[][][][][][][[I]]
Lebensgeſchichte
und
Natuͤrliche Ebentheuer
des
Armen Mannes
im Tockenburg
.


[figure]
Zuͤrich,:
bey Orell, Geßner, Fuͤßli und Compagnie1789.

[[II]][[III]]

Vorbericht des Herausgebers.


Im Dezember 1787. ſchrieb mir mein hochge-
ſchaͤtzter Freund, Herr Martin Imhof, Pfarr-
herr zu Wattweil im Tockenburg.


„In einem der abgeſoͤndertſten Winkeln des ſo
wenig bekannten und oft verkannten Tockenburgs
wohnt ein braver Sohn der Natur; der, wie-
wohl von allen Mitteln der Aufklaͤrung abgeſchnit-
ten, ſich einzig durch ſich ſelbſt zu einem ziemli-
chen Grade derſelben hinaufgearbeitet hat.


Den Tag bringt er mit ſeiner Berufsarbeit zu;
einen Theil der Nacht, oft bis in die Mitte der-
ſelben, lieſt er, was ihm der Zufall, oder ein
Freund, oder nun auch ſeine eigene Wahl in die
Haͤnde liefert — oder ſchreibt auch ſeine Bemer-
kungen uͤber ſich und andere in der kunſtloſen
Sprache des Herzeus nieder. Hier iſt eine Pro-
be davon.


Finden Sie ſolche dem Geſchmack Ihres leſen-
den Publikum’s augemeſſen, ſo ſey Ihnen der
freye Gebrauch davon uͤberlaſſen. — Nicht allen
behagen gleiche Gerichte; und ſo, denk ich, duͤrfte
dieſe Darſtellung der Schickſale und des haͤusli-
chen Lebens eines ganz gemeinen aber rechtſchaffe-
nen Mannes mit allen ihren ſchriftſtellerſchen Ge-
brechen dem eint und andern Schweitzerſchen Le-
[IV]Vorbericht des Herausgebers.
ſer des Muſeums wohl ſo willkommen und viel-
leicht auch eben ſo nuͤtzlich ſeyn, als die mit Mei-
ſterhand entworfene Lebensbeſchreibung irgend ei-
nes groſſen Staatsmannes oder Gelehrten.


Von der gleichen Feder ſind noch mehrere kleine
Aufſaͤtze in meinen Haͤnden, aus denen oft origineller
Witz, muntere Laune, immer ein heller Kopf, und
ein offenes gutes, Gott und Menſchen liebendes
Herz hervorleuchtet. Ob auch dieſe mitgetheilt
werden, wird die Aufnahme beſtimmen, die die-
ſes biographiſche Bruſtſtuͤck findet„.


Dieſe neue, ganz unerwartete litterariſche Erſchei-
nung aus einem Lande, welches freylich nicht erſt
ſeit geſtern ſo manchen treflichen Kopf zu Berg und
Thal in ſeinem gluͤcklichen Schooße naͤhret, machte
mir ungemeines Vergnuͤgen. Das erſte Probe-
ſtuͤck, welches ich davon im zweyten Hefte des
vierten Jahrgangs des Schweitzerſchen Muſeums
dem [Publikum] mittheilte, fand, auch unter den
verſchiedenſten Klaſſen von Leſern, allgemeinen Bey-
fall. Man mochte die waͤhrend dem ganzen Laufe
des Fruͤhjahrs und Sommers 1788. einander ziem-
lich ſchnell gefolgten Fortſetzungen kaum erwarten;
niemals wurde auch die geſpannteſte Neugierde ge-
taͤuſcht, und jedesmal nach dem Verfolge luͤſter-
ner gemacht.


Im Julius hatte ich vollends die Freude, auf
einer Luſtreiſe durch’s Tockenburg mit dem Ver-
[V]Vorbericht des Herausgebers.
faſſer perſoͤnliche Bekanntſchaft zu machen; bey
welcher ich alles noch mehr als beſtaͤthigt fand, was
mir ſein wuͤrdiger Seelſorger in obigem Briefe von
ſeinem Pfarrkinde mit derjenigen Beſcheidenheit und
Unbefangenheit ruͤhmte, welche eben den ſchoͤn-
ſten Charackterzug dieſes edeln und rechtſchaffnen
Manns ausmachen.


Vey dieſer Gelegenheit war es nicht Herrn Im-
hofs
— und noch viel minder des ehrlichen B. * *
— ſondern mein Einfall, das was ein Paar hun-
dert Theilnehmer an dem Schweitzermuſeum in
Bruchſtuͤcken ſo hoͤchlich beluſtigt hatte, auch der
uͤbrigen zumal einheimiſchen, Leſerwelt zuſammen-
gedruckt mitzutheilen, einer- und anderſeits die-
ſer Lebensgeſchichte, mit beßter Muße, noch ein
Paar andre Baͤndchen folgen zu laſſen, welche in ge-
draͤngter Kuͤrze Auszuͤge aus den gewiß wenig-
ſtens gleich unterthaltenden Tagebuͤchern, nebſt eini-
chen zerſtreuten Aufſaͤtzen des Verfaſſers enthalten
wuͤrden. Groſſe Muͤhe hatt’ ich wahrlich, den
lieben Mann zu bereden, daß er dieſen, nach ſeinem
Sinne, ſo kuͤhnen Schritt wagen — und mir die
ganze Verantwortung deſſelben uͤberlaſſen ſollte.
Dieſe in viele und ſchoͤne Phraſen zu kleiden, wuͤrde,
denk’ ich, ein hoͤchſt unnuͤtzes Geſchaͤft ſeyn. Alſo
nur zwey Worte — Denn das Leben auf Erde
iſt fuͤr lange Vorreden zu kurz.


[VI]Vorbericht des Herausgebers.

Das erſte an die von mir innig geſchaͤtzten und
geliebten Landleuthe unſers Schriftſtellers. Dieſen
(ich rede von der edlern — und, wie ich uͤberzeugt
bin, zugleich groͤſſern Zahl; der, wie ich hoffe,
hoͤchſt kleine Ueberreſt findet ſeine gebuͤhrende Ab-
fertigung in einem Geſpraͤch’ am Schluße) wird
ihr bekannter vorzuͤglicher Gerad- und Biederſinn
nicht erlauben, ihren Landsmann um das Gluͤck
zu beneiden, viele ſeiner Mitmenſchen nuͤtzlich zu
ergoͤtzen. Oder


— — — Bleibet denn nicht immer

Jedes Weiſen Ehrenſchimmer

Seines Volkes Eigenthum?

Das zweyte an die Philoſophen in Seide, und
die Volkesfreunde in Purpur, welche waͤhnen, daß
der Mann in Zwillich unmoͤglich klug genug ſeyn
koͤnne, ſich durch Authorruhm nicht zu Stolz und
Eigenduͤnkel verfuͤhren zu laſſen; beſonders aber,
daß derjenige ihm ohne weiters Tugend und Zufrie-
denheit raube, der ihn aus ſeiner gluͤcklichen Ver-
borgenheit auf irgend eine Weiſe ans Licht zieht.
Dieſen dienet zum Troſt: Daß unſer Author wirklich
ſchon beyde Proben man̄haft beſtanden habe, ſie alſo
einſtweilig ganz ohne Kummer ſeyn duͤrfen; fuͤr den
mondrigen Tag aber allzuaͤngſtlich zu ſorgen — ein
heidniſch Ding ſey.


[VII]Vorbericht des Herausgebers.

Was der Verfaſſer im Anhang ſeiner Geſchichte
von meinen Bemuͤhungen um dieſelbe erzaͤhlt, war
eine geringe Arbeit, und recht dazu geſchaffen, mir
den ſuͤſſeſten Genuß von ein Paar Dutzend meiner
Mußeſtunden — wie zu verdoppeln; ſo daß es noch
die groͤßte Frage, oder vielmehr bey mir ganz ent-
ſchieden iſt, welcher von uns beyden des andern
Schuldner ſey.


Zu einem Gloßar der haͤufig zum Vorſchein kom-
menden Provinzialausdruͤcke fand’ ich bey aller-
naͤchſt eintretender Meſſe die Zeit nicht mehr. Einige
der unverſtaͤndlichſten jedoch ſind in Noten bemerkt.
Die uͤbrigen nachzuholen wird ſich ſchon die Gele-
genheit finden.


Zuͤrch, am 6. Aprill. 1789.


H. H. Fuͤßli.


[[VIII]]

Inhalt.

  • Seite
  • Vorrede des Verfaſſers. 1
  • 1. Meine Voreltern. 3
  • 2. Mein Geburtstag. 5
  • 3. Mein fernſtes Denken 7
  • 4. Zeitumſtaͤnde. 8
  • 5. Schon in Gefahr. 9
  • 6. Unſre Nachbauern im Naͤbis. 11
  • 7. Wanderung in das Dreyſchlatt. 13
  • 8. Oekonomiſche Einrichtung. 14
  • 9. Abaͤnderungen. 15
  • 10. Naͤchſte Folgen von des Großvaters Tod. 16
  • 11. Allerley, wie’s ſo koͤmmt. 18
  • 12. Die Bubenjahre. 19
  • 13. Beſchreibung unſers Guts Dreyſchlatt. 22
  • 14. Der Geißbube. 23
  • 15. Wohin, und wie lang 25
  • 16. Vergnuͤgen im Hirtenſtand 26
  • 17. Verdruß und Ungemach. 29
  • 18. Neue Lebensgefahren. 32
  • 19. Kameradſchaft. 35
  • 20. Neue ſonderbare Gemuͤthslage, und End des
    Hirtenſtands. 37
  • 21. Neue Geſchaͤfte, neue Sorgen. 40
  • 22. O der unſeligen Wißbegierde! 43
  • 23. Unterweiſung. 46
  • 24. Neue Kameradſchaft. 48
  • 25. Damalige haͤusliche Umſtaͤnde. 50
  • 26. Wanderung auf den Steig in Wattweil. 54
  • 27. Goͤttliche Heimſ[u]chung 55

[[IX]]

Inhalt.


  • Seite
  • 28. Itzt Tagloͤhner 58
  • 29. Wie? Schon Grillen im Kopf. 60
  • 30. So geht’s. 65
  • 31. Immer noch Liebesgeſchichten. Doch auch an-
    ders mitunter. 69
  • 32. Nur noch dießmal. 73
  • 33. Es geht auf Reiſen. 78
  • 34. Abſchied vom Vaterland. 81
  • 35. Itzt noch vom Schaͤtzle. 84
  • 36. Es geht langſam weiters. 88
  • 37. Ein nagelneues Quartier. 90
  • 38. Ein unerwarteter Beſuch. 94
  • 39. Was weiters. 97
  • 40. O die Muͤtter, die Muͤtter! 99
  • 41. Hin und her, her und hin. 101
  • 42. Noch mehr dergleichen Zeug. 106
  • 43. Noch einmal, und dann: Adieu Rothweil!
    Adieu auf ewig! 110
  • 44. Reiſe nach Berlin. 113
  • 45. ’s giebt ander Wetter! 117
  • 46. So bin ich denn wirklich Soldat? 121
  • 47. Nun geht der Tanz an. 125
  • 48. Nebſt anderm meine Beſchreibung von Berlin. 129
  • 49. Nun geht’s bald weiters. 135
  • 50. Behuͤte Gott Berlin! — Wir ſehen einander
    nicht mehr. 140
  • 51. Marſchroute bis Pirne. 142
  • 52. Muth und Unmuth. 144
  • 53. Das Lager zu Pirne. 146
  • 54. Einnahme des Saͤchſiſchen Lagers u. ſ. f. 149

[[X]]

Inhalt.


  • Seite
  • 55. Die Schlacht bey Loſowitz. 151
  • 56. Das heißt — wo nicht mit Ehren gefochten
    — doch gluͤcklich entroͤnnen. 156
  • 57. Heim! Heim! Nichts als Heim! 160
  • 58. O des geliebten ſuͤſſen Vaterlands! 164
  • 59. Und nun, was anfangen? 167
  • 60. Heurathsgedanken. 169
  • 61. Itzt wird’s wohl Ernſt gelten. 172
  • 62. Wohnungsplane. 175
  • 63. Das allerwichtigſte Jahr (1761). 178
  • 64. Tod und Leben. 184
  • 65. Wieder drey Jahre (1763 — 65). 187
  • 66. Zwey Jahre (1766. u. 67). 188
  • 67. Und abermals zwey Jahre (1768. u. 69). 196
  • 68. Mein erſtes Hungersjahr (1770). 193
  • 69. Und abermals zwey Jahre! (1771 — 72). 199
  • 70. Nun gar fuͤnf Jahre (1773 — 77). 204
  • 71. Das Saamenkorn meiner Authorſchaft. 208
  • 72. Und da. 210
  • 73. Freylich manche harte Verſuchung 214
  • 74. Brief an Herrn Pfarrer Joh. Caſpar Lavater. 219
  • 75. Dießmal vier Jahre (1778 — 81). 224
  • 76. Wieder vier Jahre (1782 — 85). 227
  • 77. Und nun, was weiters? 232
  • 78. Alſo? 233
  • 79. Meine Geſtaͤndniſſe. 235
  • 80. Von meiner gegenwaͤrtigen Gemuͤthslage.
    Item von meinen Kindern. 260
  • 81. Gluͤcksumſtaͤnde und Wohnort. 273
  • Anhang (1788). 281
[[1]]

Vorrede des Verfaſſers.


Obſchon ich die Vorreden ſonſt haſſe, muß
ich doch ein Woͤrtchen zum voraus ſagen, ehe
ich dieſe Blaͤtter, weiß noch ſelbſt nicht mit
was vor Zeug uͤberſchmiere. Was mich dazu
bewogen? Eitelkeit? — Freylich! — Einmal
iſt die Schreibſucht da. Ich moͤchte aus mei-
nen Papieren, von denen ich viele mit Eckel
anſehe, einen Auszug machen. Ich moͤchte
meine Lebenstage durchwandern, und das
Merkwuͤrdigſte in dieſer Erzaͤhlung aufbehal-
ten. Iſt’s Hochmuth, Eigenliebe? Freylich!
Und doch muͤßt’ ich mich ſehr mißkennen, wenn
ich nicht auch andere Gruͤnde haͤtte. Erſtlich
das Lob meines guten guten Gottes, meines
liebreichen Schoͤpfers, meines beßten Vaters,
deſſen Kind und Geſchoͤpf ich eben ſo wohl bin
als Salomon und Alexander. Zweytens mei-
ner Kinder wegen. Ich haͤtte ſchon oft weiß
nicht was darum gegeben, wenn ich ſo eine
Hiſtorie meines ſel. Vaters, eine Geſchichte
ſeines Herzens und ſeines Lebens gehabt haͤtte.
Nun, vielleicht kann’s meinen Kindern auch
ſo gehen, und dieſes Buͤchlein ihnen ſo viel
nuͤtzen, als wenn ich die wenige daran ver-
wandte Zeit mit meiner gewohnten Arbeit
zugebracht haͤtte. Und wenn auch nicht, ſo
macht’s doch mir eine unſchuldige Freude,
und auſſerordentliche Luſt, ſo wieder einmal
A
[2]Vorrede des Verfaſſers.
mein Leben zu durchgehen. Nicht daß ich
denke, daß mein Schickſal fuͤr andre etwas
ſeltenes und wunderbares enthalte, oder ich
gar ein beſondrer Liebling des Himmels ſey.
Doch wenn ich auch das glaubte — waͤr’s
Suͤnde? Ich denke wieder Nein! Mir iſt frey-
lich meine Geſchichte ſonderbar genug; und
vortreflich zufrieden bin ich, wie mich die
ewig weiſe Vorſehung bis auf dieſe Stunde
zu leiten fuͤr gut fand. Mit welcher Wonne
kehr’ ich beſonders in die Tage meiner Jugend
zuruͤck, und betrachte jeden Schritt, den ich
damals und ſeither in der Welt gethan.
Freylich, wo ich ſtolperte — bey meinen man-
nigfachen Vergehungen — o da ſchauert’s
mir — und vielleicht nur allzugeſchwind werd’
ich uͤber dieſe wegeilen. Doch, wem wurd’s
frommen, wenn ich alle meine Schulden her-
zaͤhlen wollte — da ich hoffe, mein barmher-
ziger Vater und mein goͤttlicher Erloͤſer haben
ſie, meiner ernſtlichen Reue wegen, huldreich
durchgeſtrichen. O mein Herz brennt ſchon
zum Voraus in inniger Anbetung, wenn ich
mich gewiſſer Standpunkte erinnere, wo ich
vormals die Hand von oben nicht ſah, die
ich nachwaͤrts ſo deutlich erkannte und fuͤhlte.
Nun, Kinder! Freunde! Geliebte! Pruͤfet
alles, und das Gute behaltet.


[3]

I.
Meine Voreltern.


Dererwegen bin ich ſo unwiſſend als es Wenige
ſeyn moͤgen. Daß ich Vater und Mutter gehabt, das
weiß ich. Meinen ſel. Vater kannt’ ich viele Jahre,
und meine Mutter lebt noch. Daß dieſe auch ihre
Eltern gehabt, kann ich mir einbilden. Aber ich kann-
te ſie nicht, und habe auch nichts von ihnen vernom-
men, auſſer daß mein Großvater M. B. aus dem
Kaͤbisboden geheiſſen, und meine Großmutter
(deren Namen und Heimath ich niemals vernommen)
an meines Vaters Geburt geſtorben; daher ihn denn
ein kinderloſer Vetter J. W. im Naͤbis, der Ge-
meind Wattweil, an Kindesſtatt angenommen; den
ich darum auch nebſt ſeiner Frau fuͤr meine rechten
Großeltern hielt und liebte, ſo wie ſie mich hinwieder
als ein Großkind behandelten. Meine muͤterlichen Groß-
eltern hingegen kannt ich noch wohl; es war U. Z. und
E. W. ab der Laad.


Mein Vater war ſein Tage ein armer Mann; auch
meine ganze Freundſchaft hatte keinen reichen Mann auf-
zuweiſen. Unſer Geſchlecht gehoͤrt zu dem Stipendigut.
Wenn ich oder meine Nachkommen einen Sohn woll-
ten ſtudiren laſſen, ſo haͤtte er 600. Gl. zu beziehen.
Erſt vorm Jahr war mein Vetter, E. B. von Ka-
pel,
Stipendi-Pfleger. Ich weiß aber noch von
keinem B. der ſtudiert haͤtte. Mein Vater hat viele
Jahre das Hofjuͤngergeld bekommen; iſt aber bey
[4] einer vorgenommenen Reformation, nebſt andern
Geſchlechtern, welche, wie das ſeinige, nicht genug-
ſame Urkunden darbringen mochten, ausgemerzt wor-
den. Mit der Genoſſami des Stipendii hingegen
hat es ſeine Richtigkeit, obſchon ich auch nicht recht
weiß, wie es geſtiftet worden, wer von meinen Vor-
eltern dazu geholfen hat, u. ſ. f.


Ihr ſeht alſo, meine Kinder! daß wir nicht Urſache
haben, ahnenſtolz zu ſeyn. Alle unſre Freunde und
Blutsverwandte ſind unbemittelte Leuthe, und von
allen unſern Vorfahren hab’ ich nie nichts anders ge-
hoͤrt. Faſt von keinem, der das geringſte Aemtli
bekleidete. Meines Großvaters Bruder war Mesmer
zu Kapel, und ſein Sohn Stipendipfleger. Das
iſt’s alles aus der ganzen weitlaͤuftigen Verwandſchaft.
Da koͤnnen wir ja wohl vor dem Hochmuth geſichert
ſeyn, der ſo viele arme Narren anwandelt, wenn
ſie reiche und angeſehene Vettern haben, obgleich
ihnen dieſe keinen Pfifferling geben. Nein! Von
uns B. quaͤlt, Gott Lob! dieſe Sucht, ſo viel ich
weiß keinen einzigen; und ihr ſeht, meine Kinder!
daß ſie auch mich nicht plagt — ſonſt haͤtt’ ich wenig-
ſtens unſerm Stammbaum genauer nachgeforſcht. Ich
weiß, daß mein Großvater und deſſelben Vater arme
Leuthe waren, die ſich kuͤmmerlich naͤhren mußten;
daß mein Vater keinen Pfenning erbte; daß ihn die
Noth fein Lebenlang druͤckte, und er nicht ſelten uͤber
ſeinen kleinen Schuldenlaſt ſeufzte. Aber deswegen
ſchaͤm’ ich mich meiner Eltern und Voreltern bey
weitem nicht. Vielmehr bin ich noch eher ein Bis-
[5] chen ſtolz auf ſie. Denn, ihrer Armuth ungeachtet,
hab’ ich von keinem Dieb, oder ſonſt einem Ver-
brecher den die Juſtitz haͤtte ſtraffen muͤſſen, von
keinem Laſterbuben, Schwelger, Flucher, Verleum-
der u. ſ. f. unter ihnen gehoͤrt; von keinem, den
man nicht als einen braven Biedermann mußte gel-
ten laſſen; der ſich nicht ehrlich und redlich in der
Welt naͤhrte; von keinem der betteln gieng. Dage-
gen kannt’ ich wirklich recht manchen wackern, from-
men Mann, mit zartem Gewiſſen. Das iſt’s allein,
worauf ich ſtolz bin, und wuͤnſche, daß auch Ihr
ſtolz darauf werdet, meine Kinder! daß wir dieſen
Ruhm nicht beſudeln, ſondern denſelben fortzupflan-
zen ſuchen. Und eben das moͤcht’ ich Euch recht oft
zu Gemuͤthe fuͤhren, in dieſer meiner Lebensgeſchichte.


II.
Mein Geburthstag.


(22. Dezembr. 1735.)


Fuͤr mich ein wichtiger Tag. Ich ſey ein Bischen
zu fruͤh auf der Welt erſchienen, ſagte man mir.
Meine Eltern mußten ſich dafuͤr verantworten. —
Mag ſeyn, daß ich mich ſchon in Mutterleibe nach
dem Tageslichte geſehnt habe — und dieß nach dem
Licht ſehnen geht mir wohl all mein Tage nach!
Daneben war ich die erſte Kraft meines Vaters —
und Dank ſey ihm unter der Erde, von mir auch
dafuͤr geſagt! Er war ein hitziger Mann, voll war-
men Blutes. O ich habe ſchon tauſendmal druͤber
[6] nachgedacht, und mir bisweilen einen andern Ur-
ſprung gewuͤnſcht, wenn flammende Leidenſchaften in
meinem Buſen tobten, und ich den heftigſten Kampf
mit ihnen beſtehen mußte. Aber, ſobald Sturm und
Wetter vorbey war, dankt’ ich ihm doch wieder, daß
er mir ſein feuriges Temperament mitgetheilt hat,
womit ich unzaͤhlige ſchuldloſe Freuden lebhafter als
ſo viele andere Leuthe genieſſen kann. Genug, an dieſem
22. Dez. kam ich ans Tageslicht. Mein Vater ſagte
mir oft: Er habe ſich gar nicht uͤber mich gefreut:
Ich ſey ein armes elendes Geſchoͤpf geweſen; nichts
als kleine Beinerchen, mit einem verſchrumpften
Haͤutgen uͤberzogen; Und doch haͤtt’ ich Tag und Nacht
ein graͤßliches Zettergeſchrey erhoben, das man bis
ins Holz hoͤren konnte, u. ſ. f. Er hat mich oft recht
boͤs damit gemacht. Dachte: Ha, ich werd’s auch
gemacht haben, wie andre neugeborne Kinder! Aber
die Muter gab ihm allemal Beyfall. Nun, es kann
ſeyn.


Am H. Weihnachtstag ward ich getanft, in Watt-
weil;
und ich freute mich ſchon oft, daß es gerad
an dieſem Tage geſchah, da wir die Geburt unſers
Hochgelobten Erloͤſers feyern. Und wenn’s eine ein-
faͤltige Freude iſt, was macht’s — giebt’s doch ge-
wiß noch viel kindiſchre? H. G. H. von Kapel aus
der Au, und A. M. M. aus der Schamatten, wa-
ren meine Taufpathen; Er ein feuriger reicher Jung-
geſell, Sie eine bemittelte huͤbſche Jungfer. Er
ſtarb ledig; ſie lebt noch im Wittwenſtand.


In meinen erſten Lebensjahren mag ich wohl ein
[7] wenig verzaͤrtelt worden ſeyn, wie’s gewoͤhnlich mit
allen erſten Kindern geht. Doch wollte mein Vater
ſchon fruͤhe genug mit der Ruthe auf mich dar;
aber die Mutter und Großmutter nahmen mich in
Schutz. Mein Vater war wenig daheim; er brennte
hie und da im Land und an benachbarten Orten
Salpeter. Wenn er dann wieder nach Hauſe kam,
war er mir fremd. Ich floh ihn. Dies verdroß den
guten Mann ſo ſehr, daß er mich mit der Ruthe
zahm machen wollte. (Dieſe Thorheit begehen viele
neuangehende Vaͤter, und fodern naͤmlich von ihren
erſten Kindern aus pur lauter Liebe, daß ſie eine
eben ſo zaͤrtliche Neigung gegen ſie wie gegen ihre
Muͤtter zeigen ſollten. Und ſo hab’ ich auch bey mir
und viel andern Vaͤtern wahrgenommen, daß ſie ihre
Erſtgeborenen unter einer ungereimt ſcharfen Zucht
halten, die dann bis zu den letzten Kindern nach und
nach voͤllig erkaltet.)


III.
Mein fernſtes Denken.


(1738.)


Gewiß kann ich mich ſo weit hinab — oder hinauf —
wo nicht gar bis auf mein zweytes Lebensjahr zu-
ruͤckerinnern. Ganz deutlich beſinn’ ich mich, wie
ich auf allen Vieren einen ſteinigten Fußweg hinab-
kroch, und einer alten Baaſe durch Gebehrden Aepfel
abbetelte. — Ich weiß gewiß, daß ich wenig Schlaf
hatte — daß meine Muter, um hinter den Groß-
[8] eltern einen geheimen Pfenning zu verdienen, des
Nachts verſtohlner Weiſe beym Licht geſponnen —
daß ich dann nicht in der Kammer allein bleiben
wollte, und ſie darum eine Schuͤrze auf den Boden
ſpreiten mußte, mich nackt darauf ſetzte, und ich mit
dem Schatten und ihrer Spindel ſpielte. — Ich weiß,
daß ſie mich oft durch die Wieſe auf dem Arm dem
Vater entgegentrug; und daß ich dann ein Mordioge-
ſchrey anfieng, ſobald ich ihn erblickte, weil er mich
immer rauh anfuhr, wenn ich nicht zu ihm wollte.
Seine Figur und Geberden die er dann machte,
ſeh’ ich jetzt noch wie lebendig vor mir.


IV.
Zeitumſtaͤnde.


Um dieſe Zeit waren alle Lebensmittel wohlfeil;
aber wenig Verdienſt im Lande. Die Theurung und
der Zwoͤlferkrieg waren noch in friſchem Angedenken.
Ich hoͤrte meine Mutter viel davon erzaͤhlen, das
mich zittern und beben machte. Erſt zu End der
Dreyßigerjahre ward das Baumwollenſpinnen in un-
ſerm Dorf eingefuͤhrt; und meine Muter mag eine
von den erſten geweſen ſeyn, die Loͤthligarn geſpon-
nen. (Unſer Nachbar, A. F. trug das erſte um
einen Schilling Lohn an den Zuͤrchſee, bis er eine
eigne Dublone vermochte. Dann fieng er ſelber an
zu kaufen, und verdiente nach und nach etlich tau-
ſend Gulden. Da hoͤrte er auf, ſetzte ſich zur Ruhe,
und ſtarb.) In meinen Kinderjahren ſind auch die
erſten Erdapfel in unſerm Ort gepflanzt worden.


[9]

V.
Schon in Gefahr.


(1739.)


Sobald ich die erſten Hoſen trug, war ich meinem
Vater ſchon lieber. Er nahm mich hie und da mit
ſich. Im Herbſt d. J. brannte er im Gandten,
eine halbe Stunde von Naͤbis entfernt, Salpeter.
Eines Tags nahm er mich mit ſich; und, da Wind
und Wetter einfiel, behielt er mich zu Nacht bey ſich.
Die Salpeterhuͤtte war vor dem Tenn, und ſein Bett im
Tenn. Er legte mich darein und ſagte liebkoſend, er wolle
bald auch zu mir liegen. Unterdeſſen fuhr er fort zu feuern,
und ich ſchlief ein. Nach einem Weilchen erwacht’
ich wieder, und rief ihm — Keine Antwort. — Ich
ſtund auf, trippelte im Hemdli nach der Huͤtte und
um den Gaden uͤberall herum, rief — ſchrie! Nir-
gends kein Vater. Nun glaubt ich gewiß, er waͤre
heim zu der Mutter gegangen. Ich alſo hurtig, legte
die Hoͤslin an, nahm das Bruſttuͤchlin uͤbern Kopf,
und rannte in der ſtockfinſtern Regennacht zuerſt uͤber
die naͤchſtanſtoſſende lange Wieſe. Am End derſel-
ben rauſchte ein wildangelaufener Bach durch ein
Tobel. Den Staͤg konnt’ ich nicht finden, und
wollte darum ohne weiters und gerade hinuͤber, dem
Naͤbis zu; glitſchte aber uͤber eine Rieſe zum Bach
hinab, wo mich das Waſſer beynahe ergriffen haͤtte.
Die aͤuſſerſte Anſtrengung meiner jugendlichen Kraͤfte
half mir noch gluͤcklich davon. Ich kroch wieder
[10] auf allen [Vieren] durch Stauden und Doͤrn’ hinauf
der Wieſe zu, auf welcher ich uͤberall herumirrte,
und den Gaden nicht mehr finden konnte — als ich
gegen einer Windhelle zwey Kerls — Birn- oder Aepfel-
diebe — auf einem Baum anſichtig ward. Dieſen
ruft ich zu, ſie ſollten mir doch auf den Weg hel-
fen. Aber da war kein Beſcheid; vielleicht daß ſie
mich fuͤr ein Ungeheuer hielten, und oben im Gipfel
noch aͤrger zittern mochten, als ich armer Bube un-
ten im Koth. — Inzwiſchen war mein Vater, der
waͤhrend meinem Schlummer nach einem ziemlich
entfernten Haus gieng, etwas zu holen, wieder
zuruͤckgekehrt. Da er mich vermißte, ſuchte er in
allen Winkeln nach, wo ich mich etwa moͤgte verkro-
chen haben; zuͤndete bis in die ſiedenden Keſſel hin-
ein, und hoͤrte endlich mein Geſchrey, dem er nach-
gieng, und mich nun bald ausfindig machte. O,
wie er mich da herzte und kuͤßte, Freudenthraͤnen
weinte und Gott dankte, und mich, ſobald wir zum
Gaden zuruͤckkamen, ſauber und trocken machte —
denn ich war mausnaß, dreckigt bis uͤber die Ohren,
und hatte aus Angſt noch in die Hoſen .... Morn-
deß
am Morgen fuͤhrte er mich an der Hand [durch]
die Wieſe: Ich ſollt’ ihm auch den Ort zeigen, wo
ich heruntergepurzelt. Ich konnt’ ihn nicht finden:
Zuletzt fand Er ihn an dem Geſchlirpe, das ich beym
Hinabrutſchen gemacht; ſchlug dann die Haͤnd’ uͤberm
Kopf zuſamen, vor Entſetzen uͤber die Gefahren
worinn ich geſchwebt, und vor Lob und Preis uͤber
die Wunderhand Gottes, die mich allein erretten
[11] konnte: „Siehſt du„ ſprach er, nur noch wenige
„Schritte, ſo ſtuͤrzt der Bach uͤber den Felſen hinab.
„Haͤtt’ dich das Waſſer faſſen koͤnnen, ſo laͤgſt du
„dort unten todt und zermuͤrſet„! Von allem die-
ſem begriff ich damals kein Wort; ich wußte nur
von meiner Angſt, nichts von Gefahr. Beſonders
aber ſchwebten die Kerle auf dem Baum mir viele
Jahre vor Augen, ſobald mich nur ein Wort an die
Geſchichte erinnerte.


Gott! Wie viele tauſend Kinder kaͤmen auf eine
elende Art ums Leben, wenn nicht deine ſchuͤtzenden
Engel uͤber ſie wachten. Und, o wie gut hat auch
der meinige uͤber mich gewacht. Lob und Preis ſey
dir dafuͤr noch heute von mir gebracht, und in alle
Ewigkeit!


VI.
Unſre Nachbauern im Naͤbis.


Der Naͤbis liegt im Berg, ob Scheftenau. Von
Kapel hoͤrt man die Glocke laͤuten und ſchlagen. Es
ſind nur zwey Haͤuſer. Die aufgehnde Sonne ſtrahlt
beyden gerad in die Fenſter. Meine Großmutter
und die Frau im andern Haus waren zwo Schwe-
ſtern; fromme alte Muͤtterle, welche von andern
gottſeligen Weibern in der Nachbarſchaft fleißig be-
ſucht wurden. Damals gab es viel fromme Leuthe
daherum. Mein Vater, Großvater, und andre
Maͤnner, ſahen’s zwar ungern; durften aber nichts
ſagen, aus Furcht ſie koͤnnten ſich verſuͤndigen. Der
[12]Baͤtbeele war ihr Lehrer (ſeinem Bruder ſagte man
Schweerbeele), ein groſſer langer Mann, der ſich
nur vom Kuderſpinnen und etwas Allmoſen naͤhrte.
In Scheftenau war faſt in jedem Haus eins, das
ihm anhieng. Meine Großmutter nahm mich oft
mit zu dieſen Zuſammenkuͤnften. Was eigentlich da
verhandelt wurde, weiß ich nicht mehr; nur ſo viel,
daß mir dabey die Weil verzweifelt lang war. Ich
mußte maͤuslinſtill ſitzen, oder gar knieen. Dann
gab’s unaufhoͤrliche Ermahnungen und Beſtrafungen
von den Baaſen allen, die ich ſo wenig verſtuhnd als
eine Katze. Dann und wann aber ſtahl mich mein
Großvater zum voraus weg, und mußt’ ich mit ihm
in den Berg, wo unſre Kuͤhe waideten. Da zeigte
er mir allerley Voͤgel, Kaͤfer und Wuͤrmchen, die-
weil er die Matten ſaͤuberte, oder junge Taͤnnchen,
den wilden Seevi, u. ſ. f. ausraufte. Wenn er
dann alles an einen Haufen warf, und’s bey einbre-
chendem Abend anzuͤndete, da war’s mir erſt recht
gekocht. Anderer Buben, die etwa dabey ſeyn moch-
ten, erinnere ich mich nicht mehr, wohl aber etli-
cher halberwachſener Meidlinen, die mit mir ſpiel-
ten. Ich gieng damals in mein ſechstes Jahr; hatte
ſchon zwey Bruͤder und eine Schweſier, von de-
nen es hieß, daß eine alte Frau ſie in einer Butte
gebracht.


[13]

VII.
Wanderung in das Dreyſchlatt.


(1741.)


Mein Vater hatte einen Wanderungsgeiſt, der
zum Theil auch auf mich gekommen iſt. In dieſem
Jahr kaufte er ein groß Gut (fuͤr 8. Kuͤhe Soͤm-
mer- und Winterung), Dreyſchlatt genannt, in
der Gemeind Krynau, zu hinderſt in einer Wild-
niß, nahe an den Alpen. Das nicht halb ſo groſſe
Guͤtchen im Naͤbis hingegen verkaufte er dafuͤr:
Weil er (wie er ſagte) ſah, daß ihn eine groſſe
Haushaltung anfallen wolle; damit er fuͤr viele Kin-
der Platz und Arbeit genug haͤtte; auch daß er ſie
in dieſer Einoͤde nach ſeinem Willen erziehen koͤnnte,
wo ſie vor der Verfuͤhrung der Welt ſicher waͤren.
Auch rieth der Großvater, der von Jugend an ein
ſtarker Viehmann war, ſehr dazu. Aber mein guter
Aeti verband ſich den unrechten Finger, und watete
ſich, da er an das Gut nichts zu geben hatte, in
einen Schuldenlaſt hinein, unter welchem er nach-
werts 13. Jahre lang genug ſeufzen mußte. Alſo
im Herbſt 41. zuͤgelten wir mit Sack und Pack ins
Dreyſchlatt. Mein Großaͤti war Senn; Ich
jagte die Kuͤhe nach; mein Bruder G. nur 20.
Wochen alt, ward in einem Korb hingetragen. Mut-
ter und Großmutter, mit den zwey andern Kindern
kamen hinten nach; und der Vater, mit dem uͤbri-
gen Plunder, beſchloß den Zug.


[14]

VIII.
Oekonomiſche Einrichtung.


Mein Vater wollte doch das Salpeterſieden nicht
aufgeben, und dachte damit wenigſtens etwas zu
Abherrſchung der Zinſe zu verdienen. Aber ſo ein
Gut, wie der Dreyſchlatt, braucht Haͤnd’ und
Armſchmalz. Wir Kinder waren noch wie fuͤr nichts
zu rechnen; der Großaͤti hatte mit dem Vieh, und
die Mutter genug im Haus zu thun. Es mußten
alſo ein Knecht und eine Magd gedungen werden.
Im folgenden Fruͤhjahr gieng der Vater wieder dem
Salpeterwerk nach. Inzwiſchen hatte man mehr
Kuͤh’ und Geiſſen angeſchaft. Der Großaͤti zog jun-
gen Faſel nach. Das war mir eine Tauſendsluſt,
mit den Gitzen ſo im Gras herumlaufen; und ich
wußte nicht, ob der Alte eine groͤſſere Freud an mir
oder an ihnen hatte, wenn er ſich ſo, nachdem das
Vieh beſorgt war, an unſern Spruͤngen ergoͤtzte. So
oft er vom Melken kam, nahm er mich mit ſich
in den Milchkeller, zog dann ein Stuͤck Brod aus
dem Futterhemd, brockt’ es in eine kleine Mutte,
und machte ein kuͤhwarmes Milchſuͤpple. Das aſſen
ich und er ſo alle Tage. So vergieng mir meine
Zeit, unter Spiel und Herumtrillern, ich wußt’
nicht wie? Dem Großaͤti giengs eben ſo. Aber,
aber — Knecht und Magd thaten inzwiſchen was
ſie gern wollten. Die Mutter war ein gutherziges
Weib; nicht gewohnt jemand mit Strenge zur Arbeit
[15] anzuhalten. Es mußte allerhand Milch- und Werk-
geſchirr eingekauft werden; und, da man viel Waide
zu Wieſen einſchlug, auch Heu und Stroh, um mehr
Miſt zu machen. Im Winter hatten wir allemal
zu wenig Futter — oder zu viel freſſende Waar Man
mußt’ immer mehr Geld entlehnen; die Zinſe haͤuf-
ten ſich, und die Kinder wurden groͤſſer, Knecht und
Magd feißt, und der Vater mager.


IX.
Abaͤnderungen
.


Er merkte endlich, daß ſo die Wirthſchaft nicht ge-
hen koͤnne. Er aͤnderte ſie alſo; und gab naͤmlich
das Salpeterſieden auf, blieb daheim, fuͤhrte das
Geſind ſelber zur Arbeit an, und war allenthalben
der erſte. Ich weiß nicht ob er auf einmal gar zu
ſireng angefangen, oder ob Knecht und Magd, wie
oben geſagt, ſonſt zu meiſterlos geworden; kurz, ſie
jahrten aus, und liefen davon. Um die gleiche Zeit
wurde der Großaͤti krank. Erſt ſtach er ſich nur an
einem Dorn in den Daumen; der wurde geſchwollen.
Er band friſchwarmen Kuͤhmiſt drauf; da ſchwoll die
ganze Hand. Er empfand entſetzliche Hitz’ darinn,
gieng zum Brunnen, und wuſch den Miſt unter
der Roͤhre wieder ab. Aber das hatte nun gar boͤſe
Folgen. Er mußte ſich bald zu Beth legen, und
bekam die Waſſerſucht. Er ließ ſich abzaͤpfen; das
Waſſer rann in den Keller hinab. Nachdem er ſo
5. Monathe gelegen, ſtarb er zum Leidweſen des gan-
[16] zen Hauſes; denn alle liebten ihn, vom Kleinſten
bis zum Groͤßten. Er war ein angenehmer, Freud’
und Friede liebender Mann. Er hatte an meinem
Vater und mir ungemein viel gethan; und ich habe
nie von keinem Menſchen etwas Boͤſes uͤber ihn ſa-
gen gehoͤrt. Mein Vater und Mutter erzaͤhlten noch
viele Jahre allerhand Loͤbliches und Schoͤnes von
ihm. Als ich ein wenig zum Verſtand kam, erin-
nerte ich mich ſeiner erſt recht, und verehrt’ ihn im
Staub und Moder. Er liegt im Kirchhof zu Krynau
begraben.


X.
Naͤchſte Folgen von des Groß-
vaters Tod
.


Nun wurde wieder eine Magd angeſchaft; die war
dem Vater recht, weil ſie brav arbeitete. Aber Mut-
ter und Großmutter konnten ſie nicht leiden, weil
ſie glaubten, ſie ſchmeichle dem Vater, und trag’
ihm alles zu Ohren. Auch war ſie kraͤtzig, ſo daß
wir alle die Raud von ihr erbten. Und kurz, die
Muͤtter ruhten nicht; ſie mußte fort, und eine andre
zu. Die war nun ihnen recht, aber dem Vater
nicht, weil ſie nur das Haus- aber nicht das Feld-
werk verſtand. Auch meinte er, ſie helfe den Wei-
bern allerhand verſchmauchen. Jetzt gab’s bald alle
Tag einen Zank. Die Weibervoͤlker ſtunden zuſam-
men; der Mann hinwieder glaubte, Er ſey einmal
Meiſter; und kurz, es ſchien als wenn der alte Naͤbis-
Joggele
[17]Joggele einen guten Theil vom Hausfrieden mit
ſich unter den Boden genommen haͤtte. Aus Ver-
druß gieng darum der Vater einſtweilig wieder dem
Salpeterſieden nach, uͤbergab die Wirthſchaft ſeinem
Bruder N. als Knecht, und glaubte mit einem ſo
nahen Blutsfreunde wohl verſorgt zu ſeyn. Er betrog
ſich. Er konnt’ ihn nur ein Jahr behalten, und
ſah noch zu rechter Zeit die Wahrheit des Spruͤch-
worts ein: Wer will daß es ihm ling, ſchau ſelber
zu ſeinem Ding! — Nun gieng er nicht mehr fort,
trat [auf’s] neue an die Spitze der Haushaltung, ar-
beitete uͤber Kopf und Hals, und hirtete die Kuͤhe
ſelber; Ich war ſein Handbub, und mußte mich brav
tummeln. Die Magd ſchafte er ab; und dingte da-
fuͤr einen Gaißenknab, da er jetzt einen Faſel Gaiſ-
ſen gekauft, mit deren Miſt er viel Waid und Wie-
ſen machte. Inzwiſchen wollten ihn die Weiber noch
immer meiſtern; das konnt’ er nicht leiden; ’s
gab wieder allerley Haͤndel. Endlich da er ein-
mal der Großmutter in der Hitz’ ein Habermußbe-
cken nachgeſchmiſſen, lief ſie davon, und gieng wie-
der zu ihren Freunden in den Naͤbis. Die Sach’
kam vor die Amtsleuth. Der Vater mußt ihr alle
Wochen 6. Batzen und etwas Schmalz geben. Sie
war ein kleines bucklichtes Fraͤulein; mir eine liebe
Großmutter; die hinwieder auch mich hielt wie ihr
rechtes Großkind; aber, die Wahrheit zu ſagen, ein
wenig wunderlich, wetterwendiſch; gieng immer den
ſogenannten Frommen nach, und fand doch niemand
recht nach ihrem Sinn. Ich mußt’ ihr alle Jahr
B
[18] die Metzgeten bringen, und blieb dann ein Paar
Tage bey ihr. Da war gut Leben: Ich ließ mir’s
ſchmecken; ihre wohlgemeinten Ermahnungen hinge-
gen zum einten Ohr ein, und zum andern wieder
aus. Gewiß kein Ruhm fuͤr mich. Aber dergleichen
Buben machen’s, leider Gott erbarm! ſo. Zuletzt
war ſie einige Jahr blind, und ſtarb endlich in der
Feuerſchwand in einem hohen Alter An. 50. 51.
oder 52. Sie vermachte mir ein Buch, Arndts
wahres Chriſtenthum
, apart. Sie war gewiß ein
gottſeliges Weib, in der Schamaten hoch eſtimirt;
und die Leuth dort ſind mir noch beſonders lieb um
ihretwillen. Auch glaub’ ich gewiß noch Gluͤck von
ihr her zu haben; denn Elternſegen ruht auf Kindern
und Kindskindern.


XI.
Allerley, wie’s ſo koͤmmt.


Unſre Haushaltung vermehrte ſich. Es kam alle
zwey Jahr gefliſſentlich ein Kind; Tiſchgaͤnger genug,
aber darum noch keine Arbeiter. Wir mußten im-
mer viel Tagloͤhner haben. Mit dem Vieh war
mein Vater nie recht gluͤcklich; es gab immer et-
was krankes. Er meinte, die ſtarken Kraͤuter auf
unſrer Waid ſeyen nicht wenig Schuld daran. Der
Zins uͤberſtieg alle Jahr die Loſung. Wir reuteten
viel Wald aus, um mehr Mattland, und Geld von
dem Holz zu bekommen; und doch kamen wir je laͤn-
ger je tiefer in die Schulden, und mußten immer
[19] aus einem Sack in den andern ſchleufen. Im Win-
ter ſollten ich, und die aͤlteſten welche auf mich folgten,
in die Schule; aber die dauerte zu Krynau nur 10.
Wochen, und davon giengen uns wegen tiefem Schnee
noch etliche ab. Dabey konnte man mich ſchon zu
allerley Nutzlichem brauchen. Wir ſollten anfangen,
Winterszeit etwas zu verdienen. Mein Vater pro-
bierte aller Gattung Geſpunſt: Flachs, Hanf, Sei-
den, Wollen, Baumwollen; auch lehrte er uns letz-
tre kaͤmbeln, Struͤmpfſtricken, u. d. g. Aber keins
warf damals viel Lohn ab. Man ſchmaͤlerte uns
den Tiſch, meiſt Milch und Milch; ließ uns lumpen
und lempen, um zu ſparen. Bis in mein ſechszehn-
tes Jahr gieng ich ſelten, und im Sommer baar-
fuß in meinem Zwilchroͤcklin zur Kirche. Alle Fruͤh-
jahr mußte der Vater mit dem Vieh oft weit nach
Heu fahren, und es theuer bezahlen.


XII.
Die Bubenjahre
.


Indeſſen kuͤmmerte mich alle dieß um kein Haar.
Auch wußt’ ich eigentlich nichts davon, und war uͤber-
haupt ein leichtſinniger Bube, wie’s je einen gab.
Alle Tag dacht’ ich dreymal ans Eſſen, und damit
aus. Wenn mich der Vater nur mit langanhalten-
der oder ſtrenger Arbeit verſchonte, oder ich eine
Weile davonlaufen konnte, ſo war mir alles recht.
Im Sommer ſprang ich in der Wieſe und an den
Baͤchen herum, riß Kraͤuter und Blumen ab, und
[20] machte Straͤuſſe wie Beſen; dann durch alles Ge-
buͤſch, den Voͤgelu nach, kletterte auf die Baͤume,
und ſuchte Neſter. Oder ich las ganze Haufen Schne-
ckenhaͤuslein oder huͤbſche Stein zuſammen. War
ich dann muͤd’, ſo ſetzt’ ich mich an die Sonne,
und ſchnitzte zuerſt Hagſtecken, dann Voͤgel, und
zuletzt gar Kuͤhe; denen gab ich Namen, zaͤunt’ ih-
nen eine Waid ein, baut’ ihnen Staͤlle, und fuͤtterte
ſie; verhandelte dann bald dies bald jenes Stuͤck,
und machte immer wieder ſchoͤnere. Ein andermal
richtete ich Oefen und Feuerherd auf, und kochte
aus Sand und Lett einen ſaubern Brey. Im Win-
ter waͤlzt’ ich mich im Schnee herum, und rutſchte
bald in einer Scherbe von einem zerbrochenen Napf,
bald auf dem bloſſen Hintern, die Gaͤhen hinunter.
Das trieb ich dann alles ſo, wie’s die Jahrszeit
mitbrachte, bis mir der Vater durch den Finger
pfiff, oder ich ſonſt merkte, daß es Zeit uͤber Zeit
war. Noch hatt’ ich keine Cameraden; doch wurd’
ich in der Schule mit einem Buben bekannt, der
oft zu mir kam, und mir allerhand Lappereyen um
Geld anbot, weil er mußte, daß ich von Zeit zu Zeit
einen halben Batzen zu Trinkgeld erhielt. Einſt
gab er mir ein Vogelneſt in einem Mausloch zu
kaufen. Ich ſah taͤglich darnach. Aber eines Tags
waren die Jungen fort; das verdroß mich mehr
als wenn man dem Vater alle Kuͤh geſtohlen haͤtte.
Ein andermal, an einem Sonntag, bracht’ er Pul-
ver mit — bisher kannt’ ich dieſen Hoͤllenſamen nicht —
und lehrte mich Feuerteufel machen. Eines Abends
[21] hatt’ ich den Einfall: Wenn ich auch ſchieſſen koͤnnte!
Zu dem Eud’ nahm ich eine alte eiſerne Brunnroͤhre,
verkleibte ſie hinten mit Leim, und machte eine Zuͤnd-
pfanne auch von Leim; in dieſe that ich dann das
Pulver, und legte brennenden Zunder daran. Da’s
nicht losgehen wollte, blies ich … Puh! Mir Feuer
und Leim alles ins Geſicht. Dieß geſchah hinterm
Haus; ich merkte wohl, daß ich was unrechtes that.
Inzwiſchen kam meine Mutter, die den Klapf ge-
hoͤrt hatte, herunter. Ich war elend bleßirt. Sie
jammerte, und half mir hinauf. Auch der Vater
hatte oben in der Waide die Flamm geſehen, weils
faſt Nacht war. Als er heimkam, mich im Bett
antraf, und die Urſache vernahm, ward er grim-
mig boͤſe. Aber ſein Zorn ſtillte ſich bald, als er
mein verbranntes Geſicht erblickte. Ich litt groſſe
Schmerzen. Aber ich verbiß ſie, weil ich ſonſt fuͤrch-
tete, noch Schlaͤge oben drein zu bekommen, und
wußte daß ich ſolche verdient haͤtte. Doch mein
Vater empfand wohl, daß ich Schlaͤge genug habe.
Vierzehn Tage ſah’ ich keinen Stich; an den Augen
hatt’ ich kein Haͤaͤrleiu mehr. Man hatte groſſe Sor-
gen wegen dem Geſicht. Endlich ward’s doch allmaͤ-
lig und von Tag zu Tag wieder beſſer. Jetzt, ſo-
bald ich vollkommen hergeſtellt war, machte der Va-
ter es mit mir, wie Pharao mit den Iſraeliten,
ließ mich tuͤchtig arbeiten, und dachte: So wuͤrden
mir die Poſſen am beßten vergehen. Er hatte Recht.
Aber damals konnt’ ich’s nicht einſehen, und hielt
ihn fuͤr einen Tyrann, wenn er mich ſo des Mor-
[22] gens fruͤh aus dem Schlaf nahm, und an das Werk
muſterte. Ich meinte, das waͤr’ eben nicht noͤthig;
die Kuͤhe gaͤben ja die Milch von ſich ſelber.


XIII.
Beſchreibung unſers Guts Dreyſchlatt.


Dreyſchlatt iſt ein wildes einoͤdes Ort, zuhinderſt
an den Alpen Schwaͤmle, Creutzegg und Aueralp;
vorzeiten war’s eine Sennwaid. Hier giebt’s immer
kurzen Sommer und langen Winter; waͤhrend letzterm
meiſt ungeheuern Schnee, der oft noch im May ein
Paar Klafter tief liegt. Einſt mußten wir noch am
H. Pfingſtabend einer neuangelangten Kuh, mit der
Schaufel zum Haus pfaden. In den kuͤrzſten Ta-
gen hatten wir die Sonn nur 5. Viertelſtunden.
Dort entſteht unſer Rotenbach, der dem Faͤſi in
ſeiner Erdbeſchreibung, und dem Walſer in ſeiner
Kart entwiſchte; ungeachtet er zweymal groͤſſer als
der Schwendi- oder Lederbach iſt, der viele Muͤh-
len, Sagen, Walken, Stampfen und Pulvermuͤhlen
treibt. Doch beym Dreyſchlatt da hat es das
herrlichſte Quellwaſſer; und wir in unſerm Hans und
Scheur aneinander hatten einen Brunnen, der nie
gefror, unterm Dach, ſo daß das Vieh den ganzen
Winter uͤber nie den Himmel ſah. — Wenn’s im
Dreyſchlatt ſtuͤrmt, ſo ſtuͤrmt’s dann recht. Wir
hatten eine gute, nicht gaͤhe Wieſe, von 40 — 50.
Klafter Heu, und eine grasreiche Waide. Auf der
Sommerſeite im Altiſchweil iſt’s ſchon fruͤher, aber
[23] auch gaͤher und raͤucher. Holz und Stroh giebt’s ge-
nug. Hinterm Haus iſt ein Sonnenrain, wo’s den
Schnee wegblaͤst, der hingegen an einem Schatten-
rain vor dem Haus im Fruͤhjahr oft noch liegen bleibt,
wenn’s an jenem ſchon Gras und Schmalzblumen hat.
Am fruͤhſten und am ſpaͤthſten Ort auf dem Gut
trift’s wohl 4. Wochen an.


XIV.
Der Geißbube
.


Ja! Ja! ſagte jetzt eines Tags mein Vater: Der
Bub waͤchst, wenn er nur nicht ſo ein Narr waͤre,
ein verzweifelter Lappe; auch gar kein Hirn. Sobald
er an die Arbeit muß, weißt er nicht mehr was er
thut. Aber von nun an muß er mir die Geiſſen huͤ-
ten, ſo kann ich den Geißbub abſchaffen. — Ach!
ſagte meine Mutter, ſo kommſt du um Geiſſen und
Bub. Nein! Nein! Er iſt noch zu jung. — Was
jung? ſagte der Vater: Ich will es drauf wagen,
er lernt’s nie juͤnger; die Geiſſen werden ihn ſchon
lehren; ſie ſind oft witziger als die Buben. Ich weiß
ſonſt doch nichts mit ihm anzufangen.


Mutter. Ach! was wird mir das fuͤr Sorg’ und
Kummer machen. Sinn’ ihm auch nach! Einen ſo
jungen Bub mit einem Faſel Geiſſen in den wilden
einoͤden Kohlwald ſchicken, wo ihm weder Steg noch
Weg bekannt ſind, und’s ſo graͤßliche Toͤbler hat.
Und wer weiß, was vor Thier ſich dort aufhalten,
und was vor ſchreckliches Wetter einfallen kann?
[24] Denk doch, eine ganze Stund weit! und bey Don-
ner und Hagel, oder wenn ſonſt die Nacht einfaͤllt,
nie wiſſen, wo er iſt. Das iſt mein Tod, und Du
mußt’s verantworten.


Ich. Nein, nein, Mutter! Ich will ſchon Sorg
haben, und kann ja drein ſchlagen wann ein Thier
kommt, und vor’m Wetter untern Felſen kreuchen,
und, wenn’s nachtet, heimfahren; und die Geiſſen
will ich, was gilt’s, ſchon paſchgen.


Vater. Hoͤrſt jetzt! Eine Woche mußt’ mir erſt
mit dem Geißbub gehen. Dann gieb wohl Achtung
wie er’s macht; wie er die Geiſſen alle heißt, und
ihnen lockt und pfeift; wo er durchfahrt, und wo
ſie die beßte Waid finden.


Ja, ja! ſagt’ ich, ſprang hoch auf, und dacht’:
Im Kohlwald da biſt du frey; da wird dir der Va-
ter nicht immer pfeifen, und dich von einer Arbeit
zur andern jagen. Ich gieng alſo etliche Tag mit
unſerm Beckle hin; ſo hieß der Bub; ein rauher,
wilder, aber doch ehrlicher Burſche. Denkt doch!
Er ſtuhnd eines Tags wegen einer Mordthat im Ver-
dacht, da man eine alte Frau, welche wahrſcheinlich
uͤber einen Felſen hinunterſtuͤrzte, auf der Creutzegg
todt gefunden. Der Amtsdiener holte ihn aus dem
Bett nach Lichtenſteig. Man merkte aber bald,
daß er ganz unſchuldig war, und er kam zu meiner
groſſen Freud noch denſelben Abend wieder heim. —
Nun trat ich mein neues Ehrenamt an. Der Va-
ter wollte zwar den Veckle als Knecht behalten;
aber die Arbeit war ihm zu ſtreng, und er nahm
[25] im Frieden ſeinen Abſchied. — Anfangs wollten mir
die Geiſſen, deren ich bis 30. Stuͤck hatte, kein gut
thun; das machte mich wild, und ich verſucht’ es,
ihnen mit Steinen und Pruͤgeln den Meiſter zu zei-
gen; aber ſie zeigten ihn mir; ich mußte alſo die
glatten Wort’ und das Streicheln und Schmeicheln
zur Hand nehmen. Da thaten ſie, was ich wollte.
Auf die vorige Art hingegen verſcheucht’ ich ſie ſo,
daß ich oft nicht mehr wußte was anfangen, wenn
ſie alle ins Holz und Geſtraͤuch liefen, und ich meiſt
rundum keine einzige mehr erblicken konnte, halbe
Tage herumlaufen, pfeifen und jolen, ſie an den
Galgen verwuͤnſchen, bruͤlen und lamentiren mußte,
bis ich ſie wieder bey einander hatte.


XV.
Wohin, und wie lang.


Drey Jahre hatte ich ſo meine Heerde gehuͤtet; ſie
ward immer groͤſſer, zuletzt uͤber 100. Koͤpf, mir
immer lieber, und ich ihnen. Im Herbſt und Fruͤh-
ling fuhren wir auf die benachbarten Verge, oft
bis zwey Stunden weit. Im Sommer hingegen
durft’ ich nirgends huͤten, als im Kohlwald; eine
mehr als Stund weite Wuͤſteney, wo kein recht Stuͤck
Vieh waiden kann. Dann gieng’s zur Aueralp,
zum Kloſter St. Maria gehoͤrig, lauter Wald,
oder dann Kohlplaͤtz und Geſtraͤuch; manches dunkle
Tobel und ſteile Felswand, an denen noch die beßte
Geißweid zu finden war. Von unſerm Dreyſchlatt
[26] weg hatt’ ich alle Morgen eine Stund Wegs zu fah-
ren, eh’ ich nur ein Thier durfte anbeiſſen laſſen;
erſt durch unſre Viehwaid, dann durch einen groſſen
Wald, u. ſ. f. u. f. in die Kreutz und Querre,
bald durch dieſe, bald durch jene Abtheilung der Ge-
gend, deren jede ich mit einem eigenen Namen
taufte. Da hieß es, im vordern Boden; dort, zwi-
ſchen den Felſen; hier in der Weißlauwe, dort im
Koͤllermelch, auf der Blatten, im Keſſel, u. ſ. f.
Alle Tag huͤtete ich an einem andern Ort, bald ſon-
nen-bald ſchattenhalb. Zu Mittag aß ich mein Broͤdt-
lin, und was mir ſonſt etwa die Mutter verſtohlen
mitgab. Auch hatt’ ich meine eigne Geiß, an der
ich ſog. Die Geißaugen waren meine Uhr. Gegen
Abend fuhr ich immer wieder den naͤmlichen Weg
nach Haus, auf dem ich gekommen war.


XVI.
Vergnuͤgen im Hirtenſtand.


Welche Luſt, bey angenehmen Sommertagen uͤber
die Huͤgel fahren — durch Schattenwaͤlder ſtreichen —
durchs Gebuͤſch Einhoͤrnchen jagen, und Vogelneſter
ausnehmen! Alle Mittag lagerten wir uns am Bach;
da ruhten meine Geiſſen zwey bis drey Stunden aus,
wann es heiß war noch mehr. Ich aß mein Mittagbrodt,
ſog mein Geißchen, badete im ſpiegelhellen Waſſer,
und ſpielte mit den jungen Gitzen. Immer hatt’
ich einen Gertel oder eine kleine Arte bey mir, und
faͤllte junge Taͤnnchen, Weiden oder Ilmen. Dann
[27] kamen meine Geiſſen haufenweis und kafelten das
Laub ab. Wenn ich ihnen Leck, Leck! rufte, dann
gieng’s gar im Galopp, und wurd’ ich von ihnen
wie eingemaurt. Alles Laub und Kraͤuter, die ſie
fraſſen, koſtete auch ich; und einige ſchmeckten mir
ſehr gut. So lang der Sommer waͤhrte, florirten
die Erd-Im-Heidel- und Brombeeren; deren hatt’
ich immer vollauf, und konnte noch der Mutter am
Abend mehr als genug nach Haus bringen. Das
war ein herrliches Labſal, bis ich mich einſt daran
bis zum Eckel uͤberfraß. — Und welch Vergnuͤgen
machte mir nicht jeder Tag, jeder neue Morgen;
wenn jetzt die Sonne die Huͤgel vergoldete, denen ich
mit meiner Heerde entgegegenſtieg; dann jenen hal-
digen Buchenwald, und endlich die Wieſen und Waid-
plaͤtze beſchien. Tauſendmal denk’ ich dran; und oft
duͤnkt’s mich, die Sonne ſcheine jetzt nicht mehr ſo
ſchoͤn. Wann dann alle anliegenden Gebuͤſche von
jubilirenden Vaͤgeln ertoͤnten, und dieſelben um mich
her huͤpften — O! Was fuͤhlt’ ich da! — Ha, ich
weiß es nicht! — Halt ſuͤſſe, ſuͤſſe Luſt! Da ſang’ und
trillerte ich dann mit, bis ich heiſer ward. Ein an-
dermal ſpuͤrte ich dieſen mutern Waldbuͤrgern durch
alle Stauden nach, ergoͤtzte mich an ihrem huͤbſchen
Gefieder, und wuͤnſchte, daß ſie nur halb ſo zahm
waͤren wie meine Geiſſen; beguckte ihre Jungen und
ihre Eyer, und erſtaunte uͤber den wundervollen Bau
ihrer Neſter. Oft fand ich deren in der Erde, im
Mooß, im Farrn, unter alten Stoͤcken, in den dick-
ſten Doͤrnen, in Felsritzen, in hohlen Tannen oder
[28] Buchen; oft hoch im Gipfel — in der Mitte —
zu aͤuſſerſt auf einem Aſt. Meiſt wußt’ ich ihrer
etliche. Das war mir eine Wonne, und faſt mein
einziges Sinn und Denken, alle Tage gewiß ein-
mal nach allen zu ſehn; wie die Jungen wuchſen,
wie das Gefiieder zunahm, wie die Alten ſie fuͤtter-
ten, u. d. g. Anfangs trug ich einige mit mir
nach Haus, oder brachte ſie ſonſt an ein bequeme-
res Ort. Aber dann waren ſie dahin. Nun ließ
ich’s bleiben, und ſie lieber groß werden — Da flo-
gen ſie mir aus. — Eben ſo viel Freuden brachten
mir meiſt auch meine Geiſſen. Ich hatte von allen
Farben, groſſe und kleine, kurz- und langhaarige,
boͤs- und gutgeartete. Alle Tage ruft’ ich ſie zwey
bis dreymal zuſammen, und uͤberzaͤhlte ſie, ob ich’s
voll habe? Ich hatte ſie gewoͤhnt, daß ſie auf mein
Zub, Zub! Leck, Leck! aus allen Buͤſchen hergeſprun-
gen kamen. Einige liebten mich ſonderbar, und gien-
gen den ganzen Tag nie einen Buͤchſenſchuß weit
von mir; und wenn ich mich verbarg, fiengen ſie
alle ein Zettergeſchrey an. Von meinem Dugloͤoͤrle
(ſo hieß ich meine Mittagsgeiß) konnt’ ich mich nur
mit Liſt entfernen. Das war ganz mein Eigen. Wo
ich mich ſetzte oder legte, ſtellte es ſich uͤber mich
hin, und war gleich parat zum Saugen oder Mel-
ken; und doch mußt’ ich’s in der beßten Sommers-
zeit oft noch ganz voll heimfuͤhren. Andremal melkt’
ich es einem Koͤhler, bey dem ich manche liebe Stund
zubrachte, wenn er Holz ſchrotete, oder Kohlhaufen
brannte.


[29]

Welch Vergnuͤgen, dann am Abend, meiner Heer-
de auf meinem Horn zur Heimreiſe zu blaſen! zuzu-
ſchauen, wie ſie alle mit runden Baͤuchen und vol-
len Eutern daſtuhnden, und zu hoͤren wie munter
ſie ſich heimbloͤckten. Wie ſtolz war ich dann, wann
mich der Vater lobte, daß ich ſo gut gehuͤtet habe!
Nun gieng’s an ein Melken; bey gutem Wetter un-
ter freyem Himmel. Da wollte jede zuerſt uͤber dem
Eimer von der druͤckenden Laſt ihrer Milch los
ſeyn, und beleckte dankbar ihren Befreyer.


XVII.
Verdruß und Ungemach.


Nicht daß lauter Luſt beym Hirtenleben waͤre. —
Potz Tauſend, Nein! Da giebt’s Beſchwerden genug.
Fuͤr mich war’s lang die empfindlichſte, des Mor-
gens ſo fruͤh mein warmes Bettlin zu verlaſſen, und
bloß und baarfuß ins kalte Feld zu marſchiren, wenn’s
zumal einen baumſtarken Reifen hatte, oder ein
dicker Nebel uͤber die Berge herabhieng. Wenn
dann dieſer gar ſo hoch gieng, daß ich ihm mit mei-
ner berganſteigenden Heerde das Feld nicht abgewin-
nen, und keine Sonn’ erreichen konnte, verwuͤnſcht’
ich denſelben in [Aegypten] hinein, und eilte was ich
eilen konnte, aus dieſer Finſterniß wieder in ein
Thaͤlchen hinab. Erhielt ich hingegen den Sieg, und
gewann die Sonne und den hellen Himmel uͤber mir,
und das groſſe Weltmeer von Nebeln, und hie und
da einen hervorragenden Berg, wie eine Inſel, unter
[30] meine Fuͤſſe — Was das dann fuͤr ein Stolz und ei-
ne Luſt war! Da verließ ich den ganzen Tag die
Berge nicht, und mein Aug konnt’ ſich nie ſatt ſchau-
en, wie die Sonnenſtrahlen auf dieſem Ocean ſpiel-
ten, und Wogen von Duͤnſten in den ſeltſamſten
Figuren ſich drauf herumtaumelten, bis ſie gegen
Abend mich wieder zu uͤberſteigen drohten. Dann
wuͤnſcht ich mir Jakobs Leiter; aber umſonſt, ich
mußte fort. Ich ward traurig, und alles ſtimmte
in meiner Trauer ein. Einſame Voͤgel flatterten matt
und mißmuͤthig uͤber mir her, und die groſſen Herbſt-
fliegen ſumſten mir ſo melancholiſch um die Ohren,
daß ich weinen mußte. Dann fror ich faſt noch mehr
als am fruͤhen Morgen, und empfand Schmerzen
an den Fuͤſſen, obgleich dieſe ſo hart als Sohlleder
waren. Auch hatt’ ich die meiſte Zeit Wunden oder
Beulen an ein Paar Gliedern; und wenn eine Bleſ-
ſur heil war, macht’ ich mir richtig wieder eine
andre; ſprang entweder auf einen ſpitzen Stein auf,
verlor einen Nagel oder ein Stuͤck Haut an einem
Zehen, oder hieb mir mit meinen Inſtrumenten
ein’s in die Finger. An’s Verbinden war ſelten zu
gedenken; und doch gieng’s meiſt bald voruͤber. —
Die Geiſſen hiernaͤchſt machten mir, wie ſchon ge-
ſagt, Anfangs groſſen Verdruß, wenn ſie mir nicht
gehorchen wollten, weil ich ihnen nicht recht zu be-
fehlen verſtuhnd. — Ferner pruͤgelte mich der Vater
nicht ſelten, wenn ich nicht huͤtete wo er mir be-
fohlen hatte, und nur hinfuhr wo ich gern ſeyn moch-
te, und die Geiſſen dann nicht das rechte Bauch-
[31] maaß heimbrachten, oder er ſonſt ein loſes Stuͤcklein
von mir erfuhr. — Dann hat ein Geißbub uͤber-
haupt viel von andern Leuthen zu leiden. Wer will aber
einen Faſel Geiſſen immer ſo in Schranken halten,
daß ſie nicht etwa einem Nachbar in die Wieſen oder
Waid gucken? Wer mit ſo viel luͤſternen Thieren
zwiſchen Korn- und Haberbrachen, Raͤb- und Kabis-
aͤckern durchfahren, daß keins kein Maulvoll verſuch-
te? Da gieng’s dann an ein Fluchen und Lamenti-
ren: Baͤrnhaͤuter! Galgenvogel! waren meine ge-
woͤhnlichen Ehrentitel. Man ſprang mir mit Ar-
ten, Pruͤgeln und Hagſtecken — einſt gar einer mit
einer Senſe nach; der ſchwur, mir ein Bein vom
Leib wegzuhauen. Aber ich war leicht genug auf
den Fuͤſſen; und nie hat mich einer erwiſchen moͤgen.
Die ſchuldigen Geiſſen wohl haben ſie mir oft er-
tappt, und mit Arreſt belegt; dann mußte mein Va-
ter hin, und ſie loͤſen. Fand er mich ſchuldig, ſo
gab’s Schlaͤge. Etliche unſrer Nachbarn waren mir
ganz beſonders widerwaͤrtig, und richteten mir man-
chen Streich auf den Ruͤcken. Dann dacht’ ich frey-
lich: Wartet nur, ihr Kerls, bis mir eure Schuh’
recht ſind, ſo will ich Euch auch die Buͤckel ſalben.
Aber man vergißt’s; und das iſt gut. Und dann
hat das Spruͤchwort doch auch ſeinen wahren Sinn:
„Wer will ein Bidermann *) ſeyn und heiſſen,
„der huͤt ſich vor Dauben und Geiſſen.„ — So
giebt es alſo freylich dieſer und anderer Widerwaͤrtig-
keiten genug in dem Hirtenſtand. Aber die boͤſen
[32] Tage werden reichlich von den guten erſetzt, wo’s
dann gewiß keinem Koͤnig ſo wohl iſt.


XVIII.
Neue Lebensgefahren.


Im Kohlwald war eine Buche; gerad uͤber einem
mehr als thurmhohen Fels herausgewachſen, ſo daß
ich uͤber ihren Stamm wie uͤber einen Steg ſpatzie-
ren, und in eine graͤßlich finſtre Tiefe hinabgucken
konnte; wo die Aeſte angiengen, ſtuhnd ſie wieder ge-
radauf. In dieſes ſeltſame Neſt bin ich oft geſtie-
gen, und hatte meine groͤßte Luſt daran, ſo in den
fuͤrchterlichen Abgrund zu ſchauen, und zu ſehn wie
ein Baͤchlein neben mir herunterſtuͤrzte, und ſich in
Staub zermalmte. Aber einſt ſchwebte mir dieſe Ge-
gend im Traum ſo ſchauderhaft vor, daß ich von da
an nicht mehr hingieng. — Ein andermal befand ich
mich mit meinen Geiſſen jenſeits der Aueralp, auf
der Duͤrrwaͤlder- Seite gegen dem Rotenſtein.
Ein Junges hatte ſich zwiſchen zween Felſen verſtie-
gen, und ließ eine jaͤmmerliche Melodie von ſich
hoͤren. Ich kletterte nach, um ihm zu helfen. Es
gieng ſo eng und gaͤh, und zick zack zwiſchen Klippen durch,
daß ich weder obſich noch niedſich ſehen konnte, und
oft auf allen Vieren kriechen mußte. Endlich ver-
ſtieg ich mich gaͤnzlich. Ueber mir ſtuhnd ein uner-
klimmbarer Fels; unter mir ſchien’s faſt ſenkrecht —
ich weiß ſelbſt nicht wie weit hinab. Ich fieng an
rufen und beten, ſo laut ich konnte. In einer klei-
nen
[33] nen Entfernung ſah ich zwey Menſchen durch eine
Wieſe marſchiren. Ich gewahrt’ es gar wohl, ſie
hoͤrten mich; aber ſie ſpotteten meiner, und giengen
ihre Straſſe. Endlich entſchloß ich mich, das Aeuſ-
ſerſte zu wagen, und lieber mit Eins des Todes zu
ſeyn als noch weiter in dieſer peinlichen Lage zu
verharren, und doch nicht lange mehr ausharren zu
koͤnnen. Ich ſchrie zu Gott in Angſt und Noth,
ließ mich auf den Bauch nieder, meine Haͤnd’ ob
ſich verſpreitet, daß ich mich an den kahlen Fels ſo
gut als moͤglich anklammern koͤnne. Aber ich war
todmuͤd, fuhr wie ein Pfeil hinunter — zum Gluͤck
war’s nicht ſo hoch als ich im Schrecken glaubte —
und blieb wunderbar ebenrecht in einem Schlund ſte-
cken, wo ich mich wieder halten konnte. Freylich
hat ich Haut und Kleider zerriſſen, und blutete an
Haͤnden und Fuͤſſen. Aber wie gluͤcklich ſchaͤtzt’ ich
mich nicht, daß ich nur mit dem Leben und unzer-
brochnen Gliedern davonkam! Mein Geißchen mag
ſich auch durch einen Sprung gerettet haben; ein-
mal ich fand’s ſchon wieder bey den uͤbrigen. — Ein
andermal, da ich an einem ſchoͤnen Sommertag mit
meiner Heerde herumgetrillert, uͤberzog ſich der Him-
mel gegen Abend mit ſchwarzen Wolken; es fieng
gewaltig an blitzen und donnern. Ich eilte nach ei-
ner Felshoͤhle — dieſe oder eine groſſe Wettertann waren
in ſolchen Faͤllen immer mein Zufluchtsort — und
rief dann meine Geiſſen zuſammen. Die, weil’s
ſonſt bald Zeit war, meinten es gelte zur Heimfahrt,
und ſprangen uͤber Kopf und Hals mir vor, daß ich
C
[34] bald keinen Schwanz mehr ſah. Ich eilte ihnen nach.
Es fieng entſetzlich an zu hageln, daß mir Kopf und
Ruͤcken von den Puͤffen ſauſten. Der Boden war
dicht mit Steinen bedeckt; ich rannte in vollem Ga-
lopp druͤber fort, fiel aber oft auf den Hintern,
und fuhr groſſe Stuͤck weit wie auf einem Schlit-
ten. Endlich in einem Wald, wo’s gaͤh’ zwiſchen
Felſen hinuntergieng, konnt’ ich vollends nicht anhal-
ten, und glitſchte bis zu aͤuſſerſt auf einen Rand,
von dem ich, wenn mich nicht Gott und ſeine guten
Engel behuͤtet haͤtten, viele Klafter tief herabgeſtuͤrzt
und zermuͤrſt worden waͤre. Jetzt ließ das Wetter
allmaͤhlig nach; und als ich nach Haus kam, waren
meine Geiſſen ſchon eine halbe Stund daheim. Et-
liche Tag lang fuͤhlt’ ich von dieſer Parthie keiner-
ley Ungemach; aber mit Eins fiengen meine Fuͤß zu
ſieden an, als wenn man ſie in einem Keſſel kochte.
Dann kamen die Schmerzen. Mein Vater ſah’ nach,
und fand mitten an der einten Fußſohle ein groß Loch,
und Mooß und Gras darinn. Nun erinnert’ ich mich
erſt, daß ich an einem ſpitzen Weißtann-Aſt aufge-
ſprungen war: Mooß und Gras war mit hineinge-
gangen. Der Aeti grub mir’s mit einem Meſſer
heraus, und verband mir den Fuß. Nun mußt’ ich
freylich ein Paar Tage meinen Gaͤiſſen langſam nach-
hinken; dann verlor ich die Binde: Koth und Dreck
fuͤllten jetzt das Loch, und es war bald wieder beſ-
ſer. — Viel andre Mal, wenn’s durch die Felſen
gieng, liefen die Thiere ob mir weg, und rollten
groſſe Stein herab, die mir hart an den Ohren vor-
[35] beypfiffen. Oft ſtieg ich einem Waͤlſchtraubenknoͤpfli,
Frauenſchuͤhlin, oder andern Bluͤmchen uͤber Klippen
nach, daß es eine halsbrechende Arbeit war. Wie-
der zuͤndete ich groſſe, halbverdorrte Tannen von un-
ten an, die bisweilen acht bis zehen Tag an einan-
der fortbrannten, bis ſie fielen. Alle Morgen und
Abend ſah ich dann nach, wie’s mit ihnen ſtuhnd.
Einſt haͤtte mich eine maustodt ſchlagen koͤnnen:
Denn indem ich meine Geiſſen forttrieb, daß ſie nicht
getroffen wuͤrden, krachte ſie hart an mir iu Stuͤ-
cken zuſammen. — So viele Gefahren drohten mir
waͤhrend meinem Hirtenſtand mehrmal, Leibs und
Lebens verlurſtig zu werden, ohne daß ich’s viel ach-
tete, oder doch alles bald wieder vergaß, und leyder
damals nie daran dachte, daß du allein es warſt,
mein unendlich guter himmliſcher Vater und Erhal-
ter! der in den Winkeln einoͤder Wuͤſte die Raben
naͤhrt, und auch Sorge fuͤr mein [junges] Leben trug.


XIX.
Kameradſchaft
.


Mein Vater hatte bisweilen aus der Gaißmilch
Kaͤſe gemacht, bisweilen Kaͤlber geſaͤugt, und ſeine
Wieſen mit dem Miſt geaͤufnet. Dieß reitzte unſre
Nachbarn, daß ihrer Vier auch Gaiſſen anſchaften,
und beym Kloſter um Erlaubniß baten, ebenfalls im
Kohlwald huͤten zu duͤrfen. Da gab’s nun Kame-
radſchaft. Unſer drey oder vier Gaißbuben kamen
alle Tag zuſammen. Ich will nicht ſagen, ob ich
[36] der beßte oder ſchlimmſte unter ihnen geweſen — aber
gewiß ein purer Narr gegen die andern — bis auf
einen, der ein gutes Buͤrſchgen war. Einmal die
uͤbrigen alle gaben uns leider kein gutes Exempel.
Ich wurde ein Bißlein witziger, aber deſto ſchlim-
mer. Auch ſah’s mein Vater gar nicht gern, daß
ich mit ihnen laichte; und ſagte mir, ich ſollte lie-
ber allein huͤten, und alle Tag auf eine andre Ge-
gend treiben. Aber Geſellſchaft war mir zu neu und
zu angenehm; und wenn ich auch etwa einen Tag
den Rath befolgte, und hoͤrte dann die andern huͤpen
und jolen, ſo war’s, als wenn mich ein Paar beym
Rock zerrten, bis ich ſie erreicht hatte. Bisweilen
gab’s Zaͤnkereyen; dann fuhr ich wieder einen Mor-
gen allein, oder mit dem guten Jacoble; von dem
hab’ ich ſelten ein unnuͤtzes Wort gehoͤrt, aber die
andern waren mir kurzweiliger. Ich haͤtte noch viele
Jahre fuͤr mich koͤnnen Gaiſſen huͤten, eh’ ich den
Zehntheil von dem allem inne worden waͤre, was ich
da gar in Kurzem vernahm. Sie waren alle groͤſ-
ſer und aͤlter als ich — faſt aufgeſchoſſene Bengel,
bey denen ſchon alle argen Leidenſchaften aufgewacht.
Schmutzige Zotteu waren alle ihre Reden, und un-
zuͤchtig alle ihre Lieder; bey deren Anhoͤren ich frey-
lich oft Maul und Augen aufthat, oft aber auch
aus Schaamroͤthe niederſchlug. Ueber meinen bis-
herigen Zeitvertrieb lachten ſie ſich die Haut voll.
Spaͤne und junge Voͤgel galten ihnen gleich viel,
auſſert wenn ſie glaubten Geld aus einem zu loͤſen;
ſonſt ſchmiſſen ſie dieſelben ſamt den Neſtern fort.
[37] Das that mir Anfangs weh; doch macht’ ich’s
bald mit. So geſchwind konnten ſie mich hinge-
gen nicht uͤberreden, ſchaamlos zu baden wie ſie.
Einer beſonders war ein rechter Unflath; aber ſonſt
weder ſtreit- noch zankſuͤchtig, und darum nur deſto
verfuͤhrerſcher. Ein andrer war auf alles verpicht,
womit er einen Batzen verdienen konnte; der liebte
darum die Voͤgel mehr als die andern, die naͤmlich
welche man ißt; ſuchte allerley Waldkraͤuter, Harz,
Zunderſchwamm, u. d. g. Von dem lernt’ ich man-
che Pflanze kennen; aber auch, was der Geitz iſt.
Noch einer war etwas beſſer als die ſchlimmern;
er machte mit, aber furchtſam. Jedem gieng ſein
Hang ſein Lebenlang nach. Jacoble iſt noch ein
guter Mann; der andre blieb immer ein geiler Schwaͤ-
tzer, und ward zuletzt ein miſerabler hinkender Tropf;
der dritte hatte mit Liſt und Raͤnken etwas erwor-
ben, aber nie kein Gluͤck dabey. Vom Vierten weiß
ich nicht wo er hinkommen iſt.


XX.
Neue ſonderbare Gemuͤthslage, und
End des Hirtenſtands
.


Daheim durft’ ich nichts merken laſſen von dem,
was ich bey dieſen Cameraden ſah’ und hoͤrte; ge-
noß aber nicht mehr meine vorige Froͤhlichkeit und
Gemuͤthsruhe. Die Kerls hatten Leidenſchaften in
mir rege gemacht, die ich noch ſelbſt nicht kannte —
und doch merkte, daß es nicht richtig ſtuhnd. Im
[38] Herbſt, wo die Fahrt frey war, huͤtete ich meiſt
allein; trug ein Buͤchlein, das mir bloß darum jetzt
noch lieb iſt, bey mir, und laſ oft darinn. Noch
weiß ich verſchiedene ſonderbare Stellen auswendig,
die mich damals bis zu Thraͤnen ruͤhrten. Jetzt
kamen mir die boͤſen Neigungen in meinem Buſen
abſcheulich vor, und machten mir angſt und bang.
Ich betete, rang die Haͤnde, ſah zum Himmel, bis
mir die hellen Thraͤnen uͤber die Backen rollten; faßte
einen Vorſatz uͤber den andern, und machte mir ſo
ſtrenge Plaͤne fuͤr ein kuͤnftiges frommes Leben, daß
ich daruͤber allen Frohmuth verlor. Ich verſagte mir
alle Arten von Freude, und hatte z. E. lang einen
ernſtlichen Kampf mit mir ſelber wegen einem Diſtel-
fink der mir ſehr lieb war, ob ich ihn weggeben oder
behalten ſollte? Ueber dieſen einzigen Vogel dacht’ ich
oft weit und breit herum. Bald kam mir die Fromm-
keit, wie ich mir ſolche damals vorſtellte, als ein
unerſteiglicher Berg, bald wieder federleicht vor.
Meine Geſchwiſter mocht’ ich herzlich lieben; aber je
mehr ich’s wollte, je mehr ſah ich Widriges an ih-
nen. In Kurzem wußt’ ich weder Anfang noch End
mehr; und niemand war der mir heraushelfen konnte,
da ich meine Lage keiner Menſchenſeele entdeckte. Ich
machte mir alles zur Suͤnde: Lachen, Jauchzen und Pfei-
fen per ſe. Meine Gaißen ſollten mich nicht mehr
erzoͤrnen duͤrfen — und ich ward eher boͤſer auf ſie.
Eines Tags bracht’ ich einen todten Vogel nach Haus,
den ein Mann geſchoſſen, und auf einem Stecken
in die Wieſe aufgeſteckt hatte: Ich nahm ihn, wie
[39] ich in dem Augenblick waͤhnte, mit gutem Gewiſſen
weg; ohne Zweifel weil mir ſeine zierliche Federn vorzuͤg-
lich wohl gefielen. Aber, ſobald mir der Vater ſagte:
Das heiſſe auch geſtohlen, waint’ ich bitterlich — und
hatte dießmal recht — und trug das Aeschen Mor-
gens darauf in aller Fruͤhe wieder an ſein Ort. Doch
behielt ich etliche von den ſchoͤnſten Federn; aber
auch dieſes koſtete mich noch ziemlich Ueberwindung.
Doch dacht’ ich: Die Federn ſind nun ausgerupft;
wenn du’s ſchon auch hintraͤgſt, ſo verblaſt ſie der
Wind; und dem Mann nuͤtzen ſie ſo nichts. — Bis-
weilen fieng ich wieder an zu jauchzen und zu jolen,
und trollte aufs neue ſorglos uͤber alle Berge. Dann
dacht’ ich: So Alles Alles verlaͤugnen, bis auf
meine ſelbſtgeſchnitzelten hoͤlzernen Kuͤhe — wie ich
mir damals den rechten Chriſtenſinn ganz buchſtaͤb-
lich vorſtellte — ſey doch ein traurig elendes Ding.
Indeſſen wurde der Kohlwald von den immer zu-
nehmenden Gaiſſen uͤbertrieben; die Roſſe die man
auf den fettern Grasplaͤtzen waiden ließ bisweilen
von den Gaiſſenbuben verfolgt, geſprengt u. d. g.
Einmal legten die Burſche ihnen Neſſeln unter die
Schwaͤnze; ein Paar ſtuͤrzten ſich im Lauf uͤber einen
Felſen zu tod. Es gab ſchwere Haͤndel, und das
Huͤthen im Kohlwald wurde gaͤnzlich verboten. Ich
huͤthete darauf noch eine Weile auf unſerm eignen
Gut. Dann loͤſte mich mein Bruder ab. Und ſo
nahm mein Hirtenſtand ein Ende.


[40]

XXI.
Neue Geſchaͤfte, neue Sorgen.


(1747.)


Denn nun hieß es: Eingeſpannt in den Karrn mit
dem Buben, in’s Joch — Er iſt groß genug! —
Wirklich tummelte mich mein Vater meiſterlich her-
um; in Holz und Feld ſollt’ ich ihm ſtatt eines voll-
kommnen Knechtes dienen. Die mehrern Mal uͤber-
lud er mich; ich hatte die Kraͤfte noch nicht, die er
mir nach meiner Groͤſſe zutraute; und doch wollt’
ich dann ſtark ſeyn, und keine ſchwere Buͤrde liegen
laſſen. In Geſellſchaft von ihm oder mit den Tag-
loͤhnern arbeitete ich gern; aber ſobald er mich allein
an ein Geſchaͤft ſchickte, war ich faul und laͤßig, ſtaunte
Himmel und Erde an, und hieng, ich weiß ſelbſt
nicht mehr was vor allerley Gedanken und Grillen
nach; das freye Gaißbubenleben hatte mich halt ver-
woͤhnt. Das zog mir dann Scheltwort oder gar
Streiche zu; und dieſe Strenge war noͤthig, obſchon
ich’s damals nicht faſſen konnte. Im Heuet beſon-
ders gab’s bisweilen faſt unertraͤgliche Buͤrden. Oft
ſtreckt’ ich mich vor Mattigkeit, und faſt zerſchmol-
zen von Schweiß, der Laͤnge noch auf dem Boden
und dachte: Ob’s wohl auch in der Welt uͤberall ſo
muͤhſelig zugehe? Ob ich mich grad’ itzt aus dem
Staub machen ſollte? Es werde doch an andern Or-
ten auch Brod geben, und nicht gleich Henken gel-
ten: Ich haͤtte auf der Kreutzegg beym Gaißhuͤten
[41] mehrere ſolche Burſche geſehen, denen’s auſſer ihrem
Vaterland, wie ſie mir erzaͤhlten, recht wohl gegan-
gen — und was des Zeugs mehr war. Dann aber
fand ich wieder: Nein! Es waͤre doch Suͤnd, von
Vater und Mutter wegzulaufen: Wie? wenn ich ih-
nen ein Stuͤck Boden abhandeln, es bauen, brav
Geld daraus ziehen, dann aus der Loſung ein Haͤus-
gen drauf ſtellen, und ſo vor mich leben wuͤrde?
Huſch! ſagt ich eines Tags, das muß jetzt ſeyn! —
Aber, wenn mir’s der Aeti abſchlaͤgt? — Ey! friſch
gewagt, iſt halb gewonnen. Ich nahm alſo das Herz
in beyde Haͤnd’, und bat den Vater noch deſſelben
Abends, daß er mir ein gewiſſes Stuͤcklein Lands abtre-
ten ſollte. Nun ſah er freylich meine Narrheit wohl ein;
aber er ließ mich’s nicht merken, und fragte nur: Was
ich dann damit anfangen wollte? „Ha„! ſagt ich,
„es in Ehren legen, Mattland daraus machen, und
„den Gewinn davon beyſeiterhun.„ Ohne ein
mehreres Wort zu verlieren, ſprach er dann: „So
„nimm eben die Zipfelwaid; ich geb ſie dir um
„fuͤnf Gulden.„ Das war nun ſpottwohlfeil; hier
zu W. waͤr’ ſo ein Grundſtuͤck mehr als hundert
Gulden werth. Ich ſprang darum vor Freuden hoch
auf, und fieng ſogleich die neue Wirthſchaft an.
Den Tag uͤber arbeitete ich fuͤr den Vater; ſobald
der Feyrabend kam, vor mich; ſogar beym Mond-
ſchein, da macht ich aus dem noch vor Nacht gehaue-
nen Holz und Stauden kleine Burden von Brenn-
holz zum Verkaufen. Eines Abends dacht’ ich ſo
meiner jetzigen Lage nach; mir fiel ein: „Deine
[42] „Zipfelwaid iſt gar wohlfeil! Es koͤnnte den Vater
„reuen, und er’s wieder an ſich ziehen, wenn ich
„ihm den Kaufſchilling nicht baar erlege. Ich muß
„um Geld ſchauen, ſo kann er mir nicht mehr ab
„der Hand gehn.„ Ich gieng alſo zum Nachbar
Goͤrg, erzaͤhlt’ ihm den ganzen Handel, und bat
ihn mir die 5. fl. zu liehen; ich woll’ ihm bis auf
Wiederbezahlung mein Land dafuͤr zum Pfand einſe-
tzen. Er gab mir’s ohne Bedenken. Ganz entzuͤckt
lief ich damit zum Vater, und wollt’ ihn ausbe-
zahlen. Potz hundert! wie der mich abſchneutzte:
„Wo haſt du das Geld her?„ Es fehlte wenig,
ſo haͤtt’ es noch Ohrfeigen oben drein geſetzt. Im er-
ſten Augenblick begriff ich nicht was ihn ſo entſetz-
lich boͤs mache. Aber er erklaͤrte mir’s bald, da er
fortfuhr: „Du Baͤrnhaͤuter! Mir mein Guͤt zu ver-
„pfaͤnden„! riß mir dann die fuͤnf Gulden aus der
Hand, rannte im [Augenblick] zu Goͤrg, und gab ſie
ihm wieder, mit Bedeuten: Daß er, ſo lieb ihm
Gott ſey! ſeinem Buben kein Geld mehr liehe; Er
woll’ ihm ſchon geben was er brauche, u. ſ. f. — So
war meine Freude kurz. Der Aeti, nachdem er
bald wieder beſaͤnftigt war, mocht mir lang ſagen:
„Ich brauch ihm das Ding gar nicht zu zahlen; ich
„koͤnn’ ihm ja ein billiges Zinslein geben: Der
„Schlempen Waid werde die Sach nicht aus-
„machen; ich ſoll nur damit ſchalten und walten wie
„mit meinem Eigenthum.„ Ich konnt’ es ihm
nicht glauben; denn er lachte dabey immer hinten im
Maul. Das war mir verdaͤchtig. Aber er hatte gu-
[43] ten Grund dafuͤr. Endlich fieng ich einfaͤltiger Toͤl-
pel an, mich wieder zu beruhigen; und machte aufs
neue die Rechnung hinterm Wirth, was ich aus dem
Bletz mit der Zeit vor Nutzen ziehen wollte — als
eines Tags mir die Kuͤhe in mein Aeckerlein brachen,
den jungen Saamen abfraſſen, auch mein Holz eben
damals keine Kaͤufer fand, und mir faſt alles liegen
blieb. Solche gehaͤufte Ungluͤcksſtreiche nahmen mir
nun mit Eins den Muth; ich uͤberließ den ganzen
Plunder wieder dem Vater, und bekam von ihm zur
Entſchaͤdigung ein flanellenes Bruſttuch.


XXII.
O der unſeligen Wißbegierde.


Ich bin in meinen Kinderjahren nur wenige Wochen
in die Schule gegangen; bey Haus hingegen man-
gelte es mir gar nicht an Luſt, mich in mancherley
unterweiſen zu laſſen. Das Auswendiglernen gab
mir wenig Muͤh: Beſonders uͤbt’ ich mich fleißig
in der Bibel; konnte viele darinn enthaltene Geſchich-
ten aus dem Stegreif erzaͤhlen, und gab ſonſt uͤber-
haupt auf alles Achtung, was mein Wiſſen vermeh-
ren konnte. Mein Vater las’ auch gern etwas Hi-
ſtoriſches oder Myſtiſches. Gerad um dieſe Zeit gieng
ein Buch aus, der fluͤchtige Pater genannt. Er
und unſer Nachbar Haus vertrieben ſich manche liebe
Stunde damit, und glaubten an den darinn prophe-
zeyten Fall des Antichriſts, und die dem End der
Welt vorgehnden nahen Strafgerichte, wie an’s Evan-
[44] gelium. Auch Ich las’ viel darinn; predigte etlichen
unſrer Nachbarn mit einer aͤngſtlich andaͤchtigen Miene,
die Hand vor die Stirn geſtemmt, halbe Abende aus
dem Pater vor, und gab ihnen alles vor baare Muͤnz
aus; und dieß nach meiner eignen voͤlligſten Ueber-
zeugung. Mir ſtieg nur kein Gedanke auf, daß ein
Menſch ein Buch ſchreiben koͤnnte, worinn nicht alles
pur lautere Wahrheit waͤre; und da mein Vater und
der Hans nicht daran zweifelten, ſchien mir alles vol-
lends Ja und Amen zu ſeyn. Aber das brachte
mich dann eben auf allerley jammerhafte Vorſtellun-
gen. Ich wollte mich gern auf den bevorſtehnden
Juͤngſten Tag recht zubereiten; allein da fand ich
entſetzliche Schwierigkeiten, nicht ſo faſt in einem boͤ-
ſen Thun und Laſſen, als in meinem oft argen Sinn
und Denken. Dann wollt ich mir wieder Alles aus
dem Kopf ſchlagen; aber vergebens, wenn ich zumal
unterweilen auch in der Offenbarung Johannis oder
im Propheten Daniel [las], ſo ſchien mir alles das,
was der Pater ſchrieb, vollends gewiß und unfehl-
bar. Und was das Schlimmſte war, ſo verlor ich
ob dieſer Ueberzeugung gar alle Freud’ und Muth.
Wenn ich dann im Gegentheil den Aeti und den
Nachbar faſt noch froͤhlicher ſah als zuvor, machte
mich ſolches gar confus; und kann ich mir’s noch
itzund nicht erklaͤren, wie das zugieng. So viel weiß
ich wohl, ſie ſteckten damals beyde in ſchweren Schul-
den, und hoften vielleicht durch das End der Welt
davon befreyt zu werden: Wenigſtens hoͤrt’ ich ſie
oft vom Neuſunden Land, Carolina, Penſylyani
[45] und Virgini ſprechen; ein andermal uͤberhaupt von
einer Flucht, vom Auszug aus Babel, von den Rei-
ſekoſten u. dgl. Da ſpitzt ich dann die Ohren wie
ein Haas. Einmal, erinnr’ ich mich, fiel mir wirk-
lich ein gedrucktes Blatt in die Haͤnde, das einer
von ihnen auf dem Tiſch liegen ließ, und welches
Nachrichten von jenen Gegenden enthielt. Das laſ’
ich wohl hundertmal; mein Herz huͤpfte mir im Leib
bey dem Gedanken an dieß herrliche Canaan, wie
ich mir’s vorſtellte. Ach! wenn wir nur alle ſchon
da waͤren, dacht’ ich dann. Aber die guten Maͤnner,
denk’ ich, wußten eben ſo wenig als ich, weder Steg
noch Weg; und wahrſcheinlich noch minder, wo das
Geld herzunehmen. Alſo blieb das ſchoͤne Abentheur
ſtecken, und entſchlief nach und nach von ſelbſt. In-
deſſen laſ ich immer fleißig in der Bibel; doch noch
mehr in meinem Pater, und andern Buͤchern; un-
ter anderm in dem ſogenannten Pantli Karrer,
und dann in dem weltlichen Liederbuch, deſſen Titel
mir entfallen iſt. Sonſt vergaß ich, was ich geleſen,
nicht ſo bald. Allein mein unruhiges Weſen nahm
dabey ſichtbarlich zu, ſo ſehr ich mich auf mancher-
ley Weiſe zu zerſtreuen ſuchte; und, was das Schlimm-
ſte war, ſo hat ich das Herz nie, dem Pfarrer, oder
auch nur dem Vater hievon das Mindeſte zu offen-
baren.


[46]

XXIII.
Unterweiſung
.


(1752.)


Indeſſen wundert’ es mich doch bisweilen ſehr, wie
mein Vater und der Pfarrer von dieſem und jenem
Spruch in der Bibel, von dieſem und jenem Buͤch-
lin denke. Letztrer kam oft zu uns, ſelbſt zu Win-
terszeit, wenn er ſchier im Schnee ſtecken blieb. Da
war ich ſehr aufmerkſam auf alle Discurſe, und
merkte bald, daß ſie meiſt bey Weitem nicht einerley
Meinung waren. Anfangs kam’s mir unbegreiflich
vor, wie doch der Aeti ſo frech ſeyn, und dem Pfar-
rer widerſprechen duͤrfe? Dann dacht ich auf der
andern Seite wieder: Aber mein Vater und der
fluͤchtige Pater zuſammen ſind doch auch keine Narren,
und ſchoͤpfen ihre Gruͤnde ja wie jener aus der glei-
chen Bibel. Das ging dann in meinem Sinn ſo hin
und her, bis ich’s etwa wieder vergaß, und andern
Fantaſeyen nachhieng. Inzwiſchen kam ich in dem
naͤmlichen Jahr zu dieſem Pfarrer, Heinrich Naͤf
von Zuͤrich, in die Unterweiſung zum H. Abendmal.
Er unterrichtete mich ſehr gut und gruͤndlich, und
war mir in der Seele lieb. Oft erzaͤhlt’ ich meinem
Vater ganze Stunden lang, was er mit mir geredet
hatte; und meynte dann, er ſollte davon ſo geruͤhrt
werden wie ich. Bisweilen that er, mir zu gefallen,
wirklich dergleichen *); aber ich merkte wohl, daß
[47] es ihm nicht recht zu Herzen gieng. Doch ſah ich auch,
daß er uͤberhaupt Wohlgefallen an meinen Empfin-
dungen und an meiner Aufmerkſamkeit hatte. Nach-
werts ward dieſer Heinrich Naͤf Pfarrer gen Hum-
brechtikon
am Zuͤrichſee; und ſeither, glaub’ ich,
kam er noch naͤher an die Stadt. Noch auf den
heutigen Tag iſt meine Liebe zu ihm nicht erloſchen.
Viel hundertmal denk’ ich mit geruͤhrter Seele an
dieſes redlichen Manns Treu und Eifer; an ſeinen
liebevollen Unterricht, welchen ich von ſeinen holdſe-
ligen Lippen ſog, und den mein damals gewiß auch
fuͤr das Gute weiche und empfaͤngliche Herz ſo begie-
rig aufnahm. — O der redlichen Vorſaͤtze und hei-
ligen Entſchluͤſſe, die ich ſo oft in dieſen unvergeßli-
chen Stunden faßte! Wo feyt ihr geblieben? Wel-
chen Weg ſeyt ihr gegangen? Ach! wie oft ſeyt ihr
von mir zuruͤckgerufen, und dann leider doch wieder
verabſcheidet worden! — O Gott! Wie freudig gieng
ich ſtets aus dem Pfarrhauſe heim, nahm gleich das
Buch wieder zur Hand, und erfriſchte damit das
Angedenken an die empfangenen heilſamen Lehren.
Aber dann war eben bald alles wieder verflogen.
Doch ſelbſt in ſpaͤtern Tagen — ſogar in Augen-
blicken, wo Lockungen von allen Seiten mir die ſuͤſſe-
ſten Minen machten, und mich bereden wollten,
das Schwarze ſey wo nicht Weiß, doch Grau —
ſtiegen mir meines ehemaligen Seelſorgers treuge-
meinte Warnungen noch oft zu Sinn, und halfen
mir in manchem Scharmuͤtzel mit meinen Leiden-
ſchaften, den Sieg erringen. Was ich mir aber noch
[48] zu dieſer Stunde am wenigſten vergeben kann, iſt
mein damaliges oͤfteres Heucheln, und daß ich, ſelbſt
wenn ich mir keines eigentlichen Boͤſen bewußt war,
doch immer noch beſſer ſcheinen wollte, als ich zu
ſeyn mich fuͤhlte. Endlich — ich weiß es ſelbſt nicht —
war vielleicht auch das ein Tuck des armen Herzens:
Daß ich z. E. oft, und zwar wenn ich ganz allein
bey der Arbeit war, wirklich mit groͤſſerer Luſt et-
liche geiſtliche Lieder, die ich von meiner Mutter
gelernt, als meine weltlichen Quodlibet ſang —
dann aber freylich allemal wuͤnſchte: Daß mich mein
Vater itzt auch hoͤren moͤchte, wie er mich ſonſt
meiſt nur uͤber meinem loſen Lirum Larum ertapp-
te. O wie gut waͤr’s fuͤr Eltern und Kinder, wenn
ſie mehr, und ſo viel immer moͤglich, beyſammen waͤren.


XXIV.
Neue Cameradſchaft
.


Uebrigens hatte der Pfarrer in ſeinem kleinen Kry-
nau
, gedachtes Jahr 1752. neben mir nur einen ein-
zigen Buben in der Unterweiſung. Dieſer hieß H. B.
ein fuchsrother Erzſtockfiſch. Wenn ihn der Heer
was fragte, hielt der Burſch’ immer ſein Ohr an
mich, daß ich’s ihm einblaſen ſollte. Was man ihm
hundertmal ſagte, vergaß er hundertmal wieder. Am
H. Abend, da man uns der Gemeind vorſtellte, war
er vollends ganz verſtummt. Ich mußte darum faſt
aneinander antworten, von 2. bis 5. Uhr. Im Jahr
zuvor hingegen ward ein andrer Knab, J. W. un-
terwieſen
[49] terwieſen; ein gar geſchicktes Buͤrſchlin, der die Bi-
bel und den Cateciſt vollkommen inne hatte. Mit
dem macht’ ich um dieſe Zeit Bekanntſchaft. Von
Angeſicht war er zwar etwas haͤßlich; die Kinder-
blattern hatten ihn jaͤmmerlich zugerichtet; aber ſonſt
ein Kind wie die liebe Stunde. Er hatte einen ge-
ſpraͤchigen Vater, von dem er viel lernte, der aber
daneben nicht der Beßte, und beſonders als ein
Erzluͤger beruͤhmt war. Der konnt’ Euch Stunden
lang die abentheurlichſten Dinge erzaͤhlen, die weder
geſtoben noch geflogen waren; ſo daß es zum Spruͤch-
wort wurde, wenn einer etwas Unwahrſcheinliches
ſagt: „Das iſt ein W. — Lug!„ Wenn er redete,
rutſchte er auf dem Hintern beſtaͤndig hin und her.
Von ſeinen Fehlern hatte ſein kleiner J. keinen ge-
erbt; das Luͤgen am allerwenigſten. Jedermann liebte
ihn. Mir war er die Kron in Augen. Wir fiengen
an uͤber allerley Sachen kleine Brieflin zu wechſeln,
gaben einander Raͤthſel auf, oder ſchrieben uns Verſe
aus der Bibel zu, ohne Spezification wo ſie ſtuͤhn-
den; da mußte dann ein jeder ſelbſt nachſchlagen. Oft
hielt es ſehr ſchwer, oder gar unmoͤglich; in den
Pſalmen und Propheten zumal, wo die Verslin meiſt
erſtaunlich kurz, und viele faſt gleichlautend ſind.
Bisweilen ſchrieben wir einander von allen Thieren,
welche uns die liebſten ſeyen; dann von allerhand Spei-
ſen, welche uns die beßten duͤnken; dann wieder von
Kleidungsſtuͤcken, Zeug und Farben, welche uns die
angenehmſten waͤren, u. ſ. f. Und da bemuͤhte ſich
je einer den andern an Anmuth zu uͤbertreffen. Oft
D
[50] mocht’ ich’s kaum erwarten, bis wieder ſo ein Brief-
lin von meinem W. kam. Er war mir darin noch
viel lieber als in ſeinem perſoͤnlichen Umgang. So
dauerte es lange, bis einſt ein unverſchaͤmter Nach-
bar allerley wuͤſte Sachen uͤber ihn ausſprengte:
Denn, obſchon ich’s nicht glaubte, verringerte ſich
nun (es iſt doch wunderbar!) meine Zuneigung ge-
gen ihn von dem Augenblick an. Ein Paar Jahre
nachher (es war vielleicht ein Gluͤck fuͤr uns beyde)
fiel er in eine Krankheit, und ſtarb. — Ein andrer
unſrer Nachbarn, H. hatte auch Kinder von meinem
Alter: Aber mit denen konnt’ ich nichts; ſie waren
mir zu witznaſigt, arge Foͤrſchler und Fraͤgler. —
Um dieſe Zeit gab mir Nachbar Joggli heimlich
um 3. Kr. eine Tabackspfeife zu kaufen, und lehrte
mich ſchmauchen. Lange mußt’ ich’s im Geheim
thun, bis einſt ein Zahnweh mir den Vorwand ver-
ſchaffte, es von dieſer Zeit an oͤffentlich zu treiben.
Und, o der Thorheit! darauf bildete ich mir nicht
wenig ein.


XXV.
Damalige haͤusliche Umſtaͤnde.


Unterdeſſen war unſre Familie bis auf acht Kinder
angewachſen. Mein Vater ſtack je laͤnger je tiefer
in Schulden, ſo daß er oft nicht wußte wo aus noch
an. Mir ſagte er nichts; aber mit der Mutter hielt
er oft heimlich Rath. Davon hoͤrt’ ich eines Tags
ein Paar Worte, und merkte nun die Sache ſo halb
[51] und halb. Allein, es focht mich eben wenig an: Ich
gieng leichtſinnig meinen kindiſchen Gang, und ließ
meine armen Eltern inzwiſchen uͤber hundert unaus-
fuͤhrbaren Projekten ſich den Kopf zerbrechen. Unter
dieſen war auch der einer Wanderung ins Gelobte
Land, zu meinem groͤßten Verdruſſe — zu Waſſer
worden. Endlich entſchloß ſich mein Vater, alle
ſeine Habe ſeinen Glaͤubigern auf Gnad und Ungnad
zu uͤbergeben. Er berief ſie alſo eines Tags zuſam-
men, und entdeckte ihnen mit Wehmuth, aber red-
lich, ſeine ganze Lage, und bat ſie: In Gottes
Namen Haus und Hof, Vieh, Schiff und Geſchirr
zu ihren Handen zu nehmen, und ſeinetwegen ihn,
nebſt Weib und Kindern, bis aufs Hemd auszuzie-
hen; er wolle ihnen noch dafuͤr danken, wenn ſie
nur einmal ihn der unertraͤglichen Laſt entledigen.
Die meiſten aus ihnen (und ſelbſt diejenigen welche
ihm mit Treiben am unerbittlichſten zugeſetzt hatten)
erſtaunten uͤber dieſen Vortrag. Sie unterſuchten
Soll und Haben; und das Facit war, daß ſie die
Sachen bey weitem nicht ſo ſchlimm fanden, als ſie
ſich’s vorgeſtellt; ſo daß ſie ihn alle wie aus Einem
Munde baten: Er ſoll doch nicht ſo klaͤglich thun,
guten Muths ſeyn, ſich tapfer wehren, und ſeine
Wirthſchaft nur ſo emſig treiben wie bisher; ſie wol-
len gern Geduld mit ihm tragen, und ihm noch aus
allen Kraͤften berathen und beholfen ſeyn: Er habe
eine Stube voll braver Kinder; die werden ja alle
Tag’ groͤſſer, und koͤnnen ihm an die Hand gehn;
was er mit dieſen armen Schaafen drauſſen in der
[52] weiten Welt anfangen wollte? u. ſ. f. u. f. Allein
mein Vater unterbrach ſie in dieſen liebreichen Aeuſ-
ſerungen ihres Mitleids alle Augenblick’: „Nein,
„um Gottes Willen, Nein! — Nehmt mir doch die
„entſetzliche Burde ab — Das Leben iſt mir ſo ganz
„erleidet! — Auf’s Beſſerwerden hoft’ ich nun ſchon
„dreyzehn Jahr vergebens. — Und kurz, bey unſerm
„Gut hab’ ich nun einmal weder Gluͤck noch Stern. —
„Mit ſauerm Schweiß, und ſo vielen ſchlafloſen Naͤch-
„ten, grub’ ich mich nur immer tiefer in die Schul-
„den hinein. — Geb wie ich’s machte, da half
„Hauſen und Sparen, Hunger und Mangel leiden,
„bis aufs Blut arbeiten, kurz Alles und Alles nichts. —
„Beſonders mit dem Vieh wollt’s mir durchaus nie
„gelingen. Verkauft’ ich die Kuͤh’ um das Futter
„verſilbern zu koͤnnen, und daraus meine Zinſe zu
„beſtreiten, ſo hatt’ ich dann mit meiner Haushal-
„tung, die auſſer dem Guͤterarbeiten keinen Kreu-
„zer verdienen konnte, nichts zu eſſen, wenn ich
„gleich die halbe Loſung wieder in andre Speiſen
„ſteckte. — Schon von Anfang an mußt’ ich immer
„Tagloͤhner halten, Geld entlehnen, und aus einem
„Sack in den andern ſchleuffen, bis ich endlich mich
„nicht mehr zu kehren wußte. — Noch einmal, um
„Gottes Willen! Da iſt all mein Vermoͤgen. Nehmt,
„was Ihr findet, und laßt mich nur ruhig meine
„Straſſe ziehn. Mit meinen aͤltern Kindern wird’s
„mir wohl moͤglich werden, uns allen ein ſchmales
„Stuͤcklein Brod zu erwerben. Und wer weiß, was
„der l. Gott uns noch fuͤr die Zukunft beſcheert
[53] „hat!„ Als nun endlich unſere Glaͤubiger ſahen,
daß mit meinem Vater anders nichts anzufangen
waͤre, nahmen ſie das Dreyſchlatt mit aller Zu-
behoͤrd gemeinſchaftlich zu ihren Handen, ſetzten ei-
nen Gildenvogt, lieſſen einen neuen Ueberſchlag ma-
chen, und fanden wieder: Daß einmal da kein groſ-
ſer Verluſt herauskommen koͤnne. Sie ſchenkten dar-
um dem armen Aeti nicht allein allen Hausrath,
Schiff und Geſchirr, ſondern baten ihn auch, bis ſich
ein Kaͤufer faͤnde, weiter auf dem Gut zu bleiben,
und es um billigen Lohn zu bearbeiten. Dieſer be-
ſtuhnd, nebſt freyet Behauſung, und Holzes genug,
in der Soͤmmerung fuͤr acht Kuͤhe, und Grund und
Boden, zu pflanzen was und wie viel wir konnten
und mochten. Itzt war meinem Vater wieder ſo
wohl als wenn er im Himmel waͤre; und was ihm
noch am meiſten Freud’ machte, ſeine alten Schuld-
herren waren faſt noch zufriedner als er, ſo daß von
dem erſten Augenblick an keiner ihm nur nie eine
ſaure Miene gemacht. Wir hatten ein recht gutes
Jahr, und konnten, neben unſrer Guͤterarbeit, noch
eine ziemliche Zeit fuͤrs Salpeterſieden entuͤbrigen,
das ich nun ebenfalls lernte, als mein Vater einſt
an einem Bein Ungelegenheit hatte, und hernach
wirklich bettliegerig ward. Die Schmerzen nahmen
taͤglich ſo ſehr uͤberhand, daß er eines Abends von
uns allen Abſchied nahm. Endlich gelang es doch
dem Herrn Doktor Muͤller aus der Schomatten
ihn wieder zu curiren; derſelbe that ſolches nicht nur
ganz unentgeldlich, ſondern gab uns noch Geld dazu.
[54] Der Himmel wird es ihm reichlich vergelten. — In-
zwiſchen zeigte ſich ein Kaͤufer zum Dreyſchlatt.
Wir waren im Grund alle froh, dieſe Einoͤde zu
verlaſſen; aber niemand wie ich, da ich hofte, das
ſtrenge Arbeiten ſollt’ nun einmal ein End nehmen.
Wie ich mich betrog, wird die Folge lehren.


XXVI.
Wanderung auf die Staig zu Wattweil.


(1754.)


Mitten im Merz dieſes Jahrs zogen wir alſo mit
Sack und Pack aus dem Dreyſchlatt weg, und ſag-
ten dieſem wilden Ort auf ewig gute Nacht! Noch
lag dort klaftertiefer Schnee. Von Ochs oder Pferd
war da keine Rede. Wir mußten alſo unſern Haus-
rath und die juͤngern Geſchwiſter auf Schlitten ſelbſt
fortzuͤgeln. Ich zog an dem meinigen wie ein Pferd,
ſo daß ich am End faſt athemlos hinſank. Doch die
Luſt, unſre Wohnung zu veraͤndern, und einmal
auch im Thal, in einem Dorf, und unter Menſchen
zu leben, machten mir die ſaure Arbeit lieb. Wir
langten an. Das muß ein rechtes Canaan ſeyn,
dacht’ ich; denn hier guckten die Grasſpitzen ſchon
unterm Schnee hervor. Unſer Guͤtlin, das wir zu
Lehen empfangen hatten, ſtuhnd voll groſſer Baͤume;
und ein Bach rollte angenehm mitten durch. Im
Gaͤrtlin bemerkt’ ich einen Zipartenbaum. Im Haus
hatten wir eine ſchoͤne Ausſicht das Thal hinauf.
Aber uͤbrigens, was das vor eine dunkle, ſchwarze,
[55] wurmſtichige Rauchhuͤtte war! Lauter faule Fußbo-
den und Stiegen; ein unerhoͤrter Unflath und Ge-
ſtank in allen Gemaͤchern. Aber das alles war noch
nichts gegen den lebendigen Einſiegel, den wir im
Haus haben mußten: Ein abſchenliches Bettelmenſch,
das ſich beſoff, ſo oft es ein Kirchenalmoſen erhielt,
und auf dieſe Art zu Wein kam; dann in der Trun-
kenheit ſich mutternackt auszog, und ſo im Haus her-
umſprang und pfiff; auch, wenn man ihm das ge-
ringſte einreden wollte, ein Fluchen und Lamentiren
erhob, wie eine Beſeſſene; weswegen es zwar zum
oͤftern den Rinderriemen bekam, das aber nur aus
Uebel aͤrger machte. Dieß Ungeheuer war dann noch
uͤber alles aus ſehr erpicht auf junge Leuthe, und
wollte — Puh! mir ſchaudert’s jetzt noch — auch mich
anpacken. Das war fuͤr mich eine ganz neue Er-
ſcheinung; ich redete mit meinem Vater davon, doch
ohne jener Verſuchung eigentlich zu erwaͤhnen; der
ſagte mir dann, was eine Katze ſey. Nun bekam
ich erſt einen ſolchen Eckel vor dieſem Thier, daß mir ein
Stich durch alle Adern gieng, ſo oft es mir unter
Augen kam.


XXVII.
Goͤttliche Heimſuchung.


Wenige Tage nach unſrer Ankunft ward ich mit
einem heftigen Froſt und Fieber befallen. Ob mir
das ploͤtzliche Vertauſchen der friſchen Bergluft mit
der im Thal, oder die unreinliche Wohnung, oder
dann ein ſchon mitgebrachter Stoff dazu im Koͤrper,
[56] oder endlich gar der Abſcheu vor dem entſetzlichen Ge-
ſchoͤpfe, das Uebel zugezogen, weiß ich ſelbſt nicht.
Einmal zuvor war, auſſert etwa leichten Kopf- und
Zahnſchmerzen, jedes andre Uebelbehagen mir ganz
unbekannt. Man ließ den lieben Herrn Docktor
Muͤller kommen; er verordnete mir eine doppelte
Aderlaͤſſe, zweifelte aber gleich beym erſten Anblick
ſelber an meinem Aufkommen. Am dritten Tag
glaubt’ ich, nun ſey’s gewiß mit mir aus, da mir
mein armer Kopf beynahe zerſpringen wollte. Ich
rang, wimmerte, kruͤmmte mich wie ein Wurm,
und ſtuhnd Hoͤllenangſt aus: Tod und Ewigkeit
kamen mir ſchroͤcklich vor. Meinem Vater, der ſich
faſt nie von mir entfernte, und oft ganz allein um
mich war, beichtete ich in einem ſolchen Augenblick
alles was mir auf dem Herzen lag, ſonderlich auch
wegen den Verfolgungen des vorerwaͤhnten Unholds,
der mir viel zu ſchaffen machte. Der gute Aeti er-
ſchrack entſetzlich, und fragte mich: Ob ich denn
mit dem Thier etwas Boͤſes gethan? „Nein, ge-
„wiß nicht, Vater!„ (antwortete ich ſchluchzend)
„aber das Ungeheur wollt’ mich eben dazu bereden;
„und ich hab’s dir verſchwiegen. Das nun, fuͤrcht’
„ich, ſey eine groſſe Suͤnd’„. „Sey nur ruhig,
„mein Sohn!„ (verſetzte mein Vater) „Halt’
„dich im Stillen zu Gott. Er iſt guͤtig, und wird
„dir deine Suͤnden vergeben„. Dieß einzige Wort
des Troſts machte mich gleichſam wieder aufleben.
O wie eifrig gelobt’ ich in dieſem Augenblick, ein
ganz andrer Menſch zu werden, wenn ich’s laͤnger
[57] auf Erden treiben ſollte. Indeſſen gab’s noch ver-
ſchiedene Ruckfaͤlle: Einmal wußt’ ich 24. Stunden
lang nichts mehr von mir ſelber; aber dieß war die
Criſts. Beym Erwachen fuͤhlt’ ich zwar meine Schmer-
zen wieder, doch in weit geringerm Grade; und was
fuͤr mich viel wichtiger war, die bangen angſthaften
Gedanken blieben voͤllig aus. Der Doktor fieng an
Hoffnung zu ſchoͤpfen, und ich nicht minder; und
kurz, es ließ ſich taͤglich mehr zur Beſſerung an,
bis ich (Gott und meinem geſchickten Arzt ſey’s ewig
gedankt) freylich erſt nach etlichen Wochen, wieder
ganz auf die Beine kam. Aber das Thiermenſch,
das wir im Haus hatten, und dulden mußten *),
war mir jtzt unausſtehlicher als jemals. Mich und
alle meine Geſchwiſter uͤberhaͤufte es mit den un-
flaͤthigſten Schimpfworten. Waͤhrend meiner Krank-
heit ſagte es mir oft ins Geſicht: Ich ſey ein muth-
williger Bankert; es fehle mir nichts; man ſollte
mir ſtatt Arzneyen die Ruthe geben, u. d. gl. Ich
bat alſo meinen Vater, ſo hoch ich konnte: Er ſoll
doch die Creatur uns vom Hals ſchaffen, ſonſt koͤnnt’
ich in Ewigkeit nicht vollkommen geſund werden. Aber
es war unmoͤglich; vor einmal wollt’ ſie uns niemand
abnehmen. Wenn ſie’s gar zu ſchlimm machte,
[58] lieſſen wie ſie, wie geſagt, karbatſchen. Aber zuletzt
wollt’ uns auch dieſen Dienſt niemand mehr leiſten;
denn jedermann fuͤrchtete ſich vor ihr, wie vor dem
boͤſen Geiſt. Mit guten Worten kam man ihr ge-
wiſſermaaſſen noch am leichteſten bey. Was indeſſen
mir als die allerherbſte Pruͤfung vorkam, war dieſes:
Daß ich und meine Geſchwiſter in ihrer Geſellſchaft
mit Baumwollen-Kaͤmmen und Spinnen unſern
Feyrabend machen mußten. Sobald aber der Som-
mer anruͤckte, half ich mir damit, daß ich meine
Arbeit, ſo viel’s immer die Witterung zuließ, auſ-
ſer dem Haus verrichtete.


XXVIII.
Jetzt Tagloͤhner.


Danke deinem Schoͤpfer„! (ſagte inzwiſchen ei-
nes Tags mein Vater zu mir) „Er hat dein Fle-
„hen erhoͤrt, und dir von Neuem das Leben geſchenkt.
„Ich zwar, ich will dir’s nur geſtehen, dachte nicht,
„wie du, Uli, und haͤtt’ dich und mich nicht un-
„gluͤcklich geſchaͤtzt, wenn du dahingefahren waͤrſt.
„Denn, Ach! Groſſe Kinder, groſſe Sorgen! Unſre
„Haushaltung iſt uͤberladen — Ich hab’ kein Ver-
„moͤgen — Keins von Euch kann noch ſicher ſein
„Brodt gewinnen — Du biſt das Aelteſte. Was
„willſt du nun anfangen? In der Stube hocken, und
„mit der Baumwolle handthieren, ſeh ich wohl,
„magſt du nicht. Du wirſt muͤſſen tagmen*)„.
[59] „Was du willſt, mein Vater„! antwortet’ ich:
„Nur, ja, nicht ofenbruten„! Wir waren bald
einig. Der damalige Schloßbauer, Weibel K.
nahm mich zum Knecht an. Von meiner uͤberſtan-
denen Krankheit war ich noch ziemlich abgemattet;
aber mein Meiſter, als ein vernuͤnftiger und ſtets
aufgeraͤumter Mann, trug alle Geduld mit mir, um
ſo viel mehr da er eigne Buben von gleichem Schrot
hatte. Die meiſte Zeit mußt’ er ſeinen Amtsge-
ſchaͤſten nach; dann gieng’s freylich oft bunt uͤber
Eck. Indeſſen gab er mir auch blutwenig Lohn,
und die Frau Baͤurin ließ uns manchmal bis um
10. Uhr nuͤchtern. Bey ſtrenger Arbeit aber erhiel-
ten wir auch immer beſſre Koſt. Bisweilen brachten
wir ihm etwas Wildpret, einen Vogel oder Fiſch
nach Haus; das ließ er ſich vortreflich ſchmecken.
Eines Tags erbeuteten wir ein ganzes Neſt voll
junger Kraͤhen; die mußt’ ihm ſeine Hausehre wun-
derbar praͤpariren. Er verſchlang mit ungeheurer
Luſt alle bis auf die letzte. Aber mit Eins gabs’
eine Rebellion im Magen. Er ſprang vom Stuhl,
und rannte todtblaß und ſchnellen Schrittes den Saal
auf und nieder, wo die Fuͤß und Federn noch uͤberall
zerſtreut am Boden lagen! Endlich ſchueutzt er uns
Buben mit laͤcherlichem Grimm an: „Thut mir
„das Schinderszeug da weg, oder ich k ** Euch
„hunderttauſend Dotzend von Euern Beſtien heraus.
„Einmal in meinem Leben ſolche ſchwarze Teufel
„gefreſſen, und nimmermehr„! Dann legte ſich
der launigte Mann zu Bethe, und [mit] einem tuͤch-
tigen Schweiß gieng alles vorbey.


[60]

Auch mein Bruder Jakob verrichtete um die
naͤmliche Zeit aͤhnliche Knechtendienſt’. Die Kleinern
hingegen mußten in den Stunden neben der Schule
ſpinnen. Unter dieſen war Georg ein beſonders
luſtiger Erzvogel. Wenn man ihn an ſeinem Raͤd-
chen glaubte, ſaß er auf einem Baum, oder auf
dem Dach, und ſchrie Guckuck! „Du fauler Lecker„!
hieß es dann etwa von Seite der Mutter, wenn ſie
ihn ſo in den Luͤften erblickte; und von ſeiner: „Ich
„will kommen wenn du mich nicht ſchlagen willſt;
„ſonſt ſteig ich dir bis in Himmel auf„! Was war
da zu thun? Man mußte meiſt des Elends lachen.


XXIX.
Wie? Schon Grillen im Kopf.


Und warum nicht? wenn einer in ſein zwanzigſtes
geht, darf er ſchon ahnden, es gebe zweyerley Leu-
the. Der Weibel hatte ein bluthuͤbſches Toͤchter-
gen, aber ſcheu’ wie ein Haſe. Es war mir eine
Freud’ wenn ich ſie ſah’, ohne zu wiſſen warum?
Nach etlichen Jahren heurathete ſie einen Schlin-
gel, der ihr ein Haͤufchen Jungens auflud, und ſich
endlich als ein Schelm aus dem Land machte. Das
gute Kind!


Dann hatte unſer Nachbar Uli eine Stieftochter,
Aennchen; die konnt’ ich alle Sonntage ſehn. Alle-
mal winſelt’ es mir ein wenig um’s Herzgruͤbchen.
Ich wußte wieder nicht warum? denk’ aber wohl,
weils mich ſo huͤbſch duͤnkte: Einmal an etwas an-
[61] ders kam mir gewiß nicht der Sinn. An den ge-
dachten Sonntagen zu Abend machten wir — denn
es gab da junger Burſche genug — mit einander Bunt-
reihen, Kettenſchleuffen, Haterſieden, Schuͤhle ver-
bergen, u. ſ. f. Ich war wie in einer neuen Welt;
nicht mehr ein Eremit wie im Dreyſchlatt. Nun
merkt ich zwar, daß mich Aennchen wohl leiden
mocht’; dacht’ indeſſen, ſie wuͤrd’ ſonſt ſchon ihre
Liebſten haben. Einſt aber hatte meine Mutter die
Schwachheit, mir, und zwar als wenn ſie ſtolz drauf
waͤre, zu ſagen: Aennchen ſehe mich gern. Dieſer
Bericht rannte mir wie ein Feuer durch alle Glie-
der. Bisher hielt ich dafuͤr, meine Eltern wuͤrden’s
nicht zugeben, daß ich noch ſo jung nur die geringſte
Bekanntſchaft mit einem fremden Maͤdchen haͤtte.
Itzt aber (ſo wichtig iſt es, die Menſchen in nuͤtzli-
chen Meinungen auch nur durch kein unvorſichtiges
Wort irre zu machen!) merkt’ ich’s meiner Mutter
deutlich an, daß ich ſo etwas ſchon wagen duͤrfte.
Indeſſen that ich wohl nicht dergleichen; aber meine
innre Freud’ war nur deſto groͤſſer, daß man mir
itzt ſelbſt die Thuͤr aufgethan, unter das junge luſti-
ge Volk zu wandeln. Von dieſer Zeit an, verſteht
ſich’s, ſchnitt’ ich bey allen Anlaͤſſen Aennchen ein
entſchieden freundlich Geſichtgen; aber daß ich ihr
mit Worten etwas von Liebe ſagen durfte — o um
aller Welt Gut willen haͤtt’ ich dazu nicht Herz ge-
habt. Einſt erhielt ich Erlaubniß auf den Pfingſt-
Jahrmarkt zu gehn: Da ſann ich lang hin und her,
ob ich ſie auf’s Rathhaus zum Wein fuͤhren duͤrfe?
[62] Aber das ſchien mir ſchon zu viel gewagt. Dort
ſah ich ſie eins herumſchlaͤngeln. Herodes mag das
Herz nicht ſo gepocht haben, als er Herodias Toch-
ter taͤnzeln ſah! Ach! ſo ein ſchoͤnes, ſchlankes, nettes
Kind, in der allerliebſten Zuͤrchbietler-Tracht! Wie
ihm die goldfarbnen Zoͤpf ſo fein herunterhiengen! —
Ich ſtellte mich in einen Winkel, um meine Augen
im Verborgnen an ihr waiden zu koͤnnen. Da ſagt’
ich zu mir ſelbſt: Ah! in deinem Leben wirſt du,
Luͤmmel, nie das Gluͤck haben, ein ſolch Kind zu
bekommen! Sie iſt viel viel zu gut fuͤr dich! Hundert
andre weit beſſre Kerls werden ſie lang lang vor dir
erhaſchen. So dacht’ ich, als Aennchen, die mich
und meine Schuͤchternheit ſchon eine geraume Zeit
mochte bemerkt haben, auf mich zukam, mich freund-
lich bey der Hand nahm, und ſagte: „Uli! fuͤhr’
„du mich auch Eins herum„! Ich feuerroth erwie-
derte: „Ich kann’s nicht, Aennchen! gewiß ich kann’s
„nicht„! „So zahl’ mir denn eine Halbe*)„,
verſetzte ſie, ich wußt’ nicht recht ob im Schimpf
oder Ernſt. „Es iſt dir nicht Ernſt, Schleppſack„,
erwiedert’ ich darum. Und ſie: „Mi See**) s’iſt
„mir Ernſt„! Ich todtblaß: „Mi See, Aennchen,
„ich darf heut nicht! Ein andermal. Gwuͤß ich
„moͤcht’ gern, aber ich darf nicht„! Das mocht
ihr ein wenig in den Kopf ſteigen; ſie ließ ſich’s
aber nicht merken, trat, mir nix dir nix, ruͤckwerts,
und machte ihre Sachen wie zuvor. So auch ich —
[63] ſtolperte noch eine Weile von einer Ecke in die andre,
und machte mich endlich, wie alle uͤbrigen, auf den
Heimweg. Ohne Zweifel daß Aennchen auf mich
Acht gegeben. Einmal nahe beym Dorf kam ſie hin-
ter mir drein: „Uli! Uli! Jetzt ſind wir allein.
„Komm’ noch mit mir zu des Seppen, und zahl
„mir eine Halbe„! „Wo du willſt„, ſagt’ ich;
und damit ſetzten wir ein Paar Minuten ſtillſchwei-
gend unſre Straſſe fort. „Aennchen! Aennchen„!
hob ich dann wieder an: „Ich muß dir’s nur grad
„ſagen, ich hab kein Geld. Der Aeti giebt mir
„keins in Sack, als etwa zu einem Schoͤpplein;
„und das hab’ ich ſchon im Staͤdtlin verbutzt. Glaub’
„mir’s ich wollt’ herzlich gern — und dich dann heim-
„geleiten! O! Aber da muͤßt’ ich dann wieder mei-
„neu Vater fuͤrchten. Gwuͤß, Aennchen! s’waͤr
„das erſtemal. Noch nie haͤtt’ ich mich unterſtan-
„den, ein Maͤdle zum Wein zu fuͤhren; und jetzt,
„wie gern ich’s moͤcht’, und auf Gottes Welt keine
„lieber als dich — bitte bitte, glaub mir’s kann und
„darf ich’s nicht. Gwuͤß ein andermal, wenn du
„mir nur wart’ſt, bis ich darf und Geld hab’„.
„Ep Poſſen, Naͤrrlin„! verſetzte Aennchen: „Dein
„Vater ſagt nichts; und bey der Mutter will Ich’s
„verantworten — weiß ſchon, wo der Haas lauft.
„Geld? Mit ſamt dem Geld! ’s iſt mir nicht um’s
„Trincken, und nicht um’s Geld. Da„ (und griff
ins Saͤcklin) „hier haſt du, glaub’ ich, gnug zu
„zahlen, wie’s der Brauch iſt. Mir waͤr’s Ein
„Ding; Ich wollt’ lieber fuͤr Dich zahlen, wenn’s
[64] „ſo Mode waͤr’„. Paf! jtzt ſtand ich da, wie der
Butter an der Sonne; gab endlich Aennchen mit
Zittern und Beben die Hand; und ſo gieng’s vollends
ins Dorf hinein, zum Engel. Mir ward’s Blau
und Schwarz vor den Augen, als ich mit ihr in die
Stube trat, und da alles von Tiſchen voll Leuthen
wimmelte, die, einen Augenblick wenigſtens, auf
uns ihre Blicke richteten; indeſſen deucht’ es mich
dann auch wieder: Himmel und Erde muͤß’ Einem
gut ſeyn, der ein ſo holdes Maͤdchen zur Seite hat.
Wir tranken unſre Maaß aus — ſo weder zu lang-
ſam noch zu geſchwind; zu Schwatzen gab s — ich
denk’ durch meine Schuld — eben nicht viel. Ent-
zuͤckt, und ganz durchgluͤht von Wein und Liebe, aber
immer voll Furcht, fuͤhrt’ ich nun das herrliche Kind
nach Haus bis an die Thuͤre. — Keinen Kuß? Kei-
nen Fuß uͤber ihre Schwelle? — Ich ſchwoͤr es: Nein!
Auch ich lief nun ſchnurſtracks heim, gieng maus-
ſtill zu Bett’, und dachte: Heut wirſt du bald, und
ſuͤſſer entſchlummern, als ſonſt noch nie in deinem
Leben! Aber wie ich mich betrog’! Da war von Schlaf
nur keine Rede. Tauſend wunderbare Grillen gien-
gen mir im Kopf herum, und waͤlzten mich auf
meinem Lager hin und her. Hauptſaͤchlich aber,
wie verwuͤnſcht’ ich jetzt meine kindiſche Bloͤdigkeit
und Furcht: „O das himmliſche ſuͤſſe Maͤdchen„!
dacht’ ich jetzt: „Konnt’ es wohl mehr thun — und
„Ich weniger? Ach! es weißt nicht, wie’s in mei-
„nem Buſen brennt — und nur durch meine Schuld.
„O ich Haſenherz! Solch ein Liebchen nicht kuͤſſen,
„nicht
[65] „nicht halb zerdruͤcken? Kann Aennchen ſo einen
„Narrn, ſo einen Luͤmmel lieben? Nein! Nein! —
„Warum ſpring’ ich nicht auf und davon, zu ihrem
„Haus, klopf an ihrer Thuͤr’ und rufe: Aennchen,
Aennchen, liebſtes Aennchen! Steh’ auf, ich will
„abbitten! O, ich war ein Ochs, ein Eſel! verzeih
„mir’s doch! Ich will’s koͤnftig beſſer machen, und
„dir gewiß zeigen, wie lieb mir biſt! Herziger Schatz!
„ich bitt’ dich drum, ſey mir doch weiter gut und
„gieb mich nicht auf — Ich will mich bekehren —
„bin noch jung — und was ich nicht kann, will ich
„lernen„, u. ſ. f. So machte mich, gleich vielen
andern, die erſte Liebe zum Narrn.


XXX.
So geht’s.


Des Morgens in aller Frühe flog ich nach
Aennchens Haus
— Ja, das haͤtt’ ich thun ſollen,
that’s aber eben nicht. Denn ich ſchaͤmt’ mich vor
ihr, daß mir’s Herz davon weh that — in die Seel’
hinein ſchaͤmt’ ich mich, vor den Waͤnden, vor Sonn’
und Mond, vor allen Stauden ſchaͤmt’ ich mich,
daß ich geſtern ſo erzalbern that. Meine einzige
Entſchuldigung vor mir ſelber war dieſe, daß ich
dachte: Es haͤtte ſo ſeine eigne ſtudirte Art mit den
Maͤdels umzugehn, und ich wuͤßte dieſe Art nicht.
Niemand ſage mir’s, und ich haͤtt’ nicht das Herz
jemand zu fragen. Aber ſo (roch’s mir dann wie-
der auf) darfſt du Aennchen nie, nie mehr unter
E
[66] Augen treten; fliehen mußt du vielmehr das holde
Kind, oder kannſt wenigſtens nur im Verborgenen
mit ihr deine Frend’ haben, nur verſtohlen nach ihr
blicken. — Inzwiſchen macht’ ich eine neue Bekannt-
ſchaft mit ein Paar Nachbarsbuben, die auch ihre
Schaͤtz’ hatten — um etwa heimlich von ihnen zu
erfahren, wie man mit dieſen ſchoͤnen Dingen um-
gehen, und es machen muͤſſe, wenn man ihnen ge-
fallen wolle. Einmal nahm ich gar das Herz in
beyde Haͤnd’ und fragte ſie darum; aber ſie lachten
mich aus, und ſagten mir ſo naͤrriſches und unglaub-
liches Zeug, daß ich nun gar nicht mehr wußte,
wo ich zu Haus war.


Inzwiſchen ward dieſe Liebesgeſchicht’, die ich doch
gern vor mir ſelber verborgen haͤtte, bald uͤberall
laut. Die ganze Nachbarſchaft, und beſonders die
Weiber, gaften mir, wo ich ſtuhnd und gieng, ins
Geſicht, als ob ich ein Eislaͤnder waͤre: „Ha, Ha,
Uli„! hieß es dann etwa: „Du haſt die Kinds-
„ſchuh’ auch verheyt„. Meine Eltern wurdens eben-
falls inne. Die Mutter laͤchelte dazu, denn Aenn-
chen
war ihr lieb: Aber der Vater blickte mich deſto
truͤber an; doch ließ er ſich kein Woͤrtgen verlauten,
als ob er wirklich in meinem Buſen Unrath leſe.
Das war nur deſto peinigender fuͤr mich. Ich gieng
indeſſen uͤberall umher, wie der Schatten an der
Wand, und wuͤnſchte oft, daß ich Aennchen nie mit
einem Aug geſehen haͤtte. Auch meine Bauersleuthe
rochen bald den Braten, und ſpotteten meiner.


Eines Abends kam mir Aennchen ſo in den Wurf,
[67] daß ich ihr nicht entwiſchen konnte. Ich ſtuhnd da
wie verſteinert. „Uli„! ſagte ſie, „komm heut
„z’Nacht ein Bißli zu mir, ich hab’ mit dir z’reden.
„Willſt kommen, ſag„? — „Ich weiß nicht„, ſtot-
terte ich. — „Eh, komm! Ich muß nothwendig
„mit dir reden; ſag, verſprich mir’s„! „Ja, ja
„gwiß wenn ich kann„! Mir mußten ſcheiden. Ich
rannte eilends nach Haus. Himmel! dacht’ ich,
was mag das ſeyn? Kann das liebe Aennchen mir noch
ſo freundlich begegnen? Soll ich, darf ich — Ja, ich
muß, ich will gehn. — Nun gerieth ich — ob aus Ehr-
lichkeit oder Liſt weiß ich ſelbſt nicht — auf den gu-
ten Einfall, das Ding der Mutter zu ſagen. „Ja
„ja, geh’ nur„, ſprach dieſe; „ich will dir nach
„dem Eſſen ſchon forthelfen, daß kein Hahn darnach
„kraͤhen ſoll„. Das war mir recht gekocht. Alles
geſagt, gethan. Ich gieng hin, und traf Aennchen,
ihre Mutter und ihren Stiefaͤti (ſie hielten ſonſt
eine Schenke) ganz allein an. Ich ließ ein Glas
Brennz *) holen, um doch etwas zu thun, bis die
Alten im Bett’ waͤren, weil ich nichts zu reden wußte.
Aus lauter Furcht ſaß ich weit von Aennchen weg —
Aber darum mocht’ ich’s doch kaum erwarten, bis
die Eltern zur Ruh giengen. Endlich gerieth’s. Da
fieng denn mein Liebchen an, in Einem fort zu
ſchnaͤttern, daß es lieblich und doch betruͤbt zu hoͤren
war — als ſie mir jetzt uͤber mein kaltes Bezeigen
Vorwuͤrf’ uͤber Vorwuͤrf’ machte, und alles, was ſie
die Zeit her uͤber mich ſchwatzen gehoͤrt, mir
[68] unter die Naſe rieb. Ich faßte Muth, verantwortete
mich ſo gut ich konnte, und ſagt’ ihr auch gerad’ allen
Kram heraus, was die Leuth’ von ihr redeten, und
wofuͤr man ſie hielt — von meinen Geſinnungen hin-
gegen kein Wort: „So„! ſagte ſie: „Was ſchiert
„mich der Leuthe Reden! Ich weiß ſchon, wer ich
„bin — und hinter dir haͤtt’ ich doch ein wenig mehr
„als ſo viel geſucht. Macht’ aber nichts, ſchadt gar
„nichts„! Nachdem dieſer Wortwechſel noch ein
Weilchen fortgedauert hatte, und mir das Breuz
ein wenig in den Kopf ſtieg, wagt’ ich’s, ihr ein
Bißlin naͤher zu ruͤcken; denn das zwar boͤs ſchei-
nende, aber verzweifelt artige Raiſonieren gefiel mir
in der Seele wohl. Ich erkuͤhnte mich ſo gar, ihr
einige laͤppiſche Lehrſtuͤcke von erznaͤrriſchen Liebko-
ſungen zu machen. Sie wies mich aber froſtig zu-
ruͤck, und ſagte: „Kannſt mir warten! Wer hat
dich das gelehrt„? u. d. gl. Dann ſchwieg ſie eine
Weile ſtill, guckte ſteif ins Licht, und ich ein gut
Klafter von ihr entfernt — ihr in’s Geſicht: O ihre
zwey blauen Aeuglin, die gelben Haarlocken, das
nette Naͤschen, das loſe Maͤulchen, die ſanft rothen
Baͤcklin, das feine Ohrlaͤpplin, das geruͤndelte Kinn,
das glaͤnzend weiſſe Haͤlschen — O in meinem Leben
hab’ ich ſo nichts geſehn — Kein Mahler vom Him-
mel koͤnnt’s ſchoͤner mahlen. „Duͤrft’ ich doch„
(dacht’ ich) „auch nur ein eineinziges Mal einen
„Kuß auf ihr holdes Muͤndlein thun. Aber nun
„hab’ ich’s ſchon wieder — und Ach! wohl gewiß
„auf ewig verdorben„. Ich nahm alſo kurz und
[69] gut Abſchied. Ganz froſtig ſagte ſie: „Adken„!
Ich noch einmal: „Leb wohl, Anne„! — und im
Herzen: Leb’ ewig wohl, herzallerliebſtes Schaͤtz-
gen! — — Aber vergeſſen konnt’ ich ſie nun einmal
nicht. In der Kirch’ ſah’ ich ſie mehr als den
Pfarrer; und wo ich ſie erblickte, war mir wohl ums
Herz. Eines Sonntag Abends ſah ich einen Schnei-
derburſch, Aennchen heimfuͤhren. Wie da urploͤtz-
lich mein Blut ſich empoͤrte, und alle Saͤfte mir in
allen Gliedern rebellierten! Halb ſinnlos ſprang ich
ihnen auf dem Fuß nach. Ich haͤtte den Schneider
erwuͤrgen koͤnnen; aber ein gebietender Blick von
Aennchen hielt mich zuruͤck. Inzwiſchen macht’ ich
ihr nachwerts bitt’re Vorwuͤrf’ druͤber, und eine ganze
Litaney von raͤudigen Schneidern und Schneidereigen-
ſchaften. Dacht’ halt: Verloren iſt verloren! —
Aber Anne blieb mir nichts ſchuldig, wie ihr’s leicht
denken koͤnnt.


XXXI.
Immer noch Liebesgeſchichten. Doch
auch anders mitunter.


Laßt mich meine Kinder, [Freunde], Leſer! wer
Ihr ſeyn moͤgt’, ich bitt’ Euch, laßt mich ein Thor
ſeyn! Es iſt Wohlluſt — ſuͤſſe, ſuͤſſe Wohlluſt, ſo in
dieſe ſeligen Tage der Unſchuld zuruͤckzugehn — ſich
all’ die Standorte wieder zu vergegenwaͤrtigen, und
die ſchoͤnen Augenblick’ noch einmal zu fuͤhlen, wo
man — gelebt hat. Mir iſt, ich werde von neuem
[70] jung, wenn ich an dieſe Dinge denke. Ich weiß
alles noch ſo lebhaft, wie’s mir war, wie’s mich
deuchte; empfinde noch jedes ſelige Weilchen, das
ich mit meinem Aennchen zubrachte — moͤchte
jeden Tritt beſchreiben, den ich an ihrer Seite that.
Verzeiht mir’s, und uͤberſchlagt’s, wenn’s Euch eckelt.


Aennchens Stiefaͤti war ein leichtſinniger Brenz-
wirth; ihm galt’s gleichviel, wer kam und ihm ſein
Brenz abſoff. Ich war nun in Kurzem bey ſeinem
Toͤchtergen wieder wohl am Brett, und genoß dann
und wann ein herrliches Viertelſtuͤndchen bey ihr.
Das lag nun meinem Vater gar nicht recht. Er
ſprach mir ernſtlich zu; es half aber alles nichts;
Aennchen war mir viel zu lieb. Fuͤrchterlich ſchimpft’
er bisweilen auf dieß verdammte Brenzneſt, wie er
es nannte; und Anne ſah’ er fuͤr eine liederliche
Dirn’ an — und doch, Gott weiß es! das war ſie —
wenigſtens damals nicht; das redlichſte braͤvſte Maͤd-
chen das ich je untern Haͤnden gehabt, faſt meiner
Laͤnge, ſo ſchlank und huͤbſch geformt, daß es eine
Luſt war. Aber ja, ſchwaͤtzen konnt’ ſie wie eine
Dohle. Ihre Stimme klang wie ein Orgelpfeifchen.
Sie war immer munter und allert; um und um
lauter Leben; und das macht’ es eben, daß mancher
Sauertopf ſo ſchlimm von ihr dachte. Wenn meine
Mutter meinen Vater nicht bisweilen eines Beſſern
belehrt, er haͤtt’ mit Stock und Stein drein ge-
ſchlagen.


So verſtrich der Sommer. Noch in keinem hat-
ten mir die Voͤgel, die ich alle Morgen mit Ent-
[71] zuͤcken behorchte, ſo lieblich geſungen. Gegen den
Herbſt zogen wir in die Pulverſtampfe. Herr Am-
man H. nahm naͤmlich um dieſe Zeit meinen Vater
zum Pulvermacher an. Der Meiſter, C Gaſſer,
wurde von Bern verſchrieben, und lehrt’ uns dieß
Handwerk aus dem Fundament, ſo daß wir auch das
Schwerſte in wenig Wochen begreifen konnten. Un-
ter anderm war mein Aeti froh, mich itzt ein Stuͤck
weit von Aennchen weg zu haben. Auch uͤberwand
ich mich ziemlich lang’ — als das liebe Kind einſt un-
verſehns zu uns zu Stubeten*) kam. Ich erſchrack
ſehr, und dacht’ wohl, da wuͤrd’ ein Wetter los-
gehn. So lang’ ſie da war, hiengen des Vater Aug-
braunen tief herunter; er ſchnaubte vor Grimm,
redte kein Wort — horchte aber, wie man leicht
merken mochte, auf alle Scheltwort’. O, wie dau-
erte mich das herrliche Schaͤtzchen! Wuͤrd’s doch
mein Vater, wie Ich, kennen, wie ganz anders waͤr’s
da empfangen worden. Des Abends geleitete ich ſie
nach Haus. Noch war ich immer der alte bloͤde
Junge. Sie neckte mich artlicher als ſonſt noch nie;
aber doch mußt’s geneckt ſeyn. Morgens drauf, da
erſt gieng des Aetis Predigt an: Was er an Aenn-
chen
ungereimtes bemerkt — oder vielmehr bemerkt
haben wollte — was er gehoͤrt — und nicht gehoͤrt,
ſondern nur vermuthet, das alles kam in die Nutz-
anwendung dieſer ſchoͤnen Sermon. Allerhand Spott-
namen — und kurz, alles was Aennchen in mei-
nen Augen veraͤchtlich machen ſollte, blieb per ſe
[72] nicht aus. Und wirklich, ſo lieb mir das Maͤdchen
war, nahm ich mir itzund doch vor, von ihr abzu-
ſtehn, weil mir der Vater ſie ſchwerlich jemals laſ-
ſen wuͤrde, und inzwiſchen noch mancher Ehrenpfen-
ning ihretwegen ſpatziren muͤßte. Gleichwohl darf
ich zu ihrem Preis auch das nicht verſchweigen, daß
ſie mich nie um Geld bringen wollte, ja daß ſie
ſogar, wann ich fuͤr ſie etwa ein Brenzlin zahlte,
nicht ſelten die Uerte mir heimlich wieder zuſteckte.
Eines Tags nun ſagt ich zum Aeti: „Ich will nicht
„mehr zur Anne gehn’, ich verſprich dir’s„. „Das
„wird mich freuen„, ſprach er, „und dich nicht
„gereuen. Uli! Ich meyn’s gwiß gut mit dir. —
„Sey doch nicht ſo wohlfeil. — Du biſt noch jung,
„und koͤmmſt noch alleweil fruͤh gnug zum Schick. —
„Unterdeſſen geht’s dir ſicher mehr auf als ab. —
„So Eine giebt’s noch wann der Markt vorbey iſt. —
„Fuͤhr’ dich brav auf, bet’ und arbeite, und bleib
„fein bey Haus. Dann giebſt ein rechter Kerl, ein
„Mann in’s Feld, und, ich wette, bekommſt mit der
„Zeit ein braves Bauermaͤdle. Indeſſen will ich immer
„fuͤr dich ſorgen„, u. ſ. f. u. f.


So gieng der Winter vorbey. Aber mein Wort hielt
ich wenig, und ſah Aennchen, ſo oft es immer inge-
heim geſchehen konnte.


Von Gallitag bis in Maͤrz konnten wir kein Pul-
ver machen. Ich verdient’ alſo mein Brodt mit
Baumwollenkaͤmmen; die andern mit Spinnen. Der
Varer machte die Hausgeſchaͤft’, las uns etwa an
den Abenden aus David Hollatz, Boͤhm und
[73]Meads Beynahe-Chriſt die erbaulichſten Stellen
vor, und erklaͤrte uns, was er fuͤr unverſtaͤndlich
hielt; aber eben auch nicht allemal am Verſtaͤndlich-
ſten. Ich las auch fuͤr mich. Aber mein Sinn
ſtuhnd meiſt nicht im Buch, ſoodern in der weiten
Welt.


XXXII.
Nur noch dießmal.


(1755.)


Im folgenden Fruͤhling hieß es: Wohin nun mit
ſo viel Buben? Jakob und Joͤrg wurden zum Pul-
vermachen beſtimmt; ich zum Salpeterſieden. Bey
dieſem Geſchaͤft gab mir mein Vater Uli M. einen
groben, aber geraden ehrlichen Menſchen zum Ge-
huͤlfen, der ehemals Soldat geweſen, und das Hand-
werk von ſeinem Vater her verſtuhnd, der in ſeinem
Beruf, aber elend genug verſtorben, da er in einen
ſiedenden Salpeterkeſſel fiel. Wir beyde Ulis fien-
gen alſo mit einander im Merz 1755. in der Scha-
matten
unſern Gewerb an. Da gab’s immer unter
der Arbeit allerley Geſpraͤche, die dann M. durch
irgend einen Umweg — und wie ich nachwerts erfuhr,
gefliſſen, vielleicht gar auf Anſtiften meines Vaters —
meiſt auf Heurathsmaterien zu lenken wußte, und
mir endlich eine gewiſſe ſchon ziemlich aͤltliche Toch-
ter zur Frau empfahl, die bald auch meinen Eltern,
dem Aeti beſonders, eben ihres beſtandenen Alters
und ſtillen Wandels wegen, ſehr wohl gefiel. Ihnen
[74] zu gefallen, fuͤhrt’ ich dieſe Urſel (ſo hieß ſie) ein
Paarmal zum Wein. Mein Uli machte gar viel
Ruͤhmens von dieſem Eſaugeſicht, das er, nach ſei-
ner eignen Sag’, ſchon vor zehn Jahren careßirt
haͤtte. Daß ich eben wenig Reitzendes an ihr ent-
deckte, verſteht ſich ſchon. Eine Stunde bey ihr
duͤnkte mich eine halbe Nacht, ſo gut’ ſie mir immer
begegnete — ja, je beſſer, deſto ſchlimmer fuͤr mich.
Uebrigens trug ſie eine ordentliche Bauerntracht. Aber
mit Aennchen vergliechen, war’s halt wie Tag und
Nacht. Als mich daher letztre eines Tags an der
Straß auffieng, ſprach ſie mit bitterm Spott: „Pfui,
Uli! So ein Haargeſicht, ſo eine Iltishaut, ſo
„ein Tanzbaͤr! Mir ſollt’ keiner mehr auf einen
„Buͤchſenſchuß nahe kommen, der ſich an einer ſol-
„chen Dreckpatſche beſchmiert haͤtte! — Uhi! wie
„ſtinkſt„! Das gieng mir durch Mark und Bein.
Ich fuͤhlte, daß Aennchen Recht hatte; aber den-
noch verdroß es mich. Ich verbiß indeſſen meinen
Unmuth, ſchlug ein erzwungenes Gelaͤchter auf, und
ſagte: „Gut, gut, Aennchen! Aber naͤchſtens will
„ich dir alles erklaͤren„! und damit giengen wir
von einander. — Es waͤhrte kaum 24. Stunden, ſo
gab ich meiner grauen Urſel foͤrmlichen Abſchied:
Sie ſah mir wehmuͤthig nach und rief immer hinten
drein: „Iſt denn nichts mehr zu machen? — Bin
„ich dir zu alt, oder nicht huͤbſch gnug? — Nur auch
„noch Einmal„, u. dgl. Aber ein Wort, ein Mann.


Am naͤchſten Huheijatag, wo Aennchen auch
gegenwaͤrtig war, ſah ſie, daß ich allein trank. Sie
[75] kam freundlich gegen mir, und lud mich auf den
Abend ein. Voll Entzuͤcken flog ich zu ihr hin,
und merkte bald, daß ich wieder recht willkomm war,
obſchon mir das ſchlaue Maͤdle uͤber meine Bekannt-
ſchaft mit Urſeln aufs neue die bitterſten Vor-
wuͤrfe machte. Ich erzaͤhlte ihr haarklein alles, wie
das Ding zugegangen. Sie ſchien ſich zu beruhi-
gen. Das machte mich herzhafter; ich wagte zum
erſtenmal, es zu verſuchen, ſie an meine Bruſt zu
druͤcken, und einen Ruß anzubringen. Aber, Potz
Welt! da hieß es: „So! Wer hat dich das gelehrt?
„G’wiß die alte Hudlerin. Geh, geh, ſcheer’ dich,
„und ſitz erſt ins Bad, dir den Unrath abzuwa-
„ſchen.„ — Ich. „Ha! Ich bitt’ dich, Schaͤtzle!
„ſey mir nicht curios. Hab’ dich ja alleweil geliebt,
„und lieb dich je laͤnger je ſtaͤrker. Laß mich doch —
„nur auch eins„! — Sie. „Abſlut nicht! Um alles
„Geld und Gut nicht! Fort, fort, nimm deine
„Trallwatſch, die dir das Ding gewieſen„! — Ich.
„Ach! Aennchen! Schaͤtzchen! Laß mich doch!
„Haͤtt’ dich ſchon lang ſchon, fuͤr mein Leben gern —
„Ach mein Gott„! — Sie. „Laß mich doch gehn —
„ich bitt’ dich! — Gwiß nicht. — Einmal itzt nicht„,—
Endlich ſagte ſie freundlich laͤchelnd: „Wenn du wieder-
„kommſt„! Aber dreymal, wenn ich wiederkam, fieng
das verſchmitzte Maͤdchen immer das naͤmliche Spiel an.
Und ſo koͤnnen dieſe ſchlauen Dinger die dummen Buben
lehren. Endlich ſchlug die erwuͤnſchte Stunde: „Aenn-
„chen, Aennchen! liebſtes Aennchen! Kannſt’s
„auch uͤber’s Herz bringen? Biſt mir doch ſo herz-
[76] „inniglich lieb! Und ich ſollt’ kein einzig Mal dein
„holdes Muͤndchen kuͤſſen? Gelt, du erlaubſt’s mir? —
„Ich kann’s laͤnger nicht aushalten. Lieber will ich
„dich ganz und gar meiden„. Itzt druͤckte ſie mir
freundlich die Hand, ſagte aber wieder: „Nun ge-
„wiß, das naͤchſtemal, wenn du wiederkommſt„!
Hier fieng mir an, die Geduld auszugehn. Ich ward
wild, und ſchnippiſch. Sie hinwieder befuͤrchtete glaub-
lich Unrath; foppte mich zwar, wie es ſcheinen ſollte,
noch immer fort, daß es eine Luſt war — aber mit
Eins kam ihr ein Thraͤnchen ins Aug’, und ſie wurde
zahm wie ein Taͤubchen: „Nun ja„! ſagte ſie:
„’s iſt wahr, du haſt doch die Prob’ ausgehalten —
„Du ſollteſt mir fuͤr deine Suͤnd buͤſſen. Aber die
„Straf’ hat mich mehr gekoſtet, als dich, liebes,
„herziges Uechelin *)„! Dieß ſagte ſie mit einem
ſo ſuͤſſen Ton, der mir itzt noch, wie ein fernes
Silbergloͤcklin ins Ohr laͤutet: Ha! (dacht’ ich einen
Augenblick) Itzt koͤnnt’ ich dich wieder ſtrafen, loſes
Kind! — Aber ich bedacht’ mich bald eines Beſſern —
riß mein Liebchen in meine Arme, gab ihr wohl
tauſend Schmaͤtzchen auf ihr zartes Geſichtlin uͤberall
herum, von einem Ohr bis zum andern — und Aenn-
chen
blieb mir kein einziges ſchuldig; nur daß ich
ſchwoͤren wollte, daß die ihrigen noch feuriger als
die meinigen waren. So giengs ohne Unterlaß fort
mit herzen, und ſchaͤckern, und plaudern, bis zur
Morgendaͤmmerung. Itzt kehrt’ ich jauchzend nach
Haus, und glaubte der erſte und gluͤcklichſte Menſch
[77] auf Gottes Erdboden zu ſeyn. Aber bey allem dem
fuͤhlt’ ichs lebhaft: Noch fehle mir — und dann wußt’
ich doch nicht was? Meiſt aber kam’s, glaub ich,
darauf hinaus: O koͤnnt’ ich mein Aennchen
koͤnnt’ ich dieß holde holde Kind doch ganz ganz be-
ſitzen — voͤllig voͤllig mein heiſſen — und ich ſein —
ſein Schaͤtzgen, ſein Liebchen. Wo ich darum ſtuhnd
und gieng, waren meine Gedanken bey ihr. Alle
Wochen durft’ ich eine Nacht zu ihr wandeln; die
ſchien mir eine Minute, die Zwiſchenzeit ſechs Jahre
zu ſeyn. O der ſeligen Stunden! Da ſetzte es tau-
ſend und hunderterley verliebte Geſpraͤche — da eifer-
ten wir in die Wette, einander in Honigwoͤrtgen zu
uͤbertreffen; und jeder neue oder alte Ausdruck galt
einen neuen Kuß. — Ich mag nicht ſchwoͤren — und
ſchwoͤre nicht — aber das waren gewiß nicht nur die
ſeligſten, ſondern — auch die ſchuldloſeſten Naͤchte
meines Lebens! — Und doch — ich darf’s noch einmal
nicht verbergen — aber Aennchens Ruf war nicht
der beßte. Dieß hatte ſie ohne Zweifel ihrem frey-
en, geſchwaͤtzigen Maͤulchen zu verdanken. Ich hin-
gegen habe ſtets und immer mehr das redlichſte,
beßte, zuͤchtigſte Maͤdchen an ihr gefunden. Frey-
lich — von jenen mannigfaltigen eigentlichen Verfuͤh-
rer-Kuͤnſten braucht’ ich, und kannt’ ich wirklich
keine — und doch bin ich vollkommen uͤberzeugt,
daß ſie auch dergleichen ſiegreich widerſtanden waͤre.


So gieng der mir unvergeßliche Sommer des
[78] Jahrs 1755. wie eine Woche vorbey; und taͤglich ge-
wann ich mein Aennchen lieber. Vor alle andern
Maͤdels eckelte mir’s, obgleich ich von Zeit zu Zeit
Gelegenheit hatte, mit den artlichſten Toͤchtern des
Lands bekannt zu werden. — Inzwiſchen war ich
ein muntrer Salpeterſieder, bald allein, bald in
Geſellſchaft mit jenem andern Uli, der ſich noch im-
merfort groſſe Muͤhe gab, mir die wunderbarſten
Dinger anzukuppeln. Aber — Puh! — davon war nun
keine Rede mehr, nebendem daß ich jetzt noch uͤberall
an kein Heurathen denken durfte.


XXXIII.
Es geht auf Reiſen
.


Es war im Herbſte, als ich eines Tags meinem
Vater eine huͤbſche Buche im Wald faͤllen half. Ein
gewiſſer Laurenz Aller von Schwellbrunn, ein
Rechen- und Gabelmacher, war uns auch dabey be-
huͤlflich, und kaufte uns nachwerts das ſchoͤnſte da-
von ab. Unter allerhand Geſpraͤchen kam’s auch auf
mich: „Ey, ey, Hans„! ſagte Laurenz, „du
„haſt da einen ganzen Haufen Buben. Was willſt
„auch mit allen anfangen? Haſt doch kein Gut,
„und kann keiner kein Handwerk. Schad’, daß du
„nicht die groͤßten in die Welt ’nausſchickſt. Da
„koͤnnten ſie ihr Gluͤck gewiß machen. Siehſt’s ja
„an des Hans Joggelis ſeinen: Die haben im
Welſch-Berngebiet gleich Dienſt’ gefunden;
[79] „ſind noch kaum ein Jahr fort, und kommen ſchon
„wie ganze Herren neumontirt, mit goldbordirten Huͤten
„heim, ſich zu zeigen, und wurden um kein Geld
„mehr hie zu Land bleiben„. „Ha„! ſagte mein
Vater: „Aber meine Buben ſind dazu viel zu laͤp-
„piſch und ungeſchickt; des Hans Joggelis hinge-
„gen witzig und wohlgeſchult; koͤnnen leſen, ſchrei-
„ben, ſingen und geigen. Meine ſind pur lauter
„Narren in Vergleichung; ſie ſtehen wo man’s ſtellt,
„und thun’s Maul auf„. „Behuͤte Gott„! ver-
ſetzte Laurenz, „muſt das nicht ſagen, Hans!
„Sie waͤren gwiß wohl zu brauchen; ſonderlich
„der groſſe da iſt wohl gewachſen, kann ja auch
„leſen und ſchreiben, und iſt ſicher kein Stockfiſch —
„ſeh’s ihm wohl an. Potz Wetter! wenn der recht
„getummelt wird, das gaͤb’ ein Kerl. Wuͤrdſt die
„Augen aufſperren! Hans, ich will dir Mann da-
„fuͤr ſeyn, daß er nach Jahr und Tag heimkommt
„geſtiefelt und geſpornt, und Geld hat wie Huͤnd,
„daß es dir ein’ Ehr’ und Freud’ ſeyn ſoll„. Waͤh-
rend dieſem Geſpraͤch ſperrt’ ich Maul und Augen
auf, guckte dem Vater ins Geſicht; und er mir,
und ſprach: „Was meinſt, Uli„? Aber eh’ ich
antworten konnte, fuhr Laurenz fort: „Potz Ha-
„gel! wenn ich noch ſo jung waͤr’, und’s Maul
„voll huͤbſche Zaͤhn haͤtte, wie du, das ganze Tocken-
„burg
mit allen ſeinen Stricken und Seilern ſoll-
„ten mich nicht im Land behalten. Ich bin auch
[80] „in der Welt ’rum kommen. Ha! da giebt’s Glob-
„te Laͤnder, und Geld z’verdienen wie Dreck.
„Weiß, was ich da geſehen hab’. Aber ich war
„halt ein liederlicher Narr; und nun iſt’s zu ſpaͤth,
„wenn man dem Alter zuruckt, und gar ein Weib
„hat. O, ich moͤchte noch brieggen*) darob! Aber,
„was iſt zu machen„? „Alles gut„, fiel itzt mein
Vater ein; „aber da muͤßt’ er Empfehlungsſchrei-
„ben, oder ſonſt jemand haben, der ihm in den
„Teich huͤlfe. Ich wollte freylich gern alle meine
„Kinder verſorgt wiſſen, und keinem vor dem Gluͤck
„ſtehn. Aber „— „Aber, was aber„? unter-
brach ihn Laurenz. „Da laß mich dafuͤr ſor-
„gen; es ſoll dich nicht einen Heller koſten, Hans!
„und Buͤrg will ich dir ſeyn, dein Bub ſoll ver-
„ſorgt werden, daß er ein Mann, daß er ein Herr
„giebt. Ich kenne weit und breit angeſehene Leuth’
„genug, die ſolche Burſch’ gluͤcklich machen koͤnnen;
„und da will ich dem Uli gwiß den beßten
„ausſuchen, daß er mir’s ſein Lebtag danken ſoll „—
Mein Vater traute gegen ſeine Gewohnheit dießmal
ſehr geſchwind; denn er war dieſem Laurenz ſonſt
gut. Und von mir kam’s — einige Liebesſcrupel aus-
genommen, von denen wir bald reden werden —
wohl gar nicht in die Frage. So bald es einmal von
des Aetis Seite wirklich hieß: „Wie, Uli, haͤtt’ſt
„Luſt„? hieß es von meiner: „Ja„! Mein Va-
ter mochte um ſo viel zufriedener ſeyn, da er mich
der-
[81] dergeſtalt vollends von Aennchen entfernen konnte.
Der Mutter hingegen lag’s gar nicht recht. Aber,
man weiß es ſchon; wenn der Naͤbishans einmal
einen Entſchluß gefaßt, haͤtten ihn Himmel und Erde
nicht mehr davon abwendig gemacht. Es ward alſo
Tag und Stund abgeredt, wo ich mit Laurenz
verreiſen ſollte, ohne weiter einem Menſchen ein
Wort davon zu ſagen: Denn es mache nur unnoͤthi-
gen Lerm, ſogte mein Fuͤhrer.


XXXIV.
Abſchied vom Vaterland
.


Gute Nacht, Welt! Ich geh ins Tyrol. So hieß
es bey mir. Denn, einstheils wenigſtens, war ich
lauter Freude; meynte der Himmel hange voll Gei-
gen und Hackbrettlin, und haͤtt’ ich Siegel und Brief
in der Fiecke, mein Gluͤck ſey ſchon gemacht. Anders-
theils aber giengs mir freylich entſetzlich nahe —
nicht eben das Vaterland, aber das Land zu meiden
wo mein Liebſtes wohnte. Ach! koͤnnt’ ich mein
Aennchen nur mitnehmen, dacht’ ich wohl hundert-
tauſendmal. Aber dann wieder: Fuͤnf, hoͤchſtens
ſechs Jahr’ ſind doch auch bald vorbey. Und wie
wird’s dann mein Schaͤtzgen freuen, wenn ich mit
Ehr’ und Gut beladen, wie ein Herr nach Haus
kehren — oder es zu mir in ein Gelobt Land ab-
holen kann.


Alſo, auf den 27. Herbſtmonath, Samſtag Abends,
ward’s abgeredt, den Weg in Gottes Namen unter
F
[82] die Fuͤſſe zu nehmen. „Wir wollen bey Nacht und
„Nebel fort„, ſagte Laurenz; „es giebt ſonſt ein
„gar zu wunderfitzig Geluͤg; und an einem Werk-
„tag hab’ ich nicht Zeit. Mach dich alſo reisfertig.
„Einen guten Rock, damit iſt’s gethan„. Sam-
ſtag Morgens macht’ ich alſo alles zurecht. Nun
gieng’s an den Abſchied. Mutter und Schweſtern
vergoſſen haͤufige Thraͤnen, und fiengen ſchon um
Mittag an, mir tauſendmal: Gott behuͤt’, Gott
geleit’ dich! zu ſagen. Mein Vater aber, ebenfalls
voll Wehmuth, gab mir, nebſt etlichen Batzen, fol-
gendes auf den Weg: „Uli„! ſprach er zu mir,
„du gehſt fort, Uli! Ich weiß nicht wohin, und
„du weiſt’s eben ſo wenig. Aber Laurenz iſt ein
„gereiſter Mann, und ich trau’ ihm die Redlich-
„keit zu, er werd’ irgendwo ein gutes Neſt ken-
„nen, wo er dich abſetzen kann. Du von deiner
„Seite halt dich nur redlich und brav, ſo wird’s,
„will’s Gott! nicht uͤbel fehlen. Itzt biſt du noch
„wie ein ungebacknes Broͤdtlin: Gieb Achtung, und
„laß dich weiſen; du biſt gelehrig. Uebrigens weiſt’
„du, Ich hab’ dir das Ding nie mit keinem Wort
„weder gerathen noch mißrathen. Es war Laurenzens
„Einfall, und dein Wille; denen fuͤgt’ ich mich,
„und zwar noch mit ziemlich ſchwerem Herzen. Denn,
„am End konnt’ ich dir noch wie bisher Brodt geben,
„wenn du dich weiter willig zu ſaurer und nicht ſaurer Ar-
„beit, wie ſie kommt, bequemt haͤtteſt. Aber darum
„werd’ ich mich nicht minder freuen, wenn du itzt Speiſ’,
„und Lohn dazu, auf eine leichtere Art verdienen,
[83] „oder gar dein Gluͤck machen kannſt. Was mir am
„meiſten Muͤhe macht, Uli! iſt deine Jugend und
„dein Leichtſinn. Und doch, glaub’ mir’s, du gehſt
„in eine verfuͤhreriſche Welt hinaus, wo’s Hallun-
„ken und Schurken genug giebt, die auf die Un-
„ſchuld ſolcher Buben lauern. Ich bitt’ dich, trau
„doch keinem Geſicht, bis du’s kennſt; und laß
„dich zu nichts bereden, was dich nicht recht duͤnkt.
„Bete fleißig, wie Daniel zu Babel; und vergiß
„nie, daß, wenn ich dich ſchon nicht mehr ſehe und
„hoͤre, dein beßrer Vater im Himmel in alle Winkel
„der Welt ſieht und hoͤrt, was du denkeſt und thuſt.
„Du weiſt ja die Bibel, das heißt Gottes Wort,
„inn- und auswendig. Sinn’ ihm nach, und ver-
„giß es nie, wie wohl’s den frommen Leuten, die
„Gott liebten, gegangen iſt. Denk! Ein Abraham,
„Joſeph, David. Und wie hingegen jenen nichts-
„nutzen gottloſen Buben, wie ungluͤcklich ſie worden
„ſind. Um deiner Seelen willen, Uli! um deiner
„zeitlichen und ewigen Wohlfarth willen, vergiß dei-
„nes Gottes nicht. Wo der Himmel uͤber dir ſteht,
„iſt er ſtets bey dir. Ich kann weiter nichts als
„dich ſeinem allmaͤchtigen Schutz anbefehlen; und
„das will ich thun, unablaͤßig„ — — So giengs noch
eine kurze Weile fort. Mein Herz ward weich wie Wachs.
Vor Schluchzen konnt’ ich nichts ſagen, als: „Ja,
„Vater, ja„! und in meinem Innwendigen hallt’ es
wieder: „Ja, Vater, ja„! Endlich, nach einer
kurzen Stille, ſprach er: „Nun, in Gottes Namen,
„geh„! und ich: „Ja, ich will gehen„! und:
[84] „Liebe, liebe Mutter! thu doch nicht ſo; es wird
„mir nicht gaͤnzlich fehlen. Behuͤt’ Euch Gott!
„lieber Vater, liebe Mutter! Behuͤt’ Euch Gott
„alle, liebe Geſchwiſterte! Folgt doch dem Vater
„und der Mutter! Ich will ihren guten Ermah-
„nungen auch folgen in der weit’ſten weiten Ferne„.
Dann gab mir jedes die Hand. Die Zaͤhren rollten
ihnen uͤber die feurrothen Backen. Ich mußte faſt
erſticken. Drauf gab mir die Mutter den Reisbuͤn-
del, und gieng dann beyſeite. Mein Vater geleitete
mich noch ein Stuͤck Wegs. Es war ſchon Abend-
daͤmmerung. In der Schomatten begegnete mir
Caſpar Muͤller. Der gab mir ein artiges Reis-
geldlin, und Gottes Geleit auf die Straſſe.


XXXV.
Itzt noch vom Schaͤtzle
.


Nun flog’ ich noch zu meinem Aennchen hin, wel-
cher ich erſt ein Paar Naͤchte vorher mein Vorhaben
entdeckt hatte. Sie ward daruͤber gewaltig verdruͤß-
lich, wollt’ ſich’s aber Anfangs nicht merken laſſen.
„Meinethalben„ ſagte ſie mit ihrem unnachahmli-
chen Bitterlaͤcheln, „kannſt gehen — hab’ gemeint — —
„Wer nur ſo liebt, mag ſich packen wo er will„.
„Ach! Liebchen„, ſprach ich, „du weiſt wahrlich
„nicht, wie Weh’s mir thut; aber du ſiehſt wohl,
„mit Ehren koͤnnten wir’s ſo nicht mehr lang aus-
„halten. Und ans Heurathen darf ich itzt nur nicht
„denken. Bin noch zu jung; du biſt noch juͤnger,
[85] „und beyde haben keines Kreutzers werth. Unſre
„Eltern vermoͤchten uns nur nicht, ein Neſtlin zu
„ſchaffen; wir gaͤben ein ausgemachtes Bettelvoͤlklin.
„Und wer weiß, das Gluͤck iſt kugelrund. Einmal
„ich lebe der guten Hoffnung„ — — „Nun, wenn’s
„ſo iſt, was liegt mir dran„? fiel Aennchen ein.
„Aber, gelt! du kommſt noch e’nmal zu mir eh’
„du gehſt„? „Ja freylich, warum nicht„? ver-
ſetzt ich: „Das haͤtt’ ich ſonſt gethan„! Itzt gieng
ich, wie geſagt, wirklich, meinem Herzgen das letzte
Lebewohl zu ſagen. Sie ſtuhnd an der Thur — ſah
mein Reispaͤckgen, huͤllte ihr hold geſenktes Koͤpfgen
in ihre Schuͤrze, und ſchluchzte ohne ein Wort zu
ſagen. Das Herz brach mir ſchier. Es machte mich
wirklich ſchon wankend in meinem Vorhaben, bis
ich mich wieder ein wenig erholt hatte. Da dacht’
ich: In Gottes Namen! es muß dann doch ſeyn,
ſo weh’ es thut. Sie fuͤhrt mich in ihr Kaͤmmer-
in, ſetzt ſich auf’s Bett, zieht mich wild an ihren
Buſen, und — Ach! ich muß einen Vorhang uͤber
dieſe Scene ziehn, ſo rein ſie uͤbrigens war, und ſo
honnigſuͤß mir noch Heute ihre Vergegenwaͤrtigung
iſt. Wer nie geliebt, kann’s und ſoll’s nicht wiſſen —
und wer geliebt hat, kann ſich’s vorſtellen. Gnug,
wir lieſſen nicht ab, bis wir beyde matt von Druͤ-
cken — geſchwollen von Kuͤſſen — naß von Thraͤnen
waren, und die andaͤchtige Nonne [in] der Nachbar-
ſchaft Mitternacht [laͤutete]. Dann riß ich mich end-
lich los aus Aennchens weichen, holden Armen.
„Muß es dann ſeyn„? ſagte ſie: „Iſt auf Him-
[86] „mel und Erde nichts dafuͤr? — Nein! Ich laß’
„dich nicht — geh mit dir ſo weit der Himmel blau
„iſt. Nein, in Ewigkeit laß’ ich dich nicht, mein
„Alles, Alles auf der Welt„! Und ich: „Sey
„doch ruhig, liebes, liebes Herzgen! Denk einmal
„ein wenig hinaus — was fuͤr Freude, wenn wir
„uns wiederſehen — und ich gluͤcklich bin„! Und ſie:
„Ach! Ach! dann laßſt du mich ſitzen„! Und ich:
„Ha! in alle Ewigkeit nicht — und ſollt’ ich der
„groͤßte Herr werden, und bey Tauſenden gewin-
„nen — in alle Ewigkeit laß ich dich nicht aus mei-
„nem Herzen. Und wenn ich fuͤnf, ſechs, zehn
„Jahre wandern muͤßte, werd ich dir immer immer
„getreu ſeyn. Ich ſchwoͤr dir’s„! (wir waren itzt
auf der Straſſe nach dem Derf, wo Laurenz mich
erwartete, feſt umſchlungen, und gaben uns Kuß
und Kuß) „Der blaue Himmel da ob uns mit allen
„ſeinen funkelnden Sternen, dieſe ſtille Mitternacht —
„dieſe Straſſe da ſollen Zeugen ſeyn„! Und ſie:
„Ja! Ja! Hier meine Hand und mein Herz —
„fuͤhl’ hier meinen klopfenden Buſen — Himmel
„und Erde ſeyn Zeugen, daß du mein biſt, daß
„ich dein bin; daß ich, dir unveraͤnderlich getreu,
„ſtill und einſam deiner harren will, und wenn’s
„zehn und zwanzig Jahre dauern — und wenn unſre
„Haare druͤber grau werden ſollten; daß mich kein
„maͤnnlicher Finger beruͤhren, mein Herz immer
„bey dir ſeyn, mein Mund dich im Schlaf kuͤſſen
„ſoll, bis„ — — Hier erſtickten ihr die Thraͤnen alle
Worte. Endlich kamen wir zu Laurenzens Haus:
[87] Ich klopfte an. Wir ſetzten uns vor’s Haus auf’s
Baͤnkgen, bis er hinunterkam. Wir achteten ſei-
ner kaum. Wirklich fieng Aennchen itzt wieder
aufs neue an; die Scheue vor einem lebendigen
Zeugen gab uns ſelber den Muth, uns beſſer zu
faſſen. Wir waren beyde ſo beredt wie Landvoͤg-
te. Aber freylich uͤbertraf mich mein Schaͤtzgen
in der Redekunſt, in Liebkoſungen und Schwuͤ-
ren, noch himmelweit. Bald gieng’s ein wenig
Berg auf. Nun wollte Laurenz Aennchen nicht
weiter laſſen: „Genug iſt genug, ihr Buͤrſchlin„!
ſagte er: „Uchel! ſo kaͤmen wir ewig nicht fort. —
„Ihr klebt da aneinander, wie Harz. — Was hilft
„itzt das Brieggen? — Maͤdel es iſt Zeit mit
„dir ins Dorf zuruͤck: Es giebt noch der Knaben
„mehr als genug„! Endlich (freylich waͤhrt’ es lange
genug) mußt’ ich Aennchen noch ſelber bitten, um-
zukehren: „Es muß — es muß doch ſeyn„! Dann
noch einen eineinzigen Kuß — aber einen wie’s in
meinem Leben der erſte und der letzte war — und
ein Paar Dutzend Haͤndedruͤck’, und: Leb, leb wohl!
Vergiß mein nicht! — Nein gewiß nicht — nie — in
Ewigkeit nicht! — Wir giengen; ſie ſtand ſtill, ver-
huͤllte ihr Geſicht, und weinte uͤberlaut — ich nicht
viel minder. So weit wir uns noch ſehen konnten,
ſchweyten wir die Schnupftuͤcher, und warfen einan-
der Kuͤſſe zu. Itzt war’s vorbey: Wir kamen ihr
aus dem Geſicht. — O wie’s mir da zu Muthe
war! — Laurenz wollte mir Muth einſprechen,
und fieng eine ganze Predigt an: Wie’s in der Frem-
[88] de auch ſchoͤne Engel gebe, gegen welche mein Aenn-
chen
nur ein Rotznaͤschen ſey, u. d. gl. Ich ward
boͤſe auf ihn, ſagte aber kein Wort dazu, gieng
immer ſtaunend hinter ihm her, ſah wehmuͤthig ans
Siebengeſtirn hinauf — zwey kleine Sternen gegen
Mittag ſah’ ich, wie mir’s deuchte, ſo nahe bey-
ſammen, als wenn ſie ſich kuͤſſen wollten, und der
ganze Himmel ſchien mir voll liebender Wehmuth
zu ſeyn. So gieng’s denn fort, ohne meinerſeits
zu wiſſen wohin, und ohne den mindeſten Gedan-
ken an Gutes oder Boͤſes, das mir etwa bevorſte-
hen koͤnnte. Laurenz plauderte beſtaͤndig; ich hoͤrte
wenig, und betete in meinem Innwendigen faſt un-
aufhoͤrlich: Gott behuͤte meine liebe Anne! Gott
ſegne meine lieben Eltern. Gegen Tages Anbruch
kamen wir nach Heriſau. Ich ſeufzte noch immer
meinem Schaͤtzgen nach: Aennchen, Aennchen,
liebſtes Aennchen! — und nun (vielleicht fuͤr lange
das letztemal) ſchreib’ ich’s noch mit groſſen Buch-
ſtaben: Aennchen.


XXXVI.
Es geht langſam weiters.


Es war ein Sonntag. Wir kehrten beym Hecht
ein, und blieben da den ganzen Tag uͤber. Alles
gaffte mich an, als wenn ſie nie einen jungen To-
ckenburger
— oder Appenzeller geſehen haͤtten,
der in die Fremde gieng — und doch nicht wußte
wohin, und noch viel minder recht warum. An allen
[89] Tiſchen hoͤrt’ ich da viel von Wohlleben und luſtigen
Tagen reden. Man ſetzte uns wacker zu Trinken
vor. Ich war des Weins nicht gewohnt, und dar-
um bald aufgeraͤumt, und recht guter Dingen.


Wir machten uns erſt bey anbrechender Nacht
wieder auf den Weg. Ein fuchsrother Heriſauer,
und, wie Laurenz, ein Muͤller, war unſer Gefaͤr-
the. Es gieng auf Goſſau und Flohweil zu. An
letzterm Orte kamen wir bey einem Schopf vorbey,
wo etliche Maͤdel beym Licht Flachs ſchwungen: „Laßt
„mich e’nmal„, ſagt ich, „ich muß die Dinger ſehn,
„ob keine meinem Schatz gleiche„? Damit ſetzt’ ich
mich unter ſie hin, und ſpaßte ein wenig mit ihnen.
Aber eben, da war wenig zu vergleichen. Indeſſen
muſterten mich meine Fuͤhrer fort; ſagten, ich werde
derley Zeug noch genug bekommen, und machten
allerley ſchmutzige Anmerkungen, daß ich roth bis
uͤber die Ohren ward. Dann kamen wir auf Kicken-
bach, Frauenfeld, Nuͤnforn
. Hier uͤberfiel mich
mit Eins eine entſetzliche Mattigkeit. Es war (des
Marſchierens und Trinkens nicht e’nmal zu geden-
ken) das erſtemal in meinem Leben, daß ich zwo
Naͤchte nach einander nicht geſchlafen hatte. Allein
die Kerls wollten nichts vom Raſten hoͤren, preßir-
ten gewaltig auf Schaffhauſen zu, und gaben mir
endlich, da ich ſchwur: Ich koͤnnte nun einmal kei-
nen Schritt weiter! ein Pferd. Das gefiel mir
nicht unfein. Unterwegs gieng’s an ein Predigen,
wie ich mich in Schaffhauſen verhalten, huͤbſch
grad ſtrecken, friſch antworten ſollte, u. d. gl. Dann
[90] flismeten *) ſie zwey mit einander (doch mit Fleiß
ſo, daß ich’s hoͤren mußte) von galanten Herren die
ſie kennten, deren Diener es ſo gut haͤtten, als die
Groͤßten im Tockenburg. „Sonderlich„ ſagte
Laurenz, „kenn’ ich einen Deutſchlaͤnder der ſich
„dort incognito aufhaͤlt, gar ein vornehmer Herr
„von Adel, der allerley Bediente braucht, wo’s der
„geringſte beſſer hat als ein Landammann„. „Ach„!
ſagt’ ich, „wenn ich nur nicht zu ungeſchickt waͤre,
„mit ſolchen Herren zu reden„! ‒ ‒ Nur gradzu
„geredt, wie’s koͤmmt„ ſagten ſie; „ſo habens
„dergleichen vornehme Leuth’ am liebſten„.


XXXVII.
Ein nagelneues Quartier
.


Wir kamen noch bey guter Zeit in Schaffhauſen
an, und kehrten beym Schiff ein. Als ich vom
Pferd eher fiel als ſtieg, war ich halb lahm, und
ſtuhnd da wie ein Hoſendaͤmpfer. Da gieng’s von
Seite meiner Fuͤhrer an ein Muſtern, das mich
bald wild machte, da ich nicht begreifen konnte, was
endlich draus werden ſollte. Als wir die Stiege
hinaufkamen, hieſſen ſie mich ein [wenig] auf der
Laube warten, traten in die Stube, und riefen
mich dann nach wenigen Minuten auch hinein. Da
ſah ich einen groſſen huͤbſchen Mann der mich freund-
lich anlaͤchelte. Sofort hieß man mich die Schuh’
ausziehn, ſtellte mich an eine Saul unter ein Maaß,
[91] und betrachtete mich vom Kopf bis zun Fuͤſſen. Dann
redten ſie etwas Heimliches mit einander; und hier
ſtieg mir armen Buͤrſchgen der erſte Verdacht auf,
die zwey Kerls moͤchtens nicht am Beßten mit mir
meynen; und dieſer Argwohn verſtaͤrkte ſich, als ich
deutlich die Worte vernahm: „Hier wird nichts
„draus, wir muͤſſen alſo weiter gehn„. „Heut
„ſetz’ ich keinen Fuß mehr aus dieſem Haus„, ſagt’
ich zu mir ſelber; „ich hab’ noch Geld„! Meine
Fuͤhrer giengen hinaus. Ich ſaß am Tiſche. Der
Herr ſpatzierte das Zimmer auf und ab, und guckte
mich unterweilen an. Neben mir ſchnarchte ein
groſſer Bengel auf der Bank, der wahrſcheinlich im
Rauſch in die Hoſen geſchwitzt, daß es kaum zu er-
leiden war. Als der Herr waͤhrend der Zeit einmal
aus der Stube gieng, nahm ich die Gelegenheit wahr,
die Wirthsjungfer zu fragen: Wer denn wohl die-
ſer Burſche ſeyn moͤchte: „Ein Lumpenkerl„, ſagte
ſie: „Erſt Heute hat ihn der Herr zum Bedienten
„angenommen, und ſchon ſauft ſich der H *. blind-
„ſtern voll, und macht e’n Geſtanck, Puh„! —
„Ha„! ſagt’ ich, eben als der Herr wieder herein-
trat, „ſo ein Bedienter koͤnnt’ ich auch werden„.
Dieß hoͤrt’ er, wandte ſich gegen mir, und ſprach:
„Haͤtt’ſt du zu ſo was Luſt„? „Nachdem es iſt„,
antwortet’ ich. „Alle Tag 9. Batzen„, fuhr er
fort, „und Kleider, ſo viel du noͤthig haſt„. „Und
„was dafuͤr thun„? verſetzt’ ich. Er. Mich bedie-
nen. Ich. Ja! wenn ich’s koͤnnte. Er. Will
dich’s ſchon lehren. Purſch du gefaͤllſt mir. Wir
[92] wollen’s vierzehn Tag probiren. Ich. Es bleibt
dabey. — Damit war der Markt richtig. Ich mußt’
ihm meinen Namen ſagen. Er ließ mir Eſſen und
Trinken vorſetzen, und that allerley gutmuͤthige Fra-
gen an mich. Unterdeſſen waren meine Gefaͤrthen
(wie ich nachwerts erfuhr) zu ein Paar andern
preuſſiſchen Werboffizieren gegangen (es befanden
ſich damals 5. dergleichen auf einmal in Schaff-
hauſen
) und machten bey ihrer Zuruͤck[kunft] groſſe
Augen, als ſie mich ſo drauf loszechen ſahen. „Was
„iſt das„? ſagte Laurenz: „Geſchwind, komm!
„Itzt haben wir dir einen Herrn gefunden„. — „Ich
„hab’ ſchon einen„, antwortet ich. Und Er: „Wie,
„was? Ohne Umſtaͤnd „- - und wollten ſchon Ge-
walt brauchen. „Das geht nicht an, ihr Leuthe„!
ſagte mein Herr: „Der Burſch’ ſoll bey mir blei-
„ben„! „Das ſoll er nicht„, verſetzte Laurenz:
„Er iſt uns von ſeinen Eltern anvertraut„. „Ly-
„rum! Larum„! erwiederte der Herr: „Er hat
„nun einmal zu mir gedungen, und damit auf und
„Holla„! Nach einem ziemlich heftigen Wortwechſel
giengen ſie mit einander in ein Nebencabinet, wo
Laurenz und der Heriſauer, wie ich im Verfolg
hoͤrte, ſich mit 3. Dukaten abſpeiſen lieſſen, von
denen eine meinem Vater werden ſollte - - der er
aber nie anſichtig ward. Damit brachen ſie ganz
zornig auf, ohne nur mit einem Wort von mir Ab-
ſchied zu nehmen. Anfangs ſollen ſie bis auf zwan-
zig Louisd’or fuͤr mich gefodert haben.


Den folgenden Tag ließ mein Herr einen Schnei-
[93] der kommen, und mir das Maaß von einer Monti-
rung nehmen. Alle andern Beythaten folgten in
Kurzem. Da ſtand ich nun geſtiefelt und geſpornt,
nagelfunkelneu vom Scheitel bis an die Sohlen:
Ein huͤbſcher bordirter Hut, ſamtene Halsbinde, ein
gruͤner Frack, weiß tuͤche ne Weſte und Hoſen, neue
Stiefel, nebſt zwey Paar Schuhen; alles ſo nett an-
gepaßt ‒ - Sackerlot! Da bildet’ ich mir kein kaltes
Kraut ein. Und mein Herr reitzte mich noch dazu,
nur ein wenig ſtolz zu thun: „Ollrich„! ſagte er:
„Wenn du die Stadt auf und ab gehſt, mußt du
„huͤbſch gravitaͤtiſch marſchieren ‒ - den Kopf recht in
„die Hoͤhe, den Hut ein wenig aufs eine Ohr„.
Mit eigner Hand guͤrtete er mir einen Ballaſt an
die Seite. Als ich ſo das erſtemal uͤber die Straſſe
gieng, war’s mir, als ob ganz Schaffhauſen mein
waͤre. Auch ruͤckte alles den Hut vor mir. Die Leuth’
im Haus begegneten mir wie einem Herrn. Wir
hatten in unſerm Gaſthof huͤbſch meublirte Zimmer,
und ich ſelber ein ganz artiges. Ich ſah aus meinem
Fenſter alle Stunden des Tags das frohe Gewim-
mel der durchs Schiffthor aus- und eingehnden
Menſchen, Pferdten, Wagen, Kutſchen und Chai-
ſen; und, was mir nicht wenig ſchmeichelte — man
ſah und bemerkte auch mich. Mein Herr, der mir
bald ſo gut war als ob ich ſein eigener Sohn waͤre,
lehrte mich friſiren; friſierte mich Anfangs ſelbſt,
und flocht mir einen tuͤchtigen Haarzopf. Ich hatte
nichts zu thun, als ihn bey Tiſch zu ſerviren, ſeine
Kleider auszuklopfen, mit ihm ſpatzieren zu fahren,
[94] auf die Voͤgeljagd zu gehn, u. d. gl. Ha! Das war
ein Leben fuͤr mich. Die meiſte Zeit durſt’ ich vol-
lends allein wandeln, wohin es mir beliebte. Alle
Tag gieng ich bald durch alle Gaſſen in dem huͤb-
ſchen Schaffhauſen; denn auſſert Lichtenſteig hatt’
ich bisher noch keine Stadt geſehn, und kein groͤſſer
Waſſer als die Thur. Ich ſpatzierte alſo bald alle
Abend am den Rhein hinaus, und konnte mich an
dieſem maͤchtigen Fluß kaum ſatt ſehn. Als ich den
Sturz bey Laufen das erſtemal ſah und hoͤrte, ward
mir’s braun und blau vor den Augen. Ich hatte
mir’s, wie ſo viele, ganz anders, aber ſo furchtbar
majeſtaͤtiſch nie eingebildet. Was ich mir da fuͤr
ein klein winziges Ding ſchien! Nach einem ſtun-
denlangen Anſtaunen kehrt’ ich ordentlich wie beſchaͤmt
nach Haus. Bisweilen gieng’s auf den Bonenberg,
der ſchoͤnen Ausſicht wegen. An der Laͤnde half’ ich
den Schiffleuthen, und fuhr bald ſelbſt mit Plaiſir
hin und her.


XXXVIII.
Ein unerwarteter Beſuch
.


So ſtuhnd’s, und mir war himmelwohl, als, ohne
Zweifel durch meine wackern Begleiter, das Geruͤcht
in mein Heimath kam, man haͤtte mich aufs Meer
verkauft; und namentlich ſollte dieß ein Mann aus-
geſagt haben, der mich mit eignen Augen anſchmie-
den, und den Rhein hinunterfuͤhren geſehn. Schon
ſtellte man mich allen Kindern zum Exempel vor,
[95] daß ſie fein bey Haus bleiben, und ſich nicht in die
boͤſe Welt wagen ſollten. Zwar glaubte mein Vater
kein Wort hievon; weil aber die Mutter ſo graͤmlich
that, ihm Vorwuͤrf’ uͤber Vorwuͤrfe machte, und
Tag und Nacht keine Ruhe ließ, entſchloß er ſich
endlich, auf Schaffhauſen zu kehren, und ſich ſelbſt
nach dem Grund oder Ungrund dieſer Maͤhre zu er-
kundigen. Alſo, an einem Abend, welche Freude
fuͤr uns beyde, als mein innigſtgeliebter Vater ſo
ganz unerwartet, daß ich meinen Augen kaum trauen
durfte, in meine Kammer trat; Er mir erzaͤhlte,
was ihn hergefuͤhrt, und Ich ihm, wie gluͤcklich ich
ſey; ihm meinen Kaſten zeigte, die ſcharmanten Klei-
der darin, alles Stuͤck vor Stuͤck bis auf die Hem-
derknoͤpflin; dann ihn meinem guten Herrn vorſtellte,
der ihn freundlich bewillkommte, und beßtens zu
traktiren befahl, u. ſ. f. u. f. — Nun aber traf’s
ſich, daß man gerade den Abend nach dem Nacht-
eſſen in unſerm Gaſthof tanzte, und mein Herr, als
ein Liebhaber von allen Luſtbarkeiten, ſich ſolches
auch ſchmecken ließ — ſo wie mein Vater und ich,
am Tiſchgen in einem Winkel der groſſen Gaſtſtube,
unſern Braten. Ganz unverſehns kam er auf mich
zu: „Ollrich! komm, mußt auch Eins mit den
„jungen Leuthen da tanzen„. Vergebens entſchul-
digt’ ich mich, und bezeugte auch mein Vater, daß
ich mein Lebtag nie getanzt haͤtte. Da half alles
nichts. Er riß mich hinterm Tiſch hervor, und gab
mir die Koͤchin im Haus, ein artiges Schwaben-
meitlin, an die Hand. Der Schweiß tropfte mir
[96] von der Stirn, vor Schaam, daß ich in Gegenwart
meines Vaters tanzen ſollte. Das Maͤdchen inzwi-
ſchen riß mich ſo vertummelt herum, daß ich in
Kurzem ſinnlos von einer Wand zu der andern
platſchte, und damit allen Zuſchauern zum Spektakel
ward. Mein lieber Aeti redte zwar bey dieſer gan-
zen Scene kein Wort; aber von Zeit zu Zeit warf
er auf mich einen wehmuͤthigen Blick, der mir durch
die Seele gieng. Wir legten uns doch noch zeitig genug
zu Bette. Ich ward nicht muͤde, ihm nochmals eine
ganze Predigt zu machen, wie wohl ich mich befinde:
was ich vor einen guͤtigen Herrn habe, wie freund-
lich und vaͤterlich er mir begegne, u. ſ. f. Er gab
mir nur mit abgebrochenen Worten Beſcheid: Ja —
So — es iſt gut — und ſchlief ein — ziemlich un-
ruhig, und ich nicht minder. Des Morgens nahm
er Abſchied, ſo bald mein Herr erwacht war. Der-
ſelbe zahlte ihm die Reiskoſten, gab ihm noch einen
Thaler auf den Weg, und verſicherte ihn hoch und
theuer, ich ſollt’ es gewiß gut bey ihm haben und
wohl verſorgt ſeyn, wenn ich mich nur weiter treu
und redlich betragen wuͤrde. Mein redlicher Vater,
der nun ſchon wieder Muth und Zutrauen faßte,
dankte hoͤflich, und empfahl mich auf’s Beßte. Ich
gab ihm das Geleit bis zum Kloſter Paradies. Auf
der Straſſe ſprachen wir ſo herzlich mit einander,
als es ſeit jener Krankheit in meiner Jugend ſonſt
nie geſchehn. Er gab mir vortrefliche Erinnerungen:
„Vergiß deine Pflichten, deine Eltern und deine
„Heimath nicht, ſo wird dich Gottes Vaterhand ge-
„wiß
[97] „wiß auf gute Wege leiten, welche freylich weder
„ich noch du jetzt vorausſehn„. Beym Abſchied
zerdruͤckten wir uns faſt. Ich konnte vor Schluchzen
kaum ein: Behuͤte, behuͤte Gott! herſtammeln, und
dachte nur immer: Ach! koͤnnt’ ich doch mein gegen-
waͤrtiges Gluͤck, ungetrennt von meinem guten Aeti
genieſſen, jeden Biſſen mit ihm theilen, u. d gl.


XXXIX.
Was weiters
.


Meines Dienſts war ich bald gewohnt. Mein Herr
hatte, ohne mein Wiſſen, etlichemal meine Treu
auf die Probe geſtellt, und hie und da im Zimmer
Geld liegen laſſen. Als bald nachher einem andern
von den Preußiſchen Werboffizieren ſein Bedienter
mit dem Schelmen davon gieng, und ihm uͤber 80. fl.
enttrug, ſagte mein Herr zu mir: „Willſt du
„mir’s auch e’nmal ſo machen, Ollrich„? Ich
verſetzte lachend: Wenn er mir ſo was zutraue, ſoll
er mich lieber fortjagen. Ich hatte aber wirklich ſein
Vertrauen ſo ſehr gewonnen, daß er mir den gan-
zen Winter durch die Schluͤſſel zu ſeiner Stube und
Kammer ließ, wenn er etwa ohne Bedienten kleine
Tours machte. Hinwieder ehrte und liebte ich ihn
wie einen Vater. Aber er war auch freundlich und
guͤtig darnach. Nur zu viel konnt’ ich ſpatziren und
muͤßig gehn; und fuhr ich, beſonders im Herbſt,
oft uͤber Rhein auf Feurthalen (denn die alte Bruͤ-
cke war kurz vorher eingefallen, und die neue mit
G
[98]H. Grubenmann in unſerm Gaſthof accordirt wor-
den) in die Weinleſe. Dort half ich dem jungen
Volke Trauben — eſſen, bis ans Halszaͤpflin. Ein-
mal bey einer ſolchen Ueberfahrt, ſagte mir jemand:
„Nun, wie geht’s Ulrich? Weißt du auch, daß
„dein Herr ein Preußiſcher Offizier iſt„? Ich.
„Ja! meinetwegen, er iſt ein herzguter Herr„.
„Ja, ja„! ſagte jener: „Wart’ nur, bis d’enmal
„in Preuſſen biſt; da mußt Soldat ſeyn, und dir
„den Buckel braun und blau gerben laſſen. Um
„tauſend Thaler moͤcht’ ich nicht in deiner Haut
„ſtecken„. Ich ſah dem Burſchen ſtarr ins Geſicht,
und dachte bloß, der Kerl rede ſo aus Bosheit oder
Neid; gieng dann geſchwind nach Hauſe, und er-
zaͤhlte meinem Herrn alles harklein, worauf derſelbe
verſetzte: „Ollrich, Ollrich! Du mußt nicht ſo
„einem jeden Narrn und Flegel dein Ohr geben.
„Ja! es iſt wahr, ein Preußiſcher Offizier bin ich —
„und was iſt’s denn? — von Geburth ein Pohlni-
„ſcher
Edelmann; und, damit ich dir alles auf die
„Naſe binde, heiß’ ich Johann Markoni. Bis-
„her nannteſt du mich Herr Lieutenant! Aber eben
„dieſer Grobiane wegen, ſollſt du mich koͤnftig Ihr
„Gnaden! ſchelten. Uebrigens ſey nur getroſt und
„guten Muths, dir ſoll’s, bey Edelmanns Parole!
„nie fehlen, wenn du anderſt ein wackrer Burſche
„bleibſt. Soldat ſollteſt werden? Nein! bey meiner
„Seel’ nicht! Ich konnt’ dich ja haben; um ein
„Paar ſchlichtige Louisd’or wollten deine beyden ſau-
„bern Landsleuth’ dich verkaufen. Aber du warſt
[99] „mir dazu etwas zu kurz; von deiner Laͤnge nimmt
„man noch keinen an, und ich behielt dir was beſ-
„ſeres vor„. Nun, dacht’ ich, bin ich Leibs und
Guts ſicher — Ha! der gute Herr! — Er haͤtt mich
koͤnnen haben — Die Schurken! — Ja wohl, mich
verkaufen? — Der Henker lohn’s ihnen! — Aber
komm’ mir mehr ſo einer, ich will ihm das Maul
mit Erde ſtopfen. Ja wohl! — Was fuͤr ein vor-
nehmer Herr muß nicht Markoni ſeyn, und da-
bey ſo gut! Kurz, ich glaubte von nun an ihm al-
les, wie ein Evangelium.


XL.
O die Muͤtter, die Muͤtter.


Markoni machte bald hernach eine Reiſe auf
Rothweil am Nekar, zwoͤlf Stunden von Schaff-
hauſen
entlegen. Ich mußte mit, und zwar in der
Chaiſe. In meinem Leben war ich in keinem ſolchen
Ding geſeſſen. Der Kutſcher ſprengte die Stadt hin-
auf bis ans Schwaben-Thor, daß es donnerte.
Ich meinte alle Augenblick’, es muͤſſe umſchlagen,
und wollt’ mich an allen Waͤnden halten. Markoni
lachte ſich die Haut voll: „Du faͤllſt nicht, Ollrich!
„Nur huͤbſch gerade„! Ich war’s bald gewohnt,
und das Fuhrwerk, ſo wie uͤberhaupt dieſe ganze
Tour, machte mir viel Verguuͤgen. Indeſſen begeg-
nete mir waͤhrend der Zeit ein fataler Streich. Mei-
ne Mutter war wenige Tage nach unſrer Abreiſe gen
Schaffhauſen gekommen, und mußte, da ihr der
[100] Wirth nicht ſagen konnte, wenn wir zuruͤckkaͤmen,
noch welchen Weg wir genommen, wieder nach Haus
kehren, ohne ihr liebes Kind geſehen zu haben. Sie
hatte mir mein N. Teſtament und etliche Hembder
gebracht, und dem Wirth befohlen mir’s nachzuſchi-
cken, falls ich nicht wieder auf Schaffhauſen kaͤme.
O die gute Mutter! Es war eine kleine Buſſe fuͤr
ihren Unglauben; ſie wollte dem Vater nicht trauen,
daß er mich angetroffen, ſondern mit eignen Augen
ſehen, und erſt dann glauben. Ganz troſtlos, und
unter tauſend Thraͤnen ſoll ſie wieder von Schaff-
hauſen
heimgegangen ſeyn. Dieß ſchrieb mir, auf
ihr Anſuchen, bald darauf, Herr Schulmeiſter Am
Buͤhl zu Wattweil, mit dem Beyfuͤgen: Sie laſſe
mir, da ſie keine Hoffnung habe mich jemals wieder
zu ſehen, hiemit ihr letztes Lebewohl ſagen, und gebe
mir ihren Segen. Es war ein ſehr ſchoͤner Brief,
er ruͤhrte mich innig. Unter anderm ſtand auch dar-
inn: Als das Geruͤcht in meine Heimath gekommen,
ich muͤſſe uͤber Meer, haͤtten meine jungen Schwe-
ſterchen all’ ihr armes Gewaͤndlin dahingeben wollen,
mich loszukaufen; die Mutter deßgleichen. Damals
waren ihrer neun Geſchwiſterte bey Hauſe. Man
ſollte denken, das waͤren ihrer doch noch genug.
Aber eine rechte Mutter will keins verlieren, denn
keins iſt das andre. Wirklich war ſie drey Wo-
chen vorher noch im Kindbeth gelegen, und kaum auf-
geſtanden, als ſie meinetwegen auf Schaffhauſen
kam. O die Muͤtter, die Muͤtter!


[101]

XLI.
Hin und her, her und hin.


Da wir uns einſtweilig in Rothweil im Gaſthof
zum Armbruſt niederlieſſen, ſchrieb mein Herr auf
Schaffhauſen wo er waͤre, damit wenn ſeine Wacht-
meiſters Rekruten machten, man ihm ſolche nach-
ſchicken koͤnnte. Er bekam bald Antwort. Derſelben
war auch das Geſchenk meiner Mutter, das Schrei-
ben des Herrn Am Buͤhls, und — ich ſprang hoch
auf! eines von Aennchen beygebogen: Dieſes letztre
offen; denn es ſollte ein Zuͤrchgulden zum Gruͤßchen
drinn ſtecken, und der war fort. Was ſchierte mich
das? Die ſuͤſſen Fuchswoͤrtlin in dem Briefgen ent-
ſchaͤdigten mich reichlich. Meiner unverſchobnen aus-
fuͤhrlichen Antworten auf dieſe Zuſchriften will ich
nicht gedenken. Die an Aennchen zumal war lang
wie ein Neſtelwurm. — Dießmal blieben wir nur
kurze Zeit zu Rothweil, giengen wieder nach dem
lieben Schaffhauſen zuruͤck, und machten dann von
Zeit zu Zeit kleine Tours auf Dieſſenhofen, Stein
am Rhein, Frauenfeld
u. ſ. f. Alle Wochen ka-
men Saͤumer aus dem Tockenburg herunter. Schon
als Landskraft waren ſie mir lieb, und ich freute
mich immer, ſobald ich nur die Schellen ihrer Thiere
hoͤrte. Itzt machte ich noch naͤhere Bekanntſchaft mit
ihnen, und gab ihnen ein paarmal Briefe und kleine
Geſchenke an mein Liebchen und an meine Geſchwi-
ſter mit, erhielt aber keine Antwort. Ich wußte
nicht wo es fehlte? Das drittemal bat ich einen
[102] ſolchen Kerl, mir doch alles richtig zu beſtellen. Er
guckte das Paͤckgen an, runzelte die Stirn, und
wollte weder Ja noch Nein ſagen. Ich gab ihm ei-
nen Batzen. „So, ſo„, ſprach jetzt mein Herr Lands-
mann: „Das Ding ſoll richtig beſtellt werden„. Und
wirklich bekam ich nun bald ordentliche Empfang-
ſcheine. Meine aͤltern Brief und ſchweren Sachen
hingegen waren natuͤrlich nach Holland geſchwommen.


In Schaffhauſen lagen damals fuͤnf preußiſche
Werboffiziers in verſchiedenen Wirthshaͤuſern. Alle
Tag traktirte einer die andern. So kam’s auch je
den fuͤnften Tag an uns. Das koſtete jedesmal ei-
nen Lonisd’or; dafuͤr gab’s denn freylich Burgunder
und Champanier gnug zu trinken. Aber bald her-
nach wurde ihnen ihr Handwerk niedergelegt; wie
die Sag’ gieng, weil ein junger Schaffhauſer,
der in Preuſſen ſeine Jahre ausgedient, keinen Ab-
ſchied kriegen konnte. Und kurz, ſie mußten alle fort,
und neue Neſter ſuchen. Mein Herr hatte ohnehin
hier ſchlechte Beute gemacht; drey einzige Erzſchur-
ken ausgenommen, die ſich Verbrechen wegen auf
fluͤchtigen Fuß ſetzen mußten. Wir begaben uns
wieder nach Rothweil. Hier kriegten wir in etli-
chen Wochen vollends einen einzigen Kerl, einen
Deſerteur aus Piemont, der aber Markoni viel
Freude machte, weil er ſein Landsmann war, und
mit ihm Pohlniſch parlen konnte. Sonſt war’s in
Rothweil ein luſtig Leben. Beſonders giengen
wir oft [mit] einem andern Werboffizier, nebſt un-
ſerm braven Wirth, und etlichen Geiſtlichen, in die
[103] Nachbarſchaft aufs Jagen. Im Hornung 1756 mach-
ten wir eine Reiſe nach Straßburg. Auf dem
Weg nahmen wir zu Haßlach im Kinzinger-Thal
unſer Schlafquartier. In derſelben Nacht war das
entſetzliche Erdbeben, welches man durch ganz Eu-
ropa verſpuͤrte. Ich aber empfand nichts davon;
denn ich hatte mich Tags vorher auf einem Karrn-
gaul todmuͤd geritten. Am Morgen aber ſah’ ich
alle Gaſſen voll Schorſteine; und im naͤchſten Wald
war die Straſſe mit umgeworfenen Baͤumen in die
Kreutz und Queer ſo verhackt, daß wir mehrmals
Umwege nehmen mußten. — In Straßburg mußt’
ich Maul und Augen aufſperren; denn da ſah’ ich:
1.) Die erſte groſſe Stadt. 2.) Die erſte Feſtung.
3.) Die erſte Garniſon. 4.) Am dortigen Muͤnſter
das erſte Kirchengebaͤud’, bey deſſen Anblick ich nicht
laͤcheln mußte wenn man es einen Tempel nannte.
Wir brauchten acht Tag’ zu dieſer Tour. Mein
Herr hielt mich auch dießmal gaſtfrey, und zahlte
mir gleich meinen Sold. Da haͤtt’ ich Geld machen
koͤnnen wie Heu, waͤr’ ich nicht ein liederlicher Tropf
geweſen. Er ſelbſt indeſſen hielt nicht viel beſſer
Haus. Bey unſrer Ruͤckkehr hatten wir zu Roth-
weil
alle Tag Ball, bald in dieſem bald in jenem
Wirthshauſe. Faſt alle Hochzeiten richtete man,
Markoni zu Gefallen, in dem unſrigen an. Der
beſchenkte alle Braͤute, und trillerte dann eins mit
ihnen herum. Auch fuͤr mich war dieß jetzt ein gan-
zes Freſſen. Zwar hatt’ ich mir’s feſt vorgenommen,
meinem Aennchen treu zu bleiben, und hielt wirk-
[104] lich mein Wort; gleichwohl aber macht’ ich mir auch
kein Gewiſſen daraus, hie und da mit einem huͤb-
ſchen Kind zu ſchaͤckern; wie mich denn auch die
Dinger recht wohl leiden mochten. Mein Herr, der
war nun vollends gar ein Liebhaber des ſchoͤnen Ge-
ſchlechts bis zum Entſetzen, und im Nothfall jede
Koͤchin ihm gut genug. Mich bewahre Gott dafuͤr!
dacht’ ich oft, ſo ein armes bisher ehrliches Maͤd-
chen zu beſudeln, und dann Heut oder Morgens
wegzureiſen, und es ſitzen zu laſſen. Eine von den
beyden Koͤchinnen im Wirthshauſe, Mariane, dau-
erte mich innig. Sie liebte mich heftig, gab und
that mir, was ſie mir in den Augen anſah. Ich
hingegen bezeigte mich immer ſchnurrig; ſie ließ ſich’s
aber nicht anfechten, und blieb gegen mich ſtets die-
ſelbe. Schoͤn war ſie nicht, aber herzlich gut. Die
andere Koͤchin, Hanne, machte mir ſchon mehr An-
fechtungen. Dieſe war zierlich huͤbſch, und ich, ver-
muthlich darum, eine zeitlang ſterblich verliebt in ſie.
Haͤtt’ ſie meine Aufwart williger angenommen, waͤr’
ich wirklich an ihr zum Narrn worden. Aber ich
ſah bald, daß ſie gut mit Markoni ſtuhnd. Ich
merkte, daß ſie alle Morgen zu ihm aufs Zimmer
ſchliech. Damit that ſie mir einen doppelten Dienſt:
Erſtlich verwandelte ſich meine Liebe in Haß: Zwey-
tens ſtand nun mein Herr nicht mehr ſo fruͤhe als
gewoͤhnlich auf; alſo konnt’ auch ich hinwieder um
ſo viel laͤnger ſchlafen. Bisweilen kam er ſchon ge-
ſtiefelt und geſporrnt auf meine Kammer, und traf
mich noch im Bett’ an, ohne mir Vorwuͤrf’ zu ma-
[105] chen; denn er merkte, daß ich wußte, wo die Katz
im Stroh lag. Nichts deſto weniger warnte er mich,
nach ſolcher Herren Weiſe, oft vor ſeinen eignen
Suͤnden mit groſſem Ernſt. „Ollrich„! hieß es
da: „Hoͤrſt, mußt dich mir den Maͤdels nicht zu weit
„einlaſſen; du koͤnnt’ſt die ſchwere Noth kriegen„!
Uebrigens hatt’ ich’s in allen Dingen bey und mit
ihm, wie von Anfang; viel Wohlleben fuͤr wenig
Geſchaͤfte, und meiſt einen Patron wie die liebe Stun-
de, zwey einige Mal ausgenommen; einmal da ich
den Schluͤſſel zum Halsband ſeines Pudels nicht auf
der Stell’ finden konnte, das andremal da ich einen
Spiegel ſollte zerbrochen haben. Beydemal war ich
unſchuldig. Aber das haͤtt’ mir wenig geholfen;
ſondern nur durch demuͤthiges Schweigen entgieng
ich der zumal des Schluͤſſels wegen ſchon uͤber mir
gezogenen Fuchtel. Derley Geſchichtgen, kurz alles
was mir Suͤſſes oder Sauers wiederfuhr, (meine
Liebesmuͤcken ausgenommen) ſchrieb ich dann fleißig
nach Haus, und predigte bey ſolchen Anlaͤſſen meinen
Geſchwiſtern ganze Litaneyen voll: Wie ſie Vater,
Mutter und andern Fuͤrgeſetzten ja nie wiederbefzgen,
ſondern, auch wo ſie Unrecht zu leiden vermeynen,
ſich fein huͤbſch gewoͤhnen ſollten das Maul zu halten,
damit ſie’s nicht von fremden Leuthen erſt zu ſpaͤth
lernen muͤſſen. Alle meine Briefe ließ ich meinen
Herrn leſen; nicht ſelten klopfte er mir waͤhrend
der Lektur auf die Schulter: Bravo, Bravo! ſagte
er dann, verpittſchierte ſie mit ſeinem Siegel, und
hielt mich hinwieder in Anſehung aller an mich ein-
gehnden Depeſchen portfrey.


[106]

XLII.
Noch mehr dergleichen Zeug.


Mir iſt ſo wohl beym Zuruͤckdenken an dieſe gluͤck-
lichen Tage — Heute noch ſchreib’ ich mit ſo viel
innigem Vergnuͤgen davon — bin jetzt noch ſo wohl
zufrieden mit meinem damaligen Ich — ſo geneigt
mich uͤber alles zu rechtfertigen, was ich in dieſem
Zeitraum that und ließ. Freylich vor dir nicht, All-
wiſſender! aber vor Menſchen doch darf ich’s ſagen:
Damals war ich ein guter Burſch’ ohne Falſch —
vielleicht fuͤr die arge Welt nur gar zu redlich. Harm-
los und unbekuͤmmert bracht’ ich meine Tage hin,
Heut’ wie Geſtern, und Morgens wie Heute. Nur
kein Gedanke ſtieg in mir auf, daß es mir jemals
anderſt als gut gehen koͤnnte. In allen Briefen
ſchrieb ich meinen Eltern, ſie ſollten zwar fuͤr mich
beten, aber nicht fuͤr mich ſorgen; der Himmel und
mein guter Herr ſorgten ſchon fuͤr mich. Man glaube
mir’s oder nicht, der einzige Kummer der mich bis-
weilen anfocht, war dieſer: Es duͤrft’ mir noch zu
wohl werden, und dann moͤcht’ ich Gottes vergeſſen.
Aber, nein! (beruhigte ich mich bald wieder) das
werd’ ich nie: War Er’s nicht, der mir, durch
Mittel die nur ſeine Weisheit zum Beßten lenken
konnte, zu meinem jetzigen erwuͤnſchten Loos half?
Mein erſter Schritt in die Welt gerieth unter ſeiner
leitenden Fuͤrſorge ſo gut; warum ſollten die folgen-
den nicht noch beſſer gelingen? Auf irgend einem
Fleck der Erde werd’ ich vollends mein Gluͤck bau’n.
[107] Dann hohl’ ich Aennchen, meine Eltern und Ge-
ſchwiſter zu mir, und mache ſie des gleichen Wohl-
ſtands theilhaft. Aber, durch welche Wege? — Dieß
fragt’ ich mich nie; und haͤtt’ ich daran gedacht, ſo
waͤr’s mir nicht ſchwer geweſen, drauf zu antworten —
denn damals war mir Alles leicht. Zudem kam mein
Herr tagtaͤglich mit allerley Exempeln von Bauern
die zu Herren worden, und andern Fortunastindern
angeſtochen (der Herren die zu Bettlern worden, that
er keine Meldung) und verſprach ſelber, an meinem
fernern Fortkommen wie ein treuer Vater zu arbei-
ten u. d. gl. Was haͤtt’ ich weiter befuͤrchten ſol-
len — oder vielmehr, was nicht alles hoffen duͤr-
fen? Von einem Herrn, wie Markoni — einem
ſo groſſen Herrn, dacht’ ich Eſel — dem zweyt- oder
drittnaͤchſten vielleicht auf den Koͤnig, der Laͤnder und
Staͤdte, geſchweige Gelds zu vergeben hat, ſo viel
er will. Aus ſeiner jetzigen Guͤte zu ſchlieſſen, was
wird er erſt fuͤr mich in der [Zukunft] thun? Oder
warum ſollt’ er auf mich groben ungeſchliffenen Fle-
gel jetzt ſchon ſo viel wenden, wenn er nicht groſſe
Dinge mit mir im Sinn haͤtte? Konnt’ er mich
nicht, gleich andern Rekruten, geradezu nach Ber-
lin transportiren laſſen, wenn er je im Sinn haͤtte,
mich zum Soldaten zu machen, wie mirs ehemals
ein Paar boͤſe Maͤuler aufbinden wollten? Nein!
Das wird in Ewigkeit nicht geſchehn, darauf will ich
leben und ſterben. So dacht’ ich, wenn ich vor
lauter Wohlbehagen je Zeit zu denken hatte. Ge-
ſund war ich wie ein Fiſch. Die Tracktament konnt’
[108] ich nach meinem Geſchmack waͤhlen, und Mariane
ließ mir’s per ſe an guten Biſſen nie fehlen. Tanz
und Jagd befoͤderten die Dauung; denn ohne das
haͤtt’s mir frehlich an Bewegung gefehlt. Markoni
beſuchte, bald hie bald da, alle Edelleuth’ in der
Runde. Ich mußte uͤberall mit; und es that mir
freylich in der Seele wohl, wenn ich ſah, wie er
ordentlich Hoffarth mit mir trieb. Sonſt waren ſol-
che Ausritte zu dieſen meiſt armen Schmalzgrafen
ſeinem Geldbeutel eben wenig nutz. Dann koſtete
ihn das Tarocſpiel mit Pfaffen und Layen auch
ſchoͤne Batzen. Einſt mußt’ ich darum die Karten
vor ſeinen Augen in kleine Stuͤck zerreiſſen, und
dem Vulkan zum Opfer bringen — aber Mor-
gens drauf ihm ſchon wieder neue hohlen. Ein an-
dermal hatt’ er auch eine ziemliche Summ’ verloren,
und kam Abends um neun Uhr, mit einem tuͤchti-
gen Raͤuſchgen ganz verdruͤßlich nach Haus. „Oll-
„rich
„! ſagte er, „geh, ſchaff mir Spielleuth’,
„es koſte was es will„. „Ja Ihr Gnaden„!
antwortet’ ich, „wenn ich dergleichen wuͤßte;
„und dann iſt’s ſchon ſo ſpaͤth, und ſtockfinſrer„.
„Fort Racker„! fuhr er fort, „oder„ — und machte
ein fuͤrchterlich wildes Geſicht. Ich mußte mich pa-
cken, ſtolperte nun im Dunkeln durch alle Straſſen,
und ſpitzte die Ohren, ob ich nirgends keine Geige
hoͤre? Als ich endlich zu oberſt im Staͤdtgen an die
Muͤhler- und Beckenherberg kam, merkt’ ich, daß
es da etwas Herumſptingens abſetzen wollte; ſchliech
mich hinauf, und ließ einen Spielmann hinausrufen.
[109] Die Burſch’ in der Stube ſchmeckten den Braten;
ein Paar von ihnen kamen ihm auf dem Fuß nach —
und Huſch! mit Faͤuſten uͤber mich her. Dem Wirth
hatt’ ich’s zu dauken, daß ſie mich nicht faſt zutod-
geſchlagen. Der Apollosſohn hatte mir zwar ins
Ohr geraunt: Sie wollten bald aufwarten. Jetzt
aber zweifelt’ ich, ob er mir Wort halten koͤnnte?
Dennoch war ich Tropfs genug, ſobald ich nach Haus
kam, mit den Worten in’s Zimmer zu treten: „Ihr
„Gnaden! innert einer Viertelſtund’ werden ſie da
„ſeyn„! — Die Furcht vor neuen Pruͤgeln, eh’
noch die alten verſaust haͤtten, verfuͤhrten mich zu
dieſem Wageſtuͤck. Aber nun ſtand ich vollends Hoͤllen-
angſt aus, bis ich wußte, ob ich nicht aus Uebel
Aerger gemacht? Mittlerweile erzaͤhlt’ ich Markoni,
was ich ſeinetwegen gelitten — um per Avanzo ſein
Mitleid rege zu machen, wenn der Guß fehlen ſollte.
Die tauſendslieben Leuthe kamen, eh’ wir’s uns ver-
ſahen. Unſer Wirth hatte inzwiſchen etliche luſtige
Bruͤder und ein Paar Jungfern rufen laſſen. Jetzt
kommandirte Markoni Eſſen und Trinken, was
Kuͤche und Keller vermochten, warf den Muſikanten
zum voraus einen Dukaten hin, und tanzte einen
Menuet und einen Pohlniſchen. Bald aber fieng
er auf ſeinem Stuhl an zu ſchnarchen; dann er-
wacht’ er wieder, und rief: „Ollrich! mir iſt’s
„ſo hundsf**„! — Ich mußt’ ihn alſo zu Bett’
bringen. Im Augenblick ſchlief er ein wie ein Stock.
Das war uns uͤbrigen recht gekocht. Wir machten
uns luſtig wie die Voͤgel im Hanfe — alles ſo durch-
[110] einander, Herren und Dienſtboten. Es waͤhrte bis
Morgens um vier Uhr. Mein Herr erwachte um
Fuͤnfe: Seine erſten Worte waren: „Ollrich!
„Sein Tage trau’ er keinem Menſchen nicht; ’s iſt
„alles falſch wie’n Teufel. Wenn der Cujon von
R
*** koͤmmt, ſo ſag’ er, ich ſey nicht zu Hauſe„.


XLIII.
Noch einmal, und dann: Adieu Rothweil!
Adieu auf ewig
!


Dieſer von R *** war einer von Markonis
faulen Debitoren, wie er deren viel hatte. Nun
fuͤrchtete er zwar nicht, daß derſelbe ihm Geld brin-
gen, aber wohl, daß er noch mehr bey ihm hohlen
moͤchte; denn mein Herr konnte keinem Menſchen
nichts abſchlagen. Indeſſen wollt’ er mich von Zeit zu
Zeit dazu brauchen, ihm dergleichen Schulden wieder ein-
zutreiben; dazu aber taugt’ ich in Grundsboden nicht:
Die Kerls gaben mir gute Wort’; und ich gieng zufrie-
den nach Haus. Aber laͤnger mocht’ eine ſolche Wirth-
ſchaft nicht dauern. Dazu kam, daß Markoni am
End das Aergſte befuͤrchten mußte, wenn er bedachte,
wie wenig Burſche er fuͤr ſo viel Geldverzehrens
ſeinem Koͤnig geliefert hatte; denn der Groſſe Fried-
rich
, wußt’ er wohl, war zugleich der genaneſte
Rechenmeiſter ſeiner Zeit. Er ſtrengte darum mich,
unſern Wirth, und alle ſeine Bekannten an, uns
doch umzuſehn, ob wir ihm nicht noch ein Paar Kerls
ins Garn bringen koͤnnten? Aber alles vergebens.
[111] Auch die beyden Wachtmeiſters Hevel und Kruͤger,
langten um die gleiche Zeit, ebenfalls mir laͤren Haͤn-
den wieder zu Rothweil an. Nun mußten wir
uns ſaͤmtlich reisfertig machen. Vorher aber gab’s
noch ein Paar luſtige Taͤgel. Hevel war ein Vir-
tuoſ’ auf der Cithar, Kruͤger eine gute Violine;
beyde feine Herren, ſo lang ſie auf der Werbung
lagen, beym Regiment aber magere Korporals. Ein
dritter endlich, Labrot, ein groſſer handveſter Kerl,
ließ ebenfalls jetzt ſeinen Schnurrbart wieder wachſen,
den er als Werber geſchoren trug. Dieſe drey
Burſche beluſtigten noch zu guter Letze ganz Roth-
weil
mit ihren Spruͤngen. Es war eben Faßnacht,
wo die ſogenannte Narrenzunft (ein ordentliches
Inſtitut in dieſer Stadt, bey welchem uͤber zwey-
hundert Perſonen von allen Staͤnden eingeſchrieben
ſind) ohnehin ihre Gauckeleyen machte, die meinen
Herrn ſchwer Geld koſteten. Und kurz, es war hohe
Zeit, den Fleck zu raͤumen. Jetzt giengs an ein Ab-
ſchiednehmen. Mariane flocht mir einen zierlichen
Strauß von koſtbaren kuͤnſtlichen Blumen, den ſie
mir mit Thraͤnen gab, und den ich eben ſo wenig
mit trockenem Aug’ abnehmen konnte. — Und nun
Ade! Rothweil, liebes friedſames Staͤdchen! liebe,
tolerante katholiche Herren und Buͤrger! Wie war’s
mir ſo tauſendswohl bey euern vertrauten bruͤderli-
chen Zechen! — Ade! ihr wackern Bauern, die ich
an den Markttagen in unſerm Wirthshaus ſo gern’
von ihren Geſchaͤften plaudern hoͤrte, und ſo ver-
gnuͤgt auf ihren Eſeln heimreiten ſah! Wie treflich
[112] ſchmeckten mir oft Milch und Eyer in euern Stroh-
huͤtten! Wie manche Luſt genoß ich auf euern ſchoͤnen
Fluren, wo Markoni ſo viel Dutzend ſingende Ler-
chen aus der Luft ſchoß, die mich in die Seele dau-
erten! Wie entzuͤckt war ich, ſo oft mein Herr mirs
vergoͤnnte, in euern topfebnen Waͤldern, an des
Nekkars reitzenden Ufern *), auf und nieder zu ſchlen-
tern, wo ich ihm Haſen ausſpaͤhen ſollte — aber
lieber die Voͤgel behorchte, und das Schwirren des
Weſts in den Wipfeln der Tannen! — Nochmal alſo
Ade! Rothweil, werthes, theures Neſtgen! Ach!
vielleicht auf ewig! Ich hab’ ſeit der Zeit ſo viel Staͤdte
geſehn, zehnmal groͤſſer, und zwanzigmal ſaubrer
und netter als du biſt! Aber mit aller deiner Klein-
heit, und mit allen deinen Miſtſtoͤcken, warſt du
mir zehn und zwanzigmal lieber als ſie! Adie, Ma-
rianchen
! Tauſend Dank fuͤr deine innige, und
doch ſo unverdiente Liebe zu mir! Adie! Sebaſtian
Zipfel
, lieber guter Armbruſtwirth! und deine zarte
Muͤhle desgleichen! Lebt alle alle wohl!


XLIV
[113]

XLIV.
Reiſe nach Berlin
.


Den 15. Merz 1756. reiſten wir in Gottes Namen,
Wachtmeiſter Hevel, Kruͤger, Labrot, ich und
Kaminski, mit Sack und Pack, und, den letztern
ausgenommen, alle mit Unter- und Uebergewehr [...]
von Rothweil ab. Marianchen naͤhete mir den
Strauß auf’n Hut, und ſchluchzte; ich druͤckte ihr
einen Neunbaͤtzner in die Hand, und konnt’s auch
kaum vor Wehmuth. Denn ſo entſchloſſen ich zu
dieſer Reiſ’ war, und ſo wenig Arges ich vermuthere,
fiel’s mir doch ungewohnt ſchwer auf die Bruſt, ohne
daß ich eigentlich wußte warum? War’s Rothweil,
oder Marianchen
, oder daß ich ohne meinen Herrn
reiſen ſollte, oder die immer weitere Entfernung
vom Vaterland und Aennchen — ich hatte allen zu
Hauſe mein letztes Lebewohl geſchrieben — oder ich
denke wohl, ein Bißchen von allem? Markoni gab
mir 20. fl. auf den Weg; was ich mehr brauche,
ſagte er, werde mir Hevel ſchieſſen. Dann klopfte
er mir auf die Schulter: „Gott bewahre dich mein
„Sohn, mein lieber, lieber Ollrich! auf allen dei-
„nen Wegen. In Berlin ſehn wir uns bald wie-
„der„. Dieß ſprach er auch ſehr wehmuͤthig; denn
er hatte gewiß ein weiches Herz. Unſre erſte Tag-
reiſe gieng 7. Stunden weit, bis ins Staͤdgen Ebin-
gen
, meiſt uͤber ſchlechte Wege durch Koth und Schnee.
Die zweyte bis auf Obermarkt 9. St. Auf der
H
[114] erſtgenannten Station logirten wir beym Rehe; auf der
zweyten weiß ich ſelbſt nicht mehr, was es vor ein
Thier war. An beyden Orten gabs nur kalte Kuͤche,
und ein Geſoͤff ohne Namen. Den dritten Abend
bis Ulm wieder 9. St. Dieſen Tag fieng ich an,
die Beſchwerlichkeiten der Reiſe zu fuͤhlen; ſchon
hatt’ ich Schwielen an den Fuͤſſen, und war mir’s
ſonſt ſterbensuͤbel. Im Staͤdtgen Egna ſetzten wir
uns ein Stuͤck Wegs auf einen Bauernwagen, da
denn das gewaltige Schuͤtteln dieſes Fuhrwerks, zu-
mal bey mir, ſeine gewohnte herzbrechende Wirkung
that. Als wir unweit Ulm abſtiegen, ward’s mir
ſchwarz und blau vor den Augen. Ich ſank zu Bo-
den: „Um Gottes Barmherzigkeit willen„., ſagt’ ich:
„Weiter kann ich nicht; lieber laßt mich auf der Gaſſe
„liegen„. Ein barmherziger Samariter lud mich
endlich auf ſeine nackte Maͤhre, auf der ich mich vollends
bis ins Staͤdtgen ſo lahm ritt, daß ich weder mehr ſtehen
noch gehen konnte. Zu Ulm logirten wir beym
Adler, und hatten dort unſern erſten Raſttag. Mei-
ne Cameraden beſorgten da ihre alten Herzensange-
legenheiten; Ich legte mich lieber auf die faule Haut.
Nur ſah’ ich an dieſem Ort einen Leichenzug, der
mir ſehr wohl gefiel. Das Weibsvolk gieng ganz
weiß bis auf die Fuͤſſe. Den fuͤnſten Tag marſchier-
ten wir bis auf Gengen 7. St. Den ſechſten auf
Nördlingen, wieder 7. St. und hielten da den
zweyten Raſttag. Hevel hatte dort beym Wilden
Mann ein liebs Liſel. Sie ſpielte artig die Cithar;
Er ſang Lieder dazu. Sonſt weiß ich von dieſem
[115] und ſo vielen andern Orten wo wir durchkamen eben
nichts zu erzaͤhlen. Meiſt erſt Nachts langten wir
muͤd und ſchlaͤfrig an, und Morgens fruͤh mußten
wir wieder fort. Wer wollte da etwas recht ſehen
und beobachten koͤnnen *)? Ach Gott! dacht’ ich oft,
wenn ich nur einmal an Ort und Stell’ waͤre; mein Leb-
tag wollt’ ich nicht mehr eine ſo lange Reiſ’ antreten.
Kaminski war, wie ich ſchon einmal verdeutet, ein
luſtiger Polacke, ein Mann wie ein Baum, ein Paar
Beine wie zwo Saͤulen, und lief wie ein Elephant.
Labrot hatte auch ſeinen tuͤchtigen Schritt. Kruͤ-
ger, Hevel
und ich hingegen ſchonten ihrer Fuͤſſe;
und bald alle ſechs Tage mußte man uns flicken
oder verſolen. Am achten Tag gieng’s nach Gon-
zenhauſen
8. St. Gegen Mittag ſahen wir Hevels
Lisgen
uͤber ein Feld dahertrippeln: Das arme Ding
rannte ihm durch andre Wege bis hieher nach, und
wollte ſich nicht abweiſen laſſen, ihn wenigſtens bis
auf unſre Station zu begleiten. Den neunten auf
Schwabach 8. St. Den zehnten uͤber Nuͤrnberg
bis Bayersdorf 9. St. Den eilften bis Tropach
10. St. Den zwoͤlften uͤber Bareuth bis Bernig
7. St. Den dreyzehnten bis Hof 8. St. Den
pierzehnten bis Schletz 7. St. Hier hielten wir
wieder einmal Raſttag, und es war hohe Zeit. Von
Gonzenhauſen an hatten wir in keinen Bethen
gelegen, ſondern, wenn’s gut gieng, auf elendem
[116] Stroh. Und uͤberhaupt, obſchon wir viel Denari
verzehrten, war’s ein miſerabel Leben; meiſt ſchlecht
Wetter, und oft abſcheuliche Wege. Kruͤger und
Labrot fluchten und peſtirten den ganzen Tag;
Hevel hingegen war ein feiner ſittlicher Mann, der
uns immer Geduld und Muth einſprach. Den ſechs-
zehnten gieng’s bis Ciſtritz 12. St. Darauf wieder
ein Raſttag. Den achtzehnten bis Weiſſenfeld 7.
St. Den neunzehnten uͤber die Elbe bis auf Halle.
Als wir den breiten Strohm paßirt hatten, bezeug-
ten die Sergeanten groſſe Freude; denn nun betra-
ten wir Brandenburger-Boden. Zu Halle logir-
ten wir bey Hevels Bruder, einem Geiſtlichen,
der aber nichts deſto minder den ganzen Abend mit
uns ſpielte und haſelirte, ſo daß ich glaube, ſein
Bruder Sergeant war froͤmmer als er. Inzwiſchen
war mein Geld alle; Hevel mußte mir noch 10. fl.
herſchieſſen. Den zwanzigſten bis vier und zwan-
zigſten gieng’s uͤber Zerbſt, Deſſau, Goͤrz, Uſter-
mark, Spandau, Charlotenburg
u. ſ. f. auf
Berlin 44. St. An den drey letztern Orten zu-
mal wimmelte es von Militair aller Gattungen
und Farben, daß ich mich nicht ſatt gucken konnte.
die Thuͤrme von Berlin zeigte man uns ſchon eh’
wir nach Spandau kamen. Ich dachte, wir haͤt-
ten’s in einer Stunde erreicht; wie erſtaunt’ ich dar-
um, als es hieß, wir gelangten erſt Morgens hin.
Und nun, wie war ich ſo herzlich froh, als wir
endlich die groſſe herrliche Stadt erreicht. Wir gien-
gen zum Spandauer-Thor ein, dann durch die
[117] melancholiſch angenehme Lindenſtraſſe, und noch
ein Paar Gaſſen durch. Da, dacht’ ich Einfaltspin-
ſel, bringt man dich dein Lebtag nicht mehr weg.
Da wirſt du dir dein Gluͤck bauen. Dann ſchickſt
du einen Kerl mit Briefen ins Tockenburg; der
muß dir dann deine Eltern und Aennchen zuruͤck-
bringen; da werden ſie die Augen aufſperren u. ſ. f.
Nun bat ich meine Fuͤhrer, ſie ſollten mich zu mei-
nem Herrn fuͤhren. „Ey„! erwiederte mir Kruͤ-
ger
, „wir wiſſen ja nur nicht, ob er ſchon ange-
„langt iſt, und noch viel minder, wo er Quartier
„nimmt„! „Der Henker„! ſagt’ ich, „hat er
„denn kein eigen Haus hier„? Ueber dieſe Frage
lachten ſie ſich die Haut voll. Moͤgen ſie immer
lachen, dacht’ ich: Markoni wird doch, will’s Gott!
ein eigen Haus haben.


XLV.
’s giebt ander Wetter!


Es war den 8. Aprill da wir zu Berlin einmar-
ſchierten, und ich vergebens nach meinem Herrn
fragte, der doch, wie ich nachwerts erfuhr, ſchon
acht Tage vor uns dort angelangt war — als La-
brot
(denn die andern verloren ſich nach und nach
von mir, ohne daß ich wußte wo ſie hinkamen)
mich in die Krauſenſtraſſe in Friedrichsſtadt trans-
portirte, mir ein Quatier anwies, und mich dann
kurz mit den Worten verließ: „Da, Mußier!
„bleib [...] Er, bis auf fernere Ordre„! Der Henker!
[118] dacht’ ich, was ſoll das? Iſt ja nicht enmal ein
Wirthshaus. Wie ich ſo ſtaunte, kam ein Soldat,
Chriſtian Zittemann, und nahm mich mit ſich
auf ſeine Stube, wo ſich ſchon zwey andre Martis-
ſoͤhne befanden. Nun gieng’s an ein Wundern und
Ausfragen: Wer ich ſey, woher ich komme, u. d. gl.
Noch konnt’ ich ihre Sprache nicht recht verſtehen.
Ich antwortete kurz: Ich komme aus der Schweitz,
und ſey Sr. Excellenz, des Herrn Lieutenant Mar-
konis
, Laquai: Die Sergeanten haͤtten mich hieher
gewieſen; ich moͤchte aber lieber wiſſen, ob mein
Herr ſchon in Berlin angekommen ſey, und wo er
wohne. Hier fiengen die Kerls ein Gelaͤchter an,
daß ich haͤtte wainen moͤgen; und keiner wollte das
geringſte von einer ſolchen Excellenz wiſſen. Mitt-
lerweile trug man eine ſtockdicke Erbſekoſt auf. Ich
aß mit wenigem Appetit davon. Wir waren kaum
fertig, als ein alter hagerer Kerl ins Zimmer trat,
dem ich doch bald anſah, daß er mehr als Gemei-
ner ſeyn muͤſſe. Es war ein Feldweibel. Er hatte
eine Soldatenmontur auf dem Arm, die er uͤber
den Tiſch ausſpreitete, ein Sechsgroſchenſtuͤck dazu
legte, und ſagte: „Das iſt vor dich, mein Sohn!
„Gleich werd’ ich dir noch ein Commißbrodt brin-
„gen„. „Was? vor mich„, verſetzt ich: „Von
„wem, wozu„? „Ey! Deine Montirung und
„Traktament, Burſche! Was gilt’s da Fragens?
„Biſt ja ein Recrute„. „Wie, was? Rekrute„?
erwiedert’ ich: „Behuͤte Gott! da iſt mir nie kein
„Sinn daran kommen. Nein! in meinem Leben
[119] „nicht. Markonis Bedienter bin ich. So hab’
„ich gedungen, und anderſt nicht. Da wird mir
„kein Menſch anders ſagen koͤnnen„! „Und ich ſag’
„dir, du biſt Soldat, Kerl! Ich ſteh’ dir dafuͤr.
„Da hilft itzt alles nichts„. Ich. Ach! wenn nur
mein Herr Markoni da waͤre. Er. Den wirſt
du ſobald nicht zu ſehen kriegen. Wirſt doch lieber
wollen unſers Koͤnigs Diener ſeyn, als ſeines Lieute-
nants. — Damit gieng er weg. „Um Gottes wil-
„len, Herr Zittemann„! fuhr ich fort: „Was
„ſoll das werden„? „Nichts, Herr„! antwortete
dieſer, „als daß Er, wie ich und die andern Her-
„ren da, Soldat, und wir folglich alle Bruͤder
„ſind; und daß Ihm alles Widerſetzen nichts hilft,
„als daß man Ihn auf Waſſer und Brodt
„nach der Hauptwache fuͤhrt, kreutzweis ſchließt,
„und Ihn fuchtelt daß ihm die Rippen krachen,
„bis Er content iſt„! Ich. Das waͤr’ beym
Sacker! unverſchaͤmt, gottlos! Er. Glaub’ Er mir’s
auf mein Wort, anderſt iſt’s nicht, und geht’s
nicht. Ich. So will ich’s dem Herr Koͤnig klagen. —
Hier lachten alle hoch auf. — Er. Da koͤmmt Er
ſein Tage nicht hin. Ich. Oder, wo muß ich mich
ſonſt denn melden? Er. Bey unſerm Major, wenn
Er will. Aber das iſt alles alles umſonſt. Ich.
Nun ſo will ich’s doch probieren, ob’s — ob’s ſo
gelte? — Die Burſche lachten wieder; ich aber ent-
ſchloß mich wirklich, Morgens zum Major zu gehn,
und meinem treuloſen Herrn nachzufragen.


Sobald alſo der Tag an Himmel brach, ließ ich
[120] mir deſſen Quartier zeigen. Potz Moſt! das duͤnkte
mich ein koͤniglicher Pallaſt — und der Major der
Koͤnig ſelbſt zu ſeyn, ſo majeſtaͤtiſch kam er mir
vor; ein gewaltig groſſer Mann, mit einem Hel-
dengeſicht und ein Paar feurigen Augen wie Sternen.
Ich zitterte vor ihm, ſtotterte: „Herr … Ma-
„jor! Ich bin .... Herrn Lieutenant Marko-
nis Be … Bedienter. Fuͤ … fuͤ … fuͤr
„das bi … bi … bin ich angewo … worben,
„und ſonſt wei … weiters fuͤr ni … ni …
„nichts. Si … Si … Sie koͤnnen ihn ſelbſt
„fra … gen. J … Ich weiß nicht wo er i …
„i … iſt. Itzt ſagen’s da, ich muͤſſe So …
„o … oldat ſey … ey … eyn, ich wolle
„o … der wolle nicht„. — „So„! unterbrach
er mich: „So iſt er das ſaubre Buͤrſchgen! Sein
„feiner Herr, der hat uns gewirthſchaftet, daß
„es eine Luſt iſt; und Er wird wohl auch Sei-
„nen Theil gezogen haben. Und kurz, itzt ſoll
„Er dem Koͤnig dienen; da iſt’s aus und vorbey„. —
Ich. Aber, Herr Major! — Er. Kein Wort,
Kerl! oder die Schwernoth! Ich. Aber ich hab’
ja weder Kapitulation noch Handgeld! Au! Koͤnnt’
ich doch mit meinem Herrn reden! — Er. Den
wird Er ſo bald nicht zu ſehen kriegen; und Hand-
geld hat Er mehr gekoſt’t als zehn andre. Sein
Lieutenant hat eine ſaubere Rechnung, und Er ſteht
darin oben an. Eine Kapitulation hingegen, die
ſoll Er haben. — Ich. Aber — — Er. Fort, Er
iſt ja ein Zwerg, daß — — Ich. Ich bi …
[121] bi … bitte. — — Er. Canaille! ſcheer’ Er ſich
zum Teufel. — Damit zog er die Fuchtel — Ich
zum Haus hinaus wie ein Dieb, und nach meinem
Quartier hin, das ich vor Angſt und Noth kaum
finden [konnte]. Da klagt’ ich Zittemann mein
Elend in den allerhoͤchſten Toͤnen. Der gute Mann
ſprach mir Muth ein: „Geduld, mein Sohn!
„Noch wird ſchon alles beſſer gehn. Itzt’ mußt’
„dich leiden; viel hundert brave Burſche aus guten
„Haͤuſern muͤſſen das gleiche thun. Denn, geſetzt
„auch, Markoni koͤnnte und wollte dich behalten,
„ſo muͤßt’ er dich doch unter ſein Regiment abge-
„ben, ſo bald es hieß’: Ins Feld, Marſch! Aber
„wirklich einſtweilig wuͤrd’ er kaum einen Bedien-
„ten zu naͤhren im Stand ſeyn, da er auf der Wer-
„bung ungeheure Summen verzehrt, und dafuͤr
„ſo wenig Kerls eingeſchickt haben ſoll, wie ich
„unſern Oberſt und Major ſchon oft druͤber lamen-
„tiren gehoͤrt; und wird man ihn gewiß nicht mehr
„ſo geſchwind zu derley Geſchaͤften brauchen„. So
troͤſtete mich Zittemann; und ich mußt’s wohl an-
nehmen, da mir kein beſſerer Troſt uͤbrig blieb.
Nur dacht’ ich dabey: Die Groͤſſern richten ſolche
Suppen an, und die Kleinern muͤſſen ſie aufeſſen.


XLVI.
So bin ich denn wirklich Soldat?


Des Nachmittags brachte mir der Feldweibel mein
Commisbrodt, nebſt Unter- und Uebergewehr, u. ſ. f.
und fragte: Ob ich mich nun eines Beſſern bedacht?
[122] „Warum nicht„? antwortete Zittemann fuͤr mich:
„Er iſt der beßte Burſch’ von der Welt„. Itzt
fuͤhrte man mich in die Montirungskammer, und
paßte mir Hoſen, Schuh’ und Stiefeletten an; gab
mir einen Hut, Halsbinde, Struͤmpfe u. ſ. f. Dann
mußt’ ich mit noch etwa zwanzig andern Recrutten
zum Herrn Oberſt Latorf. Man fuͤhrte uns in
ein Gemach, ſo groß wie eine Kirche, brachte etli-
liche zerloͤcherte Fahnen herbey, und befahl jedem
einen Zipfel anzufaſſen. Ein Adjutant, oder wer er
war, laſ’ uns einen ganzen Sack voll Kriegsartikel
her, und ſprach uns einige Worte vor, welche die
mehrern nachmurmelten; Ich regte mein Maul
nicht — dachte dafuͤr was ich gern wollte — ich glau-
be an Aennchen; ſchwung dann die Fahne uͤber
unſre Koͤpfe, und entließ uns. Hierauf gieng ich
in eine Garkuͤche, und ließ mir ein Mittageſſen,
nebſt einem Krug Bier, geben. Dafuͤr mußt’ ich
2. Groſchen zahlen. Nun blieben mir von jenen
ſechſen noch viere uͤbrig; mit dieſen ſollt’ ich auf
vier Tage wirthſchaften — und ſie reichten doch blos
fuͤr zweene hin. Bey dieſer Ueberrechnung fieng ich
gegen meine Kameraden ſchrecklich zu lamentiren an.
Allein Cran, einer derſelben, ſagte mir mit Lachen:
„Es wird dich ſchon lehren. Itzt thut es nichts;
„haſt ja noch allerley zu verkaufen! Per Exempel
„deine ganze Dienermontur. Dann biſt du gar
„itzt doppelt armirt; das laͤßt ſich alles verſilbern.
„Dann kriegen ſolch junge Burſche oft noch eine
„Tracktaments-Zulage, und kannſt dich deswegen
[123] „nur beym Obriſt melden„. „Oh oh! Da geh’
„ich mein Tage nicht mehr hin„, ſagt’ ich. „Potz
„Velten„! antwortete Cran: Du mußt ’mal des
„Donnerns gewohnt werden, ſey’s itzt ein wenig
„fruͤher oder ſpaͤther. Und dann des Menage we-
„gen, nur fein aufmerkſam zugeſehn, wie’s die an-
„dern machen. Da heben’s drey, vier bis fuͤnf
„mit einander an; kaufen Dinkel, Erbſen, Erd-
„birrn u. d. gl. und kochen ſelbſt. Des Morgens
„um e’n Dreyer Fuſel und e’n Stuͤck Commisbrodt:
„Mittags hohlen ſie in der Garkuͤche um e’n an-
„dern Dreyer Suppe, und nehmen wieder e’n Stuͤck
„Commis: Des Abends um zwey Pfenning Kovent
„oder Duͤnnbier, und abermals Commis„. „Aber,
„das iſt beym Strehl ein verdammtes Leben„,
verſetzt ich; und Er: Ja! So kommt man aus,
und anderſt nicht. Ein Soldat muß das lernen;
denn es braucht noch viel andre Waar: Kreide,
Puder, Schuhwar, Oehl, Schmiergel, Seife, und
was der hundert Siebenſachen mehr ſind. — Ich.
Und das muß einer alles aus den 6. Groſchen be-
zahlen? Er. Ja! und noch viel mehr; wie z. B.
den Lohn fuͤr die Waſche, fuͤr das Gewehrputzen
u. ſ. f. wenn er ſolche Dinge nicht ſelber kann. —
Damit giengen wir in unſer Quartier; und ich
machte alles zurecht, ſo gut ich konnte und mochte.


Die erſte Woche indeſſen hatt’ ich noch Vacanz;
gieng in der Stadt herum auf alle Exercierplaͤtze;
ſah, wie die Offiziere ihre Soldaten muſterten und
pruͤgelten, daß mir ſchon zum voraus der Angſt-
[124] ſchweiß von der Stirne troff. Ich bat daher Zitte-
mann
, mir bey Haus die Handgriffe zu zeigen.
„Die wirſt [du] wohl lernen„! ſagte er: „Aber
auf die Geſchwindigkeit koͤmmt’s an. „Da geht’s
„dir wie e’n Blitz„! Indeſſen war er ſo gut, mir
wirklich alles zu weiſen; wie ich das Gewehr rein
halten, die Montur anpreſſen, mich auf Soldaten-
manier friſieren ſollte, u. ſ. f. Nach Crans Rath
verkaufte ich meine Stiefel und kaufte dafuͤr ein
hoͤlzernes Kaͤſtgen fuͤr meine Waͤſche. Im Quartier
uͤbte ich mich ſters im Exercieren, laſ’ im Halli-
ſchen
Geſangbuch, oder betete. Dann ſpatziert’
ich etwa an die Spree, und ſah’ da hundert Sol-
datenhaͤnde ſich mit Aus- und Einladen der Kauf-
mannswaaren beſchaͤftigen: Oder auf die Zimmer-
plaͤtze; da ſteckte wieder alles voll arbeitender Kriegs-
maͤnner. Ein andermal in die Caſernen u. ſ. f.
Da fand’ ich uͤberall auch dergleichen, die hunder-
terley Handthierungen trieben — von Kunſtwerken
an bis zum Spinnrocken. Kam ich auf die Haupt-
wache, ſo gab’s da deren die ſpielten, ſoffen und
haſelierten; andre welche ruhig ihr Pfeifgen ſchmauch-
ten und discurirten; etwa auch einer der in einem
erbaulichen Buch laſ’, und’s den andern erklaͤrte.
In den Garkuͤchen und Bierbrauereyen gieng’s eben
ſo her. Kurz in Berlin hat’s unter dem Militair —
wie, denk’ ich freylich, in groſſen Staaten uͤberall —
Leuthe aus allen vier Welttheilen, von allen Natio-
nen und Religionen, von allen Characktern, und
von jedem Berufe, womit einer noch nebenzu ſein
[125] Stuͤcklein Brodt gewinnen kann. Das dachte auch
ich zu verdienen — wenn ich nur erſt recht exerci-
ren koͤnnte — Etwa an der Spree? — Doch nein!
da lermt’s gar zu ſtark — Aber z. E. auf einem
Zimmerplatz, da ich mich ſo ziemlich auf die Axt
verſtuhnd. So war ich wieder fix und fertig, neue
Plane zu machen, ungeachtet ich mit meinem erſtern
ſo ſchaͤndlich geſcheitert hatte. Giebt’s doch hier (da-
mit ſchlaͤferte ich mich immer ein) ſelbſt unter den
gemeinen Soldaten ganze Leuthe, die ihre huͤbſchen
Kapitalien haben, Wirthſchaft, Kaufmannſchaft trei-
ben, u. ſ. f. Aber dann erwog ich nicht, daß man
vor Zeiten ganz andere Handgelder gekriegt als heut
zu Tag; daß dergleichen Burſche bisweilen ein
Namhaftes mochten erheurathet haben, u. d. gl.
Beſonders aber, daß ſie ganz gewiß mit dem Schil-
ling gut hausgehalten, und nur darum den Gulden
gewinnen konnten — Ich hingegen weder mit dem
Schilling noch mit dem Gulden umzugehen wiſſe. —
Und endlich, wenn alles fehlen ſollte, faud’ ich auch
da noch einen elenden Troſt in dem Gedanken:
Geht’s einmal zu Felde, ſo ſchont das Bley jenen
Gluͤckskindern ſo wenig, als dir armen Hudler! —
Alſo — biſt du ſo gut wie ſie.


XLVII.
Nun geht der Tantz an


Die zweyte Woche mußt’ ich mich ſchon alle Tage
auf dem Paradeplatz ſtellen, wo ich unvermuthet drey
meiner Landleuthe, Schaͤrer, Bachmann und
[126]Gaͤſtli fand, die ſich zumal alle mit mir un-
ter gleichem Regimente (Itzenblitz) die beyden
erſtern vollends unter der naͤmlichen Compagnie
(Lüderitz) befanden. Da ſollt’ ich vor allen Din-
gen, unter einem muͤrriſchen Korporal mit einer
ſchiefen Naſe (Mengke mit Namen) marſchie-
ren lernen. Den Kerl nun mocht’ ich vor den Tod
nicht vertragen; wenn er mich gar auf die Fuͤſſe
klopfte, ſchoß mir das Blut in den Gipfel. Unter
ſeinen Haͤnden haͤtt’ ich mein Tage nichts begreifen
koͤnnen. Dieß bemerkte einſt Hevel, der mit ſei-
nen Leuthen auf dem gleichen Platze manoͤvrirt[e],
tauſchte mich gegen einen andern aus, und nahm
mich unter ſein Plouton. Das war mir eine Her-
zensfreude. Itz capiert’ ich in einer Stund’ mehr
als ſonſt in zehn Tagen. Von dieſem guten Manne
vernahm ich auch bald, wo Markoni wohne, aber,
bat er um Gottswillen, ich ſoll ihn nicht verrathen.
Des folgenden Tags, ſobald das Exercitium vorbey
war, flog ich nach dem Quartier, das mir Hevel
verdeutet hatte, und murmelte immer vor mir her:
Ja, ja, Markoni! wart’ nur, ich will dir deinen
an mir veruͤbten Lumpenſtreich, deine verfluchte
Verraͤtherey ſo unter die Naſe reiben, daß es dich
gereuen ſoll! Nun weiß ich ſchon, daß du hier nur
Lieutenant, und nirgends ihr Gnaden biſt! --- Bey
geringer Nachfrage fand ich das mir benannte Haus.
Es war eben eins von den geringſten in ganz Ber-
lin
. Ich pochte an; ein kleines, magres, fuchs-
rothes Buͤrſchgen oͤffnete mir die Thuͤre, und fuͤhrte
[127] mich eine Treppe hinauf in das Zimmer meines
Herrn. So bald er mich erblickte, kam er auf mich
zu, druͤckte mir die Hand, und ſprach zu mir mit
einem ſo holden Engelsgeſicht, das in einem Nu
allen meinen Grimm entwafnete, und mir die Thraͤ-
nen in die Augen trieb: „Ollrich! mein Ollrich!
„mach mir keine Vorwuͤrf’. Du warſt mir lieb,
„biſt’s noch, und wirſt mir’s immer bleiben. Aber
„ich mußte nach meinen Umſtaͤnden handeln. Gieb
„dich zufrieden. Ich und du dienen nun Einem
„Herrn„. — „Ja, Ihr Gnaden„ — — „Nichts
„Gnaden„! ſagte er: „Beym Regiment heißt es
nur: „Herr Lieutenant„! Itzt klagt’ ich ihm, nach
aller Ausfuͤhrlichkeit, meine gegenwaͤrtige groſſe Noth.
Er bezeugte mir ſein ganzes Mittleid. „Aber„,
fuhr er fort: „Haſt ja noch allerley Sachen, die du
„verſilbern kannſt; wie z. E. die Flinte von mir,
„die Reiſemuͤtze die dir Lieutenant Hofmann in
Offenburg verehrt, u. d. gl. Bring ſie nur
„mir, ich zahl dir dafuͤr, ſo viel ſie je werth ſind.
„Dann koͤnnt’ſt du dich, wie andre Rekrutten, um
„Gehaltserhoͤhung beym Major„ — „Potz Wet-
„ter„! fiel ich ein: „Nein den ſah’ ich einmal,
„und nimmermehr„! Drauf erzaͤhlt’ ich ihm, wie
dieſer Sir mir begegnet habe. „Ha„! verſetzte
er: „Die Luͤmmels meinen, man koͤnn’ auf Wer-
„bung von Luft leben, und Kerle im Strick fan-
„gen„. „Ja„! ſagt’ ich, „haͤtt’ ich’s gewußt,
„wollt’ ich mir wenigſtens in Rothweil auch einen
„Nothfenning erſpart haben„. „Alles hat ſeine
[128] „Zeit, Ollrich„! erwiederte er: „Halt’ dich nur
„brav! Wenn einmal die Exercitien vorbey ſind,
„kannſt du wohl was verdienen. Und wer weiß ---
„vielleicht gehts bald ins Feld, und dann „--- ---
Weiter ſagte er nichts; ich merkte aber wohl, was
er damit wollte, und gieng vergnuͤgt, als ob ich
mit meinem Vater geredet haͤtte, nach Haus. Nach
etlichen Tagen trug ich Flinte, Ballaſt, und die
ſammtene Muͤtze wirklich zu ihm hin; er zahlte mir
etwas weniges dafuͤr; aber von Markoni war ich
alles zufrieden. Bald darauf verkauft ich auch mei-
nen Treſſenhut, den gruͤnen Frack, u. ſ. f. u. f.
und ließ mir nichts mangeln, ſo lang ich was an-
zugreifen hatte. Schärer war eben ſo arm als
ich: Allein er bekam ein Paar Groſchen Zulage, und
doppelte Portion Brodt; der Major hielt ein gut
Stuͤck mehr auf ihm, als auf mir. Indeſſen waren
wir Herzensbruͤder; ſo lang einer etwas zu brechen
hatte, konnte der andere mitbeiſſen. Bachmann
hingegen, der ebenfalls mit uns hauste, war ein
filziger Kerl, und harmonierte nie recht mit uns;
und doch ſchien immer die Stunde ein Tag lang,
wo wir nicht beyſammen ſeyn konnten. G. mußten
wir in den H * * haͤuſern ſuchen wenn wir ihn ha-
ben wollten; er kam bald hernach ins Lazareth. Ich
und Schärer waren auch darinn voͤllig gleichge-
ſinnt, daß uns das Berliner-Weibsvolk eckelhaft
und abſcheulich vorkam; und wollt’ ich fuͤr ihn ſo
gut wie fuͤr mich einen Eid ſchwoͤren, daß wir keine
mit einem Finger beruͤhrt. Sondern ſo bald das
Exer-
[129] Exerziren vorbey war, flogen wir miteinander in Schott-
manns
Keller, tranken unſern Krug Ruhiner- oder
Gottwitzer-Bier, ſchmauchten ein Peifgen, und
trillerten ein Schweitzerlied. Immer horchten uns
da die Brandenburger und Pommeraner mit
Luſt zu. Etliche Herren ſogar ließen uns oft expreß
in eine Garkuͤche rufen, ihnen den Kuhreihen zu ſin-
gen: Meiſt beſtand der Spielerlohn bloß in einer ſchmu-
tzigen Suppe; aber in einer ſolchen Lage nimmt man
mit noch weniger vorlieb.


XLVIII.
Nebſt anderm meine Beſchreibung
von Berlin
.


Berlin iſt der groͤßte Ort in der Welt, den ich
geſehen; und doch bin ich bey weitem nie ganz da-
rinn herumgekommen. Wir drey Schweitzer mach-
ten zwar oft den Anſchlag zu einer ſolchen Reiſe; aber
bald gebrach’s uns an Zeit, bald an Geld, oder
wir waren von Strapazzen ſo marode, das wir uns
lieber der Laͤnge nach hinlegten.


Die Stadt Berlin — doch viele ſagen, ſie beſte-
he aus ſieben Staͤdten — Aber unſer einem hat
man nur drey genennt: Berlin, Neuſtadt und
Friedrichsſtadt. Alle drey ſind in der Bauart ver-
ſchieden. In Berlin — oder Coͤl, ſagt man auch —
ſind die Haͤuſer hoch, wie in den Reichsſtaͤdten, aber
die Gaſſen nicht ſo breit, wie in Neu- und Frie-
drichsſtadt
, wo hingegen die Haͤuſer niedriger aber
J
[130] egaler gebauen ſind; denn da ſehen auch die kleinſten
derſelben, oft von ſehr armen Leuthen bewohnt, doch
wenigſtens ſauber und nett aus. An vielen Orten
giebt es ungeheuer groſſe laͤre Plaͤtze, die theils zum
Exerciren und zur Parade, theils zu gar nichts ge-
braucht werden; ferners Aecker, Gaͤrten, Alleen,
alles in die Stadt eingeſchloſſen. — Vorzuͤglich oft
giengen wir auf die lange Bruͤcke, auf deren Mitte
ein alter Marchgraf von Brandenburg, zu Pferd
in Lebensgroͤſſe, von Erzt gegoſſen ſteht, und etli-
che Enacksſoͤhne mit krauſen Haaren zu ſeinen [Fuͤſſen]
gefeſſelt ſitzen — dann der Spree nach, aufs Wei-
dendamm
, wo’s gar luſtig iſt — dann ins Laza-
reth, zu G *. und B *. — um dort das traurig-
ſte Specktakel unter der Sonne zu ſehn, wo einem,
der nicht gar ein Unſinniger iſt, die Luſt zu Aus-
ſchweifungen bald vergehen muß: In dieſen Gemaͤ-
chern, ſo geraͤumig wie Kirchen, wo Beth an Beth
gereihet ſteht, in deren jedem ein elender Menſchen-
ſohn auf ſeine eigene Art den Tod, und nur weni-
ge ihre Geneſung erwarten: Hier ein Dutzend,
die unter den Haͤnden der Feldſcheerer ein erbaͤrm-
liches Zettergeſchrey erheben; dort andre, die ſich
unter ihren Decken kruͤmmen, wie ein halb zertre-
tener Wurm; viele mit an- und weggefaulten Glie-
dern, u. ſ. f. Meiſt mochten wir’s da nur wenige
Minuten aushalten, und giengen dann wieder an
Gottes Luft, ſetzten uns auf einen Raſenplatz; und
da fuͤhrte unſre Einbildungskraft uns faſt immer,
unwillkuͤhrlich, in unſer Schweitzerland zuruͤck, und
[131] erzaͤhlten wir einander unſre Lebensart bey Hauſe;
wie wohl’s uns war, wie frey wir geweſen, was
es hingegen hier vor ein verwuͤnſchtes Leben ſey, u.
d. gl. Dann machten wir Plane zu unſrer Entledi-
gung. Bald hatten wir Hofnung, daß uns heut oder
moͤrgens einer derſelben gelingen moͤchte; bald hin-
gegen ſahen wir vor jedem einen unuͤberſteiglichen
Berg; und noch am meiſten ſchreckte uns die Vor-
ſtellung der Folgen eines allenfalls fehlſchlagenden
Perſuches. Bald alle Wochen hoͤrten wir naͤmlich
neue aͤngſtigende Geſchichten von eingebrachten De-
ſerteurs, die, wenn ſie noch ſo viele Liſt gebraucht,
ſich in Schiffer und andre Handwerksleuthe, oder gar
in Weibsbilder verkleidt, in Tonen und Faͤſſer ver-
ſteckt, u. d. gl. dennoch ertappt wurden. Da muß-
ten wir zuſehen, wie man ſie durch 200. Mann,
achtmal die lange Gaſſe auf und ab Spißruthen lau-
fen ließ, bis ſie athemlos hinſanken — und des fol-
genden Tags aufs neue dran mußten; die Kleider
ihnen vom zerhackten Ruͤckten heruntergeriſſen, und
wieder friſch drauf losgehauen wurde, bis Fetzen ge-
ronnenen Bluts ihnen uͤber die Hoſen hinabhingen.
Dann ſahen Schärer und ich einander zitternd und
todtblaß an, und fluͤſterten einander in die Ohren:
„Die verdammten Barbaren„! Was hiernaͤchſt
auch auf dem Exerzierplatz vorgieng, gab uns zu
aͤhnlichen Betrachtungen Anlaß. Auch da war des
Fluchens und Karbatſchens von pruͤgelſuͤchtigen Juͤn-
kerlins, und hinwieder des Lamentierens der Gepruͤ-
gelten kein Ende. Wir ſelber zwar waren immer
[132] von den erſten auf der Stelle, und tummelten uns
wacker. Aber es that uns nicht minder in der See-
le weh, andre um jeder Kleinigkeit willen ſo un-
barmherzig behandelt, und uns ſelber ſo, Jahr ein
Jahr aus, conjoniert zu ſehn; oft ganzer fuͤnf Stun-
den lang in unſrer Montur eingeſchnuͤrt wie geſchraubt
ſtehn, in die Kreutz und Querre pfahlgerad mar-
ſchieren, und ununterbrochen blitzſchnelle Handgriffe
machen zu muͤſſen; und das alles auf Geheiß eines
Offiziers, der mit einem furioſen Geſicht und auf-
gehobnem Stock vor uns ſtuhnd, und alle Augen-
blick wie unter Kabiskoͤpfe drein zu hauen drohete.
Bey einem ſolchen Traktament mußte auch der ſtark-
nervigſte Kerl halb lahm, und der geduldigſte raſend
werden. Und kamen wir dann todmuͤde ins Quar-
tier, ſo giengs ſchon wieder uͤber Hals und Kopf,
unſre Waͤſche zurecht zu machen, und jedes Fleckgen
auszumuſtern; denn bis auf den blauen Rock war
unſre ganze Uniform weiß. Gewehr, Patrontaſche,
Kuppel, jeder Knopf an der Montur, alles mußte
ſpiegelblank geputzt ſeyn. Zeigte ſich an einem die-
ſer Stuͤcke die geringſte Unthat, oder ſtand ein Haar
in der Friſur nicht recht, ſo war, wenn er auf den
Platz kam, die erſte Begruͤſſung eine derbe Tracht
Pruͤgel. Das waͤhrte ſo den ganzen May und Ju-
ni fort. Selbſt den Sonntag hatten wir nicht frey;
denn da mußten wir auf das properſte Kirchenpara-
de machen. Alſo blieben uns zu jenen Spaziergaͤn-
gen nur wenige zerſtreute Stunden uͤbrig, und wir
hatten kurz und gut zu nichts Zeit uͤbrig — als zum
[133] Hungerleiden. — Wahr iſt’s, unſre Ofſiziere erhiel-
ten gerade damals die gemeſſenſte Ordre, uns uͤber
Kopf und Hals zu muſtern; aber wir Rekrutten
wußten den Henker davon, und dachten halt, das
ſey ſonſt ſo Kriegsmanier. Alte Soldaten vermuthe-
ten wohl ſo etwas, ſchwiegen aber mausſtill. — In-
deſſen waren Schärer und ich blutarm geworden;
und was uns nicht an den Hintern gewachſen war,
hatten wir alles verkauft. Nun mußten wir mit
Brod und Waſſer (oder Covent, das nicht viel
beſſer als Waſſer iſt) vorlieb nehmen. Mittlerwei-
le war ich von Zittemann weg, zu Wolfram und
Meevis ins Quartier kommen, von denen der erſt-
re ein Zimmermann, der andre ein Schuſter war,
und beyde einen guten Verdienſt hatten. Mit die-
ſen macht’ ich Anfangs ebenfalls Menage. Sie hat-
ten ſo ihren Bauerntiſch: Suppen und Fleiſch, mit
Erdapfeln und Erbſen. Jeder ſchoß zu einem Mit-
tagsmahl zwey Dreyer: Abends und zum Fruͤhſtuͤck
lebte jeder fuͤr ſich. Ich aß beſonders gern einen
Ochſenpfoten, einen Haͤring, oder ein Dreyerkaͤſ-
gen. Nun aber konnt’ ich’s nicht mehr mit ihnen
halten; zu verkaufen hatt’ ich nichts mehr, und mein
Sold gieng meiſt fuͤr Waͤſche, Puder, Schuhwar,
Kreide, Schmirgel, Oel und anderes Plunderzeug
auf. Jetzt fieng ich erſt recht an Truͤbſal zu blaſen,
und keinem Menſchen konnt’ ich ſo recht von Herzens-
grund meine Noth klagen. Des Tags gieng ich um-
her wie der Schatten an der Wand. Des Nachts
legt’ ich mich ins Fenſter, guckte wainend in den
[134] Mond hinauf, und erzaͤhlte dem mein bitteres Elend:
„Du, der jetzt auch uͤberm Tockenburg ſchwebt,
„ſag’ es meinen Leuthen daheim, wie armſelig es
„um mich ſtehe — meinen Eltern, meinen Ge-
„ſchwiſterten — meinem Aennchen ſag’s, wie ich
„ſchmachte — wie treu ich ihr bin — daß ſie alle
„Gott fuͤr mich bitten. Aber du ſchweigſt ſo ſtille,
„wandelſt ſo harmlos deinen Weg fort? Ach! koͤnnt’
„ich ein Voͤglein ſeyn, und dir nach in meine Hei-
„math fliegen! Ich armer, unbeſonnener Menſch!
„Gott erbarm’ ſich mein! Ich wollte mein Gluͤck
„bauen, und baute mein Elend! Was nuͤtzt mir
„dieſer herrliche Ort, worinn ich verſchmachten muß!
„Ja, wenn ich die Meinigen hier haͤtte, und ſo
„ein ſchoͤn Haͤusgen, wie dort grad gegenuͤber ſteht —
„und nicht Soldat ſeyn muͤßte, dann waͤr’s hier
„gut wohnen; dann wollt’ ich arbeiten, handeln,
„wirthſchaften, und ewig mein Vaterland meiden! —
„Doch nein! Denn auch ſo muͤßt’ ich den Jammer
„ſo vieler Elenden taͤglich vor Augen ſehn! Nein,
„geliebtes, liebes Tockenburg! Du wirſt mir im-
„mer vorzuͤglich werth bleiben! — Aber, Ach! Viel-
„leicht ſeh’ ich dich in meinem Leben nicht wieder —
„verliere ſo gar den Troſt, von Zeit zu Zeit an die
„Lieben zu ſchreiben, die in dir wohnen! Denn je-
„dermann erzaͤhlt mir von der Unmoͤglichkeit, wenn’s
„einmal ins Feld gehe, auch nur eine Zeile fort-
„zubringen, worinn ich mein Herz ausſchuͤtten koͤnn-
„te. Doch, wer weiß? Noch lebt mein guter
„Vater im Himmel; dem iſt’s bekannt, wie
[135] „ich nicht aus Vorſatz oder Luͤderlichkeit dies Skla-
„venleben gewaͤhlt, ſondern boͤſe Menſchen mich
„betrogen haben. Ha! Wenn alles fehlen ſoll-
„te — Doch, nein! deſertiren will ich nicht. Lie-
„ber ſterben, als Spießruthe laufen. Und dann
„kann ſich’s ja auch aͤndern. Sechs Jahre ſind
„noch wohl auszuhalten. Freylich eine lange, lan-
„ge Zeit; wenn’s zumal wahr ſeyn ſollte, daß
„auch dann kein Abſcheid zu hoffen waͤre! —
„Doch, was? Kein Abſcheid? Hab’ ich doch ei-
„ne, und zwar mir aufgedrungene Capitulation? —
„Ha! Dann muͤßten ſie mich eher toͤdten! Der
„Koͤnig muͤßte mich hoͤren! Ich wollte ſeiner Kut-
„ſche nachrennen, mich anhaͤngen bis er mir ſein
„Ohr verlieht. Da wollt’ ich ihm alles ſagen,
„was der Brief ausweist. Und der gerechte Fried-
„rich
wird nicht gegen mich allein ungerecht ſeyn„,
u. ſ. f. — Das waren damals ſo meine Selbſtgeſpraͤche.


XLIX.
Nun geht’s bald weiters.


In dieſen Umſtaͤnden flogen Schärer und ich zu-
ſammen wo wir konnten; klagten, uͤberlegten, be-
ſchloſſen, verwarfen. Schärer zeigte mehr Stand-
haftigkeit als ich, hatte aber auch mehr Sold. Ich
gab jetzt, wie ſo viele andre, den letzten Dreyer
um Genevre, meinen Kummer zu vertreiben. Ein
Mecklenburger, der nahe bey mir im Quartier,
und mit mir in gleichen Umſtaͤnden war, machte es
[136] eben ſo. Aber wenn der ſeinen Brand im Kopf
hatte, ſetzte er ſich in der Abenddaͤmmerung vor’s
Haus hin, fluchte und haſelirte da mutterſeels al-
lein; ſchimpfte auf ſeine Offiziere, und ſogar auf
den Koͤnig, wuͤnſchte Berlin und allen Brandenbur-
gern tauſend Millionen Schwernoth auf den Hals,
und fand (wie der arme Teufel, ſo oft er wieder
nuͤchtern ward, behauptete) in dieſem unvernuͤnfti-
gen Raſen ſeinen einzigen Troſt im Ungluͤck. Wolf-
ram
und Meewis warnten ihn oft; denn ſonſt
war er noch vor Kurzem ein recht guter umgaͤngli-
cher Burſche: „Kerl„! ſagten ſie dann zu ihm,
„gewiß wirſt du noch ins Tollhaus wandern„.
Dieſes war nicht weit von uns. Oft ſah’ ich dort
einen Soldat vor dem Gegitter auf einem Baͤnkgen
ſitzen, und fragte einſt Meevis, wer er waͤre?
Denn ich hatte ihn nie bey der Compagnie geſehn:
„Juſt ſo einer, wie der Mecklenburger„, ant-
wortete Meewis; „darum hat man ihn hier ver-
„ſorgt, wo er Anfangs bruͤllte wie ein ungarſcher
„Stier. Aber ſeit etlichen Wochen ſoll er ſo ge-
„ſchlacht wie ein Lamm ſeyn„. Dieſe Beſchreibung
machte mich luͤſtern, den Menſchen naͤher kennen zu
lernen. Er war ein Anſpacher. Anfangs gieng
ich nur ſo wie verſtohlen bey ihm hin und wieder,
ſah mit wehmuͤthigem Vergnuͤgen, wie er ſeinen
Blick bald zum Himmel gerichtet, bald auf den Bo-
den geheftet, melancholiſch da ſaß, bisweilen aber
ganz vor ſich ſanft laͤchelte, und uͤbrigens meiner
nicht zu achten ſchien. Schon aus ſeiner Phyſiogno-
[137] mie war mir ein ſolcher Erdenſohn in ſeiner Lage
recht heilig. Endlich wagt’ ich es, mich zu ihm
hinzuſetzen. Er ſah mich ſtarr und ernſt an, und
ſchwatzte zuerſt lange meiſt unverſtaͤndiges Zeug, das
ich doch gerne hoͤrte, weil mitunter immer etwas
hoͤchſt vernuͤnftiges zum Vorſchein kam. Was ihm
am meiſten Muͤhe zu machen ſchien, war, ſo viel
ich merken mochte, daß er von gutem Haus, und
nur durch Verdruß in dieſe Umſtaͤnde gekommen
ſeyn mußte, jetzt aber von Nachreu und Heimweh’
erbaͤrmlich litt. Nun entdeckt’ ich ihm ſo durch Um-
wege auch meine Gemuͤthsſtimmung, hauptſaͤchlich
in der Abſicht, zu horchen was er allenfalls zu mei-
ner Entweichung ſagen wuͤrde; denn der Mann ſchien
mir ordentlich einen Geiſt der Weiſſagung zu haben:
„Bruͤderchen„! ſprach er, aus Veranlaſſung eines
ſolchen Diskurſes, einſt zu mir: „Bruͤderchen, halt’
„du ſtill! Deine Schuld iſt’s ſicher, daß du lei-
„deſt, und was du leideſt alſo gewiß mehr oder
„minder wohl verdiente Zuͤchtigung. Durch Zappeln
„machſt du’s wahrlich nur aͤrger. Es wird ſchon
„noch anders, und immer anders kommen. Der
„Koͤnig allein iſt Koͤnig; ſeine Generals, Oberſten,
„Majoren ſind ſelber ſeine Bedienten — und wir,
„ach! wir — ſo hingeworfene verkaufte Hunde — zum
„Abſchmieren im Frieden, zum Todſtechen und Tod-
„ſchieſſen im Krieg beſtimmt. Aber all’ eins, Bruͤ-
„derchen! Vielleicht koͤmmſt du nahe an eine Thuͤ-
„re; geht ſie dir auf — ſo thu’ was du willſt.
„Aber halt ſtill, Bruͤderchen! — nur nichts erfret-
[138] „tet oder erzwungen — ſonſt iſt’s mit einmal aus„!
Dergleichen, und noch viel anderes Aehnliches ſagte
er oͤfters zu mir. Aller Welt Prieſter und Leviten
haͤtten mir nicht ſo gut predigen, und mich zugleich
ſo gut troͤſten koͤnnen wie er.


Indeſſen murmelte es immer ſtaͤrker vom Kriege.
In Berlin kamen von Zeit zu Zeit neue Regimenter an;
wir Rekrutten wurden auch unter eins geſteckt. Da
gieng’s nun alle Tag vor die Thore zum Manoͤvri-
ren; links und rechts avanziren, attaquiren, reti-
riren, ploutons und diviſionsweiſe ſchargieren, und
was der Gott Mars ſonſt alles lehrte. Endlich ge-
dieh es zur Generalrevuͤe; und da gieng’s zu und her,
daß dieß ganze Buͤchelgen nicht klecken wuͤrde, das
Ding zu beſchreiben; und wenn ich’s wollte, ſo koͤnnt
ich’s nicht. Erſtlich wegen der ſchweren Menge aller
Arten Kriegsgruͤmpel, die ich hier groſſentheils zum
erſtenmal ſah. Zweytens hatt’ ich immer Kopf und
Ohren ſo voll von dem entſetzlichen Lerm der
knallenden Buͤchſen, der Trommeln und Feldmuſick,
des Rufens der Commandeuxs u. ſ. f. daß ich oft
haͤtte berſten moͤgen. Drittens war mir das Exercitz
ſeit einiger Zeit ſo widerlich geworden, daß ich nur
nicht mehr bemerken mochte, was all die Corps zu
Fuß und zu Pferde fuͤr Millionszeug machten. Frey-
lich kam mich hernach manchmal groſſer Reuen an,
daß ich dieſe Dinge nicht beſſer in Obacht genom-
men: Denn allen meinen Freunden, und allen Leu-
then hier zu Lande wuͤnſcht’ ich, daß ſie ſolches nur
einen Tag ſehen moͤchten; es wuͤrde ihnen zu hun-
[139] dert und aber hundert vernuͤnftigen Betrachtungen
Anlaß geben. Alſo nur dieß Wenige. Da waren
unuͤberſehbare Felder mit Kriegsleuthen bedeckt; vie-
le tauſend Zuſchauer an allen Ecken und Enden.
Hier ſtehen zwey groſſe Armeen in kuͤnſtlicher Schlacht-
ordnung; ſchon bruͤllt von den Flanken das grobe
Geſchuͤtz auf einander los. Sie avanziren, kommen
zum Feuer, und machen ein ſo entſetzliches Donnern,
daß man ſeinen naͤchſten Nachbar nicht hoͤren und
vor Rauch nicht mehr ſehen kann: Dort verſuchen
etliche Bataillons ein Heckenfeuer; hier fallen’s ein-
ander in die Flanke, da blokiren ſie Batterien, dort
formiren ſie ein doppeltes Kreutz. Hier marſchieren
ſie uͤber eine Schiffbruͤcke, dort hauen Kuͤraßiers
und Dragoner ein, und ſprengen etliche Schwadrons
Huſaren von allen Farben auf einander los, daß
Staubwolken uͤber Roß und Mann emporwallen.
Hier uͤberrumpeln’s ein Lager; die Avantgarde, un-
ter deren ich zu manoͤvriren die Ehre hatte, bricht
Zelten ab, und flieht. — Doch noch einmal: Ich
muͤßte ein Narr ſeyn, wenn ich glaubte, hier eine
Preußiſche Generalrevuͤe beſchrieben zu haben. Ich
hoffe alſo, [man] nimmt mit dieſem Wenigen vor-
lieb — oder, vielmehr, verzeiht’s mir, um der
Freude willen, mein Gewaͤſch nicht laͤnger anzuhoͤren.


[140]

L.
Behuͤte Gott Berlin! — Wir ſehen
einander nicht mehr
.


Endlich kam der erwuͤnſchte Zeitpunkt, wo es hieß:
Allons, ins Feld! Schon im Heumonath marſchier-
ten etliche Regimenter von Berlin ab, und kamen
hinwieder andre aus Preuſſen und Pommern an.
Jetzt mußten ſich alle Beurlaubten ſtellen, und in
der groſſen Stadt wimmelte alles von Soldaten.
Dennoch wußte noch niemand eigentlich, wohin alle
dieſe Bewegungen zielten. Ich horchte wie ein Schwein
am Gatter. Einiche ſagten, wenn’s ins Feld gehe,
koͤnnten wir neue Rekrutten doch nicht mit, ſondern
wuͤrden unter ein Garniſonsregiment geſteckt. Das
haͤtte mir himmelangſt gemacht; aber ich glaubte es
nicht. Indeſſen bot ich allen meinen Leibs- und
Seelenkraͤften auf, mich bey allen Manoͤvers als
einen fertigen dapfern Soldaten zu zeigen (denn einige
bey der Compagnie, die aͤlter waren als ich, muß-
ten wirklich zuruͤckbleiben). Und nun den 21. Aug.
erſt Abends ſpaͤth, kam die gewuͤnſchte Ordre, uns
auf Morgen marſchfertig zu halten. Potz Wetter!
wie gieng es da her mit Putzen und Packen! Ein-
mal wenn’s mir auch an Geld nicht gebrochen, haͤtt’
ich nicht mehr Zeit gehabt, einem Becker zwey ge-
borgte Brodte zu bezahlen. Auch hieß es, in die-
ſem Fall duͤrfte kein Glaͤubiger mehr ans Mahnen
denken: Doch ich ließ mein Waͤſchkiſtgen zuruͤck;
und wenn es der Becker nicht abgefodert hat, hab’
[141] ich heutigen Tages noch einen Creditor in Berlin
auch etliche Debitoren fuͤr ein Paar Batzen — und
geht’s ungefehr ſo wett auf. — Denn 22. Aug. Morgens
um 3. Uhr ward Allarm geſchlagen; und mit Anbruch
des Tages ſtuhnd unſer Regiment (Iſenblitz, ein
herrlicher Name! Sonſt naunten’s die Soldaten im
Scherz auch Donner und Blitz, wegen unſers
Obriſten gewaltiger Schaͤrfe) in der Krauſenſtraſſe
ſchon Parade. Jede ſeiner zwoͤlf Compagnien war
150. Mann ſtark. Die in Berlin naͤchſt um uns
einquartierte Regimenter, deren ich mich erinnere,
waren Vokat, Winterfeld, Meyring, und
Kalkſtein; dann vier Prinzenregimenter: Prinz
von Preuſſen, Prinz Ferdinand, Prinz Carl,
und Prinz von Würtenberg, die alle theils vor,
theils nach uns abmarſchierten, nachwerts aber im
Feld meiſt wieder zu uns geſtoſſen ſind. Itzt wurde
Marſch geſchlagen; Thranen von Buͤrgern, Solda-
tenweibern, H * *. u. d. gl. floſſen zu Haufen.
Auch die Kriegsleuthe ſelber, die Landskinder naͤm-
lich, welche Weiber und Kinder zuruͤcklieſſen, wa-
ren ganz niedergeſchlagen, voll Wehmuth und Kum-
mers; die Fremden hingegen jauchzten heimlich vor
Freuden, und riefen; Endlich Gottlob iſt unſre Er-
loͤſung da! Jeder war bebuͤndelt wie ein Eſel, erſt
mit einem Degengurt umſchnallt; dann die Patron-
taſche uͤber die Schulter mit einem fuͤnf Zoll langen
Riemen; uͤber die andre Achſel den Dorniſter, mit
Waͤſche u. ſ. f. bepackt; item der Haberſack, mit
Brodt und andrer Fourage geſtopft. Hiernaͤchſt mußte
[142] jeder noch ein Stuͤck Feldgeraͤth tragen; Flaſche,
Keſſel, Hacken, oder ſo was; alles an Riemen;
dann erſt noch eine Flinte, auch an einem ſolchen.
So waren wir alle fuͤnfmal uͤbereinander kreutzweis
uͤber die Bruſt geſchloſſen, daß anfangs jeder glaubte,
unter ſolcher Laſt erſticken zu muͤſſen. Dazu kam
die enge gepreßte Montur, und eine ſolche Hunds-
tagshitze, daß mir’s manchmal daͤuchte, ich geh’ auf
gluͤhenden Kohlen, und wenn ich meiner Bruſt ein
wenig Luft machte, ein Dampf herauskam wie von
einem ſiedenden Keſſel. Oft hatt’ ich keinen trockenen
Faden mehr am Leib, und verſchmachtete bald vor
Durſt.


LI.
Marſchroute bis Pirna
.


So marſchierten wir den erſten Tag (22. Aug.)
zum Köppeniker Thor aus, und machten noch 4.
Stunden bis zum Staͤdchen Köppenik, wo wir
zu 30-50. zu Burgern eingequartirt waren, die
uns vor einen Groſchen traktiren mußten. Potz Plun-
der, wie giengs da her! Ha! da wurde gefreſſen.
Aber denk’ man ſich nur ſo viele groſſe hungrige
Kerls! Immer hieß es da: Schaff her, Canaille!
was d’ im hinterſten Winkel haſt. Des Nachts
wurde die Stube mit Stroh gefuͤllt; da lagen wir
alle in Reihen, den Waͤnden nach. Wahrlich eine
curioſe Wirthſchaft! In jedem Haus befand ſich ein
Offizier, welcher auf guter Mannszucht halten ſoll-
[143] te; ſie waren aber oft die Faͤulſten *) — Den
zweyten Tag (23.) giengs 10. St. bis auf Für-
ſtenwald
; da gab’s ſchon Marode, die ſich auf
Wagen mußten packen laſſen; das auch kein Wunder war,
da wir dieſen ganzen Tag nur ein einzig Mal
haltmachen, und ſtehnden Fuſſes etwas Erfriſchung
zu uns nehmen durften. An letzgedachtem Orte
gieng es wie an dem erſtern; nur daß hier die mei-
ſten lieber ſoffen als fraſſen, und viele ſich gar halb
todt hinlegten. Den dritten Tag (24.) giengs 6.
St. bis Jacobsdorf, wo wir nun (25. 26. u. 27.)
drey Raſttage hielten, aber deſto ſchlimmer hand-
thiert, und die armen Bauern bis aufs Blut aus-
geſogen wurden. Den ſiebenten Tag (28.) mar-
ſchierten wir bis Mühlroſen 4. St. Den achten
(29.) bis Guben, 14. St. Den neunten (30.)
hielten wir dort Raſttag. Den zehnten (31.) bis
Forſte 6. St. Den eilften (1 Sept.) bis Sprem-
berg
6. St. Den zwölften (2.) bis Hayers-
werde
6. St. und da wieder Raſttag. Den vier-
zehnten
(4.) bis Camenz, dem letzten Oertchen,
wo wir einquartirt wurden. Denn von da an cam-
pirten wir im Felde, und machten Maͤrſche und
Contremaͤrſche, daß ich ſelbſt nicht weiß, wo wir
all durchkamen, da es oft bey dunkeler Nacht ge-
ſchah. Nur ſo viel eriunr’ ich mich noch, daß wir
am fünfzehnten (5.) 4. St. marſchiert und bey
Bilzem ein Lager aufgeſchlagen, worinn wir zwey
Tage (6. u. 7.) Raſitag hielten; dann den acht-
[144] zehnten
(8.) wieder 6. St. machten, uns bey
Stolp lagerten, und dort einen Tag (9.) blieben; endlich
am zwanzigſten Tag (10.) noch 4. St. bis Pirna
zuruͤcklegten, wo noch etliche Regimenter zu uns
ſtieſſen, und nun ein weites faſt unuͤberſehbares
Lager aufgeſchlagen, und das uͤber Pirna gelegene
Schloß Königſtein dieß- und Lflienſtein jenſeits
der Elbe beſetzt wurden. Denn in der Naͤhe die-
ſes letztern befand ſich die Sächſiſche Armee. Wir
konnten gerade uͤbers Thal in ihr Lager hinuͤberſehn;
und unter uns im Thal an der Elbe lag Pirna,
das jetzt ebenfalls von unſerm Volke beſetzt ward.


LII.
Muth und Unmuth.


Bis hieher hat der Herr geholfen! Dieſe
Worte waren der erſte Text unſers Feldpredigers
bey Pirna. O ja! dacht’ ich: Das hat er, und
wird ferner helfen — und zwar hoffentlich mir in
mein Vaterland — denn was gehen mich eure
Kriege an?


Mittlerweile gieng’s — wie’s bey einer marſchie-
renden Armee zu gehen pflegt — bunt uͤbereck und
kraus, daß ich alles zu beſchreiben nicht im Stand,
auch ſolches, wie ich denke, zu wenig Dingen nuͤtz
waͤre. Unſer Major Lüderiz (denn die Offiziere
gaben auf jeden Kerl beſonders Achtung) mag mir
oft meinen Unmuth aus dem Geſicht geleſen haben.
Dann drohete er mir mit dem Finger: „Nimm dich
„in
[145] „in Acht, Kerl„! Schärern hingegen klopfte er
bey den naͤmlichen Anlaͤſſen auf die Schulter, und
nannte ihn mit laͤchelnder Mine einen braven Burſch;
denn der war immer luſtig und wohlgemuths, und
ſang bald ſeine Maͤurerlieder, bald den Kuͤhreih’n,
obſchon er im Herzen dachte wie ich, aber es beſſer
verbergen konnte. Ein andermal freylich faßt’ ich
dann wieder Muth, und dachte: Gott wird alles
wohl machen! Wenn ich vollends Markoni — der
doch keine geringe Schuld an meinem Ungluͤck war —
auf dem Marſch oder im Lager erblickte, war’s mir
immer, ich ſehe meinen Vater oder meinen beßten
Freund; wenn er mir zumal vom Pferd herunter
ſeine Hand bot, die meinige traulich ſchuͤttelte —
mir mit liebreicher Wehmuth gleichſam in die Seele
’nein guckte: „Wie geht’s, Ollrich! wie geht’s?
„’s wird ſchon beſſer kommen„! zu mir ſagte, und,
ohne meine Antwort zu erwarten, dieſelbe aus mei-
nem thraͤnenſchimmernden Aug’ leſen wollte. O!
ich wuͤnſche dem Mann, wo er immer todt oder le-
bendig ſeyn mag, noch auf den heutigen Tag alles
Gute; denn von Pirna weg iſt er mir nie mehr zu
Geſicht gekommen. — [Mittlerweile] hatten wir alle
Morgen die gemeſſene Ordre erhalten, ſcharf zu la-
den; dieſes veranlaßte unter den aͤltern Soldaten
immer ein Gerede: „Heute giebt’s was! Heut ſetzt’s
„gewiß was ab„! Dann ſchwitzten wir Jungen frey-
lich an allen Fingern, wenn wir irgend bey einem
Gebuͤſch’ oder Gehoͤlz’ vorbeymarſchierten, und uns
verfaßt halten mußten. Da ſpitzte jeder ſtillſchwei-
K
[146] gend die Ohren, erwartete einen feurigen Hagel und
ſeinen Tod, und ſah, ſo bald man wieder ins Freye
kam, ſich rechts und links um, wie er am ſchicklich-
ſten entwiſchen konnte; denn wir hatten immer feind-
liche Kuͤraßiers, Dragoner und Soldaten zu beyden
Seiten. Als wir einſt die halbe Nacht durch mar-
ſchierten, verſuchte Bachmann den Reißaus zu neh-
men, und irrte etliche Stunden im Wald herum;
aber am Morgen war er wieder hart bey uns, und
kam noch eben recht mit der Ausflucht weg: Er habe
beym Hoſenkehren in der Dunkelheit ſich von uns
verloren. Von da an ſahen wir andern die Schwie-
rigkeit, wegzukommen, alle Tag’ deutlicher ein —
und doch hatten wir feſt im Sinn, keine Bataille
abzuwarten, es koſte auch was es wolle.


LIII.
Das Lager zu Pirna
.


Eine umſtaͤndliche Beſchreibung unſers Lagers zwi-
ſchen Königſtein und Pirna ſowohl als des gerade
vor uns uͤberliegenden Sächſiſchen bey Liljenſtein
wird man von mir nicht erwarten. Die kann man
in der Helden-Staats- und Lebensgeſchichte des
Groſſen Friedrichs
*) ſuchen. Ich ſchreibe nur,
was ich geſehen, was allernaͤchſt um mich her vor-
und beſonders was mich ſelbſt angieng. Von den wich-
tigſten Dingen wußten wir gemeine Hungerſchlucker
[147] am allerwenigſten, und kuͤmmerten uns auch nicht
viel darum. Mein und ſo vieler andrer ganzer Sinn
war vollends allein auf: Fort, fort! Heim, ins Va-
terland! gerichtet.


Von 11-22. Sept. ſaſſen wir in unſerm Lager
ganz ſtille; und wer gern Soldat war, dem mußt’
es damals recht wohl ſeyn. Denn da gieng’s voll-
kommen wie in einer Stadt zu. Da gab’s Mar-
quetenter und Feldſchlaͤchter zu Haufen. Den ganzen
Tag, ganze lange Gaſſen durch, nichts als Sieden
und Braten. Da konnte jeder haben was er wollte,
oder vielmehr was er zu bezahlen vermochte: Fleiſch,
Butter, Kaͤs, Brodt, aller Gattung Baum- und Erd-
fruͤchte, u. ſ. f. Die Wachten ausgenommen, mochte je-
der machen was ihm beliebte: Kegeln, Spielen, in und
auſſer dem Lager ſpatzieren gehn, u. ſ. f. Nur we-
nige hockten muͤſſig in ihren Zelten: Der eine be-
ſchaͤftigte ſich mit Gewehrputzen, der andre mit Wa-
ſchen; der dritte kochte, der vierte flickte Hoſen, der
fuͤnfte Schuhe, der ſechste ſchnifelte was von Holz
und vexlauft’ es den Bauern. Jedes Zelt hatte ſei-
ne 6. Mann und einen Uebercompleten. Unter die-
ſen ſieben war immer einer gefreyt; dieſer mußte
gute Mannszucht halten. Von den ſechs uͤbrigen
gieng einer auf die Wache, einer mußte kochen, ei-
ner Proviant herbeyholen, einer gieng nach Holz,
einer nach Stroh, und einer machte den Seckelmei-
ſter, alle zuſammen aber Eine Haushaltung, Ein
Tiſch und Ein Beth aus. Auf den Maͤrſchen ſtopfte
jeder in ſeinen Haberſack, was er — verſteht ſich in Fein-
[148] des Land — erhaſchen konnte: Maͤhl, Ruͤben, Erd-
birrn, Huͤhner, Enten, u. d. gl. und wer nichts
aufzutreiben vermochte, ward von den uͤbrigen aus-
geſchimpft, wie denn mir das zum oͤftern begegnete.
Was das vor ein Mordiogeſchrey gab, wenn’s durch
ein Dorf gieng, von Weibern, Kindern, Gaͤnſen,
Spanferkeln u. ſ. f. Da mußte alles mit was ſich
tragen ließ. Huſch! den Hals umgedreht und einge-
packt. Da brach man in alle Staͤll’ und Gaͤrten
ein, pruͤgelte auf alle Baͤume los, und riß die Aeſte
mit den Fruͤchten ab. Der Haͤnde ſind viel, hieß
es da; was einer nicht kann, mag der ander. Da
durfte keine Seel’ Mux machen, wenn’s nur der
Offizier erlaubte, oder auch bloß halb erlaubte. Da
that jeder ſein Devoir zum Ueberfluß. Wir drey
Schweitzer, Schärer, Bachmann und ich (es gab
unſrer Landsleuthe beym Regiment noch mehr, wir
kannten ſie aber nicht) kamen zwar keiner zum an-
dern ins Zelt, auch nie zuſammen auf die Wache.
Hingegen ſpazierten wir oft miteinander auſſer das
Lager bis auf die Vorpoſten, beſonders auf einen
gewiſſen Buͤhel, wo wir eine weite zierliche Ausſicht
uͤber das Sächſiſche und unſer ganzes Lager, und
durchs Thal hinab bis auf Dresden hatten. Da
hielten wir unſern Kriegsrath: Was mir machen,
wo hinaus, welchen Weg wir nehmen, wo wir uns
wieder treffen ſollten? Aber zur Hauptſache, zum
hinaus fanden wir alle Loͤcher verſtopft. Zudem
waͤren Schärer und ich lieber einmal an einer ſchoͤ-
nen Nacht allein, ohne Bachmann davon geſchli-
[149] chen; denn wir trauten ihm nie ganz, und ſahen
dabey alle Tag’ die Huſaren Deſerteurs einbringen,
hoͤrten Spißruthenmarſch ſchlagen, und was es ſol-
cher Anfmunterungen mehr gab. Und doch ſahen wir
alle Stunden einem Treffen entgegen.


LIV.
Einnahme des Saͤchſiſchen Lagers u. ſ. f.


Endlich den 22. Sept. ward Allarm geſchlagen, und
erhielten wir Ordre aufzubrechen. Augenblicklich war
alles in Bewegung; in etlichen Minuten ein ſtun-
denweites Lager — wie die allergroͤßte Stadt — zer-
ſtoͤrt, aufgepackt, und Allons, Marſch! Itzt zogen
wir ins Thal hinab, ſchlugen bey Pirna eine Schiff-
bruͤcke, und formierten oberhalb dem Staͤdchen, dem
Sächſiſchen Lager en Front, eine Gaſſe, wie zum
Spißruthenlaufen *), deren eines End bis zum Pir-
naer
-Thor gieng, und durch welche nun die ganze
Sächſiſche Armee zu vieren hoch ſpatzieren, vorher
aber das Gewehr ablegen, und — man kann ſich’s
einbilden — die ganze lange Straſſe durch Schimpf-
und Stichelreden genug anhoͤren mußten. Einiche
gieugen traurig, mit geſenktem Geſicht daher, andre
trotzig und wild, und noch andre mit einem Laͤcheln,
das den Preußiſchen Spottvoͤgeln gern’ nichts ſchul-
dig bleiben wollte. Weiter wußten ich, und ſo viele
Tauſend andre, nichts von den Umſtaͤnden der eigent-
[150] lichen Uebergabe dieſes groſſen Heers. — An dem
naͤmlichen Tage marſchierten wir noch ein Stuͤck
Wegs fort, und ſchlugen jetzt unſer Lager bey Liljen-
ſtein
auf. — Den 23. mußte unſer Regiment die
Proviantwagen decken. — Den 24. machten wir ei-
nen Contremarſch, und kamen bey Nacht und Nebel
an Ort und Stelle hin, daß der Henker nicht wußte
mo wir waren. — Den 25. fruͤh gieng’s ſchon wie-
der fort, 4. Meilen bis Außig. Hier ſchlugen wir
ein Lager, blieben da bis auf den 29. und mußten
alle Tag auf Fourage aus. Bey dieſen Anlaͤſſen wur-
den wir oft von den Kaiſerlichen Panduren atta-
quirt, oder es kam ſonſt aus einem Gebuͤſch ein Ka-
rabinerhagel auf uns los, ſo daß mancher todt auf
der Stelle blieb, und noch mehrere bleſſirt wurden.
Wenn denn aber unſre Artilleriſten nur etliche Kano-
nen gegen das Gebuͤſch richteten, ſo flog der Feind
uͤber Kopf und Hals davon. Dieſer Plunder hat
mich nie erſchreckt; ich waͤre ſein bald gewohnt wor-
den, und dacht’ ich oft: Poh! wenn’s nur denweg
hergeht, iſt’s ſo uͤbel nicht. — Den 30. marſchierten
wir wieder den ganzen Tag, und kamen erſt des
Nachts auf einem Berg an, den ich und meinesglei-
chen abermals ſo wenig kannten, als ein Blinder.
Inzwiſchen bekamen wir Ordre, hier kein Gezelt
aufzuſchlagen, auch kein Gewehr niederzulegen, ſon-
dern immer mit ſcharfer Ladung parat zu ſtehn,
weil der Feind in der Naͤhe ſey. Endlich ſahen und
hoͤrten wir mit anbrechendem Tag unten im Thal
gewaltig blitzen und feuern. — In dieſer bangen
[151] Nacht deſertirten viele; neben andern auch Bruder
Bachmann. Fuͤr mich wollt’ es ſich noch nicht
ſchicken, ſo wohl’s mir ſonſt behagt haͤtte.


LV.
Die Schlacht bey Lowoſitz
.


(1. Oktobr. 1756.)


Fruͤh Morgens mußten wir uns rangiren, und durch
ein enges Thaͤlchen gegen dem groſſen Thal hinun-
termarſchieren. Vor dem dicken Nebel konnten wir
nicht weit ſehen. Als wir aber vollends in die Plai-
ne hinunterkamen, und zur groſſen Armee ſtieſſen,
ruͤckten wir in drey Treffen weiter vor, und erblick-
ten von Ferne durch den Nebel, wie durch einen
Flor, feindliche Truppen auf einer Ebene, oberhalb
dem Böhmiſchen Staͤdtchen Lowoſitz. Es war
Kaiſerliche Kavallerie; denn die Infanterie beka-
men wir nie zu Geſicht, da ſich dieſelbe bey gedach-
tem Staͤdchen verſchanzt hatte. Um 6. Uhr gieng
ſchon das Donnern der Artillerie ſowohl aus unſerm
Vordertreffen als aus den Kaiſerlichen Batterien
ſo gewaltig an, daß die Kanonenkugeln bis zu un-
ſerm Regiment (das im mittlern Treffen ſtuhnd)
durchſchnurrten. Bisher hatt’ ich immer noch Hof-
nung, vor einer Bataille zu entwiſchen; jetzt ſah’ ich
keine Ausflucht mehr weder vor noch hinter mir,
weder zur Rechten noch zur Linken. Wir ruͤckten
inzwiſchen immer vorwaͤrts. Da fiel mir vollends
aller Muth in die Hoſen; in den Bauch der Erde
[152] haͤtt’ ich mich verkriechen moͤgen, und eine aͤhnliche
Angſt, ja Todesblaͤſſe, laſ’ man bald auf allen Ge-
ſichtern, ſelbſt deren, die ſonſt noch ſo viel’ Herz-
haftigkeit gleichsueten. Die gelaͤrten Branzflaͤſchgen
(wie jeder Soldat eines hat) flogen untern den Ku-
geln durch die Luͤfte; die meiſten ſoffen ihren klei-
nen Vorrath bis auf den Grund aus, denn da hieß
es: Heute braucht es Courage, und Morgens vielleicht
keinen Fuſel mehr! Itzt avanzierten wir bis unter die
Kanonen, wo wir mit dem erſten Treffen abwech-
ſeln mußten. Potz Himmel! wie ſauſten da die Ei-
ſenbrocken ob unſern Koͤpfen weg — fuhren bald vor
bald hinter uns in die Erde, daß Stein und Raſen
hoch in die Luft ſprang — bald mitten ein, und
ſpickten uns die Leuthe aus den Gliedern weg, als
wenn’s Strohhaͤlme waͤren. Dicht vor uns ſahen
wir nichts als feindliche Cavallerie, die all rhand Be-
wegungen machte; ſich bald in die Laͤnge ausdehnte,
bald in einen halben Mond, dann in ein Drey-
und Viereck ſich wieder zuſammenzog. Nun ruͤckte
auch unſre Kavallerie an; wir machten Luͤcke, und
lieſſen ſie vor, auf die feindliche losgalloppieren.
Das war ein Gehagel, das knarrte und blinkerte,
als ſie nun einhieben! Allein kaum waͤhrte es eine
Viertelſtunde, ſo kam unſere Reuterey, von der Oe-
ſtereichiſchen
geſchlagen, und bis nahe unter unſre Ka-
nonen verfolgt zuruͤcke. Da haͤtte man das Speck-
tackel ſehen ſollen: Pferde die ihren Mann im Steg-
reif haͤngend, andre die ihr Gedaͤrm der Erde nach-
ſchleppten. Inzwiſchen ſtuhnden wir noch immer im
[153] feindlichen Kanonenfeuer bis gegen 11. Uhr, ohne daß
unſer linke Fluͤgel mit dem kleinen Gewehr zuſammen-
traf, obſchon es bereits auf dem rechten ſehr hitzig zu-
gieng. Viele meinten, wir muͤßten noch auf die Kaiſerli-
chen
Schanzen ſturmlaufen. Mir war’s ſchon nicht
mehr ſo bange, wie anfangs, obgleich die Feldſchlan-
gen Mannſchaft zu beyden Seiten neben mir weg-
raffeten, und der Wallplatz bereits mit Todten und
Verwundeten uͤberſaͤet war — als mit Eins unge-
fehr um 12. Uhr die Ordre kam, unſer Regiment,
nebſt zwey andern (ich glaube Bevern und Kalk-
ſtein
,) muͤßten zuruͤckmarſchieren. Nun dachten
wir, es gehe dem Lager zu, und alle Gefahr ſey
vorbey. Wir eilten darum mit muntern Schritten
die gaͤhen Weinberge hinauf, brachen unſre Huͤte
voll ſchoͤne rothe Trauben, aſſen vor uns her nach
Herzensluſt; und mir, und denen welche neben mir
ſtuhnden, kam nichts arges in Sinn, obgleich wir von
der Hoͤhe herunter unſre Bruͤder noch in Feuer und
Rauch ſtehen ſahen, ein fuͤrchterlich donnerndes Ge-
lerm hoͤrten, und nicht entſcheiden konnten auf wel-
cher Seite der Sieg war. Mittlerweile trieben unſre
Anfuͤhrer uns immer hoͤher den Berg hinan, auf
deſſen Gipfel ein enger Paß zwiſchen Felſen durch-
gieng, der auf der andern Seite wieder hinunter-
fuͤhrte. Sobald nun unſre Avantgarde den erwaͤhn-
ten Gipfel erreicht hatte, gieng ein entſetzlicher Mus-
ketenhagel an; und nun merkten wir erſt wo der
Haas im Stroh lag. Etliche Tauſend Kaiſerliche
Panduren waren naͤmlich auf der andern Seite den
Berg hinauf beordert, um unſrer Armee in den
[154] Ruͤcken zu fallen; dieß muß unſern Anfuͤhrern ver-
rathen worden ſeyn, und wir mußten ihnen darum
zuvorkommen: Nur etliche Minuten ſpaͤther, ſo
haͤtten ſie uns die Hoͤhe abgewonnen, und wir wahr-
ſcheinlich den Kuͤrzern gezogen. Nun ſetzte es ein
unbeſchreibliches Blutbad ab, ehe man die Pandu-
ren aus jenem Gehoͤlz vertreiben konnte. Unſre
Vordertruppen litten ſtark; allein die hintern dran-
gen ebenfalls uͤber Kopf und Hals nach, bis zuletzt
alle die Hoͤhe gewonnen hatten. Da mußten wir
uͤber Huͤgel von Todten und Verwundeten hinſtolpern.
Alsdann gieng’s Hudri, Hudri, mit den Panduren
die Weinberge hinunter, ſprungweiſe uͤber eine Mauer
nach der andern herab, in die Ebene. Unſre geborne
Preuſſen und Brandenburger packten die Pan-
duren wie Furien. Ich ſelber war in Jaſt und Hitze
wie vertaumelt, und, mir weder Furcht noch Schre-
ckens bewußt, ſchoß ich Eines Schieſſens faſt alle
meine 60. Patronen los, bis meine Flinte halb
gluͤhend war, und ich ſie am Riemen nachſchleppen
mußte; indeſſen glaub’ ich nicht, daß ich eine le-
bendige Seele traf, ſondern alles gieng in die freye
Luft. Auf der Ebene am Waſſer vor dem Staͤdtchen
Lowoſitz poſtirten ſich die Panduren wieder, und
puͤlferten tapfer in die Weinberge hinauf, daß noch
mancher vor und neben mir ins Gras biß. Preuſ-
ſen
und Panduren lagen uͤberall durcheinander; und
wo ſich einer von dieſen letztern noch regte, wur-
de er mit der Kolbe vor den Kopf geſchlagen,
oder ihm ein Bajonett durch den Leib geſtoſſen.
[155] Und nun gieng in der Ebene das Gefecht von neu-
em an. Aber wer wird das beſchreiben wollen, wo
jetzt Rauch und Dampf von Lowoſitz ausgieng;
wo es krachte und donnerte, als ob Himmel und
Erde haͤtten zergehen wollen; wo das unaufhoͤr-
liche Rumpeln vieler hundert Trommeln, das herz-
zerſchneidende und herzerhebende Ertoͤnen aller Art
Feldmuſick, das Rufen ſo vieler Commandeurs und
das Bruͤllen ihrer Adjutanten, das Zetter- und
Mordiogeheul ſo vieler tauſend elenden, zerquetſch-
ten, halbtodten Opfer dieſes Tages alle Sinnen be-
taͤubte! Um dieſe Zeit — es mochte etwa 3. Uhr
ſeyn — da Lowoſitz ſchon im Feuer ſtand, viele
hundert Panduren, auf welche unſre Vordertruppen
wieder wie wilde Loͤwen einbrachen, ins Waſſer ſpran-
gen, wo es dann auf das Staͤdtgen ſelber losgieng —
um dieſe Zeit war ich freylich nicht der Vorderſte
ſondern unter dem Nachtrapp noch etwas im Weinberg
droben, von denen indeſſen mancher, wie geſagt, weit
behender als ich von einer Mauer uͤber die andere
hinunterſprang, um ſeinen Bruͤdern zu Huͤlf’ zu ei-
len. Da ich alſo noch ein wenig erhoͤht ſtand, und
auf die Ebene wie in ein finſteres Donner- und Hagel-
wetter hineinſah — in dieſem Augenblick deucht’ es
mich Zeit, oder vielmehr mahnte mich mein Schutz-
engel, mich mit der Flucht zu retten. Ich ſah mich
deswegen nach allen Seiten um. Vor mir war al-
les Feuer, Rauch und Dampf; hinter mir noch viele
nachkommende auf die Feinde loseilende Truppen,
zur Rechten zwey Hauptarmeen in voller Schlacht-
[156] ordnung. Zur Linken endlich ſah ich Weinberge,
Buͤſche, Waͤldchen, nur hie und da einzelne Men-
ſchen, Preuſſen, Panduren, Huſaren, und von
dieſen mehr Todte und Verwundete als Lebende. Da,
da, auf dieſe Seite, dacht’ ich; ſonſt iſt’s pur lau-
tere Unmoͤglichkeit!


LVI.
Das heißt — wo nicht mit Ehren gefoch-
ten — doch gluͤcklich entronnen
.


Ich ſchlich alſo zuerſt mit langſamem Marſch ein
wenig auf dieſe linke Seite, die Reben durch. Noch
eilten etliche Preuſſen bey mir vorbey: „Komm’,
„komm’, Bruder“! ſagten ſie: „Viktoria„! Ich
riſpoſtirte kein Wort, that nur ein wenig bleſſiert,
und gieng immer noch allgemach fort, freylich mit
Furcht und Zittern. Sobald ich mich indeſſen ſo
weit entfernt hatte, daß mich niemand mehr ſehen
mochte, verdoppelte, verdrey-vier-fuͤnf-ſechsfachte
ich meine Schrite, blickte rechts und links wie ein
Jaͤger, ſah noch von Weitem — zum letzten Mal
in meinem Leben — morden und todtſchlagen; ſtrich
dann in vollem Galopp ein Gehoͤlze vorbey, das voll
todter Huſaren, Panduren und Pferde lag; rannte
Eines Rennens gerade dem Fluß nach herunter, und
ſtand jetzt an einem Tobel. Jenſeits deſſelben ka-
men ſo eben auch etliche Kaiſerliche Soldaten an-
geſtochen, die ſich gleichfalls aus der Schlacht weg-
geſtohlen hatten, und ſchlugen, als ſie mich ſo da-
[157] herlaufen ſahen, zum drittenmal auf mich an, un-
geachtet ich immer das Gewehr ſtreckte, und ihnen
mit dem Hut den gewohnten Wink gab. Doch brann-
ten ſie niemals los. Ich faßte alſo den Entſchluß,
gerad’ auf ſie zuzulaufen. Haͤtt’ ich einen andern
Weg genommen, wuͤrden ſie, wie ich nachwerts er-
fuhr, unfehlbar auf mich gefeuert haben. Ihr H * * *.
dacht’ ich, haͤttet ihr euer Courage bey Lowoſitz
gezeigt! Als ich nun zu ihnen kam, und mich als
Deſerteur angab, nahmen ſie mir das Gewehr ab, unterm
Verſprechen, mir’s nachwerts ſchon wieder zuzuſtellen.
Aber der, welcher ſich deſſen impatronirt hatte, ver-
lor ſich bald darauf, und nahm das Fuͤſil mit ſich.
Nun ſo ſey’s! Alsdann fuͤhrten ſie mich ins naͤchſte
Dorf, Scheniseck (es mochte eine ſtarke Stunde
unter Lowoſitz ſeyn). Hier war eine Fahrt uͤber
das Waſſer, aber ein einziger Kahn zum Trans-
porte. Da gab’s ein Zettermordiogeſchrey von Maͤn-
nern, Weibern und Kindern. Jedes wollte zuerſt
in dem Teich ſeyn, aus Furcht vor den Preuſſen;
denn alles glaubte ſie ſchon auf der Haube zu ha-
ben. Auch ich war keiner von den letzten, der mit-
ten unter eine Schaar von Weibern hineinſprang.
Wo nicht der Faͤhrmann etliche derſelben hinausge-
worfen, haͤtten wir alle erſaufen muͤſſen. Jenſeits
des Fluſſes ſtand eine Panduren-Hauptwache. Mei-
ne Begleiter fuͤhrten mich auf dieſelbe zu, und dieſe
rothen Schnurrbaͤrte begegneten mir auf’s manier-
lichſte; gaben mir, ungeachtet ich ſie und ſie mich kein
Wort verſtuhnden, noch Toback und Branntwein, und
[158] Geleit bis auf Leutmeritz, glaub’ ich, wo ich, un-
ter lauter Stockboͤhmen uͤbernachtete, und freylich
nicht wußte ob ich da mein Haupt ſicher zur Ruhe
legen konnte — aber — und dieß war das Beßte —
von dem Tumult des Tags noch einen ſo vertau-
melten Kopf hatte, daß dieſer Kapitalpunkt mir am
allermindeſten betrug. Morgens darauf (2. Okt.)
gieng ich mit einem Tansport ins Kaiſerliche
Hauptlager nach Budin ab. Hier traf ich bey 200.
andrer Preußiſcher Deſerteurs an, von denen ſo zu
reden jeder ſeinen eigenen Weg, und ſein Tempo in Ob-
acht genommen hatte; neben andernauch unſern Bach-
mann
. Wie ſprangen wir beyde hoch auf vor Entzuͤcken,
uns ſo unerwartet wieder in Freyheit zu ſehn! Da
gieng’s an ein Erzaͤhlen und Jubilieren, als wenn
wir ſchon zu Haus hinterm Ofen ſaͤſſen. Einzig
hieß es bisweilen: Ach! waͤre nur auch der Schaͤ-
rer
von Weil bey uns! Wo mag der doch geblie-
ben ſeyn? Wir hatten die Erlaubniß, alles im La-
ger zu beſichtigen. Offiziers und Soldaten ſtuhnden
dann bey Haufen nm uns her, denen wir mehr
erzaͤhlen ſollten, als uns bekannt war. Etliche in-
deſſen wußten Winds genug zu machen, und, ih-
ren dießmaligen Wirthen zu ſchmeicheln, zur Ver-
kleinerung der Preuſſen hundert Luͤgen auszuhe-
cken. Da gab’s denn auch unter den Kaiſerli-
chen
manchen Erzprahler; und der kleinſte Zwerge
ruͤhmte ſich, wer weiß wie manchen langbeinigten Bran-
denburger
— auf ſeiner eignen Flucht in die Flucht
geſchlagen zu haben. Drauf fuͤhrte man uns zu et-
[159] wa 50. Mann Gefangener von der Preuſſiſchen
Cavallerie; ein erbaͤrmlich Specktackel! Da war kaum
einer von Wunden oder Beulen laͤr ausgegangen;
etliche uͤber’s ganze Geſicht heruntergehauen, andre
ins Genick, andre uͤber die Ohren, uͤber die Schul-
tern, die Schenkel u. ſ. f. Da war alles ein Aech-
zen und Wehklagen! Wie prieſen uns dieſe armen
Wichte ſelig, einem aͤhnlichen Schickſal ſo gluͤcklich en-
tronnen zu ſeyn; und wie dankten wir ſelber Gott dafuͤr!
Wir mußten im Lager uͤbernachten, und bekamen
jeder ſeinen Duckaten Reisgeld. Dann ſchickte man
uns mit einem Cavallerietransport, es waren unſer
an die 200., auf ein Boͤhmiſches Dorf, wo wir,
nach einem kurzen Schlummer, folgenden Tags auf
Prag abgiengen. Dort vertheilten wir uns, und
bekamen Paͤſſe, je zu 6. 10. bis 12. hoch welche
einen Weg giengen; denn wir waren ein wunder-
ſeltſames Gemengſel von Schweitzern, Schwa-
ben, Saxen, Bayern, Tyrolern, Welſchen,
Franzoſen, Polacken
und Tuͤrken. Einen ſolchen
Paß bekamen unſer 6. zuſammen bis Regenſpurg.
In Prag ſelber war indeſſen ebenfalls ein Zittern
und Beben vor den Preuſſen, ohne ſeinesgleichen.
Man hatte dort den Ausgang der Schlacht bey Lo-
woſitz
bereits vernommen, und glaubte nun den
Sieger ſchon vor den Thoreu zu ſehn. Auch da ſtuhn-
den ganze Truppen Soldaten und Buͤrger um uns
her, denen wir ſagen ſollten, was der Preuß’ im
Sinn habe? Einige von uns troͤſteten dieſe neugie-
rigen Haaſen; andre hingegen hatten noch ihre Freu-
[160] de daran, ſie dapfer zu ſchrecken, und ſagten ihnen;
Der Feind werde ſpaͤthſtens in vier Tagen anlangen,
und ſey ergrimmt wie der Teufel. Dann ſchlugen
viele die Haͤnd’ uͤberm Kopf zuſammen; Weiber und
Kinder waͤlzten ſich gar heulend im Koth herum.


LVII.
Heim! Heim! Nichts als Heim!


Den 5. Okt. traten wir nun unſre wirkliche Heim-
reiſe an. Es war ſchon Abends, als wir von Prag
ausmarſchierten. Es gieng bald uͤber eine Anhoͤhe,
von welcher wir eine unvergleichliche Ausſicht uͤber
das ganze ſchoͤne koͤnigliche Prag hatten. Die liebe
Sonne verguͤldete ſeine mit Blech bedeckten zahllo-
ſen Thurmſpitzen zum Entzuͤcken. Wir ſtuhnden
eine Weile dort ſtill, unter allerhand Geſpraͤchen
und mannigfaltigen Empfindungen dieſes herrlichen
Anblicks zu genieſſen. Einige bedauerten den praͤch-
tigen Ort, wenn er ſollte bombardirt werden; an-
dre haͤtten moͤgen dabey ſeyn, wenigſtens waͤhren-
dem Pluͤndern. Ich konnte mich kaum ſatt ſehn;
ſonſt aber war mein einziges Sehnen wieder nach
Haus, zu [den] Meinigen, zum Anneli. Wir kamen
noch bis auf Schibrack; den 6. bis Pilſen. Dort hatte
der Wirth eine Tochter, das ſchoͤnſte Maͤdchen, das
ich in meinem Leben geſehn. Mein Herr Bach-
mann
wollte mit ihr huͤbſch thun, und faſt einzig
ihr zu lieb hielten wir da Raſttag. Aber der Wirth
verdeutete ihm: Sein Kind ſey keine Berlinerin!
Den
[161] Den 8. bis 12. gieng’s uͤber Stab, Lenſch, Kätz,
Kien
u. ſ. f. auf Regenſpurg, wo wir zum zwey-
tenmal raſteten. Bisher hatten wir nur kurze Tag-
reiſen von zwey bis drey Meilen gemacht, aber de-
ſto laͤngere Zechen. Mein Dukaten Reisgeld war
ſchon duͤnn wie ein Laub worden, ſonſt hatt’ ich kei-
nen Heller in der Fiecke, und ward alſo genoͤthigt
auf den Doͤrfern zu fechten. Da bekam ich oft bey-
de Taſchen voll Brodt, aber nie keinen Heller baar.
Bachmann hingegen hatte noch von ſeinem Hand-
geld uͤbrig, gieng in die Schenke, und ließ ſich’s
wohl ſchmecken; nur etwa zu vornehmen Haͤuſern,
Pfarrhoͤfen und Kloͤſtern, kam er auch mit. Da
mußten wir oft halbe Stunden daſtehn, und den
Herren alle Hergangenheit erzaͤhlen; deß wurde be-
ſonders Bachmann meiſt uͤberdruͤßig, ſonderlich wo
denn fuͤr die Geſchichte einer ganzen Schlacht, deren
er nicht beygewohnt, nur ein Paar Pfenninge flogen.
Er gab immer fuͤr, daß er bey Lowoſitz auch da-
bey geweſen, und ich mußt’ ihm dieſe Luͤge noch
friſiren helfen; dafuͤr haͤtt’ er mir die ganze Reiſ’
uͤber nur keinen Krug Bier bezahlt. In den Kloͤ-
ſtern indeſſen gab’s Suppen, oft auch Fleiſch. Zu
Regenſpurg, oder vielmehr im Bayerſchen Hof
vertheilten wir uns wieder. Bachmann und ich
erhielten dort einen Paß nach der Schweitz. Die
andern, ein Bayer, zween Schwaben und ein
Franzoſe, von denen ich nichts weiter zu ſagen
weiß, als daß ſie alle viere ruͤſtige Kerls, und uns
Toͤlpeln weit uͤberlegen waren, nahmen jeder auch
L
[162] ſeine Straſſe. Die unſrige gieng den 14. bis 24.
Okt. der kleinern Orte nicht zu gedenken, uͤber In-
golſtadt, Donauwerth, Dillingen, Bur-
heim, Wangen, Hohentwiel, Bregenz, Rhei-
neck, Roſchach
(40 Meilen). Oberhalb Rhei-
neck
begegnete mir bald ein trauriger Spaß. Bis-
her waren wir unter lauter muntern Geſpraͤchen
uͤber unſre gluͤckliche Flucht, uͤber unſre aͤltern und
neuern Schickſale und unſre Ausſichten vor die Zu-
kunft, ganz bruͤderlich gereiſt. Bachmann, dem,
von vorigen Zeiten her, faſt alle Tag Huͤnd’ und
Haſen wieder in den Sinn ſtiegen, hatte ſich, ſo-
bald wir von Prag weg waren, eine Jagdflinte ge-
kauft, die er nun mit ſich trug. Ich war ſeiner
ewigen Discurſe von Hetzen und Treiben ſchon laͤngſt
muͤde geworden, als wir, wie geſagt, oberhalb Rhei-
neck
in den Weinbergen Hunde jagen hoͤrten. Hier
machte mein Urian vor Entzuͤcken ordentliche Purzel-
ſpruͤnge, und behauptete, es waͤren, beym Himmel! ſeine
alten Bekannten; er kenne ſie noch am Bellen! Ich lachte
ihn aus. Hieruͤber ward er boͤſe, befahl mir ſtill-
zuſtehn, und der ſchoͤnen Muſick zuzuhorchen. Jetzt
ſpottete ich vollends ſeiner, und ſtampfte mit den
Fuͤſſen. Das haͤtt’ ich freylich ſollen bleiben laſſen.
Er war raſend, ſtand ganz ſchaͤumend mit aufgehab-
ner Flinte vor mich hin, und ſetzte ſie mir zaͤhn-
knirſchend vor den Kopf, als wenn er mich den Au-
genblick toͤdten wollte. Ich erſchrack; Er war bewaf-
net, ich nicht; und auch dieß und ſeine Wuth unge-
rechnet, glaub’ ich kaum, daß ich dem ohnehin ver-
[163] zweifelt wilden, handfeſten Kerl, der beynahe zwey
Zoll hoͤher als ich war, haͤtte gewachſen ſeyn koͤn-
nen. Doch, ich weiß nicht ob aus Muth oder Furcht,
ſtand ich ihm bockſtill, und guckte indeſſen auf
alle Seite herum, ob ich niemand zu Huͤlf rufen
konnte? Aber — es war an einem einſamen Ort,
auf einer Allmend — ich ſah’ kein Maͤusgen. „Sey
„kein Narr„! ſagt’ ich zu ihm: Wirſt wohl auch
„Spaß verſtehn„. Damit legte ſich ſeine Wuth
ſchon um ein ziemliches. Wir giengen ſtillſchweigend
weiters, und ich war froh als wir ſo unvermerkt
ins Staͤdtgen Rheineck traten. Jetzt flattirte er
mich wieder, eines Thalers wegen, den ich auf dem
Weg von ihm geborgt hatte; und ich dachte oft, dieß
Lumpenſtuͤck Geld hab’ mir das Leben gerettet. Aber
von dieſem Augenblick an ſchwand auch alles Ver-
trauen unter uns. Doch hab’ ich mich nie gero-
chen, obgleich’s der Anlaͤſſen viele gab; und mein
Vater zahlte ihm den Thaler willig, als er wenig
Tage nach meiner Heimkunft in unſer Haus kam.
Wir kamen noch bis Roſchach, und des folgenden
Tags (25. Okt.) auf Heriſau; denn mein Herr
Bachmann mochte nicht eilen, und ich merkte
wohl, daß er ſich nicht recht nach Haus getraute,
bis er ſich erkundigt haͤtte, wie, ſeiner vorigen Fre-
vel wegen, der Wind blies.


[164]

LVIII.
O des geliebten ſuͤſſen Vaterlands!


Laͤnger konnt’ ich dem Burſchen nicht abpaſſen;
denn ſo nahe bey meiner Heimath, brannt’ ich vor
Begierde, dieſelbe voͤllig zu erreichen. Alſo den 26.
Okt. Morgens fruͤh’ nahm ich den Weg zum letzten-
mal unter die Fuͤſſe, rannte wie ein Reh uͤber Stock
und Stein’, und die lebhafte Vorſtellung des Wie-
derſehns von Eltern, Geſchwiſterten, und meinem
Liebchen, gieng mir einſtweilig fuͤr Eſſen und Trin-
ken. Als ich nun dergeſtalt meinem geliebten Watt-
weil
immer naͤher und naͤher, und endlich auf die
ſchoͤne Anhoͤhe kam, von welcher ich ſeinen Kirchthurm
ganz nahe unter mir erblickte, bewegte ſich alles in
mir, und groſſe Thraͤnen rollten haufenweis uͤber
meine Wangen herab. O du erwuͤnſchter, geſegneter
Ort! ſo hab’ ich dich wieder, und niemand wird mich
weiter von dir nehmen, dacht’ ich ſo ihm Herunter-
trollen wohl hundertmal; und dankte dabey immer
Gottes Vorſehung, die mich aus ſo vielen Gefah-
ren, wo nicht wunderbar doch hoͤchſtguͤtig gerettet
hat. Auf der Bruͤcke zu Wattweil, redte mich
ein alter Bekanter, Gaͤmperle, an, der vor mei-
nem Weggehn um meine Liebesgeſchichte gewußt
hatte; und deſſen erſtes Wort war: „Je gelt! dei-
„ne Anne iſt auch verplempert; dein Vetter Mi-
„chel
war ſo gluͤckſelig, und ſie hat ſchon ein Kind„. —
Das fuhr mir ja durch Mark und Bein; indeſſen
[165] ließ ich’s den argen Ungluͤcksboten nicht merken: „Eh’
„nun„ ſagt’ ich, „hin iſt hin„! Und in der That,
zu meinem groͤßten Erſtaunen faßt’ ich mich ſehr bald,
und dachte wirklich: „Nun freylich, das haͤtt’ ich nicht
„hinter ihr geſucht! Aber, wenn’s ſo ſeyn muß, ſo
„ſey’s, und hab’ ſie eben ihren Michel„! Dann
eilt’ ich unſerm Wohnort zu. Es war ein ſchoͤner
Herbſtabend. Als ich in die Stube trat, (Vater
und Mutter waren nicht zu Hauſe) merkt’ ich bald,
daß auch nicht eines von meinen Geſchwiſterten mich
erkannte, und ſie uͤber dem ungewohnten Speckta-
ckel eines Preußiſchen Soldaten nicht wenig er-
ſchracken, der ſo in ſeiner vollen Montirung, den
Dorniſter auf dem Ruͤcken, mit ’runter gelaßnem
Zottenhut und einem tuͤchtigen Schnurrbart ſie an-
redte. Die Kleinern zitterten; der groͤßte griff nach
einer Heugabel, und — lief davon. Hinwieder wollt’
auch ich mich nicht zu erkennen geben, bis meine
Eltern da waͤren. Endlich kam die Mutter. Ich
ſprach ſie um Nachtherberg an. Sie hatte viele Be-
denklichkeiten; der Mann ſey nicht da, u. d. gl. Laͤn-
ger konnt’ ich mich nicht halten, ergriff ihre Hand,
und ſagte: „Mutter, Mutter! kennſt mich nicht
„mehr„? O da gieng’s zuerſt an ein lermendes,
von Zeit zu Zeit mit Thraͤnen vermengtes Freuden-
geſchrey von Kleinen und Groſſen, dann an ein Be-
willkommen, Betaſten und Begucken, Fragen und
Antworten, daß es eine Tauſendsluſt war. Jedes
ſagte, was es gethan und gerathen, um mich wieder
bey ihnen zu haben. So wollte z. E. meine aͤlteſte
[166] Schweſter ihr Sonntagskleid verkaufen, und mich
daraus heimholen laſſen. Mittlerweile langte auch
der Vater an, den man ziemlich aus der Ferne ru-
fen mußte. Dem guten Mann rannten auch Trop-
fen die Backen herunter: „Ach! Willkomm, will-
„komm, mein Sohn! Gottlob, daß du geſund da
„biſt, und ich einmal alle meine Zehne wieder bey-
„ſammen habe. Obſchon wir arm ſind, giebt’s doch
„alleweil Arbeit und Brodt„. Jetzt brannte mein
Herz lichterloh, und fuͤhlte tief die ſelige Wonne, ſo
viele Menſchen auf einmal — und zwar die Meini-
gen — zu erfreuen. Dann erzaͤhlt’ ich ihnen noch den-
ſelben, und etlich folgende Abende haarklein meine
ganze Geſchichte. Da war’s mir wieder ſo unge-
wohnt herzlich wohl! Nach ein Paar Tagen kam
Bachmann, holte wie geſagt ſeinen Thaler, und
beſtaͤthigte alle meine Ausſagen. Sonntags fruͤhe
putzt’ ich meine Montur, wie in Berlin zur Kir-
chenparade. Alle Bekannten bewillkommten mich;
die andern gafften mich an wie einen Tuͤrken. Auch —
nicht mehr meine, ſondern Vetter Michels Anne
that es, und zwar ziemlich frech, ohne zu erroͤ-
then. Ich hinwieder dankte ihr hohnlaͤchelnd und
trocken. Dennoch beſucht’ ich ſie eine Weile hernach,
als ſie mir ſagen ließ, ſie wuͤnſchte allein mit mir
zu reden. Da machte ſie freylich allerley kahle Ent-
ſchuldigungen: Z. E. Sie hab’ mich auf immer
verloren geglaubt, der Michel hab’ ſie uͤbertoͤlpelt,
u. d. gl. Dann wollte ſie gar meine Kupplerinn ab-
geben. Aber ich bedankte mich ſchoͤnſtens, und gieng.


[167]

LIX.
Und nun, was anfangen.


Graben mag ich nicht; doch ſchäm’ ich mich
zu betteln
. — Nein! vor mein Brodt war ich nie
beſorgt, und itzt am allerwenigſten. Denn, dacht’
ich: Nun biſt du wieder an deines Vaters Koſt;
und arbeiten willſt du nun auch wieder lernen. Doch
merkt’ ich, daß mein Vater meinetwegen ein Bißchen ver-
legen war, und vielleicht obige Textesworte auf mich
anwandte, obſchon er nichts davon ſagte. In der
That war mir auch die ſchwarze und gefaͤhrliche
Kunſt eines Pulvermachers hoͤchſt zuwider; denn der-
gleichen Spezerey hatt’ ich nun genug gerochen. Itzt
ſollt’ ich auch wieder Kleider haben, und der gute
Aeti ſtrengte alles an, mir ſolche zu verſchaffen. Den
Winter uͤber konnt’ ich Holz zuͤgeln, und Baumwollen
kaͤmmen. Allein im Fruͤhjahr
1757.
beorderte mich mein Vater zum Salpeterſieden; da
gab’s ſchmutzige und zum Theil auch ſtrenge Arbeit.
Doch blieb mir immer ſo viel Zeit uͤbrig, meinen
Geiſt wieder in die weite Welt fliegen zu laſſen. Da
dacht ich dann: „Warſt doch als Soldat nicht ſo
„ein Schweinskerl, und hatteſt bey aller deiner Angſt
„und Noth manch luſtiges Taͤgel„! Ha! wie ver-
aͤnderlich iſt das Herz des Menſchen. Denn itzt
gieng ich wirklich manche Stunde mit mir zu Rath,
ob ich nicht aufs neue den Weg unter die Fuͤſſe neh-
[168] men wollte; ſtuhnden doch Frankreich, Holland,
Piemont
, die ganze Welt — auſſer Brandenburg,
vor mir offen. Mittlerweile wurde mir ein Herrn-
dienſt im Johanniterhaus Bubickheim, Zuͤrcher-
Gebiets, angetragen. Ich gieng zwar hin mich zu
erkundigen. Allein, ich gefiel, oder, was weiß ich,
man gefiel mir nicht; und ſo blieb ich wieder bey
meinem Salpeter, war ein armer Tropf, hatte kein
Geld, und mochte gleichwohl auch gern mit andern
Burſchen laichen. Mein Vater gab mir zwar bis-
weilen, wenn ein Trinktag, oder andrer Ehrenan-
laß einfiel, etliche Batzen in den Sack; allein die
waren bald uͤber die Hand geblaſen. Der ehrliche
Krentztrager hatte eben ſonſt immer mehr auszugeben
als einzunehmen, und Kummer und Sorgen mach-
ten ihn lange vor der Zeit grau. Denn, die Wahr-
heit zu ſagen: Keins von allen ſeinen zehn Kindern
wollten ihm recht ans Rad ſtehn. Jedes ſah vor
ſich, und doch mochte keines was vor ſich bringen.
Die einten waren zu jung. Von den zwey Bruͤdern,
die naͤchſt auf mich folgten, gab ſich der aͤltere mit
Baumwollen-Kaͤmmen ab, und zahlte dem Aeti
das Tiſchgeld; der andere half ihm zwar in der
Pulvermuͤhle: Ueberhaupt aber ließ der liebe Mann
jedes, ſo zu ſagen, machen was es wollte, ertheilte
uns viel guter Lehren und Ermahnungen, und las
uns aus gottſeligen Buͤchern allerley vor; aber da-
bey ließ er’s dann bewenden, und brauchte kurz kei-
nen Ernſt. Die Mutter mit den Toͤchtern machte
es eben ſo, und war gar zu gut; ſo gerade davon,
[169] was ’s giebt, ſo giebt’s. O! wie wenig Eltern ver-
ſtehen die rechte Erziehungskunſt — und wie unbe-
ſonnen iſt die Jugend! Wie ſpaͤth koͤmmt der Ver-
ſtand! Bey mir ſollte er damals ſchon laͤngſt gekom-
men, und ich meines Vaters beßte Stuͤtze gewor-
den ſeyn. Ja! wenn das ſinnliche Vergnuͤgen nicht
ſo anziehend waͤre. An guten Vorſaͤtzen fehlte es nie.
Aber da hieß es:


Zwar billig’ ich nicht mehr das Boͤſe das ich

thue

Doch thu’ ich nicht das Gute das ich will.

Und ſo ſtolpert’ ich immer meinem wahren Gluͤck
vorbey.


LX.
Heurathsgedanken.


(1758.)


Schon im vorigen Jahr gerieth ich bey meinem Her-
umpatrouilliren hie und da an eine ſogenannte Schoͤ-
ne; und es gab deren nicht wenig die mir herzlich
gut waren, aber meiſt ohne Vermoͤgen. Ich nichts,
Sie nichts, dacht’ ich dann, iſt doch auch zu wenig;
denn ſo unbedachtſam war ich doch nicht mehr, wie
im zwanzigſten. Auch ſprach der Vater immer zu
uns: „Buben! ſeyt doch nicht ſo wohlfeil. Seht
„Euch wohl fuͤr. Ich will’s Euch zwar nicht weh-
„ren; aber werft den Bengel nur ein Bißlin hoch,
„er faͤllt ſchon von ſelbſt wieder tief; in dieſem Punkt
„darf ſich einer alleweil was rechtes einbilden„.
[170] Nun, das war ſchoͤn und gut; aber es muß einer
denn doch durch wo’s ihm geſchaufelt iſt. Gleichwohl
dacht’ ich etwas zu erhaſchen, und glaubte mich ei-
gentlich zum Eheſtand beſtimmt, ſonſt waͤr’ ich um
dieſe Zeit ſicher in die weite Welt gegangen. In-
zwiſchen war, aller meiner obenbelobten Bedaͤchtlich-
keit ungeachtet, der Geitz wirklich nicht meine Sache.
Ein Maͤdchen, ganz nach meinem Herzen, haͤtt’ ich
nackend genommen. Aber da leuchtete mir eben keine
vollkommen recht ein, wie weiland mein Aennchen.
Mit einem gewiſſen Liſgen von R. war ich ein Paar-
mal auf dem Sprung. Erſt machte das Ding Be-
denklichkeiten; nachwerts bot es ſich ſelber an. Aber
meine Neigung zu ihr war zu ſchwach; und doch
glaub’ ich nicht, daß ich ungluͤcklich mit ihr gefahren
waͤre. Aber zu ſtockig, iſt zu ſtockig. Bald darauf
kam ich faſt ohne mein Wiſſen und Willen mit der
Tochter einer catholiſchen Wittwe in einen Handel,
welcher ziemliches Aufſehen machte, obſchon ich nur
ein Paarmal mit ihr ſpaziren gegangen, ein Glas
Wein mit ihr getrunken, u. d. gl. alles ohne ſon-
derliche Abſicht, und vornehmlich ohne ſonderliche
Liebe. Aber da blies man meinem Vater ein, ich
wolle catholiſch, und Marianchens Mutter, ſie
wolle reformirt werden; und doch hatte keins von
uns nur nicht an den Glauben, geſchweige an eine
Aenderung deſſelben gedacht. Das arme Ding kam
wirklich daruͤber in eine Art geheimer Inquiſition
von Geiſt- und Weltlichen; erzaͤhlte mir dann alles
haarklein, und ihr ward himmelangſt. Ich hingegen
[171] lachte im Herzen des dummen Lerms; um ſo viel
mehr da mein Vater ſolider zu Werk gieng, mich
zwar freundernſtlich examinierte, aber mir dann auch
auf mein Wort glaubte, da ich ihm ſagte, daß ich
ſo ſteif und feſt auf meinem Bekenntniß leben und
ſterben wollte als Lutherus, oder unſre Landskraft,
Zwinglin. Inzwiſchen wurde die Sache doch auf
Marianchens Seite ernſthafter als ich glaubte.
Das gute Kind ward ſo vernarrt in mich wie ein
Kaͤtzgen, und befeuchtete mich oft mit ſeinen Thraͤ-
nen. Ich glaube, daß Naͤrrchen waͤr’ mit mir ans
End der Welt gelaufen; und wenn ihm ſchon ſein
muͤtterlicher Glaube ſehr ans Herz gewachſen war,
meint’ ich doch faſt, ich haͤtt’ in der Waagſchal’ uͤber-
wogen. Auch ſetzte mir itzt das Mitleid faſt mehr
zu, als je zuvor die Liebe. Und doch mußt’ ich,
wenn ich alles und alles uͤberdachte, durchaus all-
maͤhlich abbrechen; und that es wirklich. Hier falle
eine mitleidige Thraͤne auf das Grab dieſes armen
Toͤchtergens! Es zehrte ſich nach und nach ab, und
ſtarb nach wenig Monathen im Fruͤhling ſeines zar-
ten Lebens. Gott verzeihe mir meine groſſe ſchwere
Suͤnde, wenn ich je an dieſem Tod einige Schuld
trug. Und wie ſollt’ ich mir dieß verbergen wollen?


[172]

LXI.
Itzt wird’s wohl Ernſt gelten.


Indem ich ſo hin und wieder meinen Salpeter brann-
te, ſah’ ich eines Tags ein Maͤdchen ſo mit einem
Amazonengeſicht vorbeygehn, das mir als einem al-
ten Preuſſen nicht uͤbel gefiel, und das ich bald
nachher auch in der Kirche bemerkte. Dieſer fragte
ich erſt nur ganz verſtohlen nach; und was ich von
ihr vernahm, behagte mir ziemlich; Einen Kapital-
punkt ausgenommen, daß es hieß, ſie ſey verzweifelt
boͤſe — doch im beſſern Sinn; und dann glaubten
einiche, ſie habe ſchon einen Liebhaber. Nun, mit
alle dem, dacht’ ich: ’s muß doch einmal gewagt
ſeyn! Ich ſucht’ ihr alſo naͤher zu kommen, und
mit ihr bekannt zu werden. Zu dem End kauft’ ich
im Eggberg, wo meine Dulcinee daheim war, et-
was Salpetererde, und zugleich ihres Vaters Ga-
den — ihr zu lieb viel zu theuer; denn es war faſt
verloren Geld; und ſchon bey dieſem Handel merkt’
ich, daß ſie gern den Herr und Meiſter ſpiele; aber
der Verſtand, womit ſie’s that, war wir denn doch
nicht zuwider. Nun hatt’ ich alle Tag’ Gelegenheit,
ſie zu ſehen; doch ließ ich ihr lange meine Abſichten
unentdeckt, und dachte: Du mußt ſie erſt recht aus-
ſtudieren. Die Boͤſe, wovon man mir ſo viel We-
ſens gemacht, konnt’ ich eben nicht an ihr finden.
Aber der Henker hol’ ein lediges Maͤdchen aus! Meine
Beſuche wurden indeſſen immer haͤufiger. Endlich
[173] laͤrt ich den Kram aus, und gewahrte bald, daß ihr
mein Antrag nicht unerwartet fiel. Dennoch hatte
ſie viele Bedenken, und ihr Ziel gieng offenbar da-
hin, mich auf eine lange Probe zu ſetzen. Setz’ du
nur! dacht’ ich, wanderte unterdeſſen mit meinem
Salpeterplunder von einem Ort zum andern, und
machte noch mit verſchiedenen andern Maͤdchen Be-
kanntſchaft, welche mir, die Wahrheit zu geſtehen,
vielleicht beſſer gefielen, von denen aber denn doch
keine ſo gut fuͤr mich zu taugen ſchien als ſie — be-
griff’ aber endlich, oder vielmehr gab mir’s mein
guter Genius ein, daß ich nicht bloß meiner Sinn-
lichkeit folgen ſollte. Inzwiſchen ſetzte es itzt ſchon
bald allemal, wenn ich meine Schoͤne ſah, irgend
einen Strauß oder Wortwechſel ab, aus denen ich
leicht wahrnehmen konnte, daß unſre Seelen eben
nicht gleichgeſtimmt waren; aber ſelbſt dieſe Dishar-
monie war mir nicht zuwider, und ich beſtaͤrkte
mich immer mehr in einer gewiſſen Ueberzeugung:
Dieſe Perſon wird dein Nutzen ſeyn — wie die Arzt-
ney dem Kranken. Einſt ließ ſie ſich gegen mir
heraus, daß ihr meine dreckeligte Handthierung mit
dem Salpeterſieden gar nicht gefalle; und mir war’s
ſelber ſo. Sie rieth mir darum, ein kleines Haͤn-
delchen mit Baumwollengarn anzufangen, wie’s ihr
Schwager W. gethan, dem’s auch nicht uͤbel ge-
lungen. Das leuchtete mir ſo ziemlich ein. Aber,
wo s Geld hernehmen? war meine erſte und lezte
Frage. Sie bot mir wohl etwas an; aber das kleckte
nicht. Nun gieng’ ich mit meinem Vater zu Rath;
[174] der hatte ebenfalls nichts dawider, und verſchafte
mir 100. fl. die er noch von der Mutter zu bezie-
hen hatte.


Um dieſe Zeit hatt’ ich eine gefaͤhrliche Krankheit,
da mir naͤmlich ein ſolches Geſchwuͤr tief im Schlund
wuchs, das mich beynahe das Leben gekoſtet haͤtte.
Endlich ſchnitten’s mir die Herren Doktors Mettler
Vater und Sohn, mit einem krummen Inſtrumente
ſo gluͤcklich auf, daß ich gleichſam in einem Nu wie-
der ſchlucken und reden konnte.


1759.


Im Merz des folgenden Jahrs fieng ich nun wirk-
lich an, Baumwollengarn zu kaufen. Damals mußt’
ich noch den Spinnern auf ihr Wort glauben, und
alſo den Lehrbletz theuer genug bezahlen. Indeſſen
gieng ich den 5. Aprill das erſtemal mit meinem
Garn auf St. Gallen, und konnt’ es ſo mit ziem-
lichem Nutzen abſetzen. Dann ſchafte ich mir von
Herrn Heinrich Hartmann 76. Pfund Baumwol-
len, das Pfund zu 2. fl. an, ward nun in aller
Form ein Garnjuwelier, und bildete mir ſchon mehr
ein, als der Pfifferling werth war. Ungefehr ein
Jahr lang trieb ich nebenbey noch mein Salpeter-
ſieden fort; und da meine Baarſchaft eben gering
war, mußt’ ich ſie um ſo viel oͤftrer umzuſetzen ſu-
chen, wanderte deswegen einmal uͤbers andere auf
St. Gallen, und befand mich dabey nicht uͤbel:
Doch betrug mein Vorſchlag in dieſem Jahr nicht
uͤber 12. fl. Aber das deuchte mir damals ſchon ein
Groſſes.


[175]

LXII.
Wohnungsplane.


1760.


Als ich nun ſo den Handelsherr ſpielte, dacht’ ich:
Liebchen ſollte nun keine Einwendung mehr gegen
meine Antraͤge machen koͤnnen. Aber, weit gefehlt!
Das verſchmitzte Geſchoͤpf wollte meine Ergebenheit
noch auf andre Weiſe probiren. Nun, was ohnehin in
meinen eigenen Planen ſtuhnd, mochte ſchon hingehn.
Als ich ihr daher eines Tags mit groſſem Ernſt
vom Heurathen redete, hieß es: Aber wo hauſen
und hofen? Ich ſchlug ihr verſchiedene Wohnungen
vor, die damals eben zu vermiethen ſtuhnden: „Das
„will ich nicht„, ſagte ſie; „in meinem Leben nehm’
„ich keinen, der nicht ſein eigen Haus hat„! „Ganz
„recht„! erwiedert’ ich — Aber haͤtt’s nicht auch
in meinem Kopf gelegen, ich wollt’s probiert haben.
Von der Zeit an alſo fragt’ ich jedem feilgebotenen
Haͤusgen nach; aber es wollte ſich nirgends fuͤgen.
Endlich entſchloß ich mich, ſelber eins zu bauen,
und ſagte es meiner Schoͤnen. Sie war’s zufrieden,
und bot mir wieder Geld dazu an. Dann eroͤffnete
ich meine Abſicht auch meinem Vater; der verſprach
ebenfalls, mir mit Rath und That beyzuſtehn, wie
er’s denn auch redlich hielt. Nun erſt ſah’ ich mich
nach einem Platz um, und kaufte einen Boden um
ungefehr 100. Thaler; dann hie und da Holz. Ei-
niche Taͤnuchen bekam ich zum Geſchenke. Nun bot’
[175[176]] ich allen meinen Kraͤften auf, faͤllte das Holz, das
meiſt in einem Bachtobel ſtuhnd, und zuͤgelte es
(der gute Aeti half mir wacker) nach der Saͤge;
dann auf den Zimmerplatz. Aber Sagen und Zim-
mern koſtete Geld. Alle Tag’ mußt ich dem Seckel
die Riemen ziehn, und das war dann doch nur der
Schmerzen ein Anfang. Doch bisher gieng alles
noch gut von ſtatten; der Garnhandel erſetzte die
Luͤcken. Meiner Dulcinee rapportirt’ ich alles fleiſ-
ſig, und ſie trug an meinem Thun und Laſſen meiſt
ein gnaͤdiges Belieben.


Den Sommer, Herbſt und Winter durch macht’
ich alle noͤthige Zubereitungen mit Holz, Stein,
Kalk, Ziegel und ſ. f. um im koͤnftigen Fruͤhjahr
mit meinem Bau zeitig genug anfangen, und je eher
je lieber mit meiner jungen Hausehre einziehen zu koͤn-
nen. Nebſt meinem kleinen Handel pfuſcht’ ich, zumal im
Winter, allerley Mobilien, Werkgeſchirr, u. d. gl.
Denn ich dachte, in ein Haus wuͤrde auch Hausrath
gehoͤren; von meiner Liebſte werd’ ich nicht viel zu
erwarten haben, und von meinem Vater, dem ich
itzt ein, freylich geringes, Koſtgeld bezahlen mußte,
noch minder. Ueberhaupt war alſo wohl nichts un-
uͤberlegter, als dergeſtalt, blos einem Weibsbild,
und — ich will es gern geſtehen — dann auch mei-
ner Eitelkeit zu lieb, um eine eigene Hofſtaͤtte zu
haben, mich in ein Labyrinth zu vertiefen, aus wel-
chen nur Gott und Gluͤck mich wieder herausfuͤhren
konnten. Auch laͤchelten mich ein Paar meiner Nach-
barn immer ſchalkhaft an, ſo oft ich nur bey ihnen
vor-
[177] voruͤbergieng. Andre waren offenherziger, und ſag-
ten mir’s rund ins Geſicht: „Ulrich, Ulrich!
„du wirſt’s ſchwerlich aushalten koͤnnen.„ Einige
indeſſen hatten vollends die Gutheit, mir nach dem
Maaß ihrer Kraͤfte, bloß auf mein und des Aetis
Ehrenwort, thaͤtlich unter die Arme zu greifen.


Uebrigens war dieß Tauſend Siebenhundert und
Sechzig ein vom Himmel auſſerordentlich geſegnetes
rechtes Wunderjahr, durch ein ſeltenes Gedeihen der
Erdfruͤchte, und namhaften Verdienſt, bey aͤuſſerſt
geringem Preiß aller Arten von Lebensmitteln. Ein
Pfund Brodt galt 10. Pf. ein Pfund Butter 10. Kr.
Das Viertel Apfel, Birn und Erdaͤpfel konnt’ ich
beym Haus um 12. Kr. haben, die Maaß Wein
um 6. Kr. und die Maaß Branz um 7. Bz. Alles,
Reich und Arm, hatte vollauf. Mit meinem Bauel-
gewerb waͤr’s mir um dieſe Zeit gewiß recht gut ge-
gangen, wenn ich ihn nur beſſer verſtanden, und
mehr Geld und Zeit darein zu ſetzen gehabt haͤtte. —
So floß mir dieſes Jahr ziemlich ſchnell dahin. Mit
meiner Schoͤnen gab’s wohl manchmal ein Zerwuͤrf-
niß, wenn ſie etwa meine Lebensart tadelte, mir
Verhaltungsbefehle vorſchreiben wollte, und ich mich
dann — wie noch heut zu Tag — rebelliſch ſtellte;
aber der Faden war allemal bald wieder angeſpon-
nen — und bald wieder zerbrochen. Kurz wir waren
ſchon dazumal bald miteinander zufrieden, bald un-
zufrieden — wie itzt.



[178]

LXIII.
Das allerwichtigſte Jahr.


(1761.)


Nachdem ich nun, wie geſagt, den Winter uͤber
alle nur moͤgliche Anſtalten zu meinem Bauen ge-
macht, das Holz auf den Platz geſchleift, und der
Fruͤhling nun herbeyruͤckte, langten auch meine Zim-
merleuthe an, auf den Tag, wie ſie mir’s verſpro-
chen hatten. Es waren, auſſer meinem Bruder Ge-
org
, den ich ebenfalls dazu gedinget, und darum mei-
nem Vater itzt fuͤr ihn das Koſtgeld entrichten muß-
te, 7. Mann, deren jedem ich alle Tag vor Speis
und Lohn 7. Bz. dem Meiſter aber, Hans Joͤrg
Brunner
von Krynau, 9. Bz. bezahlte; und
daruͤber hinaus taͤglich ein halbe Maaß Branz, Sell-
Beſchluß- und Firſtwein noch aparte. Es war den
27. Merz, da die Selle zu meiner Huͤtte gelegt
wurde, bey ſehr ſchoͤnem Wetter, das auch bis Mitte
Aprills dauerte, da die Arbeit durch eingefallnen groſ-
ſen Schnee einige Tage unterbrochen ward. Indeſ-
ſen kam doch, Mitte May, alſo in circa 7. Wo-
chen, alles unter Tach. Noch vorher aber, End
Aprills, ſpielte mir das Schickſal etliche ſo fatale
Streiche, die mir, ſo undedachtſam ich ſonſt alles
dem Himmel anheimſtellen wollte — der doch nir-
gends fuͤr den Leichtſinn zu ſorgen verſprochen hat,
beynahe allen meinen Muth zu Boden warf. Es
hatten ſich naͤmlich drey oder vier Unſterne mit ein-
[179] ander vereinigt, meinen Bau zu hintertreiben. Der
einte war, daß ich noch viel zu wenig Holz hatte,
ungeachtet Mſtr. Brunner mir geſagt, es ſey
genug, und es erſt itzt einſah, als er an die oberſte
oder Firſtkammer kam. Alſo mußt’ ich von neuem
in den Wald, Baͤum’ kaufen, faͤllen, und ſie in die
Saͤge und auf den Zimmerplatz fuͤhren. Der zweyte
Unſtern war, daß, als bey dem ebengedachten Ge-
ſchaͤfte mein Fuhrmann mit einem ſchweren Stuͤck
zwiſchen zwey Felſen durch, und ich nebenein galop-
viren wollte, mir der Baum im Renken den rech-
ten Fuß erwiſchte, Schuh’ und Struͤmpf’ zerriß, und
mir Haut, Fleiſch und Bein zerquetſchte, ſo daß
ich ziemlich miſerabel auf dem einten Roß heimrei-
ten, und unter groſſem Schmerzen viele Tag’ inlie-
gen mußte, bis ich nun wieder zu meinen Leuten
hinken konnte. Nebendem vereinigten ſich, waͤhrend
dieſer meiner Niederlage noch zwey andre Fatalitaͤten
mit den erſtern. Die einte: Einer meiner Lands-
maͤnner, dem ich 120. fl. ſchuldig war, ſchickte mir
ganz unverſehns den Boten, daß er zur Stund
wolle bezahlt ſeyn. Ich kannte meinen Mann, und
wußte, daß da Bitten und Beten umſonſt ſey.
Alſo dacht ich hin und her, was denn ſonſt anzu-
fangen waͤre. Endlich entſchloß ich mich, meinen
Vorath an Garn aus allen Winkeln zuſammenzule-
ſen, nach St. Gallen zu ſchicken, und faſt um je-
den Preiß loszuſchlagen, Aber, o Weh! das vierte
Ungeheuer! Mein Abgeſandter kam ſtatt mit Baar-
ſchaft, mit der entſetzlichen Nachricht, mein Garn
[180] liege im Arreſt wegen allzukurzen Haͤſpeln; ich muͤſſe
ſelber auf St. Gallen gehn, und mich vor den
Herren Zunftmeiſtern ſtellen. Was ſollt’ ich nun
anfangen? Itzt hatt’ ich weder Garn noch Geld; ſo
zu ſagen keinen Schilling mehr meine Arbeiter zu
bezahlen, die indeſſen drauf loszimmerten, als
ob ſie Salomonis Tempel bauen muͤßten. Und
dann mein unerbittlicher Glaͤubiger! Aufs neue zu
Borgen? Gut! Aber wer wird mir armen Bubentrau-
en? — Mein Vater ſah meine Angſt — und mein Vater
im Himmel ſah ſie noch beſſer. Sonſt fanden der
Aeti und ich noch immer Credit. Aber ſollten wir
den mißbrauchen? — Ach! — Kurz er rannte in ſei-
nem und meinen Namen, und fand endlich Men-
ſchen die ſich unſer erbarmten — Menſchen und kei-
ne Wuchrer! Gott Vergelt’ es ihnen in Ewigkeit!


Sobald ich wieder aushoppen, und meinen Sachen
nachgehen konnte, war meine Noth — vielleicht nur
zu bald vergeſſen. Mein Schatz beſuchte mich waͤh-
rend meiner Krankheit oft. Aber von allen jenen
Unſternen ließ ich ihr nur keinen Schein ſehn; und
mein guter Engel verhuͤtete, daß ſie auch nichts da-
von erfuhr; denn ich merkte wohl, daß ſie, noch un-
ſchluͤßig, nur mein Verhalten, und den Ausgang
vieler ungewiſſer Dinge erwarten wollte. Unſer Um-
gang war daher nie recht vertraut. — Zu St. Gal-
len
kam ich mit 15. fl. Buß davon. — Als die Zim-
merleuth’ fertig waren, giengs ans Mauern. Dann
kam der Hafner, Glaſer, Schloſſer, Schreiner, ei-
ner nach dem andern. Dem letzten zumal half ich
[181] aus allen Kraͤften, ſo daß ich dieß Handwerk ſo ziem-
lich gelernt, und mir mit meiner Selbſtarbeit man-
chen huͤbſchen Schilling erſpart. Mit meinem Fuß
war’s indeſſen noch lange nicht recht, und ich mußte
bey Jahren daran bayern; ſonſt waͤre alles noch
viel hurtiger vonſtatten gegangen. Endlich konnt’ ich
doch den 17. Jun. mit dem Bruder in mein neues
Haus einziehn, der nun einzig, nebſt mir, unſern
kleinen Rauch fuͤhrte; ſo daß wir Herr, Frau, Knecht
und Magd, Koch und Keller, alles an einem Stiel
vorſtellten. Aber es fehlte mir eben noch an Vielem.
Wo ich herumſah, erblickt’ ich meiſt heitre und ſon-
nenreiche, aber laͤre Winkel. Immer mußt’ ich die
Hand in Beutel ſtecken; und der war klein und duͤnn;
ſo daß es mich itzt noch Wunder nimmt, wie die
Kreutzer, Batzen und Gulden alle heraus, oder viel-
mehr hereingekrochen. Aber freylich am End erklaͤrte
ſich manches — durch einen Schuldenlaſt von bey-
nahe 1000. fl. Tauſend Gulden! und die mach-
ten mir keinen Kummer? O du liebe, heilige Sorg-
loſigkeit meiner Jugendzeit!


Inzwiſchen war ich nun ſchon beynahe vier Jahre
lang einem ſtettigen *) Maͤdchen nachgelaufen; und
ſie mir, doch etwas minder. Und wenn wir uns
nicht ſehen konnten, mußten bald alle Tage gebun-
dene und ungebundene Briefe gewechſelt ſeyn, wie
mich denn uͤber dieſen Punkt meine verſchmitzte Dul-
cinee meiſterlich zu betriegen wußte. Sie ſchrieb
mir naͤmlich ihre Briefe meiſt in Verſen, ſo nett,
[182] daß ſie mich darinn weit uͤbertraf. Ich hatte dar-
um eine groſſe Freude mit dem gelehrten Ding,
und glaubte bald eine vortrefliche Dichterinn an ihr
zu haben. Aber am End kams heraus, daß ſie we-
der ſchreiben noch Geſchriebenes leſen konnte, ſon-
dern alles durch einen vertrauten Nachbar verrich-
ten ließ. „Nun Schatz„! ſagt’ ich eines Tags:
„Itzt iſt unſer Haus fertig, und ich muß doch ein-
„mal wiſſen woran ich bin„. Sie brachte noch ein-
nen ganzen Plunder von Entſchuldigungen herfuͤr.
Zuletzt wurden wir daruͤber einig: Ich muͤß’ ihr noch
Zeit laſſen, bis im Herbſt. Endlich ward im Okto-
ber unſre Hochzeit oͤffentlich verkuͤndet. Itzt (ſo
ſchwer war’s kaum Rom zu bauen) ſpielte mir ein
niedertraͤchtiger Kerl noch den Streich, daß er im
Namen ſeines Bruders, der in piemonteſiſchen Dien-
ſten ſtand, Anſprachen auf meine Braut machte, die
aber bald vor unguͤltig erkannt wurden. An Aller
Seelen Tag (3. Nov.) wurden wir copulirt. Herr
Pfarrer Seelmatter hielt uns eine ſchoͤne Sermon,
und knuͤpfte uns zuſammen. So nahm meine Frey-
heit ein Ende, und das Zanken gleich den erſten
Tag ſeinen Anfang — und waͤhrt noch bis auf
den heutigen. Ich ſollte mich unterwerfen, und wollte
nicht, und will’s noch itzt nicht. Sie ſollt’ es auch,
und will’s noch viel minder. Auch darf ich noch
einmal nicht verhehlen, daß mich eigentlich bloß po-
litiſche Abſichten zu meiner Heurath bewogen haben;
und ich nie jene zaͤrtliche Neigung zu ihr verſpuͤrt,
die man Liebe zu nennen gewohnt iſt. Aber das
[183] erkannt’ ich wohl, und war davon uͤberzeugt, und
bin es noch in der gegenwaͤrtigen Stunde, daß ſie
fuͤr meine Umſtaͤnde, unter allen die ich bekommen
haͤtte, weit weit die tauglichſte war; meine Ver-
nunft
ſieht es ein, daß mir keine nuͤtzlicher ſeyn
konnte, ſo ſehr ſich auch ein gewiſſer Muthwill gegen
dieſe ernſte Hofmeiſterinn ſtraͤuben will; und kurz,
ſo ſehr mir die einte Seite meiner treue Haͤlfte itzt
noch bisweilen widrig iſt, ſo aufrichtig ehr’ ich ihre
andre ſchoͤne Seite im Stillen. Wenn alſo meine
Ehe ſchon nicht unter die gluͤcklichſten gehoͤrt, ſo ge-
hoͤrt ſie doch gewiß auch nicht unter die ungluͤckli-
chen, ſondern wenigſtens unter die halbgluͤcklichen,
und ſie wird mich niemals gereuen. Mein Bruder
Jakob hatte ein Jahr vor mir, und meine aͤlteſte
Schweſter ein Jahr nach mir ſich verheurathet; und
keins von beyden traf’s noch ſo gut wie ich. Nicht
zu gedenken, daß die Familie meiner Frau weit beſ-
ſer war, als die worein gedachte meine beyde Ge-
ſchwiſterte ſich hinein gemannet und geweibet —
ſind die andern auch immer aͤrmer geblieben. Bru-
der Jakob zumal mußte in den theuern Siebenzi-
ger-Jahren vollends von Weib und Kindern weg,
in den Krieg laufen.


[184]

LXIV.
Tod und Leben.


Das Jahr 1762. war mir befonders um des 26.
Merzens und 10. Sept. willen merkwuͤrdig. An dem er-
ſtern ſtarb naͤmlich mein geliebter Vater eines ſchnellen
und gewaltſamen Todes, den ich lange nicht verſchmer-
zen konnte. Er gieng am Morgen in den Wald, etwas
Holz zu ſuchen. Gegen Abend kam Schweſter Anne
Marie
mit Thraͤnen in den Augen zu mir, und
ſagte: Der Aeti ſey in aller Fruͤhe fort, und noch
nicht heimgekommen; ſie fuͤrchten alle, es ſey ihm
was Boͤſes begegnet; ich ſoll doch fort, und ihn ſu-
chen. Sein Huͤndlein ſey etlichemal heimgekommen,
und dann wieder weggelaufen. Mir gieng ein Stich
durch Mark und Bein. Ich rannte in aller Eil
dem Gehoͤlze zu; das Huͤndlein trabte vor mir her,
und fuͤhrte mich gerade zu dem vermißten Vater.
Er ſaß neben ſeinem Schlitten, an ein Taͤnnchen ge-
lehnt, die Lederkappe auf der Schooß, und die Au-
gen ſperroffen. Ich glaubte, er ſehe mich ſtarr an. Ich
rief: Vater, Vater! Aber keine Antwort. Seine
Seele war ausgefahren; geſtabet und kalt waren
ſeine lieben Haͤnde, und ein Ermel hieng von ſei-
nem Futterhemd herunter, den er mag ausgeriſ-
ſen haben, als er mit dem Tode rang. Voll Angſt
und Verwirrung fieng ich ein Zettergeſchrey an,
welches in Kurzem alle meine Geſchwiſter herbey-
brachte. Eins nach dem andern legte ſich auf den
[185] erblaßten Leichnam. Unſer Geheul ertoͤnte durch den
ganzen Wald. Man zog ihn auf ſeinem Schlitten
nach Haus, wo noch die Mutter ſamt den Kleinen
ihr Wehklagen mit dem unſrigen vereinten. Ein ar-
mer Bube aß die Suppe, die auf den guten Herzens-
vater gewartet hatte. Zehn Tage vorher hatt’ ich
das letztemal (o haͤtt’ ich’s gewußt, daß es das letz-
temal waͤre!) mit ihm geſprochen, und ſagte er mir
unter anderm: Er moͤchte ſich die Augen ausweinen,
wenn er bedenke, wie oft er den lieben Gott erzoͤrnt.
O welch einen guten Vater hatten wir, welch einen
zaͤrtlichen Ehemann unſre Mutter, welch eine redliche
Seele und braven Biedermann alle die ihn kannten,
an ihm verloren. Gott troͤſte ſeine Seele in alle
Ewigkeit! Er hatte eine muͤhſame Pilgrimmſchaft.
Kummer und Sorgen aller Art, Krankheiten, druͤ-
ckende Schuldenlaſt u. ſ. f. folgten ihm kehrum ſtets
auf der Ferſe nach. Sonntags den 28. Merz, wur-
de er unter einem zahlreichen Gefolge zu ſeiner Ru-
heſtatt begleitet, und in unſer aller Mutter Schooß
hingelegt. Herr Pfarrherr Boͤſch ab dem Ebnet hielt
ihm die Leichenrede, die fuͤr ſeine betruͤbten Hinter-
laßnen ungemein troͤſtlich ausfiel, und von den ver-
borgnen Abſichten Gottes handelte. Der Selige mag
ſein Alter auf 54-55. Jahre gebracht haben. O wie
oft beſucht’ ich ſeither das Plaͤtzgen, wo er den letz-
ten Athem ausgehaucht. Die ſicherſte Vermuthung
uͤber ſeine eigentliche Todesart, gab mir der Ort ſelbſt
an die Hand. Es war gaͤhe hinab, wo er mit ſei-
nem Fuͤderchen Holz hinunterfuhr. Der Schnee trug
[186] den Schlitten; aber mit den Fuͤſſen mußte er an ei-
ner lockern Stelle, die ich noch gar wohl wahrnehmen
konnte, unter den letztern gekommen, und derſelbe
mit ihm gegen eine Tann geſchoffen ſeyn, die ihm
den Herzſtoß gab. Doch muß er noch eine Weile ge-
lebt, ſich frey machen wollen, und eben uͤber dieſer
Bemuͤhung ſein Futterhemd zerriſſen haben.


Nach dieſem traurigen Hinſchied fiel eine ſchwere
Laſt auf mich. Da waren noch vier unerzogene Kin-
der, bey welchen ich Vaterſtelle vertreten ſollte. Unſre
Mutter war ſo immer geradezu, und ſagte zu Al-
lem: Ja, ja! Ich that was ich konnte, wenn ich
gleich mit mir ſelbſt ſchon genug zu ſchaffen hatte.
Bruder Georg nahm den eigentlichen Haushalt uͤber
ſich. Aus den 100 fl. die mir der Selige gegeben
hatte, tilgte ich ſeine Schulden. In meinem eigenen
Haͤusgen machte ich einen Webkeller zurecht, lernte
ſelbſt weben, und lehrte es nach und nach meine Bruͤ-
der, ſo daß zuletzt alle damit ihr Brodt verdienen
konnten. Die Schweſtern hinwieder verſtuhnden recht
gut, Loͤthligarn zu ſpiunen; die Juͤngſte lernte naͤhen.


Der 10. Sept. war wieder der erſte frohe Tag fuͤr
mich, an welchem meine Frau mir einen Sohn zur
Welt brachte, den ich nach meinem und meines
Schwehers Namen Uli nannte. Seine Taufpathen
waren Herr Pfarrer Seelmatter, und Frau Hart-
maͤnnin
. Ich hatte eine ſolche Freude mit dieſem
Jungen, daß ich ihn nicht nur allen Leuthen zeigte
die ins Haus kamen, ſondern auch jedem voruͤber-
gehnden Bekannten zurief: Ich hab’ einen Buben;
[187] obgleich ich ſchon zum voraus wußte, daß mich man-
cher daruͤber auslachen, und denken werde: Wart’
nur! Du wirſt noch des Dings genug bekommen;
wie’s denn auch wirklich geſchah. — Inzwiſchen kam
mein gutes Weib dieß erſtemal wahrlich nicht leicht
davon, und mußte viele Wochen das Beth huͤten.
Das Kind hingegen wuchs, und nahm recht wunder-
bar zu.


Bald nachher erzeugten die Angelegenheiten der
Meinigen manchen kleinern und groͤſſern Eheſtreit
zwiſchen mir und meiner Hausehre. Die letztre moch-
te naͤmlich nach Gewohnheit die erſtern nie recht lei-
den, und meinte immer, ich daͤcht’ und gaͤb’ ihnen
zu viel. Freylich waren meine Bruͤder ziemlich un-
gezogene Burſche — aber immer meine Bruͤder, und
ich alſo verbunden, mich ihrer anzunehmen. End-
lich kamen ſie einer nach dem andern unter die
Fremden, Georg ausgenommen, der ein ziemlich
luͤderliches Weib heurathete; die andern alle verdien-
ten, meines Wiſſens, ihr Brod mit Gott und mit Ehren.


LXV.
Wieder drey Jahre.


(1763 - 1765.)


Die Flitterwochen meines Eheſtands waren nun laͤng-
ſtens vorbey, obgleich ich eben wenig von ihrem Ho-
nig zu ſagen weiß. Mein Weib wollte immer gar
zu ſcharfe Mannszucht halten; und wo viel Gebote
ſind, da giebt’s auch mehr Uebertretung. Wenn ich
[188] nur ein Bischen ausſchweifte, ſo waren alle T * *
los. Das machte mich dann bitter und launigt, und
verfuͤhrte mich zu allerley eiteln Projekten. Mein
Handel gieng inzwiſchen bald gut, bald ſchlecht. Bald
kam mir ein Nachbar in die Quere, und verſtuͤm-
melte mir meinen ſchoͤnen Gewerb; bald betrogen
mich arge Buben um Baumwolle und Geld, denn
ich war gar zu leichtglaͤubig. Ich hatte mir eines
der herrlichſten Luftſchloͤſſer gemacht, meine Schul-
den in wenig Jahren zu tilgen; aber die Ausgaben
mehrten ſich auch von Jahr zu Jahre. Im Win-
ter 63. gebar mir meine Frau eine Tochter, und Ao.
65. noch eine. Ich bekam wieder das Heimweh nach
Geißen; auf der Stelle mußten deren etliche herbey-
geſchaft ſeyn. Die Milch ſtuhnd mir und meinen
drey Jungens treflich an; aber die Thiere gaben mir
viel zu ſchaffen. Andremal hielt ich eine Kuh; oft
gar zwey und drey. Ich pflanzte Erdapfel und Ge-
muͤſe, und probirte alles, wie ich am leichteſten zu-
rechtkommen moͤchte. Aber ich blieb immer ſo auf
dem alten Fleck ſtehn, ohne weit vor — doch auch
nicht hinterwerts zu ruͤcken.


LXVI.
Zwey Jahre.


(1766. u. 1767.)


Ueberhaupt vertroͤdelte ich dieſe Sechzigerjahre, daß
ich nicht recht ſagen kann, wie? und ſo, daß ſie mei-
nem Gedaͤchtniß weit entfernter ſind, als die entfern-
teſten Jugendjahre. Nur etwas Weniges alſo von
[189] meiner damaligen Herzens- und Gemuͤthslage. Schon
mehrmals hab’ ich’s bemerkt, wie ich in meiner Bu-
benhaut ein luſtiger, leichtſinniger, kummer- und
ſorgenloſer Junge war, der dann aber doch von Zeit
zu Zeit manche gute Regungen zur Buſſe, und man-
che angenehme Empfindung, wenn er in der Beſſe-
rung auch nur einen halben Fortſchritt that, bey
ſich verſpuͤrte. Nun war die Zeit laͤngſt da, einmal
mit Ernſt ein ganz anderes Leben anzufangen. Ge-
rade von meiner Verheurathung an wollt’ ich mit
nichts geringerm beginnen, als — der Welt voͤllig
abzuſagen, und das Fleiſch mit allen ſeinen Geluͤ-
ſten zu kreutzigen. Aber o ich einfaͤltiger Meuſch!
Was es da fuͤr ein Gewirre und fuͤr Widerſpruͤche
in meinem Innwendigen abſetzte. Vor meinem Eh-
ſtand bildete ich mir ein, wenn ich nur erſt meine
Frau und eigen Haus und Heimath haͤtte, wuͤrden
alle andern Begierden und Leidenſchaften, wie Schup-
pen, von meinem Herzen fallen. Aber, Potz Tau-
ſend! welch’ eine Rebellion gab’s nicht da. Lange
Zeit wendete ich jeden Augenblick, den ich nur im-
mer entbehren — aber eben bald auch manchen den
ich nicht entbehren konnte, auf’s Leſen an; ſchnappte
jedes Buch auf, das mir nur zu erhaſchen ſtuhnd;
hatte itzt wirklich 8. Foliobaͤnde von der Berlenbur-
ger
-Bibel vollendet; nahm dann, wie es ſich ge-
buͤhrt, eine ſcharfe Kinderzucht vor, gieng dann und
wann in die Verſammlung etlicher Heiligen und From-
men --- und ward daruͤber, wie es mir itzt vor-
koͤmmt, ein unertraͤglicher, eher gottloſer Mann, der
[190] alle andern Menſchen um ihn her fuͤr boͤs, ſich ſel-
ber allein fuͤr gut hielt, und darum jene --- kurz je-
des Bein nach ſeiner Pfeife wollte tanzen lehren.
Jede, auch noch ſo ſchuldloſe Freude des Lebens mach-
te mir Scrupel uͤber Scrupel; ich wollte mir bald ſo-
gar die Befriedigung eigentlich unentbehrlicher Beduͤrf-
niſſe des Lebens verſagen; und doch ſteckte mein Bu-
ſen noch voll ſchnoͤder Luſt, und tauſend abentheuerli-
cher Begierden, die ich ſo oft ertappte, als ich nur
hineinzugucken Muths genug hatte --- und dann frey-
lich faſt zur Verzweiflung gerieth, doch allemal von
neuem wieder Poſto faßte, und meine Sachen mit
Beten, Leſen --- und --- o ich abſcheulicher Kerl! ---
hauptſaͤchlich damit wieder zu verbeſſern ſuchte, daß
ich meiner Frau und Geſehwiſterten, wie ein Pfarrer,
zuſprach, und ihnen die Hoͤll’ bis zum Verſpringen
heiß machte. Oft fiel’s mir gar ein, ich ſollte, gleich
den Herrnhutern und Inſpirirten, in der weiten Welt
herumziehn, und Buß’ predigen. Wenn ich dann aber
ſo nur einem meiner Bruͤder oder Schweſtern eine Ser-
mon hielt, und ſchon im Text ſtockte, dann dacht’
ich wieder: Du Narr! Haſt ja keine Gaben zu einem
Apoſtel, und alſo auch keinen Beruf dazu. Dann fiel
ich darauf, ich koͤnnte vielleicht beſſer mit der Feder
zurechte kommen, und flugs entſchloß ich mich ein Buͤch-
lin zum Troſt und Heil wo nicht ganz Tockenburgs,
wenigſtens meiner Gemeinde zu ſchreiben, oder es
zuletzt auch nur meiner Nachkommenſchaft --- ſtatt
des Erbguts zu hinterlaſſen.


[191]

LXVII.
Und abermals zwey Jahre.


(1768. u. 1769.)


Das vorige Jahr 67 hatte mir wieder einen Bu-
ben beſcheert. Ich nannte ihn nach meinem Vater
ſel. Johannes. Um die naͤmliche Zeit fiel mein Bruder
Samſon im Laubergaden ab einem Kirſchbaum zu
Tod. Ao. 68. fieng ich obbelobtes Buͤchlein, und zugleich
ein Tagebuch an, das ich bis zu dieſer Stunde fort-
ſetze, anfangs aber voll Schwaͤrmereyen ſtack, und nur
bisweilen ein guter Gedanke, in hundert laͤren Wor-
ten erſaͤuft war, mit denen N. B. meine Handlun-
gen nie uͤbereinſtimmten. Doch moͤgen meine Nach-
kommen daraus nehmen, was ihnen Nutz und Heil
bringen mag *).


Sonſt ward ich in dieſen frommen Jahren des Garn-
handels bald uͤberdruͤßig, weil ich dabey, wie ich
waͤhnte, mit gar zu viel rohen und gewiſſenloſen
Menſchen umzugehen haͤtte. Aber, o des Tuckes!
warum uͤberließ ich ihn denn meinet Frau, und be-
ſchaͤftigte mich nun ſelbſt mit der Baumwollentuͤch-
lerey? Ich glaubte halt, vor meine Haut und mein
Temperament mit den Webern beſſer als mit den
Spinnern auskommen zu koͤnnen. Aber es war fuͤr
[192] meine Oekonomie ein thoͤrigter Schritt, oder wenig-
ſtens fiel er uͤbel aus. Im Anfang koſtete mich das
Webgeſchirr viel, und mußt’ ich uͤberhaupt ein huͤb-
ſches Lehrgeld geben; und als ich itzt die Sachen ein
wenig im Gang hatte — ſchlug die Waar’ ab. Doch,
ich dachte: Es wird ſchon wieder anders kommen.


Das Jahr 69. beſcheerte mir den dritten Sohn.
„Ha„! uͤberlegt’ ich itzt eines Tags: „Nun mußt
„du doch einmal mit Ernſt ans Sparen denken; biſt
„immer noch ſo viel ſchuldig, wie im Anfang, und
„dein Haushalt wird je laͤnger je ſtaͤrker. Friſch! die
„Haͤnd’ aus den Hoſen gethan, und die Baͤren ab-
„bezahlt. Itzt kann’s ſeyn. Bisher hatteſt noch ſtets
„an deiner Huͤtte zu flicken, und fehlte immer hie und
„da noch ein Stuͤck; andrer Ausgaben in deinem Ge-
„werb u. ſ. f. u. f. zu geſchweigen. Dann haſt du
„unvernuͤnftig viel Zeit mit Leſen, Schreiben, u.
„d. gl. zugebracht. Nein, nein! Itzt willſt anders
„dahinter. Zwar das Reichwerdenwollen ſoll von
„heut an aufgegeben ſeyn. Der Faule ſtirbt uͤber
„ſeinen Wuͤnſchen, ſagt Salomon. Aber jenes
„ewige Studiren zumal, was nuͤtzt es dir? Biſt ja
„immer der alte Menſch, und kein Haar beſſer als
„vor 10. Jahren, da du kaum leſen und ſchreiben
„konnteſt. --- Etwas Geld mußt’ freylich noch auf-
„nehmen; aber dann deſto wackerer gearbeitet, und
„zwar alles, wie’s dir vor die Hand koͤmmt. Ver-
„ſtehſt ja, neben deinem eigentlichen Berufe, noch
„das Zimmern, Tiſchlern u. ſ. f. wie ein Meiſter;
„haſt ſchon Webſtuͤhl, Troͤg’ und Kaͤſten, und Saͤrg’
bey
[193] „bey Dutzenden gemacht. Freylich iſt ſchlechter Lohn
„dabey, und: Neun Handwerk’, zehn Bettler,
„lautet das Spruͤchwort. Doch wenig iſt beſſer als
„Nichts„. So dacht’ ich. Aber es liegt nicht an
jemands Wollen oder Laufen, ſondern an Gottes Ver-
haͤngniß, an Zeit und Gluͤck!


LXVIII.
Mein erſtes Hungerjahr.


(1770.)


Waͤhrend dieſem meinem neuen Planmachen und
Projeckteſchmieden, ruͤckten die heißhungrigen Sie-
benzigerjahre heran, und das erſte brach ein, ganz
unerwartet, wie ein Dieb in der Nacht, da jeder-
mann auf ganz andre Zeiten hoffete. Frcylich gab’s
ſeit dem Jahr 1760. in unſern Gegenden kein recht
volles Jahr mehr. Die J. 68. und 69. fehlten gar
und gaͤnzlich; hatten naſſe Sommer, kalte und lange
Winter, groſſen Schnee, ſo daß viel Frucht darunter
verfaulte, und man im Fruͤhling aufs neue pflugen
mußte. Das moͤgen nun politiſche Kornjuden wohl
gemerkt, und der nachfolgenden Theurung vol-
lends den Schwung gegeben haben. Dieß konnte man
daraus ſchlieſſen, daß um’s Geld immer Brodt ge-
nug vorhanden war; aber eben jenes fehlte, und zwar
nicht bloß bey dem Armen, ſondern auch bey dem
Mittelmann. Alſo war dieſe Epoche fuͤr Haͤndler,
Becken und Muͤller eine goͤldene Zeit, wo ſich viele
eigentlich bereicherten, oder wenigſtens ein Huͤbſches
N
[194] auf die Seite ſchaffen konnten. Hinwieder fiel der
Baumwollen-Gewerb faſt gaͤnzlich ins Koth, und al-
ler dießfaͤllige Verdienſt war aͤuſſerſt klein; ſo daß man
freylich Arbeiter genug ums bloſſe Eſſen haben konnte.
Ohne dieß waͤre der Preiß der Lebensmittel noch viel
hoͤher geſtiegen, und haͤtte die theure Zeit wohl bald
gar kein End’ genommen. Doch, alles ſpezificirlich
herzuſetzen waͤre um eben ſo viel uͤberfluͤßiger, da ich
es in meinem, wie ich hoͤre, einſt auch vor dem Pu-
blikum erſcheinenden Tagebuch bereits hinlaͤnglich ge-
than, und naͤmlich dort puͤnktlich, in aller Einfalt er-
zaͤhlt habe, was dieſem Zeitpunkt vorgegangen (als
z. E. Kometen, Roͤthen am Himmel, Erdbeben,
Hochgewitter); und eben ſo, was auf denſelben ge-
folgt (ſchwere Krankheiten, ein ziemlicher Sterbent
u. ſ. f.). Hier bleibt mir alſo nichts uͤbrig, als mei-
ner eignen oͤkonomiſchen ſowohl als Gemuͤthslage in
erwaͤhnten bedenklichen Jahren, kurze und wahrhafte
Erwaͤhnung zu thun. Denn freylich findet ſich auch
daruͤber ein Weites und Breites in gedachtem Dia-
rio; aber eben nicht allemal gar zu aͤcht: Da ich
naͤmlich an mancher Stelle viel Lermens von meinem
ſonderbaren Vertrauen auf die goͤttliche Vorſehung
gemacht — und zwar meiſt gerade wo ich am klein-
glaͤubigſten war. So viel darf ich freylich noch itzt
ſagen, daß dieß Zutrauen, ob es gleich zuweilen wank-
te, dennoch nie ganz zu Truͤmmern gieng, und ich
faſt immer fand, daß mein eigenes Verſchulden mir
die groͤßten Leiden verurſachte, und Gottes Guͤte viel
ſelbſt gemachtes Uebel noch oft zu meinem Beßten
[195] wandte. Schon Ao. 68. und 69. da mir der Hagel
zwey Jahre nacheinander alles in meinem Garten zu
Boden ſchlug, und ich und die Meinigen ſo mit groſ-
ſer Wehmuth zuſchauten — konnt’ ich doch den Er-
barmenden loben, daß er unſers Lebens geſchont.
Und ſeither bey allen ſolchen und aͤhnlichen Unfaͤllen,
bey allem Aufſchlag der Nahrung, bey allem Jam-
mern und Klagen der Leuthe, war immer mein erſt-
und letztes Wort: „Es wird ſo boͤs nicht ſeyn„,
oder: „Es wird ſchon beſſer kommen„. Denn alle-
mal das Beßte zu glauben und zu hoffen, war ſtets
ſo meine Art, und, wenn man will, eine Folge mei-
nes angebohrenen Leichtſinns. Ich konnte darum das
aͤngſtliche Kraͤbeln, Kummern und Sorgen andrer
um mich her nie leiden; noch begreifen, was einer
fuͤr einen Nutzen davon hat, wenn er ſich immer
das Aergſte vorſtellt. — Doch, ſo kaͤm’ ich allgemach
ganz von meiner Geſchichte ab.


Das gedachte Siebenzigerjahr neigte ſich ſchon im
Fruͤhling zum Aufſchlagen. Der Schnee lag auf der
Saat bis im Mayen, ſo daß gar viel darunter er-
ſtickte. Indeſſen troͤſtete man ſich doch noch den gan-
zen Sommer auf eine leidentliche Erndte — dann auf
das Ausdreſchen; aber leider alles umſonſt. Ich hatte
eine gute Portion Erdapfel im Boden; es wurden
mir aber leider viel davon geſtohlen. Den Sommer
uͤber hatte ich zwo Kuͤhe auf fremder Weide, und
ein Paar Geißen, welche mein erſtgeborner Junge
huͤtete; im Herbſt aber mußt’ ich aus Mangel Gelds
und Futter alle dieſe Schwaͤnze verkaufen. Denn der
[196] Handel nahm ab, ſo wie die Fruchtpreiſe ſtiegen;
und bey den armen Spinnern und Webern war nichts
als Borgen und Borgen. Nun troͤſtete ich freylich
die Meinigen und mich ſelbſt mit meinem: „Es wird
„ſchon beſſer kommen„! ſo gut ich konnte; mußte
dann aber auch dafuͤr manche bittre Pille verſchlucken,
die meine Bettesgenoßin wegen meinem vorigen Ver-
halten, meiner Sorgloſigkeit und Leichtſinn mir auf-
tiſchte, und die ich dann nicht allemal geduldig und
gleichguͤltig ertragen mochte. Gleichwohl ſagte mir
mein Gewiſſen meiſt: Sie hat recht… Wenn ſie’s nur
nicht ſo herb’ praͤparirt haͤtte.


LXIX.
Und abermals zwey Jahre!


(1771. u. 1772.)


Nun brach der groſſe Winter ein, der ſchauervollſte
den ich erlebt habe. Ich hatte itzt fuͤnf Kinder und
keinen Verdienſt, ein Bischen Geſpunſt ausgenom-
men. Bey meinem Haͤndelchen buͤßt’ ich von Woche
zu Woche immer mehr ein. Ich hatte ziemlich viel
vorraͤthig Garn, das ich in hohem Preiß eingekauft,
und an dem ich verlieren mußte, ich mocht’ es nun
wieder roh verkaufen oder zu Tuͤchern machen. Doch
that ich das letztre, und hielt mit dem Losſchlagen
derſelben zuruͤcke, mich immer meines Waidſpruchs
getroͤſtend: „Es wird ſchon beſſer werden„! Aber
es ward immer ſchlimmer, den ganzen Winter durch.
Inzwiſchen dacht’ ich ſo: „Dein kleiner Gewerb hat
„dich bisher genaͤhrt, wenn du damit gleich nichts
[197] „beyſeite legen konnteſt. Du magſt und kannſt’s al-
„ſo nicht aufgeben. Thaͤteſt du’s, muͤßteſt du gleich
„deine Schulden bezahlen; und das waͤr’ dir itzt pur
„unmoͤglich„. Auch in andern Punkten gieng’s mir
nicht beſſer. Mein kleiner Vorrath von Erdapfeln
und anderm Gemuͤß aus meinem Gaͤrtchen, was mir
die Dieben uͤbriggelaſſen, war aufgezehrt; ich muß-
te mich alſo Tag fuͤr Tag aus der Muͤhle verprovian-
tiren; das koſtete mich am End der Woche eine huͤb-
ſche Handvell Muͤnze, nur vor Rothmaͤhl und Rauch-
brodt. Dennoch war ich noch immer guter Hoffnung;
hatte auch nicht Eine ſchlafloſe Nacht, und ſagte alle-
weil: „Der Himmel wird ſchon ſorgen, und noch
„alles zum Beßten lenken„! „Ja„! riſpoſtirte dann
meine Joͤbin: „Wie du’s verdient; Ich bin un-
„ſchuldig. Haͤtt’ſt du die gute Zeit in Obacht ge-
„nommen, du Schlingel! und deine Haͤnde mehr in
„den Teig geſteckt, als deine Naſe in die Buͤcher„.
— „Sie hat Recht„! dacht’ ich dann; „aber
„der Himmel wird doch ſorgen„ — und ſchwieg.
Freylich konnt’ ich meine ſchuldloſen Kinder unmoͤg-
lich hungerleiden ſehn, ſo lang ich noch Kredit fand.
Die Noth ſtieg um dieſe Zeit ſo hoch, daß viele ei-
gentlich blutarme Leuthe kaum den Fruͤhling erwar-
ten mochten, wo ſie Wurzeln und Kraͤuter finden konn-
ten. Auch ich kochte allerhand dergleichen, und haͤrte
meine jungen Voͤgel noch immer lieber mit friſchem
Laub genaͤhrt, als es einem meiner erbarmenswuͤrdi-
gen Landsmaͤnner nachgemacht, dem ich mit eignen
Augen zuſah, wie er mit ſeinen Kindern von einem
[198] verreckten Pferd einen ganzen Sack voll Fleiſch abge-
hackt, woran ſich ſchon mehrere Tage Hunde und
Voͤgel ſatt gefreſſen. Noch itzt, wenn ich des An-
blicks gedenke, durchfaͤhrt Schauer und Entſetzen alle
meine Glieder. — Bey alledem gieng mir mein eige-
ner Zuſtand nicht ſo ſehr zu nahe, als die Noth mei-
ner Mutter und Geſchwiſter, welche alle noch aͤrmer
waren als ich, und denen ich doch ſo wenig helfen
konnte. Indeſſen half ich uͤber Vermoͤgen, da ich
ſtets noch einichen Credit fand, und ſie gar keinen.
Im May Ao. 71. verhalf mir ein gutmuͤthiger Mann
wieder zu einer Kuh und ein Paar Geißen, da er mir
Geld dazu bis auf den Herbſt lieh; ſo daß ich nun-
mehr wenigſtens ein Bischen Milch fuͤr meine Jun-
gen hatte. Aber verdienen konnt’ ich nichts. Was
mir noch etwa von meinem Gewerb eingieng, mußt’
ich auf die Atzung von Menſchen und Thieren ver-
wenden. Meine Schuldner bezahlten mich nicht; ich
konnte alſo hinwieder auch meine Glaͤubiger nicht be-
friedigen, und mußte durch Geld und Banmwolle auf
Borg nehmen, wo ich’s fand. Endlich aber gieng dem
Faß vollends der Boden aus. Zwar kam mir mein
gewoͤhnliches: „Gott lebt noch! ’s wird ſchon beſ-
„ſer werden„! noch immer in den Sinn; aber mei-
ne Glaͤubiger fiengen nichts deſto weniger an, mich
zu mahnen, und zu drohen. Von Zeit zu Zeit mußt’
ich hoͤren, wie dieſer und jener bankerott machte. Es
gab hartherzige Kerls, die alle Tag mit den Schaͤ-
tzern im Feld waren, ihre Schulden einzutreiben.
Neben andern traf die Reihe auch meinen Schwa-
[199] ger; ich hatte ebenfalls eine Anfoderung an ihn, und
war ſelber bey dem Auffallsact gegenwaͤrtig; freylich
mehr ihm zum Beyſtande, als um meiner Schuld
willen. O! was das vor ein erbaͤrmliches Speckta-
kel iſt, wenn einer ſo, wie ein armer Delinquent,
daſtehn — ſein Schulden- und Suͤndenregiſter vor-
leſen hoͤren — ſo viele bittre, theils laute, theils
leiſe Vorwuͤrfe in ſich freſſen — ſein Haus, ſeine
Mobilien, alles, bis auf ein armſeliges Bett und
Gewand, um einen Spottpreiß verganten ſehn —
das Geheul von Weib und Kindern hoͤren, und zu
allem ſchweigen muß, wie eine Maus. O! wie fuhr’s
mir da durch Mark und Bein! Und doch konnt’ ich
weder rathen noch helfen — nichts thun, als fuͤr mei-
ner Schweſter Kinder zu beten — und dazu im Her-
zen denken: „Auch du, auch du ſteckſt eben ſo tief
„im Koth! Heut oder Morgens kann es, muß es
„dir eben ſo gehn, wenn’s nicht bald anders wird.
„Und wie ſollt’ es anders werden? Oder, darf ich
„Thor auf ein Wunder hoffen? Nach dem natuͤrli-
„chen Gang dei Dinge kann ich mich [un]moͤglich er-
„holen. Vielleicht harren deine Glaͤubiger noch eine
„Weile; aber alle Augenblick’ kann die Geduld ih-
„nen ausgehn. — Doch, wer weiß? Der alte Gott
„lebt noch! Es wird nicht immer ſo waͤhren. — Aber
„ach! Und wenn’s auch beſſer wuͤrde, ſo braucht’ es
„Jahre lang, bis ich mich wieder erholen koͤnnte.
„Und ſo lang werden meine Schuldherren mir ge-
„wiß nicht Zeit laſſen. Ach mein Gott! Was ſoll
„ich anfangen? Keiner Seele darf ich mich vertrauen —
[200] „muß ich doch vor meinem eignen Weib meinen
„Kummer verbergen„. Mit ſolchen Gedanken waͤlzt’
ich mich ein Paar lange Naͤchte auf meinem Lager
herum; dann faßt’ ich, wie mit Eins, wieder Muth;
troͤſtete mich aufs neue mit der Hilfe von oben her-
ab, befahl dem Himmel meine Sachen — und gieng
meine Wege, wie zuvor. Zwar pruͤft’ ich mich ſelbſt
unterweilen, ob und in wie fern’ ich an meinen ge-
genwaͤrtigen Umſtaͤnden ſelbſt Schuld trage. Aber,
ach! wie geneigt iſt man in ſolcher Lage, ſich ſelbſt
zu rechtfertigen. Freylich konnt’ ich mir wirklich keine
eigentliche Verſchwendung oder Luͤderlichkeit vorwer-
fen; aber doch ein gewiſſes gleichguͤltiges, leichtglaͤu-
biges, ungeſchicktes Weſen, u. ſ. f. Denn erſtlich
hatt’ ich nie gelernt, recht mit dem Geld umzugehn;
auch hatte es nie keine Reitze fuͤr mich, als in wie
fern’ ichs alle Tag’ zu brauchen wußte. Hiernaͤchſt
traut’ ich jedem Halunken, wenn er mir nur ein gut
Wort gab; und noch itzt koͤnnte mich ein ehrlich Ge-
ſicht um den letzten Heller im Sack betriegen. End-
lich und vornaͤmlich verſtuhnden lange weder ich noch
mein Weib den Handel recht, und kauften und ver-
kauften immer zur verkehrten Zeit.


Mittlerweile ward meine Frau ſchwanger, und den
ganzen Sommer (1772.) uͤber kraͤnklich, und ſchaͤmte
ſich vor allen Waͤnden, daß ſie bey dieſen betruͤbten
Zeitlaͤuſen ein Kind haben ſollte. Ja ſie haͤtte ſelbſt mir
bald eine aͤhnliche Empfindung eingepredigt. Im Herbſt-
monathe, da die rothe Ruhr allethalben graßirte, kehr-
te ſie auch bey mir ein, und traf zuerſt meinen lieben
[201] Erſtgebohrenen. Von der erſten Stund’ an, da er ſich
legte, wollt’ er, auſſer lauterm Brunnenwaſſer, nichts,
weder Speis noch Trank mehr zu ſich nehmen; und
in acht Tagen war er eine Leiche. Nur Gott weiß,
was ich bey dieſem Unfall empfunden: Ein ſo gutar-
tiges Kind, das ich wie meine Seele liebte, unter
einer ſo ſchmerzhaften Krankheit geduldig wie ein
Lamm Tag und Nacht — denn es genoß auch nicht
eine Minute Ruh’ — leiden zu ſehn! Noch in der
letzten Todesſtunde, riß es mich mit ſeinen ſchon
kalten Haͤndchen auf ſein Geſicht herunter, kuͤßte mich
noch mit ſeinem erſtorbnen Muͤndchen, und ſagte un-
ter leiſem Wimmern, mit ſtammelndem Zuͤnglin:
„Lieber Aeti! es iſt genug. Komm auch bald nach.
„Ich will itzt im Himmel ein Engelin werden„;
rang dann mit dem Tod’, und verſchied. Mir war,
mein Herz wollte mir in tauſend Stuͤcke zerſpringen.
Mein bittres Klaglied uͤber dieſen erſten Raub des
groſſen Wuͤrgers in meinem Hauſe, liegt in meinem
Tagebuch. — Noch war mein Soͤhnlein nicht begra-
ben, ſo griff die wuͤthende Seuche mein aͤlteſtes Toͤch-
tergen, und zwar noch viel heftiger an; es waͤre denn,
daß dieß gute Kind ſeine Leiden nicht ſo ſtandhaft er-
trug als ſein Bruder. Und kurz, es war, aller Sorg-
falt der Aerzte ungeachtet, noch ſchneller hingeraft,
in ſeinem achten, das Knaͤblin im neunten Jahr.
Dieſe Krankheit kam mir ſo eckelhaft vor, daß ich’s ſo-
gar bey meinen Kindern nie recht ohne Grauſen aus-
halten konnte. Als nun das Maͤdchen kaum todt,
und ich von Wachen, Sorgen und Wehmuth wie ver-
[202] taumelt war, fieng’s auch mir an im Leibe zu zer-
ren; und haͤtt’ ich in dieſen Tagen tauſendmal ge-
wuͤnſcht zu ſterben, und mit meinen Lieben hinzu-
fahren. Doch gieng ich, auf dringendes Bitten mei-
ner Frau, noch ſelbſt zu Herrn Doktor Wirth hin.
Er verordnete mir Rhabarber und ſonſt was. So
bald ich nach Haus kam, mußt’ ich zu Beth liegen.
Ein Grimmen und Durchfall fieng mit aller Wuth
an, und die Arzeney ſchien noch die Schmerzen zu
verdoppeln. Der Doktor kam ſelber zu mir, ſah’
meine Schwaͤche — aber nicht meine Angſt. Gott,
Zeit und Ewigkeit, meine geiſt- und leiblichen Schul-
den ſtuhnden fuͤrchterlich vor und hinter meinem Beth.
Keine Minute Schlaf — Tod und Grab — Ster-
ben, und nicht mit Ehren — welche Pein! Ich waͤlzte
mich Tag und Nacht in meinem Bett herum, kruͤmm-
te mich wie ein Wurm, und durfte, nach meiner al-
ten Leyer, meinen Zuſtand doch keiner Seele entde-
cken. Ich flehte zum Himmel; aber der Zweifel,
ob der mich auch hoͤren wollte, gieng itzt zum erſten-
mal mir durch Mark und Bein; und die Unmoͤglich-
keit, daß mir bey meinem allfaͤlligen Wiederaufkom-
men noch gruͤndlich zu helfen ſey, ſtellte ſich mir leb-
hafter als noch nie vor. Indeſſen ward mein Toͤch-
tergen begraben, und in wenig Tagen lagen meine
drey noch uͤbrigen Kinder, nebſt mir, an der naͤm-
lichen Krankheit darnieder. Nur mein ehrliches Weib
war bisdahin ganz frey ausgegangen. Da ſie nicht
allem abwarten konnte, kam ihre ledige Schweſter ihr
zu Huͤlf’; ſonſt uͤbertraf ſie mich an Muth und Stand-
[203] haftigkeit weit. Ich hingegen ſtuhnd, theils meiner
leiblichen Schmerzen, theils meiner ſchrecklichen Vor-
ſtellungen wegen, noch ein paar Tage Hoͤllenangſt
aus, bis es mir endlich in einer gluͤcklichen Stunde ge-
lang: Mich und meine Sachen gar und ganz dem lieben
Gott auf Gnad und Ungnad zu uͤbergeben. Bis-
her war ich ein ziemlich muͤrriſcher Patient. Nun
ließ ich mit mir machen, was jeder gern wollte.
Meine Frau, ihre Schweſter, und Herr Doktor
Wirth, gaben ſich alle erſinnliche Sorge um mich.
Der Hoͤchſte ſegnete ihre Muͤhe, ſo daß ich innert acht
Tagen wieder aufkam, und auch meine drey Kleinen ſich
allmaͤhlig erholten. Als ich noch darniederlag, kam
eines Abends meine Schwaͤgerin, und eroͤffnete mir:
Meine zwey Geiſſen ſeyen auf und davon. „Ey ſo
„fahre denn alles hin„! ſagt’ ich, „wenn’s ſo ſeyn
„muß„. Allein des folgenden Morgens raft’ ich
mich ſo ſchwach und bloͤd ich noch war, auf, meine
Thiere zu ſuchen, und fand ſie wieder zu mein und
meiner Kinder groſſer Freude.


Sonſt war der Jammer, Hunger und Kummer,
damals im Land allgemein. Alle Tag’ trug man
Leichen zu Grabe, oft 3. 4. bis 11. miteinander.
Nun dankt’ ich dem L. Gott, daß er mir wieder ſo ge-
holfen; und eben ſo ſehr, daß Er meine zwey Lie-
ben verſorgt hatte, denen ich nicht helfen konnte.
Aber ſehr lange ſchwebten mir die anmuthigen Din-
ger, ihr gutartiges kindliches Weſen immer wie leib-
haftig vor Augen. „O ihr geliebten Kinder„!
ſtoͤhnt’ ich dann des Tages wohl hundertmal: „Wenn
[204] „werd’ ich wohl einſt zu Euch hinfahren? Denn ach! zu
„mir koͤmmt Ihr nicht wieder„. Viele Wochen lang
gieng ich uͤberall umher wie der Schatten an der Wand,
— ſtaunte Himmel und Erde an — that zwar was
ich konnte — konnte aber nicht viel. Zu Bezahlung
meiner Glaͤubiger wurden die Ausſichten immer en-
ger und kuͤrzer. Aus einem Sack in den andern zu
ſchleufen, und mich ſo lange zu wehren wie moͤglich,
mußt’ itzt mein einziges Dichten und Trachten ſeyn.


LXX.
Nun gar fuͤnf Jahre.


(1773. — 1777.)


Dieſe Zeit uͤber kroch ich ſo immer, zwiſchen Furcht
und Hofnung unter meiner Schuldenlaſt fort, trieb
mein Haͤndelchen, und arbeitete daneben was mir
vor die Hand kam. Zu Anfang dieſer Epoche gieng’s
vollends immer den Krebsgang. So viel unnuͤtze
Maͤuler (denn die Fuͤnfezahl meiner Kinder war itzt
wieder complet), die Ausgaben fuͤr Eſſen, Kleider,
Holz u. ſ. f. und dann die leidigen Zinſe, fraſſen
meinen kleinen Gewinnſt noch etwas mehr als auf.
Meine ſchoͤnſte Hofnung erſtreckte ſich erſt auf Jahre
hinaus, wo meine Jungens mir zur Huͤlfe gewachſen
ſeyn wuͤrden. Aber wenn meine Glaͤubiger boͤſ’ gewe-
ſen, ſie haͤtten mich lange vorheruͤbe[rr]umpelt. Nein!
ſie trugen Geduld mit mir; freylich beſtrebt’ ich mich
auch aus allen Kraͤften Wort zu halten ſo gut wie
moͤglich; aber das beſtuhnd meiſt in — neuem Schul-
[205] denmachen, um die alten zu tilgen. Und da waren
mir allemal die naͤchſten Wochen vor der Zurzacher-
Meſſe ſehr ſchwarze Tag’ im Kalender, wo ich vie-
le dutzend Stunden verlaufen mußte, um wieder Cre-
dit zu finden. O, wie mir da manch liebes Mal das
Herz klopfte, wenn ich ſo an drey, vier Orten ein
chriſtliches Helf dir Gott! bekam. Wie rang’ ich
dann oft meine Haͤnde gen Himmel, und betete zu
dem der die Herzen wendet wohin er will, auch eines
zu meinem Beyſtand zu lenken. Und allemal ward’s
mir von Stund an leichter um das meinige, und fand
ſich zuletzt, freylich nach unermuͤdetem Suchen und
Anklopfen, noch irgend eine gutmuͤthige Seele, meiſt
in einem unverhoften Winkel. Ich hatte ein Paar
Bekannte, die mir wohl ſchon hundertmal aus der
Noth geholfen; aber die Furcht, ſie endlich zu ermuͤ-
den, machte daß ich bald immer zuletzt zu ihnen
kehrte; und dann, haͤtt’ ich ihnen ein einzigmal nicht
Wort gehalten, ſo waͤre mir auch dieſe Huͤlfsquelle
auf immer verſiegt; ich trug darum zu ihr wie zu
meinem Leben Sorg’. Uebrigens trauten’s mir nur
wenige von meinen Nachbarn und naͤchſten Gefreund-
ten zu, daß ich ſo gar bis an die Ohren in Schulden
ſtecke; vielmehr wußt’ ich das Ding ſo ziemlich geheim zu
halten, meinen Kummer und Unmuth zu verbergen,
und mich bey den Leuthen allzeit aufgeraͤumt und
wohlauf zu ſtellen. Auch glaub’ ich, ohne dieſen
ehrlichen Kunſtgriff waͤr’ es laͤngſt mit mir aus ge-
weſen. Freylich hatt’ ich — wer ſollte es glauben? —
auch meine Neider, von denen ich gar wohl wußte,
[206] daß ſie allen Perſonen die mit mir zu thun hatten,
fleißig ins Ohr ziſchten — was ſie doch unmoͤglich
mit Sicherheit wiſſen konnten. Da hieß es dann
z. E. „Er ſteckt verzweifelt im Dreck. — Lange haͤlt’
„er’s nicht mehr aus. — Wenn er nur nicht einpackt,
„oder Weib und Kinder im Stich laͤßt. — Ich fuͤrcht’
„ich fuͤrcht’.„ — Will aber nichts geſagt haben;
„wenn er’s nur nicht inne wird,„ u. ſ. f. Zu mir ka-
men dann dieſe Kerls als die beßten Freunde, foͤr-
ſchelten und fraͤgelten mich aus, und thaten ſo mit-
leidig, als wenn ſie mir mit Gut und Blut helfen
wollten, wenn ich nur auch Zutrauen zu ihnen haͤtte;
jammerten uͤber die boͤſen Zeiten, uͤber die Stuͤmpler
u. d. gl. Wie ich’s doch bey meinem kleinen ver-
derbten
Haͤndelchen mit meiner groſſen Haushaltung
mache? u. ſ. f. u. f. Einſt (ich weiß nicht mehr
recht, ob aus Schalkheit oder Noth?) ſprach ich ei-
nen dieſer Uriane um ein halbdutzend Duplonen nur
auf einen Monath an. Mein Heer hatte hundert
Ausfluͤchte, ſchlug mir’s am End’ rund ab, und raunt’
es dann doch in jedes Ohr das ihn hoͤren wollte:
Der B ** hat geſtern Geld von mir lehnen wol-
len. Der machte dann freylich einige meiner Credi-
toren ziemlich mißtrauiſch. Andre hingegen ſagten:
„Ha! Er hat doch noch immer Wort gehalten; und
„ſo lang er das thut, ſoll er immer offene Thuͤr bey
„mir finden. Er iſt ein ehrlicher Mann„. Alſo
eben jene vielen falſchen Freunde waren es, welche
mir die meiſte Muͤhe machten, denen ich mich nicht
entdecken durfte, wenn ich nicht voͤllig capput ſeyn
[207] wollte. Ich hatte ſchon A. 71 oder 72. meine We-
berey, obgleich mit ziemlichem Verluſt ab mir gela-
den; das brachte mir eben auch nicht den beßten Ruf;
denn mein Baumwollenbrauch wurde dadurch geringer
— alſo mein Baumwollenherr unzufrieden und muͤr-
riſch. Deſto eher ſollt’ ich die alten Baumwollenſchul-
den bezahlen, und konnt’ es doch deſto weniger. So
verſtrich ein Jahr nach dem andern. Bald floͤßte
mir mein guter Geiſt friſchen Muth und neue Hoff-
nung ein, daß mir doch noch einſt durch die Zeit zu
helfen ſeyn werde: Nur allzuoft aber verfiel ich wieder
in duͤſtere Schwermuth; und zwar, die Wahrheit zu
geſtehen, meiſt wenn ich zahlen ſollte, und doch we-
der aus noch ein wußte. Und da ich mich, wie ſchon
oft geſagt, keiner Seele glaubte entdecken zu duͤrfen,
nahm ich in dieſen muthloſen Stunden meine Zuflucht
zum Leſen und Schreiben; lehnte und durchſtaͤnkerte
jedes Buch das ich kriegen konnte, in der Hoffnung
etwas zu finden das auf meinen Zuſtand paßte; fieng
halbe Naͤchte durch weiſſe und ſchwarze Grillen, und
fand allemal Erleichterung, wenn ich meine gedraͤngte
Bruſt aufs Papier ausſchuͤtten konnte; klagte da mei-
ne Lage ſchriftlich meinem Vater im Himmel, befahl
ihm alle meine Sachen, feſt uͤberzeugt, Er meine es
doch am beßten mit mir; Er kenne am genaueſten
meine ganze Lage, und werde noch alles zum Guten
lenken. Dann ward der Entſchluß feſt bey mir, die
Dinge die da kommen ſollten, ruhig abzuwarten wie
ſie kommen wuͤrden; und in ſolcher Gemuͤthsſtim-
mung gieng ich allemal zufrieden zu Bette, und ſchlief
wie ein Koͤnig.


[208]

LXXI.
Das Saamenkorn meiner Authorſchaft.


Um dieſe Zeit kam einſt ein Mitglied der moraliſchen
Geſellſchaft zu L. in mein Haus, da ich eben die Ge-
ſchichte von Brand und Struenſee durchblaͤtterte,
und etwas von meinen Schreibereyen auf dem Tiſch
lag. „Das haͤtt’ ich bey dir nicht geſucht„, ſagte er,
und fragte: Ob ich denn gern ſo etwas leſe, und oft
dergleichen Saͤchelgen ſchreibe? „Ja„! ſagt’ ich:
„Das iſt neben meinen Geſchaͤften mein einziges
„Wohlleben„. Von da an wurden wir Freunde,
und beſuchten einander zum oͤfterſten. Er anerbot
mir ſeine kleine Buͤcherſammlung; ließ ſich aber uͤbri-
gens in oͤkonomiſchen Sachen noch lieber von mir hel-
fen, als daß er mir haͤtte beyſpringen koͤnnen, obſchon
ich ihm ſo von Weitem meine Umſtaͤnde merken ließ.
In einem dieſer Jahre ſchrieb die erwaͤhnte Geſell-
ſchaft uͤber verſchiedene Gegenſtaͤnde Preißfragen aus,
welche jeder Landmann beantworten koͤnnte. Mein
Freund munterte mich auch zu einer ſolchen Arbeit
auf; ich hatte groſſe Luſt dazu, machte ihm aber die
Einwendung: Man wurde mich armen Tropfen nur
auslachen. „Was thut das„? ſagte er: „Schreib
„du nur zu, in aller Einfalt, wie’s kommt und dich
„duͤnkt„. Nun, da ſchrieb ich denn eben uͤber den
Baumwollengewerb und den Credit,
ſandte mein
Geſchmiere zur beſtimmten Zeit neben vielen andern
ein; und die Herrn waren ſo gut, mir den Preiß von
ei-
[209] einer Dukate zuzukennen: Ob zum Geſpoͤtte? Nein,
wahrlich nicht. Oder vielleicht in Betrachtung meiner
duͤrftigen Umſtaͤnde? Kurz, ich konnt’ es nicht be-
greifen, und noch viel minder, daß man mich itzt
gar von ein paar Orten her einlud, ein foͤrmliches
Mitglied der Geſellſchaft zu werden. „O behuͤte
„Gott„! dacht’ und ſagt’ ich Anfangs: „Das darf ich
„mir nur nicht traͤumen laſſen. Ich wuͤrde gewiß
„einen Korb bekommen. Und wenn auch nicht — ich
„mag ſo geehrten Herren keine Schande machen.
„Ueber kurz oder lang wuͤrden ſie mich gewiß wie-
„der ausmuſtern„. Endlich aber, nach vielem hin
und her wanken, und beſonders aufgemuntert durch ei-
nen der Vorſteher, Herrn G. bey dem ich ſehr wohl
gelitten war, wagt’ ich’s doch, mich zu melden; und
kann uͤbrigens verſichern, daß mich weniger die Eitel-
keit als die Begierde reitzte, an der ſchoͤnen Leſecom-
mun der Geſellſchaft um ein geringes Geldlein An-
theil zu nehmen. Indeſſen gieng’ es wie ich vermu-
thet hatte, und gab’s naͤmlich allerley Schwierigkeiten.
Einige Mitglieder widerſetzten ſich, und bemerkten mit
allem Recht: Ich ſey von armer Familie — dazu ein
ausgerißner Soldat — ein Mann von dem man nicht
wiſſe wie er ſtehe — von dem wenig erſprießliches zu
erwarten ſey, u. ſ. f. Gleichwohl ward ich durch
Mehrheit der Stimmen angenommen. Aber erſt
itzt reute mich mein unbeſonnener Schritt, als ich be-
dachte: Jene Herren ſagten ja nichts als die pur
lautere Wahrheit, und koͤnnten noch einſt wohl da-
O
[210] mit triumphiren. *) Inzwiſchen mußt’ ich’s itzt gel-
ten laſſen, und troͤſtete mich bisweilen mit dem eben
auch nicht ganz uneigennuͤtzigen Gedanken: Das eint’
und andre Mitglied koͤnnte mir im Verfolg, zu
manchen wichtigen Dingen nuͤtzlich ſeyn.


LXXII.
Und da


Hatt’ ich ja itzt freylich eine erſtaunliche kindiſche
Freud, mit der groſſen Anzahl Buͤcher, deren ich in
meinem Leben nie ſo viele beyſammen geſehn, und
an welchen allen ich nun Antheil hatte. Hingegen
erroͤthete ich noch immerfort bey dem bloſſen Gedan-
ken, ein eigentliches Mitglied einer gelehrten Geſell-
ſchaft zu heiſſen und zu ſeyn, und beſuchte ſie darum
ſelten, und nur wie verſtohlen. Aber du half alles
nichts; es gieng mir doch wie dem Raben, der mit
den Enten fliegen wollte. Meine Nachbarn, und
andre alte Freunde und Bekannten, kurz Meinesglei-
chen, ſahen mich, wo ich ſtuhnd und gieng, uͤberzwerch
an. Hier hoͤrt’ ich ein hoͤhniſches Geziſch’; dort er-
blickt’ ich ein verachtendes Laͤcheln. Denn es gieng
unſrer moraliſchen Geſellſchaft im Tockenburg
Anfangs wie allen ſolchen Inſtituten in noch rohen
Laͤndern. Man nannte ihre Mitglieder Neuherren,
Buͤcherfreſſer, Jeſuiten
, u. d. gl. Du kannſt leicht
[211] denken, mein Sohn! wie’s mir armen einfaͤltigen
Tropfen dabey zu Muthe war. Meine Frau vollends
ſpeyte Feuer und Flammen uͤber mich aus, wollte ſich
viele Wochen nicht beſaͤnftigen laſſen, und gewann nun
gar Eckel und Widerwillen gegen jedes Buch, wenn’s
zumal aus unſrer Bibliothek kam. Einmal hatt’ ich
den Argwohn, ſie ſelbſt habe um dieſe Zeit meinen
Creditoren eingeblaſen, daß ſie mich nur brav aͤngſti-
gen ſollten. Sie laͤugnet’s zwar noch auf den heuti-
gen Tag; und Gott verzeih’ mir’s! wenn ich falſch
gemuthmaaßt, habe; aber damals haͤtt’ ich mir’s nicht
ausnehmen laſſen. Genug, meine Treiber ſetzten itzt
ſtaͤrker in mich als ſonſt noch nie. Da hieß es:
Haſt du Geld, dich in die Buͤchergeſellſchaft einzu-
kaufen, ſo zahl’ auch mich. Wollt’ ich etwas borgen,
ſo wies man mich an meine Herren Collegen. „O
„du armer Mann„! dacht’ ich, „was du da aber
„vor einen hundsdummen Streich gemacht, der dir
„vollends den Reſt geben muß. Haͤtt’ſt du dich doch
„mit deinem Morgen- und Abendſeegen begnuͤgt,
„wie ſo viele andre deiner redlichen Mitlandsleuthe.
„Jezt haſt du deine alten Freund’ verloren — von
„den neuen darfſt und magſt du keinen um einen
„Kreuzer anſprechen. Deine Frau hagelt auch auf
„dich zu. Du Narr! was nuͤtzt dir itzt all’ dein
„Leſen und Schreiben? Kaum wirſt du noch dir und
„deinen Kindern den Betelſtab daraus kaufen koͤn-
„nen„, u. ſ. f. So macht ich mir ſelber die bit-
terſten Vorwuͤrfe, und rang oft beynahe mit der
Verzweiflung. Dann ſucht’ ich freylich von Zeit
[212] zu Zeit aus einem andern Sack auch meine Entſchul-
digungen hervor; die hieſſen: „Ha! das Leſen ko-
„ſtet mich doch nur ein geringes; und das hab’ ich
„an Kleidern und anderm mehr als erſpart. Auch
„bracht’ ich nur die muͤßigen Stunden damit zu,
„wo andre ebenfalls nicht arbeiten; meiſt nur bey
„naͤchtlicher Weile. Wahr iſt’s, meine Gedanken
„beſchaͤftigten ſich auch in der uͤbrigen Zeit nur all-
„zuviel mit dem Geleſenen, und waren hingegen zu
„meinem Hauptberuf ſelten bey Hauſe. Doch hab’
„ich nichts verludert; trank hoͤchſtens bisweilen eine
„Bouteille Wein, meinen Unmuth zu erſaͤufen —
„das haͤtt’ ich freylich auch ſollen bleiben laſſen —
„Aber, was iſt ein Leben ohne Wein, und zumal
„ein Leben wie meines„? — Denn kam’s wieder
einmal an’s Anklagen: „Aber, wie nachlaͤßig und
„ungeſchickt warſt du nicht in allem was Handel und
„Wandel heißt. Mit deiner unzeitigen Guͤte nahmſt
„du alles, wie man’s dir gab — gabſt du jedem,
„was er dich bat, ohne zu bedenken, daß du nur
„andrer Leuthe Geld im Seckel hatteſt, oder daß
„dich ein redlich ſcheinendes Geſicht betriegen koͤnnte.
„Deine Waare vertrauteſt du dem erſten Beßten,
„und glaubteſt ihm auf ſein Wort, wenn er dir
„vorlog, er koͤnne dir auf ſein Gewiſſen nur ſo und
„ſo viel bezahlen. O koͤnnt’ſt du nur noch einmal
„wieder von Vornen anfangen. Aber, vergeblicher
„Wunſch! — Nun, ſo willſt du doch alles verſu-
„chen — willſt denen, die dir ſchuldig ſind, eben
„auch drohen wie man dir droht„, u. ſ. f. So
[213] dacht’ ich elender Tropf, und ſetzte auch wirklich zween
meiner Debitoren den Tag an; freylich mehr um ſie
und andre zu ſchrecken, als daß es Ernſt gegolten
haͤtte Aber ſie verſtuhnden’s nicht ſo. Ich gieng
alſo auf die beſtimmte Zeit mit den Schaͤtzern zu
ihren Haͤufern; und, Gott weiß! mir war’s viel
baͤnger als ihnen. Denn in dem erſten Augenblick,
da ich in des einten Wohnung trat, dacht’ ich: Wer
kann das thun? — Die Frau bat, und wieſ mit
den Fingern auf das zerfetzte Bett, und die wenigen
Scherben in der Kuͤche; die Kinder in ihren Lum-
pen heulten. O, wenn ich nur wieder weg waͤre!
dacht’ ich, bezahlte Schaͤtzer und Weibel, und ſtrich
mich unverrichteter Sachen fort, nachdem man mir
in beſtimmten Terminen Bezahlung verſprochen, die
noch auf den heutigen Tag ausſteht. Auch erfuhr
ich nachwerts, daß dieſe Leuthe, einige Stunden vor-
her, eh’ ich in ihr Haus kam, die beßten Habſeligkeiten
gefloͤchnet, und ihre Kinder expreß ſo zerloͤchert angezo-
gen haͤtten. „Meinetwegen„, ſagt’ ich da zu mir ſelbſt:
„Das will ich in meinem Leben nicht mehr thun.
Meine Glaͤubiger moͤgen eines Tags ſolche Bar-
„baren gegen mir, ich will’s darum nicht gegen an-
„dre
ſeyn. Nein! es geh’ mir wie es geh’, dieſe
„Schulden muͤſſen zuletzt doch auch zu meinem Ver-
„moͤgen gerechnet werden„. Aber jene fragten eben
nichts darnach, und dieſen jagte eine ſolche Denkens-
und Verfahrungsart gerade auch keinen Scheuen ein.
Die erſtern trieben mich immer ſtaͤrker und unerbitt-
licher. Dieß, und meine uͤberſpannte Einbildung ge-
bahren dann [...]


[214]

LXXIII.
Freylich manche harte Verſuchung.


Und von dieſer muß ich dir auch noch ein Bischen
erzaͤhlen, mein Sohn! dir zur Warnung, damit du
ſeheſt, welch’ ein entſetzlich Ding vor einen ehrlieben-
den Mann es iſt: Sich in Schulden zu vertiefen,
die man nicht tilgen kann; ſieben ganzer Jahre un-
ter dieſer zentnerſchweren Laſt zu ſeufzen; ſich mit
tauſend vergeblichen Wuͤnſchen zu quaͤlen; in ſuͤſſen
Traͤumen ſpaniſche Schloͤſſer zu bauen, und allemal
mit Schrecken zu erwachen; eine lange lange Zeit auf
Huͤlfe welche nur ſeine Fantaſie gebruͤtet, und zuletzt
verſtohlner Weiſe gar auf — eigentliche Wunder zu
hoffen. Denk’ dir da den armen Erdenſohn, welcher
dergeſtalt, todtmuͤde von all’ dem vergebenen Dichten
und Trachten, Sinnen und Sorgen, endlich an al-
lem verzweifeln, und gewiß glauben muß: Gottes
Vorſehung ſelbſt habe nun einmal beſchloſſen, den-
ſelben ins Koth zu treten; ihn vor aller Welt zu
Spott und Schande zu machen, und die Folgen ſei-
ner Unvorſichtigkeit vor den Augen aller ſeiner Feinde
buͤſſen zu laſſen. Wenn denn unterweilen gar der
Gedanke in ihm aufſteigt: Gott wiſſe nichts von ihm,
u. d. gl. — Da denke, denke mein Sohn! Der Ver-
fuͤhrer feyert bey ſolchen Gelegenheiten gewiß nicht;
und mir war’s oft ich fuͤhlte ſeine Eingebungen,
wenn ich etwa den ganzen Tag umhergelaufen und
Menſchenhuͤlfe vergeblich geſucht hatte — dann ſchwer-
[215] muͤthig, oder vielmehr halb verruͤckt, der Thur nach
ſchlich — mit ſtarrem Blick in den Strom hinunter-
ſah, wo er am tiefſten iſt — O dann deucht’ es mir,
der ſchwarze Engel hauche mich an, und fluͤſtre mir
zu: „Thor! ſtuͤrz’ dich hinein — du haltſt’s doch
„nicht mehr aus. Sieh’ wie ſ[a]nft das Waſſer rollt!
„Ein Augenblick, und dein ganzes Seyn wird eben
„ſo ſanft dahinwogen. Dann wirſt du ſo ruhig
„ſchlafen — o ſo wohl, ſo wohl! Da wird fuͤr dich
„kein Leid und kein Geſchrey mehr ſeyn, und dein
„Geiſt und dein Herz ewig in ſuͤſſem Vergeſſen
„ſchlummern„. — „Himmel! Wenn ich duͤrfte„!
dacht’ ich dann. „Aber, welch ein Schauer — Gott!
„welch’ ein Grauſen durchfaͤhrt alle meine Glieder.
„Sollt’ ich dein Wort — ſollte meine Ueberzeugung
„vergeſſen? — Nein! packe dich, Satan! — Ich
„will ausharren, ich hab’s verdient — hab’ alles
„verdient„. Ein andermal ſtellte mir der Boͤſe-
wicht des jungen Werthers Mordgewehr auf einer
ſehr vortheilhaften Seite vor. „Du haſt zehnfach
„mehr Urſach’ als dieſer — und er war doch auch
„kein Narr, und hat ſich noch Lob und Ruhm da-
„mit erworben, und wiegt ſich nun im milden To-
„desſchlummer? — Doch wie? — Pfui eines ſol-
„chen Ruhms„! Noch ein andermal ſollt’ ich mei-
nen Buͤndel aufpacken, und davon laufen. Mit mei-
ner noch uͤbrigen Baarſchaft koͤnnt’ ich denn in ir-
gend einem entfernten Lande ſchon wieder etwas
neues anfangen; und zu Hauſe wuͤrden Weib und
Kinder gewiß auch gutherzige Seelen finden. „Was?
[216] „Ich, davon laufen? --- Mein zwar unſanftes,
„aber getreues Weib, und meine unſchuldigen klei-
„nen Kinder im Stich laſſen --- meinen Feinden
„ihre Winkelprophezeyungen zu ihrer groͤßten Freude
„wahr machen? --- Ich, ich ſollte das thun? In
„welcher Ecke der Erde koͤnnt’ ich eine Stunde Ru-
„he genieſſen --- wo mich verbergen, daß der Wurm
„in meinem Buſen, daß die Rache des Hoͤchſten mich
„nicht finden koͤnnte„? --- „Nein! Nein! nicht ſo„;
hob dann wieder eine andre Stimm’ in meinem Inn-
wendigen an; „aber Weib und Kinder mitnehmen,
„und irgend einen Ort ausſuchen, wo der Baum-
„wollengewerb noch nicht florirt, und wo man ihn
„doch gern einrichten moͤchte --- da koͤnnteſt du dein
„Gluͤck bauen; verſtehſt ja die rohe Frucht ſowohl
„als das Garn --- kannſt jene ſelber karten, kaͤm-
„men, ſpinnen, und dieſes ſieden, ſpuhlen, zet-
„teln --- biſt ſogar im Stand, ein Spinnrad, eine
„Kunkel zu machen --- und alſo die Leuthe vollends
„alles zu lehren. Dann kehrſt du nach einigen Jah-
„ren geehrt und reich zuruͤck in dein Vaterland,
„zahlſt deine Schulden --- Kapital und Zinſe„! ---
Aber dann bedacht’ ich mich bald wieder eines Beſſern:
„Wie, was? O du Luͤgengeiſt! Schon vor dreyßig
„Jahren haſt du mir, ſo wie heute, von lauter gu-
„ten Tagen vorgeſchwatzt, mir einen guͤldnen Berg
„nach dem andern gezeigt --- und mich immer be-
„trogen, immer in tiefere Labyrinthe verwickelt ---
„mich zum Narrn gemacht --- und itzt moͤchteſt du
„mich gar zum Schelmen machen? Wie? Ich ſollte
[217] „auch noch meinem Geburtsland ſchaden, ſeinen
„Brodkorb verſchleicken? Nein, nein! in deinem
„Schooß will ich leben und ſterben, da alles erwar-
„ten, thun was ich kann, und fuͤr das uͤbrige wei-
„ter den Himmel walten laſſen. Stell’ ich mir
„nicht meine Sachen vielleicht gar zu ſchrecklich vor?
„Gott! wenn mich meine Suͤnden ſo quaͤlten wie
„meine Schulden! Aber, ich weiß daß du nicht ſo
„ſtreng’ biſt wie die Menſchen. Doch, laß ſie ma-
„chen, ich hab’s verdient. Nur bitt’ ich, ewige
„Guͤte! von jenem argen Feind laß mich nicht laͤn-
„ger quaͤlen, nicht uͤber mein Vermoͤgen verſucht
„werden„! So bekam ich von Zeit zu Zeit wieder
guten und feſten Muth. Aber das waͤhrte dann nicht
laͤnger, bis ſich ein neuer Fall ereignete, wo ich mich
abermals des Gedankens nicht erwehren konnte: Itzt
iſt’s aus! Da iſt kein Kraut mehr fuͤr ein unheilba-
res Uebel gewachſen. Aber auch dann beſtuhnd’s
mehr in der Einbildung als in der Wirklichkeit.


Eines Tags da ich eben auch etliche Gulden zu
borgen vergebens herumgelaufen, einer meiner Glaͤu-
biger mich mit entſetzlicher Rohheit anfuhr, und mir
ſonſt alles fatal und uͤberzwerch gieng — und ich dann
ganz melancholiſch nach Haus kam — meiner Frau
nach Gewohnheit nichts ſagen noch klagen durfte,
wenn ich nicht hundert bittere Vorwuͤrf’ in mich ſchluͤ-
ken wollte — gedacht’ ich, wie ſonſt ſchon oft, meine
Zuflucht zum Schreiben zu nehmen — konnt’ aber
nichts hervorbringen, als verworrene Klaglieder, wel-
che beynahe an Laͤſterungen graͤnzten. Dann wollt’
[218] ich mich mit Leſen eines guten Buchs beruhigen; und
auch das gelang mir nicht. Ich gieng alſo zu Bet-
te, waͤlzte mich bis um Mitternacht auf meinem
Kuͤſſen herum, und ließ meine Gedanken weit und
breit durch die ganze Welt gehn. Bald kam mir da auch
der Sinn an meinen lieben ſeligen Vater: „Auch
„dein Leben, du guter Mann„, dacht’ ich, „gieng,
„ſo wie das meine, unter lauter Kummer und Sor-
„gen hin, die ich, Ach! dir nicht wenig vergroͤſſer-
„te, da ich ſo wenig Antheil an deiner Laſt genom-
„men. — Vielleicht ruht gar dein geheimer Fluch
„auf mir? — O entſetzlich! — Nun, wie es im-
„mer ſey, einmal muß ein Entſchluß genommen
„ſeyn: Entweder meinem elenden Leben -- -- Nein!
„Gott! Nein! Das ſteht in deiner Hand. -- Oder
„mich meinen Glaͤubigern auf Gnad’ und Ungnad’
„hin zu Fuͤſſen zu werfen. Aber Nein! o wie hart!
„Das kann ich unmoͤglich. -- Oder ja mich entfer-
„nen, davonlaufen ſo weit der Himmel blau iſt.
„Ach! meine Kinder! Da wuͤrd’ mir das Herz bre-
„chen„. -- Waͤhrend dieſen Fantaſten fiel mir der
menſchenfreundliche Lavater ein; augenblicklich ent-
ſchloß ich mich an ihn zu ſchreiben, ſtuhnd ſofort
auf, und entwarf folgenden Brief, den ich zum
Denkmal meiner damaligen Lage hier beyruͤcke.


[219]

LXXIV.
Wohlehrwuͤrdiger, Hoch- und Wohlge-
lehrter Herr Pfarrer Johann Caſpar
Lavater
!


Mitten in einer entſetzlich bangen Nacht unterwind’
ich mich, an Sie zu ſchreiben. Keine Seel’ in der
Welt weißt es; und keine Seel’ weißt meine Noth.
Ich kenne Sie aus Ihren Schriften und vom Geruͤch-
te. Wuͤßt’ ich nun freylich nicht von dieſem, daß
Sie einer der beßten, edelſten Menſchen waͤren,
duͤrft’ ich von Ihnen wohl keine andre Antwort er-
warten, als wie etwa von einem Groſſen der Erde.
Z. E. Pack dich, Schurke! Was gehn mich deine
Lumpereyen an. — Aber nein! ich kenne Sie als einen
Mann voll Großmuth und Menſchenliebe, welchen
die Vorſehung zum Lehrer und Arzt der itzigen
Menſchheit ordentlich ſcheint beſtimmt zu haben. Al-
lein Sie kennen mich nicht. Geſchwind will ich al-
ſo ſagen, wer ich bin. O werfen Sie doch den Brief
eines elenden Tockenburgers nicht ungeſehn auf die
Seite, eines armen gequaͤlten Mannes, der ſich mit
zitternder Hand an Sie wendet, und es wagt, ſein
Herz gegen einen Herrn auszuſchuͤtten, gegen den er
ein ſo inniges Zutrauen fuͤhlt. O hoͤren Sie mich,
daß Gott Sie auch hoͤre! Er weiß, daß ich nicht im
Sinn habe, ihnen weiter beſchwerlich zu fallen, als
nur Sie zu bitten, dieſe Zeilen zu leſen, und mir
dann ihren vaͤterlichen Rath zu ertheilen. Alſo. Ich
[220] bin der aͤlteſte Sohn eines blutarmen Vaters von 11.
Kindern, der in einem wilden Schneeberg unſers Lands
erzogen ward, und bis in ſein ſechszehntes Jahr faſt
ohne allen Unterricht blieb, da ich zum H. Nacht-
mahl unterwieſen wurde, auch von ſelbſt ein wenig
ſchreiben lernte, weil ich groſſe Luſt dazu hatte. Mein
ſel. Vater mußte unter ſeiner Schuldenlaſt erliegen,
Haus und Heimath verlaſſen, und mit ſeiner zahl-
reichen Familie unterzukommen ſuchen, wo er konnte
und mochte, und Arbeit und ein kuͤmmerliches Brodt
fuͤr uns zu finden war. Die Haͤlfte von uns war
damals noch unerzogen. Bis in mein neunzehntes
Jahr blieb mir die Welt ganz unbekannt, als ein
ſchlauer Betruͤger mich auf Schaffhauſen fuͤhrte,
um, wie er ſagte, mir einen Herrendienſt zu ver-
ſchaffen. Mein Vater war’s zufrieden — und ich
wurde, ohne mein Wiſſen, an einen preußiſchen
Werber verkauft, der mich freylich ſo lange als ſei-
nen Bedienten hielt, bis ich nach Berlin kam, wo
man mich unter die Soldaten ſteckte — und noch itzt
nicht begreifen wollte, wie man mich ſo habe betrie-
gen koͤnnen. Es gieng eben ins Feld. O wie mußt’
ich da meine vorigen in Leichtſinn vollbrachten guten
Tage ſo theuer buͤſſen! Doch ich flehte zu Gott, und
er half mir ins Vater and. In der erſten Schlacht
bey Lowoſitz naͤmlich, kam ich wieder auf freyen Fuß,
und kehrte ſofort nach Hauſe. In dem Staͤdtgen Rhei-
neck
kuͤßt’ ich zum erſtenmal wieder die Schweitzer-
Erde, und ſchaͤtzte mich fuͤr den gluͤcklichſten Mann,
ob ich ſchon nichts als ein Paar Brandenburgiſche
[221] Dreyer, und einen armſeligen Soldatenrock auf dem
Leib in meine Heimath brachte Nun mußt’ ich wie-
der als Tagloͤhner mein Brodt ſuchen; das kam mich
freylich ſauer genug an. In meinem ſechs und zwan-
zigſten heurathete ich ein Maͤdchen mit hundert Tha-
lern. Damit glaubt’ ich ſchon ein reicher Mann zu
ſeyn, dachte itzt an leichtere Arbeit mit aufrechtem
Ruͤcken, und fieng, auf Anrathen meiner Braut, ei-
nen Baumwollen- und Garngewerb an, ohne daß ich
das geringſte von dieſem Handwerk verſtuhnd. An-
fangs fand ich Credit, baute ein eigenes Haͤuschen,
und vertiefte mich unvermerkt in Schulden. Indeſ-
ſen verſchaffte mir doch mein kleines Haͤndelchen einen
etwelchen Unterhalt; aber boͤsartige Leuthe betrogen
mich immer um Waare und Geld, und die Haus-
haltung mehrte ſich von Jahr zu Jahre, ſo daß Ein-
nahm’ und Ausgabe ſich immer wettauf fraſſen.
Dann dacht’ ich: Wenn einſt meine Jungen groͤſſer
ſind, wird’s ſchon beſſer kommen! Aber ich betrog
mich in dieſer Hoffnung. Mittlerweile uͤberfielen
mich die hungrigen Siebenziger-Jahre, als ich oh-
nedem ſchon in Schulden ſteckte. Ich hatte itzt fuͤnf
Kinder, und wehrte mich wie die Katz’ am Strick.
Das Herz brach mir, wenn ich ſo meine Jungen
nach Brodt ſchreyen hoͤrte. Dann noch meine arme
Mutter und Geſchwiſter! Von meinen Debitoren
nahm die und da einer den Reißaus; andre ſtarben,
und lieſſen mich die Glocken zahlen; Ich hingegen
wurde von etlichen meiner Glaͤubiger ſcharf geſpornt;
mit meinem Handel gieng’s taͤglich ſchlechter. Itzt
[222] wurden wir noch alle gar an der Ruhr krank; mei-
ne zwey Aeltſt gebohrnen ſtarben, wir uͤbrigen
erholten uns wieder. Inzwiſchen harrt’ ich auf Gott
und guͤnſtigere Zeiten. Aber umſonſt! Und war ich
nicht ein Thor, und bin ich’s nicht itzt noch, wenn
ich auch nur ein wenig zuruͤckdenke, auf mein ſorg-
loſes in den Tag hinein leben? Bin ich denn nicht ſelbſt
ſchuld an allem meinem Elend? Meine Unbeſonnenheit,
meine Leichtglaͤubigkeit, mein unwiderſtehlicher Hang zum
Leſen und Schreiben, haben nicht die mich dahin ge-
bracht? Wenn mein Weib, wenn ich ſelbſt, mir ſolche nur
zu wohl verdiente Vorwuͤrfe machen, dann kaͤmpf’ ich
oft mit der Verzweiflung; waͤlze mich halbe Naͤchte
im Bett herum, rufe dem Tod herbey, und bald
jede Art mein Leben zu endigen ſcheint mir ertraͤg-
licher, als die aͤuſſerſte Noth der ich alle Tage ent-
gegenſehe. Voll Schwermuth ſchleich’ ich dann lang-
ſam unſrer Thur nach, und blicke vom Felſen her-
ab ſcharf in die Tiefe. Gott! wenn nur meine Seele
in dieſen Fluthen auch untergehen koͤnnte! Das ein-
temal liſpelte mir der Teufel des Neides — freylich
eine groſſe Wahrheit ein: Wie viele Schaͤtze werden
nicht auf dieſer Erde verſchwendet! Wie manches
Tauſend auf Karten und Wuͤrfel geſetzt, wo dir ein
einziges aus dem Labyrinth helfen koͤnnte! Ein an-
dermal heißt mich dieſer boͤſe Feind gar, zuſammen-
packen, und alles im Stich laſſen. Aber nein! da
bewahre mich Gott dafuͤr! Ja, im bloſſen Hemd wollt’
ich auf und davon, mich an die Algier verkaufen,
wenn dann nur meine Ehre gerettet, und Weib und
[223] Kindern damit geholfen waͤre. Noch ein andermal
raunt mir, wie ich wenigſtens waͤhne, ein beßrer Geiſt
ins Ohr: Armer Narr! der Himmel wird deinetwegen
kein Wunder thun! Gott hat die Erde gemacht, und
ſo viel Gutes darauf ausgeſchuͤttet. Und das Beßte
davon, goß er’s nicht ins weiche Herz des Menſchen?
Alſo hinaus in die Welt, und ſpuͤre dieſen edeln
Seelen nach; Sie werden Dich nicht aufſuchen. Ge-
ſteh’ ihnen deine Noth und deine Thorheit, ſchaͤm’
dich deines Elends nicht, und ſchuͤtte deinen Kummer
in ihren Schooß aus. Schon manchem weit Ungluͤck-
lichern iſt geholfen worden. Aber o wie bloͤd’ bin
ich, und wie zweifelhaft, ob auch dieſes gute oder
ſchlimme Eingebungen ſeyn! -- Beßter Menſchenfreund!
O um Gotteswillen rathen Sie mir; ſagen Sie es
mir, ob das ebenbemerkte Mittel nicht noch das
thunlichſte waͤre, mich von einem gaͤnzlichen Verder-
ben zu retten. — Ach! waͤr’ es nur um mich allein zu
thun —! Aber meine Frau, meine armen unſchuldigen
Kinder, ſollten auch dieſe die Schuld und Schand’
ihres Mannes und Vaters tragen; und die hieſige
Moraliſche Geſellſchaft, in die ich mich erſt neuer-
lich, freylich eben auch unuͤberlegt genug, habe auf-
nehmen laſſen, ſollte auch dieſe fruͤhe, und zum er-
ſtenmal, durch eins ihrer Mitglieder, gegen welches
man ohnehin ſo manche begruͤndete Einwendungen
machte, ſo ſchrecklich beſchimpft werden? O noch ein-
mal, um aller Erbaͤrmden Gottes willen, Herr La-
vater
! Nur um einen vaͤterlichen Rath! verziehen
Sie mir dieſe Kuͤhnheit. Noth macht frech. Und in
[224] meiner Heimath duͤrft’ ich um aller Welt Gut willen
mich keiner Seele entdecken. Freunde die mich zu
retten wißten, hab’ ich keine; wohl ein Paar die noch
eher von mir Huͤlf erwarten koͤnnten; dem Spott
aber von Halbfreunden oder Unbekannten mich auszu-
ſetzen --- Nein! da will ich tauſendmal lieber das Al-
leraͤuſſerſte erwarten. -- Und nun mit ſehnlicher Un-
geduld und kindlichem Zutrauen, erwartet, auch zu-
letzt nur eine Zeile Antwort von dem Mann, auf
den noch einzig meine Seele hoffet,


Der in den letzten Zuͤgen des Elends lie-
gende, arme, geplagte Tockenburger

H * *, bey L * * *, U. B.
den 12. Herbſtm. 1777.


LXXV.
Dießmal vier Jahre
.


(1778-1781.)


Dieſen Brief, mein Sohn! den ich in jener angſt-
vollen Nacht ſchrieb, gedacht’ ich gleich Morgens dar-
auf an ſeine Behoͤrde zu ſenden; allein bey mehrma-
ligem Leſen und Ueberleſen deſſelben, wollt’ er mir
nie recht, und immer minder gefallen; als ich zumal
mittlerweil’ erfuhr, wie der theure Menſchenfreund
Lavater von Kollektanten, Betlern und Betlerbrie-
fen ſo beſtuͤrmt werde, daß ich auch den bloſſen
Schein, die Zahl dieſer Unverſchaͤmten zu mehren,
vermeiden wollte. Alſo -- unterdruͤckt’ ich mein Ge-
ſchreib-
[225] ſchreibſel, und nahm von dieſer Stund’ an meine Zu-
flucht einzig zu Gott, als meinem maͤchtigſten Freund
und ſicherſten Erretter, klagte demſelben meine Noth,
befahl ihm alle meine Sachen, und betete innbruͤn-
ſtig -- nicht um ein Wunder zu meinem Beßten,
ſondern um Gelaſſenheit, alles abzuwarten wie es
kommen moͤchte. Freylich wandelten auch im Verfolge
mich noch oͤftre Anfaͤlle von meinem eingewurzelten
Kummerfieber an; aber dann eraͤugnete ſich auch wie-
der manches, das meine Hoffnung ſtaͤrkte. Ich wand-
te naͤmlich alle meine Leibs- und Seelenkraͤfte an,
meine kleinen Geſchaͤfte zu vermehren; ſah’ uͤberall
ſelber zu meinen Sachen; ſtellte mich gegen jeder-
mann nichts weniger als muthlos, ſondern that im-
mer luſtig und guter Dingen. Meinen Glaͤubigern
gab ich die beßten Worte, zahlte die aͤltern, und
borgte wieder bey andern. In der benachbarten Ge-
meinde Ganterſchweil ſah ich mich nach neuen
Spinnern um, ſo viel ich derſelben aufzutreiben wuß-
te. Das Jahr 1778. gab mir ganz beſondern Muth
und Zuverſicht; mein Haͤndelchen gieng damals vor-
trefflich von ſtatten, und bald konnt’ ich glauben,
daß ich mit Zeit und Weile mich vollkommen wieder
erholen und von meinem ganzen Schuldenlaſt entle-
digen wuͤrde. Aber die Angſt will ich doch mein Ta-
ge nicht vergeſſen, die mich auch itzt noch zum oͤf-
tern quaͤlte, wenn ich ſo den Geſchaͤften nach trau-
rig meine Straſſe gieng, und mich dem Comptor ei-
nes uͤberlegenen Handelsmanns oder der Thuͤr’ eines
harten Glaͤubigers nahte, wie es mir da zu Muthe
P
[226] war; wie oft ich meine Haͤnde gen Himmel rang:
„Herr! Du weiſſeſt alle Dinge! Alle Herzen ſind in
„deiner Hand; du leiteſt ſie wie Waſſerbaͤche, wo-
„hin du willſt! Ach! gebiete auch dieſem Laban, daß
„er nicht anders mit Jakob rede als freundlich„!
Und der Allguͤtige erhoͤrte meine Bitte; und ich be-
kam mildere Antwort, als ich’s nie haͤtte erwarten
duͤrfen. O wie ein koͤſtlich Ding iſt’s, auf den Herrn
hoffen, und ihm alle ſein Anliegen mit Vertrauen
klagen. Dieß hab’ ich ſo manchmal, und ſo deutlich
erfahren, daß mir itzt die felſenfeſte Ueberzeugung
davon nichts in der Welt mehr rauben kann.


Zu Anfang des Jahrs 1779. ward mir ohne mein
Bewerben und Bemuͤhen der Antrag gemacht, einem
auswertigen Fabrikanten, von Glarus, Johannes
Zwicki
, Baumwollen-Tuͤcher weben zu laſſen. An-
fangs lehnt’ ich den Antrag aus dem Grund ab,
weil vor mir her ein gewiſſer Grob bey der naͤm-
lichen Commißion Bankerott gemacht. Da man mich
aber verſichert, daß die Urſache ſeines Unfalls eine
ganz andre geweſen, ließ ich mich endlich bereden,
und traf den Accord vollkommen auf den Fuß wie je-
ner. Sofort hob’ ich dieſen Verkehr an. Man lie-
ferte mir das Garn; und zwar zuerſt ſehr ſchlechtes;
aber nach und nach gieng’s beſſer. Auch hatt’ ich
Anfangs viele Muͤhe, genug Spuhler und Weber
zu kriegen. Doch merkt’ ich bald, daß zwar mit die-
ſem Geſchaͤft viel Verdruß und Arbeit verbunden,
aber auch etwas dabey zu gewinnen waͤre. Ao. 80.
erweitert’ ich daher meine Anſtalt um ein merkliches,
[227] fieng nun auch an, vor eigene Rechnung Tuͤcher zu
machen, und befand mich recht gut dabey. Mein
Credit wuchs wieder von Tag zu Tage. Meine Glaͤu-
biger merkten bald, daß die Sachen eine ganz andre
Wendung genommen; ich bekam Geld und Waare
ſo viel ich wollte, und zaͤhlte nun ſteif und feſt dar-
auf, itzt haͤtt’ ich mich fuͤr ein- und allemal er-
ſchwungen.


Auch Ao. 81. gieng’s wieder im Ganzen wenig-
ſtens paſſabel, und bey der Jahrrechnung zeigte ſich
ein ziemlicher Profit. Ich huͤpfte daher nicht ſelten
in meiner Waarenkammer vor Freuden hoch auf;
betrachtete mein Schickſal als recht ſonderbar, und
meine Errettung wenigſtens als ein Beynahe-Wun-
der. Und doch gieng von je her, und noch itzt, alles
ſeinen ordentlichen natuͤrlichen Lauf; und Gluͤck und
Ungluͤck richteten ſich immer theils nach meinem Ver-
halten, das in meiner Macht ſtuhnd, theils nach den
Zeitumſtaͤnden, die ich nicht aͤndern konnte.


LXXVI.
Wieder vier Jahre
.


1782-1785.


Allgemeine Ueberſicht.


Wollt’ ich wie ich’s ehedem etwa in meinen Tage-
buͤchern gethan alle Begegniſſe meines Lebens, die
im Ganzen alle Erdenbuͤrger mit einander gemein
haben, auch nur dieſe vier Jahre uͤber erzaͤhlen, ich
[228] koͤnnte ganze Baͤnde damit fuͤllen: Bald in einer
heitern Laune meinen Wohlſtand ſchildern, und mich
und andre in einen ſolchen Enthuſtasmus ſetzen, daß
man glauben ſollte, ich waͤre der gluͤcklichſte Menſch
auf Gottes Erdboden; dann aber hinwieder in einer
truͤben Stunde, wo ein halbduzend widrige Begeg-
niſſe auf meinem Pfad zuſammentreffen, lamentiren
wie eine Eule, und mein Schickſal ſo jaͤmmerlich
vorſtellen, daß ich mich bald ſelbſt koͤnnte glauben ma-
chen, ich ſey das elendeſte Geſchoͤpf unter der Sonne.
Aber meine Umſtaͤnde haben ſich nun ſeit ein paar
Jahren merklich geaͤndert; und damit auch meine
Denkart, uͤber dieſen Punkt naͤmlich; ſonſt bin ich
freylich noch der alte Wilibald. Aber der naͤrriſche
Schreibhang hat ſich um ein gut Theil bey mir ver-
loren. Urſache. Erſtlich geben mir meine Geſchaͤft,
je laͤnger je mehr zu denken und zu thun. Die Haus-
haltung verwirrt mir oft beynahe den Kopf, und
zertruͤmmert das ganze ſchoͤne Spinngeweb meiner
Authorsconcepte. Denn ſind mir meine Jungens
ohnehin ſchon beynahe uͤber die Hand gewachſen, und
es braucht nicht wenig Zeit und Kopfbrechens, die-
ſelben auch nur noch in einem etwelchen Gleiſe zu
behalten. Drittens macht mir die Gefaͤhrtin meines
Lebens, ihrer alten Art gemaͤß, noch immerfort die
Herrſchaft ſtreitig, und dies bisweilen mit einer ſol-
chen Kraft, daß ich zum Retiriren meine Zuflucht
nehmen muß, und oft in meinem kleinen Haͤuschen
kein einziges Winkelgen finde, wo mich auch nur auf
etliche Minute die Muſe ungeſtoͤrt beſuchen koͤnnte.
[229] Gelingt es mir aber jede Woche etwa einmal, daß
ich mich auf ein paar Stunden entfernen kann, ſo
— ich will es nur geſtehen — geh’ ich dann lieber
ſonſt irgend einem unſchuldigen Vergnuͤgen nach, das
mir den Kopf aufraͤumt, anſtatt ihn, mitten unter
allem Hausgelerm, an meinem Pulte noch mehr zu
erhitzen. Einzig wird es mir von Zeit zu Zeit, etwa
an einem Sonntag oder Feyerabend, noch zu gut,
ein ſchoͤnes Buͤchelgen zu uͤberſchnappen, das ich aber,
eh’ ich’s recht ausgeleſen, weiter beſtellen muß. In-
zwiſchen giebt’s denn wieder ſo ein herziges Ding, dem
ich ebenfalls nicht widerſtehen kann. Und ſo bleibt
mir vollends oft wochenlang zum Schreiben nicht ein
Augenblick uͤbrig, ſo ſehr ich auch den Luſt und Wil-
len haͤtte, dieſe und jene zufaͤlligen Gedanken und
Empfindungen aufs Papier zu werfen; bis etwa nach
der Hand ſich eine ſchickliche Viertelſtunde darbietet,
wo aber dann das Beßte gutentheils wieder verraucht,
und auf immer verloren iſt. Dann denk’ ich (frey-
lich vielleicht wie der Fuchs in der Fabel): „Und
„wozu am End alle dieß Dinten verderben? Wirſt
„doch dein Lebtag kein eigentlicher Autor werden„!
Und wirklich daran kam mir oft Jahre lang nur der
Sinn nie — Wenn ich zumal in irgend einem guten
Schriftſteller las, mocht’ ich mein Geſchmier vollends
nicht mehr anſeh’n, und bin zugleich uͤberzeugt, daß
ich in meinen alten Tagen, es beſſer zu machen kaum
mehr lernen, ſondern halt ſo fortfahren werde, ohne
Kopf und Schwanz, bisweilen auch ohne Punkt und
Comma, Schwarz auf Weiß zu kleckſen, ſo lang mei-
[230] ne Augen noch einen Stich ſehen koͤnnen. Aus allen
dieſen Gruͤnden will ich ſo kurz ſeyn wie moͤglich;
und bemerke zu allererſt: Daß ſich in jenem Zeitraum
meine Umſtaͤnde uͤberhaupt von Jahr zu Jahr gebeſſert
haben, und ich, wenn ich ſchon damals Waaren und
Schulden zu Geld gemacht — alle meine Glaͤubiger
vollkommen haͤtte befriedigen koͤnnen, und mir meine
kleine Reſidenz, Haus und Garten, ganz frey, ledig
und eigen geblieben waͤre. Nur im Sommer des
letzten der genannten Jahre (1785.) erlitt’ ich frey-
lich mit ſo vielen andern groͤſſern und kleinern Leu-
then einen ziemlich harten Stoß. Nach dem bekann-
ten Koͤniglich Franzoͤſiſchen Edikt naͤmlich gab es einen
ſo ploͤtzlich und ſtarken Abſchlag der Waare, daß ich
bey meinem kleinen und einfaͤltigen Haͤndelchen gewiß
uͤber 200 fl. einbuͤſſen mußte. Und ſeither iſt kein
Anſchein vorhanden, daß der Baumwollentuͤcher-Ver-
kehr in unſerm Land jemals wieder zu ſeinem ehevo-
rigen Flor gelangen werde. Einige Groſſe moͤgen
wol noch ihren ſchoͤnen Schnitt machen; aber ſo ein
armer Zumpel, wie unſer einer, dem alle Waaren
abgedruckt werden, gewiß nicht. Indeſſen gieng’s
auch mir immer noch ziemlich paſſabel; und ſo, daß
wenn ich mich, ſelbſt damals noch, zur Kargheit, ſelbſt
nur zu einer aͤngſtlichen Sparſamkeit haͤtte bekehren
wollen, ich vielleicht auf den heutigen Tag ein ſo ge-
nannter bemittelter Mann heiſſen und ſeyn koͤnnte. Aber
dieſer Talent (mit dem ich wahrſcheinlich auch nicht
in jene Schuldenlaſt gerathen waͤre, unter welcher ich
zehn bis zwoͤlf Jahre ſo bitter ſeufzen mußte, und
[231] die ich endlich, unter Gottes Beyſtand, mit ſo vie-
ler Muͤhe und Arbeit ab meinen Schultern gewaͤlzt)
dieſer Talent, ſag’ ich, ward mir eben nie zu Theil,
und wird es wohl nimmer werden, ſo lang ich in
dieſer Zeitlichkeit walle. Nicht daß es nicht von Zeit
zu Zeit Augenblicke gebe, wo ich mich uͤber eine un-
noͤthige Ansgabe, oder einen meiſt durch Nachgiebigkeit
verſaͤumten Gewinnſt quaͤlen und graͤmen, wo mich,
ſonderlich bey Hauſe, ein Kreutzer — ein Pfenning
reuen kann. Aber, ſobald ich in Geſellſchaft komme,
wo man mir gute Worte giebt, einen Dienſt er-
weist — oder wo mein Vergnuͤgen in Anſchlag
koͤmmt — da ſpiel’ ich meiſt die Rolle eines Man-
nes der nicht auf den Schilling oder Gulden zu ſehen
hat, und nicht bey Hunderten ſondern bey Tauſen-
den beſitzt. Dieß geſchah beſonders waͤhrend dem
erſten Entzuͤcken uͤber meine Befreyung von jedem
nachjagenden Herrn. Da war mir wie einem der
aus einer vermeinten ewigen Gefangenſchaft, oder
gar ſchon auf dem Schaffot, mit Eins auf ledigen
Fuß geſtellt wird, und nun uͤber Stauden und Stoͤcke
rennt. Da wuͤrd’ ich bald hundert und hundertmal
geſtrauchelt, und vielleicht in Schwelgerey und andre
Laſter — kurz vor lauter Freuden bald in neue noch
aͤrgere Abgruͤnde verſunken ſeyn, waͤre mir nicht mein
guter Engel mit dem bloſſen Schwerdt, wie einſt
dem Eſel Bileams, in den Weg geſtanden.


[232]

LXXVII.
Und nun, was weiters
?


Das weiß ich wahrlich ſelber nicht. Je mehr ich
das Gickel Gackel meiner bisher erzaͤhlten Geſchichte
uͤberleſe und uͤberdenke, deſto mehr eckelt mir’s da-
vor. Ich war daher ſchon entſchloſſen, ſie wieder von
neuem anzufangen; ganz anders einzukleiden; vieles
wegzulaſſen das mir itzt recht pudelnaͤrriſch vorkoͤmmt;
anderes wichtigeres hingegen, woruͤber ich weggeſtol-
pert, oder das mir bey dem erſten Concepte nicht
zu Sinn gekommen, einzuſchalten, u. ſ. f. Da ſich
aber, wie ſchon oben geſagt, mein Schreibehang,
gut um drey Quart vermindert — da ich hiernaͤchſt
die Zeit dazu extra auskaufen muͤßte, und beſonders —
am End es nicht viel beſſer machen wuͤrde, will ich’s
lieber gerad bleiben laſſen wie es iſt — als ein zwar
unſchaͤdliches, aber, ich denke, auch unnuͤtzes Ding,
wenigſtens fuͤr andre. Damit ich aber mein bisheri-
ges Wirrwar einigermaaſſen verbeßre, will ich we-
nigſtens das eint- und audre nachholen; mich noch,
ehe es fremde Richter thun, ſelbſt critiſiren, und
dann mit Beſchreibung meiner gegenwaͤrtigen Lage
beſchlieſſen.


[233]

LXXVIII.
Alſo
?


Was anders, als ich, nicht Ich? Denn ich hab’
erſt ſeit einiger Zeit wahrgenommen, daß man ſich
ſelbſt — mit einem kleinen i ſchreibt. Doch, was
iſt das gegen andre Fehler? Freylich muß ich zu mei-
ner etwelchen Entſchuldigung ſagen, daß ich mein
Bißchen Schreiben ganz aus mir ſelbſt, ohne andern
Unterricht gelerut, dafuͤr aber auch erſt in meinem
dreyßigſten Jahr etwas Leſerliches, doch nie nichts
recht orthographiſches, auch unlinirt bis auf den heu-
tigen Tag nie eine ganz gerade Zeile heransbringen
konnte. Hingegen hatte fuͤr mich die ſogenannte
Frakturſchrift, und zierlich geſchweifte Buchſtaben al-
ler Art ſehr viele Reitze, obſchon ich’s auch hieriun
nie weit gebracht. Nun denn, ſo geh’ es auch hier-
inn eben weiter im Alten fort.


Als ich dieß Buͤchel zu ſchreiben anfieng, dacht’ ich
Wunder, welch eine herrliche Geſchicht’ voll der ſelt-
ſamſten Abentheuer es abſetzen wuͤrde. Ich Thor!
Und doch — bey beſſerm Nachdenken — was ſoll ich
mich ſelbſt tadeln? Waͤre das nicht Narrheit auf
Narrheit gehaͤuft? Mir iſt’s als wenn mir jemand
die Hand zuruͤckzoͤge. Das Selbſttadeln muß alſo et-
was unnatuͤrliches, das Entſchuldigen und ſich ſelbſt
alles zum Beßten deuten etwas ganz natuͤrliches ſeyn.
Ich will mich alſo herzlich gern’ entſchuldigen, daß
ich Anfangs ſo verliebt in meine Geſchichte war, wie
[234] es jeder Fuͤrſt und — jeder Betelmann in die ſeini-
ge iſt. Oder, wer hoͤrte nicht ſchon manches alte,
eisgraue Baͤurlein von ſeinen Schickſalen, Jugend-
ſtreichen u. ſ. f. ganze Stunden lang mit ſelbſtzufrie-
denem Laͤcheln ſo gelaͤufig und beredt daherſchwatzen,
wie ein Procurator, und wenn er ſonſt der groͤßte
Stockfiſch war. Freylich koͤmmt’s denn meiſt ein
Bißel langweilig fuͤr andre heraus. Aber was jeder
thut, muß auch jeder leiden. Freylich haͤtt’ ich, wie
geſagt, mein Geſchreibe ganz anders gewuͤnſcht; und
kaum war ich damit zur Haͤlfte fertig, ſah’ ich das
kuderwelſche Ding ſchon ſchief an; alles ſchien mir un-
ſchicklich, am unrechten Orte zu ſtehn, ohne daß ich
mir denn doch getraut haͤtte, zu beſtimmen, wie es
eigentlich ſeyn ſollte; ſonſt haͤtt’ ich’s flugs auf die-
ſen Fuß, z. B. nach dem Modell eines Heinrich
Stillings
umgegoſſen. „Aber, Himmel! welch ein
„Contraſt! Stilling und: ich„! dacht’ ich. „Nein,
„daran iſt nicht zu gedenken. Ich duͤrfte nicht in
Stillings Schatten ſtehn„. Freylich haͤtt’ ich mich
oft gerne ſo gut und fromm ſchildern moͤgen, wie
dieſer edle Mann es war. Aber konnt’ ich es, ohne
zu luͤgen? Und das wollt’ ich nicht, und haͤtte mir
auch wenig geholfen. Nein! Das kann ich vor Gott
bezeugen, daß ich die pur lautere Wahrheit ſchrieb;
entweder Sachen die ich ſelbſt geſehen und erfahren,
oder von andern glaubwuͤrdigen Menſchen als Wahr-
heit erzaͤhlen gehoͤrt. Freylich Geſtaͤndniſſe, wie
Roußeau’s ſeine, enthaͤlt meine Geſchichte auch nicht,
und ſollte auch keine ſolchen enthalten. Mag es ſeyn,
[235] daß einige mich ſo fuͤr beſſer halten, als ich nach mei-
nem eigenen Bewußtſeyn nicht bin. Aber aller mei-
ner Beichte ungeachtet, haͤtten denn doch hinwieder
andre mich noch fuͤr ſchlimmer geachtet, als ich, un-
ter dem Beyſtand des Hoͤchſten mein Lebtag nicht
ſeyn werde. Und mein einzig unpartheyiſcher Rich-
ter kennt mich ja durch und durch, ohne meine Be-
ſchreibung.


LXXIX.
Meine Geſtaͤndniſſe
.


Um indeſſen doch einigermaaßen ein ſolches Ge-
ſtaͤndniß
abzulegen, und Euch, meine Nachkommen,
einen Blick wenigſtens auf die Oberflaͤche meines Her-
zens zu oͤffnen, ſo will ich Euch ſagen: Daß ich ein
Menſch bin, der alle ſeine Tage mit heftigen Lei-
denſchaften zu kaͤmpfen hatte. In meinen Jugend-
jahren erwachten nur allzufruͤhe gewiſſe Naturtriebe
in mir; etliche Geißbuben, und ein Paar alte Nar-
ren von Nachbarn ſagten mir Dinge vor, die einen
unausloͤſchlichen Eindruck auf mein Gemuͤth machten,
und es mit tauſend romantiſchen Bildern und Fan-
taſeyen erfuͤllten, denen ich, trotz alles Kaͤmpfens
und Widerſtrebens, oft bis zum unſtunig werden nach-
haͤngen mußte, und dabey wahre Hoͤllenangſt aus-
ſtuhud. Denn um die naͤmliche Zeit hatte ich von
meinem Vater, und aus ein Paar ſeiner Lieblings-
buͤcher, allerley, nach meinen itzigen Begriffen uͤber-
triebene, Vorſtellungen von dem, was eigentlich fromm
[236] und reinen Herzens ſey, eingeſogen. Da wurde mir
nur das allerſtrengſte Geſetz eingepredigt; da ſchweb-
ten mir immer unuͤberſteigliche Berge, und die ſchwer-
ſten Stellen aus dem Neuen Teſtament von Haͤnd’
und Fuͤß’ abhauen, Augausreißen u. ſ. f. vor. Mein
Herz war von jeher aͤuſſerſt empfindlich; ich erſtaun-
te daher ſehr oft, wenn ich weit beſſere Menſchen als
ich, bey dieſem oder jenem Zufall, bey Erzaͤhlung
irgend eines Ungluͤcks, bey Anhoͤrung einer ruͤhren-
den Predigt, u. d. gl. wie ich waͤhnte ganz froſtig
bleiben ſah. Man denke ſich alſo meine damalige
Lage in einem rohen einſamen Schneegebuͤrg’: Ohne
Geſellſchaft, auſſer jenen ſchmutzigen Buben und un-
flaͤthigen Alten auf der einen — auf der andern Sei-
te jenen ſchwaͤrmerſchen Unterricht, den mein junger
feuerfangender Buſen ſo begierig aufnahm; dann
mein von Natur tobendes Temperament, und eine
Einbildungskraft, welche mir nicht nur den ganzen
Tag uͤber keine Minute Ruhe ließ, ſondern mich auch
des Nachts verfolgte, und mir oft Traͤume bildete,
daß mir noch beym Erwachen der Schweiß uͤber alle
Finger lief. Damals war (wie man ſchon zum Theil
aus meiner obigen Geſchichte wird erſehen haben)
meine groͤßte Luſt, an einem ſchoͤnen Morgen oder
ſtillen Abend, waͤhrendem Huͤten meiner Geißen,
mich auf irgend einem hohen Berge in einen Dorn-
buſch zu ſetzen — dann jenes Buͤchelgen hervorzu-
langen das ich viele Zeit uͤberall und immer bey mir
trug, und daraus mich uͤber meine Pflichten gegen
Gott, gegen meine Eltern, gegen alle Menſchen
[237] und gegen mich ſelbſt, ſo lang zu erbauen, bis ich
in eine Art wilder Empfindung gerieth, und (ich ent-
ſinne mich noch vollkommen) allemal mit einer Er-
mahnung an Rinder
geendet, deren Anfang lau-
tete: „Kommt Kinder! Wir wollen uns vor dem
„Thron des himmliſchen Vater niederwerfen„. Dann
richtete ich meine Augen ſtarr in die Hoͤhe, und haͤu-
fige Thraͤnen floſſen die Wangen herab. Dann haͤtt’
ich mich auf ewig und durch tauſend Eyde verbunden,
Allem Allem abzuſagen, und nur Jeſu nachzufolgen.
Voll unnennbarer, halb ſuͤſſer, halb bittrer Empfin-
dungen ſtieg ich dann mit meiner Heerde weiter von
einem Huͤgel zum andern auf und nieder, und hieng
immer dem beaͤngſtigenden Gedanken nach: Was ich
denn nun allererſt thun muͤſſe, um ſelig zu werden?
„Darf ich alſo„, hob ich dann halb laut halb leiſe
an, „meine [Geißen] nicht mehr lieben? Muß ich
„meinem Diſtelfink Abſchied geben? — Muß ich
„wirklich gar Vater und Mutter verlaſſen„? u. ſ. f.
Dann fiel ich vollends in eine duͤſtre Schwermuth,
in Zweifel, in Hoͤllenangſt; wußte nicht mehr was ich
treiben, was ich laſſen, woran ich mich halten ſollte.
Das dauerte dann ſo etliche Tage lang. Dann hieng
ich wieder fuͤr etwas Zeit Grillen von ganz andrer
Natur — und auch dieſen bis zur Wuth nach; bau-
te mir ein, zwey, drey Dutzend ſpaniſcher Schloͤſſer
auf, riß alle Abend die alten nieder, und ſchuf ein
Paar neue. — So dauerte es bis ungefehr in mein
achtzehntes Jahr, da mein Vater ſeinen Wohnort
veraͤnderte, und ich ſo zu ſagen in eine ganz neue
[238] Welt trat, wo ich mehr Geſellſchaft, Zeitvertreib,
und minder Anlaß zum Phantaſiren hatte. Hier
fiengen ſich dann auch, beſonders Eine Art der Kin-
der meiner Einbildungskraft — und zwar leider eben
die ſchoͤnſte von allen — an, ſich in Wirklichkeit um-
zuſchaffen, und kamen mir eben nahe an Leib. Aber
zu meinem Gluͤcke hielt mich meine anerbohrene
Schuͤchternheit, Schaamhaftigkeit — oder wie man
das Ding nennen will — noch Jahre lang zuruͤck,
eh’ ich nur ein einziges dieſer Geſchoͤpfe mit einem
Finger beruͤhrte. Da fieng ſich endlich jene Liebes-
geſchichte mit Aenchen an, die ich oben, wie ich
denke, nur mit allzuſuͤſſer Ruͤckerinnerung, beſchrie-
ben habe — und doch noch einmal beſchreiben, jene
Honigſtunden mir noch einmal zuruͤckrufen moͤchte —
um mehr zu genieſſen als ich wirklich genoſſen habe.
Allein ich fuͤrchte — nicht Suͤnde, aber Aergerniß;
und eine geheime Stimme ruft mir zu: „Grauer
„Geck! Beſtelle dein Haus; denn du mußt ſterben„. —
Noch lebt dieſe Perſon, ſo geſund und munter wie
ich; und mir ſteigt eine kleine Freude ins Herz ſo
oft ich ſie ſehe, obgleich ich mit Wahrheit bezeugen
kann, daß ſie alle eigentliche Reitze fuͤr mich verlo-
ren hat. Alſo kurz und gut, wir gehen weiters. —
Nun von jenem Zeitpunkt an war ich unſtaͤt und fluͤch-
tig, wie Cain. Bald beſtuhnd meine Arbeit im Tag-
loͤhnen; bald zuͤgelte ich fuͤr meinen Vater das Sal-
petergeſchirr von einem Fleck zum andern. Da traf
ich freylich allerhand Leuthe, immer neue Geſellſchaft,
und mir bisdahin unbekannte Gegenden an; und dieſe
[239] und jene waren mir bald widrig, bald angenehm.
Im Umgang war ich eckel. Zwar bemuͤhete ich mich,
freundlich mit allen Menſchen zu thun. Aber zu be-
ſtaͤndigen Geſpannen ſtuhnden mir die wenigſten an;
ſie mußten von einer ganz eigenen Art ſeyn, die ich,
wenn ich ein Mahler waͤre, eher zeichnen, als mit
Worten beſchreiben koͤnnte. Hie und da gerieth
ich auch an ein Maͤdchen; aber da ſtuhnd mir
keine an wie mein Aenchen. Nur eines gewiſſen
Caͤthchens und Marichens erinnr’ ich mich noch
mit Vergnuͤgen, obſchon unſre Bekanntſchaft nur eine
kleine Zeit waͤhrte. Wenn ein Weibsbild, ſonſt noch
ſo huͤbſch, da ſtuhnd oder ſaß wie ein Stuͤck Fleiſch
— mir auf halbem Weg entgegen kam, oder mich
gar noch an Frechheit uͤbertreffen wollte, ſo hatte
ſie’s ſchon bey mir verdorben; und wenn ich dann
auch etwa in der Vertraulichkeit mit ihr ein Bißchen
zu weit gieng, war’s gewiß das erſte und letzte Mal.
Nie hab’ ich mir auf meine Bildung und Geſicht viel
zu gut gethan, obſchon ich bey den artigen Naͤrrchen
ſehr wohl gelitten war, und einiche aus ihnen gar
die Schwachheit hatten mir zu ſagen, ich ſey einer
der huͤbſcheſten Buben. Wenn gleich meine Kleidung
nur aus drey Stuͤcken beſtuhnd — einer Lederkappe,
einem ſchmutzigen Hembd, und ein Paar Zwilchho-
ſen — ſo ſchaͤmte ſich doch auch das niedlichſt geputzte
Maͤdchen nicht, ganze Stunden mit mir zu ſchaͤckern.
In Geheim war ich denn freylich ſtolz auf ſolche Er-
oberungen, ohne recht zu wiſſen warum? Andremal
nagte mir, wie geſagt, wirklich die Liebe ein Weil-
[240] chen am Herzen: Dann ſucht’ ich mich des laͤſtigen
Gaſtes durch Zerſtreuungen zu entledigen; jauchzte,
pfiff, und trillerte einen Gaſſenhauer, deren ich in
kurzer Zeit viele von meinen Kameraden gelernt hatte;
oder bruͤtete an abgelegenen Orten wieder etliche Fan-
taſeyen aus, und traͤumte von lauter Gluͤck und gu-
ten [Tagen], ohne daß ich mir einfallen ließ, mich auch
zu fragen: Wenn und woher ſie auch kommen ſoll-
ten? das ich mir auch ſicher nicht haͤtte beantworten
koͤnnen. Denn die Wahrheit zu geſtehn, ich war
ein Erzlappe und Stockfiſch, und beſaß zumal keine
Unze Klugheit, oder gruͤndliches Wiſſen, wenn ich
ſchon uͤber alles ganz artlich zu reden wußte. Daß
ich bey jedermann, und bey jenen ſchoͤnen Dingern
inſonderheit wohl gelitten war, kam einzig daher,
weil ich ſo ziemlich gut an jedem Ort augenblicklich
den fuͤr daſſelbe ſchicklichſten Ton zu treffen wußte,
und mir, wie meine Nymphen behaupteten, alles
zierlich nett anſtuhnd. — Und nun abermals ein neuer
Akt meines Lebens. Als mich naͤmlich bald hernach
das Verhaͤngniß in Kriegsdienſte fuͤhrte, und vorzuͤglich
in den ſechs Monathen, da ich noch auf der Werbung
herumſtreifte, ja da geht’s uͤber alle Beſchreibung,
wie ich mich nun faſt gaͤnzlich im Getuͤmmel der Welt
verlor. Zwar unterließ ich auch waͤhrend meinen wil-
deſten Schwaͤrmereyen nie, Gott taͤglich mein Mor-
gen- und Abendopfer zu bringen, und meinen Ge-
ſchwiſterten gute Lehren nach Haus zu ſchreiben. Aber
damit war’s dann auch gethan; und ob der Himmel
daran groſſe Freude hatte, muß ich zweifeln? Doch,
wer
[241] wer weißt’s? Selbſt dieſe fluͤchtige Andacht unterhielt
vielleicht manche gute Geſinnung in mir, die ſonſt
auch noch zu Truͤmmern gegangen waͤre, und be-
huͤtete mich vor groben Ausſchweifungen, deren ich
mir, Gott Lob! keiner einzigen bewußt bin. So z.
B. wenn ich ſchon mit huͤbſchen Maͤdchens fuͤr mein
Leben gern umgehen mochte, haͤtt’ ich’s doch auf
allen meinen Reiſen und Kriegszuͤgen nie uͤber’s Herz ge-
bracht, nur ein eineinziges zu uͤbertoͤlpeln, wenn ich auch
dazu noch ſo viel Reitzung gehabt. Wahrlich, mein Ge-
wiſſen war ſo zart uͤber dieſen Punkt, daß ich mir
vielmehr oft nachwerts ruchloſe Vorwuͤrfe uͤber meine
eigne Feigheit gemacht; mir den und dieſen guten
Anlaß wieder zuruͤckgewuͤnſcht, u. ſ. f. Aber wenn
ſich denn wirklich die Gelegenheit von neuem eraͤug-
nete, und alles bis zum Genuſſe fix und fertig war,
ſo fuhr ein zitternder Schauer mir durch Mark und
Beine, daß ich zuruͤckbebte, meinen Gegenſtand mit
guten Worten abfertigte, oder leiſe davon ſchliech.
Auf dem ganzen Transport bis nach Berlin bin ich,
bis auf ein einziges Neſtchen, vollends ganz rein da-
von gekommen. In dieſer groſſen Stadt haͤtt’ ich
an gemeinen Weibsleuthen keinen Schuh’ gewiſcht.
Hingegen will ich’s nicht verbergen, daß meine zuͤ-
gelloſe Einbildungskraft ein Paarmal uͤber glaͤnzen-
de Damen und Mamſelles bruͤtete. Aber es ſtellten
ſich immer noch zu rechter Zeit genugſame Hinder-
niſſe in den Weg; die Anfechtungen verſchwanden,
und beſſerer Sinn und Denken erwachten wieder.
Waͤhrend meiner Campagne und auf der Heimreiſe
Q
[242] hab’ ich abermals keinen weiblichen Finger beruͤhrt.
Was meine Deſertion betrift, ſo machte mir mein
Gewiſſen daruͤber nie die mindeſten Vorwuͤrfe. Ge-
zwungner Eyd, iſt Gott leid! dacht’ ich; und die Ce-
remonie, die ich da mitmachte, waͤhnt’ ich wenigſtens,
koͤnne kaum ein Schwoͤren heiſſen. — Nach meiner
Ruͤckkehr ins Vaterland ergriff ich wieder meine vo-
rige Lebensart. Auch Buhlſchaften ſpannen ſich bald
von neuem an. Meine herzliebe Anne war freylich
verplempert; aber es fanden ſich in kurzem andere
Maͤdels mehr als eines, denen ich zu behagen ſchien.
Mein Aeuſſeres hatte ſich ziemlich verſchoͤnert. Ich
gieng nicht mehr ſo laͤppiſch daher, ſondern huͤbſch
gerade. Die Uniform die mein ganzes Vermoͤgen war,
und eine ſchoͤne Friſur, die ich recht gut zu machen
wußte, gaben meiner Bildung ein Anſehn, daß duͤrf-
tige Dirnen wenigſtens die Augen aufſperrten. Be-
mittelte Jungfern dann — Ja, o bewahre! — die
warfen freylich auf einen armen ausgerißnen Soldat
keinen Blick. Die Muͤtter wuͤrden ihnen fein aus-
gemiſtet haben. Und doch wenn ich’s nur ein wenig
pfiffiger und politiſcher angefangen, haͤtt’ es mir mit
einer ziemlich reichen Roſina gegluͤckt, wie ich nach-
werts zu ſpaͤth erfuhr. Inzwiſchen erhob ſelbſt die-
ſer mißlungene Verſuch meinen Muth und meine
Einbildung nicht um ein geringes — und der geſchoſ-
ſene Bock waͤre mir nicht um tauſend Gulden feil
geweſen. Ich ſah darum von erwaͤhnter Zeit an alle
meine bisherigen Liebſchaften ſo ziemlich uͤber die
Achſel an, und warf den Bengel hoͤher auf. Aber
[243] meine ſorgloſe luͤderliche Lebensart verderbte immer
alles wieder. Mit Kindern meines Standes war mein
Umgang freylich, Gott verzeih’ mir’s! oft nur all-
zufrey; in Abſicht auf ſolche hingegen, die uͤber mir
ſtuhnden, verließ mich meine Feigheit nie; und das
war mir am meiſten hinderlich. Denn wer weiß nicht,
wie oft der duͤmmſte Labetſch *), bloß mit einem
beherzten angriffigen Weſen zuerſt ſein Gluͤck macht.
Aber mir ſo viele Muͤhe geben — kriechen, bitten,
ſeufzen und verzweifeln — konnt’ ich eben nicht. Ei-
nes Tags gieng ich nach Heriſau an eine Landsge-
meinde. Meine gute Mutter ſteckte mir all’ ihr
kleines Spaargeldlin von etwa 6. fl. bey. Einer
meiner Bekannten im Appenzeller-Land trachtete
mir zu Trogen, in einer groſſen Geſellſchaft, eine
gewiſſe Urſel aufzuſalzen, die mir aber durchaus nicht
behagen wollte. Ich ſuchte alſo ihr je eher je lie-
ber wieder los zu werden. Es gluͤckte mir auf dem
Ruͤckweg nach Heriſau, wo ſie ſich — oder vielmehr
ich mich unter dem groſſen Haufen verlor. Es war
eine groſſe Menge jungen Volkes. Bey einbrechen-
der Abenddaͤmmerung naͤherte man ſich einander, und
formirte Paar und Paar — als ich mit eins ein wun-
derſchoͤnes Maͤdel, ſauber wie Milch und Blut, er-
blickte, das mit zwey andern ſolchen Dingen davon
ſchlenterte. Ich ſtreckt’ ihm die Hand entgegen, es
ergriff ſie mit den beyden ſeinigen, und mir war-
ſchirten bald Arm an Arm in dulci Jubilo unter
Singen und Schaͤckern unſre Straſſe. Als wir zu
[244]Heriſau ankamen, wollt’ ich ſie nach Haus beglei-
ten. „Das bey Leib nicht„! ſagte ſie; „Ich doͤrft’s
„um alles in der Welt nicht. Nach dem Nachteſſen
„vielleicht, kann ich denn eher noch ein Weilchen zum
Schwanen kommen„. Mit einem ſolchen Erſatz
war ich natuͤrlich ſehr zufrieden. Damals wußt’ ich
noch nicht, wer mein Schaͤtzgen war, und erfuhr
erſt itzt im Wirthshaus: Daß ſie ein Toͤchtergen aus
einem guten Kaufmannshaus, und ungefehr ſechszehn
Jahr alt ſey. Ungefehr nach einer Stunde kam das
liebe Geſchoͤpf — Caͤthchen hieß es — mit einem arti-
gen jungen Kind auf dem Arm, das ſein Schweſterchen
war — denn anders haͤtt’ es nicht entrinnen koͤn-
nen --- als eben auch die verwuͤnſchte Ur -- ſel in
die Stube trat, mich gleichfalls aufſuchen wollte ---
bald aber Unrath merkte, mir bittere Vorwuͤrfe mach-
te --- und davon gieng. Alsdann gab uns der Wirth
ein eigen Zimmer --- Caͤthchen hinein, und ich nach-
geſchwind wie der Wind. Ich hatte ein artiges Eſ-
ſen beſtellt. Nun waren ich und das herrliche Maͤd-
chen allein, allein. O was dieſes einzige Wort in
ſich faßt! Tage haͤtt’ es waͤhren ſollen, und nicht
zwey oder drey wie Augenblicke verfloſſene Stunden.
Und doch --- die Waͤnde unſers Stuͤbchens --- das Kind
auf Caͤthchens Schooß --- die Sternen am Himmel
ſollen Zeugen ſeyn unſrer ſuͤſſen, zaͤrtlichen, aber
ſchuldloſen Vertraulichkeit. Ich blieb noch die halbe
Woche dort. Mein Engel kam alle Tage mit ihrem
Schweſterchen vier bis fuͤnfmal zu mir. Endlich aber
gieng mir die Baarſchaft aus --- ich mußte mich los-
[245] reiſſen. Caͤthchen gab mir, immer mit dem Kind
auf dem Arm, trotz aller Furcht vor ſeinen Eltern,
das Geleit noch weit vor den Flecken hinaus. Wie der
Abſcheid war, laͤßt ſich denken. Thraͤnen von Liebchen
trug ich auf meinen Wangen genug nach Haus. Wir
winkten einander mit Schuͤrze und Schnupftuͤchern
unſer Lebewohl mehr als hundertmal, und ſo weit wir
uns ſehen konnten. O man verzeihe mir meine Thor-
heit! Gehoͤren doch dieſe Tage zu den allergluͤcklich-
ſten, und ihre Freuden zu den allerunſchuldigſten mei-
nes Lebens. Denn mein guter Engel hatte mir ge-
gen dieß holde Maͤdchen ordentlich eben ſo viel Ehr-
furcht als Liebe eingefloͤßt; ſo daß ich ſie, wie ein
Vater ſein Kind, umarmte, und ſie mich hinwieder,
wie eine Tochter ihren Erzeuger, ſanft an ihren rei-
nen Buſen druͤckte, und mein Geſicht mit ihren Kuͤſ-
ſen deckte. --- Itzt war ich dem Leibe nach wieder bey
Haus, aber im Geiſte immer mit dieſem herzigen
Schaͤtzgen beſchaͤftigt, dem weiland Aennchen ſogar
weit nachſtuhnd. Indeſſen kam mir nur kem Gedanke
daran, daß ich jemals zu ihrem Beſitz gelangen koͤnn-
te; vielmehr ſucht’ ich mir alles Vorgegangene voll-
kommen aus dem Sinn zu ſchlagen, und es gelang
mir. Denn dieß war von jeher meine Art: Was
einen ſchnellen Eindruck auf mich machte, war auch
bald wieder vergeſſen, und von neuen Gegenſtaͤnden
verdraͤngt. Allein, wer haͤtte daran gedacht? An ei-
nem ſchoͤnen Abend brachte mir der Heriſauer-Bot
ein Briefchen von meinem Caͤthchen, worinn ſie in
zaͤrtlich verliebten und dabey recht kindiſch naiven Aus-
[246] druͤcken mir ſagte: Wie’s ihr ſey ſeit unſerm Ab-
ſchied; wie ſie mich gern wieder ſehen --- noch ein-
mal mit mir reden moͤchte --- und, wenn das nicht
moͤglich waͤre, mich wenigſtens zu einem ſchriftlichen
Verkehr auffodere. Ich kuͤßte das Papier, las es
wohl hundertmal, und trug’s immer in der Taſche,
bis es ganz verſchmutzt und zerſetzt war. Alſo --- ich
flog eilends nach Heriſau -- Nein! Ich antwortete
auf der Stelle. --- Nein! auch das nicht; kein Wort.
Kurz ich gieng nicht, und ſchrieb nicht. Warum? Daß
ich gerade damals kein Geld hatte, deſſen erinnere ich
mich; daß ſonſt noch etwas dazwiſchen kam, weiß ich
auch; die eigentliche Urſach’ aber iſt mir aus dem
Gedaͤchtniß entfallen. Genug, ich vergaß meinen
Heriſauer-Schatz, woruͤber ich mir nachwerts man-
chen bittern Vorwurf gemacht. Endlich, erſt nach
zwanzig Jahren, dacht’ ich wieder einmal dieſer Be-
gebenheit ſo lange und ſo ernſthaft nach, und die Be-
gierde, zu erfahren, ob das liebe Kind noch lebe, und
was aus ihr geworden ſey, ward ſo ſtark in mir, daß
ich eigens deswegen auf Heriſau gieng, (ungeach-
tet ich in der Zwiſchenzeit manchmal mich Tage lang
dort aufhielt, ohne daß mir nur ein Sinn an ſie
kam,) nach ihrer Wohnung fragte, und bald erfuhr,
daß ſie ſchon Mutter von zehn Kindern, und auf
einem Wirthshaus ſey. Ich flog dahin. Der Mann
war eben nicht zu Hauſe. Ich ſprach ſie um Nacht-
herberg an, ſetzte mich zu Tiſch, und beguckte mein ---
nun nicht mehr mein Caͤthchen. Himmel! wie das
arme Ding ganz verlottert war. Und doch erkannt’
[247] ich ihre ehevorigen jugendlichen Geſichtszuͤge mitun-
ter noch deutlich. Ich konnte mich der Thraͤnen kaum
erwehren. Sie war ungluͤcklicher Weiſe an einen
brutalen und dabey luͤderlichen Mann gerathen, der
nachwerts wirklich banquerout machte. Schon damals
war ſie in ſehr aͤrmlichen Umſtaͤnden. Sie kannte
mich nicht mehr. Ich fragte ſie alles aus, nach ih-
rer Herkunft, wer ihr Mann ſey, u. ſ. f. Und end-
lich auch: Ob ſie ſich nicht mehr eines gewiſſen U. B.
erinnre, den ſie vor zwanzig Jahren etliche Tag’ nach
einander beym Schwanen angetroffen. Hier ſah ſie
„mir ſtarr ins Geſicht --- fiel mir an die Hand: „Ja!
„Er iſt’s, er iſt’s„! und groſſe Tropfen rollten uͤber
ihre blaſſen Wangen herab. Nun ließ ſie alles ſtehn,
ſetzte ſich zu mir hin, erzaͤhlte mir der Laͤnge und
Breite nach ihre Schickſale, und ich ihr die meinigen,
bis ſpaͤth in die Nacht hinein. Beym Schlafengehn
konnten wir uns nicht erwehren, jene ſeligen Stun-
den durch ein Paar Kuͤße zu erneuern; aber weiter
ſtieg mir auch nur kein arger Gedanke auf. Im
Verfolg kehrte ich noch manchmal bey ihr ein. Sie
ſtarb etwa vier Jahre nach unſerm erſten Wieder-
ſehn — und es thnt wir ſo wohl, noch eine Thraͤne
auf ihr Grab zu weinen, wo ſie itzt mit ſo viel an-
dern guten Seelen im Frieden wohnt. Und nun
weiters.


Daß ich in meiner obigen Geſchichte uͤber die aller-
ernſthafteſten Scenen meines Lebens --- Wie ich an
meine Dulcinea kam --- ein eigen Haus baute --- ei-
nen Gewerb anfieng, u. ſ. f. ſo kurz hinweggeſchluͤpft,
[248] koͤmmt wahrſcheinlich daher, daß dieſe Epoche meines
Daſeyns mir unendlich weniger Vergnuͤgen als mei-
ne juͤngern Jahre gewaͤhrten, und darum auch weit
fruͤher aus meinem Gedaͤchtniß entwichen ſind. So
viel weiß ich noch gar wohl: Daß, als ich auch im
Eheſtand mich betrogen ſah, und ſtatt des Gluͤcks,
das ich darinn zu finden mir eingebildet hatte, nur
auf einen Haufen ganz neuer unerwarteter Widerwaͤr-
tigkeiten ſtieß, ich mich wieder aufs Grillenfaͤngen
legte, und meine Berufsgeſchaͤfte nur ſo maſchienen-
maͤßig, laͤſtig und oft ganz verkehrt verrichtete, und
mein Geiſt, wie in einer andern Welt, immer in
Luͤften ſchwebte; ſich bald die Herrſchaft uͤber golde-
ne Berge, bald eine Robinſonſche Juſel, oder irgend
ein andres Schlauraffenland ertraͤumte, u. ſ. f. Da
ich hiernaͤchſt um die naͤmliche Zeit anfieng, mich
aufs Leſen zu legen, und ich zuerſt auf lauter myſti-
ſches Zeug --- dann auf die Geſchichte --- dann auf
die Philoſophte --- und endlich gar auf die verwuͤnſch-
ten Romanen fiel, ſchickte ſich zwar alle dieß vortref-
lich in meine idealiſche Welt, machte mir aber den
Kopf nur noch verwirrter. Jeden Helden und Eben-
theurer alter und neuer Zeit macht’ ich mir eigen,
lebte vollkommen in ihrer Lage, und bildete mir Um-
ſtaͤnde dazu und davon wie es mir beliebte. Die Ro-
manen hinwieder machten mich ganz unzufrieden mit
meinem eigenen Schickſal und den Geſchaͤften meines
Berufes, und weckten mich aus meinen Traͤumen,
aber eben nur zu groͤſſerm Verdruß auf. Bisweilen,
wenn ich denn ſo muͤrriſch war, ſucht’ ich mich durch
[249] irgend eine luſtige Lektur wieder zu ermuntern. Als-
dann je luſtiger, je lieber; ſo daß ich daruͤber bald
zum Freygeiſt geworden, und dergeſtalt immer von
einem Extrem ins andre fiel. In dieſer Abſicht be-
daur’ ich die Gefehrtin meines Lebens von Herzen.
Denn ſo wenig Geſchmack ich an ihr fand, ſo hatte
ſie doch noch viel mehr Urſache, keinen an mir zu fin-
den. Dennoch war ihre Neigung zu mir ſtark, ob-
gleich nichts weniger als zaͤrtlich. Ein Betragen ganz
nach ihrem Geſchmack, meine Unterwuͤrfigkeit und
Liebe zu ihr, das alles wollte ſie von dem erſten Tag’
an erpochen und erpoltern --- und macht’s heute mit
mir und meinen Jungen noch eben ſo --- und wird
es ſo wenig laſſen, als ein Mohr ſeine Haut aͤndern
kann. Und doch iſt dieß, wie ich’s nun aus Erfah-
rung weiß, gewiß das ganz unrechte Mittel, einen an
das Joch zu gewoͤhnen. Inzwiſchen floſſen meine Ta-
ge ſo halb vergnuͤgt, halb mißvergnuͤgt dahin. Ich ſuch-
te mein Gluͤck in der Ferne und in der Welt --- mittler-
weile es lange ganz nahe bey mir vergebens auf mich
wartete. Und noch itzt, da ich doch uͤberzeugt bin, daß
es nirgends als in meinem eigenen Buſen wohnt, ver-
geß ich nur allzuoft, dahin --- in mich ſelbſt zuruͤck-
zukehren --- flattre in einer idealiſchen Welt herum,
oder waͤhle in dieſer gegenwaͤrtigen falſche, Eckel und
Unluſt erweckende Scheinguͤter auſſer mir. Was Wun-
der alſo, daß ich, nach meinem vorbeſchriebenen Ver-
halten, mich immer ſelber ins Gedraͤnge brachte,
und mich zumal in eine Schuldenlaſt vertiefte, in
der ich beynahe verzweifeln mußte. Freylich ſeh’ ich
[250] itzt wohl ein, daß auch mein dießfaͤlliges Elend mehr
in meiner Einbildung als in der Wirklichkeit beſtuhnd,
und mein Falliment, da ich am tiefſten ſtack, doch
nie betraͤchtlich geweſen, und nicht uͤber 700. hoͤch-
ſtens 800. fl. an mir waͤren eingebuͤßt worden. Und
doch hab’ ich vor- und nachher Banqueroute von ſo
viel Tauſenden mit kaltem Blut ſpielen geſehn. Zu-
dem waren meine Glaͤubiger gewiß nicht von den
ſtrengſten, ſondern noch vielmehr von den allerbeßten
und nachſichtigſten, wenn mich gleich der eint- und andre
ein Paarmal ziemlich roh anfuhr. Eben ſo ſicher iſt’s
freylich, daß, wenn ich meiner Frauen Grundſaͤtze be-
folgt, ich nie in dieß Labyrinth gerathen waͤre. Ob
aber unter andern Umſtaͤnden, und wenn ich eine an-
ders organiſirte Haushaͤlfte gehabt, oder dieſelbe mich
anders geleitet -- mir entweder freye Haͤnde gelaſſen,
oder doch meinen Willen und Zuneigung auf eine zaͤrt-
lichere Art zu feſſeln gewußt, es je ſo weit mit mir
gekommen waͤre, iſt dann wieder eine andre -- Frage?
Einmal ganz und gar in ihre Maximen einzutreten,
war mir unmoͤglich. Bey mehrerer Freyheit hinge-
gen (denn mit Gewalt mocht’ auch Ich meine Au-
thoritaͤt lange nicht zeigen) haͤtt’ ich wenigſtens mei-
ner Geſchaͤfte mich mehr angenommen, mehr Eifer
und Fleiß, und kurz alle meine Leibs- und Seelen-
kraͤfte beſſer auf meinen Gewerb gewandt. Da mir
aber Zanken und Streit in Tod zuwider, und etwas
mit dem Meiſterſtecken durchzuſetzen, auch nicht mei-
ne Sache war -- wenn’s zumal den zeitlichen Plun-
der betraf, der mir ſo vieler Muͤhe nie werth ſchien-
[251] ſo ließ ich’s eben bleiben. Schon damals hatten gei-
ſtige Beſchaͤftigungen weit mehr Reitze fuͤr mich. Und
da meine Dulcinea ohnehin alles in allem ſeyn woll-
te, ſie mich in allem tadelte, und ich ihr mein Ta-
ge nichts recht machen konnte, ſo wurd’ ich um ſo
viel verdruͤßlicher, und dachte: Ey! zum * *, ſo
mach’s Du! Ich kenne noch andre Arbeit, die mir
unendlich wichtiger ſcheint. Da hatt’ ich nun frey-
lich Unrecht uͤber Unrecht; denn ich erwog nicht, daß
doch zuletzt alle Laſt auf den Mann faͤllt — ihn bey
den Haaren ergreift, und nicht das Weib. Haͤtt’ ich
nur, dacht’ ich denn oft, eine Frau, wie Freund N.
Der iſt ſonſt, ohne Ruhm zu melden, ein Lapp wie
ich, und haͤtte ſchon hundert und aber hundert Nar-
renſtreiche gemacht, wenn nicht ſein geſcheidtes Dor-
chen
ihn auf eine liebevolle Art zuruͤckgehalten — und
das alles ſo verſchmitzt, nur hinten herum, ohne ihn
merken zu laſſen, daß er nicht uͤberall Herr und Mei-
ſter ſey. O wie meiſterlich weißt ſich die nach ſeinen
Launen zu richten, die guten und die boͤſen zu maͤſ-
ſigen (Denn in den beßern iſt er uͤbertrieben lu-
ſtig, in den uͤbeln hingegen aͤchzt er wie eine alte
Vettel, oder will alles um ſich her zerſchmettern)
daß ich oft erſtaunt bin, wie ſo ein Ding vor Weib-
chen eine ſo unſichtbare Gewalt uͤber einen Mann
haben, und, unterm Schein ganz nach ſeinem Ge-
fallen zu leben, ihn ganz zu Dienſten haben kann.
Aber ein derley Geſchoͤpf iſt eben ein rarer Vogel
auf Erde; und ſelig iſt der Mann, dem ein ſolch
Kleinod beſcheert iſt, wenn er’s zumal gehoͤrig zu ſchaͤ-
[252] tzen weiß. Und Freund N. ſchaͤtzt das ſeinige him-
melhoch, ohn’ es doch recht zu kennen. Sie lobt ihm
alles; und wenn ihr etwas auch noch ſo ſehr miß-
faͤllt, heißt es nur mit einem holden Laͤcheln: „Es
„mag gut ſeyn; aber ich haͤtt’s doch lieber ſo und
„ſo geſehn. Schatze! Mir zu gefallen mach’s auf
„dieſe Art„. Nie hab’ ich ein bitter Wort oder
eine boͤſe Miene gegen ihn bemerkt, auch nie von
andern vernommen, der dieſe geſehen oder jenes ge-
hoͤrt haͤtte. Obgleich nun uͤbrigens freylich ein ſol-
cher Zeiſig bisweilen mich etwas luͤſtern, und der
Contraſt zwiſchen ihr und meiner Bethesgenoßin,
nicht ſelten ein wenig duͤſter gemacht, war ich doch
im Grund des Herzens mit meinem Loos nie eigent-
lich unzufrieden, feſt uͤberzeugt, mein guter Vater
im Himmel habe auch in dieſer Ruͤckſicht — denn
warum in dieſer allein nicht? — die beßte Wahl
getroffen. Iſt’s ja doch offenbar, daß gerade eine
ſolche Haͤlfte und keine andre es ſeyn mußte, die meiner
Neigung zu allen Arten von Ausſchweifungen Schran-
ken ſetzte. Solch ein weiblicher Poldrianus ſollte mir
das Laͤcherliche und Verhaßte jeder allzuheftigen Ge-
muͤthsbewegung — wie die lacedaͤmoniſchen Sklaven
den Buben ihrer Herren das Laſter der Trunkenheit
— in Natura zeigen, und dergeſtalt Ein Teufel den
andern austreiben. Solch eine karge Sparbuͤre muͤßt’
es ſeyn, die meiner Freygebigkeit und Geldverach-
tung das Gleichgewicht hielt — mir zu Nutz’ und
ihr zur Strafe, nach dem herrlichen Sprichwort:
Ein Sparer muß einen Geuder *) haben. Solch ein
[253] Sittenrichter und Kritikus mußt’ es ſeyn, der alle
meine Schritt’ und Tritte beobachtete, und mir taͤg-
lich Vorwuͤrfe machte. Das hieß mich, auch taͤg-
lich, auf meine Handlungen Achtung geben, mein Herz
erforſchen, meine Abſichten und Geſinnungen pruͤ-
fen, was wahr oder falſch, gut oder boͤſe gemeint ſey.
Solch ein Zuchtmeiſter mußt’ es ſeyn, der alle mei-
ne Schwachheiten mit den ſchwaͤrzeſten Farben ſchilder-
te, ſo wie ich hingegen geneigt war, dieſelben, wo nicht
fuͤr kreidenweiß, doch fuͤr grau anzuſehn. Solch ei-
nen Arzt braucht’ ich, der alle meine Schaden nicht
nur aufdeckte — ſondern auch vergroͤſſerte, und bis-
weilen ſelbſt die minder wichtigen fuͤr hoͤchſt gefaͤhr-
lich ausgab; die mir, freylich ſtinkende, beiſſende
Pillen, friſch vom Stecken weg, und noch mit einem
Grenadierton unter die Naſe rieb, daß die Waͤnde
zitterten. Dadurch lernt’ ich, zu dem einzigen Arzt
meine Zuflucht nehmen, der mir dauerhaft helfen
konnte, mich im Stillen vor ihm auf die Kniee wer-
fen, und bitten: Herr! Du allein kenneſt alle meine
Gebrechen; vergieb, und heile auch meine verborge-
nen Fehler! Solch eine Betmutter endlich, die be-
ten, und mitten im Beten auffahren und eins los-
ziehen konnte, mußt’ es ſeyn, die mich — beten
lehrte, und mir allen Hang zu froͤmmelnder Schwaͤr-
merey benahm. -- Und nun genug, lieber Nachkoͤmling!
Du ſiehſt, daß ich meiner Frau alle Gerechtigkeit wie-
derfahren laſſe, und ſie ehre wie man einen geſchickten Arzt
zu ehren pflegt, uͤber den man wohl bis weilen ein Bischen
boͤſe thun, aber ihm doch nie im Herzen recht ungut ſeyn
[254] kann. --- Auch iſt ſie wirklich das ehrlichſte, braͤvſte Weib
von der Welt, und uͤbertrift mich in vielen Stuͤcken weit;
ein ſehr nuͤtzliches, treues Weib, mit der ein Mann
--- der nach ihrer Pfeife tanzte, treflich wohl fahren
wuͤrde. Wie geſagt, recht viele gute Eigenſchaften
hat ſie, die ich nicht habe. So weißt ſie z. E. nichts
von Sinnlichkeit, da hingegen mich die meinige ſo
viel tauſend Thorheiten begehen ließ. Sie iſt ſo feſt
in ihren Grundſaͤtzen -- oder Vorurtheilen wenn man
lieber will -- daß kein Doktor Juris -- kein Lavater --
kein Zimmermann ſie davon eines Nagelsbreit abbrin-
gen koͤnnte. Ich hingegen bin ſo wankend wie Eſpenlaub.
Ihre Begriffe -- wenn ſie dieſen Namen verdienen -- von
Gott und der Welt, und allen Dingen in der Welt, duͤn-
ken ihr immer die beßten, und unumſtoͤßlich zu ſeyn.
Weder durch Guͤte noch Strenge --- durch keine Fol-
ter koͤnnt’ſt du ihr andre beybringen. Ich hingegen
bin immer zweifelhaft, ob die meinigen die richtigen
ſeyn. In ihrer Treu und Liebe zu mir macht ſie
mich ebenfalls ſehr beſchaͤmt. Mein zeitliches und
ewiges Wohl liegt ihr, vollkommen wie ihr eigenes,
am Herzen; ſie wuͤrde mich in den Himmel --- bey
den Haaren ziehn, oder gar mit Pruͤgeln d’rein ja-
gen; theils und zuerſt um meines eigenen Beßten
willen --- dann auch um das Vergnuͤgen zu haben,
daß ich’s ihr zu danken haͤtte --- und um mich ewig
hofmeiſtern zu koͤnnen. Doch im Ernſt: Ihre auf-
richtige Bitte zu Gott geht gewiß dahin: „Laß doch
„dereinſt mich und meinen Mann einander im
„Himmel antreffen, um uns nie mehr trennen zu
[255] „muͤſſen„. Ich hingegen --- ich will es nur geſte-
hen --- mag wohl eher in einer boͤſen Laune gebetet
haben: „Beßter Vater! In deinem Hauſe ſind viele
„Wohnungen; alſo haſt du gewiß auch mir ein ſtilles
„Winkelgen beſtimmt. Auch meinem Weibe ordne
„ein artiges --- nur nicht zu nahe bey dem meinigen„.
Sind das nun nicht alles aufrichtige Geſtaͤndniſſe?
Sag’ an, lieber Nachkoͤmmling! Ja! ich geſteh’ es
ja noch einmal, daß meine Frau weit weit beſſer iſt
als ich, und ſie’s vortreflich gut meint, wenn’s ſchon
nicht immer jedermann fuͤr gut annehmen kann. So
ließ ſie ſich’s z. E. nicht ausreden, daß es nicht ihre
Pflicht waͤre, mir des Nachts laut in die Ohren zu
ſchrey’n -- daß ſie bete, und daß ich ihr nachbeten koͤnne.
Und wenn ich ihr hundertmal ſage, das Lautſchreyen
nuͤtze nichts, da gilt alles gleich viel; ſie ſchreyt. ---
Da muß ich, denk’ ich, freylich abermals nur mein
allzueckles Ohr anklagen, und wieder und uͤberall ſa-
gen und bekennen: Ja, ja! ſie iſt weit braͤver als ich.


Barmherzigkeit — welch ein beruhigendes Wort!
— Barmherzigkeit meines Gottes, deſſen Guͤte uͤber
allen Verſtand geht, deſſen Gnade keine Grenzen
kennt! Wenn ich ſo in angſthaften Stunden alle
Troſtſpruͤche deiner Offenbarung zuſammenraffe, macht
dieß einige Wort einen ſolchen Eindruck auf mein
Herz, daß es der Hauptgrund meiner Beruhigung
wird. Indeſſen bin ich, wie andre Menſchen, frey-
lich nicht weniger geneigt, auch etwas Troͤſtendes in
mir ſelbſt aufzuſuchen. Und da ſagt mir naͤmlich die
[256] Stimme in meinem Buſen: Freylich biſt du ein groſ-
ſer, ſchwerer Suͤnder, und kannſt mit dem allergroͤß-
ten um den Vorzug ſtreiten; aber deine Vergehen ka-
men meiſt auf deinen Kopf heraus, und die Strafen
deiner Sinnlichkeit folgten ihr auf dem Fuſſe nach.
— Wenigſtens darf ich mir dieß Zeugniß geben:
Daß ich von Jugend an nie boshaft war, und mit
Wiſſen und Willen niemand Unrecht gethan. Wohl
hab’ ich manchmal meine Pflichten zumal gegen mei-
ne Eltern verſaͤumt; und meine dießfaͤllige Schulden
ſeh’ ich, aber leider zu ſpaͤthe! erſt itzt recht ein, da
ich ſelber Vater bin, und, wahrſcheinlich zur Strafe
meiner Suͤnden, auch rohe und unbiegſame Kinder
habe. Bey mir war es Unwiſſenheit; und ich will
gerne hoffen, es iſt’s itzt auch bey ihnen. — Einem
Mann gab ich vor drevßig Jahren ein Paar tuͤchtige
Ohrfeigen; und ſonſt noch einer oder zwoo Balgereyen
bin ich mir auch bewußt. Aber ich habe mir deßwe-
gen nie ſtarke Vorwuͤrfe gemacht. Zum Theil ward
ich augegriffen, oder ich hatte ſonſt ziemlich gerechte
Urſachen boͤſe zu werden. Erwaͤhnter Mann hatte mei-
nen Vater wegen einem vom Wind umgeworfenen
Taͤnnchen im Gemeinwald vor dem Richter verklagt;
der gute Aeti wurde unſchuldiger Weiſe gebuͤßt. Nun
brannte freylich die Rachbegier in meinem Buſen hoch
auf. Eines Tages nun ertappt’ ich den boshaften
Anklaͤger, daß er ſelbſt — Stauden ſtahl; da ja verſetzt’
ich ihm eins, zwey, oder drey, daß ihm Maul und
Naſe uͤberloffen. Noch blutend rannte er zum Ober-
vogt. Der citirte mich; aber ich geſtuhnd nichts,
und
[257] und der andre hatte keine Zeugen. Er mußte alſo
das Empfangene vor ſich behalten. — Im Handel
und Wandel betrog ich ſicher niemand, ſondern zog
vielmehr meiſt den Kuͤrzern. — Nie mocht’ ich in
Geſellſchaften ſeyn, wo gezankt wurde, oder wo ſonſt
jemand unzufrieden war; nie wo ſchmutzige Zotten
aufs Tapet kamen, oder es ſonſt konterbunt --- wohl
aber wo es luſtig in Ehren hergieng, und alles con-
tent war. Mehr als einmal hab’ ich mein eigenes
Geld angeſpannt, um andern Vergnuͤgen zu machen.
--- Viel hundert Gulden hab’ ich entlehnt, um an-
dern zu helfen, die mich hernach ausgelacht, oder es
mir abgelaͤugnet, oder die ich mir wenigſtens damit,
ſtatt zu Freunden zu Feinden gemacht. --- Das ſchoͤ-
ne Geſchlecht war freylich von jeher meine Lieblings-
ſache. Doch, ich hab’ ja uͤber dieß Kapitel ſchon ge-
beichtet. Gott verzeih’ mir’s wo ich gefehlt! --- Dieß-
mal iſt’s um Entſchuldigungen und Troſtgruͤnde zu
thun. Und da bin ich in meinem Innerſten zufrieden
mit mir ſelber, daß gewiß kein Weibsbild unter der
Sonne auftreten und ſagen kann, ich habe ſie ver-
fuͤhrt; keine Seele auf Gottes Erdboden herumgeht,
die mir ihr Daſeyn vorzuwerfen hat; daß ich kein
Weib ihrem Mann abſpenſtig gemacht, und eine ein-
zige Jungfer gekoſtet --- und die iſt meine Frau. Dieſe
meine Bloͤdigkeit freute mich immer, und wuͤrde mir
noch itzt anhangen. Auch das iſt mir ein wahrer
Troſt, daß ich ſogar nur nie keine Gelegenheit geſucht
--- hoͤchſtens bisweilen in meiner Fantaſie die Narr-
heit hatte, einen guten Anlaß zu wuͤnſchen; aber,
R
[258] wenn ſich denn derſelbe --- gluͤcklicher oder ungluͤckli-
cher Weiſe eraͤugnete --- ich ſchon zum Voraus an al-
len Gliedern zitterte. --- Meinem Weib hab’ ich nie
Unrecht gethan --- es muͤßte denn das Unrecht heiſ-
ſen, daß ich mich nie ihr unterthan machen wollte.
Nie hab’ ich mich an ihr vergriffen; und wenn ſie
mich auch auf’s Aeuſſerſte brachte, ſo nahm ich lieber
den Weiten. Herzlich gern haͤtt’ ich ihr alles erſinn-
liche Vergnuͤgen gemacht, und ihr, was ſie nur im-
mer geluͤſtete, zukommen laſſen. Aber von meiner
Hand war ihr niemals nichts recht; es fehlte immer
an einem Zipfel. Ich ließ darum zuletzt das Kra-
men und Laufen bleiben. Da war’s wieder nicht
recht. — Auch meinen Kindern that ich nicht Un-
recht; es muͤßte denn das Unrecht ſeyn, daß ich ih-
nen nicht Schaͤtze ſammelte, oder wenigſtens meinem
Geld nicht beſſer geſchont habe. In den erſten Jah-
ren meines Eheſtands nahm ich mit ihnen eine ſchar-
fe Zucht vor die Hand. Als aber itzt meine zwey
Erſtgebohrnen ſtarben, macht’ ich mir Vorwuͤrfe,
ich ſey nur zu ſtreng mit ihnen umgegangen, obſchon
ſie mir in der Seele lieb waren. Nun verfuhr ich mit
den uͤbriggebliebenen nur zu gelinde, ſchonte ihnen
mit Arbeit und Schlaͤgen, verſchaffete ihnen allerhand
Freuden, und ließ ihnen zukommen was nur immer
in meinem Vermoͤgen ſtand — bis ich anfieng einzu-
ſehn, daß meines Weibs dießfaͤllige oͤftere Vorwuͤrfe
wirklich nicht unbegruͤndet waren. Denn ſchon wa-
ren mir meine Jungen ziemlich uͤber die Hand ge-
wachſen, und ich mußte eine ganz andre Miene an-
[259] nehmen, wenn ich nur noch in etwas meine Au-
thoritaͤt behaupten wollte. Aber die Leyer mei-
ner Frau konnt’ ich darum auch itzt noch unmoͤglich
leyern; unmoͤglich ſtundenlang donnern und lamenti-
ren; unmoͤglich viele hundert Waidſpruͤche und Le-
bensregeln, haltbare und unhaltbare, in die Kreutz’
und Queer’ ihnen vorſchreiben; und wenn ich’s je
gekonnt haͤtte, ſah’ ich die Folgen einer ſolchen Art
Kinderzucht nur allzudeutlich ein: Daß naͤmlich am
End’ gar nichts gethan und geachtet, aus Uebel immer
Aerger wird, und das junge Fuͤllen zuletzt anfaͤngt
wild und taub hintenauszuſchlagen. Ich begnuͤgte
mich alſo ihnen meine Meinung immer mit wenig
Worten, aber im ernſten Tone zu ſagen; und be-
ſonders nie fruͤher als es vonnoͤthen war, und nie-
mals bloſſe Kleinigkeiten zu abnden. Mehrmals hatt’
ich ſchon eine lange Predigt ſtudirt; aber immer war
ich gluͤcklich genug, ſie noch zu rechter Zeit zu ver-
ſchluͤcken, wenn ich die Sachen bey naͤherer Unterſu-
chung ſo ſchlimm nicht fand, als ich es im er-
ſten Ingrimm vermuthet hatte. Ueberhaupt aber
fand ich, daß Gelindigkeit und ſanfte Guͤte, zwar
nicht immer, aber doch die meiſten Male mehr
wirkt, als Strenge und Lautthun. — Doch, ich merke
wohl, ich fange an meine Tugenden zu mahlen —
und ſollte meine Fehler erzaͤhlen. Aber noch einmal,
in dieſen letzten Zeilen moͤcht’ ich mich, ſo gut es ſeyn
kann, ein wenig beruhigen. Meine aufrichtigen
Geſtaͤndniſſe findet der Liebhaber ja oben, und wird
daraus meinen [Charackter] ziemlich genau zu beſtim-
[260] men wiſſen. Schon ſeit Langem hab’ ich mir viele
Muͤhe gegeben, mich ſelbſt zu ſtudiren, und glaube
wirklich zum Theil mich zu kennen — meine Frau war
mir ein trefliches Huͤlfsmittel dazu — zum Theil aber
bin ich mir freylich noch immer ein ſeltſames Raͤthſel:


So viele richtige Empfindungen; ein ſo wohlwol-
lendes, zur Gerechtigkeit und Guͤte geneigtes Herz;
ſo viel Freude und Theilnahm’ an allem phyſiſch und
moraliſch Schoͤnen in der Welt; ſolch betruͤbende Ge-
fuͤhle beym Anblick oder Anhoͤren jedes Unrechts,
Jammers und Elends; ſo viele redliche Wuͤnſche end-
lich, hauptſaͤchlich fuͤr andrer Wohlergehn. Deſſen
alles bin ich mir, wie ich meyne, untruͤglich bewußt.
Aber dann daneben: Noch ſo viele Herzenstuͤcke;
ſolch einen Wuſt von Spaniſchen Schloͤſſern, Tuͤrki-
ſchen Paradieſen, kurz Hirngeſpinnſten — die ich ſo-
gar noch in meinem alten Narrnkopf mit geheimem
Wohlgefallen naͤhre — wie ſie vielleicht ſonſt noch in
keines Menſchengehirn aufgeſtiegen ſind. — Doch itzt
noch etwas


LXXX.
Von meiner gegenwaͤrtigen Gemuͤthslage.
Item von meinen Kindern
.


Auch daruͤber find’ ich mich gezwungen, die reine
Wahrheit zu ſagen; Zeitgenoſſen und Nachkoͤmmlin-
ge moͤgen daraus ſchlieſſen was ſie wollen. Noch
ſuch’ ich mich naͤmlich ſogar zu bereden, jene fantaſtiſchen
Hirnbruten ſeyen am End ganz unſuͤndlich — weil
[261] ſie unſchaͤdlich ſind. Sicher iſt’s, daß ich damit kei-
ne menſchliche Seele beleidige. Ob dann aber ſonſt
das ſelbſtgefaͤllige Nachhaͤngen ſonderbarer Lieb-
lingsideen die ſchwarzen Farben verdienen, womit
ohne Zweifel ſtrenge Orthodoxen ſie anſtreichen duͤrf-
ten, weiß ich nicht. Ob hinwieder mein guter Va-
ter im Himmel meine Thorheiten ſo anſehe, wie’s
die Menſchen thun wuͤrden, wenn mein ganzes Herz
vor ihren Augen offen an der Sonne laͤge, daran
erlaube man mir zu zweifeln — oder vielmehr nicht
zu zweifeln. Denn Er kennet mich ja, und weißt
was fuͤr ein Gemaͤcht ich bin. — Bemuͤh’ ich mich
doch wenigſtens, immer beſſer — oder weniger ſchlimm
zu werden. Wenn ich z. B. ſeit einiger Zeit ſo meine
Straſſe ziehe, und noch itzt bisweilen heimlich wuͤnſche,
daß ein Kind meiner Fantaſie mir begegnen moͤchte —
und ich mich denn dem Plaͤtzchen naͤhere, wo ich
darauf ſtoſſen ſollte — und es iſt nicht da — Wie
bin ich ſo froh! — Und doch hatt’ ich’s erwartet. Wie
reimt ſich das? Gott weiß es; Ich weiß es nicht;
nur das weiß ich, daß ich’s Ihm danke, daß es mich
auf ſein Geheiß ausweichen mußte. — Einſt ſtuhnd
wirklich eine ſolche Geburth meiner Einbildungskraft
— und doch gewiß ohne mein Zuthun da, gerade auf
der Stelle, die ich im Geiſt ihm beſtimmt hatte.
Himmel, wie erſchrack ich! Zwar naͤherte ich mich
demſelben; aber ein Fieberfroſt rannte mir durch alle
Adern. Zum Ungluͤck oder Gluͤck ſtuhnden zwey boͤſe
Buben nahe bey uns, kickerten und lachten ſich Haut und
Lenden voll; und noch auf den heutigen Tag weiß
[262] ich nicht, was ohne dieſen Zufall aus mir geworden
waͤre. Ich ſchlich mich davon, wie ein gebiſſener
Hund. Die Buben pfiffen mir nach, ſo weit ſie mich
ſehen konnten. Ich brannte vor Wuth. Ueber wen?
Ueber mich ſelbſt — und uͤbergab meine Sinnlichkeit
dem T * * und ſeiner Großmutter zum Gutenjahr.
In dieſem Augenblick haͤtt’ ich mir ein Ohr vom Kopf
fuͤr den verwuͤnſchten Streich abhauen laſſen. Bald
nachher erfuhr ich, daß, da man mich wegen meinem
unſchenirten Weſen im Verdacht hatte, dieſe Falle
mir mit Fleiß gelegt worden; und daß jene Burſche
ausgeſagt, ſie haͤtten mich ſo und ſo ertappt. Das
Gemuͤrmel war allgemein. Meine Feinde triumphirten.
Meine Freunde erzaͤhlten’s mir. Ich bat ſie ganz
gelaſſen, zu ſehen, daß ſie mir nur die ſtellen, wel-
che ſo von mir reden. Aber es getraute ſich niemand.
Gleichwohl zeigte man mit Fingern auf mich. Dieſe
Wunde hat mich bey Jahren geſchmerzt, und iſt noch
auf den heutigen Tag nicht ganz zugeheilt. Aber,
Gott weiß! wie dienſtlich ſie mir war. In der er-
ſten Wuth meiner gekraͤnkten Ehrliebe haͤtt’ ich die
Buben erwuͤrgen moͤgen; nachwerts dankt’ ich noch
meinem guten Schutzgeiſt, der ſie hergefuͤhrt hatte,
ſonſt waͤr’ ich vielleicht dieſer Verſuchung nicht wider-
ſtanden. Ein Freund (der mich wohl ebenfalls in
falſchem Verdacht hatte) rieth mir, koͤnftig dieſe
Straſſe nicht mehr zu brauchen. Hierinn aber folgt’
ich ihm nicht, ſondern gieng gleich meiner Wegen
fort, und ſah denen die mir begegneten herzhaft und
ſcharf in die Augen, als wenn ich ihre Gedanken er-
[263] rathen koͤnnte. Und ſo hab’ ich wirklich nach und nach
alle die Leuthe kennen gelehrt, die ſich mit jenem
Geruͤchte befaſſet hatten; und wurde mir vollends ei-
ner nach dem andern genannt, von dem erſten Aus-
ſager an bis auf den letzten; wie, und mit welcher
Vergroͤſſerung man ſich’s ins Ohr bot, u. ſ. f.


Uebrigens hat ſich ſeit der Zeit meine Denkart in
ſo weit geaͤndert, daß mich bey ferne nichts mehr ſo
ſtark angriff wie ehmals, und jene Grillen, die mir
einſt ſo unbeſchreiblich viel Angſt machten, merklich
ins Abnehmen geriethen, und ich wenigſtens mir nur
nicht mehr traͤumen ließ, daß die Erfuͤllung meiner oft
ſo fantaſtiſchen Wuͤnſche mir irgend woher zuflieſſen
ſollte, als aus der Hand der guͤtigen Vorſehung. Von
jeder andern waͤre das groͤßte Gluͤck mir fuͤrchterlich
vorgekommen. Freylich lagen dann in meiner Ein-
bildungskraft hundert und hundert verſchiedene Mit-
tel, wie ich dazu gelangen koͤnnte. — Auch die haͤu-
figen Vorwuͤrfe meiner Frau griffen mich itzt nicht
mehr ſo ſtark an. Ich bin derſelben gewoͤhnt; weiß
daß dieſe ihre Verfahrungsweiſe nun einmal ganz in
ihre Natur verwebt iſt; laſſe ihre immerwaͤhrende
Predigten zum einten Ohr ein und zum andern wie-
der aus, ohne darum minder in der Stille zu pruͤ-
fen, was allenfalls daran begruͤndet ſeyn mag, und
ſolches zu meinem Beßten zu benutzen. — Wie ge-
ſagt, nicht daß ich mir ſelbſt auf den heutigen Tag
meine Schlauraffen-Laͤndereyen total moͤchte entreiſ-
ſen laſſen; vielmehr gewaͤhren ſie mir alten Thoren
auch itzt noch vielfaches Vergnuͤgen. Aber ich lache
[264] mich dann doch ſelber wieder aus, trachte wenigſtens
immermehr dieſe Narretheyen zu verachten, und ſu-
che dafuͤr mich an der Ruͤckerinnerung meiner erſten
unſchuldigen Jugendjahre zu ergoͤtzen. Aber da ſteht
wieder eine Klippe auszuweichen: Daß mich naͤmlich
dieſe Ruͤckerinnerung nicht unzufrieden mache mit
den allmaͤhlig anruͤckenden Tagen, von denen man
ſonſt ſpricht: Sie gefallen uns nicht. Und das Mit-
tel dazu iſt kurz dieſes: Daß ich mich bemuͤhe, ſo
viel es je ohne Verletzung des Wohlſtands ſeyn kann,
auch dieſelben mir ſo angenehm wie moͤglich zu ma-
chen, und allen mir etwa widrigen Begegniſſen mit
kaltem Blut unter die Augen zu treten. Damit mich
aber die mancherley Zufaͤlle des Lebens deſto minder
aus meiner Faſſung bringen, beſtreb’ ich mich frey-
lich ſorgfaͤltiger als noch nie, ſo zu wandeln, daß
mir wenigſtens mein Gewiſſen keine Vorwuͤrfe ma-
che, daß durch meine Schuld etwas verſaͤumt wor-
den — und mich gegen alle meine Nebenmenſchen,
beſonders aber gegen die Meinigen, ſo zu betragen, daß
keine Seele ſich mit Recht uͤber mich zu beſchweren habe.
Alſo laß ich z. B. im Handel und Wandel, und uͤber-
haupt in Worten und Werken, immer lieber andern
den Laͤngern, und ziehe ſelber den Kuͤrzern, und ma-
che dadurch, daß jeder gern mit mir zu thun hat.
Auch genieß’ ich das Gluͤck, bey einigen Neidern aus-
genommen, uͤberall wohlgelitten zu ſeyn. Zu mei-
ner Geſundheit, welche ich, dem Hoͤchſten ſey’s ge-
dankt! in hoͤherm Maaße genieße, als in juͤngern
Jahren nie, trag’ ich ebenfalls mehrere Sorge als
[265] ehedem. In meiner Jugend ward ich lange Zeit von
Fluͤſſen geplagt. Kopf- und Zahnſchmerzen, allerley
Geſchwuͤre, und ein ſcharfes Gebluͤt, waren mir, ſo
zu ſagen, wie angeerbt; durch den Genuß hitziger
Speiſen und Getraͤnke, die ich ungemein liebte, ge-
naͤhrt; und plagen mich noch bis zu dieſer Stunde,
ob ich itzt gleich eine ziemlich genaue Diaͤt beobachte.
Zweymal in meinem Leben war ich gefaͤhrlich krank.
Itzt iſt mir die Geſundheit ein koͤſtlich Gut, und
die edelſte Gabe des Hoͤchſten, welche ich mit der
eiferſuͤchtigſten Sorgfalt bewahre. Sorgen der Nah-
rung laß’ ich mich wenig anfechten, und meinem
Brodtkorbe nachzudenken raubt mir nicht viele Zeit.
Was mich am meiſten beunruhigt, ſind meine Jun-
gen. Dieſe ſchweben mir taͤglich vor Augen, und ich
ſehe mich in ihnen, von meiner erſten Kindheit an,
wie in einem Spiegel. Alle Vergehungen, die ich
gegen meine Eltern begangen, muß ich von ihnen
an mir gerochen ſehn. Auch wie ich mich an meinen
Bruͤdern und Schweſtern verfehlt, gewahr’ ich mit
Betruͤbniß, daß ſie’s nunmehr eben ſo gegen einander
uͤben. Freylich auch meine beſſere Seite find’ ich wie-
der an ihnen; und alles zuſammengenommen hat die
Freude an meinen Kindern mir meinen Eheſtand vor-
naͤmlich ertraͤglich gemacht.


Ohne Kinder, weiß ich nicht, was aus mir ge-
worden waͤre; und ich hab’ es meiner Frau vorher-
geſagt, daß, wenn wir das Ungluͤck haͤtten, keine zu
bekommen, ich meiner Noth kein End’ wuͤßte. Aber
mein Wunſch ward erfuͤllt. Ich bin mit ſieben Kin-
[266] dern geſegnet worden. Die beyden aͤlteſten, fuͤr wel-
che ich die groͤßte Zaͤrtlichkeit hegte, wurden mir durch
den Tod entriſſen. Dieß ſetzte mich Anfangs zwar
in groſſe Betruͤbniß; aber bey ruhigerm Nachdenken
war’s noch eher ein Troſt fuͤr mich, daß der guͤtige
Vater aller Menſchen dieſe meine Lieben gerade in
den Tagen zu ſich genommen, welche die traurigſten
waren, die ich erlebt habe, und in denen ich nicht
die geringſten Ausſichten hatte, daß ich dieſe theuern
Fruͤchte wohl erziehen und verſorgen koͤnnte. Damals
haͤtt’ ich ſogar auch die andern noch gern heim zu
ihrem himmliſchen Berather reiſen geſehn, ſo weh’
es mir gethan. Jene waren zwey Herzensſchaͤfchen;
und, wollte Gott! daß ſich ihre Gutherzigkeit auf die Zu-
ruͤckgebliebenen fortgeerbt haͤtte. Meine Frau gebahr
von allen ſieben keins hart, und kam bey allen gluͤck-
lich davon. Aber deſto ſtrenger waren allemal die An-
faͤnge der Schwangerſchaft. Sonſt genoß ſie uͤber-
haupt in der Ehe einer dauerhaftern Geſundheit als
im ledigen Stand. Auch brachte ſie mir lauter wohl-
gebildete Nachkommen zur Welt. Einige indeſſen
moͤgen gewiſſe Gebrechen von ihr geerbt haben; wie
z. B. neben den zwey fruͤhe Verbliechenen, mein Sohn
Jakob, der, ob er gleich ſchoͤn gerade in die Hoͤhe
waͤchst, dennoch nie recht geſund iſt. Sie war eine
ſorgfaͤltige, obgleich nicht eben zaͤrtliche Mutter. Un-
ſagliche Muͤhe, raſtloſe Tage und ſchlafloſe Naͤchte
koſtete ihr die Plage der Kleinen und die Erziehung
der Groͤßern. Ich gieng ihr aber ſo viel moͤglich an
die Hand, und vertrat mit Kochen und Waſchen,
[267] Waſſer- und Holztragen, ordentlich Kindermagdsſtelle;
und zwar mit vielem Vergnuͤgen. Manch’ hun-
dert Stunden hab’ ich meine Jungen auf dem Arm
getragen, geherzt, gewiegt u. ſ. f. und zumal die
zwey Verſtorbenen auf meinen Knieen mit inniger
Wolluſt leſen und ſchreiben gelehrt. Da die andern
viel ſtockiger waren, fieng’s mir an zu verlaiden,
und ich jagte ſie in die Schule.


Nun, ihr meine Lieben! die ihr noch lebet, ſo lang
der Herr will, laßt mich euch beſchreiben der Reihe
nach, ſo wie ihr mir vorkoͤmmt, und mein, gewiß
nicht hartes, Vaterherz von euch urtheilt. Die dun-
kele Zukunft ſogar, wenn’s in meiner Macht ſtuͤhn-
de, moͤcht’ ich euch prophezeyen! — So will ich euch
wenigſtens meine Muthmaaßungen von den Folgen
euers Verhaltens, ſo wie es ſich aus euern Charack-
teren ſchlieſſen laͤßt, nicht verhehlen. Wollte Gott!
ich koͤnnt’ euch mit Wahrheit ſagen, ihr haͤttet die
guten Eigenſchaften eurer Mutter und die beſſere
Seite euers Vaters geerbt. Aber ich muß mit Weh-
muth ſehen, daß ein Gemiſch von ihr und mir —
und leider vom ſchlimmern Theil — ein Gemiſch
von ihrem choleriſchen Blute und meinen ſinnlichen
Saͤften, in euern Adern rollt. Ich finde mich le-
bendig in euch, und das Bild eurer Mutter nicht
minder. Ich bin euer Vater. Ihr ſeht mir nach
den Augen, wenn eure Mutter euch etwa auf eine
allzuungeſtuͤmme Art zu Erſtattung eurer Pflicht an-
halten will; und ich muß deswegen viele Vorwuͤrf’
anhoͤren, als naͤhm’ ich immer eure Parthey. Nun,
[268] ich kann nicht helfen! — Aber Gott weiß — und ihr
muͤßt Zeugen ſeyn, daß es nicht ſo iſt. Wohl moͤcht’
ich die uͤbertriebenen Foderungen um etwas herab-
ſtimmen. Aber da laͤßt ſich nun nichts aͤndern. Ich
kann ſagen was ich will, da hilft nichts. Sie iſt
eure Mutter — hat jedes von euch neun Monath’
unterm Herzen getragen — mit Schmerzen gebohren,
und mit unbeſchreiblicher Arbeit und Sorgfalt erzo-
gen. Bedenkt’s, meine Lieben! Und dann meint ſie’s
gewiß am End herzlich gut mit euch --- moͤcht’ euch
gewiß alle, ſo gut als ich, recht gluͤcklich machen ---
obſchon euch die Art und Weiſe wie ſie’s anſtellt,
nicht recht gefallen will --- und mir auch nicht. Sie
irrt in Manchem --- und Ich auch --- und Ihr ſeyt
gar noch junge unwiſſende Troͤpfe! --- Ich, Ich ſelbſt
habe nun aus fuͤnf und zwanzig jaͤhriger Erfahrung
gefunden, daß mir eine ſolche Zucht, wie die ihrige,
heilſam iſt; wie viel mehr noch werdet Ihr bey rei-
ferm Verſtand einſehen lernen, wie gut es euch war,
dieſe und keine andre Mutter zu haben! Betet auch
dießfalls um fruͤhe Weisheit, und ſie wird euch gege-
ben werden. Beherzigt das fuͤnfte Gebot, und ſucht
alle alle Spruͤch’ in der Bibel auf, wo euer Vater
im Himmel euch die Pflichten gegen eure irrdiſchen
Eltern ſo ernſthaft einſchaͤrft! --- Ich meines Theils
koͤnnt’ an euch manche Unart, manche Widerſpenſtig-
keit wohl verſchmerzen --- und glaubte eben nicht,
wie eure Mutter, daß euer Wille ſich in allen
Stuͤcken ganz dem meinigen unterwerfen muͤßte ---
wenn ihr dadurch nur gluͤcklicher wuͤrdet. --- Aber,
[269] es iſt gerade das Gegentheil, und mir wahrlich allein
um euer Wohl zu thun. An Euch ſelbſt handelt ihr
ſehr uͤbel. Jeder Ungehorſam muß wieder an euch
gerochen werden --- haarklein, in dieſer oder in jener
Welt. Glaubt mir’s, ich weiß es aus Erfahrung.
Alſo noch einmal, als euer zaͤrtliche Vater bitt’ ich
euch -- denn befehlen wuͤrde da wenig helfen --- um
eurer ſelbſt, um eurer zeitlichen und ewigen Wohl-
farth willen: Liebet und ehrt eure Mutter! Sie hat’s
an euch wohl verdient. Und wenn ſie auch je nach
eurer Meinung zu viel von euch fodert, denke nur
ein jedes immer: „Sie darf es; ich bin ihr groſſer
„Schuldner, und wenn ich ſchon unmoͤglich alle ihre
„Befehle befolgen kann, will ich doch das Moͤgliche
„thun; will ihr wenigſtens nicht ins [Angeſicht] wi-
„derſprechen, nicht widerbefzgen, nie mit ihr zanken
„und das letzte Wort haben wollen. Lieber will ich
„auf die Seite gehn, mein Herz pruͤfen, und mich
„fragen: Iſt’s nicht itzt itzt gerade die rechte Zeit,
„daß ich lerne gehorchen, damit ich einſt deſto ver-
„nuͤnftiger befehlen koͤnne„. Denn die Urſache, war-
um ſo viele Eltern und Herrſchaften ihren Kindern
und Untergebnen ſo laͤppiſch befehlen, iſt gewiß keine
andre, als daß ſie ſich nicht fruͤhe ans gehorchen ge-
woͤhnt. --- Alſo nur kein ſolch hoͤniſches Geſicht, kein
Greinen und kein Grunzen, meine Soͤhn’ und Toͤch-
ter! wenn ſchon etwa ein kleiner oder groͤſſeres Wet-
ter uͤber euch geht. Es ſteht euch durchaus nicht zu,
die Uebereilungen euers Vaters und die Schwachhei-
ten [eurer] Mutter zu necken oder zu ruͤgen. Und
[270] wenn’s euch zuſtuͤhnde, was hoͤlf’ es euch! Was hat
je, auf Schelten, das Widerſchelten vor Nutzen ge-
bracht? Wohl erzeugt’s tagtaͤglich ſo viele tauſend elen-
de Luſt- oft ſogar jaͤmmerliche Trauerſpiele auf Erde,
daß der Teufel und alle ſeine Geſellen ſchon daruͤber
mit Haͤndeklatſchen genug zu thun haben.


Und nun wend’ ich mich noch an jedes aus euch ins-
beſonders.


Anna Catharina! Dein frecher, wildaufbrauſen-
der Charackter macht mich oft ſehr beſorgt fuͤr dich.
Hingegen dein theilnehmendes, gefuͤhlvolles Herz
freut mich in der Seele, ſo oft ich eine kleinere oder
groͤſſere Probe davon ſehe oder erfahre. — Aber, dei-
ne Unbiegſamkeit kann dich noch theuer zu ſtehen kom-
men. Du wirſt das Schickſal deiner Mutter haben,
wenn dich das naͤmliche Loos im Heyrathen trift;
trift dich aber ein anderes, ein Mann von einer dir
aͤhnlichen Gemuͤthsart — O Wehe! da wird’s hap-
pern. Bewahre uͤbrigens nur deine Unſchuld wie
deine Gebaͤhrerin, ſo wird die Vorſehung ſchon fuͤr
dich ſorgen, und dir verordnen, was du verdienſt —
oder vielmehr, was dir gut iſt.


Johannes, mein aͤlterer Sohn! O daß du den
Charackter deines ſeligen Bruͤderchens ererbt haͤtteſt,
wie einſt Eliſa des Elias Mantel. Ich kenne mich
nur halb in dir, ſo wie ich hingegen deine Mutter
ganz in meiner obigen Tochter finde. Deine unfeſte,
wankelmuͤthige Denkungsart — wenn es je eine Den-
kungsart heiſſen kann — wuͤrd’ mir oft angſt und
bange machen, wenn ich nicht ſchon laͤngſt gewohnt
[271] waͤre, alles einer hoͤhern Hand anheimzuſtellen. Alſo
meine Vaterliebe laͤßt mich ein Beſſeres hoffen. Aber
du haͤtteſt gute Anlage, ein Taugenichts und Wild-
fang zu werden. Bald auffahrend, bald wieder gut
und nachgiebig; aber niemals herzfeſt. Wenn dir
eine Gehuͤlfin beſcheert iſt, die dich zu leiten weiß,
ſo kann’s noch leidentlich gehn; wo nicht, ſo leite
dich Gott! --- Eins hab’ ich mir gemerkt, und das
freut mich. Du machſt’s wie jener, der immer ſagte:
Nein, ich thu’s nicht! und dann hingieng, und’s
that. Aber keine Unze Geſchmack am Leſen und al-
lem was gruͤndliches Erkennen und Wiſſen heißt ---
es muͤßten denn Mord- und Geſpenſtergeſchichten,
oder andre Abentheuer ſeyn. Uebrigens ein nimmer
ſatter Alltagsplanderer. Ich wuͤnſche, daß ich mich
irre --- Aber, aber!


Jakob, mein zweyter Sohn! in dem ich mich oft
wie in einem Spiegel ſehe, wenn ſchon unſre Er-
ziehung ſehr ungleich war. Ich wurde [rauh] und hart,
in einer wuͤſten Einſamkeit gebildet; du hingegen un-
ter den Menſchen, in einer mildern Gegend, und,
weil du immer kraͤnkelteſt und oft dem Tod nahe wa-
reſt, weich und zaͤrtlich. Haͤtt’ ich Vermoͤgen, das
Noͤthige auf dich zu verwenden, glaubt’ ich, daß et-
was aus dir werden koͤnnte, wenn ich anders auf
eine dauerhaftere Geſundheit bey dir zaͤhlen duͤrfte.
Dein Bruder wuͤrde ſich uͤbrigens eher zu roher Ar-
beit, du dich zu allerley Taͤndeleyen ſchicken, wo man
mehr den Kopf als die Haͤnde gebrauchen muß. Aber
ich muß eben alle meine Kinder bey meinem Gewerb
[272] anſtellen, und kann nicht jedes thun laſſen, was es
will. Sonſt hoff’ ich, du werdeſt dereinſt noch Ge-
ſchmack am Denken, Leſen und Schreiben finden,
ungefaͤhr wie dein Vater; [obſchon] du noch zur Zeit
den mir verhaßten Hang naͤhreſt, von einem Haus
zum andern zu laufen, um allerhand unnuͤtzes Zeug
zu erfragen oder zu erzaͤhlen. Aber deines Brod-
erwerbs halber bin ich ſehr verlegen. Doch wenn du
deinen Kopf brauchſt, und dem Herrn, der dich ſchon
mehrmals dem Rachen des Todes entriß, weiter dei-
ne Wege befiehlſt, wird er’s ſchon machen *).


Suſanna Barbara, meine zweyte Tochter! Du
fluͤchtiges, in allen Luͤften ſchwebendes Ding! Waͤrſt
du das Kind eines Fuͤrſten, und gerieth’ſt darnach un-
ter Haͤnde, ſo koͤnnte ein weibliches Genie aus dir
werden. Dein Falkenang macht dich verhaßt unter
deinen Geſchwiſtern, wenn du’s ſchon nicht boͤſe
meinſt. Dein empfindſames Herz leidet Schaden un-
ter ſo viel ſpitzigen Zungen; und das donnernde Ge-
laͤrm deines rohen Hofmeiſters macht dich erwilden.
Ach! ich fuͤrchte, allzufruͤh erwachende Leidenſchaften,
und dein zarter Nervenbau, werden dir noch Schmer-
zen genug verurſachen!


Anna Maria, meine juͤngſte Tochter, meine letzte
Kraft, mein Kind --- noch das einzige das mich herzt,
und an das ich hinwieder meine letzte Liebe verſchwen-
de! Still und verſchlagen, das geſetzteſte unter allen
biſt du --- kleine Anfaͤlle von boshaften Neckereyen
und Stettkoͤpfigkeit ausgenommen. Du, mein Taͤub-
chen,
[273] chen, ſchwaͤtz’ſt immer minder als du denkſt. Ich
tran dir’s zu, eine gute Hausmutter zu werden,
wenn anders die Vorſehung dich dazu beſtimmen will.


Nun, meine Kinder! Dieß ſind itzt uͤbrigens nur
ſo kleine hingeworfene Zuͤge von euch. Keines zuͤrne
es, keines werde eiferſuͤchtig auf’s andre. Meine Va-
terliebe erſtreckt ſich gewiß auf euch alle; von allen
laͤßt ſie mich noch immer das Beßte hoffen. Wahr
iſt’s, bey allen ſeh’ ich Unarten genug, die meine
Liebe geneigt iſt, zuzudecken; aber auch an jedem be-
merk’ ich loͤbliche Eigenſchaften, und bemuͤhe mich
mehrere auszuſpaͤhen und anzufachen, wo nur ein
gutes Fuͤnkgen verborgen iſt.


Veßter, guͤtigſter Vater im Himmel! Vater der
Kleinen und der Groſſen! Dir, Guter uͤber alle Gu-
ten! befehl’ ich meine Kinder und Nachkommen in
Zeit und Ewigkeit!


LXXXI.
Gluͤcksumſtaͤnde und Wohnort.


Nur Weniges bleibt mir noch uͤbrig, und dann
wird’s genug ſeyn. Ein Haͤuschen und ein Gaͤrtchen
iſt mein ganzes Vermoͤgen. Eine Frau und vier
Kinder, alſo ſechs Maͤuler und ein Dutzend Haͤnde
machen meinen Haushalt aus. Aber das geſunde
Speiſen der erſtern (Kleider und anders miteinge-
zaͤhlt) zerrt das Produkt einer noch ſo muntern Ar-
beit der letztern beynahe voͤllig auf. Meinen Baum-
wollengewerb hab’ ich ſchon beſchrieben. Dieſer iſt
S
[274] wie ein Vogel auf dem Zweig, und wie das Wetter
im Aprill. Wer ſein ganzes Studium darauf wen-
det, und zumal die rechte Zeit abzupaſſen weiß, kann
noch ſein Gluͤck damit machen. Aber dieß Talent
in gehoͤrigem Maaſſe hatt’ ich nie, war immer ein
Stuͤmper, und werd’ es ewig bleiben. Und doch
hab’ ich dieſe Art Handel und Wandel (die von vie-
len ſonſt einſichtsvollen Maͤnnern, welchen aber nur
ſeine ſchlimme Seite auffaͤllt, wie’s mir ſcheint, ſo
unſchuldig verlaͤſtert wird) gleichſam von Jahr zu Jahr
lieber gewonnen. Warum? Ich denke natuͤrlich: Weil
derſelbe das Mittel war, durch welches mich die guͤ-
tige Vorſehung, ohne mein ſonderliches Zuthun, aus
meiner druͤckenden Lage wenigſtens in eine ſehr leid-
liche emporhub. Freylich waͤr’ ich, ohne die Rolle
eines Handelsmanns zu ſpielen, vielleicht auch nie-
mals ſo tief in jene hineingerathen? — Doch, wer
weiß? Es waͤre wohl gleich viel geweſen, mit wel-
chem Berufe ich mich — laͤßig, unvorſichtig und un-
geſchickt beſchaͤftigt haͤtte. Und heißt’s, denk’ ich, auch
hier: Der Hund, der ihn biß, leckt’ ihn wieder, bis
er heil war. Genug, itzt liegen mir meine kleinen
Geſchaͤfte wirklich am Herzen, ich nehme mich ihrer mir
allem mir moͤglichen Fleiß an, und denke auch mei-
nen Sohn darinn fortfahren zu laſſen, wenn er an-
ders Luſt dazu hat, und meinen Unterricht, ſo weit
dieſer reichet, annehmen will — der alles leitende
Himmel ordne denn etwas anders und beſſeres fuͤr
ihn, oder dieſer Gewerb komme ganz in Verfall.
Derſelbe hat mich fuͤnfzigjaͤhrigen Mann, itzt dreyſ-
[275] ſig Jahre beſchaͤftigt. In der erſten goͤldenen Zeit
haͤtt’ er mir die beßten Dienſte gethan, wenn ich
ihn verſtanden, oder vielmehr ihn zu verſtehen nur
den rechten Willen gehabt. Auch Dato wuͤrd’ ich
ihn an keine andre Profeſſion vertauſchen, obwohl
manche ihren Mann, wo nicht reicher doch ſicherer
naͤhrt. Meine Ausgaben bemuͤh’ ich mich einzu-
ſchraͤnken. Meine Kinder haben’s ſo, daß ſie’s beſ-
ſer und ſchlimmer auch annehmen koͤnnten. In den
Kleidern muß ich’s freylich andern gleich halten;
doch laß’ ich ſie keinen uͤbermaͤßigen Aufwand ma-
chen. Sonſt aber geſtatt’ ich ihnen, vielleicht nur
gar zu gern, alles erlaubte Vergnuͤgen, verſage ih-
nen keine oͤffentliche Luſtbarkeiten, gewoͤhnliche Trink-
tage, u. ſ. f. und habe wohl gar ſchon ſelber mit ih-
nen kleine, nicht wenig koſtbare Reischen gemacht.
Aber dann ſaͤh’ ich auch herzlich gern, daß ſie wacker
die Haͤnde brauchten, und auch einmal ſo viel Ver-
ſtand bekaͤmen, daß ſie lernten, meinen und ihren
Nutzen zu foͤdern. Sonſt iſt, wie geſagt, ihr Ver-
gnuͤgen auch mein Vergnuͤgen; und nichts kraͤnkt
mich mehr als ihre Unzufriedenheit. Auch auſſer
meinem Hauſe, und bey andern Menſchen, geht es
mir eben ſo: Ich kann keine traurige Miene ſehn,
und erkaufe die frohen oft aus meinem eigenen
Beutel. Wenn ich ſchon tauſend Vorſaͤtze faſſe,
eigentlich oͤkonomiſch zu handeln, geht’s doch im-
mer den alten Schlendrian — und wird weiter ſo
gehn. Ihr ſeht alſo, meine Lieben! daß Schaͤtze
ſammeln meiner ganzen Natur zuwider iſt; und glau-
[276] be auch nicht, daß es euch viel Nutzen braͤchte. Aber
das iſt euch nutz und gut, wenn ihr ſchon fruͤhe
lernt, euer beſcheidenes Brodt in der Ehre der Un-
abhaͤngigkeit zu erwerben. Wenn mir Gott Leben
und Geſundheit friſtet, werd’ ich dann ſchon trach-
ten, jedes ſo zu verſorgen, wie es nach meinen Um-
ſtaͤnden moͤglich iſt. Einem von euch wird mein ar-
tiges Haͤuschen zu Theil werden, deſſen Lage mir itzt
noch zu beſchreiben uͤbrig bleibt.


Mein Vaterland iſt zwar kein Schlauraffenland,
kein gluͤckliches Arabien, und kein reitzendes Pays de
Vaud. Es iſt das Tockenburg, deſſen Einwohner
von jeher als unruhige und ungeſchliffene Leuthe ver-
ſchrieen waren. Wer ihnen hierinn Unrecht thut,
mag’s verantworten; Ich muͤßte bey der Behauptung
des Gegentheils immer partheyiſch ſcheinen. So viel
aber darf ich doch ſagen: Aller Orten, ſo weit ich
gekommen bin, hab’ ich eben ſo grobe, wo nicht viel
groͤbere — eben ſo dumme, wo nicht viel duͤmmere
Leuth’ angetroffen. Doch wie geſagt, es gehoͤrt nicht
in meinen Plan, und ſchickt ſich nicht fuͤr mich,
meine Landleuthe zu ſchildern. Genug, ſie ſind mir
lieb, und mein Vaterland nicht minder — ſo gut
als irgend einem in der Welt das ſeinige, und wenn
er in einem Paradieſe lebte. — Unſer Tockenburg
iſt ein anmuthiges, 12. Stunden langes Thal, mit
vielen Nebenthaͤlchen und fruchtbaren Bergen um-
ſchloſſen. Das Hauptthal zieht ſich in einer Kruͤm-
mung von Suͤdoſt nach Nordoſt hinab. Gerade in
der Mitte deſſelben, auf einer Anhoͤhe, ſteht — mein
[277] Edelſitz, am Fuß eines Berges, von deſſen Spitze
man eine trefliche Ausſicht beynahe uͤber das ganze
Land genießt, die mir ſchon ſo manchmal das ent-
zuͤckendſte Vergnuͤgen gewaͤhrte: Bald in das mit
Doͤrfern reich beſetzte Thal hinab; bald auf die mit
den fetteſten Waiden, Wieſen und Gehoͤlze bekleide-
ten, und abermals mit zahlloſen Haͤuſern uͤberſaͤete
Anhoͤhen zu beyden Seiten, uͤber welche ſich noch die
Gipfel der Alpen hoch in die Wolken erheben; dann
wieder hinunter auf die durch viele Kruͤmmungen
ſich mitten durch unſer Hauptthal ſchlaͤngelnde Thur,
deren Daͤmme und mit Erlen und Weiden bepflanz-
ten Ufer die angenehmſten Spatziergaͤnge bilden. Mein
hoͤlzernes Haͤuschen liegt gerade da, wo das Gelaͤn-
de am allerlieblichſten iſt; und beſteht aus 1. Stube,
3. Kammern, Kuͤche und Keller — Potz Tauſend
die Nebenſtube haͤtt’ ich bald vergeſſen! — einem
Geißſtaͤllchen, Holzſchopf, und dann rings um’s Haͤus-
chen ein Gaͤrtchen, mit etlichen kleinen Baͤumen be-
ſetzt, und mit einem Dornhag dapfer umzaͤunt. Aus
meinem Fenſter hoͤr’ ich von drey bis vier Orten
her laͤuten und ſchlagen. Kaum etliche Schritte vor
meiner Thuͤre liegt ein meinem Nachbar zudienender
artiger beſchatteter Raſenplatz. Von da ſeh’ ich ſenk-
recht in die Thur hinab — auf die Bleicken hin-
uͤber — auf das ſchoͤne Dorf Wattweil — auf das
Staͤdtgen Lichtenſteig — und hinwieder durch’s Thal
hinauf. Hinter meinem Haus rinnt ein Bach her-
ab, der Thur zu, der aus einem romantiſchen To-
bel koͤmmt, wo er uͤber Steinſchrofen daherrauſcht.
Sein jenſeitiges Ufer iſt ein ſonneureiches Waͤldchen,
mit einer hohen Felswand begraͤnzt. In dieſer ni-
ſten alle Jahr’ etliche Sperber und Habichte in einer
unzugaͤnglichen Hoͤhle. Dieſe, und dann noch ein ge-
[278] wiſſer Berg, der mir um die Tag und Nacht Glei-
che die liebe Sonne des Morgens eine Stunde zu lang
aufhaͤlt, ſind mir unter allem, was zu dieſer mei-
ner Lage gehoͤrt, allein widerlich. Beyde wuͤrd’ ich
gern verkaufen, oder gar verſchenken. Die vertrack-
ten Sperber zumal plagen nicht nur von Mitte Aprill
bis ſpaͤth in den Herbſt mit ihrem Zettergeſchrey mei-
ne Ohren, ſondern — was noch weit aͤrger iſt —
verjagen mir die lieben Singvoͤgelchen, daß bald kein
einziges mehr in der Gegend ſich einzuniſten wagt.
Meine Nachbarn ſind recht gute ehrliche Leuthe, die
ich aufrichtig ſchaͤtze und liebe. Freylich laͤuft bis-
weilen auch ein andrer mitunter, wie uͤberall. In-
nige Freunde, mit denen man Gedanken wechſeln
und Herzen tauſchen kann, hab’ ich in der Naͤhe
keine. Dieß erſetzen mir meine platoniſchen Gelieb-
ten in meinem Stuͤbchen. Im Fruͤhlinge liegt mir
der Schnee auch ein Bißchen zu lang in meinem
Gaͤrtchen. Aber ich fange einen Krieg mit ihm an,
zerfetze ihn zu kleinen Stuͤcken, und werfe ihm Aſche
und Koth auf die Naſe; dann verkriecht er ſich in die
Erde, ſo daß ich noch mit den Fruͤheſten gaͤrtnen
kann. Und uͤberhaupt macht mir dieß kleine Grund-
ſtuͤck viel Vergnuͤgen. Zwar iſt die Erde ziemlich
grob und ungeſchlacht, obgleich ich ſie ſchon an die
fuͤnf und zwanzig Jahre bearbeitet habe: Dem ungeach-
tet giebt das Ding Kraut, Kohl, Erbſen, und was
ich immer auf meinen Tiſch brauche, zur Genuͤge;
mitunter auch Bluhmwerk, und Roſen die Fuͤlle.
Kurz, es freut mich ſo wohl als manchen Fuͤrſten
alle ſeine Babyloniſche Gaͤrten. — Sag’ alſo, Bube!
iſt unſer Wohnort nicht ſo angenehm, als je einer
in der Welt? Einſam, und doch ſo nahe bey den
Leuthen; mitten im Thal, und doch ein wenig er-
[279] hoͤht. Oder geh’ mir einmal im Maymond auf je-
nen Raſenhuͤgel vor unſerer Huͤtte. Schau durch’s
buntgeſchmuͤckte Thal hinauf; ſieh’, wie die Thur
ſich mitten durch die ſchoͤnſten Auen ſchlaͤngelt; wie
ſie ihre noch truͤben Schneewaſſer gerade unter dei-
nen Fuͤſſen fortwaͤlzt. Sieh’, wie an ihren beyden
Ufern unzaͤhlige Kuͤbe mit geſchwollnen Eutern im
Gras waden. Hoͤre das Jubelgetoͤn von den groſſen
und kleinen Buſchſaͤngern. Ein Weg geht zwar an
unſern Fenſtern vorbey; aber der iſt noch nichts.
Sieh’ erſt jenſeits der Thur jene Landſtraſſe mitten
durch’s Thal, die nie laͤr iſt. Sieh’ jene Reihe
Haͤuſer, welche Lichtenſteig und Wattweil wie
zuſammenketten. Da haſt du einigermaaſſen, was
man in Staͤdten und auf dem Lande nur haben
kann. Ha! (ſagſt du vielleicht) Aber dieſe Matten
und Kuͤhe ſind nicht unſer! — Naͤrrchen! freylich
ſind ſie — und die ganze Welt iſt unſer. Oder wer
wehrt dir, ſie anzuſehn, und Luſt und Freud’ an
ihnen zu haben? Butter und Milch bekomm’ ich ja
von dem Vieh, das darauf weidet, ſo viel mir geluͤ-
ſtet; alſo haben ihre Eigenthuͤmer nur die Muͤhe
zum Vortheil. Was braucht’ es, jene Alpen mein
zu heiſſen? Oder jene zierlich prangenden Obſtbaͤu-
me? Bringt man uns ja ihre ſchoͤnſten Fruͤchte in’s
Haus! Oder jenen groſſen Garten? Riechen wir
ja ſeine Bluhmen von weitem! Und ſelbſt unſer ei-
gener kleiner; waͤchst nicht alles darinn, was wir
hinein ſetzen, pflegen und warten? — Alſo, lieber
Junge! wuͤnſch’ ich dir, daß du bey all’ dieſen Ge-
genſtaͤnden nur das empfinden moͤchteſt, was ich da-
bey ſchon empfunden habe, und noch taͤglich empfin-
de; daß du mit eben dieſer Wonne und Wolluſt den
Hoͤchſtguͤtigen in allem findeſt und fuͤhleſt, wie ich
[280] ihn fand und fuͤhlte — ſo nahe bey mir — rings
um mich her, und — in mir; wie er dieß mein
Herz aufſchloß, das er ſo weich und ſo fuͤhlend ſchuf.
Lieber, lieber Knabe! Beſchreiben kann ich’s nicht.
Aber mir war ſchon oft, ich ſey verzuͤckt, wenn ich
all’ dieſe Herrlichkeit uͤberſchaute, und ſo, in Ge-
danken vertieft, den Vollmond uͤber mir, dieſer
Wieſe entlang hin und hergieng; oder an einem ſchoͤ-
nen Sommerabend dort jenen Huͤgel beſtieg — die
Sonne ſinken — die Schatten ſteigen ſah — mein
Haͤusgen ſchon in blauer Daͤmmerung ſtand, die
ſchwirrenden Weſte mich umſaͤuſelten — die Voͤgel ihr
ſanftes Abendlied anhuben. Wenn ich dann vollends
bedachte: „Und dieß alles vor dich, armer, ſchul-
„diger Mann„? — Und eine goͤttliche Stimme mir
zu antworten ſchien: „Sohn! dir ſind deine Suͤn-
„den vergeben„. O! wie da mein Herz in ſuͤſſer
Wehmuth zerſchmolz — wie ich dem Strohm mei-
ner Freudenthraͤnen freyen Lauf ließ, und alles rings
um mich her — Himmel und Erde haͤtte umarmen
moͤgen — und noch ſelige Traͤume der folgenden
Nacht mein geſtriges Gluͤck wiederholten.


Seht, meine Lieben! Das iſt meine Geſchichte bis
auf den heutigen Tag. Koͤnftig, ſo der Herr will
und ich lebe, ein Mehrers. Es iſt ein Wirrwarr —
aber eben meine Geſchichte.


Gott verzieh’ mir’s, wo ich, ſelbſt ohne mein Wiſ-
ſen, irgend ein unwahres Wort ſchrieb! —


Jeſu Blut tilge meine Schulden, die ich verhehlte,
und die ich geſtuhnd!


Beßter Vater im Himmel! Dir, und dir allein,
ſey der Reſt meiner Tage geweiht!


[[281]]

Anhang.
(1788.)


[[282]][283]

Drey Jahre ſind wieder dahingefloſſen, ins Meer
der Zeiten, ſeitdem ich mein Lebensgeſchichtgen aus
allen meinen kuderwelſchen Papieren zuſammenge-
flickt. Was mir ſeither merkwuͤrdiges vorfiel, hab’
ich in mein Tagebuch verzeichnet; und da auch die-
ſes einmal das Licht der Welt erblicken wird, bleibt
mir hier nur ſehr weniges uͤbrig, von meiner gegen-
waͤrtigen Lage, und den bisherigen Schickſalen mei-
ner armen unſchuldigen Authorſchaft.


Noch wall’ ich im Lande der Lebendigen meinen
alten Schlendrian fort, und zwar — je laͤnger je
lieber; trotz etlichen Neidharten, die mir jeden hei-
tern Tag, jedes frohe Weilchen — Gottes Sonne
mißgoͤnnen — und doch mir kein Haar kruͤmmen koͤn-
nen. Denn feſt iſt meine Burg unter dem Schutz
des Allerhoͤchſten.


Ein und ebendaſſelbe iſt mein Wohnort. Einfoͤr-
mig, ein und eben dieſelben ſind Beruf, Geſchaͤfte,
Laune, Gluͤck und — Menſchengunſt. Dafuͤr lachet
mich die ganze Natur an: Der groͤßre und beſſere
Theil meiner Nebenmenſchen moͤgen mich recht wohl
leiden; ich genieſſe ſogar das unſchaͤtzbare Gut, et-
liche Herzensfreunde zu haben. Die edle Geſundheit
iſt beſſer als noch nie.


Mit der Harmonie in meinem Hauſe — Ha! da
bleibt’s immer beym Alten; und die dießfaͤllige Un-
vollkommenheit meines Zuſtands gehoͤrt — kurz und
gut — unter die unvermeidlichen Uebel in der Welt,
die man nicht ſo leicht aͤndern als ſich — druͤber weg-
[284] ſetzen kann. Doch eben in dieſer Kunſt bin ich noch
nicht Meiſter; aber ſchon als Lehrjunge ſeh’ ich ihre
ganze Vortreflichkeit ein.


Meine liebe Ehehaͤlfte iſt friſcher als je, und uͤber-
trift mich noch weit weit an Munterkeit. Die haͤu-
figen Erſchuͤtterungen ihres Zwerchfells, und das Ein-
ziehen der balſamiſchen Luft auf unſerm Belvedere
geht ihr fuͤr alle Arztneyen. Sonſt freylich immer
ihre alte Leyer! Doch, Zeit und Gewohnheit machen al-
les leicht, zuletzt ſelbſt angenehm — und oft gar un-
entbehrlich. Dieß wuͤrde gewiß unſre Trennung be-
weiſen.


Meine Jungen, hab’ ich ſchon angezeigt, ſind hoch
aufgewachſen, geſund und munter — nur Ein Gran
mehr waͤre zu viel: Zwar noch ziemlich roh’ und hol-
pricht; aber Zeit und Geſchick wird ſchon abfeilen was
ich nicht vermag; und kurz, ich hoffe, daß es noch
aus allem etwas Brauchbares fuͤr die menſchliche Ge-
ſellſchaft abſetzen kann.


Leſen und Schreiben iſt mir wieder mehr als je-
mals zum unentberlichen Beduͤrfniß geworden. Und
ſollt’ ich auch die gleichguͤltigſten Dinge in mein Ta-
gebuch kritzeln, oder in alten Kalendern ſtudiren!
Doch, ich habe keinen Mangel an Buͤchern. Wenn
mir ſchon mein geringes Vermoͤgen keinen eignen
Vorrath geſtattet, giebt’s Menſchenfreunde in der
Naͤhe und Ferne genug, die meiner Wiß- und Neu-
gierde froͤhnen, und mir alles, was immer den Weg
in unſer abgelegenes Tockenburg finden kann, un-
[285] entgeldlich zukommen laſſen. Gott vergelte ihnen auch
dieſe Wohlthat in Zeit und Ewigkeit.


Ueberhaupt genieß ich ein Gluͤck, das wenigen
Menſchen meiner Klaße zu Theil wird: Arm zu ſeyn,
und doch keinen Mangel zu haben an allen noͤthigen
Beduͤrfniſſen des Lebens: In einem verborgnen ro-
mantiſchen Erdwinkel in einer hoͤlzernen Huͤtte zu le-
ben, auf welche aber Gottes Aug’ eben ſo wohl hin-
blickt, als auf Caſerta oder Verſailles: Den Um-
gang ſo vieler lebenden guten Menſchen, und die
Hirngeburthen ſo vieler edeln Verſtorbnen (freylich
auch etwa unedler mitunter) zu genieſſen; beydes ohne
Koſten und ohne Geraͤuſche: Mit einem ſolchen Pro-
duckt in der Hand in einem ſchoͤnen Gehoͤlze, von
luſtigen Waldbuͤrgern umwirbelt, ſpatziren zu gehn,
und den beßten und weiſeſten Maͤnnern aller Zeital-
ter wie aus dem Herzen zu leſen — Welche Wonne,
welche Wohlthat, welche Schadloshaltung fuͤr ſo vie-
le [hundert] bittere Pillen, die man vor und nach ver-
ſchluͤcken muß!


Iſt’s ein Wunder, daß ich, bey dieſem meinem
Lieblingszeitvertreib, dem Drang’, auch meine Ge-
danken allmaͤlig auf’s Papier zu werfen, nicht wi-
derſtehen konnte, und zuletzt gar, das [...]rſtehnde
kleine Ganze daraus zu ordnen, verſucht wurde. Aber
gewiß haͤtt’ ich’s mir nie in meinem einfaͤltigen Kopf
aufſteigen laſſen, ſolch kunterbunt Zeug dem — von
mir ſicher geehrten Publiko mitzutheilen, wenn nicht
unſer vortrefliche Pfarrherr Imhof (deſſen ſcharfem
Blick in unſrer weitlaͤuftigen Gemeinde Wattweil
[286] nichts entgeht) auch mich Geringen entdeckt, ſeiner
unverdienten Achtung, zuletzt gar ſeiner vertrauten
Freundſchaft gewuͤrdigt, und mich gleichſam von Stuffe
zu Stuffe auf die wagliche Bahn eines neuangehnden —
zum Gluͤck aber bereits vier und funfzig jaͤhrigen
Schriftſtellers geleitet haͤtte. So fadenackt, wie es
war, uͤberließ ich itzt mein Geſchmier zitternd und za-
gend ganz ſeiner Willkuͤr. (Er beſtim̄te es naͤmlich einſt-
weilig fuͤr das ſeit etlichen Jahren in Zuͤrch erſchei-
nende Schweitzer-Muſeum beſtimmt; und ich hatte
den feſten Vorſatz, es bey beſſerer Muße anders einzu-
kleiden, und wo moͤglich wenigſtens von den groͤbſten
Fehlern zu ſaͤubern. Dieſer Muͤhe uͤberhob mich zu
gutem Gluͤcke (denn das Feilen war nie meine Sa-
che, und ich glaube es waͤre in Ewigkeit nie dazu
gekommen) der Herausgeber erwaͤhnter Monathſchrift,
ein Freund meines geliebten Seelſorgers, Herr F. **
von Z. ** der ſeither (7. Jul. Ao. 88.) auf einer
Reiſe durch unſer Tockenburg mit ſeiner zarten lie-
ben Frau Gemahlin auch mir die Ehre eines kurzen,
aber unvergeßlichen beſuchs goͤnnte *). Nur be-
daur’ ich, daß gerade damals ein widriges Begeg-
niß mich in eine duͤſtere Laune ſetzte, die ich mit kei-
nem Lieb beſiegen konnte **). Itzt will gedachter
[287] Herr vollends die Guͤtigkeit haben, eine beſondere
Ausgabe meiner ſondertrutiſchen Geſchichte, und im
Verfolg’ auch meiner Tagebuͤcher in einem gedraͤng-
ten Auszuge, und niedlicher Geſtalt zu beſorgen.
Nun ſo ſey’s!


Geh’ alſo hin in alle Welt, mein Buͤchel! und
predige meine Thorheit — zu ihrer Beſſerung —
vielen Creaturen. Denen erſtlich die dich mit eini-
chem Wohlgefallen aufnehmen, entbiete ſchoͤnen Dank!
in meinem Namen. Solche zweytens, welche mich
aus vollem Halſe belachen, moͤgen hinwieder — uns
danken, fuͤr dieſe andre Art von Luſt die wir ihnen
verſchaffen. Denen drittens, welche zwar hineingu-
cken in dieſes Kuderwelſch, aber es bald wieder zur
Seite ſchmeiſſen, ſage nur: Ihr thut recht, man
muß ein Bißchen eckel im Leſen ſeyn! Viertens
und fuͤnftens: Geſcheidten Kunſtrichtern danke, dan-
ke wieder zum Hoͤchſten! Den Ungeſcheidten wuͤnſche
ſonſt zeitliches und ewiges Wohl. Sechstens und end-
lich: Eigentlich boshaften Splitterrichtern aber in der
Naͤhe und Ferne wuͤrdeſt du, denk’ ich, ewig ver-
gebens bezeugen, daß ich am Aushecken deiner We-
nigkeit — nur die leidende Schuld bin. Denen uͤb-
rigens mache zum Beſchluß ein Geſchenk mit folgen-
dem Geſpraͤche.


[288]

Peter und Paul.


Peter (mit einer Zeitung in der Hand).


Ha, ha, ha! Muß einer noch des Elends lachen.
Was doch die Zeitungsſchreiber heut zu Tag’ alles
aufgabeln. Als wenn’s nicht Staats- und Kriegs-
nachrichten aus allen Theilen der Welt genug gaͤbe,
ohne daß ſie dergleichen Narrn’spoſſen in ihre Blaͤt-
ter ’nein ſchmierten. Ich leſe keine Zeitung mehr.


Paul. Ey, was iſt’s denn? Machſt einen Ketzers-
lerm! Laß ſehn.


Peter. Guck da: Lebensgeſchicht’ eines armen
Manns im Tockenburg
! ’s moͤcht einer aus
der Haut ſchleufen. Bald muß man ſich ſchaͤmen ein
Tockenburger zu ſeyn. Unſer Laͤndchen iſt ohnedem
ſchon verſchreyt genug. Wenn’s denn noch ſolche
Narren giebt, die ſich ſelbſt in Druck ſtellen, und ſo-
gar in die Zeitung ſetzen laſſen, werden wir aller
Welt zum Geſpoͤtt werden. Du ſollſt’s hoͤren und
ſehen, wie man zu Z. **, St. **, und H ***,
druͤber die Naſe ruͤmpft, und ein teufliſches Gelaͤch-
ter anfaͤngt. Und denn mag mir das eine ſaubere
Lebensgeſchicht’ abgeben. Man kennt die Naͤbis


Paul. Das iſt, beym Sapperment! nicht brav.
Man hat da dem armen Mann einen verzweifelten
Streich geſpielt. Ich weiß, wei’s ihm durch Mark
und Bein gehen wird. Freylich hat er ſein Geſchreib
dem Herr Pfarrherr uͤbergeben, Gebrauch davon zu
machen, wenn er’s irgend wohin tauglich finde; aber
doch
[289] doch mit dem Beding, daß es hier zu Land nicht all-
gemein bekannt werde, weil er ſeine hieſigen Freun-
de nur zu gut kennt. Nun hatte der Pfarrer eini-
che Auszuͤg davon in eine Monathſchrift einruͤcken
laſſen, die hier wenig geleſen wird. Da geht der
F * * Novelliſt in * * und druͤckt’s in ſeiner Zei-
tung nach. Aber nur Geduld. Unſer Paſtor wird
ſchon ſorgen. Ich wette, die Fortſetzung koͤmmt
naͤchſte Woche nicht mehr.


Peter. Aber, was nuͤtzt dem Narrn ſein Schrei-
ben? Wenigſtens wenn ich der Pfarrer waͤr’, naͤhm’
ich mich des Zeugs nicht an, und ſagte dem Luͤmmel
gerad heraus: Hock lieber bey deiner Arbeit, und
laß die Lumpenflauſen bleiben.


Paul. Nicht ſo wild, nicht ſo wild Herr Peter!
Warum itzt den Pfarrer ins Spiel ziehen, der doch
auch hier nichts anders als einen neuen Beweis ſei-
ner Menſchenfreundlichkeit abgelegt hat? Glaub’ mir’s
nur, er kennt ſeine Leuthe, und laͤßt den Naͤdio-
Uli
nicht ſchelten; und ich auch nicht, du — —


Peter. Du magſt mir gerad’ auch ein Halbnarr
ſeyn, wie der Uli. Ich kenne ihrer drey oder vier;
’s iſt, bey Gopp! einer wie der ander. Oder ich
frag’ dich noch einmal, was nuͤtzt, was traͤgt der-
gleichen Zeug wohl ein? Bringt die Naſenweisheit
des hochmuͤthigen Witznarrn ſeiner Frau und Kin-
dern Brodt ins Haus! Wo hat je einer im Tocken-
burg
etwas mit Schreiben erworben, auſſer Amts
wegen; und etwa boͤchſtens noch der Schulmeiſter
T
[290]Am Buͤhl*). Aber dergleichen Faren und Bocks-
ſpruͤng’ in Druck geben, iſt Narrheit uͤber Narrheit.


Paul. Du weißt’s vielleicht nicht — Der Am
Buͤhl
war eben des Ulis beßter Herzensfreund.
Vom Nutzen oder Nichtnutzen aber verſtehſt du ſo
viel als die Kuh von der Muskatnuß. Ich einmal
will ſeiner Zeit die Geſchicht’ gern leſen, obgleich ſie
freylich nichts ſonderbares enthalten kann.


Peter. Das denk’ ich auch, und wollt’ dir’s grad
itzt ſagen, wie’s Vater Unſer. Bin mit dem Lappe
aufgewachſen, und muß es ja wiſſen. Seine Eltern
hieß man immer die Naͤbis von ihrem Wohnort her,
einem elenden Neſt von zwey armſeligen Huͤtten.
Man kann ſich die adeliche Familie denken. Sie
ſtellten auf zwey und zwanzig Beine 11. Kinder, zuͤ-
gelten hernach von einer Stelle zur andern, und konn-
ten ſich des Betelns kaum erwehren. Im Drey-
ſchlatt
mußte ſein Vater gar mit ſeinen Glaͤubigern
capituliren, und mit dem ganzen Faſel halb nackt da-
von ziehn. Uli, den aͤlteſten, kannt’ ich ſchon als
Schulerbub’, in der Zeit da er ein Biß’l elend leſen
und ſchreiben gelernt. Er, wie die uͤbrigen alle,
wuchs halb nackend und wild auf, mit ſeiner ſchmu-
tzigen Rotznaſ’. Jedermann neckt’ und lachte ihn aus,
weil er ſo toͤlpiſch dahergieng, alle Augenblick’ uͤber
Stock’ und Stein ſtolperte, alle Voͤgel begaffte, und
nie zu ſeinen Fuͤſſen ſah. Als er nun allmaͤlig zu
einem groſſen ſtarken Bengel emporſchoß, und itzt
ſeinem Vater an die Hand gehen ſollte — nahm er
[291] den Weiten, und gieng unter die Soldaten; riß aber
bald wieder aus, weil er das Pulver nicht riechen konn-
te; bettelte ſich dann wieder heim; machte in ſeiner
Montur, Friſur und Schnurrbart den Gecken; war
zur Bauernarbeit zu faul, und bruͤtete nun, ohne
einen Heller in der Taſche zu haben, in ſeinem Kopf
den Kaufherr; und wirklich gluͤckte es ihm durch ſei-
nes Vaters Fuͤrſprache, daß er 100. Thlr. und et-
was Baumwolle auf Credit bekam. Auch wußt’ er
ſich bey dem Spinnervolk durch die ſeltſamſten Careſ-
ſen ſo einzuſchmeicheln, daß man ihn nur den Garn-
bettler hieß. Dann baute er ſich ein Neſtchen, und
freyte ein Weib (nur Schad’ um ſie!) die eine gute
Mannszucht mit ihm vornehmen wollte. Aber es
war leider zu ſpaͤth’; er folgte ſeinem harten Eſels-
kopf. Nichts deſto minder ſchien auch itzt noch die
Gluͤcksſonn’ ihn anzulachen, und es nahm die Leuth’
Wunder, wie einem ſolchen Loͤffel alles ſo gut gelin-
gen koͤnnte. Aber er machte ſchlechten Gebrauch da-
von, verſtuhnd weder Handel noch Haushalt, ſtol-
perte ſorglos herum, wie’s ihm juͤckte, hieng ſein
Geborgtes an alle Lumpen und Lempen; fieng an
ſeine Naſe in die Buͤcher zu ſtecken, und, weil ſein
Seckel ihm nicht erlaubte, dergleichen zu kaufen, bet-
telte er ſich in die Geſellſchaft *) ein. Nun glaubte er
gar, der Tag ſteh’ ihm am Hintern auf, floh’ unſer
einen und unſre altvaͤterſchen Zuſammenkuͤnfte, hock-
te immer an ſeinem Pult in einem Winkel, vernach-
laͤßigte ſeine Geſchaͤfte, die er ohnehin nicht verſtuhnd,
[292] und gerieth in einen ſolchen Schuldenlaſt, daß er,
beſonders in den theuren Siebenzigerjahren ein ſtar-
kes Falliment gemacht, wenn nicht ſeine Glaͤubiger
gute Leuth’ geweſen, und dem Narrn, zwar nicht ſei-
net-ſondern Weib und Kinder wegen, geſchont haͤt-
ten. Ob er ſich ſeither erholt oder nicht, iſt mir un-
bekannt; denke aber doch, daß es noch mißlich genug
um ihn ſtehe. Denn noch immer faͤhrt er in ſeiner
alten commoden Lebensart fort, macht ſich gute Taͤg’l,
beſonders wo er’s verſtohlen thun kann, ſteht andre
ehrliche Leuth’ uͤber die Achſel an, legt ſich auf lau-
ter gelehrte Poßen, und hat doch keinen Hund aus
dem Ofen zu locken. Kurz, er iſt ein laͤppiſcher Hoch-
muthsnarr, der ſich immer auszeichnen, und aus
ſeiner Bettelfamilie hervorragen will, obgleich auch
dieſe wenig genug auf ihm haͤlt. Doch, das waͤr’
alles noch nichts. Aber daß dieſer Erzſchoͤpſ’ itzt gar
ſeine eigne Geſchicht’ in die Welt ausgehen laͤßt, das
iſt zum Raſendwerden. Wenn doch nur gewiſſe Her-
ren ſo geſcheidt waͤren, als ſie witzig ſeyn wollen,
ſo wuͤrden ſie an ſolchen Lauskerlen — —


Paul. Genug iſt genug, Peterle! Das iſt zu arg.
Waͤr’ ich auch nie des Manns Freund geweſen, ſo
muͤßt’ ich doch itzt ſeine Parthey nehmen. Denn das
iſt nun ſo einmal meine Art: Wenn ich hoͤre, daß
einem ſo offenbar Gewalt und Unrecht geſchieht, wallt
mir das Blut in allen Adern. Alſo wird mir’s der
Herr nicht uͤbel nehmen, wenn meine Vertheidigung
des guten Uli’s etwas unfreundlich ablaufen ſollte.
Nicht daß ich denke, ihm damit einen ſonderlichen
[293] Dienſt zu leiſten. Ich kenn’ ihn zu gut, und er
kennt dich zu gut, und weißt wie boshaft du
ihn uͤberall anzuſchwaͤrzen bemuͤhet biſt, achtet’s aber
auch ſo wenig, wie Fliegengeſums, und wuͤrde dir
mit lachendem Mund Am Buͤhls bekanntes Lied:
Juchhe! Ich bin ein Biederman! friſch unter
die Naſe ſingen. Aber, auf meine eigene Rech-
nung, ſag’ ich dirs, Kerl! Du luͤgſt, du luͤgſt, wie
ein andrer Schelm, im Kleinen und Groſſen; und wo’s
noch gut geht, macht du dem armen guten Mann
Dinge zu Verbrechen, die eher dein Mitleid verdie-
nen ſollten. Daß ſeine Eltern z. B. nicht das Ta-
lent hatten, Schaͤtze zu ſammeln, wie du, ſoll das
ihnen oder ihm zum Vorwurf gereichen? Waren ſie
nicht, trotz aller ihrer klemmen Umſtaͤnde, ehrliche
Leuthe? Naͤhren ſich nicht alle ihre Kinder redlich
mit ihrer Haͤnde Arbeit? Und Uli ſelber, dem du
Faulheit vorwirfſt, faͤllt nichts ſchwerer als Muͤßig-
gehn. Er ſoll von Hochmuth ſtrotzen; und von al-
len moͤglichen Leidenſchaften plagt ihn keine weniger
als dieſe, und kein Menſch von allen die ich kenne,
lebt lieber im Verborgnen als er? Daß er mitun-
ter an Leſen und Schreiben ein ſo groſſes Vergnuͤgen
findt, was geht das dich an? Laͤßt er dir nicht auch
deine Freude, Batzen zu faucken? Wenn du alſo nur
die Leuth ungeſchoren lieſſeſt. Aber an dir, Burſch’ [...]
wird eben das Sprichwort wahr:


Kein Meſſer in der Welt ſchaͤrfer ſchneidt,

Als wenn der Bettler zum Herren wirdt.

[294]

Von des armen Manns Schreibereyen waͤre ge-
wiß nichts vor deine Augen gekommen, wenn nicht
jene Zeitung den verdammten Lerm veranlaſſet haͤt-
te; lieſeſt du doch ſonſt nichts als etwa dieſe, um
darinn etwas aufzuſchnappen, das du mit deinem
Senf wieder auftiſchen kannſt, oder im Calender,
und in deinem Rechenbuch. So begehrt auch Uli
gewiß weder hervorzuragen noch Figur zu machen,
wie du und deine Helfershelfer, die ihre hohe Weis-
heit auf allen Kirchen- und Marktplaͤtzen, hauptſaͤch-
lich aber in allen Wirthshausgelagen ertoͤnen laſſen,
und mit ihrem breiten Maul uͤber Dinge abſprechen,
wovon ſie keine Laus verſtehen. Da muß jeder,
der nicht nach eurer Pfeife tanzt, Spißruthen lau-
fen. Da werden weder geiſt- noch weltliche Vorge-
ſetzte geſchont. Landsordnungen und Gebraͤuche, al-
les liegt euch nicht recht. Euer Wohlweisheiten
wuͤrden das Ding viel beſſer machen. Und eben dar-
um hat der arme Mann ſich euern Haß aufgela-
den, daß er (der doch nach euerm Sinn weit unter
euch ſteht, und ſich’s wohl herrlich zur groͤßten Ehr’
haͤtte rechnen ſollen, bey euch gelitten zu werden)
euch vielmehr ſorgfaͤltig vermied, und Geſpanen ſuch-
te die mehr nach ſeinem Geſchmacke waren — oder
in deren Ermanglung lieber mit einem redlichen
Bauer von Holz und Feld, Heu und Stroh plau-
derte — oder ſich zuletzt mit dem erſten beßten Hand-
werksburſch unterhielt — wenn er nur euch, Aller-
weltshofmeiſter! ausweichen konnte.


[295]

Peter. Du redſt halt, wie ein Mann ohne Kopf.
Heißt das, auf meine Frage geantwortet? Ich fragte
dich, was ſolche Buͤcherfreſſer und Papierverderber ſich
oder andern fuͤr Nutzen braͤchten? Zeig’ mir den an,
und dann halt’s Maul, oder man wird dich’s lehren.
Sag’ alſo an, deine Tagdiebe und Fantaſten, ſind ſie
beſſer oder reicher als andre?


Paul. Nur nicht zu raſch, Peterle! Ob ſie
beſſer oder nicht beſſer ſind, muͤſſen ich und du dem
einzigen Herzenskuͤndiger uͤberlaſſen. Aber ſo viel
weiß ich wohl, daß ſich viele aus ihnen ernſtlich be-
muͤhen, beſſer zu werden; und daß jene Geiſtesbe-
muͤhungen ihnen auch hierinn vortrefliche Dienſte lei-
ſten. — Ob ſie dadurch reicher werden? — Daß du
verdammt werdeſt mit deinem Geld! Einen ſolchen
Geſell, wie du biſt, darf man eben nicht fragen:
Was er vor edler halte, Seel’ oder Koͤrper? Man
weißt es ſchon, da alle deine und deiner Zunſtgenoſ-
ſen Dichten und Trachten nur darauf zielt, euern
Madenſack zu verpflegen, wenn ihr euch gleich mit
all’ euerm Silber und Gold nur keinen faulen Zahn
wieder gut machen koͤnnt. Mittlerweile jener ihre
vornehmſte Sorge darauf geht, ihr Herz zu reinigen
und ihren Geiſt auszubilden, und, vergnuͤgt mit der
Befriedigung ihrer unentbehrlichen Beduͤrfniſſe, un-
zaͤhlige edle und entzuͤckende Freuden genieſſen, die
ihr mit euern ſchielenden Augen nicht einzuſehen,
mit euerm thieriſchen Verſtand nicht zu begreifen,
und euch beſonders nie zu dem erhabenen Urquell
derſelben zu erheben vermoͤgend ſeyt — ſo ungefehr
[296] wie die Schweine, welche freylich auch die Eicheln
unter dem Baum begierig auffreſſen, ohne ſich um
den Bau der Frucht, oder um den Schoͤpfer des
Baums zu bekuͤmmern — Was thut indeſſen Ihr?
Mit eurer Naterzunge alle eure Nebenmenſchen be-
geifern, ihre loͤblichſten Handlungen verkleinern und
die unſchuldigſten verleumden, ihr Phariſaͤer! die ihr,
mit euerm Schmolk und Habermann in der Hand
freylich alle Sonntag zur Kirche laͤuft, und keine
Sylbe von der Predigt verſteht oder behaltet; und
denn damit waͤhnt alles gethan, und euch zumal das
Recht erworben zu haben, die ganze noch uͤbrige
Zeit des Tags das halbe Tockenburg mit eurer
falſchen Elle zu meſſen; gegen jeden, der beſſer iſt
als ihr, mit Quackern, Duggenmaͤuslern, Bi-
belfreſſern, Jeſuiten, Papierleckern
und andern
derley laͤppiſchen Schimpfnamen herumzuwerfen, und,
wo ihr an jemand kein einzig offenbares Laſter fin-
den koͤnnt, ihm dafuͤr zehn geheime anzudichten; wie
ihr’s z. E. eben dem armen Manne macht, den ihr
gergdezu unter die groͤbſten Zoͤllner und Suͤnder ſetzt,
und ihm beſonders ſolche Fehler andichtet, von denen
er am allerweitſten entfernt iſt. Doch, ſeyt ſeinet-
wegen nur ohne Sorgen. Seine wirklichen Maͤngel
geſtehet er ſelbſt zu allererſt ein — und die erſonne-
nen ſchiebt er auf den Nacken ihrer Erfinder zuruͤck,
lacht euch unter die Naſe — oder ſchweigt, wenn er
noch kluͤger iſt. Ueberhaupt aber kann in unſerm
lieben Land Tockenburg keine noch ſo heilſame Neue-
rung, keine noch ſo gemeinnuͤtzige Verordnung, kein
noch ſo loͤbliches Inſtitut ſtattfinden, uͤber die ihr
nicht mit euern Breitmaͤulern daherfaͤhrt, es auf al-
len Gaſſen zu verlaͤſtern, und den Einfaͤltigen dage-
gen in Aufruhr zu bringen ſucht. Will’s denn oͤf-
fent-
[297] fentlich nicht gelingen, ſo ſchleicht ſich etwa ein wohl-
beredtes Mitglied aus eurer ſaubern Zunft in die
Spinnſtubeten ein, ſitzt mit einem Halbdutzend eben-
falls hochweiſer Frauen zuſammen, traͤgt ihnen mit
gerunzelter Stirn’ und verſpreiteten Armen in einer
haͤufig mit Ach! und wieder Ach! unterbrochenen
ſchoͤngeſetzten Sermon den landsverderblichen Caſus
vor, und ruht nicht, bis dieſe neuen Amazonen in
Feuer und Flammen gerathen, und ſchwoͤren, Him-
mel und Erde zu bewegen — und beſonders ihre Maͤn-
ner ſo lang’ zu plagen, bis ſie ſich entſchlieſſen, das
Uebel mit Stumpf und Stiel auszurotten. Dabey
aber iſt es immer ein Gluͤck, theils daß Weiberzorn
nie von langer Dauer, theils daß es Gott Lob! auch
noch vernuͤnftige Frauen giebt, und ihr ſo nicht ſelten
anprellt, und euch ſelbſt bey allen Klugen zum Ge-
laͤchter macht. So gieng’s euch z. E. bey Anlaß un-
ſers freylich koſtbaren Straſſenbaues, wo ihr’s auch
jedem in’s Ohr rauntet, der einfaͤltig genug war,
es euch zu leihen: Daß, ſobald wir neue Weg’ haͤt-
ten, Krieg in’s Land kommen wuͤrde. Aber, gelt!
euch artigen Herren zu Trotz hat es unſern wohlge-
ſinnten Vorſtehern gegluͤckt unſer gutmuͤthiges Volk
bald eines andern und beſſern ſo zu belehren, daß ſie
itzt mit der freudigſten Willfaͤhrigkeit wirklich herku-
liſche Arbeiten verrichten, und davon einſt, neben
dem Nutzen auch gebuͤhrendes Lob und Ruhm ein-
erndten werden. Was die moraliſche und Leſege-
ſellſchaft
betrift — —


Peter. Ha! Da koͤmmſt du mir eben recht.
Man merkt’s dir an deinen Plaudereyen an, daß
du dich auch ſchon laͤngſt gern’ haͤtteſt zu dieſem Or-
den einkleiden laſſen, der wohl ſaubre Geheimniſſe
beſitzt, da ſeine angeſehenſten Mitglieder in der Beßte
U
[298] ihrer Jahren in’s Gras beiſſen, die witzigſten auſſer
Lands ihr Brodt ſuchen mußten, und andre ſonſt ihr
Gluͤck verwahrloſet haben, die uͤbriggebliebenen aber
das ſeltſamſte Gemiſch von curjoſen Koͤpfen, alten
Paſtoren, dann wieder jungen Herren mit groſſen
Huͤten und weiten Hoſen, ausmachen, und itzt gar,
wie ich hoͤre, mit einander uneins geworden ſind.
Wahrlich, eine herrliche Verbruͤderung! Gelt, gelt,
ich weiß es — —


Paul. Ja, ja! und Ich weiß es auch, daß ſol-
che Spinnen, wie du, aus den ſchoͤnſten Bluhmen,
wo die Biene nur Honig findet, das Gift ſaugen.
Wo iſt ein Acker, auf dem nach Verlauf vieler Jah-
re, nicht auch in irgend einem Winkel Unkraut
waͤchst? Und wenn der beßte, reinſte Saamen dar-
ein geſaͤet wird, ſo ruhet der boͤſe Feind um ſo viel
minder, bis er — und ſollt’ er die Nacht dazu neh-
men — auch etwas von jenem drunter geſtreut hat.
Und war es nicht auch gerad’ ſo einer, wie du, der
den erſten Zunder zu jenem Zwiſt anblies, der
aber, Trotz deiner Schadenfreud’, von keinen erheb-
lichen Folgen ſeyn wird, ſo daß bald wieder alles
in’s alte Gleis kommen ſoll. Indeſſen, noch einmal:
Bey euch, Herren! iſt das Vermoͤgen immer die
Hauptſach’. Wem das Geld fehlt, der iſt in euern
Augen ſchon per ſe ein unnuͤtzer Knecht. Aus der
Naͤhe und Ferne zergliedert ihr die Gluͤcksumſtaͤnd’
eines jeden, den ihr kennt oder nicht kennt, und zaͤhlt
ihm ſeine Batzen in der Taſche. Da heißt’s bey euch
bald alle Tag: Huchhey! Dort liegt auch wieder ein
Kalb auf dem Schragen — A. liegt ſchon in den letz-
ten Zuͤgen — B. pfeift ebenfalls auf dem letzten Loͤch-
lin — und C. muß wenigſtens capituliren. Doch habt
ihr eben auch ſchon manchem laͤngſt zu Grabe gelaͤu-
[299] tet, der, zu euerm groſſen Herzenleid, heutigen Tags
noch ſo friſch und geſund iſt, als einer, und wohl
auch alsdann noch aufrecht wie ein Bolz ſtehen wird,
wenn — Ihr wenigſtens ihm die Todtenglocke nicht
mehr zieht. Freylich muͤßte vielleicht mancher noch
ſo haushaͤlterſche Ehrenmann Hof und Heimath mit
dem Ruͤcken anſehn, wenn alle Menſchen ſo daͤchten
wie ihr, ihr unerbittliche Treiber — der ſchuldloſen
wie der ſchuldigen Armuth! Ihr ſchwarzgallichte Un-
gluͤckskocher — Ihr — —


Peter. Wie? — Was? — Bin ich nicht ein Narr,
einer ſolchen Schandgoſche, wie deine, ſo lang zuzu-
hoͤren — und dich nicht lieber krumm und lahm zu
ſchlagen, du S ***! — Aber, nur Geduld! es ſoll
dir nicht geſchenkt ſeyn.


Paul. Haͤtt’ſt Courage, ich weiß wohl, wuͤrdſt
du gewiß nichts ſparen. Aber es iſt eben ein Gluͤck,
daß du und faſt alle deines Gelichters nur dapfer mit
dem Maul ſind. Ich vor mich hab’ dir gerad’ von
der Leber weggeredt; und zwar nicht meines Vor-
theils wegen, ſondern um die gekraͤnkte Ehre vieler
guten Menſchen uͤberhaupt, und des armen Mannes
ſeine insbeſonders, gegen dich und deinesgleichen in
Schutz zu nehmen. Itzt bin ich fertig; mein Herz
iſt geraͤumt, los und ledig von allem weitern Grimm
und Groll; und fuͤg’ ich nur noch den einzigen wohl-
meynenden Wunſch bey: Daß ihr koͤnftig liebreicher
und behutſamer von euern Nebenmenſchen — —


Peter. Und Ich wuͤnſch’ dir alle Schwernoth auf
den Buckel, du vertrackter Erzſchurke, du! Man hoͤrt’s
nun, wie gut du von ehrlichen Leuthen denkſt, die in
ihrer Einfalt an ihrem Naͤchſten, ohne ihn darum zu
haſſen, freylich nicht nur ſeine Tugenden, ſondern
auch ſeine Mackel ſehn.


[300]

Paul. Das wußt’ ich wohl. So wenig ein Mohr
ſeine Haut, oder ein Pardel ſeine Flecken aͤndern
kann, ſo wenig koͤnnen die eines gutmuͤthigen Sinns
werden, die eines boͤswilligen gewohnt ſind. Ihr haßt
keinen Menſchen, ſondern nur ihre Thorheiten und
Laſter — nicht wahr? Aber, wer iſt in euern Au-
gen tugendhaft? Gewiß keiner, der nicht euer Lied
ſingt — brav Geld zuſammenſcharrt, und beſonders —
euch in allen Dingen den Vorzug laͤßt. Uebrigens
ſeyt ihr einander ſelbſt nicht treu, keiner traut, jeder
betriegt den andern, oder ſchlaͤgt ihm wenigſtens ein
Bein unter; und nie ſeyt ihr einig, als wo’s drauf
losgeht, den Drittmann zu uͤbertoͤlpeln, oder wett-
zueifern, wer auf ſeinen Mitchriſt am meiſten Boͤ-
ſes — ſey’s nun wahr, halbwahr oder erdichtet, brin-
gen kann. Doch, ich bin muͤde, laͤnger eure ſchlim-
me Seite zu ſchildern. Die gute aber moͤgt ihr ſelbſt
zeigen. Wohlbekomm’s, meine Herren! Adieu!

[][][]
Notes
*)
h. l. Ein guter Hausvater.
*)
Dergleichen thun. Schweizerſcher Provinzialaus-
druck für: Sich ſo ſtellen.
*)
In unſern Schweitzerlanden (wo von einheimiſchen Ar-
men, auch von dem Auskehrigt ſelbſtverſchuldeten Elends,
niemand ganz rath- und hülflos ſich ſelbſt überlaſſen wird)
iſt es nichts ſeltenes, daß, zumal in den geringern Dorfs-
eommunen, wo von Gemeind wegen für ſolche Geſchöpfe
nicht geſorgt werden kann, der Private, bald der Kehre
nach unentgeldlich, bald um ein geringes Jährliches, ihnen
Dach und Koſt geben muß.
*)
An andern Orten der Schweitz tagwen, um den Tag-
lohn Bauersknechten-Dienſte verrichten.
*)
Halbe Maaß Wein.
**)
Mein Seel’!
*)
Branntwein.
*)
Zum Beſuche.
*)
Diminutif von Uchel (Ulrich).
*)
So ein Mittelding zwiſchen Wainen und Heuten,
ſo wie’s etwa, nebſt den Kindern - - noch die erträgli-
chern Weibsſchälke thun.
*)
Flismen. Halblaut reden.
*)
Und nirgends ſo luſtig als um Hefendorf, und dann
bey dem auf einem ſchauerlich ſchönen Felſenberg gele-
genen Schloſſe Rotenſtein, welches der daſſelbe
faſt rund umrauſchende Nekkar zu einer höchſt roman-
tiſchen Halbinſel macht.
A. d. V.
*)
So beſcheiden denken wohl nicht alle Reiſebeſchreiber;
die zumal, welche es auf Praͤnumeration, und ex
professo
ſind.
*)
Die Schlimmſten.
*)
Und jetzt natürlich in vielen andern beſſern Schriften,
und zumal in des Königs eigener Geſchichte des Sieben-
jährigen Krieges.
*)
Was man doch im Schrecken nicht alles ſieht!
*)
revêche.
*)
Auch von dieſen hoͤchſtmerkwuͤrdigen Tagebuͤchern folgen
ſeiner Zeit Auszuͤge, von denen man, aber freylich aus
der ſpaͤthern Epoche, eine Probe in dem Helveti-
ſchen Calender
von 1789. leſen kann. Anmerk. d.
Herausgeb
.
*)
Leſer! Geh’ in dein Kaͤmmergen, ſchließ die Thuͤr’ hin,
ter dir zu, und erroͤthe! — und bitte den Vater, der im
Verborgenen ſieht, um die Bluͤthe aller Tugenden
— um eine ſolche Beſcheidenheit! A. d. H.
*)
Nigaud.
*)
Verſchwender.
*)
Er ſtarb den 8. Jenner 1787.
*)
Ich laſſe dieſe Stelle ohne das mindeſte Bedenken ganz
unverändert ſtehn, da ſie mich an zwey der angenehm-
ſten Tage meines Lebens erinnert, die ich an der Seite
des Verfaſſers, ſeines würdigſten Pfarrherrn, und des
liebenswürdigen Herrn St ** von L. *** zugebracht.
**)
Und meinen geliebten B ** nur um ſo viel liebens-
würdiger machte.
*)
Verfaſſer der Brieftaſche aus den Alpen.
*)
Leſecommun.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


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Kolimo+

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TextGrid Repository (2025). Collection 1. Lebensgeschichte und Natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg. Lebensgeschichte und Natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bj4m.0