrichten.


In Pe-taṅ fehlte es an gutem Wasser; Admiral Hope schickte
deshalb ein Kanonenboot den Fluss hinauf, wo sich eine Meile
oberhalb der Mündung besseres fand. In der Nähe stand auf dem
linken Ufer ein Tartaren-Posten. Unnützes Blutvergiessen zu ver-
meiden, sandten die Engländer einen Dolmetscher unter Parlamentär-
flagge an denselben und meldeten, dass hier kein Angriff stattfinden
werde. Das nahm General-Gouverneur Haṅ zum Vorwand eines
Schreibens an Lord Elgin: Er habe erfahren, dass die Botschafter
zu Auswechselung der Ratificationen über Pe-taṅ nach der Haupt-
stadt reisen wollten, und deshalb beim Erscheinen der Schiffe die
Besatzung von da entfernt. Einige Tausend Soldaten seien gelan-
det und hätten einen Vorstoss gemacht, sich aber nach dem Flecken
zurückziehen müssen. Das Erscheinen des Dolmetschers mit der
die Worte »kein Kampf« tragenden Flagge beweise nun deutlich,
dass jener Vorstoss leichtsinnig von den Truppen und Freiwilligen
unternommen wurde, dass der Gesandte nichts davon wisse. Er-
freut über Lord Elgins Rechtsgefühl und Friedensliebe, werde er
[311]Die Werke an der Pei-ho-Mündung.
die chinesischen Commandeure anweisen, sich gleichfalls der Feind-
seligkeiten zu enthalten. Ein Beamter solle dem Botschafter auf-
warten, damit derselbe ihm gemeinschaftlich mit dem Vertreter
von Frankreich den Tag einer Zusammenkunft anberaume. Er,
Haṅ, sei vom Kaiser mit Erledigung aller schwebenden Fragen be-
auftragt. — Lord Elgin säumte nicht, das vorgebliche Missverständ-
niss aufzuklären und zu melden, dass die Feindseligkeiten bis zu
unbedingter Erfüllung der gestellten Forderungen fortgesetzt wer-
den müssten.


Die Pei-ho-Mündung war 1860 noch stärker befestigt als
das Jahr zuvor; den Fluss sperrte eine vierfache Verzäunung.
Auf dem rechten, südlichen Ufer lagen drei Forts, durch Dammwege
verbunden, welche ihre Batterieen bestrichen; ebenso zwei Forts auf
dem Nord-Ufer; sämmtlich Redouten mit Cavalieren, aus Lehm um
stark gezimmerte Balkengerüste aufgeführt. 1858 und 1859 waren
die Werke noch auf der dem Wasser abgewendeten Seite offen,
1860 aber ringsum geschlossen und mit Gräben umzogen, deren
Ränder spitzige Bambuspfähle schützten. Ringsum dehnt sich die
sumpfige Ebene aus, durchschnitten von Canälen und Dämmen,
welche die zerstreut liegenden Dörfer verbinden. In der Richtung
auf Pe-taṅ waren letztere an den zugänglichen Stellen der Ebene
durch Wälle verbunden, die mit den verschanzten Dörfern selbst
eine Vertheidigungslinie um die nördlichen Forts herum bis an den
Pei-ho bildeten. Zwischen dieser Umwallung und Pe-taṅ schützte
bei dem Dorfe Sin-ho noch ein verschanztes Lager den Zugang.
— Oberhalb des inneren Nord-Forts vermittelte eine Schiffbrücke
den Verkehr mit dem Südufer.


Nach einigen Recognoscirungen an den vorhergehenden Ta-
gen rückten die Truppen der Alliirten am 12. August auf Sin-ho
vor. Das Terrain machte Schwierigkeiten; selbst auf den Dämmen
war der Boden von starken Regengüssen so aufgeweicht, dass Ge-
schütze und Munitionswagen stecken blieben. Die Verschanzungen
bei Sin-ho hielten, nur mit Wallbüchsen und einer Kanone armirt,
etwa eine halbe Stunde das Feuer der Alliirten aus und wurden
dann preisgegeben. Den folgenden Tag schlug man Brücken über
die Canäle und besserte die Wege aus. Am 14. August schob sich
der von englischen Truppen gebildete rechte Flügel bis an den
Pei-ho vor, wo die Schanzenlinie beim Dorfe Taṅ-ko auf dessen
Ufer stösst. Hier erhielten die Engländer Feuer von einigen
[312]Erbeutete Documente.
Dschunken und einer Batterie auf dem südlichen Ufer, brach-
ten es aber mit ihrem Feldgeschütz bald zum Schweigen; einige
Matrosen setzten über, vernagelten die chinesischen Kanonen und
verbrannten die Dschunken. Nach einstündigem Bombardement
war auch das Feuer der Umwallung auf der ganzen Linie beruhigt;
die Engländer erstiegen dieselbe bei Taṅ-ko; gleich darauf wehte
auf dem linken Flügel die Tricolore von den Schanzen. Die Tar-
taren flohen theils über die Schiffbrücke auf das Südufer, theils in
das innere Fort des Nordufers, zu welchem der Weg jetzt auf
allen Seiten freilag. — Von Pe-taṅ schafften die Verbündeten in
den folgenden Tagen ihr schweres Geschütz herbei und speicherten
bei Sin-ho den mitgeführten Proviant. Hier fand man eine Anzahl
chinesischer Documente: eine aus den letzten Tagen datirende
Correspondenz zwischen dem General-Gouverneur Haṅ und dem
Tartarenführer Te, welcher Sin-ho als wichtigsten Punct zu seinem
Hauptquartier gemacht hatte; dann eine Denkschrift des Ho-kwei-
tsiṅ
, eingereicht mit dem englischen und dem französischen Ulti-
matum; ein nach Empfang der letzteren erlassenes vertrauliches
Schreiben des Grossen Staatsraths an den Kor-tšin-Fürsten Saṅ-
ko-lin-sin
und den General-Gouverneur Haṅ und die als Antwort
eingereichte Denkschrift der letzteren.


In der Correspondenz zwischen Haṅ und Te ist deutlich
ausgesprochen, dass ersterer vom Kaiser gemessenen Befehl hatte,
Frieden zu machen. Von Erfüllung der englischen Forderungen
oder anderen Bedingungen ist keine Rede. Te beschreibt die Re-
[cognoscirungen] vom 3. und 9. August; er konnte den Feind ver-
nichten, beschränkte sich aber auf Behauptung seiner Position,
weil der Kaiser in seiner Milde die Barbaren zu versöhnen wünscht.
Haṅ dankt dafür, ermahnt ihn aber, sich durch die Mitthei-
lung der kaiserlichen Decrete nicht in seinen Operationen stören zu
lassen. »Die Natur der Barbaren ist wie die der Hunde oder
Schaafe. Erst schicken sie eine Friedensflagge und nun wollen sie
nicht zugeben, dass sie das in der Absicht thaten, Frieden zu
schliessen.« Te möge auf wirksame Abwehr bedacht sein; griffen
die Barbaren an, so müsse ihre Frechheit gestraft werden. Der
Statthalter und der Feldherr suchen sich in diesen Schreiben
gegenseitig die Verantwortlichkeit zuzuschieben: »Ich weiss«, sagt
letzterer, »dass der Kaiser den Frieden wünscht; deshalb werde
ich ernstlich bedacht sein, Feindseligkeiten zu vermeiden, welche
[313]Erbeutete Documente.
den Erfolg unserer friedfertigen Eröffnungen vereiteln könnten.« —
»Ja«, schreibt der Statthalter, »der Kaiser wünscht den Frieden,
verlangt aber auch, dass kein militärischer Vortheil verloren gehe.
Lass deshalb die Sorge um den Erfolg meiner Unterhandlungen
dich nicht in Erfüllung deiner Pflichten als Feldherr beirren.«


Die das Ultimatum der Verbündeten beleuchtende Denk-
schrift verbreitet sich zunächst über Verhandlungen, welche
zu Schlichtung der Differenzen zwischen chinesischen und engli-
schen Kaufleuten gepflogen wären.113) Die Engländer hätten acht
Puncte aufgestellt, durch deren Annahme Herr Bruce vielleicht
zu gütlichem Vergleich bewogen werden könne; Ho-kwei-tsiṅ
finde sie aber unannehmbar und habe den chinesischen Kaufleuten
befohlen, den Engländern einen derben Verweis zu geben. Herr
Bruce sei wüthend und ganz unbezähmbar, »weil er bei Tien-
tsin
in die Falle gelockt wurde«. Die beiden Gesandten sind
»unzertrennliche Gefährten in Pflichtvergessenheit und Schlechtig-
keit; ihr Charakter ist in der That blutdürstig und treulos«. Er,
Ho, habe ihnen dem kaiserlichen Befehl gemäss trotzdem mit-
theilen wollen, dass sie ihre Verträge unter denselben Bedingungen
auswechseln könnten, wie die americanischen Barbaren; der eng-
lische Häuptling hätte aber, wie man erzählte, zu Schiffe nach
Tien-tsin gehen wollen, um ein Schreiben zu überreichen,114) und
sich davon nur durch Vorstellungen der englischen Kaufleute
abhalten lassen. Ho commentirt nun das Ultimatum der Ge-
sandten, das er erbrochen und gelesen habe, nach dem Geschmack
des Hofes von Pe-kiṅ, nennt dessen Sprache frech und unbot-
mässig und behauptet, dass die Fremden grosse Angst vor der
Tapferkeit der Tartaren hätten. — Die Denkschrift war von Aus-
zügen aus englischen Zeitungen über die Rüstungen und Pläne der
Alliirten begleitet. — Ho-kwei-tsiṅ mochte solche Sprache dem
Hofe gegenüber nothwendig finden; sie liefert freilich einen starken
Beweis für die Doppelzüngigkeit auch der redlichsten chinesischen
Diplomaten, deren unmögliche Stellung zwischen dem europäischen
[314]Erbeutete Documente.
Völkerrecht und der chinesischen Staatsidee, zwischen den Mün-
dungen englischer Kanonen und dem tödtlichen Zorn des Himmels-
sohnes jedes Messen mit gewöhnlichem Maasse verbietet.


Das vertrauliche Schreiben des Staatsraths an Saṅ-ko-lin-
sin
theilt diesem ein kaiserliches Decret vom 27. März 1860 mit,
in welchem Hien-fuṅ zunächst alle Forderungen des Ultimatum
deutlich aufzählt und den Befehl des Staatsraths an Ho-kwei-tsiṅ
erwähnt, dasselbe zu beantworten. Dann erörtert der Kaiser die
Rüstungen der Allirten und ihre Recognoscirungen bei Pe-taṅ.
Saṅ-ko-lin-sin
und Haṅ-fu sollen die Pei-ho-Mündung nach
Möglichkeit befestigen. Der russische Häuptling Ignatief werde
wegen Ablehnung gewisser Forderungen Kriegsschiffe nach der
Pe-taṅ-Mündung bringen; das sei den Russen aber nur in ruhigen
Zeiten erlaubt; jetzt könnten sie mit den anderen Barbaren ver-
wechselt werden, und daraus Collisionen entstehen, die zu ernsten
Irrungen führten. Brächten sie etwa Waffen, so möge man solche
in kleinen Fahrzeugen abholen, niemand landen lassen und die
Schiffe streng bewachen. Kämen aus Pe-kiṅ Russen nach der
Küste, so müsse man sie unverzüglich festnehmen und nach der
Hauptstadt zurückführen, damit sie nicht kundschaften könnten[.]
Leicht möchte ein listiger Anschlag dahinter stecken.


Das merkwürdigste Document war die gemeinsame Denk-
schrift von Saṅ-ko-lin-sin und Haṅ-fu. — Am Eingange werden
die Zeitungsnachrichten über die Rüstungen des Feindes berührt;
die tartarische Streitmacht sei ihm gewachsen; in Pe-taṅ könne so
leicht nicht gelandet werden. Dann folgt, in mehrere Puncte zer-
legt, eine Beleuchtung der Politik der Alliirten.


1. Nach der Niederlage am Pei-ho hätten sie wohl gern um
Frieden gebeten; aber aus Besorgniss, dass China Kriegsentschädigung
verlangen würde und dass die andern Nationen jenseit des Meeres sie
verachten möchten, fuhren sie fort mit leeren Drohungen und dachten
dadurch ihren Ruf zu retten; gaben aber den Barbaren-Kaufleuten zu
verstehen, dass sie eine Ausgleichung herbeiführen möchten. Das ist
der erste Punct, in welchem ihre Politik ganz deutlich war.


2. Als diese Barbaren im vorigen Jahre mit Kriegsschiffen und
Geschützen die Küste heraufkamen, wollten sie uns mit Gewalt der
Waffen zwingen. Deshalb mochten sie, wohl wissend, dass Kwei-liaṅ
und sein College lange in Shang-hae auf sie warteten, diese gar nicht
sprechen, besorgend, ihre unredlichen Absichten möchten entdeckt

[315]Erbeutete Documente.
und Maassregeln getroffen werden, welche die Befriedigung ihrer rebel-
lischen Gelüste vereitelt hätten. Vermehrten sie in diesem Jahre ihre
Streitkräfte wirklich, um Rache zu üben, so hätten sie niemals zugelassen,
dass sich in Shang-hae das leiseste Gerücht von ihrer Absicht ver-
breite. … Diese unverhohlene Kundgebung von Muth, diese rückhalt-
lose Oeffentlichkeit wäre nicht das Spiel der ausgemachtesten Dummköpfe
gewesen, und sie sind nicht die ausgemachtesten Dummköpfe. …
Wenn man auf tausend Li den Feind bewachen will, so sollte jeder
Mund geknebelt, jede Trommel gedämpft sein. … Wer wollte ihn
benachrichtigen, damit er sich rüste? Das beweist, dass sie um Frie-
den werben möchten; sie wollen aber nicht die ersten sein, davon zu
reden. Das ist der zweite Punct, in welchem ihre Politik vollkom-
men klar ist.


3. Welches ist der Unterschied zwischen Barbaren-Häuptlingen
und Barbaren-Kaufleuten? Nicht leicht ist es, eines Menschen Wünsche
zu errathen, bis die Worte aus seinem Munde gingen. Nun erriethen
die Barbaren-Kaufleute den Wunsch des Bruce, dass China das erste
Wort sage. Er möchte die Feindseligkeiten einstellen, zu einer be-
stimmten Zeit nach Tien-tsin kommen, dann in die Hauptstadt ein-
ziehen; von beiden Seiten soll keine Entschädigung beansprucht werden;
er, der Häuptling, möchte mit allen Ehren behandelt werden. Unter
diesen Bedingungen wird sich eine Ausgleichung herbeiführen lassen.
Das heisst, dass der Häuptling Bruce bereit ist, sich unserer Versöh-
nung zu unterwerfen, und dass er den Barbaren-Kaufleuten das zu
verstehen giebt. Aber er erhebt in störrischer Haltung Schwierigkeiten
und stellt eine Anzahl unerfüllbarer Forderungen, damit wir die ersten
Schritte thun. Das ist der dritte Punct, in welchem ihre Politik ganz
deutlich ist.


In den Erörterungen zwischen dem Tau-tae und seinem Col-
legen und den Barbaren-Kaufleuten in Shang-hae nahmen Jene weder
einen zu hohen noch einen zu tiefen Ton an und hatten guten Erfolg.
Ihr ganzes Auftreten war den Umständen angemessen. Aber in ihrem
Verfahren bei dem jetzigen Anlass, in der Annahme der von den Bar-
baren an den Staatssecretär gerichteten Schreiben, in ihrem Ver-
sprechen, den General-Gouverneur für sie um dessen Beförderung zu
ersuchen, scheinen sie sich etwas vergeben zu haben. Es ist gleich-
gültig, in was für unverschämten und respectwidrigen Ausdrücken die
Barbaren ihre Forderungen stellen; die Hauptsache ist, dass, nachdem
eine [Mittheilung] von ihnen zuerst ausgegangen ist, wir uns in die
Finger stechen in den Gründen, welche wir anführen müssen. Beinah
ein Jahr waren diese Häuptlinge in Shang-hae, polternd und

[316]Erbeutete Documente.
drohend in hochfahrendem Tone, auf hundert Schliche bedacht.
Ihr Trug hatte sich völlig blosgestellt, und da wir nicht in ihre
Schlinge gehen wollten, riss ihnen die Geduld zu warten. Daher nun
dieser neue Kunstgriff, diese Ueberreichung einer Eingabe an den
Staatssecretär, durch welche sie friedfertige Eröffnungen vermeiden.
Nebenbei: diese Barbaren haben seit zwanzig Jahren ihren Dünkel ge-
nährt, und man durfte gewiss nicht erwarten, dass sie in einem Tage
die Köpfe hängen, die Ohren anlegen, mit den Schwänzen wedeln
und um Gnade flehen würden. Deshalb musste ihre Mittheilung in
frecher und rebellischer Sprache gehalten sein. Aber Wu und seine
Collegen hätten ihnen sagen sollen, dass der General-Gouverneur der
beiden Kiaṅ ein Beamter vom höchsten Ansehn im chinesischen Reiche
und zugleich kaiserlicher Commissar zu Leitung der Barbaren-Ange-
legenheiten ist; dass ihre Schreiben nicht nach der Hauptstadt gesandt
werden, sondern dem kaiserlichen Commissar zur Verfügung vorgelegt
werden würden; und der Commissar hätte ihnen zunächst einen Ver-
weis ertheilen sollen für den im vorigen Jahre begangenen Fehler,
dass sie den geziemend an sie erlassenen Befehlen nicht gehorcht
hätten; dann musste er ihre Versöhnung durch sanfte Ermahnungen
bewirken und ihnen versprechen, wenn sie aufrichtige Reue zeigten,
deine Majestät zu vermögen, ihnen aus Gnade die Zahlung einer
Kriegsentschädigung zu erlassen und ihnen die Fortsetzung des Handels
zu gestatten. Hätten sie dann noch auf ihrem Verlangen nach Rache
für die Züchtigung von Ta-ku beharrt, dann (hätte er ihnen sagen
mögen) sollten sie nur wieder nach Ta-ku gehen und es ausfechten,
so könnten sie die Würde ihres Volkes wahren und im Falle des Sie-
ges thun was ihnen beliebte; sollte es ihnen aber wieder nicht glücken,
dann wäre es zu spät zur Reue. — Hätte man ihnen solche Antwort
gegeben, so kam es zu keinem Zusammenstoss. Die Barbaren hätten
sich natürlich in heftiger Sprache gewehrt, nach und nach aber unserer
Botmässigkeit gefügt, und wenn sie noch auf Zugeständnissen für den
Handel zu bestehen dachten, so konnte man ihnen leicht einige machen,
welche die Schicklichkeit nicht verletzten und ihnen Vortheil brachten.
Indem sie dann einen gewissen Betrag ihrer Forderungen erlangten,
hätten sie keinen Schaden gelitten an ihrem Rufe; durch diesen einen
Schritt hätte den Feindseligkeiten vorgebeugt und die Versöhnung der
Barbaren herbeigeführt werden können.


In diesem Ton geht es weiter. Die Lage ist jetzt sehr ver-
wickelt; Ho-kwei-tsiṅ hat Schwäche bewiesen; nun werden die
Barbaren uns Bedingungen stellen, auf die wir nicht vorbereitet sind.
Der Kaiser sollte Ho anweisen, sich durch die Umstände leiten zu
[317]Erbeutete Documente.
lassen; wäre die Sprache der Barbaren ehrfurchtsvoll und unter-
thänig, so müsse er ihre Gesuche gewiss vor den Thron bringen,
sonst aber ohne Umstände abweisen. — Shang-hae würden die
Barbaren nicht angreifen, da sie dort Handel trieben. Die Befesti-
gungen von Ta-ku und die Beschaffenheit des Uferlandes kennten
sie wohl und würden dort nicht leichtsinnig operiren. Ihre Schiffe
würden nur Anker werfen und sich an der Küste herumtreiben,
um ein Schreiben abzugeben und vielleicht einen Ueberfall zu ver-
suchen; aber kein Schreiben dürfe angenommen werden; man müsse
sie nach Shang-hae zurückweisen, wo sie sich an den kaiserlichen
Commissar zu wenden hätten.


Nun folgen technische Einzelnheiten über die Festungswerke
und Erörterungen über die Besoldung des Heeres. »Deine Majestät
haben in himmlischer Freigebigkeit 200,000 Tael aus dem Schatze
der Steuer-Verwaltung hergegeben, welche mit den in der Provinz
Tši-li ausgeschriebenen Contributionen bis zu Ende des 4. Mondes
(17. Juni) ausreichen. Nach Ablauf des 4. Mondes wird nichts da
sein, an das man sich halten könnte. Deine Knechte werden unver-
züglich Schritte thun zu Beschaffung von Mitteln und keine Mühe
sparen, freiwillige Beiträge zu fördern. Ob diese den ganzen Be-
darf decken oder nicht, werden sie deiner Majestät in einer anderen
Eingabe melden und deine Befehle darüber erflehen.«


Die Mischung von gesundem Menschenverstand mit kindischem
Dünkel und der äussersten Unkenntniss der Verhältnisse in diesem
Document gab einen starken Beweis für die Nothwendigkeit, sich
in directen Verkehr mit dem Hofe von Pe-kiṅ zu setzen, wenn
die Fremden in China eine würdige Stellung einnehmen wollten.


Gleich nach der Einnahme von Taṅ-ko sandte Gouverneur
Haṅ vom nördlichen Ufer ein Schreiben für Lord Elgin herüber,
der noch auf der Rhede von Pe-taṅ verweilte: er verstehe nicht,
was die Feindseligkeiten bedeuten sollten; er habe dem Botschafter
schon des Kaisers allumfassende Liebe für jedes lebende Wesen
gemeldet; nach einem eben eingegangenen Erlass habe der Kaiser
nun einen Commissar ernannt, der den britischen Gesandten in
der Hauptstadt empfangen und mit ihm conferiren solle. — Am
folgenden Tage, den 15. August sandte Haṅ-fu schon wieder eine
Note: der das Schreiben vom 14. bringende Officier habe im eng-
lischen Lager eine weisse Friedensflagge bemerkt; dieses Zeichen
des Wunsches, die freundschaftlichen Beziehungen zu erhalten, sei
[318]Friedliche Eröffnungen.
höchst erfreulich. Er, Haṅ, sei angewiesen, den Botschafter zu
erwarten, und bereit, sofort mit ihm in Unterhandlung zu treten.
— Am 16. August schreibt Haṅ-fu Lord Elgin, er habe eben ein
Decret erhalten, nach welchem ein kaiserlicher Commissar beauf-
tragt sei, sich zu Unterhandlungen nach Ta-ku zu verfügen; er
ersuche deshalb Lord Elgin, die Einstellung der Feindseligkeiten
anzuordnen, um Verlusten und dem Bruch der freundschaftlichen
Beziehungen vorzubeugen. — Am 17. August meldet Haṅ, der Kai-
ser habe aus Rücksicht auf Lord Elgins weite Reise jetzt die Wür-
denträger Wen-tsiaṅ und Haṅ-ki ausdrücklich nach Pe-taṅ ge-
sandt, um ihn zu Austausch der Ratificationen und Herstellung der
Freundschaft auf ewige Zeiten nach Pe-kiṅ zu geleiten; er bitte den
Botschafter, ihm seinen Aufenthalt und den Tag seiner Abreise zu be-
zeichnen, damit die Commissare Wen und Haṅ ihn treffen könnten.


Auf alle diese Mittheilungen antwortete Lord Elgin von Pe-
taṅ
aus am 17. August unter Beziehung auf seine Note vom 8.,
dass die Feldherren eben beschäftigt seien, die Ta-ku-Forts zu
nehmen und ihm eine Durchfahrt nach Tien-tsin zu öffnen. Bis
das bewirkt und ausreichende Bürgschaft für Erfüllung der im
Ultimatum gestellten Forderungen geleistet sei, könne er die
Generale nicht um Einstellung der Operationen ersuchen. — Consul
Parkes, der als Dolmetscher beim englischen Hauptquartier stand,
sollte diesen Brief überreichen. Unter Parlamentärflagge und be-
gleitet von mehreren Officieren setzte er am 18. August an der
Stelle über den Fluss, wo die Schiffbrücke abgebrochen war, und
wurde zum General-Gouverneur nach Ta-ku geführt. Dieser war
sehr höflich, besprach die Lage aber von seinem Standpunkt aus:
er könne Lord Elgins Schreiben nur nach Pe-kiṅ senden und die
gegenwärtige Einstellung der Feindseligkeiten melden. Herr Parkes
berichtigte natürlich diese Anschauung und verwies auf die das Ge-
gentheil ausdrückende Note des Botschafters, deren Inhalt Haṅ
aus aller Fassung brachte. — Die von den Engländern beantragte
Auswechselung von Gefangenen wurde bereitwillig zugestanden.
Zwei englische Soldaten kamen schon früher zurück; jetzt lieferte
Haṅ sogar dreizehn dem Train zugetheilte Chinesen gegen eine
gleiche Anzahl verwundeter Tartaren aus. In Ta-ku waren alle
Läden geschlossen, die Stadt wie ausgestorben, trotz einer in den
Strassen angehefteten Proclamation, welche die Einstellung der
Feindseligkeiten meldete.


[319]Friedliche Eröffnungen.

Am 18. August schrieben auch die aus Pe-kiṅ gesandten
Commissare Wen-tsiaṅ und Haṅ-ki von Tien-tsin aus an Lord
Elgin: Haṅ-ki habe Befehl gehabt, den Botschaftern nach ihrem
Eintreffen an der Küste von Tien-tsin zu melden, dass die Ver-
träge ratificirt und die freundschaftlichen Beziehungen befestigt
werden sollten. Auf die Nachricht von Feindseligkeiten seien nun
die Commissare vom Kaiser angewiesen, den Botschaftern mit obiger
Meldung entgegenzugehen. Sie besorgen, dass der General-Gou-
verneur von Tši-li den Wunsch der chinesischen Regierung mit-
zutheilen verfehlt habe, und kommen deshalb selbst nach Tien-tsin;
sie sind ermächtigt, die Botschafter nach Pe-kiṅ zu geleiten u. s. w.
— Lord Elgin, welcher kurz zuvor nach Taṅ-ko übergesiedelt war,
verwies in der Antwort kurz auf sein Schreiben an Haṅ vom 17.
August. — Am 20. schrieben Wen-tsiaṅ und Haṅ-ki abermals:
ein Erlass des Grossen Staatsraths melde ihnen die Ernennung
eines Commissars, welcher in der Hauptstadt mit den Botschaftern
conferiren solle. Da über die 56 Artikel des Vertrages schon unter-
handelt worden sei, so möchten die Botschafter gewiss nach Pe-
kiṅ
kommen und die Verträge nach dem Beispiel der Americaner
im vorigen Jahre austauschen, damit die freundschaftlichen Be-
ziehungen hergestellt würden. Die Berathungen der vier von Herrn
Bruce beantragten Artikel (der Forderungen des Ultimatum) könne
bis zu Lord Elgin’s Conferenz mit dem kaiserlichen Commissar in
der Hauptstadt verschoben werden; fände man dann die Vorschläge
vernünftig, so stände ihrer Annahme nichts im Wege.


Unterdessen hatte am 18. August eine Abtheilung französischer
Truppen bei Taṅ-ko auf das südliche Ufer des Pei-ho übergesetzt
und dort nach kurzem Gefecht den Flecken Siao-leaṅ genom-
men. Zwischen diesem Dorfe und Taṅ-ko wurde eine Schiffbrücke
geschlagen. Der französische Feldherr, General Montauban,
wünschte die Süd-Forts anzugreifen, fügte sich aber nach schrift-
licher Niederlegung seiner abweichenden Ansicht in den Plan des
General Sir Hope Grant, die Nord-Forts zu berennen, und unter-
stützte dessen Operationen mit seinen Truppen.


Am 20. August waren die Vorbereitungen beendet. In der
folgenden Nacht wurde das schwere Geschütz in den dafür ge-
bauten Batterieen gegen das innere Nord-Fort in Position gebracht;
bei Tagesanbruch eröffneten die Chinesen das Feuer. Die Geschütze
der inneren Süd-Forts bestrichen zum Theil die Angriffslinie der
[320]Wegnahme der Ta-ku-Forts.
Verbündeten. Das äussere Nord-Fort an der Flussmündung be-
schossen einige Kanonenboote auf so weiten Abstand, dass die
chinesischen Geschosse sie nicht erreichten. Nach zweistündigem
Artillerie-Feuer der Verbündeten flog gegen sieben Uhr Morgens
das Pulvermagazin des inneren Nord-Forts in die Luft; nur einige
Secunden schwiegen dessen Geschütze, setzten dann aber den
Kampf mit grosser Wärme fort. Bald darauf flog auch die Pulver-
Kammer des äusseren Nord-Forts in die Luft. — Nun werden Feld-
geschütze auf 600 Schritt vom inneren Nord-Fort aufgefahren; die
englische und die französische Sturm-Colonne gehen vor. Das
Werk ist von einem doppelten Wassergraben umgeben und der
Damm dazwischen mit zugespitzten Bambuspfählen gespickt. Die
Besatzung schlägt sich tapfer; auch bringt das Flankenfeuer der
Süd-Forts den Sturm-Colonnen Verlust. Nach wiederholtem An-
lauf werden die Wälle erklommen. Die Chinesen wehren sich ver-
zweifelt, die Gräben und Bambuspfähle ausserhalb hemmen ihre
Flucht. Ein Tartaren-General fällt tapfer kämpfend im Handgemenge.
Der Widerstand im Innern soll eine halbe Stunde gewährt haben;
die Engländer verloren an Todten und Verwundeten gegen 200, die
Franzosen 130 Mann.


Gegen 11 Uhr verstummte das Feuer der anderen Werke;
auf den Wällen wurden weisse Flaggen sichtbar; es handelte sich
aber nur um Ueberreichung jenes letzten Schreibens der Commissare.
Offenbar wollten die Chinesen Zeit gewinnen. Die Verbündeten
stellten ihnen eine dreistündige Frist zu Auslieferung der anderen
Forts, erhielten aber keine Antwort. Bis zwei Uhr waren die ar-
tilleristischen Vorbereitungen zum Angriff auf das äussere Nord-
Fort getroffen; die Süd-Forts schienen verlassen und thaten keinen
Schuss; alle Flaggen waren verschwunden. Nun rückte die Sturm-
Colonne der Verbündeten gegen das äussere Nord-Fort und drang
ohne Widerstand durch das Thor. Nach dem amtlichen Bericht
der Franzosen stürzte sich die Besatzung den Truppen in wildem
Gedränge entgegen und suchte zu entkommen; nach dem englischen
streckte sie ruhig die Waffen. Nach den französischen An-
gaben betrug ihre Stärke 3600, nach den englischen 1500 Mann.
Zu ihrem höchsten Erstaunen gab man ihnen die Freiheit.


Nun erboten sich die Chinesen, die Schiffe der Verbündeten
passiren zu lassen; Consul Parkes machte aber, auf das südliche
Ufer übersetzend, Haṅ-fu dessen verzweifelte Lage klar und über-
[321]Uebergabe der Süd-Forts.
wand dessen Widerstreben, auch die Süd-Forts und das ganze Ge-
biet bis Tien-tsin den Verbündeten auszuliefern. Noch an dem-
selben Tage richtete derselbe folgende Zeilen an Lord Elgin:


»Da die Commandeure der englischen Flotte und Landmacht
am 5. Tage dieses Mondes durch Wegnahme der Werke in unserem
Rücken ihre Ueberlegenheit im Kämpfen zeigten, so fügten sich unsere
Truppen in die Unterwerfung (bekannten sich für besiegt). Der Ge-
neral-Gouverneur meldet deshalb dem englischen Botschafter, dass keine
Veranlassung mehr ist zu Feindseligkeiten. — Ein kaiserlicher Com-
missar mit Vollmachten soll unverzüglich eintreffen, und der britische
Gesandte wird ersucht, durch die Ta-ku-Mündung den Fluss hinauf
zu fahren.«


Die Ober-Befehlshaber der Verbündeten erhielten von Haṅ-
fu
folgendes Schreiben:


»Der Unterzeichnete, Haṅ-fu, General-Gouverneur der Provinz
Tši-li, richtet folgende Mittheilung an die Ober-Feldherren der eng-
lischen und französischen Flotte und Landmacht.


Am 5. Tage des gegenwärtigen Mondes avancirten die ehren-
werthen Ober-Feldherren zur See und zu Lande gegen die Werke und
nahmen die auf dem Nord-Ufer gelegenen. Dieser Erfolg bewies die
Wirksamkeit der Truppen der ehrenwerthen Ober-Feldherren; die ge-
schlagene chinesische Armee bot ihre Unterwerfung an. Letztere ist
deshalb aus allen Forts auf dem Süd-Ufer abgezogen; sie ist bereit,
alle diese Forts in den Besitz der ehrenwerthen Ober-Feldherren aus-
zuliefern, mit aller Munition, den befestigten Lagern und Ver-
schanzungen.


Der Unterzeichnete verpflichtet sich ferner, Officiere abzuschicken,
welche den von Seiten der Ober-Feldherren dazu commandirten Offi-
cieren die Lage der Minen und aller geheimen Vertheidigungs-
anstalten in den Werken bezeichnen, damit den ehrenwerthen Ver-
bündeten durch dieselben kein Schaden zugefügt werde. Es ist aus-
gemacht, dass nach Uebergabe der Forts, sobald sie erfolgt sein wird,
die Feindseligkeiten in diesem Gebiet aufhören, und dass die Bewohner
nicht geschädigt, sondern an Person und Eigenthum geschützt werden
sollen.


Eine nothwendige Mittheilung.


Hien-fuṅ, 10. Jahr, 7. Mond, 5. Tag. (21. August 1860.)«


Das Tartaren-Heer zog sich noch an demselben Abend auf
dem rechten Pei-ho-Ufer mit Umgehung der französischen Stel-
lung bei Siao-leaṅ auf Tien-tsin zurück. In der Nacht zum
22. August beseitigten die Kanonenboote die Verzäunung in der
III. 21
[322]Tien-tsin besetzt.
Flussmündung, und schon am folgenden Morgen lagen mehrere der-
selben vor Taṅ-ko.


Am 23. August Morgens ging Admiral Hope mit Herrn Parkes
auf dem Coromandel, begleitet von fünf Kanonenbooten, den Pei-ho
hinauf und ankerte Abends etwa zwei Meilen unterhalb Tien-tsin.
Truppen zeigten sich auf dem ganzen Wege nicht; die Bevölkerung
der Uferdörfer benahm sich freundlich. Auf dem Ankerplatz er-
schien eine Deputation der angesehensten Bewohner von Tien-tsin,
nach deren Bericht Fürst Saṅ-ko-lin-sin mit einigen hundert
Reitern am Abend vorher im Zustande der äussersten Erschöpfung
an der Stadt vorübergekommen, Haṅ-fu am Mittag des 23. in
Tien-tsin eingetroffen war. Zu Vertheidigung des Walles, welchen
Saṅ-ko-lin-sin im Umkreise von mehreren Meilen um Tien-tsin
mit kopfloser Verschwendung hatte aufwerfen lassen, wurde nicht
einmal Anstalt gemacht; seine Ausdehnung stand ausser allem
Verhältniss zur Zahl der chinesischen Truppen.


Am 24. früh fuhren die Schiffe nach der Stadt hinauf; Ad-
miral Hope liess die beiden den Zugang auf dem Fluss beherr-
schenden Redouten besetzen und entbot den Statthalter Haṅ-fu
zu sich, der mit den beiden anderen Commissaren, Wen-tsiaṅ und
Haṅ-ki bereitwillig erschien. Der Admiral eröffnete ihnen, dass sie
die Stadt als im Besitze der Alliirten betrachten müssten; die Be-
wohner sollten volle Sicherheit geniessen, und die Civilbehörden
unter Autorität des Ober-Commandos der Alliirten in ihren
Functionen verbleiben. Haṅ-fu und die Commissare protestirten
anfangs gegen ihre Mediatisirung, fügten sich aber bald den be-
stimmten Weisungen des Admirals. Während dieser Besprechung
besetzte ein Detachement See-Soldaten das Ostthor und hisste dort
die englische und die französische Flagge. Eine in den Strassen
angeheftete Proclamation beruhigte die Einwohner. — Consul
Parkes hatte an demselben Tage noch eine Unterredung mit den
chinesischen Commissaren, welche bereitwillig auf alle Vorschläge
eingingen. Durch sie trat er mit dem Comité in Verbindung,
welches Saṅ-ko-lin-sin’s Heer mit Proviant versorgt hatte und
nun ohne Umstände dieselbe Verbindlichkeit gegen die Alliirten
übernahm. Schon am Morgen des 25. August erschien der erste
Transport von Ochsen, Schaafen, Obst und Gemüse. An demsel-
ben Tage kamen Lord Elgin[und] 2000 Mann englischer und franzö-
sischer Truppen auf Kanonenbooten nach Tien-tsin. — Das Gros
[323]Verhandlungen in Tien-tsin.
der Armee marschirte zu Lande und bezog ein Lager bei der Stadt.
Ueberall war die Bevölkerung freundlich und dienstbereit.


Aus Pe-kiṅ hörte man in den nächsten Tagen, dass Saṅ-
ko-lin-sin
zum Verlust seiner dreiäugigen Pfauenfeder, seines
Ehrenpostens in der kaiserlichen Leibgarde und des Ober-Comman-
dos des blauen Mandschu-Grenzbanners verurtheilt war, »als leichte
Strafe«. — Von den Commissaren erhielt Lord Elgin die Meldung,
dass Kwei-liaṅ und Haṅ-fu zu kaiserlichen Special-Bevollmäch-
tigten, Haṅ-ki zum Hülfs-Commissar ernannt seien. Kwei-liaṅ
schrieb darauf dem Botschafter, er sei angewiesen, die Auswechse-
lung der Ratificationen einzuleiten und alle in dem Schreiben vom
März — dem Ultimatum — gestellten Anträge zu erledigen; am 31. Au-
gust werde er in Tien-tsin eintreffen und das Kuaṅ-faṅ oder
Amtssiegel mitbringen. Kwei-liaṅ’s Titel in diesem Schreiben
legte demselben über die Autorität eines Bevollmächtigten hinaus
die Befugniss bei, den Umständen gemäss nach eigenem Ermessen
zu handeln.


Lord Elgin antwortete am 29. August, dass er die Ober-
befehlshaber der Flotte und Armee nicht eher um Einstellung der
Feindseligkeiten ersuchen könne, bis alle Forderungen der eng-
lischen Regierung zugestanden wären. In Betreff der zu erhöhen-
den Kriegsentschädigung sei er ermächtigt, neben den im Vertrage
von Tien-tsin stipulirten 4,000,000 Tael noch einmal die gleiche
Summe anzunehmen, wenn alle Bedingungen sofort bewilligt wür-
den. Als Bürgschaft für deren gewissenhafte Erfüllung müsse der
Hafen und die Stadt Tien-tsin alsbald dem fremden Handel ge-
öffnet werden. Dann solle die englische Streitmacht sich nach
Ta-ku und Taṅ-tšau zurückziehen, und diese Plätze besetzt halten,
bis die Kriegsschuld von 8,000,000 Tael vollständig getilgt wäre.
Nach Unterzeichnung einer diese Bestimmungen enthaltenden Con-
vention werde er sich zu Auswechselung der ratificirten Verträge
nach Pe-kiṅ verfügen.


Die Commissare erwiederten unter dem 2. September: Lord
Elgins Schreiben beweise dessen Verlangen nach Erhaltung des
Friedens und Einstellung der Feindseligkeiten. Der Vertrag von
1858 solle gewissenhaft erfüllt, und allen Anträgen des Schrei-
bens vom 8. März Folge gegeben werden; man möge die kriege-
rischen Operationen sistiren, »damit die freundschaftlichen Be-
ziehungen sich kräftigten.« Die Kriegsentschädigung solle auf
21*
[324]Entwurf einer Convention.
die Steuer-Erträge der geöffneten Häfen angewiesen werden. Die
Anberaumung einer Conferenz zu Erledigung dieser und aller den
Einzug der Botschafter in Pe-kiṅ betreffenden Punkte behielten sie
sich vor.


Lord Elgin gab nun den Commissaren seine Befriedigung
über die Annahme aller Forderungen zu erkennen und liess eine
Convention in acht Artikeln folgenden Inhalts entwerfen:


  • 1. Bedauern des Kaisers von China über die Unterbrechung
    der mittels des Vertrages von Tien-tsin hergestellten freund-
    schaftlichen Beziehungen durch die Versperrung der Ta-ku-Mün-
    dung
    seitens seiner Officiere.
  • 2. Volle Herstellung des Artikel III. des Vertrages von
    Tien-tsin, welcher England berechtigt, in Pe-kiṅ eine stehende
    Gesandtschaft zu haben, und Abolirung der in dieser Rücksicht
    von der britischen Regierung nachträglich gemachten Zuge-
    ständnisse.
  • 3. Ratification des Vertrages durch den Gesandten in Pe-
    kiṅ
    unmittelbar nach Unterzeichnung der Convention.
  • 4. Vollständige Ausführung der Bestimmungen des Vertrages
    von Tien-tsin, soweit sie nicht durch die Convention geändert werden.
  • 5. Diese soll nicht gesondert ratificirt werden, sondern durch
    Ratification des Vertrages von Tien-tsin dieselbe bindende Kraft
    erhalten, wie der Vertrag selbst.
  • 6. Der Separat-Artikel des Vertrages von Tien-tsin (die
    Kriegsentschädigung betreffend) tritt ausser Kraft. Der Kaiser
    von China verpflichtet sich zu Zahlung von 8,000,000 Tael in
    feinem Sei-si-Silber oder mexicanischen Dollars von gleicher
    Güte, und zwar: 1,000,000 Tael in Tien-tsin binnen zwei Monaten
    nach Unterzeichnung der Convention; 333,333 Tael zu zahlen in
    Kan-ton an oder vor dem 1. December des laufenden Jahres. Zu
    Tilgung der Restsumme soll alle sechs Monate der fünfte Theil des
    Brutto-Ertrages der Zollämter für den fremden Handel an Agenten
    der englischen Regierung gezahlt werden, bis die ganze Summe
    abgetragen ist. Die erste Rate dieser Zahlung muss am 31. März
    1861 abgeliefert sein. — Von den 8,000,000 Tael sind 2,000,000 zu
    Entschädigung von Kaufleuten und 6,000,000 zum Ersatz der Kriegs-
    kosten an die englische Regierung bestimmt.
  • 7. Nach Ratification des Vertrages wird Tšu-san geräumt;
    nach Zahlung von 1,000,000 Tael ziehen sich die britischen Truppen
    [325]Abbruch der Verhandlungen.
    nach Ta-ku und Taṅ-tšau zurück. Nach Tilgung der ganzen
    Schuld werden auch die genannten Plätze und Kan-ton geräumt.
  • 8. Nach Ratification des Vertrages von Tien-tsin werden
    dieser Vertrag und Artikel 5. der Convention durch die Ortsbehör-
    den in allen Theilen des Reiches publicirt.

Den Commissaren wurde dieser Entwurf und der Entschluss
des Botschafters mitgetheilt, nach Unterzeichnung desselben die
kriegerischen Operationen zu sistiren und mit einem seiner hohen
Stellung als Vertreter Ihrer Grossbritannischen Majestät angemes-
senen Gefolge zu Austausch der Ratificationsurkunden und Ueber-
reichung eines Schreibens seiner Königin an den Kaiser von China
nach Pe-kiṅ zu gehen.


Am 8. September sollte die Convention unterzeichnet wer-
den; am 6. Nachmittags begaben sich die chinesischen Secretäre
der englischen Botschaft, Herr Wade und Consul Parkes, behufs
Feststellung des chinesischen Wortlautes zu den Commissaren.
Diese erklärten aber plötzlich den Artikel, nach welchem die Con-
vention ohne gesonderte Ratificirung in Kraft treten sollte, für ganz
unmöglich; so etwas dürfe in keinem chinesischen Vertrage stehen;
die Convention müsse sogar vor der Unterzeichnung dem Kaiser
vorgelegt werden; das sei bis zum 8. September nicht zu bewirken.
Bei Erörterung ihrer Vollmachten erwies sich nun, dass ausser dem
ganz allgemein gehaltenen Decret ohne Datum:
»Wir ernennen Kwei-liaṅ und Haṅ-fu zu hohen Special-
Commissaren. Kwei-liaṅ soll mit schnellster Postbeförderung nach
Tien-tsin gehen und sich mit seinem Collegen zu Erledigung der Ge-
schäfte verbinden. Achtet darauf!«

empfangen von Haṅ-fu am 25. August, die Commissare entweder
keine Vollmachten besassen oder solche verleugneten. Ersteres
stand im Widerspruch mit Kwei-liaṅ’s Schreiben, in welchem er
sich die Eigenschaft eines Pien-ai-hiṅ-se, eines den Umständen
gemäss nach Discretion zu handeln Ermächtigten, beilegt. Die
Commissare verloren sich bei Erörterung dieses Zwiespaltes in die
gewohnte unlogische Argumentation, welche jede Möglichkeit eines
Resultates abschnitt. Lord Elgin aber sah in dem ganzen Verfah-
ren eine Unredlichkeit und die wohlüberlegte Absicht, die Verbün-
deten hinzuhalten, damit über deren Operationen der Winter her-
einbräche. Er zeigte deshalb in Uebereinstimmung mit Baron Gros
den Commissaren unter Darlegung des Sachverhaltes an, dass, ab-
[326]Fragment eines kaiserlichen Decretes.
gesehen von dem bewiesenen Mangel an Wahrheitsliebe, die von
ihnen vorgeschützte Nothwendigkeit, aus Pe-kiṅ die Bestätigung
aller ihrer Schritte einzuholen, einen Zeitverlust herbeiführe, dem
er sich nicht aussetzen wolle. Er habe deshalb die Oberbefehls-
haber der Truppen ersucht, eine Streitmacht bereit zu stellen, mit
welcher er unverzüglich nach Tuṅ-tšau aufbrechen könne. Vor
Ankunft in dieser Stadt werde er weder ihren Besuch empfangen,
noch auf Abmachungen zu Herstellung des Friedens eingehen.


Die Commissare versuchten nun in einem amtlichen und
einem halbamtlichen Schreiben das Aeusserste, um Lord Elgin zu-
rückzuhalten: sie hätten über die mit den dolmetschenden Secre-
tären erörterten Fragen sofort an den Thron berichtet und erwar-
teten in zwei Tagen die Antwort; man müsse bei Friedensverhand-
lungen doch etwas Geduld und Nachsicht üben; nur drei Tage
möge Lord Elgin warten u. s. w. — In welcher übelen Lage sie
waren, bewies nachträglich das im Sommerpalast erbeutete Frag-
ment eines Decretes in Zinoberschrift, datirt vom 7. September
1860, das wahrscheinlich auf Kwei-liaṅ’s Bericht erlassen wurde
und die Absichten des Kaisers wie seine unklaren Begriffe in
deutliches Licht stellt.


»Was die Aeusserung angeht, dass Tien-tsin schon in der
Barbaren Händen ist, und dass es deshalb nichts ausmacht, ob ihnen
der Handel dort versprochen wird oder nicht, ferner dass die Barbaren
sich der Werke am Zusammenfluss des Canals mit dem Flusse bemäch-
tigten, so wird, wenn sie nach und nach eine grosse Streitmacht
heraufbringen, nichts übrig bleiben, als sie im offenen Felde zu be-
kämpfen. Körper von Fleisch Schiffen und Kanonen entgegen zu stellen
ist ganz unmöglich.


Unsere erste Ansicht war und ist noch die richtige. Kwei-liaṅ
und seine Collegen hätten bei diesem Anlass den Barbaren Tien-tsin
nicht versprechen sollen. Wollten sie Krieg, so musste man sie weit
(in das Land) hinein führen und dann nach einer Todesschlacht sie
klar bedeuten, dass von den neuen Bedingungen keine Rede sei und
dass der alte Vertrag Geltung haben möge. Ging das nicht, so konnte
der Handel in Tien-tsin statt des Aufenthaltes in der Hauptstadt be-
willigt werden. Da diese Minister den Handel gewährt haben, so
wird der einzige Weg sein, dem Artikel, wie er dasteht, beizustimmen
und (die Barbaren) für jetzt festzuhalten; und wenn die Unterhand-
lung ganz und gar zusammenbricht, Kwei-liaṅ und seine Collegen
zurückzurufen oder zu degradiren und, nach Maassgabe des Punctes,

[327]Fragment eines kaiserlichen Decretes.
zu welchem die Dinge gediehen sein mögen, solche weiteren Einrich-
tungen zu treffen, wie die Lage bedingt.


Was ihre Forderung der Kriegskosten betrifft, so brauchten sie
viele Listen um uns in die Enge zu treiben, und wollten uns keinen
anderen Ausweg lassen als uns ihren Vorschriften zu fügen. Aber ab-
gesehen von der Unmöglichkeit, die zwei Millionen in der anberaum-
ten Frist zu erlegen, stände die Sache ganz ausser Frage, auch wenn
die Summe aufzubringen wäre. Es gilt seit alter Zeit für schmachvoll,
unter der eigenen Stadtmauer Frieden zu schliessen; und wenn man
abermals mit beschämtem Antlitz Gaben austheilen soll, — wird dann
noch Jemand glauben, dass China noch einen Mann hat?


In Betreff seiner Begleitung durch Truppen zu Auswechselung
der Verträge, auf Grund der durch den gegenseitigen Argwohn ge-
botenen Vorsicht: — was braucht er noch Haufen von Soldaten mit-
zubringen, nachdem die Versöhnung einmal bewirkt ist? Brächte er
Haufen von Soldaten mit, so bewiese das, dass er irgend einen ver-
borgenen Zweck hätte. Würde dem Vorschlage zugestimmt, so käme
er, in der Hauptstadt angelangt, sicher mit anderen Forderungen
heraus, die man kaum gewähren könnte; und es wäre dann eben so
unmöglich zu kämpfen, als unpassend, das Verlangte zu gewähren,
wenn man auch dazu geneigt wäre. Ferner möchten sich Abtheilungen
von Barbaren-Truppen eine nach der anderen einschleichen, so dass
man sie auch mit Kriegsmacht nicht wohl aufhalten könnte. Auch
stände nicht in unserer Macht, das Gesindel, das ihnen folgte, durch
noch so strenge Befehle an Erregung von Alarm und Unruhen zu hin-
dern. Eine gefährliche Krankheit dränge auf den Körper ein, und,
nachdem er einmal davon ergriffen wäre, müsste das Herz im
Innern zerspringen. Würde man dann noch von dem wichtigsten aller
Orte, von der Hauptstadt, reden?


Haben Kwei-liaṅ und seine Collegen sich so wahnsinnig ver-
irrt, dass sie die beiden letzten Puncte auf eigene Verantwortung zu-
zugeben wagten, so verletzten sie nicht nur unsere geschriebenen Be-
fehle und zeigten Furcht vor den Barbaren, sondern sie haben einfach
das Reich genommen und es in deren Hände gelegt. Wir wollen sofort
dem Gesetze Geltung verschaffen durch Hinrichtung dieser Minister,
und es dann mit den Barbaren ausfechten.


Was die Zulassung des Häuptlings Pa (Parkes) in die Haupt-
stadt betrifft, so muss, nachdem einmal Frieden zwischen den beiden
Ländern geschlossen ist, gewiss der betreffenden Abtheilung sofort
geboten werden, Einrichtungen zu treffen für Lieferung alles Erforder-
lichen. Was bedarf es denn (Pa’s) persönlicher Besichtigung? Ausser-

[328]Fragment eines kaiserlichen Decretes.
dem wird dieser rebellische Häuptling, müssig schnappend, wüthig
bellend, gewiss andere beschränkende Forderungen stellen; und ist er
einmal da, so geht er nicht wieder. Es wäre also eben so schlimm,
als wenn Truppen zu Austausch der Verträge mitkämen. Auf keine
Weise kann es bewilligt werden, gewiss nicht.


Was nun die Weigerung (der Barbaren) anlangt, ihre Truppen
sofort aus der Stadt Tien-tsin und von Ta-ku zurückzuziehen, so
sollten nach ihrer Versöhnung die Feindseligkeiten sofort aufhören.
Ist es verständig, Ersatz zu verlangen, indem man (Einem) das Messer
an die Kehle setzt? Ausserdem knüpft diese Bestimmung an diejenige
wegen der Schadloshaltung an, um eine Grundlage für künftige Ent-
schädigungs-Forderungen zu haben. Sie zu cassiren, wird man am
besten thun, beim Zusammenbrechen der Verhandlungen eine Entschä-
digung von den Barbaren zu fordern.


Was den Krieg aufs Messer betrifft, so ist wesentlich, dass
derselbe bald beginne und nicht verschoben werde. Wir müssen den
Herbst und Winter benutzen, indem wir darin unseren Vortheil
brauchen und sie an ihrer schwachen Stelle drücken. Warten wir bis
Frühling und Sommer nächsten Jahres, so werden die Barbaren ge-
wiss grosse Massen schwarzer Barbaren ausheben und die Streitmacht
der ganzen Welt (wörtlich der vier Völker) heranführen, mit uns an-
zubinden; und sie werden sich mit den langhaarigen Rebellen ver-
bünden; und dann hätten wir, zwischen dem Kriege mit denen in
der Nähe und denen aus der Ferne, Noth genug, unser Reich zu
behaupten.


Die obigen Bemerkungen, welche unsere Ansichten erschöpfen,
schrieben wir mit eigener Hand nieder, um dem Prinzen von Wui,
Tsae-yuen, Twan-ha, Su-tšuen
und anderen Mitgliedern des grossen
Staatsraths auszudrücken, dass alle Abkommen, die sie treffen mögen,
damit in Einklang stehen müssen. Haben sie irgend ausführbare Pläne,
die von diesen abweichen, so sollen sie uns dieselben persönlich aus-
einandersetzen. Es darf durchaus nichts zurückgehalten werden.


Ein Special-Decret.


7. Mond. 22. Tag (7. September) um die Hai-Zeit
(9—10 Uhr Vormittags).«


Am 9. September setzte sich die erste englische Colonne
unter Befehl des General Sir Hope Grant von Tien-tsin aus in
Marsch; am 10. brach General Montauban mit den französischen
Truppen auf. Lord Elgin folgte dem Hauptquartier des englischen
Ober-Generals; da aber in der ersten Nacht sämmtliche chinesische
Karrenführer mit ihren Thieren durchgingen, so verzögerte sich
[329]Aufbruch der Alliirten von Tien-tsin.
die Bewegung des Botschafts-Personals um einen Tag. Schon im
Lager von Yaṅ-tsun, wenige Stunden von Tien-tsin, erhielt Lord
Elgin ein Schreiben von zwei der höchsten Würdenträger des
Reiches, Tsae-yuen, Prinzen von Ei, und Mu-yin, Präsidenten des
Kriegsministeriums. Sie kündigten sich als kaiserliche Commissare
an, tadelten Kwei-liaṅ in wegwerfender Sprache, und ersuchten
den Botschafter mit seinen Truppen nach Tien-tsin zurückzukehren,
wo sie alsbald zu Verhandlungen eintreffen würden. Der Vormarsch
könne zu Verwickelungen führen, die Reise nach Tuṅ-tšau sei nur
Zeitverlust u. s. w. Da schon alle Anträge der englischen Regie-
rung angenommen seien, so würde sich gewiss in einer Conferenz
Alles schlichten lassen. — Lord Elgin antwortete natürlich ab-
lehnend und bezog sich auf seine an kaiserlichen Bevollmächtigten
wiederholt gemachten Erfahrungen.


Als der Botschafter am 12. September in aller Frühe auf-
brach, kamen zwei staubbedeckte Mandarinen des weissen Knopfes
angeritten und übergaben ein neues Schreiben: Tsae-yuen und
Mu-yin sind erstaunt über Lord Elgin’s Vorrücken; ob diese Be-
wegung wohl zum Wunsche seiner Regierung stimme, freundschaft-
liche Beziehungen anzuknüpfen; ihnen schiene sie unpassend
und unüberlegt; Lord Elgin möge alle seine Truppen in die Quar-
tiere nach Tien-tsin schicken. Handele es sich nur um Aus-
führung des Vertrages ohne ausserordentliche Zusätze, so müssten
sie erklären, dass sie nicht seien, wie der Minister Kwei-liaṅ:
»dass sie ihr Wort nicht essen würden« u. s. w. Die chinesischen
Truppen ständen bei Ho-si-wu; erfolgte ein Zusammenstoss, so
würden die Verhandlungen gefährdet; sie dürften sich in die mili-
tärischen Anordnungen nicht mischen und hofften, der Botschafter
werde ihren Rath beherzigen.


Von diesem fast drohenden Schreiben nahm Lord Elgin
keine Notiz, sondern setzte mit den Truppen den Vormarsch fort,
erhielt aber gegen 7 Uhr am Abend desselben Tages von den neuen
Commissaren noch eine lange Depesche in milderem Ton. Sie mel-
den den Empfang von Lord Elgins Antwort auf ihre erste Mitthei-
lung, bitten denselben, seine Truppen bei Yaṅ-tsun Halt machen zu
lassen, und einen Platz zwischen diesem Orte und Ma-tau, — wo sie
selbst sich aufhielten, — nach seiner Wahl zur Zusammenkunft zu be-
stimmen. Dort könne der »Vertrag« mit den ursprünglich fest-
gesetzten Bestimmungen unterzeichnet werden: »so entsteht gewiss
[330]Anknüpfung von Verhandlungen.
kein Verzug. Gehen die Verhandlungen nicht sachte, welche
Schwierigkeiten fänden Seine Excellenz, ihren Marsch auf Tuṅ-
tšau
fortzusetzen? Es wäre niemals zu spät« u. s. w.


Lord Elgin glaubte diese Anträge nicht ganz von der Hand
weisen zu dürfen. Er befragte zunächst Sir Hope Grant über die
Möglichkeit einer unmittelbaren Bewegung auf Tuṅ-tšau, und er-
hielt aus dessen Hauptquartier die Antwort, dass es nothwendig
sei, in Ho-si-wu ein Proviant-Depot anzulegen, Verstärkungen und
das schwere Geschütz abzuwarten; darüber könnte eine Woche
vergehen. Ungewiss, ob sie Lebensmittel fänden und ohne genü-
gende Transportmittel, hatten Sir Hope Grant und General
Montauban nur einen Theil der disponiblen Truppen vorgeschoben;
Proviant, Munition und das schwere Geschütz mussten auf dem
Pei-ho befördert werden, dessen geringer Wasserstand den Trans-
port erschwerte. Wies Lord Elgin während dieser Truppen-
Concentrirung alle Unterhandlungen zurück, so konnte sich bei den
Chinesen leicht der Gedanke befestigen, die Alliirten gingen auf
Eroberung, auf den Sturz der Dynastie aus. Die Gefahr ver-
zweifelten Widerstandes, einer Massenerhebung im Rücken des
Heeres lag nahe. Deshalb liess jetzt Lord Elgin ein Schreiben
aufsetzen, in welchem er den Chinesen zwar die Fortsetzung der
Bewegung auf Tuṅ-tšau ankündete, zugleich aber versprach, das
Heer an einem von da leicht erreichbaren Puncte Halt machen zu
lassen, und selbst mit einer Escorte von 1000 Mann zunächst zu
Unterzeichnung der Convention nach Tuṅ-tšau, dann zu Ratifi-
cirung des Vertrages nach Pe-kiṅ zu gehen, wenn sie für ihr
gutes Betragen die Bürgschaft leisten könnten, die er verlangen
werde. Die Ueberreichung dieses Schreibens wurde der Discretion
der Herren Wade und Parkes überlassen, welche mit Cavallerie-
Escorte von zwanzig Mann am 14. September Morgens zunächst
nach Ma-tau, das die Commissare verlassen hatten, dann nach
Tuṅ-tšau ritten, wo sie dieselben trafen. Sie wurden noch an
demselben Nachmittag vom Prinzen Tsae-yuen (Ei-tsiṅ-waṅ) und
Mu-yin sehr höflich empfangen und conferirten mit denselben bis
Mitternacht. Für die Frage der Vollmachten zeigten Beide wenig
Verständniss. Tsae erklärte vornehm, dass seine Unterschrift eben
so bindend sei als die kaiserliche; eine ausdrückliche Vollmacht
nach europäischem Muster sei aber leicht zu beschaffen. Den In-
halt der Convention kannte er eben so wenig als Mu-yin, obgleich
[331]Verhandlungen in Tuṅ-tšau.
in dem Schreiben an Lord Elgin von deren Unterzeichnung be-
ständig die Rede war. Er las jetzt zum ersten Male den Entwurf und
erklärte sofort emphatisch, die Zahlung von 1,000,000 Tael binnen
zwei Monaten nicht versprechen zu können; man müsse die Frist
auf fünf Monate stellen. Dann erhob er noch Einwendungen ge-
gen die längere Besetzung chinesischen Gebietes, den bleibenden
Aufenthalt eines Gesandten in Pe-kiṅ, die Zahlung der Kriegs-
kosten, Freigebung von Tien-tsin und die mündlich mitgetheilte
Bedingung, dass Lord Elgin mit tausend Mann Escorte nach Tuṅ-
tšau
und Pe-kiṅ käme. — Das Schreiben des Botschafters gaben
die Secretäre nicht ab.


Nach langem Verhandeln, welches die desultorische Art
und die unlogischen Deductionen der Chinesen zu einer harten Ge-
duldsprobe machten, vereinigte man sich über die Hauptpuncte,
welche Herr Wade nun im Entwurf eines Schreibens der Com-
missare an Lord Elgin zusammenfasste: sie hätten alle ihnen vor-
getragenen Puncte vollständig erfasst; das kaiserliche Edict zu ihrer
Bevollmächtigung solle beigebracht werden; indessen könne ihre
hohe Stellung, von derjenigen Kwei-liaṅ’s sehr verschieden, als
Bürgschaft für die bindende Kraft ihrer Unterschriften dienen.
Sie seien befugt, eine Convention wie die Kwei-liaṅ vorgelegte zu
unterzeichnen und darauf die Ratification der Verträge in Pe-kiṅ
zu bewirken; Lord Elgin möge auf diese Versicherung hin mit
tausend Mann Escorte nach Tuṅ-tšau kommen, das Gros der Ar-
mee aber nicht näher als fünf Li südlich von Tšaṅ-kia-van Stel-
lung nehmen lassen. Nach Unterzeichnung der Convention möchten
die Truppen sich zurückziehen. — Mit einem Schreiben dieses In-
halts, vom Prinzen Tsae und Mu-yin unterzeichnet, kehrten die
Herren Wade und Parkes am 15. September nach Ho-si-wu zu-
rück. Auf dem Hinwege hatte sich mit ihnen ein anderes Schrei-
ben der chinesischen Commissare gekreuzt, die darin dringend
vor weiterem Vormarsch warnten, und die Convention, — welche
sie damals garnicht kannten, — abzuschliessen, zu unterzeichnen,
zu untersiegeln versprachen, wenn Lord Elgin sie mit unbewaffnetem
Gefolge treffen wolle. — Vielleicht steckte dahinter die Absicht
verrätherischer Aufhebung.


Lord Elgin beantwortete die von Herrn Wade aufgesetzte
Note am 16. September: Die englischen Truppen sollten am fol-
genden Morgen nach der bezeichneten Stellung südlich von Tšaṅ-
[332]Weitere Unterhandlungen. — Vormarsch des Heeres.
kia-van aufbrechen und keine Feindseligkeiten begehen, wenn sie
nicht angegriffen würden; die Commissare möchten beruhigende
Proclamationen an das Volk erlassen, damit es zu seinen Wohn-
stätten zurückkehre, die Läden öffne und Lebensmittel auf den
Markt bringe; dann solle Alles baar bezahlt, bei Abwesenheit der
Landbewohner aber das Nothwendige genommen werden. Lord
Elgin wolle zu Unterzeichnung der Convention mit tausend Mann
nach Tuṅ-tšau, dann mit derselben Escorte zu Ratificirung des
Vertrages und Ueberreichung des königlichen Schreibens nach Pe-
kiṅ
gehen. Nach Vollziehung dieser Handlungen sollten sich die
Truppen nach den im VII. Artikel der Convention bezeichneten
Stellungen zurückziehen. Am Schlusse giebt Lord Elgin den Com-
missaren zu bedenken, dass er schon zweimal durch Beamte mit
unzureichenden Vollmachten getäuscht worden sei.


Mit diesem Schreiben verliess Consul Parkes am 17. Sep-
tember Morgens zu Pferde das Hauptquartier bei Ho-si-wu, be-
gleitet von dem General-Quartiermeister der Cavallerie-Brigade
Colonel Walker, dem Intendantur-Officier Herrn Thomson, Lord
Elgins Privatsecretär Herrn Loch, dem Attaché Herrn de Normann,
dem Times-Correspondenten Herrn Bowlby und einer Escorte von
fünf Mann Königs-Dragonern und zwanzig Mann vom Regimente
Fane’s115) Horse unter Befehl des Lieutenant Anderson. Mit dem
Schreiben des Baron Gros gingen der Sous-Intendant Dubut, der
Artillerie-Oberst Foullon-Grandchamps, Generalstabscapitän Cha-
noine
, die Administrationsofficiere Ader und Gagey, Lieutenant
Kaïd Osman, Abbé Duluc, die Botschafts-Attachés Herren de
Bastard
, de Méritens und d’Escayrac de Lauture, begleitet von eini-
gen Ordonnanzen nach Tuṅ-tšau. — Nur die auf den Bericht der
Secretäre gegründeten Friedensaussichten bewogen Sir Hope Grant
zum Aufgeben seines früheren Vorhabens, das schwere Geschütz,
die Verstärkungen und Vorräthe in den Stellungen von Ho-si-wu
abzuwarten.


Am 17. September marschirten die Truppen bis Ma-tau;
am 18. Morgens rückten sie gegen Tšaṅ-kia-van vor, um den von
Colonel Walker ausgesuchten Lagerplatz zu beziehen. — Herr
Parkes traf mit seinen Gefährten am 17. September in Tuṅ-tšau
ein, besprach sich noch an demselben Abend mit dem Prinzen von
[333]Chinesische Truppen bei Tšaṅ-Kia-van.
Tsae, und verliess die Stadt am folgenden Morgen mit Colonel
Walker, Herrn Thomson, fünf Königsdragonern und vier von
Fane’s Reitern, um zunächst auf dem Lagerplatz bei Tšaṅ-kia-van
die nöthigen Einrichtungen zu treffen. Capitän Chanoine mit seiner
Ordonnanz, die Herren de Bastard, de Méritens, Kaïd Osman,
Ader, Gagey, ein Chasseur und zwei Spahis ritten eine Stunde
später aus Tuṅ-tšau. Lieutenant Anderson mit sechszehn Mann
von Fane’s Reiter-Regiment, die Herren de Normann und Bowlby,
Dubut, Foullon-Grandchamps, Abbé Duluc, d’Escayrac de Lauture
und mehrere Ordonnanzen blieben dort, um bis zur Rückkehr des
Consul Parkes Anstalten für den Empfang der Botschafter und
für Verproviantirung der Truppen zu treffen.


Von Tuṅ-tsau bis Tšaṅ-kia-van ist kaum eine Meile; der
Weg läuft eine uferartige Bodenterrasse entlang, welche nach Süd-
Osten abfällt. Am 17. September hatte Consul Parkes dort nichts
Verdächtiges bemerkt; am 18. früh auf demselben Wege zurück-
kehrend, fand er nahe bei Tšaṅ-kia-van grosse Massen tartari-
scher Truppen, und viele Geschütze in Batterieen aufgefahren,
welche man den Tag vorher nicht gesehen hatte. Da die anwesen-
den Officiere keine Auskunft gaben, so ritt Herr Parkes, nur von
einem Königs-Dragoner begleitet, nach Tuṅ-tsau zurück; die an-
deren Herren setzten ihren Weg fort, ausser Colonel Walker mit
vier Mann von der Escorte, und Herrn Ader mit einem Chasseur,
welche unter den Tartaren halten blieben, um Herrn Parkes zu
erwarten und auf die Bewegungen des Feindes zu achten.


Unterdessen waren auch die Truppen der Verbündeten bei
Tšaṅ-kia-van eingetroffen und standen der chinesischen Streit-
macht gegenüber. Die aus Tuṅ-tšau zurückkehrenden Engländer
und Franzosen gelangten glücklich in ihre Reihen; Herr Loch über-
gab den Brief des Consul Parkes an Lord Elgin, welcher noch
in Ho-si-wu weilte, einer Cavallerie-Ordonnanz, und kehrte dann,
beunruhigt durch das Ausbleiben des Consul Parkes und der an-
deren Gefährten, mit Capitän Brabazon von der englischen Artillerie
und zwei indischen Reitern in die feindlichen Linien zurück. Das
geschah um acht Uhr. Von allen Seiten sahen die Verbündeten
Truppen anrücken, namentlich Tartaren-Cavallerie, welche ihre
Flanken bedrohte. Ein chinesischer Officier kam mit schwacher
Bedeckung herüber, »um die Truppen nach dem für sie bestimmten
Lagerplatz zu führen.« Das wurde glücklich abgelehnt; die Chi-
[334]Treffen bei Tšaṅ-kia-van.
nesen hatten viele versteckte Batterieen auf diesen Platz gerichtet
und ihre Stellungen so genommen, dass sie denselben umzin-
geln konnten.


Es wurde zehn Uhr; man spähte in banger Erwartung nach
Parkes und seinen Gefährten. Von einem Hügel liessen sich die
feindlichen Linien übersehen, wo Colonel Walkers rothe Uniform
unter den grauen Tartaren deutlich zu erkennen war. Plötzlich
entstand dort Bewegung, fielen Gewehr- und Kanonenschüsse: dann
gallopirten Colonel Walker und seine vier Reiter aus den feind-
lichen Linien in die englischen hinüber. Ein Pferd wurde er-
schossen, zwei Reiter leicht verwundet. Alle entkamen.


Oberst Walker war, auf Herrn Parkes wartend, in den feind-
lichen Linien umhergeritten, was man ihm anfangs höflich, dann in
grober Sprache verbot. Soldaten drängten sich trotzig um sein
Pferd; einer warf ihm sogar den Degen aus der Scheide, den ihm
ein Officier wieder zustellen liess. Gleich darauf sah er Herrn
Ader und den Chasseur in einem dichten Knäuel Soldaten, welche
sie misshandelten; er bahnte sich den Weg zu ihnen, fasste Herrn
Ader, — der einen Säbelhieb über den Kopf hatte und noch aus
anderen Wunden blutete, — bei der Hand und suchte ihm fort-
zuhelfen; da stürzten sich die Soldaten auf Oberst Walker und
suchten ihm den Degen aus der Scheide zu reissen; dem wehrend
schnitt er sich in die Hand und musste den Franzosen loslassen,
der nun sofort unterlag. Man wollte Oberst Walker vom Pferde
reissen; er machte sich aber los, ritt mit seinen Leuten Alles vor
sich nieder und entrann durch das Feuer der dichten Haufen.


Nun entspann sich der Kampf auf der ganzen Linie. Die
gegen 20,000 Mann starke chinesische Streitmacht lehnte ihren
rechten Flügel an die alte Stadt Tšaṅ-kia-van, den linken an den
etwa dreiviertel Meilen entfernten Pei-ho. Auf dem rechten Flügel
der Verbündeten standen 1000 Franzosen, unterstützt von einer
Escadron Fane’s Horse; das Centrum und den linken Flügel bildeten
englische Truppen. Die Verbündeten gingen überall vor; ihre Ar-
tillerie brauchte vier Stunden zu Vernichtung der chinesischen,
deren Batterieen mit geschickter Bodenbenutzung in gedeckten Stel-
lungen angelegt waren. Die beiden Flügel der Verbündeten warfen
die vor ihnen stehenden Truppen leicht aus allen Positionen, ver-
folgten sie dann zusammenstossend eine halbe Stunde über Tšaṅ-
kia-van
hinaus und kehrten, zu weiterer Verfolgung durch den
[335]Recognoscirungen.
starken Marsch am Morgen zu erschöpft, nach jener Stadt zurück,
welche der Plünderung preisgegeben wurde. Der Gesammtverlust
der Engländer betrug 20, der der Franzosen 15 Todte und Ver-
wundete. Ueber 80 Geschütze blieben in ihren Händen. Unter
den Tartaren richtete die Artillerie schlimme Verwüstungen an.


Der Brief des Herrn Parkes meldete Lord Elgin, dass die
Aussichten günstig seien. Der Prinz von Tsae habe nur drei
Puncte angefochten: die unbestimmt hinausgeschobene Zurück-
ziehung der englischen Truppen, die Stärke von Lord Elgins Es-
corte und die Ueberreichung des königlichen Schreibens an den
Kaiser. Parkes wolle nun bei Tšaṅ-kia-van Einrichtungen für das
Lager und den Proviant der Truppen treffen, dann wieder nach
Tuṅ-tšau reiten, um die Verbreitung der Proclamation zu besorgen,
an welcher die Typenschneider die Nacht und den Tag über ar-
beiteten, und wo möglich am Abend nach Ho-si-wu zurückkehren.


Nachdem die Botschafter sich mit den Ober-Generalen über
die zu Befreiung ihrer Landsleute geeigneten Maassregeln berathen
hatten, ging am 19. September ein Cavallerie-Detachement gegen
Tuṅ-tšau vor. Herr Wade übergab den dortigen Behörden eine
Notification der Botschafter: dass alle englischen und französischen
Unterthanen nach den Hauptquartieren zurückkehren müssten; dass,
wenn ihrer freien Bewegung Hindernisse bereitet würden, die Ar-
mee der Verbündeten unverzüglich Pe-kiṅ nehmen werde; Tuṅ-
tšau
solle unberührt bleiben, wenn die Bewohner jedem Wider-
stande entsagten. — Man wollte damit den Chinesen für Heraus-
gabe der Gefangenen eine Hinterthür lassen. — Der oberste Man-
darin von Tuṅ tšau erklärte mit grosser Ruhe, sämmtliche Eng-
länder und Franzosen hätten die Stadt vor Beginn der Schlacht
verlassen; weiter wisse er nichts. Die in der Richtung von Pe-
kiṅ
lagernden Tartaren gaben, die Parlamentärflagge nicht achtend,
überall Feuer; so war denn kein anderer Bescheid zu erlangen.
Herr Wade kehrte unter dem Eindruck zurück, dass die Vermissten
auf dem Wege von Tuṅ-tšau nach Tšaṅ-kia-van ermordet
wären. Am folgenden Morgen ging abermals Cavallerie zur Recog-
noscirung vor und fing einen Chinesen, welcher betheuerte, mehrere
Europäer gesehen zu haben, die in Karren nach Pe-kiṅ geführt
wurden.


Am 21. September früh gingen die Alliirten, verstärkt durch
2000 Franzosen unter General Collineau, von Tšaṅ-kia-van gegen
[336]Schlacht bei Pa-li-kao.
Norden vor und stiessen etwa dreiviertel Meilen von der Stadt
auf den Feind. Das chinesische Heer stand südlich von dem Ca-
nal, welcher Tuṅ-tšau mit Pe-kiṅ verbindet: in der Mitte die
Infanterie und Artillerie, auf beiden Seiten weit ausgedehnt die tar-
tarische Reiterei, die offenbar die feindliche Schlachtreihe über-
flügeln sollte. Die französischen Truppen operirten gegen die breite
Marmorbrücke von Pa-li-kao, die Engländer gegen eine hölzerne
Brücke, die westlich davon über den Canal führt. Die Flügel der
chinesischen Armee sollten auf das Centrum und mit diesem über
den Canal gedrückt werden. Die Tartaren wurden mit ihren kleinen
Pferden von den Kings-dragoon-guards und Fane’s Reitern der-
maassen übergeritten, dass sie nicht wieder Stand hielten. Auch
im Centrum und auf dem linken Flügel wichen die Chinesen, die
zuerst sogar angriffen, nach kurzem Widerstande ihr Lager dem
Feinde überlassend, gegen den Canal zurück. Beim Uebergang über
die Marmorbrücke hielten sie zum letzten Mal mit zehn Geschützen
Stand und litten starken Verlust von der feindlichen Artillerie;
Viele ertranken, die über den Canal schwimmen wollten. Die Ver-
folgung der Engländer reichte auf ihrem linken Flügel bis eine Meile vor
Pe-kiṅ. Am Süd-Ufer des Canales rastend, erhielten sie Feuer aus
einem versteckten Tartaren-Lager am Nord-Ufer; darauf ging ein De-
tachement hinüber, vertrieb den Feind und nahm seine Geschütze. Die
Franzosen lagerten nördlich von Pa-li-kao. — Den Engländern kostete
dieser Tag 2 Todte und 29 Verwundete, den Franzosen noch weniger.


Am 22. September erhielt Lord Elgin folgendes Schreiben
vom Prinzen von Kuṅ, dem Bruder des regierenden Kaisers:


»Der Prinz von Kuṅ, kaiserlicher Commissar mit Vollmachten
u. s. w., macht eine Mittheilung.


Da Tsae, Prinz von Ei und Mu, Präsident des Kriegsministe-
riums, die Geschäfte nicht zufriedenstellend erledigt haben, so wurde
ein Decret empfangen, welches sie ihrer Vollmachten beraubt. Der
Prinz von Kuṅ, welcher die Ehre hatte, zum Commissar mit Voll-
machten ernannt zu werden, will sofort Haṅ-ki und Lau-wei-wan
absenden, um eine Zusammenkunft zu Erörterung der Friedensfrage
zu halten. Seine Excellenz der britische Gesandte möge zu Herstel-
lung des freundlichen Verhältnisses die Feindseligkeiten auf einige Zeit
suspendiren. Eine Mittheilung an Seine Excellenz Lord Elgin u. s. w.


Hien-fuṅ. 10. Jahr. 8. Monat. 7. Tag
(21. September 1860).«


[337]Correspondenz mit dem Prinzen von Kuṅ.

Nun standen die Alliirten dicht vor Pe-kiṅ, und es wäre
gewiss auch für die Sicherheit der Gefangenen am besten gewesen,
sogleich die Hauptstadt zu nehmen. Dazu fehlten aber die erfor-
derliche Truppenzahl und das schwere Geschütz. Die blosse An-
drohung solcher Maassregel musste unverständig erscheinen ohne
schleunige Action. Man war in der schwierigsten Lage. Einerseits
durfte nicht zugegeben werden, dass die englischen und französi-
schen Parlamentäre als rechtmässig gefangen zu betrachten seien,
auf der anderen Seite konnte es denselben, ohne die Friedensaus-
sichten zu fördern, Gefahr bringen, wenn man den Chinesen ihren
Verrath in ungeschminkten Worten vorhielt. Ein Moment der
Aufregung bei den leitenden Staatsbeamten, des panischen
Schreckens und tumultuarischer Verwirrung beim Volke konnte
Jenen das Leben kosten. Die öffentlichen Interessen mussten
den individuellen voranstehen. Sich durch die Zurückhaltung der
Gefangenen irgend ein Zugeständniss entlocken zu lassen, wäre po-
litisch ein äusserst gefährlicher Präcedenzfall gewesen; denn es
hätte die Chinesen gelehrt, dass sie durch verrätherische Aufhebung
Einzelner durchsetzen könnten, was sie im Wege ehrlicher Unter-
handlung und offenen Kampfes nicht erreichten. Deshalb erforder-
ten sowohl die diplomatische Correspondenz als die kriegerischen
Operationen grosse Vorsicht und Stätigkeit.


Lord Elgin antwortete dem Prinzen von Kuṅ zunächst mit
einem Schreiben, welches demselben die Möglichkeit liess, die Fest-
haltung der Parlamentäre nach chinesischer Weise auf untergeord-
nete Officiere zu schieben. Er fügte eine Abschrift der an die Be-
hörden von Tuṅ-tšau gerichteten Notification bei und erklärte,
dass er nicht in der Lage sei, die Einstellung der Feindseligkeiten
vor Rückkehr der Gefangenen zu veranlassen.


Schon am 23. September kam eine Erwiederung des Prinzen:
Die englischen Beamten hätten bei ihrer Anwesenheit in Tuṅ-tšau
mit den früheren Commissaren acht Anträge erörtert, welchen zu-
gestimmt worden sei. Beim zweiten Besuch habe man sich wegen
Ueberreichung des königlichen Schreibens nicht gleich geeinigt; die
englischen Officiere seien ärgerlich aufgebrochen. Unterwegs wären
sie mit chinesischen Soldaten aneinandergerathen und von diesen
verhaftet worden. »Daher ist es nicht die chinesische Regierung,
welche irgendwie gegen die Aufrechthaltung des freundschaftlichen
Verhältnisses fehlte. Die in Rede stehenden Officiere sind jetzt in
III. 22
[338]Correspondenz mit dem Prinzen von Kuṅ.
Pe-kiṅ; keiner litt tödtlichen Schaden; aber vor dem Friedens-
schluss wird es kaum möglich sein, sie zurückzuschicken. Die
Stadt Tien-tsin und die Festungen von Ta-ku wurden genommen
und sind noch im Besitz der britischen Regierung. Was ist da-
gegen das Fehlen weniger britischen Unterthanen wohl für ein
Grund zur Beschwerde? Sollen die beiden Regierungen wirklich
Freunde werden, will die britische, das Aufhören des Krieges
wünschend, ihre Kriegsschiffe von den Ta-ku-Forts entfernen, so
wird die chinesische Regierung, sobald die gestellten Anträge
erörtert und erledigt sind, die erwähnten Officiere in dem Zustande
ausliefern, in welchem sie dieselben findet, um das freundschaft-
liche Verhältniss ganz herzustellen. — Der von Seiner Excellenz
an seine Beamten gerichtete Brief dürfte kaum zu übergeben sein,
so lange der jetzige Kriegszustand dauert. Er soll abgeliefert wer-
den, sobald die Truppen zurückgezogen sind.«


Nun schrieb Lord Elgin nach reiflicher Berathung mit Sir
Hope Grant im Wesentlichen Folgendes: Die jetzt in Pe-kiṅ zu-
rückgehaltenen englischen Unterthanen seien unter Parlamentär-
flagge und mit Zustimmung der kaiserlichen Commissare in Tuṅ-
tšau
oder auf dem Rückwege gewesen, als der Treubruch Saṅ-
ko-lin-sin
’s
den Conflict des 18. September herbeiführte. Ihre
Verhaftung sei eine Verletzung des Völkerrechtes, welche die chi-
nesiche Regierung der gerechten Rache der jetzt dreissig Li von
Pe-kiṅ gelagerten Armee aussetze. Die Ueberreichung des könig-
lichen Handschreibens sei bei jener Gelegenheit nicht zum ersten
Male erörtert, auch niemals als Kriegsfall, sondern nur als Frage
der Courtoisie behandelt worden. »Ein Staat, der sich für civilisirt
ausgiebt und sich der gegenseitigen Vollziehung solcher Höflich-
keitsacte weigert, setzt nothwendig seine Freundschaftsversicherun-
gen dem Argwohn aus. Um aber ferneren Beweis seines aufrichti-
gen Verlangens nach Herstellung des Friedens zwischen Gross-
britannien
und China, und dem kaiserlichen Prinzen eine letzte Ge-
legenheit zu geben, einen Schlag abzuwenden, der die Zerstörung
von Pe-kiṅ und den wahrscheinlichen Sturz der jetzt in China
herrschenden Dynastie nach sich ziehen wird, stellt der Unterzeich-
nete folgende Anträge:


Wenn im Zeitraum von drei Tagen vom Datum dieses
Schreibens (25. September) die in Pe-kiṅ zurückgehaltenen eng-
lischen und französischen Unterthanen nach den Hauptquartieren
[339]Correspondenz mit dem Prinzen von Kuṅ.
zurückgeschickt werden, und wenn der kaiserliche Prinz seine Be-
reitwilligkeit anzeigt, die zu Tien-tsin in Kwei-liaṅ’s Hände nie-
dergelegte Convention zu unterzeichnen, so soll das Gros der briti-
schen Armee nicht über seine gegenwärtige Stellung hinaus vor-
gehen. Die Convention soll in Tuṅ-tšau unterzeichnet werden, und,
nachdem sie unterschrieben ist, wird der Unterzeichnete mit ange-
messener Bedeckung zu Austausch der Ratificationen des Ver-
trages von Tien-tsin sich nach Pe-kiṅ begeben. Nach Vollziehung
dieser Handlungen soll die britische Armee ihren Marsch nach
Tien-tsin antreten, an welchem Platze sie bis zum Frühjahr blei-
ben wird, da die Unredlichkeit, die Ausflüchte und Zögerungen der
chinesischen Regierung und ihrer Agenten unzuträglich machen, vor
dem Winter weiter zu gehen.


Werden diese Bedingungen angenommen, so können von
jeder Seite Abgeordnete ernannt werden, um solche Präliminarien
zu vervollständigen, als nothwendig sein mögen. Werden sie nicht
angenommen, so wird das britische Heer auf Pe-kiṅ vorrücken und
gemeinschaftlich mit Frankreich Maassregeln ergreifen, welche be-
weisen sollen, dass das Völkerrecht in den Personen englischer
und französischer Unterthanen nicht ungestraft verletzt werden
kann.«


In der vom 27. September datirten Antwort auf diese Note
weist der Prinz von Kuṅ jede Verantwortung für die »unrechten
Handlungen« früherer Commissare zurück; er sei ein naher Ver-
wandter des Kaisers, mit voller Autorität ausgestattet, gerecht und
wahrhaftig in seinem Verkehr mit Menschen u. s. w. Da alle Be-
stimmungen der Verträge erfüllt werden sollten, so sei der Frieden
gewiss herzustellen, wenn beide Theile ihre Zusagen hielten. Für
Ueberreichung des königlichen Schreibens solle eine passende
Räumlichkeit ausgesucht und ein Räucheralter aufgestellt werden;
der Prinz nehme dann den Brief in Empfang und lege ihn auf den
Altar, damit demselben gebührende Ehre widerfahre. Die auf
Zerstörung der Hauptstadt und den Sturz der Dynastie bezüg-
lichen Worte ziemten sich für keinen Unterthanen. »Ist es recht
vom britischen Gesandten sie zu brauchen, während er den Frieden
zu wünschen betheuert?« Sollte ein zweckloser Krieg so lange
fortgesetzt werden, als Soldaten übrig seien, so habe China noch
seine Truppen jenseit der Grenze, ferner diejenigen, welche es aus
den Provinzen heranziehen könne u. s. w. Der frühere Commissar
22*
[340]Correspondenz mit dem Prinzen von Kuṅ.
habe allerdings die englischen Officiere greifen, binden und ein-
kerkern lassen, er selbst aber ihre Wächter angewiesen, sie aus
der Haft zu entlassen, »ihnen bequeme Wohnungen zu geben, die
Wunden der Verletzten zu pflegen, und sie höflich zu behandeln.«
Eine beigefügte Karte des Consul Parkes mit der Bitte um Haṅ-
ki
’s
Besuch möge beweisen, dass er sich wohl befinde. — Die Ab-
geordneten zu Feststellung der Präliminarien sollten erscheinen, so-
bald ein Tag für die Conferenz anberaumt wäre. — Minder höflich
als dieses Schreiben an Lord Elgin war ein gleichzeitiges an Baron
Gros, welches mit Hinrichtung aller in Pe-kiṅ anwesenden
Franzosen drohte, wenn französische Truppen vorrücken sollten.


Die Alliirten brauchten zum Heranziehen ihrer Truppen und
Geschütze noch einige Tage, welche mit diplomatischer Correspon-
denz ausgefüllt werden mussten. Lord Elgin constatirt in einem
Schreiben vom 28. September, dass trotz allen Betheuerungen der
Redlichkeit die Gefangenen nicht ausgeliefert seien, und erinnert
den Prinzen an die erlittenen Niederlagen. In der Erwiederung
vom 29. September kommt der Prinz auf seine Argumentation über
die rechtmässige Festhaltung der Parlamentäre und die Betheuerun-
gen seiner Unschuld zurück. Dann folgt die wichtige Mittheilung,
dass der Kaiser zu den Jagden abgereist sei, zu deren Abhaltung
im Herbst ihn das Gesetz verbinde. Deshalb müsse der Prinz den
königlichen Brief in Empfang nehmen, auf den Altar legen u. s. w.
Die Nähe des Heeres versetze die Bevölkerung der Hauptstadt in
grosse Erregung; man könne für die Sicherheit der Gefangenen
nicht einstehen, wenn sie jetzt Hals über Kopf hinausgeschickt
würden. Sobald das Heer etwas zurückgewichen und der Frieden
unterzeichnet sei, werde der Prinz für ihre anständige Auslieferung
Sorge tragen. Wenn die Verbündeten wieder bei Tšaṅ-kia-van
Stellung genommen hätten, dann könnten binnen drei Tagen Unter-
händler abgefertigt werden, welche die Unterzeichnung der Con-
vention verabredeten. Sollte die Armee gegen Pe-kiṅ vorrücken,
so könne die Sicherheit der Gefangenen nicht verbürgt werden.


Am 30. September schreibt Lord Elgin kurz, er müsse seine
Forderungen als abgelehnt betrachten und werde das Ober-Com-
mando der Truppen davon unterrichten. — Am 1. October erwie-
dert Prinz Kuṅ, es hiesse die Achtung gegen die Gefangenen ver-
letzen, wenn man sie vor dem Friedensschluss hastig zurückschicken
wollte; er begreife nicht, wie der Botschafter von Ablehnung seiner
[341]Aufbruch der Truppen von Pa-li-kao.
Anträge reden könne, da dem Vertrage von Tien-tsin und der
Convention in allen Stücken zugestimmt worden sei. Seine, des
Prinzen Schreiben müssten schlecht übersetzt oder unaufmerksam
gelesen worden sein. Zwangsmaassregeln könnten nur den Frie-
densschluss und die Sicherheit der Gefangenen in Pe-kiṅ compro-
mittiren. Der Prinz habe einen Beamten zu Parkes geschickt,
welcher mit ihm alle die Unterzeichnung des Vertrages berühren-
den Puncte ins Reine bringen solle. — Darauf verweist Lord Elgin
den Prinzen am 2. October auf sein Schreiben vom 30. September
und meldet ihm, dass die Truppen den Vormarsch schon angetre-
ten haben.


Die Verbündeten lebten unterdessen im Lager von Pa-li-kao
wie im Frieden; auf ihre Proclamationen kehrten die Landbewohner
zurück, öffneten ihre Märkte und lieferten für gutes Geld bereit-
willig Lebensmittel, Karren, Zugvieh und Alles, was man wünschte.
Die einzigen Ruhestörer waren die dem englischen Train zuge-
theilten Chinesen, deren Gewaltsamkeit gegen das Landvolk mit
eiserner Hand gebändigt werden musste. — Das schwere Geschütz
und die Munition kamen unter schwacher Bedeckung den Pei-ho
herauf; sie konnten leicht genommen oder in den Fluss versenkt
werden, wenn die chinesischen Feldherren nicht ganz den Kopf
verloren hätten. Bis zum 2. October waren auch alle disponibelen
Truppen aus Tien-tsin eingetroffen. — Tägliche Recognoscirungen
gegen Pe-kiṅ hatten die Verbündeten mit dem Terrain für die
nächsten Operationen und den Stellungen des Feindes vertraut
gemacht.


Als die Truppen am 3. October über den Canal rückten,
ging Lord Elgin nach Tšaṅ-kia-van zurück und erhielt dort zwei
von demselben Tage datirte Noten des Prinzen von Kuṅ.


1. Da beide Theile einig seien über Annahme des Vertrages
von 1858 und der Convention, so stehe dem Frieden garnichts im
Wege. Früher habe die Freundschaft nicht Bestand gehabt, weil
die Verträge unter dem Druck der Waffen abgeschlossen wurden
und weil man niemals genügende Aufklärung über die Bedeutung
der einzelnen Artikel erhielt. Jetzt solle der Vertrag mit Parkes,
der gut chinesisch könne, durchgegangen werden, sobald man da-
mit fertig sei, werde an Lord Elgin Meldung ergehen. »Es ist an-
zunehmen, dass gegen dieses Verfahren keine Einwendung geschieht.
Da die Erörterung aber noch im Gange ist, so kann man unmög-
[342]Vormarsch der Truppen gegen Pe-kiṅ.
lich die britischen Unterthanen zurückschicken.« Der Prinz habe
das chinesische Heer aufgefordert, sich eine Meile zurückzuziehen
und die britische Streitmacht müsse ohne Frage ein Gleiches thun.
Rückten die Truppen vor, so würden die Verhandlungen wieder
unter dem Druck der Waffen stattfinden und sich wahrscheinlich
zerschlagen; dann möchten die britischen Unterthanen in Pe-kiṅ
zu Schaden kommen. Der Prinz hat deutlich gesprochen und hofft,
dass der Dolmetscher genau übersetzt.


2. Parkes und Loch haben vier Briefe eingesandt; deshalb
muss der Prinz einen besonderen Boten schicken. Er hofft, dass
die Zweckmässigkeit seines Vorschlages erwogen wird, dass sich
beide Armeen zurückziehen und dass an einem zwischen den beiden
Stellungen gelegenen Orte durch Parkes und einen Abgeordneten
des Prinzen der Frieden auf dauerhafter Grundlage geschlossen
wird.


Mit diesem Schreiben kam ein Brief vom Consul Parkes an
Lord Elgin in chinesischen Schriftzeichen: die kaiserlichen Behör-
den ersuchten ihn, seine Bereitwilligkeit zum Unterhandeln u. s. w.
auszudrücken; ferner ein Privatbrief, um Kleider für ihn selbst und
Herrn Loch bittend. Am Rande stand hindostanisch von des
Letzteren Hand »Auf Befehl«. — Das Englische war den Chinesen
nicht geheim; einzelne hatten es in den Hafenplätzen gelernt.


Lord Elgin antwortete am 4. October, er billige durchaus
des Herrn Parkes Bemühungen um Herstellung des Friedens, finde
aber in keinem Schreiben des Prinzen eine befriedigende Antwort
auf seine wiederholt gestellte Forderung, dass die unrechtmässig
festgehaltenen Engländer ausgeliefert würden. Die unveränderlichen
Friedensbedingungen finde der Prinz in seinem Schreiben vom
25. September. — In einem Kleiderbündel erhielten Parkes und
Loch die hindostanisch geschriebene Nachricht vom Vorrücken der
Verbündeten; zugleich wurde angefragt, wo sie sich aufhielten;
worauf mit dem nächsten Schreiben des Prinzen die Auskunft kam,
dass sie im Kao-miao-Tempel wohnten.


Erst am 5. October marschirten die Verbündeten etwa pa-
rallel mit der östlichen Mauer von Pe-kiṅ weiter nach Norden.
Am 6. ging das Gros der englischen Truppen auf die den Exer-
cierplatz der Garnison begrenzenden alten Erdwälle vor der nord-
östlichen Ecke der Tartarenstadt los, wo die chinesische Streit-
macht lagern sollte. Den ganzen Tag zeigten sich kleine Schaaren
[343]Schreiben vom Prinzen von Kuṅ.
tartarischer Reiter beobachtend vor und neben den Truppen; man
wusste aber auf dem coupirten, mit Gärten, Tempelhainen und
Friedhöfen bedeckten Terrain keineswegs, ob die feindliche Armee
in der Nähe oder sonstwo stehe. Erst von der Höhe des alten
Walles sahen die Engländer, dass der Exercierplatz vom Feinde
geräumt sei. Nun schrieb Sir Hope Grant dem General Montau-
ban
, der weiter links marschirte, er denke nach dem nordwestlich
von Pe-kiṅ gelegenen Sommerpalast Yuaṅ-miṅ-yuaṅ zu rücken.
Gleich darauf zeigten sich stärkere Tartarenhaufen, welche die
englische Infanterie in den Dörfern eine Weile aufhielten und Sir
Hope Grant veranlassten, bei mehreren eine Viertelstunde vor dem
Nord-Ost-Thore gelegenen Lama-Tempeln Halt zu machen. Ge-
neral Montauban marschirte unterdessen im Einklang mit jener Mel-
dung nach Yuaṅ-miṅ-yuaṅ, wohin die englische Cavallerie, welche
ihn zufällig traf, ebenfalls vorrückte. Sir Hope Grant liess am fol-
genden Morgen einen Salut von 21 Schüssen feuern, um seine ver-
schwundene Cavallerie und die Franzosen aufzuspüren.


An demselben Morgen des 7. October scheint Lord Elgin
nach dem englischen Hauptquartier gekommen zu sein. Er empfing
an diesem Tage ein Schreiben des Prinzen von Kuṅ: Der Bot-
schafter hat seine Note vom 6. October — welche ihn verfehlte —
nicht beantwortet und die englischen Truppen rücken vor: »Was
bedeutet das? Nach Frieden sieht es nicht aus. Ein Brief des
Consul Parkes folgt beiliegend. Sind des Gesandten Absichten
wahrhaft friedlich, so hofft der Prinz, dass Derselbe die britischen
Truppen sofort einige Li zurückzieht, damit am 24. des Mondes
(8. October) ein Beamter zur Conferenz hinauskommen könne; bei
diesem Anlass sollen die jetzt in der Hauptstadt weilenden briti-
schen Unterthanen mit gebührenden Ehren zurückgeschickt wer-
den. Gehen die Truppen nicht rückwärts und hören die Feind-
seligkeiten nicht auf, so kann nicht wahre Freundschaft zwischen
den beiden Ländern bestehen. Wie wäre unter solchen Umständen
der Abschluss des Vertrages und die Auslieferung der britischen
Unterthanen zu bewirken? Das zu erwägen ist Sache Seiner
Excellenz.«


Der Brief des Consul Parkes war chinesisch, an Herrn Wade
gerichtet und vom 6. October drei Uhr Nachmittags aus dem Kao-
miao
-Tempel datirt. Die Mandarinen haben ihm gesagt, dass am
8. October die Gefangenen mit allen Ehren ausgeliefert werden
[344]Auslieferung der Gefangenen.
sollen; dass die chinesischen Feldherren ihren Truppen befohlen
haben; einige Li zurückzuweichen, damit ein ehrlicher Frieden ge-
schlossen werde. Ziehen sie sich wirklich zurück, so glaubt Parkes
annehmen zu dürfen, dass die Verbündeten nicht weiter vorgehen.


Nach reiflicher Berathung mit Sir Hope Grant beschloss
Lord Elgin den Behörden von Pe-kiṅ mitzutheilen, dass ihrer Stadt
noch immer das Unheil der Erstürmung gespart werden könne,
wenn sie die Gefangenen sofort auslieferten und eines der Stadt-
thore den Verbündeten übergäben. Letzteres sollte als Pfand die-
nen für die wirkliche Unterzeichnung der Convention und Erfüllung
aller Zusagen. — Man forderte die Chinesen auf, einen Beamten
von angemessenem Range nach einem Orte zwischen der Stadt-
mauer und dem englischen Lager hinauszuschicken. Darauf wurde
Haṅ-ki in einem Korbe von der Mauer herabgelassen und erschien
am 7. October um vier Uhr Nachmittags an dem bezeichneten Ort,
wo Herr Wade ihm das jene Forderungen enthaltende Schreiben
einhändigte und in langer Unterredung die Lage erklärte. — Am
Nachmittag des 8. October wurden die Herren Parkes und Loch,
mit einem indischen Reiter, ferner Herr d’Escayrac de Lauture mit
vier französischen Soldaten ausgeliefert. Die anderen Gefangenen
seien von Pe-kiṅ entfernt, sollten aber bald eintreffen. — Später —
am 12. October kehrten noch neun Reiter von Fane’s Regiment und
ein französischer Soldat zurück, welche den Tod des Lieutenant
Anderson, des Attaché de Normann, mehrerer indischer Reiter und
französischer Soldaten meldeten. Dann wurden am 14. October
noch zwei von Fane’s Reitern lebend und die Leichen von zwölf
anderen Gefangenen ausgeliefert, unter denen man Anderson, de
Normann
und Bowlby erkannte. Unter den den Franzosen zuge-
stellten Leichen waren nur die des Sous-Intendant Dubut und des
Colonel Grandchamps kenntlich. Undurchdringliches Dunkel schwebte
über dem Schicksal von Capitän Brabazon und Abbé Duluc, welche
am 19. September von den anderen Gefangenen getrennt worden
waren. Die Chinesen wollten nichts von ihnen wissen. Aber schon
damals ging das Gerücht, dass General Tšen-pao, bei Pa-li-kao
verwundet, sie im Zorn über die verlorene Schlacht habe hinrichten
lassen.


Die Berichte der gefangenen Parlamentäre gewähren einen
tiefen Einblick in die chinesische Gesittung. Merkwürdig contrastirt
darin der Abgrund gemeiner Bosheit und Hinterlist, barbarischer
[345]Kaiserlicher Erlass.
Rohheit, Grausamkeit und Verworfenheit in den höchsten Ständen
und der chinesisch-tartarischen Armee mit der Gutmüthigkeit und
Humanität, welche die Gefangenen durchgängig beim Volke und
selbst bei Menschen fanden, die wegen gemeiner Verbrechen
mit ihnen eingekerkert waren. Diese Episode liefert ferner einen
neuen Beweis, dass das grösste Hinderniss des guten Einvernehmens
mit China der unbändige Dünkel ist, welcher den Anspruch an-
derer Souveräne auf Gleichstellung mit dem chinesischen Kaiser nicht
begreift, der unbezähmbare Widerwillen des Himmelssohnes, diese
bis in unsere Zeit niemals erfolgreich angefochtene Eigenschaft auf-
zugeben, auf welche sich die Möglichkeit seiner Herrschaft über
ein Drittheil der Erdenbewohner wesentlich gründet.


Dass, während Prinz Tsae und Mu-yin wiederholt die Un-
terzeichnung der Convention und Erfüllung aller Forderungen ver-
sprachen, derartige Absichten keineswegs gehegt wurden, beweist
folgender am Tage der Schlacht von Tšaṅ-kia-van oder den Tag
vorher in Pe-kiṅ publicirte kaiserliche Erlass.


»Sei es, dass wir die (Bewohner der) Weltmeere besänftigten
oder sie zügelten
116)— wir behandelten sie doch alle mit demselben
Gefühl des Wohlwollens, und der Handel der Nationen der äusseren
Gewässer wurde mit keinem Verbot belegt. Die Engländer und
Franzosen jedoch fingen nach vielen Jahren des Friedens mit China,
in welchen sich lange Zeit kein Anlass zur Fehde bot, im Winter des
7. Jahres (unserer Regierung) Krieg in Kuaṅ-tuṅ an, drangen mit
Gewalt in seine Stadt und nahmen durch hinterlistigen Ueberfall die
Behörden gefangen. Da wir aber glaubten, dass der General-Gouver-
neur Yi-miṅ-tšin durch übermässige Unbeugsamkeit und Willkür
diesen Streit heraufbeschworen habe, so liessen wir nicht sogleich
Truppen marschiren zu ihrer Bestrafung. Und als im 8. Jahre der
Barbaren-Häuptling Elgin und Andere nach (der Küste von) Tien-tsin
kamen, um sich zu beschweren, geboten wir dem General-Gouverneur
Tau-tsiṅ-siaṅ sich dahin zu verfügen, ihre Sache zu untersuchen und
zu ordnen. Die Barbaren aber benutzten unseren Mangel an Bereit-
schaft, stürmten die Festungen und kamen den Fluss herauf nach
Tien-tsin. Besorgt, dass durch (des Krieges) verderblichen Einfluss
der Geist des Lebens vergiftet werde, verloren wir wenig Zeit in Er-
örterungen mit ihnen, sondern schickten sogleich den Haupt-Staats-
secretär Kwei-liaṅ und seinen Collegen ab, mit ihnen zu unterhan-

[346]Kaiserlicher Erlass.
deln, den Streit zu schlichten und den Feindseligkeiten ein Ziel zu
setzen. Da nun der Vertrag, den sie uns zu bestätigen ersuchten,
vieles mit Gewalt Erzwungene enthielt, so befahlen wir wieder Kwei-
liaṅ
und seinen Collegen nach Shang-hae zu gehen, mit dem Befehl,
den Zoll-Tarif zu berathen und festzustellen, den Vertrag in neue
Erwägung zu ziehen, und klar und zufriedenstellend einzurichten, da-
mit derselbe treulich gehalten werden könne.


Im 8. Jahre aber segelten der Barbare Bruce und Andere, —
wild, hochfahrend und unlenksam, — wieder mit Kriegsschiffen herauf,
gingen gerade auf Ta-ku los und zerstörten unsere Vertheidigungs-
anstalten, zogen sich auch nicht eher zurück, bis Saṅ-ko-lin-sin, der
höchste commandirende Officier, ihnen einen derben Schlag versetzte. —
Das brachten die Barbaren selbst über sich; die ganze Welt weiss,
dass China keinen Treubruch an ihnen verübte.


Als nun in diesem Jahre die Häuptlinge Elgin und Gros aber-
mals vor der Küste erschienen, erlaubte ihnen China, um nicht allzu
hart gegen sie zu sein, bei Pe-taṅ zu landen und auf diesem Wege
nach der Hauptstadt zu reisen, um die Ratificationen ihrer Verträge
auszutauschen. Doch verbargen diese Barbaren Gewalt in ihren Herzen;
sie brachten auf Wagen befestigte Kanonen mit, gelangten mit Fussvolk
und Reitern in den Rücken der Ta-ku-Festen und kamen wieder nach
Tien-tsin herauf, als unsere Truppen sich zurückgezogen hatten.


Da Kwei-liaṅ derjenige war, welcher im vorletzten Jahre in
Tien-tsin den Vertrag schloss, so wiesen wir ihn an, sich wieder da-
hin zu begeben und angemessene Befehle an sie zu erlassen (ihnen
gebietend das Rechte darzustellen). Noch immer hofften wir, dass die
Barbaren einigen Begriff von Anstand und Recht hätten, und gewiss
hätten wir die Grossmuth geübt, alle ihre Gesuche zu gewähren, wenn
das Zugeständniss mit Schicklichkeit gemacht werden konnte. So war
es aber nicht: Elgin stellte unmässige Forderungen; seine Habgier
wollte einen Ersatz für die Kriegskosten erpressen; er wollte die Oeff-
nung neuer Häfen erzwingen; er wollte ein grosses Heer in das kaiser-
liche Domanial-Gebiet eindrängen; unverschämt und hinterlistig betrug
er sich auf das äusserste.


Darauf schickten wir Tsae-yuen, Prinzen von Ei und Mu-yin,
Präsidenten der Kriegsverwaltung ab, um ihnen abermals den rechten
Weg zu zeigen und die verschiedenen Zugeständnisse, um welche sie
warben, mit ihnen zu erwägen und befriedigend abzumachen. Und
doch wagten diese rebellischen Barbaren ihrer Wildheit zu fröhnen;
sie drängten hart gegen Tuṅ-tšau mit ihren Truppen und erklärten,
dass sie dieselben sogar in unsere Gegenwart bringen würden.


[347]Kaiserlicher Erlass.

Wie könnten wir noch vor dem Reiche bestehen, hätten wir
länger schweigend geduldet? Wir gaben gemessenen Befehl an unsere
Truppencommandeure, Fussvolk und Reiter von allen Seiten zusammen-
zuziehen und Jene zum Tode zu bekämpfen, während die Gebildeten
und das Volk der die Hauptstadt umgebenden Bezirke entweder die Miliz
versammeln sollen, dass sie sich mit einträchtigem Herzen am Kriege
betheilige, oder Freiwillige einüben, welche seine Verbindungen be-
drängen und versperren mögen. — Wenn Jemand, sei er Officier, Sol-
dat oder ein Anderer, einem schwarzen Barbaren den Kopf abschnei-
det, so soll er 50 Tael Belohnung erhalten; wer den Kopf eines
weissen Barbaren abschneidet erhält 100 Tael Belohnung; wer einen
vornehmen Barbaren-Häuptling gefangen nimmt, erhält 500 Tael Be-
lohnung; wer ein Barbarenschiff verbrennt, erhält 5000 Tael Beloh-
nung. Alle unsere Schätze sollen darauf verwendet werden.


Das Volk von Tien-tsin galt immer für patriotisch und tapfer;
gewiss fühlt es dieselbe Feindschaft wie wir, theilt unseren Hass und
wird im offenen Felde und im Hinterhalt kämpfen, bis der verpestende
Hauch des Aufruhrs erstickt ist.


Wir sind kein kriegslustiger Herrscher, noch jemals zu Streit
geneigt; und die Beamten wie das Volk des Reiches werden ohne
Frage unseren Schmerz über die so verzweifelte Lage der Dinge
begreifen.


Was diejenigen Eingebornen von Fu-kian und Kuaṅ-tuṅ angeht,
welche die Barbaren gefangen nahmen, so sind auch alle diese unsere
Kinder. Und wenn einer von ihnen sich befreien und zu uns zurück-
kehren oder uns mit dem Kopfe eines Barbaren-Häuptlings beschenken
will, so soll er dafür auch reichlich belohnt werden. Diese Barbaren
kommen 10,000 Li von ihrer Heimath her um ihre Waaren zu ver-
breiten. Verstockte und schändliche Betrüger allein haben sie durch-
aus darin gefördert, bis die Dinge zu dem jetzigen unheilbaren Zu-
stande gediehen sind.


Es liegt uns ferner ob, zu gebieten, dass ihnen alle Häfen ge-
schlossen und der Handel abgeschnitten werden. Die anderen Völker,
welche ehrerbietig und gehorsam sind, sollen, wenn sie fortfahren in
Frieden ihren Geschäften nachzugehen, nicht beunruhigt noch belästigt
werden. Und wenn diese nämlichen Barbaren nach Ausgabe dieser
unserer ernsten Vermahnung und deutlichen Anweisung befähigt sind,
zu einem Gefühl ihrer Uebertretung zu erwachen, sie zu bereuen und
Treue zu geloben (zu ihrer Lehnspflicht zurückzukehren), so wollen
wir ihnen auch ferner gestatten, in den bisher offenen Häfen den Han-
del fortzusetzen, als Zeichen unserer allumfassenden Menschenliebe.

[348]Verhandlungen in Tuṅ-tšau.
Wenn sie aber, auf ihrem Sinn beharrend, kein Einsehen haben, wenn
sie, ihr Gewissen unterdrückend, mit ihren Gewaltthaten fortfahren,
so müssen unsere Feldherren und Krieger und unsere Freiwilligen aus
dem Volke die äussersten Anstrengungen zu ihrer Ausrottung machen,
nachdem sie einen Eid geschworen, dass die verhasste Brut gänzlich
vertilgt werden soll. — Mögen sie bei Zeiten klug sein.


Beachtet dieses.«


Offenbar erliess der Kaiser dieses Manifest, als Tsae und
Mu-yin ihm nach dem Besuche der Herren Wade und Parkes Be-
richt erstattet hatten. Dass Lord Elgin mit tausend Mann nach
Pe-kiṅ kommen wollte, schlug dem Fass den Boden aus. Saṅ-
ko-lin-sin
schob seine Truppen nach Tšaṅ-kia-van vor, und hoffte
die Verbündeten auf dem für sie bestimmten Lagerplatz zu um-
zingeln. Tsae und Mu-yin mussten zum Schein die Verhandlungen
fortsetzen, als Consul Parkes am Morgen des 17. September wieder
nach Tuṅ-tšau kam. Die Commissare empfingen ihn mit äusserster
Freundlichkeit, gingen auf die meisten Vorschläge ein und erhoben
ernsten Einspruch nur gegen die persönliche Ueberreichung des
königlichen Handschreibens an den Kaiser. Dasselbe solle in ehr-
erbietigster Form von einem dazu ermächtigten Prinzen oder Com-
missar entgegengenommen, auch eine eigenhändige Antwort ertheilt
werden; nur dürfe es keine Audienz veranlassen. Herr Parkes
bezeichnete das königliche Schreiben als ein Zeichen der Ach-
tung und Freundschaft, fand aber keinen Anklang, und ersuchte
die Commissare, sich bei der nahen Conferenz mit Lord Elgin
selbst darüber zu verständigen. Sie verlangten jedoch hartnäckig,
dass die Frage sofort entschieden werde, so dass Herr Parkes end-
lich weitere Erörterungen ablehnte. Offenbar suchte man einen Streit-
punct, der nach den früheren Zugeständnissen keinen Argwohn er-
regte. — Nachmittags besprachen die Commissare sich mit den französi-
schen Beamten, welche eben so wenig Verdacht schöpften. Am Abend
las Parkes die von Herrn Wade verfasste Proclamation an die Bevölke-
rung vor, welche der Prinz sehr lobte und sofort für den Druck zu schnei-
den befahl. Dann wurden noch Officiere bezeichnet, welche die Vorbe-
reitungen auf dem Lagerplatz, und andere, welche die Einrichtungen für
den Proviant mit ihm treffen sollten. Abends trennte man sich mit
gegenseitigen Glückwünschen wegen Feststellung der Präliminarien.


Als am 18. September die Herren Colonel Walker, Parkes
und Loch mit einigen Mann Escorte und den ihnen beigegebenen
[349]Consul Parkes in Tuṅ-tšau.
chinesischen Officieren nach dem designirten Lagerplatz ritten,
fanden sie, wie gesagt, jenseit Tšaṅ-kia-van an der Landstrasse
maskirte Batterieen und Truppenmassen, die, mit vorgeschobenen
Reitervedetten, eben in Schlachtordnung aufgestellt wurden. Von
den Officieren erhielt Herr Parkes ungenügende Auskunft, und ritt
nun mit einem Königsdragoner von der Bedeckung nach Tuṅ-tšau
zurück, um die Commissare zur Rede zu stellen und seine Gefähr-
ten zu holen. Herr Loch setzte seinen Weg fort. Colonel Walker
blieb mit vier Reitern in den feindlichen Linien.


Die Franzosen, welchen Herr Parkes begegnete, trieb er zur
grössten Eile an. In Tuṅ-tšau musste er sich fast mit Gewalt in
die Gegenwart der Commissare drängen, deren Haltung durchaus
verwandelt war. Er fragte nach dem Zweck der um den Lagerplatz
der Verbündeten aufgestellten Truppen; die folgende Unterredung
schrieb er gleich darauf nieder.


Prinz Tsae. Wir sind nicht Militärbehörden und haben über
die Truppen keine Verfügung.


Herr Parkes. Aber Euere Excellenzen haben als kaiserliche
Commissare gewiss die Macht, ihre Generale zu Vermeidung von
Feindseligkeiten anzuweisen; und ein Zusammenstoss droht jetzt zu
erfolgen zwischen den Truppen, von denen ich eben sprach, und
der Colonne der Verbündeten, welche in kurzem denselben Platz
erreichen muss. Wollen Sie deshalb das schleunige Zurückziehen
der Truppen anordnen?


Prinz Tsae. Nur wenn der Frieden hergestellt ist, können
wir unsere Truppen anweisen, sich zurückzuziehen.


Herr Parkes. Ich glaubte, dass der Frieden von Ihnen
selbst und den Alliirten beschlossen sei. Sind nicht alle Prä-
liminarien in unseren Zusammenkünften erörtert und festgestellt
worden?


Prinz Tsae. Das finden wir nicht. Du hast einen wesent-
lichen Punct unentschieden gelassen: den der Audienz.


Herr Parkes. Ich erklärte Eueren Excellenzen, dass ich in
diesem Puncte ohne Instruction sei, versicherte aber auch, dass er
ein anderes Mal entschieden werden könne; und die Thatsache, dass
ich dafür nicht instruirt war, beweist, dass von dieser Frage nicht
Krieg und Frieden abhing.


Prinz Tsae. Wir sehen die Sache anders an und bleiben
dabei, dass kein Frieden sein kann, bis dieser Punct endgültig ent-
[350]Consul Parkes vor Saṅ-ko-lin-sin.
schieden ist. Ehe der Frieden geschlossen ist, können unsere
Truppen sich nicht zurückziehen.


Herr Parkes. Ich bedauere, Euere Excellenxen in diesem
Tone reden zu hören. Wenigstens hätten Sie mir das gestern
erklären sollen. Ich kann nur zurückkehren und Lord Elgin berich-
ten, was Sie jetzt sagen.


Prinz Tsae. Du kannst weit mehr thun, wenn du willst;
du kannst die Sache gleich abmachen, aber das willst du nicht.


Herr Parkes. Ich kann nur wiederholen, dass ich keine
Vollmacht habe, irgend Derartiges zu thun. Alles was ich thun
kann ist, zu Lord Elgin zurückzukehren.


Während dieses Gespräches wetteiferten die den Prinzen
umgebenden Mandarinen, Herrn Parkes in unverschämtem Ton zu
überschreien, ohne dafür zurechtgewiesen zu werden.


Unterdessen war Herr Loch, — welcher, beunruhigt um
seine Gefährten, nach Beförderung des Briefes an Lord Elgin in
die feindlichen Linien zurückkehrte, — mit Capitän Brabazon in
Tuṅ-tšau angekommen; sie ritten jetzt mit Herrn Parkes und den
anderen dort zurückgebliebenen Engländern, Franzosen und Indern
nach Tšaṅ-kia-van. Jenseit dieser Stadt in den chinesischen
Linien angelangt, hofften sie in etwa zehn Minuten heraus zu sein,
als das Feuer begann. Tartarische Reiter verlegten ihnen den
Weg; Herr Parkes und Herr Loch sollten mit einem indischen
Reiter zu einem höheren Officier in der Nähe geführt werden; sie
sowohl als ihre zurückbleibenden Gefährten hatten Parlamentär-
flaggen. Unterwegs geriethen sie unter einen Haufen Fussvolk,
dessen Officiere mit Mühe das Schiessen auf die Engländer ver-
hinderten. Der chinesische General hielt jenseit eines Canales;
Parkes und Loch mussten absteigen und in einem Boote übersetzen.
Da ritt ein anderer Mandarin zu jenem heran und von allen Seiten
erscholl es »der Fürst«. Es war Saṅ-ko-lin-sin. — Nun wurden
Parkes und seine Gefährten gewaltsam vorwärts gestossen und jen-
seit des Canales vor dem Fürsten zu Boden geworfen. Dieser
fragte barsch nach den Namen; Parkes gab von seiner Sendung
Rechenschaft und verbat sich die schimpfliche Behandlung, worauf
der Mongole ihn anfuhr: warum er nicht die Frage der Audienz
erledigt habe? »Weil ich dazu nicht ermächtigt war.« — »Höre«,
erwiedert Saṅ-ko-lin-sin, »du kannst verständig reden. Zwei
Siege habt ihr gewonnen gegen einen von uns. Zweimal wagtet
[351]Parkes und Loch nach Pe-kiṅ transportirt.
ihr die Pei-ho-Festen zu nehmen; warum stellt euch das nicht zu-
frieden? Und nun erkühnt ihr euch auszusprechen« — das bezog
sich auf die Proclamation, — »dass ihr jede Streitmacht angreifen
werdet, die eueren Marsch auf Tuṅ-tšau hemmt? Das thue ich
jetzt. Du sagst, dass du die Kriegführung nicht leitest; aber ich
kenne deinen Namen und weiss, dass du an allem Uebel schuld
bist, das dein Volk begeht. Du hast auch vor dem Prinzen von
Ei freche Reden geführt. Es ist Zeit, dass euch Fremden Respect
gelehrt werde vor chinesischen Edelen und Ministern.« — Die Er-
wiederungen des Herrn Parkes verlachte der Mongolenfürst und
befahl den Soldaten, denselben zu ihm in ein nah gelegenes Haus
zu bringen; dort wurde er wieder auf die Knie geworfen. Saṅ-
ko-lin-sin
fragte, ob Parkes für ihn schreiben wolle, dass die
Engländer den Angriff einstellen möchten. Das könne nichts nutzen,
erwiederte dieser, da er auf die Operationen des Heeres keinen
Einfluss übe. — »Ich sehe«, sagte der Fürst, »dass du halsstarrig
bist und mir nichts nutzen kannst.« Dann befahl er, Parkes, Loch
und den indischen Reiter zum Prinzen von Ei, alle Uebrigen aber
nach Tšaṅ-kia-van zu führen. — Herr Parkes und seine Begleiter
wurden mit zwei französischen Soldaten, die sie vorher nicht ge-
sehen hatten, in eine schlechte Karre gepackt und fortgefahren, als
eben ein französischer Officier — offenbar Herr Ader, — übel zu-
gerichtet nach dem hause gebracht wurde.


Die Fahrt der fünf Gefangenen ging zunächst nach Tuṅ-tšau,
von da in schneller Gangart auf Pe-kiṅ zu, die Kreuz und die
Quere, da Prinz Tsae nicht zu finden war; die escortirenden
Reiter — funfzig Mann — erbauten sich sichtlich an den durch
das Stossen des Karrens verursachten Qualen und höhnten sie
grimmig. Endlich gelangte man in ein Lager; die Gefangenen
mussten aussteigen und wurden vor einem General wieder zu Boden
geworfen; Parkes stellte sich ohnmächtig, um weiteren Fragen zu
entgehen. Nachdem man ihre Taschen geleert, brachte man sie in
einen Tempel zum Verhör vor einem Mandarin aus dem Gefolge
des Prinzen Tsae, Tsiṅ-tad-žen, welcher eben drohte, Parkes
foltern zu lassen, als er abgerufen wurde. Draussen entstand
Getümmel. Soldaten stürzten mit blanker Waffe herein, zerrten
die Gefangenen aus dem Tempel und banden ihnen die Hände auf
den Rücken. Das Lager wurde abgebrochen, in wilder Bestürzung
lief Alles durcheinander. Die Gefangenen wurden wieder in einen
[352]Die Gefangenen im Kerker.
Karren geworfen, dann aber, weil die Fahrt zu langsam ging, in
zwei vertheilt. Des Gebrauches ihrer Hände beraubt, litten sie
furchtbar unter dem Stossen auf den ausgefahrenen Steinplatten.
Oft stockte die Fahrt; Reiterei avancirte gegen Tuṅ-tšau, während
andere Truppentheile und das Gepäck in vollem Rückzug begriffen
waren. Der Prinz von Ei, Mu-yin und Haṅ-ki kamen, nach
Pe-kiṅ eilend, in Sänften vorüber, ohne der Gefangenen zu achten.
Der Diese geleitende Tsiṅ-tad-žen zeigte bei ihrer ersten Bitte um
etwas Erleichterung und Wasser eine so teuflische Freude, dass
sie nachher schwiegen. Die Fahrt dauerte von halb drei bis Dun-
kelwerden; dann wurden die Gefangenen noch im Triumph durch
die Strassen von Pe-kiṅ gefahren und gegen acht Uhr in einem
Hofe abgesetzt, auf dessen Laternen Parkes mit Schaudern die In-
schrift »Strafverwaltung« las.


Man schleppte die Gefangenen der Reihe nach in ein
schmutziges Gemach, wo Mandarinen niederen Ranges sie verhörten.
Nur Parkes konnte die unerheblichen Fragen beantworten; die An-
deren kannten die Sprache nicht. Alle Gefangenen wurden mit
schweren Ketten beladen und durch mehrere Höfe nach getrennten
Kerkerräumen gezerrt. Parkes fand sich mit etwa siebzig wild
aussehenden Kerlen in demselben Behältniss. Seine Fesselung be-
stand in einer langen Kette, die von einem eisernen Halsband über
den Rücken herabhing; Hände und Füsse wurden mit anderen
Ketten daran festgeschlossen. Die Schergen warfen ihn auf ein
Brett und befestigten seine Ketten an eine von der Decke herab-
hangende, schleppten ihn aber schon gegen Mitternacht wieder
zum Verhör vor jene Mandarinen. Man warf ihn auf die Knie und
drohte im voraus mit Folterung. Noch ehe eine Frage gestellt
war, fassten vier Schergen ihn bei den Ohren, den Haaren und dem
Bart und misshandelten ihn jedes Mal, wenn der Verhörende ihn
anfuhr. Als er, nach seinen Vorgesetzten gefragt, deren Rang in
chinesischen Ausdrücken nannte, schrie Jener ihm zu, dass kein
Fremder sich solche Titel anmaassen dürfe. Parkes sagte darauf
die englischen; die Unmöglichkeit, dieselben nach dem Klange
niederzuschreiben, zwang aber die Mandarinen, sich die chinesischen
wiederholen zu lassen. Nun musste er über die Truppenzahl der
Verbündeten, über Machtverhältnisse in England und Indien be-
richten und wurde nach den meisten Antworten misshandelt. Auf
die Frage nach dem englischen Fürsten »Waṅ« erwiederte Parkes,
[353]Consul Parkes im Kerker.
es gebe in England und Indien viele Fürsten; alle aber ständen
unter einem einzigen Souverän, wie in China. »Was ist das für
eine Sprache«, schrieen die Mandarinen, »du selbst hast gesagt,
dass du so lange in China bist; du kannst unsere Sprache reden
und unsere Bücher lesen und musst also wissen, dass es nur Einen
Kaiser giebt, der über alle Länder herrscht. Deine Pflicht ist es, diese
überlegene Kenntniss deinen Landsleuten mitzutheilen, statt sie in
ihren verrückten Ansichten zu bestärken.« — Sie glaubten, dass
Verräther in Pe-kiṅ seien und wollten Parkes zwingen, solche zu
nennen: er selbst müsse oft verkleidet dort gewesen sein. Das
glaubten sie wegen seiner guten Aussprache der in Pe-kiṅ ge-
sprochenen Mundart.117) Am Schlusse des Verhörs erlaubten sie
ihm, selbstständig Aussagen zu machen, liessen ihn aber unter
Schmähungen misshandeln und fortschleppen, als er nach Consta-
tirung der Thatsachen Gerechtigkeit forderte.


Herr Parkes blieb nun bis zum 22. September in demselben
Kerker, streng bewacht von vier Schliessern, welche jede Be-
mühung vereitelten, mit Herrn Loch, der in einem anderen Raume
weilte, Gedanken auszutauschen. Während dieser Tage besuchten
das Gefängniss viele hohe Staatsbeamte, darunter der Präsident
und die Beisitzer des Strafgerichtshofes, mehrere Censoren und
Präsidenten von Ministerien. Viele liessen Herrn Parkes in den
Hof hinausführen und vor sich auf die Knie werfen, um ihn zu
höhnen und zu beschimpfen. Dagegen behandelten ihn fast alle
Mitgefangenen, — lauter Menschen aus den niedersten Volksclassen,
darunter Diebe und Mörder, — freundlich, ehrerbietig und mitleidig.
Sie nannten ihn bei seinem Titel, halfen ihm seine Ketten tragen
und lauschten aufmerksam seinen Worten. Viele waren durch
Schmutz und schlechte Nahrung abgezehrt, voller Wunden und
Schwären, in denen die Würmer nagten; der Geruch war entsetz-
lich. — Die Regierung giebt den Gefangenen nur die kärglichste
Nahrung, bei der sie langsam verschmachten. Wasser, Thee, Reis,
Licht und Brennholz werden nur gegen hohe Vergütung von den
Schliessern gereicht; ein Theil des Strafmaasses wird Denjenigen
erlassen, welche sie leisten können. — Herr Parkes war auf der
im Kerker aufgehängten Liste als Aufrührer und einer von fünf
III. 23
[354]Parkes im Kerker.
Verbrechern aus der Gesammtzahl von 73 bezeichnet, welche die
schwersten Ketten tragen mussten. Dennoch befahlen die Manda-
rinen, ihm essbare Nahrung, d. h. zweimal täglich Reis oder Nu-
deln mit etwas Fleisch oder Gemüse, Thee und Tabak zu geben,
welche der vermögendste unter den Mitgefangenen bezahlen musste;
— und gerade dieser behandelte ihn am gütigsten.


Am 22. September erhielt Parkes mit seinen vier Wächtern
einen besonderen Raum von acht Fuss im Geviert. Der Kerker-
meister liess ihn nicht mehr, wie sonst, vor sich knieen. — An
demselben Tage zeigte der Prinz von Kuṅ Lord Elgin seine Bevoll-
mächtigung an. — Parkes wurde gefragt, ob er nicht einen Brief
schreiben oder auf andere Weise für Ausgleichung des Streites
wirken könne. Dann erschien Haṅ-ki, stellte sich sehr mitleidig
und beschwor ihn, den Frieden herzustellen, verweigerte aber jede
Mittheilung der letzten Ereignisse und meldete nur die Ernennung
des Prinzen von Kuṅ. Da er beim Scheiden versprach, bald wie-
der zu kommen, am 23. und 24. September aber nicht erschien, so
schrieb Parkes auf seine chinesische Karte die Bitte um Haṅ-ki’s
Besuch. — Prinz Kuṅ sandte dieselbe an Lord Elgin, als Zeichen,
dass der Gefangene sich wohl und in bequemer Lage befinde.


Am 26. September erschien Haṅ-ki mit zwei Kerkermeistern
und hielt eine lange Rede: Der grosse Staatsrath habe Sitzungen
gehalten wegen der auswärtigen Beziehungen; er sehe die jetzigen
Feindseligkeiten der Alliirten ganz anders an als alle früheren Kriege;
diese seien nur gegen die Vicekönige geführt worden, jene be-
drohten den Thron. Der Kaiser wolle sich aus Vorsicht nach
seinem Jagdschloss Džehol in der Tartarei zurückziehen und die
Hülfe der 48 Mongolen-Fürsten anrufen, von denen jeder gegen
20,000 Mann stellen könne. Würde Pe-kiṅ genommen und die
kaiserliche Kriegsmacht über die Reichsgrenze gedrängt, so zer-
fiele das Reich, und mit dem Handel wäre es zu Ende. Wollte man
es darauf wagen? Die Majorität der Prinzen und Minister seien
dafür. Die Prinzen von Tšiṅ, von Ei und Saṅ-ko-lin-sin behaup-
teten, dass kein Frieden mit den Fremden möglich sei, weil sie
immer neue Forderungen stellten; der auswärtige Handel sei China
schädlich u. s. w. Der Prinz von Kuṅ aber wünsche andere Wege
einzuschlagen und diese möge Herr Parkes bezeichnen. Thue er
das nicht, so müsse er das Ziel der Volkswuth werden, die sich
im Augenblick der äussersten Noth nicht bändigen lasse.


[355]Verhandlungen mit Haṅ-ki.

Consul Parkes gab angemessene Antworten, hielt Haṅ-ki
die Doppelzüngigkeit der chinesischen Staatslenker vor und ver-
wies ihn auf Lord Elgin’s Forderungen. Haṅ-ki gestand, dass ein
Notenwechsel zwischen dem Prinzen und dem Botschafter im Gange
sei, wollte aber weiter nichts sagen und kam immer wieder auf die
Nothwendigkeit, dass Herr Parkes an Lord Elgin schreiben und
Alles in Gang bringen müsse. Dieser weigerte sich standhaft jeder
Einmischung und verlangte, mit Herrn Loch und chinesischen Com-
missaren, die friedfertige Eröffnungen machen könnten, nach dem
englischen Hauptquartier gesandt zu werden. Haṅ-ki drohte zu-
letzt ziemlich offen, und schied, wie er sagte, mit dem Bewusstsein,
dass er dem Prinzen nichts Befriedigendes mitzutheilen habe.


Am 28. September erschien Haṅ-ki mit einem Officier des
Prinzen von Kuṅ: Letzterer habe von seinen Privat-Unterredungen
mit Herrn Parkes gehört und ihn holen lassen; er missbillige die
Behandlung der Gefangenen und schiebe die Schuld auf Saṅ-ko-lin-
sin
. Der Prinz verfolge trotz der herbsten Kritik in Leitung der
auswärtigen Angelegenheiten ganz andere Wege als seine Vor-
gänger. Er werde, was immer geschehen möge, gegen die Fremden
die Gesetze der Billigkeit und Courtoisie beobachten. Parkes solle
unverzüglich gute Wohnung und alle Bequemlichkeit erhalten; da-
für müsse er aber die Verbündeten überreden, sich gleich dem
Prinzen von edlen Grundsätzen leiten zu lassen. — Parkes erwie-
derte, dass Rechtsgefühl und Courtoisie seine Landsleute nach wie
vor leiten würden, und dass Verleugnung derselben seitens der
chinesischen Regierung den Krieg veranlasst habe. Mit Gerechtig-
keit und Courtoisie auf ihrer Seite sei gewiss ein Ausgleich her-
beizuführen. »Hört«, sagte Haṅ-ki, »er betheuert, dass sein Volk
gerecht handeln wird! Nehmt ihm die Ketten ab!« — Nun er-
zählte er vom ungewissen Ausgang der Unterhandlungen; Herr
Parkes müsse zum Dank für die bewiesene Milde den Prinzen da-
bei unterstützen. Jener bat, das ablehnen zu dürfen, damit die
Chinesen sich im Falle des Misslingens nicht an ihm rächten, hielt
dem Mandarin die ganze Schändlichkeit des geübten Frevels vor
und verwies ihn auf den Brauch der civilisirten Völker. Nach
langem Reden schied Haṅ-ki mit der Eröffnung, dass Consul Parkes
am folgenden Tage abgeholt werden solle; Dieser weigerte sich
aber, den Kerker ohne Herrn Loch zu verlassen. Das hiesse neue
Schwierigkeiten machen, erwiederte Haṅ-ki; er müsse dann erst
23*
[356]Die Gefangenen im Kao-miao-Tempel.
wieder Verhaltungsbefehle einholen. — Bald kam er wieder; wenn
Parkes schriftlich erkläre, dass der Prinz ausnehmend gütig gegen
ihn gewesen und ein Mann von hoher Begabung und Weisheit sei,
so möge auch Herr Loch das Gefängniss verlassen. Dessen wei-
gerte sich Herr Parkes: er verlange keine Gunst, sondern Gerechtig-
keit; des Prinzen Fähigkeiten könne er nicht beurtheilen und von
seiner Güte habe er keinen Beweis, so lange er im Kerker sitze
und nicht als Kriegsgefangener behandelt werde, sondern als Ver-
brecher. Auf angemessenen Vortrag werde der Prinz ihn sicher aus
der schimpflichen Lage befreien.


Der listige Haṅ-ki bemühte sich auch ferner vergebens.
Am 29. September brachte er die Weisung, Parkes und Loch
aus dem Kerker zu ziehen und nach dem Kao-miao-Tempel in
der Nähe des nordöstlichen Thores, Gan-tiṅ-men zu bringen. Das
geschah in zwei Karren, unter starker Bedeckung. Ihr Gemach im
Tempel war zwanzig Fuss lang und zehn breit, mit Ausgang auf
einen Hof von vierzig Fuss im Geviert, den sie benutzen durften.
»Zu ihrer Bedienung« wohnten im Vorzimmer acht Schliesser aus
dem Gefängniss; am Eingang und rings um das Gebäude hielten
Soldaten Wache. Man versah die Gefangenen mit allen Bequem-
lichkeiten, guter Nahrung, sogar mit Handtüchern, Seife und Schreib-
material. Parkes stellte darauf folgendes Zeugniss aus:


»Herr Loch und ich werden von den chinesischen Behörden
jetzt gut behandelt; man sagt uns, dass es auf Befehl des Prinzen
von Kuṅ geschieht. Man sagt uns auch, dass Seine Hoheit ein
Mann von grosser Entschlossenheit und Klugheit ist, und ich meine,
dass unter diesen Umständen die Feindseligkeiten eine Weile suspen-
dirt werden können, um Gelegenheit zu Unterhandlungen zu geben.«


Haṅ-ki und andere Würdenträger kamen nun täglich: Krieg
und Frieden, Recht und Unrecht. Verrath und Treue, Barbarei und
Cultur wurden eingehend besprochen. Die Invasion eines Landes
und das Anrücken auf die Hauptstadt, meinten die Chinesen, streite
gegen Recht und Vernunft; nähmen die Alliirten Pe-kiṅ, so wür-
den die Vicekönige der Provinzen gegen sie zu Felde ziehen. Herr
Parkes erinnerte sie dagegen an die Invasion der Mandschu und
den Aufstand im Süden. — Am 1. October verlangte Haṅ-ki, er
möge Lord Elgin schriftlich ersuchen, die Armee der Verbündeten
10 oder 20 Li zurückzuziehen und Verhandlungen auf neutralem
Gebiet einzuleiten. Herr Parkes verstand sich nur zu dem zweiten
[357]Weitere Verhandlungen.
Vorschlag, schrieb in diesem Sinne an Lord Elgin und fügte
Privatbriefe bei, für den Fall, dass der Prinz sie befördern möge.
Am 3. October meldete ihm Haṅ-ki, dass sie nicht abgeschickt
seien, weil Lord Elgin nach seiner Antwort die Verhandlungen
»zwischen den beiden Heeren«, nicht, wie beantragt wurde, »auf
neutralem Gebiet« haben wollte. Es kostete viel Mühe, ihm den
gleichen Sinn beider Ausdrücke begreiflich zu machen.


Von den Schliessern brachte Herr Parkes heraus, dass die
Verbündeten bei Pali-kao standen; Haṅ-ki suchte ihn im Dunkeln
zu halten, zu überlisten. Statt der Originale zeigte er ihm Aus-
züge von Lord Elgin’s Noten und verlangte deren Auslegung: ob
danach von der Audienz abgestanden, ob nichts Anderes verlangt
würde, als Erfüllung des Vertrages von Tien-tsin, u. s. w. Erst
am 3. October gab er Herrn Wade’s Brief ab, der gleich nach Em-
pfang der Karte aus dem Kerker mit der Bitte um Haṅ-ki’s Be-
such eingeschickt worden war. Darin stand: »Unsere Granaten
können mit Leichtigkeit die Stadt zerstören; und wenn Ihnen Lei-
des geschieht, so wird Pe-kiṅ von einem Ende zum anderen ver-
brannt.« Aus diesem Briefe erfuhr Herr Parkes auch zuerst, dass
seine Gefährten, die er bei Tšan-kia-van verliess, gefangen seien.
Haṅ-ki wollte nichts von ihnen wissen; er habe nur zufällig von
einigen Fremden im Lager Saṅ-ko-lin-sin’s gehört. — Parkes ant-
wortete am 3. October und erhielt am 4. die Versicherung, dass
nun auch alle seine früheren Briefe befördert seien. Am 5. gab
Haṅ-ki nach heftigem Sträuben einen Brief von Herrn Wade vom
4. October heraus; er kannte den Inhalt dieses wie aller anderen
aus der beigefügten Uebersetzung: vor Auslieferung der Parlamen-
täre werde Lord Elgin nicht auf Verhandlungen eingehen; wollten
die kaiserlichen Behörden sich nicht fügen, so nähmen die Feind-
seligkeiten ihren Fortgang; geschähe den Gefangenen Leides, so
würde Pe-kiṅ bombardirt; dessen Zerstörung müsse den Sturz der
Dynastie bewirken; im Süden machten die Tae-piṅ ungeheuere
Fortschritte. Parkes las den Brief laut vor Haṅ-ki und einem an-
deren Grossen, welche umsonst nach Fassung rangen: man könne
die Forderungen nicht bewilligen; die Dinge müssten ihren Lauf
nehmen. Sie schieden, kehrten aber zweimal um: ob es denn gar
keinen Ausweg gäbe! Befreit würden die Gefangenen zur Rache
drängen. Der Prinz wünsche Parkes vor der Auslieferung zu
sprechen; das könne erst in zwei bis drei Tagen geschehen.


[358]Weitere Verhandlungen.

Am 6. October erschien Haṅ-ki gegen Mittag: er habe die
Nacht über mit dem Prinzen den Vertrag von 1858 und die Con-
vention durchgearbeitet; Dieser wolle beide annehmen und in drei
Tagen die Gefangenen ausliefern, wenn die Verbündeten sich, wie
die chinesischen Truppen, einige Li zurückzögen. Das möge Herr
Parkes Lord Elgin schreiben. Der Prinz wünsche von ihm Er-
klärungen über einige Puncte des Vertrages, über die stehende
Gesandtschaft, die Kriegskosten und die Räumung der besetzten
Plätze. Parkes gab sogleich darüber Auskunft, weigerte sich
aber, die Zurückziehung der Truppen vorzuschlagen, und schrieb
nur die früher erwähnten Zeilen an Herrn Wade. — Auf Haṅ-ki’s
Wunsch schrieb er ferner Folgendes nieder: »Wenn Herr Loch,
ich selbst und alle anderen Gefangenen in angemessener Weise
ausgeliefert werden, so wird die britische Regierung keine Rache
nehmen. — So weit ich die jetzige Lage beurtheilen kann, be-
absichtigt die britische Regierung nicht, neue Forderungen gegen
die chinesische zu erheben, wenn letztere sich zu Annahme der
Bestimmungen des Vertrages von 1858 und der Convention von
Tien-tsin ohne jede Beschränkung versteht.«


Am 7. October Morgens hörte man im Kao-miao-Tempel,
welcher innerhalb der nördlichen Stadtmauer der Stellung der
Engländer bei den Lama-Tempeln nahe lag, sehr deutlich die zu
Orientirung der Franzosen gefeuerten Kanonenschüsse. In grosser
Erregung kam Haṅ-ki, nach deren Bedeutung zu fragen. Er konnte
nicht mehr verbergen, dass der Feind vor dem Thore stand, dass
der Sommerpalast besetzt, der Prinz von Kuṅ noch bei Zeiten, er
selbst mit genauer Noth entronnen sei. Die Thore der Haupt-
stadt habe er verschlossen gefunden und sei in einem Korbe auf
die Mauer gehisst worden. Herr Parkes stellte ihm vor, dass jetzt
nur schleunige Auslieferung der Gefangenen retten könne; Haṅ-ki
wusste aber nicht, wie das unter dem Kanonendonner zu machen
wäre. Er versprach bald wieder zu kommen, erschien aber den
ganzen Tag nicht. Auf Anfrage in seinem Hause erfolgte Nach-
mittags der Bescheid, er habe sich von der Stadtmauer hinabwin-
den lassen, wahrscheinlich um den Prinzen von Kuṅ zu suchen. —
Die Schliesser und Wachen waren ein Bild der Angst und Be-
stürzung.


Am Morgen des 8. October kam Haṅ-ki, erschöpft und be-
kümmert: den Prinzen hatte er nicht erreichen können, der war zu
[359]Befreiung der Gefangenen in Pe-kiṅ.
weit; deshalb schrieb er Lord Elgin, die Gefangenen sollten sofort
ausgeliefert werden, wenn die Truppen aus dem Sommerpalast ent-
fernt würden, den sie eben plünderten. Zu gleicher Zeit war Lord
Elgin’s Schreiben gekommen, das zu einer Zusammenkunft vor dem
Ti-šiṅ-Thore um vier Uhr Nachmittags aufforderte. Haṅ-ki habe
sich dort eingefunden; aber die Alliirten verlangten jetzt ausser
Freigebung der Gefangenen auch noch die Auslieferung eines Stadt-
thores; das sei ganz unmöglich. Herr Parkes las das Schreiben
der Generale und rieth zu Fügsamkeit. — Einige Augenblicke waren
die Aussichten wieder sehr düster; endlich erklärte Haṅ-ki, die
Auslieferung der Gefangenen solle Nachmittags erfolgen. Gegen
zwei Uhr meldete er, dass alle versammelt seien; unter starker Be-
deckung fuhr man sie, jeden in einem Karren, nach dem Nord-
West-Thore Se-tši-men. Hinter ihnen wurden die Thorflügel
zugeworfen. Kein Chinese wagte sich hinaus; sie mussten sich den
Weg nach dem Lager selbst suchen.


Die anderen der Sprache unkundigen Gefangenen in Pe-kiṅ
wurden ähnlich behandelt wie Herr Parkes, dessen männliche
Haltung auf das Schicksal aller den besten Einfluss übte.118) Viel
trauriger war das Loos derjenigen, welche auf Saṅ-ko-lin-sin’s
Befehl bei Beginn der Schlacht nach Tsaṅ-kia-van gebracht wer-
den sollten. Gleich nachdem Parkes, Loch und der indische Reiter
sich von ihnen trennten, wurden Jene von dichten Haufen umdrängt,
mussten absteigen und ihre Waffen abliefern. Nachher gab man
ihnen die Pferde wieder und führte sie zum Uebernachten nach
einem Tempel zwischen Tuṅ-tšau und Pe-kiṅ. Am 19. September
Morgens mussten sie nach Pe-kiṅ reiten. Ueber die Art und die
Veranlassung, auf welche Capitän Brabazon und der Abbé Duluc
sich unterwegs von ihnen trennten oder getrennt wurden, finden
sich nirgend bestimmte Angaben; es hiess, sie gingen nach dem
englischen Lager. Wahrscheinlich sollten sie als Parlamentäre
dienen und fielen bei der schnellen Niederlage an diesem Tage der
ohnmächtigen Wuth des Tartaren-Generals zum Opfer. — Die an-
deren Gefangenen wurden im Triumph durch die Strassen von Pe-
kiṅ
, dann nach dem Sommerpalast Yuaṅ-miṅ-yuaṅ geführt und
auf einem Hofe je sechs zusammen in Zelten untergebracht, Euro-
[360]Schicksale der anderen Gefangenen.
päer und Inder gesondert. Nach zweistündiger Ruhe holte man
sie heraus unter dem Vorwande, dass sie sich waschen sollten.
Sie mussten niederknieen; ihre Hände wurden rücklings mit den
Füssen zusammen geknebelt; fielen sie um, so erhielten sie Fuss-
tritte auf den Kopf und in’s Gesicht; sie wurden in solche Stellung
gebracht, dass die ganze Last des Körpers auf den Händen ruhte.
So blieben sie drei Tage und Nächte der grimmigsten Sonnenhitze
und der bittersten Kälte ausgesetzt. Einige wurden nach Ent-
fernung der Stricke mit Ketten gefesselt. Bei Jedem stand ein
Wächter, der die Umfallenden misshandelte. Die häufig genetzten
Stricke schnitten bald tief in das Fleisch, und die Hände schwollen
zu unförmlichen Klumpen. Rief Einer nach Nahrung, so wurde
ihm Schmutz in den Mund gestopft; nur selten erhielten sie etwas
ekelhafte Speise und fast gar kein Wasser. Viele Chinesen wei-
deten sich täglich an ihren Qualen. Herr de Normann, der Ein-
zige, der ein wenig chinesisch konnte, wurde wiederholt verhört,
erhielt auch einmal essbare Nahrung.


Am vierten Nachmittag wurden die Gefesselten in Karren ge-
worfen und in vier Haufen gesondert. Lieutenant Anderson,
Attaché de Normann und fünf Reiter von Fane’s Regiment blieben
zusammen. Die ganze Nacht durch ging es in scharfem Trabe.
Am Morgen gelangte man nach einem Fort, belud die Gefesselten
mit schweren Ketten und steckte sie in Käfige. Hier starb zuerst
Lieutenant Anderson am neunten Tage der Gefangenschaft: er war
schon am zweiten Tage der Fesselung im Sommerpalast vor
Schmerz und Hunger irrsinnig geworden und blieb es, mit weni-
gen lichten Augenblicken, bis zum Tode. Seine Finger und Nägel
platzten schon in Yuaṅ-miṅ-yuaṅ; Würmer erzeugten sich in den
Wunden und krochen auf dem Körper herum; die Knochen der
Handgelenke lagen zu Tage, und das Fleisch hing in verdorrten
Fetzen herunter. — Die Leiche blieb drei Tage unter den Ueber-
lebenden liegen, denen man am Abend von Anderson’s Tod die
Stricke abnahm; sie befanden sich sämmtlich in ähnlichem Zustand.
Fünf Tage später verschied einer von Fane’s Reitern und nach
weiteren drei Tagen Herr de Normann. Die Uebrigen blieben
leben und wurden ausgeliefert; ihre Hände und Füsse waren unförm-
liche Massen von Geschwüren, ihre Finger verkrüppelt und ungelenk.


Drei französische Soldaten und fünf indische Reiter wurden
zusammen nach dem Gebirge gefahren. Am dritten Tage gelangten
[361]Besetzung von Yuaṅ-miṅ-yuaṅ.
sie nach einer von Höhen umschlossenen Stadt. Ein Franzose
starb unterwegs, ein zweiter am Tage nach der Ankunft im Kerker,
ein indischer Reiter wenige Tage später an den Folgen der gräss-
lichen Fesselung. Die Ueberlebenden behandelte man besser, nahm
ihnen die Ketten ab und wusch ihre Wunden.


Eine dritte Abtheilung — Herr Bowlby, ein französischer
Officier, ein Reiter von den Kings-dragoon-guards und vier von
Fane’s Regiment — fuhr die ganze Nacht durch. Sie erhielten
keine Nahrung, sondern, wenn sie darnach verlangten, Hiebe und
Fusstritte. Am nächsten Vormittag gelangten sie in ein Fort, wo
man sie drei Tage und Nächte geknebelt in freier Luft liegen liess
und dann zusammen in ein feuchtes schmutziges Gelass steckte.
Herr Bowlby, der Times-Correspondent, starb zwei Tage nach der
Ankunft; sein Körper blieb mehrere Tage liegen und wurde dann
über die Mauer geschmissen. In den folgenden Tagen starben der
französische Officier, der englische Dragoner und zwei von Fane’s
Reitern. Zwei Inder kehrten lebend zurück. — Die Erlebnisse der
vierten Abtheilung — drei Franzosen und vier indischer Reiter —
kennt man nicht, da nur ihre Leichen ausgeliefert wurden.


Der Zeitraum vom 6. bis zum 13. October 1860 bildet in den
für das englische Parlament gedruckten Urkunden eine Lücke. Lord
Elgin’s Depeschen aus jenen Tagen mögen die Plünderung des
Sommerpalastes beleuchten, welche, von den französischen Truppen
begonnen und von den englischen fortgesetzt, in den Augen des
Staatsmannes vielleicht wenig Gnade fand.


Während am 6. October 1860 die englische Infanterie und
Artillerie ihr Lager bei den Lama-Tempeln aufschlugen, marschir-
ten die französische Colonne und die englische Reiterei nach dem
nordwestlich von Pe-kiṅ gelegenen Sommerpalast. Weder im Dorfe
Hae-tien, das vor dem Eingang liegt, noch auf dem ganzen übri-
gen Wege zeigten sich Truppen. Gegen sieben Uhr Abends erreichte
die Spitze der französischen Colonne das Hauptportal von Yuaṅ-miṅ-
yuaṅ
. Die Thorflügel wurden eingeschlagen. Etwa [zwanzig schlecht-]
bewaffnete Eunuchen stürzten sich den Eindringenden wüthend entge-
gen; drei blieben auf dem Platze; mehrere Franzosen erhielten Wunden.


Die Paläste von Yuaṅ-miṅ-yuaṅ lagen zerstreut in einem
von hohen Mauern umschlossenen ausgedehnten Park mit Flüssen
und Seen; unbeschreibliche Schätze, der mehrhundertjährige Tri-
[362]Plünderung des Sommerpalastes.
but aller Provinzen des weiten Reiches waren darin aufgehäuft.
Jedes Zimmer soll einer Raritätensammlung geglichen haben; an
den Wänden liefen Etagèren hin, darauf standen dichtgedrängt die
kunstreichsten Arbeiten, auch pariser Luxussachen, namentlich
Uhren aus dem vorigen Jahrhundert, in ungezählter Menge119).
Ein solches Zimmer reihte sich an das andere, und ein Palast an den
anderen: viele waren bis zur Decke mit kostbaren Gewändern, Pelzen
und Seidenstoffen vollgepfropft, andere enthielten Haufen von Gold
und Silber.120) Der amtliche Bericht an die französische Regierung
behauptet, dass Yuaṅ-miṅ-yuaṅ reichere Schätze enthielt, als sämmt-
liche Schlösser in Frankreich, und ein englischer Cavallerie-Officier
erzählte dem Verfasser, dass seine Pferde, anderer Streu entbehrend,
bis an den Bauch in Seidenstoffen standen. — Die kostbarsten Gegen-
stände und viele wichtige Documente fand man in den Wohn-
gemächern des Kaisers und in der Audienzhalle


Der Truppen und sogar der Officiere scheint sich eine Art
Raserei bemächtigt zu haben: was man nicht fortbringen konnte,
zerschlug, verdarb, vernichtete man. Lord Elgin und Sir Hope
Grant
kamen am Morgen des 7. October herübergeritten und fanden
die Verwüstung schon furchtbar. Die Plünderung wurde in den
nächsten Tagen fortgesetzt; alle englischen Officiere erhielten Ur-
laub dazu aus dem Lager vor Pe-kiṅ; stündlich entdeckte man
neue Fundgruben und erschöpfte doch keineswegs den Schatz; für
die Chinesen blieb die reichste Nachlese. — Die Franzosen, welche
die Auswahl hatten und an der Quelle sassen, behielten jeder, was
sie nahmen; keiner soll zu kurz gekommen sein. Sir Hope Grant
fürchtete für seine Truppen den entsittlichenden Einfluss der Plün-
derung und gestattete sie nur den Officieren. Diese und die eng-
lische Reiterei, welche gleich nach den Franzosen am Sommerpalast
eintraf, mussten ihre Beute an das Obercommando abliefern; sie wurde
im Lager versteigert und der Erlös unter die ganze Armee vertheilt.121)


[363]Sommation.

Wann der Kaiser Yuaṅ-miṅ-yuaṅ verliess, ist ungewiss.
Man fand die Denkschriften Saṅ-ko-lin-sin’s, welcher zur Flucht
rieth, und vieler Censoren und Minister, welche diesen Gedanken in
den stärksten Worten verdammen. In den an die kaiserlichen Ge-
mächer stossenden Höfen lagen blutige und zerfetzte Kleidungs-
stücke der gefangenen Parlamentäre; dort standen auch ihre Pferde;
man glaubte, dass Hien-fuṅ selbst sich an ihren Qualen weidete,
und verbrannte diese Gebäude schon damals. — Wo der Prinz von
Kuṅ in dem Zeitraum vom 7. bis zum 12. October, dem Datum
seiner nächsten Mittheilung weite, ist ebenfalls unklar. Nach
Haṅ-ki’s Aussage zog er sich mit der chinesischen Armee zurück;
wahrscheinlich suchte er den Kaiser auf.


Am 9. October marschirten die französischen Truppen nach
dem Lagerplatz der englischen und stellten sich auf deren linkem
Flügel auf; am 10. richteten die Generale Sir Hope Grant und
de Montauban an den Prinzen von Kuṅ eine Sommation auf Aus-
lieferung des Nordost-Thores der Tartarenstadt, Gan-tiṅ-men,
welchem die Verbündeten gegenüberstanden; sei dieselbe bis zum
13. October nicht erfolgt, so würde die Stadtmauer bombardirt. —
Man traf alle Anstalten; die recognoscirenden Officiere konnten bis
unter die Mauern reiten, deren Besatzung eifrig weisse Fahnen
schwenkte, aber keinen Schuss feuerte. In die Häuser der kleinen
Vorstadt vor dem Gan-tiṅ-Thore, kaum hundert Schritt von dessen
Kanonen, brach man ohne Belästigung Schiessscharten. Für die
Breschebatterieen bot die hohe und starke Parkmauer des Tempels
der Erde passende Emplacements; etwa 600 Schritt östlich vom
Gan-tiṅ-Thore sollte die Stadtmauer niedergelegt werden.


Die Dolmetscher hatten am 10., 11. und 12. October Zusam-
menkünfte mit Haṅ-ki, der zuversichtlich eine Lösung versprach
und am 12. die Antwort des Prinzen von Kuṅ auf die Sommation
vom 10. October übergab. Er habe wiederholt gemeldet, dass seine
Officiere zu ehrenvoller Behandlung des Herrn Parkes angewiesen
seien, dass nach Feststellung aller die Unterzeichnung der Con-
vention betreffenden Fragen mit Demselben die britischen Unter-
thanen ausgeliefert werden könnten. Wie es nun komme, dass
nach diesem grossmüthigen Verfahren gegen die englische Regie-
rung britische Truppen den kaiserlichen Gartenpalast beschimpft,
Seiner Majestät Audienzhalle und Wohngebäude niedergbrannt
hätten. »Ist es vernünftig, dass, während die Nation des Gesandten
[364]Besetzung des Gan-tiṅ-Thores.
doch die Pflichten des Menschen gegen den Menschen kennt und
längst Disciplin in ihre Armee gebracht hat, während ihre Truppen
muthwillig den Gartenpalast geplündert und verbrannt haben, die
Commandeure beider Armeen und der britische Gesandte Unkennt-
niss dieser Ereignisse vorschützen? Vom Standpuncte des Rechtes
müsste der britische Gesandte in seiner Antwort deutlich erklären,
was für Strafe gegen die Truppen verhängt, was für Entschädi-
gung geleistet werden solle. Heut aber erhielt der Prinz zu
seiner Ueberraschung ein Schreiben von Seiner Excellenz Sir Hope
Grant
, meldend, dass Derselbe sich des Gan-tiṅ-Thores zu be-
mächtigen wünscht und als Vorspiel dazu Batterieen baut; und
dass er im Weigerungsfalle am 29. dieses Mondes (13. October)
die Stadt angreifen will.« — Nun folgt ein unverständiges Durch-
einander von Erklärungen und Argumenten: der Vertrag und die
Convention sollen angenommen werden; dass der Gesandte eine
Escorte dazu mitbringt, steht schon in der Convention; diese spricht
aber nur von des Gesandten Eintritt in die Hauptstadt; die Stadt-
thore stehen unter Obhut hoher Officiere, welche deren Oeffnen
und Schliessen bewachen; werden sie jetzt plötzlich geöffnet, »der
Dienst der Bewachung und Visitirung rücksichtslos vernachlässigt«,
so wird das Gesindel des Platzes alle Art Unfug stiften; des-
halb muss man Schutzmaassregeln treffen. Da nun Frieden sei
zwischen beiden Nationen, so könne das Thor wohl auch von eng-
lischen Truppen besetzt werden; doch müssten in der Antwort auf
diese Note die Anordnungen specificirt sein. Nach Eintreffen dieser
Antwort könne man einen Tag zu Unterzeichnung der Convention
u. s. w. bestimmen, damit Anstalten dazu getroffen werden. — Am
Schlusse rühmt der Prinz seine Milde gegen die Gefangenen und
die Treue, mit welcher er Wort gehalten habe. Dazu lieferte der
Zustand der neun mit dieser Note ausgelieferten Franzosen und
Inder einen passenden Beleg. Der Prinz mochte um deren Miss-
handlung nicht wissen.


Am 13. October Morgens um zehn schickte Sir Hope Grant
ohne Rücksicht auf jenes Schreiben Herrn Parkes unter angemesse-
ner Bedeckung ab, die unbedingte Auslieferung des Thores zu for-
dern. Haṅ-ki suchte Ausflüchte und Aufschub. Die Bresche-
Geschütze waren geladen und gerichtet; — da öffneten sich wenige
Minuten vor zwölf die Thorflügel, und die Truppen zogen ein. Die
Engländer besetzten die Mauerstrecke vom Gan-tiṅ bis zum Ti-šiṅ-
[365]Notenwechsel.
Thore, die Franzosen die andere Seite bis zur südöstlichen Ecke
der Tartarenstadt. Die Sieger brachten über die breiten Rampen
ihre Feldgeschütze mit Leichtigkeit auf die Mauer und richteten sie
auf die Stadt. Pe-kiṅ lag zu ihren Füssen.


Am nächsten Tage wurden die letzten überlebenden Gefan-
genen und die stark verwesten Leichen der Uebrigen ausgeliefert.
Die lebenden litten an den furchtbarsten Wunden und verloren
zum Theil den Gebrauch ihrer Glieder. Lord Elgin ahnte nicht
diese Unmenschlichkeit, als er am 7. October seine letzten Forde-
rungen stellte. Im Heer der Verbündeten gährte wilde Erbitterung;
die Führer mussten bedacht sein auf einen Act exemplarischer Ver-
geltung, der den intellectuellen Urheber der Misshandlungen mit
besonderer Härte träfe. Auch sollte die Bevölkerung von Pe-kiṅ
erfahren, dass die Verbündeten wirklich Herren der Situation seien,
damit nicht in gewohnter Weise die geübte Schonung als Schwäche
und Ohnmacht gedeutet würde. In Pe-kiṅ selbst öffentliche Ge-
bäude zu zerstören, hinderte Lord Elgin sein gegebenes Wort.
Die Zahlung einer grossen Summe Geldes hätte nur das Volk, nicht
den Fürsten getroffen und wäre zudem eine unwürdige Sühne der
verübten Verbrechen gewesen. Die Auslieferung der wirklichen
Urheber war nicht zu hoffen; man hätte sie auch kaum zu strafen
gewusst. Deshalb beschloss Lord Elgin die völlige Zerstörung der
eigentlichen Residenz der Tsiṅ-Dynastie, des Sommerpalastes,
welche den Kaiser persönlich am härtesten treffen und auf die Be-
völkerung von Pe-kiṅ den tiefsten Eindruck machen musste. Baron
Gros und General Montauban lehnten jede Theilnahme an dieser
Maassregel ab.


Am 14. October hatte der Prinz von Kuṅ eine Note an
Lord Elgin gerichtet, in welcher er die Disciplin seines »Gefolges«
— er wollte nicht sagen der »Truppen« — lobte, und meldete, dass
Haṅ-ki mit Verabredung der für Unterzeichnung der Convention
u. s. w. zu treffenden Anstalten beauftragt sei. Lord Elgin ant-
wortete in einem sehr ernsten Schreiben. In ungeschmückter Sprache
hält er dem Prinzen den Verrath von Tuṅ-tšau, die verbreche-
rische Misshandlung der Gefangenen und seine falschen Berichte
über deren Wohlergehen vor. Die Versprechen der Alliirten seien
in der Voraussetzung gegeben, dass die Erklärungen des Prinzen
auf Wahrheit beruhten, würden aber durch deren Grundlosigkeit
null und nichtig. Der Prinz gebehrde sich, als sei der Frieden
[366]Zerstörung des Sommerpalastes.
schon geschlossen; diese Auffassung der Lage sei irrig, da die
Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Ohne Vergeltung der an den
Gefangenen verübten Schandthaten könne kein Frieden sein zwischen
Grossbritannien und der Tsiṅ-Dynastie. Der Sommerpalast werde
von Grund aus zerstört werden; ausserdem habe die chinesische
Regierung 300,000 Tael als Entschädigung für die überlebenden
Gefangenen und die Verwandten der gemordeten zu zahlen. Der
Convention müsse ein Artikel beigefügt werden, welcher es in das
Belieben der englischen Regierung stelle, Tien-tsin bis zur gänz-
lichen Tilgung der Kriegsschuld besetzt zu halten. Hätte der Prinz
Lord Elgin nicht bis zum 20. October 10 Uhr Vormittags ange-
zeigt, dass die Summe von 300,000 Tael am 22. zur Zahlung be-
reit liegen solle, dass er am 23. die Convention unterzeichnen und
die Ratificationsurkunden des Vertrages auswechseln wolle, so
werde Lord Elgin den commandirenden General ersuchen, sich des
kaiserlichen Palastes in Pe-kiṅ zu bemächtigen und solche ferneren
Schritte zu thun, als er zu Durchführung dieser Forderungen ange-
messen erachte. Sollte der Widerstand der chinesischen Regierung
ihn zu diesem Verfahren zwingen, so werde er zugleich den Com-
mandeur der Flotte ersuchen, Gewaltschritte anzuordnen. Er erin-
nere den Prinzen daran, dass bisher die Steuern in Kan-ton für
kaiserliche Rechnung erhoben seien, dass nur die Truppen der
Verbündeten Shang-hae vor den Rebellen schützten, dass ihre
Flotte sowohl das Meer als die Binnenwässer beherrsche und die
Getreidezufuhren nach der Hauptstadt leicht abschneiden könne.


Kaum 20 Meilen von Pe-kiṅ spottete damals ein Insurgenten-
Heer der kaiserlichen Macht; der politisirende Bürger der Residenz
kannte natürlich genau dessen Beziehungen zu den Alliirten, der
Sturz der Tsiṅ-Dynastie bildete das Tagesgespräch. Man glaubte
denselben besiegelt durch die Zerstörung des Sommerpalastes,
welche mit Darlegung der Gründe und Drohungen gegen das Kai-
serhaus den Bewohnern der Hauptstadt in Proclamationen angezeigt
wurde.


Am 18. October marschirte ein englisches Detachement nach
Yuaṅ-miṅ-yuaṅ und steckte die zahlreichen in meilenweiten Gärten
zerstreuten Paläste, leider auch die Bibliothek in Brand, die reichste
und berühmteste Sammlung von ganz Asien, deren Zerstörung nicht
nur ein unersetzlicher Verlust für die Wissenschaft war, sondern
auch die Europäer in den Augen jedes gebildeten Chinesen zu
[367]Ein Tartarenlager entdeckt.
rohen Barbaren stempeln musste. Diesen Act des Vandalismus
wird die Geschichte niemals vergessen.122) — Zwei Tage lang wüthe-
ten in Yuaṅ-miṅ-yuaṅ die Flammen; schwarze Wolken hingen auf
der Brandstätte; ein leichter Wind blies den Rauch und glimmende
Funken über die Hauptstadt hin, deren Strassen sich mit feiner
Asche bedeckten. — Während des Brandes, am 19. October, mel-
dete Prinz Kuṅ, dass er Alles bewillige: in der Geldforderung er-
kennt er die wohlwollende Absicht, durch Sühnung der Misshand-
lungen das freundschaftliche Verhältniss befestigt zu sehen.


Unterdessen ging in Pe-kiṅ ein Gerücht, dass von Westen
starke Truppenmassen anrückten. Prinz Kuṅ, plauderten die Bür-
ger, wolle den Botschafter in die Stadt locken, ermorden u. s. w.
Englische Reiter-Patrouillen, welche täglich die Gegend nach dem
Gebirge durchstreiften, fanden keinen Feind. Am 22. October ent-
deckte aber Major Probyn mit seinen indischen Reitern ein ver-
schanztes Tartarenlager dicht unter der westlichen Stadtmauer.
Sonderbarer Weise war es die erste Recognoscirung an dieser
Stelle. Die Tartaren rückten beim Anmarsch der Inder in guter
Ordnung aus, und ein Officier kam geritten, zu fragen, was sie
wollten. Der Commandeur nahm denselben mit, liess ihn aber bald
wieder los, da die Dolmetscher entdeckten, dass die Tartaren ohne
feindselige Absicht die ganze Zeit dort gestanden hatten. — Grade
als die indische Cavallerie hinausritt, wollte der Prinz von Kuṅ,
welcher bis dahin ausserhalb Pe-kiṅ geweilt hatte, zu Unterzeich-
nung der Convention von dieser Seite einziehen. Beim Anblick der
dunklen Reiter wähnte er, es sei auf seine Person gemünzt, kehrte
eiligst um, floh hastig mehrere Meilen weit und schrieb an den
russischen Gesandten General Ignatief, der ihn über die Absichten
der Verbündeten beruhigte.


Am Abend des 22. October wurden die geforderten 300,000
Tael in die Hände englischer Intendantur-Beamten gezahlt. Die
feierliche Unterzeichnung der Convention erfolgte erst am 24. Octo-
ber in der »Ceremonien-Halle«, einem grossen Gebäude im Südosten
der Tartarenstadt. Um gegen Ueberrumpelung sicher zu sein, liess
[368]Der Frieden zu Pe-kiṅ.
Sir Hope Grant alle auf den Weg des Botschafters mündenden
Strassen durch englische Truppen besetzen. Hundert Reiter und
vierhundert Mann Infanterie escortirten Lord Elgin und sein Ge-
folge, welchem sich viele Officiere zu Pferde und in Sänften an-
schlossen. Die Bevölkerung drängte sich neugierig hinzu, und die
chinesische Polizei brauchte fleissig die Peitsche, um den Weg frei zu
halten; doch sah man kein Zeichen der Feindlichkeit oder Missachtung.


In der Ceremonien-Halle empfing, umgeben von vielen Wür-
denträgern, der Prinz von Kuṅ den Botschafter mit tiefer Verbeu-
gung; sie setzten sich zugleich an einen in der Mitte stehenden
Tisch. Rechts nahmen die Engländer, links die Chinesen Platz. Der
Prinz soll mit finsterer Hoheit auf die Versammlung geblickt haben. —
Zunächst wurden die Vollmachten geprüft; die chinesische lautete:


»Am 7. Tage des 8. Mondes des 10. Jahres der Regierung von
Hien-fuṅ (21. September 1860) hatte das Gross-Secretariat die Ehre fol-
gendes kaiserliche Decret zu empfangen.


Wir ernennen Yi-sin, kaiserlichen Prinzen von Kuṅ, zum kaiser-
lichen bevollmächtigten Commissar mit Vollmacht Alles zu thun, was
für den Austausch von Verträgen und den Friedensschluss erforderlich
sein mag. Achtet darauf.«


Nun wurde die Convention unterzeichnet, welche ausser den
bezeichneten Artikeln noch Bestimmungen über die Abtretung der
Landspitze Kau-luṅ, Hong-kong gegenüber, und über die legalisirte
Auswanderung von Chinesen auf englischen Schiffen enthielt.123)
[369]Der Frieden zu Pe-kiṅ.
Dann schritt man zu Auswechselung der Ratificationen des Ver-
trages von 1858. Da aber die chinesische Form der Ratifici-
rung von der unter europäischen Staaten üblichen wesentlich
abweicht, so ersuchte Lord Elgin den Prinzen, unter seinem Siegel
zu bescheinigen, dass die von ihm angewandte für den Kaiser bin-
dend sei:


»Der Prinz von Kuṅ, bevollmächtigter Commissar Seiner Ma-
jestät des Kaisers der Ta-tsiṅ-Dynastie, stellt hiermit eine Beschei-
nigung aus.


Es sei kundgethan, dass der Abdruck des Waṅ-ti-tši-pau
(des 5. der 25 Reichssiegel) — ehrerbietig beigefügt diesem Vertrage,
welcher der im Jahre Wu-wu zu Tien-tsin abgeschlossene Friedens-
vertrag ist — Zeugniss giebt von der vollen Zustimmung Seiner Ma-
jestät des Kaisers von China zu allen darin enthaltenen Bestimmungen
und seinem Versprechen, dieselben zu halten, und dass dasselbe eine
ausdrückliche Ermächtigung durch kaiserliche Namensunterschrift
unnöthig macht. — Diese Bescheinigung wird deshalb dem Vertrage
zu ewigem Gedächtniss angehängt. — Gegeben zu Pe-kiṅ am 11. Tage
9. Mondes des 10. Jahres von Hien-fuṅ (24. October 1860).«


Dann wurde ein Protocoll über die Verhandlungen aufge-
nommen und von den Bevollmächtigten in doppeltem Exemplar
unterzeichnet. — Ueber diese Proceduren verging eine gute Weile, so
dass keine Zeit blieb, die angebotene Collation einzunehmen. Wäh-
rend der Verhandlungen liessen die Chinesen Thee herumreichen.
— Erst am Abend erreichten die Engländer wieder ihre Quartiere.


Am folgenden Tage fand die feierliche Unterzeichnung der
französischen Convention und die Ratificirung des Vertrages von
1858 in ähnlicher Ordnung statt. In der Convention war die im
Vertrage von Tien-tsin auf 2,000,000 Tael normirte Kriegsentschä-
digung auf 8,000,000124) erhöht, welche unter gleichen Modalitäten
gezahlt werden sollten, wie die Entschädigung an England. Ferner
sollten die während der Christenverfolgungen confiscirten, zu kirch-
lichen und wohlthätigen Zwecken bestimmten Gebäude der katholi-
schen Missionen, welche schon ein Edict des Kaisers Tau-kwaṅ
(vom 20. März 1846) den früheren Eigenthümern zugesprochen
hatte, behufs Auslieferung an dieselben der französischen Gesandt-
III. 24
[370]Die kaiserliche Genehmigung.
schaft übergeben werden. — In allen übrigen Puncten glich die
französische Convention der englischen.


Am 27. October bezog Lord Elgin den für ihn eingerichteten
Palast des Prinzen von Ei im Südosten der Tartarenstadt und wechselte
bald darauf Höflichkeitsbesuche mit dem Prinzen von Kuṅ, der
sich im persönlichen Verkehr über Erwarten zugänglich zeigte und
weit offener über die Verhältnisse sprach, als man jemals von
chinesischen Würdenträgern gehört hatte. Er schien aufrichtig in
den für die Zukunft ausgesprochenen Hoffnungen, dass durch den
directen Verkehr vielfache Irrungen vermieden werden, dass aus
dem freundschaftlichen Verhältniss beiden Völkern Vortheile er-
wachsen möchten.


Der Abmarsch der englischen Truppen aus Pf-kiṅ war an-
fangs auf den 1. November anberaumt, wurde aber hinausgescho-
ben, da Lord Elgin die kaiserliche Bestätigung der Convention ab-
zuwarten wünschte, welche erst aus Dže-hol, dem Jagdschloss in
der Tartarei, eingeholt werden musste; sie kam schneller als erwar-
tet wurde und genau in der verlangten Fassung. Schon am 2. No-
vember erhielt Lord Elgin ein Schreiben des Prinzen mit dem Ver-
sprechen, folgendem Erlass die weiteste Verbreitung zu geben.


»Am 15. des 9. Mondes (28. October) hatte das Nin-ko (Gross-
Secretariat) die Ehre, nachstehendes kaiserliche Decret zu erhalten.


In Sachen des Austausches der Verträge, uns vorgetragen von
Yi-sin, Prinz von Kuṅ: Nachdem Yi-sin, Prinz von Kuṅ, am 11.
und 12. dieses Mondes mit den Engländern und Franzosen die im
8. Jahre abgeschlossenen Verträge zugleich mit den die Fortsetzung
bildenden Conventionen des gegenwärtigen Jahres ausgetauscht hat,
befehlen wir (zu verkünden), dass wir die ewige Aufrechthaltung aller
und jeder Bestimmungen in den Verträgen und Conventionen ver-
sprechen und gutheissen, damit fürder kein Krieg mehr zwischen uns
sei (wörtlich: Schild und Speer für immer ruhen); dass vielmehr
Beide das gute Einvernehmen fördern und befestigen, da die friedlichen
Beziehungen auf gutem Glauben beruhen, ohne Zweifel und Argwohn
auf beiden Seiten.


Die hohen Provinzialbehörden sollen eine und alle durch Circular
angewiesen werden, Alles auszuführen, was dem Vertrage nach zu seiner
Erfüllung geschehen muss.


Achtet darauf!«


Zwei Tage vorher hatte der Prinz von Kuṅ dem Botschafter
schon die Weisungen an die Behörden von Kuaṅ-tuṅ zu Abtre-
[371]Räumung von Pe-kiṅ.
tung von Kau-luṅ und Zahlung der ersten Rate der Kriegsschuld
übersandt; jetzt liess er das kaiserliche Decret nicht nur in der
amtlichen Zeitung von Pe-kiṅ drucken, sondern auch durch Mauer-
anschlag in der ganzen Hauptstadt verbreiten.


Am 7. November traf Herr Bruce in Pe-kiṅ ein und wurde
von Lord Elgin dem Prinzen als Gesandter Ihrer Majestät der Kö-
nigin von England vorgestellt. Prinz Kuṅ erwiederte den Besuch
und horchte aufmerksam dem Bericht des Herrn Bruce über den
Angriff der Tae-piṅ auf Shang-hae. — Am nächsten Tage reisten
Lord Elgin und sein Bruder nach Tien-tsin ab. — Der russische
Gesandte General Ignatief verliess Pe-kiṅ um dieselbe Zeit. Herr
Bruce und Herr von Bourboulon blieben den Winter über in Tien-tsin,
liessen jedoch sprachkundige Beamte in der Hauptstadt zurück,
welche die gemietheten Wohngebäude für sie einrichteten.


Am 7. und 8. November verliessen die letzten englischen
Truppen Pe-kiṅ, nachdem die französischen einige Tage früher
abmarschirt waren. Der grösste Theil der Streitmacht wurde in
der zweiten Hälfte des November vor der Pei-ho-Mündung einge-
schifft; in Tien-tsin und den Ta-ku-Festen blieben etwa 4000
Mann englischer und eine geringere Zahl französischer Truppen.
— Lord Elgin, Baron Gros und die Obergenerale reisten noch vor
Eintritt des Winters nach dem Süden, nachdem vorher das Ab-
kommen getroffen war, dass in Gemässheit der Convention von
Pe-kiṅ die Mia-tau-Inseln von englischen, der Hafen von Tši-fu
von französischen Truppen besetzt bleiben sollten, bis die Kriegs-
schuld getilgt oder die Räumung von den verbündeten Regierungen
verfügt wäre.



[[372]][[373]]

REISEBERICHT.


[[374]][[375]]

XIII.
SHANG-HAE.

VOM 7. MÄRZ BIS 22. APRIL 1861.


Grössere Contraste sind kaum denkbar als die Küsten von Ja-
pan
und Mittel-China. Dort zackige Bergrücken mit tiefge-
schnittenen Buchten, grüne Halden, freundliche Dörfer und Tem-
pel, beschattet von mächtigen Wipfeln, waldumgürtete Felskuppen,
ein glitzernder Strand, auf dem sich unter heiterem Frühlingshimmel
krystallklare blaue Wogen brechen; — hier in Nebeldunst gestreckt,
in eintöniger Weite das platte angeschwemmte Land, das der
Yaṅ-tse unaufhaltsam in das seichte Meer hinausbaut; lehmgraue
Städte, wiedergespiegelt in trüben, lehmgelben Fluthen, die sich
wühlend am formlosen Lehmufer hinwälzen. Dazu Winterkälte und
ein bleierner Wolkenhimmel, der nicht abliess, seine Güsse erbar-
mungslos auszuschütten, als Anfang März 1861 Arkona und Thetis
im Wu-soṅ-Fluss ankerten.


Ihres Tiefganges wegen mussten beide Schiffe bis zur näch-
sten Springfluth vor Wu-soṅ bleiben. Der Gesandte fuhr am
Morgen des 7. März auf dem Dampfer Météore, welchen das kai-
serlich französische Flotten-Commando ihm bereitwillig zur Ver-
fügung stellte, mit seinen Begleitern nach Shang-hae hinauf. Er
selbst, der Legationssecretär Pieschel und der Attaché Graf zu Eulen-
burg
nahmen dort bei dem oldenburgischen Consul Herrn Probst,
die übrigen Herren bei anderen Ansiedlern Wohnung, welche sie
gastfrei zu sich einluden. Nur ein kurzer Aufenthalt war beabsich-
tigt, da der Gesandte nach vorläufig eingezogenen Erkundigungen
den Zeitpunct für ungünstig hielt zu Verhandlungen mit der chine-
sischen Regierung, und von Shang-hae zunächst nach Baṅkok
gehen wollte. Bei näherer Betrachtung der Verhältnisse änderte
er schnell seinen Entschluss, sandte den Attaché von Brandt auf
dem am 9. März abgehenden Dampfer Feelon nach Tien-tsin, um
[376]Reise der Thetis. XIII.
seine Uebersiedelung dahin vorzubereiten, und richtete sich, da
Seiner Majestät Corvette Arkona einiger Reparaturen bedurfte, auf
mehrere Wochen in Shang-hae ein. Weil aber die Küsten des
nördlichen China weder gastliche Häfen für die Schiffe, noch ein
ergiebiges Feld für die Thätigkeit der Naturforscher boten, so er-
suchte Graf Eulenburg den Commodor, die Fregatte Thetis nach
dem Süden zu schicken. Die Capitän Jachmann ertheilte Instruction
dirigirte Denselben zunächst nach Hong-kong, und zu mehr-
wöchentlichem Aufenthalt nach Manila; von da war ihm der Weg
nur im allgemeinen, durch die Sulu- und Celebes-See, um den
Süden von Borneo herum nach Singapore vorgezeichnet, und an-
heimgegeben, je nach den nautischen und Witterungsverhältnissen
die Inseln Mindanao, Borneo, Celebes, Gilolu und Java anzulaufen.
Zu seiner Vertretung ertheilte der Gesandte dem Legationssecretär
Pieschel die nöthigen Vollmachten. Mit Diesem schifften sich die
Herren Dr. von Martens, von Richthofen, Regierungsrath Wichura
und die kaufmännischen Mitglieder der Expedition, Herren Jacob
und Grube, welche ihre Geschäfte in China beendet hatten, auf der
Thetis ein, die am 27. März Shang-hae verliess und erst vor Baṅkok,
wo sie am 22. November Anker warf, wieder mit der Arkona zu-
sammentraf.


In Shang-hae liegt die Niederlassung der Fremden östlich
der mauerumschlossenen chinesischen Stadt am Ufer des Wu-soṅ.
Eine Reihe palastartiger Gebäude säumt den »Bund«, so heisst der
breite Quai am Flusse. Die steinernen Häuser der Fremden blicken
kalt und langweilig in die öden Strassen; lebendig ist es nur in
den chinesischen Gassen. — Dort wohnen im Schutz der Barbaren
dichte Haufen betriebsamer Landeskinder, die dafür den höchsten
Grundzins zahlen. — Jeder der Vertragsmächte wurde ein be-
stimmtes Terrain zugewiesen, so dass es ein englisches, französisches,
americanisches Viertel gab; die meisten Deutschen wohnten da-
mals in der englischen Niederlassung. Die Kaufleute erhielten den
Grund und Boden zu bestimmten Normen von den Consular-
Behörden und verpachteten ihn theilweise mit grossem Vortheil an
Chinesen.


[377]XIII. Die europäische Niederlassung.

Die europäischen Strassen laufen vielfach zwischen Garten-
mauern, über welche die Wohngebäude fortblicken; eine gleicht der
anderen. Zuweilen trabt ein Reiter auf englischem, australischem
oder arabischem Ross durch die todten Gassen; hin und wieder
begegnet man langen Zügen von Kuli’s,125) die je zwei an schwankem
Bambus aufgehängte Seidenballen in tactmässigem Laufschritt nach
dem Bund tragen. Dort lärmen dichte Haufen fremder und be-
zopfter Matrosen. Nah der Chinesen-Stadt bedeckten damals den
Wu-soṅ-Fluss, in lange Gassen geordnet, die unzähligen Boote
der geflüchteten Canalbevölkerung von Su-tšau, das die Tae-piṅ
noch immer besetzt hielten. Vor der Ansiedlung ankerten male-
rische Dschunken, fremde Dampfer, Schooner, Barkschiffe und Ka-
nonenboote, noch weiter flussabwärts die grösseren Kriegs- und
Handelsschiffe. — Bei schönem Wetter ging Nachmittags die ganze
europäische Bevölkerung auf dem Bund spazieren, wo zuweilen das
Musikcorps der Arkona spielte. Man ahnt hier Shang-hae’s gross-
artigen Handel, welcher in seinen besten Jahren den achtzehnten
Theil des Werthes der gesammten englischen Einfuhr geliefert ha-
ben soll. Hunderte von Seidenballen lagern, der Einschiffung har-
rend, am Bund, jeder Ballen wohl 1000 Dollars werth. In den
Gewinn dieses Handels theilten sich damals wenige deutsche, eng-
lische, französische und americanische Häuser von ungeschminkter
Opulenz: die Einrichtungen prächtig, auf den Tafeln die Lecker-
bissen aller Länder, in den Küchen berühmte französische Köche,
in den Ställen die edelsten Pferde. Die wenigen Kaufläden führten
europäische Artikel aller Art; neben kostbaren pariser Broncen und
Toiletten lagen Yorkshire-Schinken, Streichhölzer und Stiefeln
neben Goldschmuck und Diamanten. Der ansässige Kaufmann ver-
schmäht fast nach dem Preise zu fragen: zu Neujahr kommt die
Rechnung. Klein Geld giebt es kaum; denn die chinesischen
Kupfer- und Eisenmünzen cursiren nur unter den Eingebornen.
Selten sieht man englische Drei- und Sechs-Pence-Stücke; die
gangbare Klein-Münze ist der englische Shilling, der als Viertel-
Dollar gilt. Da es aber auch daran mangelt, so zerhaut man die
mexicanischen Dollars in vier Theile. Die Schiffsmannschaften,
welche ihren Sold in dieser Münze beziehen, haben nun das
[378]Die Ansiedler. XIII.
Talent entwickelt, durch geschickte Theilung aus jedem Dollar
fünf Viertheile zu schlagen, eine Manipulation, in welcher auch die
Matrosen der Arkona und Thetis sehr geschickt wurden. — Grossen
Luxus trieben damals die vornehmsten englischen Handlungshäuser
in Dampfern: nur um in Shang-hae die Post aus Hong-kong einige
Stunden vor Ankunft des »P. and O.«126) Schiffes zu haben, liessen
sie auf berühmten schottischen Werften die schnellsten Dampfer
bauen; bei günstigen Conjuncturen sollen oft grosse Summen da-
mit gewonnen werden.


Man lebt in Shang-hae wie in europäischen Städten und
würde sich kaum im fremden Welttheil fühlen, wenn nicht die bei
uns die Hauptmasse der Bevölkerung bildenden ärmeren Classen
fehlten. Die »Gesellschaft« ist sehr klein, in wenig Tagen kennt
man alle Gesichter. Die Gegenwart der französischen und der
englischen Garnison, welche zum Schutz gegen die Tae-piṅ in
Shang-hae blieben, brachte damals einige Abwechselung in das
gesellige Leben. Die angesiedelten Kaufleute, die Consuln, die Be-
fehlshaber der Truppen und Kriegsschiffe wetteiferten in Festlich-
keiten, — aber die glänzendsten Bälle konnten nur sechszehn Da-
men aufweisen, darunter eine unverheirathete; das war der ganze
Bestand. Bei allem Glanz und Luxus hat die Geselligkeit in diesen
Ansiedlungen etwas unharmonisches; die Damen besonders stammen
aus den verschiedensten Lebenskreisen, und da hier alles Ansehn
auf Reichthum beruht, so begegnet man starken Anomalieen; an
Stadtklatsch und Kabalen ist kein Mangel.


Für uns war der Aufenthalt in Shang-hae ein angenehmer
Ruhepunct, eine kurze Pause der Reise im fremden Welttheil, fast
eine vorübergehende Rückkehr auf europäischen Boden. Den
gastfreien Ansiedlern dankten wir willkommene Belehrung über Land
und Leute, den fremden Officieren anziehende Berichte aus dem
jüngsten Feldzug über Pe-kiṅ und den Sommer-Palast, von wo
sie manches Beutestück zeigten. Graf Eulenburg erwiederte die
erwiesene Gastfreundschaft durch mehrere Feste an Bord der Ar-
kona: zunächst am allerhöchsten Geburtstage Seiner Majestät des
Königs, an welchem nicht nur die preussischen und die fremden
Kriegsschiffe, sondern auch die Handelsschiffe aller Nationen schon
früh im reichsten Flaggenschmuck prangten. Auf der Arkona war
[379]XIII. Feste.
Morgens Gottesdienst; um zwölf Uhr brachte Capitän Sundawall
mit der auf dem Verdeck angetretenen Mannschaft ein donnerndes
Hoch auf Seine Majestät König Wilhelm aus, während Arkona und
Thetis den königlichen Gruss von dreiunddreissig Schüssen feuerten.
Die englischen und französischen Kriegsschiffe lagen dem Ufer zu
nah, um ohne Gefahr für die Fensterscheiben der Stadt salutiren
zu können; doch traten dort die Wachen in’s Gewehr und prä-
sentirten unter den Klängen von »Heil Dir im Siegerkranz«. Zwei
Hamburger Schooner feuerten mit nur zwei Kanonen einen wackeren
Salut von einundzwanzig Schüssen. Um zwei Uhr versammelten
sich an Bord der Arkona die vom Gesandten geladenen Gäste,
darunter General de Montauban, Contre-Admiral Protet, Capitän
Corbett von der englischen Flotte, die Consuln von England, Frank-
reich
, Hamburg, Hannover und Oldenburg. — Erst bei einbrechen-
der Dunkelheit schieden die Gäste.


Am 9. April gaben Graf Eulenburg und Capitän Sundawall
auf der Arkona ein Tanzfest, zu welchem die Officier-Corps der
Kriegsschiffe und die Elite der Gesellschaft geladen wurden. Das
Quarterdeck war in einen Ballsaal verwandelt: die Seitenwand bil-
deten in hübscher Drappirung die Flaggen aller Länder, die Decke
das Sonnensegel in beträchtlicher Höhe. Blumengewinde, Bambus-
wedel, Sträusse von Camelien- und Pfirsichblüthen, die blank-
geputzten Landungsgeschütze und Waffentrophäen, um die Landes-
flagge gruppirt, gaben dem Raum zugleich ein festliches und mili-
tärisches Ansehn. Durch Lücken, welche Licht und Luft einliessen,
blickte man auf die sonnigen Ufer, — es war ein heiterer warmer
Frühlingstag. — Gegen zwei Uhr Nachmittags erschienen General
de Montauban und Contre-Admiral Protet mit ihren Stäben und
dem Musikcorps des 101. Infanterie-Regimentes, welches abwech-
selnd mit dem der Arkona zum Tanze spielte und grössere Stücke
vortrug.


Den 18. und 19. April fanden von schönem Wetter begün-
stigt auf der Bahn von Shang-hae die Frühlings-Rennen statt.
Die Rennbahn, anderthalb englische Meilen im Umkreis, ist muster-
haft angelegt und gehalten; ein steinernes Gebäude mit offener
Galerie dient der eleganten Welt als Tribüne. Dort fand sich auch
der Tau-tae oder Präfect von Shang-hae in einer Sänfte mit
Gefolge von Lanzen-, Schwert- und Fahnenträgern ein, die eher
schmutzig theatralisch als kriegerisch aussahen und beim Kommen
[380]Wettrennen. XIII.
und Gehen ein merkliches Gebrüll ausstiessen. — Es waren nur
Herren-Rennen, geritten von den Eigenthümern der Pferde oder
deren Freunden in Jockey-Tracht. Für einheimische Ponys gab
es zwei Preise, einen für Araber; alle übrigen galten englischen
Pferden und australischen englischer Race; letztere siegten in den
meisten Rennen. Bei der Tribüne spielte die französische Militär-
musik. Ein buntscheckiger Haufen von Chinesen, englischen,
französischen und indischen Soldaten säumte die Bahn, und es ging
wenig anders zu als auf englischen Rennplätzen. Die Kaufleute
wenden grosse Summen auf diesen Sport und wetten so stark wie
in der Heimath.


Unsere deutschen Landsleute machten uns das Leben sehr
angenehm. Sie allein hatten sich damals in Shang-hae einen ge-
selligen Mittelpunct geschaffen; dazu führte zunächst das musi-
calische Bedürfniss. Die Liedertafel »Germania« besass einen hüb-
schen Saal mit Lese- und Billardzimmer, wo die Mitglieder der
Expedition gastfreie Aufnahme fanden. Der Verkehr mit den
Landsleuten und die Berührung mit der heimischen Civilisation that
Allen wohl; für den »Reisenden« aber bietet Shang-hae wenig
Anziehendes. Man fühlt sich nicht zu Hause, denn das Volks-
leben, die arbeitenden Classen fehlen, — noch auch recht in der
Fremde, weil das europäische Element so stark vertreten ist. Frei-
lich bedarf es nur eines kurzen Ganges, um ganz in China zu sein;
aber das chinesische Shang-hae ist so durchaus reizlos, verfallen,
so unerlaubt schmutzig und übelriechend, dass wir ihm immer
gern den Rücken wandten. Zudem war das Wetter während
des fast siebenwöchentlichen Aufenthaltes fast durchweg ab-
scheulich. Shang-hae liegt in der Breite von Kaïro, wo im April
die Hitze unerträglich wird. Hier aber regnete, schneite und
stürmte es den März über unablässig, und im April entbehrte man
ungern des Kaminfeuers. Brach einmal die Sonne durch, so glühte
plötzlich die Luft, und wurde im Umsehn wieder eisig, hart und
schneidend. Der Sommer ist verzehrend heiss, doch giebt es oft
im Juni noch Schnee.


Zwischen der Ansiedlung der Fremden und der Stadtmauer
liegt ein freier Raum, bedeckt mit wüsten Trümmerhaufen. Hier
stand die reiche chinesische Vorstadt, welche beim Angriff der
Tae-piṅ am 19. August 1860 eingeäschert wurde; alle chinesischen
Grosshändler hatten dort ihre Wohnungen und Lager. Der Brand
[381]XIII. Die Chinesenstadt.
währte mehrere Tage; Tausende kamen um Haus und Hof und
mussten auch für die Zukunft ihrem Besitz entsagen, denn die Fran-
zosen, deren Ansiedlung an diese Vorstadt grenzt, widersetzten sich
aus strategischen Rücksichten der Herstellung.


Die Ringmauer von Shang-hae ist aus Luftziegeln erbaut,
etwa 25 Fuss hoch. Auf dem zwölf Fuss breiten Umgang standen
kleine eiserne Geschütze und die Zelte der Wachen, die meist
schlafend betroffen wurden. Zur Sicherung gegen die Tae-piṅ
hielten damals noch englische Truppen eines der Stadtthore, ein
anderes französische besetzt; zu Erleichterung des Verkehrs mit
der Fremdenstadt war auf dieser Seite eine Bresche in die Ring-
mauer gebrochen. Das Innere ist ein Labyrinth enger, krummer,
kothiger Gassen und Winkel, in denen sich eine bunte Menge lär-
mender Chinesen, französischer und anglo-indischer Soldaten
drängte. Lange Züge von Kulis schleppen die Lasten, denn für
Karren oder Thiere ist kein Raum. Begegnet man einer Sänfte, —
die langen Tragstangen ruhen auf den Schultern der Träger, — so
ist kaum auszuweichen. Man watet in tiefem Koth, über schlüpf-
rige Steinplatten. In den offenen Thüren der Häuser, die fast
sämmtlich Kaufläden oder Schenken sind, sitzen die Bewohner,
schwatzend, rauchend, arbeitend; man blickt in Werkstätten und
Kramläden, wo in buntem Schmutz Gemüse, Fische, Schweine-
fleisch, Früchte, Haifischflossen und andere ungeheuerliche Ess-
waaren, oder ein tolles Allerlei von Tabaks- und Opiumpfeifen,
Glimmkerzen, Seidenzeugen, Tusche, Porcelan, europäischen Glas-
flaschen, Streichhölzern und dem in der ganzen Welt unvermeid-
lichen englischen Kattun durcheinander liegen. — Manche Gewerke
haben ihre eigenen Gassen; so die Schuhmacher, Strohflechter und
die Holzschnitzer, die hübsche Rahmen fertigen und die Platten
zum Buchdruck schneiden; denn mit beweglichen Typen wird nicht
gedruckt.


Die Häuser sind von Holz und Stein, ein- bis zweistöckig,
mit geschnörkeltem buntem Zierrath und phantastischen Aushänge-
schilden; aber schwarz und russig, verkommen und baufällig. Aus
den Garküchen strömen Dämpfe siedenden Fettes; in allen Winkeln
liegen Kehrichthaufen, unaussprechliche Dünste athmend. Entsteht
durch Nachlässigkeit eines Hausbesitzers Feuer, so haben alle durch
seine Schuld abgebrannten Nachbarn das Recht, den Schutt ihrer
Häuser auf sein Grundstück zu schleppen; so entstehen oft mitten
[382]Kaufläden, Schenken, Tempel. XIII.
in dichtbewohnten Gassen ungeheure Schutthaufen, bequeme
Stätten zu Ablagerung aller Undinge, die dort ungestört faulen
dürfen. Aus trüben Pfützen schöpft man das Trinkwasser, das
mit Alaun geklärt und meist als Thee genossen wird; in grossen
Kesseln siedet er auf dem Herde der zahlreichen Kneipen. Im
Gebrauch geistiger Getränke sind die Chinesen mässig; ihr Sam-šu
ist ein aus Reis bereiteter Branntwein; dagegen rauchen sie fast
beständig den im Lande gebauten schlechten Tabak. Die Pfeifen
gleichen den japanischen, haben fusslange Rohre und metallene
Köpfchen, die man in wenig Zügen leert; ein salpetergetränkter
glimmender Fidibus giebt angehaucht eine helle Flamme, und
Pfeife folgt auf Pfeife. — Opiumhöhlen finden sich in Shang-hae
wie anderwärts im Reiche der Mitte für alle Volksclassen. Die
Raucher liegen auf Bänke gestreckt, etwas Opium wird abgeschabt,
gekocht und durch Papier filtrirt, der bräunliche Satz zu einem
Kügelchen gedreht, das der Raucher an der Spitze einer Nadel
über einer Oelflamme schmilzt. Die Pfeife bildet ein fusslanges
Rohr mit seitlich angebrachten Metallnäpfchen, das der Raucher
vor das schmelzende Kügelchen bringt, um den Duft einzusaugen.
Dem Anfänger sollen eine bis zwei Pfeifen genügen, während der
Geübte Stunden, ja Tage lang eine nach der anderen raucht.
Mässig genossen wirkt Opium kaum verderblicher als Tabak,
und selbst das Uebermaass hat nach gültigem Zeugniss keine
schlimmeren Folgen als Branntweintrunk; niemals soll es so
viehische Zustände erzeugen, führt aber zu Siechthum und frühem
Tode. Der Knochen- und Muskelbau widersteht dem Gifte länger
als das Nervensystem: man sieht Männer mit kräftigen Gliedern, die
ein elendes Dasein hinschleppen und jede Arbeit meiden. — Der
Dunst der Opiumhöhlen ist betäubend.


Die Tempel von Shang-hae sind so schmutzig wie alles
Uebrige. Man tritt durch ein rohbemaltes Thor in den Vorhof,
wo es lustig hergeht: da wird gewürfelt, geflötet, geplaudert, ge-
wahrsagt, Karten und Domino gespielt. In einem Haupttempel be-
reitete man bei unserem Besuch zu Belustigung des Götzen eine
theatralische Vorstellung nebst Concert vor. Die Tempel gleichen
den beschriebenen in Singapore, sind aber meist von roher Bauart,
schmutzig, verfallen, und die Sammelplätze aller obdachlosen
Bummler und Bettler. Die grösseren Tempel umgeben viele Höfe
und Nebengebäude, mit Ausgängen nach verschiedenen Gassen; in
[383]XIII. Der Justizpalast.
Hallen und Gängen stehen lange Reihen grotesker Bildsäulen, ka-
nonisirte Kaiser, Priester und Weltweise darstellend. Die sonder-
barsten Fratzen, colossale Schreckbilder mit grimmigem Schnurr-
und Knebelbart finden sich in den Tempeln der Tao-Secte: das
sind die schicksallenkenden Dämonen, die Spender allen Uebels,
das des Volkes abergläubische Furcht durch Opfer abzuwenden
trachtet.


Der Justizpalast, wo der Tši-hien oder Oberrichter wohnt,
ist eben so schmutzig wie die Tempel; zwei Flaggenmaste bezeich-
nen die Wohnung des hohen Beamten. Solche Masten, an welchen
bei Festlichkeiten bunte Banner und Laternen prangen, stehen vor
allen grösseren Tempeln; Mandarinen soll diese Auszeichnung zu-
weilen durch kaiserliche Gnade verliehen werden. — Am Thore
des Justizgebäudes sieht man gewöhnlich Sträflinge mit dem
Kaṅ-go, einem schweren Brett um den Hals, auf welchem ihre
Vergehen aufgezeichnet sind. In den Vorhöfen lungert das gräss-
liche Geschlecht der Henker und Schergen, das sich von Erpres-
sung und Grausamkeit, oft gegen unschuldig Eingekerkerte, mästet.
Von Ketten erdrückt, liegen die Gefangenen dicht gedrängt in
engen, dunkelen Verliessen; die von der Regierung gelieferte Kost
läst sie langsam verschmachten; in den Wunden und Schwären der
elenden Gerippe nagen die Würmer. Wahre Jammergestalten sieht
man zum Verhör führen, wo Peitsche und Folter das Geständniss
erpressen. Selbst der flüchtige Anblick weckt Grauen.


Vom Blutdurst der Justiz redet folgender Vorfall, der da-
mals frisch im Gedächtniss der Ansiedler lebte. Der chinesische
Comprador eines Engländers erschoss beim Putzen eines Revolvers,
den er nicht geladen glaubte, einen Freund, der ihn eben besuchte.
Niemand zweifelte an der Absichtslosigkeit; der unglückliche Thäter
aber floh, da die chinesische Justiz Blut für Blut fordert. Nun
zog der Richter seine Frau und Kinder ein und zwang sie durch
unerhörte Grausamkeit, den Flüchtling unter Mittheilung ihrer
Qualen zur Rückkehr aufzufordern. Der Brief blieb ohne Wir-
kung, und nach langer Haft wurde die Familie entlassen. Da trieb
den Flüchtling die Sehnsucht nach Shang-hae, wo die Schergen
ihn bald aufspürten und zur Richtbank schleppten.


Die Stadt besitzt ein reinlich gehaltenes Findelhaus und
andere Anstalten wohlthätiger Vereine. Einer derselben stellte sich
die Aufgabe, Särge, namentlich für Kinder, an Unbemittelte zu
[384]Badehäuser, Theegarten. XIII.
verschenken; das gilt für die grösste Wohlthat. In den Werk-
stätten des Hauses zimmerte man sie aus festen vierzölligen Boh-
len; — so stark und gut verpicht müssen sie sein, denn der Chi-
nese behält seine abgeschiedenen Lieben möglichst lange, oft Jahre
lang, im Hause, und stellt dann den Sarg, wenn ein passender
Platz oder die Mittel zum Begräbniss fehlen, auf freiem Felde
aus. — In einer mit dieser Anstalt verbundenen Schulstube stand
ein Götzenbild, vor welchem jedes eintretende Kind sich verbeugte,
ein Genius der Wissenschaften, dem zu Ehren der Ofen der Schul-
stube nur mit bedrucktem Papier geheizt wurde. Stösse von Ma-
culatur lagen im Hofe; mehrere Sammler lieferten den gelehrten
Brennstoff.


Schrecklich sind die Badehäuser; man prallt zurück vor
Qualm und Dunst. Die auf dem Steinboden des Baderaumes sitzen-
den nackten Gestalten wurden mit fast siedend heissem Wasser
begossen; in den ärmlichen Vorzimmern kleidete, kämmte, rasirte
man sich. Reinlicher schienen die anstossenden Gemächer, wo
nach dem Bade heisser Thee in kleinen Schalen gereicht wurde.


Als Muster mittelchinesischer Bau- und Gartenkunst ist der
sogenannte Theegarten in Shang-hae sehenswerth. Früher Som-
mer-Residenz des Tau-tae diente die Anlage damals als Cantonne-
ment französischer Truppen. Zum Hauptgebäude, das in der Mitte
eines grossen Teiches steht, führt in grilligem Zickzack eine schmale
Brücke; die Nebengebäude, meist Pavillons mit geschwungenen
Dächern und phantastischem Schnörkelzierrath, liegen unregel-
mässig zerstreut in den steifen Anlagen, welche mit künstlichen
Felsen, Brückchen und anderen Spielereien prangen. — In den
besten Gebäuden bestehen die Fensterscheiben aus durchsichtigen
Platten von Austerschale.


Die chinesische Bevölkerung von Shang-hae schätzte man
1861 auf 200,000, nämlich etwa 70,000 innerhalb der Ringmauer,
100,000 in den Vorstädten, 25 bis 30,000 in der Fremden-Nieder-
lassung. Dem Europäer scheinen diese und andere Schätzungen
chinesischer Bevölkerungen im Verhältniss zum Areal und zur Häu-
serzahl übertrieben; sie sollen aber auf sicheren Angaben beruhen;
man wohnt in China gedrängter als anderswo. Die Nähe der
Tae-piṅ brachte häufige Schwankungen in die Volkszahl von
Shang-hae; viele Bürger flohen vor ihnen aus der Stadt, zahl-
reiche Landbewohner flüchteten hinein. Auch vor den kaiserlichen
[385]XIII. Zeichen des Verfalles.
Truppen und den versprengten Resten der Armeen, welche nach
den Siegen der Tae-piṅ und dem Fall von Su-tšau (1860) in ge-
lösten Schaaren plündernd durch das Land zogen und Shang-hae
überflutheten, wichen viele Bewohner mit Allem was sie bergen
konnten. Im Ganzen minderte sich die Volkszahl und vorzüglich
der Wohlstand. Die Verbrennung der reichsten Vorstadt, die
Stockungen des Handels, welche die Verwüstung der Seiden-
Districte durch die Tae-piṅ nach sich zog, und die für Krieg-
führung gegen diese gebrachten Opfer müssen die Bevölkerung
hart mitgenommen haben. Noch immer gab es vermögende Kauf-
leute; aber das Volk war arm und ausgezehrt. Aeussere Zeichen
der Opulenz sah man nirgends.


In minderem Grade erhält man den Eindruck tiefen Ver-
falles, welchen Shang-hae macht, auch in anderen chinesischen
Städten. Es ist, als hätte ihre Gesittung sich ausgelebt. Ueberall
zeigt sich die äusserste Vernachlässigung und Hinfälligkeit neben
Spuren der alten Cultur, Kraft und Grösse. In den Häusern der
Wohlhabenden schimmern das schönste Schnitzwerk, Porcelan und
Broncen von echtem Kunstwerth durch den Staub und Schmutz
von Jahrzehnten. Die Bemittelten kleiden sich noch reinlich und
anständig; aber ihr Hausrath ist zerbrochen, ihre Diener gehen
zerlumpt. Ueberall die gleichen Zeichen der Verkommenheit; selbst
der Luxus tritt plump und schäbig auf. So kann es nicht gewe-
sen sein in China’s Blütheperioden. Viele Kunstfertigkeiten sind
ganz verloren gegangen; in anderen sind die Chinesen noch heute
Meister, so weit das Mechanische geht, sie können aber nur nach-
ahmen, nicht erfinden, schaffen; die Thatkraft fehlt und das mu-
thige Leben, das uns in Japan freute. Der heutige Chinese ist so
zu sagen das todte Erzeugniss seiner Erziehung; die Gesittung muss
altersschwach, verknöchert und ohne treibende Kraft sein, die
kein neues schaffendes Leben, keine thätigen Geister weckt.


Solch Urtheil mag hart klingen einem Volke gegenüber,
dessen Sprache man nicht kennt, und der Verfasser ist weit
entfernt, Kennern wie Meadows zu widersprechen, welche
mit Bewunderung von den sittlichen Eigenschaften der Chinesen
reden. Eine Cultur, die ein so ungeheures Volk zusammen-
gekittet, zu solcher Höhe der Bildung und des bürgerlichen Lebens
erhoben hat, — in welchem zum geringsten Theile die Gewalt,
zum grössten das Bewusstsein des sittlichen Gesetzes Recht und
III. 25
[386]Die chinesische Gesittung. XIII.
Ordnung, den Staat und die Familie erhält und sichert, — muss
auf festen Grundlagen ruhen: aber dem Eindruck kann sich kein
Unbefangener entziehen, dass sie nicht mehr schöpferisch wirkt.
Individuell hat der heutige Chinese etwas Fertiges, Selbstgenüg-
sames, ja Abgelebtes, Würdeloses. Vielen fehlt es nicht an einer
gewissen Tüchtigkeit: sie fassen schnell, handeln geschickt und
sind zu allen practischen Arbeiten anstellig, die man sie lehren
mag; doch hat ihr Wesen etwas Hohles, Prosaisches, Masken-
haftes. Fragt man ansässige Europäer, so spenden sie der Redlich-
keit und Zuverlässigkeit einzelner heimischen Kaufleute, Handlungs-
gehülfen und Diener das höchste Lob; viel mehr noch hört man
aber von Schurkerei, Hinterlist und berechneter Grausamkeit reden.
Die Familienliebe ist eine anerkannte Eigenschaft der Chinesen;
aber von Zügen hochherziger Freundschaft, Hingebung und Auf-
opferung wird wenig berichtet; und diejenigen Eigenschaften des
Geistes und Herzens, welche dem Leben den höchsten Werth ver-
leihen, scheinen selten zu sein. Ausnahmen giebt es gewiss; aber
im Ganzen ist der heutige Chinese ein gesundes Weltkind, das
sich mehr aus practischen als aus sittlichen Rücksichten der bür-
gerlichen Ordnung fügt, und auf seinen Vortheil bedacht ist, so
weit es ihn nicht in schlimme Conflicte bringt. So erscheint we-
nigstens dem oberflächlichen Beobachter der Durchschnitt. Ein zu-
verlässiger Maassstab für die [Gesittung] eines Volkes ist der Werth
des menschlichen Lebens, welcher steigt mit dessen würdigem Ge-
nuss. Der Werth des Menschenlebens ist aber kaum irgendwo
geringer als in China.


Oft wird behauptet, die Mandschu verschuldeten China’s
Verfall. Hätte wohl nicht das massige Reich die wilden Horden
abgeschüttelt, wenn es bei voller Kraft war? Die Entsittlichung
am Hofe der letzten Miṅ-Kaiser deutet auf arge Zerrüttung im
Volke. Man könnte sogar vermuthen, dass der kräftige, wenn auch
rohe Tartarenstamm dem alternden Körper frische Säfte zuführte.
Kaṅ-gi, der in sechzigjähriger Regierung die Macht seines Hauses
begründete, war ein grosser Herrscher. Unter dem grössten Kaiser
der Tsiṅ-Dynastie, Kien-loṅ, 127) der ebenfalls sechszig Jahre re-
gierte und dann abdankte, um seinen Grossvater nicht zu beschämen,
[387]XIII. Die Herrschaft der Mandschu.
erlebte China wieder eine hohe Blüthe, und zwar, nach Kunst-
werken, — keineswegs vereinzelten, — aus dieser Periode zu ur-
theilen, der gesunden, kräftigen Blüthe. Da ist, wenigstens in der
Kunst, kein Zeichen des Verfalls, kein sinnliches Raffinement, son-
dern frisches rüstiges Leben. Sollte das nicht die Tsiṅ-Herrschaft,
das Aufrütteln der alten chinesischen Cultur durch die kräftige
Hand der Tartaren-Kaiser gewirkt haben? — Erst unter Kien-
loṅ
’s
Nachfolgern, in diesem Jahrhundert, scheint der Verfall ein-
getreten und reissend fortgeschritten zu sein; die mächtige Hand
fehlte, welche das Reich zusammenhielt, und in sich hatte der Or-
ganismus keine Lebenskraft. Kia-kiṅ war ein schlechter Regent
und Verschwender; er führte den Aemter-Verkauf ein. Tau-
kwaṅ
hatte bürgerliche Tugenden aber keine Herrschergaben. Die
englischen Kriege brachten die grösste Noth über das Reich und
gaben es Rebellionen preis; sie zerbrachen das göttliche Ansehn
des erwählten Himmelssohnes und den Wahn von der Unbesieg-
barkeit der Tartaren, auf welchen das Tsiṅ-Haus seine Herrschaft
wesentlich gründete; sie zerrütteten die Finanzen und zwangen den
Kaiser zu ausgedehntem Aemter-Handel und Einführung von Geld-
strafen, welche seitdem eine unentbehrliche Quelle des Staats-
einkommens wurden. Dadurch erhielt allerdings die chinesische
Gesittung den härtesten Schlag. Denn ihr ist der Kaiser der er-
wählte Sohn des Himmels, das berufene Organ der Weltordnung,
mit welcher er sich im vollkommensten Einklange befindet; seine
Befehle sind die Gebote des Himmels, denen sich jeder Gute fügt,
um selbst im Einklang mit der Weltordnung zu leben. Seine Ge-
burt giebt dem Kaiser kein Recht auf den Thron; der Vorgänger,
welchen seine Regierung als Himmelssohn legitimirte, hat ihn
unter seinen Agnaten erwählt. Dass die Wahl richtig war, muss
erst die Regierung des neuen Kaisers, der Segen beweisen, welchen
sie dem Reiche bringt; die Prüfung, die er täglich besteht, zeigt
ihn als den Würdigsten, als echten Himmelssohn. Wie nun der
Thron, so sind auch alle Aemter berufen, die Weltordnung zur
Geltung zu bringen; die Würdigsten sollen sie bekleiden.
Diese im ganzen Reiche herauszufinden, ist der Zweck der
öffentlichen Prüfungen, einer Einrichtung, die, nach Ueberwin-
dung des Feudalismus vor Jahrhunderten zum integrirenden Theil
des politischen Systemes wurde und auf dessen sittlicher Grund-
lage beruht.


25*
[388]Die Herrschaft der Mandschu. XIII.

Nun blieb ja die Herrschaft der Tsiṅ, welche sich die chi-
nesische Gesittung aneigneten, in gewissem Maasse doch eine Ge-
waltherrschaft und stritt gegen das Grundprincip des chinesischen
Staates, dass das Bewusstsein der sittlichen Weltordnung, nicht
Gewalt die Menschen regieren soll. Durch sittliche Mittel soll die
Ordnung erhalten, die Menge gelenkt werden von den Würdigsten,
durch Prüfung bewährten. Im ganzen Reiche aber erinnerten
Mandschu-Garnisonen und Mandschu-Beamte an den fremden
Zwang. Letztere bestanden keine Prüfung; was der an Cultur weit
überlegene begabte Chinese nur durch angestrengteste Arbeit er-
rang, das fiel dem rohen Mandschu als reife Frucht seiner Ab-
stammung zu; denn um sie zu verbinden und sich im Beamten-
stande eine zuverlässige Stütze zu sichern, vergaben die Mandschu-
Kaiser beständig viele Stellen ohne Prüfung an ihre Stammgenossen.
Noch schlimmer wurde es aber, als sie solche verkauften. Nicht
nur musste das den Chinesen erbittern, nicht nur stritt es gegen
sein sittliches Bewusstsein, sein natürliches Anrecht auf Theil-
nahme an der Staatsleitung und die daraus erwachsenden mate-
riellen Vortheile, sondern es erzeugte schlechte Verwaltung und
Erpressungen. Der Amtskauf war eine Capital-Anlage, welche den
Käufer darauf anwies, das Volk auszusaugen. Während die in-
tellectuellen Fähigkeiten des geprüften Mandarinen einige Bürg-
schaft leisteten auch für seinen Charakter, kamen jetzt wichtige
Aemter in die Hände roher unwissender Menschen, die ohne po-
litische oder sittliche Rücksichten nur darauf ausgingen, ihre Taschen
zu füllen. Die Grausamkeit, Willkür und Käuflichkeit dieser Blut-
sauger gewahrt selbst der Fremde; gewiss beschleunigen sie we-
sentlich den schnellen Verfall des chinesischen Reiches, sind aber
doch wohl mehr förderndes Symptom als Wurzel der Krankheit.


Einen furchtbaren Schlag versetzte Tau-kwaṅ der chine-
sischen Gesittung auch durch Einführung der Geldstrafen. Der
Mammon giebt im fernen Osten weit weniger Ansehn als bei uns,
wenn auch der Chinese ebensosehr danach strebt. Das Grund-
princip des uralten chinesischen Strafgesetzes war volle Unparthei-
lichkeit, volle Gleichheit ohne Ansehn der Person, des Ranges und
Vermögens. Es gab keine Geldstrafen. Die Einführung derselben
musste die ärmeren Classen und somit die Masse des Volkes mit
grausamer Härte treffen und verderben. Auch diese Maassregel
fördert ohne Zweifel die Auflösung, aber verursacht sie nicht.
[389]XIII. Militärisches Exercitium.
Wäre die chinesische Gesittung bei gesunder Kraft, sie stiesse diese
Schäden ab. Sie trug die Blüthen, deren sie fähig war, wird aber
vielleicht keine neuen treiben, sondern verdorren. Es wäre eine
dankbare Arbeit, den Mängeln und Lücken der chinesischen Cultur
und deren inneren Gründen nachzuspüren; dazu fehlen dem Ver-
fasser die Kenntnisse, Zeit und Gelegenheit. Die factischen Ergeb-
nisse aber drängen sich jedem Reisenden auf, und die Tiefe der
Zerrüttung weckt den Gedanken, dass es der Einimpfung neuer
Elemente, vielleicht unserer eigenen höheren Cultur bedarf, um die
chinesische wieder zu heben, der Auflösung ein Ziel zu setzen.


In Shang-hae hatten wir wenig Verkehr mit Mandarinen.
Seit Zerstörung von Su-tšau wohnte dort der Fu-tae oder Statt-
halter von Kiaṅ-su, Siue-tšwaṅ, ein Würdenträger mit dem rothen
Knopf ohne Abzeichen, welcher die höchste Rangstufe verleiht.
Die erste Berührung fand bei einem militärischen Exercitium statt,
das der Fu-tae für General de Montauban anordnete. Mit Diesem
begaben sich Graf Eulenburg und einige seiner Begleiter am 10.
April Nachmittags auf den eingefriedigten Exercirplatz innerhalb
der Stadt. Drei Kanonenschüsse begrüssten die Fremden. Durch
ein von Fahnenträgern gebildetes Spalier gelangten sie zu einem
langen, niedrigen Zelt, wo der Statthalter sie empfing. Der com-
mandirende chinesische Officier sprach knieend einige Worte zum
Fu-tae und gab darauf mit einer rothen Fahne das Signal. Zuerst
kam ein Vorbeimarsch in Sectionen; die beiden ersten bildeten
Krieger mit schweren Luntenflinten, die je zwei, der eine den Kol-
ben, der andere den Lauf auf den Schultern trugen. In den fol-
genden Sectionen — zusammen höchstens 200 Mann — führte jeder
Soldat eine gewöhnliche Luntenflinte Nun stellten sich die Leute
mit den schweren Flinten in Abständen von einigen Schritten vor
dem Zelte auf und gaben mit ziemlicher Präcision mehrmals Feuer; dabei
ruhte der Lauf auf der Schulter des vorderen Trägers. — Dann
kamen die anderen Sectionen und führten ein regelmässiges, für die
schwerfällige Waffe ziemlich schnelles Tirailleur-Feuer mit Durch-
treten der Glieder aus. Nach Wiederholung dieses Exercitiums be-
waffnete sich die ganze Schaar mit buntbemalten Schilden und bil-
dete nach einigem Wirrwarr durch Neben- und Uebereinandertreten
eine Art Tableau, wie ein grosses Schild, das der folgenden Schau-
stellung als Hintergrund diente. Von zwei Einzelkämpfern trug der
eine Schwert und Schild, der andere eine lange Lanze oder zwei
[390]Chinesische Mahlzeit. XIII.
kurze Schwerter, oder eine Art Dreschflegel. Der zweite drang auf
den ersten ein, und dieser zeigte seine Gewandtheit, indem er theils
die Schläge mit dem Schilde parirte, theils auswich, sich auf der
Erde kugelte und hinter seinem Gegner aufsprang. Zehn solcher
Paare erschienen hintereinander und thaten dasselbe; man glaubte
Kunstspringer zu sehen, so abgepasst, so unkriegerisch waren alle
Bewegungen. Die anwesenden französischen Officiere erklärten, in
der Action niemals solche Luftsprünge chinesischer Soldaten gesehen
zu haben; es waren wohl abgerichtete Trabanten, die der Fu-tae
vorführte.


Den Gästen, welche im Zelt an einem langen Tische sassen,
war unterdessen Thee gereicht worden, in welchem frischgrüne
Blätter herumschwammen, wahrscheinlich etwas Erlesenes, das nur
den Europäern wie ein Kräuterdecoct aus der Apotheke schmeckte.
Ein darauf folgender Imbiss aus frischen und eingemachten Früchten,
Fleischpastetchen, Kuchen und schrecklichem Champagner war so
ärmlich und schmutzig, dass nur Höflichkeit den Ekel überwand.
Die bunten, abgestossenen Porcelan-Teller bildeten eine Muster-
karte chinesischer und englischer Service, wie sie sich nur bei
Klein-Trödlern findet; die europäischen Messer, Gabeln, Löffel und
Gläser schienen vielfach gebraucht, aber selten gereinigt zu sein.
— Warme Mandelmilch und eine zweite Dosis Thee, anders be-
reitet, schlossen die Mahlzeit.


Am 12. April machte der Gesandte mit einigen Begleitern
dem Fu-tae einen Besuch. Morgens sandte er nach chinesischem
Brauch seine Visitenkarte. Jeder Mandarin hat deren zwei; die
eine nur mit seinem Namen, die andere mit allen Titeln, in fetten
Lettern von oben nach unten auf Stücke carmoisinrothen Papieres
in länglichem Gross-Octav gedruckt. Sie sind auch jedem Euro-
päer im Verkehr mit den Chinesen nothwendig; der Dolmetscher
Herr Marques, welchen Graf Eulenburg für die Zeit seiner Anwe-
senheit in China aus Macao zu sich berufen hatte, entwarf sie für
die Gesandtschaft. Da die Chinesen keine Buchstabenschrift ken-
nen, so ist es schwierig, den Klang der fremden Namen wieder-
zugeben. Ihre Schriftzeichen drücken Begriffe aus; das einsilbige
Wort aber, das solchem Zeichen entspricht, hat nebenbei noch
viele andere Bedeutungen. Da nun jede anstössige Nebenbedeutung
bei der Wahl der Zeichen vermieden werden muss, so hat die Zu-
sammenstellung grosse Schwierigkeit. Piṅ z. B. heisst Soldat, Eis,
[391]XIII. Chinesische Wiedergabe fremder Worte.
Krug, eine Krankheit, Ruhe und Pfannkuchen; die feinen Unter-
schiede der Aussprache nach der verschiedenen Bedeutung sind bei
vielen Worten kaum hörbar. Lord Elgin, dem in Pe-kiṅ die mon-
golischen Kartoffeln schmeckten, bat einen der Dolmetscher, 200
Katti davon zu bestellen, die er mitnehmen wollte. Zum Unglück
bedeutet dasselbe Wort »Aal«, und der Botschafter erhielt 200 Katti
lebender Aale. — Da wenige chinesische Silben gleich deutschen lau-
ten, so giebt es oft komische Klänge: den Namen Eulenburg drückten
die Zeichen Gnai, Lin, Pu aus. Gnai heisst die Blume Artemisia,
auch Anmuth, Lieblichkeit; Lin heisst Wald; Pu Meereswelle oder
leuchtend, schimmernd. — Im Ausdruck des Ranges auf den offi-
ciellen Karten mussten die Worte Ta-kuo, Reich, und Tšin, kaiser-
lich, der eigenartigen Sprache der Chinesen entlehnt werden; nach
chinesischer Anschauung gebühren sie nur dem Reich der blumigen
Mitte und seinem himmlischen Herrscher; alle anderen Ausdrücke
bezeichnen aber abhängige Staaten und wären deshalb unan-
gemessen.


Das chinesische Ceremoniel fordert auch, dass man in Sänften
»vorfährt«; dabei sind die Farbe, die Zahl der Träger u. s. w. für
jeden Rang genau vorgeschrieben. Herr Probst hatte für den Ge-
sandten eine schöne geräumige Sänfte besorgt, die mit grünem
Zeug beschlagen und mit Frangen garnirt war; acht Träger, die
seinem Range gebührten, erhielten kleidsame grüne Costüme mit
rothen Borten. Die für seine Begleiter gemietheten Sänften zu vier
Trägern waren eng und gebrechlich, aber bequemer als der japa-
nische Norimon; man sass wenigstens aufrecht. Die Bewegung
ist unangenehm; die langen Tragstangen aus Bambus federn,
und es geht im Laufschritt. Von je zwei Trägern einer Sänfte
hat jeder die beiden Tragstangen auf den Schultern, von je vier
jeder eine Tragstange; bei acht Trägern hängt das Ende
jeder Stange mittelst Strickes an einem Tragholz für zwei
Männer.


Gegen zwei Uhr Nachmittags bestiegen wir die Sänften; es
ging durch die Fremdenstadt, dann mit Hindernissen durch die
engen Gassen der Chinesenstadt; oft mussten die Träger über Ge-
räthe setzen, die im Wege lagen. Eimer mit Fischen, Gemüsekörbe
und alte Leute, die sich nicht schnell genug an die Wände drückten,
wurden ohne Besinnen umgerannt; entgegenkommende Sänften
mussten oft in die offenen Kaufläden geschoben werden. Dabei
[392]Besuch beim Fu-tae. XIII.
fluchten und schrieen die Träger ohne Unterlass, denn als Diener
des Vornehmen gefällt sich der Chinese in Grobheiten.


Siue-tšwaṅ und der Tau-tae von Shang-hae, — ein Man-
darin des rothen Knopfes mit dem Symbol des langen Lebens,
also zweiter Rangstufe, — empfingen den Gesandten und seine Be-
gleiter am Eingang des Hauses und führten sie durch einen ärm-
lichen Hof und prunklose Gänge in das Hauptgemacht, das nicht
sehr geräumig, aber desto schmutziger war, eine vorn offene Halle
mit rauchgeschwärzten Holzpfeilern; etwas geschnitztes Gitterwerk
und Fetzen rother Seide mit goldgedruckten Sprüchen darauf sollten
ihr ein Ansehn geben. Reinlich war nur die Kleidung der Manda-
rinen: der mit Pelz gefütterte Rock und die Beinkleider von schwe-
rer dunkelblauer Seide, seiden auch die Stiefel mit dicken Filz-
sohlen; darüber trug der Tau-tae einen langen Kragen von feinem
Lammfell. Von den kleidsamen Wintermützen, auf deren Spitze
der Knopf, das Abzeichen des Ranges sitzt, hing bei beiden die
Pfauenfeder, ein Zeichen der höchsten kaiserlichen Gunst über den
Zopf hinab. Der Fu-tae hatte ein Vollmondsgesicht; der Kopf des
Tau-tae war schmal und knochig, sein Wesen lebhaft und auf-
geweckt. — Im Grunde des Gemaches stand ein Holzkasten ohne
Lehne, bezogen mit geblümtem Kattun, der beschmutzt und zer-
rissen war. Hier nahm Siue-tšwaṅ zur Rechten des Gesandten
Platz, vor ihnen auf einem Stuhle Herr Marques. Für die Attachés
standen Stühle auf der rechten Seite, ihnen gegenüber setzte sich
der Tau-tae.


Der Fu-tae fragte neugierig nach dem Lande Preussen,
Po-lo-su, das er nicht kannte und mit Pi-li-ši, Belgien, verwechselte,
welches 1858 vergebens mit China in diplomatischen Verkehr zu
treten suchte. Der Gesandte unterrichtete ihn von seiner Absicht,
in Tien-tsin oder Pe-kiṅ der kaiserlichen Regierung seine Anträge
zu machen. Die beiden Würdenträger wussten von den Beschwer-
den der Landreise dahin viel zu erzählen; zur See machten sie
niemals den Weg. Der Mission des Gesandten schenkten sie wenig
Aufmerksamkeit; doch äusserte der Fu-tae wie beiläufig, sie werde
auf Schwierigkeiten stossen; denn die Verträge seien China’s Un-
glück und hätten nur Kriege verursacht. Die Unterredung durch
den Dolmetscher ging etwas schwerfällig. — Die unvermeidliche
Collation war eben so reinlich und ungeniessbar wie die auf dem
Exercirplatz: den Tisch bedeckte ein bunter Kattunlappen mit
[393]XIII. Gegenbesuch des Fu-tae.
Schmutzflecken; die abgestossenen englischen Fayence-Teller
zeigten noch Spuren der letzten Benutzung, und in den trüben
Gläsern erkannte man kaum die Farbe des Trankes. Wohlschmeckend
waren nur die getrockneten Lai-tši, aber der Champagner eben so
schlecht als der Sam-šu. Beim Abschied geleiteten die Mandarinen
den Gesandten bis zur Sänfte und schüttelten ihm die Hand, statt
sich nach chinesischer Sitte die eigenen zu drücken.


Bei einem Diner, das General de Montauban Tags darauf
den beiden Würdenträgern gab, benahmen sie sich mit grosser
Sicherheit. Nach den ersten Gerichten verlangten sie ihre Pfeifen,
rauchten einige Züge, und fuhren damit fort, so oft ihre Teller leer
waren. Auch ihr Dolmetscher, der, von den Jesuiten erzogen, be-
quem französisch sprach und im übrigen gute Manieren hatte, konnte
der Rauchlust nicht widerstehen.


Am Morgen des 15. April kündigten der Fu-tae und der
Tau-tae dem Gesandten durch Visitenkarten ihren Besuch an;
zum Zeichen, dass sie willkommen seien, sandte Graf Eulenburg
nach chinesischem Brauch seine eigenen zurück. Gegen zwei er-
schienen die Herren; das Gefolge, etwa dreissig sehr zerlumpte Galgen-
gesichter mit Fahnen, Schwertern und Schilden füllten Hof und
Garten; die militärischen Trabanten trugen Fuchsschwänze an ihren
Kappen, die Scharfrichter hohe spitzige Mützen aus blutrothem
Filz. Die Sänften der beiden Würdenträger waren mit grünem
Zeug beschlagen, unten ein breiter rother Streifen, auf welchem
schwarze Schriftzeichen den Rang des Besitzers nannten. Die
Sänften der vornehmsten Begleiter, welche den Zug schlossen,
glänzten durch Schmutz und Zerlumptheit.


Beim Frühstück assen die Herren Chinesen viel Schinken
und Süssigkeiten, waren aber sonst ziemlich mundfaul. Offenbar
stellten sie sich unwissend, um dem forschenden Kreuzfeuer von
Fragen über die Verhältnisse in Pe-kiṅ zu entrinnen, das der Ge-
sandte auf sie richtete. Nach Tisch wurde der Fu-tae guter
Dinge; viel Vergnügen machte ihm ein Album von Photographieen,
doch ging er schnell über die während des Krieges aufgenommenen
Ansichten von Pe-kiṅ weg. Von den stärksten Schlägen eines
electro-magnetischen Rotationsapparates, die jedem Europäer Zuckun-
gen bereiten, verspürte er wenig Wirkung; er hielt die Kolben ganz
ruhig und gefiel sich darin, den Versuch zu wiederholen.


[394]Die Alluvialebne des Yaṅ-tse. XIII.

Die Umgebung von Shang-hae ist flach und reizlos, eine
unabsehbare Alluvial-Ebene, die sich südlich bis zum Tsien-taṅ
und der Bai von Haṅ-tšau, nördlich bis Wae-gan am Südufer
des Gelben Stromes und von der See etwa 30 Meilen westlich land-
einwärts erstreckt. So gross wie das Königreich Portugal umfasst
sie den grössten Theil der Provinz Kiaṅ-su und einen Theil von
Tše-kiaṅ. Der Yaṅ-tse, dem sie ihren Ursprung dankt, schiebt
seinen Bau immer weiter ins Meer hinaus; was heut als niedrige
Sandbank nur zur Fluthzeit aus dem Wasser taucht, wird nach
wenig Jahren bewohnt und angebaut. Der grösste Theil der Ebene
soll kaum zehn Fuss über der höchsten Springfluth, viele Stellen
unter deren Niveau liegen. Der Yaṅ-tse-kiaṅ durchschneidet sie,
nach Osten strömend, ungefähr in der Mitte, der Grosse Canal
kreuzt denselben in ihrer westlichen Hälfte. Ein dichtes Netzwerk
von Rinnsalen, die weder Flüsse noch Canäle zu nennen sind,
durchfurcht die ganze ungeheure Fläche von der Haṅ-tšau-Bai
bis zum Gelben Fluss. Dieser liegt höher; mächtige Dämme trennen
ihn von der Ebene; hier erst müssen die Canalboote durch Schleu-
sen gehen, während südlich bis zu der etwa 70 Meilen entfernten
Haṅ-tšau-Bai der Wasserstand durch den Yaṅ-tse-kiaṅ und die
Meeresfluthen geregelt wird. Keine Schleuse hemmt den Boots-
verkehr in diesem weiten Gebiet; es ist der fruchtbarste und volk-
reichste Landstrich von China.


Die Wasserläufe in dieser Ebene sind meist die natürlichen
Rinnsale, welche bei deren allmäliger Entstehung als Verkehrs-
wege und zum Abfluss des Regenwassers offen gehalten wurden;
die grösseren, wie der bei Shang-hae fliessende Wu-soṅ, gleichen
Strömen; die kleinsten zu Bewässerung der Felder und Fortschaf-
fung der Aernte dienenden werden auf kurzer Planke überschritten.
Nur an wenigen Stellen erheben sich Felshügel einzeln oder in
kleinen Gruppen aus der Ebene, einst Inseln, wie die vor der Mün-
dung des Yaṅ-tse liegenden Rugged-islands. Vom Thurm der eng-
lischen Kirche in Shang-hae gewahrt man bei heller Luft solche
Höhen am fernsten Horizont.


Selten lockte das Wetter zu Spaziergängen; dann wanderte
man auf schmalen Pfaden die Rinnsale entlang. Die Brücken be-
stehen hier meist aus einer schmalen Steinschwelle; — sie müssen
aus weiter Ferne herbeigeschafft sein; denn erratische Blöcke kann
es nicht geben, da, abgesehen von der südlichen Lage, die Ebene
[395]XIII. Umgebung von Shang-hae.
kein gehobener Seeboden ist. Ueberall ist sie angebaut; wir sahen
nur schlecht bestellte Weizen-, Gersten- und Bohnenfelder, doch
baut man im Sommer auch Reis und Baumwolle. Weit und breit
waren alle Bäume und Haine von den Tae-piṅ und kaiserlichen
Soldaten umgehauen; Tausende von Särgen, die frei auf den Fel-
dern umherstehen, erhöhen den Eindruck der traurigsten Oede.
Ein günstig gelegener Begräbnissplatz gehört zu des Chinesen
höchsten Lebenswünschen; die Bonzen ziehen Vortheil vom Aber-
glauben des Volkes und suchen für Geld durch Zauberformeln den
besten Platz aus. Die das nicht bestreiten können, scheinen die
Beisetzung auf freiem Felde der Einscharrung vorzuziehen. Faulende
Särge werden oft von wilden Hunden aufgekratzt; dann starrt dem
Wanderer der zerfleischte Leichnam entgegen; benagte Gliedmaassen
liegen auf den Feldern. — Neben manchen Tempeln stehen Leichen-
häuser, wo bei Vermuthung von Scheintod die Körper bis zum
Eintritt der [Verwesung] ausgestellt bleiben.


Am 17. April machten wir im Reiseboot des Herrn Probst
einen Ausflug nach der nahgelegenen Pagode. Alle Handlungs-
häuser besitzen solche Boote, auf welchen ihre Reisenden die Sei-
dendistricte besuchen; es sind flache chinesische Fahrzeuge, über
deren Mitte eine bequeme Kajüte gebaut ist; vorn und hinten ar-
beiten die Schiffer. — Die Fahrt ging stromaufwärts, zunächst
durch dichte Reihen der Dschunken von Su-tšau. Gleich ober-
halb der Stadt liegt To-kan-du, das Mutterhaus der franzö-
sischen Jesuiten, welchen vom päpstlichen Stuhl die Provinzen
Kiaṅ-su und Tše-kiaṅ zugetheilt sind. Von da an bieten die Ufer
wenig Wechsel ausser vielen gegrabenen Einschnitten, welche durch
einen kurzen Wall geschlossen werden können und zum Ueber-
wintern der Dschunken dienen; denn hier giebt es in der Breite
von Kaïro dickes Eis in den Flüssen. — Nur langsam trieb uns die
Fluth hinauf; dann bog das Boot etwa fünfviertel Meilen oberhalb
Shang-hae in ein engeres Rinnsal ein und hielt bei einem ver-
fallenen Landhaus europäischer Bauart, das die Nähe der Rebellen
unbewohnbar machte. Von da führte der Weg durch gut bestan-
dene Gersten- und Rapsfelder und Gärten mit mächtigen Pfirsich-
bäumen, die in voller Blüthe standen.


Die Pagode, ein schlanker zierlicher Bau von hübschen Ver-
hältnissen, besteht aus einem vierseitigen steinernen Kern, um den
sich auf achteckigem Grundriss ein Holzbau von sieben Stockwerken
[396]Pagode. — Si-ka-be. XIII.
erhebt; es sind offene Gallerieen mit geschweiftem, vorspringendem
Dachstuhl; der oberste läuft in eine kunstreich geschmiedete eiserne
Spitze aus, von welcher Ketten nach seinen hornartig aufwärts ge-
krümmten Ecken herabhangen. Im Mittelpunct des untersten Stock-
werkes sitzt ein vergoldeter Budda. Leiterartige Treppen führen
bis zur obersten Gallerie, wo uns die unabsehbare grüne Fläche
im herrlichsten Sonnenschein zu Füssen lag; hier und da ein Dorf
mit blühenden Pfirsichbäumen, die in dieser Gegend der Verwüstung
entgangen waren; der schlängelnde Fluss von tausend Segeln
belebt, in der Ferne der Mastenwald von Shang-hae, am äusser-
sten westlichen Horizont zwei inselartig aufsteigende Höhen.


Die niedrigen Häuser des umgebenden Dorfes dienen dem
luftigen, leider stark verwitterten und der Zerstörung preisgegebe-
nen Bau als Folie; die Gassen sind wo möglich noch enger,
schmutziger und parfümirter als in Shang-hae. Vor kurzer Zeit
hatten die Tae-piṅ hier gehaust; viele Häuser lagen in Schutt und
verkohlten Trümmern, im Tempel die Götzen gestürzt und zer-
schlagen; um eine grosse hölzerne Puppe, die offenbar bekleidet
war, hatte das Gesindel Feuer gemacht; schwarz und klumpig sass
der Rumpf auf dem Fussgestell. Uebrigens erzählten die wenigen
Dorfbewohner, welche unter den Trümmern noch ein elendes
Dasein fristeten, die kaiserlichen Soldaten hätten eben so schlimm
gewüthet.


Den Rückweg machten wir zu Fuss, um das Missionshaus
der Jesuiten in Si-ka-be zu besuchen; man wandelte durch blüthen-
duftende Bohnenfelder. Die Anstalt liegt einsam im freien Felde,
etwa dreiviertel Stunden von der Pagode und zwei von Shang-hae
entfernt.


Si-ka-be ist ein Erziehungshaus unter Obhut von sechs
Jesuiten-Patres, welche den Gesandten und seine Begleiter freund-
lich empfingen; wie alle Missionare dieses Ordens trugen sie chine-
sische Kleidung und den langen Zopf. Einige Patres bereisen die
Provinzen Kiaṅ-su und Tše-kiaṅ, wo in kleinen zerstreuten Ge-
meinden 76,000 chinesische Katholiken wohnen. Sowohl in der
Hauptanstalt Si-ka-be als in den anderen unter Obhut ansässiger
Seelsorger stehenden Schulen werden nach Verhältniss des Raumes
und der Mittel alle Knaben aufgenommen, die sich melden, gleich-
viel ob von christlichen Eltern oder nicht. Chinesische Lehrer er-
theilen ihnen diejenige Erziehung, welche die erste Staatsprüfung
[397]XIII. Si-ka-be.
fordert. Daneben besteht der Katechumenen-Unterricht für die
jungen Christen, welchem die heidnischen Zöglinge beiwohnen dür-
fen, aber nicht müssen: viele vertiefen sich aus Neugierde in die
Glaubenslehren; oft sollen beim Unterricht solche Schüler junge
Christen verbessern, die ihre Lection nicht können. Nur die sich
freiwillig melden, werden getauft; die Zahl der Katholiken mehrt
sich aber in diesen Provinzen ansehnlich, denn Lockenderes giebt
es kaum für den Chinesen, als die classische und wissenschaft-
liche Bildung, welche den Weg zu Staatsämtern, zu den höchsten
Würden öffnet.


Bei unserem Besuch zählte Si-ka-be 96 Zöglinge, die in der
Anstalt wohnten; dem Alter und den Fortschritten nach waren sie
in drei Classen getheilt; nur die Wohlhabenden bezahlten einen Er-
ziehungsbeitrag. Alle schienen wohlgenährt und munter, der ge-
sunde Glanz ihres Auges sprach von körperlicher Frische. Trotz
der späten Nachmittagsstunde waren die Schulstuben noch gefüllt:
in jeder Ecke sass ein Lehrer mit höchstens zehn Schülern, die er
einzeln vornahm, während alle anderen, nach chinesischer Art den
Körper wiegend und die Beine schlänkernd, ihre Lection mit
singender Stimme sagten. Die Patres beschränkten sich auf
den Unterricht in der Religion und im Französischen; letztern ge-
niessen nur die besten Schüler als Belohnung; der Mehrzahl wäre
die fremde Sprache Ballast.


Die Anstalt ist äusserlich musterhaft gehalten; in den Ess-
und Schlafsälen, den Schulstuben, der Bibliothek, dem Garten,
der Apotheke, überall die grösste Ordnung und Reinlichkeit. Die
Altäre der Kirche schmücken Oelgemälde, von Zöglingen nach
kleinen Heiligenbildchen ausgeführt; wir trafen solchen jungen Ma-
ler bei der Arbeit; die Zeichnung war gut, der Ausdruck des
Kopfes zart und innig, nur fehlte jede Spur malerischer Wirkung.
Den Hauptaltar hat nach französischer Zeichnung ein Zögling
meisterhaft in Holz geschnitzt.


Die anwesenden Missionare machten den Eindruck von Män-
nern, die der Welt entsagten und in Erfüllung ihres Berufes die
höchste Befriedigung finden. Innere Heiterkeit und Seelenruhe
ohne jeden Anstrich von Frömmelei redete vorzüglich aus dem Vor-
steher der Anstalt, dessen männliche Lebenserfahrung und feiner
Ton vermuthen liessen, dass er nicht immer in der Kutte steckte.
Wer die Jesuiten in fernen Welttheilen sah, kann sich dem Ein-
[398]Die Tae-piṅ und die Kaiserlichen. XIII.
druck nicht verschliessen, dass sie dort segenreich und anders
wirken, als in europäischen Landen, wo der Orden freilich andere
Zwecke verfolgt. — Durch frühlingsduftende Gefilde kehrten wir
bei Mondschein nach der Stadt zurück.


Tae-piṅ-Truppen standen damals in unmittelbarer Nähe von
Shang-hae. Seit der Zurückweisung im Sommer 1860 wagten sie
auf die Stadt keinen Angriff mehr, streiften aber bis in ihre nächste
Umgebung. Si-ka-be, wo im August 1860 ein Missionar ermordet
wurde, hatte französische Besatzung. Oft stiegen am Horizont die
Rauchsäulen brennender Ortschaften auf; zuweilen wurden Dörfer
kaum eine halbe Stunde vor den Thoren zerstört. Dann flüchteten
die Bewohner unter die Mauern von Shang-hae und schlugen La-
ger von Strohhütten auf, wo des Jammers kein Ende war. Man
sah diese Streifzüge nur als Recognoscirungen der Rebellen an,
welche erkunden sollten, ob fremde Truppen die Stadt noch be-
setzt hielten; das in Shang-hae garnisonirende anglo-indische
Reiter-Regiment sandte stehende Patrouillen nach allen Richtungen.
Zuweilen zogen kaiserliche Truppen gegen die Aufrührer, hausten
aber eben so schlimm wie diese und pressten den Dorfbewohnern
durch die Drohung, sie als Hehler von Rebellen anzugeben, oft den
letzten Heller ab; wo solcher Verdacht einmal erwachte, übten die
Behörden summarische Justiz und mordeten manchen Schuldlosen.
Der Tau-tae bedrohte die Erpressungen seiner Krieger umsonst
mit den härtesten Strafen: ein zum Ankauf von Seide ausgeschickter
Inspector des Hauses Jardine Matheson wurde bald nach unserer
Abreise in seinem Boote von kaiserlichen Soldaten überfallen und
der baaren Summe von 80,000 Dollars beraubt. Der englische Con-
sul machte den Tau-tae von Shang-hae verantwortlich, in dessen
Bezirk die That verübt war; schon nach zwei Tagen hatte man
dreissig Räuber mit 50,000 Dollars gefangen; das Fehlende mussten
die Behörden ersetzen.


Täglich hörte man von der Ruchlosigkeit der kaiserlichen
Soldaten: so schlachtete ein zum Kampfe ausziehendes Detache-
ment vor den Thoren von Shang-hae einen Gefangenen, um die
Waffen in sein Blut zu tauchen, im Wahn, das mache siegreich.
Einzelne Tae-piṅ wurden auf diesen Streifzügen wohl gefangen,
ihre Häupter barbarisch in den Strassen angenagelt; von ernster
Action hörte man niemals. Die Truppen näherten sich dem Feinde
in aufgelösten Schaaren auf Schussweite; Jeder nahm einen Gegner
[399]XIII. Operationen der Tae-piṅ.
aufs Korn und hielt die brennende Lunte auf die Pfanne, was dem
Gemeinten Zeit gab, sich zu ducken. Ebenso thaten die Tae-piṅ.
Lautes Schimpfen und höhnende Grimassen bildeten nach dem Be-
richt von Augenzeugen den wesentlichsten Theil dieser Gefechte.
Fragte man die Mandarinen, warum sie nicht kräftiger eingriffen,
so gaben sie zu verstehen, dass bei der herrschenden Ueber-
völkerung ein Aderlass ganz zweckmässig sei; dahinter versteckte
sich der gemeinste Stumpfsinn. Auch das Landvolk wäre, in Masse
aufstehend, der Rebellen Meister geworden, und die gewöhnliche
Ausrede, dass es die Heimsuchung als himmlische Strafe betrachte,
mochte kaum gelten. Ihm fehlte die Leitung. Ueberall, wo die
Tae-piṅ niedergeworfen wurden, erschlug sie das rachedürstende
Landvolk ohne Gnade.


Einige Wochen nach dem Feldzug gegen Shang-hae wurde
dessen Leiter, der Tšun-waṅ oder »Treue König«, nach Nan-kiṅ
berufen, wo sich im October die Hauptführer der Tae-piṅ zu Fest-
stellung der Pläne für den Winter versammelten. Alle Kräfte
sollten auf den Entsatz von Gan-kiṅ, dem Schlüssel der Stellung
am Yaṅ-tse gerichtet werden. Eine Armee unter dem Yiṅ-waṅ
musste auf dem nördlichen Stromufer von Toṅ-tšiṅ nach Waṅ-
tšau
, von da auf Han-kau marschiren; eine zweite unter dem Tu-
waṅ
sollte Ho-kin am Eingang des Po-yaṅ-Sees angreifen und
von da auf dem Südufer stromaufwärts rücken; eine dritte Heer-
säule unter dem Ši-waṅ marschirte vom Po-yaṅ-See über Nan-
tšaṅ
, die Hauptstadt von Kiaṅ-si, nach dem Han-kau gegenüber
auf dem Südufer des Stromes liegenden Wu-tšaṅ. Die vierte Ar-
mee unter dem Tšun-waṅ hatte die Aufgabe, vom Süden des Po-
yaṅ
-Sees
nach dem Tuṅ-tiṅ-See und von da stromabwärts nach
Han-yaṅ zu ziehen, das nur der Han-Fluss von Han-kau trennt.
Im April oder März 1861 sollten die vier Armeen in der berühmten
Dreistadt zusammenstossen und von da gemeinschaftlich gegen die
Gan-kiṅ belagernden Kaiserlichen operiren. — Die in Su-tšau
stehenden Truppen wurden angewiesen, im Laufe des Winters Tša-
pu
und Hai-yuen zu nehmen, während die Nien-fei, eine Rebellen-
macht, die sich nicht zu den Lehren der Tae-piṅ bekannte, unter
Umständen aber mit ihnen gemeinsam operirte, — einen Raubzug
[400]Operationen der Tae-pin. XIII.
gegen Yaṅ-tšau, Kwa-tšau und Tšiṅ-kiaṅ, die drei Städte unter-
nehmen sollten, welche die Kreuzung des Grossen Canals mit dem
Yaṅ-tse beherrschen. — Nur theilweise kamen diese Pläne zur Aus-
führung. Von den vier auf die DreistadtHan-kau dirigirten Ar-
meen wurden die beiden unter dem Tu-waṅ und dem Ši-waṅ von
den Kaiserlichen geschlagen und mussten zurück; der Tšun-waṅ
stand im April 1861 auf dem Süd-Ufer des Yaṅ-tse nicht weit
von der Dreistadt; der kaiserliche General Pao-tšiao hatte sich
aber an seine Fersen geheftet, der Gouverneur von Han-kau sandte
ihm eine Colonne entgegen und das Landvolk schnitt ihm die Zu-
fuhr ab, so dass er ebenfalls umkehren musste. Der Yiṅ-waṅ be-
setzte am 18. März 1861 Waṅ-tšau und bedrohte die Dreistadt,
von deren Berennung ihn nur die Vorstellungen der Engländer ab-
hielten. Der Entsatz von Gan-kiṅ gelang ihm nicht. — Die Nien-
fei
, welche auf die Städte an der Kreuzung des Yaṅ-tse mit dem
Kaisercanale marschirten, wurden geschlagen. Nur von Su-tšau
aus operirten die Rebellen glücklich gegen den Süden und die
Meeresküste, gewannen aber wesentliche Erfolge erst im Herbst
des Jahres 1861.


Seit der Einnahme von Su-tšau kamen nach mehrjähriger
Unterbrechung wieder protestantische Missionare in Berührung mit
den Tae-piṅ, auf welche sie noch immer grosse Hoffnungen bauten.
Damals glaubten selbst viele aus der besten Classe der fremden
Kaufleute, dass die Insurgenten mindestens eben so gesittet seien
als die Kaiserlichen. Herr Lay, 128) den wir in Shang-hae sprachen,
nannte die Rebellen zu schwach, um zu leben, die kaiserliche Re-
gierung trotz unheilbarer Krankheit noch zu kräftig, um zu sterben,
und prognosticirte daraus eine allgemeine Auflösung, deren Folgen
ausser aller Berechnung lägen. Seitdem sind die Tae-piṅ vom
Erdboden verschwunden und die Auflösung ist nicht eingetreten;
[401]XIII. Missionar in Nan-kiṅ.
ein siecher Körper lebt oft eben so lange als ein gesunder, und
wie der »kranke Mann« an Europas Grenze, so kann auch der ab-
gelebte Stamm an Asiens äusserstem Ende immer weiter vegetiren,
ohne Blüthen zu treiben, ohne zu verdorren. Die Masse ist zu
gross, um von selbst zusammenzubrechen; die Krankheit einzelner
Glieder überwindet der gewaltige Körper. China lebt fort nach
dem Gesetze der Trägheit, dem stärksten Moment bei grossen
Massen, die um den eigenen Schwerpunct gravitiren, um die selbst
losgelöste Theile weiter kreisen, bis äussere Gewalt den Bann
zerstört.


Im August 1860 kam der americanische Missionar Holmes
nach Nan-kiṅ. Der Tien-waṅ schien erfreut über die Ankunft
eines fremden Geistlichen und wollte ihn empfangen, verlangte
aber, dass Herr Holmes in chinesischen Gewändern erscheine, Rang
und Titel von ihm annehme und vor ihm niederkniee. Dess wei-
gerte sich der Americaner. Nach langen Verhandlungen erschien
ein Edict von des Tien-waṅ elfjährigem Sohne, welcher damals
schon göttliche Ehren genoss und alle Decrete in Religions- und
Regierungssachen zu erlassen pflegte: den Völkern des Westens
werde kund gethan, dass er und sein Vater geruhen wollten, den
Besuch des ehrwürdigen Herrn zu empfangen. — Den folgenden
Morgen — einen Sabbath — bei Tagesgrauen führte eine bunte
Procession mit fliegenden Bannern und Musik Herrn Holmes nach
dem Palast; er selbst war zu Pferde, die »Könige« folgten in
prächtigen Sänften. Den Palast, an dem noch gebaut wurde, ver-
gleicht Herr Holmes mit den grössten Confucius-Tempeln; in der
Audienzhalle stellte man ihn zwei Brüdern, zwei Neffen und dem
Schwiegersohn des Tien-waṅ vor, welche am Eingang eines zurück-
springenden Gemaches sassen. Darüber standen die Worte: Er-
habenes Himmelsthor; im tiefsten Hintergrund sah man den leeren
Thron des himmlischen Fürsten. Nach einiger Zeit erschien der
zwölfjährige Westkönig, ein Brudersohn des Tien-waṅ; er setzte
sich zu seinen Verwandten und die Feierlichkeit begann. »Zuerst,«
erzählt der Missionar, »knieten die Tae-piṅ mit dem Gesicht nach
dem Throne des Tien-waṅ nieder und recitirten ein Gebet an den
»himmlischen Bruder«; dann knieten sie nach der entgegengesetzten
Richtung und sagten ein Gebet an den »himmlischen Vater«; dann
knieten sie wieder mit dem Gesicht gegen den Stuhl des Tien-waṅ
und beteten abermals zu ihm; darauf schlossen sie die Feierlich-
III. 26
[402]Erlass des [Tien-
waṅ
]
. XIII.
keit, indem sie stehend sangen. Ein gebratenes Schwein und der
Körper einer Ziege lagen mit anderen Sachen auf Tischen in den
äusseren Höfen, und Feuer brannte auf einem Altar in dem Raum
zwischen dem Thron und dem Ende des Gemaches. Der Tien-
waṅ
war nicht erschienen und kam auch nicht, obwohl nach Been-
digung der Feierlichkeit Alle eine Weile auf ihn warteten.« — Seine
Zurückhaltung war sicher durch die Weigerung des Missionars
veranlasst, ihn göttlich zu verehren, und die ganze Ceremonie darauf
berechnet, demselben zu imponiren. Herr Holmes hatte nachher
Unterredungen mit dem Tšan-waṅ, dem »Vollendeten König«, der
ihm mit kindlichem Vergnügen eine Musikdose, ein Fernglas und
andere europäische Sachen zeigte, aber zu keinem ernsten Gespräch
zu vermögen war. Er declamirte immer wieder die alte Redensart,
dass alle Menschen Brüder seien, und gab wie beiläufig zu, dass
die Offenbarungen des Tien-waṅ nicht zu denen der Bibel stimmten,
meinte aber, sie hätten, als die späteren, höhere Geltung.


Herr Holmes war nach einem Besuch in Su-tšau mit gün-
stigen Meinungen nach Nan-kiṅ gegangen: »Ich hoffte, dass ihre
Lehren, wenn auch roh und irrig, doch einige Elemente des Christen-
thumes enthielten. Zu meinem Kummer fand ich vom Christen-
thume nichts, als seine Namen falsch angewendet, angewendet auf
ein System des empörendsten Götzendienstes.« — Vor seiner Ab-
reise aus Nan-kiṅ erschien noch folgender Erlass des Himmels-
fürsten:


»Ich Tien-waṅ erlasse ein Edict zu Belehrung solcher Solda-
tenführer, als sich unter den äusseren Stämmen befinden mögen. —
Die zehntausend Völker sollten sich dem himmlischen Vater, dem
Herrn in der Höhe, dem höchsten Vater beugen. Die zehntausend
Völker sollten sich dem Weltheiland, dem grossen Bruder Christus
beugen. Himmel, Erde und Menschen, Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft sind dann alle in Frieden. Früher trug der ältere Bruder die
Sünden der Menschheit, indem er nach dem Messer rief, die bösen
Geister zu erschlagen. Der ältere Bruder hatte früher gesagt: »Das
Himmelreich naht und wird sicherlich kommen.« Der Vater und der
ältere Bruder sind herabgestiegen und haben das himmlische Reich ge-
gründet, und haben mich und den jüngeren Herrn (seinen Sohn) ein-
gesetzt, die Angelegenheiten dieser Welt zu ordnen. Vater, Sohn und
königlicher Enkel sind zusammen Herren des neuen Himmels und der
Erde. Der Heiland und der jüngere Herr sind Söhne des himm-
lischen Vaters; auch des grossen Bruders Christus Sohn und mein

[403]XIII. Die Tae-piṅ-Heere.
Sohn sind Herren. Der Vater und der ältere Bruder zusammen mit
mir sind Eines. Sie haben gewisslich dem jüngeren Herrn befohlen,
das Haupt der zehntausend Völker zu sein. Wisset, dass ihr alle, ihr
Könige im Osten und Westen, und dass der heilige Willen des
Höchsten und Christi mir durch sie gegeben sind; dass ich von ihnen
hinfort die Menschen in den Himmel nehme und sie zum himmlischen
Wohnort hinaufführe. In alten Zeiten und jetzt, zuvor und künftig
beugen sich Alle dem himmlischen Vater. Alle unter dem Himmel
sind glückselig, indem sie zusammen zur himmlischen Stadt (Nan-kiṅ)
und zum himmlischen Palast aufsteigen. Des Vaters und des älteren
Bruders Vorschriften werden gehorsam durch alle Zeiten überliefert.
Der Vater arbeitete sechs Tage, und Alle sollten den grossen himm-
lischen Höchsten preisen. Im Jahre Tien-yu (1837) sandte der Vater
und nahm mich in den Himmel auf. Der ältere Bruder und ich wollen
in Person die Schlange, den Teufel austreiben und ihn in die Hölle
werfen. Im Jahre Yu-šan (1848) stiegen der Vater und der ältere
Bruder in die Welt hinab, um durch mich und den jüngeren Herrn
endlosen Frieden zu gründen. Das Evangelium wurde lange gepredigt;
jetzt schauet ihr wahre Glückseligkeit und Herrlichkeit. Der Vater
und der ältere Bruder, voll Gnade und Liebe, sind wahrhaft allmächtig.
Alle Herrscher und Völker unter dem Himmel sollen frohlocken und
freudig sein!«


Dieses Edict brachte die meisten Fremden, die den Tae-
piṅ
noch hold waren, zur Besinnung. Die Worte »Aeussere Stämme«
und »Soldatenführer« haben im Chinesischen einen verächtlichen
Sinn, den kein Missionar fortdemonstriren konnte; sie sind die Aus-
drücke höflichen Sprachgebrauches für wilde Horden und deren
Häuptlinge. Lord Elgin’s hochfahrendes Auftreten gegen die Tae-
piṅ
fand jetzt erst in Shang-hae gerechte Würdigung; ein Wun-
der nur, dass der lästerliche Blödsinn nicht allen Missionaren die
Augen öffnete. In den Heeren der Tae-piṅ, welche Herr Holmes
und Andere sahen, bildeten die puritanischen Krieger, welche 1851
aus Kuaṅ-si aufbrachen, nur noch den kleinsten Bruchtheil; die
meisten waren übergetretene kaiserliche Soldaten, und das schlimmste
Gesindel aller Provinzen folgte ihren Raubzügen wie ein Kometen-
schweif. Sonderbar fiel die grosse Zahl junger Burschen von zwölf
bis achtzehn Jahren in diesen Horden auf: jeder Officier hatte deren
mehrere zur Bedienung; auf einen Soldaten im Mannesalter kamen
mindestens zwei bis drei Knaben. Sie mögen ihren Eltern theils
entlaufen, theils geraubt worden sein, schienen aber mit ihrem
26*
[404]Brief des Tien-waṅ an Mr. Roberts. XIII.
Schicksal sehr zufrieden und übten die frechste Bosheit. Nach
dem Bericht von Augenzeugen waren sie die Geissel des Land-
volks, verwüsteten muthwillig, was sie nicht brauchen konnten, und
marterten die Bauern im schweren Frohndienst mit teuflischer Grau-
samkeit zu Tode. Vergleicht man diese Truppen mit denjenigen,
welche 1851 von Kuaṅ-si auszogen, selbst mit denen, welche
Meadows 1853 in Nan-kiṅ und Tšiṅ-kiaṅ sah, so zeigt sich, dass
ihre Entartung gleichen Schritt hielt mit dem Sinken ihrer Lehre
und der wachsenden Verirrung des Lenkers. Als Gegenstück zu
jenem Edicte des Tien-waṅ möge hier der Brief stehen, welchen
er gleich nach Einnahme von Nan-kiṅ 1853 an seinen Lehrer, den
Missionar Roberts in Kan-ton schrieb:


»Obwohl lange Zeit verging, seit wir uns trennten, hege ich
doch beständig in Liebe dein Andenken. Jetzt, da holde Frühlings-
lüfte die Menschen grüssen, gedachte ich deiner in der Ferne, mein
verehrter älterer Bruder! Wahrhaft ruhmwürdig ist es, dass du über
Myriaden Meilen des Oceans hergekommen bist, die wahre Lehre des
Erlösers zu verkünden, und dass du von ganzem Herzen dem Herrn
dienst. Ehrerbietig theile ich dir mit, dass der himmlische Vater mich
trotz meiner Unwürdigkeit und Schwäche nicht verworfen, sondern in
der Fülle seiner Gnade befähigt hat, die in Lian-gun und Kiaṅ-nan
(Hu-nan, Hu-pi, Gan-wui
und Kiaṅ-su) begriffenen weiten Länder
in Besitz zu nehmen. Ich schrieb dir wiederholt, erhielt aber noch
keine Antwort.


Wegen der Vielfältigkeit der öffentlichen Angelegenheiten, die
meine Aufmerksamkeit beschäftigen, hatte ich nicht Musse, das Volk
früh und spät zu unterrichten. Aber ich machte dem Heer und der
übrigen Bevölkerung die zehn Gebote kund, und lehrte sie, Morgens
und Abends zu beten. Doch sind ihrer nicht Viele, die das Evange-
lium verstehen. Deshalb finde ich angemessen, dir den Boten … in
Person zu senden, um dir Frieden zu wünschen, und dich, mein
älterer Bruder, zu ersuchen, wenn du mich nicht verlassen willst, zu
mir (zu kommen) recht viele Brüder mitzubringen, um das Evangelium
zu verbreiten und den heiligen Gebrauch der Taufe zu üben. Später,
wenn mein Unternehmen erfolgreich zu Ende geführt ist, will ich die
Lehre im ganzen Reich aussäen, dass Alle zu dem einen Herrn zurück-
kehren und nur den wahren Gott anbeten mögen. Das ist, wonach
mein Herz wahrhaft strebt. Ich unterlasse andere Dinge zu berühren,
und sage für jetzt nicht mehr. Mit Segenswünschen grüsst dich dein
unwissender jüngerer Bruder Huṅ-siu-tsuen


[405]XIII. Mr. Roberts in Nan-kiṅ.

Dieser Brief wurde von dem Boten, welcher Nan-kiṅ wenig
Tage nach der Einnahme verliess, am 11. Mai 1853 dem Missionar
Dr. Happer in Kan-ton übergeben, der ihn sofort an Herrn Ro-
berts
sandte; er war mit freier kräftiger Hand geschrieben, den
Namen bedeckte ein Stempel mit folgenden Zeichen: Tien-ti, Tae-
piṅ, Waṅ-yin
: d. h. Siegel des Tae-piṅ-Königs Tien-ti. 130) Am
Ernst des Inhalts liess sich kaum zweifeln; gesunden Verstand be-
wies er sicher. Herr Roberts wünschte der Einladung zu folgen
und ging nach Shang-hae; warum er Nan-kiṅ nicht erreichte und
seinen Plan damals aufgab, ist unbekannt. Seit dem Besuch der
englischen Kriegsschiffe 1854 scheint alle Verbindung mit den Re-
bellen aufgehört zu haben, bis Lord Elgin im Herbst 1858 nach
Nan-kiṅ fuhr. Dem an Letzteren gerichteten Manifest des Tien-
waṅ
war eine Erkundigung nach Herrn Roberts und die Bitte bei-
gefügt, dass er nach Nan-kiṅ kommen möge.


Erst nach der Einnahme von Su-tšau begab sich Herr Ro-
berts
von Shang-hae aus auf die Reise, und gelangte im October
1860 nach Nan-kiṅ. Vom Tien-waṅ mit Auszeichnung behandelt
und mit hohem Range bekleidet, bequemte er sich zur Tracht der
Tae-piṅ und wurde in den schmutzigen gelben Gewändern und der
goldgestickten Krone das Gespött aller Nan-kiṅ besuchenden Frem-
den. Den verantwortlichen Posten eines Ministers des Auswärtigen
— der Tien-waṅ hoffte durch Roberts mit den fremden Mächten
anzuknüpfen — schlug er klüglich aus; denn die weit über die
Prätensionen der rechtmässigen Kaiser hinausgehende Anmaassung
des Himmelsfürsten machte solche Verbindung unmöglich. Wäre
er dessen lästerlichem Wahn mit vollem Freimuth entgegen getre-
ten, so konnte er überhaupt in Nan-kiṅ nicht Fuss fassen. In der
Hoffnung, Einfluss zu gewinnen, machte er wohl einige Zugeständ-
nisse, musste aber als christlicher Prediger grade diejenigen Lehren
des Tien-waṅ anfechten, welche dessen tollem Herzen am nächsten
lagen. So verlor er alles Ansehn und lebte in Nan-kiṅ ganz
unbeachtet. Leider scheint Herr Roberts ausser einem später mitzu-
theilenden Schreiben garnichts über die Tae-piṅ publicirt zu
[406]Religions-Edict. XIII.
haben, unter denen er doch Jahre lang lebte. Anderen Missionaren,
die — meist noch immer mit günstigen Vorurtheilen — kürzere Zeit
unter ihnen weilten, schuldet man denkwürdige Aufschlüsse. Es
wäre unbillig, die Berichte von Augenzeugen hier nicht in ihrem
Sinne wiederzugeben.


Der Missionar Mr. Griffith John, dessen Besuch in Su-tšau
früher berührt wurde, reiste im November 1860 nach Nan-kiṅ.
Er findet bei den Tae-piṅ Organisationstalent und die Elemente
einer guten Verwaltung: das von ihnen besetzte Land stehe unter
einem regelmässigen Steuersystem mit etwas niedrigeren Sätzen als
die der kaiserlichen Regierung. Die Gütergemeinschaft sei zu Nan-
kiṅ
in voller Wirkung: alle Beamten, Officiere und Soldaten er-
hielten dort vom Himmelsfürsten ihren Antheil an Nahrung, Geld
und Kleidung; nur im Felde sorgten sie für sich selbst; der
Tšun-waṅ sei reicher als selbst der Tien-waṅ. Und doch sei
Alles Gemeingut. [Diese] Widersprüche kommen auf Rechnung des
Beobachters. Herr Griffith John erklärt sogar das Lästerliche in
des Tien-waṅ Erlassen für metaphorisch. Er erwirkte folgendes
von dessen elfjährigem Sohne erlassene Religions-Edict, das nach-
her andere Missionare in das Tae-piṅ-Gebiet lockte.


»Nachdem ich die Befehle meines himmlischen Vaters (Gott),
meines himmlischen Pflegevaters (Christus) und meines Vaters erhielt,
bringe ich dieselben zur Kenntniss aller Civil- und Militärbeamten.
Die wahre Lehre meines Vaters und meines Pflegevaters ist die Reli-
gion des Himmels. Die Religion Christi (protestantische Lehre) und die
Religion des Herrn des Himmels (katholische Lehre) sind darin ent-
halten. Die ganze Welt, zusammen mit meinem Vater und mir selbst,
sind eine Familie. Diejenigen, welche liebend und einträchtig die Vor-
schriften der himmlischen Religion beobachten, haben Erlaubniss (uns)
zu besuchen. Nun ersehe ich aus den von meinen Oheimen Kan,
Tšan, Tšuṅ
und Anderen eingereichten Denkschriften, dass der fremde
geistliche Lehrer Griffith John und sein Freund, — welche das himm-
lische Reich schätzen, und glauben an meinen Vater und meinen Pflege-
vater, denen wir danken für die uns gewordene Gnade der Herrschaft,
Macht und der Wunder, von welchen mit Ehrfurcht gehört haben, die
nah und ferne sind, — gekommen sind zu dem ausdrücklichen Zweck,
das Licht zu sehen, Gott und Christus zu schauen, und Erlaubniss
nachzusuchen, die wahre Lehre auswärts zu verbreiten, In Betrachtung
aber, dass die gegenwärtige eine Zeit des Krieges ist, und dass draussen
nach allen Richtungen Soldaten zerstreut sind, fürchte ich wahrlich,

[407]XIII. Missionare in Nan-kiṅ.
dass die Missionare bei dem Soldatenvolk Schaden nehmen, und dass
es ernste Folgen haben könnte. Aber ich sehe gewiss, dass diese
(Prediger) aufrichtige redliche Menschen sind, die es für nichts achten,
mit Christus zu leiden. Deshalb schätze ich sie hoch.


Die Könige müssen alle Beamten und Anderen anweisen, gegen
diese Männer liebevoll zu handeln und durchaus keinen Streit oder
Zwiespalt zu erregen. Alle sollen wissen, dass der Vater, mein Pflege-
vater, mein Vater und ich eine Familie sind, und diese Männer müssen
mit ausnehmender Güte behandelt werden.«


Im Januar 1861 ging der Missionar Muirhead zunächst nach
Su-tšau. Alle Bewohner waren vertrieben, durch die geschlosse-
nen Stadtthore wurden nur Tae-piṅ eingelassen; so schalteten sie
in allen genommenen Städten aus Furcht vor Verrath und Ueber-
rumpelung. Von einem Diener des Gouverneurs begleitet predigte
Herr Muirhead in den verwüsteten Strassen. Die Zuhörer schienen
ihm vertraut mit den grossen Wahrheiten und zugänglich für die
Lehren des Christenthums. In allen amtlichen Maueranschlägen
war von der »ausnehmenden Gnade Gottes«, der »vorsorgenden Güte
des himmlischen Vaters« und dem »Werke Christi« die Rede; nur
die Verschmelzung des Tien-waṅ mit der Gottheit machte Herrn
Muirhead etwas stutzig. — Auf seinem Wege nach Nan-kiṅ fand
er alle Tempel in Trümmern, die Götzenbilder zerschlagen, in den
Städten die gleiche Verwüstung wie in Su-tšau. In Nan-kiṅ
wohnte er bei Herrn Roberts. Der Kan-waṅ131) empfing ihn sehr
herzlich: »er schien erfreut, eine alte Bekanntschaft zu erneuen,
und schwatzte gefällig über sich selbst und das Werk der Ver-
christlichung seiner Untergebenen«. Huṅ-džin war damals erster
Minister; er versprach nachzudenken über Herrn Muirhead’s Vor-
haben, in Nan-kiṅ und der Umgegend zu predigen, und ertheilte
ihm Tags darauf mündlich folgenden Bescheid: Der Zustand der
Stadt und des Landes mache das Predigen kaum rathsam; der Arg-
wohn des Volkes müsse erst durch Proclamationen beschwichtigt
werden. Unter friedlichen Verhältnissen würde er seine Beamten
zu Aufbietung ihres Einflusses anweisen; er rüste aber grade eine
Armee und wisse nicht, ob der Herrscher die nöthigen Anordnun-
gen billigen möge; jedenfalls riethe er zum Aufschub, und beson-
[408]Huṅ-džin, der Kan-waṅ. XIII.
ders, dass in der Hauptstadt nicht gepredigt werde. — Bei späteren
Besuchen sprach er offener: sein königlicher Herr wolle das Land
evangelisiren, dieses Ziel aber auf seine Art durch einheimische
Lehrer verfolgen. Jährlich sollten in Gegenwart aller Beamten
Prüfungen stattfinden, bei denen der Bibeltext zur Grundlage diente;
nach ihrer Kenntniss der heiligen Schriften sollten die Candidaten
beurtheilt und angestellt werden. Die Beamten würden dann das
Volk unterrichten. Auf alle Einwendungen der Missionare ant-
wortete Huṅ-džin: Jenes sei des Tien-waṅ Willen, den er für
vollkommen achte; man wolle sich nicht auf fremden Beistand
stützen; das Volk verschmähe, das Evangelium von Fremden an-
zunehmen; durch Chinesen müsse es bekehrt werden. Gern möchte
er Freundschaft halten mit den Missionaren, aber ihre Ansichten
seien so verschieden, deshalb wolle er seinen eigenen Weg gehen.
Einstweilen wenigstens möchten keine Missionare nach Nan-kiṅ
kommen, die Stadt sei jetzt nur ein Lager; und wenn er auch seine
besonderen Freunde gern zuweilen bei sich sähe, so könne er dem
Plane, die Hauptstadt zum Mittelpunct des Bekehrungswerkes zu
machen, durchaus keinen Vorschub leisten.


So sprach Huṅ-džin, auf welchen die Missionare ihre gröss-
ten Hoffnungen setzten. Unter den älteren Tae-piṅ aus Kuaṅ-si
fanden sie noch Männer von ernster Gesinnung, die freilich eben
so fest an des Tien-waṅ Offenbarungen als an die Lehren der
Bibel glaubten, die Entartung und Barbarei des Heeres aber tief
beklagten. Der Kan-waṅ, welcher in Hong-kong Jahre lang pre-
digte und die christliche Lehre genau kannte, mochte sich des
Tien-waṅ angemaasster Göttlichkeit vor den Missionaren schämen;
dieser Glauben, meinte er entschuldigend, müsse zur Förderung
der grossen Sache noch eine Weile fortbestehen; der Tien-waṅ
sei ein Mann von höchster Geisteskraft, ohne welchen Alles aus-
einanderfiele; ihm müsse man folgen. Huṅ-džin gestand, ihm auch
im Puncte der Vielweiberei schon gehorcht zu haben; jetzt wolle
der Himmelsfürst ihm noch zwei Frauen aufdringen, die er beharr-
lich zurückweise; übrigens habe er seine vier Gemalinnen und
seine Officiere nach gründlichem Unterricht getauft und bete mit
ihnen früh und spät.


Den dem alten kaiserlichen nachgeahmten unvollendeten
Palast des Tien-waṅ schildert Herr Muirhead als imposanten Bau.
Ueber dem Aussenthor standen die Worte: »Das geheiligte Him-
[409]XIII. Zustände bei den Tae-piṅ.
melsthor des wahren Gottes«, über dem inneren: »Das königliche
Himmelsthor«. Beide waren reich verziert mit grotesken Gestalten,
Drachen, Phönixen u. s. w. Zur Neujahrsgratulation kamen die
»Könige« in gelben Sänften; sie trugen lange gelbe Gewänder und
Kronen von altchinesischer Form. Von seinem Standpunct im
äusseren Hof sah Herr Muirhead die Feierlichkeit nur ungenau; sie
scheint jedoch der von Herrn Holmes beschriebenen durchaus ge-
glichen zu haben. Die Versammlung kniete und betete vor dem
leeren Thron des Himmelsfürsten, welcher unsichtbar blieb.


Herr Forrest, ein englischer Consularbeamter, der etwas
später Nan-kiṅ besuchte, berichtet offenbar die nüchterne Wahr-
heit. »Die völlige Verwüstung und Verödung der von den Tae-piṅ
auf ihrem Marsche von Nan-kiṅ nach Su-tšau betretenen Land-
striche ist mit Worten nicht zu beschreiben. Die Gegend um letz-
tere Stadt wird bald ein wucherndes Dickicht sein, und die weiten
Vorstädte, einst sogar von Fremden angestaunt, sind völlig zer-
stört. Vor den Thoren trifft man ein paar elende Geschöpfe, die
Bohnenbrei und Gemüse verkaufen; ausserdem sind aber keine ein-
heimische Bewohner mehr zu finden; wir jagten sogar wilde Enten
im Stadtgraben auf, wo es vor einem Jahr nur eben möglich war
durchzukommen durch die ungeheuere Masse dem Handelsverkehr
dienender Boote. Eben so öde ist das Innere der Stadt. Alle
Häuserfronten sind eingerissen und die zahlreichen Wasserläufe
mit zerbrochenen Möbeln, faulenden Booten und Trümmern voll-
gestopft. Dasselbe gilt von allen Städten am Kaiser-Canal; die
Dörfer und durch keine Mauern geschützten Plätze sind so gründ-
lich ausgebrannt, dass nur rauchgeschwärzte Wände noch auf-
recht stehen.«


Der Kan-waṅ war eben mit 70,000 Mann gegen Haṅ-tšau
gerückt; den Kaiser-Canal bedeckten grosse Transporte elender
Waffen, mit denen gewissenlose Kaufleute in Shang-hae gute Ge-
schäfte machten; die Flinten nur denen gefährlich, die sie führten.
— Die an der Mündung des Canals in den Yaṅ-tse gelegene Stadt
Tšiṅ-kiaṅ-fu, welche seit einigen Jahren wieder kaiserlich war,
bedrängten jetzt die Insurgenten in der Besorgniss, dass die Eng-
länder sie nach Installirung ihres Consuls schützen möchten.


In der Umgegend von Nan-kiṅ waren viele Landbewohner
zu ihren Dörfern und Beschäftigungen zurückgekehrt. Mauer-
anschläge, vom Sohne des Tien-waṅ und dem Tšun-waṅ unter-
[410]Zustände bei den Tae-piṅ. XIII.
zeichnet, verboten hier bei Todesstrafe die Entführung von Män-
nern und Weibern. Für Nan-kiṅ hatte der Landbau in der Um-
gegend die höchste Wichtigkeit; einmal monatlich wurden dort die
Steuern in Geld oder Reis erhoben. Eine bestimmte Zeit mussten
alle Landbewohner in der Stadt arbeiten, durften dann aber in ihre
Dörfer zurückkehren. Sie schienen in die bei ihnen wohnenden
Beamten Vertrauen zu setzen und mit ihrem Loose zufrieden
zu sein.


Kurz vor Ankunft des Herrn Forrest, welchen der Missionar
Edkins begleitete, verbot ein Edict des Tien-waṅ allen Handels-
verkehr innerhalb der Stadt: »Tien-kiṅ dürfe als kaiserliche Resi-
denz nicht durch Geschrei von Krämern entweiht werden.« Vier-
zehn Unglückliche, die dagegen frevelten, wurden eben hingerich-
tet. Vor den Thoren gingen Handel und Wandel sehr lebhaft,
und die Vorstädte konnten ihre Bewohner kaum bergen. Kaiser-
liche Geldsorten wurden fast lieber genommen als die eigenen der
Tae-piṅ.


Es gab in Nan-kiṅ sechs Ministerien, nach dem Muster der-
jenigen in Pe-kiṅ eingerichtet. An der Spitze der Verwaltung
stand der elfjährige Sohn des Tien-waṅ nicht nur dem Namen
nach, sondern emsig die Geschäfte erledigend. Im Staatsgewande
und goldener Krone pflegte er öffentlich zum Volke zu reden; un-
gebeten erzählte er Herrn Forrest die Visionen seines Vaters. —
Unter ihm gab es damals neun Tae-piṅ-Könige, von denen nur
der Tšan-waṅ in Nan-kiṅ weilte; alle anderen standen im Felde.
Den höchsten Rang bekleidete des Tien-waṅ Vetter Huṅ-džin, der
Kan-waṅ oder Schildkönig; für den tüchtigsten an Gesinnung und
Fähigkeiten galt der Tšun-waṅ oder Treue König. 132)


Die Tae-piṅ beherrschten um diese Zeit — Frühjahr 1861
— das südliche Yaṅ-tse-Ufer bis etwa 20 Meilen oberhalb
Nan-kiṅ und 10 Meilen landeinwärts; auf dem Nordufer hielten sie
noch Gan-kiṅ und eine Strecke nordöstlich davon bis Lu-ho be-
setzt. Oestlich von Nan-kiṅ gehörte ihnen der südlich des
[411]XIII. Sir James Hope auf dem Yaṅ-tse.
Yaṅ-tse gelegene Theil der Provinz Kiaṅ-su, ausser Tšiṅ-kiaṅ,
Shang-hae
und dessen nächster Umgebung. Die Stärke der
Tae-piṅ-Heere, die auf ihren Märschen lawinenartig anzuwachsen
pflegten, entgeht jeder Schätzung. Nach einer damals gemachten
Zusammenstellung hätte sie ausschliesslich der Garnisonen von
Naṅ-kiṅ, Wu-hu und Su-tšau über 320,000 Mann betragen. 133)


Nach einem zwischen Lord Elgin und dem Prinzen von Kuṅ
im Herbst 1860 getroffenen Abkommen sollten von den nach dem
Vertrage von Tien-tsin dem englischen Handel zu öffnenden Yaṅ-
tse
-Häfen ausser Tšiṅ-kiaṅ auch Han-kau und ein anderer Platz
oberhalb Nan-kiṅ sofort freigegeben werden. Um letzteren aus-
zuwählen und durch Verabredung mit den Tae-piṅ-Behörden die
englische Schiffahrt auf dem Yaṅ-tse möglich zu machen, ging
Admiral Sir James Hope im Februar 1861 mit neun Dampfern den
Strom hinauf. Einer derselben blieb vor Tšiṅ-kiaṅ, wo ein eng-
lischer Consul eingesetzt wurde. Handel gab es dort nicht, da das
umliegende Land und der Kaiser-Canal südlich vom Yaṅ-tse in
der Gewalt der Tae-piṅ waren; die Canalstrecke nördlich bis
zum Gelben Flusse und das durch zahlreiche Wasserstrassen da-
mit verbundene noch unberührte Gebiet östlich davon waren da-
gegen frei; man durfte voraussetzen, dass dessen Bewohner ihre
Producte nach Tšiṅ-kiaṅ führen würden, sobald sie Absatz fänden.


Die Behörden von Nan-kiṅ zeigten sich entgegenkommend.
— Sir James Hope liess die Verhandlungen durch Capitän Aplin
vom Centaur und Consul Parkes führen: alle britischen Handels-
schiffe sollten vom Commandeur eines vor Nan-kiṅ stationirten
Kriegsschiffes Pässe erhalten, welche die Tae-piṅ zu respectiren
versprachen; an diesen Flottenofficier sollten alle Engländer zur
Bestrafung ausgeliefert werden, die sich im Tae-piṅ-Reich ver-
gingen; würde einer der geöffneten Flusshäfen von den Tae-piṅ
genommen, so sollten Person und Eigenthum der dort wohnenden
[412]Zustände am Yaṅ-tse. XIII.
Engländer unberührt bleiben. Dagegen bürgte der Commandeur
des vor Nan-kiṅ stationirten Kriegsschiffes für die stricte Neutra-
lität aller englischen Fahrzeuge. Die Regierung von Nan-kiṅ ver-
sprach ferner, Shang-hae und seine Umgebung in einem Radius
von 100 Li oder 30 englischen Meilen Entfernung innerhalb eines
Jahres nicht anzugreifen.


Diese Convention in Wirkung zu setzen, blieb der Centaur
vor Nan-kiṅ liegen. — Auf der weiteren Stromfahrt des Geschwa-
ders fand man, soweit die Insurgenten standen, das Land ver-
wüstet, die Bevölkerung im tiefsten Elend. Von den einst blühen-
den Städten Wu-hu und Tae-piṅ war nur noch die Lage kennt-
lich; sie hatten das Baumaterial zu verschanzten Lagern liefern
müssen. — Gan-kiṅ fanden die Engländer von kaiserlichen Trup-
pen und Dschunken eng umschlossen. Herrn Parkes gelang es in
die Stadt zu dringen, deren Garnison 25,000 Mann betrug. Be-
waffnung und Geschütz waren mangelhaft, und die Vorräthe wurden
schon knapp. Die Truppen blickten matt und hohläugig, schienen
aber zuversichtlich und lenksam; man rechnete sicher auf Entsatz
durch den Yiṅ-waṅ.


Oberhalb Gan-kiṅ sah das Land besser aus; in den Städten
bemerkte man Rührigkeit und Keime von Gewerbfleiss. Bei Wahl
eines zweiten Yaṅ-tse-Hafens kamen Hu-kau und Kiu-kiaṅ in
Betrachtung; erstere Stadt liegt am Eingang des Po-yaṅ-Sees auf
steilen Höhen, also unbequem für die Schiffahrt; Sir James Hope
entschied sich deshalb für Kiu-kiaṅ, das in der That den Po-yaṅ-
See
beherrscht und immer ein blühender Handelsplatz war. In
den See ergiessen sich zahlreiche Rinnsale aus dem Westen, den
reichen Bezirken des schwarzen Thees. Die von den Mei-liṅ-
Pässen
, der grossen Hauptstrasse nach Kan-ton kommenden Flüsse
Fu und Kan und die weiter östlich fliessenden Gewässer stehen
durch Canäle mit den Bezirken des grünen Thees in Verbindung,
welche auch mit den nach Su-tšau und Shang-hae führenden
Wasserläufen communiciren. So ist der Po-yaṅ-See Mittelpunct
eines weitverzweigten Netzes schiffbarer Rinnsale, und für den Thee-
handel, welcher bis dahin fast ausschliesslich über Kan-ton ging,
von der äussersten Wichtigkeit. Die Händler behaupteten, den
grünen Thee mit Sicherheit nach Kiu-kiaṅ bringen zu können.


Die Dreistadt Han-kau, Han-yaṅ, Wu-tšau ist wieder
Mittelpunct eines Netzes von Wasserstrassen, welche in die Neben-
[413]XIII. Han-kau.
flüsse des Yaṅ-tse, in den Tuṅ-tiṅ-See und den Han fliessen.
Dessen oberer Lauf steht in schiffbarer Verbindung mit Tien-tsin.
Han-kau
selbst liegt in einer von zahlreichen Rinnsalen durch-
schnittenen Alluvial-Ebene. Das Aussehn der Stadt bewies, dass
sie in der That der grösste Stapelplatz des chinesischen Binnen-
handels sei. Die Behörden empfingen die Engländer freundschaft-
lich; der Vertrag von Tien-tsin und die Convention von Pe-kiṅ
waren veröffentlicht, ihre Ausführung der Bevölkerung durch Procla-
mation eingeschärft worden. Die chinesischen Kaufleute durften
ungehindert Auskunft ertheilen; sie erwarteten vom Verkehr mit
den Fremden eine goldene Ernte. Man fand in Han-kau von aus-
ländischen Artikeln englische und americanische Baumwollenwaaren,
auf dem langen Landwege über Kan-ton bezogen, russische
Wollenstoffe, über Tien-tsin importirt, und japanischen Seetang.
Steinkohle war billig und für Dampfer geeignet. Der Theehandel
bot gute Aussichten durch die Nähe einiger Bezirke, deren Pro-
ducte bis dahin nach dem Süden gingen. Man fand auch chine-
sisches Opium, viel billiger als das indische; ferner Eisen, Stahl,
Blei, Kupfer, Zucker, Pflanzentalg, Flachs, Oel, und Erzeugnisse
des Gewerbfleisses aus allen Theilen des Reiches. Kurz, das in
den letzten Jahren so oft genommene und wiedergewonnene Han-
kau
, in dessen Ruinen Lord Elgin’s Begleiter Ende 1858 Fasanen
aufstörten, war jetzt wieder eine mit allen Bedürfnissen des ver-
feinerten Lebens versehene blühende Stadt.


Während das Geschwader im März vor Han-kau lag, war
der Yiṅ-waṅ, die kaiserlichen Truppen nördlich umgehend, in Eil-
märschen auf das nur neun Meilen davon entfernte Waṅ-tšau ge-
rückt, das er am 17. März besetzte. Er sollte mit den anderen
Armeen in der Dreistadt zusammentreffen, deren Bevölkerung nun
panischer Schrecken ergriff. Umsonst suchten die Behörden dem
Auszug zu steuern; Hunderttausende bedeckten, ihre fahrende
Habe einschiffend, Tag und Nacht die Stromufer. Banditen rannten
mit dem Ruf, die Tae-piṅ seien da, durch die Strassen; in wilder
Flucht stürzte Alles nach dem Flusse; Diebe plünderten nach Lust.
Admiral Hope liess ein Kanonenboot vor Han-kau und fuhr mit
den übrigen Schiffen stromaufwärts bis Yo-tšau an der Mündung
des Tuṅ-tiṅ-Sees. Nach Han-kau zurückkehrend fand er die
Stadt verlassen, die Strassen verödet, die Läden geschlossen. Die
Unzahl der Handelsdschunken und Boote, die früher im Han ge-
[414]Die Tae-piṅ in Waṅ-tšau. XIII.
ankert lagen, war spurlos verschwunden. 10,000 Mann kaiserlicher
Truppen standen in den drei Städten; aber die Bevölkerung hatte
kein Vertrauen.


Herr Parkes ging mit zwei Begleitern am 22. März auf einem
Kanonenboot nach Waṅ-tšau. In den Vorstädten plünderten Sol-
daten; andere rissen die Häuser um die Stadtmauer nieder und
bauten ringsum einen dreifachen Wall. Eine am Thore angeheftete
Proclamation des Yiṅ-waṅ versprach den Bürgern Schutz und
Sicherheit, wenn sie heimkehren, Handel und Gewerbe wieder auf-
nehmen wollten. Ein zweiter Erlass verbot die Plünderung der
umliegenden Dörfer, und ein dritter, zwei abgeschlagenen Köpfen
angehängter drohte gleiche Strafe Allen, welche den Leuten die
Kleider auszögen. Der bunte Aufzug des Raubgesindels zeigte den
Werth solcher Drohungen. Alle Provinzen von Süd- und Mittel-
China
waren in dieser Horde vertreten, und die Zahl der Knaben
auch hier sehr auffallend.


Der Yiṅ-waṅ empfing Herrn Parkes mit theatralischem Ge-
pränge: Musik, bunte Fahnen, Kanonenschüsse grüssten seinen
Eintritt in den Ya-mum. Zwei Marschälle in gelben Gewändern
führten die Engländer durch grosse von Kriegern besetzte Höfe.
Die Flügelthore der Empfangshalle sprangen mit Effect vor ihnen auf;
aber Haufen zerlumpten Gesindels drängten sich, aller Kleiderordnung
achtlos, mit hinein. Der Yiṅ-waṅ erzählte seinen Feldzug: er habe
in den letzten elf Tagen mit dem Heer etwa funfzig Meilen gemacht
und drei Städte genommen; jetzt wolle er entweder das kaiserliche
Heer vor Gan-kiṅ angreifen, oder Han-kau besetzen; Letzteres
scheine ihm bedenklich, da sich dort Engländer niedergelassen
hätten. Consul Parkes bestärkte ihn darin: die Tae-piṅ dürften
durch ihre Bewegungen den fremden Handel nicht stören. Das
begriff der Yiṅ-waṅ und wollte sich danach richten. Das kluge
bescheidene Wesen des zwanzigjährigen Feldherrn, der fast noch
jünger aussah, machte den angenehmsten Eindruck; bei den Trup-
pen schien er Ansehn zu geniessen; im Ganzen herrschte Ordnung.
Bei der Plünderung und Einquartierung ging es ganz einträchtig
zu; nirgend zankte man um die Beute, trank und spielte auch nicht.
Die Meisten hatten ihre Waffen in die Magazine abgeliefert; nur
die einrückenden Truppen führten sie noch; diese kamen schwer
beladen mit Säcken voll Reis, Hühnern, Schweinefleisch und allem
Möglichen, ein kunterbunter Pöbelhaufen.


[415]XIII. [Decret] des Tien-waṅ.

Wie der Yiṅ-waṅ, so strebten auch die anderen Tae-piṅ-
Führer, den Engländern gefällig zu sein; die Vertheidigung von
Shang-hae hatte Respect eingeflösst. Der Tien-waṅ erliess im
März 1861 folgendes Decret:


»Ich befehle den Königen u. s. w., den Palasthütern, den
Schirmherren der Stadt, den Vorständen der sechs Ministerien, allen
Kaufleuten, einheimischen und fremden, und der einen grossen Familie
der Welt, damit alle Beamten und Unterthanen es wissen.


Der Vater, der Bruder, ich und der junge Herr beherrschen
das himmlische Reich. Seid muthig und vertilget die Kobolde.


Schon im fünften Gebot, das Tödten betreffend, befahl ich,
dass die Alten, Kranken, Weiber, Kinder und Alle, die keine Waffen
führen, nicht erschlagen werden sollen. Jetzt erlasse ich ein zweites
Gebot, dass Jedem, der den Kobolden nicht beisteht, in Gnaden ver-
ziehen werden soll. Werden Diejenigen erschlagen, welche ihnen bei-
stehen, so darf man sich nicht wundern.


Fremde Kaufleute, die kaufen und verkaufen, sind als Brüder
zu betrachten; wer sie umbringt, muss Todes sterben. — Alle Beam-
ten sollen das Gebot befolgen, und Keiner soll ausgenommen sein.


In meinem früheren Edict war geboten, dass alle fremden Misse-
thäter Herrn Roberts übergeben werden sollten, der mit den Consuln
den Thatbestand gerichtlich untersuchen und nach Gerechtigkeit ur-
theilen, dann meine Entscheidung zu Schlichtung des Falles nach-
suchen sollte; damit Frieden und Eintracht Myriaden von Herbsten
walten.


Nun bestimme ich, dass ein Richter sein soll, der mit Herrn
Roberts die Vergehen untersucht; und dass die Fremden sich ver-
einigen, solchen Beamten zu empfehlen, und mich ersuchen, ein Edict
zu seiner Anstellung zu erlassen, so dass alle Parteilichkeit vermieden
werde.


Der Vater, der Bruder, ich und der junge Herr sind der eine
grosse Herr. Liebe und Gnade sind durch die ganze Welt verbreitet.


Der Vater stieg in einem Traum herab und machte meiner
Gattin eine Enthüllung; und gebot, dass ich mich von nun an nicht
um gewöhnliche Dinge kümmern solle; deshalb gehorchet meinem Ge-
bot in allen Stücken, und schenket ihm einträchtigen Glauben.


Ich befehle jetzt in Betreff fremder Länder, dass der Staatssecretär
des Auswärtigen, Herr Roberts, alle fremden Handelsangelegenheiten
leiten und dass jede Nation ihren Consul ernennen soll, der mit Herrn
Roberts die auswärtigen Geschäfte besorge. Ausserdem sollen sie einen
gerechten und unparteiischen Mann zum Richter wählen. Dieser Beamte

[416]Mr. Roberts in Nan-kiṅ. XIII.
muss mit Herrn Roberts schwierige Fälle untersuchen und zu end-
gültiger Entscheidung an mich berichten. Er soll Unter-Staatssecretär
sein, und der Titel auf seinem Siegel sei Generalissimus der neun
Thore, Richter für auswärtige Angelegenheiten unter der himmlischen
Dynastie, die da ist das Reich Gottes. Die Beamten des Ministeriums
der Staatsämter sollen die Siegel anfertigen für den Minister des Aus-
wärtigen, die Richter und die Consuln.«


Dessen bedurfte es nun wohl nicht; denn in Nan-kiṅ, ‒
das die kaiserliche Regierung im Vertrage von Tien-tsin freigegeben
hatte, — war unter des Tien-waṅ-Herrschaft aller Handel ver-
boten. Mit dem »Staatssecretär« Roberts scheinen die Engländer
kaum in Berührung gekommen zu sein; sie hörten, dass der Tien-
waṅ
ihn mit vier Frauen beglücken wolle, aber zuweilen ohne
Subsistenzmittel lasse. Trotzdem blieb der Baptisten-Missionar
noch bis Januar 1862 in Nan-kiṅ. Folgendes Schreiben beleuchtet
seine Stellung und den Grund seines Scheidens:


»Da ich 1847 Religionslehrer des Huṅ-siu-tsuen gewesen war,
und glaubte, dass aus seiner Erhebung dem Volke in religiöser, com-
mercieller und politischer Beziehung Gutes erwachsen werde, so bin
ich bis jetzt ein Freund seiner revolutionären Bestrebungen gewesen
und habe sie mit Wort und That unterstützt, so weit ein Missionar
das füglich konnte, ohne seine höhere Eigenschaft als Gesandter Christi
zu verletzen. Nachdem ich aber funfzehn Jahre unter ihnen gelebt
und ihre politischen, commerciellen und religiösen Maassregeln genau
beobachtet, habe ich ein ganz neues Blatt aufgeschlagen, und bin, ich
meine aus guten Gründen, denselben jetzt eben so abhold, als ich
ihnen jemals günstig war. Nicht, dass ich persönlich etwas gegen
Huṅ-siu-tsuen hätte; er war immer ausnehmend gütig gegen mich.
Aber ich glaube, dass er irrsinnig und ganz unfähig ist, ohne organi-
sirte Regierung zu herrschen; auch ist er mit seinen Kuli-Königen
nicht im Stande, eine Staatsverwaltung zu organisiren, die auch nur
so vortheilhaft für das Volk wäre, wie die alte kaiserliche Regierung.
Er ist heftiger Gemüthsart und lässt seinen Zorn schwer auf das Volk
fallen, indem er Mann und Weib »für ein Wort zu Verbrechern
macht« und augenblicks hinmorden lässt ohne Richter und Gericht.
Er ist dem Handel abgeneigt und liess, seitdem ich hier bin, über ein
Dutzend seiner eigenen Leute morden für kein anderes Verbrechen,
als dass sie in der Stadt Handel getrieben; auch wies er unbedingt
jeden Versuch von Fremden zurück, hier unter ihnen einen redlichen
Handelsverkehr einzurichten, sowohl innerhalb als ausserhalb der
Stadt. Jetzt zeigt sich, dass seine religiöse Toleranz und die Menge

[417]XIII. Brief des Mr. Roberts.
der Capellen eine Posse sind, ohne Belang für die Verbreitung des
Christenthumes, und schlimmer als unnütz. Es kommt nur auf eine
Maschinerie heraus zu Förderung und Verbreitung seiner eigenen po-
litischen Religion, indem er sich selbst Jesus Christus gleichstellt, der
mit Gott dem Vater, ihm selbst und seinem Sohn einen Herrn über
Alles ausmacht. Auch ist kein Missionar, der nicht an die göttliche
Bestallung zu seiner hohen Würde glauben und im Einklang damit
seine politische Religion verkünden will, unter diesen Rebellen sicher
seines eigenen Lebens, seiner Diener und seines Eigenthumes. Bald
nach meiner Ankunft sagte er mir, dass, wenn ich nicht an ihn
glaubte, ich verderben würde wie die Juden, die nicht an den Erlöser
glaubten. Ich dachte aber nicht, dass ich dem jemals so nah kommen
sollte durch das Schwert eines seiner Bösewichter in seiner eigenen
Hauptstadt, wie mir neulich geschah. Der Kan-waṅ, beredet durch
seinen älteren Bruder, den Kuli, — buchstäblich einen Kuli aus
Hong-kong, — und den Teufel, kam, ohne die Furcht Gottes vor
seinen Augen, am Montag, den 13. dieses Monats (13. Januar 1862),
in das von mir bewohnte Haus, und ermordete mit überlegter Bosheit
einen meiner Diener mittelst eines grossen Schwertes in seiner eigenen
Hand, ohne die geringste Vorbereitung und jeden gerechten Grund.
Und nachdem er meinen guten hülflosen Jungen erschlagen hatte,
sprang er ganz teuflisch auf seinen Kopf und stampfte darauf mit dem
Fuss, obwohl ich ihn von Beginn seines meuchlerischen Anfalls ge-
beten hatte, meines armen Knaben Leben zu schonen. Und nicht nur
das: auch mich selbst beschimpfte er auf jede mögliche Art, die er sich
ausdenken konnte, um mich zu einer Aeusserung oder Handlung zu
reizen, die ihm — wie ich damals dachte und noch jetzt denke, —
zum Vorwand diente, mich zu tödten wie meinen lieben Jungen, den
ich wie einen Sohn liebte. Er stürmte auf mich los, fasste die Bank,
auf der ich sass, mit der Gewalt eines Wahnsinnigen und goss mir die
Neige einer Tasse Thee ins Gesicht, fasste mich persönlich an,
schüttelte mich heftig und schlug mich mit der flachen Hand auf die
rechte Backe. Da bot ich ihm nach der Vorschrift meines Herrn,
dessen Gesandter ich bin, die andere auch dar, und er schlug mir
einen schallenden Streich an meine rechte Backe, so dass mir das Ohr
klang; und dann, als er sah, dass er mich zu keiner thätlichen oder
mündlichen Beleidigung gegen ihn reizen konnte, schien er noch wil-
der zu werden und fuhr auf mich los wie ein toller Hund: ich möge
mich aus seiner Gegenwart entfernen. »Wenn sie das am grünen Holze
thun, was werden sie am trockenen thun!« Wenn einem Liebling des
Tien-waṅ, wer kann sich dann als Missionar oder Kaufmann unter

III. 27
[418]Mr. Roberts verlässt Nan-kiṅ. XIII.
sie wagen? Ich verzweifelte nun am Erfolge der Mission und an jeder
guten Wirkung der Bewegung, — sei es für die Religion, den Handel
oder staatliche Einrichtungen, und beschloss, sie zu verlassen, was ich
that am Montag, den 20. Januar 1862.«


Das Schreiben zeichnet den Verfasser, der an dem Mord-
gesindel nicht verzweifelt, bis es ihn selbst bedroht. Er vergass
darin anzuführen, dass sein Diener nach den Gesetzen der Tae-piṅ
das Leben verwirkt hatte und durch sein Einschreiten der Todes-
strafe entzogen wurde; das wusste man an Bord des vor Nan-kiṅ
ankernden englischen Kriegsschiffes Renard, welches Herrn
Roberts aufnahm. — Den Tae-piṅ spricht sein Zeugniss dennoch
schlagend das Urtheil.


Es widersteht uns, zu glauben, dass eine Räuberbande von
Hunderttausenden, regiert von einem irrsinnigen Wütherich und
seinen Creaturen, Jahre lang als politische Macht bestehen konnte,
ohne in sich selbst zusammenzubrechen. Und doch war es so.
Selbst Huṅ-džin, der milde freundliche Missionsprediger, wurde
zum Blutmenschen; Herrn Roberts rettete wohl nur seine christ-
liche Ergebung; sicher wünschte man, ihn los zu werden. Sonder-
barer Weise blieb er noch eine ganze Woche nach dem Morde in
Nan-kiṅ: wahrscheinlich suchte er Recht beim Tien-waṅ, der ja
mit dem Leben seiner Untergebenen wenig Umstände machte, und
schied nur, weil er nicht bleiben konnte.


Bezeichnend ist die Thatsache, dass die gebildeten Stände
unter den Tae-piṅ fast gar nicht vertreten waren; Huṅ-siu-tsuen
muss allen weit überlegen gewesen sein. Die Angabe des Huṅ-
džin
in seiner Erzählung vom früheren Leben des Tien-waṅ, dass
in Kuaṅ-si viele Graduirte der ersten und zweiten Prüfung sich
der Bewegung angeschlossen hätten, wurde nachmals stark be-
zweifelt, da man gar keine Männer dieses Schlages unter ihnen
traf, da ihre Manifeste den geringsten Grad literarischer Bildung
verriethen. — Consul Parkes äusserte gegen den Gesandten, dass
er unter den Tae-piṅ-Führern in Nan-kiṅ nicht einen ernsten be-
wussten Mann gefunden habe, auf welchen Hoffnungen zu setzen
wären; sie schlemmten in Ueppigkeit, während die Stadt verödet
lag und das Gras auf den Strassen wuchs. Den Porcellanthurm,
Nan-kiṅ’s berühmtesten Bau. hatten sie muthwillig zerstört. 134)
[419]XIII. Aussichten in Shang-hae.
Die Frauen und Kinder der ermordeten oder zu Soldaten gepressten
Bewohner mussten für den Unterhalt der wilden Horde arbeiten;
der Himmelsfürst weilte unsichtbar in den Tiefen seines Harems,
und gab nur durch wahnwitzige Manifeste oder blutige Grausamkeit
Zeichen seines Daseins.


Für Shang-hae war die Schiffahrt auf dem Yaṅ-tse be-
sonders damals wichtig, da die seine Ausfuhr producirenden Seiden-
districte von den Rebellen besetzt waren und wenig Aussicht für
die Zukunft boten. Man fand grade jetzt wieder besondere Reg-
samkeit unter den Tae-piṅ und hatte wenig Vertrauen zu den
kaiserlichen Kuli-Heeren, welchen militärische Organisation und
Disciplin ebenso fehlten, wie den Insurgenten. Die Kassen waren
erschöpft. Im Norden drohten die »Salzdschunken-Rebellen«, —
die Mannschaft unzähliger dem Monopol-Handel mit Salz dienen-
der Staatsboote, zu deren Benutzung das Geld fehlte, — der Haupt-
stadt die Zufuhr abzuschneiden und schlugen das Heer Saṅ-ko-
lin-sin
’s
. Diese Bewegung wurde mit den Operationen der Tae-
piṅ
in Verbindung gebracht, und Shang-hae, das bis dahin ganz
vom Seidenhandel lebte, sah trübe in die Zukunft, wenn sich kein
Ersatz bot. Nun standen, wie gesagt, die geöffneten Häfen am
oberen Yaṅ-tse durch Wasserstrassen mit den Thee-Districten in
Verbindung; man hoffte die Hauptmasse dieses Artikels, welche bis
dahin durch unwegsame Gebirge nach Kan-ton ging, weit billiger
über Shang-hae exportiren zu können, wo sich eine Actiengesell-
schaft zum Bau flachgehender Dampfer bildete. Sehr deprimirend
wirkte hier die durch den Auszug der Bewohner von Han-kau
veranlasste Nachricht, dass der Yiṅ-waṅ die Dreistadt besetzt
habe; wenig Stunden nach ihrem Eintreffen erschienen an allen
Strassenecken grosse chinesische Maueranschläge auf rothem Pa-
pier, welche die fremden Consuln aufforderten, endlich Ernst zu
zeigen und die Rebellen zu vernichten.


General de Montauban wünschte schon im Frühjahr 1860
Truppen gegen die Tae-piṅ zu senden, wenigstens Su-tšau und
die Seidenbezirke vor ihnen zu schützen. Eine auf ihre Vertreibung
zielende Petition reichten später französische Kaufleute an den
Consul in Shang-hae ein, welcher dem Gesandten in Pe-kiṅ dar-
über berichtete. Er betont, dass eine Betheiligung an der Yaṅ-tse-
Expedition weder den Ruhm noch den Vortheil Frankreichs hätte
fördern können, dass die Anerkennung der Rebellen als krieg-
27*
[420]Die englische Politik. XIII.
führender Macht ihm keine Ehre, und der Theehandel, welchem
die Expedition neue Wege öffne, keinen Nutzen gebracht haben
würde; dagegen sei der Seidenhandel für Frankreich äusserst
wichtig, und die Säuberung der Seidendistricte von den nur auf
Mord und Plünderung ausgehenden Aufrührern müsse ihm zum
höchsten Ruhme gereichen. — Der französische Obergeneral be-
klagte tief, dass der englische Einfluss in Paris sein Vorhaben ver-
eitele. Damals hätten wohl einige Tausend Mann disciplinirter
Truppen die Tae-piṅ vernichten können, und Schade ist, dass es
nicht geschah. Der von den Franzosen den Engländern allgemein
gemachte Vorwurf, dass sie den Verfall von China begünstigten,
um im Trüben zu fischen, war aber ganz ungegründet. Die eng-
lische Regierung befolgte hier nur ihre principielle Politik der Nicht-
Einmischung; sie wünschte dem Sturz der Tsiṅ-Dynastie auf jede
Weise vorzubeugen und empfahl ihren Bevollmächtigten die grösste
Vorsicht; Diese coquettirten niemals im geringsten mit den Tae-piṅ,
verboten sogar ihren Untergebenen jeden Privatverkehr mit den-
selben. Später trug die englische Regierung durch Beurlaubung
von Officieren ihrer Armee zum activen Dienst gegen die Rebellen
wesentlich zu deren Vernichtung bei.


Mit besonders scheelen Augen betrachteten die Franzosen
die Yaṅ-tse-Expedition: sie sei hinter ihrem Rücken unternom-
men; das mit den Tae-piṅ getroffene Abkommen sei unloyal u. s. w.
Das Unternehmen trug aber gute Früchte, der Handel auf dem
Yaṅ-tse gedieh zu hoher Blüthe. Ein Bevollmächtigter der Han-
delskammer von Shang-hae, welcher Sir James Hope nach Han-
kau
begleitete und dort blieb, schrieb schon nach einem Jahre.
»Der Anblick des Yaṅ-tse ist jetz ein ganz anderer als damals, da
das Geschwader ihn befuhr. Eine so kurze Frist seit jener Zeit
verstrich, — da Alles still war wie das Grab, — so zeigen sich
doch schon, wenn auch nicht gerade reges Treiben herrscht, die
unzweideutigsten Zeichen erwachender Lebenskraft. Flotten ein-
heimischer Fahrzeuge unter fremder Flagge, mit dem Eigenthum
von Ausländern beladen, trifft man überall. Einige Dutzend Dampfer
befahren den Strom; noch mehr werden erwartet. Ungeheure Flösse
von Bauholz mit Häusern darauf, schwimmenden Dörfern ähnlich,
treiben den Strom hinab, dem wachsenden Bedürfniss nach Bau-
material in Shang-hae zu genügen.«


[421]XIII. Aussichten für den Vertrag.

Des Gesandten Entschluss, zunächst nach Siam zu gehen
war durch Rücksichten auf Wind und Wetter und durch Mitthei-
lungen veranlasst worden, welche er bei seinem Eintreffen in Shang-
hae
empfing. Lord Elgin hatte vor seiner Abreise erklärt, dass die
dermalige Lage von ChinaPreussens Anträgen wenig Aussicht auf
Erfolg biete, dass besser eine Consolidirung der politischen Ver-
hältnisse abgewartet würde. Diese Aeusserung des englischen
Staatsmannes musste schwer ins Gewicht fallen. Ihr entgegen be-
haupteten aber fast alle der Verhältnisse kundigen Fremden in
Shang-hae, so sehr ihre Ansichten über China’s politische Zukunft
sonst auseinandergingen, dass die Conjuncturen günstig seien[.] Die
Regierung hatte in den letzten Monaten deutlich bewiesen, dass sie
das gute Einvernehmen zu erhalten wünsche. Der Kaiser verweilte
noch in Džehol, hatte aber die Errichtung eines Ministeriums der
Auswärtigen Angelegenheiten sanctionirt und seinen Bruder, den
Prinzen von Kuṅ, an dessen Spitze gestellt. Diese Behörde behan-
delte zum ersten Mal die fremden Mächte consequent als eben-
bürtige, nicht als abhängige Staaten, und publicirte die demüthigen-
den Bedingungen des Friedens von Pe-kiṅ der Convention gemäss
ehrlich in allen Theilen des Reiches. Die Bereitwilligkeit, mit
welcher China nach dem Frieden von Nan-kiṅ die von England
erkämpften Rechte anderen Nationen zugestand, liess die Befolgung
einer gleichen Politik nach der zweiten grossen Katastrophe er-
warten, selbst wenn Lin’s Grundsatz aufgegeben war, Barbaren durch
Barbaren zu bezwingen. Die Schwäche der Regierung und ihr
Streben, das gute Einvernehmen mit den fremden Mächten zu er-
halten, schienen den Abschluss des Vertrages zu verbürgen. Nun
entstand wohl die Frage, ob es lohne, mit einer so stark gefähr-
deten Dynastie in Vertragsverhältnisse zu treten; denn damals
überschätzte man die Aussichten der Tae-piṅ. Aber grade
bei einer Neubildung des Reiches und den ungeordneten Zu-
ständen des Ueberganges wären die unberechtigten Ausländer
stark gefährdet, wäre vielleicht Jahre lang keine Aussicht gewesen,
einen Vertrag zu schliessen. Auf gleichen Rechten fussend,
konnte dagegen Preussen bei einer politischen Umwälzung im Ein-
klang mit anderen Grossmächten handeln. So musste sich seine
Stellung zum chinesischen Reiche unter allen Umständen gün-
stiger gestalten, wenn möglichst bald ein Vertrag geschlossen
wurde.


[422]Aussichten für den Vertrag. XIII.

Da nun Capitän Sundawall erklärte, dass Seiner Majestät
Schiff Arkona trotz seinem Leck in einigen Wochen wieder see-
tüchtig und zur Fahrt nach dem Pei-ho bereit sein werde, so be-
schloss Graf Eulenburg schon nach zweitägigem Aufenthalt in
Shang-hae, zunächst in China sein Glück zu versuchen, und bat
den kaiserlich französischen Vice-Admiral Protet um Beförderung
des Attaché von Brandt auf dem am 9. März nach dem Golf von
Pe-tsi-li
abgehenden Postdampfer Feelon. Ein Schreiben, in
welchem der Gesandte dem Prinzen von Kuṅ die Wünsche der
preussischen Regierung und seine bevorstehende Ankunft in Tien-
tsin
meldete, wurde durch die Gefälligkeit der englischen Consular-
beamten in das Chinesische übersetzt. Um Angabe der geeigneten
Wege zu Uebermittelung desselben ersuchte Graf Eulenburg brief-
lich die Gesandten von Russland, England und Frankreich, welchen
Herr von Brandt sich vorstellen sollte. — Da in Shang-hae kein
des Mandarinen-Dialectes mächtiger Dolmetscher wohnte, der in
der Lage und geneigt gewesen wäre, in den Dienst des preussischen
Gesandten zu treten, so wurde zu diesem Amte Herr Jose Martinho
Marques
in Macao berufen, welcher demnächst in Shang-hae
eintraf.


Von Herrn von Brandt kamen Anfang April Berichte aus
Tien-tsin. Der englische und der französische Gesandte, welche
beide noch dort weilten, hielten den Zeitpunct für schlecht geeig-
net zu Verhandlungen mit der chinesischen Regierung: von den
Erfolgen der fremden Waffen tief erschüttert, werde sie lange Zeit
brauchen, um ihr Misstrauen zu überwinden; die Gesandten hätten
jetzt die Aufgabe, sie von ihrer friedfertigen Politik zu überzeugen,
und dürften durchaus keinen Druck üben; noch immer herrsche
die Meinung, dass die Anwesenheit fremder Legationen in Pe-kiṅ
das Ansehn der kaiserlichen Regierung beeinträchtigen werde; nur
längerer freundschaftlicher Verkehr und die äusserste Schonung
könnten dieses Vorurtheil überwinden; vor Allem müssten die Ge-
sandten sich hüten, neuen Verträgen das Wort zu reden; deshalb
sollte Graf Eulenburg lieber warten, bis nach Verlauf von acht bis
zehn Monaten die Regierung Vertrauen gefasst hätte. Der Kaiser
sei noch immer von fremdenfeindlichen Räthen umgeben; der Prinz
von Kuṅ und seine Anhänger, welche sich der Wahrheit nicht ver-
schlössen und nur in der Freundschaft der fremden Mächte Ret-
tung für China und die Tsiṅ-Dynastie sähen, hätten deren Einfluss
[423]XIII. Aussichten für den Vertrag.
keineswegs überwunden; sie müssten jeden Schritt vermeiden, der
einer Begünstigung der Fremden gliche und dürften gewiss nicht
neue Verträge in Vorschlag bringen. Sie im Amte zu erhalten,
durch Vorsicht und Vermeidung jeden Anstosses allmälig auch das
Vertrauen des Kaisers zu gewinnen, sei jetzt die wichtigste Auf-
gabe der Gesandten. — Herr Bruce glaubte, dass Preussen wohl
das Zugeständniss aller den Unterthanen der Vertragsmächte ge-
währten commerciellen Vortheile erlangen würde, da die Deutschen
diese ja in allen geöffneten Häfen schon wirklich genössen, und es
China nur nutzen könne, wenn sie unter die Jurisdiction von Con-
suln gestellt würden: zu Abschluss eines politischen Vertrages
aber sei wenig Aussicht, und das Ansinnen, einen preussischen Ge-
sandten in Pe-kiṅ zu empfangen, werde auf zähen Widerstand
stossen. Beiden Gesandten schien sehr ungelegen, dass Graf Eulen-
burg
die chinesische Regierung durch sein Erscheinen in Tien-tsin
erschrecken wolle, statt seine Anträge an den kaiserlichen Com-
missar in Shang-hae zu richten und den Eindruck dort abzuwarten.


Wie wenig von solchem Verhalten zu erwarten gewesen
wäre, lehrte die Vergangenheit. Hatte es doch im diplomatischen
Verkehr mit China immer die grösste Schwierigkeit gemacht, die
Bevollmächtigten zu wahrhaftigen Berichten an den Kaiser zu ver-
mögen. Nicht nur erschwerte das die Verhandlungen, sondern es
machte die Verträge illusorisch, weil die contrahirenden Partheien
von verschiedener Auffassung ausgingen. Vor Allem wusste man
aber, dass die chinesische Regierung niemals ausreichende Voll-
machten zu selbstständigem Handeln nach Instructionen ertheilte,
dass ihre Commissare über jeden irgend wichtigen Punct an den
Kaiser berichten und dessen Entscheidung abwarten mussten. Das
erfuhr nachher Graf Eulenburg reichlich bei den Verhandlungen in
Tien-tsin. So viel Tage er aber durch das Hin und Her zwischen
Tien-tsin, Pe-kiṅ und Džehol verlor, so viel Monate hätte er in
Shang-hae verloren. Nur persönliche Einwirkung auf die Behör-
den in Pe-kiṅ konnte zum Ziele führen. Wie richtig der Gesandte
handelte, bewies der Erfolg, trotz den grossen Schwierigkeiten, die
er zu besiegen hatte; in Shang-hae wären sie unüberwindlich ge-
wesen, ein politischer Vertrag nie erreicht worden. Den Gesandten
von England und Frankreich musste bei ihrer delicaten Stellung
Graf Eulenburgs Ankunft unbequem sein; denn sie sollten jeden
Anstoss vermeiden und, ohne sich etwas zu vergeben, eine vor-
[424]Vorbereitungen in Tien-tsin. XIII.
theilhafte Entwickelung auf friedlichem Wege anbahnen; die eng-
lische Regierung war damals fest entschlossen, in China keinen
neuen Krieg zu führen. Auch ist nicht zu leugnen, dass die von
ihnen genannten Schwierigkeiten wirklich bestanden und in Shang-
hae
weit unterschätzt wurden. Doch musste unzweifelhaft der
Moment benutzt werden; niemand konnte damals wissen, ob der
Prinz von Kuṅ und seine Anhänger sich im Amte balten oder ihren
reactionären Gegnern unterliegen würden; dann war jede Verstän-
digung unmöglich.


Wie wichtig die Nähe der Hauptstadt war, zeigte schon
die Schwierigkeit, das Schreiben des Gesandten an den Prinzen
von Kuṅ zu übermitteln. Herr von Brandt wünschte dasselbe in
Pe-kiṅ zu überreichen. Dagegen wurde mit Recht eingewendet,
dass nur die Legationen der Vertragsmächte zum Eintritt in die
Hauptstadt berechtigt seien, dass seine Reise dahin den Chinesen
gesetzwidrig erscheinen und das Gelingen des Unternehmens von
vornherein gefährden möchte. Zudem hätte Herr von Brandt in
Pe-kiṅ niemand gefunden, der ihm Zutritt zu den chinesischen
Würdenträgern verschaffte. Die englische und die französische Le-
gation wohnten noch in Tien-tsin. Die russische Gesandtschaft
hatte Pe-kiṅ im Herbst 1860 verlassen; nur russisch redende
Geistliche wohnten in den Missionen. — Man rieth Herrn von Brandt,
das Schreiben dem Ober-Intendanten der freigegebenen Häfen nörd-
lich von Cap Šan-tuṅ, Tsuṅ-hau, einem Mandarinen der zweiten
Rangstufe zu übergeben, dem höchsten Beamten, der in Tien-tsin
wohnte. Zu ihm verfügte sich der Attaché am 17. März mit dem
Dolmetscher der englichen Gesandtschaft, Herrn Gibson, welchem
die Güte des Herrn Bruce diese Dienstleistung erlaubt hatte.


Nach der ersten Begrüssung und Beantwortung der Fragen
nach seinem Namen, seinem Vaterlande und seiner Stellung er-
klärte Herr von Brandt, Tsuṅ-hau ein Schreiben des preussischen
Gesandten an den Prinzen von Kuṅ einhändigen und um Beför-
derung desselben nach Pe-kiṅ ersuchen zu wollen. Der Mandarin
erwiederte, dass er dasselbe nur mit Erlaubniss des Prinzen ent-
gegennehmen dürfe; könne Herr von Brandt ihm aber den Inhalt
mittheilen und erstrecke sich dieser auf nichts ungewöhnliches,
— etwa auf wissenschaftliche Forschungen und Reisen im Innern
des Landes, — so könne das Schreiben ohne weiteres angenommen
und befördert werden. Um nutzlose Erörterungen abzuschneiden
[425]XIII. Vorbereitungen in Tien-tsin.
erklärte Herr von Brandt, dass er den Inhalt nicht kenne, mit der
Ablieferung aber gern vier Tage warten wolle, wenn die Anfrage
in Pe-kiṅ eine unerlässliche Form sei, unter der Bedingung, dass
nach jener Frist das Schreiben bestimmt entgegengenommen werden
solle. Tsuṅ-hau versprach das und erkundigte sich dann, ob schon
Landsleute des Gesandten in Shang-hae oder Hong-kong wohnten.
Er fragte auch nach dem Treiben der Tae-piṅ bei Shang-hae,
über welche der Attaché, der kaum zwei Tage dort weilte, keine
Auskunft zu geben vermochte.


Am 22. März liess Herr von BrandtTsuṅ-hau melden, dass
er ihm am folgenden Tage das Schreiben des Gesandten überreichen
werde. Der Mandarin hatte sich grade zum französischen Consul,
dem Lieutenant de vaisseau Herrn Trèves begeben, den er über den
preussischen Attaché ausfragte und schliesslich ersuchte, denselben
zu sich bitten zu lassen. Herr von Brandt war nicht zu finden
und erschien erst bei Herrn Trèves, als Tsuṅ-hau schon fort war.
Am folgenden Morgen begab er sich nach dessen Wohnung: Tsuṅ-
hau
versicherte, der Prinz freue sich, zu hören, dass schon Deutsche
in Shang-hae wohnten, und hoffe, dass sie gute Geschäfte machten;
das Schreiben des Gesandten könne er aber nicht annehmen, da
der Kaiser ihn nur zu Verhandlungen mit den Vertretern von Eng-
land
, Russland. Frankreich und America, nicht aber mit dem Ge-
sandten von Preussen ermächtigt habe, das zu China in keinerlei
Vertragsverhältniss stehe. Herr von Brandt urgirte vergebens, dass
es für jetzt nicht Verhandlungen, sondern nur eine Mittheilung
gelte; Tsuṅ-hau blieb mit aalglatter Liebenswürdigkeit dabei, er
würde das Schreiben gern in Empfang nehmen, wenn seine In-
structionen es erlaubten. Endlich erklärte Herr von Brandt, dann
werde er selbst nach Pe-kiṅ gehen und den Prinzen persönlich
aufsuchen. Betroffen bat nun Tsuṅ-hau um abermalige Gewährung
einer viertägigen Frist, damit er entweder die Erlaubniss zu dieser
Reise oder zu Ueberreichung des Schreibens in Tien-tsin erwirken
möge. Herr von Brandt bestand aber auf seinem Vorhaben, schon
am folgenden Morgen aufzubrechen, und verlangte nur noch die
schriftliche Erklärung, dass Tsuṅ-hau das Schreiben nicht annehmen
wolle. Dieser kam auf die verwandtschaftlichen Beziehungen
zwischen dem preussischen und dem englischen Herrscherhause zu
sprechen: sollte nicht Herr Bruce die Beförderung des Schreibens
übernehmen; aus seinen Händen dürfe es der Prinz empfangen.
III. 28
[426]Abreise des Gesandten aus Shang-hae. XIII.
Herr von Brandt wies diesen und alle anderen Vorschläge zurück,
durch welche Tsuṅ-hau sich dem Dilemma entwinden wollte, und
vermochte ihn nach dreistündiger Unterredung zu dem Versprechen,
das Schreiben nach Pe-kiṅ senden zu wollen: der Attaché möge
nur den Gesandten ersuchen, die Antwort in Shang-hae abzuwarten
und nicht nach Tien-tsin zu kommen. Herr von Brandt versprach,
diesen Wunsch seinem Vorgesetzten mitzutheilen, der ihn aber
schwerlich erfüllen werde und wahrscheinlich schon auf dem Wege
sei. Tsuṅ-hau schien wenig erbaut von dieser Erklärung, nahm
aber das Schreiben in Empfang und versprach, dasselbe auf dem
schnellsten Wege zu befördern.


Als diese Nachrichten nach Shang-hae gelangten, waren die
Reparaturen der Arkona vollendet; am 11. April fuhr sie mit der
hohen Fluth des Neumondes nach Wu-soṅ hinab. Graf Eulenburg
und seine Begleiter folgten am 22. April auf dem französischen
Dampfer Météore. Während dieser vor Shang-hae im weiten Bo-
gen flussabwärts schwenkte, kam Vice-Admiral Protet an Bord,
um dem Gesandten, dem er während seiner Anwesenheit viel Freund-
schaft erwiesen hatte, nochmals Lebewohl zu sagen, und empfing
dessen wärmsten Dank. — Bei heiterem Wetter dampfte der Mé-
téore den Fluss hinab. Auf der Arkona fanden sich auch der
kaiserlich russische Fähnrich zur See Herr Markianowitsch und der
holländische Missionar Dr. Kloekers ein, welchen die Ueberfahrt
nach der Pei-ho-Mündung bewilligt war. Von Civil-Mitgliedern
der Expedition gingen die Gesandtschafts-Attachés Lieutenant
Graf zu Eulenburg und von Bunsen, Dr. Lucius, Maler Berg, Herr
Bismarck und Herr Wilhelm Heine aus Newyork an Bord der
Corvette.

Appendix A

Ende des dritten Bandes.


Appendix B

Berlin, gedruckt in der Königlichen Geheimen Ober-Hofbuchdruckerei
(R. v. Decker).


[]

Appendix C

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Notes
1).
Als Datum der Einwanderung wird bald das Jahr 200 v. Chr., bald 70 n. Chr.
genannt. — Der Jesuit Gozani, welcher 1704 Kae-fuṅ-fu besuchte, berichtet aus-
führlich über die dortigen Juden. Er verstand nicht hebräisch, glaubte aber aus der
Zahl der Buchstaben ihres Alphabetes schliessen zu dürfen, dass ihre heiligen Bücher
in dieser Sprache geschrieben seien. Jeden Sabbath wurde ein Abschnitt daraus in
der Synagoge gelesen, wobei sie ihr Antlitz bedeckten, zum Gedächtniss des Moses,
der die Gesetztafeln verhüllten Hauptes vom Sinai brachte. Vom Messias, sagt
Gozani, hätten sie nicht gewusst; den Namen Jesus, den er ihnen nannte, bezogen
sie auf den Sohn Sirachs im Alten Testament. Auf verschiedene hebräische
Briefe, welche 1777 und 1779 aus Batavia, 1815 von dem Missionar Morrison und
1850 durch Vermittlung des Consul Layton an sie gerichtet wurden, erfolgte keine
Antwort; wahrscheinlich, weil ihnen die Kenntniss des Hebräischen verloren ging.
Auf Veranlassung der Londoner Missionsgesellschaft zur Verbreitung des Christen-
thums unter den Juden wurde Kae-fuṅ-fu 1850 und 1851 von chinesischen Christen
besucht, welche die Gemeinde im Zustande der Verarmung und Auflösung, die
1).
Synagoge verfallen fanden. Die auf Schafhaut geschriebenen Gesetzesrollen und
andere alte Schriften existirten noch; einige wurden erworben und nach London
geschickt. Seitdem sind wiederholt Israeliten aus Kae-fuṅ-fu nach Shang-hae
gekommen. Nachdem die Stadt wiederholt von den Rebellen heimgesucht worden,
soll die Gemeinde sich zerstreut und ihre Heiligen Schriften mitgenommen haben.
S. Recherches sur l’existence des Juifs en Chine. Par A. Wylie. Paris 1864.
Dasselbe auch in den Annales de Philosophie chrétienne. N. 50 u. 51. 1864.
2).
Nach einer Inschrift in syrischer Sprache, welche Jesuiten-Missionare 1625 in
einer der grössten Städte der Provinz Šen-si fanden, wäre die Einwanderung nesto-
rianischer Christen in das Jahr 635 zu setzen.
3).
Das Antwortschreiben des Mongolen-Khans, von welchem der französische
König nicht sehr erbaut gewesen sein mag, ist mitgetheilt in Pauthier, Histoire des
rélations de la Chine avec les puissances occidentales. Es ist als »Befehl« und in
drohendem Tone verfasst.
4).
Perl Fluss, Tiger-Fluss, Kan-ton-Fluss und Tšu-kiaṅ bedeuten ein und den-
selben Strom, dessen nördliche Mündung seit der Zeit der Portugiesen Bocca Tigris
heisst. Ein südlicher Arm mündet bei Macao in das Meer. Zwischen beiden fliesst
ein Labyrinth enger Rinnsale.
5).
Seiner Schicksale ist auch im I. Bande S. 46 gedacht.
6).
Portugiesische Gesandte gingen in den Jahren 1667, 1727 und 1753 nach
Pe-kiṅ. Sie scheinen sich den Forderungen des Hof-Ceremoniels unterworfen zu
haben.
7).
Hoṅ bedeutet Firma.
8).
Der holländische Gesandte, welcher 1654 nach Pe-kiṅ kam, soll in der
Audienz allen Ernstes gefragt worden sein, wie lange seine Landsleute unter Wasser
leben könnten. Bis 1860 glaubte man dort an die Seehundsnatur der Engländer.
9).
Šan-ti, welchen chinesische Kaiser der grauen Vorzeit anbeteten, muss ur-
sprünglich als einiger allmächtiger Gott gedacht worden sein. Die Philosophenschulen
deuteten später den Namen theils atheistisch, theils deistisch.
10).
Es erregte Anstoss, dass sie nicht Gesandten eines Monarchen waren; den
Begriff der Republik konnte man nicht fassen, und als Vertreter einer Handelsgesell-
schaft durften die Holländer sich am wenigsten ausgeben. Adam Schall hat über
diese Gesandtschaft berichtet.
11).
Das »Ko-to« verrichteten Titsingh und seine wohlbeleibten Begleiter in engen
Kniehosen und seidenen Strümpfen und gaben dem Tartarenhof viel Stoff zur Be-
lustigung. Auch sie erhielten von der kaiserlichen Tafel abgenagte Hammelknochen
auf schmutzigen Tellern und mussten sich davor niederwerfen.
12).
Der Ausdruck Tael bezeichnet keine Münze, sondern ein Gewicht; alles
Silber wird in China gewogen. Silbermünzen giebt es nicht. Im Cours auf London
galt 1861 der Shaṅ-hae-Tael 6 shilling 4 pence bis 7 shilling 4 pence. Der
Kan-ton-Tael ist um 9385/1000 Procent, der Hai-kuam- oder Regierungs-Tael um
11½ Procent schwerer als der Shang-hae-Tael.
13).
Diese Bestallung scheinen die Directoren der ostindischen Compagnie nicht
gekannt zu haben, da sie 1832 im englischen Parlament behaupteten, der Handels-
vorsteher in Kan-ton sei lediglich ein Vertreter der Compagnie.
14).
Flint blieb bei seiner Rückkehr zehn Tage in der Stadt Kan-ton, ehe er nach
den Factoreien kam. In dieser Zeit muss die Untersuchung durch den Commissar
aus Pe-kiṅ geführt worden sein.
15).
Nach Andersons Bericht hätte der Kaiser dabei Folgendes gesagt: »Ueber-
gieb dieses Kästchen deinem Herrn dem König mit eigener Hand. So klein es
scheinen mag, so ist es doch nach meiner Schätzung das Werthvollste, was ich ihm
geben und mein Reich aufweisen kann. Denn es ist von einer langen Reihe
meiner Vorfahren auf mich übergegangen, und ich hatte es zur letzten Liebesgabe
für meinen Sohn und Nachfolger bestimmt, als ein Denkmal der Tugenden seiner
Ahnen, dessen Anblick ihm den edelen Entschluss eingeflösst hätte, ihrem glän-
zenden Beispiel nachzueifern und gleich ihnen die Ehre des kaiserlichen Thrones, das
Glück und den Wohlstand seines Volkes zu seinem grossen Lebenszweck zu machen.«
16).
Nach Andersons Bericht wäre Lord Macartney in schmachvoller Weise zur
Abreise getrieben worden, so dass er den grössten Theil seiner kostbaren Einrich-
tung dem Diebsgesindel von Pe-kiṅ preisgeben musste. Seine Staatscarosse, erzählt
Anderson, hätte Lord Macartney am letzten Tage dem ersten chinesischen Minister
geschickt; in Tuṅ-tšau hätte er sie aber beschmutzt und verdorben vor der Thür
seiner Wohnung gefunden, die nicht besser als ein Stall gewesen sei. Auf den
Booten seien die Engländer wieder anständig behandelt worden.
17).
Der grösste Theil dieses Weges wird auf Wasserstrassen zurückgelegt.
18).
Der englische Titel ist »President of the selcct committee«.
19).
Die gegen die Engländer gerichtete Beschuldigung, dass sie zu diesem Ver-
fahren die Hand geliehen hätten, ist nach Davis falsch.
20).
Die Verwandten des getödteten Chinesen forderten von den Behörden Genug-
thuung; das Ereigniss war aber mit dem Opium-Handel verknüpft und musste ver-
schwiegen werden. Um die Verwandten zu beschwichtigen, mietheten nun die Hoṅ-
Kaufleute einen englischen Vagabunden in Macao, welcher sich für den Schuldigen
ausgab. Er sollte eine Zeit lang gefangen bleiben, in der Haft eine Geschichte
erzählen, welche gegen die verbrecherische Absicht zeugte, und dann freigesprochen
werden. So geschah es auch trotz dem Proteste des Ausschusses gegen solches Ver-
fahren, in welches der Vice-König selbst gewilligt hatte.
21).
Chief-commissioner. Die drei Commissare hiessen auch »Superintendant
of trade«.
22).
Die seitens der englischen Regierung von den Schiffen im Kan-ton-
Flusse
erhobenen Abgaben wurden mit dem Monopol der ostindischen Compagnie
aufgehoben und jenes Amt ging ein.
23).
Die Apathie der englischen Regierung ist um so auffallender, als sie die
richtigen Grundsätze öffentlich anerkannte. 1836 wollte ein englischer Schiffscapitän,
dessen Ladung die Zollbehörden in Beschlag genommen hatten, sich durch Beraubung
chinesischer Handelsdschunken schadlos halten, wurde aber daran gehindert. Eine
Depesche der Foreign office an die Commissare erklärte nun, dass, wenn dieses In-
dividuum von seinem Vorsatze nicht abstände, »man ihn dem Schicksal überlassen
solle, welches seine Handlungsweise ihm wahrscheinlich bereiten werde; und dass
alle Commandanten königlicher Kriegsschiffe, welche ihn anträfen, ihn nach dem den
königlichen Schiffen vorgeschriebenen Verfahren gegen Seeräuber zu behandeln
hätten.«
24).
Ein hölzernes Halsband oder vielmehr ein dickes Brett, in welches ein
Loch zum Durchstecken des Kopfes geschnitten ist.
25).
1837 und 1838 betrug die Opium-Einfuhr 34,000 Kisten zu 80 Pfund,
im Werthe von 25,000,000 Dollars, die zum grössten Theil baar bezahlt wurden.
26).
Ein Mandarin Hae-natse betrachtete, der chinesischen Auffassung ent-
gegen, die Sache vom practischen und nationalökonomischen Standpunkt. Er schlug
vor, die Opium-Einfuhr gegen eine Abgabe von 7 Dollars für die Kiste zu erlauben,
während die Kosten des Schleichhandels etwa 40 Dollars betrugen. Die vermehrte
Strenge des Gesetzes schrob nach seiner Ansicht nur den Betrag des Lohnes in die
Höhe, welchen die Beamten sich für ihre Connivenz zahlen liessen. »Die durch den
Schleichhandel zur Gewohnheit werdende Gesetzlosigkeit erziehe eine Bande frecher
Schurken, welche jedem Ansehn der Behörden trotzten und der schlimmsten Ver-
brechen fähig seien.« Der Urheber dieser Vorschläge wurde wegen der Unsittlich-
keit seiner Anschauungen in die Tartarei verbannt.
27).
Lin ist Familiennamen, Tse-tsiu Ehrenbenennung, »die Muster-Würde«.
Er war 1785 geboren.
28).
Die fremden Kaufleute, welche in ausgedehnter Geschäftsverbindung mit jenen
standen, kamen dadurch sehr zu Schaden.
29).
Die Portugiesen hatten alle ihr Opium nach Manila eingeschifft; Lin bestand
aber auf Herausgabe eines gewissen Quantums und drohte im Weigerungsfalle die
Festungswerke von Macao besetzen zu lassen.
30).
Elliot wollte in A-moi eine Note übergeben lassen. Die Fregatte Blonde lief
am 2. Juli in den Hafen ein und sandte eines ihrer Boote an das Ufer, wo ein
grosser Menschenschwarm zusammenlief. Die Mandarinen wiesen die Mittheilung
zurück; Einer aus der Menge schoss einen Pfeil nach dem Dolmetscher, traf aber
nicht. Zur Vergeltung feuerte die Blonde eine Breitseite in den Volkshaufen. Viele
wurden zerschmettert und die Schaar stob auseinander. Der amtliche chinesische
Bericht darüber lautete: »Die Beamten bemerkten ein Barbaren-Schiff mit einer
weissen Flagge; an Bord war Alles ruhig. Plötzlich wurde ein Boot niedergelassen,
das dem Ufer zueilte. Ein Individuum in demselben bat in der Mandarinen-Mund-
art um Frieden, brauchte aber unziemliche Ausdrücke. Unsere Beamten hinderten
ihn an das Land zu kommen, worauf an Bord des Schiffes die rothe Flagge gehisst
und die Geschütze abgefeuert wurden. In diesem Augenblick erschoss ein Mandarin
den Dolmetsch mit einem Pfeil, so dass er todt in das Boot fiel, während die Sol-
daten sechs Barbaren durch ihr Feuer tödteten. Dann wurde ein anderes Boot nie-
dergelassen, und einer der weissen Barbaren mit einem Speer durchbohrt. Sechs
Stunden lang hielten unsere Truppen das Feuer der Schiffe aus, durch welches neun
unserer Leute getödtet und viele verwundet wurden.«
31).
»Die Engländer,« schreibt Letzterer, »sind ein verworfenes und geringes
Volk, das nur auf seine starken Schiffe und Geschütze pocht; aber die ungeheure
Entfernung vom Vaterlande wird die Ergänzung der Vorräthe unmöglich machen;
ihre Soldaten werden nach der ersten Niederlage, der Nahrungsmittel beraubt, den
Muth verlieren. So wahr es ist, dass ihre Kanonen grosse Zerstörungen anrichten,
werden sie doch für den Angriff unserer Häfen zu hoch liegen und wegen der
Meereswellen nicht gerichtet werden können. Trotz dem Reichthum der Regierung
ist das Volk zu arm, um zu den Kosten der Armee auf solche Entfernung beizu-
steuern. Gesetzt auch, die Schiffe wären ihre Heimath, und dass sie Wind und
Wetter darin trotzen, so gehen sie doch zu tief und werden ohne chinesische Lootsen
sicher stranden, ehe sie den Küsten nahen. Wenn auch wasserdicht, so sind sie
doch nicht feuerfest; wir können sie leicht verbrennen. Die Mannschaft wird den
Verheerungen des Clima’s unterliegen und allmälich aufgerieben werden. Am Ufer
zu kämpfen sind ihre Soldaten zu ungelenk. Wir müssen die Zugänge in das Innere
des Landes sperren und die grössten Kanonen an die Küsten bringen, um ihren
Schiffen den schrecklichsten Empfang zu bereiten; zugleich müssen wir Fahrzeuge
voll Strauchwerk, Oel, Schwefel und Salpeter bereit halten und sie, unter Lei-
tung unserer Kriegsflotte, mit Wind und Fluth gegen ihre Schiffe treiben lassen.
Brennen diese einmal, so können unsere Schiffe auf sie feuern und sie vernichten,
ohne auch nur einen Mann zu verlieren.«
32).
Nach Davis hätte Ki-šen seinem Herrn gegenüber den Engländern etwa
folgende Reden in den Mund gelegt: »Wir sind angewiesen, bei euerer ehrenwerthen
Nation Klage zu führen über die Schädigung unseres Vertreters und der britischen
Kaufleute durch die Oberbeamten in Kan-ton. Da unsere See- und Landmacht
bedeutend ist, so brauchten wir einen Platz, um unsere Schiffe zu bergen und unsere
Truppen unterzubringen. Die Oberbeamten in den Provinzen schlossen uns
nicht nur ihre Häfen, sondern weigerten sich auch, unsere Vorstellungen an
den Hof zu befördern. Deshalb mussten wir Tšu-san besetzen. Commissar
Lin liess alle Europäer in Kan-ton einschliessen, schnitt ihnen den Verkehr
ab und beraubte sie der Lebensmittel, bis das Opium an Bord der Schiffe aus-
geliefert war, indem er sie mit dem Tode bedrohte. Eine Menge Opium
32).
wurde aber auch aus den Schiffen ausserhalb des Hafens genommen, da der Com-
missar die Eigenthümer durch Hunger und Todesdrohungen zwang alles herauszu-
geben. Dann bestand er auf einer Verschreibung, nach welcher alle Leute an Bord
eines Opiumschiffes künftig das Leben verwirkt haben sollten; aber der englische
Commissar und die Kaufleute weigerten sich eine solche auszustellen, worauf die
Commissare Lin und Teṅ den Handel in den Häfen schlossen, zu einer Zeit, da die
Hoṅ-Kaufleute englischen Unterthanen mehrere Millionen schuldeten.« Der Kaiser
soll geantwortet haben: »Wir haben Lin und Teṅ angewiesen, die Opium-Ange-
legenheit in Kan-ton zu ordnen; aber nach zwei Jahren haben sie, statt den
Schleichhandel zu beseitigen, veranlasst, dass die Barbaren der Hauptstadt nahten.
Was sind das für Dinge? Die Beamten haben den Staat und das Volk geschädigt,
ihre Aufgaben aber nicht vollbracht. Ihre vorgesetzte Behörde hat sie der Degra-
dirung würdig befunden, und sie müssen sich in Kan-ton zur Untersuchung
stellen.«
33).
Die Engländer erbeuteten den rothen Knopf, das Rangzeichen des alten
Admiral Kwan, das ihm auf sein dringendes Bitten zurückgestellt wurde.
34).
Das englische Flaggschiff feuerte einen Trauersalut, als Kwan’s Leiche am
folgenden Tage abgeholt wurde.
35).
Yi-šan schrieb dem Kaiser: »Am 29. Tage des 6. Mondes brach ein Tai-
fun
aus, der die vor Hong-kong geankerten Fahrzeuge der Barbaren auf die hohe See
hinaustrieb, ihre Hütten und Zelte zerstörte und das Bollwerk am Ufer fort-
schwemmte, so dass nur der blosse Erdboden übrig blieb.« Tauk-waṅ antwortete:
»er sei glücklich und dankbar für den Beistand der Götter und zittere für das Loos
der Fremden. Es sei zu hoffen, dass der Himmel sie vernichte, dass Dämonen sie
durch mephitische Dünste wegfegten.« Er sandte Yi-šan zwanzig durch den Dalai-
Lama geweihte Weihrauchkerzen, die er in Frömmigkeit den Götzen opfern möge,
und liess durch vier Prinzen der kaiserlichen Familie und seine Hofbonzen im Frie-
denstempel zu Pe-kiṅ Dankopfer darbringen. S. DavisChina during the war and
since the peace.
36).
Die auf seine Kosten gekleideten eingeübten achthundert Freiwilligen gingen
mit einem Soldvorschuss davon, als der Dampfer Nemesis sich Kan-ton näherte.
37).
Ein Exemplar, das Gützlaff sich in Shang-hae verschaffte, ging nach Paris.
38).
Er wurde verrätherisch nach Pe-kiṅ gelockt und dort grausam hingerichtet.
39).
»Um den Feind zu besiegen,« sagt ein kaiserlicher Erlass aus dieser Zeit,
»muss man vor Allem für Ruhe und Ordnung zu Hause sorgen. Es scheint, dass
die Truppen auf ihrem Marsch durch die Provinzen die Bewohner misshandelt und
bedrückt und eine Gährung erregt haben, welche schlimme Folgen haben kann. Die
strengste Mannszucht muss aufrecht erhalten, und den Soldaten unter keinen Um-
ständen die geringste Nachsicht gewährt werden. Wenn bemittelte Personen in den
Küstenprovinzen unter Verheissung von Belohnungen zu freiwilligen Opfern auf-
gefordert werden, so sollen doch alle Erpressungen der Beamten unter dem Namen
patriotischer Beiträge streng verboten sein. Man darf das Volk nicht bedrücken,
um dem Feinde Widerstand zu leisten; seine Dienste sollen freiwillig und nicht durch
Drohungen erzwungen sein.«
40).
Der Kaiser antwortete: »A-moi ist der Schlüssel von Fu-kian. Yen und
der Admiral der Station müssen es wiedernehmen. Dazu erlauben wir eine genügende
Anzahl Milizen auszuheben; auch sollen Truppen zu Hülfe geschickt werden. Aber
der Statthalter muss bedacht sein, die Hauptstadt Fu-tšau zu schützen und, statt
die Barbaren zur See zu bekämpfen, ihren Angriff auf dem Lande abwarten. Uebri-
gens soll das Betragen des Gouverneurs und der anderen Commandeure, welche
nicht Stand hielten, vom Strafgerichtshof untersucht werden.« Der Admiral der
Station hatte bei Annäherung der englischen Flotte geglaubt, einen Zug gegen die
Piraten unternehmen zu müssen, und rettete so das Geschwader der Provinz.
41).
Er führte diese Drohung wörtlich an dem einzigen Engländer aus, der in
seine Hände fiel. Der Master eines direct nach Tšu-san bestimmten Truppen-
schiffes landete an einem Vorgebirge des Festlandes der Insel gegenüber, wurde
dort aufgefangen und gebunden vor Yu-kien geschleppt, welcher seinen Fang in
grossen Worten nach Pe-kiṅ berichtete und dafür die Pfauenfeder mit doppeltem
Auge erhielt. Der Gefangene, Mr. Stead, wurde auf offenem Markt an einen Pfahl
gebunden und, nachdem man ihm langsam die Haut abgezogen hatte, in Stücke geschnitten.
42).
Aus I-li-pu’s Bericht über die Räumung von Tšu-san geht hervor, dass er
von seiner Abberufung damals schon wusste.
43).
Tiṅ-hae ist die Hauptstadt von Tšu-san.
44).
Von einem gestrandeten Fahrzeug erbeuteten die Chinesen zwei Carronaden
und sahen die Inschrift darauf für ein kabalistisches Zeichen an, durch welches sie
sicher ihr Ziel träfen. Yu-kien liess sie genau nachgiessen; aber die Copieen platz-
ten beim ersten Schuss.
45).
Die Küsten, schrieb Yu-kien, seien so flach, dass die Truppen nur in
Booten landen könnten; diese würden von den Strandbatterieen unfehlbar vernichtet
werden. Auch seien die Engländer so fest in ihre Uniformen eingeknöpft, dass sie
sich am Lande nicht rühren und leicht zu ganzen Regimentern niedergemäht werden
könnten.
46).
Der Kaiser beförderte den General und verlieh ihm die Pfauenfeder; als
diese Auszeichnungen aber eintrafen, war der Tapfere längst gefallen.
47).
Der höchste Civil-Beamte floh mit so viel Geld als er tragen konnte, und
warf, um den Glauben an seinen freiwilligen Tod zu erwecken, bei einem Canal
die Kleidung ab; später wurde er entdeckt und in Pe-kiṅ zuerst zum Tode, dann
zu Verbannung verurtheilt, endlich aber zu einer Geldbusse begnadigt. In seinen
neuen Stellungen zeigte er sich sehr thätig für die Landesvertheidigung, erklärte
aber freimüthig, dass alles Mühen fruchtlos sei. Bei späteren Unterhandlungen
erschien er mehrfach als gern gesehener Vermittler im englischen Lager; er hatte
gegen englische Gefangene die grösste Schonung bewiesen und mehreren das Leben
gerettet. Nach der späteren Räumung von Tšu-san erhielt er dort seinen alten
Posten wieder.
48).
Eine Anzahl Knaben, welche die Truppen verlassen und halb verhungert in
Niṅ-po gefunden und zu sich genommen hatten, erschienen am Morgen des 10. März
ganz verstört bei ihren Herren. Sie machten die Gebehrden des Abfeuerns von
Kanonen und Luntenflinten, riefen unablässig »Morgen kommen sie« und ver-
schwanden.
49).
Die Wirkung muss entsetzlich gewesen sein; an einer engen Stelle war der
Haufen der Gefallenen so hoch, dass der Klepper eines Mandarinen nur mit dem Kopfe
hervorsah.
50).
Es waren lauter neue Truppen. In den Taschen aller hier und beim An-
griff auf Niṅ-po gefallenen Soldaten fand sich noch das Handgeld von sechs Dollars.
Die in das englische Hospital gebrachten Verwundeten starben meist an dem zu
Befeuerung ihres Muthes reichlich genossenen Opium.
51).
Einige im Lager erbeutete Geschütze waren genaue Nachbildungen der eng-
lischen Dreipfünder. Die Chinesen müssen also in Niṅ-po geschickte Spione gehabt
haben, welche ihnen die Modelle lieferten.
52).
Die chinesischen Soldaten kauften gierig beschriebene Papierschnitzel, durch
welche sie schussfest zu werden glaubten. Mit solchen Talismanen, auf welchen
nicht immer Sittensprüche standen, trieben die englischen Soldaten einträglichen
Handel.
53).
Tša-pu liegt etwa funfzehn deutsche Meilen nordwestlich von Tšin-hae am
Ufer eines Aestuariums, welches die Mündung des bei der reichen Handelsstadt
Haṅ-tšau fliessenden Stromes bildet. Beide Städte sind durch einen das Ufer säu-
menden Damm verbunden.
54).
Nach Davis hatte ein Chinese aus Tšu-san nach dem Muster der eng-
lischen Dampfer kleine Fahrzeuge mit Schaufelrädern gebaut. Als sie fertig waren,
soll er im Innern Feuer angezündet haben; aber die Räder wollten nicht laufen.
Nun wurden Einrichtungen nach Art einer Tretmühle gemacht, um sie zu bewegen.
Gnu-Ta-džen soll grosse Hoffnungen auf diese Schiffe gesetzt haben, die sämmt-
lich in die Hände der Engländer fielen.
55).
Die Stadt am Yaṅ-tse-kiaṅ, bis zu welcher die Verschanzungen reichen.
56).
Ki-yiṅ und I-li-pu lieferten als erstes Zeichen ihrer friedlichen Gesinnung
sechszehn Gefangene aus, welche Yi-kiṅ’s Streifbanden während des Winters auf-
gehoben hatten.
57).
Er wurde wegen seines feigen Benehmens bei Tšin-hae zum Tode ver-
urtheilt und in Pe-kiṅ enthauptet.
58).
Die Engländer rühmen sich der Initiative für diese Maassregel. Die chine-
sischen Bevollmächtigten machten aber schon im Juni 1843 bekannt: »dass, sobald
sie vom Finanz-Minister in Pe-kiṅ die Handelsbestimmungen und die Tarife für die
fünf Häfen erhalten und veröffentlicht haben würden, diese auf den Handel der an-
deren Völker eben so gut Anwendung finden sollten, als auf den englischen.« Es
steht auch im Einklang mit dem Grundsatz, Barbaren durch Barbaren zu bezwingen,
wenn sie sich die anderen Nationen verbinden wollten. Die Solidarität der Interes-
sen ist aber für die Engländer mindestens eben so wichtig als für alle anderen
Nationen.
59).
S. Neumann Ostasiatische Geschichte (Leipzig 1861) S. 87.
60).
Der Vertrag wurde von den französischen Oppositions-Blättern scharf getadelt,
weil darin das Recht der meistbegünstigten Nation nur auf künftige Zugeständnisse,
nicht auf früher gewährte bezogen war.
61).
Diese Berichte wurden mit den Antworten des Tau-kwaṅ bei der späteren
Einnahme von Kan-ton in den Archiven des Yi gefunden.
62).
Merkwürdigen Aufschluss über des Kaisers Ansichten giebt ein von Meadows
(The Chinese and their rebellions S. 127) mitgetheiltes Gespräch zwischen Tau-kwaṅ
und Pi-kwei, einem hochgestellten Beamten, der später in Kan-ton die Macht der
Engländer kennen lernte. Das Gespräch fand im October 1849, also nach Abberufung
des Ki-yiṅ statt. Der Kaiser redet mit der grössten Geringschätzung von den
Fremden und begreift nicht, wie Jener sich so habe von ihnen bethören und
schrecken lassen, während man sie jetzt, nachdem unter dem neuen Vice-König
Siu-kwaṅ-tsin die Volkswehr so gut organisirt und so viel Geld für die Verthei-
digung eingesammelt sei, gar nicht mehr zu fürchten brauche. Ki-yiṅ hatte von
62).
Förderung der Volksbewaffnung immer abgerathen. — Pi-kwei, der damals zur
Parthei des Siu-kwaṅ-tsin gehörte, musste nach der Einnahme von Kan-ton Jahre
lang unter dem Befehl der englischen Behörden als Präfect fungiren. Für die
Echtheit der von ihm niedergeschriebenen Gespräche mit dem Kaiser giebt Meadows
schlagende Gründe.
63).
Sir John Davis meldete damals Ki-yiṅ den Beschluss der englischen Regie-
rung, Ku-laṅ-su zu räumen, mit der Bemerkung, dass der Kaiser darin ein
Zeichen des Vertrauens sehen möge, und erhielt zu seinem Erstaunen folgende Ant-
wort: »Der ehrenwerthe Gesandte theilt meine Ansichten von der genauen Einhaltung
des Vertrages. Ich denke deshalb auch, dass die Garnison von Ku-laṅ-su zu-
gleich mit denjenigen von Tšu-san zurückgezogen werden sollte, sobald mit der
Rate des dritten Jahres die ganze Summe bezahlt ist. Die gute Absicht des ehren-
werthen Gesandten bei dem Vorschlage, Ku-laṅ-su zu räumen, ist unverkenn-
bar; da es aber im Widerspruche steht mit der im Vertrage festgesetzten Anzahl
von Jahren, so wäre es wohl besser bis zur gänzlichen Tilgung der Kriegsschuld zu
warten und dann Ku-laṅ-su zugleich mit Tšu-san zu räumen. Dadurch würde
bewiesen, dass unsere Nationen auch nicht ein Haarbreit von Erfüllung des Vertrages
abweichen wollen.« Die Räumung von Ku-laṅ-su hatte, so lange Tšu-san besezt
blieb, für China nicht den geringsten Werth, und Ki-yiṅ mochte denken »Timeo
Danaos.«
64).
Ki-yiṅ schrieb an Davis: »Die Absicht des englischen Commandeurs ist
gewiss, für das Beste des Volkes zu sorgen; aber seine Maassregeln sind so geartet,
dass sie unmöglich ausgeführt werden können. Ist man trotzdem darauf bedacht, so
werden übelwollende Menschen, welche Feindschaft zwischen beiden Nationen zu
säen wünschen, Zwietracht erregen, in der Hoffnung davon Vortheil zu ziehen. Gesetzt,
ein Aufstand würde heraufbeschworen, so fürchtet der General-Gouverneur (von
Fu-kian), dass der Commandeur in Tšu-san dem Bevollmächtigten nicht für die
Folgen stehen könnte; er fürchtet noch mehr, dass auf die Nachricht davon das Volk
in den verschiedenen Provinzen in seinen Vorurtheilen bekräftigt und der künftige
Handelsverkehr stark beeinträchtigt werde.«
65).
Die Aeusserungen des kaiserlichen Willens sind in China weder Holographe
noch Autographe. Der Kaiser macht in Zinnoberschrift Randbemerkungen zu
den an ihn gerichteten Eingaben, oder Entwürfe, welche, in einer bestimmten Form
redigirt, mit einem der kaiserlichen Siegel versehen und in ein gelbseidenes Couvert
gesteckt werden. Das sind die sogenannt eigenhändigen Rescripte.
66).
Nur drei wurden getödtet.
67).
Bei seinem Hause entstand die Schlägerei.
68).
Auch in Macao documentirte sich die Erbitterung. Ein neuer Gouverneur
von energischer Sinnesart, Senhor Amaral, suchte damals die Colonie zu heben, in-
dem er Ordnung in die Verhältnisse brachte. Er schrieb u. a. eine Steuer auf chi-
nesische Boote aus. Die Schiffer vereinigten sich zu entschlossenem Widerstande,
landeten bei der Stadt mit einer Kanone und nahmen eine drohende Haltung an.
Der Gouverneur fürchtete Gewalt und bat Sir John Davis um Unterstützung, auf
dessen Veranlassung die Dampf-Fregatte Vulture sich vor die Stadt Macao legte.
Die Chinesen wussten nicht, dass die englische Regierung, eingedenk der früheren
Chicanen, jede active Unterstützung verboten hatte, und standen von weiteren Ge-
waltschritten ab. Der Gouverneur aber, der nur einen Arm hatte und sich nicht
wehren konnte, wurde bald nachher auf einem Spazierritt ermordet.
69).
Von diesen elf wurden einer zu Enthauptung, einer zu Erdrosselung, drei
zu schwerer Verbannung auf Lebenszeit, sechs zu leichterer Verbannung und der
Bastonade verurtheilt. In Ki-yiṅ’s Bericht an den Kaiser, von welchem Davis sich
eine Abschrift verschaffte, kommt Folgendes vor: »Ich möchte deshalb wünschen
diese hartköpfigen Dorfbewohner mit äusserster Strenge zu züchtigen, damit das
widerspänstige Volk mit ehrerbietiger Scheu erfüllt, damit für die Zukunft unzähligen
Verwickelungen vorgebeugt und den Engländern jede Veranlassung genommen werde,
selbst Vergeltung zu üben. Da es nur ein einziges Dorf ist, das keine Milde ver-
dient, und auf mehrere Provinzen Rücksicht genommen werden muss, so können die
in dieser einen Ortschaft zur Erbauung von Hunderten vollzogenen Todesstrafen auf
deiner geheiligten Majestät Milde und zärtliche Sorge für das menschliche Lehen
keinen Schatten werfen.«
70).
Die Streitmacht der Piraten war vollständig organisirt; sie gehorchte nach
dem Tode des Führers lange Zeit dessen Wittwe, welche für den activen Dienst
ihre Stellvertreter ernannte. Zwei Engländer, Glaspoole und Turner, die längere
Zeit bei ihnen gefangen waren, haben einen merkwürdigen Bericht veröffentlicht.
Die strengste Mannszucht soll unter den Piraten geherrscht haben. Die Ehe
war ihnen heilig, jeder unsittliche Verkehr und jede Gewaltsamkeit gegen Frauen
streng verpönt. Alle Dschunken, die ihre Oberhoheit anerkannten, erhielten Geleits-
pässe; alle anderen Chinesen, besonders die in kaiserlichen Fahrzeugen gefangenen,
behandelte man mit furchtbarer Grausamkeit. Man erhob Contributionen von den
Küstenstädten; selbst europäische Boote konnten nicht ohne Schutz zwischen
Kan-ton und Macao verkehren, denn die Piraten beherrschten alle Mündungen des
Tšu-kiaṅ. Die Regierung machte grosse Anstrengungen, und die Portugiesen in
Macao stellten 1809 gegen eine Subvention von 80,000 Tael sechs bewaffnete Fahr-
zeuge zum Dienst gegen die Seeräuber. Das Alles hätte aber kaum gefruchtet,
wenn nicht Zwietracht zwischen ihnen entstanden wäre. Sie theilten sich in ein
rothes und ein schwarzes Geschwader, die sich eine blutige Schlacht lieferten. Die
Rothen siegten. Die Schwarzen benutzten nun die von der kaiserlichen Regierung
für die fügsamen Piraten erlassene Amnestie; ihr Führer erhielt sogar Rang und
Würden. Sie wurden gegen die von der Wittwe des früheren Hauptmannes befeh-
ligten Rothen verwendet, schnitten diesen die Zufuhr ab und zwangen sie, ebenfalls
die Amnestie anzunehmen.
71).
Er war der vierte Sohn des Tau-kwaṅ.
72).
Der ganze Erlass steht bei Neumann, Ostasiatische Geschichte, S. 106.
73).
Er soll dazu von neidischen Genossen angestiftet worden sein. Roberts fand
damals nichts an ihm, das ihn von anderen Leuten seiner Classe unterschieden hätte.
Dass Huṅ-siu-tsuen es wirklich war, der dessen Unterricht genoss, beweist die
Aufnahme, welche Roberts später in Nan-kiṅ bei ihm fand.
74).
Huṅ-džin behauptet, dass viele in der ersten und zweiten Prüfung Graduirte
und einflussreiche Männer unter den Bekehrten gewesen seien. Die sprachkundigen
Fremden, welche später mit den Tae-piṅ verkehrten, fanden aber nur Männer von
geringer Bildungsstufe unter ihnen.
75).
Der Eingang lautet: »Im dritten Monat des Mo-šin-Jahres (1848) kam
unser himmlischer Vater, der grosse Gott und höchste Herr auf die Erde herab und
that unzählige Wunder und Thaten, begleitet von deutlichen Zeugnissen, welche
im Buch der Proclamationen beschrieben sind. Im neunten Monat (October) desselben
Jahres kam unser himmlischer älterer Bruder, der Heiland Jesus auf die Erde herab
und that unzählige Wunder und Thaten, begleitet von deutlichen Zeugnissen, welche
(u. s. w. wie oben). Damit es nun keinem Einzigen unserer ganzen Schaar, sei er
gross oder klein, Mann oder Weib, Soldat oder Officier, an vollkommener Kennt-
niss des heiligen Willens und der Befehle des himmlischen Vaters und an voll-
kommener Kenntniss des heiligen Willens und der Befehle unseres himmlischen
älteren Bruders gebreche, und damit Keiner aus Unwissenheit gegen die himm-
lischen Befehle und Bestimmungen verstosse, haben wir ausdrücklich die verschie-
denen Kundmachungen untersucht, welche die wichtigsten der heiligen Vorschriften
und Befehle unseres himmlischen Vaters und unseres himmlischen älteren Bruders
enthalten, haben dieselben geordnet und in Form eines Buches veröffentlicht, damit
unsere ganze Schaar dieselben fleissig lese und behalte, jeden Verstoss gegen die
75).
himmlischen Vorschriften vermeide und so handele, wie es unserem himmlischen
Vater und unserem himmlischen älteren Bruder wohlgefällig ist. Auch einige
unserer königlichen Proclamationen sind hinzugefügt, um euch mit den Gesetzen
bekannt zu machen, damit ihr in der Furcht derselben lebet. Achtet darauf!«
76).
Nur Einer, welchem die Strenge der Satzungen gefiel, blieb bei den Tae-piṅ
und wurde einer ihrer besten Führer. Es war Lo-ta-kan, der spätere Comman-
dant von Tšiṅ-kiaṅ-fu, mit welchem Meadows mehrfach verkehrte. — Die anderen
Bandenführer traten zu den Kaiserlichen über; sie sollen im Laufe des Krieges
sämmtlich von den Rebellen gefangen worden sein.
77).
Der Brief ist ausführlich mitgetheilt in Meadows The Chinese and their
rebellions, S. 154.
78).
In dem Buche von Lindesay Brine »The Taeping rebellion in China« (Lon-
don
1862) sind noch andere Manifeste aus Yuṅ-nan mitgetheilt. In einem der-
selben heisst es: »Wir möchten euch bei diesem Anlass einprägen, dass diejenigen,
welche in der jetzigen Zeit nicht um ihr Leben besorgt sind und den Tod nicht
fürchten, später gen Himmel fahren werden, wo sie ewiges Leben und Unsterblich-
keit geniessen sollen. Die aber um ihr Leben besorgt sind, werden das Leben nicht
erhalten, und die den Tod fürchten, werden den Tod finden. Ferner: Die in
jetziger Zeit nicht nach Bequemlichkeit streben und keine Beschwerden fürchten,
sollen danach in den Himmel kommen, wo sie ewige Ruhe und Erlösung von allem
Weh finden; die aber nach Bequemlichkeit streben, werden keine Bequemlichkeit
79).
Bei dieser Action wurde ein Tae-piṅ-Führer gefangen, der sich den Kai-
serlichen gegenüber Huṅ-ta-tsuen und einen Genossen des Huṅ-siu-tsuen
nannte. Nach seinen in der Zeitung von Pe-kiṅ publicirten Geständnissen scheint
er wirklich einer der leitenden Männer gewesen zu sein; er legte sich den Titel
Tien-ti bei und war vielleicht derjenige Rebellenführer, welcher vor Organisation
der Tae-piṅ unter diesem Namen in Kuaṅ-si auftrat. Unter den fünf Königen
wird er nicht genannt, kann also kein so hohes Amt bekleidet haben wie diese.
Nach seinen eigenen Geständnissen wäre er aber dem Tien-waṅ an Macht und
Ansehn fast gleich gewesen. Wie viel Antheil an diesen Geständnissen viel-
leicht die Folter, vielleicht auch die Eitelkeit gehabt hat, als grosser Herr zu ster-
78).
geniessen, und wer Beschwerden fürchtet, wird Beschwerden leiden. Kurz: ge-
horchet den Geboten des Himmels und ihr werdet Glückseligkeit geniessen; seid
ungehorsam, und ihr werdet zur Hölle fahren.« — In einem anderen Edict ist die
Aufstellung von Führungslisten für jeden Krieger des Heeres angeordnet.
80).
Als Hien-fuṅ die Ankunft der Tae-piṅ vor Nan-kiṅ erfuhr, begab er sich
an den Altar seiner Ahnen und betete inbrünstig um Frieden. »In dem darauf be-
züglichen Decret, sagt die amtliche Zeitung, tadelt der Kaiser seine Minister wegen
falscher Maassregeln, verurtheilt aber auch sich selbst, weil er nicht strenge Unter-
suchung der bestehenden Missbräuche angestellt habe, welche den Aufstand ver-
anlasst und Elend über das Volk gebracht hätten. Der Gedanke daran raubt ihm den
79).
ben, — denn der Tod war ihm gewiss, — mag dahin gestellt bleiben. Das auf dieser
Sache ruhende Dunkel wird noch gemehrt durch den Umstand, dass die Tae-piṅ
selbst in den ersten Jahren ihre Aera »Tien-ti« nannten. Erst nach Einnahme von
Nan-kiṅ scheint dieser Ausdruck geändert worden zu sein.
80).
Schlaf. Aber sich nur zu tadeln ist ein leerer Brauch. Deshalb bittet er den Himmel
flehentlich und demüthig, seine Fehler zu vergeben und sein armes Volk zu retten.«
81).
Wu hatte sich im Handel mit den Fremden emporgearbeitet, sprach das ge-
brochene Pidgeon-Englisch, die Verkehrssprache zwischen den Fremden und den
Kantonesen, welche sich im Laufe der Zeit zu einem feststehenden Jargon ausgebildet
hat, und war dadurch, obgleich er keine Prüfung bestanden und keine Spur von
litterarischer Bildung hatte, obgleich er nicht einmal den Mandarinen-Dialect — was
so viel sagen will wie bei uns hochdeutsch — reden konnte, zu der Stellung in
Shang-hae besonders geeignet. Er war fähig, thätig und opferte für die Rüstungen sein
eigenes Vermögen, wurde aber dennoch später wegen des schlechten Erfolges degradirt.
82).
Der S. 175 Anm. 76 erwähnte Lo-ta-kan.
83).
In der amtlichen Zeitung von Pe-kiṅ gedruckt.
84).
Aus dem »Buch der himmlischen Gebote«.
85).
In den ersten Zeilen bekennen sich die Tae-piṅ hier zur Dreieinigkeit, in
den letzten zur Erlösung durch das Opfer Christi. Auf diese ist auch in dem an
Sir George Bonham gerichteten Manifest hingedeutet. Meadows hat in den von ihm
analysirten Schriften der Tae-piṅ von diesen Lehren nichts gefunden und behauptet,
dass sie ihren Glaubenstheorieen widersprechen. Aus späteren Büchern soll aber das
Bewusstsein, durch Christi Thaten und Leiden Hoffnung auf die ewige Seligkeit er-
langt zu haben, sehr deutlich reden.
86).
So fanden die Fremden alle die Vertheilung von Kleidungsstücken und Me-
dicamenten, die Erhaltung der Reinlichkeit, Beobachtung von Anstandsregeln und
Förmlichkeiten betreffenden Verfügungen mit seinem Namen unterzeichnet.
87).
Siu-tsuen ist Vornamen, Huṅ Familiennamen.
88).
Neumann berichtet in seiner ostasiatischen Geschichte Näheres über die
Ereignisse, ohne seine Quelle zu nennen. Gerüchte cursirten viele; aber die
zuverlässigsten Schriftsteller, welche sich damals in China selbst mit der Geschichte
der Tae-piṅ beschäftigten und gültige Kritik üben konnten, scheinen keinen Werth
auf die umlaufenden Erzählungen gelegt zu haben, und äussern sich sehr vorsichtig.
89).
»The question at issue rests where it was and must remain in abeyance.«
90).
Aus mehreren gedruckten Depeschen des Yi scheint hervorzugehen, dass
Herr Bonham oder ein Vertreter desselben den freien Zutritt in Kan-ton 1850 an
der Pei-ho-Mündung gefordert hätte. Er sei, erzählt Yi, von den kaiserlichen Be-
vollmächtigten abgewiesen worden, weil im Vertrage von Nan-kiṅ nichts davon
91).
»It is the intention of Her Majesty’s government, that you should strictly
adhere to the instructions given to you by the Earl of Granville, by which you are
enjoined to avoid all irritating discussions with the Chinese authorities; and in con-
formity with the rule thus prescribed to you, you will abstain from mooting the
question of the right of British subjects to enter the city of Canton. You will
likewise abstain from pressing to be received as Her British Majesty’s Plenipoten-
tiary at any other description of place or in any other manner as your predecessors.«
Schreiben von Lord Malmesbury, 21. Juni 1852.
92).
Herr Bowring schickte seine Correspondenz mit Yi nach London. In Lord
Malmesbury’s Antwort vom 21. Juli heisst es darauf: »I have to state in reply,
that it is not necessary that you should pursue this correspondance..... There is
no occasion for you, unless some unforeseen circumstances should occur, to press
for personal intercourse with the Chinese authorities, and still less that you should
moot the question of being received by them in the city of Canton..... I have
further to enjoin you not to raise any question as to the admission of British
subjects into the city of Canton, and not to attempt yourself to enter it.«
90).
stände, weil Kaiser Hien-fuṅ die durch den geheiligten Willen seines Vaters sanc-
tionirten Bestimmungen nicht ändern wollte, auch keinen Grund zur Aenderung
zu entdecken vermöchte, da der Handel unter genauer Ausführung der Bestimmungen
jenes Vertrages seither geblüht hätte.
93).
Diese Ansicht ist positiv ausgesprochen in dem Werke von Andrew Wilson:
The ever victorious army. Der Verfasser lebte lange Zeit in China und muss als
Redacteur der angesehensten in Hong-kong erscheinenden Zeitung mit den Ver-
hältnissen innig vertraut gewesen sein.
94).
Vielfach wurden Matrosen von liederlichen Dirnen in den Hinterhalt gelockt.
95).
Im Oberhause legten vorzüglich Lord Derby und Lord Ellenborough, im
Unterhause Sir F. Thesiger und Cobden die Motive der englischen Politik im fernen
Osten mit rücksichtsloser Schärfe bloss.
96).
Die daraus entspringenden Verwickelungen veranlassten den französischen
Consul in Kan-ton, am 22. November 1856 seine Flagge zu streichen.
97).
Ho-nan ist eine von zwei Armen des Tšu-kiaṅ gebildete Insel von be-
trächtlicher Ausdehnung, auf welcher, der Südseite von Kan-ton gegenüber, eine
Vorstadt liegt.
98).
Das Chinese-Commissariate-Corps, welches die Engländer für diese Feldzüge
organisirten, bestand meist aus Hakka-Chinesen, welche zerstreut in Kuaṅ-tuṅ
wohnen, einem eingewanderten Stamm wie die Kei-kia in Kuaṅ-si. Ein englischer
Officier von diesem Corps giebt ihnen folgendes Zeugniss: »Im Feuer betrugen
sich alle standhaft, und einige verrichteten Thaten, die jedem Engländer das Vie-
toria-Kreuz eingebracht hätten. Ihre Zähigkeit ist wunderbar; ich sah sie zehn bis
zwölf Stunden in der heissen Sonne arbeiten, und sie murrten nicht, wenn ihnen
noch so starke Zumuthungen gemacht wurden. Ihr Fluch ist das Opium, und ich
halte nicht für möglich, diejenigen zum Aufgeben desselben zu veranlassen, die sich
98).
daran gewöhnt haben; deshalb sind sie mit vierzig Jahren Greise. Sie trinken
wenig. Sprachen lernen sie leicht: einige, die wir die ganze Zeit (3½ Jahre) bei uns
hatten, sprachen französisch, englisch, und verständigten sich leicht mit den
Sepoys.«
99).
Yi wurde an Bord des englischen Kriegsschiffes Inflexible gebracht, das einige
Zeit bei der Bocca Tigris ankerte; er schien seine Gefangenschaft durchaus nicht
zu begreifen und drückte täglich sein Befremden aus, dass Lord Elgin nicht erschiene
und mit ihm in Verhandlungen träte, welche der einzige Zweck seines Aufenthaltes
auf dem englischen Schiffe seien. Später glaubte der Botschafter, dass Yi’s Gegen-
wart in der Nähe von Kan-ton ungünstig auf dessen Bevölkerung wirke und
schickte ihn nach Calcutta. Die Mittheilung dieses Beschlusses nahm der Vice-König mit
vollkommenem Gleichmuth hin und erklärte mit allem einverstanden zu sein, was
man über ihn verhängen möge. Nach seinem Tode wurde die Leiche nach Kan-
ton
gebracht und von der Bevölkerung mit Zeichen der tiefsten Ehrfurcht und An-
hänglichkeit empfangen. Seine Thatkraft hatte die Stadt vor den Rebellenhorden
geschützt, welche mit Zerstörung und Plünderung drohten.
100).
Darunter vier »Despatch-government-boats«; so heisst eine grössere Art
Kanonenboote, welche den Postdienst der englischen Flotte besorgen.
101).
Herr Lay stand damals als Director des Zollamtes für den fremden Handel
in Shang-hae in kaiserlich chinesischen Diensten.
102).
Das Decret ist mitgetheilt bei Oliphant, Narrative of the Earl of Elgins
Mission to China. I. 370.
103).
Eine der wichtigsten Fragen betraf die beim Transport der Waaren im
Inneren des Landes zu zahlenden Transitzölle. Schon im Vertrage selbst war sie
berührt; jetzt wurde entschieden, dass die Abgabe bei steuerbaren Artikeln bis zur
Hälfte der durch den Tarif ihnen aufgelegten Ein- oder Ausfuhrzölle, bei steuerfreien
durchgängig 2½ Procent des Werthes betragen solle. — Dadurch wurde der Transit-
zoll auf Thee, welcher gegen 100 Procent des Werthes betragen hatte, auf die Hälfte
ermässigt. Für die Einfuhr wurde durchgängig eine Werthsteuer von 5 Procent an-
genommen, und diese Norm auch beim grösseren Theil der Ausfuhrartikel festgehalten.
Für Seide zahlte man vorher eine geringere Abgabe; diese hielt man fest und be-
steuerte dafür andere Artikel etwas höher. — Die Küstenschiffahrt wurde mit der
einzigen Beschränkung freigegeben, dass aus den neu geöffneten Häfen Teṅ-tšau
und Niu-tšwaṅ Bohnen und Bohnenkuchen durch fremde Schiffe nicht exportirt
werden sollten. Dieser Handel ging vorzüglich nach Shang-hae und beschäftigte
viele Tausend chinesischer Schiffer; die Behörden fürchteten Aufstände, wenn dieser
Erwerbszweig beeinträchtigt würde.
104).
Die Tae-piṅ nannten Nan-kiṅTien-kiṅ, Himmelsstadt.
105).
Dieser Vers geht auf Fuṅ’s Einkerkerung.
106).
Wörtlich Pest. Nach Herrn Wade steht dieses Wort figürlich für Unglück,
Aufruhr u. s. w.
107).
Su-tšau, Haṅ-tšau.
108).
Es war ein französischer Geistlicher.
109).
Dieser Ausdruck bedeutet in den amtlichen Mittheilungen der Chinesen die
Beförderung durch Couriere, welche alle 24 Stunden 600 Li oder etwa 45 Meilen
zurücklegen.
110).
Herr Bruce war angewiesen, in seinen Beziehungen zu den Behörden der
geöffneten Hafenplätze keine Aenderung eintreten zu lassen. Als nun nach Rati-
fication des Vertrages der Americaner für diese eine Ermässigung der Tonnengelder
eintrat, trug Herr Bruce auf Grund des Artikels der »meistbegünstigten Nation« auf
das gleiche Vorrecht an. Ho-kwei-tsiṅ berichtete darüber nach Pe-kiṅ.
111).
In diesem Handel soll ein Capital von 7,000,000 Pfund Sterling stecken.
112).
Nach dem amtlichen französischen Bericht wäre der Flecken verlassen ge-
wesen. Dem widersprechen die ausführlichen Erzählungen englischer Officiere, welche
nicht erfunden sein können. Sie melden, dass die Bewohner rein ausgeplündert
wurden, wobei die indischen Reiter und französische Soldaten das Beste gethan
hätten. Beim Abmarsch der Truppen, berichten die Engländer, sei Pe-taṅ fast
von allen Bewohnern verlassen gewesen.
113).
Nach Angabe der Engländer sind diese »Verhandlungen« eine reine Erfin-
dung, gegründet auf Unterredungen eines chinesischen Kaufmannes mit einem eng-
lischen, welcher sich durch politische Erörterungen und den Schein des Einflusses
bei den Chinesen ein Ansehn geben wollte.
114).
Geht auf die frühere Absicht des Herrn Bruce, das Ultimatum an der Pei-ho-
Mündung
überreichen zu lassen.
115).
Ein nach seinem Commandeur benanntes unregelmässiges ostindisches Ca-
vallerie-Regiment, in welchem Sik’s, Afganen und Perser dienten.
116).
D. h. väterlich in Frieden mit ihnen lebten oder im Kriege begriffen waren.
117).
Die Mundart von Pe-kiṅ ist die von den Mandarinen gesprochene, welche
allen Dolmetschern im diplomatischen Dienst geläufig sein muss.
118).
Dem Betragen des mit ihnen gefangenen indischen Reiters stellen die Herren
Parkes und Loch das glänzendste Zeugniss aus.
119).
Viele Gegenstände, die man ihrer beträchtlichen Grösse wegen für Bronze
hielt, waren aus purem Golde.
120).
Man fand u. a. viele Säcke mit portugiesischen Dublonen, den für den Be-
sitz von Macao jährlich gezahlten Grundzins.
121).
Viele Gegenstände wurden zu unerhörten Preisen gekauft. — Der ganze
Erlös betrug 123,000 Dollars. Jeder Gemeine erhielt 17 Dollars. Die Officiere
wurden nach ihren Rangstufen in drei Classen gesondert und erhielten verhältniss-
mässige Antheile. Die Generale Sir Hope Grant, Sir John Michell und Sir Robert
Napier
verzichteten auf die ihren zum Besten der Truppen.
122).
Die Bibliothek soll den grössten Schatz ungedruckter Manuscripte und viele
Unica enthalten haben, welche für die Geschichte nicht blos von China, sondern von
ganz Asien unersetzlich sind. Der Chinese redet von dem Verlust dieser Schätze
etwa wie bei uns von einer Zerstörung des Vaticanes geredet würde; Yuaṅ-miṅ-
yuaṅ
soll weitaus die wichtigste Sammlung dieser Art für den ganzen Welttheil
gewesen sein.
123).
Der im Auszuge mitgetheilte Entwurf der Convention erlitt folgende Modi-
ficationen. Der 3. Artikel der unterzeichneten Convention normirt die Kriegs-
Entschädigung auf 7,000,000 Tael, von denen 500,000 bis zum 30. November in
Tien-tsin, 333,333 nach Abzug der für den Neubau der Factoreien vorgeschossenen
Summe bis zum 1. December 1860 in Kan-ton zu zahlen sind. Zu Tilgung der
Restsumme wird vierteljährlich ein Fünftel der Brutto-Einnahme der Zollämter für
den fremden Handel angewiesen, und die erste Rate am 31. December 1860 für das
dann endende Vierteljahr gezahlt werden. Der 3. Artikel des Entwurfes fällt fort.
— Der 4. Artikel der unterzeichneten Convention ist der 5. des Entwurfes. — Der
5. Artikel legalisirt die Auswanderung von Chinesen auf englischen Schiffen. —
Durch Artikel 6. wird derjenige Theil des Stadtgebietes von Kau-luṅ der eng-
lischen Krone als Dependenz der Colonie Hong-kong abgetreten, welcher derselben
durch den General-Gouverneur von Kuaṅ-tuṅ auf ewige Zeiten vermiethet war. —
Artikel 7. ist Artikel 4. des Entwurfes. Der 8. Artikel stipulirt die Publication des
Vertrages und der Convention durch die chinesischen Behörden. Nach dem 9. Ar-
tikel sollen Tšu-san und Pe-kiṅ gleich nach Unterzeichnung der Convention und
Ratificirung des Vertrages geräumt, Kan-ton, Ta-ku, Tien-tsin und die Küste
von Tien-tsin dagegen nach Wahl der englischen Regierung bis zur völligen Til-
gung der Kriegsschuld besetzt bleiben.
124).
7,000,000 Tael erhielt die kaiserlich französische Regierung, 1,000,000
wurden zu Entschädigung französischer Unterthanen und Schutzbefohlenen ver-
wendet.
125).
Der Ausdruck Kuli, Coolie bezeichnet bei den Fremden in China die grosse
Classe des Proletariates, die ohne bestimmtes Gewerbe auf jede Weise ihren Lebens-
unterhalt zu verdienen sucht; also Tagelöhner, Lastträger u. s. w.
126).
Peninsular and Oriental steam-navigation-company.
127).
Kaṅ-gi regierte von 1662 bis 1722; Kien-loṅ herrschte von 1735 bis 1795
und starb 1799, 89 Jahre alt.
128).
Mr. Horatio Nelson Lay war, obgleich als Director aller Zollämter für den
auswärtigen Handel in chinesischem Staatsdienst, in den Feldzügen 1858 und 1860
auf englischer Seite thätig gewesen und hatte sich durch sein wegwerfendes Betra-
gen gegen bejahrte chinesische Würdenträger sehr verhasst gemacht. San-ko-lin-
sin
’s
Erbitterung gegen die Engländer soll vorzüglich durch Herrn Lay’s Auftreten
gegen den alten Kwei-liaṅ 1858 hervorgerufen worden sein. — In seiner Stellung
als chinesischer Zoll-Director folgte ihm Mr. Hart, welcher verstand, die Erfüllung
seiner Pflichten gegen die kaiserliche Regierung mit der Freundschaft für seine
Landsleute zu verbinden, und sehr viel zur glücklichen Entwickelung des Verhält-
nisses zwischen den Fremden und den Chinesen beitrug.
130).
Meadows muss diesen in dem Buch von Lindesay Brine abgedruckten Brief
nicht gekannt haben, sonst hätte er denselben sicher erwähnt. An seiner Aecht-
heit zu zweifeln, ist keine Veranlassung; hätte Meadows ihn gekannt und für
unächt gehalten, so hätte er sich ganz gewiss darüber ausgesprochen. — Der
Stempel vertritt bei den Chinesen die Stelle des Siegels.
131).
Der Kan-waṅ ist Huṅ-džin, der Vetter des Tien-waṅ, der dessen Be-
kehrungsgeschichte schrieb und den Missionaren in Hong-kong mehrere Jahre als
Katechist und Prediger diente. S. S. 270 ff.
132).
An der Spitze der Tae-piṅ-Regierung standen Anfang 1861 folgende Waṅ
oder Könige:
1. Der Kan-waṅ oder Schildkönig, 2. der Tšun-waṅ oder Treue König,
3. der Yiṅ-waṅ oder Heldenkönig, 4. der Ei-waṅ oder Hülfskönig, 5. der Ši-waṅ,
6. der Fu-waṅ, 7. der Tsan-waṅ, 8. der Tšan-waṅ, 9. der Si-waṅ. Letzterer
war der junge Sohn des Westkönigs. S. Lindesay Brine, The Taeping rebellion.
133).
Folgende Zahlen sollten annähernd richtig sein. Der Yiṅ-waṅ hatte in
Gan-wui etwa 100,000 Mann, der Ei-waṅ in Se-tšuen 70,000 Mann; die Garni-
son von Gan-kiṅ soll 20,000 Mann betragen haben; aus Kuaṅ-tuṅ und Kuaṅ-si
stiessen im Februar 70,000 Insurgenten zu den Tae-piṅ; zwischen Su-tšau und
Nan-kiṅ rechnete man 45,000 Mann, und auf Tšiṅ-kiaṅ rückten 15,000 Mann.
S. Wilson, The ever victorious army.
134).
Wir sahen in Shang-hae Stücke davon, welche aus feiner weisser Por-
cellanmasse bestanden.

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Berg, Albert. Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bj4t.0