BORORÓ-HÄUPTLING
[]
Naturvölkern Zentral-Brasiliens.
der
Zweiten Schingú-Expedition
1887—1888
30 Tafeln (1 Heliogravüre, 11 Lichtdruckbilder, 5 Autotypien und 7 lithogr. Tafeln), sowie 160 Text-
Abbildungen nach den PHOTOGRAPHIEN der Expedition, nach den Originalaufnahmen von WILHELM
VON DEN STEINEN und nach Zeichnungen von JOHANNES GEHRTS nebst einer Karte von
Prof. Dr. PETER VOGEL.
Geographische Verlagsbuchhandlung von DIETRICH REIMER
Inhaber: HOEFER \& VOHSEN.
[][[III]]
Naturvölkern Zentral-Brasiliens.
[[IV]]
Das Recht der Uebersetzung
in fremde Sprachen und der Vervielfältigung
vorbehalten.
[[V]]
VORWORT.
áma! — du!
úra! — ich!
So lautet die einfache Formel, mit der man sich am Kulisehu einander
vorstellt, und gern würde ich dem freundlichen Leser Weiteres ersparen, wenn
ich ihn nicht auch bitten müsste, meine »jüngeren Brüder«, die Gefährten der
Reise, zu begrüssen, und doch auch sonst noch Einiges auf dem Herzen hätte.
Für »jüngeren Bruder« und »Vetter« haben die Indianer ein und dasselbe
Wort; so trifft ihre Bezeichnung wirklich im vollen Sinn zu auf unsern Spezial-
artisten Wilhelm von den Steinen aus Düsseldorf, da er zwar nach unsern
Begriffen mein Vetter ist, aber gemeinhin für meinen jüngeren Bruder gehalten
wird. Er war schon 1884 mit mir den Schingú hinabgerudert.
Der Zweite, Dr. Paul Ehrenreich aus Berlin, war ebenfalls kein Neuling
in Brasilien, er hatte schon in Espíritu Santo die genauere Bekanntschaft der
Botokuden gemacht, er hat nach Abschluss unseres gemeinsamen Unternehmens
noch den Araguay und den Purus befahren und dürfte deshalb heute mehr als
irgend ein anderer deutscher Reisender vom Innern des gewaltigen Reiches
gesehen haben. Ihm sind die Photographien und die Körpermessungen zu
verdanken.
Die Wegaufnahme und astronomischen Bestimmungen waren nebst geo-
logischen Untersuchungen von Professor Dr. Peter Vogel aus München über-
nommen. Wir beide hatten 1882—83 auf der Deutschen Polarexpedition nach
Südgeorgien, deren stellvertretender Leiter er war, während eines Jahres die
enge Schlafkoje in Freud’ und Leid geteilt, ihn zog es 1887 wieder mächtig
hinaus, und so war er bereit, das Werk des Dr. Otto Clauss, unseres ant-
[[VI]] arktischen Kollegen und des Geographen der ersten Schingú-Expedition, in neues
Gebiet hinein fortzuführen.
Professor Vogel veröffentlicht seine Ergebnisse gleichzeitig mit dem Er-
scheinen dieses Buches in dem Organ der Gesellschaft für Erdkunde zu
Berlin, die sich um unsere Reise das Verdienst erworben hat, ihn aus den
Mitteln der Karl Ritter-Stiftung zu unterstützen. Dem Präsidenten, Herrn
Geheimrat Freiherrn von Richthofen, sage ich für die gütige Erlaubnis, dass
die von Herrn Dr. Richard Kiepert’s bewährter Hand gezeichnete und redigierte
Karte meinen Schilderungen beigegeben werde, verbindlichen Dank. Ich selbst
habe durch die Humboldt-Stiftung der Königlich Preussischen Akademie
der Wissenschaften zu Berlin eine wesentliche Förderung erfahren und
bitte das Kuratorium, auch an dieser Stelle meinen ergebensten Dank ent-
gegenzunehmen.
Im Verlauf der Reise haben wir von Brasiliern wie von Landsleuten in
Brasilien und den La Platastaaten, sowohl von einfachen Privaten als von Personen
in hohen Aemtern, zahlreiche Beweise der Gastfreundschaft empfangen, die uns
auf’s Tiefste verpflichtet haben. Wenn wir uns bei den Söhnen des Landes in
gewissem Grade dadurch erkenntlich zeigen können, dass wir das Innere einer
wenig erforschten Provinz aufschliessen helfen, bleiben wir unsern Landsleuten
gegenüber in voller Schuld; wollte ich nur die Orte nennen, in denen sie wohnen,
müsste ich mit Ausschluss unserer Indianerpfade die ganze Route rekapitulieren.
So rufe ich Allen, zu denen diese Zeilen den Weg finden, ob sie im Handel
einführen und ausführen oder in politischer Stellung anführen, ob sie der Küste
fern als wackere Kolonisten hausen, die herzlichsten Grüsse zu und wünsche
ihrer Arbeit den Schutz des Friedens und geordneter Zustände.
Sechs Mal schon hat der Mais geblüht, seit wir das Quellgebiet des Schingú
verlassen haben — »zwei zwei zwei« aháge aháge aháge rechnet der Bakaïrí und
findet kein Wort in seiner Sprache, um eine grössere Zahl auszudrücken. Die
Berichterstattung hat sich länger verzögert als mir lieb war; hauptsächlich bin
ich durch sprachliche Vorarbeiten (»Die Bakaïrí-Sprache«, K. F. Köhler, Leipzig 1892)
aufgehalten worden, doch habe ich dabei auch Vielerlei gelernt und eine breitere
und festere Grundlage gewonnen als mit dem in linguistischer und ethnographischer
Hinsicht erheblich geringeren Material der ersten Expedition. Die Liebe zu
dem Gegenstand ist mit der längeren Beschäftigung nur gewachsen, denn in
gleichem Mass verstärkte sich notwendig die Erkenntnis der von unserem hoch-
verehrten Altmeister Adolf Bastian mit flammender Begeisterung gepredigten
Wahrheit, dass der Untergang der geringgeschätzten Naturvölker den Verlust
unersetzlicher Urkunden für die Geschichte des menschlichen Geistes bedeutet.
An Beweisen fehlt es nicht in den folgenden Blättern. Und wie Jeder, der von
einer Ueberzeung tief durchdrungen ist, sich auch getrieben fühlt, für sie
Propaganda zu machen, so möchte auch ich mich nicht gern nur an den engen
Kreis der Fachleute wenden und habe mir die Freude gegönnt, gemeinver-
[[VII]] ständlich zu schreiben. Dankbar muss ich hier den Mut und das Entgegen-
kommen der Verlagshandlung anerkennen, die meinen Wunsch, den Preis so
niedrig zu bestimmen als irgend möglich, erfüllt und doch an der Ausstattung
nicht gespart hat.
Möge dem Leser der grosse zeitliche Abstand nicht fühlbarer werden als
er es mir ist, wenn ich mich in jene Tage zurückversetze Es lässt sich nicht
leugnen, mein Zeitsinn funktioniert ein wenig mangelhaft; ich wünschte nur,
der Grund läge darin, dass es mir wirklich gelungen wäre, mich in die Seele
unserer Naturvölker, dieser Kinder des Augenblicks, hineinzudenken — was zu
versuchen meine eigentliche Aufgabe war.
Neubabelsberg,
Karaibenhof, Oktober 1893.
[[VIII]]
Inhalts-Verzeichnis.
- Seite
- I. Kapitel. Reise nach Cuyabá und Aufbruch der Expedition.
Riode Janeiro. »Cholera im Matogrosso.« Bei D. Pedro II. Nach Sta. Catharina.
Sambakís. Deutsche Kolonien. Nach Buenos Aires. Museum in La Plata.
Nach Cuyabá. Veränderungen seit 1884. Der gute und der böse Hauptmann.
Martyrios-Expeditionen. Die neuen Reisegefährten. Ausrüstung. Abmarsch 1—15 - II. Kapitel. Von Cuyabá zum Independencia-Lager I.
Plan und Itinerar. Andere Routen als 1884. Kurze Chronik. Hochebene
und Sertão. Die »Serras« ein Terrassenland; seine Physiognomie und topo-
graphische Anordnung. Campos. Ansiedler. Lebensbedingungen und Kultur-
stufe. Ein flüchtiges Liebespaar. Zahme Bakaïrí. Die von Rio Novo auf Reisen.
Dorf am Paranatinga. Besuch und Gegenbesuch der wilden Bakaïrí 1886. Kunde
von den Bakaïrí am Kulisehu 16—25 - III. Kapitel. Von Cuyabá zum Independencia-Lager II.
Marsch. Unser Zug. Aeussere Erscheinung von Herren und Kameraden. Maultier-
treiber- und Holzhackerkursus. Zunehmender Stumpfsinn. Die Sonne als Zeitmesser.
Freuden des Marsches. Früchte des Sertão. Nachtlager und Küche. Ankunft.
Ungeziefer. »Nationalkoch« und Jagdgerichte. Perrot’s Geburtstagfeier. Nacht-
stimmung. Gewohnheitstraum des Fliegens. Aufbruch am Morgen. Rondon-
strasse und letzter Teil des Weges. Sertãopost. Im Kulisehu-Gebiet.
Independencia. Schlachtplan 26—45 - IV. Kapitel. Erste Begegnung mit den Indianern.
Rindenkanus. Indianerspuren. Meine Fahrt mit Antonio und Carlos. Tierleben.
Träumerei vor dem Abendessen. Einmündung des Ponekuru. Katarakte. Die
Anzeichen der Besiedelung mehren sich. Der Häuptling Tumayaua. Nach dem
ersten Bakaïrídorf. Ankunft des »Karaiben« 46—54 - V. Kapitel. Bakaïrí-Idylle.
I. Auskunft über Kulisehu und Kuluëne. Antonio und Carlos zurück. Ein
Weltteil, in dem nicht gelacht wird. Dorfanlage. Vorstellung der Personen.
Mein Flötenhaus. In Paleko’s Haus. Bewirtung. Bohnenkochen und Tanzlieder.
Aeussere Erscheinung der Indianer. Nacktheit und Schamgefühl. Essen und
Schamgefühl. Tabakkollegium. Pantomime: Flussfahrt, Tagereisen, Stämme,
Steinbeilarbeit. Vorführung von »Mäh« und »Wauwau«. Tabakpflanzen. Fisch-
fang in der Lagune. Kanubau 55—74 - II. Psychologische Notizen über das Verhalten dem Neuen gegenüber. Grenzen
des Verständnisses. Studien mit dem Dujourhabenden. Schwierigkeiten der Ver-
ständigung und der sprachlichen Aufnahme: Substantiva, Verba, über-
geordnete Begriffe 75—81 - VI. Kapitel.
I. Gemeinsamer Aufbruch und Besuch der drei Bakaïrídörfer.
Independencia während meiner Abwesenheit. Vorbereitungen zur Abreise. Nach
dem ersten Bakaïrídorf. Photographieren. Puppe überreicht. Nach dem zweiten
Bakaïrídorf. Flussfahrt. Gastfreundschaft. Vermummung zum Holen der Speisen.
Nachttanz. Fries im Häuptlingshaus. Nach dem dritten Bakaïrídorf. Begrüssungs-
reden. Sammlung. Der erste Nahuquá. Körpermessung und Perlen 82—94 - Seite
- II. Zu den Nahuquá. Verkehr von Bakaïrí und Nahuquá. Ueberraschte
im Hafen. Merkwürdiger Empfang. Dorf ausgeräumt. Ein Yaurikumá. Ueber
Nacht. Mehinakú im Dorf. Tänze. Traurige Aussichten für Professor Bastian.
Ich voraus zu den Mehinakú. Besserung der Verhältnisse. Botschaft über die
Schlacht zwischen den Suyá und den Trumaí 94—101 - III. Zu den Mehinakú. Allein voraus. Ankunft und Empfang. Festhütte.
Gestörte Eintracht und Versöhnung. Wohlhabenheit. Fliegende Ameisen. Ethno-
graphische Sammlung 102—107 - IV. Zu den Auetö́. Fahrt. Empfang im Hafen und im Dorf. Wurfbretter.
Masken. Künstlerhütte. Verkehrszentrum. Die Waurá. Ringkampf 107—111 - V. Zu den Yaulapiti. Die Arauití im Auetö́dorf. Fahrt durch Kanäle und
über die Uyá-Lagune. Ein armes Dorf. Der Zauberer Moritona. Empfang des
blinden Häuptlings. Zurück zu den Auetö́ und wieder zu den Yaulapiti. Zweites
Yaulapitidorf 111—115 - VI. Zu den Kamayurá. Empfang. Freude über unsere Sprachverwandtschaft.
Nachrichten von den Arumá. Gemütlicher Aufenthalt. Kamayurá und Trumaí
1884 zusammen. Einladung nach Cuyabá. Diebereien 115—120 - VII. Trumaí-Lager und Auetö́-Hafen. Vogel’s Plan, Schingú-Koblenz
zu besuchen. Ueber die Yaulapiti zurück. Zusammentreffen mit den Trumaí.
Studien mit Hindernissen. Arsenikdiebstahl. Die zerstörten Trumaídörfer. Zum
Auetö́hafen. Namenstausch. Kanus erworben. Diebstähle. Yanumakapü-Nahuquá.
Abschied 120—127 - VIII. Rückkehr nach Independencia. Vogel’s Fahrt nach Schingú-
Koblenz. Ab vom Auetö́hafen. Besuche der Dörfer. Begleitung durch die Indianer.
Rheinischer Karneval am Kulisehu. Abschiedszene in Maigéri. Die Bergfahrt:
Rudern, Beschwerden, Fieber. Independencia: Ruhetag, Feierlicher Abschied
von den Bakaïrí 127—137 - VII. Kapitel. Independencia—Cuyabá.
Route. Transport und Beschwerden in der Regenzeit. Perrot und Januario
verirrt. Hunger. Ankunft am Paranatinga und in der Fazenda S. Manoel mit
Hindernissen. Weihnachten im Sertão. Ankunft in Cuyabá 138—152 - VIII. Kapitel.
I. Geographie und Klassifikation der Stämme des Schingú-
Quellgebiets153—159 - II. Anthropologisches159—172
- IX. Kapitel.
I. Die Tracht: Haar und Haut. Vorbemerkung über Kleidung und Schmuck.
Das Haar. Haupthaar, Körperhaar, Wimpern. Die Haut. Durchbohrung.
Umschnürung. Ketten. Anstreichen und Bemalen. Ritznarben. Tätowierung 173—190 - II. Sexualia. DieVorrichtungen bei Männern und Frauen sind keine Hüllen.
Schutz der Schleimhaut und sein Nutzen bei eintretender Geschlechtsreife. Ursprung
aber bei den Frauen als Verband und Pelotte, bei den Männern als gym-
nastische Behandlung der Phimose190—199 - III. Jägertum, Feldbau und »Steinzeit«-Kultur. Bevölkerungszahl.
Lage der Dörfer. Vereinigung von uraltem Feldbau und Weltanschauung des
Jägertums. Jagd und Fischfang müssen den metalllosen Stämmen, für die der
Ausdruck »Steinzeit« unzutreffend ist, die wichtigsten Werkzeuge liefern. Steinbeil-
monopol, Zähne, Knochen, Muscheln, Federn, Aufzählung der Nutz-
pflanzen und Verteilung nach Stämmen. Keine Bananen. Pflanzennamen
als Zeugen für stetige Entwickelung. Fehlen berauschender Mehlgetränke beweist,
dass Einfachheit nicht gleich Degeneration. Vereinigung von Jagd und Feldbau
ermöglicht durch Arbeitsteilung der Geschlechter. Indianerinnen schaffen
den Feldbau; sie erfinden die Töpfe zum Ersatz der Kürbisse, die Männer
braten, die Frauen kochen. Durch fremde Frauen Kultur des Feldbaues, der
Töpfe, der Mehlbereitung verbreitet und nach Kriegen erhalten, namentlich durch
Nu-Aruakfrauen 200—219 - IV. Das Feuer und die Entdeckung des Holzfeuerzeuges. Einleitung.
Kampbrände und Verhalten der Tierwelt. Uralte Jagd. Die »Queimada« eine
Kulturstätte. Die Schauer des primitiven Menschen. Der Mythus von der Be-
lehrung durch den Sturmwind. Feuererzeugung und Arbeitsmethoden. Verfahren
[X]Seite
am Schingú. Ursprung des Holzreibens. Stadium der Unterhaltung des Feuers
und Zundertechnik. Praehistorische Vagabunden und Prometheus. Bestätigung
durch den Versuch 219—228 - V. Waffen, Geräte, Industrie. Bogen und Pfeile. Wurfbrett. Keule.
Kanu. Fischereigerät. Flechten und Textilarbeiten. Burití- und Baumwoll-
hängematten. Kürbisgefässe. Töpferei 228—242 - X. Kapitel.
I. Das Zeichnen. Ursprung aus der zeichnenden Geberde. Beschreibendes
Zeichnen älter als künstlerisches. Sandzeichnungen. Bleistiftzeichnungen.
Erklärung der Tafeln. Profilstellung. Proportionen. Fingerzahl. Rinden-
zeichnungen243—258 - II. Zeichenornamente. Ornamentaler Fries der Bakaïrí. Mereschu
und Uluri. Die Auetö́-Ornamente. Folgerungen. Verwendung der Ornamente.
Kalabassen, Beijúwender, Spinnwirtel. Bemalung der Töpfe258—277 - III. Plastische Darstellung und Keramik. Einleitung. Ketten-
figürchen. Strohfiguren. Lehmpuppen. Wachsfiguren. Holzfiguren
(Tanz-Vögel und-Fische, Mandioka-Grabhölzer, Beijúwender, Kämme, Schemel). Töpfe. 277—292 - IV. Verhältnis des Tiermotivs zur Technik293—294
- XI. Kapitel. Maskenornamentik und Tanzschmuck.
Vorbemerkung 295 - I. Masken. Tanzen und Singen. »Idole?« Gelage und Einladungen. Teil-
nahme der Frauen. Arten der Vermummung. Bakaïrí-Tänze (Makanári)
und -Masken. Nahuquá (Fischnetz-Tanz). Mehinakú (Kaiman-Tanz). Auetö́
(Koahálu-, Yakuíkatú-Tanz). Kamayurá (Hüvát-Tanz). Trumaí 296—319 - II. Gemeinsamer Ursprung der Masken und des Mereschu-Musters.
Die Auetö́ als Erfinder der Gewebmaske und des Mereschu-Ornaments 319—324 - III. Sonstiger Festapparat. Kamayurá-Tänze. Tanz-Keulen. Schmuck-
wirtel etc. Musikinstrumente. Schwirrhölzer. Federschmuck. Diademe.
Spiele der Jugend324—329 - XII. Kapitel.
I. Recht und Sitte. Eigentum. Verwandtschaft. Ehe. Moral. Tausch-
verkehr. Namen. Geburt. Couvade und deren Erklärung. Begräbnis 330—339 - II. Zauberei und Medizinmänner. Hexerei in verschiedenen Stadien und
auf verschiedenen Kulturstufen. Traumerlebnisse. Pars pro toto. Gute und böse
Medizinmänner. Ihre Methoden. Sterben in der Narkose. Der Medizinmann im
Himmel. Tabak. Wetterbeschwörung 339—347 - XIII. Kapitel. Wissenschaft und Sage der Bakaïrí.
I. Die Grundanschauung. Der Mensch muss nicht sterben. Wissen von
der Fortdauer nach dem Tode. Naturerklärung durch Geschichten. Tiere
= Personen. Tiere liefern wirklich die Kultur, daher gleiche Erklärung auf
unbekannte Herkunft übertragen. Entstehung der erklärenden Geschichte. Ge-
stirne, die ältesten Dinge und Tiere. Bedeutung der Milchstrasse. Verwand-
lung. Männer aus Pfeilen, Frauen aus Maisstampfern. Keri und Kame und
die Ahnensage. Die Namen Keri und Kame. Die Zwillinge und ihre Mutter
sind keine tiefsinnigen Personifikationen 348—372 - II. Die Texte. Die Eltern von Keri und Kame. Entstehung und Tod
der Mutter. Letzterer gerächt. Sonne, Schlaf und Burití-Hängematte.
Himmel und Erde vertauscht. Feuer. Flüsse. Zum Salto des Paranatinga.
Haus, Fischfang, Festtänze, Stämme. Abschied von Keri und Kame.
Tabak und Baumwolle. Mandioka; Rehgeweih. Der hässliche
Strauss. Keri und der Kampfuchs auf der Jagd. Der Jaguar und der
Ameisenbär372—386 - XIV. Kapitel. Zur Frage über die Urheimat der Karaiben.
I. Geschichtliches von den Bakaïrí387—395 - II. Verschiebung der Karaiben nach Norden395—404
- XV. Kapitel.
I. Die Zählkunst der Bakaïrí und der Ursprung der 2. Die Zahl-
wörter der übrigen Stämme. — Namen der Finger. Hersagen der Zahlwörter
[XI]Seite
mit Fingergeberden. Zählen von Gegenständen über 6; idem unter 6. Die
rechte Hand tastet. Fälle des praktischen Gebrauchs und Fehlen gesetzmässiger
Zahlen. Fingergeberde nicht mimisch, sondern rechnend. Rätsel der »2«.
»5« = »Hand« kein Vorbild, sondern eine (späte) Erfahrungsgrenze. Ent-
stehung der »2« durch Zerlegung eines Ganzen in seine Hälften. Die Dinge
liefern die Erfahrungsgrenze der »2«-Geberde. Abhängigkeit vom Tastsinn.
Bestätigung durch die Etymologie 405—418 - II. Farbenwörter. Vorhandene Farbstoffe. Uebereinstimmend die Zahl der
Farbenwörter. Sonderbare Angaben durch Etymologie verständlich. Farbe älter
als Bedürfnis nach Farbenwörtern. Verwendung bei Tier- und Pflanzennamen.
Grün niemals = blauschwarz 418—423 - XVI. Kapitel. Die Paressí.
Zur Geschichte der Paressí und ihnen verwandter Stämme. Unser Besuch.
Sprache. Anthropologisches. Zur Ethnographie (Tracht, ethnographische Ausbeute,
berauschende Getränke, Tanzfeste). Lebensgang. Beerdigung. Medizinmänner.
Die Seele des Träumenden und des Toten. Firmament. Ahnensage. Schöpfung.
Ursprung der Kulturgewächse. Abstammung der Bakaïrí. Das Leben im Himmel.
Fluss- und Waldgeister. Heimat der Paressí 424—440 - XVII. Kapitel. Zu den Bororó.
I Geschichtliches. Gründung der Kolonien. Bororó da Campanha
und do Cabacal. »Coroados« = Bororó. Verwirrung in der Literatur. Der kleine
Sebastian. Martius. Beendigung der Fehde und Katechese. Raubwirtschaft in
den Kolonien 441—448 - II. Bilder aus der Katechese. Nach dem S. Lourenço. (Erste Bekannt-
schaft mit Täuflingen in Cuyabá. Reise.) Die Bewohner (Clemente) und die
Anlage der Kolonie. Europäische Kleidung. Feldbau. Unsere Eindrücke. Streit
und Weiberringkampf (Maria). Fleischverteilung. Nächtliches Klagegeheul.
Vespergebet. Skandal mit Arateba. Charfreitag. Totenklage. Halleluja-Sonnabend
(Judas). Kayapó. Drohende Auflösung der Kolonie. Schule. Die feindlichen
Brüder. Disziplin. Duarte’s Ankunft. »Voluntarios da patria«. Frühstück
und Serenade 448—467 - III. Beobachtungen. Anthropologisches. Tracht (Haar. Sexualia. Künst-
liche Verletzungen. Bemalung. Schmuck). Die Aróe. Jagd und Feldbau. Waffen.
Arbeiten im Männerhaus und Technik. Nahrung; »Einsegnung« durch die Baris.
Tanz und Spiel. Musikinstrumente; Schwirrhölzer. Zeichenkunst. Recht und
Heirat (Sitten der Familie und des Männerhauses). Geburt; Namen. Totenfeier.
Seele und Fortdauer nach dem Tode. Himmlische Flöhe; Meteorbeschwörung 468—518 - XVIII. Kapitel.
Nach Cuyabá und heimwärts519—521 - Anhang.
I. Wörterverzeichnisse der 1. Nahuquá, 2. Yanumakapü-Nahuquá,
3. Mehinakú, 4. Kustenaú, 5. Waurá, 6. Yaulapiti, 7. Auetö́,
8. Kamayurá, 9. Trumaí, 10. Paressí, 11. Bororó523—547 - II. Die matogrossenser Stämme nach cuyabaner Akten548—552
- III. Volksglaube in Cuyabá553—562
[[XII]]
Verzeichnis der Text-Abbildungen.
- Abbildung _ _ Seite
- 1. Briefkasten im Sertão _ _ 42
- 2. »Eva«, Tumayaua’s Tochter _ _ 58
- 3. Vogelkäfig _ _ 88
- 4. Nahuquá _ _ 95
- 4.* Mehinakúfrau _ _ 102
- 5. Auetö́-Häuptling Auayato _ _ 108
- 6. Geflechtmaske, Wurfhölzer und Wurfpfeile der Auetö́ _ _ 109
- 7. Kamayurá-Lagune _ _ 117
- 8. Indianer als Europäer maskiert _ _ 131
- 9. Unser Fremdenhaus in der Independencia _ _ 136
- 10. Auetö́ _ _ 164
- 11. Bakaïrí-Mädchen _ _ 175
- 12. Holzmaske der Bakaïrí mit Ohr- und Nasenfedern _ _ 180
- 13. Nasenschmuckstein der Bakaïrífrauen _ _ 181
- 14. Kamayurá mit Muschelkette _ _ 183
- 15. Wundkratzer _ _ 188
- 16. Kamayuráfrau mit Ritznarben _ _ 189
- 17. Penisstulp der Bororó _ _ 192
- 18. Uluri _ _ 194
- 19. Hockende Bakaïrí _ _ 197
- 20. Steinbeil _ _ 203
- 21. Quirlbohrer _ _ 204
- 22. Feuerauge-Piranya _ _ 205
- 23. Hundsfisch _ _ 206
- 24. Piranya _ _ 206
- 25. Vorderklauen des Riesengürteltiers _ _ 206
- 26. Kapivara-Zähne _ _ 206
- 27. Messermuschel und Hobelmuschel _ _ 207
- 28. Wurfbrett und Spitzen von Wurfpfeilen _ _ 232
- 29. Bakaïrí-Ruder _ _ 234
- 30. Bratständer (Trempe) _ _ 236
- 31. Tragkorb _ _ 237
- 32. Feuerfächer _ _ 238
- 33. Bleistiftzeichnung von Flüssen _ _ 247
- 34. Matrincham-Sandzeichnung _ _ 248
- 35. Rochen- und Pakú-Sandzeichnung _ _ 248
- 36. Sandzeichnung der Mehinakú _ _ 248
- 37. Rindenfigur der Bakaïrí _ _ 256
- 38. Rindenfiguren der Nahuquá _ _ 256
- Abbildung _ _ Seite
- 39. Pfostenzeichnungen der Auetö́ _ _ 257
- 40. Flöte der Mehinakú mit zwei Affen _ _ 257
- 41. Tokandira-Ameise _ _ 257
- 42. Mereschu _ _ 260
- 43. Mereschu-Muster mit Bleistift gezeichnet _ _ 261
- 44. Holzmaske mit Mereschu-Muster _ _ 262
- 45. Holzmaske der Auetö́ _ _ 263
- 46. Tuchmaske der Auetö́ _ _ 263
- 47. Spinnwirtel der Mehinakú _ _ 263
- 48. Rückenhölzer der Bakaïrí mit den Mustern: Mereschu, Uluri, Fledermaus und Schlange _ _ 265
- 49. Rückenholz mit Heuschrecke _ _ 266
- 50. Rückenholz mit Vögeln _ _ 266
- 51. Ruder der Bakaïrí _ _ 269
- 52. Trinkkürbis (Bakaïrí) mit Mereschu- und Fledermausmuster _ _ 271
- 53. Federkürbis (Bakaïrí) mit Mereschumuster _ _ 271
- 54. Beijúwender a. der Kamayurá, b. der Yaulapiti _ _ 272
- 55. Spinnwirtel mit Mereschumuster (Mehinakú) _ _ 272
- 56. Spinnwirtel der Kamayurá mit Mereschu- und Ulurimuster _ _ 273
- 57. Spinnwirtel mit Mereschu- und Ulurimuster _ _ 273
- 58. Schmuckwirtel der Auetö́ mit Mereschumuster _ _ 273
- 59. Spinnwirtel der Kamayurá mit Mereschumuster _ _ 274
- 60. Schmuckwirtel der Auetö́ mit Wirtelmotiven _ _ 274
- 61. Schmuckwirtel der Kamayurá _ _ 275
- 62. Geschnitzter Holzwirtel der Auetö́ _ _ 276
- 63. Vogelfigur aus Muschelschale _ _ 278
- 64. Kettenfigürchen _ _ 279
- 65. Kröte. Nahuquá _ _ 280
- 66. Reh. Nahuquá _ _ 280
- 67. Frauen- und Männerfigur. Bororó _ _ 280
- 68. Aufforderung zum Tanz. Bakaïrí _ _ 281
- 69. Maisfigur: Harpya destructor. Bakaïrí _ _ 281
- 70. Lehmpuppe. Bakaïrí _ _ 282
- 71. Thonpuppe. Auetö́ _ _ 282
- 72. Wachsfigur: Nabelschwein. Mehinakú _ _ 283
- 73. Wachsfigur: Karijo-Taube. Mehinakú _ _ 283
- 74. Holzfiguren: Falk und Massarico _ _ 284
- 75. Holzfisch der Batovy-Bakaïrí _ _ 284
- 76. Mandiokagraber als Rückenholz _ _ 284
- 77. Grabwespen-Motiv der Mandiokahölzer. Mehinakú _ _ 285
- 78. Beijúwender und Mandiokaholz. Mehinakú _ _ 285
- 79. Kamm. Auetö́ _ _ 286
- 80. Kamm mit Jaguaren. Mehinakú _ _ 286
- 81. Schemel _ _ 286
- 82. Tujujú-Schemel. Kamayurá _ _ 287
- 83. Nimmersatt-Schemel. Mehinakú _ _ 287
- 84. Doppelgeier-Schemel. Trumaí _ _ 288
- 85. Affen-Schemel. Nahuquá _ _ 288
- 86. Jaguar-Schemel. Mehinakú _ _ 288
- 87. Eidechsen-Topf _ _ 291
- 88. Reh-Topf _ _ 291
- 89. Suyá-Kröten-Topf _ _ 292
- 90. Imeo-Tänzer. Bakaïrí _ _ 299
- 91. Wels-Maske. Bakaïrí _ _ 301
- 92. Makanári der Bakaïrí _ _ 302
- Abbildung _ _ Seite
- 93. Netzgeflecht-Maske mit Piava-Fisch. Bakaïrí _ _ 303
- 94. Papadüri-Taube. Bakaïrí _ _ 304
- 95. Alapübe-Vogel. Bakaïrí _ _ 304
- 96. Waldhahn. Bakaïrí _ _ 304
- 97. Tüwetüwe-Vogel. Bakaïrí _ _ 304
- 98. Kualóhe-Tänzer mit Tüwetüwe-Maske. Bakaïrí _ _ 306
- 99. Nahuquá-Maske _ _ 307
- 100. Guikurú-Maske _ _ 307
- 101. Mehinakú-Maske mit rot bemaltem Grund _ _ 308
- 102. Mehinakú-Maske mit Zinnenband _ _ 308
- 103. Grosse Mehinakú-Maske _ _ 309
- 104. Kaiman-Masken. Mehinakú _ _ 310
- 105. Kaiman-Maske. Mehinakú _ _ 310
- 106. Kaiman-Masken. Mehinakú _ _ 311
- 107. Koahálu-Masken. Auetö́ _ _ 311
- 108. Koahálu-Maske. Auetö́ _ _ 312
- 109. Koahálu-Maske. Holzplatte. Auetö́ _ _ 312
- 110. Yakuíkatú-Holzmasken der Auetö́ _ _ 314
- 111. Yakuíkatú-Masken mit Flügelzeichnungen. Auetö́ _ _ 315
- 112. Gewebmaske der Kamayurá _ _ 316
- 113. Hüvá-Maske. Kamayurá _ _ 316
- 114. Hüvát-Maske. Kamayurá _ _ 316
- 115. Holzmaske mit Fischbildern. Kamayurá _ _ 317
- 116. Trumaí-Maske, schwarzrot _ _ 318
- 117. Trumaí-Maske mit Mereschumuster _ _ 318
- 118. Trumaí-Masken, schwarzweissrot _ _ 319
- 119. Tanzkeule. Kamayurá _ _ 324
- 120. Hundsfisch-Tanzstab. Kamayurá _ _ 325
- 121. Schwirrholz. Mehinakú _ _ 327
- 122. Schwirrhölzer (Fischform). Nahuquá _ _ 327
- 123. Ohrfedern. Kamayurá _ _ 328
- 124. Daihasö́. Paressí _ _ 431
- 125. Paressí-Mädchen _ _ 432
- 126. Bororó-Mädchen _ _ 452
- 127. Bororófrau _ _ 455
- 128. Bororó-Jungen _ _ 462
- 129. Mutter und Tochter. Bororó _ _ 473
- 130. Lippenkette. Bororó _ _ 475
- 131. Lippenbohrer. Bororó _ _ 475
- 132. Kratzknochen. Bororó _ _ 475
- 133. Paríko-Federdiadem. Bororó _ _ 478
- 134. Arara-Ohrfeder. Bororó _ _ 479
- 135. Brustschmuck aus Gürteltierklauen. Bororó _ _ 479
- 136. Kopfschmuck aus Jaguarkrallen. Bororó _ _ 480
- 137. Bogen und Pfeile. Bororó _ _ 484
- 138. Schiessender Bororó _ _ 485
- 139. Kapivara-Meissel. Bororó _ _ 487
- 140. Hobelmuschel. Bororó _ _ 487
- 141. Bororófrau mit Brustschnüren und Armbändern _ _ 488
- 142. Wassertopf und Topfschale. Bororó _ _ 490
- 143. Maisball und Federpeitsche. Bororó _ _ 496
- 144. Totenflöte. Bororó _ _ 496
- 145. Schwirrhölzer. Bororó _ _ 498
[]
Verzeichnis der Tafeln.
- No. _ _ Seite
- 1. Bororó-Häuptling _ _ Titelbild
- 2. Die Herren _ _ 16
- 3. Die Kameraden _ _ 32
- 4. Tumayaua-Bucht _ _ 48
- 5. Bakaïrí-Frauen _ _ 64
- 6. Bakaïrí (Luchu und Tumayaua) _ _ 72
- 7. Fischnetztanz der Nahuquá _ _ 96
- 8. Demonstration einer Vogelpfeife bei den Mehinakú _ _ 104
- 9. Kamayurá-Frauen _ _ 112
- 10. Transport eines Rindenkanus durch die Auetö́ _ _ 120
- 11. Kulisehu-Reise _ _ 128
- 12. Independencia-Küchenplatz _ _ 136
- 13. Bakaïrí »Itzig« _ _ 160
- 14. Mehinakú _ _ 176
- 15. Kochtöpfe und Auetö́grab _ _ 240
- 16. Originalzeichnungen vom Kulisehu I _ _ 248
- 17. Originalzeichnungen vom Kulisehu II _ _ 248
- 18. Originalzeichnungen der Bororó I _ _ 248
- 19. Originalzeichnungen der Bororó II _ _ 248
- 20. Bakaïrí-Ornamente I _ _ 256
- 21. Bakaïrí-Ornamente II _ _ 256
- 22. Auetö́-Ornamente _ _ 264
- 23. Keramische Motive I _ _ 288
- 24. Keramische Motive II _ _ 288
- 25. Vor dem Männerhaus der Bororó _ _ 448
- 26. Bororó _ _ 464
- 27. Bororó mit Federn beklebt _ _ 472
- 28. Schiessender Bororó _ _ 480
- 29. Bororó-Totenfeier _ _ 504
- 30. Meteor-Beschwörung bei den Bororó _ _ 512
I. KAPITEL.
Reise nach Cuyabá und Aufbruch der Expedition.
Rio de Janeiro. »Cholera im Matogrosso«. Bei D. Pedro II. Nach St. Catharina. Sambakís.
Deutsche Kolonieen. Nach Buenos Aires. Museum in La Plata. Nach Cuyabá. Ver-
änderungen seit 1884. Der gute und der böse Hauptmann. Martyrios-Expeditionen. Die
neuen Reisegefährten. Ausrüstung. Abmarsch.
Rio de Janeiro war noch viel schöner als vor drei Jahren. Als wir damals
Abschied nehmen mussten, waren wir vom Fieber erschöpft und abgespannt an
Geist und Körper; in unserm Zustand reizbarer Schwäche schwelgten wir zwar
mit vielleicht gesteigerter Erregung in dem traumhaft schimmernden Bilde der
»vielbesungenen Inselbucht«, aber der Rest von Energie, den wir noch besassen,
setzte sich doch in das ungeduldige Verlangen um, dem verderblichen Zauber-
kreis der Tropenglut so rasch wie möglich zu entrinnen. Jetzt kehrten wir
zurück, neugestärkt in der heimatlichen Erde, eine wieder normale Milz und
einen guten Vorrat von Arsenikpillen mitbringend, vor Allem aber geschwellt
von froher Unternehmungslust. Entzückt genossen wir das wundervolle Schauspiel
der Einfahrt und grüssten auch ihren gewaltigen Wächter, den steil aus der
Meerflut aufragenden Granitturm des Zuckerhuts, mit herzlicher Vertraulichkeit,
als ob er die ganze Zeit hindurch nur auf uns gewartet hätte.
Schon war ein minder unzugänglicher Freund dienstfertig zur Stelle und
hiess uns noch an Bord willkommen, Herr Weber, unser stets getreuer Berater.
Er entführte mich in seine gastliche Lagunen-Wohnung draussen vor dem bo-
tanischen Garten am Fuss des Corcovado, des grotesken, selbst die jähen Ab-
stürze empor von ewigem Waldgrün umhüllten Bergkolosses. Nebenan in dem
reizendsten Junggesellenheim, das die Erde zwischen den Wendekreisen kennt,
nahmen die Nachbarn meinen Vetter Wilhelm auf und liessen ihm ein urkräftiges
Tahahá! Tahahá! entgegenschallen, das noch unvergessene Empfangsgebrüll
unserer Suyá-Indianer von 1884. Vogel und Ehrenreich richteten sich in einem
Pensionat an der Praia de Botafogo häuslich ein.
Schlechte Nachrichten waren uns vorbehalten. Im Matogrosso, dem zu-
künftigen Schauplatz unserer Thaten, herrschte die Cholera. Die Dampferver-
bindung mit der fernen Binnenprovinz — über Buenos Aires den La Plata-
v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 1
[2] Paraguay aufwärts, nach der Hauptstadt Cuyabá — war abgebrochen. Noch am
Tage unserer Ankunft, den 26. Februar 1887, suchten wir, um Zuverlässiges über
unsere Aussichten zu erfahren, den Chef des Telegraphenwesens, Herrn Baron
de Capanema auf, der als Milchbruder und Freund Dom Pedros grossen Einfluss
besass. Er empfahl uns, möglichst bald eine Audienz bei Sr. Majestät zu erbitten,
damit uns von Seiten der Behörden die Wege geebnet seien, und war auch so
liebenswürdig, uns sofort durch eine Depesche anzumelden. Der Kaiser war
zum Staatsrat in Rio anwesend, fuhr aber den nächsten Morgen in die Sommer-
residenz Petropolis und bestellte uns dorthin. Wir durchkreuzten also schon am
folgenden Tage wieder die herrliche Bai nach dem am Nordufer gelegenen Mauá,
wo der Zug der Gebirgsbahn die Dampferreisenden aufnimmt.
Unserm Boot nicht weit voraus fuhr die kaiserliche Yacht. Ein lieber
Freund begleitete uns, Herr Haupt, Senhor Octavio genannt, der in Petropolis
wohnte und sich zur Erfüllung seiner Berufspflichten täglich nach der Stadt be-
gab; er steht unter denen, die uns durch kleine und grosse Dienstleistungen nur
die Annehmlichkeiten unseres Aufenthaltes empfinden liessen, in erster Reihe
und ist unserm Unternehmen von unendlichem Nutzen gewesen.
Auf der Landungsbrücke wartete der Zug. Dort stand auch der Kaiser
mit dem Marquez de Paranagua, dem Vorsitzenden der geographischen Gesellschaft,
und winkte uns heran, als wir vorbeischreiten wollten. Er befahl uns auf 12 Uhr
in den Palast. Pünktlich traten wir an und pünktlich erschien der beste aller
Brasilier. Mit freundlichen Worten dankte er mir für die Widmung des Buches
über die erste Schingú-Expedition, erkundigte sich in seiner lebhaft eindringen-
den Art nach den neuen Plänen und entliess uns mit guten Wünschen, deren
Verwirklichung zu unterstützen die Behörden angewiesen werden sollten.
Von dem Kaiser gingen wir zum Ackerbauminister Prado. Mit ihm, einem
Paulisten, wurde eingehend die Möglichkeit erörtert, durch die Provinz São Paulo
über Land nach dem Matogrosso zu gehen. Allein von dem an und für sich
verlockenden Plan mussten wir wegen unserer zahlreichen Kisten und Kasten,
deren Transport äusserst schwierig und kostspielig gewesen wäre, ohne Weiteres
Abstand nehmen. Bei Prado trafen wir auch zum ersten Male mit dem soeben
zum Senator des Kaiserreichs erwählten Herrn d’Escragnolle Taunay, dem
glänzendsten Schriftsteller und Redner des Instituto Historico zusammen, der von
jenem Tage an unser Unternehmen gefördert hat, so oft wir mit einer Bitte zu
ihm kamen. Endlich machten wir pflichtschuldigst dem deutschen Gesandten,
Herrn Grafen Dönhoff, unsere Aufwartung; wir fanden seine Wohnung nicht
ohne längeres Umherirren, da wir nach dem »ministro allemão« gefragt hatten
und irrtümlicher Weise nicht zu dem Diener des Staates, sondern zu dem Geist-
lichen, dem Diener des Herrn, gewiesen wurden.
Am nächsten Morgen waren wir wieder in Rio; die Hoffnung nach Cuyabá
zu kommen, mussten wir vorläufig aufgeben. Es war eine traurige Geschichte.
Anfang März mit dem fahrplanmässigen Dampfer abreisend, wären wir im April
[3] in Cuyabá gewesen, hätten um Mitte Mai aufbrechen und die ganze Trockenzeit,
die dort von Mai bis September gerechnet wird, und die sich allein zum Reisen
mit einer Tropa eignet, voll verwerten können. Zwar gab es in Rio im Museo
Nacional und in der Bibliotheca Nacional die Hülle und Fülle für uns zu thun,
und leicht hätten wir ein paar Monate mit grossem Nutzen verbleiben können.
Allein wir waren ungeduldig, und die schönen Indianersachen, die wir in den
Glasschränken sahen, oder von denen wir in den alten Büchern lasen, trieben uns
hinaus, statt uns zu halten. Wir beschlossen nach der Provinz St. Catharina zu
gehen, dort unseren Dampfer, der in der Hauptstadt Desterro anlaufen würde,
abzuwarten und mittlerweile Sambakís zu studieren sowie die deutschen Kolonien
aufzusuchen.
Die Untersuchung der Sambakís, der den europäischen Kjökkenmöddingern
entsprechenden Muschelhaufen indianischer Vorzeit, war ein altes Lieblingsthema
der Anthropologischen Gesellschaft in Berlin; so konnte uns nichts näher liegen
als eine Exkursion zu jenen primitiven Kulturstätten, die gute Ausbeute an Stein-
geräten und Skeletteilen versprachen.
Am 8. Februar hatte ich noch die Ehre, in einer Sitzung der geographischen
Gesellschaft unseren Expeditionsplan zu entwickeln, und am 10. Februar dampften
wir ab gen Desterro. Fast 2½ Monat haben wir dort gewartet. Hätten wir von
Anfang an mit einem so langen Aufenthalt rechnen dürfen, was hätten wir nicht
alles unternehmen können!
Wenige Tagereisen von den Kolonien sind in den sogenannten »Bugres«,
die, wenn sie auch den Gēs-Stämmen gehören, leider mit Unrecht als »Botokuden«
bezeichnet zu werden pflegen, noch ansehnliche Reste der indianischen Bevölkerung
vorhanden. Sie bedürfen dringend der Untersuchung. Alljährlich fällt eine An-
zahl dieser armen Teufel den Büchsen vorgeschobener Kolonistenposten, besonders
der Italiener, zum Opfer. Im Regierungsgebäude von Desterro traf ich mit einem
biedern Alten von der »Serra« zusammen, der dort, wie ich selbst, irgend ein
Anliegen hatte, und benutzte die Gelegenheit, mich zu erkundigen, ob er mir
vielleicht Indianer-Schädel verschaffen könne. Der gute Greis, der mich für einen
höheren Beamten zu halten schien, sah mich zu meinem Befremden misstrauisch
an und erwiederte nach einigem Zögern: »Die Schädel könnte ich Ihnen schon
besorgen. Aber ich muss dann erst mit meinen Nachbarn sprechen, ob sie dabei
sind.« Das liess tief blicken.
In zwei Monaten wäre es uns vielleicht geglückt, in freundlichere und
nützlichere Beziehungen zu den Bugres zu treten. Aber wie die Sache lag,
mussten wir ängstlich Sorge tragen, uns nur für kurze Strecken von der Tele-
graphenlinie zu entfernen; unter solchen Umständen kam nur Flickwerk zu Stande.
Den März widmeten wir ausschliesslich den Sambakís; wir haben im Ganzen
ihrer 14 untersucht und am genauesten diejenigen in der Umgebung von Laguna,
einem kleinen Hafen südwestlich von Desterro, kennen gelernt. Ehrenreich allein
besuchte die Sambakís in S. Francisco.
1*
[4]
Da aber der vorliegende Bericht auf die Schilderung unserer Schingú-Ergeb-
nisse abzielt, möchte ich dem freundlichen Leser nicht dieselbe Verzögerung zu-
muten, die wir von den Sambakís erfahren haben.*) Ich müsste ihn sonst auch
bitten, uns in die deutschen Kolonien zu begleiten, über die sich die Reisege-
fährten in verschiedenen Richtungen während des April und der ersten Hälfte
des Mai zerstreuten. Unser vortrefflicher Freund Ernesto Vahl in Desterro
stattete uns mit wertvollen Empfehlungen aus und unterstützte eifrig unsere
Propaganda zu Gunsten des Berliner Museums für Völkerkunde. In seiner Ge-
sellschaft durchritten Ehrenreich und ich ein paar ebenso fröhliche wie lehrreiche
Tage die Kreuz und Quer das liebliche Revier von Blumenau; der »Immigrant«
veröffentlichte einen Aufruf von mir, wir organisirten Sammelstellen und ritten
von Gehöft zu Gehöft, wo immer wir einen Landsmann im Verdacht hatten, dass
er auf alten Steinbeilklingen seine Messer schleife oder mit einer der prächtigen
Steinkeulen, die häufig beim Ausroden der Pflanzungen gefunden werden, pietät-
los Kaffeebohnen stampfe. Und Abends buk Mutter Lungershausen Kartoffel-
puffer aus Mandiokamehl, tranken wir »Nationalbier« und fühlten uns inmitten
aller der treuherzigen, ehrenfesten Gesichter so zu Hause, dass wir den Gedanken,
im Kaiserreich Brasilien zu sein, kaum fassen konnten. Dort weilte aber auch
eine Zierde der deutschen**) Wissenschaft, der »naturalista« Dr. Fritz Müller,
dessen Wert nur von seiner Anspruchlosigkeit und Bescheidenheit übertroffen wird;
die Spaziergänge im »Urwald« von Blumenau, auf denen uns der verehrungs-
würdige, jugendlich lebhafte Greis an seinem innigen Verkehr mit der Natur teil-
nehmen liess, sind eine meiner edelsten Reiseerinnerungen.
Vogel und mein Vetter durchstreiften fünf Wochen meist zu Fuss die
südlicher gelegenen Kolonien, deutsche wie italienische. Sie besuchten die etwas
zweifelhaften Kohlenminen am Fuss der „Serra“, erkletterten das Hochplateau
mit seinem Araukarienwald, wo sie bei einer Temperatur, deren sie sich im Land
des südlichen Kreuzes nicht versehen hätten, von vier Grad Kälte im Freien
kampiren mussten, und stiegen wieder in das Tiefland hinab. Sie fuhren mit der
Bahn nach Laguna und entschieden sich, an der Küste entlang nach Porto Alegre
zu reiten. Sie waren jedoch noch nicht drei Tage unterwegs, als sie am 16. Mai
in der Kolonie Ararangua zu ihrem Schmerz mein nichtsdestoweniger freudiges
Telegramm erhielten, dass der langersehnte Dampfer endlich in Sicht sei.
Am 24. Mai waren wir wieder alle in Desterro vereinigt und Pfingstmontag
den 29., nachdem wir gerade noch Zeit gefunden hatten, unsere Sambakí-Sammlung
zu ordnen und nach Berlin zu entsenden, sagten wir der malerischen Bucht von
[5] St. Catharina Lebewohl. Die „Rio Grande“, ein gutes Vorzeichen, stand unter
dem Kommando desselben Kapitäns, der uns 1884 nach Cuyabá gebracht hatte.
Den 31. Mai verbrachten wir in der Hafenstadt Rio Grande, fuhren den
folgenden Tag mit einem Abstecher nach Pelotas und kamen am 4. Juni in
Montevideo an. Mein Vetter und ich stiegen sofort auf einen argentinischen
Dampfer, den mit raffinirtem Luxus ausgestatteten »Eolo« um, begierig so manches
herzliche Wiedersehen, das unserer in Buenos Aires wartete, zu beschleunigen;
bald folgten auch Ehrenreich und Vogel.
Fast zwei Wochen hatten wir in der Hauptstadt von Argentinien zu ver-
weilen; erst dann kam der eigentliche Matogrosso-Dampfer. Wir benutzten den
Aufenthalt, um einige Indianerstudien zu machen. In dem 11. Bataillon der Linien-
infanterie wurden zwei Matako und ein Toba linguistisch und anthropologisch auf-
genommen sowie photographirt. Einer ganz ausserordentlichen Liebenswürdigkeit
hatten wir uns des deutschen Gesandten, des Freiherrn von Rotenhan, zu erfreuen,
dessen Empfehlung wir auch die Erlaubniss verdankten, die Soldaten zu untersuchen.
Unter seiner Führung lernten wir die merkwürdige, durch Zauberschlag aus
der Erde gestampfte Stadt La Plata kennen, das heisst eine »Stadt«, wo das
Bürgertum noch so gut wie fehlte, planmässig verteilt aber die grossartigsten
Paläste und Regierungsgebäude bereits fertig in der Pampa standen. Leider liess
die Ornamentik die fabrikmässige Herstellung nirgends verkennen. Köstlich er-
schien uns Spöttern die Kathedrale, die aus Backstein gebaut zu schwindelnder
Höhe emporsteigen soll: ein ungeheures Areal, mit den Ziegeluntersätzen der
Pfeiler bestellt, und inmitten ein einsamer Arbeiter, der Kalk anrührte, während
aus der Ferne ein Zweiter sinnend zuschaute. Wir wanderten staunend von
Strasse zu Strasse oder richtiger von Gebäude zu Gebäude, verschafften uns einen
flüchtigen Eindruck von den grossartigen Hafenanlagen, auf deren Ausführung
die Zukunft der Stadt beruht, und gelangten durch einen überall durchscheinenden,
mit entsetzlicher Regelmässigkeit gepflanzten, aber wegen der silbrig schimmernden
Blätter dennoch hübschen Eucalyptuswald — vor unserm geistigen Auge dämmerte
trotz der exotischen Bäume etwas wie die Landschaft von Teltow und Lichterfelde
auf — zu dem neuen Provinzialmuseum. Freskogemälde in frischen glänzenden
Farben schmückten die Vestibülrotunde: der Amerikaner der Vorzeit in Gesell-
schaft fossiler Geschöpfe, moderne Pampasindianer, Eingeborene nach dem ersten
Segelschiff ausschauend, das den Fluss heraufkam, andere Feuer durch Reibung
entzündend, und Cordilleren-Landschaften. Die schönen Säle enthielten bereits
eine Fülle von Schätzen: ausser einer modern naturhistorischen eine reiche pa-
läontologische Sammlung von niedern Tieren und in besonderm Glanz zahlreiche
Exemplare von Dinosaurium, Megatherium, Glyptodon, Toxodon, Macrauchenia
und wie die Arten der tertiären patagonischen Säugetiere oder der Uebergangs-
fauna nach dem Quartär hinüber alle heissen mögen, — eine imposante Sammlung
von Schädeln und Skeletten der ältesten menschlichen Einwohner bis zu den
Patagoniern, die der Direktor Francisco P. Moreno für die letzten vorgeschichtlichen
[6] Einwanderer hält, und zu den modernen Pampasindianern hinunter, eine ethno-
logische Sammlung mit massenhaftem prähistorischem Material, mit den einfachen
Steingeräten des Feuerlandes bis zu den herrlichen Vasen der Peruaner und der
Calchaquí. Um dieses Institutes willen allein dürfen wir dem seltsamen Ex-
periment der Stadtgründung vollen Erfolg wünschen.
Unfreundlicher sprach sich Professor Burmeister in Buenos Aires aus, dessen
herzerquickende Grobheit freilich nicht geringeren Ruf genoss als seine Gelehrsam-
keit. Zu unserer Freude lasen wir im Diario, dass »el sabio Murmeister«, wie
der Druckfehlerteufel wollte, von seiner Reise in die Provinz Misiones gerade
zurückgekehrt sei, und beeilten uns, ihn vor der Abreise noch zu begrüssen. Wir
trafen den alten Herrn in vortrefflicher Stimmung und wurden mit orangerotem
Muskateller aus Valencia bewirtet, der mit der kräftigen Herbheit seines Wesens
seltsam kontrastirte. Man hatte sein Museum nach La Plata übersiedeln wollen
und den Werth auf 20,000 Nacionales veranschlagt. Er erklärte aber, dass es
nicht angehe, kostbare Exemplare wie sein prächtiges Megatherium dem Transport
auszusetzen und sie in dem neuen Gebäude verderben zu lassen; so kaufte schliess-
lich die Bundesregierung das Museum der Provinz Buenos Aires für 25,000 Na-
cionales ab, und es konnte an seinem Ort verbleiben. Leider hatte es nur dunkle
alte Räume und war gefüllt wie ein Stapelraum, doch hoffte Burmeister, dass ihm
im Laufe der Zeit das Universitätsgebäude zur Verfügung gestellt werde. La Plata
war in seinen Augen reiner Schwindel; er spottete über die Bilder, wo ein Indianer
an einem Glyptodonknochen kaue — »so erzählt man mir, denn ich bin natürlich nie
dagewesen und werde nie hingehen;« er habe trotz Ameghino nicht den geringsten
Beweis für das Dasein des Menschen in dieser Epoche entdecken können —
ein Urteil, das er später nicht mehr aufrecht gehalten haben soll. Als ich zum
Abschied wünschte, dass wir ihn in voller Gesundheit wiederfänden, erwiderte er
mit seinem grimmigen Humor: »ich habe die Ueberzeugung erlangt, dass ich,
wenn auch nicht geistig, so doch wenigstens körperlich unsterblich bin.« Es ist
ihm leider nicht mehr lange vergönnt gewesen, sich dieser Ueberzeugung zu freuen.
Am 17. Juni wurde es endlich Ernst; der brasilische Dampfer, die »Rio
Parana«, erschien und mit den bei niederem Wasserstand ortsüblichen Umständ-
lichkeiten — von der Landungsbrücke in einen Karren, von dem Karren in ein
Boot — gelangten wir an Bord.
Unter den Reisegefährten fanden wir einen alten Cuyabaner Freund, den
Postdirektor Senhor André Vergilio d’Albuquerque. Derselbe erzählte uns,
dass man mit der Cholera ziemlich gnädig davongekommen sei. In Corumbá
seien allerdings über 100, in Cuyabá nur wenige Personen gestorben. Viele
hätten sich auf’s Land geflüchtet. Er selbst hatte Sonderbares erlebt. Nach
Aufhebung des Dampferverkehrs hatte er die Post auf dem alten Wege der
Tropas nach Rio befördern wollen; als er jedoch nach langem Ritt in der ersten
Bahnstation S. Paulos erschien, hiess es, er habe die Quarantaine durchbrochen:
obwohl Cuyabá bei seiner Abreise noch seuchenfrei gewesen war und er inzwischen
[7] eine Strecke von 2300 Kilometern zu Pferde zurückgelegt hatte, wurde er ver-
haftet und zur Desinfektion, die in dem kleinen Nest mit allen Schikanen aus-
zuführen unmöglich war, auf einer zweitägigen Reise mit Bahn und Dampfer
und ohne Isolirung von den übrigen Passagieren nach Ilha Grande, der Qurantaine-
Insel von Rio de Janeiro, gebracht, um dort, ich weiss nicht wie viele Tage, aus-
gelüftet zu werden.
Am 20. Juni Abends erreichten wir Santa Helena, die Fabrik des Kemme-
richschen Fleischextraktes. Sie gehört dem Haus Tornquist in Buenos Aires,
dessen Associé Herr Lynen sich das höchst dankenswerte Verdienst um unsere
Reise erworben hatte, ihr eine Sendung von Fleischextrakt, Bouillonextrakt und
Pepton zu stiften, und auch, wie wir bald erfuhren, so liebenswürdig gewesen
war, uns hier anzumelden. Denn zu unserer Ueberraschung erklang aus einem
Nachen, der in der Dunkelheit heranglitt, plötzlich die Frage herauf, ob die
deutsche Expedition an Bord sei, und trat auch gleich darauf Herr Dr. Kemmerich
in Person auf Deck mit einem Blumenstrauss und einer neuen inhaltsschweren
Kiste ausgerüstet. Erfreulicher Weise musste der Dampfer Kohlen aufnehmen
und blieb bis Mitternacht. Nur zu bereitwillig ergriffen wir die Gelegenheit,
das Klaviergeklimper, Kartenspiel und die schrecklichen deklamatorischen Vor-
träge des Kajütensalons mit einer behaglichen Familienstube zu vertauschen und
folgten der Einladung des Gastfreundes. Zur grösseren Feierlichkeit hatte der
Mayordomo auf den am Ufer aufgetürmten Knochenhügeln der Schlachtopfer
zwei mächtige Pechfeuer angezündet, so dass die Fabrik in romantischer Be-
leuchtung prangte. Damals »nur« 200 Ochsen täglich mussten hier ihr Leben
lassen, doch war die Anstalt in gutem Aufschwung begriffen und sollte bald zu
grösseren Verhältnissen erweitert werden. Herr Kemmerich hatte ein neues
Präparat ersonnen, ein gelbliches, unter hydraulischem Druck hergestelltes Fleisch-
mehl, in dem so viel Nährstoffe — feingepulvertes Bratenfleisch, Speisefett, Peptone,
Extrakt — vereinigt waren, dass 100 gr dem Nährwerte von 500 gr frischen
Fleisches entsprechen, und dass ein Mann ausschliesslich von dem Inhalt einer
etwa spannenlangen zilindrischen Blechbüchse 3—4 Tage leben könne; er bat
uns, dieses leicht transportable Gemenge von Kraft und Stoff auf der Reise in
Form von Suppe zu versuchen. Wie ich schon hier anführen darf, sind uns die
»Fleischpatronen« von solchem Nutzen gewesen, dass wir die Stunde segnen
dürfen, wo wir sie erhielten.
In Corrientes mussten wir von unserm schönen, elektrisch beleuchteten
Dampfer Abschied nehmen und auf den bescheideneren und kleineren »Rapido«
übersiedeln. Dennoch war der Tausch ein guter, denn bei dem »Rio Parana«
drohte das Auffahren auf den Sand chronisch zu werden.
Den 28. Juni Asuncion, den 29. Juni weiter. Wir überstürzten uns niemals.
Am 30. Juni stoppten wir eine gute Weile, um für einen Ochsen, den wir mit
uns führten, Gras zu schneiden. Bequemer wäre es noch gewesen, ihn sich am
Lande satt fressen zu lassen.
[8]
Paraguay verlassend kamen wir nun endlich wieder nach Brasilien. In
Corumbá trafen wir den 4. Juli in der Morgenfrühe ein und hatten den »Rapido«
nunmehr abermals mit einer noch kleineren Ausgabe, dem »Rio Verde«, zu ver-
tauschen, der am 5. Juli Morgens abfuhr. Am 11. Juli 3 p. m. kam das ersehnte
Cuyabá in Sicht. Ein Vierteljahr später, als wir gerechnet hatten. Vor Freude,
dass wir nun glücklich so weit waren, fuhren wir in diesem Augenblick noch
einmal und zum letzten Mal mit Vehemenz auf den Sand. So setzten wir im
Boot einen Kilometer oberhalb des Hafens an’s Ufer und pilgerten zu Fuss nach
dem Städtchen. Dort hatte man auch schon die Geduld verloren; Freunde
kamen uns entgegengeritten, begrüssten uns mit Lachen und Händeschütteln und
geleiteten uns zu einer gastlichen Wohnung, die uns beherbergen musste, bis
wir am andern Tag — ein Gasthof, der doch nichts getaugt haben würde, war
glücklicher Weise noch nicht vorhanden — ein leerstehendes Haus in der Rua
Nova gemietet hatten.
Cuyabá. Es erregte ein allgemeines Schütteln des Kopfes, als wir er-
klärten, dass wir spätestens in drei Wochen auf dem Marsche sein müssten. In
der That ist es nicht so leicht, in kürzester Frist die nötigen Maultiere zu er-
halten, ohne dass man auf das schmählichste betrogen wird, und die nötigen
mit dem Leben in der Wildnis vertrauten Begleiter, die sogenannten »Camaradas«,
sagen wir Kameraden, zu finden, ohne dass man Gefahr läuft, eine Anzahl un-
brauchbarer Menschen zu mieten, die später das Wohl und den Erfolg der
Expedition in Frage stellen. Wir waren im Grunde selbst erstaunt, dass es uns
gelang, die Vorbereitungen in siebzehn Tagen zu erledigen.
Der Umstand, dass wir im Jahre 1884 den ganzen Kursus schon einmal
durchgekostet hatten, kam uns in einem Sinne natürlich sehr zu Statten: wir
kannten die Sprache und hatten viele persönliche Beziehungen. Auf der andern
Seite aber war damit auch ein schwerer Nachteil verbunden, dessen Gewicht
uns erst allmählich klar wurde. Bekanntlich sind — oder waren? ich rede
natürlich von den vergangenen Tagen des Kaisertums — fast alle Brasilier der
besseren Klassen praktische Politiker, sie wollen von Staatsämtern leben und
müssen, da die vorhandenen Stellen für alle Anwärter nicht ausreichen, sich in
die beiden grossen Lager spalten derer, die im Besitz sind, und derer, die etwas
haben wollen. Die eine Partei triumphirt, die andere windet sich in oppositionellem
Grimme, die eine nennt sich, Niemand weiss warum, konservativ, die andere liberal.
1884 waren wir auf das Gastfreundlichste und Liebenswürdigste von der guten
Gesellschaft aufgenommen worden, und da sie in jener Zeit der herrschenden
Richtung gemäss konservativ war, während man auf die Liberalen geringschätzig
herabblickte, galten auch wir für konservativ. Da aber 1887 die Liberalen an der
Reihe waren, und jetzt ihrerseits die Mitglieder der konservativen Partei schlecht be-
handeln durften, so mussten auch wir schlecht behandelt werden. Mit grosser Re-
serve kamen uns die Liberalen entgegen, um sich auf keinen Fall etwas zu vergeben.
[9]
Ein ganz besonders drastisches Beispiel dieser Verhältnisse trat in einer An-
gelegenheit zu Tage, die auf das Innigste mit unserer ersten Expedition verknüpft
war. Unserer militärischen Eskorte waren zwei Hauptleute beigegeben gewesen,
Herr Tupy und Herr Castro. Der Erstere war als der Aeltere der Kommandant,
er hatte aber an der Expedition leider nur das persönliche Interesse gefunden,
die ihm vom Präsidenten zur Verfügung gestellten Gelder für seine Spielschulden
zu verwenden, anstatt den Proviant und den Sold der Soldaten zu bezahlen.
Unterwegs entdeckten wir, dass die Lebensmittel nur bis zum Paranatinga reichten,
und da auch eine Anzahl Soldaten ganz unbrauchbar war, mussten wir Herrn Tupy
mit einem Teil der Leute zurücksenden, wenn wir nicht das übliche Schicksal der
von Cuyabá ausgehenden Expeditionen teilen und unverrichteter Sache heimkehren
wollten. So baten wir Herrn Castro das Kommando zu übernehmen, setzten die
notwendige Scheidung in einer dramatisch bewegten Lagerscene energisch durch
und vollendeten dann unsere Reise programmgemäss mit glücklichem Erfolg.
Herr Tupy schlug nach seiner Rückkunft in Cuyabá einen fürchterlichen
Lärm, erklärte uns in den Zeitungen für Schwindler, die sich für Mitglieder der
»illustrissima sociedade de geographia de Berlim« ausgäben, in Wirklichkeit aber
die Martyrios, die sagenhaften Goldminen der Provinz, auskundschaften und aus-
beuten wollten, und klagte seinen Gefährten Castro des Vergehens der Insub-
ordination unter erschwerenden Umständen an.
Während der ganzen Zeit unserer Abwesenheit in Deutschland hat sich die
lustige Geschichte fortgesponnen. Im Anfang war sie für Castro, der es seiner-
seits an kräftigen Erwiderungen nicht fehlen liess, nicht ungünstig verlaufen, nahm
jedoch bei dem Sturz der konservativen Partei eine ernsthafte Wendung, als
Herr Tupy plötzlich einen Gesinnungswechsel verspürte und sich zu den Ueber-
zeugungen der neuen Partei bekannte. Castro wurde vor ein Kriegsgericht ge-
stellt; die von Tupy beigebrachten Zeugen erklärten eidlich, dass jener mit uns
gemeinschaftliche Sache gemacht habe, um den kommandirenden Offizier aus dem
Wege zu räumen. Ueber mich selbst erfuhr ich aus den Akten, dass ich mit
den Revolver in der Hand Herrn Tupy’s Leben bedroht habe. Der Spruch des
Kriegsgerichts lautete gegen Castro. Wir fanden ihn in Haft, doch war insofern
noch nicht alle Hoffnung verloren, als gerade mit dem Dampfer, mit dem wir
gekommen waren, die Prozessakten zur letzten Entscheidung an den obersten
Militair-Gerichtshof in Rio befördert werden sollten. Noch in der Nacht unserer
Ankunft setzte ich mich hin und schrieb eine kurze klare Auseinandersetzung des
wahren Sachverhalts, die mein Vetter Wilhelm und ich als eine Erklärung an
Eidesstatt unterzeichneten. Wir schickten dieselbe an die Deutsche Gesandtschaft
in Rio mit der Bitte, sie dem Supremo Tribunal zu übermitteln. Ich füge schon
hier an, dass wir nach der Rückkehr von der zweiten Expedition noch in Cuyabá
von Herrn Grafen Dönhoff die Nachricht erhielten, Castro sei einstimmig freige-
sprochen worden, und dass er später, nachdem ich in Rio persönlichen Bericht
erstattet, verdientermassen auch dekorirt wurde.
[10]
Während der konservative Castro im Arrest sass, hatte man den liberalen
Herrn Tupy auf eine ehrenvolle Expedition zur Untersuchung des Rio das Mortes
ausgeschickt, doch haben ihn die Indianer nicht freundlich behandelt, sie über-
fielen seine kleine Truppe und brachten ihm mit einem Keulenschlag eine schwere
Schädelwunde bei. Er kehrte aber lebendig und mit ein paar abgeschnittenen
Indianerohren (»Affenohren« behaupteten die Widersacher) nach der Hauptstadt
zurück, genas, wurde nach Rio Grande do Sul versetzt, womit er einen guten
Tausch machte, und dort bald zum Major befördert. Als er von Cuyabá abfuhr,
verteilte man unter die Passagiere des Dampfers ein Flugblatt »An das Heer
und die Flotte«, das weit und breit versandt, und in dem Jedermann vor dem
»infamen, ekelhaften Kapitän Antonio Tupy Ferreira Caldas« gewarnt wurde.
Seine Stirn sei von Gott doppelt gezeichnet, einmal mit dem angeborenen Kains-
mal, dann mit der Schädeldepression, die nicht von der Keule der Indianer, sondern
von dem Comblain-Büchsenkolben eines seiner Soldaten herrühre. Er sei »Ver-
schleuderer der öffentlichen Gelder, Zwischenträger, Intrigant, Spieler von Beruf,
Verleumder, Speichellecker, Lüderjahn, Spitzbube, Schwindler, Verräter, Ueber-
läufer, einem Reptil oder widerlichem Wurm ähnlich, kurz eine Eiterbeule in
menschlicher Gestalt und mit allen Lastern behaftet, die man im Universum nur
kenne und ausübe«. In diesem Ton hatte man hüben und drüben die ganze
Fehde geführt, es waren, wie ich zu meinem Erstaunen erfuhr und nachträglich
sah, Zeitungsartikel erschienen, unterzeichnet „Dr. Carlos“ oder auch mit meinem
vollen Namen, in denen ich dem Kapitän Tupy eine Blütenlese portugiesischer
Schimpfwörter an den Kopf warf, wie ich selbst sie in meinen Sprachkenntnissen
nicht hätte vermuten dürfen; mein gelindestes Prädikat war das der Giftschlange
»jararaca« gewesen, Cophias atrox. Unter solchen Umständen lässt sich begreifen,
dass die uns bei unserem neuen Erscheinen in Cuyabá entgegengebrachten Ge-
fühle etwas gemischter Art waren.
Es war von Seiten Tupys ein sehr geschickter Zug und eine sehr richtige
Spekulation auf die Ideen der Bevölkerung gewesen, dass er uns beschuldigt hatte,
goldsuchende Abenteurer zu sein. Noch heute wird es wenige Menschen im
Matogrosso geben, die da glauben, dass wir von Deutschland die weite Reise und
von Cuyabá aus die beschwerliche Expedition unternommen hätten zu dem unge-
heuerlichen Zweck, die armseligen Indianer kennen zu lernen; wir waren Ingenieure
und suchten die Martyrios, das Eldorado der Provinz, dessen Namen jedes mato-
grossenser Herz höher schlagen lässt, das aufzusuchen jeder Bürger gern grosse
Opfer bringen würde.
Zu meiner Ueberraschung erfuhren wir, dass 1884 eine Handvoll Leute den
Spuren der Expedition viele Tagereisen gefolgt waren; sie hatten wie wir über
den Paranatinga gesetzt und waren von dort bis an den Batovy vorgedrungen,
wo sie an unserem Einschiffungsplatz Kehrt machen mussten.
Nicht genug damit, wurde im Jahre 1886 planmässig unter der Führung
des José da Silva Rondon eine Expedition in das Batovy-Gebiet unternommen.
[11] 34 Leute mit 40 Reit- oder Lasttieren und 3 Ochsen zogen am 1. Juli aus.
Es befanden sich in der Gesellschaft sehr wohlhabende Bürger der Stadt, die
einen ansehnlichen Beitrag zahlten und sich um der glänzenden Aussicht willen
vielen ungewohnten Strapazen bereitwillig unterzogen. Man schlug den nächsten
Weg zum Paranatinga über die Chapada ein. Der Ausgangspunkt der Reise in’s
Unbekannte war die Fazenda S. Manoel im Quellgebiet des Paranatinga, die am
16. Juni erreicht wurde. Man bewegte sich in nordöstlicher Richtung, überschritt
eine Menge von Bächen und durchwühlte eine Menge Sand und Kieselgeröll
nach dem gleissenden Golde. Um Mitte Juli befand man sich zwischen den
Quellbächen des Batovy und gelangte zu dem Einschiffungsplatz unserer ersten
Expedition. Zuletzt aber war eine grosse Verwirrung eingerissen, man hatte
ernstlich mit dem Proviantmangel zu kämpfen, die Tiere waren in schlechtem
Zustande, der eine Herr wollte hierhin, der andere dorthin, und alle vereinigten
sich schliesslich, zu Muttern und den Fleischtöpfen Cuyabá’s zurück zu kehren.
Da traf 1887 die alarmierende Nachricht ein: schon wieder kommen der
Dr. Carlos und seine Gefährten, um eine Expedition an den Schingú zu machen.
Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen, die Deutschen hätten also trotz-
dem und alledem die Martyrios gefunden. Wahrscheinlich lagen die Goldminen
ein paar Tagereisen flussabwärts, und man war 1886 zu früh umgekehrt. Wieder
stellte sich Rondon an die Spitze einer Expedition, die er diesmal grössten-
teils aus eigenen Mitteln bestritt, und setzte sich in Bewegung, während wir noch
fern von Cuyabá waren, so dass er sich den Vorsprung vor uns sicherte. Sein
Unternehmen hat auch in das unsere eingegriffen, wie wir später sehen werden.
Nach unseren Erfahrungen mit dem Hauptmann Tupy hegten wir den
dringenden Wunsch, ohne militärische Unterstützung auszukommen. Es war jedoch
bei der knapp bemessenen Zeit vollständig unmöglich, den Bedarf an zuverlässigen
Kameraden zu decken. Das brauchbare Material dieser Leute sitzt natürlich
draussen auf den oft weit entfernten Pflanzungen und Gehöften; in der Stadt
fehlt es nicht an arbeitslosen Individuen jeder Farbenstufe, es ist aber nur ein
Zufall, wenn man unter ihnen tüchtige Personen antrifft, die mit dem Buschmesser,
der Büchse und den Packtieren hinlänglich Bescheid wissen.
So sahen wir ein, dass wir der Notlage ein kleines Zugeständnis zu machen
hatten. Wir konnten dies auch mit gutem Vertrauen thun, wenn es uns gelang,
einen wackeren Landsmann in brasilischen Diensten, der seinerseits mit Freuden
bereit war, mitzugehen, den Leutnant des 8. Bataillons, Herrn Luiz Perrot zum
Begleiter zu erhalten. Perrot, einer französischen Emigrantenfamilie entstammend
und in der Nähe von Frankfurt am Main zu Hause, war im Alter von 20 Jahren
nach Südamerika verschlagen, hatte den Paraguay-Krieg mitgemacht und sass
seither in dem verlorenen Weltwinkel Cuyabá. Ich stellte bei dem Präsidenten
der Provinz, einem Vize-Präsidenten in jenen Tagen, den Antrag, dass er uns
Perrot nebst vier Leuten und den für diese notwendigen Tieren zur Verfügung
stelle. Mein Gesuch wurde anstandslos genehmigt.
[12]
Von den Kameraden, die sich uns anboten, fanden nur zwei Gnade vor
unsern Augen, Kolonisten-Söhne aus Rio Grande do Sul, Namens Pedro und
Carlos Dhein. Wir haben diese Wahl nicht zu bereuen gehabt. Es waren ein
paar prächtige, stramme Burschen, unverdrossen bei der schwersten Arbeit und auch
zu feinerer nicht ungeschickt. Besonders der Jüngere, Carlos, war auf seine Art ein
Genie, der alles konnte, was er anfasste. Die beiden Brüder hatten ein paar
Jahre in Diensten des amerikanischen Naturforschers und Sammlers Herbert
Smith gestanden, für ihn gejagt und die Ausbeute regelrecht präpariert. Nach
seiner Abreise hatten sie zu ihrer Verzweiflung erst Ziegel, dann Brod backen
müssen; mit Begeisterung traten sie nun in eine Stelle, die ihren Talenten und
Neigungen wieder zusagte. Sie führten uns auch 4 Hunde zu, »Jagdhunde«: den
altersschwachen »Diamante«, der ein sehr brüchiger und ungeschliffener Edelstein
war, von seinen Herren aber wegen der einstigen Tugenden noch wie ein Kleinod
wertgehalten wurde, und die drei flinken und frechen »Feroz«, Wilder, »Legitimo«,
Echter, »Certeza«, Sicherheit.
Wir rechneten ferner mit Bestimmtheit darauf, die Begleitung des besten
Mannes unserer ersten Expedition zu gewinnen, des Bakaïrí-Indianers Antonio,
der in seinem Dorfe am Paranatinga, dem vorgeschobensten Posten des bekannten
Gebietes, wohnte, und den wir dort aufzusuchen gedachten.
Eine unerwartete Unterstützung meldete sich in Gestalt des alten guten
Januario. Er hatte uns 1884 als Kommandant der uns damals von der Regierung
überlassenen Reittiere bis zum Einschiffungsplatz begleitet und seine Schutz-
befohlenen nach Cuyabá zurückgeführt. In der Zwischenzeit hatte der tapfere
Sergeant nach 35jährigen Diensten seinen Abschied als Leutnant erhalten und
sehnte sich, gegenüber Cuyabá in einem kleinen Häuschen wohnend, nach neuen
Thaten. Wir kauften ihm ein gutes Reittier, unterstützten ihn für seine Aus-
rüstung und hiessen sein Mitgehen um so mehr willkommen, als wir in dem Be-
streben, einen guten Arriero zu finden, sehr unglücklich waren. Es ist dies der
Führer der Lasttiere, von dessen Tüchtigkeit das Wohl und Wehe einer Tropa
abhängt; er beaufsichtigt das Packen der Tiere, hält die Sattel in Stand, sorgt
für die gute Ordnung auf dem Marsche, sieht sich nach den guten Bachübergängen
um, entscheidet bei alle den tausend kleinen Schwierigkeiten unterwegs mit seinem
Feldherrnblick und bestimmt Zeit und Ort des Lagers. Der einzige Arriero, der
sich uns anbot, und den wir nur zwei Tage behielten, war ein so klapperiges
altes Gestell, das zwar noch reiten, aber schon längst nicht mehr gehen konnte,
dass wir ihn sicherlich auf halbem Wege hätten begraben müssen. Zu unserer
Beruhigung ist er auch schon vor unserer Rückkehr und wenigstens ohne unser
Verschulden gestorben.
So waren wir ausser dem später hinzutretenden Antonio 12 Personen: wir
vier, Perrot, Januario, Carlos und Peter, sowie die vier von Perrot ausgesuchten
Soldaten. Sie waren sämtlich Unteroffiziere und hiessen João Pedro, Columna,
Raymundo und Satyro.
[13]
Auf dem ersten Lagerplatz, noch in dichtester Nähe von Cuyabá, schloss
sich uns endlich der kleine Mulatte Manoel an. Er wollte uns durchaus begleiten,
obgleich seine Ausrüstung nur in der Hose und dem zerrissenen Hemd bestand,
die er anhatte; mochte er Einiges dazu bekommen und in aller Heiligen Namen
als Küchenjunge mitlaufen.
Ein langes Kapitel war die Lasttierfrage gewesen. Die Maultiere kosteten
im Durchschnitt 150 Milreis, damals etwa 300 Mark. Wir verzichteten auf Reit-
tiere und gingen zu Fuss, gebrauchten aber dennoch 12 Lasttiere. Perrot ritt
sein Pferd und stellte für sich und seine Soldaten 4 Maultiere. Ausserdem half
er mit einem alten Gaul dem Bedürfnis nach einer Madrinha aus, wie das den
übrigen Tieren vorausschreitende Leittier genannt wird. Dazu kam endlich das
für Januario gekaufte vortreffliche Reitmaultier, so dass die ganze Tropa aus
19 Tieren bestand. Jedes Lasttier trägt zwei »Bruacas,« grosse Ledersäcke, die
aus Ochsenhaut so ausgeschnitten und zusammengenäht werden, dass oben ein
Deckel übergreift. Mit ein paar ledernen Henkeln werden sie an den »Cangalhas«
aufgehängt: so heissen die Tragsättel, die aus einem hölzernen Gestell bestehen
und zum Schutz gegen den Druck mit grasgefütterten Kissen unterpolstert sind.
Unser Plan war, die Tiere bis zum Einschiffungsplatz mit uns zu führen,
und dort unter Aufsicht zurückzulassen, während wir die Flussreise machten und
die Indianer besuchten. Nach glücklicher Rückkehr zum Hafen fiel dann den
Tieren die Hauptaufgabe zu, unsere Sammlungen nach Cuyabá zu bringen. Da-
mit für diese Raum bleibe, mussten wir uns in der Belastung der Tiere nach
Möglichkeit beschränken. Das Rechenexempel gestaltete sich nur insofern nicht
ungünstig, als wir ja sicher sein konnten, dass von jenem Zeitpunkte ab aller
von Lebensmitteln beanspruchte Platz zur freien Verfügung stand; nur wenige
Büchsen mit Suppentafeln und »Kemmerich« mochten bis dahin gerettet werden
können. Mandiokamehl hofften wir von den Indianern zu erhalten; im Übrigen
mussten wir von Jagd und Fischfang leben. Denn hätten wir für eine Reihe
von 5 oder 6 Monaten ausreichenden Proviant mitnehmen wollen, so hätten wir
eine Truppe organisieren müssen von einem weit unsere Mittel übersteigenden
Umfang, und diese Möglichkeit selbst vorausgesetzt, hätten wir für die grössere
Zahl von Tieren auch wieder einer grösseren Zahl von Leuten bedurft, der Gang
des Marsches wäre in weglosem Terrain doppelt und dreifach erschwert und in
dem Fall, dass die Expedition wie so viele andere im Matogrosso scheiterte, das
Unglück unverhältnismässig gesteigert worden.
Perrot transportierte den Proviant für sich und seine vier Unteroffiziere auf
den der Regierung gehörigen Maultieren, den »Reunas«. Er führte ausserdem
3 Zelte mit, ein grosses für sich und zwei kleine für je 2 Mann.
Von unsern 24 Bruacas war die Hälfte für die Lebensmittel bestimmt; im
Ueberfluss nahmen wir nur das unentbehrliche Salz mit, das für mehr als ein
halbes Jahr ausgereicht hätte, 3 Sack = 150 Liter. Die übrigen Hauptartikel
waren: 1. die ausgezeichneten braunen Bohnen, 2. Farinha, die Mandiokagrütze,
[14] 3. Carne secca, gesalzenes und an der Luft getrocknetes Fleisch, 4. Speck, 5. Reis,
6. Rapadura d. i. ungereinigter Zucker in Gestalt und Grösse unserer Ziegelsteine,
7. Gemüsetafeln (Mélange, Kerbel, Sellerie) von A. Guhl in Hamburg, kondensirte
Suppen (Erbsen, Bohnen, Graupen) von R. Scheller in Hildburghausen, und
Kemmerich’sche Präparate (Fleischmehl, Fleischextrakt, Bouillonextrakt, Pepton
und etliche Dosen Zunge). Es ist vielleicht nicht uninteressant, die Einzelheiten
der übrigen Ausrüstung aufzuzählen. Da wären zu nennen:
Gewürze: Pfeffer oder »Pimenta«, die frischen Früchte in dünnem Essig auf-
bewahrt, Senfpulver und ein paar Flaschen Worcestershiresauce. Getränke: Para-
guaythee, etwas chinesischer Thee und Kaffee; eine Liebesgabe von Eckauer
Doppelkümmel, und einheimischer Branntwein, »Cachaça« und »Caninha«. Ferner
Becher, Teller, Gabeln, Löffel, Kochtöpfe, Theekessel und Beobachtungslaternen.
Beile, Pickäxte, Schippen, ein Brecheisen, die beiden letzteren Werkzeuge unent-
behrlich bei schweren Bachübergängen. Geschmiedeter Feuerstahl, schwedische
Streichhölzer, Brennöl, Spiritus, Pulver, Schrot, Zündhütchen, Seife, einige Pack
Papier, Handwerkszeug. Angeln und Angelschnüre, deren Qualität von grosser
Wichtigkeit ist, von W. Stork in München. Für die Tiere eine Madrinhaschelle,
Striegel, Stricke, Hufeisen, Nägel, Opodeldoc, Tartaro.
Als sogenannte »Dobres« d. h. den Tieren oberhalb der Bruacas aufgeladene
Packstücke gingen: Ochsenhäute, deren man immer zu wenig mitnimmt, unsere
beiden wasserdichten Zelte von Franz Clouth in Nippes bei Köln, die sich sehr
bewährt haben, unsere Nachtsäcke mit Hängematte, Moskiteiro, Ponchos, Decke
(vorzüglich sind die grossen Jäger-Decken) und einem Stück Gummituch, das zu
den wichtigsten Artikeln gehört. Dobres waren auch der Tabak, eine 50 m lange
Rolle schwarzen »Cuyabano’s«, der an Wichtigkeit den Lebensmitteln gleichsteht,
und Mais als Wegzehrung während einer Reihe von Tagen für die Maultiere.
Endlich Tauschwaaren, die wir aus Deutschland mitgebracht und dank dem Ent-
gegenkommen der brasilischen Behörden zollfrei eingeführt hatten: eine schwere
Ladung von Solinger Eisenwaaren von F. A. Wolff in Graefrath, hauptsächlich
Messern, Beilen, einigen Scheeren, Kuhketten zur Ausschmückung der Häuptlinge,
75 kg Perlen von Greiner \& Co. in Bischofsgrün-Bayern, schliesslich Hemden,
Taschentücher, Spiegel, Mundharmonikas, Flöten und dergleichen Ueberraschungen
mehr. Für unsere Kameraden hatten wir mitgebracht: Hosen, Hemden, Wald-
messer, einfache Vorderlader und Revolver.
Der Monatssold der Kameraden beträgt durchschnittlich 30 Milreis (etwa
60 Mark). Erheblich teurer sind gute Arrieros.
Unsere fachliche Ausrüstung nahm auch einigen Raum in Anspruch. Behuß
astronomischer und geodätischer Messungen standen zur Verfügung: ein Prismen-
kreis von Pistor \& Martins auf 20'' ablesbar, ein Quecksilberhorizont mit Marien-
glasdach von C. Bamberg, ein kleines Universalinstrument von Pistor \& Martins, auf
30'' ablesbar, die uns die Direktion der Seewarte in Hamburg freundlichst leihweise
überlassen hatte, ein kleiner Reisetheodolit mit Stativ von Casella auf [1]' ablesbar,
[15] 3 kompensirte Ankeruhren. Zu erdmagnetischen Messungen: ein Deviationsmagne-
tometer von C. Bamberg (Seewarte), zwei Magnete mit Schwingungskasten von
einem Lamontschen Reisetheodoliten. Zur Terrainaufnahme und zu Höhenbe-
stimmungen: ein Siedepunktapparat von Fuess, ein Naudetsches Aneroid von
Feiglstock in Etui zum Umhängen, ein Aneroid nach Goldschmidt von Hottinger,
zwei Taschenaneroide von Campbell, eine Schmalkalderbussole mit Kreis von
7 cm Durchmesser, ein »Skizzenbrett« nach Naumann von G. Heide, mehrere
Taschenkompasse, zwei Schrittzähler. Ein Registriraneroid von Richard Frères
blieb zum Zweck korrespondirender Aufzeichnungen in Cuyabá zurück und wurde
von Herrn André Vergilio d’Albuquerque bedient. Zu meteorologischen Beo-
bachtungen: ein Maximal- und ein Minimalthermometer von Fuess, ein Schleuder-
apparat nach Rung mit 3 Thermometern (Seewarte), ein kleines Taschenhygro-
meter, ein Pinselthermometer für Wassertemperaturen. Ausserdem noch Schleuder-
thermometer und Extremthermometer. Ferner eine reichhaltige und wohlüber-
legte photographische Ausrüstung mit Steinheil’schem Apparat, das Virchow’sche
anthropologische Instrumentarium, Chemikalien, etliche Spiritusgläser für kleine
zoologische Ausbeute, Zeichen- und Malutensilien, vorgedruckte anthropologische
Tabellen und sprachliche Verzeichnisse. Das geringste Gewicht brachten die
wenigen und dünnen Bücher »Reiselektüre«, deren Jeder eines oder anderes mit-
führte; Friederike Kempner, die unentbehrlichste Trösterin auf prosaischem
Marsch in fernen Landen, sagt es ja selbst: »Das Gute ist so federleicht«.
Die letzten Tage waren natürlich eitel Packerei und Plackerei. Am Nach-
mittag des 28. Juli zogen wir aus und schlugen eine halbe Stunde vor der Stadt
das Nachtlager auf. Am ersten Tag kommt es nur darauf an, aus der Stadt
heraus zu gelangen, und auch an den nächstfolgenden Tagen werden, wenn man
nicht über eine Tropa miteinander gewöhnter Tiere verfügt, nur geringe Marsch-
leistungen zu Stande gebracht. Da heisst es mehr denn je »Paciencia« und
wieder »Paciencia, Senhor!«
[]
II. KAPITEL.
Von Cuyabá zum Independencia-Lager. I.
Plan und Itinerar. Andere Routen als 1884. Kurze Chronik. Hochebene und Sertão. Die
»Serras« ein Terrassenland; seine Physiognomie und topographische Anordnung. Campos. Ansiedler.
Lebensbedingungen und Kulturstufe. Ein flüchtiges Liebespaar. Zahme Bakaïrí. Die von Rio
Novo auf Reisen. Dorf am Paranatinga. Besuch und Gegenbesuch der »wilden« Bakaïrí 1886.
Kunde von den Bakaïrí am Kulisehu!
Plan und Itinerar. In geringer Entfernung östlich und nordöstlich von
Cuyabá erhebt sich mit steilem Anstieg die Hochebene, auf der sowohl die Zu-
flüsse vom Paraguay als die des Amazonas entspringen. Niveaudifferenzen von
so kleinem Betrag, dass man mit dem Augenmass die Wasserscheide nicht er-
kennt, geben für zwei benachbarte Quellbäche den Ausschlag, ob ihr Reiseziel
das Delta am Aequator oder die Mündung des Silberstromes unter 35° s. Br.
sein wird. Wir hatten uns aus dem südlichen Stromsystem in das nördliche zu
begeben und den Uebergang von dem einen zum andern im Norden oder Nord-
osten auf der Wasserscheide zwischen dem zum Bereich des Paraguay gehörigen
Rio Cuyabá und seinem »Contravertenten«, dem zum Amazonas strebenden
Tapajoz aufzusuchen, um uns dann in östlicher Richtung nach den Quellflüssen
des Schingú zu wenden.
Ungefähr in der Mitte des Weges lag der Paranatinga, der durch zahlreiche
Quellbäche gespeiste und rasch anschwellende Nebenfluss des Tapajoz, dessen
Quellgebiet dem des Schingú benachbart ist, und von dem man lange Zeit ge-
glaubt hat, dass er selbst der westlichste Arm des Schingú sei.
So zerfiel unser Marsch in zwei Abschnitte: I. von Cuyabá bis zum Para-
natinga durch, wenn auch spärlich genug, doch immerhin besiedeltes Gebiet und
II. von Paranatinga auf weglosem Terrain zu dem Quellfluss des Schingú, den
wir hinabfahren wollten.
I. Von Cuyabá zum Paranatinga waren wir 1884 in weitem Bogen erst auf
dem linken, später auf dem rechten Ufer des Rio Cuyabá marschirt; wir hatten
diesen Umweg unseren Ochsen zuliebe eingeschlagen, die wir damals als Lasttiere
verwendeten, und die hier den bequemsten Aufstieg auf die Hochebene fanden.
Mit den Maultieren konnten wir direkter auf unser Ziel losgehen und waren dabei
[]
DIE HERREN
JANUARIO Dr. PEDRO Dr. CARLOS PERROT ANTONIO
Dr. GUILHERME Dr. PAULO
[[16]][17] in der Lage, Hinweg und Rückweg der Expedition zur wertvollen Erweiterung
der geographischen Aufnahme auf zweierlei Weise zu gestalten: auf dem Hin-
weg erreichten wir den Paranatinga (ebenso wie 1884, wenn auch auf anderer
Route) bei dem Dorf der »zahmen« Bakaïrí und die letzte brasilische An-
siedelung vorher war dieses Mal die Fazenda Cuyabasinho; die Bakaïrí unter-
stützten uns wieder beim Uebergang über den ansehnlichen Fluss, und unser
braver Antonio, der Spezialsachverständige für den Bau von Rindenkanus,
gesellte sich zu der Truppe, — auf dem Rückweg überschritten wir den
Paranatinga weiter oberhalb und fanden den Anschluss an die Zivilisation bei
der Fazenda S. Manoel, von wo aus über Ponte alta der geradeste Weg nach
Cuyabá führte.
II. Für die Strecke vom Paranatinga zum Quellgebiet des Schingú kam das
Folgende in Betracht. 1884 hatten wir nach dem Uebergang über den Paranatinga
eine Anzahl von Bächen und Flüsschen, die nach Norden zogen, gekreuzt, ohne
entscheiden zu können, ob sie dem Paranatinga-Tapajoz oder dem Schingú ange-
hörten und uns dann auf dem ersten westlichen Quellfluss, den wir mit grösserer
Wahrscheinlichkeit als einen Quellfluss des Schingú ansprechen durften, dem Rio
Batovy oder Tamitotoala der Eingeborenen eingeschifft. Er mündete schliess-
lich auch in einen Hauptarm des Schingú, den Ronuro, ja der Ronuro kam aus
südwestlicher Richtung herbeigeflossen, sodass wir uns nun bewusst wurden, in den
zwischen Paranatinga und Batovy überschrittenen Bächen und Flüsschen bereits
Vasallen des Schingú passiert zu haben. Mit dem Ronuro vereinigte sich ganz
kurz unterhalb der Batovymündung ein anderer von Ost bis Südost kommender
mächtiger Quellfluss, von dem wir damals mit Unrecht glaubten, es sei der
»Kulisehu« der Eingeborenen, während es in Wirklichkeit der uns nicht genannte
Kuluëne mitsamt dem früher aufgenommenen kleineren Kulisehu war; Ronuro
mit dem Batovy und dem falschen »Kulisehu« bildeten zusammen — in »Schingú-
Koblenz« (Confluentia), pflegten wir zu sagen — den eigentlichen Schingú, den
wir 1884 bis zur Mündung hinabfuhren.
An diesem »Kulisehu«, welchen Namen ich vorläufig beibehalten muss,
sollten viele Indianerstämme wohnen, ihn suchten wir 1887. Wir mussten also
den westlicher gelegenen Batovy überschreiten und nur bedacht sein, uns dabei
so weit als möglich oberhalb unseres alten Einschiffungsplatzes zu halten, damit
wir höchstens unbedeutende Quellbäche zu durchkreuzen hätten.
Wir gelangten vom Bakaïrídorf am Paranatinga nach dem Ursprung des
Batovy, indem wir auf der ersten Hälfte der Strecke den Spuren von 1884 folgten
und auf der zweiten, statt nördlich abzuschwenken, östliche Richtung beibehielten;
wir blieben, soviel es anging, nahe der Wasserscheide, traten alsdann in das Quell-
gebiet des Kulisehu — und dieser Fluss war in der That der wirkliche Kulisehu —
ein und wandten uns nach einer Weile gen Norden, bis wir am 6. September
einen Arm erreichten, der die Einschiffung erlaubte. Wir nannten den Lagerplatz
v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 2
[18] nach dem am folgenden Tage, den 7. September, in Brasilien gefeierten Fest
der Unabhängigkeitserklärung den »Pouso da Independencia«, oder kurzweg
»Independencia«.
Somit kann ich die Umrisse unserer Landreise für den Hinweg unter Zu-
fügung der wichtigsten Daten in den Hauptzügen folgendermassen angeben:
28. Juli 1887 Abmarsch von Cuyabá — über einige linke Nebenflüsse des
Rio Cuyabá und zwar am 2. August über den Coxipó assú (den »grossen« Coxipó),
vom 4. bis 7. Aug. über den Rio Manso — 9. Aug. zum Rio Marzagão und 10. Aug.
Anstieg auf die »Serra« — 12. Aug. Fazenda Cuyabasinho im Quellgebiet des
Cuyabá — über die Wasserscheide zum Paranatinga und Aufenthalt vom 16. bis
19. Aug. an seinem linken Ufer im Bakaïrídorf — 20. Aug. rechtes Ufer des
Paranatinga — über die Quellbäche des Ronuro nach dem Quellgebiet des Batovy:
25. Aug. Westarm, 26. Aug. Mittelarm des Batovy — 27. Aug. über den Ost-
arm des Batovy und über die Wasserscheide zum ersten kleinen Kulisehu-Quell-
bach — endlich am 6. September nach vieler Mühsal macht die erschöpfte Truppe
Halt in dem Independencia-Lager.
Da ich mich des geographischen Berichtes enthalten will, brauche ich dem
freundlichen Leser auch nicht zuzumuten, bei jedem »Descanso« oder »Pouso«,
wie wir uns nach unsern brasilischen Gefährten den Ort der Mittagpause und des
Nachtlagers zu nennen gewöhnt hatten, Halt zu machen und jeden kleinen Fort-
schritt an der Hand von Tagebuch und Karte zu verfolgen. Ich beschränke
mich auf eine allgemeine Skizze des Terrains und ein paar Augenblicksbilder aus
unserm Leben auf dem Marsche.
Hochebene und Sertão. Die Reliefformen unseres Gebiets sind in ihren
Grundzügen leicht zu verstehen. Ein gewaltiges Sandsteinplateau, das horizontal
geschichteten Urschiefern aufruht, ist den vereinigten mechanischen und chemischen
Angriffen von Wasser und Wind ausgesetzt gewesen und hat um so grössere
Veränderungen erfahren müssen, als die Gegensätze von Regenzeit und Trocken-
zeit und die Temperaturdifferenzen von Tag und Nacht sehr scharf ausgesprochen
sind. Ueber die Oberfläche weit zerstreut liegen die harten Knollen der »Canga«,
die Schlacken des ausgewaschenen und verwitterten eisenschüssigen Sandsteins;
in den tieferen Einschnitten tritt der Schiefer zu Tage, und zuweilen wandert
man, während der Weg sonst mit gelbrötlichem Sand bedeckt zu sein pflegt,
auf grauem hartem wie zementirtem Boden. Aus dem alten Plateaumassiv ist
ein Terrassenland geworden mit teilweise sanft geböschten, teilweise steilen Stufen.
Als Zeugen für die ursprüngliche Mächtigkeit erheben sich auf seiner breiten
Fläche hier und da mit steilen Hängen isolirte Tafelberge oder richtiger, da sie
nur eine durchschnittliche Höhe von etwa 80 m haben, Tafelhügel, die »morros«
der Brasilier.
Ungemein jäh fällt das Plateau an seinem Westrand im Nordosten von der
Hauptstadt zu der 600 bis 700 m tiefer gelegenen Thalsohle des Rio Cuyabá
[19] hinab; Cuyabá liegt nach Vogels Bestimmung (Fussboden der Kathedrale) 219 m
über dem Meeresspiegel, St. Anna de Chapada 855 m, die höchste Stelle unserer
Route auf dem Plateau in der Nähe von Lagoa Comprida hatte 939 m. Der
Bewohner der Niederung, dem der Terrassenrand wie ein Gebirgszug erscheint,
spricht von einer »Serra« de São Jeronymo oder auch mehr nördlich von einer
»Serra« Azul, obgleich er oben angelangt sich nicht auf einem Gipfel, sondern in
einer weiten Ebene findet. Doch haben eine Anzahl kleinerer, von der Haupt-
masse getrennter Plateaus der Erosion noch widerstanden und erheben sich nun
als Ausläufer der Hochebene selbstständig vorgelagert. Unser Marsch führte zu
unserer Ueberraschung mitten durch sie hindurch, wo wir nach der Aufnahme
von Clauss im Jahre 1884 schon oben über die Hochebene hätten ziehen sollen:
er hatte damals diese Ausläufer aus der Ferne eingepeilt und nicht wissen können,
dass sie nicht den Rand der Hauptterrasse, sondern nur vorgeschobene Posten
darstellen.
Mit ihren grotesken Formen geben sie der Landschaft einen hochroman-
tischen Character. So hatten wir dem ersten von ihnen gegenüber den Eindruck,
als ob wir ein 300 m hohes Kastell mit kolossaler Front vor uns sähen; rote
Sandsteinzinnen krönten prachtvoll die senkrechte Burgwand. Wir erblickten
plumpe Kyklopenbauten an der Seite unserer sandigen Strasse oder auf grünen
Bergkegel einen halbzerfallenen Turm mit Schiessscharten und Fensterluken und
Mauerresten ringsum oder auf einsamer Höhe ein Staatsgefängnis, das sich, als
wir näher kamen, in einen gewaltigen Sarkophag, der auf einer stumpfen Pyramide
stand, zu verwandeln schien: wir mussten uns sagen, diese wundersamen Felsen,
deren stimmungsvoller Reiz in der Verklärung der untergehenden Sonne oder im
Zauberglanz des Mondscheins nicht wenig gesteigert wurde, würden von Teufels-
sagen und anderm Folklore wimmeln, wenn sie im alten Europa ständen.
Um so prosaischer und eintöniger ist die Hochebene. Durch die Erosion
des Wassers erhält sie ein flaches Relief: seichte beckenartige Vertiefungen werden
durch flache Hügelrücken, die Chapadões, geschieden. Die Karawane bemüht
sich solange als möglich, oben auf dem trockenen und tristen Chapadão zu
bleiben und lässt es sich dem stetigen bequemen Vorwärtsrücken zuliebe selbst
gefallen, wenn sie für eine Weile aus der Richtung kommt: denn eine »Cabeceira,«
ein Quellbach, bedeutet immer Aufenthalt und kleine oder grosse Schwierigkeiten.
Auf dem Chapadão ist die Vegetation nichts weniger als elegant und üppig: krumme
und verkrüppelte Bäumchen mit zerrissener Borkenrinde, zum Teil mit kronleuchter-
artigen Ästen, deren Enden lederne Blätter aufsitzen — schmalgefiederte Palmen,
verhältnismässig selten und von unansehnlichem Wuchs — raschelndes Gebüsch und
dürre starre Grashalme — eine Pflanzenwelt, die mit ihrem ganzen Habitus beweisen
zu wollen scheint, mit wie wenig Wasser sich wirtschaften lässt, und die in der
Trockenzeit mit dem blinkenden Thau allein auszukommen hat. Alle Nieder-
schläge vereinigen sich in den tiefern Einschnitten der Hänge, wo sich sofort
ein dichteres und kraftvolleres Buschwerk den Bachufern entlang entwickelt, oder
2*
[20] bilden in der Thalmulde jene eigenartige und liebliche Cabeceira, die sich dem
Wanderer als das reizvollste Landschaftsbildchen des Matogrosso einprägt. Halb-
verschmachtet in dem dürren Busch und auf dem sandigen Boden tritt man
plötzlich auf einen saftigen frischen, vielleicht ein wenig sumpfigen Wiesengrund
hinaus, an dessen Ende in der Mittellinie der junge Bach entspringt, wo ihn das
Auge aber vergeblich sucht. Denn thalabwärts schleichend verschwindet er sofort
inmitten einer Doppelgallerie prächtiger, schlank emporragender Fächerpalmen und
hochstämmiger Laubbäume; und dieser an vollen Wipfeln und Kronen reiche
Wald geht nicht etwa beiderseits mit Sträuchern oder Gestrüpp in den niedrigen
Busch über, sondern zieht als freistehende dunkle Mauer in die Ferne, noch eine
gute Strecke von dem feuchtschimmernden breiten Streifen der grünen Grasflur
eingefasst.
Der Topograph darf sich nicht beklagen, dass er schwere Arbeit habe;
steigt er auf einen der Tafelberge oder bewegt er sich auf hohem Chapadão, so
erblickt er nirgendwo wie bei uns die in der Sonne schimmernden Silberbänder
der Wasserarme, allein für ihn bedeuten Bach oder Fluss alle die schmalen, auf
hellem Grund scharf abgesetzten Waldlinien, die aus engen Querthälern der
Hügelrücken seitlich hervortreten und in gewundenem Lauf den rasch anschwellen-
den und dem ferneren Horizont zustrebenden Hauptzug im tiefen, breiten Thal-
grund suchen.
Hier oben auf der Hochebene befinden wir uns in der echten Natur der
»Campos«, und alle Eigentümlichkeiten dieser Kampwildnis — die in beliebigen
Uebergängen von dem schwer durchdringlichen, mit stachligen Hecken und dornigem
Gestrüpp erfüllten Buschdickicht, dem »Campo cerrado«, bis zu der nur von
schmucken Wäldchen (Capões) oder kleinen Palmenständen (Buritisaes) unter-
brochenen Grassteppe erscheint — alle Eigentümlichkeiten ihrer wechselnden
Bodengestaltung und Bewässerung, ihrer Pflanzen- und Tierwelt, ihrer Lebens-
bedingungen für den Menschen fasst der Brasilier in dem einen Wort »Sertão«
zusammen. Der Sertão »bruto«, der rohe wilde Sertão, ist der, in dem es keine
Menschenwohnung oder Weg und Steg überhaupt mehr giebt, wie wir ihn
jenseits des Paranatinga in seinem vollen Glanze kennen lernten, aber auch
der Sertão, der einige Leguas im Nordosten von Cuyabá beginnt, ist nur eine
gewaltige Einöde mit wenigen kleinen, um Tagereisen voneinander entfernten
Ansiedelungen.
Man kann ohne grosse Uebertreibung sagen, dass der Sertão bereits hinter
den Thoren der Hauptstadt einsetzt, denn kein Feldbau, keine Dörfer, keine
Bauernhöfe, nur die sandigen, mit Kieselbrocken bestreuten Wege durch das
niedrige Gebüsch verraten die Kultur. Im Anfang zieht man noch auf breiter
Strasse, die nicht gerade mit Fahrdamm, Wegweisern und Meilensteinen ausge-
stattet, aber für die Tiere gut gangbar ist. Sie liegt nur völlig vernachlässigt;
jedes Hindernis, eine tiefe Karrenspur oder ein in der Regenzeit ausgespültes
Loch oder ein seitlich herabgestürzter Baum wird umgangen, umritten oder um-
[21] fahren. Bald aber verengert sich der weniger und weniger betretene Weg und
jenseit des Rio Manso wird er für lange Strecken zum schmalen Pfad, den Maul-
tier- oder Rinderfährten nicht immer deutlich bezeichnen.
Ansiedler. Bei der ansässigen Bevölkerung, den »moradores« unseres Ge-
biets, wollen wir einen Augenblick verweilen, ehe wir von aller Zivilisation —
es ist nicht gerade viel, was sie selbst davon haben — bis zum letzten Teil
der Rückreise Abschied nehmen müssen.
Erst am 7. Reisetage, dem 3. August, trafen wir ein Gehöft in Pontinha,
am 4. August kamen wir nach der kleinen Ansiedelung von Tacoarasinha am Rio
Manso und am 12. und 13. August im Quellgebiet des Cuyabá nach dem Sitio
des Boaventura, sieben elenden Hütten, und nahebei den beiden Fazenden von
Cuyabasinho und Cuyabá, die im Besitz derselben Familie sind. Mehr als durch
lange Beschreibung werden die Verhältnisse durch die einfache Thatsache be-
leuchtet, dass alle jene Niederlassungen mit Ausnahme der des Boaventura erst
seit kürzester Zeit an ihrem heutigen Orte stehen: der Eigentümer von Pontinha
war von dem Rio Marzagão, den wir am 9. August passierten, herübergezogen,
weil die zahlreichen blutsaugenden Fledermäuse dort die Viehzucht unmöglich
machten — die Leute von Tacoarasinha hatten kurz vorher noch weiter ober-
halb am Rio Manso einen Ort Bananal bewohnt — die Fazendeiros von Cuyabá-
sinho und Cuyabá hatten wir selbst 1884 schon an anderer Stelle besucht und
zwar näher am Paranatinga in der Fazenda Corrego Fundo (vergl. »Durch
Centralbrasilien« p. 116), die teils des Wechselfiebers, der »Sezão«, teils eines
Brandes wegen aufgegeben worden war und nun nur noch auf unserer somit
bereits veralteten Karte existiert; der Grund, den man in der Stadt am häufigsten
vorauszusetzen geneigt ist, dass Überfälle von Indianern den Fazendeiro zum
Wegziehen genötigt hätten, trifft heute nur in den seltensten Fällen zu. So darf
es nicht Wunder nehmen, dass wir auch einige »Tapeiras« oder verlassene Gehöfte
antrafen, wo wir in dem alten »Laranjal« erquickende Apfelsinen pflückten oder
an den Pfefferbüschen unsere Gewürzflaschen füllten. So hat es auch nur der
Sitio des Boaventura bereits zu einem kleinen in tiefer Einsamkeit gelegenen
Kirchhof gebracht: auf einem Haufen rostbrauner Cangaschlacken erhebt sich
ein Holzkreuz, ohne Inschrift natürlich, und ringsum liegen zwölf steinbedeckte
Gräber, deren Inhaber, wie während des Lebens, in der Hängematte schlafen.
»Arme Leut«, diese portugiesisch sprechenden Moradores von vorwiegend
indianischer, stark mit Negerblut versetzter Rasse. Im Vergleich zu ihnen waren
die Bewohner der kleinen, sicherlich nicht sehr blühenden Ortschaften am Cuyabá,
Guia und Rosario, die wir 1884 besucht hatten, wohlhabende Städter. Nur am
Cuyabasinho schien wenigstens ein grösserer Viehstand vorhanden zu sein; die
Rinder leben in völliger Freiheit und werden gelegentlich gezählt und gezeichnet,
doch macht sich in der ganzen Provinz der verhängnisvolle Uebelstand geltend,
dass die auf den weiten Strecken unentbehrlichen Pferde schnell an einer mit
[22] Lähmung der hintern Extremitäten beginnenden »Hüftenseuche«, peste-cadeira,
zu Grunde gehen, und die Zucht vorläufig unmöglich erscheint. Angegeben
wurde mir auf der Fazenda — ich glaube nicht recht an diese Zahlen — ein
Viehstand von 5—6000 Rindern und 60 Pferden; Maultierzucht wurde versuchs-
weise begonnen. Die Schweine wurden nicht gemästet, da man allen Mais verkaufte.
Wie gross der Landbesitz ist, weiss der Fazendeiro selbst nicht; niemals
haben hier regelrechte Vermessungen stattgefunden. Niemand prüft auch die
Ansprüche. Der Herr des fürstlichen Grundbesitzes wohnt mit seiner Familie in
einem strohgedeckten, aus lehmbeworfenem Fachwerk erbauten Hause ohne Keller
und Obergeschoss, in dem es ein paar Tische, Stühle oder Bänke und rohge-
zimmerte Truhen, aber keine Kommoden, Schränke, Betten, Oefen giebt: Alles
schläft nach des Landes Brauch in Hängematten, und man kocht auf einem Back-
ofen in einer vom Hause getrennten Küche oder Kochhütte. Das Verhältnis zum
Fremden hält die Mitte zwischen Gastlichkeit und Gastwirtschaft oder Geschäft:
man nimmt für die Unterkunft im Haus oder Hof kein Geld, spendiert Kaffee,
ein Schnäpschen, Milch, wenn es deren giebt, und verkauft Farinha, Reis, Bohnen,
Mandioka, Mais, Dörrfleisch, Hühner. Wie allenthalben im spanischen oder portu-
giesischen Amerika wird der Eintretende zu dem Mahl eingeladen, das gerade
eingenommen wird. Allein der ärmere Cuyabaner, erzählte man mir, ass deshalb
gern aus der Schublade statt von der Platte des Tisches: ertönte das Hände-
klatschen vor der Thüre, das einen Besuch anzeigte, so verschwanden gleichzeitig
mit seinem freundlichen »Herein« die Teller im Innern des Tisches. Unleugbar
praktisch.
Mit der Cachaça, dem Branntwein, hatten wir es in Cuyabasinho schlecht
getroffen: drei Tage vorher war aller Vorrath an einem Fest zu Ehren des
heiligen Antonio ausgetrunken worden. Vorsorglich werden stets die Frauen
auf der Fazenda dem Fremden ferngehalten, wenn sie nicht schon mehr oder
minder Grossmütter sind, und in diesem Misstrauen, wie in der grossen Jäger-
geschicklichkeit und in der Freude an allen Abenteuern mit dem Getier des
Waldes, dem sie mit ihren ausgehungerten halbwilden Hunden zu Leibe rücken,
meint man die indianische Abstammung der Moradores noch durchbrechen zu sehen.
Geradezu armselig waren die Hütten von Tacoarasinha, deren Bewohner
von den Schingú-Indianern in Hinsicht auf behagliche tüchtige Einrichtung und
fleissige Lebensfürsorge unendlich viel zu lernen hätten. Diese kleineren Moradores,
fern von allem Verkehr und ohne jede Erziehung aufgewachsen, auf den engsten
geistigen Horizont beschränkt, sind durch und durch »gente atrasada«, zurück-
gebliebene Leute; sie leben bedürfnislos, mit ein paar Pakú-Fischen zufrieden,
von der Hand in den Mund, und ihre guten Anlagen verkümmern im Nichtge-
brauch. Es gab in dem elenden Nest am Rio Manso kein Pulver und Schrot,
keinen Kaffee, keine Rapadura. Von uns wollten sie Mais und Farinha kaufen!
Sie hatten nur zwei Kanus und waren doch bei ihrer Trägheit in erster Linie
auf den Fischfang angewiesen.
[23]
Zum Fluss hinunter war am Morgen und Abend ein fortwährendes Kommen
und Gehen. Die Frauen holten Wasser, erschienen aber stets zu mehreren oder
in Begleitung eines Mannes. Natürlich wurden wir, da wir Bücher bei uns hatten,
Notizen machten und mit wunderbaren Instrumenten hantirten, von der schlecht
ernährten, kränklichen Gesellschaft fleissig um unsern ärztlichen Rath gefragt.
»Ich bitte«, lautete dann die Ansprache, »um die grosse Freundlickeit, mir den
Puls zu fühlen«, oder »sind Sie der Herr, der den Puls fühlt?« Gern suchten
wir aus unserer Apotheke ein Trostmittelchen hervor und erhoben Ehrenreich,
der von uns das ernsteste Gesicht hatte, ein für alle Mal auf den Posten des
»Herrn, der den Puls fühlt«.
Von dem Neuen, was sie bei uns sahen, erregten ausser einem überall
bewunderten dreiläufigen Gewehr am meisten ihr Erstaunen die aus Kautschuk
und Gummi verfertigten Sachen, da sie gelegentlich ausziehen, um die »Seringa«,
den Saft der Siphonia, zumal im Distrikt des Rio Beijaflor, zu sammeln. Es
war die reine Zauberei, als wir mit zwei aufgeblasenen Gummikissen ein schwer
lahmendes Maultier, das in einem vorspringenden Ast gerannt war und nicht
zu schwimmen vermochte, hinter dem Kanu über den Rio Manso bugsirten.
Ein Kamm und gar eine Tabakspfeife aus Kautschuck! »Was gibt es nicht
alles in dieser Gotteswelt, ihr Leute — neste mundo de Christo, oh, djente,
djente!« Die Frauen, die wir im Sitio des Boaventura sprachen, waren Zeit
ihres Lebens noch nicht einmal in Rosario oder bei der heiligen Senhora von
Guia gewesen. Alles wird aber besser werden, »wenn erst die — Eisenbahn
kommt«.
Hier möchte ich auch einer kleinen romantischen Episode gedenken, in der
wir unbewusst als Schützer treuer Liebe wirkten. Am 17. Tage sahen wir, in
aller Morgenfrühe aufbrechend, vor uns ein seltsames Paar wandern, das wir
bald einholten. Es war ein Neger, zerlumpt, hässlich schielend, aber gutmütig
ausschauend, und eine Negerin, jung, hübsch, jedenfalls viel zu hübsch für ihren
Begleiter, er auf dem Rücken, sie auf ihrem schwarzen Tituskopf ein grosses weisses
Bündel tragend. Beide gingen barfuss und zwar sie in einem rosafarbenen Kattun-
kleid mit himmelblauen Volants, er das Buschmesser, sie eine ungeschlachte Pistole in
der Hand. Woher? »Von Cuyabá.« Wohin? »Zu den Bakaïrí am Paranatinga.« Er
war Fuhrknecht in der Stadt gewesen und sie, die er heiraten wollte, Sklavin; ihr
Herr hatte seinen Konsens verweigert, und der Preis, sie loszukaufen, war uner-
schwinglich gewesen. Der gute Bischof, den sie um Beistand anflehte, riet
ihnen — er heisst Carlos Luiz d’Amour — das Weite zu suchen, bis er die
Angelegenheit in Ordnung gebracht habe. Ob auch er oder ein anderer milder
Genius den Gedanken eingegeben hat, ich weiss es nicht — sie liessen sich auf
ihrer Flucht durch unsern Zug Ziel und Weg weisen, pilgerten, ohne dass wir
eine Ahnung davon hatten, dicht hinter uns her, schliefen in der Nähe unserer
Lagerplätze und fanden dort nach unserm Abmarsch, wenn wir Jagdglück gehabt
hatten, auch noch einen Rest Wildpret zum Morgenimbiss. Einer der Fazendeiros,
[24] hatte sie vergeblich verfolgt. Jetzt erst im Quellgebiet des Cuyabá fühlten sie
sich in Sicherheit; die wenigen Tagemärsche, die noch zu den Bakaïrí fehlten,
war die junge Frau ausser Stande, zurückzulegen, aber sie fanden Unterkunft
und Arbeit bei der letzten Ansiedelung. Wenn ihnen dort im Mai des folgenden
Jahres ein pünktlicher Storch, Ciconia Maguary, das erste Pickaninny gebracht
hat, konnte er auch der Mutter die Freudenbotschaft melden, dass die Sklaverei
abgeschafft sei, und ihr die Stunde der Freiheit geschlagen habe.
Zahme Bakaïrí. Dem äussern und innern Leben der brasilischen Ansiedler
durchaus ähnlich verfliesst den in ihrer Nähe wohnenden Bakaïrí das Dasein.
Sie sind alle getauft — warum, wissen sie selber nicht, es sei denn, um einen
schönen portugiesischen Vornamen, dessen Aussprache ihnen oft schwere Mühe
macht, zu bekommen — und Einige von ihnen radebrechen auch ein wenig das
gebildete Idiom Brasiliens.
Das schon zum Arinosgebiet gehörige Dorf am Rio Novo zu besuchen, wo
wir sie 1884 zuerst kennen lernten (vergl. »Durch Zentralbrasilien« p. 102 ff.), ging
leider nicht an; um so mehr war ich am 11. August überrascht und erfreut, als
wir vor dem Uebergang des Cuyabá, den wir trotz seiner 70 bis 80 m Breite
durchschreiten konnten, ganz unversehens einem kleinen Zug von etwa neun In-
dianern begegneten, guten alten Bekannten, die ihrerseits nicht wenig erstaunt
waren, in ihrer Sprache angerufen zu werden. Sie hatten ihr Dorf vor 2 Tagen
verlassen und brachten Kautschuk nach Cuyabá; sie reisten langsam, von Last-
ochsen begleitet, und schossen sich mit Pfeil und Bogen unterwegs ihre Fische.
22 Arroben Kautschuk führten sie, ein achtbares Quantum mit einem Wert, die
Arrobe zu 33 Milreis, von 726 Milreis oder damals über 1400 Mark. So wenigstens
rechnete Perrot. Wissen möchte ich aber, wie der Handelsmann in Cuyabá ge-
rechnet, und für welchen Gegenwert von Tauschartikeln er ihnen den Kautschuk
abgenommen hat. Wäre noch der Häuptling Reginaldo dabei gewesen, der bis
20 zählen konnte.
Die Bakaïrí des Paranatinga trafen wir schon auf der ehemaligen Fazenda
von Corrego Fundo, die nun zu einem »Retiro«, einer kleinen Station für die
Viehwirtschaft, herabgesunken war; sie hatten sich dort für einige Tage verdingt
und gingen am folgenden Tage insgesamt mit uns zu ihrem Dorf am Flusse.
Antonio war glücklich, Wilhelm und mich wieder zu sehen und sofort zum Mit-
gehen bereit, ohne auch nur ein Wort über die Bedingungen oder über die
Einzelheiten unseres Planes zu verlieren. Im Dorf war es wieder urgemütlich:
viele Hühner mit ihren Küken, einige unglaubliche Hunde und dicke Schweine
liefen umher, für zwei mittlerweile zusammengestürzte Häuser hatte man zwei neue
— eins davon ein kleiner Fremdenstall — gebaut, Bananen und Mandioka waren
reichlich vorhanden und nicht minder der delikate Matrincham-Fisch. Der war
jetzt gerade auf seiner nächtlichen Massenwanderung flussaufwärts begriffen und
er, dem zu Ehren das schönste Tanzfest mit dem lustigsten Mummenschanz ge-
[25] feiert wird, gilt dem seinen Paranatinga liebenden Bakaïrí als das beste Wertstück
der Heimat; »Matrincham!«, sagte der Häuptling Felipe lakonisch, als ich ihn
fragte, ob er nicht besser sein Dorf mehr cuyabáwärts verlege.
Einer sehr späten Nachwelt werden diese Heimstätten nicht erhalten werden,
wenn sich nicht vieles ändert, und Felipe, der sich selbst nur Pelipe aussprechen
kann, war einsichtig genug, den Verfall zu bemerken. Seit 1884 waren Mehrere
zu den Fazendeiros verzogen, darunter auch zwei Brasilier, die sich damals in
der Gemeinde eingenistet hatten, den alten Miguel hatten meine Chininpulver
nicht am Leben erhalten, Kinder waren nicht geboren, der hundertjährige Caetano
schwatzte zwar noch so vergnüglichen Unsinn zusammen, dass kein Ende abzu-
sehen war, allein Nachwuchs konnte seine junge Luisa von ihm nicht erwarten,
und die Statistik verdarb entschieden der Gebrauch, dass den Alten die Jungen,
den Jungen die Alten vermählt wurden, sowie die Anschauung, dass Angriffe auf
das keimende Leben nicht als Verbrechen gelten.
Das Dorf vor dem Untergang zu retten, giebt es nur ein Mittel, das zugleich
einen Erfolg von weit grösserer Tragweite einbringen könnte, und auf dieses
Mittel ist keineswegs die brasilische Regierung, sondern in seiner Besorgnis der
dumme Felipe verfallen. Es besteht einfach darin, dass man sich womöglich mit
den von uns 1884 aufgefundenen Bakaïrí des Batovy in dauernden Verkehr setze
und einen Teil von ihnen nach dem Paranatinga ziehe. Felipe erzählte, was
von hohem Interesse ist, dass er mit Antonio und einem Andern sich 1886 auf-
gemacht habe, die Stammesgenossen an dem Zufluss des Schingú zu besuchen.
Ich komme auf die näheren, auch ethnologisch wichtigen Umstände später in der
Geschichte der Westbakaïrí zurück und bemerke hier nur, dass es den Dreien
gelang, einige Bakaïrí des ersten Batovydorfes zu einem umgehenden Gegenbesuch
am Paranatinga zu veranlassen; sie wurden mitgenommen, sahen die Wunder der
europäischen Kultur und kehrten beschenkt mit Allem, was die armen Teufel
schenken konnten, an den Batovy zurück, einen späteren Besuch in grösserer Zahl
in Aussicht stellend.
Für unsere Expedition hatte der merkwürdige Zwischenfall eine grosse Be-
deutung. Felipe und Antonio hatten von ihren Verwandten erfahren, dass es auch
im Osten des Batovy-Tamitotoala an dem Kulisehu noch mehrere
Bakaïrídörfer gebe. Mein Herz hüpfte voller Freude bei dieser Nachricht.
Denn wenn wir erstens den Kulisehu finden und zweitens dort mit Bakaïrí zu-
sammentreffen würden, hatten wir gewonnenes Spiel. Ihrer Hülfe waren wir sicher
und von ihnen erhielten wir auch genaue Auskunft über die anderen Stämme
des Flusses. Und so ist es denn auch gekommen.
[[26]]
III. KAPITEL.
Von Cuyabá zum Independencia-Lager. II.
Marsch. Unser Zug. Aeussere Erscheinung von Herren und Kameraden. Maultiertreiber- und
Holzhackerkursus. Zunehmender Stumpfsinn. Die Sonne als Zeitmesser. Freuden des Marsches.
Früchte des Sertão. Nachtlager und Küche. Ankunft. Ungeziefer. »Nationalkoch« und Jagd-
gerichte. Perrot’s Geburtstagsfeier. Nachtstimmung. Gewohnheitstraum des Fliegens. Aufbruch
am Morgen. Rondonstrasse und letzter Teil des Weges. Sertãopost. Im Kulisehu-Gebiet.
Independencia. Schlachtplan.
Marsch. Die Leistungen unserer Karawane waren sehr verschieden, aber
durchschnittlich galt ein Marsch von sechs Stunden als das normale Mass. In
der ersten Zeit wurde es gewöhnlich, keine besonderen Hindernisse vorausgesetzt,
8½ Uhr, bis der Aufbruch erfolgte; später gelang es um 7 Uhr fortzukommen.
Am Mittag wurde häufig eine kleine Ruhepause eingeschoben, wozu irgend ein
schwieriger Bachübergang den willkommenen Anlass bot.
Unser Zug sah wohl gerade nicht elegant aus, er hatte aber etwas Flottes
und Originelles an sich. Perrot zu Pferde ritt im bedächtigen Schritt dem alten
Schimmel mit langem Schweif und langer Mähne, der Madrinha, voraus, die nichts
als am Hals ihre Glocke trug; nebenher schritt barfuss der Küchenjunge Manoel,
stolz das Gewehr eines der Herren auf der Schulter, und in der Hand oder am
Gewehr oder auf dem Kopf den grossen blau emaillirten Kessel. Es folgten
oder folgten häufig auch nicht die sechzehn Maultiere, eins hinter dem andern,
und wir und die Leute dazwischen verteilt, zumeist ein Jeder für sich allein
vorwärts strebend; über die hochaufgestapelte Last der Tiere, einem Kutschen-
dach ähnlich, war eine steife Ochsenhaut gespannt, auf der die alles zusammen-
schnürende »Sobrecarga«, ein breiter Lederriemen, nur schlechten Halt fand.
Ueberall und nirgends endlich die Hunde; den Vieren hatte sich als Fünfter ein
kleiner weiblicher Spitz auf einer verlassenen Ansiedelung »Fazendinha«, nach der
er selbst den Namen Fazendinha empfing, anschliessen dürfen. Unermüdlich
flog der alte Renommist Januario auf seiner muntern Mula die Reihe entlang und
sprach lobend oder tadelnd mit den Maultieren, blieb auch ab und zu ein Stück
zurück und fröhnte seiner Leidenschaft, den Kamp anzuzünden, weniger um des
nächtlich schönen Flammenschauspiels willen als zu dem praktischen Zweck, dass
[27] der Rückweg — »man konnte ja nicht wissen« — durch den schwarzen Streifen
weithin sichtbar bleibe und in dem frisch ersprossenen Gras auch zartes Futter
liefere. »Die Wolkensäule wich nimmer von dem Volk des Tages, noch die
Feuersäule des Nachts.«
Höchst anständig präsentirten sich in ihrer Erscheinung die beiden Reiter:
Perrot in buntfarbigem Leinenhemd und weissleinenen Beinkleidern, vom Hut bis
zu den Kavalleriestiefeln adrett und nett und militärisch, und Januario mit seinem
feierlichen schwarzbraunen verrunzelten Gesicht über dem weissen Stehkragen,
nur Leutnant a. D., aber den Sattel funkelnagelneu, das Gewehr in neuem
Futteral, den Revolver in einer neuen mit Jaguarfell überzogenen Tasche, ein
blitzblankes Trinkhorn umgehangen, und ohne Sorgen für die Zukunft, da er sich
täglich mehr von seinen Gläubigern entfernte, deren zwei noch auf dem ersten
Lagerplatz erschienen waren und mit enttäuschten Mienen wieder hatten abziehen
müssen. Auf seinen Schuhen sassen mit einem merkwürdigen, tief eingeschnittenen
Fransenkranz lose Stiefelschäfte als Futterale für die Unterschenkel auf: er hatte sie
kunstgerecht von einem Paar alter Stiefel abgeschnitten, die ihm 1884 Dr. Clauss
verehrt hatte!
Doch zierte auch Wilhelm und mich noch dasselbe Paar Hosen von englischem
Leder nach Art der italienischen Orgeldreher, das die erste Expedition mitge-
macht hatte. Es hatte dem Vogels für die neue Reise zum Vorbild gedient;
für Jäger’sche Wollene schwärmte Ehrenreich. Wir alle Vier trugen Jägerhemden
und sind mit ihnen zumal in der schwülen Regenzeit, weil sie den Schweiss sofort
aufsaugten [und] rasch trockneten, sehr zufrieden gewesen. Unsere breitrandigen
Strohhüte waren in dem Gefängnis von Cuyabá gearbeitet worden, billig, doch
anscheinend für kleinere Köpfe. Das Schuhwerk war verschieden: Ehrenreich und
ich gingen in Bergschuhen und, wo der Sand sich häufte, wanderte ich barfuss;
Wilhelm liebte Pantoffeln, Vogel die leinenen Baskenschuhe, die man am La Plata
kauft. Eine Zeit lang benutzte ich auch, ohne mich recht daran gewöhnen zu
können, »Alprecatas« (in gutem oder »Alpacatas«, »Precatas« im matogrossenser
Portugiesisch), Ledersandalen, die mir aus frischer Tapirhaut geschnitten worden
waren. Diese Sandalen, den Indianern unbekannt, sind von den Negern eingeführt
worden; so befinden sich im Berliner Museum für Völkerkunde in der Kameruner
Sammlung des Leutnant Morgen zwei Paar genau derselben Art, wie die Ka-
meraden und ich sie gebrauchten. Die Sohle muss so geschnitten werden, dass
man mit den Haaren gegen den Strich geht; eine Riemenschlinge beginnt zwischen
erster und zweiter Zehe, läuft horizontal um die Ferse und wird vor dieser beider-
seits mit einer Schlaufe nach unten festgehalten.
Die Kameraden trugen auf dem Rücken einen steifen selbstgenähten Leder-
sack, den Surrão; nur Antonio schleppte seine Habseligkeiten in einem schweren
weissen Leinensack, und schien sich auch, wenn er ein Wild verfolgte, dadurch
kaum behindert zu fühlen. Die Militärs unter ihnen, Perrots vier Unteroffiziere,
trugen von ihrer Uniform nur selten den blauen Rock mit rotem Stehkragen
[28] und drei Messingknöpfen am Aermel; er stand auch wirklich, obwohl er nicht die
erste Garnitur war, zu den bald abgerissenen Zivilhosen, zu dem alten Filzdeckel
auf dem Kopf und den blossen Füssen in einem gewissen Widerspruch. Gewöhnlich
gingen sie in Drillichjacken, die rot eingefasste Achselklappen hatten. Am Hut
steckte eine Nähnadel, eine Zigarette oder dergleichen; den des schwarzbraunen
Columna schmückte ein rosa Seidenband. Carlos und Peter erfreuten sich eines
sehr festen Anzugs (d. h. Hemd und Hose) aus Segelleinen, der wie die Stiefel-
schäfte Januario’s einen historischen Wert besass: er war aus dem Zelt ihres
früheren Herrn, des Naturforschers Herbert Smith geschnitten.
Der Flinte konnte der Eine oder Andere wohl entraten; ich habe die meine
Peter überlassen, mich mit dem Revolver begnügt und auf der ganzen Reise
keinen Büchsenschuss abgegeben. Unser Aller unentbehrlichstes Stück war das
Facão, das grosse Buschmesser; das von uns mitgenommene Solinger Fabrikat
hat den Anforderungen, die daran gestellt werden mussten, die freilich sonst auch
nur an ein Beil gestellt zu werden pflegen, nicht ganz entsprochen und stand
dem amerikanischen, in Cuyabá käuflichen entschieden nach.
Die Meisten von uns führten in der kleinen Umhängetasche, der »Patrona«,
neben einiger Munition und einem Stück Tabak das Feuerzeug des brasilischen
Waldläufers bei sich, das man in den Sammlungen gelegentlich als indianisches
Objekt bezeichnet findet: einen Stahl von Bügelform und in der oft mit einge-
ritzten Mustern hübsch verzierten Spitze eines Ochsenhorns den Feuerstein und
die »Isca«, entweder Baumwolle, die von den schwarzen Kernen befreit und am
Feuer ein wenig gedörrt wurde, oder, als sie ausging, schwammiges Bastgewebe
von der Uakumá-Palme. Eine Holzscheibe verschliesst das Hörnchen und kann
an einem in der Mitte befestigten Stückchen Riemen herausgezogen werden. Fehlte
einmal Stahl oder Stein, brachte man den Zunder leicht mit einem Brennglas
oder dem Objektiv des Feldstechers zum Glimmen; an Sonne fehlte es nicht.
Endlich hing uns am Gürtel der »Caneco«, ein gewöhnlicher Blechbecher mit
Henkel, oder eine Kürbisschale von der Crescentia Cuyeté, die innen geschwärzte,
zum Essen wie zum Trinken dienende »Kuye«.
Vogel machte seine Wegaufnahme, mit dem Kompass peilend, die Uhr be-
fragend, notirend, zuweilen einen Stein zerklopfend oder an langem Faden das
Schleuderthermometer schwingend. Ehrenreich wanderte beschaulich und die um-
gebende Natur studierend fürbass; Wilhelm und ich waren auf dem ersten Teil des
Marsches als Maultiertreiber und auf dem zweiten als Holzhacker mit wütendem
Eifer thätig.
Was unsern Treiberkursus anlangt, so schienen die Maultiere im Anfang
vom Teufel besessen. Daher das ewige »oh diavo«-Fluchen oder etwa ein zorniges
»oh burro safado para comer milho« der Kameraden: »oh du verfluchter Esel, der
nichts kann als Mais fressen« und mehr dergleichen kräftiger Zuspruch. Die beliebig
in Cuyabá und Umgegend zusammengekauften Tiere bildeten noch eine regellose
Horde selbstherrlicher Individuen, und die bessern Gemüter unter ihnen wurden
[29] durch ein paar ehrgeizige Racker, die durchaus den andern vorauskommen wollten,
demoralisirt: sie liefen im dichtern Kamp mit ihren Lasten gegen die Bäume
an, dass die dürren Aeste krachten und die Gepäckstücke herabkollerten, und
schlugen sich dann munter seitwärts in die Büsche; die Leute mussten ihre Leder-
säcke abwerfen, um die Flüchtlinge zurückzuholen, die überall verstreuten Sachen
und Riemen zu sammeln und alles wieder aufzuladen, wozu aber jedesmal min-
destens zwei Personen nötig waren, da die beiden schweren Bruacas rechts und
links a tempo eingehängt wurden. Noch heute gedenke ich mit einem Gefühl
der Unlust eines Tages, wo die Verwirrung sehr gross war und ich mich allein
übrig sah, um sechs Maultiere eine endlos lange halbe Stunde durch den wüsten
struppigen Busch vor mir her zu treiben. Im besseren Terrain verursachte
wiederum ihr Gelüste, frisches Gras zu fressen oder an den Blättern der Akurí-
Palmen zu rupfen, steten Aufenthalt. Allmählich indessen lernten die Esel, wie
sie durchweg genannt wurden, bessere Ordnung halten und in der weglosen
Wildnis jenseit des Paranatinga hatten wir eine zwar mehr und mehr abmagernde
und mit Druckwunden behaftete, aber doch wohldisziplinierte Tropa.
Hier bildeten Antonio, Wilhelm und ich die Avantgarde. Wir brachen
eine halbe Stunde früher auf, suchten oder machten vielmehr den Weg, indem
wir das Gestrüpp wegsäbelten und unausgesetzt alle drei markirten, d. h. rechts
und links mit unsern Buschmessern Zweige kappten oder von dem Stamm ein
Stück Rinde wegschlugen, sodass der nachfolgende Zug stetig vorwärts rücken
und die Wegrichtung an den zersplitterten Aesten und an den weissen oder roten
Schälwunden der Bäume erkennen konnte. Waren wir an ein unüberwindliches
Hindernis geraten, und hatten wir deshalb ein Stück zurückzugehen und einen
neuen Weg zu suchen, so wurde der unbrauchbar gewordene durch auffällig quer-
gelegtes Strauchwerk versperrt, und der neue durch mächtige Schälstreifen
geradezu reklamenhaft den Blicken empfohlen. Nicht immer wurden unsere
Zeichen richtig gefunden oder die gute Madrinha hatte unbeachtet die Sperrung
überschritten; dann räsonnirte die ganze Gesellschaft über unser schlechtes
Markiren und wir drei Holzknechte waren nachher sehr betrübt, weil wir im
Schweiss unseres Angesichts das Beste gethan zu haben meinten. Uns zum
Lobe muss ich erwähnen, dass wir jenseit des Paranatinga unsere alten Marken
von 1884 noch wiederfinden und ausgiebig benutzen, ja mehrfach noch deutlich
die verschiedenen »Handschriften« unterscheiden konnten.
Zuweilen hatten es wohl beide Teile an Aufmerksamkeit fehlen lassen.
Zumal im guten Terrain. Denn es ist ja kaum zu glauben, in welchem Masse die
gleichmässig Dahinmarschierenden von stillem Stumpfsinn erfasst werden können.
Die ganze Natur schläft in Hitze und Dürre. Der viele Staub, den man schlucken
muss, trocknet Lippe und Zunge aus, die Schnurrbarthaare sind durch zähen Teig
verklebt und die Zähne haben einen Ueberzug davon, dass man wie auf Gummi-
pastillen kaut, der Gaumen verschmachtet. Man duselt und die Andern duseln
auch und die Tiere duseln; das fluchende »anda, diavo« wird seltener und
[30] schwächer oder man hört es nicht mehr, man stiert in die sonnendurchglühte
Landschaft und sieht sie nicht mehr. Man spricht leise vor sich hin und rafft
sich vielleicht noch einmal auf, den trockenen Mund weiter zu öffnen und dem
Nächsten wehmütig zuzurufen: »wenn Sie jetzt in Berlin wären, etc.?« und
lächelt schmerzlich über die matte Antwort, aus der etwas wie »Spatenbräu«
oder »eine Weisse« hervorklingt. Doch an solchem Traumbild trinkt und schluckt
man und an dem Staubteig kaut man und verdrossen stapft man weiter, tief-
innerlich, aber ohne sich zur Abwehr aufzuschwingen, einen der Hunde ver-
wünschend, der ebenso verdrossen hinterher wandert und uns bei jedem zweiten
Schritt auf die Fersen tritt; man torkelt über den Weg oder die Graskuppen,
die Koordinationsstörungen nehmen im Gehen oder Denken mehr und mehr zu,
schliesslich schläft man, die Andern schlafen, die Tiere schlafen wie die Natur
ringsum schläft, nur dass sie unbeweglich daliegt und wir mechanisch weiter
rücken.
Gäbe es noch etwas Lebendiges! Doch man wundert sich schon über
einen einsamen Schmetterling. Das Tierleben beschränkte sich auf die Cabeceiras
und die kleinen Capão-Wäldchen; dort erhob sich stets wütendes Gebell, wenn
die Hunde eindrangen und diesen oder jenen die heisse Tageszeit verschlafenden
Vierfüssler aufstörten. Aber die Hochebene war tot. Selbst nach Sonnenauf-
gang nichts von Vogelgezwitscher, sondern die Ruhe eines Kirchhofes oder so
etwas wie eine Landschaft auf dem Monde. Gegen Mittag erbarmungslose Glut-
und Bruthitze, die grauschwarzen Bäumchen im Campo cerrado, reine Gerippe,
warfen nur dünne Schattenmaschen: zeigte sich in der Ferne einmal ein wirk-
licher Baum, so liefen die Hunde, was ein merkwürdiges Zeugnis für ihr Schluss-
vermögen abgiebt, ob er nun am Wege oder seitab stand, gerade auf ihn zu
und pflanzten sich in seinem Schatten, die Zunge heraushängend und keuchend,
auf, bis der Zug vorbeikam. Auf dem hohen Chapadão hörte zeitweilig aller
Baumwuchs auf, den Boden deckten scharfes Massega-Gras oder die schauder-
haften Pinselquasten des Bocksbarts, barba de bode, von denen der Fuss immer
abgleitet, oder Cangaschlacken, die ihn immer hemmen. Dankbar begrüsste man
es wie eine Erlösung, wenn wenigstens einmal ein flüchtiger Wolkenschatten ge-
spendet wurde.
Das Tagesgestirn gewöhnten wir uns bald wie die brasilischen Waldläufer
nicht nur als Kompass, sondern auch als Zeitmesser zu verwerten. Ich brachte
es dahin, die Zeit nach dem Sonnenstand bis auf eine Viertelstunde richtig zu
schätzen. Perrot behauptete, dass die Leute den Stand der Sonne oder eines
Sternes, z. B. der Venus nach Braças (à 2,2 m) bestimmten, etwa: »Die Venus
geht morgen um 4 Uhr auf, treffen wir uns bei 3 Braças«. Dem aufgehenden
Mond wurde ein Durchmesser von ungefähr I m, dem Mond im Zenith von ½ m
zugeschrieben. Ich lernte auch bald, wenn ich nur wusste, wieviel Uhr es ungefähr
war, über die Himmelsrichtung unseres Weges im Klaren zu bleiben, ohne besonders
zur Sonne aufzuschauen: der Schatten des Vordermannes, der eines Grashalms oder
[31] der eigne Schatten that völlig denselben Dienst wie die Sonne selbst. Man kommt
aber zu einer noch höheren Stufe, es gelingt leicht, eine konstante Himmels-
richtung während des Marsches einzuhalten, auch ohne dass man sich die be-
stimmte Frage nach der Zeit vorlegt, indem man nur vom ersten Augenblick
an die Schattenlinien beobachtet und dann im Stillen an ihrer fortwährenden, vom
Gang der Sonne abhängigen Verschiebung — anfangs bewusst, bei grösserer
Uebung unbewusst — weiterrechnet: will man z. B. östliche Richtung innehalten,
so geht man bei Sonnenaufgang der Sonne entgegen und sorgt dafür, dass sich
der links entstehende Winkel von Wegrichtung und Schattenlinie allmählig in dem
Grade vergrössert, als sich die Sonne nach Norden bewegt. Diesem Winkel
zwischen Aufgang und Mittag, zwischen Mittag und Untergang das für den grob
praktischen Zweck ausreichende Mass zu geben, macht bei stetigem Marsch
selbst einem Kulturmenschen, der sich ohne seine Instrumente sehr ungeschickt
anstellt, keine grossen Schwierigkeiten und weckt in ihm wenigstens die Ahnung
eines Verständnisses dafür, wie der von Jugend auf die Natur mit offenen Augen
beobachtende Eingeborene die Uebung soweit gesteigert hat, dass wir ihm einen
besonderen »Instinkt« zuschreiben möchten.
Ein solcher »Instinkt«, der auf sehr sicherm Wissen beruht, bildet sich auch
für die topographische Kenntnis des Terrains heraus: unsere beiden Autoritäten
Vogel, der nie im Sertão gewesen war, und Antonio, dem Geologie und
Mathematik in gleicher Weise fremd geblieben waren, hatten über den Verlauf
der Chapadões und der Cabeceiras, von dem unsere Marschrichtung abhängen
musste, zuweilen recht verschiedene Ansichten und es kam dazu, dass sie eine
Zeit lang einander unfreundlich und damit auch falsch beurteilten.
Vielleicht habe ich, der Beschwerden des Weges, des Durstes, der Monotonie
des Landschaftsbildes gedenkend, eine ungünstigere Meinung von dem Sertão der
Trockenzeit erweckt als billig ist. So darf ich nicht unterlassen auch einige
Lichtpunkte zu zeigen. Da ist nun vor allem hervorzuheben, dass die kühlen
Nächte und der Schlaf im Freien ungemein erfrischten, und dass man sich an
jedem jungen Morgen wieder im Vollbesitz der leiblichen und geistigen Elastizität
befand; da ist nicht zu vergessen, dass man auch auf angestrengtem Marsch nicht
schwitzte, weil die trockene Luft den Schweiss schon im Entstehen aufsog, und
dass die Tage, an denen man mehrere Stunden hintereinander gar kein Wasser
oder auf dem Grund eines hohen verstaubten Bambusdickichts nur eine salzig-
bittere Lache fand, zu den Ausnahmen gehörten. Wie köstlich waren auch —
wenigstens so lange die Lasttiere noch nicht angelangt waren und die schwierige
Passage noch keine Sorge machte — die etwa 10 Schritt breiten, tief einge-
schnittenen, von überhängendem Gezweig beschatteten Bachbetten, wo man unter
der grünen Wölbung auf einer rötlichen Sandsteinfliese an dem kristallklaren
Wässerchen sass, mit vollem Becher schöpfte, das Pfeifchen genoss und mit dem
nackten Fuss plätschernd die hurtigen, in ihren gestreiften Schwimmanzügen aller-
liebst aussehenden Lambaré-Fischchen aufscheuchte oder einen der handgrossen
[32] azurblauen, in den Sonnenlichtern metallisch aufschimmernden Neoptolemos-Falter
bei seinem Flug von Staude zu Staude beobachtete. Und so bescheiden die
niedrigen Guariroba-Palmen mit ihren gewöhnlichen Blättern waren, so elegant
erschienen dem Auge schon aus weiter Ferne die mit mächtiger Fächerkrone
aufragenden Buritís, die nicht nur wegen ihrer Schönheit, sondern namentlich auch
deshalb willkommen waren, weil sich bei ihrem Standort immer Wasser befindet.
Gern würde ich auch den tropischen Früchten, die man in unserer Einöde
billiger Weise im Ueberfluss antreffen sollte, ein Loblied singen, um das Konto
der Annehmlichkeiten zu vermehren, aber es ist merkwürdig, man mag kommen,
wann man will, es ist stets zu spät oder zu früh für die Gaben Pomonas.
Schon fast zu zählen waren die Früchte der Uakumá-Palmen, Cocos campestris,
die uns zu Teil wurden, und deren gelboranges Fleisch einen klebrigen aprikosen-
süssen Saft besass; gewöhnlich hatte sie schon vor vollendeter Reife der Tapir
gefressen. Nur sehr selten konnten wir uns an ein paar Mangaven, Hancornia
speciosa, erquicken, und am allerseltensten war uns das Beste, die äusserlich apfel-
ähnliche, »grossartig« schmeckende Frucht von Solanum lycocarpum, Fruta de
lobo oder Wolfsfrucht des Sertanejo’s beschieden, deren quellender Süssigkeit
durch die schwarzen Kerne ein wenig zarte Bitterkeit beigemischt wurde. Dabei
schritt in unserer Marschordnung der »indian file« Einer hinter dem Andern, und
war die blosse Gelegenheit schon selten, so war noch viel seltener der Vordermann,
der sie nicht für sich selbst voll ausnutzte. Ich, der ich doch meist an zweiter
Stelle ging, glaubte schon recht zu kurz zu kommen, und bildete mir von dem
sonst so löblichen Antonio vor mir das Urteil, dass er Alles von reifen saftigen
Früchten bemerke und Alles schleunigst in Selbstsucht geniesse; er kam, sah
und saugte.
Nun, und wenn sich während des Marsches die Summe der Lust und die
der Unlust etwa die Wage hielten, so überwog auf dem »Pouso« jedenfalls das
Vergnügen trotz der gelegentlichen Misère eines schlechten Platzes oder des
Ungeziefers oder der vermissten Maultiere.
Nachtlager und Küche. Auf Wasser, Weide und »Hängemattenbäume«
kam es an, wenn wir Quartier machten. Zum idealen Pouso gehörte ein klarer
Bach mit bequemem Zutritt für Tiere und Menschen, der auch an tieferen Stellen
zwischen reinlichen Sandsteinplatten ein erfrischendes Bad gewährte, gehörte
ferner junges saftiges Gras in einer vom krüppeligen Kampwald umschlossenen
Thalmulde, sodass die Esel nicht verlockt wurden, in die Ferne zu schweifen,
gehörte endlich ein Ufer, gut ventiliert, ohne fliegendes und kriechendes Ungeziefer
und frei von Untergestrüpp mit schlanken Bäumen in einem Abstand von 7 bis
9 Schritt. Der absolut schlechte Pouso war in dürrer Grassteppe ein Stück
Morast mit zwei oder drei dicht beieinander stehenden Buritípalmen, mit einer
schwülen Pfütze und darüber summendem Moskitoschwarm; so schlimm aber kam
es wenigstens auf dem H in weg nur ganz ausnahmsweise.
[]
DIE KAMERADEN
MANOEL CARLOS PETER JOÃO PEDRO RAYMUNDO
COLUMNA SATYRO
[][33]
Die Bruacas und Gepäckstücke, die Holzsättel und das Riemenzeug wurden
in guter Ordnung nebeneinander gestapelt, die Eselrücken sorgfältig auf Schwel-
lungen und Druckwunden untersucht und behandelt, und vergnügt entfernte sich
die vierbeinige Gesellschaft. Sie hatte volle Freiheit; nur in den ersten Tagen
wurden den gefürchtetsten Ausreissern, was aber selten bis zum nächsten Morgen
vorhielt, die Vorderfüsse zusammengeschnallt, sodass sie nur mit känguruhartigen,
schwerfälligen Bewegungen vorwärts hopsen konnten. Wahrhaft erbitterten uns
ein paar von einem Herrn Elpidio gekaufte und deshalb kurzweg »die Elpidios«
benannte Esel, die noch vom zweiten Lagerplatz recta via nach Cuyabá zurück-
gelaufen waren und fortan, in treuer Freundschaft vereint, jede Gelegenheit be-
nutzten durchzubrennen.
Manoel hatte rasch seinen Platz für die Küche gefunden, Holz gesammelt,
blasend und mit dem Hut fächelnd ein helles Feuer entzündet, rechts und links
einen gegabelten Ast eingerammt und über eine Querstange den Bohnenkessel
gehängt. Wir waren währenddess beflissen, die Bäume für die Hängematten aus-
zuwählen und bemächtigten uns des Sackes, der den Bedarf für die Nacht ent-
hielt; der Sack selbst, der Ledergürtel und was man sonst bei Seite legen wollte,
wurde sorgsam an einem Ast frei aufgehangen, damit Termiten und Ameisen
nicht gar zu leichtes Spiel hatten. Dann aber ging es schleunigst zu der Bruake,
in der sich die Farinha befand, und in dem Becher oder besser in der mehr
fassenden Kürbisschale wurde aus der Mehlgrütze, einigen möglichst dicken
Schnitzeln Rapadura, so lange es von diesen Ziegelsteinkaramellen noch gab,
und einem Schuss Bachwasser eine »Jakuba« angerührt: das war stets ein schwel-
gerischer Augenblick, der auf allen Gesichtern frohe Laune hervorzauberte.
Wasser von 21° galt als kühler Trank; fast eiskalt erschien uns das während der
Nacht kalt gestellte am Morgen — falls es die Hunde nicht ausgetrunken hatten.
Mochte selbst ein Bienchen in unsern Nektar fallen. Eines! Aber freilich
wenn sie uns umschwirrten, als ob wir blühende Obstbäume wären, wurden wir
traurig. Auf einigen Lagerplätzen, besonders auf dem »Bienenpouso« am 10. August
waren die kleinen, dicken fliegenähnlichen Borstentiere eine wirkliche Plage. Wie
lebendig gewordene Ordenssterne krochen sie über die Brust und bedeckten die
Kleidung zu hunderten, begierig, jeden Flecken und jede Spur von Schweiss mit
dem ganzen Fleiss, wegen dessen sie oft gelobt werden, zu bewirtschaften. Sie
stachen ja nicht, aber sie suchten, sobald man stehen blieb oder sich setzte, in
Nase, Auge und Ohr hineinzugelangen, verbreiteten sich auf allen Wegen vor-
dringend über die Haut und krabbelten und kitzelten und zerquatschten ekelhaft,
wenn man sie unzart anfasste.
Bienen hasste man, während man die Moskitos fürchtete. Von diesen
schlimmeren Quälgeistern hatten wir während der Trockenzeit nicht viel zu leiden
und auch später ohne Vergleich weniger als 1884 an den Katarakten des mitt-
leren Schingú. Der Moskiteiro, der, durch einige dünne Gerten aufgespannt er-
halten, unsere Hängematte als luftiges Gazezelt umgab, bot sichern Schutz; die
v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 3
[34] Ruhe schmeckte doppelt süss im Genuss der stillen Schadenfreude, wenn draussen
in unheimlicher Nähe mit unzufriedenem Diminuendo und drohendem Crescendo
die feine Musik ertönte. So schrieb, zeichnete, rechnete, faulenzte man unter
seinem Moskiteiro. Die nächtlichen Beobachtungen wurden zuweilen unangenehm
beeinträchtigt; da tanzten denn Vogel und mein ihm assistirender Vetter vor
dem dreibeinigen Theodolithen einen Tanz der Verzweiflung auf und nieder,
während sie durch das Fernrohr schauten und die Ziffern niederschrieben. Respekt
auch vor der niederträchtigsten kleinsten Art, dem »mosquito pólvora«. Sie ist
winzig, fast unsichtbar und dringt unbehindert durch die Gazemaschen des Mos-
kiteiros, ihr Stich — ich weiss nicht, ob mehr ätzend oder juckend — verwirrt
die Sinne, in Schweiss gebadet wirft man sich umher und wütend reibt man erst
und kratzt dann, trotz des Bewusstseins, für ein paar Sekunden der Erleichterung
eine wochenlang schwärende Haut einzutauschen.
Schmerzhaft, und zwar so, dass auch ein Phlegmatiker mit einem Schrei in
die Höhe springt, ist der Stich der Mutuka-Bremse. Aber auch sie kommt
eigentlich erst für die Rückreise in Betracht. In hohem Grade lästig waren die
kleinen Fliegen, die unsere Leute »Lambe-olhos«, Augenlecker, nannten; nur
gehörten sie, wie die von den Blättern herabgeschüttelten Carapatos: Zecken, die
sich in die Haut einbohren und Blut saugend zu Knötchen anschwellen, und die
am Abend verschwindenden Borrachudos: Stechfliegen, deren Stich kleine schwarze
Pünktchen von Blutgerinnsel in der Haut zurücklässt, eher zu den Plagen des
Marsches als zu denen des Lagers. Die Lambe-olhos — wahrscheinlich beachtete
man die Tierchen nur bei dieser Richtung ihres Angriffs — schienen es ganz
allein auf die Augen, und, was ich ihnen sehr übel nahm, ganz besonders auf
meine Augen abgesehen zu haben, und endlich, was am schlimmsten war, sie
schienen den Raum unter dem Oberlid zu bevorzugen, sodass man schleunigst
mit verkniffenem Gesicht den lieben Nächsten zu Hülfe rief und bei dem
schwierigen Fall gewöhnlich von einer Hand in die andere wandern musste.
Der unliebsame Besuch der Kupims, Termiten, und der wahren Herren des
Urwalds, der Ameisen, galt weniger uns als unserm Nachtsack und den Ledersachen.
Glücklicher Weise wurden die Gäste meist noch rechtzeitig am Abend bemerkt, da
man durch den Schaden und die lästige Arbeit des Auspackens, Schüttelns, Sengens
und Reinigens bald so klug geworden war, vor dem Schlafengehen noch einmal
nachzusehen. Zumal der Ruf »Carregadores« veranlasste immer einen kleinen
Alarm: wer sie auf seinem Platz entdeckte, flüchtete sich mit seiner gesamten
Habe, und Alles sprang besorgt aus den Hängematten, um die Gepäckstücke zu
untersuchen. Diese nächtlich arbeitenden »Lastträger«-Ameisen oder Schlepper-
ameisen, eine Atta-Art, die auf ihrem Zuge relativ ungeheure Lasten weg-
schleppen, haben Augen von fast Erbsengrösse und machen mit ihren starken
Zangen scharfe halbmondförmige Einschnitte in Tuch und Leinen; ihre Wohnstätte
umfasst ein grosses Terrain, und die zahllosen Gänge sollen bis 3 m tief in die
Erde reichen. Mehr interessant als gefährlich, da sie Niemanden von uns etwas
[35] zu Leide gethan hat, war die gigantische braune Tokandyra-Ameise, Cryptocerus
atratus, die zum Glück kein Herdentier ist, und deren Zwicken dem Skorpion-
stich ähnelt; die Termiten sollen mit ihr in wütender Fehde liegen. Ich könnte
noch mancherlei anderes Ungeziefer nennen, was uns an diesem oder jenem
Abend zu Leibe rückte, aber ich bin mir bewusst, durch solch lange Aufzählung,
in der man aus Freude an der Erinnerung ohnehin schon bei jedem einzelnen
gern übertreibt, ein falsches Gesamtbild im Geiste des Lesers zu erzeugen. Man
könnte zu der Vorstellung kommen, die Hängematte im Sertão sei ein schlechterer
Aufenthalt gewesen als ein Bett in einer Kavalleriekaserne oder im gefüllten
Zwischendeck oder in manch einem verehrungswürdigen altstrassburger Hause.
Wenden wir uns wieder zu dem appetitlicheren Teil des Pouso. Manoels
helle Stimme, die sich während der Zubereitung des Mahles in improvisirten
Gesängen (»oh ihr Bohnen, wann werdet ihr gar sein?«): lauter, aber melodieen-
und gedankenarmer Zwiesprach mit dem Feuer, dem Kochkessel oder seinem
Inhalt ergangen hatte, rief den Herrentisch zusammen, uns vier, Perrot, Januario
und auch Antonio. Die Leute, die andern Sieben, lagerten und kochten in den
beiden stets getrennten Gruppen der vier Soldaten und drei Kameraden.
Pünktlich, sehr pünktlich war ein Jeder zur Stelle, bewaffnet mit Messer
und Gabel, ergriff einen der Zinnteller, die später durch indianische Kürbisschalen
ersetzt wurden, und Alles lagerte sich in malerischen Posituren — nur Vogel
hockte dazwischen auf seinem Observations-Klappstühlchen — um die gelbe oder
schwarzweisse Ochsenhaut, auf der der dampfende Kessel, ein Teller mit Farinha
und die Pfefferflasche standen oder, wenn die Haut sehr bucklig war, auch plötzlich
umfielen. Nach dem Essen gab es den nicht genug zu schätzenden Mate, den
Paraguaythee, gelegentlich auch Kaffee.
Unsere etwas einförmige Speisekarte wurde durch Jagd und an den Fluss-
passagen durch Fischfang angenehm belebt. Es wird ja mit sehr wenigen Aus-
nahmen Alles gegessen, was geschossen wird, und es wird ausser Aasvögeln und
kleinen Vögeln Alles geschossen, was Wirbeltier heisst. Ich habe in Rio de
Janeiro ein lehrreiches Büchlein, den »Cozinheiro Nacional«, Nationalkoch, ge-
funden, das auf jeder Seite beweist, wie mannigfaltig und gesund die zoologische
Küche Brasiliens ist und uns hier als kompetenter Führer dienen mag. Für den
Tapir 16 Rezepte, für Jaguar, Ameisenbär, Galictis, ein marderartiges Tier,
3 Rezepte, für den Affen 7 Rezepte: »man nimmt einen Affen, schneidet den
Kopf ab« und richtet ihn zu 1) am Spiess gespickt, 2) im Ofen gebraten, 3) ge-
dünstet mit Gurken, 4) gestovt mit indischen Feigen, 5) gekocht mit Kürbis,
6) gekocht mit Bananen, 7) gebraten mit Salat von süssen Kartoffeln; es werden
natürlich empfohlen Reh (26 Rezepte) und Wildschwein, dann Fischotter und
besonders die Nagetiere Coelogenis paca (12 Rezepte), einem Spanferkel ähnlich,
Cavia aperea, das kleine Haustierchen der Peruaner, »excellente«, und das
Kapivara, Hydrochoerus capybara, das sehr schmackhaft und äusserst gesund ist
für skrophulöse, syphilitische, rheumatische und tuberkulöse Personen, aber leider
3*
[36] schlecht riechenden und schmeckenden Arzneien nachgesetzt wird wegen seiner
mühsamen Zubereitung: 24 Stunden in Gewürze, 24 Stunden in fliessendes Wasser
gelegt, 6 Stunden angesetzt mit Branntwein, Nelken, Petersilie, Zwiebel, Ingwer,
Majoran, Salz, Pfeffer, am Spiess gebraten und, wenn fertig, serviert. Ferner sind
die Beutelratte Gamba und der Rüsselbär oder das Koatí, Nasua socialis, »aus-
gezeichnet und sehr gesucht«. Von drei Arten Tatús, Gürteltieren, werden zwei
Arten nicht gelobt, das Tatú canastra, Dasypus Gigas, wegen seines zähen
Fleisches, und das »Tatú cavador dos cemeterios«, das »Grabgürteltier der Kirch-
höfe«, wegen seines üblen Geruches. Die Eidechse liefert ein Fricassé, dem des
Huhnes zum Verwechseln ähnlich. Die Hühnervögel des Waldes, Jakú (Penelope)
und Mutung (Crax), sowie die grossen und kleinen Papageienvögel sind in Ragouts
vortrefflich; vor dem Anú (Crotophaga) dagegen, der nur Zecken fresse und
stark rieche, wird gewarnt, obgleich er nach allgemeinem Glauben Asthma, ver-
altete Lues und Warzen heile. Ganz delikat ist das Fleisch der Schlangen, und
wer es gegessen hat, zieht es jedem andern vor. Vor Allem ist es ausserordent-
lich wirksam bei Herzkrankheiten, veralteter Lues, und ein unfehlbares Mittel im
ersten Stadium der Elephantiasis. Der Kopf wird abgeschnitten und die Haut
abgezogen. Das Fleisch der lebendige Jungen zur Welt bringenden Schlangen
verdient vor dem der eierlegenden den Vorzug, und unter jenen liefert das
schmackhafteste und heilkräftigste die Klapperschlange.
In diesen Angaben des »Nationalkochs« sind thatsächliche Erfahrungen und
die leicht verständlichen Gedankengänge des Volksglaubens wundersam vermischt.
Den grösseren Teil der aufgeführten Gerichte, wenn man von der langen Reihe
einzelner Rezepte absieht, haben wir redlich durchgekostet, doch sind die wenigen
Schlangen, denen wir begegnet sind, leider niemals in den Kochkessel gewandert.
Für das Affenfleisch haben wir uns nicht recht begeistern können, obwohl
der »Nationalkoch« für ein brasilisches Festdiner, »lautar brasileiro« vorschreibt:
»man setze je einen Macaco an die vier Ecken der Tafel«. Unser Wildpret war
eine Cebusart, ein graugelblicher und bräunlicher Geselle mit schwarzem Hinter-
haupt und hehaartem Wickelschwanz. In Brehms Tierleben (1 49, 1890) wird
»die so häufig hervorgehobene Aehnlichkeit eines zubereiteten Affen mit einem
Kinde« mit den Worten zurückgewiesen: »Dieser verbrauchte und gänzlich
unpassende Vergleich sollte endlich aus Reisebeschreibungen verschwinden, denn
ungefähr mit dem nämlichen Rechte könnte ein gebratener Hase kinderähnlich
genannt werden; die Menschenähnlichkeit des Affen liegt in seinen Bewegungen,
nicht in seiner Körperform.« Warum so schroff? Wie ein Mensch aussieht, wissen
wir Alle, und wir Alle sind thatsächlich an ein Menschlein erinnert worden. Gern
gestehe ich zu, dass wir, gewohnt, den Affen als unsere eigene Karikatur zu
betrachten, eine solche Aehnlichkeit zu finden vielleicht erwarten und sie deshalb
zu überschätzen geneigt sind. Im Uebrigen bedaure ich, dass ich keine Photo-
graphie von einem Affen vorweisen kann, der am Spiess steckt: aufrecht, die
Arme mit den fünffingrigen Händen schlaff herabhängend, den schwarz verkohlten
[37] und versengten Kopf zur Seite geneigt und das Gesicht (»mit der dämlichen
Schnute«, erklärte Einer auf nicht-portugiesisch) in schmerzlichem, meinetwegen
auch dämlichem Mienenspiel erstarrt — ich glaube, man würde mehr doch als
durch einen Hasen an eine hässliche Miniatur-Menschengestalt erinnert werden.
Wirkungsvoller freilich ist der Eindruck, wenn der umhergereichte »Spiessgesell«
mit Kopf und Armen schlenkert und so auch einige der von Brehm geforderten
Bewegungen wenigstens passiv zum Besten giebt. Die Indianer brachten den
Affen mit Haut und Haar auf das Feuer, und auch hier habe ich den Vergleich
vermerkt »wie eine schauderhafte Kindermumie«. Das Fleisch fanden wir zäh,
doch saftig, den Geschmack nach verschwalktem, schlecht bereitetem Rindfleisch;
es empfahl sich, den Affen angebraten während der Nacht stehen zu lassen und
am nächsten Morgen zu kochen.
Unser Urteil über den Tapir lautete: er verdient gegessen zu werden, er
bedarf einer pfeffrigen Brühe und ist nicht zart. Als bestes Stück gilt der Rüssel.
Vortrefflich ist, wie wohl bei allen grossen Landsäugetieren, die frisch gebratene
Leber, die schnell und gut am Spiess herzurichten Vogels Spezialität war. Des
Wildschweins Geschmack ist sehr verschieden von dem des unsern, es ist auch
weisslich wie Kalbfleisch. Auf unserm berüchtigten »Bienenpouso« brach eine
Herde von etwa 60 Stück dicht an dem Lagerplatz vorbei; der tollen Jagd, die
sich im Augenblick unter grosser Verwirrung und fürchterlichem Hundegeheul
entwickelte, fielen vier Eber und eine Sau zum Opfer. Es wurde ein mächtiger
horizontaler, ½ m über dem Boden stehender Holzrost, das von den Indianern
übernommene »Moquem«, errichtet, auf dem die grossen Stücke geröstet wurden
(»moqueados«), während das Filet am Spiess gebraten und Leber, Herz, Nieren
mit Speck gekocht wurden.
Reh und Hirsch, »veado« und »cervo«, schmeckten anders als bei uns.
Zuweilen war die Hirschkeule ganz vorzüglich, im Aussehen einem kleinen Kalbs-
braten gleichend, von Geschmack aber feiner und zarter. Wir hatten es mit den
beiden Arten des Pampashirsches (Cervus campestris) und des Kamprehs (Cervus
simplicicornis) zu thun. Ihr Wildpret war uns stets sehr willkommen, ausge-
nommen das des mehr oder minder erwachsenen Hirsches. Der Geschmack
und Geruch seines Fleisches hat viel von Knoblauch an sich und ist leider sehr
nachhaltig; der Braten blieb uns bis zur Rückreise, wo wir in der Not auch einen
alten stinkenden Bock recht hochzuschätzen lernten, ein Ding des Abscheus.
Selbst das Fell behält die »Catinga«, wie in Brasilien allgemein mit dem Tupí-
wort die Ausdünstung der Neger, Füchse, Böcke u. s. w. genannt wird. Die
Rehe jenseit des Paranatinga waren noch frei von Menschenfurcht; 30 Schritt
voraus blieben sie stehen und betrachteten uns neugierig, ein angeschossenes Tier
machte sich auf den Trab, hielt aber auf 40 Schritt wieder ruhig an und leckte
sich das Blut ab.
Jaguarfleisch, das uns 1884 wie fettes Schweinefleisch vortrefflich mundete,
haben wir 1887 nicht genossen. Den Ameisenbär verachteten wir ob seines
[38] widerlichen Fettes; junge Tiere sollen nicht so übel sein. Gebratener Rüsselbär
hat einen angenehmen Wildgeschmack.
Vögel kamen nur selten zum Schuss, hier und da eine der Rebhuhnarten
oder eine Taube oder ein Papagei. Sie ziehen die Flusswaldung vor.
Schildkröten waren ziemlich selten, doch natürlich stets willkommen, be-
sonders stärkere weibliche Exemplare, die runde Eier bis fast zur Grösse mittel-
grosser Apfelsinen beherbergten. Am Rio Manso assen wir auch in den Schuppen
gerösteten Alligatorschwanz; das fischweisse, in dicken Längsbündeln geordnete
Fleisch war etwas zäh, aber wohl geniessbar und wurde von den Einen als fisch-,
von den Andern als krebsartig betrachtet und der Abwechslung halber unserer
Carne secca vorgezogen. Leguane gab es erst später auf der Flussfahrt. Von
Fischen habe ich des Dourado, Pakú, Jahú, der Piranha, der Piraputanga zu
gedenken, von denen die ersteren während der Ruhetage am Rio Manso zum
Teil geschossen wurden; den Matrinchams des Paranatinga habe ich die verdiente
ehrenvolle Erwähnung schon früher angedeihen lassen. In den kleineren Ge-
wässern der Hochebene war wenig Gelegenheit zum Fischen geboten; die finger-
langen Lambarés wurden mit etwas Farinhakleister von den Leuten gelegentlich
mehr zum Vergnügen geangelt. Und die wenigen Fische bissen auch nicht einmal
an; der Grund dafür, den einer unserer Mulatten entdeckte, wäre eines Irischman
würdig gewesen: »weil sie die Angel nicht kennen«.
Eine grössere Anzahl von Menschen rein auf die Jagd angewiesen, würde
im Sertão schweren Entbehrungen ausgesetzt sein, selbst wenn sie sich an einem
günstigen Platz festsetzte. Gleichzeitig aber in regelmässigem Marsch vorrücken
ist unmöglich. Das Land ist trotz der gegenteiligen Behauptungen der Mato-
grossenser als verhältnismässig jagdarm zu bezeichnen, doch mögen sich ein paar
Leute mit guten Hunden und einigem Salzvorrat, sofern sie nicht an eine strikte
Route und an eine bestimmte Zeit gebunden sind, recht wohl durchschlagen können.
Von vegetabilischen Nahrungsmitteln wird ausser dem bereits besprochenen
Früchten nur Palmkohl von der Guariroba — chininbitter — und Akurí geboten.
»Palmwein« haben wir nur einmal getrunken; wir fällten eine Burití, die in der
Höhe — 17 m der Stamm, 2 m (Stiel 0,35 m + Fächer 1,65 m) das Blatt —
19 m mass und einen Umfang von 1,2 m hatte, und schlugen mehrere Tröge in
den stahlhart klingenden Stamm, wobei zwei Beilgriffe zerbrachen. Aus den
graurötlichen Gefässbündeln floss, in den oberen Trögen nur sehr spärlich, ein
sanftes Zuckerwasser, das allmählich einen Geschmack von Kokosmilch annahm
und ausgetrunken wurde, ehe Gährung eintrat.
So glaube ich, den hervorragendsten Genüssen, die das Lagerleben bot, ge-
recht geworden zu sein. Als gewissenhafter Chronist erwähne ich auch Perrot’s Ge-
burtstagsfeier am 14. August: wir vier brachten ihm schon vor Tagesanbruch
einen solennen Fackelzug mit obligater Musik dar, das heisst ein Jeder, der noch
herrschenden Nachtzeit angemessen gekleidet, trug eine brennende Kerze, ich blies
auf meinem Signalhörnchen, Vogel und Ehrenreich pfiffen auf einem Jagdflötchen,
[39] Wilhelm auf den Fingern, die Hunde stimmten gellend ein, ich besang den
Jubilar in einigen schon durch den Reim Brasilien: Familien gebotenen Versen,
und zu alledem gab es noch einen Schnaps, der den alten Januario zu einem
lauten, der Himmel weiss, wo aufgeschnappten »hip, hip, hurrah« begeisterte.
Das Geburtstagskind wurde auch mit einem Packetchen Zigaretten und einem
Stück amerikanischen Tabaks beschenkt und durfte in einer Tasse Kaffee einen
noch aufgesparten Rest Zucker trinken.
Ja, es war ein schönes und lustiges Dasein in unsern billigen Nachtquartieren.
Wenn das Essen abgetragen war, Jeder sein Besteck im Bach gespült, Manoel
die Teller gewaschen hatte — der Schlingel gebrauchte für die Reinigung seines
Kochgeschirrs Seife wie wir bei dem rapiden Verbrauch dieses Artikels eines
Tages feststellten, ja er hatte die gerupften und ausgenommenen Vögel aussen
und innen mit Seife gewaschen — wenn die Nacht sich tiefer und tiefer über
unser in der Einsamkeit verlorenes Lagerbildchen senkte, dann schaukelten wir
uns urbehaglich in unsern Hängematten und allerlei Wechselrede flog herüber
und hinüber. Jagdabenteuer — besonders schön war es, wie Perrot von einem
über den Fluss überhängenden Baum herabfiel und sich auf einen Alligator
setzte — und das Tierleben kamen in erster Reihe: als von allgemeinerem Interesse
möge die bestimmte Behauptung erwähnt sein, dass sich Jaguar und Puma häufig
kreuzen; auch zwischen der eingewanderten Ratte und Cavia Aperea sollen
Kreuzungen vorkommen. Perrot’s Schilderungen ferner von den Schrecken des
Paraguaykrieges, von den Mordthaten des Tyrannen Lopez, den sein an den Rand
der Vernichtung getriebenes Volk noch heute als Heros verehrt und an dessen
Tod es nicht glauben will, Indianergeschichten, unsere Zukunftspläne, der Verlauf
der Flüsse und Chapadões, la société de Cuyabá, Reiseerlebnisse und natürlich
die Heimat — alles das waren unerschöpfliche Themata, und ging einmal der
Plauderstoff aus, so brauchte man nur Ehrenreich’s wohlassortirten Anekdoten-
kasten anzutippen und es quoll hervor ohn’ Ende wie aus dem Hut eines Taschen-
spielers: Wippchen, Geheimrats-Jette, der urkomische Bendix, die Goldene 110 —
wehe wenn sie losgelassen, da gab es kein Einhalten.
Längst waren wir verstummt, dann war seitab, wo die Leute um das Feuer
sassen und die Bohnen zum Frühstück kochten, die Unterhaltung noch im vollen
Gange. Laut klang die Stimme eines Haupterzählers herüber, prächtig nach-
ahmend, alle Affekte durchlaufend und, wenn die Pointe kam, mit Triumph in
die höchste Fistel überspringend; kräftig setzte der Beifall der Andern ein, man
hörte sie lachen und ausspucken: »o que ladrão, oh, was für ein Spitzbube!«
»Nur die Neger und die Deutschen können lachen«, behauptete Ehrenreich.
Allmählich wird es still. Im Walde flötet mit vollen, klaren und ganz
menschenähnlichen Tönen der Johó, Crypturus noctivagus; er setzt die ganze
Nacht nicht aus, und, wenn er Abends beginnt, hat sein immer gleichmässiger
Ruf die unfehlbare Wirkung, dass jedermann ihn nachpfeift. Kein Lüftchen regt
sich, doch knattert es in den Fächern der Buritípalmen wie leiser Regen, maschinen-
[40] mässig schwirrt das ununterbrochene Zirpen der Zikaden, zuweilen mischt sich
das ferne Geklingel der Madrinha hinein.
Finster ist es nur im Gebüsch und unter den Bäumen, wo als formlos un-
deutliche Masse der Wall der Gepäckstücke und Sättel liegt; das Feuer ist bis
auf einen glimmenden Holzkloben erloschen. Durch die schwarzen Aeste über
unserer Hängematte blickt der funkelnde Sternenhimmel, wie körperliche Schatten-
arme recken sie sich in die Luft, und unter ihnen weg schweift das Auge über
die dunkle Hochebene, auf der fernhin die roten Glutlinien des fortschreitenden
Grasbrandes leuchten; zuweilen flackert es empor in wabernder Lohe, kriecht über
einen Hügel und dehnt sich wieder lang zu einer dünnen Schlange aus, deutlich
erkennt man Hochöfen, Bahnhöfe, verfolgt die Signallaternen der Schienenwege
und bemerkt gar hier und da festlich illuminierte Gartenlokale. O Traum des
Matogrosso, wann wirst du die Wirklichkeit gewinnen, die länger anhält als ein
nächtliches Phantasma? Der Dr. Carlos, hofften die Cuyabaner, werde den Schingú
entlang das beste Terrain für die Eisenbahn nach Pará finden. Er fand mehr,
er hat in mancher Nacht die Bahn schon fertig und im schönsten Betrieb den
Sertão durchziehen sehen, aber er ist zum Unglück, wenn er so weit war, immer
rasch eingeschlafen.
Und dann in seinem wirklichen Traum, löste er mit sicherer Eleganz ein
Problem, das viel wichtiger ist als die Eisenbahn im Matogrosso. Er flog. Er
flog mehrere Stockwerke die Treppe hinunter, ohne den Boden zu berühren und
lenkte scharf um die Ecken, ohne anzustossen, er flog draussen zu den Dächern
empor und über sie hinweg, ja er war sich dabei immer auf das Bestimmteste
bewusst, nicht etwa zu träumen, und liess sich einmal sogar von dem Direktor Renz
engagiren, um die neue herrliche Kunst im Zirkus zu zeigen, wo sie freilich im
entscheidenden Augenblick versagte, und die Menschenmenge den armen Erfinder
mit brausendem Gelächter verhöhnte. Der Traum des Fliegens war für mich in
der Hängematte geradezu ein Gewohnheitstraum und immer mit der lebendigsten
Ueberzeugung des Wachseins verknüpft. Ich gebrauchte selten etwas, was als
Kopfkissen hätte gelten können, ein Tuch, eine Mütze oder dergleichen, denn
dieses Ersatzstück verlor sich doch von seinem Platz. So war der Hals und der
Ansatz des Kopfes im Nacken nicht unterstützt, die durch das Körpergewicht
straff angezogene Hängematte ging frei weggespannt über diese Stelle, und oben
oder zur Seite lag der Kopf schwer auf, gleichsam wie ein besonderer Körper
für sich. Wahrscheinlich ist in dieser unbequemen Lage die Erklärung enthalten.
Ich hatte einen leisen Schlaf und stand als guter Hausvater auch zuerst
auf, um Manoel zu wecken, dass er den Mate aufsetze. Schlaftrunken blies der
Junge die Asche an und hatte bald sein kochendes Wasser. Dann erschallte
mein Trompetchen in gellenden Tönen und Fazendinha, der Spitz, sang zur Be-
gleitung sein Morgenlied. Die geübtesten Fährtensucher brachen auf, die Maul-
tiere zu holen, wir banden die Hängematten los, packten die Decken ein, wuschen
uns im Bach mit Seife und, um zu sparen, auch mit Sand, vielleicht kostbarem
[41] goldführendem Sand, assen marschbereit unsere Bohnen und warteten mit immer
neuer Spannung auf den ersten Laut der Klingel der Madrinha. Der gute
Schimmel erschien, hinter ihm kamen die Esel geschritten — denn die schönen
Tage waren längst vorbei, als Januario mit dem Maissack raschelnd sein lockendes
»jo jo jo« ertönen liess und sie in Aufregung heraneilten und mit dem Vorderfuss
ungeduldig aufstampften — eifrig zählten wir der Reihe entlang und dankten
unserm Schicksal, wenn keins der teuern Häupter fehlte und sich nicht einmal die
beiden Elpidios »versteckt« hatten. Gewöhnlich kamen sie in kleinen Abtheilungen
und nicht selten hatten sich einige erst eine Stunde weit oder mehr vom Lager ent-
fernt gefunden, wohin man ihre Spuren verfolgen musste. Die Tiere wurden jedes
an eine Stange oder ein Bäumchen gebunden, und die Avantgarde setzte sich in
Bewegung.
Rondonstrasse und letzter Teil des Weges. Es war am 25. August,
als wir die beiden Quellflüsse des Ronuro, den Bugio und den Jatobá möglichst
nahe ihrem Ursprung passiert hatten, und weiter östlich ziehend eine frische
Queimada bemerkten. Sie konnte nur von der Goldsucher-Expedition des
Cuyabaners Rondon herrühren: bald kreuzten wir in der That auch seinen nach
Norden gerichteten Weg, einen schmalen, aber von den Eseln festgetretenen
Graspfad. Rondon war also in das Gebiet des Jatobá und damit des Ronuro
vorgedrungen; dort hoffte er das Eldorado der Martyrios zu finden. Da er, wie
wir wussten, über die Fazenda S. Manoel gezogen war, denselben Weg, den wir
auf der heimreise von hier aus einschlagen wollten, so war es für uns von
grossem Interesse, darüber Näheres zu erfahren. Er konnte uns vielleicht beraten,
ob sein Weg auch in der Regenzeit, in der wir zurückkehrten, überall gangbar
und der Rio S. Manoel dann für unsere Truppe passierbar sein werde, wie weit
es ferner von hier noch bis zur Fazenda und wie jenseits derselben der Anstieg
auf die »Serra« beschaffen sei.
Die Rondonstrasse kreuzte sich mit unserm Wege rechtwinklig bei einem
freistehenden, verhältnismässig hohen Baum; er sollte die Sertãopost vermitteln.
Ich schrieb Abends auf dem Pouso am Westarm des Batovy meinen Brief, in
dem wir den Kollegen begrüssten und unsere Fragen formulierten, und legte ihn
nebst einem Bogen Papier und einem Bleistift in eine wasserdichte Blechbüchse.
Perrot und Januario ritten am nächsten Morgen zurück, nagelten die mit Leder-
riemen umschlossene Büchse an und befestigten kreuzweise darüber zwei Bambus-
stöcke mit flatternden Fähnchen. Das Terrain ringsum war bereits Queimada,
sodass man von einem Feuer nichts zu befürchten brauchte; der Baum wurde
noch gründlich markiert und aussen auf dem Briefkasten stand mit Tusche ge-
schrieben die Adresse: »Illmo͇ Sr. Rondon.«
Obgleich wir möglichst nach Süden gehalten hatten, fanden wir den West-
arm des Batovy doch bereits stärker als uns lieb war; er floss ausserdem
zwischen steilen Uferhängen, die abgestochen und mit einem Geländer flankiert
[42] werden mussten. Das Quellbecken des Batovy zeigte sich weiter südwärts vor-
geschoben, als unsere Karte von 1884 auf Grund von Peilungen angab. Wir
machten, nachdem wir einen kleinen Mittelarm ohne Mühe passiert hatten, eine
Rekognoszirung nach Süden und fanden eine von breiten Waldstreifen reich
durchsetzte Landschaft: der Wald des Batovy schien unmittelbar in den des
Paranatinga oder, mussten wir uns fragen, östlich auch schon des Kulisehu
überzugehen; eine Wasserscheide war nicht zu erkennen. Im Batovybecken
entdeckten wir auch deutliche Indianerspuren, wahrscheinlich von umherstreifenden
Kayapó herrührend, von Menschenhand geknickte Zweige und ein bei Seite ge-
worfenes Stück Buritístab. Und, was uns nicht minder interessierte, ziemlich
Briefkasten im Sertão.
frische Fährten von Ochsen und ein Lager, das von 5—6 Tieren benutzt zu sein
schien. Das waren Ochsen, die uns selbst gehörten, die wir selbst bezahlt
hatten: 1884 bei der Einschiffung hatten wir sie laufen lassen, da sie zum
Schlachten wegen ihres heruntergekommenen Zustandes und ihrer Wunden nicht
taugten. Jetzt waren sie, wie die breit ausgetretenen Spuren bewiesen, rund und
fett geworden. Aber es gelang nicht, sie aufzutreiben, und nur ein Tapir fiel
uns zur Beute.
Nachdem wir am 27. August das letzte Quellflüsschen des Batovy über-
schritten, einen äusserst mühseligen Anstieg auf den Ostchapadão ausgeführt, auf
seiner Höhe eine lange, 10 m breite, 3—4 m tiefe Erdspalte, deren Wände aus
[43] grauschwarzem, trocknem Morast bestanden und in die der Wald hinabgestürzt
war, durch scharfes dürres Massegagras auf Tapirpfaden wandernd umgangen und
einen unangenehmen Chapadão mit einem Niederstieg voller Cangablöcke gekreuzt
hatten, machten wir an einem sumpfigen Bächlein einen Ruhetag, nicht denkend,
dass wir bereits Kulisehuwasser tranken. Die Maultiere waren von den Strapazen
schon recht mitgenommen, während die Hunde sich gerade hier, in den besten
Jagdgründen, am wohlsten fühlten und gelegentlich mit Tapirfleisch derart voll-
pfropften, dass sie sich kaum mehr bewegen konnten, auch selbst zu jagen viel
zu faul wurden.
Wir wünschten auf der Wasserscheide zwischen Batovy und seinen östlichen
Nachbarn nach Norden zu rücken, allein wir gerieten in ein schreckliches Hügel-
gewirr mit tiefen Abstürzen, mussten jeden Fortschritt in nördlicher Richtung
mit einem Umweg nach Osten erkaufen und hatten Tag für Tag mit den
schwierigsten Passagen zu kämpfen: die kleinen Bäche höher oben waren tief
eingeschnitten und hatten senkrechte Ufer, die grösseren weiter unten verbreiterten
sich rasch zu Flüsschen von mehr als 30 m Breite, deren Gewässer träge zwischen
Sandsteinblöcken dahinfloss und von hohem Wald oder starrendem Bambusdickicht
mit sumpfigem Grund eingeschlossen war. Das Land zwischen den Quellarmen
war fast ausnahmslos klassischer Campo cerrado, wo Antonio, Wilhelm und ich
schwere Arbeit hatten. Wie ein gehetztes Wild hatte Antonio bachaufwärts,
bachabwärts zu rennen, um nach einem erträglichen Uebergang zu fahnden. Aber
die Esel stürzten dennoch oft einer hinter dem andern.
Kräftig sahen wir den Hauptfluss unseres Thals sich entwickeln, immer
breiter und voller schwoll sein Waldstreifen an, aber war es der Kulisehu? 30—36 m
Breite war doch sehr wenig. Wir rechneten bestimmt darauf, dass bald von
Osten her ein stärkerer Arm hinzukomme, doch hofften wir vergebens. Antonio
freilich hatte die feste Ueberzeugung, wir müssten schon am richtigen Kulisehu
sein, wo weiter abwärts die Bakaïrí wohnten; er hatte von den Bakaïrí des Batovy
erfahren, dass die Kulisehu-Bakaïrí den Fluss hoch bis zu einem grossem Katarakt
hinaufgingen, um dort zu fischen, und dass die Batovy-Bakaïrí drei Tage ge-
brauchten, wenn sie ihre Stammesgenossen am Kulisehu über Land besuchten.
Im nahen Bereich von Indianern schienen wir schon jetzt zu sein. Am 2. Sep-
tember bemerkten wir Abends einen Schein im Osten, der jedoch vielleicht vom
aufgehenden Mond herrührte, am 4. September konnten wir ihn mit Sicherheit
als Feuerschein ansprechen, und am 5. September brachte uns der Wind am Tage
Rauch und Asche aus SSO.
Mit deutlichen Anzeichen rückte die Regenzeit heran. Die Luft war dunstig,
die Hitze unausstehlich, die Sonne ging löschpapierfarben auf und ging rosa am
trüben Himmel wie eine Polarsonne unter; in der Nacht vom 1. auf den 2. Sep-
tember hatten wir den ersten Regenalarm, aber es blieb bei dem Schrecken;
nur im Osten ging ein Gewitter nieder. Doch am 2. September regnete es auch
wirklich ein wenig; wir schlugen zum ersten Mal, freilich mehr zum Vergnügen
[44] als weil es notwendig gewesen wäre, die Zelte auf. Die Vorräte verringerten
sich bedenklich: wir hatten noch zwei Alqueires (à 50 Ltr) Bohnen und die letzten
zwei Alqueires Farinha — sie allein giebt Kraft, während Bohnen und Fleisch
nur den Magen beschweren, meinten unsere brasilischen Soldaten — waren bereits
angebrochen, der Speck war aufgezehrt, nicht ohne nächtliche Beihilfe unserer
Jagdhunde.
Am 6. September Cerrado, Cerrado! Die Avantgarde säbelte wie besessen,
um der Truppe einen Weg zu öffnen. Es war Pikade schlagen und nicht mehr
markieren. Gegen 11 Uhr kamen wir endlich einmal an eine hochgelegene
Lichtung und gewannen einen Ausblick nach Norden. Diavo, Cerrado, so weit
das Auge reichte, Cerrado für Leguas hinaus! Wir sahen einander an und ver-
standen uns ohne Worte: rechts schwenkt marsch zum Fluss hinab und weiter
vorwärts auf dem Flusse selbst! In einer halben Stunde erreichten wir das Ufer
und sahen, dass wir eine vortreffliche Ecke gefunden hatten: ein frischer 8 m
breiter Bach floss hier ein, schlankstämmige Bäumchen für die Hängematten waren
hinreichend vorhanden, und ein breites Stück Grasland schob sich waldfrei bis an
diesen Lagerplatz vor. Die arme Truppe, sie erschien erst um 4 Uhr Nach-
mittags: acht Esel hatten sich seitwärts in die Büsche geschlagen; einer war nach
langem Suchen an einem Bach liegend gefunden worden, einer steckte noch im
Walde und sie selbst, die fromme unbepackte Madrinha hatte dem Zuge ent-
schlossen den Rücken gewandt und das Weite gesucht.
»Viva a independencia!« riefen unsere Brasilier am Tage ihres Festes, den
7. September, und Independencia wurde der Name unseres Standquartiers: 13°
34',3 südl. Breite, 51° 58',5 westl. Länge von Greenwich. Es wurde beschlossen,
dass Antonio ein Rindenkanu mache, wovon wir uns freilich jetzt am Ende der
Trockenzeit, da die Rinde des Jatobá-Baumes dann spröde ist und zerspringt,
nicht gerade das Beste versprechen durften, und dass ich mit ihm und Carlos
mich einschiffe, um zu sehen, ob wir zu Indianern und, wenn das Glück uns hold
war, zu Bakaïrí-Indianern gelangen würden. Günstigen Falls, rechneten wir, in
etwa drei Tagen; Vogel schätzte die Höhe der Independencia, die 148 m über
Cuyabá, 367 m über dem Meeresspiegel betrug, auf ungefähr 50 m über der
Kulisehumündung, es standen jedenfalls noch starke Stromschnellen oder Wasserfälle
in Aussicht. Mittlerweile sollten die andern Herren rekognoszieren, ob nicht auch
flussabwärts ein günstiger Lagerplatz zu finden sei, damit wir die Maultierstation
womöglich weiter vorschieben könnten. Erst im Fall eines Misserfolgs unserer
Kanufahrt kamen die Indianer, die wir nach dem Feuer im Osten vermuteten
und die sicher keine Bakaïrí waren, in Betracht. Unser Fluss war noch bedenk-
lich schmal. Von rechts her musste jedenfalls ein stärkerer Arm hinzutreten, da
die Einmündung unseres Kulisehu von 1884 in »Schingú-Koblenz« einem statt-
lichen Strom entsprach: gehörten die Indianer der östlichen Queimada zu seinem
Gebiet, so durften wir hoffen, von den Bakaïrí am besten bei ihnen eingeführt
zu werden.
[45]
Was endlich den Unterhalt der hier oder ein Stück flussabwärts zurück-
bleibenden Tiere und Leute anging, so musste für jene eine frische Queimada
angelegt werden, und war diesen guter Fischfang und gute Jagd im Flusswald
gewiss. Schon die ersten Versuche lieferten prächtige Trahirafische (Erythrinus)
einen Mutum cavallo (Crax) und eine Jakutinga (Penelope) in die Küche; an
Schweinen und Nagetieren konnte es nicht fehlen. Eine grosse Sukurí-Schlange
(Boa Scytale) wurde nicht nur nicht gegessen, sondern sogar als Fischköder ver-
worfen. Auch nur von rein theoretischem Interesse war der Fund eines Riesen-
gürteltiers (Dasypus Gigas), das durch einen Schuss in den hintern Teil des
Rückenpanzers getödtet wurde und penetrant nach zoologischem Garten roch.
Ein träges Geschöpf, sehr muskulös, zumal an den zum Graben gebrauchten und
mit mächtigen Krallen versehenen Vorderbeinen. Es ist bereits sehr selten und
gehört schon halb der Vorzeit an. Ungefähr so, wie die Indianer der »Steinzeit«,
die wir suchten.
[[46]]
IV. KAPITEL.
Erste Begegnung mit den Indianern.
Rindenkanus, Indianerspuren. Meine Fahrt mit Antonio und Carlos. Tierleben. Träumerei vor
dem Abendessen. Einmündung des Ponekuru. Katarakte. Die Anzeichen der Besiedelung mehren
sich. Der Häuptling Tumayaua. Nach dem ersten Bakaïrídorf. Ankunft des »Karaiben«.
Nach mehrfach vergeblichem Anklopfen fand Antonio eine Jatobá (Hy-
menaea sp.) mit brauchbarer Rinde. Es wird ein Stangengerüst um den Baum
errichtet, ein langer rechteckiger Streifen Rinde mit Axthieben abgelöst und,
vorsichtig heruntergenommen, auf niedrige Stützen gestellt; dann wird die Rinde
durch Hitze, indem man ein Feuer unterhalb anzündet und auch oben Reiser an-
brennt, geschmeidig gemacht, und die Ränder der Längsseiten werden empor-
gebogen. Vorne bildet man eine Spitze, hinten wird die Rinde nach innen vor-
gedrückt, sodass eine leicht eingebuchtete Querwand mit scharfwinkligen Kanten
entsteht, an denen sich die Rinde mit Vorliebe bald spaltet. Das Kanu sollte
an einem Tage fertig gestellt und den nächsten Morgen zum Wasser gebracht
werden.
Antonio kam merkwürdig vergnügt von seiner Arbeit heim. Ich glaubte,
weil das Kanu gut geraten sei, unterhielt mich mit ihm darüber eine Weile und
meinte, noch einmal zu unsern Plänen übergehend: »Also Du fürchtest nicht, dass
der Fluss ohne Anwohner sei?« »Nein«, erwiderte er abweisend, »ich habe ja
schon einen Rancho gefunden.« »Warum sagst Du das denn nicht?« »Ich wollte
es ja noch sagen.« Beim Suchen nach Ruderholz hatte er eine zusammengefallene
palmstrohgedeckte Jagdhütte entdeckt; ihre Pfosten zeigten die stumpfen Hieb-
marken des Steinbeils. Daneben lagen angebrannte Holzkloben noch in der
radienförmigen Anordnung des indianischen Lagerfeuers; benachbarte Jatobás
hatte man mit Steinäxten auf ihre Brauchbarkeit untersucht, ein noch erkenn-
barer Weg durchs Gebüsch führte zu einem »Hafen« am Flusse. Antonio
glaubte, es sei wohl ein Jahr her, dass die Besucher sich hier aufgehalten hätten.
Donnerstag, den 8. September 10½ Uhr Morgens stiessen wir ab. Carlos
sass vorn, Antonio hinten, ich in der Mitte. Ein Zelt, das wir gern mitgenommen
hätten, musste wegen seines Gewichts zurückbleiben und mit einem leichteren
[47] Ochsenfell vertauscht werden. Das Kanu war in der Eile doch herzlich schlecht
geraten und Flickwerk schon von Anbeginn. Grade unter mir durchsetzte den
Boden des schmalen Stücks Rinde, das ein Fahrzeug darstellen wollte, ein ⅔ m
langer wachsverklebter Riss; an den Seiten rannen unter den dort aufgepappten
Lehmklumpen leise und unaufhörlich quellende Wässerchen hervor, die den Fuss
umspülten.
Aber was lag daran? Ich war glücklich. Wir hatten bestimmte Aussicht,
Indianer zu treffen; wir zweifelten in unserm Herzen kaum, dass es Bakaïrí sein
würden. Mochte aber kommen was da wollte, wir drei konnten uns aufeinander
verlassen. Carlos sang mit seiner harten Stimme sorglos die brasilischen Gassen-
hauer in den Wald hinein; Antonio schwieg, aber wenn ich mich umschaute, sah
ich sein ehrliches Gesicht strahlen von guter Laune und Unternehmungslust.
Das Wasser war still und fast tot. Wir passierten einige kleine Schnellen
und Sandbänke, an denen ausgestiegen werden musste, und wo ich auf’s Neue zu
lernen hatte, mit nackten Füssen über Kiesel und Geröll zu gehen. Langwierige
Hindernisse bildeten die mächtigen Baumgerippe, die seitlich im Flusse lagen
oder ihn auch überbrückten und durchsetzten; mit tiefgeduckten Köpfen krochen
wir seufzend unter den Stämmen durch oder säbelten die sperrenden Aeste nieder.
Dickicht am Lande, Dickicht im Wasser. Aber wir waren nun einmal in der
Höhe der Trockenzeit; 5 — 8 m erhob sich die steile Uferwand, die während der
Regenperiode nicht sichtbar ist, frei über dem Wasserspiegel, durchzogen von den
horizontalen Linien früherer Pegelstände. So kamen wir auch an vielem jetzt
blossliegendem Sandstrand, der meist sanft geböscht und mit zahlreichen Tier-
spuren bedeckt war, vorüber.
Das muntere Vogelleben am Fluss fiel uns nach der langen Wanderung
durch die tote Einöde des verkrüppelten Buschwaldes doppelt auf und that uns
nach der Entbehrung doppelt wohl. Man muss die Vögel auf der Stromfahrt
einteilen in solche, die man sieht, und solche, die man nur hört. Eine ganze
Reihe von befiederten Bewohnern des Waldes sind uns sehr vertraut geworden,
die wir doch unterwegs nicht ein einziges Mal erblickt haben; wir kannten ihren
Ruf, wir ahmten ihn nach, wir liessen uns von unsern Begleitern erzählen, zu
welcher Art sie gehörten, wir lasen über sie in den Büchern nach, aber wir
würden in einem Museum an diesen Freunden vorübergehen, ohne sie zu
erkennen. Carlos, der in seiner früheren Stellung zahllose Vögel des Matogrosso
gejagt und abgebalgt hatte, war leider weit sachverständiger als ich; er teilte
seinerseits die Vögel in solche ein, die Herbert Smith »hatte« und solche, die
er »nicht hatte«. Zu der letzten Kategorie gehörten die Schwalben, dieselben,
denen wir 1884 auf dem Batovy begegnet waren. Wir sahen oder hörten sonst
von Vögeln schon an diesem ersten Tage Tauben, Kolibris, kleine Schwärme
Periquitos, Araras, Eisvögel, den gelben Bemtevi (Saurophagus sulphuratus), den
neugierigen kopfnickenden Strandläufer Massarico (Calidris arenaria), den Biguá
(Carbo brasilianus) und Sperberarten, Taucher der Luft neben dem des Wassers,
[48] endlich die Penolopiden Arakuan und Jakutinga, die von uns mit besonderem
Interesse verfolgten wohlschmeckenden Hühnervögel. Von Fischen bemerkten wir
Matrincham, Bagre, den Wels oder Pintado und Agulha, den Nadelfisch, der in
Gestalt des Restes einer Otternmahlzeit gefunden wurde. Ausserordentlich zahl-
reich waren gelbe Schmetterlinge am Sandstrand, die Smith »zu Tausenden
hatte«, ferner Bienen und Grillen. Zuweilen plumpste ein Sinimbú, der Leguan,
von einem Ast in das Wasser hinunter. Auf dem Sande liefen die Spuren von
Schildkröten, Schweinen und Tapiren. Die Kaimans, »Jakaré« der Brasilier,
schienen sehr selten zu sein, wir sahen jedoch eine kleine Art, und in der Nacht
wurde Antonio — so erklärte er am nächsten Morgen — als er wegen der
Moskitos die Hängematte verlassen habe, von einem neugierigen Vertreter dieser
Sippe unfreundlich angefletscht.
Wir nannten deshalb unsern Lagerplatz, den wir kurz nach 4 Uhr bezogen
hatten, den Pouso do Jakaré. Antonio nahm sich des unglücklichen Kanus an;
er schob es auf ein niederes Gerüst von Gabelstützen, zündete ein Reisigfeuer
darunter an und richtete das Vorderteil nach Möglichkeit empor; den Riss ver-
stopfte er mit Lumpen und verschmierte ihn mit Bienenwachs. Brüllaffen gaben
uns ein Abendkonzert und thaten so fürchterlich, als ob wir das Gruseln lernen
sollten.
Gern standen wir den nächsten Morgen frühzeitig auf; wir fluchten über die
Moskitos und fuhren um 6½ Uhr in den zarten Dampfnebel hinaus, der über
dem Wasser wallte. Die Vögel zwitscherten und lärmten, ein Kaitetú-Schwein
durchschwamm in der Ferne den Fluss. Wir ruderten möglichst geräuschlos
zwischen den mit Kampvegetation bestandenen Ufern hin: viel hohes Laub-
gebüsch und Bambusdickicht, aus dem der Baum der roten Ameisen, die Imbauva,
emporragte. Ein fetter Mutum cavallo mit schwarzem, grünblau schimmernden
Gefieder und siegellackrotem Kamm wurde glücklich erbeutet und sofort gerupft;
Antonio sammelte die Schwungfedern und Schwanzfedern, die gespalten und in
spiraliger Drehung dem Ende des Pfeilschaftes aufgesetzt werden, sorgsam für
seine Genossen am Paranatinga, um ihnen etwas von der Reise mitzubringen.
Ein Stückchen des Fleisches diente zum Köder, als wir eine Schnelle mit bloss-
liegenden Blöcken passierten und die Matrinchams aufstörten, die dort zwischen
den Steinen angeblich schliefen. Die Beiden warfen ihre Angeln aus und liessen
sie bei jedem Wurf ein paar Mal verlockend aufschlagen; es wurde auch ge-
schnappt, aber leider nicht angebissen. Sie schossen auf ein paar spielende
Ariranhas, grosse Fischottern, die wie Robben auftauchen, fauchen, blitzschnell
verschwinden und plötzlich irgendwo weit flussabwärts wieder erscheinen.
Kurz nach Mittag bemerkte Antonio am rechten Ufer abgerissene Zweige;
wir stiegen aus und sahen bei näherer Untersuchung, dass man ein erlegtes Jagd-
tier, ein Kapivara wahrscheinlich, auf eine Streu von Zweigen und Blättern gelegt
hatte, um das Fleisch beim Ausweiden vor dem Sande zu schützen. Es fand
sich weder Hütte noch Feuerstelle; die Beute war also von diesem Ort nach dem
[]
TUMAYAUA-BUCHT
[][49] Lagerplatz oder gar nach dem Dorfe gebracht worden. Die Narben des Strauch-
werks sollten aber einen Monat alt sein. Wir machten hier unsere Mittagspause,
brieten den Mutung nebst dem von dem Otter apportierten Fisch, würzten das
Frühstück mit hoffnungsvollen Konjekturen und stiessen, nachdem ich Carlos zum
Nachtisch noch die Freude gegönnt hatte, mir einen dicken Sandfloh auszuschälen,
in froher Stimmung ab. Borrachudos, die kleinen Stechfliegen, begleiteten uns
in einer dichten Wolke; wegen des infernalischen Juckens musste ich die nackten
Füsse mit einem Taschentuch umwickeln. Es war schwül und regnerisch. Bald
brach auch ein heftiges Gewitter los und nötigte uns, an steilem, schlüpfrigem
Uferhang, wo einige Steinhaufen vorgelagert waren, für eine gute Stunde Schutz
zu suchen. Dann aber wurde es mild und sonnig, und unsere Wollenwäsche war
rasch getrocknet. Schön oder gesellschaftsmässig war sie ja nicht, meine Jäger’sche
Bekleidung, doch fand ich sie leicht und praktisch, und die Indianer hatten kein
Recht mich zu tadeln, wenn ich nur in Hemd und Unterhose reiste.
Die Nähe der »Compadres« oder Gevattern wurde immer augenfälliger.
Denn als wir um 5 Uhr nach einem Lagerplatz Umschau hielten, kamen wir —
gerade zur rechten Stunde — an eine Bachmündung, die am linken Flussufer
lag, zu unserer Freude klares, kühles Wasser führte und eine zwar kunstlose,
aber von Menschenhand herrührende Versperrung durch Astwerk zeigte: eine
»Chiqueira«. So nennen die Brasilier eine der einfachsten und von der Natur
selbst in häufigen zufälligen Vorkommnissen vorgebildeten Fischfallen an der
Mündung eines Baches oder dem Ausfluss eines Lagunenarmes; die Fische
treten bei hohem Wasserstand ungehindert ein und können bei niederem nicht
mehr zurück. Wir kletterten die steile Böschung hinauf und fanden oben einen
ausgezeichneten Platz für das Nachtquartier, frei von Untergestrüpp und mit
mittelstarken Bäumen in gehörigem Abstand. Nur jammerten unsere Leute, als
sie das Kanu in den Chiqueirabach hinaufgeschoben hatten, dass sie in dem
Uferlehm »frieiras« bekommen hätten, schmerzhafte Anschwellungen, wie sie ent-
ständen, wenn man in Kapivaralosung, Maultierjauche und dergleichen schöne
Sachen trete. Sie trampelten ein Weilchen vor Schmerz mit den Füssen und
rieben sie mit Salz ein.
Es war ein herrlicher Abend. Möge mir der Leser verzeihen, wenn ich ihn
trotz seines rein subjektiven Inhalts noch einmal heraufbeschwöre. In der Hänge-
matte sitzend, gönnte ich mir zum ersten Mal seit Cuyabá den Luxus, bei einem
Kerzenstumpf zu schreiben; in dem dichteren Walde nebenan musizierten die
Grillen, unten murmelte das Bächlein, und, höherer Aufmerksamkeit wert, brodelten
über dem Feuer dort im Kessel widerspenstig — Landgraf Ludwig, werde hart,
werde hart! — die braunen Bohnen.
Es dauerte nicht lange, so lag das Tagebuch verloren in einem Winkel der
Hängematte. Ich lachte selbst ein wenig darüber, aber ich betrachtete mein
Ereignis, den Kerzenstumpf, mit wahrer Zärtlichkeit und schaukelte mich, in die
Flammen starrend, behaglich rauchend und den Körper wie die Seele in sanften
v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 4
[50] Schwingungen wiegend. Gedanken hatte ich eigentlich nicht und das that wohl.
Auch Sehnsucht hatte ich nicht nach den Genüssen, die uns daheim unentbehrlich
scheinen. In meinem Pfeifchen und in meiner Kerze erschöpfte sich alles Be-
dürfnis nach Glück. Im Augenblick galt mir um Vieles mehr als ein Seidel
»Echtes« oder eine Flasche Rauenthaler die Kürbisschale frischen Bachwassers,
die Carlos mir an die Hängematte reichte; kaltherzig gedachte ich jener Dinge
wie einer blassen Vergangenheit. Ich sagte mir, dass es die Stunde sei, wo man
sich daheim zu Konzert, Theater, Gesellschaft begiebt. Und unversehens wusste
ich mich selbst inmitten des Berliner Strassengetriebes, ich trat vor eine Litfass-
säule, las die bunten Anschläge von oben nach unten und ging lesend rund
herum, aber mein Puls blieb ruhig, und es regte sich kein Zucken der Begehrlich-
keit. Stillvergnügt bemerkte ich nur, dass ich kein Geld bei mir hatte, und dass
meine Toilette für die Linden polizeiwidrig war; mit der Empfindung harmlosen
Spottes schaute ich auf die Zeitungsverkäufer, die rollenden Wagen, die erleuchteten
Läden, die treibende Menschenmenge, gern kehrte ich zurück an meinen dunklen
Urwaldfluss.
Aber sind denn auch sie so leicht zu entbehren, fragte ich mich in meinem
träumerischen Dusel, sie, die unsere ganze Empfindungswelt beherrschen und be-
seelen? Eines wenigstens war gewiss: würde das Wunder geschehen sein, was
nicht geschah, und hätten mich aus dem Gezweig urplötzlich ein paar der
blühendsten Lippen verführerisch angelächelt — ich würde geraucht und freundlich
um die Erlaubnis gebeten haben, weiter zu rauchen. Das Beste, folgerte ich,
scheint es demnach zu sein, wenn wir mit der Erinnerung an feinere Genüsse ein
stilles Glück in den allereinfachsten finden können; der Philosoph von Wiedensahl
hat wieder einmal Recht: »Zufriedenheit ist das Vergnügen an Dingen, welche wir
nicht kriegen«.
Und dennoch, nur und allein um der braunen Bohnen oder der Wildnis
und Stromschnellen willen würde ich Berlin nicht mit dem Schingú vertauscht
haben; ohne einen höheren Zweck, eine Hoffnung also, die in ernsten Kultur-
begriffen wurzelt, würde auch die echteste Natur sehr bald wohl unausstehlich
werden. Drollig genug, dass Unsereins von Deutschland herüberkommt und hier
vielleicht sein kostbares Leben aufs Spiel setzt — um die Heimat der Karaiben
zu suchen! »Was ist ihm Hekuba?« Was ist mir Cuyabá und Karáiba?
Doch es giebt Probleme so verzwickt und unergründlich, dass man sie mit
hungrigem Magen nicht zu lösen vermag, und es war gut, dass Carlos vom Feuer
her endlich seinen Triumphruf »Pronto« erschallen liess. Die Bohnen standen an-
gerichtet auf dem Boden, das Farinhasäckchen lag daneben, von dem eingerammten
Holzspiess winkte wohlwollend noch ein Rest Mutung — mochten die Grillen im
Walde weiter zirpen.
Um 6½ Uhr (10. September 1887) fuhren wir ab, begierig der Dinge, die
nach den Vorzeichen des gestrigen Tages heute kommen würden. Nach 20 Mi-
nuten mündete auf der rechten Seite ein Fluss in den unsern ein, ebenso stiller
[51] Flut wie er und nur ein wenig schmaler. Er wurde uns später als Ponekuru
bezeichnet. Die vorwiegende Richtung der vereinigten Gewässer war N bis NO,
dieselbe, die auch unsere frühere Fahrt trotz der zahlreichen Windungen einzu-
halten bestrebt gewesen. Unsere ganze Aufmerksamkeit aber hielt schon eine
Weile vor dem Erscheinen des Zuflusses ein uns von 1884 her nur zu wohlbe-
kanntes, mehr und mehr anschwellendes Brausen gefesselt: wir näherten uns einer
grossen »Cachoeira«. Wir passierten etliche Steininseln, die aus Sandsteinblöcken
bestanden und mit niederm Gebüsch und dünnen Sträuchern bewachsen waren,
das Tosen und Rauschen nahm mächtig zu und plötzlich blickten wir hinab auf
das verbreiterte, mit gewaltigen Steinlagern gefüllte Strombett, in dem der
Schwall der Wassermassen über eine weite Strecke schäumend und strudelnd
thalwärts stürzte. Unser späterer Salto Taunay.
Wir hatten eine Stunde Aufenthalt. Das Kanu wurde die Stufen hinab-
geschoben, das Gepäck den Uferrand entlang auf den Schultern getragen. Ich
hätte mich selbst sehen mögen: Strohhut mit Ararafedern, Hemd, Unterhose,
Ledergürtel, Umhängetasche, grauleinene Baskenschuhe, über dem linken Arm
das gefaltene Ochsenfell und in der rechten Hand unsere vier Zinnteller, deren
oberster mit einem Rest gekochter Bohnen gefüllt war; dabei eifrig Umschau
haltend und nach Verdächtigem ausspähend. An einer Cachoeira, wie dieser,
giebt es reichliche Gelegenheit für Fischfang; und richtig, wir fanden deutliche
Fussspuren und auf den Steinen halbverbrannte Palmfackeln, deren graue, feine
Asche noch erhalten war. Das Alter der Schutzhütte in dem Independencia-Lager
hatten wir auf ein Jahr geschätzt, das Alter der abgerissenen Zweige an dem Ort,
wo das Kapivara zerteilt worden war, auf einen Monat, und mehr als eine Woche
konnte es kaum her sein, dass diese Fackeln gebrannt hatten; die Sache wurde
jetzt also sengerich und brenzelig in des Wortes verwegenster Bedeutung.
Die schöne Cachoeira hatte im Gegensatz zu den ärmlicheren Katarakten
des Batovy in gleicher geographischer Breite bereits durchaus den grossartigeren
Charakter der echten Schingúkatarakte, auch war das Wasser unterhalb, wo der
Fluss wieder ruhig und klar dahinströmte, prächtig dunkel und flaschengrün. Doch
schon nach einer Viertelstunde kam eine neue, ansehnliche Cachoeira, niedriger
als die erste, wo ich wieder auszusteigen und über Land zu pilgern hatte. Auch
hier wurde Fischfang getrieben. Wir zählten jenseit der Cachoeira 13 sogenannte
»Currals«, Ringe von Steinblöcken an seichteren Stellen des Flussbettes; durch
eine Lücke in dem Ring können die Fische eintreten, die von den Indianern
alsdann zusammengetrieben und geschossen werden. Nicht wenig überrascht war
ich, als Antonio weiter abwärts im ruhigen Wasser plötzlich erklärte, dass hier
gestern oder vorgestern ein Kanu gewesen sei; ich bemerkte nur eine Menge
weisser Bläschen dem Ufer zu. Der Schaum des Ruderschlages erhält sich auf
stiller Flut in einer Strasse; durch keinen Wellenschlag zertrümmert, bleiben die
Luftblasen auf dem Wasser stehen und werden vom Winde allmählich an’s Ufer
getrieben.
4*
[52]
Wir ruderten zwei Stunden kräftig vorwärts, sprachen nur wenig und mit
leiser Stimme und fuhren vorsichtig auslugend hart am inneren Rande in jede
neue Windung ein. Aber alle Anzeichen hatten aufgehört. Beiderseits lag hoher
schweigender Wald, der Fluss schimmerte im Sonnenschein, nichts Lebendiges
regte sich im weiten Umkreis, und hier oder da nur gaukelte ein gelber Schmetter-
ling vorüber. Kurz vor Mittag öffnete sich das Strombett zu einer ziemlich weiten
Bucht; es war nicht recht zu erkennen, ob es sich um eine Lagune oder um eine
Inselbildung handelte und der Fluss sich in zwei Arten teile; wir legten an, und
ich schickte die Beiden aus, das Stück Wald, das uns von der Lagune trennte, zu
durchqueren und jenseits den Lauf des Wassers zu prüfen.
Wartend sass ich am Strande; schon kam Carlos zurück, als ich einen
Büchsenschuss flussabwärts plötzlich ein Kanu bemerke. Ein einzelner nackter
Indianer steht darin und strebt eilfertig dem Ufer zu; dort lenkt er das Fahrzeug
hinter ein abgestürztes Baumgeripp und duckt sich in seinem Schutze vorsichtig
nieder. »Bakaïrí, Bakaïrí« schrie ich aus Leibeskräften, »kúra Bakaïrí, áma Ba-
kaïrí, úra Bakaïrí«, wir sind Bakaïrí, du bist ein Bakaïrí, ich bin ein Bakaïrí, die
Bakaïrí sind gut — kurz schreie, was mir der Geist von Reminiscenzen aus den
Begrüssungsformeln gerade jenes Stammes eingiebt, in freudigster Erregung. Und
siehe da: »Bakaïrí, Bakaïrí, Bakaïrí« klingt es zurück. Andere Worte kommen
hinzu, die ich leider nicht verstehe, aber die hoch emporgeschraubte Stimme trägt
einen unglückselig ängstlichen und misstrauischen Ausdruck, und die Arme fuchteln
hinter dem Baumgeripp in der Luft herum, als ob der Mensch dort tanze wie
ein Kannibale in der Schaubude. »Bakaïrí . . . .« beginne ich wieder, da kommt
glücklicher Weise Antonio mit mächtigen Sätzen herbeigesprungen, und halb ausser
Atem vor Aufregung schreit er nun seinerseits den Fluss hinunter eine lange Er-
klärung, die ich wiederum nicht verstehe, die aber bei dem verschanzten Helden
ein dankbares Jubelgeheul entfesselt und die Situation wie mit einem Zauber-
schlag klärt.
Das Kanu schoss aus dem Versteck hervor und eilte geradenwegs, ein schönes,
langes, trockenes Rindenkanu, an unser trauriges, krummes, wachsverklebtes, lehm-
beschmiertes, von schmutzigem Wasser durchspültes Fahrzeug heran, — wahrlich,
ich meinte, wir wären es, die hier in den Kreis einer höheren Kultur träten; wenn
der edle Schiffer auch nur mit einer Gürtelschnur bekleidet war und nichts mit
sich führte, als die sauber gearbeiteten, federverzierten Pfeile und den Bogen, die
neben einer mit Honig gefüllten Kürbisschale auf dem Boden des Kanus lagen,
so stach doch dieses auf uns zu gleitende Gesamtbild in seiner Nettigkeit und
Reinlichkeit auf das Vorteilhafteste ab von uns abgerissenen Kulturträgern neben
dem nassfaulen Stück Rinde, das unser Boot hiess. Nun, der Ankömmling zeigte
mit seinem Gesichtsausdruck deutlich, dass er seinerseits doch uns bewundere.
Er benahm sich auch gar nicht als der schweigsame düstere Indianer, dessen
Seele, wie ich auf Grund unserer Schulweisheit hätte verlangen dürfen, die eintönige
niederdrückende Umgebung des tropischen Waldes wiederspiegelte, sondern lachte
[53] und schwatzte mit seinem Stammesgenossen Antonio, als ob er in einem glück-
lichen Lande der gemässigten Zone aufgewachsen wäre. In wenigen Minuten
waren wir gute Freunde, er sagte uns sogar, was er freilich nach des Landes
Brauch ohne schamhaftes Zaudern und Zögern nicht zu Stande brachte, auf mein
Drängen seinen Namen; er hiess Tumayaua und war der Häuptling eines
wenige Stunden entfernten Dorfes der Bakaïrí.
Also wirklich der Bakaïrí! Die Hoffnung der vergangenen Wochen war in
Erfüllung gegangen, wir traten in unser Forschungsgebiet bei einem uns wohl-
bekannten gutartigen Völkchen ein, und unser Debut war gesichert. Tumayaua,
erfuhr ich jetzt durch Antonio, war nicht wenig verdutzt gewesen über meinen
Zuruf; dass er ein Bakaïrí sei, dass wir aber keine Bakaïrí seien, hatte er
geantwortet. Zuvorkommend bot uns der Gute sein Kanu an, stieg selbst in das
unsere und übernahm die Führung. Aber wir plauderten nicht minder eifrig als
wir ruderten. Die Bakaïrí des Batovy waren Tumayaua’s Verwandte und Freunde.
Von dem ersten Dorf, das wir 1884 besucht hatten, gab es wunderbare Neuig-
keiten. Der alte Indianer, den wir damals den »Professor« genannt hatten, war
mit einigen Andern unterwegs zum Paranatinga! Sie wollten Antonio und seinen
Stammesbrüdern einen neuen Besuch abstatten. Pauhaga, der erste Bakaïrí, den
wir auf der früheren Reise am Batovy begrüsst hatten, wohnte augenblicklich in
Tumayaua’s Gemeinde, und ein merkwürdiger Zufall fügte es also, dass wir ihn
auch gerade im ersten Dorfe des Kulisehu wiedersehen sollten. Waren wir denn
auch wirklich am Kulisehu? Ja, der Fluss hiess Kulisehu, Kulisëu oder Kulihëu,
wie denn h und s im Bakaïrí zu wechseln pflegen, und alle die Stämme, die wir
suchten, wohnten anscheinend auch an seinen Ufern.
Doch Cachoeiras unterbrachen die Unterhaltung. Um 12 Uhr waren wir
abgefahren; nach einer halben Stunde kam eine 60 m lange, niedrige Stein-
cachoeira, durch die wir uns mühsam hindurchwanden, kurz nach 1 Uhr dann
No. 4 der heutigen Reihe, wo entladen werden musste, und ein halbes Stündchen
Aufenthalt entstand. ¾3 Uhr trafen wir bei der fünften und letzten ein, die
sich mit kräftigem Schwall durch die Felsblöcke ergoss. Hier aber streikte der
Pilot gegen die Weiterbeförderung unseres in akuter Wassersucht verendenden
Kanus. Wir nahmen ihn als Vierten auf und überliessen die Leiche ihrem Schicksal.
Tumayaua, dass mussten wir lobend anerkennen, war uns wirklich zur guten
Stunde entgegengekommen; dass wir drei mit unserm Gepäck und ohne Kenntnis
des Weges durch die letzten Cachoeiras in dem elenden Kanu, das den einzelnen
Indianer nicht mehr tragen konnte, bis zum Dorf gekommen wären, ist sehr
unwahrscheinlich. Gewiss aber hätten wir heute dieses Ziel nicht mehr erreicht.
3¼ Uhr legten wir am linken Ufer an; wir waren im »Hafen«.
Wer sich mehr freute, Tumayaua, der eilend vorauslief, um uns anzumelden,
und rasch unseren Blicken entschwunden war, oder wir, ist schwer zu sagen.
Wir wanderten hintereinander den schmalen Pfad in dem durch Brand gelichteten
Terrain, traten nach wenigen Minuten in den Wald, hörten lautes Schreien und
[54] Durcheinanderrufen, und einige hundert Schritte weiter, nachdem wir noch auf
einem als Brücke dienenden Baumstamm ein kristallklares Bächlein passiert hatten,
kamen wir in Sicht dreier bienenkorbartiger Hütten, die einen freien Platz zwischen
sich hatten. Dort erwartete uns, den eifrig gestikulierenden Tumayaua an der
Spitze, eine nackte braune Gesellschaft von Männern und in dem Hintertreffen
von Weibern und Kindern, alle zu einer engen Gruppe zusammengeschlossen und
halb verlegen, halb freudig gestimmt, jedenfalls aber auf’s Höchste überrascht.
Die Männer traten uns, die rechte Hand emporstreckend, entgegen und sagten
»áma« = »du«, »das bist du«, oder »áma kχaráiba« = »du, der Karaibe«.
Nicht sie, sondern wir sind in ihren Augen die »Karaiben«, und ich, der
ich bei uns von dem Karaibenstamm der Bakaïrí spreche, hiess dort der »píma
kχaráiba«, der Häuptling der Karaiben.
[[55]]
V. KAPITEL.
Bakaïrí-Idylle.
I.
Auskunft über Kulisehu und Kuluëne. Antonio und Carlos zurück. Ein Weltteil, in dem
nicht gelacht wird. Dorfanlage. Vorstellung der Personen. Mein Flötenhaus. In Paleko’s Haus.
Bewirtung. Bohnenkochen und Tanzlieder. Aeussere Erscheinung der Indianer. Nacktheit und
Schamgefühl. Essen und Schamgefühl. Tabakkollegium. Pantomime: Flussfahrt,
Tagereisen, Stämme, Steinbeilarbeit. Vorführung von »Mäh« und »Wauwau«. Tabakpflanzen. Fisch-
fang in der Lagune. Kanubau.
Schon am ersten Abend erhielt ich eine ziemlich klare Vorstellung von den
Anwohnern des Kulisehu, die uns in Aussicht standen. Es gab drei Bakaïrí-
dörfer; ihnen sollten folgen ein Dorf der »Nahuquá«, zwei Dörfer der »Minakú«,
ein Dorf der »Auití«, ein Dorf der »Yaulapihü« und am »Kuluëne« ein Dorf der
»Trumaí«. Zwischen dem Kulisehu und dem Tamitotoala-Batovy sollten noch die
»Kamayulá« und die »Waurá« wohnen. Unsicher blieb, was der Flussname »Ku-
luëne« bedeute, den ich jetzt zum ersten Mal hörte. Erst allmählich lernte ich ver-
stehen, dass es der im Osten gelegene Hauptfluss sei, grösser als der Kulisehu, der in
ihn einmünde. Also war der Fluss, den wir 1884 bei Schingú-Koblenz von SO
hatten heranziehen sehen, nicht eigentlich der »Kulisehu«, wie wir damals verstanden
und bisher geglaubt hatten, sondern der vereinigte Kuluëne-Kulisehu gewesen: der
Name »Kuluëne« blieb auch dem Schingú selbst unterhalb der grossen Gabelung,
sodass z. B. die Suyá am Kuluëne wohnten. Wollte man nach der Nomenklatur
der Eingeborenen verfahren, müsste man an Stelle von »Schingú« den Namen
»Kuluëne« gebrauchen und nun sagen, dass der Kuluëne zuerst den Kulisehu
und dann bei »Koblenz« den Ronuro mit dem Tamitotoala-Batovy aufnimmt.
Es war ein schwer Stück Arbeit, diese Angaben von den Bakaïrí heraus-
zubekommen; es wurde dabei viel in den Sand gezeichnet, viel Pantomime ge-
trieben und, wenn ein Stück des Weges unklar geblieben war, immer wieder von
vorne angefangen. Für’s Erste wusste ich genug; die einzelnen Stämme wohnten
offenbar nur um wenige, im höchsten Fall drei Tagereisen von einander entfernt.
Auch eine böse Nachricht wurde mir zu Teil, und ich gestehe, dass sie mir die
bisher so angenehme Erinnerung an die erste Expedition verdarb: als die Trumaí
[56] damals bei Koblenz vor uns in heller Flucht davongestürzt waren, und unsere
Soldaten sie verfolgt hatten, um einige von ihnen trotz aller Eile mitgenommenen
Gegenstände zurückzugewinnen, war bei dem thörichten Schiessen, das sich die
Leute erlaubt hatten und das angeblich nur in die Luft gerichtet war, dennoch
ein Trumaí, wie ich jetzt erfuhr, getödtet worden. Dort konnten wir also kaum
auf herzliches Willkommen rechnen.
Antonio und Carlos schickte ich am nächsten Tage, dem 11. September
1887, mit den Neuigkeiten nach der Independencia zurück. Ich hatte für ein
Buschmesser das eine der beiden Kanus, das die Bakaïrí besassen, erworben. Ich
selbst wollte zurückbleiben, ein neues Kanu anfertigen lassen und die seltene
Gelegenheit, allein unter diesen Naturkindern zu weilen, für meine Studien aus-
nutzen. In dem flussabwärts liegenden zweiten Bakaïrídorf, hörte ich, seien drei
Kanus vorhanden, und könnten wir vielleicht zwei bekommen. Während für die
im Standquartier zurückbleibenden ein guter Rancho gebaut würde, sollten
deshalb ein oder zwei Herren, die jetzt von Antonio und Carlos geholt wurden,
mit mir nach dem zweiten Bakaïrídorf fahren; dort konnten wir uns vervoll-
ständigen und alsdann günstigen Falls mit vier Kanus nach der Independencia
zurückrudern, um nun endlich die eigentliche Flussfahrt anzutreten. Antonio und
Carlos sollten ferner, um Zeit zu sparen, ihr Kanu an der ersten grossen
Cachoeira zurücklassen und über Land die Independencia aufsuchen. So wurde
das Terrain im Anschluss an die mittlerweile von den Herren in der Inde-
pendencia gewonnenen Erfahrungen vollständig rekognosziert und die Frage er-
ledigt, ob das Standquartier nicht näher an das erste Bakaïrídorf vorgeschoben
werden könne.
Als ich die beiden Wackern zum Hafen gebracht hatte und sie bald in der
nächsten Biegung des Flusses verschwunden waren, kehrte ich zu meinen neuen
Freunden zurück und fühlte mich in ihrer Mitte bald so wohl, dass ich jene
idyllischen Tage unbedenklich den glücklichsten zurechne, die ich erlebt habe.
Ich will versuchen, ihnen in einer kleinen Skizze gerecht zu werden; ich erhalte
dadurch Gelegenheit, manche kleinen Züge von dem braven Völkchen mitzu-
teilen, die im rein fachwissenschaftlichen Bericht nicht unterzubringen wären und
doch des Wertes schon deshalb nicht entbehren, weil sie uns die Indianer nicht
ganz so zeigen, wie wir sie uns vorzustellen gewohnt sind. Nicht Weniges davon
verschwand, als später die grössere Gesellschaft kam; die volle Unbefangenheit,
mit der man sich mir Einzelnen gegenüber gab, blieb nicht bestehen, und das
Verhalten ähnelte mehr dem bekannten Schema, das in den Büchern gezeichnet
zu werden pflegt. Und da möchte ich, was meine Bakaïrí angeht, von vorn-
herein Einspruch erheben gegen derartige Anschauungen über ihre Eigenschaften,
wie sie ihren typischen Ausdruck in den folgenden Sätzen Oscar Peschels
(Abhandlungen zur Erd- und Völkerkunde, Leipzig 1877, Band I, p. 421) finden:
»In keinem Weltteil der Erde hat man vor 1492 weniger frohes Lachen gehört
als in Amerika. Der sogenannte rote Mann bleibt sich unter allen Himmels-
[57] strichen gleich, er ist überall düster, schweigsam, in sich gekehrt und auf eine
gewisse würdevolle Haltung bedacht.«
Für die Bakaïrí treffen diese Prädikate in keiner Weise zu, sie waren
heiter, redselig und zutraulich, wie ich sie in ihrem Verkehr untereinander be-
obachtete, und wie sie sich mir allein gegenüber gaben. Ich werde die Beispiele
dafür nicht schuldig bleiben, ich habe in diesem Dorfe fast ebenso viel gelacht
und lachen gehört als unter den Kokospalmen von Samoa und Tonga. Es ist
richtig, das Temperament ist weniger beweglich und die ganze Lebensauffassung
weniger sonnig als bei den Kindern der Südsee, die Mädchen tanzen nicht im
Mondschein und die Männer singen nicht auf der Kanufahrt; leichter wird Scheu
und Misstrauen geweckt, aber von alledem ist es ein weiter Weg zu der Schwer-
mut und Verschlossenheit, die dem Indianer, als ob es zwischen Berings- und
Magalhãesstrasse nur eine einzige Familie gäbe, ebenso wie das schwarze Ross-
haar und die mongolischen Augen, dem Anschein nach ein für alle Mal zuge-
sprochen werden sollen.
Das »Dorf« war sehr klein, es bestand aus zwei grossen runden Häusern,
in deren jedem mehrere Familien wohnten, und einem kleinen, leeren, etwas
baufälligen oblongen Hause, in dem ich meine Residenz aufschlug. Zwischen
den Häusern erstreckte sich die »taséra«, ein freier Platz, wo einige Gerüste
standen, um das weisse, auf Matten ausgebreitete Mandiokamehl zu trocknen, wo
in der Mitte ein langer dünner Sitzbalken lag und nach dem Rande zu etliche
Baumwollstauden, Orléanssträucher (Bixa Orellana) und Ricinuspflanzen wuchsen.
Ringsum waren zahlreiche Obstbäume angepflanzt, Bakayuvapalmen (Acrocomia),
Mangaven (Hancornia speciosa), Fruta de lobo (Solanum lycocarpum), und eine
Art Allee von stattlichen Pikí-Bäumen (Caryocar butyrosum). Nach Osten führte
ein Weg zum »Hafen« über den nahebei befindlichen Bach hinüber, nach Nord-
osten ein breiter Pfad durch hohes Sapé-Gras, mit dem die Häuser gedeckt
werden, zu der unterhalb gelegenen Stromschnelle, nach Süden ein Pfad zu der
Mandioka-Pflanzung, und überall trat hoher Wald dicht an die besiedelte und
bepflanzte Lichtung heran.
Die Gemeinde zählte 9 Männer, 7 Frauen, 5 Kinder. Die Namen der
Männer waren: Tumayaua, der Häuptling, unser Führer, dem in erster Linie
die Sorge um die Pflanzung oblag (Tafel 6), Paleko, sein Vater, ein reizender
alter Herr, mit dem ich enge Freundschaft schloss und der an seinem Lebens-
abend Körbe und Reusen flocht, Alakuai, der pfiffige Zimmermann und Kanu-
bauer, Awia, der Maler, Yapü, der Dicke, Kalawaku, der Bescheidene
und die jungen Männer Kulekule, Luchu (Tafel 6) und Pauhaga. Es
unter ihnen einigen Tagen noch ein paar Besucher aus dem zweiten Dorf hinzu,
kamen nach Einer, dessen Eltern früh gestorben waren, der deshalb — keinen
Namen hatte.
Namen der Frauen waren nicht zu erfahren: »pekóto úra« lautete regel-
mässig die Antwort »ich bin eine Frau«. So musste ich hier meine eigenen Be-
[58] zeichnungen erfinden; es gab, wie immer, eine Alte, die sehr viel zu sagen hatte,
und die mit. ihrem dürren runzligen Körper nicht gerade schön war, die »Stamm-
hexe«, Paleko’s Gattin (vgl. Tafel 5 links). Ihr Gegenstück war ihre Enkelin »Eva«,
Tumayaua’s Tochter, Mutter zweier Kinder und die jugendliche Frau des musku-
lösen, prachtvoll stämmig gebauten Kulekule, der mir, ehe ich seinen Namen wusste,
würdig erschien, in diesem kleinen Paradiese »Adam« zu heissen und sich auch
einer schön gelbrötlichen Lehmfarbe erfreute. Eva hatte ein fein geschnittenes
europäisches Gesicht mit vollen Lippen, leicht errötenden Wangen, die dicht von
welligem Haar umrahmt waren, und den schönsten Augen, die ich in Brasilien —
und das will nicht wenig bedeuten — gesehen habe, grossen Augen, deren lieb-
»Eva«, Tumayaua’s Tochter.
licher Blick garnichts von Koketterie enthielt, in deren strahlendem Feuer aber
doch bei einem vollen, naiv zärtlichen Aufschlag jener Funke schuldloser Lüsternheit
aufleuchtete, der einst den ewigen Weltbrand entzündet haben muss; so sah sie
bei einem von keiner Einschnürung jemals misshandelten Körper wirklich wie eine
junge Mutter Eva aus. Leider schuppte sie sich gar zu oft auf dem Kopfe und
wenn dies auch zuweilen aus Verlegenheit geschehen mochte, so hatten doch
Läuschen daran ihren sichtbaren Anteil.
Die etwa 12 jährige Freundin Eva’s, »meine Zukünftige« (Tafel 5 die dritte
von rechts), pflegte sie hervorzuholen und zu essen. Dieser gehörte überhaupt
alles Gute im Dorfe und viele Perlen, die ich Andern geschenkt hatte, fand ich
später an ihrem Hals. Sie war das Töchterlein des verstorbenen Häuptlings und seine
[59] Erbin. Ihr Oheim Tumayaua war nur interimistisches Oberhaupt, er hätte mir,
wenn ich dem sehr ernst gemeinten Vorschlag Paleko’s gefolgt wäre und seine
Nichte geheiratet hätte, die Regierung abtreten müssen. Ich kann mir noch
heute nicht verhehlen, dass, um von der ausgezeichneten Partie, mit der keine
höheren Ansprüche an Toilettenaufwand als eine Schnur Glasperlen und ein Stück
Rindenbast von der Grösse eines kleinen Menschenohres verbunden waren, ganz
abzusehen, eine bessere Gelegenheit, die Ethnologie des Kulisehu kennen zu lernen,
kaum zu erdenken war. Von den übrigen Frauen bekam ich wenig zu sehen, mit
Ausnahme etwa der »Egypterin«, die auch vom zweiten Dorf herüberkam, eine
lange habgierige Person mit egyptischem Profil und mandelförmigen Augen (Tafel 5
die zweite von rechts).
Ich hielt mich die beiden ersten Tage bescheidentlich zurück, um die Leutchen
nicht zu ängstigen, ich merkte auch, dass einer der Männer fast immer zum
Ehrendienst bei mir abkommandirt und so eine Art Dujour eingerichtet war;
als ich in der ersten Nacht nach der Verabschiedung noch bei Licht einige Zeit
aufbleiben und mein Tagebuch führen wollte, erschien der alte Paleko an der
Thüre und bat mich ebenso höflich wie dringend, zu schlafen und die Kerze aus-
zublasen. Meine Diskretion trug gute Früchte, bald holte man mich in die beiden
grossen Häuser: in dem einen waren Paleko und die Zukünftige, in dem andern
Tumayaua und Tochter die Hauptbewohner. Man nahm mich mit hinaus zum
Fischen, zum Stapellauf des neuen Kanus u. dergl., und Alles hätte nicht besser
sein können, wenn ich nicht bei der gastfreundlichen, aber für mich durchaus
unzulänglichen Bewirtung an chronischem Hunger gelitten hätte. Ich musste mir
durch starkes Rauchen zu helfen suchen und leistete darin das Menschenmögliche,
während die Indianer sich diesem Genuss fast nur in unserm allabendlichen Tabak-
kollegium auf dem Platz draussen, den vergnügtesten Stunden des Tages, dann
aber auch in corpore und mit grossem Eifer hingaben.
Mein Häuschen hatte zur Zeit der Feste als Tanzhaus gedient, »kχato-éti«
oder »Flötenhaus«. Zwei Rohrflöten in einem Futteral aus Burití-Palmstroh an der
Wand hängend, waren die einzigen Reste der vergangenen herrlichkeit. Doch
war es für mich besser so; denn die Frauen, die in dieser Ruine frei aus- und
eingingen, dürfen das Flötenhaus der Männer niemals betreten. Es war 7 Schritt
breit, 9½ lang, die 2½ Schritt auseinander stehenden Hauptpfosten inmitten,
die das Dach stützten, waren 4½ m hoch. Oben blieb in dem Strohdach eine
1 m breite und 3¾ m lange Luke frei. Ein paar Fischreusen standen in einer
Ecke, sonst gab es nichts als die zwei Pfosten, von deren einem ich die Hänge-
matte zur Wand hinübergespannt hatte. Ausser meiner Ehrenwache hatte ich
noch die Gesellschaft eines Japú (Cassicus), der mir wie ein grüner tropischer
Hans Huckebein vorkam; er durfte nur oben in den Sparren der Rauchluke
sitzen und wurde, wenn er plötzlich herunterschoss und wie ein wildes Tier
zwischen uns umherjagte, schleunigst wieder auf seinen Beobachtungsposten ver-
scheucht, wo er, den Kopf neugierig geneigt und den Schnabel offen, herabschaute.
[60] Zuweilen kam auch eins der nachts eifrig thätigen Mäuslein spionieren und wurde,
wenn es nicht zeitig entwischte, mit einem Kinderpfeil geschossen und den Frauen
zum Braten gebracht. Fast ständige Gäste waren grosse schwarz-weiss gestreifte
Bienen, die sich ebenso wie ein hier und da durch den Eingang herzuflatternder
Schmetterling ruhig greifen und bei Seite setzen liessen. Am heissen Mittag meinte
ich öfters inmitten eines von Gesumm und Gebrumm erfüllten Bienenkorbes zu sitzen.
Es war um diese Stunde am dritten Tage, dass ich vor den Bienen und
Fliegen in das grosse Haus Paleko’s flüchtete und es zum ersten Mal betrat.
Dort drinnen war es wundervoll kühl und gemütlich und nichts von lästigem
Ungeziefer vorhanden. Nur Ameisen zogen mit Mehlkörnern beladen ihre Strasse
zum Mandiokastampfer. Die Männer schaukelten sich, ihre Hauptbeschäftigung
daheim, in den Hängematten, und nachdem ich anstandshalber auf dem Ehren-
schemel, der die Höhe einer Zigarrenkiste hatte, ein Weilchen sitzen geblieben
war, folgte ich bald ihrem Beispiel.
Man meinte sich in einem riesigen Bienenkorb zu befinden, glücklicherweise
ohne die Bienen. Der Grundriss war fast kreisförmig mit einem Durchmesser
vom 15 m; zwei gewaltige Pfosten, 9 m hoch und 3½ m von einander abstehend,
stützten in der Mitte die mächtige Strohkuppel, deren Gerüst aus horizontalen
Bambusringen und über diese senkrecht nach oben zur Luke gebogenen Stangen
bestand. Sie war rauchgeschwärzt, wie Theer glänzend. Die Wandung ringsum,
über der sie sich erhob, ein festgeschlossener Ring von 1½ m hohen Pfosten, nur
unterbrochen durch zwei für mich viel zu niedrige Thüreingänge, die sich gegen-
überlagen. Von der Wand waren nach innen zu, in der Richtung der Radien, die
Hängematten gespannt, an besonders starken Pfosten beiderseits befestigt, sodass
der Aussenraum in eine Anzahl von freilich offenen Gemächern eingeteilt war.
Der grosse Mittelraum um die Hauptpfosten herum und unter der Luke, der
frei blieb, war Küche und Stapelplatz für Proviantkörbe, Töpfe, irdene Beijú-
Pfannen, Siebe, Matten, Kiepen, Mörser, Stampfer und Kalabassen. An die Haupt-
pfosten waren Stöcke mit Schlingpflanzen angeflochten, wo wieder Kürbisschalen
oder Tabakbündel herabhingen, von einem Querbalken baumelten grosse Vögel
mit strohgeflochtenen Beinen und Schwänzen herab, die sehr geheimnisvoll aus-
sahen und nur den Zweck hatten, die Maiskolben, aus denen ihr Inneres und die
Flügel zusammengesetzt waren, auf eine das Auge erfreuende Art aufzubewahren.
Der Boden war überzogen von einem steinharten Satz des feinen weissen Mandioka-
mehls, mehlweiss waren die Mörser und Stampfer und rauchgeschwärzt die
Töpfe. Ueber den Thüren Körbe mit Kalabassen, Reusen, Fischnetze, in den
»Gemächern« an der Wand Bogen, Steinbeile, die buntgefiederten Pfeile aus dem
Kuppelstroh hervorstarrend, ein Kram von Körbchen, Trinkschalen und kleinerem
Gerät, am Boden weisse Lehmkugeln, Töpfchen, Schemel, Holzstücke, Feuerfächer
und die Asche des Feuerchens, das Jeder nachts neben und fast unter seiner
Hängematte unterhält, an der Hängematte ein Büschelchen bunter Federn und
der Kamm hängend, hier und da eine Pyramide aus Stäben mit dem Bratrost;
[61] auch fand sich ein Paar der Stöcke aufgehängt, mit denen Feuer gerieben wird,
und daneben ein Paketchen mit dem Zunderbast angebunden.
In Summa: Familienwohnung in vollem Betrieb, gerade so viel Unordnung
als zur Behaglichkeit gehörte, Alles sauber und nett hergerichtet, Alles gehängt,
geschachtelt, gestülpt, keine eisernen Nägel und Schrauben, sondern nur Faden
und Flechtwerk, Alles Arbeit mit Steinbeil, Tierzahn und Muschel. Totaleindruck:
braun die Wand, die Hängematten, die Kalabassen, die Menschen, braun in jeder
Abstufung aber harmonisch getönt, ganz Knaus. Hier und da schien die Sonne
durch eine Ritze in der Strohkuppel, vor der Thür schnitt die Tageshelle scharf
ab und die Gasse zwischen den Thüren lag im Halbschatten; durch die Luke,
die ziemlich eng verschlossen war, fielen einige lichte Kringel und Kreise auf den
Boden, und in dem emporsteigenden Rauch tanzten matte Sonnenstäubchen.
Die schweigsamen Indianer, Männer und Frauen, schwatzten fortwährend,
und lustig heraus klang Eva’s liebliches Lachen. Die Frauen waren alle thätig.
Eine schrappte eine rötliche Rinde, die gekocht einen heilkräftigen Sud liefert,
eine zweite stampfte im Mörser Mandiokagrütze. Ab und zu wurde einem der
Männer ein Schluck an die Hängematte gebracht. Ein schönes Bild dort beim
loderndem Feuer, das an dem riesigen Topfkessel heraufschlug, die nackte Frau
mit langem Haar, sie schöpfte den wie Milch weich wallenden Schaum des
Püserego in einem kleinen Topf ab und goss ihn immer wieder mit kräftigem
Schwung des Armes zurück. Andere traten hinzu, auch der gehorsamst Unter-
zeichnete, und kosteten, die Finger abschleckend. Die Zukünftige sah auch sehr
niedlich aus, ihr »rabenschwarzes Mongolenhaar« spielte in ein verschossenes
Lichtbraun, und sie hockte vor drei unzufrieden krächzenden grünen Periquitchen,
die sie aus einem Töpfchen fütterte. Dann kam auch ich an die Reihe, sie
legte einen frischgebackenen goldgelben Beijú-Fladen vor mich hin und vergass
nicht zu bemerken, dass er ihrer eignen Händchen Werk sei.
Der dicke Yapü war eingeschlummert. Auch mich befiel in der ungewohnten
stimmungsvollen Gleichmässigkeit des häuslichen Treibens eine angenehme Müdig-
keit; der freundlichen Einladung, ein Mittagsschläfchen zu halten, konnte ich nicht
widerstehen, obwohl ich mich in der grössten Hängematte, die da war, wie ein
Fisch im Netze krümmte.
Ich hatte fest geschlafen. Das Bild war verändert. Die Frauen sassen
draussen auf dem Platz fünf in einer Kette hintereinander eifrig beim Lausen.
Wer ein Tierchen fing, legte es auf die Spitze der Zunge und schluckte den
Leckerbissen hinunter oder gab es auch der ursprünglichen Besitzerin, die es in
der emporgehaltenen Rechten von hintenher empfing. Die Männer beobachteten
aufmerksam Schwalben »iri«, Luchu schoss nach ihnen, ohne sie zu treffen; als
sich ein paar in der Luft eine Beute abjagten, nahm dies das allgemeine Interesse
in Anspruch, und der gute alte Paleko lieferte erklärende Anmerkungen. Ueberall
dolce far niente. Nur die Ameisen feierten nicht; grosse Carregadores zogen
daher, schwer bepackt mit Halmstückchen und Holzkohlen.
[62]
Das Haus Tumayaua’s war ein wenig kleiner; hier lugten Eva’s Kinder aus
den Hängemättchen hervor, sonst war es dasselbe Bild.
Die Wohnungsverhältnisse gefielen mir besser als der zweite Teil der Pension.
Mit meiner Verpflegung war es übel bestellt. Fleisch bekam ich während des
Aufenthaltes im Dorf überhaupt nicht zu sehen, wenn ich zwei geschossene Mäuse
ausnehme. Fisch liess man mir nur so selten und in so kleinen Portionen zu-
kommen, als wenn es eine der kostbarsten Speisen wäre; einmal ein Töpfchen
von kleinfingerlangen Geschöpfchen in salzloser Brühe mit einem Maiskolbenstiel
als Löffel, zweimal ein knapp handgrosses Stück Fisch gebraten und auf Beijú
wie auf einem Tellerchen serviert, einmal ein Stück Zitteraal, fast zu fett, aber
gut und mit einer Haut wie Spickaal. Dann durfte ich einmal Beijú in Fischöl
tunken, was eine besondere Delikatesse auch für die Bakaïrí nicht gewesen wäre,
wenn sie in ihrer Kindheit hätten Leberthran einnehmen müssen. Mehr finde ich
in meinem Tagebuch nicht verzeichnet — dagegen teilte die Zukünftige am ersten
Tage geröstete Maiskörner mit mir, die sie auf dem Boden hockend im Schooss
hielt, brachte mir auch gelegentlich ein paar Mangaven, und Eva bot mir beim
Vokabelfragen Ameisen, einen Palmbohrkäfer mit noch einem halben Bein und eine
dicke Larve an, was alles »iwakulukulu«, der Superlativ jedweden Guten und Schönen
im Bakaïrí, sein sollte. An den Mandioka-Fladen oder Beijús und Getränken liess
man es nicht fehlen. Doch hielt der Festtrank Püserego nur für zwei Tage vor;
wie Seifenwasser grünlich grau, warm und mit Blasenschaum überzogen, hatte er
doch einen angenehm weichlichen, süssen Geschmack. Die Beijús waren in der
Qualität je nach Art des Mehls sehr verschieden, sie wurden meist zerbröckelt
und mit Wasser angerührt als Getränk genossen.
Dahingegen waren meine Gastfreunde von Herzen bereit, das Wenige, was
ich von Bohnen und Salz bei mir hatte, sich schmecken zu lassen und baten darum
inständigst. Mit den Bohnen hatte es seine Schwierigkeiten. Paleko und ich kochten
sie zusammen, aber beide zum ersten Mal in unserm Leben. Ich machte Feuer an
und er holte Scheite herbei, wir setzten einen irdenen Topf mit den Bohnen auf
drei Steine und kochten los. Paleko sang dazu, seinen Korb flechtend und mit
einem Fuss leise im Takt tretend; ich versuchte die Worte festzuhalten und las
sie ihm, nach Kräften auf seine Art singend, vor. Leider verstehe ich den Text
nicht und leider noch weniger die Noten, ich kann nur angeben, dass der Rhyth-
mus sehr stark hervorgehoben wurde, und dass man, wenn nur der Alte sang, eine
ganze Gesellschaft zu hören meinte, wie sie im Kreise lief und stampfte.
kuyé kuyé kutapayó kuyé — kutapayó hohóhohohú yalíwayáhahú ohohú uhó —
ohóhóho huhohohú ohóhóchú.
énu hitenó kuyé — kutápayó yekútapá yekútapá ohó. Dieser Vers enthält etwas
von Augen, ein gleicher mit kámi hitenó etc. von der Sonne.*)
[63]
yáwalí, yáwalí i í ií pekóto, yawalí ii ii éh hé hé yawalílawí.
yáwalí pinakú yawalí eh he hé, yawalí henemánekabó yawalí eh he hé, yawáli
he he hé.
yawalí nawí ehé, yawalí nawí ehé, yawalé nawí ehé, yawalí nawí ehé-yä.
Wie der Yawali-Gesang gab es einen andern mit endloser Wiederholung:
wákutuyéh, wákutuyéh fünf Mal, wakú wákutuyéh etc. in infinitum. Dann wusste
Paleko auch ein Lied der Nahuquá, das sich auf das schöne Geschlecht, táu Frau,
bezog: yámikú hezé hezémitáu — yámikú erehezé mezé mitáu.
Trotz der aufmunternden Marschlieder kam in unserm Bohnentopf kein
Wallen und Sprudeln zu Stande, nur bescheidene Schaumblasen schwammen oben
und nach zwei Stunden waren die sanft erhitzten Hülsenfrüchte noch grün. Erst
als meine Zukünftige herzukam und sich der Sache annahm, wurde auch das
Tempo der Bohnen lebhafter. Auch sie sang »kuyáuhu kuyáuhú« (Diphthong au)
mit leiser Stimme ein wenig nach der Melodie: »Wir hatten gebauet ein statt-
liches Haus«: kuyáuhu kuyáuhuhú — kirúhayé kiruhayé (vier mal) — kuyáuhu kuyáu.
Leise und ziemlich dumpf, langsam feierlich, lange auf dem au verweilend.
Das Hauptlied, das wir noch häufig zusammen sangen, war das folgende:
yawí yawí nakú — noví ritó hahé — ohó hohú, niké weké niké, niké weké niké,
notú aríte nóhuhé, ohóhuhó huhú, niké weké niké, notú aríte óhohu, ohóhuhó etc.
Dumpf und leise, aber immer schneller mit gestampftem Takt und einer
stossweisen Betonung, die zum Fortschreiten mitreisst; das óhohu … wird wieder-
holt, bis der Athem fast versagt, und man ruht wieder aus auf dem feierlicheren:
nó tú há — notú aríte nóhuhé nuhá hahú — notú aríte nóhuhé nuhá hahú nó tú há,
nó tú há — óho hú hu.
Ein grösserer Gegensatz ist nicht gut denkbar als zwischen einem flotten
Studenten-Kneiplied und jenen Gesängen, deren Vortrag kaum ein Singen zu
nennen war, sondern nur mit verhaltenen Tönen den Tanzmarsch der Füsse be-
gleiten zu wollen schien. Ich sang natürlich auch, auf die Gefahr hin, den Leutchen
von unserer Musik nicht den allgemein gültigen Begriff zu geben, da ich nur
»eigene Melodien« zur Verfügung habe. Ich errang einen kleinen Achtungserfolg,
doch war man wegen des mit der Tonfülle verbundenen ungewohnten Lärms ein
wenig befangen. Naturlaute aber wie »rudirallala« gefielen meinem Freunde
Paleko ausnehmend, er war mit Feuereifer bestrebt, sie zu lernen, und krümmte
sich vor Lachen, wenn er nicht rasch genug folgen konnte.
Schamgefühl. Ich möchte in diesem erzählenden Teil vermeiden, Kleidung
und Schmuck im Einzelnen zu beschreiben und beschränke mich, was die persönliche
Erscheinung betrifft, auf die Bemerkung, dass beide Geschlechter unbekleidet gingen,
dass die Frauen, wie man auf der Tafel 5 sieht, das »Ulúri«, ein gelbbraunes,
dreieckig gefaltenes und an Schnüren befestigtes Stückchen Rindenbast, und um
den Hals eine Schnur mit Muschelstückchen, Halmstückchen, Samenkernen, dass
die Männer immer eine Hüftschnur mit oder ohne solchen Zierrat und häufig Bast-
[64] oder Baumwollbinden um den Oberarm oder unter einem Knie oder über einem
Fussgelenk trugen. Der eine oder andere Jüngling steckte sich auch eine Feder
in das durchbohrte Ohrläppchen; aber man muss nicht glauben, dass der Indianer,
wie auf den Schildern der Tabakläden, immer in seinem ganzen Festputz
erscheint.
Wohl aber möchte ich über den allgemeinen Eindruck, den die »Nacktheit«
auf den unbefangenen Besucher machte, an dieser Stelle ein Wörtchen sagen. Diese
böse Nacktheit sieht man nach einer Viertelstunde gar nicht mehr, und wenn
man sich ihrer dann absichtlich erinnert und sich fragt, ob die nackten Menschen:
Vater, Mutter und Kinder, die dort arglos umherstehen oder gehen, wegen ihrer
Schamlosigkeit verdammt oder bemitleidet werden sollten, so muss man entweder
darüber lachen wie über etwas unsäglich Albernes oder dagegen Einspruch
erheben wie gegen etwas Erbärmliches. Vom ästhetischen Standpunkt hat die
Hüllenlosigkeit ihr Für und Wider wie alle Wahrheit: Jugend und Kraft sahen
in ihren zwanglosen Bewegungen oft entzückend, Greisentum und Krankheit in
ihrem Verfall oft schauderhaft aus. Unsere Kleider erschienen den guten Leuten
so merkwürdig wie uns ihre Nacktheit. Ich wurde von Männern und Frauen
zum Baden begleitet und musste mir gefallen lassen, dass alle meine Zwiebel-
schalen auf das Genaueste untersucht wurden. Für das peinliche Gefühl, das ich
ihrer Neugier gegenüber zu empfinden wohlerzogen genug war, fehlte ihnen jedes
Verständnis; sie betrachteten andächtig meine polynesische Tätowirung, zumal
einen blauen Kiwi aus Neuseeland, waren aber zu meiner Genugthuung sichtlich
enttäuscht darüber, dass sich unter der sorgsamen und seltsamen Verpackung
nicht noch grössere Wunder bargen.
Sie selbst trugen ja auch etwas Kleiderähnliches bei Mummenschanz und
Tanz, aus Palmstroh geflochtene Anzüge, deren Namen éti = Haus ist, und so
erhielt mein Hemd den prunkvollen Namen »Rückenhaus«; ich hatte ein »Kopf-
haus« und ein »Beinhaus«. Da die Frauen nicht tanzen und nur die Männer in
ihrem Flötenhaus diese Anzüge gebrauchen dürfen, war Eva’s Frage wohl nicht
so unberechtigt, ob denn »karáiba pekóto«, die Frauen der Karaiben, auch
Kleider, »Häuser«, trügen? — Mit welcher Schnelligkeit man sich bis in die Regionen
des Unbewussten hinein an die nackte Umgebung gewöhnen kann, geht am
besten daraus hervor, dass ich vom 15. auf den 16. September und ebenso in
der folgenden Nacht von der deutschen Heimat träumte und dort alle Bekannten
ebenso nackt sah wie die Bakaïrí; ich selbst war im Traum erstaunt darüber,
aber meine Tischnachbarin bei einem Diner, an dem ich teilnahm, eine hoch-
achtbare Dame, beruhigte mich sofort, indem sie sagte: »jetzt gehen ja Alle so.«
Der Zweck, den wir mit der Kleidung verbinden, blieb ihnen verborgen,
daran konnte man nicht zweifeln, wenn man sah, in welch naiver Art sie Teile
meines Anzugs, deren sie für eine Weile habhaft wurden, anlegten. Wie sollten
sie auch sowohl von den Unbilden unseres Klimas als von dem dritten Kapitel
des ersten Buch Mose etwas wissen? Sie spielten mit meinen Kleidungsstücken
[65] wie eitle Kinder. Luchu war glücklich, wenn ich ihm meinen Poncho lieh, und
ging mit ihm und meinem Hut stolz wie der aufgeblasenste Geck auf dem Dorf-
platz spazieren.
Bei der ethnographischen Schilderung der Kulisehu-Stämme werde ich auf
das Thema Kleidung und Schamgefühl zurückzukommen haben; hier kann ich
nur wahrheitsgetreu berichten, dass ich im Verkehr mit den Leuten von unserem
Schamgefühl Nichts bemerkt habe, wohl aber von einem anders gearteten, uns
durchaus fremden, über das ich sogleich berichten werde.
Beim Vokabelfragen bildeten die Körperteile einen wichtigen und leicht zu
behandelnden Stoff. Die Bakaïrí fanden es sehr komisch, dass ich Alles wissen
wollte, waren andrerseits aber sehr stolz, dass ihre Sprache so reich war und
der Bakaïrí für jeden Teil ein Wort hatte. Sehr vergnügt wurden sie bei meinem
Fragen da und liessen es an prompter Auskunft nicht fehlen, wo sie sich nach
unsern Begriffen hätten schämen und womöglich lateinisch oder in Ausdrücken
der Kindersprache hätten antworten sollen. Rücksichtsvoll — denn ich natürlich
schaute in diesem Moment durch meine Kulturbrille und sah, dass sie nackt
waren — hatte ich einen Augenblick abgewartet, als die Frauen aus der Hütte
herausgegangen waren: ich wurde damit überrascht, dass die fällige Antwort
plötzlich draussenher von einer sehr belustigten Mädchenstimme kam. Meine
Vorsicht hatte keinen Sinn gehabt. Es war die Vorsicht etwa eines Arabers,
der sich geniren würde, in das unverhüllte Antlitz einer Europäerin zu sehen,
oder eines Chinesen, der in ängstliche Verlegenheit geriete, wenn ihm der Zufall
ihr strumpfloses Füsschen zeigte. Es ist wahr, das bei uns anstössig erscheinende
Thema bereitete den Bakaïrí, Männern und Frauen, entschiedenes Vergnügen,
und wenn ein pedantischer Grübler, der die Schamhaftigkeit in unserm Sinn um
jeden Preis als angeborenes Erbgut der Menschheit gewahrt wissen will, nun
gerade aus diesem gesteigerten Mass der Heiterkeit folgern möchte, dass sich
das böse Gewissen eines von höherer Sittlichkeit herabgesunkenen Stammes
geregt habe, so vermag ich ihm nur zu erwidern, dass ihr lustiges Lachen weder
frech war noch den Eindruck machte, als ob es eine innere Verlegenheit be-
mänteln sollte. Dagegen hatte es unzweifelhaft eine leicht erotische Klangfarbe
und ähnelte, so sehr verschieden Anlass und Begleitumstände bei einem echten
Naturvolk sein mussten, durchaus dem Gelächter, das bei unseren Spinnstuben-
scherzen, Pfänderspielen oder andern harmlosen Spässen im Verkehr der beiden
Geschlechter ertönt. Ist doch aus dieser selben natürlichen Freude, wie wir
später sehen werden, eins der häufigsten Ornamente ihrer Malerei, das auf zahl-
reichen Gerätschaften als die Urform des Dreiecks dargestellte Uluri der Frauen
hervorgegangen.
Die Uluris wünschte ich für die Sammlung in grösserer Zahl verfertigt zu
haben. Was grosse Heiterkeit erregte. Eines Nachmittags wurde denn munter
geschneidert. Wir sassen hinter Tumayaua’s Haus, eine Alte röstete draussen
Beijús, das Mehl auf die Schüssel aufschüttend, es glatt streichend und mit Ge-
v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 5
[66] schicklichkeit den fertigen Fladen auf ein Sieb werfend, die Kinder schleckten
Püserego und spielten Fangball mit federverzierten Maisbällen, und vier Frauen
und Mädchen drehten die Fäden aus Palmfaser, falteten die »Röckchen« aus
braungelbem Blatt und lieferten mir die zierliche Arbeit massenweise in allen
Grössen. Das Einzige, was ich zugeben muss, ist das, dass eine Frau sehr ver-
blüfft war und ratlos um sich blickte, als ich ein Uluri verlangte, das sie anhatte.
Allein an dieser Verlegenheit hatte ein auf die Entblössung bezogenes Scham-
gefühl keinen Anteil, sondern was von Schamgefühl vorhanden war, sollte ein
physiologisches genannt werden, dessen Existenz ich nicht bestreite. Als ich nun
mehrere Frauen gleichzeitig um ihre Uluris bat und durch Verweisen auf die
Sammlung jedes Missverständnis ausschloss, wurde mir »anstandslos« und lachend
gewillfahrt.
Dagegen beobachtete ich ein deutliches Schamgefühl bei ganz anderem
Anlass, und zwar beim — Essen. Ich hatte nur Gelegenheit, es bei den Männern
festzustellen, und möchte vermuten, dass es den Frauen erst recht nicht fehlte.
Am Abend des 13. September bot mir Tumayaua draussen auf dem Platz,
wo wir Männer plaudernd bei dem Mandiokagestell standen, ein Stück Fisch an,
das ich hocherfreut sofort verspeisen wollte. Alle senkten die Häupter, blickten
mit dem Ausdruck peinlicher Verlegenheit vor sich nieder oder wandten sich ab,
und Paleko deutete nach meiner Hütte. Sie schämten sich. Erstaunt und be-
troffen ging ich in das Flötenhaus, den Fisch zu verzehren. Ich hatte die Mahl-
zeit noch nicht beendet, als Kulekule eintrat, der über den Gebrauch einer ihm
geschenkten Angel näher belehrt werden wollte. Mit einem Gesicht, das deutlich
sagte: »ah, Sie sind noch nicht fertig«, setzte er sich nieder auf den Boden,
schweigend, abgewandt und mit gesenktem Kopf und wartete. Am nächsten
Abend erhielt ich draussen wieder Fisch, doch war es schon dunkel: ich ass,
mich bescheidentlich dem finstern Baumgrund zukehrend und schien so keinen
Anstoss zu erregen.
Als Paleko mir den Topf mit kleinen Fischen brachte, waren wir beide
allein im Flötenhaus; er kehrte mir den Rücken zu und sprach kein Wort
während der langen Zeit, dass ich mit den Gräten kämpfte. Ich gab Tumayaua
von unserm Bohnengericht; er nahm die Portion und ging bis zu seinem Hause,
wo er sich hinsetzte, ass und zwischendurch, aber ohne den Kopf zu wenden,
herüberrufend sich auch an unserer Unterhaltung beteiligte. Er hatte sich also
mit voller Absicht entfernt. Im Hause assen die Frauen jede für sich in der
Nähe der Feuerstelle, sie brachten den Männern das Mahl, und Jeder ass auf
seinem Platz. Dabei machte es sich Alakuai z. B. sehr bequem, indem er in der
Hängematte liegend zu dem Topf auf dem Boden hinablangte, mit den Fingern
hineinfuhr und sie sich schaukelnd abschleckte, aber Keiner behelligte den Andern
mit seiner Gesellschaft. Mit dem Beijúessen war man vielleicht etwas liberaler,
wenigstens mir gegenüber, doch sah ich die Männer Abends häufig einzeln bei-
seite gehen, ein Stück zu verzehren. Ehrenreich hat später bei den Karajá
[67] am Araguay etwas Aehnliches gefunden. »Die Etikette verlangt, dass Jeder,
von dem Andern abgewendet, für sich isst. Wer dagegen verstösst, muss sich
den Spott der Uebrigen gefallen lassen.«
Bei den Bakaïrí war diese Etikette nun entschieden strenger, sicher
wenigstens im Verhältnis zu dem Gaste, denn der Humor ging ihnen völlig ab
meiner Unanständigkeit gegenüber. Ich habe gewiss Vieles gethan, was des
Landes nicht der Brauch war, ich habe laut gesungen, Männer und Frauen nach
ihrem Namen gefragt, die delikaten Käferlarven zurückgewiesen und dergleichen
schwer zu entschuldigende Dinge mehr begangen, allein nie sah ich, dass man
sich schämte. Hier aber handelte es sich um mehr als etwas Unschickliches, ich
war unanständig gewesen. Darüber kann gar kein Zweifel sein.
Wenn wir mit Heine zugeben müssen, dass wir alle nackt in unsern Kleidern
stecken und unserm Schamgefühl nur eine relative Berechtigung zusprechen
dürfen, wird auch der Bakaïrí durch Essen an und für sich, soweit der Einzelne
den Vorgang für seine Person erledigt, in edleren Gefühlen nicht verletzt werden
können. Unwillkürlich gedenkt man irgend eines Tieres, das seinen Anteil von
der Mahlzeit beiseite trägt, doch offenbar aus Furcht, ein anderes möchte ihn
wegnehmen. Wohl glaube ich, dass Fisch und Fleisch bei den Bakaïrí, die sich
mit einer gewissen Trägheit auf Mandioka und Mais mehr einschränkten als ihnen
selbst lieb war, verhältnismässig knapp bemessen waren: ich bin gewiss, wenn
ich noch eine Woche länger dort geblieben wäre, hätte ich mich aus freien
Stücken mit jedem guten Stück, das ich rechtmässig oder unrechtmässig erwischt
hätte, in eine stille Ecke gesetzt, um es vor den Blicken der Andern geschützt
zu verzehren. Den hungrigen Blick, fürchte ich, habe ich selbst schon damals
nach Andern hinübergeworfen. Aber die Entstehung des beschriebenen Scham-
gefühls muss in älteren Zeiten wurzeln.
Du lieber Himmel, wie haben wir sogenannten gebildeten Menschen, als
Schmalhans auf der Expedition Küchenmeister wurde, ich kann nur sagen, obwohl
wir die Gefühle zu meistern wussten, mit Gier und Neid die gegenseitigen
Portionen kontrolliert; als der Zuckervorrat, die Rapadura, zusammenschrumpfte,
war es nötig gewesen, den Rest persönlich zu verteilen, damit ein Jeder sich auf
dem Lagerplatz seinen Erfrischungstrank nach Belieben sparsam oder ver-
schwenderisch herrichten konnte, und als wir später auf der Fazenda S. Manoel
nur ein wenig Rapadura vorfanden, die wir in genau gleiche Stücke zerschnitten,
erhitzten wir uns in allem Ernst über der Entdeckung, dass die Soldaten, mit
denen wir ehrlich geteilt, sich heimlich eine Anzahl der Bonbon-Ziegelsteine vorweg
verschafft hatten.
Die Bakaïrí lebten wie eine einzige Familie, sie verteilten untereinander die
Beute von Fischfang und Jagd auf die verschiedenen Häuser, in jedem Haus
musste auf die verschiedenen Familien wieder verteilt werden. Die Zeit, wo sie
gelernt hatten, Mandioka und Mais zu pflanzen, und sich nun einen regel-
mässigen Vorrat an Lebensmitteln sichern konnten, war eine neue Aera. Bis
5*
[68] dahin hatten sie, wie wir auf der Expedition, von der Hand in den Mund gelebt,
und da war das Alleinessen um der Ruhe und des Friedens willen vielleicht eine
verständige, nützliche Einrichtung gewesen. Jene Einrichtung, von Jugend auf
geübt und eine Gewohnheit geworden, die im Blute steckte, wurde auch in
die Zeit des sesshaften Lebens hinübergenommen, wo der Feldbau überwog
und sie keinen Sinn mehr hatte. Da entwickelte sich das Schamgefühl. Denn
man konnte sie als wirklich vernünftig nicht mehr begründen, man prüfte sie
auch gar nicht auf ihre Berechtigung durch die Umstände, eine jede alte Ge-
wohnheit ist um ihrer selbst willen da; was man dann »heilig« nennt, weil sie
schlechthin eine Sache des Gefühls geworden ist. Man schämt sich, wenn Einer
dawider verstösst, und schämt sich um so redlicher, je weniger man sagen könnte,
was er eigentlich Schlimmes verbrochen hat. Wer einen andern Entwicklungs-
gang durchgemacht hat, auf die Sache selbst sieht und nicht auf den falschen,
durch Umdeutung gewonnenen Begriff, der an ihrer Stelle steht, fragt erstaunt:
»warum schickt es sich nicht, nicht allein zu essen?« »Warum«, fragt der Bakaïrí
uns, »schickt es sich nicht, nackt zu sein?« Der Eine müsste wissen, dass man
unter seinen Kleidern »nackt« bleibt, der Andere, dass man auch in der grössten
Gesellschaft »allein« isst. Ganz gewiss geht unser Schamgefühl im Verkehr der
beiden Geschlechter auf eine Zeit zurück, als Jeder noch dafür sorgen musste,
dass er seine Frau für sich allein hatte, sie vor den begehrlichen Blicken der
Stammesgenossen zu schützen suchte und dazu die, sei es nun aus Freude am
Schmuck oder aus Nützlichkeitsgründen hervorgegangene Kleidung benutzte. Da
wurde denn die Kleidung selbst heilig. Es ist gewiss eine interessante Parallele,
wenn wir uns die nackten Indianer als eine unanständige Gesellschaft denken
und uns in die Seele eines Bakaïrí versetzen, der sich vor Scham nicht zu helfen
wüsste, wenn er die fürchterlich unanständigen Europäer bei einer Table d’hôte
vereinigt sähe. Er würde sich aber rasch daran gewöhnen und sich vielleicht in
der nächsten Nacht an den Kulisehu zurückträumen, dort Alt und Jung gemüt-
lich zusammen beim Schmaus eines Tapirbratens finden und erstaunt sich von
dem Häuptling belehren lassen: »wir essen jetzt immer miteinander«.
Tabakkollegium. Am natürlichsten gaben sich meine Freunde Abends
nach des Tages Last und Mühen, wenn wir Männer auf dem Dorfplatz rauchend
zusammensassen. Eine harmlosere Lustigkeit war nicht gut denkbar, obgleich
oder weil, wenn man will, Nichts dabei getrunken wurde. Pünktlich wie der erste
der Honoratioren mit seiner langen Pfeife am Stammtisch, erschien der steif-
beinige alte Paleko, das spindelförmige Tabakbündel, einen Zweig mit Wickel-
blättern und einen Holzkloben in den Händen und hockte behaglich seufzend auf
dem Sitzbalken nieder. Mir that bald der Rücken weh in dieser Sitzlage von
einer Handbreit über dem Boden, und ich schleifte meine Ochsenhaut aus der
Hütte heran. Ein paar Hölzer wurden radienförmig mit dem glimmenden Kloben
zusammengelegt und ein Feuerchen angeblasen. Die Thonpfeife war unbekannt,
[69] man rauchte Zigarren oder richtiger Zigaretten, allerdings 25 cm lang. Das Wickel-
blatt war noch grün und wurde nur einige Augenblicke über dem Feuer gehalten,
es verbreitete einen balsamischen Geruch. Die Zigarre ging häufig aus, man hielt sie
an die Kohle, um sie wieder anzuzünden. Gelegentlich liess man sich auch Feuer von
der Zigarre des Nachbars geben, überreichte ihm dann aber die eigene, die jener in
den Mund nahm und anzündete. Der Rauch wurde geschluckt. Auch meinen
schweren schwarzen Tabak rauchten sie auf dieselbe Weise und in demselben For-
mat und vertrugen ihn, obwohl der ihrige leicht wie Stroh war, ohne Schwierigkeit.
Aus den Häusern drang kein Laut hervor, das Geflecht an dem Eingang
war vorgeschoben. Ob die Frauen nicht wach in der Hängematte lagen? Die
beiden Araras, die von den Dachstangen tagsüber zu krächzen pflegten, schliefen
auf einer halbverdorrten Palme. Keine Insekten belästigten uns. Zwei, drei
Stunden lang sassen wir unter dem sternfunkelnden Himmelsgewölbe, rings von
der dunkeln Waldmasse umgeben. Das kleinste Wölkchen, das irgendwo auf-
stieg, wurde bemerkt und einer Erörterung über Woher und Wohin unterworfen.
Sobald ein Tierlaut im Walde hörbar wurde, verstummte Alles einen Augenblick,
wartete, ob er sich wiederhole, und man flüsterte sich zu »ein Tapir«, »ein
Riesengürteltier« oder dergleichen, während Einer halb mechanisch den Tierruf
nachpfiff. Auch an unwillkürlichen Lauten fehlte es nicht. Speichelschlürfen,
Aufstossen, Blähungen erfuhren keine Hemmung. Bakaïrí sum, nihil humani a me
alienum puto. Aber in dem Augenblick, wenn einer sich gar zu schlecht auf-
führte, erfolgte sofort als unmittelbare Reflexbewegung aller Kollegen ein kurzes
heftiges Ausspucken nach der Seite, ohne dass die Unterhaltung stockte. Im
Wiederholungsfall freilich brummte Tumayaua oder Paleko etwas, was zu heissen
schien: »Donnerwetter, wir haben doch einen Gast«, und der Uebelthäter verlor
sich auf sechs Schritt weg im Schatten. Es war sehr patriarchalisch.
Das für mich wichtigste Thema, die Geographie des Kulisehu, nahmen wir
ausführlich durch. Der Fluss wurde in den Sand gezeichnet, die Stämme wurden
aufgezählt und mit Maiskörnern bezeichnet. Allmählich lernte ich so das richtige
Verhältnis von Kulisehu und Kuluëne verstehen und erfuhr, dass die Hauptmasse
der Nahuquástämme, deren jeder mit einem besondern Namen bezeichnet wurde,
am Kuluëne sass. Alle Leute waren entweder gut »kúra« oder schlecht »kurápa«.
Hauptsächlich richtete sich die Unterscheidung, wie ich zu meinem Erstaunen
merkte, nach dem Umfang der Gastfreundschaft, die sie ausübten; »kúra« sein
hiess, es beim Empfang an Beijús und Püserego, den Fladen und dem besten
Kleistertrank aus Mandioka, nicht fehlen lassen. Es war zum Teil, was die
Nahuquá und etwa noch die Mehinakú betraf, nach eigenen Erfahrungen, zum
Teil nach Hörensagen dieselbe Information, die bei unsern Herbstreisen als die
wichtigste gilt: gute und schlechte Hôtels.
Aber welcher Unterschied zwischen einem gedruckten Baedeker und dieser
Gestikulation, dieser Tonmalerei, dieser sich von Etappe zu Etappe mitleidlos
weiterschleichenden Aufzählung der Stationen! Von uns bis zum zweiten Bakaïrí-
[70] dorf eine Tagereise, von dem zweiten zum dritten zwei u. s. w. — nein, so raste
man nicht weiter in der guten alten Zeit, die ich hier erlebte. Zuerst setzt man
sich in das Kanu, »pépi«, und rudert, rudert »pépi, pépi, pépi« — man rudert
mit Paddelrudern, links, rechts eintauchend, und man kommt an eine Strom-
schnelle, bububu … Wie hoch sie herabstürzt: die Hand geht mit jedem bu,
bu von oben eine Treppenstufe nach abwärts, und wie die Frauen sich fürchten
und weinen: »pekóto äh, äh, äh . . . .!« Da muss das pépi — ein kräftiger
Fusstritt nach dem Boden hin — durch die Felsen, mit welchem Aechzen, vor-
geschoben werden, und die »mayáku«, die Tragkörbe, mühsam — 1, 2, 3 mal
an die linke Schulter geklopft — über Land getragen werden. Aber man steigt
wieder ein und rudert, pépi, pépi, pépi. Weit, weit — die Stimme schwebt
ih . . . . . . ., so weit ih . . . . . . ., und der schnauzenförmig zugespitzte Mund,
während der Kopf krampfhaft in den Nacken zurückgebogen wird, zeigt, in
welcher Himmelsrichtung ih . . . . . . . Darüber sinkt die Sonne bis: die Hand,
soweit sie sich auszustrecken vermag, reicht einen Bogen beschreibend nach Westen
hinüber und zielt auf den Punkt am Himmel, wo die Sonne steht, wenn man —
lah . . . . . . á — im Hafen eintrifft. Da sind wir bei den: »Bakaïrí, Bakaïrí,
Bakaïrí!« »Kúra, kúra!« und hier werden wir gut aufgenommen. Vielleicht hat
man auch noch eine Stelle mit gutem Fischfang passiert, wo »Matrinchams« oder
»Piranyas« zu schiessen sind: während die Wörter sonst den Ton auf der vor-
letzten Silbe haben, noróku, póne, wird er jetzt — wie wir »Jahré« sagen — auf
die letzte verlegt »norokú«, »poné«, und der Pfeil schnellt, tsök, tsök, vom Bogen.
Hinter den Nahuquá freilich, wo die Kenntnis der Einzelheiten unbestimmt
wird, werden nur die Tagereisen selbst angegeben. Die rechte Hand beschreibt
langsam steigend in gleichmässigem Zuge einen Bogen von Osten nach Westen,
kommt dort unten an und legt sich plötzlich an die ihr entgegenkommende
Wange, verweilt hier, während die Augen müde geschlossen sind, und greift
dann nach dem Kleinfinger der linken Hand: einmal geschlafen. Dann wieder
dieselbe Figur, doch wird mit dem Kleinfinger noch der Ringfinger ergriffen, und
beide werden nach der Seite gezogen: zweimal geschlafen u. s. w. Sei auf-
merksam, edler Zuhörer, denn wehe Dir, wenn Du fragst — es kann Dir nicht
anders geholfen werden, als indem man wieder von vorn anfängt.
Aber Rache ist süss. Die Reihe kam auch an mich, denn man wollte
wissen, wie weit Cuyabá sei, mein Ausgangspunkt. Die Gesichter waren köstlich,
wenn ich erst die linke, dann die rechte Hand abfingerte, dann genau nach ihrer
Zählweise, die Zehen des linken und die des rechten Fusses abgriff, zwischen je
zwei Fingern und je zwei Zehen vorschriftsmässig am Himmel wanderte und
schlief, und zum Schluss in meine Haare greifen musste, um sie auseinander
ziehend zu bekunden, dass die Zahl der Tage noch nicht reichte und mehr sei
als 20! Da murmelten sie denn ihr »kóu, kóu« des Erstaunens oder »óka, óko,
he okó« immer ungeduldiger, redeten alle durcheinander und vereinigten sich
schliesslich in einem fröhlichen Gelächter baaren Unglaubens.
[71]
Einzelne Indianerstämme wurden auch mit lebendiger Pantomime wegen
ihrer Absonderlichkeiten verspottet; die Nahuquá waren komisch wegen ihres
Bartes, die Suyá oder, wie die Bakaïrí sagten, Schuyá mussten mit ihrer Kork-
scheibe, die sie in der Unterlippe tragen, herhalten, wobei die Schauspieler ihre
Unterlippe stark nach vorn spannten und ein gemachtes Kauderwälsch von
schnappenden Tönen hervorstiessen; die Trumaí wurden mit einem grausigen
»huhuhuhu« wiedergegeben und in ihrer barbarischen Gewohnheit, dass sie die
Kriegsgefangenen mit hinten zusammengebundenen Armen in den Fluss warfen, ein
Gegenstand halb des Hohns oder Abscheus, halb der Furcht vor Augen geführt.
Ich darf wohl gleich erwähnen, dass sich die Mimik der Bakaïrí mutatis
mutandis mit mehr oder weniger Temperament bei allen Stämmen wiederholte,
dass nur die Interjektionen verschieden, die Geberden aber genau dieselben waren.
Hier im Tabakkollegium lernte ich denn auch die Steinbeilpantomime zuerst
kennen, die wir später, so rührend sie an und für sich war, bis zum Ueberdruss
bei jedem Stamm über uns ergehen lassen mussten. Sie schilderte den Gegen-
satz zwischen dem Steinbeil und dem Eisenbeil, das ihnen von Antonio sofort
demonstrirt worden war, und hatte für mein Empfinden, ehe ich durch die
Wiederholung abgestumpft wurde, ja im Anfang noch, weil sie sich so unerbittlich
wiederholte, etwas ungemein Ergreifendes als eine Art stammelnden Protestes
der metalllosen Menschheit gegen die zermalmenden Hammerschläge der Kultur,
eines Protestes, der so, wie ich ihn hier noch erlebte, tausendfach in allen Erd-
teilen ungehört verhallt sein muss.
Wie quält sich der Bakaïrí, um einen Baum zu fällen: frühmorgens, wenn
die Sonne tschischi aufgeht, — dort im Osten steigt sie — beginnt er die Steinaxt
zu schwingen. Und tschischi wandert aufwärts und der Bakaïrí schlägt wacker
immerzu, tsök, tsök, tsök. Immer mehr ermüden die Arme — sie werden ge-
rieben und sinken schlaff nieder, es wird ein kleiner matter Luftstoss aus dem
Mund geblasen und über das erschöpfte Gesicht gestrichen; weiter schlägt er,
aber nicht mehr mit tsök, tsök, sondern einem aus dem Grunde der Brust geholten
Aechzen. Die Sonne steht oben im Zenith; der Leib — die flache Hand reibt
darüber oder legt sich tief in eine Falte hinein — ist leer; wie hungrig ist der
Bakaïrí — das Gesicht wird zu kläglichstem Ausdruck verzogen: endlich, wenn
tschischi schon tief unten steht, fällt ein Baum: tokále = 1 zeigt der Kleinfinger.
Aber Du, der Karaibe, — plötzlich ist Alles an dem Mimiker Leben und Kraft —
der Karaibe nimmt seine Eisenaxt, reisst sie hoch empor, schlägt sie wuchtig
nieder, tsök tsök, pum — āh . . . ., da liegt der Baum, ein fester Fusstritt, schon
auf dem Boden. Und da und dort und wieder hier, überall sieht man sie fallen.
Schlussfolgerung für den Karaiben: gieb uns Deine Eisenäxte.
Keine Thätigkeit eines Werkzeugs aus Metall, Stein, Zahn oder Holz wurde
besprochen oder es erschienen auch entsprechend malende Laute. Es ist richtig,
dass ein guter Teil auf Rechnung des Verkehrs mit mir, der nur die Anfangs-
gründe ihrer Sprache kannte, zu setzen war; sie waren sparsamer mit diesen
[72] Lauten und Geberden in ihrer eigenen Unterhaltung, allein sie verfügten doch
über die Hülfssprache ausdruckvoller Bewegung in reichem Masse und bedienten
sich ihrer im Verkehr mit anderen Stämmen, wie ich später sah, auf genau
dieselbe Art und Weise wie mir gegenüber. So macht sich der Nachteil, dass
jeder Stamm eine andere Sprache redet, wenig geltend; die Verständigung war
selbst mit einem Karaiben, da die Geberden zwar stereotyp sind, aber noch die
volle Anschaulichkeit enthalten und noch nicht zu konventionellen Abkürzungen
eingeschränkt sind, ohne Schwierigkeit möglich.
Auch für die mir eigentümlichen Interjektionen und Geberden, die ja eben-
falls unwillkürlich einen lebhafteren Ausdruck annahmen als zu Hause, bekundeten
sie ein aufmerksames Interesse. Begleitete ich irgend welchen Affekt mit einem
ihnen auffälligen Laut, so wurde er nachgeahmt; pfiff ich leise vor mich hin, so
konnte ich bald Einen hören, der vergnügt mitpfiff. Allgemeine Anerkennung
fand besonders, wenn ich mir laut lachend auf’s Bein schlug: sofort klatschten sie
sich auf die nackten Schenkel und ein homerisches Gelächter erfüllte den Dorfplatz.
Meine linguistischen Aufzeichnungen vom Tage, die ich herbeiholte, wurden
in unserm Tabakkollegium noch einmal durchgenommen und um kleine Beiträge
bereichert. Die Sternbilder, Tiernamen, der unerschöpfliche Stoff für die Körper-
teile und was der Augenblick lieferte, wurde eingetragen, vorgelesen und mit
Beifall bestätigt.
Allein auch ich bot mimische Vorstellungen, zu denen mein interessantes
Ochsenfell den ersten Anlass gegeben hatte, ich führte ihnen unsere Haustiere
vor und erzielte damit bei meinem kleinen, aber dankbaren Publikum einen Erfolg,
wie er selbst dem Verfasser des »Tierlebens« und vielbewunderten Vortrags-
künstler niemals grösser beschieden gewesen sein kann. Vor allem machten sie
die Bekanntschaft von Rind, Schaf und Hund, deren Grösse und Kennzeichen
ich ihnen nach besten Kräften veranschaulichte, und deren Sprache »itáno« laute
Ausbrüche der Heiterkeit und des Jubels hervorrief.
Da erklang es denn »muh«, »mäh«, »wauwau« und »miau« in allen Tonarten
von mir und von ihnen. Besonders wirkte die Abwechslung zwischen dem merk-
würdigen »mäh« der alten Schafe und dem kläglichen »mäh« eines die Mutter
suchenden Lämmchens, zwischen dem Gebell der grossen Köter und dem der
kleinen Kläffer. Zufällig verfügte ich über eine ziemlich gute Aussprache in
diesen itános, sodass die gewiegten Kenner der Tiersprachen an der Echtheit
nicht zu zweifeln brauchten. Ich suchte ihnen auch den Charakter der Tiere
klar zu machen, indem ich verschiedene Arten wie Katze und Hund zusammen
auftreten liess, suchte ihnen zu verdeutlichen, dass z. B. ein Hund dem Menschen
gehorcht, und war jetzt in der Lage, sie über den Ursprung meiner Woll-
bekleidung — mäh — zu unterrichten. Es waren aufmerksame Schüler, die den
Lernstoff sehr bald vollständig beherrschten und fleissig übten.
Die denkwürdige Sitzung unsers Tabakkollegiums, in der ich den ersten
Vortrag über die europäischen Haustiere gehalten hatte, war spät in die Nacht
[]
BAKAÏRÍ
LUCHU TUMAYAUA
[][73] hinein ausgedehnt worden, aber ich verabschiedete mich von glücklichen Menschen,
auf deren Gesichtern geschrieben stand: das war ein schöner Abend. Luchu
bellte mustergültig, er lief in die beiden Häuser, aus denen schon vielfach helles
Lachen hörbar geworden war, und fuhr dort mit wildem Wau-wau umher.
Ich lag bereits halb schlafend in der Hängematte und glaubte, die Bürger-
schaft ruhe wieder in dem gewohnten Frieden, als mich noch einmal Eva’s Stimme
von drüben mit einem lauten »mäh« aufschreckte. »Mäh« antwortete ich denn
auch zum guten Schluss aus meinem Schafstall, überall kicherte es noch einmal
hinter den Strohwänden, und endlich trat dann wirklich Stille ein, bis ich — mäh,
mäh schon vor Sonnenaufgang — fluchend emporfuhr.
Ein Tag verlief gleich dem andern. Wie wir in meiner Hütte miteinander
arbeiteten, wie die Bakaïrí portugiesisch und ich bakaïrí lernte, will ich im nächsten
Kapitel übersichtlich zusammenstellen, während ich noch anfüge, was ich aus
unserm gemeinsamen Leben zu berichten habe.
Tumayaua liess mich vor seinem Hause Tabak pflanzen, ein Ansinnen, das
mich ein wenig befremdete, bis ich merkte, dass er sich von meiner Beihülfe eine
vorzügliche Ernte oder Qualität versprach; so verlangte ich nur, dass er den
Anfang mache und zerrieb dann die Kapseln und senkte den Samen in den
Boden, als sei ich mein Lebenlang Tabakpflanzer gewesen. Mit Kulekule musste
ich zu dem Katarakt unterhalb des Dorfes gehen und ihm beim Angeln helfen;
er durfte nicht ahnen, dass ich dieses Gerät seit den Zeiten der Sekunda, wo ich
es mit Mühe vor der Polizei rettete, nicht mehr geschwungen hatte.
Einen sehr hübschen Fischereiausflug machten wir an einem Vormittag zu
einem Halbdutzend Personen, darunter einigen Frauen, nach dem saímo, einem
Teich, der etwa 2½ Kilometer vom Dorf entfernt im Kamp lag. Wir schritten
ein Stück Weges durch den Wald, die Frauen Fangkörbe und Reusen tragend,
Paleko ein Stück Fischgebiss an einer Schnur um den Hals und ein Steinbeil
unter dem Arm, das er am Fluss auf einem Stein noch geschliffen hatte,
indem er es mit dem Speichel am Munde selbst anfeuchtete. Komisch war es
währenddess gewesen, zu sehen, wie die Zukünftige und ihre Schwester aus
dem Kulisehu tranken: den Mund im Wasser, auf die beiden Händchen gestützt,
ein Bein in die Höhe, jungen Aeffchen nicht unähnlich. Unterwegs sangen wir
mit verhaltenen Tönen gemeinsam unser ohohó ohohú hu, und ich störte die
Morgenstille mit einigen lauteren Liedern. Alakuai erlaubte sich, mir meinen
Hut abzunehmen, war aber in diesem Schmuck so glücklich, dass ich mein
Haupt in aller Heiligen Namen der mitleidlosen Kampsonne aussetzte.
Weithin erstreckte sich bis zum Saum des Uferwaldes eine mit frischem
Gras bedeckte Queimada, nur ein einziger Schatten spendender Baum stand an
dem Teich. In die Mitte des knietiefen sumpfigen Gewässers wurden drei Reusen
gesetzt, die mit ihren Mäulern halb herausragten. Dann gingen mehrere Personen
mit den Fangkörben, kútu, die die Form eines oben und unten offenen abge-
stumpften Kegels hatten und aus dünnen spitzen Stöckchen zusammengesetzt
[74] waren, in gebückter Haltung durch den Teich und stachen schnell auf den Grund
nieder: die kútu wurden über die Fischchen gestülpt, und diese oben mit der
Hand hervorgeholt und in einem Hängekörbchen untergebracht. Als man so eine
Weile gearbeitet hatte, ging man von verschiedenen Seiten sich nach der Mitte
entgegen, wo die Reusen lagen, und suchte die Fische dort hineinzutreiben. Es
war ein lustiger Anblick: die Mädchen äusserst behende, die Männer weniger
flink, zumal der dicke Yapü anscheinend keineswegs in seinem Element, viel
Lachen und Plantschen, in der Luft einige gaukelnde Libellen und Brummbienen
ohne Zahl, am Ufer unter dem Baum eifrig kommentierend der alte Paleko, der
sich mit der linken Hand auf einen Stock stützte und unter dem Oberarm der-
selben Seite das sehr überflüssige Steinbeil angedrückt hielt. Die Fische hiessen
poniú oder poriú, der Jejú der Brasilier.
Das von mir bestellte Rindenkanu war schon am 18. September fertig
geworden; die Steinaxt hatte langsam, aber sehr sauber gearbeitet. Vier Männer
trugen das Fahrzeug zum Fluss; sie hatten sich auf die Schultern aus braunem
Bast geflochtene Ringe genau desselben Aussehens aufgesetzt, wie sie unsere Markt-
weiber auf dem Kopfe tragen.
Ich war nun über eine Woche allein bei den guten Bakaïrí und merkte,
dass sie etwas ungeduldig wurden. Sie fragten gar zu oft, wann die »jüngeren
Brüder« kämen. Was ich von Kostbarkeiten mit mir geführt hatte, war auch
längst in ihrem Besitz, sogar mein améma ikúto (»Figur der Eidechse«), ein
Reptil mit gläsernen Schuppen und rubinroten Augen, das sie gierig umworben
hatten, gehörte ihnen.
Aber unser gutes Einvernehmen blieb bis zur letzten Stunde dasselbe.
Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich am liebsten die ganze Regenzeit
bei ihnen zugebracht, obwohl ich einen säuerlichen Geschmack im Halse, von dem
ewigen Mehlessen, nicht mehr los wurde und auch von Verdauungsstörungen ge-
plagt wurde. Meine ersten Eindrücke über den friedfertigen und sympathischen
Charakter meiner Gastfreunde brauchten keine Korrektur zu erfahren. Die Alten
waren klug und sorglich, die Jungen kräftig und behend, die Frauen fleissig und
häuslich, Alle gutwillig, ein wenig eitel und mit Ausnahme einiger von ihren
Pflichten in Anspruch genommenen Mütter gleichmässig heiter und gesprächig.
Alle waren ehrlich. Nie hat mir Einer etwas genommen, oft hat man mir Ver-
lorenes gebracht, immer wurde, was ich eingetauscht hatte, als mein Eigentum
geachtet.
Kurz, Bakaïrí kúra, die Bakaïrí sind gut. Es wäre lächerlich, sie im
Rousseau’schen Sinne misszuverstehen, denn von irgend welcher Idealität war
auch nicht die Spur zu entdecken; sie waren nichts als das Produkt sehr einfacher
und ungestörter Verhältnisse und gewährten dem Besucher, der mit seinen an
Bewegung und Kampf gewohnten Augen herantrat, das Bild einer »Idylle«. Man
komme vom Giessbach, Strom oder Meer, man wird den Zauber einer stillen
Lagune empfinden, das ist Alles.
[75]
II.
Psychologische Notizen über das Verhalten der Bakaïrí dem Neuen gegenüber. Grenzen des Ver-
ständnisses. Studien mit dem Dujourhabenden. Schwierigkeiten der Verständigung und der sprach-
lichen Aufnahme: Substantiva, Verba, übergeordnete Begriffe.
Ueber das Interesse, das die Bakaïrí an meinen Kleidern nahmen, habe ich
berichtet. Es wandte sich allmählich in besonderm Grade den Taschen zu, und
sie wussten bald genau, was in dieser und was in jener steckte.
»Ob ich Hemd und Hose selbst gemacht hätte?« Immer kehrte diese mir
ärgerliche Frage wieder. »Ob ich die Hängematte, den Moskiteiro selbst gemacht
hätte?« Es berührte sie wunderbar, dass in meinem ganzen Besitzstand nichts
zu Tage kam, wo ich die Frage bejaht hätte. Deutlich war zu sehen, dass die
Sachen, von deren Ursprung sie sich eine gewisse Vorstellung machen konnten,
ihre Aufmerksamkeit auch lebhafter beschäftigten. Das Gewebe der paraguayer
Hängematte wurde alle Tage betastet und eifrig beredet.
Alles wollten sie haben. »Ura« »(es ist) mein« lautete die einfache Erklärung.
Die Männer bevorzugten für sich selbst das Praktische, für Frauen und Kinder
den Schmuck, für sich die Messer, für jene die Perlen. Die Frauen wurden beim
Anblick der Perlen geradezu aufgeregt und nur mein Zinnteller wurde mit gleicher
Habgier umworben. »Knöpfe« schienen für eine Art Perlen gehalten zu werden.
Ich entdeckte bei mehreren Frauen Zierrat, der von unserer ersten Expedition
herrührte und von dem Batovy an den Kulisehu gewandert war. Eine Frau trat
mir entgegen, die nichts als einen Messingknopf an einer Schnur auf der Brust
trug, und auf diesem Knopf stand die 8 des achten Cuyabaner Bataillons,
dem unsere Soldaten damals angehört hatten. »Ist es tuchú, Stein?«, fragten
diese lebendigen Praehistoriker. Natürlich waren die Perlen ebenso Stein und
ihnen wegen ihrer Buntheit lieber als Gold, das sie ganz gleichgültig liess.
Ich hatte ihnen einige Stecknadeln gegeben und auch eine Nähnadel gezeigt, die
einzige, die ich bei mir hatte: sie brachten mir eine Stecknadel wieder und baten,
ihnen ein Loch hineinzumachen, wie es die Nähnadel hatte.
Höchst merkwürdig war die Schnelligkeit, mit der sie die ihnen unbekannten
Dinge unter die ihnen bekannten einordneten und auch sofort mit dem ihnen
geläufigen Namen unmittelbar und ohne jeden einschränkenden Zusatz belegten.
Sie schneiden das Haar mit scharfen Muscheln oder Zähnen des Piranyafisches,
und meine Scheere, der Gegenstand rückhaltlosen Entzückens, die das Haar so
glatt und gleichmässig abschnitt, hiess einfach »Piranyazahn«. Der Spiegel war
»Wasser!« »Zeig’ das Wasser«, riefen sie, wenn sie den Spiegel sehen wollten.
Und mit ihm machte ich viel weniger Eindruck, als ich erwartet hatte.
Der Kompass hiess »Sonne«, die Uhr »Mond«. Ich hatte ihnen gezeigt,
dass die Nadel, wie ich das Gehäuse auch drehte und wendete, immer nach
dem höchsten Sonnenstand wies, und die sehr ähnliche Uhr, deren Feder sie für
ein Haar erklärten, erschien ihnen als das natürliche Gegenstück noch aus dem
[76] besondern Grund, weil sie »nachts nicht schlief«. Sie stellten mehrfach mitten
in der Unterhaltung die Forderung, dass ich die Uhr hervorhole und lachten
dann sehr befriedigt, wenn sie wirklich wach war und tickte.
Nichts wäre verkehrter als zu glauben, dass dieser aufrichtigen Neugier und
Bewunderung nun ein eigentlicher Wissenstrieb oder ein tieferes Bedürfnis des
Verstehens zu Grunde gelegen hätte. Ueber die Frage: »hast du das gemacht?«
kamen sie nicht hinaus. Nein, ich gab einfach meine Zirkusvorstellung, ich zeigte
meine Kunststücke, und man freute sich, dass ich sie in jedem Augenblick in
aller Eleganz vorweisen konnte und mich niemals blamierte. Das verblüffendste
Beispiel einer oberflächlichen Befriedigung gab später der dicke Yapü, als Vogel
ihm seine goldene Uhr zeigte und, um ihn auf das wertvolle Gold recht aufmerk-
sam zu machen, sie zum Kontrast auf die Glasseite herumdrehte. Yapü hatte
gerade ein Stück Beijú, Mandiokafladen in der Hand, der nur auf einer Seite
gut gebacken zu werden pflegte, und somit eine schön goldgelbe und eine andere
grauweissliche Seite hatte: »Beijú«, sagte er gelassen, und schritt weiter. Die
Erscheinung war ihm von Beijú her bekannt, und es lohnte wahrlich nicht, sich
dabei aufzuhalten.
Auch kann ich hier schon ihrer Ueberraschung gedenken, als einer der
Herren, der in der Lage war, ein falsches Gebiss herausnehmen zu können, dieses
Kunststück produzierte. Sie staunten, aber lachten auch sehr bald, und einige
Tage später, als sie an den gefangenen Piranyafischen die Gebisse, ihre ein-
heimischen »Messer«, auslösten und von einem Kameraden gefragt wurden, warum
sie das thäten, antwortete Einer nicht ohne Witz: »damit wir uns auch helfen
können, wie der Bruder, wenn wir einmal alt werden«.
Wie wäre es auch möglich gewesen, ihnen irgend einen meiner Apparate
oder auch nur ein Messer oder einen Knopf wirklich zu erklären? Wie sollte ich
ihnen begreiflich machen, was eine »Maschine« ist? Was sie zu leisten hatten,
leisteten sie, sie passten gut auf und es war hübsch, die Lebhaftigkeit und
Wichtigthuerei zu beobachten, mit der ein eben gezeigtes Kunststück einem neu
Hinzutretenden, einem Ignoranten in ihren Augen, beschrieben wurde. So
merkten sie sich ganz genau, dass meine schwedischen Zündhölzer nur auf der
Reibfläche in Brand gerieten; mit grossem Eifer wurde ein Ankömmling auf
Bakaïrí über »tända endast mot lådans plån« belehrt. Welche Dame bei uns
wüsste mehr davon zu sagen? Nicht davon zu reden, dass keine eine Ahnung
davon hat, was Feuer ist. Zuerst erschraken sie, dann fanden sie die Sache
spannend, dann sehr nett und spasshaft, und endlich zogen sie die Nutzanwendung
und baten mich, als ein Feuer angezündet werden sollte, einen dicken Holzkloben
mit meinen Schweden in Brand zu setzen. Eine Frau, bei der wohl die ersten
Gefühle vorherrschend blieben, nahm eine leere Schachtel und hing sie ihrem
Baby um den Hals.
Ihr Bedürfnis, in das Wesen der neuen Dinge einzudringen, erschöpfte sich
ausser in der Frage, ob ich sie gemacht habe, in der zweiten nach dem Namen.
[77] »Eséti?« »Eséti?« »Wie heisst das?« rief die ganze Gesellschaft unisono und alle
plagten sich redlich, die portugiesischen Wörter nachzusprechen. Der Eine oder
Andere flüsterte oft, während die Unterhaltung weiter ging, das Wort noch lange
vor sich hin. Zwei Konsonanten hintereinander vermochten sie nicht auszusprechen.
Gelang es aber hier und da, ein geeignetes Wort gut wiederzugeben, war die
Freude gross, und ich hatte den Eindruck, als ob ihnen nun der Gegenstand
selbst auch vertrauter erscheine. Als Name für mein Schreibbuch war »papéra«,
von dem portugiesischen papel, Papier, in Aufnahme gebracht worden, und
während sie im Anfang das unbegreifliche Ding nicht genug hatten betrachten
und betasten können, wussten sie sich nun rasch damit abzufinden: es war eben
einfach »papéra«.
Ueberall in der Welt, wo man einer fremden Sprache gegenübertritt, will
man recht bald wissen, was »ein hübsches Mädchen« heisst. Ihr »pekóto iwáku«
oder das lieblichere »pekóto iwakulukúlu« konnte ich ihnen mit den Worten, die
sie gut nachzusprechen im Stande waren, »moça bonita« übersetzen und das
wurde nun mit Entzücken geübt. Ich hatte zuerst Eva mein »moça bonita«
vorgesagt, sie lachte, errötete und sprach es zierlich und deutlich aus. Sie lachte
weiter, stiess ihren Gatten Kulekule in die Rippen — genau so wie eine kräftige
Person bei uns thun würde, die sich über einen guten Einfall freut — die beiden
tuschelten zusammen, und ich wurde gebeten zu sagen, was nun »ein hübscher
Mann« heisse. Als ich Tumayaua’s portugiesische Versuche, die in der That, ob-
wohl er Häuptling war, nicht sehr glücklich ausfielen, einmal nachahmte, lachte der
ganze Chorus in einer Weise, dass sie vor Lachen nicht mehr reden konnten, sie
jodelten förmlich vor Ausgelassenheit.
Das waren die düstern und verschlossenen Indianer. Wurde es ihnen mit
dem Geplauder des Guten zu viel, so gähnte Alles aufrichtig und ohne die Hand
vor den Mund zu halten. Dass der wohlthuende Reflex auch hier ansteckte,
liess sich nicht verkennen. Dann stand Einer nach dem Andern auf, und ich
blieb allein mit meinem Dujour.
Die verschiedenen Abkommandirten waren von sehr verschiedener Brauch-
barkeit für meine Zwecke. Einige ermüdeten zu rasch, andere waren zu unstät.
Der dicke bäurische Yapü z. B. gähnte nach wenigen Minuten und sein Gesicht
schien zu sagen: »Herr, Sie fragen zu viel«, und Luchu, der eitle Fant, wollte
sich nur amüsieren. Von den Jüngeren nützte mir nur der merkwürdige Kule-
kule. Dieser war in der That schweigsam und zurückhaltend, aber er kam
offenbar gern, lachte still für sich hin, und wenn er dann den Mund zum Reden
aufthat, antwortete er besser als die Uebrigen. Er hatte für einen Topf von
mir Perlen bekommen, sie aber abliefern müssen; ich schenkte ihm neue und
nahm einen andern Topf, den er brachte, nicht an. Darüber war er glücklich,
gab mir eine Schale des faden Pogugetränkes und setzte sich, den Kopf zutraulich
an meine Schulter gelehnt, zu mir. Mein getreuester Hüter war Paleko; mit
seinem langen graumelierten Haar, seinem feinen alten Antlitz hätte er sehr gut
[78] emeritierter Gymnasialdirektor sein können. Wie wir denn häufig an europäische
Physiognomieen erinnert worden sind, deren Besitzer sich den Vergleich mit
einem nackten Indianer vielleicht verbitten würden; Ehrenreich und ich waren
uns z. B. in Scherz und Ernst ganz darin einig, ein paar Herren der Berliner
Anthropologischen Gesellschaft am Kulisehu wiederzuerkennen: selbstverständlich
haben diese Herren nichts von den Indianern, aber diese Indianer hatten etwas
von den Herren. Mit Paleko war ich halbe Tage allein. Ab und zu kamen
denn Eva oder die Zukünftige oder die Egypterin allein oder zusammen, uns
Beiden ein wenig Gesellschaft leistend.
Paleko flocht zierliche Körbchen, besserte Reusen aus, drehte Bindfaden
aus Palmfaser und was dergleichen leichte Geduldarbeit mehr war. Er gab mir
nicht nur Wörter und Sätze aus seiner Muttersprache, sondern auch eine Liste
von Nahuquá-Wörtern, die bezeugte, dass er mit den Nachbarn reichlichen Ver-
kehr unterhalten hatte. Er weniger als die Jugend legte Wert darauf, meine
Sprache kennen zu lernen. Lieber hätte ich ihnen deutsche Wörter gesagt statt
der portugiesischen, doch hielt ich es für meine Pflicht, die armen Gemüter für
die Zukunft nicht zu verwirren. Da meine Kenntnisse des Bakaïrí noch sehr
dürftig waren, kam ich nur langsam vorwärts.
Der einfache Verkehr, der sich auf das gewöhnliche Thun und Lassen
bezog, hatte keine Schwierigkeiten. Mit 50—80 Wörtern kann man sich bei
einiger Uebung in jeder fremden Sprache geläufig unterhalten: dieser, dieses, ja,
nein, ist da, ist nicht da, weiss nicht, will, will nicht, wie heisst, was, wo, wann,
wieviel, alle, wenig, viel, anderer, sogleich, morgen, ich, du, 1, 2, 3, gut, schlecht,
gross, klein, nahe, weit, oben, unten, mit, für, in, nach, lass uns, geben, nehmen,
bringen, stellen, gehen, weggehen, kommen, ankommen, bleiben, essen, trinken,
schlafen, machen, schneiden, aufhören und die jeweilig wichtigsten Substantiva.
Das sonst so nötige »danke« und »bitte« ist dem brasilischen Eingeborenen
unbekannt. Mit einem kleinen Teil jener Wörter kann man schon sehr gut
zurechtkommen, und es wäre schlimm, wenn es anders wäre. Denn die grund-
sätzlichen grammatischen Verschiedenheiten etwa zwischen Portugiesisch und
einer beliebigen Indianersprache Brasiliens sind so gross, dass kein Kolonist oder
Soldat jemals in ihr Wesen einzudringen vermag: schon die Pronominalpräfixe
und die Postpositionen bilden ein unüberwindliches Hindernis. Es gelingt leider
um ihretwillen in zahlreichen Fällen nicht, den Wortstamm, dessen wir nach
unserm Sprachgefühl in erster Linie bedürfen, aus der mit jenen Elementen voll-
zogenen Verschmelzung abzuscheiden. Der Stamm des Verbums ist ausser der
Zusammensetzung mit Pronominalpräfixen in einer Weise mit adverbialen Aus-
drücken vereinigt und verarbeitet, um das, was wir Flexionen nennen, zu geben,
dass ein armer Teufel von Anfänger in helle Verzweiflung gerät. Da heisst im
Bakaïrí „záte“ und „kχanadile“ beides »ich nehme mit«, verschiedene Formen für
denselben Sinn: wie soll ich ahnen, dass der Verbalstamm „za“, der sich nach
den phonetischen Gesetzen der Sprache zu „ha“ und „a“ verändert, in dem „a“
[79] von kχ-an-a-díle gegeben wird? Da heisst mit dem (schon veränderten) Verbal-
stamm „e“ sehen »du siehst« „méta“ und »du siehst nicht« „manepüráma“ und
ist zu zergliedern:
m - e - ta und m - an - e - püra - ama.
du Stamm Flexion du Flexion Stamm nicht du.
Die einfache Folge ist, dass man alles Mögliche zum Stamm rechnet, was
garnicht dazu gehört, und die Form für alle möglichen Gelegenheiten anwendet,
bei denen sie weder der Person noch der Zeitfolge oder anderen in ihnen ent-
haltenen Nuancen nach angebracht sind. Die organische Gliederung der Wörter
erstarrt, und der Satz wird ein Mosaik der rohesten Art aus lauter Bruchstücken.
Aber für die Verständigung ist dann gesorgt; dem Indianer genügt bei seinem
Talent für das Charakteristische das abgehackte Wortstück durchaus an Stelle
des ganzen Satzindividuums, und, was schlimmer ist, wenn man Fortschritte in
der Sprache machen möchte, freilich auch um so angenehmer ist, wenn man nur
den plumpen Inhalt der Mitteilung bedarf, er selbst eignet sich bald die neue
Ausdrucksweise an: man unterhält sich geläufig miteinander, indem man statt mit
lebendigen Worten wie mit geprägten Münzen Tauschverkehr treibt.
Was mir die Aufnahme nicht wenig erschwerte, war der Umstand, dass die
Bakaïrí meinen Frageton nicht verstanden. Sie ahmten ihn nach, statt zu
antworten. Die Namen der gegenwärtigen Gegenstände zu erhalten, ging ohne
jede Mühe an; sie kamen dem Bedürfnis sogar entgegen, zeigten auf solche, die
ich noch nicht gefragt hatte, und sagten die Namen. Sehr ausführlich nahm ich
die Körperteile auf, weil sie stets mit den Pronominalpräfixen verbunden sind,
der Indianer also nicht etwa sagt: »Zunge«, sondern stets mit dem Zusatz der
Person »meine Zunge«, »deine Zunge«, »seine Zunge«, und somit dieser Kategorie
des Verzeichnisses auch ein grammatikalischer Wert innewohnt. Es war deshalb
wohl darauf zu achten, ob man den Körperteil, dessen Stamm man verlangte,
an sich selbst oder an dem Gefragten oder an einem Dritten zeigte, denn die
Antwort lautete je nachdem: deine ålu, meine ulu, seine ilu oder allgemein kχulu
unser Aller, die hier sind, Zunge.
Tiernamen aufzunehmen war ein Vergnügen, weil hier die Nachahmung mit
Lauten und Geberden am kunstvollsten auftrat. Eine Schlange, ein Alligatorkopf
oder dergleichen wurde auch in den Sand gezeichnet. Mir war die Menge der
Einzelangaben hinderlich, da ich nicht genug von den Stimmen und dem Be-
nehmen ihrer Tiere wusste; sie boten mir Feinheiten in den Artunterschieden,
die ich zu ihrer Verwunderung nicht würdigen konnte, und zuweilen fürchte ich
ihnen unbegreifliche Lücken in der gewöhnlichsten Schulbildung verraten zu haben.
Die schwierigste Aufgabe lag bei den Verben, und zwar nicht allein wegen
der Kompliziertheit der Formen. Gelang es mir, kurze Sätze aufzuschreiben, in
denen etwas über irgend einen grade ablaufenden Vorgang ausgesagt wurde,
führte ich auch selbst allerlei Handlungen, wie Essen und Trinken jetzt von
diesem, dann von jenem, aus, die ihnen den Inhalt eines Satzes liefern sollten,
[80] so waren dabei doch grobe Irrtümer unvermeidlich. Sie sagten leider oft andere
Dinge, als sie nach meinen Wünschen sagen sollten, und kritisierten die Handlung,
anstatt sie zu benennen. Sie dachten für sich und nicht für mich. Und bei
diesen Bemühungen wirkte ihre Bereitwilligkeit, nachzuahmen, in hohem Grade
störend. Ich glaubte, nichts sei einfacher als wenigstens diejenigen intransitiven
Zeitwörter zu erhalten, die sich durch eindeutige Mimik meinerseits herausfordern
liessen, ich brauchte ja nur zu niesen, husten, weinen, gähnen, schnarchen, nur
aufzustehen, niederzusitzen, zu fallen u. s. w., um auch sofort mit den zugehörigen
Wörtern belohnt zu werden. Aber sie klebten entweder an der Anschauung des
Vorgangs selbst, meinten, ich wolle fortgehen, wenn ich aufstand, gähnten recht-
schaffen mit, weil sie auch müde waren, oder amüsierten sich königlich über mein
sonderbares Gethue und gaben sich daran, unter vielem Lachen ebenfalls zu
niesen, zu husten, und zu schnarchen, ohne aber die erlösenden Wörter auszu-
sprechen.
Am besten kam ich vorwärts, wenn ich ihnen das portugiesische Wort gab,
und die Formel anwandte: der Karaibe sagt so, wie sagt der Bakaïrí? Hier stiess
ich endlich fast immer auf Verständnis und Gegenliebe, denn sie waren versessen
darauf, von meiner Sprache zu lernen.
Es betrübte sie sehr, dass sie mich nicht besser verstanden und, Hören und
Verstehen verwechselnd, baten sie mich, sie zu kurieren: ich musste Speichel auf
meinen Finger nehmen und ihnen damit den Gehöreingang einreiben. Ihre Auf-
fassung des Portugiesischen war sogar mangelhafter als sie selbst ahnten. Sie
haben kein f in ihrem Lautschatz und ersetzen es durch p: sagte ich fogo
(Feuer), fumo (Tabak), so sprachen sie pogo, pumo aus. Aber sie hörten, richtiger
apperzipirten das f auch als p, sie waren, soweit ich zu sehen vermochte, fest
überzeugt, denselben Laut auszusprechen, den ich ihnen vorsagte. Denn ihr
Verhalten war ganz anders, wenn ich ihnen z. B. ein zu langes Wort aufgab, sie
plagten sich und verzweifelten daran, aber fogo, fumo, f . . . ., je nachdrücklicher
und lauter ich es sagte, um so nachdrücklicher und lauter fielen sie auch ein:
pogo, pumo, p . . . ., mit merklicher Entrüstung über meine Unzufriedenheit.
Ich musste mich begnügen, das Vokabular so viel als möglich zu vervoll-
ständigen und die Sätze nach bestem Wissen zu deuten. Zu einem eigentlichen
Uebersetzen, das den Feinheiten ihrer Sprache gerecht geworden wäre, kam ich
nicht; was ich in dieser Beziehung in meinem Buch »Die Bakaïrí-Sprache«
(Leipzig, K. F. Köhler, 1892), bringen konnte, verdanke ich Antonio. Ganz be-
sonders eigentümlich berührte mich ihre Freude über den Reichtum ihres Wörter-
vorrats. Sie bekundeten ein grosses Vergnügen, für jedes Ding auch ein Wort
zu haben, als wenn der Name selbst eine Art Ding und Besitzgegenstand
wäre. Dass die Zahl der Begriffe in erster Linie vom Interesse abhängt, lag
klar zu Tage. Auf der einen Seite im Vergleich mit unsern Sprachen eine Fülle
von Wörtern, wie bei den Tier- oder Verwandtennamen, auf der andern eine
zunächst befremdende Armut: yélo heisst »Blitz« und »Donner«, kχópö Regen,
[81] Gewitter und Wolke. Nun sind ja in ihrem Gebiet fast alle Regen mit Gewitter-
erscheinungen verbunden, und die Wolke am Himmel hat für sie nur das Inter-
esse, dass sie ein heranziehendes Gewitter bedeutet. Dass der Donner, wenn
sie die sichtbare und die hörbare Teilerscheinung der elektrischen Entladung in
einen Begriff zusammenfassen, in ihrem Wort yélo der wesentlichere Teil ist,
geht daraus hervor, dass sie yélo auch das brummende Schwirrholz nennen; ich,
der ich von der Idee des Zauberinstrumentes ausging, nach dem Brauch der
Mythologen auf das Unheimliche fahndete und dies zunächst in dem zuckenden
Strahl erblickte, übersetzte das Wort anfangs mit »Blitz« anstatt mit »Donner«.
Die eigentliche Armut steckt in dem Mangel an übergeordneten Begriffen
wie bei allen Naturvölkern. Sie haben ein Wort für »Vogel«, das wahrscheinlich
»geflügelt« bedeutet, aber die Nordkaraiben haben einen andern Stamm toro- oder
tono-, der bei den Bakaïrí noch bestimmte, sehr gewöhnliche Vögel, eine Papa-
geien- und eine Waldhuhnart, bedeutet. Jeder Papagei hat seinen besondern
Namen und der allgemeinere Begriff »Papagei« fehlt vollständig, ebenso wie der
Begriff »Palme« fehlt. Sie kennen aber die Eigenschaften jeder Papageien- und
Palmenart sehr genau und kleben so an diesen zahlreichen Einzelkenntnissen, dass
sie sich um die gemeinschaftlichen Merkmale, die ja kein Interesse haben, nicht
bekümmern. Man sieht also, ihre Armut ist nur eine Armut an höheren Ein-
heiten, sie ersticken in der Fülle des Stoffes und können ihn nicht ökonomisch
bewirtschaften. Sie haben nur erst einen Verkehr mit Scheidemünze, sind aber
im Besitz der Stückzahl eher überreich als arm zu nennen. Sie setzen in dem
Ausbau ihrer Gedanken die Begriffe wie zu einem endlos langen Wall von gleich-
artigen Steinen zusammen und haben noch kaum eine Ahnung von architektonischer
Gliederung.
Ihre Schwerfälligkeit, Abstraktionen zu bilden, trat am deutlichsten bei den
Versuchen hervor, die ich betreffs ihrer Zählkunst anstellte. Hierüber möchte
ich aber in einem besondern Kapitel später berichten, damit ich nun endlich den
Faden unserer Reisechronik wieder aufnehmen und zur Independencia zu den
Gefährten heimfahren kann. Ich bin bei der Schilderung meiner Bakaïrí-Idylle
etwas sehr ausführlich gewesen, erspare damit aber auch manche Einzelheiten für
die spätere Darstellung, da das Bild bei den übrigen Stämmen, wenn ich es
auch nirgendwo mehr so still geniessen konnte, im Wesentlichen dasselbe war.
[[82]]
VI. KAPITEL.
I. Gemeinsamer Aufbruch und Besuch
der drei Bakaïrídörfer.
Independencia während meiner Abwesenheit. Vorbereitungen zur Abreise. Nach dem ersten Bakaïrí-
dorf. Photographieren. Puppe überreicht. Nach dem zweiten Bakaïrídorf. Flussfahrt. Gastfreund-
schaft. Vermummung zum Holen der Speisen. Nachttanz. Fries im Häuptlingshaus. Nach dem
dritten Bakaïrídorf. Begrüssungsreden. Sammlung. Der erste Nahuquá. Körpermessung und Perlen.
Am 19. September 1887 kamen Ehrenreich und Vogel an. Wir fuhren
gemeinsam zu dem zweiten Dorf der Bakaïrí, wo wir noch ein Kanu erwarben
und kehrten zum ersten Dorf zurück. Jene brachen dann am 24. September
zur Independencia auf, und ich folgte ihnen am 25., überholte sie noch, da Carlos
fieberkrank war, und am 26. waren wir alle wieder in der Independencia ver-
einigt. Tumayaua und Luchu hatten mich begleitet und konnten jetzt das »Wau-
wau« am Original studieren. Unsern Besuch der zweiten Bakaïrí möchte ich hier
noch nicht schildern, sondern bei dem Bericht über den späteren gemeinsamen
anfügen, damit die Kreuz- und Querwege den Ueberblick nicht erschweren.
Ich war also vom 8.—26. September von der Independencia abwesend
gewesen. Es lässt sich denken, mit welchem Gefühl der Erlösung Wilhelm und
Perrot unsere Kanus begrüssten.
Die Maultiere hatten ihnen und dem alten Januario viele Sorgen gemacht.
Tag um Tag fehlte bald dieses, bald jenes. Januario hatte ein Tier einmal von
dem zweitnächsten Lagerplatz der Herreise zurückholen müssen und war so immer
unterwegs gewesen. Inzwischen war auf der Queimada frisches junges Gras auf-
geschossen und damit die Zukunft gesichert. Die Esel waren in gutem Zustande,
sie fingen bereits an, fett zu werden, verwilderten schon und kamen täglich zur
Tränke an einen Tümpel. Nur »Balisa«, der »Pfahl«, hatte sich ein mit Maden
gefülltes Loch auf dem Rücken zugelegt. »Tormenta« war den Qualen des
Daseins entrückt worden. Er konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten, frass
das Gras nicht mehr, das man ihm sorglich vorschnitt, und lag eines Morgens
tot auf dem Sandstrand.
[83]
Jagd und Fischfang hatten manche Abwechslung geboten. Nur war das
Fischen nicht so leicht als man denken sollte. Antonio fing sofort nach der
Rückkehr 7 Welse, Pintados, von denen er zu unserm Schmerz ganze 4 an das
Paar Tumayaua und Luchu, und nur 3 an unsere grosse Küche ablieferte, allein die
Soldaten waren nie so glücklich gewesen. Dagegen war allerlei Geflügel ge-
schossen worden, Jakutingas und Jakús zumeist, vorzügliche Enten, ferner ver-
einzelte Exemplare von Johó, Mutum cavallo, Taube, Arara und Papagei. Aus
der Klasse der Vierfüssler: Affe, Reh, ein Tapir, ein Cervo de campo, der wegen
seines Moschusgeruchs verschmäht wurde, und eine Waldkatze. Zweimal hatte
man mehrere Schweine erbeutet, die zweite Lieferung aber war unbrauchbar
geworden, da die Tiere voller »Würmer« steckten und in den Fluss geworfen
werden mussten. Gelegentlich hatte man eine Schildkröte gefunden. »Buscar
mel«, Honig suchen, war noch eifriger betrieben worden als die höhere Jagd.
Denn stark meldete sich schon der Hunger nach Süssigkeiten. Die verschiedenen
Arten des Honigs wurden verschieden gewürdigt. Der Bora-Honig hatte einen
süsslich sauren und sehr seifigen Geschmack; trotzdem wusch sich Januario noch
das Wachs mit Wasser aus und genoss die Flüssigkeit von der Farbe des englischen
Senfs mit Behagen. Allgemeinen Anklang fand der Kupimhonig, der den Paraguay-
thee versüsste oder mit Mehl angerührt wurde.
Langsam verflossen die Abende. Mit Schrecken ertappten sich Wilhelm und
Perrot darauf, dass sie mehr von Cuyabá und der Rückreise plauderten als von
der Flussfahrt und ihren Aussichten. Sie spielten verzweifelt Sechsundsechzig und
ärgerten sich über die Verhöhnung in dem unermüdlichen Ruf des »João Cortapáo«
(Hans, hack Holz, Caprimulgus albicollis), dem der Brasilier auch die Worte
unterlegt: »manhã eu vou« = morgen gehe ich. Sie lauschten der sechstönigen
Skala des flötenden Urutau, einer Nachtschwalbe (Nyctibius aethereus), und
dem weniger wohllautenden Schrei einer Reiherart, des Sokoboi, der an die
Stimme des Jaguars erinnern soll. Der Vergleich wurde aber, als sich auch
das Geknurr der grossen Katze selbst hören liess, nicht zutreffend gefunden. Zu
diesem Klagetönen aus dem Wald drangen aus den Zelten noch die näselnden
Gesänge der Soldaten hervor, die sich einen »Côxo« (spr. Koscho), die primitive
Violine des Sertanejo, geschnitzt hatten.
Die Frage, ob das Lager näher an das Bakaïrídorf hinabverlegt werden
könnte, war endgültig verneint worden. Am 9. September, dem Tage nach
meiner Abreise, waren Wilhelm und Perrot zu einer Rekognoszierung aufge-
brochen, von der sie am 12. September ohne Ergebnis zurückkehrten. Sie
hatten auf der linken Seite des Flusses im Norden und Nordnordosten nur dichten
von Schlinggewächs und Dornen erfüllten Chapadão cerrado angetroffen, dann
den Fluss gekreuzt und auf der rechten Seite nur einige kleine Strecken gefunden,
wo die Tiere zur Not hätten vorrücken können. Sie kamen abgehetzt und müde
nach Hause. Feroz, dem besten der fünf Hunde, hätte der Ausflug beinahe
das Leben gekostet; man hörte ihn plötzlich laut und klagend heulen, sprang
6*
[84] eiligst hinzu und fand ihn von einer über 3 m langen Boa umschlungen, die dem
Armen die Kehle schon so zugeschnürt hatte, dass er nicht mehr schreien
konnte, und nur nach Empfang von vielen Messerhieben losliess.
Am 14. September kehrten dann Antonio und Carlos mit meiner Botschaft
vom 11. September aus dem Bakaïrídorf zurück; sie kamen vom Salto über Land,
den letzten Teil der Strecke auf dem rechten Flussufer, und hielten auch ein
Hinabrücken der Station für ausgeschlossen. Zu gleichem Ergebnis kamen endlich
Ehrenreich und Vogel, die am 15. September die Independencia verliessen und
am 17. am Salto eintrafen, wo sie sich einschifften und zwei Leute mit der
Meldung zurücksandten. Sie erklärten, dass wochenlange Arbeit nötig sein würde,
um durch das Dickicht eine Pikade zu schlagen, dass die kleinen Bäche der
Sucuruí und Chiqueira schon jetzt, geschweige in der Regenzeit, mit grösster
Schwierigkeit zu passieren wären, weil das sumpfige, dabei dicht verwachsene Terrain
lange Knüppeldämme erfordern würde. Erst in der Nähe des Salto hätten die
Tiere einen Weideplatz gefunden. Hier war offener Kamp, aber namentlich im
Norden von ausgedehnten Morästen mit Buritíständen umgeben, die in der Regen-
zeit unter Wasser stehen und eine Fieberbrutstätte der schlimmsten Art darstellen
würden. Am zweiten und dritten Tage hatten sie bis an den Kulisehu nur
Sandboden und keinen einzigen Stein angetroffen.
Wir durften also mit unserer Independencia zufrieden sein. Sie hatte einen
angenehmen weiten freien Platz und eine Stufe tiefer, wo der klare Bach in den
Fluss einmündete, den kleinen Küchenplatz, den die Tafel 12 darstellt. Dort
waren auch mehrere Hängematten aufgeschlagen, während Perrot’s Zelt und die
Zelte der Soldaten oben neben dem »Neubau« standen. Es wurde nun eifrig
gearbeitet, dieses Häuschen unter Dach zu bringen. Mit den Eseln wurden einige
Ladungen Buritíblätter geholt; leider importirte man auf diesen auch eine Menge
grosser Zecken. Quersparren wurden zu einem Girão, einem Traggerüst, mit
Pindahybabast zusammengebunden, und darüber das Dach mit Buritíblättern ge-
deckt. Die Holzsättel und die Ledersäcke wurden im Hause aufgeschichtet und
auf dem Gerüst die ethnologische Sammlung unter Ochsenfellen geborgen. Für
Januario blieb ein guter Raum zum Schlafen.
Die Sammlung war ein vielversprechender Anfang. Sie zählte schon an
120 Stück, die katalogisiert und mit Blechnummern versehen wurden. Weniger
Mühe nahm die Verteilung der Essvorräte in Anspruch. Ein kleiner Theil wurde
für die Rückreise über Land festgelegt. Mit den Kemmerich’schen Fleischpatronen
wurden jetzt die ersten Versuche angestellt; es ergab sich, dass sie am besten
mit Gemüsetafeln, Mélange d’Equipage, aufgekocht wurden. Tumayaua ver-
pflichtete sich, dafür zu sorgen, dass den Zurückbleibenden vom Dorf aus Mandioka-
mehl geliefert würde, und Januario erhielt vor seinen Augen einen Sack mit herr-
lichen Perlen ausgehändigt, als Lockmittel für die Lieferanten.
Tumayaua versprach ferner, uns auf unserer Fahrt zu begleiten. Wir sicherten
ihm zwei schöne Beile, mehrere Hemden [und] soviel Perlen zu, dass er der reichste
[85] Mann am Kulisehu werden sollte. Er und Luchu fühlten sich, von allen Seiten
verhätschelt, über alle Massen wohl in der neuen Umgebung. Wir zeigten ihnen
den Lagerplatz in bengalischer Beleuchtung, die sich in der That prächtig ausnahm,
obgleich die allabendliche Illumination durch tausende von Glühkäfern, die vor dem
finstern Hintergrund der Queimada ihre Fackeltänze aufführten, vielleicht stimmungs-
voller war. Tumayaua und Luchu liessen sich auch anstandslos photographieren
(Tafel 6). Sie thaten alles was man von ihnen verlangte. Ja, Tumayaua folgte
ohne Zaudern der Einladung, sich auf Perrot’s Pferd zu setzen. Ich führte das
Tier ein Weilchen und liess es dann traben; der edle Häuptling ritt und ritt,
denn wie er zurückkommen sollte, war ihm unbekannt. Es steckte doch etwas
von einem historischen Moment in dem Anblick: der Südamerikaner der Steinzeit
zum ersten Mal auf dem Rücken eines Rosses. Luchu war diesem Ideal noch
nicht reif; der junge Mensch liess sich nicht dazu bewegen, dem Beispiel des tapfern
und ob des Genusses hocherfreuten Oheims zu folgen. Tumayaua mass auch das
Pferd, indem er Hals und Kopf mit seiner Körpergrösse vergleichend betastete:
offenbar wollte er im Tabakkollegium eine wissenschaftliche Beschreibung liefern.
Mit Hülfe der Indianer waren noch zwei Kanus gemacht worden, am 29. Sep-
tember wurden die Ruder geschnitzt und am 30. die Kanus zur Probe geladen.
Nach dem ersten Bakaïrídorf (Maigéri).
Am 1. Oktober früh standen wir um vier Uhr auf und um sechs Uhr fuhren
wir ab. Wir waren vertheilt auf die fünf Kanus: 1. Antonio, Wilhelm, ich;
2. Ehrenreich, João Pedro: 3. Vogel, Perrot, Columna; 4. Carlos und Peter mit
schwerem Gepäck; 5. Tumayaua und Luchu. »Adeus Januario, Raymundo,
Satyro, Manoel! Até á volta« bis zur Rückkehr! Sorgt für die Tiere, zankt
Euch nicht und bleibt gesund!« »Feliz viagem!« riefen die guten Kerle zurück,
an deren Stelle ich wahrlich nicht hätte sein mögen und die nun die Tage zählten,
bis unsere Rückkehr ihnen die Freiheit wiedergäbe.
Wir ruderten fleissig, machten eine Mittagspause auf einer steinigen Insel
und um ¾5 Uhr war unser Kanu als erstes an der grossen Cachoeira, die wir dem
Senator Taunay zu Ehren Salto Taunay getauft haben. Im Strudel nahm ich ein
prachtvolles Bad und setzte mich dann auf einen Ausguck; es dämmerte stark
und Niemand kam. Um ¾7 Uhr im Vollmondschein erschienen die Andern; sie
waren bis 3 Uhr bei der Insel geblieben, schlafend und Mate kochend. Das
Fischen wurde durch die allzu helle Nacht erschwert, erst um 11 Uhr brachten
die Leute 3 grosse fette Barbados, die auf den Rost wanderten und wohl ver-
dienten, noch zur Geisterstunde in der vom Mond herrlich erleuchteten Scenerie
des tosenden Wasserfalls gegessen zu werden.
Am 2. Oktober fuhren wir um ½7 Uhr ab und erreichten den Bakaïríhafen
um 2¼ Uhr. Dort stand der brave Paleko schon mit einer Schale Mandioka-
kleister. Wilhelm und ich gingen sofort zum Dorf. Es war sehr unterhaltend
[86] zu beobachten, wie eine Empfangszene, da die Kanus in zeitlichen Abständen
eintrafen, der andern folgte; neue Gäste, immer wieder neue Aufregung und
neues Hervorstürzen aus dem Flötenhaus, wo wir unter Beijús und Kalabassen
sassen. Man hatte sich zum Teil festlich mit Farbenmustern geschmückt. Kule-
kule hatte Gesicht und Oberkörper mit orangeroten Strichen und Tupfen verziert,
die Zukünftige hatte rote Schlangenlinien auf den Oberschenkeln, die Egypterin
eine rote Stirn und Nase, Tumayaua’s kleine Enkel waren schwarz betupft und
beklext, ihre Mutter Eva erschien, Haar und Haut weiss bepudert von der Beijú-
arbeit. Der gemütliche Awiá trug sonderbarer Weise eine Kuchenschaufel, d. h.
einen Beijúwender im Haar.
Es war auch Fremdenbesuch aus Dorf II und III vorhanden, wir zählten in
Paleko’s Haus 18 und in Tumayaua’s Haus 13 Hängematten. Ehrenreich photo-
graphirte. Jede Aufnahme wurde den Modellen durch einige Perlen vergütet.
Sie hatten einige Angst, allein die Perlen siegten über die Furcht vor der Gefahr.
Nur unter Schwierigkeiten kam die Frauengruppe Tafel 5 zu Stande. Die Frauen
hatten sich aufstellen und zurechtrücken lassen, Ehrenreich war im Begriff, die Platte
zu belichten, da entdeckten sie plötzlich ihr Spiegelbild in dem Objektiv und stürzten
erstaunt auf den Apparat zu, es genauer zu betrachten. Der Photograph in
tausend Nöten! Tumayaua war in den Besitz einer unbrauchbaren Glasplatte ge-
langt — »páru« Wasser — und richtete sich nach Vogel’s Anweisung mit ihr in
der Strohkuppel seines Hauses das erste Fenster ein.
An diesem schönen Tage wollte ich meinen Gastfreunden ein Ehrengeschenk
stiften. Zwei junge Berliner Damen hatten mir eine hübsche blonde Puppe mit-
gegeben, die sie mit buntem Kleidchen eigenhändig ausstaffiert hatten und die als
beste Nummer unseres Waarenlagers »der Würdigsten« zugedacht war. Ich konnte
nicht schwanken, dass sie der Zukünftigen, der Erbtochter des Dorfes und Herrin
über alles mir gespendete Mehl, gebühre. Die neugierige Frage, ob auch die
Frauen der Karaiben Kleider hätten, sollte nun ihre Erledigung finden. Ich rief
die ganze Gesellschaft auf den Platz zusammen und erregte hellen Jubel, als ich
das blauäugige rotwangige Porzellanköpfchen vorzeigte, das echte Blondhaar sehen
und anfühlen liess und die schönen Kleider des »kχaráiba pekóto« der Reihe nach
erklärte. Und das Entzücken steigerte sich noch, da ich nun auf die Zukünftige
zuschritt und »áma zóto« »Du besitzest es« sagte. Die kleine Gelbhaut errötete
vor Freude und zu meinem Erstaunen ergriff die sonst schweigsame Mutter mit
lauter Stimme das Wort und sprach und sprach, Mancherlei betheuernd, was ich
nicht verstand, was aber, wenn die Indianer auch kein Wort für »danke« haben,
doch eine Dankesrede war. Wem meine Zukünftige von damals inzwischen Herz
und Hand und zur Mitgift die kostbare Karaibenfrau bescheert haben mag, ich
weiss es nicht — in einer der seltsamen Verschlingungen aber, zu der sich zu-
weilen die Glieder der Schicksalskette zusammenschliessen, hat es sich gefügt,
dass die eine der beiden Berliner Damen mittlerweile die Gattin des Verlegers,
die andere die Gattin des Verfassers dieses Buches geworden ist.
[87]
Wir blieben bis tief in die Dunkelheit und gingen dann zu unserm Lager
am sogenannten zweiten Hafen des Dorfes. Eine lange Stromschnelle liegt
zwischen dem obern und dem untern Hafen; die Kanus waren dort noch am
Nachmittag hinüberbugsiert worden, damit wir das Hindernis nicht erst am
folgenden Morgen zu überwinden hatten.
Nach dem zweiten Bakaïrídorf (Iguéti).
Die Reise von dem ersten Dorf nach dem zweiten ist wegen der zahlreichen
Stromschnellen sehr beschwerlich. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass der Fluss
auf lange Strecken hin mit Blöcken durchsetzt ist, zwischen denen er bei dem
damaligen Wasserstand nur sehr niedrig war. Wir nannten diese Art »Stein-
cachoeiras«, es sind echte Katarakte, die bei höherm Wasserstand wahrscheinlich
leichter passiert werden.
Die ersten Stunden hinter Maigéri floss der Kulisehu in himmlischer Ruhe
dahin; das Kanu mit seinen Ruderern spiegelte sich unverzerrt in der flaschen-
grünen Flut, und eine lange Spur von Schaumblasen bezeichnete die Bahn.
Dunkel, aber von dem Sonnenschein gelblich durchleuchtet, setzte sich das Bild
der Waldkulisse gegen die schimmernde und flimmernde Oberfläche ab. Der
volle Laubschmuck rundete die Baumumrisse, und üppige hellgrüne Bambus-
massen füllten alle Lücken aus. Ueberhängendes Gebüsch und niedere Bäume,
die tiefgeneigt vom Ufer weggedrückt schienen, spannten Schattendächer aus, in
deren Schutz man gern dahinglitt. Nichts ist schöner als das allgemeine
Schweigen der Natur, ehe die Cachoeira kommt; man weiss, bald wird das
Brausen erst fern und dumpf, dann lauter und lauter ertönen und geniesst die
Stille, der, ohne die Aussicht auf den bald nur zu lebhaften Wechsel, unser Geist
in schwerer Langeweile erliegen würde. Als wir dieselbe Strecke am 20. September
zum ersten Mal fuhren, hatte ich mich an dem Anblick des geschmeidigen Luchu
erfreut, der mit Bogen und Pfeil im Kanu aufrecht stehend nach Pakú-Fischen aus-
spähte. Der Indianer, dem die Angel unbekannt war, gebrauchte doch schon den
Köder. Er warf bohnengrosse grellrote Beeren (iwáulu) ziemlich weit in den Fluss,
spannte schleunigst den Bogen, zielte auf die Beere und entsandte den Pfeil in
dem Augenblick, wo der Pakú zuschnappte und die Beere verschwand.
Damals waren wir bequem in einem Tage nach Iguéti gekommen, da wir
die Kanus sobald als möglich verliessen und über Land gingen. Dieses Mal
konnten wir uns keine Stromschnelle ersparen. Es waren ihrer im Ganzen acht
bis zu dem sogenannten Hafen, doch schlugen wir schon hinter der siebenten um
5½ Uhr das Lager auf. Bei der vierten hatten wir 40 Minuten gebraucht, um
die Kanus durch das ausgedehnte Steingewirr hindurchzuschieben. Das unsere
klemmte sich zwischen zwei Felsblöcken fest und füllte sich halb mit Wasser.
Es ist ein unangenehmes Gefühl, wenn der elastische Boden des Fahrzeuges sich
unter den Füssen biegt wie eine Welle. Um 4 Uhr fanden wir den ganzen
[88] Fluss versperrt und quer durchsetzt durch hohe Stakete und Steine, wo die
Bakaïrí den Fischen nach Gutdünken den Weg verlegen und öffnen können. Es
war ein sehr merkwürdiger Anblick und, wenn man die Arbeitsmittel und den
Kulturfortschritt der Bakaïrí in Rechnung zog, nicht ohne Grossartigkeit. Wir
hatten mühsam die Steine am Rand der Stakete aus dem Wege zu räumen,
um überhaupt mit unsern schmalen Kanus zu passieren. Dahinter eine Breite
von 124 m.
Bei der letzten Stromschnelle erlitt Vogel Schiffbruch. Die Instrumente
blieben trocken, aber die Suppentafeln erlitten eine vorzeitige Wässerung. So
benutzten wir die Gelegenheit, aus den rettungslos durchweichten Stücken einmal
Vogelkäfig.
eine verschwenderische Kraftsuppe
zu brauen. Wir machten hinter
dem Orte des Unfalls Halt, be-
suchten von hier aus am nächsten
Tage, dem 4. Oktober, das Ba-
kaïrídorf und liessen die Kanus
währenddess zum Hafen weiter-
schaffen. Auch auf dieser Strecke
fuhr Vogels Kanu auf einen Stein
und ging unter. Dabei sank ein
uns von Herrn von Danckelman
überlassenes Wasser-Thermometer
seiner Bestimmung gemäss in die
Tiefe, blieb aber auf Nimmer-
wiedersehen drunten und entzog
sich der Ablesung.
Das Dorf war in einer halben
bis einer ganzen Stunde vom Fluss
zu erreichen, je nachdem man
später oder früher landete. Es
war rings umgeben von gerodetem
Land in einer Ausdehnung, die
unser höchstes Erstaunen erregte.
Auf den drei verschiedenen Wegen, die wir gegangen sind, kamen wir durch
lange Strecken, wo der Wald mit dem Steinbeil niedergeschlagen war. Im März
und April werden die Bäume gefällt und im September und Oktober das in-
zwischen getrocknete Holz verbrannt. Wir betrachteten mit Bewunderung eine
Anzahl dicker Stämme, deren Querschnitt mit den stumpfen Schlagmarken der
Steinbeile bedeckt war und bedauerten keine solche Hiebfläche absägen und mit-
nehmen zu können. Ich leistete im Stillen Abbitte bei den Indianern, über die
ich oft gelacht hatte, wenn sie sich zu Hause in der Hängematte schaukelten, als
wenn ihr Leben ein grosser Sonntag wäre.
[89]
In Iguéti gab es drei grosse Familienhäuser und ein sehr ansehnliches Flöten-
haus, in dem viele Tanzanzüge aus Palmstroh hingen. Auf dem Dorfplatz erhob
sich ein Käfig von über Haushöhe, der aus langen, spitzkegelförmig zusammen-
gestellten Stangen bestand; darin sass eine gewaltige Harpya destructor, obwohl
das Dorf igu-eti = Sperberdorf heisst. Der einstige Wappenvogel war wohl
schon lange dahin geschieden. Der schöne Adler wurde nach seiner Lieblings-
nahrung mégo-zóto, Herr der Affen, genannt. Neben dem Häuptlingshause
lag ein grosser Schleifstein für die Steinbeile; er machte mir viel Freude, weil er
genau dieselben Rillen zeigte, wie wir sie in den Sambakis von Sta. Catharina
beobachtet hatten.
Die Gemeinde zählte einige 40 Personen. Man sprach von drei Häuptlingen,
doch kam uns in dieser Eigenschaft nur der gutmütige, sehr breitschultrige und
durch watschelnden Gang ausgezeichnete Aramöke entgegen. Er hatte einen
pfiffigen Ausdruck und war bei seinem ungeschlachten Körper sehr höflich, da
er im Wald vor mir herschreitend liebenswürdiger, als er wahrscheinlich gegen
eine Dame gewesen wäre, die Zweige abbrach, die mir hätten in’s Gesicht schnellen
können. Ein grosses Messer und ein rotes Halstuch machten ihn zum Glücklichsten
aller Sterblichen. Er erwies uns grosse Gastfreundschaft. Fortwährend wurden
neue goldige Beijús herbeigebracht, eine Reihe von Kalabassen mit Pogu gefüllt,
standen immer zur Hand, ein dünner, sehr süsser Püserego wurde im Ueberfluss
geboten und für unsere Perlen erhielten wir einen Vorrat an feinem Polvilhomehl
auf den Weg.
Die so eifrig backenden Frauen erschienen uns klein und hässlich, aber
freudlich. Sie holten Wasser nur in Begleitung von Männern.
Als ich mit Vogel und Ehrenreich am 20. September zum ersten Mal in
Iguéti war, erlebten wir eine merkwürdige Scene, die ich hier einschalten möchte.
Wir sassen am Abend in dem Flötenhaus, als Einige eintraten, an der Feuer-
asche niederhockten und ein lautes ih . . . . ausstiessen. Darauf zogen sich ein
paar Andere die dort hängenden Strohanzüge an und liefen eine Weile umher
wie die brüllenden Löwen. Ich glaubte, es sei eitel Scherz und Zeitvertreib,
aber alle blieben durchaus ernst. Nun lief eine der Masken hinaus, während der
Chor wieder ih . . . . hi schrie, streckte die Arme aus dem Stroh hervor und
raschelte mit dem Behang. Sie verschwand in einem Hause und kam bald
wieder hervor mit Beijú und Fisch beladen. Dasselbe wiederholte sich und Luchu
machte den Gang als Dritter, mit Getrank zurückkehrend. Immer wurde das
Hinausgehen durch das allgemeine ih … angekündigt, so dass man in den
Häusern vorbereitet war. Da der Strohanzug den ganzen Körper bis auf die
Füsse bedeckt, ist die Person, die sich in ihm verbirgt, nicht zu erkennen.
Vielleicht ist zwischen diesem Gebrauch, dass man sich sein Gastgeschenk in ver-
hülltem Zustande holt, und der Sitte des Alleinessens, gegen die man nicht ver-
stossen kann, ohne das Schamgefühl der Andern wachzurufen, ein Zusammenhang
vorhanden.
[90]
Später am Abend begannen drei Männer zu singen, indem sie dicht an den
Thüreingang des Flötenhauses herantraten, und zwar so, dass sie uns Uebrigen
den Rücken zukehrten: zwei schüttelten die Kürbisrassel, die sich nur im Material
von unserem ersten Wiegenspielzeug unterscheidet, und der Dritte stampfte in
taktfester Beharrlichkeit mit dem rechten Fuss auf. Die Drei sangen: íhaí, iháií
huχó, ihaí ohuhoχó . . . . Vielleicht steckt in dem ewigen huχu, huχo nichts anders
als das Wort für »Fuss«, das, altkaraibisch pupu, sich in χuχu, huχu lautgesetzlich
verändert. Es war ein ernstes, fast traurig klingendes, aber sehr kräftiges
»Makanari«, wie die Bakaïrí ihre Festgesänge nennen. Ehrenreich war mit der
sich unverändert gleichbleibenden Monotonie des Singens, Rasselns und Stampfens
sehr unzufrieden, ich kann für mein Teil aber nur sagen, dass gerade das Einerlei
Eindruck auf mich machte und mich auf eine Art berauschte und gefangennahm.
Andere stellten sich hinter die Drei, sangen und stampften mit, mehr und mehr
schlossen sich an, und endlich liefen die der Thüre nächsten hinaus, einer nach
dem andern bückte sich und folgte, der ganze Zug trabte in einer langen Kette
hinüber zum Häuptlingshause mit ununterbrochenem ohúhoχó, zurück zum Flöten-
haus, hin und her über den Platz; wir Gäste verfehlten nicht, auch wenigstens
einige Touren des musikalischen Dauerlaufs mitzumachen, die guten Bakaïrí aber
rannten, sangen, stampften — die ganze Nacht. Es scheint also eine sehr alte
Sitte zu sein, bis an den hellen Morgen zu tanzen. Nur dass die Männer die
Arbeit allein besorgten. Es schlief sich vorzüglich dabei ein; wie das bekannte und
oft bewährte Mittel zum Einschlafen, dass man sich eine endlose Hammelherde
vorstellt, die über einen Zaun setzt, und die einzelnen springenden Tiere zählt,
hypnotisirte ihr unentwegtes ohóhuχó mit tödlicher Sicherheit.
Bei unserm zweiten Besuch sahen wir Nichts dergleichen.
Eine kleine Schussvorstellung erweckte mehr Furcht als Erstaunen; die
Frauen liefen hinter die Häuser; ein langer Jüngling flüchtete sich in die Hänge-
matte und hielt sich die Ohren zu. Nach dem dritten Schuss bat der Häuptling
»åle«, »es ist genug«. Hinterher hatten sie wieder Verlangen danach und stellten
Aufgaben, hoch in der Luft kreisende Vögel zu treffen, die nur die Cooperschen
Jäger hätten erfüllen können. Man muss sich jedenfalls hüten, einen Schuss zu
thun, dessen man nicht sicher ist.
Der photographische Apparat wurde dem Häuptlingshause gegenüber auf-
gestellt; Aramöke folgte der Einladung, steckte den Kopf unter das schwarze
Tuch, betrachtete sich das Bild mit lebhaftem Vergnügen und schwatzte eifrig
darüber. Die Uebrigen trauten der Sache nicht.
Das Haus Aramöke’s, ein prachtvolles Beispiel der primitiven Architektur,
war grösser und sorgfältiger gebaut als das Paleko’s in Maigéri. Viele Vorrats-
körbe waren zwischen den Mittelpfosten aufgestapelt und von der Wölbung
hingen zahlreiche Maisvögel und Kolben herab. Unser Interesse aber nahm in
erster Linie ein Fries von rohen Zeichnungen in Anspruch, der in etwa 2 m
Höhe über den Thüren weg ringsum lief in einer Gesamtlänge von etwa 56 m.
[91] Auf schmale Tafeln von geschwärzter Baumrinde waren Tüpfel, Ringe, lineare
Muster und dazwischen ein paar Fischzeichnungen mit weissem Lehm aufgetragen.
Zu unserm grössten Erstaunen galten auch Dreiecke und Vierecke als Abbildungen
konkreter Vorlagen und waren eben noch keine »geometrische Figuren«. Wilhelm
zeichnete den ganzen Fries mit peinlicher Gewissenhaftigkeit ab, wie ihn die
Tafeln 20 und 21 wiedergeben. Ich werde später die Erfahrungen bei den Bakaïrí
mit den bei den übrigen Kulisehu-Stämmen zusammenstellen. Leider war es nicht
möglich, die Originale heimzubringen. Der Lehm war so lose aufgetragen, dass
er sofort abbröckelte, und so grobkörnig, dass er nicht, wie es bei den Masken
gelang, durch Ueberstreichen mit Collodium festgehalten werden konnte.
Gegen Sonnenuntergang gingen wir, von Aramöke, der in seinem roten
Halstuch stolzierte, geleitet, nach dem Lager, das nun an dem eigentlichen Hafen
aufgeschlagen war, und trafen dort nach dem neuen Schiffbruch grosse »Trocken-
wäsche«. Auch war Antonios Ruder gebrochen.
Eine Anzahl Indianer standen und sassen auf dem Uferhang herum, als wir
am 6. Oktober kurz nach 7 Uhr abfuhren. João Pedro hatte sich noch ein
Halbdutzend frischer Beijús bestellt und wurde pünktlich in der Frühe wie vom
zivilisierten Bäcker bedient.
Die kräftige Stromschnelle, »kulúri« von den Bakaïrí genannt, die wir bald
ohne Fährlichkeiten durchschnitten, war die letzte des Kulisehu: »túχu åle«, die
Steine sind »alle«. Der Fluss ähnelte auf dieser Strecke wieder sehr dem Stück
hinter der Independencia; viele gestürzte Bäume im Wasser, häufig hochgelegener
Sandstrand oder auch steiles Lehmufer, die Strömung etwas beschleunigter. Der
kleine Masarico trippelte mit seinen roten Beinchen eilfertig über den Sand uns
entgegen, rief »geh weg, komm, komm« und flog eine Strecke voraus, um uns
dort wieder zu erwarten. Die Windungen des Flusses waren sehr zahlreich, und
die Fahrt wurde sterbenslangweilig. Dabei wurde das Sonnenlicht von dem hellen
Sand grell reflektiert und das Wasser blitzte unerträglich. Um 2¾ Uhr kamen
wir an einen rechten Nebenbach von etwa 8 m Breite vorüber, dem Pakuneru.
Das ist derselbe Name, den der Paranatinga bei den Bakaïrí führt. An seinen
Quellen — weitweg ih . . . . — sollen die kayáχo, die Kayapó, wohnen; Tumayaua
erklärte, dass er sie habe schreien hören. Es ist wahrscheinlich, dass von ihnen
der Feuerschein herrührte, den wir wiederholt im Osten bemerkt hatten und der
auf der Independencia regelmässig am Abend beobachtet worden war. Ein
Stündchen später mündete links, etwa 12 m breit, der Kewayeli ein. An beiden
Ufern Queimada und Pflanzung.
Tumayaua hatte als Begleiter Pakurali aus dem zweiten Dorf mitgenommen,
einen untersetzten vierschrötigen Alten, dem man nicht ansah, dass er für einen
grossen Zauberer galt, und der bei uns respektlos der »Droschkenkutscher« hiess. Sie
hatten wenig Gepäck bei sich und bargen es leicht in den Mayakus, ihren
Tragkiepen. Nicht Baumwollhängematten, sondern Hängematten aus Palmfaser,
die leichter sind und rasch trocknen, wenn sie durchnässt werden, hatten sie
[92] auf die Reise mitgenommen. Die Beiden kamen rasch vorwärts, obwohl sie
an jedem günstigen Ort auf’s Fischen bedacht waren. Den grossen Zauberer
hatten wir an einer Salmiakflasche riechen lassen, was ihn nicht wenig entsetzt
hatte. Er war seither nicht mehr zu verführen, irgend etwas von unsern Dingen
zu beriechen. Wenn bei uns Jemand in einer Ecke ruft, dass es dort stinkt, so
läuft Alles hin und schnüffelt.
Nach dem dritten Bakaïrídorf (Kuyaqualiéti).
Der Hafen, bei dem wir um 4¾ Uhr ankamen, lag am Ende einer seitwärts
eingeschnittenen Bucht und wäre ohne Führer nicht zu finden gewesen.
Am nächsten Morgen, dem 6. Oktober, brachen wir um 7 Uhr zum Dorfe
auf und erreichten es in dreiviertel Stunden auf dem üblichen geschlängelten
Waldpfad. Unterwegs sahen wir eine grosse menschliche Gestalt in Baumrinde
eingeschnitzt mit drei Fingern an den Händen und strumpfartigen Füssen.
Harpyen-Dorf, „kuyaquali-éti“, hatte auch nur drei Häuser und ein Flöten-
haus, war aber das belebteste der drei Dörfer. Ich zählte 31 Männer und unge-
fähr ebensoviel Frauen und Kinder. Doch waren die letzeren zum Teil in den
Wald gelaufen. Es mochten an 100 Seelen im Dorfe sein. Der Häuptling Porisa
war ein kleiner freundlicher Herr; er hatte Nachts Beijú backen lassen. Wir
sassen inmitten des grossen Platzes in einer langen Reihe nieder. Jedem wurde
eine Trinkschale gebracht, mir wurde die grösste nebst einer Zigarre zu Teil.
Die Begrüssungsreden wurden jetzt mit grosser Geläufigkeit ausgetauscht.
áma, du = das bist du. ehé úra, ja, ich = gewiss, das bin ich. bakaïrí úra,
ich (bin ein) Bakaïrí. kχaráiba úra, ich (bin ein) Karaibe. bakaïrí kχúra, (die)
Bakaïrí (sind) gut. kχaráiba iwakulukúlu, (die) Karaiben (sind) sehr gut. píma áma?
(bist) du (der) Häuptling? píma úra, ich (bin der) Häuptling.
Jedem Karaiben hockte ein Bakaïrí gegenüber und bewunderte ihn und
was er anhatte. Die schwedischen Zündhölzer, Messer, Spiegel, Knöpfe, Perlen,
— es war immer derselbe Kursus. Nur fand bei Porisa mein Tagebuch die
meiste Anerkennung und waren es nicht die beschriebenen, oder mit Zeichnungen
bedeckten, sondern die weissen leeren Blätter, die ihm Ausrufe des Entzückens
entlockten. Wir schritten auch paarweise, Arm in Arm, auf dem Platze umher,
in verbindlicher Unterhaltung. Ausführlich studierten wir die geographische Ver-
teilung der Kulisehu-Stämme, doch blieben die Wohnorte der Trumaí nach wie
vor unklar.
Das Flötenhaus war gross und geräumig, sein Dach zerfallen, viel Stroh
lag drinnen auf dem Boden, und hier, wie in den Häusern, vermissten wir die
Sauberkeit, die uns in den andern Dörfern so wohlgethan hatte. Vor dem
Flötenhaus fand sich, auf Querhölzern aufruhend, ein mächtiger hohler Baum-
stamm hingestreckt — einen Morcego- (Fledermaus) Baum nannten ihn unsere
[93] Leute — unregelmässig bemalt mit menschlichen Figuren und Fischwirbelsäulen.
Man trommelte bei Festen auf diesem Rieseninstrument mit dicken Holzknüppeln,
ähnlich den Mandiokastampfern.
Drinnen gab es schöne Masken und eine neue Form des Tanzanzuges: zwei
gewaltige Krinolinen von 10 m Umfang mit Stroh bedeckt, kleinen Hütten ver-
gleichbar, koálu, die der Tänzer an einem Ring auf der Schulter trug. Bald war
ein schwungvoller Tauschhandel überall im Gange. Wir erhielten schönen Feder-
schmuck, Kronen aus Ararafedern, die auf der einen Seite lichtblau, auf der
andern gelb sind, zierliche Matten, in denen sie aufbewahrt werden, schwarzgelbe
Rohrdiademe, wie deren Luchu auf Tafel 6 eins trägt, andere mit strahlen-
förmigen Spitzen, grosse Pansflöten, ein mit Zeichnungen verziertes Ruder, Spinn-
wirtel der einfachsten Art: aus Topfscherben hergestellte Scheiben, und eine
Menge merkwürdiger zilinderförmiger Hölzer, die mit Ornamenten bedeckt waren
und bei Festen auf dem Rücken getragen wurden. Dann aber kam in dem
Gerät dieser dritten Bakaïrí deutlich zum Ausdruck, dass wir uns bei dem den
übrigen Kulisehu-Indianern nächst wohnenden Teil des Stammes befanden; es
war vielerlei Importwaare vorhanden und wurde hier auch als solche bezeichnet.
Die Bakaïrí machen selbst keine Töpfe und haben selbst keinen Ort, an dem
sie sich die Steine für die Steinbeile holen könnten, hier aber sagte man uns
auch sofort, dass die Töpfe von den Mehinakú und die Steinbeile von den Trumaí
stammten. Unter den Töpfen war einer in Schildkrötenform, der ein wahres
Meisterwerk der primitiven Plastik darstellte, an dem Kopf, Schwanz und Füsse,
sowie die Schildzeichnung auf das Herrlichste ausgeführt waren. Von den Auetö́
fanden wir eine halbzerbrochene Thonpuppe, von den Mehinakú herrührend auch
Knäuel feingesponnener Baumwolle, von den Trumaí und Suyá zierliche Feder-
hauben. Aus unserm eigenen Besitz von 1884 entdeckten wir zwei Eisenmeissel,
Teile eines Ladestockes, die auf Steinen zugeschliffen waren.
In höchsteigener Person trafen wir einen Nahuquá; leider war der Mensch
sichtlich idiotisch und konnte meinen Zwecken wenig bieten. Es ist seltsam,
dass dieses keine vereinzelte Erscheinung ist: die Kustenaú von 1884 hatten einen
versimpelten Bakaïrí unter sich, die Yuruna desgleichen einen Arara-Indianer mit
ausgesprochenem Schwachsinn, und Aehnliches glaube ich, noch öfter bemerkt zu
haben. Werden die Leute dumm in der neuen Umgebung oder überlässt man
dem Nachbar nur die dummen Exemplare zur Nutzniessung?
In dem Flötenhause wurden anthropologische Messungen und photographische
Aufnahmen gegen Vergütung in Perlen ausgeführt. In diesem Dorf gab es einen
ausgesprochen semitischen Typus, von dem Tafel 13 ein klassisches Beispiel
darstellt. Die Leute liessen sich Alles gefallen und nannten den Tasterzirkel
núna »Mond«. Nur Einer war entrüstet, als ich ihm, nachdem ihn Ehrenreich
von Kopf bis zu Fuss in allen Richtungen gemessen hatte, die Gebühr von drei
schönen, dicken Perlen überreichte. Er wollte so viel Perlen haben, als Messungen
an ihm vorgenommen waren, er wiederholte mit lebhaftem Geberdenspiel und
[94] anerkennungswertem Gedächtnis die sämtlichen Prozeduren: den Kopf von vorne
nach hinten, von Seite zu Seite, die Nase von oben nach unten, den Abstand
der Augen, die Länge der Extremitäten und ihrer Teile, die Höhe des Nabels über
dem Boden u. s. w. u. s. w., und streckte hinter jeder Pantomime die Hand nach den
katakuá, den Perlen aus. Es half nichts, dem Manne musste sein Recht werden,
nur war ich genötigt, ihn mit kleinen Stickperlen zu entschädigen; denn als ich
begann, ihn zu bezahlen, ging er getreulich hinter jedem Perlenpaar wieder die
Zahl der Messungen durch, erst jenes, dann den entsprechenden Körperteil be-
rührend, und ruhte nicht, ehe die lange Liste ziemlich genau erledigt war. Wenn
sich diese Gelegenheiten häufen, sagte ich mir, und wenn die Bakaïrí viele solche
kritischen Naturen hervorbringen, wird ihre Zählkunst reissende Fortschritte machen.
Da war es ja an einem Beispiel der Erfahrung mit Händen zu greifen, wie der
Handelsverkehr die arithmetischen Anlagen befruchtet und entwickelt!
Die Frauen leisteten einigen Widerstand. Ganz unmöglich war es, auch an
ihnen die Aufnahmen im Flötenhaus zu machen. Sie durften es nicht betreten,
obwohl das edle Gebäude schon eine halbe Ruine war. So wurden sie auf dem
Platz gemessen und photographirt.
Unsere eingetauschten Schätze packten wir sorglich zusammen und baten
Porisa, sie uns in seinem Hause bis zur Wiederkehr aufzubewahren. Wir durften
unsere Kanus nicht überfrachten und mussten Raum vorsehen für die Sammlung
bei den abwärts wohnenden Stämmen. Porisa schob die Bündel vor unsern
Augen auf einen hohen Querbalken zwischen den Mittelpfosten und versprach,
dass Niemand daran rühren werde.
Um ½5 Uhr zogen wir denn sehr befriedigt wieder zum Hafen. Antonio
war mit acht Indianern vor die Bucht hinausgefahren, wo sich der Fischfang
besser lohnte und zeigte dort den Gebrauch der Angel. Seine Begleiter konnten
mit einer schweren Ladung von Piranyas, einem Bagadú und einem Pintado den
Heimweg zum Dorfe antreten. Eins unserer kleinen Kanus tauschten wir gegen
ein schöneres, grösseres um.
II. Zu den Nahuquá.
Verkehr von Bakaïrí und Nahuquá. Ueberraschte im Hafen. Merkwürdiger Empfang. Dorf aus-
geräumt. Ein Yaurikumá. Ueber Nacht. Mehinakú im Dorf. Tänze. Traurige Aussichten für
Professor Bastian. Ich voraus zu den Mehinakú. Besserung der Verhältnisse. Botschaft über die
Schlacht zwischen den Suyá und den Trumaf.
Ohne Frage stehen die Nahuquá in vielfältigem Verkehr mit den Bakaïrí.
Schon von dem alten Paleko hatte ich eine ganze Reihe Nahuquá-Wörter erfahren
und aus ihnen zu meiner grossen Freude sofort ersehen können, dass es sich um
einen neuen Karaibenstamm handle. Paleko sagte mir, dass er früher eine zeitlang
bei den Nahuquá gelebt habe; auch Tumayaua war bereits bei ihnen gewesen und
[95] kannte viele Wörter ihrer Sprache, während alle Bakaïrí von den flussabwärts der
Nahuquá wohnenden Mehinakú nicht ein halbes Dutzend Wörter wussten.
Der Nahuquá, der im dritten Dorf der Bakaïrí wohnte, begleitete uns, als
wir am 7. Oktober 1887 von dem Hafen der dritten Bakaïrí zu seinen nur eine
Tagereise entfernten Stammesgenossen fuhren, stieg spät Nachmittags an einer
Stelle, wo ein Pfad herantrat, aus, um uns im Dorfe anzumelden. Auch drei
Bakaïrí von Harpyendorf mit Einschluss des Häuptlings Porisa hatten sich uns
Nahuquá.
angeschlossen. Wir waren um ½7 Uhr abgefahren und hatten noch eine kleine
Stromschnelle von starkem Schwall zu durchsetzen. Sie gehörte mit einigen Fisch-
kurrals noch den Bakaïrí, während ein kleiner, 2 m breiter Bach rechts, den wir
gegen 9 Uhr passierten, und der durch einen Fischzaun abgesperrt war, schon
Eigentum der Nahuquá war. Um 11 Uhr mündete wieder rechts ein breiter Bach
ein, der Háiri der Bakaïrí oder Ráza der Nahuquá, in deren Gebiet er lag. Viel
hoher Sandstrand, 4—5 m über dem Wasserspiegel der Trockenzeit, Weiden-
gebüsch, unzählige dürre und abgestürzte Bäume. Um 1 Uhr machten wir eine
[96] Pause an einem fischreichen Orte; die Piranyas bissen so schnell zu, dass man die
Angel nur auszuwerfen brauchte und sie auch schon daran festhingen; ein grosser,
1 m langer Bagadú, den Antonio mit Leguanköder fing, zog den glücklichen
Fischer zu unserm Vergnügen bis in die Mitte des Flusses. Mehrere Angeln
wurden von den Piranyas abgebissen. Die Indianer lösten nach einiger Unter-
suchung sorgfältig den Unterkiefer aus, den sie zum Durchschneiden von Fäden
und auch zum Haarschneiden verwenden.
Wilhelm und ich, deren Boot wie gewöhnlich mit dem Tumayaua’s den
anderen voraus war, trafen zuerst am eigentlichen Hafen ein und überraschten
dort drei Individuen, die nicht wenig erschreckt schienen. Es war ein hübscher
strammer Junge von etwa 18 Jahren, das Urbild der Crevaux’schen Rukuyenn
in Guyana, den Tumayaua als píma iméri, den Sohn eines Häuptlings, bezeichnete,
ein kleiner Knabe und als dritter ein junger Mehinakú.
Durch Tumayaua freundlich getröstet und beruhigt, lachte der kleine Häupt-
ling, zitterte aber am ganzen Leibe. Er hatte ein breites Baumwollbündel um
den Leib geschlungen und auch eine Unwickelung über den Waden. Den Hals
zierten zwei schöne Muschelketten. Ihre Tragkörbe waren mit Flussmuscheln
gefüllt. Bald eilten sie freudig erregt davon. »Kúra karáiba«, der Karaibe ist
gut, war ihnen hundertmal gesagt worden — und Tumayaua rief ihnen noch
lange nach, sie sollten für reichlich Püserego sorgen. Den andern Morgen brachen
wir früh auf; nachdem wir ein Stückchen Campo cerrado passiert hatten, kamen
wir in den Wald. Es war grösstenteils Capoeira, junger Buschwald, der in früher
bepflanztem Terrain nachwächst. An den Bäumen bemerkten wir eine grosse
Zahl von plump eingeschnitzten menschlichen Figuren — mehr als wir irgendwo
anders gesehen haben. Dieselben zeichneten sich durch gewaltige eselohrartige,
aber schmale Verlängerungen aus, die uns als Ohrfedern gedeutet wurden. Gegen
Ende des Weges fanden wir eine schöne Pflanzung von Pikí-Bäumen (Caryocar brasi-
liensis); sie haben runde Früchte von der Form und dem Umfang recht grosser
Aepfel mit grüner Schale, buttergelbem Inhalt und dicken Kernen.
Nach zwei Stunden erreichten wir das Dorf, es lag in Totenstille. Unser
Zug betrat den Festplatz. Ein Kranz von zwölf nahe zusammenstehenden Häusern
und ein schönes Flötenhaus; lange Sitzbalken lagen zu unsern Füssen. Keine
Menschenseele begrüsste uns; nur in den Eingängen der schweigenden Bienen-
körbe liessen sich einige dunkele Gestalten unbestimmt unterscheiden. Tumayaua
rief, eifrig mit Bogen und Pfeil gestikulierend, in die Lüfte hinaus; unsere lange
Reihe harrte stummvergnügt der kommenden Ereignisse, dann fingen auch wir
an zu schreien, dass wir gut seien, und plötzlich sahen wir uns von einigen
vierzig Männern dicht umringt.
Mit Ausbrüchen der Freude, die einen verzweifelten Anstrich grosser Angst
nicht verbergen konnte, liessen sie uns einen neben dem anderen auf den dünnen
Sitzbalken niederhocken und schleppten Beijús und mächtige Kürbisschalen die
Hülle und Fülle herbei. Die Beijús thürmten sich in erschreckender Höhe auf;
[]
FISCHNETZ-TANZ DER NAHUQUÁ.
[][97] in den Kürbisschalen war leider nicht der wohlschmeckende Püserego enthalten,
sondern nur der gewöhnliche Pogu-Mandiokakleister. Sie liessen uns einige Pikí-
früchte, die im allgemeinen noch nicht reif waren, als Delikatessen probieren; ein
kleines Stückchen mit Beijú schmeckte auch gar nicht so übel, doch wurde uns
der fettige Geschmack bald zu stark und erregte Widerwillen.
Die Nahuquá waren kräftige, etwas plumpe Gestalten, an denen uns die
viereckigen Gesichter besonders auffielen. Viele von ihnen hatten ein Doppel-
kinn. Bei mehreren bemerkten wir Bemalung auf der Brust mit runden
Klexen, Dreiecken und dergl.; einer trug eine Schlangenlinie über den Ober-
schenkel. Zum Ausdruck der Bewunderung oder gewaltigen Erstaunens drückten
sie eine Hand fest vor Mund und Nase und liessen dahinter allerlei Töne, hö hö
hö, hören, wie wir deren zuweilen beim Kopfschütteln machen. Es wurden uns
riesige Zigarren von 40 cm Länge angeboten; anscheinend stand dieses Format
im graden Verhältnis zur grossen Angst der Geber.
Nachdem die Empfangsfeierlichkeit beendet war, krochen wir in das Flöten-
haus, um unsere Sachen dort niederzulegen. Die Beijúladungen und Getränke
schleppte man uns eilfertig nach. In dem Haus der Männer, das sehr geräumig
und sehr sorgfältig gebaut war, sah es trostlos leer aus. Ein öder Raum, nur
hie und da ein paar Strohreste von Tanzkostümen auf dem Boden. Wir be-
suchten einzelne Hütten: sie waren ausgeräumt, hie und da hing eine einsame
Hängematte, aber die sonst überall vorhandene Menge des Hausrats von Körben,
Kalabassen, Töpfen fehlte; es fehlten an den Wänden die Steinbeile, die Bogen,
die Pfeile. Besonders schmerzlich aber vermissten wir die Krone der Schöpfung.
Nur ein paar alte Weiber von abscheulicher Hässlichkeit — abschreckend mager,
die Haut am ganzen Körper verrunzelt, wirres mehlbestreutes Haar, trippelnder
Gang mit eingeknickten Beinen — liessen sich erblicken; sie grinsten uns freundlich
an und waren gute thätige Geschöpfe, denen wir auch unsere Beijús zu verdanken
hatten. Die schönere Jugend war weit in den Wald entflohen.
Ueberall trat uns starkes Misstrauen entgegen; zu jedem Gang schloss sich
starke Geleitschaft an, und sie versicherten so leidenschaftlich und häufig ihr
„atötö atötö atötö“, was dem „kura“ der Bakaïrí entspricht, dass man sich schwer
verhehlen konnte, ihre Zunge spreche das Gegenteil aus von dem, was das Herz
empfand. Was wir nur von Kleinigkeiten fanden, erhandelten wir und gaben
unverhältnismässig grosse Gegengeschenke, um ihre Habgier ein wenig anzuregen.
Perrot blies als Medizinmann Mehrere mit Tabakrauch an und rieb sie mit
Vaselin ein. Ein Alter schleppte seinen Sohn von einem zum andern und beruhigte
sich nicht eher, als bis jeder ihn angepustet hatte.
Wir hielten es für gut, unsere Zahl zu verringern; zuerst kehrten Antonio
und Tumayaua, später Perrot und Vogel nach dem Hafen zurück, zumal letzterer
dort eine Breitenbestimmung machen wollte. Ehrenreich, mein Vetter und ich
blieben mit den Bakaïrí vom dritten Dorfe zurück und wollten unter allen Um-
ständen bei unseren Gastfreunden schlafen, so missfällig dieser Entschluss auch
v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 7
[98] aufgenommen wurde. Durch Boten sollten uns vom Hafen Fische und Lebens-
mittel regelmässig gebracht werden.
Wir gingen baden, von fünfzehn Mann begleitet. Ein kleines ausgetretenes
Bächlein mit schmutzigem Lehmwasser befand sich etwa ½ km weit vom Dorf.
In dem Flötenhause suchten wir uns mit Einigen etwas näher anzufreunden.
Einer unter ihnen nannte sich einen »Yaurikumá«; er wohnte drei Tagereisen nach
Osten am Kuluëne. Von ihm erhielten wir Angaben über die Lage der Trumaí-
und Kamayurá-Dörfer, die sich später als ganz richtig erwiesen. Er wusste auch
einige Kamayurá-Wörter. Zu unserer Freude bewiesen sie, dass die Kamayurá
ein Tupístamm sein mussten. Es machte einen wunderlichen Eindruck auf uns,
von ihm, dessen Sprache wir nicht verstanden, aus einer fremden Sprache Wörter
zu vernehmen, die uns so wohl vertraut waren, wie tapyra, der Tapir, und
yakaré, der in Brasilien allgemein mit diesem Worte bezeichnete Kaiman. Ein
Anderer gab uns eine schauspielerische Vorführung der Suyá; mit einem Stroh-
streifen demonstrierte er die Ohrrollen und Lippenscheiben, was bei den Um-
sitzenden wie immer allgemeines Entzücken hervorrief. Hier wurde uns auch
zum ersten Mal, und zwar in Verbindung mit den Suyá, der uns unbekannte
Stammesname »Aratá« genannt. Die Trumaí, die Suyá und die Aratá wurden
als »kurápa« = »nicht gut« bezeichnet.
Am Abend wurde die Thür des Flötenhauses wie die der Hütten mit einer
Matte verschlossen; schmerzerfüllt ergaben sich die Nahuquá in das Schicksal,
uns nicht los zu werden. Auf dem Dorfplatz hielten wir noch ein vergnügtes
Tabakkollegium ab und erfreuten und erstaunten die Gesellschaft mit einem
kleinen Feuerwerk. Mehr noch wurde von den praktischen Menschen eine
brennende Kerze bewundert. Unsere Spiegel wurden gerade wie von den Bakaïrí
paru, von ihnen tune, Wasser, genannt.
In der Nacht brach ein schweres Gewitter los; mitleidig gedachten wir der
armen Nahuquáweiber, die draussen im Walde schliefen. Schon um 5 Uhr begann
man im Dorfe zu lärmen; kaum hörte man uns ein paar Worte reden, so hatten
wir auch schon zahlreichen Besuch im Flötenhause. Nach der schlimmen Nacht
trat der Wunsch, dass wir uns entfernen möchten, um so lebhafter hervor. Die
anwesenden Bakaïrí des dritten Dorfes redeten uns eindringlich zu, dass wir nun
gehen möchten. Wir packten auch die wenigen Kostbarkeiten, die wir erworben
hatten, in Tragkörbe, während die Festhütte von neugierigen Zuschauern gedrängt
voll war, und die guten Bakaïrí glaubten, wir rüsteten zum Aufbruch. Aber sie
irrten sich. Wir baten sie nur, die Sachen, als sie selbst um 10 Uhr das Dorf
verliessen, nach dem Hafen mitzunehmen, und blieben.
Bei unserm Spaziergang durch die Hütten trafen wir eine Anzahl kleiner
Töpfe an, von denen uns bald gesagt wurde, dass sie von den Nahuquá, bald
dass sie von den Mehinakú herrührten. Die alte Töpferin trug auf dem Oberarm
drei parallele Linien, die Tätowirung der Mehinakúweiber, sie deutete mit den
Händen an, dass sie damit gezeichnet worden sei, als sie noch ganz klein war.
[99] Ausser mehreren Frauen lebten unter den Nahuquá einige Mehinakúmänner, deren
einen wir ja schon am Hafen getroffen hatten. Einer hatte sich die Wangen
derart bemalt, dass er mit schwarzer Farbe zwei innen mit Tüpfeln ausgefüllte
rechte Winkel angebracht hatte. Ich liess mir von ihm etliche Wörter in seiner
Sprache nennen und fand, dass sie mit dem von uns 1884 am Batovy auf-
gezeichneten Kustenáu gleichlautend waren. Da ich von dieser Sprache eine
Wörterliste bei mir führte, konnte ich ihm sofort eine Reihe von Dingen nennen,
was ihn mit höchstem Staunen erfüllte. Er hielt mir nun eine lange, laute Rede,
hoffentlich freundschaftlichen Inhalts, und schien fest davon überzeugt, dass ich
jedes Wort verstehe.
Ich wollte den Leuten gern klar machen, dass es mir darauf ankomme,
Masken zu erhalten und versprach ihnen grosse Messer zur Belohnung. Offenbar
wurden meine Geberden aber so ausgelegt, dass wir einen Tanz bestellten. Die
Gesellschaft geriet in grosse Aufregung und führte uns nach einigen Vorbereitungen
auf den Platz hinaus, wo wir auf den schrecklichen Sitzbalken niederhocken mussten.
Zwei Personen besorgten die Musik. Der eine hockte auf dem Boden und schlug
den Takt mit einer langen Kuye, ein anderer stand hinter ihm, ein aus Stroh
geflochtenes hübsches Diademband um den Kopf und schwang eine Rassel. Drei
Tänzer traten auf, Federdiademe über der Stirn, um die Hüften den lang herab-
hängenden mehrfach ringsum gewickelten Schurz aus Buritístroh und die Arme
mit grünem Laub geschmückt. Sie hatten sich Blätterzweige, die balsamischen
Geruch verbreiteten, den Armen entlang angebunden, den Stiel nach oben, und
die Hände im grünen Laub versteckt. Sie stellten sich nebeneinander auf und jeder
stampfte in gebückter Haltung, die Arme ausstreckend und zusammenschlagend,
entfernte sich von seinem Nachbar, drehte sich und kehrte immer stampfend wieder
nach der Mitte zurück. Zum Takt der Kuye, der Rassel und des Stampfens
brüllten sie mit heller Stimme: »ho ho ho« oder »hu hu hu«. Dann trat noch eine
Frau hinzu, eine der hässlichsten Alten und wanderte den dreien gegenüber, die
Hände auf die Brust gelegt, mit geknickten Knien taktgemäss vor- und rückwärts.
Eine zweite Tour des Tanzes wurde mit etwas lebhafteren Bewegungen,
indem ein Jeder die Zweige rasselnd zusammenschlug, ohne Anwesenheit der
Frau ausgeführt und von folgendem Gesang begleitet: »witenéru wayiwíti; wayiwítinéru
witinerúwe; awirínuyána, awirínúyána; kanihayúha witinerú«.
Bald darauf wurde uns noch ein grosser Tanz im Flötenhause vorgeführt.
Die beiden Musiker mit Rasseln und Kuye sassen in der Mitte und die anderen,
sechzehn Mann stark, bewegten sich in einem Halbkreis ringsum, in dem die
eine Hälfte sich immer von der andern entfernte und immer zu ihr zurückkehrte.
Sie alle stampften beim Schreiten mit dem rechten Fuss auf und stiessen ein
gellend lautes: »ho ho ho« aus, wobei ein Jeder die Rassel, die er in der Hand
trug, mit einem heftigen Ruck in der Richtung nach den Musikern vorstiess.
So ging das ewig hin und her. Sie trugen elende Strohdiademe, die sie sich
in der Eile zusammengestellt hatten, und nur wenige hatten einen hübschen
7*
[100] anständigen Federschmuck. Alles, was von Instrumenten und Zierrat bei den
Tänzern gebraucht worden war, tauschten wir gegen Messer ein.
Allein unsere Stimmung war recht trüb und verzweifelt. Wie sollten wir eine
ethnologische Sammlung heimbringen, wenn die Leute sich vor unserer Ankunft im
Walde versteckten! Was würde Professor Bastian in Berlin sagen, wenn wir ihm zur
Veranschaulichung der Schingú-Kultur nur so elenden Kram überbringen konnten,
wie er in diesem ausgeräumten Flötenhaus oder in diesen verlassenen Hütten noch
mühsam aus irgend einem Winkel hervorgesucht werden musste! Die Nahuquá waren
erst der zweite Stamm unserer Liste; wenn die übrigen sich ebenso benehmen
würden, wie sie, so war es mit den Ergebnissen unserer Expedition traurig bestellt.
Was also thun? Wir durften nicht in zahlreicher Gesellschaft, die Furcht
einflösste, bei den Stämmen antreten und mussten um jeden Preis suchen, sie
mit unserer Ankunft unvorbereitet zu überraschen. Ich entschied mich deshalb,
die Nahuquá heimlich zu verlassen und nicht mit unseren Leuten, sondern mit
zwei Bakaïrí in der Frühe des nächsten Morgens allein zu den Mehinakú vor-
auszufahren. Mein Vetter und Ehrenreich blieben bei den Nahuquá zurück,
um ihr Misstrauen möglichst zu verscheuchen und die Untersuchungen zu ver-
vollständigen; die Nachrückenden sollten mir wenigstens zwei Tage Vorsprung
lassen. Wenn ich plötzlich als einzelner unter den Mehinakú erschien, so war
doch wahrlich nicht anzunehmen, dass sich das ganze Dorf vor mir fürchtete und
mit seiner Habe in den Wald flüchtete. So ging ich denn am Nachmittag zum
Hafen zurück, während mein Vetter und Ehrenreich blieben.
Bei Ehrenreich meldeten sich in jenen Tagen die ersten Vorboten des
Fiebers; sie machten sich um so unangenehmer fühlbar, als die Hitze ungewöhn-
lich stark war. Wilhelm hat mir über den weiteren Verlauf das Folgende be-
richtet. Nach meinem Weggehen wurde er auf den Platz hinausgeführt und dort
coram publico gründlich darüber ausgeforscht, was aus mir geworden sei. Nach
unserer Verabredung erwiderte er mit harmlosen Gesicht, ich habe Hunger gehabt
und sei nach dem Hafen, Fische zu essen. Dieses Motiv leuchtete den Indianern
ein und befriedigte sie; weniger angenehm war es ihnen, dass nicht auch er und
Ehrenreich einen gleichen Hunger verspürten.
Schon um 5 Uhr des nächsten Morgens wurde Wilhelm durch eine lange
Rede draussen geweckt, schlief aber wieder ein; um 6 Uhr erschien eine
Ladung frischer Beijús. Ehrenreich photographierte, was Anfangs grossen Alarm
erregte, aber über Erwarten gut verlief. Die Nahuquá, die sich des Lohnes der
Perlen freuten, holten schliesslich selbst sogar Frauen aus dem Wald herbei, damit
sie sich den Schmuck verdienten. Ein Alter, der am Stocke ging, überreichte
Wilhelm ein Töpfchen bitteren Salzes, dessen Zubereitung wir später bei den
Mehinakú kennen lernten. Der alte Herr betrachtete das abscheulich schmeckende
Zeug als Delikatesse, denn er verfehlte nicht, mehrmals den Finger hineinzu-
stecken und das Salz behaglich schmatzend abzulecken. Obenauf lagen ein paar
Pfefferschötchen, die homi genannt wurden.
[101]
Unter der Beute heimkehrender Fischer fanden sich zwei kleine Fische Namens
irinko, piranyaähnlich: es war der Mereschu der Bakaïrí, der in der Ornamentik eine
grosse Rolle spielt. Wilhelm zeichnete den Fisch ab und war überrascht zu sehen,
welche grosse Anerkennung er für sein Bild bei den Indianern einerntete. Der
intelligente Yaurikumá begriff nach längerem Zureden endlich auch unseren Wunsch,
Masken zu erhalten, und versprach, dass wir sie bei der Rückkehr finden würden.
Allem Anschein nach nahm das Misstrauen etwas ab, in den Hütten
tauchten Gegenstände auf, die vorher verborgen gehalten waren. Es fanden sich
zwei grosse Töpfe, wie sie von den Mehinakú gefertigt werden, von mächtigem
Umfang mit einer Bemalung von senkrecht aufsteigenden Streifen ringsum und
einer aus zwei einander zugewandten Halbkreisen bestehenden Zeichnung aussen
auf dem Boden. Ehrenreich nahm im Flötenhaus ohne Schwierigkeiten anthro-
pologische Messungen vor.
Der Morgen des 11. Oktober war ruhiger. Es wurden ein paar Muschel-
ketten gebracht, eine mit einem durchbohrten grossen Stein, für die der Besitzer
zuerst durchaus Ehrenreich’s grosses Waldmesser haben wollte. Wilhelm traf den
Häuptling hinter seiner Hütte mit Maispflanzen beschäftigt; er bohrte mit einem
Stäbchen Löcher 2—3 Zoll tief und legte mehrere Körner hinein. Als mein Vetter
hinzutrat, bestand der Alte darauf, dass er den Rest pflanze, ein Vorfall analog
meinem Erlebnis im ersten Bakaïrí-Dorfe.
Bald darauf entstand plötzlich eine grosse Erregung unter der Gesellschaft.
Wilhelm wurde in die Hütte des Häuptlings geführt und fand dort drei neue
Ankömmlinge sitzen, die finster vor sich hin starrten, während Alles lärmend
durcheinanderschwatzte und einige Weiber heulten. Er konnte aus dem Vorgang
nicht klug werden und begriff nur so viel, dass es sich um eine schlimme Botschaft
handle, deren Träger die drei rot angestrichenen Fremden waren. Erst in dem
Flötenhause wurden ihm mit vielen Pantomimen die Neuigkeiten verständlich ge-
macht. Die bösen Suyá hatten endlich den Plan, die Trumaí zu überfallen, zu
dessen Beihilfe sie uns 1884 zu bereden suchten, mit Glück ausgeführt. „Suyá
Trumaí tok tok“ so wurde mit lebhaftem Geberdenausdruck veranschaulicht, dass
die Suyá die Trumaí niedergeschlagen und vergewaltigt hätten. Es schien, dass
jene einen Teil der Trumaíkanus mit Haken herangezogen und umgeworfen
hatten; Pfeile wurden auf die Schwimmenden geschossen, anderen wurden die
Arme auf dem Rücken zusammengebunden.
Die Leute, welche die Nachricht überbracht hatten, waren die den Trumaí
zunächst wohnenden Nahuquá, die Guikurú heissen.
Am Vormittag des 11. Oktober kehrten Wilhelm und Ehrenreich, dessen
Unwohlsein zunahm, an den Hafen zurück und ruderten am 12. Morgens ab, um
mich einzuholen. Zwei der Mehinakú, die unter den Nahuquá wohnten und mein
Verschwinden richtig gedeutet hatten, waren mir schon am Tage vorher nach-
gefahren, kamen aber glücklicherweise einen Tag später an als ich selbst.
[102]
III. Zu den Mehinakú.
Allein voraus. Ankunft und Empfang. Festhütte. Gestörte Eintracht und Versöhnung. Wohlhabenheit.
Fliegende Ameisen. Ethnographische Sammlung.
Es hatte einige Kraft der Ueberredung gekostet, Tumayaua und seinen
Genossen, den »Droschkenkutscher«, der glücklicher Weise, wenn er ihre Sprache
auch nicht kannte, schon einmal bei den Mehinakú gewesen war, zur Ausführung
meines Planes zu bewegen, doch stärkte sich Einer an dem Beispiel des Andern.
Wir fuhren am 10. Oktober früh ab und erreichten den Hafen der Mehinakú
den 12. October um 11 Uhr Vormittags. Wir hatten uns nicht sonderlich beeilt;
die beiden ruderten am liebsten nur dann, wenn ich das gute Beispiel gab. Am
schrecklichsten war mir, dass sie alle Windungen des Flusses ausfuhren und niemals
eine derselben durch Hinüberkreuzen abschnitten. Kein Fisch, kein Vogel, der
nicht ihre Aufmerksamkeit beschäftigte. Sie schossen, ohne zu treffen, nach
Mehinakúfrau.
mehreren Hühnervögeln; ein Kapivaraschwein das
durch den Fluss schwamm, wurde am Hinterbein ver-
wundet und lief schreiend mit dem Pfeil in den Wald.
An einer fischreichen Bucht schliefen wir die Nacht und
machten gute Beute. Die Beiden brieten Fische die
ganze Nacht hindurch, indem sie das Feuer unter dem
hölzernen Rost sorgfältig unterhielten; ihre Hängematte
hatten sie so nahe aufgespannt, dass sie bequem heraus-
langen, die Fische wenden, gelegentlich ein Stück
verzehren und von der Wärme des Feuers Nutzen
ziehen konnten.
Am zweiten Morgen sagten sie mir, dass das Ufer
links den Mehinakú, rechts den Nahuquá gehöre. Der
Hafen lag an einem steilen Sandufer, wo ein kleiner
Bach einmündete. An den Bäumen waren Rautenmuster eingeritzt. Die Bakaïrí
schoben das Kanu hoch in den Bach hinauf und versteckten ihre Ruder und
Tragkörbe, in denen noch Fisch- und Beijúreste enthalten waren, sorgfältig im Wald.
Tumayaua bereitete ein Gastgeschenk für die Mehinakú vor und hing sich zu
diesem Zweck eine rosenkranzähnliche Schnur um, an der Früchte öligen Inhalts
aufgereiht waren. Das Oel wurde auf die mit dem medizinischen Wundkratzer
der Indianer eingeritzte Haut gerieben.
Wir schritten 2¼ Stunde einen langweiligen und bei der dumpfen Hitze
nicht unbeschwerlichen Weg durch den Wald. Etwa einen Kilometer vor dem Dorf,
wo sich das Gehölz lichtete, war unter einem Baum eine grosse Kreisfigur in den
Sand gezogen (vergl. die Abbildung unter »Sandzeichnungen«). An dem der Ort-
schaft zugewandten Teil des Randes war innen eine schwer zu deutende Figur
eingezeichnet. Tumayaua nannte das Ding „atulua“ und beschrieb mir, dass man
[103] dort mit kā ā ā . . . . . . einen Rundgang mache. In der That waren viele ringsum
laufende Fussspuren erhalten.
Schon bevor wir hier ankamen, luden die Bakaïrí, die den grösseren Teil
des Weges mir vorausgeschritten waren, stehen bleibend mich höflichst ein, den
Vortritt zu nehmen. Sie liessen deutlich merken, dass es ihnen nicht mehr ganz
geheuer war. Aber erst dicht vor dem Dorf begegnete uns ein Mehinakú, der
schleunigst Kehrt machte, nachdem wir ihm noch eben ein »kúra, kúra!« zuge-
rufen hatten. Gleich darauf betraten wir einen gewaltigen freien Platz, der von
14 Häusern im weiten Kreise umgeben war.
Ein höchst sonderbares Bild! Von allen Seiten stürzte man aus den Häusern
hervor, Alt und Jung rannte mit lebhaften Rufen und Geberden umher, teils auf
mich zu, teils zurückweichend. Bald wurde ich an den Händen gefasst und so,
freundschaftlich festgehalten, durch die bis über hundert Personen angewachsene
Schaar nach dem Flötenhaus geleitet, wo ich auf einen schöngeschnitzten Vogel-
schemel niedersitzen musste. Man betrachtete mich mit dem Ausdruck der
scheuen und angstvollen Neugier; die Frauen vielfach geschwärzt und teil-
weise mit Russ über und über bedeckt, verbargen sich hinter dem Ring der
Männer, die bei der leisesten unerwarteten Bewegung meinerseits zurückprallten.
Viele Kuyen mit Stärkekleister wurden kredenzt, und ich musste aus jeder trinken.
Beijús von vorzüglicher Qualität, weich, mit weisslichem Mehl, wie ein Tuch
zusammengeschlagen, erschienen in Massen; auf grünen Blättern wurde auch Salz
überreicht.
Ich war froh, als ich endlich in die Festhütte kriechen durfte, deren Eingang
hier nicht kniehoch war. Sie war gefüllt mit bunten Holzmasken verschiedener
Bemalung, aber gleicher Gestalt; bei einigen war auch das lange Buritígehänge,
das vorne wie ein mächtiger Bart herabfällt, rot gefärbt.
Ich eröffnete sofort das Tauschgeschäft und erhielt für Messer und Perlen
einige Masken und Töpfchen. Sie wollten absolut Messer und wieder Messer
haben, sie zeigten dabei ein recht ungeduldiges Gebahren. »Nur heraus mit
Deinen Sachen«, schien ein Jeder zu sagen, »siehst Du denn nicht, dass ich warte?«
Das Wesen eines reellen Geschäftes, bei dem, wer etwas nimmt, auch etwas her-
giebt, war ihnen entschieden unklar. Tumayaua, der sich in seiner Rolle als
Impresario des interessanten Gastes überaus stolz und glücklich fühlte, setzte ihnen
in längerer Rede die Elementarbegriffe des europäischen Handelsverkehrs aus-
einander. Seine Geschicklichkeit, mit nicht viel mehr als drei oder vier Phrasen
seiner eigenen Sprache in dem Brustton der Ueberzeugung jene Auseinander-
setzung und später eine Erzählung unserer Erlebnisse zum Verständnis seiner
Zuhörerschaft zu bringen, war in hohem Masse bemerkenswert.
Später hatte ich eine lange Sitzung draussen unter Beteiligung zahlreicher
alter Weiber; wenn der Häuptling ein Karaibenwort von mir hörte, machte er
es wie ich, der ich seine Wörter in mein Buch eintrug, und kritzelte eifrig in
den Sand.
[104]
Die beiden Bakaïrí richteten sich mit mir häuslich in der Festhütte ein.
Wir blieben dort unbelästigt zur Nacht, nachdem ich noch einen inspizierenden
Gang durch etliche Wohnungen gemacht hatte.
Das Flötenhaus war 13 Schritte breit, 22 Schritte lang und 5 m hoch. Es
hatte zwei Thüröffnungen nebeneinander, beide äusserst niedrig und jede vier Schritt
lang; draussen lag ein langer Buritístamm. Drei mächtige Pfosten stützten das
Dachgebälk; ihnen entlang war ein leiterartiges Gestell horizontal befestigt, an
dessen senkrecht stehenden, angebundenen Sprossen zwanzig Masken, einige Stroh-
behänge und ein 60 cm langes, schwarz und rot bemaltes Schwirrholz von der
Form einer Schwertklinge herabhingen.
Auf dem Boden vor dem Mittelpföstchen, das die beiden Thüröffnungen
trennte, und ebenso rechts von dem Eingang, befanden sich zwei aus der Erde
aufgewölbte Hautreließ, Leguane darstellend, 1 m lang, 8 cm hoch. Diese zier-
lichsten aller Mounds waren im allgemeinen sehr gut modelliert, nur der Kopf
von ziemlich roher Ausführung. Gegenüber dem Eingang war auf dem Dorfplatz
vor kurzem Einer begraben worden; dort lag ein Reisighaufen, in dem es von
dicken Käfern und Fliegen wimmelte. Man sah auch in der Erde Oeffnungen
von Kanälen, aus denen die Tierchen von ihrem Gastmahl zurückkehrten.
Am nächsten Morgen wurde der Friede leider dadurch gestört, dass man
mir, als ich in den Hütten abwesend war, im Flötenhaus meine Gürteltasche ent-
leerte. Ich vermisste, was mir sehr schmerzlich war, den Kompass, ferner eine
chirurgische Scheere, ein kleines Jagdhörnchen, eine Schachtel mit Pfeffermünz-
plätzchen und dergleichen mehr. Zugleich war die Gesellschaft so habgierig und
bedrängte mich so gewaltsam, dass ich einsah, ich müsse ein Exempel statuieren
und dürfe mir den Diebstahl nicht gefallen lassen, wenn ich das in meiner Lage
unentbehrliche Ansehen behaupten wolle. Ich beklagte mich also, nannte sie
schlecht, »kurápa«, und verlangte meine Sachen zurück. Unter lebhaften Be-
teuerungen ihrer Unschuld entfernten sie sich; vielleicht sei ein Kamayurá, der
eben angekommen wäre, der Thäter.
Zwei Stunden vergingen. Alle fünf oder zehn Minuten kam einer herein-
gekrochen, wurde aber von mir sofort zur Thüre geleitet und bedeutet, zu
suchen; er stellte sich dann draussen hin und hielt in einem Tone, als könne er
kaum das Weinen unterdrücken, eine laute Ansprache über den Platz, die von
den Hütten aus, am erregtesten von Seiten der Weiber, mit vielem Geschrei
beantwortet wurde. Eine Schale Mandioka-Getränk wies ich finster zurück. Ganz
allmählich und in langen Zwischenpausen erschienen die fehlenden Gegenstände.
Einer brachte die Scheere, ein anderer das Jagdhörnchen und fünf oder
sechs ebenfalls in grossen Pausen je ein Pfeffermünzplätzchen, was ich alles auf
den Boden legen liess und nicht eher anzunehmen erklärte, als bis auch nicht
ein Stück mehr ausstehe.
Leider erschien das Wichtigste nicht, der Kompass. Nun ging ich gerade
hinüber nach der Hütte des dicken alten Häuptlings und klagte dort; er ent-
[]
DEMONSTRATION EINER VOGELPFEIFE BEI DEN MEHINAKÚ.
[][105] schuldigte sich, dass er abwesend gewesen sei und von dem Geschehenen nichts
wisse. Da nahm ich ihn bei der Hand und brachte ihn, während er sehr ungern
hinterdrein wackelte, zum Flötenhause. Hier beschrieb ich ihm den Vorgang an
Ort und Stelle, drohte: „mehinakú kúra, karáiba kúra; mehinakú kurápa, karáiba
kurápa“ = wenn der Mehinakú gut ist, ist auch der Karaibe gut, wenn der
Mehinakú schlecht ist, ist auch der Karaibe schlecht, und feuerte zu seinem
Schrecken einen Revolverschuss in den Mittelpfosten. Sofort erhob sich draussen
ein lautes Heulen und verwirrtes Durcheinanderrennen. Der Alte verschwand,
indem er zitternd versicherte, suchen zu wollen. Tumayaua spähte durch die
Gucklöcher im Strohdach und beobachtete mit grossem Genuss die Szenen
draussen, lief dann kichernd zum Pfosten und untersuchte den Schusskanal.
Den Rest des Tages hielt man sich von mir fern, nur zwei Kamayurá,
Besucher des Dorfes, setzten sich zu mir vor die Festhütte und liessen sich
examinieren. Demonstrativ beschenkte ich sie reichlich und erhielt von ihnen
auch das Versprechen, dass wir bei ihrem Stamm gut aufgenommen werden
würden. Nach ihrer Beschreibung war nicht der Alte, den ich zur Rede gestellt
hatte, sondern der zweite Häuptling der Mehinakú, der mir wegen seines unzu-
friedenen Gesichtes von Anfang an aufgefallen war, in höchsteigener Person der
Dieb meiner Sachen.
Am nächsten Morgen brach schon um 4 Uhr ein Heidenlärm los. In der
Nacht war es still gewesen, nur ab und zu hörte man draussen husten, ein Be-
weis, dass die Mehinakú wachsam waren; gegen Morgen hatten wir ein sehr
heftiges Gewitter, vor der Thür bildete sich ein Wassertümpel und machte den
Eingang fast unpassierbar. Das Gewitter hatte ich herbeigerufen. Draussen
wurden viele Reden gehalten. Entweder stand einer allein auf dem Platz und
sprach mit lauter Stimme, oder, und das war das Gewöhnliche, die Redner hatten
sich vor der Thür ihres Hauses aufgestellt. Mehr und mehr leuchtete mir der
Humor der ganzen Geschichte ein. Wie die Helden dort vor der Thüre ihres
Hauses standen und feierlich sprachen, war es eine klassische und urepische
Situation. Ich liess mich zum Frieden bewegen und nahm zu Aller Freude ein
Beijú an, der mir frisch duftend von der Schüssel gebracht wurde und auch vor-
trefflich schmeckte. So hatte die Episode ihr Ende; dass alles gut ablief, war
um so angenehmer, als sich später zu meinem Entsetzen herausstellte, dass grade
der Kompass aus dem einfachen Grunde mir nicht gestohlen worden sein konnte,
weil ich ihn gar nicht bei mir gehabt hatte. Auf unseren Verkehr hat das Inter-
mezzo aber insofern einen sehr günstigen Einfluss ausgeübt, als die guten
Mehinakú von jetzt ab höflicher wurden und mir nicht mehr mit ungeduldigem
Drängen zusetzten.
Die Versöhnung war dadurch erleichtert worden, dass einer der bei den
Nahuquá getroffenen Mehinakú, der mich nur von der guten Seite kannte,
inzwischen angekommen war. Am Nachmittag erschienen auch Wilhelm und
Vogel, während Ehrenreich krank im Hafen zurückblieb und das Dorf erst bei
[106] der Rückfahrt besuchte. Den Beiden wurde ein kleiner Empfang bereitet, sie
mussten sich auf die prachtvollen Tierschemel setzen, die wir bei keinem andern
Stamm so schön gearbeitet sahen, und erhielten ihre Willkommbeijús. Die
Nachricht von der Schlacht zwischen den Trumaí und Suyá wurde unter eifriger
Pantomime besprochen. Es stellte sich heraus, dass es noch zwei andere
Mehinakú-Dörfer gäbe, beide eine Tagereise oder weniger entfernt. Das im SW.
gelegene schien freilich sehr klein zu sein und wurde sogar als ein einziges Haus
beschrieben, das andere im Norden sollte aus fünf Häusern bestehen.
Unser Dorf setzte sich, ausschliesslich des Flötenhauses, aus vierzehn Häusern
zusammen; es waren ausserdem zwei Neubauten vorhanden, von denen der
eine nahezu fertiggestellt und schon bewohnt war. Das Ganze machte den
Eindruck grosser Wohlhabenheit. Jedenfalls, wenn der indianische Massstab
angelegt wird, dass der Besitz an Mandioka den eigentlichen Reichtum be-
deutet, so waren die Mehinakú der reichste Stamm des Kulisehu. Sie schienen
einen sehr geordneten Feldbau zu treiben. Bei ihnen erhielten wir zuerst wieder
Bataten. Als wir einige Mangaven mit Perlen bezahlten, wurden uns ganze
Körbe herbeigeschleppt, bis wir unseres vorzüglichen Appetits ungeachtet den
Spendern ein Halt gebieten mussten. Am Abend des 13. Oktober trug sich das
freudige Ereignis zu, dass eine Wolke fliegender Ameisen über dem Dorfe
niederfiel. Es wurden Strohfeuer vor den Hütten angezündet und eilfertig
sammelte Alt und Jung in Kuyen und Töpfen die fast zollgrossen Tierchen, die
sich in dem flackernden Feuer die langen zarten Flügel versengten. Alles jubelte
und liess sich die Ameisen mit Beijú und Salzerde schmecken. In mehreren
Häusern fanden wir die Leute mit der Zubereitung des Salzes beschäftigt. Sie
verbrennen Takoara und Aguapé, die Blattpflanze stiller Gewässer, laugen die
Asche aus und erhalten aus dem Filtrat einen salzigen Rückstand. Vielfach
wird auch rötliche, wie eine Salzasche aussehende Erde unmittelbar verwendet.
Wir konnten eine hübsche ethnologische Sammlung zusammenstellen. In
allen Geräthen bekundete sich derselbe primitive, aber höchst lebendige Kunst-
sinn, der sich immer Tiergestalten und zwar häufig in recht sinniger Weise zum
Vorwurf nahm. Die Weiber der Mehinakú, die mit schön geschnitzten Geräten
ihre Kuchen wenden, sind auch diejenigen, die es in der Herstellung künstlerischer
Topfformen am weitesten gebracht haben. Von den Masken in dem Flötenhause
wurden uns alle, die wir auswählten, ohne Anstand überlassen. Auch mit dem
Schwirrholz verband sich kein Begriff, der eine Auslieferung an uns hätte be-
denklich erscheinen lassen.
Der Abschied von den Mehinakú am Nachmittag des 14. Oktober war sehr
herzlich; sie beschenkten uns noch einmal mit Beijús, Mangaven und Bataten,
und vier Männer packten sich die Ladung auf, um sie für uns zum Hafen zu
tragen. Unsere Sammlung, die wir nicht zum Besuch der flussabwärts wohnenden
Stämme mitschleppen wollten, übergaben wir vertrauensvoll dem alten Herrn, den
ich so erschreckt hatte, zur Aufbewahrung. Er war unser wohlgesinnter Freund
[107] geworden, nachdem ich ihm eine Reihe unserer dicksten Perlen und ein paar
kleine Schellen feierlich um den Hals gehängt hatte.
Auf dem Heimwege durch den schwülen, mit einer wahren Treibhaus-
temperatur erfüllten Wald begegneten wir drei Nahuquá, zwei Männern und
einem Weibe; sie waren schwer mit schönen grossen Kuyen beladen. Auch im
Hafen trafen wir zwei Nahuquá und die Guikurú, welche die Botschaft von der
Trumaíschlacht überbracht hatten. Sie hatten über den Fluss gesetzt und waren
— ein Beweis, dass ein gangbarer Weg vorhanden ist — über Land gekommen.
IV. Zu den Auetö́.
Fahrt. Empfang am Hafen und im Dorf. Wurfhölzer. Masken. Künstlerhütte. Verkehrszentrum.
Die Waurá. Ringkampf.
Am 15. Oktober fuhren wir um 8¼ Uhr früh von dem Mehinakúhafen ab;
der Fluss zog sich in fürchterlichen Windungen dahin, und wir hatten den ganzen
Tag über, man möchte sagen, im Kreis zu rudern. Es war zudem trübseliges
regnerisches Wetter. Wir blieben die Nacht in dem Hafen des nördlichen
Mehinakúdorfes, den wir um 3½ Uhr Nachmittags erreichten. Dort erwarteten
uns einige Bürger, um uns freundlich zu einem Besuch einzuladen. Wir fürchteten
aber den Zeitverlust und verzichteten auf den Abstecher.
Am 16. Oktober wurden wir, nachdem wir um 7 Uhr aufgebrochen waren,
zur Mittagsstunde von dem linken Ufer angerufen .»katú, Auetö́, katú katú«! er-
schallte in gutem Tupí. »Die Auetö́ sind gut«!
Eine kleine Anzahl meist über und über mit Russ bedeckter Indianer er-
wartete uns an ihrem Hafen: die Kunde von unserem Erscheinen und den Er-
eignissen bei den Mehinakú war bereits zu ihnen gedrungen; jedenfalls hatten
uns die Kamayurá, die ich bei den Mehinakú mit Geschenken bedacht hatte, an-
gemeldet und Gutes von uns berichtet. Wir landeten und versprachen den
Nachmittag im Dorf zu erscheinen, nachdem die übrigen Kanus eingetroffen
waren. Fast gleichzeitig kam auch eine andere Gesellschaft Auetö́ unter der
sich einige Weiber befanden, vom Fischfang zurückkehrend, vorüber; sie trugen
Reusen bei sich und hatten kleine Trahira-Fische erbeutet.
Ehrenreich war äusserst unwohl und verschob seinen Besuch wie Vogel
und Perrot bis zum nächsten Tage: Wilhelm und ich machten uns um 2½ Uhr
Nachmittags auf. Wir durchschritten ein Stückchen Wald, passierten eine jüngst
abgebrannte Rodung, wanderten lange durch Capoeira, assen fleissig Mangaven,
die zahlreich am Wege wuchsen und erreichten in 1½ Stunden das Dorf.
Unser Empfang war etwas von dem gewöhnlichen abweichend. Vor der
Festhütte mussten wir ein Weilchen warten, während eine grosse Menge von
Personen sich ansammelte; Schemel wurden geholt und wir verharrten alle in
[108] feierlichem Schweigen. Neben uns lag durch einen Zaun von niedrigen Pfosten,
die man mit Flechtwerk verbunden hatte, im Geviert abgesteckt, eine Grabstätte
(vgl. Tafel 15); Einzelne sassen gemütlich auf den Pfosten. Nun trat der Häuptling
Auayato aus einer dem Flötenhause gegenüberliegenden Hütte hervor, Pfeil und
Bogen in den Händen, den Hals mit einer Kette von Jaguarkrallen und den Kopf
mit einem Diadem aus Jaguarfell geschmückt. Ziemlich fern von uns, in der Mitte
des Platzes, setzte er sich auf den Boden und hielt mit lauter Stimme eine lange
Festrede. Wir antworteten eifrig: katú, kúra u. s. w., u. s. w. Dann stand er
Auetö́-Häuptling Auayato.
auf, kam herbei, setzte sich dicht vor mich hin und hielt dieselbe Rede noch
einmal. Auch wir sagten alles, was uns einfiel; ich überreichte ihm ein schönes
Messer, und wir alle waren ein Herz und eine Seele. Sie machten sich nicht
wenig über die Mehinakú lustig, deren Weiber davongelaufen seien, und schienen
eine besondere Genugthuung darin zu finden, dass ihre Nachbarn ungeschickt ge-
wesen und von mir zurecht gewiesen seien. Auch sie drückten den lebhaften Wunsch
aus, Perlen zu bekommen, benahmen sich dabei aber höfllich und anständig.
Die Auetö́ standen noch unter dem tiefen Eindruck des Kampfes zwischen
den Suyá und Trumaí. Es wurde uns dies später noch verständlicher, als wir
[109] erfuhren, dass die Trumaí bei den Auetö́ Schutz gesucht hatten. Das Thema
wurde am Abend ausgiebig erörtert, nachdem wir unsere Gastfreunde mit einem
Sprühfeuerwerk auf dem Dorfplatz unterhalten hatten. Der Häuptling liess sofort
eine seiner pathetischen Ansprachen vom Stapel und rief laut, dass die Suyá
schlecht seien, dass auch die — uns unbekannten — Aratá schlecht seien, dass
die Suyá erst die Manitsauá und dann die Trumaí
vergewaltigt, viele Männer getötet und viele Weiber
weggeschleppt hätten. Wir sollten uns mit den
Trumaí verbinden und die Suyá züchtigen. Und
1884 war uns das umgekehrte Angebot von den
Suyá gemacht worden, die damals unsere Freunde
waren und gleich uns über die Trumaí zu klagen
hatten.
Als wir die Hütten betraten, war eins der ersten
Dinge, das uns in die Augen fiel und unser Interesse
im höchsten Grade fesselte, das überall vorhandene
Wurfholz. Auf der ersten Reise hatten wir ein
einziges Exemplar dieser merkwürdigen Waffe von
den Suyá bekommen und gehört, dass es den
Kamayurá entstamme. Hier keine Hütte, in der
die Wurfbretter fehlten.
Offenbar diente die Waffe vorwiegend zum
Tanz. Doch wurde uns angegeben, dass die Auetö́
und Trumaí sie im Kriegsfall gebrauchten. Ver-
wendung für die Jagd scheint ausgeschlossen. Der
Häuptling führte uns den Gebrauch des Wurfholzes
mit grotesken Geberden vor, und begleitete seine
Mimik mit einem Gesang, auf den ich später noch
zurückkommen werde, wenn ich die nähere Be-
schreibung gebe.
Statt der Holzmasken trafen wir zum ersten
Male Masken aus Baumwollgeflecht, die mit Wachs
überzogen waren und als Augen Wollpfröpfchen
oder Wachsklümpchen und dickere Wachsklümpchen
als Nase hatten. Auch den Maskentanz zeigte uns
der allzeit gefällige Häuptling, indem er dabei Bogen
und Pfeil zur Hand nahm. Das Maskengesicht kam
Geflechtmaske, Wurfhölzer und
Wurfpfeile der Auetö́.
auf den vorderen Teil des Schädels zu liegen; er schaute unter ihm hinaus
durch das Buritígeflecht. Der begleitende Gesangtext bezog sich auf die Frauen.
Auch die Auetö́ zeigten eine lebhafte Neigung zu einer alle Geräte aus-
schmückenden Bemalung mit Ornamenten. Wir nannten sogar ein Haus, wo sie
in diesem Sinne besonders thätig waren, mit allem Recht die Künstlerhütte.
[110] Dort befanden sich an den Wandpfosten mehrfach Tierfiguren eingeschnitzt und
schwarz bemalt; an den Querbalken entdeckten wir eine ganze Reihe von geome-
trischen Figuren. Die Künstler hatten grosse Freude darüber, dass wir uns für
ihre Werke interessierten, wurden nicht müde, uns zu jedem Winkel zu führen,
wo vielleicht noch eine Zeichnung vorhanden war und bekundeten viele Genug-
thuung, dass Wilhelm sie in sein Skizzenbuch abkonterfeite.
Im Auetö́dorf herrschte reger Fremdenverkehr. Wir trafen dort Waurá,
Yaulapiti, Kamayurá, Mehinakú, einen Bakaïrí vom vierten Dorf des Batovy
und bei unserem späteren Aufenthalt auch noch Vertreter fast aller Haupt-
stämme. Auch trieben sich dort Trumaí umher, die wir aber nicht zu Gesicht
bekamen, da sie sich in Erinnerung an unsere Begegnung von anno 1884 ängstlich
vor uns verbargen. Unmittelbar bei dem Auetö́dorfe beginnt das Netz von Kanälen
und Lagunen, das sich bis zu der Vereinigung der Hauptquellflüsse erstreckt und
die dort wohnenden Stämme verbindet. Die Auetö́ haben also ausser dem Fluss-
hafen an dem Kulisehu, wo wir an Land gestiegen waren, beim Dorfe selbst
noch einen Hafen, der dem Kanalnetz angehört. So stehen sie auf dem Wasser-
wege in Verkehr mit den Yaulapiti und den Trumaí. Mit Einschaltung kleiner Land-
strecken konnte man auf den Kanälen und Lagunen auch zu den Mehinakú, den
Kamayurá und den Waurá gelangen. Vom Auetö́dorf sind denn auch unsere
Exkursionen zu den Yaulapiti und Kamayurá sowie zu den Trumaí gemacht
worden. Leider haben wir uns bei der gedrängten Zeit versagen müssen, die
am weitesten entfernten Waurá zu besuchen.
Die Waurá müssen in dem Winkel zwischen Batovy und Kulisehu sitzen,
aber jenem bedeutend näher. Die Kustenaú hatten uns 1884 ihren Namen ein-
dringlich genannt, doch waren wir uns unklar geblieben, ob er wirklich einen Volks-
stamm bezeichne, und lernten erst jetzt am Kulisehu, dass einige von uns im
untersten Teil des Batovy bemerkte Fischfallen den Waurá gehörten. Bei den
Auetö́ haben wir mehrere Individuen des Stammes gesehen, und sie gemessen,
sowie sprachlich aufgenommen; sie sind den Mehinakú und Kustenaú auf das
allernächste verwandt. Ein Waurá versprach uns, während wir zu den Kamayurá
gingen, Töpfe und Masken zu besorgen, die wir bei der Rückkehr in das Auetö́-
dorf vorfinden sollten. Er that uns aber den Schmerz an und blieb aus.
Die drei Waurá im Auetö́dorf waren schmucke, stramme Burschen; sie
führten am zweiten Tage unseres Aufenthalts mit den Auetö́ eine Art Ringkampf
auf, der jedenfalls nicht zu unseren Ehren stattfand, sondern rein zufällig in die
Zeit unserer Anwesenheit fiel. Auch ein Yaulapiti beteiligte sich an demselben.
Die Kämpfer, immer Mitglieder verschiedener Stämme, traten paarweise vor,
den Körper teils mit gelbrotem Urukú, teils mit schwarzer Farbe eingeölt. Sie
hockten nieder, griffen eine Handvoll Sand auf, und die Arme herabhängend, be-
wegten sie sich in tiefer Hockstellung unter grosser Geschwindigkeit mehrmals in
engem Kreise umeinander, massen sich mit bitterbösen Blicken und stiessen drohende
»húuhá! húuhá!« gegeneinander aus. Dann schnellte der Eine seine rechte Hand
[111] gegen die linke des Andern vor, beide sprangen in dieser Haltung immer hockend
blitzschnell und erbosten Affen nicht unähnlich auf demselben Fleck unermüdlich
herum und suchten sich am Kopf zu ergreifen und herabzuducken. Das ging
eine lange Weile hin, ohne dass ein Wort gesprochen wurde. Plötzlich sprangen
sie auf und holten scharf zupackend nach ihren Köpfen aus. Es gelang aber
Keinem trotz eifrigem Bemühen, den Andern zu treffen und niederzureissen.
Zum Schluss wurden sie sehr vergnügt und umfassten sich freundschaftlich die
Schultern. Ein eigentliches Ringen kam nicht zu Stande; Hauptsache schien die
Gewandtheit zu sein, mit der man es vermied, von dem Gegner plötzlich am
Kopf gefasst und niedergerissen zu werden. Das Publikum verhielt sich bis auf
einige lachende Kritiker regungslos. Nur weckte es allgemeine Heiterkeit, als
Einer, der offenbar als Sieger galt, dem Andern das Bein unter dem Knie emporhob.
V. Zu den Yaulapiti.
Die Arauití im Auetö́dorf. Fahrt durch Kanäle und über die Uyá-Lagune. Ein armes Dorf. Der
Zauberer Moritona. Empfang des blinden Häuptlings. Zurück zu den Auetö́ und wieder zu den
Yaulapiti. Zweites Yaulapitidorf.
Wir trafen einzelne Yaulapiti bei den Mehinakú und Auetö́. Sie gehören
nach Sprachverwandtschaft zu den Nu-Aruak, stellen aber eine von den Mehinakú,
Kustenaú und Waurá bereits dialektisch ziemlich stark verschiedene Form dar.
In der Nähe des Auetö́dorfes, ein paar hundert Schritt entfernt, standen
zwei Häuser, wo Auetö́männer und Yaulapitifrauen wohnten. Die Familien
standen, ich weiss nicht, aus welchen Ursachen, in wenig freundschaftlichem Ver-
hältnis zu dem Auetö́dorf und rechneten sich entschieden mehr zu den Yaulapiti.
Sie führten den besonderen Namen der Arauití; trotzdem dass es sich nur —
zu unserer Zeit wenigstens — um zwei Familien handelte, diente die Bezeichnung
Arauití schon vollständig als Stammesname. Der Suyáhäuptling, der uns 1884 die
Flusskarte des Quellgebiets in den Sand zeichnete, erwähnte die Arauití unmittelbar
neben den Auetö́.
Am 18. Oktober fuhr ich mit Antonio und Tumayaua unter Führung eines
Yaulapiti am Nachmittag von dem Auetö́hafen ab, um die Yaulapiti aufzunehmen.
Der Kanal hatte nicht mehr als 4—5 m Breite; ringsumher umgab uns das Bild
der Sumpflandschaft. Zahlreiche Seitenkanäle mündeten ein, besonders als sich
unser Arm gelegentlich zu 12 bis 15 m Breite erweiterte. Es war schwer zu
begreifen, wie man sich in diesem Gewirr zurechtfinden konnte. Zahlreiche Seiten-
kanäle erschienen mit Gras gefüllt und von einer schmutzigen Vegetationsdecke
überzogen. Soweit das Auge reichte, blickte es in ein Heer von Buritípalmen,
von den hochstämmigen, ausgewachsenen, mit schöner Fächerkrone, bis zu den
jüngsten herab, die dem überall wachsenden Schilfgras sehr ähnlich sahen. Nach
einer Stunde passierten wir einen kleinen elenden Rancho, der zwischen einigen
[112] Baumwurzeln aufsass. Dies war die Zufluchtsstätte der Weiber, wenn sie aus
Angst vor dem Besuch der Fremden weglaufen. Hier allerdings hätten wir sie,
wenn wir selbst gewollt hätten, niemals finden können.
Der Kanal war stellenweise so schmal und so versperrt, dass wir uns nur
mühsam hindurchschoben. Auf den Seitenkanälen, bedeutete mich der Yaulapiti,
konnte man links zu den Mehinakú und rechts zu den Trumaí gelangen.
Es passte schlecht in das Bild der Sumpflandschaft, so angenehm ich den
Mangel auch empfand, dass uns gar keine Moskitos und Schnaken belästigten.
Unser Führer schaute eifrig nach Fischen aus und suchte sie mit dem Pfeil, der
eine lange Knochenspitze trug, aufzuspiessen, wobei er eintauchend häufig die
Strahlenbrechung im Wasser mass: er spiesste jedoch nur eine kleine Trahira.
Gern stiess er das Kanu mit dem Bogen weiter.
Nach fünfviertel Stunde Fahrt waren wir am Ende des Auetö́-Kanals. Dort
liessen wir das Kanu liegen und traten auf festes Land. Die Auetö́ hatten hier
eine Pflanzung und bearbeiteten dieselbe offenbar, indem sie tagelang draussen
blieben. Wir fanden etwa ein Dutzend Schutzhütten, mehrere Feuerstellen und
eine Anzahl grosser und kleiner Töpfe. Wir gingen dann eine Stunde durch
offene idyllische Buschgegend auf einem etwas schlangenförmig gewundenen Pfad
über Land und erreichten wieder einen sehr schmalen sumpfigen Kanal. Hier
mussten wir, im Sumpfe sitzend, längere Zeit warten, während unser Yaulapiti
den Kanal ein Stück entlang gegangen war und den lauthallenden Ruf nach
einem Kanu ertönen liess. Endlich kam eins herbei, erschien in unserem Kanal
und brachte uns nach wenigen Augenblicken in eine schöne Lagune, deren reines
Wasser den Augen wohlthat. Das Ufer war ringsum mit Buritípalmen bestanden;
wir durchkreuzten den See und erreichten in einer halben Stunde das Yaulapitidorf.
Ein kurzer Weg führte zu den Häusern hinauf; es waren ihrer sechs
und mehrere stark verfallen. Kein Flötenhaus war vorhanden, man brachte
uns in eine leere Hütte und holte für Antonio und mich je einen Schemel herbei.
Ein merkwürdiger Empfang. Nach langer Zeit erst humpelte am Stock der
Häuptling herbei und blieb eine Weile, hinter mir rauchend, sitzen. Allmählich
kam er aber näher, rückte mir gegenüber und begann die Unterhaltung. Er:
ich bin ein Yaulapiti. Ich: ich bin ein Karaibe. Er: ich bin gut, Yaulapiti sind
gut. Ich: ich bin gut, die Karaiben sind gut. Er: ich bin ein Yatoma (Zauber-
arzt). Ich: ich bin ein Yatoma. Dann liess er eine Schale stickig schmeckenden,
ungeniessbaren Mandiokagetränkes bringen, erhielt sein Messer und gab mir eine
Zigarre.
Es ist erstaunlich, welche Unterschiede es sogar bei diesen Naturvölkern
zwischen Arm und Reich giebt. Die Leute haben nichts vor mir geflüchtet,
man erkennt sofort, dass sie eben nichts mehr besitzen als das Notdürftigste,
dass hier nicht ausgeräumt ist wie bei den Nahuquá, sondern wirklicher Mangel
herrscht. Ich kann mich nicht dazu entschliessen, den einzigen vorhandenen
Beijú anzunehmen, und gebe gern Perlen, auch ohne dies trostlose Exemplar zu
[113] bekommen. Das wenige Mandiokamehl, das ich bemerke, ist durch und durch
rot verschimmelt. Sie rösten Bakayuva-Nüsse, und ich entdecke nur einen einzigen
abgeknabberten Maiskolben. Auf hölzernen Gestellen werden vor den Hütten
Fische gebraten, selbst dies nur kleine elende Tiere: es ist ein unheimlicher Ge-
danke, dass davon mehrere Personen satt werden sollen.
Später am Abend kam ein Mann, Namens Moritona, der mit seiner
kräftigen Stimme und seinem frischen Auftreten wieder etwas Leben in die Gesell-
schaft brachte; er hatte einen schwarzen Streifen mitten durch das Gesicht gemalt.
Mit Stolz nannte er sofort seinen Namen, er sei ein grosser Zauberarzt, „yatóma
Moritona Mehinakú“, erklärte er, „Moritona Kamayurá, Moritona Auetö́, Moritona
Trumaí“ — bei allen Stämmen war Moritona als Arzt willkommen und, wo Einer
krank war, blies er das Leiden weg. Er malte das mit einer Kraft der Ueber-
zeugung aus, dass man die Krankheiten vor seinem Hauch wie Nebel ver-
schwinden sah. Wir hatten uns eine Tafel Erbsensuppe gekocht: mit dem Rest
rieb sich der edle Moritona die Brust ein und fragte mich treuherzig, ob das gut
thue. Zu unserem Abendessen hatten uns die Yaulapiti nur Wasser liefern und
einen Topf und zwei Kuyen leihen können. Und trotz ihrer Armut lag ihnen
viel mehr an Perlen als an Messern.
Am anderen Morgen wurde ich aus der Hütte herausgerufen, es sei wieder
ein Häuptling da, den ich begrüssen müsse. Auch hatte die Anzahl der Leute
zugenommen. Sie waren, wie ich später erst verstand, aus einem zweiten
Yaulapitidorf, von dem ich damals noch nichts wusste, herübergekommen. In die
Mitte des Platzes, neben eine umzäunte Grabstätte, hatte man einen Schemel
hingestellt. Viel Volks ringsum. Wir warteten. Der mir bekannte Häuptling
sass links von mir ein wenig entfernt und rauchte; damit mir die Zeit nicht zu
lang wurde, folgte ich seinem Beispiel. Das war offenbar unrichtig, denn die den
endlich herankommenden Häuptling führende Frau stiess einen Laut der Unzu-
friedenheit aus. Der alte Mapukáyaka war blind, die Augen getrübt. Er setzte
sich mir gegenüber und die bekannte Unterhaltung nahm ihren Verlauf. Er schilderte
die Armut seines Stammes und drückte sich seufzend zur besseren Deutlichkeit
die Hand auf den leeren Bauch. Wir hätten den Bakaïrí so viel gegeben —
diese Wendung kehrt immer wieder — ich müsste auch ihn beschenken. Gerührt
ging ich, ihm einen blanken Löffel holen. Was unter den Umstehenden freudige
Anerkennung erweckte. Der alte Häuptling betastete mich und jammerte über seine
Blindheit mit solchem Anstand, dass er mir wirklich herzlich leid that. Er rieb seine
Hand über meine Hand und darauf über seine Augen; er machte es ebenso mit dem
Arm. Er wies auf den Begräbnisort hin, wo sein Sohn oder Enkel liege. Er er-
zählte, dass die Yaulapiti früher viel stärker gewesen, durch die Manitsauá aber be-
drängt worden seien; kurz er hatte nur von dunkeln Seiten des Lebens zu berichten
und versetzte mich in eine ganz melancholische Stimmung. Die Manitsauá seien
dann ihrerseits wieder von den Suyá bezwungen worden, wie wir denn 1884 bei
den Suyá eine Anzahl gefangener Manitsauá angetroffen haben. Zum ersten
v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 8
[114] Male hörte ich den Ausspruch, dass die Suyá gut seien. Aber auch auf die
Trumaí bezogen sich die Klagen des Alten. Sie und die Suyá seien reich, weil
sie die Steinbeile hätten.
Die Alten sahen ungesund aus; mehrere Männer und Frauen hatten die
Haut zu einer Schuppenkruste verdickt. Kinder waren zahlreich, verhältnismässig
mehr als irgendwo sonst, vorhanden. Die Frauen sollen sich Anfangs sehr vor
mir gefürchtet haben; jetzt sassen sie gemütlich um mich herum, wie im ersten
Bakaïrídorf, aber sie beobachteten aufmerksam jede meiner Bewegungen und bei
der geringsten, die unerwartet kam, stürzte die eine oder andere bei Seite. Mit
einem plötzlichen Aufsprung hätte ich die ganze Gesellschaft in die Flucht treiben
können. Man unterhielt sich leise, schien sich aber nach einer Stunde Zu-
sammenseins noch nicht zu langweilen. Von meinen Zaubersachen machte zur
Abwechslung hier der Spiegel den grössten Eindruck und rief ein lautes „té he he hé“
des Erstaunens hervor. Ein angebranntes Zündhölzchen, das ich wegwarf, ver-
pflanzte Einer zwischen dem Gras in das Erdreich.
Von den armen Menschen konnte ich nicht viel erwerben. Warum sie
eigentlich so jämmerlich daran waren, ist mir trotz der Manitsauá nicht verständ-
lich geworden. Ihre Pflanzung war allerdings in diesem Jahre durch Schweine
verwüstet worden. Es fanden sich ein paar hübsche Spindelscheiben, Beijúwender,
ein wenig Federschmuck und, das einzige Besondere und Beachtenswerte, eine
Anzahl Ketten mit durchbohrten Steinen.
Am Morgen des 19. Oktober hatte ich Antonio und Tumayaua nach den
Auetö́ zurückbeordert, um die anderen Gefährten zu holen, während ich die
sprachliche Aufnahme der Yaulapiti vollendete. Sie kehrten jedoch am Nach-
mittag zurück, da sie am Ende des Auetö́kanals kein Boot gefunden hatten.
Das von uns dort zurückgelassene, behaupteten die Yaulapiti, sei von ein
paar Trumaí benutzt worden. Dieselben seien bei ihnen im Dorf gewesen, aber
aus Furcht vor mir bei meiner Ankunft entflohen. In dieser unangenehmen Si-
tuation beschloss ich sofort, damit wir nicht vergebens erwartet und die Gefährten
beunruhigt würden, zu den Auetö́ zurückzukehren. Es war doch zu hoffen, dass
ein Kanu der Auetö́ am nächsten Tage erscheine, und uns aufnehme.
Wir erhielten aber erst um 5 Uhr von den Yaulapiti ein Kanu, das vom
Fischfang zurückkehrte. Die Uyá, wie die grosse Lagune genannt wird, war stark
bewegt. Es wetterleuchtete ringsum. Der junge Yaulapiti, der uns fuhr, blies,
im Kanu stehend, mit einer Ueberzeugung und einem Ernst gegen die herauf-
ziehenden Wolken, dass es eine Lust war, ihm zuzuschauen. Dem strammen
Boreas spritzte ein Sprühtrichter aus dem Munde.
Wir landeten aber noch zu rechter Zeit und gingen das letzte Stück des
Weges im tiefen Dunkel, während Blitze zuweilen den Pfad erhellten. In den
Schutzhütten der Auetö́ am Ende des Kanals richteten wir uns für die Nacht ein.
Von den vorhandenen Töpfen erwies sich bei näherer Untersuchung nur ein grosses
Ungetüm zum Kochen brauchbar; ich hatte nichts als zwei Gemüsetafeln bei
[115] mir. Das mühsam herbeigeholte Wasser verdampfte, der Topf sprang und uns
blieb nur übrig, uns hungrig in die Hängematte zu legen. Der Yaulapiti schlief
auf einer der kleinen kreisrunden Matten, die von der Mandioka-Bereitung her dort
herumlagen. Fast die ganze Nacht hindurch hatten wir ein starkes Gewitter und
wurden trotz der Schutzdächer, die leider sehr baufällig waren, gründlich durchnässt.
Wirklich kam am nächsten Morgen, dem 20. Oktober, ein Auetö́, mit dem
wir nach dem Dorfe zurückfuhren. Dort vereinigte ich mich mit den Gefährten,
und noch an demselben Abend waren wir wieder bei den Yaulapiti zurück.
Mein Weggehen von ihnen war also eigentlich höchst überflüssig gewesen, da
Antonio und Tumayaua gerade so gut allein am Auetö́kanal auf ein Boot warten
konnten, ohne mich noch hinzuzuholen. Aber die bösen Trumaí trieben sich dort
herum und diesen »Wassertieren« (denn das seien sie und keine Menschen, sagte
er) ging Antonio um jeden Preis aus dem Wege. Wir trugen kein Begehr, uns
lange bei den Yaulapiti aufzuhalten, sondern wollten sofort zu den Kamayurá weiter.
Am 21. Oktober früh machten wir uns auf den Weg. Eine kleine Strecke
hinter dem Yaulapitidorf hatten wir uns wieder in einen Kanal einzuschiffen, und
dieser führte uns wieder zu einer Lagune, die nördlicher lag als die erste. Wir
durchkreuzten sie und nachdem wir am anderen Ufer an ein paar dort im Sumpf
liegenden langen Baumstämmen, über die wir mühsam hinüberbalanzieren mussten,
gelandet waren, sahen wir uns nach wenigen Schritten in einem zweiten
Yaulapitidorf.
Es bestand aus neun Hütten, von denen aber nur vier gute Wohnungen
darstellten, während die übrigen fünf baufällige Ranchos waren. Etwa vierzig
Personen erwarteten uns, an ihrer Spitze der blinde Häuptling und Freund Mori-
tona, die also beide hier zu Hause waren. Ueberhaupt bemerkte ich eine Anzahl
von Leuten, deren Bekanntschaft ich bereits im ersten Dorfe gemacht hatte.
Sie waren nach meinem Erscheinen zum Besuch herübergekommen.
Dieses zweite Dorf vermochte in keiner Weise, uns über die Yaulapiti
günstigere Vorstellungen zu geben. Auch hier sahen wir nur ein armseliges
Fischervölkchen, dem wir einige Geschenke verabreichten und das wir nach Er-
ledigung der üblichen Empfangszene nicht ungern verliessen.
VI. Zu den Kamayurá.
Empfang. Freude über unsere Sprachverwandtschaft. Nachrichten von den Arumá. Gemütlicher
Aufenthalt. Kamayurá und Trumaí 1884 zusammen. Einladung nach Cuyabá. Diebereien.
Von dem zweiten Yaulapitidorf den 21. Oktober, kurz nach 9 Uhr Morgens
aufbrechend, gelangten wir nach einem Marsch von 3¼ Stunden durch den
Wald zu den Kamayurá. Die letzte Strecke war mit prachtvollen Mangave-
pflanzungen besetzt.
8*
[116]
Wir fanden vier Hütten und den ortsüblichen Vogelkäfig, in dem eine ge-
waltige Harpye gehalten wurde. Man schien uns noch nicht erwartet zu haben;
einige Personen redeten uns an und liessen uns auf Schemel niedersitzen, aber
erst nach geraumer Weile, nachdem eine grössere Gesellschaft, Männer und Frauen
von der Pflanzung heimgekehrt war, spielte sich die eigentliche Empfangszene
ab. Die Reden fielen uns sowohl durch ihre Länge wie durch ihren litaneienhaften
Ton auf, sie waren auch von längeren, unerfreulichen Pausen unterbrochen.
Schliesslich rückten auch Getränke und Zigarren an, und als wir den Wunsch
nach Mangaven aussprachen, wurden sie in grosser Menge herbeigebracht. Diese
Früchte hatten hier bei Weitem den grössten Wohlgeschmack.
Die Kamayurá sprachen einen echten Tupídialekt, die von den Jesuiten
als Lingoa geral verbreitete Sprache der alten Küstenstämme, die mit dem
Guaraní der Paraguayer nahezu identisch ist. Sie hat das Gros aller von den
Einheimischen übernommenen Namen geliefert. Als wir nun in der Unterhaltung
feststellten, dass wir eine Menge von Namen für Tiere, Pflanzen und Geräte, was
gleich für die Beijús und Mangaven (beijú, mangáb) zutraf, mit dem Kamayurá
gemein hatten, war das Entzücken gross.
Ein Flötenhaus gab es in diesem Dorfe nicht. Zum ersten Mal geschah
es, dass uns eine bewohnte Hütte, deren eine Hälfte man frei machte, zum Auf-
enthalt angewiesen wurde. Man war dort beschäftigt, auf einer Beijúschüssel
grosse geflügelte Ameisen zu rösten; sie schmeckten knusperig und zart, ähnlich
wie gebrannte Mandeln oder Nüsse; ohne zu wissen, was ich verspeiste, würde
ich nicht an Insekten gedacht haben, da der Geschmack nichts Widerliches oder
Weichliches enthielt.
Einen halben Kilometer westlich befand sich ein zweites Dorf, sieben Häuser
und eine angefangene Festhütte. Es lag am nächsten der schönen Lagune der
Kamayurá. Von dem Platz aus hatte man einen reizenden Fernblick über üppiges
Schilfrohr hinüber auf das von der Sonne beschienene blaue Wasser. Dort be-
grüsste uns der Häuptling Akautschikí, der an einer Kniegelenkentzündung litt
und auf eine Suyákeule gestützt herankam. Es wurden uns zwei Jaguar- und
zwei Vogelschemel hingesetzt. Wieder wurde unser Sprachschatz aus der Lingoa
geral mit dem der Kamayurá verglichen; unsere Gastfreunde erklärten uns
für ihre Brüder und bekräftigten ihre Worte mit der für dieses Verwandschafts-
verhältnis am Schingú üblichen Geberde, dass sie sich auf den Nabel deuteten.
In den Häusern fanden wir eine Anzahl Tanzmasken sowohl aus Holz wie aus
Baumwollgeflecht. Wurfhölzer waren ebenfalls überall vorhanden. Nirgendwo
sahen wir so schönen Tanzschmuck, sie hatten prächtige Federdiademe und
Federbänder, eine Art Federmantel und mit Fischzähnen verzierte Tanzstäbe.
Als wir den 22. Oktober an dem schönen Sandstrand der Lagune badeten,
traf einmal wieder eine böse Nachricht ein, welche die Gesellschaft in Aufregung
versetzte: zwei Trumaí seien angekommen und hätten neue Unthaten der Suyá
gemeldet. In der Geschichte, die uns zum grössten Teile dunkel blieb, spielte
[117]
Kamayurá-Lagune.
[118] ein Stamm der Arumá oder Yarumá die Hauptrolle. Die Suyá hatten die
Arumá, die landeinwärts von ihnen zu wohnen scheinen, überfallen und jedenfalls
mit ihnen gekämpft; sie hatten acht Arumá, die uns an den Fingern vorgerechnet
wurden, mit Pfeilen in die Kniee gestossen, sodass sie gebückt gehen mussten —
vielleicht eine Methode unserer Freunde mit den Lippenscheiben, die Gefangenen
sicher zu transportieren. Nach der Beschreibung der Kamayurá trugen die
rätselhaften Arumá Yapúfedern im Ohr, die gewöhnliche Tonsur und eine Be-
malung oder Tätowirung des Gesichts derart, dass ein Strich vom Auge zum
Munde, und ein anderer vom Munde zum Ohr lief. Quer unter der Nase trugen
sie Schmuck von Federn oder Knochen. Am sonderbarsten aber ist es, dass sie
einen Ohrschmuck hatten mit „itapú“ der, wie unser Metall »ting ting« machte!
Im Tupí heisst itapú Klingen von Stein oder Eisen. Wir erhielten in den Hütten
ein Stück einer den Arumá zugeschriebenen Keule, genau den Karajákeulen gleich,
die wir 1884 bei den Yuruna erhalten hatten, von schwerem schwarzbraunen Palm-
holz in Stabform geschnitzt und durch eine hübsche Kanellierung ausgezeichnet,
(vergl.: Durch Zentral-Brasilien S. 241 und zweite ethnographische Tafel). Wir
entdeckten auch zwei Arumápfeile. Der eine hatte an der Spitze einen Rochen-
stachel mit abgefeilten Zähnchen, der andere eine lange Holzspitze, die auf einer
Seite sägeförmig eingekerbt war.
Eine dritte Häusergruppe bestand aus drei Hütten, einem verfallenen Haus
und einem Neubau.
Das Zusammensein mit den Kamayurá war äusserst gemütlich. Unsere
glückliche Stimmung wurde durch das ungewöhnlich schöne Bild der Lagunen-
landschaft nicht wenig gesteigert. Es war ein Ort, wo wir am liebsten ein paar
Monate geblieben wären, und an den ich nur mit Sehnsucht zurückdenken kann.
Das Tabakkollegium Abends im Mondschein hatte einen ganz besonders vertrau-
lichen Charakter. Wir sangen den Kamayurá Volks- und Studentenlieder vor
und ernteten grossen Beifall. Sie führten uns ihrerseits Tänze auf, wenn auch
nicht in vollem Festschmuck, sondern nur zur Erklärung, damit wir erführen,
wie’s dabei hergeht. Ein grosses mimisches Talent kam bei dem Wurfhölzertanz
zum Vorschein: der Krieger wurde verwundet und stürzte tot zusammen genau
in der Stellung des sterbenden Aegineten, dem nur der Schild fehlte.
Ausführlich wurde unser Zusammentreffen mit den Trumaí im Jahre 1884
durchgenommen. Es stellte sich heraus, dass die Kamayurá daran Teil genommen
hatten und alte Freunde oder Feinde von uns waren. Der Häuptling Takuni,
der eine Bassstimme besass, schilderte mit ausdrucksvoller Mimik seine damaligen
Erlebnisse. Wilhelm ist sogar überzeugt, dass gerade er derjenige ist, der ihm
den Hut wegnahm und dessen ungeschickter Griff nach seinem Gewehr den
verhängnisvollen, Alle in die Flucht treibenden Schuss auslöste. Die fliehenden
Indianer hatten in der Eile Allerlei mitgenommen, ein Boot mit Soldaten fuhr
hinterher und auf der anderen Flussseite kam es, da ein Trumaí einen Pfeil ent-
sandte, trotz unserer Gegenbefehle zum Schiessen. Zu unserem Leidwesen ist,
[119] obwohl die Soldaten damals versicherten, dass sie nur in die Luft gefeuert hätten,
ein Indianer getötet worden, und dies soll nicht ein Trumai, sondern ein Kamayurá
gewesen sein. Takuni erklärte, dass sie bis zu den Nahuquá am Kuluëne geflohen
seien; drei Tage hätten sie dann nach Hause gebraucht, wo er krank und totmüde
angekommen sei.
Am Abend des 23. Oktober lernten wir noch eine vierte Ansiedelung
kennen; wir wurden mit grosser Feierlichkeit aufgefordert, dort einen Besuch zu
machen und spazierten von unserem Wohnhaus im Gänsemarsch dorthin. Ein
mächtiger Platz war frei gerodet worden. Ein schönes Haus, vielleicht das schönste,
das wir am Schingú gesehen haben, hoch und geräumig, war offenbar erst seit
kurzem fertig geworden. An diesem Orte wollten die jetzt zerstreut ange-
siedelten Kamayurá sich zu einem Dorfe vereinigen. Aber — und wieder kam
dieses grosse Aber, als wir rauchend zusammensassen — aber mit den Stein
beilen ist die Arbeit so mühsam; vom Morgen bis zum Abend quält man
sich, um einen Baum, den der Karaibe mit zwei oder drei Hieben — tok tok —
niederschlägt. Ich lud die Kamayurá ein, uns nach Cuyabá zu begleiten. Dort
sollten sie Messer und Aexte haben, so viel ihr Herz begehre. Ich beschrieb
ihnen Cuyabá, malte ihnen aus, dass dort so viele Häuser ständen als am ganzen
Kulisehu und Kuluëne zusammengenommen und versicherte sie der freundlichsten
Aufnahme.
Wenig befriedigte zwar die Auskunft über den weiten Weg. Finger und
Zehen reichten nicht aus, um zu veranschaulichen, wie viele Male die Sonne den
Tageslauf am Himmel beschreiben müsse, bis man zu den Häusern der Karaiben
gelange. Dennoch waren Alle von dem Vorschlag begeistert. Takuni schwelgte
in der Vorstellung, wie ihn die Frauen bewillkommnen würden bei seiner Heim-
kehr, wenn er den schwerbepackten Tragkorb niedersetze und seine Schätze her-
vorhole. Stundenlang wurde das Thema in Wort und Pantomime behandelt;
schliesslich überwogen bei Takuni die Zweifel. Seine schauspielerische Leistung
gewann einen sentimentalen Charakter: er hat Kinder, die nach ihm weinen, die
noch an der Brust liegen, für die er fischen und roden muss.
Nachdem wir uns zum Schlaf in das Haus zurückgezogen hatten, dauerte
die unseren Gastfreunden so angenehme Erregung noch lange fort. Wilhelm
hatte schon die Augen geschlossen, als es noch an seiner Hängematte zupfte und
ein Kamayurá ihn mit leiser Stimme bat, ihm noch einmal den Weg nach Cu-
yabá vorzurechnen und ihm zu versichern, dass er dort Beile und Perlen er-
halten werde. Ueberhaupt fehlte es in der Nacht nicht an komischen Zwischen-
fällen. Ehrenreich musste die photographischen Platten wechseln und war genötigt,
die Leute zu bitten, dass sie die kleinen Feuer, die sie bei den Hängematten bis
zum Morgen anzuhalten pflegen, für eine Weile auslöschten. Gutwillig entsprachen
sie seinem Wunsche, aber es war ihnen unheimlich zu Mute. Als sie die rote
Laterne sahen, fragten sie sogar ängstlich — eine sehr merkwürdige Frage —
ob die Suyá kämen.
[120]
Auf dem Platz fanden sich eine Anzahl Löcher in dem Boden, die aber
nicht wie bei den Auetö́ ein Grab, sondern die Stelle bezeichneten, wo Mandioka-
Wurzeln aufbewahrt wurden. Bei Gelegenheit dieser Auskunft erkundigten wir
uns nach der Art und Weise, wie die Toten bestattet werden. Sie verstanden
mich sofort, als ich mich selbst wie tot auf den Boden legte, und gaben eine
ausführliche mimische Darstellung ihrer Gebräuche.
Sie waren immer bestrebt, uns über ihre Sitten zu belehren, nachdem sie
unser Interesse daran wahrgenommen hatten, und auf dem Wege zum Baden
machte mich Einer sogar mit dem Maraká-Gesang, dem Begleittext der Tanz-
rasselmusik, der Manitsauá-Indianer bekannt: „húmitá ya héuna hm hm“.
Am letzten Morgen erfuhr unsere Eintracht zum ersten Mal eine kleine
Störung. Es fehlte eine noch halb gefüllte Büchse Kemmerich’schen Fleischmehls.
Auch schien es, dass aus meiner Tasche einige Küchenmesser entwendet worden
waren. Ehrenreich hatte man zwei Schnallen von einem Riemen abgeschnitten.
Ich sah mich genötigt, unserem Haus- und Gastwirt den Standpunkt klar zu
machen und ihm meine Meinung, dass die Kamayurá nicht mehr so kúra und
katú seien wie zu Anfang, in ernstem Ton auszudrücken. Man brachte uns
mit demütiger Geberde Beijús, ich wies sie zurück. Die guten Kerle wurden sehr
aufgeregt, schoben die Schuld auf einen Trumaí, der heimlich dagewesen sei, und
brachten nach einer Weile wenigstens den verlorenen Kemmerich wieder.
VII. Trumaí-Lager und Auetö́-Hafen.
Vogel’s Plan, Schingú-Koblenz zu besuchen. Ueber die Yaulapiti zurück. Zusammentreffen mit den
Trumaí. Studien mit Hindernissen. Arsenikdiebstahl. Die zerstörten Trumaídörfer. Zum Auetö́-
hafen. Namentausch. Kanus erworben. Diebstähle. Yanumakapü-Nahuqua. Abschied.
Am 22. Oktober unternahm Vogel eine Bootfahrt auf der Kamayurá-Lagune,
um zu untersuchen, ob sie mit dem Fluss in Verbindung stehe. Den Indianern
wurde als Motiv angegeben, dass er fischen wolle. Nach vierstündiger Abwesen-
heit kehrte er zurück und hatte sich überzeugt, dass die Lagune nirgendwo in
den Fluss übergehe. Es lag ihm sehr viel daran, erstens das Verhältnis von
Kuluëne und Kulisehu festzustellen und zweitens an der von uns im Jahre 1884
passierten Vereinigungsstelle des von Westen kommenden Ronuro und des von
Südost kommenden Flusses, der uns damals als Kulisehu bezeichnet war, also in
Schingú-Koblenz, eine Ortsbestimmung zu machen, um auf diese Weise den
genauen Anschluss an die geographische Aufnahme der ersten Expedition zu
erreichen. Es war die Stelle, wo die Trumaí erschienen, mit Mühe zur Landung
bewogen wurden und in heller Flucht davongeeilt waren.
Dass wir sämmtlich uns an dieser Rekognoszierungstour beteiligten, war
nicht wünschenswert, weil es vor Allem darauf ankam, die karg bemessenen
Stunden zur Untersuchung der Indianer zu verwerten, und weil keine grosse Aus-
[]
TRANSPORT EINES RINDENKANUS DURCH DIE AUETÖ́.
[][121] sicht bestand, bei jenem Abstecher einen neuen Stamm anzutreffen. Zwar
wurden wahrscheinlich die Dörfer der Trumaí passiert, doch wussten wir, dass
sie nach dem Kampfe mit den Suyá geflohen waren und sich in unserer Nähe
umhertrieben, denn vereinzelte Trumaí waren bei den Auetö́, den Yaulapiti und
den Kamayurá aufgetaucht. Wo der Kern des Stammes stecke, der allen Grund
hatte, sich vor einem Zusammentreffen mit uns zu fürchten, war uns unbekannt.
Man musste auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die wenig vertrauens-
würdigen Suyá sich noch irgendwo in der Nähe der Kulisehumündung aufhielten
und noch nicht nach Hause zurückgekehrt waren.
Um allen Interessen und zugleich der nötigen Vorsicht zu genügen, wurde
beschlossen, dass Vogel nach dem Auetö́hafen gehe und sich von dort in zwei Kanus
mit Perrot, Antonio, zwei Soldaten und ein paar Indianern nach Koblenz einschiffe,
dass wir dagegen die Zeit bis zu seiner Rückkehr mit unseren Untersuchungen
ausfüllten. So ging Vogel am 23. Oktober von den Kamayurá weg und machte
sich den 25. verabredetermassen vom Auetö́hafen zur Kuluënemündung auf.
Wir Anderen verliessen unsere lieben Kamayurá den 25. Oktober früh
Morgens. Von Takuni und seinem Gelüst nach der Cuyabáreise hörten wir nichts
mehr. Doch wurden wir von einigen Indianern, die unsere Sammlung trugen,
den Weg durch die unvergesslichen Mangavenhaine und den Wald bis zum
zweiten Yaulapitidorf begleitet. Hier hatten wir wieder die Strecke mit Hinder-
nissen vor uns: über die nördliche Lagune und durch ein Stück Kanal zum ersten
Yaulapitidorf — dann neue Einschiffung und Fahrt über die südliche Lagune —
hierauf Landweg zum Ende oder, von uns aus gerechnet, zum Anfang des Auetö́-
kanals, wo sich die Pflanzungen und Schutzhütten der Auetö́ befanden — dort
endlich wieder Einschiffung und Fahrt nach dem Auetö́dorf.
Das Unangenehme war, dass für diese drei Fahrten immer nur ein Kanu
zur Verfügung stand, und dass es obendrein sehr leicht geschehen konnte, dass
dieses Kanu sich gerade unterwegs befand und nicht zur Stelle war, wenn man es
gebrauchte.
Von dem zweiten Yaulapitidorf fuhren in dem einen Kanu, das dort lag,
zunächst Ehrenreich und ich ab, während Wilhelm und Carlos bei glühender
Sonnenhitze über drei Stunden im schattenlosen Sumpf sitzen mussten, bis auch
sie abgeholt wurden. Wir beiden gelangten zum ersten Yaulapitidorf und hatten
viele Mühe, hier ein Kanu zu erhalten und wegzukommen; die Leute wollten uns
durchaus länger bei sich sehen, um mehr Perlen und Messer zu bekommen.
Der Häuptling schien aber doch auch einen anderen Grund zu haben, unsere
Abreise zu verzögern. Erst als er sah, dass wir darauf bestanden, gab er uns
ein Kanu und erzählte nun mit ängstlichem Gesicht, die Trumaí seien bei den
Auetö́. Er war in grosser Besorgnis, dass wir ihnen Böses anthun wollten. Er
drang inständigst in mich, davon abzustehen, und fragte mich beim Abschied noch
einmal allen Ernstes mit einer sehr ausdrucksvollen Pantomime, ob ich nicht allen
Trumaí den Hals abschneiden werde?
[122]
Wir durchkreuzten die Lagune, schickten das Boot zurück und begaben
uns auf den Weg zum Auetö́kanal. Es war ein schöner Nachmittag; der Indianer,
der unser Gepäck trug, hatte ein vergnügtes Gemüt und blies trotz seiner Last
fröhlich auf einer kleinen Pansflöte. In dieser angenehmen Stimmung störte uns
der Renommist Moritona, der grosse Zauberer der Yaulapiti, der mit seinem
Tragkorb einsam dahergeschritten kam. Er suchte uns zurückzuhalten und hielt
eine lange Rede, deren A und O die Trumaí waren; offenbar befanden sie sich
in der Nähe. Auch kamen wir an einer Stelle vorüber, wo man gelagert hatte
und eine Anzahl Feuer unterhalten worden waren. Alle Zweifel schwanden am
Ende des Weges. Zwei Frauen schritten dort quer über den Pfad, erhoben ein
entsetzliches Geschrei und verschwanden blitzschnell im Gebüsch. Vielstimmiges,
gellendes Durcheinanderrufen und zwischen den Bäumen plötzlich an allen Ecken
aufgeregt hin und wieder rennende Gestalten! Wir waren bei den Trumaí!
Eine unangenehme Situation. Zurückgehen war natürlich ausgeschlossen.
Also gerade vorwärts. Niemals habe ich einen unsinnigeren Lärm gehört. Im
Hintergrund stürzten Weiber und Kinder mit ohrenzerreissendem Geheul von
dannen; die Männer rafften hier und dort ihre Waffen auf und verdichteten sich,
die Bogen, Pfeile, Wurfpfeile schwingend, zu einem schreienden, tanzenden, tobenden
Knäuel, auf den wir einer hinter dem andern fest zuschritten. Ich fasste einen kleinen
Herrn ins Auge, der der Häuptling zu sein schien, trat gerade auf ihn zu, legte
die Hand auf seine Schulter und that, was in solchen Fällen immer das beste ist,
ich lachte. Auch liess ich es an kräftig ausgesprochenen „katú katú karáiba,
kúra kúra karáiba“ nicht fehlen. Ja, ich richtete verschiedene kurze Sätze an ihn
in einer Sprache, die er höchst wahrscheinlich niemals gehört hatte, deren Laute
sich aber mir in kritischen Momenten gern auf die Lippen drängen und dann
immer siegreich über den Ernst der Lage hinweghelfen, das ist mein liebes
Düsseldorfer Platt, verdichtet in einigen karnevalistischen Schlagwörtern, die für
jede Situation zutreffen. Sie thaten auch bei den Trumaí ihre Wirkung; der
alte kleine Häuptling war zwar zu entsetzt, um auch lachen zu können, aber er
grüsste doch so verbindlich wie möglich.
Man schleppte hastig zwei Schemel herbei und riss das Stroh herunter, in
das sie verpackt waren; sie hatten Vogelgestalt und der eine, der einen Geier
darstellte, war wie ein Doppeladler durch zwei Hälse und Köpfe ausgezeichnet.
Wir setzten uns im Waldlager nieder und um uns herum und rings zwischen den
Bäumen drängte sich und wogte die in ihrer Angst recht wild ausschauende
Gesellschaft. Als ich mit vergnügten Mienen erklärte, dass ich bei ihnen
schlafen wolle, regten sich zwanzig Hände auf einmal, das Gestrüpp wegzu-
reissen und Raum zu schaffen — aufmerksamere Bedienung war nicht zu
denken. Nach einer halben Stunde meldete erneutes Geheul und Weibergeschrei
die Ankunft von Wilhelm und Carlos an, die herbeigeführt wurden und eben-
falls ihrer wohlwollenden Gesinnung mit Worten und Geberden deutlichen Aus-
druck gaben.
[123]
Es waren meist kleine schmächtige Gestalten mit kleinen Köpfen, zurück-
tretendem Kinn und hässlichen Gesichtern; unter den alten Weibern gab es
wahre Prachtexemplare von Hexenmodellen. Die Frauen trugen teilweise das
dreieckige Uluri, teilweise ein uns neues Garderobenstück, eine grauweissliche
Bastschlinge, die um die Hüften gezogen war und sich zu einer kleinen Rolle
verdickte. Die Sprache erinnerte uns in ihrem Tonfall nicht wenig an die der
Suyá, mit der sie den nörgelnden gequetschten Habitus gemein hatte, und liess
sich durch den häufigen Auslaut auf ts und durch das f von allen Kulisehusprachen
sofort unterscheiden.
Es war merkwürdig, dass sich die Trumaí derart hatten überraschen lassen.
Wahrscheinlich hatten sie sich doch vor den Suyá, die ihre Dörfer geplündert
hatten, und vor uns gleichzeitig geflüchtet. Ihre Späher, die sich bei den
Auetö́, Yaulapiti und Kamayurá herumtrieben, waren wohl des Glaubens ge-
wesen, dass wir von den Kamayurá aus nicht direkt zu den Auetö́ zurück-
kehren, sondern nach Schingú-Koblenz gehen würden, um uns mit Perrot
und Vogel, deren Fahrt ihnen bereits bekannt war, zu vereinigen und auf
dem Fluss nach dem Auetö́hafen zu gelangen. Das Lager der Flüchtigen
bot einen Anblick der Unordnung und Ueberstürzung. Es waren im Ganzen
etwa 50 Personen; zahlreiche Feuerchen brannten bei den braunen Hängematten,
Bündel aller Art lagen und hingen an den Bäumen herum; die Schutzhütten der
Auetö́-Pflanzung blieben unbenutzt. Die Indianer waren zum Teil über die Kanäle
gekommen: eine kleine Flotille von Kanus war in dem sumpfigen Gewässer
nahebei aufgefahren, viele darunter in schlechtem Zustand und nur mit Lehm-
klumpen notdürftig verpappt.
Die Beijús, die gefüllten Kürbisschalen und die Zigarren mussten bei diesem
Empfang fehlen. Man brachte kleine Baumwollenknäuel herbei und verlangte
Perlen. Leider hatten wir uns bei den Kamayurá so ziemlich ausgegeben und
konnten daher nicht Vieles bieten. Dennoch erwarben wir mit den Resten, etlichen
Messern und einigen Opfern von unserm persönlichen Besitz eine kleine, nicht
unansehnliche Sammlung. Die Leute hatten die für uns wichtigsten Sachen vor
den Suyá gerettet und mitgeschleppt. Da fanden sich Federschmuck, Halsketten
aus Steinperlen, ein Steinbeil, als Belegstück wertvoll, da die übrigen Kulisehu-
stämme ihre Steinbeile von den Trumaí erhalten, Wurfhölzer, eine Keule, zehn
Masken, Tanzkeulen, grosse Flöten und verschiedene Kleinigkeiten. Wir ver-
missten zu unserm Erstaunen die grossen Pfeile mit langen spitzen Bambusstücken,
die die Trumaí 1884 bei sich führten, von denen sie auf der Flucht eine Anzahl
verloren und an denen wir bemerkt hatten, dass man sie für die Begegnung mit uns
zugeschärft hatte. Sie waren wohl im Kampf mit den Suyá verschossen worden.
Ich nutzte den Abend bei einem Kerzenstumpf schreibend möglichst aus,
um ein Vokabular zu erhalten. Ein jüngerer Häuptling zeigte sich sehr anstellig,
nur schrie er in seinem Eifer mit seiner starken Stimme, als ob ich stocktaub
wäre. Neugierig hockten die Männer in der Nähe, die Hexen waren um die
[124] Feuer geschäftig, die Kinder schrieen atsíu nach der Mutter und papá nach dem
Vater, durch die Zweige ergoss sich ein magisches Mondlicht über die seltsame
Lagerszene, und bald umfing der Friede der Nacht Schlummernde und Wachende.
Wir durften ruhig schlafen, merkten aber wohl, dass einige Männer am Feuer
sitzen blieben.
Am nächsten Morgen, den 26. Oktober, gab es eine grosse Verwirrung.
Man hatte mir ein grosses Glas mit Arsenikpillen gestohlen. Gern hätte ich
unter den besonderen Umständen zu jedem Diebstahl ein Auge zugedrückt, allein
ich konnte diesen Arsenik weder meinerseits vermissen noch die Indianer damit
vergiften lassen. Ich musste die Yaulapiti, die uns begleitet hatten, nach den
Erfahrungen in ihrem Dorf im Verdacht haben und verlangte von ihnen die
Rückgabe. Sie beteuerten natürlich ihre Unschuld, die Trumaí gerieten in grosse
Angst, die Weiber, Kinder und ein Teil der Männer schlugen sich in die Büsche
und kehrten auch nicht zurück, als wirklich einer der Yaulapiti das Glas mit den
Arsenikpillen brachte. Nach seiner unmassgeblichen Ansicht war es mir unter-
wegs aus der Tasche gefallen. Ein Quantum fehlte augenscheinlich; ich hoffe,
dass es auf verschiedene Liebhaber verteilt und von diesen bei den grade unter
den Yaulapiti häufigen Hautkrankheiten mit einigem Erfolg genossen worden ist.
Wir mussten, so sehr man uns zum Fortgehen drängte, mindestens die
wichtigsten Körpermessungen noch vornehmen und liessen auch nicht locker;
sieben Männer wurden in der Eile zwischen dem Packen gemessen, und die
einzige photographische Platte, die noch übrig war, wurde zu einer — später
leider verunglückten — Gruppenaufnahme verwendet.
Um ¾10 Uhr fuhren wir in zwei Kanus ab, von vier Trumaí begleitet.
Dreimal müsse man schlafen, gaben sie an, ehe man zu ihren Dörfern gelange.
Die Mehinakú könne man auch auf den Kanalwegen erreichen und gebrauche zu
ihrem zweiten Dorf nur einen Tag. Um 11 Uhr landeten wir in der Nähe des
Auetö́dorfes an einer andern Stelle, als wir abgefahren waren. Im feuchten Laub
lagen riesige Regenwürmer in ungeheurer Menge; wo man den Fuss hinsetzte,
trat man darauf. Der Pfad führte uns zu den beiden Hütten der Yaulapiti-Auetö́-
Familien.
Es empfiehlt sich, schon hier anzufügen, was Vogel und Perrot nach ihrer
Heimkehr von Schingú-Koblenz über die Trumaídörfer berichteten. Sie hatten
keinen Indianer zu Gesicht bekommen, unterhalb der Einmündung des Kulisehu
in den Kuluëne aber auf dem 5 m hohen Ufer ein Trumaídorf von 8 und einen
Kilometer weiter östlich ein zweites von 5 Häusern, darunter Neubauten gefunden.
Die Suyá hatten die Häuser sämtlich niedergebrannt, und was von grossen Töpfen
und Gerät zurückgeblieben war, kurz und klein geschlagen. Unmittelbar an die
Dörfer schlossen sich Pflanzungen an von auffallend grossem Umfang und sorg-
fältiger Bearbeitung. Ungefähr zehn frische Gräber wurden bemerkt; der kreis-
förmigen Angrabung nach zu urteilen waren die Leichen in hockender Stellung
beerdigt, sie schienen tief zu liegen, da man sie wenigstens bei einigem ober-
[125] flächlichen Nachgraben nicht blosslegte. Antonio war sehr erschreckt gewesen,
als Perrot zu ihm sagte: »o doutor Carlos precisa d’uma cabeça«. Nur mit
Mühe hatte man von Antonio erreicht, dass er die Fahrt mitmache und sich der
Möglichkeit aussetzte, den verhassten Trumaí zu begegnen.
Die Tage vom 26. bis 31. Oktober brachten wir im Dorf und zum
grösseren Teil im Hafen der Auetö́ zu. Wir benutzten noch jede Gelegenheit
zu messen, zu photographieren und die sprachlichen Aufzeichnungen zu vervoll-
ständigen, und hatten dazu Exemplare fast aller Stämme zur Verfügung. Mit
den Auetö́ hatten wir uns recht angefreundet. Ein vergnügter Abend erinnerte
mich lebhaft an meine Bakaïrí-Idylle, auch hier wurden die Stimmen der euro-
päischen Haustiere mit grossem Jubel begrüsst, und wiederholte sich die Steinbeil-
pantomime mit stereotyper Treue. Es war ein besonderer Augenschmaus für
sie, wenn wir uns hinstellten und Holz hackten. Mit einem der Auetö́ machte
ich Schmollis nach Landesbrauch, wir vertauschten die Namen. Mayúli hiess
mein Spezialfreund, der mir den Antrag machte. Der Häuptling liess mich auf-
stehen, klopfte mich sechs oder sieben Mal auf den Rücken und sagte dazu
ebenso oft im Takt »Mayúli«, blies mich auf die Brust und sagte mir »Mayúli«
in jedes Ohr hinein. In gleicher Weise hatte ich mit Mayúli’s Person zu
verfahren und ihm mein »Karilose« für Carlos einzuprägen. Alle nannten mich
nun mit Betonung Mayúli, wobei ich immer an Mai-Juli dachte, und hoben hervor,
wie sehr sich die Frauen darüber freuen würden. In der That, sobald ich in eine
Hütte kam, riefen die Frauen »Mayúli« zum Willkomm.
Im Hafen sah es traurig aus. Dort hatte Peter mit Tumayaua und dem
Droschkenkutscher Wache gehalten. Es war ein jämmerlicher sumpfiger Platz,
eng und unfreundlich, der Regen hatte den mit faulem Laub bedeckten Boden
erweicht, die Ameisen waren eifrig an der Arbeit gewesen und hatten das Leder
und die Säcke zerschnitten, Alles sah schmutzig und hässlich aus. Dazu Schmal-
hans Küchenmeister. Der arme Peter hatte von Beijú gelebt, die Fische bissen
wieder einmal nicht an. Tumayaua schaukelte sich in der Hängematte und war
zufrieden, er betrachtete sich stundenlang in einem kleinen runden Spiegel und
rupfte sich die Härchen im Gesicht aus. Nachts quälten ihn die Moskitos; ich
hörte ihn einmal, da ich selbst nicht schlief, stundenlang klagen und klatschen.
Der Droschkenkutscher hatte sich, ehe wir eintrafen, in ein Kanu gesetzt und war zu
den Mehinakú gefahren. Nur ein Kanu, ein schlechtes, war bei unserer Ankunft
noch verfügbar. Zwei hatten Vogel und Perrot mit sich, eines vierten hatte sich
eine Bande Indianer bemächtigt und war damit drei Tage auf den Fischfang ge-
zogen. Sie kehrten zurück, das Boot bis an den Rand gefüllt mit gebackenen
Fischen. Man brät bei allen diesen Stämmen die Fische sofort, um das Fleisch
zu konserviren.
Gegen ein paar Beile wurden zwei Kanus von den Auetö́ erworben, die
sie durch den Wald herbeibringen sollten. Carlos ging nach dem Dorf, um die
besten auszusuchen, und erzählte, es sei ein grossartiges Bild gewesen, als die
[126] Indianer mit den langen Kanus auf den Schultern im Trab durch die Dorfstrasse
liefen und sich die ganze Bevölkerung an dem Schauspiel beteiligte. Mittags
kamen unter lautestem Juchzen an 60 Personen und brachen mit den beiden
Kanus im Laufschritt aus dem Walde hervor, im Laufschritt eilten sie auch den
steilen Uferhang hinab und der enge Platz wimmelte von den nackten braunen
Gestalten. Sie hatten auch ein Dutzend Kinder und allerlei Vorrat von Beijús,
Honig, Piki- und Mangavenfrüchten mitgebracht. Sie waren jetzt mit Leidenschaft
darauf aus, von uns vor Thoresschluss noch zu bekommen, was irgend zu be-
kommen war. Perlen, Perlen, Perlen! Beim Kanutransport hatte sich ein Auetö́
die Hand verletzt; Ehrenreich verband sie, war aber kaum damit fertig, als der
Mann sie auch schon nach Perlen ausstreckte. Ein Waurá, mit dem ich mich
schier zum Verzweifeln abquälte, dass er mir die Farbenadjektiva seiner Sprache
verrate und der mir immer die Gegenstände und nicht ihre Farben nannte,
unterbrach jede meiner Fragen ungeduldig, streckte die Rechte vor und verlangte
Perlen, »nur her damit«, er müsse nach Hause. Es blieb mir zuweilen nichts
übrig, als die Zudringlichen auf die Finger zu klopfen, zumal wenn sie mich
während des Verhörens und Aufschreibens immer anstiessen und beschenkt sein
wollten. Sie nahmen jedoch nichts übel. Oefters wurden sie uns lästig, weil
ihre Zahl zu gross war, liessen es sich aber gefallen, dass ich sie aus der Hänge-
matte herausholte und abführte. Ja, ein Alter unterstützte mich einmal thatkräftig
und schlug einen ungeberdigen jüngeren Burschen mit dem Bogen über den Kopf.
Es bedurfte der grössten Wachsamkeit, dass wir uns vor Diebstählen
schützten. Messer, Scheeren, Vaselin, Kerzen, Blechdöschen, Schnallen, Alles
war ihnen recht. Gut, dass wir Tumayaua hatten. Er passte auf wie ein Polizei-
diener, denn er durfte darauf rechnen, selbst in den Besitz alles dessen zu ge-
langen, was wir behielten, und es war augenscheinlich, dass ihm jede Perlenschnur
und jedes Messer durch die Seele schnitt, die wir aus den Händen gaben. Er
hatte seine eigenen unterwegs angesammelten Schätze sorgsam zwischen den
überstehenden Wurzeln seines Hängemattenbaumes verborgen.
Die stete Ausrede, wenn etwas fehlte, der oder jener von einem andern
Stamm müsse es weggenommen haben, war im Auetö́hafen sehr billig. Ausge-
nommen die Mehinakú gab es Vertreter aller Stämme: Auetö́, Kamayurá,
Yaulapiti, Trumaí, Kustenaú, Waurá, Bakaïrí und Nahuquá. Immer kamen neue
Besucher, und wir hatten alle Hände voll zu thun, um unsere Aufnahmen zu
ergänzen.
Von den Kustenaú, die wir 1884 in einem kleinen Dorf oder richtiger bei
ihrer mit einigen Hütten besetzten Pflanzung am Batovy getroffen hatten, war
einer erschienen, der sich der Reisenden von damals, Wilhelm’s, Antonio’s und
meiner auch noch erinnerte und nur mit diesen seinen alten Bekannten zu thun
haben wollte. Auch aus dem vierten Dorf der Bakaïrí am Batovy hatte sich ein Neu-
gieriger eingestellt. Offenbar hatte die Kunde von dem Wiedererscheinen der
Karaiben das ganze Gebiet durchflogen. Am meisten interessierten uns einige
[127] Nahuquá vom Kuluëne, weil es bei der vorgerückten Zeit unmöglich war, sie selbst
aufzusuchen. Da hatte der Guikurú-Nahuquá, den wir im Nahuquádorf getroffen,
die Reise hinter uns gemacht, und ihm hatte sich eine Familie von vier Yanu-
makapü oder Yanumakabihü, die etwa eine halbe Tagereise landeinwärts
zwischen Kulisehu und Kuluëne zu wohnen schienen, angeschlossen. Da yanumáka
bei den Mehinakú, Kustenaú, Waurá und Yaulapiti das Wort für »Jaguar« ist, so
dachte ich schon an eine Vermischung von Nahuquá mit einem jener Nu-Aruak-
stämme. Allein die sprachliche Aufnahme des Familienvaters ergab einen reinen
Nahuquádialekt. Die Yanumakapú-Nahuquá hatten niedliche Tanzrasseln bei sich;
dem durch den kleinen Kürbis durchgestossenen Stiel sassen am oberen Ende
Tierköpfchen aus Wachs auf, und bei einer hatte man den Kürbis durch die Schale
einer jungen Schildkröte ersetzt.
Die Nahuquá liessen sich von uns über den Fluss setzen. Auch die Auetö́
nahmen uns öfter in Anspruch. Man fand es entschieden sehr bequem, dass wir
mit unsern Kanus immer zur Verfügung standen. Die Auetö́ schwammen aber
auch ausgezeichnet. Kinder, die bis ans Knie des Vaters reichten, puddelten
sich frei und vergnügt im Kulisehu umher. Einem jungen Mann, der von der
andern Seite auf Auetö́ »Holüber« schrie, verweigerten wir die Fähre; es war ein
Vergnügen zu sehen, wie elegant er den Fluss durchsetzte, die linke Hand hoch
emporgestreckt und Hängematte und Bogen haltend.
Der Abschied wurde uns schwer, so sehr wir darauf brannten, von dem
schmutzigen und ungesunden Lagerplatz wegzukommen. Vogel und Perrot waren
den 29. Oktober von ihrer Fahrt zurückgekehrt, am 30. Oktober wurde noch
fleissig gearbeitet und die Sammlung eingepackt. Perrot ging noch einmal in
das Auetö́dorf und verabschiedete sich zärtlich, die Frauen brachten ihm ihre
Kinder und ein kleines Mädchen erhielt den Namen »Perro«; für die viele Liebe
musste er sich natürlich in Perlen erkenntlich zeigen, und eine junge Mutter, deren
zwei Kinder er beschenkt hatte, machte ihn mit lebhaften Geberden darauf auf-
merksam, dass er doch auch noch ein drittes, das in Aussicht stand, be-
denken möge.
VIII. Rückkehr nach Independencia.
Vogel’s Fahrt nach Schingú-Koblenz. Ab vom Auetö́hafen. Besuche der Dörfer. Begleitung durch
die Indianer. Rheinischer Karneval am Kulisehu. Abschiedszene in Maigéri. Die Bergfahrt:
Rudern. Beschwerden. Fieber. Independencia: Ruhetag. Feierlicher Abschied von den Bakaïrí.
Ueber das Verhältnis von Kulisehu und Kuluëne war durch den Ausflug
von Vogel und Perrot Klarheit geschaffen worden. Auayato, der Auetö́häuptling,
hatte sie begleitet. Sie waren vom Hafen abwesend vom 24. Oktober 11¾ Uhr
bis zum 29. Oktober 7 Uhr Abends und hatten, da sie kein Gepäck mit sich
führten, leicht vorwärts kommen können. Sie erreichten die Mündung des Kulisehu
[128] in den schönen breiten Kuluëne in sieben Stunden, passierten links einen Zufluss,
rechts einen Kanal der Mariapé-Nahuquá, fanden auf dem rechten Ufer die
Trumaídörfer in dem Seite 124 beschriebenen Zustande und konnten von hier aus
in gut vier Stunden — in acht Stunden seit der Kulisehu-Mündung — nach
Schingú-Koblenz an die Vereinigungsstelle von Kuluëne und Ronuro kommen,
jenen grossen Sandstrand, wo sich 1884 unser Zusammentreffen mit den Trumaí
abgespielt hatte.
Die Trumaí waren also damals auf ihrem Kuluëne heruntergekommen, und
uns hatte man diesen grossen Fluss, von dem wir nur die Einmündung kannten,
als »Kulisehu« bezeichnet. Eine merkwürdige Entwickelung! Wir hatten auf
unserer neuen Expedition den »Kulisehu« gesucht und den Kulisehu auch gefunden
und befahren, allein gemeint hatten wir den Kuluëne. Schon die Trumaí
wohnten unterhalb der Kulisehu-Mündung; am Kuluëne weiter oberhalb sassen die
Nahuquá-Stämme, die aber glücklicher Weise auch am Kulisehu in dem von uns
besuchten Dorf angesiedelt waren.
Vogel und Perrot hatten schlechtes Wetter. Wegen der Wolkenbedeckung
konnte weder an der Kulisehu-Mündung noch in Koblenz die astronomische Breite
bestimmt werden. Der Kuluëne hat eine Breite von 241 m unterhalb der Kulisehu-
Mündung, etwas oberhalb 289 m. Von Koblenz waren sie den Ronuro hinauf-
gefahren, hatten nach einer kleinen halben Stunde die Batovymündung passiert
— wo wir 1884 am 30. August aus dem unendlich gewundenen Waldflüsschen auf-
tauchten und zum ersten Mal mit einiger Sicherheit uns der Hoffnung freuen durften,
wirklich den Schingú gefunden zu haben — und hatten endlich die Fahrt auf dem
Ronuro noch zwei Kilometer weiter aufwärts fortgesetzt. Der Ronuro besass
eine mittlere Breite von 250 m und eine Tiefe von 3 bis 6 m, der Kuluëne mass
oberhalb Koblenz nur 187 m und der Hauptfluss bei unserm Sandstrand 366 m.
Wenn wir nicht den ganzen Erfolg in Frage stellen wollten, war der Gedanke,
den Kuluëne noch hinaufzufahren und die übrigen Nahuquádörfer zu besuchen,
völlig ausgeschlossen. Die Regenzeit hatte kräftig eingesetzt, die Fahrt flussauf-
wärts wurde zunehmend schwieriger, der Proviant war erschöpft, vor uns lag die
Perspektive eines langen, durch das Anschwellen der Gewässer überaus erschwerten
Landmarsches. Die mitgenommenen Lebensmittel waren bis auf Salz, Paraguay-
thee und etwas Kaffee so gut wie verbraucht. Die Suppentafeln waren ver-
schwunden, von Gemüse gab es noch zwei Büchsen, und der Rest waren ein
Fläschchen Kemmerich’scher Bouillon, zwei kleine Büchschen Pepton und drei
Flaschen Schnaps. Das Kemmerich’sche Fleischmehl hatte uns allein den Aufenthalt
in den Indianerdörfern ermöglicht, die beiden letzten Büchsen waren noch im
Auetö́dorf verkocht worden.
Am 31. Oktober traten wir die Rückfahrt an. Ohne Hülfe der Indianer
hätten wir die Sammlung nicht nach der Independencia schaffen können, da
unsere Kanus nicht ausreichten. Aber für diese Dienstleistung hatten wir eine
Anzahl schöner und nützlicher Tauschwaaren vorsorglich aufgespart. Zuerst
[]
KULISEHU-REISE
[][129] begleiteten uns fünf Auetö́ in mehreren mit unserer Ladung befrachteten Kanus zu
den Mehinakú, die Mehinakú halfen weiter zu den Nahuquá, mit den Nahuquá
gelangten wir zu den dritten Bakaïrí; Bakaïrí aus allen drei Dörfern beteiligten
sich an dem von Dorf zu Dorf gesteigerten Transport und am 13. November
fuhren wir, eine kleine Flotte von 13 Kanus mit 14 Bakaïrí, an dem Küchenplatz
der Independencia vor.
Kurz will ich skizzieren, was vom zweiten Besuch der Dörfer noch zu be-
richten ist. Sehr angenehm und lehrreich waren die beiden Mehinakútage. Es
musste photographiert und gemessen werden, da Ehrenreich zur Zeit des ersten
Besuchs krank gewesen war. Die Frauen zitterten während des Messens am
ganzen Körper. Sie hatten auffallend viele Kinder, wir stellten bei einer die
unerhörte Zahl von sechs fest, eine andere hatte vier Töchter. Ich werde später
noch das Lob dieser Nu-Aruakfrauen, der Erfinderinnen der Töpfe und der
besten Pflegerinnen der Mandiokaindustrie, zu singen haben. Ein vortreffliches
Bild der Gesellschaft liefert die Tafel 8 »Demonstration einer Vogelpfeife«.
Sie lauscht den quellenden Tönen, die der vor mir sitzende Eingeborene dem
neusibernen Ding entlockt. Sehr typisch ist die Geberde des kleinen Mädchens
in der Mitte, das sich furchtsam die Ohren zuhält, und die Stellung der beiden
aneinander gelehnten Freunde im Vordergrund. Wie ungemein malerisch sind
alle diese nackten Gestalten in ihren zwanglosen Bewegungen! Wäre es nicht
ein Jammer, wenn sie »Rücken-« und »Beinhäuser« anziehen sollten?
Wilhelm und ich schlossen wieder Freundschaftsbündnisse. »Belemo« tauschte
den Namen mit Waikualu, und ich, »Karilose«, mit dem auf der Brust tätowirten
Häuptling Mayutó. Wilhelm musste auch, wie ich bei den Bakaïrí, Tabak pflanzen.
Mein Bruder Karilose überliess uns gegen ein Beil ein mächtiges Kanu, eine
Art Arche Noah, so breit und ungeschlacht, dass der grösste Teil der Sammlung
mit Carlos und Peter darin Platz fand.
24 Mann begleiteten uns zum Hafen; 6 trugen das Kanu voraus, die Höhlung
dem Boden zugewendet, den Rand auf der Schulter, die durch Strohkränze ge-
schützt war, 2 wanderten mit den Köpfen im Bauch des Fahrzeuges. Ein wahrer
Leichenzug hinter dem Sarge, man summte unwillkürlich einen Trauermarsch.
Grade vor mir schritt ein klassischer Junge. Die Kiepe reichte ihm von der
Schulter bis an die Knie, darunter baumelte noch ein grosser Kürbis, in der
linken Hand trug er Pfeil und Bogen, mit der Rechten führte er unermüdlich
musizierend sein Pansflötchen zum Munde. 5 Mann, die an unserer Fahrt teil-
nehmen wollten, führten jeder ein Ruder und ein die Hängematte enthaltendes
Netz mit sich, das von der Stirn auf den Rücken herabhing. Immer einer hinter
dem andern und mit dem Vorder- oder Hintermann schwatzend. An dem Ruder
demonstrierten sie sich, wie gross die Messer wohl sein möchten, mit denen der
Karaibe sie belohnen werde. Viele trugen Beijús, uläpe, in grüne Blätter einge-
schlagen, mehrere während der 2½ Wegstunden eine Kürbisschale mit Pikíbrühe in
der Hand. Das Kanu war breiter als der Waldpfad. Von einem starken Gewitter
v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 9
[130] überrascht, machten wir Halt, brachten die Sammlung und die Apparate unter
das Kanu und sahen mit Ueberraschung, dass die Indianer entsetzlich froren und
am ganzen Körper zitterten wie zarte Damen nach einem Ball im Schneewetter.
Einzelne klapperten mit den Zähnen im schönsten Schüttelfrost. Es goss freilich
eimerweise und das Sturzbad, empfindlich kalt, hatte kaum mehr als 15°. Unsere
guten Mehinakú waren unglücklich, dass wir nicht ihrem Beispiel folgten und
gegen die himmlischen Schleusen pusteten, sie bauten sich in der Eile, wohl mehr
um sich zu beschäftigen, ein Schutzdach und jammerten ohn’ Ende „uläpe, uläpe!“
Im Hafen der Mehinakú erwarben wir noch ein Kanu; die Auetö́, die uns
bis hierher begleitet hatten, waren mittlerweile spurlos verschwunden. Auch
Vogels Hirschfänger fehlte.
Das Nahuquádorf stand unter dem Zeichen der Pikíernte. Wie die Kugeln
im Arsenal lagen die Pikí in Haufen draussen und drinnen. Gestelle in den
Häusern waren zum Trocknen der Kerne aufgestellt, die Weiber beschäftigt, die
Früchte zu schälen, zu kochen und die Kerne abzukratzen, Menschen und Geräte
buttergelb — Caryocar butyrosum. Kein Pogu, sondern Pikíbrühe; die Pikíkerne
von mandelartigem Geschmack, eine Latwerge »Pikíkraut« gar nicht übel in be-
scheidener Dosis. Viele krank in den Hängematten, Magen und Haut verdorben,
ein alter Glatzkopf Gesicht und Schädel mit Geschwüren bedeckt. Tumayaua
erhielt Pikí zum Abschied auf den Weg. Nur ein Neugeborenes, das uns die Mutter
brachte, damit wir es anbliesen, schien noch nichts von Pikí zu wissen.
Im Bakaïrídorf III, das die uns begleitenden Nahuquá übrigens nicht be-
treten wollten, war die alte Festhütte abgebrannt und man zeigte sich sehr
ängstlich gegenüber den früher so bewunderten Streichhölzern. Dafür fanden wir
prächtige Vogel- und Fisch-Masken. Von zwei bestellten Kanus war das eine
noch nicht fertig und das andere verunglückt.
Bakaïrídorf II war wie ausgestorben. Die Bewohner waren zum Teil, es
blieb unklar, weshalb, abwesend, auch hatten wir offenbar das erste Mal fremde
Gäste gesehen und mitgerechnet. Doch war Häuptling Aramöke liebenswürdig
wie immer und liess uns Beijús vorsetzen, die wir daheim in der feinsten Thee-
gesellschaft hätten anbieten dürfen. Nur mit grosser Mühe fanden wir einige
Männer, um einen Teil der Sammlung ein Stück Weges über Land zu schaffen.
Immer hiess es, sie müssten bei den Kindern bleiben. Dann lag eine Frau mit
Brandwunden am Arm im Häuptlingshause, die auch der Gesellschaft bedurfte.
Ein Kollege mit sehr sachverständigem Gesicht sass bei ihr und bekam zuweilen
einen therapeutischen Anfall, während dessen er gottserbärmlich ächzend Wolken
von Tabaksdampf über die Kranke blies oder auch der Wand zugewandt ent-
setzlich stöhnte. Der »Droschkenkutscher«, der uns mit Tumayaua bis zu den
Auetö́ begleitet hatte und der ein grosser Zauberarzt war, trennte sich hier von
uns. Er musste sich durchaus an der Behandlung beteiligen und war nicht zu
bewegen, den Fall dem doch äusserst tüchtig blasenden Kollegen allein zu über-
lassen. Zum Lohn für dieses zivilisierte Verhalten verschafften wir ihm auch ein
[131] zivilisiertes Aeussere, das neben einem grossen Messer das Ziel seines Ehrgeizes
gewesen war, in Gestalt eines Hemdes und einer Kopfbekleidung. Wir schmückten
ihn mit Tumayaua, der schon längst in schwarzweiss karriertem Hemd und weisser
Leinenhose darunter umherspazierte, gleichzeitig feierlich aus und photographierten
die Beiden, wie figurae Abbildung 8 zeigen. Wilhelm hatte einige Prämien für
die verdienstvollen Reisegenossen aufbewahrt, eine prächtige Düsseldorfer Fast-
nachtsmütze, von ihm selbst in der Eigenschaft eines Prinzen Karneval auf hohem
Triumphwagen getragen, grün, gelb, weiss und rot mit blinkenden Schellen, des-
gleichen den mit Brillanten besetzten Halsorden Sr. Närrischen Hoheit — diese beiden
Stücke wurden Tumayaua zu Teil — und eine echte Karnevalsmütze der noch
lustigeren Schwesterstadt am Rhein, die wir dem Kollegen Droschkenkutscher in
Ermangelung eines Doktorhutes über die Ton-
sur stülpten. Tumayaua erhielt ausserdem
einen von Wilhelm in Rio de Janeiro gekauften
schwarzen Gehrock, Import aus Paris et le
dernier mot de la perfection. Die Abbildung
giebt uns einen schwachen Begriff davon, wie
schauderhaft die zwei vor Stolz aufgeblasenen
Narren in den Kleidern erschienen; beide gewiss
nicht die schönsten Typen, sahen sie nun aber
plötzlich geradezu hässlich krumm und schief
aus, und daran war mehr als die Schäbigkeit
des Anzugs der Umstand schuld, dass alle Um-
risslinien aufgehoben und charakterlos geworden
waren. Tumayaua war in Hemd und Hose
noch ungeschickt wie am ersten Tage, er zerriss
sie im Walde und schonte sie andrerseits wieder
in übertriebener Vorsicht, indem er sie bei Ge-
legenheiten auszog, wo selbst Kinder es nicht
nötig haben.
Im ersten Bakaïrídorf hatte sich die
Bevölkerung um eine junge Seele vermehrt.
Indianer als Europäer maskiert.
Pauhaga war Vater geworden und hielt mit seiner Frau die Wochenstube ab.
Ich werde auf die uns komisch anmutende Szene bei Besprechung der Couvade
zurückkommen. Der Mais stand in üppigem Grün, es wurden uns auch vor-
zügliche, etwas trockene Maisbeijús geboten. Meine Tabakpflanzung auf dem
Dorfplatz war mächtig in die Höhe geschossen und durch einen Pallisadenzaun
ringsum eingehegt worden.
Aber was erblickten unsere erstaunten Augen hinter Paleko’s Haus? Einen
Neubau, bereits weit vorgeschritten, seltsamer Art. Oder eigentlich sehr ver-
trauten Aussehens. Die Bakaïrí hatten unsern Rancho in der Independencia zum
Vorbild genommen und statt ihres Bienenkorbes ein Haus mit dreieckigem Giebel
9*
[132] und zweiseitigem Dach begonnen. Da haben wir also geglaubt, noch etwas
Echtes in einem verlorenen Winkel zu sehen, und schon will es dahinsinken.
»Der erste Lichtblick«, sagt Bastian, »wird auch der letzte sein.«
Tumayaua, der zur Independencia mitging, veranstaltete gleichwohl den
offiziellen Abschied in Maigéri. Er überreichte mir zwei grosse Kürbisschalen.
Eine Weile darauf holte er mich herbei, fasste mich stürmisch am Arm, leitete
mich von der Hütte, laut ringsum rufend, zum Balken inmitten des Platzes und
drückte mich mit einer Art Begeisterung auf den Sitz nieder. Bald hockten dort
vier Karaiben in einer Reihe nebeneinander. Dann schleppte er einen der hübsch
geflochtenen Proviantkörbe, ¾ m hoch, herbei und stellte ihn mit fröhlicher
Prahlerei als Geschenk vor uns hin. Das Hübscheste aber folgte noch. Eine
runde Matte wurde auf den Boden gelegt, der Häuptling rief, und aus den
Häusern kamen alle Frauen und Kinder im Laufschritt herbei und warfen einen
Beijú klatschend auf die Matte, ein Jedes sofort zurückrennend, um Platz zu
machen. Die hurtige Geschäftigkeit, mit der die Beijús herbeiflogen, war reizend.
Da lagen einige 16 Stück. „ále“ hiess es und wir waren entlassen. Wir ergingen
uns natürlich in Lobpreisungen über die Gastlichkeit der Bakaïrí und beschlossen
im Stillen, uns in der Independencia glänzend zu revanchieren.
Da ein starkes Gewitter losbrach, blieben wir die letzte Nacht im Dorfe.
Es regnete draussen in Strömen und Tumayaua beschrieb seine Fahrten. Wir
alle sassen noch lange um’s Feuer, das die Indianer wild aufflackern liessen,
indem sie rücksichtslos das Stroh bündelweise aus der Wand der Festhütte rissen.
Des schwarzen Gehrocks hatte sich Luchu als einzigen Kleidungsstückes bemächtigt,
ein Anderer hatte sich mit einer Angel das Ohr geschmückt. Meine vergangene
Zukünftige — es schmerzt mich dies nicht verschweigen zu dürfen — hatte mich
kaum eines Blickes gewürdigt.
Das Lied von der Weibertreue!
Die Bergfahrt unterschied sich in manchen Dingen nicht unerheblich von
unserer Thalfahrt. Wir hatten zumal des Nachts kräftige Regengüsse und
Gewitter. Der Fluss schwoll an, der Sandstrand, die Uferwände verschwanden
und auf weite Strecken strömte das Wasser mitten durch den Wald. Einige der
kleinen Stromschnellen waren nicht mehr zu sehen, die Cachoeira Taunay rauschte
und brodelte unverhältnismässig stärker. Andrerseits fiel der Fluss auch wieder
einmal, als wir zu den Bakaïrí kamen; das Wasser war gelb und mit zahlreichen,
durch die Flut vom Wasser abgespülten Bäumen eingefasst, von denen viele noch
in grüner Jugend prangten.
Während wir auf dieser Strecke sogar weniger Zeit gebrauchten als bei der
Thalfahrt, war das Rudern im angeschwollenen Fluss, obwohl wir jetzt gut trainiert
waren, für die überdies meist vom Fieber geschwächten Leute sehr anstrengend.
Die lange Stange, die auf der Thalfahrt das Vorwärtskommen wesentlich erleichtert
hatte, liess sich nicht mehr verwerten. Doch kamen wir in Begleitung der
[133] Indianer schneller vorwärts; diese fuhren zwar alle Windungen aus, arbeiteten
aber sehr stetig und drehten sich keine Zigaretten. Ihr gutes Beispiel blieb nicht
ohne Wirkung, auch gab die Gesellschaft immer Anregung zu kleinen Scherzen.
Unsere Kameraden unterhielten sich natürlich auch untereinander von Kanu zu
Kanu nur noch in indianischen Sprachen, was wiederum den Gevattern grosses
Vergnügen machte. In meinem Kanu hatte Jeder seine Methode, sich die An-
strengung zu erleichtern. Ich selbst steckte mir ein möglichst fernes Ziel am
Ufer, das ich erreichen wollte, ohne mit dem Rudern auszusetzen, und spaltete
mein liebes Ich in zwei getrennte Persönlichkeiten, die eine, die sich redlich plagte
und nur Pflichten besass, die andere, die streng über Nr. 1 zu Gericht sass.
Wenn das Kanu nach der Meinung von Nr. 1 den Zielpunkt passierte, dann
hatte Nr. 2 seine Bedenken, ob das Kanu an dieser Stelle nicht gerade einen
Winkel mit der Uferlinie mache und in Wirklichkeit noch zurück sei; war dieser
Zweifel gründlich beseitigt, so stellte Nr. 2 für eine gut bemessene Zusatzstrecke
ein schmeichelhaftes Lob in Aussicht, das des Schweisses wert war. Doch half
sich Nr. 1 durch taktmässiges leises Zählen mit allerlei Kniffen; besonders bewährte
sich die folgende Art: z. B. 2, 4, 6 und so fort bis 40, dann dasselbe noch
einmal, dann erst weiter zählen bis 50, nun auch bis 50 wiederholt und jetzt erst
bis 60, etc. Con grazia in infinitum.
Wilhelm pflegte sich entweder die Frage nach allen Richtungen gründlich
zu überlegen, was er bei der Ankunft auf der Fazenda S. Manoel und gar in
Cuyabá zuerst essen und trinken solle, die verschiedenen Möglichkeiten abwägend,
oder er rechnete sich den Zeitunterschied zwischen unserm Aufenthaltsort und
dem Düsseldorfer Malkasten aus und wusste dann zu seinem Trost genau, wie
es dort in diesem Augenblick aussah, wer in dieser und wer in jener Ecke sass,
wer einen Skat drehte, wer Kegel schob oder ob gar Einer mit geübter Künstler-
hand auf dem Tisch die Kreidezeichnung der lustigen Sieben entwarf.
Antonio hielt sich als echter Sohn eines Naturvolkes an die Gegenwart und
war der Verständigste von uns Dreien. Durch seine Jagdgelüste immer wach-
gehalten, spähte er mit muntern Sinnen umher, sah Alles, hörte Alles und
speicherte die kleinen und kleinsten Vorgänge in seinem zuverlässigen Gedächtnis
auf, um mit zahlreichen Lokalzeichen die Fähigkeit zu üben, die von den Kultur-
menschen als »Ortsinstinkt« missverstanden wird. Wenn ich es nicht durch häufige
Fragen selbst festgestellt hätte, ich würde kaum geglaubt haben, dass irgend Jemand
ohne schriftliche Notizen sich nach einmaliger Fahrt auf einem gleichförmigen Fluss
eine so sichere Anschauung über die Einzelheiten seines Verlaufs hätte erwerben
können. Er kannte jede Windung nicht nur genau wieder, er sagte mir, wenn ich
ihn fragte, richtig, dass es noch zwei oder drei Windungen bis zu dem oder jenem
Punkte seien. Er hatte die Karte im Kopf oder vielmehr, er hatte zahlreiche und
unbedeutend erscheinende Ereignisse in ihrer Reihenfolge behalten. Hier hatte
»Doktor Guilherme« damals eine Ente geschossen, dort war ein Kapivara über den
Fluss geschwommen, hier hingen Bienennester, dort stand ein hoher Jatobábaum,
[134] dessen Rinde ein Kanu geliefert hatte, hier war einer ausgestiegen, dort waren
diese oder jene Fische, was Antonio nie vergass, bemerkt oder gefangen worden.
Im Gebiet der Katarakte gingen wir, um die Kanus zu entlasten, mehrere
Mal ein paar Kilometer über Land, wo jenseits des Galleriewaldes der von
Indianerpfaden durchsetzte Kamp dem Fussgänger wenig Hindernisse bereitete.
Die stehende Sonne verbreitete eine arabische Gluthitze. Zuweilen fanden wir
einen hübschen Durchblick und sahen in der Ferne die Kanus vorüberfahren.
Nicht nur bemerkten wir jetzt mehr Wasservögel, zum Teil von Jungen
begleitet, sondern es fiel uns auch die Zunahme der Insekten auf. Die Käfer wurden
jetzt eigentlich erst sichtbar; Schnecken kamen uns merkwürdiger Weise nie zur
Beobachtung. Die Stechfliegen waren sehr lästig. Tiefverhasst waren uns die
Mutuka-Bremsen auf dem Lagerplatz; es galt, viele abzuschlachten, ehe man sich
häuslich einrichtete. Zum Glück war das Moskitonetz eine vorzügliche Falle, sie
flogen zwischen die Falten der Gaze und liessen sich dort leicht totquetschen. Ein
Skorpion stach mich unterwegs in die Sohle; die Stelle entzündete sich und war
mehrere Tage äusserst empfindlich, doch lag die grössere Schuld auf Seiten des
behandelnden Arztes. Im Augenblick der Verletzung war nur Karbolsäure zur
Hand gewesen, ich wandte sie reichlich an, gebrauchte später noch eine kräftige
Dosis Ammoniak und bekam eine saubere und schöne Aetzwunde. Die dem
kleinen Unfall assistierenden Genossen empfahlen, auch die innere Behandlung
nicht zu vernachlässigen, sie schafften den in unserer Apotheke schon sehr knapp
gewordenen Eckauer Doppelkümmel herbei und nahmen auch ihrerseits von dem
wohlthuenden Mittel ein, die prophylaktische Wirkung rühmend. Skorpiongift,
Ammoniak, Karbolsäure, Alkohol, Theïn, Nikotin, Chinin, Arsenik und Beijú,
dessen saure Gährung erzeugendes Mehl für mich das reine Gift geworden war
— es war eine hübsche Anhäufung.
Ich gebrauchte jetzt täglich 10 oder 12 Arsenikpillen zu 0,002 g, eine Dosis,
die weit hinter den Leistungen der Arsenikesser zurückbleibt, und nahm auch
etwas Chinin. Während ich 1884 an schwerer Malaria gelitten hatte, blieb ich
jetzt bis auf wenige sehr leichte Anfälle frei, desgleichen der am gewissenhaftesten
einnehmende Wilhelm, der bis zu 14 Pillen stieg. Vogel behandelte eine Hautkrank-
heit, die ihn in hohem Grade belästigte, mit der ihm allein helfenden Fowler’schen
Arseniklösung und trank sie aus der hohlen Hand, er hatte kein Fieber. Ehrenreich
war von einigen ausgeprägten Anfällen heimgesucht worden, aber auch im Ge-
brauch der Pillen sehr unpünktlich gewesen. Alle übrigen litten an ziemlich heftigen
Anfällen, sogar Antonio blieb nicht verschont, und mehrere von ihnen hatten früher,
obwohl Söhne des Matogrosso, mit Malaria noch nie zu thun gehabt. Die brasi-
lischen Soldaten hatten die ganze Scheu der kleinen Kinder vor einer bitteren
Arznei; sie waren albern genug wegzulaufen, sobald man ihnen das weisse Pulver
vorn auf die Zunge legen wollte. Es war höchste Zeit, dass wir den Fluss verliessen.
Soweit das post hoc, ergo propter hoc berechtigt ist, gehen meine Erfahrungen
dahin, dass Chinin prophylaktisch vor der matogrossenser Malaria nicht schützt,
[135] die Anfälle aber abschneidet oder mildert, und dass Arsenik prophylaktisch eine
ausgesprochen günstige Wirkung hat. Ich bin Max Buchner*) für seine dringende
Empfehlung der Arsenikpillen noch heute sehr dankbar. Das Aussetzen später
war nicht mit den geringsten Unannehmlichkeiten verbunden, obwohl ich unver-
nünftig genug war, plötzlich abzubrechen.
So hatten wir zwar mehr körperliche Beschwerden und weniger leibliche
Genüsse als auf der Thalfahrt, doch war dafür die allgemeine Stimmung im Be-
wusstsein des Erfolgs um so gehobener und fühlte sich Abends, wenigstens wer
gesund war, um so wohler und behaglicher hinter dem luftigen Gaze-Vorhang
des Moskiteiro, auf dem sich die Schatten zahlreicher Nachtschmetterlinge ab-
zeichneten. Der Unterhaltungsstoff war jetzt weit reichhaltiger und die von
Hängematte zu Hängematte fliegenden Gespräche wurden nur zuweilen durch
eine kleine Pause unterbrochen, wenn wir aufmerksam nach den Fischern hin-
horchten, ob nicht wieder ein Fisch auf den Kopf geschlagen würde.
Independencia. Bei einbrechender Dunkelheit landeten wir am 13. November
an dem Bach des Küchenplatzes. Die vier Zurückgebliebenen eilten in ziemlich
abgerissenem Zustand herbei, Satyr hatte sich schleunigst in eine Decke gehüllt,
und die Freude war gross. In Januario’s verkniffenem Gesicht blinkten die
Thränen wie Thautropfen in einem schwarzen Stiefmütterchen, er hatte die vorige
Nacht geträumt, wir kämen, ave Maria, als Skelette zurück, und da waren wir
ja nun auch wirklich. Die Vier hatten sich merkwürdig gut vertragen, nur habe,
klagte der Küchenjunge Manoel im Vertrauen, Januario gar zu sehr den Alferes,
den Leutnant, gespielt und immer Recht haben wollen. Drei Hütten waren
gebaut worden, eine als Küche, in der ein neuer Holzmörser stand, eine für die
Soldaten, eine für uns. Es sah ganz gemütlich aus. Der Leutnant hatte einen
weiten Pallisadenzaun für die Maultiere angelegt und Mais und Bohnen gepflanzt.
Der Hund Legitimo war von einem Koatí, einem Rüsselbär, getödtet worden.
Die Esel erschienen rund und vergnügt, dass es eine Lust war. Nur hatten die
Bremsen sie so arg geplagt, dass Rauchfeuer innerhalb der Umzäunung hatten
unterhalten werden müssen. Die Indianer vom ersten Bakaïrídorf waren 4 bis
5 mal dagewesen und hatten es an Beijús, Mehl und Mais nicht fehlen lassen.
Das letzte Mal hatte sich auch eine pekóto, eine Bakaïrífrau, hergewagt.
Wir gönnten uns einen Ruhetag. Es gab Erbsensuppe, gedörrtes Schweine-
fleisch und Einer buk Mandiokakuchen mit Oel, zu dem garantirt echter Wald-
honig und Thee gereicht wurden. Das Grossartigste waren aber auf den Mann
zwei Zigarren. Wilhelm nahm den zurückgelassenen Proviant auf, der uns für die
Heimreise übrig geblieben war: Salz 2 Sack, Paraguaythee ¼ Sack, Suppentafeln
3½ Dosen, Gemüse 4 Dosen, Kemmerich’sche Fleischmehlpatronen 24 Stück,
Bohnen 4 Mahlzeiten. Ehrenreich operierte bei sich und Andern »Berne«-Ge-
schwülste, von Insektenlarven hervorgerufene Beulen; das Tier wird mit Chloro-
[136] form oder Sublimat getötet und kann schmerzlos ausgedrückt werden. Perrot
sass in Betrachtung seines bunten Halstuches versunken, das erst von einem
Nahuquá gestohlen und nur unter dramatischen Auftritten zurückerlangt worden
war, und das nun die Blattschneiderameisen in ein Spitzengewebe verwandelt
hatten. Vogel schlief in der Hängematte, während Goethe’s Gedichte, die er
sich zu seiner Erbauung von Wilhelm geliehen hatte, darunter lagen. Ich nähte
zerrissene Unterhosen und las dabei in F. A. Lange über analytische und syn-
thetische Urteile.
In den nächsten Tagen musste fest gearbeitet werden. Von der Sammlung
war Vielerlei verschimmelt und feucht geworden, die Indianer lieferten noch
manche wertvolle Erklärung, es wurde photographiert, entwickelt, gemessen, ge-
Unser Fremdenhaus in der Independencia.
schrieben, gerechnet, gepackt, mit einem Wort in jeder Richtung gewirtschaftet.
Manche der im Kanu leicht mitzunehmenden Ethnologica waren auf Maultieren
kaum unterzubringen. Die grössten Bogen hatten fast 2½ m, die Pfeile fast 2 m
Länge. Unmöglich konnten die Fangkörbe und Reusen wegen ihres grossen
Volums und ihrer Zerbrechlichkeit den Tieren anvertraut werden. So ist denn
Ehrenreich den ganzen Heimweg mit einer langen Fischreuse und bin ich ebenso
mit zwei nicht schweren, aber wegen ihres grossen Umfangs und ihrer Papierkorb-
form recht lästigen Fangkörben, deren Spitzen in den Hals stachen, nach Cuyabá
gewandert.
Unsere Gastfreunde, die sich in unserer Kochhütte häuslich eingerichtet
hatten, wurden des Sehens und Hörens nicht müde. Luchu, der eitle Fant,
[]
INDEPENDENCIA — KÜCHENPLATZ
[][137] verübte kleine Diebereien. Sie hatten nun auch das Messen gelernt. Einer
holte sich eine Stange und mass ein Maultier aus, indem er sie neben die
Ohrspitzen, den Kopf, den Rist, die Kruppe und das Ende des Schwanzes
hielt und jedesmal eine Schnur umband; sorgsam brachte er seine Tabelle in
Sicherheit. An einem schönen dunkeln Abend wurde das Lager bengalisch
beleuchtet. Ein wackerer Apotheker in Desterro hatte uns ausser einer Kollektion
Flaschen, die die wohl von einem sinnigen Landsmann vorgeschriebene Be-
zeichnung »Steinenschnaps« trugen, ein Kistchen Feuerwerk mitgegeben. Prächtig
machten sich die bunten Leuchtwolken an den Ecken des Viehzauns.
Nach dem Muster der Szene in Maigéri veranstalteten wir einen solennen
Abschied. Es wurde eine Flaggenstange aufgerichtet, darunter ein Lederkoffer
gestellt und ihm zu beiden Seiten eine Sitzreihe angebracht, Ponchos davor aus-
gebreitet. Dann holte Jeder feierlich einen Indianer herbei, ich duckte Tumayaua
auf den Koffer nieder und ebenso verfuhren die Andern mit ihrem Ehrengast.
Wir verschwanden und kamen mit zahlreichen Geschenken in einer Kette wieder
herbeigelaufen, das heisst, Jeder überlieferte nur ein einzelnes Stück und eilte, ein
neues zu holen und sich wieder hinten an die Kette anzuschliessen. Taschen-
tücher, Spiegel, Perlen, Messer, kleine und grosse, für die Häuptlinge Hemden
und Beile, kurz Alles, was noch vorhanden war. Stets erhielt Tumayaua als
braver Schweppermann das Doppelte. Zum Schluss- und Knalleffekt wurde der
kleine Spitz Fazendinha an einer Leine auch im Laufschritt herangerissen. Als
die Spanier einst nach Amerika kamen, brachten sie Bluthunde mit, wir dagegen
verehrten den »Wilden« ein Schosshündchen, denn Tumayaua sollte das niedliche
Tier seiner Tochter, meiner Eva aus der Bakaïrí-Idylle, mitbringen. Ein Ge-
schenk freilich so unfruchtbar wie unsere Eisenwaaren.
Am 16. November kamen die Indianer gegen 4½ Uhr morgens, nur Tu-
mayaua that seinen Mund auf und sprach „itahé-ura“ »ich gehe«. Ehe die Sonne
aufging, waren sie alle verschwunden.
[[138]]
VII. KAPITEL.
Independencia — Cuyabá.
Route. Transport und Beschwerden in der Regenzeit. Perrot und Januario verirrt. Hunger.
Ankunft am Paranatinga und in der Fazenda S. Manoel mit Hindernissen. Weihnachten im Sertão.
Ankunft in Cuyabá.
Für den Marsch von der Independencia nach Cuyabá bildete wiederum der
Paranatinga die Grenzscheide zwischen dem schwierigeren und dem leichteren
Teil, und die erste bewohnte Station, die Fazenda S. Manoel, lag an seinem
linken Quellfluss S. Manoel. Wir brachen am 19. November von unserm Lager
am Kulisehu auf, die Truppe erreichte die Fazenda am 17. Dezember, sie mar-
schierte dort ab am 22. Dezember und traf am 31. Dezember in Cuyabá ein.
Wiederum zogen wir von dem Kulisehugebiet an den Rand des Batovy-
Quellbeckens und wählten nur den Uebergang über die Wasserscheide zum
Paranatinga auf der »Rondonstrasse« (vgl. S. 41). Wir hofften in dem an der
Kreuzungsstelle unserer Pfade errichteten Briefkasten genauere Auskunft über die
Beschaffenheit des Weges nach S. Manoel zu erfahren. Denn Rondon würde mit
Sicherheit seine Goldsuche nicht bis in die Regenzeit hinein fortgesetzt haben, es
sei denn, er hätte das Eldorado der Martyrios gefunden. Von der Fazenda nach
Cuyabá gab es keine Sorgen mehr; es war dies sogar die kürzeste Verbindung
zwischen dem Paranatinga und dem Hauptstädtchen.
Hatte auf dem Hinweg der schwierigste Abschnitt unseres Unternehmens
zwischen dem Batovy und dem Einschiffungsplatz gelegen, so waren von den sechs
Wochen des Rückmarsches die vier bis zum Paranatinga die schlimmste Zeit der
Expedition überhaupt. Da haben wir wirklich vielerlei kleine Leiden durchmachen
müssen, die schlimmer sind als grosse, wie Moskitos und Zecken schlimmer sind
als Raubsäugetiere, und wie zahlreiche angeschwollene Bäche für den Reisenden
schlimmer sind als das Uebersetzen über einen breiten Fluss. Es hatte uns trotz
Januario nichts genutzt, dass die Mondsichel am Vorabend unseres Auszugs fast
wagerecht stand; es regnete dennoch.
Die Regenzeit! Bei einer Heimkehr kann man mit ihr fertig werden; aus-
ziehen jedoch, wenn sie bereits begonnen hat, hiesse den Erfolg von vornherein
[139] unverantwortlich auf’s Spiel setzen. Man darf sich nicht vorstellen, dass wir in
einer unausgesetzt giessenden Douche gewandelt seien, aber der Gegensatz zu
der fast wolkenlosen Trockenzeit war in der That gewaltig. Sehr heftige Ge-
witter kamen nieder, viel Landregen und Nebelgeriesel wurde uns zu Teil, und
ein sonniger Tag wie der 28. November war eine seltene Ausnahme. Regnete
es nicht, so war doch der Himmel düster und grau, sodass uns einige Augen-
blicke dünnen Sonnenscheins oder Nachts ein sternenklarer Himmel wahrhaft
wohlthuend dünkten. Zuweilen war der Regen sehr kalt und wir schüttelten uns
wie damals die nackten Mehinakú im Walde. Und ein ander Mal schwitzte man
innerhalb des feucht dunstigen Moskiteiro wiederum wie in einer überhitzten
Waschküche.
Der Kamp hatte sich verjüngt; weil es im alten Europa schneit, wenn es
hier regnet, nennt man auch hier die Zeit, wo doch Tier und Pflanzenwelt zu
neuem Leben erwachen und wo die Sonne am höchsten steht, den »Winter«. Der
Campo cerrado war in dem frischen Grün kaum wiederzuerkennen; wo das hohe
dünne Massegagras niedergebrannt worden war, deckte den Boden junges Gras
mit weissbüschligen Halmen. Es nahm die Trittspur kaum auf und die Nach-
folgenden bedurften verdoppelter Aufmerksamkeit.
Auch die Bäche waren nicht wiederzuerkennen. Die Ufer hatten durch den
höheren Wasserstand ein anderes Aussehen bekommen, es floss manches Ge-
wässerchen munter daher, das früher ausgetrocknet gewesen. Vor unsern Augen
schwoll das Wasser an und fiel; wir konnten uns den Uebergang oft günstiger
gestalten, wenn wir mehrere Stunden warteten. Eine kurze Strecke schwammen
die Maultiere mit Gepäck; wir selbst gewöhnten uns daran, nur die Stiefel anbe-
haltend, bis an den Hals durch’s Wasser zu waten. Mehrere konnten leider
nicht schwimmen.
In einige Verlegenheit gerieten wir nach einer ekelhaften Regennacht am
22. November vor einem kleinen tiefen Flüsschen. Wir fällten einen hohen
Angikobaum, der auch in guter Richtung stürzte, aber doch nicht bis zum andern
Ufer reichte. Dann aber waren wir im Besitz von etwa 25 m verzinnten Eisen-
drahtes, den uns Herr Weber in Rio de Janeiro als unerlässlich, ich spreche bild-
lich, auf die Seele gebunden hatte. Bisher war er nicht gebraucht worden, hier
that er gute Dienste. Er wurde mit einem Lasso auf das andere Ufer geworfen
und nach einigem Herüber und Hinüberschwimmen gelang die Beförderung vor-
züglich. Die Bruaken glitten an einem Haken und durch einen Riemen geleitet;
die erste Probe war mit einer Fracht Tapirfleisch nebst Herz und Leber gemacht
worden. Schliesslich als die Bündel der Kameraden an die Reihe kamen, riss
der Draht.
Für die Nichtschwimmer bedienten wir uns hier auch zum ersten Mal der
vortrefflichen in den häutereichen Provinzen Brasiliens üblichen »Pelota«. Eine
Ochsenhaut wurde nach Art einer niedrigen quadratförmigen Schachtel umgebogen
und in dieser Form durch einen mit Riemen befestigten, aus beliebigen Stangen
[140] improvisierten Holzrahmen erhalten. An einer der Seiten hing ein Leitriemen,
den ein Schwimmer zwischen die Zähne fasste, während ein zweiter nebenher
schwimmend steuerte. Bedeutend rascher herzustellen ist eine Pelota, die uns
Antonio kennen lehrte. Er bog einfach ein dünnes Stück biegsamer Schlingpflanze
zu einer rundovalen Schlinge — an solchen Rahmen hängen die Fischnetze der
Indianer — und befestigte die Ochsenhaut ringsum mit Riemen.
Da gab es natürlich viel zu lachen, erst recht, wenn der in dem aufge-
spannten Regenschirm sitzende Passagier auch seinerseits zu lächeln bestrebt war.
Der ganze Tag ging mit dem Uebersetzen verloren, das Lager wurde auf der
einen Seite abgebrochen und auf der andern wieder aufgeschlagen. Nur war
hier wenig Raum, da hoher Wald an den Fluss herantrat. Fröhliches Rufen und
Schreien erfüllte die Luft. Die Madrinha stand angebunden und klingelte ver-
lockend. Nackte Menschen patschten und paddelten nach Art der Hunde im
Wasser bei den schwimmenden Maultieren, Carlos Alles mit seinem lustigen »o
diavo« übertönend. Nackte Menschen auch, immer bereit wieder in den Fluss
zu stürzen, waren oben unter den niedrigen Akurípalmen beschäftigt, die Bruaken,
die Säcke oder die ungeschickten langen Pfeilbündel zu schichten und das Sattel-
zeug aufs Gerüste zu hängen. Daneben lauter Genrebildchen; Einer schlug die
Hängematte auf, ein Anderer sass vor Antonio auf einem Fell und liess sich die
Haare schneiden, Ehrenreich quälte sich, Columna einen Dorn aus dem Fuss zu
ziehen, Perrot daneben schwang eifrig die Salmiakflasche — man hatte die Wunde
für einen Schlangenbiss gehalten und Carlos hatte sie ausgesogen. Wieder ein
Anderer machte sich am Feuer zu schaffen und kochte oder briet, und hübsch
genug sah es aus, wie der bläuliche Küchenrauch vor den Palmen aufstieg.
Endlich war der letzte Esel drüben über den Abhang erschienen und herüber-
gebracht; mit ihm kam der Papagei, den ein Soldat vom Kulisehu nach Hause
nahm, auf der Hand seines schwimmenden Herrn. Nur Diamante, der schwer-
fällige alte Köter, hatte noch keine Lust, das Ufer zu verlassen, solange er dort
noch einen Rest Fleisch unverschlungen wusste. Denn Braten fehlte am »Rio
do Arame«, am Drahtfluss, nicht; es hatte sich endlich einmal ein Tapir schiessen
lassen, und zwar endlich einmal einer, der ausnehmend zart war. Fette Stücke
hielten den Vergleich mit gutem Roastbeef aus, und die Leber zerschmolz im Munde.
So fehlte es nicht an den Freuden des Daseins. Wir konstatierten, dass
wir in jener Zeit einen ganz unglaublichen Fleischhunger hatten; wir assen, wenn
es ein oder zwei Tage kein Wildpret gegeben hatte, einen stinkenden Bock,
ohne mit der Wimper zu zucken. Freilich konstatierten wir bald nicht minder,
dass wir einen unglaublichen Fetthunger hatten; wir wurden ordentlich tiefsinnig,
als wir an einem alten Lagerplatz Rondons zwei leere Blechbüchsen fanden, in
denen, der schönen Aufschrift nach zu urteilen, einst mehrere Kilo amerikanischen
Schmalzes enthalten gewesen waren. Und endlich entwickelte sich ein Hunger
nach Süssem, der an das Krankhafte grenzte. In Summa, wir hatten alle Arten
von Hunger.
[141]
Verdauungsstörungen waren überall vorhanden, abgesehen von den Fieber-
anfällen. Sie schienen mehr von der Nässe herzurühren. Füsse, Glieder, Kleider,
Taschen, Hängematten, Nachtsäcke, Alles war nass, was man anfasste. Man
neigte zuweilen zu dem Glauben, dass sich der sumpfige Kamp in eine Lagune
und wir selbst uns in Frösche zu verwandeln im Begriff waren. Wir verloren
die Lust am Anblick der oft sehr stimmungsvoll wässrigen Landschaft und be-
grüssten als die einzige richtige Staffage eines Tages einen riesigen Cervo oder
Sumpfhirsch, in der Ferne einem gelben Ochsen ähnlich, der langsam und
schwerfällig, das Haupt gesenkt und vorgestreckt, ein Bild aus vorsündflutlichen
Zeiten, mit stumpfer Neugier bis auf 20 Schritt an uns herankam, aus Antonio’s
Flinte einen Schrotschuss in die Brust empfing und daraufhin abtrollte, von den
wütenden Hunden verfolgt.
Unsere Sachen faulten elendiglich. Die früher nur allzusteifen und buckligen
Ochsenhäute, die vor der Nässe schützen sollten, verwandelten sich in schlappe
Lappen, sie wurden von spitzen Dingen widerstandslos durchlöchert und rissen
bei stärkerer Anspannung in breite Fetzen. Nur zwei Häute noch konnten als
Pelota dienen. Die Ledersäcke verfielen demselben Erweichungsprozess; die
Holzsättel zerbrachen, wurden notdürftig zusammengeflickt, passten nicht mehr
und erzeugten auf den Eselrücken flache Hautwunden, die sich mit eitrigen
Krusten bedeckten und trauliche Heimstätten boten für allerlei »bichos damnados«,
zu Deutsch »verdammtes Viehzeug«. Was geleimt und geklebt war, was Papier
oder Pappdeckel hiess — ave Maria! Die Sammlung, die photographischen
Platten, wir zitterten um ihretwillen an jedem Bach, wir stürzten hinter den
einzelnen Stücken her wie Mütter, deren Kinder in’s Wasser fallen, aber man
wusste nicht, hatten sich die Esel niederträchtiger Weise verschworen, gerade mit
der kostbarsten Ladung in die nasse Tiefe abzurutschen oder — nur Esel ver-
mögen darüber zu entscheiden — steigerte sich bei ihnen umgekehrt edelmütige
Sorge für unser wertvollstes Gepäck zu einer Angst, um Himmelswillen nicht
fehlzutreten, die sie mit Blindheit schlug und im kritischen Augenblick der Gegen-
wart des Geistes beraubte?
Am 28. November setzten wir über den Südostarm des Batovy mit vielem
Aufenthalt, am nächsten Morgen passierten die Tiere. Wir beschlossen, den
schönen Tag zum Trocknen zu benutzen. Perrot und Januario, die Berittenen,
sollten derweil den Briefkasten aufsuchen und uns die Antwort Rondons holen;
es wurde angenommen, dass sie in 3 bis 4 Stunden dort sein konnten. Vor-
sichtiger Weise nahmen sie Decken, Salz und Gewehre mit. Doch kehrten sie
weder an diesem Abend noch am nächsten Morgen zurück. Wir waren bei der
mondhellen Nacht gänzlich unbesorgt und beschlossen, langsam vorzurücken. Am
1. Dezember waren sie noch immer nicht zurück. Wir zündeten auf einem
Hügel Feuer an, das nur eine schwache Rauchsäule entwickelte, schossen ver-
schiedentlich und gingen unsrerseits den Briefkasten aufsuchen. Es zeigte sich,
dass er um einen Chapadão weiter war, als wir gerechnet hatten. Antonio habe
[142] ich nie mehr bewundert, — ohne Sonne, ohne Hiebmarken schlenderte er auf
seinem Schlangenweg dem Orte zu und fand den richtigen Hügelzug, auf dem
nach einigem Suchen auch der richtige Baum entdeckt wurde. Die beiden
Fähnchen waren noch vorhanden. Von Perrot’s und Januario’s Besuch keine
Spur. Die Antwort Rondon’s, mit Bleistift am 4. September 1887 geschrieben,
lag in der Büchse. Sie sprach sich dahin aus, dass der Weg auch in der Regen-
zeit passierbar sein werde und Alles nur von dem Wasserstand des Paranatinga
abhänge. Die Entfernung nach der Fazenda S. Manoel wurde auf 16 Leguas
(99 km) geschätzt. Der Weg von S. Manoel nach Ponte alta sei fest, ohne
Hindernis in den Serras und 25 Leguas (144,5 km) lang.
»Ich bin«, lautete das sehr liebenswürdig gehaltene Schreiben des José da
Silva Rondon weiter, »bei der Untersuchung der Flüsse, die ich antraf, nicht so
glücklich gewesen, als Ew. Hochwohlgeboren mir gewünscht haben. Ich stiess mit
Indianern »de má conducta«, von schlechter Aufführung, zusammen, verlor in dem
Kampf einen Gefährten, der fiel, und zwei, die versprengt wurden; zwei andere
erhielten leichte Pfeilwunden.«
Das waren nun auch Schingú-Indianer, aber die uns unbekannten der Ronuro-
Quellflüsse gewesen. Halt, da standen auf der vierten Seite des Briefbogens
noch ein paar Zeilen in anderer Handschrift und anderer Orthographie. »Am
12. September bin ich hier am Schingú vorbeigekommen. Francisco Chivier
da Silva Velho.« Der Name war uns nicht fremd; es war der des weithin
bekannten Sertanejo Chico Velho, des Führers von Rondon, offenbar des einen
der zwei Versprengten. Acht Tage nach Rondon und allein! Das liess tief
blicken.
Betreffs der Leguas der berittenen Sertanejos waren wir etwas misstrauisch
geworden; jedenfalls konnten Perrot und Januario, die immer geglaubt hatten,
dass die Fazenda leicht in zwei Tagen zu erreichen sei, schweren Täuschungen
zum Opfer fallen, wenn sie durch irgend einen Umstand veranlasst worden waren,
vorauszureiten. Ihr Schicksal trat jetzt in den Vordergrund aller Ueberlegung.
Dass sie sich verirrt hatten, konnten wir nicht begreifen, weil der erfahrene
Januario den Weg dreimal gemacht hatte, sie auch irgendwo auf unsern alten
Weg oder auf die Rondonstrasse stossen mussten und eine Aussicht auf den
Batovyberg überall zu gewinnen war. Wir thaten bis zum Mittag des 3. Dezember
Alles, was in unsern Kräften stand, durchkreuzten das ganze Terrain in allen
Richtungen mit Patrouillen, durften aber nicht vergessen, dass die Beiden beritten
waren und wir nicht, dass auch für uns viel auf dem Spiele stand, und dass jene
vielleicht in Sicherheit waren.
Wir wanderten nun auf der Rondonstrasse in das Paranatingagebiet. Der
Pfad war meist leicht erkennbar, oft mit grosser Geschicklichkeit um die Hügel
geführt und mit wuchtigen Hieben markiert. Chico Velho’s Hand schrieb sicherer
auf Baumrinde als auf Papier. Wir fanden auch Brücken, doch waren sie nur
zum kleineren Teile noch brauchbar.
[143]
Am 4. Dezember entdeckte Antonio endlich Spuren eines Pferdes und eines
Maultieres, am 5. Dezember trafen wir gar ein niedriges Schutzdach aus Palm-
blättern, wo die Beiden geschlafen hatten, mit einer Feuerstelle und dabei einen
Rest Rehkeule von stärkstem Hautgoût. Antonio ass noch davon und spaltete
die Knochen, um sich das Mark hervorzuholen. Die Hufspuren blieben sichtbar
bis zum 6. Dezember, wo wir einen sehr hoch angeschwollenen Quellbach und
jenseit desselben den eine breite Strecke unter Wasser gesetzten Wald zu passieren
hatten; hier schienen die Reiter zu einer anderen Stelle abgeschwenkt zu sein.
Mit unserm Proviant waren wir zu Ende. Am 7. Dezember hatten wir
noch 7 Tafeln Erbsensuppe und 7 Kemmerich’sche Patronen. Allein die Leute
verachteten mehr und mehr unsere Suppen. Sie kümmerten sich nicht um die
physiologische Berechnung des Nährwertes, und es ist richtig, selbst bei uns, die
wir bei noch gutem Allgemeinzustand gern eine Weile theoretisch satt wurden,
blieb jetzt ein Gefühl von Vereinsamung und Leere im Magen zurück, das der
Volksmund Hunger nennt. Das letzte Mandiokamehl von den Indianern war am
4. Dezember in Gestalt eines vorzüglichen »Eiermingau« verzehrt worden, eine
Schlussapotheose mit 8 dunkellila gefärbten, wie Billardkugeln spiegelnden Eiern,
die uns ein braves Rebhuhn auf den Weg gelegt hatte. Zwei Rehe tauchten
vor unserm freudigen Augen auf, da rannte der Hund Certeza ihnen eifrig
entgegen und vertrieb sie mit der ganzen seines Namens würdigen Sicherheit.
Es schadete nicht viel, dass Manoel unterwegs mehrere Teller und sämtliche
Gabeln und Löffel verlor. Von den Leuten war täglich der Eine oder Andere
für eine Stunde verschwunden, nicht immer dann, wenn er leicht zu entbehren
war, und der Grund war stets derselbe: Honig suchen. Zeitweise wurden sie
recht kleinmüthig, doch vergab man ihnen Alles, wenn z. B. der Mulatte Satyr
eine gebratene Wurzel aus der Asche aufnahm und laut auf Deutsch ausrief:
»Essen fertik. Sähr gut«.
Die vegetabilische Kost, die die Umgebung bot, war recht dürftig, aber sie
füllte wenigstens: Palmkohl von der Guariroba, chininbitter, und die Wurzel der
»Mandioca de campo«, Kampmandioka, yamsähnlich, holzig, nach Antonio auch
von den Bakaïrí unterwegs gegessen.
Glücklicher Weise hatten wir Tabak im Ueberfluss, den knurrenden Magen
zu besänftigen. Wir rauchten und tauschten in der Hängematte liegend die An-
sichten über eines Jeden Lieblingsspeisen aus. Da fielen Worte wie Clever
Spekulatius, Tutti Frutti, Schinkenbrod, Pumpernickel mit Schlagsahne, Saucischen,
junge Hasen mit Rahm, Schmorbraten, und es war ein Hochgefühl, wenn dem
Andern der Mund noch mehr wässerte als Einem selber. Durch ganz besondere
Urteile zeichnete sich Ehrenreich aus, der ein seltsames Gedächtnis für seine
kulinarischen Erlebnisse auf Reisen besass und Lob und Tadel schroff über die
Welt verteilte. Die besten Teltower Rübchen ass man nach der Erfahrung dieses
Berliners in Viktoria in der brasilischen Küstenprovinz Espiritu Santo, das Beste wurde
geliefert von Spiegeleiern am Bahnhof in Rom, von Baumkuchen am Bahnhof in
[144] Kottbus, von Hammelrücken in Tondern, von Fruchteis oder von Kalbsherz in
München, von Weisswein im Kasino zu Trier; es gab das schlechteste Brod in
der Schweiz, die schlechtesten Würste in Brasilien, die schlechtesten Makkaroni
in Neapel, das schlechteste Essen überhaupt in Heidelberg, das schlechteste Bier
in Oberammergau. Wie gut wäre uns auch das Schlechteste erschienen!
Am 8. Dezember konnten wir zum ersten Mal eine ordentliche Queimada
anlegen als Wahrzeichen für die Verschollenen. Wir rechneten leidenschaftlich
die Entfernungen aus und sahen, dass Rondons Angabe zu klein ausfiel. Wir
passierten zahlreiche tief eingeschnittene Bäche, viele sumpfige Strecken (Atoleiros),
fanden uns wieder mitten im dichten, mit Gestrüpp gefüllten Kamp, stiegen von
Chapadão zu Chapadão und immer noch erschien keine Aussicht auf den Para-
natinga. Erst am 9. Dezember nach steilem Aufstieg erblickten wir den breiten
Waldstreifen, den wir ersehnten. Wir schlugen einen langen Weg Pikade und
standen plötzlich vor dem gelben, hochangeschwollenen und reissend dahinströmen-
den Fluss, der an dieser Stelle etwa 80 m breit war.
Von hier bis zur Fazenda sollte es noch »5 Leguas« sein. An ein Uebersetzen
der Truppe ohne Kanu war nicht zu denken. Antonio musste eins machen.
Lebensmittel waren nicht mehr vorhanden. So entschied ich mich, mit Peter
sofort zur Fazenda aufzubrechen. Unsere Hängematten und Kleider wurden in
einer Pelota auf das linke Ufer geschafft, wir selbst gingen ein gut Stück fluss-
aufwärts und schwammen hinüber oder wurden vielmehr durch die Strömung fort-
gerissen. Um 1½ Uhr schlugen wir uns drüben in die Büsche und kamen bald
an das linke Ufer des S. Manoel, eines breiten, aber stillen Flusses, den wir wieder
durchschwammen. Die Fazenda lag noch weit oberhalb. Das Verhältnis war
so, dass der Fluss auf dem Wege von ihr zum Paranatinga einen grossen Bogen
machte und links einmündete, wenige Kilometer oberhalb unseres rechts gelegenen
Lagers. Wir schritten wieder auf wirklichen, von Fährten bedeckten Wegen;
die erste Spur, die uns die sichere Nähe von Menschen verriet, rührte von Ochsen
und Eseln her. Nach 6 Uhr, als die Sonne zur Rüste sank, erschallte wütendes
Hundegebell, und wir standen noch nicht vor der Fazenda, aber vor einem Retiro,
einer Viehstation derselben, der sogenannten »Fazenda Pacheco« älteren
Datums.
»Como passou?« »wie geht es Ihnen?« begrüsste mich mit biederm Hand-
schlag ein kropfbehafteter Mulatte, der Vaqueiro Feliciano, der draussen in einem
Topf — uns hüpfte das Herz vor Freude — prasselnde Bohnen kochte. Bald
erschien auch der Capataz Francisco de Veado, ein alter wetterfester Jägersmann,
kerzengrade und stolz, als trüge er immer einen Degen an der Seite. Sie hielten
uns für Leute von Rondon.
Eine Umzäunung für das Vieh, schlammiger ausgetretener Lehmboden, ein
kleines Wohnhaus, 3 Schritte breit, 5½ Schritte lang. »Ihr Haus, Ew. Hoch-
wohlgeboren.« Nach meinem Aussehen konnte ich eigentlich nur auf »Ew. Wohl-
geboren« Anspruch machen. Drinnen: die Wände senkrechte Stiele mit dünnen
[145] Bambusquerhölzern, der Eingang bei offener Thüre unten durch ein paar Quer-
stangen gegen hereinlaufende Tiere gesichert; im Palmstrohdach oben arbeitete
ein Bienenschwarm. Eine weisse Hängematte, das Bett ein Gestell mit einem
Ochsenfell belegt und einem Sack als Kopfkissen, auf Gestellen darüber kleine
Säcke mit Bohnen, Reis, Farinha, Salz; unten an der Wand Bruaken, ein Holz-
sattel, ein paar alte Kisten, auf denen Kürbisschalen, Holzlöffel und vier kleine
eiserne Kochtöpfe standen, über der Thüre ein Reitsattel mit Riemenzeug,
daneben ein Strohhut mit einer von der Kinnschnur lang herabhängenden bunten
Troddel, ein dünner Vorderlader, eine klobige Pistole, an einigen Stangen
Leinenzeug, Kleider, Decken, Lassos, auf dem Boden eine Feuerstelle und ein
Haufen Asche, Sandalen, eine grosse Wasserkalabasse, mit einer Kürbisschale
zugedeckt; in einer Ecke, an drei Stricken befestigt, ein aus Aststücken zu-
sammengesetztes dreieckiges Hängebrett mit kaltem Rehbraten und einem Stück
Ameisenbärfleisch belastet. Kein Kaffee, kein Paraguaythee. Eine leere Flasche.
Das war wohl ziemlich genau das sichtbare Inventar.
Die Beiden erschöpften sich in Liebenswürdigkeiten, gaben uns Speck,
Farinha, Rapadura — Alles einfach, aber für uns grossartig. Auch unterliessen
wir nicht die landesüblichen Förmlichkeiten, dankten verbindlich nach jedem Ge-
richt und baten bei jeder Einzelheit um besondere Erlaubnis, so um einzutreten,
niederzusitzen, Wasser zu nehmen, die Hängematte aufzuhängen u. s. w.
Beim Morgengrauen des 10. Dezember gingen wir fort. Wir hatten noch
ein Nebenflüsschen des S. Manoel, den Pakú, der uns aber nur bis an die Hüften
reichte, und ein paar kleinere Bäche zu durchschreiten. Ich musste in jenen
Tagen oft der Hydrographen gedenken, die so zierlich und sauber ihre blauen
Aederchen auf Papier zeichnen.
Um 10 Uhr betraten wir eine kleine Ansiedelung von Arbeitern und sahen
dann unsere berühmte Fazenda S. Manoel gegenüberliegen auf hohem Ufer, in
üppiger Tropenlandschaft ein Bild, das mich lebhaft an Java erinnerte. Lehm-
hütten aus Fachwerk mit Palmstroh gedeckt, ein grosser Viehhof. Ein Rinden-
kanu brachte uns hinüber.
Man sass beim Frühstück. Am liebsten hätte ich einen der Kameraden bei-
seite geschoben und mich an seine Stelle gesetzt. Nun, José Confucio — mit
schwarzem Vollbart, das dicke Haar bis fast auf die Brauen reichend, barfuss in
sauberem Leinenanzug aus Hemd und Hose — empfing uns mit herzlicher Gast-
freundschaft. Es war urgemütlich. In der einfachen Stube hing als Schmuck
ein Jaguarfell, das am Tage vorher abgezogen war, aufgespannt an der Wand;
der Raum war wieder mit Bruaken und allerlei Vorräten gefüllt, und auf dem
gestampften Boden lag Stroh von Zuckerrohr umher, eine säugende Hündin
war in der einen Ecke gebettet und aus den andern ertönte überallher ein
unermüdliches Kükengepiepe. Bei Tische bedienten uns die Negerin Antoninha
und eine alte Bekannte aus dem Paranatingadorf der Bakaïrí, die Indianerin
Justiniana.
v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 10
[146]
Da lagen sogar Zeitungen! Nicht gerade das Morgenblatt von Sonnabend,
dem 10. Dezember, mit Sonntagsbeilage, sondern ungefähr einen Monat älter, aber
für mich hinreichend aktuellen Inhalts. Ich erfuhr, dass der »Rio Apa«, der für
uns eigentlich bestimmte Postdampfer, im Juli mit Mann und Maus untergegangen
war. — Confucio hatte einen Bruder in Cuyabá, der Kosciusko hiess und »ein
französischer Philosoph« war. Seine zwei Schwestern Namens Brasilina und Poly-
carpina wohnten auf der Fazenda. Von unsern Freunden, den benachbarten
Fazendeiros am oberen Cuyabá, wollte er nichts wissen. Das Land gehöre gar
nicht der Donna Matilda und ihren Verwandten, sie seien nur überall umher-
gezogen und erhöben nun Ansprüche auf das ganze linke Ufer des Paranatinga.
Auch auf Rondon war er schlecht zu sprechen. Er habe seine Leute
Hunger leiden lassen und mitgeführte Ochsen verkauft, statt ihnen das Fleisch
zu geben. Das Zusammentreffen mit den Indianern hatte sich, wie zu erwarten
war, so abgespielt, dass die Brasilier sofort, als jene mit dem gewohnten
Empfangsgebrüll erschienen, Feuer gaben. Es war Rondons Vorhut gewesen,
der Kapitän Francelino aus Rosario mit 6 Leuten, die diese alte und immer
wieder neue Thorheit begingen. Dabei zitterte Francelino infolge Neuralgie die
Hand, er kam mit dem Laden nicht zu Stande und brach unter einem Pfeil-
schuss zusammen. Rondon, der die Schüsse hörte, entfloh entsetzt, »aborrecido«.
Er beeilte sich so, dass ein armer Teufel von Kamerad, der hinkte, zurück-
geblieben und wahrscheinlich im Sertão umgekommen sei. Und mir lag derweil
wie Alpdrücken die Frage auf der Seele: was ist aus Januario und Perrot ge-
worden?
Zweierlei war für uns das Notwendigste: Lebensmittel und da unsere Esel
samt ihren Sätteln in dem denkbar schauderhaftesten Zustande waren, ein Arriero
für die Tiere. Ich mietete einen Mann Namens Gomez und liess ein Oechslein
mit Maisfarinha, Reis, Bohnen und Speck beladen. Farinha von Mandioka war nicht
vorhanden, auch von Reis gab es nur wenig; Dörrfleisch, wegen des Regens knapp
geworden, erhielt ich nur 4 kg, und Rapadura, die nicht im Hause gemacht,
sondern von der Serra geholt sei, nur 6 Stück. Schnaps bekam ich mit Ach und
Weh 2 Flaschen, er war in der vorigen Woche bei einer »Promessa« ausgetrunken
worden. Ein Maultier war abhanden gekommen, man hatte eine »Promessa« ge-
macht, ein Gelöbnis an den heiligen Antonio, dass er es wiederschaffe, und die
Dankfeier mit Gebet (reza), Schnapstrinken und Pururútanzen begangen.
Nun, die beiden Unglücksmenschen, Perrot und Januario, die uns beinahe
den Streich gespielt hätten, die ganze Expedition zu verderben, sie sassen wieder
im alten Zelt. Columna, der einem Santo eine Kerze gelobt hatte, wenn sie
wiederkehrten, war erhört worden; (bezahlen muss freilich der, für den das Ver-
sprechen geleistet worden ist). Den 10. Dezember, den Tag nach meinem Weg-
gehen, waren sie Nachmittags angeritten gekommen, triefend, abgerissen, zer-
schunden, mager, hohläugig — Jammergestalten, und doch von Freude erfüllt.
Sie waren nicht ertrunken, nicht vom Blitz erschlagen oder sonst auf eine
[147] interessante Art verunglückt, sie hatten sich wirklich nur gründlich verirrt und zwar
schon von Anfang an, sie waren zwölf Tage die Kreuz und Quer umhergezogen,
sie hatten die drei letzten Tage nichts mehr gegessen und waren noch im Besitz
von zwei kostbaren Zündhölzern. Januario’s alter Kopf hatte den erlittenen Un-
bilden nicht mehr Stand halten können; er delirierte mit Verfolgungsideen. Eine
Pilokarpininjektion, mit der ich ihm am 25. November, als er mit einer schweren
Erkältung niederlag und jammerte, dass er durch Nichts in der Welt in Schweiss
zu bringen sei, in kürzester Frist zu einem fürchterlichen Schwitzen verholfen,
und mit der ich ihn auch prachtvoll kuriert hatte, diese Injektion hatte ich nur
gemacht, um ihn »zu erstechen«. Perrot liess sein Gewehr putzen, um ihn »zu
erschiessen«, mit Kaffee gedachte man, ihn »zu vergiften«. Er erklärte, hier am
Paranatinga bleiben, sich einen Rancho bauen und eine Pflanzung anlegen zu
wollen. Er begrüsste mich mit mürrischem Gesicht und trübem Blick, war sehr
reizbar und anspruchsvoll, litt an Kopfschmerz und wurde auch in den nächsten
Wochen, obwohl er sich entschieden besserte, nie mehr wieder ganz das vergnügte
alte Haus, das uns alle mit seinem freiwilligen und unfreiwilligen Humor so häufig
heiter gestimmt hatte.
Perrot war über das Benehmen Januario’s verzweifelt gewesen, er hatte allein
die Tiere besorgen, Holz schlagen und Feuer machen müssen, und fortwährender
Zank gesellte sich zu der Verwirrung, den elenden Nächten, den Regengüssen,
dem Hunger. Den Paranatingazufluss, der den Wald unter Wasser gesetzt hatte
und bei dem wir ihre Spur verloren, hatten sie für den Batovy gehalten! Sie
waren nach Osten geritten. Sie kehrten zurück und setzten mit einem kleinen
Floss aus Buritístielen ihr Gepäck und ihre Gewehre über. Ihr unangenehmstes
Abenteuer war, während sie unter dem niedrigen Schutzdach schliefen, der nächt-
liche Besuch eines Jaguars gewesen. Sie fuhren erschreckt empor, als die Katze
in die Feuerasche patschte und hielten sie für einen Tapir. Januario versetzte
ihr mit dem Messer einen Stoss in die Rippen, Perrot gelang es seines Gewehrs
habhaft zu werden und einen Schuss abzugeben, worauf sich der Ruhestörer ver-
zogen und, wie Blutspuren am nächsten Morgen zeigten, zum Wald gewandt hatte.
Perrot hatte im Ganzen acht Patronen mit sich, von denen er sieben verschoss.
Die letzte behielt er aus Furcht vor einem ähnlichen Fall im Gewehr, obwol sie
Rehe in aller Nähe passierten und die folgenden drei Tage ohne Nahrung blieben.
Im Lager stürzte sich Alles über die Maisfarinha und die Rapadura, die
zusammen wie Zwieback mit Zucker schmeckten, nur hatte man sichtlich eine
grössere Auflage von den aus Zucker gegossenen Ziegelsteinen erwartet als Con-
fucio hergeben wollte. Es musste die genaueste Verteilung vorgenommen werden;
argwöhnisch, \frac{1}{10} im Scherz und \frac{9}{10} im Ernst, verglich man in seiner Gier nach
dem Süssen die wirklich kleinen Portionen. Das Dörrfleisch war trockene Haut.
Und im Lager selbst hatte es zuletzt Ueberfluss gegeben; nachdem man den ersten
Tag noch von Guariroba gelebt und nicht ein kleines Fischlein der Einladung anzu-
beissen gefolgt war, hatte man einen mächtigen auf einen halben Zentner Gewicht
10*
[148] geschätzten Jahú gefangen. Das hatte die Stimmung gehoben und wahrscheinlich
auch den Puls. Wilhelm hat in seinem Tagebuch die auffallend niedrigen Puls-
zahlen verzeichnet, die man am 10. Dezember zufällig beobachtet hatte, Vogel 44,
Wilhelm und Perrot 56, Ehrenreich 60, Januario aber 76.
Am 13. Dezember mussten wir unthätig liegen, da der Paranatinga bei an-
dauerndem Regen 1 m hoch gestiegen war. Am 14. begann das Uebersetzen
mit den Holzsätteln, die Gomez drüben, soweit möglich, unter Ausrufen sach-
verständigen Entsetzens zusammenflickte. Am 15. lächelte uns die Sonne, und
am 16. schlachteten und assen wir auf dem Retiro einen einjährigen Ochsen,
einen mamote (Säugling); der würdige Gastfreund Veado kommandierte die ge-
lehrten Herren in einer Weise zum Lassieren (wobei ich mir den kleinen Finger
fast ausrenkte), zum Herbeiholen grüner Zweige, zum Abhäuten und Zerlegen,
dass man sah, er war von dem unvernünftigen »Ew. Hochwohlgeboren« der ersten
Begrüssung zurückgekommen.
Der Pakúfluss machte es ziemlich gnädig, die Bruaken wurden hinübergetragen
und gaben den Leuten ein angenehmes Gegengewicht gegen die Strömung, während
die nur mit der emporgehaltenen Kleidung belasteten, am schief eingestemmten
Wanderstab daherschreitenden Doktores sich kaum getrauten, die schlanke Stütze
von dem beweglichen Geröllgrund zu lüften und einen Schritt weiter zu verpflanzen.
Zu Vogel’s Geburtstag am 17. Dezember zogen wir denn endlich allesamt
in das Eldorado der Fazenda ein. Es entwickelte sich bald eine fieberhafte Ge-
schäftigkeit. Antonio schleppte Holz herbei und briet Mandioka in der Asche;
wir hatten ein Stämmchen mit fast meterlangen Wurzeln erhalten. Perrot und
Vogel veranstalteten ein Wettkochen, jener »Kartoffelpuffer« aus Mandioka d. h.
nicht aus der giftigen, sondern aus der gutartigen »Aypim«-Wurzel, sagen wir
Mandiokapuffer, dieser einen Schmarrn in Aussicht stellend. Manoel zerrieb die
Manihot utilissima, Januario schlug Eier auf, Wilhelm schnitt Speckwürfel, Vogel
rührte die Eier mit Maismehl an und Perrot bearbeitete in einer riesigen Kürbis-
schale seine Konkurrenzmischung, Ehrenreich holte Kaffee bei Donna Brasilina.
Die Puffer siegten glänzend über den Schmarrn. Gaben doch zwei anwesende
Rheinländer das Gutachten ab, dass diese Mandiokapuffer die heimischen Reib-
kuchen überträfen. Dem Wettkochen folgte ein Wett-, nennen wir es dem Leser
zuliebe ein Wett-essen. Aber die Kehrseite der Medaille, die dem glücklichen
Tage folgende tiefunglückliche Nacht! Vergeblich hatte Ehrenreich gewarnt mit
seinem früher so oft unangebracht zitierten Lieblingsspruch, Jesus Sirach 37,
Vers 32—34: »Ueberfülle Dich nicht mit allerley niedlicher Speise, und friss nicht
zu gierig. Denn viel Fressen macht krank, und ein unsättiger Frass kriegt das
Grimmen. Viele haben sich zu Tode gefressen; wer aber mässig isset, der lebt
desto länger.«
Am 18. und 19. Dezember schien die Sonne, Alles trocknete, die Bruaken
derartig, dass sie nicht ausgepackt werden konnten, weil es unmöglich gewesen
wäre, sie in der verschrumpelten Form wieder hineinzupacken. In der Nacht
[149] hatten wir viele Mühe, die Sachen vor den Besuchern zu schützen, die wir auch
immer an der Pfostenwand unseres Schlafschuppens unheimlich rumoren hörten:
die sogenannten »Haustiere« waren hier noch sehr unzivilisiert, die Kühe schleckten
die Bruaken und Häute ab, so hoch sie aufgehängt waren, die Hunde wühlten
an unserer Feuerstelle und schmatzten unausstehlich stundenlang, die Schweine
frassen Alles, was nicht Holz oder Metall war, mit Vorliebe alte Tücher, und
rückten denen, die ihre Indigestion hinaustrieb, in unverantwortlichster Weise
schnobernd und schlingend zu Leibe. Frühzeitiges Aufstehen war Einigen von
uns im Sertão schwerer gefallen als hier in der Fazenda. Hinter dem Zaun, den
wir Gäste dann bald in grösseren Anzahl aufmerksam umstanden, wurden die Kühe
gemolken, und eine Schale warmer Milch, mit Rapadura und Maisfarinha verrührt,
däuchte uns der Gipfel irdischen Glücks.
Am 22. Dezember waren wir wieder in Bewegung. Bauchgrimmen und
Verdauungsstörungen verschwanden allmählich; unser Magen vertrug die hart-
näckigen Angriffe, die wir auf seine Wandungen richteten, nur im Gehen. Die
Lagerplätze für die Nacht waren nun gegeben, eine grosse Annehmlichkeit und
ein grosser Vorteil, da die Entfernungen ziemlich gross waren. Wir zogen über
die Wasserscheide in das Gebiet des Rio Cuyabá. Ziemlich steile Hügel mit
quarzigem Geröll; seit S. Manoel fand sich auch wieder Schiefer, fast vertikal
gerichtet.
Am 23. Dezember ein wundervoller Morgen; an dem Bach, wo wir uns
wuschen, spielte die Sonne durch das Gezweig; erfrischende Schattenkühle unter
den Bäumen, draussen stechende Hitze. Alles grün im Gegensatz zur Trocken-
zeit. Im Wanderschritt die Hügel hinauf und wieder hinunter. Weite Graseinöde.
In den Einsenkungen krauses niedriges Walddickicht. Auch am nächsten Tage
Sonnenschein. Wir schritten am Terrassenrand über die Zinnen der roten Forts,
die wir auf dem Hinwege von unten bewundert hatten. Rechts in der Tiefe
waldgefüllte Schluchten zwischen den napfkuchenähnlichen Bergwänden der
Plateaustufen. Heiss, trocken, kein Lüftchen, sandig, ab und zu ein Wolken-
schatten oder ein Raubvogel; sonst hier oben nur die tote Ebene.
An einer sumpfigen Lagune, deren schlechtes, warmes Wasser nach der
einen Seite zum Rio dos Mortes, also dem Araguaygebiet, nach der andern zum
Rio Manso, dem Nebenfluss des Cuyabá, hätte fliessen können, wenn es nämlich
nicht wie eine grosse Pfütze stillgelegen hätte, feierten wir Weihnachten.
In Cuyabá beschenkt man sich nicht so allgemein wie in Deutschland am
Weihnachtstage. Doch schicken die jungen Mädchen jungen Männern eine Platte
Süssigkeiten, Doces, und erwarten ein Kleid oder dgl. als Gegengabe — wenn
sie nicht auf mehr spekulieren, meinte Perrot. Wir wollten unsern Christbaum
haben und mussten uns, da es unter den krummen, krüppligen Erzeugnissen des
Sertão nichts einer Fichte Aehnliches gab, einen machen. Wir setzten Holz-
stäbchen als Zweige in einen kleinen graden Stamm und umwanden sie mit
Unkraut, das den Eindruck der Fichtennadeln sehr gut wiedergab. Dann suchten
[150] wir mit einiger Mühe bunten Schmuck im Kamp; es fanden sich Pikí-Aepfelchen,
einige orangerote Blumen und Bergkristalle; die Spitze, einer Paepalanthusstaude
entnommen, bildete eine Krone, starrend von Kugeln, die am Ende langer
Stachelspitzen sassen. Mit den Kerzen brauchten wir jetzt nicht mehr zu sparen.
Nach Eintritt der Dunkelheit stellten wir das Kunstwerk in Perrot’s Zelt, zündeten
die Lichter an und gaben nach riograndenser Art einige Schüsse ab.
Das strahlende Bäumchen in der Zeltecke machte sich ganz allerliebst.
Weniger glänzend sah es mit den Geschenken aus. Doch hatten wir zweierlei
für diesen Abend im tiefsten Grund der Blechkästen durch alle Unbilden der
Reise hindurchgerettete Herrlichkeiten zu bescheeren. Herr Ernesto Vahl in
Desterro hatte uns ein Packet bulgarischen Zigarrettentabaks mit dem ausdrück-
lichen Zusatz »Weihnachten« mitgegeben, und Vogel hatte mit gleicher Be-
stimmung in seinem heimatlichen Nest Uehlfeld in Franken beim Abschied eine
Schachtel »extrafeiner, runder Lebkuchen« von dem Zuckerbäcker »Wilhelm
Büttner am Markt« erhalten, sich selbst freilich nicht die Seelenstärke zugetraut,
bis zum 24. Dezember zu warten, sondern schon in Cuyabá die Verantwortung
mir übertragen. Heil den edelmütigen Spendern! Ich glaube nicht, dass sie
selbst an diesem Abend wertvollere Geschenke erhalten haben. Als brave
Philister tranken wir köstlichen Mokka und sangen, obwol nur Wilhelm singen
konnte, zum Kaffee redlich die »Wacht am Rhein« und das in der Fremde
doppelt voll ertönende »Deutschland, Deutschland über Alles«. Und der Ex-
peditionsdichter klagte wehmütig:
Ein Weihnachten hatte ich in Japan, eins in Mexiko verbracht, eins im
antarktischen Südgeorgien, und dieses an der von quakenden Fröschen erfüllten
Lagoa Comprida, der langen Lagune, war nun das dritte auf südamerikanischem
Festland.
Am 25. Dezember überstieg die Eintönigkeit der Landschaft das Mass
alles Erlaubten. Während der 35 Kilometer unseres Marsches zählte ich die
lebenden Wesen, die ich bemerken konnte: 1 Raubvogel, 1 kleinen Kampvogel,
eine raschelnde Eidechse, 3 Bienen. Zahlreiche rote Kegel von Termitenbauten,
wie groteske Grabhügel. Ein Holzkreuz mit drei aufgemalten Kreuzen; hier
musste Einer vor Langeweile gestorben sein. 25 Kilometer der Strecke ohne Wasser;
am Lagerplatz war der Trank gut und kühl für unsere Ansprüche, 24, 6°.
Am 27. Dezember erreichten wir die Fazenda von Ponte alta, ein grosses
Haus mit einem Mühlrad und Maisstampfer in einer schönen Thalschlucht. Dort
[151] wohnte der Begleiter Rondons, Chico Velho, der eine der beiden Versprengten.
Er hatte 21 Tage für den einsamen Heimweg gebraucht. Wir lernten einen
alten Graukopf kennen, der die Bakaïrí des Paranatinga im Jahre 1835 oder 36
besucht hatte. Seine Schilderung entsprach noch in Allem unsern Erfahrungen
vom Schingú, nur dass die Indianer damals schon die brasilischen Nutzpflanzen
und Haustiere besassen. Zur Feier von Ehrenreich’s Geburtstag wurde ein grosser
Grog gebraut und Carlos brachte einen gereimten protugiesischen Trinkspruch
aus, der begann, »viva a rosa«, es lebe die Rose, aber schliesslich mit einem
kühnen Sprung auf den Doutor Paulo übersetzte. Die Maultiere erhielten nun
zum ersten Mal Mais und konnten vor Aufregung fast nicht fressen; was uns die
Fazenda S. Manoel war, war ihnen die von Ponte alta.
Wir kamen jetzt auf die von Cuyabá nach Goyaz führende Strasse und
merkten bald lebhafteren Verkehr. Trafen wir doch ein halbes Dutzend Be-
rittener, die nach der Kirche von Chapada zur Wahl zogen. Unter ihnen war
ein prächtiger alter Neger-Gentleman mit kleinem Kopf und weissem Gebiss
(»Garderobenhalter« nach Ehrenreich), mit gelbem Strohhut, gelber Nankingjacke,
weisser Weste, weissen Hosen, Stulpstiefeln und blinkender Sporenkette; unser
seltsamer Aufzug, besonders die starrenden Pfeilbündel und die Reusen auf dem
Rücken von Ehrenreich und mir machten ihm einen Heidenspass, und als er
schon weit voraus war, hörten wir noch das laute zwanglose Niggerlachen.
Am 29. Dezember begann der Abstieg von der Chapada. Das Wahr-
zeichen der Cuyabá-Ebene, der blaue Bergkegel S. Antonio erscheint. Wald,
breiter, mit Sandsteinblöcken überstreuter Weg, Steinwände wie alte Burgmauern,
ein verwahrloster Schlosspark riesigen Massstabs. Allmählich geht es mühsamer
und steiler bergab. Quarzgeröll und Schiefer, glühender Sonnenbrand, durch den
Reflex gesteigert. Schwer zu begreifen, wie hier Karren verkehren. Lager am
Corrego Formoso, am »schönen Bach«, in Gewitter und Regen. Am 30. Dezember
passieren wir mehrere Ansiedlungen; ein altes Weib fragt angelegentlich, ob wir
viel Gold gefunden hätten. Wir übernachten bei einer kleinen Fazenda, deren
Besitzer sich zur Stadtverordneten-Wahl nach Cuyabá begeben hat. Am nächsten
Morgen ist Allen schon um 4 Uhr früh der Schlaf verflogen. Man hört nur
noch »cidade, cidade«, denn Cuyabá ist die Stadt natürlich. In einer Stunde am
Coxipó, der 5 Kilometer unterhalb der Hauptstadt in den Cuyabá mündet. Er
wird an einer Furt durchschritten. Es ist das Flüsschen, wo 1719 das erste Gold
gefunden und die erste Niederlassung der Paulisten gegründet wurde.
Perrot, schon wieder ganz von dem Dämon der bürgerlichen Wohlanständigkeit
erfasst, schämt sich leider seines zerlumpten Aussehens und ist vorausgeritten, um
möglichst ungesehen seine Wohnung zu erreichen. Wir aber schämen uns gar nicht.
Wir schmücken unsere Hutdeckel mit grünem Laub, binden den braven Maul-
tieren grüne Zweige auf den Halsrücken, und geniessen in vollen Zügen den
Anblick des plötzlich erscheinenden freundlichen Städtchens mit den merkwürdig
vielen Häusern und Ziegeldächern, mit der »Kathedrale« des Senhor Bom Jesus
[152] und den Kirchlein des Senhor dos Passos, der Nossa Senhora de Rosario, der
Nossa Senhora do Bom Despacho und auf dem höchsten Hügel der Bôa-
Morte. Wir treffen es nicht etwa so, dass kein Festtag wäre. Gewehre und
Revolver knattern, Raketen zischen in der hellen Himmelsluft empor und ver-
flüchtigen sich mit losen weissen Wölkchen: die Wahlschlacht ist entschieden.
Haben die Konservativen diesesmal oder die Liberalen den Sieg davon getragen?
Still verblüfft starrt die Bevölkerung unserm seltsamen Zuge nach. Ihr konnten
die Auetö́ und Kamayurá und Nahuquá kein grösseres Interesse einflössen als uns
die Farbe ihrer Deputierten.
Auf dem freien Platz vor der Kathedrale machten wir Halt; hier war die
Post und dort lagen unsere Briefe. Aber da waren auch ein paar Freunde, die
uns stürmisch umarmten, Allen voraus der Chef des Postwesens, unser lieber
André Vergilio de Albuquerque. Wir befragten ihn, ob das Haus in der Rua
Nova noch unbewohnt und zu mieten sei. Und alle Achtung, da trat uns echt
brasilische Noblesse wieder einmal in einer Aufwallung entgegen, die den gar zu
gern Phrasen witternden Nordländer beschämen muss. »Dieser Herr«, sagte
Senhor André Vergilio, »wünscht ihre Bekanntschaft zu machen, Doutor Carlos«.
Er stellte mich einem noch jungen Manne vor, der freundlich und leicht verlegen
dreinschaute, dem Commendador Manoel Nunes Ribeiro. »Dieser Herr«,
fuhr Vergilio fort, »würde sich glücklich schätzen, wenn Sie mit Ihren Freunden
sein leerstehendes Haus in der Hauptstrasse, eins der schönsten in dieser Stadt,
beziehen und darin solange verweilen wollten, als es Ihnen möglich ist«. Und
dann begeisterte sich der gute Vergilio zusehends, sprach von unsern unsterblichen
Verdiensten um die Provinz Matogrosso, der Commendador verbeugte sich fleissig
und lächelte verbindlich, und wir sahen doch abgerissener und wilder aus als
eine von Gendarmen zusammengetriebene Bande Vagabunden. Wir nahmen das
gastliche Anerbieten mit herzlichem Dank an und fanden ein geräumiges Haus
mit prächtigem weitem Garten, mit einer Halle, in der wir unsere Sammlung auf
das Bequemste auspacken, trocknen und reinigen, mit einer »Sala«, in der wir
sie übersichtlich aufstellen, mit je einem grossen Zimmer für Jeden von uns, in dem
wir uns nun auch selbst wieder ein wenig sammeln konnten.
[[153]]
VIII. KAPITEL.
I. Geographie und Klassifikation der Stämme
des Schingú-Quellgebiets.
Der alte, von seinen Genossen durch einen äusserst bescheidenen Lippen-
pflock unterschiedene Häuptling der Suyá hatte uns 1884 die lange Liste der Stämme
aufgezählt, die am obern Schingú sesshaft sind, und die Quellflüsse, an deren
Ufer sie wohnen, mit dem Finger in den Sand gezeichnet. Vgl. »Durch Central-
brasilien«, S. 214. Seine 13 Stammesnamen haben uns verlockt, die zweite Reise
zu unternehmen. Im Grossen und Ganzen, muss man sagen, haben sich die
Angaben unseres Gewährsmannes bestätigt. Seine Flussverästelung kann allerdings
den kartographischen Ansprüchen unserer karaibischen Genauigkeit nicht genügen,
allein auch da ist er mehr im Rechte gewesen, als wir zu erkennen vermochten,
indem wir den Kulisehu mit dem Kuluëne verwechselten. Nur ist die astronomische
Lage der Ortschaften unter einander völlig verzerrt ausgefallen, da der Suyá
für die grosse Reihe den einen Quellarm entlang auch einen sehr grossen Strich
nötig hatte und ihn munter in’s endlos Südliche hinausführte.
Die Anwohner des Ronuro kennen wir nicht; Vogel hat den Auetö́häupt-
ling, der die Einmündung bei Schingú-Koblenz mit ihm befuhr, so verstanden,
dass es dort Kabischí und Kayapó gebe. Die Kabischí, von denen man etwas
weiss, wohnen im Quellgebiet des Tapajoz als ein Teil der zahmen Paressí-
Indianer; es wäre im höchsten Grade interessant und wichtig, wenn die Paressí
ebenso wie die Bakaïrí in eine »zahme« und eine »wilde« Gruppe zerfielen, da
gerade an diesem einst volkreichen und hochentwickelten Nu-Aruak-Stamm die rohe
Zivilisierung Unersetzliches vernichtet hat. Die weitverbreiteten Kayapó würden
am Ronuro durchaus nicht befremden, da sie am Paranatinga häufig erschienen
und von den Brasiliern hier nur mit den Coroados-Bororó verwechselt worden sind.
An dem Nebenfluss des Ronuro, dem Batovy-Tamitotoala,*) auf dem wir
1884 hinabfuhren, liegen vier Dörfer der Bakaïrí. Sein Unterlauf und das rechts
anstossende Gebiet gehört den Kustenaú und den Waurá.
[154]
Es folgt nach Osten der Kulisehu. An seinem linken Ufer haben wir die
drei Dörfer der Bakaïrí, Maigéri oder »Tapir starb«, Iguéti oder Sperberdorf,
Kuyaqualiéti oder Harpyendorf. Dann kommt am rechten Ufer das Dorf der
Nahuquá. Wieder links liegt abseits und nicht von uns besucht ein viertes Dorf
der Bakaïrí. Weiter flussabwärts sitzen am linken Ufer die Mehinakú in den
beiden Dörfern, die die Bakaïrí als Paischuéti (Hundsfischdorf) und Kalúti be-
zeichneten. Es scheint jedoch, dass es drei Dörfer giebt; die Paischuéti-Mehinakú
sprachen noch ausser von den Yutapühü — das wäre »Kaluti« —, deren Hafen wir
am 15. Oktober passierten, von den Atapilú, indem sie uns gleichzeitig vor den
Ualapihü, Ulavapitü d. i. unsern Yaulapiti warnten. Von dem Mehinakúgebiet ab
beginnen zahlreiche Kanäle, die mit einigen Lagunen das Gebiet zwischen den
Unterläufen des Kulisehu und Batovy durchsetzen. Das Dorf der Auetö́ kann
als eine Art Zentralpunkt für den Kanalverkehr gelten*). An zwei Lagunen
finden wir in zwei Dörfern die Yaulapiti, an einer dritten Lagune die
Kamayurá, die vier dicht bei einander liegende Ortschaften hatten und im
Begriff waren, sie zu einer einzigen zu vereinigen. Eine Mischung von Yaulapiti
und Auetö́ sind die Arauití (vgl. S. III).
Der Kulisehu mündet in den Kuluëne; wenige Stunden Ruderns führten
zu den an seinem rechten Ufer nicht weit oberhalb Schingú-Koblenz in zwei
Dörfern angesiedelten Trumaí. Von den Suyá vertrieben, beabsichtigte dieser
Stamm, sich in der Nähe der Auetö́ ein neues Heim zu gründen. Oberhalb am
Kuluëne und auch an kleinen Zuflüssen zwischen ihm und dem Kulisehu sitzen
die Nahuquá in einer Reihe von Ortschaften, die besondere Namen haben. Wir
lernten einzelne Individuen kennen von den Guapirí, Yanumakapü, Guikurú
und Yaurikumá; die Yanumakapü, die Enomakabihü der Bakaïrí, wohnen nicht
am Hauptfluss, und von den Guapirí wurde seitens der Bakaïrí besonders hervor-
gehoben, dass man sie über Land zwischen Kulisehu und Kuluëne finde. Im
ersten Bakaïrídorf zählte mir Paleko die Nahuquá-Ortschaften des Kuluëne auf
und gab die Himmelsrichtung an, in der sie von Maigéri aus zu suchen wären;
es sind, im Oberlauf beginnend: 1. Anuakúru oder Anahukú SO, 2. Aluíti
oder Kanaluíti O, 3. Yamurikumá oder Yaurikumá O bis OSO, 4. Apa-
laquíri ONO, 5. Guikurú ONO, 6. Mariapé NO. Hinter ihnen kamen die
Trumaí. So hätten wir mit den Guapirí, den Yanumakapü und den Nahuquá des
Kulisehu 9 Nahuquádörfer.
Um das Bild abzurunden, erwähne ich noch die Suyá, die an dem Haupt-
strom drei kleine Tagereisen unterhalb Schingú-Koblenz wohnen, von denen wir
auf der zweiten Expedition nichts sahen, aber böse Geschichten hörten, und die
Manitsauá, die an einem weiter abwärts einmündenden linken Nebenfluss sitzen
und den Kamayurá und Yaulapiti gut bekannt sind. Wir trafen 1884 eine An-
[155] zahl Manitsauá in Gefangenschaft der Suyá. Erst 1887 hörten wir von den
Yarumá oder Arumá, die sehr bald nach den Trumaí den unangenehmen Besuch
der Suyá empfangen haben sollten, und von denen uns die Kamayurá die merk-
würdige Mitteilung machten, dass sie einen metallisch klingenden Ohrschmuck
trügen (vgl. S. 118). Es ist wahrscheinlich, dass wir in ihnen Mundurukú, den
berühmten Kriegerstamm des Tapajoz erblicken müssen, dessen Spuren wir am
Schingú längst vermisst haben. Die Paressí nannten die Mundurukú Sarumá,
was lautlich dasselbe ist wie Yarumá. Ein Stück den Yarumá zugeschriebener
Keule von karajáähnlicher Arbeit kann den in der Uebereinstimmung der Namen
liegenden Beweis nicht entkräften. Eine uns noch dunklere Existenz führen die
Aratá; die Nahuquá erklärten, dass sie nichts taugten, und der Suyágeograph
hatte sie ihnen zu Nachbarn gegeben. Ein Karajástamm?
Endlich habe ich noch, wiederum im obersten Quellgebiet, der Kayapó zu
gedenken; sie sollen zwischen Kulisehu und Kuluëne oberhalb der Nahuquá an
den Quellen des Pakuneru leben, des kleinen Kulisehu-Nebenflusses, dessen Namen
mit dem Bakaïrí-Namen des Paranatinga identisch ist. Schon der Suyágeograph
hatte als äusserste Bewohner die »Kayuquará« angegeben und ich hatte damals,
wie es jetzt scheint, mit Recht vermutet, dass darunter Kayaχó-Kayapó zu ver-
stehen seien.
Die lange Reihe der Namen sieht schlimmer aus als sie in Wirklichkeit ist.
Jedes Dorf hat seinen Namen, und der Fremde, der ihn hört, kann zunächst
nicht beurteilen, ob er dort einen neuen oder einen bekannten Stamm zu er-
warten hat. Das einfachste Beispiel sind die Nahuquá. »Nahuquá« heissen
für den Indianer nur die Bewohner des Kulisehudorfes; die Yaurikumá,
Guikurú etc. nennen sich selbst nicht Nahuquá, und es ist nur der Zufall, der
uns zuerst bei den »Nahuquá« einkehren liess, dass ich nun diesen Namen als
den Stammesnamen vorführe. Geringe dialektische Verschiedenheiten mögen
vorhanden sein, doch habe ich von den Yanumakapü ein Verzeichnis der wichtigsten
Wörter aufnehmen und mich auch für die Yaurikumá und Guikurú überzeugen
können, dass ihre Sprache mit dem »Nahuquá« durchaus übereinstimmt. Die
Bakaïrí sind von einem strengeren Nationalitätsgefühl beseelt, denn sie nennen
sich Bakaïrí, ob sie nun im Quellgebiet des Arinos, des Paranatinga, des Batovy
oder des Kulisehu wohnen. Die Bakaïrí des Kulisehu müssten sich nach Analogie
der Nahuquá mit ihren Dorfnamen Maigéri, Iguéti und Kuyaqualiéti nennen.
Es wäre ein Segen für die Ethnographie gewesen, wenn sich alle Stämme
dieses schöne Beispiel der Bakaïrí zum Vorbild genommen hätten. Wir sehen
hier an mehreren Beispielen deutlich, wie sich eine Familiengemeinschaft oder,
wenn man will, ein Stamm räumlich verteilt, wie jede Sondergemeinschaft geneigt
ist, auf den alten Zusammenhang zu verzichten und diesen deshalb unrettbar ver-
lieren, ein neuer »Stamm« werden muss, wenn die Verschiebung andauert und
anstatt mit den blutverwandten Nachbarn mit solchen anderer Abstammung engere
Beziehungen unterhalten werden. Es bleibt uns unter diesen Umständen gar nichts
[156] anderes übrig als zunächst die sprachlichen Verwandtschaften festzustellen.
Man braucht sie mit Blutverwandtschaften nicht zu verwechseln. Allein unter den
kleinen einfachen Verhältnissen, um die es sich hier handelt, decken sich Sprach-
verwandtschaft und Blutverwandtschaft weit mehr als bei höher zivilisierten Völkern,
die eine durch die Schrift zu festem Gepräge ausgestaltete Sprache besitzen.
Wenn in eine dieser Familiengemeinschaften ein paar fremde Individuen ein-
treten, so werden sie, das ist ohne Weiteres zuzugeben, eine Kreuzung ver-
anlassen, die durch das Studium der Sprache nicht verraten wird. Aber Ver-
mischungen in grösserem Umfang verändern auch die Sprache gewaltig. Die
fremden Frauen, die Mütter werden, üben einen Einfluss auf die Sprache der
Kinder aus, der z. B. in dem Inselkaraibischen handgreiflich hervortritt. Die
Kinder der Karaibenmänner und Aruakfrauen sprachen keineswegs karaibisch, wie
die jungen Mulatten in Brasilien portugiesisch sprechen, sondern redeten eine neue
Sprache, die wichtige grammatikalische Elemente und lautliche Besonderheiten von
den Müttern aufgenommen hatte. Das ist auch wenig wunderbar, denn die Kultur-
unterschiede zwischen den beiden Stämmen waren nicht wesentlich, die Zahl der
fremden Frauen war gross und diese brachten alle lokale Tradition, da die er-
obernden Männer von aussen kamen, mit in die Ehe. Die Kinder waren genötigt,
sich sowohl für den Sprachstoff nach Vater- und Mutterseite hin auszugleichen,
als auch zwischen den von hier und dort gebotenen Präfixen oder Suffixen, die
für die Veränderung der Wortwurzeln durch den Einfluss auf den Stammanlaut
oder den Stammauslaut von entscheidender Bedeutung sind, eine Auswahl zu
treffen, und erfuhren die noch durch keine Schulmeisterkultur gezähmte, sondern
in freiem Leben thätige Wechselwirkung der bisher bei den zwei elterlichen
Stämmen geltenden Lautgesetze. Bei diesen Naturvölkern wird im Groben das
Mass der sprachlichen Differenzierung auch das Mass der anthropologischen
Differenzierung sein.
Wenn wir uns nach den Sprachverwandtschaften der Kulisehu- »Stämme«
umsehen und dadurch eine Reduktion der Liste gewinnen wollten, so müssen
wir einen Augenblick bei den im übrigen Brasilien vorkommenden linguistischen
Gruppen verweilen.
Es giebt noch zahlreiche einzelne Stämme, die, sei es, dass ihre Sprach-
verwandten nicht mehr leben, sei es, dass wir sie nicht kennen, isolierte Sprachen
reden. Hierher haben wir vorläufig, um sie gleich aus dem Wege zu räumen,
die Trumaí zu rechnen. Es ist mir nicht gelungen, sie irgendwo in der Nähe
oder in der Ferne unterzubringen. Sie haben eine Menge Kulturwörter von ihren
Nachbarn, den Kamayurá und Auetö́ entlehnt, aber der Kern und das Wesen
des Idioms ist eigenartig und andern Ursprungs, wie auch der leibliche Typus von
allen Kulisehu-Stämmen abweicht.
Von den Kordilleren bis zum Atlantischen Ozean, vom La Platz bis zu den
Antillen sind vier grosse Sprachfamilien verbreitet: Tapuya, Tupí, Karaiben
und Nu-Aruak.
[157]
Die Tapuya sind die ostbrasilischen Aboriginer, die Waldbewohner des
Küstengebietes und die Bewohner des Innern bis zu einer westlichen Grenze, als
die für den Hauptstock der Schingú gelten kann. Sie zerfallen in zwei Abteilungen,
eine westliche, die Gēs nach Martius, und eine östliche, zu denen die primitiven
Waldstämme des Ostens und die Botokuden gehören. Die westlichsten Vor-
posten der Gēs sind die Kayapó und Suyá. Mit letzteren haben wir uns bei dem
Bericht über die zweite Expedition nicht weiter aufzuhalten, nur muss jetzt die
interessante Thatsache nachgetragen werden, dass die Suyá früher noch viel weiter
westlich gewohnt haben. Sie waren im Westen des Paranatinga an seinem linken
Nebenfluss, dem Rio Verde, in der Nachbarschaft der Kayabí und Bakaïrí ansässig
und wurden vor nicht langer Zeit von hier zum Schingú, man darf wohl sagen,
zurück vertrieben. Die ganze Masse der Gēs sitzt seit undenklichen Zeiten östlich
des Schingú, und die nächsten Verwandten der Suyá, die Apinagēs, wohnen in
dem Winkel, wo Araguay und Tokantins zusammenfliessen.
Die Tupí sind über ungeheure Strecken zersplittert. Ihre Nordgrenze liegt
im Grossen und Ganzen an den nördlichen Nebenflüssen des Amazonas; sie hielten
die Küste von der Mündung des Amazonas bis zu der des La Plata besetzt; die
Guaraní von Paraguay reden nur einen Dialekt des Tupí. Wir begegnen den
Tupí an dem Oberlauf des Schingú, des Tapajoz, des Madeira, ja des Maranhão.
Ihre Sprache wurde von den Jesuiten zu der Verkehrssprache, der »Lingoa geral«
erhoben. Zum grossen Nutzen für die Praxis, zum Unglück für die Sprachen-
kunde. Das Interesse für das Tupí hat die Wissenschaft in Brasilien alle andern
Sprachen höchst stiefmütterlich behandeln lassen, zahllose Bände aus alter und
neuer Zeit sind ihm gewidmet, von keinem der Tapuyastämme, weder von den
Botokuden noch einem Gēs-Stamm, deren linguistische Erforschung wegen der
niederen Kulturstufe zu den wichtigsten der Erde gehören würde, und die in
Wirklichkeit den Kern der ostbrasilischen Urbevölkerung gebildet haben, giebt es
mehr als dürftige Vokabularien. Sub spezie des Tupí sieht der brasilische Gelehrte
ungefähr Alles, was über die Eingeborenen gedacht wird. Er ist glücklich, die Tupí in
nächste Verwandtschaft mit den Ariern zu setzen und leitet von dem Tupí die übrigen
Sprachen seines Vaterlandes ab; diese Eingeborenen sind aber wirklich so weit ver-
breitet, dass es recht überflüssig ist, sie jetzt auch noch dort unterzubringen, wo
sie selbst noch nie hingekommen sind. Am Kulisehu gehören zu ihnen die Auetö́
und die Kamayurá, letztere in grösserer Uebereinstimmung mit der Lingoa geral.
Die Karaiben sind im Norden des Amazonenstromes seit den Zeiten der
Entdecker bekannt. Am Kulisehu waren wir die Karaiben; und so sind wohl
auch ursprünglich die ersten Karaiben die ersten Fremden gewesen, die, wie in
zahlreichen andern Fällen geschehen und wie wirklich bei dem Empfangslärm in
einer unbekannten Sprache oft schwer zu vermeiden ist, den Stammesnamen un-
richtig auffassten und das auf sie selbst bezügliche Wort dazu machten. Der
Name wird natürlich von den Tupímanen aus dem weder auf den Kleinen Antillen
noch an der Nordküste des Kontinents gesprochenen Tupí abgeleitet. Die Bakaïrí
[158] nannten uns „Karáiba“ mit deutlicher Betonung des „a“; das Wort lässt sich aus
ihrer Sprache erklären als »nicht wie wir«, während der Gegensatz »wie wir«
Karále heisst. Doch wollen wir die recht unsichere Etymologie beiseite lassen,
es kann uns genügen, dass das Wort ein in unserm Sinn karaibisches ist, von
den Tupí des Kulisehu in der schon verkürzten Form „karaí“ — nicht in der
Form „karyb“ der Lingoa geral! — übernommen wurde und nach Allem für uns
»Karaibe« und nicht, wie man sich jetzt vielfach zu schreiben gewöhnt hat,
»Karibe« lauten muss. Karaiben sind am obern Schingú die Bakaïrí und die
Nahuquá. Ihre Sprache ist grundverschieden von dem Tupí und die Lieblings-
hypothese mehrerer ausgezeichneten Forscher, dass die Tupí und die Karaiben
Verwandte seien, ist durch die beiden Schingúexpeditionen endgültig beseitigt
worden; die Wurzelwörter der beiden Sprachen zeigen keine Uebereinstimmung.
Die Nu-Aruak zerfallen in die Unterabteilungen der Nu-Stämme und der
Aruak. »Nu-« bedeutet das Leitfossil dieser Stämme, das für die meisten von
ihnen höchst charakteristische Pronominalpräfix der ersten Person, dem wir von
Bolivien und vom Matogrosso bis zu den Kleinen Antillen begegnen. Die Nu-Aruak
sehen wir in den Guyanas in inniger Berührung mit den Karaiben; auf den Kleinen
Antillen, wo die Aruak von den Karaiben überfallen und vergewaltigt worden waren,
wäre ohne die Vernichtung bringende Ankunft der Europäer aller Wahrscheinlichkeit
nach eine wirkliche Verschmelzung zu Stande gekommen: der Pater Raymond
Breton hat uns 1665 ein Wörterbuch der Inselkaraiben überliefert, dessen
indianisch-französischer Teil, leider nur dieser, durch das Verdienst von Julius
Platzmann in einer Facsimile-Ausgabe allgemein zugänglich geworden ist
(Leipzig 1892), und hat sich redlich bemüht, die Wörter der karaibischen Männer
und die der aruakischen Weiber, wo sie verschieden lauteten, auseinander zu
halten, durch seine Zusammenstellung aber bewiesen, dass durchaus nicht mehr,
wie bereits oben erwähnt, zwei Sprachen selbstständig nebeneinander gesprochen
wurden, sondern dass die karaibischen Männer den Stoff und Bau ihrer alten
»Muttersprache« ganz gewaltig durch die neue »Sprache ihrer Mütter« hatten
verändern lassen.
An dem weit entfernten Kulisehu haben wir das genaue Spiegelbild der
Verhältnisse in den Guyanas angetroffen. Die Mehinakú, Kustenaú, Waurá
und Yaulapiti sind Nu-Aruak; ihr Einfluss machte sich bei den Nahuquá, die
mehrere Mehinakú-Weiber aufgenommen hatten, in Sprache und Kulturschatz
deutlich geltend.
Die Stämme des Schingú-Quellgebiets sind also nach der linguistischen
Untersuchung folgendermassen zu klassifizieren (die Zahl der Ortschaften in
Klammern):
- Karaiben: Bakaïrí (8), Nahuquá (9);
- Nu-Aruak: Mehinakú (3), Waurá (1), Kustenaú (1) Yaulapiti (2);
- Tupí: Kamayurá (4), Auetö́ (1);
- Isolirt: trumaí (2).
[159]
Wie die Nahuquá neun verschiedene »Stämme«, die nur neun verschiedenen
selbständigen Ortschaften entsprechen, in sich begreifen, so könnten wir die
Mehinakú, Waurá und Kustenaú ebenfalls unter einem Stamm zu-
sammenlassen. Diese drei Stämme sprechen genau dasselbe Idiom. Sie bilden
auch, wie wir sehen werden, eine ethnologische Einheit, und mögen, damit wir
den nun einmal berechtigten Stammesnamen, wie bei den Nahuquá thatsächlich
geschehen ist, keine Gewalt anthun, wo wir eines zusammenfassenden Ausdrucks
bedürfen, nach dem wichtigsten ethnologischen Merkmal als die Töpferstämme
bezeichnet werden. Neben ihnen stehen die yaulapiti als ein sprachlich nahver-
wandter, aber doch schon deutlich im Dialekt unterschiedener und andere Ein-
flüsse verratender Nu-Aruakstamm.
So hat sich das Rechenexempel dahin vereinfacht, dass wir Karaiben vor
uns haben in den Bakaïrí und den Nahuquá, Nu-Aruak in den Töpferstämmen
und den Yaulapiti, Tupí in den Auetö́ und den Kamayurá, und als einen Rest,
der nicht aufgeht, die Trumaí übrig behalten.
II. Anthropologisches.
Die körperliche Erscheinung der Kulisehu-Indianer festzuhalten, soweit es
bei der kurzen Bekanntschaft mit den einzelnen Stämmen anging, sind eine
Reihe von Messungen angestellt worden, die nicht sehr zahlreich ausgefallen
sind, sich auch weder gleichmässig auf die verschiedenen Stämme noch auf
die beiden Geschlechter verteilen, immerhin aber ein interessantes Material
darbieten. Etwaige Fehlerquellen seitens des Beobachters würden als konstant
angesetzt werden dürfen, da die Messungen sämtlich von Ehrenreich ausgeführt
worden sind. Dieser hat auch eine weit grössere Anzahl von Photographien auf-
genommen als hier wiedergegeben werden konnte; sie sind aber zum Teil sehr
fleckig geworden und nur schwierig zu reproduzieren.*) Er gedenkt das bildliche
Material noch zu verwerten und den gesammelten Stoff der Messungen in seinen
Einzelheiten und nach seinem Vergleichswert für die übrigen südamerikanischen
Indianer zu behandeln; ich beschränke mich hier auf einige Vorarbeiten und gebe
von den hauptsächlichsten Messungen wenigstens die reduzierten Masse nach
Maximum, Minimum und arithmetischem Mittel wieder, um nur in den groben
Umrissen die Proportionen des indianischen Körpers zu zeichnen.
Zu den Messungen diente das Virchow’sche Instrumentarium: Messstange
mit zusammenlegbarem Fussbrett, Tasterzirkel und Stangenzirkel, sowie Stahl-
[160] bandmass. Die Masse wurden in ein gedrucktes Virchow’sches Schema (vgl. Zeit-
schrift für Ethnologie XVII p. 100) eingetragen. Gemessen wurden: Bakaïrí
Männer 10, Frauen 6; Nahuquá Männer 15, Frauen 12; Mehinakú Männer 6,
Frauen 5; Kustenaú Frauen 1; Waurá Männer 1, Frauen 1; Auetö́ Männer 14,
Frauen 2; Kamayurá Männer 14, Frauen 4; Trumaí Männer 8; im Ganzen
68 Männer und 31 Frauen. Ich werde die Stämme stets so anordnen, dass die
arithmetischen Mittel der Männerzahlen von oben nach unten zunehmen.
Körperhöhe.
Das Arithmetische Mittel aus den Körperhöhen aller dieser 67 Männer ohne
Rücksicht auf den Stamm beträgt 161,9.
Ohne Zweifel ist die Zahl aber zu niedrig. Schliessen wir alle jüngeren
Individuen aus bis aufwärts zu dem geschätzten Alter von 25 Jahren und nehmen
auch den zu »50« Jahren geschätzten Nahuquá, dem das Minimum von 155,5
angehört, sowie den »60« jährigen Kamayurá mit dem Minimum von 159,0 Körper-
höhe aus, so erhalten wir die folgende Verschiebung der Stämme und Veränderung
der Zahlen. Die Maxima bleiben ungestört.
Das arithmetische Mittel dieser 39 Männer, die nach der Schätzung dem
Alter von 30—50 Jahren angehören würden, beträgt 162,6. Wir sehen, dass
nunmehr die Trumaí und die Bakaïrí ein niedriges Mittel, die übrigen aber ein
höheres erhalten haben, und zwar ist der Unterschied am erheblichsten bei den
Mehinakú.
Wenn man mit Topinard 165 cm als die Durchschnittsgrösse des Erwachsenen
ansetzt, so bleiben die Kulisehu-Indianer im Mittel unter Durchschnittsgrösse:
Unterdurchschnittswuchs für alle Ausnahmen der Trumaí, die bereits die
Grenze von 160 cm zum kleinen Wuchs überschreiten. Die Zahlen stehen im
Einklang mit denen, die Topinard in seiner Tabelle für die Araukaner und
Botokuden mit 162, für die Peruaner mit 160 angiebt. Der grösste Mann am
Kulisehu war ein Kamayurá mit 172,0, der kleinste der Bakaïrí mit jüdischem
Gesichtstypus (Tafel 13) mit 154,5. Für die Bakaïrí habe ich 1884 etwas höhere
[]
BAKAïRí »ITZIG«
[][161] Zahlen erhalten; am Batovy betrug das Mittel von 7 Messungen 163,6; am Rio
Novo und Paranatinga von 14 das Mittel 164,1. Sie möchte ich deshalb wie in
der ersten Tabelle den Auetö́ in der Statur vorangehen lassen.
Die Frauen waren von ausgesprochen kleinem Wuchs. Das Maximum 161,2
gehörte der langen Bakaïrí, die in der Frauengruppe (Tafel 5) erscheint, der
»Egypterin« des ersten Dorfes, das Minimum 139,5 der einen der beiden nur ge-
messenen Auetö́frauen, während die andere 156,5 mass, aber durch kleine Finger
und Zehen besonders auffiel.
Das arithmetische Mittel der 31 gemessenen Frauen ohne Rücksicht auf das
Alter beträgt 151,7.
Es geht nicht gut an, auch bei den Frauen alle Individuen bis ausschliesslich
der zu 25 Jahren auszuschalten, denn es bliebe alsdann wenigstens von den
Bakaïrí nur die lange Egypterin übrig, die ausserdem mit »25—30« Jahren meines
Erachtens zu alt geschätzt ist. Lassen wir aber alle Frauen bis einschliesslich
die von 20 Jahren beiseite und ebenso eine »60« jährige Mehinakú von 151,0,
so erhalten wir:
Das arithmetische Mittel dieser 22 Frauen beträgt 152,1; doch ist das Mittel
der Mehinakú und Nahuquá nach Ausschaltung der jüngeren Frauen niedriger
geworden. Die durchschnittliche Differenz zwischen den beiden Geschlechtern wäre
10,5 cm oder die Frauen waren durchschnittlich um 6,5 % kleiner als die Männer.
Die kräftigst gebauten Indianer fanden sich unter den Mehinakú, vgl. Tafel 14,
sehr stämmigen Burschen, und den Nahuquá, vgl. das Bild auf Seite 94. Die
auffallendste Erscheinung an ihrem Körperbau ist der breite und tiefe Brustkasten
und die gewaltige Schulterbreite der Männer. Die Beckenbreite erscheint geringer
als die Thoraxbreite. Aeltere Männer und die Kinder zeichneten sich häufig
durch ein Bäuchlein aus. Die Frauen hatten wenig breite Hüften, die Waden
waren schwach und die Füsse etwas einwärts gesetzt, wie wenn sie immer auf
schmalem Pfade gingen, sodass der Gang besonders der mit einer Last daher-
trippelnden Frau keineswegs schön war. Wir haben eigentlich nur eine Indianerin
gesehen, deren Figur auch nach unsern Begriffen graziös und ebenmässig war,
es ist das schlanke Bakaïrímädchen in der Mitte der Gruppe auf Tafel 5, dem die
Photographie allerdings nicht gerecht wird.
Klafterweite. Körperhöhe = 100.
Die Schwankungen sind im Einzelnen bei jedem Stamm gross, bewegen sich
aber zwischen ähnlichen Grenzen, sodass der Unterschied in den arithmetischen
v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 11
[162] Mitteln der Serien zurücktritt. Dass die Klafterweite geringer war als die Körper-
höhe, fand sich je einmal bei den Auetö́ (— 0,5), den Kamayurá (— 1,3) und
den Trumaí (— 3,8).
Die Nahuquá, Kamayurá, Bakaïrí, Mehinakú, Auetö́ erscheinen hier in gleicher
Reihenfolge wie bei dem Mass des Brustumfangs.
Schulterbreite. A. Körperhöhe = 100.
B. Absolut.
Brustumfang. A. Körperhöhe = 100.
Diese Zahlen sind sehr hoch. Nach Topinard haben die Schotten 56,7,
nordamerikanische Indianer 55,5, die Deutschen 53,8. Die ausserordentlich starke
Entwicklung des Brustkastens und der Schulterbreite ist auch das Moment, das
bei dem Anblick unserer Indianer sich als auffallendstes vordrängt. Man be-
trachte den Mehinakú links auf Tafel 14. Selbst die Nahuquá, die in den
[163] Messungen am schlechtesten wegkommen, zeichnen sich durch einen kräftigen
Thorax aus, vergl. das Bild S. 95. Die Auetö́ mit ihrem niedrigen Wuchs
haben den verhältnismässig grössten Brustumfang.
Bei der Wichtigkeit dieses Masses gebe ich die Umfänge auch
B. Absolut.
Kopfhöhe. Körperhöhe = 100.
Das Mass schwankt also zwischen \frac{1}{7} und ⅛ der Gesamthöhe. Bei den
Männern finden sich verhältnismässig niedrigere Köpfe als bei den Frauen. Das
Maximum 15,8 % gehört einer Auetö́-Frau, das Minimum 12,4 % einem
Kamayurá an.
Kopfumfang. Körperhöhe = 100.
Das Maximum der Gesamtheit betrifft eine Bakaïrí-Frau, die besonders klein
war und nur 140,5 cm Körperhöhe hatte. Die Waurá-Frau mit 32,2 war 147,5 cm
gross. Ihr folgt im Mindestmass schon der Trumaí-Mann mit Körperhöhe 160,7
und Kopfumfang 52,0, sodass die schon beim blossen Anblick auffällige Thatsache,
wie klein die Köpfe der Trumaí verhältnismässig waren, durch die Zahl 32,4
deutlich zum Ausdruck gelangt. Die Auetö́ dagegen, auch durch ihre kleine
Statur ausgezeichnet, hatten wenigstens umfangreiche Köpfe, wie sie einen um-
fangreichen Brustkasten hatten.
11*
[164]
Längenbreiten-Index des Kopfes.
Meine Messungen der Bakaïrí von 1884 weichen von diesen der Kulisehu-
Bakaïrí nicht unerheblich ab.
Auetö́.
Wir sehen, dass die Verschiedenheiten der Mittel zwischen den einzelnen
Stämmen sowohl als auch zwischen den Individuen desselben Stammes gross sind,
dass es sich im allgemeinen um mesokephale Schädel handelt, und dass am
entschiedensten die Trumaí die Grenze zur Brachykephalie überschreiten. Ordnet
man die Frauen der Stämme, die Serien darbieten, nach den Mitteln, so ist die
Reihenfolge dieselbe wie bei den Männern: Mehinakú, Kamayurá, Bakaïrí, Auetö́,
Nahuquá. Nur bei den Bakaïrí ist der Index der Frauen gleichmässig für
Maximum, Minimum und Mittel höher als der Männer.
[165]
Verhältnis von Kopflänge zur Ohrhöhe. Grösste Länge des Kopfes = 100.
Die Nahuquá und die Trumaí, die die breitesten Schädel besitzen, besitzen
auch die höchsten.
Kieferwinkel. A. Haarrand — Kinn = 100.
B. Nasenwurzel—Kinn = 100.
Die Gesichter der Nahuquá erschienen besonders wegen der Breite der
Kieferwinkel sehr viereckig.
Jochbogen. A. Haarrand—Kinn = 100.
B. Nasenwurzel—Kinn = 100.
Wangenbeinhöcker. A. Haarrand—Kinn = 100.
B. Nasenwurzel—Kinn = 100.
Mittelgesicht. Nasenwurzel—Kinn = 100.
Nasenhöhe. Nasenlänge = 100.
Nasenbreite. Nasenhöhe = 100.
Schulterhöhe. Körperhöhe = 100.
Das Maximum unter den Männern von 86,0 hat ein Auetö́, das Minimum
von 80,1 ein Nahuquá, bei den Frauen findet sich umgekehrt das Maximum von
85,7 bei einer Nahuquá und das Minimum von 81,2 bei einer Auetö́. Die Differenz
zwischen den Geschlechtern ist also am grössten bei den Nahuquá und den Auetö́,
im Durchschnitt wäre der Mann bei den Nahuquá in den Schultern um 1,1 % der
Gesamthöhe niedriger und bei den Auetö́ um 1,2 % höher als die Frau.
Nabelhöhe. Körperhöhe = 100.
Männer: Maximum 61,6 Kamayurá, Minimum 57,8 Bakaïrí und Nahuquá.
Frauen: Maximum 60,8 Bakaïrí und Minimum 59,1 Auetö́.
Symphysenhöhe. Körperhöhe = 100.
Hier ist überall das arithmetische Mittel bei den Frauen geringer als bei
den Männern desselben Stammes. Die Mehinakúfrauen fehlen leider, doch liegt
das Minimum der Gesamtzahl für beide Geschlechter mit 48,1 bei den Mehinakú-
männern. Innerhalb der Männer Maximum 52,5 Bakaïrí, Minimum Mehinakú,
innerhalb der Frauenreihen Maximum 51,8 bei den Auetö́, Minimum 48,8 bei
den Kamayurá.
Darmbeinkammhöhe. Körperhöhe = 100.
Männermaximum 62,3 und Frauenmaximum 62,0 bei den Kamayurá.
Armlänge. Körperhöhe = 100.
Auffallend sind die langen Arme der Nahuquáfrauen. Während die Nahuquá-
männer unter den Männern die kürzesten Arme haben, sind die Arme ihrer
Frauen nicht nur länger als die ihrer männlichen Stammesgenossen, sondern die
längsten der Gesamtzahl überhaupt; ihr Maximum 49,2 wird nur von einem
Kamayurámann mit 49,3 übertroffen, ihr Minimum ist höher als das Mittel der
Nahuquámänner.
Handlänge. A. Absolute.
B. Körperhöhe = 100.
C. Armlänge = 100.
Die Hand der Indianer ist verhältnismässig kurz und die Frauenhand mehr-
fach verhältnismässig kürzer als die Männerhand.
Längen-Breiten-Index der Hand. Handlänge = 100.
Die Mehinakú haben die relativ längste und eine auch recht breite Hand.
Die Hand der Bakaïrí und Nahuquá ist kurz und schmal, die der Auetö́ lang und
breit, die der Kamayurá mässig lang und schmal.
Trochanterhöhe. Körperhöhe = 100.
Das Maximum 54,3 der Gesamtzahl ist bei den Bakaïrí-Frauen und das
Minimum 47,2 bei den Auetö́-Männern.
Fusslänge. A. Absolut.
B. Körperlänge = 100.
Die Fusslänge ist ebenso wie die Handlänge am grössten bei den Mehinakú,
gering bei den Nahuquá, während die Bakaïrí verhältnismässig längere Füsse als
Hände haben. Es ist schade, dass wir nicht wissen, ob die einzige gemessene
Nahuquá-Frau, die sich durch einen so auffallend langen Fuss auszeichnet, nicht
[170] vielleicht eine der bei dem Stamm eingeführten Mehinakú gewesen ist. Bei allen
Nahuquá-Frauen waren die Zehen sehr kurz, bei der gemessenen die vierte und
fünfte Zehe des rechten Fusses stark verkürzt und verkrüppelt.
Die zweite Zehe war häufig länger als die erste, und beim Gehen zeigte
sich ein Abstand zwischen beiden. Der Abstand bei aufstehendem Fuss war
zuweilen von rechteckiger Form.
Längenbreiten-Index des Fusses. Fusslänge = 100.
Um einen gewissen Ueberblick über die Art zu geben, wie sich den
Messungen zufolge die einzelnen Stämme unterscheiden, stelle ich die 6 Stämme,
von denen wir kleine Serien besitzen, für die wichtigsten Masse so zusammen,
dass ich jedem die Nummer der Reihenfolge zuweise, die ihm zukommt: 1 hat
die niedrigste Messzahl, 2 eine höhere und so fort bis zu 6, der höchsten
Zahl der Reihenfolge. Die Kolumnen sind nach der Körperhöhe rangiert.
Die Trumaí haben die geringste Zahl von Allen für Statur, Klafterweite,
Kopfumfang, Handlänge, die grösste für Kopfhöhe, Längenbreiten- und Längen-
höhen-Index des Schädels, Nabelhöhe, die Mehinakú die geringste Zahl für den
Längenbreiten-Index des Schädels, für Nabel-, Symphysen-, Darmbeinkamm- und
Trochanterhöhe, die grösste dagegen für Statur, Schulterbreite (wie sie sich auch für
Klafterweite und Brustumfang recht auszeichnen), für die Jochbogenbreite und, obwohl
Arme und Beine kurz sind, für die Länge des Fusses und der Hand. Die Nahuquá
haben für kein Mass eine 6, haben aber verhältnismässig viele 1 und 2 aufzuweisen.
[171]
Die Hautfarbe zeichnete sich in allen Abstufungen durch gelbgraue Lehm-
töne aus; Sonnenbrand, Schmutz und Bemalung erschwerten die Feststellung der
ursprünglichen Farbe ausserordentlich und nur unter den Baumwollbinden der
Oberarme oder Unterschenkel erkannte man, wie hell die Indianer eigentlich waren.
Wilhelm legte eine kleine Farbentafel an Ort und Stelle an; ihr zufolge fällt der
Durchschnittston zwischen Nummer 30 und 33 der Broca’schen Tafel; dunkleren
Tönen war ein entschiedenes Lila-Violett beigemischt, namentlich auf Brust und
Bauch, den helleren etwas Gelb. Wir gebrauchten auch die Radde’schen Tafeln
und fanden die meiste Aehnlichkeit für Stirn und Wange mit 33 m bis n oder
auch 33 o, den Oberarm annähernd 33 m.
Das Haupthaar war schwarz, besonders bei den Bakaïrí, Nahuquá und
Auetö́ braunschwarz. Blauschwarzer Ton kam nicht vor. Dagegen sah das Haar,
besonders der Bakaïríkinder, bei schräg auffallendem Licht merkwürdig hell und
verschossen aus, es spielte zuweilen in einem dunkelrosafarbigen Schimmer. „Ross-
haar“ haben wir niemals angetroffen. Das Kopfhaar war mässig dick und grad-
linigen Verlaufs oder, namentlich bei den Bakaïrí und Nahuquá, ausgesprochen
wellig. Zu unserer Ueberraschung sahen wir unter den Bakaïrí reine Lockenköpfe,
wie beispielsweise der Typus Tafel 13 wiedergibt. Wieviel davon Natur, wieviel
Kunst war, ist schwer zu sagen. Jedenfalls hatte der alte Paleko in Maigéri, der
längst über die Eitelkeit der Jugend erhaben war, kurzes lockiges Haar. Wellig
ist das Haar der Bakaïrí auch ohne künstliche Behandlung. Zuweilen war die
Stirn bis in die Nähe der Brauen behaart.
Die Wimpern, besonders bei den Nahuquá bis auf die letzte Spur ver-
schwunden, wurden ausgerupft. Desgleichen das Barthaar. Doch trafen wir öfters
einen mässigen Schnurr- oder Kinnbart, gelegentlich auch Wangenbart, zumeist
bei den Kamayurá. Achsel- und Schamhaar wurden ebenfalls ausgerupft.
Der Gesichtstypus der einzelnen Stämme zeigte gewisse Verschiedenheiten,
die schwer zu definieren sind. Es giebt ein Bakaïrí-Gesicht, das ich mir zutrauen
würde, nicht mit einem Gesicht aus den übrigen Kulisehustämmen zu verwechseln,
das aber mit Karaiben der Guyanas die grösste Aehnlichkeit besitzt. Auch einen
von Ehrenreich photographierten karaibischen Apiaká des Tokantíns würde ich
sofort für einen Bakaïrí erklären. Andere Bakaïrí aber könnten nach ihrer Physio-
gnomie auch wieder beliebigen andern Kulisehustämmen angehören. Je mehr
Indianer man kennen lernte, desto unsicherer wurde man natürlich. Das Bakaïrí-
oder Karaibengesicht, das ich meine, hat fast europäische Bildung, die Prognathie
ist gering, Stirn nicht hoch aber gut gewölbt, die Nase hat einen etwas breiten
Rücken, kräftige Flügel, eine rundliche Spitze, breite Oberlippen, die Augen
sind schön mandelförmig geschnitten und voll. Dagegen giebt es einen zweiten
Bakaïrítypus mit starker Prognathie, einem stark zurückweichenden Kinn, niedriger
schräger Stirn und einer längeren Nase mit gebogenem Rücken, der uns besonders
an den Bakaïrí des Paranatinga auffiel. Eine sonderbare Spezialität des dritten
Bakaïrídorfes waren ausgeprägt jüdische Physiognomien. Der Lichtdruck Tafel 13
[172] zeigt uns den besten Vertreter dieser Abart, der unserm Reisehumor den Namen
»Itzig« verdankte. Itzig war der kleinste Bakaïrí, aber sehr gewandt und stark
und wie auf der Photographie zu sehen ist, mit einem kräftigen Brustkasten aus-
gestattet, er hatte schwarzes lockiges Haar, eine breitrückige gebogene Nase und
würde wohl von keinem Unbefangenen für einen Indianer gehalten werden. Wenn
es ausser den Mormonen heute noch Leute giebt, die die Kinder Israels in Amerika
einwandern und als Stammväter der Rothäute gelten lassen, so mögen sie Itzigs Bild
als vortreffliches Beweisstück entgegennehmen. Wahrscheinlich haben sich dem Zug
der verlorenen Stämme auch einige Egypter angeschlossen; wenigstens waren einige
Frauen in ihrer Haartracht, besonders die „Egypterin“ von dem ersten Dorf mit
ihrem schmalen Gesicht und ihrer langen leicht gebogenen Nase von grosser Aehn-
lichkeit mit den Frauen des alten Nilreichs, wie diese uns überliefert worden sind.
Stirnwülste fanden sich vereinzelt bei allen Stämmen, typisch jedoch, und
bei den kleinen Menschen doppelt auffallend, bei den Trumaí. Sie hatten auch
die stärkste Prognathie und das am meisten zurückweichende Kinn; sie hatten
eine schmale Nasenwurzel und geringen Abstand der Augen, während die Mehinakú
durch geringe Prognathie, vortretendes Kinn, breite niedrige Gesichter und weit
abstehende Augen auffielen. Die Gesichter der Nahuquá waren von denen der
Bakaïrí durch ihren plumperen Charakter unterschieden, sie hatten, im Gegensatz
zu der ovalen Form dieser, bei stark vortretenden Kieferwinkeln etwas Viereckiges
und Vierschrötiges. Die feinst geschnittenen Gesichter fanden sich unter den Kamayurá.
Die Iris war dunkelbraun und nur ausnahmsweise hellbraun; die Trumaí
hatten verhältnismässig helle Augen. Einen Nahuquá fanden wir blauäugig, er
hatte in Haar- und Hautfarbe nichts Besonderes, das Haar war schwarz und
ziemlich straff, er war der Vater eines jungen Mannes mit dunkelbraunen Augen,
seine eigenen Augen aber hatten eine entschieden blaue Iris. Die Stellung der
Augen war horizontal oder ein wenig schräg, die Form war mandelförmig, die
Lidspalte bei den Bakaïrí häufig sehr weit geöffnet, bei den übrigen, besonders
bei den Nahuquá und Kamayurá ziemlich klein und niedrig. Mongolische Augen
haben wir nicht gesehen, nur ein Kamayurá konnte als mongoloid gelten.
Schöne Zähne waren äusserst selten. Sie waren häufiger opak als durch-
scheinend, die Färbung war gelblich und nur ausnahmsweise weiss, die Stellung
vielfach unregelmässig; sie waren ziemlich massig, bei den Mehinakú häufig klein
und fein. Fast überall erschienen sie stark abgekaut. Man sieht nie, dass sich
die Indianer die Zähne putzen oder den Mund ausspülen, was ihnen bei ihrer
mehlreichen Kost recht zu empfehlen wäre. Sie gebrauchen die Zähne sehr rück-
sichtslos, wenn sie keine Fischzähne oder Muscheln zur Hand haben; sie beissen
ferner auch in die austerartig harten Flussmuschelschalen ein Loch, um mit dessen
scharfem Rand Holz zu glätten, und zerbeissen die Muscheln, aus denen sie ihre
Perlen verfertigen, eine Art der Misshandlung, die besseren Gebissen verderblich
sein müsste und deren blosser Anblick mir in der Seele wehthat.
[[173]]
IX. KAPITEL.
I. Die Tracht: Haar und Haut.
Vorbemerkung über Kleidung und Schmuck. Das Haar. Haupthaar, Körperhaar, Wimpern. Die
Haut. Durchbohrung. Umschnürung. Ketten. Anstreichen und Bemalen. Ritznarben. Tätowierung.
Da ich in diesem und dem folgenden Kapitel nach Möglichkeit auf den
Ursprung der bei unseren Eingeborenen beobachteten Tracht zurückzugehen
suche, möchte ich zwei grundsätzliche Bemerkungen vorausschicken.
Einmal, ich halte es für einen Irrtum, dass eine aus dem Schamgefühl hervor-
gegangene Kleidung dem Menschen zu seinem Menschentum notwendig sei. Die
Indianer am oberen Schingú, deren Vertreter für verschiedene Stammesgruppen wir
kennen gelernt haben, bedürfen der Kleidung in diesem Sinne nicht, was ich daraus
schliesse, dass sie keine solche Kleidung haben. Ihre Vorrichtungen, die wir von
unserer Gewöhnung aus als Schamhüllen anzusprechen geneigt wären, sind durch-
aus keine Hüllen, und das Schamgefühl, das die Hüllen geschaffen haben soll, ist
nicht vorhanden. Schon 1584 schrieb der Jesuitenpater Cardim von brasilischen
Eingeborenen: »Alle gehen nackt, so Männer wie Weiber, und haben keinerlei
Art von Kleidung und für keinen Fall verecundant, vielmehr scheint es, dass sie
in diesem Teil sich im Zustand der Unschuld befinden.«
Dann muss ich einigermassen Stellung nehmen zu dem Ursprung des
Schmuckes. Es steht fest, dass es heute bei den Naturvölkern zahlreiche Arten
von Schmuck giebt, für die kein wirklicher oder eingebildeter Nutzen sichtbar
ist und die gegenwärtig ganz und gar nur Zierden sind. Dennoch ist es wohl
unmöglich, dass sich die feineren Empfindungen eher geregt haben als die gröberen.
Der Jäger hat sich erst mit den Federn der erbeuteten Vögel geschmückt, ehe
er sich Blumen pflückte. Ehe er sich aber Vögel schoss, um sich mit den
Federn zu schmücken, hat er Vögel geschossen, um sie zu essen. Er hat sich
von altersher den nackten Leib mit bunten Lehmen angestrichen. Es ist wahr,
die schönen Farben liegen in der Natur am Ufer, und man ist tagtäglich hinein-
getreten. Aber sollte es dem Menschen nicht eher aufgefallen sein, dass der
nasse Lehm die Haut kühlte oder dass die Moskitos nicht mehr stachen, als dass
er bemerkte, wie sein Fuss an Schönheit gewonnen hatte? Ich glaube, dass er
[174] sich zweckbewusst zunächst auch nur deshalb beschmierte, weil er Utilitarier genug
war, solche Vorteile auszunutzen.
Manche wollen aber von solchem Anfang Nichts hören. Sie scheinen der
Ansicht zu sein, dass dem Nützlichen etwas Geringzuschätzendes anhaftet. Warum,
mögen die Götter wissen. Auch ich glaube, dass der Schmuck aus dem Ver-
gnügen, dass er wie Spiel und Tanz aus einem Ueberschuss an Spannkräften
hervorgeht, aber die Dinge, die man braucht, um sich zu schmücken, hat man
vorher durch ihren Nutzen kennen gelernt. Wir können, sobald man sich zu
schmücken beginnt, auch schon zwei Hauptrichtungen beobachten. Es giebt eine
Eitelkeit, die sich auf Heldenthaten bezieht, die Eitelkeit der Jedermann zur An-
sicht vorgehaltenen Bravouratteste, nennen wir sie die der Trophäe und des
Schmisses, und es giebt eine zahmere Eitelkeit, die sich mit dem Eindruck
durch schöne oder auch schreckliche Farben genügen lässt, nennen wir sie die der
Schminke. Ueberall können wir bei unsern Indianern Methoden, die dem Nutzen,
und solche, die der Verschönerung dienen, einträchtiglich nebeneinander im Ge-
brauch sehen, und wir haben allen Grund anzunehmen, dass jene die älteren sind.
Das Haar. Die Haartracht der Männer ist eine Kalotte mit Tonsur.
Das Haar wird von dem Wirbel aus radienförmig nach allen Seiten gekämmt,
fällt vorn auf die Stirn, reicht seitlich bis an das Loch des Gehöreingangs und
hinten nicht ganz bis zum Halsansatz. Während die Suyá das Vorderhaupt kahl
zu scheeren pflegen und die Tonsur des Apostels Paulus besitzen, haben die
Kulisehuindianer sämtlich die Tonsur des Apostels Petrus, eine kreisförmige Glatze
auf dem Scheitel bis zu 7 cm Durchmesser. Wenn der junge Bakaïrí Luchu in
Vogel’s braunem Lodenponcho stolzierte, sah er aus, wie ein Klosterschüler aus dem
»Ekkehard«. Man hat geglaubt, die Indianer hätten die Tonsur von dem Beispiel
der Patres entlehnt, was ihrer Sinnesart gewiss entsprechen würde, allein die
Tonsur war vor den katholischen Priestern in Amerika. Sie ist bei den süd-
amerikanischen Naturvölkern ungemein verbreitet gewesen, und da die Portugiesen
die Geschorenen von coróa, Krone, Tonsur, „Coroados“ nannten, sind ganz un-
gleichwertige Stämme verwirrend mit derselben Bezeichnung bedacht worden.
Pater Dobrizhoffer berichtet, dass bei den Abiponern von Paraguay die Tonsur
als Auszeichnung der höheren Kaste galt. Hiervon war bei unsern Stämmen
nicht die Rede. Jeder Knabe erhielt die Tonsur um die Zeit, dass er mannbar
wurde, und Antonio erzählte mir, dass er geweint und sich sehr gesträubt habe,
als sein Vater ihm zum ersten Mal die Glatze schor. Der Gebrauch wurde mir
als uralte Sitte der Grossväter bezeichnet. Nicht immer war man sehr aufmerksam
im Rasieren. Bei älteren Leuten zumal fand sich die Tonsur oft mit Stoppeln
überwachsen; man kümmere sich weniger darum, hiess es, »wenn man alt wird
und Vater und Mutter schon tot sind«.
Bei den Bakaïrí wussten sich eitle junge Männer auch durch hölzerne Papilloten
eine volle Lockenfrisur zu verschaffen. Kleine Stücke korkartigen Holzes, mit
[] [...][] [...][]
MEHINAKÚ
[][177] Uebrigen wurde die Bartpflege weitaus am nachlässigsten behandelt, und so wird
der Brauch, das Haar zu entfernen, wohl auch nicht zuerst bei ihr eingesetzt haben.
Für das Schamhaar, das nur die Suyá-Männer nicht entfernten, während
ihre absolut nackten Frauen dies thaten, kann man den ziemlich grob naiven Ein-
geborenen am ehesten zumuten, dass sie sein Vorhandensein als besonders hässlich
erachteten. Doch ist es schwerlich befriedigend anzunehmen, dass es nur die dem
Menschen angeborene Freude an glatter Haut sei, die den so energischen Ver-
nichtungskrieg des unbekleideten Eingeborenen gegen alles Körperhaar in Szene
gesetzt hat. Es fehlt nicht an Gründen, die es als vielfach lästig erscheinen
lassen. Man sagt sich, dass auch Insekten, die nicht nach Art der Läuse
verspeist werden, in Bart, Achsel- und Schamhaar eindringen und das Haar ver-
filzen, wie in unserm Revier sich dort namentlich die Bienen verfingen, man
erinnert sich der im Haar doppelt empfindlichen Knötchen und Eiterbläschen auf
schwitzender Haut, der Unsauberkeit durch Blut und Schmutz, der Angriffs-
gelegenheit für Gestrüpp wie für die Rauflust des Mitmenschen und findet so
manchen Umstand, dem zufolge das Körperhaar einem nackten Menschen aller-
dings eher Beschwerden als Freuden bringen mag. Es ist andrerseits auch der
Zeitvertreib und Genuss zu würdigen, den das Ausrupfen der Haare und das
Herumarbeiten mit Handwerkzeug am Körper in faulen Stunden den Leuten
bietet. Endlich wäre es vielleicht nicht ganz gleichgültig, dass Haar und Federn
als eine Art pflanzlicher Gewächse gelten. Das Wort für Haar und Federn bei
den Bakaïrí und wahrscheinlich auch in andern Sprachen ist ursprünglich dasselbe
wie Wald, und ob nun das Pflanzliche vom Körperlichen abgeleitet sei oder um-
gekehrt, die Begriffe sind urverwandt. Haar und Pflanzen wachsen, sie werden
auch ausgerodet, zumal das kurze Unkraut.
Ich möchte jedoch einen einfachen und täglich wirkenden Grund voranstellen.
Wie Haut und Haar zusammengehören, so denke ich bei dem Gebrauch des Aus-
rupfens an einen Zusammenhang mit dem andern Gebrauch des Körperbemalens,
des Schminkens, von dem Joest behauptet, dass es älter sei als das Waschen.
Für das Anstreichen des Körpers, mit dem wir uns bald näher beschäftigen wollen,
ist die Entfernung des Haares aber äusserst wünschenswert, weil dieses die Farbe
aufnimmt, die der darunter liegenden Haut selbst eingerieben werden soll. Wer ein
Fell anstreichen will, rasiert zuvörderst. Ein Hauptzweck des Anstreichens, die Tötung
der Insekten, würde gar nicht erreicht. Die Entfernung des Schamhaars findet weiter-
hin eine sehr natürliche Erklärung in dem Konflikt, in den es mit den Vorrichtungen
gerät, die hier gerade um die Zeit angebracht werden, wenn es erscheint. Besonders
würden die Manipulationen mit der Hüftschnur bei den Männern entschieden be-
hindert werden. Kurz, wer das Haar entfernt, ist besser daran und vermisst doch
Nichts. Damit allein ist die Sitte genügend begründet. Rupfen, Schneiden und
Rasieren sind nur eine Frage der Gründlichkeit oder der technischen Mittel oder der
Rücksicht auf die Empfindlichkeit. Weniger Beachtung findet der Kamm, man hat
eher die Haare geschnitten und ausgerupft, ehe man sie gekämmt hat.
v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 12
[178]
Am merkwürdigsten, gewiss auch kein Zeitvertreib, ist das Ausrupfen der
Wimpern, weil diese, man darf wohl sagen, Operation ganz allgemein und schon
bei den kleinen Kindern beiderlei Geschlechts ausgeübt wird und mit Stammes-
und Geschlechtsunterschieden nicht in Zusammenhang gebracht werden kann.*)
Ist das Auge aller Menschen wertvollstes Organ, so sind diese nach Tieren
und Früchten spürenden Waldbewohner darauf im denkbar höchsten Grade an-
gewiesen. Nie habe ich einen Indianer jammern und winseln hören wie den
seine Blindheit beklagenden Häuptling der Yaulapiti. Darum braucht man aber
in der Behandlung nicht die uns richtig erscheinende Einsicht zu entwickeln.
Weil Tabakrauch das beste ärztliche Mittel ist, wird eine stark entzündete Binde-
haut nach Kräften voller Rauch geblasen. So liegt auch der Gedanke, dass die
Wimpern das Auge schützen, den Indianern ganz fern. Sie erklären, das Auge werde
durch die Wimpern am Sehen behindert, namentlich, wenn sie scharf in die Ferne
sehen wollten. Dass sie bemüht sind, nach ihrem besten Wissen für das edle Organ
zu sorgen, geht daraus hervor, dass dem Knaben, der ein sicherer Bogenschütze
werden soll, die Umgebung des Auges mit dem Wundkratzer blutig geritzt wird —
natürlich, weil man an diese »Medizin« glaubt und nicht, weil man ihn abhärten
will. Gerade bei den Wimpern ist das grausam erscheinende Ausrupfen, weil
radikal, ein noch relativ mildes Verfahren. Denn Schneiden und Rasieren am
Lidrand mit Fischzähnen und Muscheln zu ertragen wäre in der That ein
Heroismus.
Die Haut. Die Haut wird durchbohrt, um Schmuck aufzunehmen, sie wird
mit Farbe bestrichen und wird mit Stacheln oder Zähnen geritzt. Die beiden
letzteren Methoden entwickeln sich zu künstlerischer Behandlung, zur Körper-
bemalung oder zur Tätowirung — wissen möchte man nur, welche ursprünglichen
Zwecke zu Grunde liegen.
Wenn wir bei uns verweichlichten zivilisierten Menschen im Groben und
Feinen noch an tausend Beispielen beobachten, bis zu welchem Grade Gefallsucht
und Eitelkeit den Sieg über körperliches Unbehagen davonzutragen pflegen, so
werden wir uns nicht wundern, dass die Eitelkeit der Naturvölker noch etwas
rücksichtsloser verfahrt. Der Hauptunterschied zwischen uns und ihnen ist nur
der, dass sie an der Haut thun müssen, was wir an den Kleidern thun können.
Dann aber ist es bei ihnen überall zunächst der Mann gewesen, der sich ge-
schmückt hat. Er hat damit als Jäger angefangen und, da es die Jäger-Eitelkeit
zu erklären gilt, dürfen wir schliessen, dass der Mensch zuerst den Begriff der
Trophäe entwickelte, indem er sich von den Teilen der Beute, die ungeniessbar
[179] waren, sich aber gut konservieren und tragen liessen, nicht trennte, sondern sie
zur Anerkennung für die Mitwelt aufbewahrte und an seinem Leibe anbrachte.
Wir finden dies um so natürlicher, als wir wissen, dass mit solchen Teilen nach
seiner Meinung die Eigenschaften des Wildes erworben wurden. So trug er
Krallen, Zähne und Federn als Trophäe und Talisman. Während er die meisten
dieser Dinge an eine Schnur anbinden konnte, sah er sich mit einer Feder, die
er zur Erinnerung an einen guten Schuss aufbewahren wollte, in Verlegenheit: er
durchbohrte den Ohrzipfel und steckte sie dort hinein, wo sie festsass und ihn nicht
behinderte. Hierauf sind auch die Vorfahren aller unserer Stämme verfallen; einige
haben es sich bald nicht an den Ohrlöchern genügen lassen, sondern auch die Nase
und Lippe durchbohrt. Denn der Begriff der Trophäe, anfangs nur auf den mühe-
vollen Erwerb bezogen, dehnte sich aus auf ein mit nicht grade grossen Schmerzen
oder Mühen verbundenes Tragen; eine neue Leistung entstand, die der Bewunderung
wert war, und ein junger Mann kam sich gewiss im vollen Wortsinn »schneidiger«
vor, wenn er sein Kleinod in einem Loch der Nase, der Lippe oder der Ohren
zur Schau trug, als wenn er es an einer Schnur umhängen hatte. Wurde die
Trophäe einmal gewohnheitsmässig getragen, so war es unausbleiblich, dass sich
die Aufmerksamkeit auch ihren äusseren Eigenschaften, den früher sekundären
Merkmalen der Farbe und Form, zuwandte. Selbst Gegenstände, die man nur
gebraucht hatte, um die Löcher offen zu halten und das Zuheilen zu verhindern,
wurden zu Schmuck und Zierrat. Mit den Vorstellungen über das Schwierige,
Seltene, Kraftbegabte assoziierten sich die mehr oder minder dunkel empfundenen
Wahrnehmungen gefälliger Farbenkontraste.
Die künstliche Verletzung wurde aber auch Selbstzweck durch den Umstand,
dass sie ein dauerndes Kennzeichen lieferte und so mancherlei Formen der
Sitte gestaltete. Sie war nicht nur vorzüglich geeignet, innerhalb eines Stammes
mutige und herrschende Personen, die gewöhnlich auch die eitelsten waren, aus-
zuzeichnen, sie bildete vielfach von Stamm zu Stamm das mit Bewusstsein ge-
tragene Nationalitätsmerkmal. Sie gab das Mittel an die Hand, schon Kinder
mit Dauermalen zu versehen. Die Indianer haben von jeher den Kinderraub bei
fremden Stämmen mit Leidenschaft betrieben, um sich Krieger und Frauen auf-
zuziehen; so markierte man die Kinder, um sie wiedererkennen zu können, wie
der Herdenbesitzer sein Vieh stempelt. Als wir bei den Bororó waren, schwor
eine alte Frau Stein und Bein, unser Antonio sei, obwol er kein Wort Bororó
verstand, ihr vor Jahren von Feinden gestohlener Sohn, sie wehklagte und
jammerte laut durch die Nacht; da war es denn merkwürdig zu sehen, wie sich
die Bororó den halb lachenden, halb empörten Antonio gründlich vornahmen,
seine Unterlippe genau untersuchten, die bei ihnen schon dem Säugling durch-
bohrt wird, und ihn einmütig freigaben, als sie statt ihres Lippenlöchleins eine
durchlöcherte Nasenscheidewand fanden. So waren unter den Bakaïrí geraubte
Paressífrauen, unter den Nahuquá Mehinakúweiber, unter den Suyá die gefangenen
Manitsauá sofort nach den Stammesabzeichen von den Uebrigen zu unterscheiden.
12*
[180] Die künstliche Verletzung entwickelte sich also zu einer ständigen Einrichtung
der Zweckmässigkeit. Zudem galt das Fremde als hässlich oder komisch, das
Heimische als schön und edel.
Die Durchbohrung der Ohrläppchen ist allgemein bei den Männern
aller Stämme verbreitet. Sie dient allein für Federschmuck. Bei keinem
Stamm des Kulisehu haben die Frauen die Ohrläppchen durchbohrt, und keine
Frau trägt auch sonst am Körper irgendwelchen Federschmuck; die Frau jagt
nicht — der Ursprung aus der Jagdtrophäe ist noch unverkennbar ausgeprägt.
Das Ohr der Knaben wird um die Zeit durchbohrt, wenn er anfängt, sich mit
Bogen und Pfeilen kleinen Formates zu üben.*)
Holzmaske der Bakaïrí mit Ohr- und Nasenfedern.
Die Durchbohrung der Nasenscheidewand in ihrem untern Teil, sodass
dem hindurchgesteckten Gegenstand die Flügel leicht aufgestülpt aufsitzen, ist
nur bei den Bakaïrí anzutreffen, am Paranatinga und Rio Novo, am Batovy und
im ersten Kulisehudorf bei beiden Geschlechtern, im zweiten Kulisehudorf nur bei
den Männern, im dritten weder bei Männern noch bei Frauen. Diese geographische
Verteilung macht es mir nicht unwahrscheinlich, dass die Sitte an die der Paressí
[181] anlehnt, die mit den westlichen Bakaïrí früher in lebhaftem, bald friedlichem, bald
feindlichem Verkehr standen, von denen wir noch zwei als Kinder geraubte
Frauen im Paranatingadorf fanden. Die Paressí durchbohrten ihren Frauen die
Ohrläppchen, sodass sie von den Bakaïrífrauen stets zu unterscheiden waren, und
ihre Männer durchbohrten die Nasenscheidewand, schoben ein Stückchen Rohr
hinein und steckten nur in das eine Ende desselben eine lange Arara- oder ge-
wöhnliche Tukanfeder, während der Ohrzierrat der Frauen in dreieckigen Stückchen
Nusschale bestand.
Bei den Bakaïrí werden heute keine Federn mehr in der Nase getragen,
doch fanden wir Masken mit einem Loch in der verlängerten Scheidewand der
hölzernen Nase, durch das nach jeder Seite eine in einem Rohrstück steckende
Ararafeder hinausragte. Auch ist ein Unterschied zwischen der Grösse des Loches
bei Männern und Frauen, worauf ich von den Bakaïrí selbst besonders aufmerksam
gemacht wurde; die Männer tragen darin ein dünnes Stück Kambayuwarohr, in
das man die Feder steckte oder einen dünnen Knochen, die Frauen einen dicken
Kambayuvapflock oder einen dicken Knochen oder Stein. Dieser letztere wird
niemals von den Männern verwendet. Wir haben am Kulisehu einige Schmuck-
steine aus grauweiss-
lichem, stumpf glän-
zenden Quarzit ge-
sammelt, die zu der
Form einer spitzen
Spindel zugeschliffen
waren und eine Länge
Nasenschmuckstein der Bakaïrífrauen.
von 6 cm hatten. In wirklichem Gebrauch sahen wir die Nasenspindel, natáko, nur bei
einer schwangern Frau, die auch mit vielem Halsschmuck behangen war. Diese
Steine kamen vom Batovy oder vom Ponekuro, dem rechten Quellfluss des Kulisehu;
sie seien selten, sodass gewöhnlich Knochen oder Rohr aushelfen müsste. Wir er-
hielten auch Knochen ähnlicher Form, 8½ cm lang, und eine 7 cm lange, perl-
mutterglänzende Spindel, die aus einer Muschel geschnitten war. Die Operation
wird ungefähr im fünten Lebensjahre vorgenommen und soll zuweilen mit starker
Blutung verbunden sein.
Die Umschnürung der Extremitäten kann ich hier anschliessen, obwohl
sie unsern Indianern in dem Grade, wo man erst von einer Körperverletzung
reden könnte, noch fremd war. Sie war bei allen Stämmen vielfach im Gebrauch.
Man nahm dazu dicke breite Strohbinden, Baumwollstränge, Baumwollstricke oder
mit Holznadeln gehäkelte Bänder, und trug sie um den Oberarm und unterhalb
des Knies oder oberhalb des Fussknöchels. Am meisten fiel die Sitte im dritten
Bakaïrídorf auf, wo man pralle, fast aufgeschwollene Waden sah. Doch haben
wir in dem Maasse dick hervorgetriebene Waden, wie sie von den männlichen
oder weiblichen Karaiben des Nordens abgebildet werden, niemals beobachtet.
Die Strohbinden bemerkten wir namentlich bei den Nahuquá (vgl. die Abbildung 4).
[182] Nur die Männer gebrauchten die Umschnürung. Sie mache stark, wurde mir
zur Erklärung angegeben. Zum Tanzschmusk trug man auch mit bunten Federn
verzierte Bänder um den Oberarm.
Ketten. Mit Halsketten schmückten sich beide Geschlechter, die Männer
trugen auch Zierraten an ihrer Hüftschnur. Am meisten waren Kinder und
Schwangere mit Kettenschmuck behängt. Für die Kinder wurden in erster Linie
auch unsere Perlen verlangt.
Die Bakaïrí verfertigten mit vieler Mühe sehr hübsche Halsketten, Trophäen
der Arbeit, die bei den andern Stämmen recht beliebt waren, und die wir 1884
auch bei den Suyá gefunden haben, vgl. den Kamayurá der Abbildung 14.
Es sind rechteckige, leicht gewölbte Stücke, die aus einer Windung der Schale
Kamayurá mit Muschelkette.
von píu, Orthalicus melanostomus (Prof. v. Martens), geschnitten sind, 2—3 cm
lang, 1—1,5 cm breit, fast rein weiss und heissen píu oráli. Sie decken sich mit der
Längsseite dachziegelförmig und sind meist oben und unten durchbohrt, aber nur
oben mit Fädchen an der Halsschnur befestigt. Man suchte besonders dicke
Schalen aus, zerbrach sie und schliff sie an Steinen. Sie wurden durchbohrt mit
dem Zahn des Hundsfisches oder mit dem Quirlstäbchen, an dessen Ende ein drei-
eckiger Steinsplitter angeschnürt war; so bildete sich ein konisches Loch.
Eine andere Art besteht aus kleinen Scheibchen oder glatten Perlen, nur 1 mm
dick und mit 3—5 mm Durchmesser. Sie sind regelmässig kreisrund, von mattem,
weissgrauen bis bläulichen Glanz. Die Stückchen der zerbrochenen Schale wurden
mit den Zähnen abgebissen, ungefähr gleich gross gemacht und ebenso wie
die Rechtecke durchbohrt. Die winzigen Dinger sind so gleichmässig geschliffen,
[183] dass sie auf der Schnur eine dünne biegsame Schlange bilden. Sie pflegen mit
gleichgestalteten Tukumperlen (Bactris) zu wechseln, die aus der Schale der
Palmnuss abgebissen sind. Die Tukumperlen werden ebenfalls mit dem Zahn des
Hundsfisches durchbohrt. Bei ihnen und den Muschelscheibchen wird die Gleich-
mässigkeit dadurch erreicht, dass man die Perlen aufreiht und die Rolle nicht
auf Stein schleift, sondern zwischen zwei Topfscherben reibt und glättet. Die
Muschelperlen sind ein sehr natürliches Erzeugnis, wenn man überhaupt bunte
oder glänzende Schalenstücke aufbewahrt; man reiht sie auf eine Schnur, da sie
sich anders schlecht befestigen lassen, man macht sie untereinander gleich und
erreicht dies am bequemsten, wenn man sie einfach rundum schleift. So sind
die verschiedenartigsten Naturvölker mit ihrem betreffenden Muschelmaterial zu
Perlen gelangt, die sich zum Verwechseln ähnlich sehen. Die Perlen haben aber
auch alle Eigenschaften, um dort, wo Verkehr stattfindet, von Stamm zu Stamm
zu wandern, und geben die beste Gelegenheit, den Umfang des Verkehrs, der
Manchen für unbegrenzt gilt, kennen zu lernen. Die Bakaïrí des Batovy sind
mehr als die des Kulisehu „zóto“, Herren, der Muschelketten.
Die Tukumperlen werden hauptsächlich von den Nahuquá verfertigt; diese
hatten als Muschelperlen besonders rosafarbene Spindelstückchen von Bulimus,
deren „zóto“ sie waren, und von denen ein einzelnes in kleinen Abständen die
Schlange der Nussperlen zu unterbrechen pflegte. Die Nahuquá zeichneten sich
durch einen grossen Reichtum von Ketten, namentlich aus pflanzlichem Material,
aus, das übrigens auch bei den Bakaïrí eine grössere Rolle spielte, als bei den
abwärts wohnenden Stämmen. Die Bakaïrí von Maigéri schätzten »Grasperlen« sehr
hoch, kanakúni, die Antonio für Früchte eines hohen, an Lagunen wachsenden,
seltenen Grases erklärte, und deren jeder Halm nur wenige hervorbringe.
Wir fanden Halmstücke, Rindenstücke, Samenkerne und Beeren der ver-
schiedensten Art: Nussperlen von der grossen und der kleinen Tukumpalme,
Früchte einer Schlingpflanze, eines Kampbaumes Takipé, einer Pflanze namens
(Bakaïrí) udayáki, roten und schwarzen Samen von Papilionaceen, von Mamona-
Ricinus, Tonkabohnen (Dipteryx odorata), bei den Auetö́ Kuyensamen und
Almeiscakerne, ja eine kleine 7 cm lange flaschenförmige Kuye.
Bei den Yaulapiti, Trumaí und von ihnen herrührend, bei ihren Nachbarn,
waren Steinketten häufig: durchbohrte Scheiben und Zilinder, die die Nahuquá
in dem bernsteinähnlichen Jatobáharz und in Thon nachbildeten. Es war der
Diorit der Steinbeile und Wurfholz-Pfeile; er wurde mit dem an dem Quirlstock
befestigten Steinsplitter unter Zusatz von Sand durchbohrt. Kleine Steinbirnen,
wie sie zu den Wurfpfeilen gehören, wurden mit Vorliebe von den Mehinakú und
Auetö́ an Kinderketten gehängt.
Es waren also deutlich Unterschiede in dem Material vorhanden, die wahr-
scheinlich, wie es für die Steine ja sicher ist, örtlich bedingt waren. Alle Ketten
aus den weissen Muschelstücken gingen auf die Bakaïrí, alle aus den roten auf
die Nahuquá, alle aus Steinen auf die Trumaí oder Yaulapiti zurück.
[184]
Ueberall fand sich das tierische Material. Es gab Hornperlen, Knochen-
perlen, diese auch in Stäbchenform, sie wurden bald vereinzelt aufgehängt, bald
zu ganzen Ketten vereinigt besonders Affen- und Jaguarzähne. Vgl. das Bild des
Auetö́-Häuptlings Seite 108. Wir erhielten bei den Nahuquá eine Kette mit Jaguar-
zähnen und bunten Federchen. Die Trumaí schätzten Kapivara-Zähne. Bei den
Mehinakú gab es besonders reichlichen Kinderschmuck, mit dem die Säuglinge
bündelweise behangen waren: ausser dem Uebrigen, zumal Affen-Zähnen, Zähne
der Jaguatirica (Felis mitis), Fischwirbel, Knochen vom Bagadú-Fisch, einmal ein
mächtiges schwarzes Käferhorn. Auch Klauen vom Tapir (Kamayurá), Jaguar
und Hirsch.
Hiermit werden die wesentlichsten Bestandteile des Kettenschmucks wohl
aufgezählt sein, in dem späteren Kapitel über die Plastik unserer Indianer komme
ich auf Einzelnes noch zurück, insofern auch allerlei Figuren geschnitzt und
geschliffen wurden.
Inwieweit den einzelnen Dingen nützliche und heilsame Wirkungen zu-
geschrieben wurden, vermag ich nicht zu sagen. Dass der »Schmuck« viel-
fach »Talisman« war, geht daraus hervor, dass, wie erwähnt, die Kinder und
Schwangeren am meisten behängt waren. Wenn die Reste einer Zündholzschachtel
umgehängt wurden, so wird dies auch nicht aus dem Schönheitsgefühl entsprungen
sein. Die Grasperlen der Bakaïrí waren zierlichen Fischknöchelchen äussserst ähnlich,
ich erhielt eine solche Kette aber nur mit grösster Mühe; sie war in den Augen
ihres Besitzers entschieden »schöner« als die mit Fischperlen, weil sie seltener war.
Anstreichen und Malen. Warum streichen sich die Indianer mit Oelfarbe
an, sei es nun mit schwarzer, wie die Einen, die den Orléansstrauch weniger
pflegen, oder mit roter, wie die Anderen vorziehen? Den Feind durch Prunk
und Entstellung zu schrecken? Das ist gewiss eine nützliche Anwendung, aber
doch nur für diesen bestimmten Fall.
Sollte durch die Freude an der Farbe Alles erklärt werden? Dann sind
wir genötigt, auch die Freude am Schwarzen als eine ursprüngliche Lustempfindung
anzuerkennen. Dann müssten wir mit Erstaunen feststellen, dass unsern Stämmen
ein z. B. in Polynesien so ausgiebig benutztes, für solchen Zweck selbst in dem
relativ blumenarmen Flusswald reich bestelltes Fundgebiet der Natur entgangen
ist — nicht Mann, nicht Weib schmückte sich mit Blumen. Die einzige Frage,
glaube ich, die Antonio aus eigener Initiative an mich gerichtet hat, war in Cuyabá
die: »warum tragen die Frauen Blumen im Haar?« Der Gedanke, dass es geschehe,
um sich mit bunten Farben zu schmücken, lag seiner Seele himmelfern. Nein,
die bunten Papageifedern sind zum farbigen Schmuck erst geworden; zuerst war
das Vergnügen an der Jagd oder dem Tierleben und die Prahlerei mit der Jäger-
geschicklichkeit wirksam und dann erst kam die Sinnenfreude zu ihrem Recht.
Ich habe in meinem Tagebuch jeden Fall von Körperbemalung eingetragen
und feststellen können, dass es hier noch heute zwei Arten des Körperbemalens
[185] giebt. Die eine, an die wir zuerst denken, die das Aeussere schmücken soll,
war die seltenere und hatte ein Kennzeichen, das sie von der andern ziemlich
sicher unterscheiden liess. Dieses Kennzeichen war, dass zum Schmuck das
Muster gehörte, sei es einfach, sei es prunkvoll. Man muss einen Unterschied
machen zwischen Anstreichen und Bemalen des Körpers. Beim Anstreichen
ist das Nützliche, beim Mustermalen das Schöne massgebend. Die Farbenfreude
ist in beiden Fällen vorhanden, aber sekundär. Schon die Wirkung des Urukúrots
überschätzen wir. Wenn sie so allgemein wert gehalten worden wäre, so hätten
sich alle Stämme seiner bedienen können. Wer den wahrhaft prunkhaften Schmuck
der Papageienvögel zu Hause hat, der soll sich besonders schön vorkommen,
wenn er sich mit Russ und auch mit Ziegelrot anstreicht! Man verweile im
Berliner Museum für Völkerkunde vor den herrlichen Federzierraten des tropischen
Südamerika und vergleiche damit getrost das Schönste und Bunteste, was unsere
gewiss nicht Geringes leistende moderne Technik hervorzuzaubern vermag — noch
kann die Natur den Vergleich aushalten, und sicherlich schlägt ihre Federpracht
das bescheidene Schwarzweissrot, das dem Indianer Kohle, Lehm und Orléans-
strauch liefern.
Der Indianer gebraucht niemals Weiss zur Körperbemalung! Ich
höre schon die Antwort »er findet, Weiss steht ihm nicht«. Daran ist wohl auch
etwas Richtiges. Unsere weissen Perlen schätzte er geringer als die roten, beiden
zog er die blauen vor, die mit seiner Haut am besten kontrastirten. Man könnte
zwar einwenden, dass er diese Unterschiede schon nach dem blossen Anblick
machte, [und] ehe er die Perlen auf seinem Körper gesehen hatte, aber es mag
sein, rot gefiel ihm besser als weiss und blau besser als alle übrigen, nicht, weil
er die für ihn selteneren Farben vorzog, sondern nach reinem Geschmacksurteil.
Dann ist damit noch nicht erklärt, warum er sich des Weissen gänzlich enthielt,
man verstände nur, dass er es sparsamer gebrauchte, und könnte keinenfalls be-
greifen, dass er es nicht schon, um die anderen Farben besser zu heben, an-
wendete. Er trägt Federhauben, die allerliebst aussehen, von reinem Weiss mit
wenigen gelbroten Federchen dazwischen.
Zur Musterbemalung des Körpers eignet sich der kreidige feinkörnige Thon
nicht. Würde er wie Kohle mit dem gelblichen Oel vermischt, so liesse er
sich ebenfalls in Linien auftragen, aber die weisse Farbe ginge verloren. Mit
Wasser gemischt, würden die Linien aber sehr unbeständig sein und zumeist
beim Antrocknen abfallen. Auf den Masken liefert das Weiss nur den Grund
oder erscheint bei den kunstlosesten in breiten Streifen. Dagegen würde den Ein-
geborenen, wenn er seinen Farbstoff wesentlich um des Farbeneindrucks willen zum
Körperschmuck verwendete, nichts hindern, sich auch mit Weiss zu verschönern,
indem er sich mit dem Thon in breiter Fläche einpulverte. So sind kreidigweiss
die Oberschenkel der fadendrillenden Frauen; auch der feine Mehlstaub, mit dem
die Beijúbäckerinnen öfters weiss eingehüllt sind, stände ihm zur Verfügung. Aber
weder die weisse Bäckerin noch der in breiter Fläche rot oder schwarz angestrichene
[186] Indianer hat sich so zugerichtet, um sich zu schmücken. Es ist Werkeltags-
kleidung, nicht Sonntagsanzug.
Die Frage lautet also: was ist denn der Nutzen des Anstreichens? Wie
bekannt, und wie ich aus eigener Erfahrung langen Barfussgehens sehr gut weiss,
kühlt der Schlamm; es ist äusserst angenehm in der Hitze, die Haut feucht zu
erhalten. Er kühlt insbesondere gestochene Stellen, und er schützt die ange-
stochenen vor den Moskitos, ob er nun rot, gelb, schwarz oder weiss sei.
Ich kann nicht glauben, dass sich der Mensch immer, wenn er durch den Ufer-
schlamm gewatet ist, darum besonders geschmückt erschienen ist; es mag auf
anderm Boden, wo die Erdfarben seltener sind, ein Anderes sein. In unserm
Gebiet hat jedenfalls die Annehmlichkeit für die Haut den Vorrang vor der für
das Auge. Der Indianer hat den Schlamm durch Oel ersetzt; doch ein fein-
pulvriger Zusatz soll es konsistenter und klebriger machen, und dieser Zusatz ist
ein Farbstoff, Russ und Urukúrot. Sicherlich gefällt den Bakaïrí das Rot besser,
da sie die Pflanze nicht zu hegen und zu pflegen brauchten, wenn der Russ
ebenso schön wäre, und innerhalb dieser Grenze schmückt man sich auch beim
Anstreichen. Mit Oelfarbe, je nachdem mit schwarzer oder roter, streicht sich
der Eingeborene an, damit er die Haut in der Hitze angenehm geschmeidig
erhält, und damit die Moskitos und Stechfliegen, die sich auf den Körper nieder-
lassen, ankleben und zu Grunde gehen. Er zieht nicht auf die Jagd aus, ohne
dass die liebende Gattin ihn namentlich an Brust und Rücken mit Oelfarbe be-
strichen hat, er führt mit sich im Kanu, wie wir bei unsern Begleitern sahen, die
kleine Oelkalebasse, um unterwegs den Ueberzug zu erneuern und tauscht morgens
diesen Liebesdienst mit den Genossen aus. Nach einem Tage Rudern ist solch
ein Rücken mit zahllosen schwarzen Kadaverchen bespickt, die durch ein Bad
im Fluss rasch entfernt werden. Bei den Mehinakú sah ich auch eine Anzahl
Frauen am ganzen Körper mit trockner Kohle geschwärzt, die ihre gewöhnliche
Arbeit eifrig verrichteten und allem Anschein nach in keiner Weise daran ge-
dacht hatten, sich herauszuputzen. Leider weiss ich aber nicht, zu welchem
Zweck die Einreibung gemacht war, und vermute nur, dass es sich um hygienische
Massregeln handelte.
Nun will ich nicht etwa behaupten, Anstreichen und Musterbemalen seien
haarscharf geschieden. Es ist dasselbe wie mit der Kleidung. Man trägt sie anders
zur Arbeit und zum Fest. Wenn man sie durch bessere Stoffe, lebhaftere Farben,
besonderen Schnitt schmückend gestaltet, so möchte ich daraus nicht schliessen,
dass die Kleidung von Haus aus nur Schmuck sei. Die Oelfarbe ist that-
sächlich die Kleidung des Indianers, wie er sie bedarf: ihr eigentlicher
und ältester Zweck ist Schutz, nicht gegen die Kälte, sondern gegen die Wärme,
gegen die Sprödigkeit und bestimmte Arten äusserer Insulte. Er hat nur eine
Kleidung, die er mehr entbehren kann als wir die unsere, die auch nicht die
Nebeneigenschaft besitzt wie die unsere, zu verhüllen, und er ist deshalb nicht
zu dem Schamgefühl gelangt, das wir besitzen. Wie unsere Kleidung nach Rück-
[187] sichten des Schmucks umgestaltet wird, so seine Oelfarbe und, denke ich mir,
früher sein Schlamm. Wie manche Leute mehr als Andere auch in der werk-
täglichen Kleidung von der Rücksicht auf ein schöneres Aeussere bestimmt werden,
so leistet sich ein indianischer Fant wie der Bakaïrí Luchu in einer beliebigen faulen
Stunde auch eine Schlangenlinie mit Tupfen daneben auf dem Oberschenkel, und
wie einfachere Menschen bei uns auch des Sonntags sich nur bescheiden heraus-
putzen, so ist auch ein anspruchsloseres Indianergemüt zufrieden, wenn er sich zur
Feier eines fröhlichen Ereignisses statt eines Linienmusters nur eine Bemalung der
Stirn und Nase oder der Waden gönnt. Finde ich es aber im Grossen und Ganzen
deutlich ausgesprochen, dass man sich zu Nützlichkeitszwecken anstreicht und zu
Verschönerungszwecken mit Zeichnungen verziert, so schliesse ich daraus, dass das
Schminken zunächst nicht Schmücken war. Und dies ist um so mehr aufrecht zu er-
halten als der Farbe ihrer Farbstoffe wegen noch heute nur ein sekundärer Wert bei-
gemessen werden kann, wenn sie Weiss überhaupt verschmähen, zwischen Rot und
Schwarz keinen sonderlichen Unterschied machen, und wenn sie ganz ungleich schönere
Farben in ihrem Federschmuck zur Verfügung haben. Auch spricht die Entwicklung
der Farbenwörter, wie wir noch sehen werden, zu Gunsten derselben Auffassung.
Dass unter den für nützlich gehaltenen Zwecken des Anstreichens auch
medizinische nicht gefehlt und die Sitte gefördert haben, brauche ich kaum hervor-
zuheben; einen bestimmten und sehr gewöhnlichen Fall habe ich sogleich bei dem
Wundkratzer anzuführen. Wenn Moritona, der grosse Medizinmann der Yaula-
piti, sich den Rest von unserer Erbsensuppe breit über die Brust schmierte, so
dürfte das Motiv der Farbenfreude daran nur geringen Anteil gehabt haben.
Die Muster waren verschiedener Art. Einfache Fingerstriche, auffallige
Streifen z. B. von Auge zu Ohr, oder die Verschönerung desselben Moritona: ein
schwarzer Streifen von der Nase bis zum Nabel, Streifen, die den Konturen der
Schulterblätter folgten, Tupfen auf Brust und Armen, Wellenlinien die Schenkel
entlang, gesprenkelte Bogen über die Brust hinüber, ein Zickzack Rücken und
Beine hinunter u. dergl. mehr. Zum Teil handelt es sich dabei um auffällige Be-
gleitung oder Durchkreuzung der anatomischen Konturen, zum Teil um Nach-
ahmung tierischer Hautzeichnung, aber Alles war Willkür der einzelnen Person
und Stammesmuster waren nicht vorhanden. Als Uebergang zum gewöhnlichen
breiteren Anstreichen mag es gelten, dass man einzelne Körperteile z. B. Stirn
und Nase auffällig bemalte. Die Baumwollbänder, die den Oberarm oder den
Unterschenkel umspannten, boten ein nicht unbeliebtes Motiv. Bei dem Bakaïrí
Kulekule, der für mich schwärmte, sah ich eines Tages unterhalb jeder Brust-
warze ein schwarzes hufeisenartiges Bogenstück, und als ich ihn nur zum Scherz
fragte, was das sei, deutete er zu meiner Ueberraschung auf meine Stiefel, die
ihm sehr imponierten: er hatte sich die Absätze aufgemalt. Ein wirkliches Kunst-
werk trug ein junger Auetö́ zur Schau, der für die Reise mit uns nach Cuyabá
— sein Vater befahl ihm, dass er uns begleite — feierlich herausgeputzt war,
der aber trotz eines ihm zum Proviant mitgegebenen Topfes Mehl uns schon bei
[188] den Mehinakú verliess. Das Mereschu-Rautenmuster, von dem ich später ausführ-
licher sprechen werde, bedeckte Brust und Seiten abwärts bis zur halben Höhe
der Waden, dagegen prangte die untere Hälfte des Gesichts und seitlich der Hals
vom Ohr bis zum Schlüsselbein in einem Ueberzug von reinem tiefem Schwarz.
Im Uebrigen war es vorwiegend bei der festlichen Gelegenheit des Empfangs oder
wie bei den Nahuquá, beim Tanz, dass man sich mit Mustern schmückte. Im
alltäglichen Leben war so gut wie Nichts zu sehen, ebensowenig als von Feder-
schmuck. Die Bakaïrí des ersten Dorfes empfingen uns, als ich mit den Gefährten
von der Independencia erschien, einschliesslich der Frauen fast sämtlich in be-
maltem Zustande; die kleineren Enkel Tumayaua’s waren sorgfältig am ganzen
Körper beklext, und Tumayaua sagte mir ausdrücklich, dass wir sehen sollten,
wie sich die Frauen freuten.
Ritznarben. Ritzen der Haut ist eine Art Universalheilmittel. Es wird
für Jung und Alt gebraucht und in gleicher Art bei allen Stämmen. Mit dem
Wundkratzer.
Wundkratzer, einem dreieckigem Stück Kürbis-
schale, das mit einer Reihe kleiner spitzer Zähn-
chen von Fischen (Trahira) oder Krallen von
Nagetieren (Agutí) besetzt ist, wird die Haut ge-
ritzt, eine Weile bluten gelassen, wobei durch
Streichen mit einem Knochen nachgeholfen wird,
und dann entweder mit gelbem Lehm oder mit
Russ oder dem Saft einer Frucht (natuntsán bei
den Auetö́) eingerieben. Zumal an den Armen
sieht man überall die Ritznarben. Eigentliche
Ziernarben fehlen durchaus, was mit dem Satz von Joest übereinstimmt, dass sie auf
die dunkeln Völker beschränkt sind. Damit die Knaben zum Schiessen ein sicheres
Auge und einen starken Arm erhalten, wird Gesicht und Oberarm mit dem Wund-
kratzer bearbeitet. Ich sah ihn bei einer starken Anschwellung des Fusses mit sehr
gutem Erfolg angewandt. Das Verfahren ist der reine Baunscheidtismus und wird
auch ausdrücklich als ein medizinisches hingestellt. Es ist klar, dass man sich
in vielen Fällen auch wirklich Erleichterung verschafft, indem man die Spannung
und Entzündung vermindert. Es ist nicht weniger klar, wie man darauf verfallen
ist, da sich jeder Mensch bei Insektenstichen kratzt, bis es blutet und der
Schmerz oder das Jucken aufhört, und da man auch, was Schlechtes unter
die Haut eingedrungen ist, wieder herauslassen möchte. Endlich ist es nicht
rätselhaft, warum man sich mit Russ oder Erde einreibt, man will sich wiederum
nicht schmücken, sondern man steigert oder mildert nach Bedarf den Reiz und
stillt das Blut. Bluten wurde auch mit Asche gehemmt.
So ist der Eingeborene hier zum Tätowieren gekommen, ohne es zu er-
finden; ich habe häufig gefärbte Ritzstriche in der Haut als eine richtige, wenn
auch unbeabsichtigte Tätowierung bei den Stämmen beobachtet, die sich mit dieser
[189] Kunst gar nicht befassten. Von Zufall kann man aber nicht reden, weil die
Gewohnheit des medizinischen Wundkratzens die Nebenerfahrung der Färbung
notwendig hervorrufen musste. Die zielbewusste Verwendung ist Sache späterer
Vorstellungen. Auch die Tätowierung wird zur künstlichen Methode und zum
auszeichnenden Hilfsmittel, das auf der Haut angebracht wird, wo keine Kleidung
vorhanden ist. Nichts ist natürlicher als dass die Tätowierung in dem Masse
zurücktritt, als die Kleidung erscheint und bequemere Wege zu gleichen Zwecken
eröffnet. Der zahme Bakaïrí Felipe aus dem Paranatingadorf, Leutnant der bra-
silischen Miliz und im Besitz eines
Patents und einer ausrangierten
galonierten Uniform, hatte nach
unserer ersten Expedition mit An-
tonio die wiedergefundenen Namens-
brüder besucht; er erzählte mir, dass
man ihn aufgefordert habe, zu den
Kustenaú zu gehen und sich täto-
wieren zu lassen. »Aber ich wollte
nicht«, sagte er mir, »ich habe ja
meine Galons«.
Die Tätowierung ist auf die
Nu-Aruakstämme, also die Mehi-
nakú, Kustenaú, Waurá und Yaula-
piti beschränkt, — auf Stämme,
die sich den Körper mit Vorliebe
schwärzen, die also die Färbung der
Kratzstriche am besten beobachten
konnten — und wird gelegentlich
von den benachbarten Bakaïrí in
Anspruch genommen. Sie wird
mit dem Dorn einer Bromelia,
Gravatá, oder dem Zahn des
Hundsfisches in frühem Kindes-
Kamayuráfrau mit Ritznarben.
alter ausgeführt; zur Farbe dient Russ oder der Saft der Tarumáfrucht.
Nur ein einziges Mal haben wir eine künstlerische Tätowierung gesehen; ein
Häuptling der Mehinakú hatte auf jeder Seite der Brust die Raute des Mereschu-
Fisches auftätowiert; von der obern und äussern Ecke der Raute verlief noch
eine Doppellinie zur Schulter hinauf. Indem er uns stolz die Stämme aufzählte,
die ihn kannten, deutete er jedesmal auf eine Ecke der Raute; ich nehme auch
diesen kleinen humoristischen Zug zu Gunsten meiner Meinung in Anspruch, dass
das, was die Naturvölker mit ihrer Haut anfangen, mutatis mutandis, dem entspricht,
was wir mit unserer Kleidung unternehmen. Der Mehinakú zählt an den Ecken
seines Tätowiermusters ab, unsereins an den Westenknöpfen. Die Männer hatten
[190] als Tätowierung je eine Linie oder Doppellinie, die den innern Konturen der Schulter-
blätter folgten, bald als stumpfe oder annähernd rechte Winkel, die ihre Scheitel der
Wirbelsäule zukehrten, bald als Bogenstücke — ein Muster, das nun in die Kunst
der Mehinakú übergegangen ist und aussen auf den Böden der grossen Töpfe er-
scheint, vgl. Tafel 15. Die Frauen trugen entweder auf dem Oberarm, oder um
das Handgelenk, oder auf dem Oberschenkel zwei, auch drei horizontale Bogen-
linien, die den vordern Teil des Gliedes umspannten, also Halbkreise darstellten.
Die Tätowierung leistet im Allgemeinen noch nichts als einfache Linien und
verrät noch ihren Ursprung aus dem ungeschickten Wundkratzen mit dem Fisch-
zahn. In diesem Sinne ist die umstehende Abbildung einer wie tätowiert
erscheinenden, aber nur medizinisch geritzten Kamayuráfrau merkwürdig. Die
Kamayurá hatten keine Tätowierung, dagegen waren Hände und Arme vielfach
eng liniirt mit Ritznarben des Wundkratzers.
Allein schon diente die Tätowierung bewusster Auszeichnung. Sie kenn-
zeichnete Männer und Frauen der Häuptlingsfamilien, die eben nicht wie der
Bakaïrí Felipe in der Lage waren, Galons zu tragen; man sorgte für diese
Unterscheidung schon bei den kleinen Kindern. So liefert sie hier zunächst ein
Unterscheidungszeichen innerhalb des Stammes, das aber im Lauf der Zeit wie
jedes Rangabzeichen der Verallgemeinerung verfallen wird. Schon gelüstete es
einzelne Bakaïrí- und Nahuquá-Aristokraten, sich um die fremde Auszeichnung zu
bewerben. Die Nahuquá hatten mehrere Mehinakúfrauen mit Tätowierung. Ich traf
bei den Mehinakú einen Kamayurá zu Besuch und dieser trug auf dem Arm charakte-
ristischer Weise, aufgemalt freilich und nicht tätowiert, die beiden Tätowierlinien der
Mehinakúfrauen. Ich glaube, kann es aber nicht behaupten und beweisen, dass hier
ein Zusammenhang mit dem System des Matriachats vorliegt. Die Söhne gehören
nach indianischer Vorstellung zum Stamm der Mutter und in jedem Fall verkehren
sie unter friedlichen Verhältnissen in dem Stammdorf der Mutter. Sicher ist es,
dass die Mehinakúweiber und die Mehinakútöpfe ihren Heimatsstempel trugen.
II. Sexualia.
Die Vorrichtungen bei Männern und Frauen sind keine Hüllen. Schutz der Schleimhaut und sein
Nutzen bei eintretender Geschlechtsreife. Ursprung aber bei den Frauen als Verband und Pelotte,
bei den Männern als gymnastische Behandlung der Phimose.
Unsere Eingeborenen haben keine geheimen Körperteile. Sie scherzen über
sie in Wort und Bild mit voller Unbefangenheit, sodass es thöricht wäre, sie des-
halb unanständig zu nennen. Sie beneiden uns um unsere Kleidung als um einen
wertvollen Schmuck, sie legen ihn an und tragen ihn in unserer Gesellschaft mit
einer so gänzlichen Nichtachtung unserer einfachsten Regeln und einer so gänz-
lichen Verkennung aller diesen gewidmeten Vorrichtungen, dass ihre paradiesische
Ahnungslosigkeit auf das Auffälligste bewiesen wird. Einige von ihnen begehen
[191] den Eintritt der Mannbarkeit für beide Geschlechter mit lauten Volksfesten, wobei
sich die allgemeine Aufmerksamkeit und Ausgelassenheit mit den »private parts«
demonstrativ beschäftigt. Ein Mann, der dem Fremden mitteilen will, dass er der
Vater eines Andern sei, eine Frau, die sich als die Mutter eines Kindes vorstellen
will, sie bekennen sich ernsthaft als würdige Erzeuger, indem sie mit der unwill-
kürlichsten und natürlichsten Verdeutlichung von der Welt die Organe anfassen,
denen das Leben entspringt.
Es ist somit nicht möglich, die Leute richtig zu verstehen, wenn wir nicht
unsere Begriffe von der »Kleidung« beiseite lassen, wenn wir sie nicht nehmen,
wie sie sind und wie sie sich in ihrer Eigenart geben. Indem wir als den Aus-
gangspunkt festhalten, dass sie nur ihre natürliche Haut und keine künstliche
Stoffdecke über ihren Körper haben, müssen wir uns zunächst einmal fragen, ob
die Haut in ihrem Verhältnis zu einer Aussenwelt, der sie unmittelbar ausgesetzt
wird, durch die Veränderungen des geschlechtlichen Lebens beeinflusst werden
kann, und müssen jedenfalls an dieses Thema mit ärztlicher Unbefangenheit, nicht
aber mit dem Gedanken eines zivilisierten Menschen, der sich plötzlich entkleiden
soll, herantreten. Beginnen wir mit einer Uebersicht der verschiedenen Methoden,
die für die Behandlung der partes pudendae bei den einzelnen Stämmen von der
Zeit der Reife ab, und nur von dieser Zeit ab, im Gebrauch sind. Sie beziehen
sich nirgendwo auf die Kinder.
Die Männer bieten bei den Kulisehustämmen mit Ausnahme der Trumaí
für den ersten Anblick nichts Besonderes. Das Schamhaar ist ausgerupft; sie
tragen nur eine Gürtelschnur in Gestalt eines Baumwollfadens, auf den gelegentlich
kleine Halmstücke oder durchbohrte Samenkerne oder winzige Stücke Schnecken-
schale aufgereiht sind, aber meistens so, dass der grössere Teil der Schnur frei
bleibt. Man betrachte die Photographien, z. B. Tafel 14: die Hüftschnur findet
man ausnahmslos bei jedem Mann. Oefters ist statt des Fadens ein Strang
Baumwolle vorhanden, so bei dem einen Nahuquá Seite 95*) oder auf dem Bild des
Bakaïrí Luchu, Tafel 6. Gerade bei diesem Jüngling, der erst seit kurzem in das
mannbare Alter eingetreten war und auch mit der Entfernung des Schamhaars
noch nicht abgeschlossen hatte, lernte ich den uns hier interessierenden Zweck
der Hüftschnur kennen. Ich hatte sie samt dem Baumwollstrang bis dahin als
eine öfters mit Zierrat ausgestattete Tragschnur betrachtet für Leute, die keine
Taschen haben, oder als Vorrat an Bindematerial, das immer zur Hand wäre,
allein in der That wurden leichtes Handwerkszeug wie Muscheln und Fischgebisse,
oder auch der Kamm oder die von uns gegebenen Messer nicht an der Hüft-
schnur, sondern an einer Schnur um den Hals auf Brust oder Rücken getragen.
Auch hatten die so arbeitsamen Frauen keine Hüftschnur. Kleinere Knaben waren
meist schon mit der Schnur versehen, hatten dann jedoch stets ein paar zierliche
Kleinigkeiten darauf gereiht.
[192]
Die Hüftschnur dient zu dem Zwecke, das Praeputium zu verlängern. Der
Penis wird aufwärts dem Leib angelegt und so unter die Hüftschnur geschoben,
dass das oberste Stück des Praeputium abgeklemmt bleibt. Man hält den Jüng-
ling zu diesem Verfahren an, wenn die ersten Erektionen eintreten. Er bemüht
sich, die Prozedur Tagelang inne zu halten, und beseitigt das lästige Schamhaar.
Die Trumaí hatten eine absonderliche Methode, die auch von andern brasi-
lischen Stämmen berichtet wird. Sie banden das Praeputium vor der Glans mit
einem meist mit Urukú rot gefärbten Baumwollfaden zusammen. Das Vorderende
des Penis erschien wie ein Wurstzipfel. Sie hatten also im Dauerzustand das,
was die Andern mit ihrer Hüftschnur nur vorübergehend hatten. Leider haben
wir sie nicht unter normalen Verhältnissen in ihrem Dorfleben beobachten können.
Als wir sie auf der Flucht vor den Suyá in der Nähe der Auetö́ fanden, bemerkten
wir den wunderlichen Faden nicht bei sämtlichen Männern, obwohl auch die nicht
Penisstulp der Bororó.
damit versehenen die durch den Gebrauch erzeugte
Abschnürungsmarke am Praeputium erkennen liessen.
Es wäre nicht unmöglich, dass sich die Leute vor
den Auetö́ ein wenig genierten; wenigstens bekundeten
die übrigen Stämme, wenn wir mit ihnen von den
Trumaí redeten, stets ein ganz besonderes Ver-
gnügen über den Wollfaden, den sie verspotteten
und ebenso komisch fanden wie wir. Doch hatten
wir die Gesellschaft ganz unter sich getroffen, und
der Hauptgrund, nehme ich an, war die in der Not-
lage nur zur erklärliche Vernachlässigung des Aeussern.
Auch bemerkten wir, dass es namentlich ältere In-
dividuen waren, denen der Faden fehlte, wie auch
die Aelteren betreffs der Tonsur am nachlässigsten
sind. Bei älteren Männern, die den Faden trugen, sass er dem Scrotum un-
mittelbar auf, und waren auch die Konturen des Penis völlig verschwunden, sodass
man nur ein zusammengeschnürtes Beutelchen erblickte. Und kaum anders war
es, wenn sie keinen Faden trugen.
Diese Folge dauernder Vergewaltigung trat nicht minder bei dem Stulp oder
der Strohmanschette zu Tage, die keiner der Kulisehustämme trug, die ich aber hier
mit anführen möchte. Wir sahen die auch sonst in Brasilien nicht unbekannte
Vorrichtung bei den Yuruna, den mit den oberen Stämmen unbekannten An-
wohnern des Mittel- und Unterlaufs, und in grösserem Format bei den Bororó
des südlichen Matogrosso. Ein langer Streifen ziemlich spröden gelben Palmstrohs
wird gerollt und gefaltet, wie die Abbildung zeigt, sodass ein trichterförmiger nach
unten spitz zulaufender Stulp entsteht; das links abstehende Ende des Streifens
in der Abbildung möge man sich wegdenken, da der Stulp nur bei festlichen
Gelegenheiten solch’ eine mit roten Mustern bemalte Fahne trug. Sein Effekt
ist genau wie der des Fadens: das Praeputium wird so hindurchgezogen, dass das
[193] untere enge Ende des Trichters noch gerade einen Zipfel scharf abschnürt, vgl.
das Titelbild und Tafel 27. Auch hier verschwindet meist der Rest des Penis im
Scrotum, aber der Vorteil des starren Stulps vor dem Faden ist der, dass er
weniger scharf einschneidet. Der Stulp ist eine Verbesserung und eine Ver-
schönerung im Vergleich zum Faden. Ich nehme an, man hat zunächst die Hüft-
schnur getragen und davon haben die Einen Stücke zum Abbinden benutzt,
während die Andern sich begnügten, die Haut einzuklemmen. Bei jenen ist man
zum Teil zu dem milderen und koketteren Stulp fortgeschritten, behielt aber die
alte, immer noch nützliche oder zum Schmuck dienliche Hüftschnur bei, wie die
Bororó sie neben dem Stulp tragen, während die stulptragenden Yuruna sie zum
breiten Perlgürtel entwickelt haben. Waehneldt berichtet in der That (1863)
von den im Quellgebiet des Paraguay wohnenden Bororó, dass sie nicht den Stulp,
sondern den Faden tragen: »Die Männer binden nur die Glans mittels eines
feinen Bastfadens um den Bauch, damit sie sich von Insekten frei halten und
beim Laufen nicht belästigt werden«.
Alle Methoden erreichen auf leicht variierte Art dasselbe, die Bedeckung der
Glans, sei es, dass das Praeputium nur verlängert, sei es, dass es ausserdem noch
zusammengeschnürt und auch noch besonders durch Palmstroh umschlossen wird.
Von den Frauen habe ich erwähnt, dass alle das Schamhaar entfernen.
Die Suyáfrauen, die sich mit Halsketten schmückten und in den durch-
bohrten Ohrläppchen dicke bandmassartig aufgerollte Palmblattstreifen trugen,
gingen durchaus nackt.
Die Trumaífrauen trugen eine Binde aus weichem, grauweisslichem Bast; sie
war zu einem Strick gedreht, sodass eine Verhüllung nur in den aller be-
scheidensten Grenzen vorhanden war und sicherlich nicht beabsichtigt sein
konnte, da man den Streifen nur hätte breiter zu nehmen brauchen.
Sie rollten einen langen, schmal zusammengefalteten Baststreifen an einem Ende
ein wenig auf, hielten dieses Röllchen mit der einen Hand gegen den untern
Winkel des Schambergs angedrückt, drehten mit der andern Hand den freien
Streifen einige Male um sich selbst und führten ihn zwischen den Beinen nach
hinten hinauf, kamen wieder nach vorn zu dem Röllchen, drückten es mit dem
quer darüberweg gespannten Streifen an und wandten sich über die andere Hüfte
zum Kreuz zurück, wo sie das freie Ende einschlangen und festbanden.
Die Bororófrauen hatten ebenfalls die weiche graue Bastbinde, die sie während
der Menses durch eine schwarze ersetzten, nur befestigten sie die Binde an einer
Hüftschnur. Dort in einer Breite von 3—4 Fingern, vorn eingeschlungen, lief sie
schmäler werdend über die Schamspalte und den Damm zum Kreuz und wurde
wieder an die Hüftschnur gebunden. Statt der Hüftschnur wurde auch ein breites,
fest schliessendes Stück Rinde um den Leib getragen. Vgl. die Abbildung
Bororó, Mutter und Tochter.
Die Frauen der Karaiben, der Nu-Aruak- und Tupístämme des Schingú-
Quellgebiets trugen sämtlich das dreieckige Stückchen starren Rindenbastes, das
v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 13
[194] am bequemsten mit seinem Bakaïrínamen „Uluri“ bezeichnet wird. Die Uluris
werden aus einem viereckigen Stück des ziemlich harten knitternden Stoffes durch
Faltung in der Diagonale hergestellt; die Ränder der zwei so entstehenden leicht
aufeinander federnden Dreiecke sind nach innen umgeschlagen, damit sie nicht
scharf bleiben und einschneiden. Das Uluri sitzt sehr tief dem Winkel des Scham-
bergs auf; die untere Ecke des Dreiecks verlängert sich in einen etwa 4 mm
Uluri. (⅚—\frac{5}{7} nat. Gr.)
breiten Damm
streifen aus har-
tem Rindenbast,
während von den
beiden oberen 2
dünne Faden-
schnüre durch
die Leistenbeugen
um die Schenkel herum nach hinten laufen
und dort mit dem schmalen Dammstreifen
vereinigt werden, der von der unteren
Spitze des Dreiecks her entgegenkommt.
Die Grösse der Uluris wechselt; umfang-
reiche Exemplare haben eine Grundlinie
von 7 cm, eine Höhe von 3 cm, die meisten
sind, zumal bei jüngeren Individuen, er-
heblich kleiner. Sie bedecken grade den
Anfang der Schamspalte und liegen dort
fest an. Der Introitus vaginae wird durch
das Dreieck nicht erreicht, aber durch den
Gesamtdruck von vorn nach hinten ver-
schlossen oder mindestens nach innen zu-
rückgehalten, da der zwischen den un-
behemmten Labia majora in der Spalte
eingebettete Dammstreifen scharf ange-
zogen ist.
Die Uluris sind mit grosser Zierlichkeit
gefertigt und sehen recht kokett aus, wenn
sie neu sind. Ihre ganze Konstruktion ist
so hübsch überlegt und besonders die Be-
festigung der Leistenschnüre wie die des Dammstreifens, die an die Dreiecke
angenäht sind, so saubere Arbeit, dass man sie nicht für ein ursprüngliches
Erzeugnis erklären kann.
Den verschiedenen Methoden der Frauen gemeinsam ist der Verschluss,
nicht die Verhüllung. Sie halten die Schleimhautteile zurück, wie bei den
Männern die Glans verhindert wird vorzutreten. Zurückhalten der Schleim-
[195] haut ist der allen Vorrichtungen beider Geschlechter gemeinsame
mechanische Effekt. Das Uluri erreicht ihn bei einer so weit getriebenen
Reduktion der Bedeckung, dass die Verhüllung eher möglichst vermieden als ge-
wünscht erscheint. Die Schleimhaut bleibt, da sie bei den Männern hinter dem
Praeputium, bei den Frauen hinter den Labia majora zurückgehalten wird, der Aussen-
welt überhaupt und somit allerdings auch den Blicken der Umgebung verborgen.
»Kleidungsstücke«, deren Hauptzweck es wäre, dem Schamgefühl zu dienen,
kann man doch nur im Scherz in jenen Vorrichtungen erblicken. Sexuelle Erregung
wurde durch sie nicht verhüllt und wurde auch, wenigstens bei den Bororó-
Männern, nicht geheim gehalten. Das rote Fädchen der Trumaí, die zierlichen
Uluris, die bunte Fahne der Bororó fordern wie ein Schmuck die Aufmerksamkeit
heraus, statt sie abzulenken. Zwar wird der Gedanke, sowohl den moralischen
Zustand als diese »Reste einer früheren Kleidung« auf eine Degeneration zurück-
zuführen, indem die Eingeborenen von einer höheren Stufe auf die niedrige der
Gegenwart herabgesunken wären, für manche Gemüter ein Herzensbedürfnis sein,
er lässt sich aber nicht in Einklang bringen weder mit der von einem gleichen
klar ausgesprochenen Zweck beherrschten Mannigfaltigk eit der Vorrichtungen, noch
mit der vollkommenen Harmonie, in der sie sich der ganzen übrigen Kulturhöhe
der Indianer einfügen. Die absolut nackten Suyáfrauen wuschen sich die Geschlechts-
teile am Fluss in unserer Gegenwart.
Könnte für die heranwachsenden Männer, wenn die Glans durch Erektionen
und sexuellen Verkehr dauernd frei zu werden droht, der Wunsch entstehen, sie
zum Schutz bedeckt zu erhalten? Es lässt sich Vieles dafür anführen. Zwar
möchte sich dieses Schutzbedürfnis noch am wenigsten auf Gestrüpp und Dornen
beziehen. Ernsthafter sind die Insulte der Tierwelt zu nehmen. Wenn die Trumaí,
wie von ihnen behauptet wurde, Tiere wären, die im Wasser lebten und auf dem
Boden des Flusses schliefen, wären sie sogar in die dringende Notwendigkeit ver-
setzt, die Urethralöffnung dem Kandirúfischchen (Cetopsis Candiru) zu verschliessen.
Dies transparente, spannenlange kleine Scheusal, dessen Vorkommen im Batovy
wir 1884 festgestellt haben, hat die eigentümliche Neigung, in die ihm zugänglichen
Körperöffnungen des im Wasser befindlichen Menschen einzudringen; es schlüpft
in die Urethra, kann wegen der Flossen nicht zurück und verursacht leicht den
Tod des Unglüchlichen, dem Nichts übrig bleibt, als schlecht und recht mit seinem
Messer die Urethrotomia externa zu vollziehen.*)
Da die Amphibiennatur der Trumaí aber auf gerechte Zweifel stösst, und
der Aufenthalt im Wasser selbst für den Fischer oder den sein Kanu durch die
Katarakte bugsierenden Ruderer nur eine nebensächliche Rolle spielt, so ist es
13*
[196] nicht notwendig, auf die von dem Kandirú ausgehende, nur gelegentliche Gefahr
zurückzugreifen. Dagegen macht allerdings das Gesindel der »Carapatos« (Ixodidae),
der beim Durchwandern des Waldes zahlreich von den Blättern abgestreiften und
herabgeschüttelten Zecken, den Schutz der Glans den Waldbewohnern im höchsten
Grade wünschenswert. Die zum Teil winzig kleinen Schmarotzer saugen sich auf
der Haut fest, pumpen sich voller Blut, bei ihrer dehnbaren Körperwandung bis
zu Erbsengrösse anschwellend, und haften mit den in die Haut scharf eindringenden
Hakenspitzen ihrer Kieferfühler so fest, dass man sie zerreisst, wenn man sie ab-
pflücken will, und durch die zurückbleibenden Teile schmerzhafte Entzündungs-
stellen hervorgerufen werden. Der Brasilier, der häufig mit Karapaten wie besät
aus dem Walde kommt, entledigt sich schleunigst seiner Kleidung und schüttelt
Hemd und Beinkleid über dem Lagerfeuer aus; hat sich einer der Schmarotzer
in die Glans eingebohrt, so pflegt er ihm mit einer brennenden Zigarette so nahe
auf den Leib zu rücken, als seine eigene Empfindlichkeit nur eben gestattet,
damit das Tierchen, durch die Hitze bedrängt, freiwillig seinen Aufenthalt aufgiebt
und sich aus der Schleimhaut zurückzieht, ohne zerrissen zu werden. Wir Alle
haben trotz unserer Kleidung das eine oder andere Mal dieses Verfahren ein-
schlagen müssen und die Situation, bevor die Erlösung erreicht ist, als eine der
peinlichsten gekostet. Ich bin auch der Ansicht, dass der Schutz, dessen sich
die Indianer erfreuen, sicherer ist, als der einer verhüllenden Bekleidung.
Wie viel anderes beissendes, kneifendes, saugendes, einkriechendes Insekten-
zeug den südamerikanischen Waldbewohner noch auf ähnliche Art bedrängen
kann, ist jedem Reisenden geläufig, der sich im brasilischen Wald auf den Boden
gesetzt hat. Am hellsten werden diese Unannehmlichkeiten durch den Umstand
beleuchtet, dass es auch der Bewohner des südamerikanischen Tropenwaldes
gewesen ist, der die Hängematte, von den Engländern und Franzosen noch
jetzt nach dem Nu-Aruakwort „amáka“ benannt, zu erfinden genötigt war. Genötigt
war, sicherlich nicht allein wegen des nassen Bodens der Hylaea. Wohlweislich
begegnet der Indianer jenen Angriffen in etwas dadurch, dass er in Hockstellung
zu sitzen pflegt. Auch gebrauchen die Frauen, wenn sie beim Schaben der
Mandiokawurzel und dergleichen Beschäftigung, die sich in der Hockstellung nur
unbequem verrichten liesse, breit aufsitzen, selbst im Hause, das ja von
Schleppameisen wimmelt, ein paar aneinander befestigte flache Bambusstücke zur
Unterlage. Sie sind von den häuslichen Arbeiten her weniger daran gewöhnt zu
hocken, als die Männer, somit auch weniger geschützt. Auf der nebenstehenden
Abbildung zeigt eine Gruppe von Bakaïrí aus dem zweiten Dorf sehr gut die
charakteristischen Stellungen beider Geschlechter im Sitzen oder Hocken.
Auch bei den Frauen würde, wenn Schutz der Schleimhaut durch ihre
Vorrichtungen bewirkt werden sollte, dieser Zweck wohl erreicht und sicherlich
besser erreicht als etwa ein Zweck der Verhüllung. Es ist ferner anzuerkennen,
dass, die Absicht des Schutzes der Schleimhaut vorausgesetzt, ein Bedürfnis sich
dafür durch das geschlechtliche Leben wenigstens steigerte, weil bei der jungen
[197] Frau die Mucosa zugänglicher wurde, im Zustand der Schwangerschaft turgescierte
und durch die Entbindungen gelockert wurde.
So wäre es in der That nach den örtlichen Bedingungen unrecht, daran zu
zweifeln, dass die beschriebenen Methoden den Erwachsenen beider Geschlechter
Schutz gegen äussere Insulte bieten konnten, und dass es nicht an Gelegenheiten
fehlte, wo sie in diesem Sinne nützlich sein mussten. Es wäre auch natürlich,
dass man mit ihnen die Jugend schon beim Eintritt in die Reifezeit, wo sie
begannen, mit den Aelteren zu arbeiten, gebührend ausrüstete. Allein die
Erklärung kann unmöglich erschöpfend sein. Denn die Wichtigkeit und Un-
entbehrlichkeit der Vorrichtungen steht im Missverhältnis zu dem Begriff
Hockende Bakaïrí.
von Schutzapparaten. Warum hätte man sie nicht häufiger, namentlich Nachts
in der Hängematte, abgelegt? Warum wären die Jünglinge so aufmerksam bei
ihrer Dressur des Präputiums gewesen? Warum hätte man sonderlich Aufhebens
davon gemacht, dass die Uluris oder die Stulpe eines Tages angelegt wurden?
Die Beziehungen zum Geschlechtsleben müssen unmittelbar sein und nicht nur
mittelbar.
Bei dem weiblichen Geschlecht begegnet man keiner Schwierigkeit. Plötzlich
treten Blutungen auf; hier ist eine Erkrankung gegeben. Dass der Indianer
ursprünglich so dachte, wird klar bewiesen durch die bei den meisten Stämmen
übliche, höchst überflüssige medizinische Behandlung des menstruierenden Mädchens
[198] mit Isolierung, Ausräucherung, Diät, Inzisionen und den übrigen Hilfsmitteln wider
die unbekannten Feinde. Man entfernte säuberlich das Schamhaar und legte
einen Verband an, die Bastschlinge, oder eine Pelotte: das Uluri.
Die Bastschlinge ist bei den Trumaífrauen — eine Kombination von Verband
und Pelotte — strickartig gedreht, bei den Uluriträgerinnen bewirkt der schmale
Rindenstreifen die Anspannung über den Damm; in beiden Fällen wird ein gegen
die Schambeinfuge hin andrückendes Widerlager geschaffen, bei jenen durch das
Röllchen, bei diesen durch das federnde Dreieck. Man sieht, es war nicht die
Reinlichkeit, die das Verfahren eingab, sondern das ärztliche Bemühen, dem Blut-
verlust entgegenzuarbeiten. Das sind aber wahrlich keine Erfindungen der Scham-
haftigkeit, wie Schürzen oder dergleichen loser Umhang.
Für die Männer liegt die Erklärung nicht ganz so nahe. Auch hier hat
man den Versuch gemacht, die Beziehung zu einem ursächlich wirkenden, primären
Schamgefühl zu retten. Die Ansicht ist ausgesprochen worden, dass man sich
nur ganz ausschliesslich geschämt habe, die Glans des Penis den Blicken zu
zeigen, und deshalb auch nur sie verhüllt habe. Leider habe ich Nichts be-
obachtet, was die Frage unmittelbar entscheiden könnte. Ich habe gesehen, dass
die Leute sich nicht schämten, wenn sie ihre Vorrichtungen uns gaben oder auch
gelegentlich ablegten, wie denn eine Anzahl Trumaí den Faden nicht einmal trugen,
allein der Penis war immer bereits so stark zurückgedrängt und die Haut so faltig,
dass von der Glans nichts sichtbar wurde. Ich glaube sogar, vielleicht, weil ich
ohne gegebenes Material selbst durch die Kulturbrille schaue, dass sie sich schämen
würden, die Glans dem Auge eines Andern, zumal des Fremden, auszusetzen.
Nur würde ich dieses Schamgefühl als Folge des eingewurzelten Gebrauchs be-
trachten und nicht als seine Ursache. Dass sich aber ein in der Naturanlage
gegebenes Gefühl nur für einen kleinen anatomischen Teil eines in seiner Funktion
auch die andern Teile beanspruchenden Organs regen solle, finde ich recht selt-
sam, und gern würde ich von einem etwa derart beobachteten Fall hören, dass
ein im Zustand der Nacktheit überraschter Mensch sich nicht mit der Hand,
sondern nur mit zwei Fingern bedeckt habe. Es ist nicht zu vergessen, dass
Erektionen durch die Abschnürung weder verhindert noch verborgen werden.
Dann giebt es ja auch beschnittene Menschen, die nackt gehen oder gingen*).
Und hier sind wir bei dem Punkt angelangt, der vor Allem erwogen werden
muss. Wir müssen die entgegengesetzte Behandlung der Glans in Betracht
ziehen, die das Praeputium verkürzt oder spaltet. Der grössere Teil der Mensch-
heit hat der Zirkumzision den Vorzug gegeben. Mit Ploss und Andree**)
bin ich der Meinung, dass der ursprüngliche Sinn der Beschneidung der eines
»operativen Vorbereitungsaktes auf die Sexualfunktion des Mannes« gewesen sei;
»man will den Jüngling mit einem Male reif und normal in sexueller Hinsicht
[199] machen, er wird damit in die Reihe der heiratsfähigen Männer aufgenommen«.
Haben unsere Naturvölker sich nun für die entgegengesetzte Methode entschieden,
so können sie dabei nicht von einem entgegengesetzten Motiv, das unsinnig wäre,
geleitet worden sein. Aber wohl darf man sich fragen, ob ihre Methode nicht
nur scheinbar entgegengesetzt ist, ob sie nicht in Wirklichkeit dasselbe erreicht?
Nicht dass die Oeffnung erweitert würde; es liegt vielmehr eine gymnastische
Behandlung der Phimose vor anstatt einer operativen. Dehnen sie denn nicht
die Haut, die die Andern zerschneiden? Schaffen sie nicht Raum innen, wo ihn
die Andern nach aussen schaffen? Am wenigsten kann dies für das Abklemmen
des Praeputiums mittels der Hüftschnur bezweifelt werden, was, wie bereits er-
wähnt, die älteste Form zu sein scheint, da sich die Hüftschnur überall erhalten
hat. Mit dem Stulp wurde die Haut stark vorgezerrt. Bei Jünglingen zeigte sie
sich häufig wund und abgeschürft. Der Europäer lässt zu enge Schuhe vom
Schuster auf den Leisten schlagen, im innern Brasilien aber, wo man nur fertige
importierte Waare kauft, findet ein Mann der guten Gesellschaft gar nichts darin,
in Lackschuhen zu erscheinen, die er sich mit ein paar festen Schnitten erweitert
hat. Sein Messer verhält sich zum Leisten, wie der beschneidende Splitter oder
Dorn zur Hüftschnur.
Eins haben der feine Brasilier und der Europäer in diesem Fall gemeinsam,
sie schämen sich schon beide mehr oder minder, barfuss zu erscheinen. Viel-
leicht kommt auch einmal die Zeit, wo vollkommene Menschen glauben, die
Schuhe seien erfunden, wiel es ein Erbgut unseres Geschlechts gewesen sei, sich
der nackten Füsse zu schämen.
Nicht einmal die wirklichen Anzüge, die unsere Indianer haben — sie sind
aus Palmstroh geflochten, mit Aermeln und Hosen ausgestattet und dienen zur
Vermummung bei Tanzfesten — lassen sich zu Gunsten des Ursprungs aus dem
Schamgefühl verwerten: an ihnen werden die Geschlechtsteile gross und deutlich
aussen angebracht. Ich vermag nicht zu glauben, dass ein Schamgefühl, das den
unbekleideten Indianern entschieden fehlt, bei andern Menschen ein primäres Gefühl
sein könne, sondern nehme an, dass es sich erst entwickelte, als man die Teile
schon verhüllte, und dass man die Blösse der Frauen den Blicken erst entzog,
als unter vielleicht nur sehr wenig komplizierteren wirtschaftlichen und sozialen
Verhältnissen mit regerem Verkehrsleben der Wert des in die Ehe ausgelieferten
Mädchens höher gestiegen war als er noch bei den grossen Familien am Schingú
galt. Auch bin ich der Meinung, dass wir uns die Erklärung schwerer machen
als sie ist, indem wir uns theoretisch ein grösseres Schamgefühl zulegen als wir
praktisch haben.
[200]
III. Jägertum, Feldbau und „Steinzeit“-Kultur.
Bevölkerungszahl. Lage der Dörfer. Vereinigung von uraltem Feldbau und Weltanschauung des
Jägertums. Jagd und Fischfang müssen den metalllosen Stämmen, für die der Ausdruck »Steinzeit«
unzutreffend ist, die wichtigsten Werkzeuge liefern. Steinbeilmonopol, Zähne, Knochen,
Muscheln, Federn. Aufzählung der Nutzpflanzen und Verteilung nach Stämmen. Keine
Bananen. Pflanzennamen als Zeugen für stetige Entwicklung. Fehlen berauschender Mehlgetränke
beweist, dass Einfachheit nicht gleich Degeneration. Vereinigung von Jagd und Feldbau ermöglicht
durch Arbeitsteilung der Geschlechter. Indianerinnen schaffen den Feldbau; sie erfinden die
Töpfe zum Ersatz der Kürbisse; die Männer braten, die Frauen kochen. Durch fremde
Frauen Kultur des Feldbaues, der Töpfe, der Mehlbereitung verbreitet und nach Kriegen erhalten,
namentlich durch Nu-Aruakfrauen.
Die Bevölkerung des Schingú-Quellgebiets mag ungefähr 2500—3000 Seelen
betragen. Ich bin nicht in der Lage, mehr als eine ganz oberflächliche Schätzung
zu geben. Selbst in dem dritten Bakaïrídorf waren die jungen Frauen und
Mädchen in den Wald gelaufen, als wir ankamen. Meist kehrten die Flüchtlinge
zwar allmählich zurück, doch wussten wir niemals sicher, ob wir die normale
Anzahl der Bewohner vor uns sahen. Es kam auch umgekehrt vor, dass Besuch
aus den benachbarten Ortschaften eingetroffen war, und die uns umgebende Ge-
sellschaft zu zahlreich erschien. Die kleinsten Dörfer bestanden aus nur zwei
Familienhäusern, die grössten aus nahezu zwanzig. Es wird im Allgemeinen
richtig sein, wenn man den Dörfern je nach der Grösse eine Bevölkerung von
30 bis 150 und, wo es hoch kommt, bis 200 Bewohnern zurechnet.
Nur die Trumaí und jenseit Schingú-Koblenz die Suyá wohnten am Fluss-
ufer. Es waren dies die streitlustigsten und unruhigsten Stämme; die Suyá
konnten als die Hechte im Karpfenteich gelten. Die Uebrigen sassen in stiller
Sicherheit oft mehr als zwei Wegstunden landeinwärts vom Fluss. Aber während
der Fluss im Gebiet der Bakaïrí noch schmal war und sich in den letzten Kata-
rakten austobte, während hier noch in der Landschaft dichte Kampwildnis mit
sandigem Boden vorherrschte, entwickelte sich flussabwärts ein ausgedehntes Netz
von Kanälen und Lagunen, gestaltete sich dort für die Kenner der verschlungenen
Wasserwege, in denen sich der Fremde nicht zurechtzufinden vermochte, der
Verkehr nicht nur von Dorf zu Dorf, sondern auch vom Dorf zur Pflanzung
mühelos und vielseitig, lohnte überdies ein reicherer Boden besser die Arbeit.
Wollen wir das Schema Fischer und Jäger oder Ackerbauer anwenden, so
müssen wir bei unsern Eingeborenen ein Mischverhältnis feststellen. Die Jagd
auf Säugetiere trat bei den sesshaften Anwohnern des Flusses von selbst gegen
den Fischfang zurück. Dieser war wichtig sowol für den Zweck der Ernährung
als für den der Verwendung im technischen Bedarf. Felle boten keinen Nutzen,
da man wärmende Kleidung nicht trug; die Haut des erlegten Säugetieres wurde
gewöhnlich nicht abgezogen, sondern mitgebraten, und zwar bis zur Verkohlung,
wo sie angenehm knusprig und salzig schmeckte. Die Jagd, ausser der eifrig
gepflegten auf grosse Hühnervögel und die sonstige Bewohnerschaft des Fluss-
waldes, gewährte nur Gelegenheitsbeute und hätte, wenn sie ernster betrieben
[201] werden sollte, zu grösseren Streifereien genötigt. Wir sahen dies später bei den
Bororó, die auch an einem fischreichen Fluss wohnten, bei denen aber umgekehrt
die Jagd auf Säugetiere im Vordergrunde stand; sie waren wochenlang von Hause
abwesend und kehrten mit grossen Mengen gebratenen Fleisches zurück: sie be-
trieben noch keinen Feldbau.
Geistig — und das ist ein Punkt von hoher Bedeutung — lebten die
Schingúindianer trotz eines intensiven Feldbaus noch im vollen, echten Jäger-
stadium. Wenigstens von den Bakaïrí kann ich diesen Satz in seinem ganzen
Umfang bestätigen. Ich habe geschildert, mit welcher Aufmerksamkeit sie selbst
im Dorf jeden Laut, der aus dem Walde drang, jeden Vorgang aus dem Tier-
leben, den ihnen der Zufall vor Augen führte, beobachteten. Draussen auf dem
Kamp- oder Waldpfad, im Kanu, im Nachtlager fühlte sich der Indianer stets
auf der Jagd. Er wusste sich nicht durch eine Kluft von der Tierwelt geschieden,
er sah nur, dass sich alle Geschöpfe im Wesentlichen benahmen wie er selbst,
dass sie ihr Familienleben hatten, sich durch Laute miteinander verständigten,
Wohnungen besassen, sich zum Teil befehdeten und von der Jagdbeute oder von
Früchten ernährten, kurz er fühlte sich als primus inter pares, nicht über ihnen; er
wusste nichts von all den guten Dingen, dass es ein Anderes ist, ob man in Situations-
bildern oder in Begriffen Schlussfolgerungen zieht, und ob man nach Assoziationen,
die sich fertig innerhalb der Art forterben, oder nach der Tradition, die von den
Eltern durch die Sprache übermittelt wird, zweckgemäss handelt. Seine Sagen
und Legenden, die uns als reine Märchen und Tierfabeln erscheinen, und die er
genau so ernst nimmt wie wir die heiligen Bücher und ihre Lehren, in denen er
sich auch Menschen und Tiere vermischen lässt, müssten ihm selbst nur scherz-
hafte Spielereien sein, wenn er seine Person aus anderm Stoff geformt wüsste als
die übrigen Geschöpfe. Wir können diese Menschen nur verstehen, wenn wir sie
als das Erzeugnis des Jägertums betrachten. Den Hauptstock ihrer Erfahrungen
sammelten sie an Tieren, und mit diesen Erfahrungen, weil man nur durch
das Alte ein Neues zu verstehen vermag, erklärten sie sich vorwiegend die
Natur, bildeten sie sich ihre Weltanschauung. Dementsprechend sind ihre künst-
lerischen Motive, wie wir sehen werden, mit einer verblüffenden Einseitigkeit dem
Tierreich entlehnt, ja ihre ganze überraschend reiche Kunst wurzelt in dem Jäger-
leben und ist nur erblüht, als ein ruhigeres Dasein den Knospen Schutz gewährte.
Ich kann nicht genug von Anfang an auf diese Verhältnisse hinweisen, weil wir
sonst die materielle Kultur der Eingeborenen nicht richtig würdigen und ihre
geistige überhaupt nicht begreifen würden.
Auf der andern Seite ist es Thatsache, dass die Erzeugnisse des Feldbaus
— ausgenommen bei den Trumaí — seit undenklichen Zeiten im Besitz unserer
Indianer sind. Dafür liefert die Vergleichung der Sprachen unwiderlegliche Be-
weise. Sie lehrt uns zunächst, dass die Stämme des Schingú verschiedenen Sprach-
familien angehören. Sie lehrt uns weiter, dass für jeden einzelnen die Abzweigung
von dem entsprechenden Grundvolk in entlegenen Epochen stattgefunden hat;
[202] denn die lautlichen Erweichungsvorgänge und das Verschwinden der Stammanlaute,
die überall bei den einzelnen Dialekten vorhanden sind, zeigen eine gleich gerichtete,
aber dem Grade und den Grenzen nach überall verschieden abgestufte Ent-
wicklung, zeigen nur Entsprechungen und keine Uebereinstimmungen, können also
erst nach der Abtrennung von dem Grundvolk in Gang gekommen sein. Dennoch
haben schon die Grundvölker die Namen der wichtigsten Nutzpflanzen; sie sind
gänzlich verschieden von einem Grundvolk zum andern, sie sind aber dem einzelnen
Grundstock gemeinsam mit einer grösseren oder geringeren Anzahl der Zweige.
Für die Karaiben glaube ich diese Sätze in meiner Bakaïrí-Grammatik erwiesen
zu haben, für die Tupí darf ich sie nach neueren Studien gleichfalls behaupten,
für die Nu-Aruak, wo das Material unzulänglich und schwierig ist, enthalte ich
mich jeden Urteils und verweise nur darauf, dass wir aus geschichtlichen und
ethnologischen Daten schliessen müssen, dass die Nu-Aruak sicherlich eine ältere
Kultur besitzen als die Karaiben und gar die Gēs, und eine ältere wahrscheinlich
auch als die Tupí, Die Trumaí haben ihre Namen für die wichtigsten Nutz-
pflanzen teils von den Nu-Aruak, teils von den Tupí entlehnt.
So haben wir einen Widerspruch gegen die landläufige Auffassung: uralten
Feldbau neben der Weltanschauung des Jägertums. die Bakaïrí sagten mir,
»unsere Grossväter wussten nichts von Mais und Mandioka, sie assen dafür Erde«
— wovon die heutigen Indianer nur naschen. In dem Bagadú-Märchen erzählen sie,
dass die Mandioka den Kampbewohnern erst geschenkt worden sei. Man begegnet
im Matogrosso verschiedenen Stufen der Entwicklung nebeneinander: in den Bo-
roró werden wir einen mächtigen Stamm kennen lernen, dem das Anbauen von
Nährpflanzen ein unverständliches Beginnen war, der ohne Not die für ihn gepflanzten
Mandiokawurzeln, kaum dass es junge, dünne Wurzelstengel waren, eiligst ausriss
und verzehrte — wir erkennen aus der Sprache und hören auch aus der Ueber-
lieferung, dass die Trumaí erst spät in dem Feldbau von ihren Nachbarn unter-
richtet worden sind und finden bei ihnen vortrefflich gehaltene, ausgedehnte
Pflanzungen — wir sehen endlich die übrigen Schingú-Indianer abhängig von
den Früchten des Feldes, doch in ihrem ganzen Denken und Empfinden von der
Freude am urspünglichen Jägerberuf erfüllt.
Allein der Gang kann sich nicht so abgesetzt stufenweise und mehr oder
minder sprungweise nach dem Schema vollzogen haben. Um dies einzusehen,
müssen wir nur noch einem andern Problem etwas näher treten. Die Schingú-
stämme hatten keine Metalle. Man sagt, sie lebten in der »Steinzeit«.
Leider ist das Studium der vormetallischen Perioden ganz vorwiegend an
dem stummen Material der Ausgrabungen herangebildet worden. So hat man
zunächst die Verwirrung der Begriffe entstehen lassen, dass »Steinzeit« und »Prae-
historie« häufig als Ausdrücke gelten, die sich decken, obwohl die Völker, die ihre
Geschichte selbst geschrieben haben, dies erst thaten, als sie die Metalle längst
besassen, und obwohl neben ihnen und zu gleicher Zeit metalllose Völker, »vor-
geschichtliche« mit geschichtlichen zusammen gelebt haben. Dann aber hat man
[203] bei unsern praehistorischen Funden eine ältere Zeit unterscheiden können, wo die
Steingeräte durch Zuhauen und Zersplittern der Steine, und eine jüngere Zeit,
wo sie durch Schleifen hergestestellt wurden, und hat sich nun nicht begnügt,
diesen Gang — ich sage nicht, diesen Entwicklungsgang — auf die Gebiete zu
beschränken, wo man ihn beobachtet, sondern, die Erfahrungen verallgemeinernd,
geschlossen, der Mensch habe notwendig, um seine Werkzeuge zu gewinnen,
überall damit begonnen, Steine zu zerschlagen, und sei dazu fortgeschritten, sie
zu schleifen. Während die Praehistorie erst dort für die Erklärung der Kultur-
anfänge das entscheidende Wort sprechen und die Definitionen liefern sollte, wo
die Beobachtung an den Naturvölkern ihre Grenze findet, gelten heute die Mitteilungen
aus Alaska oder von einer Südseeinsel vorwiegend als schätzbares Material für den
Praehistoriker, der mit Freude sieht, wie seine scharfsinnigen Deutungen durch die
Wirklichkeit bestätigt werden, und wenn andrerseits der Forschungs-
reisende irgendwohin gelangt, wo die Leute keine Metalle kennen,
so ruft er aus, sie leben in der »Steinzeit« — eine Thorheit, die
mir deshalb sehr klar geworden ist, weil ich sie selbst häufig be-
gangen habe. Gingen wir zunächst einmal von den Naturvölkern
aus, wie es sich gebührt, so würden wir nicht verkennen, dass sich
unter ihnen noch heute paläolithische sowohl als neolithische Arbeit
je nach den vorhandenen Gesteinarten, je nach dem anderweitig ge-
gebenen Material und je nach den technischen Zwecken vorfindet.
Wir würden sehen, dass der negative Ausdruck »metalllos« natürlich
zutrifft, dass aber der positive Name »Steinzeit« sehr unglücklich
sein kann. Wir würden auch den Fall berücksichtigen, wo der
Mensch gar keine oder nur ungeeignete Steine hat und doch seine
Geräte und Waffen vortrefflich herstellt. Als unbefangener
Beobachter wäre ich kaum je darauf verfallen, zu behaupten,
dass die Schingú-Indianer in der »Steinzeit« leben.
Es trifft gewiss zu, dass ihre schwierigsten Leistungen — Wald-
lichten, Häuserbauen, Kanubauen, Verfertigen von Schemeln und
Steinbeil.
(⅛ nat. Gr.)
dergleichen — dem Steinbeil zukommen. Allein die verschiedenen Stämme waren
ganz abhängig von einer Fundstätte, die im Besitz der Trumaí war. Weder
Bakaïrí noch Nahuquá noch Mehinakú nebst Verwandten, noch Auetö́
noch Kamayurá hatten Steinbeile eigener Arbeit. Ihr Sandstein eignete
sich nicht zu Beilen. Genau ein Gleiches habe ich von der früheren Zeit der zahmen
Bakaïrí des Paranatinga auszusagen: in diesem Gebiet hatten die Kayabí das Mo-
nopol der Steinbeile; die benachbarten Bakaïrí mussten sie sich von ihnen, ihren
späteren Todfeinden, beschaffen. Die Stämme des Batovy, Kulisehu und Kuluëne
erhielten ihre Steinbeile von den Trumaí; (die am Hauptfluss wohnenden Suyá hatten
selbst welche). Das Steinbeil tritt uns hier also als ein Einfuhrartikel entgegen.
Auf meine Erkundigungen wurde mir geantwortet, die Steine würden »an
einem Bach im Sand« gefunden. Das Material ist von Herrn Professor Arzruni
[204] in Aachen als Diabas bestimmt, ein aus Augit, Plagioklas, Glimmer, Chlorit und
Magneteisen zusammengesetztes Gestein, in dem einzelne Krystalle von Olivin und
ziemlich viele Quarzkörner eingelagert sind. Die Klingen, 11—21 cm lang, sind
meist flach zilindrisch, einige in der Mitte walzenrund, verjüngen sich nach hinten
und enden vorn breit mit bogenförmiger Schneide. Sie sitzen ohne jede Um-
schnürung in einem durchschnittlich 0,5 m langen Holzgriff, der aus einem
zilindrischen quer durchbohrten Oberstück und einem dünneren, von diesem wie ein
Schilfrohr von seinem Kolben abgesetzten Stiel besteht. Aus demselben Diabas
sind die in die am Wurfpfeile eingelassenen Steinspitzen und die
Schmucksteine der Halsketten. Die Trumaí schliffen ihren Steinen die
Klinge an, und durchbohrten, wie ausser ihnen nur die benachbarten
Yaulapiti, die Schmucksteine. Die übrigen Stämme schliffen nur die
stumpf gewordenen Beile im Flusssandstein zu. Muscheln und Steine
wurden mit einem Quirlbohrer durchbohrt. An einem Stöckchen war,
und zwar an beiden Enden, damit man wechseln konnte, ein dreieckiges
hartes Steinsplitterchen eingeklemmt und durch Fadenumschnürung ge-
sichert. Das Stöckchen war nahezu ½ m lang und wurde zwischen
den Händen gequirlt. Wurde Stein durchbohrt, so setzte man Sand zu.
Das ist Alles, was die Indianer in der Bearbeitung von Stein leisteten,
sie hatten keine dreieckigen Pfeilspitzen aus Stein, keine Steinmesser,
keine Kelte, keine Steinsägen, keine Schaber u. s. w. Ich schlug bei
den Bakaïrí zwei Stücke eisenhaltigen Sandsteins gegeneinander, dass
Funken hervorsprühten, und sah zu meinem Erstaunen, dass sie die Er-
scheinung nicht kannten. Sie waren Neolithiker, die von der paläo-
lithischen Zunft manches nützliche Handwerksgeheimnis hätten lernen
können.
Ich wage nicht zu sagen, die Schingú-Indianer lebten in der
»Zahnzeit«, »Muschelzeit« oder »Holzzeit«, obwohl in der That die
grosse Mehrzahl von Waffen, Werkzeugen, Geräten, Schmuck aus
Zähnen, Muscheln und Holz zusammengesetzt ist, und sie das Feuer
durch Reiben von Hölzern erzeugten. Ich wage dies nicht einmal in Be-
treff der ostbrasilischen Waldstämme, bei denen das Steinbeil doch eine
ganz sekundäre Rolle gespielt haben muss, da sie weder Feldbau trieben,
noch Kanus bauten, noch solide Hütten kannten. Aber es ist offenbar
nur die Uebertragung von anderswo — und beim Ausgraben auf sehr erklärliche
Art und Weise — gewonnenen Begriffen, wenn man aus dem vorhandenen natür-
lichen Material für Werkzeuge und Waffen, um die Kulturstufe zu bezeichnen,
dasjenige herausgreift, was am wenigsten sowohl Bearbeitung wie Verwendung
erfahren hat. Die Kultur der den Wald bewohnenden alten brasilischen Jäger-
stämme wird schwer verkannt, wenn man mit der Klassifikation »steinzeitlich« die
[205] Vorstellung von den Menschen der Eiszeit heraufbeschwört. Wir versperren uns
das Studium der räumlichen Kulturkreise und der Abhängigkeit des Menschen
von seinem Wohnorte; jeder Stamm hat das Material seiner Umgebung ver-
werten gelernt, auf das er angewiesen war, und ist so in den Besitz von Methoden
gelangt, die eine mit demselben Material nur spärlich versorgte Nachbarschaft
nicht gefunden hätte, aber nur zum eigenen Fortschritt benutzen und üben lernt.
»Von der geographischen Umgebung«, sagt Bastian, »zeigt es sich bedingt, ob
neben dem den Metallen vorhergehenden Steinalter noch ein Holzalter (wie in
brasilischen Alluvionen z. B.), ein Knochenalter (bei Viehstand auf öden Ebenen,
oder dortiger Jagd), ein Muschelalter (wie auf Korallen-Inseln manchmal) zu setzen
sein würde.« Ich sage also lieber einfach, unsere Indianer kannten noch keine
Metalle und waren in ihren Arbeitsmethoden zunächst auf Muscheln, Zähne und
Holz angewiesen, schon weil sie besser geeignete Steine grossenteils gar nicht
hatten.
Und nun bin ich wieder bei meinem Ausgangspunkt angelangt. Trotz ihres
Feldbaues und trotz ihres Rodens mit der Steinaxt haben die Schingú-Indianer
sich ihr Jägertum nicht nur er-
halten können, sondern haben
es sich auch erhalten müssen,
weil ihnen Fischfang und Jagd,
abgesehen von einem Wechsel in
der Nahrung, die unentbehr-
lichsten Werkzeuge für die Her-
stellung von Waffen und Geräten
lieferte.
Zähne. Die Piranya-Ge-
bisse (serrasalmo)*) dienten zum
Feuerauge-Piranya. (¼ nat. Gr.)
Schneiden. Sie wurden mit einem beliebigen Holzhaken geöffnet und sorgfältig unter-
sucht; der 14 dreieckige Zähnchen enthaltende, 4 cm lange Unterkiefer wurde dann
mit einer Muschel ausgeschnitten. Hartes und Weiches, die Stacheln der Buritípalmen
oder das menschliche Haar, besonders aber alle Fäden und Fasern, wurden mit dem
scharfen Gebiss geschnitten. Meine Scheere nannten sie »Piranya-Zähne«. Bambus
und anderes Rohr wurde damit eingeritzt, bis es glatt abgebrochen werden konnte.
Ein kaum unwichtigeres Werkzeug lieferte der Peixe cachorro oder Hundsfisch, der
zoologisch Cynodon heisst, und im Unterkiefer zwei 3—3½ cm lange spitze, durch je
ein Loch nach oben durchtretende Zähne besitzt. Mit dem messerscharf geschliffenen
Rand dieser Zähne wurde geschnitten, doch gebrauchte man sie hauptsächlich
zum Stechen, z. B. beim Tätowiren, zum Ritzen, z. B. bei Verzierung der Schild-
kröten-Spindelscheiben, und zum Durchbohren von Rohr wie bei den Pfeilen, um
die Fäden zur Befestigung der Federn und Spitzen durchzustecken. Mit den
[206] spitzen Zähnchen des Trahira-Fisches, Erythrinus, waren die dreieckigen Kürbis-
stücke besetzt, die als Wundkratzer in der kleinen Chirurgie der Indianer, vgl.
Abbildung 15, das wichtigste Instrument darstellten. Auch dienten die Zähnchen
des Agutí, Dasyprocta Aguti, zu gleichem Zweck. Von den Nagetieren bot das
Kapivara, Hydrochoerus Capybara, in den Vorderzähnen des Unterkiefers un-
entbehrliche Schabemeissel; der 6—8 cm lange Zahn wurde mit Baumwoll-
faden an ein Stückchen Ubárohr befestigt oder zwei Zähne wurden zusammen-
geschnürt und auch noch mit etwas Wachs verkittet. Mit dem Agutí-Zahn
Hundsfisch. (\frac{1}{1} nat. Gr.)
Piranya. (\frac{1}{1} nat. Gr.)
Vorderklauen
des Riesengürteltiers.
(Wühlhacke). (⅖ nat. Gr.)
Kapivara-Zähne.
(Schabmeissel). (½ nat. Gr.)
wurden ebenfalls die Pfeillöcher gebohrt. Affenzähne, an der Wurzel durchbohrt
und kunstvoll zu einer Kette aneinander geflochten, waren ein beliebter Gürtel-
oder Halsschmuck.
Knochen. Arm- und Beinknochen von Affen, die in dicken Bündeln in
den Handwerkskörbchen zu Hause aufbewahrt wurden, dienten als Pfeilspitzen.
Sie wurden zugeschliffen und mit ihrem Röhrenkanal dem zwischen Pfeilspitze
und Pfeilschaft vermittelnden Stock aufgesetzt. Der Schwanzstrahl des Rochen
war ebenfalls Pfeilspitze. Kleine spitze Knöchelchen wurden als Widerhaken an-
[207] gebracht. Säugetierknochen fanden mancherlei Verwendung, mit dem Ober-
schenkelknochen des Rehs strich man die mit dem Wundkratzer behandelte Haut,
den Splitter von einem Jaguarknochen sahen wir zugespitzt, um Ohrlöcher zu
bohren, mit einem Knochen wurde auf die Pfeilspitzen das Wachs aufgetragen,
das die Umschnürung verschmierte. Die Vorderklauen des Riesengürteltiers
Dasypus gigas dienten dem Menschen, wie dem Tier selbst, zum Graben und
Aufwühlen des Bodens und waren die Erdhacke unserer Indianer. Die Spindel-
scheiben stammten vielfach aus dem Bauchstück des Schildkrötenpanzers, der mit
einem Stein zerschlagen wurde. Jaguarklauen wurden als Halsketten getragen,
Fischwirbel an der Gürtelschnur; ein quer durch die Nasenscheidewand gesteckter
Knochen schmückte die alten Bakaïrí.
Muscheln. Flache Flussmuscheln wurden zum Schneiden, weniger wo es
auf ein Durchschneiden als ein Längsschneiden ankam, zum Schaben, Hobeln,
Glätten in ausgedehntem Masse gebraucht. Die von den Kamayurá mitgebrachten
Messermuschel und Hobelmuschel.
Arbeitsmuscheln hat Herr Prot. von Martens bestimmt: tyutsí, Anodonta war
die Muschel zum Abschaben der Mandiokawurzel, „manióka pináp“; die Frauen
sassen auf ein paar aneinandergereihten Bambusstücken und schabten, schruppten,
kratzten, bis ihre Beine in den Schnitzelhaufen verschwanden. Diese Muschel
diente auch als Hobel, um den Griff des Steinbeils oder das Ruder durch feineres
Schaben zu glätten, aber nicht etwa mit dem Rande, sondern mit einem in der
Mitte angebrachten Loch. Die Leute bissen mit ihren Zähnen die äusserste
Schale ab und stiessen mit der spitzigen Akurínuss das Hobelloch hinein. Eine
andere Anodonta-Art, ita-í, »kleine Muschel«, gebrauchte man ebenfalls zum Fein-
schaben des Holzes. Auch verwandte man diese wie die anderen Arten zum
Aufbewahren der Farbe, mit der man sich rot oder schwarz bemalte; sie waren
gewöhnlich an der Hängematte aufgehängt. Eine zweite grosse Schabmuschel
für Wurzeln war itá, »Muschel«, eine Varietät der von Castelnau aus dem
Araguay mitgebrachten Leila pulvinata Hupé. Mit der grössten Art itá kuraá,
[208]Unio Orbignanus, wurden die Bogen geglättet und zwar mit der Aussenfläche der
Muschel. Interessant war eine flache Hyria, itá mukú, weil sie einen scharfen
spitzen Fortsatz hat, mit dem man z. B. Pikífrüchte öffnete. Sie entspricht am
besten unserm Taschenmesser, einem von den Indianern sehr abfällig beurteilten
Instrument, weil sie es nur mit unsäglicher Mühe zu öffnen wussten; sie stellten
sich dabei so ungeschickt an wie wir bei dem uns ungewohnten Quirlbohren. Die
Muschel wurde um den Hals gehängt, wenn man auf Reisen ging, mit ihr wurden
die erbeuteten Fische und Jagdtiere aufgeschnitten, mit der Muschel wurde das
Grübchen des Feuerstocks ausgehöhlt, in dem ein zweiter Stock bis zum Glimmen
gequirlt wurde, bei allem Schnitzen des Holzes war sie unentbehrlich. Vielfache
Verwendung fanden Schneckenschalen, Stücke von Bulimus-Gehäusen zum Ketten-
schmuck. Vgl. Seite 182. Orthalicus melanostomus baumelte zuweilen in dichtem
Gehänge am Maskenanzug.
Federn beflügeln den Pfeil, dessen Schaftende einander gegenüber zwei
abgespaltene Federhälften in spiraliger Drehung aufgenäht sind. Im Uebrigen
scheinen sie ausschliesslich, hier aber in grösstem Umfang, zum Schmuck ver-
wendet zu werden als Ohrfedern, Federkronen, Federhauben, Federarmbänder,
Federmäntel (bei den Kamayurá) und in hundertfältiger Verzierung im Kleinen,
wo die bunten Büschelchen hingen an den Hängematten, an Kämmen, Kürbis-
rasseln, Pfeilschleudern, Masken u. s. w. Das herrlichste Material stand zur Ver-
fügung, von dem Gelb, Blau, Rot und Grün der Arara, Tukane, Webervögel,
Papageien, von den schönen Streifungen oder Sprenkelungen der Hokkohühner,
Falken, Eulen, bis zu dem schimmernden Weiss der Reiher und Störche oder
dem Schwarz des Urubúgeiers. Prächtig war die breite und grosse schwarz-weiss
gebänderte Fahne der Harpyia destructor.
Die Beute von Jagd und Fischfang bot also eine Fülle der notwendigsten
Dinge, sie lieferte namentlich Werkzeug zum Schneiden, Schaben, Glätten, Stechen,
Bohren, Ritzen und Graben. Der Feldbau hatte den Eingeborenen Sesshaftigkeit
gesichert, ihre ökonomische Lage verbessert, aber sie waren dabei immer, wenn
auch in geringerem Umfang, noch Fischer und Jäger geblieben. Sie waren Jäger
ohne Hunde, Fischer ohne Angel, Bauern ohne Pflug und Spaten. Sie bieten uns
ein vortreffliches Beispiel dar, um zu lernen, wie vielgestaltig die Methoden der
Arbeit zum Zweck des Lebensunterhalts vor dem Besitz jedweder Metalltechnik
gewesen sei können, ein Beispiel, das uns warnt, die Wichtigkeit der Steingeräte,
die freilich am ehesten und reichhaltigsten der Nachwelt erhalten bleiben, zu
überschätzen, und in den einen grossen Topf des Steinalters unterschiedlos Alles
hineinzuwerfen, was vor dem Gebrauch der Metalle liegt und im Vergleich zu
der für diesen anzusetzenden kleinen Spanne Zeit unvorstellbar lange Perioden
umfassen muss.
Wenn man die Kultur nach dem Umfang und der Gründlichkeit schätzt,
wie die den Menschen umgebende Natur ausgenutzt wird, so standen unsere Ein-
geborenen wahrlich auf keiner niedrigen Stufe. Sie jagten und fischten mit Pfeil
[209] und Bogen, sie fischten mit Netzen, Fangkörben und Reusen, sie hatten ihre
Fischhürden im Fluss, durchsetzten den Strom mit Zäunen und Blöcken und
schlossen Lagunenarme ab, um die Fische abzusperren, sie rodeten den Wald
über grosse Strecken hinaus in schwerer Arbeit, sie bauten sich stattliche Häuser,
häuften darin ansehnliche Vorräte, füllten sie mit dem Vielerlei einer fleissigen
Handwerkergeschicklichkeit, statteten sich selbst mit buntem Körperschmuck aus
und verzierten alles Gerät mit sinnigen Mustern. Wenn mich die Cuyabaner mit
wütenden Zeitungsartikeln überschütteten, dass ich gesagt habe, die Wilden des
Schingú hätten ein sauberes und besseres Heim als viele Matogrossenser, so will
ich, ohne die Ursachen zu vergleichen, ihnen zur Beruhigung zufügen, dass es
auch im alten Europa der Dörfer genug giebt, im Gebirge und an der Küste,
wo man eine elendere Lebenshaltung führt als am Kulisehu.
Ich zähle die angebauten Nutzpflanzen auf, die wir bei den Indianern be-
obachtet haben. Sie gliedern sich A. in solche, die Allgemeingut des süd-
amerikanischen Nordens gewesen sind, ehe die Europäer erschienen, und B.
in solche, die in der unmittelbaren Umgebung wild vorkamen:
A.
B.
Die Kategorie B. würde sehr wahrscheinlich noch ansehnlich vermehrt werden
können. Sie hing vom Bedürfnis ab. Die Fruchtbäume darunter wurden mit
grosser Sorgfalt angepflanzt. Ich habe erzählt, dass sich bei dem ersten Bakaïrí-
dorf eine Art Allee von Pikíbäumen befand, die Nahuquá pflegten diese Gattung
mit Leidenschaft. Die Mangaven waren beliebt und kommen besonders gut fort
bei den Bakaïrí, bei den Kamayurá und namentlich, wie mir berichtet wurde, bei
den Waurá, sodass das Trumaíwort »waurarú« nur die Wauráfrucht zu bedeuten
scheint. Die Fruta de lobo war weniger häufig beim Dorf zu finden. Dann
aber wurden nach Bedarf auch Pflanzen, die sie irgendwie für ihre Gerät-
schaften und Waffen bedurften, angepflanzt, wenn sie grade in der Nähe
des Ortes nicht vorkamen. So siedelten sie beim Dorf das auf sumpfigem Boden
wachsende Lanzengras an, mit dem sie sich rasierten, die Bastpflanzen, die ihnen
v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 14
[210] Fäden lieferten, zuweilen vielleicht auch das Sapé-Gras, mit dem die Häuser ge-
deckt wurden. Am interessantesten aber scheint mir die Versicherung, dass sie
das Ubá-Pfeilrohr, um es nicht von entfernten Stellen holen zu müssen, am
Batovy in grösserem Umfang anpflanzten.
Offenbar spielte neben zufälligen Liebhabereien und Kenntnissen in der
Behandlung die Beschaffenheit des Bodens eine grosse Rolle. Der Tabak gedieh
vorzüglich bei den Suyá und bei den Auetö́ und wurde allgemein von den
Männern geraucht, ausgenommen im ersten Bakaïrídorf am Batovy *). Er spielt
eine wichtige Rolle bei der ärztlichen Behandlung und gilt als ein uralter Erwerb
der Kulturheroen, die ihn, wie die Sage andeutet, von Norden her empfingen.
Die Trinkschalen und Kalabassen, besonders die Cucurbita Lagenaria, bildeten
ein Haupterzeugnis der Nahuquá, etwas weniger der Bakaïrí. Die Mehinakú und
die Bakaïrí hatten die beste Baumwolle. Der Orléansstrauch wurde vor Allem
von den Bakaïrí gehalten, die Mehinakú vernachlässigten ihn gänzlich, da das
Begiessen zu viel Arbeit mache; der mich bei der Ankunft in ihrem Dorf
überraschende Umstand, dass dort keine rot, aber viele schwarz bemalte Gestalten
umherliefen, findet eine sehr natürliche Erklärung.
Mais, bei den Suyá in einer durch Kleinheit der Kolben und goldige Farbe
der Körner ausgezeichneten Art vertreten, und Mandioka gab es überall, die
letztere wurde aber entschieden im grössten Umfang bei den Mehinakú gepflanzt.
Sie waren die reichsten Bauern des obern Schingú; ihr Wort für Mandioka ist
auch an die Trumaí übergegangen. Neben der Mandioka sahen wir von Knollen-
gewächsen Ignamen in zwei Arten und Bataten, die wir erst reichlich bei den
Mehinakú fanden. Die Bohnen bezeichneten unsere Leute als »feijaõ de vara«,
Stangenbohnen, oder auch als »feijão de roça«, Pflanzungsbohnen. Von Ess-
kürbissen, abóbora, haben wir nur die Kerne gesehen, die uns die Suyá 1884,
soviel wir verstanden, zum Essen brachten. Die Mandubí-Erdnuss kam in einer
kleinen Art vor. Goyaven und Bananen gab es mit Sicherheit nicht am Schingú.
Ich habe in meinem Bericht über die erste Reise auf das Fehlen der
Bananen hingewiesen und besonders hervorgehoben, dass dies für die Frage, ob
die Banane in Amerika erst nach Ankunft der Europäer eingeführt sei oder nicht,
um so entscheidender sein müsse, als die verschiedenen Schingústämme ver-
schiedener Abkunft seien und dennoch kein einziger von dem früheren Wohnsitz
die Banane mitgebracht habe. In den Erfahrungen der zweiten Expedition kann
ich meine Meinung nur bestätigt finden. Wir haben jetzt auch echte Tupí an-
getroffen, die keine Bananen hatten. Ich habe bei den Kamayurá nach dem
[211] Wort „pakóba“, das die Lingoa geral für Banane hat, vergeblich gefahndet; sie
verstanden es nicht. Den Vorschlag, ob dieses Wort aus dem Portugiesischen
abgeleitet sein möge, nehme ich mit Vergnügen zurück; ich lege keinen Wert
mehr auf willkürliche Etymologie, allein der Thatsache, dass die Bananennamen
sich bei den einzelnen Stämmen nicht nach der sprachlichen Abstammung,
sondern nach der zufälligen örtlichen Verteilung richteten, muss ich heute
einen noch viel grösseren Wert beimessen als damals. Das ist ganz beispiellos
für die übrigen Nutzpflanzen. Kommt nun hinzu, dass keiner der ersten Ent-
decker die Banane erwähnt, dass ferner die Aruak der Küste und die Insel-
karaiben das spanische Wort „platano“ in ihrem „práttane“ und „balatanna“ so
unverkennbar wiedergeben, dass ein Zweifel an der Uebereinstimmung ganz aus-
geschlossen ist, würdigen wir es endlich, dass wir in einer verlorenen Ecke Ver-
treter sämtlicher grossen Sprachfamilien mit den vortrefflichsten Namen für die
Kulturpflanzen finden, nur ohne Bananen, dass gar ein abgesprengtes und mit den
Europäern verkehrendes Glied eines dieser Stämme, die zahmen Bakaïrí, die
Banane haben und sie in ihrer sonst durchaus rein erhaltenen Sprache (wie
übrigens ebenso die Paressí) einfach „banana“ nennen, so glaube ich, dass der Be-
weis mit aller Kraft ausgestattet ist, die ein negativer Beweis überhaupt haben
kann. Humboldt und Martius haben sich dadurch bestechen lassen, dass sie
die Banane überall bei den Indianern antrafen, aber diese Stütze für ihre Ansicht
ist jetzt hinfällig geworden, und die Erfahrungen der Linguistik wie das that-
sächliche Fehlen der Banane in dem ganzen Gebiet des oberen Schingú geben der
Ansicht des Botanikers Alphonse de Candolle unzweifelhaft Recht, dass die
Banane in Südamerika erst eingeführt worden ist, wenn auch gewiss sehr bald nach
dem Erscheinen der Europäer.
Es lohnt sich zur besseren Würdigung der sprachlichen Beweismittel ein
Beispiel zu geben. Betrachten wir die Wörter für Pfeffer bei I. den Nu-Aruak,
II. den Karaiben und III. den Tupí.
I. Am Schingú heisst Pfeffer bei den Nu-Aruak ái, bei den Maipure am
Orinoko ai, bei den Moxos in Bolivien atscheti, bei den Aruak haatschi, bei den
Frauen der Inselkaraiben áti, für das Taino der Insel Haiti verzeichnet Oviedo
axi, aji.
II. Am Schingú heisst Pfeffer bei den karaibischen Bakaïrí påno (mit na-
salem å), bei den Nahuquá vóme, hómi, bei den Inselkaraiben pomi, pomui, bei
den karaibischen Orinokostämmen in Venezuela pomèi, pomuey, in dem allgemein
in Guyana verbreiteten Galibí pomi. Bei den Palmella, einem Karaibenstamm
am Madeira, apómo.
III. Von den Tupí haben die Kamayurá am Schingú das Wort ökeöng; die
Omagua am obern Amazonas ekei, die Guaraní in Paraguay kiy, die Lingoa geral
kyiá, kyinha u. dgl.
Diese lautlichen Entsprechungen, die innerhalb der Stammesgruppen völlig
sicher sind, die von Stammesgruppe zu Stammesgruppe auch nicht die leiseste
14*
[212] Verträglichkeit zeigen, überspannen mehr als halb Südamerika und rühren aus
Aufzeichnungen, die von 1887 bis vor die Mitte des 16. Jahrhunderts zurück-
reichen. Sie lehren unwiderleglich, dass der Pfeffer in jeder der drei Stammes-
gruppen, deren weit entlegenste Familienglieder die Entsprechung auf ihren
Wanderungen bewahrt haben, seit undenklichen »vorgeschichtlichen« Zeiten be-
kannt war und keine ihn von einer der andern erworben hat. Damit lässt sich
das Verhalten der Bananenwörter durchaus nicht vereinigen. Jene Ueberein-
stimmungen können uns nur deshalb in Erstaunen versetzen, weil wir in dem
Wahn befangen sind, nicht nur, dass die südamerikanischen Völker ein linguistisches
Chaos darstellen, sondern auch, dass diese »Horden«, denen wir erst die Metalle
gebracht haben, zum grossen Teil rohe Jägervölker seien, hin und her geworfen
von unbekannten Geschicken wie Geröll im Wildwasser, beliebig hier verkittet
und dort zertrümmert. Wir werden uns aber daran gewöhnen müssen, auch in
den plumpen Massen, die unserm Auge die »Steinzeit« zusammensetzen, eine
Menge regelmässiger, feinsäuberlich niedergeschlagener Kulturschichten zu unter-
scheiden.
Der metalllose Südamerikaner hat in der Züchtung der Mandioka, die
heute mit dem Mais in die letzten Winkel Afrika’s vordringt, als ob beide rein
amerikanischen Pflanzen dort ewig einheimisch gewesen seien, eine Leistung voll-
bracht, die mit denen anderer Erdteile keinen Vergleich zu scheuen hat. Heute
giebt es eine kultivierte unschädliche Art, aber die ursprüngliche und am Schingú
allein vorkommende Wurzel musste erst ihres stark giftigen Saftes beraubt, das
durch Zerreiben und Zerstampfen erhaltene, ausgepresste Mehl erst geröstet
werden, ehe ein Nahrungsmittel entstand, und zwar eins von vielseitigster Ver-
wendung, in festem Zustande und als breiiges Getränk, Manihot „utilissima“. Sie
übertrifft an Wichtigkeit im Haushalt unserer Indianer weitaus den Mais. Sie
liefert den Hauptproviant und ihr gebührt das eigentliche Verdienst, die Ein-
geborenen, die sie von vorgeschritteneren Stämmen empfingen, zur Sesshaftigkeit
genötigt zu haben; denn ihre Zubereitung setzt eine Reihe Geduld erfordernder
Prozeduren und setzt Werkzeuge voraus, die, wie mit Palmstacheln besetzte
Reibbretter, nur durch grossen Aufwand von Zeit und Arbeit mit den gering-
wertigen Werkzeugen hergestellt werden konnten. Unbekannt am oberen Schingú
ist das ingeniöse Typytí, ein aus elastischen Stengeln geflochtener Schlauch, der
mit der zerriebenen Masse gefüllt wird und, durch ein Gewicht in die Länge ge-
zogen, den giftigen Saft auspresst; unsere Indianer filtrierten und pressten den Saft
durch geflochtene Siebe.
Von höherem Interesse aber ist es, dass die heute in Südamerika, wo Mais
und Mandioka von Eingeboreaen gebaut werden, wohl überall gepflegte Methode,
durch Kauen von Mehlkugeln oder Maiskörnern grössere Mengen Absuds in
Gährung zu versetzen, in unserm Gebiet noch unbekannt war; auch wusste
man dort Nichts von der Bereitung des bei den Nordkaraiben beliebten Pajauarú,
wo die mit Wasser aufgeweichten frischen Beijús in Blätter eingehüllt und einige Tage
[213] begraben werden. Der Püserego des Schingú hat keine berauschende Wirkung, er
stellt nur das schmackhafteste Breigetränk dar, er ist eine Suppe, kein Alkoholikum.
Man bereitete auch keinen Palmwein; man berauschte sich nur am Tanz, wenn
man will, am Tabak, und leistete das Menschenmögliche in quantitativer Ver-
tilgung der Breigetränke. Dagegen ist das Wort der Kamayurá kaui für den
einfachen Erfrischungstrank aus Wasser und eingebrocktem Beijú dasselbe Kauim,
das ihre mit Europäern oder mit fortgeschritteneren Amerikanern verkehrenden
Tupí-Stammesgenossen für die gährenden Getränke gebrauchen und also aus den
Tagen der Unschuld beim Uebergang zu weniger harmlosen Genüssen noch bei-
behalten haben. Das Fehlen von berauschenden Getränken, für die der Stoff
vorhanden ist, wird nicht der immer bereiten Deutung entgehen, dass die Indianer
auch diese schönen Kulturerzeugnisse früher besessen und jetzt nur vergessen
hätten, und sollte dann nur den, der die primitiven Zustände ausnahmslos auf
Rückschritt und Niedergang zurückführen will, in diesem besondern Fall vielleicht
einmal veranlassen, eine Verrohung zur Tugend, eine Verwilderung zur Sitten-
reinheit anzusetzen. Wer indessen in Brasilien den Indianer Kauim- oder Kaschirí-
gelage hat feiern sehen, wer seine Bootsfahrt um dieses edlen Zweckes willen hat
unterbrechen müssen und weder durch Geld noch durch gute Worte erreichen
konnte, dass die Leute eher aufbrachen, als bis der letzte Tropfen aus dem
hochgefüllten Trinkkanu verschwunden war, wird nicht anders glauben, als dass
ein freier Stamm, der bei seinen Festen wirklich nur ungegohrene Getränke ver-
tilgt, von den gegohrenen entschieden noch keine Ahnung haben und auch bis
auf die sagenhaftesten Urväter und Kulturheroen zurück niemals eine Ahnung
gehabt haben kann. Die Praxis, Gähren durch Kauen hervorzurufen, ist so ein-
fach, dass man nicht versteht, wie sie zu vergessen wäre, und obendrein von
Vertretern verschiedener Stammesgruppen gleichmässig vergessen werden sollte.
Ich finde umgekehrt in dem Fehlen der berauschenden Getränke die sicherste
Bürgschaft für die Unberührtheit der Verhältnisse am Schingú, und halte es für
eine unabweisliche Annahme, dass in gleicher Weise vor dem Einbrechen der
Europäer ähnliche Kulturbildchen der »Steinzeit« in den zahlreichen, verhältnis-
mässig abgeschlossenen Flussthälern des Amazonas- und Orinokosystems seit
Jahrhunderten und Jahrtausenden häufig gewesen sein müssen. Nicht immer hat
man sich mit der Nachbarschaft (Frauen! Steinbeile!) vertragen, gelegentlich sind
auch Störenfriede eingefallen, haben vielleicht eines der kleinen Zentren für die
Dauer vernichtet, dafür sind andere neu gegründet worden, und so hat sich im
Kleinen und Bescheidenen immer und alle Zeit das abgespielt, was wir Geschichte
nennen. Hier und da ist ein Stamm durch Angreifer vertrieben oder durch innere
Fehden gespalten worden, eine längere Wanderung fand statt, ehe wieder An-
siedelung erfolgte, aber im Allgemeinen hat man sich von Flussthal zu Flussthal
verschoben und durchsetzt.
Nur ein ewiger Wechsel von Isolierung und Vereinigung, in dem bald diese,
bald jene schärfer ausgeprägt war, kann die Menge gleichzeitiger linguistischer
[214] Verschiedenheiten und Uebereinstimmungen innerhalb derselben Sprachfamilie er-
zeugt haben; dass dabei aber trotz der Veränderungen eine wirkliche Stetigkeit
vorgewaltet hat, geht aus der, zumal bei der Dürftigkeit unseres Materials, über-
raschend grossen Zahl guter Uebereinstimmungen hervor. Wo es möglich ist,
die Lautgesetze festzustellen, sehen wir dieselbe Sicherheit und Regelmässigkeit,
wie wir sie bei unsern europäischen Sprachen finden. Wir können also nur auf
einen trotz gelegentlicher Katastrophen geordneten Entwicklungsgang zurück-
schliessen. Schon die Jägerstämme müssen eine, wenn auch unregelmässigere Art
der Sesshaftigkeit gehabt haben, um die prächtige Technik der Pfeile und Bogen
zu erwerben, nur in dem friedlichen Dahinleben während Generationen können
alsdann die Nutzpflanzen gewonnen sein, und es ist gar nicht nötig, dass es immer
grosse und mächtige Stämme gewesen sind, die einen Fortschritt hervorgebracht
haben. Wir sehen an den Schingúleuten, dass der primitive Feldbau des Fisch-
fangs und der Jagd schon deshalb bedarf, damit er sein Handwerkszeug erhält.
Die Erkenntnis, die sich jetzt in Nordamerika durchringt, dass die ruhelosen Rot-
häute in weit grösserem Umfang sesshaft gewesen sind, als wir ihnen heute zu-
trauen sollten, dass diese wilden Jägerstämme zum Teil das Produkt der von uns
herbeigeführten Umwälzung darstellen, steht in voller Uebereinstimmung mit den
Schlüssen, zu denen wir durch die Erfahrungen am Schingú gedrängt werden.
Es giebt für unsere Indianer — Verallgemeinerung liegt mir fern — noch
einen tiefer liegenden und doch recht einfachen Grund, der das Nebeneinander
von blutiger Jagd und stiller Bestellung des Bodens sehr wohl erklärt. Um es
schroff auszudrücken: der Mann hat die Jagd betrieben und währenddess die
Frau den Feldbau erfunden. Die Frauen haben, wie in ganz Brasilien, aus-
schliesslich nicht nur die Zubereitung im Hause, sondern auch den Anbau der
Mandioka in Händen. Sie reinigen den Boden mit spitzen Hölzern vom Unkraut,
legen die Stengelstücke in die Erde, mit denen man die Mandioka verpflanzt und
holen täglich ihren Bedarf, den sie in schwer bepackten Kiepen heimschleppen.
Der Mann pflanzt dagegen den Tabak, den die Frau nicht gebraucht. Am
Schingú hatte die Frau bereits ein kräftiges Wörtlein mitzureden; in primitiveren
Zuständen mag sie wirklich ein Last- und Arbeitstier gewesen sein, noch heute
muss sie bei den meisten Festen und Tiertänzen der Männer fern bleiben. Aber
man überlege den Fall etwas näher. Der Mann ist mutiger und gewandter, ihm
gehört die Jagd und die Uebung der Waffen. Wo also Jagd und Fischfang noch
eine wichtige Rolle spielen, muss, sofern überhaupt eine Arbeitsteilung eintritt, die
Frau sich mit der Sorge um die Beschaffung der übrigen Lebensmittel, mit dem
Transport und der Zubereitung beschäftigen. Die Teilung ist keine der Willkür,
sondern eine der natürlichen Verhältnisse, aber sie hat die nicht genug gewürdigte
Folge, dass die Frau auf ihrem Arbeitsfelde ebenso gut eigene Kenntnisse
erwirbt, wie der Mann auf dem seinen. Notwendig muss sich dies auf jeder
niederen oder höheren Stufe bewähren. Zu der den Mandiokabau mit klugem
Verständnis betreibenden Indianerin findet sich das Gegenstück bereits im reinen
[215] Jägertum. Die Frau des Bororó ging mit einem spitzen Stock bewaffnet in den
Wald und suchte Wurzeln und Knollen, bei den Streifzügen durch den Kamp
oder wo immer eine Gesellschaft von Indianern den Ort veränderte, war solcherlei
Jagd, während der Mann den Tieren nachspürte, die Aufgabe der Frau; sie holte
die Palmnüsse kletternd herunter und schleppte schwere Lasten davon heim. Und
war die Indianerin die Untergebene des Mannes, so kam ihr diese Stellung bei
der Verteilung von Fisch und Fleisch gewiss nicht zu Gute*), sie war dabei auch
angewiesen auf die Beute an den Vegetabilien, die sie selbst erwerben konnte.
Am Schingú flochten die Männer den Bratrost, brieten Fisch und Fleisch, die
Frauen backten die Beijús, kochten die Getränke, die Früchte und rösteten Palm-
nüsse — welchen andern Sinn konnte diese Teilung in animalische Männer-
und vegetabilische Frauen-Küche haben, als dass ein jedes der beiden Ge-
schlechter noch in seinem uralten Ressort verblieben war?
Die Männer brieten, aber kochten niemals. Von dieser Thatsache aus
kommen wir durch den gleichen Gedankengang zu einer ähnlichen Folgerung,
der ganz analoge Beobachtungen das Wort reden. Kaum irgend etwas ist mir
anfänglich seltsamer am Schingú erschienen als der Umstand, dass die Kunst,
Töpfe zu machen, auf die Nu-Aruakstämme beschränkt war. Die Bakaïrí be-
sassen nicht einen Topf, der nicht von den Kustenaú oder Mekinakú
stammte. Die zahmen Bakaïrí erklärten mir ausdrücklich, dass sie die Töpferei
von den Paressí, ihren Nu-Aruak-Nachbarn, gelernt hätten. So machte der
alte Caetano, also aller ursprünglichen Sitte entgegen der Mann, am modernen
Paranatinga Töpfe. Die Nahuquá hatten Töpfe von den Mehinakú und machten
auch selbst welche, wie uns eine Frau, den feuchten Thon knetend, ad oculos
demonstrierte, allein diese Frau trug die Tätowierung der Mehinakúweiber und war
unter die Nahuquá verheiratet worden; die Kunst stammte thatsächlich von den
Mehinakú. Auch die Tupístämme hatten Töpfe von Nu-Aruak, namentlich von
den Waurá. So war die eine Stammesgruppe**) die alleinige Trägerin
der, wie wir sehen werden, auch in künstlerischem Sinn gehandhabten Keramik.
Ich glaubte anfangs und ehe ich wusste, dass die merkwürdige Abhängigkeit
von den Nu-Aruak für sämtliche Stämme bestand, es sei zufällig kein Thon vor-
handen. Doch war dies ein Irrtum. Geeigneten Thon gab es nicht nur bei den
Nahuquá, sondern auch bei den Bakaïrí, und nur darüber weiss ich nichts anzu-
[216] geben, was aber für unsere Frage gleichgültig sein kann, ob die Qualität einen
Grad schlechter war als bei den Töpferstämmen.*)
Aber man beachte nun noch einen anderen Umstand: die Bakaïrí und
Nahuquá hatten Kuyen und Kalabassen, die wiederum den Töpferstämmen
mangelten und die diese von den Nahuquá bezogen, wo die besondere Pflege
oder die bessere Erde, ich weiss es nicht, prachtvolle Gefässfrüchte erzielte. Erfährt
man endlich, dass die Waurá sehr hübsche Töpfe genau von der Form und
Grösse der Kuyen, mit Nachahmung der auf ihnen angebrachten Zeichnungen,
verfertigten, dass die Grundform der Töpfe deutlich die der Trinkschale, der
Kuye ist, und dass die Töpfe ebenso wie die Kürbisschalen innen geschwärzt
wurden, so wird man den Zusammenhang verstehen.
Der indianische Topf hat ursprünglich mit dem Kochen gar nichts zu
thun und ist nur ein Ersatz der Kürbisfrucht. Die Frauen holten in den
Kürbissen Wasser zu den Hütten oder den Lagerplätzen. Wie sie sich halfen,
wenn sie keine Kürbisse hatten, sehen wir noch heute an den von mehreren
Stämmen bekannten mit Lehm verschmierten Körbchen. Mit Lehm verschmiert
man auch das undichte Kanu; mit Lehm beschmierte man, der Anfang der Körper-
bemalung, den Leib und den Lehm selbst transportierte man, und das ist
wohl die Hauptsache gewesen, in Körben, wie wir noch gesehen haben. Fehlte
es öfter an Kürbissen, so kamen die Frauen leicht dazu, ihre Lehmkörbe durch
reichlichere Anwendung des plastischen Thons solider zu gestalten; sie konnten
ferner des Flechtwerks entraten, sobald sie bemerkt hatten, dass die trocken
gewordenen Lehmformen für sich genügende Widerstandsfähigkeit besassen. Sie
setzten sie in die Sonne oder über das Feuer und hatten die billigste Bezugsquelle
für künstliche Kürbisse gefunden.
Aber die Frauen haben diese Erfindung erst in sesshafter Zeit gemacht; das
Weib des streifenden Jägers kann den Kürbis nicht durch den schweren und zer-
brechlichen Topf ersetzt haben. Noch weniger könnte der jagende Mann Erfinder
des Topfes gewesen sein. Es ist genau dasselbe Verhältnis wie zum Ursprung
des Feldbaues.
Der Topf ist im Anfang nur ein Behälter wie Kürbis oder in gewissen Fällen
auch Korb. Wenn wir hören, Menschen werden in Töpfen begraben, so melden
sich alle Assoziationen in unserer Seele, die wir von unsern Töpfen besitzen,
wir denken an eine Art Kochtopf, und sind geneigt, einen dunklen Zusammenhang
mit Leichenverbrennung zu empfinden. Da ist es denn wichtig zu erfahren, dass
der Jägerstamm der Bororó seine Totenskelette nicht wie die Humboldt’schen
Aturen in grossen Töpfen, sondern in federverzierten Korbtaschen bettet, sodass
auch hier die Vorstufe erhalten ist.
[217]
Wie die Kürbisse zum Trinken und Essen gebraucht wurden, so dienten
auch die Töpfe zunächst nur diesen Zwecken. Die grosse Anzahl von kleinen
und mittelgrossen Töpfen, die wir vom Kulisehu mitgebracht haben, sind fast
sämtlich »Näpfe«, keine Kochtöpfe. In riesigen Töpfen wurde das Filtrat der
Mandiokamasse gekocht, sonst aber gesotten nur Mus von Früchten und gelegent-
lich ein Gericht von kleinen Fischchen, die des Umdrehens auf dem Bratrost
nicht lohnten.
Suppenfleisch und Fleischbrühe waren unbekannt; die Männer
kannten nur das Braten. Man fragt vielleicht, wie sind sie denn zum Braten
gekommen? Ich werde im nächsten Kapitel darthun, dass wir es hier mit einer
Jäger- und Männererfahrung zu thun haben. Man zündete den Kamp im Kreis
an, um die aufgescheuchten Tiere zu überwältigen, und fand dort gebratene kleine
Tiere und fand Früchte, die, obschon noch unreif, durch die Hitze geniessbar und
sogar schmackhaft geworden waren.
Da nun die Männer und Jäger in ihrem Departement das Kochen noch nicht
kennen, muss das Sieden oder Kochen bei der Verarbeitung pflanzlicher Nahrung
erfunden worden sein. Man sieht die Frauen häufig allerlei kleine Früchte in
Menge auf den Beijúschüsseln rösten. Unreifes Obst wird so erst essbar, Kerne
und Nüsse erhalten mit der Knusprigkeit einen erhöhten Wohlgeschmack. Und
mit dem Braten der Früchte haben sie auch begonnen. Die aus Schlingpflanzen
geflochtenen Bratroste der Männer für Fleisch und Fische liessen die Früchte
durch die Maschen fallen; man mag die Unterlage wieder mit Lehm verschmiert
haben, und zur irdenen Bratpfanne, der späteren Beijúschüssel, fehlte nur ein
kleiner Schritt. Wollte man dagegen in Wasser eingeweichte Früchte oder
Wurzeln »braten«, setzte man die damit gefüllten Gefässe, entweder die natür-
lichen — der Botokude kocht in Bambusstücken — oder die künstlichen, mit
Thon gedeckten auf das Feuer, so »kochte« man. Also nur von den Frauen
wurde »mit Wasser gekocht«!
Wenn die Mandiokaindustrie von einem Stamm begründet worden ist, dessen
Nachkommen noch leben und in der gegenwärtigen Klassifikation einbegriffen
sind, so spricht alle Wahrscheinlichkeit dafür, dass es Nu-Aruak gewesen sind.
Am Schingú haben ganz gewiss sie das Verdienst der Einführung gehabt, da die
Mehlbereitung ohne irdene Töpfe und Beijúpfannen unmöglich ist. Die Aruak
sind aber auch in den nördlichen Gebieten die besten Mehlarbeiter und von jeher,
obwohl die Karaiben in Guyana gegenwärtig die Fabrikanten für das dortige
Gebiet geworden sind, die geschicktesten Töpfer gewesen. Doch wohlverstanden
die Frauen! Wenn die Karaiben im Norden des Amazonenstromes und auf den
Kleinen Antillen die Aruakstämme unterjochten und die Hälfte der Bevölkerung
töteten, so war es gut, dass diese Hälfte die Männer waren; die Frauen mit
ihrem Feldbau, ihrer Töpferkunst und ihrer Mehltechnik blieben erhalten.
So sehen wir, wie bei unsern Indianern die höhere, das Jägertum über-
holende Kultur der natürlichen Arbeitsteilung entsprungen und dieser es auch zu
[218] verdanken ist, dass sie bei Fehden und bei Neubildungen von Stammesgemein-
schaften den künftigen Generationen überliefert werden konnte. Die Frau war
mehr als das arbeitende Tier, sie war auch der arbeitende Mensch; wie der
Mann die Technik der Waffen und der der Jagd entstammenden Werkzeuge, ent-
wickelte sie in gleicher Selbständigkeit die mit Suchen, Tragen, Zubereiten der
Früchte und Wurzeln in ihre Hand gegebenen Kulturelemente; seinen wohl-
schmeckenden Mehltrank in dem irdenen Gefäss verdankt der Indianer dem Weibe.
Die einzelnen Beweisstücke, aus denen sich diese mehr für Damentoaste als für
den ernsten (im modernen Bedürfnis und nicht in der Urgeschichte begründeten)
Kampf unserer Frauen um die Arbeit zu verwertende Schlussfolgerung zusammen-
setzt, sind in dem brasilischen Kulturkreis noch vollständig erhalten. Die Er-
kenntnis, dass — wenigstens hier — die Möglichkeit sesshaft zu werden auf
das augenscheinliche Verdienst der durch den Jägerberuf der Männer naturgemäss
in bestimmte Richtungen gedrängten Thätigkeit der Frauen zurückgeht, hebt das
weibliche Geschlecht für diese Phase der Entwicklung zum mindesten ebenbürtig
an die Seite des männlichen.
Das Schema Jäger und Ackerbauer wird nun erst lebendig; Mann und
Frau repräsentieren beide einen Stand oder eine bestimmte Summe
von Fachkenntnissen. Da ist es denn sehr einfach, dass die weniger fort-
geschrittenen Stämme des Schingú ihre Töpfe nicht machen konnten, obwohl sie
den Lehm hatten. Ihnen fehlten die Nu-Aruakweiber, und die Nahuquá, die
deren etliche in ihre Gemeinschaft aufgenommen, hatten damit den richtigen Weg
eingeschlagen: sie fingen jetzt an, sich die Töpfe selbst zu machen, während die
Bakaïrí noch nicht das kleinste Töpfchen zu Stande gebracht hatten.
Ich resumiere. Alter Feldbau verträgt sich vortrefflich mit der Art des
Jägertums, wie es hier geübt wird. Die Indianer waren in der Hauptsache
Fischer. Zur reinen Ichthyophogie reichte der Ertrag in ihrem Gebiet an dem
Oberlauf eines Flusses nicht aus, dagegen war er nicht gering in den Monaten,
wo die Fische bei steigendem Wasser aufwärts zogen und sich in allen Kanälen
und Lagunen in grosser Zahl einfanden, oder wenn bei abnehmendem Wasser
die Gelegenheit zum Fang in den künstlich abgesperrten Teilen der Flussarme
erheblich grösser wurde. Fischfang und Jagd lieferten aber ferner die unentbehr-
lichen Werkzeuge. Haustiere in unserm Sinne gab es nicht; Hunde waren dem
Eingeborenen unbekannt. Er erfreute sich an bunten Vögeln, denen er gelegent-
lich die Federn ausriss, namentlich an schwatzenden Papageien und krächzenden
Araras, liess im Dorf umherspazieren, was gerade jung eingefangen war, ob Specht
oder Reiher oder Hokkohuhn, und bewahrte in riesigem Stangenkäfig zum Ergötzen
der Gemeinde den fauchenden Adler, die Harpyia destructor, oder sonst einen Raub-
vogel auf; er hatte Eidechsen mit dem Schwanz an der Hängematte aufgehängt,
damit sie unter den lästigen Grillen ein wenig aufräumten — weiter war man in
der Verwertung der Tiere nicht gediehen und, während man wilde Pflanzen um
des Nutzen willen beim Dorf ansiedelte, dachte man nicht daran, essbare Tiere
[219] zu züchten. Ja, die Stellung, die der Indianer der Tierwelt gegenüber einnahm,
liess ihn ein lebhaftes Widerstreben empfinden, Tiere, die er aufzog, später zu
verspeisen; wie wir keine Hunde essen.
Die relative Sesshaftigkeit, die mit dem Fischerleben verbunden war, hatte
sich erst zur dauernden befestigen können, als die Frauen gelernt hatten zu
pflanzen, Töpfe zu machen und Mehl zu bereiten. Obwohl der Feldbau am
Schingú bereits zu achtungswerter Vervollkommnung gediehen war, liess sich
doch an kleinen Zügen erkennen, welchen Ursprung er wenigstens hier genommen
hatte. Man pflanzte die in der Nachbarschaft vorkommenden nützlichen Gewächse
an, jeder Stamm machte auf seinem Boden seine eigenen Erfahrungen, und durch
die Frauen, die im Frieden oder im Kriege zu andern Stämmen kamen, wurden
sie verbreitet. Dass die Bakaïrí-Karaiben auf diesem Wege einst durch Nu-Aruak-
weiber in ihrer Zivilisation gefördert worden sind, geht aus ihrer Stammeslegende,
wie ich schon hier anführen möchte, in kaum zu missdeutender Weise hervor.
Sie haben zwei Kulturheroen, die Zwillingsbrüder Keri und Kame, von denen
jener durch die Sage stark bevorzugt wird. Die beiden Namen sind die allge-
mein verbreiteten, stets zusammen erscheinenden Nu-Aruakwörter für Mond und
Sonne, sodass ein Einfluss von Nu-Aruakseite, mag man die »Personifikation«
erklären, wie man will, offen zu Tage liegt. Kame ist der Führer der Nu-Aruak
und anderer Stämme, Keri der Bakaïrí. Alles, was Keri und Kame zum Besten
des Stammes unternehmen, wird auf den Rat der Mutterstelle vertretenden Tante
Ewaki zurückgeführt; die Frau aber, die ihnen immer erst Mittel und Wege
weist, ist unmöglich als stupides Arbeitstier aufgefasst worden.
IV. Das Feuer und die Entdeckung des
Holzfeuerzeuge.
Einleitung. Kampbrände und Verhalten der Tierwelt. Uralte Jagd. Die »Queimada« eine Kultur-
stätte. Die Schauer des primitiven Menschen. Der Mythus von der Belehrung durch den Sturmwind.
Feuererzeugung und Arbeitsmethoden. Verfahren am Schingú. Ursprung des Holzreibens. Stadium
der Unterhaltung des Feuers und Zundertechnik. Praehistorische Vagabunden und Prometheus.
Bestätigung durch den Versuch.
Wenn ich schon in den vorigen Abschnitten genötigt war, die Beobachtungen
am Schingú in Hinsicht auf ihren allgemeinen kulturgeschichtlichen Wert zu er-
örtern, so kann ich dies noch weniger bei dem Thema vermeiden, das ich jetzt
in Angriff nehme. Es liegt mir recht fern zu denken, dass die Schingú-Indianer
die ersten gewesen seien, die durch Bohren oder Reiben von Holzstücken Feuer
erzeugt hätten, ich gebe mich keineswegs dem süssen Wahn hin, dass ich einen
[220] paradiesischen Ursitz aufgefunden habe, wo alle wichtigsten Erfindungen gemacht
worden seien. Ich möchte nur von jenen Naturvölkchen, die noch keine europäische
Kultur kannten, in demselben Sinn ausgehen, wie man bei allen andern in gleicher
Lage eine sichere induktive Grundlage suchen könnte. Was übrigens die »Feuer-
erfindung« betrifft, so steht meiner Ansicht nach nicht das Geringste im Wege,
dass sie an beliebigen Stellen der Erde gemacht worden sein kann, wo man
schon eine primitive Technik und praktische Kenntnisse von dem Nutzen des
Feuers besass.
Nirgendwo hat sich in einem helleren Lichte gezeigt, wie schwer es uns
zivilisierten Menschen wird, einfach und ohne tiefe Gelehrsamkeit auf Grund
lebendiger Umschau zu denken als bei den zahllosen Betrachtungen über das
Verhältnis der Naturvölker, geschweige des primitiven Menschen, zum Feuer.
Der hundertjährige Rosenflor um Dornröschens Schloss konnte an Ueppigkeit
nicht wetteifern mit alle den Blüten lieblichen Unsinns, die einer nur zu gedanken-
vollen und empfindsamen Literatur entsprossen sind, während hinter dem
wuchernden Wust der Deduktionen die junge, frische Erfahrung vergessen schlum-
merte. Es war dahin gekommen, dass man behauptete, die Erfindung des
Feuerreibens sei von Priestern gemacht worden, die das Sonnenrad in Holz
nachahmten: sie drehten, bis die Achse Feuer sprühte. Zwei wesentliche Punkte
dürfen heute als gesichert gelten. Niemand denkt mehr an die Möglichkeit, dass
es Stämme auf Erden gebe, die nicht längst die Kunst verständen, das Feuer
willkürlich zu erzeugen, und Niemand zweifelt daran, dass auch die einfachsten
der verschiedenen Methoden nicht ohne lange Vertrautheit mit den Eigenschaften
des Feuers gefunden sein können, dass also der künstlichen Erzeugung eine
Periode der Unterhaltung mit Uebertragung des natürlichen Feuers von
Ort zu Ort vorhergegangen sein muss.
Ob in den lichten Buschwäldern des Matogrosso durch die zahlreichen Ge-
witter häufig Brände verursacht werden, ist kaum festzustellen. Dass solche
Brände vorkommen, ist mir versichert worden, dass die Vegetation der dürren
verkrüppelten Kampbäume und des hohen trockenen Grases dafür äusserst günstig
ist, unterliegt keinem Zweitel. Die Feuer, die wir auf unserm Zuge anlegten,
brannten viele Tage lang und verbreiteten sich ohne Nachhülfe über grosse
Strecken.
Sonderbar und auffallend war der Einfluss auf die Tierwelt. Alles Raub-
zeug machte sich den Vorfall sehr bedacht zu Nutze, es suchte und fand seine
Opfer weniger bei dem hellen Feuer als auf der rauchenden Brandstätte, wo
mancher Nager verkohlen mochte. Zahlreiche Falken schwebten über den
dunklen Wolken der »Queimada«, Wild eilte von weither herbei, um die Salz-
asche zu lecken, und bevorzugte, vielleicht weil es sich auf der kahlen Fläche nicht
verbergen konnte, die Nacht. Der Boden strahlte eine behagliche Wärme aus.
Der Jagd mittels des Feuers begegnet man bei vielen Naturvölkern. Die
Schingú-Indianer schienen sie nicht mehr zu üben, den Bakaïrí war sie jedenfalls
[221] gut bekannt und das Märchen von »Kame in der Maus« erzählt uns, dass Keri
mit dem Besitzer des Feuers, dem Kampfuchs, jagen ging und dieser »nur
eine verbrannte Maus« erbeutete, in der Keri’s Bruder Kame steckte:
Keri begegnete dem Kampfuchs. »Wir wollen Feuer im Kamp machen,
Grosspapa,« sagte Keri. Sie gingen Feuer machen; es brannte ringsum. Kame
war in einer Maus. Keri wusste nicht, dass er hineingegangen. Das Feuer
brannte nieder und hörte auf. Keri jagte, sah keinen Braten. Der Kampfuchs
fand eine verbrannte Maus. Nachdem er sie gesehen, ass er sie. Er traf
Keri. »Grosspapa, was für Braten hast Du gegessen?« »»Nur eine Maus habe
ich gegessen.««
Die »Queimada« oder Brandstätte lieferte Massenerfahrungen über den
Nutzen des Feuers: beim Beginn des Feuers fliehende Tiere, später verkohlte
Tiere und Früchte, Tiere die herbeikamen, Salzasche, Wärme. Der Jäger hat
hier das Braten des Fleisches lernen können, das für ihn in kleinerem Massstab
die Bedeutung gewann, wie sie die Mehlbereitung für den Feldbauer besitzt.
Denn das Braten konserviert. Nach vielen Tagen ist gebratenes Fleisch noch
schmackhaft, das sonst längst in Verwesung übergegangen wäre: die Bororó zogen
wochenlang auf Jagd hinaus und kehrten mit reichem Vorrat an gebratenem
Wild zurück, die Auetö́ blieben mehrere Tage auf Fischfang abwesend und
brachten ein Kanu mit gebratenen Fischen schwer beladen heim, bei den Mehinakú
sahen wir Körbe gefüllt mit recht appetitlichen, goldgelben Backfischen. Das Braten
wird noch heute soweit getrieben, dass das Fleisch eine dicke Kohlenkruste —
die verbrannte Haut — mit einem sehr beliebten Salzgeschmack erhält.
Alle diese Erfahrungen konnte sich schon der primitive Jäger, der kein
Feuer zu erzeugen wusste, bei Kampbränden zu Nutze machen; man wird ihm
das Sammeln von Kenntnissen nicht absprechen, die im Einzelnen den ver-
schiedenen Klassen der umgebenden Tierwelt geläufig sind.
Da aber protestiert, wer durch die Kulturbrille zu schauen gewöhnt ist.
Er vermisst die Schauer, die man in der Urzeit vor dem gewaltigen Phänomen
des Feuers empfunden hat, und die nicht viel mehr sind als die Schauer des
Gelehrten, dessen Studierlampe umfallen und die Stube, das Haus, die Stadt mit
allen ihren Wertgegenständen in Brand setzen könnte. Wenn schon ich, der
doch des Feuers Macht bezähmt, bewacht, in Furcht und Schrecken gerate, sobald
das wütende Element losgelassen wird, wenn mich das übermächtige Flammen-
schauspiel durch den Eindruck phantastischer Schönheit aufregt, wie muss erst
die Seele des armen Wilden von Angst erfüllt sein und das Geheimnis des Er-
habenen spüren! Ohne Zweifel mag in dem einen oder andern rasch vorwärts
eilenden Steppenbrand die Besonnenheit verloren gehen, doch im Allgemeinen
sehen wir die beschriebenen Schauer gerade bei den Naturvölkern nicht, wir
können sie ebensowenig entdecken als die ebenfalls für die Entstehung religiöser
Gefühle in Anspruch genommenen Schauer inmitten des grossartigen Urwalds;
nur der hülflose Europäer fürchtet sich, während es dem »Wilden« wahrscheinlich
[222] leichter »unter den Linden« als in seinem heimatlichen Dickicht unheimlich zu
Mute würde. Der Eingeborene fürchtet das Gewitter und wird von dem ein-
schlagenden Blitz gewiss ebenso entsetzt sein wie irgend eine Kreatur, allein den
fortschreitenden Brand fürchtet er ebensowenig wie viele Tiere, sofern er oder
sie nicht gerade von der Woge erfasst werden. Wird er im Kamp vom Feuer
überrascht, so steckt er schleunigst seine eigene Nachbarschaft in Brand und holt
sich dazu, wenn er kein Lagerfeuer hat, getrost einen brennenden Zweig. Der-
selbe Wind, der das Feuer jagt, schafft auch seinem Gegenfeuer rasche Bahn;
auf der planmässig leergebrannten Stätte sieht der Jäger gemütlich zu, wie die
Glut ringsum lodernd weiterwandert, und sucht dann eiligst zu erwischen, was
von Gebratenem und Getödtetem zurückgeblieben ist, ehe die Raubvögel ihm
zuvorkommen. Es ist entschieden mehr wahrscheinlich, dass das klügste, listigste
Geschöpf zu jeder Zeit, wo es überhaupt schon die den Menschen auszeichnende
Initiative besass, veranlasst worden ist, für die Unterhaltung des Brandes zu
sorgen als ihn zu fliehen und zu bestaunen. Die Bestie Feuer ist überall als
Haustier gefunden worden und das allein beweist, dass man die Berührung mit
seiner wilden Natur stets gesucht und nicht gemieden hat. Die späteren Kultur-
gefühle sind leicht zu erklären und zu ihrer Zeit und auf ihrer Stufe wohl be-
rechtigt, aber immer geht das Notwendige und Nützliche dem Heiligen voraus.
Man hat Kulturgefühle an den Anfang der Entwicklung gesetzt, man hat
mit demselben Fehler Kulturgedanken dorthin verlegt. Den unbekannten Wohl-
thäter der Menschheit, der zuerst das Mittel ersann, durch Reibung zweier Holz-
stücke Feuer zu erzeugen, hat man in schwungvollen Worten gepriesen. Ein
vielzitierter Ausspruch deutet uns den Weg der glücklichen Erfindung durch die
heutzutage wohl recht selten gewordene Möglichkeit an, dass er einige vom Sturm
gepeitschte Zweige, die sich aneinander rieben und in Flammen gerieten, oder
auch einen Zweig beobachtet habe, der vom Sturm in einem Astloch umher-
gewirbelt wurde und plötzlich aufloderte.
Gewiss ist die Natur die grosse Lehrmeisterin in vielen Dingen gewesen.
Allein sie demonstrierte dann nicht wie der Professor im Experimentalkolleg
hinter dem Pult, sondern stiess die schwerfälligen Schüler ein wenig mit der
Nase auf das, was sich Lehrreiches abspielte. Wollte man von der Psychologie
der Naturvölker ausgehen, so würde man einem unthätig zuschauenden Ein-
geborenen kaum zutrauen, einen ganzen Komplex von Erscheinungen, wie
Blasen, Peitschen, Reiben, Brennen nach Ursachen und Wirkungen so aufzulösen
und in Gedanken wieder so zu verknüpfen, dass er nun eine »Methode« hätte,
um einen jenen Wirkungen entsprechenden Zweck zu erreichen. Wo Vorbilder
der Natur den Weg gezeigt haben, da sind es alltäglich wiederkehrende gewesen
und da hat der Mensch nicht analysierend nachgeahmt, sondern er hat mit-
geahmt, wenn der Ausdruck erlaubt ist, und nur durch ein von irgend einem
Interesse angeregtes Mitthun kam er dazu, etwaige ihm nützliche Wirkungen
aufzufassen und festzuhalten; so hatte er alsdann mit seiner aktiven Beteili-
[223] gung, die die Hauptsache ist, ein zweckgemässes handeln erlernt, eine
Methode erworben. Dieser Fortschritt ist nur an dem Nacheinander von häufig
vorkommenden Einzelvorgängen möglich, deren jeder, während er sich abspielte,
am Schopf erfasst wurde; einen seltenen Komplex kann sich erst geistig aneignen,
wer schon im Besitz der Teilvorgänge ist. Wahrscheinlich hat sich der Mensch,
wenn der Sturm das Feuer wirklich hier und da entzündete, schleunigst einen
Brand genommen, damit ihn Wind oder Regen nicht verlöschten. Vielleicht hat
er auch beobachtet, dass ein stürzender Baum ein Tier erschlug, und hat sich
der unerwarteten Beute freudig erschreckt bemächtigt, aber von diesem historischen
Augenblick wollen wir es lieber nicht datieren, dass er zum Knüppel gegriffen
und eine Waffe gefunden hat, um Tiere zu erschlagen. Diese Künste muss er
anders gelernt haben. Bis zur Gegenwart ist auch eine so ungemein einfache
Erklärung noch für keine primitive Errungenschaft befriedigend gelungen; immer
ist man sich bald bewusst geworden, dass man einen mehr oder minder sinn-
reichen Mythus hervorgebracht hatte, dem nur der Name des Erfinders fehlte,
um die Aufnahme in die Mythologie der Völker zu verdienen. Auch heute
pflanzt sich der Einfall des sinnenden Mythologen, belobt oder verurteilt, durch
alle Literatur neben der Prometheussage fort und wird dem Anschein nach mit
ihr immer verknüpft bleiben.
Es ist klar, wir dürfen uns von den späteren mystischen, poetischen,
religiösen oder naturwissenschaftlichen Vorstellungen, die sich auf das Feuer be-
ziehen, nicht beirren lassen und den Naturmenschen, der ein nüchterner, be-
schränkter Praktiker ist, nicht als das ansehen, was er nicht ist, weder als einen
Philosophen noch als einen Erfinder der Neuzeit. Wenden wir uns an die
lebendige Erfahrung, so verschwindet sofort das Hindernis am Anfang, nämlich
der nur für die Zeit entwickelter Eigentumsbegriffe nicht unlösbare Widerspruch,
dass ein Ding gleichzeitig mit Schrecken erfüllt und bei Tag und Nacht unent-
behrlich geworden ist.
Für das erste Stadium, mit dessen Ursprung wir uns hier nicht weiter be-
schäftigen dürfen, wo sich der Mensch dazu erhob, das freie, wilde Feuer ab-
sichtlich zu unterhalten und sich durch Weiterverpflanzen mit allen seinen Vor-
teilen dauernd dienstbar zu machen, möchte der Vergleich, dass er es wie eine
Art Haustier angesiedelt, gepflegt und gezüchtet hat, nicht unzutreffend sein.
Aber erst mit dem weitern Problem, wie die Methode zu Stande kam, das Feuer
zu erzeugen, finden wir uns innerhalb der Naturvölker auf festem Grund und
Boden, wir sehen bei ihnen sofort, dass es verschiedene Methoden dieser Arbeit
giebt, und dass sie deshalb im Zusammenhang mit den übrigen Arbeitsmethoden
untersucht werden müssen. In diesem Sinne habe ich mich bei den Schingú-Indianern
zu unterrichten gesucht und glaube auch nachweisen zu können, wie ihre Art,
das Feuer zu erzeugen, entstanden sein muss. Es ist die einfachste des in
Amerika und anderen Erdteilen weit verbreiteten »Feuerbohrers«, während man
in Polynesien einen »Stock« in einer »Rinne« reibt.
[224]
Die Eingeborenen nehmen zwei nicht ganz kleinfingerdünne, etwa ¾ m
lange, noch mit der trocken haltenden Rinde überkleidete Stöcke und schneiden
in den einen mit einer Muschel eine kleine Grube. Während ein Mann diesen
Stock auf den Boden legt und fest angedrückt hält, setzt ein Zweiter den andern
Stock in das Grübchen hinein und quirlt ihn mit grosser Geschwindigkeit zwischen
den hurtig daran auf- und niedergleitenden Händen. Durch das Quirlen erweitert
sich das Grübchen, es löst sich feiner Staub und beginnt zu glimmen und zu
rauchen. Zunder wird herangebracht, angeblasen und sofort ist die Flamme da.
Die kleine Grube erscheint nun äusserst glatt und oberflächlich verkohlt. Der
Vorgang nimmt Alles in Allem keine Minute in Anspruch. Der Quirlende plagt
sich redlich; mehr daraus machen wäre Uebertreibung, obwohl ein Ungeübter,
der während des Quirlens kleine und für den Erfolg schädliche Pausen eintreten
lässt, auch nicht ohne eine Luxusanstrengung fertig werden wird. Zur Not
kommt ein Einzelner recht gut mit der Prozedur zu Stande, indem er den Stock
auf den Erdboden mit den Füssen festhält.
Die Feuerstöcke sind gewöhnlich zwei gerade Zweige vom Orléansstrauch
oder Urukú, die ein leichtes lockeres Holz besitzen. Auch anderes Holz hat,
wie der Indianer es versteht, »das Feuer in sich«, besonders Ubá und Kam-
bayuva, die beiden Arten des Pfeilrohrs. Unterwegs weiss sich der Jäger, wenn
er kein Feuer bei sich hat und seiner bedarf, zu helfen: er zerbricht einen Pfeil
und bohrt ein Stück in dem andern. Doch ist der Pfeil kostbar und das
Reiben anstrengend. Wir beobachteten mehrfach, dass die Leute von der
qualmenden Rodung brennende Kloben auf ihre Wege zum Hafen und in den
Wald mitnahmen, die sie später achtlos beiseite warfen. Auf Ausflüge mit tage-
langer Abwesenheit von Hause im Kanu führten sie ein mächtiges glimmendes
Stück morschen, trockenen Holzes aus dem Walde mit sich.
Der Zunder ist ein hellbraunes feinmaschiges Bastgewebe, das am besten die
junge Uakumá-Palme (eine Cocos-Art) darbietet. Im Kamp hilft auch Zunder von
der Guarirobá-Palme (Cocos oleracea) oder von trockenem Gras und Laub aus.
Er hat den Zweck, die Flamme zu liefern, mit der man das Feuer auf die
Reiser überträgt. Ehrenreich giebt von den Karayá, Im Thurn von den
Warrau Guyana’s an, dass ihr Holz sich so lebhaft entzündet, dass es keines
Zunders bedarf; »es liefert in sich selbst den Zunder«.
Man sieht, es ist zum Feuerreiben mit dem »Bohrer« nicht nötig, ein hartes
und ein weiches Holz zu haben. Die Schingú-Indianer nehmen stets nur eine Art,
die Karayá bohren Bambus in Urukú.
Uns fällt die Bewegung des Quirlens sehr schwer; wir kennen sie im gewöhn-
lichen Leben ja kaum, weil unsere Bohrer in eine Schraube auslaufen, und üben
sie überhaupt nicht zum Bohren, sondern zum Mischen z. B. in der Küche, um
Hefe oder Eier mit Milch zu vereinigen, oder bei der Präparation eines Cocktail.
Wie das Bohren und Quirlen der Eingeborenen entstanden ist, lässt sich leicht
erkennen. Man hat zuerst Löcher mit einem spitzen Zahn oder Knochen gemacht.
[225] Bei starkem Widerstand des Objektes kam man zu drehendem An- und Eindrücken,
und dies entwickelte sich allmählich von selbst zum Quirlbohren, wenn man nur
ruhig und gleichmässig arbeitete, um das Objekt nicht zu sprengen, dasselbe auch
festklemmte, um den angebohrten Punkt nicht zu verlieren, und so über beide
Hände verfügen konnte. Dieses Quirlbohren wird von dem Indianer mit einem an
ein Stäbchen befestigten Zahn oder Steinpartikelchen (vgl. S. 204) geübt für alles
Durchlöchern von Muschel, Knochen, Stein, Gürteltierpanzer und hartem Holz.
Man sieht ihn sehr häufig damit beschäftigt während er die Füsse zum Fest-
klemmen verwendet. Nun stehen wir aber einem Rätsel gegenüber, wenn wir
erklären wollen, wie das Feuerbohren mit zwei Holzstücken entstanden sein kann.
Wie kam man dazu, Holz mit Holz zu bohren, wenn man nicht gerade darauf
ausging, das »Feuer zu erfinden«?
Es ist allen Ernstes gesagt worden, man habe beim Schleifen oder Bohren
von Werkzeugen aus Holz, Knochen und Stein die Erfahrung gemacht, dass
Reibung Wärme erzeugt, habe bemerkt, dass die Wärme zunehme, je stärker
man reibe, und habe alsdann versucht, Holz so stark zu reiben, dass es nicht
nur warm werde, sondern auch glimme, leuchte, brenne! Wenn die Herren, die
diesen Vorschlag für unsere werten Ahnen machen, auf eine unbewohnte, be-
waldete Koralleninsel verschlagen würden — mit einigem Widerstreben will ich
es annehmen, dass sie mit ihren technischen und theoretischen Kenntnissen darauf
verfallen würden, Holz mit Holz zu reiben, um sich ein Lagerfeuer zu verschaffen.
Der Mensch der Vorzeit, mag er noch so lange im Besitz des lebendigen Feuers
gewesen sein und seinen Wert gekannt haben, könnte sich die Erfindung doch
wohl nur dann absichtlich erzwungen haben, wenn das durch Reiben erwärmte
Holz auch leuchtete; dann hätte er vielleicht den Versuch gemacht, das Leuchten
bis zur Flamme zu steigern. So haben z. B. die Bakaïrí auch wirklich geschlossen.
Der Kampfuchs, sagen sie, habe sich das Feuer aus den Augen geschlagen.
In jenem Vorschlag zur Lösung des Problems steckt aber der gesunde Kern,
dass man dem Zufall einer Entdeckung keinen zu grossen Spielraum einräumen
möchte. In der That, will man sich die Beobachtung, dass Feuer entsteht, wenn
Holz mit Holz gerieben oder gebohrt wird, nur nebenher bei der Bearbeitung
von Werkzeugen gemacht denken, so sollte sie wenigstens in einem direkten und
innern Zusammenhang mit dem Gebrauch des Feuers vorzustellen sein. Wenn
Holz gebohrt wurde, so wurde es sicherlich mit Zahn, Knochen oder Stein gebohrt,
und obgleich es ja möglich wäre, dass gelegentlich, wenn jenes Material fehlte,
einmal ein harter Holzstock zum Quirlbohren genommen wurde, der dann ein
glimmendes Pulver erzeugte, so erscheint diese nicht zu leugnende Möglichkeit mir
deshalb nicht recht befriedigend, weil sie nicht aus der Feuertechnik selbst hervor-
wächst. Auch sieht man nicht ein, in was für einem praktischen Fall, wenn das
gewohnte Handwerkszeug fehlte, den Leuten soviel daran gelegen sein musste,
Holz zu durchbohren, dass sie das mühevolle Mittel wählten und ihren Zweck
nicht durch Binden oder Brechen oder anderswie bequemer erreichten. Einige
v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 15
[226] Ueberlegung und ein paar Thatsachen leiten uns auf einen vielleicht aussichts-
volleren Weg.
Der Mensch hatte Feuer, unterhielt es, konnte es aber nicht erzeugen. Es
ist klar, dass die erste Kunst, die auf dieser Stufe gelernt sein sollte und gelernt
wurde, die Neubelebung und die Uebertragung des Feuers an einen andern
Ort war. Wir haben auf dem Rückweg der Expedition in der Regenzeit mehrere
Male am Morgen nur mit vieler Mühe, obwohl der Kloben noch glühte, genügen-
des Feuer erhalten können, alles Holz war nass und wollte nicht brennen; unsere
Leute konnten nur dadurch Abhilfe schaffen, dass sie von den feuchten Reisern
die Rinde losschälten und mit dem Messer schnitzelnd aus dem Innern eine An-
zahl ziemlich trockener Spänchen hervorholten, diese mit grosser Vorsicht und
Geduld fast einzeln auf die glimmende Kohle brachten und nun allmählich
schwache Flämmchen hervorhauchten, die geschickt genährt zu einem lebens-
kräftigen Feuerchen erstarkten. Im Thurn beschreibt dasselbe Verfahren von
den Guyana-Indianern. Von den nordamerikanischen Eingeborenen wird berichtet,
dass sie glimmende Baumschwämme den Tag hindurch mit sich führten und so
ihr Lagerfeuer von Ort zu Ort verpflanzten. Die von unsern Indianern im Kanu
mitgenommenen morschen Kloben glimmten mit Leichtigkeit ein bis zwei Tage.
Man entwickelte früh, ehe man das Feuer willkürlich hervorrufen konnte,
die Technik des Zunders. Man übertrug das Feuer von einem schwach
glimmenden Kloben auf Reiser durch Zufügen von trockenen Halmen, Spänchen,
Blättern oder dergleichen. Man lernte die leicht brennbaren Pflanzenteile kennen.
Für die Wanderung versorgte man sich mit Zunder von schwammigem Pflanzen-
gewebe, man hielt sich davon auch einen Vorrat an dem Lagerort, da jeder
Regen oder eine Nachlässigkeit das Feuer dem Verlöschen nahe bringen konnte.
Man verwandte die bei der Bearbeitung des Holzes, des Steinbeil-
griffes und der Waffen losgeschnitzelten Späne oder, wenn man Holz
mit Zahn, Muschel oder Stein durchbohrt hatte, das hierbei entstandene
Mehl. Fehlte dieser natürliche Zunder oder war er etwa durchnässt, so machte
man sich eben welchen. Man zerrieb, schabte, schnitzelte leichtes Holz
mit den Werkzeugen aus Zahn, Muschel oder Stein. Wo man die Beil-
klinge in eine Holzrinne einliess und dort festband — so liess sie sich besser spitz-
winklig anfügen und erhielt die für den Kanubau zweckmässigste Stellung — mag
man das Zundermehl in einer Rinne geschabt haben; sowohl hier als auch wo
man den Holzgriff des Steinbeils quer durchbohrte, wird man nicht übersehen
haben, dass der dabei abfallende Staub besonders fein und leicht entzündbar war.
Man machte die Beobachtung, dass der relativ schwere, weniger schnell auflohende
Holzzunder längere Zeit glimmte als Schwammgewebe und Mark. Dieses Mehl
war vorzüglich geeignet, das lebendige Feuer an einen andern Ort zu
schaffen, es liess sich in einem beliebigen Rohrstück mit durchlöchertem Deckel,
das man bewegte oder in das man zuweilen hineinblies, leicht transportieren, und
eine zweite Büchse konnte nachzufüllenden Vorrat bergen. Kurz, wenn es eine
[227] Zeit der Uebertragung lebendigen Feuers, sei es um der Wärme oder der Jagd-
zwecke oder des Bratens willen, gegeben hat, so muss es auch eine Bereitung
von Zunder und Glimmstoff aus verschiedenem Material gegeben haben und kann
darunter das allezeit auch während des Regens verfügbare und vom Arbeiten her
notwendig gut bekannte Holzmehl nicht gefehlt haben.
Wer sind alsdann die grossen Genies der Urzeit gewesen, die die willkür-
liche Erzeugung des Feuers »erfunden« haben? Irgend ein paar arme Teufel im
nassen Walde sind es gewesen, denen der mitgenommene glimmende Zunder zu
verlöschen drohte und denen Muschel, Zahn oder Steinsplitter im Augenblick un-
erreichbar war. Sie suchten sich einen Stock oder zerbrachen einen Rohrschaft; je
dürrer das Holz war, desto leichter liess es sich abbrechen und desto leichter
würde es brennen. Eifrig bohrten sie Holz in Holz, um ein reichliches Quantum
Mehl zu erzielen, oder, wenn es sich um Vorfahren der Polynesier handeln soll,
rieben sie Holz an Holz — ob sie das Eine oder das Andere thaten, wird nur
von ihren gewohnten Arbeitsmethoden abgehangen haben; sie wurden durch die
Entdeckung erfreut, dass ihr mit dem Holzstock mühsamer, aber auch feiner los-
geriebenes Pulver von selber glimmte und rauchte. Es ist richtig, wie Im Thurn
von den Warrau sagt, »das Holz liefert in sich selbst den Zunder«, aber der
Zunder lieferte auch in sich selbst die Flamme. Eine Entdeckung, die
jeder prähistorische Vagabund zu machen im Stande war, der nichts besass als
vom letzten Lagerfeuer her einen Rest Glimmstoff.
»Würde sich etwa ein gewaltiger Denker der Vorzeit von der Vermutung
haben leiten lassen: durch Reibung werde Wärme erzeugt, sollte nicht auch das
Feuer durch die höchste Steigerung der Reibungswärme gewonnen werden können?
— so hätte in ihm die Wahrheit gedämmert, dass die leuchtende Wärme sich
durch nichts als ihre Quantität und ihre Wirkung auf die Sehnerven von der
dunklen Wärme unterscheide, und sein darauf begründeter Entzündungsversuch
durch Reibung wäre ein Ja in der Natur auf eine richtig gestellte Frage gewesen.
An Schärfe des Verstandes wäre ein solcher Prometheus der Eiszeit nicht hinter
den scharfsinnigsten Denkern der geschichtlichen Zeit zurückgeblieben . . . .«
Oh, Ihr unsterblichen Götter!
Der kühn entwendende Titane barg das Feuer in einem hohlen Stab, das
wäre in einen Moment zusammengedrängt in der That die Geschichte des
Stadiums der Unterhaltung des natürlichen Feuers. Am interessantesten
scheint mir eben jener Stab selbst, ein Stengel der Ferulastaude, dessen Mark leicht
Feuer fängt und der als Büchse gebraucht wird. Nach Plinius haben sich die
Egypter dieses Zunders bedient. Prometheus stand noch auf der Stufe vor Er-
findung der Reibhölzer, er trug den glimmenden Stoff von Ort zu Ort. Auch
die Murray-Australier wissen zu erzählen, dass ihnen das Feuer in einem Rohr,
einem Grasstengel, gebracht worden sei.
Mit dem technischen Fortschritt der willkürlichen Erzeugung wurde das
Holzmehl überflüssig. Man bedurfte jetzt nur des leichten, losen Zunders zur
15*
[228] Anfachung der Flamme und nicht einmal überall dieses. Die Hölzer, die einst
das Zundermehl hauptsächlich geliefert haben, dürften wir wohl in denen wieder-
erkennen, die später zum Feuerreiben dienten; denn natürlich sind die Hölzer,
die sich durch Reiben am besten entzünden, auch die, die das brennbarste
Mehl geben.
Ich aber dachte mit Prometheus: Probieren geht über Studieren, machte
den Versuch und empfehle ihn Allen, die sich von seinem überraschenden Ge-
lingen selbst überzeugen wollen. Ich füllte ein 15 cm hohes Kaviarfässchen mit
beliebigem trockenem Sägemehl, legte eine glühende Kohle darauf, bis eine
dünne oberste Schicht verkohlt war, und warf die Kohle fort. Bei mässig be-
wegter Luft rauchte das Mehl bald so stark, dass ich vorzog, einen durchlöcherten
Deckel aufzusetzen. Dann schlug ich ein Tuch um das Fässchen und überliess
es sich selbst; ununterbrochen glimmte das Mehl 13 Stunden. Mit Nachfüllen
wäre das Glimmen beliebig lange in Gang zu halten. Nun erinnerte ich mich
erst, wie schwer es mir unterwegs oft geworden war, die glimmende Baumwolle
in dem Ochsenhorn meines brasilischen Stahlfeuerzeuges zu ersticken; ich gedachte
auch der aus trockenem Kuhdünger gepressten Stange, die man an Deck indischer
Schiffe zum Gebrauch für die Raucher viele Stunden hindurch glimmen lässt.
Vielleicht ist auch hier und da eine entsprechende Verwendung von Holzmehl zu
finden. Hobelspäne sind bei uns im geschichtlichen Deutschland bis zum Beginn
dieses Jahrhunderts mit Feuerstein und Stahl gebraucht worden.
V. Waffen, Geräte, Industrie.
Bogen und Pfeile. Wurfholz. Keule. Kanu. Fischereigerät. Flechten und Textilarbeiten. Burití-
und Baumwollhängematten. Kürbisgefässe. Töpferei.
Ueber die Ansiedlungen, die Lebensweise, die Werkzeuge unserer Indianer
habe ich, soweit sie Eigentümlichkeiten darbieten, Bericht erstattet. Was von
dem einen oder andern Gerät noch zu sagen wäre, wird sich im Rahmen der
kunstgewerblichen Schilderung, die wegen des mancherlei Neuen einen besondern
Ueberblick beansprucht, von selbst ergeben. Dagegen empfiehlt es sich, über
das Aussehen und den Gebrauch der Waffen, sowie über die einfachsten Kunst-
fertigkeiten noch Einiges mitzuteilen.
Bogen und Pfeile sind die einzige allen unsern Indianern gemeinsame
Waffe. Bei den Suyá und Trumaí finden sich Keulen im Gebrauch. Nirgendwo
giebt es Lanzen. Nirgendwo Blasrohr und vergiftete Pfeile. Nur der Zauberer
hat so eine Art theoretischer Giftpfeile, indem er mit kräftiger Hexenkunst ver-
giftete Zweiglein, wie wir sehen werden, heimlich nach seinem Opfer schleudert;
hier tritt uns also jedenfalls der Gedanke eines Wurfgiftes entgegen.
[229]
Bogen und Pfeile sind ausgezeichnet durch ihre Grösse, die Pfeile durch die
ausserordentlich saubere und gefällige Arbeit. Die Länge der Bogen beträgt
über 2⅓ m, die der Pfeile 1½ bis nahezu 2 m. Das Bogenholz ist gelblich oder
lichtbraun und stammt von dem Aratábaum, Tecoma u. a. Palmholz fanden wir
nur bei einigen Bogen der Tupístämme, hier auch, was den übrigen Stämmen
unbekannt ist, den Bogen mit Baumwolle in hübschem Muster umflochten. Die
Sehne ist aus Tukumfaden gedreht.
Der Pfeil ist ein keineswegs einfaches Kunstwerk; wenn man die Pfeile von
unsern Stämmen, zwischen denen sich eine ethnographische Ausgleichung voll-
zogen hat, mit den Pfeilen aus den benachbarten Gebieten vergleicht, bemerkt
man bei näherem Zusehen immer Verschiedenheiten des Materials oder der
Technik. Die Pfeile der Yuruna am untern Schingú, die der Karayá im Osten
nach dem Araguay hinüber, die der Paressí im Westen, die der Bororó im Süden,
wie die der Yarumá haben stets ihre bestimmten Merkmale. Wie vergleichende
Sprachforschung lässt sich vergleichende Pfeilforschung treiben. Kamen wir zu
einem neuen Stamm, so sahen wir häufig, mit welchem Interesse man die von
den Nachbarn mitgebrachten Stücke prüfte und bestimmte; Nichts erschien den
Leuten ausser unserer Kleidung merkwürdiger als unser Mangel an Bogen und
Pfeilen. Wenn es schwer zu begreifen ist, wie der Indianer sich vorstellt, dass
seine Kulturheroen die einzelnen Stämme durch Bezauberung von Pfeilrohr, das
sie in die Erde steckten, geschaffen haben, so ist doch die zu Grunde liegende
Anschauung, dass der Pfeil das Merkmal des Stammes sei, sehr gut zu verstehen;
der grosse Zauberer wählt auch für jeden Stamm die Art Rohr, die seine Pfeile
auszeichnet. Das Kambayuvarohr liefert zierlichere, dünnere Schäfte als das
Ubárohr; die zahmen Bakaïrí haben, seitdem sie die Bekanntschaft der Flinten
gemacht, das am obern Schingú allgemein gebrauchte Ubárohr aufgegeben und
besitzen nun, wenn nicht gerade Kinderpfeile, so doch kleine Pfeile im Vergleich
zu denen des Schingú. Auch die Bogen (1,70 m) sind kleiner geworden.
Der einfachste Pfeil besteht aus dem befiederten Rohrschaft und einem
hineingetriebenen dünnen Holzstock, der ⅓ m vorragt und ein wenig zugespitzt
ist. Unterhalb der Spitze wird zuweilen ein kleiner Widerhaken angebracht, wozu
man ein Zähnchen oder mit Vorliebe den Kieferstachel des grossen Ameisenbären
gebraucht. Oder man treibt oben auf die Holzspitze ein langes Stück Röhren-
knochen vom Affen, Arm- oder Beinknochen, deren man ganze Bündel zu Hause
ansammelt, und schleift den Knochen zu. Als bindemittel dient Wachs, das mit
einem Knochen aufgetragen wird. Auch der Rochenstachel giebt eine Pfeilspitze
ab. Der Widerhaken lässt sich endlich so herstellen, dass man ein geschweiftes,
doppelspitziges Knochenstück in das seitlich ausgehöhlte Ende des Holzträgers
legt, umwickelt und verharzt.
Zuweilen wird auf den Pfeilschaft eine durchbohrte, hohle Tukumnuss bis
etwas oberhalb der Mitte hinaufgeschoben; seitlich sind ein oder zwei Löcher in
die Nuss eingeschnitten. Im Fluge ertönt ein helles Schwirren und Pfeifen.
[230] Während die klingenden Pfeile nur zur Vogeljagd gebraucht werden, sind die
andern für alle Jagd und das Schiessen der Fische bestimmt; die mit Wider-
haken sind ausschliesslich Fischpfeile. Pfeile mit sägeartig eingekerbten Holz-
spitzen sind am Schingú nicht vorhanden, ausgenommen bei den Yarumá, die wir
für eine Südgruppe der Mundurukú des Tapajoz halten.
Die Suyá und Trumaí hatten zum Krieg und zur Jaguarjagd Pfeile mit
langen spitzen Bambusmessern. Bambusspäne von Spindelform, bis 35 cm lang
und bis 36 mm breit, messerscharf an den Seiten, sitzen dem tief in den Rohr-
schaft eingetriebenen Holzstock auf, indem dieser in eine unten an der Innen-
fläche des Spans eingeschnittene Rinne gebettet ist. Und zwar ist die spitze
Spindel mit ein wenig Harz und Faden nur lose befestigt; sie bleibt beim Schuss
in dem getroffenen Körper zurück, während der Schaft mit dem Holzstock hinter
ihr abspringt.
Das Merkwürdigste am Pfeil ist die Befiederung am untern Ende. Zwei
Federn, richtiger zwei Federhälften, denn die Feder wird in ihrem Schaft ge-
spalten, sind in spiraliger Drehung, die ein Viertel des Umfangs umschreibt, sorg-
sam befestigt; jede Fahne steht mit der Ebene ihres Oberteils senkrecht auf der
ihres Unterteils, sodass sich der fliegende Pfeil durch die Luft schraubt. Die
Federn sind kleinen Löchelchen entlang gespannt, die mit einem Agutízahn ge-
stochen und mit einem spitzen Buritísplitter erweitert werden, und, man darf
sagen, dem Pfeil aufgenäht, der Baumwollfaden wird um die Enden herum-
gewickelt und selbst durch eine Umwicklung mit Waimbérinde (Philodendron)
geschützt. Meist stammen die Federn von Hokkohühnern, Jakú (Penelope) und
Mutung (Crax), vom Falken und vom blauen Arara. Wo die Hand den Pfeil-
schaft umfasst, befindet sich eine Umwicklung mit Waimbé. Unten ist eine Kerbe
eingeschnitten, der das Oberteil der Federn parallel liegt.
Kinderpfeile sind ähnlich, nur kleinen Formats mit Holz und Knochenspitzen,
oder (die der frühesten Jugend) schwanke, dünne Stengel, die man von Palm-
blätterrispen abspaltet.
Die Haltung des Bogens ist gewöhnlich senkrecht. Der Pfeil liegt links vom
Bogen. Er wird zwischen dem Zeigefinger und Mittelfinger gehalten, die die
Sehne zurückziehen, während Finger IV und V noch helfen, die Sehne zu spannen.
Der Daumen wird nicht gebraucht. Diese Spannung, der Mittelmeerspannung
von Edward S. Morse entsprechend, ist verschieden von der der Bororó. Vor-
richtungen, um die Finger gegen die starke Reibung der Sehne zu schützen,
werden nicht gebraucht. Die den Bogen haltende linke Hand kann noch einen
zweiten Pfeil in Reserve halten.
Der Pfeil visiert das Ziel nur bei geringer Entfernung; ist sie gross, so wird
der Bogen hoch emporgehalten, der Pfeil fliegt in der Lotrichtung des Ziels
empor und senkt sich zu ihm hinunter. Auf dem Fluss, z. B. wenn auf eine in
der Ferne spielende Fischotter geschossen werden soll, ein bei der malerischen
Haltung des im niedrigen Kanu stehenden nackten Schützen ungemein fesselnder
[231] Anblick! Beim Fischschiessen wird die Pfeilspitze öfter in das Wasser getaucht,
um den Grad der Lichtbrechung zu prüfen. Es gehört nicht geringe Uebung
zum Fischschiessen. Langsam rudert der hinten sitzende Gefährte, während
der Schütze vorn schussfertig steht und scharf auslugt. Unsereins sieht nicht
mehr als der Indianer, wenn er zum ersten Mal in das Mikroskop blicken würde.
Eine leise Aenderung der Wellenform verrät ihm schon die Beute. Dabei hat
man sich mäuschenstill zu verhalten, unhörbar wird das Ruder eingetaucht.
Mancher Schuss geht übrigens fehl und häufig treiben zwei oder drei der schönen
Pfeile traurig im Wasser, bis sie zurückgeholt werden. Kein Wunder, dass
den Indianern unsere Angel wie eine Offenbarung erschien. Kannten sie die
Angel noch nicht, so kannten sie doch schon den Köder. Aber den frei
schwimmenden. Der Schütze warf vom Kanu eine scharlachrote Beere in den
Fluss; in dem Augenblick, wo ein von unten zuschnappendes Maul sie verschlingen
wollte, schnellte der Pfeil vom Bogen. Wer neuen Sport sucht, möge es pro-
bieren. Die Indianer üben sich auf dem Dorfplatz und pflanzen als Ziel einen
Schaft auf, der oben ein zilindrisches oder kegelförmiges Stück Korkholz trägt.
Das Wurfbrett, für unsern Fall, wo kein »Brett« vorhanden ist, häufig
Wurfholz*) genannt, ist eine jetzt seltene Waffe, die sich nur bei den beiden
Tupístämmen, den Kamayurá und Auetö́, und bei den Trumaí vorfand. Sie ist
die grösste ethnologische Ueberraschung unserer Reise gewesen. Ehrenreich
begegnete ihr dann auch bei den Karayá am Araguay. Durch den Bogen
verdrängt, hat sie sich in lebenskräftiger Uebung nur bei den holzarmen Eskimo
erhalten. Die nordamerikanischen Indianer haben sie, so viel man weiss, nicht
gekannt; bei den alten Mexikanern und bei den Maya, sowie bei den Bewohnern
Kolumbiens erscheint sie in beschränkter Verwendung, doch lässt sich auf eine
grössere Verbreitung in frühen Zeiten schliessen, sie gilt als Waffe der Inkakrieger,
wir sehen sie dann endlich in vereinzelten Beispielen bei südamerikanischen
Naturvölkern, zumal Tupís, sowohl am hohen Amazonas wie im östlichen Bra-
silien. Auch bei unsern Stämmen hatte das Wurfholz seine aktuelle Bedeutung
eingebüsst oder war mindestens dabei, sie zu verlieren. Immerhin fanden sich in
jedem Hause mehr Wurfbretter als Bogen; die Indianer sagten, dass sie die Waffe
zwar niemals mehr zur Jagd, wohl aber noch im Kriege gebrauchten. Als die
Trumaí 1884 vor unserm Lager erschienen, hatten sie keine Wurfbretter bei sich;
die Steinkugeln, mit denen die Wurfpfeile im Ernstfall ausgestattet sind, waren
bei den Auetö́ und Kamayurá nicht zahlreich vorhanden, sie mussten sie auch
von den Trumaí beziehen, und so sind für die Tupístämme wenigstens schon rein
infolge der geographischen Lage die Tage des Wurfbrettes gezählt. Aber als
Sportwaffe erfreute es sich noch hohen Ansehens und fleissigen Gebrauchs; ich
werde bei den Tänzen auch des Wurfbretttanzes, der die Verwundung im Kampf
darstellt, zu gedenken haben. Das Wurfbrett hat den Zweck, einen stein-
[232] beschwerten Pfeil, oder, wenn man will, einen zierlicheren Spiess mit grosser
Kraft zu schleudern. Der am Schingú vorhandene Typus ist ein etwa 70 cm
langer glatter, dünner Stock aus hartem Palmholz, der sich an dem einen,
vorderen Ende zu einer mit einem Loch versehenen Griffplatte verbreitert und
an dem andern, hintern Ende einen kleinen Haken trägt. Also kein Brett und
Nichts von einer Rinne. Vgl. Abbildung 28 und 6, S. 109.
Der Pfeil wird hinten auf den Widerhaken eingesetzt, durch das Loch der
Griffplatte steckt man den Zeigefinger, während die andern Finger Platte und
Pfeil umschliessen; so liegt der Pfeil in seinem hintern Teil dem Wurfbrett fest
an, mit kräftigem Schwung wird ausgeholt, das Wurfholz beschreibt einen Bogen
nach vorn und oben und entsendet mit dieser Hebelbewegung den Pfeil, »dass es
nur so saust«. Die Wurfbretter sind aus hellem oder dunklem Palmholz gefertigt,
Wurfbrett (\frac{1}{13} nat. Gr.) und Spitzen von Wurfpfeilen.
sie sind schön geglättet und machen zum Teil einen eleganten Eindruck, zumal
wenn ein buntes Federbündelchen von der Widerhakenschnur herabhängt. Die
Platte hat eine Breite von etwa vorn 5 cm, hinten 6 cm und eine Länge von
15 cm; sie ist bikonkav ausgeschnitten, damit die Hand sie sicher umfasst. Der
Stiel ist ungefähr vier mal so lang. Der Haken, dem der Wurfpfeil aufgesetzt
wird, bei den Karayá ein Knochen, ist hier ein 2½ cm langes Stöckchen, mit
Baumwollfaden schräg angebunden. Für Kinder gab es Wurfbretter kleinen
Formats.
Das geworfene Rohr ist bei unsern Indianern kein Spiess, sondern ein
echter Ubá-Pfeil und wird auch von ihnen Pfeil genannt. Nur die Befiederung
ist gewöhnlich nachlässiger gearbeitet und nicht spiralig angeordnet. Knochen-
spitzen und scharfe Holzspitzen kommen nicht vor. Das Charakteristische des
Wurfpfeils ist umgekehrt — eine, wie es scheint, in der deutschen Sprache nicht
[233] vorgesehene Möglichkeit — die »stumpfe Spitze«. Auch in diesem Sinn fehlt
das Merkmal des »Spiesses«. Der Wurfpfeil spiesst und sticht nicht, sondern
zerschmettert mit schwerer Schlagkraft. In den Schaft eingelassen, mit Bind-
faden umschnürt und mit Wachs verschmiert, waren schwere Stein- oder Holz-
spitzen. Die Steine entweder konisch wie No. 2 in der beistehenden Figur oder
birnförmig wie No. 3. Aus dem Wachsüberzug schaute der Stein nur wenig
heraus, vgl. No. 9. Die Holzspitzen hatten verschiedene Formen, kugelig, oder
der Steinbirne entsprechend mit langem Stiel zum Einschieben in den Schaft:
No. 1, oder (die gewöhnliche Form) No. 4 und 10, ein zilindrisches Stück, das
sich unten zum Einsetzen zuspitzte — in No. 11 auch einmal mit einer spitzigen
Hervorragung, ferner ein Knopf No. 12 und eine Gabel No. 8. In der Abbil-
dung 6 S. 109 trägt der Mittelpfeil einen langen schmalen Holzkegel, der auf
weissem Grund mit einem langen schwarzen Linien- oder Tüpfelmuster verziert
ist, schon die reine Dekorationswaffe zum Tanz. Viele Wurfpfeile trugen nur
Wachskugeln. Endlich sehen wir in No. 6 und 7 nach Art der klingenden Pfeile
auch eine oder zwei Tukumnüsse (Astrocaryum) aufgesetzt und in No. 5 eine
faustgrosse Tukumnuss auf zwei aneinander gebundenen Rohrschäften.
Das Wurfbrett hat von der Tukumpalme seinen Namen: Yauarí. Es ist
nicht selten, dass die Pflanze, die das Material liefert, auch den Namen des Ge-
rätes liefert; die Kamayurá fügten eine nähere Bestimmung hinzu, yauarí amo-
moáp, das heisst (amo weit, mo Causativum, ap zerbrechen, verwunden) »fernhin
zerschmetterndes Tukum«. Apollo amomoáp, der fernhin treffende. In einer
Legende, die Ehrenreich bei den Karayá aufnahm, kommen Affen vor, die im
Baum sitzend Menschen mit Wurfpfeilen töten. Damit steht einigermassen im
Einklang, wenn mir die Indianer sagten, das Wurfbrett sei gut im Wald zu ge-
brauchen. So kann man bei rascher Verfolgung zwischen den Bäumen das Wurf-
brett mit dem Steinpfeil fertig zum Schleudern, nicht aber den beide Hände zum
Spannen benötigenden Bogen schussbereit halten und einen der kurzen Augen-
blicke erfassen, während deren das fliehende Ziel Deckung durch Stämme und
Unterholz verliert. Die Kraft, mit der der Wurfpfeil entsaust und aufschlägt, ist
weit grösser als man erwartet. Die Waffe hat vor dem Bogen einmal den
ungeheuren Nachteil, dass sie nicht in die Höhe hinauf verwendbar ist, man kann
keinen Vogel mit ihr aus dem Wipfel herunterholen, und unterscheidet sich ferner
sehr zu ihren Ungunsten durch die Unbrauchbarkeit zum Erlegen der Fische, sie
ist mit einem Wort keine Jagdwaffe, würde es selbst nur in beschränktem Mass
für grössere Tiere sein, wenn die Wurfpfeile mit die Haut durchdringenden
Spitzen ausgestattet wären; sie ist eine entschiedene Kriegswaffe und wird
auch nur als solche bezeichnet. Sie hatte ihren Wert neben dem Bogen, wo es
Krieg, geeignete Steine und Wald gab. Wenn sie eine Vorstufe des Bogens
genannt wird, so ist doch zu bedenken, dass sie uns das Geheimnis seines Ur-
sprungs in keiner Weise entschleiern hilft, denn das Wesentliche des Bogens ist
seine federnde Kraft, sowohl die des Holzes als die der Sehne.
[234]
Keulen hatten nur die Suyá und die Trumaí. Die der Suyá, vgl. »Durch
Centralbrasilien« Abbildung Seite 326, war platt, 1⅓ bis fast 1½ m lang, mit
einem ovalen Oberstück, das durch Muschelaugen verziert war, eine elegante
Waffe aus braunschwarzem, wie poliert glänzendem Seribapalmholz. Von ähnlicher
Form, kleiner, plumper, keine künstlerische Arbeit, ist die Trumaíkeule. Wir
Bakaïrí-Ruder.
(⅛ nat. Gr.)
haben auch auf der zweiten Expedition deren nur eine erhalten.
Dagegen hatten die Trumaí wie die Kamayurá kleine Tanzkeulen,
deren ich später gedenken werde. Auch hier also wie beim
Wurfbrett die Erscheinung, dass die alte Waffe zum Spielgerät
herabsinkt. Bei den Kamayurá fanden wir ausser einer Suyákeule
eine den Yarumá zugeschriebene Keule, die genau der 1884 bei
den Yuruna gefundenen Karayákeule entsprach, ein dunkelbrauner,
vertikal ringsum kanelirter, scharf geriefter, oben und unten stumpf
abgekuppter Stab mit glattem Zwischenstück für die Hand. Dort
die Yuruna, hier die Kamayurá hatten die Mordwaffe zum fried-
lichen Spazierstock umgewandelt. Man muss gestehen, dass die
Wehr der Männer am Kulisehu nicht auf kriegerische Gewohn-
heiten hinweist.
Die Kanus sind allgemein aus der Rinde der Jatobá her-
gestellt, wie ich es für unsere Fahrzeuge beschrieben habe.
Vgl. Tafel 10 und 11. Ein 1884 gemessenes Bakaïríkanu hatte
folgende Masse: Länge 8 m, Breite in der Mitte oben 64 cm,
unten 56 cm, Tiefe 24 cm, Breite des Hinterteils 63 cm, Rinden-
dicke 11 bis 21 mm. Wir haben auf der zweiten Reise längere
Exemplare gesehen, und die Arche, die wir bei den Mehinakú
erwarben, hatte eine erheblich grössere Breite, war freilich ein
Unikum an Behäbigkeit. Die Kanus der Bakaïrí, die im flacheren,
von Steinen durchsetzten Flussbett zu fahren hatten, waren etwas
flacher als die weiter flussabwärts. Bei den Yaulapiti war der
Rand etwas nach innen umgekrempelt.
Die Ruder, etwas über 1 m lang, bestanden aus einem etwa
60 cm langen und 10 cm breiten, leicht ausgehöhlten Blatt mit
Stiel und Krückengriff (vgl. die Abbildung). Mit der einen
Hand den Krückengriff, mit der andern den untern Teil des
Stiels umfassend, stösst der Indianer das Ruder ziemlich senk-
recht neben sich ein und hebelt mit kräftigem Druck nach vorn
hinüber. Die Stösse folgen sich oft mit grosser Geschwindigkeit,
das Ruder wird hoch durch die Luft geworfen und blitzschnell in den Händen ge-
wechselt. Einer der Ruderer sitzt meist vorn, der Andere hinten; der Hintere steuert
mit seiner Schaufel, nach den Fischen schiesst der Vordere. Ein niedrig einge-
klemmtes Aststück ist die ganze Sitzgelegenheit. In der Mitte liegt der Tragkorb,
mit Blättern vor dem Regen geschützt. Lehm und Harz spielen eine grosse Rolle,
[235] besonders an dem eingestülpten Hinterteil platzt die Rinde gern und lässt Wasser ein-
treten. Dank ihrer grossen Gewandtheit als Piloten schiessen die Bakaïrí ohne Gefahr
auch durch den Schwall der Katarakte; doch wären die Strudel mit stärkerem Gefälle
flussabwärts im Gebiet der Yuruna durch die niedrigen und gebrechlichen Rinden-
kanus nicht zu überwinden — ein beachtenswertes Hindernis für die Verschiebung
unserer Stämme nach Norden. Vielleicht nicht weniger schlimm wäre der Wellen-
schlag auf dem breitern Strom, den jeder heftige Wind bringt. Dagegen bieten
die Rindenkanus den gewaltigen Vorteil, dass sie in kürzester Frist herzustellen
sind. Deshalb begnügte man sich sogar bei der Fazenda S. Manoel mit einem
von den Bakaïrí gelieferten Kanu, das nur einen Tag Arbeit kostete. Sie sind
leicht aus dem Wald an das Ufer zu tragen; Bastringe schützen die Schultern.
Gefischt wird während der Fahrt soviel als nur möglich, desgleichen ge-
gessen. Rauchen und Singen unterwegs ist unbekannt.
Fischereigerät. Das Schiessen der Fische mit Pfeil und Bogen liefert eine
der Zahl nach nur geringe Beute. Ich habe berichtet über die Zäune oder
Stakets, mit denen der Fluss bei dem zweiten Bakaïrídorf gesperrt war, über die
»Chiqueiras«, das Sperrwerk mit Zweigen, das Bachmündungen oder Lagunenarme
abschloss, über die Steinkreise, die nahe bei den Stromschnellen im flachen Fluss-
bett oft in grosser Zahl gelegt waren, und wo die Fische durch eine schmale
Oeffnung oben eintraten und flussabwärts gescheucht, beim gegenüberliegenden
Ausgang in Netzen abgefangen wurden, sowie endlich über das Fischen der
Bakaïrí in der seichten Kamplagune mit Fangkörben. Gern fischt man zwischen
den Steinen, in dunkeln Nächten bei Fackellicht. Von einer Vergiftung der
Fische haben wir Nichts gesehen.
Dass die Angel sämtlichen Stämmen so verschiedenen Ursprungs unbekannt
war, Stämmen, die so eifrige Fischer waren, ist eine Thatsache von hohem Wert.
Sie spricht beredt für die mehrfach aufgestellte Behauptung, dass die Angel im
Norden und Süden des Amazonas überhaupt erst durch die Europäer eingeführt
worden ist. Ist dies nicht der Fall, bleibt nur der Ausweg, dass unsere Stämme
sich von ihren Ursitzen entfernt haben, ehe die Angel dort bekannt war. Denn
wer, wie ich, gesehen hat, mit welchem Interesse die Eingeborenen unsere Angeln
kennen lernten, der wird, wenn irgendwo, hier über das Ansinnen lächeln, dass
die degenerierten Indianer eine ihnen früher — als sie noch dem Ausgangspunkt
der Karaiben oder der Nu-Aruak oder der Tupí oder der Gēs näher waren —
wohlbekannte Erfindung vergessen hätten. Es lässt sich begreifen, dass Indianer
unter friedlichen Verhältnissen keine Keulen mehr machen, es liesse sich ver-
stehen, dass der eine oder andere unserer Stämme vom Amazonas hereingewandert
wäre und das Holzkanu aufgegeben habe, weil er am Oberlauf mit den mühelos
zu machenden Rindenkanus vortrefflich auskam, aber dass Fischer, die früher
geangelt haben, in einer Gegend, wo sie die Kunst mit grösstem Nutzen weiter
treiben könnten, davon abgekommen seien, und ihre Nachkommen sich von uns
neu belehren lassen müssen, das glaube wer kann. Im Guaraní und Tupí heisst
[236] Haken und besonders Angelhaken pinda, und nach diesem Wort wird in beiden
Dialekten Xylopia frutescens, die die Angelrute liefert, pinda-iba = Haken-Rute
genannt. Den Kamayurá, die gewiss an Tupí-Reinheit nichts zu wünschen übrig
lassen, und denen wir beim Vergleichen der uns gemeinsamen Wörter als Stammes-
brüder erschienen, versagte die Uebereinstimmung gerade bei dieser Pflanze: sie
kanntenpindaibanicht und nannten sie ivira oder ivít, das ymbira des Tupí
oder hybir des Guaraní (= »Hautbaum«), nach Martius »Name verschiedener
Bombaceen und Xylopien«. Die dekadente Gesellschaft hat auch den Pflanzen-
namen »Haken-Rute« vergessen, obwohl er für sie so leicht zu behalten war.
Die Netze, nur kleine Handnetze, waren aus der gedrillten, sehr widerstands-
fähigen Tukumpalmfaser geflochten. Sie hingen als Beutel von einem Stück
Bratständer (Trempe). (\frac{1}{30} nat. Gr.)
mit beiden Enden rundoval
zusammengebogener Schling-
pflanze. Von Reusen wurden
zwei Arten unterschieden, eine
puroschi der Bakaïrí, breiter,
voller, mit horizontalen recht-
eckigen Zwischenräumen, und
die andere, tamaschi, schmal,
lang, mit weiten hohen Ver-
tikalmaschen. Der Fangkorb
kutu war ein stumpfkegeliges,
oben und unten offenes Flecht-
gerüst aus spitzen Reiser-
stöcken. Ich sah Paleko zu,
wie er, um einen Fangkorb
zu bauen, ein Bündel bereits
zugespitzter Stöcke, die noch
verschiedene Länge hatten,
gleich machte. Er hatte fol-
gende Art Massstab. Er nahm ein Stück Schaftrohr a—b und ein anderes c—d,
band sie untereinander parallel bei b und c zusammen und gebrauchte nun das
freie Stück von c—d zum Messen, indem er den zu messenden Stock entlang
legte, bei b aufstützte, bei d scharf umritzte und abbrach.
Die Indianer ziehen häufig für einige Tage aus, um dem Fischfang obzuliegen.
Sie bringen gebackene Fische mit nach Hause, doch scheinen sie auch schon
damit zufrieden zu sein, sich einmal draussen recht satt zu essen. Die Pyramide
des Bratrosts, »Trempe« der Brasilier, die man fast immer findet, wo die Indianer
sich zum Fischen oder Kanubauen über die Nacht hinaus aufgehalten haben, ist im
Nu fertig. Drei Stöcke werden wie Gewehre zusammengestellt und oben mit
Bast vereinigt, etwas unterhalb der Mitte wird von einem Stock zu den beiden
Nachbarn je ein Stäbchen quer gespannt und angeflochten, und dieser Winkel
[237] mit anderen Stäbchen bedeckt, sodass ein dreieckiger horizontaler Rost entsteht.
Die Fische öffnet man, indem man einen Längsschnitt in die Mittellinie anlegt
und einen seitlichen Querschnitt ansetzt; die Klappe aufschlagend nimmt man die
Därme heraus, und die Fische kommen auf den Bratständer.
Flechten. Das Material lieferten die Bakayuva-, die Burití-, die Akurí- und
die Carandasinha-Palme, Bambusrohr und Marantastengel, die gespalten wurden,
die Kletterpalme Urumbamba (Desmoncus) und die unentbehrlichen Schlingpflanzen.
Die Männer waren es, die flochten. Sie bedienten sich beider Füsse zur Aushilfe,
indem der eine die Quer- und der andere die Längs-
halme festhielt. Die Korbflechterei stand auf keiner
hohen Stufe. Es gab Stehkörbchen und Hängekörbchen,
dichtgeflochtene und weitmaschige, in denen man den
Kleinkram aufbewahrte, Fische trug u. dgl., allein über
die allgemein bekannten Formen hatte man es nicht
hinausgebracht. Einige Abwechslung wurde dadurch
erreicht, dass man schwarz gefärbte Streifen einflocht.
Die Mehinakú und Auetö́ hatten grössere viereckige,
trogartige Stehkörbe, die sich durch ein schmuckes Aus-
sehen auszeichneten, auch mit Troddeln an den Ecken
verziert waren, und zum Aufbewahren von Kürbissen
u. dgl. dienten. Diese Körbe wurden von den Mehinakú
mayáku genannt, ein Wort, das die Bakaïrí für die
Kiepen, also für den ganz anders gebauten Tragkorb
gebrauchten. Die nebenstehende Abbildung zeigt den
dreiwandigen bei allen Stämmen benutzten Tragkorb,
den „mayáku“ der Bakaïrí, während die Art, wie er mit
der Bastschlinge am Kopfe hängend getragen wurde,
auf dem Bilde Tumayaua’s, Tafel 6, zu ersehen ist.
Der Inhalt wurde mit Blättern, die auch zum Auskleiden
der Innenseiten benutzt werden, zugedeckt; dann band
man die Seitenwände möglichst nahe aneinander fest.
Kleine Kiepen wurden schon den Kindern aufgehängt.
Zu gedenken ist der Vorratkörbe für das Mandioka-
mehl. Während die unteren Stämme plumpe, an die
Tragkorb. (⅐ nat. Gr.)
Form der Kiepen erinnernde Proviantkörbe hatten, waren die der Bakaïrí (oádu)
ein Erzeugnis sorgfältiger Arbeit. Fünf oder sechs mannshohe dünne Stangen
waren mit ein paar Querringen von Schlingpflanzen zu einem kreisrunden, irgendwie
gestützten Gerüst zusammengestellt, dieses wurde innen mit Helikonienblättern,
deren mehrere mit Faden übereinandergereiht waren, ausgelegt und aussen mit
rötlichem Pindahybabast von unten nach oben, indem man den Bast von Stück
zu Stück fortknotete, in wagerechten Kreistouren umwunden. Während diese Art
also ungeflochtene Körbe waren, gab es andere mit offenem sechseckigem
[238] Maschengeflecht, die ebenfalls mit Blättern austapeziert waren. Die Körbe wurden
an Embirastreifen aufgehängt.
Das Mattenflechten spielte keine grosse Rolle. Ganz niedlich waren kleine
fächerförmige oder viereckige Matten, um das Feuer anzufachen. Grössere Matten
zum Schlafen fehlten, da man die Hängematten hatte. Bei der Mehlbereitung
wurden Matten gebraucht, einmal aus Palmblatt geflochtene Trockenmatten und
dann aus vierkantigen, mit Querfäden aneinander geschlungenen Rohrstäbchen
bestehende Siebmatten zum Durchseihen und Auspressen der auf palmstachel-
besetzten Reibbrettern zerkleinerten Wurzel. Aehnliche Stäbchenmatten dienten
als Mappen zum Aufbewahren von Federschmuck. Die Federn wurden wie in
einen Aktendeckel hineingelegt; die Matte erhielt man dann steif durch drei
Klammern, je eine oben, unten und in der Mitte, indem man gespaltene
Rohrstengel zusammenbog, mit der Schnittseite anliegend quer hinüberspannte
und die überstehenden Enden rechts aneinanderband.
Feuerfächer. (⅑ nat. Gr.)
Die Rohrdiademe und geflochtenen
Tanzanzüge werde ich in dem Masken-
kapitel besprechen.
Textilarbeiten. Das Material: Ana-
nasseide, Aloehanf, Palmfaser von der Tu-
kum und Burití, und Baumwolle. Die
Fasern werden in feinen Bündeln aufgelegt,
auf dem Schenkel gedrillt, die Baumwoll-
flocken dagegen durch die ebenfalls auf
dem Schenkel rapid in Drehung versetzte
und dann frei tanzende Spindel zum Faden
ausgezogen. Nur die Frauen spinnen und
weben. Die Faserschnüre dienen als die
eigentlichen Bindfäden und Stricke; Fisch-
netze, Tragnetze und in bestimmten Fällen die Hängematten, endlich Bogensehnen
bestehen daraus. Man strickt mit Bambusstäbchen oder langen Holznadeln, die
offene Oehre haben.
Die Spindel ist eine Scheibe, durch die ein dünnes, zuweilen an der Spitze
abgekerbtes, nicht immer sehr gerades und glatt bearbeitetes Stöckchen gesteckt
wird. An ihm wird eine von den Kernen befreite Baumwollflocke befestigt, als-
dann der Wirtel rasch auf dem Oberschenkel gedreht und das Ganze hängen
gelassen; infolge der gleichmässigen Rotation dreht sich die Baumwolle zum Faden
aus. Der Faden wird auf das Stöckchen gewunden, bis ein dicker kegelförmiger
Knäuel dem Wirtel, der das Abgleiten verhindert, anliegt. Durchmesser der
Wirtelscheibe 5½—6 cm, Länge des Spindelstocks 30—35 cm. Der Wirtel be-
steht meist aus einem Stück vom Bauchpanzer der Schildkröte, häufig aus Holz
und nur bei den Bakaïrí aus einer gewöhnlich plumpen Thonscheibe, die man
unter Umständen aus einem alten Topfboden brach und zuschliff. Von den auf
[239] den beiden ersteren Arten eingeritzten Mustern werde ich später sprechen; die
Bakaïrí lassen ihre Holz- und Thonscheiben unverziert, Schildkrötenwirtel haben
wir bei ihnen nicht gefunden. Die Frauen puderten sich zum Schutz gegen den
Schweiss den Oberschenkel erst mit weissem, kreidigem Thon ein. Sie bewahrten
das Material in Form kindskopfgrosser Kugeln auf, von denen sie zum Gebrauch
ein wenig mit einer Muschel abkratzten.
Der Faden wird in zweierlei oder dreierlei Stärke hergestellt und in Knäueln,
die in grüne Blätter eingeschlagen werden, aufbewahrt. Die Knäuel sind beliebte
Gastgeschenke der Bakaïrí und Mehinakú, die sie uns beim Empfang ebenso
überreichten, wie dies Columbus schon den 12. Oktober 1492 von seinen Insulanern
berichtet.
Der »Webstuhl« ist so primitiv wie nur möglich. Zwei niedrige Pfosten, die
keinen halben Meter hoch zu sein brauchen, in gehörigem Abstand, das ist Alles.
Der Ursprung des Webens aus dem Flechten ist noch klar ersichtlich. Um die
Pfosten wird als Kette ein dicker Strang Baumwolle geschlungen, ein Faden ohne
Ende; mit leitenden Stöckchen werden die Querfäden durchgezogen.
Die Bakaïrí-Hängematte stellt ein ziemlich lockeres Netz dar, lang recht-
eckig, 2⅓ m × 1¼ m. Die Längsreihen sind in einem Abstand von unregel-
mässig 2—3,5 cm von Querreihen durchsetzt, in den Zwischenräumen kann man
bequem einen Finger durchstecken. Die Art des Gewebes ist sehr einfach. Zwei
Längsfäden, 2—3 mm dick, sind jedesmal durch die dünneren, nur 1 mm dicken
Querfäden umschlungen, und zwar sind der Querfäden vier, von denen zwei
wellenförmig vor, zwei hinter den Längsfäden herlaufen, indem sie sich zwischen
den letzteren durchkreuzen. Wo die Querfäden beiderseits ausmünden, werden
sie verknotet; so findet man an jeder Längsseite einige 70 Knoten mit den vier
abgeschnittenen Fadenenden. Die an jedem Pfosten freibleibende Schlinge wird
in der Mitte umwickelt, sodass einerseits eine Oese zur Aufnahme der Hängeseile
entsteht, und andrerseits von diesem festen Punkt aus die hier noch auf eine
Strecke von 30—35 cm undurchkreuzten Längsfäden beim Aufspannen nach dem
Netz hin divergieren.
Ausser dieser typischen Baumwollhängematte giebt es eine Hängematte, bei
der die Kette aus Buritípalmfaserschnur und nur der Einschlag aus Baumwolle
besteht. Und zwar kann sich dieser Baumwolleneinschlag auf ein paar Querfäden
beschränken, die bei den Mehinakú in 10—20 cm Abstand verliefen. Die
Burití-Hängematte ist bei den Nu-Aruakstämmen zu Hause. Die zahmen Bakaïrí
am Paranatinga besassen sie ebenfalls, und sie gaben mir an, dass ihr alter
Häuptling Caetano sie erst eingeführt habe. Die Palmfaserhängematten waren
gewöhnlich von derselben Länge oder auch länger (bis 2¾ m) als die Baum-
wollhängematten, aber keinen Meter breit, sodass die bequeme Diagonallage, die
der Brasilier mit Recht einzunehmen liebt, fast ausgeschlossen war.
Eine dritte Art entstand dadurch, dass reichlicher Baumwolle benutzt wurde.
So sahen wir bei den Auetö́ alle Uebergänge von 6—7 cm Abstand der Baum-
[240] wollquerfäden bis 1—2 oder gar ½ cm. Endlich aber waren die Baumwollfäden
so eng zusammengedrückt, dass man die Palmfaser nicht mehr sah und ein festes
Tuch, fast so dicht wie Segelleinen gearbeitet, entstand. Hier war der etwa
1,5 mm breite Palmfaser-Längsfaden von zwei Paar Baumwoll-Querfäden um-
schlungen, die sich zwischen ihm und dem nächsten Längsfaden nicht einfach,
sondern doppelt durchkreuzten. Die Längsseiten der Hängematte waren natur-
gemäss dicht mit Knoten besetzt; an den vier Enden liess man die Stränge ein
Stück herabhängen und in Quasten endigen. Mehrfach waren auch in Ab-
ständen von etwa 40 cm blauschwarze Querstreifen durch Verwendung gefärbter
Baumwolle erzielt worden. Uebrigens waren alle Hängematten braun; die Baum-
wollhängematte wie die von Palmfaser, die schon in der Naturfarbe lichtbraun
war, färbten sich schmutzig braun an dem mit Urukúrot geölten Körper.
Die Hängematten aus reiner Baumwolle waren eine Spezialität der Bakaïrí;
auch bei ihnen fanden sich am Kulisehu schon Burití-Hängematten. Das festeste
Tuch arbeiteten die Auetö́. Eigentümlich waren Hängematten für kleine Kinder
bei den Nahuquá: nur ein oben und unten zusammengebundenes und aufge-
hängtes Halmbündel.
So waren die verschiedensten Formen gegeben und in der Ausgleichung
begriffen. Die Suyá schliefen noch nach der alten Sitte der Gēs auf grossen
Palmstrohmatten; sie waren, als wir sie besuchten, gerade im Begriff, die Hänge-
matte bei sich einzuführen, hatten davon ein paar Exemplare und webten auch
schon selbst. Vielleicht rührte die Kunst von Trumaífrauen her, die sie bei sich
hatten. Ich habe schon nach der Reise von 1884 auf den Parallelismus zwischen
dem Schingúgebiet und den Guyanas aufmerksam gemacht, dass dort wie hier
die Baumwollhängematte bei den Karaiben, die Palmfaser-Hängematte bei den
Nu-Aruak heimisch zu sein scheint, dass dieser ethnographischen Uebereinstimmung
ferner die linguistische genau entspricht. Die Technik geht in beiden Fällen aus
dem Flechten hervor, nur das Material ist verschieden. Am weitesten zurück
waren die Bakaïrí, die das tuchartige Gewebe nicht besassen. Auch ist es auf-
fallend, dass ihre Spinnwirtel, obwohl sie ihren Zweck völlig erfüllten, kunstloser
waren als bei den übrigen Stämmen.
Eine gleichgerichtete Technik zeigte sich bei einer Art Siebmatten. Die
Stengel wurden mehr oder weniger dicht mit Baumwollgarn übersponnen, sodass
steife und doch zugleich sehr bewegliche dichte Matten entstanden, zwischen denen
die Mandioka trocken gepresst wurde. Auch sahen wir Stücke Tuch zu demselben
Zweck verwendet.
Kürbisgefässe. Die Früchte der Crescentia Cuyeté und die Cucurbita
Lagenaria liefern die mannigfaltigsten Formen von Gefässen. Da finden sich
solche von Kugelform, Gurkenform, Flaschenform, Sanduhrform, sowie manche
andere unregelmässiger Art; nach ihrem Durchschneiden erhält man entsprechend
gestaltete Schalen. Man schnürt die noch grünen Früchte so ein, wie man sie
wünscht; namentlich ist die Sanduhrform ein Erzeugnis dieser Methode. Um sie
[]
KOCHTÖPFE UND AUETÖGRAB.
[][241] in Schalen zu zerteilen, umschnürt man die frischen Früchte mit Palmfaser und
ritzt mit einer Muschel entlang. Zerspringt eine Schale beim Gebrauch, so wird sie
genäht; man bohrt die Löchelchen mit dem spitzen Zahn des Hundsfisches und nimmt
zum Nähen einen mit Wachs gewichsten Buritífaden, dessen Knoten die messer-
scharf geschliffene Zahnkante hart an der Schale beschneidet. Mit demselben
Zahn werden auch die Zeichnungen eingeritzt, die die Oberfläche verzieren, wenn
man nicht vorzieht, sie mit einem glühenden Stäbchen einzubrennen. Den Trink-
schalen und kleinen Schöpfkuyen oder Löffeln giebt man innen einen schwarzen
Lacküberzug. Der Lack ist der Russ von verbranntem Buritíschaft, vermischt
mit dem gelben klebrigen Wasserauszug der geraspelten Rinde des Ochogohi-
Baums aus dem Campo cerrado. Besondere kleine kugelige Kürbisse dienten zur
Aufnahme des Oels, mit dem man den Körper einrieb, und wurden mit einem
Pfropfen verschlossen; die Bakaïrí nannten die Frucht péru. Sie hingen zuweilen
in einem eng angeflochtenen Netz. Der Rassel-Kürbisse habe ich bei der Tanz-
musik zu gedenken.
Töpferei. Ich habe in dem Kapitel über die »Steinzeit«-Kultur, vgl. Seite 215 ff.,
über den Ursprung der Töpfe in unserm Gebiet, über das Monopol der Nu-Aruak-
stämme und über die nur auf das weibliche Geschlecht beschränkte Herstellung
ausführlich gehandelt. Ich bin erst in dem späteren Kapitel über die Plastik,
wenn die Entwicklung der indianischen Kunst verständlich geworden ist, in der
Lage, über die ornamentale Gestaltung der Töpfe zu reden.
Es gab drei nach Grösse und Zweck unterschiedene Arten Töpfe. Einmal
die mächtigen mawukúru der Mehinakú, in denen die zerriebene Mandiokawurzel
gekocht wurde; sie hatten einen Durchmesser von fast ¾ m. Wir haben keinen
dieser Töpfe heimbringen können, aber bei den Auetö́ eine Photographie auf-
genommen, aus der ihre Gestalt und, da ein Mann — von Rechtswegen hätte
es eine Frau sein sollen — daneben hockt, auch ihre Grösse deutlich wird. Vgl.
Tafel 15. Die grössten und schönsten Töpfe werden von den Waurá geliefert.
Beim Kochen wurden sie auf drei niedrige Thonfüsse gestellt von zilindrischer,
unten anschwellender Form.
Eine zweite Art, der Kochtopf für Obst und kleine Fischchen, hatte einen
Durchmesser von 18—20 cm, eine Höhe von etwa 12 cm; er war rund, mit ziem-
lich steiler, leicht ausgebauchter Wandung und hatte zuweilen einen 2½ cm
breiten, wagerecht nach aussen umgebogenen Rand. Diese Töpfe waren nicht,
wie man vermuten sollte, die gewöhnlichsten, sondern die seltensten. Ich glaube
kaum, dass in jedem Wohnhaus einer vorhanden war. Das Kochen spielte keine
Rolle ausser für die Mehlbereitung, und dazu bedurfte man der grossen Kessel. Da-
gegen war eine dritte Art ziemlich zahlreich zu finden. Dies sind die vielgestaltigen
Wärm- und Essnäpfe von 10—24 cm Durchmesser, die auf den beiden Tafeln
»Keramische Motive« 23 und 24 in typischen Beispielen dargestellt sind. Ein
Blick auf die beiden Tafeln lehrt die wichtige Thatsache, dass die Grundform
dieser mit Randzacken besetzten Töpfe die der rundovalen Gefässfrucht ist, deren
v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 16
[242]Wölbung sie beibehalten haben, obwohl man für den Topf einen platten
Boden wünschen sollte. Die Wölbung aber hat wiederum das plastische Motiv
des Tierkörpers ermöglicht. Diese Thonnäpfe, wie man sie wohl am besten
nennen würde, waren auch keineswegs zahlreich in den Häusern vorhanden.
Am wenigsten sahen wir von ihnen bei den Auetö́ und Kamayurá. Von den
Trumaí erhielten wir nur zwei kleine Rundtöpfchen, allein hieraus folgt Nichts,
da sie auf der Flucht waren. Wir fahndeten wegen des künstlerischen Wertes
auf jedes Exemplar, wir haben in unserer Sammlung einige 80 mitgebracht, und
wenn ich nun schätze, dass in den von uns besuchten Dörfern doppelt so viele
überhaupt vorhanden gewesen wären, so bin ich sicher, eine zu grosse Zahl zu
nehmen. Es werden durchschnittlich kaum 3 Töpfchen auf jedes Haus kommen.
Die Kuyen behaupteten noch den Vorrang. Es gab da natürlich jeden Uebergang
in der Grösse wie im Gebrauch zu den kleinen Kochtöpfen. Man ass aber
immer auch aus den Thonnäpfen, während man den Inhalt der Kochtöpfe ver-
teilte. Mit Vorliebe gebrauchte man die Thonnäpfe für die Kinder.
Wie Kesseltöpfe geformt wurden, haben wir leider nicht beobachtet. Wir
haben nur die äusserst einfache Art gesehen, wie eine Mehinakú-Frau im Nahuquá-
Dorf einen kaum mittelgrossen Topf machte. Sie brachte einen mit Lehm
gefüllten Korb herbei — er interessierte mich mit Rücksicht auf die Entstehungs-
geschichte der Töpfe mehr als alles Andere — setzte dem Thon Wasser zu und
drückte das überschüssige durch ein Sieb aus. Sie formte knetend und streichend
und brauchte bei der Kleinheit des Topfes die Wandung nicht aus den sonst
allgemein beschriebenen, übereinander gelegten dünnen Thonzilindern aufzubauen.
Sie glättete die Wand mit einem Stück Kuye, nicht mit einem Stein. Die
ornamentalen Randzacken, die Körperteile eines Tieres darstellten, modellierte
sie und setzte sie dann an; mit einem Bambusstäbchen ritzte sie Augen und Nase
ein. Als Modell für den Topfboden nimmt man gern einen alten ausgebrochenen
Boden oder eine Beijúschüssel.
Der Thon ist weissgrau bis graugelb. Nur die Waurá-Töpfe haben einen
schönen hellroten Thon. Der neue Topf wird in der Sonne ordentlich getrocknet
und alsdann umgestülpt auf ein stark russendes Feuer gesetzt; es wird dafür die
grüne Rinde eines Kampbaums genommen, den die Bakaïrí kutére nennen, oder
des mit klebrigem Harz getränkten Guanandí (Calophyllum). So wird der Topf
wie der Kürbis innen geschwärzt.
[[243]]
X. KAPITEL.
I. Das Zeichnen.
Ursprung aus der zeichnenden Geberde. Beschreibendes Zeichnen älter als künstlerisches. Sand-
zeichnungen. Bleistiftzeichnungen. Erklärung der Tafeln. Profilstellung. Proportionen.
Fingerzahl. Rindenzeichnungen.
Die einfachste Zeichnung, die wir beobachten können, ist wohl diejenige,
die unmittelbar an eine erklärende Geberde anknüpft. Wie der Eingeborene zur
Veranschaulichung für den Gehörsinn geschickt die charakteristischen Stimmtöne
eines Tieres wiedergiebt und bei irgendwie belebter Erzählung dies zu thun immer
versucht ist, so ahmt er das Tier auch für den Gesichtssinn in Haltung, Gang,
Bewegungen nach und malt zum besseren Verständnis irgend welche absonderlichen
Körperteile wie Ohren, Schnauze, Hörner in die freie Luft oder, indem er seine
eigenen Körperteile mit der Hand entsprechend umschreibt. Die zeichnende Ge-
berde geht dem Nachahmen der Tierstimme auf das Genaueste parallel. Sobald
aber das Verfahren nicht ausreicht, zeichnet man auf die Erde oder in den Sand.
Ich habe bei der Aufnahme der Wörterverzeichnisse mich ausserordentlich oft
überzeugen können, dass sich die innere Anschauung unwillkürlich und ohne von
mir dazu herausgefordert zu sein, in eine erklärende Sandzeichnung umsetzte.
Es geschah freilich zumeist, wenn auch die Gestalt des Tieres besonders dazu
geeignet war, wie bei Schlangen, einem Alligatorkopf und bei Fischen, wo
ausserdem eine Stimme nicht nachgeahmt werden konnte. Es ist ferner ohne
Weiteres zuzugeben, dass der Antrieb für den Bereich des Gehörsinns bei diesen
Jägern ungleich kräftiger wirkte, und auch, dass man sich für den Gesichtssinn
im Verkehr untereinander gewiss auf die zeichnende Geberde beschränkte. Ja,
wirklich beschränken konnte. Mir gegenüber trat der Gedanke hinzu: »wie wollen
wir, da der Mann unsere Sprache nicht versteht, in diesem Fall nur hinreichend
deutlich sein?« und man zeichnete in den Sand.
Es genügt, wenn man aus dem Verhalten der Indianer zu schliessen berechtigt
ist, dass sich die zeichnende Geberde auf einer Stufe, wo sie noch eine nicht un-
wesentliche Ergänzung der Sprache bildet, mit Leichtigkeit zu wirklichem Zeichnen
16*
[244] verstärkt. Wir sehen, und das ist das Wichtige, dass hier bei Naturvölkern das
Zeichnen, wie die Geberde gebraucht wird, um eine Mitteilung zu machen und
nicht, um zierliche Formen wiederzugeben, und ich glaube nach dem persönlichen
Eindruck, den ich von der Unmittelbarkeit des erklärenden Zeichnens gewonnen
habe, dass es älter ist als das ornamental-künstlerische. Man wendet vielleicht
ein, die Schingú-Indianer seien bereits Künstler, die alles Gerät mit Zeichnungen
und Ornamenten bedecken, und deshalb liege ihnen das Ausdrucksmittel der
Zeichnung besonders nahe. Darauf kann ich nur erwidern, dass die Bororó, die
ich überhaupt in diesem Zusammenhang vorgreifend mehrfach erwähnen möchte,
zwar prächtigen Federschmuck verfertigten, aber von den darstellenden Künsten
so gut wie Nichts wussten, und dass nun eben sie eine grössere Geschicklichkeit
und grössere Lust hatten, zur Erklärung in den Sand zu zeichnen, als die Schingú-
leute. Sie waren jedoch unstäte Gesellen, die von der Jagd lebten, sie hatten nie
die Musse gefunden, Malerei und Plastik zu üben wie jene, die zwar noch Jagd
und Fischfang trieben, aber schon zu sesshaftem Feldbau vorgeschritten waren.
So sage ich, das mitteilende Zeichnen ist das ältere. Unser deutsches
Wort »Zeichnen« spiegelt den Gang vortrefflich wieder. Am Anfang steht das
»Zeichen« und dessen sich zu bedienen, war den Jägervölkern uralte Berufsache,
in gleicher Weise den Vorfahren der Eingeborenen vom Kulisehu und denen der
vom S. Lourenço. Sie brachten mitteilende Zeichen an, um sich und Andere zu
orientieren, sie knickten die Zweige auf ihrem Pfad, zunächst um sich Raum zu
schaffen, und dann zweckbewusst, um den Weg zu markieren. Sie fanden sich
nach alten Spuren zurecht und machten, um sich zurecht zu finden, Spuren ab-
sichtlich. Der in Stein geritzte Fuss, der den Nachkommenden die Wegrichtung
anweist, ist ein Erzeugnis genau dieser Entwicklung. Der Fortschritt von der
Baummarke zur dargestellten Fussspur ist der von der Kerbe zum Umriss, von
dem Zeichen zur Zeichnung, und er vollzieht sich durch die Vermittlung der
Geberde, die auch erklärt und mitteilt, aber eben mit Umrissen erklärt und mit-
teilt; nun konnte die Geberde, die vorher nur in der Luft beschrieben wurde,
z. B. im Sand ein dauernd sichtbares Bild hinterlassen.
Auch das Vergnügen an der darstellenden Nachahmung, von dem alle selbst-
ständige Weiterentwicklung abhängt, ist bis zu einem gewissen Grade schon bei
jenem Anfang helfend thätig, denn die Geberden sind um so lebhafter, je mehr
das der innern Anschauung vorschwebende Objekt Interesse erregt. Ja, rein zum
Vergnügen, dass sich nicht minder mitteilen will als praktisches Bedürfnis, hat auch
schon der kulturärmste Mensch die Orte seiner Anwesenheit markiert; darin braucht
man ihn wahrlich nicht — andere Völker, andere Sitten — seinem getreuen vier-
beinigen Jagdgenossen nachzustellen. Gerade in Brasilien ist durch geheimnisvolle
Deutungen der »Bilderschriften« unendlich viel Unsinn zu Tage gefördert worden,
und ich freue mich, dem Widerspruch Richard andree’s gegen diese Manie, in
jeder müssigen »Verewigung« eine wichtige Mitteilung zu vermuten, voll beipflichten
zu können. Gewiss denkt man sich etwas bei einem Einfall, den man in einer
[245] Zeichnung, so gut als bei einem, den man in Worten wiedergiebt, aber mit dem
Spass, den er macht, ist man auch vollständig zufrieden und dieser ist nur
grösser, wenn er trotz der Schwierigkeiten des Materials gelingt. Auf
Zeit kommt es dabei nicht an; ein Einfall wird dadurch nicht tiefsinnig, dass man
ein paar Monate lang tief in Stein schneidet. Dass die Indianer die Fähigkeit
besässen, sich in »Bilderschrift« auszudrücken, will ich keineswegs bezweifeln — ich
habe selbst gesehen, wie ich sogleich berichten werde, dass sie durch Bilder Mit-
teilungen machten. Dass den Felszeichnungen aber der Sinn einer zusammen-
hängenden Mitteilung fehlt, geht aus der grossen Regellosigkeit hervor, in der die
Bilder über den Raum zerstreut sind; man sieht deutlich, die eine Person hat
diesen, die andere jenen Beitrag geliefert, der deshalb, weil wir das betreffende
Bild nicht immer zu erklären vermögen, nichts Besonderes zu bedeuten braucht.
Die Regellosigkeit ist weit stärker, als sie in den Reproduktionen erscheint, weil
wenigstens in den meisten Fällen nur eine Auswahl der Bilder geliefert wird, da-
gegen die dem Sammler gleichgültig erscheinenden und für die Erklärung des
Ganzen doch sehr wichtigen Nebendinge, z. B. Schleifrillen für Steinwerkzeuge,
ausgelassen werden. Ausnahmen aber mag es ja geben.
Nun darf ich wohl zur einleitenden Uebersicht schon weiter skizzieren, was
ich nach meinen Beobachtungen über den ferneren Entwicklungsgang der Schingú-
Kunst folgern zu müssen glaube. Nachdem man aus sich selbst heraus dazu ge-
kommen war, Umrisse der die Aufmerksamkeit lebhaft beschäftigenden Dinge zu
gestalten, nachdem man so gelernt, äussere Bilder der inneren Anschauung zu
sehen und den Begriff des Bildes erst erworben hatte, da hat sich bei jedweder
Technik bis zu der des Flechtens herunter die Herz und Sinn erfreuende Neigung
geltend gemacht, die bei behaglicher Arbeit entstehenden Aehnlichkeiten zu
allerlei interessierenden Originalen der Natur zu bemerken, sie zu steigern und
neue hervorzurufen. Besonders bei den Töpfen werden wir den Zusammenhang
zwischen der Form des Gefässes und dem Motiv der Nachbildung deutlich er-
kennen. Aus diesen konkreten Nachbildungen endlich ist bei einer sich vom
Original mehr und mehr in künstlerischem Sinn entfernenden Tradition unter
dem Einfluss je der Arbeitsmethode und des Arbeitsmaterials das stilisierte
Kunstwerk geworden, das im Geist unserer Indianer noch auf das Engste mit
dem älteren Abbild verknüpft ist. Im Gebiet der Malerei begegnen wir solchen
Erzeugnissen in der Form der geometrischen Ornamente. Punkte und Striche
können dem alten Markieren gleichwertig sein. Aber schon so »einfache« Figuren
wie Dreiecke und Vierecke, von denen man glauben möchte, dass sie freiweg
auch von dem primitivsten Künstler konstruiert werden könnten, sie sind erst
durch Stilisierung aus Abbildungen entstanden, und haben nur, da sie sich der
Technik von selbst als Typen empfahlen, im Kampf um das Dasein mit kom-
plizierten Gebilden wie spielend den Sieg davongetragen.
Nun noch ein Wort über die Motive unserer indianischen Kunst. Sie sind
ganz ausschliesslich dem Tierreich entlehnt. Andree hebt in seinem bekannten
[246] Aufsatz über »Das Zeichnen bei den Naturvölkern«*) hervor, dass die Pflanze
nur selten eine Rolle spielt und fügt hinzu: »Um zum Verständnis dieser Er-
scheinung zu gelangen, brauchen wir uns blos daran zu erinnern, dass auch bei
unsern Kindern, wenn sie die ersten selbständigen Versuche zum Zeichnen auf
der Schiefertafel machen, zunächst Tiere und Menschen in rohen Formen dar-
gestellt werden; das lebendige bewegliche Tier fesselt eher ihre Aufmerksamkeit,
ist in seiner ganzen Figur auch schneller zu erfassen als die aus zahlreichen
Blättern und Blüten bestehende Pflanze.«
Diese zutreffende Bemerkung steht im besten Einklang zu dem Zusammen-
hang von Geberde und Zeichnen, den ich behaupte. Durch Geberden ahme ich
ein Tier nach, keinen Baum, und nicht nur deshalb, weil dieser sich nicht aktiv
bewegt. Denn durch Geberden Teile des Tierkörpers zu umschreiben, wird mir
leicht, weil ich dabei, von meinem eignen Körper ausgehend, wenn ich z. B. ein
paar Eselsohren oder ein Geweih zeichnen wollte, sofort den Platz und die Art
des Organs angebe, dagegen vermag ich Pflanzenteile durch Geberden nicht aus-
zudrücken, es sei denn, dass ich Worte zu Hülfe nehme. Indessen ist bei unsern
Indianern das Zeichnen nur ein Spezialfall, das Tiermotiv beherrscht seine ganze
Gedankenwelt in jeder Kunst und Wissenschaft, wie sie auch heisse, und dafür
kann es keinen andern Grund geben als sein Jägertum.
Dem formellen oder ästhetischen Interesse am Tier geht das materielle
voraus. Die Blume steht in der Kunst genau so in zweiter Linie, wie sie es
beim Schmuck thut: erst die Feder im Ohr und dann das Sträusschen am Hute.
In der »Bilderschrift« des Virador in Rio Grande do Sul sah ich Araukarien dar-
gestellt. Eine Palme wäre gerade so leicht zu zeichnen als eine Fichte, aber
keine Palme liefert im Norden eine so unentbehrliche Nahrung wie die Araukarie
früher dem »Bugre« jener Südprovinz. Ehe die Kunst, wenn ich den Sinn des
Satzes ein wenig variieren darf, nach Brod ging, ist sie nach Fleisch und Fisch
gegangen. Ich werde auf dieses Thema namentlich bei den keramischen Kunst-
erzeugnissen zurückzukommen haben.
Sandzeichnungen. Sie sind wie Worte zunächst eine Form der Mitteilung.
Wie die beschreibende Geberde sich gern und leicht zum Bild vervollständigte,
habe ich berichtet. Am häufigsten war Kartenzeichnen. Unsere zweite Reise
ist durch die Sandzeichnung der oberen Schingúverteilung, mit der der Suyá-
geograph seine Angaben erläuterte, entstanden; vgl. S. 153. »Er zählte alle die
Stämme auf, welche an dem obern Schingú sesshaft sind, er zeichnete, um recht
deutlich zu sein, mit dem Finger den Flusslauf in den Sand. Zu unserer grössten
Ueberraschung malte er den Batovy, den einzigen, den er so und zwar ganz aus
eigener Initiative so darstellte, mit korkzieherartig gewundenem Lauf.« (»Durch
Centralbrasilien«, S. 213). Der Batovy war, wie wir zu unserm Leidwesen er-
fahren hatten, ein wahrer Mäander.
[247]
Das Gleiche sahen wir bei den Kulisehustämmen. Durch Querstriche wurde
die Anzahl markiert, bald der Stämme, bald der Stromschnellen. Kreise waren
Häuser, Kränze von Kreisen Dörfer, der wirklichen Anordnung der runden
Häuser um den grossen Platz entsprechend. Alle diese Figuren wurden auch
mit Bleistift uns in’s Buch gezeichnet, wobei die zugehörigen Wörter diktiert
wurden. Eine gewisse Individualisierung wie oben des Batovy durch Zickzack-
oder Schlangenlinien schien häufiger vorzukommen, war aber nicht von uns zu
kontrollieren. Sie hat nichts Auffallendes nach dem, was wir Seite 133 von dem
Kartenbild im Kopfe des Indianers gehört haben. So sehen wir in der Ab-
bildung 33 eine Bleistiftzeichnung von Flussläufen, die ein Bakaïrí Wilhelm in’s
Bleistiftzeichnung von Flüssen. (⅔ nat. Gr.)
Von oben nach unten: kuluéne, kanakayutuí, auiná, auiyá, paranayubá, pareyutó.
Skizzenbuch machte; von den Namen kennen wir nur den des Kuluëne, des
Hauptquellflusses, paranayubá ist Tupí = gelber Fluss. Auch wurden, um an
Bächen liegende Dörfer zu versinnbildlichen, Zickzacklinien gezeichnet, denen je
eine Reihe von Kreisen entlang lief. Sie malten am liebsten ganze Seiten voll.
Ein mit parallelen kurzen Strichen bedecktes Blatt war den Stromschnellen ge-
widmet. Dazwischen wurden im Geplauder andere Angaben gemacht, z. B. die ver-
schiedenen Wörter aufgezählt, mit denen verschiedene Stämme »Wasser« oder »Beijú«
benannten. Kreise auf dem Boden bezeichneten bei den Nahuquá die Stelle, wo
unreif vom Baum gefallene Pikífrüchte, die apfelrund sind, eingegraben waren.
Auf der Rückfahrt kam unser Kanu eines Tages an einem Sandstrand
vorbei, den die indianischen Begleiter schon vor uns passiert hatten; zu unserem
[248] Erstaunen sahen wir dort zwei Fische in den Sand gezeichnet, die Antonio für
Matrinchams erklärte. Wir machten Halt fischten und fingen auch Matrinchams!
Es war so gut als ob das Wort dort angeschrieben gewesen wäre, und eine
Antonio mit voller Absicht übermittelte Aufforderung, dort ebenfalls sein
Glück zu versuchen. Unklarer als dieses lehrreiche Beispiel ist mir ein anderer
Fall geblieben. Ziemlich genau in der Mitte des Weges zwischen dem Hafen
und der Ortschaft der Mehinakú fand ich einen Rochen und einen Pakúfisch in
Matrincham-Sandzeichnung.
den Sand gezeichnet. Der schmale Waldpfad
erweiterte sich an dieser Stelle zu einer kleinen
kreisförmigen Fläche. Meine Begleiter, zwei Ba-
kaïrí, setzten sich sofort nieder, auszuruhen. Ich
weiss nicht, ob ein müder Wanderer vor uns, der
dort auf der Heimkehr vom Fluss verweilt, die
beiden Tiere zum blossen Zeitvertreib oder, weil
er gerade mit Rochen und Pakús zu thun gehabt,
Rochen- und Pakú-Sandzeichnung.
so säuberlich hingezeichnet hatte, und
finde es offen gestanden ziemlich
gleichgültig, ob zufällig das Eine oder
das Andere zutrifft.
Noch unerklärlicher nach ihrem
genauen Sinn war die in den Sand
gezeichnete Kreisfigur, die in der Ab-
Sandzeichnung der
Mehinakú. (\frac{1}{130} nat. Gr.)
bildung 36 wiedergegeben ist, und die sich unter
einem schönen Baum etwa einen halben Kilometer
vor dem Mehinakúdorf befand. Sie wurde aturuá ge-
nannt und hatte 4½ m Durchmesser. Als wir das
Dorf in Begleitung mehrerer Männer verliessen, machten
sie innerhalb des Kreises einen Rundgang beiderseits
bis dicht an das Maschenwerk und sangen ka ā ā …;
auch Spuren früherer Rundgänge waren reichlich vor-
handen. Da die Männer an dieser Stelle umkehren
wollten und von den Frauen sprachen, handelte es
sich wohl hier an der Waldgrenze oder ein Viertel-
stündchen von Hause um eine Beziehung zu Ankunft oder Abschied der Gäste. Das
Maschenwerk der Zeichnung war dem Dorf zugewandt. Die beiden Bogen kommen
ähnlich als Tätowiermuster und aussen auf dem Boden der grossen Töpfe der Mehinakú
(vgl. die Tafel 15) vor. In meinem Tagebuch habe ich die Figur einige Tage früher
abgezeichnet, als mein Vetter sie gesehen hat; dort sind an Stelle des kleinen Zentral-
kreises mit den beiden Stützen zwei Kreise abgebildet, die sich berühren, der untere
ist etwas grösser und geht in das Netz über, man könnte an Kopf und Leib denken.
Die Bororó, die ich hier bereits anschliesse, lieferten nicht nur rein erläuternde,
sondern auch schon halb künstlerische Darstellungen im Sand, deren wir am Schingú
[]
Originalzeichnungen vom Kulisehu. I. ⅔ nat. Gr.
[][]
Originalzeichnungen vom Kulisehu. II. ⅔ nat. Gr.
[][]
Originalzeichnungen der Bororó. I. Nat. Grösse.
[][]
Originalzeichnungen der Bororó. II. Nat. Grösse.
[][249] keine zu sehen Gelegenheit hatten. Abends im Mondschein machte es ihnen ein
Hauptvergnügen, uns Jagdtiere und Jagdszenen in den Sand zu malen. Ich sage
»Szenen«, denn ihr Dilettantismus schreckte auch vor einer schwierigen Kompo-
sition keineswegs zurück. Sie begnügten sich aber auch nicht, in Umrissen zu
zeichnen, sie schaufelten mit der Hand den Sand aus dem Umriss des darzu-
stellenden Tieres der Fläche nach weg und füllten diese Vertiefung von der Ge-
stalt z. B. eines Jaguars oder Tapirs mit grauweisslicher Asche aus: so erhielten
sie den Körper mit seinen Extremitäten als ein weisslich schimmerndes Gemälde.
Mit dunklem Sand wurde das Auge und die Fleckenzeichnung der Haut einge-
tragen. Da die Figuren mindestens Lebensgrösse hatten, machten sie in dem
Zwielicht der Nacht einen überraschend lebendigen Eindruck; es sah aus, als wenn
riesige, schimmernde und flimmernde Felle auf dem Boden ausgebreitet wären.
Bleistiftzeichnungen. Schon 1884 haben wir die Suyá mit Bleistift in
unsere Hefte zeichnen lassen. Sie hatten selbst ihren Spass daran, waren auch
nicht ungeschickt und hielten nur überflüssiger Weise zu Anfang, ihrerseits mit
harzgetränkten Stäbchen zu zeichnen gewohnt, die Bleistiftspitze in die Flamme.
Sie zeichneten rautenförmige Muster, ähnlich denen auf ihren Kürbisschalen, die
ich damals mit dem Schema »geometrische Figuren« abfertigte. Wir haben dieses
Mal eine Reihe bestimmter Personen und Dinge abzeichnen lassen, die ungemein
lehrreich ausgefallen sind. Auf den vier Tafeln 16—19 sind die noch recht ver-
besserungsfähigen Kunsterzeugnisse peinlichst genau wiedergegeben; man findet
dort Portraits der Expeditionsmitglieder, namentlich von mir, ferner seitens der
Kulisehu-Indianer zwei Jaguare und ein Weiberdreieck mit zugehöriger Topo-
graphie, sowie seitens der Bororó einen Soldaten, eine Frau, eine Pfeife, ein
Schwirrholz, zwei Jaguare, einen vom Hund verfolgten Tapir, einen Affen, ein
Kolibri und drei Schildkröten. Die Tierbilder der Bororó sind, wie die Sand-
zeichnungen mit Asche bedeckt wurden, innerhalb der Umrisse schwarz ausgefüllt
und bekunden, dass diese Künstler schon höhere Ansprüche an sich stellten, ob-
wohl sie in ihrer spärlichen Ornamentik nicht mehr leisteten als das Schwirr-
holz zeigt.
Man wird durch die Bleistiftzeichnungen zunächst lebhaft an die Bilder aus
dem Schreibheft des kleinen Moritz erinnert. In der That sind in dem inter-
essanten Büchlein von Corrado Ricci, l’arte dei bambini, Bologna 1887, das
über Studien an vielen Kinderzeichnungen berichtet, zahlreiche Uebereinstimmungen
zu finden, und mehr als der Verfasser selbst, wenn er der Zeichnungen bei Natur-
völkern gedenkt, voraussetzt. Die Kinder beschreiben den Menschen, anstatt
ihn künstlerisch wiederzugeben, »wie sie ihn mit Worten beschreiben würden«.
Bei ihren ersten Versuchen sind sie mit den unvollkommensten Geschöpfen, die
nur Kopf und Beine haben, zufrieden, bald aber streben sie danach, den Menschen
in seiner Vollständigkeit darzustellen; sie wissen, er hat zwei Beine und zeichnen
sie, unbekümmert, ob es sich um Profilstellung oder um eine Situation zu Pferde
oder im Boot handelt. Die räumliche Anordnung ist ihnen Nebensache, die Arme
[250] können am Kopf, am Hals und gar an den Hüften sitzen, wenn sie nur da sind,
die Proportionen sind ihnen im höchsten Grade gleichgültig. Dagegen legen sie
den grössten Wert auf Attribute, die sie interessieren, und so ist das Ideal des
Knaben stets der Herr mit Pfeife oder Zilinderhut oder Flinte und Säbel, das
Ideal des Mädchens die Dame mit dem Blumenstrauss oder dem Sonnenschirm,
unerbittlich nach der neuesten Mode gekleidet.
Auch die Indianer beschreiben. Ich kann mich auf ihren Standpunkt
sofort versetzen, wenn ich mir die Aufgabe vorlege, aus dem Kopf und ohne
besonderes Nachsinnen eine Karte von Afrika zu zeichnen. Dann bringe ich ein
schief birnenförmiges Ding zu Papier, ziehe im dicken Teil rechts eine senkrecht
von oben nach unten und links eine quer verlaufende Schlangenlinie, sowie etwas
tiefer eine Bogenlinie: Nil, Niger und Kongo, flicke endlich einen Stiel hoch oben
rechts an, die in der Luft schwebende Landbrücke nach Arabien hinüber. So
würde ich einem Indianer Afrika zeichnen, meine Kollegen würden es auch er-
kennen. Und verlangt man Vervollständigung, so punktiere und tüpfele ich das
Oberteil aus, um die Sahara darzustellen, erinnere mich auch der neueren Forschung
und setze neben den Winkel von Nil und Kongo ein paar teils schmale, teils
rundliche Kringel ein, die Seen des dunklen Erdteils; dabei fällt mir noch das
Schmerzenskind der Kolonialpolitik ein und ein langes Inseloval erscheint, an
Grösse mindestens Madagaskar ebenbürtig, während ich Madagaskar selbst ganz
vergesse. In diesem uns gewiss leicht verständlichen Beispiel steckt die ganze
Psychologie der indianischen Bleistiftzeichnungen. Wenn ein Afrikareisender Wider-
spruch erhebt, so bitte ich ihn verbindlichst, dafür ein Bild von Südamerika zu
entwerfen. Wenden wir uns dann endlich mit diesen Erzeugnissen vertrauensvoll
an Herrn Dr. Bruno Hassenstein in Gotha, so wird dieser, so liebenswürdig er
sonst ist, dasselbe grausam mitleidige Lächeln kaum unterdrücken können, das
uns die Portraits der Eingeborenen entlockten.
Auf Tafel I vom Kulisehu stehen vier Expeditionsmitglieder nebeneinander,
eine Aufnahme aus dem dritten Bakaïrídorf. Dort bin ich erkennbar als der
grösste und mit dem längsten Bart, der zweite, mein Vetter, ist durch die ver-
wogene kleine Mütze gekennzeichnet, der dritte ist Ehrenreich mit kürzerem Voll-
bart und mir an Körpergrösse am nächsten, der vierte, ganz klein und niedlich,
ist Leutnant Perrot, dem man einen geringeren Rang zuschrieb, weil er bei den
Untersuchungen zurückstand. Ich habe hier wie an den meisten Zeichnungen
die Probe gemacht und sie andern Indianern nachher vorgelegt, mit der Frage,
wer das sei? Sie bestimmten die Personen richtig, hoffentlich nicht nach der
Aehnlichkeit, sondern nach den als auffällig gegebenen Merkmalen. Wirklich ganz
befriedigend auch für unsere Ansprüche, sind (Bororó II) die Schildkröten und
der Tapir der Bororó, während der verfolgende Hund wohl nur erkannt werden
konnte, weil er ein hinter dem Tapir herlaufender Vierfüssler war, der wegen des
Schwanzes und des mangelnden Rüssels ein zweiter Tapir nicht sein konnte.
Der Schluss per exclusionem muss oft mithelfen.
[251]
Interessant sind (Kulisehu II) die beiden von einem Nahuquá gemachten
Konterfeis, die mich darstellen. Der Mann zeichnete merkwürdiger Weise zuerst
eine Horizontallinie, die ununterbrochene Schulterlinie und die Oberarme ent-
haltend, setzte eine Art Halbkreis darauf, zwei schräg gekreuzte Linien darunter
und reichte mir dieses nichtswürdige Bild als fertig zurück. Hiergegen empörte
ich mich, ich machte ihn darauf aufmerksam, dass ich mit Augen, Ohren u. s. w.,
normal ausgestattet sei und verlangte eine neue gänzlich umgearbeitete Auflage,
die er, mich aufmerksam betrachtend, auch anfertigte. Er schlug nun in’s
andere Extrem um und zeichnete mehr, nicht nur als er sah, sondern auch als er
hätte sehen können.
In ähnlichem Kontrast sind die beiden von zwei verschiedenen Leuten ge-
zeichneten Bilder oben auf der Bororótafel I: rechts bin ich ohne Arme und
Füsse geboren, links erscheine ich auf das Liebevollste ausgeführt und ausgestattet.
Hier habe ich ausser allen Gliedern, einschliesslich — wie auch bei der Indianerin
Bororó II — knubbelförmiger Gelenke: Mütze, Pfeife, Notizbuch, Gürtel und
Schuhe. Ebenso sind dem lustigen Kerlchen darunter, meinem Vetter, Mütze,
Pfeife und der schöne Hirschfänger mitgegeben. Kinder, denen das Rauchen an
sich merkwurdig erscheint, würden der Pfeife einen kräftigen Qualm entsteigen
lassen, die Indianer aber interessierte nur das Gerät. Rechts in der Ecke der
brasilische Soldat hat eine Uniform mit drei Knöpfen erhalten, das heisst nur
den Rock, aus dem die gewöhnlichen Armstriche ärmellos austreten. Die armlose
Figur darüber ist die einzige, bei der es versucht ist, unsern Beinkleidern gerecht
zu werden, sogar auf Kosten der Füsse.
Das Hauptattribut der Männer, namentlich bei den äusserlich sparsamer
ausgestatteten Porträts Kulisehu I und II, ist das ihnen von der Natur zuerkannte.
Da haben wir völlig Kinderstandpunkt, dass es dem Zeichnenden einerlei ist, ob
er das auch mit Augen sieht, was er sich für verpflichtet hält anzubringen, weil
er weiss, dass es da ist. Für den unbekleidet gehenden Indianer liegt hier das
charakteristische Merkmal und so giebt er es; er fügt es sogar zu, wo er aus-
drücklich die Kleidung zeichnet, vgl. den Soldaten. So ist auch häufig der Nabel
berücksichtigt. Ja der Nahuquá, von dem ich Vollständigkeit verlangte, (Kuli-
sehu II), mochte nun selbst den After nicht vergessen.
Die räumliche Anordnung ist den Indianern nicht ganz so nebensächlich
wie den kleinsten Kindern, allein es wird Merkwürdiges darin verübt. Dass die
Pfeife (Bororó I) neben dem Mund steht, will Nichts besagen, wenn man in
demselben Bild den Schnurrbart über den Augen erblickt. Ich würde ihn
als ein paar vereinigter Brauen, was Göthe Räzel nennt, angesprochen haben,
allein ich wurde ausdrücklich belehrt, dass der Strich den Schnurrbart vorstelle.
Bei der kleinen Mittelfigur darunter ist Gleiches der Fall. Und die Bakaïrí thun
dasselbe mit dem ungewohnten Schnurrbart. Auf der Kulisehu-Tafel II links
unten sehen wir den Schnurrbart unter der nachlässig durch einen Querstrich
vom Kopfrund abgeschnittenen Mütze, und, durch eine grosse Nase von ihm ge-
[252] trennt, bleibt der Kinnbart ganz innerhalb des Gesichtes. Dieser Kopf ist genau
meine Karte von Afrika mit den gleichmütig nördlich oder südlich von den
Kongo- und Nilquellen eingetragenen Seeen, ohne jedes Verhältnis erscheinen wie
meine Landenge von Suez der fürchterliche Halsstrich, wie meine Sansibarinsel
die ungeheuern Ohrwatscheln. Und nachdem ich von einem hochgestellten
deutschen Beamten gehört habe, dass Brasilien und Rio de Janeiro auf der West-
seite des Kontinents am Stillen Ozean liegen, gebe ich mich auch damit zu-
frieden, dass die Bakaïrí, vgl. Kulisehu-Tafel I, den Herren Ehrenreich und Perrot
den Schnurrbart gar oben auf dem Kopf aufsitzen lassen. In diesen beiden
Fällen war der Schnurrbart nachgetragen worden. Die Indianer selbst rupfen
alles Barthaar aus und gleichgültig, wo das Barthaar sitzt, unterscheiden sie nach
ihrem ersten Eindurck, ohne sich genauere Rechenschaft zu geben, ein hängendes
und ein quer liegendes Barthaar, sie geben jenes, wenn sie nicht (vgl. Bororó I
und die Nahuquá-Zeichnung Kulisehu II) die Haare in grösserer Anzahl einzeln
zeichnen, durch eine nach oben offene, dieses durch eine nach unten offene Bogen-
linie wieder. Das Wo kümmert sie nur für die gröbste Topographie, der
Bart bleibt ja bei Kopf und Gesicht, und, worauf es ihnen ankommt, ist nur,
dass sie das Merkmal überhaupt bringen. Wenn es ihnen einfällt, den After
zu zeichnen, so setzen sie ihn auch in die Vorderansicht, obwohl sie hier doch
die Erfahrung, die ihnen beim Bart mangelt, dass er an eine andere Stelle gehört,
haben müssen.
Was fehlt, was da ist, es hängt vom Interesse ab. Der Kopf, der Bart,
die Sexualia werden mit Lust und Liebe gezeichnet — mag das Uebrige sehen,
wo es unterkommt, oder wegbleiben. Wirft man nicht dem grössten Meister des
Bildnisses und genialsten Charakteristiker der Physiognomie vor, dass er die
Hände vernachlässigt? Die Gegensätze berühren sich, Franz Lenbach und die
Kulisehu-Indianer sind Zeitgenossen. Nehmen diese oder die Bororó den Bleistift
zur Hand, so machen sie ihre mehr oder minder vollständigen Angaben, ihre
Aufzählung der Körperteile, und was sie interessiert, wird betont, was sie in dem
Augenblick gleichgültig lässt, wird salopp behandelt oder ausgelassen. Bei den
Tieren sind die Umrisse wichtig, Augen hat nicht eines von allen uns überhaupt
gezeichneten mit Ausnahme der in den Sand gezeichneten Fische, vgl. Abbil-
dung 34 und 35; bei diesen kommt man wol eher dazu, weil der Kopf, nur
durch den Kiemenbogen abgesetzt, zu wenig charakterisiert erscheint. Der
Nahuquá, Kulisehu I, giebt dem Jaguar eine lauernde Stellung mit mächtigem
Katzenbuckel und dem langen Schweif, die Extremitäten bilden eine Wellenlinie:
das Bild wurde von Andern stets mühelos als Jaguar erkannt. Wenn bei allen
Bororótieren die Gesichter einfach schwarz ausgefüllt sind, so kann man dies der
malenden Manier der Zeichner zur Last legen und darauf hinweisen, dass der
ganze übrige Körper ebenso behandelt ist, aber auch der Bakaïrí auf der Kuli-
sehu-Tafel I verkritzelt das Gesicht seines Jaguars. Die Indianerin, Bororó II, die
von sämtlichen Figuren die besten Proportionen zeigt, hat einen ganz verkritzelten
[253] Kopf. Ueber dem schönen, den Rumpf bedeckenden Bart der Mittelfigur unten,
Bororó I, sind Augen, Nase, Ohren vergessen, die Beine sind zu Käferzangen ver-
kümmert. Bei keinem der fünf Bakaïríporträts ist der Mund gezeichnet, bei
keinem fehlt die Nase, die der Bakaïrí durchbohrt. Dagegen kann es dem
Bororó, der die Unterlippe durchbohrt, nicht geschehen, dass er den Mund aus-
lässt, während er die Nase zweimal vergessen hat.
Profilstellung, in der Kunst der Kinder so beliebt, fehlt bei den indianischen
Zeichnungen der Menschen und ist bei den vierfüssigen Tieren konstant. Jenes
ist zu bedauern, da der Vergleich mit den Fällen fortfällt, wo die Kinder dem
Profil zwei Augen und nun, wenn sie sich erinnern, dass die Nase zwischen den
Augen sitzt, gelegentlich auch zwei Nasen geben, wo sie ferner die Arme, deren
man ja zwei vorzeigen muss, auf der zugekehrten Seite doppelt anbringen und
dergleichen mehr. Hoffentlich wären diese Leistungen des kindlichen Gemüts
den Indianern doch schon unmöglich. Immerhin haben wir unter den Sand-
zeichnungen ein der kindlichen Kunst genau entsprechendes Beispiel aufzuweisen.
Der Matrincham (Abb. 34) besitzt zwei Augen neben dem Kiemenbogen; ebenso
ist der Pakú (Abb. 35) im Profil mit zwei Augen gezeichnet. Dass es Profil-
stellungen sind, geht bei dem Matrincham hervor aus der Angabe der Seitenlinie,
des Kiemenbogens, (gerade wie bei den Holzfischen), der Flossen- und endlich, was
auch für den Pakú zutrifft, der Schwanzstellung. Bei dem Rochen sind die zwei
Augen berechtigt, da der Indianer das Problem, ihn von der Seite zu zeichnen,
natürlich vermeidet.
Auf Kulisehu-Tafel II befindet sich die Zeichnung einer Arm-Tätowierung,
die wir in Cuyabá bei einem Manne des am oberen Tapajoz wohnenden Tupí-
stammes der Apiaká beobachteten, und die ich hier in Parenthese anfüge. Hier
sind genau wie bei Kinderzeichnungen von »Reitern zu Pferde« die zwei Beine
auf derselben Seite. Die Beine des Pferdes sind genau gleich denen des Jaguars,
Bororó II, hintereinander gestellt. Schön sind auch die langen Ohren des Tieres.
Warum sind alle Menschen en face, alle Vierfüssler im Profil gezeichnet?
Der Grund kann nur der sein, dass bei jenen der Umriss als selbstverständlich
gegeben gleichgültig und die Charakteristik der nach beiden Seiten zu verteilenden
oder in ihrer ganzen Breite von vorn besser zu beurteilenden Details, bei diesen
der im Profil leichter zu kennzeichnende Umriss entscheidend war. Der Affe,
Bororó II, nach Beinen und Schwanz Profil, zeigt die Arme symmetrisch, kann
aber mit Drehung des Oberkörpers nach vorn aufgefasst sein. Der Jaguar mit
dem getüpfelten Fell ist von einem Mann gezeichnet worden, der sich offenbar
bewusst war, dass das Tier an einer Seite nur zwei Beine hat: er liess die
Beine der rechten Seite aus.
Die Proportionen sind mangelhaft. Pfeife und Notizbuch der Hauptfigur
Bororó I standen in Wirklichkeit in umgekehrtem Grössenverhältnis. Es störte
den Künstler in keiner Weise, dass Rumpf und Extremitäten sich verhielten wie
bei einer emporgerichteten Eidechse. Prächtig ist auch das Missverhältnis auf
[254] Kulisehu-Tafel II bei dem Nahuquáporträt. Während der Hals mehrfach einer
Stange ähnelt, geht hier die Schulterlinie wie auch bei Perrot, Kulisehu I, quer
durch die Mundgegend. Sie verbreitert sich zum Fünffachen der Hüftbreite, die
allerdings in der ersten Auflage nebenan sogar auf einen Punkt zusammenschrumpft.
Die Beine kommen überall am schlechtesten fort. In der schlimmsten Missgeburt,
Kulisehu II links unten, fehlen sie, nach der sonstigen Lage der Sexualia zu
urteilen, und die Zehen sitzen am Rumpf. Man könnte, wenn nur dieses eine
Bildnis vorläge, die Seitenlängsstriche auch für Beine erklären, die in der Achsel-
höhe entsprängen, allein der Rumpf ist seltsamer Weise bei allen Kulisehuporträts
unten nicht geschlossen, ja bei meinem und Wilhelm’s Porträt, Kulisehu I,
auch nicht der Kopf! Nur der Nahuquá behandelt, wenigstens in seiner ersten
Aufnahme, den Leib als ein Dreieck. Die Seitenkonturen des Rumpfes schwenken,
ohne sich zu vereinigen, im Winkel nach aussenhin ab — bei Wilhelm, Kulisehu I,
fast horizontal — erhalten nach kurzem Verlauf, ohne Knie, ohne Fuss, am Ende
jederseits ein Strichelchen angesetzt, und diese dreizehigen Hühnerläufe sind
dann menschliche, sind meine Beine. »Du gleichst dem Geist, den du begreifst,
nicht mir!« Bei ihrer Kürze sind die Beine meist noch ungleich, auch wo der
Rumpf geschlossen ist, vgl. den fidelen Wilhelm, Bororó I.
Die Zahl der Finger und Zehen verdient besondere Aufmerksamkeit.
Sollte Jemand von uns, der Jäger ist, einen Hirschkopf skizzieren, so wird er
darauf bedacht sein, ihn mit einer bestimmten Geweihform, welche immer ihm
grade vorschweben mag, auszustatten. Ein beliebiger Anderer dagegen achtet
kaum auf ein Weniger oder Mehr der Sprossen, nicht einmal, wenn er ein vor-
handenes Vorbild flüchtig abzeichnet, er ist zufrieden, wenn er eine Anzahl
Sprossen in einer sehr fragwürdigen Art der Verästelung dem Kopf aufgesetzt
hat. Nur wird es seinem Anspruch an ein Hirschgeweih nicht genügen, zwei
Gabeln zu zeichnen, er wird mindestens je drei Sprossen anbringen. Ebenso
wenn ich eine kleine Tanne schematisiere, so sind hier mein Minimum drei Paar
an einem Vertikalstrich symmetrisch angesetzter Schrägstriche, das Ganze unten
durch eine Horizontallinie abgeschlossen; zwei Paar würden schon ein Bäumchen,
aber noch kein Tännchen sein. Also ohne dass ich zähle, liefere ich doch meiner
innern Anschauung gemäss ein Minimum von Teileinheiten. Unsere auf die
Fünfzahl der Finger früh eingedrillten Kinder werden ihr schon bei Zeichnungen
gerecht, die sonst die gröbsten Sünden enthalten, und wo sie noch nicht daran
denken, die Hand wiederzugeben, zeichnen sie bereits richtig fünf Finger. Bei
Zeichnungen der Naturvölker, begegnen wir der Unsicherheit über die Fingerzahl
und namentlich der Dreizahl der Finger mit einer Regelmässigkeit, dass wir hier
wie bei dem Hirschgeweih und der Tanne ein Gesetz anerkennen müssen. Sie
haben sicherlich nicht 1, 2, 3 nachgezählt, und was zu Grunde liegt, kann nur
sein, dass sie sich gedrängt fühlen, mehr als zwei Striche zu liefern, um ihre
vage innere Anschauung wenigstens soweit zu bestimmen, dass keine Gabelung
herauskommt.
[255]
Betrachten wir die fünf Bakaïríporträts, so haben wir, wenn wir die Zahlen
der Finger in den Zähler und die der Zehen in den Nenner setzen, folgende Ver-
hältnisse: , , , (Kulisehu I) und
(Kulisehu II). Ich liess mir an meiner Hand zeigen, welche Finger sie abgezeichnet
hatten; sie fassten mir Daumen, Kleinfinger und Mittelfinger an und deuteten
auf die entsprechenden Striche so, dass der Kleinfinger der innen gelegene der
drei wurde, der in meinem Konterfei von der Vierergruppe zufällig der längste
war. Ehrenreich ist mit zwei fünffingrigen Armen, Wilhelm wenigstens mit einem
solchen ausgestattet. Die untern Extremitäten haben drei Zehen mit Ausnahme
meines Porträts, Kulisehu II, wo auf einer Seite vier vorhanden sind. Der Nahuquá
auf derselben Tafel hat, nachdem seine erste Aufnahme getadelt worden war, in
der zweiten die Zahl der Finger richtig gezeichnet, freilich nicht aus dem Kopf,
sondern mit genauer Betrachtung des beleidigten Originals.
Bei den Bororó finden wir auf Tafel I, abgesehen von meinem armlosen
Porträt, Wilhelm mit je fünf Fingern, den Soldaten mit je drei und ebenso auf
Tafel II die Indianerin mit drei Fingern. Im Uebrigen ist hier ein grosser Fort-
schritt anzuerkennen. Es erscheinen nicht nur Ellbogen- und Kniegelenke in Ge-
stalt von dicken Knoten, sondern auch Hände und Füsse. Eine rührende
Sorgfalt ist auf dem klassischen Bild, das mich mit Pfeife und Notizbuch dar-
stellt, dem linken, mit der Hand zu einer dicken Masse vereinigten Daumen ge-
widmet worden: an der rechten Hand bemerken wir zu unserer Ueberraschung
sieben Finger, finden aber volle Aufklärung in dem Umstand, dass die beiden
Extrafinger das Büchlein festhalten müssen; die Beine stehen auf Schuhen, wie
auch die Wilhelm’s darunter. Der Soldat ist mit zwei Beinstrichen in den Boden
eingepflanzt. Die Mittelfigur daneben hat höchst merkwürdige Hände und Füsse,
aber hat doch welche; sie erinnern ausserordentlich an die blutsaugenden Zecken.
Man bemerkt bei ihr auch die Neigung, den Extremitäten eine zweite Dimension
zu geben. Die Füsse der Indianerin, Bororó II, sind, ein drolliger Kontrast zu
den fehlenden Händen, in vortrefflichem Umriss und in guter Horizontalstellung
gezeichnet; man würde sie für Schuhe halten, wenn ihnen nicht je drei Zehen,
kurzen Haaren nicht unähnlich, eingepflanzt wären.
Von den Tierbildern haben nur bei den Bororó Tapir und Affe gegliederte
Füsse. Die Jaguarbeine enden in runden Knöpfen — Katzenpfoten. Stets ist
der Schwanz charakterisiert, nur bei dem gefleckten Jaguar muss man sich billig
wundern über den buschigen Stummel. Bei dem fliegenden Kolibri, dessen Beine
fehlen und ja auch fehlen dürfen, sehen wir einen langen und geteilten Schwanz,
wie er bei dieser Vogelart häufiger vorkommt.
Rindenzeichnungen. Ziemlich selten, ausgenommen bei den Nahuquá, wo
sie zahlreich waren, fanden sich an dem vom Fluss zum Dorf führenden Wald-
pfad in den Bäumen menschliche Figuren eingeschnitten, das heisst in den Umriss-
linien eingeritzt oder der Fläche nach aus der Rinde abgeschält. Es waren, soviel ich
[256]
Rindenfigur der Bakaïrí.
Rindenfiguren der Nahuquá.
mich erinnere, 1887 ausschliesslich Männer,
doch haben wir 1884 eine männliche über
einer weiblichen vor dem ersten und eine
weibliche Figur vor dem zweiten Batovy-
dorf der Bakaïrí angetroffen, »mit schel-
mischer Benutzung einer in der Rinde vor-
handenen Vertiefung«. An der neben-
stehenden Rindenfigur der Bakaïrí ist durch
den Flächenschnitt ein grosser Fortschritt
im Vergleich zu den Strichzeichnungen er-
reicht. Wo die Finger deutlich ausgeführt
waren, entsprachen sie ganz den drei der
Bleistiftzeichnungen; die Zehen dagegen
waren niemals genauer behandelt. Die Beine
liefen unförmlich strumpfartig aus. Be-
sonders fielen uns die Baumfiguren an dem
Waldweg der Nahuquá auf, sie hatten Esel-
ohren ähnliche, doch etwas längere Ge-
bilde an beiden Seiten des Kopfes, die
Ohrfedern darstellten. Auch die eine oder
andere Tierfigur war vorhanden. Wenn ich
hinzurechne, dass auf dem hohlen, vor der
Festhütte des dritten Bakaïrídorfes liegenden
mächtigen Trommelbaum menschliche Fi-
guren eingeschnitten waren, so ergiebt sich
die beachtenswerte Thatsache, dass sich
die Verwendung der Menschenfigur in der
Zeichenkunst nur an Bäumen vorfand. Die
Bleistiftzeichnungen wurden meiner Auf-
forderung gemäss gemacht.
Bei den Auetö́ sahen wir Tierfiguren
im Innern der »Künstlerhütte« auf den
Pfosten eingekratzt und geschwärzt. Es
sind alles den Pfosten entsprechend lange
und meist schmale Figuren. Die erste
scheint eine Schlange zu sein, die den
Rachen aufsperrt; sie wurde nanyetá ge-
nannt. Eine gewöhnliche Schlange sehen
wir in der letzten Figur, mói der Auetö́
und Kamayurá, agáu der Bakaïrí und úi
der Töpferstämme. Wir haben ferner in
der ersten Figur der zweiten Reihe eine
[]
Bakaïrí-Ornamente I.
[][]
Bakaïrí-Ornamente II.
[][257] Eidechse, von den Auetö́ tetú genannt, teiú der Tupí und Teius des Zoologen. Da-
gegen stellt die letzte Figur der ersten Reihe trotz ihrer Windungen einen Pakú-
Fisch dar. Noch wunderbarer mutet es uns an, wenn die Leute erklären, dass die
zweite Figur, einem Käfer nicht unähnlich, der sich die Beine aneinander juckt,
eine »kleine Schildkröte« bedeute, tarikayaa-í, Emys Tracaxa. Hier sind die
beiden Beine so behandelt wie der Schwanz des Pakúfisches. Das Nachbartier
der kleinen Schildkröte, ein Vierfüssler, wurde von den Auetö́ und Kamayurá
kumayú genannt. Bei dieser Uebereinstimmung darf das Wort als ein echtes
Pfostenzeichnungen der Auetö́. (\frac{1}{15} nat. Gr.)
Schlange, Kleine Schildkröte, Kumayú, Pakú-Fisch,
Eidechse, Affe, Schlange.
Flöte
der
Mehinakú mit
zwei Affen.
(⅐ nat. Gr.)
Tokandira-
Ameise.
(frac1/12; nat. Gr.)
Tupíwort gelten. Doch lässt sich
damit nur das Stacheltier kuandú des
Tupí zusammenbringen, was lautlich
um so mehr gerechtfertigt wäre, als
yu Stachel heisst,
und nur schwer
glaublich erscheint
nach dem Bilde, das
keine Aehnlichkeit
mit dem Original
hat, und dem sogar
ein Hauptmerkmal des Tieres fehlen würde. Denn der Kuandú oder Greif-
stachler, Cercolabes prehensilis, hat einen Schwanz fast halb so lang wie sein
übriger Körper. Er ist in Brehms Tierleben, Säugetiere II, Seite 575 abgebildet,
aber ich bezweifle, dass Herr Mützel seine Illustration mit der des indianischen
Künstlers irgendwie vereinen kann.
Da ist es tröstlich, in der Mittelfigur der untern Reihe keine Schwierigkeit
zu finden. Sie stellt einen Makako oder Cebusaffen dar und ist durch die
menschenähnlichen Gliedmassen mit den üblichen drei Zehen und dem langen
Schwanz wohl gekennzeichnet. Zum Vergleich füge ich die Abbildung einer Flöte
v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 17
[258] der Mehinakú bei, wo derselbe Affe — nicht unpassend, da er selbst Flötentöne
von sich giebt — erscheint und ganz ähnlich behandelt ist, sich nur auch eines
Halses erfreut.
Auf einem Pfosten war (Abb. 41) ein sehr merkwürdiges Wesen dargestellt,
eine Art weiblicher Gestalt mit Reitkleid und Wespentaille, zweifingerigen Armen
und dreieckigem Gesicht unter einer Hutkrempe. Dies ist Cryptocerus atratus, die
Tokandira, Tokanteira, Tokangira der Brasilier, eine riesige Ameise, die nicht
gesellig lebt, sondern in Einzelexemplaren auf Baumstämmen umherspaziert.
Im Hafen der Mehinakú endlich fanden sich an den Bäumen die noch zu
besprechenden Mereschumuster.
II. Zeichenornamente.
Ornamentaler Fries der Bakaïrí. Mereschu und Uluri. Die Auetö́-Ornamente. Folge-
rungen. Verwendung der Ornamente. Kalabassen, Beijúwender, Spinnwirtel. Bemalung der Töpfe.
Ich habe auf Seite 90—91 bei dem Bericht über den Besuch im zweiten
Bakaïrídorf des grossen Wandfrieses von weiss bemalten Rindenstücken Erwähnung
gethan, der sich in dem Häuptlingshause in einer Länge von etwa 56 m und an
mehreren Stellen zweireihig ringsum zog; die Breite der Rindenstücke schwankte
etwa zwischen 15 bis 40 cm. Unser erster Eindruck war der gewesen, dass es
sich bei diesen Zickzacks, Tüpfeln, Ringen, Ketten von Rauten und Dreiecken
um ornamentale Einfälle handle, die niedlich und nett seien, die aber weiter
nichts bedeuteten. Die mit Russ geschwärzte Rinde entstammte einem Wald-
baum, den die Bakaïrí noischi nannten, der weisse, mehrfach auch gelbliche Lehm
war mit den Fingern aufgetragen, sodass man zarte Linien bei diesen Fresko-
schmierereien nicht erwarten durfte. Als ich mit den Namen der Ornamente
mein Wörterverzeichnis vermehren wollte, wurde ich überrascht, mehrere mir be-
kannte Fischnamen zu hören, sodass ich der Sache nun auf den Grund ging.
Für jedes Muster erhielt ich den Namen einer konkreten Vorlage, und je mehr
wir uns hier und bei den andern Stämmen mit den Ornamenten auf dem Haus-
gerät beschäftigten, desto mehr stellte sich heraus, dass es allüberall derselbe
Hergang war. Ehrenreich hat die Frage dann auch bei den Araguayindianern
weiter verfolgt und dort zu meiner Freude nur Bestätigung gefunden.
Auf den beiden Tafeln 20 und 21, Bakaïrí-Ornamente I und II, die von
allen Rindenstücken die charakteristischen Proben liefern, sehen wir zunächst in
den Nummern 14 und 15*) zwei gut gemalte Fische, den schon oft genannten
Lieblingsfisch der Bakaïrí, den Matrincham, und den grätenreichen Kurimatá,
[259] Salmo curimatá. Sie sind der ganzen Fläche nach aufgestrichen. Das noróku
ikúto, »Bild des Matrincham«, war geradezu elegant und flott hingesetzt. Daneben
haben wir in Nr. 13 ein ulúri ikúto, das Bild des Frauendreiecks. Und in dieser
Weise wurde jedes Ornament für ein ikúto erklärt. Zuweilen sind die einzelnen
durch kurze Vertikalstriche abgegrenzt, vgl. 3 und 4 oder 7 und 8 auf Tafel I.
Nur ein einziges Bild ist dem Pflanzenreich entlehnt, Nr. 17. Es stellt die
Blätter einer kleinen »Kohl« liefernden Waldpalme yemariáli dar, ein Wort, das
Handblatt bedeutet. Wir sehen eine Anzahl Fiederpaare abwechselnd nach oben
und unten gerichtet und geradeso angeordnet wie die Uluris in Nr. 16; für uns
macht die Abbildung den Eindruck eines Flechtmusters.
Allein unsere Deutungsversuche würden überhaupt bald Schiffbruch erleiden.
Wir bemerken unter den Ornamenten solche, wo die natürliche Hautzeichnung
eines Tieres wiedergegeben wird, solche, wo die Umrisse des Tieres gezeichnet
sind, und solche, wo Beides vereinigt wird. Nr. 6 enthält die Tüpfel- und Tupfen-
zeichnung eines Welses schurúi, dessen bunte Haut den portugiesischen Namen
»Pintado« veranlasst hat. Wir werden ihm bei den Maskenanzügen wieder be-
gegnen. Nr. 7 wurde als die Tüpfelzeichnung eines Rochen pinukái vorgestellt,
während in Nr. 2 eine zweite Rochenart schiwári (ein bei den Nordkaraiben als
schibali, sipari, chuparé u. dgl. allgemein vorhandenes Wort) mit den charakteristi-
schen Ringeln und Tüpfeln ihrer Haut auftritt.
Zickzacke und Wellenlinien sind Schlangen, denen man die Merkmale der
Hautzeichnung, die auf dem dünnen Streifen wol keinen Platz hatten, kaltblütig
in der Umgebung beifügt. So hat Nr. 12, eine gewöhnliche Landschlange oder
Cobra der Brasilier, links das Schwanzende und rechts den deutlich erkennbaren,
mir als solchen auch bezeichneten Kopf; die Tüpfel sind zwischen den Zickzacks
angebracht. Dem Künstler fiel, als er die Schlange gezeichnet hatte, noch ein,
sie durch ihre Flecken zu charakterisieren. Ein Gleiches ist in Nr. 1 bei der
Sukurí-Wasserschlange oder Anakonda, Boa Scytale, geschehen. Dagegen sehen
wir in Nr. 11, dem Bild der Boa constrictor, die in zahlreichen kleinen Dreiecken
abgesetzte Zeichnung der Schlangenhaut, sie zieht sich an den beiden Rändern des
Brettes entlang, und zwar beide mal so, dass die Dreiecke mit ihren Spitzen nach
innen vorragen und den unbemalten Grund zu einer Kette von schwarzen Rauten
umgrenzen. Die Schlange hat nach meinen Notizen einen Kopf, doch ist es
schwer zu verstehen, wie das Figurenstück links, mit dem die Zeichnung beginnt,
einen solchen darstellen soll.
Ohne Weiteres verständlich ist Nr. 5, kána igúri ikúto, das Fischgrätenbild.
Es hatte die ansehnliche Länge von 3¼ m. Der Panzerfisch Nr. 4, der mit dem
Trennungsstrich zusammenläuft, stellt grössere Ansprüche an die Einbildungskraft.
Dieser tupára der Bakaïrí ist der akará der Tupí und Acara oder Panzerwels des
Zoologen, der Cascudo der Brasilier. Dagegen werden uns in Nr. 3 die Pakú-
Fische, Prochilodus, páte-ikúto, wenn wir sie auch als Fische kaum erkannt hätten,
von dem Bild des Kurimatá her, koalú ikúto (Nr. 15), wohl verständlich. Die Fisch-
17*
[260] figur, in Nr. 15 der Fläche nach gedeckt, erscheint in 3 nur im schematischen
Umriss, der Körper wird zur Raute, der Schwanz zum Dreieck, und beide werden
in beliebiger Zahl nebeneinander oder jedes allein rein ornamental verwendet.
So sehen wir in Nr. 3 links zwei Körperrauten und ein Schwanzdreieck des Pakú,
während rechts sich drei Rauten folgen. An den beiden Rauten links setzt der
Kiemenbogen den Kopf ab, wie in den Abbildungen 34 und 35 und auch bei
Mereschu. (⅔ nat. Gr.)
den geschnitzten Rindenfischen. Dasselbe
wiederholt sich in Nr. 8, núki-ikuto, dem
Bild des nicht näher festzustellenden, nach
einem sehr ähnlichen Auetö́muster aber
vielleicht als ein Harnischwels aufzufassenden
Nuki-Fisches, wo rechts sich Dreieck, Raute,
Raute, Dreieck folgen, als ob sich zwei
Fische mit dem Maul berührten, und links
vier Schwanzdreiecke aneinandergereiht
sind. Anscheinend in der Hautzeichnung
des Nuki-Fisches ist es begründet, wenn
ihn die weiss ausgefüllten Dreiecke vom
Pakú unterscheiden. Der Pakú ist dagegen
durch kleine Tüpfel gekennzeichnet; in
Nr. 9 sehen wir links ein Musterstück
seiner Haut und rechts daneben eine Anzahl
von Körperrauten, deren jede ein Tüpfel-
chen in der Mitte hat und die wir, wenn
wir sie mit Fischen in Zusammenhang
bringen wollten, wohl zweifellos für das Bild
einer panzerartigen Schuppenhaut erklären
würden, die der Pakú gar nicht hat.
Ich muss gestehen, ich wusste nicht
recht, ob ich über unsern gutmütigen Er-
klärer lachen oder ob ich mich der Em-
pfindung der stillen Verblüfftheit hingeben
sollte, die sich in den Ausruf zusammen-
drängen lässt »wie anders malt in diesen
Köpfen sich die Welt!« Nr. 10 semímo ikuto,
Bilder von Fledermäusen! Aneinander gereihte Rauten. Kopf, Extremitäten,
Schwanz, wo sind sie? Wir werden den Fledermäusen aber auch noch in andern
Zeichnungen und besonders bei den Töpfen begegnen, wo sie zur gleichen Rauten-
form reduziert werden. Im Brehms Tierleben, I, 1890, findet sich auf Seite 363 eine
Abbildung von Vesperugo noctula, dem Abendsegler, die uns bei dem in eine Flug-
haut eingeschlagenen, allerdings hängenden Exemplar links einen einigermassen
ähnlichen Umriss zeigt; stilisiert würde er sich auch zur Raute entwickeln können. —
[261] Stellen wir nun fest, dass wir auf diesen beiden Tafeln Rauten in drei Mustern
haben: die des Pakú, entweder Kontur- oder punktiertes Flächenmuster, die des
Nuki mit diagonalen Dreiecken und die einfach gedeckte der Fledermaus. Die
Negativzeichnung der Fledermäuse Nr. 10 wäre ganz genau Nr. 11, die Boa
constrictor oder Jiboya-Schlange. Man sieht jedenfalls ein, dass man auf sehr
verschiedenem Wege zu der geometrischen Figur der Raute gelangen kann.
Mereschu und Uluri.
Merkwürdiger Weise fehlte in
dem Fries des Bakaïrí-Hauses
ein Muster, das nicht nur bei
den Bakaïrí, sondern bei allen
Stämmen des obern Schingú
das gewöhnlichste ist. Auf der
ersten Reise haben wir es häufig
genug bemerkt, haben es aber
nicht gewürdigt und verstanden.
In meinem Bericht »Durch Cen-
tralbrasilien« findet es sich
Seite 163 als Trinkschalenmuster
der Bakaïrí und Seite 213 als
Bleistiftzeichnung der Suyá in
schönster Ausprägung: Rau-
ten, deren Ecken durch
kleine Dreiecke ausgefüllt
sind. Erst nachdem die Ent-
deckung in dem zweiten Bakaïrí-
dorf gemacht worden, ergab sich
die Erklärung. Die Vorlage des
Ornaments ist ein kleiner platter
Lagunenfisch, ein Serrasalmo
oder Myletes, den Piranyas ver-
wandt. Das von Wilhelm ge-
zeichnete mass in der Länge
19 cm, in der Breite 9,5 cm
und war silbergrau mit braunen
Punkten. Kein Künstler hat je-
Mereschu-Muster, mit Bleistift gezeichnet.
(\frac{1}{1}; nat. Gr.)
mals mit einem Bild grössern Erfolg gehabt als Wilhelm mit dieser Zeichnung. Die
Leute drängten sich herbei und Alle waren geradezu glücklich, es zu betrachten. Und
dies wiederholte sich bei sämtlichen Stämmen. Sogar die Paressí in Cuyabá freuten
sich seiner und bestimmten ihn. Wir haben den Bakaïrínamen des wichtigen
Fischleins, den wir zuerst kennen lernten, für unsern Bedarf beibehalten. Das Tier
heisst in den Kulisehusprachen folgendermassen: Bakaïrí meréschu (das betonte e
[262] lang), Nahuquá irínko, Mehinakú kulupé, Kustenaú kulupéi, Waurá warjái (franzö-
sisches j), Yaulapiti marirítyi, Auetö́ pirapévit, Kamayurá tapaká, Trumaí pakí.
Ueberall hat das Muster den Namen des Fisches.
In der Abbildung 43 ist das erste und zweite Muster von den Bakaïrí, das
dritte von einem Nahuquá mit Bleistift gezeichnet. Der edle Nahuquá hat sich
die Sache genau wie mit meinem Portrait auf Tafel 17 sehr leicht gemacht,
indem er sich mit dem denkbar einfachsten Umriss begnügte, doch steht er in
dieser nachlässigen Genialität allein da. Die Nahuquá beziehen das Muster ausser
auf den Mereschu-Fisch irínko noch auf einen Verwandten Namens iru oder ino.
Aehnliches liegt wohl dem Umstand zu Grunde, dass die Waurá ein anderes Wort
haben als die Mehinakú und die Kustenaú.
Die Abbildung 44 der Bakaïrí-Holzmaske zeigt das Mereschu-Muster in typischer
Holzmaske mit Mereschu-Muster.
(Möwe, Bakaïrí). (⅙ nat. Gr.)
Weise. Gerade bei der Bemalung der
Masken spielt es die grösste Rolle. Die
Raute entspricht dem Körper des
Fisches und die vier ausgefüllten
Ecken sind Kopf, Schwanz,
Rücken- und Afterflosse. Die
Ausführung der Ecken ist verschieden
reichlich, sodass innen bald ein Acht-
eck, bald ein Viereck übrig bleibt.
Nach unserm Gefühl kann ein so
ausgefülltes Dreieck nur dem Kopf
entsprechen, die in die Raute hinein-
gezeichneten Flossen stellen wir uns
zur Not auch noch aufgesetzt und
nicht eingezeichnet vor, aber mit
dem Schwanz, der als Dreieck seine
Spitze nach innen und nicht nach aussen richten sollte, wissen wir uns vorläufig
nicht abzufinden, doch werden wir später die Erklärung finden.
Wie das Mereschu als Flächenmuster erscheint, zeigen typisch die beiden
Auetö́-Masken, Abb. 45 und 46, von denen die eine das Ornament auf Holz, die
andere auf tuchartigem Stoff aufweist. Die Mereschus sind durch Striche ein-
gerahmt, sie sind in ein Netz mit rautenförmigen Maschen eingelagert: »Fische
im Netz«, sagte der Bakaïrí. Der Ausdruck Netz ist, wie wir sehen werden,
keineswegs bildlich, sondern entspricht einem Fischnetz.
Trotz des rein ornamentalen Charakters der Figur, die unserm Sinn den
Ausdruck »Abbildung« völlig verbietet, ist der Indianer sich auf das Entschiedenste
noch der konkreten Bedeutung bewusst. Wo das Muster eine Maske oder einen
Spinnwirtel bedeckte, wurde doch immer jede Masche mit ihrem Mereschu einzeln
an das benachbarte angesetzt und keineswegs durch Kreuzung von Linien zuerst
ein Netz erzeugt. Höchstens die Auetö́, die es in der schematischen Ornamentik,
[263] wie wir sehen werden, am weitesten gebracht hatten, waren zu der reinen
Konstruktion im Stande, wie denn auch die Uebung bei einer geradezu hand-
werksmässig betriebenen Herstellung allmählich von selbst dazu führen sollte;
man sieht an der Zeichnung der Holzmaske deutlich, dass der Künstler die mathe-
Holzmaske der Auetö́. (\frac{2}{7} nat. Gr.)
Tuchmaske der Auetö́.
(⅙ nat. Gr.)
(⅚ nat. Gr.) (½ nat. Gr.)
Abb. 47. Spinnwirtel der Mehinakú.
matische Art der Raumeinteilung nicht geübt hat, während man bei der Tuchmaske
zweifeln möchte. Die Bakaïrí waren jedenfalls von jenem Fortschritt noch weit
entfernt. Auch die beiden Spinnwirtel der Mehinakú (Abb. 47), in deren einem
das Loch in der Mitte von einem Mereschu umschlossen wird, zeigen, wie die
[264] einzelnen Fische aneinander gesetzt sind, und lassen bei näherer Betrachtung
zahlreiche kleine Unregelmässigkeiten entdecken. Es machte viel Vergnügen, den
Leuten bei ihrem Kritzeln zuzuschauen. Ich vermag nur nicht zu denken, dass
dieses »Muster«, das den hohen Grad der ethnologischen Ausgleichung zwischen
den Stämmen am besten zum Ausdruck bringt, ein Erzeugnis jüngerer Zeit sei.
Wenn das Mass der Stilisierung als relatives Zeitmass dienen dürfte, wären die
Auetö́ am längsten in seinem Besitz.
Man kann nicht etwa sagen, die Leute haben rautenförmige Figuren, in
denen sie Striche sich in gleichen Abständen kreuzen liessen, gezeichnet, die Ecken
ausgefüllt, nun gesagt: »das sieht ja aus wie ein Mereschu-Fisch, ist mereschu-
förmig oder dgl.« und hätten also das Muster dem Vergleich gemäss mit dem
Namen belegt. Das wird widerlegt durch die Art der Herstellung, die Stück für
Stück die Figuren aneinander setzt, und durch den einfachen Umstand, dass das
Muster nicht mehr mereschuförmig ist, sondern sich von dem konkreten Vorbild,
wie namentlich die Schwanzecke beweist, bereits entfernt hat. Er wäre für
keinen von uns überhaupt als Fisch zu erkennen. Der Pakúfisch links in Nr. 3
(Tafel 20) ist noch als Abbildung eines Fisches mit Hülfe von dem Kurimatá
Nr. 15 verständlich, obwohl bereits zwei Rautenkörper mit dem Schwanzdreieck
vereinigt sind, aber von den Rautenkörpern rechts in Nr. 3 kann kein Zeichner
sagen, dem sie zufällig in den Händen erstehen, sie erinnerten ihn an einen Pakú-
fisch, sondern es ist schlechterdings nur der umgekehrte Weg von dem Bild einer
konkreten Vorlage zur Schematisierung möglich. Von Nr. 9, den punktierten
Rauten = Pakúfischen mit Tüpfelung oder den Fledermäusen nicht zu reden.
Die Beziehung zum originalen Vorbild ist geradezu das, was dem Indianer
die Freude an der Zeichenkunst giebt, wie übrigens sehr natürlich ist. Es macht
ihm Spass, dass er mit wenigen Strichen einen Fisch zeichnen kann. Nun ist
aber wahrscheinlich ein technisches Moment von Bedeutung gewesen. Das
Zeichnen war in den meisten Fällen ein Ritzen, kein Malen. Der ge-
ritzte Strich wurde erst mit Farbe gefüllt. Auf Spinnwirteln und Kürbissen
wurden die Muster geritzt, sogar an den Masken wurden sie mit einem Bambus-
stäbchen aus dem zuerst aufgetragenen weissen Thongrund herausgekratzt. Da
ist es kein Wunder, dass Motive wie die Raute des Mereschu und das Dreieck
des gleich zu besprechenden Uluri mit ihren scharfen Ecken so gewaltig die
Oberhand gewonnen haben und in ewiger Wiederholung überall wiederkehren.
Auskratzen liessen sich die scharfen Ecken ebenfalls besonders leicht. Man hatte
besseres Arbeiten als mit Kreisen und Wellenlinien, die doch auch Tiere dar-
stellen konnten. Das Ritzen drängte von selbst zur Stilisierung.
Bei dem Uluri, dem Weiberdreieck, ist uns das Vergnügen am konkreten
Vorbild vielleicht leichter verständlich als bei einem wohlschmeckenden Fischlein.
Vgl. Abbildung 18, Seite 194. Auch wir stehen ja noch heute auf dem Stand-
punkt der Kulisehu-Indianer. Nur haben wir zivilisierten Menschen die anatomische
Vorlage stilisiert, wo sich die rohen Naturvölker mit dem zierlichen »Kleidchen«
[]
Auetö́-Ornamente.
[][265] begnügten. Und seltsamer Weise ist es die hier so viel besprochene Raute, die
wir an Stelle des Uluri haben. Der Bakaïrí-Forschungsreisende würde — ich weiss
nicht, ob in allen Teilen Deutschlands — auf unsern Bäumen, Mauern, Thüren ge-
schnitzt, geritzt und gemalt, genau so wie er es macht, zu seiner wahrscheinlich
grossen Befriedigung in zahllosen Exemplaren seinen Pakúfisch, die Raute mit
dem zentralen Punkt, wiederfinden. Wehe dem, der sich einmal daran gewöhnt
hat, dieses indianische Pakúmuster bei uns überall, wo es angebracht wird, auch
zu sehen. Wollte er ihm entfliehen, so dürfte er keinen Bahnhof, keine Allee,
keinen Aussichtspunkt, kurz keinen Ort, wo Menschen passieren, mehr betreten,
denn es hat den Anschein, als ob eine unbekannte geheimnisvolle Gesellschaft
sich verschworen hätte, ihn damit zu verfolgen; er trifft es in der Rinde uralter
Waldriesen, er trifft es im frischgefallenen Schnee.
Die Kulisehu-Indianer
machten aus ihrem Ver-
gnügen an dem Uluri kein
Hehl; eine formlose Bast-
binde hätte ihnen das Vor-
bild nicht geboten. Wenn
sie die geometrische Vor-
stellung eines Dreiecks
haben, so verdanken sie
sie rein dem Uluri. Aus
sich heraus würden sie nicht
darauf verfallen sein, Drei-
ecke zu zeichnen. Unter
den Bleistiftzeichnungen
findet sich auf Tafel 17
ein Uluri, das mir ein
Bakaïrí unaufgefordert in
Rückenhölzer der Bakaïrí mit den Mustern:
Mereschu, Uluri, Fledermaus und Schlange.
(¼ nat. Gr.) Vgl. folgende Seite.
mein Buch konterfeite. In dem Fries, Tafel 21, zeigt sich in Nr. 13 ein grosses
Einzelstück, in 14 sehen wir die Uluris zu einem flach gehaltenen Zackenband ver-
einigt. Nr. 15 bietet sie in sonderbarer Reihenfolge derart, dass sich je zwei
benachbarte nur mit einer Ecke abwechselnd am obern und am untern Rand
des Rindenbrettes berühren. In Nr. 16 liegen vier Uluris abwechselnd mit ihrer
Basis dem untern und dem obern Rande an und sind durch schräge Balken,
die von Basis zu Basis ziehen, ein Stückchen auseinandergehalten. Die Balken
stellen die grob verdickten Leistenschnüre dar und sind dem Mereschu-Fischnetz
analog.
Wenn ich den Bakaïrí ein gleichseitiges Dreieck vorzeichnete, so lachten
sie vergnügt und riefen „ulúri“. Auf ihren Trinkschalen erschien es vielfach, die
ganze Fläche in zierlicher Anordnung bedeckend, und die Trennungslinien waren
oft noch mit dem Bewusstsein, dass es ursprünglich Schnüre waren, hingesetzt.
[266]
Die vier Rückenhölzer der Abbildung 48, Holzzilinder, die im dritten Bakaïrí-
dort zum Festschmuck an Schnüren auf dem Rücken getragen wurden und stili-
sierte Mandioka-Grabhölzer darstellten, bringen uns verschiedene schwarz auf-
gemalte Muster in hübscher Ausführung. Das erste zeigt Mereschu-Fische, das
dritte hängende Fledermäuse, die wir auch bei den Auetö́ antreffen werden, das
vierte die der Nr. 12 der Tafel 21 entsprechende Agauschlange, das zweite Uluris.
Niemals, so viel ich mich erinnere, kommt das Uluridreieck als ein nur aus drei
Umrisslinien zusammengesetztes Dreieck vor, ausgenommen in der Bleistift-
zeichnung auf Tafel 17. Das Dreieck ist stets ausgefüllt und ruft so den Eindruck
der konkreten Vorlage noch mit grösserer Unmittelbarkeit hervor.
Rückenholz mit
Heuschrecke.
(⅓ nat. Gr.)
Rückenholz mit
Vögeln.
(⅓ nat. Gr.)
Aur Schwirrhölzern der Nahuquá,
vgl. Kapitel »Maskenornamentik und Tanz-
schmuck, III« die Abbildung, kommen Zick-
zacks derselben Art wie auf dem Rücken-
holz vor und gelten auch hier als Bild der
Schlange.
Zwei sehr merkwürdige Orna-
mente lieferten uns ebenfalls noch die
Rückenhölzer. Das eine für unser Auge
von dem Mereschu nur durch die Kleinheit
der ausgefüllten Ecken zu unterscheiden,
war eine Heuschrecke, tövíga der
Bakaïrí, tukúra der Tupí. Das Muster
war mit dem des Mereschu-Fisches ver-
einigt; die langen, von den Ecken der
Raute ausgehenden Striche sind die Heu-
schreckenbeine.
Das andere Ornament bezieht sich
auf einen »kleinen Vogel«, yaritamáze
der Bakaïrí, den ich nicht näher be-
stimmen kann. Dass es einen fliegenden
Vogel darstellt, begreift man ohne Weiteres.
Aber die Indianer verlangen mehr; sie bestehen auf dem yaritamáze.
Die Auetö́-Ornamente zeichnen sich durch die weitest gehende Stilisierung
aus. In der »Künstlerhütte« des Dorfes fanden sich über den Thüren und an den
Wandpfosten zahlreiche Muster aufgemalt, deren bemerkenswerteste auf der Tafel 22
»Auetö́-Ornamente« vereinigt sind. Sie sind sämtlich aus Dreiecken und
Rauten zusammengesetzt. Während die Bakaïrí mit weissem Lehm auf ge-
schwärzte Rinde malten, trugen die Auetö́ schwarze Farbe auf hellem Holzgrund
auf oder schnitten die Muster ein und rieben mit Farbe nach. Mein Vetter
pflegte deshalb die Kollegen Auetö́ Schwarzkünstler und die Kollegen Bakaïrí
Pleinairisten zu nennen.
[267]
Nr. 5 ist das echte, recht gefällige Mereschu-Muster. Auch Nr. 4 soll
Mereschu-Fische darstellen. Es wurde für beide dasselbe Wort tepirapevetú an-
gegeben. Dies ist freilich das einzige Beispiel, wo die Mereschu-Raute nicht nur
an den Ecken, sondern ganz ausgefüllt ist. Dafür ist aber das Netz, in dessen
Maschen die Fische eingetragen sind, ausführlicher behandelt.
Nr. 3 sind Panzerfische akará. Sie haben dieselbe Form wie auf der Tafel 20
der Bakaïrí die Nuki-Fische Nr. 8, sodass auch diese vielleicht eine Art Cascudos
sind. Nun haben die Panzerwelse nicht wie die Mereschus ein rhomboide Form,
sondern sind langgestreckt. Da wir den ebenfalls nicht rhomboiden Pakú auch als
Raute erblicken, da selbst Nr. 14 und 15 der Tafel 21, die nicht schematisch ge-
zeichneten Fische ein wenig mehr als der Wirklichkeit entspricht, rhomboid aus-
sehen, so erkennen wir, dass der Fischkörper in der Stilisierung überhaupt als
Raute gilt, ob es für die betreffende Art zutreffend ist, wie eigentlich nur für
den mit ganz überwiegender Vorliebe überall angebrachten Mereschu oder nicht.
Zur näheren Charakterisierung werden eingetragen, beim Pakú die Tüpfel und
bei den Panzerwelsen die scharf abgesetzten harten Schuppen, die vieleckig sind,
aber gerade in den grösseren Stücken als ein wenig übereinander geschobene
Dreiecke erscheinen (vgl. Brehm, Fische, p. 244 die Abbildung).
In Nr. 2 sehen wir die Uluridreiecke, die auch bei den Auetö́ mit dem ent-
sprechenden Wort für das Frauendreieck (umpám) benannt werden. Es ist jammer-
schade, dass wir die Trumaí, die einzigen, deren Frauen eine Bastbinde tragen,
nicht in Ruh und Frieden haben kennen lernen; freilich haben sie soviel von ihren
Nachbarn entlehnt, dass sie auch deren Weiberdreieck im Ornament besitzen
mögen. In dem Flötenhaus der Auetö́ war unterhalb der Dachwölbung ein ziemlich
langer Fries angebracht, wo man auf schmalen Streifen hellen Holzes eine ganze
Serie von Umpams oder Uluris in Schwarz aufgemalt hatte.
Nun aber Nr. 1. Zwei Reihen von Dreiecken übereinander, genau wie die
Uluris, doch über die Dreiecke läuft eine die obern Seiten umrändernde Zickzack-
linie hinweg, die bei Uluris niemals vorkommt. Dies sind auf einmal Fledermäuse,
tatsiá der Auetö́ und zwar tatsiá pevú »flache«, »platte Fledermäuse«. Des-
gleichen sind Fledermäuse in Vertikalstellung dieselben Dreiecke, die wir
horizontal in Nr. 2 als Uluris anerkennen müssen, es fehlt ihnen auch die be-
gleitende Zickzacklinie von Nr. 1, nur werden sie als hängende Fledermäuse
bezeichnet. So sind auch die semímo, die Fledermäuse der Bakaïrí, auf dem dritten
Rückenholz der Abbildung 48, als hängende Fledermäuse aufgefasst. Gedenke ich
der fliegenden Hunde, die wie Schinken im Baum hängen, so begreife ich das
dreieckige Ornament vollkommen, und auch Andere sehe ich damit einigermassen
einverstanden; allein Niemand will mich verstehen, wenn ich jetzt auch auf fliesen-
bedecktem Boden oder in den Kacheln über einem Spülstein u. s. w. überall
Fledermäuse zu erblicken behaupte.
Vielleicht noch überraschender ist mura-yö́t, das Muster von »jungen« oder
»kleinen« Bora- oder Vogelbienen: die schwarzen Felder eines auf einer Ecke
[268] stehend gehaltenen Schachbretts! Ein Muster, das uns allenthalben umgiebt und
das trotzdem die grösste Einbildungskraft sich nicht als das Bild der von dem
Indianer leidenschaftlich gern verspeisten jungen Biene oder auch nur ihrer Zelle
vor die Seele rufen würde. Im Vergleich zu ihnen sind die Fischwirbelchen, Nr. 8,
je zwei mit einer Spitze vereinigte gleichseitige Dreieckchen, stilisierten Sanduhren
ähnlich, von packender Realistik.
Folgerungen. Was wir geometrische Figuren nennen, bezeichnet der
Indianer mit Namen konkreter Vorlagen. Man wird sich noch einmal fragen
müssen, ob es vielleicht nicht nur Namen sind, die er des Vergleiches halber
anwendet. Doch das ist auf keine Weise aufrecht zu erhalten. Auch wir haben
zwar keinen bessern Ausdruck als »Schlangenlinie«, aber dafür zeichnen wir auch
niemals die Tüpfel daneben und unterscheiden nicht nach der Zahl oder Anord-
nung der Tüpfel Schlangenlinien, die verschiedenen Schlangenarten entsprechen,
wie die Bakaïrí in Nr. 1 und 12 der Tafeln 20 und 21 thun. In Nr. 12 haben
wir die Abbildung mit Tüpfeln, auf dem vierten Rückenholz Seite 265 dieselbe
Schlange in der nach unserer Ansicht rein geometrischen Figur der Schlangen-
linie. Doch ist auch diese dem Eingeborenen noch keine geometrische Figur;
der gewiss unausbleibliche Folgezustand, dass sich das konkrete Ding in eine
Abstraktion verwandelte, begann höchstens erst einzusetzen. Von den Dreiecken
könnte der Indianer sagen, sie sind »uluriförmig«, aber einmal nennt er sie, obwohl
seine Sprache den Vergleich sogar adjektivisch wohl auszudrücken vermag, schlecht-
hin Uluris, und dann verbindet er sie gelegentlich auch, wie in Nr. 16, durch die
Leistenschnüre. Noch zwingender ist aber der Beweis für das Mereschumuster,
wenn der Eingeborene mir das umgebende Netz als Fischnetz, die ausgefüllten
Ecken der Raute als Kopf, Schwanz und Flossen erklärt und die Entwicklungs-
stufen der Fischstilisierung in Nr. 15, Nr. 3 und Nr. 9 nebeneinander auf dem-
selben Fries überliefert, wenn er endlich die Rauten dort, wo sie eine breite
Fläche bedecken, dennoch Stück für Stück zeichnet und nicht durch Kreuzung
paralleler Linien erzeugt. Ich mache mich anheischig, das Mereschumuster beliebig
vielen unbefangenen und phantasiebegabten Personen vorzulegen und glaube, dass
von hundert nicht Einer es als einen Fisch deutet. Die Sache geht ja so weit,
dass wir überhaupt froh sein dürfen, wenn wir die Figuren einigermassen verstehen,
nachdem wir wissen, wie der Indianer sie nennt; wollen wir aber behaupten,
dass er die Namen nach Aehnlichkeiten geschaffen habe, so sollten wir doch
selbst vorher die Aehnlichkeit bemerkt haben. Wie das Mereschumuster aller
Wahrscheinlichkeit nach entstanden ist und seine allgemeine Verbreitung gewinnen
konnte, vermag ich erst in dem nächsten Kapitel zu erörtern, vgl. unter II.
Umgekehrt ist nichts leichter zu verstehen als die Entwicklung der geome-
trischen Figur aus einer Abbildung. Bestimmte Dinge machten den Leuten Ver-
gnügen, und vorausgesetzt, dass sie solche Dinge malen — einerlei jetzt, wie sie
überhaupt zum Malen fortgeschritten sind —, so muss sich bald aus den Ein-
fällen der verschiedenen Künstler, wie wir sie bei dem Bakaïrífries noch in
[269] buntem Durcheinander sehen, der eine oder andere allgemeinere Geltung ver-
schaffen, wenn das betreffende Objekt wegen seiner natürlichen Einfachheit der
Umrisse leichter zu erkennen ist. Ein rhomboider Fisch wird unter ungeübten
Händen mehr Aehnlichkeit bewahren als irgend ein Vierfüssler. Eine Reihe von
Uluris wird im Anfang in ihrer Anordnung noch individuell variiert, wie die
Nummern 16, 15 und 14 vortrefflich zeigen, aber aus der Menge der individuellen
Variationen gewinnt wieder diejenige den Sieg, die das Nebenwerk abstösst, die
Aehnlichkeit der Einfachheit opfert und sich am leichtesten, wenn ich so sagen
darf, fabrikmässig herstellen lässt. Je weniger man zu überlegen braucht, desto
lebensfähiger ist die Form, denn sie wird auch geringeren Talenten erreichbar.
Die Kunst macht hier noch einen Fortschritt, wenn sie die ewig zu wiederholende
Schablone gewinnt; nur so kann sie Fuss fassen und ein allgemeines Bedürfnis
werden und sich von Generation zu Generation erhalten. In diesem Stadium
sind wir bei den Auetö́, die Bakaïrí bewegen sich zum Teil noch unter seinem
Niveau und lassen uns den Weg erkennen, der sich bei jenen nur noch in den
Namen verrät.
Bei den Auetö́ ist die künstlerische Form schon Hauptsache, bei den Bakaïrí
liegt der Nachdruck noch darauf, dass die Schemata Abbildungen sind. Mehr
Ruder der Bakaïrí.
(⅛ nat. Gr.)
Rochen-
ringe.
Mereschu-
Fische
im Netz.
Pakú-
Fisch.
Kuomi-
Fische.
als alle Erörterung wird der seltsame Zustand bei den Bakaïrí durch ein Beispiel
von vielen, die nebenstehende Abbildung eines mit primitiven »Kritzeleien« be-
deckten Ruders erläutert. Die vier Kreise sind die Ringzeichnung eines Rochen,
jenseit des Trennungsstriches folgen Mereschus in Netzmaschen, dann ein Pakú- und
endlich mehrere »Kuómi«-Fische, ein sonst nicht vorhandenes Muster, dessen natür-
liches Vorbild ein mir unbekannter Fisch ist: pinukái, meréschu, páte, kuómi. Ich bin
weit entfernt, behaupten zu wollen, dass diese vier Muster in ihrer Zusammenstellung
einen Sinn haben, glaube höchstens, dass es dem Verfertiger nahe gelegen hat,
gerade auf einem Ruder Fische anzubringen. Aber es ist ungemein lehrreich zu sehen,
dass von diesen Kritzeleien, wenn sie in ihrem Zusammenhang auch gewiss nichts
bedeuten, also keine Bilderschrift sind, doch jede einzelne keineswegs ein beliebiger
Schnörkel, sondern das Schema eines ganz bestimmten Dinges ist, also in der That
das Element einer Bilderschrift darstellt. Niemals würden wir diese Schemata
durch Ueberlegung richtig erklären, man muss von den Leuten selbst erfahren,
was sie bedeuten, oder ruhig verzichten. Ich meinerseits bin ausserordentlich
bescheiden im Deuten geworden, halte es auf der andern Seite aber für sehr
oberflächlich, Figuren, die wir nicht verstehen, als Schnörkel abzufertigen. Wo
[270] Figuren sich regelmässig wiederholen, wo es sich gar um Muster handelt, da dart
man sicher sein, dass die ersten Leute, die sie zeichneten, auch ein bestimmtes
Vorbild vor Augen hatten, dessen Sinn aber die Nachkommen vernachlässigt
und unter dem Einfluss sprachlicher Differenzierung der nunmehr technischen
Wörter auch ganz vergessen haben mögen.
Der Kulturmensch beginnt heute schon seine ersten Stümpereien in der
Zeichenkunst mit Dreiecken, Vierecken, Kreisen, unsere Vorfahren haben an diesen
und ähnlichen Figuren die Wissenschaft, die als die höchste gilt, entwickelt, er
erblickt auch nirgendwo in der umgebenden Natur Linien und geometrische Figuren
— folglich, schliesst er, sind diese fundamentalen Begriffe seinem eigenen reichen
Innern entsprungen. Dass sie aus den Vorlagen von Schamschürzen, Fleder-
mäusen, Fischen entstanden sein könnten, scheint ihm nicht nur unwürdig, sondern
auch ein lächerlicher Umweg. Denn was ist leichter als ein Dreieck zu zeichnen?
Was ist leichter, erwidere ich, als bis fünf zu zählen? Der Bakaïrí erklärt noch
jetzt jedes Dreieck, das ich ihm zeichne, für eine Abbildung des Uluri, er kann
die Dinge noch nicht zählen, ohne seine Finger zu Hülfe zu nehmen. Das Zahl-
wort »5« = Hand, das sich noch bei vielen Naturvölkern findet, entspricht genau
dem Uluri = Dreieck, in beiden Fällen ist die innere Anschauung des Schemas
oder die Abstraktion erst von dem Objekt gewonnen worden, in beiden hat das
konkrete Vorbild noch lange Zeit sein Recht behauptet. Weder unsere Leichtigkeit,
mit diesen Begriffen umzuspringen, noch die Thatsache, dass der Sinn unserer
Zahlwörter aller spürenden Philologie entzogen bleibt, beweist, dass unsere Vor-
fahren einen andern Gang gegangen sind als die Naturvölker.
Der Lehrer der Geometrie braucht heute gewiss nicht mehr an einem Uluri
besonderes Vergnügen zu haben, damit er ein Dreieck konzipieren könne. Das
Uluri ist so eine Art Archaeopteryx der Mathematik. Wie sollte der fliegende
Vogel anerkennen wollen, dass er von den kriechenden, bestenfalls flatternden
Reptilien abstamme? Dennoch beweist die Unfähigkeit des Vogels, diesen
Ursprung zu verstehen, nicht das Allergeringste dagegen. So beweist es auch
nichts, wenn wir ausgezeichneten Flieger in den Höhen der Mathematik uns
kaum vorzustellen vermögen, dass frühere Menschen sich noch nicht zu der
kleinen Leistung aufschwingen konnten, ein simples Dreieck aus sich selbst her-
vorzuholen.
Verwendung der Ornamente. An den Gebrauchswaffen — es gab ja
nur Bogen und Pfeile — waren gemalte Muster kaum anzubringen. Auch das
Wurfholz wurde nur durch Umflechtung verziert; ein Korkkegel, der einem Pfeil-
schaft als Spitze aufsass, zeigte den Schmuck des Mereschumusters, vgl. die Ab-
bildung Seite 109. Sonst darf man behaupten, dass aller Festputz, soweit er
geeignete Flächen darbot, ausnahmslos mit Mustern bemalt war. Am meisten
bemerkbar ist dieses an den Masken, für die sämtliche Stämme das Mereschu
mit grosser Vorliebe verwendeten, wie sich bei Beschreibung der Masken des
Näheren ergeben wird.
[271]
Ich will kurz die am meisten charakteristischen Beispiele der Verzierung
mit Mustern aufführen. Bei den Bakaïrí sahen wir ein Kanu mit den Rochen-
ringen und dem Zickzack der Anakonda bemalt. Von Rudern haben wir ausser
dem der Abbildung 51 nur noch eins gefunden, wo ein Schlangenmuster an-
gebracht war oder sich erhalten hatte. Dem im dritten Bakaïrídorf liegenden
Trommelbaum hatte man ausser den unter den Rindenzeichnungen erwähnten
Mereschufiguren eine lange Fischgrätenzeichnung wie die der ersten Ornamenten-
tafel aufgemalt. Im Hafen der Mehinakú, wie ich ebenfalls schon angeführt
habe, trugen mehrere Bäume hübsche Mereschumuster eingeritzt.
In erster Linie waren es bei den Bakaïrí die Kürbisse, die mit Mustern
geschmückt waren, sowohl die Trinkschalen als die kugelförmigen Kalabassen als
die flaschenförmigen, die zum Aufbewahren von Federn dienten.
Netzförmig bedeckte sie bald das Uluri- bald das Mereschu-
muster; entsprechend der am Stiel ausgeschnittenen Scheibe
der Kalabassen und ebenso gegenüber war ein Kreis ge-
zeichnet, zu dem die Muster konvergierten, und von dem bei
den durchschnittenen Kuyen an der Seite ein Halbkreis übrig
blieb. Wir sahen in einem Beispiel, dass die Mereschus an
einer Ecke übereinander geschoben waren, wodurch der Ein-
druck des Geflechts entstand. Gelegentlich wechselten Mereschus
und Fledermäuse und waren nur dadurch unterschieden, dass
bei diesen die Ecken nicht ausgefüllt
waren, analog Nr. 10 auf Tafel 20.
Die Rückenhölzer waren alle, wie
beschrieben, mit Mustern dicht be-
deckt. Vgl. Seite 266.
Bei den Nahuquá sind uns eben-
falls besonders die verzierten Kürbisse
aufgefallen, nur dass hier hauptsäch-
lich die beim Tanz verwendeten
Rasselkürbisse verziert waren. Ihre
ganze Malerei war nicht weither.
Trinkkürbis (Bakaïrí) mit
Mereschu- und
Fledermausmuster.
(⅐ nat. Gr.)
Federkürbis
(Bakaïrí) mit
Mereschumuster.
(⅙ nat. Gr.)
Doch ist es möglich, dass ich sie unterschätze, weil sie ihren Hausrat bei unserm
ersten Besuch ausgeräumt und bei unserm zweiten vielleicht auch noch zum Teil
zurückgehalten hatten. Immerhin ist dies letztere nicht besonders wahrscheinlich,
da sie dringend wünschten, mit uns Geschäfte abzuschliessen.
Vor den Mehinakú und Kamayurá, zumal den ersteren, zeichneten sich die
Auetö́ als eifrige Maler aus. Bei den Mehinakú traten die Kürbisse, die bei den
Kamayurá mit hübschen Mustern versehen wurden, gegen die Töpfe zurück. Die
Mandioka-Grabhölzer waren durch Mereschumuster und, wie wir sehen werden,
auch durch Schnitzwerk verziert. Beides ist auch auf die Beijúwender, mit denen
die Fladen von einer Seite auf die andere geworfen wurden, auszudehnen. Ich gebe
[272] das Beispiel eines Beijúwenders der Kamayurá (a) und eines der Yaulapiti (b), dieser
armen Teufel, die uns vier hölzerne Beijúwender und nur einen steinharten Beijú
anzubieten hatten. Der Kamayurá-Künstler hatte grösseres Gefallen daran, die
Zwischenlinien zu zeichnen als die Mereschus, die er mit vier Hälften abfertigt. Man
sieht an diesem hübschen Fall, der sogleich sein Gegenstück finden wird, so recht, wie
das ursprüngliche Motiv im vollen Sinn des Wortes beiseite geschoben wird, und
die Ornamentik um ihrer selbst willen bestehen will. Der Beijúwender der Yaula-
piti zeigt oben und unten einen halben Mereschu und in der Mitte das Panzerfisch-
Ornament der Auetö́, von dem ich aber nicht wie vom Mereschu weiss, ob es
bei den Yaulapiti gleichen Sinn hat.
Das reichhaltigste Material an Zeichnungen bieten bei den Mehinakú, Auetö́
und Kamayurá in gleicher Weise die Spinnwirtel. Während die Bakaïrí Wirtel
a.
b.
Beijúwender.
a. der Kamayurá, b. der Yaulapiti.
(⅙ nat. Gr.)
Spinnwirtel mit
Mereschumuster (Mehinakú). (\frac{1}{1} nat. Gr.)
aus Holz und Thon hatten, wurde hier überwiegend eine aus dem Bauchpanzer
der Schildkröte herausgeschnittene Scheibe benutzt und fast immer auf einer,
nicht selten auf beiden Seiten verziert. Das Muster wurde mit dem Zahn des
Hundsfisches eingeritzt und mit Speichel und Kohle verschmiert.
Ich habe auf Seite 263 bereits zwei Schildkröten-Spinnwirtel der Mehinakú
wiedergegeben. Einen gleicher Art von Holz zeigt die Abbildung 55. Der Zeichner
ist mit seinen Trennungsstrichen sehr in die Enge geraten. Dieser Typus ist der
gewöhnliche. Vereinzelt aber fanden wir Wirtel, die grossen Fortschritt bekunden.
Auf der kleinen Arbeitsfläche bildet sich die Sicherheit der hand und es entstehen
rein künstlerische Motive. Man hatte, um die Mereschus ringsum abzugrenzen,
dicht an dem Rande des Wirtels einen konzentrischen Kreis gezogen und diesen
Raum zwischen Kreis und Scheibenrand freigelassen. Aber auch er wird jetzt
gefüllt, man begleitet den Kreis wie den Scheibenrand mit Uluris und verbindet
deren nach innen vorragende Spitzen. So sehen wir an dem Spinnwirtel der
[273] Kamayurá, Abb. 56, den mit Mereschus gefüllten Innenkreis mit einem Kranz
von Perlen, möchten wir fast denken, umgeben, doch sind diese eckigen Perlen
nur die Zwischenräume zwischen den alten guten Uluris.
Spinnwirtel der Kamayurá mit
Mereschu- und Ulurímuster.
Unteres Stück zerstört. (\frac{1}{1} nat. Gr.)
Spinnwirtel mit Mereschu-
und Ulurimuster. Seitenabschnitt
rechts zerstört. Mehinakú. (\frac{1}{1} nat. Gr.)
An einem Wirtel der Mehinakú, Abb. 57, haben wir genau dasselbe Ver-
halten, nur ist der verzierte Rand breiter gelassen, die Abstände der Uluris sind
grösser und so umschliesst ein aus
sechseckigen Täfelchen zierlich ge-
bildeter Kranz den Innenkreis.
Hier aber ist eine seltsame Variation
dadurch entstanden, dass nur ein
rechteckiger Streifen, dessen Mitte
das Loch einnimmt, mit Mereschus
ausgefüllt ist.
Die Leute kommen jetzt, wie
in den Kränzen von Perlen und
Täfelchen, zu Motiven, von denen
sie selbst noch nichts wissen. Wehe
diesen Erzeugnissen, wenn der In-
dianer sie nicht selbst erklären
kann, und sie in die Hände eines
durch seine Kulturbrille schauenden
weissen Mannes geraten! Auf
einem Wirtel der Auetö́ sind Me-
Schmuckwirtel der Auetö́ mit
Mereschumuster. (\frac{1}{1} nat. Gr.)
reschus im Kreise um die Mitte so angeordnet, dass sie sich mit den Seiten-
ecken berühren: es entsteht eine »Rosette« oder ein zierlicher »Blumenkelch«.
v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 18
[274] Nachdem wir mit dem Mereschu mehr als zur Genüge vertraut worden sind,
blicken wir ohne Aufregung auf die Scheibe, Abbildung 58, mit dem aufrechten
Kreuz. Die Figur entsteht nur dadurch, dass der Künstler, wie der Kamayurá
oben beim Beijúwender Abbildung 54a, die Trennungsstriche als Hauptsache
behandelt, während der Unbefangene, der nur diese Scheibe sähe, umgekehrt
Spinnwirtel der Kamayurá mit Mereschumuster. (\frac{1}{1} nat. Gr.)
sich wenig darum kümmern würde, dass zwischen den Armen des Kreuzes noch
einige ornamentale Dreiecke angebracht sind. Die Vierarmigkeit ist nur ein Zu-
fall. Zwei andere herzlich kunstlose Stücke zeigen, Abbildung 59, ohne Weiteres,
dass es sich um nichts als die Zwischenräume zwischen den radial gerichteten
Schmuckwirtel der Auetö́
mit Wirtelmotiven.
Mereschus handelt. Doch sind diese drei Scheiben
keine wirklichen Spinnwirtel, sondern Nachahmungen
derselben zum Festschmuck. Leichte Korkscheiben bei
den Auetö́, Stücke Schildkrötenknochen bei den Ka-
mayurá sind mit schwarzer Farbe ohne Ritzung bemalt.
Sie werden um den Hals gehängt. In dem Kreuz-
muster hat man das Loch des Wirtels ausgelassen.
Dagegen hat man es auf den beiden andern Scheiben
gross und breit hingemalt und sie in der Mitte nur
für den Aufhängefaden durchbohrt.
Ein Kunstwerkchen gleicher Art, in dem das
Loch wirklich wie für die Aufnahme des Spindel-
stocks breit gebohrt ist, zeigt uns in der Mitte das Bild eines vielstrahligen
Sterns, ferner eines diesen umschliessenden schwarz punktierten Kreisbandes
und endlich eines ringsum laufenden schwarzen Kranzes, in dem neben jedem
der schwarzen Punkte ein weisses Scheibchen ausgespart bleibt. Die durch-
löcherte Sonne von 15 schwarzen Sternen und 15 weissen Vollmonden umgeben:
für den Symboliker mag es schwer zu entscheiden sein, ob sich mehr die
[275] Erklärung empfiehlt, dass hier ein Zauberer der Auetö́ den Weltuntergang
prophezeit, oder die, dass er eine geheimnisvolle Ursage seines Volkes über
die Schöpfung des Firmaments verkündet. In der That ist die niedliche
Schmuckscheibe ein rein ornamentales Erzeugnis. Nur sind die Motive nicht ganz
so weit hergeholt. Sie werden uns in roherer Ausführung auf den beiden Seiten
eines anderen Schmuckwirtels, Abbildung 61, einzeln verständlich überliefert.
Vorher betrachte man sich noch einmal die beiden Wirtel von Abbildung 59,
wo das eckig runde Loch von Mereschus umgeben dargestellt ist. Die Schmuck-
wirtel enthalten die Bestandteile der Arbeitswirtel nach Auswahl. Auf der grossen
Kreuzmusterscheibe war das Loch ausgelassen, in Abbildung 61 bilden neben den
Uluris die Lochkreise von 59 das Motiv. Während auf den Arbeitswirteln die
Zeichnung erst eingeritzt und mit Farbe verschmiert wurde, hat auf den Schmuck-
wirteln bei direktem Aufmalen die Farbe grössere Freiheit; breit werden um das
Schmuckwirtel der Kamayurá. Vorder- und Rückseite. (\frac{1}{1} nat. Gr.)
zentral gemalte Loch die Uluris hingesetzt (Abb. 61) und mit ebenso vielen am
Randkreis durch Schnüre verbunden; in die freibleibenden Vielecke werden das
eine mal ringsum sechs Lochkreise mit den Bohrlöchern, das andere mal sieben
Bohrlöcher eingetragen. Abgesehen von diesen Zusätzen ist die Grundanlage der
beiden Schmuckwirtel bereits in dem Arbeitswirtel mit dem getäfelten Kranz
(Abb. 57) gegeben, dessen schon reduziertes Mereschumuster nur ganz fortfällt
und dessen zahlreiche Uluris auf 7 oder 6 vermindert sind. So kommen
die Uluris dazu, einen »Stern« zu bilden, dessen Spitzen freilich mit ihrer Ver-
längerung zum Rand hinüber an diesen beiden Schmuckscheiben noch der geo-
metrischen Reinheit Hohn sprechen. Stern, Lochkreis und Bohrloch sind nun von
dem Künstler der kosmologischen Schmuckscheibe (Abb. 60) in freier Kompo-
sition, die jedem Element eine eigene Stelle anwies, nach der Reihe abge-
zeichnet worden.
Die hölzernen Spinnwirtel waren sehr selten mit Ritzmustern verziert.
Doch haben wir auch zwei gefunden, auf die man ein Muster geschnitzt hatte.
18*
[276] Ich schliesse die Abbildung des einen hübscheren, der auf beiden Seiten geschnitzt
war, hier an; aus der üblichen Ritzkunst der Wirtel hervorgegangen, stellt die
Arbeit den einzigen Fall von Flachschnitzerei dar. Die zuerst abgebildete Seite
Geschnitzter Holzwirtel der Auetö́.
Ober- und Unterseite. (\frac{1}{1} nat. Gr.)
wolle man mit dem Kreuz-
wirtel vergleichen, Seite 273.
Die vier dreieckigen Segmente
sind die halben Mereschus; die
Strichkontouren der Zeichnung
wurden erhaben herausge-
schnitzt, die so entstehenden
Seitenleisten nach der Mitte
geführt und die fünfeckigen
Felder, die sich uns wiederum
als die Hauptsache aufdrängen
möchten und die doch nur von
der Mereschu- und Lochum-
randung übrig bleiben, voll-
ständig geebnet. Auf der
andern Seite des Wirtels sind
zwischen den vier halben vier
ganze Mereschus ausgeschnitten,
und das Loch umgiebt, wie
oft auch bei den Ritzmustern,
ein fünftes zentrales.
Bemalung der Töpfe.
An den Thonnäpfen, die Tiere
darstellen, ist gelegentlich, vgl.
die Abbildung 87 des Eidechsen-
topfes in dem Abschnitt über
die keramische Plastik, die
Zeichnung des Tieres nachge-
ahmt. Häufiger sind die mittel-
grossen und grossen Töpfe be-
malt und zwar an der Aussen-
wandung mit parallelen senk-
rechten Streifen und mit Mustern
ausser auf dem Boden. Be-
sonders häufig sieht man die
Tätowierungslinien der Mehinakú angebracht, die die Schulterblätter in Winkeln
oder in Bogen innen umziehen. Die Tafel 15 mit den grossen Töpfen zeigt
uns auf dem Topfboden links oben dieses Motiv in bereits reicherer Gestaltung,
indem die Bogen nicht nur doppelt sind, wie auch bei der Tätowierung selbst
[277] schon vorkommt, sondern dreifach und zwischen die beiden inneren Tüpfel
und zwischen die beiden äusseren Schlangen-Zickzacke gemalt sind. Kleinere
Bogen, wie die Frauen sie auf den Armen tätowiert haben, sind oberhalb des mit
Farbe ausgefüllten Mittelfeldes angebracht. Der Topfboden im Vordergrund ent-
hält einen Mittelkreis mit Netzwerk und ringsum das Schlangen-Zickzack sowie
ein paar Striche in der Richtung der Seitenstreifen. Die Zeichnung ist unregel-
mässig genug, um uns davor zu bewahren, dass wir in ihr einen »Stern« erblicken,
an den die Indianerin nicht gedacht hat.
III. Plastische Darstellung und Keramik.
Einleitung. Kettenfigürchen. Strohfiguren. Lehmpuppen. Wachsfiguren. Holzfiguren
(Tanz-Vögel und -Fische, Mandioka-Grabhölzer, Beijúwender, Kämme, Schemel). Töpfe.
Die Kunst der Indianer, körperliche Formen nachzuahmen, ist ungleich weiter
fortgeschritten als die der Zeichnung. Sie hat von vornherein, wie Ricci auch
für die Versuche der Kinder hervorhebt, den grossen Vorteil, dass die per-
spektivischen Schwierigkeiten wegfallen. Die Teile mögen ungeschickt herausge-
arbeitet sein, sitzen aber doch an ihrer richtigen Stelle, es ist nicht nötig, sie an
einen falschen Platz zu setzen, um sie zu zeigen. Genau so wie in der Zeichnung,
ja, da die Zahl der Motive weit ansehnlicher ist, in grösserem Umfang tritt hier
das Tiermotiv hervor. Abgesehen davon, dass Töpfe als Kürbisse dargestellt
werden, aus denen sie wahrscheinlich hervorgegangen sind, handelt es sich ganz
allein um Nachahmung von Tieren. Nur in der Tanzkunst tritt noch eine gleich
unerschöpfliche Fülle von Motiven hervor, die der Freude am Jägerleben und
seinen Beobachtungen entspringen.
Auch in der plastischen Kunst lässt sich noch deutlich erkennen, dass sie
von Haus aus nur beschreibend ist. Wir dürfen hier nicht erwarten, den Weg
soweit zurückverfolgen zu können, wie bei der Zeichnung, deren beste Leistungen
noch eine Art kartographische Aufzählung der charakteristischen Merkmale bleiben
und diese selbst noch in der geometrischen Umgestaltung konservieren, allein wir
haben hier einen andern Hinweis, der nicht minder deutlich ist. Bei dem Bilden
körperlicher Formen tritt das zu bearbeitende Material in viel höherem Grade in
den Vordergrund als beim Einritzen von Linien. Wie der Reim häufig den Ge-
danken liefert, so liefert auch eine schon vorhandene Form häufig das Motiv.
Da zeigt sich denn eine ganz auffallende Genügsamkeit in den charakte-
ristischen Merkmalen, die beansprucht werden; eine beliebige kleine Aehnlich-
keit reicht aus, um das Objekt für ein bestimmtes Geschöpf zu erklären. Auf einer
höhern Stufe schmückt der Eingeborene einen Gebrauchsgegenstand durch ein frei
erfundenes Motiv, und dieses verfällt alsdann der geometrischen Stilisierung genau
so wie die Zeichnungen.
[278]
Kettenfigürchen. Die knappe Charakterisierung fällt am meisten bei den
Figürchen auf, die an den Halsketten, zumeist der Säuglinge und kleinsten Kinder,
zwischen den Samenkernen, Muschel- und Nussperlen aufbewahrt werden. Das
Material ist ganz gleichgültig. Ein Stück aus der Windung der rosafarbigen
Schneckenschale hat einen Rand, der in unregelmässigen Vorsprüngen und Aus-
buchtungen verläuft: das ist ein Krebs. Aus der Schale des Caramujo branco,
Orthalicus melanostomus, schneiden die Bakaïrí Vögel und Fische aus. Wir sehen
ein schildförmiges Stück, den Rumpf, das sich unten in einen schmäleren Schwanz
und oben in eine Art Halsstück fortsetzt (Abb. 63). Dieses »Halsstück« ist aber
der Kopf, häufig seitlich durchbohrt, um die Schnur aufzunehmen, und erscheint
ganz nebensächlich behandelt. Ist das Schwanzstück wie eine Flosse eingeschnitten,
so haben wir statt des Vogels einen Fisch vor uns.
Vogelfigur aus
Muschelschale.
(⅔ nat. Gr.)
So sind auch kleine Stücke des grünlichen, schwarzge-
sprenkelten Steins der Steinbeile: Fische, wenn sie platt sind,
oder Vögel, wenn sich der walzenrunde Leib zum Schwanz
abplattet. Der Natur wird durch Schleifen etwas nachgeholfen.
In der Abbildung 64, Seite 279, zeigen die beiden ersten Ketten
durchbohrte Steinscheiben (Durchmesser 2—3 cm) und Stein-
zilinder (3 cm lang) zwischen den Nussperlen, wie sie die Trumaí
und Yaulapiti herstellen, in der dritten sind diese Gebilde
von den Nahuquá aus Thon, in der vierten von ihnen aus
dem durchsichtigen bernsteinartigen Jatobá-Harz (Hymenaea)
nachgeahmt; auch die dritte Kette enthält eine Harzperle.
An der ersten und vierten Kette ist ein Vogel aufgereiht.
Der Steinvogel, bei dem ein Knöpfchen als Schnabel erkenn-
bar ist, wird als Taube bezeichnet. Auch die birnenförmigen
Steine der Wurfpfeile werden in kleinem Format an den Ketten
getragen, angebunden, nicht durchbohrt, und zwar fanden wir
sie auch bei den Mehinakú importiert, die weder die Steine
noch überhaupt Wurfhölzer haben.
Aus Nussschale und Knochen werden ähnliche Figuren geschnitzt. Bei den
Mehinakú erwarben wir ein 7 cm langes Stück Bagadúfisch-Knochen, ein Viereck
mit bogenförmig ausgeschweiften Seiten, das einen Vierfüssler darstellt, während
ein kleineres Stück einen Rochen mit Schwanz und daneben den Bauchflossen
wiedergiebt. Leider habe ich zu spät erfahren, dass den Figuren stets ein be-
stimmter Sinn unterlegt wurde, und kann deshalb von manchen nicht sagen, was
sie bedeuten. Hier ist alles Raten zwecklos.
Strohfiguren. Wer sich noch zutraut, die Bilder und Figuren des Indianers
immer deuten zu können, den hätte ich gern in der Hütte der Bakaïrí, die den
grossen Fries enthielt, neben mir gehabt, nicht einmal so sehr wegen der auf-
gemalten Ornamente als wegen eines Flechtmusters, das sich über der Thüre
befand. Als uns der Hausherr die Abbildungen erklärt hatte, führte er uns vor
[279] diese Thüre als ob er sagen wollte: »nun habe ich hier noch ein kleines Kunst-
werk«. Es befand sich dort ein Flechtwerk aus dünnen, querliegenden schwarzen
Reisern und vertikal gespanntem gelbem Stroh. Man erblickte zwei Reihen von
Quadraten zwischen drei Stangen, in diagonaler Richtung abwechselnd von links
oben nach rechts unten und von rechts oben nach links unten so geteilt, dass
jedes von ihnen durch ein schwarzes Reiserdreieck und ein gelbes Strohdreieck
zusammengesetzt war. Diese Dreiecke erklärte der Bakaïrí für »Schwalbenfedern«
„tåríga yuchúto“. Die tåríga ist eine
schwarzgelbe Schwalbe*), während
die íri schwarzweiss ist. Offenbar
stellten die gelben Dreiecke des
Musters die Flügel dar. Es handelt
sich keineswegs um ein zufälliges
Muster, denn danach war weder
der besondere Hinweis, noch die
umgebenden Abbildungen, noch die
Zusammensetzung mit den Reisern
angethan. Allein jeder Zweifel
schwand, als der Indianer uns im
Innern von zwei Quadraten, die
sonst nur aus querliegenden Reisern
gebildet waren, mehrere schmale,
an und für sich ganz zwecklose
Flechttouren zeigte, wo ein wenig
gelbes Stroh aufgewickelt war, und
nun erklärte: »Kapivara-Zähne«.
Zähne also von Hydrachoerus ca-
pybara oder Wasserschwein, dem
grossen Nagetier, das sich durch
gewaltige Schneidezähne, die Meissel
der Eingeborenen, auszeichnet. So
ungefähr konnte man zugeben, waren
Kettenfigürchen. (½ nat. Gr.)
die Umrisse ähnlich, allein von selbst wäre kein Europäer auf diese richtige
Deutung verfallen. Endlich sahen wir im Künstlerhaus der Auetö́ einen geflochtenen
Streifen, den sie uns als »Fischgräten« bezeichneten. Es war dieselbe Figur
wie Nr. 5, Tafel 20.
Ich würde diese Beispiele schon früher bei den Zeichnungen und nicht hier
angeführt haben, wenn sie sich nicht an eigentümliche Flechtfiguren oder -püppchen
anschlössen, die wir bei den Nahuquá fanden. Von den beiden Abbildungen 65 und 66
ist die eine leicht verständlich und für den Kindergarten brauchbar, sie stellt eine
[280]Kröte vor; die andere jedoch würde ich wenigstens, und wenn ich ein Jahr darüber
nachgedacht hätte, nicht richtig gedeutet haben. Wir haben in ihr ein Reh an-
zuerkennen! Es ist in der That auch ganz einfach. Erstens darf ich davon aus-
gehen, das es ein Tier ist; dann muss das kräftiger herausgehobene Eckstück
Kröte.
Nahuquá. (½ nat. Gr.)
Reh.
Nahuquá (½ nat. Gr.)
rechts der Kopf sein, und ich habe somit ein vierfüssiges
Tier, während ich mich um die drei Rückengipfel nicht
mehr kümmere, da ein Nahuquá kein Dromedar oder
Kameel, geschweige ein Tier mit drei Erhöhungen auf dem
Rücken kennt. Es muss ferner ein solches vierfüssiges
Tier sein, für das der Schwanz, weil er fehlt, nicht
charakteristisch sein sollte. Was ich aber von Füssen sehe,
ist den Hufen des Rehs am ehesten entsprechend. So
hinke ich mit meinen Schlüssen langsam hinter denen des
Nahuquá her, während der Indianer eines anderen Stammes
nach kurzem Besinnen von selbst die richtige Lösung findet.
Wie ich bei den Zeichnungen schon der Bororó ge-
dacht habe, möge deren analoges Fröbelspielzeug auch in
diesem Zusammenhang vorgenommen werden. Das gefaltete
Stückchen Palmblatt, Abb. 67 links, stellt eine »Bororó-
Frau« vor, das heisst es ist nichts als die Schambinde
mit dem sie festhaltenden Rindengürtel. Ein »Bororó-Mann«
wurde dargestellt, indem man den Palmblattstreifen auf
gleiche Art faltete und nun nur einen Faden quer darum
band, die Leibschnur, die er neben seinem Stulp trägt und
auch lange vor Erfindung des Stulps getragen hat.
Frauen- und Männerfigur.
Bororó. (½ nat. Gr.)
Eine besondere Gruppe von Strohfiguren
sind die der Bakaïrí-Tanzfeste. Ich werde
sie bei den Masken zu besprechen haben.
Sie stellten Tiere dar und wurden auf dem Kopf
getragen. Spannenlange Puppen dienten als
Kinderspielzeug und wurden auch im Dach
der Festhütte an einer Stange aufgesteckt zum
Zeichen, dass man Mummenschanz feiere; sie
verkündeten aller Welt: »Heute grosses Tanz-
vergnügen«. Die beiden Püppchen der Ab-
bildung 68 scheinen sehr ausdrucksvoll zur
Fröhlichkeit aufzufordern. Grösseren Stroh-
figuren, die nicht als Kopfaufsätze dienten, begegneten wir 1884 vor dem zweiten
Bakaïrídorf am Batovy. »Kurz vor dem Ausgang des Waldes trafen wir eine
wunderbare Aufstellung von ungefähr einem Dutzend Tiergestalten längs einer
Seite des Pfades, wahrscheinlich Ueberbleibsel eines Festes.« (Sie sollten die Teil-
nehmer der Nachbardörfer begrüssen). »Sie waren aus Laub und Stroh verfertigt,
[281] meist Vierfüssler mit langem, dünnem Körper, fast nur aus Wirbelsäule und hohen
Beinen bestehend; die grössten reichten uns bis an die Hüften. Ein Ding, das
offenbar ein Affe sein sollte, kletterte eine Stange hinauf.« (Durch Central-
brasilien, p. 168.)
Ungemein charakteristisch für das Vergnügen an der Kunst sind die Mais-
figuren, beinahe ausschliesslich Vögel, die wir am schönsten im zweiten Bakaïrí-
dorf trafen. Dort hingen sie fast truthahn-
gross von der Wölbung der Kuppel an einer
langen Schnur herunter, ein seltsamer An-
blick für den Eintretenden, der gewiss an
Idole und Fetische dachte. Aber diese
braven Vögel waren nichts als liebevoll
ausstaffierte Maiskolben, die in ihrer natür-
lichen Strohhülle aufbewahrt wurden. Ich
habe Figuren verzeichnet von der Harpyia
destructor, einer grossen und einer kleinen
Falkenart, dem Schlangenhalsvogel und
dem Jabirú oder Riesenstorch. Eine
menschenähnliche Figur, eine Puppe mit
einem Knopf oben statt des Kopfes, stellte
den Imoto-Tänzer in seinem Strohanzug
dar. Sonst waren es immer Vögel und
zwar grosse Vögel. Oefters waren ein paar
echte Schwanzfedern eingesteckt oder dem
Maisstroh einige farbige Bänder aufgemalt.
Die nebenstehende Harpyia destructor
(Abb. 69) ist durch den starken Schnabel
und die Holle gekennzeichnet, die Schwanz-
federn sind schwarz gebändert; mit Liebe
sind die Zehen aus gedrehtem Stroh ver-
fertigt und, wo der Lauf aus dem Ge-
fieder der Schenkel hervortritt, befindet
sich eine Abschnürung. Imposanter war
der Tujujústorch; er hing mit ausge-
Aufforderung zum Tanz.
Bakaïrí. (⅙ nat. Gr.)
Maisfigur: Harpyia destructor.
Bakaïrí. (\frac{1}{10} nat. Gr.)
breiteten Flügeln! Ein dicker Maiskolben bildete als Mittelstück den Körper;
nur an ihm war der Stiel nicht abgeschnitten, sondern bildete weit vorragend
den etwas dünnen, aber langen Schnabel. Auf jeder Seite waren elf Maiskolben
nebeneinander zwischen ein paar Reisern eingespannt, und diese schöne schwebende
Brücke stellte nunmehr die Mycteria americana dar, deren einzelne Teile nach der
Reihe abgebrochen und geröstet wurden. Nichts Geheimnisvolles, nichts Symbo-
lisches, nur ein Storch, den der Bakaïrí dem erstaunten Europäer knusprig zu
braten gern bereit war.
[282]
Lehmpuppen. Eine ähnliche unerwartete Verbindung des Schönen und
Nützlichen zeigt eine rote schwere Lehmpuppe, 30 cm lang, 24 cm breit und 7 cm
dick, Abb. 70. Vier rundliche Stummel, die durch zwei seitliche und eine untere
Lehmpuppe.
Bakaïrí. (⅙—⅐ nat. Gr.)
Ausbuchtung des Körperklumpens erzeugt werden,
sind die Extremitäten, ein kubischer ungeschlachter
Vorsprung das Haupt. Zwei Löchlein die Augen, eine
Vertiefung der stark abwärts gerutschte Mund und
ein Löchlein wiederum der Nabel. Dieser rote Lehm-
mann ist eine essbare Kinderpuppe. Er besteht aus
dem Stoff, von dem die Bakaïrí sagen, dass ihre Gross-
väter ihn verzehrten, bevor sie die Mandioka kannten.
Heute wird der schwere fette Teig wohl kein ge-
schätzter Leckerbissen mehr sein. Zum Spielen ist
die Puppe nach ihrem Gewicht auch wenig geeignet.
Dass die Kinder daran schleckten, wurde mir ange-
geben. Doch haben wir ähnliche Puppen aus weiss-
lichem, härterem, nicht essbarem Lehm gefunden und
bei den Kulisehu-Indianern nichts vom Lehmessen bemerkt, während ich bei den Bo-
roró allerdings gesehen habe, dass sie von der Wand des Stationshauses, vor der wir
plaudernd standen, wie in Gedanken Stückchen abbrachen und aufmummelten.
Thonpuppe. Auetö́. (¾ nat. Gr.)
Bei den Bakaïrí entdeckten wir eine kleine weibliche Puppe aus gebackenem
Thon, die sie den Auetö́ zuschrieben, die einzige ihrer Art. Bei den Auetö́
selbst fanden wir nichts Aehnliches. Die Arme sind dicht am Ansatz, die Beine
etwas tiefer inmitten der unförmlich angeschwollenen Oberschenkel abgebrochen.
[283] Von dieser Elephantiasis abgesehen ist die Modellierung gar nicht so übel. Be-
sonders der Rumpf ist lobenswert, der Nabel sitzt an der richtigen Stelle, und
der Rücken erscheint sowohl in seinem Verlauf mit der Furche der Wirbelsäule
als dort, wo er aufhört, mit einer etwas tief eingeschnittenen Teilung frei von
allem Schematismus. Der Kopf erinnert an den eines Eskimo in der runden
Kapuze, was einmal von dem Fehlen des Halses herrührt und dann an der
flachen Vertiefung liegt, die unterhalb des haarrandes für das Gesicht gegraben
wurde und in der man die Nase stehen liess. An dem Lehmmann der Bakaïrí
ist bei genauerem Zusehen zu erkennen, dass man
auch eine (nur äusserst flache) Vertiefung für das Gesicht
angelegt hat.
Wachsfiguren. Wiederum wie beim Mais nur
eine kunstsinnige Art, das Material aufzubewahren.
Das schwarze Wachs wurde, und zwar am hübschesten
bei den Mehinakú, zu niedlichen Tiergestalten geformt
und so aufgehängt oder auch in den Korb gelegt,
bis man es gebrauchte. Bei den Bakaïrí fanden wir
eine menschliche Figur, besser als die Lehmpuppen
Wachsfigur:
Nabelschwein. Mehinakú.
(½ nat. Gr.)
modelliert. Die zivilisierten und zum Christentum bekehrten Indianer haben den
alten Brauch dahin verändert, dass sie Heiligenbildchen aus Wachs herstellen und
verkaufen. Am bildsamen Wachs zeigte sich am besten, was die Künstler ver-
mögen. Einige Tiere waren sehr
gut modelliert, so das kleine,
6,5 cm lange Pekari oder Nabel-
schwein der Abbildung 72, Di-
cotyles torquatus. Die Augen
sind durch ein paar Muschel-
plättchen wiedergegeben, die
Nasenlöcher der Rüsselschnauze
tief eingestochen. Von den
Säugetieren sahen wir sonst noch
den grossen Sumpfhirsch und
einen Brüllaffen als Wachs-
Wachsfigur: Karijo-Taube. Mehinaku.
(½ nat. Gr.)
figuren. Häufiger waren die hängenden Vögel, oft rot bemalt. In der Illustration 73
sehen wir eine Karijo-Taube; die Figur, 15 cm lang, mit den kurzen Flügel-
stummeln, war recht steif geraten.
Holzfiguren. Beim Tanzschmuck werde ich die geschnitzten und bemalten
Holzmasken für sich behandeln. Die Bakaïrí, deren Festputz zumeist aus Stroh-
mützen, Strohanzügen und auf dem Kopf getragenen Strohtieren bestand,
schnitzten für ihre Kopfansätze Vögel aus leichtem Holz. Vom Batovy haben
wir 1884 ein wundersames Kopfgerüst mitgebracht (abgebildet »Durch Central-
brasilien« p. 322), wo sieben buntbemalte Vögel drei langen mit Baumwollflocken
[284] umwundenen Stäbchen aufsitzen, Vögel, die ich damals für Schwalben hielt, mittler-
weile aber als Sanyassú (Tanagra Sayaca Neuw.) bestimmen konnte. Aehnliche Vögel
sind auch die in Nr. 74 abgebildeten, von denen der grössere einen Falken, der
kleine den hurtigen Strandvogel Massarico (Calidris arenaria) darstellt; sie waren
zahlreich im dritten Bakaïrídorf am Kulisehu vorhanden. Der Hals ist scharf
Holzfiguren: Falk
und Massarico. Bakaïrí.
(⅕ nat. Gr.)
vom Körper abgesetzt, einige Linien veranschau-
lichen die Zeichnung des Gefieders und ein rechts
und links durch den Leib gesteckter und unten
wieder mit seinen Enden zusammengefasster langer
Halm stellt die Beine dar.
Am Batovy haben wir (Abb. 75) aus harter
Rinde plump geschnitzte, zum Aufhängen durch-
bohrte Fische gefunden, 30—40 cm lang, platt
und breit mit Flossen oder bandartig ohne Flossen
und den Kiemendeckel durch einen Bogen markiert,
wie an den Rautenzeichnungen der Fische eine Ecke
ausgefüllt ist, um den Kopf darzustellen. Aehnliche
Fische fanden wir 1887 bei den Nahuquá. Hier
sind es aber Schwirrhölzer, die ich in dem
Kapitel »Maskenornamentik und Tanzschmuck, III.«
unter den Musikinstrumenten besprechen werde.
Holzfisch der Batovy-
Bakaïrí. (⅐ nat. Gr.)
Die Mandioka-Grabhölzer zeigten
bei den Mehinakú eine geschnitzte Verzierung
von grossem Interesse. Das gewöhnliche
Grabholz ist ein 60—65 cm langer, glatter
und spitzer Stock aus hartem Holz genau
von derselben Form wie das mit dem Me-
reschumuster verzierte und mehrfach um-
flochtene Schmuckholz der Abbildung 76.
Diese spitzen Hölzer ersetzten den Spaten. Nun fällt es sinnigen Gemütern
bei, an dem stumpfen Oberende des Stockes eine Grabwespe, ein Tierchen,
Mandiokagraber als Rückenholz. Bakaïrí. (⅕ nat. Gr.)
das auch den Sand aufwirft, mit Kopf und einem Teil des Leibes zu
schnitzen. Vgl. Abb. 77. Das erste Bild der Serie zeigt uns dieses Motiv im
ersten Stadium, wir sehen den eingeschnürten Leib scharf abgesetzt und daran
den Kopf mit jederseits einem Auge aus Wachs (vgl. auch Abb. 78). In den drei
folgenden Bildern ist die Figur stilisiert, das letzte, eine einfache Spitze, scheint
mit dieser Entwicklung nicht zusammenzuhängen, doch fällt es auf, wie das
[285] Spitzenstück auf freiem Rand abgesetzt ist. Figur 2, 3 und 4 sind also stilisierte
Grabwespen; sie wären ebenso wenig als solche noch zu erkennen wie die Pferde-
köpfe auf manchen Giebeln der pommerschen Bauernhäuser, wenn man ihre Ge-
Grabwespen-Motiv der Mandiokahölzer. Mehinakú. (⅗ nat. Gr.)
schichte nicht besässe, und würden ohne diese gewiss für rein ornamental gehalten.
In unserm Fall ist das Motiv wirklich motiviert; die Indianer machten mir lachend
vor, dass sie selbst den Boden aufreissen, wie die
Grabwespe wühlt und den Sand emporwirft. Die
Mehinakú nannten sie kukúi, die Bakaïrí koingkoíng.
Die halbmondförmigen Beijúwender, die
auf beiden Seiten bemalt zu werden pflegen, er-
hielten bei den Mehinakú einen in Tiergestalt
geschnitzten Griff. Die Scheibe des Beijúwenders
galt meist als Vogelkörper, der sich in einem langen
Hals mit Kopf fortsetzte. In der Abbildung 78
ist der Kopf eines Löffelreihers, Platalea Ajaja,
dargestellt. Daneben befindet sich eine Schlange
mit dem bekannten Zickzack, diesmal in Holz.
Die Beijúwender sind meist 12 oder 13 cm breit,
und mit dem Griff 30—35 cm lang. Das grösste
Stück der Sammlung, eine Scheibe ohne Griff, ist
43 cm lang und 19½ cm breit. Bei den Mehinakú,
den Mehlleuten des Kulisehu, fanden wir auch ein
Unikum von Beijúwender, der eher eine Keule zu
sein schien. Diese Kuchenangriffswaffe war ein
schmales, 86 cm langes, 11 cm breites Brett, dessen
beide Seiten wellenförmig ausgezackt waren.
Beijúwender und
Mandiokaholz. Mehinakú.
(⅑ nat. Gr.)
Die Kämme waren bei den Mehinakú und Nahuquá durch Schnitzerei ver-
ziert. Harte Holzstäbchen bilden die Zinken, sind in ihrem mittleren Teil an-
einandergeflochten und zwar häufig mit hübschem Rautenmuster, und werden
oberhalb wie unterhalb des Geflechts noch durch ein Paar querer Bambusleisten
[286] zusammengehalten. Vgl. den Auetö́-Kamm, Abb. 79. Eine fortgeschrittene Technik
ersetzt die aneinandergebundenen Leisten durch Querhölzer, in denen eine Längs-
platte ausgeschnitten ist; durch diese wird der Kamm hindurchgeschoben. Solchen
Kamm. Auetö́. (½ nat. Gr.)
bis zu 18 cm langen Kammhaltern
werden an jedem Ende Tierfigürchen
aufgesetzt, sodass ein Kamm deren
vier hat. Die Leute konnten aber
mit ihrem Handwerkszeug von
Fischzähnen und Muscheln keine
zierlichen Figürchen zu Stande
bringen. Der Kopf blieb meist,
wie die Bronzepferde unserer Denk-
mäler sich häufig einen Pfosten in
den Leib gerannt zu haben scheinen,
durch einen »Rüssel« mit der Basis
verbunden; würden die Kämme
Kamm mit Jaguaren.
Mehinakú. (⅖ nat. Gr.)
ausgegraben, so liesse man die unbekannten Verfertiger
schleunigst aus Gegenden eingewandert sein, wo es
Elephanten oder Walrosse gäbe. Die Figuren des in
Nr. 80 abgebildeten Kamms der Mehinakú sind Jaguare;
ähnliche und für uns nicht minder schwer bestimmbare
der Nahuquá stellten das Agutí, Dasyprocta Agutí,
ein springendes, hasenartiges Nagetierchen vor. Auch
hier sind die Motive für den Kamm verständlich. Der
bunte Jaguar und das Agutí »oder, wie es seines
hübschen Felles wegen auch wohl heisst, der Gold-
hase, eines der schmucksten Glieder der Familie«
(Brehm, Säugetiere II p. 583), dessen lebhaft glänzendes
Haar bei den Bewegungen des Tieres oder wechseln-
der Beleuchtung ein niedliches Farbenspiel zeigt,
sind beide durch auffallend schöne Behaarung ausge-
Schemel. (\frac{1}{10} nat. Gr.)
zeichnet. Dabei putzt sich das Agutí
noch eifriger als die Katze.
Die Hauptwerke der Schnitzkunst
sind die Sitzschemel. Es ist be-
merkenswert, dass die Bakaïrí sie apüka
und die Auetö́ und Kamayurá apükáp
nennen; jenes erstere ist das Lehnwort,
da das Tupí den zugehörigen Verbal-
stamm aypg sich setzen etc. besitzt. Die einfachste Form (Abb. 81) besteht aus einer
rechteckigen leicht konkaven Sitzplatte und zwei ihrer Länge nach gerichteten Stütz-
brettchen mit schienenartiger Verlängerung vorn und hinten, alles jedoch aus einem
[287] Stück gearbeitet. 42 cm lang, 19 cm breit und 14 cm hoch ist eine Durchschnitts-
grösse; es gab kleine Dinger 21 × 10 cm und 7 cm hoch, auf denen zu sitzen
ein Kunststück war. Weder von diesen einfachen noch von den kunstvolleren
waren viele Exemplare vorhanden, sie fanden sich jedoch immer in dem Häuptlings-
hause und wurden dem Gast angeboten. Die Sitzplatte erhielt zuweilen eine
Tujujú-Schemel. Kamayurá. (⅛ nat. Gr.)
mehr ovale Form, die sich vorn und hinten in ein dreieckiges Schwanzstück ver-
längerte, und stellte einen Fisch dar.
Am häufigsten sahen wir Vogelgestalten. So erwarben wir bei den Kamayurá
(Abb. 82) einen Tujujú-Storch, Mycteria americana, und bei den Mehinakú (Abb. 83)
einen Nimmersatt, Tan-
talus loculator, von den
Brasiliern Jabirú oder
João grande, der grosse
Hans genannt. Die bei-
den Tiere sind haupt-
sächlich durch die
Schnäbel unterschieden;
der des Nimmersatt ist
ibisähnlich gebogen. Mit
Vorliebe stellte man die
grössten und ansehn-
lichsten Vögel dar. So
Nimmersatt-Schemel. Mehinakú. (⅛ nat. Gr.)
fanden wir bei den Mehinakú einen prächtigen Königsgeier, Sarcoramphus papa, oder
roten Urubú. Die roten Warzen, die dieser prächtige Raubvogel zwischen dem
Schnabel und den Augen hat, waren sorgfältig geschnitzt. Der hier abgebildete
Schemel der Trumaí (Abb. 84) soll den weissen Urubú darstellen; ihm fehlen
die Warzen. Merkwürdigerweise hat man ihm zwei Hälse und Köpfe gegeben,
sodass wir hier den Stuhl des Häuptlings in Gestalt eines Doppeladlers sehen;
es sollen Männchen und Weibchen sein. Etwas prosaisch ist dem gegenüber die
[288] Vertiefung auf dem Rückenschild, sie dient als Napf zum Zerkleinern und Anrühren
des Färbharzes. Bei allen Vögeln sind die mit Schienen versehenen Stützbretter
Doppelgeier-Schemel. Trumaí. (⅑ nat. Gr.)
des einfachen Schemels
erhalten geblieben, sie
stehen nur mehr ge-
spreizt und erscheinen in
der Mittellinie des Bau-
ches angesetzt. Stütz-
bretter und Sitzplatte
bestehen aus einem
Stück. Die Oberfläche
ist äusserst sorgsam ge-
glättet. Von dem Doppel-
geier sind die Maasse, die
mit denen der übrigen
übereinstimmen, fol-
Affen-Schemel. Nahuquá. (⅛ nat. Gr.)
gende: 61 cm lang, 24 cm breit,
25 cm hoch.
Zwei Vierfüssler haben wir
gefunden. Auch hier hat man
höhere Typen gewählt. Die
Stützbretter sind in vier Füsse
umgewandelt. Bei den Nahuquá
erhielten wir einen nicht sehr
ansehnlichen Affen, 46 cm lang,
charakterisiert durch Ohren, Nase und den langen horizontalen Schwanz. Der
Rücken hat seine natürliche Rundung. Das Tier wurde bei den andern Stämmen
Jaguar-Schemel. Mehinakú. (⅛ nat. Gr.)
stets sofort richtig bestimmt. Das Prachtexemplar unserer Sammlung ist jedoch
der Jaguar der Mehinakú, ein klotziges Geschöpf, 90 cm lang und 18 cm breit,
[]
Töpfe vom Kulisehu.
[][]
Töpfe vom Kulisehu.
[][289] mit einem plumpen Kopf nebst wohlausgearbeitetem Hals, einem langen schild-
artigen Rücken und einem langen etwas aufgerichteten Schwanz. Vortrefflich
sind die Katzenohren wiedergegeben, die Nase beschränkt sich auf eine unbe-
stimmte Erhöhung, das Maul ist eine breite Querrinne und die Augen sind ein
paar runde Unio-Muschelstücke mit Perlmutterglanz.
Töpfe. Die Grundform der Thonnäpfe (vgl. Seite 241, 242), mit denen wir es
hier allein zu thun haben, ist wie die der Kuyen halbkugelig bis fast halbeiförmig.
Die auf den beiden Tafeln 23 und 24 gezeichneten Töpfe befinden sich sämtlich
im Berliner Museum für Völkerkunde. Sie stammen aus beliebigen Dörfern, sind
aber ausschliesslich von Nu-Aruakfrauen gemacht worden. Mit Ausnahme der
Nummern 25, 26, 27 der zweiten Tafel sind alle Formen Tiermotive. Den Topf
Nr. 26 erhielten wir bei den Mehinakú, er wurde den Wauráfrauen zugeschrieben,
den Hauptkünstlerinnen der Nu-Aruakgruppe; er besteht aus rötlichem Thon, was
die Aehnlichkeit mit einer wirklichen Kuye noch steigert, ist mit einem zierlichen
Mereschu-Muster bedeckt und hat eine Schnur angebunden. Nr. 25, die stachlige
Schale einer Waldfrucht, erwarben wir von der Familie der Yanumakapü-Nahuquá,
die wir im Auetö́-Hafen kennen lernten. Als Farbtöpfchen der Waurá, aussen
am Rand gekerbt, gilt Nr. 27 mit der »Pokalform«. Becher und Pokal sind noch
nicht zu unsern Indianern gedrungen; auch diese Form enthält ein Kuyenmotiv,
das ihr allerdings weniger anzusehen als anzuhören ist. Die flache Kugel am
Grund ist nicht etwa nur für den bequemen Griff angesetzt, sondern stellt eben
den wesentlichen Teil der plastischen Leistung dar, einen Rasselkürbis. Sie birgt
im Innern ein paar Steinchen oder Kerne, die ein ziemlich schwaches Rasseln er-
tönen lassen, wenn man den »Pokal« schüttelt.
Während diese drei Töpfe einen freien Rand haben, sind alle übrigen durch
eine kleinere oder grössere Zahl von Zacken ausgezeichnet. Diese auf sehr ver-
schiedene Art modellierten Zacken charakterisieren das dargestellte Tier. Fast
überall ist noch die Kürbiswölbung beibehalten, ja es ist unverkennbar, dass sie
gerade der künstlerischen Idee die Richtung gegeben hat. Wie die gewöhnlich
einfach halbmondförmigen Scheiben der Beijúwender den Tierkörper darstellen,
sobald man einen als Hals und Kopf geschnitzten Griff ansetzt, genau so wird
hier die gewölbte Schale zum Tierleib, wenn man mit den Randzacken Kopf und
Gliedmassen ansetzt. Das ist also eine klare und eindeutige Entwicklungsgeschichte.
Sobald einmal das neue künstlerische Element gewonnen ist, entfaltet es sich in
selbständiger Freiheit, drängt zu wechselnder Gestaltung und verfällt in den be-
liebtesten und oft wiederholten Formen rasch der Stilisierung.
Die häufigste, weitaus häufigste Form des Topfes ist die mit dem Fleder-
mausmotiv. Offenbar wird der indianische Sinn nicht von unsern verfeinerten
Geschmacksrücksichten geleitet. Unsere Damen würden nicht angenehm berührt
sein, wenn sie aus Fledermäusen, Kröten und Zecken speisen sollten; wir Männer
können aber unsere Hände in Unschuld waschen, denn es sind Frauen, die jene
unzarten Einfälle gehabt haben. Zu ihren Gunsten nehme ich an, dass sie in
v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 19
[290] ihrem Realismus durch die Farbe und Form der Originaltiere beeinflusst und
solche auszuwählen geleitet worden sind, deren Nachahmung bei Töpfen am
glücklichsten ausfallen musste. Die Fledermaus hat ausser ihrem rundlichen
Rumpf genau die Farbe des Thons, und die ebenfalls nicht seltene Kröte (Nr. 21)
kam in dem kreisrunden bauchigen Topf vorzüglich zur Geltung. Gürteltiere und
Schildkröte sind ja überhaupt nur wandelnde Topfschalen und wurden deshalb
auch der Nachbildung des Panzers an der Topfwölbung gewürdigt. Die mit dem
angebundenen Schwanz von der Hängematte baumelnde Eidechse empfiehlt sich
als gutes Haustier der freundlichen Beachtung. Endlich kamen noch der Kaiman
und Cascudo-Fisch, beide panzerbewehrt, in mehreren Exemplaren vor. Die
übrigen Motive sind Unica.
Wir haben die folgenden Tiere in Nachbildungen gefunden und der Samm-
lung einverleibt.
Säugetiere: Zwei Arten Fledermaus (1—6), Reh Seite 291, Eichhörnchen,
Irara-Marder (Galictis barbara) (15), Faultier (16), kleiner Ameisenbär oder Ta-
manduá mirim (Myrmecophaga tetradactyla), Gürteltier: sowohl ein kleines Tatú
(14), als Tatú Canastra oder Riesengürteltier (Dasypus Gigas), endlich ein nächt-
liches Waldtier, das einem Gürteltier ähnlich sein sollte (13).
Vögel: Weisser Sperber (Buteo pterocles) (12), Coruja-Eule (8), Taube (9),
Makuko-Waldhuhn (Trachypelmus brasiliensis) (10), Inyambú-Rebhuhn (11), Ente (7)
und ein unbestimmter fliegender Vogel.
Kriechtiere und Lurche: Trakajá-Flussschildkröte (Emys Tracaxa) (20),
Kágado-Schildkröte (Emys depressa), Jabutí-Waldschildkröte (Testudo tabulata),
Kaiman, Eidechse (22), Sinimbú oder Chamäleon (Anolis), Kröte (21).
Fische: Cascudo, Akará oder Harnischwels (Loricaria) (24), Lagunenfisch
(23), Rochen.
Insekten und niedere Tiere: Karapato oder Zecke (Ixodes) (17), Krebs (19),
Wasserassel (18).
Das schönste Exemplar, die Trakajá-Schildkröte, Nr. 20, ist wirklich ein
Kunstwerk, nicht so sehr, weil die Panzerzeichnung so sorgfältig eingeritzt ist,
sondern wegen der ungemein glücklichen Modellierung von Kopf, Schwanz und
Gliedmassen. Besonders die Vorderfüsschen legen sich so weich und natürlich
um, dass man über das Formtalent und die Beobachtungsgabe der unbekannten
Mehinakúfrau in Staunen gerät. Ich muss zu ihren Ehren feststellen, dass sie die
Natur getreuer kopiert hat als der Berliner Zeichner und Lithograph ihre Nach-
bildung.
Bei einigen Tieren darf man eher von einem unmittelbaren Modell mit
Höhlung als von einem Topf mit anatomischer Gliederung sprechen. So die
Schildkröte 20, die Kröte 21, die Fledermaus 1, die Eidechse 23, für die in der
Zeichnung meines Vetters, Abbildung 87, auch noch die Körperbemalung sichtbar
wird. Die Fledermaus ist besonders wegen der aufgespannten Flughaut, aus der
die hinteren Extremitäten sorgfältig herausgearbeitet sind, bemerkenswert. In
[291] Nr. 2 sind die Zacken einfach geritzt, der Kopf mit den Augen hat ein Paar
Striche für die Augen, die übrigen Zacken haben zwei Paar Striche für die Linien
der Flughaut erhalten. Diese Striche können fehlen, man sieht nur einen
sechszackigen Topf und ist erstaunt, ihn regelmässig und bei den ver-
schiedensten Stämmen als »Fledermaus« bezeichnet zu hören. In Nr. 3 und 4
sind die Gesichtsteile noch genauer dargestellt, in Nr. 3 ist der Schwanz breiter
als die Extremitäten-Zacken, in Nr. 4 sind die Beine und der Schwanz innerhalb
der Flughaut wie in
Nr. 1 vereinigt und nicht
mehr markiert. Auch
Nr. 5 und 6 waren Fle-
dermäuse, doch sagte
man, es sei eine an-
dere, kleinere Art als
die runden, sechszacki-
gen Töpfe. Wir werden
sofort an die gezeich-
neten Fledermaus-
Rauten der Bakaïrí,
Tafel 20, erinnert.
Eidechsen-Topf. (⅓ nat. Gr.)
Bei genauerer Betrachtung der Töpfe wird man bei den meisten wenigstens
einigermassen verstehen können, was als charakteristisches Unterscheidungsmerkmal
gilt. Wenigstens eins der drei Elemente Kopf, Gliedmassen, Schwanz ist immer
mit einem steckbrieflichen »besondern
Merkmal« versehen. Dabei ist nie der
Schluss per exclusionem zu vergessen.
Nr. 15, die marderähnliche Ga-
lictis, ist wohl am schwersten anzuer-
kennen. Die Schnauze ist an dem
Original spitzer. Das Faultier 16 ist
durch die Kopfform und die Stellung
der vier Beine an den Ecken bestimmt.
Aber mit den vierfüssigen Säugetieren
war es offenbar nicht leicht. So ist
Reh-Topf. (⅖ nat. Gr.)
bei ihnen auch die einzige Ausnahme entstanden, dass man ein Reh (Durchmesser
6,5 × 13,5 cm) auf seine Beine gestellt und die Höhlung vom Rücken her offen
gelegt hat. Abb. 88. Kopfform, Schwanz und die Stellung liessen auch fremde
Indianer das Töpfchen sofort als Reh bestimmen. Der glückliche Gedanke, der
die Darstellung in ganz neue Bahnen lenken könnte, ist uns in keinem andern
Beispiel begegnet.
Bei den Vögeln sind Flügel- und Beinstummel nicht unterschieden; in dem
Schwanz werden, vgl. 7 und 12, die Federn geritzt, der des Sperbers ist aus-
19*
[292] gebuchtet. Der Kopf des Erpels 7 und der Eule 8 sind wohl gekennzeichnet,
bei der Taube 9 erscheint dieselbe Kopfform wie auf den Figürchen der Hals-
steine, der Sperber 12 hat einen kräftigen Schnabel und dem Makuku 10 ist ein
niedlich ausgebildetes Köpfchen angesetzt. Bei dem undeutlichen Rebhuhn 11 ist
der Schwanz abgebrochen.
Fische waren äusserst selten. Nr. 23 hatte einen langen Schwanz, an dem
das Ende schon abgebrochen war, als wir den Topf erhielten, doch hat er auf
der Reise noch ein neues Stück verloren. Die Kopfformen von 23 und 24 sind der
der Eidechse ähnlich, sie haben aber ein besonderes Maul.
Die Zecke 17 hat auf dem Kopf vier Knöpfe, die wohl Kiefertasten und
Mundteile darstellen sollen. Höchst belustigend ist der gezackte Rand, er giebt
den Gesamteindruck von dem Gekribbel und Gekrabbel der acht gekrümmten
Beine, die bei vollgesogenen Tieren einen Kranz auf der Kuppe des Beutels bilden,
Suyá-Kröten-Topf. (⅓ nat. Gr.)
gar nicht übel wieder. Ob die Assel 18
zoologischer Prüfung Stand hält, weiss
ich nicht. Sie ist augenlos wie die
Wasserasseln, deren sie, soviel ich meine
Erklärer begriff, eine darstellen soll. In
Nr. 19, dem Krebs, bemerken wir reich
ausgezackte Extremitäten und eine
Schwanzflosse. Er hat als Augen ein
paar Knöpfchen, in die ein feines Löch-
lein eingestochen ist.
Zum Schluss bringe ich noch einen
Topf (Durchmesser 10 × 15 cm) mit Menschendarstellung! Es ist allerdings
nicht zu verlangen, dass Jemand an ihm etwas Menschliches vermutet. Die
Künstlerin, die ihn uns überlieferte, schüttelte sich selbst vor Lachen über ihr
Erzeugnis. Sie hatte einen Krötentopf machen wollen und schon die Schwanz-
und Beinzacken sowie auch bereits den Kopf mit den dicken Augen der Bildung
des Krötentiers entlehnt. Als sie nun das breite Maul modellierte und ihr dies
zunächst in offenem Zustand anstatt in geschlossenem geriet, bemerkte sie die
Aehnlichkeit mit der viel verspotteten Lippenscheibe der verhassten Suyá, die
diesen Indianern wie eine bewegliche Untertasse vor den Zähnen steht. Sie
lachte darüber, setzte die steife Maulklappe hübsch senkrecht zum Krötengesicht
und erklärte den Topf für eine »Suyá-Figur«. So ist denn auch einmal von
den Frauen ein Männerzierrat zum Motiv genommen, analog dem Uluri-Motiv,
das bei den Herren Malern so beliebt war.
[293]
IV. Verhältnis des Tiermotivs zur Technik.
Was bei dem Suyá-Topf nur in einem Scherz zu Tage tritt, der Einfluss
der Technik auf die Bestimmung des Motivs, macht sich in grossem Umfang als
ein gesetzmässiger Vorgang geltend. Man betrachte noch einmal die Liste
der in Töpfen dargestellten Tiere. Sie ist interessant wegen der Tiere, die nicht
da sind. Man könnte sagen, es sei schon derselbe Unterschied bemerkbar wie
durchschnittlich in den modernen Motiven von Künstlern und Künstlerinnen, zumal
der Stillleben: auf der einen Seite Blumen, Früchte, Schmetterlinge, Fliegen,
Marktfische und Schinken, auf der andern Wildpret und Heringe. Denn unter den
Tieren der Töpfe herrscht das kleinere und, mit Ausnahme der Zecken, zahmere
Getier bedeutend vor. Dass in der grossen Auswahl Jaguar, Tapir, Schwein und
die den Federschmuck liefernden, doch zu Hause gehaltenen Papageienvögel ganz
fehlten, ist jedenfalls bemerkenswert. Aber diese Tiere fehlen auch — wieder
aus einem besondern, später anzuführenden Grunde — bei den Maskentieren der
Männerfeste und es ist mehr hervorzuheben, dass man den bereits erwähnten
Zusammenhang zwischen Motiv und der Form der Darstellung von der
negativen Seite noch deutlicher sieht.
Schlangen und Affen waren mit ihren gestreckten Leibern ganz ungeeignet
für die irdenen Kürbisse, während jene sich den langen Rindenbrettern des Frieses
oder dem schwertförmigen Schwirrholz oder dem Kanu und diese sich einem
Hüttenpfosten oder einer Flöte vorzüglich anpassten. Der Griff am Halbmond
des Beijúwenders verwandelte sich leicht in einen Vogelhals oder das Vorderteil
einer Schlange, aber er wurde beispielsweise kein Fisch, mit dem der Halb-
mond und eine einseitige Verlängerung schlechterdings nicht zu vereinen sind.
Ein Fisch wurde dagegen das Schwirrholz mit seiner langen schmalen Gestalt
(vgl. Kapitel XI unter III), und man wickelte den Strick vortrefflich an dem
Schwanzende auf; das Loch für den Strick befindet sich deshalb nicht etwa
in den Augen am Kopfende. Der gezeichnete und eingeritzte Fischkörper wird
zur Raute, das Mereschumuster beherrscht die ganze Zeichenkunst, eine Waurá-
Frau ritzt es auch in den Kürbistopf, aber nicht eine verfällt darauf, einen
Mereschu als Topf darzustellen! Warum? Der Mereschu hat in dem Kampf
um’s Dasein unter den Ritzmustern gesiegt, weil eine durch scharfe und
leicht auszukratzende Ecken charakterisierte Figur sich am bequemsten ritzen
liess; sie war leicht zu machen und blieb doch ähnlich. Ebenso das Uluri.
Gelegentlich, vgl. Topf 5, ist auch ein rautenförmiger Topf entstanden, doch tritt
er in die Entwicklungsserie der Fledermausformen ein, während sich für die Fische
hier, wo ihn auch andere Tiere haben, der natürlichere Ovalumriss behaupten
kann, vgl. 23 und 24.
Da liegt klar ein Gesetz ausgesprochen. Nicht symbolische Tüftelei lenkt
den Kunsttrieb. Weder im Kleinen, noch im Grossen. Weder scheut die Künstlerin
davor zurück, einen Krötentopf zu machen, weil die Kröte ein unappetitliches Vieh
[294] ist, noch wählt sie die Fledermaus, weil dieses Geschöpf auch in der Mythologie
der Indianer vorkommt. Tiermotive überhaupt sind bei der Rolle, die das Tier
in dem geistigen Leben des Indianers spielt, als selbstverständlich gegeben. Die
Auswahl jedoch kann erstens durch die Beschaffenheit oder Thätigkeit des Tieres
angeregt werden: dem Topf entspricht der Panzer der Schildkröte, die Grabwespe
ziert das Mandioka-Grabholz, das schmuckhaarige Agutí den Kamm, das Bild der
zischenden Schlange das Schwirrholz, das des flötenden Affen die Flöte. Dann
aber, sobald erst die Kunstthätigkeit kräftig genug gehandhabt wird, wirken auch
Form und Grösse und Farbe des Objekts bestimmend, indem das Tier, das sich
ihnen am besten anpasst, für die Nachbildung gewählt wird. Der Künstler braucht
sich dessen gar nicht bewusst zu werden, es macht sich schon von selbst geltend,
wenn entgegengesetzt gerichtete Versuche unbefriedigend ausfallen. Am meisten
tritt diese Erscheinung für die Wiedergabe der Vögel hervor: gemalt haben wir
nur einen kleinen Vogel auf einem Rückenholz gesehen, dagegen waren die
plastischen Vögel — geschnitzt, aus Wachs geformt oder als Maisstrohpuppen —
äusserst zahlreich. Es war den Indianern leichter die Umrisse von Kopf, Schnabel
und Schwanz sowie die Proportionen in plastischer als in zeichnerischer Reproduktion
charakteristisch zu gestalten.
Zum Schluss stelle ich die von uns beobachteten Tiermotive zusammen und
füge bei, auf welche Art sie vorkommen. Es bedeuten: F Flechtwerk, M Mais-
vögel, S Schnitzerei, T Töpfe, W Wachs, Z Zeichnung, Ritzung oder Malerei.
Säugetiere: Affen (Makako) Z, S; (Brüllaffe) W. Fledermaus (mehrere
Arten) Z, T. Jaguar Z, S. Irara-Marder T. Eichhörnchen T. Agutí S.
Kapivara(zähne) F. Greifstachler Z. Faultier T. Gürteltiere (Riesengürteltier, kleine
Arten) T. Kleiner Ameisenbär T. Sumpfhirsch W. Reh F, T. Pekarí W.
Vögel: Königsgeier (roter Urubú) S. Weisser Urubú S. Harpyie M. Falk,
Sperber M, S, T. Eule T. Singvögel S. Schwalbe F, Z. Taube S, T, W.
Rebhuhn T. Waldhuhn T. Massarico S. Riesenstorch M, S. Tujujústorch M, S.
Löffelreiher S. Schlangenhalsvogel M.
Kriechtiere und Lurche: Schildkröten (Trakayá, Jabutí, Kágado) T, Z.
Kaiman Z. Leguan auch (Lehmfigur) T. Eidechsen (mehrere Arten) T, Z. Schlange
(mehrere Arten) S, Z. Kröte F, T.
Fische: Harnischwels Z. Kuomi Z. Kurimatá Z. Lagunenfische T, Z.
Matrincham Z. Mereschu Z. Nuki Z. Pakú Z. Piava Z. Pintado-Wels Z.
Rochen (zwei Arten) Z, S. Unbestimmte S, Z. Gräten F, Z.
Insekten und niedere Tiere: Heuschrecke Z. Grabwespe S. Tokandira-
Ameise Z. Zecke T. Krebs S, T. Wasserassel T.
Mancherlei neue Motive treten noch in den Masken hinzu.
[[295]]
XI. KAPITEL.
Maskenornamentik und Tanzschmuck.
Vorbemerkung. I. Masken. Tanzen und Singen. »Idole?« Gelage und Einladungen. Teilnahme
der Frauen. Arten der Vermummung. Bakaïrí-Tänze (Makanári) und -Masken. Nahuquá
(Fischnetz-Tanz). Mehinakú (Kaiman-Tanz). Auetö́ (Koahálu-, Yakuíkatú-Tanz). Kamayurá
(Hüvát-Tanz). Trumaí. II. Gemeinsamer Ursprung der Masken und des Mereschu-Musters.
Die Auetö́ als Erfinder der Gewebmaske und des Mereschu-Ornaments. III. Sonstiger Festapparat.
Kamayurá-Tänze. Tanzkeulen. Schmuckwirtel etc. Musikinstrumente. Schwirrhölzer.
Federschmuck. Diademe. Spiele der Jugend.
»Einfach und nur zur Befriedigung der notwendigsten Bedürfnisse gebildet
sind die Gerätschaften der Steinzeit. Mit der Kunst, die Metalle zu formen,
erwacht der Sinn für Schmuck und Zierrat.« So schreibt O. Schrader in seinem
ausgezeichneten Buch »Sprachvergleichung und Urgeschichte« (p. 215), und so
etwas kann auch wohl nur ein ausgezeichneter Philologe schreiben, dem der Ge-
danke fern liegt, dass solche Urteile, auch wenn sie das indogermanische Urvolk
betreffen, in dem modernen Museum für Völkerkunde geprüft werden müssen.
Jener Satz hat ungefähr denselben Wert als der, dass der Mensch angefangen
habe Tradition zu bilden, als er schreiben lernte. So gewiss es ist, dass die Be-
friedigung der notwendigsten Bedürfnisse älter ist als die Entwicklung des Sinnes
für Schmuck und Zierrat, so haben diesen doch auch bereits die metalllosen
Naturvölker nach dem ganzen Umfang ihrer Mittel ausgebildet; ja es ist sehr
wohl darüber zu diskutieren, ob nicht mehrfach gerade umgekehrt er das Inter-
esse an den Metallen erst wachgerufen hat — und auch wachrufen konnte, weil
er eben schon hoch ausgebildet war. Ich glaube in dem Kapitel über die Zeichen-
ornamente und die Plastik ausführlich begründet zu haben, was ich von unsern
Indianern in einem vorläufigen, der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin abge-
statteten Bericht (Verhandlungen 1888, p. 386) erklärte: »sie haben eine Sucht
geradezu, alle Gebrauchsgegenstände zu bemalen, eine Leidenschaft für das
Kunsthandwerk«, und habe den Beweis nunmehr zu vervollständigen für die fest-
lichen Tage, wo sich der Mensch über die Befriedigung der notwendigsten Be-
dürfnisse mit vollem Bewusstsein erhaben fühlt und alle Kunstfertigkeiten in den
Dienst der Kunst stellt, sich zu schmücken.
[296]
I. Masken.
Auf der zweiten Reise ist unsere Ausbeute an Tanzschmuck und vor allem
an Gesichtsmasken bedeutend grösser gewesen als auf der ersten. Es ist dies um
so wichtiger, als die Masken, die doch über die ganze Erde in den verschiedensten
Formen und den verschiedensten Zwecken dienend verbreitet sind, die auch bei
den Indianern des nördlichen Amerika eine so bedeutende Rolle spielen, bisher
nur in verhältnismässig geringem Umfang in Südamerika beobachtet wurden. Es
scheint, dass ihr Vorkommen besonders dem Amazonasgebiet angehört, aber es
scheint wohl nur. Alle Stämme haben ihre Tanzfeste, alle haben Pantomimen,
in denen Tiere dargestellt werden, man stattet sich mit dem natürlichen Fell-
oder Federschmuck aus, ahmt die Stimme und Bewegungen nach, und gelangt
von selbst zur charakterisierenden Vermummung, durch die das Spiel wirkungs-
voller gestaltet wird. Die technische Geschicklichkeit der Vermummung und
ihrer Charakterisierung ist gewiss verschieden, aber bis zu dieser Stufe, die wir
bei den Schingú-Stämmen in auch recht verschiedener Ausbildung der mimischen
Mittel antreffen, sind wohl alle Jägervölker gelangt. Wir sind nur deshalb so
schlecht darüber unterrichtet, weil die Gelegenheiten, in ungestörten Verhältnissen
lebende Stämme zu erforschen, selten sind und bei einem flüchtigen Besuche
auch nur oberflächlich ausgenutzt werden können. Unsere eigene Reise ist das
beste Beispiel. Aus einem Gebiet, in dem wir 1884 zwar sonderbare Kopf-
aufsätze mit Tiernachbildungen aus Stroh u. dgl., aber nur zwei hölzerne Tauben-
masken kennen lernten, haben wir 1887 eine stattliche Sammlung von Gesichts-
masken heimgebracht, die jetzt im Berliner Museum für Völkerkunde einen
interessanten Vergleich mit den dort vorhandenen grotesken Tiermasken der
Tekuna vom oberen Amazonenstrom gestatten. Auch Ehrenreich hat von den
Karayá am Araguay eine Reihe von mächtigen, in buntester Weise mit Federn
geschmückten Tanzmasken mitgebracht, die in ihrer Bauart auf das auffallendste
an den Duck-Duck der Südsee erinnern.
Jeder Stamm nicht nur, jedes Dorf hat seine eigenen Maskentänze. Der
Mittelpunkt ist immer das »Flötenhaus«. In ihrem Charakter gleichen sich die
Tänze in ganz Brasilien ausserordentlich. Stets das Umherlaufen im Kreise und
der dem Stampfen entsprechende stossweise Gesang. Es ist ungemein charak-
teristisch, dass die Bakaïrí für »tanzen« und »singen« dasselbe Wort haben. »Der
Sinn der Gesänge«, sagt Martius, »ist einfach: Lob der Kriegs- und Jagdthaten
Einzelner oder Horden, Aufzählung gewisser Tiere und Erwähnung von deren
Eigenschaften. Erscheinen Masken beim Feste, welche meistens Tiere vorstellen,
so ahmen die Träger deren Stimmen nach.«
Nichts haben wir beobachtet, was uns den Schluss erlaubte, dass die Masken
irgendwie heilig gehalten werden. Zumal alle von Palmstroh geflochtenen Stücke
wurden nach dem Gebrauch achtlos beiseite geworfen. Man hat zwar die Masken
zuweilen vor uns versteckt, aber nur auf dieselbe Art, wie man in der Angst
[297] vor Beraubung alle beweglichen Geräte und Schmucksachen vor uns verbarg.
Hatten die Leute erst Zutrauen zu uns gewonnen, so überliessen sie uns ihre
Masken ohne jeden Anstand und fertigten neue auf Bestellung. Sie wurden uns
demonstriert mit Scherzen und Lachen wie hübsches Spielzeug.
Bei den zahmen Bakaïrí am Paranatinga und Rio Novo pflegt das Hauptfest
im April stattzufinden. Ich, mit meinen zivilisierten Vorstellungen, fahndete auf
die Idee eines Dankfestes und dachte an die Möglichkeit, dass jenes zur Erntezeit
abgehaltene Fest irgendwie irgendwelchen freundlichen Mächten, die als Spender
des Guten gälten, zu Lob und Preis gefeiert werde. Ich suchte also von Antonio
herauszubekommen, ob sich dergleichen feststellen lasse. Antonio blieb aber meiner
Suggestion unzugänglich; »wir feiern das Fest um die Zeit der Ernte,« erklärte
er, »weil wir dann etwas zu feiern haben; in der Trockenzeit müssen wir sparen,
in der Regenzeit würde alles verschimmeln.« Materiell, aber verständlich *).
Nach Allem, was uns von den Eingeborenen über die Feste erzählt wurde,
kam es ihnen in erster Linie auf ein nach ihren Begriffen schwelgerisches Schmaus-
und Trinkgelage an. Die Bakaïrí-Legende schildert uns in gleichem Sinn die
Entstehung. Kame, der Stammvater der Arinosstämme, hat das erste Flötenhaus
erbaut, die erste Flöte geschnitzt, seine Freunde zum Tanz eingeladen und mit
Stärkekleister bewirtet. Keri, der Stammvater der Bakaïrí, der mit Kame im
Erfinden eifrigst konkurrierte, lud seinerseits Kame zum Tanze ein; die Legende
berichtet uns, auf welche Art das Fest sich vollzog, und nennt als die Erfindung
Keri’s das Makanari und den Imeo, die Strohanzüge ohne Gesichtsmasken, aber
mit charakterisierenden, teilweise vermummenden Kopfaufsätzen.
»Auch Keri rief die Seinen herbei. Gegen Abend gingen sie tanzen auf
dem Dorfplatz. Darauf holte Keri vom Hause Pogu zu trinken. Sogleich darauf
flochten sie Makanari. Keri rief Kame. Viele Leute kamen und Keri war
Herr des Tanzes. Sie tanzten den ganzen Tag. Gegen Abend ruhten sie aus.
Nach Dunkelwerden tanzten sie die ganze Nacht. Früh Morgens gingen sie am
Flusse baden. Nach dem Bad kamen sie zum Flötenhaus. Sie begannen mit
dem Imeo und tanzten den ganzen Tag. Ebenso tanzten sie die ganze Nacht. —
Darauf war das Fest zu Ende.«
Ein beachtenswerter Zug der Legende ist der Umstand, dass sich die
verschiedenen Stämme zum Tanzfest vereinigten. Es ist allgemein Sitte,
dass sich die Dörfer zu den grossen Festen gegenseitig einladen. Auch nachbar-
lich befreundete Stämme entsenden zahlreiche Teilnehmer. Als wir 1884 mit
den vereinigten Trumaí und Kamayurá (vgl. Seite 118) zusammentrafen, hatten
die beiden Stämme gerade ein gemeinsames Fest gefeiert.
Einmal versteht man unter diesen Umständen, dass ein Austausch und eine
Ausgleichung zwischen den Bräuchen und Tanzgeräten der Stämme stattfindet.
[298] Jeder Stamm kannte die Lieder der Nachbarstämme, ohne dass er ihren Inhalt
genau verstand, wie wir an zahlreichen Beispielen erfahren haben; ein Stamm
lernte vom andern auch neue Arten Masken kennen, und endlich gewann das
Mereschumuster, auf das ich nach Beschreibung der Masken zurückkommen
werde, seine allgemeine Verbreitung.
Dann aber ist es ferner leicht begreiflich, dass die Frauen von den feier-
licheren Tänzen streng ausgeschlossen sind und das Flötenhaus, das Haus der
Männer, wo die fremden Besucher empfangen und bewirtet werden, nicht betreten
dürfen. In diesem Sinn ist wohl auch der eigentümliche Mummenschanz aufzu-
fassen, den wir im zweiten Bakaïrídorf erlebten, als die Speisen und Getränke
für unsere Flötenhaus-Gesellschaft durch einen maskierten Indianer des ersten
Dorfes von den Frauen, die sie nicht hätten bringen dürfen, geholt wurden. Vgl.
Seite 89 *). Dem Scherz lag das ernsthafte Motiv zu Grunde, dass Fremde und
Frauen in ihrem Verkehr beschränkt werden sollen. Der Muhammedaner schlägt
den umgekehrten Weg ein, indem er seine Frauen maskiert und in besonderen
Gemächern abschliesst.
In dem Ursprung der Tänze selbst liegt ferner ein wesentlicher Grund gegen
die Teilnahme des weiblichen Geschlechts. Es sind »unweibliche« Vergnügungen,
die aus Jägerfesten hervorgegangen sind. Immerhin scheint es Unterschiede zu
geben. Bei den grossen Festen beteiligen sich die Frauen niemals, sagten die
Bakaïrí, wohl aber bei kleinen; auch sollen sie gelegentlich ohne Männer für sich
tanzen. Die Suyá aber scheinen anders zu denken; wenigstens äusserten sich die
Bakaïrí sehr geringschätzig über den Unfug, dass dort »Männer mit Frauen
tanzten«. Vielleicht ist es nützlich, endlich noch hervorzuheben, dass von irgend-
welchen Geheimnissen und Mysterien oder irgend einer besonderen Beziehung der
Medizinmänner zu den Tänzen, die vor den Frauen geheim gehalten werden
sollten, auch nicht die leiseste Spur zu finden war.
Es ist auch zum Schutz gegen die weibliche Neugier, wenn die Eingänge
der Flötenhäuser am Kulisehu so niedrig gemacht sind, dass man nur in sehr
gebückter Haltung eintreten kann oder gar auf den Knieen hineinrutschen muss.
Ich weiss nicht, wie weit das Verbot für die Frauen im Alltagsleben praktisch
durchgeführt wird, aber wir erhielten nicht die Erlaubnis, sie im Flötenhaus zu
messen, und gewiss ist, dass es hiess, »die Frauen würden getötet, wenn sie in
das Flötenhaus gingen« — eine ziemlich grobe Variante des »mulier taceat in
ecclesia«. Dass der Gebrauch auch noch bei den zahmen Bakaïrí vor einigen 30
oder 40 Jahren ernst genommen wurde, geht am besten aus einer Erfahrung
hervor, die nach der Erzählung eines alten Brasiliers die das Christentum brin-
genden Patres machen mussten. Diese hatten nichts natürlicher gefunden als die
neue Gemeinde in dem für Kirchenzwecke so geeigneten, weil unbewohnten
[299] Flötenhause zu versammeln. Die Männer kamen auch bereitwillig, die Frauen
aber blieben draussen und konnten nur sehr schwer bewogen werden, um ihres
Seelenheils willen leibliche Gefahr zu laufen.
Bei allen Stämmen wird der Körper zum Maskentanz durch Schürzen oder
Mäntel halb oder ganz verhüllt. Blattstreifen von Buritístroh oder trockene Gras-
halme von etwa Meterlänge waren an einer Schnur zu einer breiten Schürze auf-
gereiht und wurden in mehreren Touren um den Hals geschlungen, sodass sie
von den Schultern herabfielen, oder um die
Hüften, sodass sie bis auf die Knöchel
reichten, oder in beiderlei Gestalt vereinigt.
Die Hauptverschiedenheit bezieht sich auf
den Ausputz des Kopfes. Gemeinsam
ist allen die Beziehung auf Tiere. Hier
können wir unterscheiden:
1. Tiernachbildungen werden aufgesetzt.
Bakaïrí.
2. Strohmützen mit langem Faserbe-
hang, zum Teil Attribute des Tieres tragend.
Bakaïrí.
3. Fischnetz vor dem Gesicht. Nahuquá.
4. Strohgitter nach Art der Siebfilter in
ovalem Reifen. Ohne Gesichtsteile. Bakaïrí,
Nahuquá. Gesichtsteile aus Wachs. Auetö́.
5. Mit Netz, Baumwollgeflecht und
-gewebe überspannte ovale Rahmen. Gesichts-
teile aufgeklebt aus Wachs, Augen von Baum-
wollflocken, Bohnen, Perlmutter. Bemalt.
Bakaïrí, Auetö́, Kamayurá, Trumaí.
6. Holzmasken. Viereckige Holzplatten
mit mächtig vorspringender Stirnwölbung und
Nase menschlicher Bildung. Aufgemalt:
natürliche Zeichnung des Tieres, Umrisse
des Tieres, Körperteile des Tieres (Flügel,
Imeo-Tänzer. Bakaïrí.
Flossen), stilisierte Tiermuster. Augen aus Muschelschale, Mund mit Wachs ange-
klebtes Fischgebiss, dieser wie jene wiederum menschlicher Bildung. Bakaïrí,
Nahuquá, Auetö́, Kamayurá und in grösster Ausbildung Mehinakú. Die Mehinakú
hatten nur Holzmasken. Eine Uebergangsform zwischen 5. und 6. bei den Auetö́
ohne Stirnvorsprung und oval.
Bei den Maskenfesten mischt sich unzweifelhaft Entlehnung von fremden
Stämmen, die durch die Besuche nahe gelegt wird, und lokale Pflege besonderer
Varietäten. Auch Köln, Düsseldorf, Mainz und Trier haben in ihren Karnevals-
gesellschaften verschiedene Mützen, verschiedene Orden, verschiedene Gebräuche
[300] in den Sitzungen, verschiedene Lieder, verschiedene Schlagwörter und verschiedene
Motive für die Wagen des Zuges. Auch hier werden für die Beteiligung des
weiblichen Geschlechts besondere »Damensitzungen« angesagt, und die Frauen
würden sich schwer hüten, zur unpassenden Zeit im »Flötenhaus« zu erscheinen,
wenn sie auch hoffen dürfen, lebendig oder höchstens nur halb tot wieder heraus-
zukommen. Auch dem Fasching am Kulisehu folgt eine Fastenzeit, denn er
hört — der Grund ist keiner des Kultus — nicht eher auf, als bis man möglichst
Alles gegessen und getrunken hat, was da ist. Die Frauen haben gewaltige
Arbeit, um den Ansprüchen an Beijús und Getränken zu genügen, sie müssen
unaufhörlich stampfen, kochen und backen, und diese Notwendigkeit hat wohl
auch ein wenig dazu beigetragen, dass man sie vom Tanze fernhielt, damit sie
währenddess ihren Pflichten nachkommen konnten.
Bakaïrí. Am Rio Novo und Paranatinga werden die alten Bräuche noch
gepflegt. »Alles tanzt wie die wilden Bakaïrí«, sagte Antonio, »tudo dansa como
Bakaïrí brabo«. Er beschrieb mir das im letzten April gehaltene Fest, wo die
vom Rio Novo die vom Paranatinga eingeladen hatten. Man tanzte den Yatuka-
Tanz, das Makanari und den Imeo. Yatuka ist ein Fischtanz; Fische aus Holz
werden auf dem Kopf getragen, besonders der schwarze Pakú und der Matrincham;
mit schwarz-weiss oder schwarz-rot bemalten Kalabassen werden Männer- und
Frauenköpfe hergestellt, die von Bromelienhaar umgeben sind.
Makanari ist ein weiter Begriff. Makanari sagt der Bakaïrí fast zu Allem
und Jedem, was zu seinem Tanzschmuck gehört, Makanari nennt er bestimmte
Tänze. „bakaïrí makanári zóto“, der Bakaïrí ist Herr des Makanari. Es ist der
Tanz seines Stammes. Der Imeo ist eine Art Makanari, eine bestimmte Tour.
Es scheint überhaupt, dass der Begriff des Makanari ursprünglich enger gewesen
ist und sich auf einen bestimmten Tanz mit Strohgeflechten bezogen hat. Bei
den zahmen Bakaïrí giebt es keine Holzmasken. Hier ist das Hauptmakanari
der Fledermaustanz, und zwar semímo, der kleinen, und aluá, der grossen
Fledermaus. Antonio sagte mir den Text des Aluá-Tanzes*), doch war es
mir trotz vieler Bemühungen unmöglich, eine Uebersetzung oder nur eine Er-
klärung des Inhalts zu erhalten. Er selbst verstehe die alten Worte nicht mehr.
Dass hieran etwas Wahres war und dass er mir nicht nur in seiner Unbeholfen-
heit eine Ausflucht auftischte, glaube ich deshalb, weil schon aluá selbst gar kein
Bakaïrí- oder Karaiben-, sondern ein Nu-Aruakwort ist. (Vgl. auch die Anmerkung
Seite 62.) Vielleicht ist der Text zum Teil auch altaruakisch — unverstanden einst,
[301] nachdem man ihn bei gemeinsamen Festen zusammen gesungen hatte, über-
nommen und mit Bakaïríworten gemischt worden.
Das Imeo-Makanari ist allen Bakaïrí gemeinsam. Am Kulisehu kommt noch
als verwandte Figur der Imóto, Imódo hinzu. Imeo ist ein weisses Tier, das
in der vertrockneten Buritípalme lebt — soviel ich begriffen habe, eine Palm-
bohrer-Käferlarve, Imodo ein verwandtes Geschöpf, rötlich, mit schwarzem Kopf.
Eine seltsame Auswahl, die ein wenig an den Sommernachtstraum erinnert.
Allein sie erklärt sich, wenn man bedenkt, dass das Material für die Tanzkostüme
in erster Linie von der Buritípalme geliefert wird, die jenes Insekt bewohnt.
Und dieses ist vielleicht noch obendrein ein guter
Bissen. Andere Tiere treten ebenfalls in diesem
Makanari auf, namentlich Fledermaus und der
Pintado-Wels, Abb. 91. Letztere Maske ist
leicht verständlich. Ein aus grobem, hartem Gras
geflochtener Anzug bedeckt den Körper, durch
das Flechtwerk kann der Träger ohne Mühe hindurch-
schauen, und ein langes Stück Schlingpflanze
charakterisiert die Bartfäden des Fisches. Für die
übrigen Figuren des Tanzes besteht die Tracht aus
einer über den ganzen Kopf herabgezogenen Stroh-
mütze mit langem Faserbehang ringsum und einem
aus Buritíblattstreifen geflochtenen Gewand, das
wir schon 1884 am Batovy gefunden haben. Stroh-
mützen ohne Stiel gehören dem semímo- oder
Fledermaustänzer; der Imódo (links auf der Ab-
bildung 92) hat an der Mütze einen Stiel mit einer
oder auch zwei knopfartigen Verdickungen, der Imeo
(rechts auf der Abbildung 9[2]) ein Bündel geknöpfter
Stiele. Der Imódo wurde auch als Maispuppe
(vgl. Seite 281) in der Hütte aufgehängt. Eine
Mütze endlich mit fünf in den Stiel eingeflochtenen
pansflötenartig angeordneten Rohrstäbchen wurde
Wels-Maske. Bakaïrí.
(frac1/16; nat. Gr.)
enoschibíro genannt; dies ist jedoch der Name des Holzes, aus dem die Flöten
geschnitzt werden. Die Maske bezeichnete einen flötenden Vogel, den ich nicht
bestimmen konnte. Von dieser Mütze seien die Masse angeführt: Gesamtlänge
86 cm, Aufsatz 11,5 cm, eigentliche Mütze 22,5 cm, Behang 52 cm.
Sehr merkwürdig ist das Buritíwams des Imeotanzes mit fransenbesetzten
Aermeln und Hosen, Abb. 92. Wir fanden auch einzelne Aermel, die in Verbindung
mit dem losen Strohbehang getragen wurden. In den Anzug steigt man am Hals
hinein, die Weite beträgt dort 1¼ m und ein Strick zum Zuschnüren ist einge-
reiht. Die Bakaïrí versuchten europäische Hemden mit gleicher Umständlichkeit
anzulegen. Zwischen den Hosen befindet sich ein mit einem dünnen Strick zu
[302] verschnürender Schlitz. Falls unsere Kleidung ihren Ursprung dem Schamgefühl
verdankt, hat der Bakaïrí einen andern Weg eingeschlagen oder müsste als böser
Satiriker gelten, denn er hat bei einigen Exemplaren einen aus einem Stückchen
Maiskolben bestehenden Penis nebst Testikeln aus Flechtwerk aussen angehängt.
Unwillkürlich fühlen wir uns so zu der Annahme gedrängt, es würde uns damit
auch ein menschliches Individuum vorgeführt. Dieses ist aber gar nicht nötig,
denn dem Indianer erscheint es umgekehrt für selbstverständlich, dass das dar-
Makanari der Bakaïrí.
Imodo. Imeo. Enoschibiro. Imeo.
gestellte Tier im Besitz aller menschlichen Eigenschaften auftritt und handelt und
giebt auch den Gesichtsmasken seiner Tiere menschliche Züge.
Imiga wird der Tanz am Batovy genannt, dessen Festschmuck wir 1884 im
Flötenhaus des zweiten Bakaïrídorfes fanden. (Vergl. »Durch Centralbrasilien«
p. 170.) Da gab es bemalte Kürbisse, mit Federn beklebt, unten offen, aus
denen geschnitzte Vögel hervorschauten, den ausgestopften Balg eines Kamp-
fuchses und einer Fischotter, ein Halmgerüst, in dem zwischen Baumwollflocken
Sanyassa-Vögelchen sassen, aus Stroh geflochtene Eidechsen, sowie zwei schwarz
und weiss bemalte schwertartige Holzstücke, die Klapperschlangen vorstellten —
[303] Alles, die kreisförmig ausgeschnittenen Kugelkürbisse ausgenommen, zum Aufsetzen
auf den Kopf mit Strohtrichtern versehen. Dazu Rasselkürbisse und Fussklappern
aus harten Fruchtschalen.
Von Masken erhielt ich in Maigéri eine längsovale Netzgeflechtmaske, mit
einem Bart aus Buritífasern, einem Gehäng von Orthalicusmuscheln und einer mit
Hokkofedern besetzten weitmaschigen Netzkapuze. In dem oberen Drittel, das
von einem weissen Streifen senkrecht durch-
setzt, sonst aber rot bemalt und schwarz
betüpfelt ist, befinden sich die beiden
Augen in Gestalt zweier Strohringe; ein
Strohstreifen umgrenzt die zungenförmige
Nase, die oberhalb der Augen am Rande
sitzt. Die beiden unteren Drittel haben
weissen Lehmgrund und zeigen darauf
in zierlicher Zeichnung das Mereschu-Muster
schwarz aufgetragen. Das Auffälligste aber
ist das Bild eines Piava-Fisches, toníschi,
der in der Fortsetzung des mittleren Ge-
sichtsstreifens mitten in dem Mereschu-
Muster steht. Auf ihn bezieht sich auch
wohl die schwarze Tüpfelung des Oberteils.
Wir haben acht Holzmasken erhalten,
alle mit schwarzer, roter und meist auch
weisser Bemalung. Es sind schwere und
mühsam mit dem Steinbeil bearbeitete
flache Holzplatten, aus denen der Stirnteil
mit starker Wölbung vorspringt. Auch
tragen sie eine mächtige Nase von mensch-
licher Form, die mit dem übrigen aus einem
Stück geschnitzt ist. Der Mund besteht aus
einem mit Wachs angeklebten Piranya-
Gebiss. Die Augen sind kleine Löcher,
mit Perlmutterstückchen verziert, oder er-
scheinen in zwei Masken als ein paar in
der Mitte durchbohrte Fluss-Muscheln. Den
Netzgeflecht-Maske mit Piava-Fisch.
Bakaïrí. (\frac{1}{10} nat. Gr.)
Holzplatten sind Kapuzen zum Aufsetzen auf den Kopf angeflochten, von denen
wie immer ein langer Strohbehang niederwallt. Die Bakaïrí pflegten an der den
Ohren entsprechenden Stelle je zwei schön gelbe Japú-Federn (Cassicus), die sie
selbst als eine Art Stammesmerkmal tragen, einzustecken. Diese Federn bemerkt
man auch bei dem Mann im Kostüm mit der Imeo-Mütze, (vergl. Seite 299).
Sechs der Masken sind uns als Vogel-Masken bestimmt worden. Wir haben
erstens eine Maske, Abb. 94, die eine Taube, Papadüri, darstellt, zweitens eine
[304]
Papadüri-Taube. Bakaïrí.
(⅙ nat. Gr.)
Alapübe-Vogel. Bakaïrí.
(⅕ nat. Gr.)
Waldhahn. Bakaïrí.
(⅕ nat. Gr.)
Tüwetüwe-Vogel. Bakaïrí.
(⅙ nat. Gr.)
[305] Mövenmaske, Kakaya, vgl. Abb. 44, S. 262, drittens die Maske eines kleinen uns
unbekannten Vogels, der an Lagunen leben soll, Alapübe genannt, Abb. 95, viertens
die Arakuma-Maske. die einen Hahn des Waldes veranschaulicht und durch einen
den Kopfschmuck des Tieres wiedergebenden Holzstiel ausgezeichnet ist, Abb. 96,
und endlich zwei Tüwetüwe-Masken, die eine mit einem schwarzen, die andere
mit einem roten Zackenornament, die sich auf einen Singvogel mit weissem
Kopf und roter Schulterzeichnung beziehen, Abb. 97. Von den beschriebenen
Vogelmasken enthält allein (vergl. die Abbildung Seite 262), die Mövenmaske das
Mereschu-Ornament, und es ist wohl anzunehmen, dass damit der Fische er-
beutende Wasservogel gekennzeichnet werden soll, da der Mereschu nicht im
Netz, sondern vereinzelt dargestellt ist.
Die beiden schönsten Masken wurden yakuá-ikúto. d. i. Piranya-Bild genannt.
Sie tragen rote Wangenzeichnung; an dem einen Exemplar sehen wir zwei rote
Dreiecke mit der Spitze zwischen Nase und Mund zusammenstossen, und die
Dreiecke sind so gross, dass sie je ein Viertel der Platte einnehmen. (Vergl.
Abbildung 12, Seite 180.) Durch diese Bemalung wird die grössere Piranya-Art
jener Gewässer, der mit einem prächtigen Orange geschmückte Papo amarello
(Gelbkropf) der Brasilier wiedergegeben. Die Augen sind durchlöcherte Muscheln.
Der schönste Zierrat dieser beiden Masken aber sind mächtige, in der verlängerten
Nasenscheidewand steckende und weit nach rechts und links vorspringende Arara-
Federn. Sie sind in ein Bambusstöckchen eingelassen, das mit Troddeln verziert
ist. Die Indianer sind also soweit davon entfernt, dem dargestellten Tier auch
seine zoologische Physiognomie geben zu müssen, dass sie ihm sogar nach ihrem
eigenen Brauch die Nasenscheidewand durchlochen und mit Federn schmücken.
Zwei wunderliche Tanzkostüme trafen wir in dem Flötenhause des dritten
Bakaïrí-Dorfes. Doch war nur eines noch in gutem Zustand. Es wurde Kualóhe
genannt, und sah aus wie eine kleine Hütte. Dieser Strohanzug war wirklich
ein kleines Haus, und so kommt es offenbar von der Strohbedeckung her, dass
die Bakaïrí ihre Tanzanzüge, einschliesslich des hosen- und ärmelbewehrten
Buritíwamses, »Häuser« nennen. Auch hiessen die Strohkapuzen »Kopfhäuser«.
Allerdings wurde der Ausdruck bei der Uebertragung des Wortes auf unsere
Wollhemden und Tuchhosen unbegreiflich. Das Ungethüm war viel zu schwer,
als dass wir es hätten mitnehmen können; sein Umfang betrug unten fast zehn
Meter. Es hatte die Konstruktion einer gewaltigen Krinoline mit fünf starken
strohbedeckten Querreifen, wurde jedoch mit zwei am obersten Ring angebrachten
Basthenkeln auf der Schulter getragen. Einer der Indianer that uns den Gefallen
und kroch hinein; er setzte sich die Tüwetüwe-Maske auf und erging sich in
drehenden und wiegenden Bewegungen. Zu dem Kualóhe wurde auf dem vor
der Festhütte liegenden hohlen Baum getrommelt. »Es ist kein Makanari«, sagen
die Bakaïrí. Ich weiss nicht, ob sie damit sagen wollen, das es fremder Ab-
stammung sei. Auch vermag ich nicht zu entscheiden, ob ein Zusammenhang
zwischen diesem Tanz und dem Kurimatá-Fisch (Salmo curimata) der im Bakaïrí
v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 20
[306]koálu heisst, vorhanden ist. Jedenfalls gehört zu ihm nicht die Tüwetüwe-Maske,
die sich der uns vortanzende Eingeborene aufsetzte, sondern eine kuábi-Siebmatte.
Eine Siebmatte, aus aneinandergeflochtenen Rohrstäbchen bestehend, war mit
Federschmuck versehen und wurde so vor dem Gesicht getragen. Diese Binsen-
maske oder Kuabi lag jedoch in Fetzen auf dem Boden.
Nahuquá. Den Eremo-Tanz, den uns die Nahuquá vorführten und an dem
auch eine Frau teilnahm, habe ich Seite 99 geschildert. Sehr gut giebt die
Tafel 7 das kleine Schauspiel wieder. Die Tänzer, die mit Netzen vor dem
Gesicht in stark gebückter Haltung aufeinander zuschritten und ihre grünen Zweige
Kualóhe-Tänzer mit Tüwetüwe-Maske. Bakaïrí.
im Takt zusammenschlugen, veranschaulichten mit ihrer Pantomime den Fisch-
fang, wie er in der Flusshürde oder an ähnlichen gesperrten Stellen betrieben
wird; die Fische werden an dem engen Ausgang zusammengetrieben und stürzen
in die dort bereit gehaltenen Netze. Ebenfalls habe ich über den grossen Rund-
tanz, den sie Amakakatí nannten, Seite 99 berichtet; bei ihm spielte sichtlich
die von den Nahuquá besonders wert gehaltene Kürbisrassel eine Hauptrolle.
Geradezu armselig sind die Masken, die wir mit Müh’ und Not erhielten.
Es ist allerdings zu beachten, dass wir nur ein einziges Dorf der Nahuquá besucht
haben, und dass die Hauptmasse dieses Volkes einige Tagereisen im Osten am
Kuluëne sitzt, wo es an Tanz und auch Maskenspiel, wenn wir die uns gegebenen
[307] Andeutungen richtig verstanden haben, nicht fehlen soll. Verdächtig ist es, dass
sie die Maske nur mit dem Tupíwort yakuikáto benannten. Wir haben bei ihnen
auch wie bei den dritten Bakaïrí einige nach Art der Mandiokafilter geflochtene
Gesichtsmasken angetroffen; leider aber waren diese Binsengitter, da das Fest
bereits einige Zeit vor unserem Eintreffen stattgefunden hatte, nachlässig in die
Ecke geworfen, zerknittert und zertreten, sodass
wir die traurigen Ueberreste nicht mehr gebrauchen
konnten.
Wir haben von den Nahuquá vier Masken
heimgebracht. Drei sind mit Bohnenaugen, mit
rot und schwarz bemalten Gesichtsteilen und mit
dem schwarzen Mereschu-Muster auf weissem Grund
in dem unteren Zweidrittel der Platte verziert.
Sie sind schlecht gearbeitet; wir hatten die Indianer
gebeten, uns, wenn wir auf der Rückfahrt vor-
sprächen, schöne yakuikáto zu liefern. Da erhielten
wir denn die drei charakterlosen Holzmasken, deren
schönste die Abbildung 99 zeigt, und von denen
wir fast befürchten, dass sie wenig Nahuquá-Eigenart
enthalten. Wirklich originell war eine kleine Maske,
Nahuquá-Maske.
(⅐ nat. Gr.)
Abb. 100, die wir unterwegs von einem Guikurú-Nahuquá bekamen. Auch sie
war in der Eile, wenn nicht geschnitzt, so doch hergerichtet; man hatte den
naturfarbenen Holzgrund ohne Anwendung von weissem Lehm bemalt. Sogar
die Augen waren nur schwarze Tupfen. In dieser Aus-
stattung wäre sie gewiss niemals zum Fest gebraucht
worden; da man wusste, dass wir Masken haben wollten,
lieferte man ad hoc gemachten Schund. Die Maske
zeigt je eine schwarze Raute in den getüpfelten Seiten-
feldern. Der alte Bakaïrí Paleko, dem ich sie vor-
legte, sagte zuerst »Fledermaus«, dann aber »yakui-
ikati-Gesicht«.
Mehinakú. Die Mehinakú nannten ihre Masken
munotsí oder monotsí. Doch sprachen sowohl die Kustenaú
als die Waurá und Yaulapiti, auch von koahálu-Masken
mit dem Auetö́-Wort für die Geflechtmasken. (Die
Guikurú-Maske.
(⅐ nat. Gr.)
Yaulapiti sagten statt munotsí für Holzmasken wieder yakuikatú.) Bei den Mehinakú
fanden sich ausschliesslich schwere Holzmasken, die mit einem Schwirrholz in der
Festhütte aufgehängt, einen stattlichen Anblick gewährten. Alles, was ich von der
ihnen zukommenden Bedeutung zu sagen weiss, ist dass sie zu einem Kaiman-Tanz
gehören. Neben dem Eingang der Festhütte, erinnere ich auch, befanden sich
zwei in Erde modellierte Leguane oder Anolis, die in Brasilien gewöhnlich mit
dem Tupíwort Sinimbú bezeichneten Schuppenechsen.
20*
[308]
Wir suchten uns die acht schönsten Masken aus und erhielten sie ohne
Schwierigkeit. In einem Wohnhaus entdeckten wir noch ein wahres Ungetüm.
Nicht viel breiter als die andern, war es fast dreimal so lang und reichte dem
Mehinakú-Maske
mit rot bemaltem Grund.
(⅙ nat. Gr.)
Mehinakú-Maske mit Zinnenband.
(⅙ nat. Gr.)
Träger bis auf den Nabel herab. Unverhältnismässig tief sitzt der Mund, von
der Nase um deren anderthalbfache Länge entfernt. Links und rechts von der
Nase zieht sich ein breiter roter Querstreifen. Vgl. Abb. 103.
[309]
Die Mehrzahl der Masken enthält das Mereschu-Muster. Auf die Riesen-
maske sind nur Rauten ohne Eckenausfüllung und dazwischen eine Netzkreuzung
gemalt. In den Abbildungen sind die rot bemalten Teile an der lichten Striche-
lung leicht zu erkennen.
Keine Maske ist der andern
gleich. Wir sehen mehrere mit einem
roten Hals- oder Mittelstreif unter
der Nase, doch hat in Abb. 104
die eine rechts und links neben
der Nasenspitze ein Stück roten
Querstreifens, und wird bei der
andern der Seitenteil median durch
einen roten Bogenstreifen abge-
grenzt. Bei einer dritten (Abb. 106)
ist in der Höhe der Augen ein
Randfeld rot bemalt. Bei einer
vierten (Abb. 105) fehlt der Mittel-
streif und ist durch ein halbes
Mereschu ersetzt, dessen eine Spitze
zwischen Mund und Nase sitzt,
während rechts und links auf dieser
schwarz-weissen Maske wieder eine
bogenförmige Begrenzung der ge-
musterten Seitenfelder stattfindet.
Wir kennen solche Bogenstücke
bereits von den Töpfen und Spinn-
wirteln. Jeder Mann hatte seine
Maske und erkannte sie an der
Zeichnung, sodass diese das Eigen-
tum markierte, ob es nun so be-
absichtigt war oder dadurch, dass
Jeder seine Malerei selbständig
entwarf, sich von selbst so machte.
Ich weiss nicht, inwieweit man
berechtigt wäre, Attribute des Kai-
mans in einem Teil der Bemalung
Grosse Mehinakú-Maske.
(⅕ nat. Gr.)
zu erkennen. Nicht wenig verlockt dazu das Zinnenband, das die mit der
grossen Buritíkapuze wiedergegebene schwarz-weisse Maske Seite 102 quer durch-
setzt. Es könnte den Nackenschildern des Kaimans gut entsprechen, um so
mehr als es nur bei den Kaimanmasken auftritt. Die Maske rechts in Ab-
bildung 106 ist ferner durch zwei Reihen sehr spitzer roter Dreiecke ausge-
zeichnet, die abwechselnd ihre Spitze nach oben und unten kehren. Es liegt,
[310] wenn man die geflochtenen Kapivara-Zähne der Bakaïrí gesehen hat, sehr
nahe, an die Zähne des Kaiman zu denken; die des Ober- und Unterkiefers
Kaiman-Masken. Mehinakú. ¼—⅕ nat. Gr.)
greifen in ganz ähnlicher Weise übereinander. Die im Profil gezeichnete Maske
Seite 308 erinnert mit ihren Seitendreiecken unter- und ausserhalb der Augen an die
Kaiman-Maske. Mehinakú.
(⅙ nat. Gr.)
Piranyamaske der Bakaïrí, vgl. S. 180, und
wird gleichfalls die Hals- oder Wangen-
zeichnung eines Tieres darstellen.
Auetö́. Die Auetö́ unterschieden
zwei Arten Masken: I. koahálu und
II. yakuíkatú, ersteres Geflecht- und
Geweb-, letzteres Holzmasken.
I. Koahálu. Unter den Geflecht-
und Gewebmasken fallen drei sehr ab-
sonderliche auf, weil sie in einer sonst
nicht vorkommenden Weise Wachs auf-
weisen, Abb. 107. Die erste und
zweite dieser Koahálu-Masken sind nichts
anderes, wie an der Mittelfigur deutlich
zu sehen ist, als Gitter aus Rohr-
stäbchen, von derselben Arbeit mit der Technik der Siebmatte, die wir bei
den Bakaïrí und Nahuquá beobachtet haben. Bemerkenswert ist auch die Art,
wie die ovalen Geflecht- und Gewebmasken getragen werden. Sie stehen
nämlich keineswegs vor dem Gesicht, wie unsere Masken, wo die Gesichtsteile
den dahinter liegenden Teilen des menschlichen Antlitzes der Lage nach ent-
sprechen, sondern liegen schräg nach oben gerichtet dem Vorderkopf und der
[311]
Kaiman-Masken. Mehinakú. (¼—⅕ nat. Gr.)
Koahálu-Masken. Auet[ö]. (⅙ nat. Gr.)
[312] Stirn des Trägers auf, der unterhalb der ovalen Maske durch den ange-
flochtenen Strohbehang hindurchblickt.
Von den drei Wachsmasken, Abb. 107, ist die primitivste die Mittelfigur. Das
Stäbchengitter ist mit Wachs bedeckt, die Seitenteile aber sind dicker aufgelegt und
enthalten die Augen, zwei weisse Wollpfröpfchen, ursprünglich mit schwarzen Wachs-
pupillen versehen, die aber verloren gegangen sind. Die Nase, ein dicker Wachs-
klumpen, sitzt höher als die Augen. Bei der völlig mit Wachs überzogenen
Maske links sind die Augen Wachsklümpchen, die auf kleine Perlmutterstückchen
aufgesetzt sind. Rote Wangendreiecke und ein roter Mittelstreif werden von
Koahálu-Maske. Auetö́.
(⅙ nat. Gr.)
Koahálu-Maske. Auetö́.
Holzplatte. (⅙ nat. Gr.)
grell abstechenden weissen Linien umzogen; in den unteren Seitenfeldern finden
sich zwei rote Tupfen. Die Augen stehen entsetzlich weit auseinander und dem
Rande näher als der Mittellinie, die Nase wieder hoch oben, und beiderseits von
ihr erscheint ein Wachsknopf. Einen Mund haben die drei Wachsmasken nicht,
doch mag er nur zufällig fehlen, weil wir die Masken nahmen, wie wir sie gerade
in den Hütten fanden.
Am interessantesten ist die Maske rechts, Abb. 107. Hier ist eng gewebtes
Tuch, das oben frei liegt, in den Reifen gespannt. Zwischen den beiden Wachs-
wangen steht ein rotbemaltes Mittelstück, und an ihrer Grenze die Augen sind
winzige Bohnenringe. Die untere Hälfte der Maske zeigt die Kiemen in Gestalt
feder- oder baumförmiger Verzweigung. Unten hängt ein ¾ m langer Baumwoll-
zipfel herab, über dessen Ansatz ein Stück Wachs aufgedrückt ist.
[313]
Ausser den Wachsmasken fanden sich zum Koahálutanz gehörige Gesichts-
masken mit schwarzem oder rotem Stirnsegment, Mittelstreifen und Mereschu-
Muster, Abb. 108. Vgl. auch die Maske Seite 263, Abb. 46. Rohrringe er-
scheinen zur Einfassung sowohl der Wachsaugen (Perlmuttereinlage) als des Wachs-
mundes mit den Piranyazähnen. Eine ganz gleichartige Maske, Abb. 109, besteht
interessanter Weise aus einer Holzplatte, die oval ist wie der Reifen der Geflecht-
masken; Löcher sind ringsum angebracht, wo die Kapuze eingebunden ist. So
haben wir also eine Holzmaske noch genau von der Ausstattung und
der Form der Geflechtmasken.
Ich suchte mit Hülfe der Bakaïrí den Sinn des Koahálutanzes herauszube-
kommen, erfuhr aber nur, dass es sich um einen Fisch oder Fische handelt.
Die Bakaïrí sagten, dass die Maske dem kuábi, vgl. Seite 306, entspreche, das
sie selbst im dritten Dorf zum Kualóhe-Tanz tragen. Darum möchte ich aber
Koahálu und Kualóhe, die doch verschiedene Wörter sind, nicht in Zusammen-
hang bringen — um so weniger, weil ich bei den Auetö́ auch noch die Formen
koahahálu, kuahahaluté und als für die Kamayurá geltend koaháhi gehört
habe. Jedenfalls bedeutete koahálu im praktischen Gebrauch nur den zum
Fischtanz gehörenden Gesang und wurde dem maraká der Kamayurá gegen-
übergestellt.
Der Auetö́-Häuptling führte uns den Tanz vor, indem er einen Bogen und
Pfeil zur Hand nahm, die Maske, wie beschrieben, aufsetzte und auf und nieder
schreitend mit sehr heller Stimme sang: „ehú hehú he ehé. Hátüere umatschüre ü
kunyayá, kunyayá kunyayá. Hátüre ümatyüre ü kunyayá.“ Das bezieht sich auf
Frauen „kunyá“, was die Bakaïrí auch mit pekóto übersetzten. Dagegen sängen
die Kamayurá ihre „maraká“: „yemáma hemahé, yáuara emuakuá yerú pitú pitú
yáuara emuakuá yemáma hemahé …“
II. Yakuíkatú. yaku-í ist ein kleiner oder junger Jakú, Schakú. Das
Wort yakú bezeichnet die den Hokkohühnern nächstverwandten Hühnervögel der
Penelopiden. Vgl. Brehm’s Tierleben, Vögel II, p. 628. katú, gut, wird im Tupí
in den verschiedensten Bedeutungen angehängt, denen gewöhnlich zu Grunde liegt,
dass etwas wohlgefällt, Vergnügen macht, sodass wir es in diesem Fall am besten
mit »Vergnügen«, »Spass«, »Fest« übersetzen. Die Kamayurá nannten den Tanz
und die Masken sowohl yakuíkatú als schlechtweg yakuí. Dieses Tupíwort war
sämtlichen Stämmen geläufig, nur sagten die Bakaïri yakuikáti, wahrscheinlich,
weil sie es ihrem eigenen igáti (Fett) anähnelten. Der Yakuí-Tanz ist der
Originaltanz der Auetö́ und Kamayurá, der Tupístämme.
Die hierher gehörigen Auetö́masken sind Holzmasken. Einen Uebergang zu
ihnen sehen wir schon bei den Geflechtmasken, vgl. Abbildung 109; es fehlte der
Stirnvorsprung, die Maske war auch flacher gewölbt als die Holzmasken sonst
sind — wen wirn die tafelartigen Bakaïrímasken ausnehmen wollen, die nur eine
Stirnwölbung besitzen. Schon sind die Auetö́ auf dem Wege, hölzerne Fisch-
masken wie die Kamayurá zu machen.
[314]
(⅕ nat. Gr.)
(¼ nat. Gr.)
(⅓ nat. Gr.)
(¼ nat. Gr.)
Yakuíkatú-Holzmasken der Auet[00F6;].
[315]
Alle Holzmasken (vgl. die Vollseite) haben einen roten Mittelstreifen,
Muschelaugen, die durchbohrt sind, und das Mereschu-Muster mit schöner Netz-
zeichnung. Die beiden Masken von Abbildung 111 haben neben den Augen in
schöner Ausprägung die Flügelzeichnung. Auch tritt auf vier Masken das
Zackenband, wie es in der Tüwetüwe-Maske der Bakaïrí auf die Schulterzeichnung
(⅓ nat. Gr.)
(¼ nat. Gr.)
Yakuíkatú-Masken mit Flügelzeichnung. Auetö́.
des Lagunen-Vogels bezogen wird, sowohl quer als auch senkrecht auf und charak-
terisiert auch hier die Eigenart des Gefieders, indem es die hübsche Wellen-
zeichnung wiedergiebt, die namentlich auf Brust, Steiss und Schenkeln der
jungen Vögel erscheint. Der Hals- oder Mittelstreifen ferner ist durchgängig rot
gemalt, weil die nackte Kehle des Jakú diese Färbung besitzt.
Kamayurá. Die Kamayurá pflegten hauptsächlich den Yauarí oder
Wurfbretttanz, zu dem keine Maske gehört; es ist ein Kriegstanz. Sie ge-
brauchten das Wort yauarí uns gegenüber aber auch schlechthin für Tanz. Es
ist ausserordentlich schwer, Verwechslungen zu vermeiden, weil die Indianer,
wenn man nach dem Namen eines Dinges fragt, immer sagen, wozu es
dient. So heisst maraká, das im Tupí stets mit »Rassel« übersetzt wird, der
Gesang und die Musik, bei dem die Rassel gebraucht wird. So glaubten wir
immer, „yakuíkatú“ heisse »Maske«, während es »Jakú-Fest« heisst. Von Masken-
tänzen unterschieden sie 1. Yakuí und 2. Hüvát. Das Wort hüvát = Guaraní
y-guár bedeutet »Wasser-Bewohner«, wie das Kapivara-Schwein der »Gras (kaapim)-
Bewohner« ist. Wir glaubten zunächst, hüvát sei »Holzmaske«.
Das Hüvát war der Fischtanz der Kamayurá, wie der Koahálu der Fisch-
tanz der Auetö́ war, während den Yakuí-Vogeltanz beide hatten.
Wir haben bei den Kamayurá keine eigentlichen Yakuí-Masken erhalten;
sie verglichen diesen Vogeltanz mit dem Tüwetüwe-Tanz der Bakaïrí. Sie ver-
[316] wendeten in gleicher Weise Geweb- und Holzmasken für den Hüvát-Tanz, be-
schränkten den Fischtanz also nicht, wie die Auetö́ noch durchgängig zu thun
Gewebmaske der
Kamayurá. (⅕ nat. Gr.)
schienen, auf die ersteren. Auf beiden ist der
Fisch durch die Seitenlinien, die wir auch schon
auf einer Fischzeichnung Seite 248, Abb. 44,
kennen gelernt haben, charakterisiert. Sie reichen
bis an die Augen und gewähren in Abbildung 112
den Eindruck einer Brille ohne Steg. Auf einer
Holzmaske waren die Brustflossen wiederge-
geben, indem unterhalb und seitlich der Nase
jederseits unter dem Querstrich eine Zeichnung
angebracht war, die aussah wie eine kleine, schief
nach aussen gerichtete Zunge oder Klappe.
Geweb- und Holzmasken hatten dieselbe An-
ordnung: Stirnteil, Augen mit der Seitenlinie,
Mittelstreif und seitlich von ihm Mereschumuster.
Auf der Nase der Holzmasken, Abb. 113 und 114
erscheint eine
-Figur, die wahrscheinlich die
Zeichnung eines bestimmten Fisches wiedergiebt.
Die Holzmasken waren auffallend breit, 27 : 37 cm.
An den Gewebmasken (Abb. 112) waren Bart-
fäden der Fische in Gestalt von Baumwollsträngen
angebracht, die von dem Reifen herabhingen und
der Buritíkapuze auflagen. Auch in dem Gewebe
Hüvát-Maske. Kamayurá.
(⅙ nat. Gr)
selbst wusste man Fischdessins zu liefern.
Wir sahen einen ovalen, mit Baumwoll-
gewebe überspannten Reifen, der vor
Hüvát-Maske. Kamayurá.
(⅐ nat. Gr.)
das Gesicht gehalten wurde und keinerlei Bemalung, aber in der Webart selbst
ein Fischgrätenmuster trug. Ebenso erschien in mehreren Gewebmasken,
die bei der Festigkeit des Gewebes als Tuchmasken gelten konnten, unter dem
[317]gemalten Mereschu-Muster und ohne sich genau mit ihm zu decken, ein
schwach erhaben gewebtes Rautenmuster. Eine Hüvát-Holzmaske endlich (Ab-
bildung 115) mit rotem Stirnrand, ebenfalls sehr breit, war wegen zweier roter,
senkrecht auf schwarzem Grund stehender Fische auffallend, die aussen neben den
Augen aufgemalt waren. Jeder Fisch erschien als eine Raute mit breit ange-
setztem Schwanzdreieck.
Bei dem Hüvát-Tanz wird an den hohlen Baum geklopft zum Zeichen, dass
das Fest beginnt und dass die Frauen sich zu entfernen haben. Frauen und
Kinder wurden selbst zu der Pantomime fortgejagt, als Einer sich auf dem Dorf-
platz eine Holzmaske aufsetzte, um uns den Tanz zu zeigen. Es sieht toll
genug aus. Die Maske mit ihrem leeren, linienhaften Gesicht gewinnt bei den
feierlichen Bewegungen unwillkürlich eine bestimmte Physiognomie. Ich wurde
lebhaft an die Illustrationen zu »Grad’
aus dem Wirtshaus …« erinnert,
wo die Häuser, die Pumpen, die
Laternen genau dieselben Gesichter
zeigen.
Ausser den Hüvát-Masken fand
sich bei den Kamayurá auch ein
mächtiges, an das Kualóhe der Ba-
kaïrí erinnerndes Geflecht vor, das
ungefähr die Form eines Pilzes mit
Haut und Stiel hatte. In dem Hut,
der über einen grossen Querreifen
geflochten war, sass der Oberkörper
des Trägers bis ungefähr zum Nabel,
während der Stiel des Pilzes von dem
herabfallenden Strohumhang gebildet
Holzmaske mit Fischbildern.
Kamayurá. (⅙ nat. Gr.)
wurde. Ein Quadrant der Hutoberfläche, durch fühlerartige Stücke Schlingpflanze
abgegrenzt, war mit dem Mereschu-Muster bemalt; an der Spitze sass noch,
ähnlich wie bei dem Imeo der Bakaïrí, ein Stiel auf, aber dick umflochten,
mereschubemalt und in einer Grasquaste endigend. Das Ding wurde turuá ge-
nannt; im Guaraní heisst turú »allerlei im Wasser lebendes Gewürm«, während es
im Tupí nach Martius Tenthredo, Blattwespe, bedeutet.
Trumaí. Ausschliesslich Baumwollgeflechtmasken, hukráke, zarumuká, kua-
hahá genannt, wo ich den verschiedenen Sinn nicht zu bestimmen weiss. Es ist zu
bedenken, dass wir die Leute auf der Flucht getroffen haben, und dass sie Holz-
masken zurückgelassen haben könnten. Auch mag es daher kommen, dass eine
sehr grosse Maske ohne Gesichtsteile nur als ein mit Baumwollgeflecht (schwarz,
mit rotem Mittelstreifen) überspannter und auch mit einer unvollkommenen Burití-
Kapuze verseh enerovaler Rahmen erscheint. Trotz der Baumwolle kann man nicht
von »Weben« reden; die Stränge waren grob wie bei Strohmatten geflochten. Ein
[318] Teil der Geflechtmasken hat denselben Typus wie bei den Auetö́ und Kamayurá,
doch ist meistens die ganze Fläche des Gewebes mit dem schwarzen Mereschu-
Muster auf weissem Grund bedeckt, in einem Fall mit liegenden Rauten und
ohne Hals- oder Mittelstreifen, während dieser letztere sich bei andern auf eine
schwarze Linie reduziert.
Trumaí-Maske, schwarzrot.
(¼ nat. Gr.)
Trumaí-Maske mit Mereschu-
muster. (¼ nat. Gr.)
Augen und Nase sind gewöhnlich drei gleich grosse Wachsklümpchen in
einer Linie nebeneinander, mit einem Stückchen Buritígarn angeknotet. Nur auf
einer Maske sind ein paar blanke Muschelscheibchen den Augenklümpchen auf-
gedrückt. Der Mund ist ein schwarzer Wachsring von dem Aussehen eines
Pessariums und so gross, dass Nase und Augen darin Platz haben. Alle Gesichts-
teile sind auf die obere Hälfte, ja auf das obere Drittel des Ovals beschränkt.
Die Bemalung ist bei einer Reihe der Masken einfach ein schwarzer Grund
mit rotem oder ein roter Grund mit schwarzem Mittelstreifen, in dem Nase und
Mund liegen oder der nur bis zum Mund reicht.
[319]
Bei drei Masken findet sich aber mehr. Bei Nr. 1: Schwarzer Grund, weisser
Mittelstreif, begleitet jederseits von einer weissen Linie; an sie stösst der drei-
eckige Wangenteil an, der sich zusammensetzt aus einem roten, einem weissen
Streifen, dem schwarzen Grundstreifen und einem roten Randdreieck. Die Maske
erinnert sehr an die erste Wachsmaske der Auetö́ Abb. 107. Nr. 2: schwarzer
Trumaí-Masken, schwarzweissrot bemalt. (⅙ nat. Gr.)
Grund, roter Mittelstreif, jederseits zwei weisse Randdreiecke, von einer weissen
Zickzacklinie umschrieben. Nr. 3: aussen und oben weisser Grund, innen in der
Breite und bis zur Höhe einschliesslich der Augen schwarzer Grund mit rotem
Mittelstreif bis zum Mundring.
II. Gemeinsamer Ursprung der Masken und des
Mereschu-Musters.
Wir verstehen ohne Weiteres die Bakaïrí, die sich aus Stroh geflochtene
Tierfiguren und Köpfe von Tierbälgen aufsetzen, aber ungemein befremdend muss
es uns erscheinen, dass auf den Tiermasken die Gesichtsteile menschlicher Bildung
sind. Man sollte erwarten, dass z. B. eine Taubenmaske einen Schnabel hätte
und nicht eine Nase mit einem Mund darunter. Man hat einem solchen Tänzer
gegenüber das Gefühl, als wollte er uns gemütvoll zurufen: »Denkt nur nicht,
dass ich wirklich eine Taube sei, ich bin ein Mensch wie Ihr und will nur eine
[320] Taube vorstellen, wie Ihr an meinem Kukerukuu hört und Euch auch an den auf-
gemalten Federtupfen überzeugen könnt.«
»So wisset denn, dass ich Hans Schnock, der Schreiner bin,
Kein wilder Löw’ fürwahr und keines Löwen Weib.«
Ja, die Masken sind keineswegs nur Gesichtsmasken. Augen, Nase und
Mund sind auf den obern Teil des Feldes beschränkt, und der Mittelstreifen
markiert die Fortsetzung des Körpers mit dem Hals, Flügel, Flosse, Seitenlinie,
Hals- und Schulterzeichnung erscheinen daneben. Auf dem Fischmakanari der
Bakaïrí, das eine äusserst liebevoll und sorgfältig gemachte Arbeit ist, vermissen
wir den Mund und sehen einen grossen Fisch inmitten des Mereschu-Musters. Die
Auetö́ endlich schauen unter ihren Masken durch die Kapuze hindurch; nicht
minder ist ein grosser Teil der Holzmasken-Augen so beschaffen, dass die Löcher
zu klein sind und nicht die richtige Entfernung von einander haben, um für das
Durchblicken geeignet zu sein; sie sind für den Zuschauer, nicht für den Träger
vorhanden.
Welches Bild sollen wir uns nun von der Entwicklungsgeschichte der Masken
machen? Nehmen wir zum Ausgangspunkt die Strohkapuzen der Bakaïrí und ihre
Pintado-Maske Seite 301. Diese Vermummung war schon ein grosser Fortschritt
gegen die Ausschmückung mit einem Tierbalg und einem Gehänge von Stroh-
streifen. Die Leute haben sich Tiere geflochten, setzten sich die einen auf den
Kopf und krochen in die andern hinein. Aus den Erzeugnissen der Zeichenkunst
und von den Flechtfiguren her wissen wir, wie wenig ihnen ausreicht, um zu
charakterisieren. Sie zogen ein Stück Schlingpflanze durch den Oberteil des
Anzugs, das waren Bartfaden und genügten für die Veranschaulichung eines
Pintado-Fisches. Sie haben es nicht nötig, die Nachbildung weiterzutreiben; sie
bedürfen auch heute noch keiner Pintado-Gesichtsmaske. Aber die Indianer
steigerten die Wirkung ihrer Strohkapuzen, indem sie wächserne Augen, Nase
und Mund daran anbrachten und einen Reifen einflochten, der ein Gesichtsoval
umgrenzte. Diese Maske war mehr dekorativ als mimisch; sie wurde
vom Strohgitter zum Fadengeflecht, das Lehnr aufnahm und sich bemalen liess,
vervollkommnet, sie wurde mit dem Fischmuster versehen oder mit der Zeichnung
eines Tieres oder ein Tier wurde aufgemalt.
Dass Fische die Hauptrolle spielten, ist sehr natürlich, weil sie bei ihren
Zügen in Masse gefangen wurden und so die Gelegenheit zum allgemeinen Fest
gaben. Auch der Yakuí-Tanz, der Tanz der kleinen Schakú-Hühner, mag an
reichere Jagdbeute anknüpfen. »Alle grösseren Arten halten sich einzeln, die
kleineren gewöhnlich in starken Flügen zusammen, die bis zu hundert
und mehr Stück anwachsen können.« (Brehms Tierleben, Vögel II, p. 628). So
wundern wir uns auch nicht, dass wir nichts vom Jaguar oder Tapir oder andern
jagdbaren Säugetieren hören, die bei den Tekuna-Masken erscheinen: diese
lieferten nur Gelegenheitsbeute, während gerade die Menge den Anlass zu einem
mit vielen Nachbarn gefeierten Festschmaus darbot.
[321]
Wenn man sich jedoch erinnert, wie die Nahuquá bei ihrem Eremo-Tanz
den Kopf mit einem Fischnetz verhüllten, und in ihrer Pantomime das Zu-
sammentreiben der Fische durch eine Gesellschaft darstellten, wird man auch den
Gedanken nicht von der Hand weisen, dass die ovale Gewebmaske mit dem in
gleicher Form in einen Reifen gespannten Fischnetz mehr als die äussere
Aehnlichkeit gemein hat. Wofern der Indianer von der Form des Gesichtes aus-
gehend auf den Maskenreifen verfallen wäre, so hätte er das ganze Feld auch
für das Gesicht benutzt, während dieses jetzt nur einen Teil des Raumes ein-
nimmt und mit geringerer Sorgfalt behandelt ist als die Bemalung. Das Fisch-
makanari der Bakaïrí ist nichts als ein engmaschiges und dadurch zur Aufnahme
des Lehms geeignetes Netz. Die daran sitzende Netzkapuze könnte heute um
des Federschmucks willen da sein, da die Federn in die Maschen eingebunden
werden müssen, allein darum ist es doch ebenso gut möglich, dass das Netz älter
ist als die Federn, die sonst an den Kapuzen fehlen. Vielleicht ist also
unsere älteste ovale Geflechtmaske nur das in den Strohanzug ein-
gefügte und dekorativ gestaltete Fischnetz. Dann ist es weit leichter zu ver-
stehen, dass die Charakterisierung der Tiere so wenig ausgesprochen ist; das Netz
wurde verziert und auch charakteristisch verziert, aber es war nicht um einer
anatomischen Nachbildung willen in das Kostüm aufgenommen.
Auch erhalten wir damit eine Erklärung des Mereschu-Musters.
Das Masken-Fischnetz wurde enger geflochten, weil es besser verhüllte, und
liess sich nun bemalen. Aber man malte das alte weitmaschige Netz auf
und setzte die Fischchen hinein. Es giebt einen Punkt, der mir zu beweisen
scheint, dass ich Recht habe, der, an und für sich sehr seltsam, dann höchst
einfach erklärt würde. Der Indianer malt das Mereschu-Muster immer, worauf
mich mein Vetter Wilhelm aufmerksam gemacht hat, stehend, das heisst die
grössere Diagonale der Raute aufrecht, die kleinere querliegend. Den runden
Spinnwirteln ist dieser Umstand nicht mehr anzusehen, wenn sie fertig sind, aber
wir haben beim Ritzen zusehend beobachtet, dass die Figur stehend gemacht
wurde, und genau dasselbe geschah bei den Bleistiftzeichnungen. Ich habe
deshalb die Figur Seite 261, Abb. 43, nicht, wie es uns wohl näher gelegen hätte,
horizontal geben dürfen, habe deshalb auch alle Spinnwirtel auf senkrechte
Mereschus eingerichtet und endlich, allerdings mehr des Scherzes halber, auch
den Original-Mereschu, Seite 260, auf den Schwanz gestellt.
Wie kommt der Künstler zu dieser Sonderbarkeit? Auf dem Fries, vgl.
Tafel 21, sind die Fische doch so gezeichnet, wie sie schwimmen. Nun, auf den
Masken stehen die Fische ja auch auf dem Schwanz: man sehe nur das
Fischmakanari der Bakaïrí Seite 303 und die schwarze Kamayurá-Maske Seite 317.
Ja, das einzige Mal, wo uns der Mereschu-Fisch als einzelnes Individuum ausserhalb
des Netzes entgegentritt, auf der Möven-Maske der Bakaïrí Seite 262, Abb. 44, steht
er senkrecht. Auf den Gewebmasken aber, auf die es als die ältesten ankommt,
wurde der Fisch in seiner an und für sich unnatürlichen Lage gezeichnet,
v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 21
[322]weil sie dem Gesicht entsprechend längsovale Stellung haben; man denke sich
die Piava des Fischmakanari Seite 303 horizontal und man wird empfinden, erstens,
dass dadurch der Fisch beengt wäre, zweitens, dass das Durchschwimmen des
Gesichts wegen des Widerspruchs gegen die Hauptrichtung geradezu unnatürlich
aussähe. Ein Blick auf Fenster- und Thüreinteilung zeigt für uns dasselbe
Bedürfnis.
Es wurden also Netz und Fische mit stehenden Rauten auf die längsovale
Maske gemalt. Man gehe die grosse Anzahl der mit dem Mereschu-Muster aus-
gestatteten Masken-Abbildungen durch: überall dieselbe Stellung. Wir haben
nur eine Ausnahme gesehen und sie bestätigt die Regel eher als dass sie ihr zu-
widerläuft. Dies ist eine Trumaí-Maske. Allein die guten Trumaí haben die
Masken von den Kamayurá entlehnt, wie sie die Baumwolle und die Siebmatte
bei ihnen kennen gelernt haben und mit den Tupínamen bezeichnen. Sie haben
den Entwicklungsgang nicht mitgemacht.
Wir verstehen jetzt auch den engen Zusammenhang zwischen Netz und
Mereschu-Fisch und die Massenhaftigkeit der Vorführung grade dieses Fisches.
In jede Masche zeichnete man einen Fisch, der klein sein musste, da er sonst
an den Platz nicht passte, der auch dieselbe rhomboide Gestalt hatte wie die
Netzmasche. Wir verstehen endlich, wie bei der zierlichen Arbeit die Darstellung
von Kopf, Flossen und Schwanz zur Ausfüllung der Eckchen wurde. Kurz, es
stimmt Alles so vortrefflich sowohl für das Muster wie für den Entwicklungsgang
der Masken, dass ich den Beweis, soweit er überhaupt möglich ist, für erbracht
ansehe.
Das Muster ist heute rein ornamental geworden. Zwischen den Mandioka-
Grabhölzern und dem kleinen Lagunenfisch giebt es keinen direkten innern Zu-
sammenhang. Indessen wird man Eins zugestehen müssen. Die Bedeutung des
Fischchens wuchs über seine ursprüngliche weit hinaus, weil es an die fröhlichen
Festtage erinnerte; alle Industrie bemächtigte sich seiner, die mit Trinken,
Schmausen und Schmücken zu thun hatte. So hatte es seinen guten Sinn,
wenn die grossen Kürbisse und Kalabassen, in denen der Pogu kredenzt wird,
wenn die Beijúwender, mit denen das gastliche Gebäck an solchen Tagen uner-
müdlich umgedreht wird, wenn die Kuyen, in denen die prächtigen Federn auf-
bewahrt wurden, wenn die zum Tanz geschwungenen Rasselkürbisse, wenn die
Spinnwirtel, mit denen der Faden für die Gewebmasken gesponnen wurde, wenn
alle diese und ähnliche Sachen mit dem Mereschu-Fisch verziert wurden. Der
Ursprung der Ausschmückung liegt in einem motivierten Gefühl, und erst, wenn
dessen Manifestationen zahlreich und trivial geworden sind, sieht kein Mensch
mehr etwas Anderes als Figur und Farbe. Die Lieblingsbildnisse unseres Volks
kommen schliesslich auf die bunten Taschentücher. Das Mereschu-Muster hat
sich von Stamm zu Stamm verbreiten und überall einbürgern können, gerade
weil es aus den Festtänzen, zu denen sich die Stämme vereinigten, hervor-
gewachsen ist,
[323]
Dennoch darf nicht vergessen werden, dass sich der Indianer heute noch
des konkreten Vorbildes bewusst bleibt. Der Bakaïrí setzt keinen Mereschu-
Fisch auf seine Masken mit Ausnahme der Möven-Maske, Abb. 44, und des Fisch-
makanari, Abb. 93, und so sind auch bei den andern Stämmen — man vergleiche
die Wachsmasken der Auetö́ und die schwarzweissroten Masken der Trumaí —
deutliche Unterschiede vorhanden, die ich nur nicht näher zu bestimmen weiss.
Im Anfang hat der Fisch noch nicht überallhin gepasst, wo sich die Raute
heute schon eingedrängt hat oder bald eindrängen wird.
Man muss sich nun die Frage vorlegen: giebt es, wenn die Gewebmasken
und das Mereschu-Muster auf das Fischnetz zurückgehen, irgendwelche Anhalt-
punkte, um zu entscheiden, welcher Stamm der Erfinder gewesen ist?
Der Mereschu-Fisch ist mir als ein »Lagunenfisch« bezeichnet worden, (wir
haben ihn bei den Yaulapiti gegessen), doch kommt er überall in unserm
Gebiet, selbst im Paranatinga, vor. Der Fischfang mit Netzen ist auch bei
allen Stämmen gepflegt. Hier ist also Nichts zu entscheiden. Immerhin ist die
ethnologische Ausgleichung mit dem Mereschu-Muster und den Masken noch
nicht so ganz und gar vollzogen, als dass sich nicht wenigstens für ein paar
Stämme ein Negatives folgern liesse. Die Bakaïrí, glaube ich, kommen nicht
in Frage. Sie sind die »Herren des Makanari und des Imeo«, der geflochtenen
Anzüge, und die zahmen Bakaïrí hatten gar keine eigentlichen Masken. Die
Bakaïrí hatten auch nicht die mit dem Mereschu verzierten Spinnwirtel. Bei den
Nahuquá haben wir keine Gewebmasken und nur schlechte Holzmasken gefunden,
die sie mit dem Namen Yakuíkatú des Tupí-Tanzes bezeichneten; sie mögen am
Kuluëne mehr bieten, allein wir dürfen ihnen nach dem, was wir bis jetzt von
ihnen wissen, kaum so viel und gewiss nicht mehr zutrauen als den Bakaïrí. Den
Trumaí habe ich bereits früher die Originalität absprechen müssen.
Bleiben die Mehinakú mit Verwandten und die Tupí-Stämme. Jene haben
uns nur Holzmasken sehen lassen. Die Holzmasken zeigen die gleiche Anordnung
wie die Gewebmasken mit Mittelstreif und Muster, sodass sie keine eigenartige
Entstehung verraten und nur einen technischen Fortschritt bedeuten. Die Mehi-
nakú waren, wie die Schemel beweisen, die besten Schnitzer, und so möchte ich
ihnen am ersten die Erfindung der Holzmaske zutrauen. Sie mögen auch, ich
weiss es nicht, Tänze mit Gewebmasken haben, da das Wort koahálu den
Kustenaú und Waurá, die ich im Auetö́hafen befragte, auch geläufig war; die Ent-
scheidung ist unmöglich, weil der eine Stamm die Tänze des andern kannte. Die
Tupí-Stämme der Kamayurá und Auetö́, namentlich die letzteren, verdienen wohl
die meiste Beachtung. Die Auetö́ hatten die meisten Geflecht- und Gewebmasken,
ihr Wort „koahálu“ war an die Nu-Aruakstämme übergegangen, bei ihnen
waren auch alle Holzmasken mit dem Mereschu bemalt, sie waren die besten
Malkünstler, die rein stilisierte Zeichnungen lieferten, bei ihnen und den
Kamayurá war namentlich auch das festest gewebte Tuch vorhanden. So
sehen wir bei ihnen die älteste Uebung gerade der Künste, die hier verlangt
21*
[324] werden, des Webens und Malens, während die Mehinakú in Keramik und
Schnitzerei mehr leisten. Darum geht meine unmassgebliche Meinung dahin, dass
die Wahrscheinlichkeit zu Gunsten der Auetö́ spricht, und dass sie die Er-
finder der Gewebmaske und damit auch des Mereschu-Musters sind.
III. Sonstiger Festapparat.
Die Kamayurá zählten uns Abends auf dem Dorfplatz sieben verschiedene
Tänze auf und stellten Einzelheiten daraus pantomimisch dar. 1. yauarí. Der
Tanzkeule.
Kamayurá.
(⅐ nat. Gr.)
Wurfbrett-Tanz. Mit grossem plastischen Talent wurde darge-
stellt, wie ein Krieger verwundet wird und tot zusammenbricht.
Dem sterbenden Aegineten fehlte nur der Schild. 2. mavuravuá
Maskentanz. 3. ivúraaú mit Federschmuck und Buritírock, den Pfeil
über der Schulter. 4. amurikumá mit kleinen Tanzkeulen. Vgl. die
Abbildung 119. ihóhó ihoehehé ihóho ehéhé nuyakáko horómotáng moták.
5. tavúravauá. Grüne Zweige auf den Armen, Netzmütze, Ohr-
federn, Federdiademe, Buritírock. Dem Fischtanz der Nahuquá
entsprechend. 6. namiakóit, wenn den etwa fünfjährigen Knaben
die Ohrlöcher gestochen werden. 7. kunyá maraká, wenn den
Mädchen das Uluri angelegt wird.
Auch hörten wir noch mehr von begleitenden Gesängen, die
alle stereotyp zu sein scheinen. Ich notierte Manches davon, vermag
sie aber nicht zu übersetzen. Die am häufigsten wiederkehrenden
Refrains waren kaká hiyé, kaká hiyevéne. Jedenfalls spielt der Yauarí-
Tanz die grösste Rolle und hat auch mancherlei Touren; yauarí
hörte man bei den Kamayurá ebenso oft wie makanári bei den Bakaïrí,
nur dass maraká soviel als »Tanz« oder »Gesang« war, ihr Haupttanz
also yauarí-maraká hiess. Einer gab auch eine merkwürdige Vor-
stellung, indem er gebückt und zwei Pfeile über den Boden reibend
tanzte, eine Frau hinter ihm: kurukú he.
Die Frauen, kunyá, die ja als die beste Beute gelten, wurden vielfach in
den Gesängen erwähnt. In der Tanzpantomime wurde oft verdeutlicht, nament-
lich beim Amurikumá-Tanz, dass die Frauen Fische überreichten. Die Tänze be-
ginnen am frühen Morgen und dauern bis Sonnenuntergang.
Tanzkeulen, ähnlich wie die abgebildete der Kamayurá, zum Teil hübsch
umflochten, fanden wir auch bei den Trumaí. Bei den Auetö́ erhielten wir einen
Tanzschmuck, dessen Form an den Rossschweif eines Tambourmajors erinnerte:
von einem Reifenstück hingen je an der Seite und in der Mitte Schwänze von
Buritífasern fast ½ m lang herab.
Zum Tanz mit den Hüvátmasken bei den Kamayurá gehörten zwei Stäbe
haéuté, 80 cm lang, an deren Spitze das Gebiss eines Hundsfisches in einem drei-
[325] eckigen Aufsatz so eingeflochten war, dass die beiden
langen spitzen Zähne, die beliebten Bohr- und
Schneidinstrumente des Indianers oben heraus-
schauten.
Man sieht, der Tanz hat seine psychologische
Entwicklung. In ihm spiegeln sich die Fortschritte der
Kultur deutlich wieder. Im Anfang wird das Tier in
der Pantomime vorgeführt, seine Stimme nachgeahmt
und seine Gestalt in der Strohvermummung nachge-
bildet, aus dem Fischnetz entwickelt sich die Masken-
kunst mit ihren für alle Malerei fruchtbaren Motiven —
hier ist bereits das Gerät mit seiner Technik gegen-
über der Tierfigur in den Vordergrund des Interesses
getreten. Das Wurfbrett und die Keule, sie sterben
aus als Waffen bei dem friedlicher gesinnten Feld-
bebauer, aber sie erhalten sich als Tanzschmuck, die
Wurfsteine werden am Pfeil durch Wachsklumpen
ersetzt und kleine hängen als Amulette am Hals der
Kinder. Der Bakaïrí macht zum Mittelpunkt seiner
Tänze mit Buritíflechtwerk zwei in der Palme
lebende Insekten. Der Kamayurá trägt das Gebiss
Hundsfisch-Tanzstab.
Kamayurá (⅙ nat. Gr.)
des Hundsfisches beim Fischtanz als Festzierrat, er und der Auetö́ macht
sich auch Schmuckwirtel an Stelle der Arbeits-Spinnwirtel und kommt sofort
zu neuen Mustern, weil er sie für den Zweck des Augenblicks nur mit ver-
gänglichen Mustern zu bemalen braucht (vgl. Seite 274), der Bakaïrí schafft
sich aus den Mandioka-Grabstöcken in den Rückenhölzern einen eigenartigen
Tanzschmuck und auch hier entstehen in der freien Kunstübung neue Motive,
sowohl der Form, indem sich der spitze Holzzilinder verwandelt, als der Zeichen-
muster (vgl. Seite 265, 266, 284).
Ueberall finden wir hier noch vor dem Schmuck die nüchterne, nützliche
Thätigkeit, sei es Jagd, Fischfang oder andere Arbeit. Noch einmal wollen wir
es uns klar machen, der Mensch schmückte sich nicht, indem er sich in der freien
Natur umschaute nach dem, was schön aussah und sich dies an seinem Körper
anbrachte, sondern er entdeckte die Schönheit erst, nachdem er das Material
um nützlicher Zwecke gesucht und in Gebrauch genommen hatte. Aber jetzt
hat er mittlerweile einen grossen Vorrat an Form- und Farbenmotiven gewonnen,
er sucht sie allerorts zu verwenden und hat das Schmücken selbst zu einer Art
Kunst erhoben, die sich bei Tanz und Festspiel, wo der Ueberschuss der Kräfte
zur Geltung kommt, am freiesten entfaltet.
Musikinstrumente. »Am lebhaftesten tritt in der Musik des Indianers das
Gefühl für den Rythmus hervor, dagegen bringt er es nur zu schwachen Bruch-
stücken von Melodieen und von der das Gemüt ergreifenden Kraft der Harmonie
[326] scheint er keine Ahnung zu haben.« Ich zitiere hier Martius schon deshalb,
weil ich nicht sicher bin, ob die Indianer nicht musikalischer sind als ich selbst.
In der That war Alles, was wir gehört haben, nur Ausdruck von Takt und
Rythmus. Ich rechne deshalb auch die Klappern, die nur Geräusche hervor-
bringen, zu ihren musikalischen Instrumenten. Sie hatten Fussklappern, Bündel
harter Fruchtschalen, besonders auch halbierte Pikí-Kerne, die der Tänzer um die
Knöchel des aufstampfenden Fusses gebunden trug. (Vgl. die Abbildung 90,
Seite 299.) Klirrende Muschel- und Nussschalengehänge, die von Halsschnüren an
Baumwollquasten herabhingen, das Muschelbündel des Fischmakanari der Bakaïrí
dienten gleichem Zweck.
Der Kerne und Muschelschalenstücke enthaltende, von einem Bambusstöckchen
durchsetzte Rasselkürbis, der mit der Hand im Takt geschüttelt wurde, hatte bei
den Bakaïrí, Nahuquá und Kamayurá denselben Namen wie die Fussklapper.*) Ein
sonderbarer Anblick für uns, wenn die erwachsenen Leute mit grossem Eifer das
Musikinstrument unserer Säuglinge schwingen. Vergeblich würde man die Rassel
bei Kindern suchen. Während wir bei den Bakaïrí keine Rasselkürbisse gesehen
haben, waren sie sehr zahlreich und mit mannigfachen Zierraten von Federchen,
Wachsklümpchen und Baumwolltroddeln ausgestattet bei den Nahuquá. Wir
fanden auch eine junge Schildkröte an Stelle des Kürbis auf ein Stöckchen aufge-
spiesst und bei den Auetö́ sogar das blaue, wie poliert aussehende Ei eines
Hühnervogels mit mehr als ⅓ m langem Stiel. Gelegentlich waren zwei Rassel-
kürbisse an einem Stiel.
Kürbisse von Flaschenform dienten zum taktmässigen Aufstampfen. Runde
mit eingesetztem Bambusrohr bildeten eine Art Uebergang zur Flöte.
Im dritten Bakaïrídorf und bei den Kamayurá wurde als Pauke ein hohler
Baum, der auf der Erde lag, benutzt.
Flöten. Eine hohle, mit zwei Löchern versehene, 6 cm lange Palmnuss,
in die man hineinblies, diente als Pfeifchen. Die beliebteste und vollkommenste
Flöte ¾ — 1 m lang, 6 cm dick, hiess bei den Bakaïrí méni, während sie bei den
übrigen Stämmen folgende, anscheinend sämtlich verwandte Namen führte: Me-
hinakú kolutá, Kustenaú kulútu, Trumaí kut (Fussklapper kutchót), Nahuquá kulúta,
karúto, Kamayurá kurutá, kuruá, Auetö́ kalötú. In ein Rohr ist an einem Ende
ein dicker Wachspropf eingelassen, indem daneben der Wandung entlang ein
Kanal offen bleibt. Hier wird oben hineingeblasen, der Kanal führt zu einem
viereckigen Luftloch in der Rohrwandung. Im untern Viertel der Flöte befinden
sich vier Grifflöcher für Zeige- und Mittelfinger beider Hände; die am untern Ende
abschliessende Querwand ist durchbohrt. Zuweilen besteht das Rohr aus zwei
mit Wachs der ganzen Länge der Flöte nach verklebten Hälften; Umwickelung
mit Rindenstreifen, Rohr oder Baumwolle. Auch findet sich Abschrägung des
Mundstücks. Etuis gaben die aus Buritístroh geflochtenen Tanzärmel ab. Kleinere
[327] Flöten (bis 80 cm lang) aus Bambus sind weniger sorgfältig behandelt. Pansflöten
kommen vor vom zierlichen Hirtenflötchen an bis zu riesiger Grösse. So fanden
wir 1884 bei den Suyá ein Exemplar mit drei Rohren von 1½, 1 und ¾ m Länge,
13½, 13 und 5 cm Umfang; im obern Teil ist seitlich ein rechteckiges Luftloch
angebracht und höher hinauf noch ein 10 cm langes gewölbtes Stück Bambus
aufgeklebt, das nur unten offen steht und den hier aus dem rechteckigen Loch
austretenden Luftstrom fängt.
Schwirrhölzer. Neben den Tanzmasken hing im Flötenhaus der Mehinakú
ein 60 cm langes Schwirrholz von der Form einer Schwertklinge, schwarz gefärbt mit
rotem Mittelstück, vgl. Abb. 121. Das schmale Brett,
an einem Strick durch die Luft geschwungen, erzeugt
ein brummendes oder schwirrendes Ge-
räusch, das einen etwas unheimlichen
Eindruck macht, weil es wie von selbst
stärker anzuschwellen scheint, und kann
dabei mit einer Wucht sausen oder heulen,
die man hinter dem unscheinbaren und
simpeln Ding nicht erwarten würde. Bei
den Nahuquá erhielten wir die in
Nr. 122 abgebildeten Schwirrhölzer, von
denen das eine mit dem Schlangen-
ornament bemalt ist, während man das
andere schwarz angestrichen und dabei
eine Reihe von Fisch- oder Fledermaus-
rauten ausgespart hat. Diese beiden
Schwirrhölzer sind 34 und 36 cm lang,
sie haben die Gestalt von Fischen, die
zweckentsprechend ist, da man einen
Teil des 3 m langen Stricks um die
Einschnürung am Schwanzende wickelt.
Ebenso wenig als betreffs den Masken
hatten wir irgendwelche Schwierigkeit,
Schwirrholz.
Mehinakú.
(⅐ nat. Gr.)
Schwirrhölzer
(Fischform). Nahuquá.
(¼—⅕ nat. Gr.)
die Schwirrhölzer zu erhalten. Die Nahuquá zeigten uns den Gebrauch auf offenem
Dorfplatz in aller Unbefangenheit wie den eines beliebigen Geräts und ohne
dass die Frauen weggejagt wurden. Es ist dies deshalb von grossem
Interesse, weil das Schwirrholz, das in unsern Kulturstaaten heute nur ein Kinder-
spielzeug ist, eine grosse Bedeutung in den religiösen Mysterien bei den ver-
schiedensten Völkern der Erde gehabt hat oder noch hat. Wir werden ihm bei
den Bororó und zwar auch in einer geheimnissvollen Bedeutung, die am Kulisehu
fehlt, wieder begegnen und deshalb auch dort erst auf sie einzugehen haben.
Die Nahuquá und die Mehinakú haben für das Schwirrholz dasselbe Wort,
denn diese nennen es matápu und jene matáhu. Bei den Auetö́, Kamayurá und
[328] Trumaí haben wir das Gerät nicht gesehen. Die Bakaïrí geben ihm den Namen
yélo, iyelo, das heisst ihr für Blitz und Donner gemeinsames Wort, etwa »Gewitter«.
Wollen wir in ihrem Sinn sprechen, müssen wir es nicht, wie ich früher gethan
habe, »Blitz«, sondern nach seinem Geräusch »Donner« nennen. Durch dieses
Bakaïríwort erhalten wir auch die Aufklärung, warum das Schwirrholz bei den
australischen Medizinmännern, die auf ihm zum Himmel fliegen können und die
Figuren von Wasserblumen darauf einschnitzen, gerade zum Regenmachen ge-
braucht wurde. Sie erzeugten Donner und Gewitter mit dem Zauberholz; die
Idee des Regens ist erst sekundär.
Federschmuck und Diademe. Die wichtigsten Federschmuck liefernden
Vögel habe ich bereits Seite 208 aufgezählt. Die Federn wurden verarbeitet als
Ohrfedern.
Kamayurá.
(⅓ nat. Gr.)
Diademe, hauptsächlich die des Arara, der Papageien, des
Japú (Cassicus) und der Falken. Die Schwanzfedern des Arara
wurden gewöhnlich als Mittelstück des Diadems angebracht,
wo sie über die anderen kleineren hoch emporragten. Das
untere Kielende wurde eingeschlagen und auf Schnüre ge-
bunden; um die nackten Spulen zu verdecken, legte man
ringsum ein aus roten oder gelben Federchen gebildetes Band.
Auf einen Strohkranz aufgebundene Federn setzten sich zu
einem den Kopf umschliessenden Federkranz zusammen.
Federhauben entstanden dadurch, dass Federn (am liebsten
weisse von Reihern und Störchen, mit bunten Federchen
durchsetzt), und zwar die grösseren, nahe der Mitte in den
Maschen eines Baumwollnetzes eingebunden wurden; wírd das
Netz über den Kopf gezogen, richten sich die Federn zu einer
Holle auf. Federbänder wurden getragen zur Deckung
des Diademrandes, um die Stirn und hauptsächlich in ziemlich
loser Verknüpfung um die Oberarme.
Ohrfedern. Die Bakaïrí trugen mit Vorliebe gelbe
Cassicusfedern, vgl. die Masken Seite 304 und Tafel 6. Die
Ohrfedern werden in Hülsen gesteckt oder an kleinen oder
grossen Rohrstöckchen befestigt. Sehr zierlich und bunt sind
die 24 cm langen Federstäbe der Kamayurá; die Abbildung 123
kann leider die prächtigen Farben nicht wiedergeben. Die Nasenfedern der
Bakaïrí habe ich Seite 181 besprochen.
Federmäntel hatten nur die Kamayurá, richtiger lange Federnetze, die
von einer Halsschnur über den Rücken herabhingen, zusammengesetzt aus Federn
von Geier, Sperber, Arara, Storch und Jakutinga. Sie gehörten in erster Linie
»zum Yakuitanz«, yakuí-áp. Vorn über die Stirn fiel ein langes Buritígehänge. Die
Kamayurá hatten auch 30—40 cm lange Büschel menschlichen Haars, die einem Kopf-
netz angeflochten waren und beim Yauari-Tanz gebraucht wurden. Ferner trugen sie
auch kleine Tierbälge und aufgespannte Fellstücke bis etwa ¼ m Länge zum Tanz.
[329]
Billigere Diademe wurden aus Rohr geflochten, vgl. Tafel 6. Besonders
die Bakaïrí und Nahuquá begnügten sich mit diesem Putz, den sie kunstvoll aus
Burití- oder Akurí- oder meist Waimbé-Streifen flochten und durch Abwechslung
mit schwarzgefärbten Streifen belebten. Bei den Nahuquá waren auch Rohr-
stäbchen in strahlenförmiger Anordnung wie die langen Mittelfedern der Feder-
diademe aufgesetzt. Auch sehen wir einfach Stücke harten Bastes (von Pata de
boi) diademartig umgebunden; der Auetö́-Häuptling trug ein Stück Jaguarfell als
Diadem, vgl. das Bild Seite 108. Die Kamayurá endlich hatten Baumwollmützen,
die, wie die Rohrdiademe aus Federdiadem, ihrerseits, wie die Technik zeigt, aus
der Federhaube hervorgegangen waren.
Aller Federschmuck, mit Ausnahme etwa einer gelegentlich, zumal bei
den Bakaïrí, in’s Ohr gesteckten Feder gehört zu festlichen Gelegenheiten,
einschliesslich des feierlichen Empfanges. Es ist mit den Federn ebenso wie
mit der Körperbemalung.
Spiele der Jugend. Bei den Bakaïrí sahen wir Fangbälle aus Maisstroh
zusammengeballt; statt der sonst üblichen langen Feder war ein Schweif Mais-
stroh eingebunden. Gummibälle, jedoch massive, fanden sich bei den Auetö́.
Der Saft einer Figueira oder der Mangave wird auf der Brust zu einer kleinen
Kugel gerollt, mit Aschenwasser gebeizt und der Ball ringsum so eingestochen,
dass er aussen mit einem Geflecht überzogen erscheint. Die Bälle werden mit
Urukú rot gefärbt.
Kreisel lieferte die unreife Erdnuss (Arachis hypogaea) oder Mandubí.
Doppelt kirschengross wurde sie durchbohrt auf ein Bambusstöckchen geschoben,
sodass dieses nur wenig vorschaute, und hier durch Umwickeln mit einem Baum-
wollflöckchen vor dem Abrutschen gesichert. Die Frucht tanzte den langen Stiel
nach oben. Man setzte mehrere solcher Kreisel in einen Topf und liess sie
zusammen tanzen.
Den Seite 110 beschriebenen Ringkampf müssen wir schon den Spielen der
Erwachsenen zurechnen, doch übten sich die Kinder gern im Ringen. Desgleichen
natürlich im Bogenschiessen. Auch haben wir Kinder-Wurfhölzer gesehen. Mit
den schweren Thonpuppen wurde von älteren Kindern gespielt. Von mir ver-
langte man einige Mal eine Art Kraftprobe dergestalt, dass ich einen Jüngling mit
freiem Arm in die Höhe heben sollte. Hier kann ich noch die Beobachtung an-
fügen, dass die Indianer es nicht fertig brachten, eine Stange auf einem Finger
balanzieren zu lassen.
[[330]]
XII. KAPITEL.
I. Recht und Sitte. II. Zauberei.
I. Eigentum. Verwandtschaft. Ehe. Moral. Tauschverkehr. Namen. Geburt. Couvade und deren
Erklärung. Begräbnis.
II. Hexerei in verschiedenen Stadien und auf verschiedenen Kulturstufen. Traumerlebnisse. Pars
pro toto. Gute und böse Medizinmänner. Ihre Methoden. Sterben in der Narkose. Der Medizin-
mann im Himmel. Tabak. Wetterbeschwörung.
I.
Die Grenzen zwischen den Gebieten der Stämme sind natürliche. »Dieser
Bach gehört schon dem Nachbarstamm« wurden wir unterwegs regelmässig belehrt.
Das eine Ufer des Kulisehu gehörte auch z. B. den Nahuquá, das andere den
Mehinakú. Der Fischfang mit Pfeil und Bogen auf dem Fluss stand Jedermann frei.
Die Pflanzung war gemeinsames Eigentum, im Haus hatte Jeder persönliches
Eigentum, auch die Frauen, die wir oft Einspruch erheben sahen, dass man uns
davon gebe; man vererbte es auf seine Kinder, Söhne und Töchter. Häufig aber
beobachteten wir, dass Personen, denen wir Perlen und dgl. gegeben hatten, sie
an den Häuptling abliefern mussten.
Die Gewalt des Häuptlings war nicht gross. Es gab in allen grösseren
Dörfern mehrere Häuptlinge, die in verschiedenen Häusern wohnten; uns gegen-
über repräsentierte immer nur Einer. »Repräsentation« war die wichtigste Ver-
pflichtung in Friedenszeit. Der Häuptling hatte die Leitung der Pflanzgeschäfte,
er sorgte dafür, dass der nötige Mehlvorrat angelegt wurde, er liess die Beijús
backen und die Getränke zubereiten bei allen festlichen Gelegenheiten und bei
Fremdenbesuch. Er war offenbar ein Hausvater in grösserm Stil, durfte aber
nicht sehr sparsam sein, wenn ihm um die Wertschätzung seiner Mitbürger, ge-
schweige seiner Stammesnachbarn, zu thun war. So war der Häuptling des
ersten Batovydorfes „kurápa“, schlecht = geizig. Er liess nur wenige Beijús für
die Gäste backen. Geiz gilt als hässlichste Eigenschaft. Aber diese Art Regieren
muss schwer sein. Antonio erzählte mir von einem gewissen João Cadete im
Paranatingadorf, der an der Reihe war, Häuptling zu werden, lieber aber aus-
wanderte »com medo de tratar gente«, in der Angst, Leute bewirten zu müssen,
[331] sodass Felipe an seine Stelle trat. Ist die Gemeinde mit ihrem Oberhaupt un-
zufrieden, so weiss sie sich zu helfen: sie trennt sich von ihm und zieht einfach
an einen andern Ort. Die Würde ist erblich, deshalb nicht immer in den besten
Händen, und geht auf den Sohn und, wenn keiner da ist, auf den Sohn der
Schwester über. In Maigéri war der Häuptling gestorben und hatte nur eine
Tochter hinterlassen, »meine Zukünftige« in der Bakaïrí-Idylle. Häuptling wurde
nun vorläufig Tumayaua, der Bruder der Witwe; sobald das Mädchen sich ver-
heiratete, trat ihr Gatte an seine Stelle. Sie empfing eine Menge von Perlen,
die wir Anderen gegeben hatten, ihr gehörte der Häuptling-Schemel.
In dem Wenigen, was ich von diesen Verhältnissen berichten kann, sind
einige Züge der Matriarchats erkennbar. Die Söhne gehören zum Stamm der
Mutter; Antonio erklärte, wenn einer der mit paressífrauen verheirateten Bakaïrí
Kinder hätte, so wären das Paressí. Was freilich bei geraubten Frauen wohl
nur sehr theoretisch gemeint sein kann. Zwischen Mehinakú und Nahuquá, zwischen
Auetö́ und Yaulapiti, wie auch zwischen Kamayurá und Auetö́, zwischen Kama-
yurá und Mehinakú, zwischen Batovy-Bakaïrí und Kustenaú, zwischen Kulisehu-
Bakaïrí und Nahuquá kamen zu unserer Zeit eheliche Verbindungen vor. Wie
bei den Nahuquá Mehinakúfrauen lebten, hatten Auetö́-Männer Yaulapitifrauen
geheiratet und wohnten in zwei Häusern bei dem Auetö́dorf etwas abseit, sie
wurden »Arauití« genannt.*) Dagegen lebten ein Kustenaú- und ein Nahuquá-
Mann bei den Bakaïrí verheiratet, während wir das Umgekehrte, dass Bakaïrí-
Frauen in einen andern Stamm hineingeheiratet hätten, niemals beobachtet
haben. Pauhaga aus dem ersten Bakaïrídorf am Batovy hatte eine Tochter
Awiá’s aus Maigéri zur Frau und kam, als seine Gattin ihrer Entbindung ent-
gegensah, mit ihr in Awiá’s Haus am Kulisehu, damit sie oder vielmehr sie beide,
wie wir sehen werden, die Wochenstube bei den Schwiegereltern bezögen. Der
Bruder der Mutter galt immer noch, obwohl die Leute in Einehe lebten und der
Vater das Oberhaupt der Familie war, als ein dem Vater gleichwertiger Beschützer
des Kindes und trat jedenfalls alle Pflichten an, wenn der Vater starb, für die Zeit bis
die Kinder erwachsen waren. Er verfügte über ihr Eigentum, nicht die Mutter.
Aelterer und jüngerer Bruder hatten bei allen Stämmen eine verschiedene
Bezeichnung. Der jüngere Bruder stand auf gleicher Stufe mit dem Vetter und
hatte mit ihm den Namen gemeinsam. Die Bakaïrí nannten mich »älterer Bruder«,
später im dritten Dorf auch »Grossvater«, die Mehinakú »Onkel« (Mutterbruder).
Meine Reisegefährten hiessen stets meine »jüngeren Brüder oder Vettern«, wurden
auch von den Indianern selbst so angeredet.
Heiraten werden ohne Hochzeitfeierlichkeiten abgeschlossen, die Eltern,
zuerst die Väter, dann die Mütter, bereden die Sache, der Vater der Braut erhält
[332] Pfeile und Steinbeile; der Bräutigam muss auch mit in der Rodung arbeiten, »um
zu zeigen, dass er es versteht«, er hängt seine Hängematte über der des Mädchens
auf und Alles ist in Ordnung. Dass ältere Männer junge Frauen, jüngere Männer
ältere Frauen haben, war nur am Paranatinga deutlich ausgesprochen, am Kuli-
sehu dagegen nicht; (dieses Vorrecht der Alten tritt hier also erst bei dem Verfall
des Stammes auf). Wenigstens waren die paar Ehegemeinschaften, die ich in
Maigéri genauer kennen lernte, gleichartig zusammengefügt. Die Scheidung erfolge
bei den Bakaïrí ohne Umstände, auch wenn der Mann nicht damit einverstanden
sei. »Die Frau geht fort, vielleicht erwischt er sie wieder.«
Ueber die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern habe ich bereits früher
gesprochen, vgl. S. 214 ff. Die Frau nahm keine unwürdige Stellung ein. Der
Mann liess sie mehr Last tragen, als er selbst trug, er hielt sie fern von dem
Flötenhaus, wo die Männer berieten, rauchten, Feste begingen, und wo die
Fremden beherbergt wurden, er war ihr Herr und Gebieter — und that, was sie
wollte. Wenn Martius sagt, dass die Frau »trotz sklavischer Unterordnung in
Folge der heitern Geschäftigkeit« keine niedere Stellung einnehme, so trifft
das für unsere Indianer vollkommen mit der Massgabe zu, dass die sklavische
Unterordnung stark zurücktrat. Die Frau bedurfte des Schutzes einmal, weil sie
schwach war und bei jeder Gefahr »weinte«, dann, weil sie vor fremden Gelüsten
bewahrt werden musste. Sie ging bei der Heimkehr von der Pflanzung nach
Hause vor dem Manne, da sie schwer bepackt rasch vorwärts eilte und Alles
sicher war, im Walde ging sie hinter ihm, damit er einer etwaigen Gefahr zuerst
begegne. Vor fremden Gästen wurde sie behütet, und wenn sie zweifelhafter
Natur waren wie wir, so liefen die Weiber und Kinder in den Wald.
Was bei Ehebruchsdramen geschieht, weiss ich nicht. Wir haben überhaupt
keine Gelegenheit gehabt, etwas zu beobachten, was in das Gebiet der Justiz-
pflege gehörte. Wenn ich mich bei Antonio nach Verbrechen irgendwelcher Art
erkundigte, so antwortete er immer, dergleichen sei früher wohl geschehen, komme
aber jetzt nicht mehr vor.
Diebstahl war jedenfalls uns gegenüber sehr häufig, ausgenommen bei den
Bakaïrí, wo indess Freund Luchu zur Zeit, da er uns in der Independencia be-
suchte, nicht mehr recht sicher war. Als die Verwirrung im Trumaílager ent-
stand, weil ich ein Glas mir gestohlener Arsenikpillen zurückverlangen musste,
sahen wir, dass die mit uns gekommenen Yaulapiti Steinbeile der Trumaí zu er-
wischen suchten. Immer und ganz ohne Ausnahme sollte es ein Fremder ge-
wesen sein, der gestohlen hatte. Die gemeinsam wohnenden Leute haben
auch wenig, was sie sich untereinander wegzunehmen brauchten, und der
Dieb könnte dessen kaum froh werden, ohne dass man ihn entdeckte. Nichts
ist also natürlicher, als dass sich der Begriff von Moral auf das Genaueste
an die Stammeszugehörigkeit anlehnt. Bei den Bakaïrí heisst kurá »wir«, »wir
alle«, »unser« und gleichzeitig »gut« (»unsere Leut«), kurápa »nicht wir«,
»nicht unser« und gleichzeitig »schlecht, geizig, ungesund«. Alles Uebel kommt
[333] von Fremden, nicht zum wenigsten Krankheit und Tod, die von Zauberern
draussen geschickt werden.
Wie wichtig gute Beziehungen zu den Nachbarstämmen sein müssen, erhellt
aus der, man kann fast sagen, Notwendigkeit des Tauschverkehrs. Der eine
Stamm ist zóto, Herr dieses, der andere jenes Artikels. Das Wichtigste darüber
habe ich auf den Seiten 203, 210, 215 ausführlich mitgeteilt. Die Bakaïrí hatten
als Spezialität die Halsketten mit weissen rechteckigen Muschelstücken, Muschel-
perlen, Urukú, Baumwollfaden und Hängematten, die Nahuquá Kürbisse, sowie
Ketten mit roten Muschelstücken und Tukumperlen, die Mehinakú und Verwandte
Töpfe und feinen Baumwollfaden, die Trumaí und Suyá Steinbeile und Tabak, die
Trumaí und vielleicht auch die Yaulapiti Ketten mit durchbohrten Steinen. Auch
war das aus Bambusasche bereitete Salz der Trumaí bei andern Stämmen beliebt.
Dies waren Alles Handelsartikel. Sie machten zum Teil den weiten Weg
von den Bakaïrí bis zu den Suyá, von Stamm zu Stamm wandernd. Die Suyá
verkehrten mit den Kamayurá, diese mit den Töpferstämmen, von den letzteren
standen die Mehinakú im engsten Verkehr mit den Nahuquá, und die Kustenaú
mit den Bakaïrí des Batovy. Die obersten Bakaïrí des Kulisehu erhielten ihre
Suyá-Steinbeile und Kustenaú-Töpfe von ihren Batovy Verwandten und die Bakaïrí
des dritten Kulisehu-Dorfes von den Nahuquá, mit denen sie enge Beziehungen
unterhielten. Als wir 1884 den Bakaïrí am Batovy von unsern Karaibensachen
gegeben hatten, benutzte der Häuptling des ersten Dorfes die günstige Konjunktur
und trat einc Geschäftsreise in das untere Gebiet des Kulisehu an; so kamen
gelegentlich auch nicht benachbarte Stämme in Handelsverkehr. Die von den
Suyá für Steinbeile eingetauschten Artikel sind Hängematten, Muschelketten,
Ararafedern und Töpfe.
War ein alter und notwendiger Tauschhandel vorhanden, so fehlte doch,
jedenfalls bis zu einem gewissen Grade, der Begriff des Wertes. Der An-
kommende brachte dies oder jenes mit und lieferte es ab, wenn er zum Empfang
bewirtet wurde. In kleinerer Menge beim Empfang, in grösserer beim Abschied
erhielt er die gewünschte Gegengabe. Wir haben bei dem Abschied in Maigéri
das typische Beispiel erlebt, vgl. Seite 132, wir wurden hingesetzt und erhielten
dann einen Korb Mehl. So übersetzen die zahmen Bakaïrí das portugiesische
comprar »kaufen« mit yekadilesich setzen. Der Handel ist also noch ein Aus-
tausch von Gastgeschenken. Allein dies ist nur in der Kulturstufe, nicht in
dem edelmütigen Charakter begründet. Der Indianer ist keineswegs gastfreund-
lich in dem Sinn, dass er sich durch den Besuch riesig geehrt und schlechthin
verpflichtet fühlte, mit Beijús und Getränken verschwenderisch zu bewirten. Er
möchte schon für diese Leistung eine Gegenleistung haben, er wird bald unge-
duldig, wenn der Gast nur bleibt, um billig zu leben, und bittet ihn offenherzig,
das Dorf zu verlassen. Schon in der Bakaïrílegende wird gleichzeitig mit der
Erfindung des Tanzes berichtet, dass die Eingeladenen und Bewirteten Pfeile und
Bindfaden geschenkt hätten. Unsere Reisegefährten boten uns unterwegs Fisch sicher
[334] nur an, wenn sie selbst satt waren, und es waren nicht die besten Beijús, die sie
uns überliessen. Die ewige Unterhaltung auch unter ihnen selbst, ob dieser oder
jener Stamm „kúra“ sei, zeigte deutlich, dass man nichts weniger als naiv gast-
frei war; es erregte stets die grösste Befriedigung, wenn wir einen Stamm für
„kurápa“ erklärten, weil das von unserer Seite bedeutete, dass wir mit jenem
weniger Geschäfte gemacht hätten. Man lobte sich selbst zu stark, als dass der
Empfangende an die reine Tugend des uneigennützigen Wilden hätte glauben
können.
Unsere nüchtern geschäftsmässige Art, der Umtausch von Gegenstand
um Gegenstand, war allen Stämmen im Anfang völlig neu. Sie lernten
aber rasch. Doch kamen die possierlichsten Ungeheuerlichkeiten vor. Einer raffte
eine Handvoll Mangaven auf und verlangte dann ungestüm ein grosses Messer.
Einer wollte Perlen dafür haben, dass man ihm die Hand verbunden hatte. Nur
wenn man ihnen erklärte, dass man selbst den Gegenstand nur in einem einzigen
Exemplar besitze, wurde man nicht weiter behelligt.
Namen. Der Sohn erhält bald nach der Geburt den Namen des Grossvaters,
Oheims oder eines Vorfahren, nicht den des Vaters. Die Namen sind bei den Bakaïrí
zum Teil, ich glaube jedoch nur zum kleinen Teil, Tiernamen. Dies sind die ein-
zigen, deren Sinn ich verstehe; so ist Luchu eine Wasserschlange, der Häuptling
Reginaldo am Rio Novo hiess mit seinem einheimischen Namen izána = Kaiman,
ein Alter in Igueti hiess póne = schwarze Piranya. Eine von den Frauen im Parana-
tingadorf hiess makála = Tujujústorch. Die Namen der Männer waren meist ohne
Schwierigkeit zu erfahren; zuweilen ging ein leichtes Sträuben voraus, und man
zog vor, wenn ein Freund die Mitteilung machte. Ein Bakaïrí hatte angeblich
keinen Namen, weil seine Eltern früh gestorben seien. Von den Frauen am
Kulisehu erhielt ich immer nur die Antwort »ich bin eine Frau«; ich habe aller-
dings versäumt, dritte Personen zu befragen. Die Sitte des Namentausches habe
ich beschrieben, vgl. S. 125 und 129. Sie erklärt, warum die Indianer so wenig
Schwierigkeiten machen, sich der christlichen Taufe zu unterwerfen. Sie verstehen
darunter nur eine Zeremonie, durch die sie ihren alten Namen verlieren.
Geburt und Couvade. Abortieren soll häufig stattfinden. Die Frauen
fürchten sich vor der Niederkunft. Bei den Bakaïrí machen sie sich einen Thee
aus der Wurzel eines Kampbaumes, namens Perovinha. Wahrscheinlich treten
noch mechanische Prozeduren hinzu. Die Frau kommt in knieender Stellung auf
dem Boden nieder, indem sie sich an einen Pfosten anklammert. Die Hängematte
soll nicht beschmutzt werden. Frauen, die uns dies pantomimisch veranschaulichten
und die es aus Erfahrung wussten, erklärten mit Entschiedenheit, dass die
Schmerzen gross seien. Sie stehen aber bald auf und gehen an die Arbeit und
der Mann macht die berühmte Couvade, das männliche Wochenbett,
durch, indem er strenge Diät hält, die Waffen nicht berührt, und den grössten
Teil der Zeit in der Hängematte verbringt. Bei der Rückkehr sahen wir eine
solche Couvade in Maigéri in Paleko’s Haus. Man hatte eine wirkliche Wochen-
[335] stube eingerichtet, indem man von einem der Hauptpfosten aus zwei mannshohe
Wände aus hängenden Buritíblättern nach der Aussenwand gespannt hatte. So
war ein Kreisdreieck abgesperrt. Man erlaubte mir gern den Eintritt, damit ich
dem Kinde Perlen schenke. Drinnen waren vier Hängematten ausgespannt, zwei
Frauen mit Säuglingen und zwei Männer beherbergend. Starker Pikígeruch, von
Einreibungen herrührend, erfüllte den Raum. Die Säuglinge waren kurápa, krank,
schwach, wie die Eltern klagten. Die Mütter und Väter waren unausgesetzt
thätig, sie anzublasen, und zwar in hohlklingenden Geräuschen mit fast ge-
schlossenem Mund, die auch während der ganzen folgenden Nacht kaum einen
Augenblick unterbrochen wurden. Die Ehemänner verliessen das Haus nur für die
Befriedigung der Notdurft, sie lebten ausschliesslich von dünnem Pogu, in Wasser
verkrümelten Mandiokafladen. Alles Andere würde dem Kind schaden; es wäre
gerade so, als ob das Kind selbst Fleisch, Fisch oder Frucht esse.
Nun ist nichts naheliegender als die merkwürdige Sitte, die den Frauen zu
Gute kommt, mit dem Jägerleben in Zusammenhang zu bringen; der Mann sollte
Frau und Kind während der schweren Stunde und der ersten Tage nahe sein, und
nicht draussen umherstreifen; dafür gab es kein besseres Mittel, als wenn man
ihn auf Diät setzte. Und, wie auch die Sitte entstanden sein möge, dass sie
diesen Vorteil darbot, ist klar, und es ist mindestens wohl verständlich, dass die
Frauen ihr zugethan waren und sie sich fest einbürgerte. Allein am modernen
Paranatinga, wo sie vernachlässigt wird, sind die Frauen unzufrieden, nicht weil
sie, sondern weil die Kinder darunter litten. Wenn sie den Frauen nützte, so ist
das auch kein Grund dafür, dass sich die Männer ihr unterworfen hätten. Und
die Männer unterwerfen sich ihr doch so allgemein und mit solcher Ueberzeugung,
dass man sieht, es handelt sich um ein tief eingewurzeltes, uraltes Element des
Volksglaubens. Es ist sehr zweifelhaft, ob es überhaupt irgend einen brasilischen
Indianerstamm giebt, der sie nicht geübt hätte. Man muss die Einrichtung mög-
lichst an Stämmen untersuchen, die noch unter ungestörten Verhältnissen ange-
troffen worden sind und nicht nur Reste der alten Einrichtungen bewahrt haben.
Die Inselkaraiben assen und tranken gewöhnlich nichts in den ersten fünf Tagen,
beschränkten sich die folgenden vier auf ein Getränk aus gekochter Mandioka,
wurden dann üppiger, enthielten sich aber noch mehrere Monate einiger Fleisch-
arten. »Es ist nicht wahrscheinlich«, sagt der vortreffliche Pater Breton, »dass
der Ehemann auch schreit wie die Frau in Kindsnöten, ich habe sie im Gegenteil
heimlich und versteckter Weise von draussen kommen sehen, einen Monat nach
der Geburt, um in der Zurückgezogenheit ihre Fasten zu begehen.« Sie ver-
achten diejenigen, die die Sitte nicht üben, erklären, sich selbst dabei besser
zu befinden und älter zu werden, und glauben, dass ihre durch überflüssige Säfte
erzeugten Krankheiten bei Unterlassung des Gebrauchs auf die Kinder übergingen.
Bei unsern Indianern besorgt der Vater das Kind, die Frau geht eher
wieder an die Arbeit. Dass der Vater dabei viel in der Hängematte liegt, ver-
steht sich bei dem Mangel an Nahrung und schon, weil er zu Hause bleibt, von
[336] selbst. Wann beginnt nun die Couvade und wann hört sie auf? Der Vater
durchschneidet die Nabelschnur des Neugeborenen, fastet streng, pflegt
das Kind und ist wieder ein freier Mann, wenn der Rest der Nabelschnur
abfällt. Er durchschneidet die Nabelschnur bei den Bakaïrí den Knaben mit
Kambayuvarohr, den Mädchen mit Takoarabambus.
Vergleichen wir hiermit die Notiz bei Martius über die Passés, wo die
Gebräuche besonders klar als medizinische zu erkennen sind, wenn die Jung-
frau beim Eintritt der Menses einen Monat fastet, die Wöchnerin einen Monat
im Dunkeln bleibt, und, »wie der Gatte, auf die Kost von Mandioka, Beijú und
Mehlsuppe angewiesen ist. Der Gatte färbt sich schwarz und bleibt während
der ganzen Fastenzeit oder bis dem Säuglinge die vertrocknete Nabelschnur
abfällt (sechs bis acht Tage), in der Hängematte. Er selbst pflegt die
Nabelschnur mit den Zähnen oder scharfen Steinen zu durchschneiden, wenn er kein
Messer hat.« Besonders wichtig ist jedoch ein uns in der Klosterbibliothek von
Evora, der Hauptstadt der portugiesischen Provinz Alemtejo, erhaltenes Manu-
skript des Jesuiten Fernão Cardim von 1584*), das viele zuverlässige Beob-
achtungen enthält. »Die Frauen gebären auf dem Boden, sie heben das Kind
nicht auf, sondern der Vater hebt es auf oder irgend eine Person, die sie zum
Gevatter nehmen und mit denen sie Freundschaft halten wie die Gevattern unter
den Christen; der Vater zerschneidet die Nabelschnur mit den Zähnen oder mit
zwei Steinen, einem über dem andern, und sogleichdarauf legt er sich zu
fasten, bis der Nabel abfällt, was gewöhnlich bis zu 8 Tagen währt, und bis
er ihm nicht abfalle, lassen sie nicht das Fasten, und beim Abfallen
macht er, wenn es ein Knabe ist, einen Bogen mit Pfeilen und befestigt ihn an
dem Strickbündel der Hängematte, und an dem andern Strickbündel befestigt er
viele Kräuterbündel, die die Feinde sind, die sein Sohn töten und verzehren soll,
und nachdem diese Zeremonien vorbei sind, machen sie Wein, an dem sich alle
erfreuen.«
Man könnte den Vater nach diesen wertvollen Angaben, die genau mit
denen am Schingú übereinstimmen, für den behandelnden Arzt erklären, der etwa
auch fastet wie der studierende Medizinmann, durch anderes Verhalten seine Kur
gefährden und dem Kinde schaden würde. Allein nicht nur die Schingúleute,
sondern auch viele andere Stämme sagen, der Vater dürfe Fisch, Fleisch und
Früchte nicht essen, weil es dasselbe sei als wenn das Kind selbst es ässe,
und es ist nicht einzusehen, warum man den Eingeborenen nicht glauben soll,
dass sie das glauben. Auch stände der Medizinmann des Dorfes immer zur Ver-
fügung, und er wird in allen andern Fällen gerufen, wenn Mutter oder Kind
erkranken.
Der Vater ist Patient, insofern er sich mit dem Neugeborenen eins
fühlt. Wie er dazu kommt, ist doch auch wirklich nicht so schwer zu verstehen.
[337] Von der menschlichen Eizelle und dem Graaf’schen Follikel kann der Eingeborene
nicht gut etwas wissen, er kann nicht wissen, dass die Mutter das den Eiern der
Vögel entsprechende Gebilde beherbergt. Für ihn ist der Mann der Träger der
Eier, die er, um es kurz und klar zu sagen, in die Mutter legt und die diese
während der Schwangerschaft brütet. Man betrachte sich Tafel 16 und 17, wo
die Indianer die männlichen Eier gezeichnet haben. Wo das sprachliche Material
ausreicht, sehen wir sofort, wie dieser höchst natürliche Versuch, die Zeugung zu
erklären, auch in den Wörtern für Vater, Hoden und Ei offenbar wird. Im
Guaraní heisst tub Vater, Rogen, Eier, tupiá Eier, und „tup-í“ selbst, der Name
des Stammes, ist nur, mit -i klein zusammengesetzt, kleine Väter oder Eier oder
Kinder wie man will; der Vater ist Ei und das Kind ist der kleine Vater. Die
Sprache sagt es selbst, dass das Kind nichts ist als der Vater. Bei den Tupí
bestand auch die Sitte, dass der Vater nach der Geburt jedes neuen Sohnes
einen neuen Namen annahm; es ist keineswegs nötig, um dies zu erklären, anzu-
nehmen, dass die »Seele« des Vaters jedesmal in den Sohn hineinfuhr. Im
Karaibischen genau dasselbe. imu ist Ei oder Hoden oder Vater oder Kind,
letzteres bei einigen Stämmen bereits lautlich differenziert:
Ipurucoto imu Ei, Bakaïrí Hoden, Tamanako Vater, Makuschi imum Samen;
mit dem Pronominalsuffix -ru finden wir imu-ru Kind bei verschiedenen Stämmen:
Kumanagoto umo mein Vater, amo dein Vater, Nahuquá umú-ru mein Kind.
amú-ru dein Kind. Selbstverständlich kommt man überall dazu, bestimmende
Zusätze zu liefern oder die ursprünglich identischen Wörter, den Zusammenhang
vergessend, lautlich von einander zu entfernen. So hat das Kamayurá ye-rup
mein Vater, upiá Eier, ye-reapiá meine Hoden, das Auetö́ i-tupiá meine Hoden,
n-upiá seine Eier, die Lingoa geral çapyá Hoden, çopiá Ei. So heisst bei den
Bakaïrí Kind und klein iméri, das Kind des Häuptlings píma iméri; wir können
nach Belieben übersetzen »das Kind des Häuptlings« oder »der kleine Häuptling«
und werden uns bei der letzteren Form, die wir vom Sohn mehr scherzweise
anführen könnten, nicht bewusst, dass bei dem Indianer das Kind auch wirklich
nur der kleine Häuptling selbst ist, eine kleine Ausgabe vom grossen. Seltsam
und kaum fassbar ist diese Vorstellung auch für unser Gefühl wohl nur für den
Fall, dass es sich um ein Mädchen handelt. Aber auch das Mädchen ist der
kleine Vater und nicht die kleine Mutter; es ist nur vom Vater gemacht. Im
Bakaïrí giebt es keine besonderen Wörter für »Sohn« und »Tochter«, sondern es
wird, wenn man den Unterschied verlangt, das Geschlecht hinzugefügt. „píma
iméri“ kann sowohl der Sohn als die Tochter des Häuptlings heissen. Die einzige
Tochter des Häuptlings ist die Erbin von Besitz und Rang, was beides mit ihrem
eigenen Besitz an den Gatten übergeht.
Der kleine Vater kommt zur Welt, die Nabelschnur wird durchschnitten,
der grosse Vater fastet mindestens so lange, bis die Wunde geheilt ist und
damit das neue Menschlein als ein selbständiges Wesen gelten kann. Der Vater
würde sicherlich keine Vorsichtsmassregeln beobachten, wenn das Kleine sogleich
v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 22
[338] wie ein Küken gesund umherliefe, aber es blutet und schwebt in Gefahr, da es
ja nicht einmal abgebunden wird. Die Sache ist gar nicht so seltsam, wenn die
Mutter nur als Brutmaschine aufgefasst wird. Schon während der Schwanger-
schaft (vgl. Ploss, Das Kind, II. Kap., 7) fastet der Vater vielfach und ver-
meidet schwere Arbeit, um dem Kinde nicht zu schaden. Aber nach der Geburt
fühlt er sich mindestens bis zu dem Augenblick, dass der Rest der Nabelschnur
abfällt, noch in thatsächlichem »Zusammenhang« mit dem Kinde, und mindestens
während der Tage, dass das Leben des kleinen Vaters sichtbarlich gefährdet er-
scheint, muss Diät eingehalten und nichts gegessen werden, was der eine Teil
nicht vertragen kann. Es ist auch durchaus nicht unumgänglich notwendig,
dass die Entbindung im Beisein des Vaters stattfindet, damit er zum Fasten ge-
zwungen werde, und so kann das Bedürfnis seiner Anwesenheit auch nicht der letzte
Grund der Sitte sein. Wie zitiert, holten die Inselkaraiben ihre Couvade noch einen
Monat später nach. Bei den Ipurina am Purus kommt die Frau, von einigen
älteren Weibern unterstützt, in einer Waldhütte nieder und kehrt erst »vier oder
fünf Tage später« zu dem Manne zurück, der jetzt erst das Kind sehen darf und
während dieser Zeit strenge Diät halten musste«. Noch ein ganzes Jahr lang
darf der Mann weder Schweine- noch Tapirfleisch geniessen. Ehrenreich, der
dies berichtet, fügt hinzu: »ein wirkliches ‚Männerkindbett‘ ist nicht üblich.«
Nun, doch wohl nur insoweit nicht, als der Vater nicht in der Hängematte zu
liegen braucht, was, wenn es nicht nur eine Nebenerscheinung ist, jedenfalls eine
der unwichtigsten Kurvorschriften ist. Dass falsche Nahrung für das Kind in
erster Linie schädlich ist, weiss auch der Indianer, und darum ist es das Wichtigste,
Diät zu halten. Alles Andere ist mehr oder minder nur Beiwerk. Entscheidend
ist endlich das Verhalten der Bororó. Die Mutter kommt im Walde nieder, und
der Vater, der niemals dabei ist, fastet nicht nur, er nimmt auch, wie wir von
dem darob hocherstaunten Apotheker der brasilischen Militärkolonie erfuhren,
wenn das Kind krank ist, die Medizin ein, die ihm für das Kind über-
geben wird.
Das Verhalten der Mutter kann, während alle Stämme für den Vater ein
gleiches Verfahren einschlagen, recht verschieden sein, je nachdem sie als mehr
oder minder leidend erachtet wird. Sie geht ihren Geschäften wieder nach, soweit
sie die Kraft fühlt, und säugt das Kind, aber damit ist es auch genug. Zwischen
Vater und Kind besteht keine mysteriöse Wechselbeziehung, das Kind ist eine
Vervielfachung von ihm, der Vater ist doppelt geworden und muss sich für die
unbehülfliche, unvernünftige Kreatur, die seine Miniaturausgabe darstellt, selbst wie
ein Kind verhalten, das nicht Schaden nehmen darf. Gesetzt das Kind stürbe
in den ersten Tagen, wie könnte der Vater, der von solcher Anschauung erfüllt
ist und schwer verdauliche Sachen gegessen hat, zumal alle Krankheit durch
Schuld eines Anderen entsteht, zweifeln, dass er selbst die Schuld trage?
Was wir »pars pro toto« nennen, beherrscht den Volksglauben überall in Betreff
des Hexen- oder des Heilzaubers, obwohl ich nicht glaube, dass der Zaubernde
[339] die klare Vorstellung eines »Teils« hat, mit dem er arbeitet. Die »Couvade«
verfährt nach genau derselben Logik, nur dass hier ein Fall gegeben ist, wo das
Ganze für den »Teil« eintritt. Es ist dasselbe, ob ich das Haar des Feindes
vergifte und ihn dadurch dem Siechtum aussetze, oder ob ich zu Ungunsten des
von mir losgelösten Kindes Speisen geniesse, die es überhaupt noch nicht und jeden-
falls noch nicht in den Tagen, wo die Lösung hergestellt wird, vertragen könnte.
Begräbnis. Alle Stämme des Kulisehu beerdigen ihre Toten; der Körper
liegt West-Ost so, dass der Kopf nach Sonnenaufgang schaut. (Die Suyá setzen
ihre Toten nach Angabe der Kamayurá in hockender Stellung bei, den Kopf
mit dem Federschmuck zurückgeneigt und den Blick nach Sonnenuntergang ge-
richtet.) Das Grab befindet sich auf dem Dorfplatz. Wir sahen bei den Mehinakú
vor der Festhütte einen Reisighaufen, unter dem sich in geringer Tiefe die Grab-
höhle befinden sollte; aus Löchern in der Erde krochen dicke Käfer hervor und es
wimmelte von Fliegen. Bei den Auetö́ war ein Geviert vor der Festhütte mit dicken,
niedrigen, durch Flechtwerk verbundenen Pfosten abgesteckt. Es ist auf Tafel 15
photographiert; ich weiss nicht, ob es ein Zufall ist, dass die zwei ausgeschweiften
Seiten des Gevierts an die charakteristische Form der Griffplatte des Wurfholzes
erinnern. Bei den Yaulapiti sahen wir einen quadratförmigen Grabzaun.
Der Körper ist in die Hängematte eingewickelt*). Die Beigaben sind für
den Mann Bogen und Pfeile, für die Frau Siebmatte, Spindel und Topf. Die
irdische Arbeitsteilung dauert auch im Jenseits fort. Die Kamayurá beschrieben
uns die Bestattung eines Häuptlings. Sie graben, um das Grab zu machen, zwei
Gruben und verbinden sie durch einen Gang, sodass die Anlage Hantelform hat.
Während Alles weint und klagt, werden Feuer angezündet, jeder Mann zerbricht
sein Wurfholz und die zugehörigen Pfeile und wirft sie in das Feuer. Die nächsten
Verwandten fasten einige Zeit**), dann aber schmückt man sich festlich, die Tonsur
wird erneuert, der Körper mit Genipapo, das die Kamayurá dem Urukú vorziehen,
schwarz bemalt. Die Wittwe geht mit geschorenem Haupt. Das Grab, das wir
bei den Auetö́ sahen (vgl. Tafel 15), barg die Frau eines Häuptlings, eine Ka-
mayuráfrau; zur Bestattung seien von allen Stämmen Leidtragende gekommen.
II.
Zauberei und Medizinmänner.
Man pflegt sich das Zaubern und Hexen der Naturvölker als eine Kunst
vorzustellen, die uns ganz fern liegt. Geht man jedoch von dem Wesen ihrer
22*
[340] Kunst aus, so ist Nichts gewöhnlicher auch im Leben des Kulturmenschen als
das Hexen, freilich ein unsystematisches, laienhaftes Hexen. Wer träumt, hext.
Er ist nicht an den Ort und die Gestalt gebunden und ist zu beliebigen Leistungen
mit jeder Person oder Sache befähigt. Lebhafte Spiele der Einbildungskraft sind
nur quantitativ, nicht qualitativ vom Traumhexen unterschieden. Wer das Bild
der Geliebten küsst, bereitet sich zum Hexen vor. Wer seinem fern weilenden
Schatz durch die Luft einen Kuss zuwirft, macht sich der Hexerei schon dringend
verdächtig, denn es steht zu befürchten, dass er glaubt, der süsse Hauch erreiche
die Adresse und werde dort empfunden. Wer aber, wie der grosse Zauberer
Goethe seinem Famulus Eckermann, erklärt: »ich habe in meinen Jugendjahren
Fälle genug erlebt, wo auf einsamen Spaziergängen ein mächtiges Verlangen
nach einem geliebten Mädchen mich überfiel und ich so lange an sie dachte,
bis sie mir wirklich entgegenkam«, der hext schon nach allen Regeln der Kunst.
Vollständig im Banne der echten Hexerei steht, wer auch nur eine Sekunde lang,
wenn ihm die Ohren klingen, sich der Ueberzeugung hingiebt, dass man Gutes
oder Schlechtes von ihm gesprochen habe, oder wer sich von seinem Freunde
den Daumen halten lässt, damit ihm irgend etwas gelinge, oder wer seinen
Wünschen die Kraft zutraut, den Ablauf angenehmer oder unangenehmer Ge-
schehnisse zu beeinflussen.
Unsere Indianer haben wie viele andere Naturvölker die feste Ueberzeugung,
die sich übrigens auf unserer Zivilisationsstufe noch bei Kindern und Betrunkenen
und nicht nur bei ihnen beobachten lässt, dass sie im lebhaften Traum Wirk-
lichkeit erleben; man geht auf die Jagd, schiesst Fische, fällt Bäume, wenn man
schläft, während der Körper in der Hängematte bleibt. Bei den Bororó haben
wir, wie ich berichten werde, erlebt, dass das ganze Dorf fliehen wollte, weil
Einer im Traum heranschleichende Feinde gesehen hatte. Die Bakaïrí lassen den
»Schatten« des Menschen — was wir dann mit »Seele« übersetzen — im Traum
umherwandern. (Vgl. auch über dies und Aehnliches das Paressí-Kapitel.)
Antonio, den allein, zumal in den Cuyabáner Monaten, ich genügend studieren
konnte, um die meisten der später folgenden Angaben zu gewinnen, hatte auch
die besonders von den Malaien her bekannte Besorgnis, dass es gefährlich sei,
einen Schlafenden plötzlich zu wecken. Der »Schatten«, der vielleicht in fernen
Gegenden wandert, könne nicht schnell genug zurückkehren, und der Schlafende
werde in einen Toten verwandelt. Durch das Abhetzen des zurückeilenden
Schattens erklärte er zu meiner Ueberraschung auch die Kopfschmerzen, die man
nach zu kurzem nächtlichen Schlummer bekomme. Wir dürfen den Indianern
ihren rein auf die unmittelbare Erfahrung der Sinne gegründeten Glauben nicht
so übel nehmen, wenn wir bedenken, dass es der höheren spekulativen Philosophie
gar nicht so einfach erscheint, zu bestimmen, ob das Leben ein Traum oder der
Traum ein Leben sei, ob wir während des Wachens oder während des Schlafens
Wirkliches erleben, und dürfen nicht vergessen, dass die Wirklichkeit nach dem
Erwachen häufig volle Bestätigung bringt.
[341]
Wie entsteht nun eine solche Auffassung und was hat sie für Folgen? Der
Erwachende ist sich bewusst, Dinge gesehen und gehört zu haben. Er hat sie
mit voller Deutlichkeit wahrgenommen. Also waren sie da. Hat der Körper
des Schlafenden währenddes in der Hängematte gelegen, so fällt es deshalb
Niemanden ein, die Frage aufzuwerfen, ob das Gesehene und Geschehene
wirklich sei. Keinem der Stammesgenossen kommt es in den Sinn, an dem
wahrheitsgetreuen Bericht zu zweifeln; man macht vielleicht im Lauf der Zeiten
eine Art Erklärungsversuch, indem man die thatsächlich vom Körper nicht unter-
nommene Ortsveränderung z. B. dem Schatten zuschreibt, allein das ist neben-
sächlich und berührt niemals den Eindruck aus dem grade vorkommenden Fall,
Denn dass man Etwas nicht versteht, ist kein Grund, die wirkliche Erfahrung der
Sinne zurückzuweisen. Es ist nur ein Grund, dass man geträumten Ereignissen,
die ein allgemeines Interesse haben, grosse Wichtigkeit beimisst, dass sich Alle
darüber aufregen; das Geschehene ist etwas Besonderes, und der es erlebt hat,
kann mehr als die Andern. Wir sehen, dass es für die Entscheidung, was
wirklich sei, nicht in Betracht zu kommen braucht, ob Sinneseindrücke von aussen
her unmittelbar eintreffen, oder ob solche, die schon von früher als Erinnerungs-
bilder aufgespeichert waren, in erregtem Zustand die alte sinnliche Kraft wieder
erhalten. Eine Verwechslung von Gefühl und Leistung ist aber, sobald das
lebhaft Vorgestellte für wirklich gilt, ganz unvermeidlich. Denn die erhitzte
Phantasie kann ja in Wahrheit alle Dinge beliebig gestalten, also kann, wer von
ihr erfüllt ist, das sonst Unmögliche. Er selbst ist überzeugt und die Andern
bewundern ihn wegen seiner von ihm selbst berichteten Thaten; vielfache falsche
Schlüsse über die Verknüpfung der Geschehnisse und auch das Spiel der Zufällig-
keiten wirken überzeugend in gleicher Richtung. Alles beruht auf den verschiedenen
Formen der Suggestion.
Sie, die in der Wirklichkeit so schwer zu überwinden ist, die räumliche
Entfernung, wird nun, wo Gefühle stark erregt werden, mit Sicherheit über-
wunden. Nicht nur im Traum und in visionärem Zustand. Was der kritisch
prüfende Goethe als rätselhaft empfindet, aber doch auch glaubt, der Natur-
mensch empfindet es in weit grösserem Umfang als für den Bereich der innigen
Beziehungen zwischen zwei Personen und glaubt es naturlich. An einem jeden
mit starkem Gefühl der Liebe, des Hasses, der Furcht, der Bewunderung be-
trachteten Gegenstand vollzieht sich das Wunder. Wie man im Traum die
grösste Entfernung im Nu zurücklegt und den stärksten Feind durch Berührung
mit dem kleinen Finger niederstrecken kann, so räumt auch eine erregte Ein-
bildungskraft das Hindernis der räumlichen Trennung hinweg, wird unter leichten
Manipulationen mit jedem Widerstand fertig und lässt umgekehrt jeden beliebigen
Zuwachs an Stärke oder Geschicklichkeit entstehen. Verfüge ich z. B. über etwas
vom Leib des Feindes, so verfüge ich über den Feind im Guten und im Schlechten,
ich habe einen Talisman oder ein Mittel, ihn trotz der Entfernung zu vernichten.
Gewöhnlich denkt man sich, der Hergang sei so, dass der Zaubernde den Teil
[342] mit dem Ganzen verwechsle, pars pro toto, und den Irrtum hege, das dem Teil
zugefügte Leid wachse zu einem Leid für das Ganze an, allein dies ist gar nicht
nötig. Der Teil hebt, sobald das Gefühl erregt ist, ja in der That die ganze
Assoziationsgruppe heraus; man kann vor einem Bild oder einem Stück Alles
empfinden, was man vor dem Original oder dem Ganzen zu empfinden vermag.
Dass der Talisman- oder Zaubergläubige z. B. Fähigkeiten, die nur dem Ganzen
zukommen, in den Teil, den er besitzt, hineinverlegt, rührt einfach daher, dass
von letzterem die Gefühle angeregt werden, die sich auf das Ganze beziehen und
die deshalb auch eine Kraftsteigerung bei ihm hervorrufen, als wenn er das Ganze
besässe. Gewiss sind Teile geeigneter dazu, die zu der erwünschten Wirkung
eine Beziehung haben wie Krallen und Zähne zur Körperstärke oder ein Stück
Haut zur Vergiftung, aber wesentlich ist diese Bedingung nicht. Der Hexende
nimmt, was er bekommen kann, wird aber immer geneigt sein, die Wirkung, die
er erreicht, von den Eigenschaften des betreffenden Teils entspringen zu lassen.
Bald wird nun auch die Erfahrung des Einzelnen zum Allgemeingut; es entstehen
die von Generation zu Generation empfohlenen »Mittel«, über die kein Mensch
mehr nachdenkt.
Wir brauchen wahrlich nur um uns zu blicken, um zu erkennen, dass wir
uns noch auf keine Weise von der überzeugenden Macht der Gefühle haben be-
freien können. Wirkung in die Ferne und Talismane haben wir in Hülle und Fülle,
wir haben nur andere Namen dafür und schieben Zwischenglieder ein zwischen
Anfang und Ende des Prozesses, durch deren Vorhandensein der Ursprung aus
unserm eigenen Selbst verdeckt wird. Nehmen wir nur die trivialsten Beispiele.
Der Medizinmann, der einen Abwesenden dadurch umbringt, dass er einen
vergifteten Pfeil in seiner Richtung wirft, oder der Verliebte, der die entfernte
Freundin küsst, sie unterscheiden sich durch Nichts. Der Poet, der im glücklichen
Besitz eines von Schiller benutzten Tintenfasses wie Schiller dichtet, und der
Eingeborene, der mit einer Kette von Jaguarkrallen um den Hals wie ein Jaguar
stark ist, sie unterscheiden sich durch Nichts. Die Uebereinstimmung reicht
sogar bis zum Erklärungsversuch. Denn der Gelehrte, der die Seele, sei es als
ein einziges selbstthätiges Ding, sei es als eine Vielheit von persönlich geschäftigen
Zentren im Gehirn einquartiert, und der Indianer, der den Schatten im Schlaf
Fische fangen lässt, auch sie unterscheiden sich durch Nichts. Wenn der Medizin-
mann glaubt, er habe das gethan, was er geträumt oder halluziniert hat, so dart
er, ohne Schwindler zu sein, sich für einen Wundermann halten und darf auch
von Andern mit Recht dafür gehalten werden. Er kann dann thatsächlich mehr
als die Andern. Der Schwindel mag in der berufsmässigen Geschäftsübung und
in ihrer Uebertragung durch Unterricht auf jüngere Kräfte sich häufig bald ein-
stellen, jedoch ist es äusserst oberflächlich, darum die aus der ganz naturnot-
wendigen Verwechslung von Gefühl und Leistung hervorgegangene Er-
scheinung des Zauberers mit dem Wort Humbug abzufertigen. Steckt ein solcher
Schwindler doch in Jedem von uns, so nüchtern er sein mag.
[343]
Die Medizinmänner werden als gute und böse unterschieden. Es giebt
ihrer nach Antonio »wenig bei den Bakaïrí und Auetö́, mehr bei den Nahuquá,
viele bei den Mehinakú und zu viele bei den Kamayurá«. Am Paranatinga lebte
zur Zeit keiner. Jedermann kann es werden, es ist nur sehr schwer. »Man
muss sehr viel lernen.« Man soll vier Monate hindurch nur Stärkebrühe trinken*),
kein Salz geniessen und nichts von Fleisch, Fisch oder Früchten essen, man soll
nicht schlafen, sondern sich unaufhörlich mit den Fäusten auf den Schädel
trommeln, sodass die geschwollenen Augen am Morgen heftig schmerzen, viel
baden, sich Arm und Brust blutig kratzen u. s. w. Antonio wollte gern Medizin
studieren, hatte aber Angst vor diesem bösen Semester, Felipe machte in gleichem
Bestreben einen guten Anfang, kam aber nicht zurecht, da er keinen Lehrer
hatte. Die Hauptkunst des fertigen Hexenmeisters bewährt sich im Gebrauch
der Gifte. Mit ihnen tötet er Andere und tötet er auch sich selbst, um
sich in andere Gestalt verwandeln zu können. Wir werden da eine Auffassung
des Todes kennen lernen, an die man sich erst etwas gewöhnen muss, die aber
in unmittelbarster Uebereinstimmung mit dem Leben des Schattens während des
Schlafes steht.
Hören wir zunächst, wie Krankheit und Tod in die Welt kommen trotz des
guten Medizinmanns des eigenen Dorfes, der den bösen des fremden Dorfes nach
Kräften bekämpft. Der böse ist ein schlechter Mensch, den Niemand leiden mag,
weil er tötet, statt zu heilen, er mischt Gift von Wespen, von der Tocandyra-
Ameise und mehr derartigen Tieren mit Oel und Harz von Alsmesca und Pinda-
hyba in einer Kalabasse. Von dem Mann, den er übel will, verschafft er sich
entweder Haar, indem er darauf tritt, wenn es geschnitten wird, es auch selbst
abschneidet, wenn jener schläft, oder ein bischen Blut, indem er ein Zweiglein
mit feiner Spitze von Jatobá, Pindahyba oder Pau de olho nach ihm hinwirft und
es dann aufhebt. Dies Haar oder Blut kommt in die Giftkalabasse, die ver-
schlossen wird, und sofort erkrankt der ursprüngliche Besitzer. Haar wird an-
geblich genommen, »weil dadurch Kopfschmerzen erzeugt werden« — in Wahr-
heit wohl deshalb, weil es am bequemsten zu erlangen ist. Hat der Hexenmeister
kein Haar oder Blut, so tränkt er ein Pindahybazweiglein oder Wollfädchen mit
dem Gift und versteckt es in eine Ritze des Hauses oder unter den Thonfuss,
auf dem der Kochtopf steht, oder wirft es heimlich — denn es fliegt sehr weit
— nach dem Verfolgten oder schiesst es mit einem Pfeil**) in einen Baum, wo
Jener wohnt. Der gute Medizinmann findet es aber häufig, denn er sucht überall
und steigt auch in den Baum hinauf, um es herabzuholen, legt es in Wasser und
macht es dadurch unschädlich; er erhält dafür von dem Genesenden auch z. B.
[344] eine Hängematte, da er ein schönes Geschenk verdient. Hat das vergiftete
Zweiglein den Patienten geritzt, so entdeckt der gute Medizinmann — und nur er —
die Stelle, wo es eingetreten ist, saugt so lange, bis das Zweiglein oder Woll-
fädchen erscheint, und spukt es aus.
Wir haben also eine Methode, wo etwas vom Leibe vergiftet wird, und
eine, wo das Gift nur in seine Nähe gebracht wird. Es giebt eine dritte, wo
aller Zusammenhang mit ihm fehlt, dafür aber gleichzeitig ein Tier getötet wird.
Sie bezweckt niemals nur Krankheit, sondern immer den Tod. Der zu tötende
Mann wird åmápö oder amápö genannt. In diesem Fall bedarf der Hexenmeister
ein Stück Haut vom Mittelfinger einer beliebigen Leiche und eine Ugá-Eidechse;
er trocknet die Haut am Feuer, zerreibt sie mit seinem Zaubergift, stopft die
Mischung tief in den Schlund der Eidechse, die um den Hals und den Leib,
damit jene nicht herauskann, fest umschnürt wird, wirft das so präparierte Tier
in einen Topf mit Wasser, verschliesst ihn wohl und hängt ihn über das Feuer:
wenn das Wasser zu kochen beginnt, so erkrankt und, wenn die Eidechse stirbt,
so stirbt der Amápö.
Alle Krankheiten sind durch Hexerei verursacht; »es soll Leute geben, die
den Medizinmännern auftragen, ihre Feinde zu vergiften«. Mit seinem Friseur
darf man sich am Schingú nicht verfeinden. So sei es, warf ich Antonio scherzend
ein, eigentlich von mir sehr unvorsichtig gewesen, dass ich mir die Haare von ihm
habe schneiden lassen. »Nein«, erwiderte er, »ich bin nicht schlecht, ich bin kein
omeóto (= ome-zóto Giftherr).« »Also alle Krankheiten rühren von den Omeotos
her?« »Alle.« »Hast Du jemals einen gesehen?« »Nicht bei den Bakaïrí, wir
würden so schlechte Menschen verjagen.« »Aber bei den Kamayurá?« »Pode
ser, kann sein.« »Hast Du schon gute Medizinmänner (piáje, französisches j) ge-
sehen?« »Ja, mehrere am Kulisehu. Pakurali war einer. Früher auch am Para-
natinga. Der Auetö́-Häuptling Auayáto war einer.« Es ist sehr charakteristisch,
dass alle schlechten (kχurá-pa = nicht unser) Zauberer in fremden Dörfern wohnen.
Die Ausdrücke omeóto und piáje scheinen übrigens nicht streng geschieden. Jeden-
falls sind die löblichen besseren Medizinmänner von berufsmässigem Schwindel
längst nicht mehr nicht frei, da sie sich nicht gut einbilden können, aus dem
Kranken die vergifteten Baumwollfäden, die sie ausgespucken, herausgesaugt zu
haben. Aber der reinere Ursprung ihrer Kunst im Sinn der einleitenden Aus-
führungen ist noch leicht zu erkennen.
Noch deutlicher als an der Askese des medizinischen Studiums tritt es an
den praktischen Leistungen zu Tage, dass Zaubern nichts ist als Erregung der
Einbildungskraft. Die Schmerzen sagen dem Kranken, dass er von Jemandem
angegriffen wird. Man sieht nicht, dass es Jemand im Dorf thut; hier ist auch
Keiner so schlecht. Also ist der Feind draussen. Wer mit ihm fertig werden
will, muss erstens stärker sein als er und zweitens den Unsichtbaren erreichen
können. Beides wird für den, der nicht anders weiss als dass die im Traum
vollbrachten Wunder Wirklichkeit sind, durch einen Arzt ermöglicht, der sich in
[345] einen starken Erregungszustand versetzt, denn dieser allein leistet, was man
mit den gewöhnlichen Mitteln zu leisten nicht vermag. So kommt die drollige
Verkehrung zu Stande, dass der Arzt einnimmt, um zu heilen. Er ist um so
stärker, je mehr er vertragen kann. Er kennt allerlei Gifte, die berauschen, und
gebraucht sie: Tabak, ågokurióku oder (çipó de cobra) Schlangen-Schlingpflanze,
seúwi oder Timbó-Schlingpflanze (Paullinia pinnata), die Blätter des Waldbaums
ätíko. Alles lauscht andächtig dem unverständlichen Zeug, das er während seiner
Benommenheit zum Besten giebt, oder den seltsamen Erlebnissen, die er nach
dem Erwachen aus tiefer Narkose von seinem Schatten berichtet. Er wird ein
grosser Mann, er freut sich der Bewunderung und der Geschenke, er lässt sich
wie viele andere grosse Männer erst zu kleinen Uebertreibungen verleiten und
hilft dann auch seinen Leistungen, wo sie nicht ganz ausreichen, ein wenig nach,
um das dumme Volk nicht zu enttäuschen. Bei den Bororó wird als Zauberarzt
anerkannt, wer bei dem solennen Trinkgelage zur Zeit des besten Palmweins die
grössten Quantitäten vertilgt und dem Rausche am sieghaftesten widerstehend die
längsten Reden hält; die Begriffe Doktorschmaus und Doktorexamen fallen noch
zusammen.
Die Tabaknarkose des Arztes ist bei allen unsern Stämmen wie auch bei
vielen andern die gewöhnlichste Medizin des Patienten; der kranke Leib wird mit
mächtigen Wolken angeblasen, gleichzeitig heftig bespuckt und zwischendurch
unter fürchterlichem, das ganze Dorf durchhallenden Stöhnen nicht des Patienten,
sondern des Doktors, mit Aufwendung aller Muskelkraft geknetet. Das dauert
eine lange Zeit, der Arzt gönnt sich im Kneten nur wenige Ruhepausen, während
deren er laut jammert und gleichzeitig leidenschaftlich raucht. Die Zigarren
werden von der Familie geliefert. Schliesslich beginnt er zu saugen und spuckt
unter krampfhaftem Prusten die Ursache des Leidens aus.
Der Auetö́-Häuptling hatte schon Pflanzengifte getrunken, aber die kräftigste
Probe, die in »früheren« Zeiten öfters vorkam, Schlangengift zu nehmen, war er
noch schuldig geblieben. Es wird ausdrücklich hervorgehoben, dass die giftige
Kalabasse des Hexenmeisters dem guten Medizinmann nichts anhaben kann, aber
freilich nicht erklärt, wie denn auch dieser zu erkranken im Stande ist. Der
Auetö́-Häuptling war schon tot gewesen. Wenn der Medizinmann die
starken Gifte einnimmt, so »stirbt er«. Er liegt »tot« in der Hängematte,
bis sein Schatten zurückkommt. Ich möchte vorläufig beiseite lassen, was für
die Auffassung des Todes aus dieser Auffassung der Bewusstlosigkeit folgt.
Während seiner Narkose kann sich der Zauberarzt in jede beliebige Tier-
gestalt verwandeln und jeden beliebigen Ort sofort erreichen. Die
Verwandlung findet so statt, dass er in das Tier »hineingeht«. Nun sind die-
jenigen noch heute die besten Aerzte, die Gift trinken und sich im Rausch
verwandeln. »Diese Piajes, die ågokurióku trinken und zum Himmel gehen,« sagte
Antonio wörtlich, »sind sehr gut, diese heilen Alles, und die Andern, die kein
Gift nehmen, die nur mit Tabak anblasen, auch sie heilen, aber starke Krank-
[346] heit heilen sie nicht.« Klarer kann der Ursprung und der Sinn des Zauberns
nicht ausgesprochen werden: man versetzt sich in einen Erregungszustand, um
sich zu einem sonst Unmöglichen zu befähigen, man vollbringt Wunder, an die
Alles glaubt, indem man seine Einbildungskraft steigert; der Urgrund alles Hexens
ist die Ueberzeugung von der Wirklichkeit des Geträumten oder des Eingebildeten.
Besser jedoch als meine Deutung werden die Angaben Antonio’s im genauen
Wortlaut über den Besuch eines narkotisierten Piaje im Himmel die Sachlage
erläutern. Die zahmen Bakaïí haben einige christlichen Vorstellungen, ich kann
nur sagen, aufgeschnappt, und besitzen sie nun in seltsamster Verzerrung; mir
wenigstens ist es herzlich schwer geworden, ernst zu bleiben, als vor meinen er-
staunten Augen plötzlich Christus, Maria und die Engel in Schingútracht unter
Beijús und umgeben von den mit Stärkekleister und gelber Pikíbrühe gefüllten
Kürbissen auftauchten. Daneben aber wird uns versichert, dass auch die noch
unchristlichen Vorfahren, die »antigos« des erzählenden Piaje den Himmel auf-
suchten und Gift trinkend sich in allerlei wilde Tiere verwandelten. Ich
erhielt die Geschichte, als ich die Vorstellungen über den Himmel zu gewinnen
suchte.
»Der Himmel hat einen Boden wie hier. Der Piaje sagt es, der da war.«
»?? …« »Er trank Schlingpflanzengift und starb. Er war dann nicht mehr wie
Menschen, er konnte in einen Jaguar oder eine Cobra-Schlange oder eine Sukurí-
Schlange oder einen Geier hineingehen. Er stieg zum Himmel, kehrte
zurück, erwachte als ein Mensch und war wieder wie vorher. Dies
geschah am Paranatinga. Dasselbe geschah auch früher bei den Antigos und
dasselbe erzählten auch die Leute vom Tamitotoala (Batovy).« Alsdann be-
richtete Antonio sein bestimmtes Beispiel. »Er trank das Gift in der Hänge-
matte selbst, er trank aus einer Kuye, in der viel Wasser gemischt war, er starb
in der Hängematte. Er ging in den Himmel und traf dort die Antigos. Er traf
auch jenen . . . . ., wie heisst er doch?« (Sucht vergeblich nach dem Namen.)
»Ach, seine Mutter war ja auch nach dem Himmel.« »Jesu Christo?« »Eben den.
Mit dem unterhielt er sich lange Zeit. Dieser Krito liess ihn auf einen Schemel
niedersitzen und brachte ihm Kalabassen mit Pogu und Pikíbrühe. Es gab sehr
viel davon. Sie unterhielten sich sehr lange. Dieser Krito verschaffte ihm Arara-
federn zum Fliegen. Dann blies er ihn an. Dann liess er ihn zurückkehren.
Er erwachte in der Hängematte.« Ich wollte Näheres wissen, wie er heraus-
gekommen sei. »Der Schatten stieg ein wenig über den Himmel empor, sah
gut nach dem Loch aus, wo man aus dem Himmel herauskommt, und flog hier-
her.« »So war der Schatten im Himmel gewesen?« »Da der Leib nicht geht
und nicht steigen kann, da der tot ist, so geht der Schatten.«
Die Verwandlung findet also im Traum statt, der durch ein narkotisches
Mittel herbeigeführt ist. Sie wird als wirklich genommen und die Geschichte
eines solchen ganz oder heutzutage in der professionellen Ausübung nur sehr
teilweise wahren Traums liefert das Material für den Glauben an die Kunst der
[347] Zauberärzte. Ihr eigentliches Verdienst ist nur die Kenntnis der Betäubungs-
mittel, und namentlich von unserm Standpunkt aus, die der Tabaknarkose.*)
Antonio sagte mir, dass es zwei Arten von »Tabak« gebe; der Tabak, den
man zu seinem Vergnügen rauche, sei ein anderer als der, der kuriere, und viel
schwächer. In den Kuren, die ich gesehen habe, wurde der gewöhnliche Tabak
verwendet; wahrscheinlich giebt es andere Blätter, die stärker betäuben. Die
Schingúzigarette in grünem aromatischen Wickelblatt ist wohl noch eine der ein-
fachsten Formen des geregelten Qualmgenusses. Tabakrauch kuriert Alles; ich
habe entzündete Augen, Hüftgelenksentzündung, Brandwunden, Leibschmerzen und
mehr dergleichen damit behandeln sehen. Die Suyá bliesen ihn mir in die Ohren
und redeten laut in sie hinein, damit ich ihre Sprache besser verstehe. Vielleicht
ist auch bei einem lange Zeit hindurch mit starken Qualmwolken angepusteten
Patienten ein leichter Dusel zu erzielen, aber in jedem Fall muss dieser, ohnehin
leidend, durch das unermüdliche eintönige Jammern und Kneten in einen dumpfen
Zustand verfallen, in dem er ebenso gut Verwandlungen erleben kann als der
Medizinmann. Angaben oder Beispiele habe ich aber dafür nicht erhalten.
In dem folgenden Kapitel habe ich eine einfachere Art des Anblasens zu
besprechen, durch die sich der Zauberer nicht selbst, sondern durch die er
Andere verwandelt, und die ohne Tabakrauch stattfindet.
Wiederum bläst der Medizinmann oder auch irgend Jemand sonst auf
andere Art, wenn er das Gewitter durch Blasen verjagt. Man prustet den
Speichel in einem Sprühtrichter gegen die Wolken; ich habe selbst mehrfach ge-
sehen, dass das Mittel half, und mich dann geärgert, dass ich in allzu grosser
Vorsicht trotz dringender Bitten der Indianer nicht mitgeprustet hatte. Mir hatte
die Einbildungskraft gefehlt.
[[348]]
XIII. KAPITEL.
Wissenschaft und Sage der Bakaïrí.
I. Die Grundanschauung.
Der Mensch muss nicht sterben. Wissen von der Fortdauer nach dem Tode. Naturerklärung durch
Geschichten. Tiere = Personen. Tiere liefern wirklich die Kultur, daher gleiche Erklärung auf
unbekannte Herkunft übertragen. Entstehung der erklärenden Geschichte. Gestirne, die ältesten
Dinge und Tiere. Bedeutung der Milchstrasse. Verwandlung. Männer aus Pfeilen, Frauen aus
Maisstampfern. Keri und Kame und die Ahnensage. Die Namen Keri und Kame. Die
Zwillinge und ihre Mutter sind keine tiefsinnigen Personifikationen.
Als ich im Verlauf meiner sprachlichen Aufnahme Antonio*) den Satz vor-
legte: »Jedermann muss sterben«, schwieg er zu meinem Erstaunen geraume
Zeit. Es entstand dieselbe lange Pause, die ich jedesmal zu überwinden hatte,
wenn ich ihm eine der ihm so fremdartigen, uns so geläufigen Abstraktionen
auftischte. Da lernte ich denn zum ersten Mal, der Bakaïrí kennt kein Müssen,
er ist noch nicht dazu gelangt, aus einer Reihe immer gleichförmig wiederkehrender
Erscheinungen die allgemeine Notwendigkeit abzuleiten, ganz besonders aber ver-
steht er auch gar nicht, dass der Mensch sterben muss. Fern liegt ihm der
Gedanke, den wir uns auf den untersten Gymnasialklassen**) einprägen, »nemo
mortem effugere potest«. Die Uebersetzung Antonio’s, die das Wort »müssen«
umging, aber doch zeigte, dass er meine Ansicht richtig verstanden hatte, lautete
nach viertelstündigem Nachdenken etwas verzwickt: »ich sterbe nur (und) wir
(sterben).« Der Dolmetscher schüttelte aber unbefriedigt den Kopf; er hatte den
Zweifel, den auch wir etwa kaum unterdrücken möchten, wenn da behauptet
würde: »alle Menschen müssen ermordet werden.« Nur aussen in einem bösen
Streich sucht der Indianer die Ursache des Todes. Gäbe es nur gute Menschen,
so gäbe es weder Kranksein noch Sterben. Nichts weiss er von einem natür-
lichen Ablauf des Lebensprozesses.
[349]
Ein zweiter nicht unwesentlicher Unterschied zwischen der Auffassung unserer
Indianer und der Kulturvölker betrifft die Fortdauer nach dem Tode. Dass die
Güter der Erde ungleich verteilt sind und der Arme dereinst die Wonne des
Ueberflusses erfahren möge, dass die Gerechtigkeit hienieden unvollkommen ist
und der Gute dereinst belohnt, der Böse gestraft werden müsse, diese ethischen
Forderungen sind in den einfachen sozialen Verhältnissen des Eingeborenen
nicht entstanden. Seine Vorstellung von der Fortdauer nach dem Tode ent-
springt keinem Hoffen und Vertrauen. Allerdings verbindet sie sich mit dem
Gedanken an angenehme Verhältnisse insofern, als bei dem spätern Zusammen-
leben mit den »Antigos« im Himmel Fische, Wildpret und Pikíbrühe sehr reich-
lich bemessen sein werden und nimmt auch Rücksicht auf das Verhalten nichts-
würdiger Gesellen, da diese, nicht etwa weil sie »verflucht« wären, sondern weil
sie ihre Schlechtigkeiten an anderem Orte natürlich fortsetzen, sich als übel-
wollende Geister kilain-oroika Furcht und Schrecken verbreitend Nachts im Walde
umhertreiben.
Allein die Wurzel der Ueberzeugung von der Fortdauer liegt für den Ein-
geborenen, so untrennbar die beiden auch verbunden sínd, nicht im Gemüt,
sondern im Verstande. Sie ist, für seine Erkenntnisstufe, ein Wissen. Nach
der Vorstellung der Kulturvölker entfernt sich die Seele beim Tode zum ersten
Mal aus dem Körper, es geschieht etwas ganz Neues, von dem sie durch
Erfahrung und Beobachtung, es sei denn durch spiritistische, Nichts wissen;
eben um dieses unbekannten Neuen willen können sie die Unsterblichkeit nicht
beweisen, sondern müssen anheimgeben, sie aus ethischen Gründen zu glauben.
Dem Indianer dagegen ist der Vorgang der Trennung von Leib und Seele nicht
neu, er erfährt ihn tagtäglich, wie wir gesehen haben, wenn der Schatten im
Traum von dannen eilt und den Körper in der Hängematte zurücklässt. Der
gewöhnliche Tod ist eine tiefe Bewusstlosigkeit (Koma) infolge des Giftes, das
der Hexenmeister beibringt, und vom Schlaf nur dadurch verschieden, dass der
Schatten zu weit enteilt, um zurückzukehren. Nur der Medizinmann, der sich
selbst vergiftet, wird wieder lebendig. »Wirklich« waren schon während des
Schlafes die Erlebnisse des Schattens, »wirklich« sind ebenso gut seine »Erleb-
nisse« nach dem Tode. Man kennt diese Wirklichkeit, die nur ein Leben an
anderm Ort ist, aus der täglichen Erfahrung, und erhält sie zum Ueberfluss
noch bestätigt durch die Gestorbenen, mit deren Schatten unser eigener während
des Traumes verkehrt, und durch die gelegentlich das Totenreich besuchenden
Zauberer; in diesen kann Hamlet die Wanderer finden, die aus dem Bezirk des
unbekannten Landes wiederkehren. To die to sleep, no more.
Die Schatten der toten Bakaïrí gehen in den Himmel zu den Vorfahren.
Der Himmel ist zunächst nicht das Land der Zukunft, sondern das der Ver-
gangenheit, die Alten sind noch da, wo nämlich alle Geschichte begonnen
hat. Der Himmel, in dem die ersten Bakaïrí lebten, lag früher neben der Erde
und man konnte bequem auf diese hinüber gelangen. Es starben dort aber zu
[350] viele Leute, so siedelte man auf die Erde über und der Himmel stieg dahin
empor, wo er jetzt ist, und wo die Tiere, die Oerter, die Sachen, die in den
alten Geschichten vorkommen, noch heute zu sehen sind. »Alles ist geblieben,
wie es war.« »Bakaïrí hat es immer gegeben, aber im Anfang waren es
sehr wenige.« Man muss nur an einigen bestimmten Punkten festhalten und
man erkennt trotz aller Spiele der Phantasie und trotz aller Verarbeitung durch
die Tradition einen Kern naiver, gesunder Logik in der Naturerklärung des
Indianers.
Die Indianer kennen kein Müssen. Sie betrachten jeden Vorgang in der
Natur noch als einen Einzelvorgang oder richtiger als eine Einzelhandlung. Gesetze
sind ja auch in der That nur durch die gemeinsame Arbeit Vieler — solcher, die
da leben und gelebt haben — zu erkennen. Und solange es keine Gesetze und
höchstens Gewohnheiten giebt, steht jeder Einzelne im Mittelpunkt der Welt, die
nur die Gesamtheit seiner persönlichen Eindrücke darstellt. Nicht die Natur-
erscheinung an und für sich mit ihren Bedingungen ist der Gegenstand des Nach-
denkens, sondern der Eindruck, den man vor ihr empfängt; eine Geschichte
genügt noch, sie zu erklären. Aus der Sprache erkennen wir denselben Zustand;
jede Art hat ihren Namen, aber die Zahl der übergeordneten Begriffe ist äusserst
gering. Gering ist also die Zahl der Scheidewände und Schubfächer und darum
macht es nicht viel aus, wenn ein Ding aus dem einen Fach in ein anderes gerät.
Es fällt entschieden auf, es ist etwas Besonderes geschehen, aber eine innere
Unmöglichkeit ist nirgends vorhanden.
Man gestatte einen Vergleich mit dem undeutlichen Sehen. Fern auf dem
Waldweg bemerken wir etwas, was wir genau zu erkennen noch gar nicht in der
Lage sind. Jeder sieht, was er zu sehen erwartet — einen Stein, ein Reh, einen
Holzhaufen, eine Botenfrau, was weiss ich. Es regt uns an, wenn sich von den
Gestalten im Wald auch eine vor unsern Augen in die andere verwandelt, aber
— und da liegt der grosse Unterschied — wir glauben nicht an eine Verwandlung,
sondern schliessen, dass wir uns beim ersten Anblick getäuscht haben, weil wir unsere
Wahrnehmung sofort den uns bekannten allgemeinen, jene Möglichkeit ganz aus-
schliessenden Gesetzen opfern. Doch können wir uns bei einer lebhaften Täuschung
vielleicht vorstellen, dass unser Hindernis für unwissende Menschen nicht da ist.
Ich hörte von einem Fall, dass ein flüchtiger Negersklave verfolgt wurde, er lief
in ein kleines Dickicht, einen Capão; man suchte ihn vergeblich und fand nur
eine grosse Jabutí-Schildkröte. Der Anführer der Leute nahm die Schildkröte
auf sein Pferd, liess sie aber unterwegs aus Furcht fallen und gab sie frei: die
ganze Gesellschaft schwor darauf, der Neger habe sich in die Schildkröte ver-
wandelt. Dass man den Sklaven trotz emsigen Suchens nicht gefunden hatte,
dass nur die Schildkröte zu entdecken war, diese persönliche Erfahrung ent-
schied. Die Thatsache war einfach vorhanden; wenn sie ungewöhnlich war,
so konnte man sie leicht dadurch erklären, dass der Neger ein Hexenmeister
gewesen war.
[351]
Dass man jedoch alle »ungewöhnlichen« Dinge einfach durch Zauberei erklären
kann, liegt eben daran, dass der Begriff der Gesetzmässigkeit fehlt. Man ist noch
nicht in der Lage, scharf zu sehen Ja, je ungewöhnlicher der Vorgang ist, desto
lieber hört man von ihm erzählen und desto fester wird er deshalb geglaubt.
Bei Weitem der wichtigste Fall von dem Mangel begrifflicher Scheidewände,
der unserm Empfinden und Denken gleichzeitig am schwersten zugänglich ist,
betrifft das Verhältnis des Menschen zu den Tieren und der einzelnen
Tiergattungen zu einander. Wir sagen, der Eingeborene anthropomorphisiert
in seinen »Märchen«, er lässt die Tiere reden und handeln wie Menschen. Das
ist von unserm Standpunkt aus richtig, aber wenn wir glauben wollten, er statte
die Tiere nur zu dem Zweck, eine hübsche Geschichte zu erzählen, mit mensch-
lichen Eigenschaften aus, so wäre das ein gewaltiges Missverstehen, es hiesse
nicht mehr und nicht weniger, als ihm all sein Glauben und Wissen wegdisputieren.
Sein Glauben: denn in die wunderbaren Geschichten, die er von den Tieren be-
richtet, setzt er dasselbe Vertrauen, wie jeder überzeugte Christ in die Wunder
der Bibel; sein Wissen: denn er könnte die ihn umgebende Welt ohne seine
Märchentiere ebenso wenig begreifen als der Physiker die Kraftzentren ohne Stoff-
atome — si parva licet componere magnis.
Wir müssen uns die Grenzen zwischen Mensch und Tier voll-
ständig wegdenken. Ein beliebiges Tier kann klüger oder dümmer, stärker
oder schwächer sein als der Indianer, es kann ganz andere Lebensgewohnheiten
haben, allein es ist in seinen Augen eine Person genau so wie er selbst, die
Tiere sind wie die Menschen zu Familien und Stämmen vereinigt, sie haben ver-
schiedene Sprachen wie die menschlichen Stämme, allein Mensch, Jaguar, Reh,
Vogel, Fisch, es sind alles nur Personen verschiedenen Aussehens und verschiedener
Eigenschaften. Man braucht nur ein Medizinmann, der Alles kann, zu sein, so kann
man sich von einer Person in die andere verwandeln, so versteht man auch alle
Sprachen, die im Wald oder in der Luft oder im Wasser gesprochen werden. Der
tiefere Grund für diese Anschauung liegt darin, dass es noch keine ethische
Menschlichkeit giebt; es giebt ein Schlechtsein und Gutsein nur in dem groben
Sinn, dass man Andern Unangenehmes oder Angenehmes zufügt, aber die sittliche
Erkenntnis und das ideale, weder durch Aussicht auf Lohn, noch durch Furcht vor
Strafe geleitete Wollen fehlt ganz und gar. Wie sollte da eine unübersteigliche Kluft
zwischen Mensch und Tier angenommen werden? Die äusserliche Betrachtung
der Lebensgewohnheiten, auf die sich der Indianer beschränkt, kann dem Menschen
höchstens die Stellung des primus inter pares zuweisen. Das Tier hat freilich
nicht Pfeil und Bogen und Maisstampfer, aber das ist auch der Hauptunterschied
in den Augen des Indianers, und deshalb entstehen die Männer aus Pfeilen, die
Frauen aus Maisstampfern, doch hat es z. B. auch ebenso wie der Mensch wichtige
Werkzeuge wie Zähne und Klauen, die er ihm ja erst wegnimmt.
Es fehlt dem Indianer ferner unsere Abgrenzung der Arten gegeneinander, inso-
fern sich die eine nicht mit der andern vermischt. Dieser Unterschied, den die Er-
[352] fahrung gewiss leicht erkennen lässt, wird wiederum vollständig verwischt, weil das
in unsern anatomischen Kenntnissen begründete Hindernis wegfällt. Man bedenke
einen Augenblick, was unser Volksglaube, das Versehen betreffend, in dieser Be-
ziehung leistet; da bekommt man auch ein wirkliches Mausefell, einen wirklichen
Hundefuss u. s. w. Wenn der Indianer durch die Vermischung von verschiedenen
Tierarten untereinander oder durch die von Tier und Mensch irgend etwas er-
klären kann, so hindert ihn nichts, sie zu behaupten, so sieht er sie im
Gegenteil bewiesen und schliesst höchstens, dergleichen geschieht jetzt nicht
mehr, wo es nicht mehr nötig ist. Heute, sagen unsere Gelehrten, giebt es keine
generatio aequivoca mehr, aber einst hat es sie sicherlich gegeben. Der Unter-
schied ist um so mehr verwischt, als der Eingeborene das bequeme Erklärungs-
prinzip der Verwandlungen im grössten Umfang benutzen muss. Es kommt
endlich hinzu, dass er sich mit der Fortpflanzung innerhalb der Art, da das Kind
nichts anderes ist als der Vater, nicht weiter beschäftigt: die Art oder der Stamm
ist wie ein einziges Individuum, das immer unter demselben Namen erscheint;
verschiedene Unterarten, z. B. die Jaguarkatzen, grosse und kleine und der Farbe
nach verschiedene, sind Brüder. Aber jeder dieser »Jaguare« nach seinem Namen,
»Kampfuchs«, »Reh«, »Ameisenbär« — sie erscheinen in beliebigen Geschichten
und Niemand fragt, ob es etwa Kampfuchs »V« oder Kampfuchs »XXIII« war.
Das ist auch genau dasselbe für die menschlichen Stammväter der
Ahnensage; man setzt meist die Frauen und immer die Stammgenossen, die
jene begleiten, als gegeben voraus.
Ich wiederhole, der Ausdruck »anthropomorphisieren« ist nur als Schema
für uns berechtigt, und er wird falsch, wenn man ihn so fassen wollte, als ob
der Indianer sagte »ich bin ein Mensch und lasse auch die Tiere wie Menschen
handeln.« Das Umgekehrte, dass Menschen Tiere sind, kommt ebenso vor,
und zwar im guten und im schlechten Sinn. Die Trumaí sind Wassertiere, weil
sie auf dem Grund des Flusses schlafen. So sagen die Bakaïrí in allem Ernst.
Wir begegnen dem gleichen Glauben an Menschen, die im Wasser leben, auch
bei andern Stämmen. Die Bororó behaupten; man könne Stunden lang, wenn
man gewisse Blätter kaut, unter der Oberfläche des Wassers verweilen und Fische
fangen. Ich habe nichts Besonderes von dem »Wasserleben« der Trumaí mehr
erfahren können, als dass sie mit Vorliebe andere Stämme auf dem Fluss an-
greifen und die Gefangenen mit gefesselten Armen in das Wasser werfen sollen.
Ich weiss nicht, ob sie früher wie die Guató Flussnomaden gewesen sind; den
Feldbau haben sie jedenfalls von den Nachbarn erst erlernt. Was auch den Glauben
der Bakaïrí über sie angeregt habe, er wird nicht etwa durch die Schlussfolgerung
entkräftet, die wir auf Grund unserer Naturgesetze aufstellen: »aber die Trumaí
sind doch keine Tiere, keine Fische«, sondern der Bakaïrí schliesst, weil die
Trumaí im Flusse schlafen, sind sie Wassertiere und verspottet und verachtet
sie, wie jedem Stamm mit fremdartigen Sitten geschieht. Die Bororó rühmen
sich selbst, dass sie rote Araras seien. Sie gehen nicht nur nach dem Tode
[353] in Araras über, wie auch in gewisse andere Tiere, nicht nur sind die Araras
Bororó und werden entsprechend behandelt — sie drücken ihr Verhältnis zu dem
farbenprächtigen Vogel kaltblütig auch so aus, dass sie sich selbst als Araras
bezeichnen, wie wenn eine Raupe sagte, dass sie ein Schmetterling sei, und
wollen sich damit durchaus nicht nur einen von ihrem Wesen ganz unabhängigen
Namen zulegen.
Also die Trumaí sind Wassertiere, weil sie eine Gewohnheit der Wasser-
tiere haben, die Bororó sind Araras, weil sich ihre Toten in Araras verwandeln.
Man sucht solche und ähnliche Erscheinungen durch die in der Tradition leicht
vorkommende Verwechslung von Namen und Sache zu deuten. Das trifft bei
unsern Indianern entschieden nicht zu. Obwohl gern zugegeben werden mag,
dass sich, wo die Grundanschauung vorhanden ist, derlei Verwechslungen von
selbst einfinden, so muss doch die unzweifelhaft vorhandene Grundanschauung
als die Hauptsache vorangestellt werden. Oder würden wir, denen sie fehlt
und denen Verwechslungen auch widerfahren können, unsern Geographen und
Historikern jemals glauben, dass die Finnen ein Volk von Blasenwürmern seien?
Mangelt aber der Wesensunterschied, so liegt die Sache ganz anders. Dann
steht Nichts im Wege, dass der Kampfuchs, der nächtliche Räuber, der in seinen
im Dunkel leuchtenden Augen ja Feuer hat, dieses Feuer, indem er es sich aus
den Augen herausschlug, den Menschen geben konnte. Oder, um eine häufige
Variante der Ahnensage zu nehmen, dann steht Nichts im Wege, dass der
Jaguar der Urahn eines menschenfressenden Stammes gewesen ist; denn
immer wird ausdrücklich berichtet, dass dieser Stammvater »Jaguar« Vorfahren
des eigenen Stammes, Bakaïrí oder Paressí, getödtet und gefressen habe. Ich
darf auf das Bestimmteste versichern, dass mein Gewährsmann felsenfest über-
zeugt war, dass der betreffende böse Stammvater der Legende ein Jaguar war,
obwohl er mit Pfeilen schoss, und nicht nur so hiess. Dass die frühere Zeit, in
der die Legende entstanden ist, nur symbolisiert und Nachkommen, Namen und
Sache verwechselt hätte, ist eine bequeme Unterstellung, aber eine unzulässige,
weil alsdann die ganze Tradition nur aus Verwechslungen bestehen würde.
Die frühere Generation hatte dieselbe Grundanschauung wie die heutige. Sie er-
klärte sich die kannibalische Sitte des Nachbarstammes durch die Abstammung
vom Jaguar, dessen Kennzeichen es ist, dass er Menschen frisst. Sie kannte den
Stammvater nicht, weil man ihn von keinem Stamm, obwohl er immer da ge-
wesen sein muss, kennen kann. Sie hatte, da der Wesensunterschied zwischen
Mensch und Tier fehlt, keine Schwierigkeit, zu schliessen, weil diese Leute immer
Menschen, unsere eigenen Vorfahren, gefressen haben, deshalb ist der Stamm-
vater ein Jaguar gewesen, und ihr Kausalbedürfnis war befriedigt —
was viel wesentlicher war als der etwaige Einwand, heute ist der Sohn
eines Jaguar doch auch stets ein Jaguar, und heute schiesst doch kein Jaguar,
wie es allerdings die Vorfahren des feindlichen Stammes gethan haben, mit
Bogen und Pfeil.
v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 23
[354]
Wir verstehen, dass der Indianer insofern Tiere wie Personen auftreten
lässt, als er von ihren Unterhaltungen berichtet, denn man weiss, dass sich die
Tiere gegenseitig rufen und in liebenden oder drohenden Tönen verständigen,
allein die Ausstattung der Tiere mit Kulturerzeugnissen und Geräten scheint
uns doch das Maass des Erlaubten zu übersteigen. Ja, der Mensch soll gemäss
den indianischen Ahnensagen alles mögliche Gute, das er besitzt, von den Tieren
erworben haben. Da sind die mannigfaltigsten Tiere »Herren« oder »Besitzer«
davon gewesen und ihnen hat es der Kulturheros genommen. Herr des medi-
zinischen Tabaks und der Baumwolle war der Wickelbär, Cercoleptes caudivolvulus,
Herr des gewöhnlichen Rauchtabaks der Zitteraal, Herr der Mandioka der Bagadú-
fisch Phractocephalus, Herr des Schlafes und der Buritíhängematte die Eidechse,
Herr der mit Wasser gefüllten Töpfe, nach deren Zerschlagen der Ronuro und
der Paranatinga flossen, die Ochobi-Flussschlange, Herr der Sonne der Königs-
geier, Sarcoramphus papa, und mehr dergleichen. Wie ist ein solcher Unsinn
möglich? Das Alles ist natürlich symbolisch gemeint, erklärt der Träger der
Kulturbrille und hält die Frage für erledigt. Ich kann nur herzlich lachen, wenn
ich mir die indianischen, an der Anschauung klebenden Jäger und Fischer mit
symbolischen Tieren hantierend denke wie die Dichter, Maler und, um auch
der niederen Geister nicht zu vergessen, die ihre Trade-mark erfindenden Patent-
inhaber unserer zivilisierten Welt — die allerdings sämtlich zu den Originalen ihrer
Symboltiere nicht in dem Verhältnis naher persönlicher Bekanntschaft zu stehen
pflegen.
Nein, Antonio und seine Stammesgenossen hätten unsere Art Symbole
nicht begriffen, geschweige selbst welche erfunden. Ich leugne es nicht, mir hat
während unserer Unterhaltung zuweilen der Verstand stillgestanden, wenn mir
der treuherzige Glaube an die Wirklichkeit der »Märchen«-Tiere und ihres Kultur-
besitzes in seiner ganzen Urwüchsigkeit entgegentrat, allein ich habe mich von
seiner Echtheit auch so genau überzeugt, dass ich mich für verpflichtet halte,
jede Erklärung, die ihn nicht voll anerkennt, zurückzuweisen. Ich meine auch,
die Sache sei einfach genug zu verstehen. Der Indianer hat ja in Wahrheit
die wichtigsten Teile seiner Kultur von den Personen erhalten, die
wir Tiere nennen, und ihnen muss er sie noch heute wegnehmen. Zähne,
Knochen, Klauen, Muscheln sind seine Werkzeuge, ohne die er weder Waffe noch
Haus noch Gerät herstellen könnte. Er verdankt, was er leisten kann der Piranya,
dem Hundsfisch, dem Affen, dem Kapivara, dem Agutí, dem Riesengürteltier,
den Mollusken, und von allen ihnen berichtet die Legende Nichts, weil jedes
Kind weiss, dass diese Tiere, deren Jagd die wichtigste Vorbedingung für jene
Leistungen bildet, noch heute die unentbehrlichsten Dinge liefern. Was ist natürlicher
als dass er auch die schönen und guten Dinge, von deren Herkunft er Nichts oder
wie von den Kulturpflanzen, nur Unbestimmtes weiss, ebenfalls von Tieren her-
leitet, sobald er darüber nachdenkt? Was ist natürlicher, als dass die Eidechse,
die mehrere Monate verschläft, den Schlaf (er wurde ihr aus den Augen gezogen)
[355] oder dass der Kampfuchs, dessen Augen im Dunkel leuchten, wenn er Nachts
auf Beute ausgeht, das Feuer geliefert hat; als dass die Sonne, deren Beschaffenheit
wir noch kennen lernen werden, im Besitz des Herrschers der Lüfte, des Königs-
geiers, den die übrigen Geier streng respektieren, und dass das Wasser im Besitz
einer grossen Flussschlange war? Mit dem Schlaf hat die Eidechse auch die
Hängematte hergeben müssen, die dazu gehört. Jetzt hat sie keine mehr, sie ist
ihr eben weggenommen worden, und sie war auch sehr böse. Alle jene Errungen-
schaften wurden mit Gewalt oder List geraubt; darum fehlen sie den
Tieren heutzutage. So wird das Kausalbedürfnis der alten naiven Jäger auf
das Angenehmste befriedigt und zwar durchaus auf dem Boden der Grund-
anschauung, dass Tiere und Menschen nur verschieden aussehende und verschieden
ausgestattete Personen sind.
Es ist der modernen Forschung gelungen, eine Anzahl der gefährlichsten
Krankheiten auf das Vorhandensein von Bazillen zurückzuführen, und was ist die
Folge? Alle möglichen Krankheiten, deren Ursache noch verborgen ist, werden
auch Bazillen zur Last gelegt; Tausende von Leuten, die niemals einen Mikro-
organismus gesehen haben, geschweige dass sie nur eine Ahnung davon hätten,
wie die bösen Tiere es eigentlich anfangen, die Krankheit hervorzurufen, wittern
sie jetzt in Allem, was sie geniessen, und erscheinen mit ihnen vertraut wie mit
Spinnen und Schnaken. Jene nachgewiesenen Krankheitserreger möchte ich den
Tieren vergleichen, die dem Indianer wirklich die nützlichsten Dinge geliefert
haben, und jene andern, die nur in der Legende existieren, den Märchentieren,
denen er, in gleichem Denkgeleise vorwärts strebend, die Dinge unbekannter
Herkunft zuschreibt. Es ist ein natürlicher Vorgang, dass man das Unbekannte
genau so erklärt wie das Bekannte.
Sonne, Feuer, Wasser, Schlaf sind Dinge, deren erste Besitzer rein erdacht
werden müssen; für sie giebt es keine, auch noch so verblasste historische
Tradition. Anders kann es — nötig ist es nicht — mit Kulturpflanzen sein.
Der medizinische Tabak, erinnert man sich dunkel, ist aus dem Norden gekommen.
Unzweifelhaft hat ihn, sagen wir, ein benachbarter Stamm geliefert; allein die
Bakaïrí haben längst die wirkliche und in ihren Einzelheiten sehr gewöhnliche
Begebenheit vergessen; seit vielen Generationen weiss man nichts mehr, als das
man dort wo der Wickelbär lebt, zuerst mit Tabak kuriert hat. Der Wickelbär
ist sehr selten im Gebiet der Bakaïrí, Antonio hatte noch keinen gesehen, er
wusste aber genau, wie er aussah und seine in allen Einzelheiten sehr bestimmte
Beschreibung nebst dem Namensawári gab mir die Möglichkeit, ihn als
das lautlich identische yawari der Makuschí in Guyana zu erkennen, von dem
Schomburgk bei seinem Bericht zufügt, dass das Vorkommen des yawari nach
v. Tschudi in Peru bis zum zehnten Grad südlicher Breite bekannt sei!
So lieferte der Wickelbär als die für die Gegend, wo der Tabak herkam,
charakteristische Person den Tabak ebenso, wie der Königsgeier die Sonne geliefert
hat als die Person, die in die Gegend der Sonne hinkommt.
23*
[356]
Der Wickelbär interessierte die Bakaïrí mehr als der verschollene Nachbar-
stamm, und er blieb durch die Jahrhunderte hindurch derselbe, er war
der Herr des nördlichen Gebietes, und was dorther kam, ob Tabak oder Baum-
wolle, stammte von ihm; Jäger, die einen Streifzug über die gewöhnlichen Grenzen
hinaus nach Norden ausdehnten, fanden ihn dort oder er selbst machte gelegent-
liche Besuche im Süden bei den Bakaïrí. Die Geschichte der Herkunft von
medizinischem Tabak und Baumwolle wurde nach dem üblichen und natürlichen
Schema, dass das charakteristische Tier als ursprünglicher Besitzer galt, behandelt:
setzen wir, um den obigen Vergleich mit unserm ähnlichen Verfahren durchzuführen,
Baumwolle und Tabak gleich zwei Krankheiten, so war der Bacillus legendarius der
Wickelbär. Die von ihm erzählte Geschichte ist nur die Antwort auf die Frage:
»wie kommt es, dass wir früher keinen Tabak hatten?« Zuerst hat man noch gewusst,
»der und der bestimmte Stamm hat ihn uns gegeben«, dann vergass man im Lauf
der Zeit Namen und nähere Umstände und eine spätere Generation hörte noch
vielleicht, »wir haben ihn von irgend Jemanden dort, wo der Wickelbär lebt, be-
kommen«, allein eine solche Auskunft musste dem üblichen Schema schon in dem
Augenblick verfallen, wenn die liebe Neugier weiter fragte: »woher hatten denn
jene Leute selbst den Tabak?« Da gab es, die Grundanschauung vorausgesetzt,
keine bessere Antwort als »eben vom Wickelbär« und man war sehr zufrieden.
Ebenso wird, wie wir sehen werden, die Herkunft des gewöhnlichen Rauch-
tabaks auf einen Fisch, der im Paranatinga nicht vorkommt, sondern im »Tabak-
fluss« lebt, und die Herkunft der Mandioka auf einen ebenfalls im Paranatinga
nicht vorkommenden Fisch, der den »Beijúfluss« bewohnte, zurückgeführt. Ich
habe Antonio zuweilen — nicht oft, denn er wurde wie jeder Gläubige durch
Zweifel, deren richtigen Kern er selbst nicht verkennen konnte, empfindlich be-
rührt — meinen skeptischen Einwurf nicht vorenthalten. Dann schwieg er ent-
weder verletzt, oder er erklärte den gegenwärtigen Zustand durch Verzauberung
oder — und zwar in der Mehrzahl der Fälle — er sagte einfach: »jetzt ist es
nicht mehr so, aber es war früher so«.
»Es war einmal,« (das stets wiederkehrende paá der Tupílegenden) ist auch
die Signatur der Indianer - »Märchen«. Der weitaus grösste Teil der Legenden
will die Entstehung von irgend etwas erklären, es handelt sich also stets um Vor-
gänge in alter Zeit, und da sie nun immer nur dadurch zu erklären sind, dass
etwas Besonderes geschehen ist, so musste sich aus alledem die Anschauung fest-
setzen, dass es einmal eine Zeit gegeben hat, wo das Aussergewöhnliche Regel
war. Man gelangte mit der schönsten Logik der Welt zu Situationen, aus denen
man immer nur durch menschliche Handlungen der Tiere den Ausweg fand, dann
aber auch vortrefflich fand. Es ist sehr leicht, die Entstehung der häufig mit
vielem Humor gewürzten Geschichten zu verstehen, wenn man nur die Pointe, die
bewiesen wird, zum Ausgangspunkt nimmt; es ist ja klar, dass die zu erklärende
Thatsache nicht zu der Geschichte gekommen sein kann, sondern nur die Ge-
schichte zu der Thatsache.
[357]
In einem am Amazonas sehr verbreiteten Märchen*) macht der Urubú-
Geier mit der Jabutí-Schildkröte eine Wette, wer rascher nach dem Himmel, wo
gerade ein Fest gefeiert wurde, gelangen könne. Die Schildkröte schmuggelt
sich in den Proviantkorb des Geiers ein, kommt glücklich an und empfängt den
Geier, als dieser von einem Spaziergang durch das festliche Treiben zurückkehrt,
mit der Behauptung, dass sie bereits seit langer Zeit oben sei und auf ihn warte.
Die Wette ist unentschieden, man erneuert sie für die Rückreise, wer zuerst auf
der Erde ankomme. Der Geier fliegt hinunter, aber die Schildkröte lässt sich
fallen und gewinnt. Im Fall hat sie sich abgeplattet und ihre Schale ist geplatzt,
wie man noch heute sieht.
Wie hat man sich diese Erfindung zu denken? Sie ist die Antwort auf die
Frage: »wie kommt die Schildkrötenschale zu der Spalte, aus der wir das Fleisch
mühsam hervorholen?« Heute haben alle Schildkröten diese Spalte, es muss
lange her sein, dass sie entstanden ist. Damals muss der Stammvater der Schild-
kröten einen schweren Fall gethan haben; die Schale ist ja auch davon unten
ganz abgeplattet. Dann ist die Schildkröte aber, meint Einer bedenklich, mindestens
vom Himmel heruntergefallen. Ja, aber wie ist sie da hingekommen? Nun, der
Geier hat sie mitgenommen. Aber wie? — Man hat die Schildkröte in eine
Situation gebracht, die von allen Erfahrungen aus dem Leben der Schildkröten
abweicht, aber die dahin führenden Schlüsse sind zwingend und jetzt erst beginnt
die Erfindung, der wiederum aus dem entgegengesetzten Wesen der beiden in
eine gemeinsame Situation gebrachten Tiere, des schnellen Vogels und des lang-
samen Reptils, ein deutlicher Weg zu dem beliebten Auskunftsmittel der Wette
gewiesen ist. Wenn der Indianer nun obendrein einen Wesensunterschied zwischen
Tier und Mensch nicht kennt, so stösst die Lösung des Problems mit Hülfe des
menschlichen Wettens und des menschlichen Proviantkorbs nicht auf die geringste
Schwierigkeit, zumal die Geschichte in der berühmten alten Zeit spielt, wo es
anders war als heute. Der Proviantkorb des Indianers, der die Schildkröte zum
Himmel bringt, ist gerade so berechtigt, wie unser Aether, in dessen Wellen sich
das Himmelslicht fortpflanzt. Wenn wir durchaus unser Kausalbedürfnis befriedigen
wollen, so müssen wir in den beiden Fällen, Jeder auf seiner Stufe, uns ein
Transportmittel schaffen, dessen Eigenschaften der Erklärung angepasst werden.
Gestirne. Der Indianer betrachtet die Figuren am Himmel und sieht in
ihnen Dinge, die er kennt. Der »früher so nahe« Himmel ist jetzt sehr, sehr
hoch. Nur Vögel, die lange fliegen, können vielleicht dorthin gelangen; der
Medizinmann ist dort im Augenblick, für ihn ist er »nicht höher als ein Haus«.
Die Eigenschaften des Feuers werden himmlischen Körpern nicht zuerkannt. Die
Sonne ist ein grosser Ball von Federn des roten Arara und des Tukan, dessen
Gefieder ebenfalls prächtiges Orange und Rot aufweist, der Mond ein Ball von
den gelben Schwanzfedern des Webervogels (Cassicus, Japú), die der Bakaïrí im
[358] Ohr trägt. Die Sonne wird am Abend mit einem grossen Topf zugedeckt, der
am Morgen wieder gelüftet wird. Ich lasse die Person, die das besorgt, noch
beiseite; sie ist auch höchst gleichgültige Zuthat oder Ergänzung bei dem Anfang
der Entwickelung, denn wenn die Sonne ein Federball ist, und dieser Federball
eine Zeitlang verschwindet, so ist es eben selbstverständlich, dass Jemand
ihn so lange bedeckt, ob nun mit einem Topf, wie die Bakaïrí behaupten, oder
dadurch, dass sie in einen Kürbis gelegt wird, wie die Paressí meinen.
In der Regenzeit, wo die Tage lang sind, wird die Sonne von einer Schnecke
(Bulimus), in der Trockenzeit, wo sie kurz sind, von einem Kolibri getragen; be-
kanntlich ist der Flügelschlag dieses Vögleins so schnell, dass ihm das Auge
nicht zu folgen vermag. Während der Nächte ist der Dienst der Tiere umge-
kehrt, in der Regenzeit schleppt das Kolibri und in der Trockenzeit die Schnecke
den zugedeckten Sonnenball an den alten Ort zurück. Für die Phasen des
Mondes geht der Bakaïrí vom Vollmond aus, wo wir den Ball ganz sehen.
Zuerst kommt eine Eidechse, die wir den Rand entlang bemerken, um ihn mit-
zunehmen, am zweiten Tage ein gewöhnliches Gürteltier und dann ein Riesen-
gürteltier, dessen dicker Körper uns die gelben Federn bald ganz verbirgt.
Es ist zu bemerken, dass die Gürteltiere oder Tatús eine gewölbte Form haben,
Nachttiere sind und bei Mondschein gejagt werden.
Die Eklipsen werden ähnlich erklärt. Aber Antonio fasste die Erscheinung
keineswegs als gesetzmässige auf und erklärte sie von Fall zu Fall. So hat sich
einmal, als er noch klein war, am Paranatinga ein Zauberer in einen Anú, einen
blauschwarzen Vogel (Crotophaga), verwandelt und mit den Flügeln die Sonne
eine Zeitlang verdeckt. Am 28. Januar 1888 war eine Mondfinsternis, auf die
ich Antonio aufmerksam machte. Er kam jedoch, durch meine Vorhersage der
Ueberraschung beraubt, mit seiner gewöhnlichen Erklärung aus, dass die Eidechse
und die Tatús an der Arbeit waren. Ich liess ihn den Mond durch ein Opern-
glas betrachten und wollte Auskunft über die Berge haben. »Es ist ein bischen
Schmutz von dem Tatú zurückgeblieben«, antwortete er. So kam mit dem Graben
und Wühlen ein neuer Umstand hinzu, der die alten Bakaïrí veranlasste, die
gewölbte Form des unbeleuchteten Teils gerade für das Gürteltier anzusehen.
In diesen Erklärungen liegt jedoch ein entschiedener Widerspruch zu den
Anschauungen des karaibischen Grundvolks, die uns durch die Wörter für Sonne
überliefert wird*), und in gleicher Weise widersprechen die Erklärungen der
heutigen Paressí, die auch die Federn und die Gürteltiere haben, den bei dem
Grundvolk der Nu-Aruak vorauszusetzenden Anschauungen. Die Wörter für »Feuer«
und »Sonne« haben gleiche Wurzeln und sind teilweise nur durch Reduplikation
unterschieden oder auch von einem Stamm zum andern sogar identisch. Man
muss also bei der Wortbildung von den Eigenschaften der Sonne zuerst Wärme
und Licht aufgefasst haben. Auch ist der Topf, mit dem die Bakaïrí die Sonne
[359] Nachts bedecken lassen, noch eine Anlehnung an den Herd, und er beweist uns,
da die Bakaïrí früher keine Töpfe hatten, die verhältnismässig späte Ausstattung
der Hypothese. Ich warf Antonio bescheidentlich ein, »aber die Sonne ist doch
heiss und Federn sind es nicht?« Ein Einwurf, den ich, kaum dass er dem Munde
entflohen war, auch bitter bereute. Denn das Gemüt Antonio’s, der klug genug
war, den Widerspruch, sobald er ihm gezeigt wurde, auch zu empfinden, war
sichtlich verletzt. »Es kann sein«, erklärte er endlich verdrossen, »dass später
durch Verzauberung Feuer hinzugekommen ist; früher war keins da«. Darin
irrt er also. Die Hitze ist nicht, wie Antonio meint, hinzu-, sondern im Gegenteil
weggezaubert worden. Allein die heutige Bakaïrí-Wissenschaft wurzelt in der
Anschauung, dass Sonne und Mond Federbälle sind, und liefert uns, wann immer
und wo immer sie entstanden sein mag, ein gutes Beispiel, um das Denken der
Indianer zu verstehen.
Dass ein Ding aussieht wie ein anderes, mehr vertrautes, genügt für die
Erklärung. Die Sonne ist ein Federball in dem Augenblick, wo man findet,
dass sie dem ähnlicher sei als einem lodernden Feuer. Sei der Schluss ein
Analogieschluss, er hat auf dieser Stufe volle überzeugende Kraft, und die weiteren
Erklärungen über das Dunkelwerden und den Lauf am Himmel entwickeln sich,
von der nun gegebenen Anregung aus, organisch. Wir sagen, da oben
können keine Tiere sein, also sind die Himmelskörper auch keine Tiere, der
Bakaïrí dagegen sieht die Tiere oder die Federn und fragt nicht, ob sie da sind,
sondern nur, wie sie hingekommen sind.
Ueber die Kometen erhielt ich keine Auskunft; nur meinte Antonio gering-
schätzig: »den Portugiesen (nur so werden die Brasilier genannt) sollen sie Böses
thun, den Bakaïrí thun sie Nichts«. Von Planeten bekam ich nur den Namen
für Venus, der nicht zu übersetzen war.
Antonio wusste am Himmel ausgezeichnet Bescheid. Er begriff auch das
Wesen meiner Sternkarte ohne Mühe. Als ich ihm das erste Mal einige Kon-
stellationen gezeigt hatte, gingen wir hinaus und suchten sie am Himmel auf.
Wir kehrten in das Zimmer zurück und sofort fand er den Sirius auf der Karte
wieder. Dieser wird mit dem Orion, dem Aldebaran und den Plejaden als eine
zusammengehörige Gruppe aufgefasst. Der Orion ist ein grosses Gestell, auf dem
Mandioka getrocknet wird, die grösseren Sterne sind die Pfostenköpfe, und so be-
zeichnet der Sirius das Ende eines grossen Querbalkens, durch den das Gestell von
der Seite her gehalten wird. Die Plejaden, offenbar der Ausgangspunkt der ganzen
Auffassung, sind ein Haufen beiseite gefallener Mehlkörner, ein dickerer Klumpen,
der »Vater des Haufens«, ist der Aldebaran. »Es giebt am Himmel Mandioka,
Pflanzungen, Wald, Alles, Alles.« Auch Festschmuck. Capella ist eine kleine Hülse,
wie sie die Bakaïrí im Ohr tragen, um vorn eine Feder hineinzustecken, zwei andere
Sterne des Fuhrmanns sind die Hülsen der Kayabí, deren Federn nach hinten
gesteckt werden. Ein Stern, unsicher, welcher, aber wie mir schien Prokyon, ist ein
Ohrlochbohrer oder richtiger wohl das von ihm gebohrte Loch. Die Zwillinge
[360] sind die Löcher einer grossen Flöte. Der Canopus hatte keinen Namen. Das
südliche Kreuz war eine Vogelschlinge an einer Gerte und die beiden grossen
Sterne des Centaur stellten zwei dazu gehörige Stöckchen dar. Mit der Schlinge
war ein Mutum cavallo (Crax) gefangen worden, den man in einer dunkeln Stelle
der Milchstrasse nahebei erkennt; wieder löst eine Anregung die andere aus und
das Eine und das Andere bestätigen sich gegenseitig. Auch steht nicht fern,
ungefähr den Sternen der Fliegenden Fische und der Argo entsprechend, ein
Sokko-Reiher mit einem Körbchen voller Fischchen: Lambaré, Trahira, Jejum.
Der Skorpion ist ein Tragnetz für Kinder.
Weitaus die meiste Aufmerksamkeit hatte entschieden die Milchstrasse
mit ihren lichten und dunklen Teilen erregt und sie scheint geradezu neben
Sonne und Mond die Hauptmasse des Rohstoffs für die ganze Sagenbildung ge-
liefert zu haben. Während die Sterne Körner, Löcher, Netzknoten, Pflöcke und
Pfostenenden sind, erscheinen hier auch Tiergestalten wie das erwähnte
Mutunghuhn und der Sokkoreiher. Die Milchstrasse selbst ist ein mächtiger
Trommelbaum, der am Boden liegt, »so wie der im dritten Dorf am Kulisehu«,
auf dem auch oben zum Fest getrommelt wurde; seine Wurzeln sieht man
im Süden auseinanderlaufen. Keri und Kame, die beiden Kulturheroen, von
denen die Bakaïrí ihre Festtänze gelernt haben, vollbrachten alle ihre Jugend-
thaten, die uns noch beschäftigen werden, in der Nähe dieses »Sata«-Baumes.
Im Zenith befindet sich das dunkle Loch, das man nur in den klarsten Nächten
sieht, wo der Königsgeier, der den Federball der Sonne in den Klauen trug,
hervorkam, durch das auch der von Christus bewirtete Medizinmann (vgl. S. 346)
wieder zur Erde flog. Die sternleere Stelle im Osten des Kreuzes, der Kohlen-
sack, ist das Loch, das Keri und Kame gegraben haben, um zuzuschauen, wie
ihre tote Grossmutter Mero verbrannt wurde. Sie hatten das Feuer — man
sieht es noch jetzt in der grossen Magelhães’schen Wolke — selbst ange-
legt, während ein anderes, die kleine Magelhães’sche Wolke, durch ihre Unvor-
sichtigkeit entstand, wie ich näher angeben werde. Namentlich Keri ist der Held
aller der Geschichten, er hat den Mutung mit der Vogelschlinge gefangen, er hat
den Königsgeier des Sonnenballs beraubt, indem er die Gestalt eines Tapirs
annahm, dessen dunkle Formen man noch jetzt in dem Argo-Teil der Milch-
strasse deutlich unterscheidet. Neben dem Tapir erblickt man ferner einen
Jaguar und einen Ameisenbär der Sage. Man braucht in der That nicht
Indianer zu sein, um die Tiere zu bemerken; besonders den Tapir habe auch
ich genau wiedererkannt.
Dass der Eingeborene dort oben ganz vorwiegend Tiere sieht, geschieht
aus demselben Grunde, weshalb er sie hier unten in allen möglichen Dingen sieht,
die ihn nur durch irgend ein kleines’ Merkmal an irgend ein Tier erinnern; er
kann gar nicht anders, weil er hauptsächlich nach seinen Jägerinteressen apperzi-
piert. Dass die Tiere und Dinge am Himmel ein anderes Aussehen haben als
die Originale auf Erden, nach denen sie bestimmt sind, ist ihm aber nicht ent-
[361] gangen. Es sind nur Figuren. Und dennoch sind sie auch wieder mehr. Denn
mögen sie auch irgendwann gemacht sein, als Kunstwerke wie seine Tierschemel
oder Sandzeichnungen kann er sie nicht auffassen, weil sie sich bewegen und in-
mitten eines höchst wechselvollen Treibens von Wind, Wolken und Wetter be-
finden, das sich selbständig, ohne dass man irgend einen Menschen sieht, abspielt.
Sie müssen verzaubert sein.
Um so mehr, als man auf anderm Wege zu gleichem Ergebnis gelangt.
Sie sind notwendig die ältesten Tiere und Dinge, die es giebt. Jedes frühere
Geschlecht, was es auch von ihnen dachte, hat sie ebenso fertig gesehen wie die
Gegenwart, während nach aller heutigen und früheren Erfahrung die Flüsse und
Bäume und Bewohner der Erde aller Art erst klein sind und dann gross werden.
Nun sind die sämtlichen Vorfahren verschwunden, es verschwinden Jahr aus, Jahr
ein immer wieder solche, die sterben — wo sollen die ältesten Leute anders
sein als bei den ältesten Dingen? Sterben aber ist verhext und verwandelt
werden, wie sich der Medizinmann, der Gift nimmt und stirbt, in beliebige Tier-
gestalt verwandelt. Ergo haben wir da oben die verzauberten ältesten Leute
und Dinge. Der Federball, der Geier, der Jaguar, der Tapir beweisen
dem Indianer Thaten der ältesten Medizinmänner. Zum vollen logischen
Abschluss würde nur noch gehören, dass er in jedem Traum einen verzauberten
Zustand erblickte.
Wie der verbindende Text der Sagen, ehe noch eine verblasste historische
Tradition besondern Stoff liefert, zu Stande kommt, habe ich bereits an den
Märchen von Geier und Schildkröte besprochen. An Material fehlt es nicht, da
die verschiedenen Tiere und Dinge, die man dort oben nebeneinander sieht, nach
ihren Eigenschaften mannigfaltige Einfälle, die ihr Zusammensein erklären, anregen
müssen. So berichtet die Sage, dass der Königsgeier, ehe ihm Keri die Sonne
wegnahm, mit ihr in dem dunkeln Loch der Milchstrasse erschien und dann am
Himmel umherflog. Nun, die Sonne wird als ein Federball apperzipiert, sie er-
reicht am Tage die höchsten Höhen des Himmels, wo man Nachts ein dunkles
Loch erblickt, und der »rote Urubú« oder prachtvoll gefärbte Königsgeier, »der
Fürst und Beherrscher seiner Sippschaft (Brehm)« ist dort der auffallendste Bürger
im Reich der Luft — ist dieser Stoff gesammelt, so bedarf es nur der neu-
gierigen Frage und die Verknüpfung kann nicht ausbleiben. Mit dem Mond
giebt man sich nicht viel Mühe. Er war »zuerst mit der Sonne zusammen«;
später teilten sich Keri und Kame in die Federn.
Von fünf Sternen im Perseus erhielt ich folgende Geschichte. Das Riesen-
gürteltier — wir haben gesehen, dass es als grösstes, der Schmutz hinterlassenden,
kugligen Tatús den Mond zuletzt bedeckt — traf Keri auf seinem Wege. Es
trug einen Korb mit Pikífrüchten, gab Keri davon und ging. Keri rief ihm nach,
es hielt an, gab Keri noch einmal und sagte: »mehr gebe ich nicht.« Da packte
er das Tatú, die Früchte rollten umher, und das Tatú wühlte sich in den Boden.
Keri machte sich Klauen aus Jatobáharz und grub es aus. Es wühlte sich wieder
[362] ein, er grub es wieder aus. Das geschah im Ganzen fünf mal und die fünf
Löcher sind die fünf Sterne. Da haben wir also nur eine Begegnung zwischen
Keri und dem schon gegebenen Tatú, wir wissen ferner von der Flöte (Zwillinge),
dass Sterne als Löcher aufgefasst werden, was ist natürlicher als dass das Tatú,
bekannt wegen seines schnellen Einwühlens, sobald es dem Verfolger entwischt,
eine Gruppe jener Sternlöcher gemacht hat. Es fehlte nur der Streit, um das
Spiel vom Entwischen und Verfolgen zu begründen, und der »Zankapfel«, wofür
wieder die beliebteste Frucht gewählt ist, die rund ist und ein buttergelbes Fleisch
hat, aber auch irgend eine andere hätte gewählt werden können. Kurz, die
Geschichte entsteht ohne grosse Erfindungsgabe, indem zwischen den Eigen-
schaften eines der durch die natürliche Anregung dargebotenen Himmelstiere und
einer geeigneten Sterngruppe, die dem forschenden Sinn auffällt, die Verbindung
hergestellt wird. Nun lautet der Name »das Riesengürteltier kommt heraus«.
Es muss nur das Interesse da sein, das die Frage erzeugt, und die erklärenden
Einfälle sind unvermeidlich.
Die eine Generation mag diesen, die andere jenen beigesteuert haben. Die
Analyse bis in die letzten Einzelheiten zu verfolgen, ist schlechterdings schon
deshalb unmöglich, weil das Vergleichsmaterial mit anderen karaibischen Stämmen
sehr gering ist.
Verwandlung. Ein grosser Teil der Naturerklärung der Bakaïrí beruht auf
der Voraussetzung des Hexens. Sie haben keine Entwicklung, sondern nur Ver-
wandlung. Diese findet auf zwei Arten statt.
Die erste ist die, dass ein Toter angeblasen und lebendig wird, oder auch,
dass ein Ding angeblasen und lebendig wird. Dem Toten wird der Atem, der ihm
fehlt, zurückgegeben, dem Ding wird erst Atem und damit Leben mitgeteilt. Dieses
aus dem natürlichsten Belebungsversuch hervorgegangene Blasen und das Tabak-
blasen des modernen Medizinmanns dürfen nicht verwechselt werden. Die schwachen
Neugeborenen in Maigéri (vgl. S. 335), für deren Leben man fürchtete, wurden
Tag und Nacht angeblasen, aber nicht mit Tabak. Erst in der Praxis sind die
beiden Methoden in einander übergegangen. Zu dem Rauchen des Arztes —
was nur, wie wir gesehen haben (vgl. S. 345), die leichteste und angenehmste der
verschiedenen, sonst durch Trinken zu Stande kommenden Arten von Narkose
ist, in deren Anwendung seine Kunst begründet erscheint, — ist das Anblasen
des Patienten mit dem Tabaksqualm erst durch Uebertragung hinzugetreten.
Längst hat man vielleicht vergessen, dass man mit dem Blasen den Atem ein-
hauchen wollte. Aber belebt werden Tote und Dinge in den Legenden stets
durch einfaches, aber auch unerlässliches Anblasen und der Bakaïrí übersetzt
epeheniblasen in das Portugiesische zuweilen mit rezarbeten, segnen, während
er gewöhnlich soprarblasen oder assopraranblasen gebraucht, wie auch das zu
epeheni zugehörige Substantiv sapehénuWind heisst.
Wenn ich nun gesagt habe, die Dinge werden durch Blasen lebendig oder
belebt, so ist das bei genauerem Zusehen ein recht unzutreffender Ausdruck. Der
[363] Zauberer leistet weit mehr, als dass er ihnen eine »Seele« oder wie dem Toten
»Leben« einhauchte. Wir lernen dies an dem wichtigsten Beispiel, dass Menschen
aus Dingen gemacht werden: Männer aus Pfeilen, Frauen aus Maisstampfern,
nachdem zuerst die nötigen Pfeile und Stampfer aus Rohr und Holz geschnitzt
sind. Die Bakaïrí sind zwar immer da gewesen, aber wenn Mangel an ihnen
eintrat, machte der Kulturheros neue, indem er aus Ubárohr Pfeile verfertigte,
sie in den Boden steckend aufrecht stellte und anblies. Ebenso sind die andern
Stämme je aus dem Pfeilrohr gemacht worden, das sie heute noch führen und
das sie also heute noch unterscheidet; der Europäer ist aus einem dem Schaft
der Flinte ähnlichen Holz gemacht worden. Die grundlegende Beobachtung, die
später, wie immer, als die Bestätigung für den erzählten Hergang gilt, ist die,
dass sich die Stämme durch ihre Pfeile unterscheiden. Der Pfeil ist ferner das
charakteristische Merkmal des Mannes. Die Frauen dagegen entstehen, indem
Maisstampfer geschnitzt, aufrecht an den Mörser gestellt werden und durch An-
blasen den Lebenshauch gewinnen; die aus gutem Holz geschnitzten fangen sofort
an zu arbeiten, andere faulenzen.
Weder Pfeilen noch Stampfern wird eine »Seele« mitgeteilt, sondern die
ganze »Person«. Wenn der Zauberer fertig ist, steht der Mann neben seinem
Pfeil, die Frau neben ihrem Stampfer. Ganz geheuer scheint dem Erzähler selbst
bei dem Vorgang nicht zu sein; denn der Zauberer, sobald er geblasen hat, »geht
ein wenig beiseite« und findet die Männer oder Frauen bei seiner Rückkehr fertig.
Ein Insekt, das durch Mimikry das Aussehen eines Jatobáblattes erhalten hat und
von den Bakaïrí »Jatobáblatt« genannt wird, ist durch Anblasen des Blattes ent-
standen; wir können sagen, »es ist lebendig geworden« oder nennen es ein
»wandelndes Blatt«. Es wird zu dem bereits vorhandenen Rohr, Holz, Blatt die
Person hinzugeliefert.
Ich meine, diese Fälle seien wesentlich von denen verschieden, wo in den
Legenden Dinge »personifiziert« werden, das heisst ebenso sprechen und handeln
wie Tier und Menschen. Die herabfallende Schildkröte der Amazonassage sieht
einen Felsblock in ihrer Fallrichtung und ruft ihm zu: »mach’, dass Du weg-
kommst!« Gehorsam entfernt sich der Stein und sie fällt auf weichen Boden.
Der Stein, der ihre Worte versteht, hätte auch etwas antworten können. Keri
streitet sich mit dem Himmel herum und geht erzürnt mit seinen Leuten auf die
Erde hinüber, wo die Bakaïrí deshalb heute wohnen. Der Wind wird gerufen,
einen Baum umzureissen. Hier wird nicht geblasen oder gezaubert. Der Erzähler
lässt die Dinge hören, sprechen, um auszudrücken, dass sie irgend etwas wollen oder
nicht wollen, gefügig sind oder sich widersetzen, und braucht sich nicht darüber klar
zu sein, wie wir es sind, dass er ihnen damit eine »Seele« zuschreibt. »Wie konnte
denn der Himmel sprechen?« »Ich weiss es nicht, damals hat er gesprochen.«
Mehr war von Antonio nicht zu erfahren. Wenn heute im alltäglichen Leben ein
Ding plötzlich Schaden anstiftet, so ist das Schuld eines bösen Zauberers, während
ein Tier aus sich selbst heraus handelt.
[364]
Die zweite Art der Verwandlung ist die des Zauberers selbst in eine be-
liebige Tiergestalt. Wie er das macht, scheint man nicht zu wissen. Er wird
aber nicht eigentlich das Tier selbst, er geht stets in das Tier hinein
und steckt stets in dem Tier, ja er kann in dem Fusse eines Tapirs
sein und den Geier packen. Tritt nun die »Seele« aus der einen Person in
die andere hinein? Allein dann dürfen wir wenigstens nicht fragen, weder, wo
die Seele des Tieres noch wo der Körper des Kulturheros bleibt, noch ob
der »Schatten«, der ja bei dem modernen in der Hängematte liegenden, nar-
kotisierten Medizinmann für die Verwandlung in Jaguar oder Schlangen den
Körper verlässt, vorher »im Innern« des Medizinmanns war, noch ob der
Schatten in das Innere eines Tieres geraten kann — ich glaube, wir thun leicht
des Guten ein wenig zu viel, wenn wir von dem Treiben der »Seele« bei den
Naturvölkern reden. Ich wenigstens habe nur den Eindruck gewonnen, dass die
Indianer betreffs der »Seele« bald an den Schatten, bald an den Atem denken,
sich aber über alle genaueren Einzelheiten gar keine Rechenschaft geben,
sondern immer die Vorstellung der ganzen »leibhaftigen« Persönlichkeit be-
halten. Am nächsten, scheint mir, kommt man dem richtigen Verhältnis, wenn
man sich den Zauberer in einem Tier ungefähr so veranschaulicht, wie den
Indianer in einer Tiermaske, der nun z. B. eine Taube ist und sich in Stimme
und Bewegung wie eine Taube geberdet, dennoch aber der Stammgenosse N. N.
bleibt und so, obwohl er ein Vogel ist, eine Kürbisschale mit Pogu bei den
Frauen holen kann.
Keri und Kame und die Ahnensage. Die allgemeine Grundlage der Welt-
anschauung des Bakaïrí ist sein Verhältnis zum Tierleben. Sie aber vorausgesetzt,
könnte man sagen, dass seine Wissenschaft und Poesie himmlischen Ursprungs
ist. Die ältesten Bakaïrí lebten im Himmel; das wird uns bewiesen durch Alles,
was wir von Sonne und Mond wissen, und Alles, was wir dort oben sehen, die
Figuren der Milchstrasse, die sternleeren Stellen und die leuchtenden Magelhães-
schen Wolken. Merkwürdiger Weise war von Vorstellungen, die bei andern
Völkern in ähnlichem Sinn fruchtbar sind, über Gewitter, Sturm, Wolken, Regen
Nichts zu erfahren. Es machte den Eindruck, als ob die Meteorologie noch ganz
unbearbeitet sei. Immer blieben es die astronomischen Himmelstiere, zu denen
die Personen der Ahnensage hinzutraten. In den Erinnerungen des
Stammes fliesst die zweite Hauptquelle des Sagenstoffes, aber die beiden Zuflüsse
mischen sich so innig, dass es kaum möglich ist zu unterscheiden, was von dem
einen und was von dem andern ursprünglich geliefert ist. Der Jaguar, hinter
dem sich ein kannibalischer Nachbarstamm der alten Zeit verbirgt, ist mit dem
Jaguar der Milchstrasse eins geworden und die zoologischen Varietäten der Jaguar-
familie stehen obendrein als eine Anzahl von Brüdern zur Verfügung.
Dass fremdem, und zwar aruakischem Einfluss eine bedeutende Rolle zuge-
fallen ist, geht aus den Namen Keri und Kame hervor. Es sind die Namen
für Mond und Sonne der Nu-Aruakstämme, sie sind gar keine karaibischen
[365] Wörter*). Ein Zufall ist völlig ausgeschlossen, weil die beiden Namen immer
zusammengehen, sowohl als Mond und Sonne bei den Nu-Aruak wie in der
Bakaïrí-Legende, wo die beiden Helden Zwillinge sind. Nur ist kéri Mond und
kàme, kámu Sonne, während in der Bakaïrí-Legende Keri die Hauptperson ist,
Kame gewöhnlich den »Dummen« spielt, und Keri die Sonne, Kame den Mond
zuerteilt bekommt. Endlich scheint auch in der ältesten Person der Legende, in
Kamuschini, das kamu, Sonne enthalten zu sein. Es ist ein wichtiger Umstand,
dass die Tradition mit Vorliebe von den Frauen fortgepflanzt wird.
Antonio hatte alle Sagen von seiner Mutter und erklärte mir, so sei es die
Regel. Dann ist eine fortwährende Differenzierung notwendig vorauszusetzen,
denn fremde Frauen sind im Lauf der Zeiten zahlreich in den Bakaïrístamm auf-
genommen worden. Keri erscheint in der Legende als der Kulturheros der
Bakaïrí, Kame als derjenige der Arinosstämme. Der alte Caetano bezeichnete
die Beiden auch schlechthin mit den Bakaïríwörtern für Sonne und Mond in
der Form von Eigennamen: Tschischi und Nuna. Es war drollig genug,
wenn er in Bakaïrí sagte: »Keri nahm tschischi«, und in Portugiesisch: »Tschischi
tomou o sol.«
Mit den beiden Brüdern gelangen wir allmählich zu dem andern Ende der
Schöpfungslegende, dem Ausgang in die eigentliche Ahnensage oder Stammesge-
schichte. Nachdem die Vorgänge im Himmel zu Ende geführt sind, das heisst, nach-
dem Keri und Kame geboren und erzogen sind und ihre Thaten vollbracht haben,
denen der Besitz des Tageslichtes, des Tausches von Himmel und Erde, des
Schlafes, des Feuers, der Flüsse zu verdanken ist, kommen sie zum Paranatinga,
beziehen den alten Sitz der Bakaïrí am Salto, machen aus Pfeilen verschiedene
Stämme, lehren Festtänze, verschaffen Tabak, Mandioka u. dergl. mehr, und
ziehen endlich von dannen, um nicht wiederzukehren. Wo hört hier die reine
Legende auf und beginnt die Geschichte, von der in den Angaben über die Flüsse,
über das Verhältnis zu anderen Stämmen und über die Herkunft der Kultur-
gewächse doch einiges Thatsächliche erhalten sein sollte? Ja, die Kayabí treten
auf, als es noch Nacht ist auf Erden, ehe die Sonne von Keri geholt worden ist!
Ich wäre froh, wenn ich die Frage nur einigermassen befriedigend beant-
worten könnte. Antonio wusste mir die Namen seiner Vorfahren bis zum Ururur-
grossvater Mariukara aufzuzählen, der nahe am Salto des Paranatinga gewohnt
haben soll; das würde, die Generation zu 30 Jahren gerechnet, bis vor die Mitte
des 18. Jahrhunderts zurückgehen. Nehmen wir die Zuverlässigkeit der Mitteilung
an, so hätten wir, was bei einem schriftlosen und nicht mit besonderen Trägern
der Tradition versehenen Stamm auch die natürliche Grenze sein dürfte, eine
mündliche Ueberlieferung persönlich bis zum Grossvater, und da dieser ebenso
[366] von seinem Grossvater noch belehrt sein konnte, mittelbar bis zum Grossvater
des Grossvaters zurück. Geben wir, der verschiedenen Lebenszeiten gedenkend,
auch noch zwei Generationen mehr zu, so wird das Aeusserste von Glaub-
würdigkeit zugestanden sein. Keiner unserer Indianer zweifelt daran, dass wir mit
diesen Ahnen bei der Zeit anlangen, wo Keri und Kame die Sonne holten.
Bakaïrí hat es zwar vorher schon gegeben und auch Kayabí waren bereits vor-
handen, ehe der Himmel mit der Erde vertauscht wurde. So geneigt ich bin,
von den guten Bakaïrí das Beste zu denken, so meine ich nach allem, dass wir
ihnen völlig gerecht werden, wenn wir sie seit undenklich langer Zeit am
Paranatinga sitzen und sie dort die Kenntnis von Mandioka und Tabak gewinnen
lassen.
Sind nun Keri und Kame die Namen zweier bestimmten Häuptlinge,
die vor einigen Jahrhunderten wirklich gelebt haben und denen man nun mit
Uebertreibung das Verdienst zuschreibt, den Lauf der Sonne geregelt und den
Bakaïrí und ihren Nachbarn Schlaf, Feuer, Flüsse u. s. w. verschafft zu haben?
Die Geschichte unserer seit Jahrhunderten als grosse Familien dahinlebenden Jäger-
stämme ist sehr wenig geeignet, Persönlichkeiten zu erzeugen, deren Namen nicht
vergessen werden könnten. Aber hiervon abgesehen, wäre nur der eine Name
»Mond« vorhanden, so möchte man noch an einen wirklichen Vorfahren dieses
Namens denken können, aber dass wir nun gerade zwei mit dem Namen »Sonne«
und »Mond« voraussetzen, sollen, ist etwas viel verlangt.
Können wir denn Keri und Kame nicht für eine Personifikation von Sonne
und Mond halten? Allein sie waren nicht Mond und Sonne oder Federbälle,
sondern hiessen nur so; die Himmelskörper Sonne und Mond sind nicht aus
Bakaïríknochen entstanden. Nun, die ältesten Dinge und die ältesten Menschen
gehören zusammen; der Stammvater ist der natürliche Besitzer der Sonne. Mag
ich ihn, um seinen Ursprung zu erklären, aus irgend einem Material hervorgehen
und ihn beleben lassen, zu personifizieren ist da nichts, sondern nur zu benennen.
Die Person wird von dem geschichtlich ganz unbekannten, aber sicher
vorauszusetzenden Begründer des Stammes ganz von selbst geliefert; es fragt
sich also nur, woher der Name genommen wird.
Es ist in erster Linie zu erwägen, ob die Namen nicht einen geographischen
Sinn haben. Orientieren wir uns! Die Töpferstämme des Kulisehu sind in unsern
Breiten die östlichsten Vorposten der Nu-Aruak. Das mächtige Gros sitzt im
Westen von dem Arinos, dem Nebenfluss des Tapajoz. Hier haben wir zu-
nächst im Quellgebiet des Arinos und Juruena die früher zahlreiche, aus vielen
einzelnen Stämmen vereinigte Paressígruppe, von denen wir wissen, dass sie sich
heute südwärts verschoben haben. Weiter nach Westen sind gewaltige Gebiete
von Nu-Aruak besetzt. Die Paressí, die uns in Cuyabá besuchten, nannten die
Sonne kamái und den Arinos als den Fluss in Sonnenaufgang, der ihr Gebiet
östlich begrenzte, kame-uhína = Sonnen-Fluss. Doch kann es irgend ein
anderer Stamm der Paressígruppe, es können durchaus auch Vorfahren der heute
[367] bis zum Kulisehu nach Osten vorgeschobenen Mehinakústämme*) gewesen sein,
von denen die Anregung für die Bakaïrí in jetzt längst entschwundener Zeit aus-
gegangen ist, es ist möglich, dass der Stamm, dessen Frauen einst die Bakaïrí-
Tradition so stark beeinflusst haben, längst nicht mehr in einer selbständigen Form
existiert — alle diese Einzelheiten sind nicht [festzustellen]. Aber es kommt auch
wenig darauf an. Freilich, dass der Arinos bei den Paressí Sonnen-, Kame-
oder Ostfluss heisst, könnte von Bedeutung sein. Denn die Stämme, die der
Heros Kame nach Angabe der Bakaïrí gemacht hat, sind »toda gente de Arinos,«
»die sämtlichen Leute des Arinos!« Es wurden aufgezählt die Paressí,
Apiaká, Mundurukú, Suyá (früher am Arinos), Maué (am Tapajoz). Keri dagegen
hat gemacht »Bakaïrí, Mehinakú, Nahuquá, Bororó, Kayapó, Kayabí, das heisst
die östlich und südlich vom Arinos wohnenden Stämme. Die Teilung
hat nicht das Geringste mit einer Unterscheidung nach Sprachen zu thun, es finden
sich Nu-Aruak und Gēs auf beiden Seiten, sie umfasst zwei grosse, räumlich
zusammengehörige Gruppen, die keineswegs streng westlich-östlich gelagert sind;
die eine enthält West-, Nordwest- und Nordstämme vom Standpunkt der Bakaïrí,
die andere Ost-, Südost- und Südstämme. Aber die Hauptvertreter der beiden
Gruppen, die Bakaïrí und die Paressí wohnen in der That so, dass jene östlich
von diesen leben. Wir haben somit das folgende Verhältnis: I. Kame = Nu-Aruak
»Sonne«, dagegen bei den Bakaïrí Heros zweiten Ranges und Herr des Mondes,
ist der Stammvater der westlichen und nördlichen Stämme und 2. Keri = Nu-
Aruak »Mond«, dagegen bei den Bakaïrí auf das Stärkste bevorzugter Heros und
Herr der Sonne, ist der Stammvater der östlichen und südlichen Stämme.
Hier möchte ich ein interessantes Beispiel heranziehen, das sich bei
Alexander von Humboldt**) findet. In der Nähe von Maipure, dem nach
dem Namen eines Nu-Aruakstammes benannten Ort, stehen zwei Felsen in den
Katarakten des Orinoko, von denen der eine »der sogenannte Keri oder Mond-
felsen«, wegen eines weissen, weithin glänzenden Flecks, wahrscheinlich eines
Quarzknotens, berühmt ist, »in dem die Eingeborenen ein Bild des Vollmonds
sehen wollen«; gegenüber wird auf einem andern Felsen ein ähnlicher weisser
Fleck »mit geheimnisvoller Wichtigkeit« gezeigt, er »ist scheibenförmig, und, sie
sagen, es sei das Bild der Sonne, Camosi«. »Vielleicht hat die geographische
Lage dieser beiden Dinge Veranlassung gegeben, sie so zu benennen; Keri liegt
gegen Untergang, Camosi gegen Aufgang.« Es wird nicht angegeben, ob
nicht auch die eine Scheibe grösser ist als die andere, aber es ist richtig, wenn
zwei gleiche Scheiben Mond und Sonne darstellen sollen, so wird man der in
Sonnenaufgaug das Bild der Sonne zuweisen und somit der andern das des
Mondes, obwohl der Westen an und für sich nicht mehr mit dem Mond zu thun
[368] hat als mit der Sonne. So könnte es ja auch geschehen, dass, wenn von zwei
ost-westlich gelagerten Gruppen von Stämmen die eine östliche die der Sonne
genannt wird, die andere die des Mondes genannt würde.
Leider geraten wir aber in unserm Fall mit dem gleichen Schluss in eitel
Verwirrung. Vom Standpunkt der alten westlichen Nu-Aruak, denen der Arinos
der Ost- und Sonnenfluss war, wohnten die Keristämme noch mehr nach Osten
als die Kame-Arinosstämme. Vom Standpunkt der Bakaïrí wohnten die Kame-
stämme gerade westlich und die Keristämme östlich. Die Bedeutung der
Himmelsrichtungen wäre also vertauscht.
Lassen wir aber die Richtungen vorläufig beiseite und versetzen wir uns
einmal in die Situation, als die Mythen entstanden! Es war ein alter Verkehr
vorhanden, es vollzog sich gelegentlich auch eine engere Vereinigung von Nu-Aruak
und Bakaïrí. Das muss geschehen sein, wenn die Namen Keri und Kame in das
Bakaïrí aufgenommen wurden. Die beiden Elemente fühlten sich deshalb brüder-
lich verwandt und führten ihre Geschichte auf zwei Brüder zurück, die in ältester
Zeit zusammen lebten. Die beiden Brüder haben ihren Stämmen Alles Gute ver-
schafft, dessen sie sich heute erfreuen. Bevor sie dies aber auf Erden vollbringen
konnten, müssen sie im Himmel gewohnt haben, der älteren Welt, die wir mit
allen ihren verzauberten Tieren und Dingen erhalten sehen. Dort sind sie geboren
und haben mit den dort sichtbaren Tieren die Geschichten erlebt, die damals
passiert sein müssen, damit es so aussieht, wie es jetzt aussieht. Die Beiden
haben auch die Federbälle Sonne und Mond unter den Topf oder in die Kuye
gelegt, in denen sie jetzt noch immer eine Zeitlang verdeckt sind. Sie haben
dafür gesorgt, dass Tag und Nacht richtig abwechseln, damit wir immer regel-
mässig unsere Schlafenszeit bekommen. Wenn die beiden das nicht gemacht
hätten, wären wir übel daran; vorher ist es sicher nicht so regelmässig hergegangen,
da waren die beiden Bälle noch ein einziger, ein grosser roter Vogel flog damit
in allen möglichen Gegenden herum und nur, wo er gerade hinkam, wurde es hell.
Dann haben sie die Federn aber für uns weggenommen, haben sie untereinander
verteilt und haben den ordentlichen Dienst eingerichtet, der jetzt Tag für Tag
und Nacht um Nacht mit Sonne und Mond so genau abläuft, dass wir in der
Nacht unsere Ruhe haben und uns am Tage überall sicher zurechtfinden. Deshalb
nennen wir den einen Ball auch heute »Sonne« und len andern
»Mond«, wie sie selber hiessen.
Vielleicht stutzt der freundliche Leser, da er erwartete, ich werde sagen:
deshalb wurden sie auch selber »Sonne« und »Mond« genannt. Mag sein, dass
die Beiden nach Sonne und Mond genannt wurden, wie Rotkäppchen nach seiner
roten Kappe. Ich weiss es nicht. Allein ich kann mir nur schwer vorstellen,
dass die alten Indianer so gedacht haben, ich würde dann immer auf eine be-
wusste Namenstaufe stossen, wie sie für Kinder stattfindet, wie z. B. etwa ein Ein-
geborener, dem Zwillinge geboren werden, sie »Sonne« und »Mond« nennen
könnte. Wenn er uns aber die Herkunft von Dingen erklärt, so erzählt er
[369] eine Geschichte, zu der die Eigenschaften des Dinges den Stoff liefern, von einer
Person dieses Namens, — Jemand muss es doch gebracht haben und der Be-
treffende hiess so, wie auch das Ding seitdem heisst: in dem Namen des Dinges,
den der Zuhörer kennt, steckt der Beweis für die Wahrhaftigkeit der Geschichte
und ihm entspringt die Befriedigung der Wissbegierde. So hat es bei den Tupí
eine Häuptlingstochter Mani gegeben, die unter besondern Umständen starb und
aus deren Grab im Hause des Vaters eine Pflanze herauswuchs; die Vögel be-
rauschten sich an den Blüten, man grub nach und fand eine Wurzel mit be-
rauschendem Saft, die man seither »Mani’s Haus« (óka) oder »Mandioka« nennt.
In gleicher Weise, würde ich lieber denken, sind auch ein paar Zwillinge geboren,
die Keri und Kame »hiessen« und die, als sie herangewachsen waren, Sonne und
Mond für uns herbeischafften, die natürlich schon, bevor sie irgend etwas von
Sonne und Mond wussten, Keri und Kame genannt waren. Der Name der beiden
besten Dinge, die sie uns, den Bakaïrí und Aruak gebracht haben, ist der, den
sie selber besassen, und daher wissen wir nun, wo die beiden Dinge herkamen.
Jedenfalls bestreite ich durchaus, dass Sonne und Mond personifiziert wurden.
Wenn ich freilich nicht bestimmt festgestellt hätte, dass sie als Federbälle und
Dinge gelten, die im Besitz von Personen sind, wenn wir nur die Namen der
Kulturheroen »Sonne« und »Mond« hätten, so würde ich zusehen müssen, dass
man auch diesen Fall nach dem bequemen Schema der Personifikation erledigte.
Das ist aber hier ausgeschlossen. Der Indianer schliesst, Jemand muss die Dinge
gebracht haben, und das sind natürlich die beiden Stammväter, die es notwendig
gegeben haben muss. Und deren Namen findet er auch vorrätig.
Der alte Caetano sagte, sie heissen Tschischi oder Keri und Nuna oder
Kame. Er gebrauchte die karaibischen und die aruakischen Wörter für Sonne
und Mond als Eigennamen beliebig durcheinander, nur dass er seinen Bakaïrí
(trotz des kérí = Mond) die Hauptperson Keri als Sonne vorbehielt. Keri ist
immer der Kluge in den Geschichten und Kame der Dumme! »Kame«, sagte
Antonio, »ist ein Tölpel (é gente bobo) und macht Alles verkehrt, Keri nicht,
o nein!« Mit diesem für jeden Stamm selbstverständlichen Bestreben erreiche
ich wieder den Anschluss an die geographische Verteilung und auch die Erklärung.
Zwei Brüder »Sonne« und »Mond« waren die Stammväter der in einer gewissen
Periode seit altersher gemeinsam lebenden Nu-Aruak und Bakaïrí. Selbstverständlich
erkor jeder Stamm »Sonne« zu seinem Helden und gab »Mond« dem andern. Die
Aruak-Frauen sagten, unser Kame (Sonne) und euer Keri (Mond), die Bakaïrí-
Männer unser Tschischi (Sonne) und euer Nuna (Mond). So wurde für die Kinder
der beiden, die Vorfahren der heutigen Bakaïrí, die von beiden belehrt wurden und
sich um die Thaten der Helden mehr kümmerten als um die Worterklärung,
der Besitzer der Sonne Tschischi, wie ihn die Väter, oder Keri, wie
ihn die Mütter nannten, der Besitzer des Mondes Nuna, wie ihn die
Väter, oder Kame, wie ihn die Mütter nannten. Tschischi-Keri haben die
Bakaïrí und ihre Nachbarn, Nuna-Kame die Aruak und ihre Nachbarn ge-
v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 24
[370] macht, also Kame die mit den Paressí nordwestlich wohnenden Arinosleute und
Keri die mit den Bakaïrí südlich und östlich wohnenden Stämme. Von einer
bewussten primären Unterscheidung auf Grund der Himmelsrichtung aber ist
keine Rede; diese Unterscheidung könnte nur sekundär auf dem Umweg ent-
standen sein, dass Keri schon zur Hauptperson und dem Besitzer der Sonne
geworden war; denn die Kinder konnten nicht ohne Weiteres Osten und Sonne
nennen, was die Mütter Westen und Mond nannten, und nicht ein unbegreifliches
Missverständnis ist es (wie ich anfangs selbst geglaubt habe), das den Umtausch
der Namen hervorgebracht hat, sondern der sehr verständliche Anspruch auf
beiden Seiten, dem bedeutenderen der beiden brüderlichen Vorfahren zu ent-
stammen.
Ich glaube, der Stoff der astronomischen Beobachtungen und der der ge-
schichtlichen Erinnerungen sind auf genau dieselbe Weise verarbeitet worden: in
beiden Fällen sind die Träger der Handlung hinzugedichtet worden, wie
die Männer zu den Pfeilen und die Frauen zu den Maisstampfern. Die Handlung
ist geschichtlich, die Personen sind es nur insofern, als sie die Häuptlinge, Medizin-
männer oder Stammväter sind, die man für den Anfang voraussetzen muss.
Betrachten wir einige wichtige Einzelheiten der Sage: Keri und Kame sind
Zwillinge. Ihre Mutter ist mit dem Jaguar »verheiratet«, aber es wird besonders
hervorgehoben, dass sie nur seine Pflegesöhne sind und dass die Mutter, wenn
sie also auch nicht Jungfrau zu sein braucht, sie dennoch nicht von ihrem Gatten
empfangen hat; sie verschluckte zwei Fingerknochen von Bakaïrí, die der Jaguar
als Pfeilspitzen im Hause aufbewahrt, und wurde davon schwanger. Gleichen
Zügen begegnen wir in vielen amerikanischen Sagen. Es werden erstens mehrere
Brüder als Urväter geboren, und zweitens ist die Mutter dann oft jungfräulich.
Es fehlt nicht an tiefsinnigen Deutungen. Bei den Paressí sind es zehn Brüder,
bei andern Stämmen vier; die Zahl richtet sich entweder nach dem Bedarf, wie
viel selbständige Stammbäume nötig waren für die Stämme, die nebeneinander
lebten und sich im letzten Grunde verwandt und verschwägert fühlten, oder sie
wird auf die eine oder andere Weise nach den Himmelsrichtungen reguliert.
Dass die Mutter jungfräulich ist, versteht sich bei der Auffassung des Indianers
von der Vaterschaft ziemlich von selbst. Der Sohn ist immer der kleine Vater;
der erste der Reihe darf, wenn er wirklich der erste sein soll, natürlich keinen
Vater haben. Eine Mutter kann vorhanden sein, das Problem ist nur, wie sie
schwanger wird. In unserm Fall ist es sehr glücklich gelöst; Keri und Kame ent-
stehen jeder aus einem Knochen, der in den Leib der Mutter gerät, aber diese
Knochen sind Pfeilspitzen und somit bleibt die gewöhnliche Entstehung des
Mannes aus dem Pfeil auch hier gewahrt. Dass die Knochen Bakaïríknochen
sind, ist eine Inkonsequenz, die wohl für die Verschmelzung verschiedener Sagen
spricht. »Bakaïrí waren immer da«, auch Ewaki, Keri’s und Kame’s Tante,
gehört schon zur »Verwandtschaft der Bakaïrí«, und Keri macht nur Bakaïrí,
wenn Mangel eintritt. Keri bleibt aber immer der »Grossvater der Bakaïrí«.
[371]
Was die Mutter selbst betrifft, so ist sie aus einem, richtiger zu einem
Maisstampfer, der aus Pikíholz geschnitzt war, hinzugemacht worden, und damit
sollte in der klaren Analogie zum Ursprung der Männer aus Pfeilen die rein
menschliche Auffassung ihres Wesens genügend gewährleistet sein. Wer aber
in ihr trotzdem eine Personifikation z. B. der Morgendämmerung erblicken will,
aus der die Sonne hervorbricht, der äussert damit meines Erachtens einen vor-
trefflichen Gedanken, dem nur der Fehler anhaftet, dass er ihn und nicht der
Indianer ihn gehabt hat. Gern will ich aber zur Mythenbildung über den Mythus
beitragen: es wurden fünf Maisstampfer belebt, zwei der so hervorgezauberten
Frauen wollten nicht arbeiten und wurden sofort getötet, während die zukünftige
Mutter der Zwillinge eine der fleissigen war; hier ist also der Fleiss personifiziert
und der Fleiss hat die nächste Beziehung, die man nur verlangen kann, zur
Morgendämmerung, wo er sich schon kräftig regt, wenn die Faulheit noch schläft.
Die Morgendämmerung verschwindet in dem Licht des Tages und deshalb
wird erklärt, stirbt die Mutter der Kulturheroen. Ich finde es sehr grausam,
dass die Mutter nicht als Abenddämmerung wieder lebendig wird. Doch muss
ich anerkennen, dieser in den amerikanischen Schöpfungssagen oft beobachtete
Zug vom Tode der Mutter trifft allerdings auch hier zu. Und da ist es freilich
mit meiner schönen Erklärung vom Fleiss nichts, denn der sollte mit dem an-
brechenden Tage erst recht zum vollen Leben erwachen. So glaube ich, ist es
besser, auf die Allgemeinheit jenes Schicksals der Mutter keinen allzu hohen
Wert zu legen — es stirbt sich in den Mythen überhaupt sehr leicht — sondern
in jedem einzelnen Fall zu prüfen, wie weit der Tod den Zwecken des Er-
zählers förderlich ist. In unserm Fall ist sowohl der Tod selbst als Motiv für
die Fortsetzung der Geschichte als auch die Art, wie er mit der Geburt kom-
biniert wird, sehr nützlich. Die Mutter wird von der Schwiegermutter getötet,
weil sie als eine Bakaïrí gilt und die Schwiegermutter und ihr Stamm mit den
Bakaïrí verfeindet waren und ihrer möglichst viele auffrassen. An ihr rächen
sich Keri und Kame, auch sie wird getötet und indem sie verbrannt wird,
entstehen die Magelhães’schen Wolken; dieses Feuer spielt auch wieder eine
wichtige Rolle für die Entwicklung der Helden. Dann aber wurden Keri und
Kame aus der toten Mutter herausgeschnitten, und das ist doch ein Umstand,
der eine auffälligere Beziehung aufweist zu der wunderbaren, für die Mutter
freilich verhängnisvollen Geburt zweier grossen Medizinmänner, die bald so
Vieles leisten, als zu dem Tod der personifizierten Morgendämmerung! Die
Morgendämmerung wird übrigens wie die Sonne als Federn betrachtet, die der
Geier herbeibringt, um nicht die Sonne selbst hergeben zu müssen.
Wollten wir die Legenden doch mehr nehmen als das, was sie dem In-
dianer selbst sind, denn als das, was sie uns sein könnten, was sie im Auf-
schwung einer höheren, die kindlichen Ursprünge mit tausend Arabesken aus-
schmückenden Kultur, wie ich gewiss zugebe, auch jenem werden könnten. Der
Indianer denkt sich die Sonne als einen Federball — und das thuen nicht nur
24*
[372] die Bakaïrí und Paressí, sondern auch die Bororó — und er soll sich das abstrakte
»Licht« als eine Person vorstellen!
Der »Lichtgott« bringt in den amerikanischen Sagen die »Kultur« und man er-
blickt darin eine Erinnerung an eine Wanderung aus dem Osten oder einen Ursprung
der Kultur aus dem Osten. Es ist in der That merkwürdig, wie mächtig die
Kultur schon in unvordenklichen Zeiten von dem Zug nach dem Westen er-
griffen war; sollen doch auch alle die Stämme, die ihre Toten, da man ihnen
keinen Kompass ins Grab legen kann, mit dem Antlitz nach Sonnenaufgang hin
bestatten, von Osten herbeigezogen sein. »Wo wohnt Keri?« fragte ich Antonio.
»Im Himmel.« »Aber in welcher Richtung?« »Im Osten; dort bewahrt er doch
die Sonne auf. Der Topf, der sie Nachts bedeckt, steht in seinem Hause.« Der
alte Caetano nannte Keri den »Imperador« und auch er liess ihn im Osten
wohnen, nämlich in Rio de Janeiro. Ich sehe nicht den geringsten Grund, den
ersten Akt im Himmel der Kerisage mit einer Wanderungssage zu verquicken.
Die Sonne war vor Keri da, er hat nur ihren Lauf geregelt. Wenn er mit der
Sonne geht, muss er im Osten oder im Westen wohnen, die Bakaïrí haben sich
für den Osten entschieden und hätten nun leicht zu dem Schluss kommen
können, den sie nicht gemacht haben, dass ihre Vorfahren von dorther gekommen
seien. Aber die Vorfahren können nicht gut überall, wo dieser Schluss gemacht
wird, im Osten gelebt haben. Dass aber Keri mit der Sonne geht, kann nicht
Wunder nehmen, weil er ja nur die Person ist, die zur Sonne erklärend hinzu-
gedichtet ist, und da diejenige Person hinzugedichtet ist, die den Begründer des
Stammes darstellen soll und auf den die wichtigsten Errungenschaften bezogen
werden, so muss der Kulturheros auch der »Lichtgott« sein.
II. Die Texte.
Die Eltern von Keri und Kame. Entstehung und Tod der Mutter. Letzterer gerächt.
Sonne, Schlaf und Burití-Hängematte. Himmel und Erde vertauscht. Feuer. Flüsse.
Zum Salto des Paranatinga. Haus, Fischfang, Festtänze, Stämme. Abschied von Keri
und Kame. Tabak und Baumwolle. Mandioka; Rehgeweih. Der hässliche Strauss.
Keri und der Kampfuchs auf der Jagd. Der Jaguar und der Ameisenbär.
Die Originaltexte der Bakaïrí-Sagen habe ich in der Bakaïrí-Grammatik
mit Interlinearübersetzung veröffentlicht. Ich will versuchen, ihren Inhalt, der
zum Verständnis wesentlicher, von Antonio gelieferter Ergänzungen bedarf, hier
zu erzählen. Sie selbst bestehen aus sehr kurzen Sätzen und haben eine ungemein
knappe Form des Ausdrucks.
Die Eltern von Keri und Kame. Der erste Teil der Legende spielt
im Himmel. Damals war ungefähr Alles vorhanden, was es jetzt auf Erden
giebt. Von einer eigentlichen Schöpfung wird Nichts berichtet, es wird nur
erzählt, wie die Helden Keri und Kame allerlei gute und wichtige Dinge von
Andern erwerben. Waren doch selbst Bakaïrí immer da, wenn auch »im Anfang
[373] nur wenige«. Ebenso gab es Leute von anderer Stammeszugehörigkeit, namentlich
die verschiedenen Jaguare und ihre Verwandten, die viele Bakaïrí töteten und
verzehrten. So war auch Kamuschini, mit dem die Geschichte beginnt, »von
einem andern Volk«.
Kamuschini begegnete, da er im Walde Blätter der Tukumpalme suchte,
um sich Schnur für Bogensehnen zu verschaffen, dem Jaguar Oka, fürchtete sich
vor ihm und versprach, ihm Frauen zu machen, wenn er ihn verschone. Zuerst
fällte er Bäume mit rotem Holz (sewéti), brachte die Klötze nach Hause, stellte
sie in einen Maismörser, blies sie an und zog sich ein Weilchen zurück. Als er
wiederkam waren es aber lauter Männer geworden, die Pfeile schnitzten! Er
tötete sie, ging wieder fort und fällte nun mit seinem Steinbeil 5 oder 6 andere
Bäume, verfuhr damit ebenso wie mit den ersten und fand diesesmal, als er die
Angeblasenen sich ein Weilchen überlassen hatte, dass es Frauen geworden waren.
Sie sagten alle »Papa« zu ihm und mit Ausnahme der letzten, die faul da sassen
und die er deshalb erzürnt sofort tötete,*) stampften sie eifrig Mais — »Mandioka
soll es damals noch nicht gegeben haben« — und machten Beijús und Getränke.
Die beiden ältesten, Nimagakaniro und Ichoge, gab Kamuschini dem Jaguar Oka
und dieser führte sie nach Hause. Unterwegs aber verunglückte Ichoge, sie
kletterte auf eine Buritípalme, um sich Nüsse zu holen, und stürzte hinab.
Nimagakaniro verschluckte zwei Bakaïrí-Fingerknochen, von denen viele im
Hause waren, weil Oka sie für seine Pfeilspitzen gebrauchte und viele Bakaïrí
tötete, deren Fleisch er ass. Von den Fingerknochen und nur von diesen, nicht
von Oka wurde die Frau schwanger. Jetzt aber nahte ihr Schicksal in Gestalt der
Schwiegermutter Mero, deren Gatte unbekannt ist und die ausser Oka (der grossen
Onça pintada, dem bunten Jaguar) noch zwei Jaguarsöhne hatte, Kuára (die »Canguçú-«
Varietät der Brasilier) und Zaupányua (eine »rotfarbige« Abart). Mero kam zu Be-
such, als Oka auf Jagd war; »sie wollte nicht, dass er von einer Bakaïrí Söhne
habe«, denn sie hasste und ass die Bakaïrí. Sie riss Nimagakaniro mit ihren
Krallen die Augen aus und ging wieder. Nimagakaniro starb, aber der Oheim
Kuára — ein Jaguar, der im Himmel an einer Toten die Sectio Caesarea aus-
führt! — schnitt den Leib auf, holte die Zwillinge Keri und Kame hervor und
legte sie in eine Kalabasse wie junge Papageien. Dann schnitten er und seine Leute
Nimagakaniro in Stücke, brieten und verzehrten sie und setzten den Rest dem heim-
[374] kehrenden Oka vor, der ihn ahnungslos ass. Heftig erzürnt, als er den Hergang er-
fuhr, lief er Mero zu töten, stand aber davon ab, weil sie sagte: »ich bin deine
Mutter.« Keri und Kame zog der Pflegevater Jaguar auf, er liess sie auf seinen Rücken
reiten und lehrte sie mit Pfeilen schiessen. Nun fragten sie ihn aber nach ihrer
Mutter; er hatte von ihrem Tod geschwiegen, weil er sich schämte, von ihrem
Fleisch gegessen zu haben, und gab auch jetzt keine Auskunft. Doch die Gross-
mutter oder Tante Ewaki, die zum Geschlecht der Bakaïrí gehörte und hier zum
ersten Mal genannt wird, berichtete die Unthat Mero’s. Keri und Kame gingen
hin und töteten Mero, obwohl diese sie freundlich mit dem Gruss »o meine
Enkel« empfing.
»Mero safada, die verdammte Mero« (Antonio hasste sie von Herzensgrund)
»wurde nicht beerdigt, o nein, die wurde verbrannt«. Keri und Kame trugen
Scheiter zusammen und legten Feuer an, dann gruben sie sich ein Loch um
zuzuschauen. Mero brannte bopopopo . . . . . Man sieht das Feuer noch heute in
der grossen Magelhães’schen Wolke. Zu jener Zeit hatte Keri und Kame noch
keine menschliche Gestalt. Kame kroch aus seinem Loch neugierig hervor
und fing Feuer. Er verbrannte, starb. Keri blies ihn an und machte ihm Nase
und Hände und Füsse wie die Menschen haben. Aber auch Keri fing Feuer
(die kleine Magehães’sche Wolke ist das Feuer von Keri und Kame), verbrannte,
starb, wurde von Kame lebendig geblasen und menschlich gestaltet. Da kamen
drei Tierarten, die man auch noch am Himmel sieht, die kleine Fischotter, die
sich den Schwanz, die grosse (Ariranya), die sich Hände und Füsse, und der
Tukan, der sich den Schnabel von Keri und Kame nahm. Keri hatte einen
grösseren Schnabel gehabt als Kame.
Jetzt sind die beiden also erst menschlichen Aussehens und beginnen bald
ihre Thätigkeit zum Nutzen der heute Lebenden. Wie sahen denn Kamuschini,
Mero und Oka aus? »Oka ist doch der bunte Jaguar?« »Ja«. »Und er schoss
mit Pfeilen? »Ja, damals schoss der Jaguar mit Pfeilen.« »Er schoss die Bakaïrí
und frass sie auf.« Mero hatte »etwas vom Joho« (Crypturus noctivagus) »und
Makuku« (Tinamus brasiliensis), zwei Waldhühnern. Aber ihre Krallen waren
so gross wie Daumen. »Also die Mutter der Jaguare ist ein Vogel gewesen?«
»Ja, man sagt, dass der Jaguar noch heute keinen Johó und Makuku frisst.«
Da ist wieder eine echt indianische Begründung des unsinnigen Verwandtschafts-
verhältnisses zwischen der Sippe Jaguar und der Sippe Waldhuhn. Wenn hier
etwas Historisches zu Grunde liegt, so ist es mit dem Zoologischen untrennbar
verquickt. »Mero frass so viele Bakaïrí, dass kaum welche übrig blieben. Keri
musste neue machen.«
Kamuschini’s Person endlich wird auch mit einer Tierbeobachtung in Zu-
sammenhang gebracht, und stellt, obwohl wir seinen Aufenthalt im Himmel be-
greifen lernen, noch grössere Ansprüche an unsere Einbildungskraft. Er hat »ein
schwarzes Fell, ist mässig behaart, er macht Fäden wie die Spinne«. »Die
Spinnen kommen jedes Jahr im Juli und kriegen dann Kinder; im August und
[375] September, wenn der Regen kommt, machen sie Fäden und dann gehen sie zum
Himmel und der Faden fliegt hinterher. Kamuschini ist wie diese Spinnen.«
Keri und Kame dagegen sind nunmehr menschlich gestaltet. Sie rächen
den Tod der Mutter jetzt auch an dem Pflegevater. Aber sie scheuen doch
davor zurück und wollen die That durch andere ausführen lassen. Sie bitten
den Jaguar, ihnen Pfeile zu machen, stellen sie in einem Kreis aufrecht in den
Boden und blasen sie an. »Es kamen« die Kayabí, die Nachbarn der Para-
natinga-Bakaïrí, die mit ihnen früher in Frieden gelebt haben sollen, aber um der
Steinbeile und Frauen willen ihre Todfeinde geworden sind. Die Pfeile, die der
Jaguar für Keri und Kame machte, und zu denen diese die Kayabí hinzuzauberten,
waren Stiele von Buritíblättern, denn damals waren Keri und Kame noch Kinder
und gebrauchten Kinderpfeile. Keri hiess die Kayabí auf Oka schiessen, aber
sie fehlten. Da schoss Keri selbst, der Pfeil drang in das Knie des Jaguar ein,
»der Jaguar stürzte sich ins Wasser und entkam.« Die Legende sagt einfach:
»darauf töteten sie ihren Vater«, Antonio aber machte diese abweichende Angabe
und fügte hinzu: »wenn der Jaguar getötet worden wäre, so gäbe es heute
keinen mehr.«
Sonne. Keri und Kame empfingen nun von ihrer Tante Ewaki den Auftrag,
die Sonne zu holen, die der rote Urubú oder Königsgeier besass. Alles bisher
Erzählte hat sich während der Nacht abgespielt, wenn nicht etwa der Königsgeier
mit der Sonne erschien. Im Zenith giebt es ein schwarzes Loch, das den Urubús
gehörte. In dieses Loch stürzte der Tapir, den man in der Milchstrasse sieht,
weil es finstere Nacht war. Keri sah den Tapir und ging in seinen Vorderfuss
hinein.*) Kame aber ging in einen kleinen gelben Singvogel, ähnlich dem Bemteví,
und setzte sich auf einen Ast; er sollte Keri, der Nichts sehen konnte, von Allem,
was vorging, unterrichten. Der rote Geier öffnete die Sonne, es wurde hell und
so erblickten die Urubús den Tapir. Die ganze »Urubusiada«, schwarze und
weisse Geier — nur der rote blieb noch fern — stürzten sich auf den Tapir.
Sie holten Schlingpflanzenstricke herbei, zogen ihn mit aller Mühe aus dem Loch
und wollten ihn zerteilen. Da machte Kame auf seinem Ast »neng, neng, neng«,
Keri blies und die Geier konnten mit ihren Schnäbeln den Tapir nicht öffnen.
Sie riefen den Königsgeier zu Hülfe, er kam und Kame hörte auf »neng, neng,
neng« zu machen. Der rote Geier öffnete den Tapir mit seinem Schnabel und
in diesem Augenblick ergriff ihn Keri, ihn so fest packend, dass er fast starb.
Nur wenn er die Sonne hergebe, solle er am Leben bleiben. Da schickte der
Königsgeier seinen Bruder, den weissen Geier, die Sonne zu holen. Dieser
brachte die Morgenröte. »Ist das recht?« fragte Kame Keri, der festhalten
musste. »Nein, nicht die Morgenröte«, erwiderte Keri. Da brachte der weisse
Urubú den Mond. »Ist das recht?« fragte Kame. »Ach was!« erwiderte Keri. Nun
[376] brachte der weisse Urubú die Sonne, und als Kame fragte: »ist das recht?« ant-
wortete Keri: »jetzt, ja«. Dann gab er den roten Urubú frei, der sehr erzürnt war.
»Der Mond bestand damals aus Japú-Federn, die Sonne aus Federn des
Tukan und des roten Arara, die Morgenröte aus Tukan-Federn. So haben es
die Alten gewusst. Wenn es jetzt, wie Ihr sagt, anders sein soll, so weiss ich
davon Nichts und Niemand weiss es. Dann muss man geblasen haben, dass sie
wie Feuer geworden ist.«
Keri sann und sann, was er nun mit der Sonne und dem Mond anfangen
sollte. Es war immer hell. Ewaki wusste ihm auch nicht zu raten. Endlich
machte er einen grossen Topf und stülpte ihn darüber. Da war es dunkel. Er
gab den Mond Kame. Sonne und Mond waren beide unter dem Topf. Wenn
der Topf aufgehoben wird, ist es Tag. — Ueber den Dienst des Kolibri und der
Schnecke, sowie der Eidechse und der Gürteltiere vgl. Seite 358.
Schlaf und Burití-Hängematte. Ob das Bedürfnis sich mit der lange-
dauernden Helle der noch nicht untergebrachten Sonne einstellte, ich weiss es
nicht, aber Keri und Kame wollten gern schlafen und konnten zu ihrem Leid-
wesen nicht. Sie gingen zu Ewaki und die immer gut unterrichtete Tante sagte
ihnen, wo sie den Schlaf holen sollten. Po, die Eidechse, war im Besitz des
Schlafes. Sie empfing Keri und Kame freundlich und sagte »o, meine Enkel.«
Sie blieben in ihrem Hause, legten sich in die Burití-Hängematte und schliefen.
Als sie erwachten, fühlten sie sich wieder wohl. Am andern Morgen sagten sie
Lebewohl und zogen mit der Hängematte, die ihnen die Eidechse geschenkt hatte,
von dannen.*) Unterwegs, als sie eine Legua gegangen waren, wollten sie nun
das Schlafen versuchen. Sie legten sich in die Hängematte und versuchten, aber
es ging nicht. Sie quälten sich vergebens. Da gingen sie wieder zum Haus der
Eidechse zurück, ergriffen sie und zogen ihr das Augenlid aus. Sie nahmen
sich ein grosses Stück und die Eidechse war sehr böse. Nun hatten sie Augen-
lider und konnten schlafen.
Himmel und Erde vertauscht. Um diese Zeit ist es auch geschehen,
dass Keri den Himmel verliess. »Zuerst war die Erde der Himmel; hier, wo wir
jetzt sind, wurden keine Bakaïrí geboren. Der Himmel hat einen Boden, auf
dem es gerade so aussieht wie hier auf der Erde. Himmel und Erde waren
ganz nahe beieinander; man konnte auf die Erde hinübergehen.« Keri sagte
zum Himmel: »Du sollst nicht hier bleiben. Hier sterben meine Leute. Und
Du willst hier bleiben? Du bist gut! Aber ich will nicht, dass meine Leute
sterben.« Der Himmel antwortete: »Ich will hier bleiben.« Da sagte Keri:
»Dann tausche ich.« Er ging mit allen seinen Leuten auf die Erde und der
Himmel stieg in die Höhe dahin, wo er jetzt ist, und wo man noch heute
sieht, dass alles so geschehen ist, wie es die Bakaïrí erzählen.
[377]
Feuer. Keri und Kame gingen zu Ewaki und diese befahl ihnen, das
Feuer zu holen. Der Kampfuchs war der Herr des Feuers. Er hatte es in den
Augen und schlug es sich heraus, wenn er Holz anzünden wollte. Der Kampfuchs
(Canis vetulus »fängt Krebse und Krabben,« Brehm Säugetiere II S. 57) hatte
eine Reuse ausgelegt, um Fische zu fangen. Zu der Reuse gingen Keri und
Kame; sie fanden darin einen Jejum-Fisch und eine Caramujo-Schnecke. Keri
ging in den Jejum (einen glatten, spannenlangen Lagunenfisch) und Kame ging
in die Muschel. »Beide waren gut darin versteckt.« Singend kam der Kamp-
fuchs gegangen und machte Feuer an. Dann sah er nach, was in der Reuse
war, holte den Fisch und die Schnecke und legte sie in das Feuer, um sie zu
braten. Aber die beiden gossen Wasser in das Feuer. Erzürnt ergriff der
Kampfuchs die Schnecke, die hüpfte aber in den Fluss und holte neues Wasser
und goss es in’s Feuer, dass dieses beinahe ganz verlöschte. Der Kampfuchs
ergriff sie wieder und wollte sie auf einem Holz in Stücke schlagen, die Schnecke
aber entglitt ihm und fiel auf die andere Seite. Das wurde dem Kampfuchs
zuviel; ärgerlich lief er davon. Keri und Kame aber bliesen das Feuer wieder
an und gingen damit zu Ewaki.
Flüsse. Ewaki schickte die beiden Knaben aus, das Wasser zu holen.
Sie wanderten drei Tage. Sie fanden drei Töpfe, die der Ochobi-Wasserschlange
gehörten. In den Töpfen war Wasser, in zweien war gutes Wasser, aber in dem
dritten war schlechtes, von dem man nicht trinken kann, ohne zu sterben. Diesen
dritten Topf liessen sie ganz, sie wollten gutes Wasser haben. Die zwei andern
Töpfe zerschlugen sie; das Wasser, das aus dem einen abfloss, war der Para-
natinga, das Wasser des anderen der Ronuro und Kulisehu.*) Keri nahm sich
des Paranatingawassers, Kame des Ronuro-Kulisehuwassers an. Beide Flüsse
liefen weiter und Keri und Kame liefen jeder hinter dem seinen; sie riefen ein-
ander zu, damit sie sich nicht verlören. Auf einmal hörte Kame’s Rufen auf.
Keri schrie und schrie, doch die Antwort blieb aus. Da liess er den Paranatinga
stillstehen und warten und ging zum Ronuro. Der dumme Kame hatte sich den
schlechtesten Fluss ausgesucht, er konnte nicht mit ihm fertig werden, das Wasser
wurde gross und breit und Kame ertrank. Ein gewaltiger Jahú-Fisch verschluckte
ihn. Keri kam und fand den Ronuro stillstehend, Kame verschwunden. Sogleich
gab er sich an’s Fischen; er fing drei Jahús und einer war dick geschwollen.
Dem riss er den Bauch auf und erblickte nun Kame, der tot war. Er legte die
Leiche auf grosse, grüne Blätter und blies sie an. Da stand Kame auf und
sagte: »ich habe gut geschlafen.« »Nein,« rief Keri, »Du hast ganz und gar nicht
geschlafen! Ein Jahú hatte Dich gefressen.« Mit dem Ronuro wollten sie nichts
mehr zu thun haben; Keri liess eine Ente kommen und befahl ihr, das Wasser
mitzunehmen. So geleitete die Ente den Fluss wieder weiter und die beiden
Knaben — sie hatten zu dieser Zeit das Alter, wie Antonio zum Vergleich zeigte,
[378] des Sohnes eines uns bekannten Deutschen in Cuyabá, etwa 8 Jahre — begaben
sich zu Keri’s Paranatinga, der noch geduldig wartete. »Das ist das Wasser,«
sagte Keri, »das wir mitnehmen wollen.«
Drei Tage liefen sie mit ihm thalwärts. Da kamen sie zum Salto des
Paranatinga, allein es war noch kein Wasserfall, sondern nur trockener Fels. Sie
selbst brachten jetzt das Wasser zum Salto und liessen es jenseit des Falles
warten. Aber da sie nun hier blieben, liess Keri bald Enten und Tauben kommen
und andere Vögel, die das Wasser mitnahmen und weiterführten.
Haus, Fischfang, Festtänze, Stämme. Am Salto wohnte nämlich Tu-
mehi oder Tumeng, ein Grossvater von Keri. Er war der Mann von Gross-
mutter oder, wie wir sie bisher genannt haben, Tante Ewaki (Mutter und Tante,
Grosstante und Grossmutter haben gleichen verwandschaftlichen Wert). Tumehi
war eine Fledermaus und hatte ein schwarzgraues Fell. Der alte Caetano
nannte ihm durcheinander Semimo (Bak. semímo Fledermaus) und Rei de Congo!
Den König vom Kongo, einen Begriff, den er der Himmel weiss wie, von Negern
flüchtigen Sklaven oder Arbeitern auf den Fazendas, aufgegriffen und auf den
schwarzen Tumehi übertragen hatte. Tumehi gehört zu der ältesten Sippe der
Kamuschini, Mero und Ewaki, und sein richtigster Name ist wohl Semimo; denn
tuméhi, tumeng ist ein Adjektivum. Der Salto war, ehe das Wasser hinkam,
sein steinernes Haus gewesen; wir können uns nicht wundern, dass gerade die
Fledermaus, die in den Felsspalten mit Vorliebe »haust«, als der Erbauer der
steinernen Kluft und diese selbst mit dem einen oder andern überhängenden
Felsdach als Haus gilt. Tumehi also war pedreiro, Steinhauer.
Keri und Kame liessen sich von Tumehi auch je ein steinernes Haus machen.
Dieser verschaffte sich die Steine, indem er Termiten anblies: so entstanden
die Steine.
Allein sie lernten noch Anderes von Tumehi am Salto. Der kundige Gross-
vater zeigte ihnen, wie man Reusen verfertigt und anlegt und darin Matrincham-
Fische fängt, wie man ferner den Bratständer flicht und die Fische brät.
Jetzt sind Keri und Kame so weit, dass sie selbst als erwachsene Menschen
gelten, sie haben Alles erworben, was man gebraucht: Sonne und Mond,
Hängematte und Schlaf, Feuer, den besten Fluss mit dem Salto und seinen
Fischen, Haus und Bratständer. Beginnen musste ihr Leben im Himmel und
fortgeführt ist es nun bis zu dem Zeitpunkt, wo die eigentliche Stammesgeschichte
an dem ältesten Wohnort der Bakaïrí, am Salto des Paranatinga, anhebt.
Die Bakaïrí wohnten mit Keri zusammen: Keri’s Haus lag auf der öst-
lichen Seite des Salto. Beide machten auch zusammen einen Hügel auf der
westlichen Seite des Parantinga, von dem man eine weite Umschau hatte.
Kame baute zuerst eine Festhütte und schnitzte zuerst eine Flöte. Er
lud Keri und seine Leute ein. Nach dem Klang der Flöte tanzten Alle, auf-
stampfend und die Arme im Takt schwenkend, von den Wohnhäusern zum
Flötenhaus und wieder zurück. Kame setzte seinen Gästen Pogugetränk und
[379] Beijús vor. Sie gaben dafür Geschenke von Pfeilen und Baumwollfaden.
Keri rief nun auch seine Leute zum Tanzfest zusammen; sie tanzten und
tranken auch Pogu, Nachmittags auf dem grossen freien Platz, den man noch am
Salto sieht; dann flochten sie aus Burití Makanari- und Imiga-Anzüge, schwangen
die Rassel, bliesen die Flöte. Nun konnte Keri auch Kame und seine Leute
einladen. Viele kamen, Keri war Herr des Imeo-Tanzes, und man tanzte
zwei Tage und zwei Nächte hintereineinander, nur Abends ein wenig ruhend und
Morgens sich durch ein Bad im Fluss erfrischend.
Aber um der Leute willen brach bei dem Fest ein Streit zwischen den
Brüdern aus. Keri hatte viele Bakaïrí aus Ubárohr gemacht, aber Kame hatte
nichts gemacht. Keri warf ihm seine Faulheit vor, sie zankten sich und Kame,
der Schwächere, entfloh. Er flüchtete sich nach Süd-Westen, machte einen Hügel
am Rio Beijaflor (Kolibri), einem linken Nebenfluss des Paranatinga, und machte
dort auch Stämme: Apiaká, Paressí und Guaná. Es ist recht interessant,
dass hier auch die Guaná genannt werden, ein in mehrere Abteilungen zer-
splitterter Paraguay-Stamm, von deren Anwesenheit in diesem Landstrich nie etwas
verlautet hat; in sehr, sehr alten Zeiten haben sie auch am »Beijaflor gewohnt.«
Keri stieg auf seinen Hügel am Paranatinga und entdeckte den Rauch in
der Ferne. Er ging Kame aufsuchen und fand viele, viele Leute. Zornig fuhr
er Kame an: »Warum hast Du so viele Leute gemacht?« Abermals gerieten
sie in Streit, aber Kame verliess die Paressí, mit denen er zusammen war, und
begleitete Keri zum Salto zurück. Nicht lange dauerte es, dass wieder Streit
wegen der Leute ausbrach. Keri hatte neue gemacht und Kame entfloh, aber
diesmal zum Arinos. Keri suchte ihn auf, fand ihn und brachte ihn wieder
zum Paranatinga-Salto zurück. Es scheint, dass dieses Streiten und Umherziehen
geschildert wird, um die Möglichkeit zu geben, dass jeder der Beiden eine An-
zahl weit von einander wohnender Stämme gemacht habe. Schliesslich hat Keri ge-
macht: Bakaïrí, Kayabí, Bororó, Nahuquá, Mehinakú, und Kame: Apiaká,
Paressí, Guaná, Maué, Suyá, Mundurukú, »sämtliche Arinosstämme«.
Dass man diese Gruppierung im Wesentlichen als eine östliche für Keri und eine
westliche für Kame ansehen könne, habe ich bereits (vgl. S. 366) erörtert und
ich habe erwähnt, dass, wenn hier eine Unterscheidung nach Sonne = Osten und
Mond = Westen vorliegt, Keri trotz seiner aruakischen Bedeutung = Mond
in der That auch als Herr der »östlichen« Stämme zu verstehen wäre (vgl. Seite 369),
indem der Bakaïríheld mit dem ihm von den Aruakfrauen nur gegönnten Mond-
namen für die Bakaïrí selbstverständlich der Besitzer der Sonne = Osten
war. Alle Stämme wurden aus Pfeilrohr gemacht, der Portugiese aus einem
dunkeln von der Farbe des Flintenschafts. Keri hatte die Flinte zuerst den
Bakaïrí (natürlich!) gegeben. Aber sie wussten nicht damit umzugehen, einer
schoss dem andern am Ohr vorbei. Sie fürchteten sich vor dem Schiessen ebenso,
»wie wir noch bei den Leuten am Kulisehu gesehen haben«. Da gab Keri die
Büchse den Karaiben.
[380]
Abschied von Keri und Kame. Keri und Kame verlassen wieder den
Salto und Keri setzt als Häuptling über die dort bleibenden Bakaïrí den Arimoto
ein. Arimoto war auch am Salto geboren. Dieser Hänptling aber missbrauchte
seine Stellung und tötete viele Bakaïrí. »War er denn nicht selbst ein Bakaïrí?«,
fragte ich. »Wahrscheinlich, aber er war ein niederträchtiger Bösewicht. Wenn
er gut gewesen wäre, so wären seine Nachkommen noch heute Häuptlinge der
Bakaïrí.« Keri und Kame waren diesesmal zum Kulisehu gegangen. Die Bakaïrí
folgten ihm in ihrer Not und klagten über Arimoto. Sofort kehrten Keri und Kame
zurück und töteten den Ungetreuen, der sich heftig wehrte und seinerseits Keri
zu töten suchte.
Hiermit sind wir am Ende der Thätigkeit von Keri und Kame, soweit sie
die Hauptlegende berichtet. Sie liessen den Bakaïrí reichlich Matrinchams zurück,
stiegen auf einen Hügel, von dem aus sie noch einmal zu den lebhaft antwortenden
Bakaïrí hinunterriefen und »gingen dahin auf dem Wege. Wohin sie dort gingen,
weiss Keiner. Die Vorfahren wussten nicht, wohin sie gegangen. Heute weiss
man erst recht nicht, wo sie sind.«
Obgleich indessen die Legende so schwermütig ausklingt, hatten die Leute
ihre eigene Ansichten. Tumehi — um diese alte Fledermaus nicht zu vergessen —
ist mit Keri weggegangen. Was ist aus Kame geworden? »Er war immer mit
Keri zusammen. Vielleicht ist er jetzt tot.« Und Keri? Der göttliche Greis
Caetano, der sich mit den neuen Verhältnissen vortrefflich abzufinden verstand,
erklärte, Keri sei der Imperador in Rio de Janeiro, der Kaiser Pedro Segundo.
Die guten Bakaîrí antworteten geduldig auf alle meine unzähligen Fragen, weil
ich ihnen gesagt hatte, ich müsse das Alles wissen, um es dem Imperador zu be-
richten. Daran war ihnen viel gelegen. Ich machte den Einwurf, »wenn nun
der Imperador in Rio de Janeiro stirbt?« »Wenn der Imperador stirbt«, lautete
die Antwort, deren Richtigkeit inzwischen leider widerlegt sein muss, »so sterben
auch alle Bakaïrí.«
Der Häuptling Felipe machte mir eine andere Angabe. »Keri ist mit
hundert Mann zum Ronuro und Kulisehu gegangen. Er ist den Fluss abwärts
gefahren bis zum Meer. So erzählen auch die Leute am Batovy!«
Antonio hielt sich an den Text der Sage, wie er ihn von seiner Mutter
gelernt habe. Allein in anderm Zusammenhang gab er an, Keri wohne im Himmel,
sein Haus sei dort, wo die Sonne aufgehe. »Ist Keri denn ‚Gott‘ (Deus), von
dem Euch die Portugiesen gesprochen haben?« »Nein, das ist ein Anderer, von
dem wir Nichts wissen. Keri ist der Grossvater der Bakaïrí.«
Tabak und Baumwolle. Ausserhalb der zusammenhängenden Legende,
deren Inhalt ich bis hierher erzählt habe, wurden gelegentlich noch andere
Leistungen von Keri mitgeteilt. So hat er dem Sawari den Tabak, mit dem
man Leute kuriert, weggenommen. Sawari wollte ihn nicht hergeben, es sei sehr
guter Tabak. Keri aber nahm den Samen weg und gab ihn den Bakaïrí. Wenn
man eine Zigarre von diesem Tabak macht und Leute anbläst, so sterben sie;
[381] kommen dann jedoch andere Leute und blasen den Toten an, so wird er wieder
lebendig und geht weiter. Auch die Baumwolle und die daraus gewebte
Hängematte kommt vom Sawari. Woher der Sawari den Tabak und die
Baumwollhängematte bekommen hat, weiss man nicht. Er ist sehr selten und
lebt gesellig den Paranatinga abwärts. Er ist ein Tier des Campo cerrado, das
etwas kleiner ist und eine etwas spitzere Schnauze hat als der ihm verwandte Irara
(Galictis, marderähnlich, vgl. Brehm, Säugetiere I, Seite 641), er klettert und
schläft während des Tages in Baumlöchern; es giebt solche, die mehr schwarz,
und solche, die mehr weiss sind. Die Beschreibung passt genau auf den Wickelbär,
Cercoleptes caudivoloulus, der dem Irara in seinem ganzen Bau, obwohl er ihm
nicht verwandt ist, ausserordentlich ähnlich ist (vgl. die Abbildung Brehm,
Säugetiere II, Seite 287 mit der des Irara an der zitierten Stelle). Bei den
Makuschí, die den Bakaïri sprachlich nah verwandt sind, heisst der Wickelbär
Yawari.*) Nach Brehm »wissen wir, dass der Wickelbär weit verbreitet ist.
Er findet sich im ganzen nördlichen Brasilien, in Peru und nordwärts bis
nach Mexiko, ja noch im südlichen Louisiana und Florida.«
Sawari hatte auch den Tabak, den man raucht. Die Bakaïrí haben diesen
aber von dem karazóto = »Herrn der Fische« bekommen, einem grossen Fisch,
den es im Kulisehu giebt, aber nicht im Paranatinga. Antonio hat ihn auch
im Kulisehu gesehen, »aber nicht gut«. Ich selbst habe ihn in Maigéri, wo mir
Tumayaua ein Stück karazóto gab, gegessen; er war sehr fett. Nach der Be-
schreibung handelt es sich um einen Zitteraal, doch kann ich die Deutung
nicht als ganz sicher hinstellen. Der Karasoto, von dem die Bakaïrí den Rauch-
tabak erhielten, wohnte im »Tabakfluss«. »Er hatte den Tabak, man weiss
nicht woher, bekommen, aber gab den Bakaïrí davon, wenn sie ihn in seinem
Hause besuchten«. Es ist wohl unverkennbar, dass man die Tiere als geographische
Merkmale benutzte. Stammesnamen waren »Schall und Rauch«, die Tiere blieben
immer verständlich.
Mandioka; Rehgeweih. Keri hat die Mandioka von dem Kampreh
oder portugiesisch Veado (Cervus simplicicornis) bekommen. Vorher aber müssen
wir wissen, wie das Reh selbst in den Besitz der Mandioka gelangt ist. Sie ge-
hörte dem Bagadúfisch (Phractocephalus, vgl. die Abbildung »Durch Central-
brasilien« S. 221), auch Pirarara genannt, einem häufig von uns gefangenen, aber
nicht gerade gern gegessenen, fetten Fisch. Der Bagadú (kχáto) lebte im »Beijú-
fluss.« »Vielleicht«, fügte Antonio hier von selbst hinzu und brachte mich damit
zum ersten Mal auf die Fährte der »geographischen« Tiere, »war es ein Arm
des Ronuro; denn dort giebt es Bagadú, im Paranatinga giebt es
keinen.« »Der Beijúfluss lag im Osten.« Wie das Reh die Mandioka vom
Bagadú bekam, wird folgendermassen erzählt.
[382]
Das Reh hatte Durst und suchte sich Wasser. Da fand es den Bagadú (in
einem Seitenarm des Flusses, wo er bei hohem Wasserstand hineingegangen war
und jetzt bei niedrigem nicht mehr herauskonnte). Der Bagadú lag auf dem
Trocknen und schnappte nach Luft. Da sagte er zum Reh: »Trag mich!
Flicht eine Bastschlinge, um mich zu tragen.« Nachdem das Reh sie aus
Embira geflochten, packte es den Bagadú auf seinen Rücken und brachte ihn
zum Abhang des Beijú-Flusses. »Hier möchte ich gern ausruhen,« sagte es.
(Das Reh fürchtete sich, auf den Grund des Flusses hinunterzugehen.) Der
Bagadú aber hatte keine Lust. So sprachen sie und schritten den Abhang hinab.
Unten stürzten sie sich in den Fluss. Das Reh fühlte sich wohl in den Wellen.
So nahm der Bagadú das Reh mit zu seiner Wohnung. Als sie angelangt
waren, trank das Reh Pogu. Auch ass es Beijú. (Beides waren ihm noch
unbekannte Genüsse.) Der Bagadú nahm das Reh mit auf die Mandioka-
pflanzung; es lief hinter ihm drein. Als sie die Mandioka sahen, brachen
sie Zweige ab und banden drei zusammen. Nun gingen sie nach Hause.
»Morgen will ich gehen,« sagte das Reh und schlief die Nacht noch im Hause
des Bagadú. Am andern Morgen sagte der Bagadú »Nimm die Mandioka-
zweige mit. Fälle Holz, und dann pflanze sie.« »Wenn sie gut gepflanzt sind,
hast Du bald die Mandioka«, erklärte er. »Lebewohl!« sagte der Bagadú zum
Reh. Es stieg aus dem Wasser heraus. »Wohlan, so geh!« »Ich kehre heim«,
sagte es. Doch legte es die Zweige auf einen Haufen zusammen am Ufer
nieder; es wurde allein damit nicht fertig und kam auch erst spät am Abend
nach seiner Wohnung. Bald kehrte es an den Ort zurück mit seinem Sohne
und beide trugen die Zweige nach Hause. Sie ruhten sich eine Weile aus,
dann fällten sie Holz im Kamp. (Eine grosse Dummheit in den Augen der
Bakaïrí, über die herzlich gelacht wurde.) Die Mandioka gedeiht aber nicht
im Kamp. Darum fällten sie nun Bäume im Wald. Sie machten Feuer, brannten
das Holz ab und pflanzten.
Jetzt war das Reh Herr der Mandioka. Keri begegnete ihm und wollte
davon haben. Denn der Beijú Keri’s war bis dahin aus der roten Erde ge-
wesen, die es am Salto des Paranatinga giebt. Aber als die Beiden darüber
sprachen, gerieten sie in Streit. Das Reh wollte die Mandioka nicht hergeben.
Da wurde Keri böse, packte das Reh am Hals und blies: da hatte es auf ein-
mal sein Geweih. Keri aber lachte und rief: »So sieht der Herr der Mandioka
aus«, nahm die Mandioka mit und schenkte sie den Frauen der Bakaïrí und
zeigte ihnen, wie er vom Reh gelernt hatte, was sie machen mussten, damit
sie nicht an dem Gift stürben. »Das Reh aber hat jetzt sein Geweih,
frisst Blätter und nagt Rinde von den Zweigen.«
Dem Reh hat man also, weil es Blätter und Rinde frisst, am ersten die
Fähigkeit zugetraut, das Gift aus der Mandioka zu entfernen. Antonio war fest
überzeugt, dass das Reh die Behandlung der Mandioka genau gekannt und Keri
gezeigt habe. Erst von Keri lernten es die Bakaïrífrauen.
[383]
Der hässliche Strauss. Der südamerikanische Strauss oder Nandú (Rhea)
der Zoologen wird in Brasilien Ema genannt, und ein anderer Vogel, die
Seriema, Sariema der Brasilier, gilt, weil sie ebenfalls den Kamp in schnellem
Lauf durcheilt, als sein Verwandter, obwohl die Zoologen sie als Dicholophus
cristatus der Ordnung der Kranichvögel unter dem Familiennamen Schlangen-
störche zurechnen. Vgl. die Abbildung Brehm, Vögel II, S. 686. Hier findet
sich auch ein Zitat von Burmeister, dass die Seriema »schneller dahinrenne,
als ein Pferd zu traben vermöge, und nur im Galopp eingeholt werden könne.«
Keri lief mit der Seriema um die Wette. Die Seriema hielt ein Augen-
blickchen an. Keri eilte an ihr vorüber und die Seriema blieb zurück. Darauf
forderte er den Strauss heraus. Sie liefen und Keri blieb zurück, der Strauss
eilte weiter. Keri war sehr erzürnt über den Strauss. Er holte sich Blätter von
der Uakumá-Palme, er griff den Strauss und züchtigte ihn. Da verlor der Strauss
seine schönen Federn; heute hat er nur kleine hässliche Federn.
Keri und der Kampfuchs auf der Jagd. Keri begegnete dem »Gross-
papa« Kampfuchs und vereinigte sich mit ihm zur Jagd, indem der Kampfuchs
als Herr des Feuers das Massegagras im Kreis anzündete. Was von Getier ein-
geschlossen war, sollte verbrennen. Nun war der dumme Kame gerade in eine
Maus gegangen. »Keri wusste Nichts davon; er dachte, Kame sei draussen.«
Das Feuer hörte auf und die Beiden streiften umher, ob sie Beute fänden. Keri
fand keinen Braten. Der Fuchs fand eine verbrannte Maus und ass sie auf.
Dann trafen sich die Beiden wieder. »Grosspapa, was für Braten hast Du ge-
gessen?« »»Nur eine Maus habe ich gegessen.«« Da merkt Keri, dass der
Kampfuchs den Bruder verschluckt hat und ersinnt ein merkwürdiges Mittel, ihn,
ohne den Kampfuchs töten und aufschneiden zu müssen, zurück zu erhalten.
»Lass uns rennen, Grosspapa,« sagte Keri. »»Jawohl, mein Enkelkind.«« Sie
rannten eine lange Strecke. Sie standen still. Als der Fuchs stillstand, erbrach
er. Nachdem er erbrochen, lief er eiligst davon. Keri ging dorthin, wo der
Fuchs erbrochen hatte. Er sah die Mäuseknochen und sammelte sie. Nachdem
er sie gesammelt, blies er. Nachdem er geblasen, erhob sich Kame. »Ich habe
gut geschlafen,« sagte er. »»Du hast ganz und gar nicht geschlafen! Der Kamp-
fuchs hatte Dich gegessen.««
Der Jaguar und der Ameisenbär. Diese merkwürdige Geschichte hat
mit Keri und Kame nichts mehr zu thun. Doch behandelt sie denselben Gegensatz
des Klugen und Dummen. Der Dumme ist der starke Jaguar, der Kluge der
jenem an Körperkraft und Gewandtheit nicht ebenbürtige grosse Ameisenbär,
Tamanduá bandeira (gestreifter) der Brasilier und Myrmecophaga jubata der
Zoologen. Das Verhältnis der beiden Tiere interessiert die brasilischen Jäger in
hohem Grade; sie behaupten, der Ameisenbär nehme es zwar nicht draussen im
Kamp, aber wohl im Wald, mit dem Jaguar sehr gut auf, indem er sich nach
Art unserer Bären aufrichte und den Jaguar umarme. Zuweilen soll dieser Kampf
Beiden das Leben kosten.
[384]
Unser Märchen beschäftigt sich aber noch mit dem besonderen Umstand,
dass der Jaguar nur Wildpret und der Ameisenbär nur Ameisen frisst, und bringt
ihn in recht drastischer Weise zur Geltung, das Schema der Wette auf einen ganz
ungewöhnlichen Fall anwendend. Von diesem Punkt abgesehen, handeln die
Tiere ganz und gar als Menschen; sie zünden Feuer an, braten, wandern mit der
Kiepe umher, tanzen, der Ameisenbär scheert sich eine Tonsur (das Haar des
Kopfes ist sehr kurzborstig), ja, der kleine Ameisenbär, Myrmecophaga tetra-
dactyla, der zum Schluss erscheint, vergiftet den Jaguar mit dem in einer Kale-
basse enthaltenen Zaubergift der Medizinmänner. Dass List und Klugheit den
Sieg über körperliche Kraft davontragen, diese wichtigste Erfahrung des Jäger-
lebens ist die Moral dieses Märchens, in dem sich der humorvolle Sinn des Indianers
prächtig wiederspiegelt. Der Jaguar wird bald utóto mit dem allgemeinen Namen
der Art, bald óka mit dem Namen der Onça pintada genannt, unter dem wir
ihn als Keri’s und Kame’s Pflegevater kennen gelernt haben.
Der Ameisenbär begegnete dem Jaguar. Da sagte der Ameisenbär: »lass
uns kacken, mein Freund, mit geschlossenen Augen«. Sie schlossen die Augen
und kackten. Während der Jaguar die Augen geschlossen hatte, legte der Ameisen-
bär Oka’s Haufen sich unter. Seinen eigenen Haufen legte der Ameisenbär dem
Jaguar unter. Nachdem er sie schön zurecht gelegt hatte, sagte der Ameisenbär:
»lass uns die Augen aufmachen«. »Lass uns unsere Haufen besehen«, sagte der
Ameisenbär zum Jaguar. Der Ameisenbär rief aus: »ich habe Fleisch gegessen!«
Der Ameisenbär sagte zum Jaguar: »Du hast Termiten gegessen!« »»Termiten
esse ich nicht!«« sagte der Jaguar zum Ameisenbär.
Der Tapir kam dahin, wo sie kackten. Als der Jaguar den Tapir gesehen,
forderte er den Ameisenbär auf, er solle doch gehen und den Tapir tödten.
(Nun hatte der Ameisenbär Gelegenheit, seine Renommisterei, dass er Fleisch esse,
zu erweisen.) Wie befohlen, ging der Ameisenbär auf die Spur des Tapirs.
Einen Baum! tödtete der Ameisenbär. Darauf ging der Jaguar den Tapir zu
tödten. Der Jaguar tödtete den Tapir wirklich. Der Ameisenbär war indess
Termiten essend weiter gegangen und kehrte erst zurück, als der Tapir todt
war. »Wohin ist denn der Tapir gegangen, mein Freund?« fragte der Jaguar den
Ameisenbär. »»Ich habe ihn nicht gesehen««, sagte der Ameisenbär zum Jaguar.
»»Hast denn du ihn nicht gesehen?«« sagte der Ameisenbär zum Jaguar und fuhr
fort: »»ich esse kein Fleisch, ich esse stets Termiten; Fleisch esse ich nicht««.
»Ich habe ihn getödtet«, sagte der Jaguar. Der Jaguar weidete den Tapir aus
und gab (eine grobe Revanche, als wollte er sagen: »da hast du auch so einen
Fleischfresser«) den Koth des Tapirs dem Ameisenbär. »Zünde Feuer an, mein
Freund«, sagte der Jaguar. Der Ameisenbär zündete Feuer an. Der Jaguur
stellte den Bratrost auf und briet.
»Ich habe Durst«, sagte der Ameisenbär. »Wasser giebt es hier nicht!«
sagte der Jaguar. »Wohl giebt es«, sagte der Ameisenbär, »es sind dort wilde
Burití-Palmen.« Der Ameisenbär ging, er ging weit, aber Wasser fand er nicht.
[385] Da pisste er, trank seinen Urin und wusch sich auch damit. In seinem Urin
drinnen fand er ein Lambaré Fischchen. (Der Erzähler macht es sich etwas leicht,
den Ameisenbär mit einem Beweisstück für seine Behauptung auszustatten). Er
ging zum Lagerplatz zurück und, als er ankam, fragte der Jaguar: »Hast Du
Wasser getrunken, mein Freund?« »Ich habe getrunken«, sagte der Ameisenbär.
»Sieh den Lambaré, den ich gefangen!« »Auch ich gehe trinken. Ist es weit?«
»Es ist ein bischen weit«, sagte der Ameisenbär. Der Jaguar ging, Wasser
zu trinken. Als der Jaguar schon weit gegangen war, rief er: »Wo ist das
Wasser, wo?« »Weiterhin! Weiterhin!«
Als der Ameisenbär den fernen Jaguar nicht mehr hörte, legte er den Tapir-
braten in eine Kiepe hinein und kletterte auf einen Jatobá-Baum. Der Jaguar
kam zum Bratrost zurück; da gab es keinen Tapirbraten mehr. Der Jaguar ging
auf der Spur und sah den Ameisenbär oben auf der Jatobá. »Komm, wir wollen
essen!« sagte der Jaguar zum Ameisenbär. Der Ameisenbär ass den Tapir und
— die Reihe war wieder an ihm, den Andern zu verhöhnen — die Tapirknochen
warf er dem Jaguar zu. Der Jaguar, (der auf den hohen, schlanken Stamm der
Jatobá nicht hinaufklettern konnte und nachsann, wie er den Ameisenbär herunter-
hole,) rief die Beissameisen. Die Beissameisen kletterten auf die Jatobá. Aber
der Ameisenbär blies. Da gingen die Beissameisen wieder fort. Nun rief der
Jaguar den Wind. Der Wind kam, den Baum zu brechen. Er kam zum
Ameisenbär und entwurzelte die Jatobá. Die Jatobá stürzte. Der Ameisenbär
entfloh. Wohl packte der Jaguar zu, aber er ergriff nur ein Termitennest, das
auf der Jatobá sass.
Der Jaguar machte sich auf den Weg und suchte. Endlich traf er den
Ameisenbär, wie er Termiten ass. Der Ameisenbär hatte sich eine Glatze
geschoren. »Du, mein Freund, meinen Braten hast Du gegessen.« »Deinen
Braten?« sagte der Ameisenbär, »Deinen Braten ass ich nicht.« »Grade Du
hast meinen Braten soeben aufgegessen« sagte der Jaguar zum Ameisenbär.
»Einer, der mir ähnlich sieht, hat ihn gegessen. Matawiwe (ein kleiner Art-
genosse), der hat Deinen Braten gegessen,« sagte der Ameisenbär. »Habe ich
etwa so ausgesehen?« fragte der Ameisenbär. »Du willst mich betrügen. Du
hast Dir eine Glatze geschoren«, sagte der Jaguar.
(Der Fall ist nicht zu entscheiden, so schlägt der Ameisenbär eine Wett-
leistung vor; wer gewinnt, hat Recht. Er fühlte sich bei dieser Art zu »tanzen«,
sehr sicher, und der Jaguar hatte auch anfangs keine Lust, darauf einzugehen).
Nun sagte der Ameisenbär: »Lass uns ordentlich tanzen, mein Freund.« »Wir
wollen das Tanzen bleiben lassen,« sagte der Jaguar. »Aber, so lass uns nur
tanzen,« sagte der Jaguar. Zuerst trug der Jaguar den Ameisenbär. Dann trug
der Ameisenbär den Jaguar. Wieder trug der Jaguar den Ameisenbär. (Er konnte
den Ameisenbär öfter tragen, als dieser ihm zugetraut hätte, und war daran, zu
gewinnen). Da riss der Ameisenbär dem Jaguar die Augen aus und entfloh. Das
Pindoreiro-Vögelchen sah den Ameisenbär weglaufen.
v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 25
[386]
Das Agutí (Dasyprocta aguti, ein sehr geschickt spürendes, hübsches Nage-
tierchen, »Goldhase«,) fand die Augen und setzte sie dem Jaguar wieder ein.
Als seine Augen eingesetzt waren, stand der Jaguar auf und ging dahin, wo der
Ameisenbär gegangen war. Der Ameisenbär war im Berg drinnen und sang.
Der Jaguar ging in das Haus hinein. Singend kam der Ameisenbär mit dem
Rücken auf die Thür zu. Wie er kam, packte ihn der Jaguar. Er ass von seinem
Bein. Als er gegessen hatte, liess er los und ging nach Hause. Den Ameisen-
bär machten die Termiten gesund. Als er geheilt war, erhob sich der Ameisenbär.
Der kleine Ameisenbär (Myrmecophaga tetradactyla) sagte, er werde den
Jaguar töten. »Ach was, du bist kein Riese«, erklärten ihm die Leute. »Dann
nimm Zaubergift mit«, sagten ihm die Leute. Wie sie gesagt hatten, that der
kleine Ameisenbär; er nahm Zaubergift in einem Kürbis mit zu Oka’s Haus und
legte den Kürbis vor die Thür. Oka ging aus. Als er den Kürbis erblickte,
sagte er: »da ist etwas Hübsches für mich« und öffnete ihn. Da wurde Oka
krank. Der Jaguar starb.
[[387]]
XIV. KAPITEL.
Zur Frage über die Urheimat der Karaiben.
I. Geschichtliches von den Bakaïrí.
Westbakaïrí nenne ich im Gegensatz zu den erst durch unsere Expedition
von 1884 und 1887 gefundenen Ostbakaïrí des Schingú die den Brasiliern längst
bekannten Bakaïrí westlich des Paranatinga. Heute gibt es von ihnen ein Dorf,
dem unser Antonio angehörte, am linken Ufer des Paranatinga, und ein zweites
an dem kleinen Nebenbach des Arinos, dem Rio Novo, wo Reginaldo als
Häuptling schaltete, und wo wir 1884 die erste Bekanntschaft des Stammes
machten. Einzelne Individuen, die man jedoch an den Fingern aufzählen kann,
finden sich als Arbeiter auf der einen oder anderen Fazenda im westlichen Quell-
gebiet des Paranatinga; auch sollen ein paar am Rio Preto in der Nähe von
Diamantino leben, die den Rest einer früheren Ansiedelung darstellen. Jedenfalls
sind die Westbakaïrí, da Arinos und Paranatinga in den Tapajoz fliessen, sämtlich
Bewohner des östlichen Quellgebietes des Tapajoz und finden sich nur im Ge-
biet der Hochebene oberhalb der Stromschnellen und Wasserfälle, die der Thal-
fahrt nach dem Amazonas hinunter schwere Hindernisse in den Weg legen.
Die Westbakaïrí sind seit den ersten Streifzügen der »Paulisten«, der von
der Provinz S. Paulo auf ihren Sklavenjagden am Beginn des vorigen Jahrhunderts
kühn vordringenden Entdecker des Matogrosso bekannt. Schon Antonio Pires
de Campos, von dem wir aus dem Jahre 1723 einen Bericht*) »nach der Er-
fahrung so vieler Jahre« besitzen, hat von ihnen gehört; nachdem er (Seite 448)
die — heute längst verschollenen — Stämme des obern Cuyabá und des in ihn
einmündenden Rio Manso kurz gekennzeichnet hat, fährt er fort: »alle diese
haben gleiche Lebensweise, gleiche Art der Waffen und alles Uebrige gleich, sie
sind Wanderstämme und gelangen mit ihren Streifzügen dahin, Uebles zuzufügen
dem Heidenvolk des Namens Bacayris, die an den Zuflüssen des Maranhão
(sic!) wohnen; und von dort weiter folgen sich verschiedene Stationen von Heiden
25*
[388] mit unzähligen Dörfern, wie ich Nachricht habe, und alles sehr kriegerische Leute
und Meister ihrer Waffen.«
Die Bakaïrí werden auch in einem Bericht über eine Fahrt von Pará bis in
das Quellgebiet des Madeira aus dem Jahre 1749 erwähnt, und so mag es noch
weiterhin in mancher alten Notiz über die Entstehung der matogrossenser Gold-
minen geschehen. Es handelt sich immer nur um flüchtige Nennung des Stamm-
namens, die uns weitere Belehrung nicht bietet. Höchstens lässt sich aus diesen
Zitaten der Schluss ableiten, dass die Bakaïrí im vorigen Jahrhundert zahlreicher
gewesen sein müssen und vielleicht etwas mehr nach West und Südwest vor-
geschoben waren als heutzutage. Das wird aber deutlicher aus ihrer eigenen
Tradition hervorgehen.
Eine engere Berührung mit den Brasiliern hat erst in dem Anfange der
zwanziger Jahre unseres Säkulums stattgefunden. Damals gelangte der »Padre«
Lopes bis in die Gegend des Paranatinga und bekehrte die Westbakaïrí zum
Christentum. Lopes war ein verwegener Goldsucher, von dem der Maler der
Langsdorff’schen Expedition*) 1828 bemerkt, dass er in Begleitung von Apiaká-
Indianern den Rio dos Peixes, einen Nebenfluss des Arinos, hinaufgegangen sei
und »mit vielen Wilden gekämpft habe«. Jedenfalls gelten die Westbakaïrí seit
seinem Besuch, der dem Grossvater Reginaldo’s und Anderen das Leben kostete,
als Christen. Wie überflüssig die Gewaltthätigkeiten des edlen Lopes gewesen
sind, geht am besten aus den folgenden Worten des Geographen Ayras de Cazal
in seiner Corographia Brasilica vom Jahre 1817, also vor Lopes, hervor: »Die
Baccahirys, welche die dem Rio das Mortes benachbarten Gebiete bewohnen,
unterhalten einen unaufhörlichen Krieg gegen alle Arten Vierfüssler und Vögel.
Bis heute hat dieses Volk den Christen keine Feindseligkeiten zugefügt. Man
sagt, dass sie weiss seien und freundlich: ein Grund, weshalb man sie für eine
Horde der Paricys ansieht.«
Der eigentliche Grund, weshalb man die Bakaïrí für eine Horde der Paressí
ansehen konnte, wie auch von Martius geschieht, ist einfach der, dass man weder
von dem einen noch von dem andern der benachbarten Stämme genauere Kenntnis
hatte. Wenn die Eingeborenen gelegentlich in kleiner Zahl nach Cuyabá kamen,
um sich einige Geschenke von Eisenwaaren, Hemden, Hosen, Decken bei der
Regierung zu erbetteln, empfand man sie als lästige Gäste, die man so rasch als
möglich los zu werden suchte, und um deren Sprache oder Eigenthümlichkeiten
sich kein Beamter zu kümmern brauchte. Sie wohnte nicht etwa in der Nähe
einer zwei Hauptorte verbindenden Verkehrsstrasse, sondern sassen im Gegenteil
hinter den allerletzten kleinen und selbst schon gering geachteten Kolonisten, dort,
wo die Welt mit Brettern zugenagelt war, sie thaten keinem dieser Nachbarn
etwas zu Leide und boten deshalb der Regierung gar kein Interesse dar. Der
gute Häuptling Felipe im Paranatingadorf zerbrach sich vergeblich den Kopf, wie
[389] es komme, dass die das Land mit Brand und Plünderung heimsuchenden Bororó,
sobald man einiger Individuen habhaft wurde, reiche Geschenke erhielten, und
dass er selbst mit seinen Stammesgenossen, die sich seit Generationen der schönsten
Friedfertigkeit befleissigt hatten, noch von seinem letzten Besuch des grossen
Kapitäns mit leeren Händen habe zurückkehren müssen.
Fast Alles, was wir aus brasilischen Quellen über die Westbakaïrí erfahren
können, findet sich in einem Bericht der Directoria dos Indios, vgl. den Auszug
im Anhang, vom Jahre 1848 vereinigt.*) Die Bakaïrí des Paranatinga und Rio
Novo haben sich in ihren beiden armen Dörfern erhalten; sie wurden gelegentlich
von Goldsucherexpeditionen besucht, die alsdann eine kleine Massentaufe ver-
anstalteten und Syphilis und Masern einführten. An den Masern sind Viele zu
Grunde gegangen; nicht nur wird die bei uns verhältnissmässig harmlose Krank-
[390] heit den Indianern überhaupt leicht verhängnissvoll, sie haben auch die üble Ge-
wohnheit, sich mitten im stärksten Fieber in den Fluss zu stürzen und trocknen
sich nicht ab, wenn sie das kühle Bad verlassen.
Ich habe mich bemüht, von dem uralten Caetano, Häuptling a. D., und
seinem Nachfolger Felipe am Paranatinga wie von Antonio Genaueres über die
Geschichte des Stammes zu erfahren. Da lässt sich nun eine Geschichte der
neueren Zeit deutlich abtrennen, während deren sich eine Verschiebung nach
Südwesten vollzogen hat. Während die Vorfahren am Salto des Paranatinga,
einige Tagereisen unterhalb des heutigen Dorfes und etwas oberhalb der Ein-
mündung des von links kommenden Rio Verde wohnten, haben die Westbakaïrí
mindestens seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts das Grenzgebiet zwischen den
Quellflüssen des Arinos, Cuyabá und Paranatinga besetzt gehalten, wo sich jetzt
noch das Dorf am Rio Novo befindet. Am Ribeirão Caixão gab es mehr als
sechs Dörfer, ein grosses Dorf befand sich am Ribeirão da Pedra. Die erste
Taufe von Bakaïrí hat in Diamantino stattgefunden. Der aller Schätzung nach noch
im vorigen Jahrhundert geborene Caetano erblickte das Licht der Welt an der
Einmündung des Rio Beijaflor in den Paranatinga. Das heute oberhalb gelegene
Paranatingadorf ist eine Schöpfung der neuesten Zeit durch den Goldsucher
Correa veranlasst. Die den fabelhaften Goldminen der Martyrios nachspürenden
Expeditionen konnten hier am besten über den Paranatinga setzen und wünschten
die Kanus der Bakaïrí zu benutzen wie auch von ihnen Lebensmittel zu erhalten.
Antonio wurde, frühestens Ende der fünfziger Jahre, in Limoeiro, einer kleinen
Ansiedelung, geboren.
Eine chronologische Handhabe wird in den Vorfahren Antonio’s geboten.
Sein Vater Seseriari hatte auch noch einen portugiesischen Namen, sein Gross-
vater hiess, wie auch ein Indianer in dem ersten Batovy-Dorf, Karawako, der
Urgrossvater Yakauka, der Ururgrossvater Kupare und der letzte, dessen Namen
Antonio noch kannte, also der Urururgrossvater Mariukara. Dieser wohnte nahe
am Salto des paranatinga. Die Reihenfolge könnte, die Generation zu 30 Jahren
gerechnet, bis vor die Mitte des 18. Jahrhunderts zurückgehen. Der wahrschein-
lich um 1790 geborene Caetano sollte, was ich leider nicht mehr feststellen konnte,
noch sechs oder sieben Vorfahren bei Namen nennen können, so dass seine
Genealogie bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts reichen würde. Caetano’s Vater
wurde am Paranatinga, oberhalb des Salto, erst sein Grossvater am Salto selbst
geboren. Jedenfalls sind die Angaben der Bakaïrí in bester Uebereinstimmung
mit der Nachricht des Antonio Pires, dass die Bakaïrí am Anfang des vorigen
Jahrhunderts mit den Stämmen am Oberlauf des Cuyabá in Berührung waren.
Es ist nicht unwichtig, die Tradition, soweit sie noch nicht als Legende und
Märchen erscheint, nach Kräften festzustellen, weil es sehr wünschenswerth
ist zu wissen, ob die heutigen Westbakaïrí, die Bewohner des Tapajoz-Quell-
gebietes, oder die Ostbakaïrí im Quellengebiet des Schingú die älteren Wohnsitze
innehaben.
[391]
Die Westbakaïrí verlegen die Urheimat des ganzen Stammes mit Bestimmt-
heit an den Salto des Paranatinga, sodass unser Karaibenstamm ursprünglich dem
Tapajoz angehören würde. Aber die westlichen Quellflüsse des Schingú und die
östlichen des Paranatinga liegen in so unmittelbarer Nachbarschaft, dass es rein
vom Zufall abhängt, wohin flussabwärts ziehende Stämme geraten. »Einer der
Grossväter« Caetano’s wurde im Walde von einem andern Bakaïrí erschlagen;
innerhalb des Stammes herrschten damals böse Streitigkeiten und die Folge war
— so lautet der Bericht der Paranatingaleute — dass ein Teil der Bakaïrí vom
Salto zum Kulisehu zog.
Auch zwischen Paranatinga und Ronuro giebt es eine den Westbakaïrí be-
kannte »Tapeira«, eine verfallene Ansiedelung, aus vergangener Zeit. Vom Salto
hat einstmals ein Weg bis zu den Auetö́ am Kulisehu geführt, der also den
Ronuro oder seine Quellflüsschen und den Batovy passieren musste. Auf diesem
Weg seien die Bakaïrí geflohen und hätten sich teilweise am Batovy, teilweise
am Kulisehu niedergelassen. Von den Nahuquá hätten sie Mandioka-
zweige, Bataten und Caráfrüchte zum Anpflanzen erhalten.
Das sind also ganz bestimmte Angaben. Wann sich aber die Trennung
zwischen West- und Ostbakaïrí vollzogen hat, und ob sie in mehreren Schüben
vor sich gegangen ist, ist schwer zu sagen. Wie eben schon der Stamm der
Auetö́ und der Nahuquá in der Ueberlieferung des Paranatingadorfes erscheint,
so habe man dort auch noch von den Zeiten der Grossväter Caetano’s her Namen
der übrigen Kulisehustämme, der Mehinakú, Yaulapiti, Kustenaú, Waurá, Kamayurá
und Trumaí gekannt. Im dritten Bakaïrídorf am Batovy haben wir ein kleines
Stück Eisen gefunden, das früher vom Pakuneru, dem Paranatinga, gebracht
worden sei; so mögen gelegentliche Besuche zwischen hüben und drüben noch
vorgekommen oder wenigstens dann und wann noch Paranatinga-Bakaïrí an den
Schingú gelangt sein.
Aber im Allgemeinen habe ich den Eindruck gewonnen, dass die eigentliche
Trennung der beiden Bakaïrígruppen sich spätestens um die Mitte oder den An-
fang des vorigen Jahrhunderts vollzogen hat, als die Brasilier sich im Matogrosso
festsetzten und grosse Verschiebungen der Stämme veranlassten. Wahrscheinlich
hat es sich nicht nur um eine einzelne innere Fehde der Anwohner des Salto,
sondern auch um die bösen Nachbarn gehandelt, von denen die friedfertigeren
Bakaïrí bedrängt und gelegentlich vertrieben wurden.
In den brasilischen Quellen werden als Feinde der Bakaïrí angegeben die
Nambiquara, Tapanhuna und Kayabí, über die aber keine näheren Mit-
teilungen vorliegen. Die Nambiquara und Tapanhuna, Feinde der Apiaká,
wohnten im Arinosgebiet; von den Tapanhuna giebt Joaquim Ferreira Moutinho*)
an, dass sie die Bakaïrí-Sprache redeten; leider sind niemals überhaupt Auf-
zeichnungen von der Sprache der Bakaïrí, geschweige von der der Tapanhuna
[392] gemacht worden, und leider hat der Verfasser, wie wir bei den Bororó sehen
werden, keinen Anspruch auf irgendwelche Glaubwürdigkeit in diesen Dingen.
Eine erwähnenswerte Angabe im 40. Bande des Revista Trimensal do In-
stituto Historico (Rio de Janeiro 1877, II, p. 97) bezieht sich auf den einst weit
und breit gefürchteten Stamm der Mundrukú, die heute am mittlern und untern
Tapajoz sitzen, früher aber höher hinauf wohnten. Antonio Manoel Gonçalves
Tocantins, der sie 1875 besuchte, bemerkt: »in früheren Zeiten schlugen sie
auch die Bakaïrí, die sie Mureufuâtes nennen, und die sie zwangen, in das
Matogrosso zu gehen, wo sie (»aldeïert«) in Dörfern angesiedelt wurden.« Der
letztere Zusatz zeigt, dass es sich nur um Ereignisse verhältnismässig jüngerer
Zeit, aus der brasilischen Aera, handeln kann. Auch muss man nach dieser
Stelle nicht etwa glauben, dass die Bakaïrí in der Provinz Pará gewohnt hätten;
»Matogrosso« heisst bei den Ansiedlern des untern Tapajoz das Gebiet des Ober-
laufs und der Quellarme Juruena und Arinos; die Mundrukú wohnten selbst
neben den Apiaká in der Provinz Matogrosso, wo sie Sarumá heissen, und haben
alle Stämme des Arinos- und Schingúgebietes mit ihren Angriffen beunruhigt.
Die Bakaïrí, die sie »Mandurukú« nannten, hatten sie in lebhafter Erinnerung,
gaben aber an, dass ihre Einfälle jetzt nicht mehr vorkämen, da sie nach Norden
gezogen seien.
Die Hauptfeinde der Westbakaïrí und wahrscheinlich, sofern die Tradition
Recht hat, schon der vereinigten Bakaïrí waren die Kayabí. »Unbezwungene
Wilden in der Nähe des Salto«, sagt der Bericht der Directoria dos Indios. Was
ich bei den Bakaïrí über sie allmählich in Erfahrung zu bringen vermochte, ist
das Folgende. Die Kayabí nennen sich selbst Paruá, sie seien, was aber der
Bestätigung bedarf, ihrer Sprache nach Verwandte der Kamayurá am Kulisehu,
würden also ein Tupí-Stamm sein. Sie sind starke Leute und, wie der nahebei
wohnende Tupí-Stamm der Apiaká, Liebhaber der Anthropophagie. Sie pflanzen
Mandioka, Mais, Bataten, Mandubí u. s. w. grade wie die übrigen. Sie haben
hübsch gearbeitete, umflochtene Keulen von Bakayuva-Palmholz, die etwa 1½ m
lang, von der Form flacher Stäbe sind und in einem Strick am Arm getragen
werden. Auch darin würden sie mit den Kamayurá übereinstimmen. Die Pfeile
sind von Kambayuva-Rohr wie die der Yuruna, aber kleiner. Sie besitzen keine
Wurfbretter — ein wichtiger Unterschied von den Kamayurá.
Die Kayabí wohnen am Rio Verde, dessen Quelien zwischen dem Rio
Novo- und dem Paranatingadorf der Bakaïrí liegen, und der rechts in den Para-
natinga unterhalb des berühmten Salto einfliesst. Ihre Nachbarschaft zu den
Bakaïrí ist also freilich die allernächste. Seit uralter Zeit besteht die Feindschaft.
Nur ganz im Anfang hatte man sich vertragen: die Kayabí seien bei den Bakaïrí
erschienen, um bei ihnen zu wohnen, und hätten sich an einem Bach in ihrer
Nähe angesiedelt; dann kam es zur Fehde. Ich erinnere an die Kayabí der
Kerisage; hier treten sie bereits im Himmel auf, vgl. S. 375. Die alten Bakaïrí
seien den Paranatinga bis unterhalb des Rio Verde hinabgezogen, und
[393] hätten sich aus Furcht vor den Kayabí wieder zurückbegeben. Die Kayabí
seien im Besitz der Steinbeile gewesen und das habe Anlass zu Streitigkeiten
geboten.
Von Zusammenstössen aus jüngerer Zeit wurde mir Genaueres berichtet. Die
Kayabí haben den Vater des Felipe getötet, sie griffen zur Nacht an und nahmen
auch ein Kind mit. Antonio’s Grossvater, Vater und Oheim drangen bis zur
Mündung des Rio Verde vor; die Kayabí waren dort auf der Jagd und suchten
Muscheln. Die Bakaïrí kamen Nachmittags an und hielten sich vorsichtig zurück,
aber früh am Morgen, als die Kayabí noch in der Hängematte lagen, machten
sie einen Ueberfall und töteten zwei, während die Andern davonliefen. Die
Kayabí waren mit Arimesca-Oel (aus einer Schlingpflanze) und Urukú eingerieben
und stanken wie der Teufel. Sie hatten Kürbisschalen bei sich, eine andere Art
Urukú, Bogen und Pfeile. Im Paranatingadorf fanden wir 1884 zwei Kayabí-
frauen, die leider kein Wort ihrer Muttersprache mehr wussten, Maria und Luisa
Kayabí*). Einige zwanzig Bakaïrí hatten den Raubzug an die Mündung des Rio
Verde unternommen und die beiden kleinen Mädchen eingefangen nebst einer
Schwester von Luisa, die aber so heftig um sich biss, dass sie getötet werden musste.
Wenn ich also neben der Lesart, dass Zwistigkeiten unter den Bakaïrí
selbst einen Exodus nach dem Schingú veranlasst haben, auch die andere
empfing, dass eine Anzahl Bakaïrí vor den Kayabí dorthin geflohen seien, so ist
es ja wohl möglich, dass beide berechtigt sind und sich auf verschiedene Ge-
legenheiten beziehen.
Eine Verschiebung in gleicher Richtung, die mich nicht wenig überraschen
musste, wurde mir für die Suyá berichtet. Die Suyá, die wir 1884 am Ober-
lauf des Schingú gefunden haben, sind ein echter Gēs-Stamm und sprachlich den
Apinagēs der Provinz Goyaz zwischen Tocantins und Araguay am nächsten ver-
wandt. Sie hätten ebenfalls am Rio Verde westlich vom Paranatinga gewohnt
und seien von dem nahen Arinos dorthin gekommen. Sie müssten also, da wir
an ihrem östlichen Ursprung festhalten dürfen, zuerst über den Schingú und
Paranatinga hinüber nach Westen verschlagen worden sein und dann eine rück-
läufige Bewegung gemacht haben. Die Bakaïrí erzählen, dass sie sich mit den
Kayapó, die ausgezeichnete Schützen wären, verbündet und die Suyá aus der
Nachbarschaft am Rio Verde vertrieben hätten. Eine Menge Suyá seien getötet
worden, und der Stamm habe sich an den Schingú geflüchtet. Hyacintho, der
älteste Indianer des Rio Novodorfes, sei mit Antonio’s Grossvater noch Teilnehmer
des Kampfes gewesen, sodass die Begebenheit frühestens in das erste Viertel
unseres Jahrhunderts fiele.
Im Süden und Südosten sind die Westbakaïrí in anscheinend freundlichem
Verkehr mit dem Gēs-Stamm der Kayapó gewesen. Aus brasilischen Quellen,
die aber überhaupt die Ausdehnung dieses Stammes unterschätzen, ist nichts da-
[394] rüber bekannt, dass die Kayapó bis in diese Gegend gereicht haben. Sie
melden nur von Angriffen der »Coroados« auf die Fazendas am obern Cuyabá,
die Bakaïrí aber, die es besser wissen mussten, bezeichneten diesen Stamm als
»kayáχo« = Kayapó, und sie nennen auch den am weitesten von Osten kommenden
Quellfluss des Paranatinga den Kayapófluss. Dieselben Kayapó sind östliche oder
südöstliche Nachbarn der Kulisehu-Bakaïrí, wie diese mir berichteten.
Ich habe endlich zu erfahren gesucht, wie weit der Gesichtskreis der West-
Bakaïrí nach Westen reiche: die Paressí sind ihnen als alte Nachbarn wohlbekannt.
Westlich jenseits von Diamantino hinter den Paressí wohnen noch, gab man an,
die »Woimaré« und »Eneurá«, Sie seien keine Verwandten der Paressí, eine
Behauptung, die für die »Woimaré« nicht zutrifft, wie wir bei den Paressí sehen
werden. Die »Eneurá« sind sonst unbekannt. Noch viel weiter wohnen die
ebenfalls unbekannten »Pekoban«. Die Vorfahren seien bis dahin vorgedrungen
und hätten erzählt, es gebe dort einen grossen Fluss und die Pekoban lebten
jenseits desselben. Das könnte nur der Guaporé, der Oberlauf des Madeira, sein.
Sehr bemerkenswerth ist schliesslich eine Notiz über die Guaná; sie hätten
in sehr, sehr alten Zeiten am Rio Beijaflor gewohnt, einem linken Nebenfluss des
Paranatinga, der noch oberhalb des Rio Verde einmündet. Vgl. Seite 379.
Das ist alles, was ich aus dem Munde der Westbakaïrí über die Geschichte
des Stammes und seine Beziehungen zu den Nachbarn erfahren konnte. Fasse
ich die Traditionen zusammen, so waren die ältesten Bakaïrí am Salto des Para-
natinga ansässig, gehörten also jedenfalls dem Quellgebiet des Tapajoz an, und
von dort aus wanderte ein Teil von ihnen an den Batovy und Kulisehu in das
Quellgebiet des Schingú. Nach der Sage sind sie aus dem Paranatinga- und
Ronuro-Quellgebiet an den Salto gelangt.
Die Trennung der West- und Ostbakaïrí würde unter allen Umständen
mindestens in des vorige Jahrhundert zurückverlegt werden müssen und vor die
Zeit fallen, als die Bakaïrí sich nach Südwesten in das Quellgebiet des Cuyabá
ausdehnten. Die sprachliche Vergleichung steht mit diesen Schlüssen in gutem
Einklang; die beiden Gruppen der Bakaïrí reden eine nach Form und Inhalt
identische Sprache mit geringen mundartlichen Verschiedenheiten. Einige Fische
und Bäume werden verschieden bezeichnet; der Name der Akurí-Palme des
Kulisehu ist der der Oaussú-Palme vom Paranatinga und umgekehrt. Von Seiten
der Schingú-Bahaïrí steht vollkommen fest, dass sie niemals in irgend eine Be-
rührung mit dem weissen Mann getreten sind.
Durch unsere Expedition von 1884 kamen West- und Ostbakaïrí wieder
zusammen. Antonio erzählte nach seiner Heimkehr an den Paranatinga von den
Stammesgenossen am Batovy, und der praktische Häuptling Felipe verfiel auf
den Gedanken, dass er versuchen müsse, sie zur Ansiedelung am Paranatinga zu
bewegen. Er machte sich mit Antonio und einem Andern im September 1886
auf den Weg, sie erreichten den Batovy in drei Tagen und gebrauchten weitere
drei Tage den Fluss entlang bis zum ersten Dorfe.
[395]
Der Häuptling Luku war kurápa und bewirtete sie nicht so glänzend, wie
sie sich versprochen hatten, allein mehrere Ostbakaïrí, unser »Professor« von 1884
an der Spitze, begleiteten sie nach dem Paranatinga. Grosse Furcht hatten die
Besucher vor dem Rindvieh, doch grosse Freude auch an den Gastgeschenken,
mit denen Felipe nicht kargte. Ich erkundigte mich genau nach dem, was sie
mitbekommen hätten. »Alles Eisen, was wir hatten, Hühner (was aber später
bestritten wurde), kleine Bananenpflanzen, Mandiokazweige, Mais und
Reis haben wir ihnen gegeben.« Da sieht man also, wie sofort die erste Ge-
legenheit benutzt wird, um die Kulturgewächse zu verpflanzen! Falls der Versuch
gelungen ist, werden unsere Nachfolger am Schingú Bananen essen können!
Felipe begab sich im Januar 1887 frohgemut nach Cuyabá, um sich neue
Eisenwaaren schenken zu lassen, allein dort hatte man kein Verständnis für seine
Hoffnungen und schickte ihn mit leeren Händen heim. Tumayaua erzählte uns
1887, dass die Bakaïrí des ersten Batovydorfes von Neuem nach dem Paranatinga
gegangen seien; sie müssen dort kurze Zeit nach unserm Abmarsch eingetroffen
sein. Näheres darüber zu erfahren, hatte ich später keine Gelegenheit mehr.
II. Verschiebung der Karaiben nach Norden.
Hauptsächlich auf sprachliche Beweise gestützt, habe ich schon nach den
Ergebnissen der ersten Schingú-Expedition die Hypothese zu vertheidigen gesucht,
dass die neu entdeckten Karaiben im Quellgebiet des Tapajoz und Schingú den
Ursitzen des Stammes näher wohnten als die Karaiben nördlich des Amazonas,
dass diese von Süden her in die Guyanas eingewandert und von hier auf die
Kleinen Antillen übergesetzt seien.
Eine gleich gerichtete Bewegung stellte ich nur für die immer neben den
Karaiben erscheinenden Nu-Aruak vor, obgleich ich mir wohl bewusst blieb,
dass hier eine weit grössere Unsicherheit vorliege, als bei den Karaiben. Vergl.
»Durch Centralbrasilien«, S. 297. »Ob nun die gemeinsamen Urväter im Norden
oder Süden des Streifens gewohnt haben, über den wir die Enkel verbreitet
finden, ist bei dem heutigen Stand unserer Kenntnisse ziemlich gleichgültig. Mein
Gefühl — das ist alles — findet sich besser mit der Annahme zurecht, dass die
Bewegung von der Hochebene ausgegangen sei.« Mein Gefühl hatte mich nun
für einen wichtigen Bestandteil der Nu-Aruakgruppe, die Paressí, von denen ich
nach Cuyabaner Berichten falsche Vorstellungen hatte, durchaus betrogen; denn
wenigstens sie sind nach den Angaben, die ich 1888 aus ihrem Munde erhielt,
mit Sicherheit von Norden nach Süden vorgedrungen, mag die Grenze, wie
weit ihre Heimat nach Norden zu verlegen ist, auch unbestimmt sein. Die Frage
ist für die Nu-Aruak heute noch gar nicht zu übersehen, wir wissen zu wenig von
den Moxos und den verwandten Stämmen in Bolivien und Westbrasilien, wir
wissen noch weniger von den Chaco-Stämmen und müssen von den Aruak in den
[396] Guyanas jedenfalls festhalten, dass sie hier eine ältere Kultur besassen als die
Karaiben. Auch am Kulisehu trifft dies zu, selbst innerhalb der bescheideneren
Verhältnisse, die dort vorliegen. Es ist recht wohl möglich, dass ihre Haupt-
bewegung von der der Karaiben sehr verschieden war.
Dagegen hat die bestimmter ausgesprochene karaibische Zentralhypothese
seit 1884 neue Stützen erhalten. Die Beweise sind teils indirekte, wie ein kurzer
Rückblick zeigen wird, teils direkte.
Das Problem, wo die Urheimat der Karaiben zu suchen sei, ist ungefähr
so alt als die Entdeckung Amerikas. Dass schon die ersten Besucher der neuen
Welt sich diese Frage vorlegen mussten, lässt sich leicht verstehen: denn das
weitverbreitete Volk, das man zuerst auf den Kleinen Antillen und später an der
nahen Küste Südamerikas kennen lernte, vor allen andern Indianern durch Tapfer-
keit, Stolz und Grausamkeit ausgezeichnet und alle die anderen mit Krieg, Mord
und Plünderung heimsuchend, hatte die Inselkette des heute noch nach ihm be-
nannten Meeres vor nicht allzulanger Zeit erst besetzt und erschien Allen als ein
von aussen eingedrungenes Eroberervolk.
Derselbe Geschichtsschreiber, bei dem sich der Name »Karaibe« zum ersten
Mal erwähnt findet und dessen berühmtes Buch 10 Jahre nach dem Tode des
Kolumbus erschien, Petrus Martyr, spricht sich bereits für den fremden Ursprung
des Namens aus und möchte ihn nach Nordamerika zurückleiten. Und dieser
Gedanke hat sich lange behauptet; er drängte sich wie von selber auf, da man
unwillkürlich bestrebt war, die Völkerschaften der beiden Kontinente auf dem
Weg über die natürliche Brücke der Antillen zu verbinden; er hatte etwas un-
gemein Einleuchtendes auch insofern, als den Jägerstämmen des Nordens kein
anderer Typus nach Charakter und Körperbildung in gleichem Maass verwandt
erschien wie der der Karaiben.
Man berief sich auf zwei Sagen des nordamerikanischen Festlandes, die von
der Vertreibung eines Stammes aus seinem alten Wohnsitz berichteten, man identi-
fizierte die Karaiben mit den Vermissten, obwohl man weder in Florida, noch auf
den Bahamainseln oder Grossen Antillen echt karaibische Elemente antraf. Ja,
man vernahm bei der Mehrheit der Eingeborenen selbst die bestimmte Behauptung,
sie seien von dem südlichen Festland gekommen, und ihre genauesten Kenner
hoben dies mit Recht hervor.
Es verlohnte sich kaum, bei der nordamerikanischen, hauptsächlich von dem
Engländer Bristock und dem Franzosen de Rochefort ausgebildeten und aus-
geschmückten Hypothese zu verweilen, wenn sie nicht merkwürdigerweise zu
später Zeit noch in Alexander von Humboldt einen Verteidiger gefunden
hätte; dieser gesteht grade ihr die grösste Wahrscheinlichkeit zu und erklärt nur
die Berechnung, dass die Wanderung um das Jahr 1100 vor sich gegangen sei,
für willkürlich und unstatthaft.
War aber Humboldt mit dieser Meinung auf dem Irrweg, so ist doch die
festere Umgrenzung des Begriffs »Karaibe«, so weit sie zu jener Zeit möglich
[397] war, sein unbestrittenes Verdienst. Man hatte bis zu seiner Reise geglaubt, die
Karaiben seien ausgestorben — und auf den Inseln waren sie allerdings nament-
lich in Kämpfen mit den Franzosen — zu Grunde gegangen oder hatten sich
mit Negersklaven vermischt; die letzten Reste waren von den Engländern Ende
des vorigen Jahrhunderts nach einer Insel im Golf von Honduras befördert worden.
Durch Humboldt wurde die Aufmerksamkeit nun erst wieder auf die Fest-
land-Karaiben gelenkt, die in einer auf 40000 Seelen veranschlagten Gesamtzahl
sämtlich im Norden des Amazonenstroms zwischen seinen von links kommenden
Nebenflüssen oder im weiten Gebiet des Orinoko sassen. Den damals bekannten
Stämmen hat die neuere Zeit nicht wenige Namen hinzufügen können.
So musste naturgemäss die Ansicht zu Wort kommen, dass die Karaiben
in demjenigen Lande, in dem sie am dichtesten vereinigt erscheinen, in dem
Gebiet der Llanos von Venezuela und in dem heutigen Guyanas, also im Norden
oder Nordosten des südamerikanischen Kontinents, von wo aus sie zu den Inseln
übergesetzt waren, wahrscheinlich auch ihre Heimat hätten.
Indess diese Lösung war nicht befriedigend. Bei aller Verwandtschaft wiesen
die Stämme nicht nur eine allgemein auffallende und stark ausgeprägte Ver-
schiedenheit der Sprachen auf, sie verleugneten auch in ewigem Kampf mit andern
Völkerschaften, besonders mit den altangesessenen Aruak nirgendwo den Charakter
erobernder Eindringlinge. Hatte man also von den Inselkaraiben eingesehen: sie
kamen vom südlich gelegenen Festland, traf man Karaibenstämme dort auch
wirklich in unerwartet grosser Menge an, — so musste man sich doch jetzt sagen:
auch hier sind sie nicht zu Hause.
Es blieb die Möglichkeit: sie sind vom Süden her eingewandert, sie haben
den Amazonenstrom überschritten, sind einem oder mehreren seiner mächtigen
Süd-Nebenflüsse entlang nach Norden vorgedrungen und entstammen irgend einem
Gebiet der ungeheueren brasilischen Ländermasse. Doch gelangte man zu dieser
Erwägung eigentlich nur, weil man sich nicht anders zu helfen wusste. Leider
kannte man gar keine Karaiben in Brasilien; nur bei einem kleinen Stamm hoch
im Nordosten des Reiches, bei den Pimenteira, hatte man in der Sprache deut-
lich karaibische Elemente finden können, aber so abscheulich entstellt und ver-
stümmelt, dass sie keinen sicheren Anhaltspunkt gewährten. Das Einzige, was
man als eine Stütze der neuen Vermutung vorbringen konnte, war ein Motiv
mehr subjektiver Natur. Ueber das heutige Brasilien, der Küste entlang wie weit
durch das tiefste Innere zerstreut, über das Paraguay-La-Plata-Gebiet bis nach
Bolivien hinein und zum obern Amazonas waren die Tupívölker verbreitet, nicht
minder seetüchtig, nicht minder wanderlustig als die Karaiben; diese Tupí konnten
nun ja die Verwandten und Stammväter der Karaiben sein. Der Vorschlag fand
seine besten Anwälte ín einem Orbigny und vor allem in der Person des aus-
gezeichneten Begründers der brasilischen Ethnographie, in Martius, einem Manne,
der sich um die Erforschung der amerikanischen Menschheit ungleich höhere
Verdienste erworben hat als Humboldt. »Woher sind die Karaiben ursprünglich
[398] gekommen?« fragt Martius. Wir wagen hierüber nur die Vermutung aufzustellen,
dass sie Tupí waren. Auch diese haben, über einen grossen Teil Brasiliens sich
ausbreitend, eine Oberherrschaft über andere Horden behauptet und lange Zeit
eine athletische Körperbildung und heroische Gemütsart erhalten. Es ist nicht
unwahrscheinlich, dass in früherer Zeit — vielleicht Jahrhunderte vor Ankunft
der Europäer in der neuen Welt — Berührungen und Vermischungen zwischen
den Tupí und den Bewohnern des Karaibenlandes stattgefunden haben, aus welcher
die sogenannten Karaiben hervorgegangen sind, nicht als ein besonderes Volk,
sondern als Leute von einer eigentümlichen Lebensweise, als Räuber, Piraten und
Menschenschlächter.«
Ich habe bereits Seite 158 angeführt, dass die Verwandtschaft der Tupí und
Karaiben auf das nicht aus dem Wege zu räumende Hindernis der bis in die
Wurzelwörter hinein bestimmt ausgeprägten Verschiedenheit der Sprachen stösst.
Da giebt es keine Brücke. Wenn die Untersuchung der Bakaïrísprache und ihre
Vergleichung mit den nordkaraibischen Indianern dieses sichere Ergebnis geliefert
hat, so ist andrerseits durch das nun erwiesene Vorhandensein einer karaibischen
Bevölkerung im Innern des Kontinents die Südhypothese dennoch gerettet worden,
und Lucien Adam, der sich in neuerer Zeit auf Grund seiner sorgfältigen
Untersuchung der Karaibenidiome für die Heimat im Süden des Amazonas aus-
gesprochen hatte, darf sich der besten Bestätigung freuen.
Inzwischen ist auch bereits vor uns ein karaibischer Stamm im Süden des
Amazonas gefunden worden. Ueber ihn, die »Palmellas«, berichtet in einer in
Europa kaum bekannt gewordenen Reisebeschreibung der brasilische Arzt João
Severiano da Fonseca*), der sie 1877 bei dem Destakament von Pedras
Negras (12° 51' 11'', 22 s. Br. und 19° 44' 22'', 65 W. von Rio de Janeiro) am
Guaporé kennen lernte und ein kleines Vokabular aufnahm. Einige 7 oder 8
Leguas entfernt in den letzten Ausläufern der Paressí-»Cordillere« wohnte dieser
»Stamm von zahmen Indianern, der erst vor wenigen Jahren erschienen und mit
den Bewohnern des Destakaments und den Flussfahrern in Verkehr getreten ist.
Sie reden ein von dem der Guaporé-Stämme verschiedenes, mit portugiesischen
und spanischen Wörtern vermengtes Idiom und können ihre Herkunft oder ihren
Ursprung nicht angeben. Es ist aber bemerkenswert, dass eine grosse Anzahl
ihrer Wörter dem Galibí-Dialekt gleich oder ähnlich sind.« Severiano erfuhr von
drei Palmellas, die im Destakament waren, dass sie bis vor längerer Zeit (aber
höchstens 80 Jahre zurück) bei der Mission S. Miguel der Baures angesiedelt
gewesen und dorthin auch schon von anderswoher, aber sie wussten nicht
mehr, aus welcher Gegénd, als Flüchtlinge gekommen seien. Sie zählten
etwa 400 Individuen, hätten jedoch bei einer Epidemie viele Leute durch Tod
und Flucht verloren. Es waren friedliche Ackerbauer, wenig zur Jagd und
Fischfang geneigt, sie bauten Mais, Mandioka, Igname, Erdnüsse, Kürbis, Zucker-
[399] rohr, Apfelsinen, Melonen und züchteten Hühner und Enten. Nach Angaben der
Handelsleute seien unter den Indianern »einige wirklich weiss, mit rötlichem
oder kastanienbraunem Haar wie die Herisobocones im Baures-Distrikt, die
Tukunapeba und die Arara des untern Schingú«. Eine weisse Indianerin mit
blauen Augen und einem Benehmen, das Spuren von Zivilisation erkennen lasse,
werde unter dem Namen der »Senhora« von Allen ehrerbietig behandelt. Leider
erfahren wir nicht den wirklichen Namen des Stammes und müssen uns mit dem
»Palmella« begnügen, wie sie ein Cuyabaner Kautschukhändler zu taufen für gut
fand. Ist der Stamm nun auch in den Baures-Distrikt erst von aussen einge-
wandert und seine Herkunft unbekannt, so bleibt die Thatsache doch sehr be-
merkenswert, dass hier Karaiben in ansehnlicher Volkszahl im Quellgebiet des
Madeira erscheinen.
Nun sind im östlichen Quellgebiet des Tapajoz und im westlichen des
Schingú die Bakaïrí und die Nahuquá hinzugekommen. Sind die Westbakaïrí
heute stark reduziert, so ist doch von ihrem jetzt verlassenen Salto des Parana-
tinga und von dem Gebiet zwischen Paranatinga und Ronuro aus die Verbreitung
nach Osten zum Batovy und Kulisehu erfolgt, wo sie die fischreiche Gegend der
Katarakte besetzt haben. Die Nahuquá sind die Herren des Kuluene, des Haupt-
quellarms des Schingú, dessen Untersuchung die wichtigste Aufgabe unserer Nach-
folger bildet. Sie fallen mit ihren zahlreichen Dörfern so stark ins Gewicht, dass
man den Satz aussprechen darf: es sind die Karaiben, die die Hauptmasse
der Bevölkerung des Schingú-Quellgebiets darstellen.
Durch die Kulisehu-Bakaïrí und die Nahuquá ist das der Expedition von
1884 noch entgegenzuhaltende Bedenken, dass die Zahl unserer karaibischen
Elemente zu gering sei, um für die vom Centrum des Kontinents her nach
Norden gerichtete verwertet zu werden, beseitigt.
Was nun das Verhältnis von Bakaïrí und Nahuquá zueinander betrifft, so ist
festzuhalten, dass die beiden Stämme sich sprachlich nicht näher stehen als die
Guyana-Karaiben untereinander. Ja, die Bakaïrí stehen den Makuschí oder
Rukuyenn näher als den Nahuquá. Der Einfluss der benachbarten Nu-Aruak,
der Töpferstämme des Kulisehu, auf die Sprache der Nahuquá ist deutlich aus-
gesprochen und dieser Verkehr, wie es heute der Fall ist, gewiss schon seit sehr
langer Zeit enger und herzlicher gewesen als mit den Bakaïrí. Dieser Umstand
steht ganz im Einklang mit der Geschichte und Sage der Westbakaïrí, wenn sie
behaupten, dass der Ursitz ihres Stammes zwischen Ronuro und Paranatinga liege.
Die neueste Errungenschaft für die Karaibenfrage endlich und eine wegen
der räumlichen Vermittlung, die sie gestattet, sehr wichtige sind die Apiaká.
Martius spricht bereits von »Apiaká« im Strombecken des Tokantins, indem
er sie neben den Karajá nennt und als Tupí betrachtet, wie es die in weit ent-
legenem Gebiet wohnenden, ebenfalls »Apiaká« genannten Indianer des obern
Tapajoz in der That sind. Ehrenreich hat 1888, nachdem er den Araguay-
Tokantins hinabgefahren war, einige Apiaká in Praia Grande getroffen und fest-
[400] gestellt, dass es Karaiben sind. Er war überrascht durch die grosse körperliche
Aehnlichkeit mit den Bakaïrí. Die Leute erzählten, dass sie von den Suyá ver-
trieben worden seien. Sie hatten sich nach Norden geflüchtet und sitzen jetzt
westlich der letzten Strecke des untern Tokantins, wahrscheinlich in dem obern
Gebiet des Uanapu und Pacayá, etwa auf dem 3. Grad südl. Br. Ehrenreich
vermutet, dass die Wanderung erst vor einigen Jahrzehnten stattgefunden habe.
Es liegt nahe, sie mit der Ortsveränderung in Beziehung zu setzen, die die Suyá
selbst vorgenommen haben, indem sie in den ersten Jahrzehnten dieses Jahr-
hunderts (vgl. Seite 393) von dem Paranatingagebiet nach dem Schingú verdrängt
wurden. Wir wissen auch noch nichts Näheres, ob nun die Apiaká westlich
oder östlich des Schingú gesessen haben, allein die wichtige Thatsache, dass hier
ein historischer Beleg für die Verschiebung von Karaiben aus Süden nach
Norden vorliegt, wird dadurch nicht berührt. Die Breitenverschiebung ist auch
sehr beträchtlich; denn die Suyá wohnen heute auf dem 11. Breitengrade und
haben vorher am Rio Verde noch erheblich südlicher gewohnt, die Apiaká da-
gegen sitzen bereits in dichter Nachbarschaft des Amazonenstroms.
Die sprachliche Verwandtschaft der Apiaká und Bakaïrí ist eng, aber nicht
enger als die einiger Karaibenstämme nördlich des Amazonas und der Bakaïrí!
Es ist sehr interessant, dass die Apiaká bereits vielfach konsonantischen Auslaut
und innerhalb des Worts Doppelkonsonanten haben. Aus den Ehrenreich’schen
Vokabular, das noch nicht veröffentlicht ist, führe ich einige Wörter an. Das
Pronominalpraefix der ersten Person ist i-, das im Bakaïrí teils der ersten, teils
der dritten Person angehört.
- Zahnieri, Bak. yéri, allgemein karaibisch;
- Zungeelo (e wenig hörbar), Bak. ílu (3. Person);
- Handomiat, Bak. omári (2. Person);
- Fussipun, Bak. iχúlu (3. Person);
- Oberschenkeliwet, Bak. ewéti (3. Person);
- Unterschenkeliptchin, Bak. ischinári (3. Person);
- Naseinam, Bak. inári (3. Person);
- Ohriuanan, Bak. iwanatári (3. Person);
- Knochenitpun, Bak. ipüri;
- Wasserparu, Bak. páru Wasser, Fluss;
- Flussparu ime, Bak. páru ima grosser Fluss;
- Sonnetschitschi, Bak. tschíschi;
- Mondnuno, Bak. núna;
- Himmelkabo, Bak. kχáu;
- Regenkongpo, Bak. kχópö;
- Feuerkampot (Bak. péto), Rukuyenne und andere
wapoto, apoto, vergl. Tabelle Bakaïrí-Grammatik S. 278. - Baum, Holz, yei, Bak. se, Makuschí yeh, yéi;
- Vaterongmä, Bak. iyúme;
[401]
- Mutteriämä, Bak. ise;
- Oheimkoko (patruus, matruus), Bak. kχúgo matruus;
- Grossvatertamko, Bak. itámo, Galibi tamoko;
- Pfeilpirom, Bak. püléu, piráu;
- Bogentopkat, Bak. tákχo;
- Tabaktawe (e kaum hörbar), Bak. táwe;
- Maisånat, Bak. anázi;
- Beijúabat, Bak. awátu;
- Batatenabiot, Bak. náwi;
- Bananeuomium, Zahme Bak. banana;
- Fischuot, Nordkar. boto, uoto Fisch, Bak. póto Wildpret;
- Piranyaponä, Bak. påne;
- Schlangeogoi, Bak. agáu;
- Jaguarogro, Bak. åkå.
Hier habe ich allerdings recht deutliche Entsprechungen, auf die es zunächst
ankommt, ausgewählt. Die Banane wird wieder mit einem neuen, allen Karaiben-
idiomen fremden Wort bezeichnet; die Apiaká haben in ihrem zentralen Sitz die
Frucht ebenso wenig gekannt als die Suyá, vor denen sie flüchteten, und sie
wahrscheinlich erst in dem Gebiet zwischen Schingú und Araguay kennen gelernt.
Zahlreiche Nebenflüsse des Tapajoz, Schingú und Araguay sind noch ganz
unerforscht. Ich hege die gute Zuversicht, dass dort noch manches Karaiben-
völkchen haust. Verdächtig wegen ihrer Tätowierung sind die Arara westlich vom
Unterlauf des Schingú. Die östlichste Spur der Karaiben liefern die schon er-
wähnten Pimenteira in der Provinz Piauhy. Sie brachen, berichtet Martius, seit
dem Jahre 1775 von Zeit zu Zeit zwischen den Quellen des Piauhy und des
Gorguea hervor und beunruhigten die Gehöfte von Ober-Piauhy. »Glieder dieser
Horde waren schon früher in Quebrobro am Rio de S. Francisco angesiedelt ge-
wesen.«*) »Der grösste Theil schweift noch unabhängig umher, und die Fazen-
deiros haben das Recht, sich derjenigen von ihnen, welche sie gefangen nehmen
können, auf zehn Jahre als Sklaven zu bedienen oder sie zu verkaufen.«**) Es
wäre dringend zu wünschen, dass ein Teil der Eingeborenen diesem schönen
System vom Anfang des Jahrhunderts entgangen wäre und einer gründlichen Er-
forschung zugänglich würde. Das kurze Vokabular, das Spix und Martius in
Piauhy aufgenommen haben (Glossar, S. 219) und in dem schon Martius Ueber-
einstimmungen mit Karaibendialekten — er nennt das Tamanako — erkannte,
würde Ansprüche an Reinkaraibisch allerdings nicht im Geringsten befriedigen.
Dennoch sind bei aller Vermischung mit Gēs- oder Tupístämmen die karaibischen
Elemente unverkennbar und zahlreicher, als Martius wahrscheinlich vermutet hat.
Es sind die Wörter für: Zahn, Zunge, Arm, Brust, Oberschenkel, Zehe, Oheim,
Vater, Bruder, Kind, Gefährte, Sonne, (Mond), Holz, Feuer, Erde, Donner, Pfeil,
v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 26
[402] Mandioka, Tabak (-pfeife), schlafen. Nur wimmelt es da so von ö, ä, ü. dass
Wohlbekanntes stark entstellt erscheint, z. B. Mandioka, Bak. ichére, Pim.
uütschörô oder Arm, Tamanako japari (Bak. Flügel sawöri), Pim. söbaröh.
Erscheinen die Palmella und die Pimenteira nach Allem, was wir bisher
wissen, einigermassen isoliert in fremder Umgebung, so repräsentieren die ver-
einigten Bakaïrí und Nahuquá einen sehr stattlichen Komplex und gleichzeitig ist
ihre geographische Lage in dem Quellgebiet von Tapajoz und Schingú für die
Hypothese der Verschiebung nach Norden insofern vorzüglich zutreffend, als die
südlichsten der Nordkaraiben auf dem linken Ufer des Amazonas eben gegenüber
den Mündungen von Tapajoz und Schingú unmittelbar anschliessen. Es liegt mir
nichts ferner, als die Bakaïrí oder Nahuquá etwa als die Reste des unveränderten
karaibischen Grundvolkes zu betrachten, sondern ich glaube nur, es spricht Alles
dafür, dass sie dem Ursitz des Grundvolkes am nächsten wohnen. Dass es ein
solches Grundvolk gegeben hat, und mag es am letzten Ende nur ein kleiner
Stamm gewesen sein, ist ein unabweisliches Postulat der Sprachvergleichung.
Trotz aller Differenzierung im Lauf der Zeiten durch Vermischung mit sehr ver-
schiedenen Elementen giebt es noch heute eine grosse Einheit karaibischer Stämme,
deren jeder einen grösseren oder kleineren Schatz von Grundwörtern besitzt.
Sie haben ihre lautliche Differenzierung in genau gleichgerichteter Bewegung, aber
unabhängig von einander vollzogen. Wir kommen also, ob wir Wanderzüge oder
langsame Verschiebung annehmen, stets auf eine ursprüngliche Gemeinschaft
zurück, wo man z. B. noch die unerweichten Stammanlaute hatte. Dass sehr
viele Jahrhunderte ins Land gegangen und sehr viele Tropfen den Amazonas
hinuntergeflossen sind, seit die Ausstrahlung von dem Ursprungszentrum statt-
gefunden hat, folgt aus der ungeheuren räumlichen Ausdehnung, die der karai-
bischen Spracheinheit heute zukommt. Damit ergiebt es sich denn von selbst,
dass auch solche Karaiben, die noch in nächster Nähe der Urheimat sässen, alle
Veränderungen, die gewaltige Zeitperioden auch unter den friedlichsten Verhält-
nissen mit sich bringen, erlitten haben müssen. Man darf niemals vergessen, dass
das »Grundvolk«, wenngleich es für den der Untersuchung unterworfenen stark
verzweigten Baum eine Art Stamm oder gar Wurzel abgiebt, doch selbst nur
ein Zweig vom Baume gewesen ist; wie jeder beliebige Vorfahr oder Stammvater
auch nur ein Glied in einer unendlich langen Reihe ist. »Urkaraiben« sind die
Bakaïrí also keinenfalls. Die suchen hiesse für die Juden den noch lebenden
Erzvater Abraham suchen.
Das karaibische Grundvolk hatte bereits Mais, Mandioka, Tabak,
Igname, Pfeffer, Baumwolle, Orléansstrauch. Vgl. die Nachweise in dem
Vokabular meiner Bakaïrí-Grammatik. Man mag sich drehen und wenden, aber
man kann dem Schluss nicht ausweichen, dass die mit jenen Pflanzen gegebene
Kultur den Karaiben bereits vor sehr, sehr langer Zeit gehörte. Es ist wahrlich
wichtig, dies zu beherzigen, wenn man das richtige Verhältnis zur Ahnensage
gewinnen will. Die sichere historische Tradition mit bestimmten Namen umfasst
[403] keine zwei Jahrhunderte. Da darf man es den Bakaïrí wirklich nicht übel
nehmen, wenn sie uns den Stamm, der ihnen Tabak und Baumwolle gab, nicht
mehr nennen können und sich auf den im Norden lebenden Wickelbär berufen.
Allein, dass diese Erzeugnisse von Norden gekommen sind, ist bei dem Ueber-
blick über die Verhältnisse, den wir nun haben, von allergrösstem Interesse.
Nur zweierlei ist möglich. Entweder man fertigt die Wickelbärsage als
Ammenmärchen ab, dann ist die Angelegenheit erledigt. Ich vermag mich nicht
dazu zu entschliessen, weil ich nicht begreife, mit welchem Recht man eine be-
stimmte, in Nichts unwahrscheinliche und mit den pflanzengeographischen For-
derungen wohl übereinstimmende Angabe zurückweisen könnte. Das Unwahr-
scheinliche liegt nur für uns in der Person des Wickelbären, allein sie ist doch
gerade auch eine Gewähr für die Richtigkeit, da sich die Tradition eben mit der
Beziehung auf ein auch schon vor vielen Jahrhunderten an der Nordgrenze des
Bakaïrí-Gebiets lebendes Tier wirklich erhalten konnte. Dass wir uns keinen
Tabak rauchenden Wickelbären vorzustellen im Stande sind, dafür können die
Bakaïrí nichts.
Ich glaube also wie Antonio an den Wickelbären, von dem Tabak und
Baumwolle stammt, und sehe mich dann nur der zweiten Möglichkeit gegenüber,
dass die Urheimat der Karaiben im Süden des Wickelbärreviers liegt.
Denn das Grundvolk besass bereits Tabak und Baumwolle.
Ich lege sogar auf diesen Beweis viel mehr Wert als auf die Tradition, dass
in alten Zeiten Bakaïrí — man weiss nicht wohin — ausgewandert sind. Ich
bezweifele keineswegs ihre Richtigkeit, ich halte es auch für möglich, dass aus
solchen früheren Bakaïrí der eine oder andere Karaibenstamm hervorgegangen
sei, den wir heute im Norden finden, aber unbestimmt bewiesen würde dadurch
nur, was garnicht bewiesen zu werden braucht. Es ist wohl, auch wenn
keine Tradition davon berichtete, nicht anders denkbar, als dass sich von jedem
Stamm während der Jahrhunderte, zumal bei einem Stamm, der wie die Bakaïrí
vom Fischfang lebt, kleinere oder grössere Gruppen in andere Gebiete dem Lauf
der Flüsse entlang entfernt haben und dann auch durch Berührung mit neuen
Stämmen körperlicher und sprachlicher Differenzierung entgegengegangen sind.
Es braucht ebenso wenig bewiesen zu werden — wie es durch die Nu-Aruak-
keri und -kame in der That bewiesen wird — dass die Bakaïrí im Lauf der Jahr-
hunderte von ihren Nachbarn, mit denen sie sich vermischten, beeinflusst wurden.
Ich wiederhole, die Bakaïrí sind keine Urkaraiben, sie werden es leider nicht
einmal, da ihr Todesurteil schon besiegelt ist, für Nachkommen späterer Jahr-
hunderte werden.
Ich resümiere. Von jeher hat das Postulat bestanden, dass die Karaiben
im Norden des Amazonas von auswärts in ihre Sitze gelangt seien. Man ist
dahin gedrängt worden, dass die Einwanderung nur von Süden her erfolgt sein
könne. Die Bakaïrí oder Nahuquá, die man hätte erfinden müssen, wenn sie
nicht vorhanden gewesen wären, sie sind in ansehnlicher Zahl nachgewiesen und
26*
[404] stehen zur Verfügung in einem Gebiet, das dem Erklärungsbedürfnis auch
des Geographen vortrefflich genügen muss. Isolierter erscheinen Palmella und
Pimenteira. Das »missing link« für die räumliche Entfernung ist in den Apiaká
geliefert; die Suyá, die sie vertrieben haben, wohnen nördlich von den Schingú-
und Paranatingakaraiben. Der physische Habitus der Südkaraiben und der Apiaká
wie auch derer nördlich des Amazonas, die wir wenigstens nach Abbildungen
vergleichen können — ich gedenke hier besonders der Creveaux’schen Rukuyenn
und einiger Galibí, die im Jahre 1892 eine Kunstreise in Europa machten —
zeigt auffallende Uebereinstimmung. Die Tradition der Bakaïrí weist darauf hin,
dass Tabak und Baumwolle, die das Grundvolk besessen hat, von Norden ge-
kommen sind. Was man noch verlangen möchte, dass Sprache und Kultur bei
den der Urheimat näheren, somit geringerer Differenzierung ausgesetzten Stämmen
reiner und einfacher geblieben sind, beides habe ich zu erweisen gesucht: für die
Sprache in der Bakaïrí-Grammatik, für die Kultur in diesem Buche.
[[405]]
XV. KAPITEL.
I. Die Zählkunst der Bakaïrí und der Ursprung der 2.
Die Zahlwörter der übrigen Stämme. — Namen der Finger. Hersagen der Zahlwörter mit Finger-
geberden. Zählen von Gegenständen über 6; idem unter 6. Die rechte Hand tastet. Fälle
des praktischen Gebrauchs und Fehlen gesetzmässiger Zahlen. Fingergeberde nicht mimisch, sondern
rechnend. Räthsel der »2.« »5« = »Hand« kein Vorbild, sondern eine (späte) Erfahrungs-
grenze. Entstehung der »2« durch Zerlegung eines Ganzen in seine Hälften. Die Dinge liefern
die Erfahrungsgrenze der »2«-Geberde. Abhängigkeit vom Tastsinn. Bestätigung durch die
Etymologie.
Die Bakaïrí hatten die Kunst des Zählens am wenigsten entwickelt. Betreffs
der übrigen Stämme beschränke ich mich, da ich die Zahlen in den Wörter-
verzeichnissen mitteile, auf wenige Bemerkungen.
Alle Stämme zählten erst die Finger der beiden Hände und dann die Zehen
der beiden Füsse ab. Sie begannen, mit Ausnahme der Bakaïrí, vom Daumen
der rechten Hand ab, zählten an den Fingern bis 5, gingen zum Daumen der
linken Hand über, rechneten hier bis 10 und wiederholten das Verfahren genau
so für die Füsse.
Wenn man die Zahlwörter auf ihre Bildung hin ansieht, so bemerkt man
bei allen Stämmen dass sie besondere Wörter für 1, 2, 3 haben, mit Ausnahme
der Bakaïrí, die ich vorläufig beiseite lasse, und der Trumaí, deren Aufnahme
aber viel Unsicheres enthält; bei den Trumaí steckt das Wort [für] 2 hurs in dem
für 3 hurstamé. Dagegen haben die Trumaí und mit ihnen nur die Waurá (unsicher)
und die Kamayurá ein ganz neues Wort für 4, während bei allen übrigen die 4
eine durch einen Zusatz veränderte 2 darstellt.
Für 5 haben die Trumaí und die Auetö́ ein neues Wort, das nichts mit
»Hand« zu thun hat. Bei allen Andern, immer abgesehen von den Bakaïrí, steckt
die Hand in der 5. Die Kamayurá sagen »Hand hört auf« yenepó momáp
(Guaraní mombáb aufhören), die Töpferstämme sagen »1 Hand«, die Nahuquá
»Hand» schlechthin.
Die Zahlen 6, 7, 8, 9 sind aus 1, 2, 3, 4 mit einem Zusatz gebildet. Nur
bei den Kamayurá lautet dieser anders für 6 und 7 als für 8 und 9. Für 6 und
7 = 1 und 2 + verowák scheint die Bedeutung (Guaraní guerobág) zu sein:
1 oder 2 werden vertauscht, wechseln.
[406]
10 enthält bei den Töpferstämmen und wahrscheinlich auch bei den Auetö́
die Hände, bei den andern ist das Wort ein neues.
Mit 11 tritt bei allen, durch einen Zusatz bestimmt, der Fuss ein und
12, 13, 14 sind = 2, 3, 4 + dem Fuss und diesem Zusatz. Die Nahuquá ver-
wenden allerdings statt ihres Wortes für Fuss ein Wort vúro, das aber aus der
Vergleichung mit andern karaibischen Sprachen als ein Stamm gleicher Bedeutung
zu erkennen ist,*) und zählen nun von 11—15: »1, 2, 3, 4, 5 Fuss« an den rechten
Zehen und von 16—20 an den linken »1, 2, 3, 4, 10 Fuss.«
Von 15—19 gehen die Sachen ziemlich stark durcheinander, mit 15 erscheint
meist ein neuer Zusatz und die Bildungen laufen denen der zweiten Hand von
6—9 oder denen des ersten Fusses von 11—14 parallel. Bei den Yaulapiti, deren
Zahlen sehr regelmässig gebildet sind, heisst 1 Fuss: 15, bei den Mehinakú da-
gegen: 11, jenes also, weil der Fuss fertig ist, dieses, weil er nun beginnt. So
kommt bei den Mehinakú folgendes Kuriosum zu Stande: 5 = 1 Hand, 11 = 1 Fuss.
12 = 2 Fuss, 13 = 3 Fuss, 14 = 4 Fuss und (da 5 = 1 Hand) 15 = 1 Hand, Fuss!
Alle haben in der 20 die Füsse, ausgenommen die Auetö́. Bei den Yaulapití
ist derselbe Zusatz, der mit Hand = 10 war, mit dem Fuss = 20. Bei den Kustenaú
ist die 15 der 20 bedenklich ähnlich.
Wenden wir uns nun zu den tiefer stehenden Bakaïrí, mit denen ich
mancherlei arithmetische Uebungen gepflogen habe.
Die Namen ihres Rechenapparates, der Finger haben mit Zahlen nichts zu
thun. Der Daumen heisst »Vater«, der Kleinfinger »Kind« oder »Kleiner», der
Mittelfinger wie bei uns der »Mittlere«, Zeigefinger und Ringfinger werden jener
der »Nachbar« — das ist wenigstens die wahrscheinliche Deutung — des »Vaters«,
dieser der »Nachbar« des »Kleinen« genannt.
Sie zählen in Worten bis 6:
- 1 = tokále
- 2 = aháge
- 3 = aháge tokále oder ahewáo
- 4 = aháge aháge
- 5 = aháge aháge tokále
- 6 = aháge aháge aháge
Man sieht, dass sie nur für die Zahlen von 1 bis 3 eigene Wörter haben
und die Zahlen von 4 bis 6 aus aháge und tokále zusammensetzen. Das Wort
ahewáo für 3 lernte ich erst auf der zweiten Expedition kennen, hörte aber
ebenso häufig die aus 2 und 1 zusammengesetzte Form. Der Schluss, dass ahewáo
vielleicht ein neueres Wort sei, wäre falsch, denn die Sprachvergleichung ergiebt,
dass es auch bei mehreren Karaibenstämmen im Norden des Amazonenstromes
vorhanden ist und ein hohes Alter besitzen muss. Es fällt aber auf, dass diese
3 in keins der höheren Zahlwörter, nicht einmal in die 6 eintritt.
Sehen wir von dem nicht obligatorischen ahewáo ab, so zählt der Bakaïrí also:
eins, zwei, zwei-eins, zwei-zwei, zwei-zwei-eins, zwei-zwei-zwei.
Er beginnt mit dem Kleinfinger der linken Hand und sagt „tokále“, fasst
Finger IV an, vereinigt ihn mit V und sagt „aháge“, geht zu III über und sagt,
[407] indem er ihn getrennt neben V und IV hält, „aháge tokále“, geht zu II über,
vereinigt ihn mit III und sagt „aháge aháge“, fasst den Daumen an und sagt
„aháge aháge tokále“, legt den Kleinfinger der rechten Hand heran und sagt
„aháge aháge aháge“. Hinter »6« ist der Bakaïrí mit den Zahlwörtern zu Ende
und fährt nun bei IV, III, II, I der rechten Hand fort, indem er jeden Finger
nach der Reihe berührt und einfach „méra“, »dieser« hinzufügt. So berührt er
auch die Zehen des linken und des rechten Fusses und erklärt jedesmal „méra“.
Ist er noch nicht zu Ende, so greift er sich in die Haare und zieht sie nach allen
Richtungen auseinander.
Man muss sich sagen, wenn sie die 7 mit „aháge aháge aháge tokále“ hätten
bezeichnen wollen, so hätten sie schon zählen müssen, um zu zählen, die Zahlen
selbst zählen müssen. So konnte, selbst wenn es sich nicht um tiefere Gründe
handelte, schon der Mangel eines höheren Zahlwortes als 2 oder 3 an und für
sich ein Hindernis bilden. Offenbar hatten sie jenseits der 6 nur die vage An-
schauung einer grösseren Summe. Man denke sich Jemand, der die Stufen einer
Treppe zählen will, unterwegs aber an einer Stelle aus irgend einem Grunde die
Zahl der zurückgelegten Stufen nicht mehr genau weiss; höher und höher steigend
bleibt er sich bewusst, dass es immer mehr wird, aber einmal aus dem Konzept
gebracht, wird er sich immer unklarer, wie viel Stufen es mehr werden und wie
viele es zusammen sind. So kletterten die Bakaïrí an ihrer Treppe von 20 Stufen
bis zu Ende empor und hatten gewiss alle Sicherheit, dass sie bei dem ersten
Fuss weiter waren, als bei der zweiten Hand und bei dem zweiten Fuss weiter
als bei dem ersten, allein dass sie nun etwa nach dem Abgreifen von 10 Fingern
und 5 Zehen eine präzise Vorstellung gehabt hätten wie wir mit dem Wort
»fünfzehn« verbinden, davon konnte auch nicht die Rede sein.
Ihre Begriffe endeten bei »6«, und auch die Anschauung jenseits der »6«
war nur einigermassen bestimmt, so lange sie an der Betrachtung und Befühlung
der Finger und Zehen haftete. Sobald bestimmte Gegenstände gezählt werden
sollten, ging ihre Kunst kaum weiter als ihre Begriffe, das heisst die Zahlwörter.
Ich habe mit Paleko und Tumayaua eine Menge — ich greife mir bei der Er-
innerung in die Haare — Versuche gemacht und will zunächst das immer gleiche
Ergebnis bei einer grösseren Anzahl von Maiskörnern oder dergl. erwähnen.
Legte ich zehn Körner hin und fragte „åtúra?“, »wie viele?«, so zählten sie auf
die noch zu beschreibende Art und Weise langsam, aber richtig bis »6«.
Das 7te, 8te Korn wurde zur Not noch auf die Finger IV und III der rechten
Hand bezogen und entsprechend „méra“, „méra“ gesagt, aber sie zeigten sich dann
abgespannt und unlustig; sie erinnerten mich an Leute, die ohne Interesse Karten
spielen oder Rätsel lösen sollen und bald gähnend ausrufen: »ach, ich habe für
dergleichen gar kein Talent«. Sie gähnten auch, und wenn ich sie nötigte, so
lachten sie einfältig oder machten ein verdrossenes Gesicht, klagten über „kinaráchu
ewáno“, was bezeichnend »Kopf-Arbeit« oder »Kopf-Schmerz« bedeutet, und liefen
womöglich davon, in jedem Fall streikten sie.
[408]
Ich fragte Paleko gelegentlich, ob das Dorf der Nahuquá gross sei. Er
gab sich zur Antwort daran, eine Anzahl Kreise in den Sand zu zeichnen und
deutete mit zufriedener Miene auf das Bild. Seine Absicht war, mir die unbestimmte
Vielheit der Häuser, von deren genauerer Anzahl er auch kaum sichere Kenntnis
haben konnte, zu veranschaulichen, und er war sich nicht im Entferntesten bewusst,
dass er, Kreis um Kreis hinsetzend, mir doch eine begrenzte Anzahl überlieferte.
Dass es Menschen giebt, die ein Dutzend Kreise als 12 Kreise präzisieren können,
davon hatte Paleko keine Ahnung.
Wie zählten sie Dinge, deren Anzahl nicht über 6 betrug? Legte ich
1 Maiskorn hin, so antwortete der Bakaïrí sofort „tokále“, fasste gewöhnlich dabei
das Korn und dann den linken Kleinfinger an, beides aber so flüchtig und
mechanisch, dass selbst, wenn er es that, der Vorgang entbehrlich schien. Bei
2 Körnern unterliess er es schon selten, die Finger beider Hände zu Hilfe zu
nehmen. Besonders wenn ich die Körner in einigem Abstand hinlegte, so schob
er sie immer zusammen und fasste dann auch immer links Kleinfinger und Ring-
finger an, ehe er die Zahl aussprach. Legte ich 3 Körner hin und fragte nach
der Anzahl, so habe ich auch nicht ein einziges Mal weder von Paleko und
Tumayaua noch von Andern, mit denen ich weniger übte, Antwort bekommen,
ohne dass das Häufchen in 2 und 1 zerlegt worden wäre: das Körner-
paar wurde zuerst angefasst, häufig noch einmal prüfend gelockert, dann links
Finger V und IV angefasst und gesagt „aháge“; das einzelne Korn wurde ange-
fasst, Finger III links zu IV und V herangeschoben, „tokále“ gesagt und schliess-
lich verkündet: „aháge tokále“. Ebenso verliefen die Proben weiter bis 6. Immer
wurden Häufchen von 2 Körnern gebildet, immer wurden sie angefasst und
dann erst die Finger eingestellt.
Die rechte Hand tastete, die linke Hand rechnete. Ohne die Finger der
rechten Hand zu gebrauchen, nur nach einer Betrachtung der Körner an
den Fingern der linken Hand zu zählen, war schon bei 3 Stück ganz un-
möglich. Das Zweierhäufchen musste mit der Hand zurechtgelegt werden. Ich
habe Tumayaua 3, 4, 5, 6 Körner vorgelegt, ihn die Häufchen bilden lassen,
aber die linke Hand festgehalten: nur selten zählte, oder besser wohl: riet er
bei 3 richtig, für die übrigen gab er beliebige Ansammlungen von „aháge“
zum Besten. Beide Hände waren also unentbehrlich, wenn 3 Dinge gezählt
werden sollten; zur Not mochte es noch ohne die linke gehen, aber niemals
ohne die rechte.
In den Sagen und Märchen der Bakaïrí kommen, um dessen hier zu ge-
denken, Zahlenangaben mit 2 öfters vor.
Auch die 3 erscheint; das Reh erhält 3 Mandiokazweige von dem Bagadú-
Fisch, die es anpflanzen soll. Kamuschini fällte 5 Bäume, vgl. Seite 373. Der
Erzähler hat 3 Sätze nötig, um uns diese Mitteilung zu machen. »Er fällte zwei
Pikíbäume. Er fällte wieder zwei ebenso. Er fällte einen.« Kamuschini bringt
die 5 Bäume in das Haus und stellt sie an einen Mörser. Wieder 3 Sätze, und
[409] zwar wird hier, mitten in der Aufzählung, das zweite Paar der Bäume nicht
durch das Zahlwort „aháge“, sondern durch das unbestimmte „zagóno“, der oder
die andern, ausgedrückt. Die drei Sätze lauten also: »Er stellte 2 an den Mörser.
Er stellte ebenso die andern an den Mörser. Der einzelne kam an den Mörser.«
Freilich brauchte die Sache in diesem Fall nicht ganz so schlimm zu sein, wie
sie aussieht. Kamuschini fällte Bäume verschiedener Art, wie mir Antonio neben-
her berichtete. So mögen dem Erzähler in jedem jener drei Sätze auch die
verschiedenen Bäume vorgeschwebt haben. Doch würde er bei 5 gleichartigen
Bäumen nicht anders verfahren sein, wie ich bei den 5 Sternen des Perseus, vgl.
Seite 361, sah.
Es steht natürlich nichts im Wege, dass sie selbst von 5 Dingen genau be-
richten, da sie Zahlwörter bis »6« haben.
Eine der stereotypen Unterhaltungen betraf die Anzahl der Kinder. Auch
die vom zweiten Dorf eintreffenden, mit meinen Versuchen noch nicht gequälten
Bakaïrí vertrauten mir in der ersten Viertelstunde an, dass sie 1, 2 oder gar
3 Kinder hätten und bedienten sich dabei ausnahmslos der Finger. Dass Jemand
„aháge aháge“ Sprösslinge sein eigen nenne, schien bei den Bakaïrí unerhört.
Man kam also mit den Zahlwörtern und den Fingern sehr gut aus.
Ueberhaupt bedurften sie keine höheren Zahlen als sie besassen. In ihren
kleinen Verhältnissen, die durch keine schweren Besitzfragen bedrängt wurden,
spielte eine Stückzahl über sechs hinaus keine Rolle. Aus eigenem Antrieb
nannten sie mir Zahlen für die eben erwähnte Kinderstatistik und die Tagereisen
am Fluss, die von Stamm zu Stamm stets unter jener Grenze blieben. Ihr
mangelhaftes Rechnen bedeutet Mangel an Intelligenz nur insofern, als er freilich
einen beschränkten ökonomischen Horizont verbürgt, hat aber mit geringer Be-
gabung unmittelbar gar nichts zu schaffen. Es bedeutet Mangel an Uebung.
Sie haben keinen Viehstand, dessen Stückzahl zu überwachen wäre, sie haben
keinen Handel mit Waaren, die gezählt oder auf eine Werteinheit bezogen werden
müssten, sie haben sich nur hier und da über Personenzahl, über die Zahl der
Tiere, denen sie begegnet sind, die sie erlegt haben, die sie unter sich verteilen,
über die Bäume, die sie fällen, und was es von ähnlicher Arbeit im Haushalt und
alltäglichen Leben giebt, zu verständigen, wobei ihre Zahlwörter ausreichen oder
mit andern Ausdrucksmitteln in Wort und Geberde eine unbestimmte Vielheit
angegeben werden kann. Das Prinzip des Zählens, die Abstraktion der Zahl be-
sitzen sie, hat schon in uralten Zeiten das karaibische Grundvolk besessen, und
von da aufwärts ist die Weiterentwicklung nur vom Interesse abhängig. Ihr ge-
ringes Bedürfnis, sich mit der Zahl der Dinge abzugeben, wird meines Erachtens
noch mehr als durch den Mangel der Zahlwörter durch den Mangel des Plurals
gekennzeichnet. Baum, Bäume und Holz ist alles „se“, Haus, Häuser und Dorf
immer nur „éti“.
Wir, die wir in Zahlen leben und weben, weil sie das Gerüst all unseres
Wissens darstellen, besitzen eine Menge angelernter Kenntnisse, in denen alle ge-
[410] wöhnlichen, »gesetzmässig« wiederkehrenden Zahlenverhältnisse einbegriffen sind,
und bedürfen in sehr vielen Einzelfällen nicht der selbständigen Beobachtung.
Schwerlich haben wir unsere Zehen jemals gezählt, aber es ist richtig, es sind
ihrer 10. Eine Weste können wir ein Jahr lang tragen, täglich an- und ausziehen
und haben keine Ahnung, wieviel Knöpfe daran sind. Nun klebt der Naturmensch
an jeder Einzelerscheinung und weiss nichts von Gesetzen. Wenn man ihn fragt,
wie viele Finger er hat, so thut er uns gern den Gefallen, sie zu zählen. Er
nimmt die Frage genau so wie ein Europäer die nach den Westenknöpfen.
Wie die Zählkunst der Bakaïrí, die ausserordentlich ähnlich der australischer
Stämme ist, sich regelmässig hätte weiter entwickeln können, sehen wir an einem
häufig zitierten Beispiel bei ihren nahen, wenn auch räumlich sehr entfernten Ver-
wandten, den Tamanako des Orinoko. Diese haben den bekannten Fortschritt
vollzogen und ein Zahlwort für »5« von der Hand entnommen: »ganze Hand;«
»10« sind »beide Hände«, »15« ein »ganzer Fuss« und »20« »ein Mann«. In der
»4« der Tamanako ist die »2«, dasselbe Wort wie bei den Bakaïrí, noch ent-
halten, aber sie haben ihm eine den Sinn bestimmende Endung gegeben und sagen
nicht mehr »zwei-zwei«. Wir erkennen genau das Fingergeberden-System der
Bakaïrí wieder, das sich aber bereits die zugehörigen Zahlwörter geschaffen hat.
Ich habe mir, während Paleko Körbe flocht oder wenn ich mich Nachts oft
lange schlaflos in der Hängematte schaukelte, viel über die Art ihres Zählens
den Kopf zerbrochen. Sollte man auch hier, wo die Verhältnisse so einfach liegen
wie möglich, dem merkwürdigen Geheimnis nicht auf die Spur kommen, wie die
Abstraktion der Zahl im menschlichen Geiste entstanden ist?
Ueberall hat man bei den Naturvölkern bemerkt, dass sie in erster Linie
mit den Fingern zählen, und damit weiter kommen als mit den Zahlwörtern.
Man hat aus dieser allgemeinen Erfahrung den Schluss gezogen, dass die Zahl-
geberden älter sind als die Zahlwörter und dass diese erst aus jenen hervor-
gegangen sind. Nur darf man, wenn von Fingergeberden die Rede ist, nicht
meinen, dass es sich blos um Geberden handle, mit denen dem Frager die Zahl
mitgeteilt werden soll, als wenn sie zunächst den Zweck hätten, für ihn eine
lebhaftere Verdeutlichung zu bewirken; wie etwa der Italiener, sobald er »3«
sagt, auch 3 Finger vorstreckt. Der Eingeborene rechnet mit seinen Fingern,
wie man die Kugeln an den Drähten einer Rechenmaschine anfasst. Es ist wahr,
beim Zählen von einem oder zwei Dingen berührt er die Finger der linken
Hand oft so flüchtig, dass die Bewegung den Charakter einer rein mitteilenden
Geberde annimmt. Hat man aber der sorgfältigen und peinlichen Arbeit zu-
geschaut, die das Zählen von 3 Maiskörnern darstellt, wie der Bakaïrí erst die
Körner und dann die Finger links betastet, so wird man nicht zweifeln, dass die
linke Hand seine Rechenmaschine ist. Und so tastet er auch jenseit der »6« die
Finger und Zehen wie die Kugeln einer Rechenmaschine ab, und es liegt ihm
fern, nur mitteilend darauf zu deuten oder gar, soweit das mechanisch möglich
wäre, sie frei mit mimischer Veranschaulichung vorzustrecken.
[411]
Aber damit, dass man die Zählkunst bis auf die niedrigste Stufe zurück-
führen kann, wo man noch die »2« oder »3« an den Fingern mühsam abtasten
muss, ist für das eigentliche Verständnis des Zählens nicht das Geringste ge-
wonnen. Bei der »2« fängt das Rätsel erst an, denn wie in aller Welt sind die
Menschen überall dazu gekommen, zu denken: 1 + 1 = 2, also zwei einzelne gleich-
artige Gegenstände in einer neuen Einheit zusammenzufassen? Die Natur zeigt
nur Dinge in endloser Wiederholung; es ist leicht verständlich, dass man auf ein
Ding nach dem andern hindeutete, dabei einen Finger und irgend ein demon-
stratives Wort gebrauchte, es hat auch keine Schwierigkeiten bei der Rolle, die
der Geberdensprache zukam, sich vorzustellen, wie man gedachte Dinge Stück
für Stück sich selbst an den Fingern veranschaulichte und jedesmal auf einen
Finger als den sinnlich wahrnehmbaren Stellvertreter hinwies. So kann man aller-
dings wissen und ausdrücken, dass alle Dinge da sind, oder dass welche fehlen,
und in diesem Sinn auch bereits zählen, aber man gelangt nur zu einer Auf-
zählung gegenwärtiger und abwesender Objekte mit demonstrierenden Geberden
und demonstrativen Wörtern, jedoch noch nicht zu dem zwei einzelne Dinge zu-
sammenfassenden Einheitsbegriff der »2«.
Man hat gesagt, die »2« sei aus dem Wechselverkehr der ersten und zweiten
Person entstanden = »ich + du«. Den beiden gegenüber seien alle übrigen Per-
sonen »Viele« gewesen = »3«. Mir ist diese Erklärung völlig unverständlich. Ich
begreife, dass »ich + du« »wir«, oder dass »mein und dein« »unser« wird, aber
»2«? Was hat das Verhältnis von »ich und du« auch nur vergleichsweise mit
2 Pfeilen, die ich in der Hand habe, mit 2 Frauen, denen ich begegne, zu thun?
Ich kann mir nicht einmal denken, dass man, um »ich und du« mit einer Geberde
auszudrücken, auf 2 Finger hinwies — falls man nicht das Zählen erfinden wollte
— sondern glaube, dass man auf sich und den Andern zeigte.
Man hat gehofft, durch die Etymologie der Zahlwörter vorwärts zu kommen,
und sich durch das verbreitete »5« = »Hand« leiten lassen. Wenn der ursprüng-
liche Sinn der Zahlwörter für »1« und »2« dunkel sei, so habe man doch Grund
anzunehmen, dass er sich auf ein ähnliches Vorbild des Körpers bezogen habe.
Falls man auf diese Art nur Zahlwörter erklären wollte, die gewiss aus einer
Vergleichung hervorgegangen sein könnten, wäre gegen die Möglichkeit nichts
einzuwenden. Dagegen wird über den Ursprung einer »2« bedeutenden Finger-
geberde durch den Vergleich mit der »Hand« = »5« gar kein Licht verbreitet.
Bedenken wir, »5« = »Hand« ist ein sehr später Gewinn. Es giebt eine ganze
Reihe zählender Naturvölker, die ihn noch nicht erreicht haben. Die Bakaïrí,
die nachweisbar seit vielen Jahrhunderten rechnen müssen, besitzen das Wort
heute noch nicht, das die Tamanako also erst nach der Trennung von dem
karaibischen Grundvolk erworben haben. Wenn wir hieraus lernen, dass eine
lange Zeit fertigen Zählens ohne »5« = »Hand« bestehen kann, so wundern wir
uns nicht, dass diese Bedeutung eines Tages aufkam, aber wir dürfen daraus auch
nichts mehr folgern, als dass man eben an den Fingern gerechnet hat. Die Hand
[412] war zunächst kein Vorbild, sie war eine bestimmte Grenze der praktischen
Zählerfahrung. Eine natürliche Abgrenzung aber, wie sie an der Hand für die »5«
in der That gegeben ist, ist hier für die »2« leider nicht gegeben. Bis zur
5 hinauf lieferte die Hand nur einzelne Finger, deren jeder einen gegenwärtigen
oder gedachten Gegenstand mit einer Geberde veranschaulichen konnte, lieferte
aber nicht das Vorbild einer Einheit aus zwei Fingern, das sich etwa beim Tasten
von selbst dargeboten hätte.
Sollten denn nicht das einfachste »Vorbild« einer natürlichen Einheit für »2«
die paarigen Organe gewesen sein? Gewiss, sobald man zählen konnte, und dann
ohne Mühe. Schon ehe er zählte, muss sich dem Menschen die Beobachtung
aufgedrängt haben, dass Auge und Auge, Flügel und Flügel gleiches Aussehen
hatten, aber diese Beobachtung erzeugt doch nicht die Geberde, dass er hinter
»augen« Fingern eine Grenze absteckte und die Abstraktion auf beliebige Dinge
machte. Er verglich nur Auge mit Auge, Flügel mit Flügel und hatte keine
Veranlassung, auch nur die beiden Augen mit den beiden Flügeln oder Armen
zu vergleichen, geschweige in der längeren Reihe von Fingern, Pfeilen, Fischen,
die ihm begegneten, bei passenden Gelegenheiten eine vergleichende Bestimmung
nach »Augen« oder »Flügeln« zu machen, es sei denn, er erklärte: »jetzt will ich
zählen«. Es ist auch immer zu betonen, dass der Eingeborene den Finger be-
tastet, wenn er zählt. Dass er ursprünglich ein Augen- oder Flügelpaar befühlend
und die Empfindung auf die Finger übertragend die erste »2« konzipiert habe,
wird selbst von dem wildesten Symboljäger nicht phantasiert werden.
Ebenso wenig hätte er die »1« als erste Zahlvorstellung von »Nase« oder
»Mund« zu abstrahieren vermocht, während er sie danach benennen konnte, wenn
er die Abstraktion schon besass. Ob er aber auch den Finger an die Nase oder
die Nase an den Finger legte, es hätte ihn, wie bereits erörtert, in der Zählkunst
nicht gefördert, denn mit solchen 1, 1, 1, 1, die ohne die »2« nicht besser ge-
wesen wären als das Demonstrativum „méra“ der Bakaïrí, wäre er niemals auf
die erste Summe gekommen. Seine »1« können immer nur ein unbestimmtes
»Viel« zusammengesetzt haben.
Ist es nun nicht zu verstehen, wie der zahlenlose Mensch aus 1 + 1: die »2«
gemacht hat, so wäre die Lösung des Problems vielleicht die, dass er sie aus einem
Einzigen gemacht hat?
Der Bakaïrí zählt sowohl in der Finger- wie in der Wortsprache nach fol-
gendem Schema:
|, ||, || |, || ||, || || |, || || || und zwar: | tokále, || aháge.
Obgleich er ein besonderes Wort für »3« besitzt, wendet er es doch nur in
beschränktem Umfang an. Die »2« kann ihr ursprüngliches Uebergewicht nicht
verleugnen und hat nicht einmal die Bildung von einem „ahewáo ahewáo“ = »6«
geduldet. Die Gegenstände, die gezählt werden, werden in Paare eingeteilt. Bei
der »3« und der »5« bildet er nicht | || „tokále aháge“ und | || || „tokále aháge
aháge“, sondern || | „aháge tokále und || || | „aháge aháge tokále“, Es sieht
[413] also fast so aus, als wenn die »2« nicht nur vor der »3«, sondern auch vor der
»1« dagewesen wäre!
Durch diesen Einfall kam ich auf den Weg, den ich für den richtigen halte.
Dieser Weg muss ein überall wiederkehrender, gesetzlich und entsetzlich einfacher
Vorgang sein und muss für sich selbst sprechen, was auch die Etymologie sage,
er muss derart beschaffen sein, dass wir ihn vorauszusetzen haben, wo wir die
Zahlwörter gar nicht kennen.
Wenn die Einheit »2« nun von dem Menschen gewonnen wurde, indem er
ein Ganzes in zwei Stücke teilte? Wenn er, statt mit der »Stückzahl« von
»2« mit der Zahl von 2 Stücken begonnen hätte? Adam und Eva, nehme ich
an, zählten schon im Paradiese bis »2«, denn es war ein lustiger Baum, der klug
machte. Allein sie sonderten nicht aus der Zahl der gepflückten Aepfel »2« ab,
indem sie einander in die Augen blickten und dann auf die Aepfel schauten und
endlich 2 Finger anfassten, oder indem sie »mein und dein« Apfel sagten, sondern
Eva wollte als liebenswürdige Frau Adam von demselben Apfel essen lassen,
den sie ass, und da machte sie sofort die merkwürdige Beobachtung, dass sie,
so viele Aepfel sie auch in dieser Art anbot, jedes und jedes Mal, wenn sie einen
Apfel zerbrach oder zerschnitt, ihn mit dem ersten Schnitt in — gleiche oder
ungleiche — aber immer in »2« Stücke teilte. Und wenn sie eins der Stücke
zerschnitt, so teilte sie es mit diesem Schnitt wieder in 2 Stücke, kurz sie machte
es wie die Bakaïrí: aus | wurde ||, sie zerschnitt das eine | und erhielt || |, zer-
schnitt das andere | und erhielt || ||, zerschnitt wieder ein | und erhielt || || |,
zerschnitt noch einmal und hatte jetzt || || ||.
Wenn sich nun Eva, die in ihren Reden etwas weitschweifig war, die alle
Einzelheiten der Reihe nach gründlich erörterte und sich mit lebhaften Geberden
veranschaulichte, den Vorgang noch einmal vor die Seele rief, so sagte sie: »ich
habe einen Apfel zerschnitten, da hatte ich dies Stück« und dabei tippte sie
sich auf den ersten Finger der linken Hand — »ich hatte dies Stück« und
dabei tippte sie sich auf den Ringfinger daneben; »die Stücke waren sehr gross,
ich schnitt wieder, da hatte ich dies Stück« und dabei tippte sie sich auf den
Mittelfinger der linken Hand — »und ich hatte dabei dies Stück« und dabei
tippte sie sich auf den Zeigefinger daneben. Stets war bei solcher Veran-
schaulichung einer jeden und jeden Zerteilung die erste Grenze hinter dem
Ringfinger. So konnte sie auf keine Weise verhindern, dass sie die Einheit »2«
immer wieder in der Hand hatte, denn jedesmal, wenn sie 2 Stücke herstellte,
sah sie die beiden zusammen, ehe sie sie verteilte, und bei jeder Veranschau-
lichung eines jeden solchen Vorgangs durch Fingergeberden, entsprach diesem
»zusammen« dieselbe Grenze. Sie hatte die konkreten zwei Stücke durch die
Teilung und die »2« des zukünftigen bewussten Rechnens durch die Erinnerung,
unterstützt durch die Geberde, gewinnen müssen. Sie las an den Fingern die
Paare ab, die sie gebildet hatte, ob nun ein Paar oder anderthalb Paar oder
zwei Paare.
[414]
Kehren wir aus dem Paradies in die Gegenwart zurück, so können wir den
Gedankengang folgendermassen resümieren:
Wenn an den Fingern keine natürliche Grenze für die »2« vorhanden ist,
und der eine Stamm vom Kleinfinger, ein anderer vom Daumen ab, der der
Coroados nach Martius sogar an den Fingergelenken rechnet, so ist das Zählen
der »2« nicht, wie es mit der »5« denkbar wäre, an einem Vorbild in der
Anlage der Hand selbst erlernt. Dann ist aber wohl festzuhalten, dass der
Bakaïrí links nur berechnet, was er rechts betastet. Er kann die Anzahl
der Körner mit dem Blick allein nicht auf die linken Finger übertragen,
sondern muss sie sich erst zurechtlegen. Sein Zählen zerfällt in zwei Prozesse:
den der Einteilung der Objekte in 2 Stück und den der Veranschaulichung an den
Fingern von Paaren und Einzelstücken. Aber er teilt oder zählt doch schon mit der
rechten Hand bis zu 2 und holt sich nur an der linken Hand, wenn ich so sagen
darf, die Abstraktion. Jene wichtige Vorstufe, die bisher, wie ich glaube,
unbeachtet geblieben ist, geht aus einer Tastwahrnehmung hervor. Not-
wendig ist alsdann den Dingen, die er anfasste und irgendwie mit den
Händen bearbeitete, die erste Einheit der »2« zu verdanken: diese Dinge
müssen ein Gesetz enthalten, das bei ihrer Bearbeitung die konkrete »2« lieferte
und das bei der gewohnten Veranschaulichung an den Fingern die Abstraktion
der »2« mit Sicherheit herbeiführte, weil sich bei allen Dingen die gleiche
Beobachtung wiederholte.
Man kann ein Objekt in viele Trümmer schlagen, indessen Alles, was man
auf regelmässige Art zerbricht oder zerschneidet, zerbricht oder zerschneidet man
zuerst in 2 Stücke. Ich kann 1, 2, 3, 4 Stöcke in die Hand nehmen und Nichts
lehrt mich, die einzelnen unter Zahleinheiten zusammenzufassen, ich nehme aber
einen Stock und zerbreche ihn — man wird zugeben, so lange die Menschheit
lebt, und wo sie auf der Erde Stöcke zerbrach, hat sie jeden Stock jedesmal
zuerst in »2« Stücke zerbrochen. Zerbricht man weiter das erste Stück in 2
und das zweite Stück in 2, so erhält man die Zahlenfolge mit dem Zweiersystem
der Bakaïrí oder der Australier. Bei der Vergegenwärtigung des regelmässig
sich auf dieselbe Art abspielenden Vorganges durch die bei aller Veranschaulichung
von primitiven Völkern geübten Fingergeberden zeigte der Urbakaïrí immer zuerst
auf Kleinfinger und Ringfinger und dann bei Fortsetzung auf Mittelfinger und
Ringfinger, der Coroado immer zuerst auf die beiden oberen Fingergelenke eines
Fingers: hier wurde, ganz einerlei wo an den Fingern, eine erste Grenze,
aber eine bei demselben Volk konstant bleibende Grenze, eine Erfahrungs-
grenze abgesteckt. Das war die Fingergeberde »2« und das Wort »zu-
sammen« »fertig« »vieles« — da giebt es x konventionelle Möglichkeiten — das
den ersten Vorgang abschloss, wurde das Zahlwort »2«, und an den ersten
Vorgang reihte sich ein zweiter gleicher für 3 und 4.
Die Vorstellung der »2« hat sich zuerst an Stücken gebildet [und] geübt.
Sie mag bald auf sonst gleichartige Dinge, die der Mensch in den Händen hatte
[415] und die sich untereinander glichen wie sich zwei Stücke gleichen, ausgedehnt
worden sein; die Zwei-Einheit sah und fasste sich bei zwei Ganzen ebenso an wie
bei 2 Stücken. 2: (1 + 1) = 1: (½ + ½). Sie musste sich mit diesem Fort-
schritt auch von dem Vorgang des Zerschneidens und Zerbrechens lösen und auf
andere Vorgänge, wie des Gebens und Nehmens und Verteilens, die sich mit
den Händen und auf dieselbe Art mit Stücken oder Ganzen abspielten, übergehen.
Die Thätigkeit des Zerlegens war immer dieselbe, die Dinge
wechselten beliebig, so kam man dazu, von ihrer Natur abzusehen
und hatte die Abstraktion der Zahl »2«. Aber nur durch die Thätigkeit
war sie gewonnen, nicht durch die blosse Erscheinung der Dinge, wie sie etwa
die paarigen Organe des Körpers darboten. Die erste feste Grundlage war nun
in der Erfahrung begründet, dass man ein Ganzes ohne Rechnen in zwei
Hälften zerlegen konnte: wenn man ein einzelnes Stück zerbrach, brauchte man
nicht mehr zu tasten und zu markieren, man wusste, dass es »2« gebe. Um die
Hälften eines Ganzen handelte es sich aber in erster Linie bei den paarigen
Organen. Man hatte sie nach aller Erfahrung als ein zusammengehöriges
Ganzes aufgefasst, es gab keine ein- oder dreiäugigen, keine ein- oder dreibeinigen
Menschen und man hatte in der Anschauung, wenn man es auch nicht begrifflich
präzisierte, immer gewusst, dass man nicht mehr, nicht weniger hatte.
Die klare anfängliche Grenze, die wir bei dem Bakaïrí noch heute bestimmt
erkennen, ist die Zerlegung des Ganzen in seine Hälften. Denn sobald es zur 3
kommt, muss er nicht nur die Rechenmaschine, sondern auch den Tastsinn
zu Hülfe nehmen. Er weiss noch heute ohne Ueberlegung nicht einmal, dass
er fünf Finger hat, obwohl er sie zählen kann; nur bis zur »2« ist die Kenntnis
sicher, wie auch durch die Zeichnungen, die ich die Leute machen liess, bewiesen
wird. Bei beliebigen gleichartigen Objekten steht er noch heute einer unbe-
stimmten Vielheit gegenüber und deshalb wiederholt er, wenn ich ihm 2 Mais-
körner, die nicht 2 Hälften eines Ganzen sind, zum Zählen vorlege, den
alten Vorgang und lässt die Finger sie anfassen; hier ist der Bakaïrí freilich
schon im Stande, ohne Finger zu zählen, thut es aber selten genug. Bei 3 Mais-
körnern kann er mit dem besten Willen nicht sagen, dass es 3 sind, wenn er sie
nur betrachtet und nicht auch befühlt und aus 2 + 1 an der Linken addiert.
Nur die Tastwahrnehmung hat im Anfang die einzelnen Gegenstände ab-
gegrenzt, die gezählt wurden. Um das Ermüden der Bakaïrí zu verstehen, müssen
wir uns vorstellen, dass wir im Dunkeln zählten und nur die Zahlwörter
1 und 2 hätten. Wir sind so daran gewöhnt, mit den Augen zu zählen, dass wir
kaum begreifen können, es sei dies erst eine durch die lange Uebung erworbene
Fertigkeit, die nur im Besitz der höheren Zahlwörter und durch deren lautes
oder leises, das Fingerabgreifen ersetzendes Aussprechen erreichbar war. Dennoch
brauchen wir nur statt der Augen die Ohren zu nehmen und wir merken bald,
wie alles nur von der Uebung abhängt und wie wir in einem gleichwertigen
Sinnesgebiet ungefähr ebenso schlecht registrieren oder zählen als der Bakaïrí
[416] die Maiskorner. Wer zählt nicht laut oder leise mit, wenn er die Schläge einer
Uhr, von denen er natürlich nicht vorauswissen soll, wie viele es sind, zählen
will? Und nun denke man sich einen Augenblick, man habe keine Reihe von
Zahlwörtern zur Verfügung, in der jedes einzelne uns der Mühe überhebt, die
vorhergehenden zu behalten, sondern habe nur die Wörter für 1 und 2; wird
man nicht sofort die Finger zu Hilfe nehmen, um sie bei 6 oder 8 Schlägen
um die Summe genau so zu befragen, wie der Bakaïrí in seinem Fall? Dass Schlag
auf Schlag verklingt, ändert nichts Wesentliches an dem Vergleich: auch den
Blick muss ich von Objekt zu Objekt hinüberbewegen. Stellen wir uns umgekehrt
Jemanden vor, der eine grosse Uebung darin besässe, Gehörseindrücke zu regi-
strieren; wird er begreifen können, dass Unsereins sagen kann, er habe die Uhr
schlagen hören, wisse aber nicht wie oft? Wie mitleidig würde er über unser
lautes Mitzählen lächeln! Und auch er würde die Finger zu Hilfe nehmen müssen,
wenn er in seinen Zahlwörtern keine höheren Einheiten als 2 und 3 hätte.
Wie wir nicht geübt sind mit dem Gehör, ist der Bakaïrí nicht gewöhnt,
mit den Blicken zu zählen. Er ist noch fast ganz auf das Ergebnis der Tast-
wahrnehmung beschränkt. Die Grundlage, auf der sich, durch Interesse und Be-
dürfniss angeregt, die Weiterentwicklung und die Bildung höherer Einheiten hätte
vollziehen müssen, war schon seit zahlreichen Generationen vorhanden, allein wie
gering waren Interesse und Bedürfnis im primitiven Familienleben! Schon zum Ver-
teilen, das doch — denken wir unwillkürlich — zuerst herausforderte, »Rechenschaft«
abzulegen, bedurfte man kaum je des Zählens: man gab ja und bekam ja und
das Stück in der Hand bewies mehr als die Finger an der Hand.
Wenden wir uns jetzt noch einmal zu den Zahlwörtern der Bakaïrí und sehen
nach, wie deren Etymologie, soweit sie einige Sicherheit bietet, mit der aus den
Versuchen erschlossenen Entwicklung übereinstimmt. Die Vergleichung ist deshalb
nicht ohne Wert, weil beiderlei Studien ganz unabhängig voneinander gemacht
worden sind, und die Erklärung der Zahlwörter nur auf phonetische Begründung
und Sprachvergleichung gestützt ist.
Mit „ahewáo“ »3« weiss ich nichts anzufangen. Es kommt bei einer Reihe
von Stämmen des Nordens vor, teilweise in stark veränderten Formen, die aber
doch wohl zu vermitteln sind. Mit der grossen Unsicherheit, die die Bakaïrí noch
im 3 - zählen bekunden, mag der seltsame Luxus von zwei Zahlenausdrücken zu-
sammenhängen; die [Bestimmung] der Paare ist noch Hauptsache, und nur, was
über das Bestimmen des ersten Paars, den gewöhnlichsten Fall, hinausgeht, hat ein
besonderes Wort. Bei dem schwierigen Zählen von Gegenständen, das über »3«
hinausging, habe ich wohl nur „aháge tokále“ gehört, sodass die beiden Ausdrücke
etwa wie »zwölf« und »Dutzend« gebraucht werden und dem „ahewáo“ vielleicht
noch etwas Unbestimmtes von seiner Urbedeutung innewohnt. Daher es denn
auch zu keiner Zusammensetzung höherer Zahlen verwendet wird. Im Kama-
yurá heisst »3« moapüt, ein genau zu bestimmendes Wort. Es setzt sich zu-
sammen aus dem Kausativum mo-, mbo- und apüt, apy Gipfel, Spitze. Der höchste
[417] oder der Gipfel-Finger ist der Mittel-Finger, der die »3« markiert, also schon
eine natürliche Grenze wie 5 = Hand. Im nahverwandten Auetö́ heisst 1 und 3
ganz anders als im Kamayurá-Tupí, während 2 übereinstimmt. Das ist sehr
ähnlich dem Verhältnis bei den verschiedenen Karaibenstämmen.
Glücklicherweise ist der Sinn des wichtigsten Zahlwortes „aháge“ sicher. Es
hat auch den grössten sprachvergleichenden Wert, denn es findet sich, meist wenig
differenziert, bei allen gutkaraibischen Volksschaften wieder und ist geradezu ein
Leitwort. Phonetisch geht es zurück auf „atáke“. Man muss es zerlegen in erstens
das demonstrative a-, das auch das Pronominalpraefix der zweiten Person bildet
und sich auf das ausserhalb des eigenen Körpers Nächstliegende bezieht und
zweitens die Postposition „-take“, „-sake“, „-hage“, »mit, samt« = »da-bei«, »da-
mit«, »zusammen«. Es steckt also nichts von Hand oder Fingern darin und
nichts von Augen, Flügeln und Armen.
»Viel« heisst „aági“, auch schon „ági“ und ist, da ich einmal auch „ahági“
aufgeschrieben habe und zwischen den beiden a jedenfalls ein Konsonant gestanden
haben muss, sehr wahrscheinlich mit dem „aháge“ »2« von Haus aus identisch
— eine Identität, die sich dem Sprachgefühl des modernen Bakaïrí längst ent-
zogen hat. Somit hätten sich die Bedeutungen »2« und »viel« von dem ältesten
heute noch nachweisbaren Wortsinn »dabei«, etwa unserm »miteinander« oder
»zusammen« abgespaltet und das Wort für die bestimmte Zahl und das für die
unbestimmte Menge wären nur lautliche Differenzierungen derselben Stammform.*)
Wir sehen, dass die Geschichte des Bakaïrí-Zahlwortes für 2 mit der vor-
ausgesetzten Entstehung überhaupt der Zahlanschauung in vollem Einklang steht.
Wir würden hier nur noch hinzulernen, dass die Beobachtung, wie ein regelrecht
zerbrochenes Ding in »2« Stücke zerfällt, längere Zeit nicht abgesondert wurde
von der, dass man bei unregelmässigem Zerbrechen beliebig viele Stücke »mit-
einander« in der Hand hatte. Nun fällt aber umgekehrt von unserer psychologischen
Entwicklung ein seltsamer Lichtschein auf die Etymologie. Der Ursprung der
Postposition „-sake“ „-hage“, die etwas wie »Gemeinsamkeit«, um es recht schön
abstrakt auszudrücken, bedeuten muss, bleibt aufzuklären. Da gibt es auch in
dem aufgezeichneten Material einen Verbalstamm, der gleichlautend ist, den aber
Niemand mit dem Begriff »Gemeinsamkeit« in Verbindung bringen würde:
Holz schlagen! Die Arbeit des Steinbeils, die den Stamm zerteilt. Das ist
mindestens interessant, und man möchte wohl glauben, dass sich bei einem
Karaiben die Bedeutungen: „Holz zerbrechen, Holzstücke oder Reisig, (Gemeinsam-
keit), zusammen, zwei“ auseinander entwickeln können, wennschon unser „zu-
sammen, samt, sammeln“, sowie Sanskrit sama, Zend hama, englisch same derselbe,
v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 27
[418] griechisch ἁμά zugleich, ὁμός derselbe, etc. eines Ursprungs sind. In diesem Fall
würde die Sprache das letzte fehlende Glied, sie würde den Beweis für die Ent-
stehung der ersten Zahlabstraktion »2« aus dem konkreten Vorbild des Zer-
brochenen liefern und damit die Reihe der Schlussfolgerungen aus meinen
Experimenten, die nur bis auf den Nachweis der Entstehung aus der Hände
Arbeit zurückreicht, zu einer lückenlosen induktiven Beweiskette ergänzen.
Im Tupí heisst »2« mokói, zusammengesetzt mit dem Kausativum mo-;
koi wird übersetzt »Paar«. Also »2« = »macht Paar«. Aber was ist koi? Da ist
es nun merkwürdig genug, dass kopi — dem Bakaïrí sake genau entsprechend —
Holz fällen heisst! Zwischen den beiden Vokalen in koi ist ein erweichter Kon-
sonant ausgefallen; nehmen wir an, es sei aus koui, kobi entstanden, was ein sehr
gewöhnlicher Vorgang wäre, so hätten wir denselben Ursprung der »2«, wie er
im Bakaïrí denkbar wäre.
Ich habe endlich noch des „tokále“ »1« zu gedenken. Es setzt sich zu-
sammen aus „toka“ und der Verstärkungspartikel „-le“. „tóka“ heisst »Bogen«.
Der Bogen ist, da jeder Mann nur einen Bogen hat, oder da auf jeden Bogen
viele Pfeile kommen, das einfachste Vorbild für die »1« unter allem Gerät. Die Ab-
leitung ist ein wenig bedenklich, weil sie etwas zu schön ist. Allerdings ist „toka“
phonetisch auch so beschaffen, dass es sich nach den im Bakaïrí herrschenden
Lautgesetzen nicht zu verändern braucht. In hohem Grade auffällig erscheint es,
wie wenige Entsprechungen für „tokále“ bei den Karaiben des Nordens vorhanden
sind; sie sind geringer an Zahl als die für „ahewáo“ und weit geringer als die
für „aháge“. Es ist wohl erlaubt, hier einen Zufall auszuschliessen und in diesem
Umstand auch seitens der Sprache ein Zeugnis dafür zu erblicken, dass man
das eigentliche, begriffliche Zählen mit der »2« begonnen hat.
II. Farbenwörter.
Vorhandene Farbstoffe. Uebereinstimmend die Zahl der Farbenwörter. Sonderbare Angaben durch
Etymologie verständlich. Farbstoffe älter als Bedürfnis nach Farbenwörtern. Verwendung bei Tier-
und Pflanzennamen. Grün niemals = blauschwarz.
Nicht minder als an den Zahlen ist an den Farbenwörtern zu erkennen, wie
die Entwicklung vom Interesse abhängt.
Es sind, wie zumeist bereits erwähnt, die folgenden Farbstoffe am Schingú
in Gebrauch.
Das Weiss ist kreidig weisse Thonerde, die in den Hütten in Form von
kindskopfgrossen Kugeln zum Vorrat aufbewahrt wird. Die Frauen reiben sich
beim Spinnen damit den rechten Oberschenkel ein, auf dem sie den Faden
drillen. Sie wird nur mit Wasser angerührt. Zum Bemalen des Körpers wird
sie niemals gebraucht; auch bei Geräten tritt sie sehr zurück und erscheint fast
nur auf den Masken, deren Bemalung nur wenige Tage vorzuhalten brauchte, auf
bemalten Rindenstücken u. dgl.
[419]
Holzkohle und Russ, die Beerenpulpa des Genipapo-Baums (Genipa) und
mehrere Harze liefern Schwarz. Zum Schwärzen der Innenseite der Kürbisschalen
wird Kohle von der Rinde des Buritíschaftes genommen.
Der gelbrote bis braunrote Lehm scheint durch den Urukú-Farbstoff ver-
drängt zu sein. Er wurde früher gegessen und wird noch zu schweren Kinder-
puppen geformt, auch noch auf die Ritzwunden eingerieben.
Holzkohle und Russ werden unmittelbar wie das Weiss eingerieben, oder
auch wie das Urukú mit Flüssigkeit angerührt. Entweder nimmt man Oel aus
der Pikifrucht (Caryocar butyrosum) oder den gelben, kautschukhaltigen Extrakt
von einem Baum des Campo cerrado, den die Bakaïrí Ochogohi nennen und
dessen Rinde geraspelt und mit Wasser ausgezogen wird. Die Farben werden
in einer Kürbisschale oder einem Topf, oder, wo ein hartes Harz mit der Beil-
klinge zerkleinert wird, am bequemsten in der napfförmigen Vertiefung eines
Schemels angerührt. Das Urukú findet sich immer in den Handwerkskörbchen
neben der Hängematte, als Paste in Blättern verpackt.
Die Farbstoffe, die den Eingeborenen zur Verfügung stehen, sind also Weiss,
Schwarz, Rot und Gelb. Das Genipapo-Schwarz ist blauschwarz, das Urukú-Rot
ein Ziegelrot bis Orange, das mit dem gelben Ochogohisaft gemischt von Rot
viel verliert. Blaue und grüne Farbstoffe sind nicht vorhanden.
Die Theorie, dass sich der Farbensinn bei der Menschheit allmählich ent-
wickelt habe, begründet durch die Thatsache, dass die Unterscheidung der Farben
in der Sprache bis zu den hohen Kulturstufen hinauf mangelhaft ist und dass
besonders blau und grün ausserordentlich häufig mit demselben Worte bezeichnet
werden, ist heute verlassen worden. Man hat bei allen Naturvölkern, die man
untersuchte, gefunden, dass sie die verschiedenen Farbeneindrücke mit dem Auge
vortrefflich sondern, dass sie z. B. aus einem Haufen zahlreicher Wollbündelchen
die gleichfarbigen Nuancen mit normaler Sicherheit auswählen, von Farbenblindheit
also keine Rede sein kann, dass aber in der sprachlichen Bezeichnung freilich mit
erstaunlicher Regelmässigkeit blau und grün zusammengeworfen wird. Die richtige
Lösung ist von Ernst Krause (Carus Sterne) angegeben worden. Der Mensch,
nach natürlicher Anlage jederzeit für den energischen Eindruck von Rot am meisten
empfänglich, hat gerade für diese Farbe auch mineralische und vegetabilische
Pigmente am reichlichsten vorgefunden. Der nächsthäufig fertig gebildete Farb-
stoff ausser Schwarz und Weiss ist gelb, während die grünen und blauen Farb-
stoffe erst späte Erzeugnisse der Färbetechnik sind. Entsprechend dem Gebrauch
hat man auch die Farbennamen entwickelt.
Auf ein Blatt meines Tagebuchs hatte mir Wilhelm farbige Flecke ein-
getragen von Ultramarin, Kobaltblau, Smaragdgrün, Saftgrün, Karmin, Rosakrapp,
Zinnober, Orange, Kadmiumgelb, gebrannter Siena, Sepia und Elfenbeinschwarz.
Der Versuch, die Farbennamen durch Vorlegen lebhaft gefärbter Dinge zu er-
halten, schlug gänzlich fehl. Man gab die gegenständlichen Namen oder diese
mit Farbennamen durcheinander, und Nichts stand im Wege, ein ergötzliches Ver-
27*
[420] zeichnis dieser Wörter anzulegen, deren keins eine Farbe bezeichnete. Ein Waurá
brachte mich schier zur Verzweiflung, und gerade er schien für blau und grün
verschiedene Wörter zu besitzen. Allein auch wenn dieser Irrtum — und zwar
geschah dies am besten durch Benutzung der bereits sicher gewonnenen Farben-
namen des Nachbarstammes — ausgeschlossen war, wenn die Leute sich wirklich
im richtigen Geleise bewegten, wurde die Aufnahme meist zur wahren Gedulds-
probe. Sie besannen sich, schwankten hin und wieder, waren sich zuweilen
uneinig: es war klar, dass ich sehr Ungewöhnliches verlangte. Nur die Auetö́,
die eifrigen Maler, zeigten sich anstellig. Dann aber lag auch eine Schwierigkeit
bei mir selbst, da ich mich nicht nur daran erst gewöhnen musste, für Smaragd-
grün und Ultramarin dasselbe Wort zu hören, sondern auch andere verblüffende
Auskunft bekam, die ich erst nach sprachlichen Studien verstehen konnte.
Allen gemeinsam war, dass sie je ein Wort hatten für 1) rot und orange,
2) gelb, 3) weiss, 4) schwarz. Das ist also genau im Einklang mit ihren
Farbstoffen. Die Auetö́ hatten dasselbe Wort, das »Weiss« der Tupí-Sprache,
für weiss und hellgelb. Die Trumaí waren die Einzigen, die für blau und grün
zwei Wörter besassen, die Uebrigen bezeichneten diese beiden Farben mit dem-
selben Worte. Doch ist bei den Bakaïrí tamagenéng blau = schwarz und dunkel-
braun, und grün heisst tukuéng; es ereignete sich, dass Einer tukuéng auch für
blau gebrauchte, aber nicht, dass tamagenéng für grün gebraucht wurde. Vereinzelt
kamen die sonderbarsten Dinge vor. Ein Trumaí und ein Nahuquá bezeichneten
blau mit demselben Wort wie Kadmiumgelb, ein Bakaïrí und ein Mehinakú grün
ebenso wie rot — wenn man wollte, entdeckte man die verschiedenen Arten der
Farbenblindheit bei den ersten besten, die man untersuchte.
Den Schlüssel für diese Erscheinungen kann nur die Sprachforschung geben.
Bei einer Anzahl der Farbenwörter vermag ich die ursprüngliche Bedeutung
anzugeben, und sie genügen, um derartige Möglichkeiten zu erklären. Ganz sicher
ist das Wort der Kamayurá »blau« oder »grün« i-tsovü-maé = »perikitofarben«
von tsovü, dem Namen der Conurusarten oder Perikitos. Diese Papageien haben
in ihrem Gefieder sowohl Grasgrün wie Indigoblau. Im Tupí lautet dasselbe
Farbenwort çúgui, çy, und der Perikito heisst tovi, tui, çivi, çiui. Dank der Ka-
mayuráform i-tsovü-mae ist der im Tupí bereits verwischte Ursprung von çugui
noch gerettet. Ob ich dem Indianer einen blauen oder einen grünen Klex, eine
blaue Perlschnur oder ein grünes Blatt zeigte, er traf mit seiner Antwort »perikito-
farben« ja das Richtige. Es kommt nur darauf an, welcher Teil der Färbung
ihm vorschwebte. Das Auetö́wort i-kör-etú »grün« oder »blau« entspricht viel-
leicht dem aus keru erweichten jeru »Papagei« des Tupí, so dass wir hier ein
»papageifarben« hätten.
Das tukuéng »grün« der Bakaïrí geht ebenfalls auf den Perikito zugú-ri*)
zurück. Da es nun eine von den Eingeborenen in den Häusern gehaltene Peri-
[421] kitenart giebt, die einen schönen roten Fleck neben dem Schnabel hat, so nehme
ich an, dass eine Bakaïrí-Frau sich dieses Tierchens erinnerte, als sie mir zu
meinem Erstaunen hintereinander smaragdgrün, zinnober und ultramarin
als tukuéng bezeichnete! Dann stimmte Alles, ich selbst aber hatte damals keine
Ahnung von dem Zusammenhang und brachte das Ergebnis kopfschüttelnd mit
grossen Ausrufungszeichen zu Papier. Ein wahres Glück, dass die Leute nicht
von dem roten Arara des unteren Schingú einen Farbennamen abgeleitet haben,
sie würden eine Palette mit ungefähr sämtlichen schreienden Farben dem ver-
dutzten Europäer mit einem Wort haben erklären können. Möglich wenigstens
ist es ferner, dass das Wort für rot der Bakaïrí und Nordkaraiben »fruchtfarben«
bedeutet; in diesem Falle könnte schon einmal Jemand, der keineswegs rotblind
ist, das Wort ausnahmsweise auch für grün (smaragdgrün und saftgrün) gebrauchen,
während die Andern es allgemein für Orange, Zinnober und Karmin anwandten.
Wohl zu vertheidigen ist die Ableitung des Tupíwortes ti, ting, tinga für »weiss«
von ty Urin, Saft, Brühe; alsdann könnte es gewiss nicht Wunder nehmen, wenn
die Auetö́ damit weiss und hellgelb bezeichnen.
Das Wort für weiss der Bakaïrí ist »salz«farben, das für schwarz »russ«-
farben. Letzteres dient, wie erwähnt, auch für blau und dunkelbraun, und, während
grün = perikitofarben auch »blau« sein konnte, konnte blau = russfarben nicht
»grün« sein.
Somit ergiebt sich, einige der Farbennamen können mehrdeutig sein. Es
ist klar, dass, wo dies der Fall ist, der Gebrauch sich allmählich für eine Qualität
entscheiden wird; worauf es ankommt, ist eben nur der Gebrauch, der das Be-
dürfnis der Unterscheidung entwickelt. Das Bedürfnis, Farben zu unterscheiden,
macht sich am nächsten geltend für die Farbstoffe selbst. Es scheint keineswegs
gewöhnlich zu sein, dass der Farbnamen vom Farbstoff abgeleitet wird, da ich
dies nur im Bakaïrí für schwarzblau = russfarben zu finden vermag; so ist auch bei
den Tupí una schwarz = »verbrannt«, und die den Tieren häufig zugewiesene Form
pischuna bedeutet »verbrannte Haut«. Auch dieses Wort wird für »blau« ge-
braucht; der prachtvoll blaue Arara ist als »Psittacus ararauna« = arara una in
die Zoologie übergegangen. Nirgendwo ist das Urukúwort in dem Farbenwort
rot, das Wort für den weissen Thon in dem Farbenwort weiss enthalten. Ich
glaube, die Farbstoffe sind weit älter als das Bedürfnis, sie nach ihren
Farben zu unterscheiden. Dies wird für die Bakaïrí durch zwei Punkte wahr-
scheinlich: die Farbenadjektiva gehören einmal mit einziger Ausnahme des »rot,
orange« nicht zum Inventar der karaibischen Grundsprache, dann zeigt ihre Zu-
sammensetzung nach dem Schema t-Stamm-éng das Gepräge neuerer Bildung.
Ich darf ein solches Verhalten wohl auch zu Gunsten der früheren Aus-
führung über den Ursprung des persönlichen Farbenschmucks verwerten (vgl.
Seite 184 ff.). So uralt und eingeboren gewisslich die Freude an den Farben sein
mag, so spricht doch der Umstand, dass sich das Bedürfnis, die Farben der Farb-
stoffe mit Wörtern zu unterscheiden, erst spät geregt hat, zu Gunsten der Ansicht,
[422] dass der farbige Schmuck zuerst nicht um der Farben willen auf den Körper ge-
bracht worden ist. Da das, was als Trophäe oder zu praktischen Zwecken auf
dem Körper getragen wurde, sich thatsächlich durch wechselnde Farben aus-
zeichnete, die Wohlgefallen erregen mussten, so kam man von selbst dazu, sie
auch um des Vergnügens willen anzuwenden, und von dieser Zeit an begann die
früheste Unterscheidung durch Farbennamen; innerhalb deren wiederum wurde die
erste Sicherheit gewonnen für die auch bearbeiteten Farben, während das Bedürfnis
für die Unterscheidung von grün und blau noch durch vage Wörter wie »perikito-
farben« befriedigt wurde.
Noch eins darf nicht vergessen werden. Der Indianer bildet keine Allgemein-
urteile, wie »die Bäume sind grün, der Himmel ist blau«. Nichts veranlasst ihn,
diese ihm von der Aussenwelt gebotene Anschauung zu zergliedern, sie interessiert
seine Person bei keiner Thätigkeit und ist ein selbstverständlich Gegebenes, wie,
dass das Wasser nass ist. Was ihn aber nach Farben zu unterscheiden interessiert,
sind Tiere und Pflanzen. Hier liegt die Hauptverwendung der erworbenen
Farbennamen und hier ist es nötig zu verfolgen, wie er im eigenen Gebrauch
mit den Farbennamen verfährt.
Ich habe daraufhin die Liste der Tiernamen in dem Glossarium von Mar-
tius durchgesehen, in die einige 1300 aus der gesamten Literatur zusammen-
getragen sind. »Perikitofarben« cugui für »blau und grün«, wird nur ein einziges
Mal bei einer Boa-Schlange verwendet, die Martius »viridis vel azureus Coluber
aestivus L.« nennt. die gewöhnlichen Unterscheidungen nach Farben, deren Zahl
geringer ist als man erwarten sollte, ist schwarz, weiss, rot und gelb; ich zähle,
ohne auf absolute Genauigkeit Wert zu legen, 28 Vögel, 23 Fische, 9 Säugetiere,
4 Schlangen und 12 niedere Tiere, die nach jenen vier Farben unterschieden sind.
Nun kommen aber noch zwei Wörter für »bunt« vor, von denen das eine pinima,
mit dem Verbum »malen« gleichen Stammes, für 4 Fische, 3 Vögel, den Jaguar,
1 Schlange, 1 Eidechse, 1 Krebs gebraucht wird, und das andere paragoa,
schlechthin »Papagei« bedeutet und auch einen Papagei-Fisch und eine Papagei-
Schlange liefert. Reines »grün« ist immer papagei- oder perikitofarben; wo ein
»blau« zu bestimmen ist, wird das Tier auch mit dem Zusatzwort una (verbrannt)
= schwarz oder dunkel versehen.
Deutlicher kann es nicht ausgesprochen sein, dass sich die Indianer nur da
zu einer scharf bestimmten Farbenunterscheidung veranlasst fühlen, wo es sich um
die ihnen von den Farbstoffen her geläufigen Farbenqualitäten handelt, dass also
die eigene Praxis, nicht der Farbensinn, das Material der fest abgegrenzten Be-
griffe liefert.
Die Liste der Pflanzennamen von Martius, etwas über 1000 an der Zahl,
bietet einen interessanten Vergleich. 8 Pflanzen erhalten das Prädikat schwarz,
7 weiss, 7 rot, 2 gelb. Dass bei den Pflanzen »grün« kein unterscheidendes
Merkmal bildet, ist klar. Doch begegnen wir auch hier einmal dem bald mit
grün, bald mit blau übersetzten çugui oder »perikitofarben«, und zwar entspricht
[423] es einem entschiedenen Blau, da es sich auf Indigofera Anil L. bezieht. 3 Pflanzen
sind »bunt«, aber „pinima“; die Papageienbuntheit (paragoa) fehlt.
Die Eingeborenen hätten Indigo aus der soeben erwähnten Pflanze gewinnen
können, doch haben sie es nicht verstanden. Bei der Fabrikation des Indigo be-
dienen sich brasilische Industrielle indianischer Hände, bezeugt Martius; sie sei erst
von den Portugiesen eingeführt worden und liefere eine wenig begehrte Sorte.
Das Genipapo-Schwarz hat einen blauen Ton und entspricht so vortrefflich der
Anlehnung des Blau in den Farbenbezeichnungen an Schwarz. Aus dem Schwarz
geht auch das Blau der Tätowierung hervor. Man betrachte sich die Sammlungen
im Museum für Völkerkunde, die noch frei sind von blauen Stickperlen und
Zeugen, und man wird mit einem Blick das ganze Verhältnis verstehen. Dort
finden sich an den bemalten Gerätschaften nur Rot, Gelb, Weiss und Schwarz und
der Federschmuck zeigt auch Grün und Blau, er zeigt auch beide Farben in herr-
licher Reinheit, aber ungesichtet, in beliebiger Zusammenstellung untereinander
und mit den übrigen Farben in einem leuchtenden Gesamtbild, das einlädt allgemein
zu bewundern, aber nicht genau zu zergliedern. Farbensymphonie nennt man das
in der modernen Kunst, und es ist begreiflich, dass man aus einer Symphonie
keine Tonleiter lernt. Wie in den Vitrinen, sieht es in der Seele des Indianers
aus. Blaues und Grünes hat er nicht anders zu Hause als in Gestalt seiner Peri-
kitos und Papageien oder ähnlicher Schmuckvögel und so nimmt er deren Namen
zum Farbennamen, der für blau und grün ausreicht.
Einen Unterschied zwischen blau und grün hat er entschieden immer ge-
macht, und das ist der, dass er Blaues, aber nicht Grünes dem Schwarzen oder
Dunkeln anreihte. Warum nennt er nicht auch gelegentlich ein Grün »schwarz-
dunkel«? Der Grund dafür scheint nur zu sein, dass die Fälle, wo ein Grün so
auffallend ist, dass es als unterscheidendes Merkmal für die Bezeichnung herangezogen
wird, abgesehen von den Papageien selbst, wie die Listen zeigen, sehr selten sind,
und dass es sich dann immer um ein leuchtendes Papageiengrün handelt. Dagegen
herrscht bei dem mit »schwarzdunkel« = blau unterschiedenen Tieren immer das
dunkelblau vor; so hat selbst das wohl hellste von ihnen, der Ararauna, nach
Brehm »alle oberen Teile nebst den Schwanzdecken dunkel himmelblau«; die
Federn haben sogar vielfach im äussern Teil der Fahne einen ganz schwärzlichen
Ton, und nur, wenn der Vogel vom vollen Sonnenlicht beschienen dahinfliegt,
kommt ein helleres duftiges Azur zur Geltung.
[[424]]
XVI. KAPITEL.
Die Paressí.
Zur Geschichte der Paressí und ihnen verwandter Stämme. Unser Besuch. Sprache. Anthropologisches.
Zur Ethnographie (Tracht, ethnographische Ausbeute, berauschende Getränke, Tanzfeste). Lebensgang.
Beerdigung. Medizinmänner. Die Seele des Träumenden und des Toten. Firmament. Ahnensage.
Schöpfung. Ursprung der Kulturgewächse. Abstammung der Bakaïrí. Das Leben im Himmel.
Fluss- und Waldgeister. Heimat der Paressí.
Zur Geschichte. Im Nordwesten von Kuyabá liegen die »Campos dos
Parecis«, wo die Quellflüsse des Paraguay wie die des Tapajoz und Madeira ent-
springen. Von den alten Paressí-Indianern sind nur verhältnismässig geringe
Ueberreste vorhanden, die in mehrere Stämme zerfallen. Sie führen mit Aus-
nahme der Kabischí, die häufiger die Umgegend der Stadt Matogrosso unsicher
machen, ein friedliches Dasein. Da es uns unmöglich war, die Paressí zu be-
suchen, weil uns der Wunsch, die Bororó kennen zu lernen, in fast entgegen-
gesetzte Richtung führte, mussten die Paressí schon zu uns kommen. Glücklicher
Weise fanden wir bei dem damaligen Präsidenten der Provinz, dem Obersten
Francisco Raphael de Mello Rego, eine äusserst liebenswürdige und ver-
ständnisvolle Aufnahme aller unserer Wünsche. Ihm und seiner ausgezeichneten
Gemahlin, Donna Carmina, die uns als vollendete Dame inmitten der
Cuyabaner und Cuyabanerinnen wie ein Wesen aus einer andern Welt erschien,
sind wir für ihr reges Interesse zu grösster Dankbarkeit verpflichtet. Am 10. Januar
überreichte ich dem Präsidenten das Gesuch, dass er einige Paressí nach der
Hauptstadt zitiere; auch wurde privatim nach Diamantino geschrieben, da man
behauptete, die einflussreichen Leute dort seien »liberal« und würden sich um die
Ordre eines »konservativen« Präsidenten nicht kümmern. Am 19. Februar trafen
die Indianer ein.
Ueber die Paressí sind uns wichtige Mitteilungen eines ihrer Entdecker
selbst erhalten. Der Kapitän Antonio Pires de Campos*) entwirft uns im
Jahre 1723 und zwar nach einer Bekanntschaft »de tantos annos« ein Bild von
ihrem »reino« oder Reich, wie wir es aus den jetzt noch erhaltenen Trümmern
niemals zusammensetzen könnten.
[425]
»Auf jenen ausgedehnten Hochebenen bewohnen die Paressí ein weites Reich, und alle Wasser
fliessen nach Norden. (Er rechnet sie damals also nur noch zum Quellgebiet des Tapajoz und Madeira).
Diese Leute sind in solcher Menge vorhanden, dass man ihre Ansiedelungen oder »aldeias« nicht
aufzählen kann; häufig kommt man an einem Marschtag durch 10 oder 12 Dörfer, und in jedem
von diesen giebt es 10 bis 30 Häuser, und unter diesen Häusern finden sich einige von 30 bis
40 Schritt Breite, und sie sind rund von der Gestalt eines Backofens, sehr hoch und jedes eine
dieser Häuser, hören wir, beherbergt eine ganze Familie. Alle leben von ihrem Feldbau, worin sie
unermüdlich sind, und es sind sesshafte Leute, und die Pflanzen, die sie hauptsächlich bauen, sind
Mandioka, einiger Mais und Bohnen, Bataten, viele Ananas (kein Wort von Bananen!), und einzeln
in bewundernswerter Ordnung gepflanzt, von ihnen pflegen sie ihre Weine zu machen. Und sie
hegen auch von Fluss zu Fluss den Kamp ein, innerhalb dieses Geheges machen sie viele Gruben,
worin sie viele Rehe, Strausse und viele andere Tierarten jagen. Diese Heiden sind nicht kriegerisch
und verteidigen sich nur, wenn man sie wegholen will; ihre Waffen sind Bogen und Pfeil und sie
gebrauchen auch ein sehr starkes Holz und machen daraus breite Blätter, die ihnen als Schwerter
dienen, und sie haben auch ihre ganz kleinen Spiesse, um ihre Thüren zu verteidigen, die sie so klein
machen, dass man nur auf allen Vieren hineinkommen kann. Und diese Indianer gebrauchen auch
Idole; diese haben ein besonderes Haus mit vielen Figuren von mannigfachen Gestalten, wo es nur
den Männern erlaubt ist einzutreten, diese Figuren sind ganz fürchterlich und alle haben ihre Kürbis-
trompeten, die, wie diese Heiden sagen, den Figuren gehören, und die Weiberschaft beobachtet das
Gesetz so, dass sie nicht einmal nach diesen Häusern hinzublicken pflegen, und nur die Männer
finden sich darin ein in jenen Tagen des Vergnügens, die sie bestimmen, um ihre Tänze zu begehen,
und an denen sie sich reich kleiden. Die gewöhnliche Tracht dieser Heiden ist, dass die Männer
ein Stückchen Stroh an den Schamteilen tragen und die Frauen ihre »tipoinhas« bis zum halben Ober-
schenkel, deren Stoff sie selbst aus einem Gewebe von Federn machen (engmaschiges Netz mit ein-
geknüpften Federn), und mit prächtigen Farben, Alles sehr seltsam und Arbeiten mannigfacher Art
und Gestalt, und die Neugier ist bei Männern und Weibern zum äussersten; sie sind sehr sauber und
vollkommen in Allem bis auf ihre Strassen, die sie gerade und breit machen und so rein und in
gutem Stande halteu, dass man dort auch nicht ein Blatt finden wird.«
Antonio Pires lobt weiter die hellfarbigen hübschen und in allen Arbeiten
geschickten Frauen, erwähnt die Kunst, die Federn der Papageien und anderer
Vögel willkürlich zu färben, und bewundert die Arbeiten in Stein und hartem
Holz, die ohne Hilfe von Eisen und Stahl gemacht werden. Die Häuptlinge trugen
am Halse jaspisähnliche, marmorglatt geschliffene Steine von der Form eines
Malteserkreuzes. Er hält das durch zahlreiche Häuptlinge beherrschte Volk, das
ein ungeheures Gebiet mit fruchtbarem Boden und angenehmen Klima bewohne,
für das dankbarste Ziel der katholischen Mission zu Ehren des portugiesischen
Namens. Im Gegensatz zu den Paressí gelten ihm die »Cavihis«, die Kabischí,
als umherstreifende wilde Barbaren, die seine Leute trotz ihrer 130 Feuergewehre
in die Flucht trieben, und in deren Hütten er einmal mit Menschenfleisch gefüllte
Töpfe und Gerüste voller Schädel und Knochen gefunden habe. Jenseits der
Paressí wohnten im Norden ebenso zahlreich, und in dem ganzen Kulturzustande
ihnen ebenbürtig die »Mahibarez«, deren Sprache sich nur in wenigen Wörtern
unterscheide; sie unternähmen viele Raubzüge gegen die Paressí, töteten die
Männer und entführten die Weiber.
So waren die Verhältnisse am Anfang des vorigen Jahrhunderts. Den
Sklavensuchern folgten die Gold- und Diamantensucher, die die Indianer zu harter
Frohne zwangen. Heute ist Diamantino,*) einst der Mittelpunkt der Abenteurer,
[426] nur noch ein trauriges Nest — 1874 hatte die ganze Parochie 1876 Seelen, und
einige Jahre später erklärte der Geograph Melgaço: »der Verfall hält an und
grenzt fast an Marasmus« — aber auch die Indianer sind zu Tausenden zu Grunde
gegangen und nur die, die sich vor der Zivilisation und Bekehrung zu retten
wussten, erfreuen sich noch einiger Gesundheit.
In dem Aktenheft der Directoria dos Indios von Cuyabá finde ich aus dem
Jahre 1848 folgende Angaben über die Stämme in den »Campos dos Parecis«:
1. Barbados; 400 Seelen in einem Dorf am Abhang der Serra an den
Quellen des Rio Vermelho, einem Quellflüsschen des Paraguay, bauen Mais,
Mandioka, Bataten, Cará. Werkzeuge aus Stein und hartem Holz. Ohne Vieh-
zucht und Industrie. Verräterisch, greifen zuweilen Reisende zwischen Diamantino
und Villa Maria an. 2. Paressí; 200—250 Seelen, verschiedene Gruppen in dem
Distrikt von Diamantino und Matogrosso, erscheinen zuweilen zum Austausch
mit Sieben, Körben, Hängemattenstricken, Federn, Kuyen und Tabak, den sie her-
richten und mit Urumbamba umwickeln, und der von Rauchern sehr geschätzt
wird. Wenige verstehen und sprechen portugiesisch. Sie begehen keine offenen
Feindseligkeiten, gesellen sich aber gelegentlich zu den Kabischí, um Unthaten
zu verüben. 3. Maimbaré; 400 Seelen, in Familiengruppen durch den Sertão
zerstreut, haben Beziehungen mit den Paressí. Jagd, Mais, Mandioka, Bananen,
Bataten, Cará. 4. Kabischí; zahlreich, auf 500 Seelen geschätzt, in verschiedenen
Dörfern, 15—20 Leguas nordwestlich von dem Arraial de S. Vicente. Feindlich,
Raub- und Brandzüge gegen die Stadt Matogrosso hin.
Die hier mitgeteilten Zahlen haben nach andern, besser zu beurteilenden zu
schliessen, keinen Wert. Ueber die Barbados gehen allerlei seltsame Geschichten
um, sie seien weiss und Abkömmlinge von Paulisten, die keine Annäherung er-
laubten. Betreffs der Kabischí habe ich einen handschriftlichen Bericht (Juni 1888)
des Kapitän Antonio Annibal de Motta gelesen, der durch Vermittlung der
Paressí am Rio Sepotuba 12 Eingeborene jenes Stammes, darunter den Häupt-
ling Loulomadá kennen lernte. Von den Paressí, von denen er drei Dörfer an
den Quellen des Rio Sepotuba, Rio Formoso und Rio Juba aufzählt, bemerkt der
Kapitän, dass sie Kautschuk und Ipecacuanha nach S. Luiz de Caceres ver-
handelten, dass sie mit den kriegerischen Nambiquara des Rio Juruena in Fehde
lebten, mit den »zahmen« Kabischí verkehrten, aber nicht mit den »wilden«, die
10 Tagereisen jenseits der zahmen im Walde wohnten. Die zahmen haben vier
Dörfer am Rio Cabaçal, einem rechten Nebenflusse des Paraguay, jedes unter
einem besondern Häuptling. Ihre Sprache bis auf einige dialektische Verschieden-
heiten und ihre Sitten und Gebräuche sind denen der Paressí gleich, beide
Stämme pflanzen Mandioka, Tabak und Baumwolle. Die Hängematten sind ver-
schieden, insofern die Paressí sie aus Baumwolle und die Kabischí sie aus Faser
der kleinen Tukumpalme (Astrocaryum) machen. Pfeile und Werkzeuge sind
gleich. Die Männer tragen sehr fest gewebte Baumwollbänder um Oberarm und
[427] Unterschenkel, die Frauen Kautschukbänder. »Allgemein fehlen Männern und
Frauen die oberen Schneidezähne.« Der Kapitän hält die »zahmen« Kabischí
für dieselben, die zuweilen die Landstrassen des benachbarten Gebietes unsicher
machen.
Unser Besuch. Das Dorf der für uns zitierten Paressí liegt im Distrikt
von Diamantino am Rio St. Anna, einem rechten Nebenflüsschen des Paraguay.
Hier sind seit Mitte des vorigen Jahrhunderts Gold- und Diamantenminen gewesen
und die Vorfahren unserer Besucher zur Arbeit herangezogen worden. Die Leute
selbst nannten ihren Fluss Zaikuriviá und rechneten drei Tage nach Diamantino.
Es waren im Ganzen 12 Individuen, 9 Männer und 3 Frauen. Nur vier
von ihnen nannten sich Paressí, vier waren Waimaré von dem oben als
Maimbaré bezeichneten Stamm, und vier, unter ihnen die drei Frauen, Kaschinití.
Sie verteilten sich mit ihren portugiesischen und einheimischen Namen folgender-
massen:
Paressí: João Battista = Kanadaló, Manoel Bito (Brito) = Halásö, Bayano
(aus Bahia) = Totóhigasö, Manoel Bibiano = Dalokarihí, Waimaré: Manoel Chico
(von Francisco) = Dulóizo, José de Oliveira Santo = Daremáridi, ferner Waimaré-
Vater, Paressí-Mutter: João Baixo (Hans Kurz) = Kohiaré und Manoel Antonio
(mein Hauptgewährsmann) = Zaruliaré, sowie Kaschinití: Miguel = Waitiharé,
Maria Kalara (Clara) = Kamerosó, Maria Theresa = Kamemenaló, Antonia (vgl.
Abbildung 125) = Kahuiró. Die Männer waren mit Ausnahme von zweien mehr
als 25 Jahre alt, der älteste vielleicht 50; Antonia war ein Mädchen nahe an
20 Jahren, die beiden andern 40—50jährige Frauen.
Welche ursprünglichen Unterschiede dieser Einteilung in Stämme zu Grunde
liegen, weiss ich nicht anzugeben. Die Waimaré wohnten früher nördlich von den
Paressí. Es scheint mit der Zeit des Niedergangs eine Verschmelzung stattgefunden
zu haben. So sagten unsere Waimaré, ihre Väter seien Waimaré, ihre Müttern Paressí
gewesen, woraus erhellt, dass die Stammbezeichnung sich hier nicht nach den Müttern
richtet, in deren Ort aber immerhin die Väter wohnten. Die Unterscheidung als
Kaschinití wurde nebensächlicher behandelt; es gebe jetzt keinen selbständigen
Kaschinitístamm mehr. Es war mir nicht möglich, näher in diese Feinheiten
einzudringen, die erst in den letzten Augenblicken entdeckt wurden. Unser Zu-
sammensein beschränkte sich leider auf nur zwei Tage; länger waren die Leute
nicht zu halten.
Sprache. Dass die Sprachunterschiede zwischen Paressí und Waimaré nur
dialektischer Art sind, konnte ich noch feststellen. Vater P. abá, W. bawá,
Mutter P. amá, W. mamá, Wasser P. oné, Feuer P. und W. irigaté,
Oheim P. kukúre, W. kukú, älterer Bruder P. und W. azö́. Mein Vokabular ist
teils von dem Häuptling der Paressí, João Battista, teils von den Waimaré
Manoel Chico aufgenommen und somit gemischten Inhalts.
Die Sprache gehört zu den Nu-Aruaksprachen und besitzt das typische
Pronominalpräfix nu- der ersten Person. Die Verwandtschaft des Wortschatzes
[428] ist erheblich grösser zu den Mehinakú und Genossen am Kulisehu als zu dem
grossen Nu-Aruakstamm der Moxos in Bolivien, von denen sie durch das Quell-
gebiet des Guaporé-Madeira getrennt sind. Sehr schön ist der Wechsel von
Mehinakú p und Paressí h, sowie häufig von t und s (in beiden Richtungen) aus-
gesprochen: Fisch Meh. kupáti, Par. kohasá, Oberschenkel M. nupúti, P. nuhúse,
Caráfrucht M. páka, P. haká, Knochen M. inápü, P. enáhe, Haus M. pái, P. hatí,
du M. pítsü, P. hisó, Kuye M. pítsa, P. heschíscha. Bemerkenswert ist die Ueber-
einstimmung von Beil M. yawái, P. Eisenbeil zauáti, und Salz M. echéu, P. séwe.
Andrerseits fehlen auch lexikalische Uebereinstimmungen einfachster Art, die man
erwarten möchte, sodass an nahe Beziehungen zwischen der Paressí- und Mehinakú-
gruppe in jüngerer Zeit gar nicht zu denken ist.
Anthropologisches. Das Material reicht nicht im Entferntesten aus, um
etwaige Unterschiede zwischen Paressí, Waimaré und Kaschinití zu bestimmen.
Die Frauen waren alle drei Kaschinití, die Waimaré nannten sich Söhne von
Paressímüttern, und überdies waren einige miteinander familienverwandt.
Körperhöhe.
- 9 Männer: Max. 166,3 Min. 153,0 Mitt. 160,5 3 Frauen: Max. 152,3 Min. 150,5 Mitt. 151,4
Die Männer stehen also an der Grenze zum kleinen Wuchs. Machen
wir bei diesem Mass einmal die Unterscheidung nach den Stammesabteilungen,
so erhalten wir:
- 4 Paressí-Männer: Max. 161,3 Min. 153,0 Mitt. 158,0
- 4 Waimaré- » » 166,3 » 160,5 » 162,8
- 1 Kaschinití-Mann. » — » — » 161,3
Das wäre kleiner Wuchs für die Paressí. Der kleinste aller Männer war
der Paressí-Häuptling und der grösste war der Waimaré-Häuptling.
Klafterweite. A. Körperhöhe = 100.
- 9 Männer: Max. 109,4 Min. 101,4 Mitt. 106,6 3 Frauen: Max. 103,9 Min. 101,3 Mitt. 102,9
B. Absolut. - 9 Männer: Max. 15,2 Min. 2,2 Mitt. 10,8 3 Frauen: Max. 5,9 Min. 2,0 Mitt. 4,4
Das Minimum ist bei einem Paressí, das Maximum bei dem Kaschinití.
Schulterbreite. A. Körperhöhe = 100.
- 9 Männer: Max. 26,2 Min. 23,5 Mitt. 25,0 3 Frauen: Max. 24,9 Min. 23,6 Mitt. 24,3
B. Absolut. - 9 Männer: Max. 43,0 Min. 37,5 Mitt. 40,1 3 Frauen: Max. 38,0 Min. 35,5 Mitt. 36,8
Brustumfang. A. Körperhöhe = 100.
- 9 Männer: Max. 59,2 Min. 53,3 Mitt. 55,4 3 Frauen: Max. 57,1 Min. 52,5 Mitt. 54,8
B. Absolut. - 9 Männer: Max. 97,0 Min. 84,5 Mitt. 89,0 3 Frauen: Max. 86,0 Min. 80,0 Mitt. 83,0
Kopfhöhe. Körperhöhe = 100.
- 9 Männer: Max. 15,6 Min. 13,5 Mitt. 14,7 3 Frauen: Max. 15,8 Min. 13,7 Mitt. 14,7
Kopfumfang. Körperhöhe = 100.
- 9 Männer: Max. 35,5 Min. 32,4 Mitt. 34,4 3 Frauen: Max. 37,8 Min. 34,4 Mitt. 36,1
[429]
Das Mass 37,8 (57,5 cm bei 152,3 cm Körperhöhe) von Maria Clara er-
scheint mir verdächtig. Nur ein Mann hatte absolut mehr, 58,0 cm, bei 163,9 cm
Körperhöhe.
Längenbreiten-Index des Kopfes.
- 9 Männer: Max. 80,7 Min. 75,1 Mitt. 77,5 3 Frauen: Max. 76,8 Min. 75,3 Mitt. 76,0
Von den Kulisehu-Stämmen stehen den Paressí die Mehinakú am nächsten,
wo das Mass für 6 Männer zwischen 79,2 und 75,2 schwankte und das Mittel
77,7 betrug. Vgl. Seite 164.
Verhältnis von Kopflänge zur Ohrhöhe. Kopflänge = 100.
- 9 Männer: Max. 66,5 Min. 59,0 Mitt. 62,8 3 Frauen: Max. 62,9 Min. 61,5 Mitt. 62,4
Kieferwinkel. Haarrand—Kinn = 100.
- 9 Männer: Max. 57,6 Min. 48,6 Mitt. 54,3 2 Frauen: Max. 58,2 Min. 57,1 Mitt. 57,7
Jochbogen. Haarrand—Kinn = 100.
- 9 Männer: Max. 77,8 Min. 68,6 Mitt. 73,5 3 Frauen: Max. 75,8 Min. 73,4 Mitt. 74,5
Wangenbeinhöcker. Haarrand—Kinn = 100.
- 9 Männer: Max. 44,8 Min. 40,7 Mitt. 40,5 2 Frauen: Max. 45,7 Min. 40,7 Mitt. 43,2
Mittelgesicht. Nasenwurzel—Kinn = 100.
- 9 Männer: Max. 66,7 Min. 57,7 Mitt. 62,9 3 Frauen: Max. 62,2 Min. 52,5 Mitt. 58,3
Nasenhöhe. Nasenlänge = 100.
- 8 Männer: Max. 101,9 Min. 93,0 Mitt. 97,6 3 Frauen: Max. 105,1 Min. 97,6 Mitt. 101,7
Nasenbreite. Nasenhöhe = 100.
- 9 Männer: Max. 84,9 Min. 71,7 Mitt. 79,2 3 Frauen: Max. 95,1 Min. 83,8 Mitt. 90,5
Schulterhöhe. Körperhöhe = 100.
- 8 Männer: Max. 84,9 Min. 82,6 Mitt. 83,7 3 Frauen: Max. 84,8 Min. 83,4 Mitt. 84,0
Nabelhöhe. Körperhöhe = 100.
- 9 Männer: Max. 61,2 Min. 53,9 Mitt. 59,4 3 Frauen: Max. 59,9 Min. 58,0 Mitt. 58,9
Symphysenhöhe. Körperhöhe = 100.
- 9 Männer: Max. 51,1 Min. 47,7 Mitt. 50,3 3 Frauen: Max. 50,4 Min. 48,3 Mitt. 49,2
Darmbeinkammhöhe. Körperhöhe = 100.
- 9 Männer: Max. 60,8 Min. 58,9 Mitt. 59,9 3 Frauen: Max. 61,4 Min. 59,0 Mitt. 60,2
Armlänge. Körperhöhe = 100.
- 9 Männer: Max. 49,3 Min. 45,4 Mitt. 47,4 3 Frauen: Max. 47,3 Min. 45,5 Mitt. 46,1
Handlänge. A. Körperhöhe = 100.
- 9 Männer: Max. 11,3 Min. 9,7 Mitt. 10,4 3 Frauen: Max. 9,8 Min. 9,3 Mitt. 9,6
B. Armlänge = 100. - 9 Männer: Max. 24,0 Min. 20,8 Mitt. 22,0 3 Frauen: Max. 21,4 Min. 20,4 Mitt. 20,9
Längenbreiten-Index der Hand. Handlänge = 100.
- 9 Männer: Max. 51,4 Min. 43,5 Mitt. 46,9 3 Frauen: Max. 53,5 Min. 46,0 Mitt. 50,6
Trochanterhöhe.
- 9 Männer: Max. 53,4 Min. 51,1 Mitt. 51,9 3 Frauen: Max. 53,8 Min. 49,8 Mitt. 51,2
[430]
Fusslänge. Körperhöhe = 100.
- 9 Männer: Max. 16,5 Min. 15,4 Mitt. 15,9 3Frauen: Max. 15,0 Min. 13,8 Mitt. 14,5
Längenbreiten-Index des Fusses. Fusslänge = 100.
- 9Männer: Max. 42,6 Min. 34,9 Mitt. 39,2 3 Frauen: Max. 45,7 Min. 39,6 Mitt. 42,6
Die Hautfarbe wurde nach den Radde’schen Tafeln mit 33 m bis n be-
stimmt für Stirn und Wange, die Stirn einmal mit 33 o, die Brust mit 33 m,
nur einmal mit 33 l. Unter dem Baumwollband des Oberarms 33 n. Zumal die
Brust hatte einen kräftigen Lehmton, der besser als mit allen den stets zu sehr
glänzenden Farbenproben der Tafeln mit Scherben von Blumentöpfen zu be-
stimmen wäre.
Haar schwarz, straff, schlicht; bei den vier Kaschinití, Mann und drei
Frauen, wellig bis lockig. Bei Einigen spärliche Barthaare.
Gesicht durchgängig hoch, oval, mässig breit. Stirn bei den Paressí
schräg, niedrig, bei den Waimaré schräg, hoch, mit Wülsten, bei den Frauen schräg,
niedrig, voll. Wangenbeine vortretend. Iris dunkelbraun, Lidspalte hoch,
mandelförmig, horizontal, bei Einigen leicht schräg gestellt. Nase bei den Paressí
Wurzel schmal, Rücken grade oder leicht gebogen, Flügel schmal, Löcher oval,
bei den Waimaré Wurzel, Rücken und Flügel breit, Löcher gross und elliptisch
nach vorn stehend, bei den Kaschinití und den Frauen Rücken breit, wenig vor-
springend, Spitze dick und Löcher weit elliptisch nach vorn gerichtet. Lippen
bald voll, bald zart, geschwungen. Zähne vielfach defekt und unregelmässig,
meist opak und gelblich. Nur eine Frau hatte ein schönes Gebiss mit regelmässig
gestellten, weissen, durchscheinenden, kleinen Zähnen. Prognathie nur mässig,
mit Ausnahme eines Waimaré mit stark abgekauten Oberzähnen, der durch einen
höheren Grad, zumal des Unterkiefers, auffiel.
Die Paressí im engern Sinne, die kleiner waren, hatten einen feineren Ge-
sichtsschnitt; sie erinnerten entschieden an die Bakaïrí, es bestand sogar eine
gewisse Aehnlichkeit zwischen João Battista und dem Häuptling Felipe des
Paranatingadorfes.
Zur Ethnographie. Die Paressí erschienen barfuss in der gewöhnlichen
Kleidung der matogrossenser Landbevölkerung, sie trugen freilich darunter noch
einen Teil der ursprünglichen Tracht.
Das Haar der Männer hatte den Topfformschnitt wie bei den Schingú-
Indianern, aber ohne Tonsur. Die Tonsur (úaúa) sei bei den Grossvätern allgemein
üblich gewesen; sie ist also nicht nur nicht nach dem Muster der Padres ent-
standen, sondern im Gegenteil seit der Bekanntschaft mit ihnen, ebenso wie bei den
zahmen Bakaïrí aufgegeben. Das Haar der älteren Frauen wurde ganz nach alter
Art getragen, das des M[äd]chens war gescheitelt, das Stirnhaar nicht abgeschnitten.
Brauen, Wimpern, das spärliche Barthaar und das Körperhaar waren nicht
entfernt.
Die Ohrläppchen waren bei beiden Geschlechtern durchbohrt, während
Antonio mir angegeben hatte, dass bei den Männern nur die Nase durchbohrt
[431] sei. Als Ohrschmuck wurde — jetzt nicht mehr, zur Zeit der Grossväter — ein
dreieckiges Stück schwarzer Kokosschale getragen (hohoró). Die Nasenscheide-
wand war bei einigen Männern zur Aufnahme einer Tukan- oder Ararafeder
durchbohrt. Die Lippe wird und wurde niemals durchbohrt.
Tätowierung (nohotö́) war bei einigen Männern auf Oberarm und Ober-
schenkel in Gestalt von zwei queren Bogenstückchen nur schlecht erkennbar vor-
handen. Die Frauen sind es, die tätowieren. Sie nehmen dazu einen Gravatá-
dorn (Bromelia) und Genipapotinte oder den Extrakt des Pauablattes. Auch bei
einer Frau fand sich eine Strichzeichnung oberhalb des Knies.
Statt der von Antonio Pires noch beschriebenen Hüftschnur trugen die
Männer ein aus importirtem buntem Baumwollfaden fest gewebtes, 1,5 bis 3,5 cm
breites Gürtelband oder Perlschnüre (kunokuá). Das Penis wurde hinter
das Kunokuá hinauf geschlagen getragen; zum Schutz gegen die Reibung
des Bandes oder der Schnur wurde zwischen ihn und letztere ein vier-
eckiges, gewebtes und rot gestreiftes
Läppchen (8 × 10 cm) gelegt, das zur
Hälfte um die Schnur geklappt wurde
(daihasö́). Wie die Abbildung 124 zeigt,
wurde das Scrotum und die Wurzel des
Penis durch den Lappen nicht verhüllt.
Es muss hierauf besonders hingewiesen
werden, weil z. B. auch ein Paressí-Indianer
(wie viele andere) in der »Revista da
exposicão anthropologica« (Rio de Janeiro
Daihasö́. (Paressí).
1882) p. 85 dem Leser zuliebe mit einem vollständigen Suspensorium dargestellt
ist. Ueberhaupt wird diese Rücksicht auf uns zum Nachteil der Genauigkeit, die
Wirklichkeit entstellend, vielfach, zumal in den Abbildungen, betreffs der bra-
silischen Ureinwohner geübt, wie Jedem, der den Gegenstand eingehender ver-
folgt, in den Reisewerken auffallen wird — daher denn irrige Vorstellungen über
das Schamgefühl der Eingeborenen unvermeidlich sind. Widersprüche zwischen
Text und Illustrationen sind sehr gewöhnlich.
Die Frauen, die sich ohne Umstände ihrer brasilischen Kleidung entledigten,
trugen unter dieser eine eng gewebte, rot gefärbte »Leibbinde« von 30 cm
Breite. Nur sass diese Leibbinde tief unterhalb des Nabels, den Bauch ganz
freilassend, seitlich abwärts des Darmbeinkamms und vorn so tief, dass sie knapp,
aber straff schliessend, kaum den Mons veneris bedeckte. Sie reichte über den
halben Oberschenkel hinunter und wurde nur dadurch, dass sie elastisch war und
festgespannt anlag, am Abrutschen verhindert. Es ist nicht genau zu verstehen,
wie die »tipoinha« des Antonio Pires beschaffen war; nach dem Tupíwort und
der Angabe, dass sie mit bunten Federn verziert war, zu urteilen, ist sie eine
Art mit Federn versehenen Netzes gewesen. Heute ist jedenfalls im Gegensatz
zur Schingútracht eine Hülle vorhanden, ein Kleidungsstück in unserm Sinn. Hier
[432] ist nichts mehr von Verband oder Pelotte. Die Entwicklung, die wir am Schingú
noch vermissen, ist also für die Frauen, nicht für die Männer vollzogen. Wir
wissen aber auch nach dem Bericht des Antonio Pires, dass die alten Paressí —
wenn wir auch dem tapfern Sklavenjäger, dessen Angaben den Eindruck der
Wahrhaftigkeit machen, einige Uebertreibung zutrauen wollen — zahlreiche Ort-
schaften mit einer dichten Bevölkerung hatten und sich in sozialen Dingen deshalb
von den grossen Familien am Schingú schon unterscheiden konnten.
Wie die Tracht der Paressí-Frauen ursprünglich ausgesehen hat, wäre wohl
nur durch die Bekanntschaft mit »wilden« Paressí zu erfahren. In dem Dorf der
von uns untersuchten Eingeborenen besteht seit anderthalb Jahrhunderten ein sehr
viel engerer Verkehr mit den Brasiliern von Diamantino, da man die Leute zu
Paressí-Mädchen.
Minenarbeiten und zur Tapajozschiffahrt ge-
brauchte, als in den Dörfern der zahmen
Bakaïrí, deren Frauen auch längst keine Uluris
mehr tragen. Es ist vielfach in Brasilien
geschehen, dass die Indianerinnen, ganz abge-
sehen davon, dass sie Kleider anzogen, sehr
rasch nach dem Erscheinen der Weissen ihre
alte Tracht veränderten.*) Das Bedürfnis,
sich gegen Blicke zu schützen, macht sich
am ersten fühlbar bei dem Zusammentreffen
mit fremden Männern, deren Begierde die
Frauen nicht reizen sollen.
Die Männer trugen um die Oberarme
und an den Unterschenkeln unter dem Knie
oder über den Knöcheln festgewebte und fest-
anschliessende bis 10 cm breite Bänder, die
seitlich mit den als ein freier Strang herab-
hängenden Endfäden zusammengeschnürt wurden, die Frauen dagegen knapp
fingerbreite Kniebänder aus Kautschuk, die scharf einschnitten und unter denen
die Haut überraschend hell war. Das Mädchen hatte einen dicken Wulst von
Glasperlen um den Hals.
Unsere ethnographische Ausbeute war sehr gering, um so geringer,
als die Paressí von dem Wenigen was sie mitgebracht, das Beste, namentlich
[433] einige sehr schöne, mit künstlerischen schwarzgelben Flechtmustern ausgestattete
Sieb- und Korbschalen dem »Capitão grande« oder vielmehr der Donna Carmina
verehrt hatten. Wie schon erwähnt, bilden die Siebe, die »peneiras«, die Haupt-
spezialität der Paressí für den Tauschhandel mit den Brasiliern. Die Muster sind
ähnlich denen der sprachverwandten Aruak in den Guyanas durch Reichhaltigkeit
der Erfindung ausgezeichnet. Wir erhielten ausser den Stücken der Tracht eine
Kiepe, kohó, beutelförmig, aus Bambusstreifen geflochten und an einem über die
Stirn verlaufenden Baststreifen getragen, ein gewebtes Umhängetäschchen, eine
Hängematte, ein paar aus fünf Rohren (grösstes 40, kleinstes 28 cm) zusammen-
gesetzte Pansflötchen, eine mit Rohr umwickelte Rolle festgepressten Tabaks, wie
man sie am Amazonas herrichtet, endlich einen Kinderbogen mit Kinderpfeilen.
Die Hängematte war aus Baumwolle, nach Art der Bakaïrí-Hängematte gewebt,
aber aus dünnen Fäden und deshalb ausserordentlich leicht. Bogen und Pfeile,
sagten die Indianer, würden in ihrem Dorf fast nur noch von Kindern gebraucht.
Die Pfeile waren aus sehr dünnem Kambayuva-Rohr (grösste 1,1 m), die Bogen,
nicht ganz 1,5 m lang, auf dem Rücken konvex und flach auf der Sehnenseite.
Die Häuser scheinen die Bauart des brasilischen Rancho zu haben, mit
langem Giebeldach. Die Kanus sind aus Jatobá-Rinde (misá) oder Holz. Hänge-
matten, Webstoffe, Töpfe werden von den Frauen, Siebe und Körbe von den
Männern gemacht. Letztere roden den Wald, die Frauen pflanzen.
Die Unterhaltung mit den Indianern hatte grosse Schwierigkeiten, da sie
zwar sehr bereitwillig und gutmütig waren, aber, von Cuyabaner Bürgern be-
wirtet, stark angezecht zu uns kamen, für ihre Dienste neuen Schnaps bean-
spruchten, diesen wie Limonade hinuntergossen und nun in einen andauernden
Duselzustand gerieten. Auch Maria Kalara und Maria Theresa stolperten be-
trunken durch das Haus und sanken mit verklärt stupiden Gesichtern in einen
unserer Lehnsessel. Glücklicher Weise waren sie auch durch andere Reizmittel
zu gewinnen; Perlen liebten sie am meisten und leere Flaschen, die sie in grosser
Anzahl mitnahmen.
Die berauschenden Getränke, die sie zu Hause verwenden und die den
»Weinen« des Antonio Pires entsprechen, sind Mandioka oder Mais- »Kaschirí«;
man stellt durch Kochen einen Absud von den Früchten her und regt die Gährung
an, indem man gekaute Beijús oder Maiskörner zusetzt. Diese Getränke — sie
machen schlechte Zähne, klagten die Paressí — werden in grossen Massen ver-
tilgt. Die Hauptfeste sollen im Oktober und im April stattfinden. Es gebe Tänze
für die Männer allein und solche mit Beteiligung der Frauen. Bei ihrer angeregten
Stimmung machte es unsern Gästen viel Vergnügen, uns etwas vorzutanzen. Sie
gingen zu dreien Arm in Arm, zwei bliesen auf der Pansflöte melodiös hingezogene
Töne, indem sie leicht über die Flöte wegzublasen schienen, der dritte stampfte
den Takt. Abwechselnd machten sie wenige Schritte vorwärts und zurück.
Die Tänze kommandieren die Häuptlinge, für die sie ausser den beiden
Bezeichnungen harití und amuré bei dieser Gelegenheit noch eine dritte kakuáritihé
v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 28
[434] nannten. Man beginnt bei Tagesanbruch. Drei Arten wurden angegeben: der
Zulaní-Tanz, wo Einer allein anhebt (hamenané haroné ezanané kuakéna, nató nató
natáneé, wovon ich nichts verstehe als nató = ich) und der Chorus einfällt (haló
haló katáhe: timenatiré zolukatö hahahá …) — der Holúta-Tanz mit Flötenmusik
in schwirrend langgezogenen Tönen, die allmählich in der Ferne zu verklingen
scheinen; dabei oder danach wird geschmaust, Fisch, Waldschwein, »tudo come,
Alles isst« endlich der Walarosö-Tanz mit Flöte und Rassel (wála).
Von Maskentänzen konnte ich nur erfahren, dass man aus Buritístroh »Brillen«
oder dergleichen mache und mit Stangen (?) um das mit dem Kaschirí gefüllte
Trinkkanu tanze. Antonio Pires hat die Masken natürlich als Idole aufgefasst
und die Festhütte als Tempel.
Die Vernünftigsten und Mässigsten waren die beiden Häuptlinge João Battista
und Manoel Chico, die ich Abends bei mir hielt und ausfragte. Leider war ihr
Portugiesisch sehr mangelhaft; wohl auf bolivischen Import waren einige spanische
Wörter zu beziehen, wie muchacho, Knabe, und hoíyo = hiyo, Sohn. Indessen
erfuhr ich mancherlei Interessantes und bedauerte lebhaft, dass die Gesellschaft
nicht länger zu halten war.
Die Paressí leben in Monogamie, die Heirat werde von den beiderseitigen
Eltern ausgemacht und die Braut von ihren Eltern ohne Formalität, nachdem sie
einige Geschenke erhalten hat, zu der Hängematte des Bräutigams geführt. Die Frau
kommt, von ihrer Mutter um die Brust gefasst, in knieender Stellung nieder.
Mann und Frau bleiben etwa fünf Tage, bis die Nabelschnur abfällt, zu Hause; der
Vater darf nur mit Beijú angerührtes Wasser geniessen. Sonst würde das Kind
sterben. Es erhält seinen Namen, den eines »Grossvaters«, mit etwa drei Jahren.
Die Toten werden im Hause mit dem Kopf im Osten beerdigt. In das
Grab legt man Hängematte, Federschmuck, Armbänder, eine Halskette mit
schwarzen Früchten und reichlichen Reiseproviant von Branntwein, Beijú, Fleisch
von Waldschwein, Salz, einen kleinen Trinkkürbis. Die Verwandten schliessen
das Haus ab und bleiben sechs Tage bei dem Grabe, während deren sie selbst
strenge Fasten halten und nur »ein bischen Wasser« trinken. Wenn Einer isst,
so »isst er den Mund des Toten«, so würde auch er sterben. Ist der Tote bis
zum sechsten Tage nicht wieder lebendig geworden, so wartet man nicht länger,
alsdann ist er im Himmel angekommen und kehrt nicht zurück. Man bereitet
aus dem Saft des Kaiterú-Baums, indem man ihn die ganze Nacht hindurch quirlt,
eine Flüssigkeit, zu der man das Urukúrot hinzusetzt, und am siebenten Morgen
bemalt sich Alles festlich, schmaust und trinkt. Der Tod ist immer durch einen
Hexenmeister tihanále hervorgerufen. Er bereitet den feitiço, das Zaubergift (portu-
giesischer Ausdruck, mit »Fetisch« identisch), oder ihúzaré und sucht es seinem Opfer,
unter anderm auch durch Wurf, beizubringen. Er vergiftet auch den Branntwein,
und der Trinker stirbt — einer so guten Sache wie dem reinen Schnaps wird die
böse Wirkung nicht zugeschrieben. Der gute Medizinmann, sein Gegenpart, heisst
otuharití. Zur Zeit gebe es im Dorfe keinen. Er heilt die Kranken, die er mit
[435] Tabakrauch anbläst. Er weiss Alles, er nimmt junge Leute auf, die bei ihm
lernen wollen, die ewenekuaré, und wer am besteu lernt, wird sein Nachfolger.
Der Student muss fasten und einsam im Wald leben. Der Otuharití weiss auch
den Weg zum Himmel, »ebenso gut wie der Padre in der Stadt«, während »die
andern Leute ihn nicht kennen«.
Das portugiesische Wort alma, Seele, war dem Häuptling geläufig,*) er
übersetzte es mit niakó. Während des Schlafes wandert das Niakó umher, es
kehrt zurück und man erwacht. Sein Niakó, fügte er zu, sei in der vorigen Nacht
bei seiner Frau und seinem Kind gewesen; er glaubte durchaus, das Dorf
wirklich besucht zu haben. Das Niakó geht weit weg und tritt aus dem
Körper (nomelíhi, wie in allen unsern Sprachen Haut = Körper) am Nacken aus.
Ruft man den Schlafenden an und das Niakó ist noch in der Ferne, so »thut der
ganze Kopf weh«. Den genaueren Sinn von „niáko« kenne ich nicht. Die Tiere
haben es ebenso wie die Menschen.
Die »Seele« des Toten gebraucht sechs Tage, um im Himmel anzukommen.
Christliche Vorstellungen scheinen hier bereits mit den ursprünglichen amalgamiert.
Denn die bösen Menschen dringen nicht bis zum Himmel vor. Ein kleines Feuer
auf dem Wege dahin, flackert hoch empor, wenn ein »Sünder« erscheint und ver-
zehrt ihn. Mit ihm ist es zu Ende, wie die tote Mero in der Bakaïrísage ver-
brannt wird, damit sie töter als tot sei. »Sünder« (mit dem portugiesischen Wort)
aber, die dem Feuer entrinnen, fallen in die Gewalt eines Ungeheuers halb
menschlichen halb tierischen, hundeähnlichen Aussehens mit gewaltigen Ohren,
des iyuriú, das zu dem Wanderer sagt »komm hierher mein Sohn« und ihm
die Augen ausreisst, sodass es nun eigentlich erst »stirbt«. Im Himmel sind
die ältesten Paressí, die den Ankommenden begrüssen, namentlich vier Brüder
noschínú, die wir in der Ahnensage noch kennen lernen werden, an ihrer Spitze
Waikomoné, der den Toten beim Empfang mit Urukú bemalt — eine
gewiss körperlich gedachte Seele! Jeder bekommt dort oben einen palatá, d. h.
einen Palast, wie ihn der Capitão grande in Cuyabá besitzt. Sie leben dort wie
auf Erden und zeugen viele Kinder.
Firmament. Die Sonne besteht aus roten Ararafedern und gehört dem
Molihutuaré, dessen Frau Kameró (kamái Sonne) heisst. Es ist ihr Besitzer,
»dono«. Er bewahrt sie Nachts in einem langen Federkürbis und öffnet diesen
am Morgen. Doch wurden noch zwei andere Namen für den Besitzer der Sonne
genannt, Kuitahé und Kaschíe, die jetzt tot seien, während ein Anderer sagte,
Molihutuaré sei jetzt tot. Es handelt sich wohl um mehrere Namen, sei es der
Kaschinití oder Waimaré oder sonstiger Teile der Stammesgruppe für dieselbe
Person. Auch der Mond,**) der aus gelben Mutungfedern, wahrscheinlich von
28*
[436]Mutum pinima der Brasilier, dem bunten Mutung, Crax discors, besteht, hat einen
Herrn; dieser heisst Kaimaré und seine Frau Uriálo oder Uruiáro. Von den
beiden Besitzern wurde ausdrücklich gesagt, sie seien »como gente mesmo«, gerade
wie Menschen.
Wie der Gang der Sonne am Himmel zu verstehen ist, ist mir unklar ge-
blieben — »Molihutuaré setzt sie hierhin, dorthin, immer höher« —
weil meine Frage, ob das Araragefieder als Schmuck oder sonstwie irdischer
Verwendung ähnlich gedacht ist, nicht begriffen wurde. »Am Tage stellt
er Ararafedern hin«, die grellrot sind, »in der Nacht stellt er Mutungfedern
hin«, die bei mehreren Arten glänzend schwarz sind, und »es ist dunkel«.
Ich glaube nicht, dass Jemand hier eine Personifikation des Lichtes wird annehmen
wollen.
Die Mondphasen werden ganz ähnlich wie bei den Bakaïrí erklärt. Statt
der Eidechse erscheint bei den Paressí zuerst eine dünne Spinne am Rand des
Vollmondes, hierauf aber kommen nicht nur zwei, sondern vier Gürteltiere: erstens
das Tatú cabelludo oder das haarige, zweitens das Tatú liso oder das glatte,
drittens das Tatú bola, Kugelgürteltier, Dasypus tricinctus, und endlich das Tatú
canastra, Dasypus gigas oder Riesengürteltier, hinter dem der Mond ganz ver-
borgen ist. Ebenso wie bei den Bakaïrí haben die einfach beschreibenden
Namen der Mondphasen mit diesen Erklärungen nichts zu thun und enthalten
nichts von irgend welchen Tieren, sodass man sieht, wie dringend nötig es ist,
besonders nachzufragen.
Von den Sternen habe ich eine kleine Anzahl Namen erhalten, die ich
jedoch nicht zu übersetzen vermag, sodass ich nicht weiss, was die Paressí sich
darunter vorstellen. Ueber dem südlichen Kreuz, das zutakaré heisst, befindet
sich ein Strauss aú, dessen Gestalt in einer dunkeln Partie der Milchstrasse er-
kannt wird. Dort befinden sich auch ein »Jaguar, ein Seriema-Vogel (Dicholophus
cristatus) und viele andere Tiere.« Ein Jaguar packt einen Sumpfhirsch. Die
Milchstrasse selbst ist ein mit zahllosen gelben kutá-Früchten überstreuter Weg,
die in der Lingoa geral karikaró heissen sollen, die ich aber nicht näher zu be-
stimmen vermag, obwohl Antonio behauptet, dass ich sie im Sertão an der
Weihnachtslagune selbst gegessen habe.
Ahnensage. João Battista’s, des Paressíhäuptlings, Vater heisst Uvanái
und dessen Bruder Haraurusö́. Sein Grossvater hiess Hazaré, sein Urgross-
vater Kauviyé, dessen Vater Uvetökuharé, dessen Vater Zukahirí, dessen
Vater Kahaduré, dessen Vater Oiyé, dessen Vater Kamoduré, und dessen
Vater endlich war Uazále oder Wazalé oder Uazaré, der erste Paressí.
Ich habe die Reihenfolge zu drei verschiedenen Malen abgefragt, sie stimmte
immer. In der weitern Besprechung aber kam eine schier unerschöpfliche Fülle
der Namen zu Tage; immer wieder tauchten neue Brüder oder Söhne von
Uazale auf. Neben ihm spielt die grösste Rolle noch Waikomoné, sein Neffe.
Beide wohnen jetzt, nachdem sie gestorben sind, im Himmel.
[437]
Gehen wir nun aber, um Uazale’s Ursprung zu erfahren, sofort auf die erste
Person der Weltgeschichte zurück, die bei den Paressí eine Frau ist ohne Gatten.
Wiederum sehen wir, dass die Frau nicht erklärt zu werden braucht, sie wird
auch bei allen nachfolgenden Brüdern Uazale’s, die Söhne haben, vorausgesetzt.
Es hiess immer, dann wurde der und der geboren, ohne dass jemals der
Geburt der Frau Erwähnung geschah, und als ich mich besonders erkundigte,
»woher hatte er denn seine Frau?« lautete die Auskunft: »die war auch geboren
worden«.
Maisö́ hat keine Eltern. Wer Freund von schönen Worten ist, nenne sie
die »Allmutter«. Sie hat menschliche Gestalt und ist aus Stein, zu ihrer Zeit
war es noch dunkel, es gab noch keine Flüsse, keine Erde, kein Holz. Sie nahm
ein Stück Holz — woher weiss ich nicht — und steckte es in die Vagina: da
floss aus ihrem Leib der Rio Cuyabá hervor, er war sehr schmutzig. Bald aber
kam ein Wasser klar und schön, der Rio Paressí. Sie that Erde in das Wasser,
es entstand der Boden.
Dann kamen »viele Leute« aus dem Leibe hervor, als erster Darúkavaiteré,
alle Kopf, Arme, Brust u. s. w. aus Stein.
Darúkavaiteré hatte eine Frau Namens Uarahiulú oder Urulahiulú. Er
ging nur in der Nacht aus, es gab noch keinen Tagesanbruch. Die Sonne, den
Mond, den Strauss, den Jaguar, das Seriema, den Sumpfhirsch und was wir am
Himmel sehen, hat Darúkavaiteré selbst mit seiner Frau gezeugt und dort »hin-
gesetzt«. Mit seiner Frau zeugte er dann Papageienvögel und Schlangen. Uara-
hiulú gebar zuerst einen gewöhnlichen Perikito und zwei gleichfarbige Perikito-
schlangen, dann zeugten sie wieder und die Frau gebar zuerst einen Blauen Arara,
der schon ein menschliches Gesicht hatte, und danach auch eine Blaue Arara-
schlange, zum dritten Mal gebar sie einen Roten Arara, auch mit einem mensch-
lichen Gesicht, und eine Rote Araraschlange, zum vierten Mal einen Marakaná-
Papagei und eine Marakanáschlange. Schwiegermutter Maisö́ war sehr böse über
diese verunglückten Versuche. »Immer nur Papageien und Schlangen«, schimpfte
sie, »und noch keine Menschen!« Sie sann hin und her, nahm ihr Haar, legte
es der Tochter auf den Leib, knetete diesen und wusch sie im Fluss; wieder
zeugte Uarahiulú mit Darúkavaiteré und nun gebar sie Uazale, den Stammvater
der Paressí, der menschliches Aussehen besass. Doch hatte Uazale schwarzes
Haar über den ganzen Leib, einen kurzen Schwanz und eine Flughaut zwischen
Armen und Beinen wie eine Fledermaus.
Urulahiulú erhielt nun noch neun Söhne von Darúkavaiteré, unter diesen
die Stammväter der den Paressí verwandten Stämme. Ihre Söhne waren:
1. Uazale, 2. Zatemaré, 3. Kamahié, 4. Kamaikuré, (2, 3 und 4 bleiben
ohne Nachkommen), 5. Kamázu, den Grossvater der Kabischí, die deshalb die
Paressí als ältere Brüder gelten lassen müssen, 6. Zaluiá und 7. Zakálu, beides
Grossväter der Waimaré, 8. Zauluré, der Grossvater der Kaschinití, die heute
nicht mehr als selbständiger Stamm leben, 9. Aurumenaré ohne Nachkommen
[438] und 10. Kuitihuré, den Grossvater der Portugiesen! Die Portugiesen oder
Brasilier sind jüngere Brüder der Paressí.
Weiter zeugten Darúkavaiteré und Uarahiulú Söhne und zwar gebar letztere
Eisenwaaren und Beile, darauf Pferde, Rindvieh, Schweine: Alles kam
aus dem Leib der Uarahiulú.
Uazale ist der »erste Paressí« — »er war wie wir« — er wurde an einem
Fluss im Norden geboren und ging später in den Himmel. Sein Sohn Kamo-
duré, auf den João Battista sich zurückführt, hatte sein Haus auf einem Berg, als
eine grosse Ueberschwemmung stattfand; er hat zuerst Mais gepflanzt (vgl.
weiter unten dessen Ursprung).
Anfangs assen die Leute Jatobáfrüchte, Buritínüsse, faules Holz und Erde.
Einmal hatte sich Uazale als kleiner Junge im Walde verloren; er pfiff und pfiff,
die Mutter hörte ihn nicht. Er lief tiefer in den Wald hinein und fand die
wilde Mandioka. Er zog die Wurzel aus dem Boden, ass davon und brachte
den Eltern Zweige mit. Es ist nicht uninteressant, dass ein Stamm aus der
Aruakgruppe, die den meisten Anspruch von den lebenden Stammesgruppen auf
die erste Kultur der Mandioka erheben dürfte, die Mandioka einfach im Walde
finden und sie weder aus einem Grab hervorblühen, wie die Tupí, noch wie die
Bakaïrí von einem Fluss bei dem Bagadufisch holen lässt.
Uazale pflanzte Haar von seinem Kopf und es wuchs Baumwolle, er be-
grub (ich bin nicht sicher, ob das nicht ein Missverständnis ist) ein kleines Kind
und es wuchs Tabak. Auch der Mais ist damals entstanden. Uazale war sehr
erzürnt über seine beiden Kinder Kolabiruné und Haralö́, Bruder und Schwester,
die in derselben Hängematte gelegen hatten, und tötete sie beinahe. Sie ent-
flohen in den Wald und mit ihnen aus Angst auch noch zwei andere Söhne,
Alahuré und Manié. Sie machten Feuer und der Wald geriet in Brand. Drei
von den Vieren verbrannten, nur Alahuré blieb am Leben. Aus jenen aber
wuchsen Pflanzen hervor: aus den Geschlechtsteilen von den beiden Männern
entstand der schwarze (aus Kolabiruné) und der gelbe oder rote (aus Manié) Mais-
kolben, aus Haralo’s, der Frau, Geschlechtsteilen entstand die kumatá-Bohne (fava),
aus ihren Rippenknochen die kumatahiró-Bohne (feijão), aus dem Nabel die Batate,
aus dem After die Mandubí-Erdnuss. Man sieht, dass die Aehnlichkeiten zwischen
Körperteil und Frucht für die Auswahl entscheidend sind. Alahuré, der am Leben
blieb, hat zuerst Mais gegessen.
Uazale hat auch die Frauen Töpfe machen gelehrt.
Ich wollte nun auch von den Paressí wissen, wie die Bakaïri entstanden
seien, denen sie keineswegs hold gesinnt waren. Die Bakaïrí hätten noch vor
einigen Jahren auf dem Wege nach Diamantino die Paressí überfallen, um ihnen
Frauen wegzunehmen, und viele getötet. Der Bruder des Manoel Brito sei damals
um’s Leben gekommen, und so ging in der That Manoel »Bito« zum Präsidenten,
Herrn Mello Rego, um wider unsern Antonio, der zur Zeit der Begebenheit un-
gefähr 4 Jahre zählte, Klage zu führen. — Uazale hatte einen Bruder Kamázu,
[439] den schon erwähnten Grossvater der Kaschibí, und einen andern Tschenikauré,
was soviel heisst als »grosser Jaguar«. Tschenikauré tötete den Kamázu und
dessen Frau und verzehrte sie. Ihr Sohn Waikomoné wurde von der Gross-
mutter Araurirú aufgezogen; als er erwachsen war und mit Pfeilen schiessen
konnte, erschoss er den grossen Jaguar und zog ihm das Fell mit dem langen
Schwanz ab, das er in einem Sack mitnahm. Aus den sechs Pfeilen des
Tschenikauré entstanden die Bakaïrí, die in der Paressísprache Matokozó ge-
nannt wurden. Zur Sippe des grossen Jaguars gehörten noch andere Stämme,
die alle »bugre bravo«, Wilde seien und Menschenfleisch ässen! So beschuldigt
ein Stamm den andern kannibalischer Sitten und schiebt ihm die Abstammung
von dem menschenfressenden Jaguar zu.
Waikomoné scheint neben Uazale die grösste Bedeutung zu haben. Er habe
mit ihm die Frau getauscht. Er wurde auch einmal als sein Sohn bezeichnet.
Mit drei Brüdern Uazúlukuhiraré, Kerokamá und Uazulié ging er nach
seinem Tode zum Himmel; sie empfangen dort die toten Paressí, die sie mit
Urukú bemalen, schmücken und denen sie eine Tonsur scheeren. Diese vier
werden als noschinú bezeichnet (nóschi Enkel) und gelten den christlichen Paressí
als die »Engel«. »Ficarão bonito«, »sie wurden schön« und so wird auch jeder
Paressí, der oben ankommt »bonito«. Im Himmel ist Alles »bonito mesmo«,
sehr schön, »bonito como aquí na cidade«, schön wie hier in der Stadt! Wai-
komoné und seine drei Genossen vom Empfangscomité »não gostão de mulher«,
haben (wahrscheinlich als asketische Medizinmänner) keinen Geschmack an Frauen,
doch hat Waikomoné im Himmel sich einen Sohn aus Blättern gemacht, die er in
die Hand nahm, und die wuchsen und wuchsen, bis es ein Mensch war, Hoholuré.
Dieser Hoholuré verheiratet sich mit »allen hübschen Frauen«, die hier unten
sterben und nach oben kommen. Ein Schwager von ihm heisst Duzuhayé, der
auch im Himmel ist und viele Söhne besitzt, ein anderer Makakoaré. Die Fülle
der Namen ist unerschöpflich; man sollte glauben, jeder Paressí sorge dafür, dass
sein Grossvater im Himmel einen guten Posten hat.
Dagegen wimmelt es auf der Erde noch von allerlei Geschöpfen, die mit
den Paressí nicht verwandt, verschwägert oder befreundet, sondern die ihnen im
Gegentheil feindlich sind und sie zu fressen suchen. Sie fressen »nicht nur die
Sünder, oh nein, auch gute Menschen«.
Iwakané, mit starkem Haarwust bis tief über die Augen, auf dem Grund der
Flüsse. Man sieht ihn niemals, aber man hört ihn, wie er hm, hm oder hum, hum
macht. Er ist in allen Flüssen, selbst in den Quellbächen. Er hat auch eine Frau.
Kokuimorö́. Im Fluss. Sieht aus wie eine Fledermaus, hat eine Flughaut,
einen Fledermausschwanz, einen Ararakopf. Fliegt des Nachts umher und schreit
‚kwi kwí kwí“ mit einer feinen hohen Stimme, ähnlich dem Falkenruf. Früh
Morgens taucht er in’s Wasser.
Toluá. Im Fluss. Ziemlich klein, weisslich. Gluckst des Nachts „turú, turú“
(daher der Name). Kommt aus dem Wasser hervor und begiebt sich in den Wald.
[440]
Severití. Im Wald. Sehr klein, wie eine fussgrosse Termite, hat kein
Haar. Spricht nicht.
Hakasö́. Im Wald. Sein Ruf abwechselnd: kwa . . . . . hochtönend und
hahahá tief. Ist klein, hat einen Menschenkopf. einen starken Bart; die Beine
sind nur Knochen.
Hakasö́ und Toluá fressen besonders den Mann, der die Couvade ver-
nachlässigt und in den Wald geht, statt bei Frau und Kind zu Hause
zu bleiben.
Heimat der Paressí. Wo ist Uazale und wo sind die ersten Paressí ge-
boren? Ich habe mit João Battista und Manoel Chico die Geographie ihres Ge-
bietes möglichst genau durchgenommen und eine Menge von Namen für kleine
Bäche und Flüsschen erhalten, die kein weiteres Interesse darbieten. Aber schon
bei der Aufzählung dieser Gewässer des Oberlaufs liess sich bestimmt feststellen,
dass eine Verschiebung zum Süden stattgefunden hat. Ich nahm die mir be-
kannten Namen der Vorfahren, bei dem Vater und Grossvater beginnend, und
fragte, an welchem Fluss sie geboren seien. Je mehr wir in der Reihenfolge der
Ahnennamen aufrückten, desto mehr kamen wir auch nach Norden. Uazale’s
nächste Nachkommen wohnten oberhalb der Vereinigung von dem Juruena (dem
entlang sich die Verschiebung nach Süden vollzogen hat) und dem Arinos, die
beide zusammen den Tapajoz bilden. Uazale selbst ist am Matihurizá geboren,
»wo es weder Land noch Wald giebt«, d. h. kein Ufer, »und er ist weit fluss-
aufwärts gegangen«. Der Matihurizá ist der Tapajoz, wenn er nicht den Amazonas
selbst vorstellt. Wenn also die Hauptbewegung der Karaibenstämme von Süden
nach Norden gerichtet war, so hat sich wenigstens dieser Teil der Nu-Aruakgruppe
von Norden nach Süden bewegt.
Freilich kommt es den guten Leuten auf den kleinen Widerspruch nicht
an, dass Uazale aus fernem Norden gekommen ist, und dass seine Grossmutter
Maisö́ zuerst von allen Flüssen den Rio Cuyabá gemacht hat!
[[441]]
XVII. KAPITEL.
Zu den Bororó.
I. Geschichtliches. Gründung der Kolonien.
Bororó da Campanha und do Cabaçal. »Coroados« = Bororó. Verwirrung in der Literatur. Der
kleine Sebastian. Martius. Beendigung der Fehde und Katechese. Raubwirtschaft in den Kolonien.
Man unterscheidet im Matogrosso zwei Gruppen von Bororó, die »Bororós
da Campanha« oder der Ebene und die »Bororós Cabaçaes« oder des Rio
Cabaçal. Die Bororós da Campanha leben in kleinen Ansiedlungen unterhalb
Villa Maria, am rechten Ufer des Paraguay und Jaurú nach Bolivien hinüber, die
Bororós do Cabaçal nicht weit von ihnen im Norden an den Ufern und im
Quellgebiet des gleichnamigen Flusses sowie des Jaurú, die beide rechts in den
obern Paraguay jener bei Villa Maria, dieser etwas südlicher, einmünden.
Diese Bororó sind nicht selten von Reisenden besucht worden; 1827 kamen
sie mit der Langsdorff’schen Expedition in Berührung, in demselben Jahre hat
der österreichische Naturforscher Natterer bei ihnen eine reiche, jetzt im Wiener
Hofmuseum befindliche Sammlung angelegt, Graf Castelnau und sein Begleiter
Weddell, die sich auf ihrer berühmten Durchquerung von Südamerika 1845
und 1846 im Matogrosso aufhielten, haben uns ein kleines Vokabular überliefert,
der Ingenieur Rodolfo Waehneldt gibt eine sehr anschauliche Schilderung aus
dem Jahre 1863 in der Revista Trimensal do Instituto Historico, Band 27, endlich
hat der Sammler Richard Rohde, der 1883—84 im Auftrag der Berliner
Museums für Völkerkunde im südlichen Matogrosso reiste, in dem Heft I der
»Original-Mittheilungen aus der ethnologischen Abtheilung der Königlichen Museen
zu Berlin« (1885) einige Angaben niedergelegt.
Diese Bororó der Campanha und des Cabaçal gelten als Trümmer eines
einst gewaltigen Stammes, der das Gebiet zwischen dem Rio Paraguay und Rio
Cuyabá besetzt hielt, mit den Kolonisten in erbitterter Fehde lebte, namentlich
den Verkehr zwischen Cuyabá und Villa Maria und Matogrosso empfindlich störte
und in zahlreiche längst vernichtete Unterabteilungen zerfiel. In den zwanziger
Jahren unseres Säkulums wurden zuerst die Bororó der Campanha von João
[442] Pereira Leite, einem grossen Fazendeiro bei Villa Maria, der 6 Jahre mit ihnen
gekämpft, 450 getötet und 50 gefangen hatte, zum Frieden bewogen und teil-
weise getauft*). Die Bororó des Cabaçal, die gewöhnlich beschriebenen, sind
erst 1842 durch »milde Ueberredung und Geschenke« von dem Vikar in Mato-
grosso, José da Sa. Fraga am Jaurú sesshaft gemacht worden; sie zeigten sich
aber sehr widerspenstig gegen den Feldbau, pflanzten nur etwas Mais, Bataten
und Bananen und zogen es vor, sich hauptsächlich von der Jagd mit Pfeil und
Bogen zu ernähren. Heute sind die Bororó am rechten Paraguayufer eine elende,
heruntergekommene Gesellschaft. Sie haben die Zivilisation mit Lues und Schnaps
durchaus nicht vertragen können.
Von anderen Bororó erzählt uns die Kolonisationsgeschichte der Provinz
schon in ihrer frühesten Epoche. 1742 zog Antonio Pires mit einer Schaar
Paulisten und 500 befreundeten Bororó aus, die Kayapó im südlichen Teil der
Provinz zu unterwerfen, machte auch mehr als 1000 Gefangene, legte einige
Militärposten an und liess dort »eine Besatzung von Bororó« zurück.
Alle diese Bororó gehen ursprünglich aus dem Gebiet des Rio S. Lourenço
hervor; von seinem untern Teil haben sich diese nomadisierenden Jäger in das
Gebiet zwischen ihm und seinem Nebenfluss, dem Cuyabá, sowie über das seiner
Einmündung gegenüberliegende rechte Paraguayufer verbreitet, während sie, von
dem obern Teil des S. Lourenço ausgehend, uns im Osten und Südosten der
Provinz an den Quellflüssen des Araguay, den »Contravertenten« des S. Lourenço,
als Nachbarn und Feinde der nicht minder starken Kayapó begegnen.
Es ist schwer verständlich, warum über die Bororó sowohl unter den Mato-
grossensern selbst als in der Literatur die grösste Begriffsverwirrung geherrscht
hat und noch herrscht. Von Castelnau erfahren wir, dass die Bororó des
Cabaçal noch damals »Porrudos« genannt wurden; nun ist »der alte Name des
Rio S. Lorenço, den er in seinem obern Teil noch jetzt führt«, wie der Geograph
Melgaço angibt (Rev. Trim. Bd. 47, p. 459), »Rio dos Porrudos«**).
Die Indianer des S. Lourenço werden heute »Coroados«, die Geschorenen,
genannt — ein Name, der allerdings zu Verwechslungen geradezu herausfordert.
»Coroados« hätten wir auch die Schingúindianer nennen können, Coroados gab
es vor Allem im Strombecken des Paraná und andere wiederum am Rio Xipotó
an der Grenze der Provinzen Minas Geraes und Rio de Janeiro, Stämme, die
nach Herkunft und Sprache sowohl voneinander als von den »Coroados« des
Matogrosso durchaus verschieden sind.
In Cuyabá waren die »Coroados« bei unserer Ankunft der Gegenstand
des allgemeinen Interesses. Nachdem sie immer als die schlimmsten Feinde der
[443] ländlichen Bevölkerung in dem ganzen Gebiet zwischen dem Rio Cuyabá und S.
Lourenço bis zur Grenze nach Goyaz hinüber gegolten hatten, waren sie endlich
dank den Bemühungen des Präsidenten Galdino Pimentel im Jahre 1886
»pacificados« zur Ruhe gebracht und in zwei Militärkolonien am S. Lourenço
angesiedelt worden.
Nun sind keineswegs alle Schandthaten, die den »Coroados« zur Last ge-
legt wurden, von diesen begangen worden. Man hat sie, zumal im Nordosten
von Cuyabá, mit Kayapó verwechselt, die dort räuberische Einfälle machten.
Dann aber wusste Niemand in der Hauptstadt, dass die gefürchteten »Coroados«
gar nichts anderes waren als Stammesbrüder derselben Bororó, die schon seit
langer Zeit in mehreren Dörfern rechts des Paraguay in friedlichen Verhältnissen
und teilweise sehr herabgekommenem Zustande leben, ja auch Stammesbrüder
derselben Bororó, die schon mit dem Gründer Cuyabás, Antonio Pires, vor der
Mitte des 18. Jahrhunderts verbündet und von ihm als Garnison verwendet
worden waren!
Ich war nicht wenig erstaunt, als ich von »Atahualpa«, einem mit wenigen
Genossen zur Taufe nach der Hauptstadt geführten »Coroado« erfuhr, dass sie
sich selbst Bororó nennen.
So löste sich mir denn auch rasch ein anderes Rätsel, das die Unter-
haltung mit Atahualpa darbot. Ich hatte gerade den Bericht über einige 1859
nach Cuyabá gebrachte gefangene »Coroados« (zwei Mädchen und einen Knaben)
in dem Buch von Joaquim Ferreira Moutinho »Noticia da provincia de Mato
Grosso« (S. Paulo 1869, 425 SS.) gelesen und dort eine Wörtersammlung (S. 192)
gefunden, die ich nunmehr mit meiner eigenen Aufnahme vergleichen wollte. Zu
meinem Erstaunen stimmte Nichts, gar Nichts. Der Autor hatte die Wörter von
dem »Coroado«-Knaben erfahren, von dem er die rührendsten Geschichten erzählt
und der in Cuyabá auf den Namen Sebastian getauft wurde. »Wir werden
einige Wörter geben, die wir von ihm lernten.« Folgen 52 Wörter — abge-
schrieben leider aus dem Glossar von Martius S. 195 ff., und herrührend leider
von den »Coroados« am weit entfernten Rio Xipotó an der Grenze von Rio de
Janeiro, die ebenso wenig als die »Coroados« von Paraná irgend etwas mehr als
dem unglückseligen portugiesischen Namen mit den »Coroados« des Matogrosso
gemein haben! Ohne den Namen wäre die unangenehme Verwechslung*) un-
möglich gewesen. Moutinho hat die Gelegenheit, sich besser zu unterrichten,
[444] thörichter Weise nicht benutzt, als er das Dorf der nicht »Coroados«, sondern
richtig »Bororó« genannten Stammesabteilung am Rio Cabaçal besuchte. Bei
diesem Besuch, den er S. 169 ff. schildert, hätte er bemerken sollen, dass die
Indianer einen Dialekt der Sprache des kleinen frommen Sebastian redeten.
Wieder hat er seinen Martius zu Rate gezogen und dort S. 14 die »Bororós«
gefunden und hier 40 Wörter, die wirklich den Bororó am Cabaçal gehören, ab-
geschrieben. Auch hier lässt uns sein Missgeschick die Quelle entdecken. Denn
die Wörter, von der Castelnau’schen Expedition aufgenommen, haben leider nicht
portugiesische, sondern französische Schreibweise, in der mehreren Doppelvokalen
eine ganz andere Aussprache zukommt als in der portugiesischen, und stimmen in
einer Weise überein, wie zwei voneinander unabhängige Aufnahmen niemals über-
einstimmen.
Einer der Wenigen, der die Identität der »Coroados« und Bororó, wie ich
später fand, richtig vorausgesetzt hat, ist der Baron Melgaço*) gewesen, ein
ebenso tüchtiger Präsident (zum ersten Mal 1851) als Geograph des Matogrosso.
»Die Coroados hausten im Quellgebiet des S. Lourenço; sie haben nichts gemein
mit denen des Paranabeckens; ich vermute es seien Bororó gewesen.« Er hielt
sie nur für ausgestorben.
Bei den Verwechslungen, die im Lande selbst vorkommen, kann es nicht
Wunder nehmen, dass Martius von den Bororó sehr irrige Vorstellungen hat.
Er behandelt sie unter den Central-Tupí,**) er zweifelt selbst mit Recht, dass sie
einen Tupístamm darstellen, fällt aber dann den merkwürdigen Vorstellungen zum
Opfer, die früher über die Zusammensetzung von Indianerstämmen geherrscht
haben und die in seinem Lieblingswort »Colluvies gentium« am besten zum Aus-
druck kommen. »Es ist wahrscheinlich, dass unter Bororós überhaupt feindliche
Indianer, ohne bestimmte Namensbezeichnung, ja vielleicht mitunter wohl auch
eine Colluvies gentium begriffen werde, die ohne scharf ausgeprägte und fest-
gehaltene Nationalität in Sprache, Sitten und körperlicher Erscheinung, bis auf
kleine Banden ohne festen Wohnort zerteilt, plündernd und mordend umher-
schweifen. In Mato Grosso und Goyaz mögen allerdings solchen räuberischen
Gemeinschaften Individuen vom Tupístamme zu Grunde liegen. Indem sich aber
denselben andere Indianer angeschlossen, haben sie ihre Sprache gleichsam zu
einem Diebs-Idiome (!) umgeändert. Bei Cazal (Corografia brasilica p. 302) werden
zwei Horden Bororós: die Coroados oder Geschorenen und die Barbados, Bärtigen,
angeführt. Die ersteren sind keine Schiffahrer, sondern nomadische Jäger, die
südlich und südwestlich von der Stadt Cuyabá in unzugänglichen Einöden an
den Quellen des Rio de S. Lourenço und des Rio dos Mortes, eines
Tributärs des Araguaya, hausen sollen.« Diese Angaben von Cazal sind völlig
genau und zutreffend und auch er erkannte also die »Coroados« als Bororó. Unter
[445] den »Barbados«, fährt Martius fort, seien vielleicht Guató zu verstehen, sie über-
fielen manchmal die von Goyaz nach Cuyabá ziehenden Karawanen und dehnten
ihre Ueberfälle bis Diamantino aus. Die Guató sind jedoch niemals in diese Gegend
gekommen, sie leben als Wassernomaden im oberen Paraguaygebiet; jene »Bar-
bados« sind wahrscheinlich Kayapó oder auch Bororó gewesen.
Natürlich erklärt Martius den Namen Bororó aus der Lingoa geral, entweder,
wenn von den Nachbarn herrührend, = »Kriegsmänner, Feinde,« oder, wenn von
ihnen selbst ausgehend, = wir, die Herren des Bodens. Aber die Bororó wissen
Nichts von der Lingoa geral und sie selbst nennen sich so.
Indem ich nunmehr den Namen »Coroado« ganz fallen lasse, berichte ich
Einiges über die sogenannte »Katechese« oder Bekehrung dieses Bororó-Stammes,
die lange Jahre vergeblich erstrebt war, aber auch kaum hatte gelingen können,
weil die Versuche auf die verkehrteste Art betrieben worden waren. Als Stütz-
punkt diente eine am rechten Ufer des S. Lourenço eingerichtete Militärkolonie,
die Ende der 70er Jahre der Major J. Lopez da Costa Moreira einrichtete.
1878 unternahm ein Kapitän Alexander Bueno mit 70 Terena-Indianern,
einem zur Gruppe der Guaná gehörigen Stamme, eine Expedition, »um die Bororó
zu verjagen«. Er hatte, wie mir versichert wurde, den geheimen Auftrag möglichst
viele totzuschiessen und war auch so weit vom Erfolg begünstigt, als er dem
Präsidenten einen Sack voll Ohren vorzeigen konnte. Von Lebenden brachte er
zwei Frauen und zwei Kinder mit.
Am 9. Oktober 1880 überfielen die Bororó die Fazenda des José Martins
de Figueiredo am Bananal (Rio Cuyabá) und töteten mehrere Personen. Darauf hin
wurden mehrere gleichzeitige Expeditionen gegen sie ausgerüstet. Einer der
Führer war Lieutenant Antonio José Duarte; er griff ein Dorf ohne Erfolg
an und fing 5 Frauen und 12 Kinder. Mehr wurde nicht erreicht. In den
Jahren 1875 — 1880 sollen von den Bororó 43 Häuser verbrannt, 204 Personen
(134 Männer, 46 Frauen, 17 Kinder, 7 Sklaven) getötet und 27 Personen (11 Männer,
6 Frauen, 3 Kinder, 7 Sklaven) verwundet worden sein. Wie viele Bororó
getötet worden sind, wird nicht angegeben. Dass die Gegenseitigkeit eine
grosse Rolle spielte, unterliegt keinem Zweifel. Allgemein wurde hervorge-
hoben, dass die Eingeborenen die zäheste Ausdauer bewiesen, um ihre Rache-
pläne ins Werk zu setzen. Ein Brasilier, der zwei Kinder sehr grausam umgebracht
hatte, wurde über vier Jahre systematisch verfolgt, bis sie ihn endlich fingen und,
wie er es verdient hatte, in Stücke rissen. Sie waren bei ihren Angriffen äusserst
vorsichtig und spionierten Tage und Wochen lang, bis sich die Gelegenheit bot,
dass nur wenige Personen auf dem Gehöft waren. Einzelne Reisende liessen sie
gewöhnlich unbehelligt; nur kam es vor, dass diese, wenn sie an einem Orte ihr
Nachtlager aufschlagen wollten, daran verhindert wurden, indem aus dem Walde
der Ruf ertönte „va embora“ »geh fort«. Niemand liess sich blicken, doch hätte
man eines Pfeilschusses gewärtig sein müssen, wenn man nicht gehorchte. Im
Februar 1881 wurden von den Bororó bei Forquilha, 10 Leguas von Cuyabá,
[446] 2 Männer und 7 Kinder getötet, ja sie drangen bis Urubú bei der Pulverfabrik,
5 Leguas von der Hauptstadt, vor.
Jener Lieutenant Antonio José Duarte, den ich soeben erwähnt habe,
führte endlich den glücklichen Umschwung in den unleidlichen Zuständen herbei.
Er schickte gefangene Frauen mit reichen Geschenken zurück, versprach mehr,
wenn die Männer kämen und so gelang endlich die Versöhnung. Im Januar 1887
brachte er gegen 400 Bororó nach Cuyabá. Es muss ein merkwürdiges Treiben
in den Strassen der Stadt gewesen sein. Am meisten freute man sich der Kinder,
die sich sehr borstig zeigten und kleinen Jaguaren vergliche wurden „sómente
unha e dente“ »nur Krallen und Zähne«; die Frauen stiegen über die Gartenmauern
und kletterten nach ihrer Gewohnheit auf die Bäume, um sich Früchte herab-
zuholen.
Die Provinz atmete auf, man schätzte die Bororó mit der üblichen Ueber-
treibung auf 10,000 Seelen und sah alle diese 10,000 bereits im Geiste Mandioka
pflanzen und auf den Zuckermühlen arbeiten. Die Regierung stellte sofort 70 Contos
(à 1000 Milreis) zur Verfügung der Katechese und die Bürgerschaft steuerte frei-
willig 3 Contos bei, was zusammen damals etwa einigen 140,000 Mark entsprach.
Die Ausgaben erhöhten sich in kurzer Zeit auf 118 Contos. Die Indianer wurden
in zwei Kolonien angesiedelt; die eine an der Mündung des Prata in den
S. Lourenço wurde Thereza Christina nach der Kaiserin, die andere, an der
Mündung des Piquiry in den S. Lourenço, Izabel nach der Kronprinzessin und
Gemahlin des Grafen d’Eu genannt. Auch gründete der Präsident ein »Collegio
de Nossa Senhora da Conceição« für die Erziehung der Indianerkinder — ein Kolleg,
das niemals von Schülern besucht worden ist.
Feierlich wurde die ganze Gesellschaft von dem Bischof getauft. Der da-
malige Präsident Don Alvaro Marcondes und seine Gemahlin waren Pate und
Patin für Alle; der Häuptling Moguyokuri, dessen persönliche Bekanntschaft
wir noch machen werden — eine prachtvolle Indianergestalt in der That, 1,9 m
hoch und trotz einiger angeborenen Brutalität ein urgemütlicher Biedermann —,
empfing den Namen Alvaro. Sein Christentum hat sich freilich darauf beschränkt,
dass er sich dieses Namens einige Tage noch erinnerte.
»Muguiocury«, berichtete das »Jornal do Commercio« in einem Cuyabaner
Brief, »scheint mit der Sache der Zivilisation seines Stammes ganz
indentifiziert, besucht fleissig den Palast, um den Präsidenten zu besuchen und
ihm Geschenke zu bringen; er bezeigt für diesen die grösste Sympathie und
nennt ihn »Pate«, indem er ihm die Hand küsst, so oft er ihn sieht. Jedesmal
wenn er dem Präsidenten begegnet, trägt er seine Zufriedenheit mit vielem
Lachen und wiederholtem Umarmen zur Schau.«
Difficile est, satiram non scribere. Es ist sogar sehr schwer. Der gute
Moguyokuri hatte gewiss, soweit sein Verstand reichte, den besten Willen, wenn
man es an Geschenken nicht fehlen liess. Der Indianer, der Offizier, der Liefe-
rant, jeder auf seine Weise, will sich bereichern, das ist die Katechese. Die
[447] Regierung giebt die Mittel mit vollen Händen her und was erreicht wird, ist
einzig und allein, dass die Feindseligkeiten, an denen beide Teile gleich schuldig
waren, aufhören. Christentum, Erziehung zur Arbeit, Unterricht der Jugend —
meine Feder sträubt sich, diese schönen Worte zu schreiben.
Was von dem Gelde für die Indianer verwendet worden ist, ist so verwendet
worden, dass das prachtvolle Menschen-Material mit Sicherheit zu Grunde gehen
muss. Lieutenant Duarte, der Leiter von Thereza Christina, er war wirklich, wie
die Cuyabaner sagten, »der Gott der Coroados«; er gab ihnen Alles, was sie
haben wollten, und hielt sie mit dieser einfachen Methode ruhig, die ihn nicht
viel kostete und die Kaufleute nach bekannten Methoden der Berechnung ver-
dienen liess. Die Zahl der Indianer, für die der Staat per Kopf zahlte, pflegt
natürlich sehr gross zu sein, und dazu kommt der beträchtliche Gewinn, den der
Offizier an dem gemeinen Soldaten macht, der von ihm oder von dem durch ihn
engagierten Lieferanten die Lebensmittel kaufen muss. Nicht nur die von der
Stadt, sondern auch die von den draussen auf dem Wege zur Kolonie gelegenen
Fazendas gelieferten Artikel waren in der Kolonie für den armen Soldaten teurer
als in der Stadt für den Bürger; die Farinha, die Bohnen, der Speck kosteten
doppelt soviel!
Ich habe die folgenden Preise (1 Milreis = 1000 Reis = rund 2 Mark)
aufgezeichnet:
Der Soldat bekam an Proviantgeldern pro Tag 600 Reis, was bei jenen Preisen
für ihn und seine Hausgenossin sehr knapp war. Sold erhielt er pro Monat
5 Milreis nebst 5 Milreis Gratifikation.
»Ich weiss wohl,« sagte einer der Präsidenten, »Duarte hat da ein Kalifornien
gefunden.« Aber auch der Präsident könnte Nichts ändern; kaum dass er die
Verhältnisse übersieht, hat er den Posten zu verlassen, und je mehr er der Miss-
wirtschaft steuern will, um so rascher nur erfolgt der Wechsel, weil er sich an
Allen, die dadurch verlieren, Feinde schafft. Auf die Hauptfrage, ob der
[448] brasilische Soldat, den guten und ehrlichen eingeschlossenen, der wahrlich nicht
leichten Aufgabe überhaupt gewachsen wäre, die Indianer zu einem nützlichen
Element des Gemeinwesens heranzubilden, lohnt es sich nicht einzugehen. Die
folgenden Seiten mögen es lehren.
II. Bilder aus der Katechese.
Nach dem S. Lourenço. (Erste Bekanntschaft mit Täuflingen in Cuyabá. Reise.) Die Bewohner
(Clemente) und die Anlage der Kolonie. Europäische Kleidung. Feldbau. Unsere Eindrücke. Streit
und Weiberringkampf (Maria). Fleischverteilung. Nächtliches Klagegeheul. Vespergebet. Skandal
mit Arateba. Charfreitag. Totenklage. Halleluja-Sonnabend (Judas). Kayapó. Drohende Auf-
lösung der Kolonie. Schule. Die feindlichen Brüder. Disziplin. Duarte’s Ankunft.
»Voluntarios da patria.« Frühstück und Serenade.
Nach dem S. Lourenço. Die ersten Bororó konnten wir schon im Juli
1887 in Cuyabá untersuchen; Duarte hatte Einige zur Taufe mitgebracht. Andere
lernten wir Anfangs März 1888 kennen. Sie waren barfuss, aber sonst vorschrift-
mässig bürgerlich angezogen und trugen an einer Schnur um den Hals einen
grünen Karton von der Grösse einer Visitenkarte, auf dem ihr neuer Name zu
lesen stand: »Atahualpa«, »Montezuma«, »José Domingo« u. s. w. José Domingo
hustete heftig; man sagte, er habe sich bei der Taufe erkältet. Unter der
Kleidung trugen sie ihren heimischen Strohstulp; sobald sie vor den Mauern der
Stadt waren, zogen sie Alles aus, packten die Herrlichkeit ein und behielten nur
ihre grüne Karte noch einige Tage am Halse zum Andenken an die Bekehrung.
Es waren grosse, stämmige Burschen; auffallend durch dicke Stirnwülste,
ohne Brauen und Wimpern. Sie hatten grosse Freude an den Sehenswürdigkeiten
von Cuyabá, wo man sie wie Kinder verwöhnte, nur dass man ihnen statt Süssig-
keiten Alkoholika gab. Ihr besonderes Wohlgefallen erregte Wilhelm’s Chapeau
claque; sie begrüssten den Knalleffekt mit bärenbrummigem hu hú-Lachen und
schlugen Wilhelm anerkennend auf die Schulter. Bei uns im Hause wollten sie
immer trinken oder essen »Mandioka« oder »Tapira«, was Rindfleisch und nicht
Tapir bedeutete, oder schlafen oder sich frisieren. Ueberall fanden sie Freunde
und wenn sie bei uns an der Hausthüre standen, nickte ihnen jede vorüber-
schreitende Negerin behaglich zu: »Ah, die Gevattern! Wie geht es, Gevatter?
Está bom, compadre.«
Am 14. Marz 1888 brachen wir zum Besuch von Thereza Christina auf,
während wir auf den Besuch von Izabel verzichten mussten. Duarte hatte noch
längeren Aufenthalt in Cuyabá und wollte später nachkommen. Der Bakaïrí An-
tonio und die beiden Kameraden Carlos und Peter begleiteten uns. Die Maul-
tiere waren wieder in so gutem Zustande, dass wir die besten als Reittiere ge-
brauchen konnten.
Unser erstes Ziel, die alte Militärkolonie, liegt 16° 32', 6 südlicher Breite
und 0° 59', 9 östlich von Cuyabá am rechten Ufer des S. Lourenço, ziemlich genau
[]
VOR DEM MÄNNERHAUS DER BORORÓ.
[][449] in Südostrichtung von Cuyabá. Wir hatten einige Nebenflüsse des Rio Cuyabá
zu überschreiten, stiegen auf die Chapada und erreichten auf der Hälfte des
Weges am 18. März die Fazenda S. José in einer Höhe von 555 m über dem
Platz der cuyabaner Kathedrale oder Matriz. Südwestlich von ihr liegen tiefer
hinab die Fazenden von Cupim und Palmeiras, die hauptsächlich die Kolonien
versorgen. Jenseit S. José ist die Gegend unbesiedelt; das kleine weisse, festungs-
artig ummauerte Gehöft erscheint in tiefer Einsamkeit in einer Senkung zwischen
kahlen, nur grasbedeckten Hängen. Ein einziger, aber hoher Baum stand an dem
Bächlein, dessen Ufer von vielen jungen Buritípalmen eingefasst war. Es hatte
Mut dazu gehört, hier zu wohnen und zu arbeiten. Ausser den Hofmauern von
S. José hatte unterwegs kaum irgend etwas an die Kämpfe mit den Bororó er-
innert. Nur waren uns zuweilen niedrige, enge Lauben aufgefallen, die man durch
Zusammenstellen von krüppligen Sertãobäumchen aufgerichtet hatte; sie rührten
von Soldaten her und hatten als Schutz während der Nacht gedient. Ueber ent-
setzlich öde Grasflächen gelangten wir am 19. März zu den ersten, noch wenige
Meter breiten Bächen, die dem S. Lourenço zuflossen. Wir fanden am Ribeirão
Prata ein liebliches Landschaftsbildchen, das uns mit dem Wald und der saftigen
Wiese und dem Silberband des Quellflüsschens lebhaft die Heimat vor die Seele
rief. Nur einige junge Palmen sprachen dawider und das Thermometer, das für
das sehr erfrischende, »eiskalte« Wasser eigensinnig 22,8° angab. Am 21. März
erfolgte der Abstieg von der Plateauterrasse an malerischen roten Sandsteinfelsen
vorüber, und am Nachmittag erreichten wir die Apfelsinenhaine der Militärkolonie,
wo der schöne, waldumsäumte S. Lourenço in einer Breite von 127 m vorbei-
strömt. Wir wurden von dem Kommandanten, Kapitän Serejo sehr gastfreund-
lich aufgenommen.
Am nächsten Tage trafen wir in Thereza Christina ein. Es ist fluss-
aufwärts gelegen, ebenfalls am rechten Ufer, nicht weit unterhalb der Einmündung
des Prata, doch macht der S. Lourenço zwischen den beiden Kolonien starke
Windungen und ist das Waldgebiet so sumpfig, dass man zu einem grossen Umweg
landeinwärts gezwungen ist.
Ueber einem wenige Meter hohen Ufer eine ausgedehnte Waldrodung, auf
dem freien, mit dürrem Unkraut überwucherten Platz noch mancher dicke alte
Baumstumpf stehend und hier und da gehauene Stämme umherliegend, eine Menge
niedriger, viereckiger, zum Teil langer Hütten mit palmstrohgedeckten Giebel-
dächern, die sofort über der Thüre ansetzen, Alles nüchtern und freudlos in
demselben graugelblichen Ton von Stroh und Lehm, an drei Seiten von Wald
umgeben, die vierte begrenzt von einem stattlichen, breiten Strom und drüben
ein dunkler Streifen üppigen Waldes, über dem lang hingezogen ein flacher
Hügelzug erscheint — das war Thereza Christina.
Der Vertreter Duarte’s, der uns mit grosser Liebenswürdigkeit und Herzlich-
keit empfing, war der »Kadett« Eliseo Pinto d’Annunciação. Kadetten sind
in Brasilien Offiziersaspiranten, gewöhnlich Söhne von Beamten oder Offizieren,
v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 29
[450] die von der Pike auf dienen und deren Beförderung wesentlich von der Protektion
abhängt. Unser Eliseo hatte Sergeantenrang und meinte, er würde sofort Leutnant
werden, wenn ich mich [für] ihn in Rio verwendete. Er war ein guter und gewissen-
hafter Mensch und hätte Nützliches leisten können, wenn er das Recht gehabt
hätte, nach seiner eigenen Meinung zu handeln. Ein zweiter Kadett mit Unter-
offiziersrang hiess Caldas, ein junger Mann, musikalisch und für eine Zulage
Magister der Bororóknaben. Er hatte auch ein Vokabular angelegt und war also
der Repräsentant von Kunst und Wissenschaft. Dann gab es noch einen Kadetten
Joaquim, den Apotheker und den Verwalter Ildefonso. Weitaus die wichtigste
Persönlichkeit für mich aber war Clemente, der 13 Jahre in Gefangenschaft der
Bororó gelebt hatte und jetzt etwa 28 Jahre zählte. Sein Vater Manoel Pedroso
de Alvarenga wohnte am Peixe de couro, einem Nebenflüsschen des in den
S. Lourenço einmündenden Piquiry. Im September 1873 überfielen die Bororó
dort 5 Kinder beim Baden; zwei wurden getötet, eins entkam, zwei wurden mit-
genommen, Clemente und ein jüngerer Bruder. Er erzählte, man habe ihnen die
Hände vor die Augen gebunden und sie fünf Tage ohne Aufenthalt auf dem
Rücken zum Dorfe fortgeschleppt. Der Bruder sei bald gestorben. 1886 wurde
Clemente von den Bororó wieder ausgeliefert. Allein er war inzwischen selbst
Bororó geworden. Er ging nicht nur in ihrer Tracht mit Pfeil und Bogen, er
hatte nicht nur fast all sein Portugiesisch vergessen, sondern er hatte, wie ich zu
meinem Vorteil feststellen konnte, in seinem Denken und Wissen eine rein indiani-
sche Ausbildung erfahren. Auf der andern Seite hatte er mittlerweile wieder genug
von seiner Muttersprache gelernt, um mir als brauchbarer Dolmetscher helfen zu
können. Leider verliess er Thereza Christina vor uns, weil er dort »nichts lerne«.
Die Offiziere wüssten selbst nichts. Bei seinem Heimatort lebe ein Mann, der
könne aber alle Kranken kurieren und jedes Schloss aufmachen.
Anlage der Kolonie. Das Hauptgebäude der Kolonie hatte zum Grundriss
ein langes, sehr schmales Rechteck. Es bestand aus einer Anzahl von Stuben
mit gestampftem Lehmboden, lehmbeworfenen Fachwerkwänden und niedrigem
Strohdach; die Thüren gingen alle nach derselben Seite auf den Hauptplatz
hinaus. Die Möbel beschränkten sich auf Tische, Stühle und Kasten. An dem
einen Ende befand sich Duarte’s einfenstriges Zimmer, ohne Thüre nach aussen;
dann kam das Zimmer, wo gegessen wurde, wo Caldas am Morgen zuweilen
Schule abhielt und wo man überhaupt zusammenkam, mit einer Thüre nach dem
Platz, einer auch gegenüber nach hinten hinaus, links dem Eingang zu Duarte’s
Zimmer und rechts der Thüre zu einem Proviantraum, in dem der Branntwein
aufbewahrt wurde und dessen Schlüssel im Verkehr mit den Indianern eine grosse
Rolle spielte. Es folgten sich dann noch mit Thüren auf den Platz die Cadêa,
eine kleine Arreststube für die Soldaten, die immer besetzt war, und deren
Bewohner den Tag in der Hängematte verbringen musste, eine Stube für Eliseo
und den Verwalter und Vorratsräume. Der Apotheker besass seine wohlver-
proviantierte Giftküche in einem Häuschen für sich, das wenige Schritte entfernt
[451] gegenüberlag. Die Soldaten wohnten in kleinen Ranchos teils nach dem Fluss
zu, teils am Waldrand. Ringsum schlossen sich die Indianerhütten an, dem
Boden aufstehenden Giebeldächern vergleichbar, 6 Schritte breit, 10—13 Schritte
lang; sie boten Schutz gegen Sonne und einigermassen gegen Regen, liessen an
Einfachheit Nichts zu wünschen übrig und dienten zum Aufenthalt für je eine
Familie.
In der Mitte der Kolonie blieb ein grosser Platz frei; hier erhob sich der
sogenannte Ranchão, d. h. grosser Rancho oder Baitó der Indianer, vgl. die
Tafel 25, 10 Schritt breit und 26 Schritt lang. Auch er war, obgleich mit Hülfe
der Soldaten, ohne alle Kunst gebaut; die Langseiten bestanden aus Stangen,
die nachlässig mit Palmblättern bekleidet waren und soweit Abstand hatten, dass
man fast überall eintreten konnte; die Querseiten waren noch weiter offen. Die
Abbildung zeigt, wie Indianer beschäftigt sind, das Dach mit Palmzweigen auszu-
bessern. Im Baitó arbeiteten und schliefen die Junggesellen, hier war auch der
Mittelpunkt aller Festlichkeiten, namentlich der Jagdgesänge und der Tänze und
Klagegesänge bei Todesfällen und der Beratungen. Die Frauen hatten freien
Zutritt und wurden, wie wir sehen werden, zum Teil mit Gewalt dorthin
geschleppt.
Die Hütten waren überall bis dicht an den Rand des Waldes vorgeschoben.
Zahlreiche schmale Pfade führten dort hinein; Bedürfnisanstalten auch nur primi-
tivster Art waren in den Häusern ebensowenig als in Cuyabá vorhanden, und wie
man in der Stadt den Garten, so suchte man in der Kolonie den Wald auf.
Flussaufwärts lag die sogenannte Ziegelei, wo der Lehm geholt wurde, auch ein
Brennofen gebaut, aber noch niemals gebraucht war, und fand sich in einer
Lichtung das Wenige, was es von Pflanzung gab. Von Tieren erblickte man
nur wenige Hunde und Hühner bei den Soldaten und einige rote Araras bei den
Indianern. Auch trieben sich immer etliche schwarze Aasgeier in der Nähe
umher. Das zu schlachtende Rindvieh wurde durch Vaqueanos draussen im Kamp,
wo es in voller Freiheit lebte, eingefangen. Auch die Maultiere liess man laufen
und suchte sie auf, wenn man sie gebrauchte oder kontrollieren wollte.
Es waren ungefähr 50 Brasilier in der Kolonie, dazu die Soldatenweiber;
nur wenige waren hellfarbiger als die Bororó und viele dunkler. Die Anzahl der
anwesenden Bororó schätzte ich auf einige 200 mit Weib und Kind. Doch war
eine Gesellschaft auf einem Jagdzug begriffen und Duarte hatte an 20 mit nach
Cuyabá genommen. Wenn es hoch kam, betrug die Gesamtseelenzahl 350,
offiziell 450. Im Anfang sollen es bedeutend mehr gewesen sein — Eliseo gab
an, einmal über 1000. In der That erklärte Clemente auch, dass sich die Bororó
aus allen Dorfschaften vorgestellt hätten. So sehen wir, dass an die »10,000«,
von denen man in Cuyabá spricht, in keinem Fall zu denken ist.
Europäische Kleidung. Der erste Eindruck, den wir von den Bororó
empfingen, war wesentlich anders als der von den ordentlichen und fleissigen
Schingú-Indianern. Nicht so sehr, was den Mangel an Kleidung betraf. Der
29*
[452] Häuptling Moguyokuri ging freilich meist im Hemde, selten mit Hose spazieren,
nur der wüste Häuptling Arateba trug Hemd und Hose regelmässig; in ihre
Schlafdecken hüllten sie sich an einem kälteren Tage oder gegen Abend gern
ein, einige Frauen, zumal solche, die gerade mit den Herren ein intimes Ver-
hältnis unterhielten, zeichneten sich durch grossblumig bedruckte Hemden, Jacken
und Röcke aus, allein die mehr oder weniger Bekleideten waren für beide Ge-
schlechter nur Ausnahmen. Die Männer trugen die Hüftschnur und den Stroh-
stulp, die Frauen eine Hüftschnur oder einen Rindenstreifen mit Bastbinde. Beide
Bororó-Mädchen.
Geschlechter liebten Hals- und Brustschmuck.
Ich werde die Einzelheiten später besprechen.
Moguyokuri überreichte ich ein Prachtstück,
das seinen ganzen Beifall hatte: eine ziegel-
rote türkische, mit bunten Arabesken be-
stickte, weitärmlige Frauenjacke, die einst
auf der Malkasten-Redoute in der Düssel-
dorfer Tonhalle gebraucht worden war. Der
immer vergnügt grinsende Riese war in
diesem eleganten Kostümstück ein Anblick
für Götter.
»Was sollen wir machen?« klagte Ka-
pitän Serejo in der Militärkolonie. »Als die
grosse Schaar nach Cuyabá eingeschifft wurde,
hatte man 430 Anzüge beschafft. Viele
kamen noch in Cubayá selbst hinzu. Und
als die Indianer wiederkehrten, war von Allem
nichts mehr vorhanden«. Einmal, weil die
Kaufleute elenden Schund geliefert hatten, dünnes, schlecht gewebtes Zeug, dass sie
sonst nicht abzusetzen wussten, dann weil die Kleider zu eng und zu kurz waren, die
Hemden über der breiten Brust gar nicht schlossen und die Inexpressibles platzten,
endlich aber, weil die Bororó die Geschenke der Zivilisation mit entsetzlicher
Rücksichtslosigkeit behandelten. Sobald sie sich geniert fühlten, warfen sie die
Kleidungsstücke fort, sobald sie einen Sack z. B. beim Forttragen von Fleisch
oder Fischen gebrauchen konnten, nahmen sie dazu ihre Decken und Hemden.
In Hängematten, deren Stücke sie abschnitten, und in Tischtücher — eine echt
brasilische Gabe für nackte Indianer — wickelten sie ihre fettbeschmierten Körper
ein. Sie selbst gebrauchen keine Hängematten, sondern schlafen auf Strohmatten.
An Waschen der Wäsche dachten sie nicht im Traum; die Hemden erschienen
lehmfarben wie ihre Leiber, die Erde, die Hütten.
Die guten Bororó waren derartig verwöhnt worden, dass wir mit unsern
bescheidenen Tauschwaaren übel ankamen. Sie waren bereits soweit Kenner, dass
sie nur nordamerikanische Aexte wollten, Am meisten Anklang fanden noch
unsere Perlen, allein auch hier erschienen die Frauen recht wählerisch, und
[453] bezeichneten die, die ihnen nicht gefielen, kurzweg mit dem uns sehr betrübenden
portugiesischen Ausdruck, den die Katechese allgemein eingebürgert hatte, »por-
caria«, »Schweinerei«, oder »merda«, »Kot«, der begleitenden »Diavo«-Flüche nicht
zu gedenken.
Das Bekleiden der Indianer war also nicht durchzuführen.
Feldbau. Die Bororó sollten roden und pflanzen! In der Praxis dankten
die Offiziere ihrem Schicksal, wenn es ihnen nur gelang, die von den Soldaten
angelegten Pflanzungen vor den Bororó zu retten. Sobald die Eingeboreuen im
Besitz der Aexte waren, machte es ihnen weit mehr Spass, die Pikíbäume umzu-
hauen, als hinaufzuklettern und die Früchte abzunehmen. In der Militärkolonie
stand ein schöner Canavial, eine Anpflanzung von Zuckerrohr. Es musste eine
Wache ausgestellt werden, um die Verwüstung zu verhindern. Allein die Indianer
machten nächtliche Besuche und fanden ein Mittel, sie zu verheimlichen und ihre
Gönner zu täuschen, indem sie die Pflanzen nicht brachen, sondern sich auf den
Boden legten und das Rohr, wie es da stand, anbissen und behaglich auslutschten.
Die Mandiokapflanzung wurde vollständig geplündert; die Frauen, des Wurzel-
grabens vom Wald her gewöhnt, rissen die nicht meterlangen Sträucher aus und
gruben fleissig nach, ob nicht noch Wurzeln im Erdreich versteckt seien. Dem
Jägerstamm fehlte alles Verständnis für planmässiges Anpflanzen, namentlich aber
die Geduld zu warten, bis die Wurzel ihre volle Entwicklung erreicht hatte.
Das Problem, diese Böcke zu Gärtnern zu machen, konnten die Soldaten
nicht gut lösen. Die Aufgabe wäre auch für andere Männer, die nicht nur auf
Kommando und von eigennützigen Wünschen erfüllt, sondern aus eigenem Antrieb
um des humanen Zwecks willen und jeder Habsucht fern sich ihr gewidmet hätten,
eine schwere Geduldsprobe gewesen. Dabei sahen die Indianer nur zu gut, dass
Leben und Lebenlassen die einzige Parole ihrer Vorbilder war, dass von auswärts
alles hübsch geliefert wurde, was man brauchte; für sie, die herzlich gern mit
ihrer kriegerischen Vergangenheit brachen, sobald sie keinen Zweck mehr hatte,
und die sich vor den Brasiliern genau ebenso gefürchtet hatten, wie diese sich
vor ihnen, bedeutete die Kolonie nur ein bequemes und vergnügtes Dasein mit
wenigen Pflichten, die darin bestanden, dass sie gelegentlich mit anfassten, und
den brasilischen Häuptlingen Hausgenossinnen lieferten. Dass sie die wahren
Herren der Kolonie waren und nicht der Leutnant „Dyuáte“, dessen Macht sich
darauf beschränkte, dass er in der Lage (thatsächlich in der Zwangslage) war, sie
zu verwöhnen, ein Blinder hätte es sehen können.
Unsere Eindrücke. Ehe ich unsere Beobachtungen systematisch zusammen-
stelle, möchte ich die merkwürdigsten Szenen aus dem Leben und Treiben der
Indianer und ihrer Lehrer, die wir erlebt haben, nach meinem Tagebuch zu
schildern versuchen.
24. März. Wir speisen in unserer Messe bei offener Thüre. Während des
Mahles ist ein fortwährendes Gehen und Kommen; zuweilen wimmelt die kleine
Stube von Besuchern, obwohl wir ohnehin sehr eng zusammensitzen. Die Ver-
[454] kehrssprache ist ein wunderbares Bororó-Portugiesich. Das Bororó wiegt in den
gewöhnlichen Scherzreden vor, d. h. es werden die für den Fall nötigen Sub-
stantiva, deren den Brasiliern bekannte Zahl schon ziemlich gering ist, mit zwei
Dutzend pronominalen, adjektivischen, adverbialen, auch ein paar verbalen Aus-
drücken in stereotyper Gleichmässigkeit verbunden, und die Eingeborenen selbst,
namentlich die Frauen, passen sich diesem »Pidgeon-Bororó« auch in ihrem
Sprechen bereitwillig an. Hauptperson ist der Häuptling Arateba im Zustande
chronischer Betrunkenheit; diesem oder jenem wird ein Teller mit Resten über-
lassen. Das ewig Weibliche drängt sich sehr in den Vordergrund; die Freundinnen
der Herren bekommen auch ihre Teller und je lauter und ungezwungener sie
sich benehmen, desto heiterer ist die allgemeine Stimmung.
Heute drängte sich plötzlich mit pöbelhaftem Schimpfen die jüngere der beiden
Gattinnen Moguyokuri’s herein, eine grosse starkknochige Frau, die alle Kleidung
zu verachten scheint. Sie hatte ein Bündel Mandiokawurzeln in der Hand und
schleuderte sie wütend Eliseo vor die Füsse. War uns doch heute schon im
Männerhaus das allgemeine Mandiokabraten aufgefallen; die Pflanzung war wieder
einmal vor der Zeit der noch dünnen Wurzelstengel beraubt worden. Mogu-
yokuri’s Xanthippe war anscheinend mit Unrecht des Diebstahls bezichtigt worden;
andere hatten ihr die Mandioka gegeben. Der Zank nahm immer grössere Di-
mensionen an und währte bis zum Abend. Es standen sich zwei feindliche Par-
teien unter den Frauen gegenüber. Den meisten Lärm machte »Maria«, Ara-
teba’s Schwester, die überhaupt von allen Indianerinnen die bedeutendste Rolle
spielte. Maria war Duarte’s Geliebte gewesen, man munkelte davon, dass er sie
mit Reitkleid und Federhut ausgestattet habe; jedenfalls lief sie jetzt nur in ihrer
Nationaltracht umher, eine kleíne stramme, gewandte und nach unseren Begriffen
mässig hübsche Person mit funkelnden Augen.
Als das Gezänk im Innern einer Hütte seine Höhe erreicht hatte, sollte es
durch eine Art Ringkampf ausgefochten werden. Man stürmte auf den Platz
hinaus; Xantippe schien die Unparteiische zu sein. Unter lebhaften Reden und
Geberden stellte sie drei Weiber auf die eine Seite und Maria ihnen allein gegen-
über. Eine der drei sprang mit einem mächtigen Satz vor, Maria ihr entgegen.
Sie fassten sich um den Leib und ein wildes Ringen begann. Aber schon in
wenigen Sekunden bildeten sie den Mittelpunkt eines dicken Knäuels von Neu-
gierigen und Mitkämpfenden, eines Knäuels, der sich wieder inmitten und mit
einer grösseren, loseren Menschenmasse den Häusern entlang wälzte; es war ein
tolles Schieben und Drängen, die Männer lachend, springend, ausser sich vor
Vergnügen, die Frauen um die Wette heulend, während die beiden Gegnerinnen
sich fest umschlungen und in den Haaren gepackt hielten. Endlich riss man sie
auseinander, doch das Wortgezeter begann um so heftiger, indem stets Mehrere
gegen Mehrere anschrieen. Besonders eine Alte übertönte Alles mit ihrer
gellenden Stimme. Caldas, der mit Schmerzen sah, dass seiner ebenfalls be-
teiligten Zeltgenossin die Brust zerkratzt wurde, drängte den grossen Häuptling
[455] Moguyokuri hinein; mit ungeheurer Ruhe trat dieser in den lärmenden Haufen
und da ward’s auf einmal still. Lautlos still; sein gewaltiger Arm schob die drei
gefährlichsten Weiber auf einmal beiseite. Maria hatte entschieden verloren, sie
sprach kein Wort und stand finstern Blicks mit verschränkten Armen, die Brust
heftig arbeitend, während eine Parteifreundin ihr das zerzauste Haar ordnete.
Noch einmal versuchten Unzufriedene den Sturm zu entfesseln, doch das Lachen
der Corona gewann die Ueberhand, man ging auseinander und in triumphierendem
Lauf wurde die gellende Alte von drei Frauen abgeführt.
Bororófrau.
Kopfschüttelnd lenkten wir die Schritte heimwärts nach unserm Schuppen,
aber dort wurden wir auch von einem Heidenlärm zurückgetrieben. Die Soldaten
tanzten und sangen in der Mondnacht mit ihren Mulattinnen und Indianerinnen,
sie musizierten mit Harmonika, mit Gabel und Teller — Kirmess überall!
Ich ging zum Männerhaus zurück; zwei Männer übten sich im Ringkampf.
Sie fassten sich stark gegeneinander gebeugt, unter den Armen an und verweilten
lange in dieser Stellung, bis der Eine plötzlich versuchte, mit einem Bein oder
der Ferse die Kniekehle des Andern einzudrücken und ihn zu Fall zu bringen:
er wurde aber emporgehoben und hatte verloren. Kleine Feuerchen brannten
dem Haus entlang. Die Männer lagen, den Kopf auf Holzklötze gestützt, einer neben
dem andern in der Reihe, um dort draussen zu schlafen, schwatzten und zerbissen
mit den Zähnen Zuckerrohrstangen, die Abfälle im Bogen hinter sich werfend. Es
belustigte sie sehr, als ich am Feuer niederhockte und ihre Wörter aufschrieb.
Seitab schliefen an Feuerchen auch Frauen mit ihren Männern; Kinder waren
noch in später Nacht lustig auf den Beinen und tummelten sich über den Platz.
[456]
Fleischverteilung 26. März. Eine tüchtige Verwaltung würde in der
Art der Verteilung der Lebensmittel einen vortrefflichen Weg finden, um die
Indianer an Ordnung zu gewöhnen. An gerechte Gleichmässigkeit denkt aber
Niemand weder beim Proviant noch bei den anderen Dingen. Alles Willkür.
Die rohe Szene bei der Verteilung des tapíra, des Ochsen, deren wöchentlich
etwa zwei geschlachtet werden und die im Matogrosso wahrlich ein billiges
Lebensmittel darstellen, spottet jeder Beschreibung. Bequemer können es sich
die Brasilier freilich nicht gut einrichten. Die Fleischstücke und zerhackten
Knochen werden vor dem Haus auf einer Haut zu einem grossen Haufen über-
einander geschichtet, die Indianer stehen, Männer und Frauen und grössere
Kinder, zum Teil mit Körben bewaffnet, abwartend beiseite, einer der Kadetten
giebt das Signal, und die ganze Gesellschaft stürzt sich wie ein Rudel Wölfe auf
das Fleisch und die Knochen. Es war ein so widerlicher Anblick, dass mir der
Humor versagte, obgleich ein Kreis von Zuschauern das Schauspiel mit einigem
Genuss in sich aufnahm. Namentlich fesselte der Idiot Dyapokuri, der Typus
eines Kretin, die allgemeine Aufmerksamkeit; mit tierischer Wildheit erkämpfte
sich der Blödsinnige, der Deputierte des Männerhauses, drei gewaltige Stücke und
schleppte sie mit triumphierendem Grunzen, während ihm der Speichel über den
herabhängenden Unterkiefer troff, und mit glänzenden Augen von dannen. Wenn
dies noch ein plumper Gelegenheitsscherz wäre, aber nein, es ist das regelmässige,
ortsübliche Verfahren. Der Indianer wird dadurch zu Zuständen hinabgedrückt,
die er in seinem Jägerleben seit undenklichen Zeiten überwunden hat; ist es
doch einer der Hauptzwecke des Instituts der Bari oder Medizinmänner (wie
wir sehen werden), der Uneinigkeit bei Verteilung der Beute vorzubeugen, ein
Problem, das diese allerdings dadurch lösen, dass sie sich die besten Stücke sichern.
Nächtliches Klagegeheul. Abend für Abend ertönt aus mindestens
vier oder fünf Hütten unausgesetztes Klagegeheul vereinzelter Frauen. Es sind
Gattinnen der Männer, die auf dem Jagdzug begriffen sind und in wenigen Tagen
zurückerwartet werden. Bábela bábela bá . . . . baba éh. Tief in die Nacht hinein
dauert das Klagen; es ist uns kaum möglich einzuschlafen. Es hat aber einen
sehr bestimmten Zweck. Die Frauen erklären, sie erführen, wenn sie sich nachher
zum Schlafen niederlegten, im Traum, wann ihre Männer zurückkehrten. Sie
wissen es dann am nächsten Morgen. Augenblicklich sind sie mit diesem Thema
um so mehr beschäftigt, als die Frau eines der Abwesenden, des Indianers
»Coqueiro« (Kokospalme), gerade gestorben ist. Im Männerhaus hatte man die
rote Decke der Toten ausgebreitet, einen Topf und zwei Arbeitsmuscheln von
ihr hinzugefügt; zwei Baris liessen einen langen Klagegesang erschallen, während
sich eine Anzahl trauernder Frauen im Hintergrund hielt.
Vespergebet. Um 8 Uhr Abends findet die „Reza“, das Vespergebet
der Soldaten statt. Wir verfolgten den Hergang gestern genauer und stellten uns, als
der Hornist sein Signal gab, vor der Gefängnisthüre auf, um zuzuschauen. Allmählich
fanden sich 32 Mann neben der immer vorhandenen Schildwache am Haupthause
[457] zusammen und »ordneten« sich in zwei Reihen, Gross und Klein, wie es gerade
kam, in beliebigem Aufzug, aber Jeder mit seinem Comblain-Gewehr ausgerüstet.
Der Vollmond ergoss sein mildes Licht über die seltsamen Gesellen. Vor der
Front standen zwei Kadetten, der eine las beim Schein eines Kerzenlichts die
Namen, der andere schnitt sich Stücke Zuckerrohr und lutschte gemütlich. So-
bald ein Name aufgerufen wurde, antwortete der Inhaber mit einem, je nach
seiner Stimmung, bald lauten, bald leisen »Pronto« »zur Stelle«. Zu unserm
Erstaunen erklang plötzlich das »Pronto« auch hinter uns mit einer dumpfen Grabes-
stimme, die aus dem Arrestlokal hervordrang; durch einen Schlitz in der Thüre
sahen wir mit Vergnügen an dem hin und wieder fahrenden Schatten, wie sich
der Missethäter drinnen bei gutem Licht in der Hängematte schaukelte.
Nach dem Namensaufruf nahmen die Leute Mützen und Hüte ab und sangen
oder vielmehr gröhlten, in dem eine helle Stimme vorsang: O, virgem da concepção,
Maria immaculada, vós sois a advogada dos peccadores, criais todos cheia de graça
com a vossa feliz grandeza, vos soís dos cêos princeza, do Espíritu Santo esposa.
Maria mãi de graça, mãi de misericordia, rogai Jesus por nos, recebai (!) nos
na hora de morte! Senhor Deus pequei (?), Senhor, misericordia. Por vossa mãi,
Maria Santissima, misericordia!*)
Wie in das »Pronto«rufen fielen auch in den Gesang zufällig vorübergehende
Indianer kräftig ein; im Hause drinnen übte sich Caldas auf der Violine. Zum
Schluss knieten Alle, einschliesslich des Wachtpostens nieder, auch der Kadett
mit dem Zuckerrohr. Die Bororó kümmerten sich nicht weiter um den ihnen
längst bekannten Vorgang. Doch etwa eine Stunde später erschienen ein Dutzend
Jungen vor unserer Thür und Sangen — die Musik richtig, die Worte ausser dem
Anfang unverständlich und unverstanden — „O, Santa Maria, mãi de graxa“,**)
indem sie sich kichernd umarmten und in einer Reihe aufgestellt schief anein-
ander lehnten.
Gegen 9 Uhr hatte sich Moguyokuri noch bei den Kadetten gemeldet,
Branntwein fordernd. Zur Abwechslung trug der »sich ganz mit der Zivilisation
seines Stammes identifizierende« Häuptling einen roten Frauenunterrock und eine
weisse Leinenjacke; er bestand darauf, dass der Schlüssel zum Proviantraum geholt
werde und erhielt auch seine Flasche; er erreichte seinen Zweck nicht minder,
wenn er die Herren gelegentlich mitten in der Nacht heraustrommelte.
Skandal mit Arateba. Er ist wieder einmal total betrunken und verlangt
nach mehr; der berühmte Schlüssel wird nun aber doch verweigert. Er alarmiert
mit seinem Geschrei und Schimpfen die ganze Kolonie, eilt nach seiner Hütte
und kommt zurück mit zwei »espadas«! Er fuchtelt wütend mit den Säbeln in
der Luft umher und schwankt dabei von der einen Seite zur andern, lässt es
aber beim Drohen bewenden. Er zieht sich erst das Hemd, dann die Hose aus
[458] und schleudert sie dem armen Eliseo vor die Füsse; er wendet sich an die
Soldaten, die müssig umherstehen, und schüttet Alles, was er von Injurien kennt,
über die Vorgesetzten aus, die ebenfalls müssig umherstehen. Es will fort und
mit uns gehen, da man ihm hier den Branntwein vorenthalte. Endlich trollt
er heim.
Am 30. März, Charfreitag. Der Wachtposten hält sein Gewehr abwärts
gerichtet. Die Gewehre der übrigen Soldaten bleiben auf dem Boden liegen.
Die Soldatenfrauen wandern in frisch geplätteten Sonntagskleidern mit Kreuzen
und Kerzen zum Kirchhof. Das Gefängnis öffnet sich; zwei Arrestanten kommen
heraus, der eine ein langer Neger, den Surrão — den Ledersack, der die Stelle
des Tornisters vertritt — auf dem Rücken und in der Hand den Coxó, die Geige
des Sertanejo, auf dem er fröhlich klimpert.
Schwer bepackt sind die Jäger zurückgekehrt und haben in ihren Trag-
körben eine Menge Wildpret mitgebracht; Coqueiro, der neue Wittwer, weilt noch
auf der Militärkolonie. Die Leiche seiner Frau ist ausgegraben. Die Knochen
sind gereinigt und in einem Korb am Abend zum Männerhaus gebracht worden;
daneben liegt eine neue Korbtasche, in die sie bei der eigentlichen Leichenfeier
umgepackt werden sollen, und steht ein Topf mit Wasser. Der Raum ist dunkel,
nur einige Feuerkohlen leuchten beiseit, an dem, wer raucht, die Zigarre anzündet.
Viele Männer, Frauen, Kinder liegen bequem ausgestreckt auf dem Boden. Die
Körbe aber und den Topf umgiebt ein dichter Halbkreis hockender Gestalten den
Bari in der Mitte, sie singen einen einförmigen, doch laut hallenden Klagegesang.
Der Bari schwingt unablässig die mit klirrenden Muschelscherben gefüllte Kürbis-
rassel, seine tiefe, bebende Stimme übertönt alle andern mit kräftigem Pathos, er
lässt nicht nach mit Singen und Schwingen, bis ihm die Stimme und die Hand
versagt; dann verstummt er und lässt die Rassel zitternd ausklappern, eine kleine
Pause entsteht, während deren er in seiner Verzückung hastig eine Zigarre zum
Munde führt und heftig einziehend den Rauch verschluckt. Wieder singt er und
klappert er und raucht zwischendurch; bis nach einer kleinen Stunde die Pflicht
erfüllt ist, Alles den Ranchão verlässt und sich draussen umhertreibt, schwatzend,
lachend, wie fast alle Abende. In den Hütten hört man noch Mais stampfen,
hier und dort flackert ein Feuerchen, eine malerische Gruppe beleuchtend, es
wird gesungen, gelärmt, die Jungen balgen sich, Pärchen tauchen auf und ver-
schwinden — kurz, Jahrmarkt vor dem Dorf, nur mit aussergewöhnlich vielen
Buden, in denen Wilde Kaninchen fressen und Sterne anbeten.
Am Tag nach Charfreitag ist in Brasilien der sogenannte Halleluja-Sonn-
abend. Um zwölf Uhr Mittags hört die allgemeine Trauer auf, sie schlägt in
helle Ausgelassenheit um, es wird überall geschossen und geknallt, der Verräter
Judas, der an einem Baum hängt, wird gemisshandelt und vernichtet.
Auf der Kolonie erklärt man den Beginn des Halleluja um 8 Uhr Morgens,
weil eine Kuh und ein Schwein geschlachtet werden muss. Der Fluss ist gestiegen,
Fische waren bei dem vollen Strom für den Charfreitag nicht gefangen worden
[459] und der Fleischtransport ist zu Ende. Der gute Eliseo entschuldigt sich allen
Ernstes bei uns, wenn er unter diesen Umständen das Ende der Passion früher
ansagen müsse; wir beruhigen ihn durch den Hinweis auf den Zeitunterschied mit
Jerusalem.
An einem jungen Baum ist 1½m hoch über dem Boden der Judas auf-
gehängt: weisser Drillichanzug, schöne enge Stiefel, Papiergesicht, die Wangen
mit Urukúrot bemalt, Schnurrbart und Haar aus indianischem Frauenhaar, aus-
gestopft mit Sägespähnen. „Kabababá?“ »Was ist das?« fragen die verwunderten
Bororó. Judas hält einen Holzsäbel in dem rechten Aermel, aus einer Tasche
schaut der Hals einer Bierflasche vor, ein in den Rock geschobenes Stück Papier
ist das Testament des Verräters. Um 8 Uhr aber treten die Soldaten blank und
sauber in weissem Leinenanzug an; europäische Augen würden durch die nackten
Füsse etwas befremdet. Eliseo trägt eine rote Schärpe. Der Koch steckt dem
Judas eine Pulverpatrone in den Leib — ein Knall, Rauch quillt hervor und
Judas beginnt langsam abzubrennen. Der Trompeter bläst eine Fanfare, währenddes
knattern drei Salven los und in den Pausen gesellt sich der musikalischen Be-
gleitung durchdringendes Klagegeheul aus einer Hütte; die Indianer, die in dichten
Haufen umherstehen, halten sich die Ohren zu und gedenken der Zeit, wo in
ihrem Wald die Schüsse knallten. Moguyokuri und sein Sohn, der ihn an Körper-
länge noch übertrifft, treten vor, um auf die zerfallenden Reste von Judas Ischarioth
noch einige Pfeile abzusenden. Vorsichtig, damit die Pfeile nicht verbrennen,
löschen sie vorher. Die Soldaten treten ab; überall wird nun Pulver verknallt,
auch unsere Kameraden können dem Gelüst nicht widerstehen, aus dem Küchen-
hof, wo das Schwein geschlachtet wird, erschallt mörderliches Geschrei, Freude
herrscht überall: Halleluja!
Kayapó! Die Totenfeier für Coqueiro’s Witwe, die ich noch in ihren Einzel-
heiten schildern werde, fiel auf den Ostermontag (1. April); wir Gäste kamen aus
dem Staunen nicht heraus über die seltsamen Kontraste, die jeder Tag in dem
unruhigen Leben der Kolonie unsern Augen zur Schau stellte. Kaum war das
Wehklagen verhallt, der Totenkorb weggeschafft, gab es neue Aufregung. Die
Bororó wollten zwei Kayapó, die sie Kayámo nennen, im Wald gesehen haben.
Ihr Erbfeind in dichter Nähe der Kolonie! Noch am Abend die Kolonie verlassen
— es schien schier unglaublich — war die allgemeine Losung der Indianer. Die
Soldaten mussten alarmiert werden, eine Patrouille wurde ausgeschickt und sollte
an der verdächtigen Ecke im Walde ein Dutzend Schüsse abgeben. So beruhigte
man sich vorläufig, doch schlief der grosse Häuptling Moguyokuri, der Schrecken
des Matogrosso, die Nacht vorsichtigerweise nicht bei seinen beiden Frauen und
seinen Kindern, sondern bei Eliseo.
Auch in der Nacht vom 2. auf den 3. April war Alles wach. Unsere
indianischen Freunde holten uns zum Ranchão und luden uns ein, an einer Sitzung
teilzunehmen, die den Zweck hatte, sich mit Musik in der Hoffnung auf einen
Sieg über die bösen Kayapó zu stärken. Zu Anfang standen wir Alle und tanzten
[460] auf der Stelle, während ein alter Häuptling in der Mitte sang und den Rassel-
kürbis wuchtig schüttelte. Wir Andern hielten uns die Hände vor den Mund
und brüllten ein dumpfes u, u … hinein und knickten taktgemäss in die Kniee.
Da wir merkten, wie sehr die Bororó dadurch getröstet wurden, liessen wir es
an eifrigem Mitthun nicht fehlen. Unsere Schaar arbeitete im Dunkeln; nur zu-
weilen warf Einer ein wenig Stroh in’s Feuer und die ernsten Gesichter wurden
einen Augenblick grell beleuchtet. Das Tanzen dauerte eine halbe Stunde. Als-
dann setzten wir uns nieder, rings um den alten Klapperer, der von der An-
strengung fürchterlich zitterte und in mächtigen Zügen Wasser schluckte; wir
mussten ihm den Topf vor den Mund halten, da er sonst nicht zum Ziele gelangt
wäre. Nun waren wir aber auch alle mit frischem Mut erfüllt, der ehrwürdige
Greis verbreitete sich in halb singendem Tone weiter über den Gegenstand der
Tagesordnung und unser grosser Chor antwortete je nachdem entzückt „uakína“
»sehr gut« oder grob lachend „hahahá“ oder entschlossen drohend „uh . . . .“
Am Mittag des 3. April stand die patriotische Begeisterung wider den un-
sichtbaren Feind auf der Höhe. Wir sassen beim Essen, als plötzlich 10 bis
12 Bororó in wildem Ausputz herbeistürmten. Voran Moguyokuri, betrunken,
das Gesicht erhitzt, in meiner türkischen Frauenjacke, bewaffnet, richtiger beladen,
mit Bogen, Pfeilen, einem Maisstampfer und einer schweren Beilklinge ohne Griff,
hinter ihm José Domingo, Gesicht und Leib berusst, einen schönen, straussfeder-
geschmückten Bogen schwingend, um das rechte Handgelenk zum Schutz gegen
die anprallende Sehne eine schwarze Haarschnur, an einem Riemen um den
nackten Leib einen Schleppsäbel, und in ähnlicher Kriegsbereitschaft der Rest der
Helden — last not least der Idiot Dyapokuri. Dieser unglückselige Narr hatte
sich auch über und über mit Russ beschmiert, um den pathologischen Schädel
hatte er wie ein Chinese den Zopf eine schwarze Haarschnur gewunden, auf dem
Rücken hing ihm ein langes Küchenmesser und mit der Rechten wirbelte er einen
Knüppel durch die Luft; einem Besessenen gleich, unartikulierte Laute ausstossend,
sprang er umher zum Gelächter der Tischgesellschaft. Die schrecklichen Krieger
zogen aus, die Fährten der Kayapó zu suchen. Bald schon kehrten sie zurück,
sie hatten nichts Verdächtiges gefunden, das thörichte Volk schien Vernunft an-
zunehmen und die Episode beendet.
Im Männerhaus war man am Morgen sehr fleissig gewesen, den Nachmittag
hindurch bis zum Abend beschäftigten sich ein Dutzend Bororó damit, ihren Ge-
liebten für die Nacht Haupthaar, Gesicht und Leib festlich knallrot zu schminken,
und draussen spielte sich, als die Dunkelheit hereingebrochen war, wieder eine
ganz anders geartete Szene ab. Ein etwa zweijähriges Kind, das schon seit
24 Stunden im Todeskampf lag und dessen Ende die Baris für heute voraus-
gesagt hatten, wurde vor die Hütte hinausgebracht. Die Mutter hielt es im
Schooss, die Medizinmänner und Verwandten sassen ringsum und wehklagten.
Hinter der Mutter hockte der Vater, eine Weile blieb er regungslos, dann — es
machte gerade einer der Zuschauer Licht, um sich die Pfeife anzustecken —
[461] führte er eine Schnur um den Hals des armen Wurms und brachte die Prophe-
zeihung der Aerzte rasch in Erfüllung. Sofort erhob sich Alles ausser der Mutter,
die Medizinmänner holten ihren Federschmuck und die Rasseln und begannen mit
dröhnendem „Aroé …, aroé …“-Gesang den Trauertanz.
Allein das Freudenfest im Ranchão und die Trauerfeier draussen erlitten
plötzlich eine gewaltige Störung, als zwei Schüsse vom Wald her hörbar wurden.
Dort schoss man wieder gegen die Kayapó! Einer, der seinen Rausch ausschlief,
hatte sie erblickt und schreien gehört! Erwacht schlug er Lärm und ein toller
Wirrwar war die Folge. Eliseo liess die Soldaten antreten; in kürzester Frist
war der Platz gefüllt mit Männern, die sämtlich Bogen und Pfeile, Knüppel und
Aexte trugen, mit Weibern, die in Tragkörben ihre gesamte Habe aufgepackt
hatten und dabei die Kinder schleppten oder vor sich herschoben, mit halb-
wüchsigen Jungen, die meistens auch bewaffnet waren. Nur die Frau mit dem
kleinen toten Geschöpf im Schoss verharrte auf ihren Platz, und ein paar Tänzer
mit dem grossen Strahlenrad der roten Ararafedern um das Haupt stampften,
sangen, rasselten unentwegt weiter oder kehrten, nachdem sie sich einen Augen-
blick in das Treiben gemischt hatten, zu ihrer Pflicht zurück.
Die Menge hastete wild durcheinander und umdrängte das Hauptgebäude.
Dort standen die Soldaten in eine lange Reihe ausgezogen; die Kadetten und
Beamten vermochten sich kaum des Ansturms zu erwehren, und Niemand konnte
sein eigenes Wort verstehen. Dabei eine dunkle Nacht. Die Aufgeregten ver-
langten, dass man sofort auf das andere Flussufer übersetzte, ehe die Kayapó
da wären; marschfertig war die ganze Schaar. Glücklicher Weise getraute man
sich aber doch nicht, sich von den Soldaten zu trennen. Es war ein Wogen und
Branden, dass man nicht wusste, ob man noch seine fünf Sinne beisammen habe.
Allmählig wurde der Wellenschlag etwas schwächer. Lauter erschallte das feier-
liche Aroé … der Tanzenden, die jungen Männer und rot bemalten Mädchen
suchten wieder ihre Lagerstätten in dem matt erhellten Ranchão auf, das
Gewimmel auf dem Platz verdichtete sich zu kleineren Gruppen; hier und
da sah man glimmende Scheite in der Finsternis und beim Aufflackern eines
Feuers erblickte man die starrenden Bogen und Pfeile, die Tragkörbe, die
Federn der Sänger, und hockend oder liegend Personen jeden Alters und Ge-
schlechts, auf deren kräftigen Leibern die Verteilung von Licht und Schatten für
den Augenblick, dass sie beschienen wurden, ungemein malerische Wirkungen
hervorbrachte.
Im Hauptgebäude waren alle Stuben gefüllt; bei Eliseo, Caldas und dem
Verwalter überall Weiber und Kinder mit Sack und Pack, um den Tisch und
auf dem Tisch bis in den letzten Winkel Gross und Klein, wie, von der Nackt-
heit abgesehen, eine Schaar Emigranten in engen Bahnhofsräumen. Einige der
jüngeren und hübscheren Frauen fielen auf durch den Besitz weisser Kopfkissen.
Die Brasilier spotteten und trösteten „kayámo bakímo“. »Die Kayapó sind nichts
wert«, die Indianer renommierten, dass sie keine Furcht hätten, legten mit dem
[462] Bogen aus und duckten sich wie Kundschafter, die den Feind beschleichen. Da-
zwischen bettelten sie um Tabak und Branntwein.
Noch einmal gab es grossen Lärm: ein Bororó sei von den Kayapó getötet
worden, dicht bei den letzten Häusern! Man brachte einen Mann mit blutender
Stirn, jammernd stürzte sich über ihn die Gattin und untersuchte die Wunde.
Wir thaten desgleichen. Ein paar Tropfen, eine kleine Schramme; der Verun-
glückte gab an, er sei, als er ausgespäht habe, mit einem spitzen Ochsenknochen
geworfen worden. Ob ein frivoler Freund sich einen schlechten Witz erlaubt, ob
der Wurf einem Kayapó gegolten hatte, ist ein Geheimnis der Schreckensnacht
geblieben.
Bororó-Jungen.
Gegen 11 Uhr hielten wir es an der Zeit, uns zurückzuziehen. Neues war
nicht mehr in Aussicht. Die Kadetten spielten Karten, die Häuptlinge waren
schwer betrunken. Draussen war es auch ziemlich still geworden. Die Soldaten
hatten es sich bequem gemacht, nahebei lagen auf Fellen ihre Frauen. Die
Totenklage dauerte fort; im Ranchão war es dunkel.
Schule. Verweilen wir nun einmal bei einem friedlichen Bilde. Die Bo-
roró-Jungen waren meine speziellen Freunde. Von ihnen lernte ich die wichtigsten
Elemente der Sprache kennen; sie waren ausserordentlich aufgeweckt, keck, un-
gefähr wie kleine Niggerboys und in körperlicher und geistiger Gewandtheit un-
serer zivilisierten Jugend Europa’s entschieden über. Sie gefielen sich in ihrer
Lehrerrolle ausserordentlich und drängten mich unablässig zum Aufschreiben:
„poyédye papéra“, etwa »weiter auf dem Papier«. Ihnen verdankte ich namentlich
[463] die Kenntnis der Pronominalpraefixe für die Körperteile, die für jede Person ver-
schieden lauten, und bald war es ihr Lieblingssport, in ihrer Sprache zu dekla-
mieren »meine Nase, deine Nase, seine Nase, unsere Nase, eure Nase, ihre Nase«
in allen möglichen Variationen. Besonders intelligent war die kleine Range in
der Mitte auf Abbildung 128. Auch aus unserm Deutsch hörte er immer Bororó
heraus. Es wurde der Ausdruck »papageienmässig« gebraucht; sogleich ertönte
der Ausruf: „papagaíma“ = »wir baden«. Als Ehrenreich eines Abends den Mond
mit den Worten des Doktor Faust anredete und zu der Stelle kam: »in Deinem
Thau gesund mich baden«, fiel der Bengel sofort ein „itáu! akau, áu“ = »mein
Haar, dein Haar, sein Haar«. Dieses Spiel war um so origineller, als der Kadett
Caldas, ihr Magister, der auch die Bororósprache bearbeiten sollte, die amerikani-
schen Pronominalpraefixe, die ich suchte, für eitel Schwindel und für eine Er-
findung der Jungen nach Art der Hühnersprache erklärte. Er blieb auch dabei,
weil er in seinen Ansichten sehr zähe war. Urteilte er doch auch höchst abfällig
über unsere Meinung, dass das Lateinische eine tote Sprache sei, denn es werde
in Egypten gesprochen. Was aber viel schlimmer war, er behauptete, dass
»Müller« — der Himmel weiss, wo er die Kenntnis seines einzigen deutschen
Wortes gewonnen hatte — ein französisches Wort sei, und bestand darauf, trotz
der komischen Verzweiflung Ehrenreich’s, der als geborener Spreeathener gegen-
über solch unerhörtem Angriff auf das Berliner Adressbuch die Grundlage seines
Denkens und Empfindens erschüttert fühlte.
Wenn Caldas, der für den Unterricht der Bororóknaben eine besondere
Zulage empfing, von seinen Schülern wenig lernte, so lernten diese doch wohl noch
weniger von ihm. Es ist wahr, die Schlingel kamen nur ungern; sie kamen im
Anfang sogar überhaupt nicht und wurden erst dadurch bezwungen, dass sich ein
paar neugierige Väter mit in die Schule setzten. Die Art, wie die Widerstrebenden
Morgens versammelt wurden, erinnerte lebhaft an das Spiel »Schweinchen in den
Stall bringen«. Dann waren sie auch äusserst unaufmerksam. Doch muss ich
gestehen, die Methode hätte nicht seltsamer sein können. Ich dachte, die Kinder
lernten zunächst einmal die portugiesischen Namen für die bekanntesten Dinge,
Nutzpflanzen, Tiere, Geräte, an denen sie gewiss ihre Freude gehabt hätten,
da sie mich aus freien Stücken danach fragten. Ich dachte ferner, wenn sie
durchaus lesen lernen sollten — aber es ist wirklich ganz gleichgiltig, was ich
dachte, und besser, sich auf den Bericht zu beschränken.
Die Jungen hatten jeder einen von Caldas beschriebenen Bogen in der Hand.
Darauf lasen wir — natürlich nicht sie — al, el, il, ol, ul, bal, bel, bil, bol, bul,
dal, del, dil, dol, dul u. s. w. über die ganze Seite. Der Lehrer sagte ihnen eine
Zeile nach der andern vor, die Jungen mussten es nachsprechen. Stundenlang
übten sie, ihr Papier lustig schwenkend, „bal, bel, bil, bol, bul, dal, del, dil, dol, dul“.
Weiter waren sie in mehreren Monaten allerdings noch nicht gekommen. Caldas
selbst schien ungeduldig und fragte während der kurzen Zeit, die wir in der Vor-
stellung aushielten, dreimal, wie viel Uhr es sei. Zwei Bororóväter sassen in der
[464] Ecke und murmelten auch zuweilen nicht ohne Andacht bal, bel, bil, bol, bul.
Unter meinen sprachlichen Aufzeichnungen finde ich, dass die Bororó mir er-
zählten, »er lehrt die Jungen lesen«; der Satz lautet in wörtlicher Uebersetzung,
dem Sachverhalt genau entsprechend, »er lehrt die Jungen auf das Papier
sehen«. Caldas hoffte jedoch, bald weiter zu kommen; die Jungen seien eine
ungezogene Gesellschaft, die zunächst Gehorsam lernen müssten. Er habe sie
bisher mit einem Lineal auf die Finger geschlagen, wenn sie nicht aufpassten.
Nun besitze er aber ein verbessertes System von „palmatorios“, die er uns auch
in zwei Exemplaren vorwies. Sie sahen aus wie Holzlöffel, nur mit kreisförmig
plattem Endstück, und dieses — hierin steckte die Verbesserung — war mit
Löchern siebartig durchsetzt. Die Luft pfeife durch die Löcher und dadurch
werde der Schmerz erhöht. Nun, ich hoffe, die neuen Palmatorios haben sich
bewährt und die Jungen sind mittlerweile mindestens bis zum xal, xel, xil, xol, xul
vorgedrungen. In unserer Zeit war das ganze Ergebnis immer nur dal, del, dil,
dol, dul.
Die feindlichen Brüder. Am 9. April führte Arateba in der Betrunken-
heit wieder eins seiner Spektakelstücke auf. Er reisst einer Witwe, die ihm nicht
zu Willen sein will, zornentbrannt das Haus ein. Mit dieser Arbeit wird er auch
leicht fertig, obgleich er bei jedem Ruck hintenüber zu schlagen droht. Sein
Bruder und zwei einsichtige Freunde nehmen ihn auf die Schultern und bringen
ihn nach seiner Hütte. Dort hat er eine Viertelstunde das heulende Elend, rafft
sich aber, nachdem man ihn mit kaltem Wasser übergossen, wieder auf und er-
scheint vor der Kommandantur. Wie im Käfig ein brüllender Löwe schreitet er
auf und nieder, und fordert den Bruder, den er vor allem Volk mit Schmähreden
überschüttet, zum Kampf heraus. Der Bruder springt auf ihn los und hüpft
gebückt vor ihm eine Weile hin und her; dann umfassen sie sich mit wütenden
Griffen. Arateba wird viermal auf den Boden geworfen. Da mischt sich Maria,
ihre Schwester, entschlossen hinein und umschlingt ihn so kräftig, dass er sich
nicht zu rühren vermag. Man führt die Brüder in verschiedenen Richtungen ab.
Aus Arateba’s Hütte schallt wüstes Zanken, wieder erscheint der schwankende
Säufer — er hat das reine Verbrechergesicht und obendrein den Kopf glatt ge-
schoren — und dringt in die Hütte, wo man den Bruder versteckt hielt. Klatschende
Schläge, tobende Stimmen, allgemeine Rauferei. Der aufgeregte Haufe, in dessen
Mitte Mogoyukuri’s Gestalt hervorragt, kommt nach draussen, mehrere ringen
miteinander, Arateba liegt wieder auf der Erde, die Weiber stürzen sich nun mit
Macht in das Getümmel, Maria überwältigt den Betrunkenen, er wird weggeschleppt,
Alles lacht, man geh[t] [...] Ranchão zurück und Mehrere sagen nicht mit Unrecht:
„piga*)pega“, »der [Schn]aps ist eine schlechte Sache«.
Disziplin. Wie wäre es, wo solche Auftritte an der Tagesordnung waren,
anders möglich gewesen, als dass auch eine schädliche Rückwirkung auf die Sol-
[]
BORORÓ
[][465] daten erfolgte? Die Leute waren erbittert, weil der Indianer müssig ging und sie
alle Arbeit thun mussten, weil der Indianer den Branntwein bis zum gröbsten
Missbrauch umsonst erhielt und sie für eine Flasche 2 Milreis bezahlen mussten oder
5mal so viel als in der Stadt, weil der Indianer den Offizieren ein verächtliches
filho da puta ungestraft in’s Gesicht sagen durfte und sie für ihre Vergehen in
die „Xadrez“*) wandern mussten. Im Uebrigen war der gutmütige Eliseo, der
das System nicht ändern konnte, schuldlos — ja er war z. B. nachsichtig genug,
einem Mann zu verzeihen, der mit dem Messer auf ihn losging. Natürlich wurde
der Sold im Kartenspiel verjubelt. Einer hatte, als der Löhnungstag kam,
100 Milreis im Vinte e um oder Trinta e um verloren. Hatten sie kein Geld, so
verkauften sie ihr Hausgerät für einen Spottpreis.
Ihr Hass gegen den Verwalter steigerte sich zu einem kleinen Aufruhr, als
einer ihrer Kameraden gefangen gesetzt wurde wegen der Verleumdung, dass
jener seiner Hausgenossin Anträge gemacht und ihr ein neues Kleid aus seinem
Magazin versprochen habe. Sie wollten das Arrestlokal stürmen und Ildefonso,
»diesen Familienvater«, erschiessen. Es gelang, sie mit dem Hinweis auf Duarte’s
bevorstehende Ankunft, der den Streit entscheiden solle, zu beruhigen. Ildefonso
war aber sehr aufgeregt. Er habe dem Mädchen nur guten Tag gesagt. Früher,
das wolle er nicht leugnen, hatte er sich dergleichen erlaubt, jetzt aber sei ihm
»das Weib nur Ideal«.
Duarte’s Ankunft. Am 11. April gegen Mittag lautes Geschrei und grosse
Aufregung: „dyuáte, dyuáte!“ Aus dem Walde kamen sie hervor — in keiner
Operette wird Schöneres geboten. 14 Bororó, einer hinter dem andern, barfuss,
in schlohweissem Matrosenanzug, der mit roter Litze eingefasst war, in breit-
randigen hellen Strohhüten, unter denen das lange schwarze Haar wellig hervor-
quoll, mit dicken roten Troddelquasten und flatternden roten Schleifen, darauf
zu lesen „Colonia Thereza Christina“. Säbel mit verzierten Gehenken und Griffen,
grosse runde Schnapsflaschen, vereinzelt ein aufgespannter Sonnenschirm. Und
dahinter Duarte zu Pferde und drei Häuptlinge hoch zu Maultier in marineblauer
Uniform mit handbreiten roten Galons, die scharf gegen die blossen Füsse ab-
stachen, ein Gewehr in der Hand und auf dem Aermel ein blinkendes Messing-
schild mit der Inschrift „Voluntarios da patria“. Es lebe Donna Carmina, die
Präsidentin! Denn das ist die Katechese der excellentissima Senhora! Prächtig
genug sahen die strammen Burschen aus, wie sie im Sonnenschein dahergeschritten
kamen und recta via auf das Hauptgebäude losmarschierten; unverwandt starrten
sie mit furchtbar ernsten Mienen geradeaus, wirklich »unverwandt«, denn sie gönnten
auch nicht einmal einen Seitenblick den laut heulenden Weibern und Kindern,
die sich vor Freude wie toll anstellten.
Auch im Esszimmer bewahrten sie die feierliche Ruhe. Wie Fremde sassen
sie auf den Bänken um den Tisch und an der Wand, ein greller Gegensatz zu den
v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 30
[466] laut lärmenden nackten Stammesgenossen. Vier Frauen namentlich wehklagten
zum Erbarmen, das Gesicht in Thränen gebadet und berichteten über die Gescheh-
nisse seit der Trennung; die Aufgeregteste zerschnitt sich die Haut auf Brust,
Armen und Beinen und wand sich in wüstem Jammer mit dem nassen, lehm-
gelben, blutüberströmten Leib vor dem in seinem Theaterkostüm steif auf der
Bank sitzenden Gatten.
Am 12. April folgten dem Gebieter der Kolonie auch zwei mächtige
mit Waaren beladene Karren, deren jeder von einem Dutzend Ochsen ge-
zogen wurde. Für die Soldaten trat eine Veränderung ein, indem im Abend-
befehl bekannt gegeben wurde, dass der Verkauf von Branntwein, sintemal beim
Eintreffen des Lieutenants Viele betrunken gewesen seien, von jetzt ab aufge-
hoben werde.
Nachdem dergleichen Geschäfte erledigt waren, wurde Duarte am nächsten
Tage erst eigentlich von seinen Untergebenen bewillkommnet. Zunächst beim
Frühstück mit gutem Portwein. Zwei Kadetten tranken zwar aus einem Glase,
doch an Stoff war kein Mangel. Duarte selbst war sehr mässig mit Rücksicht
auf seine Leber. Dem Wein folgte eine Kollektion von Flaschen hellen Export-
biers, deren Schild uns heimatlich ansprach: die Brauerei war in Hannover.
Sechs Toaste feierten Duarte, als Paraguaysoldaten, als Familienvater u. s. w.;
immer wieder bot man ihm eine neue Fülle von Lobsprüchen an, die er alle mit
freundlichem „Obrigado“ »danke sehr« beantwortete.
Doch war diese Sitzung nur das Vorspiel zu der »Serenade« am Abend:
Caldas Violine, Duarte Guitarre, Idelfonso Coxó-Geige. Es wurde ein hübscher,
lustiger Abend, und er erfüllte uns mit höchstem Respekt vor der brasilischen Trink-
festigkeit; niemals hätte ich geglaubt, dass im Sertão so wacker gezecht werden
könne. Zwei umfangreiche Bierkisten wurden bis auf den letzten Tropfen, ehc
der Branntwein kam, ihres Inhalts entledigt. Endloser noch aber strömte der
Redefluss. Ich widmete mein Hoch dem Begründer der Bororó-Katechese, dem
Präsidenten Galdino Pimentel, dessen Schuld es nicht ist, wenn später falsche
Wege eingeschlagen wurden, und vermied auf diese Weise das Dilemma, zu lügen
oder nutzlos zu kränken. Duarte nahm nun auch das Wort und sprach recht
gut. Mit der Regierung war er unzufrieden, es kam auf Rechnung des »Governo
ingrato«, was an der Vollkommenheit der Zustände noch fehlte. Es sei auch
unrecht, dass Eliseo noch nicht avanziert sei, allein er selbst habe abraten müssen,
dass sein junger Freund, wie vorgeschlagen, die andere Kolonie Izabel übernehme,
weil er sich durch einen Fehler die ganze Karrière verderben könne! Es war in
der That für den Unbeteiligten merkwürdig, zu sehen, wie sehr die Kadetten
seiner väterlichen Fürsorge, die nur ihm selbst zu Gute kam, vertrauten und ihm
wahrhaft ergeben schienen. Ich schätze die Toaste des Abends auf die Zahl von
30—35 und rechne deren über 20 auf Duarte’s Wohlergehen. Ganz köstlich war
der gutmütige Eliseo. Er beauftragte zuerst den redegewandten Ildefonso, für ihn
zu sprechen, erhob sich nach einiger Zeit aber auch selbst, indem er entschlossen
[467] anfing: „nào tendo a devida intelligencia“, ja, toastete nun, als das Eis gebrochen
war, wieder und wieder, jedesmal beginnend mit der Entschuldigung, dass er nicht
im Besitz der nötigen Geisteskräfte sei, und jedesmal die coadjuvencia der An-
wesenden zum Schluss anrufend, um debaixo de todo enthusiasmo nach der Reihe
einzelne Familienmitglieder Duarte’s, die Gattin in Cuyabá, den Bruder und nament-
lich die älteste Tochter hoch leben zu lassen. Je mehr Bier getrunken wurde,
desto ergreifender und ernster wurden die Reden. Der Apotheker war Poet, er
wusste gar Vieles von Blumen aller Art und verglich den ungeschlachten Kadetten
Joaquim mit einer Knospe, er feierte die Frau, die — erster Teil — nur ein
Kind, und für ihn — zweiter Teil — eine Gottheit sei, die uns Männern immerdar
ein unergründliches Geheimnis bleibe. Zur leisen Begleitmusik der Guitarre rezi-
tierte Caldas schwungvolle Gedichte; die schönen Worte jagten sich oft mit un-
heimlicher Geschwindigkeit und ebenso schnell musste unser Empfinden vom
Zarten zum Pathetischen, vom Starken zum Süssen überspringen. Tiefe Rührung
bemächtigte sich Aller. Duarte wurde als Vater umarmt, Eliseo kniete vor ihm
nieder und erflehte seinen Segen, was der Vater aber mild mit einem „isso não“
»o Freunde, nicht diese Töne« abwehrte.
Noch habe ich der Bororó nicht Erwähnung gethan. Allein sie fehlten
keineswegs und waren ganz bei der Sache. Zum ersten Mal sah ich einen stolzen
Indianerhäuptling eine Flasche deutschen Exportbiers entkorken. Sie sprachen
dem Saft der Gerste und des Zuckerrohrs redlich zu und tranken weit mehr als
sie vertragen konnten, sie schwatzten in die sentimentalen Reden, was aber Nie-
manden kümmerte, eifrig hinein, sie hoben ihre Flaschen, wenn die Gläser zu-
sammenklangen, und stiessen mit an, sie erschöpften sich und uns mit zärtlichen
Umarmungen. Moguyokuri setzte sich auch hin und sang ein dröhnendes Lied
und spielte die Guitarre, durch deren Saiten er wie ein Tapir durch den
Bambus fuhr. Nur die indianischen Frauen fehlten bei der Serenade. Zwei
junge Personen freilich waren vor dem Beginn von Moguyokuri nebenan in
Duarte’s Zimmer gebracht worden. Dort schauten sie am nächsten Morgen
zum Fenster hinaus und liessen sich bewundern, Schildpattkämme im Haar, Talmi-
ketten um den Hals, rosafarbene Ringe um das Handgelenk und geziemend
gekleidet in lange Hemden, die mit einem mächtigen, buntschillernden Palmetten-
muster bedeckt waren.
Ich darf hier wohl meinen Guckkasten schliessen. Die Bilder würden sich
nur wiederholen. Bis zu unserer Abreise am 18. April hatten wir nicht Gelegen-
heit zu bemerken, dass an unsern ungünstigen ersten Eindrücken die Abwesenheit
des Leiters der Katechese schuld gewesen wäre. Ganz im Gegenteil. Duarte
ging baden, machte einen Spaziergang zur Ziegelei oder dergleichen; sonst sass
er den Tag über in seiner Stube, in der sich immer zahlreiche Bororó aufhielten.
Alle bettelten. Die einen erhielten Etwas, die andern erhielten Nichts. Betrunkene
waren immer darunter. Für einen Neubau trugen die Soldaten die Hölzer und
die Palmblätter herbei, die sie im Wald beschafft hatten. Ein paar Bororó halfen
30*
[468] auch einmal ein wenig, weil sie Schnaps dafür erhielten. Wenn Nichtsthun und
Zeitvertreib von Beamten und Indianern der Zweck der Kolonie war, so konnte
sie als ein leuchtendes Vorbild gelten für alle andern.
III. Beobachtungen.
Anthropologisches. Tracht (Haar. Sexualia. Künstliche Verletzungen. Bemalung. Schmuck). Die
Aróe. Jagd und Feldbau. Waffen. Arbeiten im Männerhaus und Technik. Nahrung; »Einsegnung«
durch die Baris. Tanz und Spiel. Musikinstrumente; Schwirrhölzer. Zeichenkunst. Recht und
Heirat (Sitten der Familie und des Männerhauses). Geburt; Namen. Totenfeier. Seele und Fort-
dauer nach dem Tode. Himmlische Flöhe; Meteorbeschwörung.
Anthropologisches.
Körperhöhe.
- 20 Männer: Max. 191,2 Min. 167,0 Mitt. 173,6 6 Frauen: Max. 168,2 Min. 156,2 Mitt. 160,5
Ein auffallender Unterschied von der Grösse der Schingú-Indianer! Die
Bororó-Frauen entsprechen ungefähr den Bakaïrí-Männern. Das Mittel der
26 gemessenen Bororó beider Geschlechter beträgt 170,6, welche Zahl jedoch
bei dem Missverhältnis von 20 Männern zu 6 Frauen keinen Wert hat. Nach
dem Topinard’schen Schema sind die Bororó Menschen hohen Wuchses, da
dessen untere Grenze 170,0 beträgt. In der von Topinard*) mitgeteilten Tabelle
von Männer-Durchschnittszahlen würden die Bororó unter den 10 Volksstämmen
hohen Wuchses die dritte Stelle einnehmen, von den Tehuelchen Patagoniens
(178,1) und den Polynesiern (176,2) übertroffen werden und mit den Irokesen
(173,5) fast genau übereinstimmen.
Klafterweite. Körperhöhe = 100.
- 20 Männer: Max. 113,2 Min. 99,9 Mitt. 104,7 6 Frauen: Max. 102,4 Min. 97,4 Mitt. 100,3
Das Minimum der Männer — 0,2 hatte der grösste gemessene Bororó,
der bei 191,2 Körperhöhe 191,0 klafterte. Bei 2 Frauen von den 6 war die
Klafterweite geringer als die Körperhöhe: — 0,2 bei 156,2 Körperhöhe und
— 4,2 bei 160,7 Körperhöhe.
Schulterbreite. A. Körperhöhe = 100.
- 19 Männer: Max. 25,0 Min. 21,6 Mitt. 23,9 6 Frauen: Max. 22,6 Min. 20,4 Mitt. 21,8
B. Absolut. - 19 Männer: Max. 45,3 Min. 38,5 Mitt. 41,6 6 Frauen: Max. 38,0 Min. 32,5 Mitt. 34,6
Das Maximum von B. gehört dem langen Sohn Moguyokuris (Tafel 26),
der mit 191,2 die grösste Körperhöhe und für A. die Zahl 23,7 hatte. Die
nächstgrosse Zahl für absolute Schulterbreite ist 43,5 bei einer relativen von
23,6. Vergleichen wir die Kulisehu-Indianer, Seite 162, so ist das absolute
Bororó-Mittel 41,6 grösser als das grösste Mittel 41,4 dort der Mehinakú und das
relative Bororó-Mittel 23,9 kleiner als das kleinste Mittel 24,1 dort der Nahuquá.
[469]
Brustumfang. A. Körperhöhe = 100.
- 19 Männer: Max. 58,4 Min. 52,4 Mitt. 55,1 6 Frauen: Max. 55,5 Min. 47,9 Mitt. 51,3
B. Absolut. - 19 Männer: Max. 100,8 Min. 90,0 Mitt. 95,4 6 Frauen: Max. 93,3 Min. 76,6 Mitt. 82,5
Vergleichen wir auch dieses Mass wie das vorige mit denen der Kulisehu-
Indianer, Seite 162, 163, so finden wir wiederum das grösste absolute Bororó-
Mittel 95,4 grösser als das grösste Mittel der Mehinakú mit 95,1 und das kleinste
relative Bororó-Mittel 55,1 gleich dem kleinsten Mittel dort der Nahuquá mit 55,1.
Kopfhöhe. Körperhöhe = 100.
- 18 Männer: Max. 19,4 Min. 12,8 Mitt. 14,6 6 Frauen: Max. 16,1 Min. 13,0 Mitt. 14,5
Zwei Männer haben sehr hohe Zahlen. Berechnen wir das Mittel ohne
das Maximum 19,4 (37,0 cm) und die nächstgrosse Zahl 16,8 (31 cm), so er-
halten die 16 Männer ein um 0,4 geringeres Mittel mit nur 14,2, das kleiner
ist als das Mittel der 6 Frauen.
Kopfumfang. Körperhöhe = 100.
- 20 Männer: Max. 34,4 Min. 31,1 Mitt. 32,9 6 Frauen: Max. 36,6 Min. 31,6 Mitt. 33,4
Das am Schingú gemessene Minimum der Männer — bei einem Trumaí —
betrug 32,4, vgl. Seite 163. Das Mittel der Bororó 32,9 ist niedriger als das
niedrigste Mittel der dort beobachteten Serien, 33,7 der Kamayurá, und zwar
ist die Differenz 0,8 genau gleich der Differenz zwischen dem niedrigsten und
dem höchsten Mittel der Kulischustämme (Kamayurá 33,7, Auetö́ 34,5).
Längenbreiten-Index des Kopfes.
- 20 Männer: Max 85,6 Min. 75,0 Mitt. 80,8 6 Frauen: Max. 79,8 Min 76,2 Mitt. 77,7
- 10 Männer unter dem Mittel: 75,0, 76,4, 77,0, 77,6, 77,8, 79,4, 79,6, 80,2, 80,3, 80,3, und
10 Männer über dem Mittel: 80,9, 81,5, 81,8, 82,3, 82,5, 84,0, 84,4, 84,8, 85,5, 85,6. - 3 Frauen unter dem Mittel: 76,2, 76,6, 77,6, und 3 Frauen über dem Mittel: 77,9, 78,3, 79,8.
Ich habe die sämtlichen Einzelzahlen angeführt, um zu zeigen, dass die
Mittelzahlen in diesem Fall ein richtiges Bild geben. Bei den Männern ist der
Abstand von Maximum und Minimum so gewaltig, dass man hieran vielleicht
gezweifelt hätte. Das Frauen-Maximum ist niedriger als das Männer-Mittel und
der Unterschied für die Geschlechter hat ein wesentlich anderes Ansehen als
am Kulisehu, vgl. Seite 164. In dem Mittel schliessen sich die Bororó-Männer-
zahlen den höchsten am Kulisehu an und werden nur durch den Index der
Trumaí 81,1 übertroffen.
Verhältnis von Kopflänge zur Ohrhöhe. Grösste Länge des Kopfes = 100.
- 20 Männer: Max. 75,4 Min. 61,3 Mitt. 67,9 6 Frauen: Max. 69,4 Min. 62,2 Mitt. 66,2
Kieferwinkel. Haarrand—Kinn = 100.
- 19 Männer: Max. 65,9 Min. 51,7 Mitt. 58,3 6 Frauen: Max. 67,3 Min. 52,4 Mitt. 58,4
Jochbogen. Haarrand—Kinn = 100.
- 19 Männer: Max. 85,2 Min. 72,8 Mitt. 78,7 6 Frauen: Max. 84,6 Min. 70,3 Mitt. 78,5
Wangenbeinhöcker. Haarrand—Kinn = 100.
- 19 Männer: Max. 57,6 Min. 45,7 Mitt. 49,0 6 Frauen: Max. 49,1 Min. 42,7 Mitt. 46,6
[470]
Mittelgesicht. Nasenwurzel—Kinn = 100.
- 20 Männer: Max. 69,4 Min. 53,8 Mitt. 60,9 6 Frauen: Max. 68,0 Min. 58,0 Mitt. 62,3
Nasenhöhe. Nasenlänge = 100.
- 18 Männer: Max. 112,5 Min. 92,0 Mitt. 100,1 6 Frauen: Max. 111,6 Min. 102,3 Mitt. 106,8
Nasenbreite. Nasenhöhe = 100.
- 18 Männer: Max. 108,9 Min. 77,8 Mitt. 89,1 6 Frauen: Max. 95,1 Min. 73,3 Mitt. 85,3
Schulterhöhe. Körperhöhe = 100.
- 20 Männer: Max. 89,9 Min. 79,4 Mitt. 84,2 6 Frauen: Max. 85,3 Min. 82,3 Mitt. 83,9
Nabelhöhe. Körperhöhe = 100.
- 20 Männer. Max. 63,0 Min. 57,4 Mitt. 59,5 6 Frauen: Max. 63,0 Min. 58,9 Mitt. 60,4
Symphysenhöhe. Körperhöhe = 100.
- 19 Männer: Max. 53,0 Min. 47,1 Mitt. 50,9 6 Frauen: Max. 53,3 Min. 47,4 Mitt. 49,8
Darmbeinkammhöhe. Körperhöhe = 100.
- 20 Männer: Max. 62,3 Min. 55,8 Mitt. 59,9 4 Frauen: Max. 61,7 Min. 58,1 Mitt. 60,1
Armlänge. Körperhöhe = 100.
- 18 Männer: Max. 52,5 Min. 43,6 Mitt. 46,5 6 Frauen: Max. 46,2 Min. 42,9 Mitt. 44,5
Handlänge. A. Absolut.
- 19 Männer: Max. 19,2 Min. 16,1 Mitt. 17,8 6 Frauen: Max. 17,4 Min. 16,0 Mitt. 16,6
B. Körperhöhe = 100. - 19 Männer: Max. 11,1 Min. 9,5 Mitt. 10,4 6 Frauen: Max. 11,3 Min. 9,8 Mitt. 10,4
C. Armlänge = 100. - 20 Männer: Max. 24,2 Min. 19,3 Mitt. 22,1 6 Frauen: Max. 24,3 Min. 21,7 Mitt. 23,2
Längenbreiten-Index der Hand. Handlänge = 100.
- 18 Männer: Max. 50,3 Min. 41,6 Mitt. 45,1 5 Frauen: Max. 46,9 Min. 41,2 Mitt. 44,3
Trochanterhöhe. Körperhöhe = 100.
- 20 Männer: Max. 53,6 Min. 48,4 Mitt. 51,1 6 Frauen: Max. 55,6 Min. 49,4 Mitt. 52,1
Fusslänge. A. Absolut.
- 20 Männer: Max. 28,3 Min. 24,0 Mitt. 26,6 6 Frauen: Max. 25,5 Min. 23,1 Mitt. 24,0
B. Körperhöhe = 100. - 20 Männer: Max. 16,4 Min. 14,1 Mitt. 15,3 6 Frauen: Max. 15,2 Min. 14,6 Mitt. 14,9
Längenbreiten-Index des Fusses. Fusslänge = 100.
- 20 Männer: Max. 43,3 Min. 30,8 Mitt. 37,5 6 Frauen: Max. 38,9 Min. 36,1 Mitt. 37,5
Fusshöhe. Trochanterhöhe = 100.
- 17 Männer: Max. 9,1 Min. 7,1 Mitt. 7,6 5 Frauen: Max. 7,9 Min. 6,8 Mitt. 7,4
Die Haut hatte eine ausgesprochene Lehmfarbe, doch kamen alle Nuancen
von hellen, gelblichen (Wange) bis zu dunklen, fast violetten (Brust) Tönen vor.
Im Allgemeinen passte am besten Radde 33 m; Stirn etwas rötlicher, auch (die
Wange desgleichen) mit 33 n und mit 33 o bestimmt.
Bei einigen Individuen fand sich eine Hautaffektion, die am stärksten bei
Moguyokuri’s Frau ausgeprägt war. Hier waren frei nur das Gesicht, das Hypo-
gastrium abwärts des Nabels, wo die Haut bedeckt war, und der Fussrücken;
[471] sonst zeigte sich die Epidermis durchsetzt von schuppigen Riffen, die sich in kon-
zentrischen Windungen, Kreisen, Ellipsen, ungefähr der Zeichnung eines Achat-
schliffes vergleichbar, hinzogen.
Haar schwarz und ebenso häufig straff und schlicht als wellig, seltener —
bei zweien der 20 Männer — lockig. Barthaar, wo nicht ausgerupft, spärlich an
Kinn und Oberlippe.
Kopf allgemein hoch, gewöhnlich breit, mehrfach rund. Leisten des
Hinterhauptkopfes kräftig entwickelt. Stirn niedrig, bei den Männern häufiger
schräg, bei den Frauen häufiger gerade, nur ausnahmsweise hoch und gewölbt,
oft behaart. Starke Wülste, zumal bei den Männern liefern ein auffallendes
Merkmal. Gesicht durchgängig hoch und breit, selten hoch und schmal, meist
oval, selten rund, ausnahmsweise quadratisch. Wangenbeine vortretend.
Iris dunkel kaffebraun, ausnahmsweise hellbraun. Abstand der Augen gross.
Lidspalte häufig schräg, aber in der Mehrzahl der Fälle horizontal, durch-
gängig niedrig, mandelförmig, ausnahmsweise geschlitzt. Ohrläppchen klein
oder sehr klein, mehrfach verwachsen. Nase: Wurzel öfter breit als schmal,
öfter eingesenkt als vortretend, Rücken durchgängig breit, meist gerade oder
leicht gewölbt, mehrfach auch sattelförmig, Flügel breit, gelegentlich dachförmig
und bei den Männern kräftig, bei den Frauen fein, Spitze mässig stumpf, Löcher
nach vorn gerichtet, rund. Lippen voll, geschwungen vortretend. Zähne regel-
mässig, massiv, opak, meist gelblich, doch nicht selten weiss, oft stark und bis
zur Hälfte abgekaut. Prognathie mässig; Kinn selten weichend.
Brüste der Frauen, die geboren haben, hängend, mit grossem Warzenhof.
Genitalien der Männer klein. Das Praeputium war durch die Manipulationen
mit dem Stulp künstlich verlängert.
Hände und Füsse verhältnismässig klein; kurze Zeigefinger. Umfang des
Oberschenkels gemessen bei einem Mann mit 173.0 Körperhöhe 50 cm, der
Waden 35 cm. Längste Zehe: bei 17 Männern 9 mal II, 7 mal I, 1 mal I = II,
bei 5 Frauen 3 mal II, 2 mal I.
Tracht.Wimpern, Brauen, Barthaar und Körperhaar wurde aus-
gerupft oder rasiert. Die Wimpern begann man jetzt bei einzelnen Kindern
stehen zu lassen, was ihnen nach unserm Geschmack zu grossem Vorteil gereichte.
Das Haupthaar wurde auf sehr verschiedene Weise, aber bei Männern
und Frauen gleich willkürlich behandelt. Die Tonsur, die man nach dem Namen
»Coroados« erwarten sollte, beschränkt sich auf eine gelegentlich vorhandene von
1 cm Durchmesser. Vielleicht rührt der Name von den grossen Feder-
kronen her. Witwer und Witwe trugen das Haar kurz geschnitten. Die all-
gemeinste und ursprüngliche Art für beide Geschlechter war die, dass das Haar
zur Stirn gekämmt und hier rechteckig ausgeschnitten wurde, hinten aber frei
herabhing, vergl. Tafel 26. Neben den Ohren wurde gelegentlich noch eine
Stufe [geschnitten] oder ein Bündel pinselförmig zusammengebunden, zuweilen
das Haar von den Männern hinten in einen Knoten geschlungen, oder ein
[472] Bastband um den Kopf gewunden. Frauen, die sich brasilischen Sitten zu-
gänglich erwiesen, scheitelten das Haar in der Mitte. Auch der eine oder
andere Mann ging mit losem, ungeschnittenem und in der Mitte gescheiteltem
Haar. Das Haar wurde jetzt meist mit der Scheere geschnitten, nach der alten
Methode zwischen zwei Muscheln. Der Kamm bestand aus spitzen Stäbchen,
die an beiden Enden zugespitzt und in dem mittleren Teil durch rohes Flecht-
werk mit einander verbunden waren; das Flechtwerk lag zwischen zwei an den
überstehenden Enden zusammengebundenen Querleisten.
Die Männer tragen fast ausnahmslos eine Hüftschnur. Aber der eine oder
andere ging doch ohne sie. Den Stulp, inobá (no Oaussupalme, ba Eier,
Scrotum), von den Brasilianern, gravata genannt, habe ich bereits Seite 192 (mit
Festfahne) abgebildet und besprochen. Man kann sich das Modell aus einem
etwa 3 cm breiten und 14 cm langen Streifen Papier sehr einfach herstellen, in-
dem man die beiden Enden einen Ring bildend übereinander legt, dann aber
das eine um 90° dreht und kurz unter das andere einschlägt. Wurde ein
neuer oder ein etwas enger Stulp angelegt, so wurde das Praeputium vor der
Glans mit einer Schnur umschlungen und durchgeholt; es wurde durch diese
Manipulation und das Tragen des Stulps ziemlich stark gezerrt und verlängert.
Die Fahne ist ein seitlich eingeschobener Strohstreifen bis 20 cm Länge. Auch
der gefangene Clemente erhielt einen Stulp, und er klagte, dass damit Schmerzen
und Schwellung verbunden gewesen seien. Die Langsdorff’sche Expedition
berichtet von den Bororó dos Campos aus dem Jahre 1827, dass »die Männer
das Praeputium nach Art der Guató mit Embira-Bast, den sie als Gürtel tragen,
anzubinden pflegen; andere bedecken es mit einem Blattfutteral (cartuxa de
folhas)«*). Waehneldt’s Bemerkung, die ebenfalls Zeugnis ablegt, dass die
Hüftschnur ohne Stulp wie am Kulisehu genügt, habe ich bereits S. 130 zitiert.
Rohde**) drückt sich inkorrekt aus, wenn er sagt: »die Männer gehen voll-
ständig nackend, nur den Penis bekleiden sie mit einem Futteral aus Schilf, die
Vorhaut binden sie zusammen, das Glied ist aufrecht am Körper befestigt.«
Denn die Schilffutterale, die er dem Berliner Museum für Völkerkunde über-
geben hat, sind genau die beschriebenen Stulpe, die nur insofern den Penis be-
kleiden, als die Glans ein Teil von ihm ist und der Rest in das Scrotum zurück-
gedrängt erscheint. Das Einklemmen in die Hüftschnur haben wir am S. Lou-
renço nicht gesehen, es wird auch nur für die behauptet, die keinen Stulp tragen.
Daraus folgt, dass der Zweck des »Anbindens«, beim Laufen unbehindert zu
sein, den Waehneldt anführt, nur ein Nebenzweck gewesen sein kann. Der
eigentliche Zweck, den Hüftschnur und Stulp in gleicher Weise erfüllen, ist
die Verlängerung des Praeputiums; nur nach der Methode verschieden, ist er
bei der grossen Mehrzahl aller brasilischen Stämme beobachtet worden.
[]
BORORÓ MIT FEDERN BEKLEBT
[][475]
Sohn reklamierte, daraufhin untersucht wurde. Waehneldt giebt von den
Bororó des Jaurú an, dass Einige auch eine Art »Zahnstocher«
in der Nasenscheidewand tragen; in der durchbohrten Unter-
lippe fand sich bei einer Anzahl der Schmuck
von Holzstücken. Unsere Bororó trugen im
tagtäglichen Leben niemals irgend etwas in
dem Loch der Unterlippe. Nur Knaben, vgl.
Abb. 128, pflegten kleine Stifte, die das Loch
offen hielten, anzuwenden: man sah Knochen-
splitter, z. B. vom Kaiman, gelegentlich einen
Nagel, und Stifte aus Harz, an dem im Munde
liegenden Ende mit einem Knöpfchen versehen.
Erwachsene trugen zum Festschmuck Stifte
gleicher Art, vgl. Tafel 27, oder die Lippenkette
vgl. Tafel 1 und Abb. 130. Die Kette bestand
aus einem Halbdutzend aneinander hängender
länglicher Muschelplättchen mit einer kleinen
Fadentroddel an dem unteren Ende, und war
12 cm lang.
Das Lippenloch wurde dem Säugling kurze
Zeit nach der Geburt von dem Medizinmann
gebohrt. Das zu der Operation gehörige In-
strument Baragára, war ein mit einer Knochen:
spitze endigender Federstab, vgl. Abb. 131, der
sehr prunkvoll aussah und zum Schmuck bei
festlichen Gelegenheiten im Haar getragen wurde:
der Stab, an dem der Knochen mit Harz be-
festigt war, dicht beklebt mit abwechselnd
roten und orangefarbenen Federchen, hier und
da auch zartem, weissem Flaum dazwischen, und
am oberen Ende auslaufend in eine lange blaue
Ararafeder, während von deren Ansatzstelle ein
Büschel gestreifter Falken-, Papageien- und Arara-
federn herabhing, von Spitze zu Spitze etwa 1 m
lang. Der Medizinmann tanzte singend mit dem
Baragára in der Hand vor dem Säugling hin und
wieder, auf ihn zuschreitend und zurückschreitend,
und durchbohrte bei einer dieser Touren die Lippe.
Tätowieren war unbekannt; zufällig gefärbte Schnitt-
narben waren nicht selten. Ein dem Wundkratzer der Kulisehu-
Lippenkette.
Bororó.
(⅔ nat. Gr.)
Lippenbohrer.
Bororó.
(⅐ nat. Gr.)
Kratzknochen.
Bororó. (\frac{2}{7} nat. Gr.)
Indianer analoges Instrument haben wir nicht gesehen. Man ritzte die Haut
nicht zu medizinischen Zwecken, sondern krazte sie nur, wie alle Welt, wenn sie
[476] juckte und hatte sogar für das Kratzen auf dem Rücken ein besonderes Gerät,
21 cm lang, einen Knochen, der mit Straussfedern geschmückt war, vgl. Abb. 132,
und von den redlich schwitzenden Festtänzern auch mit Nutzen verwendet wurde.
Die Schnittnarben rührten von den Totenfesten her.
Bemalung und Federschmuck spielten, erstere eine geringe, letzterer eine
gewaltige Rolle. Nicht mit Unrecht spricht Waehneldt von den »fast täglichen
Festen« der Bororó. Die Bemerkung war auch für unsere Indianer durchaus zu-
treffend und zwar einfach deshalb, weil schon jede Jagd mit Tanz und Gesang
begonnen wurde. Dann wurde das in das Männerhaus geschleppte Mädchen
auf das Sorgfältigste von seinen Freunden bemalt. Endlich war es eine tag-
täglich geübte »Medizin«, sich mit Federn zu bekleben. Wechselfieber war
in der Kolonie vielfach vorhanden, die Kinder waren jeden Augenblick doéte
(portugiesisch doente), und so wurde es für uns schlechterdings unmöglich zu sehen,
wo die Grenze zwischen Medizin und Schmuck lag. Die Körperstellen, die
schmerzten, werden mit erhitztem Almeisca-Harz bestrichen und mit Dunenfedern
dicht beklebt. Wir sahen Kinder, die vollständige Aermel aus weissen Enten-
federchen hatten. Das Färbharz war schwarz. Um das Gesicht mit Federn zu
bekleben, trug man entlang der Haargrenze einen fingerbreiten Klebstreifen
auf und verband die Enden neben den Ohren zuweilen durch einen zwischen
Nase und Lippe verlaufenden Querstreifen, sodass man, wenn der Streifen breit
gemacht und nicht beklebt wurde, eine zu einem Rahmen ausgeschnittene schwarze
Halbmaske zu sehen glaubte. Der ursprünglich für die Federn angelegte Lack-
rahmen wurde auch ohne Federbeklebung verwendet.
Tafel 27 zeigt uns einen festlich mit Federn beklebten Bororó. Die Arme
sind ganz in grüne Papageienfederchen eingehüllt, wie auch der benachbarte Teil
der Brust; über dem Nabel findet sich ein kleiner Federstreifen und auf dem
Rücken, kann ich zufügen, war ein Teil der Schultern und eine handbreite Stelle
der Kreuzgegend beklebt. Der schwarze Lackrahmen im Gesicht hat schon von
seiner ersten Schönheit und Befiederung eingebüsst, von Ohr zu Ohr zieht sich,
einem mächtigen Schnurrbart ähnlich, der mit rein weissen Federn beklebte
Querstreifen. Das Haar ist mit Urukú bestrichen und der Vorderrand mit roten
Ararafederchen fest beklebt, beiderseits stehen rot bestrichene Pinsel ab; den
Oberteil des Kopfes ziert, die Tonsur umgebend, ein rotes Krönchen von Arara-
federn und ringsum gestreut liegt eine Handvoll nur lose aufklebender Federchen.
Bei den Frauen, die krank waren, sahen wir nicht selten kleine Stellen mit
Federn beklebt; Maria erschien eines Tages, über Fieber klagend, mit diesem
Mittel stärker behandelt, da sie es an Haar, Gesicht und Brust angewandt hatte.
Die Gattin eines der nach langer Abwesenheit heimkehrenden Jäger, hatte sich
zum Empfang das Gesicht und Haar wie die Ranchãomädchen bemalen und die
Haut des Oberkörpers in eine vorn offene Federjacke umwandeln lassen. Mit
Federn ähnlich dem Schmuck der Bororó auf Tafel 27, wird der Schädel des
skelettierten Toten vor der endgültigen Bestattung beklebt, während die übrigen
[477] Knochen mit Urukúöl eingeschmiert werden. Ob bei dieser Ausschmückung
auch die verzweifelt aussichtslose Hoffnung auf einen medizinischen Erfolg mit-
gewirkt hat, vermag ich nicht zu sagen.
Das tägliche Anstreichen mit öligem Russ und Urukú wie am Schingú
kam nicht vor. Auch werden die Farbstoffe für keinerlei Gerät als die Schwirr-
hölzer verwendet; statt ihrer sah man am S. Lourenço überall die Federn am
Leib wie an den Geräten. Es fehlte aber auch die Plage der Moskitos und
Stechfliegen; von allem Ungeziefer sahen oder hörten wir in der Kolonie nur
die in dem Maisvorrat raschelnden zahllosen Grillen. Das Urukú, von dem es
nur sehr wenig gab, wurde mit Fischöl angerührt. Es wurde nur im bescheidensten
Masse verwendet, ebenso wie die Bemalung mit Schwarz sich auf den Lack-
rahmen und das Berussen von Gesicht und Körper, als man gegen die Kayapó
loszog, beschränkte. Mit Urukú schminkte man das Ranchãomädchen für die
Nacht; es sass auf einer roten Decke, daneben lag eine Muschel mit Fischöl und
ein Stück Urukúpaste. Das Haar wurde dick beschmiert, der Oberkörper erhielt
auch einen Anstrich, aber die Hauptsache, auf die man lange Zeit verwendete,
war die Bemalung des Gesichts mit einem Halm oder schmalen Bambusstäbchen.
So wurde die Stirn nicht mit einem Zug bestrichen, sondern man legte das
mit Farbe getränkte Stäbchen auf und drückte es ab, mit diesem Verfahren
allmählich einen Querstreifen über die Stirn legend. Man färbte auch die
Lider, das Oberlid bis in die Falte hinein. Auf die Wangen malte man Drei-
ecke. Auf die Bedeutung des Querstreifens und der Dreiecke komme ich
später zurück, vgl. unter »Zeichenkunst« nach Besprechung der Schwirrhölzer,
wo ich allein noch Gelegenheit habe, von Mustern zu reden.
Federschmuckarbeiten, um mich im Gegensatz zu der Federbeklebung
so auszudrücken, wurden in prächtigster Art geliefert. Die Haupterzeugnisse
der Jägerkunst finden sich auf Tafel I bei dem Häuptling in Gala vereinigt.
Ein gewaltiges Strahlenrad aus blauen, auf der Rückseite gelben Arara-
schwanzedern erhebt sich, schief nach vorn gerichtet, auf dem Vorderkopf, der
Paríko, vgl. Abb. 133. Die Ararafedern, 45 cm lang, stecken in einem um-
wickelten Halmbündel, das sich dem Kopf anpasst und mit einer Schnur an-
gebunden wird; das untere Viertel der langen Federn ist mit mehreren Reihen
roter und grüner Papageienfederchen bedeckt. Ein kleines Diadem, vgl.
Tafel I, wird über die Stirn herabgeklappt. Auf dem Hinterkopf, schief
nach hinten gerichtet und runder gewölbt als der Paríko, steht ein ihm
an Grösse gleichkommendes Diadem aus quergebänderten Falkenfedern ab,
kurugúgua. Von den Ohren hängen bunte Lappen auf die Brust herab, die
aus roten und gelben, in Querstreifen zierlich angeordneten Federchen von der
Brust des Tukan gebildet sind. (Auch die grossen Schnäbel der Tukane werden
getragen.) Bündel von Flügelfedern des Arara, der Papageien und anderer
Schmuckvögel hängen, wie vom Bogen oder vom Lippenbohrer, von den Ober-
armen herab.
[478]
Doch giebt es noch mancherlei andern Federzierrat. Namentlich ist der
sehr schönen nabuleága (nabúre Arara) zu gedenken, Ararafedern mit wogenden
Straussfedern und weissen Dunenquasten, zusammen an einem Stäbchen vereinigt,
das in das Loch des Ohrläppchens oder in das Haar gesteckt wird, 56 cm lang,
vgl. Abb. 134. Ebenso steckte man ein Stäbchengerüst von der Eiform des
Paríko-Federdiadem.
Bororó. (⅑ nat. Gr.)
Rasselkürbiss, marobóro, in das Haar; das Gerüst war mit weissem Flaum be-
klebt und obenauf eine rote Araraschwanzfeder befestigt. Endlich sind die feder-
verzierten Chignons der Bororómänner zu erwähnen. Der Haarknoten wurde mit
einem Federkranz umwunden oder mit strahlenförmig hervorragenden Federn,
vgl. Tafel 29 den Bororó im Vordergrund, dicht bespickt.
Zähne wurden namentlich zu Brustschmuck verarbeitet; am beliebtesten
waren grosse Jaguarzähne, gewöhnlich 2 Paar aneinandergeflochten, und kleine
Affenzähne, in mehreren Querreihen zu einem bis 30 cm breiten, fast über die
[479] ganze Brust reichenden Stück verbunden, vgl. Tafel I und Abb. 129. Dass auch
Frauen diese Zierraten erhielten, kam nur äusserst selten vor und ist wohl, da
von den anderen Bororó die gewöhnliche Thatsache,
dass nur die Männer sich schmückten, berichtet wird,
auf die Umwälzung durch die Kolonisation zurück-
zuführen. Charakteristisch war, dass der indianisch
denkende und portugiesisch sprechende Clemente die
aneinander geflochtenen Zähne rosarios, Rosenkränze
nannte; die Indianer verbanden mit diesem Schmuck
die Vorstellung, dass er stark und gewandt mache.
Sie hatten auch brasilischen Gefangenen Zähne aus-
gezogen und sich damit behängt; desgleichen waren
Unterkiefer des Feindes getragen worden. Einen
Schutz versprach man sich geradeso vom Haar der
Verstorbenen, das man zu Fäden spann und dann
zu Schnüren flocht, die nur sehr schwer zu erlangen
waren, Haarbüschel hingen mit den Federn von den
Armbändern herab.
Klauen, kleine von Nagetieren und grosse von
dem Riesengürteltier wurden je zwei aneinander ge-
setzt und bildeten so die Form eines Halbmondes;
in der Mitte, wo sie zusammengebunden und mit
Harz bedeckt waren, hing ein Bündel Fäden herab
Arara-Ohrfeder.
Bororó. (⅙ nat. Gr.)
und waren auf dem Harz einige Muschelringelchen eingedrückt. In ganz ähn-
licher Zusammensetzung haben wir die Klauen des Riesengürteltiers am Kulisehu
nicht als Schmuckstück, sondern als Gerät
kennen gelernt, vgl. Abb. 25, Seite 206.
Den Klauenschmuck ahmten die Bororó
nach, indem sie aus dem Blech brasilischer
Konservenbüchsen Stücke in derselben Form
und Grösse ausschnitten. Der Vorgang ist
deshalb sehr interessant, weil die Blech-
halbmonde in Nichts ihre Abstammung aus
zwei Klauen verrieten und schon von einem
Cuyabaner, wie ich zu meiner Freude erlebte,
als ein Beweis für die »Mondverehrung« der
Bororó angesprochen wurden. Vgl. Abb. 135
Brustschmuck aus Gärtel-
tierklauen. Bororó. (⅓ nat. Gr.)
den Ohrschmuck der Mutter. Dies war die Art, wie die Indianer bereits Metall
bearbeiteten. Auch Lippenstifte wurden aus Blech geschnitten.
Jaguarkrallen wurden zu einem Kopfreifen zusammengesetzt, vgl. Abb. 126,
ein Schmuck sehr ähnlich der Halskette des Auetö́häuptlings aus gleichem Ma-
terial in Abb. 5, Seite 108.
[480]
Ketten aus Muschel- und Nussperlen, Knochenstückchen, durchbohrten
Samenkernen waren vorhanden, standen aber an Bedeutung denen am Schingú
weit nach. Am meisten schätzte man Perlen, die aus dem Gürteltierpanzer
verfertigt wurden. Näheres darüber werde ich bei der Schilderung der Thätig-
keit im Männerhaus angeben. Dort bespreche ich auch Zierschnüre für beide
Geschlechter, die wir »Hosenträger« zu nennen pflegten.
Kopfschmuck aus Jaguarkrallen.
Bororó. (⅔ nat. Gr.)
Die Aróe. Der Mittelpunkt des Bororó-Daseins ist der Baitó, das Männer-
haus, und neben dem unglaublich geräuschvollen Leben, dass sich hier Tag und
Nacht abspielt, sind die Familienhütten kaum etwas mehr als der Aufenthalt für
Frauen und Kinder. Die vereinigten Männer heissen aróe und zwar mit be-
sonderer Rücksicht auf die gemeinsame Jagd. In den, man darf ohne viel
Uebertreibung sagen, fast jeden Tag und jede Nacht im Baitó erschallenden
und weithin hallenden Gesängen ist aróe nicht das dritte, sondern das zweite
Wort; denn die Gesänge enthalten Aufzählungen von Tieren und Dingen, deren
jedem, sobald es genannt ist, mindestens einaróe folgt. Gesungen wird zu
allen Ereignissen, die irgendwie die Gefühle von Trauer oder Freude erregen,
und zwar, soweit das möglich ist, auch sowohl an ihrem Vorabend wie zur Nach-
feier. Der Häuptling sagt am Abend für den folgenden Tag eine Jagd an: statt
dass sich die Leute nun vernünftiger Weise schlafen legten, bis die frühe Stunde
des Aufbruchs da ist, vereinigen sich die aróe zu ihrem Jagdgesang und die
eifrigsten singen unentwegt bis zum Morgen. Der Stamm macht den Eindruck
eines aus Jägern zusammengesetzten Männergesangvereins, dessen Mitglieder sich
verpflichten, solange sie nicht etwa 40 Jahre alt sind, nicht zu heiraten, sondern
in ihrem Klubhaus miteinander zu leben. Die älteren, mit Familie versehenen
Genossen sind die angesehenen Träger von Amt und Würden und können des-
halb auch nur wenig Zeit zu Hause zubringen; sie nehmen an den Jagdausflügen
Teil oder haben im Klubhaus zu wirken, wo sie für Ordnung sorgen, die Ge-
sänge leiten und an den beschäftigten Tagen auch an dem Essen teilnehmen,
das die Frauen hinschicken.
[]
SCHIESSENDER BORORÓ.
[][481]
Clemente versicherte, dass die Indianer in der Kolonie auf keine Weise
anders lebten als in ihren Dörfen, dass hier im Gegenteil die gemeinsame Jagd,
weil sie sich allen Unterhalt selbst zu beschaffen hatten, noch weit mehr im
Vordergrund stehe. Danach ist also das Leben am Kulisehu wesentlich ver-
schieden von dem im Bororódorf. Dort wohnte man in stattlichen Familienhäusern
zusammen, hier besass jedes mit Kindern gesegnete Ehepaar seine kleine elende
Hütte, dort bildeten die Junggesellen die Ausnahme, hier die Mehrheit, dort
hatten die in Monogamie lebenden Männer ihr Flötenhaus, das keine Frau be-
trat, das zu gemeinsamen Beratungen und Tänzen diente, wo man aber nur
arbeitete, soweit es Festschmuck zu verfertigen galt, hier wurden die Mädchen
gewaltsam in das Männerhaus geschleppt, gerieten stets in den gemeinsamen
Besitz von mehreren Genossen und die regelmässige Arbeit an Waffe und Gerät
wurde in dem Männerhaus erledigt. Bei den Bororó war das Familienleben
auf das Deutlichste nur eine Errungenschaft der Aelteren und Stärkeren. Der
Lebensunterhalt konnte nur erworben werden durch die geschlossene Gemeinsam-
keit der Mehrheit der Männer, die vielfach lange Zeit miteinander auf Jagd ab-
wesend sein musste, was für den Einzelnen undurchführbar gewesen wäre. Dieser
Lebensunterhalt war knapp, und die Jüngeren mussten zufrieden sein, wenn sie
selbst satt wurden, sie konnten nicht so viel bekommen, um auch Weib und
Kind zu versorgen. Mit dem friedlichen Feldbau, den die Frau der Kulisehu-
stämme entwickelt oder erlernt hat, sind die Verhältnisse vollständig verändert
worden, die Gemeinschaftlichkeit der Männer, der aróe, trat in den Hintergrund
und konnte auf die für den Fischfang und Festtänze beschränkt werden. Der Zu-
gang der Nahrungsmittel war jetzt so reichlich und regelmässig, dass ein Jeder
genug erhielt für die Bedürfnisse wenigstens einer kleinen Familie — er sorgte
dafür, dass die Familie klein blieb — und jetzt, wo die Thätigkeit der Frau die
wichtigere Leistung wurde, war es umgekehrt vorteilhaft, wenn sich die Frauen
in gemeinschaftlicher Arbeit zusammenfanden: man lebte familienweise in einem
grossen Hause.
Jagd und Feldbau. »In der Regenzeit sind sie Tage und Tage ohne
irgendwelches Essen«, dias e dias sem nada para comer, berichtete Clemente.
Sie tränken dann viel mit Lehm angerührtes Wasser zur Stärkung, ässen aber keinen
Lehm. Sie pflanzten nur Tabak, Baumwolle und Kuyen und zwar thäten dies
auch nur die im Quellgebiet des S. Lourenço an kleinen Flüsschen wohnenden
oberen Bororó, die geschicktere Fischer seien. Von ihnen tauschten die unteren
Dörfer jene pflanzlichen Erzeugnisse gegen Pfeile ein. Hier sehen wir also das
Anpflanzen nicht mit den Nahrung liefernden Gewächsen beginnen! Unsere
nun in Thereza Christina angesiedelten Bororó hätten überhaupt Nichts pflanzen
gelernt. Kalabassen und lange zur Aufbewahrung der Federn geeignete Kuyen
waren in der That nicht vorhanden, kleinere Kuyen selten und hauptsächlich
als Rasselkürbisse für den Aróegesang oder als kleine Blaskürbisse verwendet.
Die Männer auf Jagd bedurften keiner Gefässe, oder wussten sich mit Frucht-
v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 31
[482] schalen und Bambus zu helfen, ihre Federn bewahrten sie in grossen Bambus-
schachteln auf und zu Hause machten die Frauen Topfschalen und Wasser-
töpfe. Der Riesenbambus wachse auch nicht in der Nähe der Kolonie, sondern
werde weiterher geholt; wir fanden Büchsen von 50—60 cm Länge und 9 cm
Dicke, aus denen ein Längsdeckel ausgeschnitten war.
Für die grobe Verständnislosigkeit, die dem Bororó gegenüber der Feld-
kultur der Brasilier eigen war, habe ich Seite 453 drastische Beispiele angeführt.
Die Männer zogen Tage und Wochen lang auf Jagd aus; zuweilen wurden sie
von einigen Weibern begleitet. Es war also kein reines Nomadenleben, sondern
Ansässigkeit war vorhanden. Sie wurde ermöglicht durch das Braten des Wild-
prets und den Fischfang.
Wir sahen eine Schaar heimkehrender Jäger; in Tragkörben brachten sie
eine Menge Fleisch heim, sehr gut durchgebraten, schwarz, trocken, hauptsäch-
lich Wildschwein, Geflügel, Schildkröten, dabei grosse verkohlte Stücke Haut
mit nur wenig daran sitzendem Fleisch. Die Brasilier schätzten die Bororó als
ausgezeichnete Fährtensucher; desertierende Soldaten wurden mit ihrer Hülfe
rasch eingefangen.*)
Fische wurden mit Pfeilen geschossen oder mit Angeln, die sie nach dem
brasilischen Vorbild aus gestohlenem Eisen und aus dem Panzer der Schild-
kröten fertigten, oder in Netzen gefangen, indem man einen Kreis bildete und
die Fische zusammentrieb. Schmälere Flüsse sperrten sie auch mit Aesten und
Gras, einige trichterförmige Eintrittslöcher übrig lassend, hinter denen eine Um-
zäunung mit Bambusstöcken angebracht war. In flachen Flüssen, erzählte
Clemente, blieben die Indianer Nächte hindurch im Wasser, bei Palmfackeln
arbeitend. Unverständlich ist mir die Behauptung geblieben, dass sie längere
Zeit unter Wasser zu bleiben vermöchten. Sie kauten die bittern Blätter des
»Dyorúbo«-Baumes, bevor sie untertauchten, und spuckten sie nachher wieder aus.
Unter Wasser fingen sie Fische. Er wisse von Einem, der etwa eine Stunde
in der Tiefe geblieben und »mit einem Arm voll Pintados« zurückgekehrt sei.
Sicher ist, die Bororó hielten sich gern im Wasser auf. Die von der Jagd
heimkehrenden sah man ein bis zwei Kilometer oberhalb der Kolonie im Fluss
erscheinen nnd schwimmend oder bis an den Hals im Wasser watend die Strecke
zurücklegen, statt den Landweg zu wählen und nur quer herüber zu schwimmen.
Schon von fernher hörte man sie lachen und schwatzen; paarweise folgten sie
sich in kurzem Abstand, alle die Bogen, an denen die Pfeilbündel oben hori-
zontal angebunden waren, gleichmässig steil wie Kreuze emporhaltend und auf
der Brust oder unter den Armen die erbeuteten Thiere tragend.
Ebenso schwammen auch die Frauen heim, die schwerbefrachtete Körbe
voller Palmnüsse und Wurzeln oder mächtige Bündel langer Palmblätter für
[483] Dach und Hauswand mitbrachten. Sie hatten die Tragkörbe zu je vier Stück
an Hölzer gebunden und lenkten sie an Stricken wie die Pelota (vgl. S. 139).
Die Tragkörbe wurden auf dem Rücken in einer Bastschlinge getragen, die vorn
über die Stirn oder den Vorderkopf lief.
Kanus hatten die Bororó nicht. Sie nannten die Fahrzeuge der Brasilier
ika — dasselbe Wort, das sie für Aeste und Zweige (nicht Baumstämme: ipó)
gebrauchten, wie sie deren für die Beförderung der Last zu kleinen Flössen
zusammenzubinden gewohnt waren.
Hunde, von denen wir uns nach dem Beispiel unserer Vorfahren vor-
zustellen pflegen, dass sie dem primitiven Jäger unentbehrlich seien, fehlten den
Bororó nicht nur in ihrer Heimath, sie wurden auch jetzt kaum je gebraucht,
wo sie ihnen leicht in grosser Zahl zur Verfügung gestanden hätten.
Auf die Vertheilung der Jagdbeute vermag ich erst später einzugehen.
Waffen. Bogen und Pfeile bezeichneten die höchste Entwickelung der
Technik und waren mit einer ausserordentlichen Sauberkeit und Genauigkeit
gearbeitet. Hier konnte man auf das deutlichste sehen, dass nur das Interesse
da zu sein braucht, damit es auch an den Leistungen nicht fehle. Der Bogen
war mit Ausnahme der Keule auch die einzige Kriegswaffe. Von den Bororó
dos Campos wird berichtet, dass sie »selten« Lanzen gehabt hätten, mit Spitzen
von Eisen, Knochen oder Stein. Die Keule des S. Lourenço war 1⅓ m lang,
ein ziemlich plattes Stück Palmholz, das 3—4 cm breit war und in ein Blatt
von nur 5—6 cm Breite auslief.
Den gewöhnlichen Bogen baíga zeigt uns Figur 5 der Abbildung 137. Er
hat eine Länge bis zu 1,9 m und ist in einer Breite von ⅓ m mit einem
Palmfaserstrick umwunden, eine Reservesehne, die gewöhnlich die Fortsetzung
der eingespannten Sehne bildet, vgl. Tafel 28. Prächtigen Federschmuck haben
die bei festlichen Gelegenheiten von Häuptlingen getragenen und als feierliches
Geschenk geltenden Bogen, deren Ausschmückung Fig. 1 verdeutlicht. Das
Holz ist über und über mit bunten, entweder roten und gelben oder blauen
und gelben Ararafederchen und weissen Dunen dazwischen beklebt, und das
aufwärts gehaltene Ende krönt ein Büschel von gleichfarbigen Federn. Das
bunte Büschel ziert zuweilen auch den gewöhnlichen Jagdbogen. Der glückliche
Erleger eines Jaguars endlich wird durch den Bogen von Fig. 2 ausgezeichnet;
an diesem sind ein Dutzend gelber Bändchen von Oaussú-Palmblatt (Attalea
spectabilis) angebracht. Die Bogen haben einen ziemlich flachen Rücken, während
die der Sehne zugewendete Fläche mehr konvex ist, umgekehrt wie bei den
Paressíbogen.
Die Pfeile haben einen Schaft entweder aus Kambayuvarohr oder aus dem
eleganten schwarzen Seriba-Palmstroh (Avicennia). Den bleistiftdünnen Seriba-
schäften ist ein Endstück aus Rohr angesetzt an dem die Schwanzfedern be-
festigt sind; sie sind sorgsam mit durchlöcherten Bulimusmuscheln gehobelt und
den wie Sandpapier rauhen Lischablättern feiner geglättet.
31*
[484]
Bogen und Pfeile. Bororó.
1. Bogen des Häuptlings, 2. des Jaguarjägers. 3. Jaguarpfeil. 4. Bambusspitze von 3. 5. Gewöhnl. Bogen. 6. und
7. Jagd- und Fischpfeil. 8. Schweinepfeil. 9. Harpunenpfeil. 10. Kriegspfeil.
[485]
Allen Pfeilen gemeinsam sind die beiden in spiraliger Drehung angesetzten
Schwungfedern, deren oberes und unteres Ende angebunden ist; man kann auf
den Abbildungen sehen, wie der Schaft der Feder in leichter Krümmung vom
Pfeilrohr absteht. Zwischen ihnen sind oft noch ein paar Ringe von zierlich
kleinen Federchen angebracht.
Die Pfeile sind 1½ bis 1¾ m lang. Bei der gewöhnlichsten Art der
Jagd- und Fischpfeile sind in das Kambayuvarohr spitze Holzstöcke eingetrieben,
denen ein zugeschärftes Knochenstück aufsitzt. Oder es ist, Fig. 7, ein
Knochen als Widerhaken angebunden, oder das Holz ist gekerbt, Fig. 6.
Schiessender Bororó.
Die Knochen rühren vom Affen oder Tapir her. Für die Vogeljagd dienen
Pfeile mit stumpfer Spitze; sie tragen einen Holzkegel, das breitere Ende nach
oben und in der Mitte der Grundfläche mit einem Spitzknopf versehen.
Andere Pfeile haben als Spitzen geschärfte Bambusstücke; der Bambus
wird lange Zeit in Rauch gehängt, damit er genügend austrocknet. Die ein-
fachste Form, die zur Jagd auf Wildschweine gebraucht wird, zeigt Fig 8. Die
30—40 cm lange, 2½ cm breite, flache Bambusspitze ist an den Rohrschaft
gebunden. Fig. 3 stellt den schönen Seribapfeil für die Jagd des Jaguars dar;
der ganze Pfeil ist 1¾ m lang, das befiederte Endstück 24 cm, die Bambus-
spitze 60 cm lang und 3 cm breit. Der Seribaschaft liegt in einer mit dem
[486] Kapivarameissel gehöhlten Rinne der flachen Bambusspitze und ist nur lose mit
etwas Harz und Faden befestigt, vgl. Fig. 4. Der Kriegspfeil, Fig 10, auch
aus Seriba geschnitzt, trägt ein sehr schmales (1—2 cm), rundes, aber nach seiner
ganzen Länge (37 cm) zugespitztes Bambusstück. Die Bambusspitzen brechen
im Körper ab.
Der Widerhakenpfeil ist für die Erbeutung von Alligatoren und grösseren
Fischen mit Harpunenvorrichtung ausgestattet. Die Länge des Harpunenpfeils
in Fig. 9 betrug 1,78 cm, wovon 31 cm auf den an einen Strick befestigten
Widerhakenstock zu rechnen sind; der Schaft ein dickes Ubárohr, war noch in
der Breite von ½ m umwickelt.
Die Spannung des Bogens geht aus der Momentphotographie in Abb. 138
und Tafel 28 hervor. Der hockende Schütze hält den Bogen horizontal, der
stehende senkrecht. Ein Reservepfeil wird mit der linken Hand dem Bogen
parallel gehalten. Der Pfeil liegt in letzterm Fall links vom Bogen auf dem
Zeigefinger der linken Hand, die den Bogen hält. An seinem hinteren Ende
wird er zwischen Daumen und Zeigefinger gefasst, der Daumen lässt los, der
Zeigefinger in gestreckter Haltung stützt und richtet ihn genauer ein, die drei
übrigen Finger, namentlich der Mittelfinger spannen die Sehne. Die Spannung
ist also von der am Kulisehu (vgl. Seite 230) verschieden. Bei dem hockenden
Schützen, wo der Pfeil dem Bogen aufliegt und hier durch die Spitze des Zeige-
fingers der linken Hand leicht angedrückt wird, ist die Haltung der spannenden
rechten Hand insofern verschieden, als das hintere Ende des Pfeils zwischen
dem fest zufassenden Daumen und dem gebogenen Zeigefinger gehalten wird.
Arbeiten im Männerhaus und Technik. Jeder hatte seinen bestimmten
Platz: wer nach dem Fluss zu wohnte, in der dem Fluss zugewendeten Ecke
und so fort Alle nach der Lage des Hauses der nächsten Verwandten. Hier,
wo die Indianer unter sich waren, herrschte, abgesehen von den geschlechtlichen
Vorgängen, eine auch nach unsern Begriffen anerkennenswerte Ordnung. Wer
nichts zu thun hatte, faulenzte freilich mit grosser Ausdauer, aber wer an seinen
Waffen, Schmucksachen und Geräthen Beschäftigung fand, arbeitete unverdrossen
und arbeitete so sauber und sorgfältig, dass die Herren der Katechese ihre Freude
daran hätten haben sollen. Selbst der Idiot Dyapokuri, wenn er zwischendurch
auch ein Spässchen freiwilliger oder unfreiwilliger Art zum Besten gab, war
unausgesetzt thätig.
An Tagen, wo man sich nicht der Jagd widmete, waren gegen 40 Männer
im Baitó vergnügt bei der Arbeit. Die Frauen kochten währenddes in den Hütten,
und ab und zu verschwand Einer, das Essen zu holen. Sobald er wiederkehrend
in der Wand sichtbar wurde, ertönten vereinzelte »hm« »hm« der Anerkennung,
und kaum dass auch der zuletzt erscheinende, das dampfende Gericht hoch
emporhaltende Arm in das Innere nachgezogen war, erscholl mit allgemeinem
gellenden ah! ein heller Juchzer der ganzen Gesellschaft. Umfangreiche Topf-
schalen waren mit steifem, säuerlichem Maisbrei oder Maisschleim gefüllt, oben-
[487] auf lagen grosse Flussmuscheln zum Auflöffeln. Dann schritt Moguyokuri umher,
legte einer Anzahl von Jungen oder Alten seine starke Hand auf die dicken
Schädel, und die Auserwählten hockten um den Topf und stachen
mit ihren Muschellöffeln kräftig in den Brei. Wer dieses patri-
archalische Bild mit der Szene der brasilischen Fleischverteilung
(Seite 456) verglich, musste von heiligem Zorn gegen die schändliche
Wirtschaft erfüllt werden.
Der Idiot Dyapokuri briet das bei der »Fütterung der Tiere«
erbeutete Rindfleisch. Er holte sich das Feuer in einer Hütte.
Feuer brauchte nicht mehr durch Reiben entzündet zu werden,
denn die Verwaltung lieferte schwedische Streichhölzer. Die ur-
sprüngliche Methode der Bororó war dieselbe wie am Kulisehu.
Als bestes Holz galt Canella brava, Pseudocaryophyllus sericeus.
Auch von Steinbeilen und schneidenden Fischzähnen war
natürlich nichts mehr zu bemerken; Aexte und Messer waren im
Ueberfluss vorhanden. Allein es gab doch noch Mancherlei aus
der alten Zeit zu beobachten. So schnitten die Bororó beim
Essen die Fleischstücke mit Bambusspähnen vor dem Munde ab,
sie gebrauchten als Schabmeissel den an ein Stöckchen befestigten,
bis 8 cm langen Kapivarazahn, vgl. Abb. 26 vom Schingú und
hierher gehörig Abb. 139, sie schliffen diesen Zahn mit dem Zahn
des Paka (Coelogenys paca), eines kleinen Nagetiers, sie hobelten,
glätteten, bohrten noch auf gut indianische Art.
Ihr Hobel war eine Bulimusschale, ruo, 10 cm lang, vgl.
Abb. 140 (und Abb. 27 vom Schingú). in die mit einer Oaussúnuss
scharfrandige Löcher geschlagen waren. Sie glätteten ferner Holz
z. B. der Schwirrhölzer, die für die Totenfeier gemacht wurden,
indem sie es eine Viertelstunde mit einem nassen, glatten Stein
strichen. Oder sie nahmen die rauhen Blätter des Lischa-
und des Imbaubabaums. Sie sassen mit untergeschlagenen
und gekreuzten Beinen und schnitten und hobelten die Ge-
genstände auf ihrem Fuss als Unterlage. An den auf dem
Boden aufliegenden äusseren Knöchel fühlte ich vielfach
kallöse Verdickungen und auch knorpelharte verschiebliche
Stücke. Affenknochen zu Kettenschmuck zerschnitten sie auf
dem Fuss, sodass ich jeden Augenblick für ihre eigenen
Knochen fürchtete.
Bohren geschah stets mit Quirlbewegungen. Ein Nagel
war an einem Stöckchen von ½ m Länge befestigt und dieses
wurde zwischen den beiden schnell auf- und niedergleitenden
Kapivara-
Meissel.
Bororó.
(½ nat. Gr.)
Hobel-
muschel. Bororó.
(⅖ nat. Gr.)
Händen gequirlt. So durchbohrten sie die Muschelplättchen für ihre Lippen-
ketten, die sie so herstellten, dass sie eine Muschel zerhackten und die Kanten
[488] der Stücke auf Stein schliffen. So durchbohrten sie die Zähne und klemmten
solche, die klein waren, damit sie nicht ausglitten, zu mehreren nebeneinander
in eine Oaussúnuss. Eigenartig war auch die Verfertigung der Perlen aus dem
Panzer des Gürteltiers. Er stellt einen gewölbten, aus zahlreichen kleinen
Polygonen zusammengesetzten Schild dar; an der Innenseite jedes Vieleckchens
befindet sich eine natürliche punktförmige Vertiefung: in diese wurde der Quirl-
bohrer eingesetzt, und erst nachdem so der ganze Schild regelmässig wie ein
Sieb durchlöchert war, wurde er in die einzelnen Plättchen zerbrochen, die man
aufreihte und rund schliff.
Geflochten wurden Korbtaschen, in die bei der Totenfeier die Knochen
gepackt wurden, viereckige Feuerfächer, die man auch als Teller benutzte,
oder wie ein Fähnchen an einen Stiel band, um sie für die Abwehr von Moskitos
Bororófrau mit Brustschnüren
und Armbändern.
zu verwenden, die grossen Schlafmatten
aus Oaussúpalmblatt (2 m lang, 90 cm breit).
Die beutelförmigen Tragkörbe schienen
von den Frauen geflochten zu werden.
Die Männer spannen. Das Männer-
haus als Spinnstube! Ich gestehe, es
machte mir einen abenteuerlichen Ein-
druck, als ich zum ersten Mal einen dieser
Jäger Baumwollflocken durch Schwippen
an einer Bogensehne lockern sah. Sie
spannen Baumwolle und das Haar ihrer
Toten, jedoch auf andere Art als die
Frauen am Kulisehu. Der Spinnwirtel,
4 bis 4½ cm im Durchmesser, war eine
Muschel- oder Thonscheibe und sass im
oberen Viertel des hindurchgesteckten
Stöckchens. Während die linke Hand die
langgezogene Flocke oder ein paar zu-
sammengelegter Haare hielt und sie an
dem kurzen Ende des Stöckchens befestigt hatte, wurde mit der rechten Hand
der grössere Teil des Stöckchens unterhalb des Wirtels bei Schiefhaltung der
Spindel auf dem rechten Oberschenkel gerollt; der Faden bildete sich also an
dem kürzeren Teil des Stöckchens oberhalb des Wirtels. Den fertigen Faden
wickelte man an dem langen Teil unter dem Wirtel auf.
Die Haarfäden wurden zu einer Schnur geflochten, die man um das Kopf-
haar, um den Leib oder zum Schutz gegen den Anprall der Sehne um das
Handgelenk trug. Palmfaserschnur drillte man mit der Hand auf dem Ober-
schenkel. Vielfach wurde bei den Fadenarbeiten die grosse Zehe benutzt.
Eigentliches Weben, d. h. die Verschlingung sich rechtwinklig kreu-
zender Fäden war unbekannt. Die Männer verfertigten aus Baumwollfäden
[489] schmale Bänder, in die Borsten vom Stachelschwein eingeflochten und die nach
Art der Hosenträger, vgl. Abb. 141 und 129 als Brustschnüre von beiden Ge-
schlechtern getragen wurden, sowie Armbänder durch künstliche Verschlingung
des Fadens zwischen zwei dünnen Stäbchen.
Wie zierlich und nett die Männer arbeiteten, fiel namentlich bei dem
Herrichten der Pfeile auf. Da gab es so manche kleine Geschicklichkeiten, die
man nur zarten Frauenhänden zugetraut hätte. Dahin rechne ich besonders
das Ausschmücken mit winzigen bunten Federchen, deren jedes Stück für Stück
auf den Boden gelegt und sorgfältig zurechtgezupft wurde.
Auch kann in einer Spinnstube nicht mehr geschwatzt und gelacht werden
als hier im Baitó. Gewiss war es wenig frauenhaft, wenn sich plötzlich der
Abwechslung halber zwei der Arbeiter erhoben und einen regelrechten Ring-
kampf aufführten, der von den Uebrigen mit grossem Interesse verfolgt wurde.
Sie standen auf, rangen, warfen sich und nahmen ihre Arbeit wieder auf oder
legten sich wieder zum dolce far niente nieder. Denn behaglich Faulenzende
fehlten niemals; selten fehlte es auch, während die Frauen sonst fern blieben,
an einem Liebespärchen, das unter einer gemeinsamen roten Decke lag und
schäkerte. Niemand kümmerte sich darum, ausser einigen von gelinder Eifer-
sucht geplagten Freunden, die augenblicklich von der gemeinsamen Geliebten
vernachlässigt wurden und zufrieden sein mussten, neben dem Pärchen zu sitzen
und mit ihm zu plaudern.
Zuweilen gab Dyapokuri eine Vorstellung. Man war weit davon entfernt,
den Geistesschwachen, der nur lallen konnte, als ein höheres Wesen anzusehen.
Mit Vorliebe stellte er den Zank der Weiber dar, indem er sich in den wütigsten
Geberden erging und das gegenseitige Kratzen und Haarausreissen kräftig ver-
anschaulichte. In fürchterliche Aufregung geriet er aber selbst, als ein Soldat
ihn wegen seines Auszugs zur Verfolgung der Kayapó (Seite 460) hänselte und,
einen Stock über der Schulter, mit mächtig ausholenden Schritten daher hinkte:
der arme Teufel schäumte vor Wut, warf seine brennenden Holzkloben nach
dem Spötter und, als er sich nicht mehr zu helfen wusste, griff er ein paar
Hobelspähne vom Boden auf und markierte mit einer zähnefletschenden Grimasse
unter unverständlichen Zornlauten — den Schnurrbart des Soldaten. Nach einer
Weile kam er wieder zur Ruhe und übte sich für die Totenfeier im Klappern
mit zwei Rasselkürbissen und taktfestem Aróe-Grunzen.
Es waren lehrreiche und gemütliche Stunden im Ranchão. Nur Eins war
unleidlich, das unaufhörliche Betteln um Tabak. Meine Pfeife wanderte von
Mann zu Mann. Die Leute diktierten mir Seiten lang Bororó, wobei jeder ge-
rade sich abspielende Vorgang für die Sätze herhalten musste, überhörten mich
und lachten dann ebenso befriedigt wie die Bakaïrí. Je vertrauter wir mitein-
ander wurden, desto auffälliger wurde überhaupt die Uebereinstimmung in Tem-
perament und Charakter mit den Kulisehuindianern. An einem Pfosten im
Männerhaus wurde auch, nachdem wir die anthropologischen Messungen vorge-
[490] nommen hatten, meine Körpergrösse angezeichnet. Ein Stück Kohle wurde mit
den Zähnen zerknuspert, mit Speichel in der Hand zerrieben und über meinem
Kopf ein schwarzer Ring um den Pfosten gemalt.
Nahrung; „Einsegnung“. Nach Clemente’s Bericht hat trotz aller Jägerei
die vegetabilische, von den Frauen beschaffte Nahrung, weil sie regelmässiger
und reichlich eingeht, die grösste Wichtigkeit. Die Frauen suchen Wurzeln
mit einem spitzen Stock, klettern mit grosser Gewandtheit auf die Palmen, unter
denen der Oaussú und Akurí der Vorrang gebührt, sammeln die Nüsse, schneiden
in der Krone den »Palmkohl«, suchen Jatobá- und Pikífrüchte und dergleichen
mehr. Die Palmnüsse werden geröstet oder im Mörser zerstampft und mit
Wasser zu einem breiigen Getränk verrührt, dem Erfrischungstrank, der dem
Stärkekleister oder der Pikíbrühe des Kulisehu entspricht und dem Gast kredenzt
wird. Der Maisbrei, den wir im Ranchão kennen lernten, fehlt in den Dorf-
schaften, da es keinen Mais giebt. Die Frauen bereiten die vegetabilische
Wassertopf und Topfschale. Bororó. (⅛ nat. Gr.)
Nahrung zu. Sie verfer-
tigen auch die Töpfe,
die nur in geringer An-
zahl vorhanden waren.
Es gab zwei Arten, eine
offene Schale ruóbo, in
der man kochte, und eine
póli mit kurzem Hals und
schmalem Boden, fast
von der Form des Mör-
sers, der auch als Ge-
fäss benutzt wurde,
zur Aufbewahrung von
Wasser. Sie waren sehr
roh, schwach gebrannt, innen nicht lackiert. Der Mörser, plump geschnitzt,
nur etwa 40 cm hoch, aber leicht transportabel, hatte ungefähr die Form eines
Eies, von dem der eine Pol quer abgeschlagen ist und wurde beim Gebrauch
in die Erde gesteckt. Ausser den Nüssen zerstampften sie darin auch Fleisch
und Knochen.
Wenn die Frauen nach Thereza Christina heimkamen, gaben sie den Männern
»carne de coco«, Nuss-Fleisch, und erhielten, was übrig geblieben war, von
»carne de gado«, Rindfleisch. Salz und Speck wurden verschmäht. Während
Wildschwein ihre Lieblingsspeise war, wiesen sie das Fleisch des Hausschweins
zurück, weil das Tier von seinem Besitzer aufgezogen war. Wenn ein Milch-
schweinchen bei den Offizieren aufgetragen wurde, liefen sie aus dem Zimmer.
Diesen Skrupel hatten sie bei Sandflöhen, die sie sich ausschälten, nicht (wir
beobachten eine Indianerin, wie sie die kleine Operation mit einer, von unserm
schon gedeckten Tisch weggenommenen Gabel erledigte). »Sandflöhe ässen sie,
[491] da diese ja auch ihr Blut verzehrten«. Alles Wildpret wurde im Fell gebraten,
nur die Därme gekocht; Kuttelflecke waren die Spezialität von Dyapokuri.
Gegessen wurde Alles, »was es im Wald und im Fluss gab«. Sehr beliebt waren
die mit dem Harpunenpfeil geschossenen Kaimans. Kamprehe wurden weder
gegessen noch überhaupt getötet.
Nicht gegessen und getötet werden zahme Araras. Sie fingen die Schmuck-
vögel jung ein, zogen sie auf und rupften ihnen die Federn aus. Clemente
sagte, dass sie auch verständen, die Araras gelb zu färben, indem sie die ge-
rupften Stellen mit dem Saft eines Baumes einrieben. Das vielen Indianern
bekannte Verfahren ist also wahrscheinlich bei der medizinischen Behandlung
der Tiere, die man gewaltsam ihrer Federn beraubt hatte, gefunden worden.
Auf die liebevolle Rücksichtnahme für Reh und Arara komme ich später
zurück.
Verhinderte nun die Etikette die Bororó keineswegs wie die Bakaïrí und
Karayá gemeinsam zu speisen, so hatten sie dafür andere seltsame Gebräuche,
die deutlich zeigen, dass auf knappe Jagdbeute angewiesene Stämme sich auf
die eine oder andere Weise nach Mitteln umschauen müssen, Zank und Streit
bei der Verteilung vorzubauen. Da bestand zunächst eine höchst auffällige Regel:
Niemand briet das Wild, das er selbst geschossen hatte, sondern gab
es einem Andern zum Braten! Gleich weise Vorsicht wird für kostbare Felle
und Zähne geübt. Nach Erlegung eines Jaguars wird ein grosses Fest gefeiert;
das Fleisch wird gegessen. Das Fell und die Zähne erhält aber nicht der
Jäger, sondern, worauf ich jetzt noch nicht eingehe, der nächste Verwandte
des Indianers oder der Indianerin, die zuletzt verstorben sind. Der Jäger wird
geehrt, er bekommt von Jedermann Ararafedern zum Geschenk und den mit
Oaussú-Bändern geschmückten Bogen. Die wichtigste Massregel jedoch, die vor
Unfrieden schützt, ist mit dem Amt des Medizinmannes verknüpft, von dem
ich deshalb zunächst berichten muss.
Die Bororó unterscheiden den Bari und den Aroetauarari. Beide
schliessen sich aber nicht aus, beide sind Medizinmänner, nur ist der Aroetauarari
in erster Linie der Vorsänger und Vortänzer bei dem Aróe-Gesang oder -Tanz,
der Bari in erster Linie der behandelnde Arzt. Die Brasilier nannten jenen
»Padre«, diesen »Doutor«. Beschränken wir uns auf den Ausdruck Bari oder
Medizinmann. Sein Lehrgang scheint weniger umständlich als es sonst der Fall
zu sein pflegt; es kommt mehr auf die natürliche Veranlagung an. In der
Trockenzeit — der Name bezieht sich eigentlich nicht auf den Durst — wird
am meisten Akurípalmwein getrunken; man bohrt die Bäume an, lässt den Saft
in einen Topf oder einen Mörser laufen und zecht aus Bambusbechern. Der
Wein ist säuerlich, aber reichlich. Beide Geschlechter betrinken sich nach
Kräften. Wer es am längsten aushält, wird Medizinmann. Wenn man von diesem
sagt, dass ihn die Vögel im Walde verstehen, dass er sich mit Bäumen und mit
Tieren aller Art in ihrer Sprache unterhält, so meint man damit hoffentlich
[492] nicht einen noch vom Palmwein erleuchteten Mediziner, sondern gedenkt des
Studierens in der Einsamkeit und des Aróegesanges, in dem die Tiere aufge-
rufen werden. Der Bari behandelt seine Kranken auf die bekannte Art: er
stöhnt, windet sich, raucht und saugt die Krankheitsursache — hier pflegt es
ein Knochen zu sein — aus dem Leib des Patienten, Zweierlei ist dabei zu
beobachten: einmal wird der Knochen nur gezeigt und nicht aus der Hand ge-
geben, dann aber behandelt der Arzt nur Nachts.
Waehneldt berichtet von den Bororó am Jaurú Entsprechendes. Es
werde kuriert unter grossen Rauchwolken, unverständlichen Worten und, »der
Hauptsache«, konvulsivischen Bewegungen; »ich wohnte der Kur eines solchen
Padre bei, die darin bestand, dass er verschiedene Körperteile ansaugte, während
er nebenher aus seiner Pfeife rauchte und das Mundstück zerkaute. Nach jedem
Saugen spie er die abgekauten Stücke der Pfeife aus, dem Kranken einredend,
dass es die Ursache seines Leidens sei.« Ferner aber — und damit sind wir
wieder bei der Jagdbeute — musste ein Kapivaraschwein erst im »Sanktuarium«
von einem der 4 bis 6 Padres gesegnet werden, bevor es gegessen oder nur
berührt werden durfte. Die Baris schnitten die besten Stücke ab und liessen
den Uebrigen den Rest.
Ebenso lebten auch am S. Lourenço die Aerzte noch im goldenen Zeit-
alter. Es wäre unrecht, hier von einem ergötzlichen Auswuchs primitiver
Hierarchie zu reden, denn der Bari war kein »Padre«, sondern ein »Doutor«,
der nur noch nicht mehr wusste als ein »Padre«. Das »Einsegnen« voll-
zog sich auf genau dieselbe Art, wie man versucht, einen Toten in’s Leben
zurückzurufen. Die Logik ist sehr einfach. Die in erster Linie einzusegnenden
Tiere sind genau dieselben, in die gestorbene Baris eintreten, und die
Baris verwandeln sich nach ihrem Tode in die Tiere, die als bestes Wildpret
geschätzt sind! Da ist es notwendig, sich zu überzeugen, dass das erlegte
Tier nicht mehr lebendig gemacht werden kann, und in diesem Versuch
besteht die Einsegnung. Ein grosser Jahú-Fisch war gefangen worden und
wurde zum Männerhaus gebracht, ein nahezu 1½ m langes Exemplar, das nicht
in einem Stück gebraten werden konnte. Ein Bari hockte bei ihm nieder, ver-
fiel in heftiges Zittern, schloss die Augen, wackelte fürchterlich mit der vor den
Mund gepressten rechten Hand, begann dann zu blasen und vái vái zu schreien,
warf den Kopf in den Nacken und schöpfte Luft, blies darauf den Fisch von
oben bis unten an, beklopfte ihn allerseits, bespritzte ihn mit Speichel, öffnete
das Maul des Tiers, schrie und spritzte hinein, schloss es wieder — fertig. Ein
Verfahren, das geschäftsmässig flott erledigt wurde und nach meiner Uhr nur
drei Minuten währte. Dann ergriff er ein Messer, zerlegte den Fisch und nahm
sich das Stück, das ich mir auch genommen haben würde.
Tiere, die unbedingt eingesegnet werden müssen, sind die grossen Fische
Jahú, Pintado-Wels und Dourado, Kapivara, Tapir, Kaiman. Besonders der Kopf
des Tapirs bedarf der Zeremonie, Niemand als der Bari darf den Tapirrüssel,
[493] der das zarteste Fleisch enthält, und den Halsrücken verspeisen; auch von den
übrigen Tieren gehört das Beste »dem Bari und seinen Freunden«, die es nach
dem Braten verteilen. Das System ist auch auf einige Früchte ausgedehnt
worden: Pikí, Mangaven und Mais, wieder die bestschmeckenden. Bei Akurí-
nüssen ist die Prozedur unnötig; mit dem Mais wird sie erst vollzogen, seitdem
die Brasilier ihn regelmässig in der Kolonie liefern. Ja, ein Bari muss dabei
sein, wenn die Tiere erlegt werden! Gerät ein der amtlichen Fleischschau
unterworfener Fisch in’s Netz, wenn kein Bari dabei ist, so muss er freigelassen
werden, und Clemente sagte, dies geschehe thatsächlich, komme aber nur aus-
nahmsweise vor, weil es stets mehrere Baris gebe und diese überall dabei seien.
Wer sich gegen die Bräuche versündigt, stirbt bald. Vgl. weiter unten »Seelen-
wanderung«.
Tanz und Spiel. Nach dem Vorhergehenden verliert der jede gemein-
schaftliche Jagd und Fischerei eröffnende Aróegesang alles Wunderbare. Der
Bari, der die Beute am Ende feierlich verteilt, besorgt auch die feierliche Ein-
leitung des Unternehmens. Die zu Grunde liegende Anschauung des Verhält-
nisses von Tier und Mensch, ohne die jene Zeremonien kaum anders als von
Schwindlern hätten erfunden werden können, mit der aber sie in ihrem Ur-
sprung wohl gerechtfertigt werden, geht uns hier noch nichts an.
Der Jagdgesang ist derselbe, der bei der Totenfeier gesungen wird! Er
macht einen sehr würdigen und in der Nacht, wenn man will, schaurigen Ein-
druck. Bei der Totenfeier singen Männer und Frauen zusammen, die Frauen
freilich beiseite und im Hintergrund stehend und öfters aussetzend, während die
Männer sich keine Pause gönnen. Bei der nächtlichen Vorbereitung für die Jagd
hörte man nur die tiefen hallenden Stimmen des Männerchors. Dem Kadetten
Caldas verdanke ich die umstehenden Noten. Er unterschied einen ersten Ge-
sang der Männer allein und einen zweiten von Männern und Frauen. Der Text,
den er für den ersten aufgeschrieben hat, ist leider unbrauchbar. Er handelt
von der Möve schibáyu, die auch im zweiten vorkommt, und ist trotz mehr-
facher Wiederholungen nicht nur eine blosse Aufzählung von Namen. Dies
letztere + aróe ist der Text des zweiten Gesanges und ist in langer Folge auch
das, was gewöhnlich gesungen wird — im Text nicht viel weniger arm an Ab-
wechslung als die Musik, die mir, obwohl ich von aller Sachkenntnis frei bin,
in der »Eintönigkeit« das Mögliche zu leisten scheint. Folgende »Verse« sind
von Clemente übersetzt und stehen in richtiger Reihenfolge: bakororó aróe,
okóge aróe, schibáyu aróe, kurugúge aróe, botoroé aróe, imayaré aróe, dyuretóto aróe,
kayatóto aróe, manotóto aróe. Die aufgezählten Worte heissen: Wasser (ein be-
stimmtes? sonst póbe), Dourado-Fisch, Möve, Falk, ein anderer Fische fressender
Raubvogel, »seine Brust«, Wasserschlange Sukurí, Mörser, Sumpfgras. Die
Szene ist also am Wasser; mehr vermag ich nicht anzugeben; ob der Tote in
der Nachbarschaft seines dort beigesetzten Skelettkorbs Allerlei erlebt, ob die
im Fischfang konkurrierenden Tiere in den Mörser gewünscht werden, was eher
[494] glaublich wäre, ich konnte es nicht in Erfahrung bringen. Abwechselnd mit
diesem Lied wurde »Jaguar«, »Kapivara«, »Pariko« (Federdiadem) + ehé ge-
sungen; nur geschah dies wiederum nicht bei der Totenfeier, sondern allein in
Beziehung zur Jagd.
Erster Gesang der Männer.
Zweiter Gesang der Männer und Frauen.
Rohde spricht von einem »Fararutanz«, zu dem man sich mit Feder-
kronen, Schellen und anderen Zierraten schmücke. Ein Vortänzer, in jeder
Hand die Kürbisklapper, an den Füssen Schellen aus Hirschhufen, befindet sich
in der Mitte eines Kreises, den die Männer bilden und den die Frauen mit
einem grössern Kreis umschliessen. Sie tanzen taktmässig. springen und klappern
lange Zeit, endlich brülle der Vortänzer hau! und mache einen wilden Schluss-
sprung, den die ganze Gesellschaft nachahme. Waehneldt hat Tänze mit
Tiernachahmungen gesehen und ne[nnt][be]sonders extravagant den Brüllaffen-
tanz mit Nachahmung aller Laute und Bewegungen. »Am Jaguarfelltanz
nehmen Männer und Frauen teil; letztere können niemals das Fell des Jaguars
sehen, das Einer auf dem Rücken trägt, der es ihnen aber mit seinen Bewegungen
bei jedem Schritt zu zeigen versucht.« Die Angst der Frauen ist die Pointe
[495] des Tanzes. »Der Tanz, der darin bestand, dass sie die Gebräuche ihrer Vor-
fahren nachahmten (?), war ein wenig schwerfällig und begleitet von Gesängen
in einer von der heutigen unterschiedenen Sprache. Der melancholischste und
traurigste Tanz war dem Andenken ihrer Verstorbenen gewidmet; sie
stellten darin diese als anwesend dar, unterhielten sich mit ihnen und
erwiesen ihnen Liebkosungen aller Art.«
Den Tanz zur Ermutigung im Kampf gegen die feindlichen Kayapó, an
dem wir theilnehmen mussten, habe ich Seite 459 geschildert. Einzelheiten
über den Tanz und Gesang bei der Totenfeier werden sich bei dem besonderen
Bericht über die Bestattung von Coqueiro’s Gattin ergeben, und dort werde ich
auch den Tanz am Vorabend beschreiben, bei dem die Hinterlassenschaft
der Toten verbrannt wurde.
Einen komischen Tanz sahen wir am 8. April, den »Pare«-tanz. Vier
junge Männer im Paríkoschmuck erschienen hinter dem Ranchão, von Domingo
geführt, der in jeder Hand einen Rasselkürbis schwang. Sie machten taktmässig
kleine Sprünge mit gleichen Füssen und tanzten so im Kreis herum, ihre Front
in plötzlichem Wechsel bald nach innen bald nach aussen kehrend. Dann
kamen drei junge Mädchen, jede tanzte zaghaft hinter einem der Jünglinge, ihn
an den Hüften anfassend. Die Zuschauer freuten sich, doch steigerte sich ihre
Heiterkeit bedeutend, als nun eine vierte keckere Person mit Rindengürtel und
Bastbinde in den Kreis sprang, die trotz eines das Gesicht verhüllenden Kopf-
tuchs leicht als Mann zu erkennen war. Er trug Perlenschnüre um den Hals
und in der Hand eine kleine Matte, mit der er im Takt dem Boden zu fächelte.
Das Vergnügen dauerte etwa eine Viertelstunde, die Frauen, die unechte zuerst,
traten aus, die Männer tanzten noch einmal in beschleunigtem Tempo herum
und gingen baden.
Ringkämpfe, friedliche, fanden nach folgenden Regeln statt. Wer Je-
manden herausfordern will, fasst ihn an sein rechtes Handgelenk. Die Beiden
treten einander gegenüber, und Jeder legt seine Hände unter den Schultern
oder im Kreuz des Andern zusammen; in dieser Umarmung stehen beide mit
fast wagerechten Leibern, ihre Füsse haben einen möglichst grossen Abstand
und der Eine blickt auf den Rücken des Andern. Lächelnd verweilen sie so
eine Zeitlang in aller Ruhe, dann aber wird es ihnen plötzlich sehr ernst; die
Aufgabe ist die, dass man dem Andern ein Bein stellt und ihn so zu Fall bringt.
Einer eröffnet den Angriff, indem er seine Ferse in eine Kniekehle des Andern
zu bringen und sie zu beugen sucht, dieser aber stellt das stramm durch-
gedrückte Bein so weit zurück, dass Jener keine Kraft auszuüben vermag.
Aeusserst rasch folgen sich die Vers [...]ald von beiden Seiten, bis einer fällt.
Revanche steht ihm immer zu Diensten. Vorzügliches leistete im Ranchão
bei dieser Unterhaltung, indem er hintereinander drei oder vier der längsten
Stammesgenossen warf, ein kleiner, gewandter, aber hässlicher und einäugiger
Mensch, den wir den Clown nannten, der jedoch mit seinem cuyabaner Tauf-
[496] namen Camões hiess. Die ihn an Körpergrösse überragenden und stärkeren
Rivalen pflegten ihn stolz emporzuheben, hatten aber auch in demselben Augen-
blick seine Ferse in der Kniekehle und schlugen zu Boden.
Schiessen mit dem Bogen auf dem freien Platz wurde öfters geübt.
Dabei entstand auch die Photographie von Tafel 28 und Abb. 138.
Sehr beliebt bei Alt und Jung war die Burika, eine Erfindung der
Soldaten: ein wagerechter Balken mit kurzen Stricken an beiden Enden, der
sich in der Mitte auf einem Pfosten drehte, vgl. Tafel 25, wo sich ein Schwarm
Maisball und
Federpeitsche. Bororó
(⅑ nat. Gr.)
Jungen an dem Spiel ergötzt. Der Balken wurde,
während auf jedem Ende Einer ritt und Andere an
den Stricken mitliefen, von Jemanden, der noch
einige Augenblicke am Pfosten blieb, in schneller und
schneller wirbelnde Drehung versetzt, bis denn ge-
wöhnlich die Reiter zur Erde flogen.
In Abb. 143 ist zweierlei Kinderspielzeug ver-
einigt: papá, der aus Maisstroh geflochtene Ball mit
Ararafeder, und tagóra, eine Peitsche mit einer
schwarzen Urubúfeder am Ende der Schnur; mit der
Federpeitsche schleuderten die Jungen umher und ge-
nossen das wenig aufregende Vergnügen, dass die
Feder einen Augenblick auf den Boden senkrecht
stehen blieb, wenn der Stiel der Peitsche aus dem
Handgelenk heraus mit einem Ruck nach abwärts
bewegt wurde. Zwei Jungen sah ich einmal, die
eine Biene und einen Schmetterling an einen Faden
flattern liessen.
Musikinstrumente; Schwirrhölzer. Im ge-
wöhnlichen Gebrauch waren nur die bis 20 cm
langen, grossen Rasselkürbisse und eine kleine
Blaskuye poári zu finden. Das Poari diente als Signalhorn bei der Jagd; es war
ein Kürbis von der Gestalt und Grösse eines grossen Apfels, hatte unten einen
runden Ausschnitt und oben ein fingerlanges, dünnes Röhrchen angesetzt, in dem
seitlich eine Zunge geschnitten war. Mit Büschelchen vom Haar der Ver-
storbenen behangen, waren die Poaris nur schwer von den Bororó zu erlangen.
Totenflöte. Bororó. (\frac{1}{11} nat. Gr.)
Die einzige Flöte oder Trompete, die wir gesehen haben, ist in Abb. 144
dargestellt; sie war 1,21 m gross und wurde bei dem Totenfest geblasen und als
die Knochenkörbe nach dem Hause zurückgetragen wurden. Eine Trommel,
die bei derselben Feier im Ranchão gebraucht wurde, machte nicht den Eindruck
[497] der Originalität; sie war ein mit einem Stück Ochsenfell überspannter Holz-
mörser, als Schläger dienten ein paar Stäbchen aus Seribapalmholz.
Von grösserem Interesse sind die Schwirrhölzer, sowohl wegen der
Geheimniskrämerei, die mit ihnen getrieben wurde, als auch wegen der Be-
malung, da sie das einzige bemalte Gerät darstellen. Wie die Schwirrhölzer
gebraucht werden, habe ich Seite 327 berichtet. Während sie aber am Kulisehu
nur für die fröhlichen Maskentänze oder auch sonst als Spielzeug dienen, werden
sie am S. Lourenço nur bei den Gebräuchen der Totenfeier in Thätigkeit
gesetzt, einmal wenn die Sachen des Toten verbrannt werden und in einem
pantomimischen Tanz den Verstorbenen, die selbst erscheinen, klar gemacht
wird, dass man nichts von ihrem neuen Genossen zurückbehält, dass sie also
auch künftighin im Dorf nichts mehr zu suchen haben, und dann wenn der
Knochenkorb später weggeschafft wird und der Tote das Dorf verlässt. Der
Grundgedanke aller Feierlichkeiten ist die Furcht, der Tote kehre
zurück, Lebende zu holen. Bei den Zeremonien, die zur Abwehr dieser
Möglichkeit vorgenommen werden, schliesst man das schwächere Geschlecht
ängstlich aus. Die Frauen laufen so lange in den Wald oder verbergen sich in
den Häusern. Das Signal für sie gibt das Schwirrholz, dessen brummendes
Geräusch von Natur einen warnenden oder unheimlichen Charakter hat. Würden
sie anwesend sein, so setzten sie sich der Gefahr aus, zu sterben. Bis hierher
ist alles logisch und natürlich. Nun aber geschieht ein Mehr als nötig wäre,
es hat sich bei diesen Gebräuchen eine Gefahr für die Frauen schon mit dem
blossen Anblick des Schwirrholzes herausgebildet. Sie würden sterben, wenn
sie es sähen.
Eine Verstärkung gewiss übertriebener Art, allein ohne irgend welche
Unbegreiflichkeit. Man findet bei unsern Frauen ähnliche Uebertreibungen in
der Furcht vor Feuerwaffen; eine mir bekannte Dame hielt sich die Ohren zu,
als ich ihr einen Revolver mit offener leerer Trommel zeigte, und flehte in
einer Aufregung, die nichts hören und sehen wollte, ihn fortzubringen, da es —
streng historisch zitiert — »oft genug vorkomme, dass die Dinger, auch wenn
sie nicht geladen wären, losgingen«. Wenn das Schwirrholz bei den Bororó
bei den genanten beiden Gelegenheiten ertönt, so entspricht das dem geladenen
Revolver; es ist eine Gefahr für Männer und Frauen, aber die Besorgnis für
die letzteren ist grösser, weil es bei dem Indianer überhaupt zum Wesen der
Frau gehört, dass sie immer weint, »zittert«, wenn Tiere Feinde, ja nur Wasser-
fälle drohen, und dass sie immer des Schutzes bedürftig ist. Wenn der Frau
nun sogar der Anblick des Schwirrholzes Gefahr bringt, so ist das zum Teil
noch die Furcht vor dem garnicht geladenen Revolver, zum Teil schon eine ihr zu-
folge in der Praxis von Generationen gewonnene gedankenlose Formel, die
ohne Prüfung mit ängstlichem Eifer angewandt wird. Genau ebenso hat Wallace
im Amazonasgebiet beobachtet, dass die Frauen fliehen, wenn die Flöten des
Jurupari-Dämonentanzes ertönen, und sich berichten lassen, dass sie sterben
v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 32
[498] müssen, wenn sie sie sehen; auch wurden ihm die Flöten nur unter besonderen
Umständen überlassen.
Freilich, wenn man liest, dass einem Reisenden von Australiern mit den-
selben Worten wie mir von den Bororó gesagt wurde, »die Frauen müssen
sterben, die das Schwirrholz sehen«, wenn dasselbe Schwirrholz bei den ver-
schiedensten Völkerschaften der alten und der neuen Welt in Mysterien, von
Schwirrholz. Bororó
(⅛ nat. Gr.)
denen die Frauen ausgeschlossen waren, eine Rolle ge-
spielt hat, so fühlt man sich zunächst wunderlich berührt.
Doch ist es in der That schwer fassbar, dass man aus
diesem Grunde an die sonst durch nichts bewiesenen
Berührungen mittelbarer oder unmittelbarer Art zwischen
den heterogensten Elementen denken konnte; denn man
sollte die Einrichtung, dass ein Brett an einem Strick durch
die Luft geschwungen wird, nicht für eine so hohe Leistung
menschlichen Scharfsinns halten, dass sie nur einmal in der
Weltgeschichte ausgedacht werden kann, und man sollte
die Furcht vor Krankheit und Tod, die Erklärungsversuche
für diese Phänomene, die Vorstellungen über die Fortdauer
nach dem Tode, die Deutung der Traumerlebnisse u. s. w.
in ihren Entsprechungen ebenfalls nicht so seltsam finden,
dass ein Volk nur von einem andern seine »Medizin«
übernehmen konnte. Man kommt auf diesem Wege, da
sich für eine lange Reihe von Erfindungen und Sitten
Gleiches beweisen lässt, zu einem ethnographischen Pa-
radies der Menschheit — ein Weg, der für das Schwirrholz
wohl abgeschnitten ist durch den lichtvollen Aufsatz »the
bullroarer« in Andrew Lang’s »Custom and Myth«
(London 1885). Die verschiedensten Stämme, erklärt Lang,
haben ihre Mysterien, sie benötigten ein Signal, die richtigen
Personen zu berufen und die unrichtigen zu warnen; da-
durch, dass sie das Instrument vor den Frauen verbergen,
erhalten sie doppelte Sicherheit, dass das neugierige Ge-
schlecht sich scheu zeigt und fern hält. Bei den Bororó
liegt der Fall etwas anders; man ist für die Frauen besorgt.
Bei andern Stämmen kann es sich — und so will jeder
Fall für sich untersucht sein, da die auffällige Uebereinstimmung nur äusserlich
zu sein braucht — um eine Bedrohung der Frauen mit Todesstrafe handeln,
wie die Kulisehuindianerin sich einer solchen Gefahr für Leib und Leben aus-
setzen würde, wenn sie das Flötenhaus der Männer beträte. Der Satz, dass
»die Frauen sterben würden«, kann zweierlei sehr verschiedene Bedeutung haben.
Es war uns bei den Bororó schier unmöglich, Schwirrhölzer zu bekommen.
Die Angst vor Missbrauch war nach dem Verhalten der Brasilier nur zu be-
[499] gründet. Man bat Wilhem inständigst, die von ihm gezeichneten Schwirr-
hölzer den Frauen nicht zu zeigen. Wenn wir Kaufangebote machten, wurden
die aídye versteckt. Die Männer hatten anscheinend selbst eine gewisse Angst,
wenn wir von diesen Geräten wie von Bogen und Pfeilen und beliebigen anderen
Gegenständen der Sammlung sprachen, Einer wandte sich ängstlich ab, als ich
das Thema aídye berührte und bekundete deutlich, dass er lieber nichts davon
höre; es war eng verknüpft mit der Furcht vor dem Tode. Wir erreichten
unsern Wunsch nur durch drei ältere Jungen in den richtigen Flegeljahren, die
auf kleine rote Perlen ebenso versessen waren, wie wir auf die Schwirrhölzer.
Sie schnitzten und bemalten sie draussen im Walde. Bei Nacht und Nebel er-
schien der Erste sehr geheimnisvoll in unserer Stube und verlangte, dass wir Thüre
und Fensterläden schlössen. Dann kam der Zweite anklopfend und endlich ebenso
der Dritte. Jeder hatte unter einem Tuch ein Schwirrholz versteckt; sie flüsterten,
dass wir sie sorgfältig verbergen müssten, Frauen und Kinder würden sterben,
wenn sie eins erblickten, sie bestanden namentlich darauf, dass auch die Männer
— der Schlingel Tobakiu hatte grosse Angst vor seinem Vater Moguyokuri —
nichts erführen, weil sie »brabo« werden und sie jämmerlich hauen würden. Wir
nahmen auf diese Begründung auch alle Rücksicht und legten die drei ge-
fährlichen Hölzer vor ihren Augen in unsern Koffer dorthin, wo er am tiefsten war.
Die Form der Schwirrhölzer ist langoval, ihre Grösse 40—42 cm. An dem
Schnurende befindet sich eine Einkerbung und etwas davon entfernt in der
Mittellinie des Bretts ein Loch, sodass die zwischen Loch und Kerbe gespannte
Schnur einen festen Halt hat, vgl. Abb. 145.
Zeichenkunst. Hier kann ich zunächst bei den Schwirrhölzern fortfahren.
Auf Tafel 19 sehen wir eins mit Bleistift gezeichnet. Wie auf dem Bild die
etwas spitz geratenen Ecken schwarz ausgefüllt sind, so sind auch die Enden
der Schwirrhölzer schwarz angestrichen; zwischen ihnen ist die Fläche mit
Urukúrot bestrichen und auf diesem roten Grund das Muster schwarz aufgemalt.
Die Muster haben zu Motiven die beiden nächstliegenden. Auf dem Schwirr-
holz der Abbildung 146 nämlich, das bei der Totenfeier von Coqueiro’s Gattin von dem
Bari gebracht wurde, sind Halbkreise mit Tüpfeln gemalt: das mit den Federchen
beklebte Schädeldach in seiner Ausschmückung für den Knochenkorb. Auf
andern ferner erschienen Stücke der Frauentracht, entweder in breiten, schwarzen
Querstreifen der Rindengürtel oder in Dreiecken die Bastbinde, vgl. Abb. 129,
mit der Hüftschnur. Letzteres Motiv befindet sich auf dem gezeichneten Schwirr-
holz der Tafel 19. Auf jeder Seite ist eine Hüftschnur mit drei Bastbinden
gezeichnet. Da hätten wir also das uns vom Uluri des Kulisehu bekannte
Dreieck auch von der Bastbinde, deren entsprechende Nachbildung wir gern bei
den Trumaí erhalten hätten. Auf einem Schwirrholzexemplar, das auch Perl-
mutteraugen und dazwischen einen ungetüpfelten Halbkreis zeigt, sind nicht
nur drei Rindengürtel als drei Querbänder, sondern dazwischen auch noch
je ein kleiner Kreis, mit rechts und links einem Quadrat daneben aufgemalt.
32*
[500] Die Bedeutung ist unklar; wahrscheinlich stellen die Quadrate die Knochenkörbe
und der Kreis den Schädel dar.
Die Mädchen im Ranchão wurden im Gesicht mit den Bildern des Rinden-
gürtels und der Bastbinde bemalt, ebenso wie ein Teil der Schwirrhölzer: der-
selbe Querstreifen über die Stirn und Schläfe, die Augen einschliessend und den
Oberteil der Stirn freilassend, und dieselben Dreiecke auf den Wangen, jeder-
seits eines. Nur wurde diese Malerei, vgl. Seite 477, mit dem fröhlicheren
Urukúrot ausgeführt. Die Leute hatten sich eines Tages den Scherz gemacht,
auch uns eine kleine Bemalung im Gesicht angedeihen zu lassen, die uns be-
gegnenden Mädchen hatten grossen Spass daran und riefen, was uns damals rätsel-
haft war, „aídye“ »Schwirrhölzer«. Sie setzten auch noch ein paar Dreieckchen
hinzu, indem sie von einem geschminkten Bororó, der dabei stand, die Farbe
abtupften. — Rotgestreift wurden endlich die Fahnen der Feststulpe, vgl. Seite 192,
Abb. 17.
Die Bleistiftzeichnungen der Bororó, vgl. Tafel 18 und 19, habe ich
Seite 249 ff. im Zusammenhang mit denen der Kulisehuindianer besprochen.
Auch ihre Sandzeichnungen sind dort Seite 248, 249 beschrieben. Mit
besonderer Vorliebe wurde ein Indianer, durch ein riesiges Membrum virile ge-
kennzeichnet, auf der Tapirjagd dargestelllt, wie er den Pfeil abschoss. Auch
sahen wir einen Vaqueano, der den Lasso warf. Am schönsten aber war das
schimmernde Jaguargemälde. Wilhelms Zeichnungen erregten stets lebhaftes
Interesse. Abends hatten wir öfter Besuch, der sie genauer studierte und neue
Aufgaben stellte; Einer wünschte ein Bild seines Fingernagels zu sehen, ein
Anderer fing eine Motte zur Vorlage und dergleichen mehr. Sie verstanden
auch die landschaftliche Darstellung und erkannten einen bestimmten Baum bei
einer Hütte, den Wilhelm in grösserem Massstabe gezeichnet hatte.
Recht und Heirat. Der Häuptling befiehlt im Krieg und sagt im Frieden
die Jagd an, wie er am Kulisehu für die Pflanzung sorgte. Sonst ist sein Amt ohne
Bedeutung; es ist erblich. Die Brasilier suchten seine Stellung möglichst zu
befestigen, damit sie sich an eine bestimmte Person halten konnten, allein ein
Ansehen, wie es Moguyokuri besass, war nach dem, was Clemente angab, ein
künstlich gesteigertes. In Wirklichkeit war der Posten eines Medizinmannes
weit besser; denn wenn die Brasilier den Häuptling in erster Linie mit Ge-
schenken bedachten, so sah sich der Bari in der angenehmen Lage, für seine
Einsegnungen jederzeit das Beste zu erhalten. Es war freilich auch ein an-
strengendes Klappern, das zu seinem Handwerk gehörte.
Soviel ich die Dinge begriffen habe, teilte sich der Stamm in zwei grosse
Klassen: die der Familienhütten und die des Männerhauses. Jene begriff die
älteren Familienväter, die in geregeltem Ehestande lebten, diese die Junggesellen,
die sich Mädchen einfingen und sie in kleineren Gruppen gemeinschaftlich be-
sassen. Der Frauenraub, der sich von Stamm zu Stamm abspielt, erfolgte hier
innerhalb des Stammes. Nur ein Teil der Stammesgenossen war im Dauerbesitz
[501] von Frauen. Es ist sicher, dass diese merkwürdigen Verhältnisse nicht etwa
ein zufälliges Erzeugnis der Kolonie waren. Clemente erklärte, dass es in den
Dörfern genau ebenso hergehe, und was beweiskräftiger ist, die Gebräuche selbst
zeigen, dass es sich um gewohnte Einrichtungen handelt. In Polygamie lebte
in Thereza Christina anscheinend ausser dem brasilischen Häuptling Duarte mit
seinen zwei Frauen nur Moguyokuri, und es war interessant genug, auf welche
Art. Seine Gattinnen waren eine ältere Frau und deren Tochter aus erster
Ehe; er heiratete eine Wittwe, die eine Tochter hatte, und als die Mutter häss-
lich und die Tochter hübsch wurde, »heiratete« er auch die Tochter. In den
Dörfern ist aber die Polygamie der Aelteren in grösserem Umfang Regel. Nur
durch die Ansprüche der Brasilier bedingt, schien in der Kolonie ein gewisser
Ausnahmezustand zu herrschen, indem sowohl für die Hütten wie für das Männer-
haus ein Mangel an Frauen bestand.
Von den Bororó am Jaurú berichtet Waehneldt: »bei ihren Heiraten
haben sie keine andere Zeremonie als so viele Weiber zu nehmen als sie unter-
halten können, oder richtiger gesagt, als dort (von auswärts) erscheinen; fast
alle Ehemänner hatten viele Frauen, bis zu sechs, während in dem Dorf der Bo-
roró bei S. Mathias daran so grosser Mangel war, dass Mädchen von acht und
zehn Jahren als solche dienen mussten.« Ein Männerhaus war dort nicht vor-
handen, sondern nur eine Umzäunung von 4½ m Durchmesser, in der die Padres
einsegneten und die von Frauen und Kindern nicht betreten werden durfte, das
»Sanktuarium«.
Eine Einwilligung der Eltern zur Heirat wird nicht verlangt. Die
Eltern geben und empfangen auch Nichts. Widersetzen sie sich, so bricht Streit
aus und Gewalt entscheidet. Wer unterliegt, verlässt das Dorf. Alles
beruht auf dem Recht des Stärkeren.
Die junge Frau bleibt mit ihren Kindern im Hause der Eltern.
Der junge Ehemann bringt nur die Nacht dort im Hause zu und lebt am Tage,
wenn er nicht auf Jagd ist, im Männerhaus. Die jungen Eheleute haben eine
Feuerstelle für sich, etwas abseits sitzt die Grossmutter mit den Enkeln. So
bleibt es bis zum Tode der Grosseltern. Die Grossmutter säugt, wenn die
junge Frau mit dem Mann auf Jagd zieht oder im Wald Palmnüsse holt; »sie
haben immer noch Milch, wenn ihre Kinder heiraten«.
Junge Männer sehen sich bei Zeiten vor, dass sie eine Frau finden, und
da giebt es zwei Gebräuche in Beziehung zur Tracht, die von grösstem Interesse
sind. Die Ohrläppchen des Mädchens werden von ihrem zukünftigen
Mann durchbohrt;*) wenn er sie nicht selbst heiratet, so wird sie von seinem
Sohn geheiratet.
Wer ferner einem Knaben den Stulp anlegt, wird mit ihm »verschwägert«
und heiratet seine Schwester oder seine Tante.
[502]
Nun die Sitten des Männerhauses. Die Brasilier behaupteten, es sei vor-
gekommen, dass 30 bis 40 Männer hintereinander dasselbe Weib, das an Armen
und Beinen festgehalten wurde, genötigt hätten. Teilweise werden die Mädchen
am Tage offenkundig geholt und, wie beschrieben, unter vielen Schäkereien be-
malt und geschmückt, teilweise wurden sie am späten Abend eingefangen. So
sahen wir in einer Nacht, wie die vor dem Ranchão liegenden Junggesellen
einen Angriff auf die von einer Klageversammlung heimkehrende Frauenschaar
machten, zwei wurden unter lautlosem Ringen gefangen genommen, mit Decken
umwickelt, sodass sie nicht zu erkennen waren, und in das Männerhaus ge-
schleppt. Doch war die eine der beiden, wie wir am folgenden Morgen sahen,
die an Erfahrungen reiche Maria, deren Sträuben nicht sehr ernst gemeint ge-
wesen sein konnte. »Gestern hast Du Dich nicht verheiraten wollen?« fragte
ich. »Jetzt habe ich mich schon verheiratet«, antwortete sie gemütlich. Sie lag
neben ihrem bevorzugten Mann in aller Behaglichkeit unter der roten Decke
und beide knackten Palmnüsse. Moguyokuri sahen wir eines Tages die jungen
Leute aneifern, die im Ringkampf so wilde und nun so demütige Maria zu
schmücken. Sofort stürzten sich sechs auf sie zu und bemalten sie.
Den Ranchãofrauen wurden von ihren Liebhabern Pfeile mit langen
Bambusspitzen gegeben. Jeder überreichte zwei, die das Mädchen hockend mit
gleichgiltiger Miene in Empfang nahm. Ich zählte, als ich einmal anwesend
war, 18 Stück solcher Liebespfeile für ein Mädchen. Sie werden abgeliefert an
den Bruder oder an den Bruder der Mutter. Die Ranchãomädchen verheiraten
sich nicht mehr an einen Einzelnen; für etwaige Kinder gelten sämtliche Männer
des Ranchão, mit denen sie verkehrt hat, als Väter. Das sind also ganz ge-
regelte Verhältnisse, die aus der Uebermacht der Aelteren hervorgehen; diese
leben im Besitz und beziehen aus den Mädchen, die dem Männerhaus überlassen
werden und wegen deren sich diese einigen mögen, noch eine regelrechte Ein-
nahme an Pfeilen oder auch Schmucksachen, wie z. B. die Hosenträgerschnüre
ebenfalls als Bezahlung gelten. Widernatürlicher Verkehr soll im Männerhaus
nicht unbekannt sein, jedoch nur vorkommen, wenn der Mangel an Rànchão-
mädchen ungewöhnlich gross sei.
Wie geordnet die Eigentumsverhältnisse sind, haben wir schon an dem
Umstand gesehen, dass die Jagdbeute nicht in den Händen dessen bleibt, der
sie erworben hat. Ein grosser Verlust betrifft die Familie, aus der ein Mitglied
stirbt. Denn Alles, was der Tote in Gebrauch hatte, wird verbrannt, in den
Fluss geworfen oder in den Knochenkorb gepackt, damit er keinesfalls veranlasst
sei, zurückzukehren. Die Hütte ist dann vollständig ausgeräumt. Allein die
Hinterbliebenen werden neu beschenkt, man macht Bogen und Pfeile für sie und
so will es auch die Sitte, dass, wenn ein Jaguar getötet wird, das Fell »an den
Bruder der zuletzt gestorbenen Frau oder an den Oheim des zuletzt gestorbenen
Mannes« gegeben wird; als der berufene Schützer der Frau trat uns immer ihr
Bruder entgegen. Pfeile sind das wichtigste Wertobjekt; sie erhält der Bruder
[503] des Ranchãomädchens, oder der Jaguartöter, sie sind die Gegenleistung beim Ein-
tausch von Tabak und Baumwolle.
Gelegentliche Diebstähle wurden mit vielem Lärm, aber ergebnislos
untersucht. Die Häuptlinge oder ältere Personen liefen überall umher, auf dem
freien Platz wurden grosse Reden gehalten. So einmal, als Ehrenreich ein schönes
Messer abhanden gekommen war. Man zog von Hütte zu Hütte, Alle mussten
ihre Messer vorweisen und wir sahen zu unserm Erstaunen, dass deren in Hülle
und Fülle vorhanden waren (bei einer Frau zählten wir 21 Stück). Indessen zum
Schluss hiess es stets, dass der Gegenstand im Walde versteckt worden sei.
Geburt; Namen. Die Frau kommt im Wald nieder, angelehnt an „pae“
den »Vater«, habe ich aufgeschrieben und weiss nicht, ob das nicht heissen
müsste „pao“, an den »Baum«. Das Kind wird fleissig auf die Augen geblasen,
der Vater durchschneidet die Nabelschnur mit einem Bambusspahn und legt
einen Faden an. Zwei Tage essen Vater und Mutter nichts, am dritten dürfen
sie nur etwas warmes Wasser geniessen. Wenn der Mann ässe, würden er und das
Kind krank werden. Die Nachgeburt wird im Walde vergraben. Bis zur Wieder-
kehr der Menstruation darf die Frau nicht baden, dann aber und auch sonst
in diesen Tagen geschieht es fleissig. Abortieren mit Hülfe innerer Mittel soll
häufig sein, zumal seitens der Ranchãofrauen. Wollen die Mütter nicht mehr
nähren, so drücken sie die Brust aus und »trocknen die Milch über Feuer aus,
worauf sie wegbleibt«. Medizin für die erkrankten Kinder, die der Apotheker
bereitete, wurde von den Vätern eingenommen, Vgl. über die Couvade Seite 334 ff.
Die Nebenfrage, ob der Vater in der Hängematte liege, erledigt sich bei den
Bororó von selbst, da sie keine haben und doch die Couvade üben.
Der Name wird dem Knaben bald nach der Geburt gegeben, wenn die
Unterlippe durchbohrt wird, vgl. Seite 475, was übrigens auch von anderen Per-
sonen als dem Medizinmanne geschehen kann. Der Operateur frägt, irgendwer
schlägt vor und der Name wird angenommen. Die Mädchen wurden ebenfalls
bald nach der Geburt von Verwandten benannt. Die Namen bezeichneten Tiere
und Pflanzen; Moguyokuri sei ein dem Agutí verwandtes Tier.
Waehneldt hebt die grosse Liebe der Eltern zu den Kindern hervor.
»Sie bewahren sie«, fährt er fort, »sorgfältig vor den Räubern; sofort als ich
bei ihnen eintrat, verbargen sie alle und nur, nachdem sie sich überzeugt, dass
nichts zu befürchten sei, erschienen sie alle wieder. Ein Indianer bat mich um
ein Mittel für seinen kranken Sohn [und] sagte, er werde, falls dieser sterben
solle, so viel Erde essen, bis er mit ihm beerdigt werde.« Dass die Unterlippe
durchbohrt wird, um den Kindern ein Merkmal zu geben, hat also auch
bei den Bororó am Jaurú seinen bestimmten Grund. Wir können uns über
die Liebe zu den Kindern nur in ähnlicher Weise aussprechen; trotz der schweren
Last wurde das Baby meist mit in den Wald genommen und thronte bei der
Heimkehr auf den Schultern der Mutter, ihren Kopf zwischen den Beinen. Um-
gekehrt war der Respekt vor den Eltern weniger deutlich ausgesprochen; es
[504] waren intelligente, aber unverschämte Rangen, die lieber eigensinnig als gehor-
sam waren.
Die Ausrüstung der Knaben mit Stulpen wird festlich begangen. Sie
müssen den Tag vorher in dem Wald zubringen und bekommen nichts zu essen.
Die jungen Krieger werden berusst und müssen allerlei Schabernack aushalten;
der Hauptspass ist, dass sich zwei Parteien an beiden Seiten eines Feuers auf-
stellen und die Jungen einander zuwerfen.
Totenfeier. Unterrichten wir uns zunächst bei Waehneldt über die
Bororó am Jaurú.
»Ihre Trauer- und Bestattungsfeierlichkeiten finden inmitten ihrer Dörfer
statt, im Sanctuarium selbst (der Seite 501 erwähnten Umzäunung). Man zeigte
uns die reinen Knochen des ältesten, vor wenigen Monaten gestorbenen Indianers,
der, nachdem er sechs Monate beerdigt gewesen, wieder ausgegraben worden
sei; die Knochen waren rein und vollzählig.
Alle Abende sangen sie an diesem Ort Trauergesänge und tanzten,
während sie jeden Knochen mit bunten Federn bedeckten und den Schädel
reich mit Arara- und anderen Federn schmückten.
Diese Zeremonien dauern mehrere Wochen, worauf die in einer Urne
beigesetzten Knochen von Neuem beerdigt werden. Jedoch nicht allen Ver-
storbenen werden gleiche Ehren zu Teil.
Der Dahingeschiedene bleibt auf seinem Totenbett für die Dauer von drei
Tagen unberührt, bis die Verwesung schon stark fortgeschritten ist und einen
schlechten, Ekel erregenden Geruch verbreitet; am dritten Tage wird der
Leichnam in Felle, Matten und grüne Blätter eingewickelt, in die Grube gelegt
und diese wieder mit Erde, Palmblättern und Matten bedeckt.
Die Grabstätte befindet sich in der Mitte des Dorfes und wird sehr sauber
gehalten; sie hatte das Aussehen eines europäischen Kirchhofs«.
In diesen wertvollen Angaben muss ein Punkt näher erörtert werden.
Waehneldt hält bei seinem kurzen Besuch im Matogrosso die Bororó für
alteingesessene Bewohner der Gegend und glaubt, weil er die Beisetzung
in Urnen sah, dass auch Urnen, die sich »im Ueberfluss an alten, heute
verachteten Wohnstätten, zum grossen Teil voller Knochen«, fänden, von
den Vorfahren der Bororó herrührten. Seine Bororó sind jedoch dieselben,
die von dem Fazendeiro Leite nach langen Kämpfen erst hier angesiedelt
wurden; alte Urnenfriedhöfe gleicher Art giebt es in der Nachbarschaft von
Villa Maria zahlreich; sie haben mit den modernen Bororó nichts zu schaffen
und harren noch der Untersuchung. Waehneldt giebt auch selbst an, dass
er nur »wenige Töpfe aus Thon, die von ihnen selbst waren, angetroffen
habe und ausserdem einige grössere Gefässe, um verschiedene Gegenstände
aufzubewahren, die indessen Erbstücke der Vorfahren waren, weil sie heute
nicht mehr gemacht werden«. Entweder hatten sich die Bororó solche
Urnen zum Muster genommen und ihre Knochenkörbe — noch eine Vor-
[]
BORORÓ-TODTENFEIER.
[][505] stufe der Urne — dadurch ersetzt, oder, was ich bei ihrer anerkannten geringen
keramischen Leistungsfähigkeit, die der unserer Bororó genau entspricht, und
der Angabe, dass auch sonst alte Urnen benutzt wurden, für wahrscheinlicher
halte, sie setzten ihre Toten in den alten Urnen bei, die so reichlich und zum
Teil schon leer an den heute verachteten alten Wohnstätten anzutreffen sind.
Die ursprüngliche Sitte der Bororó ist dieselbe, wie die der Humboldt’schen
Aturen, von denen der Reisende nur noch die Ueberreste in Gestalt von 600
wohlerhaltenen, in Körben aus Palmblattstielen wie in einem viereckigen Sacke
verpackten, mit Urukú rotgefärbten Skeletten antraf und von deren Sprache
nur noch ein alter Papagei der nahegelegenen Mission einige Worte zu plappern
wusste. Auch die Aturen hatten der Tradition zufolge ihre Leichen zuerst einige
Zeit in die Erde gelegt, das Fleisch verwesen lassen und die Skelette mit scharfen
Steinen rein präparirt und den Körben übergeben. Eine Anzahl der Toten
war auch bereits in Henkelurnen bestattet.
Wir haben am S. Lourenço zwei Totenfesten beigewohnt; das erste war
gerade bei unserer Ankunft im Gang, das zweite, das ich beschreiben möchte,
haben wir von Anfang zu Ende gesehen.
Die erste Beerdigung findet am zweiten oder dritten Tage statt, wenn
die Verwesung jeden Zweifel an dem Tode ausschliesst. Die Leiche wird nahe
am Wasser im Walde begraben und nach etwa 14 Tagen entfleischt und die
Hauptfeier veranstaltet, deren Zweck die Ausschmückung und Verpackung des
Skeletts ist. In der Zwischenzeit unterhält man den Verkehr mit dem Toten
sowohl während des Tages als auch und hauptsächlich während der Nacht durch
Klagegesänge im Ranchão, die in unserm Fall (vgl. Seite 458) auf kleineren
Umfang beschränkt werden konnten, da es sich nur um eine Frau handelte, die
Gattin von »Kokospalme«.
Die Hauptfeier fiel auf den Ostersonntag. Am Tage vorher, den Halle-
lujasonnabend, wurden, als Judas beseitigt war, im Ranchão die Vorarbeiten
eifrig betrieben, Schwirrhölzer gehobelt und bemalt, der Schmuck ausgebessert,
dazwischen auch in einer Ecke ziemlich lässig von einem Bari im Federputz des
Paríko ein wenig geklappert und gesungen; der Wittwer Coqueiro zerschnitt
sich in seiner Hütte Arme und Beine, die sich mit Krusten geronnenen Blutes
bedeckten, und am Spätnachmittage vollzog sich die feierliche Vernichtung der
Habe der Verstorbenen, richtiger der Habe ihrer engeren Familie, die in einer
Hütte mit ihr gewohnt hatte — ein Hergang mit sehr interessanter Pantomine,
der eine genauere Schilderung verdient.
Mehrere Bororó erschienen hinter dem Männerhaus in voller Gala, Haar und
Körper mit Urukú bestrichen, die Stirn von dem schwarzen Lackstreifen ein-
gerahmt, den Feststulp mit der bemalten Fahne angethan, die Arme und das
Haar mit grünen Papageienfedern beklebt und auf dem Kopf zwei Paríkos und
Baragaras, die Federräder und die federverzierten Lippenbohrer. Während zwei
sich auf eine Matte setzten und klapperten, nahm Coqueiro selbst frischgrüne
[506] Blätterbündel, band sie am Stiel pinselförmig zusammen und befestigte sie dem
bestgeschmückten jungen Mann an den Schultern, wo er schwarze Theerflecke
hatte, an den Armen, den Knieen, den Knöcheln. Dieser Bororó im grünen
Laubschmuck stellte den Toten in seinem jetzigen Zustand dar, wo er unter
einer Decke von grünen Blättern beerdigt war. Vier Männer traten mit einer
Korbtasche hinzu, holten Kleider von Coqueiro’s Gattin hervor und behingen
damit den Grünen, der ächzend dastand und in den Knieen wippte — ein Bild
des Jammers, nach unseren Begriffen eine »arme Seele«, höchst seltsam an-
zuschauen in dem »überladenen« Kostüm von blauen Ararafedern, grünen Guir-
landen und fünf bunten Kattunröcken. Auch die anderen behingen sich mit
Röcken, Einer mit einem Jaguarfell, gaben dem Grünen ein mit weissen
Federchen beklebtes Kürbisflötchen und veranstalteten nun einen Tanz. Ein
Mann mit zwei Rasselkürbissen eröffnete den Reigen, hinter ihm tanzte der
Grüne und hinter diesem die vier Andern, Alle sechs sangen im Chor und
tanzten rechts hinübertretend, links hinübertretend erst nach dem Ranchão,
wandten sich dann zurück und stampften tanzend auf dem Boden einen Kreis
aus. Plötzlich schwenkten sie ab und rannten in regellosem Durcheinander zum
Walde hin, wo sie verschwanden.
Mit dem Kürbisflötchen rief der junge Tote zwei alte Tote, die schon
längst in der Erde lagen. Sie sollten bei der Auslieferung der Habe anwesend
sein, den neuen Genossen übernehmen und sich überzeugen, dass man ihm nichts
vorenthalte, was er mit späteren unangenehmen Besuchen bei den Hinter-
bliebenen zu reklamieren hätte.
Nach einer Viertelstunde kehrte die Schaar im Sturmlauf mit fürchterlichem
Halloh zurück, zwei trugen auf ihrem Rücken — hurra, die Toten reiten schnell —
zwei in der That schauderhafte Gestalten, nackt, schmucklos, über und über vom
Wirbel bis zur Zehe mit nassem Flusslehm beschmiert. Mit bestialischem
Schreien sprangen die Lehmscheusale wilden Tieren gleich umher, wie un-
geheure Brummfliegen summten und sausten drei Schwirrhölzer durch die Luft —
kein weibliches Wesen war weithin sichtbar und die Hütten lagen wie unbewohnt,
mit Matten verschlossen — inmitten des vorhin gestampften Kreises wurde mit
grösster Geschäftigkeit ein helles Feuer entzündet, ein gewaltiger Kram von
allem möglichen Hausrath herbeigeschleppt, Körbe, Feuerfächer, Bastbinden,
Rindengürtel, eine rote Decke, viele Maiskolben, Kürbisse, Muscheln; Bogen
und Pfeilbündel wurden zerbrochen und alles in einen Haufen zusammengeworfen.
Bald kam eine gewisse Ordnung in die Szene; die Männer umgaben das Feuer
in einem Kreis und bewegten sich mit gleichen Füssen aufspringend langsam
rundum. Der Grüne wurde von den beiden Lehmgesellen, in denen wir im ersten
Augenblick den braven Moguyokuri und den Hauptbari (den Schützen auf
Tafel 28) kaum wiedererkannten, festgehalten und niedergedrückt. Die Kürbisse
rasselten, die Schwirrhölzer summten, das Feuer brannte nun lichterloh. Der
Grüne wurde losgelassen und er und ein zweiter im Paríko hinter ihm warfen
[507] die Sachen ringsum tanzend und immer bald rechts bald links zur Seite tretend
in die Flammen. Mittlerweile — und das war meines Erachtens das Merk-
würdigste des ganzen Schauspiels — kurierten die beiden alten Toten eine
kranke Frau, die sich, ich weiss nicht wie, plötzlich eingefunden hatte. Sie
bliesen sie an und gaben ihr wohl die tröstliche Versicherung, dass sie noch
nicht so bald geholt werde. Mehrere liefen zum nahen Fluss und warfen dort
Messer und Beile hinein. Coqueiro richtete das Feuer, Tanz und Gesang hörten
auf, die Federschmucke wurden neben das Feuer gelegt und der Grüne legte
seine Guirlanden hinzu, die Baris hockten in einer Reihe hintereinander und wurden
mit Wasser begossen. Sogleich darauf grosser Lärm; der Hund eines Soldaten
hat ein Kind gebissen, Moguyokuri, noch mit Lehm beschmiert, geht wütend auf
den Besitzer los, der zu seiner eigenen Sicherheit in Arrest wandert; damit ist
der Häuptling befriedigt und verschliesst mit seiner Hand den Mund der keifenden
Mutter, die nun stumm, aber vergnügt grinsend und die Zunge ausstreckend abgeht.
In der folgenden Nacht ununterbrochenes Aróesingen bei den Indianern;
Niemand blieb in den Hütten oder im Ranchão; Männer, Weiber, Kinder waren
draussen. Ununterbrochenes Musizieren, Tanzen, Lachen und Plärren bei den
Soldaten. Herrlicher Mondschein. Des Osterfestes erste Feierstunde sah gar
wundersame Kontraste unter den Gruppen der Bestattung und der Auferstehung.
Am Morgen betrat, Moguyokuri an der Spitze, ein langer Zug den Ranchão,
alle mit grünen Zweigen in den Händen, in der Mitte der Bruder der Toten
mit der viereckigen Korbtasche, die die in der Frühe ausgegrabenen und ge-
reinigten Skelettteile enthielt. Der Korb wurde auf eine Matte gelegt, vier
Männer nahmen sich den Schädel und den Unterkiefer heraus, die blank und
weiss wie die schönsten Präparate aussahen, und gaben sich daran, sie sowie
eine neue Korbtasche mit Federn auszuschmücken. Moguyokuri sass auf einem
Jaguarfell in voller Gala, Haar und Haut rot geschminkt, um die Hüfte einen
Akurípalmzweig geschlungen, auf den Schultern schwarzblaue Mutungfedern an-
geklebt, die gelbrothen Lappen von Tukanfedern von den Ohren herabhängend,
den schönsten Pariko auf dem Haupt, im Loch der Unterlippe die Muschelkette.
Neben ihm standen vier mit den Paríkos geschmückte Medizinmänner, die eifrig
die Rasselkürbisse schüttelten und im Takt stampfend auf- und niedersprangen,
die Augen geschlossen. Der ganze Ranchão war mit Menschen, hauptsächlich
Frauen und Kindern, gefüllt; sie sangen mit und klatschten taktgemäss in die
Hände. Mehrere der Frauen traten an den Knochenkorb heran, und legten die
Hand darauf; die Aelteste ritzte sich die Arme mit Glasscherben in schnellen
scharfen Schnitten, das Blut tröpfelte auf die Hände der Anderen und färbte
das Palmstroh der Korbtasche.
Von den jungen Männern in der Mitte wurde zuerst der Unterkiefer mit
Urukú bestrichen und mit weissen Flaumfederchen umhüllt. Neben sich auf der
Matte hatten sie Urukúfarbe in einem Gürteltierschild, einen kleinen Topf mit
Fischöl, eine Muschel mit Klebharz, eine Matte mit losen weissen und eine
[508] grosse Topfschale mit purpurnen Federchen gefüllt. Den neuen Korb bestrichen
sie innen und aussen reichlich mit Urukú und während die einen den Korb mit
Federn beklebten, widmeten sich die andern dem Schädel, in den sie den Unter-
kiefer einsetzten und den sie, am Hinterhaupt beginnend, auf das Sorgfältigste
mit den Purpurfederchen beklebten. Jedes Federchen wurde am Ende mit einem
Harzstäbchen bestrichen und einzeln aufgesetzt.
Währenddessen kam auch Coqueiro mit einem Kind an der Hand. Er
setzte sich still beiseit, schluchzte und weinte. Er trug keinen Schmuck als
um den Leib die schwarze Schnur, die er sich aus dem Haar seines Weibes ge-
sponnen und geflochten hatte. Seine Wangen waren thränennass, er kniff die
Augen zusammen, wie wenn das Weinen schmerzhaft wäre.
Allmählich bedeckte sich das Schädelgewölbe mit einem roten Ararasammet.
Wer die Hände abwischen musste, gebrauchte den Korb. Ein Teil der An-
wesenden kümmerte sich bald nicht mehr um die Feier. Die Kinder sprangen
munter umher, einige Männer knabberten an Maiskolben und arbeiteten, ein
paar Frauen fingen sich gegenseitig Läuse, sangen dabei aber andächtig weiter.
Es wurde auch leerer.
Man wurde auf die Dauer duselig von alle den schwirrenden und hallenden
Tönen. Ein Trommler hatte sich hinzugesellt, die Arme mit einem Pelz von
Papageienfederchen beklebt. Wieder füllte sich der Raum. Sieben Frauen traten
an den alten Knochenkorb, ritzten sich und stellten die Füsse darauf, sodass auch
ihr Blut das Stroh tränkte. Vgl. Tafel 29. Die Wunden waren 2 — 3 cm von-
einander entfernt, ein rotes Netzgeäder bedeckte Beine und Arme, Brüste und
Leib. Der Gesichtsausdruck blieb ruhig und bekundete keinen Schmerz; das
Ritzen geschah mit ungemein schnellen Bewegungen. Alle wickelten ihren Glas-
splitter in ein Blatt, überreichten es Coqueiro und setzten sich zu ihm nieder.
Neue Gruppen kamen sich zu ritzen, immer nur Frauen und Mädchen, und
thaten wie die vorigen; jede führte den Splitter, bevor sie ritzte, nässend zum
Munde. Brummend, schnarrend mischten sich zwei Flöten in die Musik der
klappernden Kürbisse, der Trommel, des Gesanges und des Stampfens. Mit un-
glaublicher Ausdauer tanzten die Sänger. Auch Coqueiro hockte bei dem Korb
nieder und ritzte sich die Arme, während eine Frau daneben stand mit ihrem
Kind auf dem Rücken.
Gegen Mittag waren Schädel und Korb fertig. Bei jenem hatte man mit
einer schönen gelben Querlinie, der Kranznaht entsprechend, die rote Sammet-
kappe unterbrochen. Der neue Korb war mit schneeig weissen Federchen be-
klebt, und auf jeder Seite innerhalb der weissen Fläche zwei Reihen von roten
Rechtecken fensterartig angelegt. Es sah ganz allerliebst und zierlich aus, was
die rohen Jäger da gearbeitet hatten. Nun wurde eine besondere Handlung ver-
anstaltet, die »Einsegnung« von Schädel und neuem Korb. Man baute eine
Art Kapelle oder Sanktuarium, indem man fünf Bogen im Halbkreis aufpflanzte,
Matten anlehnte und Decken daran und darüber hing. In diese Nische stellte
[509] man den geschmückten Korb, lehnte daran drei noch unbemalte Schwirrhölzer
und legte den Schädel auf eine mit einem losen Federhaufen gefüllte Matte;
der thätigste der Baris setzte sich in den Eingang, den sein Körper nebst dem
hinter ihm stehenden Trommler — jetzt ohne Trommel — verschloss. Ihnen
zum Trost waren auch zwei Töpfe mit Wasser, lehmgelbem Flusswasser, und drei
Zigarren in die Nische gebracht worden. Langsam anhebend, mit tiefer Stimme,
begannen die Beiden ihren Gesang, und der Bari schwang in jeder Hand die
Rassel. Die Uebrigen sassen vergnügt herum, trieben kleine Spässchen, bettelten
um Tabak und brummten nur den Schlusstakt mit. Aber allmählig wurde der
Gesang lebhafter, helle Frauenstimmen fielen kräftig ein, und die beiden Vor-
sänger an der Nische arbeiteten aus Leibeskräften, bis sie nach dreiviertel
Stunden zu Tode erschöpft waren. Sie beugten sich in die Nische hinein, um
zu trinken, doch ihr ganzer Körper schüttelte sich wie im Fieber, sodass der
Wassertopf gehalten werden musste; sie wischten sich den Schweiss ab und ver-
mochten nur noch ein paar unartikulierte Laute zu stammeln, die der Chor uni-
sono mit mehrfachem, verhaltenem Anerkennungsbrummen beantwortete. Zitternd
rauchten sie ihre Zigarren.
Die Decken werden abgenommen; sechs Männer, unter ihnen jetzt auch Co-
queiro, schwangen die Rasseln, sangen und tanzten, stets mit geschlossenen Augen,
ganz in sich selbst konzentriert. Auch wir tanzten und rasselten eine Weile mit, zur
Freude der Indianer. Nur der Eine oder Andere pausierte gelegentlich ein
Weilchen, rauchte währenddess mit grosser Hast an seiner Zigarre und strich
den Schweiss herunter, der von den Leibern der sechs in Strömen floss.
Zahlreiche Frauen sangen mit, sich die Zeit mit Lausen vertreibend, fächelten den
Tänzern auch, hinter ihnen stehend, im Takte Kühlung zu; die Männer lagen in
grosser Zahl der Wand entlang ausgestreckt und ruhten sich aus. Eine allgemeine
Pause wurde nur einmal gemacht und der Gesang von lustigem Harmonika-
geklimper, das von den Soldatenhütten her erklang, abgelöst; doch schon nach
drei oder vier Minuten rasselte Moguyokuri’s Kürbis zum Zeichen der Fortsetzung.
Alle Knochen werden einzeln mit Urukú bestrichen — nach der Reihe Ober-
schenkel, Oberarm, Unterarm, Unterschenkel, das in zwei Theile gespaltene
Becken, die Rippen und Hand- und Fussknochen bis zum letzten Zehenknöchel-
chen. Mit einem Kind hat man leichtere Arbeit; es wird in toto verpackt.
Trieften die Knochen zu sehr von dem Oel, so hielt man Decken und Matten
unter; nichts durfte verloren gehen. An den mitgebrachten Palmzweigen wischte
man sich die Hände ab. Sorgfältig wurden sämtliche Skeletteile, die kleinen
Hand- und Fussknochen in besondere Blätter eingewickelt, in den Korb gelegt,
Kleidungsstücke — drei Hosen (Frau Coqueiro!), eine Frauenjacke, drei Hemden —
zugefügt, und endlich noch die gebrauchten Palmzweige in die zum Platzen ge-
füllte Korbtasche hineingestopft. Man vernähte sie mit fusslangen Holznadeln;
Moguyokuri’s kräftige Faust war nötig, um die Ränder zum Schluss zu bringen.
Die an den beiden Ecken überstehenden Palmzweige wurden abgeschnitten.
[510]
Um 5¼ Uhr war man fertig; man sang noch eine kleine Weile, allein es
war in der letzten Stunde unheimlich leer geworden und ohne jeden feierlichen
Abschluss ging die Handlung zu Ende: man hörte einfach auf. Moguyokuri
bat sich meine Pfeife aus und schwatzte behaglich. Die Zeremonie war schon
vergessen. Ein altes Weib nahm den Knochenkorb auf den Rücken, ein junger
Bursche schritt ihr voraus, die grosse Totenflöte melancholisch blasend. Niemand
beachtete sie. So gingen die beiden dahin in der beginnenden Dämmerung,
die Jugend und das Alter — ein stimmungsvolles Abendbildchen wie aus einem
Zaubermärchen. Sie gaben mit ein paar klagenden Lauten den Korb bei Co-
queiro ab, der in seiner ausgeräumten Hütte sass, und kehrten eiligst zu den
Uebrigen zurück. Und zwei Stunden später an diesem Ostersonntag brach der
Kayapólärm los.
Coqueiro hatte Nichts behalten. Seine Freunde machten Bogen und Pfeile
und schenkten sie ihm. Am dritten Morgen nach der Feier brachte er den
Knochenkorb fort und eine Frau mit gleicher Bürde beladen, schritt hinter ihm.
Denn es ist Sitte, dass ein Toter auf den nächsten wartet und die beiden zu-
sammen das Dorf verlassen. Wieder schien sich Niemand um sie zu kümmern,
und man hätte glauben können, es würden zwei Körbe mit Mandioka weg-
getragen. Doch kamen bald vier junge Leute ziemlich eilig daher und folgten
jenen in den Wald, der erste schwang ein Schwirrholz, der zweite und dritte
stiessen laute Schreckenstöne aus, der vierte schleifte hinter sich eine breite
Strasse mit einem Palmblatt, um die Fussspuren zu verwischen und den Toten
den Rückzug zu erschweren. Keine Frau liess sich sehen. Einer trug auch
eine Hacke. Die Körbe wurden beerdigt; man glaubte, auf einer kleinen fluss-
aufwärts gelegenen Insel.
Seele und Fortdauer nach dem Tode. Bei dem Wachenden giebt
es eine Wirkung in die Ferne, die an unserm Glauben vom Ohrenklingen
erinnert. Am Kulisehu sagte mir Tumayaua, als ich einmal nieste, meine
Frau rufe mich, die traurig sei, weil ich noch nicht zurückkehre. Bei gleicher
Gelegenheit wurde von den Bororó genau dasselbe behauptet; ein andermal,
da ich neben einer Indianerin stand und nieste, stellte sie sofort Fragen nach
den Namen meiner Verwandten: »Wie heisst Deine Mutter? Dein Bruder?
Dein Schwager?«
Die »Seele« heisst búpe. Im Traum verlässt sie den Körper. Die Furcht,
Schlafende zu wecken, war deutlich ausgesprochen. Auch Clemente glaubte,
dass es sehr schädlich sei. Doch hat es auch sein Nützliches, wie wir einst
im Ranchão sahen. Wilhelm wollte einen Schlafenden abzeichnen. Nun schien
dies das grössere Uebel zu sein, offenbar, weil man mit dem Bild Hexenkünste
treiben könnte; die Bororó sträubten sich meist gegen die Bemühungen Wilhelm’s
und andrerseits freuten sie sich später, wenn er ihnen heimlich gemachte Porträts
[v]orzeigte. Das Abzeichnen jenes Schlafenden jedenfalls erschien ihnen bedenklich.
Sie wollten ihn wecken und, als ich sie daran verhinderte und sie tadelte,
[511] suchten auch sie heimlich (durch Spucken und Werfen von Holzstüchcken) ihren
Zweck zu erreichen.
Den genaueren Sinn von búpe kenne ich nicht. Während des Traumes
fliegt die Seele in Gestalt eines Vogels von dannen. Sie sieht und hört dann
Vieles. Fest wird an das geglaubt, was der Erwachende berichtet. Die Kayapó
waren wirklich in der Nähe des Dorfes gewesen; Niemand zweifelte daran.
Clemente bestätigte aus seiner Erfahrung die Richtigkeit ihrer Vorhersagungen.
Wenn die im Dorf zurückgelassene Frau, während der Mann auf dem Jagdaus-
flug abwesend war, die halbe Nacht allein in der Hütte sitzend ein paar Stunden
laut geklagt und gejammert habe und sich dann zum Schlafen niederlege, so
finde ihre Seele mit Sicherheit die Jäger und nach dem Erwachen machten die
Frauen stets richtige Angaben, wo sie jetzt seien und wann sie wieder eintreffen
würden. Die Nähe des Feindes werde im Traum erraten, man fliehe und er
komme in ein verlassenes Dorf.
Sicher ist, dass die Baris den Tag des Todes bei einem Schwerkranken
richtig voraussagen. Nicht nur das Kind, von dem ich Seite 460 erzählt habe,
wurde, als die Zeit erfüllet war, getötet, auch bei Coqueiro’s Gattin war künstlich
nachgeholfen worden. Man hatte sie noch lebend in den Ranchão ge-
bracht, ihr das Gesicht mit einem Tuch verdeckt und sie unter der Hülle er-
stickt. Es war der vierte Tag an dem sie den Baris zufolge sterben sollte, und
sie starb auch. Ich glaube, man kann dieses Hineinpfuschen in Atropos’ Hand-
werk gerade bei einem vielfach umherstreifenden Jägerstamm, auch wenn er
nicht einmal so ernsthaft wie die Bororó Menschen und Tiere auf eine Stufe
stellte, leicht daraus verstehen, dass sie sterbenden Tieren den Rest zu geben
gewohnt und nicht beliebige Zeit an manchen Orten zu verweilen in der Lage sind.
Dass die Baris aus dem Brauch Nutzen zu ziehen wissen, ist eine Sache für sich.
Die Vorstellungen über den Tod und die Fortdauer sind insofern wesent-
lich von denen der Kulisehuindianer verschieden, als die den Tod verschuldenden
Medizinmänner nicht in einem Nachbardorf wohnen und dort Hexenkünste treiben,
sondern in gewissen Tieren stecken, die man unglücklicher oder thörichter Weise
tötet und die sich nun rächen, indem sie den Lebenden holen. Während sich
der Medizinmann der Bakaïrí nur vorübergehend in der Narkose in Tiere zu
verwandeln pflegt und nach dem Tode in menschlicher Gestalt zum Himmel
geht, ist hier der Tod selbst nichts anderes, als eine Verwandlung in Tiere, ein
Traum, dessen Wirklichkeit für Alle sichtbar geworden ist.
Das Gewöhnliche ist, dass der Bororó nach seinem Tode, Mann oder Frau,
ein roter Arara wird, also ein Vogel wie die Seele im Traum. Das Fleisch
und die Haut verfaulen, die Knochen werden in so feierlichem Schmuck abge-
liefert, wie der Verstorbene es nur verlangen kann, seine Kleidung wird hinzu-
gepackt oder verbrannt, die Verwandten geben den ganzen Hausrat her, den
er mitbenutzt hat, sie geben ihm sogar von ihrem Blut — wenn er sich m[it]
dem Allem die alte Gestalt wiederzugeben weiss, so haben ihm die Hint[er-]
[512] bliebenen jedenfalls Nichts vorenthalten, mehr darf er nun aber auch nicht be-
anspruchen, er braucht den Weg nicht zurückzufinden und mag sich mit seinem
Araraleben begnügen. Die roten Araras sind Bororó, ja, die Bororó gehen
weiter, wie ich schon Seite 353 erwähnt habe, und sagen »wir sind Araras«.
Dies ist entweder eine spätere Uebertreibung, die nur in auffälligster Weise
zeigt, wie grenzenlos gleichgültig den Indianern die Skrupel unserer Zoologen
sind, oder der Seelen-Vogel wird als Arara gedacht. Sie essen Araras niemals,
sie töten zahme niemals, sie wehklagen, wenn einer stirbt, nur wilde werden
um des Federschmucks willen getötet und um dessentwillen müssen sich auch
die zahmen Brüder ein systematisches Ausrupfen gefallen lassen.
Die Verstorbenen anderer Stämme werden andere Vögel. Die
Neger werden schwarze Urubús. Die Wahl ist nicht unglücklich; Farbe, Aus-
dünstung und Possirlichkeit können sie bei einem Böswilligen leicht anregen, und die
Bororó liebten die Neger nicht. Ich fragte Maria, was ich nach meinem Tode
würde, und erhielt die schmeichelhafte, durchaus im Ernst gegebene Antwort
»ein weisser Reiher«. Die Seele ist ja bereits während des Lebens ein Vogel
und dies erscheint nicht weiter merkwürdig, da sie im Traum an ferne Orte
mit grosser Geschwindigkeit gelangt und eine Person, die das kann, für den
Jäger eben ein Vogel ist; es ist eine sekundäre Frage, welche Art Vögel dem
einen und welche dem andern Stamm zukommen. Dass sich ein Stamm für
sich selbst den schönsten Ziervogel aussucht, der nebenbei auch spricht, dessen
Gefieder dem Lebenden und dem Toten prächtigen Schmuck liefert, bietet dem
Verständnis keine Schwierigkeit. Allein die Bororó sind nicht blaue Araras,
sondern rote Araras, wie die Neger schwarze und die Weissen weisse Vögel
sind oder werden.
Nun werden aber die Medizinmänner in nicht minder leicht verständ-
licher Erweiterung nach ihrem Tode auch andere Tiere als Vögel, und zwar
Fische, Wels, Jahú und besonders Dourado, Fische, die sämtlich gross und
wohlschmeckend sind. Der Bari muss deshalb dabei sein, wenn sie getötet
werden, und muss sie einsegnen, vgl. Seite 492. Eine besondere Stellung
kommt noch dem Reh zu. »Ich weiss nicht«, meinte Clemente, »welche Sym-
pathie sie für das Reh haben; Einige essen es zwar, wenn es eingesegnet ist.
Auch der Aroetaurari kann es nur essen, wenn es eingesegnet ist, Andere
würden davon sterben; sie töten es sehr selten, auch wenn es ganz nahe
kommt. Ich weiss nicht, ob es ein Heiliger von ihnen ist (não sei, se é santo
d’elles).«
Nicht einmal ein Bororó, ein Hund nur tötete eines Tages ein Reh; Einer
kostete von dem Fleisch, wurde an demselben Tage krank und starb nach
einiger Zeit. Von einem andern Fall wusste Clemente zu erzählen, dass Einer
einen grossen breiten Dourado getötet hatte und bald darauf starb. »Seht Ihr«,
sagten die Bororó, als sie den Knochenkorb hergerichtet hatten, »der Dourado
war ein Medizinmann und hat ihn auch getötet.«
[]
METEOR-BESCHWÖRUNG BEI DEN BORORÓ.
[][513]
Voraussetzung ist hier, wie wir sie auch bei den Kulisehuindianern kennen
gelernt haben, die bei den Bororó in ihrem Jägerstadium noch in ursprünglichster
Kraft blühende Anschauung, dass Tiere und Menschen nur verschiedene Personen
sind. Der Tod eines der Ihrigen ist der Racheakt eines Getöteten. Ein Jäger
wird krank oder stirbt — wem hat man diesen bösen Streich zur Last zu legen?
Einer Tier-Person, die er selbst getötet hat und die sich rächt; so muss bei der
immer vorhandenen Möglichkeit dieser Erklärung sich die allgemeine An-
schauung bilden, dass der Tote den Lebenden holt. Wie macht das aber
das getötete Tier? Ja . . . ., ein Medizinmann hat darin gesteckt . . . ., Einer
der Alles kann, ohne dass man weiss, wie er es macht.
So greifen die Erklärungsversuche ineinander, auf einen gelegentlichen
Zirkelschluss kommt es auch nicht an, wo so viel Tradition und Affekt im
Spiele ist. Es hiesse jedoch das Verständnis mehr erschweren als fördern, wenn
man die Anschauung der Bororó über die Fortdauer mit dem Schema »Seelen-
wanderung« abfertigen wollte. »Seelenwanderung« erleben sie alle Nächte.
Dass Tiere und Menschen nur verschiedene Personen sind, ist weit wichtiger
als dass man sich nach späteren Rücksichten zu der einen oder anderen Tier-
person in ein näheres Verhältnis setzt. Mir wird es wirklich am leichtesten, die
Leute zu verstehen, wenn ich die Behauptung, die die späteste und verworrenste
zu sein scheint, dass sie nämlich sagen »wir sind Vögel«, mir als die früheste
und einfachste zurechtlege, und mir nicht vorstelle, »ich werde ein Vogel«,
sondern ich — bitte, nicht im Sinne des Berliners — habe einen Vogel, bin
ein Vogel, der jetzt Nachts umherfliegt, aber einst, in hoffentlich ferner Zeit,
nicht mehr zu seiner Familie zurückfliegen wird, wenn ihn eine andere Person,
Mensch, Vogel oder Säugetier, die ich tötlich gekränkt habe, daran zu verhindern
weiss, und der alsdann gezwungen sein wird, seine nächtliche Gestalt zu be-
halten, der nun als weisser Reiher an der Lagune Fische fangen wird und ernstlich
darauf rechnen möchte, dass Kind und Kindeskinder ihn nicht schiessen und
aufessen, sondern ihm nur, falls es sein muss, die Federn ausrupfen.«
Himmlische Flöhe; Meteorbeschwörung.Sonne und Mond sind
Ararafedern. Welche Vorstellungen über ihre Besitzer vorhanden sind, gelang
mir nicht zu erfahren. Aber die Bororó lachten mich aus, als ich sie fragte,
ob Sonne und Mond wie Menschen wären, und wiederholten »Ararafedern«,
Ararafedern und nicht etwa Arara schlechthin, als ob sie Vögel sein könnten.
Wir wohnen auf einer grossen Insel inmitten eines Flusses, der „baruparu“
— die Reduplikation von „baru“, »Himmel« — heisst. Mond und Sonne (oder
ihre Besitzer) sind auf der einen Seite und wandern durch den Fluss; wenn sie
zusammenkommen, geht der Mond vorüber und es kommt Neumond.
Das südliche Kreuz sind die Zehen eines grossen Strausses, der Centaur
ein zugehöriges Bein, der Orion ist eine Jabuti-Schildkröte und in dem nach
dem Sirius zugelegenen Teil ein Kaiman, die Plejaden sind das Blütenbüschel
des Angicobaums, Acacia; die Bororó zeigten mir das Alles mit vielem Vergnügen
v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 33
[514] und stiessen dabei gern ein ih … der Bewunderung aus, doch waren sie sich
über die Deutung nicht immer einig, so dass es mir doppelt schwer wurde, sie aus-
zuforschen. In Einem jedoch herrschte voller Einklang und dies war mir gerade
das Erstaunlichste. Die gemeinen und nicht in besondere Konstellationen einge-
schlossenen Sterne, wie sie über den Himmel zerstreut sind als kleine und grosse
Punkte, die man auch als Sternschnuppen mit einem Satz das Firmament durch-
eilen sieht, das waren alles Sandflöhe; die Milchstrasse, in der sie sich am
dichtesten zusammendrängen, war Asche und die Venus der »grosse Sandfloh«.
Wie bei den Bakaïrí liegt die Auffassung zu Grunde, dass die Himmels-
tiere durch Zauberei dort oben hinkommen und in ihrem Aussehen von den
irdischen Geschöpfen abweichen; denn sobald eine besondere Erscheinung auf-
tritt, ist auch die Erklärung mit dem Bari zur Stelle. Ein Bari ist die grosse
bunte Wasserschlange, die wir Regenbogen nennen. Ein prächtiges Meteor,
das während unserer Anwesenheit fiel, war die »Seele eines Bari«, die plötzlich
auftauchte, um den Bororó mitzutheilen, dass er »Jägerfleisch« haben wolle und
einem von ihnen Dysenterie schicken werde. Die Szene, wie man das Unheil
abzuwenden bemüht war, verdient in ihren Einzelheiten geschildert zu werden.
Vgl. Tafel 30.
Das Meteor leuchtete am 14. April Abends 8 Uhr 26 Min. im Süden auf
als eine Kugel von etwa ¼ Mondgrösse; ein heller Schein flammte über den
ganzen Platz. Es fiel sehr schnell in 45° nach Westen zu und hinterliess einen
Streifen, etwa 4 Himmelsflöhe erster Grösse breit und wie ein Stab in zwei Teile
geteilt, dem freien Ende zu sternleuchtend, der Kugel zu brillant blau. Noch
4 Minuten lang meinte ich den Streifen, indem er mehr und mehr verblasste,
als hell weisslichen Dunst zu sehen.
In demselben Augenblick, als das Meteor sichtbar wurde, erschallte von
dem Indianerplatz her ein hundertstimmig gellendes, anhaltendes Geschrei. Von
allen Seiten her stürzte man nach dem Ranchão, wo es eine Weile drinnen und
draussen wie in einem aufgestörten Ameisenhaufen wimmelte. Dann wandte
man sich nach dem zum Flussufer hin gelegenen Teil des Platzes, richtete ein
paar Lagerfeuerchen her und bald sassen zahlreiche kleine, phantastisch be-
leuchtete Gruppen von Männern, Weibern, Kindern den Hütten entlang. Ich
war einige Minuten beiseite gegangen und wurde durch lauten Lärm zurück-
gerufen. Zwei mit Urukú knallrot angestrichene Baris standen inmitten der
Gesellschaft und prusteten in heftiger Aufregung ringsum zum Himmel hinauf,
ein wenig Speichel von den Lippen spritzend, ähnlich wie die Kulisehuindianer
die Gewitterwolken verjagten. Dabei zitterten und taumelten sie, dass man
fürchten musste, sie würden ohnmächtig zu Boden stürzen. Indem sie sich nun
dem Ort zuwandten, wo das Meteor erschienen war, heulten sie mit drohender,
schreckhafter Stimme: vué! vué! die hohle rechte Hand vor den Mund pressend,
streckten den linken Arm gen Himmel und hielten Jeder ein Bündel spannen-
langer Maiszigaretten empor. »Hier, sieh es wohl«, schienen sie zu sagen, »alle
[515] diesen Tabak wenden wir daran, um das Uebel zu verscheuchen. Wehe Dir,
wenn Du uns nicht in Ruhe lässt!«
Eine seltsame Mischung von Angst und Mut, welch’ letzter jedoch leider
etwas ebenso Künstliches an sich hatte wie der bei der Beschwörung der Kayapó-
gefahr. Das Zittern nahm zu, ihr ganzer Körper vibrierte, der zurückgebogene
Kopf wackelte, mit zuckenden Bewegungen tasteten und strichen sie sich über
Brust und Leib, um alles Böse wegzudrücken.
Nachdem dies Schauspiel eine Weile gedauert hatte, nahm man ihnen die
Zigarrenbündel aus der Hand und zündete sie am Feuer an, während sich die
aufgeregten Aerzte einen Augenblick wimmernd und schaudernd verschnauften.
Ein Halbdutzend Männer erhoben sich, rauchten zu Trost und Stärkung ein paar
Züge und gaben die Zigarren an die Baris, die ihre Kur wieder aufnahmen.
Sie rauchten an dem ganzen Bündel, heulten noch gellender und vorwurfsvoller
als vorher gen Himmel empor, strichen sich noch eifriger über den Leib, kratzten
sich heftig auf dem Kopf, schluckten wieder an ihrem Bündel, saugten sich
krampfhaft an den Unterarmen, als wenn sie das Blut aus dem Innersten herauf-
holen wollten, schrieen immer lauter vué vuáu vuáu, schüttelten sich und bliesen
gegen die Sterne; die Gelenke schlotterten, die Muskeln flogen.
Endlich begannen sie auf einmal sich suchend in der Menge umzuschauen,
sprachen mit den zunächst Stehenden, deuteten unter die Leute und gingen in
die Hauptgruppe hinein, wo sie einen lebensschwachen Greis, den Häuptling
Domingo, und mehrere der Angesehensten, um die es sich in so besonderem
Falle nur handeln konnte, einer kurzen Kur unterzogen. Sie hoben ihnen den
Kopf auf, schauten sie prüfend an, spritzen sie pzü pzü in’s Gesicht und stiessen
mit vorgehaltener hohler Hand wieder ihr drohendes vóu oder ein schrilles hahahó
aus, nicht vergessend, ihr Bündel dabei aufzurauchen. Der Chor hatte sich im
Allgemeinen ernst und still verhalten, nur hier und da war er in einstimmiges
huhá ausgebrochen und wiederholte das jetzt triumphierend zum Schluss, als sich
die zwei Doktoren zähneklappernd und ein fröstelndes tédede tedéte murmelnd
zurückzogen. Aróegesang ertönte die ganze Nacht hindurch.
Der Tabakrauch war hier ganz in derselben Weise wie das Prusten gegen
den Gewittersturm angewandt worden, und ich gewann den Eindruck, dass das
Qualmen des Arztes einem Ausräuchern sehr ähnlich sehe. Vielleicht ist dies
für den ursprünglichen Sinn der Heilmethode nicht zu unterschätzen.
Domingo hatte zwei Tage nach der Meteorbeschwörung einen Anfall von
Schwäche. Am dritten, dem 17. April, war er krank und offenbar war ihm sehr
unheimlich zu Mute. Er drückte sich ängstlich umher, die Hände in Lappen
eingebunden und Kopf und Gesicht verhüllt, dass man ihn nicht erkennen solle.
Da wir die Kolonie den 18. April verliessen, haben wir leider nicht verfolgen
können, ob ihm dieses Mittel geholfen hat.
Ahnensage.Arigá-Bororó ist der Stammvater der Indianer. Er hatte
eine Frau. arigá heisst der Puma. Später kamen zwei Männer und zwei Frauen
33*
[516] im Osten von dem baruparu-Fluss (vgl. Seite 513) auf die Erde und gelangten
an den S. Lourenço. Mehr habe ich nicht erfahren können. Clemente war
hier ganz unbrauchbar, er selbst wusste nichts und legte sich nach seinen Kennt-
nissen von Brasilien jene Angaben so zurecht, dass die Bororó von Rio de Janeiro
kämen. Soviel ich verstehen konnte, wohnten die Bororó seit der Zeit, dass
sie den Himmel verlassen haben, an Quellflüssen des S. Lourenço und hat jene
Herkunft aus dem Osten nichts mit Stammeswanderungen zu thun, sondern ist
wieder nur das Ergebnis der sehr natürlichen Ueberlegung, dass die Sonne im
Besitz der ältesten Leute war und dass die ältesten Leute deshalb auch dort
gewohnt haben, wo die Sonne herkommt.
Moguyokuri é muito criança »ist das reine Kind«, erklärte Clemente, der wisse
nichts, und dem entsprach auch die Thatsache, dass der Häuptling seinen Gross-
vater, wie er mir angab, nicht mehr gekannt hatte. Ein uralter Greis, der wirklich
über die Schöpfung der Welt etwas wisse — denn er habe das Nähere noch
von seinem Grossvater gehört, der selbst dabei gewesen sei — dieser
kostbare Gewährsmann war unglücklicher Weise auf Jagd abwesend.
Selbst die Auskunft über andere Stämme, mit denen die Bororó in Be-
rührung ständen, war äusserst mager und beschränkte sich auf einige Angaben
über die Kayapó, die glatte, kurze, aber sehr starke und harte Bogen, ziemlich
kleine Pfeile aus Tacoarasinha mit angenähten Federn und zwei eisernen Wider-
haken, sowie eine flache, 1 m lange, an einer Schnur um den Hals getragene
keule aus Seribapalmholz von fischähnlicher Form hätten.
Doch gab es ausser ihnen noch merkwürdige Nachbarn in dem Stamm der
Rarái, auch baredyeragúdo genannt. Man sieht sie nur zu zweien oder dreien,
nur des Nachts; sie tragen Basttuch und sind schwärzlich, niemals von heller
Hautfarbe. Es sind Affen. Sie haben Bororó an dem und dem Orte zu Boden
geworfen und sind weggelaufen. Clemente — und das ist deshalb nicht wertlos,
weil er genau die Angaben der Indianer selbst wiederholte — schwor Stein und
Bein darauf, die Rarái seien Affen; Pfeile hätten sie nicht, sie griffen Steine
oder Holz zum Werfen vom Boden auf und hätten namentlich auch garruchas,
— »Pistolen«, wie sie die brasilischen Kameraden und deshalb auch die Neger
und die flüchtigen Sklaven (vgl. z. B. unser Liebespaar Seite 23) ganz allgemein
besassen. »Es sind Affen, und sie schiessen mit Pistolen?« »Ja, es sind Affen
mit eisernen Pistolen.« Der Neger hat mithin die angenehme Wahl, als ein
Affe oder als ein schwarzer Aasgeier zu gelten. Aber man muss es sich immer
wieder vorhalten und klar machen, es giebt hier keine Grenze zwischen Mensch
und Tier und auch der Besitz eines Kulturgeräts will nicht das Geringste be-
sagen. Wenn die Affen Pistolen haben, so kann man doch nicht sagen, dass
sie sie nicht haben.
Sprache. Das bei den Bororó gesammelte linguistische Material, das
vielleicht ausreichen wird, um wenigstens die wichtigsten grammatischen Umrisse
festzulegen, ist noch nicht bearbeitet. Bisher habe ich auch keine sprachliche
[517] Verwandtschaft mit andern bekannten Idiomen finden können. Jedenfalls ge-
hören die Bororó weder zu den Tupí noch zu den Gēs, an die man zunächst
denken möchte. Es wäre auch nicht weiter wunderbar, wenn alles Bemühen
ergebnislos bleiben würde, weil die Nachbarschaft ihres Gebietes in weitem Um-
fange schon seit der ersten Besiedelung der Matogrosso sehr unruhige Zeitläufte
erlebt hat. Im Norden zieht sich die Strasse nach Goyaz hin, die sie oft mit
ihren Ueberfällen beunruhigt haben, im Süden erfolgte der Zuzug der Entdecker
von der Provinz S. Paulo her, und hier wie dort haben langjährige Sklaven-
jagden stattgefunden.
Die Sprache ist wohllautend und für uns anscheinend leicht zu erlernen.
Von Konsonanten fehlt nur f, abgesehen von fatogúro, Speichel, Doppelkonsonanten
sind selten, der Auslaut ist vokalisch. Der Accent liegt im Allgemeinen auf
der vorletzten Silbe. Eine Pluralendung für das Substantivum ist nicht vor-
handen. Die selbständigen Personalpronomina lauten: 1. imi ich, 2. aki du,
3. ema, au er, 4. pagi wir, 5. tagi ihr, 6. emagi sie. Die entsprechenden Pro-
nominalsuffixe für Substantivum und Verbum sind:
1. i-, 2. a-, 3. —, 4. pa-, 5. te-, 6. e-.
Bei ihrem Gebrauche treten verschiedene Formen des Lautwandels und
Einflüsse auf den Stammanlaut zu Tage. Ich gebe ein paar vorläufige Beispiele:
Die Zahlen gehen nach dem Schema der Bakaïrí: 1, 2, 2 ‥ 1, 2 ‥ 2,
2 ‥ 2 ‥ 1, 2 ‥ 2 ‥ 2. 1 heisst mito, 2 pobe. Wenn diese jedoch in den folgenden
Zahlausdrücken erscheinen, so erhalten sie Zusätze, aus denen wir die Pro-
nomina der dritten Person ema und au (dieser) abscheiden können. In der 3
ist noch die Negationbókua, bokuáre enthalten: pobéma áu metúya (auch metía)
bokuáre und sie scheint zu bedeuten: hier habe ich 2, dort nicht mehr als 1.
4 pobéma aúgüre pobe hier zwei, dort auch zwei, 5 pobéma aúgüre pobéma áu
metúya bokuáre, 6 aúgüre pobéma aúgüre pobéma aúgüre póbe. Mit Körnern wurde
die Zweier-Häufchenbildung genau ebenso wie bei den Bakaïrí gemacht und
wurden ebenso die Finger jedesmal zu Rate gezogen. Mein Wunsch, die Zahlwörter
zu erfahren, wurde immer und ausnahmslos so gedeutet, als ob ich eine Auf-
zählung der Verwandten wünsche. Der Betreffende schlug sich auf die Brust,
sagte »ich« und zählte Mutter, Vater, Mädchen, Junge mit oder ohne Beifügung
von 1 und 2, indem er dabei jedem Finger ein Familienmitglied zuordnete.
Ob die Finger als solche Verwandtennamen haben, konnte ich nicht erfahren;
ich glaubte im Anfang der Daumen sei Mutter, bin darin aber irre geworden,
[518] da jede Person andere Angaben machte und sich auf seine besonderen Familien-
verhältnisse bezog. Hier lag ganz offenbar ihr Hauptinteresse am Zählen. Ich
stelle mir deshalb die Entwicklung auch hier so vor, dass man eine Anzahl
Personen an den Fingern markierend vorgeführt, dabei sei es Demonstrativa,
sei es Pronomina, was ja für den Anfang auf eins hinausläuft, angewandt
und die Grenze für 2 nicht an der Hand, sondern an den Dingen durch
Zerbrechen eines Dings in zwei Teile bestimmt und auf die Finger rechnend
übertragen hat.
[[519]]
XVIII. KAPITEL.
Nach Cuyabá und heimwärts.
Wie sich unserem Marsch zum Paranatinga ein schutzbedürftiges schwarzes
Liebespaar angeschlossen hatte, so hatten wir beim Aufbruch von Thereza
Christina die Gesellschaft eines jungen indianischen Paares. Unser Antonio war
von einer Bororó-Witwe, die ihm einen fünf- oder sechsjährigen Jungen mit-
brachte, zur Ehe bestimmt worden; er selbst schien wenig Wert auf die Kom-
bination zu legen, hatte aber nichts dagegen, dass sie ihn begleite und in seine
Hütte am Paranatinga einziehe. Sie hiess Rosa und war die Indianerin, die am
besten Portugiesisch radebrechte; sie gehörte zu den Gefangenen Duarte’s, durch
deren Vermittelung die Unterwerfung des Stammes und der Beginn der Katechese
erreicht worden war. Wie eine Soldatenfrau wohlgekleidet, mit einem Bündel
bepackt, ihren Jungen an der einen, ein Beil in der andern Hand, tauchte sie
einen Kilometer jenseit der Kolonie aus dem Walde auf, doch war sie nicht
allein. Maria wollte auch mit, und auch die beiden Jünglinge Parigudo und
Lekupatscheba wollten mit. Wir glaubten erst, sie wünschten die scheidende
Freundin ein Stück Weges zu begleiten, allein es zog sie weiter nach Cuyabá.
Denn plötzlich stürzte, mit Pfeil und Bogen bewaffnet, Domingo herbei, packte
Maria, warf sie zu Boden und suchte sie zurückzuhalten. Doch die gewandte
Ringkämpferin entrann ihm und lief an uns vorüber und voraus mit dem Rufe
»ich will mit euch gehen, ich will nicht bei diesen Indianern bleiben!«
Niemand holte die Deserteure zurück. Ihre Ausrüstung war recht be-
scheiden für einen langen Marsch. Sie betrachteten es als selbstverständlich, dass
wir sie unterhielten und hatten nichts von Proviant mitgenommen. Bekleidet
waren die beiden Männer mit einem kurzen Hemd, einer Perlenschnur und je
einem halben, brüderlich geteilten Taschentuch um den Hals. Kein Messer,
keine Waffen. Maria wanderte im langen, mit grossen blauen Blumen bedruckten
Nachthemd des Apothekers, einen Kamm im Haar und Diamanten im Ohr-
läppchen. Das Ehepaar kümmerte sich kaum umeinander.
Doch erreichte die Hochzeitsreise einen frühen Abschluss. Am dritten Tage,
dem 21. April, blieben die Indianer in S. José. Für Parikudo und Lekupatscheba
[520] waren wir plötzlich nicht mehr vorhanden, sie richteten sich häuslich bei dem
Fazendeiro ein, der ihnen gern — es konnte ja angeschrieben werden — Alles
lieferte. Die Frauen fanden leicht Jemanden, der sie aufnahm. Frau Rosa er-
klärte ihrem Gatten, sie bleibe bei dem Arriero Mandú. »Mandú giebt mir
Essen, Beil, Hut, Messer, Reis, Bohnen, Palmnüsse, Bananen« und weiter in
langer Aufzählung. Das dünkte Antonio denn doch offenbar wider die Absprache,
er war verstimmt und kaufte sich auf der nächsten Fazenda eine Flasche Schnaps,
die ihn tröstete. Indessen darf ich gleich anfügen, dass er seinem Schicksal
nicht entging. Anderthalb Wochen später meldeten sich die beiden Jünglinge
und Rosa mit Kind in unserm Hause. Sie sahen alle sehr schlecht aus und
husteten. Die Widerstandsfähigkeit der Indianer, sobald sie nicht auf ihre ge-
wohnte Art leben, ist unglaublich gering. Maria sei zurückgeblieben und habe
sich verheiratet. Parikudo und Lekupatscheba machten dem Präsidenten und
Donna Carmina ihre Aufwartung und waren von dem Erfolg befriedigt. Sie
spazierten nun, noch ein wenig schämig, aber doch sehr vergnügt durch die
Strassen, barfuss, Strohhütchen auf den dicken Köpfen, in weissen Leinenbein-
kleidern und schwarzseidenen Jackets mit Uhrketten.
Rosa blieb bei Antonio. Hoffentlich ist sie mit ihm in dem von ihrer
Heimat recht weit entfernten Paranatingadorf glücklich angekommen und hat
ihr Junge mit der durchbohrten Unterlippe inzwischen ein Brüderchen erhalten,
dem die Nasenscheidewand durchstochen wird.
Ich kann nicht besser abschliessen als mit dieser aussichtsvollen Vereinigung
von Bakaïrí und Bororó, der Stämme, die uns am meisten beschäftigt haben.
Ueber das kleine Familienbildchen hinaus freilich erscheint die Zukunft der
beiden Stämme in trübem Lichte. Ob die politische Umwälzung in Brasilien zu
ihrem Vorteil ausschlägt, vermag ich nicht zu beurteilen. Vielleicht ist ihrer
Erdenlaufbahn durch die neuen Verhältnisse, bei denen gerade das Militär stark
beteiligt ist, eine kurze Gnadenfrist gewährt. Danach aber werden sie ebenso
zu Grunde gehen, wie der Wildstand in der Umgebung aufblühender Industrie-
städte. Wer an die Möglichkeit glauben könnte, dass sich der Wisent im Wald
von Bialowicza von selbst in ein Hausrind umwandle, der würde kaum weniger
thöricht sein als Jemand, der zu der innern Umwandlung durch die Katechese
in einer brasilischen Soldatenkolonie Vertrauen hätte.
Am 24. April trafen wir wieder in Cuyabá ein. Hier löste sich die Ex-
peditionsgesellschaft auf. Vogel war überhaupt nicht mit uns zurückgekehrt;
er hatte vom S. Lourenço aus mit dem Kapitän Serejo einen geographischen
Aufklarungsritt in der Richtung nach St. Anna de Paranahyba unternommen, um
einen kürzeren Weg als den bisher üblichen zwischen diesem Orte und der
Hauptstadt festzulegen. Wilhelm und ich verliessen Cuyabá mit dem Maidampfer,
während Vogel mit einem späteren folgte und Ehrenreich, der noch ein Jahr
in Brasilien verweilen wollte, mit den stets getreuen Kameraden Carlos und Peter
über Land nach Goyaz zog und hier seine Fahrt den Araguay hinab unternahm.
[521]
Einen lehrreichen und vergnügten Monat verbrachten mein Vetter und ich
noch in der Provinz Rio Grande do Sul, wo uns das Herz aufging, als wir
von einer »Schneiz« zur andern »Schneiz« reitend die fleissig schaffenden Lands-
leute besuchten und den Segen ihrer Arbeit und die Fülle des Kindersegens ge-
wahrten. Mit Trauer gedenke ich des Angesehensten unter ihnen, den inzwischen
ein vorzeitiger Tod ereilt hat, ihres Führers Karl von Koseritz; er besass
einen Schatz von indianischen Altertümern und war unermüdlich bestrebt, was
der Kolonist von Scherben und Steingerät zu Tage förderte, vor dem Untergang zu
retten. Eine kleine, aber auserlesene Sammlung lernten wir bei den Jesuiten
von S. Leopoldo kennen, und ich möchte wohl wünschen, dass sie mit derselben
verständnisvollen Liebe fortgesetzt und vermehrt werde, mit der sie angelegt
worden war.
Im Juli kamen wir nach Rio de Janeiro. Ich erstattete Bericht in der
Geographischen Gesellschaft und empfahl mit dringenden Worten Ihrer Kaiser-
lichen Hoheit, der anwesenden Prinzess-Regentin, das Schicksal ihrer neuen
Unterthanen. Sie hatte wenige Wochen vorher das Dekret der Sklavenbefreiung
unterzeichnet, und die Gesellschaft fiel mit begeistertem Zuruf ein, als ich die
naheliegende Nutzanwendung für die armen Teufel zog, die einst die Herren
des Landes waren. Noch sehe ich sie lachen, als ich erzählte, dass die Bakaïrí,
wenn sie mit ihrem Häuptling unzufrieden sind, das Dorf verlassen und ihn bitten,
doch allein zu regieren; keiner der kleinen Scherze, die der Bericht über die
Sitten der Ureinwohner enthalten musste, fand lebhafteren Anklang bei der Ver-
sammlung.
Und noch eine Wendung in jenem Vortrag erscheint mir heute in be-
sonderm Lichte. Wenn Keri, der »Imperador« in Rio de Janeiro stirbt, sagten
die zahmen Bakaïrí, so sterben alle Bakaïrí. Jenseit des Meeres, ein Vertriebener,
ist Keri gestorben. Keri ist tot und wird tot bleiben, weil für ihn kein Platz
mehr ist in der neuen Welt. Die Bakaïrí aber werden bald da anlangen, wo
sie ihrer Schöpfungssage gemäss beim Beginn der Dinge waren — »Bakaïrí hat
es immer gegeben, im Anfang aber waren es nur sehr wenige« — und ihr Ende
wird in der That dem Keri’s nur mit einer Verspätung von wenigen Generationen
folgen. Ihr erster Geschichtsschreiber Karilose ist wohl ihr letzter gewesen.
itahé-ura »ich gehe«.
[[522]][[523]]
Anhang.
I. Wörterverzeichnisse
der
1. Nahuquá, 2. Yanumakapü-Nahuquá, 3. Mehinakú, 4. Kustenaú,
5. Waurá, 6. Yaulapiti, 7. Auetö́, 8. Kamayurá, 9. Trumaí,
10. Paressí, 11. Bororó.
Die nachfolgenden Listen, die ich möglichst gleichmässig angelegt habe,
beschränken sich auf Substantiva, die persönlichen Fürwörter der ersten und
zweiten Person, Farben, Zahlen, Negation. Mit allem Uebrigen würde ich mich
notwendig auf grammatikalische Erörterungen einzulassen haben, die hier zu
weit führen würden. Auch habe ich deshalb von aller Vergleichung absehen
müssen. Wer sich mit den Wörtern etwas näher beschäftigt, wird leicht eine
Anzahl von regelmässigen Formen des Lautwandels erkennen und sich von der
wichtigen Thatsache überzeugen können, dass in den verschiedenen Gruppen
— namentlich schön im Vergleich des Auetö́ und Kamayurá mit der Lingoa
geral — dieselben Erweichungsvorgänge der Stammanlaute sich abspielen, die
ich für das Bakaïrí und die karaibischen Idiome dargelegt habe. Ueberall,
scheint es, kommen wir mit gesetzmässiger Sicherheit auf die drei Reihen der
p-, t- und k-Anlaute als den ältesten Besitz der Grundsprachen.
Die Schreibung ist möglichst einfach gehalten. Zu bemerken nur:
- å englisches a in walk.
- y wie in York.
- v deutsches w.
- χ gutturaler Reibelaut, unser deutsches, am mittlern Gaumen ge-
bildetes ch. - š französisches ch.
- s französisches ç.
- z französisches z.
[524]
- ϑ englisches th.
- λ (Nahuquá) schwieriger Laut, zwischen gl und ri, ist stets silben-
bildend und gleich einem r + reduziertem Vokal. - t̥, p̥ bedeutet, dass diese Konsonanten, wie gelegentlich auch durch
Einklammerung dargestellt wird, kaum hörbar sind. - Tilde ~ bedeutet Nasalierung.
1. Nahuquá.
Wo der Accent nicht angegeben ist, wird die vorletzte Silbe betont.
- Zungeûuru.
- Zahn uvire, uvíλ.
- Mund untáλ.
- Oberlippe uvóturu.
- Unterlippe uirátizo.
- Nase uínataλ, uvinátaλ.
- Nasenloch uínataλ atáλ.
- Auge uvínuru, uvíuru.
- Ohr uváñaλ, uvanari.
- Ohrloch uvánaλ atáλ.
- Ohrläppchenloch uvípopüλ.
- Kopf uvíterö, uavíteru.
- Stirn uvínetö.
- Kopfhaar uakávuru.
- Brauen uvitápitsö.
- Wimpern uvinopitsö.
- Schnurrbart uvópitsö.
- Kinnbart uvíkopitsö.
- Hals utínaλ, uvíratu.
- Nacken utína[ν].
- Kehle (auf Schildknorpel) ukáñoru.
- Kehle (über Schildknorpel) uvítöλ.
- Brust utilóvuru, uvalohúru.
- Brustwarze ♂ uvanátöλ.
- Brustwarze ♀ itau anátöλ.
- Bauch utévuru.
- Nabel uvónitö.
- Penis uvori.
- Scrotum uvinyotíto.
- Pudenda ♀ itau iröri, öλ.
- After uvuru.
- Oberarm uvíkuru.
- Ellbogen uveritsóuru.
- Unterarm = Oberarm.
- Hand uvinátöri, uîátöri öritáλ.
- Handfläche uvìátöri öritáλ.
- Handrücken uvîátöri tovuro.
- Finger = Hand.
- Daumen uîátöri otó.
- Zeigefinger „ izéporo.
- Mittelfinger „ „
- Ringfinger „ „
- Kleinfinger uîátöri inyúkuru.
- Fingernagel uviñúpiri, uvìyóbira.
- Oberschenkel uvitö, uvitå.
- Knie uvíripaλ, uvípaλ.
- Unterschenkel uvútizo.
- Ferse utámötizo.
- Fuss utápüλ, utápüri.
- Fussrücken utápüλ tovuro.
- Sohle utápüλ öritáλ.
- Zehe = Fuss.
- Zehe I—V wie die Finger mit utápüri.
- Zehennagel ulämbíλ.
- Haut uviyå, uviyo.
- Knochen upüri.
- Sonneiti, liti, riti.
- Osten iti iminalele.
- Mittag kápura iti atá.
- Westen iti kohotži.
- Mond nune.
- Tag mínere mítuta.
- Nacht ukahurutile.
- Stern tuté, dindínhoko.
- Himmel kavü, kχavu.
- Regen konóoho, kχôóovo.
- Regenbogen okoto.
- Gewitter ižilo.
- Wind vite.
- Rauch irítitse.
- Feuer itó.
- Salz aravö, aragu.
- Wasser, Fluss tuna.
- Tümpel tunaka.
- Berg uu.
- Wald isú.
- Stein tävu, tehu.
- Erde noro, õro.
- Weisser Thon eúne.
- Quarz kururi.
- Vaterapa.
- Mutter ama.
- Sohn umuru, muru.
- Tochter uindíze.
[525]
- Grossvater ápitsi.
- Grossmutter apitsí (?).
- Vaterbruder áuva.
- Aelterer Bruder uiñano.
- Jüngerer Bruder uíze.
- Schwester uirantsu.
- Mann utotu, utoto.
- Weib itau.
- Knabe utoto iñúrui.
- Mädchen itau iñúrui.
- Säugling inyuru.
- Häuptling anetö, anétene.
- Medizinmann vüáti.
- Medizin ome.
- Fremder karáiba.
- Bogentauvaku, tavákuru.
- Pfeil hüré, χüré (s. Ubárohr).
- Kanu vuevu, ävu.
- Ruder etene.
- Reuse utu.
- Fangkorb kunto, kuso, kuntu.
- Steinbeil üh …, ü (Mund geschlossen).
- Messer kuzé.
- Schabmuschel váetä.
- Wühlklaue von Dasypus gigas arura.
- Wundkratzer ivini.
- Farbe, schwarze tiva.
- Hausine, üne.
- Dorf (?) auáveto.
- Festhütte kuákutu.
- Hängematte ätire, uvítira.
- Schemel urí (Affenschemel).
- Kalabasse tava.
- Kuye, grosse kuaro.
- Kuye, kleine utuku, tuéginya.
- Oelkuye kutšivuru.
- Oel nyukau.
- Beijúschüssel alato.
- Topf, grosser avúkuru.
- Topf, mittelgrosser atare, atâe.
- Topf, kleiner naúko.
- Topfuntersatz untari.
- Reibholz für Mandioka nyari, nyaλ.
- Beijúwender kutiro.
- Siebfilter tuavi.
- Korb aurítsa.
- Körbchen otuti.
- Buritíkorb akánavi.
- Tragkorb azagu, azangu.
- Bratständer oro.
- Feuerfächer túrinya.
- Strick uvíyari.
- Baumwollfaden ureunai.
- Spindel vola.
- Kamm vanta.
- Sein Bambushalter vantávo (ivo).
- Weiberdreieck etuni, etori.
- Steinkette uruká.
- Muschelperle iñu.
- Thonkette elínye.
- Orthalicus-Muschel óike.
- Rohrdiadem kuleku.
- Strahlenförmiger Aufsatz dazu arahapa.
- Flöte kuluta, karuto.
- Pansflötchen atala.
- Rassel (auch Fussklappern) anke.
- Ihr Bambusstiel ivútizo.
- Schwirrholz matavu.
- Netztanz eremo.
- Rundtanz im Flötenhaus amakakati.
- Tanz okítavo.
- Makanari akanari.
- Maske yakuikato.
- Bild, Figur utoho, hutoyo.
- Brüllaffekavuru.
- Makako kayö́.
- Fledermaus, grosse ayua.
- Fledermaus, kleine (?) kuvi.
- Jaguar ikere.
- Fischotter taro.
- Kapivara paküriza.
- Agutí akuri.
- Ameisenbär, grosser ariri.
- Ameisenbär, kleiner tuavi.
- Reh ahátara.
- Sumpfhirsch azá.
- Kaitetúschwein ikine.
- Tapir uyali.
- Arara alala.
- Papagei (blauköpfig, gelbe Wange)
kurítsata. - Perikito kuaku.
- Mutung kurzu.
- Mutum cavallo pai.
- Kaiman tavina.
- Flusschildkröte vikutava, ale.
- Landschildkröte ayué.
- Schlange ekä.
- Kröte azuti.
- Fisch kara, kana (fast káhana).
- Hundsfisch avi.
- Piranya akuakuẽre.
- Mereschu irinko, iru, ino.
- Rochen tivali.
- Biene avékera.
- Ameise, fliegende krake.
- Karapato karinieka.
- Moskito atake.
[526]
- Holz, Baumi.
- Mais aná.
- Maishülse anaλpé.
- Mandioka vätä.
- Püserego-Getränk kuiliku.
- Pogu-Getränk tiližinya.
- Beijú, grober ikine.
- Beijú, feiner kuelinyu.
- Igname, Kará navi.
- Batate aniza.
- Bohne kuata.
- Pfeffer homi, vome.
- Jatobá uvari.
- Mangave katura.
- Pikí intse.
- Bakayuva-Palme kuvuru.
- Burití-Palme ikeni.
- Tabak teninya.
- Baumwolle torókire.
- Bambus toala, ivo.
- Ubárohr vüré (vgl. Pfeil).
- Sapégras inyé.
- Lanzengras ropa.
- Zweig beim Eremotanz (duftend) keyita.
- ichúrei.
- du uäre.
- wir ukure.
- ihr emuru.
- rottekavísinya.
- gelb (inyunkau Pikíöl).
- weiss tövérilinya.
- schwarz tuvurutinya.
- blau, grün tokumélinya, tukumílinyo.
- braun (izomaniza).
- 1 áletši.
- 2 atake.
- 3 etila.
- 4 tatakéreni, atakéreni.
- 5 anyátori.
- 6 aletš-ingkuétovo.
- 7 aták-ingkuétovo.
- 8 etila ingkuétovo.
- 9 tatakren-inkuétovo.
- 10 etímövo.
- 11 áletši vuro
- 12 atake vuro
- 13 etila vuro
- 14 takreni vuro
- 15 anyate vuro
- 16—19 = 11—14 am linken Fuss.
- 20 etímovo vuro.
- Negationavüte.
2. Yanumakapü-Nahuquá.
Ich habe für den Vergleich mit den Nahuquá unseres Dorfes von dem
Mann im Auetö́hafen (vgl. Seite 127) die folgenden Wörter für Körperteile ab-
gefragt. Accent, wo nicht angegeben, auf der vorletzten Silbe.
- Zungeunuru.
- Zahn uire.
- Lippe uiraatize.
- Nase uinatari.
- Nasenloch uinatari atari.
- Auge uinuru.
- Ohr uvanari.
- Ohrloch uvanari atari.
- Kopf ūritöri.
- Stirn uvinite.
- Kopfhaar unakavuru.
- Tonsur uripoket-tevöre.
- Brauen uinitapitse.
- Wimpern uinopitse.
- Wangenbart uvanatapitse.
- Schnurrbart uvopitse.
- Kinnbart uvikapitse.
- Hals utíinári.
- Nacken uvuru (vgl. After).
- Kehle uvitöre.
- Achselhöhle uiyatare.
- Brust utilavuru.
- Brustwarze ♂ uanatöri.
- Rücken utovuro.
- Bauch utävuru.
- Nabel uvonita.
- Penis uvöri.
- Scrotum uiñotite.
- Pudenda ♀ itau iröri, die Frau: uiröri.
- After uvuru.
- Schulter ũatari.
- Oberarm + Unterarm uikuru.
- Ellbogen uariporuru.
- Hand uiñatöre.
- Handfläche, rechte Hand uiñatör-ítovúru.
- Handrücken, linke Hand uiñatör-éritári.
- Finger uiñatöre.
- Daumen uiñatöri otó.
- Zeigefinger uiñatöri erivaköri.
- Mittelfinger uiñatöri erivaköri.
- Ringfinger uiñatöri erivaköri.
- Kleinfinger uiñatöri emukuru.
- Fingernagel uinyambire.
- Oberschenkel uvita.
[527]
- Knie uíripanári.
- Unterschenkel uvutize.
- Ferse utamotize.
- Fuss utapüre.
- Fussrücken, rechter Fuss utapür-ítovúru.
- Sohle, linker Fuss utapür-éritárö.
- Zehe utapüri, I—V wie bei den Fingern.
- Zehennagel ulómbire.
- Haut uvigo.
3. Mehinakú.
Wo der Accent nicht angegeben ist, wird die vorletzte Silbe betont.
- Zungenunei.
- Zahn nuteve.
- Mund nukirabi.
- Nase nukiri.
- Nasenloch nukiriako.
- Auge nutitái.
- Ohr nutuló.
- Ohrloch nutulunako.
- Kopf nuteu.
- Stirn nuhehekira.
- Kopfhaar nuteukahe.
- Brauen nuyuhimiepe.
- Wimpern nuyuhiya.
- Schnurrbart nukiržamapi, nukiržaapienu.
- Kinnbart nupulanuma.
- Hals nupiu.
- Kehle malula.
- Brust nupanatako.
- Brustwarze ♂ nuhete.
- Brustwarze ♀ teneržu ihé.
- Rücken nutanaka.
- Bauch nitšikiu.
- Nabel nutukunate.
- Penis nupei.
- Scrotum nukunyutapa.
- Pudenda ♀ irža, īte (Mund geschlossen).
- Schamhaar niapüku.
- After nikiute.
- Schulter nuhenepu.
- Oberarm nuana.
- Ellbogen nuanatupuru.
- Unterarm + Handfläche nuanatotako.
- Unterarm + Handrücken nukanutapa.
- Hand nukapu.
- Handfläche nuržikutako.
- Handrücken nukanutapa, nukapupenu.
- Finger nukapüteu.
- Fingernagel nuhupatata.
- Oberschenkel nuputi.
- Knie nikietu.
- Schienbein nunapü (Knochen).
- Wade nukati.
- Unterschenkel vorn nukatikiri.
- Ferse nutipulu.
- Fuss mukiϑapa.
- Fussrücken nukiϑapapenu.
- Sohle nukiϑapataku, nukiržapataku.
- Zehen nikitsíu.
- Zehennagel nuhupatata.
- Haut numái.
- Knochen inapü.
Von Fischen:
- Piranya-Zähne yakuakumá iteve.
- Bagadú-Lippen yumá keržapi.
- Bagadú-Bartfaden yumá pulanuma.
- Bagadú-Kiemen yumá kulaúrza.
- Piranya-Augen yakuakumá inutitái.
- Bagadú-Vorderflosse yumá iyuta.
- Bagadú-Rückenflosse I yumá (i)vauyatu.
- Bagadú-Rückenflosse II vauyatu zapu-
tama. - Piranya - Rückenflosse yakuakumá
(i)vauyatu. - Piranya-Schwanz yukuakumá inépiu.
- Bagadú-Haut yumá umái.
- Bagadú-Gräte yumá inapü.
- Bagadú-Blut yúma in(u)ržaya.
- Bagadú-Leber yumá inupana.
- Rochenstachel yapu nukula.
- Sonnekame.
- Osten kame yehitsa.
- Mittag kama tirizüka.
- Westen yeipiene.
- Mond kerži.
- Stern kalonte, kapuhe.
- Tag muyakale.
- Nacht mutivaka.
- Himmel enunako, enu.
- Regen ōne (Wasser).
- Regenbogen iyepe.
- Gewitter enutsidya.
- Wind hímia.
- Rauch himialai.
- Feuer tséi, tsē.
- Asche alapü.
- Salz echéu, iχüu (stark guttural), eyöu.
- Wasser, Fluss ōne.
- Tümpel yauako, yauaku.
- Hafen unekira, unekiza.
- Erde kähü. Stein tēpa.
[528]
- Weisser Lehm véiki, epitsiri.
- Töpferthon kamalu.
- Vateravayu, papa.
- Mutter mama.
- Sohn nutaí.
- Tochter nutamitsuí, mϑupalo.
- Kind hauká, tai.
- Grossvater ató.
- Grossmutter atširu.
- Mutterbruder uá, húa.
- Aelterer Bruder utapüri.
- Jüngerer Bruder, Vetter uyú, oyí.
- Aeltere Schwester nutapüro.
- Jüngere Schwester irzörzo.
- Schwester nutukakalo.
- Mann erináu.
- Weib teneru.
- Knabe yamukuí.
- Häuptling amunao.
- Medizinmann yatoma.
- Fremder karáipa.
- Bogeniñtái.
- Pfeil ukú.
- Knochenspitze pahü-napü (Affen-
knochen). - Kanu itsá.
- Ruder etene.
- Reuse motu.
- Fangkorb kulutu.
- Fischnetz kapati nái.
- Steinbeil yavái, kleines yavai tai.
- Gürteltierkralle malulö ihupá.
- Schabmuschel ulatapa.
- Wundkratzer piá.
- Hauspai.
- Hängematte amaka.
- Schemel repí, zepí.
- Kalabasse mutuku.
- Kuye pitsa.
- Topf, grosser nukái.
- Topf, mittelgrosser nukahatsái, makula.
- Topf, kleiner makula tai.
- Reibholz f. Mandioka imiá.
- Beijúwender kuté.
- Siebfilter tuapi.
- Korb mayaku, yatalu.
- Tragkorb atamayakula (Waldkorb).
- Bratständer yulakakati.
- Baumwollfaden kuyapi.
- Buritífaden iñati.
- Spindel kuyapitsapa.
- Kamm palatá.
- Wachs mepehidyá.
- Bambusbüchse yanati.
- Weiberdreieckrapalaku.
- Federkrone kalu (Arara).
- Federarmband ituritapa.
- Ohrfederbüschel tuluo(n)té.
- Kopfnetz vaikú.
- Muschel püluhí.
- Flötekolutá.
- Pansflöte vatanatü.
- Grosse Flöte kauiká.
- Rasselkürbis kayapá.
- Fussklapper uvanyu.
- Schwirrholz matapu.
- Buritígehänge zapana.
- Maske munotsi, monotsi.
- Brüllaffekapulu.
- Makako pahö.
- Fledermaus alua.
- Jaguar yanumaka.
- Fischotter uveze.
- Kapivara ipiehü.
- Agutí pekirži, peköžo.
- Riesengürteltier maluló.
- Ameisenbär, grosser yuupé.
- Ameisenbär, kleiner tuapi.
- Reh yutá.
- Sumpfhirsch ayama.
- Tapir täme.
- Vogel marazalo.
- Arara tiržutapa.
- Papagei zakalo.
- Japú kuržima.
- Johó makukáua.
- Jakú malahü.
- Mutung imiumu.
- Riesenstorch vakala.
- Kaiman yaká.
- Eidechse mayuá.
- Leguan ikipiululu.
- Flussschildkröte ipíu.
- Landschildkröte ayué, mazuzalu.
- Schlange ui.
- Fisch kupati.
- Hundszahn uvapi.
- Piranya yakuákumá.
- Bagadú yumá.
- Mereschu kulupé, kulopé.
- Rochen yapu.
- Biene mimí.
- Ameise, flieg. eri.
- Karapato kupá.
- Moskito eyu.
- Holz, Baumata.
- Blatt pana.
- Mais máiki.
[529]
- Mandioka mukurá.
- Mandioka gekocht, zum Trocknen ule-
pieti, ulei. - Püserego-Getränk nukayá.
- Pogu-Getränk oϑikuí.
- Beijú uläpe.
- Igname, Kará paka.
- Batate uhu, oho.
- Pfeffer āi.
- Jatobá uyai.
- Mangave ketula.
- Pikí akái.
- Pikíbrühe akaipié.
- Bakayuva-Palme pebulu.
- Burití-Blatt rapánama.
- Tukum-Palme yáuala.
- Tabak höká.
- Urukú yúiku.
- Baumwolle ayupe.
- Bambus yanati.
- Ubárohr ukú.
- Sapúgras ikiri.
- ichnatu.
- du petsü.
- rotmühiržá.
- gelb veruya.
- weiss hémiri, kisuá.
- schwarz ärži.
- blau, grün ipiulá.
- 1 pauítza, pauítsa.
- 2 mepiáma.
- 3 kamayukule, kamayukula.
- 4 mepiama auaka; patayakáuaka.
- 5 pauitsá urekó, pauitza urzikú (eine
Handfläche). - 6 pauitsá urekó, pauitzá taputá.
- 7 mepiama tavutá, mepiama taputá.
- 8 kamayukula taputá.
- 9 mepiama auaka, patayakáuaka.
- 10 palukaka núržego tavutá; mepiamaka
núržego tavutá; mamala nuržiku. - 11 pauitsa nukítsiu (eine Zehe).
- 12 mepiama nukítsiu.
- 13 kamayukula nukítsiu.
- 14 patayakáuaka nukítsiu.
- 15 pauitsa urzikú nukítsiu.
- 16 pauitsa taputá nukitsiu.
- 17 mepiama taputá nukítsiu.
- 18 kamayukula taputá nukítsiu.
- 19 patayakáuaka taputa nukítsiu.
- 20 mamala taputá nukítsiu.
- Negationahitsa.
4. Kustenaú.
Wo der Accent nicht angegeben ist, wird die vorletzte Silbe betont.
- Zungenunéi.
- Zahn nutévoe.
- Mund nukanati.
- Lippe nukirapi.
- Nase nukiri.
- Nasenloch nukiriako.
- Auge nutitái.
- Ohr nutuló.
- Ohrloch nutulunako.
- Kopf nutéui, atéui.
- Stirn nutuhípiu.
- Kopfhaar nuteukái.
- Brauen nuyuhimiepé.
- Wimpern nuyuhiá.
- Schnurrbart nukizapi.
- Kinnbart nupulanuma, nunumatakapi.
- Hals nupíu.
- Nacken nupiúte.
- Kehle nualulá, nupiunaku.
- Brust nupanatako.
- Brustwarze ♂ nuhite.
- Rücken nutanaka.
- Bauch nutšitšu, nukavatái.
- Nabel nutukuna.
- Penis nupei.
- Scrotum nehulu.
- Pudenda ♀ ēti.
- Schulter nuϑinepu.
- Oberarm nuaná.
- Ellbogen nuatipulu.
- Unterarm, Rücken nukanutapa.
- Unterarm, Vorderseite nuanazataku.
- Hand nuiriko.
- Handfläche nukakitíui.
- Handrücken nukanutapa.
- Finger nukapitíu.
- Fingernagel nupatatá.
- Oberschenkel nuputi.
- Knie nikietu.
- Unterschenkel nukati.
- Ferse nutipulu.
- Fuss nukitsapa.
- Fussrücken nukitsapa.
- Sohle nukitsapatako.
v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 34
[530]
- Zehen nukitsíui.
- Haut numái.
- Knochen anapi.
- Sonnekami.
- Mond keri.
- Stern kalute.
- Himmel enutaku.
- Wolke ōne.
- Regen ōne.
- Feuer tséi.
- Salz héu.
- Wasser ōne.
- Vaterpapá.
- Mutter māma, mamá.
- Kind nutái.
- Grossvater atú.
- Grossmutter atší.
- Mutterbruder uá.
- Aelterer Bruder ezotapi.
- Jüngerer Bruder, Vetter nisere.
- Schwester nizeru.
- Mann enira, eniza.
- Weib tineru.
- Häuptling amunao.
- Medizinmann yatoma.
- Fremder karáipa.
- Bogenintai.
- Pfeil neita.
- Kanu itsá.
- Ruder etene.
- Steinbeil ápi.
- Wundkratzer piuá.
- Hauspāe, pāi.
- Hängematte amaká.
- Tuch amakaruti.
- Topf, grosser nukái.
- Topf, mittelgrosser makula.
- Topf, kleiner makula tai, nukanϑái.
- Kalabasse mutuku.
- Kuye pitsa.
- Beijúwender utäze.
- Kamm palatá.
- Weiberdreieck zapalakú.
- Flöte kulutu.
- Maske munotsí, koahalu.
- Brüllaffekapulu.
- Makako pahö.
- Fledermaus alua.
- Jaguar yanumaka.
- Ameisenbär yuupé.
- Reh yutá.
- Tapir täme.
- Papagei zakalo.
- Japú kurzima.
- Jakú marlahi.
- Kaiman yaká
- Fisch kupati.
- Piranya yakuakumá.
- Mereschu kulupéi.
- Holz, Baumata.
- Blatt pana.
- Mais maíki.
- Mandioka uléi.
- Mandioka, gekocht tepiratí.
- Püserego-Getränk nukayá.
- Pogu-Getränk uϑikuí.
- Beijú uläpe.
- Igname paka.
- Batate uhú.
- Pfeffer āi.
- Mangave yetula.
- Pikí akani.
- Bakayuva-Palme pebulu.
- Tabak höká.
- Baumwolle ayupe.
- Bambus yenati.
- ichnato.
- du pitsü.
- rothemirzá.
- gelb (ipiulá), imi (?).
- weiss kisuá.
- schwarz ärze.
- blau, grün pülatirzo, ipiulá.
- grau tiuinai.
- 1 pauá.
- 2 mepiama.
- 3 kamaukula.
- 4 mepiama auaka.
- 5 paua uzikú.
- 6 papalukaka.
- 7 mepiama taputá.
- 8 kamaukulá taputá.
- 9 mepiama auaka taputá.
- 10 paua uzikú taputá.
- 11 pauá taputá nukitsíui.
- 12 mepiama taputá nukitsíui.
- 13 kamaukulá taputá nukitsíui.
- 14 mepiama auaka taputá nukitsíui.
- 15 ekuma nehimakama.
- 16 papáluka nehimaka.
- 17 mepiama nehimaka.
- 18 kamáukulá nehimaka.
- 19 mepiama auaka nehimaka.
- 20 kumá nehimaka.
- Negationaitzá.
[531]
5. Waurá.
Wo der Accent nicht angegeben ist, wird die vorletzte Silbe betont.
- Zunge1. nunéi, 2. pinyéi.
- Zahn 1. nitseve, 2. pitseve.
- Mund nukirapi.
- Nase nukidzi.
- Auge 1. nutitái, 2. purzitái.
- Ohr 1. nutulú, 2. pitsulu.
- Ohrloch nutulunago.
- Kopf nuteurzata.
- Stirn nutuetyu.
- Kopfhaar nuteve.
- Tonsur eheržeke.
- Brauen nuzuhemiepé, nužiepé.
- Wimpern nuziá.
- Schnurrbart numapi.
- Kinnbart nupulanumá.
- Hals nupuite.
- Nacken nupununako.
- Kehle nuhalu(n)te.
- Brust nupanataku.
- Brustwarze ♂ nuhé.
- Brustwarze ♀ ziya, zi(n)ya.
- Bauch nutsitšu, nitsítyu.
- Nabel nutukunate.
- Penis nupeze.
- Scrotum nukuntapa.
- Pudenda ♀ etinabu, piuereti.
- After nizityáu.
- Oberarm 1. nuana, 2. piyana.
- Ellbogen nuanhemidyá.
- Hand nukapi, nukabü.
- Handfläche nuržikutago.
- Handrücken nukanutaba.
- Finger nukapi tinyemidyá, nukapitúi.
- Fingernagel nuhupárata.
- Oberschenkel nupute.
- Knie nikyetu.
- Schienbein nunabü (Knochen).
- Unterschenkel, 1. nukate, 2. pitšyati.
- Ferse nutipulu.
- Fuss nukizapa, nikiϑapa.
- Sohle nukirzapatagu.
- Zehe nuparáta, nuhuparáta.
- Zehennagel nuhupárata.
- Haut 1. numái, 2. pimiyái.
- Knochen inapü.
- Sonnekame.
- Osten iputuke.
- Mittag katerereka.
- Westen itapukén, yeipiéne.
- Mond keží, kerí.
- Stern kalunte, kalonte.
- Tag muyakale.
- Nacht mutivaka.
- Himmel enunako.
- Regen uné.
- Regenbogen iyäpe.
- Gewitter enutsítya.
- Wind izímia.
- Rauch simialái.
- Feuer itséi.
- Salz ichüve (stark guttural).
- Wasser une.
- Stein tepá.
- Erde kahiti, kehüté.
- Weisser Lehm epitsitsi.
- Töpferthon kamalu.
- Vaterpapaítsu.
- Mutter mamáütsu.
- Tochter niϑupalo.
- Kind nutái, hauka tái.
- Grossvater batukuzi.
- Grossmutter atsiru.
- Mutterbruder uá.
- Aelt. Bruder utapüri, itapüri.
- Jüng. Bruder, Vetter uyú, tsalái.
- Jüng. Schwester iržeru.
- Mann enyáu.
- Weib teneru, tenezu.
- Knabe enira tái.
- Mädchen tineru tái.
- Häuptling amunao.
- Medizinmann yatuma.
- Fremder karáipa.
- Bogenitái.
- Pfeil ukú, nukula.
- Kanu itsá.
- Ruder etene.
- Reuse mutu.
- Steinbeil äpí, apüí.
- Schabmuschel ulutapa, ulu tái.
- Wundkratzer piúa.
- Hauspae, nupune.
- Hängematte amaka.
- Tuch amakaruto.
- Schemel sepí.
- Kalabasse mutuku.
- Kuye iza.
- Topf, grosser nukái.
- Topf, mittelgr. makula.
- Reibholz f. Mandioka imyá.
- Beijúwender utärse.
- Siebfilter tuapi, tuabi.
34*
[532]
- Tragkorb mayapalu.
- Bratständer yulakakate.
- Baumwollfaden kuapi.
- Spindel tsapa, kuapi-tsapa.
- Stöckchen der Spindel kuapiyati.
- Kamm palata, palatanabü.
- Wachs kerukakí.
- Weiberdreieck zapalaku.
- Tätowierung izepiulá (Zahn-Blau).
- Federarmband ituritapa.
- Steinkette ityuizatabi.
- Pansflöte vatana.
- Fussklapper niϑeyate.
- Maske yakuí, koahahalu.
- Brüllaffekapulu.
- Makako pahö.
- Jaguar yanumaka.
- Kapivara ipiehü.
- Agutí pekörži.
- Ameisenbär yuupé.
- Reh yutá.
- Tapir täme.
- Arara kažuruti.
- Papagei zakaló.
- Japú kuržima.
- Johó makukaua.
- Jakú marlahí.
- Mutung yumú.
- Ente upí.
- Kaiman yaká.
- Leguan ipiétururža.
- Flussschildkröte ipíu.
- Landschildkröte marzuzalo, ayue.
- Schlange uí.
- Fisch kupati.
- Hundsfisch vapi.
- Piranya yakuakumá.
- Mereschu varžai.
- Rochen yapu.
- Biene mimí.
- Ameise, flieg. heri
- Ameise, grosse kutá.
- Moskito eyú.
- Holz, Baumāta.
- Blatt pana.
- Mais máiki.
- Mandioka mukurá.
- Mandioka, gekocht uléi.
- Püserego-Getränk nukayá.
- Pogu-Getränk uzikuí.
- Beijú uläpe.
- Igname paka.
- Batate uhú.
- Pfeffer āi.
- Jatoba uvaii.
- Mangave yetula.
- Pikí akái.
- Bakayuva-Palme vepulu.
- Burití-Palme tsaikyú.
- Tukum-Palme yauala.
- Tabak höká.
- Urukú yúku.
- Baumwolle ayupe.
- Ubárohr ukú.
- Sapégras ikitsi.
- ichnatu.
- du pitsü.
- rotmuhiržá.
- gelb veruyá, veruyayá.
- weiss kizuá, (vuekitži).
- schwarz ärže, (yalaki).
- blau, grün ityualá, yulatiro.
- braun eruyeyakí.
- 1 pauá.
- 2 mepiáua.
- 3 kamaukula.
- 4 pataikato, patapatatyaka.
- 5 paua urzikú.
- 6 pauá taputá.
- 7 mepiáua taputá.
- 8 kaumaukula taputá.
- 9 patayaka taputá.
- 10 ikumá.
- Negationahitsa.
6. Yaulapiti.
Wo der Accent nicht angegeben ist, wird die vorletzte Silbe betont. Es sei
auf die interessanten Fälle von Lautwandel im Verhältnis zu Mehinakú etc. auf-
merksam gemacht. Meh. p erscheint mehrfach als t und r. Vgl. Baumwollfaden,
Siebfilter, Hundsfisch, weisser Lehm, Beijú, Kuye, du, blau etc.
- Zungenunyati, nyati.
- Zahn nutsoa, nutsoe.
- Mund nukirazi.
- Nase nukirze, nukirži.
- Nasenloch nukirze ritunabu.
- Auge nuritá, nulitá.
[533]
- Ohr nutsöra, nutsöre.
- Ohrloch nutinakuleku.
- Ohrläppchenloch nipihíkaláuteitírse.
- Kopf nukuru, nukuržu, nuputákurata.
- Stirn nupalusaka, numunuyate.
- Kopfhaar nuputakuyati.
- Brauen nuyuoporinyo.
- Wimpern nuyeokati.
- Schnurrbart nuakira.
- Kinnbart nuanuma.
- Hals nurhinyuti.
- Nacken nurhinyu.
- Kehle nurhinyureku.
- Brust numurutirže.
- Brustwarze ♂ nuhé.
- Brustwarze ♀ tináu ihé.
- Bauch nitsítyu, nutakö́, numurutaku.
- Nabel nutukunate, nutukunati.
- Penis nupuhi.
- Scrotum nukulu, nukurí.
- Pudenda ♀ tináu itya.
- After nuyauati, iyauati.
- Schulter nuanatinyu.
- Oberarm nuana.
- Ellbogen nuanativulu.
- Unterarm nukanutapa.
- Hand nuiriko.
- Handfläche nuirikutaku.
- Handrücken nukanutapa.
- Finger nukaritsobu, nukalitsobo.
- Fingernagel nukapiratá, (also nukapi).
- Oberschenkel nuputi, nupute.
- Knie nutipulu.
- Unterschenkel nukatinapi (Waden-
knochen). - Ferse nutirzá punuteti.
- Fuss nutižá, nutirá, nuti(r)šá.
- Sohle nutirzávizaku.
- Zehen nutirzubutá, nuti(r)šoputá.
- Zehennagel nutiržubarata, nutirsúparata.
- Haut numá.
- Knochen nunapi, inapi.
- Herz nukainyé.
Vom Fisch:
- Kopf ikuru, ikur(žu).
- Auge inoritá.
- Zähne itsó.
- Mund ikirari.
- Schuppen irata.
- Flossen iuar(ž)a.
- Schwanz ikipina.
- Gräte inapi.
- Sonnekame.
- Mond köri.
- Stern uitsitsi.
- Milchstrasse ityavōnya.
- Himmel ōnyunako.
- Wolke u.
- Regen u.
- Regenbogen anarhi.
- Gewitter enyuitsöka.
- Wind iržinya.
- Rauch dzinyá.
- Tabakrauch airínya (Tabak aíri).
- Feuer zrö, žro (Mund leicht offen,
Unterkiefer zurück). - Salz yutaká.
- Wasser u.
- Stein teba.
- Erde uapöti.
- Weisser Lehm irhitziki.
- Vaterpāpa.
- Mutter māma.
- Sohn nuhāri.
- Tochter niržupalo.
- Kind nuhá, arina.
- Grossvater ato, atú.
- Grossmutter natiro, atši.
- Mutterbruder uá, néua.
- Aelterer Bruder itapüri.
- Jüngerer Bruder, Vetter iržöri, irž(r)öri.
- Jüngere Schwester irzörzo.
- Schwester (tukunati auf den Nabel ge-
zeigt). - Mann örinau, erina.
- Weib tináu.
- Knabe yumól(u)yetsú, yumólyatsú.
- Mädchen tinerutsú.
- Häuptling amulao.
- Medizinmann yatoma.
- Fremder karaí.
- Bogenitá.
- Pfeil ukú.
- Wurfbrett iralaka.
- Wurfpfeil iralaka ukú.
- Kanu iržra, i(r)žra.
- Ruder tåna.
- Reuse mutú.
- Fangkorb kulutu.
- Steinbeil årzi, beinahe örzi, örhe.
- Schabmuschel tunuya.
- Wundkratzer i(r)žiá.
- Hauspa, nupina.
- Hängematte amaka, amakaroti.
- Schemel šråži.
- Kalabasse mutuku.
[534]
- Kuye tidza.
- Topf, grosser makulá, žraúpi.
- Topf, kleiner tibarata.
- Reibholz für Mandioka inyá.
- Beijúwender kutzü.
- Siebfilter tuari.
- Korb mayaku.
- Tragkorb mayapalu.
- Bratständer yulá, yola.
- Baumwollfaden kuyari.
- Spindel kuyazizuku, kuyarziroko.
- Kamm palata.
- Weiberdreieck imanati.
- Tätowierung puhipö́.
- Federarmband (Arara) kalumapi.
- Ohrfeder kuyauiro.
- Perlen zerulatire, otuna.
- Flöte vatanati.
- Fussklapper žreluká.
- Maske yakú, yakuíkatú, koahalu.
- Brüllaffekapulu.
- Makako kurzikurzi.
- Fledermaus alua.
- Jaguar yanumaka.
- Kapivara irüti.
- Agutí pikiri.
- Ameisenbär, grosser uaikiki.
- Ameisenbär, kleiner kayanalu.
- Reh kayutala.
- Sumpfhirsch ayama.
- Kaitetúschwein autú.
- Tapir tsåma.
- Arara kalu.
- Papagei taláu.
- Harpyie kutivirakumá.
- Japú kuma (= Bakaïrí).
- Johó makukáua.
- Jakú kuyuí.
- Jakutinga tumalala.
- Mutung kuyú.
- Mutum cavallo kuyu ityumá.
- Ente upúelyu.
- Ibiyau uvigu.
- Kaiman yaká.
- Leguan iratororo.
- Flussschildkröte irú, irzú.
- Landschildkröte irukumalo.
- Schlange ui.
- Fisch kubati.
- Hundsfisch vari.
- Piranya yakuakumá.
- Mereschu marirityi.
- Rochen yapu.
- Lagunenfisch muluta.
- Biene māpa.
- Honig mapakuma.
- Wachs marpažikibu.
- Moskito makukú.
- Holz, Baumāta.
- Blatt pana.
- Mais máiki.
- Mandioka ula.
- Püserego-Getränk nukaya.
- Pogu-Getränk uluinyé.
- Beijú ularzi, ulari.
- Igname paka.
- Batate müinya.
- Pfeffer āi.
- Jatobá uyá.
- Mangave katula.
- Pikí aká.
- Bakayuva-Palme pipulu.
- Burití-Palme ragugati.
- Tabak airi.
- Urukú iuvira, (yuku).
- Baumwolle aliupö, ayupö.
- Bambus yanati.
- ichnato.
- du tezo, tero.
- rotkabutsaká.
- orange kabutsakaye.
- gelb dzirutuná.
- schwarz (a)öri, (a)ö́riya.
- weiss kömetiká.
- blau, grün tsirulá, dzirulá.
- 1 pauá.
- 2 purzinyama (Trumaí hurs).
- 3 kamayukula.
- 4 purzinyam-ipakú.
- 5 pa-uíriku (= 1 Hand).
- 6 pau-ikirutá.
- 7 purzinyam-ikirutá.
- 8 kamayukul-ikirutá.
- 9 purzinyam-ipakú-ikirutá.
- 10 papálukaka-uíriku.
- 11 tiržal-ikirutá (Zehe I links).
- 12 tiržalí purzinyam-ikirutá.
- 13 tiržalí kamayukul-ekirutá.
- 14 tiržali purzinyam-ipakú-ikirutá.
- 15 pauá tiržali (= 1 Fuss).
- 16 tiržal-ikirutá pauá.
- 17 tiržal-ikirutá purzinyama.
- 18 tiržal-ikirutá kamayukutá.
- 19 tiržal-ikiruta purzinyam-ipakú.
- 20 papálukaka-tiržali.
- Negationātsa.
[535]
7. Auetö́.
Wo der Accent nicht angegeben ist, wird die letzte Silbe betont.
- Zungeintengu.
- Zahn indái.
- Mund intembe.
- Nase iambü(i).
- Nasenloch iambüinkuát.
- Auge iteta.
- Ohr intenyambe.
- Ohrloch intenyambükuat.
- Kopfhaar iap, yeap.
- Tonsur heapöteokavut.
- Brauen itetaapeap̥.
- Wimpern intombemboa.
- Schnurrbart itiap.
- Kinnbart iampotap, 3. ambotap.
- Hals itulebembo.
- Nacken iaturapü.
- Kehle iaikuat.
- Brust ipožeat.
- Brustwarze ♂ inkam.
- Brustwarze ♀ kunya-inkam.
- Bauch itöa.
- Nabel ipülup.
- Penis ituöp.
- Scrotum itupia.
- Eier nupia.
- Pudenda ♀ kunya-yaonsi.
- After ipinkuat.
- Schulter ia(e)rüp.
- Oberarm iköva.
- Ellbogen iköveampat.
- Hand ipo.
- Handfläche ipouva.
- Handrücken ipoape.
- Finger ipü.
- Fingernagel imboa.
- Oberschenkel iup̥.
- Knie impöa.
- Unterschenkel intendema.
- Ferse ipütatsik.
- Fuss ipokut.
- Fussrücken ipöape.
- Sohle ipörova.
- Zehe ipökut.
- Zehennagel impönta.
- Haut ipit.
- Knochen nâkañmut.
- Feder uvai.
- Fischzähne ipira-ái.
- Fischwirbel ipira-aguái.
- Flosse nampepo.
- Pintado-Schwanz turuí-vái.
- Sonnekuat.
- Mond tatü.
- Stern tata-yöt.
- Himmel hüvapit.
- Wolke aman.
- Regen aman.
- Regenbogen teüp.
- Gewitter tompa.
- Wind ivüt̥.
- Rauch taranšing.
- Feuer tara.
- Asche taruaipuk.
- Salz toket, toköt.
- Wasser ü.
- Fluss üito.
- Lagune uatu.
- Stein küta, köta‥
- Erde ntaái, ûtái
- Weisser Lehm tuin-tžing, toventsin.
- Töpferthon taum.
- Vaterapái.
- Mutter ange.
- Sohn tatsiüt.
- Tochter imembüt.
- Kind imembüt.
- Grossvater atu.
- Grossmutter atši.
- Mutterbruder awawai.
- Aelt. Bruder itererup.
- Jüng. Bruder, Vetter iteuit.
- Schwester itutet.
- Mann kaminuat.
- Weib kunya.
- Häuptling morekuat.
- Medizinmann mupa.
- Fremder karaí.
- Bogenrapat̥.
- Pfeil uöp.
- Wurfbrett yauari, yauari-mopátap.
- Wurfpfeil yauari-uöp.
- Kanu maambe, maampe.
- Ruder entene.
- Reuse tsia, tšia.
- Fangkorb kulutu.
- Meissel amakutaba.
- Steinbeil kü (Mund geschlossen), kööp̥.
- Steinhammer keta-yöt.
- Mandiokagraber töt.
- Mörser hengua.
- Schabmuschel tut̥.
- Schabmuschel, grosse köñta.
[536]
- Schabmuschel, kleine karayave, köñtan-
yet, köñtampukut. - Wundkratzer tatšitap.
- Hausok.
- Festhütte ototá(me).
- Thüre ontenepü.
- Hängematte hene, hene(i), ini.
- Tuch inimbit̥.
- Schemel apükap.
- Kalabasse kuyañómet.
- Kuye, grosse ü-a.
- Kuye, kleine a-yöt, mempea.
- Oelkuye katulaa.
- Beijúschüssel taampütsi.
- Topf, grosser makula-atu.
- Topf, mittelgr. makúla.
- Topf, kleiner makula-yet̥.
- Reibholz f. Mandioka bem, pem.
- Beijúwender hüvem.
- Siebfilter kutöt̥.
- Korb mayanku.
- Körbchen eru.
- Proviantkorb miak.
- Tragkorb tasitu-mayanku, tatitetu-ma-
yanku. - Bratständer mimangkangeta, mimong-
angeta. - Buritífaden totsovit̥.
- Spindel mopöita, mopüeta.
- Kamm kiüvap̥.
- Wachs kilapit̥.
- Fett z. Einreiben tentaayü.
- Weiberdreieckumpam.
- Tätowierung tatiapeporang.
- Steinkette miyo.
- Rohrdiadem aupap.
- Flötekaletu, kalötu.
- Pansflöte tumpia-yöt.
- Kürbisrassel terua.
- Fussklapper aimara.
- Spielball yara.
- Maskenfeste yakuikatu, koahálu.
- Brüllaffenakükü.
- Makako kayöt, kutsera-yöt.
- Fledermaus tatšia.
- Jaguar tauvat.
- Koatí noayatávet.
- Kapivara kapiivat.
- Agutí nakurü.
- Riesengürteltier tatuatu.
- Ameisenbär, grosser tamayuá.
- Ameisenbär, kleiner tamayuantáne.
- Reh tiruatu.
- Kaitetúschwein tatšitu.
- Tapir tapiit̥.
- Vogel mura.
- Arara tavitši.
- Papagei naraka, tangánet̥.
- Harpyie urauatu (»grosser Vogel«).
- Japú nirapu, nyapu.
- Ibiyau viviyo.
- Johó mopokoap, mapokuap̥.
- Feldhuhn kuyatširika.
- Inambú támo.
- Jakú taku-yöt.
- Jakutinga takuatsing.
- Mutung muintu.
- Mutum cavallo mutütsang.
- Ente nepet.
- Specht nungbeng.
- Kaiman tapepiret̥.
- Eidechse tetu, teon.
- Leguan neyémöt.
- Flussschildkröte tavarü.
- Landschildkröte tarapek.
- Schlange moi.
- Fisch piraüt̥.
- Hundsfisch tatši.
- Piranya pankanyánget.
- Mereschu pirapévit̥.
- Pakú paku.
- Pintado-Wels turui.
- Rochen nurepe.
- Biene, Honig neküt.
- Ameise (Schlepper-) nampiranyöt.
- Moskito tareú.
- Holz, Baumivira, öp.
- Brennholz tepeyap.
- Rinde üpe.
- Samen âi.
- Mais avatši, hauatsi.
- Mandioka maniok, miu.
- Mandioka-Zweig maniöp̥.
- Stampfmehl miyeä.
- Püserego-Getränk maniokö.
- Pogu-Getränk euvap̥.
- Beijú yomem, yamem.
- Igname natayapo.
- Batate terük, yeto.
- Pfeffer tsambit̥.
- Jatobá matsiöp.
- Kastanie varú.
- Mangave temír(et), emiru.
- Pikí petšia, petšiaput.
- Bakayuva-Palme mukan-yet.
- Burití-Palme tavupe.
- Buritístreifen taupeivit̥.
- Buritístroh taupaivop.
[537]
- Tabak pä, päh.
- Genipapo tendüpap.
- Urukúkapseln yunkuangöt.
- Baumwolle amatšitú.
- Sapégras tatape.
- Lanzengras kalahang.
- Bambus (Takoara) takoa-tsing.
- Ubárohr uöp.
- rottangetu (Karmin), terauetu (Urukúrot).
- gelb, orange ituvetu.
- weiss, hellgelb intšingatu, intšinyutu.
- schwarz tauetu, tauütu.
- blau, grün iköretu, hikületu.
- braun ituvangetu (Sepia).
- braunrot intumetu.
- hellbraun itumšingetu (gebrannte Siena
= braun-weiss). - 1 mayapete.
- 2 monkói.
- 3 munitárüka.
- 4 monkói monkói imput̥.
- 5 motiptu.
- 6 mumúratü naütatapu.
- 7 monkói naütatapu.
- 8 munitárüka naütatapu.
- 9 monkói monkói impút̥ (= 4).
- 10 kaipopap.
- 11 mumúratsu kaüpüete.
- 12 monkói kaipüete.
- 13 munitárüka kaipüete.
- 14 monkói monkói kaipüete.
- 15 oipap kaipüe.
- 16 mumúraatu kaipü.
- 17 monkói itatäpu kaipüete.
- 18 munitarüka itatäpu kaipüete.
- 19 monkói monkói itatäpu kaipüete.
- 20 itúmüopá.
- Negationān, ovane.
8. Kamayurá.
Wo der Accent nicht angegeben ist, wird die letzte Silbe betont.
- Zungeyeko.
- Zahn yenerái, 3. itái.
- Mund yereme.
- Nase yeapü; yetsí (Nasenspitze).
- Nasenloch yeapükuat, yeapüakuat.
- Auge yerea.
- Ohr yenami.
- Ohrloch yenamikuat.
- Ohrläppchenloch yekutúkauvet̥.
- Kopf yeakang; yeapin (Schläfengegend).
- Stirn yeripükang.
- Kopfhaar yeap.
- Brauen yereopükarap.
- Wimpern yeropeap.
- Wangenbart nerotévaperóp.
- Schnurrbart yetsíahuarap.
- Kinnbart yeamotap.
- Kinn yerenüva.
- Hals yeayut̥.
- Nacken yeatua.
- Kehle yeaikuat.
- Brust yepotsüa.
- Brustwarze ♂ yekam.
- Brustwarze ♀ kunya-kam.
- Bauch yerevek.
- Nabel yepürua.
- Penis yerakuái.
- Scrotum yerapia.
- Pudenda ♀ kunya-rama.
- After yerevit.
- Schulter yeváauá.
- Oberarm yeyüva.
- Ellbogen yeparatšíüp.
- Unterarm + Handrücken yehuapü.
- Hand yepo.
- Handfläche yepó-pütet.
- Handrücken yeuapü.
- Finger yehua.
- Daumen yehua.
- Zeigefinger yehua-ipépüat,
- Mittelfinger yehua-mutet̥.
- Ringfinger yehuá-ipépuat.
- Kleinfinger yehua-i.
- Fingernagel yehuape.
- Oberschenkel yeup.
- Knie yeperenan.
- Unterschenkel yeratimakang.
- Ferse yepüita.
- Fuss yepü.
- Fussrücken yekupupe.
- Sohle yepupütet.
- Zehen yepüái.
- Zehennagel yepüape.
- Haut yepit.
- Knochen îkanget̥.
Von einem Vogel:
- Schnabel itsi.
- Auge hiya.
- Flügel ipepo.
- Rippe iarokang.
- Bein ipü.
- Kralle ipüape.
[538]
- Schwanz uváye.
- Schwanzfeder uvayevütet.
- Schwungfeder ipepokúi.
- Halsfeder havet.
- Schopf akangatši.
- Zunge hiko.
- Nasenlöcher hiapüuat.
- Haut ipit.
- Darm hepotši.
- Magen itakarayaa.
- Leber iperehet.
- Lunge ivévüihet.
- Herz ipotši-arkáketáng.
- Blut huü.
- Hoden, Ei upia.
- Sonnekuat̥.
- Mond yaü.
- Stern yautata-i.
- Himmel hüvak.
- Wolke aman.
- Regen aman, haman.
- Regenbogen amanaüp.
- Gewitter tupá.
- Wind ivütu, ivitu.
- Hauch ivitu-i.
- Rauch tatašing.
- Feuer tata.
- Salz yuküt, yuköt̥.
- Wasser ü.
- Stein ita.
- Quarz itahime.
- Erde, Sand üi.
- Weisser Lehm tãiyutzing.
- Vaterpapa, 1. yerup (= ye-tup).
- Mutter hama.
- Sohn yemememüt, yerayüt.
- Tochter yememekunya.
- Kind haraivi.
- Grossvater tamui.
- Grossmutter utu.
- Mutterbruder ape, aue.
- Aelterer Bruder yereerup.
- Jüngerer Bruder, Vetter yereuit.
- Schwester yeruket.
- Mann akuamae.
- Weib kunya.
- Knabe auvái miri.
- Mädchen kunya muku.
- Häuptling morérekuát.
- Medizinmann paye.
- Fremder karaib.
- Bogenurapat̥.
- Bogen (»rotes« Holz) urapaputang.
- Bogen (helles Holz) ivürapat.
- Sehne urapaham.
- Pfeil (Ubá) hüüp, heuvete.
- Pfeil (Kambayuva) kamayöp̥.
- Pfeil (Affenknochenspitze) heuavapin.
- Pfeil (Burití-Holzspitze) muritši-ivi.
- Pfeil (Fischknochen-Spitze) akamayüp.
- Knochenspitze kamapunu.
- Schlingpflanze am Pfeil vaime-ivit.
- Wurfbrett yauari amomoap.
- Wurfpfeil yauari hüüp.
- Keule hüapem.
- Kanu hüat.
- Ruder yahukuitap, yaukuhitop.
- Reuse yekea.
- Fangkorb tatari.
- Fischnetz piraürük.
- Steinbeil (d)yü (mit u-Laut).
- Kleines Steinbeil (n)yüp-i.
- Schabmuscheln (vgl. S. 207, 208) tyutsi,
ita, ita muku, ita kuraa, ita-i. - Wundkratzer yayap.
- Haushök, ho(k), apöt̥.
- Hängematte (Baumwolle) heni, (Burití)
yekrap. - Schemel apükap, hapükap.
- Kalabasse kuyaham.
- Kuye, grosse katširova.
- Kuye, kleine ü-a.
- Oelkuye yaniru.
- Topf, grosser nyāe.
- Topf, kleiner mavikuru-i.
- Reibholz f. Mandioka hüvehe.
- Beijúwender hüvep.
- Siebfilter tuavi.
- Korb ripari, irikurup.
- Körbchen hüruapit.
- Tragkorb pirapünta.
- Bastsack arakuri-üp.
- Bratständer tukanan.
- Baumwollfaden henimo, feiner henimo-i.
- Spindel heüm.
- Kamm kiüvap.
- Wachs iraiti, yaiti.
- Weiberdreiecktameaop.
- Tätowierung tyu.
- Federkopfschmuck (Japú) yahuái.
- Federarmband yáuaravité.
- Steinkette moüt̥, der einzelne Stein
moikita. - Rote Muschelstücke yatüta.
- Flötekuruta.
- Pansflöte, grosse kurua.
- Pansflöte, kleine havirare.
- Rufflöte yumíatotó
[539]
- Kürbisrassel kamitü, kamitö.
- Tanz, Gesang maraka.
- Maskenfeste yaku-i-katu, hüvat.
- Tanzkeule tanita.
- Gebisstab haéaté.
- (Federnetz) »zum Tanz« yakuiap.
- Strohmaske yauari-püang.
- Brüllaffeakükü.
- Makako kai.
- Fledermaus arua.
- Jaguar yauat.
- Fischotter yaunipüan.
- Koatí koatsi.
- Kapivara kapiivát.
- Agutí akutsi.
- Paka paka.
- Gürteltier tatu.
- Ameisenbär, grosser tamanua.
- Ameisenbär, kleiner tamanua-i.
- Reh ihuku.
- Kaitetúschwein tayau.
- Tapir tapiit̥.
- Vogel hura.
- Arara kanine.
- Papagei tarave.
- Urubú, weisser urevutšing.
- Harpyie hurapü.
- Falk kuyauu.
- Japú yahu.
- Ibiyau viviyo.
- Johó makukaua.
- Feldhuhn kuyatetü.
- Jakú yakuahém, yaku-i.
- Jakutinga yakupatsing.
- Mutung muitu.
- Mutum cavallo muituahang.
- Ente tsuvet̥, tsüve.
- Jabirústorch urangutang.
- Kaiman yakare.
- Eidechse teyuparap, taraui.
- Leguan (Sínimbu) enemü.
- Flussschildkröte (Trakajá) tarikayaa.
- Landschildkröte yavátšipütá.
- Schlange mói.
- Kröte arutsam.
- Fisch ipira.
- Hundsfisch tatsi, tatsi-i.
- Piranya piraang, pirang.
- Mereschu tapaka.
- Pakú paku.
- Pintado-Wels tsurui.
- Rochen yavevüt̥.
- Biene heit.
- Honig heitarup (Bienen-Eier).
- Ameise, flieg. árara-a.
- Ameise, grosse hüga, hüha, tanahang.
- Moskito piu, yatsiu.
- Mutukabremse mutuk.
- Sandwespe tunutunuru.
- Grille ökeyu.
- Leuchtkäfer kaukauari.
- Holz, Baumivira-i.
- Blatt iva.
- Mais avatsi.
- Mandioka maniok, grosse Wurzel temiu.
- Mandioka, durchgepresst tepüra-atü, ge-
trocknet tepüra-atekui. - Püserego-Getränk moohet.
- Pogu-Getränk kaûi.
- Beijú meyu, fast menyu.
- Igname kara.
- Batate yetük.
- Bohne kumanaviri (Pflanze), kumanatái
(Frucht). - Pfeffer hökeõi, ökeõi, ikeang.
- Jatoba yutaüp.
- Mamona moangö.
- Marmelada vaapong.
- Fruta de lobo ütsia.
- Mangave mangap.
- Pikí pekei.
- Bakayuva-Palme mukayüp.
- Gariroba-Palme pinop.
- Burití-Palme muritsi.
- Tukum-Palme yauaraa.
- Akuríkern tapiavare.
- Tabak petüm, Wickelblatt petümaop.
- Genipapo yanepap.
- Urukú iriku.
- Baumwolle amüniyu.
- Sapégras yape.
- Membecagras yauvi.
- Bambus (Takoara) takoat.
- Ubárohr hüüp.
- Gravatá parauata.
- Pindahyba ivira, ivit.
- Peroba tarukai.
- Japekanga taratarate.
- Schlingpflanze simo.
- Ximbuva šimoöp̥.
- Arika tamiyuüp.
- ichye.
- du hene, neko.
- rot, orange uánga-maé.
- gelb iyúva-maé.
- weiss tsinga-maé.
- schwarz ipitsúna-maé.
- blau, grün itsovü-maé.
[540]
- grau hinyúma-maé.
- 1 yepete.
- 2 mokói.
- 3 moapüt.
- 4 monyoiru.
- 5 yenepo-momap.
- 6 verovama yepete, verovak.
- 7 mokói verovak.
- 8 hemomoapüt.
- 9 hemoyoiru.
- 10 yenemai.
- 11 yenepü-aú.
- 12 yenepü-aumütet.
- 13 hemomvapüt.
- 14 hemonyoiru.
- 15 mai, yenepü-ai.
- 16 amunyaterovak.
- 17 yenepü ahimütet.
- 18 hemomoapüt.
- 19 monyoiru.
- 20 yenepü arehe.
- Negationanite.
9. Trumaí.
Wo der Accent nicht angegeben ist, wird die letzte Silbe betont.
- Zungeyauano.
- Zahn yaui.
- Mund yauχop.
- Lippe yauamaptamala.
- Nase yaualaša.
- Nasenloch yaualaχu.
- Auge yauhon.
- Ohr yauhaptü.
- Ohrloch yauhaptiχúi, yauhatχoi.
- Kopf yaukut, yakut.
- Stirn yahokna.
- Kopfhaar yauukurs, ukuχ.
- Brauen yahútipimalapuksi, yahutupilaksi.
- Wimpern yahuksi.
- Wangenbart yauamubuksi.
- Schnurrbart yaualafkus.
- Kinnbart yauamubuksi,
- Hals yamut̥.
- Nacken yauanas.
- Kehle yauažanmut̥.
- Brust yautaput.
- Brustwarze ♂ yauamisu.
- Brustwarze ♀ ipaé-amisú.
- Bauch yauχe.
- Nabel yautöf.
- Penis yaupi.
- Scrotum yautaf, yautá(u).
- Pudenda ♀ ali.
- After yaupat.
- Schulter yaumüda.
- Oberarm yauato.
- Ellbogen yauatolako.
- Unterarm yauakanapmurzra.
- Hand yaukanap.
- Handfläche yaukarhuaχ.
- Handrücken yaukaresi.
- Finger yaulaktako.
- Fingernagel yaüfi.
- Oberschenkel yahut.
- Knie yauanak.
- Unterschenkel yauralata.
- Ferse yauapütskut.
- Fuss yauapits.
- Sohle yauapütsfaχ.
- Zehen yaupítsi.
- Zehennagel yaupütfi.
- Haut yauput.
- Knochen tsidet.
- Sonneatela, atelo.
- Mond atelpak, atezbak.
- Stern asi.
- Himmel nanene.
- Regen, Wolke kauiχu.
- Regenbogen pupu.
- Gewitter ta(ö)rsda.
- Wind sut̥.
- Rauch soχden.
- Feuer sō.
- Salz yaküri.
- Wasser, Fluss misu.
- Stein liki.
- Erde tenetne.
- Weisser Lehm tauatzin.
- Vaterpapa.
- Mutter atsíu.
- Sohn hapat.
- Tochter inoχu.
- Kind aχos, aχus.
- Grossvater ayéi.
- Grossmutter atsets.
- Mutterbruder vaue.
- Aelterer Bruder apine.
- Jüngerer Bruder, Vetter apisi.
- Aeltere Schwester lukan (?).
- Jüngere Schwester aχeat.
- Mann kiki.
- Weib ipae.
- Knabe itadi.
[541]
- Mädchen vaχlo.
- Häuptling aek.
- Medizinmann paye.
- Fremder karaip.
- Bogentsiršlama.
- Pfeil hit.
- Wurfbrett opep.
- Keule isitats.
- Kanu si.
- Ruder anat.
- Reuse päle.
- Fangkorb tatari.
- Steinbeil daka, sein Stein dakaürs.
- Schabmuschel ešakaša (š nach ϑ hinüber).
- Wundkratzer tatalakat.
- Hauspike.
- Festhütte
- Hängematte (Burití) muritšiní.
- Tuch muritšini.
- Schemel yulut.
- Kalabasse kuyiham.
- Kuye üa.
- Topf, grosser arat.
- Topf, mittelgrosser aratpat.
- Reibholz für Mandioka uä.
- Beijúwender munitsi akuars.
- Siebfilter tuavi.
- Korb örupari.
- Tragkorb karaputa.
- Bratständer tukana.
- Baumwollfaden amundyu.
- Spindel umürš, umürs.
- Kamm kuaú.
- Weiber-Bastbinde ipae-asit, iasit.
- Bast dafür esni.
- Steinkette tatakela.
- Flöte kut.
- Rasselkürbis iua, vaualatas.
- Fussklapper kutχot.
- Maske und Tanz hukráke, zarumuka,
kuahaha. - Tanzkeule aton.
- Brüllaffeamue.
- Makako paršeku.
- Fledermaus koyos, koyoš.
- Jaguar fede.
- Koatí koatsi.
- Agutí akuts.
- Ameisenbär, grosser ilihu.
- Ameisenbär, kleiner ilihuene.
- Reh tatsit.
- Kaitetúschweín ise.
- Tapir monoto.
- Arara arara.
- Papagei tarau.
- Japú tülaf.
- Ibiyau teste.
- Johó hukuk.
- Feldhuhn nyähetetü.
- Jakú mote.
- Jakutinga motenehene.
- Mutung kurele.
- Mutum cavallo kurzerénehené.
- Ente kutumbi.
- Kaiman topetne.
- Leguan nuenue.
- Flussschildkröte tsuul.
- Landschildkröte uruts.
- Schlange urešüš.
- Fisch kate.
- Hundsfisch tasipie.
- Piranya alenehene.
- Mereschu paki.
- Pakú tatkat.
- Rochen alel.
- Moskito tsinaš, tsinas.
- Holz, Baumdeí.
- Mais hotet.
- Mandioka ole.
- Püserego-Getränk uleχu.
- Pogu-Getränk uröχ.
- Beijú meyu.
- Igname yeókavaiténa.
- Batate mani.
- Pfeffer katsits.
- Jatoba taχetei.
- Mangave vauraru.
- Pikí tsinon.
- Bakayuva-Palme auao.
- Burití-Palme muritsiuá.
- Tukum-Palme datkela.
- Baumwolle moneyu.
- Tabak fi, Wickelblatt fikana.
- Urukú manot.
- Sapégras zamok.
- Bambus (Takoara) takoats.
- Ubárohr hit̥.
- ichhaí.
- du isa, iϑa.
- rot, orange tsomate.
- gelb tsaiχu.
- schwarz tsidate.
- blau tsiovu (Kamayurá: »Perikito«).
- grün yeküri.
- 1 mihin.
- 2 hurš.
- 3 hurstame.
- 4 kumatak.
[542]
- 5 katkel, nekatkelan.
- 6 mihin-po(k)péskun.
- 7 hurš-apokpéskun.
- 8 hurstam-apokpéskun.
- 9 kumatak-apokpéskun.
- 10 yepun-pokpéskun.
- 11 mihin-pítsa.
- 12 hurš-apitsa.
- 13 hurstam-apítsa.
- 14 kumatakuanpítsa.
- 15 katkel musrákkuake.
- 16 pitsuranapáke.
- 20 pitskel, nekatkelan.
- Negationatak.
10. Paressí.
Wo der Accent nicht angegeben ist, wird die letzte Silbe betont.
- Zungenunínise.
- Zahn naikúli.
- Mund nukeliho.
- Nase nukíri.
- Nasenloch nukiri-zova.
- Auge nudúse.
- Ohr nutinihe.
- Ohrloch nutinihe-zova.
- Kopf nuseviri.
- Stirn nutori.
- Kopfhaar nuséve.
- Tonsur uaúa.
- Wirbel nehokui.
- Brauen nutáuli.
- Wimpern nudóse-nivari.
- Bart niuategelo.
- Hals, Nacken nuhíno
- Hals unter Kinn nukulu.
- Kehle notaradahi.
- Brust nutikuli.
- Brustwarze ♂ nututunise.
- Brustwarze ♀ nizanito tutune.
- Bauch numögoda.
- Nabel nutodase.
- Penis nuse.
- Scrotum nutakulase.
- Pudenda ♀ kuzo, nizanito kuzone.
- After nušigose.
- Schulter nutagodisö.
- Oberarm + Unterarm nukáno.
- Ellbogen nukáno-tohirasö.
- Hand nukáhe.
- Finger nukahe-í.
- Daumen enétulísevé.
- Zeigefinger nukahe-i.
- Mittelfinger enenúto talahi.
- Ringfinger ehíeötalihé.
- Kleinfinger zoumirihi.
- Fingernagel nuti.
- Oberschenkel nuhúse.
- Knie nukauli.
- Unterschenkel nukasahe.
- Ferse nukíšinolosó.
- Fuss nukíši.
- Sohle nukišikuá.
- Zehen nukísi-hi.
- Zehennagel nuti, nuiti.
- Haut numeli, nomelihi.
- Knochen nunáhe.
- Blut noitimarané.
- Milch tutuza, totoda.
Von Tieren:
- Feder ötane.
- Flügel ekanusö, ekanoso.
- Gelenk ekanutala.
- Schwanz (Perikito, Hund) enihu.
- Schnabel ekiri.
- Auge edusö.
- Zunge enekueí.
- Fuss ekisi.
- Kralle enuta.
- Gräte enáhe.
- Haut emeli.
- Fleisch inete, netö.
- Blut itímarané.
- Herz emahiaso.
- Lunge otodadahi.
- Magen enaširi.
- Darm enaši.
- Leber etakure.
- Ei enosö.
- Sonnekamái.
- Osten hikohena.
- Mittag totahikoana.
- Westen isoa.
- Mond kayö.
- 5 Phasen: (Neumond) yukáihitá, kinatá-
lihitá, taréhokohená, tutohená, tuitá. - Stern zulösö, zuri.
- Milchstrasse kotanáhutirá.
- Jahr kamöka.
- Tag hueroaga.
[543]
- Nacht maka.
- Himmel enukua.
- Wolke kaimeneti.
- Regen one, enodati, one tareluga.
- Gewitter enuhare.
- Wind kahola.
- Rauch šimére.
- Feuer irigate.
- Salz séuvé.
- Wasser, Fluss one, une.
- Insel kahíhuruhé.
- Wald kolúhu.
- Berg teiri, teire.
- Stein söhali.
- Erde, Sand vaikohe.
- Lehm kanihe.
- Vaterbaua, bava, Waimaré aba.
- Mutter mama, Waimaré ama.
- Sohn hari.
- Tochter ohiro.
- Kind, Säugling dutehiro.
- Grossvater ato. ätöto.
- Grossmutter abe, abebe.
- Enkel noši.
- Mutterbruder kuku, Waimaré kukúre.
- Tante nakélu.
- Aelterer Bruder azö, adezö.
- Jüngerer Bruder, Vetter nožimarini.
- Aeltere Schwester kori.
- Jüngere Schwester daza.
- Mutter der Gattin naika.
- Mann ena.
- Weib nezanito, nizanito.
- Knabe zuima, ena-mogosö.
- Mädchen ohiro-mogosö.
- Häuptling amule, hariti.
- Medizinmann otahariti.
- Hexenmeister tihanale.
- Fremder emuiti.
- Neger kiere.
- Bogenkolehogo.
- Sehne ulaua-hi,
- Pfeil kole.
- Keule aterihozö.
- Holzkanu kötto; kanoa (portug.).
- Rindenkanu misa.
- Ruder hulategalati.
- Axt zauati.
- Steinbeil horokaue.
- Flinte korenaso.
- Eisen kamaitihira.
- Gold oiro (portug.).
- Diamant diamante (portug.).
- Haushati (Kulisehu pai).
- Dach ezötehira.
- Thür hatiganasö.
- Hängematte maka.
- Seil olauahe.
- Faden konohihi.
- Spindel tiro, olauari.
- Schemel okahakalati.
- Kalabasse matogo.
- Kuye hešiša.
- Topf matalo.
- Reibholz f. Mandioka timare.
- Siebfilter (peneira) atoa.
- Tragkorb koho.
- Bratständer koizate.
- Kamm halata.
- Hüftentuch ♀ emiti.
- Schutztüchlein ♂ daihasö.
- Hüftschnur ♂ kunokua.
- Perlgürtel nukoalahi.
- Tätowierung nohotö.
- Kautschukband (Knie) itaiti.
- Baumwollband (Knie) natahe.
- Baumwollband (Oberarm) nukalovani.
- Nasenfeder nukiliakosö.
- Ohrgehänge (Palmnuss) hohoro.
- Federdiadem kamahioko.
- Flöte, grosse hiémagá.
- Flöte, kleinere holuta.
- Pansflöte dero.
- Kürbisrassel uala.
- Maske nudosohago, kularuza.
- Brüllaffealome.
- Makako huate.
- Koatá uaganele.
- Fledermaus mahigue.
- Jaguar tšene.
- Wolf ahuza.
- Kampfuchs hoaduru, wazolo.
- Fischotter inaue.
- Koatí kahi.
- Kapivara oli.
- Gürteltier makurisa, (cabelludo) ulauairu,
(bola) iuwetösö, (liso) vuamose. - Riesengürteltier marura.
- Ameisenbär, grosser atipure.
- Ameisenbär, kleiner uwarie.
- Reh dotare.
- Sumpfhirsch azama.
- Kaitetúschwein hauarusu.
- Bisamschwein hode.
- Tapir koite, kote.
- Vogel kutelase.
- Arara (roter) kalo, karu, (blauer) tihue.
- Papagei warata, aulu, zara.
[544]
- Perikito tahiri, kuiri (rote Stirn).
- Harpyie kukui.
- Japú koloma.
- Taube vaitaha.
- Feldhuhn kodye.
- Huhn taguira.
- Jakú marato.
- Mutung hauiši.
- Strauss ao, au.
- Seriema kulata.
- Kaiman iuvakare.
- Eidechse dohi, zohi.
- Flussschildkröte ikore.
- Landschildkröte uadulahata.
- Schlange ui, uini.
- Klapperschlange kairiri.
- Sukurí menesö.
- Kröte kari.
- Fisch kohása.
- Hundsfisch mazudure.
- Piranya anaye.
- Mereschu kayale.
- Pakú kaihare.
- Pintado-Wels hodóli.
- Matrincham hožiga.
- Piava uvalaku.
- Lambaré kazaha.
- Rochen ina.
- Biene anui.
- Honig maha.
- Wespe ani.
- Schmetterling mehele.
- Termite munuli.
- Ameise zuguzugu.
- Spinne zoa.
- Karapato kohere.
- Moskito aniotö.
- Stechfliege tihenúle.
- Holz, Baumata.
- Brennholz moisate.
- Blüte ihive.
- Stiel ekatö.
- Frucht iri.
- Samen, Wurzel esö.
- Mais kozoto.
- Mandioka ketoso.
- Mandiokamehl tolohe.
- Gährendes Getränk kaširi-uluinti.
- Mingau-Brei kadalaso, katadere.
- Beijú zomo, domo.
- Igname haka.
- Batate kaye.
- Mandubí šimele.
- Pfeffer-Bohne (feijão) komatáihiró, (faba)
komata. - Pfeffer aridimoko.
- Jatobá ozari.
- Mangave katola.
- Pikí kani.
- Bakayuva-Palme sakole.
- Gariroba-Palme uwakuri.
- Burití-Palme isóe.
- Akurí-Palme ulukuri.
- Oaussú-Palme koši.
- Tukum-Palme olána.
- Baumwolle konohe.
- Tabak azie, azieho.
- Genipapo dana.
- Urukú ahitö.
- Sapégras tekele.
- Bambus uašina.
- Ubárohr tiua.
- Gravatá (Ananas) uenore.
- Embira atema.
- Reis aroso (portug.).
- Apfelsine alalaiša.
- Banane banana (portug.).
- Ipekakuanha poaya.
- Goyava moturi tiniri.
- Kautschuk uwarisö.
- Bogenbaum (Ipé?) kosö, alaua.
- ichnato.
- du hiso.
- rot (Zinnober) dotere, (Rosakrapp)
materere. - orange dútahiövelé.
- gelb ošikere.
- weiss iyumere.
- schwarz kiere.
- blau, grün tihole, tihorere.
- 1 hakida.
- 2 hinama.
- 3 hanama.
- 4 zalagava.
- 5 hākahigi.
- 6 hasóegaguá.
- 7 ehiritarigi.
- 8 ehiritarigi.
- 9 ehiritarigi.
- 10 kahiti dödá.
Ich bin leider nur einmal dazu ge-
kommen, die Zahlen abzufragen. Zum
Fuss an die Zehen nu-kišchi über-
gehend, sagte der Paressí von jeder
Zehe kišíti-döda. - Negationmáisa.
[545]
11. Bororó.
We der Accent nicht angegeben ist, wird die vorletzte Silbe betont.
- Zungeikeru.
- Zahn itó.
- Mund inógua.
- Loch in d. Unterlippe noguaboro.
- Nase ikeno.
- Nasenloch ikenoyaporo.
- Auge yoko.
- Ohr iviya.
- Ohrloch iviyayaporo.
- Kopf itáura, ikáura.
- Stirn ieri.
- Kopfhaar itao.
- Brauen yokoparirabö́.
- Wimpern yokobö́.
- Schnurrbart ikogabö́.
- Kinn ikogura.
- Hals, Nacken ikidorü.
- Kehle iruo, iruoporo.
- Brust imorora.
- Brustwarze ♂ imoguro.
- Brustwarze ♀ areme emoguro.
- Rücken ikudziagi.
- Oberteil iporu.
- Kreuz imomoroa.
- Bauch ikuri.
- Nabel ikönabo.
- Penis iuaga.
- Scrotum íuva, íua.
- Pudenda ♀ mogo,
- After irikarigo.
- Schulter ikanáura.
- Oberarm ikana.
- Ellbogen iviyora.
- Unterarm itagara.
- Hand ikera.
- Finger ikerako.
- Fingernagel ikinåge.
- Oberschenkel ipobona.
- Knie ipogoda.
- Unterschenkel itori.
- Knöchel iurerupe.
- Ferse iureda.
- Fuss iure.
- Fussrücken iurerá.
- Sohle iureka.
- Zehen iureko.
- Zehennagel iurege.
- Haut iwire.
- Knochen ra.
- Eingeweide peguro.
- Herz uabo.
- Leber aka.
- Blut kogua.
- Same boenoboé.
- Speichel kodoguro, fatoguro.
- Schweiss boeru.
- Kot epe.
Von Tieren:
- Schwanz (Jaguar) ō (adugo-ō).
- Schnabel oto, åto.
- Flügel kana.
- Schwanz (Vogel) aiyega, eaga.
- Flügelfeder iköda.
- Kleine Feder bo.
- Krallen buregi.
- (Ochsen-) Horn kiga.
- Fleisch kodo.
- Speiseröhre ruo.
- Lunge bari.
- Magen kubiri.
- Niere taude.
- Pankreas ika.
- Blase ikorudža.
- Sonnemeri.
- Osten baru yuákodódo.
- Mittag barataya bukedyeo.
- Westen meríekódo.
- Mond ari.
- Neumond ariruto.
- Stern kuyedže.
- Milchstrasse kuyedže erugudo.
- Tag merige.
- Nacht boešodo.
- Himmel baru.
- Wolke boetugo.
- Regen bubutö.
- Donner boyarulu.
- Blitz boigaba.
- Wind bakuro.
- Rauch yereduto.
- Feuer yoro.
- Asche erugudo.
- Wasser, Fluss påba.
- Berg, Stein tori.
- Erde, Boden, Lehm moto.
- Kies tariguro.
- Sandstrand kögaro.
- Vateriuga.
- Mutter imuga.
- Sohn imedo, (klein) imedrogo.
- Tochter aredo, (klein) aredrogo.
v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 35
[546]
- Kind itunaregedo.
- Grossvater iedaga.
- Grossmutter, Tante imarugo.
- Vaterbruder iugomana.
- Mutterbruder iure.
- Aelt. Bruder imana.
- Jüng. Bruder, Vetter ivie.
- Schwester ituye.
- Ehemann ituredo.
- Ehefrau ituredudže.
- Junggeselle, Jungfrau toado.
- Witwer, Witwe iugotše.
- Schwager inodou.
- Mann ime.
- Weib areme.
- Knabe medo.
- Mädchen aredo.
- Jägermannschaft aróe.
- Mädchen, zusammen nogarexugure.
- Knaben, zusammen negexugure.
- Häuptling baimedžera.
- Medizinmann bari, aroe-tauarari.
- Bogenbaiga, bahiga.
- Pfeil tugo, to.
» (Knochenspitze) tögora.
» (Bambusspitze) butöiya, butö́iya.
» (Harpune) kuya.
» (stumpfe Spitze) todobare. - Kanu ika.
- Fischnetz buke.
- Angel buoda.
- Flinte boiga.
- Kugel, Schrot boigato.
- Pulver urugudo.
- Beil paro.
- Eisenbeil paro-merire.
- Messer tariga.
- Federmesser tarigarago.
- Scheere pinai.
- Eisen meride, merire.
- Eisentopf ruobo-merire.
- Schabmuschel, grosse ato.
- Schabmuschel, kleine atrebo.
- Grabholz taibo-botora (Seribapalme).
- Klaue v. Riesengürteltier kadorinogi.
- Hausiuai.
- Männerhaus, Ranchão baíto.
- Hängematte kuga.
- Schlafmatte (Oaussú) koto.
- Matte kekiko.
- Matte (Burití) be-to.
- Schemel irá.
- Kalabasse paari.
- Kuye, grosse pagoga.
- Kuye, kleine imoreuge.
- Topf, grosser aria.
- Topf, kleiner ruobo.
- Mörser kaia, kaya.
- Stampfer kaiporu.
- Korb, kleiner mitšigu, maridoro.
- Totenkorb bakite.
- Körbchen (Maisstroh) papao.
- Tragkorb kodrabo.
- Feuerfächer bakoreo.
- Baumwollfaden akigo.
- Spindel otora.
- Kamm puduga.
- Weiber-Bastbindekadabíe, kudohíe.
- Rindengürtel pareuvái.
- Penisstulp inobá.
- Kleidung aroya.
- Hut itatodau.
- Lippenkette araruleu.
- Lippen-Harzstift bokodaga.
- Lippenbohrer baragara.
- Tätowierung kurudža.
- Lackstreifen itaguru.
- Perlen boura.
- Federdiadem (Arara)*)pariko, kurugúga
(Falk). - Ohrfeder (Araraschwanz) nabuleaga.
- Kette von Jaguarzähnen aigo-murieri.
- Riesengürteltier-Brustschmuck bokodori.
- »Hosenträger«-Schnüre akigo.
- Flöteika.
- Rasselkürbis bapo, baporubugu.
- Kürbisflötchen poari.
- Schwirrholz aídye.
- Maisbälle papao.
- Federpeitsche tagora.
- Tanz im Kreise kahité.
- Brüllaffepai.
- Makako dyúkuo.
- Fledermaus käh.
- Jaguar adugo.
- Puma ariga, aíga.
- Fischotter, grosse ipíe.
- Fischotter, kleine dyomu.
- Wolf ri-e.
- Kampfuchs rapore.
- Koatí kudobu.
- Kapivara akíua.
[547]
- Agutí mäh.
- Paka apu.
- Gürteltier (liso) rä, lä, (cascudo) okuari
enokuri. - Riesengürteltier bokodori.
- Stachelschwein i-we.
- Ameisenbär, grosser buke.
- Ameisenbär, kleiner apoga.
- Kampreh orogu.
- Waldreh poboga.
- Hirsch atubo.
- Kaitetúschwein dyui.
- Bisamschwein dyugo.
- Tapir ki.
- Rind tapira (Lingoa geral).
- Hund kašoro (portug.).
- Pferd kavaro (portug.).
- Esel buro (portug.).
- Vogel kiogorogo.
- Arara, roter nabure, blauer kutoro, mit
gelber Brust kuído. - Papagei kurao.
- Perikito kida.
- Urubú pobureo.
- Königsgeier bái.
- Falk kuruguga, baruge.
- Japú tšuavo.
- Ibiyau petuguya.
- Tukan apodo.
- Huhn kogoriga.
- Johó kuo.
- Feldhuhn parikiogodo, luodo.
- Jakú parigogo tšereo.
- Jakutinga parigogo.
- Mutung kudye.
- Taube metugu.
- Ente trubare.
- Seriema bä-u.
- Möve tayama.
- Strauss pari.
- Kaiman uai.
- Eidechse amema, tuogu.
- Leguan irui.
- Flussschildkröte upé, baigabe, derego.
- Landschildkröte džorigige.
- Schlange auago.
- Kröte ru.
- Fisch *)kare.
- Hundsfisch amigi.
- Piranya biogo, buiyoga.
- Matrincham araru moreo.
- Dourado okoge.
- Pakú pobo.
- Pintado-Wels orari.
- Rochen meru, atamo.
- Biene, Honig miau, Wachs miaubori.
- Ameise mitšege.
- Termite koíuvo.
- Moskito maše.
- Wespe atuge.
- Fliege ruke.
- Spinne makáigo.
- Holz, Baumipo.
- Wald itora.
- Pflanzung boepa.
- Brennholz yurige.
- Blatt laru.
- Stiel itora.
- Blüte oku.
- Stamm ukua.
- Mais kuyeda.
- Maisbrod amüreu.
- Mandioka yureo.
- Farinha yureokuto.
- (Batate) oturo, pagadži etc. 7 Arten
Knollen, die nicht Batata edulis sind. - Pfeffer kumara.
- Jatoba bokuadí.
- Mangave bato.
- Pikí eko.
- Burití-Palme marito.
- Burití-Wein uoro.
- Oaussú-Palme noido.
- Akurí-Palme apido.
- Seriba-Palme botora.
- Tabak mäh.
- Genipapo biye.
- Urukú nonogo.
- Gras boko.
- Bambus (Takoara) kado.
- Ubárohr ariru.
- Ananas otše.
- Banane manana (portug.).
- ichimi (vgl. Seite 517).
- du aki.
- rot, orange kudžagoreo.
- gelb küreo, ekureo.
- weiss kigadreo.
- schwarz tšereo, šereo.
- blau, grün kauarureo.
- Zahlen vgl. Seite 517.
- Negationbókua, bokuáre.
35*
[[548]]
II. Die matogrossenser Stämme nach
cuyabaner Akten.
Da es sehr ungewiss ist, welches Schicksal dem Seite 389 in der Anmerkung be-
sprochenen Archiv der Directoria dos Indios beschieden ist, halte ich es für geboten, meinen
Auszug mitzuteilen. Ich beginne mit den Tabellen von 1848 und 1872.
Ich gebe weiterhin die Erläuterungen von 1848 und füge in Klammern das Wenige
hinzu, was sich aus späteren Jahren von Wissenswerthem in dem sonst fast nur Personal-
und Verwaltungsnotizen enthaltenden Heft der Directoria vorfand.
1. Cayuás. Wenig bekannt. Ziemlich zahlreich. Sind sesshaft und treiben Landbau.
2. Chamococos. Südlich von Coimbra nahe der Bahia Negra über einen grossen
Waldbezirk in kleinen Gruppen verbreitet, die sich selten vereinigen. Stark, gute Arbeiter,
wenig intelligent. Jäger, treiben ein wenig Pferdezucht. Nackt; die Frauen bedecken die
Blösse mit einem Gewebe von embira de caraguata.*) Aus demselben Stoff werden Säcke
für Lebensmittel verfertigt. Keine andere Industrie. Zuweilen im Krieg mit einem Stamm
gleichen Namens im Westen. Verkaufen ihre Kinder an Guaycurús und Guanás für Beile,
Pferde und Baumwolltuch. Nicht feindlich, aber nicht zum Anschluss geneigt; vier bis fünf
sprechen portugiesisch. Höchstens einmal im Jahr kommen einige nach Miranda oder
Albuquerque. Betrinken sich gern und stehlen auch.
3—6. Guaycurús Cadiuéos. Berühmt aus der Vorzeit wegen ihres Widerstandes.
Etwa 800 auf beiden Ufern des Paraguay abwärts Coimbra. In verschiedenen Horden.
Wohnen in Zelten, die aus Stangen und Fellen oder Matten bestehen. Jagd, Fischfang, kein
Feldbau. Viele Pferde, etwas Wollvieh, Schweine, Hühner. Keine Industrie. Im ewigen
Krieg mit den Nachbarn, mit Brasilien im Frieden. Stolz und heimtückisch; kommen mit
Flechtarbeiten um Schnaps, Pferde u. s. w. einzutauschen.
[Bericht 1872: Guaycurús Beaquéos. Etwa 100 Individuen in einem Dorfe nahe
bei Miranda. Jagd, Fischfang. Mais, Pororóca,**) Mandioka, Bataten, Cará, Kürbisse, Zucker-
rohr. Einige Pferde, etwas Wollvieh, Vögel und Schweine. Nehmen den Chamococos wie
auch den Enimás im benachbarten Paraguay Frauen und Kinder fort. Weben schöne
Ponchos, Hängematten, Tragbänder und Gürtel. Stolz, zum Trunk und Diebstahl geneigt.]
[550]
7. Guanás. Dorf bei Albuquerque und eine halbe Legua von Cuyabá.
8. Guanás Kinikináos. Etwa 800 in Dorf I in Matto grande 3 Leguas westlich
von Albuquerque, Dorf II 200 bei Miranda.
9. Guanás Terenas. Leben angesiedelt in der Umgebung der Garnisonstadt
(Prezidio) Miranda.
10. Guanás Laianas. Desgleichen.
[Bericht 1858: Guanás und Kinikináos in dem Dorf von Nossa Senhora do Bom
Conselho unter dem vortrefflichen Bruder Mariano de Bagnaia, der mit Urlaub wegging und
in S. Paulo blieb. Sie erfreuten sich eines Schullehrers, eines Musiklehrers und eines
Schneidermeisters. Terenas und Laianas in der Aldea da Villa de Miranda.
Bericht 1861: Die Kinikináos wohnten in dem Sprengel von Albuquerque, 3 Leguas
von der Stadt, in dem Dorf Nossa Senhora do Bom Conselho schon lange vor Begründung
der Directoria. Diese suchte Ordnung zu schaffen durch die Mission des Frei Mariano. Für die
Terenas, Laianas und Guachis — in der Zahl von 2500 — wurde eine Ansiedlung, eine
Legua von der Villa de Miranda entfernt, den 30. April 1860 begründet. (Widerspruch mit
dem Bericht von 1858.)]
11. Guaxis. Fast ausgestorbener Stamm. Verhalten sich ähnlich den Guanás und
Guaycurus von Miranda, wo sie ebenfalls wohnen.
12. Guatós. Am rechten Paraguay-Ufer und an den Lagunen von der oberen
Mündung des Paraguay-merim bis ein wenig abwärts von Escalvado, auch an der S. Lourenço-
und Cuyabá-Mündung. Während der Regenzeit in dem überschwemmten Kampgebiet. Bauen
kleine und niedrige Hütten, bleiben tagüber in den Kanus, die sehr gut gearbeitet, klein und
schnell sind. Zuweilen sieht man einen Guató mit fünf oder sechs Kanus voller Frauen und
Kinder. Gewöhnlich haben sie zwei Frauen, einige begnügen sich mit einer. Hier und
da bauen sie etwas Mais, Mandioka und Früchte, aber mehr aus Leckerei als zum Lebens-
unterhalt. Sammeln auch den dort üppig wachsenden Waldreis (arroz silvestre), doch nur
für den Bedarf des Augenblicks. Sehr geschickt mit Bogen und Pfeil; betreiben mit Speer
und Wurfspiess die Jaguarjagd. Freundschaftlichster Tauschverkehr. Die Männer beginnen
Hemd und Hose, die Frauen Unterröcke zu tragen. Sind treu, rechtschaffen, harmlos, haben
aber zuweilen gezeigt, dass sie Widerstand leisten und Beleidigungen rächen können. Sehr
zur Trunkenheit geneigt. Die Meisten verstehen unsere Sprache und viele Erwachsene
sprechen sie.
[Bericht 1872: Dieser Stamm ist fast ausgestorben,]
13. Bororós da Campanha. Zwei Gruppen: 1) Dorf in Bolivien bei Salinas, 2) Dorf
gegenüber Escalvado am rechten Paraguay-Ufer, eine Legua vom Fluss. Sind friedlich,
treiben Feldbau, haben Schweine und Hühner. Baumwollhängematten. Einige reden
portugiesisch. Haben öfters Sklaven und Deserteure von Bolivien zu den Garnisonplätzen
eingebracht. 150—200.
[1858 heisst es: ein Teil lebt in den Campanhas de Marco und ein anderer jenseits
des Corixa-Baches.]
14. Bororós Cabaçaes. Zwei Horden, bis vor Kurzem wild, die eine an den
Quellen des Jaurú, die andere an denen des Cabaçal. Machten zahlreiche Angriffe auf der
Strasse von Cuyabá nach Matto Grosso,*) so dass häufig Truppen gegen sie ausgesandt
wurden, die Viele, ohne Unterschied des Alters und Geschlechts, töteten. Sie selbst wollten
keine Gefangene machen, sondern töteten soviel sie konnten, ohne Unterschied des Geschlechts
und Alters. Nähren sich von den Früchten, die der Boden freiwillig darbietet und pflanzen
höchstens etwas Pururuca-Mais, den sie unreif essen, Bataten und Bananen. Keine Industrie.
[551] Haben Bogen und Pfeile, schlechte Töpfe, Strohgeflechte, mit denen sie ihre Nacktheit zum
Teil bedecken. 1842 gelang es dem ehrwürdigen Vikar von Matto Grosso, José da Sa Fraga
durch Ueberredung und Milde und mittels Geschenken sie nach einer Fazenda von ihm im
Registo do Jaurú zu locken; dort blieben sie alle, 177 an der Zahl, seit dem 1. April 1843,
heute sind sie auf 81 zusammengeschmolzen. In diesen 5 Jahren bezeigten sie wenig Lust
für den Feldbau und lebten nur von Pfeil und Bogen.
15. Cayapós. Zwischen Paraná und Paranahyba und im Quellgebiet des S. Lourenço
und Taquary. Einige sind in dem Destakament am Piquiry angesiedelt, andere in dem
Porto do Paranahyba auf der Strasse nach S. Paulo, andere leben frei. Jagd, Fischfang,
Bau von Mais, Reis, Mandioka, Bataten und Zuckerrohr. Machen etwas Rapadura (roh ein-
gekochten Zucker). Haben Schweine, Hühner, sogar einige Kühe und Pferde. Sprechen
grösstenteils portugiesisch. Viele verdingen sich. Wahrscheinlich sind einige Räubereien,
die den Coroados zugeschrieben werden, von ihnen ausgeführt.
16. Coroados. An den Quellen von verschiedenen Zuflüssen des S. Lourenço.
Von ihrer Anzahl und ihren Eigenschaften ist wenig bekannt; sie fliehen oder sind feindselig.
Haben Brände angestiftet bis auf zwanzig Leguas Entfernung von Cuyabá; daher werden
alle paar Jahre Truppen gegen sie ausgeschickt, die Erwachsene töten und Kinder gefangen
nehmen, was die Bekehrung auf keine Weise fördert.
17. Bacahiris. Quellen des Paranatinga und Oberlauf des Arinos. Sind von hervor-
ragend friedlicher Gesinnung. Fliehen vor den Angriffen ihrer Feinde, den Nambiquáras,
Tapanhunas und Cajabis. Leben von Jagd und Fischfang, pflanzen Mais, Mandioka, Bataten,
Cará, Gartenbohnen, Saubohnen und Zuckerrohr. Ihre Werkzeuge zum Feldbau sind aus
Stein oder Kernholz. Ihre Industrie: Hängematten mit Maschen von Baumwolle oder Tucum,
geflochtene Siebe und Körbchen. Nur sehr wenige (muito poucos) verstehen unsere Sprache,
indessen verlangen sie danach. Die Senhora Donna Feliciana Guerobina Pereira Coelho, eine
wohlhabende Landbesitzerin im Distrikt der oberen Serra*) nimmt sich ihrer freundlich an, be-
schenkt sie und äussert sich in günstiger Weise über die leichte Bekehrung. Sie sind Feinde der
18. Cajabis, unbezwungener Wilden in der Umgebung des Salto.
19. Barbados. Nur eine Ansiedelung am Abhang der Serra dos Pareciz bei den
Quellen des Rio Vermelho, eines Nebenflusses des Paraguay, dem entlang sie bis zum
Paraguay selbst umherziehen. Mais, Mandioka, Bataten, Cará. Werkzeuge von Stein und
Kernholz. Keine Viehzucht oder Industrie. Mit Andern nicht im Kriege; fliehen die
Brasilier, sind aber verrätherisch und haben zweimal Reisende zwischen Diamantino und Villa
Maria angegriffen.
20. Pareciz. 200; einst berühmt und kriegerisch. Verschiedene Gruppen in der
Serra und den Campos dos Pareciz zwischen Diamantino und dem Distrikt von Matto Grosso.
Machen zuweilen Besuche und bringen als Tauschwaaren Siebe, Körbe, Hängemattenstricke,
Federn, Trinkschalen und den von Rauchern sehr geschätzten Tabak, den sie fertig zurichten
und mit Urumbamba**) einwinden. Wenige sprechen und verstehen portugiesisch. Sie be-
gehen keine offenen Feindseligkeiten, gesellen sich aber zuweilen zu den Cabixis, um Unthaten
zu verüben.
[Bericht von 1858: Durch die Sklavenjagden der Paulisten stark vermindert. Die
Gründung des Dorfes bei der Stadt Diamantino ist von jungem Datum. 1856 erhielten sie
die ersten Geschenke.]
21. Maimbarés. Zahlreicher als die Pareciz, mit denen sie Beziehungen haben und
in deren Begleitung sie zuweilen erschienen, in Familiengruppen in den Einöden der Campos
dos Pareciz. Jagd, Bau von Mais, Mandioka, Bananen, Bataten, Cará.
[552]
22. Cabixis. Zahlreich in verschiedenen Dörfern, 15—20 Leguas nordwestlich von
dem Arraial de São Vicente. Feindselig, ziehen mit Raub und Brand bis in die Nähe von
Matto Grosso, so dass zuweilen Militär gegen sie aufgeboten wird.
23. Nambiquarás. 600 an der Vereinigung von dem Rio de Peixe und dem Arinos.
Jagd, Fischfang, Früchte der Serra, Werkzeuge von Holz und Stein. Führen mit den
Nachbarn gewohnheitsmässig Krieg, besonders mit den Apiacás. Wollen nichts mit den
Brasiliern zu thun haben, greifen Kanus auf ihrem Wege nach Pará an, haben aber grosse
Furcht vor den Feuerwaffen und leisten keinen offenen Widerstand.
25. Tapanhunas. Von derselben Art wie die vorigen. Etwa 800 an der Ver-
einigung von Tapajoz und Arinos.
25. Apiacáz. Anwohner des Juruena, besuchen auch die Ufer des Arinos. Sie
besitzen Eisenwaren und treiben Feldbau, Jagd, Fischfang. Halten sich bei ihren Fehden
mit den Nambiquarás und den Tapanhunas mehr in der Defensive, haben gleichwohl ihre
ursprünglichen Anthropophagen-Sitten durchaus nicht abgelegt. Leisten den Reisenden
Beistand, verkaufen Farinha von Mandioka, gerösteten Mais, Cará, Bataten, süsse Mandioka
(Aypim), Bohnen, Wassermelonen, Kürbisse, Vögel und Honig, ferner weitmaschige Hänge-
matten von Baumwolle oder Tucumpalme, Federschmuck.
26. Mequens. Am gleichnamigen Nebenfluss des Guaporé zwischen den Guaraios
und Palmellas. Fliehen; Geschenke, die man in den Wald gelegt hatte, wurden nicht an-
genommen.
27. Guaraios. An einem Ort namens Pao Cerne, 50 Leguas von Matto Grosso.
Mandioka, Bohnen, Mais; Jagd, Fischfang. Suchen Reisende auf.
[Bericht 1850: Von Pao Cerne herübergezogen 1852 nach der Aldea de Sta. Ignez
etwas abwärts von Matto Grosso. 31 Stämme von 40 Familien = 1240, herrührend, wie
man annimmt, aus einer Ansiedlung der bolivischen Provinz »Mofos« (nicht »Moxos«).]
28. Cautarios. An den gleichnamigen Flüssen zwischen dem Mamoré und Forte
Principe. Fischfang, Jagd, wildwachsende Früchte, Mandioka. Thuen uns Böses an, so viel
sie nur können. Sind Räuber, Verräter und Mörder.
29. Paceáz. Oestlich am Mamoré von der Guaporé-Mündung bis zum ersten
Katarakt. Ganz unbekannt.
30. Senabós. Westlich von Mamoré bis zum ersten Katarakt. Unbekannt. Im
Krieg mit den Jacarés (31).
31. Jacarés. Westlich von den Mamoré-Katarakten bis zum Madeira. Zahm, leisten
den Reisenden Beistand. Jagd, Fischfang, Feldbau.
32. Caripunas. Ueber 1000 gruppenweise in dem Kataraktgebiet des Mamoré und
Madeira. Jagd, Fischfang, Anbau von Mais, Mandioka, Bananen, Zuckerrohr, Bataten.
Friedfertig, ohne Mordgier, Diebstählen nicht ganz abgeneigt. Suchen uns auf und unterhalten
seit langer Zeit mit uns freundschaftliche Beziehungen. Leisten hülfreiche Arbeit an den
Katarakten, liefern den Reisenden auch Farinha von Mandioka, Werg, Theer, Gewürz,
Guaraná. Grossenteils verstehen und reden sie unsere Sprache. Sie waren schon in dem
Destakament do Ribeirão angesiedelt und Viele sind getauft worden.
33. Araras. Ziemlich zahlreich am Madeira von dem Salto do Girão bis zum Rio
Jauary. Jagd, Fischfang, Feldbau. Spinnen Baumwolle. Wild, in ewigem Krieg mit den
Muras und andern Nachbarn, verzehren ihre gefangenen Feinde.
Chiquitos. In Casalvasco sind noch etwa 60 dieser Indianer von den früheren
Auswanderungen aus Bolivien übrig geblieben. Bebauen das Land, spinnen und weben
Baumwolle, einige sind als Rinderhirten auf der dortigen Fazenda Nacional angestellt.
[[553]]
III. Volksglaube in Cuyabá.
Unser Haus in Cuyabá war eine „casa assombrada“ im guten und im schlechten Sinne,
»schattig« kühl und ein Haus, in dem es spukte; die schwarze, auch stark schattige Köchin
wollte uns kündigen und blieb nur, weil sie Abends in ihre eigene Wohnung ging. Wenn
Cuyabá und Umgebung ein, wie es scheint, von Geistern und Hexen besonders geliebter
Tummelplatz ist, so darf man nicht vergessen, dass die niedere Bevölkerung Zuflüsse für
den Volksglauben aus drei Weltteilen bezogen hat; Indianer, Neger und Europäer haben
sich zusammengethan. Obwohl gerade die letzteren es an reichhaltigsten Beiträgen nicht
haben fehlen lassen, so gelten doch namentlich die Neger als Schwarzkünstler ersten Ranges;
man nennt Hexerei oft schlechthin »Mandinga« und einen Hexenmeister »Mandingo« nach
dem Negervolk des südlichen Senegambiens, das viele Sklaven geliefert hat. Nicht selten
sieht man alte Neger, wie sie auf dem Wege vor sich hin murmeln, sich bücken und Zeichen
in den Sand kritzeln, und nimmt an, dass sie böse Geister vertreiben. Immer giebt es den
einen oder andern, der wegen seiner Schlangenmittel berühmt ist. Es wurde mir von zwei
Niederlassungen flüchtiger Sklaven (Quilombo) auf dem Wege nach Goyaz erzählt, wo man
sich gelegentlich um die Wette von Dorf zu Dorf verhexte. Aus dem einen Quilombo ent-
sandte man eine Kröte, der man ein Giftbeutelchen (eine kleine »Bruake«) auf den Rücken
gehängt hatte, um Jemanden drüben zu töten, allein dort merkte man, wenn sie herankam,
rief „vai te embora“ (»mach dich fort«) und fügte einige Sprüchlein bei, die wieder hüben
Uebles stiften sollten. Die Kröte mit dem Gifttornisterchen wanderte hin und her, der
Stärkere siegte, auch wurde ein Gewehr in der Richtung zum Feinde hin abgeschossen und
dieser starb. — Asien ferner stellt Vertreter in Gestalt von Zigeunern. Sie sollen gar
nicht selten unter den Moradores aufzufinden sein. Gelegentliche Besuche von Armeniern,
die ein paar Wochen von Dampfer zu Dampfer in Cuyabá bleiben, machen grossen Eindruck,
weil die Schmucksachen und Reliquien dem Sinne des Volkes vorzüglich entsprechen.
Bei der kurzen Zeit, die ich auf das Sammeln hierher gehöriger Dinge verwenden
konnte, bin ich nicht in der Lage, etwas Einheitliches und Vollständiges zu bieten; man wird
zumeist guten alten Bekannten begegnen, die man mit Verwunderung an so entlegenem Ort
eingebürgert sieht. Ich erhielt das Material teils von Landsleuten, die länger als anderthalb
Jahrzehnt in Cuyabá wohnten und dort mit mehr oder minder farbigen Frauen verheiratet
waren, von denen einer auch von der inneren Wahrheit der Angaben und namentlich von
den Zauberkünsten der Neger fest überzeugt war, teils von Brasiliern, insbesondere einem
katholischen Priester, geborenem Cuyabaner.
Goldmutter,mãi de ouro. »Nach Golde drängt, am Golde hängt doch Alles!«
Frauen legen dem Neugeborenen Goldsachen schon in’s erste Bad, damit er ein reicher Mann
werde. Es ist nicht mehr als billig, in dieser um der Goldminen willen gegründeten Stadt mit
der mâi de ouro oder »Goldmutter«, auf die so Mancher seine Hoffnung gesetzt hat, zu beginnen.
[554] Meteor heisst auf portugiesisch meteóro; daraus ist der Name mài de ouro entstanden. Die
Leuchtkugel bedeutet eine wandernde Goldmine. Mit dem Tupíwort boitata = Feuerschlange
wird die Erscheinung ebenfalls bezeichnet; der »Teufel« fliegt als Leuchtkugel vorüber und
lässt, wo er mit Jemanden einen Pakt geschlossen hat, das Gold fallen. Auch findet sich
eine Goldmine, wo Blitze öfter einschlagen. Wenn ein Meteor fällt, heisst es mãi de ouro
mudou, »die Goldmutter hat sich verändert«. Es kommt ein Feuerklumpen aus der Erde,
Goldfunken fallen herab, und 2—5 Leguas weiter dringt der Klumpen wieder in den Boden.
Leute sind hinterher gesprungen und haben am nächsten Tage bis ¼ Arrobe (4 kg) Gold
gefunden.
Die Frau, die das Wort »Goldmutter« anregen sollte, ist auch vorhanden. In Rosario
am Rio Cuyabá aufwärts wohnte dort, wo jetzt die Kapelle steht, ein grausamer Herr, dessen
Sklaven täglich Gold abliefern mussten. Ein alter Neger, Vater Antonio, hatte eine Woche
nichts gefunden; traurig streifte er umher, die Strafe fürchtend. Da sah er plötzlich eine
Frau da sitzen, weiss wie Schnee, mit schönen blonden Haaren. Sie erkundigte sich, weshalb
er so betrübt sei, und sagte: »Kauf mir ein blau-rot-gelbes Band, einen Kamm und einen
Spiegel und bring es her.« Der Schwarze brachte die Sachen zusammen und ging damit wieder
an den Ort. Sie zeigte ihm eine Stelle, er nahm die Waschschüssel und fand sehr viel Gold,
das er zu seinen Herrn trug. Die Frau hatte aber verboten, den Fundort zu nennen. Vater
Antonio wurde Tag um Tag gequält und geschlagen und lief in seiner Angst, die Frau
wieder zu suchen. Sie war auch da mit ihrem schönen, goldglänzenden Haar und erlaubte
ihm, dem Herrn die Stelle zu zeigen, er könne nachgraben mit allen seinen Leuten und
werde ein grosses Stück Gold finden. Mit 22 Sklaven arbeitete der Herr, und sie fanden
Gold die Menge, ja, es reichte wie ein Stamm in die Tiefe und man kam garnicht bis zum
Grunde. Die Frau aber warnte den Sklaven, er solle sich am nächsten Tage gerade vor
Mittag einen Augenblick entschuldigen. Mit wahrer Verzweiflung mühte sich der Herr und
seine Leute, die unbarmherzig geschlagen wurden, den goldenen Stamm heraus zu wühlen;
kurz vor Mittag sagte der Vater Antonio »ich habe Leibschmerzen« und ging bei Seite. Da
stürzte Alles zusammen, der Herr und die Leute wurden verschüttet und nie mehr gesehen.
Der Vater Antonio lebte noch lange und wurde über hundert Jahre alt. Auf Grund seiner
Erzählung veranstaltete eine Aktiengesellschaft in Cuyabá grosse Nachgrabungen.
Patuá. Im Tupí heisst patuá Kiste, Kasten; das Wort wird für allen glückbringenden
Zauber gebraucht. In der Nacht vom Gründonnerstag auf Charfreitag geht man Patuá holen
zwischen 11 und 12 Uhr an einem Kreuzweg, z. B. bei dem Kreuz auf der Strasse nach
Coxipó. Man kann dann mit dem Teufel einen Pakt schliessen und darf sich wünschen,
dass man Glück in den Karten oder bei den Frauen habe, gut Violine spiele, gut schiesse
und dergleichen. Neger gehen hin, mit einem grossen Säbel bewaffnet. Zuweilen greift sie
ein böses Tier an, dringen sie aber vorwärts, so finden sie den Diavo mór, den obersten
Teufel, als Bock, Ochsen, Kröte oder Frosch. Er lässt sich den Hintern küssen, er bewilligt
den Wunsch für bestimmte Zeit und befiehlt, jedes Jahr einmal zu der allgemeinen Versamm-
lung zu kommen. Baargeld giebt es nicht. Kein Heiliger darf bei Namen genannt werden.
Auch Frauen gehen Patuá nehmen. Eine sah einen grossen schwarzen Bock, verlor den
Mut zu bitten und schrie »Maria Santissima!« Von der Stunde an glaubte sie immer, sie
brenne und schüttelte an den Kleidern, als wenn sie das Feuer sähe, bis sie bald darauf starb.
Patuá sind auch die Amulette »von Heiligen oder vom Teufel«, erstere namentlich
italienischer Arbeit, so die der Santa Lucia gegen schlechte Augen, Jesuherzen, die des
Heiligen Geistes wider Alles und die „figa“, vergl. weiter unten, gegen den bösen Blick.
Kostbarer aber sind die nicht käuflichen Krötensteine. Ein Italiener hatte einen Ring
mit drei roten Krötensteinen, den er für ein Vermögen nicht hergegeben hätte; stellte man
eine Reihe von Tellern auf den Tisch, mit Speisen gefüllt und zwar zum Teil vergifteten,
[555] so wurden die Steine dunkel und schmutzig, wenn der Ring über einen Giftteller gehalten
wurde. Man fängt eine Kröte mit einem Tuch, steckt sie auf einen Pfahl, um den man
unten rotes Fahnentuch legt und der einer glühenden Sonnenhitze ausgesetzt ist, und sticht
die Kröte mit einem spitzen Stock. Das Tier, durch die Sonne und den Stock gereizt, lässt
aus dem Maul giftige Tropfen fallen, die harte Steine werden.
Von einem Zigeuner stammt angeblich die Vorschrift: Man nagelt am Charfreitag
eine hässliche, buckelige Kröte auf ein ungebrauchtes Brett in der Stellung eines Gekreuzigten
und lässt es in der Sonne stehen von Tagesanbruch bis zum Abend, die Kröte schreit grässlich
und stirbt. Drei Tage lang wird sie noch an der Sonne getrocknet, dann am Feuer, bis
man sie zu Pulver stossen kann. Sie wird ganz zerstampft; nimmt man ein wenig von dem
Pulver und bläst es aus einem Rohr in das Schlüsselloch, springt jedes Schloss auf.
Jede Thür zu öffnen vermochte ein Neger, der davon für seine Liebschaften Gebrauch
machte. Der Herr versprach ihm ein Kleid für eine Probe der Kunst; sofort öffnete der
Schwarze die fest verschlossene Saalthüre. Die Peitsche entlockte ihm das Geheimniss: Er
hatte drei Blätter um den Hals, die ihm der Specht, der die Bäume offen hackt, geliefert.
Man vernagelt das Nest eines Spechtes mit einem Brettchen, wenn die Mutter draussen ist,
und reinigt unten sorgfältig den Erdboden. Der Specht kommt, kann nicht öffnen, fliegt
davon, kehrt mit einem Blatt im Schnabel zurück und pickt: da fällt das Blatt, man fängt
es auf und zwar ehe es den Boden erreicht. Dies spielt sich dreimal ab, beim dritten Blatt
springt das Brett bei Seite. Klopft man mit diesem »Breve« (!) von Blättern an, springt
jede Thür auf.
Alle Fesseln zu lösen braucht man nur in der Nacht vom Gründonnerstag auf
Charfreitag eine Jiboya-Schlange(Boa Cenchria) zu fangen und zwischen zwei Bäumen
auszuspannen. Sie stirbt nicht, sie ist am andern Tag verschwunden, doch der Strick, mit
dem man sie befestigt, ist noch da. Bindet man sich ihn um den Leib, so befreit man sich
ohne Mühe aus dem Stock oder jeder Art von Fesselung.
Unsichtbarwerden gelingt durch ein dem Spechtmittel ähnliches Verfahren. Im
Nest eines Königsgeiers (Sarcoramphus papa) tötet man den Vater oder ein Junges, wenn
die Mutter abwesend ist und legt das tote Tier in dem Nest zurecht. Hier holt die Mutter
einen Stein und lässt ihn aus dem Schnabel auf den Kadaver fallen. Der Stein wird mit
der Hand ergriffen, man sieht ihn nicht, man fühlt und hört ihn nur. Nun hat man Patuá
man legt den Stein an einen Ort, ergreift ihn, wenn man ihn braucht, und ist unsichtbar,
die Leute werden ebenso geblendet, wie der Besitzer des Steins diesem gegenüber geblendet ist.
Blendwerk ist es auch nur und keine eigentliche Verwandlung, wenn man sich durch
ein Gebet an Gott den Augen der Menschen entzieht. Diese sehen dann einen Baumstamm,
einen Termitenhaufen oder dergleichen, immer etwas Stillstehendes, niemals ein Tier. Im
dichten Kamp kam eine Frau zwei Reitern entgegen, sie verschwand plötzlich. Die Reiter
stiegen ab, der eine stopfte sich sein Pfeifchen, der andere verrichtete ein Bedürfnis an
einem Termitenhaufen, den sie vorher nicht gesehen hatten. Als sie sich später umblickten,
war die Frau wieder da, aber der Termitenhaufen fehlte.
In S. Mathias in Bolivien verlor ein Soldat sein Pferd. Er musste den Sattel auf
dem Kopf bis zu einem Pferdegeripp tragen, der Herr Corregedor murmelte Zauber-
sprüche, das schönste Pferd sprang gesattelt auf, der Soldat bestieg es und konnte nicht
eher herunter, ehe das Ziel erreicht war; als er den Sattel abnahm, zerfiel das Pferd in Staub.
Curupira. Bei den Tupí gilt caypora = »Waldbewohner« als Waldgeist, der Kinder
raubt und in hohlen Bäumen füttert, und er erscheint als Jaguar oder dergleichen; als
neckischer Waldgeist in anderer Form heisst er gurupira, corubira (Martius, Zur Ethnographie
Amerika’s p. 468, Fussnote). In Cuyabá sind Curupiras kleine hellfarbige, fast blonde,
nackte Zwerge, die in Hügeln oder Schluchten wohnen. Nach dem Einen sind sie hübsch,
[556] nach dem Andern hässlich; sie kommen bei Vollmond oder am Tage heraus, 2, 3 bis 5 an
der Zahl, und entführen Kinder. Sie gehen durch den Berg gerade wie wir durch die
Luft. Wie sie sprechen weiss man nicht; man hat sie hunderte von Malen gesehen, aber
nie fassen können. Zurückgekehrte Kinder sind verwirrt und wissen nichts zu erzählen.
Es giebt einen Strauch — wenn man vorbeistreift, verirrt man sich im Wald. Er
ist elektrisch.
Gespenster bevölkern hauptsächlich verlassene Ansiedelungen (Sitios). Durch
Pfeifen bei Nacht werden sie in’s Haus gelockt. Nachts soll man keine Teller mehr auf-
waschen, damit die Geister Essen finden, sondern erst am nächsten Morgen, wenn sie sich
bedient haben.
In einem Hause spukte es, Steine flogen in die Fenster, das Licht wurde verlöscht,
alle Abende hörte man schlürfende Tritte, Thüren schlugen zu oder es wurde angeklopft
und Niemand war da, wenn man öffnete. Der Schwiegervater, ein Caboclo, fürchtete sich
nicht vor dem Teufel und rief, als er in einer Nacht in dem Hause zu Besuch war und die
Dinge miterlebte, laut: »Bruder, Schwester, wer es sei, lass die Familie in Ruhe und komm
zu mir auf die Chacara (Landhaus) hinaus!« Anderntags setzte sich Einer neben ihn in
die Hängematte; es war sein toter Bruder, der flehte, Juaninha, ihre Schwester, möge ihm
ein Wort verzeihen, er könne keine Ruhe finden. Weinend eilte der Caboclo sofort nach dem
Spukhause, Tante Juaninha weinte auch und verzieh; die arme Seele kam nicht wieder.
Werwolf. Von anämischen Leuten nimmt man häufig an, dass sie Freitag Nacht
auf den Kirchhof gehen, Tote auswühlen und fressen. Sie verwandeln sich in einen „Lobis-
homem“. Dieser sieht aus wie ein grosser Hund, die Hinterbeine sind viel höher als die
Vorderbeine, dabei läuft er — und zwar sehr schnell — mit (wie wenn man den Kopf auf
den Ellbogen aufstützt) zum Ohr aufgeknickten Vorderbeinen. Es giebt schwarze, weisse,
gelbe, je nach der Farbe des Menschen. Wenn eine Frau sieben Knaben zur Welt bringt,
so wird der erste oder der letzte ein Werwolf. Er selbst kann nicht dafür, es ist sein Fatum.
Er frisst Unrat in Bächen und Kanälen und bricht ihn als Mensch wieder aus, daher das
bleiche, fahle Aussehen.
Jemand lud einen Mann, den er im Verdacht hatte, zu einem Schnäpschen ein: „quer
matar um bicho?“*) Als er gemütlich mit ihm allein war, kratzte er ihn plötzlich, wie man
Hunde kraut, hinter den Ohren. Wütend rannte der so Behandelte fort; er war also richtig
erkannt.
Man entzaubert den Werwolf 1. durch einen Stich, der nur einen Blutstropfen zu ent-
locken braucht, 2. durch einen Hieb mit einem Bambusspan oder einem Messerchen (nicht
einem grossen Messer), 3. durch einen Steinwurf. Er wird jedoch der geschworene Feind
seines Befreiers und sucht ihn zu töten, indem er ihm gleichzeitig grosse Bezahlung zum
Dank verspricht.
Pferde ohne Kopf. Während der Charwoche Nachts zwischen 10 Uhr und dem
ersten Hahnenschrei um 2 Uhr sieht man in den Strassen von Cuyabá oder auch im Kamp
Pferde ohne Köpfe umherlaufen.**) Wo sie auftreten, schlagen Feuerfunken hervor; sie
streiten und beissen sich, sodass sie einen tobenden Knäuel bilden, sie heulen und wiehern
fürchterlich. Gerät ein Kind dazwischen, wird es mitgenommen. Sie eilen auf Alles los, was
blinkt. Wer sie ungestört sehen will, muss Fingernägel, Zähne, Schuhnägel, Metallknöpfe
und dergleichen wohl verborgen halten und soll sich deshalb auf den Bauch legen. Diese
cavallos sem cabeça sind Weiber, die sich zu ihren Lebzeiten mit Geistlichen abgegeben
[557] haben, doch bedroht die Strafe nur diejenigen, die vorher schon eine andere Verpflichtung
hatten und sieben Jahre mit dem Geistlichen gelebt haben. Die Pfaffenweiber kommen
weder in den Himmel noch in die Hölle, sondern müssen umherirren. Deshalb wird es den
Geistlichen garnicht so leicht, Mädchen zu finden, die mit ihnen leben wollen. Man erblickt
die Pferde ohne Kopf mitunter auch zu anderer Zeit des Jahres, immer aber in den Nächten
von Donnerstag oder Freitag. Wenn Pfaftenweiber Freitags schlafen und die Thür steht
offen, so sieht man, dass blaues Feuer wie brennender Spiritus von der Hängematte herab-
tröpfelt.
Eine nächtliche Erscheinung ähnlicher Art in verlassenen Strassen ist die einer
Muttersau mit Ferkeln. Das ist dann immer die Seele einer Frau, die sich an keimendem
Leben versündigt hat. So viele Aborte, so viele Ferkel.
Hexen. Hat eine Frau sieben Mädchen, so wird das letzte eine Hexe (bruxa). Die
Hexe fliegt Nachts über die Häuser; man hört ein Rauschen oder Knittern wie von steif-
gebügelten Kleidern. Jeden Freitag reibt sie sich mit einer Salbe, in der Blut von Neu-
geborenen enthalten ist, und fliegt nun als Ente hoch durch die Luft bis zum Meer. Dort
begegnen sich viele mit dem Teufel, der als grosser schwarzer Enterich kommt (pato macho
oder marrão), begatten sich mit ihm und baden zusammen bis 2 Uhr. Ein verheirateter
Mann hat sich einmal auch mit der Salbe eingeschmiert, ist nachgeflogen und hat sich, am
Meer zuschauend, auf einen Baum gesetzt. Er beobachtete Alles und kannte in dem Schwarm
seine Frau als eine weisse Ente heraus. Er kehrte zuerst zurück, legte sich nieder, einen
scharfen Säbel neben sich und that, als ob er schliefe. Die bald heimkehrende Frau legte
sich auf den Säbel und verwundete sich so, dass sie starb.
Ein zweiter Gewährsmann erweiterte diese Angaben. Die Hexe sticht mit einer Nadel
in den Nabel eines neugeborenen, noch ungetauften Kindes, und saugt das Blut aus, so dass
das Kind stirbt. Sie bereitet sich mit dem Blut eine Salbe und reibt sie in die Achselhöhle,
(wo die Flügel entstehen). Sie sagt dann den Spruch: „debaixo das nuvems, emcima dos
arvoredos“, »unter den Wolken, über die Büsche« und fliegt als Ente davon. Man hört oft
von den zahlreichen Enten ein gewaltiges Geschnatter. Ein Gatte, der sich ebenfalls ein-
schmierte und nachflog, hatte den Spruch falsch gesagt: „debaixo das nuvems, debaixo dos
arvoredos“, er verwandelte sich in eine Ente und flog auch, geriet aber in Sträucher und
stachliges Gestrüpp, wo die heimkehrende Frau ihn als Ente fand und mit nach Hause
nahm. — Wenn ein Mann erfährt, dass seine Frau eine Hexe ist, so wird sie dadurch
schon entzaubert, oder sie entzaubert sich selbst durch einen Spruch und sie leben
dann glücklich zusammen weiter. Die Hexen brauchen gar keine bösen Personen zu
sein; sie führen oft ein frommes und gutes Leben, sie fühlen sich nur glücklich in
ihrer Verwandlung. Untereinander kennen sie sich; dass sie Hexen sind, beichten sie
niemals. Hexe sein ist ein Fatum, wie Werwolf sein. Um sie zu entzaubern, ziehe man
Nachts, wenn sie bum, bum, bum vorüberrauschen, rasch die Unterhose aus, kehre sie um
und werfe sie auf das Dach; dann sieht man die Hexen herabfallen.
Sie müssen über sieben Länder zum Meere fliegen. Im Paraguaykrieg wusste man
»im geheimen« genau, wie es in den entfernten Provinzen gerade aussah; diese Nachrichten
waren von den Hexen mitgebracht worden.
Der sicherste Schutz wider die Hexen ist für das neugeborene Kind die offene Scheere
unter dem Kopfkissen. Inwendig an den Thüren oder an der Schwelle ritzt man ein
Pentagramma ein. Würde die Scheere gebraucht, so würde der Nabel eitern. Wird ein
Kind ein oder zwei Tage nach der Geburt krank, so wird ihm die Unterhose des Vaters
ein paar Mal rund um den Leib geschlungen.
Böser und guter Zauber. Von dem gläubigen Landsmann wurde mir eine
interessante Geschichte aus seiner eigenen Erfahrung erzählt, die sich aber in Buenos
[558] Aires vor vielen Jahren abgespielt hat, als er dort war. Er wohnte bei einem Argentinier,
der zwar eine hübsche Frau besass, jedoch mit einer leichtsinnigen Person im Haus gegen-
über ein Verhältnis unterhielt. Die Geliebte wollte die Frau töten und erbat sich ein Stück
Brod, in das diese bereits gebissen hatte. Auf den Rat unseres Landsmannes gab der
Argentinier ein Stück Brod, das er ihr selbst und nicht der Gattin weggenommen hatte.
Am nächsten Tag kam die Dienerin der Geliebten gelaufen, ihre Herrin liege in schrecklichen
Krämpfen und fluche dem Don Enrique, dem »ingrato«. Sie eilten in den Garten und
fanden in einem Kistchen eine grosse Kröte, sie hatte das Stück Brod im Maul und einen
dicken Stein darüber gezwängt, so dass sie es nicht ausspucken konnte. Stein und Brod
wurden weggenommen, die Kröte in Freiheit gesetzt, und die unglückliche Kranke kam wieder
zu Kräften. Unser Landsmann hatte die Geschichte aber noch Niemanden in Cuyabá erzählt,
»er sei nicht so schlecht, die Leute so etwas zu lehren«. Immerhin sei sie in diesem Zu-
sammenhang mitgeteilt, da sie zu dem Krötenzauber (vgl. Seite 554) passt.
Cortar o rasto, »die Spur ausschneiden«, ist ein im Matogrosso beliebtes Mittel.
Man umschneidet die Spur eines Feindes, hängt die gesammelte Erde in einem Säckchen
über den Herd; sowie die Erde trocknet, trocknet auch die Person.
Auf abgeschnittene Haare treten macht den früheren Besitzer irrsinnig.
Nägel oder Haar hält man von dem Gatten, der verreist, zurück, wenn man will,
dass er das Wiederkommen nicht vergesse. Die Frau darf das Haus nicht sogleich nach
dem Abschied ausfegen, sonst würde sie den Mann hinausfegen und er käme nicht zurück.
Wünscht sie umgekehrt, er bleibe fort, so fegt sie das Haus sofort und wirft den Kehricht
hinter ihm her oder in’s Wasser. (Zum Zeichen der Trauer darf das Haus vom Grün-
donnerstag Mittag bis zum Mittag des Halleluja-Sonnabend nicht gefegt werden, wie schmutzig
es auch sei; keine Frau macht sich das Haar.)
Will eine Frau die Liebe eines Mannes gewinnen (nicht etwa verlieren), so
schabt sie sich ein wenig von den Nägeln oder schneidet ein paar Haare klein und mischt
das in seine Zigarette. Oder sie setzt sich nackt in eine grosse Blechschüssel mit wenig
Wasser und zerbricht in gebückter Stellung ein Ei über den Schultern, das hinten in die
Schüssel niederläuft; sie nimmt das Ei mit der Hand aus dem Wasser heraus und mischt
es unter eine Speise, die dem Mann vorgesetzt wird. Oder, ein Mittel, das auch verheiratete
Frauen bei Untreue des Gatten anwenden, sie setzt dem Kaffee, den der Mann trinkt, drei
Tropfen ihres Menstrualblutes zu.
Böser Blick. Ein Kind, „de maos olhos“ angesehen, wird krank und stirbt, wenn
es nicht schleunigst eingesegnet wird. Der Schwächezustand, in den es gerät, heisst
quebranto und spielt eine grosse Rolle; das Kind ist wie »gebrochen«, wird »weich«, schlaff,
will nichts mehr essen. Am grössten ist die Gefahr am siebenten Lebenstage, wo kein
Fremder in’s Haus gelassen wird; die Kinder sterben am leichtesten am siebenten Tage und
man redet deshalb auch von der „molestia do setimo dia“. Zum Schutz gegen den Quebranto
trägt das Kind ein rotes Bändchen um den Hals, an dem häufig eine aus Holz oder Knochen
geschnitzte oder goldene Faust, die „figa“, befestigt wird; der gleiche Name kommt der
verhöhnenden Geberde zu mit Daumen zwischen Zeige- und Mittelfinger.
Ein Mittel gegen Quebranto besteht darin, dass man die Unterhosen des Vaters
dreimal durch die Strickbündel der Hängematte durchzieht. Mit Nadel und Zwirn ferner
näht man über dem kranken Kinde in der Luft und spricht dreimal: que eu coso? Carne
quebrada, veia fendida, osso partido. »Was nähe ich? Zerschlagenes Fleisch, zersprengte
Ader, zerbrochenen Knochen.«
Vorbedeutende Zeichen für den Tod sind: Hundeheulen, Verschwinden der
Tauben (»am Vorabend«), ein schwarzer Schmetterling im Haus. Setzt sich eine Eule Nachts
auf das Dach, so stirbt Einer im Hause binnen acht Tagen.
[559]
Wenn ein Leichnam weich ist, so ist, so ist das ein Zeichen, dass der Tote bald Jemanden
holen wird; man lege Steine in den Sarg oder werfe sie hinter ihm her. Damit ein Toter
nicht wiederkomme, lege man Nachts unter das Kopfkissen eine offene Scheere. Es ist
überhaupt gut, eine geöffnete Scheere an der Wand hängen zu haben.
Man hängt Hängematten, zumal auf einem Nachtlager unterwegs, nicht an einer Quer-
stange auf: so werden Tote getragen, und die dabei benutzte Stange bleibt auf dem Grabe.
Man soll sich nicht schlafen legen mit den Füssen der Thür zu, sonst stirbt man und wird
auf den Kirchhof getragen.
Hahnenkrähen am Abend bedeutet, dass ein Mädchen im Hause Nachts entfliehen
will. Die Hummel singt Sehnsucht von Verwandten.
Fällt Essen aus dem Löffel, soll man es über die Schulter werfen; ein Verwandter
ist hungrig. Soll ein abwesender Sohn, Gatte oder dergleichen zurückkehren, füllt man bei
Tisch einen Teller und, wenn man fertig gespeist hat, hebt man ihn über den Kopf und
ruft aus »oh, mein lieber Sohn etc. komm!«
Klingt das rechte Ohr oder ist heiss, spricht Jemand schlecht von uns; dasselbe be-
deutet vom linken, dass Einer gut von uns spricht, vom rechten und linken gleichzeitig, dass
Einer gut und Einer dawider schlecht spricht. Auch spricht Einer schlecht, wenn man sich
in die Zunge beisst; man soll abwehrend über die Schulter zurückschlagen. — Hat man
lästigen Besuch, so dreht man einen Pantoffel oder einen Stuhl nach oben: jener geht
sogleich fort.
Wenn die Hand juckt, darf man nur von aussen nach innen kratzen.
Bei »Lazaruskrankheit« saugt man an den Ohren, bis sie anschwellen. Ein Heil-
künstler that dies und zog aus dem Mund des Patienten dicke Fleischmaden heraus, die
Ursache der Krankheit.
Gegen den sehr häufigen Kropf dient ein Faden um den Hals, der Sonntags ge-
sponnen ist. Weil die Sonntagsarbeit Niemanden vorwärts bringt, geht auch der Kropf
nicht vorwärts. Der Faden bleibt liegen, bis er verfault.
Um einer Frühgeburt vorzubeugen, wäscht sich der Vater des Kindes die Hände
und die Frau trinkt das Wasser. Bleibt die Nachgeburt aus, so kratzt man Holz von der
Innenseite der Thürschwelle und giebt das Geschabte in den Trank der Wöchnerin.
Zahnschmerzen kurierte Januario unterwegs bei unserm Peter; er zog mit seinem
Messer einen Kreis in den Boden, zeichnete einen Mann hinein, kniete nieder und allerlei
— ich weiss leider, da ich nicht dabei war, nicht was für — Worte murmelnd stach er
den Mann im Kreise mehrere Mal in’s Herz.
Wenn der Neumond herauskommt, wenden sich Frauen mit Zahnschmerzen ihm zu
und beten.
Nur bei abnehmendem Mond darf Bambus und Holz für den Hausbau geschnitten
werden. Die aufgeklärtesten Leute fürchten, das Haus werde sonst faulen und Würmer an-
ziehen. Bei Mondwechsel laufen mehr Schlangen herum.
Naht böses Unwetter, so zündet man zur Abwehr ein schwarzes Wachslicht an, das
bei der Begräbnisprozession Christi gebraucht worden ist.
Am Palmsonntag werden Zweige von jungen Akurípalmen vom Bischof eingesegnet
und verteilt; Höhergestellte erhalten sie mit Bändern und Rosen geschmückt. Ein einzelner
Blattstreifen um den Hals vertreibt den Kropf. Bei starkem Gewitter wird ein Blatt der
sorgfältig aufbewahrten Zweige verbrannt, damit der Blitz nicht einschlägt.
Schlangen bleiben still liegen, wenn eine Frau den Rocksaum zusammendreht.
Jäger vergraben einen Rehkopf, das Maul nach unten, nahe dem Hause. Jagen
die Hunde ein Reh auf, so nimmt es hierher den Weg. Oder es kommt auch ohne die
Hunde von selbst.
[560]
Hat ein armer Teufel ein Stück Vieh gestohlen, so vergräbt er die Zunge mit der
Spitze nach oben so, dass sie ein wenig herausschaut. Dem Besitzer des gestohlenen Tieres
bleibt dann unbekannt, dass es verschwunden ist.
Wer rachsüchtig eine Viehherde auseinandertreiben will, streut Salz in’s Feuer.
Kirchlicher Zauber. Vorausschicken möchte ich das in Brasilien allgemein ver-
breitete Tiermärchen, wie es mir in Cuyabá erzählt wurde, vom Bemteví-Vögelchen,
(Tyrannus sulfuratus, in Brehm’s Tierleben, Vögel I, p. 549 fälschlich Bentevi geschrieben).
Maria wollte sich auf der Flucht nach Egypten, als die Soldaten des Herodes sie verfolgten,
im Hause des Töpfervogels, Furnarius rufus, oder João de barro, verstecken; die Lehmnester
dieses guten Lehmhans, der sich ihrer eifrig annahm, sind Jedermann von Dächern, Balken
und hohen Passionskreuzen her wohlbekannt. Der neugierige Bemteví höhnte schreiend
hinter Maria her und rief sein ewiges „bem te vi“ »wohl sah ich dich«. Sie verfluchte ihn;
seither hat er kein Fleisch mehr, sondern besteht aus lauter Maden, von denen er voll steckt.
„Lavadeira da Nossa Senhora“ »Waschfrau der Muttergottes« wird vom Volk eine
grüne Heuschrecke genannt, deren Anspringen Glück bedeutet. Der Name rührt wohl von
dem der Gespenstheuschrecke (Mantis) „louvadeos“ = »Gottesanbeterin« her, wenn die Tiere
nicht überhaupt identisch sind. Letztere Bezeichnung hat ihren Grund in der an eine Betende
erinnernden Körperhaltung.
Taufe. Ungetaufte Kinder aufnehmen bringt Glück in’s Haus. Totgeborene Kinder
tauft man am 2. Februar, an Mariae Lichtmess: Padrinho und Madrinha, Pate und Patin
giessen Wasser über das Grab. Kinder, die auf der Fazenda ungetauft sterben, begräbt man
an dem Thor des Currals, der Viehhürde. Die Kühe taufen! Dabei liegt den Leuten
Frivolität fern.
Der Heiligenkultus bedeutet für die niedere Bevölkerung und für alle Frauen
Cuyabá’s einen äusserst groben Fetischdienst.
Hausgötzen in Form von Heiligenbildern und -figürchen aller Art in buntem Flitter-
staat, fehlen auch nicht in der ärmsten Hütte. Begeht man ein Unrecht, so werden sie
zugedeckt. Der Besucher, der sich auf irgend einen Kasten setzen will, fragt: »es sind doch
keine Heiligenbilder darin?«
Der Santo wird belohnt und bestraft, je nachdem er sich bei der Promessa,
dem Gelöbnis, bewährt. Der heilige Antonio, der übrigens in rio de Janeiro, was all-
gemein, ob es Wahrheit oder Dichtung sei, geglaubt wird, als Tenente-Colonel, Oberst-
leutnant, sein regelmässiges Gehalt beziehen soll, ist der meist berufene Schutzpatron.
Ist Jemand ein Pferd abhanden gekommen, so wird der Heilige mit einem Halfter bedeckt
und in das eine Ende eingebunden, ein gesticktes Tuch wird darüber gebreitet, ein
Lichterpaar angezündet und feierlich das Gelöbnis ausgesprochen, dass er einen Vintem,
20 Reis = 4 Pfg., erhalten werde, wenn er das Pferd zurückbringe. Mehr Geld nimmt er
nicht. Heiratslustige Mädchen machen eine Promessa, dass er ihnen zu einem Mann ver-
helfe. Tritt keine sichtbare Wirkung ein, so kommt er hinter die Thüre und ein Hut wird
ihm fest aufgedrückt aus schwarzem Wachs von bösen, wilden Waldbienen. Hilft diese Auf-
munterung noch nicht, so wird er an einen Faden angebunden und in einen Brunnen hinab-
gelassen. Nächster Grad: er kommt unter den Topfuntersatz, den Takurú, am Herdfeuer
und wird einige Tage gebacken. Kann oder will er auch dann noch nichts, so wird er im
Mörser zerstampft.
Erfüllt der Heilige jedoch die Wünsche, wird er fröhlich gefeiert, es wird Schnaps
getrunken und Kururú getanzt, und er steht in seinem Kasten auf dem Tisch als Mittel-
punkt des Ganzen. Lustiger geht es natürlich noch an den kirchlichen Festtagen her,
namentlich den Tagen des S. João, S. Antonio, der Nossa Senhora da Concepção,
des S. Pedro und der Sta.Anna. Die Hauptfeier ist stets am Vorabend und wird in be-
[561] stimmten Häusern begangen, wo das Heiligenbild auf einem Altar zwischen Lichtern steht;
es bilden sich schon ein Jahr vorher Gesellschaften, durch das Loos werden Aemter gezogen:
König, Königin, Richter, Richterin, Hauptmann der Flaggenstange und Leutnant der
Flagge etc. So wird z. B. am 12. Juni (S. Antonio 13. Juni) in der Nacht ein »Mastbaum«
gesetzt und die Flagge, auf die der Heilige gemalt ist, mit grossen Feierlichkeiten gehisst.
Kururúgesang und Tanz, nachher Ball. An den Tagen der drei Heiligen João, Antonio und
Pedro werden Freudenfeuer angezündet und süsse Kartoffeln, Mandioka und Kará (Yams)
in den Kohlen gebraten. Schnaps in Menge; Festessen. Eine Woche später wird der
Mastbaum weggenommen und der für das nächste Jahr gewählte Leutnant erhält die Flagge.
Ueber das Johannisfeuer springt man, Kohlen kann man in den Mund nehmen und ver-
brennt sich nicht. Für den heiligen Johannes macht man keine Gelöbnisse, denn er thut
keine Wunder vor dem jüngsten Tage, bis zu dem er schläft. Wüsste er den Tag, an dem
sein Fest gefeiert wird, so würde die ganze Welt im Feuer untergehen. Er hat als Feuer-
heiliger allein eine rote Flagge, die der andern ist weiss.
Der Kururú ist der beliebteste Matogrossotanz, an dem nur Männer teilnehmen.
Musikinstrumente: Koschó, eine selbstgemachte Geige aus Weidenholz mit wenigen Darm-
saiten, Krakaschá, ein Stück Bambusrohr oder ein langer Kürbis mit eingeschnittenen Kerben,
über die man mit einem andern Stück Rohr „krakascha …“ kratzt, Adufe, ein Tamburin
mit alten Kupfermünzen statt der Schellen, Viola, die Geige mit Drahtsaiten, zuweilen auch
die Marimba der Neger. Den Anfang des Festes bildet ein allgemeines Spiel. Der Heilige
wird im Kreis umtanzt und umsungen, und wer passiert, macht seine Kniebeugung. Dann
werden König und Königin besungen, kommen mit der Schnapsflasche in den Kreis,
schenken Jedem ein und schliessen sich dem Kreis an, der nun einen andern besingt und
von ihm bewirtet wird etc. Verse giebt es, lauter Vierzeiler, von allen denkbaren Arten;
denen der Andacht folgen im Kururú die der Liebe, des Spottes und irgendwelcher Launen;
sie werden der Feststimmung angepasst und die bekannten machen bald den frisch impro-
visierten Platz. Tambaque wird eine Baumtrommel — ein ausgehöhltes Stück Stamm mit
Fell überzogen — und der zugehörige Tanz genannt. Eintöniges Singen z. B.: „kágado
trepado no telhado é coisa que nunca se viu“ »eine Schildkröte, die auf ein Dach steigt, das
hat noch Niemand gesehn.«
Garnicht selten werden »Tiertänze« bei den Festen der Heiligen getanzt, allein nicht
auf indianische Art. Es sind hauptsächlich Ringeltänze und zwar der Frauen. So ein
Kaimantanz mit den Worten: „deixe estar, jacaré, sua lagôa ha de seccar“ »lass nur gut
sein, Kaiman, Dein Sumpf wird austrocknen.« Ein anderer bezog sich auf Bienen und Glüh-
würmchen: „Abelinha, come pão! quando come, nâo me dâo“ »Bienchen, iss Brod! Wenn
es isst, kriege ich nichts« und „Vamos tirar mel! Eu cago fogo! Donna Maria quer lamber“
»Lass uns Honig holen! Ich kacke Feuer! Donna Maria will lecken.« Jede Tänzerin hat
einen Stock und, wenn der Takt fógo kommt, dreht sie sich um und schlägt auf den Stock
der nächsten. Sehr gern wird der Perú- oder Putertanz getanzt; drei Frauen, von denen
zwei Männchen und die dritte ein Weibchen darstellen, breiten die Röcke aus und kollern.
Das Weibchen läuft zwischen die Zuschauer, um sich zu verstecken; wer von den ver-
folgenden Männchen es fertig bringt, sich gerade vor das Weibchen zu stellen, ist der Sieger.
»Schlag mit den Flügeln, Puter!« „avoa, perú, avoa!“ Das sind also sehr harmlose Scherze
die den Heiligen nicht verdriessen können.
Gegen Gebräuche am St. Johannistag wendete sich mit scharfen Worten der Bischof
Carlos von Cuyabá am 27. Mai 1888 in einem Hirtenbrief, der folgende nähere Angaben
macht. Am Vorabend werden »mit wahrem Possenspiel kleine Bilder des Heiligen an die
Flüsse, die Quellen, sogar die Wasserleitung gebracht und unter Gesang mit Musikbegleitung
eingetaucht, in der Ueberzeugung, eine fromme Handlung zu begehen; am andern Tage
v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 36
[562] werden die Bilder in die Kirche genommen und während der Messe auf den Altar gestellt.«
Dieser »ausserordentliche Missbrauch soll als unerträglich« beseitigt werden. Warum aber
nicht vor allem auch die Promessas und der Heilzauber mit dem Santo und den überall
verbreiteten geschriebenen und gedruckten Gebetformeln, von deren Erfolgen Ueber-
triebeneres versprochen wird als von denen der grossartigsten amerikanischen Patentmedizinen?
Gegen Hexerei schützt man das Kind, wenn man mit seinem roten Halsbändchen die
Länge und Breite von Heiligenbildern ausmisst. Für schnelle Geburt sorgen die von den
Armeniern gebrachten Jerichorosen, denn wie sich die Rose aufthut, so auch der Uterus.
Die Gebetformeln werden namentlich von Frauen gebraucht. Ein Jude hatte sich
heimlich aus der Stadt entfernt, Schulden und eine Cuyabanerin mit Kindern zurücklassend.
Die Frau betete eine Novena, neun Nächte lang, zu Ehren des heiligen Antonio und bediente
sich dabei der Formel: „S. Antonio se vestiu, suas alparacatas calçou“ oder lieber gleich das
Ganze in Deutsch: St. Antonio kleidete sich an, schirrte seine Sandalen, band seinen Strick
um den Leib, griff nach seinem Stab und ging daher auf dem Wege. Er traf Jesum
Christum, der ihn fragte: »wohin gehst du, Antonio?« St. Antonio antwortete: »Herr, ich
ziehe hinaus in die Welt.« Jesus Christus aber sprach: »kehre heim, Antonio, beschaffe
mir den Marcos Rietsch.«
Gegen Zahnschmerzen: Sankt Peter sass auf einem Stein mit Zahnschmerzen, murrend
und seufzend. Da kam unser Herr Jesus Christus vorbei und fragte: »was hast Du, Peter?«
»Zahnschmerzen, Herr.« »Peter, wenn es ein Tier ist, soll es sterben, wenn es Blut ist,
soll es ruhig werden, wenn es Säfte sind, sollen sie trocknen« (Originalorthographie: Pedro
se for bixo que mora se for sangre que a brande se for o mor que seque). »Denn, Peter,
wer dies Gebet an seinem Halse trägt, wird keine Zahnschmerzen („dordedente“) haben.«
Zu beten: „Um padre nosso Uma a ve maria Uuma santo maria a sagrada morte paxão
de noco çenhor Jezus charisto. Pertence (es gehört) está Oraçao para Senhora Silveriana
Maria da Sus.“
Sehr verbreitet ist die lange „oração de S. Sepulcro“, namentlich zwecks leichter Ent-
bindung um den Hals zu tragen, »gedruckt in Rom auf Befehl des Heiligen Vaters« mit
dem Titel: »Kopie von einem Brief und Gebet, gefunden im Heiligen Grabe Unseres Herrn
Jesus Christi und aufbewahrt von Seiner Heiligkeit und von Kaiser Karl II. in seinem Bet-
gemach in einem Silberkasten.« Wir erfahren, dass Christus der heiligen Isabella von
Ungarn, der heiligen Mathilde und der heiligen Brigitte erscheint und ihnen eine Statistik
seiner Leiden mitteilt, z. B. »Stösse auf den Kopf empfing ich 150, auf die Brust 106, auf
die Schultern 80, sie spieen mir in’s Gesicht 30 Mal, schlugen mich auf den Leib 666 Mal,
ich stiess zu gleicher Zeit 129 Seufzer aus, der vergossenen Blutstropfen waren 38430« u. s w.
Eine andere Kopie in goldenen Lettern ist am 2. Januar 1650 drei Meilen von Marseille
gefunden und von einem siebenjährigen Kinde übersetzt worden. Mit sieben Paternostern,
sieben Ave Marias etc. Schutz gegen Pest, Blitz, Verleumdung etc., Erleichterung der Nieder-
kunft und Befreiung bei jedesmaligem Gebet einer Seele aus dem Fegefeuer. Wer das
Gebet bei sich trägt, stirbt nicht ohne Beichte: auf einer Seereise wurde Jemand enthauptet,
der Kopf, an dem dieses Gebet noch befestigt war, wurde in das Meer geworfen,
begegnete einem Schiff mit einem Padre an Bord und konnte beichten.
[[563]]
Appendix A Inhalts-Verzeichnis.
Die kursiv gedruckten Wörter bezeichnen Indianerstämme.
- Abortus 334. Bororó 503.
- Abschiedsfeierlichkeit Bak. I. 132, 137.
- Adam, Lucien 398.
- Affenbraten 36.
- Ahnensage 364 ff. Texte 372 ff. Texte
der Stammesgeschichte 378 ff. Ver-
hältnis zur Geschichte 402, 403. Paressí
436 ff., Bororó 515, 516. - Aldebaran 359.
- Aluíti-Nahuquá 154.
- Amakakati-Tanz (Nahuquá) 99, 306.
- Ameisen, fliegende 106, 116.
- Ameisenbär und Jaguar, Legende 383 ff.
- Andree, Rich. 198, 244, 245.
- André Vergilio d’Albuquerque 6, 152.
- Angel 235. Bororó 482.
- Ansiedler 21 ff.
- Anstreichen und Malen 184. Bororó 477.
- Anthropologische Gesellschaft (Berliner)
3, 78. - Anthropologisches 159. Kulisehu-
Stämme 160—172. Paressí 428—430.
Bororó 468—471. - Antonio (Bakaïrí, unser Begleiter) 12.
Seine Vorfahren 390. - Anuakúru oder Anahukú-Nahuquá 154.
- Apalaquiri-Nahuquá 154.
- Apiaká (Karaiben) 399. Wörter 400, 401.
- Apiaká (Tupístamm) 253, 379, 388.
- Arara 401.
- Aratá 98, 109, 155.
- Arateba, Bororóhäuptling 454, 457, 464.
- Arauiti 111, 154, 331.
- Argo 360.
- Arigá-Bororó 515.
- Arimoto 380.
- Arinosstämme 366 ff. Text 379.
- Aróe 480. Musik 493, 494.
- Aroetauarari 491.
- Arsenikpillen 134.
- Arumá 118, 155.
- Arzruni, Prof. 203.
- Auayato, Auetö́-Häuptling 108, 127.
- Auetö́. Besuch 107. Empfang 107.
Fremdenverkehr 110. Aufenthalt
107—111, 125. Hafen 125—127.
Zentralpunkt 154. Tupí 157. Ge-
schichtliches 391. - Auetö́-Ornamente 266 ff.
- Ausrupfen des Haars 176 ff. Paressí 430.
Bororó 471. - Ausrüstung 13, 14, 15. Unterwegs 26 ff.
- Barbados (Nachbarn der Paressí) 426,
(Nachbarn der Coroados) 444. - Bari = Medizinmann der Bororó 456.
- Baitó (Ranchão) 451.
- Bakaïrí des Batovy 153, 391, 394, 395.
- Bakaïrí des Kulisehu.
Dorf I (Maigéri) 57, 85, 131, 154.
Dorf II (Iguéti) 87, 89, 130, 154.
Dorf III (Kuyaqualiéti) 92, 130, 154.
Dorf IV 154.
Karaiben 158. Vgl. Karaiben. - Bakaïrí, zahme (Rio Novo, Paranatinga)
24. Geschichtliches 387 ff. Paressí-
sage 438, 439. - Bananen 210, 211, 212, 395, 425.
- Bastbinde der Frauen 193, 198. Paressí-
Leibbinde 431. Bororó 473, 474.
Ornament 499, 500. - Bastian 100, 132, 205.
- Batovy 17, 18, 41 ff., 153. Bakaïrísage 380.
36*
[564]
- Baumwollhängematte (Sage) 381.
- Begräbnis 339. Paressí 434. Bororó
s. Totenfeier. - Begrüssungsworte. Bak. 92. Nah. 97.
Auetö́ 107. - Beijaflor, Rio 379, 390.
- Beijúfluss 356, 381.
- Beijúwender, Ornamente 271, 272.
Schnitzfiguren 285. - Berauschende Getränke 212. Paressí
425, 433. Bororó 491. - Bergfahrt 132.
- Bevölkerungszahl im Schingú-Quell-
gebiet 201. Bororó 446, 451. - Bilderschrift 244, 245, 248, 269.
- Bleistiftzeichnungen 249 ff. Bororó 500.
- Blumenau 4.
- Bogen 228 ff. Paressí 433. Bororó 483,
486, 488, 491, 496. - Bororó 441 ff. Unterabteilungen 441,
442, 481. Militärkolonie 445. Thereza
Christina und Izabel 446. Hütten 451.
Sprache 454, 516 ff. - Braten 215, 217. Bororó 482, 491.
- Bratständer (Trempe) 236.
- Breton, Pater 158, 335.
- Briefkasten im Sertão 41, 141, 142.
- Bristock 396.
- Buchner, Max 135.
- Burika 496.
- Buritíhängematte (Sage) 354, 355. Text
376. - Burmeister, Prof. 6, 383.
- Cabeceira 19.
- Caldas 450, 454, 461. Als Lehrer 463,
464, 466, 467. - Campos, Antonio Pires de 387, 390,
424, 425, 442, 443. - Candolle, Alph. de 211.
- Capella 359.
- Cardim, Pater 173, 336.
- Castelnau, Graf 207, 441, 442.
- Castro, Hauptmann 9.
- Cavihis = Kabischí 425.
- Cazal, Ayras de 388, 444.
- Centaur 360, 513.
- Chapadão 19.
- Clemente 450.
- Coqueiro 456, 458, 459, 499, 505 ff.
- Coroados 442 ff. Paraná 442. Xipoto
442, 443. - Corrego Fundo, Fazenda 21.
- Costa Moreira, Major Lopez da, 445.
- Couvade 334 ff. Paressí 434, 440.
Bororó 503. - Cuyabá 8, 19. Rückkunft 151, 152.
- Cuyabá-Independencia 18.
- Cuyabá, Fazenda 21.
- Cuyabasinho, Fazenda 17, 21, 146.
- Danckelman, von 88.
- Darúkavaiteré 437.
- Dhein, Pedro und Carlos (Kameraden) 12.
- Diamantino 425, 426.
- Diebstahl. Mehin. 104. Kam. 120.
Arsenik 124. Auetö́hafen 126. Luchu
137. Durch Fremde 332. Bororó 503. - Directoria dos Indios 389, 426. An-
hang II 548. - Dönhoff, Graf 2.
- Drahtfluss 140.
- Duarte, Antonio José 445, 446, 447,
450, 453. Ankunft 465 ff. - Dujourhabender (Bak. I) 77.
- Durchbohrung der Ohrläppchen 180.
Paressí 430. Bororó 474, 501. Der
Nasenscheidewand 180, 181. Paressí
431. Der Unterlippe 474, 475. - Dyapokúri, Idiot 456, 460, 486, 487, 489.
- Eigentum 330. Bororó 491, 502.
- Einsegnung der Nahrung 492, 493.
- Eklipsen 358.
- Eliseo Pinto d’Annunciação 449, 450,
458, 459, 461, 466. - Eneurá 392.
- Eremo-Tanz (Nahuquá) 99, 306, 321.
- Eva 58, 137.
- Ewaki 219, 374, 375, 376, 377, 378.
- Familienleben der Bororó 481, 500, 501.
- Fangbälle 329. Bororó 496.
- Farbenwörter 418 ff. In Tier- und
Pflanzennamen 422, 423. - Farbstoffe 185, 186, 187, 476. Auf-
zählung 418, 419. Aelter als Be-
dürfnis, sie nach Farben zu unter-
scheiden 421. - Federbeklebung 476.
- Federpeitsche 496.
- Federschmuck 173, 180. Schmuckvögel
208. Arten des Schmucks am Kuli-
sehu 328, 329. Bororó 476, 477,
478, 483, 489. 505, 507. - Feldbau 201 ff. Nutzpflanzen 209 ff.
Frauen 214, 215. Bororó 453, 481,
482, 490. - Festhütte s. Flötenhaus.
- Feuer (Bakaïrísage) 353, 354, 355. Text
377.
[565]
- Feuer und Holzfeuerzeug 219 ff. Bororó
487. - Feuerbohrer 223 ff.
- Feuerhölzer 224, 227, 228. Bororó 487.
- Fieber 134, 141.
- Fischereigerät 235.
- Fischfang (Bak.) 73. Mit Beeren 87.
Stakete 88. Piranyas 96. (Braten)
102. Methoden 209, 231, 235 ff.
Bororó 482, 486. - Fischmakanári 303, 321.
- Fischnetz als Maske 321.
- Flechten 237, 238. Figuren 278—281.
Paressí 433. Bororó 488. - Fledermaustanz 300.
- Fleischverteilung (Bororó) 456.
- Fliegende Fische 360.
- Flöten 326, 327. Erste Kame’s 378.
Bororó 496. - Flötenhaus. Bak. I 59. Bak. II 89.
Bak. III 92. Nah. 97. Meh. 103,
104. Auetö́ 108. Mittelpunkt der
Feste 296, 297. Frauen ausge-
schlossen 298. Erstes der Legende
378. - Fluss- und Waldgeister der Paressí 439,
440. - Flüsse (Bakaïrísage) 377, 378.
- Fonseca, João Severiano da, 398.
- Fortdauer nach dem Tode 348 ff.
Paressí 434, 435, 439. Bororó 497,
506, 510 ff. - Frauenarbeit 214 ff.
- Fries von Rindenmalereien Bak. II 90,
91, 258 ff. - Fuhrmann 359.
- Gastfreundschaft 69, 132, 333, 334.
- Geberden 69—72. Beim Bezahlen mit
Perlen 93. - Geburt 334 ff. Paressí 434. Bororó 503.
- Geometrische Figuren 268 ff.
Gēs 157. - Gesang. Bak. 62, 63, 90. Fledermaus-
tanz 300. Nah. 63, 99. Manitsauá
120. Auetö́ 313. Kamayurá 313,
324. Paressí 434. Bororó 493, 494. - Gestirne 357 ff., 364. Paressí 435, 436.
Bororó 513, 514. - Grab. Meh. 104. Auetö́ 108, 339.
Paressí 434. Bororó 510. - Guaná 379, 394.
- Guapirí-Nahuquá 154.
- Guató 445.
- Guikurú, Nahuquá-Stamm 101, 107,
127, 154. Maske 307. - Haartracht. Kulisehu 174 ff., Paressí
430. Bororó 471, 472, 476, 478. - Háiri (Bach) 95.
- Halbmonde aus Blech 479.
- Hängematte 196, 239, 240. Paressí 433.
- Hassenstein, Dr. Bruno, 250.
- Haupt, Octavio 2.
- Häuptlinge 330, 331. Paressí 433.
Bororó 500. - Haus. Bak. I 60.
- Haustiere 218. Bororó 483, 491.
- Haut. Allgemeines 178 ff.
- Heiraten 331. Paressí 434. Bororó 501.
- Herr des Feuers, Kampfuchs 353, 354,
355. Text 377. - Herr der Mandioka, Reh 382.
- Herr des Schlafes und der Buritíhänge-
matte, Eidechse 354, 355. Text 376. - Herr der Sonne, Königsgeier 354, 355.
Text 375, 376. - Herr des Tabaks und der Baumwolle,
Wickelbär 354, 355, 356. Text 380,
381. Urheimat der Karaiben 403. - Herr des Tabaks, Zitteraal 354. Text
381. - Herr des Tanzes, Keri 297, 379.
- Herr der Wassertöpfe, Flussschlange
354, 355. Text 377. - Himmel 346, 349, 350, 372. Mit Erde
vertauscht 376. Paressí 434, 435,
439. Bororó 513, 514, 516. - Hobelmuschel 207, 487.
- Hochebene 18 ff.
- Holzfiguren 283, 284.
- Hüftschnur 177, 191. Zweck 192, 193,
199. Paressí 431. Bororó 472, 473, 474. - Humboldt, Alex. v. 211, 367, 396, 505.
- Hungerarten 140.
- Hüvát-Tanz (Kamayurá) 315, 317.
- Ichoge 373.
- Imeo (Bakaïrí-Tanz) 297, 300, 325, 379.
- Imiga (Bakaïrí-Tanz) 302.
- Imoto (Bakaïrí-Tanz) 301.
- Independencia-Lager 18. Ankunft 44,
82—84. Rückkehr 135. Abschied 138. - Insektenplage 33 ff., 196.
- Izabel 446, 448, 466.
- Jägertum 201 ff., 205, 217—219. Bororó
480, 481, 482, 491, 502. - Jaguar und Ameisenbär, Legende 383 ff.
- Januario, (Leutnant, unser Begleiter) 12.
Verirrt 141, 142. Zurück 146, 147.
[566]
- Jesuiten, S. Leopoldo 521.
- Joest, Prof. 177, 188.
- Judas Ischarioth 459.
- Jüdischer Typus 171, 172.
- Kabischí 153, 424, 425, 426. Paressí-
sage 437. - Kaiman-Tanz (Mehinakú) 307.
- Kamayurá. Nachrichten bei Nahuquá
98. Bei Mehinakú 105. Besuch 115.
Empfang 116. Dorf I, II 116, III 118,
IV 119—154. Tupí 157. - Kameraden 12, 13.
- Kameró 435.
- Kämme, geschnitzt 285, 286. Bororó
472. - Kamuschini 373, 374, 375.
- Kamp (Campos) 20.
- Kampbrände 220 ff.
- Kanaluiti-Nahuquá 154.
- Kandirúfischchen 195.
- Kanu 46, 234. Ornamente 271. Paressí
433. Bororó 483. - Karaiben 54, 157, 158. Urheimat 395 ff.
Grundvolk 402, 403, 404. - Karaibe = Fremder 54.
- Karayá 155, 224, 231, 232, 233. Masken
296. - Karneval, rheinischer 131.
- Kaschinití 427. Paressísage 437.
- Katechese der Bororó 446, 447. Bilder
448 ff. Vespergebet 456, 457. Char-
freitag etc. 458. Schule 462. Dis-
ziplin 464, 466. Duarte’s Ankunft
465, 467. - Kayabí. Steinbeilmonopol 203. Aus
Pfeilen 365, 375. Geschichtliches
391, 392, 393. - Kayamo = Kayapó 459.
- Kayapó 153, 155, 157, 393, 394. Feinde
der Bororó 442, 443, 459 ff., 516. - Kemmerich, Dr. 7. Fleischpatronen 7,
143. - Kempner, Friederike 15.
- Keramische Motive 289 ff.
- Keri und Kame 364 ff. Eltern und
Jugend 372 ff. Abschied 380. - Keri beschafft Mandioka 382. Straft
den Strauss 383. Wettlaufen mit
Kampfuchs 383. - Ketten 182 ff., 191. Bororó 480, 487,
488. - Kettenfigürchen 278.
- Keule 234, 325. Bororó 483. Kayapó
516.
- Kewayeli (Bach) 91.
- Klauen 207, 479.
- Kleidung 64, 131, 173, 190 ff., 195, 199.
Paressí 431, 432. Bororó, europäische
451, 452. - Knochen zur Arbeit 206, 207.
- Koahálu-Tanz (Auetö́) 310—313.
- Kochen 215—217. Bororó 490, 491.
- Kometen 359.
- Körperbemalung 184 ff. Bororó 477.
- Körpermessungen s. Anthropologisches.
- Koseritz, Karl v. 521.
- Kratzknochen 476.
- Krause, Ernst 419.
- Kreisel 329.
- Kualóhe-Tanz (Bakaïrí) 305.
- Kuara 373.
- Küche 33, 35 ff., 135, 143, 148.
- Kulisehu 17, 44, 46 ff., 53, 55. Vogel
120, 127, 128. Anwohner 154.
Bakaïrísage 377, 380, 391. - Kulturheros und Lichtgott 372.
- Kuluëne 17, 55. Vogel 120, 127, 128.
Nahuquá 399. - Kürbisgefässe 240. Ornamente 271.
Bororó 481. - Kustenaú 126, 153. Nu-Aruak 158.
- Lang, Andrew 498.
- Langsdorff’sche Expedition 388, 472,
473, 474. - La Plata 5,
- Lasttiere 13, 33, 82, 135. Von Indianern
geritten und gemessen 85, 137. - Legendentexte 372 ff.
- Lehmessen 282, 382.
- Lehmpuppen 282, 329.
- Liebespaar, flüchtiges 23.
- Lippenkette 475.
- Locken 171, 174.
- Lopes, Padre 388.
- Lynen (Haus Tornquist) 7.
- Magelhães’sche Wolken 360, 374.
- Mahibarez = Waimaré 425.
- Maimbaré = Waimaré 426.
- Mais 210, 212. Paressísage 438. Bo-
roró 490. - Maisfiguren 281.
- Maisö́ 437.
- Maisstampfer werden Frauen 351, 363.
Mutter von Keri und Kame 371. - Makanári 297, 300 ff.
- Makuschí 381.
- Mandioka 210, 212. Gährende Getränke
212, 213. Tupílegende 369. Bakaïrí-
[567] sage 381, 382. Paressísage 438.
Bororó 453, 454. - Mandioka-Grabhölzer 271, 284, 285, 325.
- Manitsauá 109, 113, 154, 155.
- Männerhaus 451. Aróe 480. Arbeiten
486 ff. Sitten 481, 500, 502. - Manoel Nunes Ribeiro 152.
- Märchen von Urubú u. Schildkröte 357.
- Maria, Ranchãomädchen 454, 455, 464,
518, 519. - Mariapé-Nahuquá 128, 154.
- Marsch 26 ff. Zurück 138 ff.
- Martens, Prof. von 182, 207.
- Martius 157, 211, 296, 326, 332, 336,
388, 397, 399, 422, 423, 443, 444, 445. - Martyr, Petrus 396.
- Masken 296 ff. Zum Essenholen 89.
Bakaïrí 300—306. Nahuquá 306—307.
Mehinakú 307—310. Auetö́ 310—315.
Kamayurá315—317. Trumaí317—319.
Paressí 434. - Maskenarten 299. Menschliche Bildung
319—320. - Maskenornamentik 294 ff. Gemeinsamer
Ursprung mit Mereschu-Muster 319 ff. - Medizinmänner 339 ff. Lehrzeit 343.
Methoden 343 ff., 362. Im Himmel
346. Paressí 434, 435. Bororó 456,
458, 460, 475, 491 ff., 511 ff., 514. - Mehinakú bei den Nah. 98, 99, 100.
Besuch 102. Empfang 103, 106.
Dorf II, III 106, 154. Rückreise
129. Nu-Aruak 158. - Meissel 206, 487.
- Melgaço, Barão de 426, 444.
- Mello Rego, Françisco Raphael de 424.
- Mereschu-Fisch 101. 261 ff. Ursprung
des Musters 321 ff. Erfinder 323, 324. - Mero 373, 374.
- Meteorbeschwörung 514, 515.
- Musikinstrumente 325 ff. Paressí 434.
Bororó 496. - Muster f. Körperbemalung 185, 187,
188. Bororó 477, 500. - Muster f. Tätowieren 190.
- Milchstrasse 360. Paressí 436. Bororó
514. - Militärkolonie d. Bororó 445, 448.
- Moguyokuri 446, 452, 454, 455, 459,
460, 464, 467, 499, 506 ff. - Mulihutuaré 435, 436.
- Mond 357, 358. Keri und Kame 365 ff.,
375, 376, 379. Paressí 435, 436.
Bororó 513.
- Moradores (Ansiedler) 21 ff.
- Moral und Stammeszugehörigkeit 333.
- Morgendämmerung 371, 375.
- Moritona (Yaulapiti) 113, 115, 122.
- Morse, Edw. S., 230.
- Motta, Ant. Annibal de 426.
- Moure, Dr. Amédée 389.
- Moutinho, Joaquim Ferreira 391, 443,
444. - Müller, Dr. Fritz, 4.
- Mundurukú 155 (Yarumá). 367. 379. 392.
- Muscheln. Schmuck 182, 183. Zur
Arbeit 207, 208. Bororó 475, 487. - Nachtlager 32 ff., 39.
- Nahuquá (bei Bak.) 93. Verkehr mit
Bak. 94. Besuch 94. Hafen 96.
Empfang 96, 97. Aufenthalt im Dorf
96—101. Bei Meh. 105, 107. Bei
Auetö́ 127. Rückreise 130. Kuluëne-
Stämme 154, 155. Karaiben 158, 399.
Geschichtliches 391. Verhältnis zu
Bakaïrí 399. - Nambiquara 391.
- Name 334. (Bak. I. Männer) 57. Er-
fragen 76. Tausch 125, 127, 129.
Tiernamen 334. Bororó 503. - Natterer 441.
- Neubau, brasilischer bei Bak. 131.
- Neugierde 75, 76, 98.
- Nimagakaniro 373.
- Nu-Aruak 158. Töpfe 215. Mandioka
217, 218, 219. Heimat 395. Paressí-
Sprache 427, 428. - Nutzpflanzen 209 ff. Des Karaibischen
Grundvolkes 402, 403. Paressísage
438. Bororó 481, 482. 490. - Oelfarbe 186. Bororó 477.
- Oka, der bunte Jaguar 373, 374, 375,
384 ff. - Orbigny, d’ 397.
- Orion 359, 513.
- Ornamente 258 ff. Auetö́ 266 ff. Ver-
wendung 270ff. Bororó 477. 499. 500. - Ortssinn 133.
- Pacheco, Fazenda 144.
- Pakuneru (Bach) 91.
- Pakurali, »Droschkenkutscher«, Reise-
begleiter 91, 130. - Palmella 398, 399, 402.
- Palmwein 38. 491.
- Paranatinga 16, 17, 18, 24. Rückreise
144. Uebersetzen 148. Bakaïrísage
377, 381. Salto 378, 390. Geschicht-
liches 387 ff.
[568]
- Paressí, Bakaïrísage 366, 367, 370, 379,
394. In Cuyabá 424 ff. Sprache 427.
Zur Ethnographie 430 ff. Sammlung
433. Ahnensage 436 ff. Heimat 440. - Paruá, Name der Kayabí 392.
- Pedro II. 2. Als Keri 380.
- Pekoban 392.
- Pelota 139.
- Penisstulp 192, 193, 199, 472, 501.
- Perlen von Muscheln etc. 182—184.
Bororó 480, 487. 488. - Perrot, Luiz (Leutnant) 11. Geburtstag
38. Namen an Kind 127. Verirrt
141, 142. Zurück 146, 147. - Perseus 361, 362.
- Pfeffer (linguistisch) 211.
- Pfeile 228 ff. Paressí 433. Bororó 481,
483, 485, 486, 489, 502. - Pfeile werden Männer 351, 363, 373,
375, 379. Keri und Kame 370. - Pflanzen, für die Indianer 73, 101, 129,
131. - Pflanzengifte 345.
- Pfostenzeichnungen der Auetö́ 256—258.
- Pimenteira 397, 401, 402.
- Pimentel, Galdino 443, 466.
- Planeten 359. Bororó 514.
- Plastische Darstellung 277 ff.
- Platzmann, Julius 158.
- Plejaden 359, 513.
- Ploss 198.
- Ponekuru, Fluss 51.
- Ponte alta 17. 150.
- Portugiese, aus Flintenholz 379. Paressí-
sage 438. - Praeputium abschnüren 192, 193, 198,
199, 471, 472. - Prokyon 359.
- Pulszahlen 148.
- Puppengeschenk 86.
- Queimada 221.
- Quirlbohrer 204. Bororó 487.
- Rarai (Affenstamm) 516.
- Rasselkürbis 315, 326. Bororó 496.
- Recht 330. Bororó 500.
- Regenzeit 43, 138 ff.
- Reh, Entstehung des Geweihs 381, 382.
Bororó 491, 512. - Reiseplan 13, 16.
- Ricci, Corrado 249, 277.
- Rindengürtel 473, 474. Ornament 499.
- Rindenkanu 46.
- Rindenzeichnungen der Nah. 96, 255 ff.
- Ringkampf im Auetö́dorf (Waurá) 110,
Kinder 310. Bororó, Frauen 454.
Männer 455, 464, 489. Regeln 495. - Rinne 223, 227.
- Rio Novo 387.
- Rio Verde 157, 392, 393.
- Ritznarben 188—190. Bororó 475, 476.
- Rochefort, de 396.
- Rohde, Rich. 441, 472, 473.
- Rohrdiademe 329.
- Rondon (Goldsucher) 10, 11. Strasse
41. Antwort 141, 142. - Ronuro 17, 18. Vogel 128. Bakaïrí-
sage 377, 381, 399. - Rosa, Antonios Braut 519, 520.
- Rotenhan, Freiherr v. 5.
- Rückenhölzer 266, 271, 325.
- Ruder 234. Ornamente 269, 271.
- Salto Taunay 51, 85, 132.
- Salz 100, 106.
- Sambakís 3, 4.
- Sandzeichnungen, Mehinakú 102. »Worte«
103, 246 ff. Bororó 500. - Santa Helena 7.
- Sarumá 155.
- Sawari s. Wickelbär.
- Schamgefühl (und Nacktheit) 63, 173,
190 ff., 195, 199. Paressí 433. Bororó
473, 474. Beim Essen 66. - Schemel, geschnitzte Figuren, 286 ff.
- Schingú-Koblenz 17, 44, 120. Vogel
128. - Schlaf (Bakaïrísage) 354, 355, 376.
- Schmuckwirtel 274, 325.
- Schomburgk, Rich. 355, 381.
- Schrader, O., 295.
- Schule der Bororójungen 462 ff.
- Schwachsinnige Stammfremde 93.
- Schwirrhölzer 327, 328, 497 ff., 506,
510. Ornamente 266. Fischfiguren
284, 327. - Seele 340, 346, 349, 363, 364. Paressí
435. Bororó 510 ff., 514. - Seelenwanderung 513.
- Serenade 466, 467.
- Seriema, Wettlaufen mit Keri 383.
- Sertão 18, 19, 29 ff.
- Sexualia 190 ff. Paressí 431, 432. Bororó
472 ff. - Siebmatte 238, 240. Paressí 433.
- Sirius 359.
- S. José, Fazenda 449.
- Skorpion 360.
- S. Lourenço 442.
[569]
- S. Manoel, Fazenda 17, 138, 142. An-
kunft 145, 148. Abschied 149. - Sonne 357, 358, 359. Keri und Kame
365 ff., 375, 376, 379. Paressí 435,
436. Bororó 513. - Speisekarte 35 ff., 45, 83, 141, 143.
- Spiele der Jugend 329, 496.
- Spindel 238. Bororó 488.
- Spinnwirtel 238, 239, 240. Ornamente
263. 272 ff. Schmuckwirtel 274.
Mereschumuster stehend 321. Bororó
488. - Spix 401.
- Sprachaufnahme (Bak. I). Allgemeines
78. Bakaïrí 78—81. Uebergeordnete
Begriffe 81. - Sprachverwandtschaft 156 ff. Paressí
427, 428. Bororó 516. - Steinbeil 203, 204. Bororó 487. Panto-
mime 71. Roden 88. Steinbeil-
monopol 203, 333. - Steinketten 183, 278.
- Steinzeit 202 ff.
- Sterne, Carus 419.
- Strauss, von Keri gestraft 383.
- Strohfiguren 278, 279.
- Südliches Kreuz 360. Paressí 436.
Bororó 513. - Suyá 98. Kampf mit Trumaí 101, 106,
108, 113. Kampf mit Arumá 118.
Gefürchtet 119. Dorf 154. Rio Verde
157, 393, 400. - Tabak, Arten 345. Bororó 481, 492.
Narkose 345—347. Herkunft siehe
Wickelbär. Sagentext 380, 381.
Paressísage 438. Bororó 515. - Tabakfluss 356, 381.
- Tabakkollegium 68.
- Tacoarasinha am Rio Manso 23.
- Takuni (Kamayurá) 118, 119.
- Tamanako 410.
- Tamitotoala (Batovy) 17, 153.
- Tanz, Bak. 62, 63, 90, 300 ff. Nah. 63,
99. Auetö́ 109, 313. Kamayurá 118,
313, 324. Paressí 433, 434. Legende
297, 378, 379. - Tanzkeule 324.
- Tanzfeste 297 ff., 320, 325, Paressí 433.
Bororó 480, 493 ff. - Tapanhuna 391.
- Tapuya 156, 157.
- Tätowieren 188—190. Paressí 431.
Bororó 475. - Taunay, d’Escragnolle 2.
- Tauschverkehr 103, 203, 333, 334.
Bororó 481, 503. - Texte der Legenden 372 ff.
- Textilarbeiten 238. Maskenornamente
316, 317, 323, 324. Bororó 488, 489. - Thereza Christina 446. Preise 447.
Reise 448. Ankunft 449. Anlage
450, 451. Abschied 519. - Thonpuppen 282.
- Thurn, im 226, 227.
- Tiere auf dem Fluss 47.
- Tier und Mensch 351 ff. Bororó 511 ff.,
516. - Tiere, Kulturbringer 354 ff.
- Tiere, künstlerisch dargestellte 294.
- Tiermotiv, Verhältnis zur Technik 293,
294. - Tocantins, Ant. Man. Gonçalves 392.
- Tonmalerei 70, 71.
- Tonsur 174. Entstehung 175. Paressí
430. Bororó 471, 476. - Töpfe. Bak. 93. Nah. 98, 101. Meh.
106. Monopol 215. Ursprung 216,
217. Töpferei. Arten 241, 242.
Bemalung 276, 277. Motive 289 ff.
Paressí 438. Bororó 490, 504, 505. - Töpferstämme 159.
- Topfformen 289 ff.
- Töten, Kranker 460, 461, 511.
- Totenfeier der Bororó 458, 461, 493,
495, 497, 504 ff. - Tracht. Kulisehu-Stämme 173 ff. Paressí
430 ff. Bororó 471 ff. - Traum des Fliegens 40.
- Traum und Wirklichkeit 340, 341.
Paressí 435. Bororó 456, 510 ff. - Trophäe 174, 178, 179.
- Trumaí. Kampf mit Suyá 101, 106,
108, 114. Unser Zusammentreffen
1884 55, 56, 118. Bei Auetö́ 121.
Lager 122—124. Dörfer 124, 154.
Isoliert 156. - Tschudi, v. 355, 381.
- Tumayaua 53, 85. Karneval 130, 131.
Abschied 132, 137. - Tumehi, Tumeng 378.
- Tupí 157, 398. Zahl zwei 418. Farben-
wörter 420, in Tier- und Pflanzen-
namen 422, 423. Bororó 443, 444. - Tupy (Hauptmann) 9, 10.
- Uazále 436, 437, 438, 439, 440.
- Uluri (Weiberdreiecke) 65, 194 ff., 198.
Ornament 264 ff., 499. Auetö́ 267.
Spinnwirtel 272 ff.
37
[570]
- Umschnürung der Extremitäten 181.
Paressí 432. Bororó 489. - Urnen 504, 505.
- Uyá-Lagune 114.
- Vahl, Ernesto 4, 150.
- Verletzung, künstliche 178 ff. Bororó
501, 503. - Verwandlung 362 ff. Bororó 511 ff.
- Vespergebet (Bororó) 456, 457.
- Virchow 159,
- Vogelkäfig 89.
- Volksglaube in Cuyabá 553 ff.
- Vorfahren Antonio’s 390. Des Paressí
João Battista 436. - Wachsfiguren 283.
- Waehneldt, Rodolfo 441, 472, 473, 475,
476, 503, 504. - Waffen 228 ff. Paressí 433. Bororó
483 ff. - Waikomoné 435, 436, 439.
- Waimaré 427 ff. Paressísage 437.
- Wallace 497.
- Waurá 110, 126, 153. Nu-Aruak 158.
- Weber 1, 139.
- Webstuhl 239.
- Weddell 441.
- Weiberdreieck s. Uluri.
- Weihnachten 149, 150.
- Werkzeug 205—208. Bororó 486, 487.
- Wertbegriff 333, 334. Bororó 502.
- Westbakaïrí 387.
- Wickelbär (Sawari) 354, 355, 356. Text
380, 381. Historisch? 403. - Wied, Prinz 432.
- Woimaré = Waimare 394.
- Wundkratzer 188. Bororó 475.
- Wurfbrett 109, 231 ff., 325.
- Wurfbrett-Tanz 118, 123, 315, 324, 325.
- Yakuí-Tanz (Kamayurá) 315.
- Yakuíkatú. Masken 307. Tanz (Auetö́)
313. - Yamurikumá=Yaurikumá-Nahuquá 154.
- Yanumakapü-Nahuquá 127, 154.
- Yarumá 118, 155.
- Yatuka (Bakaïrí-Tanz) 300.
- Yauarí-Tanz (Kamayurá) 315, 324.
- Yaulapiti 111. Empfang 112, 113.
Aufenthalt 112—115. Dorf II 115,
121. Nu-Aruak 158. - Yaurikumá-Nahuquá 98, 101, 154.
- Zahl der Finger bei Zeichnungen 254,
255. - Zählen. Kulisehustämme 405, 406.
Bakaïrí 406 ff. Etymologie 416—418.
Bororó 517. - Zähne. Zur Arbeit 205, 206. Gebiss-
stab zum Tanz 324, 325. Bororó
478, 479, 488. - Zauberei 339 ff. Paressí 434. Bororó
491, 492. - Zeichenornamente 258 ff. Verwendung
270 ff. Bororó 477, 499, 500. - Zeichnen 243 ff. Bororó 499, (eines
Schlafenden) 510. - Zirkumzision 198.
- Zukünftige 58, 86, 132.
- Zunder 224. Technik 226—228.
- Zwillinge 359.
[]
Appendix B Zu berichtigen:
- Seite 3 Zeile 17 und 18 anstatt »Februar« »März«.
- Seite 5 Zeile 14 anstatt »uns des« »uns seitens des«.
- Seite 8 Zeile 35 anstatt »Gasstreundlichste« »Gastfreundlichste«.
- Seite 19 Zeile 30 anstatt »triften« »tristen«.
- Seite 32 Zeile 41 anstatt »Heimweg« »Hinweg«.
- Seite 57 Zeile 5 von unten muss es heissen »kamen nach einigen Tagen
noch« und Zeile 4 von unten »unter ihnen Einer«. - Seite 70 Zeile 23 anstatt »dem« »den«.
- Seite 89 Zeile 4—1 von unten fallen fort.
- Seite 120 Zeile 1 von unten anstatt »Unterhaltung« »Untersuchung«.
- Seite 122 Zeile 4 anstatt »aus« »auf«.
- Seite 132 Zeile 4 anstatt »Indepedencia« »Independencia«.
- Seite 133 Zeile 19 anstatt »gracia« »grazia«.
- Seite 140 Zeile 13 anstatt »padelten« »paddelten«.
- Seite 177 Zeile 6 von unten anstatt »wurden« »würden«.
- Seite 203 Zeile 3 anstatt »hergestestellt« »hergestellt«.
- Seite 236 Zeile 3 anstatt »Die« »Den«.
[]
Appendix C
Druck von OTTO ELSNER, Berlin S.,
Oranienstrasse 58.
[][][][][][][]
Virchow in den Verhandlungen der Berliner Anthropologischen Gesellschaft. Vergl. Sitzung vom
16. Juli 1887.
vaterlandes, dem er seit 1852 angehört, nicht mittlerweile auf seine Dienste verzichtet und ihn des
keineswegs überreichlich besoldeten Amtes als „naturalista viajante“ des Museums in Rio enthoben hätte.
Wurfholztanz der Tupístämme des Kulisehu. Die Texte sind wohl nur teilweise Bakaïrí.
Falken, wie die Bakaïrí mir selbst angaben.
von ihren Nachbarn »Auití« genannt; nun heisst im Guaraní die unerweichte adjektivische Form
apitè »was im Zentrum, in der Mitte ist«.
reproduziert: beide Geschlechter von Bakaïrí, Mehinakú und Kamayurá, sowie ausschliesslich Männer
von Nahuquá und Auetö́, während Yaulapiti und Trumaí überhaupt fehlen.
ich habe nicht gesehen, dass man die Kinder abhärtete. Die Herren Väter, von den Müttern nicht zu
reden, neigten eher zur Sentimentalität als zur Strenge ihren sehr eigenwilligen Sprässlingen gegen-
über, die nicht schreien durften, ohne dass es auch den Eltern bitter wehthat. Man fügte ihnen mit
Bestimmtheit nur Schmerzen zu, wenn man es zu ihrem Besten zu thun glaubte, man war immer um
ihre Gesundheit aufs Aeusserste besorgt und behing sie mit Amuletten.
Zügel erweiterten Ohrläppchen Rollen von Palmblattstreifen, aber auch hier beschränkt sich der
Federschmuck auf die Männer.
übergegangen war.
gerechtfertigt; sie wird am besten durch eine Münchhauseniade charakterisiert, die uns ein Offizier mit
ernsthafter Miene für wahr berichtete: in den Gewässern bei Villa Cáceres ist der Kandirú so bös-
artig und so auf seine Passion versessen, dass er sogar, wenn Jemand vom Ufer aus ein Bedürfnis
befriedigt, eilfertig in den Wasserstrahl empordringt.
Vergleiche. Neue Folge, Leipzig 1889, p. 202.
auge), und eine grössere »papo amarello« (Gelbkropf), dessen »Gelb« ein prächtiges Orange war.
bei den Bakaïrí des oberen Schingú Tabak ebenso vollständig wie Bananen oder Metalle« [Zeitschrift
f. Ethnologie, 1893, p. 195]. Ich beschreibe, vgl. »Durch Centralbrasilien« p. 173, für Dorf III der
Batovy-Bakaïrí die echte Rauchrolle, wie sie die Entdecker auf den Antillen fanden. Dagegen teile
ich die Ansicht v. Ihering’s, die ich in Vorträgen schon öfter ausgesprochen, bevor ich seinen
Aufsatz gelesen, dass die Pfeife in Brasilien modernen Ursprungs ist. Wie die Angel.
den oft geringen Ueberresten begnügen müssen und Hunger leiden würden, sähen sie sich nicht bei Zeiten
vor und praktizierten einen Teil des Inhalts der Kochtöpfe noch während des Kochens heimlich bei
Seite oder ässen bereits während ihrer Arbeit.« So bei den modernen karaibischen Makuschi in
Guyana. Appun, Unter den Tropen, II, p. 399, Jena 1871, und bei manchen anderen Stämmen.
mit Topfgeschirr, doch giebt er an, dass die Aruak für ihren eigenen Gebrauch reichlich Töpfe
machen, sie aber nicht wie die Karaiben als Handelswaare vertreiben. Martius erklärt noch von
den Makuschi, dem volkreichsten Karaibenstamm des Rio Branco-Gebiets: »Alle Geräte dieser
Indianer sind sauber und sorgfältig verfertigt, die Waffen mit Federn verziert, und nur in den
Töpferwaaren stehen sie den Indianern der Küste nach«.
holten, die Nahuquá und mehr noch die Mehinakú und Auetö́ tranken aus schlammigen Lehmpfützen
und stillem Kanalgewässer.
leicht zu Verwechselungen mit geworfenen Hölzern Anlass.
angegeben.
sagt Martius; »wo aber die europäische Gesittung sich Geltung verschafft hat und Christen neben
den Indianern wohnen, da wird wohl auch der Tag eines Heiligen dafür gewählt.«
aufgegebenen Gedanken enthält — der Schlusssatz, dass vielleicht ein Zusammenhang mit dem Ge-
brauch des Alleinessens vorhanden sei.
vitá öö . . . . yohohohú. Darauf ein Anderer: mauá káua káuayú, mauákauayú hohohú. aluá …
aluhá, aluá miyevené yanávitá hö … ohohohú. ihöhö … hohú, he ‥ hirámiturí hohó, yukévené
yohó hohohohú. Nun Alle im Rundlauf: ohú namiturí ohú namituhurí ohoyócho yóchu hohuhó.
ayarívénení kayarílö ohó namiturí ohú namituhurú ohó oyochó yochu. Jetzt hinaus auf den Platz:
yochó huyócho huyóchó huyóchohú huyócho. makavó makavó yuuávitirá inávitáhané, iná yocho-
huyócho . . . . . . Endlich umdrehend: aschimámayú ohuhohú ayavarikú hohuhoo, eveschírini mahúraní
hoo, aschimámayú ohohu . . . . .
Tanz bedeutet. Auetö́ teruá und Fussklapper aimára, was mit maráka verwandt sein könnte.
1884 die Karte des Flusslaufs gegeben hatte. Sein auffallend kleiner Lippenpflock wäre damit
erklärt, dass er die Operation später nachgeholt hätte, seine geographischen Kenntnisse führte er
selbst auf eigene Reisen zurück.
Decke begraben. Ein Sarg hat die Form einer langen Kiste, deren Boden und Querseiten aus Latten
bestehen; dieses Gerüst ist innen mit einem weissen, aussen mit einem schwarzen Tuch überspannt.
bringen will, und hier genügt es, wenn man einen Monat hindurch nichts als Stärkekleister geniesst.
Antonio hat es so gemacht und war mit dem Erfolg sehr zufrieden.
Giftpfeils den subtilen Unterschied machen, dass jener nicht eigentlich vergiftet ist, sondern nur das
vergiftete Stück befördert.
des glimmenden Feuers gewesen. Man muss sich trockene Blätter im Walde suchen, die aufge-
schüttet werden, die qualmen und mehr oder minder rasch aufflammen, wenn man hineinbläst. Mit
aromatischem oder betäubendem Rauch verbrennende Blätter werden der feinen Nase des Indianers
beim Anblasen aufgefallen und von ihm für seine medizinische Hexenküche brauchbar befunden
worden sein. Er athmete den Rauch ein und verschluckte ihn (daher bei den Entdeckern
Amerikas stets der Ausdruck »trinkens«).
Jahre, so lange ich das Wesen des Todes noch nicht genauer kennen gelernt hatte, eigensinnig an der
Hoffnung festgehalten, dass doch ich vielleicht eine Ausnahme machen und nicht sterben würde,
wie es sonst in der Weltgeschichte üblich ist.
Seite III. Rio de Janeiro, 1890.
bis 281, sowie »Durch Centralbrasilien«, p. 306.
sich lautlich mit keri kaum vereinigen lässt; wenn ein Zusammenhang besteht und ischeiri alt-
karaibisch ist, möchte man lieber denken, dass das Bakaïríwort mit dem Aruakwort zusammen-
gefallen wäre.
während die Paressí von Diamantino, was freilich für die in zahlreiche Unterstämme zersplitterten
alten Paressí nicht viel bedeuten will, kamai Sonne, aber kayö Mond hatten.
Bakaïrí-Grammatik, p. 226 habe ich irrtümlich angegeben, dass Kamuschini fünf Pikíbäume fällte,
und obendrein das Unrecht begangen, Kamuschini einen Irrtum vorzuwerfen. Er fällte zuerst zwei
Pikíbäume, aus denen Nimagakaniro und Ichoge entstanden. In Ichoge steckt ipó Pikí (= iχó-ge mit Pikí).
Auch Tawagüri ist der Name des Baums, aus dem die beiden Faulenzerinnen gemacht wurden,
portugiesisch olho de boi, Ochsenauge. Koyaka (= koyá-ke mit koyá?) entstand aus einem Baum
mit rauher Rinde und gelben Früchten. Atanumagale’s Baumursprung wusste Antonio nicht näher zu
bestimmen. Sie und Koyaka wurden ebenfalls Frauen und Mütter von Jaguaren, obwohl dies (K. 36)
als unbestimmt hingestellt wird. Atanumagale wurde später als Kuára’s, des Sohnes der Mero,
Gattin bezeichnet.
Holz gemacht, und habe dann kleine Fliegen gemacht, die dem Tapir einen übeln Geruch geben
und den Urubú anziehen sollten.
indem sie mit dem Rücken an die Bäume anlehnten. Der Schutz vor Schlangen und Ungeziefer auf
dem Boden ist in der That ein Hauptvorteil der Hängematte.
des Kulisehu.«
Band II, S. 435: »Von Tschudi giebt seine geographische Verbreitung bis 10° S. Br. an. Die
Kolonisten nennen ihn Yamanack, die Arawaaks Wawula, die Macusis Yawali, die Warraus Uvari.«
einen Aufsatz, den Dr. Amédée Moure in den »Nouvelles Annales des Voyages« über 33 Stämme der
Provinz Mato Grosso nach eigenen Erfahrungen und Erlebnissen veröffentlicht hat. Der Referent hat
die Angaben Dr. Moure’s in einer nach Stamm, Kopfzahl nnd Wohnsitzen geordneten Tabelle über-
sichtlich vereinigt. Wir begegnen unter den Stämmen solchen, die mit einer Kopfzahl von 20,000,
30,000, ja 50,000 angesetzt sind. Addiert man die Minima und Maxima der Schätzungen zusammen,
so erhält man das Ergebniss, dass die Zahl der Indianer des Mato Grosso 241,800 bis 282,000 beträgt.
Wenn man heute die Gesamtzahl der matogrossenser Bevölkerung aller Farben, aller zahmen und
wilden Bewohner jeglicher Kulturstufe auf etwa 70,000 zu schätzen pflegt, so kommt man zweifellos der
Wahrheit um Vieles näher. Der Originalaufsatz von Dr. Moure (Nouvelles Annales des Voyages de la
géographie, de l’histoire et de l’archéologie, Tome II 1862 p. 5—19, 323—341, III p. 77—100, Paris)
enthält auch kleine sachliche Ungeheuerlichkeiten, wie z. B. die, dass die Cambixis, die in den Campos
dos Parecis wohnen und einen reinen Nu-Aruak-Dialekt haben, die peruanische Kechua-Sprache reden,
indessen sind viele Einzelheiten doch von solcher Bestimmtheit, dass eine gute Information zu Grunde
liegen musste. Die Quelle des Herrn Dr. Moure habe ich in Cuyabá wieder aufgefunden; sie bietet
buchstäblich und wörtlich den allergrössten Teil seiner sachlichen Angaben, weiss
aber nichts von den übertriebenen Zahlen, die man auch kaum vor einem Cuyabaner aussprechen
könnte, ohne ein ungläubiges Lächeln bei ihm hervorzurufen.
Diese Quelle ist das »Archiv« der »Directoria dos Indios«, einer den 12. Mai 1846 in einem Gut-
achten des Präsidenten (vgl. Bd. IX der Rev. Trim; dieses zählt die damals bekannten Indianerdörfer
in der Zahl von 21 auf, ohne der Bakaïrí Erwähnung zu thun) beantragten Aufsichtsbehörde. Der
Direktor hat, um den Indianerhäuptlingen imponieren zu können, den Rang eines Brigadegenerals —
er war zu unserer Zeit ein bescheidener Bürger mit spärlichem Gehalt, dem indessen, wenn er zu
Grabe getragen wird, auch die seinem Rang gebührenden militärischen Ehren erwiesen werden. Das
Archiv, dessen Einsicht mir verstattet wurde, war ein dünnes Folioheft; die Aufzeichnungen begannen
mit dem 1. Oktober 1848. In der ersten Begeisterung hat der Direktor Joaquim · Alvez Ferreira
am 2. Dezember 1848 eine Uebersicht über 33 Stämme mit erläuternden Zusätzen zusammengestellt
und sich dadurch ein grosses Verdienst um seine Nachfolger erworben: Keiner gab sich später die
Mühe selbständig zu prüfen, und wenn man für die Behörden neuer Zahlennachweise bedurfte, schrieb
man vertrauensvoll den Bericht von 1848 ab. So beschränken sich auch Dr. Moure’s eigene
Erfahrungen und Erlebnisse auf eine wortgetreue Uebersetzung des Aktenstücks; nur hat er die Seelen-
zahl von 13,020 verzwanzigfacht! Klassisch ist eine neue, sauber geschriebene Tabelle der
Direktorial-Akten vom 13. März 1872. Es war nötig geworden, den gewaltigen und allgemein be-
kannten Veränderungen, die der Paraguay-Krieg im Süden der Provinz hervorgerufen hatte, Rechnung
zu tragen. Von den 1848 unter No. 3—15 aufgezälten Stämmen wurden drei gestrichen, die Gesamt-
summe wurde von 13,020 auf 8670 herabgesetzt, dagegen wurde für die Stämme 1, 2, 16—33 der
alte Bericht wieder wörtlich abgeschrieben, sodass hier in den 24 Jahren kein Mensch geboren und
gestorben zu sein scheint.
Hier irrtümlich Cajibi geschrieben.
sondern nur syntaktisch und für den, der »Paar« und »par« schreibt, graphisch geschieden; die Syntax
ist sogar noch nicht konsequent durchgeführt. Weil man »das Paar Handschuhe« oder »ein Paar
Handschuhe« sagt, sagt man auch »die par Leute« oder »ein par Leute waren da«, statt folgerichtig
wie »wenige Leute«, auch ohne Artikel »par Leute waren da« zu sagen.
Bororó.
besteht in einem künstlich mit feinen Schnüren übersponnenen Stricke, mit ein Paar grossen Quasten
an den Enden, von welchem eine Menge andere runde Schnüre herabhängen, um eine Schürze zu
bilden; der Strick wird von den Weibern um die Hüften gebunden und es sind diese Schürzen
das einzige Kleidungsstück derselben, da, wo sie noch in einem etwas rohen Zustande leben;
früher kannten sie auch dies noch nicht, sondern gingen völlig nackt, oder späterhin mit einem
um die Hüften gebundenen Stück Baumbast«. Reise nach Brasilien in den Jahren 1815—1817,
II p. 216. Da haben wir also die Reihenfolge: Nacktheit, Bastbinde, Fadenschürze, europäische
Kleidung.
Volksglaubens. Der Ausdruck spielt eine grosse Rolle bei der niedern Bevölkerung.
cohè Mond, coere Batate.
hielt und Jedermann stolz sagte: »Ich heisse João Pereira Leite.«
Da die gleiche, in ganz Brasilien weit verbreitete Tracht anderswo diesen Namen nicht hervorgerufen
hat, so liegt die Vermutung nahe, dass die Paulisten gerade hier, wo die Leute sagten, dass sie
„Bororó“ hiessen, zu einem Kalauer veranlasst wurden.
zum Zeichen der Verehrung emporhebend, antwortete uns demütig „tupáng“ (NB. Tupíwort = Gewitter,
von den Missionaren als »Gott« erklärt und adoptiert). Wir zeigten ihm die Sonne — er sagte „obé“
(»Coroado«-Wort vom Rio Xipotó = Sonne) und er neigte den Kopf zum Beweis des Respekts.«
Kein jemals in Cuyabá eingelieferter »Coroado«-Knabe hat die Wörter tupáng und obé, noch weniger
aber hat jemals einer die von Moutinho so schön beschriebene Andacht gekannt. Aber dergleichen
Anekdoten werden von dem harmlosen Leser als baare Münze genommen und erhalten vollen Kurs-
wert. Wie gewaltig der Unsinn ist, den er wohlmeinend auftischt, davon hat auch der Verfasser
selbst keine Ahnung in seiner Unkenntnis.
Aug. Leverger und war französischer Abstammung.
caçoada! (bezahl’ uns unsere Löhnung und lass die faulen Witze).
Zweite Ausgabe S. 320. Leipzig 1888.
die Eingeborenen die List an, dass sie den letzten Teil des Weges nach Mäglichkeit durch die
Bäume zurücklegten.
unsern Indianern mit dem Namen des Tieres und seiner Teile, die ihn zusammensetzen, bezeichnet.
durch den Kamp gehen,) keinen Kopf haben.
- Holder of rights
- Kolimo+
- Citation Suggestion for this Object
- TextGrid Repository (2025). Collection 1. Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bj47.0