des vormaligen
Grafen
und Koͤniglichen Daͤniſchen Geheimen
Cabinetsminiſters
Johann Friedrich Struenſee,
eigenhaͤndiger Nachricht
von der Art, wie er zur Aenderung ſeiner Geſinnungen
uͤber die Religion gekommen iſt.
bey Rothens Erben und Proſt. 1772.
Vorrede.
Jch bin weit davon entfernt, die Bekehrung des
Grafen Struenſee fuͤr einen betraͤchtlichen Sieg
der Religion auszugeben, der ihre Wahrheit
beweiſe und auf den ihre Bekenner ſtolz zu ſeyn Urſache
haben. Sie iſt zu ſehr bewieſen, als daß ſie eines
ſolchen Beweiſes beduͤrfe, und jeder Chriſt, der ſeine
Religion verſteht, findet in ihr ſelbſt wichtigere Gruͤn-
de zu einer edlen Zufriedenheit mit ſich ſelbſt uͤber die
Gluͤckſeeligkeit und Weisheit ihr Bekenner zu ſeyn.
Jnzwiſchen ſcheint es mir doch gewiß zu ſeyn, daß in
der Seele dieſes Mannes, deſſen Bekehrungsgeſchichte
ich hier beſchreibe, der Jrrthum auf eine merkwuͤr-
dige Art von der Wahrheit beſiegt worden iſt, und
zwar durch ſolche Waffen, die keinen Zweifel daran
uͤbrig laſſen, daß der Sieg ganz entſchieden ſey. Freu-
de muß das jedem Chriſten verurſachen, den dieſe
meine Schrift davon uͤberzeugen kann: denn es iſt ja
Freude im Himmel uͤber jeden Suͤnder, der Buße thut.
Jch habe viele Urſachen gefunden, die Ge-
ſchichte dieſer heilſamen Veraͤnderung des ungluͤcklichen
Mannes zu erzaͤhlen. — Warum ſollte ich die Freude,
die ich daruͤber empfunden habe, nicht auch andern
mittheilen, die uͤber die Errettung einer Seele froh
)( 2ſeyn
[]
ſeyn koͤnnen. — Der Mann hat ſehr viel Aufſehen in
der Welt gemacht, alles was uͤber ihn geſchrieben
wird, wird mit Begierde geleſen, vielleicht wird dieſe
Erzaͤhlung auch von vielen geleſen werden und hin und
wieder Nutzen ſchaffen. Vielen Chriſten iſt es noͤthig,
daß ſie an die Beweiſe ihrer Religion erinnert werden.
Unter denen, die ſo denken, wie Struenſee ſonſt dachte,
kann vielleicht einer oder der andere ſeyn, der durch
ſein Beyſpiel aufmerkſam gemacht werden wird, uͤber
Religion und Sittlichkeit nachzudenken. — Er ſelbſt
wuͤnſchte es, daß alle diejenigen, die durch ſeine Re-
den und Beyſpiele zur Jrreligion und Laſterhaftigkeit
verfuͤhrt, oder auch nur in ihren Begriffen von Reli-
gion und Tugend irre gemacht worden ſind, von ſeiner
Ruͤckkehr zur Wahrheit und rechtſchaffenen Geſinnung,
und von dem Wege, auf dem er zuruͤckgekehrt iſt,
glaubwuͤrdig unterrichtet werden moͤchten. Er hoffte,
daß dadurch der ungluͤckliche Eindruck, den er auf ihre
Seelen gemacht haͤtte, wieder wuͤrde ausgeloͤſcht wer-
den. — Seine Bekehrung wird ihn endlich mit den
Edlen unter den Menſchen wieder ausſoͤhnen, die er
durch ſeine vorige Denkungsart und Beyſpiele belei-
digt hat. — Doch ich erzaͤhle eine wahre und in vieler
Abſicht nuͤtzliche Geſchichte. Warum will ich es fuͤr
noͤthig halten mich deswegen zu entſchuldigen?
Ob ſich nun meine Leſer darauf werden ver-
laſſen koͤnnen, daß ich ihnen die Wahrheit berichte,
das moͤgen ſie ſelbſt aus folgenden Gruͤnden beurthei-
len. Jch erzaͤhle ihnen, was in jeder Unterredung,
die ich mit ihm gehalten habe, merkwuͤrdiges und zu
unſrer Abſicht gehoͤriges, vorgegangen iſt. So, glaube
ich, wird der Gang, den ſeine Bekehrung genommen
hat, am deutlichſten und zuverlaͤſſigſten beſchrieben.
Jch
[]
Jch habe mich faſt jedesmahl ſorgfaͤltig auf dasjenige
zubereitet, was ich ihm vortragen wollte, weil ich
nicht glaubte, daß es mir erlaubt waͤre, ihm das erſte
das beſte zu ſagen, was mir etwa einfallen wollte.
Jch habe alles vorher durchgedacht und aufgeſchrieben,
und weiß alſo gewiß, was ich geſagt habe. So bald
ich von ihm zuruͤckkam, habe ich in meinem Tagebuch
ſeine Aeußerungen nachgetragen, und, wenn ich gleich
manches vergeſſen haben kann, ſo bin ich doch uͤber-
zeugt, daß er ſelbſt redet, wo ich ihn reden laſſe, und
ſo viel es moͤglich iſt, mit ſeinen eigenen Worten.
Jch berichte zuweilen auch Kleinigkeiten. Aber
nachdenkende Leſer finden oft durch die kleinſten Zuͤge
den Character der Perſon, von der die Rede iſt, ins
Licht geſtellt, und dann ſind es keine Kleinigkeiten
mehr. Zuweilen rede ich ſelbſt mehr, als es ſcheint,
daß ich haͤtte reden ſollen: aber ich muß ja die Bahn
genau bezeichnen, die ich mit ihm gegangen bin, ich
muß zeigen, welche Vorſtellungarten der Wahrheit
am meiſten auf ihn gewuͤrkt haben. Oft wird der Leſer
merkliche Luͤcken finden, er wird nicht begreifen, wie
der Mann ſo ſchnell und ohne daß die Urſachen davon
genau angegeben ſind, zur Erkenntniß und Ueberzeu-
gung von dieſer oder jener Wahrheit gekommen iſt.
Man muß aber nicht vergeſſen, daß er in meiner Ab-
weſenheit beſtaͤndig und mit vielem Nachdenken geleſen
hat, daß ich ihn durch die Buͤcher, die ich ihm gab,
und die auch in der Erzaͤhlung angezeigt ſind, von Zeit
zu Zeit auf das Nachfolgende vorbereitet habe, und
daß durch dieſe Buͤcher in einem Monate mehr Licht in
ſeine Seele gebracht iſt, als bloße Unterredungen in
einem Jahre uͤber ſie haͤtte verbreiten koͤnnen. Gegen
das Ende meiner Erzaͤhlung laſſe ich ihn am meiſten
)( 3reden.
[]
reden. Und an den Tagen, deren Geſchichte ich da
beſchreibe, ſprach er auch weit mehr als ich. Jch
erndtete damals mit Vergnuͤgen die Fruͤchte meiner
Bemuͤhungen, und dankte Gott dabey, daß der
Saame, den er durch mich hatte ausſtreuen laſſen,
einen guten Boden gefunden hatte. Meine Leſer
wollen auch in ſeinen letzten Tagen lieber ihm als
mir zuhoͤren.
Wie die eigenhaͤndige Nachricht des Grafen
Struenſee entſtanden iſt, habe ich in der Erzaͤhlung
ſelbſt am gehoͤrigen Orte berichtet. Hat er ſie ſelbſt
geſchrieben? Seine Hand iſt in Daͤnnemark bekannt
genug, das Papier, worauf er ſchrieb, iſt ihm von
ſeinen Richtern dazu gegeben, jeder Bogen iſt gericht-
lich numeriert und unterzeichnet. Niemand als er
konnte ſie in die Haͤnde bekommen und darauf ſchrei-
ben. — Habe ich ihm etwa den Jnhalt in die Feder
dictirt? Es kann ſo gewiß, als man es verlangen
wird, dargethan werden, daß er in meiner Abweſen-
heit dieſe ſo und ſo bezeichneten, ihm zugezaͤhlten und
ſtuͤckweiſe wieder abgelieferten, Bogen vollgeſchrieben
hat. — Aber iſt der Abdruck ſeines Aufſatzes, den ich
hier mittheilen will, unverfaͤlſcht, iſt er dem Original
gleichlautend? Wer daran zweifelt, der kann das
Original bey mir ſehen, und es allenfalls auf ſo lange
Zeit mit ſich nehmen, als er braucht, um es mit der
Copie zu vergleichen. — Jch komme mir ſelbſt ſonder-
bar vor, da ich mir ſo viel Muͤhe gebe zu beweiſen,
daß ich ein ehrlicher Mann bin. Aber ich weiß, wie
wenig Glauben die Erzaͤhlung eines Geiſtlichen von
der Bekehrung eines Freygeiſtes bey denen findet,
deren Parthie er verlaſſen hat. Es iſt alles Betruͤge-
rey, ſagen ſie. Das ſollen ſie wenigſtens hier nicht
ſagen.
[]
ſagen. Wollen und koͤnnen ſie behaupten, daß
Struenſee aus Poltronnerie Chriſt moͤrder iſt,
daß er ſeine Vernunft verlohren hat, daß ich ihn durch
meine Declamationes betaͤubt habe u. ſ. w. ſo laſſe ich
ihnen ihr Recht zu urtheilen, wie ſie wollen.
Aus dem Struenſeeiſchen Aufſatz ſoll nichts
weiter ſichtbar werden, als daß er, uͤber ſein voriges
Syſtem ſowohl als uͤber das Chriſtenthum, ſelbſt nach-
gedacht hat, und dadurch bewogen worden iſt, jenes
zu verlaſſen und dieſes anzunehmen. Die voͤllige
Richtigkeit der Begriffe und Ausdruͤcke wird man in
der Schrift eines Mannes, der die Religion nur ein
paar Monate ſtudiert, in ſeinem vorigen ganzen Leben
wenig an ſie gedacht, und ſonſt nie ein Wort uͤber ſie
geſchrieben hat, nicht erwarten. Und wenn man ſie
hin und wieder, ja durchaus, vermiſſen ſollte, ſo
habe ich die Hoffnung zu jedem Chriſten, denn jeder
Chriſt ſoll nach der Liebe urtheilen, daß er ihn des-
wegen keiner Ketzereyen beſchuldigen wird, die er nie,
auch nicht dem Nahmen nach, gekannt hat. Ueber
die Hauptſache, daß er nemlich im Vertrauen auf die
Gnade Gottes durch Chriſtum Jeſum, und mit ſo
ſehr gebeſſerten Geſinnungen, als ſie in ſo kurzer Zeit
ohne Wunder gebeſſert werden konnten, aus der Welt
gegangen iſt, wird, wie ich hoffen darf, kein Zweifel
uͤbrig bleiben. — Doch es iſt mir kaum erlaubt uͤber
dieſe Bekehrung zu urtheilen. Natuͤrlicher weiſe inter-
eſſirt es mich zu ſehr, daß ſie von jedermann fuͤr
rechtſchaffen moͤge gehalten werden, als daß ich vor
aller Gefahr mich zu betruͤgen ſollte ſicher ſeyn koͤnnen.
Jch habe die Geſchichte derſelben ehrlich erzaͤhlt: ver-
ſtaͤndige Chriſten moͤgen urtheilen, und ihr Urtheil
wird gewiß aufrichtig ſeyn.
Jch
[]
Jch weiß nicht, ob ich noch noͤthig habe zu
erklaͤren, daß ich bey dieſer meiner Erzaͤhlung eben ſo
wenig die Abſicht habe, das Andenken des Mannes,
von dem in derſelben die Rede iſt, verhaßt zu machen,
als eine Apologie fuͤr ihn zu ſchreiben. Diejenigen,
die wegen ſeiner Verbrechen, an die ich ſie zum Theil
wieder erinnere, die gerechteſte Urſache haben wider
ihn eingenommen zu ſeyn, werden es von ſelbſt fuͤr
billig halten, ihm nun zu verzeihen, und Mitleiden mit
ſeiner ehemaligen Verblendung zu haben! Diejenigen,
die ſein Betragen in ſeiner letzten Zeit gut und chriſtlich
finden, werden es deswegen nicht vergeſſen koͤnnen,
wer er vorhin war, und wie unvermeidlich er ſich
ſelbſt ein trauriges Ende machte. Kopenhagen den
22ſten Junius 1772.
Der
[[1]]
Der Graf Struenſee hatte ſich weder vor noch in
der Zeit ſeines Gluͤcks als einen Freund der
Religion und guter Sitten bewieſen. Niemand glaubte
wenigſtens ihn dafuͤr halten zu koͤnnen, und ſein Bey-
ſpiel ſowohl als einige ſeiner oͤffentlichen Veranſtaltun-
gen, auch ſeine Abaͤnderungen ſolcher Geſetze, die die
Einſchraͤnkung des Laſters und der ſittlichen Unordnung
zur Abſicht hatten, ſchienen unwiderſprechlich zu bewei-
ſen, daß man in der Meynung, die man von ſeiner Re-
ligion hegte, nicht Unrecht haͤtte. Wer ſehr billig von
ihm dachte, der hielt ihn fuͤr einen ſehr leichtſinnigen, den
Vergnuͤgungen und dem Ehrgeiz ergebenen Mann, der
noch wohl von ſeiner Verirrung zuruͤckkommen koͤnnte.
Daruͤber aber waren alle verſtaͤndige Beurtheiler einig,
daß unter ſeiner Verwaltung der oͤffentlichen Angelegen-
heiten die Religion allen Nachtheil zu befuͤrchten haͤtte,
der ihr jemals von Menſchen verurſacht werden kann,
und daß die Sitten des Volks, wenigſtens in der
Hauptſtadt, in großer Gefahr waͤren wild und zuͤgelloß
zu werden.
Dieſe Betrachtungen verurſachten es, daß ſehr
viele rechtſchaffene Leute, die nicht faͤhig ſind ſich uͤber
Adas
[2]
das Ungluͤck eines Menſchen zu freuen, den 17 Januar
dieſes Jahrs, den Tag an welchem der Graf Struenſee
fiel, fuͤr einen der erfreulichſten ihres Lebens hiel-
ten. Sie ſahen nun die Rechte der Tugend und Froͤm-
migkeit vor der Gefahr geſichert, von der ſie ihnen be-
droht geweſen zu ſeyn ſchienen. Und durch eine natuͤr-
liche Folge hofften ſie nun auch allgemeine Sicherheit,
Treu und Glauben, Thaͤtigkeit und Ueberfluß, denn das
alles war bisher ſehr wankend geweſen und faſt ver-
ſchwunden, bald wieder befeſtigt und hergeſtellt zu ſehen.
Dem Manne ſelbſt, von dem man nun nichts mehr zu
befuͤrchten hatte, und deſſen ungluͤckliches Schickſal man
leicht muthmaßen konnte, wuͤnſchten ſie Erkenntniß ſei-
ner Jrrthuͤmer und Vergehungen, und dann, Begna-
digung von der goͤttlichen Gerechtigkeit.
Als durch die uͤber ſein Verhalten angeſtellte ge-
richtlich Unterſuchung ſo viel entdeckt worden war, daß
man wiſſen konnte, die Geſetze wuͤrden ſein Leben als ein
Opfer der Gerechtigkeit fordern, erhielt ich den Befehl
des Koͤnigs ihn in ſeinem Gefaͤngniſſe zu beſuchen, und
fuͤr das Beſte ſeiner Seele zu ſorgen.Jch kannte den
Mann gar nicht, und war ihm unbekannt; wir waren
allem Anſehen nach in unſern Grundſaͤtzen und Geſin-
nungen ſehr weit von einander entfernt; ich mußte er-
warten, daß er, allenfalls bloß wegen meines Amtes
und Geſchaͤffts bey ihm, ſehr mistrauiſch gegen mich
ſeyn wuͤrde, ſo wie ich auf meiner Seite auch nicht eben
Urſache hatte viel Vertrauen auf ihn zu ſetzen. Weil ich
aber doch hoffen durfte, daß er in ſeiner Einſamkeit
allenfalls auch den Umgang eines Geiſtlichen ertraͤglich
finden wuͤrde; weil ich mir bewußt war, daß ich wah-
res Mitleiden mit ihm hatte, und alſo gewiß nicht durch
bittere und unzeitige Vorwuͤrfe ſein Gemuͤht wider mich
und meine Abſicht bey ihm einnehmen wollte; weil ich
end-
[3]
endlich von einigen ſeiner ehemaligen Bekannten gehoͤrt
hatte, daß er offenherzig und in einem gewiſſen Ver-
ſtande aufrichtig ſey: ſo hielt ich die Errichtung einer
ſolchen Freundſchaft unter uns, als zur Befoͤrderung
meines Endzwecks nothwendig war, nicht fuͤr unmoͤg-
lich. Mit dieſer Hoffnung machte ich den Anfang mei-
ner Beſuche bey ihm, und ich danke Gott fuͤr den Se-
gen, mit welchem er meine Bemuͤhungen um das Heil
des ungluͤcklichen Mannes begnadigt hat.
Erſte Unterredung den Iſten Maͤrz.
Jch konnte jetzt noch keine andere Abſicht haben als
einigen Grund zur Vertraulichkeit unter uns zu le-
gen, ihm den Zweck meines Zuſpruchs wichtig zu ma-
chen, und, wenn dazu ſich Gelegenheit zeigen ſollte,
uͤber ſein Religionsſyſtem Nachricht von ihm zu erhalten.
Als es ihm gemeldet ward, daß ich mit ihm
zu reden wuͤnſchte, erkundigte er ſich, ob ich Befehl
haͤtte zu ihm zu kommen. Man bejahte ihm dieſes,
und er ließ ſichs gefallen. Er empfieng mich mit einem
finſtern Geſicht, und in der Stellung eines Menſchen,
der ſich darauf gefaßt macht, eine Menge bittrer Vor-
wuͤrfe mit verachtendem Stillſchweigen anzuhoͤren. Wir
waren allein, und ich fuͤhlte mich durch den Anblick des
Elendes ſehr geruͤhrt, in welchem ich den Mann ſah,
der noch vor wenigen Wochen unter allen Unterthanen
des Koͤniges der erſte und maͤchtigſte geweſen war. Jch
konnte dieſe meine Empfindung nicht verbergen, wollte
es auch nicht. Herr Graf, ſagte ich. Sie ſehen, ich kom-
me mit einem geruͤhrten Herzen zu Jhnen. Jch weiß
und fuͤhle, was ich einem ungluͤcklichen Mann ſchuldig
bin, den Gott gewiß nicht zu einem ſolchen Ungluͤck hat
geboren werden laſſen. Jch wuͤnſchte ſehr, daß ich
A 2Jhnen
[4]
Jhnen meine Beſuche angenehm und nuͤtzlich machen
koͤnnte. Er verließ hier ſeine gezwungene Stellung, ſein
Geſicht ward heiterer, er gab mir die Hand und dankte
mir fuͤr meine Theilnehmung an ſeinem Schickſale. Jch
fuhr fort: Unſre Unterredungen werden zwar zuweilen
fuͤr Sie und fuͤr mich unangenehm ſeyn. Aber daruͤber
gebe ich Jhnen die heiligſte Verſicherung, daß ich Jh-
nen auch die traurigen Wahrheiten, die ich Jhnen zu
ſagen glaube verbunden zu ſeyn, ohne alle Bitterkeit
und Schadenfreude ſagen werde. Jch weiß, daß es
mir nicht erlaubt iſt, Sie ohne Noth betruͤben zu wollen.
Glauben Sie mir das; ich betheure es Jhnen, daß ich
die Wahrheit ſage. Und ſollte mir ja in der Geſchwin-
digkeit der Unterredung zuweilen ein Wort entfallen,
das Sie fuͤr beleidigend halten koͤnnten, ſo ſeyn Sie
verſichert, daß ich es nicht in der Abſicht geſagt habe,
Sie zu beleidigen, und uͤberſehen Sie in dieſem Falle
meine Uebereilung. Mit einer Miene und mit einem An-
ſtand, die mir nicht vortheilhaft in die Augen fielen,
antwortete er mir hierauf: O, Sie koͤnnen mir ſagen,
was Sie wollen!
Jch will Jhnen gewiß nichts anders ſagen,
Herr Graf, als was mein herzliches Verlangen, zur
Verbeſſerung, zur Gluͤckſeeligkeit Jhrer Zukunft, ſo
viel als mir moͤglich ſeyn wird, beyzutragen, mir noth-
wendig machen wird. Jch moͤchte Sie gerne auf Jhren
moraliſchen Zuſtand und auf Jhre Verhaͤltniſſe zu Gott
aufmerkſam machen. Sie koͤnnen nicht wiſſen, wie Jhr
Schickſal in dieſer Welt entſchieden werden wird, und
das Chriſtenthum, das ich lehre und glaube, macht es
mir zur Pflicht, ſehnlich zu wuͤnſchen, daß es Jhnen in
der kuͤnftigen wohl gehen moͤge. Sehen Sie meine Be-
ſuche und alle meine Unterredungen mit Jhnen bloß von
dieſer Seite an, ſo werden Sie ſie, nach meinen Grund-
ſaͤtzen
[5]
ſaͤtzen wenigſtens, in Anſehung ihrer Abſicht nicht tadel-
haft finden. Jch haͤtte mehr als eine Vorwand gehabt,
den Befehl abzulehnen oder zu verbitten, der mich zu
Jhnen fuͤhrt. Aber die Hoffnung Sie in Jhrem Un-
gluͤcke troͤſten, und Jhnen zur Vermeidung eines noch
groͤßeren Raht geben zu koͤnnen, iſt mir viel zu wichtig
geweſen: Kleine Nebenabſichten muͤſſen Sie mir ja nicht
zutrauen. Vortheile ſind von dieſer Arbeit nicht zu
erwarten, und Ehre — Ja, wenn Sie wollen, ſo iſt
es freylich Ehre ein Werkzeug in der Hand Gottes zur
Befoͤrderung der Gluͤckſeeligkeit eines Ungluͤcklichen zu
ſeyn. Aber bedenken Sie auch die Beſchwerden, die
damit verknuͤpft ſind, und die Verantwortung, die ich
vor Gott zu haben glaube, wenn etwa durch meine
Schuld, und waͤre es auch nur aus Uebereilung oder
Mangel der noͤthigen Kenntniſſe, mein Geſchaͤft bey
Jhnen keinen erwuͤnſchten Erfolg haben ſollte; bedenken
Sie, welchen entſetzlich unangenehmen Empfindungen
ich mich ausſetze, wenn etwa Jhr Proceß ſo ungluͤcklich
fuͤr Sie ausfallen ſollte, als Sie befuͤrchten werden: ſo
werden Sie mir zugeben, daß ich nicht um meinetwil-
len, ſondern in der Abſicht Jhnen nuͤtzlich zu werden, zu
Jhnen komme. Er geſtund mir hierauf zu zweyenmah-
len, daß er voͤllig uͤberzeugt ſey, ich ſuche nichts als ſein
Beſtes.
Wenn Sie davon uͤberzeugt ſind, fuhr ich mit
Empfindung fort, ſo goͤnnen Sie mir auch das Ver-
trauen, das Sie dem, der Jhr Beſtes ſucht, mit Billig-
keit nicht verſagen koͤnnen. Jch werde es, und wenn
Sie mich auch Anfangs fuͤr einen ſchwachen und von
Vorurtheilen eingenommenen Mann halten, mit der
dankbarſten Freundſchaft erwiedern; ich werde in dieſer
Freundſchaft nicht ermuͤden, ſondern Sie Jhnen bis aufs
auͤßerſte, da ich Jhr einziger Freund auf Erden ſeyn, da
A 3Sie
[6]
Sie gewiß Troſt von Jhrem einzigen Freunde fordern
werden, zu Jhrer Beruhigung nuͤtzlich zu machen ſuchen.
Er ſah mich hiebey ſtarr an, und wie mirs ſchien mit
Thraͤnen in den Augen, und druͤckte mir die Hand.
Jch ſah ihn geruͤhrt und ſuchte dieſen vortheil-
haften Augenblick zu nutzen. Wenn Sie des Troſtes
faͤhig ſeyn wollen, ſagte ich, den ich Jhnen, als den
einzigen wahren verſprechen zu koͤnnen glaube, ſo muͤſſen
Sie ja nicht auf den unſeeligen Gedanken gerahten, als
ein philoſophiſcher Held ſterben zu wollen. Und das
wuͤrden Sie auch ſchwerlich bis aus Ende ausfuͤhren.
Jhr Muth, und wenn Sie ſich auch zwingen koͤnnten,
aͤußerlich Miene zu halten, wuͤrde Sie doch in der That
verlaſſen. Standhaftigkeit und Ruhe in der Stunde des
Todes iſt ganz gewiß nur das Erbtheil eines guten Ge-
wiſſens. Er antwortete; er waͤre bisher unter allen
ſeinen Schickſalen ſtandhaft geweſen, und wuͤrde auch
ſeinem Character gemaͤß nicht als ein Heuchler ſterben
koͤnnen. Heucheley, ſagte ich hierauf, wuͤrde in dem
Augenblicke faſt noch ſchlimmer ſeyn, als eine erzwun-
gene Standhaftigkeit, obgleich dieſe auch eine Art von
Heucheley ſeyn wuͤrde. Jch verlangte ja aber auch keine
Heucheley von ihm, ſondern nur dieß, daß er mit Ehr-
furcht gegen Gott, mit ſichtbarem Gefuͤhl der nahen
Ewigkeit, mit Empfindung ſeines Unrechts aus der Welt
gehen moͤchte. Dann wuͤrde er geſchickt ſeyn, die
Suͤßigkeit des Troſtes zu empfinden, zu deſſen Quelle
ich ihn gern fuͤhren wollte. Uebrigens baͤte ich ihn, daß
er ſich ja auf die Standhaftigkeit, die er ſonſt glaubte
bewieſen zu haben, in dieſem Falle nicht verlaſſen moͤchte.
Seine vorigen unangenehmen Schickſale, die etwa in
Krankheit oder Duͤrftigkeit moͤchten beſtanden haben,
wuͤrde er ſelbſt wohl mit dem, welches ihn jetzt erwartete,
nicht vergleichen wollen. Ueber dieß machte er ſich viel-
leicht
[7]
leicht jetzt noch einige Hoffnung. Nein, antwortete er,
ich mache mir gar keine! “ So ſehen Sie wenigſtens
den Tod noch nicht in der Naͤhe. Sie wiſſen ihr Ziel
noch nicht genau zu beſtimmen. Es kann etwa noch auf
einige Monate hinausſtehen. Aber, hier nahm ich ihn
bey der Hand, aber, Herr Graf, wenn ich nun Befehl
haͤtte Jhnen zu ſagen, uͤbermorgen, morgen, heute
ſollen Sie ſterben, wuͤrden Sie dann auch nicht den
Muth ſinken laſſen? „ Das weiß ich freylich nicht, ſagte
er. Wie aber, fuhr ich fort, wenn Sie dann nun Jhre
vermeynte Standhaftigkeit verließe, und es dann zu
ſpaͤt waͤre, Troſt und Hoffnung zu ſuchen und zu finden,
was meynen Sie denn wohl, wie Jhnen zu Muhte ſeyn
wuͤrde? Er ſchwieg ſtille.
Sie ſehen hieraus fuhr ich fort, die Abſicht un-
ſrer Unterredungen iſt wichtig fuͤr Sie und verdient alle
Jhre Aufmerkſamkeit. Jch ſuche nichts geringeres als
Sie auf Jhren vielleicht nahe bevorſtehenden Schritt in
die Ewigkeit zuzubereiten, daß Sie ihn mit guter Hoff-
nung moͤgen thun koͤnnen. Jch vermuhte nun zwar,
daß wir uͤber den Zuſtand des Menſchen nach dem Tode
nicht einerley Meynung haben. Aber wenn Sie ſich
gleich bisher moͤgen uͤberredet gehabt haben, es ſey kein
kuͤnftiges Leben, und alſo auch kein Lohn und keine
Strafe: ſo haben Sie doch gewiß nicht davon uͤberzeugt
ſeyn koͤnnen. Unzaͤhlige mahl wird Jhnen Jhr inneres
Gefuͤhl widerſprochen haben. Sie werden vor der Ewig-
keit oft erſchrocken ſeyn, ob Sie gleich ſo geſchickt zu
Jhrem Ungluͤck geweſen ſeyn koͤnnen, dieſe Empfindung
jedesmahl in der Geburt zu erſticken. Wenigſtens koͤn-
nen Sie es jetzt und nimmermehr beweiſen, daß keine
Ewigkeit iſt.
A 4Er
[8]
Er hoͤrte mir aufmerkſam zu: aber das wollte
er nicht geſtehen, daß er die Unſterblichkeit gefuͤhlt, und
ſich davor gefuͤrchtet haͤtte. Es koͤnnte wohl ſeyn, ſagte
er, aber er erinnere ſich nicht daran. Der Gedanke,
daß er nun bald ganz aufhoͤren wuͤrde zu ſeyn, ſey ihm
freylich gar nicht angenehm, er fuͤrchte ſich davor, und
wuͤnſche zu leben, ſelbſt mit minderer Gluͤckſeeligkeit als
er jetzt in ſeinem Gefaͤngniß habe. Aber das koͤnne er
doch auch nicht ſagen, daß ihm die Erwartung, ganz ver-
nichtigt zu werden, ſo erſchrecklich fuͤrchterlich ſey, als
manche ſelbſt unter denen, die mit ihm uͤber die Sache
einerley Meynung hegten, ſie gefunden haͤtten.
Jch knuͤpfte den abgeriſſenen Faden der Unter-
redung wieder an , und fuhr ſo fort: Sie muͤſſen nun
doch wenigſtens die Moͤglichkeit eines Lebens nach dem
Tode zugeben, und dieſe iſt eben ſo wahrſcheinlich, als
die Unmoͤglichkeit deſſelben, die Sie vielleicht glauben
aber nicht beweiſen koͤnnen. Jch koͤnnte Jhnen aus der
bloßen Vernunft die hoͤchſte Wahrſcheinlichkeit davon,
die in ſolchen Dingen faſt Gewißheit iſt, darthun: aber
ich finde das zu meiner jetzigen Abſicht uͤberfluͤſſig. Jch
will nur die bloße Moͤglichkeit annehmen, die Sie ſchon
zugeben muͤſſen. Wenn aber nur dieß iſt, ſo muß es
Jhnen ſchon aͤußerſt wichtig ſeyn, bald zu wiſſen, wie es
Jhnen in dem moͤglichen kuͤnftigen Leben ergehen koͤnne,
damit Sie, wenn etwa in demſelben ein trauriges Schick-
ſal fuͤr Sie zu erwarten waͤre, die beſten Mittel ſuchen
koͤnnen, es zu verbeſſern oder gar von ſich abzuwenden.
Er erkannte dieſen Schluß fuͤr richtig, und ſich
fuͤr verbunden dafuͤr zu ſorgen, daß, wenn ja eine Ewig-
keit waͤre, ſie fuͤr ihn, wo nicht gluͤcklich, doch wenig-
ſtens ertraͤglich ſeyn moͤchte. Aber daß ein kuͤnftiges Le-
ben ſeyn wird, ſetzte er hinzu, das werden Sie mich
ſchwer-
[9]
ſchwerlich glauben machen. Meinen Verſtand koͤnnen
Sie vielleicht uͤberzeugen, und mir Beweiſe vorlegen,
gegen die ich nichts einwenden kann. Aber ich fuͤrchte,
mein Herz wird nicht Theil daran nehmen. Meine ent-
gegengeſetzte Meynung iſt ſo feſt in meine Geſinnung
hineingewebt, ich habe ſo viele Gruͤnde fuͤr ſie geſammlet,
ſo viele Bemerkungen aus der Anatomie und Phyſik zu ih-
rer Beſtaͤtigung gemacht, daß es mir unmoͤglich ſcheint,
ſie verlaſſen zu koͤnnen. Das verſpreche ich Jhnen in-
deſſen, daß ich mich nicht nur Jhren Bemuͤhungen mich
zu erleuchten nicht muthwillig wiederſetzen, ſondern Jh-
nen, ſo weit als es mir moͤglich iſt, entgegen kommen
will. Jch will auch nie heucheln, ſondern Jhnen alle-
mahl aufrichtig ſagen, wovon ich uͤberzeugt und wovon
ichs nicht bin. Jch will offenherzig mit Jhnen umgehen,
das iſt meinem Character gemaͤß, und meine Freunde
koͤnnen es Jhnen bezeugen. Jch bat ihn noch ſich bey
unſern Unterſuchungen vor der leichtſinnigen Denkungs-
art zu huͤten, der er, wie ich glaubte, bisher ergeben
geweſen waͤre, und die ihn in dieſe Tiefe des Elends ge-
ſtuͤrzt haͤtte. Jch leugne es nicht, ſagte er, ich habe
leichtſinnig in der Welt gelebt, ich erkenne auch die
Folgen davon.
Jch verlaſſe mich auf Jhr Verſprechen, ſetzte ich
hinzu, daß Sie aufrichtig mit mir umgehen werden.
Wollten Sie das nicht thun, ſo wuͤrden Sie vielleicht
mich, obgleich nur auf einige Tage, aber gewiß nicht
das allwiſſende hoͤchſte Weſen und Jhr eigenes Gewiſſen
hintergehen koͤnnen. Jch werde mich unausſprechlich
freuen, wenn ich in meiner gewiß guten Abſicht bey Jh-
nen gluͤcklich bin. Aber naͤchſt Gott koͤnnen und muͤſſen
Sie alles dabey thun. Jch kann nichts weiter, als
Sie leiten. Es iſt ja auch Jhre eigene Angelegen-
heit ſich um Jhr Heil zu bemuͤhen, und Sie ſind
A 5ver-
[10]
verbunden alle Zeit, die Sie noch uͤbrig haben, dar-
auf zu wenden.
Jch bat ihn nun mir von ſeinem Religionsſyſtem
Nachricht zu geben, um darnach beurtheilen zu koͤnnen,
wie weit wir etwa in unſern Meynungen von einander
abſtuͤnden. Jch vermuhte ſehr, ſagte ich, daß Sie kein
Chriſt ſind. Sie koͤnnen leicht einſehen, wie ſehr ich
wuͤnſchen muͤſſe, daß Sie es werden moͤgen. Dennoch
iſt es gar nicht meine Abſicht Jhnen das Chriſtenthum
aufzudringen: ich hoffe vielmehr es Jhnen ſo wichtig
und liebenswuͤrdig machen zu koͤnnen, daß Sie es ſelbſt
fuͤr ein unentbehrliches Beduͤrfniß fuͤr ſich halten werden.
Er antwortete mir: Er ſey freylich weit davon entfernt
ein Chriſt zu ſeyn, indeſſen erkenne und verehre er ein
hoͤchſtes Weſen, und glaube, daß die Welt und das
menſchliche Geſchlecht von Gott ihren Urſprung haben.
— Daß der Menſch aus zwo Subſtanzen beſtehe, davon
habe er ſich nie uͤberzeugen koͤnnen. Er hielte ſich und
alle Menſchen fuͤr bloße Maſchinen. Er habe dieſe Hy-
potheſe nicht aus dem la Mettrie genommen, welchen er
nie geleſen habe, ſondern ſich dieſelbe ſelbſt durch eignes
Nachdenken gebildet. Gott ſey es, der die menſchliche
Maſchine zuerſt in Bewegung ſetze, wenn ſie aber ſtocke,
das iſt, wenn der Menſch ſterbe, ſo ſey fuͤr ihn
nichts weiter zu hoffen noch zu fuͤrchten. — Die
Freyheit wollte er dem Menſchen nicht abſprechen, doch
wuͤrden ſeine freyen Handlungen durch die Empfindun-
gen beſtimmt. Es ſey alſo allerdings Moralitaͤt in den
Handlungen, aber nur in ſo fern ſie fuͤr die Geſellſchaft
Folgen haͤtten. An ſich ſelbſt ſey alles, was der Menſch
thun koͤnne, gleichguͤltig, Gott bekuͤmmere ſich um un-
ſre Unternehmungen nicht, und wenn der Menſch die
Folgen ſeiner Handlungen in ſeiner Gewalt haͤtte, und
verhindern koͤnnte, daß ſie der Geſellſchaft nicht nach-
theilig
[11]
theilig wuͤrden, ſo habe ihm niemand Vorwuͤrfe daruͤber
zu machen. Er ſetzte noch hiezu, er muͤſſe geſtehen,
daß er uͤber einige ſeiner Handlungen ſehr unruhig ſey,
am meiſten daruͤber, daß er andere mit ſich ins Ungluͤck
gezogen habe. Er fuͤrchte aber nach dieſem Leben fuͤr
ſich keine uͤbeln Folgen oder Strafen davon. Er ſehe
nicht ein, daß ſolche Strafen zur Befriedigung der Ge-
rechtigkeit Gottes noͤthig waͤren, wenn er auch zugeben
wollte, daß Gott an dem Thun und Laſſen der Men-
ſchen Antheil naͤhme. Der Menſch wuͤrde ſchon hier
fuͤr ſeine Vergehungen genung geſtraft. Er ſelbſt ſey in
ſeiner Groͤße gewiß nicht gluͤcklich geweſen. Wenigſtens
habe er in den letzten Monaten ſeines ſo ſehr beneideten
Gluͤcks mit vielen unangenehmen Gemuͤthsbewegungen
kaͤmpfen muͤſſen.
Gegen das Chriſtenthum habe er vornehmlich
dieß einzuwenden, daß es nicht allgemein ſey. Waͤre es
eine goͤttliche Offenbarung, waͤre es der wahre und ein-
zige Weg zum Wohlgefallen Gottes, ſo muͤßte es noth-
wendig dem ganzen menſchlichen Geſchlechte bekannt
gemacht ſeyn.
Jch ſagte dießmahl wenig zur Widerlegung ſei-
nes Syſtems und ſeines Einwurfs gegen die Religion,
ſondern ſchlug ihm vor, ein vortreffliches Buch zu leſen,
welches, wie ich ſehr vermuhtete, vieles zur Aufklaͤrung
ſeiner Begriffe von der Religion beytragen wuͤrde. Er
fragte mit einer mistrauiſchen Miene: Welches Buch?
Jeruſalems Betrachtungen uͤber die Religion, antwor-
tete ich, ein Buch, das ſie bloß um ſeiner vortrefflichen
Schreibart willen mit dem groͤßeſten Vergnuͤgen leſen
werden. Er bat mich ihm daſſelbe zu bringen.
Jch hatte bemerkt, daß er wuͤrklich unruhig
uͤber einige ſeiner Handlungen war, und hielt es fuͤr
nuͤtzlich,
[12]
nuͤtzlich, dieſe ſeine Unruhe zu vermehren. Jch ſetze zum
Voraus, daß meine Leſer wiſſen, wie viel er ſich uͤber
ſein Verhalten gegen den Grafen Bernſtorf vorzuwerfen
hatte. Jch erzaͤhlte ihm alſo, als ich weggehen wollte,
den Tod deſſelben. Jſt er geſtorben? rief er mit Lebhaf-
tigkeit, und fuhr zuſammen. Ja, ſagte ich, er iſt ge-
ſtorben, er hat durch Weisheit, Religion und Froͤmmig-
keit den Character des großen Mannes bis ans Ende
behauptet, und man glaubt allgemein, daß der Gram
ſeiner letzten Jahre, Herr Graf, ſeinen Tod befoͤrdert
hat. Jch ſah ihn hiebey mit einer Miene an, die er gut
zu verſtehen ſchien, denn er erroͤthete.
Zwote Unterredung, den 3ten Maͤrz.
Meine erſte Bemuͤhung bey dem Grafen Struenſee
mußte nun dieſe ſeyn, ihn von der Falſchheit ſeiner
Hypotheſe, der Menſch ſey nichts als eine Maſchine,
zu uͤberzeugen. Daraus ſchloß er, daß kein kuͤnftiges
Leben ſey, ob es gleich nicht daraus folgt; und ſo lange
er die Ewigkeit fuͤr nichts hielt, konnte Religion und
Moralitaͤt ihm nicht wichtig werden.
Jch erinnerte ihn an ſein Verſprechen, der Wahr-
heit nicht vorſetzlich zu widerſtehen, ſondern ihr entgegen
zu kommen. Sie ſtehen nun, ſagte ich, ſeit unſrer erſten
Unterredung der Ewigkeit um zwey Tage naͤher. Ein
Tag iſt Jhnen jetzt ſo viel als ſonſt ein Jahr. Sie
muͤſſen alſo eilen ihre Seele zu retten. Jch weiß wohl
Sie glauben itzt weder, daß eine Ewigkeit iſt, noch daß
Sie eine Seele haben. Sie kennen Jhre Vortheile noch
nicht. Sie halten Jhre Meynung, der Menſch ſey eine
bloße Maſchine, noch fuͤr Wahrheit, und folgern daraus
mehr, als darin liegt. Doch werden Sie ſie wohl fuͤr
nichts weiter als fuͤr eine philoſophiſche Hypotheſe ausge-
ben
[13]
ben wollen. Aus dieſem Geſichtspuncte wollen wir ſie
heute betrachten. Es iſt zwar nicht noͤthig, daß ich mich
auf eine umſtaͤndliche Beurtheilung Jhrer Hypotheſe
einlaſſe; denn daß kein kuͤnftiges Leben ſey, kann doch
niemand aus derſelben beweiſen. Jch will es aber den-
noch thun, damit Sie mich nicht in Verdacht haben moͤ-
gen, daß ich Sie uͤberraſchen wolle.
Er war ſehr aufmerkſam, und folgte mir bey
der Unterſuchung, die ich nun anſtellte, Schritt vor
Schritt. Jch an meiner Seite warnte ihn, ſo oft ich
an einen Satz kam, der ſeiner Meynung beſonders ge-
faͤhrlich war, und forderte ihn auf ſich zu vertheidigen,
weil er nun in Gefahr ſey, uͤberwunden zu werden.
Zuerſt ſetzte ich folgende logicaliſche Regeln uͤber
die philoſophiſche Hypotheſe ins Licht, und legte ſie zum
Grunde. — Eine philoſophiſche Hypotheſe iſt ein Satz,
den ich annehme, um andere Saͤtze, Erſcheinungen u.
ſ. w. daraus zu erklaͤren. Ein ſolcher Satz braucht keine
erwieſene oder ausgemachte Wahrheit zu ſeyn, wenn er nur
nicht in ſich ſelbſt oder andern gewiß erkannten Wahr-
heiten widerſprechend, und hinreichend iſt, die unbekann-
ten Dinge zu erklaͤren, zu deren Erklaͤrung er angenom-
men wird. Deswegen iſt die Hypotheſe um ſo viel beſſer,
je leichter und ungezwungener dasjenige, das man gerne
durch ſie erklaͤren will, durch ſie erklaͤrt werden kann:
aber ſie iſt um ſo viel ſchlechter, je weniger ſie dazu
brauchbar iſt. Muß ich neue Hypotheſen zu Huͤlfe ru-
fen, um das, was durch jene unerklaͤrbar bleibt, zu er-
klaͤren, ſo wird ſie immer unwahrſcheinlicher und ver-
daͤchtiger, je mehr ſolcher Huͤlfshypotheſen noͤthig ſind.
Wenn ich z. Ex. zeigen will, wie es zugeht, daß Tag
und Nacht, daß die waͤrmern und kaͤltern Jahrszeiten
mit einander abwechſeln, ſo kann ich es auf dieſe Art
anfan-
[14]
anfangen. Die Sonne bewegt ſich alle vier und zwanzig
Stunden um die Erde. Daher kommt Tag und Nacht.
Aber was verurſacht die Jahrszeiten? Sie bewegt ſich
in einem Schneckengange. Dadurch koͤmmt ſie allmaͤhlig
der Erde naͤher, und macht die waͤrmern Jahrszeiten.
Wie verurſacht ſie aber die kaͤltern? Sie geht zu rechter
Zeit in dieſem Schneckengange wieder zuruͤck und ent-
fernt ſich von der Erde. Nun iſt freylich Tag und Nacht,
Sommer und Winter erklaͤrt. Aber die erſte Hypotheſe,
daß die Sonne ſich alle vier und zwanzig Stunden um
die Erde bewege, war dazu nicht hinlaͤnglich. Sie
mußte noch durch andre Hypotheſen unterſtuͤtzt werden.
Die copernicaniſche Hypotheſe hingegen bedarf dieſer Um-
ſchweife nicht und erklaͤrt alles allein. Die Erde bewegt
ſich um die Sonne, ſo daß ſie ſich taͤglich um ihre Axe,
und jaͤhrlich einmahl um die Sonne waͤlzt. Jſt nun
nicht dieſe letzte der erſtern weit vorzuziehen, und hat
ſich nicht die Vernunft ſchon laͤngſt wuͤrklich fuͤr ſie er-
klaͤrt? — Alle dieſe Vorausſetzungen nahm der Graf
ohne Widerſpruch fuͤr wahr und vernuͤnftig an.
Jch wandte nun dieſe Regeln auf die Hypotheſe
an: der Menſch iſt eine Maſchine. Dieſer Satz, ſagte
ich, wird von Jhnen zur Erklaͤrung der Erſcheinungen,
die bey dem Menſchen erblickt werden, angenommen.
Sie geben ihn, wie ich hoffe, fuͤr keine ausgemachte und
erweisliche Wahrheit aus, ſonſt muͤßte ich Sie bitten
mir einen richtigen Beweis davon zu fuͤhren. Er mag
vielleicht ausgeſchmuͤckt, und durch einige anatomiſche
Bemerkungen glaublich oder wohl gar wahrſcheinlich ge-
macht werden koͤnnen. Aber der Zergliederer kennt doch
ja nur die groͤberen Theile des Menſchen. Die ſeinern
und feinſten entziehen ſich ſeinen Blicken. Daher iſt kein
hinlaͤnglicher Beweis davon moͤglich. Der Graf erbot
ſich zwar zum Beweiſe. Aber alles lief darauf hinaus,
daß
[15]
daß er durch eine ſehr unvollſtaͤndige Jnduction, wobey
er ſich auf Hallers Phyſiologie berufen wollte, ſehr drin-
gende Gruͤnde fuͤr ſeine Meynung glaubte gefunden zu
haben. Nachdem ich ihm hierauf durch Beyſpiele die
Natur und Beweiskraft einer ſolchen Jnduction erlaͤu-
tert hatte, erklaͤrte er ſich, er wolle ſeinen Satz fuͤr
nichts weiter als fuͤr eine Hypotheſe ausgeben: doch be-
hauptete er, er wuͤrde ihn zu einer andern Zeit und unter
andern Umſtaͤnden unwiderſprechlich haben demonſtri-
ren koͤnnen.
Es kam alſo nun zufoͤrderſt auf die Frage an,
ob auch der Satz, der Menſch iſt eine Maſchine, in ſich
ſelbſt oder andern ausgemachten Wahrheiten widerſpre-
chend ſey? Hier mußte der Begriff der Maſchine zum
Grunde gelegt werden. Wir bildeten ihn mit einander,
und wurden daruͤber einig, eine Maſchine ſey eine Ver-
bindung verſchiedener nicht willkuͤhrlich wuͤrkender Din-
ge, die ſo verknuͤpft ſeyn, daß immer eins die Bewegung
des andern beſtimmte. Wollte ich nun gleich zugeben,
ſagte ich hier, daß ihr Satz an ſich ſelbſt nicht widerſpre-
chend ſey, ſo muͤßten Sie doch geſtehen, er ſtreite mit
andern erwieſenen Wahrheiten. Der Menſch z. Ex.
kann ohne koͤrperliche Bewegung wuͤrken. So iſt ein
einfacher Gedanke, das Bewußtſeyn ſeiner ſelbſt, eine
Wuͤrkung, die von aller ſolcher Bewegung frey iſt. Waͤre
er eine Maſchine, ſo muͤßte er das nicht koͤnnen, denn
die Wuͤrkungen einer Maſchine beſtehen allein in der Be-
wegung. Ferner laͤugnen ſie es ſelbſt nicht, daß der
Menſch willkuͤhrliche und freye Handlungen hervorbringt.
Eine Maſchine aber beſteht ihrem Begriffe nach aus
lauter unwillkuͤhrlichen Theile, die alſo auch durch ſich
ſelbſt nicht willkuͤhrlich wuͤrken koͤnnen. Soll nun der
Menſch eine bloße Maſchine ſeyn, wie kann er denn will-
kuͤhrlich und frey handeln? —
Sie
[16]
Sie ſehen, Herr Graf, es iſt ſchon um Jhre
Hypotheſe gethan. Sie iſt ein falſcher Satz. Sie iſt
alſo nicht wuͤrdig von einem verſtaͤndigen Manne beybe-
halten zu werden. — Doch wir wollen ſie dem ohnge-
achtet noch nicht wegwerfen. Laſſen Sie uns erſt unter-
ſuchen, ob ſie zu der Abſicht hinlaͤnglich iſt, die bey dem
Menſchen vorkommenden Erſcheinungen zu erklaͤren.
Wir wollen dieß nur mit einigen derſelben, ſo wie ſie
uns zuerſt einfallen, verſuchen. Das Leben und den
Tod des Menſchen kann ich aus dem Satz erklaͤren, der
Menſch ſey eine Maſchine. Die Maſchine iſt in Bewe-
gung, das iſt, der Menſch lebt. Sie iſt zerbrochen,
ihre Theile ſind verſchoben, ſie ſtockt, das iſt, der Menſch
iſt todt. Schwerer moͤchte es ſchon ſeyn die Zeugung und
Geburt daraus herzuleiten? Man koͤnnte ſagen, Maſchi-
nen pflegten nicht gezeugt und gebohren, ſondern von
einem Meiſter, der da weiß, was er macht, und wozu ers
macht, gebauet zu werden. Viele koͤrperliche Verrichtun-
gen des Menſchen ſind aus der Maſchine erklaͤrbar; denn
unſer Leib iſt wuͤrklich eine Maſchine. Dieß ſind aber
auch nur ſolche, deren Gegentheil nicht erfolgen kann.
Die große Menge der willkuͤhrlichen und freyen Hand-
lungen, wozu wir den Leib und ſeine Glieder brauchen,
kann niemand aus dem Satze, der Menſch iſt eine Ma-
ſchine, begreiflich machen. Denn die Maſchine kann
keine andre Bewegungen hervorbringen, als diejenigen,
die durch ihren Bau beſtimmt ſind, und deren Gegen-
theil durch denſelben unmoͤglich gemacht iſt. So iſt es
unmoͤglich, daß der Zeiger an einer Uhr von ſelbſt zuruͤck-
gehe. Der Menſch aber thut augenſcheinlich vieles,
deſſen Gegentheil er auch haͤtte thun koͤnnen, wenn er
gewollt haͤtte. Was wollen Sie endlich von den ab-
ſtrakten Jdeen ſagen? Dieſe, antwortete er, koͤnnen nicht
ohne Bilder gemacht werden, und dieſe Bilder werden
aus der Empfindung hergenommen. Die Empfindung
aber
[17]
aber liegt in der Maſchine. Der Eindruck der auͤßern
Gegenſtaͤnde, ſagte ich hierauf, wird in die Maſchine
gemacht, aber derjenige, der ſich dieſes Eindrucks be-
wußt iſt, der das Bild denkt, der viele Bilder mit ein-
ander vergleicht und aus dieſer Vergleichung allgemeine
Begriffe bildet, der bringt in dem allen Wuͤrkungen
hervor, zu der die Maſchine ſelbſt unfaͤhig iſt. Noch
mehr. Erklaͤren Sie mich doch aus dem Bau der Ma-
ſchine des Menſchen die Wuͤrkungen des Gedaͤchtniſſes,
den Wunſch und die Hoffnung der Fortdauer nach der
Zerſtoͤrung der Maſchine, die der Menſch doch nicht
eher verlaͤugnen kann, bis er ſeine geheimen Urſachen
dazu hat, auch die Freuden und die Schmerzen des Ge-
wiſſens, und ſ. w. Der Graf hoͤrte mich kaltſinnig an,
und ſchwieg ſtille.
Jhre Hypotheſe, ſchloß ich hieraus, iſt alſo auch
nicht geſchickt zu der Abſicht zu der Sie ſie angenommen
haben. Es waͤre denn, daß Sie, um ſie doch noch
zu behaupten, zu allerley Huͤlfshypotheſen Jhre Zuflucht
nehmen wollten. Aber Sie wiſſen, was man von einem
Gebaͤude halten kann, das ſo vieler Stuͤtzen bedarf.
Sie werden mir nun ſagen, die Maſchine werde durch
die Empfindungen zu den Wuͤrkungen beſtimmt, die wir
willkuͤhrlich oder frey nennen. Ja, ſagte er, und uͤber-
ſchuͤttete mich mit einer Menge von Kunſtworten. Da
iſt die Senſibilitaͤt, die Jrritabilitaͤt u. ſ. w. Er ver-
ſteckte ſich hier hinter dem Worte determiniren. Als ich
ihm aber zeigte, determiniren ſey ſo viel, als das Ge-
gentheil der determinirten Handlung unmoͤglich machen,
und er doch dem Menſchen Willkuͤhr und Freyheit nicht
abſprechen wollte, ſo gab er nach. Nun ſetzte ich hinzu:
Die Empfindungen koͤnnen gelegentliche Urſachen zu
freyen Handlungen ſeyn, ſie koͤnnen dem Menſchen dazu
einen Antrieb geben, aber ſie determiniren ihn nicht, ſie
Bmachen
[18]
machen das Gegentheil der Handlung, zu der ſie ihn
reizen, nicht unmoͤglich. Z. Ex. Da ſteht die Tabatiere.
Jhr Anblick, ein gewiſſes Gefuͤhl in meiner Naſe, kurz
die Empfindung reizt mich eine Priſe zu nehmen. Was
werde ich nun thun, Herr Graf? “Sie werden eine
Priſe nehmen!„ Jch ſage Jhnen aber, ich werde keine
nehmen. Die Empfindung giebt mir nur einen Antrieb,
aber ſie determinirt mich nicht. Es ſteht bey mir, das
Gegentheil von dem zu thun, wozu ſie mich reizt. —
Sie ſehen hieraus, Herr Graf, Jhre Hypotheſe hat
auch den Fehler, daß ſie Huͤlfshypotheſen noͤthig hat,
und dieſe ſind zum Ungluͤck eben ſo unzulaͤnglich, als ſie
ſelbſt iſt.
Jch hatte vorhin erwaͤhnt, daß auch die Vor-
wuͤrfe des Gewiſſens unerklaͤrbar blieben, wenn man an-
naͤhme, der Menſch ſey eine Maſchine. Er erinnerte
ſich daran und behauptete, ſie ließen ſich doch daraus
herleiten, denn ſie entſtuͤnden aus der Empfindung des
Uebels, das man ſich zugezogen haͤtte. Jch gab ihm zu,
ſie entſtuͤnden aus der Empfindung dieſes Uebels, wenn
er wollte; aber durch einen Schluß, den die Maſchine
nicht machen koͤnnte, ſondern nur das vernuͤnftige We-
ſen, das mit der Maſchine verbunden waͤre. Er hatte
bey unſrer erſten Unterredung geſagt, er mache ſich uͤber
einige ſeiner Handlungen Vorwuͤrfe. Jch bildete ihm
den Schluß, den er ſelbſt daruͤber gemacht haben muͤßte,
und fuͤgte einige practiſche Anmerkungen hinzu, die auf
ſeinen Zuſtand giengen. Dieß ſchien ihm einleuchtend
zu ſeyn, und er ward dadurch auf einige Augenblicke in
ſich ſelbſt vertieft.
Nachdem er wieder von ſeinem tiefen Nachden-
ken zuruͤckgekommen war, fuhr ich ſo fort: Sie wiſſen,
Herr Graf, daß die copernicaniſche Hypotheſe, weil ſie
ver-
[19]
vernuͤnftiger und bequemer war, die tychoniſche ver-
draͤngt hat. Die Vernunft erkannte es fuͤr ihre Pflicht,
dieſe fahren zu laſſen und jene anzunehmen. Sie ſind
itzt in einem aͤhnlichen Falle. Sie haben geſehen, ihre
bisherige Hypotheſe iſt widerſprechend, unbequem und
unbrauchbar. Wenn ich Jhnen nun eine andre angeben
koͤnnte, die beſſer waͤre, wuͤrden Sie ſich nicht fuͤr ver-
bunden halten, ſich fuͤr ſie zu erklaͤren? Dieſe Hypotheſe
druͤcke ich ſo aus: Der Menſch beſteht aus zwo Sub-
ſtanzen, Leib und Seele. Erinnern Sie ſich daran,
ich gebe dieſen Satz itzt noch fuͤr nichts weiter als fuͤr
eine Hypotheſe aus. Jch glaube aber, dieſe hat alle die
Maͤngel nicht, die Sie an der Jhrigen entdeckt haben,
ſie hat vielmehr die entgegengeſetzten Vortheile. Der
Leib, die eine der beyden Subſtanzen, woraus der
Menſch beſteht, iſt und bleibt eine Maſchine. Jn ſo
weit koͤnnen Sie Jhre alte Meynung beybehalten. Und
daruͤber iſt auch gar kein Streit, daß die in dem vor-
hergehenden Zuſtande gegruͤndeten Bewegungen des Lei-
bes, und auch gewiſſe Empfindungen der Seele, aus der
Einrichtung dieſer Maſchine muͤſſen erklaͤrt werden koͤn-
nen. Die Seele hingegen iſt von ihrem Urheber mit
Verſtand und Willen, Vernunft und Freyheit begabt.
Denn wir koͤnnen Begriffe bilden, ſie mit einander ver-
gleichen, wir ſind faͤhig Zuneigungen und Abneigungen
zu haben, und aus zwey entgegengeſetzten Faͤllen einen
zu waͤhlen. Alſo muͤſſen wir zu allen dieſen Wuͤrkungen
Faͤhigkeiten haben, und dieſe Faͤhigkeiten fuͤhren die an-
gefuͤhrten Nahmen. So bald Sie dieſe meine Hypo-
theſe annehmen, ſo ſind die willkuͤhrlichen und freyen
Handlungen des Menſchen nicht mehr unerklaͤrbar. Jch
gieng hierauf diejenigen Erſcheinungen bey dem Men-
ſchen durch, die ſich aus der Maſchine nicht herleiten
laſſen, und zeigte ihm, wie ſie aus meinem Satze leicht
und natuͤrlich floͤſſen. Er hoͤrte mir aufmerkſam zu, gab
B 2ſich
[20]
ſich keine Muͤhe Einwendungen zu machen, erklaͤrte ſich
aber nicht, ob er glaube, daß ich recht haͤtte, oder nicht.
Nun bat ich ihn noch beyde Hypotheſen in Beziehung
auf Gott und den Menſchen zu vergleichen, und zu unterſu-
chen, welche von beyden dann den Vorzug behaupten wuͤr-
de. Jch zeigte ihm, es ſey immer der Vernunft gemaͤß,
unter zweenen Saͤtzen, die beyde nicht fuͤr ausgemachte
Wahrheiten ausgegeben wuͤrden, denjenigen ſo lange, bis
das Gegentheil erwieſen waͤre, fuͤr wahr zu halten, der fuͤr
die Ehre Gottes und fuͤr die Wuͤrde und Gluͤckſeeligkeit
des Menſchen der vortheilhafteſte waͤre. Die Anwen-
dung hievon war dieſe: Wenn der Menſch eine bloße
Maſchine iſt, ſo hat Gott freylich in ihm eine ſehr kuͤnſt-
liche Maſchine gemacht, die von der unnachahmlichen
Geſchicklichkeit ihres Urhebers zeugt, und jedermann zu
ſeiner Bewunderung auffordert. Aber ich ſehe keine
Abſicht dabey, keine Guͤte und Weisheit des Schoͤp-
fers, die ich doch bey den Werken eines Gottes mit
Recht vermuhte. Gott kommt mir hier vor, wenn die-
ſer Ausdruck nicht unehrerbietig iſt, wie der kuͤnſtlichſte
Marionnettenſpieler. Beſteht aber der Menſch aus
Leib und Seele, ſo hat Gott in uns vernuͤnftige freye Ge-
ſchoͤpfe hervorgebracht, ich kann aus ihrer Vernunft und
Freyheit ſchließen, daß Gott ſehr wohlthaͤtige und ſeiner
wuͤrdige Abſichten mit ihnen habe, ich lerne ſeine Guͤte
und Weisheit verehren, und ihn lieben. Hier erſcheint
er mir als die Liebe, als ein Vater ſeiner Kinder. —
Nach der erſten Hypotheſe iſt der Menſch ein Spielwerk,
ein ſklaviſches, unbedeutendes Weſen, nicht beſſer oder
gluͤcklicher als das Vieh, und wenn er ſtirbt vielleicht
ein Nichts. Nach der andern iſt er ein Geſchoͤpf, das
zu wichtigen Abſichten da iſt, das ſich ſelbſt regieren ſoll,
und unter den Werken Gottes eine erhabene Stelle ein-
nimmt, das ſich großer Vorzuͤge vor unzaͤhligen ſeiner
Mitge-
[21]
Mitgeſchoͤpfe bewußt iſt, und nach dem Tode eine herrli-
che Verbeſſerung zu erwarten hat. Wer es nur weiß,
daß er von Gott nicht zu wuͤrdig denken kann, wer wahre
Liebe und Achtung gegen ſich ſelbſt hat, der wird wohl
nicht zweifelhaft ſeyn, welche von beyden Hypotheſen er
anzunehmen habe.
Jch ſah es itzt dem Grafen an, daß er uͤber ſeine
Maſchine ſehr verlegen war. Er gab mir auch zu, daß
ſeine Hypotheſe gewaltig gegen die meinige zuruͤckſtehe.
Deſto unbegreiflicher war es mir, daß er ſich doch we-
gerte die ſeinige aufzugeben. Bey ſeiner Meynung zu
bleiben, ſagte er, haͤtte er dieſe Gruͤnde. Die menſch-
liche Erkenntniß ſey uͤberhaupt ſehr ungewiß. Es koͤnne
wohl ſeyn, daß er ſich bisher eine Jlluſion gemacht haͤtte.
Aber er waͤre auch immer in Gefahr, wenn er neue
Begriffe annaͤhme, ſich aufs neue zu betriegen. Ueber
dieß habe er unter ſeinen itzigen Umſtaͤnden nicht Ruhe
und Heiterkeit genug dazu ſeine bisherigen Grundſaͤtze
zu unterſuchen; er habe es freylich fruͤher thun ſollen,
itzt ſey es zu ſpaͤt dazu. Jch antwortete ihm auf dieſe
Gruͤnde folgendes. Die Wahrheit ſowohl als der Jrr-
thum haͤtten ihre unfehlbare Merkmahle, woran man ſie
von einander unterſcheiden koͤnnte, zumahl wenn man
ſie von der moraliſchen Seite anſaͤhe. Es ſey z. Ex. nicht
moͤglich, daß jene den Menſchen ungluͤcklich machen
koͤnnte, wie dieſer es thaͤte. Ueber dieß haͤtte er in dem
gegenwaͤrtigen Falle Beweiſe, die ſeine Vernunft uͤber-
zeugten. Und wo ſolche Beweiſe waͤren, da hoͤrte die
Ungewißheit auf. Er habe ſich freylich bisher illudirt.
Das koͤnne er aus den Folgen ſeiner Grundſaͤtze ſehen.
Zu welchen Vergehungen habe ihn nicht ſeine
Hypotheſe
verleitet und wie ungluͤcklich ihn dadurch gemacht! Er
ſolle nur unterſuchen, zu welcher Tugend und zu welcher
Gluͤckſeeligkeit ihn die meinige haͤtte erheben koͤnnen,
B 3wenn
[22]
wenn er ſie nicht verleugnet haͤtte. Daraus allein koͤnne
er beurtheilen, ob er einer Jlluſion ausgeſetzt waͤre, wenn
er ſie noch annaͤhme. Daß er nicht fruͤher daran gedacht,
ſein Religionsſyſtem zu pruͤfen, das ſey freylich ſchlimm
und ſeine Schuld. Das berechtigte ihn aber nicht nun
noch ferner die Sache dahingeſtellt ſeyn zu laſſen. Er
habe itzt noch Zeit dazu, und Ruhe und Heiterkeit wuͤr-
den ihm nicht fehlen, denn die pflegten die redliche Un-
terſuchung der Wahrheit zu begleiten. Wenigſtens ſey
er hier aus allen ermuͤdenden Zerſtreuungen herausge-
riſſen. Auch wuͤrden ſolche redliche Bemuͤhungen Gott
nicht misfallen. Gott koͤnne und werde ſie ſegnen, und
wenn er auch nicht zu dem Ziele kaͤme, wohin ich ihn
zu fuͤhren wuͤnſchte, ſo wuͤrde doch gewiß kein guter Ge-
danke, keine edle Entſchließung, die itzt noch bey ihm
entſtehen koͤnnten, ohne Folgen fuͤr ihn in der Ewigkeit
ſeyn. Sie wuͤrden wenigſtens die Summe der Uebel,
die er zu befuͤrchten haͤtte, um etwas verringern.
Aber wenn Sie denn ja, fuhr ich mit einiger
Lebhaftigkeit fort, ihre Meynung, die Sie von allen wohl-
thaͤtigen Wuͤrkungen der Religion ausſchließt, nicht
wollen fahren laſſen, vermuhtlich um den elenden Troſt
zu haben, daß Sie nach dem Tode ganz aufhoͤren und
alſo nichts zu befuͤrchten haben werden: ſo muß ich Jh-
nen ſagen, daß Sie ſich in Jhrer fuͤrchterlichen Hoff-
nung ſehr betriegen. Wenn es auch unwiderſprechlich
erwieſen waͤre, daß der Menſch eine Maſchine ſey, ſo
kann Gott, der die Maſchine einmahl gebauet hat, wenn
er will, ſie nach ihrer Zerruͤttung auch wieder herſtellen.
Das kann der Uhrmacher bey einer zerbrochenen Uhr
thun. Wenigſtens werden ſie alſo in einer ſchrecklichen
Ungewißheit uͤber ihr kuͤnftiges Schickſal aus der Welt
gehen muͤſſen, und ſie koͤnnten doch noch daruͤber gewiß
werden, und mit Hoffnung und Troſt ſterben. Er
wollte
[23]
wollte es nicht wiſſen, daß er Troſt in der Erwartung
ſuche, daß er nach dem Tode nicht mehr ſeyn werde,
die Thraͤnen ſtunden ihm in den Augen, aber nachgeben
wollte er nicht.
Jch redete ihm noch einmahl ſo zaͤrtlich und nach-
druͤcklich zu, als es mir moͤglich war, und beſchwor ihn
die letzten Wochen ſeines Lebens doch nicht fruchtlos fuͤr
die Ewigkeit verſtreichen zu laſſen, ſondern ſein moͤglich-
ſtes zu thun, um noch gute Hoffnung fuͤr dieſelbe zu
erlangen. Er ſah mich ſtarr an, ſchlug darauf die Au-
gen nieder, und ſagte: Sie muͤſſen einen großen Fond
von Guͤte, Menſchenliebe, Ueberzeugung und Amtstreue
haben, daß ſie fuͤr mich ſo beſorgt ſind, und nicht unge-
halten auf mich werden, daß ich Jhnen nicht naͤher kom-
me. Jch verſicherte ihn, ich wuͤrde bis auf den letzten Tag
ſeines Lebens nicht ablaſſen ihn zu ermahnen und zu bit-
ten, und ich hoffe gewiß Gott wuͤrde meine Bemuͤhun-
gen bey ihm ſegnen. Jch beſorge, ſetzte ich hinzu,
Herr Graf, es iſt die unſeelige Neigung, die ſo viel zu
Jhrem Ungluͤck beygetragen hat, es iſt der Ehrgeiz, es
iſt die Begierde Recht zu behalten, die Sie gegen die
Wahrheit ſo ungerecht macht. Wie iſt es moͤglich, daß
Sie eine Neigung noch lieben koͤnnen, die Sie in ein
ſolch Elend geſtuͤrzt hat? O, ſagte er, die iſt ſchon vor-
bey. Jch bin ſehr klein in meinen eignen Augen. Und
wie kann ich auch hier ehrgeizig ſeyn? Die Leidenſchaft,
antwortete ich, wuͤtet noch ganz gewiß in ihrer Seele.
Jhr iſt nur die Gelegenheit zu ihren vorigen Ausbruͤchen
genommen. Aber gegen die Wahrheit kann ſie ſich noch
immer empoͤren, wenn Sie es ihr verſtatten wollen. Huͤ-
ten ſie ſich davor: die verachtete Wahrheit raͤcht ſich!
Weil mir itzt viel daran gelegen ſeyn mußte,
ſein Herz menſchlichen und warmen Empfindungen zu
B 4eroͤffnen,
[24]
eroͤffnen, denn ich hoffte dadurch auch fuͤr die Religion
einen Eingang in daſſelbe zu finden, ſo bat ich ihn zu
bedenken, wie unendlich er ſeine frommen Eltern betruͤbt
haͤtte, und wie ſehr es daher ſeine Pflicht waͤre, dar-
nach zu ſtreben, daß er ihnen doch den einzigen Troſt
verſchaffen moͤchte, der noch fuͤr ſie uͤbrig waͤre, den
Troſt, daß ſie uͤber ſeine Zukunft nicht bekuͤmmert ſeyn
duͤrften. Mein Vater, antwortete er, iſt ein rechtſchaf-
fener Mann, er iſt gewohnt nach ſeiner Ueberzeugung
zu handeln, aber ich glaube, er iſt zu hart gegen mich
geweſen. “Das denken Sie nun wohl ſo: aber ich
vermuhte, Sie irren darin. Sie ſind ohne Zweifel
von Jugend auf ausſchweifend geweſen, und das hat
der redliche Vater nicht zugeben wollen. Dieß haben
Sie fuͤr Haͤrte gehalten.„ Das iſt freylich wahr,
aber “ — Aber Sie wußten doch, daß Er Vater und
Sie Sohn waren. Wußten Sie denn nicht auch, daß
Sie, als Sohn, verbunden waren, einem Vater, der
noch dazu ein retſchaffener Mann war, zu gehorchen?„
Das habe ich auch bis zu gewiſſen Jahren gethan!
“Waren Sie denn nach dieſen gewiſſen Jahren weni-
ger Sohn, und er weniger Vater? Confucius, deſſen
Moral Sie, wie ich mich erinnere gehoͤrt zu haben, der
chriſtlichen vorziehen, haͤtte Sie daruͤber belehren koͤn-
nen.„ Sie haben freylich Recht!
Jch ließ ihm Jeruſalems Betrachtungen zuruͤck,
die er mit Nachdenken zu leſen verſprach. Jch nahm ge-
ruͤhrt und mit Thraͤnen uͤber ſein Elend Abſchied von
ihm, und er bat mich bald wieder zu kommen.
[25]
Dritte Unterredung, den 5ten Maͤrz.
So ſehr ſich der Graf Struenſee bey unſrer letzten
Unterredung gewegert hatte ſeinen Lieblingsſatz auf-
zugeben, ſo war ich doch ſchon des Sieges der Wahr-
heit uͤber ihn ziemlich gewiß. Es war in der That nichts
mehr, als die Schaam in einer ſo wichtigen und zugleich
ſo klaren Sache Unrecht gehabt zu haben, was ihn zu-
ruͤckhielt ſich zu ergeben. Jch ließ es ihn merken, daß
ich mir von unſrer heutigen Unterredung etwas verſpraͤche.
Mein Herz, ſagt mir, ſo redete ich ihn an, daß ich
heute mit Jhnen einen Schritt weiter kommen werde.
Jch ſehe, Sie leſen im Jeruſalem. Wie weit ſind Sie
gekommen, und wie gefaͤllt Jhnen das Buch? “Jch
bin ſchon in der Betrachtung uͤber die Moralitaͤt des
Menſchen. Das Buch iſt vortrefflich geſchrieben, und
ich finde nichts darin, das meiner Vernunft widerſpraͤche.
Jch habe hier auch noch was wider meine Meynung ge-
funden, daß der Menſch eine Maſchine ſey. Aber
mich deucht doch immer, die Senſibilitaͤt beweiſt es
und erklaͤrt alles.„ Jch antwortete ihm hierauf, daß
die Werkzeuge der Sinne doch nichts weiter als der
Spiegel oder der Tubus waͤren, wodurch wir die Ge-
genſtaͤnde wahrnaͤhmen, daß der Spiegel oder der Tubus
ſelbſt nichts ſehen koͤnnten, ſondern, daß noch ein drittes
da ſeyn muͤßte, nemlich derjenige, der durch das Werk-
zeug die Gegenſtaͤnde beobachtete. Dieſer dritte ſey die
Seele oder unſer Jch.
Er begriff dieß, aber ſein Unrecht zu geſtehen,
das ſchien ihm noch zu ſchwer zu ſeyn. Und gleichwohl
war dieß nothwendig, ehe ich weiter gehen konnte. Jch
nahm mir alſo vor, ihm zu zeigen, daß die Art, wie
ſeine Meynung bey ihm entſtanden waͤre, und ſein Herz
ſo ſehr intereſſirt haͤtte, ihm weder Ehre machte noch ſei-
B 5nem
[26]
nem wahren Beſten gemaͤß ſey. Jch hielt dieß fuͤr ein
gutes Mittel, eine Schaam durch die andre zu vertreiben.
Jch redete daruͤber ungefaͤhr in folgenden Worten.
Sie haben es eingeſehen und Jhre Vernunft iſt
uͤberzeugt, daß Jhre Hypotheſe, der Menſch ſey eine
bloße Maſchine, auf alle Weiſe ungegruͤndet, unzulaͤng-
lich und Gottes und des Menſchen unwuͤrdig iſt. Sie
koͤnnen die entgegengeſetzte beſſere Beſchaffenheit des
Satzes, daß wir aus Leib und Seele beſtehen, nicht
leugnen, und Vernunft und Erfahrung muß Sie von der
Wahrheit deſſelben uͤberzeugen. Gleichwohl wollen Sie
jenen Gedanken nicht fahren laſſen, und dieſen nicht anneh-
men. Was kann und was muß davon die Urſache ſeyn?
Sie ſelbſt ſagen: Jhre Meynung ſey zu tief bey
Jhnen eingewurzelt; die menſchliche Erkenntniß ſey un-
gewiß; wenn Sie ſich bey der Annehmung ihrer bisheri-
gen Meynung eine Jlluſion gemacht haͤtten, ſo befuͤrch-
teten Sie bey der Annehmung einer andern auch einer
neuen Jlluſion ausgeſetzt zu ſeyn. Sind dieß gegruͤndete
Urſachen Jhres Widerſtandes? Oder ſind es nur Aus-
fluͤchte? Jch befuͤrchte das letztere.
Jhre Hypotheſe iſt zu tief bey Jhnen eingewur-
zelt. Jn Jhrer Vernunft? Oder in Jhrem Herzen?
Jenes iſt nicht moͤglich. Es iſt die Natur und Pflicht
der Vernunft, dasjenige fuͤr wahr zu halten, von deſſen
Wahrheit ſie uͤberzeugt iſt. Sie ſind von der Falſchheit
Jhrer Meynung und von der Wahrheit der entgegenge-
ſetzten uͤberzeugt. Alſo muͤſſen Sie nothwendig jene fuͤr
falſch, und dieſe fuͤr wahr halten, das iſt, ſie anneh-
men. Thun Sie das nicht, ſo muß Jhre Meynung,
der Menſch ſey eine Maſchine, zu tief in Jhrem Herzen
eingewurzelt ſeyn. Davon nachher.
Die
[27]
Die menſchliche Erkenntniß iſt ungewiß; Sie
wollen ſich nicht gerne eine neue Jlluſion machen. Fuͤr
den Satz, der Menſch hat eine Seele, iſt Beweis da.
Fuͤr den, er iſt eine Maſchine, iſt keiner. Wo Beweis
iſt, da iſt kein Ungewißheit mehr, da iſt keine Jlluſion
zu befuͤrchten. Und waͤre eine zu befuͤrchten, ſo wollte
ich mich doch lieber von einer Lehre hintergehen laſſen,
die mir ſo vortheilhaft werden koͤnne, als von einer andern,
durch die ich ſchon in das tiefſte Elend geſtuͤrzt waͤre.
Das alles fuͤhlen Sie, und ich bin gewiß, Sie
werden es auch nicht leugnen. So muͤſſen Sie alſo auch
zugeſtehen, daß Sie nur Ausfluͤchte machen, wenn Sie
von der Ungewißheit der menſchlichen Erkenntniß, von
der Moͤglichkeit einer neuer Jlluſion u.ſ.w. reden. Sol-
che Ausfluͤchte zu machen muͤſſen Sie doch Jhre gehei-
men Urſachen haben. Die will ich zu ergruͤnden ſuchen.
Es iſt nicht anders, ungluͤcklicher Herr Graf,
Jhre Meynung, daß der Menſch nur eine Maſchine ſey,
iſt in Jhrem Herzen zu tief eingewurzelt. Sie lieben
ſie, Sie befuͤrchten etwas zu verlieren, das Jhnen ange-
nehm iſt, wenn Sie ſie fahren laſſen. Deswegen halten
Sie ſie bey allem Widerſpruch Jhrer geſunden Vernunft
ſo feſt. Das will ich Jhnen aus der Geſchichte Jhres
eigenen Herzens beweiſen.
Wann haben Sie angefangen leichtſinnig zu han-
deln, den Trieben des Ehrgeizes zu folgen und den
Reizen der Wolluſt nachzugehen? Ganz gewiß in Jhrer
fruͤhen Jugend, ehe Sie noch auf den Gedanken verfie-
len, der Menſch ſey eine ſeelenloſe Maſchine. Das Ge-
fuͤhl, das Gott von der Sittlichkeit der Handlungen auch
in Jhre Seele gelegt hatte, verurſachte Jhnen zuweilen
Unzufriedenheit mit ſich ſelbſt. Die ſuchten Sie zu un-
terdruͤcken.
[28]
terdruͤcken. Etwa von ungefaͤhr hoͤrten oder laſen Sie
den Satz: der Menſch iſt nur eine Maſchine. O dachten
Sie, ſo iſt ja mit dem Tode alles aus. So darf ich ja
leichtſinnig, ehrgeizig, wolluͤſtig ſeyn. Wenn ich mich
nur vor den Strafen der Suͤnden huͤte, die ſie in dieſer
Welt nach ſich ziehen koͤnnen, ſo habe ich in der kuͤnftigen
nichts zu befuͤrchten.
Nun nahmen Sie den bequemen Satz an, und
ſuchten nach und nach Beweiſe fuͤr denſelben, um Jhre
wenigſtens zweifelnde Vernunft zu befriedigen. Sie
funden, als Sie den menſchlichen Koͤrper in der Abſicht
ſtudirten ein guter Medicus zu werden, o waͤren Sie
der Abſicht treu geblieben! ſie funden da hin und wieder
etwas, das einem Beweiſe Jhrer geliebten Meynung
aͤhnlich ſah. Das ergriffen Sie mit Freuden, und hiel-
ten es, weil es Jhren Abſichten gemaͤß war, fuͤr feſten
unwiderleglichen Beweis. So, mein armer Freund, ſo
haben Sie ſich hintergangen!
Von nun an glaubten Sie, daß Sie ſich alles
erlauben duͤrften, wozu Sie ſich von Jhren Begierden
gereizt fuͤhlten. Jede Ausſchweifung der Leidenſchaft
war Jhnen nun unverboten. Sie begiengen ſie mit
Freuden, und glaubten uͤber Religion und Tugend zu
triumphiren. Der Gedanke: ich bin ja nur eine Ma-
ſchine, ſchlaͤferte ihr Gewiſſen ein, wenn es ſich ja zuwei-
len regte. Darf ich mich wohl wundern, daß Sie dieſen
Jhren Grundſatz ſo lieb haben, da er Jhnen ſo lange zum
Schilde wider alle Angriffe des Gewiſſens gedient hat?
Nun endlich muß ich, als Jhr Freund, der es
auf ſich genommen hat, fuͤr die Rettung Jhrer Seele zu
ſorgen, ihnen ſagen, daß die Zeit der Jlluſion vorbey
iſt, daß Sie mehr als eine Maſchine ſind, daß Sie eine
unſterb-
[29]
unſterbliche Seele haben. Jch muß Jhr Syſtem an-
greifen, Jhre eigne Vernunft kommt mir zu Huͤlfe, Sie
werden uͤberwunden: aber Sie wollen nicht weichen.
Die einzige Urſache davon iſt dieſe: Jhre Meynung iſt
zu tief in Jhrem Herzen eingewurzelt!
Sie ſind ihr gleichſam dankbar fuͤr alle die Be-
friedigungen der Begierden, die Sie Jhnen verſtattet
hat. Aber die Hauptſache iſt dieſe: Sie ſehen zum
Voraus, daß Jhr Gewiſſen auf einmahl aus ſeiner Be-
taͤubung erwachen, daß eine unzaͤhlige Menge von Suͤn-
den Jhnen zur Laſt fallen, daß die bitterſten Vorwuͤrfe
Jhr Herz zerfleiſchen werden, ſo bald Sie anfangen ſich
fuͤr eine Seele zu halten. Um dieß zu vermeiden halten
Sie ſo feſt an einem falſchen gefaͤhrlichen Gedanken, be-
kennen ihn und wollen ihn wider Jhre Ueberzeugung
glauben. Vielleicht iſt auch die Begierde Recht zu be-
halten, oder die Schaam nachzugeben, mit Schuld
daran. Vielleicht haben Sie Jhren Satz andern beyge-
bracht, und wollen nun nicht gern von Jhren Schuͤlern
fuͤr einen Lehrer gehalten werden, der ſeiner Sache doch
nicht gewiß geweſen iſt.
Vergeſſen Sie es doch nicht, was ich Jhnen ge-
ſagt, und was Sie mir eingeſtanden haben, daß ſelbſt
der elende Troſt, um welchen es Jhnen itzt ſo ſehr zu
thun iſt der jammervolle Troſt, ich werde nach der Zer-
ſtoͤrung meiner Maſchine nicht mehr ſeyn, nicht einmahl
aus Jhrem Satze folgt, wenn er auch ſo wahr waͤre,
als dieſer: Es iſt ein Gott! Gott, der die Maſchine ge-
macht hat, kann ſie auch nach ihrer Zerſtoͤrung wieder
herſtellen, wenn er will. Sie koͤnnen alſo eine Maſchine
ſeyn, wenn Sie wollen, aber deswegen ſind Sie nicht
ſicher, daß Sie nach dieſem Leben nicht wieder leben
werden.
Was
[30]
Was wollen Sie denn nun thun? Der Wahr-
heit ferne widerſtreben und alle meine Bemuͤhungen um
Jhr Heil vergeblich machen? So iſt Jhnen mein Raht
unnuͤtz, und Jhre Verantwortung vor Gott, dem Va-
ter der Wahrheit und Tugend, wird Jhnen deſto ſchwe-
rer werden. Jhren falſchen verfuͤhreriſchen Satz fahren
laſſen? So will ich fuͤr Sie Gott danken, und mich mehr
freuen, als ich ſagen kann, daß ich einen Schein von
Hoffnung habe, Sie in der Zukunft noch gluͤcklich zu
ſehen.
Liebſter Herr Graf, ihre Tage ſind abgekuͤrzt
und abgezaͤhlt. Jhrer ſind nur noch ſehr wenige. Eilen
Sie und erretten Jhre Seele! Dieß iſt es, warum ich
Sie ſo ſehnlich bitte, daß ich vor dem Gedanken zittre,
Sie moͤchten mir vielleicht meine Bitte abſchlagen. — —
Er unterbrach mich waͤhrend dieſes Vortrages
ſelten, hoͤrte mich mit vieler Aufmerkſamkeit an, und
geſtand, daß er genau auf die Art, die ich angegeben
haͤtte, zur Annehmung ſeiner Meynung gekommen ſey.
Nach einer kurzen Pauſe von beyden Seiten, waͤhrend
welcher er als in einem tiefen Nachdenken ſaß, rief er
aus: O ich hoffe und wuͤnſche itzt die Unſterblichkeit.
Jch vermuthete gleich, daß Jeruſalem ihn ſo weit ge-
bracht haͤtte. Er ſagte es bald darauf ſelbſt: Es iſt
unmoͤglich durch das Buch nicht gewonnen zu werden.
Da er nun die Unſterblichkeit hoffte und wuͤnſchte,
ſo hielt ich es nicht fuͤr noͤthig mich auf weitlaͤuftigen Un-
terſuchungen uͤber das Daſeyn der Seele, ihre Natur und
Unſterblichkeit einzulaſſen. Jch befuͤrchtete auch, die ſpe-
culativiſchen Wahrheiten moͤchten uns zu lange aufhalten,
und uns auf mancherley das Herz nicht beſſernde Spitz-
fuͤndigkeiten fuͤhren. Mir war es genug, daß er itzt
wenig-
[31]
wenigſtens zum Gefuͤhl der Ewigkeit gekommen war.
Doch redeten wir heute noch von dem Beweiſe, daß der
Menſch eine Seele habe. Jch legte ihm denſelben etwa
ſo vor: Koͤnnen die Kraͤfte der Empfindung, wohin nicht
bloß die Faͤhigkeit der Maſchine gehoͤrt die Eindruͤcke
anzunehmen, ſondern auch diejenige Faͤhigkeit, wodurch
wir uns dieſer Eindruͤcke bewußt ſind, koͤnnen die Kraͤfte
des Bewußtſeyns, des Verſtandes, der Vernunft,
des Willens, der Freyheit, nicht anders als Kraͤfte einer
Subſtanz ſeyn, die wir die Seele nennen, ſo muͤſſen
wir eine Seele haben, u. ſ. w.
Die falſche Beruhigung, die den Grafen bisher
ſo fuͤhllos gemacht hatte, und die ſich auf ſeiner Ueber-
redung gruͤndete, daß kein kuͤnftiges Leben zu erwarten
ſey, war nun unterbrochen. Jch mußte ſie ihm ganz
zu nehmen ſuchen, ehe ich ihm eine wahre Ruhe zu ver-
ſchaffen ſuchen konnte. Jch mußte ihm alſo zeigen, daß
er ſich in dem kuͤnftigen Leben, welches er hoffte und
wuͤnſchte, keine angenehmen Schickſale zu verſprechen
haͤtte. Sollte er dieß einſehen, ſo mußte er erſt richtige
Begriffe von der Moralitaͤt der Handlungen haben.
Meine Leſer erinnern ſich, daß er die menſchlichen Hand-
lungen nur in ſo fern fuͤr gut und boͤſe hielt, in wie ferne
ſie fuͤr die Geſellſchaft gute oder boͤſe Folgen haben. Ehe
ich dieſen Satz gerade zu angreifen wollte, hielt ich es
fuͤr gut ihm zu zeigen, wie wenig er, ſelbſt nach dieſem
Grundſatz, im Stande ſeyn wuͤrde, uͤber ſeine Thaten
vor Gott Rechenſchaft abzulegen. Jch koͤnnte Jhnen
nun, ſagte ich, Jhre Regel, wornach Sie die Sittlich-
keit der Handlungen beurtheilen, fuͤrs erſte unangefochten
laſſen: Jhre Handlungen, Herr Graf, wuͤrden doch
ſehr bey der Unterſuchung zu kurz kommen. Jch ver-
wunderte mich, als er mir antwortete: Jch finde doch
nun, daß es beſſer und ſicherer iſt, die Bewegungsgruͤnde
zu
[32]
zu unſerm Thun und Laſſen aus Gott herzuleiten, und
ihn dabey als den Beobachter derſelben zu betrachten.
Er wies, indem er dieß ſagte, auf Jeruſalems Buch,
und ich dankte in meinem Herzen dieſem vortrefflichen
Mann, daß er mir ſchon ſo weit fortgeholfen hatte.
Jnzwiſchen bat ich doch den Grafen zu uͤberlegen,
wie unmoraliſch ſeine Handlungen ſelbſt nach ſeinem bis
herigen Grundſatze von der Moralitaͤt geweſen waͤren.
Jch hatte die Seite entdeckt, wo ihn die Wunden ſeines
Gewiſſens ſchmerzten. Bey weitem war es nicht ſo ſehr
der Gedanke, ich habe Gott beleidigt, ich habe mich
ſelbſt ungluͤcklich gemacht, als dieſer, ich habe meine
Freunde mit mir ins Verderben gezogen, was ihn be-
kuͤmmerte. Dieſe Empfindung ergriff ich, ſuchte ſie zu
unterhalten und zu vermehren, und hoffte, ſein Schmerz
wuͤrde nach und nach allgemeiner werden, und ſich auch
uͤber ſeine uͤbrigen Vergehungen ausbreiten. Kaum
fieng ich an dieſe ſeine empfindliche Seite zu beruͤhren,
ſo vergaß er haͤufige Thraͤnen, geſtand, daß er ſich hier
ſehr ſtraͤflich finde, und durchaus nichts zu ſeiner Ent-
ſchuldigung zu ſagen wiſſe.
Wenn Sie ſich denn auch nur, fuhr ich fort,
dieß einzige vorzuwerfen haͤtten, daß Sie die Urſache des
Ungluͤcks ſind, in welchem ſich nun dieſe Jhre Freunde
befinden, ſo muͤßte Jhnen ſchon Jhre Verantwortung
vor Gott ſehr ſchwer und unmoͤglich werden. Jch er-
kenne das, antwortete er, aber ich will mich auch vor
Gott nicht verantworten, ich hoffe nicht, daß er das von
mir fordern wird, ich verlaſſe mich auf meine Reue und
auf ſeine Guͤte. Meynen Sie nicht, daß Gott mir
meine Vergehungen auf eine philoſophiſche Buße verge-
ben wird? “ Nach meiner Ueberzeugung kann ich Jh-
nen dazu keine Hoffnung machen. Jch kenne nur ein
Mittel
[33]
Mittel zur Begnadigung bey Gott, und das iſt nicht die
philoſophiſche, ſondern die chriſtliche Buße. Jch kann
es Jhnen itzt noch nicht beweiſen, daß ich ſo denken
muß: Aber denken Sie nur uͤber die Guͤte Gottes nach,
auf die Sie ſich verlaſſen, ſo werden Sie finden, daß
es eben dieſe Guͤte iſt, die es ihm nothwendig macht, ge-
recht zu ſeyn, und ſeinen Abſcheu an dem moraliſchen
Uebel zu beweiſen. Und eine ſolche Guͤte, als die goͤtt-
liche, die nicht in Schwachheit ausarten kann, iſt gewiß
demjenigen, der ſie beleidigt hat, ſehr furchtbar. Jch
bitte Sie ſehr, ſetzen Sie kein blindes ungegruͤndetes
Zutrauen auf ſie! „Jch mochte dieß mit merklicher
Empfindung geſagt haben. Sie muͤſſen viel Menſchen-
liebe haben, ſo unterbrach er mich, daß ſie nicht un-
geduldig uͤber mich werden. “Jch werde es gewiß nicht
werden. Aber unruhig und bekuͤmmert bin ich um
Sie.„ Sie muͤſſen ſich, antwortete er, nicht ſo leb-
haft fuͤr mich intereſſiren. Was wollten ſie thun, wenn
ich ſo ungluͤcklich waͤre, nicht uͤberzeugt zu werden?
“Jch wuͤrde mich unausſprechlich betruͤben, und gerne
Gutes fuͤr Sie hoffen wollen, aber nicht duͤrfen! Thun
Sie doch nur Jhr moͤglichſtes. Gott wird gewiß Jhre
Bemuͤhungen ſegnen. Sie werden noch aus ſichern
Gruͤnden ſich fuͤr begnadigt von Gott halten lernen, und
mit Ruhe und Hoffnung ſterben koͤnnen.„ Hier rief
er mit einem tiefen Seufzer aus: Gott gebe es!
Sie wuͤnſchen freylich wohl, ſetzte er hinzu, und
ich glaube, Sie wuͤnſchen es aus guten Gruͤnden, daß
ich ein Chriſt werden moͤge. “Das wuͤnſche ich frey-
lich ſehr: aber Sie wiſſen, Wohlthaten koͤnnen nicht auf-
gedrungen werden. Es iſt natuͤrlich, daß Sie die groͤße-
ſte unter allen, die Jhnen wiederfahren kann, ſelbſt ſu-
chen. Lernen Sie es nur erſt recht empfinden, wie ge-
faͤhrlich Jhr Zuſtand ſey, ſo wird Sie Jhre Beduͤrfniß
Cſchon
[34]
ſchon treiben, Gottes Gnade da zu ſuchen, wo ſie allein
zu finden iſt.„ Aber ſagen Sie mir, antwortete er,
wie kann das Chriſtenthum der von Gott offenbahrte ein-
zige Weg zur Gluͤckſeeligkeit ſeyn, da es ſo wenig Men-
ſchen bekannt iſt, da ſelbſt unter den Chriſten ſo wenige
die Vorſchriften deſſelben erfuͤllen?
Aus dem erſten Zweifel, antwortete ich, wollen
Sie ſchließen, es ſey wider die Guͤte und Gerechtigkeit
Gottes, eine Lehre, durch die allein der Menſch gluͤck-
ſelig werden kann, nicht allen Menſchen bekannt gemacht
zu haben. Koͤnnen wir aber wohl wiſſen, ob nicht
Gott diejenigen, denen das Chriſtenthum nicht bekannt
wird, durch die in demſelben gemachte Veranſtaltung
gleichwohl ſeelig machen werde, wenn ſie ſich ſonſt ſo
gut betragen, als es nach ihren Umſtaͤnden moͤglich iſt?
Und kann ſich jemand, dem Gott irgend ein Gut ſchenkt,
das er andern verſagt, deswegen fuͤr berechtigt halten,
dieß Gut nicht einmahl anzuſehen und zu unterſuchen,
weil Gott es ihm, und nicht zugleich allen, zugeſtanden
hat? Hat nicht Gott alles Gute, das wir Menſchen
von ſeiner Liebe haben, ungleich ausgetheilt, z. Ex. Ehre,
Reichthum, Geſundheit, Gaben des Geiſtes, ſelbſt die
Erkenntniß der natuͤrlichen Religion? Sie ſehen, aus
Jhrem Einwurf folgt weit mehr, als daraus Jhrer Ab-
ſicht nach folgen ſoll.
Aus dem andern Zweifel, wollen Sie dieß ſchlie-
ßen: Weil das Chriſtenthum von ſo wenig Menſchen be-
folgt wird, ſo kann es kein hinlaͤngliches Mittel zu der
Abſicht ſeyn, wozu es Gott verordnet haben ſoll, es
kann alſo auch nicht von Gott ſeinen Urſprung haben.
Hier muͤſſen Sie nur bedenken, daß es eine Religion
freyer Geſchoͤpfe iſt, daß dieſe in einer Sache, die ihre
Gluͤckſeeligkeit betrifft, unter keinem Zwange ſtehen, daß
Vor-
[35]
Vorurtheil, Jrrthum und Begierden, auch die ſtaͤrkſten
moraliſchen Bewegungsgruͤnde unwirkſam machen koͤn-
nen. Jnzwiſchen iſt es doch nicht zu laͤugnen, daß das
menſchliche Geſchlecht im Ganzen betrachtet, ſeit der
Einfuͤhrung der chriſtlichen Religion, unendlich verbeſſert
worden iſt, und daß ſie alſo weit mehr Gewalt uͤber das
menſchliche Herz bewieſen hat, als Sie ihr zuzutrauen
ſcheinen.
Aber ſelbſt gute Chriſten, ſetzte er hinzu, bege-
hen doch oft Suͤnden! “Soll und kann denn der Menſch
in dieſer Welt ganz vollkommen werden? Und hat denn
das Chriſtenthum das zur Abſicht, Wuͤrkungen bey uns
hervorzubringen, die unſrer gegenwaͤrtigen Verfaſſung
nach ganz unmoͤglich ſind? Ueber dieß iſt auch ein großer
Unterſchied zwiſchen der Suͤnde eines wahren Chriſten,
denn von dem iſt hier allein die Rede, und eines Laſter-
haften. Bey jenem iſt ſie ein Fall, von dem er ſich
wieder aufrichtet. Bey dieſem wird ſie beſtaͤndig fortge-
ſetzt und erneuret. Und wenn endlich auch nur ein ein-
ziger Chriſt auf Erden waͤre, deſſen Wandel ſeinem Be-
kenntniſſe Ehre machte, ſo waͤre das ſchon genung, jeden
der ihn kennte, zur Pruͤfung der Religion dieſes einzigen
Chriſten, und zur Annehmung derſelben, wenn er ſie
gegruͤndet faͤnde, zu verbinden.
O ich habe der Zweifel ſo viele, ſagte er hierauf,
daß ſie mir ſchwerlich alle werden gehoben werden koͤnnen.
Er ſagte dieß mit einer Miene, die ſeine Bekuͤmmerniß
daruͤber ausdruͤckte. Beunruhigen Sie ſich daruͤber
nicht, antwortete ich ihm. Jch bin gewiß, der groͤßte
Theil ihrer Zweifel wird daraus entſpringen, daß Sie
das Chriſtenthum nicht kennen, und die Beweiſe deſſel-
ben noch nie ſorgfaͤltig durgedacht haben. Sehen Sie
es nur erſt von der rechten Seite an, und pruͤfen die
C 2Gruͤnde
[36]
Gruͤnde, auf denen es ſich ſtuͤtzt, ſo werden Sie ſich wun-
dern, wie Jhre Zweifel verſchwinden werden. Auf die
Unterſuchung dieſer Einwuͤrfe wollen wir uns auch nicht
viel einlaſſen. Wann wollten wir damit fertig werden?
Es iſt beſſer, daß wir uns in den Stand ſetzen, Sie
zuletzt alle gleichſam mit einem Streiche wegzuwiſchen.
Und bliebe ja noch uͤber dieſen oder jenen Punct einige
Ungewißheit uͤbrig, ſo koͤnnte ich Sie damit troͤſten, daß
Gott Sie gewiß nach der Zeit, die Sie haben, nach
Jhren itzigen Umſtaͤnden, und nach der Aufrichtigkeit
beurtheilen wird, mit der Sie die Wahrheit ſuchen, und
annehmen werden. Es geht mancher rechtſchaffene
Chriſt mit einigen Zweifeln aus der Welt, und freut
ſich darauf, daß dort alles Gewißheit und Licht werden
wird. Das Chriſtenthum iſt ja uͤberhaupt mehr eine
Angelegenheit des Herzens als des Verſtandes.
Meine Leſer werden ſelbſt urtheilen, daß ich
nun viel Gutes von ihm hoffen durfte. Der vorſetzliche
Widerſtand war gehoben, er wuͤnſchte heimlich ein Chriſt
zu werden, und befuͤrchtete nur, er werde es nicht koͤn-
nen. Jch fand nicht Urſache ihm meine Hoffnung zu
verhehlen. Er ſchien ſich zu freuen, als ich ſie ihm ent-
deckte. Jch rieht ihm an, Gott um Erleuchtung anzuru-
fen. Er fragte: Ob nicht ein herzlicher Wunſch, auf
Gott gerichtet, ſchon Anrufung Gottes ſey? Allerdings,
ſagte ich, und wenn ſie oft dergleichen Wuͤnſche vor Gott
aͤußern, ſo werden Sie, außer der Hoffnung erhoͤrt zu
werden, noch dieſen großen Vortheile davon haben, daß
Sie ſich den Gedanken von der Allgegenwart Gottes und
von Jhrer Abhaͤngigkeit von ihm gelaͤufig machen, und
dadurch den Grund zu einem wahren Vertrauen auf ihn
in Jhrer Seele legen. Und dadurch werden manche Gott
gefaͤllige Empfindungen in Jhrem Herzen veranlaßt wer-
den. Halten Sie ja viel auf dieſe, und ſuchen Sie, ſie
nicht
[37]
nicht wieder zu verlieren. Jhre Geſinnungen werden
dadurch verbeſſert werden, und dieſe Verbeſſerung muß
mit Jhr Hauptgeſchaͤfft ſeyn. Dieſe gebeſſerten Geſin-
nungen muͤſſen Sie zu Jhrer eignen Beruhigung wirk-
ſam zu machen ſuchen. Denken Sie vor Gott daruͤber
nach, was Sie etwa noch Gutes thun koͤnnen, und
was beſonders in Jhrem gegenwaͤrtigen Verhaͤltniß Jhre
Pflicht von Jhnen fordert.
Jch hatte ihm Reimari vornehmſte Wahrheiten
der natuͤrlichen Religion mitgebracht. Jch rieth ihm
dieß Buch mit Fleiß zu ſtudiren, um ſeine vernuͤnftige
Erkenntniß von Gott zu berichtigen und vollſtaͤndig zu machen.
Vierte Unterredung, den 8ten Maͤrz.
Jch hatte nun ſchon große Vortheile in Haͤnden. Der
Graf Struenſee fuͤhlte die nahe Ewigkeit, und
konnte und wollte ſich nicht mehr gegen die Eindruͤcke
wehren, die ihr Anblick auf ihn machte. Er war uͤber
ſeinen moraliſchen Zuſtand bekuͤmmert: aber noch nicht
genug, noch nicht, wenigſtens nicht ſo ſehr als es ſeyn
ſollte, aus dem Grunde, daß er Gottes Misfallen an
ſich bemerkte. Er wuͤnſchte, durch das Chriſtenthum
beruhigt zu werden, aber er hielt es noch nicht fuͤr moͤg-
lich, von demſelben eine feſte Ueberzeugung zu erhalten.
Jch beſtimmte daher nun den Plan meines Verfahrens
bey ihm ſo, daß ich, ohne ſehr lebhaft zur Annehmung
des Chriſtenthums in ihn zu dringen, ihm daſſelbe durch
das Gefuͤhl ſeines Elendes und ſeiner Gefahr nothwendig
zu machen ſuchen wollte. Unterdeſſen wollte ich ihm von
Zeit zu Zeit Gelegenheit geben, die Beweiſe der chriſtli-
chen Religion kennen zu lernen, damit in eben dem
Maaße, in welchem ſein Verlangen nach dem Troſte
C 3derſelben
[38]
derſelben anwuͤchſe, auch die Schweirigkeiten, die er da-
bey zu finden glaubte, abnehmen moͤchten. Ehe ich ihm
aber die Gefahr, in welche ihn ſein unmoraliſches Leben
geſtuͤrzt hatte, mit Nachdruck zeigen konnte, mußten
wir uͤber die richtigen Gruͤnde der Moralitaͤt in den
menſchlichen Handlungen einig werden. Naͤher war er
mir auch in dieſem Stuͤcke ſchon gekommen.
Sie haben mir zwar, ſo fieng ſich unſre Unter-
redung an, noch nicht ausdruͤcklich zugeſtanden, daß Sie
eine Seele haben. Jnzwiſchen bin ich zufrieden, wie Sie
dasjenige nennen, was eigentlich Jhr Jch ausmacht.
Bey mir heißt es Seele, und Sie wuͤnſchen und hof-
fen, ſo wie ich die Unſterblichkeit deſſelben. Ueber Worte
wollen wir nicht ſtreiten. Nun muͤſſen wir unterſuchen,
wie moraliſch oder unmoraliſch ſich Jhr Jch oder Jhre
Seele in der Welt betragen hat, und dann will ich es
Jhnen uͤberlaſſen zu entſcheiden, ob Jhr gutes oder boͤſes
Verhalten nach dem Tode Folgen fuͤr Sie haben kann.
Moralitaͤt iſt in den Handlungen. Das geben
Sie zu. Alſo laͤugnen Sie auch die Freyheit des Men-
ſchen nicht. Den einzigen Zweifel, den Sie dagegen
machen koͤnnten, werden Sie im Jeruſalem S.280. auf-
geloͤſt gefunden haben. Er erinnerte ſich an dieſe Stelle
und geſtand, ſie ſey ihm ſehr uͤberzeugend geweſen. Man
ſey gar nicht genoͤthigt, bey dem erſten Eindruck, den ein
Gegenſtand auf uns machte, ſtehen zu bleiben, und dar-
nach ſeine Entſchließung zu beſtimmen. Man muͤſſe viel-
mehr die Sache weiter uͤberlegen, und erſt nach erlangter
hinlaͤnglicher Einſicht waͤhlen. Das ſey wahre Frey-
hed. Wir wurden nun leicht daruͤber einig, daß zu den
moraliſchen Handlungen erſtlich diejenigen gehoͤren, die
wuͤrklich frey ſind, das iſt, deren Gegentheil dem Men-
ſchen moͤglichſt, und zu denen er ſich nach vorhergehender
Ueber-
[39]
Ueberlegung entſchließt: dann aber auch diejenigen, die
von ſeiner Freyheit abhaͤngen konnten, die er begeht,
ohne vorher daruͤber nachgedacht zu haben, wie er es
doch haͤtte thun ſollen und koͤnnen.
Nun entſtand die Frage, was macht denn die
Handlungen gut oder boͤſe? bloß ihre Folgen? bloß die-
jenigen, die ſie fuͤr die Geſellſchaft haben? Das letztere
war bisher ſeine Meynung geweſen, die er aber doch
nun ſchon faſt aufgegeben hatte. Es war noͤthig, ſie von
Grund aus wegzunehmen. Jch zeigte ihm deswegen,
daß es unmoͤglich ſey, die Folgen, die unſre Handlungen
haben koͤnnten, nach allen ihren Verhaͤltniſſen vorher zu
entdecken; daß derjenige, der das unternehmen wollte,
Jahre lang unterſuchen muͤſſe, ehe er uͤber eine einzelne
That zu Entſchließung kommen koͤnnte; daß die Folgen
der Handlungen ſich auf allen Seiten verbreiten, und
bis ans Ende der Welt ja bis in die Ewigkeit fortlaufen
koͤnnten, und daß niemand als der Allwiſſende im Stande
ſey, ſie alle zu uͤberſehen, und die Summe des Guten
und Boͤſen, die aus ihnen entſtehen koͤnnte, zu berech-
nen um daraus ein zuverlaͤſſiges Urtheil von ihrer Mo-
ralitaͤt zu faͤllen. Der Menſch koͤnnte bloß, und wenn
er der weiſeſte Sterbliche waͤre, einige der naͤchſten Fol-
gen vorherſehen. — Ferner bin ich in Gefahr, wenn ich
die Moralitaͤt der Handlungen aus den Folgen entſchei-
den will, die ſie fuͤr die Geſellſchaft haben koͤnnen, in
meinem Urtheile zu irren, und eine That fuͤr gut oder
doch unſchaͤdlich zu halten, von der mir nachher der Er-
folg zeigt, daß ſie es nicht iſt. Meine Begierden werden
mich verblenden, ſie werden mich verfuͤhren, die Sachen
in einem falſchen Lichte und von der unrechten Seite
anzuſehen, ſie werden durch ihre Heftigkeit verurſachen,
daß ich mir die Zeit nicht nehme, die zur Unterſuchung
noͤthig iſt. Hier erfand er ſelbſt eine Anmerkung, die
C 4ich
[40]
ich eben im Begriff war hinzuzuſetzen. Ohne Zweifel
nahm er ſie aus ſeiner eignen Erfahrung her. Die Nei-
gungen, ſagte er, werden mich uͤberreden, wenn ich
gleich einſehe, daß die Handlung, zu der ſie mich trei-
ben, fuͤr die Societaͤt Nachtheil nach ſich ziehen koͤnne,
ich wuͤrde ihre Folgen in meiner Gewalt haben, es
ſtuͤnde bey mir ihnen mit Vorſicht auszuweichen, oder
ſie durch Heimlichkeit und Vorbeugung abzuwenden.
Sie werden mir allerhand ſcheinbare Entſchuldigungen
an die Hand geben und mich ſehr geneigt machen, dieſe
fuͤr wahr und gegruͤndet zu halten. Dieß alles ward mit
Beyſpielen erlaͤutert, die er mir aus ſeiner perſoͤnlichen
Erfahrung herzunehmen verſtattete.
Sie ſehen hieraus, fuhr ich fort, daß in den
Handlungen ſelbſt etwas liegen muß, welches ſie gut
oder boͤſe macht, und daß wir, wenn wir anders mora-
liſch gut handeln ſollen, eine gewiſſe und unfehlbare Richt-
ſchnur in Haͤnden haben muͤſſen, nach der wir in vor-
kommenden Faͤllen mit Sicherheit entſcheiden koͤnnen,
was uns erlaubt oder verboten ſey. Dieſe Richtſchnur
iſt der Wille Gottes. Hat uns Gott den bekannt gemacht,
ſo haben wir eine eben ſo unfehlbare Regel unſers Ver-
haltens, als Gott ſelbſt unfehlbar in ſeinen Urtheilen iſt.
Jch behaupte hier nicht, daß die Handlungen deswegen
gut oder boͤſe ſind, weil Gott es gewollt hat, daß ſie gut
oder boͤſe ſeyn ſollten. Das gute und boͤſe liegt in den
Handlungen ſelbſt. Wenn Gott keine Menſchen geſchaf-
fen haͤtte, ſo wuͤrde ſein Verſtand die Handlungen, in
ſo ferne ſie bloß moͤglich waren, eben ſo in Anſehung ih-
rer Moralitaͤt beurtheilet haben, als er ſie itzt beurtheilt,
da er Menſchen geſchaffen hat. Gott will und kann nichts
anders wollen, als was nach ſeiner Erkenntniß gut iſt,
und er erkennt die Dinge ſo, wie ſie wuͤrklich ſind.
Nun
[41]
Nun mußte ich beweiſen, daß uns Gott ſeinen
Willen uͤber unſer Thun und Laſſen, oder uͤber die Mo-
ralitaͤt der Handlungen, wuͤrklich offenbahrt habe. Auf
die Bibel durfte ich den Grafen nocht nicht verweiſen,
denn da haͤtte ich erſt den Beweis fuͤhren muͤſſen, daß ſie
Gottes Wort ſey. Und dazu war er noch nicht vorbe-
reitet, auch lag dieſer Beweis nicht in dem Zirkel der
Wahrheiten, uͤber die wir bisher einig geworden waren.
Jch berief mich alſo auf das Gewiſſen, oder auf das
allen Menſchen angebohrne moraliſche Gefuͤhl.
Herr Graf, ſagte ich, ſo wie alle Menſchen dar-
in uͤbereinſtimmen, daß der Zucker einen andern Eindruck
auf die Zunge mache, als der Eſſig, daß ein durch die
Blattern zerriſſenes Geſicht nicht ſchoͤn, und eine feine
ebene Haut nicht haͤßlich in die Augen falle, ſo ſind ſie
auch alle daruͤber einig, daß Rauben und Morden nicht
moraliſch gut, gerecht aber und menſchenliebend ſeyn
nicht boͤſe iſt. So wenig alle, die von dem Eindruck
urtheilen, den Zucker oder Eſſig auf ihre Zunge, und
ein ſchoͤnes oder heßliches Geſicht auf ihre Augen macht,
die phyſiſchen Regeln verſtehen und uͤberlegen, nach denen
dieſer Eindruck erfolgt und erfolgen muß, eben ſo wenig
denkt der Menſch, wenn er gleich beym erſten Anblick
einer Handlung ſein Urtheil uͤber ihre Moralitaͤt faͤllt, an
die moraliſchen Regeln, durch die die Richtigkeit deſſel-
ben erwieſen werden kann. Das Urtheil kommt der
Ueberlegung und Unterſuchung zuvor. Es entſpringt aus
einem innern Gefuͤhl, welches man das moraliſche, oder
in einem gewiſſen Verſtande, das Gewiſſen nennt. Alle
Menſchen haben es, nur mit dem Unterſchiede, daß es
bey dem einen feiner und empfindlicher iſt, als bey dem
andern. Und Sie, Herr Graf, haben es auch. Um
ihm dieß fuͤhlbar zu machen, laß ich ihm aus Gellerts
moraliſchen Vorleſungen die Charactere Damons und
C 5Sem-
[42]
Semnons vor, und bat ihn ſogleich mir zu ſagen, wel-
cher von beyden ihm am beſten gefiele. Er erklaͤrte ſich
natuͤrlicher weiſe fuͤr den letzten. Sehen Sie hier, ſagte
ich, ein Urtheil Jhres moraliſchen Gefuͤhls oder Jhres
Gewiſſens. Ob Sie ſich gleich in dem Damon zum
Theil muͤſſen erkannt haben, ob ſie gleich in dieſem Au-
genblicke nicht Zeit gehabt haben beyde Charactere zu
vergleichen, und die Grundzuͤge derſelben nach morali-
ſchen Grundſaͤtzen zu pruͤfen, ſo finden Sie doch gleich,
daß Semnon der beſſere Mann iſt; und wenn Sie nun
ihr Urtheil regelmaͤßig unterſuchten, ſo wuͤrden Sie ge-
wahr werden, daß es ganz richtig gefaͤllt ſey.
Als ich ihm nun hierauf ſagte, dieß moraliſche
Gefuͤhl ſey uns angebohren, und gehoͤre mit zu unſrer
Natur, ſo mußte ich mich darauf gefaßt halten, Ein-
wuͤrfe zu beantworten. Er bezeugte mir hier zwar, daß
er gar keine Luſt haͤtte, welche zu machen, ſondern daß
er ſich vielmehr aller Zweifel entſchlagen wollte. Aber
es erfordre doch unſre Abſicht, daß er mir offenherzig
ſagte, wovon er nicht uͤberzeugt waͤre. Er finde zwar
ein ſolch moraliſches Gefuͤhl bey dem Menſchen, aber
ob es ihm angebohren ſey, wiſſe er nicht. Ob es nicht
ein gewiſſes Vorurtheil ſeyn koͤnnte? Wie kaͤmen denn
alle Menſchen, antwortete ich, zu einem und demſelben
Vorurtheil? Wie gienge es denn zu, daß der Laſter-
hafte daſſelbe Vorurtheil hat, als der Tugendhafte, ob
es gleich ſeinem Jntereſſe ſo ſehr zuwider iſt? Denn Sie
wiſſen der Laſterhafte kann der Tugend doch nicht ſeinen
innern Beyfall verſagen, wenn er ihn gleich nicht aͤußer-
lich bezeugt. Woher kommt das anders, als von ſei-
nem moraliſchen Gefuͤhl? “So koͤnnte es denn doch
wohl eine Wuͤrkung der Erfahrung oder auch der Ge-
wohnheit ſeyn, die wir Menſchen haben, die Handlun-
gen anderer in Beziehung auf uns zu denken.„ Jch
antwor-
[43]
antwortete ihm, es koͤnne zwar dieß Gefuͤhl durch Erfah-
rungen von den Folgen der Handlungen, und durch die
Vorſtellung einer Beziehung derſelben auf uns, geſtaͤrkt,
gewiſſer und empfindlicher gemacht werden. Es ſey aber
eher in uns vorhanden, es wuͤrke fruͤher, als wir ſolche
Erfahrungen haͤtten, und dergleichen Beziehungen auf
uns daͤchten. Es befaͤnde ſich in allen Menſchen, auch
in den duͤmmſten und unwiſſendeſten, ſelbſt in kleinen
Kindern, die ſo weit nicht nachdenken koͤnnten. Wir
haͤtten ja auch ein Gefuͤhl von der Moralitaͤt ſolcher Hand-
lungen, die wir gar nicht im Stande waͤren auf uns zu
beziehen. Er wuͤrde z. Ex. allezeit den Gehorſam eines
Menſchen gegen Gott gut und ſeinen Ungehorſam boͤſe
fuͤhlen, ob er ſich gleich von jenem keinen Nutzen, und
von dieſem keinen Schaden fuͤr eine Perſon vorſtellen
koͤnnte. “So kann am Ende doch wohl dieß Gefuͤhl
eine Folge der Erziehung ſeyn?„ Auch das nicht! Das
unerzogene Kind hat es ſchon. Es ſpricht aus wil-
den Groͤnlaͤnder und aus dem Hottentotten, und das
zwar uͤber gewiſſe Handlungen entſcheidender und richti-
ger, als aus dem Engellaͤnder und Franzoſen, bey dem
es durch Erziehung und Lebensart verfaͤlſcht worden iſt.
Er gab mir nun zu, das moraliſche Gefuͤhl muͤſſe
uns angebohren ſeyn, und tief in unſrer Natur liegen.
Es iſt uns alſo von dem Urheber unſrer Natur ins Herz
gelegt, und wir vernehmen in den Urtheilen dieſes Ge-
fuͤhls den Willen Gottes von dem Guten und Boͤſen in
unſern Handlungen.
Jch zeigte ihm hierauf kurz, daß das Urtheil
des Gewiſſens durch die Folgen der Handlungen beſtaͤ-
tigt werde. Denn dieſe ſtimmten mit jenem uͤberein.
Z. Ex Gutthaͤtigkeit, Dankbarkeit, Ehrlichkeit, Men-
ſchenliebe wuͤrden von dem moraliſchen Gefuͤhl gebilligt,
und
[44]
und die Erfahrung zeige, daß Gutthaͤtigkeit Freunde,
Dankbarkeit Wohlthaͤter, Ehrlichkeit Zutrauen, Liebe
Gegenliebe erwuͤrbe u. ſ. w. Endlich leiteten wir aus
verſchiedenen eizelnen Urtheilen des moraliſchen Gefuͤhls
folgende allgemeine Regeln zur Beſtimmung der Mora-
litaͤt der menſchlichen Handlungen und ihrer Grade her.
Jede freye Handlung des Menſchen, oder die von ſeiner
Freyheit abhaͤngen konnte, die dem moraliſchen Gefuͤhl
oder dem Willen Gottes widerſpricht, und noch dazu
boͤſe Folgen nach ſich zieht oder nach ſich ziehen kann, iſt
boͤſe. Sie iſt um ſo viel mehr boͤſe, um wie viel mehr
ſie dem Willen Gottes entgegen iſt, um wie viel ſchwe-
rer, ausgebreiteter und unerſetzlicher ihre Folgen ſind.
Sie iſt deswegen und in eben dieſem Verhaͤltniſſe boͤſe,
weil ſie ein Ungehorſam gegen den hoͤchſten Geſetzgeber,
eine Beleidigung ſeiner Majeſtaͤt, eine Empoͤrung gegen
ſeine heiligen und wohlthaͤtigen Abſichten iſt. Alle Hand-
lungen des Menſchen gegen andre Menſchen ſind boͤſe,
durch die er ihnen das thut, was er von ihnen nicht wuͤr-
de haben wollen, und in denen er ihnen das nicht thut,
was er von ihnen fordert oder fordern wuͤrde. Jch ſah
es dem Grafen an, daß er die Regeln ſchon vorlaͤufig
auf ſich anwendete, und ſein Urtheil darnach faͤllte.
Seine Thraͤnen, die er fallen lies, bewieſen es mir. Jch
hatte den Jnhalt meines heutigen Vortrags fuͤr ihn be-
ſonders aufgeſchrieben, wie ich es vorher und nachher
immer gethan habe, und uͤbergab ihm das Blatt zu noch-
maliger Unterſuchung.
Jch wll Jhnen nun ſagen, fuhr ich fort, wozu
ich dieſe moraliſchen Regeln, uͤber die wir einig gewor-
den ſind, zu brauchen gedenke. Wollen Sie Jhre Be-
gnadigung bey Gott ſuchen, ſo muͤſſen Sie doch noth-
wendig Jhre Vergehungen erkennen. Dazu ſollen Jh-
nen dieſe Regeln helfen. Sie muͤſſen Jhre Handlungen
dagegen
[45]
dagegen halten und darnach beurtheilen. Jhnen dazu
Anlaß zu geben ſehe ich nur zwey Wege. Der erſte:
Sie zu bitten, daß Sie ſelbſt nach den veſtgeſetzten Re-
geln Jhr Verhalten pruͤfen. Koͤnnte ich mich darauf
verlaſſen, daß Sie das ernſtlich und unpartheiiſch genug
thun wuͤrden, ſo koͤnnte ich mir das Misvergnuͤgen Jh-
nen tauſend unangenehme und demuͤthigende Dinge zu
ſagen, und Jhnen die Beſchaͤmung des Geſtaͤndniſſes
erſparen. Aber ich darf mich darauf nicht verlaſſen. Sie
wuͤrden ſich ohne beſondere Anleitung auf manches viel-
leicht nicht beſinnen, nicht tief genug eindringen, und
ſich oft mit unzulaͤnglichen Entſchuldigungen befriedigen.
Das iſt alles wahr, antwortete er. Jch muß alſo, ſetzte
ich hinzu, den andern Weg waͤhlen: Jhnen nemlich, ſo
weit ich Sie beurtheilen kann, ein Gemaͤhlde Jhres Le-
bens und Jhrer Handlungen vorlegen, und ſie dann ſtuͤck-
weiſe beurtheilen. Dabey muß ich weit zuruͤckgehen in
Jhre Jugend. Und Sie muͤſſen mir dabey als ein ver-
ſtaͤndiger Mann, der gruͤndlich geheilt und gebeſſert zu
werden wuͤnſcht, zu Huͤlfe kommen. Ja, ſagte er, ich
will Jhnen alles geſtehen. Jch werde ſtrenger gegen Sie
ſeyn, ſetzte ich hinzu, als Sie es vielleicht fuͤr noͤthig
halten werden. Meine Seele iſt itzt an die Jhrige ge-
bunden. Jch muͤßte es vor Gott und meinem Gewiſſen
verantworten, wenn ich, ſelbſt um Jhnen Schmerzen
zu erſparen, nachgiebieger und ſanfter mit Jhnen um-
gienge, als ich ſollte. Aber ich begehre deswegen kein
Geſtaͤndniß uͤber alles von Jhnen. Erkennen Sie es nur
vor Gott und vor Jhrem Gewiſſen, wer Sie bisher ge-
weſen ſind. Entſchuldigen Sie ſich nicht gegen mich,
wenn Jhnen Jhr Herz ſagt, daß Sie keiner Entſchuldi-
gung faͤhig ſind. Aber, wo ich Jhnen zu nahe thue, da
ſagen Sie es mir, ich will Jhnen auf Jhr Wort glau-
ben. — Jch frage Sie nach Jhren Handlungen nicht
als ein Richter, der Sie fuͤr Jhre Vergehungen ſtrafen
will
[46]
will, ſondern als ein Freund, der willens iſt, mit Jh-
nen daruͤber nachzudenken, und Jhnen Raht zu geben,
wie Sie Gottes Misfallen von ſich abwenden koͤnnen.
Unſre naͤchſten Unteredungen, lieber Herr Graf, werden
alſo nothwendig fuͤr Sie ſehr traurig werden muͤſſen. Jch
weiß, Jhr Herz iſt ſchon verwundet: ich muß die Wun-
den deſſelben noch zu vergroͤßern ſuchen. Jch bitte Gott
darum, daß er meine Abſicht befoͤrdre, Sie unausſprech-
lich betruͤbt zu machen. Deſto begieriger werden Sie
dann nach Troſt werden, deſto zuverſichtlicher den einzi-
gen wahren annehmen, den ich Jhnen darbieten kann,
und ihn auch deſto beruhigender finden. — Jch ſehe
Sie itzt als einen Kranken an, der entweder ohne Ret-
tung ſterben, oder ſich einer ſehr ſchmerzhaften Operation
von der Hand des Arztes unterwerfen muß. Handelt
der Kranke vernuͤnftig, wenn er den Tod waͤhlt, um den
Schmerzen zu entgehen? Handelt er vernuͤnftig, wenn
er unter der Operation ungeduldig, und auf den Arzt,
der es doch gut mit ihm meynet, ob er ihm gleich Schmer-
zen verurſacht, ungehalten wird? — Er war hiebey ſehr
geruͤhrt, und verſprach mir mit Darreichung der Hand,
daß er ſich ganz und willig meiner Leitung uͤberlaſſen wolle.
Nach einigem Stillſchweigen von beyden Seiten,
und mitten unter ſeinen Thraͤnen, ſah er mich mit einer
Miene an, die zugleich Aengſtlichkeit und Zutrauen ver-
rieth, und ſagte: Wenn nur meine Thraͤnen aus der
rechten Quelle fließen! Jch vermuhte, Herr Graf, ant-
wortete ich, woruͤber Sie weinen. Gewiß, uͤber das
Ungluͤck, worin Sie Jhre Freunde geſtuͤrzt haben. Dieß
iſt Jhre empfindliche Seite. Sie darf nur leicht beruͤhrt
werden, ſo ſchmerzt es. Pruͤfen Sie ſich, iſt es bloße
perſoͤnliche Freundſchaft, Erinnerung der ehemaligen ge-
meinſchaftlich genoſſenen Vergnuͤgungen, Betruͤbniß die
Gelegenheit zu ihrer Fortſetzung verlohren zu haben,
oder
[47]
oder iſt es das Bewußtſeyn, daß Sie Gott und Religion
und Tugend in Jhren ungluͤcklichen Freunden beleidigt,
iſt es das Gefuͤhl Jhres ganzen Unrechts, was Sie ſo
weich macht? Er dachte eine Weile nach, und rief aus:
O, es iſt entſetzlich ſchwer, daruͤber zur Gewißheit zu
kommen!
Gleich darauf ſetzte er hinzu: Wenn es auch nur
nicht itzt fuͤr mich zu ſpaͤt iſt, bey Gott zu ſuchen!
Jch thue es ja auch itzt nur aus Noth! “Sie haben Ur-
ſache, Herr Graf, ſich daruͤber die ſchmerzlichſten Vor-
wuͤrfe zu machen, daß Sie Jhr ganzes Leben bis hieher
faſt ohne an Gott zu denken, ohne ſich um ſein Wohlge-
fallen zu bemuͤhen, haben dahingehen, ſich durch alle
ſeine Guͤte nicht gewinnen, ſondern es ihm nothwendig
gemacht, Sie in das tiefſte Elend verſinken zu laſſen, um
Sie dadurch noch zur Ruͤckkehr zu ihm zu bewegen. Aber
an der Moͤglichkeit Jhrer Errettung haben Sie deswegen
noch nicht Urſache zu zweifeln. Vor Gott iſt kein Un-
terſchied zwiſchen fruͤh und ſpaͤt, und Ein Antrieb muß
es doch ſeyn, der den Suͤnder auf ſeinen Zuſtand auf-
merkſam macht, und ihm Verlangen nach ſeiner Begna-
digung bey Gott erweckt, ſollte es auch nur das Elend
ſeyn, womit ihn ſeine Suͤnde belohnt. Auf Jhre Auf-
richtigkeit, mit der Sie Gnade ſuchen werden, wird es
ankommen, ob Gott Sie Jhnen wird ſchenken koͤnnen.
Der, den ich als meinen Heyland anbete, und den Sie,
wie ich zu Gott hoffe, auch noch dafuͤr werde erkennen
lernen; ſagt, ohne Zeit und Bewegungsgrund zu beſtim-
men: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinaus-
ſtoßen.„ — Jch koͤnnte es auch wohl, ſetzte er hinzu,
aus Gefaͤlligkeit gegen ſie thun. “Dieſer Gedanke hat
mir ſchon Unruhe gemacht. Pruͤfen Sie ſich wohl dar-
uͤber. Wenn Sie aus Achtung fuͤr die Freundſchaft,
die ich fuͤr Sie habe, ſich entſchloſſen haͤtten, mich nicht
durch
[48]
durch einen vorſetzlichen Widerſtand zu betruͤben, ſo
glaube ich nicht, daß Gott das misfallen wuͤrde. Aber
beruhigen Sie ſich nur uͤber dieſem Zweifel an Jhrer
Aufrichtigkeit. Es iſt und kann kein Gefaͤlligkeit gegen
mich ſeyn, daß Sie ſo traurig und bekuͤmmert ſind, daß
Sie ſo viele Thraͤnen vergießen.„ Nach einem kurzen
Nachdenken ſagte er: Waſ haͤtte ich auch davon?
Nein, hier gab er mir die Hand, es iſt nicht Gefaͤllig-
keit gegen Sie! Endlich ſagte er: Jch erinnere mich
aus dem Unterricht vom Chriſtenthum, den ich in mei-
ner Jugend erhalten habe, daß ein Chriſt mit der groͤ-
ßeſten Freudigkeit und Zuverſicht muͤſſe ſterben koͤnnen.
Und mir iſt ſo bange vor Zweifeln. Sie kommen immer
wieder. Jch entſchlage mich Jhren zwar, und will ſie
nicht aufkommen laſſen. — Jch vermuthete hieraus,
und fand, als ich nachforſchte, ich haͤtte die Wahrheit
vermuhtet, daß er auf die wunderbaren Gefuͤhle zielte,
die manche Chriſten zu haben glauben, und fuͤr unfehl-
bare Folgen der Begnadigung halten. Jch antwortete
ihm alſo, daß dergleichen Empfindungen, wenn ſie ja
wuͤrklich vorhanden waͤren, doch nicht fuͤr nothwendig
und unausbleiblich gehalten werden koͤnnten. Jch haͤtte
viele rechtſchaffene Chriſten gekannt, die ſie nicht gehabt,
und ich ſelbſt, der ich mies doch bewußt waͤre ein Chriſt
zu ſeyn, haͤtte ſie auch nicht bey mir wahrgenommen.
Jch habe ſelbſt, unterbrach er mich, einen ſehr frommen
Mann ſterben ſehen, der mit vieler Aengſtlichkeit aus
der Welt gieng. Die Ruhe, Herr Graf, ſetzte ich hinzu,
die ich Jhnen beym Sterben wuͤnſchen kann, und die
Sie auch erlangen koͤnnen, kann nicht in einer ſichtbaren
Freude beſtehen, ſondern ſie wird eine gewiſſe Stille der
Seele ſeyn, die aus der Ueberzeugung enſtehen wird, daß
Sie die Bedingungen erfuͤllt haben, die Gott als die
einzigen vorſchreibt, unter denen er uns begnadigen will.
Sie muͤſſen auch einen Unterſchied machen,zwiſchen
einem
[49]
einem Chriſten, der eine lange Reihe von Jahren her-
durch, ein wahrer Chriſt geweſen iſt, und zwiſchen ſich,
ſo wie Sie noch ein Chriſt werden koͤnnen. So wenig
es Jhnen ſelbſt wahrſcheinlich ſeyn wird, daß Sie, auch
bey der aufrichtigſten Bekehrung, einer der erſten unter
den Seeligen werden wuͤrden; ſo wenig koͤnnen Sie ſich
auch die Freudigkeit im Tode verſprechen, die vielleicht
nur das Erbtheil der gepruͤfteſten Chriſten iſt. Ach, ſagte
er hierauf, wie wankend iſt doch mein bisheriges Syſtem
geweſen, und wie habe ich gleichwohl mich ſo ſehr von
der Wahrheit deſſelben uͤberreden koͤnnen! Jch hatte mir
nach demſelben vorgenommen, wenn ich ſterben ſollte,
meinen Grundſaͤtzen treu zu bleiben, ſie als ausgemacht
vorauszuſetzen, und ohne alle weitere Unterſuchung den
Tod zu erwarten. Deswegen hatte ich es mir auch ver-
beten einen Geiſtlichen zu ſehen. “Sie ſehen hieraus,
Herr Graf, was fuͤr ein Unterſchied zwiſchen Wahrheit
und Jrrthum iſt. So dachten Sie noch vor acht Tagen.
Und nun leſen Sie den Jeruſalem mit ſolchem Fleiß, ob
er gleich Jhren Grundſaͤtzen durchaus widerſpricht.„
O antwortete er, es iſt ein vortreffliches Buch! Wollen
Sie mir nicht die folgenden Theile bringen? “Wie ſehr
mußte ich es nicht beklagen, daß noch kein folgender Theil
da iſt!„ Koͤnnten Sie denn nicht dieß Buch, fuhr er
fort, dieſem und jenem von meinen Freunden, die ſo
uͤber die Religion denken, als ich gedacht habe, und die
vielleicht durch mein Exempel und Reden dazu veranlaßt
worden ſind, zu leſen geben? Jch verſprach ihm, dazu
Gelegenheit zu ſuchen.
Jch durfte ihn nun nach und nach auf das Ge-
biet des Chriſtenthums fuͤhren, denn an der Graͤnze
deſſelben ſtand er ſchon. Von der moraliſchen Seite
mußte ich es ihm zuerſt bekannt machen, denn wie un-
widerſtehlich dringt es ſich nicht auf dieſer Seite der
Dmenſch-
[50]
menſchlichen Seele auf! Auf der dogmatiſchen ſchien er
auch ſchon mehr von den Wahrheiten deſſelben im Gedaͤcht-
niß zu haben, ob er es gleich fuͤr unmoͤglich hielt, die Ge-
heimniſſe zu glauben. Doch wußte ich gewiß, daß ſich die-
ſer Glaube von ſelbſt finden wuͤrde, wenn er nur erſt ſaͤhe,
wie vortrefflich die Sittenlehre Jeſu ſey, und ihm die
Geheimniſſe, von menſchlichen Erklaͤrungen abgeſondert,
nach dem Sinn der Schrift vorgeſtellt wuͤrden. Um Jhm
die Moral des Evangelii bekannt zu machen, hielt ich fuͤr
das beſte Mittel, ihn die Geſchichte Jeſu leſen zu laſſen.
Und dazu bereitete ich ihn auf folgende Art.
Gelingt es mir nun, Herr Graf, wie ich hoffe,
Sie in unſern naͤchſten Unterredungen zur Erkaͤnntniß
Jhrer Vergehungen auf mehr als der einen Seite zu
bringen, ſo werden Sie gewiß die aͤußerſte Gefahr er-
blicken, in der Sie ſich in Abſicht auf die Ewigkeit be-
finden. Jch will es Jhnen dann uͤberlaſſen in Jhrer
Vernunft Huͤlfe und Beruhigung zu ſuchen. Finden
Sie ſie aber nicht, ſo werden Sie es meiner Ueberzeu-
gung und meiner Begierde, Sie gluͤcklich zu wiſſen,
nothwendig gut heißen muͤſſen, daß ich Sie auf Jeſum
verweiſe. Jch ſage es Jhnen zum Voraus, Sie werden
ſich doch zu ihm wenden muͤſſen. Jch wuͤnſchte, daß
Sie ihn erſt von der hiſtoriſchen und moraliſchen Seite
kennen lernten, um zu ſehen, welch ein guter, zuverlaͤſſi-
ger, goͤttlicher Mann er geweſen iſt. Vielleicht erweckt
es Jhnen ſchon ein gut Vorurtheil fuͤr die Perſon Chriſti,
daß Voltaire, der ihn auch auf dieſer Seite gern laͤſtern
moͤchte, wenn er nur den geringſten Schein finden koͤnnte,
ſeiner Moral und ſeinem Character Gerechtigkeit wieder-
fahren laͤßt. Thut er das? fragte der Graf. Jch will
Jhnen daruͤber einige Stellen aus dem Evangile du
jour vorleſen, welches doch vermuhtlich Voltairens
Werk iſt. Roußeau, ſetzte ich hinzu, iſt ganz entzuͤckt
uͤber
[51]
uͤber die Sittenlehre und den Tod Jeſu. Er erinnerte
ſich, das im Emile gefunden zu haben. — Jch koͤnnte
Jhnen wohl in dieſer Abſicht das neue Teſtament zu le-
ſen geben. Aber da die Geſchichte Jeſu in allen vier
Evangeliſten zerſtreut iſt, da manche Stelle nicht richtig
uͤberſetzt, und mehrere wegen ihrer Beziehung auf die
Sitten der damaligen Zeiten und Voͤlker, auf die Lage
der Oerter u. ſ. w. Jhnen unverſtaͤndlich ſeyn moͤchten,
da Sie endlich auch vermuhtlich gewohnt geweſen ſind,
einige bibliſche Ausdruͤcke zum Spott zu misbrauchen,
ſo will ich das itzt noch nicht thun. Ja, ſagte er, Sie
haben Recht. Jch verſprach ihm alſo die in Zuͤrich her-
ausgekommene Geſchichte der drey letzten Lebensjahre
Jeſu zu bringen, worin die Begebenheiten geſammlet
und geordnet, alles ins Licht geſetzt, und in einer moder-
nen Sprache vorgetragen ſey. Jch beklagte aber, daß
auch dieß Buch noch nicht vollſtaͤndig ſey,
ſondern daß
der Tod Jeſu, das intereſſanteſte und ehrwuͤrdigſte Stuͤck
ſeiner Geſchichte, noch fehle.
Cramer hatte mir einen Gruß an ihn aufgetra-
gen, und mich gebeten ihm zu melden, daß der Graf
Bernſtorf ihm verziehen habe, und noch in den letzten Ta-
gen ſeines Lebens ſehr bekuͤmmert um den Zuſtand ſeiner
Seele geweſen ſey. Er fragte: Hat Bernſtorf meine Ar-
retirung erlebt? “Ja, er iſt etwa erſt vor vierzehn Ta-
gen geſtorben.„ Die Thraͤnen ſtuͤrzten ihm hier wieder
aus den Augen. Er bat mich, Cramern zu melden, daß
er wuͤnſchte, ſeines Andenkens wuͤrdig zu ſeyn, und daß
er ihm ſehr fuͤr dieſe Nachricht dankte.
Jch ließ ihm heute Gellerts moraliſche Vorleſun-
gen. Den Reimarus hatte er ſchon beynahe halb vollen-
det. Er hat ſich bisher in meiner Abweſenheit faſt im-
mer mit den Buͤchern, die ich ihm gebracht, beſchaͤfftigt.
[52]
Fuͤnfte Unterredung, den 10ten Maͤrz.
Der Graf las bey meiner Ankunft in Gellerts morali-
ſchen Vorleſungen, und wußte die Vortrefflichkeit
dieſes Buches nicht genung zu ruͤhmen. Haͤtte ich nur
noch vor einem Jahre, ſagte er, ſolche Buͤcher in der
Entfernung von Zerſtreuungen geleſen, in der ich itzt
lebe, ſo wuͤrde ich gewiß ein ganz anderer Menſch ge-
worden ſeyn. Aber ich lebte im Traum! — Doch wo
findet man auch ſolche Chriſten! Jch glaube, antwortete
ich, Gellert war ein Chriſt von dieſer Art. Jch geſtehe
Jhnen gerne, ſolche Muſter ſind ſehr ſelten. Aber es
iſt auch nicht moͤglich, daß ſich alle gleich hoch erheben
koͤnnen. Dieß Buch zeigt die Vollkommenheit, nach
welcher billig alle trachten ſollten. Wer allen Fleiß an-
wendet gut und rechtſchaffen zu werden, der wird auch gut
und rechtſchaffen, wenn er gleich das Muſter, nach wel-
chem er ſich bildet, nicht ganz erreichet. Thun Sie auch
nur in dieſer Abſicht, was Sie noch thun koͤnnen, ſo
werden Sie bald merken, daß Sie im Guten zunehmen,
und dann zweifle ich nicht daran, daß Gott ſie begna-
digen wird.
Sie erinnern ſich nun wohl an die Abrede, die
wir mit einander genommen haben, daß wir in unſren
naͤchſten Unteredungen uns bemuͤhen wollten, eine auf-
richtige Pruͤfung Jhres moraliſchen Zuſtandes anzuſtellen.
Sie werden dadurch faͤhig werden richtig zu beurtheilen,
ob Sie ſo, wie Sie ſich nun ſelbſt finden werden, mit
Ruhe und Hoffnung aus der Welt gehen koͤnnen. Sie
wiſſen noch die Regeln uͤber die Moralitaͤt, die wir neu-
lich feſtgeſetzt haben. Dieſe wollen wir bey unſerer Un-
terſuchung zum Grunde legen. Jch muß Sie nochmahls
bitten, mir hiebey mit Aufrichtigkeit und der noͤthigen
Offenherzigkeit zu Huͤlfe zu kommen, und ſich ſelbſt nicht
mit
[53]
mit unzulaͤnglichen Entſchuldigungen zu befriedigen.
Seyn Sie mistrauiſch gegen jede Jhrer Handlungen,
die Sie zu entſchuldigen ſuchen muͤſſen. Jch kenne Sie
ferner auch viel zu wenig, als daß Sie glauben duͤrften,
dasjenige, was ich Jhnen von der Menge und Groͤße
Jhrer Suͤnden ſagen kann, ſey alles oder auch nur das
meiſte von dem, was davon geſagt werden koͤnnte.
Weit
mehr als ich, wird Jhnen Jhr Gewiſſen entdecken,
wenn Sie ſich, wie es um Jhres eignen Heils willen
Jhre Pflicht iſt, die Muͤhe geben ernſtlich uͤber Jhr Le-
ben nachzudenken. Und Gott weiß alles, was Sie wi-
der ſeinen Willen gethan haben: Erkennen Sie es alſo
auch vor ihm, daß Sie weit mehr geſuͤndigt haben, als
Sie ſelbſt wiſſen. Bedenken Sie, daß jede Jhrer ein-
zelnen Uebertretungen ihre ſchlimmen Folgen hat, und
haben muß, die ſich immer weiter verbreiten und weiter
fortlaufen, ja vielleicht ſelbſt noch nicht aufhoͤren werden,
wenn die Welt untergeht. Bedenken Sie, daß alle
dieſe Folgen Jhnen, als dem Urheber der erſten Urſache
nothwendig zur Laſt fallen muͤſſen, und daß Gott, der
den Zuſammenhang aller Dinge aufs genaueſte durch-
ſchaut, ſie Jhnen gewiß zurechnen wird. Jch weiß
wohl, ſagte er hierauf, ich kann meine Handlungen
nicht entſchuldigen. Aber ich hoffe und wuͤnſche auch
darum eine Ewigkeit, weil Gott, der die Verwicklung
der Umſtaͤnde, unter denen ich geweſen bin, und meine
jedesmalige Lage am beſten weiß, auch den Grad der
Moralitaͤt meiner Handlungen am zuverlaͤſſigſten, und
richtiger als alle Menſchen, beſtimmen kann.
Jch entwarf nun die Hauptzuͤge ſeines Charac-
ters, ſo wie ich Sie muthmaßen konnte. Gott hat Jh-
nen, ſagte ich, eine nicht gemeine Vernunft, und, wie
ich glaube, eine gute Anlage des Herzens gegeben. Aber
durch Wolluſt, Ehrgeiz und Leichtſinn haben Sie Jhren
D 3Charac-
[54]
Character verderbt. Er erklaͤrte dieſe meine Muthma-
ßung fuͤr richtig, und ſetzte noch hinzu, die Wolluſt ſey
ſeine Hauptleidenſchaft geweſen, die am meiſten zu ſeinem
moraliſchen Verderben beygetragen haben. “Bey dieſer
Neigung Jhres Herzens wollen wir alſo den Anfang ma-
chen, und unterſuchen, zu welchen Suͤnden ſie Sie ver-
fuͤhrt haben wird.„
Die Wolluſt, fuhr ich fort, iſt die ausſchwei-
fende Begierde nach ſinnlichen Vergnuͤgungen. Sie iſt
ausſchweifend, wenn der Menſch das Vergnuͤgen un-
maͤßig ſucht, ſeine Hauptſache daraus macht, und ver-
gißt, daß es ihm nur zur Herſtellung ſeiner durch die
Arbeit ermuͤdeten Kraͤften erlaubt, und auch dann nur
nuͤtzlich und ein wahres Vergnuͤgen iſt. Sie iſt aus-
ſchweifend, wenn er das Vergnuͤgen in einem ſolchen
Genuſſe ſucht, der ihm durch goͤttliche oder menſchliche
Geſetze unterſagt iſt. Sie iſt endlich ausſchweifend,
wenn ſie uns uͤberredet, jedes Mittel, das ſie zu ihrer
Befriedigung fuͤr dienlich haͤlt, ohne Ruͤckſicht auf die
Moralitaͤt deſſelben anzuwenden.
Er nahm dieſe Saͤtze an, ohne Beweis davon
zu fordern, und geſtand mir mit vieler Bewegung, ſeine
Meynung ſey immer geweſen, daß er bloß dazu vorhan-
den ſey, ſich angenehme Empfindungen zu verſchaffen.
Darauf habe er alles zuruͤckgebracht, und wenn er ja zu-
weilen etwas Gutes gethan, es nicht als eine Pflicht der
Liebe und des Gehorſams gegen Gott, ſondern allein als
ein Mittel zur Befoͤrderung ſeines Vergnuͤgens betraͤch-
tet. Jn der erſten Jugend habe er ſich blindlings allen
Arten der Ausſchweifungen uͤberlaſſen. Wie er endlich
die Folgen ſeiner Unordnungen in ſchmerzhaften Krank-
heiten empfunden haͤtte, ſo habe er um das Vergnuͤgen
laͤnger genießen zu koͤnnen, durch Ordnung und Enthalt-
ſamkeit
[55]
ſamkeit ſeine Geſundheit wieder herzuſtellen geſucht.
Nachdem er ſie wieder erlangt, habe er zwar den wilden
zuͤgelloſen Ausſchweifungen entſagt, aber doch immer
noch die Unordnungen der Wolluſt unter einer ſehr nach-
giebigen Aufſicht ſeiner Vernunft fortgeſetzt. Was ihn
am meiſten demuͤthige ſey dieſes, daß er nicht einmahl
jemand anklagen koͤnne, der ihn verfuͤhrt haͤtte, ſondern
daß er geſtehen muͤſſe, ſich ſelbſt durch das Leſen gewiſ-
ſer Buͤcher, die er mir nannte, zu ſeinen Ausſchwei-
fungen angefuͤhrt zu haben.
Die beſondere Pruͤfung ſeines Lebens in Bezie-
hung auf ſeine vornehmſte Leidenſchaft, die Wolluſt,
ward nach folgenden Fragen angeſtellt. Waͤhrend dieſer
ganzen Unterſuchung hoͤrte er nicht auf zu weinen. Es
ſchien, als wenn er eine Erleichterung darin faͤnde,
mir den Kummer ſeines Herzens uͤber dieſe Art ſeiner
Vergehungen anzuvertrauen. Man wird gewahr wer-
den, daß ich alles mit Muͤhe zuſammengeſucht habe,
was der ausſchweifendeſte Wolluͤſtling ſich vorzuwerfen
haben kann. Er ſelbſt aber ſetzte noch hin und wieder
etwas hinzu, wodurch ſeine Schuld vergroͤßert ward.
Jch will die Fragen herſetzen, ſo wie ich ſie ihm vorge-
legt habe, und diejenigen ſeiner Antworten hinzufuͤgen,
die mehr als ein ſimples Geſtaͤndniß ſind, und zur Auf-
klaͤrung ſeiner ehemaligen Denkungsart, oder auch zur
Vermehrung des Abſcheues an den Laſtern der Wolluſt
bey meinen Leſern, etwas beytragen koͤnnen.
Wie viele Zeit, die zur Befoͤrderung des Guten
in der Welt haͤtte angewendet werden koͤnnen und ſollen,
iſt dadurch verſchwendet worden, daß Sie mit ſolcher
Heftigkeit den Vergnuͤgungen nachgejagt haben? Er ant-
wortete: Jch habe mich immer damit betrogen, daß ich
geglaubt habe, weil ich mit Geſchwindigkeit arbeiten
D 4koͤnne,
[56]
koͤnne, und zu den jedesmaligen Geſchaͤfften meines Ver-
haͤltniſſes weniger Zeit brauche als andere, ſo gehoͤre die
uͤbrige Zeit meinen Luͤſten, und ſey fuͤr ſie gewonnen.
Jch ſehe aber nun ein, da es zu ſpaͤt iſt, wie ſehr es
meine Pflicht geweſen waͤre, nach dem Maaße der Kraͤfte,
die mir Gott anvertrauet hatte, auch wuͤrkſam zum Gu-
ten zu ſeyn.
Wie viel Gutes, das Jhre Pflicht war, iſt da-
durch unterblieben? — Wie unerſaͤttlich ſind Sie in Be-
luſtigungen geweſen?
Wie werden Sie darauf raffinirt haben, ſich im-
mer neue angenehme Empfindungen der Sinne zu ver-
ſchaffen. “Die Ueberhaͤufung mit Vergnuͤgungen zieht
eine unvermeidliche Leere nach ſich, und um dieſe auszu-
fuͤllen, ſinnt man denn immer auf Veraͤnderungen in den
Ergoͤtzlichkeiten.„
Wie ſehr iſt die Bildung Jhres Geiſtes und Her-
zens dadurch verſaͤumt worden? Erinnern Sie ſich hier
an Jhre Schul und Univerſitaͤtsjahre. “Jch bin da-
durch ſehr zuruͤckgeſetzt worden, und habe erſt in ſpaͤtern
Jahren angefangen die Kenntniſſe zu ſuchen, die ich ſchon
auf der Schule haͤtte erlangen koͤnnen. Auf der Univer-
ſitaͤt habe ich nachher oft ganze Monate umhergeſchwaͤrmt,
dann aber auch wieder eine Zeitlang ſtudirt. An die Bil-
dung meines Herzens dachte ich vor meinem zwey oder
drey und zwanzigſten Jahre gar nicht. Von der Zeit
an habe ich mir nach und nach meine Grundſaͤtze uͤber
die Moralitaͤt geſammlet und eingepraͤgt, die ich Jhnen
eroͤffnet habe.„
Wie nachlaͤſſig hat Sie die Wolluſt in Jhren
Pflichten gegen Gott, andre Menſchen und ſich ſelbſt,
auch
[57]
auch wohl in Jhren beſondern Amtspflichten gemacht?
“Auf Gott habe ich meine Gedanken wenig gerichtet,
auch nicht geglaubt ihm ſonſt etwas als eine allgemeine
Dankbarkeit fuͤr mein Daſeyn ſchuldig zu ſeyn. Meine
beſondern Amtspflichten kann ich freylich wohl oft um des
Vergnuͤgens willen verſaͤumt haben. Doch habe ich zu
andrer Zeit als Arzt mich meiner Kranken ernſtlich ange-
nommen.„
Wie haben Sie durch den beſtaͤndigen Genuß der
Wolluſt Jhre Einbildungskraft erhitzt und mit ſchmutzigen
Bildern angefuͤllt, von denen Sie vielleicht itzt noch beun-
ruhigt, und am ernſten Nachdenken verhindert werden? —
Jn welchem Taumel der Begierden haben Sie
gelebt, und nicht gelebt, ſondern getraͤumt? “Wenn
er itzt zuruͤckdenke, ſo finde er allerdings, daß ſein Leben
ein bloßer Traum geweſen ſey. Er wiſſe ſich an wenig
Gutes zu erinnern, das er gethan, und woran er wiſſen
koͤnne, daß er wuͤrklich gelebt habe.„
Wie leer iſt dadurch Jhr Leben von guten Tha-
ten, und Jhr Herz von guten Geſinnungen geworden?
— Wie leichtſinnig haben Sie dadurch uͤber Jhre Be-
ſtimmung in der Welt, uͤber Religion, Tugend und Gott
denken gelernt, und was hat das fuͤr andre ſowohl als
fuͤr Sie ſelbſt, fuͤr traurige Folgen gehabt? Jch erinner-
te ihn hier wieder an ſeine durch ſeine Schuld ungluͤcklich
gewordenen Freunde.
Wie ſehr haben Sie durch die Wolluſt Jhre menſch-
liche Wuͤrde verlaͤugnet, und ſich zu den Thieren, deren
Vergnuͤgen bloß das ſinnliche iſt, herabgeſetzt? “Jch
hielt mich auch, antwortete er, fuͤr nichts mehr als ein
Thier, und glaubte nicht der Art, ſondern nur dem
Grade nach, von ihnen verſchieden zu ſeyn.„
D 5Wie
[58]
Wie ſo ganz haben Sie Jhren guten Nahmen
dadurch verloren! “Jch habe immer geglaubt, ich duͤrfe
mir aus dem allgemeinen Urtheil nichts machen. Daher
habe ich nur einigen zu gefallen geſucht. Jtzt erfahre
ichs, wie viel an einem durch Tugend erworbenen guten
Nahmen gelegen iſt.„
Wie gleichguͤltig ſind Sie dadurch gegen mora-
liſche Freuden geworden, welche eine der wuͤrkſamſten
Triebfedern zur Tugend, und ein weſentliches Stuͤck der
wahren Gluͤckſeeligkeit ſind! “Jn meinen juͤngern Jah-
ren bin ich gegen die Freude an guten Geſinnungen und
Thaten ganz gleichguͤltig geweſen. Nachher habe ich
zwar wohl Vergnuͤgen daran empfunden, wenn ich etwas
gethan, das ich fuͤr gut hielt. Aber nie habe ich unter
dieſer edlen Freude und den Ergoͤtzungen der Wolluſt ei-
nen Unterſchied gemacht.„
Wie viele Menſchen haben Sie durch Jhre Wol-
luſt ungluͤcklich gemacht? — Wie oft junge Mannsper-
ſonen durch Jhr Exempel, auch wohl durch Ermunte-
rungen und durch Mittheilung Jhrer Grundſaͤtze zu Aus-
ſchweifungen verfuͤhrt? — Sind Sie nicht dadurch Ur-
ſache geworden, daß dieſe Ungluͤcklichen alle obigen und
nachfolgenden Suͤnden begangen haben, oder doch bege-
hen konnten? — Wie mancher Jhrer Verfuͤhrten wird
ſeinen guten Nahmen verlohren und ſeine Geſundheit zer-
ſtoͤrt, wie mancher wohl gar ſeinen Tod auf den Wegen
der Wolluſt gefunden haben? — Jſt es nicht moͤglich,
daß verlaſſene Wittwen und verwaiſete Kinder, deren
Maͤnner und Vaͤter durch die von Jhnen erlernte Wol-
luſt getoͤdtet worden ſind, wider den verborgenen Urheber
ihres Ungluͤcks, fuͤr den der Allwiſſende Sie erkennt, zu
Gott ſeufzen? — Vielleicht iſt dieſer oder jener durch die
Ausſchweifungen, zu denen Sie ihn angefuͤhrt haben, zu
den
[59]
den Gott, dem Vater der Lebendigen, ſo wichtigen
Pflichten der Ehe, in Anſehung der Fortpflanzung des
menſchlichen Geſchlechts, untuͤchtig geworden. — Oder
wenn dieſe auch nur ſo weit durch die Wolluſt geſchwaͤcht
worden waͤren, daß ſie nur eine ſchwache und kuͤmmerli-
che Nachkommenſchaft erzeugen koͤnnten, was fuͤr große
und fortdaurende Verwuͤſtungen in dem Reiche Gottes
haͤtten Sie, Herr Graf, dann nicht veranlaßt! “Mit
einer ſehr lebhaften Reue erkannte er ſich in allen dieſen
Stuͤcken ſchuldig. Seine Ausdruͤcke, ſeine Mienen,
ſeine Stellung ſchienen mich zu bitten, daß ich nicht weiter
fortfahren moͤchte.„
Wie manches junge, unerfahrne Frauenzimmer,
fuhr ich fort, werden Sie nicht auch verfuͤhrt haben? —
Wie vorſetzlich und mit was fuͤr niedrigen Kuͤnſten haben
Sie wohl nicht Religion, Ehre und Tugend bey dieſen
Opfern Jhrer Wolluſt unterdruͤckt? — Auch manche
gewiß zeitlich ungluͤcklich gemacht, ſie an vortheilhaften
Ehen gehindert, ſie in Verachtung und Armuth geſtuͤrzt?
“Jch kann es nicht laͤugnen, ich bin ein gefaͤhrlicher
Verfuͤhrer geweſen. Jch habe durch meine Grundſaͤtze
die Unſchuld oft betrogen. Auch gutdenkende Frauen-
zimmer habe ich uͤberwunden, und ſie noch dazu uͤber
ihre Vergehungen wieder beruhigt. Es war faſt keine,
an die ich mich wagte, im Stande mir in die Laͤnge zu
widerſtehen, wenn ſie ſich nicht gleich auf die Flucht be-
gab. Es fehlte mir nie an Liſt ſie zu uͤberwaͤltigen, doch
muß ich auch dieß ſagen, daß ich keiner etwas verſpro-
chen habe, das ich ihr nicht habe halten wollen. Ob ich
gleich that, was ich vermochte, um diejenigen, die durch
meine Verfuͤhrung aͤußerlich ungluͤcklich worden waren,
vor dem Elende der Armuth in Sicherheit zu ſetzen, ſo
iſt doch das nichts, um mich entſchuldigen zu koͤnnen.„
Viel-
[60]
Vielleicht haben Sie auch vaterloſe Kinder in
die Welt geſetzt, die nun aus Mangel der Erziehung der
Geſellſchaft zur Laſt werden koͤnnen, und in Gefahr ſind
zeitlich und ewig verlohren zu gehen. “Er bat mich hier,
mich eines gewiſſen zweyjaͤhrigen Kindes, welches ihm
zugehoͤre, anzunehmen, und fuͤr die Erziehung deſſelben
zu ſorgen.„ Jch hatte es kaum ausgeforſcht, ſo erhielt
ich ſchon die Nachricht, daß es geſtorben ſey. Jch fuͤhre
dieſen Umſtand an, weil er ein Beweis ſeiner Aufrich-
tigkeit iſt.
Auch eheliche Verbindungen, die doch nach dem
uͤbereinſtimmenden Urtheile aller geſitteten und ungeſitte-
ten Voͤlker heilig ſollen gehalten werden, werden Sie
ohne Zweifel zerriſſen haben? — Welch unerſetzliches
Unrecht iſt dadurch beyden Theilen wiederfahren! — Und
wie muß die Empfindung dieſes Unrechts den beleidigten
Theil betruͤbt haben? — Welche Gewiſſensangſt iſt die
Folge davon fuͤr die ungluͤcklichen Perſonen geworden,
die ſich von Jhnen haben verfuͤhren laſſen, oder kann es
noch werden? — Womit wollen Sie ſich entſchuldigen,
wenn [et]wa der Kummer oder die Verzweiflung des un-
ſchuldigen oder ſchuldigen Theils ihrer Geſundheit oder
ihrem Leben nachtheilig geworden waͤre? —
Sollte nicht durch dieſe Jhre Vergehungen der
eheliche Friede, das beſte Gluͤck haͤuslicher Geſellſchaften
vielfaͤltig geſtoͤrt worden ſeyn? “Oft, ſagt er hierauf,
haͤtte der leidende Theil ſein Unrecht nicht erfahren. Jn
einigen Faͤllen haͤtte er den Hausfrieden durch guten
Raht, den er den Verbrecherinnen gegeben, vielmehr
befoͤrdert. Mit dergleichen Entſchuldigungen habe er
ſich ſonſt befriedigt. Jtzt fuͤhre er ſie nicht in dieſer
Abſicht an.„
Muͤſſen
[61]
Muͤſſen nicht vielleicht durch Jhre Schuld recht-
ſchaffene Vaͤter Kinder ernaͤhren, von denen ſie nicht
uͤberzeugt ſeyn koͤnnen, daß ſie die ihrigen ſind? — Was
fuͤr Verwirrungen, Feindſchaften, Proceſſe koͤnnen nicht
dadurch, noch lange nach Jhrem Tode, in den Familien
verurſacht werden, die ruhig und gluͤcklich haͤtten bleiben
koͤnnen, wenn Sie ſie ungeſtoͤrt gelaſſen haͤtten?
Haben Sie nie unnatuͤrliche Mittel zur Befrie-
digung wolluͤſtiger Triebe gebraucht, oder um unange-
nehme und unerwartete Folgen derſelben abzuwenden?
“Jn ſeinen juͤngern Jahren habe er ſich freylich alles
erlaubt, wozu ihn ſeine Leidenſchaft getrieben: doch uͤber
den letzten Theil der Frage wiſſe er ſich unſchuldig.„
Und dieß war auch bey der ganzen heutigen Unterſu-
chung die einzige Anklage, gegen die er ſich zu verthei-
digen begehrte.
Jn welch Elend haben nun endlich dieſe Aus-
ſchweifungen Sie ſelbſt geſtuͤrzt? Vergeſſen Sie es, auf
eine kurze Zeit, wenn Sie koͤnnen, daß Sie Gott da-
durch aͤußerſt beleidigt, daß Sie ſo viel Unordnung in
der Welt angerichtet, und eine Menge von Menſchen auf
mancherley Art ungluͤcklich gemacht haben. Denken Sie
nur allein uͤber dieſe Frage nach: womit hat mich die
Wolluſt dafuͤr belohnt, daß ich ihr ſo unermuͤdet nachge-
gangen bin? Mit fluͤgtichen, ekeln Freuden, die Jhre
Begierden nie geſaͤttigt haben, hat ſie Sie belohnt, mit
Schande, Verachtung und Vorwuͤrfen von allen gutge-
ſinnten Menſchen, denen Jhr ſuͤndliches Leben bekannt
worden iſt, mit der ſchmerzlichſten Gewiſſensangſt, mit
dem furchtbaren Misfallen Gottes, mit Gefaͤngniß und
Banden, mit einem fruͤhzeitigen, ſchmachvollen Tode,
mit der aͤußerſten Gefahr einer ungluͤcklichen Ewigkeit.
Ueber-
[62]
Ueberlegen Sie endlich: wenn nun ich und je-
dermann ſo leben wollte, was wuͤrde aus dem menſchli-
chen Geſchlechte werden? “Jch habe mir thoͤrichterweiſe
eingebildet, die Geſellſchaft koͤnne dabey beſtehen. Die
Großen in Engelland und Frankreich, dachte ich, fuͤhren
ja eine ſolche ungebundene Lebensart.„ Aber, antwor-
tete ich, macht denn dieſe ungebundene zuͤgelloſe Lebens-
art der Großen in Engelland und Frankreich ihre Nation
gluͤcklich? Befinden ſie ſelbſt ſich ſo wohl dabey, als
ſich der Mittelſtand bey ſeiner gebundenern und geſetztern
Auffuͤhrung befindet? Und machen endlich dieſe Großen
die ganzen Geſellſchaften aus, oder ſind Sie nicht viel-
mehr nur ein kleiner, und, wenn es auf die Zahl an-
kommt, unbetraͤchtlicher Theil derſelben?
Jch habe es meinen Leſern ſchon vorhin geſagt,
daß der Graf Struenſee waͤhrend dieſer ganzen Unterre-
dung ſehr geruͤhrt und weich war. Jch ſah es ihm an,
wie empfindlich ihn der Anblick ſeines ſo uͤbel gefuͤhrten
Lebens nur von dieſer einen Seite demuͤthigte. Wie iſt
es doch moͤglich, ſagte er, als wir dieſe Gewiſſenspruͤ-
fung geendigt hatten, daß ich von meinen vorigen Grund-
ſaͤtzen ſo uͤberzeugt ſeyn, und mich ſo habe vergeſſen koͤn-
nen? Was muͤſſen ihm nicht noch fuͤr Vergehungen ins
Gedaͤchtniß gekommen ſeyn, die nicht mir, ſondern ſei-
nem Gewiſſen bekannt waren! Und wie hoch mußte nicht
die Summe ſeiner Suͤnden itzt vor ſeinen Augen anwach-
ſen, da er auf einmahl viele Jahre eines ausſchweifend
gefuͤhrten Lebens uͤberſah! Je ernſter er daruͤber nach-
dachte, und je genauer er ſich ſelbſt kennen lernte, deſto
beſſer war es fuͤr ihn. Jch forderte ihn deswegen auf,
in ſeiner Einſamkeit die ganze Kette ſeiner wolluͤſtigen
Synden noch einmahl durchzudenken. Um ihm dieſe Ar-
beit zu erleichtern gab ich ihm meinen Aufſatz davon, und
er verſprach mir uͤber alles ſorgfaͤltig nachzudenken, und
ſich
[63]
ſich durch die Schmerzen, die ihm das verurſachen wuͤr-
de, nicht davon abhalten zu laſſen. Er ſetzte auch die
Verſicherung hinzu, er wolle ſich gern vor Gott noch
fuͤr weit ſchlechter und boͤſer erkennen, als er ſelbſt es zu
ſeyn glaubte. Selbſtliebe und Vorurtheile koͤnnten ihn
ſonſt leicht verleiten partheiiſch in ſeinem Urtheil uͤber
ſich zu ſeyn.
Jch hatte ihm die beyden erſten Theile der Ge-
ſchichte der drey letzten Lebensjahre Jeſu mitgebracht,
und bat ihn, ſich nun den Mann, zu dem ihn, wie ich
zum Voraus ſaͤhe, das Gefuͤhl ſeines Elendes gewiß noch
treiben wuͤrde, von der hiſtoriſchen und moraliſchen Seite
nach und nach bekannt zu machen. Er verſicherte mich,
daß er die Sittenlehre des Chriſtenthums ſehr hochſchaͤtz-
te, und ſie eines goͤttlichen Urſprungs wuͤrdig hielte; er
befuͤrchtete aber ſehr, ſeine Zweifel gegen die Geheimniſſe,
fuͤr die die Religion ſeinen Glauben fordern wuͤrde, moͤch-
ten ihn verhindern, von ihrer Wahrheit uͤberzeugt zu
werden. Doch verſpraͤche er mir, daß er allen Fleiß
anwenden wolle, um noch zur Ueberzeugung davon zu
gelangen. Wenn Sie das wuͤrklich thun wollen, ant-
wortete ich, ſo verſpreche ich Jhnen im Vertrauen auf
die Kraft der Wahrheit und auf die Gnade Gottes, daß
Jhre Bemuͤhungen nicht vergeblich ſeyn werden. Sie
werden bald ſehr vernuͤnftige Urſache finden ſich uͤber
Jhre Zweifel zu beruhigen. Sie wiſſen, was ich Jh-
nen ſchon daruͤber geſagt habe. Wenn Sie an Jhren
Zweifeln nur kein Wohlgefallen haben, wenn Sie ſie
nur nicht aus Feindſeeligkeit gegen die Wahrheit fortſetzen
und ernaͤhren, wenn Sie nur dagegen Jhren moͤglichſten
Fleiß anwenden, ſich die Beweiſe des Chriſtenthums be-
kannt zu machen und ihre Staͤrke zu empfinden, ſo wer-
den Sie bald die Nichtigkeit dieſer Zweifel wahrnehmen,
oder doch wenigſtens einſehen, daß ſie viel zu ſchwach
ſind
[64]
ſind die Gruͤnde der Religion umzuſtoßen. Sie ſchaͤtzen
itzt ſchon die Sittenlehre des Chriſtenthums hoch, und
halten ſie fuͤr wuͤrdig eines goͤttlichen Urſprungs. Wenn
denn nun mit dieſer Moral einige theoratiſche Lehren
verbunden ſind, die Sie nicht begreifen koͤnnen, finden
Sie denn die Forderung unvernuͤnftig, daß Sie dieſe Leh-
ren, wegen der genauen Verbindung, in der ſie mit der
Moral Jeſu ſtehen, gegen die Sie nichts einzuwenden
haben, annehmen ſollen? Derjenige, der Sie eine ſo
vortreffliche Moral lehrt, und fuͤr dieſe unbegreiflichen
Lehrſaͤtze zugleich Jhren Glauben fordert, muß doch
wohl ſeine guten Urſachen dazu haben, daß er beydes
mit einander verbindet. Was haben Sie fuͤr Grund zu
befuͤrchten, daß er Sie vielleicht hintergehen wolle. Ein
Betruͤger und zugleich der vortrefflichſte Sittenlehrer, fin-
den Sie dieſe beyden Charactere zu gleicher Zeit in einer
Perſon vertraͤglich? — Dazu kommt noch dieß. Jn der
Ewigkeit werden die Finſterniſſe verſchwinden, welche
hier gewiſſe Wahrheiten der Religion verhuͤllen. Dort
wird alles Licht werden. Und dieſer Ewigkeit, Herr
Graf, ſind Sie ſehr nahe. Wenn Sie denn nun auch
mit einigen Zweifeln, die Sie noch dazu ungerne haͤtten
und deren Sie ſich nicht erwehren koͤnnten, in die andre
Welt eingiengen, ſo duͤrfte ich zur Gnade Gottes hoffen,
daß ſie Sie nach Jhrer Zeit und Aufrichtigkeit beurthei-
len wuͤrde. Und dann wuͤrden dieſe Zweifel, durch die
darauf gewiß erfolgende richtigere und vollſtaͤndigere Ein-
ſicht bald gehoben werden.
Er verlangte nun meine Erklaͤrung uͤber einige
Zweifel zu wiſſen, die ihn eben itzt beunruhigten. Der
erſte war der Mangel der Lehre von der Unſterblichkeit
in den Schriften Moſis. Vorausgeſetzt, ſagte ich,
daß in Moſis Buͤchern gar keine gewiſſe Spuren von
dieſer Lehre angetroffen werden, vorausgeſetzt auch, daß
Moſis
[65]
Moſes in ſeinem muͤndlichen Unterricht ihrer nie Erwaͤh-
nung gethan hat, ſo folgt doch aus dieſem Stillſchwei-
gen weder dieß, daß dieſe Lehre den Juden ganz unbe-
kannt geweſen und geblieben iſt, noch dieſes, daß die
Wahrheit der Sache ſelbſt dadurch zweifelhaft wird. Sie
wiſſen, das juͤdiſche Volk hatte in Egypten in der Unter-
druͤckung gelebt, und ohne Zweifel die Religionskennt-
niſſe ſeiner Vaͤter groͤßtentheils verlohren. Es fieng nun
an unter Moſe ſich zu einem Volke zu bilden, es war in
ſeiner Kindheit, und beſtand aus lauter rohen und ſinn-
lichen Leuten. Konnte nun Gott nicht hinlaͤngliche Ur-
ſache haben, dieſen Leuten, weil er ſie noch unfaͤhig fand,
ſich zur Betrachtung ſo hoher Wahrheiten zu erheben,
die Lehre von der Unſterblichkeit der Seele vors erſte
noch nicht eroͤffnen zu laſſen? Sie werden uͤberhaupt
finden, daß Gott in ſeinen Offenbahrungen ſtufenweiſe
fortgegangen iſt, und die Menſchen durch die vorherge-
henden zu den nachfolgenden zubereitet hat. Und das
war ja ſeiner Weisheit gemaͤß. Die ſpaͤtern bibliſchen
Buͤcher enthalten allerdings Beweiſe und Spuren von
dieſer Lehre, die in Moſis Schriften vermißt zu wer-
den ſcheint. Und der Geiſt der juͤdiſchen Religion laͤßt
uns auch meiner Einſicht nach nicht daran zweifeln,
daß ſie wenigſtens den verſtaͤndigen Juden bekannt ge-
weſen iſt.
Sein anderer Zweifel betraf die Lehren, daß
Chriſtus Gottes Sohn, und in dem einigen goͤttlichen
Weſen drey Perſonen ſeyn ſollen. Jch ſagte hieruͤber
weiter nichts, als daß ich mich itzt noch nicht auf dieſe
Einwuͤrfe einlaſſen koͤnnte, weil ihre Widerlegung rich-
tige bibliſche Vorſtellungen von dieſen Geheimniſſen vor-
ausſetzten, die ich itzt noch nicht bey ihm vermuthen
koͤnnte. Jnzwiſchen moͤchte er vorlaͤufig dieß bedenken,
daß dieſe geheimen Lehren nicht anders haͤtten offenbahrt
Ewerden
[66]
werden koͤnnen, als durch ſolche Worte aus der Sprache
der Menſchen, die unter allen moͤglichen am beſten ge-
ſchickt waͤren, die Sache ſelbſt unſerer Vorſtellung ſo
nahe zu bringen, als es moͤglich waͤre. Nun muͤßten
wir uns aber huͤten, daß wie nicht dieſe Worte, in der
ganzen Ausdehnung ihrer Begriffe und mit allen ihren
Nebenbegriffen, auf die geoffenbahrte Wahrheit anwen-
deten. Wer dieſe Vorſicht nicht brauchte, der faͤnde in
den Geheimniſſen der chriſtlichen Religion Widerſpruͤche,
die doch in ihnen ſelbſt nicht vorhanden waͤren.
Sechſte Unterredung, den 12ten Maͤrz.
Jch fuͤhrte nun den Grafen Struenſee zu der zwoten
Hauptquelle ſeiner Vergehungen, welche ich in ſei-
nem Ehrgeiz entdeckt zu haben glaubte. Wir legten die-
ſen Begriff des Ehrgeizes zum Grunde: er beſtehe in
einer unmaͤßigen Begierde nach aͤußerlicher Ehre, und
alſo auch nach allem, was die aͤußerliche Ehre befoͤrdern
kann, ohne von der Tugend, dem einzigen wuͤrdigen
Mittel wahrer Ehre abzuhaͤngen, z. Ex. Gewalt, Pracht,
hohen Ehrenſtellen u. ſ. w. Die Unmaͤßigkeit dieſer Be-
gierde beſtimmen wir nach eben den Regeln, nach wel-
chen vorher die Unmaͤßigkeit der Begierde nach ſinnlichen
Vergnuͤgungen beurtheilt worden war. Jch uͤberließ es
ihm nun ſelbſt zu entſcheiden, ob ihn nicht dieſe ſeine un-
gluͤckliche Neigung, beſonders in den letzten Jahren ſei-
nes Lebens, zu folgenden Vergehungen gegen Gott, die
menſchliche Geſellſchaft, und ſich ſelbſt verleitet habe.
Sie haben ſich zu hohe Vorſtellungen von Jh-
rem Verſtande und von der Guͤte Jhrer Abſichten ge-
macht, welche Sie doch nur am Ende als Mittel Jhrer
Hauptleidenſchaft begehrten. “Er ſey ſo thoͤricht gewe-
ſen, ſich von jemand, der zu viel auf ihn gehalten habe,
uͤber
[67]
uͤberreden zu laſſen, ſein Verſtand ſey ſo groß, daß er
alles, was je durch einen Menſchen moͤglich ſey, zu
Stande bringen koͤnne. Er ſey durch die Meynung des
Helvetius, den er fleißig geleſen habe, daß, da alle
Menſchen einerley Organiſation haͤtten, jeder zu allem
dem faͤhig ſeyn muͤſſe, wozu jeder andre faͤhig waͤre,
geneigt gemacht worden, das zu glauben. Von der
Guͤte ſeiner Abſichten habe er ſich auch uͤberzeugt gehal-
ten, ob er gleich itzt geſtehen muͤſſe, daß er nach ſehr ver-
werflichen Bewegungsgruͤnden gehandelt habe, und ſein
letzter Zweck nur ſeyn Vergnuͤgen geweſen ſey.
Sie haben alſo auch wohl ohne Zweifel andere,
und unter ihnen wuͤrdige und vortreffliche Leute, die Jh-
nen im Wege ſtunden, in Gedanken, auch wohl in
Geſpraͤchen, unter ſich herabgeſetzt. — Wie werden Sie
nicht geſucht haben, die Verdienſte derſelben zu verklei-
nern, und durch was fuͤr unmoraliſche Mittel, z. Ex.
Verlaͤumdung, Vergroͤßerung ihrer Fehler, Beymes-
ſung boͤſer Abſichten, Spoͤttereyen u. ſ. w. — Auf
welchen unerlaubten Wegen haben Sie nicht ſich ſelbſt
zu erheben, und durch welche Suͤnden ſich auf Jhrer
Hoͤhe zu erhalten geſucht? — Wie viele Menſchen haben
Sie ungluͤcklich gemacht, oder doch wenigſtens beleidigt,
um Jhren Ehrgeiz zu befriedigen? — Zu welcher Haͤrte
und Ungerechtigkeit haben Sie ſich dadurch, ungeachtet
das natuͤrliche Gefuͤhl Jhres Herzens Jhnen widerſprach,
verleiten laſſen! —
Mit welchem Eigenſinn haben Sie oft Jhre
Meynungen durchgeſetzt, und Perſonen, die die Ge-
ſchaͤffte und den Vortheil des Staats beſſer kannten, als
Sie, durch Jhre Gewalt gezwungen, Jhnen Recht zu
laſſen, ob Sie gleich einſahen, oder einſehen konnten,
daß Sie Unrecht haͤtten?
E 2Was
[68]
Was fuͤr gewaltſame und gefaͤhrliche Anſtalten
haben Sie gemacht, um ſich in Jhrer Groͤße zu erhal-
ten? — Wie haben Sie dadurch die Unterthanen des
Koͤnigs, beſonders in der Hauptſtadt, in Gefahr geſetzt?
“Er habe ſich freylich zu erhalten und zu befeſtigen ge-
ſucht, und deswegen dieſe Verfuͤgungen getroffen. Daß
ſie aber gefaͤhrlich werden koͤnnten, habe er ſich nicht
vorgeſtellt, weil ihm Beyſpiele bekannt geweſen, daß
bloß durch den Anblick ſolcher Anſtalten oft drohende Un-
ruhen unterdruͤckt worden waͤren. Nun, da er die Um-
ſtaͤnde genauer uͤberlegt haͤtte, ſaͤhe er wohl ein, daß da-
durch viel Ungluͤck haͤtte verurſacht werden koͤnnen.„
Vielleicht ſind Sie auch, um Jhre Pracht hoch
zu treiben, Jhre Parthie zu vermehren, ſich vor kuͤnfti-
gen Faͤllen in Sicherheit zu ſetzen, mit dem Vermoͤgen
des Staats nicht gewiſſenhaft umgegangen. — Welchen
Stolz, welche Haͤrte haben Sie, zumahl in der letzten
Zeit, gegen diejenigen bewieſen, die beſonders von Jh-
nen abhiengen! — Was fuͤr Veranſtaltungen zur Pracht
machten Sie zuletzt, und wie unſchicklich war dieſe fuͤr
den Mann, der immer ſo ſehr gegen den Luͤxe declamirte,
und andere ſo bitter tadelte, die nicht aus dem Vermoͤ-
gen des Staats ſondern aus ihren eigenen Mitteln Auf-
wand gemacht hatten!
Auf welch einen gefaͤhrlichen Poſten haben Sie
ſich geſetzt, und welch eine geſetzwidrige und der Conſti-
tution des Reichs nachtheilige Gewalt ſich angemaßt! —
Wie ſehr ſich durch Jhren Ehrgeiz verblenden laſſen, die
Gefahr, in der Sie ſich befanden, entweder nicht zu
ſehen, oder nicht zu achten! — Wie ſehr die wahre er-
laubte Ehrliebe verkannt, die die aͤußerliche Ehre nicht
um ihrer ſelbſt willen, als eine Abſicht, ſondern in ſo
ferne ſie eine Folge des Verdienſtes und der Tugend iſt,
zu erlangen ſucht! —
Wie
[69]
Wie groß iſt nun nicht das Elend, in welches
Sie durch Jhre Ambition gerahten ſind! Wie tief ſind
Sie bloß deswegen gefallen, weil Sie viel zu hoch geſtie-
gen waren! — Sind Sie nicht Gott Rechenſchaft dafuͤr
ſchuldig, daß nun Jhr Leben in der Bluͤte Jhrer Tage
durch Jhre Schuld verkuͤrzt wird, daß durch Jhren
fruͤhzeitigen Tod alles das Gute verlohren geht, welches
Sie bey einem laͤngern Leben und einer beſſer geordneten
Liebe zur Ehre, haͤtten ſtiften ſollen und koͤnnen? — —
Wolluſt und Ehrgeiz waren die beyden Hauptnei-
gungen des Grafen geweſen: ein großer Leichtſinn hatte
die Ausbruͤche dieſer beyden Leidenſchaften begleitet, und
ſie fuͤr ihn ſelbſt und fuͤr andere weit gefaͤhrlicher gemacht,
als ſie ſonſt haͤtten werden koͤnnen. Jch hielt mich des-
wegen fuͤr verbunden, ihm noch zu zeigen, wie viel er
ſich auch aus dieſem Grunde vorzuwerfen habe, daß er
ohne Nachdenken und Ueberlegung in ſeinen Urtheilen
und Entſchließungen zugefahren ſey. Der Leichtſinn, ſo
fieng ich dieſe Unterſuchung an, iſt keine beſondere Nei-
gung, ſondern eine Art zu denken und zu handeln, die
faſt immer bey denen herrſcht, die ſich von heftigen Be-
gierden leiten laſſen, und die eben durch dieſe Heftigkeit
der Begierden veranlaßt wird. Er beſteht in der Ge-
wohnheit, alles ohne Bedenken zu glauben und zu thun,
was den Begierden gefaͤllt, ohne die Wahrheit der Mey-
nungen oder die Folgen der Thaten ſorgfaͤltig und hinrei-
chend zu unterſuchen. Der Leichtſinnige ſetzt ſich uͤber
alles hinaus, was ſeinen herrſchenden Neigungen wider-
ſpricht, und erkennt keine andre Bewegungsgruͤnde zu
ſeinen Handlungen fuͤr guͤltig, als diejenigen, die ſie
ihm geben. Dieſer Leichtſinn, deſſen Sie ſich ſelbſt ſchul-
dig erkennen, hat Sie ohne Zweifel zu folgenden und
aͤhnlichen Vergehungen verleitet.
E 3Jn
[70]
Jn derjenigen Sache, worin Sie ſich am aller-
wenigſten haͤtten uͤbereilen ſollen, in der Pruͤfung und
Wahl Jhrer Religion, haben Sie dieſen Fehler began-
gen. Jch weiß gewiß, Sie haben das Chriſtenthum
nicht unterſucht, noch die Beweiſe deſſelben durchgedacht.
Sie ſind zufrieden geweſen, einige Schriften der Wider-
ſacher deſſelben geleſen zu haben. Auf den einſeitigen Aus-
ſpruch dieſer partheiiſchen Richter, noch mehr aber, weil
Sie ſchon zum Voraus dazu entſchloſſen oder doch we-
nigſtens geneigt waren, eine Lehre zu verwerfen, die
Jhren Begierden widerſprach, haben ſie dieſe wohlthaͤ-
tige Religion verlaͤugnet.
Eben ſo leichtſinnig werden Sie auch in Jhren
Ausſpruͤchen uͤber die Religion geweſen ſeyn. Unterſu-
chen Sie, ob Sie nicht mit dieſer ehrwuͤrdigſten Sache
in der Welt Jhren Spott getrieben, ob Sie ſich nicht
bemuͤht haben, andern Jhre Meynungen mitzutheilen,
und, wenn das geſchehen iſt, was das fuͤr dieſe fuͤr ge-
faͤhrliche Folgen gehabt hat, oder noch haben kann. “Er
koͤnne es freylich nicht laͤugnen, daß die Religion oft ein
Gegenſtand ſeiner Spoͤttereyen geweſen ſey. Doch habe
er dieſen Leichtſinn wohl nur mehrentheils in Gegenwart
ſolcher Perſonen begangen, die ſchon gegen die Religion
eingenommen geweſen waͤren. Proſelyten habe er nicht
zu machen geſucht, aber doch ſeine Jrreligion nicht ver-
hehlt. Er erkenne ſich in dem allen vor Gott und ſei-
nem Gewiſſen ſtrafwuͤrdig.„
Mit welchem Leichtſinn haben Sie uͤber Gott
gedacht, ihn fuͤr einen Schoͤpfer gehalten, der ſich um
ſeine Schoͤpfung nicht bekuͤmmere, dem Tugend und
Laſter, Gluͤck und Ungluͤck der Menſchen gleichguͤltig,
und der alſo ohne Weisheit und Guͤte, und kein Vater
ſeiner Kinder, ſey! — Eben ſo unanſtaͤndig, haben Sie
die
[71]
die Tugend nur fuͤr ein Mittel gehalten die Begierden zu
befriedigen, nicht fuͤr Pflicht der Verehrung und des
Gehorſams gegen Gott; und die Gluͤckſeeligkeit in die
Befriedigung bloß thieriſcher Triebe geſetzt! Wie leicht
haͤtten Sie Jhren Jrrthum entdecken koͤnnen, wenn Sie
ſich nur die Muͤhe haͤtten geben wollen nachzudenken!
Die ehrwuͤrdigſte und edelſte Beſtimmung des
Menſchen zur Ewigkeit haben Sie mit Wohlgefallen in
Zweifel gezogen, ja ſich ein angelegentliches Geſchaͤfft
daraus gemacht, ſichs zu beweiſen, daß die Erwartung
der Zukunft nach dem Tode ein Traum ſey, welche, wenn
Sie auch nur in der Einbildung beſtuͤnde, doch ſchon
wegen ihres Einfluſſes auf die irdiſche Gluͤckſeeligkeit des
Menſchen, ſehr wichtig waͤre. “Ja, ſagte er, ſie iſt
allerdings in jedem Falle fuͤr Tugend und Gluͤckſeeligkeit
eine ſehr wichtige Sache!„
Leichtſinnig, Herr Graf, haben Sie uͤberhaupt
gedacht und gehandelt, nicht uͤberlegt, was Jhre Unter-
nehmungen fuͤr Folgen haben koͤnnten oder wuͤrden, ſich
eingebildet, daß Sie wenigſtens die naͤchſten dieſer Fol-
gen in Jhrer Gewalt haͤtten, und die entferntern ohne
Bedenken dem Zufall uͤberlaſſen duͤrften, und ſich bloß
dem Raht und Eindruck ſinnlicher Triebe anvertraut.
Mit einem Leichtſinn, von dem man ſchwerlich
ein Beyſpiel kennt, haben Sie ſich ans Ruder des Staats
geſetzt. Wie konnten Sie ſich dazu fuͤr geſchickt halten?
Vielleicht hatten Sie durch Jhre Lectuͤre einige gute
Grundſaͤtze der Regierungskunſt geſammlet: aber Sie
wiſſen, jede Kunſt, jedes noch ſo kleine und leichte Hand-
werk, erfordert gewiſſe Handgriffe, die man nur nach
und nach durch die Uebung lernen kann, und dieſe Ue-
bung hatten Sie nicht. — Mit welcher Uebereilung
E 4haben
[72]
haben Sie die Geſchaͤffte verwaltet, ohne Kenntniß der
Geſetze, der Sprache, des Ganzen, der einzelnen Theile,
ohne ſich um die Kenntniß aller dieſer Dinge zu bemuͤ-
hen, ohne ſich die noͤthige Zeit zu den Geſchaͤfften zu
nehmen, und im beſtaͤndigen Geraͤuſche der Zerſtreuun-
gen! Jch bitte Sie, Herr Graf, uͤberlegen Sie, wie
wichtig an ſich ſelbſt die irdiſche Gluͤckſeeligkeit einiger
Millionen Menſchen iſt, wie wichtig ſie Gott, dem Va-
ter der Menſchen, ſeyn muß! —
Leichtſinnig haben Sie Geſetze gegeben, ohne
zu unterſuchen, was ſie fuͤr die Nation, der Sie ſie ga-
ben, fuͤr Folgen haben koͤnnten. — Auf eine bloß eilfer-
tige Wahrnehmung einiger Maͤngel haben Sie faſt alle
alten Einrichtungen des Staats umgeſtuͤrzt; nicht uͤber-
legt, ob ſie nicht ſo feſt ins Ganze eingefugt waͤren, daß
ſie nicht ohne Gefahr des ganzen Gebaͤudes herausgeriſſen
werden koͤnnten; nicht bedacht, daß Jhre neuen Einrich-
tungen noch groͤßere Maͤngel nach ſich ziehen koͤnnten,
und gewiß mit der Zeit nach ſich ziehen wuͤrden. — Mit
eilfertiger Entſchließung haben Sie Bediente des Staats
gewaͤhlt, oft und mehrentheils ohne ſie zu kennen, ohne
von Jhrer Faͤhigkeit und Treue gewiß zu ſeyn, und zu
ſehr haben Sie ſich gleichwohl auf ſie verlaſſen. Eben
ſo unuͤberlegt haben Sie rechtſchaffene, allgemein fuͤr
ſehr brauchbar erkannte Leute von den Geſchaͤfften ent-
fernt, um in Jhren Unternehmungen keinen Widerſtand
von ihnen befuͤrchten zu duͤrfen, oder, weil Sie ihre
Plaͤtze fuͤr andre Perſonen beſtimmt hatten, die Sie fuͤr
Jhre Freunde hielten. Oft haben Sie das Ungluͤck der
Familien, deren Vaͤtern Sie ihre Aemter nahmen,
in einem Augenblicke entſchieden, und es nicht em-
pfunden, wie ſehr das dieſe Unſchuldigen betruͤbt ha-
ben muͤſſe. —
Leicht-
[73]
Leichtſinnig haben Sie uͤber die Sitten gedacht,
es zum Grundſatz angenommen, daß die Regierung ſich
darum nicht zu bekuͤmmern haͤtte, und durch Beyſpiele,
Darbietung verfuͤhreriſcher Gelegenheiten, ja gar durch
Geſetze und oͤffentliche Anordnungen das Verderben der
Sitten befoͤrdert. — “Er habe geglaubt, die Sitten
ſtuͤnden allein unter der Aufſicht der Geiſtlichen. Uebri-
gens habe er die Geſinnungen der Nation nach den ſeini-
gen beurtheilt, und ſich vorgeſtellt, daß jedermann, ſo
wie er, das Vergnuͤgen und eine ganz ungebundene Le-
bensart fuͤr ſeine ganze Gluͤckſeeligkeit hielte.„
Die Nation, die Sie regieren wollten, und alſo
lieben und ehren mußten, haben ſie vielmehr geringe-
geſchaͤtzt und verachtet. — Mit Gleichguͤltigkeit das
Elend angeſehen und die Nahrloſigkeit, die ſich waͤhrend
Jhrer Adminiſtration aus ſehr begreiflichen Urſachen,
beſonders ſichtbar in der Hauptſtadt, verbreitet hat. —
“Er haͤtte das freylich wohl wahrgenommen, waͤre auch
nicht ſo ganz gleichguͤltig dabey geweſen, ſondern haͤtte
darauf gedacht, wie etwa neue Quellen der Nahrung
eroͤffnet werden koͤnnten.„
Sie haben endlich das allgemeine Misvergnuͤgen
geſehen und empfunden. Sie ſind von Freunden und
Feinden gewarnet worden. Aber Sie achteten das alles
nicht, weil Jhre herrſchenden Begierden Jhnen kein
ernſtliches Nachdenken verſtatteten. — “Er habe ſich
immer mit der Hoffnung hingehalten, daß dieſe Unzu-
friedenheit ſich endlich legen, und ſeine Maaßregeln ihn
in Sicherheit ſetzen wuͤrden.„ — —
So ernſtlich und demuͤthigend dieſe Vorwuͤrfe
waren, ſo bemerkte ich doch an dem Grafen nicht die
geringſte Empfindlichkeit daruͤber. Etwas weniges ſagte
E 5er
[74]
er hin und wieder zu ſeiner Entſchuldigung, auf welches
ich mich aber nicht einlaſſen konnte, weil es Dinge betraf,
die außer meinem Geſichtskreiſe lagen, und uͤber die ich
nicht unterrichtet war. Seine politiſchen Einſichten zu
berichtigen, hatte ich weder Beruf noch Faͤhigkeit, und
ich durfte hoffen, daß ſein eignes Nachdenken, und die
Empfindung der Folgen, die ſeine Fehlſchluͤſſe in dieſem
Stuͤcke fuͤr ihn ſelbſt hatten, ihn von ſeinen Jrrthuͤmern
in der Staatswiſſenſchaft zuruͤckbringen wuͤrden. We-
nigſtens fand ich ihn voller Reue uͤber das Ganze, wenn
er gleich ſein Betragen in einem oder dem andern einzel-
nen Falle fuͤr nicht ſo ſehr unfaͤhig entſchuldigt zu wer-
den halten mochte. Er bezeugte ſie mir ausdruͤcklich,
und aͤußerte ſo gar Bekuͤmmerniß daruͤber, daß ſie noch
nicht ernſtlich genug ſeyn moͤchte, daß ſie wenigſtens
uͤber einige ſeiner Vergehungen ſtaͤrker und anhaltender
ſey, als uͤber andere. Jch antwortete ihm hierauf, daß
mir dieſer ſein Zweifel an der Ernſtlichkeit ſeiner Reue
ſehr lieb ſey. Jch ſaͤhe ihn als einen Beweis ſeiner Auf-
richtigkeit an. Jch mußte aber doch zu ſeiner Beruhi-
gung ſagen, daß ich ihn bisher von einer Unterredung
zur andern immer mehr erweicht faͤnde. Er moͤchte ſich
erinnern, daß er anfaͤnglich nur Eine empfindliche Seite
gehabt haͤtte. Jtzt waͤre die Wunde ſeines Gewiſſens
ſchon groͤßer und ſein Schmerz ausgebreiteter und allge-
meiner. Ueber dieſes waͤre es natuͤrlich und der Sache
gemaͤß, daß er uͤber einige ſeiner Vergehungen bekuͤm-
merter waͤre, als uͤber andere, denn jene waͤren etwa
die groͤßeſten, uͤber die er ſich ſelbſt gar keine Entſchuldi-
gung zu erſinnen wuͤßte, und die auch die traurigſten
Folgen haͤtten. Wenn er fortfuͤhre ſeine Suͤnden unpar-
theiiſch und mit ihren betruͤbten Folgen, ſo weit er ſie in
Gedanken verfolgen koͤnnte, zu erwaͤgen, und dann beſon-
ders die Liebe Gottes gegen ihn und ſeine Undankbarkeit
gegen Gott dagegen zu halten, und dieſe daraus zu beur-
theilen,
[75]
theilen, ſo zweifelte ich nicht, daß ſeine Reue ſo lebhaft
und allgemein werden wuͤrde, als es zu einer wahren
Buße noͤthig waͤre. Von der Liebe Gottes gegen ihn
wuͤrde er in ſeinem Leben viele Beweiſe finden. Unter
andern koͤnnte er ſie daraus erkennen, daß Gott ihm hier
noch in ſeinem Gefaͤngniſſe Zeit und Gelegenheit zur
Bekehrung goͤnnte. Wie leicht haͤtte er durch einen
Meuchelmord, der ihm ſo oft gedroht worden, und ſo
leicht zu vollziehen geweſen waͤre, koͤnnen hingeriſſen
werden, wie unwiederbringlich waͤre dann ſein Heil ver-
lohren geweſen! u. ſ. w.
Seit unſerer letzten Unterredung hatte der Graf
die beyden erſten Theile der Geſchichte Jeſu geleſen. Jch
fragte ihn nun, wie ihm der Mann gefiele? Seine Mo-
ral, antwortete er, und ſein perſoͤnliches Verhalten iſt
vortrefflich. Jene iſt unſtreitig fuͤr die Menſchen in allen
Staͤnden die beſte Anweiſung zur Gluͤckſeeligkeit. Jch habe
zwar hin und wieder etwas gefunden, das ich nicht ver-
ſtehe, und das vermuhtlich aus den Sitten und andern
Umſtaͤnden der damaligen Zeit erklaͤrt werden muß. Aber
es iſt mir auch vieles vorgekommen, das mir ſehr ans
Herz gedrungen iſt. Es hat mich ſehr gedemuͤthigt, daß
ich hier vieles wiederfinde, was ich in meiner Jugend
aus der Bibel gelernt, aber nachher geglaubt habe an-
dern Buͤchern verdanken zu muͤſſen. Dieſe gute Mey-
nung, ſagte ich hierauf, die Sie von der Perſon und
der Sittenlehre Jeſu haben, muß Jhnen ſchon ein gut
Vorurtheil fuͤr die mit ſeiner Moral verbundenen That-
ſachen und Lehrſaͤtze erwecken. Sagen Sie mir, finden
Sie es wahrſcheinlich, daß der Mann, der eine ſo vor-
treffliche Sittenlehre predigte; der alles, was je die Phi-
loſophen brauchbares uͤber das Thun und Laſſen der
Menſchen, in tauſend Buͤchern zerſtreut, geſagt haben,
in einer fruchtbaren Kuͤrze, mit ſo vieler Einfalt und
Deut-
[76]
Deutlichkeit, aber auch zugleich mit ſolcher Hoheit und
Wuͤrde vorgetragen hat; der ſelbſt ſeiner Moral ſo ſehr
gemaͤß handelte; und, dieß ſetzte er ſelbſt hinzu, der das
alles ohne den mindeſten Eigennutz that, und ſo gar ſein
Leben fuͤr die Wahrheit, die er predigte, aufopferte:
ſagen Sie mir, finden Sie es wahrſcheinlich oder auch
nur glaublich, daß dieſer Mann die Welt habe hinterge-
hen wollen, daß er ihr Blendwerke fuͤr Wunder aufge-
drungen, oder ſich fuͤr einen Geſandten Gottes ausgege-
ben habe, der ihr geheime Wahrheiten bekannt machen
ſolle, wenn er es doch nicht geweſen waͤre? Nein, ant-
wortete er, das iſt nicht wahrſcheinlich.
Von der Wahrſcheinlichkeit zu der in dieſer Sa-
che moͤglichen Gewißheit iſt noch ein ziemlicher Weg.
Jch will Jhnen nun ſagen, wie ich glaube, daß Sie
denn aufs kuͤrzeſte und ſicherſte zuruͤcklegen koͤnnen. Jch
muß noch einmahl mit Jhnen uͤber Jhre Vergehungen
reden. Wenn ich dann Jhnen Jhre moraliſche Geſtalt
gezeigt haben werde, wie ich glaube, daß ſie iſt, ſo will
ich es Jhnen ſelbſt uͤberlaſſen, Jhre Vernunft zu fragen,
ob ſie Jhnen ein zuverlaͤſſiges Mittel zur Beruhigung
Jhres Gewiſſens und zur Verſicherung, daß Gott Sie
begnadigt habe oder begnadigen werde, entdecken koͤnne.
Finden Sie dann, daß Jhre Vernunft Sie huͤlflos laͤßt,
und daß ich, der ich Jhnen dieß zum Voraus ſage,
recht darin habe, ſo bleibt Jhnen nichts uͤbrig, als daß
Sie das einzige Mittel ergreifen, das in der Welt be-
kannt, und von vielen einſichtsvollen und rechtſchaffenen
Leuten bewaͤhrt erfunden worden iſt. Ja, ſagte er, das
iſt wahr. Dann aber, fuhr ich fort, ſollen Sie dieß
Mittel noch nicht auf meine und andrer Menſchen Auto-
ritaͤt ſo ungepruͤft annehmen. Das wuͤrde ich Jhnen
zumuhten, wenn Gott die Offenbahrung nicht mit Be-
weiſen verſehen haͤtte. Aber ſie hat ſo uͤberzeugende
Beweiſe,
[77]
Beweiſe, daß jeder der ſeine Vernunft gewiſſenhaft brau-
chen will, und nur nicht beſchloſſen hat, der Wahrheit
zu widerſtehen, nothwendig die Wahrheit finden muß.
Zweene Wege ſind uͤberhaupt zur Gewißheit von
der chriſtlichen Religion vorhanden. Der erſte und ſicher-
ſte iſt eine fortdaurende Ausuͤbung der Vorſchriften Jeſu.
Hier wird der Menſch bey dem Gebrauch der Mittel von
ihrer Wuͤrkſamkeit durch ſeine eigne Erfahrung uͤberzeugt.
So erfaͤhrt es der Fieberkranke, wenn er die Rinde in
der gehoͤrigen Ordnung braucht, daß ſie ein vortreffliches
Mittel gegen ſeine Krankheit iſt. Demonſtriren kann
ihm der Arzt es nicht, daß ſie dieſe Wuͤrkung haben werde
und muͤſſe; anderer Erfahrungen kann er ihm vorlegen:
aber die eigne des Kranken giebt dieſem erſt die voͤllige
Gewißheit. Eben ſo kann ich Jhnen keine Demonſtra-
tion davon vorlegen, daß der Gebrauch der Mittel, die
Jhnen Jeſus anpreiſt, oder die treue Befolgung ſeiner
Vorſchriften, Jhr Gewiſſen beruhigen und Sie von Jh-
rer Begnadigung bey Gott gewiß machen werde. Jch
kann mich nur auf meine und anderer Chriſten Erfahrung
davon berufen. Die voͤllige Gewißheit muß Jhnen Jhre
eigne Erfahrung geben, und die ſetzt dann die richtige
Anwendung der Mittel voraus, die Jhnen das Chriſten-
thum darbietet. Wenn Sie dann nun ſelbſt empfuͤnden,
daß Jhr Glaube und Jhr Gehorſam Sie beruhigte,
Sie mit Vertrauen auf Gott, mit Hoffnung einer gluͤck-
lichen Ewigkeit, mit Staͤrke zum Guten erfuͤllte, ſo
wuͤrden Sie durch Jhre eigne Erfahrung von der Wahr-
heit des Chriſtenthums ſo gewiß werden, daß Sie ſich
durch keinen Zweifel, auch wenn Sie ihn nicht heben
koͤnnten, wuͤrden irre machen laſſen. Wie weit Sie
nun auf dieſem Wege werden fortgehen koͤnnen, das wird
von der Zeit, die Jhnen Gott noch goͤnnen wird, und
von Jhrem Fleiß und Jhrer Aufrichtigkeit abhaͤngen.
Heil-
[78]
Heilſame Veraͤnderungen, deren Sie ſich bewußt ſeyn
werden, wird die Annahme und Befolgung des Evan-
gelii gewiß bey Jhnen wuͤrken. Und dadurch werden
Sie immer noch von der Wuͤrkſamkeit des Mittels, wo
durch ſie ſind hervorgebracht worden, uͤberzeugt wer-
den koͤnnen.
Der andere Weg, der wenigſtens von verſtaͤn-
digern Unterſuchern des Chriſtenthums zuerſt ſollte voll-
endet werden, iſt die Pruͤfung, ob ſich Jeſus wuͤrklich
als einen Geſandten Gottes erwieſen habe. Das konnte
er nicht anders, als durch eine goͤttliche Lehre oder durch
einen Antrag an die Menſchen, der Gottes wuͤrdig war,
und durch Wunder. Jenes geben Sie, in Abſicht auf
die Sittenlehre Jeſu, ſchon zu. Koͤnnte Jhnen nun be-
wieſen werden, daß Jeſus wuͤrkliche Wunder gethan
habe, ſo wuͤrden Sie ſo ſchließen muͤſſen: Wunder ſind
Wuͤrkungen, die die Kraͤfte eines Menſchen uͤberſteigen.
Hat Jeſus ſolche Wuͤrkungen hervorgebracht, ſo muß er
von einer hoͤhern Kraft dazu geſchickt gemacht worden
ſeyn. Dieſe hoͤhere Kraft kann keine andere ſeyn als die
goͤttliche. Gott wuͤrde ihm ſie aber nicht mitgetheilt ha-
ben, wenn er die Menſchen durch eine falſche Lehre haͤtte
hintergehen wollen. Alſo muß ſeine Lehre wahr ſeyn,
und ich bin verbunden ſie anzunehmen und zu befolgen.
Unter den Wundern, die Jeſu zugeſchrieben wer-
den, iſt ſeine Auferſtehung das groͤßeſte. Jſt dieſe erwie-
ſen, ſo folgt, daß alle uͤbrigen auch wahr ſind oder doch
ſeyn koͤnnen, und daß ſeine Lehre, auch die Geheimniſſe
in derſelben, kein Betrug ſeyn koͤnnen. Das iſt unſtrei-
tig, antwortete er. Nun wirds darauf ankommen, fuhr
ich fort, ob ſeine Auferſtehung erwieſen werden kann.
Jch thue wohl am beſten, ſagte er, daß ich das auf
Jhre Autoritaͤt annehme. “Nein, Herr Graf, meine
Auto-
[79]
Autoritaͤt kann Jhnen hoͤchſtens nur dieß beweiſen, daß
ich die Sache unterſucht und richtig befunden habe. Sie
muͤſſen feylich, da die Auferſtehung Jeſu eine Thatſache
iſt, und deswegen durch Zeugniſſe bewieſen werden muß,
ſich auf die Autoritaͤt verlaſſen. Aber dieſe Zeugniſſe
muͤſſen Sie ſelbſt pruͤfen. Jch will Jhnen in dieſer Ab-
ſicht ein Buch geben, das von einem Freygeiſt, der
durch die Unterſuchung der Auferſtehung Jeſu bewogen
ward ein Chriſt zu werden, geſchrieben iſt.„Er be-
zeugte uͤber dieſe Nachricht eine lebhafte Freude, die
mir ſeine Hoffnung bewies, daß er auch dadurch werde
uͤberzeugt werden. —
Jch gab ihm den dritten und vierten Theil der
Lebensgeſchichte Jeſu, und verließ ihn mit der beſten
Hoffnung.
Siebende Unterredung, den 14den Maͤrz.
Der Commendant der Citadelle, wo der Graf gefan-
gen ſaß, der Herr Generallieutenant von Hoben,
erzaͤhlte mir, daß jener ſeit meinem letzten Beſuch ſehr
unruhig geweſen ſey. Er war zu verſchiedenen mahlen
auf ſeinem Lager, denn er lag die ganze Zeit ſeiner Ge-
fangenſchaft herdurch beſtaͤndig auf einem Canapee,
ploͤtzlich in die Hoͤhe gefahren; er hatte dann wieder halbe
Stunden lang in ernſtem Nachdenken mit herunterhaͤn-
gendem Haupte gelegen, und mit tiefen Seufzern haͤufige
Thraͤnen vergoſſen. Bey meinem Eintritt ins Gefaͤngniß
traf ich ihn im Gellert leſend an, und leſend habe ich ihn
immer gefunden, ſo oft ich zu ihm gekommen bin. Alle
Vernunft, ſagte er, muͤßte ich verlohren haben, wenn
ich nicht geſtehen wollte, daß ich ſo haͤtte leben muͤſſen,
wie es in dieſem Buche gelehrt iſt. Ach haͤtte ich doch
in meinem Gluͤcke ſolche Buͤcher geleſen! Jch weiß
gewiß,
[80]
gewiß, ſie haͤtten mich uͤberzeugt und gebeſſert! Seine
Mienen druckten viel Betruͤbniß, Schaam und Unzufrie-
denheit mit ſich ſelbſt aus. Auf meine Frage, wie er
ſich befinde, antwortete er mir: Seit geſtern ſehr unru-
hig. Jch kann es nicht genug bereuen, daß ich ſo ſchlecht
gelebt, nach ſo boͤſen Bewegungsgruͤnden gehandelt,
und ſo uͤble Mittel angewendet habe. Meine itzigen Um-
ſtaͤnde und mein Tod ſelbſt bekuͤmmern mich eben nicht:
aber meine ſchlechten Handlungen! Und es iſt ſo ganz
unmoͤglich, daß ich einige Erſetzung des Schadens leiſten
koͤnne, den ich in der Welt verurſacht habe. Jch bitte
Sie, wehrter Freund, ermuͤden und verlaſſen Sie mich
nicht! — So ſehr mich ſeine innigſte Betruͤbniß ruͤhrte,
ſo war ſie ihm doch viel zu heilſam, als daß ich ſchon
haͤtte ſuchen duͤrfen ihn zu beruhigen. Jch verſicherte
ihn alſo nur, daß ich mit ſeiner Unruhe ſehr zufrieden
waͤre. Sie wuͤrde, wie ich zu Gott hoffte, ihn geneigt
machen, das einzige Mittel der Beruhigung zu ergrei-
fen, das ich ihm anzuzeigen wuͤßte. Er koͤnne freylich
wenig thun, um das Uebel, welches er verurſacht habe,
wieder wegzunehmen. Aber es ſey einer vorhanden,
der das bereits fuͤr ihn gethan habe. Zu dieſem
muͤſſe er, durch ſeine Gewiſſensangſt getrieben, ſeine Zu-
flucht nehmen. Wenn es nur nicht zu ſpaͤt iſt, ſagte er
hierauf. Haͤtten Sie, antwortete ich, bis auf den letz-
ten Tag Jhres Lebens Jhre Buße verſchoben, ſo wuͤrde
ich ſelbſt befuͤrchten, es ſey zu ſpaͤt, wenigſtens wuͤrden
Sie ſichs nicht haben beweiſen koͤnnen, daß Jhre Bekeh-
rung aufrichtig und wahr ſey. Nun aber haben Sie
noch Zeit Ueberzeugung von der Religion zu ſuchen und
zu finden, ſie mit williger Seele anzunehmen, und nach
ihren Vorſchriften zu denken und zu handeln. Zu ſpaͤt
iſt es alſo nicht, wenn Sie itzt nur noch eilen. Jch will
Jhnen als ein treuer Freund be[yſte]hen, und eher thaͤti-
ger zu jhrem Beſten werden, als ermuͤden. Jhre
Gefahr,
[81]
Gefahr, Herr Graf, und Jhre Furcht und Beſorgniß,
muntert mich dazu auf.
Jch hatte mir vorgenommen dießmahl noch uͤber
ſeine Vergehungen mit ihm zu reden, und ihm beſonders
diejenigen zu Gemuͤthe zu fuͤhren, die er gegen einzelne
Perſonen begangen, und deren ich bisher noch nicht
erwaͤhnt hatte. Jch fand auch nicht fuͤr gut dieſen mei-
nen Vorſatz fahren zu laſſen; aber der Anblick ſeiner
außerordentlichen Gemuͤhtsunruhe, und die Beſorgniß,
daß ſie etwa zu ſehr uͤberhand nehmen moͤchte, bewog
mich ihn mehr zu ſchonen, als ich ſonſt wuͤrde gethan
haben, und uͤber manches leichter hinzugehen. Jch weiß
nicht ob ich recht daran that, aber ich habe doch nachher
nicht Urſache gefunden in dieſem Stuͤcke unzufrieden mit
mir zu ſeyn.
Unter andern kamen wir auch auf den Schmerz
und Kummer, den er ſeinen rechtſchaffenen Eltern von
ſeiner fruͤhen Jugend an, und nun zuletzt am meiſten,
verurſacht habe. Jch bat ihn zu uͤberlegen, wie ſo ſehr
oft er ſie durch Ungehorſam und Widerſetzlichkeit, durch
ſeine ihnen gewiß ſichtbare Entfernung von der Religion,
und durch ſeine Ausſchweifungen werde beleidigt und be-
truͤbt haben. — Und wie muͤſſen nicht, fuhr ich fort,
dieſe ehrwuͤrdigen Perſonen durch die uͤbereilten Schritte
geaͤngſtigt worden ſeyn, die Sie ſeit Jhrem hieſigen Auf-
enthalte wagten! — Wird ihnen nicht jede Nachricht
von dem gar zu ſchnell anwachſendem Gluͤcke ihres Sohns,
von den Mitteln, wodurch er es erlangt hat, von dem
Gebrauch, den er von ſeiner Gewalt machte, Todes-
ſchrecken verurſacht haben? — Wie muͤſſen ſie nicht von
einem Tage zum andern vor der Gefahr gezittert haben,
von der Sie, Herr Graf, taͤglich bedroht wurden! —
Jn welch einen unausſprechlichen Schmerz muß ſie itzt
Fnicht
[82]
nicht Jhr ploͤtzlicher Fall vertiefen! — Was werden ſie
fuͤr eine fuͤrchterliche Erwartung des Ausgangs Jhrer
Sache haben! — Mit welchem nagenden Kummer wer-
den ſie die Gefahr erblicken, in der ſich Jhre Seele befin-
det! — Und wie wird ſie die Art Jhres Todes beugen!
— Werden ſie ſich jemals wieder zufrieden geben koͤn-
nen? — Werden ſie nicht unter der Laſt ihres gerechten
Schmerzes erliegen muͤſſen, und vielleicht Geſundheit
und Leben daruͤber verlieren? — Und derjenige, der
ihnen alle dieſe Leiden verurſacht hat, iſt ihr Sohn, der
ſind Sie.
Jch hatte ſchon ſeit einigen Tagen einen Brief
von dem Vater des Grafen, an dieſen ungluͤcklichen
Sohn bey mir. Dieſen Augenblick hielt ich fuͤr den
beſten, ihm denſelben zu uͤberreichen. Jch darf ihn um
ſeines erbaulichen Jnhalts, und um der Vollſtaͤndigkeit
dieſer Geſchichte willen, meinen Leſern nicht vorenthalten,
und ich hoffe, daß mir der wuͤrdige Vater die Bekannt-
machung deſſelben erlauben wird, zumahl da er ſchon in
oͤffentlichen Blaͤttern abgedruckt iſt.
“Jſt es moͤglich ſo wuͤnſche, daß dieſe Zeilen von dir
“empfangen und geleſen auch beherziget werden. Die
“Traurigkeit, Wehmuth und Beklemmung deiner El-
“tern uͤber ihre Soͤhne vermag ich nicht auszudruͤcken.
“Unſre Augen thraͤnen Tag und Nacht. Unſre See-
“len ſchreien um Erbarmung zu Gott ohne Aufhoͤren.
“Doch ich will hievon ſchweigen. Nur eine Sache
“liegt mir und deiner bekuͤmmerten Mutter auf dem Her-
“zen. Du kenneſt unſere Geſinnung. Du weiſt, was
“fuͤr einen Zweck wir bey deiner Erziehung gehabt
“haben. Es iſt dir erinnerlich wie oft, wie nachdruͤck-
“lich, dir dieſe Wahrheit eingeſchaͤrft iſt, daß die
“ungeheuchelte Gottſeeligkeit zu allen Dingen nuͤtze ſey.
“So
[83]
“So oft ich mit dir, da du ſchon im Amte ſtundeſt, zu
“reden Gelegenheit gehabt, habe ich dich auf den allge-
“genwaͤrtigen Gott gewieſen, und zur ſorgfaͤltigen Be-
“wahrung eines guten Gewiſſens ermahnet. Dein
“Herz wird es dir ſagen, ob und in wie ferne du
“meinen vaͤterlichen Vermahnungen nachgekommen biſt.
“Schon ſeit geraumer Zeit haben deine Eltern vielen
“Kummer deinetwegen empfunden. Da wir in der
“Stille leben und wenige Bekannten haben, du uns
“auch von deinen Umſtaͤnden nichts gemeldet haſt, ſo
“ſind unſere Seufzer fuͤr dich im verborgenen mit be-
“beklemmten Herzen zu Gott hinauf geſtiegen, und wir
“haben bekuͤmmert zu ihm gerufen, daß doch deine
“Seele nicht verlohren gehen moͤchte. Dreymahl nem-
“lich in Halle, Gedern und Altona, biſt du in den
“Augen derer, die um dein Krankenbett geſtanden,
“bereits todt geweſen. Gott hat dich errettet und beym
“Leben erhalten, gewiß nach ſeiner Liebes Abſicht nur
“zu dem Ende, dich in der Gnadenzeit zur ſeligen Ewig-
“keit zuzubereiten. Und dieſen Zweck will der treue Er-
“barmer an dir auch vornehmlich in deinem Gefaͤngniß
“erreichen. Du biſt ſein Geſchoͤpf, er liebet dich,
“du biſt mit Jeſu Blut erloͤſet: er iſt ein verſoͤhnter
“Vater. Du biſt auf den Nahmen des dreyeinigen
“Gottes getauft: er will einen ewigen Bund mit dir
“machen, und nicht ablaſſen dir gutes zu thun. Kehre
“zu deinem Gott, mein Sohn, er will ſein Gnaden Ant-
“litz zu dir wenden. Jn dieſer Abſicht merke auf die
“Stimme deines Gewiſſens, und auf die Ueberzeugun-
“gen, die Gottes Geiſt in deiner Seele wirket. Laß
“dir deinen innern Seelen Zuſtand recht gruͤndlich auf-
“decken: damit du dein tiefes Verderben in Gottes
“Licht recht einſehen lerneſt. Wende deine Einſamkeit
“dazu an, daß du deinen ganzen Lebenslauf vor dem
“allwiſſenden Gott unterſucheſt, und deine Suͤnden in
F 2“ihrer
[84]
“ihrer Abſcheuligkeit und Groͤße recht erkenneſt.
“Schmeichele dir nicht. Nimm es genau mit dir.
“Klage dich an, und richte dich ſelbſt vor Gottes Rich-
“terſtuhl noch in dieſer Gnadenzeit. Wenn du deine
“Suͤnden-Banden als eine ſchwere Laſt fuͤhleſt, ſo
“wird dein Herz gebeugt vor Gott und du wirſt nach
“Gnade ſeufzen, auch alle Uebertretungen ernſtlich
“haſſen und verabſcheuen. Nun wird dir Chriſti Ver-
“dienſt wichtig und nothwendig. Du nimmſt deine Zu-
“flucht zu dem, der die Suͤnder annimmt, und fuͤr uns
“zur Suͤnde gemacht iſt, ja alle unſre Suͤnden-Schul-
“den bezahlet und die Strafen fuͤr uns ausgeſtanden hat:
“damit wir wuͤrden in ihm die Gerechtigkeit, die vor
“Gott gilt, und in ihm erlangten die Erloͤſung durch
“ſein Blut, nemlich die Vergebung der Suͤnden, nach
“dem Reichthum ſeiner Barmherzigkeit. Noch redet
“Jeſu Blut fuͤr dich. Noch recket der Erbarmer ſeine
“Liebes-Haͤnde zu dir aus. Außer Jeſu iſt kein Heil.
“Er iſt die Urſache unſrer Seeligkeit. Auch fuͤr dich
“hat er Gaben empfangen. Auch du kannſt in ihm
“bekommen Gerechtigkeit zu deiner Beruhigung und zu
“deiner Heiligung. O daß Jeſus in deinem Herzen
“moͤchte verklaͤret werden! Bey ihm haben wir es gut
“im Leben, Leiden, Tode und nach dem Tode. — Die
“Mama gruͤßet. Sie weinet und betet mit mir fuͤr
“unſere ungluͤcklichen Soͤhne. Mein Sohn! Mein
“Sohn! wie gar tief beugeſt du uns. Ach koͤnnten wir
“doch nur den einzigen Troſt erlangen, daß unſre Soͤh-
“ne von ganzem Herzen ſich zu dem Herrn ihren Gott
“bekehrten, und wir ſie vor dem Throne des Lammes
“in der Ewigkeit mit Freuden ſehen moͤchten! Deine
“Verbrechen, warum du gefangen ſitzeſt, ſind uns
“eigentlich und hinlaͤnglich nicht bekannt. Was im Pu-
“blico davon geredet und geleſen wird, iſt ſo etwas,
“das deine Eltern verfluchen und verabſcheuen. Ach
“waͤreſt
[85]
“waͤreſt du ein Medicus geblieben! Deine Erhoͤhungen,
“die wir durch die Zeitungen erfahren haben, ſind uns
“nicht erfreulich geweſen, ſondern wir haben ſie mit
“Kummer geleſen. Ach daß du in allen deinen Ge-
“ſchaͤften, ein lauteres Auge mit vieler Weisheit, Got-
“tesfurcht und Demuht zum wahren beſten des Daͤni-
“ſchen Landes bewahret, und den Befehlen deines
“Allerhuldreichſten Souverains mit aller Unterthaͤnig-
“keit dich unterworfen haͤtteſt! Wir koͤnnen hieruͤber
“aus Mangel der Erkenntniß nicht urtheilen: aber wiße,
“daß, ſo ſehr wir unſre Kinder lieben, wir doch ihre
“Vergehungen nicht billigen, nicht entſchuldigen, nicht
“bemaͤnteln, nicht gut nennen, ſondern vielmehr alle
“Suͤnden haſſen, deteſtiren, verfluchen, verabſcheuen,
“und Gott preiſen, wenn er ſeinen gerechten Zorn uͤber
“die Gottloſen offenbaret, und ſeine Barmherzigkeit
“Bußfertigen und Glaͤubigen beweiſet. Der Herr un-
“ſer Gott ſey in deiner Gefangenſchaft dein Arzt und
“heile deinen Seelenſchaden gruͤndlich. Wir Eltern
“empfehlen dich der Vater- und Mutter-Liebe deines
“ewigen Erbarmers. Jeſus, der mitleidige Hoheprieſter,
“gedenke zur Rechten Gottes deiner im beſten, und
“laße vor ſeinem Gnaden-Thron dich Barmherzigkeit
“erlangen und Gnade finden zu deinem ewigen Heyl.
“Ja Jeſu, du groſſer Menſchenfreund, der du keinen hin-
“ausſtoͤßeſt wer zu dir koͤmmt, hilf Eltern und Kindern
“zum ewigen Leben.„ Rendsburg d. 4 Maͤrz 1772.
Als ich dem Grafen ſagte, daß ich ihm hier einen
Brief von ſeinem Vater zuzuſtellen haͤtte, ergriff er ihn
mit Begierde, und fieng an zu leſen. Er konnte ihn
noch nicht halb geleſen haben, als er ihn bitterlich wei-
nend bey ſich niederlegte, mich vertraulich anſah und
ſagte: Es iſt mir itzt unmoͤglich weiter zu leſen, ich will
nachher wieder anfangen. Leſen Sie ihn, antwortete
F 3ich
[86]
ich, allein und oft. Es iſt ein Brief eines rechtſchaffe-
nen, tiefgebeugten und zaͤrtlichen Vaters. Suchen Sie
den redlichen Mann und Jhre fromme Mutter durch eine
chriſtliche Antwort zu troͤſten. Sie wiſſen wohl, was
ſie allein troͤſten kann. O mein Gott, ſagte er, auf eine
unbeſchreiblich ruͤhrende Art, ich kann nicht an ſie ſchrei-
ben, ich weiß nicht, wie ichs machen ſoll. Sie werden
noch Zeit haben, erwiederte ich, daruͤber nachzudenken.
Er ruͤhmte hierauf ſeinen Vater, als einen redlichen
Mann, deſſen Handlungen mit ſeinen Geſinnungen uͤber-
einſtimmen, und ſeine Mutter, als eine ehrwuͤrdige
wahrhaftig fromme Frau, von der er die beſte Gelegen-
heit gehabt haͤtte das thaͤtige Chriſtenthum zu lernen.
Er bat mich bald an ſeine Eltern zu ſchreiben, ihnen nach
der Wahrheit zu berichten, wie ich ihn faͤnde, und ſie
zu verſichern, daß er allen moͤglichen Fleiß anwenden
wuͤrde, und den beſten Willen haͤtte, als ein Chriſt zu
ſterben. Er war ſo ſehr bewegt, daß er kaum im Stan-
de war dieſe Worte hervorzubringen.
Nun glaubte ich ihm zur Pruͤfung ſeines ſittli-
chen Zuſtandes hinlaͤngliche Anleitung gegeben zu haben.
Jch konnte auch nicht anders, als mit der Wuͤrkung, die
ſie bey ihm hatte, zufrieden ſeyn. Er war ſo betruͤbt
und gebeugt uͤber ſeine Suͤnden, daß es gefaͤhrlich haͤtte
werden koͤnnen, wenn ich ihn noch mehr zu demuͤthigen
haͤtte ſuchen wollen. Aufrichtig war ſeine Reue gewiß;
darauf konnte ich mich um ſo viel mehr verlaſſen, da er
ein ſehr kaltbluͤtiger Mann war, der uͤber dieß durch
Grundſaͤtze und Uebung viele Gewalt uͤber die Gemuͤths-
bewegungen erhalten hatte, und der durch nichts als
durch die ernſtlichen Vorſtellungen, die ihm ſein Gewiſſen
that, wuͤrde geruͤhrt worden ſeyn. Um ihn nun weiter
zu fuͤhren, erinnerte ich ihn an die Hoffnung, die er
geaͤußert hatte, daß ihn Gott wohl auf eine bloß philoſo-
phiſche
[87]
phiſche Buße begnadigen wuͤrde. Jch bat ihn mir zu
ſagen, ob er das itzt noch fuͤr wahrſcheinlich hielte. Er
wußte nicht, was er antworten wollte, er fuͤhlte es zu
ſehr, daß er keinen Grund zu dieſer Hoffnung habe, und
war auch nicht mehr geneigt, wie er es ſonſt geweſen war,
ſich ſelbſt zu betruͤgen. Sie empfinden es ſchon, ſagte
ich, daß die philoſophiſche Reue nicht hinlaͤnglich iſt ein
unruhiges Gewiſſen zu beruhigen. Weiß Jhnen etwa
Jhre Vernunft ein beſſeres Mittel dazu vorzuſchlagen?
Laſſen Sie uns das in unſrer naͤchſten Unterredung un-
terſuchen. Sie wiſſen, ich will Jhnen das Recht nicht
ſtreitig machen, ſich ſelbſt zu heilen, wenn Sie es koͤn-
nen, ich will Jhnen die Huͤlfe des Evangelii nicht auf-
dringen.
Sie werden aber doch wohl thun, Herr Graf,
wenn Sie ſich mit den Beweiſen des Chriſtenthums vor-
laͤufig bekannt machen, damit Sie, wenn Sie etwa
finden ſollten, daß Sie des Rahts beduͤrfen, den es
Jhnen anbietet, durch Zweifel an der Wahrheit deſſel-
ben nicht aufgehalten werden moͤgen, ihn bald anzuneh-
men um bald die Wuͤrkung deſſelben empfinden zu koͤn-
nen. Jch habe Jhnen in dieſer Abſicht Weſts Buch
uͤber die Auferſtehung Jeſu mitgebracht. Leſen Sie es
mit Aufmerkſamkeit, und wenn Sie dann etwa finden
ſollten, daß die Auferſtehung Jeſu alle erforderliche
Glaubwuͤrdigkeit hat, ſo fragen Sie Jhre Vernunft,
ob Sie ſich nicht fuͤr verbunden halten muͤſſe, den Aufer-
ſtandenen fuͤr einen goͤttlichen Geſandten an die Men-
ſchen, und ſeinen Antrag oder ſeine Lehre fuͤr Wahrheit
zu halten.
Achte
[88]
Achte Unterredung, den 16ten Maͤrz.
Die Wunden Jhres Gewiſſens, ſo fieng ich dieſe Un-
terredung an, ſind tief und ſchmerzhaft. Sie
wuͤnſchen ſehr ernſtlich ſie gruͤndlich geheilt zu ſehen.
Laſſen Sie uns nun nach Mitteln forſchen, wodurch das
moͤglich iſt. Jch weiß, das Gefuͤhl Jhrer Beduͤrfniß
hat Sie ſchon geneigt gemacht, den Raht, den Jhnen
das Chriſtenthum in dieſer Abſicht giebt, anzunehmen.
Aber Sie muͤſſen ſich, ſelbſt in einer heilſamen Ent-
ſchließung, nicht uͤbereilen. Unterſuchen Sie erſt, ob
Jhnen die Vernunft zu rahten weiß. Kann ſie das, ſo
brauchen Sie keine Offenbahrung. Sehen Sie aber,
daß Sie von der Vernunft huͤlflos gelaſſen werden, ſo
koͤnnen Sie deſto mehr Vertrauen auf das einzige Mittel
der Begnadigung bey Gott ſetzen, welches Jhnen die
chriſtliche Religion anpreiſt.
Sollten wohl Suͤnden, die in dieſer Welt began-
gen werden, zumahl vorſetzliche, oft wiederhohlte, ge-
liebte und wegen ihrer Folgen ſchreckliche Suͤnden, in
der kuͤnftigen Welt beſtraft werden? Dieß war die erſte
Frage, die ich dem Grafen vorlegte. Wenn man die
Sache bloß vernuͤnftig anſaͤhe, antwortete er, ſo koͤnnte
es ſcheinen, daß die Unruhe des Gewiſſens und die natuͤr-
lichen Folgen der Suͤnden, ſchon genugſame Strafen
derſelben waͤren. Jch zeigte ihm hierauf, daß zwiſchen
dieſen Strafen der Suͤnde, und ihrer Groͤße, in ſo ferne
ſie Empoͤrung gegen Gott und Beleidigung ſeiner hoͤch-
ſten Majeſtaͤt waͤre, und dem Schaden, den ſie in dem
Reiche Gottes ſtiftete, kein Verhaͤltniß waͤre: und eine
goͤttliche Gerechtigkeit muͤßte doch Verbrechen und Stra-
fen genau gegen einander abwaͤgen. Viele Suͤnder,
ſetzte ich hinzu, gehen auch aus der Welt, ohne auch
nur von ihrem Gewiſſen beſtraft werden zu ſeyn, ohne
natuͤr-
[89]
natuͤrliche Folgen ihrer Vergehungen empfunden zu ha-
ben: ſollten dieſe denn ganz ungeſtraft hingehen? Wir
koͤnnen endlich ſelbſt durch die Vernunft einſehen, daß die
natuͤrlichen Folgen der Suͤnden noch in der Ewigkeit fort-
dauren koͤnnen und werden, und daß alſo noch jenſeits
des Grabes Strafen zu erwarten ſind, denn dieſe Folgen
ſind ja Strafen. Wer z. Ex. in dieſer Welt die Gelegen-
heit verſaͤumt Gott und ſeinen Willen erkennen zu lernen,
wird der nicht in die kuͤnftige unwiſſend daruͤber eintreten,
und aller der Vortheile entbehren muͤſſen, die ihm eine
richtige und ausgebreitete Erkenntniß wuͤrde gewaͤhrt
haben?
Er gab ſeinen Zweifel auf, und ich legte ihm
nun die Gruͤnde vor, weswegen ich uͤberzeugt waͤre, daß
in der Ewigkeit Strafen ſeyn wuͤrden. — Es iſt der
Analogie gemaͤß. Viele Suͤnden ziehen ſchon hier in
ihren Folgen mancherley Elend nach ſich. Was haben
wir fuͤr Urſache zu glauben, daß Gott dort dieß Verhaͤlt-
niß zwiſchen Urſache und Wuͤrkung aufheben werde? —
Die Weisheit und Guͤte Gottes machen in der kuͤnftigen
Welt die Strafen nothwendig. Weil er weiſe und guͤtig
iſt, ſo will er ſeine Geſetze, durch die die Abſichten ſei-
ner Weisheit und Guͤte befoͤrdert werden ſollen, gehalten
wiſſen. Waͤren nun in der Zukunft keine Strafen der
Suͤnde zu erwarten, ſo haͤtten die Geſetze Gottes keine
Kraft, keine Sanction; ihre Abſicht wuͤrde nicht erreicht
werden, und es waͤre faſt einerley, ob wir ſie hielten
oder nicht. — Wir verſprechen uns ja in der Ewigkeit
Belohnungen der Tugend: warum wollen wir denn nicht
glauben, daß das Laſter dort werde beſtraft werden? —
Der unbekehrte Suͤnder geht mit allen ſeinen boͤſen Nei-
gungen und Fertigkeiten aus der Welt. Wird er nicht
in der kuͤnftigen fortfahren zu ſuͤndigen, und werden
nicht dadurch ſtrafende Folgen ſeiner Suͤnden erzeugt
F 5wer-
[90]
werden? — Endlich ſcheint auch ein Vorgefuͤhl von
den Strafen der Suͤnde in der Ewigkeit tief in unſrer
Natur zu liegen, oder, welches mit andern Worten
geſagt daſſelbe iſt, unſer Gewiſſen bezeugt es uns.
Warum fuͤrchten wir uns, wenn wir ein boͤſes Gewiſſen
haben, vor dem Tode, und koͤnnen ſeine Annaͤherung
mit Ruhe und Freudigkeit ſehen, wenn unſer Gewiſſen
unbefleckt iſt? Warum fuͤrchtet ſich auch der Suͤnder,
der ſich ganz vom Joche der Religion losgeriſſen hat,
wenigſtens dann, wann er ſeinen Tod gewiß vor Augen
ſieht. Hier meynte der Graf, dieſe Furcht koͤnne wohl
nur die bloße natuͤrliche Todesfurcht ſeyn. Er fand aber
dieſen Zweifel durch ſeine eigne Empfindung widerlegt.
Er geſtund, daß er ſich itzt weniger vor dem Tode als
ſeiner Suͤnden wegen fuͤrchte, ob er gleich vermuhte,
daß er ohne ſonderliche Furcht geſtorben ſeyn wuͤrde,
wenn wir nicht mit einander bekannt geworden waͤren,
und er nicht dieſe Buͤcher geleſen haͤtte.
Sind alſo fuͤr den Suͤnder in der Ewigkeit Stra-
fen zu erwarten, oder auch nur zu vermuhten, und dieß
iſt doch das wenigſte, was aus den angefuͤhrten Gruͤn-
den folgt, ſo hat er große Urſache, ſich zu bemuͤhen, daß
er ſie von ſich abwenden moͤge. Was kann die Vernunft
ihm dazu fuͤr Raht geben? Sie weiß nur dieſe drey Mit-
tel vorzuſchlagen: Reue, Erſetzung des verurſachten
Schadens und kuͤnftige Beſſerung. Sie koͤnnte auch
noch wohl die Opfer hinzuſetzen. Aber ſie wuͤrde doch
auch gleich begreifen, daß die Opfer an ſich ſelbſt Gott
nicht verſoͤhnen, ſondern daß ſie nur in ſo ferne fuͤr Mittel
dazu gehalten werden koͤnnen, in wie ferne ſie ein Beweis
der Reue des Suͤnders und ſeiner Entſchießung ſind,
lieber etwas, das ihm angenehm und wehrt iſt, zu ent-
behren, als ſich des goͤttlichen Unwillens uͤber ſich und
ſeine Handlungen laͤnger bewußt zu ſeyn. Und ſo waͤre
Reue
[91]
Reue und Opfer nur als Urſache und Wuͤrkung, oder
als Empfindung und Ausdruck oder Erklaͤrung derſelben
unterſchieden. Es kommt alſo nun darauf an, ob die
von der Vernunft vorgeſchlagenen Mittel zu ihrer Abſicht
hinreichend ſind, und ob ſie in unſrer Gewalt ſtehen.
Die Reue, fuhr ich fort, iſt die Bekuͤmmerniß,
die ich uͤber meine Suͤnden empfinde. Sie ſey ſo auf-
richtig und ſo lebhaft, als es moͤglich iſt, darf ich denn
wohl hoffen, daß ſie die Strafen, die ich verdient habe,
von mir abwenden werde? Wenn ein weltlicher Richter,
Herr Graf, es ſich zur Regel machte, jedem Verbrecher,
der eine ernſtliche Reue bezeugte, die verdiente Strafe
zu ſchenken, was wuͤrden Sie von ihm halten? “Jch
wuͤrde denken, er ſey ein guter Mann, aber ſchwach,
nicht weiſe noch gerecht, und nicht geſchickt Richter zu
ſeyn.„ Duͤrfen wir denn wohl glauben, daß Gott ſo
urtheilen werde? Und haͤtte er ſeine guten Urſachen in
eizelnen Faͤllen auf die bloße Reue des Suͤnders Begna-
digung folgen zu laſſen, ſo koͤnnte doch niemand gewiß
ſeyn, daß ſein Fall einer von dieſen einzelnen ſeyn werde.
— Auch lehrt uns die Erfahrung, daß Gott in dieſer
Welt, wenn er die Suͤnder durch natuͤrliche Folgen ihrer
Vergehungen ſtraft, nach der Regel handelt: Die Reue
des Suͤnders ſoll ihn nicht von der Strafe befreyen.
Wer ſich durch ſeine Vergehungen Krankheit, Armuth,
Schande, zugezogen hat, der wird durch ſeine Reue nicht
wieder geſund, beguͤtert oder geehrt. Jſt es denn wohl
wahrſcheinlich oder gar erweislich, daß Gott in der kuͤnf-
tigen Welt nach einer entgegengeſetzten Regel urtheilen
werde? — Endlich beſſert auch die bloße Reue uͤber be-
gangne Suͤnden nichts. Alles bleibt, wie es war. Der
Schade, den die Suͤnde verurſacht hat, bleibt in der
Welt, und wird durch die Reue nicht weggenommen.
Gott muͤßte mit Schwachheit guͤtig ſeyn, er muͤßte auf-
hoͤren
[92]
hoͤren mit wahrer Guͤte und Weisheit zu regieren,
wenn er auf eine bloße unthaͤtige Reue vergeben wollte.
Der Graf folgte mir mit ununterbrochener Auf-
merkſamkeit, und geſtand, daß die bloße Reue keine ge-
gruͤndete Hoffnung der Begnadigung gebe. Wir nahmen
alſo das andere von der Vernunft empfohlene Mittel vor
uns, und dieſes war die Erſetzung des verurſachten
Schadens. Dieſe Erſetzung, ſagte ich, waͤre freylich
weit mehr, als bloße Reue. Aber bey aller Erſetzung
waͤre doch noch der bewieſene Ungehorſam gegen Gott,
die Beleidigung ſeiner Majeſtaͤt, die Empoͤrung gegen
ſeine wohlthaͤtigen Abſichten, hoͤchſt ſtrafbar. Es waͤre
immer noch die Frage, ob Gott das alles ungeſtraft hin-
gehen laſſen wolle, und ob er es, nach den Regeln, nach
welchen er ſeine Welt regiert, ungeſtraft hingehen laſſen
koͤnne. — Was wollen wir aber auch von Erſetzung des
geſtifteten Schadens reden? Kann der Suͤnder ſie jemals
leiſten? Es ſind einige wenige Faͤlle moͤglich, wo er
vielleicht glauben moͤchte, daß er das verurſachte Boͤſe
wieder gut machen koͤnne. Aber im Ganzen? Kennt er
alle ſeine Suͤnden? Weiß er alle ihre Folgen? So muͤßte
er allwiſſend ſeyn! Kann er den Fortlauf dieſer Folgen
verhindern? Kann er ſie aus dem Ganzen, in welchem
ſie verwickelt ſind, losreißen? Kann er ihnen noch nach
ſeinem Tode, ja bis ans Ende der Welt, nachgehen,
und ſie uͤberall hemmen, wohin ſie ſich verbreiten? So
muͤßte er allmaͤchtig und allgegenwaͤrtig ſeyn! Nein,
Herr Graf, es iſt nichts mit der Erſetzung des Schadens.
Sie iſt nicht hinreichend, ſie iſt ſo gar ganz unmoͤglich!
Wir giengen nun zu der Beſſerung des Lebens,
als dem dritten der von der Vernunft an die Hand gege-
benen Mittel fort. Sie iſt gut, ſagte ich, muß auch
wenigſtens dieſe Wuͤrkung haben, daß ſie dem Richter
der
[93]
der Welt dieſen Theil meines Lebens empfielt. Wer
indeſſen einen Verſuch gemacht hat ſeine geliebten und
gewohnten Suͤnden zu haſſen und zu meiden, der wird
auch gefunden haben, daß eine ſolche Beſſerung durch
bloß natuͤrliche Mittel, wo nicht unmoͤglich, doch wenig-
ſtens nichts leichtes ſey. Aber hat denn die Beſſerung
meines Verhaltens in den Jahren, die mir bevorſtehen,
irgend einen Einfluß in mein boͤſes Verhalten, womit
ich meine zuruͤckgelegten Jahre erfuͤllt habe? War ich
Gott den Gehorſam, den ich ihm von nun an leiſten will,
vorher nicht auch ſchuldig? Nicht in jedem Augenblick
meines Daſeyn? Wenn ich verbunden bin taͤglich eine
gewiſſe Summe zu bezahlen, ich habe die Zahlung geſtern
verweigert und leiſte ſie heute fuͤr den gegenwaͤrtigen Tag,
bleibe ich dann nicht im Ruͤckſtande fuͤr geſtern, und be-
haͤlt derjenige, dem ich ſchuldig bin, nicht ſein Recht an
mir. Er kann ſeinem Recht entſagen, wenn er will.
Aber kann mir die Vernunft Gewißheit geben, daß Gott
das in dieſem Fall wolle oder koͤnne? Jhm iſt daran ge-
legen, daß ſeine Geſetze gehalten werden. Er muß alſo
ihre Beobachtung ernſtlich einſchaͤrfen, das iſt, er muß
mit Stafen drohen, und Gottes Drohungen duͤrfen nicht
ohne Erfolg ſeyn. Hieraus folgt: Die Vernunft kann
mirs nicht gewiß, nicht einmahl wahrſcheinlich machen,
daß Gott um der kuͤnftigen Beſſerung willen die Strafen
der vorigen Suͤnden erlaſſen werde.
Dieß alles ließ ſich nun leicht auf den Grafen
anwenden. Bekuͤmmert war er uͤber ſeine Suͤnden.
Aber auf dieſe ſeine Reue allein konnte und wollte er auch
nicht mehr ſich verlaſſen. Erſetzung des verurſachten
Schadens zu leiſten, iſt keinem Suͤnder moͤglich, und
war es ihm, bey der Kuͤrze ſeiner Zeit und den ausgebrei-
teten und verwickelten Folgen, die ſeine Vergehungen
ſchon hatten, am wenigſten. Beſſerung fuͤr die Zukunft
giebt
[94]
giebt uͤberhaupt wenig Hoffnung, und ſeine Zukunft war
die Ewigkeit. Freylich, ſagte ich zu ihm, muͤſſen Sie
die kurze Zeit uͤber, die Sie noch zu leben haben werden,
allen moͤglichen Fleiß anwenden, Gutes zu thun, und
ſo viel Sie koͤnnen zur Erſetzung des geſtifteten Schadens
beyzutragen. Vielleicht koͤnnen Sie durch Jhre Geſpraͤ-
che und durch Jhr ganzes Betragen bey dieſem oder je-
nem von denen, die hier bey Jhnen ſeyn werden, die
boͤſen Eindruͤcke wieder ausloͤſchen, die Jhr voriger Wan-
del auf ſie gemacht hat. Aber was ſie auch thun moͤgen,
ſo koͤnnen Sie ſich doch nie vor Gott ein Verdienſt dar-
aus machen, oder glauben, daß Jhnen Gott deswegen
Jhre Suͤnden vergeben werde. Es dient Jhnen nur
dazu, ſich in guten Geſinnungen zu befeſtigen, und Sie
zu Jhrer eignen und anderer Ueberzeugung von der Recht-
ſchaffenheit Jhrer Bekehrung an den Tag zu legen. Er
verſicherte mich hier, daß er das ſchon ſelbſt fuͤr ſeine
Pflicht gehalten haͤtte. Er habe deswegen ſchon mit
einem Officier uͤber die Moral des Chriſtenthums geſpro-
chen, und ihn ermahnt, die Vorſchriften derſelben ge-
wiſſenhaft zu befolgen. Als ein voͤllig uͤberzeugter Chriſt
habe er aber nicht geredet, weil er es noch nicht waͤre,
und es ihm nicht erlaubt ſeyn koͤnnte zu heucheln. Wollte
Gott, ſetzte er hinzu, ich koͤnnte nur etwas zur morali-
ſchen Verbeſſerung derjenigen unter meinen Freunden
beytragen, deren Geſinnungen ich durch meine Reden
und Beyſpiele verderbt habe! Jch bat ihn ſelbſt daruͤber
nachzudenken, und verſprach es an meiner Seite auch
zu thun.
Wir waren nun voͤllig daruͤber einig, daß die
bloße Vernunft kein zuverlaͤſſiges Mittel zur Vergebung
der Suͤnden kenne. Jſt nun noch ein Mittel in der
Welt, fuhr ich fort, das Sie von Jhrer Begnadigung
bey Gott gewiß machen kann, ſo werden Sie es doch
anwen-
[95]
anwenden oder wenigſtens verſuchen. Jn den Graͤnzen
der Vernunft kann es nicht liegen, denn ſie weiß nur die
drey, die wir gepruͤft und unzulaͤnglich gefunden haben.
Jſt alſo ein ſolch Mittel vorhanden, ſo muß es von Gott
außerordentlich offenbahrt ſeyn. Jch kenne dieſes Mittel
der Vergebung fuͤr jeden Suͤnder. Es iſt der Glaube
an Jeſum. — Von der moraliſchen Seite kennen und
ehren Sie den Mann, auf den ich Sie verweiſe. Die
Vortrefflichkeit ſeiner Sittenlehre und ſeines Wandels
muß Sie auch ſeinen theoretiſchen Lehrſaͤtzen geneigt
machen. Daß einige unter ihnen Jhrer Vernunft un-
begreiflich ſind, das kann Jhnen nun ſchon nichts uner-
wartetes mehr ſeyn: denn hat Gott ſich durch ihn den
Menſchen offenbahrt, ſo kann es uns nicht anſtoͤßig ſeyn,
daß er uns Wahrheiten lehrt, die wir durch die Ver-
nunft weder erfinden noch erklaͤren koͤnnen. — Daß
er aber von Gott geſandt ſey, davon erwarten wir billig
Beweiſe. Er ſelbſt verweiſet uns auf ſeine Wunder,
als auf ſeine Legitimation. Unter ſeinen Wundern iſt
ſeine Auferſtehung das groͤßeſte. Jch habe Sie gebeten
die Glaubwuͤrdigkeit derſelben zu unterſuchen. Was iſt
das Reſultat Jhrer Unterſuchung?
Sie wiſſtn, antwortete der Graf, daß ich ſeit
einigen Tagen ſehr unruhig im Gemuͤht und krank am
Leibe geweſen bin. Jch muß geſtehen, ich bin durch
beydes verhindert worden, denjenigen Theil des Buches
uͤber die Auferſtehung Jeſu, welcher aus der Unterſu-
chung und Vergleichung der Umſtaͤnde dieſer Begebenheit
beſteht, mit hinreichendem Nachdenken zu leſen. Jch
habe aber in dem letztern Theile folgende Beweisgruͤnde
gefunden, die ſehr viel Eindruck auf meinen Verſtand
gemacht haben. Die Juͤnger Jeſu waren nicht leicht-
glaͤubig, ſondern ließen ſich nur mit Muͤhe und durch
das uͤbereinſtimmende Zeugniß faſt aller ihrer Sinne von
der
[96]
der Wahrheit der Auferſtehung Jeſu uͤberzeugen. Die
Juden ſtellten gar keine gerichtliche Unterſuchung der
Sache an, ob Sie gleich die beſte Gelegenheit dazu
hatten, und ihnen viel daran gelegen war, zu zeigen,
daß nichts daran ſey. Auch rechne ich die Ausbreitung
des Chriſtenthums hieher, die ohne die Wahrheit der
Auferſtehung Jeſu auf die Art nicht moͤglich geweſen
waͤre, wie ſie geſchehen iſt, und mit der die Ausbreitung
der Lehre Mahomets in Anſehung der beyderſeitigen Mit-
tel gar nicht verglichen werden kann. Jch wuͤnſchte aber
doch noch zu wiſſen, ob man nicht in Profanſeribenten
von Chriſto und ſeiner Auferſtehung Zeugniſſe findet?
Jch erzaͤhlte ihm hierauf, was im Sveton, Ta-
citus, Plinius und Joſephus von Chriſto und den erſten
Chriſten vorkommt. Von der bekannten Stelle des
letztern, deren Jnhalt ich ihm faſt mit den da ſtehenden
Worten vortrug, geſtund ich ihm ſogleich, daß ſie ſelbſt
von chriſtlichen Gelehrten fuͤr untergeſchoben erklaͤrt wuͤr-
de, ich faͤnde es ſelbſt auch nicht glaublich, daß ſie ganz,
ſo wie ſie da ſtuͤnde, von Joſephus herruͤhren ſollte.
Hier zeigte ich ihm, wie ſie etwa habe verfaͤlſcht werden
koͤnnen. Es ſey nicht zu vermuhten, daß Joſephus,
der ſo viele Kleinigkeiten erzaͤhlte, von einer ſo merkwuͤr-
digen Perſon, als Jeſus doch immer geweſen, gar nichts
ſollte geſagt haben. Und haͤtte er wuͤrklich ſeiner nicht
Erwaͤhnung gethan, ſo ſey daß ein ſicherer Beweis,
daß er, aus welcher Urſache es auch ſey, es nicht habe
wagen wollen; und ſchon darin liege ein ſtillſchweigendes
Geſtaͤndniß u. ſ. w.
Ob ich gleich geſtehen muß, fuhr er fort, daß
die Auferſtehung Jeſu ſehr glaubwuͤrdig iſt, ſo iſt es mir
doch bedenklich, daß Jeſus nach ſeiner Auferſtehung
ſich ſeinen Feinden nicht gezeigt hat. Man hat dieſen
Zwei-
[97]
Zweifel, antwortete ich, wenn es anders ein Zweifel iſt,
auf mancherley Art gehoben. Was mich daruͤber beru-
higt hat, iſt folgendes. Die Feinde Jeſu, die ſeine
Wunder zum Theil mit eignen Augen geſehen hatten,
und alſo unmoͤglich betrogen werden konnten, gaben ſie
vor und nach ſeinem Tode fuͤr Wuͤrkungen des Teufels
aus. Sie wuͤrden alſo gewiß, wenn er ihnen nach ſei-
nem Tode lebendig erſchienen waͤre, uͤber dieſe Erſchei-
nung eben ſo geurtheilt haben, und dadurch nicht uͤber-
zeugt worden ſeyn. Sie erwarteten in ihrem Meſſias
einen maͤchtigen ſiegreichen Held, der ihr verfallenes
Reich wieder herſtellen ſollte. Deswegen war ihnen
Chriſtus in ſeiner niedrigen Geſtalt ſo verhaſſt, daß
die ſtaͤrkſten Beweiſe, die von ſeiner goͤttlichen Sendung
gegeben werden konnten, keinen Eindruck auf ſie machten.
Es waͤre alſo ganz vergeblich geweſen, wenn Chriſtus
ihnen erſchienen waͤre.
Er war mit dieſer Aufloͤſung ſeines Zweifels zu-
frieden, und erklaͤrte ſich, daß er gegen die Wahrheit der
Auferſtehung Jeſu nichts weiter einzuwenden wiſſe.
Halten Sie dieſe Begebenheit fuͤr wahr, ſetzte ich hier-
auf hinzu, ſo muͤſſen Sie auch zugeben, daß Jeſus ſich
hinlaͤnglich als einen goͤttlichen Geſandten legitimirt habe.
Sie ſind folglich allem, was er ſagt, Jhren Glauben
ſchuldig. Alſo iſt auch das wahr, daß Sie durch ſeine
Veranſtaltung mit Gott verſoͤhnt ſind, wenn Sie ſich
nur darauf verlaſſen, und, ſo lange Sie noch leben,
ſich ernſtlich bemuͤhen nach ſeiner Moral zu handeln. —
Jch will es Jhnen aber doch noch nicht zumuhten die
Lehre von der Verſoͤhnung der Menſchen durch Chriſtum
ohne weitere Unterſuchung anzunehmen. Jch will Jh[ne]n
zuvor zeigen, was das eigentlich nach dem Sinne der
Bibel heiße: Chriſtus hat uns erloͤſet. Und dann wol-
len wir uͤberlegen, ob die Vernunft mit Recht etwas
Ggegen
[98]
gegen dieſe Lehre einwenden koͤnne. Das wollen wir
in unſern naͤchſten Unterredungen thun.
Jch ermahnte ihn nun zum Gebet, und er ver-
ſicherte mich, daß er itzt ſchon oft bete. Aber, ſetzte ich
hinzu, beten Sie nun nicht mehr bloß zu Gott, als zu
Jhrem Schoͤpfer, dem Weſen aller Weſen, dem Unend-
lichen, ſondern als zu Jhrem Vater, der die Liebe iſt,
der ſich Jhrer erbarmen und alle Strafen Jhrer Suͤnden
von Jhnen abwenden will, der ſie einladet, durch den
Glauben an Chriſtum an ſeinen Begnadigungen Theil
zu nehmen.
Jch hielt mich noch eine Zeitlang bey ihm auf,
und er klagte mir wieder ſeine Beſorgniß, ob auch ſeine
Reue aufrichtig ſey. Wenigſtens, ſagte er, iſt ſie nicht
immer gleich ſtark, ſie iſt auch uͤber gewiſſe Handlungen
und in Beziehung auf gewiſſe Perſonen ernſtlicher. Jch
fand ihn auch wuͤrklich heute weniger betruͤbt, als ſonſt,
vielleicht weil er nun ſchon ſah, wo er Troſt und Beru-
higung finden wuͤrde. Jch antwortete ihm, es ſey nach
der Natur der Seele unmoͤglich, einerley Empfindung
immer in gleicher Staͤrke zu haben, auch faͤnde ich es
ſehr natuͤrlich und den Forderungen der Menſchlichkeit
gemaͤß, daß er uͤber das Ungluͤck, welches er den Per-
ſonen, die er mir genannt haͤtte, ſeinen Eltern, ſeinen
Bruͤdern, dem Grafen Brandt, zugezogen, in einem
hoͤhern Grade betruͤbt ſey. Die Aufrichtigkeit ſeiner
Reue zu pruͤfen, habe er darauf zu ſehen, ob er noch
ein Wohlgefallen an ſeinen ehemaligen Suͤnden habe,
oder ob er ſie von Herzen verabſcheue. Er dachte einige
Zeit nach, und gab mir dieſe Antwort: Jch weiß nicht
gewiß, wenn ich wieder in die Welt kaͤme, ob ich nicht
durch Jrrthum und Begierde moͤchte hingeriſſen werden.
So wie ich mich aber itzt finde, ſo verabſcheue ich meine
Aus-
[99]
Ausſchweifungen, auch die, welche mir am meiſten
Freude gemacht haben, und glaube wenigſtens, daß,
wenn ich auch Gelegenheit dazu haͤtte, ich ſie nicht wie-
der begehen wuͤrde. “So ſeyn Sie denn nur zufrieden
mit Jhrer Reue, und bemuͤhen ſich, dieſe Geſinnungen
beyzubehalten, und ſich gewoͤhnlich zu machen. Aber
huͤten Sie ſich auch vor jeder Suͤnde, Herr Graf, be-
ſonders vor denen, zu denen Sie ſelbſt von Jhren gegen-
waͤrtigen Umſtaͤnden gereizt werden koͤnnten. Keine vor-
ſetzliche Uebertretung duͤrfen Sie ſich erlauben, wenn
Sie von Gott begnadigt zu werden wuͤnſchen, keine Un-
wahrheit vor Jhren Richtern, keine Ausfluͤchte, keine
unzulaͤngliche Entſchuldigung, keine Verheelung der
Wahrheit. Sie merken wohl, Herr Graf, worauf ich
ziele. Jch weiß, antwortete er, daß ich durch ein auf-
richtiges Geſtaͤndniß in der Meynung rechtſchaffener
Leute von mir gewinne. Jch bin uͤberzeugt, daß alle
meine Seeligkeit, die ich noch zu erlangen hoffe, ver-
lohren gehen wuͤrde, wenn ich die Wahrheit zu verbergen
ſuchte. Jch glaube ſogar nach der chriſtlichen Moral,
daß eine Luͤge, die ich in guter Abſicht, ſelbſt um das
Chriſtenthum und die Tugend zu befoͤrdern, fuͤr Wahr-
heit ausgaͤbe, vor Gott ſtrafbar ſeyn wuͤrde. Verlaſſen
Sie ſich alſo darauf, daß ich ohne Zuruͤckhaltung alles
geſtehen werde, woruͤber ich mich ſchuldig weiß. —
Jch glaube zwar gewiß, ſagte er bey einer an-
dern Gelegenheit, daß alle Zweifel gegen das Chriſten-
thum gehoben werden koͤnnen: aber ich kann Jhnen doch
nicht ſagen, wie ſehr ich mich vor den meinigen fuͤrchte,
auch davor, daß ſie mir Gottes Misfallen zuziehen moͤch-
ten. Wuͤrde Gottes Gnade es nicht uͤberſehen, fragte
ich ihn, wenn in mir ploͤtzlich boͤſe Gedanken oder Be-
gierden aufwallten, die ich aber verabſcheute, denen ich
nicht Folgen leiſtete, die ich gleich wieder unterdruͤckte?
G 2Eben
[100]
Eben ſo wird Gott Jhnen die Zweifel gegen die Wahr-
heit nicht zurechnen, die Jhnen wider Jhren Willen ein-
fallen, und an denen Sie kein Wohlgefallen haben.
Seyn Sie nur aufrichtig gegen die Wahrheit, ſuchen
Sie nur nach ihrer Anleitung gut zu werden und gut zu
handeln. Sie werden ſehen, Jhre Zweifel werden mit
jedem Tage abnehmen und ſchwaͤcher werden. Jch gebe
mir auch ſelbſt Muͤhe, ſetzte er hinzu, meine Zweifel auf-
zuloͤſen. Jch ſtelle mir z. Ex. die Gottheit Chriſti, die
mir immer ſehr anſtoͤßig geweſen iſt, itzt ſo vor: Gott
mußte zu Menſchen durch einen Menſchen reden. Dieſer
Menſch war Chriſtus, und den belebte er durch ſich ſelbſt
u. ſ. w. “Laſſen Sie uns nur die rechte Zeit abwarten,
Herr Graf, da wir von dieſer Sache reden koͤnnen, ſo
hoffe ich, werden wir einig daruͤber werden, daß die
Gottheit Chriſti nichts widerſprechendes iſt.„
Als ich Abſchied von ihm nahm, ſagte er zn
mir: Jch ſehe, wie ſehr Sie ſich fuͤr mein Heil interes-
ſiren, daß Sie mich lieben, und als ein redlicher Freund
mein Beſtes ſuchen. Jch halte Sie auch fuͤr meinen
einzigen Freund in der Welt. Wann kann ich Sie nun
wieder erwarten? Jch ſehne mich nach Jhnen, wenn
Sie nicht hier ſind. “Uebermorgen komme ich gewiß,
Herr Graf! So wie aber die Entſcheidung Jhres Schick-
ſals naͤher herbeyruͤckt, werde ich Sie fleißiger beſuchen
und laͤnger bey Jhnen bleiben.„ Er ſah mich freundlich
an, und ſagte: Wenn Sie nur nicht krank werden! —
Jch gab ihm heute Bonnetſ philoſophiſche Unterſuchung
der Beweiſe des Chriſtenthums.
[101]
Neunte Unterredung, den 18ten Maͤrz.
Das Mittel der Vergebung der Suͤnden, Herr Graf,
welches wir nun genauer wollen kennen lernen,
hat Jeſus, der Auferſtandene, uns ſelbſt angeprieſen,
und das verbindet uns ſchon, es wenigſtens nicht gleich
beym erſten Anblick zu verwerfen. Seine Moral iſt ja
ſo vortrefflich. Er ſelbſt war ſo ein guter unſtraͤflicher
Mann, daß die ganze Geſchichte uns keinen andern zu
nennen weiß, der ihm zu vergleichen waͤre. Er war
auch ein weiſer verſtaͤndiger Mann, in deſſen Leben man
keine Spur von Schwaͤrmerey, Einfalt oder Leichtglaͤu-
bigkeit findet. Ueber dieß hat er Wunder gethan, deren
Glaubwuͤrdigkeit nicht gelaͤugnet werden kann. Wer
Wunder thut, mit dem muß Gott ſeyn. Sollte aber Gott
wohl eine Unwahrheit unterſtuͤtzen und befoͤrdern, zumahl
in dieſem Falle, da Jeſus ausdruͤcklich ſagte, er thue
ſeine Wunder um die Wahrheit ſeiner Lehre dadurch zu
beweiſen? Aus dieſem allen ſollen Sie noch weiter nichts
ſchließen, als dieſes: daß ein uͤber ſeine Suͤnden bekuͤm-
merter Menſch doch gewiß Urſache habe, die Lehre von
der Verſoͤhnung der Welt durch Chriſtum kennen zu ler-
nen und zu unterſuchen. Wer ſie kennen lernen will, der
muß ſie billig aus der Quelle ſchoͤpfen, aus der heiligen
Schrift. Und dieſe uͤbergebe ich Jhnen nun Herr Graf,
zu Jhrem Gebrauch. Sie ſind darauf zubereitet Sie zu
leſen. Forſchen Sie in dieſem Buche, Sie werden ge-
wiß das ewige Leben darin finden, und halten Sie ſich,
da Jhre Zeit nur kurz iſt, vornehmlich an das neue
Teſtament. Doch muͤſſen Sie nicht glauben, daß das alte
Teſtament nichts von der Verſoͤhnung der Welt durch
Chriſtum wiſſe. Davon will ich Jhnen gleich das Ge-
gentheil beweiſen.
G 3Jch
[102]
Jch ſchlug ihm nun die Stellen Jeſ. 53, 4-12.
und Daniel 9, 24. auf, erklaͤrte ſie ihm, wandte ſie auf
Chriſtum an, rechnete ihm vor, wie lange etwa Jeſaias
und Daniel vor Chriſto gelebt haͤtten, bewies ihm end-
lich, daß ihre Schriften lange vor Chriſto bekannt gewe-
ſen, und daß eine Verfaͤlſchung derſelben nach Chriſto,
allein ſchon durch die Bemuͤhungen der Maſſorethen
unmoͤglich geworden ſey. Nun ſehen Sie, ſetzte ich
hinzu, daß das alte und neue Teſtament uͤber den Punct
einig ſind, Chriſtus habe die Menſchen erloͤſet. Dieſe
Uebereinſtimmung muß Jhnen ſchon wieder eine nicht
unbetraͤchtliche Vermuthung von der Wahrheit der
Sache geben.
Wenn man argwoͤhniſch ſeyn wollte, ſagte er
hierauf, ſo koͤnnte man ſagen: Chriſtus habe ſich uͤber-
haupt nach den Weißagungen der Propheten von dem
Meſſias zu bilden geſucht, um dieſe große Perſon zu
ſpielen. Haͤtte er das gewollt, ſetzte ich hinzu, ſo wuͤrde
er ſie wohl nach den Vorurtheilen der Juden geſpielt,
und einen irdiſchen Held haben vorſtellen wollen. Aller-
dings, antwortete er, er wuͤrde dann ganz andre Mittel
gebraucht haben. Ein Betruͤger kann nicht ſo ganz den
ehrlichen Mann nachmachen. Ueber dieß kommen in den
Propheten Umſtaͤnde des Meſſias vor, die Chriſtus gar
nicht in ſeiner Gewalt hatte. Z. Ex. daß das Loos uͤber
ſeinen Rock geworfen, und daß er gekreuzigt ward. Je-
nes hieng ſowohl als dieſes von zufaͤlligen Umſtaͤnden ab.
Waͤren damals nicht die Roͤmer Herren in Jeruſalem
geweſen, ſo wuͤrde nicht gekreuzigt ſondern etwa
geſteinigt worden ſeyn.
Wir giengen nun folgende Stellen des neuen
Teſtamentes mit einander durch. Jch erklaͤrte jeden vor
ſich, und zeigte ihm, daß in allen der Satz liege von
dem
[103]
dem die Rede ſey: Chriſtus hat fuͤr uns gelitten, und
uns dadurch von den Strafen der Suͤnde in der Ewigkeit
befreyt. Joh. 1, 29. Matth. 20, 28. Matth. 26, 28.
Roͤm. 3, 24. Roͤm. 4, 25. Roͤm. 8, 31-34. Col. 1, 14.
1 Tim. 2, 5-6. 1 Tim. 1, 15. 1 Petr. 1, 18. 1 Petr.
3, 18. 1 Joh. 1, 7. 1 Joh. 2, 12. Jch erinnerte zuletzt,
daß ich dieſe Stellen noch nicht als Beweiſe angefuͤhrt
haͤtte, ſondern nur in der Abſicht aus denſelben den wah-
ren bibliſchen Sinn der Lehre von der Verſoͤhnung durch
Chriſtum herzuleiten.
Ehe ich nun von Jhnen verlangen kann, ſetzte
ich hinzu, daß Sie dieſe Lehre mit voͤlliger Ueberzeugung
fuͤr Wahrheit erkennen und alſo an Chriſtum glauben
ſollen, iſt es noͤthig, daß wir vorher unterſuchen, ob ſie
mit den uns bekannten goͤttlichen Eigenſchaften uͤberein-
ſtimme, das iſt, ob ſie von Gott offenbahrt ſeyn koͤnne.
Sollten wir durch dieſe Unterſuchung finden, ſie wider-
ſpraͤche etwa der Weisheit oder Guͤte Gottes, ſo waͤre
ich verbunden ſie fahren zu laſſen, und Sie, ſie nicht
anzunehmen. Faͤnden wir ſie aber damit uͤbereinſtim-
mend, ſo ſehe ich nicht, wie Sie ſich vor Gott und Jh-
rem Gewiſſen rechtfertigen koͤnnten, wenn Sie ſie nicht
annehmen wollten. Denn ſie wird durch den Character,
die Moral und die Wunder der Hauptperſon beſtaͤtigt,
ſie iſt der einzige Troſt, den ein bekuͤmmertes Gewiſſen
finden kann, ſie iſt der maͤchtigſte Antrieb zur Rechtſchaf-
fenheit und zu aller Tugend. — Der Graf geſtand ein,
daß wenn in dieſer Lehre kein Widerſpruch gegen irgend
eine goͤttliche Eigenſchaft laͤge, ſo koͤnne man nicht anders
als ſie fuͤr wahr erkennen.
Zu dieſer Unterſuchung, ob die Lehre von der
Verſoͤhnung Gottes wuͤrdig ſey, oder mit ſeinen Eigen-
ſchaften uͤbereinſtimme, ſind wir berechtigt und verbunden:
G 4aber
[104]
aber nicht tauſend unnoͤthige und unbeantwortliche Fra-
gen aufzuwerfen. Z. Ex. Warum denn dieſe Art der
Verſoͤhnung nothwendig ſey? Warum Gott ſie nicht
fruͤher veranſtaltet habe? u. ſ. w. Dieſe Lehre iſt keine
Erfindung der Vernunft. Sie haͤtte ohne Offenbahrung
in keines Menſchen Verſtand kommen koͤnnen. Die
Vernunft kann ſie ſich alſo auch nicht von allen Seiten
ins Licht ſetzen, eben ſo wenig als ſie ſie hat erfinden
koͤnnen. Alle ſolche Fragen ſind uͤberfluͤſſig und unbe-
ſcheiden, wenn einmahl ausgemacht iſt: Gott hat die
Sache offenbahrt. Die Vernunft muß dann zufrieden
ſeyn, wenn ihr nicht zugemuthet wird, Widerſpruͤche fuͤr
Wahrheiten zu erkennen. Den ganzen Zuſammenhang
zu durchſchauen iſt ſie zu kurzſichtig. Sie iſt auch gewohnt
natuͤrliche Wahrheiten ohne eine ſolche vollkommene Ein-
ſicht zu glauben. Und Gott, wenn er ſich deutlich offen-
bart, hat das Recht von uns zu fordern, daß wir ihm
allenfalls auf ſein Wort glauben ſollen. Solche Fragen,
von denen ich rede, ſind vorwitzige Fragen eines Kindes.
Der kluge Vater, welcher weiß, daß das Kind die Ant-
worten nicht zu faſſen faͤhig iſt, oder aus ihnen Materie
zu tauſend andern unnuͤtzen Fragen nehmen wird, ver-
weiſet es mit Recht zur Gedult, und verlangt, es ſolle
ſich auf ſeine Verſicherung von der Wahrheit der Sache
verlaſſen. — Der Graf bezeugte auch hier ſeinen voͤlli-
gen Beyfall.
Die Lehre von der Verſoͤhnung der Welt durch
Chriſtum iſt das weſentliche des chriſtlichen Glaubens.
Wer ſie laͤugnet, der kann ein verſtaͤndiger, natuͤrlich
guter Menſch ſeyn, aber ein Chriſt iſt er nicht: und ha-
ben die Chriſten, als Chriſten, in der Ewigkeit vorzuͤgliche
Vortheile zu erwarten, ſo kann er darauf keinen Anſpruch
machen. Wer hingegen dieſe Lehre annimmt, nach der
Anweiſung derſelben an Jeſum glaubt, und ſeinen Vor-
ſchriften
[105]
ſchriften gemaͤß handelt, ſo viel er Zeit und Gelegenheit
dazu hat, der iſt ein Chriſt, und darf ſich zuverſichtlich
die Begnadigung verſprechen, die Gott den Chriſten
durch Chriſtum verheißen hat. Daraus folgt, daß wir
allenfalls, wenn Jhre Zeit, Herr Graf, zu kurz ſeyn
ſollte, andere theoretiſche Lehrſaͤtze des Chriſtenthums
unausgemacht laſſen koͤnnen, zumahl ſolche, uͤber die die
Chriſten unter einander ſelbſt nicht einig ſind. Nur die-
jenigen muͤſſen Sie nothwendig annehmen, die mit der
Lehre von der Verſoͤhnung durch Chriſtum ſo genau zu-
ſammenhaͤngen, daß Sie aufhoͤren muͤßten dieſe fuͤr wahr
zu halten, wenn Sie jene laͤugnen wollten.
Herr Graf, Jhre Seeligkeit liegt mir ſehr am
Herzen. Die Gewißheit davon wuͤrde mir mein ganzes
Leben herdurch eine beruhigende und aufheiternde Sache
ſeyn. Jch bin aber uͤberzeugt, es iſt fuͤr Sie kein Heil
als durch Jeſum. Jch bitte Sie alſo aufs angelegent-
lichſte, daß Sie nun, da Sie ihm ſchon ſo nahe gekom-
men ſind, nicht ablaſſen noch ermuͤden. Eilen Sie, ſo
ſehr Sie koͤnnen. Die Wahrheit muß noch Zeit haben
ſich in Jhrer Seele zu befeſtigen. Wir muͤſſen auch Zeit
zur Uebung des Chriſtenthums uͤbrig behalten. — Er
verſicherte mich, daß er mir und ſich nicht nur gar keine
Schwuͤrigkeiten machen, ſondern vielmehr allen ſeinen
Fleiß anwenden wuͤrde, von einer Wahrheit, an der ihm
ſo viel gelegen ſeyn muͤße, ſo bald es moͤglich waͤre, uͤber-
zeugt zu werden. Er haͤtte ja keinen Troſt als von dieſer
Seite zu hoffen; warum er denn nicht begierig ſeyn ſolle
deſſelben bald theilhaft zu werden?
Jch fand ihn hier wieder auf einmahl ſehr ge-
ruͤhrt, und er klagte mir mit Thraͤnen in den Augen, daß
ſeine alte Vorſtellung von dem gaͤnzlichen Aufhoͤren der
Exiſtenz nach dem Tode ihm noch zuweilen einfiele, und
G 5ihn
[106]
ihn beunruhigte. Jch antwortete ihm, es ſey freylich ſehr
ſchwer ſolche Jdeen ganz abzulegen, mit denen man ſich
aus Liebe zu ſeinen Luͤſten lange und mit Wohlgefallen
beſchaͤfftigt haͤtte. Doch hoffe ich gewiß, es wuͤrde ihm
gelingen ſich voͤllig von der ſeinigen loszumachen, wenn
er nur die entgegengeſetzten Gruͤnde beſtaͤndig vor Augen
zu behalten ſuchte. Sollten ihm dieſe ja zuweilen nicht
helle und eindringend genug gegenwaͤrtig ſeyn, ſo muͤſſe
er ſich nur gleich daran erinnern, in welchem Licht und
mit welcher Ueberzeugung er die Ewigkeit in den Schrift-
ten, die er daruͤber geleſen, erwieſen gefunden haͤtte.
Er fragte mich hier: ob ich denn nie an der Ewigkeit
gezweifelt haͤtte. Nein, antwortete ich, ich habe ſie
von jeher meiner Natur und meinen Wuͤnſchen gemaͤß
gefunden, ich habe fruͤhzeitig ihre Beweiſe kennen gelernt.
Auch dieſes mahl bezeugte er mir ſeinen Kummer
daruͤber, daß er befuͤrchte, ſeine Reue moͤchte nicht leben-
dig genug ſeyn. Ach! ſetzte er hinzu, moͤchte ich nur
recht gewiß von der Rechtſchaffenheit meiner Bekehrung
werden! Wie mache ich das? “Haben Sie nichts in
den Reden Jeſu geleſen, das Jhnen dieſe Frage beant-
wortet?„ Er antwortete: Jeſus ſagt, an ihren Fruͤch-
ten ſollt ihr ſie erkennen. “Nun, ſo bringen Sie denn
Fruͤchte der Beſſerung. Dieſe ſind das einzige Mittel
wodurch Sie ſelbſt und andere Menſchen von der Recht-
ſchaffenheit Jhrer Bekehrung gewiß werden koͤnnen.
Der Allwiſſende, der Herzen und Nieren pruͤft, braucht
zwar ſolche Beweiſe nicht um Sie richtig zu beurtheilen,
ob er ſie gleich mit Recht fordert. Aber Sie ſelbſt
und ich koͤnnen derſelben nicht entbehren. Denken Sie
daruͤber nach, was Sie etwa noch gutes thun koͤnnen.
Waͤhlen Sie ſich ſolche gute Handlungen, wobey Sie
Jhre Ambition, Jhre ehemaligen uͤbertriebenen Vor-
ſtellungen von der Unfehlbarkeit Jhrer Einſichten aufopfern
muͤſſen;
[107]
muͤſſen; die es beweiſen, daß Sie nun demuͤthig ſind,
wodurch boͤſe Eindruͤcke, die Sie bey andern veranlaßt
haben, wieder ausgeloͤſcht werden koͤnnen. Finden Sie
ſich willig zu ſolchen Entſchließungen, ſo koͤnnen Sie
ſehen, daß Jhre Geſinnungen geaͤndert und gebeſſert ſind,
und darin beſteht ja die retſchaffene Bekehrung und Sin-
nesaͤnderung. Jch will Jhnen gleich einen Vorſchlag
thun. Es betruͤbt Sie, daß Sie manche von Jhren
ehemaligen Freunden gegen die Religion durch Mitthei-
lung Jhrer Grundſaͤtze eingenommen haben. Widerrufen
Sie dieſe Grundſaͤtze oͤffentlich. Setzen Sie eine Nach-
richt fuͤr die Welt auf, von den Geſinnungen, mit wel-
chen Sie zu ſterben gedenken, und von der Art, wie ſie
bey Jhnen entſtanden ſind.„ — Dieſer Vorſchlag gefiel
ihm. Das will ich thun, ſagte er, ich will daruͤber
nachdenken, wie ich einen ſolchen Aufſatz am nuͤtzlichſten
einrichten koͤnne.
Endlich wuͤnſchte er ſehr, daß er doch eine leb-
hafte Empfindung von dem Troſte der Religion erlangen
moͤchte. Er riefe Gott herzlich darum an. Und Gott,
antwortete ich, wird Jhr Gebet erhoͤren. Wenn Sie
erſt vom Chriſtenthum uͤberzeugt, und ſichs bewußt ſind,
daß Sie Jhre Geſinnung, ſo weit es Jhnen moͤglich
iſt, nach den Vorſchriften deſſelben gebeſſert haben, ſo
wird dieſe Empfindung von ſelbſt folgen. Ueberzeugt,
ſagte er hierauf, hoffe ich zu werden. Jch habe ſonſt
immer geglaubt, das Chriſtenthum ſey eine Sache, wo-
bey man aller Vernunft entſagen muͤſſe. Und nun ſehe
ich ſchon, daß nichts vernunftmaͤßiger bewieſen werden
kann, als eben das Chriſtenthum. Und das verſpreche
ich Jhnen auch, daß ich allen Fleiß anwenden will,
meine Geſinnungen nach dem Willen Gottes einzurichten.
So werden Sie auch, ſetzte ich hinzu, ruhig werden und
den Troſt des Evangelii empfinden. Bey dem allen aber
koͤnnen
[108]
koͤnnen Sie doch wohl in den letzten Tagen Jhres Lebens
und beym Hingange zum Tode Furcht und Aengſtlichkeit
verſpuͤren. Jch ſage Jhnen dieß zum Voraus, damit
Sie alsdann nicht glauben moͤgen, es fehle der Religion
an Troſt im Tode. Die natuͤrliche Furcht vor dem Tode,
die ſchrecklichen Umſtaͤnde des ihrigen, das Bewußtſeyn,
daß Sie ſich ihn ſelbſt durch Jhre Vergehungen zugezo-
gen haben, wird ſie nicht wegnehmen. Aber in die
Èwigkeit werden Sie durch ſie mit Ruhe und Hoffnung
hinausblicken lernen.
Er hatte den Bonnet durchgeleſen, und bezeugte
ſeine große Zufriedenheit uͤber dieß Buch. Die Bonnet-
ſche Hypotheſe zur Erklaͤrung der Wunder hatte ihm be-
ſonders wohlgefallen, und viele Zweifel bey ihm auf ein-
mahl gehoben. Da ich wußte daß Rouſſeau einer von
ſeinen liebſten Schriftſtellern geweſen war, ſo beſorgte
ich, die Einwuͤrfe dieſes Verfaſſers gegen die Wunder
Chriſti moͤchten ihm etwa wichtig ſcheinen. Jch brachte
ihm deswegen des Herrn Claparede Schrift von den
Wundern des Evangelii, um ihm zu zeigen, wie ſchwach
ſelbſt Roußeaus Einwendungen gegen dieſe Thatſachen
ſind. Die Glaubwuͤrdigkeit der Wunder, ſagte ich,
unterſteht ſich niemand durch Pruͤfung der Zeugniſſe zu
widerlegen, auf welchen ſie beruht. Laͤugnen aber moͤchte
man ſie doch gerne, deswegen macht man bald Vernunft-
ſchluͤſſe gegen dieſe Thatſachen, bald will man ſie zu
Allegorien umſchaffen, bald laͤugnet man, gegen die
ausdruͤcklichen Ausſpruͤche Jeſu, der es doch am zuver-
laͤſſigſten ſagen konnte, in welcher Abſicht er Wunder
that, daß er ſie gethan habe, um die Wahrheit ſeiner
Lehre dadurch zu beweiſen. Dieß letztere iſt der Weg,
den Roußeau am meiſten betritt. Sie muͤſſen ſelbſt in
der Geſchichte Jeſu die Stellen angetroffen haben, wo
er ſich zum Beweiſe der Goͤttlichkeit ſeiner Sendung auf
ſeine
[109]
ſeine Wunder beruft. Urtheilen Sie nun ſelbſt, was in
dieſem Stuͤcke von Roußeau zu halten iſt, ob er nicht
entweder unredlich zu Werke geht, oder doch wenigſtens
gegen Wahrheiten ſchreibt, die er ſich nicht einmahl die
Muͤhe gegeben hat, in ihren Quellen zu unterſuchen.
Zehnte Unterredung, den 20ſten Maͤrz.
Jn dieſer Unterredung wollte ich den Grafen zu uͤber-
zeugen ſuchen, daß die Vernunft nichts gegruͤndetes
gegen die Lehre von der Verſoͤhnung der Welt durch
Chriſtum einwenden koͤnne. Jch habe ſelbſt uͤber die
Sache, von der wir heute handeln wollen, ſchon nach-
gedacht; ſo fieng er unſre Unterredung an. Vielleicht
will Gott dadurch, daß er fuͤr die Lehre von der Erloͤſung
unſern Glauben fordert, unſre Geſinnungen gegen ſeine
Vorſchriften pruͤfen. Und wenn das iſt, ſo ſind wir
ſchon aus dieſem Grunde verbunden ſie anzunehmen.
“Wir ſind freylich verbunden alles zu glauben, wovon
wir gewiß ſind, daß es Gott offenbahrt hat. Jch hoffe
aber Jhnen heute noch zu zeigen, daß die Lehre von der
Verſoͤhnung noch naͤher zu unſrer Vernunft gebracht wer-
den kann, in ſo ferne ſie fuͤr die Eigenſchaften Gottes ſo
verherrlichend und unſrer Gluͤckſeeligkeit ſo ſehr gemaͤß
iſt. Verlangen Sie nur nicht verborgene Rahtſchluͤſſe
Gottes einzuſehen, ſondern ſeyn Sie damit zufrieden,
uͤberzeugt zu werden, daß Gottes Vollkommenheiten
uns durch die Lehre von der Verſoͤhnung der Welt weit
verehrungswuͤrdiger werden, als wir ſie ſonſt erkennen
wuͤrden, und daß unſer Heil durch ſie augenſcheinlich
befoͤrdert wird: ſo wird Jhre Vernunft gewiß befrie-
digt ſeyn.„
Derjenige wuͤrde gewiß zu viel wagen, der die
Lehre von der Verſoͤhnung deswegen fuͤr unvertraͤglich mit
den
[110]
den Eigenſchaften Gottes halten wollte, weil ihm etwa
die Methode Gottes bey dieſer Sache nicht gefiele, oder
weil er nach ſeiner eingeſchraͤnckten Einſicht glaubte,
Gott haͤtte ſeine Abſicht, uns mit ſich zu verſoͤhnen, auf
einem andern bequemern Wege erreichen koͤnnen. Wenn
ein Verſtaͤndigerer als ich mich gluͤcklich machen will,
und ich ſehe ein, daß der Vorſchlag, den er mir in die-
ſer Abſicht thut, ſeiner wuͤrdig und mir vortheilhaft iſt,
iſt es dann anſtaͤndig, daß ich ihn mistrauiſch frage:
Warum machſt du es ſo, und nicht anders? Wir koͤnnen
ja dieſen Weg Gottes nicht ganz uͤberſehen, wir koͤnnen
ja nicht wiſſen, wie unumgaͤnglich nothwendig eben dieſe
Art der Verſoͤhnung nach den Abſichten Gottes war,
und was fuͤr große Wuͤrkungen ſie in dem Plan der goͤtt-
lichen Regierung haben ſoll, der aufs Ganze geht. Wir
finden auch ſelbſt in der ſichtbaren Welt, in der Schoͤ-
pfung und Vorſehung, vieles, das nach unſern Vorſtel-
lungen unſchicklig iſt, und wovon doch der Erfolg zeigt,
daß es wuͤrdig ſey, von Gott herzuruͤhren. Die Eigen-
ſchaften Gottes, die hier in Betrachtung kommen, ſind
die Liebe, die Weisheit, die Heiligkeit, die Gerechtig-
keit. Die Erloͤſung der Welt iſt eine moraliſche Ope-
ration: es kommt alſo hier auf Gottes moraliſche Eigen-
ſchaften an.
Jn welch ein ehrwuͤrdiges Licht ſehen Sie die
Liebe Gottes durch die Lehre von der Verſoͤhnung geſetzt!
Wenn Gott die Menſchen den Folgen ihrer Vergehun-
gen huͤlflos uͤberlaſſen haͤtte, ſo haͤtte ihn niemand beſchul-
digen koͤnnen, er habe keine Liebe gegen ſeine Geſchoͤpfe.
Man haͤtte denken muͤſſen, es gienge nun nicht anders an,
die Menſchen haͤtten es ja ſelbſt nicht beſſer haben wollen.
Aber nun will Gott die Suͤnder, die ſich ſelbſt ungluͤck-
lich gemacht haben, indem ſie feindſeelig gegen ihn und
ſeine Abſichten handelten, gleichwohl gluͤcklich machen.
Er
[111]
Er will es ſo ernſtlich, daß er das, was ihm ſelbſt das
theuerſte iſt, die Perſon, welche er ſeinen Sohn nennt,
und mit der er durch die innigſte Liebe verbunden iſt,
fuͤr die Uebertreter aufopfert. Das Heil, welches er
ihnen dadurch zuwenden will, uͤbertrifft alle ihre Erwar-
tungen, iſt eine Gluͤckſeeligkeit, deren gleichen nicht in
der Welt iſt, und die ewig fortdauren und anwachſen
ſoll. Koͤnnen Sie ſich eine goͤttlichere Liebe vorſtellen als
dieſe: fuͤr ſeine Feinde giebt Gott ſeinen Sohn dahin, um
ſie ewig hoͤchſt gluͤcklich zu machen? Glauben Sie wohl,
daß die menſchliche Vernunft, wenn ſie ihre Vorſtellun-
gen von der Liebe Gottes aufs hoͤchſte haͤtte treiben wollen,
eine ſolche Groͤße derſelben auch nur haͤtte fuͤr moͤglich
halten koͤnnen? Sagen Sie mir nun, ob die Lehre von
der Verſoͤhnung durch Chriſtum der goͤttlichen Liebe wi-
derſpricht, oder ſie vielmehr unendlich verherlicht. —
Dieſe Vorſtellung machte ſehr viel Eindruck auf den
Grafen. Er ward ſo ſehr von Bewunderung und Dank-
barkeit durchdrungen, daß er Freudenthraͤnen vergoß.
Nimmer, ſagte er, haͤtte die Vernunft es wagen duͤrfen,
ſich die Liebe Gottes ſo groß vorzuſtellen, ſie wuͤrde auch
nie von ſelbſt auf einen ſolchen Gedanken gerathen ſeyn.
Auch die Weisheit Gottes, fuhr ich fort, wird
durch die Lehre von der Verſoͤhnung verherrlicht. Nie
zeigt ſich die Weisheit eines Regenten ſichtbarer, als
wenn er durch eine ganz einfache Operation alle ſeine Un-
terthanen in den Stand ſetzt gluͤcklich zu werden. Eine
ſolche Operation Gottes iſt die Verſoͤhnung der Welt
durch Chriſtum. Ein einziger leidet die Strafe, und
alle werden dadurch von derſelben frey. Wenn etwa
Gott den zehnten oder hunderten oder tauſenden Suͤnder
beſtraft haͤtte, um die uͤbrigen begnadigen zu koͤnnen, ſo
waͤre das ſchon weit einfacher geweſen, als ſie alle zu
ſtrafen. Nun aber legt er die Laſt des ganzen menſchlichen
Geſchlechts
[112]
Geſchlechts auf einen Einzigen, der ſtark genug iſt, ſie
zu tragen. Konnte wohl die Veranſtaltung, die Gott
machte, einfacher ſeyn? Und ſo einfach ſie iſt, ſo kann
doch allen dadurch geholfen werden. Alles, was ein
jeder dabey zu thun hat, iſt dieſes, daß er die angebotene
Wohlthat annehme, das iſt, an Jeſum glaube, und
ſich ſorgfaͤltig vor neuen Suͤnden huͤte. Jenes ſetzt
nichts weiter voraus, als Gefuͤhl des Elendes der Suͤnde
und Gebrauch der geſunden Vernunft: zu dieſem wuͤrde
der Menſch verbunden ſeyn, wenn auch kein Erloͤſer
waͤre. Wie einfach, wie billig, wie weiſe ſind auch
dieſe Bedingungen! Sagen Sie nicht: die Abſicht Got-
tes, daß allen geholfen werden ſoll, wird doch nicht erreicht.
Gott kann niemand mit Gewalt zwingen gluͤckſeelig zu
werden. Es iſt die eigne Schuld derer, die das Evan-
gelium haben, wenn ſie gleichwohl verloren gehen. Die
es nicht haben, die verdammt die Schrift auch nicht.
Wir koͤnnen nicht wiſſen, auf welche uns verborgene Art
ſie durch die Gnade Gottes in Chriſto gleichwohl ſeelig
werden koͤnnen. — Jch ſchlug ihm hiebey Roͤm. 1, 19.
auf, erklaͤrte ihm die Stelle, und zeigte ihm daraus,
daß die Heiden nicht deswegen als Suͤnder beſchrieben
wuͤrden, die keine Entſchuldigung haͤtten, weil ihnen die
Lehre von der Verſoͤhnung unbekannt waͤre, ſondern
weil ſie die natuͤrliche Erkenntniß von Gott, die ſie doch
haben koͤnnten, vernachlaͤſſigten, und ſich den Begierden
und Laſtern uͤberließen. — Er begriff es auch, daß die
Weisheit Gottes durch die Lehre von der Verſoͤhnung
geprieſen werde. Jch hatte dieſe Wendung des Vortra-
ges gewaͤhlt, weil ich wußte, daß er das Einfache in der
Lebensart, in den Wiſſenſchaften, in den Regierungsfor-
men immer fuͤr das Vorzuͤglichſte erklaͤrt hatte.
Jch mußte ihm nun noch zeigen, daß die Lehre von
der Verſoͤhnung auch mit der Heiligkeit und Gerechtigkeit
Gottes
[113]
Gottes uͤbereinſtimme. Gott iſt heilig, ſagte ich hier,
weil er einen unuͤberwindlichen Abſcheu an dem morali-
ſchen Uebel hat. Finden Sie nun etwas in der Haupt-
lehre des Chriſtenthums, das der Heiligkeit Gottes nach-
theilig iſt? Warum machte Gott ſeine große Veranſtal-
tung durch Chriſtum? Seine Liebe konnte ſeiner Heiligkeit
nicht widerſprechen. Haͤtte er jene an den Suͤndern
bewieſen, ohne ſeinen Abſcheu an ihren Suͤnden zu er-
klaͤren, ſo haͤtte der Menſch denken koͤnnen, Gott mache
ſich nichts daraus, ob man ſuͤndige oder nicht. Und
waͤre es dann nicht um unſre Erkenntniß und Ueberzeu-
gung von ſeiner Heiligkeit geſchehen geweſen? Nun aber
ſehen wir, ſeine Heiligkeit, ſeine Verabſcheuung der
Suͤnde, iſt eben ſo groß als ſeine Liebe. Er will den
Suͤndern vergeben; er kann es aber nicht, ohne ſie von
ſeinem Haß gegen ihre Suͤnde zu uͤberzeugen. Er laͤßt
alſo ſeinen Sohn fuͤr ſie ſterben, ehe er ſie begnadigt.
Denken Sie nach, ob Sie ſich eine Art erſinnen koͤnnen,
wie Gott, ohne die Menſchen ſelbſt zu ſtrafen, ihnen
nachdruͤcklicher haͤtte zeigen koͤnnen, wie verhaßt ihm das
moraliſche Uebel ſey.
Endlich faͤllt es auch ſehr in die Augen, daß die
Gerechtigkeit Gottes nicht allein mit der Lehre der Ver-
ſoͤhnung ſehr wohl beſtehe, ſondern auch in unſern Vor-
ſtellungen von ihr viel dadurch gewinnen muß. Gerecht
mußte ſich Gott gegen die Suͤnder beweiſen; ſeine Guͤte
wuͤrde ſonſt nicht zugleich Weisheit, ſie wuͤrde Schwach-
heit geweſen ſeyn. Er verzeiht alſo nicht ohne geſtraft
zu haben. Nun ſtraft er, aber nur Einen, aber einen
ſolchen, der durch die Hoheit ſeiner Natur und ſeines
Characters wuͤrdig iſt, das ganze menſchliche Geſchlecht
vorzuſtellen. Hier koͤnnte Jhnen nun freylich einfallen,
daß dieſer Einzige gleichwohl unſchuldig war. Aber er
ward ja auch nicht gezwungen die Strafen der Suͤnder
Hauf
[114]
auf ſich zu nehmen. Er war Gottes beſonderſter Freund,
und that es mit Freuden um die liebſte Abſicht Gottes zu
befoͤrdern; er war der erſte Menſchenfreund, ward ſelbſt
ein Menſch, und that es willig, um ſeine Bruͤder, die er
unausſprechlich liebte, gluͤcklich zu machen. — Jch erin-
nerte ihn hier an denhonnéte criminel des Favart,
und er geſtand zu, er habe die Handlung des Sohns,
der ſich fuͤr den Vater auf die Galeren bringen ließ,
immer ſehr edel gefunden; es koͤnne alſo der Analogie
nicht zuwider ſeyn, daß ein Unſchuldiger fuͤr einen oder
mehrere Schuldige litte.
Wir betrachteten endlich noch die Lehre von der
Verſoͤhnung in Beziehung auf die menſchliche Gluͤckſee-
ligkeit. Wir fanden in ihr ein ſehr wuͤrkſames Mittel
derſelben. Sie bietet uns das beſte Heil an. Sie weiſet
uns an, ſie macht uns geſchickt zum Gebrauch alles deſſen,
wodurch uns dieß Heil gewiß gemacht werden kann.
Zur Liebe gegen Gott. Denn nichts kan uns ihn liebens-
wuͤrdiger machen, als dieſer Gedanke: Er hat uns ſo
ſehr geliebt, daß er ſeinen einigen Sohn fuͤr uns dahin
gab! Zum Gehorſam gegen ſeine Gebote, die ganz auf
unſer Beſtes abzielen. Jch wuͤßte dazu keinen ſtaͤrkern
Bewegungsgrund als dieſen: Gott iſt das heiligſte We-
ſen, der gerechteſte Richter. Er iſt es ſo ſehr, daß
ſelbſt die Verſoͤhnung durch Chriſtum an mir vergeblich
iſt, wenn ich nicht meinen moͤglichſten Fleiß anwende,
moraliſch gut, das iſt, fromm zu ſeyn. — Sie ſehen
hieraus, ſetzte ich hinzu, wie ſehr diejenigen dem Chri-
ſtenthum Unrecht thun, welche vorgeben, der Glaube an
Jeſum befoͤrdere die Suͤnden. Nach dem Sinne der
Schrift iſt kein andrer Glaube wahr, als der, welcher
Rechtſchaffenheit und Froͤmmigkeit wuͤrkt. Es iſt auch
nur unter der Bedingung dem Glauben die Seeligkeit
verſprochen, daß er ſolche Fruͤchte bringe, ſo weit der
Menſch
[115]
Menſch Zeit und Gelegenheit dazu hat. Aus dem Grun-
de, Herr Graf, dringe ich auch ſo ſehr darauf, daß
Sie noch ſo viel Gutes thun ſollen, als Sie koͤnnen.
Jch ſehe nun nichts mehr, was Sie hindern
koͤnnte ein Chriſt zu werden. Jhre Beduͤrfniß treibt
Sie dazu an. Sie ſehen die Ewigkeit ganz nahe vor
ſich. Jhr Gewiſſen iſt beſchwert, und fuͤrchtet den Zorn
Gottes. Jhre Vernunft weiß Jhnen nicht zu rahten,
und das einzige Mittel der Beruhigung und des Troſtes,
wornach Sie ſich ſehnen, das in der Welt zu finden iſt,
und das viele tauſend verſtaͤndige Leute bewaͤhrt gefunden
haben, iſt der Glaube an Jeſum. Sie wiſſen, dieſer
Jeſus iſt von Gott vollkommen beglaubiget, als ein Ge-
ſandter Gottes an die Menſchen. Und Sie ſehen itzt,
daß das Mittel, welches er Jhnen anpreiſt, Gottes wuͤr-
dig iſt. Sie koͤnnen alſo nun, wenn Sie Jhre Gluͤck-
ſeeligkeit lieben, nicht anders, als dieſes Mittel ergreifen,
das iſt, an Jeſum glauben. Hoͤren Sie auf, Herr
Graf, ein ungluͤcklicher Mann zu ſeyn. Glauben Sie
an Jeſum, ſo ſind Jhnen Jhre Suͤnden vergeben, und
Jhr Tod wird Jhnen der Eingang in eine gluͤckſeelige
Ewigkeit werden. —
Nun folgte ein Auftritt, der mir unausſprechlich
ruͤhrend war. Nie habe ich eine ſolche Freude empfun-
den, nie bin ich mir der Gluͤckſeeligkeit, einen Suͤnder
vom Jrrthum ſeines Weges zuruͤckgebracht zu haben, ſo
gewiß und mit einer ſolchen zaͤrtlichen Erhebung meines
Herzens bewußt geweſen. Jch will dieſer feyerlichen und
freudenvollen Stunde nie vergeſſen, nie aufhoͤren Gott
dafuͤr zu danken. Jch muͤßte der groͤßeſte Thor ſeyn,
ſagte der Graf, wenn ich bey ſo uͤberwiegenden Bewei-
ſen, bey einer ſolchen Wohlthaͤtigkeit, das Chriſtenthum
nicht mit Freuden annehmen wollte. Es wuͤrkt auch ſo
H 2ſehr
[116]
ſehr auf mein Herz. Wenn ich die Geſchichte Jeſu leſe,
ſo weine ich oft vor Empfindung. Jch gedenke auch
ſchon mit Hoffnung an meinen Tod. Jch habe mich mit
den fuͤrchterlichen Umſtaͤnden deſſelben bekannt gemacht.
Jch weiß nicht, wie mir zu Muthe ſeyn wird, wenn die
Stunde kommt. Jtzt bin ich nicht unruhig daruͤber,
und finde nichts mehr, das mich an das Leben binde.
Jch will die Hoffnung der Vergebung meiner Verge-
hungen getroſt auf Chriſtum gruͤnden. Und Jhnen,
wehrteſter Freund, danke ich von Herzen, daß Sie
mich ſo weit gebracht haben. Jch umarmte ihn, ver-
mahnte ihn Gott dafuͤr zu danken, und wir beteten mit
einander. —
Jch wollte ihn nun verlaſſen, aber er wuͤnſchte,
daß ich noch eine halbe Stunde bey ihm bleiben moͤchte.
Folgendes iſt das merkwuͤrdigſte von dem, was wir noch
mit einander redeten.
Wir waren einig darin, daß die bloße Vernunft
die Lehre von der Verſoͤhnung nicht haͤtte erfinden koͤnnen.
Auch die feurigſte Einbildungskraft, ſetzte ich hinzu,
wuͤrde es nicht haben wagen koͤnnen, ſich vorzuſtellen,
Gott habe ſeinen Sohn fuͤr die Suͤnder dahingegeben.
Schon dieß macht es vermuthlich, daß dieſe Lehre einen
hoͤhern Urſprung hat. Und geſetzt, ein Menſch haͤtte
ſich das einfallen laſſen, und nun ſeinen Gedanken an-
dern mitgetheilt, was meynen Sie, wuͤrde er den Bey-
fall und Glauben gefunden haben, den die Apoſtel doch
wuͤrklich fanden? Nein, antwortete er, man wuͤrde
dieſen Gedanken fuͤr den ausſchweifendeſten gehalten
haben, den jemals ein Menſch gehabt haͤtte, er wuͤrde
mit ſeinem Erfinder wieder verlohren gegangen und
vergeſſen worden ſeyn.
Jch
[117]
Jch habe an dem Grafen Struenſee ein merk-
wuͤrdiges Exempel geſehen, wie ſehr ſchwer es iſt, ſich
von falſchen Meynungen loszumachen, die man aus
Liebe zur Suͤnde angenommen und lange mit Wohlgefal-
len ernaͤhrt hat. Er war nun nicht allein von der Falſch-
heit ſeines ehemaligen Grundſatzes, daß auf dieſes Leben
kein anderes folge, voͤllig uͤberzeugt; er hatte das Chri-
ſtenthum, welches ganz auf der Erwartung einer Ewig-
keit gegruͤndet iſt, nach ſorgfaͤltiger Pruͤfung ſeiner Be-
weiſe feyerlich angenommen; er haßte ſeinen vorigen
Gedanken, als die Quelle alles ſeines Ungluͤcks, und
hatte keinen Troſt und keine Hoffnung als in der Erwar-
tung einer beſſern Zukunft: gleichwohl verfolgte ihn die
Jdee, es iſt vielleicht keine Ewigkeit, noch immer, und
verließ ihn erſt ganz einige Tage vor ſeinem Tode. Jch
wuͤnſchte, daß ſein Beyſpiel diejenigen warnen moͤchte,
die ſo ſehr geneigt ſind, jede noch ſo ungereimte Mey-
nung mit Freuden anzunehmen, wenn ſie nur ihren Luͤ-
ſten ſchmeichelt. Es koͤmmt mir noch zuweilen in den
Sinn, ſagte er mit Unwillen und Bekuͤmmerniß, wie,
wenn deine alte Jdee von der gaͤnzlichen Aufhoͤren unſrer
Exiſtenz nach dem Tode doch noch wahr waͤre? Mein
Troſt dabey iſt, daß ich mit Schrecken daran denke,
daß ich mir allemahl zugleich dieſer Empfindung bewußt
bin: es waͤre doch ewig Schade, wenn alle meine Wuͤn-
ſche und Hoffnungen vergeblich ſeyn ſollten! Jch zittre,
wenn mir der unſeelige Gedanke einfaͤllt, und bewaffne
mich ſogleich gegen ihn durch die Erinnerung an ſo viele
uͤberzeugende Gruͤnde, die ich nun fuͤr das Chriſtenthum
und alſo auch fuͤr die Ewigkeit weiß. Jch bin feſt ent-
ſchloſſen, die Regel, nach der ich mir ſonſt vorgenom-
men hatte mich zu verhalten, wenn ich einmahl ſterben
ſollte, nach meiner itzigen Ueberzeugung zu beſtimmen
und zu befolgen. Mein Vorſatz war nemlich dieſer, bey
der Annaͤherung des Todes ſo zu denken: Du haſt ja
H 3deine
[118]
deine Jdee, daß mit dieſem Leben alles zu Ende ſey,
gepruͤft und wahr befunden. Du ſollſt dich alſo, wenn
du einmahl ſterben ſollſt, durch nichts irre machen laſſen,
ſondern in dem Vertrauen ſterben, daß Gott, wenn du
ja geirret haben ſollteſt, ein guͤtiges Weſen ſey. Nun
ſehe ich ein, daß ich mir damals von der Guͤte Gottes
unwuͤrdige Begriffe gemacht habe. Jch habe nun das
Chriſtenthum viel gruͤndlicher unterſucht, als vorhin
mein altes Syſtem, und bin von der Wahrheit deſſelben
durch dieſe Unterſuchung uͤberzeugt worden. Jch will
alſo nun feſt dabey bleiben, und mich weder durch meine
alten Jdeen noch durch neue Zweifel, die mir etwa noch
einfallen moͤchten, wenn ſie auch unaufloͤslich ſeyn ſollten,
wankend machen laſſen. Wenn mir jemand unbeantwort-
liche Einwuͤrfe gegen die Erfahrung machte, daß auf den
ordentlichen Gebrauch der China das Fieber ausbleibt,
ſo wuͤrde ich mich ja daran nicht kehren.
Jn der Bibel, ſagte er auch, laͤſe er fleißig,
ſeit dem ich ſie ihm gegeben haͤtte. Er moͤchte aber wohl
wiſſen, aus was fuͤr Gruͤnden man gewiß waͤre, daß
die bibliſchen Buͤcher wuͤrklich von den Verfaſſern waͤren,
denen man ſie beylegte. Jch hatte eben in der Abſicht,
ihn mit dieſen Gruͤnden bekannt zu machen, des Herrn
D. Leß Buch von der Wahrheit der chriſtlichen Religion
fuͤr ihn mit gebracht. Jch bat ihn daſſelbe zu leſen. Er
wuͤrde dadurch uͤberzeugt werden,daß man nicht ohne
hinlaͤnglichen hiſtoriſchen Beweis, und ein anderer Be-
weis koͤnnte nach der Natur der Sache nicht davon gefuͤhrt
werden, die Buͤcher des neuen Teſtaments fuͤr Schriften
der Evangeliſten und Apoſtel hielte, denen ſie zugeſchrie-
ben wuͤrden; zugleich wuͤrde er auch durch Huͤlfe dieſes
Buchs Gelegenheit haben, die uͤbrigen Beweiſe des
Chriſtenthums noch einmahl durchzugehen, auch ſie
wohl hin und wieder noch verſtaͤrkt finden. Hat man
auch,
[119]
auch, fragte er, hinlaͤngliche Beweiſe fuͤr die Avthenti-
citaͤt der Buͤcher des alten Teſtaments? Doch, ſetzte
er hinzu, darnach brauche ich nicht zu fragen. Jſt das
neue Teſtament wahr, ſo muß es das alte auch ſeyn.
Jch bete nun oft zu Gott um Erleuchtung und Befeſti-
gung in der Wahrheit, und ich bin gewiß, er wird mein
Gebet erhoͤren und meine Bemuͤhungen ſegnen.
Eilfte Unterredung, den 22ſten Maͤrz.
Jch wußte, daß der Graf nun eine Zeitlang durch Ge-
ſchaͤffte, die ſeine ehemalige Situation und ſeinen
Proceß angiengen, ſehr zerſtreut werden wuͤrde. Jch
beſchloß deswegen erſt eine ruhigere Zeit fuͤr ihn abzu-
warten, ehe ich zu den uͤbrigen Hauptlehren des Chri-
ſtenthums in der Ordnung fortgienge, die ich mir vorge-
ſchrieben hatte. Die noͤthige Zeit, ſahe ich, wuͤrde uns
nicht mangeln, und es konnte ihm auch nuͤtzlich ſeyn,
etwas auf dem Wege, auf welchem wir bis hieher ſo
gluͤcklich fortgegangen waren, ſtille zu ſtehen, und ſich
an alles wieder zu erinnern, was er auf demſelben beſſern-
des fuͤr ſeinen Verſtand und fuͤr ſein Herz gefunden hatte.
Unterdeſſen beſuchte ich ihn doch faſt taͤglich, theils um
ihn zu beobachten, und aus ſeinem Reden und Verhal-
ten zu ſchließen, wie Gnade und Wahrheit bey ihm
wuͤrkten; theils, nach der Veranlaſſung, die ich finden
wuͤrde, an der Befoͤrderung meiner Abſicht bey ihm un-
vermerkt fortzuarbeiten.
Er beſchaͤfftigte ſich, als ich zu ihm kam, mit
dem Leßiſchen Buche, welches ich ihm das letzte mahl
gebracht hatte. Es waͤre doch bedenklich, ſagte er, daß
aus dem erſten Jahrhundert ſo wenige Zeugniſſe fuͤr die
Avthenticitaͤt der neuteſtamentlichen Buͤcher vorhanden
waͤren. Doch, ſetzte er hinzu, erinnere ich das gar
H 4nicht,
[120]
nicht, als wenn es mich zweifelhaft oder unruhig machte.
Wenn ich nicht ſehr irre, antwortete ich ihm, ſo muͤſſen
Sie im Leſen ſelbſt ſehr natuͤrliche und beruhigende Urſa-
chen von der Seltenheit dieſer Zeugniſſe bemerkt haben.
Sie werden ſie ſich auch ſelbſt erklaͤren koͤnnen, wenn
Sie nur bedenken wollen, daß die Buͤcher des neuen
Teſtaments nahe an der Mitte und groͤßtentheils erſt in
der letzten Haͤlfte des erſten Jahrhunderts geſchrieben
ſind. Aus dieſer Anmerkung folgt, daß ſie im erſten
Seculo noch nicht in vieler Leute Haͤnden ſeyn konnten,
zumahl da ſie großentheils an einzelne Perſonen und Ge-
meinen gerichtet waren, die die Originale ohne Zweifel
ſorgfaͤltig aufhoben, und vielleicht auch nicht ſogleich
Abſchriften an andre mittheilten. Uberdieß haben wir
auch aus dem erſten Jahrhunderte wenig Schriftſteller,
die fuͤr die Avthenticitaͤt der Buͤcher des neuen Teſta-
ments haͤtten Zeugniſſe ablegen koͤnnen, und in denen
wir berechtigt ſind ſie zu erwarten. Deſto reicher iſt
aber die Erndte derſelben in den naͤchſtfolgenden Zeiten.
u. ſ. w.
Aus der kurzen Anzeige der vornehmſten natura-
liſtiſchen Schriften, die in dieſem Buche enthalten iſt,
ſetzte der Graf hinzu, habe ich geſehen, daß die Ein-
wuͤrfe der beruͤhmteſten Widerſacher der Offenbahrung
von gar keiner Bedeutung ſind. Nicht allein das, ant-
wortete ich, werden ſie geſehen haben, ſondern auch die
Unbilligkeit, den Leichtſinn und die Unzuverlaͤſſigkeit dieſer
Schriftſteller, die ſo oft den nicht ungegruͤndeten Verdacht
gegen ſie erwecken, daß ſie gar nicht willens geweſen
ſind, die Wahrheit zu pruͤfen, ſondern nur ſie zu unter-
druͤcken. Wie oft ſind ſie nicht aufgefordert worden,
wenn ſie ja feindſeelig gegen die Religion handeln woll-
ten, ſie in ihren Beweiſen und Gruͤnden anzugreifen!
Aber anſtatt ſich darauf einzulaſſen, ob dieß gleich die
einzige
[121]
einzige vernunftmaͤßige Art des Angriffs ſeyn wuͤrde,
begnuͤgen ſie ſich damit, hin und wieder einzelne Saͤtze
aus dem Zuſammenhange herauszureißen und ſie aus
einem falſchen Geſichtspuncte anzuſehen; chronologiſche
und geographiſche Schwuͤrigkeiten aufzuſuchen; Ein-
wuͤrfe zu machen, die nur etwa das Bekenntniß dieſer
oder jener Kirche, ja wohl gar nur einzelner Lehrer,
treffen; gewiſſe bibliche Ausſpruͤche, oft nur nach den
Ueberſetzungen gefliſſentlich falſch zu erklaͤren; die Lehren
der Religion von einer laͤcherlichen Seite vorzuſtellen u.
ſ. w. Das alles iſt dem leicht, der Luft dazu hat, und
dem es nicht an der Kunſt fehlt, es auf eine einnehmende
Art vorzutragen; es macht Aufſehen und findet bey denen
Beyfall, deren Herz ſich ſchon wider das Chriſtenthum
erklaͤrt hat: aber es beweiſt nichts, ſo lange der Grund
deſſelben nicht umgeſtuͤrzt wird. Dieſe Art des Angriffs
kommt mir vor, als wenn ſich jemand vorgenommen
haͤtte, ein feſtgebautes Haus uͤber den Haufen zu wer-
fen, aber nun den Grund und die Verbindung deſſelben
unangetaſtet ließe, ſondern nur hin und wieder eine Hand
voll Koth an die Mauer wuͤrfe, oder einige Fenſterſchei-
ben zerbraͤche, oder mit einem Federmeſſer an einigen
Stellen die Farbe abſchabte. Der Bewohner des Hauſes
wuͤrde ſich deswegen nicht fuͤrchten, daß es ihm uͤber
den Kopf zuſammenfallen moͤchte. Faͤnde er es einmahl
der Muͤhe wehrt, ſo ließe er vielleicht die Flecken abwa-
ſchen, neue Fenſterſcheiben einſetzen, und den muhtwilli-
gen Beſchaͤdiger ſeines Hauſes abſtrafen.
Sie haben Recht, antwortete er, ich finde die
Sache ſo wie Sie ſagen, und ich ſchaͤme mich es beken-
nen zu muͤſſen, daß ich mich durch ſo nichts bedeutende
Einwuͤrfe ſo lange von der Wahrheit habe entfernen
laſſen. Nimmermehr haͤtte ich es geglaubt, daß ſo gute
Beweiſe fuͤr das Chriſtenthum verhanden waͤren, und
H 5daß
[122]
daß ſie mich uͤberzeugen wuͤrden. Jch hingegen, ſagte
ich, habe es gleich bey unſern erſtern Unterredungen
gehofft, daß die Wahrheit uͤber Sie ſiegen wuͤrde, und
ich bin dieſes Sieges taͤglich gewiſſer geworden. “Wie
konnten Sie das?„ Jch wußte ja was fuͤr Beweiſe
das Chriſtenthum hat, und dieſe mußten doch nothwen-
dig auf Jhre Vernunft wuͤrken, wenn Sie es nur fuͤr der
Muͤhe wehrt hielten ſie zu unterſuchen, und den Eindruck,
den ſie auf Sie machen mußten, nicht vorſetzlich wieder
ausloͤſchen wollten. Jch merkte gleich, daß Sie die Sache
wichtig funden, ich ſah, Sie laſen mit Fleiß und An-
wendung auf ſich: nun durfte ich hoffen, und meine
Hoffnung durfte zunehmen, ſo wie Sie fortfuhren. Waͤ-
ren Sie ſpoͤttiſch, leichtſinnig, oder auch nur traͤge gewe-
ſen, ſo haͤtte ich weniger und vielleicht gar keine Hoffnung
gehabt, wenigſtens haͤtten wir in ſo kurzer Zeit ſo weit
nicht kommen koͤnnen, als wir nun, Gottlob, gekommen
ſind. Ja, ſagte er, die Buͤcher haben ſehr viel gethan,
beſonders auch Gellerts moraliſche Vorleſungen, und
die Jdee, welche ich von der Vernunft und dem Cha-
rakter des Mannes hatte, wodurch er ſehr viel Autoritaͤt
bey mir bekam.
Moͤchte ich nur noch, ſetzte er mit Bewegung
hinzu, die Freude erleben, daß meine Freunde, die durch
meine Reden und Beyſpiele von Religion und Tugend
entfernt worden ſind, auch von ihrer Verirrung zuruͤck
kaͤmen. Beſonders liegt mir in dieſer Abſicht Graf
Brandt am Herzen. Jch hoͤre, er ſoll noch immer ſehr
leichtſinnig ſeyn. Jch glaube aber, es wuͤrde Eindruck
auf ihn machen, wenn er hoͤrte, wie meine Einſichten und
Geſinnungen veraͤndert worden ſind. Ob er gleich nicht
tugendhafter geweſen ſeyn mag, als ich, ſo hat er doch
immer mehr als ich von der Religion geglaubt. Wollen
Sie nicht ſo guͤtig ſeyn, und zu ihm gehen, um ihm zu
ſagen
[123]
ſagen, wie Sie mich finden, und ihn in meinem Nah-
men bitten, daß er nun endlich ernſthafter werden moͤge?
Oder wollen Sie es ihm lieber ſchreiben? Beydes, ant-
wortete ich, hat ſeine Schwuͤrigkeiten. Und denen
koͤnnten wir ausweichen, wenn Sie ſelbſt dem Geiſtli-
chen, der den Grafen Brandt beſucht, dieſen Auftrag
geben wollten. Haben Sie dazu Ueberzeugung gnug,
und koͤnnen Sie ſich dazu entſchließen? Ja, ſagte er,
bringen Sie den Herrn Probſt Hee zu mir. Jch will
ihn in Jhrer Gegenwart darum bitten. Jch ſchaͤme mich
nicht, das zu bekennen, wovon ich uͤberzeugt bin, und
wuͤnſchte, daß ich Gelegenheit haͤtte, es allen meinen
Bekannten zu ſagen.
Er ſagte hierin die Wahrheit, denn er fieng um
dieſe Zeit an mit den Officiers, die die Wache bey ihm
hatten, viel und gerne uͤber Religion und Moralitaͤt zu
reden, an ſtatt daß er ſonſt faſt kein Wort mit ihnen
geſprochen hatte. Jch erfuhr von dem Herrn Commen-
danten, daß er ſeit meinem letzten Beſuche eine lange
chriſtliche Unterredung mit einem unter ihnen gehalten
habe. Jch erkundigte mich darnach bey dem Grafen
ſelbſt. Er erzaͤhlte mir mit einer Art von Freude, er
habe einem Officier die Religion und ein tugendhaftes
Leben angeprieſen. Dieſer habe ihm geantwortet, daß
er zwar gegen die Religion nichts einzuwenden habe,
aber ihre Vorſchriften, beſonders die die koͤrperliche
Wolluſt betraͤfen, zu erfuͤllen, das ſchiene ihm unmoͤglich
zu ſeyn. Er habe ihm hierauf ſein eignes Beyſpiel vor-
gehalten, wie ſehr er ſelbſt die Ausſchweifungen fuͤr un-
entbehrliche Beduͤrfniſſe gehalten habe, und wie ungluͤck-
lich er durch ſie geworden ſey. Leſen Sie den Gellert
fleißig, hatte er ihm angerahten, Sie haben Zeit dazu,
und werden ſie wenigſtens finden, wenn Sie ſie ſuchen.
Er wird Sie uͤberzeugen, wie vortheilhaft es iſt, dieſe
geliebten
[124]
geliebten Suͤnden zu meiden. Jch gebe Jhnen zu, Sie
werden zu kaͤmpfen haben, ehe Sie die Neigung dazu
uͤberwinden. Aber Sie ſind ein Officier, Sie muͤſſen
auch aus dem Grunde die heroiſchen Tugenden lieben.
Je ſtaͤrker die Verſuchung iſt, je mehr Muͤhe es koſtet ſie
zu uͤberwinden, deſto angenehmer wird Jhnen auch Jhre
Zufriedenheit mit ſich ſelbſt, und deſto groͤßer das Wohl-
gefallen Gottes an Jhrer Tugend werden. — Jch habe
mich bey dieſer Gelegenheit, ſagte er zu mir, an etwas
erinnert, das ich im Gellert geleſen habe. Er hat mich
uͤberzeugt, daß der Menſch ohne Offenbahrung unmoͤg-
lich gut und tugendhaft werden kann. Waͤre ſie nicht,
ſo waͤre es am beſten, auf eine feine Art laſterhaft zu
ſeyn. Und das dann wuͤrde das Hoͤchſte ſeyn, wohin man
es bringen koͤnnte.
Was iſt doch, ſetzte er hinzu, fuͤr ein Unter-
ſchied zwiſchen der Tugend, die das Chriſtenthum fordert,
und einer in der Welt ſo genannten honneten Auffuͤhrung!
Wenn bloße Weltleute, die ſo denken, als ich gedacht
habe, meine Handlungen moraliſch beurtheilen ſollten,
ich glaube ſie wuͤrden ſie, wie ich ſelbſt gethan habe,
fuͤr honnet halten. Sie muͤſſen ſich ja noch itzt in Acht
nehmen, antwortete ich, daß Sie uͤber gewiſſe Sachen,
die Sie gethan haben, nicht zu gut denken. O, ſagte
er hierauf, ich erkenne es ſehr wohl, daß an meinen
Handlungen, bey welchen ich gute Abſichten zu haben
glaubte, Wolluſt und Ambition doch immer wenigſtens
eben ſo viel Antheil gehabt haben, als die Liebe zum
Guten. Vor Gott und meinem Gewiſſen kann ich gar
nichts darauf rechnen. Jch dachte, wenn ich in meinem
vorigen Zaſtande recht gut und loͤblich zu handeln glaubte,
gerade ſo, wie der Phariſaͤer im Evangelio. Jch bruͤ-
ſtet[e] mich daruͤber, daß ich dieß und jenes Boͤſe doch
nicht thaͤte, daß ich nicht waͤre, wie der und der. Aber
um
[125]
um das Boͤſe, das ich wuͤrklich that, bekuͤmmerte ich
mich nicht. —
Um dieſe Zeit fieng ich an eine gewiſſe ruhige
Heiterkeit an dem Grafen zu bemerken, die mir von ſei-
ner ernſtlichen Reue, ſeiner Ueberzeugung, daß ihn
Gott um Chriſti willen begnadigen werde, und dem
Bewußtſeyn, das er von der Verbeſſerung ſeiner Geſin-
nungen haben konnte, eine gute Wuͤrkung zu ſeyn ſchien.
Noch ſichtbarer war dieſe ſeine Gemuͤhtsverfaſſung in
dem letzten uͤber ihn gehaltenen Verhoͤr ſeinen Richtern
geweſen. Dieſe hatten ihn ſeit der Zeit, da ich ihn be-
ſucht hatte, nicht geſehen, und konnten alſo dieſe bey
ihm vorgegangene Veraͤnderung zuverlaͤſſiger wahrneh-
men als ich, der ich ihn in dieſer Zeit ſo oft geſprochen
hatte. Einer unter ihnen ſagte mir: er habe ſich in die-
ſem Verhoͤr auf eine ſehr gute Art betragen, und bey
Gelegenheit ſich mit einer gewiſſen ſichtbaren Freudigkeit
auf die Seeligkeit berufen, die er zu erlangen hoffe. Er
ſey unter ihnen als unter ſeinen Freunden geweſen, und
habe von ſeinen Sachen geſprochen, wie man von ganz
gleichguͤltigen Dingen redet. Sie waͤren alle durch ſein
Betragen geruͤhrt worden.
Bey dem allen ſchien es mir doch, als wenn er
noch irgend ein beſonderes Gefuͤhl von ſeiner Begnadi-
gung bey Gott erwartete. Er hatte ſchon mehrmals ſo
etwas geſagt, das mich in dieſer Vermuhtung beſtaͤrkte.
Es war auch aus der Lehrart, nach der ihm in ſeiner
Jugend das Chriſtenthum vorgetragen war, mehr als
wahrſcheinlich, daß er wohl ſolche Vorſtellungen haben
moͤchte. Suchte ich ihm nun nicht uͤber dieſe Sache ſeine
Begriffe zu berichtigen, ſo war von zweyen uͤbeln Erfol-
gen einer zu befuͤrchten. Jn dem einen Falle konnte er
ſich uͤberreden, daß er ſolche Gefuͤhle wuͤrklich habe,
und
[126]
und dann war er in Gefahr auf den Abweg der Schwaͤr-
merey zu gerathen, der ihn eben nicht nothwendig zum
Verderben gefuͤhrt haͤtte, auf dem er aber doch vielleicht
traͤge geworden waͤre, in ſeiner ruhigen Unterſuchung des
Chriſtenthums fortzufahren, und ſeine Geſinnungen nach
den Vorſchriften deſſelben zu beſſern. Ueber dieß mußte
bey ſeiner Bekehrung auch nicht der geringſte Schein
von Enthuſiaſterey verhanden ſeyn, damit diejenigen,
die etwa ihre Urſachen haben moͤchten ſie in Zweifel zu
ziehen, daraus nicht einen Grund ihres Zweifels machen
koͤnnten. Jm andern Falle konnte er dieß Gefuͤhl lange
aͤngſtlich erwarten, und uͤber das Auſſenbleiben deſſelben
ohne Noth beunruhigt werden, ja wohl gar an der Wuͤrk-
ſamkeit der Religion zweifeln. Jch hielt es aus dieſen
Gruͤnden fuͤr meine Pflicht, ihn vor beyden beſorglichen
Gefahren in Sicherheit zu ſetzen, und ich hoffe, daß
ſelbſt diejenigen, die in dieſer Sache nicht mit mir uͤber-
einſtimmend denken, mir die Gerechtigkeit werden wieder-
fahren laſſen, zu geſtehen, daß ich nach der Ueberzeu-
gung meines Gewiſſens handeln mußte. Jch ſagte ihm
daher, daß es mit den Gefuͤhlen im Chriſtenthum eine
mißliche Sache ſey, daß ich zwar ihr Daſeyn und ihren
Wehrt nicht gaͤnzlich laͤugnen wollte, aber doch im Worte
Gottes von ihrer Nothwendigkeit, und von ihrer unfehl-
baren Folge auf Buße und Glauben nichts faͤnde. Jch
ſchlug ihm hier die vornehmſten Spruͤche in der Bibel
auf, aus denen ſie beweiſen will, z. Ex. Roͤm. 8,
16. Roͤm. 15, 13. Phil. 4, 7. und zeigte ihm, daß ſie
einer andern und natuͤrlichern Erklaͤrung, die alſo die
beſte ſey, faͤhig waͤren. Mir iſt zwar, ſetzte ich hinzu,
die Erfahrung frommer Chriſten, die ſolche Empfindun-
gen zu haben glauben, immer ſehr ehrwuͤrdig, aber es
kann doch moͤglich ſeyn, daß ſie irren, und in der Waͤrme
ihrer Andacht Spiele der Einbildungskraft nicht genug-
ſam von uͤbernatuͤrlichen Empfindungen unterſcheiden.
Das
[127]
Das beſte und zuverlaͤſſigſte Gefuͤhl von der Begnadi-
gung des Suͤnders iſt ſein Bewußtſeyn, daß er ſeine
Suͤnden herzlich bereut habe, und Jeſum fuͤr ſeinen Er-
loͤſer erkenne, und die Wahrnehmung, daß er im Guten
zunehme und ſeine Geſinnungen und Thaten nach dem
Willen Gottes einzurichten ernſtlich bemuͤht ſey. Wer
andere Empfindungen fuͤr nothwendig haͤlt, der kann
leicht enthuſiaſtiſch werden. Er verſicherte mich hier,
daß er die Schwaͤrmerey in der Religion nie habe dulden
koͤnnen, und daß ſie eine von den Urſachen ſey, die ihn
dem Chriſtenthum ſo abgeneigt gemacht haͤtten. Er erin-
nere ſich noch, daß einmahl in der oͤffentlichen Schule,
auf welcher er ſeinen Unterricht in der Religion erhalten
habe, einige hundert junge Leute fuͤr auf einmahl erleuch-
tet und bekehrt ausgegeben worden waͤren, unter denen
er doch viele als ſehr unmoraliſch und ſelbſt laſterhaft
gewiß gekannt haͤtte. Mit dieſen bekehrten Kindern
waͤren damals viele wunderliche Dinge vorgenommen,
und er und andere, die nicht zu ihrer Zahl gehoͤrt,
waͤren dadurch an der Religion nicht wenig geaͤrgert wor-
den. Jch verſprach ihm, damit er die Sache, von der
wir redeten, ſelbſt unterſuchen koͤnnte, Spaldings vor-
treffliches Buch vom Wehrt der Gefuͤhle im Chriſten-
thum mitzubringen.
Zwoͤlfte Unterredung, den 24ſten Maͤrz.
Der Herr Probſt Hee, dem ich des Grafen Verlangen
ihn zu ſprechen eroͤffnet hatte, kam nun in meiner
Begleitung zu ihm. Der Graf, den es itzt keine Ueber-
windung mehr koſtete, die vormaligen Jrrthuͤmer ſeines
Verſtandes und Herzens zu geſtehen, erzaͤhlte demſelben
umſtaͤndlich, denn das hielt er fuͤr noͤthig zu ſeiner Ab-
ſicht, wie er zuerſt die Tugend verlaſſen und darauf ſich
auch von der Religion losgeriſſen habe, und auf welchem
Wege
[128]
Wege er nun von ſeiner Verirrung zuruͤckgekommen ſey.
Er aͤußerte die Beſorgniß, die er hatte, daß ſein Freund,
der Graf Brandt, durch ſeine natuͤrliche Lebhaftigkeit
noch an dem Ernſt gehindert werden moͤchte, mit wel-
chem er itzt uͤber die Religion und ſeinen Zuſtand billig
nachdenken muͤßte. Da der Graf Brandt immer noch
mehr von der Wahrheit der Religion geglaubt als er,
und auch wohl in ſeinen Unterredungen ihm das zu er-
kennen gegeben haͤtte, ſo hoffe er, es ſolle demſelben nicht
allein angenehm ſeyn, wenn er hoͤrte, daß er nun zur
Ueberzeugung gekommen ſey, ſondern auch auf das Herz
ſeines Freundes einen guten Eindruck machen. Er habe
ſich zwar ſonſt nicht darauf eingelaſſen, wenn Graf
Brandt mit ihm uͤber die Religion habe reden wollen:
itzt hielte er es fuͤr ſeine Pflicht ihm ſeine gegenwaͤrtigen
Geſinnungen daruͤber bekannt machen zu laſſen. Und
das um ſo viel mehr, da er an dem Ungluͤcke deſſelben
mit Schuld ſey. —
Das Buch des Herrn D. Leß von der Wahrheit
der chriſtlichen Religion, war in dieſen letzten Tage die
Lectuͤre des Grafen geweſen. Er hatte in demſelben den
Beweis vollendet, der aus den Weißagungen Chriſti fuͤr
die Goͤttlichkeit ſeiner Sendung gefuͤhrt wird, und laß
eben die Betrachtung uͤber die Wunder des Abts Paris.
Er konnte es nicht begreifen, warum man in Frankreich
uͤber dieſe Sache, die ſo ſehr viel Aufſehen machte,
damals keine gerichtliche Unterſuchung anſtellte, und
wuͤnſchte, daß dieß itzt noch, da vermuhtlich noch Augen-
zeugen vorhanden waͤren, geſchehen moͤchte. Jnzwiſchen
ſagte er, waͤre er ſehr geneigt, die ganze Geſchichte, ob
man gleich vieles in derſelben aus natuͤrlichen Urſachen
ſchwerlich werde zu erklaͤren wiſſen, fuͤr eine Wirkung
der Schwaͤrmerey zu halten. Das Betragen des Monge-
ron, als er die Sache unterſucht, ſey wuͤrklich enthuſiaſtiſch,
und
[129]
und er wiſſe aus eigner Erfahrung, da er einmahl in
Altona als Phyſicus eine Convulſionsgeſchichte habe un-
terſuchen muͤſſen, was eine ausſchweifende Einbildungs-
kraft fuͤr unerwartete und wunderbare Wuͤrkungen haben
koͤnne. Er erinnerte ſich auch bey dieſer Gelegenheit
des chemnitziſchen Maͤdgens, und hatte die ſemleriſche
Schrift davon geleſen. Jch ſetzte hinzu, man moͤchte
die Wunder des Abts Paris halten, wofuͤr man wolle,
ſo wuͤrden die Wunder Chriſti und der Beweis, der in
ihnen fuͤr das Chriſtenthum liege, nichts dabey verlieren.
Man brauche nur Chriſti Wunder in Anſehung ihres
hiſtoriſchen Beweiſes, ihrer innern Wuͤrde, ihrer Ab-
ſichten und Wuͤrkungen gegen jene Erſcheinungen zu hal-
ten, ſo wuͤrde es gleich ſichtbar, wie verdaͤchtig dieſe
letztern waͤren, und wie wenig ſie zu bedeuten haͤtten.
Solche Dinge, fuhr er fort, ſind nun auch gar
nicht mehr faͤhig mich zweifeln zu machen. Den wenn
dieſe pariſiſchen Wunder auch wahr waͤren, ſo wuͤrden
die Wunder des Evangelii es deswegen nicht weniger
bleiben, als ſie es vorher geweſen ſind. Von dieſen iſt
die Abſicht deutlich: von jenen ſieht man gar keine. Jch
wuͤrde dieſe immer zu der Abſicht brauchen, wozu ſie
geſchehen ſind, und mich um jene, von denen ich keine
weiß, weiter nicht bekuͤmmern. Jch muß Jhnen aber
ſagen, daß mir zuweilen andere Zweifel einfallen, die
mir wichtiger zu ſeyn ſcheinen. Doch habe ich mir nun
vorgenommen, mich ganz ruhig dabey zu verhalten, und
nicht einmahl daruͤber nachzudenken, wie ſie etwa geho-
ben werden koͤnnten. Wollte ich mich darauf einlaſſen,
ſo ſetzte ich mich in Gefahr in der Hauptſache nie weiter
zu kommen, ſo wuͤrde ich immer gleichſam von forn
wieder anfangen. Jch habe nun einmahl durch eine ru-
hige Unterſuchung die Beweiſe des Chriſtenthums richtig
befunden, und das iſt mir genug. Jch brauche
Jmeine
[130]
meine Zeit daſſelbe naͤher kennen zu lernen und auf
mich anzuwenden.
Er klagte mir, daß ihm dieſen Morgen, da er
im Matthaͤo die Geſchichte der Geburt Jeſu geleſen,
viele Laͤſterungen uͤber Maria und ihren Sohn eingefal-
len waͤren, die er vordem irgendwo in einem freygeiſteri-
ſchen Buche gefunden zu haben glaubte. Wo ich nicht
irre, ſo waren es dieſelbigen, die in der bekannten juͤdi-
ſchen Laͤſterſchrift ſtehen. Jtzt, ſetzte er hinzu, verachte
ich ſolche Dinge. Jm Anfange wuͤrden ſie mich zu ſpoͤt-
tiſchen Gedanken uͤber dieſe Geſchichte verleitet, und
wenigſtens meinen Fortgang in der Wahrheit aufgehalten
haben. — Jch ward hier uͤberzeugt, daß ich nicht un-
recht gethan, ihm die Bibel nicht eher zu geben, bis er
hinlaͤnglich zubereitet war, ſie mit Ehrerbietung gegen
die Wahrheiten zu leſen, welche in ihr enthalten ſind.
Jch brachte ihm nach meinen Verſprechen,
Spaldings Buch vom Wehrt der Gefuͤhl im Chriſten-
thum, erinnerte ihn an die Abſicht, warum ich es ihm
gaͤbe, und bat ihn es mit beſtaͤndiger Anwendung auf
ſich aufmerkſam zu leſen. Sie werden, ſagte ich, durch
dieſes Buch in den Stand geſetzt werden, uͤber ſich ſelbſt
richtig zu urtheilen, ob Sie ſich nun fuͤr begnadigt von
Gott halten duͤrfen. Sie werden finden, es kommt alles
dabey auf die Rechtſchaffenheit des Herzens im Glauben
und im Thun an. Die Religion wird Jhnen noch lie-
benswuͤrdiger erſcheinen, wenn Sie ſehen werden, wie
ſie ſo ganz der Natur unſrer Seele gemaͤß eingerichtet iſt,
und keiner Unbegreiflichkeiten, keiner Wuͤrkungen ohne
Urſachen, keiner Erſcheinungen bedarf, uͤber die man
immer zweifelhaft bleiben muß, ob ſie auch Gott anſtaͤn-
dig ſeyn. Das hoffe ich auch, antwortete er. Die
Offenbahrung muß ja vernunftmaͤßig ſeyn, da Gott ſie
ver-
[131]
vernuͤnftigen Geſchoͤpfen gegeben hat. Jemehr eine ge-
ſunde geſetzte Vernunft ſie pruͤft, je mehr muß ſie gewin-
nen. Wenn man nur alles das, was Menſchen in die
Religion hineingetragen haben, von den Kanzeln und
aus den Lehrbuͤchern wegließe, ſo wuͤrden die Waffen
der Freygeiſter faſt alle ſtumpf werden. Jch erinnere
mich ſehr lebhaft daran, wie ſehr ich durch manche, ohne
Zweifel gut gemeynte Predigten, die ich in H. gehoͤrt,
in meinem Unglauben geſtaͤrkt worden bin. Jch fuͤhlte
es zu ſehr, daß das nicht lauter von Gott geoffenbahrte
Wahrheiten ſeyn koͤnnten, was mir da geſagt ward, ob
man es gleich mit der groͤßeſten Zuverſichtlichkeit dafuͤr
ausgab. u. ſ. w.
Dreyzehende Unterredung, den 25ſten Maͤrz.
Jch konnte dieſesmahl nur eine kurze Zeit bey dem
Grafen bleiben. Jch finde nur folgendes von unſe-
rer Unterredung anmerkungswuͤrdig.
Zu ſeinen ehemaligen Einwuͤrfen gegen die Re-
ligion, ſagte er, habe auch die Meynung des Boulanger
in ſeiner antiquité devoilée gehoͤrt, daß die Furcht
der Urſprung aller Religion bey den alten Voͤlkern gewe-
ſen ſey. Die Menſchen haͤtten Erdbeben, Feuersbruͤnſte,
Ueberſchwemmungen, Krieg, Seuchen, lauter Uebel,
die ſie aus ganz natuͤrlichen Urſachen haͤtten erklaͤren
ſollen, fuͤr Gerichte der Goͤtter gehalten, und um den
Zorn derſelben zu beſaͤnftigen ſich Religionen erdacht.
Es waͤre ihm damals vorgekommen, als wenn Boulan-
ger das alles ſehr richtig aus der Geſchichte bewieſen
haͤtte. Wenn Sie geglaubt haben, antwortete ich ihm,
daß Sie ſich auf Bonlangers Treu und Glauben, auf
ſeine Kenntniß der Geſchichte, der Alterthuͤmer und der
Sprachen verlaſſen duͤrften, ſo haben Sie ſehr Unrecht
J 2gehabt.
[132]
gehabt. Dieſer Mann hat ſich in ſeiner antiquité
devoilée ſowohl als in ſeinem despotisme oriental
wie der groͤßeſte Jdiot und Charlatan zugleich bewieſen.
Er giebt ſich ein uͤber alle Maaße großes Anſehen von
Gelehrſamkeit und Ehrlichkeit, und betruͤgt dadurch die-
jenigen, die ihm nicht auf die Spur kommen koͤnnen.
Aber Leute von Einſichten ſagen, daß er mit der groͤße-
ſten Unverſchaͤmtheit die ausgemachteſten Falſa behaupte,
daß er in den Sprachen, in der Kritik, in der Geſchichte
Fehler begehe, die ſelbſt Anfaͤngern in dieſen Kenntniſſen
nicht verziehen werden koͤnnten, daß er ſich auf Buͤcher
berufe, die er gar nicht kenne, und in denen kein Wort
von demjenigen ſtehe, was er daraus beweiſen wolle.
Aber ſo machen es dieſe Halbgelehrte, wenn Sie das
Chriſtenthum verſchreyen wollen. Sie haͤufen Unwahr-
heit auf Unwahrheit, widerſprechen ſich ſelbſt, ſo oft
es noͤthig iſt, dichten in die Geſchichte Dinge hinein,
die niemals geſchehen ſind, wenn ſie ſie zu ihrer Abſicht
brauchen. Mir faͤllt eben ein Exempel ein, das hieher
gehoͤrt. Jn demEvangile du jour ſoll bewieſen wer-
den, daß kein Moſes gelebt hat, und daß alſo die ganze
alte juͤdiſche Geſchichte eine Fabel iſt. Waͤre Moſes in
der Welt geweſen und haͤtte ſo große Dinge gethan, ſo
wuͤrde Sanchuniathon, ein phoͤniciſcher Geſchichtſchrei-
ber, der in der Nachbarſchaft des Landes wohnte, wo
die Geſchichte Moſis ſich zugetragen haben ſoll, ſeiner
doch Erwaͤhnung gethan haben. Wir finden aber in
den wenigen Fragmenten, die wir noch von dem Phoͤni-
cier haben, kein Wort von Moſe. Alſo iſt die Erzaͤhlung
der Bibel von ihm nicht wahr, es iſt alles Betrug und
Erdichtung. Jn eben dieſemEvangile du jour ſoll
Moſi die Ehre genommen werden, daß er der aͤlteſte
Schriftſteller ſey. Nun heißt es: Moſes iſt augen-
ſcheinlich neuer als Sanchuniathon, denn dieſer hat
vor jenem gelebt. — Vergleichen Sie nun beydes mit
einan-
[133]
einander, und ſagen mir uͤberhaupt, wo Sie mehr ge-
ſunde Vernunft, Wahrheitsliebe und Redlichkeit gefun-
den haben, im Voltaire, Boulanger und ihres gleichen,
oder im Jeruſalem, Reimarus, Bonnet, Leß, u. ſ. w.
Er antwortete: ſehr viel mehr in den letztern. Voltaire,
ſetzte er hinzu, und andere ſolche Schriftſteller, ſind nur
durch ihren Witz gefaͤhrlich und einnehmend.
Wenn es nun aber auch wahr waͤre, fuhr ich
fort, was Boulanger vorgiebt, daß die Furcht die Mut-
ter der Religion bey den alten Voͤlkern geweſen ſey, ſo
folgt doch daraus noch nicht, daß die Religion eine leere
Einbildung iſt. Konnten gleich jene natuͤrlichen Uebel
aus natuͤrlichen Urſachen erklaͤrt werden, ſo konnte ja
darum doch ein hoͤchſtes Weſen ſie brauchen, ſein Mis-
fallen an dem moraliſchen Uebel zu beweiſen. Und fuͤrch-
teten ſich die alten Voͤlker vor dem hoͤchſten Weſen, weil
ſie jene Begebenheiten fuͤr Strafgerichte deſſelben hielten,
ſo mußten ihnen die erſten Begriffe aller Religion, von
dem Daſeyn des hoͤchſten Weſens, von der Suͤndlichkeit
der Menſchen, von der Beleidigung des hoͤchſten Weſens
durch die Suͤnde, und von der Nothwendigkeit daſſelbe
zu verſoͤhnen, doch ſchon zum Voraus bekannt ſeyn.
Sie hatten alſo in gewiſſem Verſtande Religion, ehe ſie
ſich fuͤrchteten: die Furcht trieb ſie nur an die Religion
anzuwenden.
Als ich den Grafen hierauf verlaſſen mußte,
ſagte er mir noch, daß er wuͤnſche dem Grafen Brandt
ſelbſt von ſeinen itzigen Geſinnungen gegen Religion und
Froͤmmigkeit Nachricht geben zu koͤnnen. Er wolle es
entweder im Gerichte thun, wenn er etwa noch mit dem-
ſelben ſollte confrontirt werden, woran er aber doch
zweifle, weil ihre beyderſeitigen Auſſagen mit einander
uͤbereinſtimmten: oder er wolle um Erlaubniß bitten, ihn
J 3beſuchen
[134]
beſuchen und es ihm in Gegenwart von Zeugen ſagen zu
duͤrfen. Wenn ichs ihm ſelbſt ſagte, ſetzte er hinzu, ſo
wuͤrde es doch den meiſten Eindruck auf ihn machen,
und ſein Zuſtand beunruhigt mich zu ſehr, als daß ich
nicht alles moͤgliche zur Verbeſſerung deſſelben beytragen
ſollte. —
Vierzehende Unterredung, den 26ſten Maͤrz.
Jch wuͤnſchte ſehr, ſagte er bey meiner Ankunft, mit
den Geſchaͤfften, die ich itzt habe, und die uns an
der ordentlichen Fortſetzung unſrer Unterredungen und
mich am Leſen hindern, bald fertig zu ſeyn. Jch weiß,
ich habe alle meine Zeit zu den weit wichtigern Angele-
genheiten meiner Seele hoch noͤthig. Jch habe aber doch
nun den Leß vollendet, und dieſem Buche habe ich viel
zu danken. Jch bin dadurch uͤber die hiſtoriſche Glaub-
wuͤrdigkeit der Wunder zu noch mehrerer Gewißheit ge-
bracht, und weiß mir nun auch die Wahrheit des Chri-
ſtenthums aus den Weißagungen Chriſti zu beweiſen.
Das Buch iſt mit großer Gruͤndlichkeit geſchrieben. Die
Deutſchen thun ſich itzt in ſolchen Schriften recht hervor.
Jch ſagte ihm, daß wir noch ein ſolches vortreffliches
Original, nemlich des Herrn D. Noͤſſelt Vertheidigung
der chriſtlichen Religion haͤtten, welches er auch noch,
wenn ihm nicht die Zeit dazu zu kurz wuͤrde, mit großem
Nutzen wuͤrde leſen koͤnnen.
Jn den Propheten des alten Teſtaments finde ich
viele Weißagungen, fuhr er fort, die nicht Chriſtum,
ſondern ganze Voͤlker, auch heidniſche, angehen. Kann
man darthun, daß dieſe auch erfuͤllt worden ſind? Von
ſehr vielen, antwortete ich, giebt uns die Geſchichte
Beweiſe ihrer bewundernswuͤrdigen Erfuͤllung. So z.
Ex. verkuͤndigten Jeſaias und Jeremias die Eroberung
Baby-
[135]
Babylons zum Voraus, und zwar mit eben den Um-
ſtaͤnden, unter welchen dieſe große Stadt durch den
Cyrus eingenommen ward. Und ihre gaͤnzliche Zerſtoͤ-
rung, in welcher ſie nun ſeit einer langen Reihe von Jahr-
hunderten liegt, iſt der Beſchreibung, die die Propheten
davon machen, auch in den kleinſten Umſtaͤnden gemaͤß.
Eben ſo verhaͤlt es ſich mit der Weißagung Ezechiels
wider Tyrus. Jch will einen bloßen Fels aus ihr ma-
chen, ſagt Gott bey dieſem Propheten, und ein Wehrd
im Meer, darauf man die Fiſchgarne ausſpannet. Und
die neuern Reiſebeſchreiber erzaͤhlen uns, daß dieß bis
auf dieſen Tag erfuͤllt werde. Leſen Sie ferner die
Weißagungen Moſis uͤber die Juden, ſo werden Sie
ihre Erfuͤllung in den beſondern Schickſalen dieſes Volk,
ſeiner Zerſtreuung uͤber den ganzen Erdboden, ſeiner
Verachtung und Separation von allen den Voͤlkern, unter
denen es zerſtreut iſt, mit Jhren Augen ſehen. Andere
Weißagungen koͤnnen in Erfuͤllung gegangen ſeyn, ob
man es gleich nicht vollſtaͤndig beweiſen kann, weil etwa
die Begebenheiten, die ſie vorherſagten, in der alten
Geſchichte, ſo weit wir ſie haben, nicht aufbehalten wor-
den ſind. Noch andere werden ohne Zweifel zu ihrer
Zeit noch durch den Erfolg wahr befunden werden. Dieß
iſt vornemlich von denen zu erwarten, die noch nicht ein-
getroffene Schickſale des juͤdiſchen Volks verkuͤndigen.
Unſtreitig iſt es wenigſtens, daß Gott dieſe Nation nicht,
ohne Abſichten mit ihr zu haben, auf eine ſo wunderbare
Art erhalte, und verhindere, daß ſie ſich nicht unter den
Voͤlkern verliere, unter denen ſie wohnt und von welchen
ſie unterdruͤckt wird.
Die Worte Jeſu, Matth. 13, 13., waren dem
Grafen aufgefallen. Jch erklaͤrte ſie ihm in Beziehung
auf Jeſ. 6, 9. 10. und befriedigte ihn dadurch. Bey
dieſer Gelegenheit bat ich ihn die Evangeliſten in Ver-
J 4gleichung
[136]
gleichung mit der Geſchichte der drey letzten Lebensjahre
Jeſu zu leſen, ſo wuͤrde er ſich ſolche Schwuͤrigkeiten
ſelbſt heben koͤnnen. Um ihm das Leſen der Apoſtelge-
ſchichte und der apoſtoliſchen Briefe auf gleiche Art zu
erleichtern, verſprach ich ihm Benſons Pflanzung der
chriſtlichen Kirche und die Lynariſche Umſchreibung.
Die Ruhe und Heiterkeit des Grafen nahm itzt
ſo ſehr zu, daß ſie mir bedenklich ward. Jch hielt es
deswegen fuͤr noͤthig ihn zu bitten, daß er ſich ja nicht
einer gar zu ſchnellen Beruhigung uͤberlaſſen, und bey
ſeiner gegruͤndeten Hoffnung zur Begnadigung bey Gott,
es nicht vergeſſen moͤchte, wer er vor ſeiner Bekehrung
geweſen ſey. Sein vormaliger Leichtſinn koͤnnte ſonſt
leicht wieder einige Gewalt uͤber ihn bekommen, er koͤnnte
nachlaͤſſig in der Berichtigung ſeiner Geſinnungen nach
dem Willen Gottes werden, und ſich dadurch viele Un-
ruhe und Angſt auf die letzten Tage ſeines Lebens veran-
laſſen. Jch verſichere Sie, antwortete er, daß ich mich
noch keinen Augenblik nachgiebig beurtheilt, und nie
aufgehoͤrt habe, die ſchmerzlichſte Reue uͤber meinen
vorigen Wandel zu empfinden. Jch bin vielmehr uͤber-
zeugt, daß ich ſelbſt in der Ewigkeit, ſo gluͤckſeelig ſie
auch fuͤr mich werden moͤchte, mit Betruͤbniß und Abſcheu
an meine Suͤnden zuruͤck denken werde.
Sagen Sie mir, fragte er bey einer andern Ge-
legenheit, wie es zugeht, daß die Medici ſo leicht wider
die Religion eingenommen werden? Jch weiß, antwor-
tete ich ihm, daß die Religion der Aerzte fuͤr verdaͤchtig
gehalten wird, aber, wie ich glaube, mit Unrecht. Es
giebt wohl in allen Staͤnden verhaͤltnißmaͤßig gleich viele,
die dem Chriſtenthum abgeneigt ſind. Und es muͤſſen,
Jhnen ſelbſt mehr große Aerzte bekannt ſeyn, die unſtrei-
tig zu den Chriſten gehoͤren, als die von der entgegenſetzten
Geſin-
[137]
Geſinnung ſind. Boerhave, Stahl, Junker, Hoff-
mann, Werlhof, waren alle Chriſten. Meads zur Be-
ſtaͤtigung des Chriſtenthums dienende Chriſten werden
Sie kennen. Haller hat noch neulich ein Buch fuͤr die
Religion geſchrieben, welches ich Jhnen zu leſen geben
wuͤrde, wenn es ſchon hier zu haben waͤre. Unſer
Berger, welch ein uͤberzeugter frommer Bekenner der
Religion iſt er nicht! Auch Zimmermann, ſetzte er hinzu,
iſt ein Chriſt. Sie muͤſſen uͤberhaupt nicht denken, daß
ich mit dieſem Einfalle etwas ſagen wolle. Eben ſo
wenig als damit, daß ich mich erinnere gehoͤrt zu haben,
Michaelis und Semlor waͤren Naturaliſten. “Wenn
ſie das waͤren, Herr Graf, ſo wuͤrden ſie ſich ſchwerlich
ſo viel Muͤhe geben das Chriſtenthum zu befoͤrdern und
auszubreiten, als ſie wuͤrklich thun. Dieß iſt ohne Zwei-
fel eine Beſchuldigung intoleranter Chriſten, welche
durch die Dienſte, die dieſe Maͤnner der Religion leiſten,
hinlaͤnglich widerlegt wird.„
Funfzehende Unterredung, den 27ſten Maͤrz.
Meine Leſer werden ſich aus der vorigen Unterredung
erinnern, daß der Graf uͤber die Erfuͤllung der
Weißagungen mehr Unterricht zu haben wuͤnſchte. Um
ihm dieſen zu verſchaffen brachte ich ihm nun Neutons
Abhandlungen uͤber die Weißagungen, die merkwuͤrdig
erfuͤllt ſind.
Jch erkenne itzt, ſagte er, wie wichtig die mora-
liſche Regel iſt, daß man ſich vor der erſten Suͤnde
huͤten muͤſſe. Wenn man das nicht thut, wenn man
ſich nur das Wohlgefallen an boͤſen Luͤſten erlaubt, und
nicht gleich ihre erſten Aufwallungen unterdruͤckt, ſo hat
mans nachher oft gar nicht mehr in ſeiner Gewalt gut
und tugendhaft zu handeln. Jch habe es erfahren. Mir
J 5ſchien
[138]
ſchien das ſehr uͤbertrieben zu ſeyn, was Jeſus ſagt:
Wer ein Weib anſieht ihr zu begehren, der hat ſchon
die Ehe mit ihr gebrochen. Das Anſehen, dachte ich,
wenn es auch mit Begierde verbunden iſt, kann ja nichts
boͤſes ſeyn, wenn weiter nichts geſchieht. Aber nun
folgte auf die Begierde das Nachdenken uͤber die Mittel
ſie zu befriedigen von ſelbſt. Sah ich erſt Mittel, ſo
ſchien es mir zu viel gefordert zu ſeyn, daß ich ſie nicht
auch anwenden ſollte. Jch wendete ſie an, ich ſaͤttigte
meine ausſchweifende Triebe, und nun hatte ich eine
ganze Reihe von Suͤnden begangen, die ich alle vermie-
den haben wuͤrde, wenn ich vor der erſten Suͤnde, vor
dem Wohlgefallen an der boͤſen Luſt und vor ihrer Unter-
haltung geflohen waͤre. Nun ſuchte ich mich zu entſchul-
digen. Jch kann ja nichts davor, ſagte ich, daß ich ſo
viel Temperament, ſo viel Neigung zur Wolluſt habe.
Es muß alſo mir wenigſtens nicht unerlaubt ſeyn wolluͤ-
ſtig zu leben. Jn ſolchen Vorſtellungen beſtaͤrkte mich
dann die wuͤrklich uͤbertriebene Strenge der Sittenlehrer
meiner Jugend. Daß Jeſus uns alles unſchaͤdliche
erlaube, daß die Moral des Chriſtenthums uns keine
unſchuldige Freude verbiete, das ward mir nicht geſagt.
Alles ohne Unterſchied, wozu ich Luſt hatte, ward mir
zur Suͤnde gemacht. Manſchetten tragen, Puder in die
Haare werfen, das ward mit eben ſolcher Ernſtlichkeit fuͤr
gottlos erklaͤrt, als offenbahre ſuͤndliche Ausſchweifun-
gen. Nun dachte ich: jenes kann doch unmoͤglich Suͤnde
ſeyn, und laͤßt ſich auch nicht in der Welt vermeiden,
alſo werden dieſes auch unſchuldige und unvermeidliche
Dinge ſeyn. Jch weiß, ich ſchloß falſch, aber ich war
jung, meine Begierden wuͤteten und meine Anfuͤhrer
haͤtten verſtaͤndiger ſeyn ſollen.
Auf eine aͤhnliche Art, ſetzte er hinzu, richten
auch diejenigen Lehrer des Chriſtenthums wider ihren
Willen
[139]
Willen vielen Schaden an, die immer auf einen blinden
Glauben dringen, und ihren Zuhoͤrern keine Beweiſe
von der Autoritaͤt vorlegen, auf die ſie die Wahrheit
annehmen ſollen. So habe ich in meiner Jugend immer
hoͤren muͤſſen: das muͤßt ihr glauben, denn Gott hats
geſagt. Daß aber die Bibel Gottes Wort ſey, das
bewies man mir nicht. Jch dachte alſo, meine Lehrer
hielten ſie nur davor, weil ihre Lehrer ſie davor gehalten
haͤtten. Und dieſe Autoritaͤt hielt ich nicht fuͤr hinlaͤng-
lich. Haͤtte man mich doch nur gelehrt, warum ich die
Bibel fuͤr Gottes Wort erkennen muͤſſe! Jſt die Offen-
bahrung goͤttlich, ſo muß ſie die ſtrengſte Pruͤfung aus-
halten koͤnnen, und die haͤlt ſie auch aus, und gewinnt
gewiß am meiſten dabey. Eine ſolche Unterſuchung iſt
auch dem Willen Chriſti nicht zuwider. Er forderte von
Johanne nicht, daß er ihn ohne Pruͤfung fuͤr den Meſſias
erkennen ſollte. Er verwies ihn auf ſeine Werke, und
uͤberließ es ihm nun ſelbſt daraus zu ſchließen, wer er
wohl ſeyn muͤſſe. Wer ſich nur die noͤthige Zeit dazu
nimmt, und die Muͤhe des Nachdenkens nicht ſcheut,
der wird das Chriſtenthum nicht unterſuchen, ohne davon
uͤberzeugt zu werden. Alles haͤngt in demſelben natuͤr-
lich und ordentlich zuſammen, und empfielt ſich ſchon
dadurch einer jeden nachdenkenden Seele. Jch habe nie
in den freygeiſteriſchen Schriften, die ich geleſen habe,
ein ſolch zuſammenhaͤngendes Syſtem gefunden, und
glaube uͤberhaupt nicht, daß irgend ein ordentliches Lehr-
gebaͤude des Unglaubens vorhanden iſt. —
Jch habe, ſagte er bey einer andern Gelegenheit,
den Chriſten wohl auch einen Vorwurf daraus gemacht,
daß ſie auf Belohnungen hoffen, und daraus Bewe-
gungsgruͤnde zu einem guten, tugendhaften Leben herneh-
men. Jch wußte, daß einige beruͤhmte Philoſophen das
fuͤr einen niedrigen Eigennuz hielten. Aber ich ſehe itzt,
daß
[140]
daß man weder die menſchliche Seele noch das Chriſten-
thum recht kennet, wenn man ſo denkt. Liebe zu Gott,
ohne alle Beziehung auf uns ſelbſt, iſt eine bloße Jdee.
Jch fuͤhle es, daß ich einen Freund, der ſich immer kalt-
ſinnig gegen mich bewieſe, in die Laͤnge nicht wuͤrde lie-
ben koͤnnen. Und dem hoͤchſten Weſen kann auch eine
Liebe nicht misfaͤllig ſeyn, wobey wir auf unſer eignes
Beſte ſehen, denn ihm kann unſre Zuneigung nie vortheil-
haft werden, ſondern allein uns ſelbſt. Und warum ſoll-
ten wir die Belohnungen nicht ſuchen und annehmen
wollen, die er ſelbſt uns angeboten und verſprochen hat?
Bey meiner ſo ſtarken Neigung zur koͤrperlichen
Wolluſt habe ich mir immer vorgeſtellt, daß die Freuden
des Himmels, weil jene nicht mit zu dieſen gehoͤrte, fuͤr
mich nicht ſehr viel Reiz haben koͤnnten. “Die koͤrper-
liche Wolluſt, von der ſie reden, Herr Graf, werden
freylich die Seeligen eben ſo wenig empfinden, als ſie ſie
begehren werden. Alle diejenigen Vergnuͤgungen, deren
Endweck dort nicht mehr noͤthig ſeyn wird, vermuhtlich
auch diejenigen Werkzeuge der Sinne, durch welche ſie
hier empfunden werden, werden dort aufhoͤren. Dahin
gehoͤren z. Ex. die Annehmlichkeiten der Tafel und der
Ehe. Sie werden in der Geſchichte Jeſu einen Aus-
ſpruch derſelben gefunden haben, der hieher gehoͤrt.
Matth. 22, 30. Daß wir aber in der kuͤnftigen
Welt gar keine angenehme ſinnliche Empfindungen ſollten
erwarten koͤnnen, ſcheint mir nicht wahrſcheinlich zu ſeyn.
Wir werden ja einen organiſchen Leib haben, und alſo
auch Sinne. Dieſe werden durch die Eindruͤcke aͤußer-
licher Gegenſtaͤnde auf eine angenehme Art geruͤhrt wer-
den koͤnnen. Sie werden, weil die Materie des Leibes
ſehr viel feiner ſeyn wird, als diejenige, woraus itzt
unſer Koͤrper gebaut iſt, auch feiner, empfindlicher
und ſchaͤrfer ſeyn, alſo auch uns richtigere und genauer
getroffe-
[141]
getroffene Bilder der ſinnlichen Gegenſtaͤnde darbieten
koͤnnen, die wir durch ſie betrachten werden. Und ſchon
dieß wird ein großes Vergnuͤgen ſeyn, wie es z. Ex. mir,
der ich nicht in die Ferne ſehen kann, etwas ſehr ange-
nehmes iſt, durch einen Teleſcop eine entfernte ſchoͤne
Gegend als in der Naͤhe zu betrachten. Und endlich,
welches das vortheilhafteſte ſeyn wird, wir werden dieſe
Vergnuͤgungen nicht misbrauchen, Gott nicht dadurch
beleidigen, ihrer nicht uͤberdruͤßig werden u. ſ. w. Viel-
leicht wird dort unſer Koͤrper auch neue Sinne haben,
von denen wir uns hier keine Vorſtellung machen koͤn-
nen. Und uͤberhaupt wird es uns dort an keinem Gute
und keiner Freude fehlen, die unſrer dortigen Beſtim-
mung und Faͤhigkeit gemaͤß ſeyn werden. —
Sechszehende Unterredung, den 28ſten Maͤrz.
Jch habe nun, ſagte der Graf, die Apoſtelgeſchichte
geleſen, und die wunderbare Gruͤndung der Kirche
daraus kennen gelernet. Es iſt ganz augenſcheinlich,
daß eine hoͤhere Hand dieſe Sache befoͤrdert hat, denn
wie haͤtte ſie ſonſt durch ſolche Perſonen, als die Apoſtel
waren, und bey einem ſolchen Widerſtand, als ihnen
auf allen Seiten geleiſtet ward, in ſo kurzer Zeit zu
Stande kommen koͤnnen? Eine Sache hat mich aufmerk-
ſam gemacht. Jch fand daß Paulus und Petrus ein-
mahl nicht recht einig geweſen ſind. Als ich aber auf
der andern Seite wieder wahrnahm, wie ſehr ſie in der
Hauptſache, von der Auferſtehung Chriſti, von der Buße
und dem Glauben, mit einander uͤbereinſtimmten, ſo
konnte mich das nicht irre machen. Sie waren ja Men-
ſchen und alſo in ihren Meynungen nicht unfehlbar. Bey
dieſer Gelegenheit redeten wir von der Jnſpiration der
bibliſchen Buͤcher. Jch zeigte ihm, daß jeder der bibli-
ſchen Schriftſteller ſeinem eignen Genie gemaͤß rede,
und
[142]
und daß man zum Exempel in Pauli Briefen eine ganz
andre Schreibart, Folge der Gedanken und Methode
wahrnehme, als in denen, die wir von Petro oder Jo-
hanne haͤtten. Sie haͤtten alſo ſelbſt gedacht, und waͤren
von Gott bey der Abfaſſung ihrer Schriften nicht als
bloße Maſchinen gebraucht worden. Weil aber die
Sachen, die ſie aufgezeichnet haͤtten, von der aͤußerſten
Wichtigkeit fuͤr das ganze menſchliche Geſchlecht geweſen
waͤren, ſo haͤtte Gott durch ſeinen Einfluß auf ſie, ihnen
die richtigſten Vorſtellungen davon mitgetheilt, und ver-
hindert, daß ſie nichts falſch gedacht oder vorgetragen,
nichts ausgelaſſen haͤtten, was ſeinen Willen von dem
Wege zur Seeligkeit betraͤfe und damit in Verbindung
ſtuͤnde. Ob ſie ſelbſt es gewußt haͤtten, daß ihre
Schriften einmahl die Richtſchnur des Glaubens fuͤr
die ganze chriſtliche Welt bis ans Ende der Zeiten wer-
den ſollten, das ſey zweifelhaft und kaum glaublich,
da ſie ihre Briefe an einzelne Gemeinen und Perſonen
geſchrieben, und ſie nach den Beduͤrfniſſen derſelben ein-
gerichtet haͤtten. Auch ſey man nicht genoͤthigt zu be-
haupten, daß Gott ihnen alles ohne Unterſchied inſpirirt
habe, welches in Anſehung der Gruͤße, die ſie an gute
Freunde zu beſtellen bitten, der perſoͤnlichen Nachrichten,
dee ſie geben, der Commiſſion, die Paulus dem Timo-
theus giebt, ihm ſeinen Mantel mitzubringen, nicht
geſagt werden koͤnne. u. ſ. w.
Mir faͤllt zuweilen wohl ein, ſagte er unter
andern, an meine vorige Situation zu denken. Waͤre
es nicht beſſer fuͤr dich, dachte ich heute bey dieſer Gele-
genheit, wenn du dich in deiner Hoheit und Wolluſt haͤt-
teſt erhalten koͤnnen? Aber als ich es nur ein paar Minu-
ten uͤberlegt hatte, ſo fand ich gleich, daß ich itzt ſehr
viel gluͤcklicher bin, als ich in meinem groͤßten Gluͤcke
war. Jch habe ſelbſt damals meinem Freunde, dem
Grafen
[143]
Grafen Brand, oft geſagt, wenn er glaubte, daß ich
es doch viel beſſer als er haͤtte, ich waͤre nichts weniger
als gluͤcklich. Sie glauben nicht, was fuͤr unzaͤhlige
Dinge mich immer beſchaͤfftigten, die aͤußerlichen Um-
ſtaͤnde beunruhigten mich, ich mußte auf Anſtalten zur
Sicherheit denken, ich mußte mich zu gleicher Zeit zwin-
gen, meine Unruhe mir ſelbſt und andern zu verbergen,
den Tag brachte ich unter verdrießlichen Geſchaͤfften und
langweiligen Zerſtreuungen zu, zu meinen Arbeiten mußte
ich einen Theil der Nacht brauchen. Konnte ich in einer
ſolchen Situation gluͤcklich ſeyn? Nun aber bin ich viel
heiterer und ruhiger. Jch beſchaͤfftige mich mit der Re-
ligion, die mich ſehr intereſſirt und mein einziger Troſt
iſt, ich ſehe eine erwuͤnſchte Ausſicht in die Zukunft vor
mir, und mein Tod beunruhigt mich nicht ſehr und nicht
oft. Jch weiß nicht, wie mir weiter hin ſeyn wird,
aber daß weiß ich, daß ich itzt gluͤcklich und ruhig bin,
und nicht begehre in meine vorige Lage zuruͤckzukehren.
Er fragte mich noch, ob nicht die Kirche lehre,
daß Chriſtus vom heiligen Geiſte gezeugt ſey. Er berief
ſich dabey auf die Worte des Engels: Der heilige Geiſt
wird uͤber dich kommen. Setzen Sie die folgenden
Worte hinzu, antwortete ich: die Kraft des Hoͤchſten
wird dich uͤberſchatten, ſo werden Sie ſehen, daß hier
von keiner eigentlichen Zeugung die Rede ſey. Es wird
nur dieß geſagt: Gott wolle durch ſeinen Geiſt und
durch ſeine Allmacht veranſtalten, daß Maria ohne Zu-
thun eines Mannes die Mutter des ihr verheißenen
Sohns werden koͤnne. —
Sieben-
[144]
Siebenzehende Unterredung, den
30ſten Maͤrz.
Jemehr ich, ſagte der Graf, das Chriſtenthum aus der
Bibel ſelbſt kennen lerne, deſto mehr werde ich uͤber-
zeugt, wie ungerecht die Vorwuͤrfe ſind, die demſelben
gemacht werden. So z. Ex. finde ich daß das, was Vol-
taire und andere von der Jntoleranz der Chriſten, und
von dem Blutvergießen ſagen, welches dadurch veranlaßt
worden iſt, auf keine Weiſe der Religion zur Laſt gelegt
werden kann. Nein, antwortete ich, ſie predigt die
Liebe, die Sanftmuth, ſie will nicht durch aͤußerliche
Gewalt, ſondern allein durch die Macht der Wahrheit
ſiegen. Aller Zwang, die Menſchen zu ihrer Annehmung
zu bringen, iſt ganz ihrem Geiſt und ihrer Natur zuwider.
Man ſieht es auch, ſetzte er hinzu, wenn man die Un-
menſchlichkeiten, die der Religion beygemeſſen werden,
von der rechten Seite betrachtet, daß ſie durch menſchli-
che Leidenſchaften, durch Eigennutz und Herſchſucht oder
wenigſtens durch Einfalt ſind verurſacht worden, und
daß die Religion nur einen Vorwand hat geben muͤſſen.
Man braucht nur die Geſchichte der Grauſamkeiten zu
leſen, die die Spanier in America veruͤbt haben um da-
von uͤberzeugt zu werden. —
Er hatte nun den Neuton uͤber die Weißagungen
vollendet, und fand es ſehr beweiſend fuͤr die Wahrheit
des Chriſtenthums, daß die Erfuͤllung derſelben durch
die Geſchichte ſo gut erwieſen werden koͤnnte. Dieß ſey
beſonders in die Augen fallend bey denen, welche Baby-
lon, Tyrus, Jeruſalem und die itzt noch fortdaurenden
Schickſale des juͤdiſchen Volks betraͤfen. Jch muß zwar
geſtehen, ſetzte er hinzu, einige Weißagungen ſind mir
zu dunkel. So z. Ex. kann ich mich nicht darin finden,
was Chriſtus unter den Zeichen am Himmel verſtanden
hat,
[145]
hat, die um die Zeit der Zerſtoͤrung Jeruſalems geſche-
hen ſollten. Aber alles uͤbrige, antwortete ich, wird
Jhnen deſto deutlicher geweſen ſeyn, und Sie werden es
durch den Erfolg nach allen Umſtaͤnden erfuͤllt gefunden
haben? “Jch muß geſtehen dieſe Uebereinſtimmung der
Begebenheiten mit der Weißagung iſt ſehr entſcheidend
fuͤr das Chriſtenthum.„ Und bleibt es auch, wenn
gleich einige Stellen der Weißagung dunkel ſind. Stel-
len Sie ſich vor, dieſe dunkeln Ausdruͤcke waͤren in einer
unbekannten Sprache oder mit unleſerlichen Buchſtaben
geſchrieben, ſo daß man die Worte entweder nicht ver-
ſtuͤnde oder auch nicht einmahl herausbringen koͤnnte,
wuͤrde man denn wohl Urſache haben deswegen, daß
man dieſe Stelle nicht leſen oder verſtehen koͤnnte, die
ganze Weißagung fuͤr verdaͤchtig zu halten, vornemlich
wenn man wuͤßte, daß ſie allen uͤbrigen Umſtaͤnden nach
aufs genaueſte erfuͤllt worden waͤre? — Jn Anſehung
der noch immer fortdaurenden Zerſtreuung der Juden
und ihrer Erhaltung unter derſelben, ſetzte er hinzu,
iſt mir zwar eingefallen, daß ich geleſen habe, wie ſich
eine gewiſſe Nation in Africa, wo ich nicht irre ſo heißen
ſie die Guebern, auf eine aͤhnliche Art in der Zerſtreu-
ung erhalte. Aber ihre Zerſtreuung iſt nicht allgemein
noch vorher geſagt, wie der Juden ihre, ſie leben nicht
unter dem Drucke wie dieſe, und man kann uͤber die
Nachrichten von ihnen nicht gewiß ſeyn.
Meine irdiſchen Geſchaͤffte, fuhr er fort, ſind
nun alle bis auf einige Geſpraͤche mit meinem Defen-
ſor und ein paar Briefe nach, die ich noch ſchreiben will,
geendigt. So koͤnnen wir alſo, ſagte ich, in unſern
Unterredungen mit Zuſammenhang und Ordnung fortfah-
ren. Laſſen Sie uns nun die uͤbrige Zeit gewiſſenhaft
auf die Sache Jhrer Seeligkeit verwenden. Das will
ich gewiß, antwortete er, ſehr ernſtlich thun. Jch bin,
KGottlob,
[146]
Gottlob, voͤllig von der Wahrheit des Chriſtenthums
uͤberzeugt, und ich empfinde auch bey mir die Kraft deſſel-
ben zur Beruhigung meines Gewiſſens und zur Beſſerung
meiner Geſinnungen. Jch hoffe die Zweifel, die mir
etwa noch einfallen moͤchten, und die leichten Aufwallun-
gen der Begierden, von denen ich mich ſonſt ganz habe
beherrſchen laſſen, und die mich itzt noch wohl beunru-
higen, wird mir Gott verzeihen, da ich an beyden kein
Wohlgefallen habe, ſondern mich beſtrebe, ſie ſo gleich
zu unterdruͤcken. Jch bin bereit mich zu jeder Aufopfe-
rung meiner bisherigen Neigungen durch die That ſelbſt
zu verſtehen, die Sie von mir fordern werden. Nim-
mermehr wuͤrde ich das ſonſt gethan haben, da ich durch
die Religion noch nicht erleuchtet war. Jch weiß nun
nicht, ob Sie Urſache finden mit mir zufrieden zu ſeyn.
Pruͤfen Sie mich, auf welche Art Sie es fuͤr noͤthig
halten, und wenn Sie dann mit mir zufrieden ſind, ſo
bitte ich Sie, laſſen Sie ſich dadurch nicht beunruhigen,
wenn etwa dieſer oder jener nach ſeinen Einſichten urthei-
len ſollte, Sie haͤtten mich zu ſehr durch die Vernunft zu
gewinnen geſucht. Jch erkenne es mit Dank vor Gott,
daß Sie dieſen Weg mit mir gegangen ſind. Auf keine
andere Art wuͤrde bey mir etwas auszurichten geweſen
ſeyn, ich wuͤrde mich mit Hartnaͤckigkeit widerſetzt haben,
vielleicht waͤre ich in einige Bewegung geſetzt worden,
aber eine feſte dauerhafte Ueberzeugung waͤre gewiß nicht
zu Stande gekommen. Es kann Gott auch nicht mis-
fallen, da die Religion ſo vernunftmaͤßig iſt, daß man
die Menſchen durch die Vernunft fuͤr dieſelbige zu gewin-
nen ſucht. So machte es Jeſus ſelbſt, und Paulus
richtete ſich zu Athen und vor dem Felix und Agrippa
nach der Denkungsart der Leute, mit denen er zu thun
hatte. Dieſe Art, wie ich zur Aenderung meiner Geſin-
nungen in Abſicht auf Religion und Tugend gekommen
bin, hoffe ich, ſoll auch andere, die ſo daruͤber denken,
als
[147]
als ich gedacht habe, aufmerkſam machen. Die Frey-
geiſter wollen ja immer den Bekehrungen ihrer Bruͤder
zum Chriſtenthum, die in den letzten Tagen ihres Lebens
geſchehen, nicht trauen. Sie ſagen, ſie muͤßten durch
das Declamiren der Prediger uͤberraſcht worden ſeyn, ſie
muͤßten ihre Vernunft verlohren, oder in der Betaͤubung
der Krankheit und aus Todesfurcht ſelbſt nicht gewußt
haben, was ſie thaͤten. Nun, da ich auf dieſem Wege
zum Chriſtenthum gekommen bin, ſoll niemand das von
mir ſagen koͤnnen. Jch habe bey voͤlliger Geſundheit
des Leibes mit aller Vernunft, die ich habe, das Chri-
ſtenthum gepruͤft, ich bin alle Beweiſe durchgegangen,
ich empfinde keine Furcht, die mich betaͤuben ſollte, und
ich habe mir Zeit genommen und nichts uͤbereilt. Es
kommt nun noch zu meiner eigenen Beruhigung alles
darauf an, daß ich unterſuche, ob ich die Kennzeichen
bey mir finde, die daſeyn muͤſſen, wenn ich mich mit
Grunde fuͤr begnadigt von Gott halten will. “Dazu,
Herr Graf, habe ich Jhnen Spaldings Buch vom Wehrt
der Gefuͤhle im Chriſtenthum gegeben. Leſen Sie es um
richtige Begriffe von dieſen Kennzeichen der Begnadigung
zu erhalten.
Jch uͤbergab ihm noch einen Brief von ſeiner
frommen Mutter, den er mit einer zaͤrtlichen und ruhigen
Miene annahm, und allein zu leſen verſprach. Nie-
mals, ſagte er, habe ich eine ſolche Liebe zu meinen El-
tern empfunden als itzt, nie bin ich ſo ſehr davon uͤber-
zeugt geweſen, wie gut ſie es immer mit mir gemeynet
haben. Und meine gute Mutter! Hier ſtuͤrzten ihm die
Thraͤnen aus den Augen. Sie hat mich immer vor-
zuͤglich geliebt! — Hier iſt dieſer Brief.
K 2“Anſtatt
[148]
“Anſtatt dich und mich mit unſerm gemeinſchaftlichen
“Kummer und Schmerzen zu unterhalten, finde mich
“vielmehr gedrungen, die gegenwaͤrtige uͤberwiegende
“Empfindung meines Herzens wegen deines jetzigen
“Zuſtandes dir bekannt zu machen. Seit Jahre und
“Tage iſt der Jnhalt meines Gebets und Flehns zu
“dem dreyeinigen Gott dahin gerichtet geweſen, daß er
“deinen unſterblichen Geiſt von dem ewigen Verderben
“erretten moͤge, mit Aufopferung meiner ſonſt zaͤrtli-
“chen Neigung, da ich als Mutter gewuͤnſcht, daß es
“ihren Kindern nach Seele und Leib wohl ergehen
“moͤgte. Wenn aber das Heil und die Wohlfahrt deines
“Geiſtes durch Gott auf keine andere Weiſe zu erreichen
“ſey, als durch die haͤrteſten und fuͤr den aͤußern Men-
“ſchen ſchmerzhafteſte Mittel hiebey zu gebrauchen, daß
“ich dieſem ewigen Erbarmer mit demuͤthigen und ge-
“laſſenen Gemuͤth ſeinem heiligen und vollkommenen
“Gottes Willen mich unterwerfen wolle. Aber nim-
“mer habe deine gegenwaͤrtige betruͤbte Umſtaͤnde ver-
“muthen koͤnnen. Mein muͤtterliches Herz iſt daruͤber
“ganz zermalmet, und ich bin wie vermauert. Nur
“die einzige Zuflucht bey Gott bleibt mir offen. Mein
“einziger Troſt bey ſo hartem Leiden wird die Errettung
“deiner Seele ſeyn, und ich werde Gott mit Freuden-
“thraͤnen danken, wenn ich erfahre, daß der Liebhaber
“der ſuͤndigen Menſchen auch Gedanken des Friedens
“noch uͤber dich habe, und deinen Weg zum ewigen
“Untergang mit Dornen vermacht hat. Jch zweifle
“nicht, daß der Geiſt Gottes von dieſer ſeeligen Abſicht
“Gottes, albereits deinem Gemuͤth eine Ueberzeugung
“wird gegeben haben, wie Gott dich als ſein Eigen-
“thum nicht ewig verlohren wiſſen wolle. Merke nur
“ferner auf die zuͤchtigende Gnaden Arbeit des heiligen
“Geiſtes in deiner Seele. Dieſer wird dir mehr ſagen,
“und bekannt machen, als eine menſchliche Zunge zu
“ſagen
[149]
“ſagen vermoͤgend iſt. Denke, du habeſt es nur mit
“dem dreyeinigen hoͤchſten Weſen und dir allein in die-
“ſer Welt zu thun, und entferne daher deine Gedanken
“von allem was außer dir und in der Welt vorgeht.
“Wird der Geiſt Gottes in ſeiner vollen Kraft nur erſt
“Jeſum, den Suͤnder-Freund deinem Herzen recht
“verklaͤren, und deſſen vollguͤltige Erloͤſung deiner Seele
“mit Ueberzeugung zueignen koͤnnen, ſo wirſt du bey
“dieſer uͤberſchwaͤnglichen Erkenntniß alles fuͤr Schade,
“Koth und Dreck halten, und dein ewiger und unſterb-
“licher Geiſt wird hier ſchon mehr Ruhe, Troſt und
“Freude genieſſen, als die Welt in ihrer groͤßten Herlich-
“keit und Luſt uns nicht geben kann. Dieſe Ueberzeu-
“gung hat Gott von meiner Jugend an mir in meiner
“Seele zu theil werden laſſen, daß kein ſchaͤtzbarerer
“Stand in der Welt iſt, als der wahre Chriſtenſtand,
“ſowohl in guten als boͤſen Tagen. Und gerne haͤtte
“ich es geſehen, daß alle meine Kinder dieſen ſo ſeeligen
“Eindruck auch von Jugend auf von Gott haͤtten in ſich
“wuͤrken laſſen. Jch bin dabey aber auch gewahr wor-
“den, daß dieſes ein Werk Gottes und nicht der Men-
“ſchen ſey. Nun, mein lieber Sohn, was hiebey von
“Menſchen verſehen, verſaͤumt oder vernachlaͤßiget
“worden, das wollen wir mit Herzens Reue erkennen,
“und Gott demuͤthigſt abbitten. Aber durch Verzagen
“an dem Reichthum ſeiner Barmherzigkeit, welche er in
“Chriſto Jeſu unſerm Erloͤſer ſo deutlich geoffenbaret,
“Gottes Willen auch nicht ſchmaͤlern noch verringern,
“ſondern den wahrhaftigen Zeugnißen der heiligen
“Schrift einen glaͤubigen Beyfall geben: Alſo hat Gott
“die in Suͤnde liegende Welt geliebt, daß er ſeinen
“eingebohrnen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glau-
“ben nicht verlohren werden ſondern das ewige Leben
“haben. Es ſind dieſes aber Wahrheiten, die uns die
“bloße menſchliche Vernunft nicht uͤberzeugend und
K 3“kraͤftig
[150]
“kraͤftig aufklaͤren kann, auch hiezu muß die Wuͤrkung
“des Geiſtes Gottes erbeten und angerufen werden.
“Er iſt es der Jeſum, und ſein ganzes Verſoͤhnungs-
“werk uns durch ſein Wort heilſam bekannt machet.
“Wirſt du nur mit aufrichtiger und redlicher Geſin-
“nung, in die Unterſuchung dieſer Grundwahrheiten
“unſrer heiligen Religion, unter Seufzen und Flehen
“um eroͤfnete Augen deines Verſtaͤndniſſes, dich anhal-
“tend einlaßen; ſo wirſt du gar bald ein mehr als na-
“tuͤrliches Licht im Verſtande zur Einſicht und Beſtaͤti-
“gung dieſer Heils-Lehren in dir aufgehen ſehen. Jch
“ſchreibe dieſes nach dem geringen Maaß der Erkenntniß,
“ſo mir Gott aus Gnaden verliehen. Mein Glaube
“hat, bey aller buchſtaͤblichen Wiſſenſchaft der geoffen-
“barten Wahrheiten, durch die ſcheinbarſten Einwuͤrfe
“ebenfals hiedurch arbeiten muͤſſen. Aber gelobt ſey
“der Herr und ſein Geiſt, der meinen Glauben durch
“das Wort Gottes, und die ſeelige Erfahrung der darin
“enthaltenen Wahrheiten, ſo befeſtiget hat, daß denſel-
“ben die Pforten der Hoͤllen nicht uͤberwaͤltigen werden,
“ſo lange ich mich nur an den maͤchtigen Gott halten
“werde, und ich mich nicht ſelbſt von ihm loßreißen
“will. Und dieſes iſt auch in dem hoͤchſten Leiden der
“Anker, an welchem ich mich anjezo feſt halte, da
“ſonſten die Wellen der Truͤbſale das Schiff meines
“Glaubens gar ſehr herumtreiben wuͤrden. Nun dieſe
“Grundfeſte des Glaubens wuͤnſche und erflehe ich dir
“mit inbruͤnſtigem Gebet von Gott. Jeſus Chriſtus iſt
“und bleibt in Ewigkeit der bewaͤhrte Eckſtein, auf
“welchem das Gebaͤude unſrer Seeligkeit muß angefan-
“gen und vollendet werden. Du haſt von Kindheit an
“einen unverſtellten und aufrichtigen Gemuͤths Character
“von dir blicken laßen. Laß nun dieſe natuͤrliche Anlage
“durch den Geiſt Gottes heiligen, auch aufrichtig in
“deiner Zukehr zu Gott zu Werk zu gehen. Er laͤßt es
“dem
[151]
“dem Aufrichtigen gelingen. Wohl dem Menſchen in
“des Geiſt kein Falſch iſt! Nur lerne dich in deinem
“Verderben recht fuͤhlen, und komme als ein verfluch-
“ter Suͤnder, zu dem, der auch fuͤr dich ein Fluch
“geworden iſt. Dein Vater und ich werden fortfahren
“fuͤr dich um Erbarmung zu Gott zu ſchreyen, und
“ich ins beſondere verharre deine ſchmerzlich betruͤbte
“Mutter. „ Rendsburg d. 17 Maͤrz 1772.
Der Herr Probſt Hee kam heute wieder zu dem
Grafen, und brachte ihm die Nachricht, daß ſich der
Graf Brandt ſehr uͤber ſeine Bekehrung erfreue, daß er
mit ihm allein in der Religion Troſt ſuche, daß er nie
das Gefuͤhl derſelben gaͤnzlich verlohren gehabt habe, und
ihm von ganzen Herzen ſeine Schuld an ſeinem Ungluͤcke
vergebe. Graf Struenſee antwortete mit vieler Ruͤh-
rung, und der Herr Probſt Hee nahm mit einem chriſt-
lichen Wunſche von ihm Abſchied.
Achtzehende Unterredung, den 31ſten Maͤrz.
Der Graf Struenſee hatte ſchon, wie meine Leſern ſich
erinnern werden, die Lehre von der Verſoͤhnung der
Welt duch Chriſtum angenommen, und war alſo ein
Chriſt. Er war auch voͤllig geneigt, die uͤbrigen mit
dieſer Lehre verbundenen Geheimniſſe der Religion fuͤr
goͤttliche Wahrheiten zu erkennen: ich hielt es aber doch
fuͤr meine Pflicht ihm die Vernunftmaͤßigkeit und den
Nutzen derſelben zu zeigen, damit ihn keine Zweifel dar-
uͤber beunruhigen, und er ſie mit deſto gegruͤndeterm
Beyfall annehmen moͤchte. Jch machte in dieſer Abſicht
zuerſt folgende allgemeine Anmerkungen uͤber die Geheim-
niſſe der Religion.
K 4Hat
[152]
Hat es Gott gefallen, ſagte ich, ſich den Men-
ſchen durch Jeſum außerordentlich zu offenbahren, ſo
muß er entweder die Abſicht gehabt haben, die natuͤrliche
Religion aus dem Verfall, in den ſie gerahten war,
wieder herzuſtellen, und den Menſchen die Wahrheiten
derſelben geſammlet und mit hoͤchſter Autoritaͤt vor Au-
gen zu ſtellen, die in tauſend bloß menſchlichen Schriften
zerſtreut waren; oder ſein Zweck war dieſer, ihnen andere
der Vernunft unbekannte Lehren, deren Erkenntniß ihnen
zu ihrem Heile noͤthig war, zu eroͤffnen: oder er wollte
auch beydes zugleich.
Die erſte Abſicht war fuͤr die Menſchen ſehr
wohlthaͤtig und Gottes wuͤrdig. Die natuͤrliche Erkennt-
niß Gottes hatten die Menſchen, das juͤdiſche Volk und
allenfalls einige heidniſche Philoſophen ausgenommen,
faſt ganz verlohren, und das wenige, was davon uͤbrig
blieben war, war doch dem gemeinen Mann, der immer
den groͤßten Theil des menſchlichen Geſchlechts aus-
macht, unbekannt. Dieſe verlohrnen und gleichwohl
ſo noͤthigen Kenntniſſe wieder herzuſtellen, zu ſammlen
und nach der Faſſung des großen Haufens bekannt zu
machen, das war alſo eine wuͤrdige Abſicht der goͤttlichen
Offenbahrung. Aber ſie war nicht die einzige. Denn
haͤtte Gott durch Jeſum bloß die natuͤrliche Religion leh-
ren wollen, ſo ſcheinen die Veranſtaltungen, die er ge-
macht hat, ihm bey dem Menſchen Glauben zu verſchaf-
fen, zu groß geweſen zu ſeyn. Jeſus predigte in dieſem
Falle allein ſolche Wahrheiten, die die allgemeine Men-
ſchenvernunft, ſo bald ſie ſie nur genau anſah, begreiflich
und wahr finden mußte. Wozu waͤre es noͤthig geweſen
die Lehre Jeſu durch ſo viele Wunder, durch ſeine Auf-
erſtehung, durch die Ausgießung des heiligen Geiſtes
uͤber die Apoſtel, zu beweiſen?
Gott
[153]
Gott hat alſo neue und der Vernunft unbekannte
Wahrheiten durch Jeſum bekannt machen wollen, und
ihm zugleich aufgetragen die natuͤrliche Religion zu leh-
ren. Beydes hat Jeſus wuͤrklich gethan: alſo hat er es
thun ſollen. Nun war eine außerordentliche Beglaubi-
gung ſeiner goͤttlichen Sendung, nun waren Wunder
noͤthig, um den Menſchen zu zeigen, daß auch die neuen
der Vernunft unbegreiflichen Lehren, die Jeſus predigte,
von Gott kaͤmen. Sie ſehen hieraus, eine Religion,
deren Stifter Wunder thut, muß ihrer Abſicht nach
Geheimniſſe enthalten.
Ueber dieß ſind auch die unbegreiflichen Lehren
der chriſtlichen Religion lauter ſolche Saͤtze, die uns von
der Natur Gottes und von ſeinem Willen unterrichten,
wie der ſuͤndige Menſch ſelig werden ſoll, und die uns
in beyder Abſicht mehr ſagen, als die Vernunft. So
z. Ex. lehrt uns die Vernunft die Einigkeit Gottes. Die
Offenbahrung ſetzt hinzu: in dem einigen goͤttlichen We-
ſen ſind drey. Die Vernunft ſucht vergeblich ein zuver-
laͤſſiges Mittel der Verſoͤhnung mit Gott: die Offenbah-
rung lehrt, worin dieß Mittel beſtehe. Duͤrfen wir uns
denn wohl daruͤber verwundern, daß dieſe, indem ſie
von dem unendlichen, unbegreiflichen Weſen und von
ſeinem der Vernunft verborgenen Rahtſchluß redet, uns
neue Auſſichten eroͤffnet, deren Ende wir nicht abſehen
koͤnnen, oder, welches einerley iſt, daß ſie uns Geheim-
niſſe lehrt, und fuͤr ſie unſern Glauben fordert? Wer
ſich alſo durch den Anblick der Geheimniſſe von der Reli-
gion abſchrecken laͤßt, der beweiſt dadurch, daß er ihre
Abſicht und ihren Gegenſtand nicht kennt. Er betraͤgt
ſich gegen die Religion ganz anders als gegen menſchliche
Wiſſenſchaften. Denn obgleich dieſe weit mehr Geheim-
niſſe haben, als das Chriſtenthum, ſo verwirft er ſie
deswegen doch nicht. Sie ſelbſt, und dieß geſtund der
K 5Graf
[154]
Graf zu, muͤſſen tauſend Unbegreiflichkeiten in der Me-
dicin, in der Phyſik, in der Chymie angetroffen haben,
und es wird Jhnen nie eingefallen ſeyn, dieſe Wiſſen-
ſchaften deswegen fuͤr Traͤume und Jrrthuͤmer zu halten.
Hat uns nun Gott, fuhr ich fort, in der chriſt-
lichen Religion der Vernunft unbegreifliche Wahrheiten
offenbahren wollen, die ihn und ſeinen Willen betreffen,
ſo mußte er das durch Zeichen thun, die wir verſtehen
konnten, und dieſe Zeichen konnten keine andre als Worte
ſeyn. Jn der Sprache der Menſchen aber waren keine
Worte vorhanden, mit denen genau die Begriffe verbun-
den waren, die er uns mittheilen wollte. Denn wir koͤn-
nen ja zur Bezeichnung uns ganz unbekannter Begriffe
keine dieſen Begriffen voͤllig anpaſſende Worte haben.
Gott mußte alſo, um uns ſeine geheimen Wahrheiten
bekannt zu machen, ſolche uns bekannte Worte brauchen,
deren Begriffe den uns unbekannten Wahrheiten, die er
uns eroͤffnen wollte, unter allen moͤglichen am naͤchſten
kamen. Dieſe Worte koͤnnen alſo Nebenbedeutungen
haben, ſie koͤnnen etwas zu viel oder zu wenig ſagen, in
den Begriffen, die wir mit ihnen verbinden, kann irgend
etwas unvollkommenes liegen. Daher duͤrfen wir ihre
Bedeutungen nicht in ihrer ganzen Ausdehnung und mit
allen ihren Folgen auf die uns durch ſie bekannt gemach-
ten geheimen Wahrheiten anwenden: ſondern wir muͤſſen
nur ihren naͤchſten und allgemeinen Sinn dazu brauchen,
und alles Unvollkommene davon abſondern.
Jch erlaͤuterte dem Grafen dieſe Anmerkung durch
ein paar Beyſpiele, durch die er ſie ſehr ins Licht geſetzt
fand. Bey dem Verhaͤltniſſe zwiſchen einem Vater und
Sohn, ſagte ich, haben wir dieſe Nebenvorſtellungen:
der Vater muß vor dem Sohn geweſen ſeyn, er muß ein
gewiſſes Alter erreicht haben, ehe er dem Sohn gezeugt
hat,
[155]
hat, er muß mit einer Perſon von dem andern Geſchlecht
in Verbindung getreten ſeyn. Wollte nun jemand dieſe
Nebenbegriffe und Folgerungen auf den Fall anwenden,
wenn die Schrift ſagt, Chriſtus ſey Gottes Sohn, ſo
wuͤrde er nicht nur die Sache falſch verſtehen, ſondern
auch Widerſpruͤche darin finden. Stellen Sie ſich ferner
vor, daß ein Jslaͤnder einem Jndianer das Zufrieren des
Meeres bekannt machen wollte. Jn der Sprache des
Jndianers iſt kein Wort vorhanden, das dieſe Erſchei-
nung genau ausdruͤckt, und der Jslaͤnder muß doch mit
ihm in ſeiner Sprache reden. Er muß alſo entferntere
Worte und Bilder zu Huͤlfe rufen. Er kann ſich z. Ex.
ſo ausdruͤcken: Jn meinem Lande wird zu gewiſſen
Jahreszeiten das Meer durch eine Beſchaffenheit, die die
Luft alsdann hat, wie dieſer Stein. Nun darf der Jn-
dianer wohl denken, daß das Meer in Jſland zu gewiſſen
Zeiten Stein ſey, das iſt, ſo hart und feſt wie Stein.
Aber er iſt in Gefahr ſich ganz falſche Vorſtellungen von
den Wuͤrkungen der Kaͤlte auf das Meer zu machen,
wenn er die uͤbrigen Eigenſchaften und allen Gebrauch
des Steines auf den vorliegenden Fall anwenden will.
Z. Ex. Aus Steinen baut man Haͤuſer, alſo baut ſich
der Jslaͤnder aus Waſſer, welches zu Stein worden iſt,
Pallaͤſte. Es giebt Steine, die man zur Feuerung brau-
chen kann; alſo kocht der Jslaͤnder ſeine Speiſen bey
ſolchem verſteinerten Waſſer. u. ſ. w.
Jch bat nun den Grafen dieſe allgemeine An-
merkungen uͤber die Geheimniſſe der Religion immer vor
Augen zu behalten, da ich ihm dieſe nun einzeln vortra-
gen, ihren bibliſchen Sinn erklaͤren, ihre Entfernung
von allem Widerſpruch gegen die geſunde Vernunft
zeigen, und ihre Wohlthaͤtigkeit entdecken wolle.
Das
[156]
Das erſte dieſer mit der Lehre von der Verſoͤh-
nung verbundenen Geheimniſſe iſt dieſe Wahrheit: Chri-
ſtus iſt der Sohn Gottes. Die vornehmſten Ausſpruͤche
der Bibel, worin uns dieſer Satz bekannt gemacht wird,
ſind folgende. Marth. 3, 17. Marc. 9, 7. Joh. 3, 16.
Dieſe letzte Stelle zeigt durch die Beſtimmung, einge-
bohrner Sohn, daß Chriſtus nicht etwa in dem Verſtande,
in welchem die Menſchen, als Geſchoͤpfe Gottes, und
beſonders die Glaͤubigen, Gottes Kinder heißen, ſon-
dern in einem ganz vorzuͤglichen Sinne Gottes Sohn ſey.
Wenn nun alſo Gott Chriſtum ſeinen Sohn
nennt, was ſollen wir dabey denken? Chriſtus hat ſein
Weſen von Gott, wie ein Sohn von ſeinem Vater, aber
nicht auf die in der Welt gewoͤhnliche Art, mit welcher
Unvollkommenheiten verknuͤpft ſind, ſondern auf eine hoͤ-
here uns unerklaͤrbare Weiſe. Chriſtus hat eben das
Weſen, welches der Vater hat, und iſt ihm alſo voll-
kommen aͤhnlich und gleich. Hebr. 1, 3. Chriſtus, als
der erſtgebohrne einzige Sohn Gottes hat ein voͤlliges
Recht an allem, was Gott hat, wie der erſtgebohrne
einzige Sohn der alleinige Erbe ſeines Vaters iſt. Chri-
ſtus iſt endlich mit Gott durch die innigſte Liebe verbun-
den, wie ein einziger Sohn mit ſeinem Vater. Sie
ſehen hieraus, Gott hat uns die Verhaͤltniſſe, in denen
er mit Chriſto ſteht, unter dem Bilde eines Vaters und
eines Sohnes offenbahrt, weil in der ganzen uns bekann-
ten Natur kein anderes Bild vorhanden iſt, das dieſe innig-
ſte Vereinigung genauer und vollkommener anzeigen
koͤnne. Finden Sie nun in dieſer Vorſtellung etwas
widerſprechendes? Nein, antwortete der Graf, hier iſt
gar kein Widerſpruch. Das ganze Geheimniß liegt nur
in der unerklaͤrlichen Art, wie Chriſtus ſein Weſen von
Gott dem Vater hat. So kann alſo, ſetzte ich hinzu,
die Vernunft gegen den Satz, Chriſtus iſt Gottes Sohn,
mit
[157]
mit Grund nichts einzuwenden haben, ſondern muß ihn
aus Ehrfurcht gegen das Zeugniß und die Autoritaͤt
deſſen, der ihn uns bekannt gemacht hat, ohne Wider-
rede als Wahrheit annehmen.
Jch machte nun die Anmerkung, daß alle Ge-
heimniſſe des Chriſtenthums wohlthaͤtig fuͤr die Menſchen
waͤren, und daß unſer eigner Vortheil, wenn wir ihn
anders wohl verſtuͤnden, uns ſchon geneigt machen muͤſſe,
ſie zu glauben. Jch verſprach ihm das nach und nach
bey allen zu zeigen. So iſt es, fuhr ich fort, ſehr vor-
theilhaft fuͤr uns, daß Chriſtus Gottes Sohn iſt. Der
Sohn Gottes iſt alſo unſer Freund und Wohlthaͤter, un-
ſer Erretter und Fuͤrſprecher. Kann er uns etwas gutes
zugedacht haben, das er uns nicht ſollte geben koͤnnen?
Jſt nicht alles Gute im Himmel und auf Erden ſein,
wie ſeines Vaters? Wenn er fuͤr uns redet, uns vertritt,
unſre Sache bey Gott fuͤhrt, kann und wird Gott ihn,
ſeinen einzigen weſentlichen Sohn, nicht hoͤren? Kann
und wird er ihm, mit dem er durch die innigſte Liebe ver-
bunden iſt, ſeine Bitte fuͤr uns abſchlagen? Und duͤrfen
wir je befuͤrchten, daß Gott, der ſeines einigen Sohns
nicht verſchont, ſondern ihn fuͤr uns alle dahin gegeben
hat, uns mit ihm nicht alles uͤbrige, was uns gluͤckſeelig
machen kann, ſchenken werde? Roͤm. 8, 32.
Theurer Freund, dieſer Sohn Gottes iſt Jhr
Erloͤſer. Dafuͤr erkennen Sie ihn. Urtheilen Sie nun,
was Sie von ihm fuͤr Gnade und Heil zu erwarten ha-
ben, wenn Sie ſich mit Beſtaͤndigkeit und Zuverſicht auf
ſeine Verſoͤhnung verlaſſen, und allen moͤglichen Fleiß
anwenden, die noch uͤbrige Zeit Jhres Lebens ſo zu den-
ken und zu handeln, wie Sie wiſſen, das er gedacht und
gehandelt hat. Wird Gott nun Jhre Suͤnden in der
Ewigkeit ſtrafen? Hat doch ſein Sohn, ſein Ewiggelieb-
teſter,
[158]
teſter, Sie mit ihm verſoͤhnt! Wird er Jhnen die Gnade
des ewigen Lebens verſagen? Jſt doch Chriſtus, der
Sohn Gottes, Jhr alles vermoͤgender Fuͤrſprecher! Gott
ſey hochgelobt, der Sie faͤhig gemacht hat, ſo herrliche
Hoffnungen zu haben, die Jhnen keine Macht und Herr-
lichkeit und Luſt der Welt, die Jhnen keine Vernunft
geben konnte. Er erhalte ſie Jhnen bis ans Ende um
ſeines Sohns willen!
Der Graf war ſehr geruͤhrt, und verſprach den
ſchriftlichen Aufſatz, den ich ihm uͤber die heute abgehan-
delte Materie zuruͤckließ, mit Nachdenken durchzugehen,
wie er dann auch die vorigen Blaͤtter vor ſich liegen
hatte, um ſie wieder durchzuleſen, und ſich in der Ver-
bindung zu erhalten.
Er erinnerte ſich, wir waͤren einmahl uͤber den
Gedanken einig geweſen, daß die Vernunft nicht von
ſelbſt die Lehre von der Verſoͤhnung haͤtte erfinden koͤnnen.
Aber es haͤtten doch viele heidniſche Voͤlker Gott durch
Opfer zu verſoͤhnen geſucht. Jch antwortete: daß der
ſuͤndige Menſch ſuchen muͤſſe, Gott zu verſoͤhnen, das
lehre ihn wohl ſein Gewiſſen. Daß man dazu die Opfer
fuͤr ein dienliches Mittel gehalten habe, das koͤnne ſich
in der juͤdiſchen Offenbahrung gruͤnden, auch haͤtte wohl
die bloße Vernunft darauf verfallen koͤnnen, weil die
Opfer ein thaͤtiger Beweis waͤren, daß man ſich lieber
von ſeinen Guͤtern etwas entziehen, als das Gefuͤhl und
Bewußtſeyn des goͤttlichen Misfallens an ſich beybehal-
ten wolle. Daß aber Gott ſelbſt ſeinen Sohn zum Opfer
hingeben ſollte, das ſey die Art der Verſoͤhnung, von der
wir beyde behauptet haͤtten, daß die Vernunft ſie nicht
von ſelbſt haͤtte erfinden koͤnnen. Und davon ſey auch
ihre Abgeneigtheit gegen dieſe Lehre ein ſicherer Beweis.
Noch
[159]
Noch einer meiner alten Einwuͤrfe faͤllt mir ein,
fuhr er fort. Jch habe mir nie vorſtellen koͤnnen, daß
Gott ein ſo veraͤchtliches Volk, als die Juden, zu ſeinem
beſonders geliebten Volke ſollte gewaͤhlt haben. Die Ur-
ſache, antwortete ich, warum Gott ein Volk vor den
uͤbrigen durch ſeine beſondere Theilnehmung daran gleich-
ſam auszeichnete, war unter andern dieſe, ſeine wahre
Erkenntniß bis auf die Zeit, da der Erloͤſer der Welt
kommen ſollte, durch daſſelbe zu erhalten, daß ſie nicht
ganz verlohren gienge. Was ſollte er zu dieſer Abſicht
fuͤr ein Volk waͤhlen? Natuͤrlich war es ja, daß er die
Juden dazu beſtimme, theils weil ſie Nachkommen ſei-
nes Freundes Abrahams waren, von dem ſie die natuͤr-
liche Religion, deren Depoſitairs ſie gleichſam werden
ſollten, durch eine beſtaͤndige Ueberlieferung erhalten
hatten, theils weil eben aus den Nachkommen Abra-
hams, und alſo aus ihrem Mittel der Erloͤſer der Welt
hervorgehen ſollte. Nun ſind zwar die Juden itzt und
ſeit langer Zeit eine veraͤchtliche Nation. Aber was bey
den Menſchen verachtet wird, iſt es deswegen nicht auch
bey Gott. Es ſind auch Zeiten geweſen, da die Juden
ein ſehr reſpectables und tapfres Volk waren. Dieß
erlaͤuterte der Graf ſelbſt durch einige Beyſpiele ihrer
Tapferkeit gegen ihre ehemaligen Unterdruͤcker. Man
kann freylich nicht, ſagte er, von ihrer gegenwaͤrtigen
Veraͤchtlichkeit zuruͤckſchließen. Und uͤberhaupt iſt die
Sache ſehr relativ. So verachtet der Engellaͤnder den
Franzoſen, und der Franzoſe haͤlt wieder ſeine Nation
fuͤr die reſpectabelſte auf dem Erdboden.
[160]
Neunzehende Unterredung, den 1ſten April.
Die Lehre von der Verſoͤhnung der Welt durch Chri-
ſtum iſt zwar unter den Geheimniſſen das einzige,
deſſen Glauben die heilige Schrift mit dem ausdruͤckli-
chen Zuſatz anbefielt, daß derjenige nicht ſeelig werden
koͤnne, der es nicht glaube. Weil ſich aber die uͤbrigen
Geheimniſſe auf eben der Autoritaͤt gruͤnden, auf welche
Sie die Lehre von der Verſoͤhnung angenommen haben
und nun an Chriſtum glauben, ſo werden Sie einſehen,
daß Sie verbunden ſind, auch dieſe der Vernunft unbe-
kannte Lehren fuͤr Wahrheiten zu erkennen. Jch werde
daruͤber, antwortete der Graf, keine Schwuͤrigkeiten
machen. Jſt das eine wahr, ſo muß es das andere auch
ſeyn. Sie haben bisher meine Vernunft befriedigt, und
ich zweifle nicht, daß Sie es auch ferner werden thun
koͤnnen.
Wenn Chriſtus, fuhr ich nun fort, der einge-
bohrne Sohn Gottes iſt, Joh.3, 16. und alſo von Gott
ſein Weſen, das goͤttliche Weſen hat, ſo muß er wahrer
Gott ſeyn. Denn Gott iſt Gott durch ſein Weſen, oder
durch ſich ſelbſt. Dieſe Lehre des Chriſtenthums wird
im neuen Teſtament vielfaͤltig wiederhohlt. Jeſus ſelbſt,
in ſeiner Rede an die Juden, Joh. 5, traͤgt davon mehr
alseinen Grund vor. Der 18te Verſ beweiſet, daß
ihn die Juden verſtunden. Sie trachteten ihn zu toͤdten,
weil er ſagte: Gott ſey ſein Vater, und mache ſich ſelbſt
Gott gleich. Jeſus beſtaͤtigt das, was er geſagt hatte,
durch ſeinen ganzen folgenden Vortrag, beſonders v.
21-23. Achten Sie hier auf folgende drey Gruͤnde.
Der Sohn macht lebendig, welchen er will. Der Sohn
hat alles Gericht, das iſt, er iſt der Richter der Welt.
Sie ſollen alle den Sohn ehren, wie ſie den Vater ehren.
Paulus
[161]
Paulus handelt auch Ebr. 1. ſehr umſtaͤndlich
von der Gottheit Chriſti. Er zeigt den aus dem Juden-
thum geſammleten Chriſten, wie viel Vorzuͤge Chriſtus,
der Stifter des Chriſtenthums, vor den Propheten des
alten Bundes haben. Er ſagt deswegen v.2.: Chriſtus
ſey Gottes Sohn, der Erbe uͤber alles, durch welchen
Gott die Welt geſchaffen habe. v.3. Er ſey der Glanz
der Herrlichkeit Gottes und das Ebenbild ſeines Weſens,
er erhalte alle Dinge, er ſitze zur Rechten der Majeſtaͤt
in der Hoͤhe, das iſt, er habe Theil an der Herrlichkeit
und Macht Gottes. Er faͤhrt in den folgenden Verſen
fort, und zeigt wie viel vortrefflicher Chriſtus, als die
Engel ſey, bey welcher Gelegenheit er v. 8. einen Aus-
ſpruch des Pſalms 45, 7. in welchem Gott angeredet
wird, von Chriſto erklaͤrt und ihm nicht nur eine ewige
Herrſchaft, ſondern auch ausdruͤcklich den Nahmen
Gottes beyleget.
Das iſt unlaͤugbar, ſagte der Graf, nachdem
ich ihm beyde Stellen, Joh. 5. und Ebr. 1. umſtaͤndlich
erklaͤrt hatte, daß ſo wohl Jeſus als Paulus die Abſicht
gehabt haben, den Juden zu zeigen, daß der Sohn Gott
ſey. Damit wir nun aber nicht denken moͤgen, ſetzte ich
hinzu, Jeſus ſey nicht im hoͤchſten Verſtande, ſondern
nur wegen gewiſſer Aehnlichkeiten, die er mit Gott hatte,
wie etwa die Obrigkeiten, Gott genannt werden, ſo fehlt
es auch nicht an bibliſchen Ausſpruͤchen,die uns vor
dieſem Jrrthum bewahren koͤnnen. z Ex.1 Joh. 5, 20.
Dieſer iſt der wahrhaftige Gott. Es faͤllt ſehr in die
Augen, daß dieſes Praͤdicat, der wahrhaftige Gott,
auf niemand ſonſt gezogen werden kann, als auf das un-
mittelbar vorhergehende Subject, Jeſus Chriſtus.
Das iſt alſo gewiß, daß die heilige Schrift die
Gottheit Chriſti lehret. Widerſpricht ſie nun darin irgend
Leiner
[162]
einer Wahrheit der geſunden Vernunft? Wenn das
Chriſtenthum lehrte, die Gottheit Chriſti, oder ſein
goͤttliches Weſen, ſey von der Gottheit oder dem goͤttli-
chen Weſen des Vaters unterſchieden, ſo wuͤrde folgen,
daß zwey Goͤtter waͤren. Und dieß ſtritte mit der von
der Vernunft erkannten und durch die Offenbahrung be-
ſtaͤtigten Wahrheit von der Einheit Gottes. Aber die
chriſtliche Religion behauptet, Gott, der Vater, habe
eben das Weſen, welches er ſelbſt hat, ſeinem Sohne
mitgetheilt. Folglich ſind nicht mehrere Goͤtter, ſondern
nur Ein Gott. Die Moͤglichkeit davon begreift die Ver-
nunft nicht, da ſie keinen aͤhnlichen Fall in der Natur
kennt, in welchem zwey voͤllig einerley oder daſſelbe We-
ſen haͤtten. Doch kann ſie auch nicht beweiſen, daß es
unmoͤglich ſey. Alſo iſt ihr dieſe Lehre ein Geheimniß,
welches ſie verbunden iſt, auf die Autoritaͤt desjenigen,
der es ihr offenbahrt hat, zu verehren. — Sie ſehen
nun von ſelbſt, daß die Annahme dieſer Wahrheit,
Chriſtus iſt Gott, eben die Vortheile gewaͤhrt, die wir
davon zu erwarten haben, wenn wir glauben, daß Chri-
ſtus Gottes Sohn iſt. Jch wiederhohlte hier mit eini-
gen Zuſaͤtzen dasjenige, was ich in der letzten Unterre-
dung daruͤber geſagt hatte. — Gegen dieß alles hatte
der Graf nichts einzuwenden.
Nun fuhr ich fort. Die Bibel lehrt nun auch,
daß Chriſtus zugleich wahrer Menſch ſey. Das wird
jedermann ohne Widerſpruch zugeſtehen. Er ward von
einem Weibe gebohren, er ward von allen, die ihn per-
ſoͤhnlich kannten, fuͤr einen Menſchen erkannt: er hatte
alle weſentlichen Stuͤcke des Menſchen, Leib und Seele
mit allen Giedern, Kraͤften und Faͤhigkeiten, die dazu
gehoͤren; er war den Menſchen ſelbſt in ihren weſentli-
chen Schwachheiten gleich: nur in dem einigen Stuͤcke
war er von den uͤbrigen Menſchen unterſchieden, daß er
ohne
[163]
ohne Suͤnde war, und die Suͤnde gehoͤrt ja nicht zu
unſerm Weſen. Dieß letztere war wegen der innigen
Vereinigung, in der in Chriſto die menſchliche Natur
mit der goͤttlichen ſtand, nothwendig, und auch deswe-
gen, weil er ſonſt nicht fuͤr anderer, ſondern nur fuͤr ſeine
eignen Suͤnden, haͤtte leiden koͤnnen. — So ungezwei-
felt nun dieſe Wahrheit iſt: Chriſtus iſt wahrer Menſch,
ſo finden die Apoſtel es doch noͤthig, ſie mehrmals zu
wiederhohlen, und ins Licht zu ſetzen. Ebr. 2, 14. Ebr.
4, 15. Phil. 2, 6-7. Wie haͤtten ſie das fuͤr noͤthig hal-
ten koͤnnen, wenn ſie ihn nicht zugleich fuͤr den wahren
Gott erkannt haͤtten, wenn ſeine Gottheit nicht von den
Chriſten, an die ſie ſchrieben, waͤre geglaubt worden?
Sie mußten dadurch verhindern wollen, daß man nicht
etwa denken ſollte, Chriſtus ſey allein Gott, und nicht
zugleich im eigentlichen Verſtande Menſch. Es ſind alſo
eben dieſe Stellen, die die Menſchheit Chriſti bezeugen,
Beweiſe ſeiner Gottheit. — Er fand dieſe Folgerung
gegruͤndet, und geſtand, daß der Erweis der Menſchheit
Chriſti in den angefuͤhrten Stellen uͤberfluͤſſig ſehn wuͤrde
wenn man nicht geglaubt haͤtte, daß Chriſtus zugleich
wahrer Gott ſey.
Was iſt nun der Vernunft hier unbegreiflich?
Chriſtus iſt Menſch, ohne von einem menſchlichen Vater
gezeugt zu ſeyn. Muͤſſen wir aber nicht zugeben, daß
es in der Macht Gottes ſtehet, wenn ſeine Weisheit es
noͤthig findet, den ordentlichen Weg der Natur zu ver-
laſſen, und durch außerordentliche Mittel zu thun was
er will? Konnte er nicht das bey der Zeugung des Sohns
der Maria fehlende Zuthun eines Mannes durch ſeine
alles vermoͤgende Kraft erſetzen? Luc. 1, 34. 35. —
Dieß, ſagte der Graf, halte ich, ſo bald ich vorausſetzte,
daß Gott es noͤthig gefunden hat den ordentlichen Weg
der Natur zu verlaſſen, nur fuͤr eine kleine Schwuͤrigkeit.
L 2Ferner
[164]
Ferner kann es die Vernunft nicht begreifen, wie
die Gottheit und Menſchheit in Chriſto vereinigt ſeyn koͤn-
nen. Aber ſie findet nichts widerſprechendes darin, wenn
ſie ſich nur vor falſchen Vorſtellungen von dieſer Verei-
nigung huͤtet. Die Offenbahrung ſagt nicht: die Gott-
heit Chriſti iſt ſeine Menſchheit, oder umgekehrt, oder
eins iſt in das andere verwandelt worden. Das waͤre
ein Widerſpruch, denn das Endliche kann nicht unend-
lich, und das Unendliche nicht endlich werden. Sie
lehret nur dieſes: Beyde, die Gottheit und Menſchheit,
ſind in Chriſto, ſie ſind in ihm aufs innigſte verbunden.
Die Art dieſer Verbindung iſt das unbegreifliche. Des-
wegen redet die Schrift davon durch Bilder. z. Ex.
Coloſſ. 1, 19. Col. 2, 9. Daß das unmoͤglich ſey, kann
niemand beweiſen. Wir finden ſo gar entfernte Aehn-
lichkeiten davon in der Natur. So iſt die Seele, ein
geiſtliches Weſen, mit dem Leibe, einer groben Materie,
verbunden. So ſagen wir auch: die Seele wohnt in
dem Leibe. — Jch geſtehe es Jhnen offenherzig, ſagte
der Graf, daß ich, auch wenn ich gerne wollte, nichts
dagegen wuͤrde erinnern koͤnnen. Jch kanns mir nicht
erklaͤren, aber ich ſehe keinen Widerſpruch, und die
Sache hat zu große Autoritaͤt, als daß ich ſie wegen ihrer
Unbegreiflichkeit laͤugnen duͤrfte.
Nun wollte ich ihm noch zeigen, daß die Lehre,
Chriſtus iſt zugleich Gott und Menſch, eine ſehr wohl-
thaͤtige Lehre ſey. Laßt uns annehmen, ſagte ich, er
ſey allein Gott. So konnte er nicht leiden und ſterben,
und folglich, da dieß nach der Weisheit Gottes, die
wir nicht fragen duͤrfen, warum? das einzige Mittel
unſrer Erloͤſung war, uns nicht erloͤſen. Alles, was
er als bloßer Gott haͤtte thun koͤnnen, das konnten wir
nicht berechtigt ſeyn, als fuͤr uns gethan anzuſehen.
Nun aber, da er zugleich wahrer Menſch iſt, nun war
Leiden
[165]
Leiden und Tod bey ihm moͤglich, nun konnte das, was
er that und litt, uns gleichſam zugerechnet werden, als
ſeinen Blutsfreunden, ſeinen Verwandten. Ebr. 2, 14.
Er erfuhr nun auch ſelbſt, was der Menſch iſt, von wel-
chen Schwachheiten er zum Abfall von Gott verſucht
wird: er kann alſo auch um ſo viel mehr Mitleiden mit
uns haben, um ſo viel treuer wegen ſeiner Verwandtſchaft
mit uns unſer Vertreter und Tuͤrſprecher ſeyn. Ebr.
4. 15. — Laßt uns annehmen: er ſey allein Menſch.
Wie konnten wir denn gewiß ſeyn, er ſey ohne Suͤnde?
Und davon mußten wir doch gewiß ſeyn, wenn wir glau-
ben ſollten, er ſey fuͤr unſre Suͤnden und nicht fuͤr ſeine
eignen, er ſey der Gerechte fuͤr die Ungerechten geſtorben?
Sein Tod ſoll ja die Verſoͤhnug fuͤr alle Welt Suͤnden
ſeyn. 1 Joh. 2, 1-2. War er bloßer Menſch, wie
konnten wir das fuͤr wahr halten? Was iſt fuͤr ein Ver-
haͤltniß zwiſchen Einem und vielen Millionen? Jſt er
aber zugleich Gott, ſo wird uns die Sache in ein ehr-
wuͤrdiges Licht geſtellt. Wenn der Menſch, der zugleich
Gott iſt, fuͤr ſeine Bruͤder leidet und ſtirbt, ſo muß ſein
Tod vor Gott einen unausſprechlichen Wehrt haben,
und alle Suͤnden aller Menſchen ſind nicht ſo groß als
dieſes Opfer.
Jch kann Jhnen nicht beſchreiben, ſagte der
Graf, wie ſehr meine Vernunft uͤber dieſe Geheimniſſe
der Religion befriedigt iſt. Jemehr man uͤber ſie nach-
denkt, jemehr goͤttliche Weisheit entdecket man in ihnen.
Nur davor muß man ſich huͤten, daß man nicht uͤberall
frage: warum? Man muß mit der Autoritaͤt des Urhe-
bers zufrieden ſeyn. Selbſt in menſchlichen Wiſſenſchaf-
ten iſt dieſe Beſcheidenheit noͤthig, man wuͤrde ſonſt uͤber
nichts zur Gewißheit kommen. Man koͤnnte in ganz
gemeinen Sachen lebenslang nachgruͤbeln, ehe man die
erſte Urſache entdeckte. Jedes warum? wuͤrde unzaͤhlige
aͤhnliche
[166]
aͤhnliche Fragen nach ſich ziehen, und unſre Vernunft iſt
nicht dazu gemacht ins Unendliche hineinzugehen. Wir
ſehen wenigſtens, ſetzte ich hinzu, die Geheimniſſe der
Religion ſind Weisheit, obgleich verborgene Weisheit.
Weisheit aber, zumahl ſo wohltaͤtige, ſo beruhigende,
muß die Vernunft demuͤthig verehren. —
Der Graf hatte in dieſen Tagen die Leidensge-
ſchichte Jeſu geleſen, und die bey dem Tode Jeſu geſche-
henen Wunder ſehr merkwuͤrdig gefunden. Er fragte
mich, ob nicht auch andere Geſchichtſchreiber außer den
Evangeliſten derſelben gedaͤchten. Phlegon Trallian,
antwortete ich ihm, ein griechiſcher Geſchichtſchreiber aus
dem erſten Jahrhundert, redet von einer wunderbaren
Sonnenfinſterniß und zugleich von einem Erdbeben, und
bezeichnet die Zeit, da beydes bemerkt worden, gerade
ſo als Matthaͤus. Tertullian und ein gewiſſer Lucian,
beydes alte chriſtliche Schriftſteller, berufen ſich, jener
in einer Apologie des Chriſtenthums, und dieſer in einer
Geſchichte der Waͤrtyrer, auf die in dem Archive des
Reichs aufbehaltenen Jahrbuͤcher, die dieſe außerordent-
liche Verfinſterung der Sonne bezeugten. Das Zeugniß
des Phlegon wird von einigen Gelehrten als nicht hierher
gehoͤrig angeſehen: aber die Zuverſicht, mit der die bey-
den zuletzt erwaͤhnten Verfaſſer verlangen, daß man die
Jahrbuͤcher,nachſchlagen ſolle, ſcheint gewiß zu beweiſen,
daß ſie uͤberzeugt geweſen ſind, die Begebenheit, wovon
die Rede iſt, ſey in denſelben angemerkt. Jch ſprach
geſtern mit jemand, ſetzte der Graf hinzu, uͤber dieſe
Wunder, der mir nicht zugeben wollte, daß ſie wahre
Wunder geweſen waͤren, indem dieſe Finſterniß und dieß
Erdbeben gar wohl natuͤrliche Urſachen haͤtte haben koͤn-
nen. Jch zeigte ihm aber, daß, wenn das auch ſeyn
ſollte, man immer noch fragen koͤnnte, wie es denn zuge-
gangen ſey, daß dieſe Erſcheinungen gerade am Todestage
Jeſu
[167]
Jeſu und ſelbſt in der Stunde deſſelben erfolgte. Dieß
gaͤbe ſchon die ſtaͤrkſte Vermuthung, daß Gott es ſo
beſtimmt habe, um die Menſchen auf den Tod Chriſti
aufmerkſam zu machen. “Sie haͤtten noch hinzu ſetzen
koͤnnen, Herr Graf, daß eine Sonnenfinſterniß am Tage
vor dem juͤdiſchen Oſterfeſte, aus den natuͤrlichen Urſa-
chen wenigſtens, woraus dieſe Erſcheinung ſonſt entſteht,
nicht moͤglich war.„ u. ſ. w.
Der Vater des Grafen hatte mich neulich in
einem Briefe gebeten, ſeinen Sohn von ſeiner fortdau-
renden Liebe und Fuͤrbitte zu verſichern. Jch gab ihm
den Brief zu leſen. Er wollte etwas antworten, konnte
aber vor Wehmuth nicht. Als ich eine halbe Stunde
darnach weggieng, bat er mich mit heißen Thraͤnen an
ſeine Eltern zu ſchreiben, und ihnen in ſeinem Nahmen
zu ſagen, daß er gewiß hoffte ihnen den einzigen Troſt
zu verſchaffen, den ſie ſich wuͤnſchten, daß ſie nemlich
erwarten duͤrften, ihn einſt unter den Begnadigten Got-
tes wieder zu finden.
Zwanzigſte Unterredung, den 3ten April.
Die Abſicht dieſer Unterredung war, dem Grafen die
Lehre der Schrift vorzutragen, daß mit dem Vater
und Sohne auch der heilige Geiſt wahrer Gott ſey. Jch
erklaͤrte ihm, als ich anfieng davon zu reden, daß die
Lehre vom heiligen Geiſte nicht ſo deutlich und ausdruͤck-
lich in der Bibel vorgetragen ſey, als die von Chriſto;
daß der Ausdruck heiliger Geiſt und Geiſt des Herrn
oder Geiſt Gottes ſehr viele und verſchiedene Bedeutun-
gen in der Schrift habe; und daß man nicht gewiß
beweiſen koͤnne, der heilige Geiſt werde gerade zu und
mit ausdruͤcklicher Beylegung des goͤttlichen Nahmens,
Gott genannt. Weil aber doch die heilige Schrift ihn
L 4als
[168]
als unterſchieden vom Vater und Sohn vorſtelle, weil
ſie ihm Praͤdicate beylege, die niemand als dem wahren
Gott beygelegt werden koͤnnten, ſo folge nothwendig,
daß er nicht der Vater, nicht der Sohn, ſondern ein
dritter ſey, und an der Gottheit Theil haben muͤſſe. Die
Gottheit aber ſey untheilbar, niemand koͤnne ſie anders
als ganz beſitzen: der heilige Geiſt muͤſſe alſo mit dem
Vater und Sohn wahrer Gott ſeyn. Da uns nun Gott
uͤber dieſe geheime Wahrheit nicht mehr offenbahrt haͤtte,
ſo wuͤrde er auch nicht fordern, daß wir mehr davon
wiſſen und glauben ſollten. Er antwortete mir: Jch bin
nun von der goͤttlichen Autoritaͤt der Schrift feſt uͤber-
zeugt, und erachte mich fuͤr verbunden ihre Ausſpruͤche
zu glauben. Jch habe in ihren Geheimniſſen noch keinen
Widerſpruch gefunden, ſondern viel mehr wahrgenommen,
daß ſie mit der Lehre von der Verſoͤhnung in genauer
Verbindung ſtehen, und fuͤr uns Menſchen ſehr wohl-
thaͤtig und beruhigend ſind. Er folgte mir bey meinem
Vortrage mit vieler Aufmerkſamkeit, und machte, anſtatt
Zweifel aufzuwerfen, verſchiedene zur Beſtaͤtigung der
Lehre, mit welcher wir uns beſchaͤfftigten, dienende An-
merkungen.
Der Vater und der Sohn, ſagte ich, ob ſie
gleich eins und daſſelbige goͤttliche Weſen haben, ſind
gleichwohl durch das Verhaͤltniß, in welchem ſie zu ein-
ander als Vater und Sohn ſtehen, unterſchieden. Jn
der Schrift wird nun noch ein dritter, der heillige Geiſt,
genannt, der zu Gottheit gehoͤrt. Dieſer wird nicht
nur als verſchieden vom Vater und Sohne, ſondern auch
als theilhaft des goͤttlichen Weſens beſchrieben. — Ob
gleich das Wort Perſon nicht bibliſch iſt, ſo kann man
deſſelben doch nicht wohl entbehren, weil wir kein ande-
res haben, das in Uebereinſtimmung mit den Aeußerun-
gen der heiligen Schrift von dem Vater, dem Sohn und
dem
[169]
dem heiligen Geiſt, in der Lehre von den dreyen, die zur
Gottheit gehoͤren, gebraucht werden koͤnnte. Wir wollen
es alſo brauchen, und uns nur vor unrichtigen Folgerun-
gen aus dem Begriffe deſſelben huͤten.
Jeſus befielt ſeinen Juͤngern, Matth. 28, 19.
die Heiden im Nahmen des Vaters, des Sohns und des
heiligen Geiſtes zu taufen. Dieſe Stelle laͤßt uns nicht
zweifeln, daß der Geiſt eine vom Vater und Sohne ver-
ſchiedene Perſon ſey. Sollen hier die Ausdruͤcke, Vater
und Sohn, nicht bloße abſtrakte Kraͤfte oder Wuͤrkungen
anzeigen, ſo kann unter dem heiligen Geiſt auch nicht ſo
etwas verſtanden werden. Nun aber hat ohne Wider-
ſpruch nach dem Sinn der Schrift der Vater ſowohl als
der Sohn jeder fuͤr ſich ſeine eigne Subſiſtenz, und ſind
von einander verſchiedene Perſonen: alſo muß der heilige
Geiſt auch ſeine eigene Subſiſtenz haben, und eine vom
Vater und Sohne verſchiedene Perſon ſeyn. Es waͤre
ſonderbar zu glauben, daß in der angefuͤhrten Stelle der
Vater und Sohn von einander unterſchiedene Perſonen,
der heilige Geiſt aber nur eine Kraft oder Wuͤrkung ſeyn
ſollte, da doch alle drey in einer Suppoſition ſtehen, und
die Taufe auf einerley Weiſe im Nahmen des Vaters,
Sohnes und Geiſtes anbefohlen wird. — Betrachten
Sie noch uͤber dieſes die Worte Jeſu, Joh. 16, 13-15.
Hier verſpricht Jeſus ſeinen Juͤngern den heiligen Geiſt,
legt ihm Wuͤrkungen bey, die er hervorbringen ſoll,
und unterſcheidet ihn merklich vom Vater und von ſich,
dem Sohne.
Nun entſteht die Frage, ob dieſer Perſon des
heiligen Geiſtes entſcheidende Merkmahle der Gottheit
in der heiligen Schrift beygelegt werden: denn daß der
Geiſt eben ſo ausdruͤcklich als Chriſtus Gott genannt
werde, das moͤchte wohl nicht ohne allen Widerſpruch
L 5erwieſen
[170]
erwieſen werden koͤnnen. Es iſt genug, wenn nur ſolche
Praͤdicaͤte von ihm vorkommen, die niemand ſonſt zukom-
men koͤnnen, als der Gott iſt. Das finden wir aber
1 Cor. 2, 10-11. Hier wird dem Geiſte die Allwiſſenheit
beygelegt, die genaueſte Erkenntniß auch des Verborgen-
ſten, was in Gott iſt. Paulus ſetzt hinzu: So wie das,
was im Menſchen verborgen iſt, niemand wiſſen kann,
als der Geiſt des Menſchen ſelbſt, ſo weiß auch keiner
die Geheimniſſe der Gottheit, als der Geiſt Gottes. Der
Geiſt Gottes erkennet alſo das, was niemand als Gott
ſelbſt erkennen kann: folglich muß er Gott ſeyn. —
Auch in der ſchon angefuͤhrten Stelle, Matth. 28, 19.
liegt ein guͤltiger Beweis der Gottheit des heiligen Gei-
ſtes. Die Heiden ſollen auf ſeinen Nahmen eben ſowohl,
als auf den Nahmen des Vaters und Sohns getauft,
daß iſt, verpflichtet werden alle drey auf einerley Art zu
verehren. Nun aber ſollen ſie den Vater und Sohn
als Gott verehren. Alſo auch den heiligen Geiſt.
Dieß iſt nun, fuhr ich fort, das Geheimniß der
Dreyeinigkeit. Ob es etwas der Vernunft widerſpre-
chendes enthalte, das laͤßt ſich auf eben die Art beurthei-
len, wie ſchon beurtheilt iſt, ob die Lehre, Chriſtus iſt
Gott, wie der Vater Gott iſt, widerſprechen ſey. Die
Schwuͤrigkeit, die wir bey der Sache finden, liegt nicht
darin, daß gerade drey Perſonen in dem einigen goͤttli-
chen Weſen angenommen werden, ſondern darin, daß
ihrer mehrere, als eine einzige, ſind. Haben wir alſo
geſehen, daß Vater und Sohn, ohne der Einheit Gottes
Abbruch zu thun, und alſo der Vernunft zu widerſpre-
chen, beyde Gott ſeyn koͤnnen, ſo muß es auch, wenn
es in der Schrift gelehrt wird, keinen Widerſpruch in
ſich faſſen, daß nebſt dem Vater und Sohne auch der
heilige Geiſt Gott ſey.
Endlich
[171]
Endlich zeigte ich dem Grafen noch, daß dieſe
Lehre wohlthaͤtig und beruhigend fuͤr uns ſey. Man
laͤugne, ſagte ich, von den drey Perſonen der Gottheit,
welche man will, ſo iſt in der Lehre von unſrer Verſoͤh-
nung, der Zuſammenhang, die Zuverlaͤſſigkeit, der
Troſt und die Hoffnung nicht mehr, die wir itzt darin
finden. Nun verlaſſen wir uns auf die Verſicherung des
Vaters, daß er uns um ſeines Sohns willen begnadigen
wolle. Nun troͤſten wir uns der Leiden des Sohns, und
ſind gewiß, daß ſie das Mittel unſrer Verſoͤhnung ſind.
Nun kennen wir in dem heiligen Geiſt einen zuverlaͤſſigen
Fuͤhrer, der uns durch die Kraft der Wahrheit unter-
richtet und beſſert, und uns dadurch faͤhig macht, Ver-
ſoͤhnte und Begnadigte Gottes zu ſeyn und zu bleiben.
Warum ſollten wir uns alſo wegern eine Lehre anzuneh-
men, die zwar der Vernunft unbekannt, aber doch durch
die goͤttliche Offenbahrung erwieſen, und in ihren Folgen
fuͤr uns ſo vortheilhaft iſt? —
Dieß war das weſentliche von demjenigen, was
ich uͤber das Geheimniß der Dreyeinigkeit zu ſagen fuͤr
noͤthig hielt. Der Graf verſicherte mich, daß er nun
dieſe Lehre von einer Seite kenne, von der ſie ihm hoͤchſt-
ehrwuͤrdig erſchiene. Daruͤber bin ich gewiß, ſetzte er
hinzu, daß ich nun mit voͤlliger Ueberzeugung ein theore-
tiſcher Chriſt bin. Waͤre ich es nur eben ſo von der
practiſchen! Jch wuͤnſche Jhnen Gluͤck dazu, antwortete
ich, daß Sie nun voͤllig und von ganzem Herzen die Lehre
Jeſu angenommen haben. Verlieren Sie nun gleich Jhr
Leben, ſo werden Sie doch in der Ewigkeit Jhren Scha-
den uͤberſchwenglich erſetzt finden. Gewiß, ſagte er,
ich verliere nichts. Es wuͤrde vielmehr unerſetzlicher
Verluſt fuͤr mich geweſen ſeyn, wenn ich in meiner vori-
gen Situation geblieben waͤre, denn ſo waͤre ich nach
aller Wahrſcheinlichkeit nie ein Chriſt worden. Aber das
weiß
[172]
weiß ich auch gewiß, wenn es moͤglich waͤre, daß ich
noch lange in der Welt leben koͤnnte, ſo wuͤrde ich nun
die Religion nimmer wieder fahren laſſen. Jch bin oft
opiniatre in meinen Meynungen geweſen: hier wuͤrde ich
es mit Grund ſeyn!
Sie wuͤnſchten ſich vorhin, Herr Graf, daß
Sie nun auch ein practiſcher Chriſt ſeyn moͤchten. Sich
als ein ſolcher zu beweiſen, das muß von nun an Jhr
ganzes Geſchaͤfft ſeyn. Wir wollen nun mit allem Fleiß
daran arbeiten, ihre Geſinnungen nach dem Willen Got-
tes zu berichtigen. Um Zweifel, Einwuͤrfe, Widerle-
gungen und Beweiſe wollen wir uns nicht mehr bekuͤm-
mern, ſondern das ſoll das Ziel unſrer Bemuͤhungen
ſeyn, daß Sie ungeheuchelte Fruͤchte der chriſtlichen
Rechtſchaffenheit bringen. Geduld, Demuth, Aufrich-
tigkeit, Liebe gegen jedermann und auch gegen ihre Feinde,
willige Unterwerfung unter den Willen Gottes, ernſtliche
Bemuͤhung zur Erſetzung des Schadens, den Sie in
der Welt verurſacht haben, dieß alles gehoͤrt zu den
Pflichten Jhres Verhaͤltniſſes, in deren Beobachtung
ſich Jhr Glaube fruchtbar und lebendig beweiſen muß.
Dadurch koͤnnen Sie ſich uͤberzeugen, daß Sie auch ein
practiſcher Chriſt ſind. Jch verſichere Sie, antwortete
er, ich finde mich zu allem willig, was Sie von mir
fordern. Und ich freue mich, daß ich mich willig dazu
finde. Jch ſehe das als ein gutes Zeichen an. Dazu
wuͤrde ich ſonſt nicht willig geweſen ſeyn. Jch haͤtte
gewiß meine Neigungen nicht aufgeopfert. Jch will
ſelbſt daruͤber nachdenken, wie ich Jhnen und mir von
meiner itzigen Geſinnung thaͤtige Beweiſe geben koͤnne.
Sie haben mir mehr als einmahl zu erkennen
gegeben, fuhr er fort, daß Sie befuͤrchteten, ich hielte
noch zu viel auf meine Adminiſtration der oͤffentlichen
Angele-
[173]
Angelegenheiten. Jch habe mir Zeit genommen, ich
bin ins Detail daruͤber gegangen, ich habe den Quellen
nachgeſpuͤrt. Jch will Jhnen das Reſultat meiner Un-
terſuchung nicht verheelen. Glauben Sie mir nun auf
meine Verſicherung: ich habe nicht die Abſicht gehabt,
Ungluͤck anzurichten. Aber Wolluſt und Eitelkeit ſind
die Triebfedern meiner Unternehmungen geweſen. Bey
den uͤbertriebenen Vorſtellungen, die ich mir von meinen
Faͤhigkeiten machte, und welche von andern in meiner
Seele unterhalten wurden, habe ich mir ſeit meiner An-
kunft in Daͤnnemark vorgenommen gehabt, eine große
Rolle zu ſpielen. Jch kann zwar nicht ſagen, daß ich
gleich an die dachte, die ich geſpielt habe, aber Sie
wiſſen, wie man durch Gelegenheit und Umſtaͤnde weiter
gefuͤhrt werden kann, als man gehen wollte. Ein Schritt
zieht den andern nach ſich. Schließen Sie hieraus,
daß ich die ganze Kette meiner Unternehmungen vor
Gott und meinem Gewiſſen nothwendig verwerflich finden
muß. — Daß ich aber uͤberhaupt kein Feind von dem
geweſen bin, was man in der großen Welt Tugend und
Ehrlichkeit nennt, das bin [ich] mir auch bewußt. Jch
ſage Jhnen das nicht um mich zu ruͤhmen. Jch weiß,
das iſt nicht mein Werk, ſondern die Folge meiner
natuͤrlichen Denkungsart geweſen, und alle Menſchen
haben auch eine gewiſſe allgemeine Tugendliebe. Daß
ich meines Ziels verfehlte, das war meine eigne Schuld.
Jch habe das Gute geſucht, aber nicht gefunden, weil
ich mich nicht durch Vernunft und Religion ſondern durch
meine Begierden leiten ließ.
Spaldings Buch vom Wehrt der Gefuͤhle im
Chriſtenthum hatte er nun durchgeleſen, und dankte
mir, daß ich es ihm gegeben haͤtte. Meine Vorſtellun-
gen, ſagte er, von der Veraͤnderung, die durch die Be-
kehrung in dem Menſchen gewuͤrkt werden muß, ſind
durch
[174]
durch dieſes Buch ſehr berichtigt worden. Jch geſtehe
Jhnen mit Freuden, ich finde das Chriſtenthum immer
liebenswuͤrdiger, je mehr ich es kennen lerne. Jch habe
es nie gekannt, ich glaubte es ſey der Vernunft und
Natur des Menſchen, deſſen Religion es doch ſeyn ſollte,
ganz widerſprechend, ich hielt es fuͤr eine gekuͤnſtelte, ge-
ſchraubte Lehre, voll von Unbegreiflichkeiten. Wenn
ich vor Zeiten zuweilen in einigen ernſten Augenblicken
an Religion dachte, ſo hatte ich immer ein Jdeal vor
Augen, wie ſie beſchaffen ſeyn muͤßte, nemlich ſimpel
und den Faͤhigkeiten des Menſchen in allen Staͤnden ge-
maͤß: und gerade ſo finde ich itzt das Chriſtenthum, und
ſo ganz meinen eigenen Gedanken von der Beſchaffenheit
einer wahren Religion angemeſſen. Haͤtte ich es in mei-
ner vorigen Lage ſo kennen lernen, aber dazu wuͤrde ich
mir keine Zeit genommen haben, ſo weiß ich gewiß, ich
waͤre nicht erſt in meinem Gefaͤngniſſe ein Chriſt gewor-
den. Aber ich habe das Ungluͤck gehabt, zufoͤrderſt durch
meine Neigungen, dann aber auch durch ſo viele menſch-
liche Einfaͤlle, die man in die Religion hineingetragen
hat, deren Ungrund ich begreifen konnte, und die man
doch fuͤr weſentliche Wahrheiten des Chriſtenthums aus-
gab, gegen ſie eingenommen zu werden. Wie anſtoͤßig
iſt es mir z. Ex. oft geweſen, daß man Gott, von dem
ich wußte, daß er die Liebe iſt, von dem ich nun weiß,
daß er ſtrafen muß, aber es ungerne thut, und viel lie-
ber ſegnet und begnadigt, als einen zornigen, eiferſuͤch-
tigen Richter vorſtellte, dem recht viel daran gelegen ſey,
bey jeder Gelegenheit ſeine Rache auszulaſſen! Von Ju-
gend auf habe ich wenig Chriſten gekannt, die mich nicht
durch ihre Schwaͤrmerey, und oft durch ihre unter dem
Schein der Heiligkeit verſteckte Gottloſigkeit geaͤrgert
haͤtten. Jch wußte wohl dunkel, daß nicht alle Chriſten
ſo waͤren, und eine ſo ausgezeichnete Sprache fuͤhrten,
aber ich war zu leichtſinnig, mich bey dieſen beſſern Chriſten
nach
[175]
nach dem wahren Geiſte ihrer Religion zu erkundigen.
Sehr oft habe ich in meiner Jugend Predigten gehoͤrt,
aber ſie machten keinen Eindruck auf mich. Man wie-
derhohlte mir immer dieſe Wahrheit, daß außer Jeſu kein
Heil ſey, in unzaͤhligen gleichbedeutenden Ausdruͤcken,
niemals aber, oder doch ſehr ſelten, ſetzte man ſie recht
ins Licht und bewies ſie. Jch ſah die Leute in der Kirche
weinen, aber wenn ich ſie nun nach abgetrockneten Thraͤ-
nen in ihrem Verhalten zu betrachten Gelegenheit hatte,
ſo fand ich, daß ſie nichts beſſer geworden waren, ſon-
dern ſich unter dem Vorwande ihres Glaubens alles Boͤſe
erlaubten. — Endlich konnte ich auch die Gefuͤhle nicht
begreifen, die viele Chriſten zu haben glaubten. Es
kam mir alles ſo unnatuͤrlich, ſo wunderbar vor. Gleich-
wohl hat es mich waͤhrend unſrer Bekanntſchaft, wie
Sie wohl werden gemerkt haben, oft beunruhigt, daß
ich nichts von dieſen Gefuͤhlen bey mir wahrnahm. Jch
fand meine wuͤrklich aufrichtige Traurigkeit uͤber meine
Suͤnden den Ausdruͤcken nicht gemaͤß, die ich ſo oft in
meiner Jugend gehoͤrt hatte, und vor denen ich immer
erſchrocken war. Jch wollte meinen Schmerz gern zu
einem ſolchen Grade erhoͤhen: aber ich ſah auch auf der
andern Seite wieder, daß ſo ein Zwang, den ich mir
vielleicht durch Huͤlfe der Jmagination haͤtte anthun koͤn-
nen, das nicht ſeyn wuͤrde, was ich ſuchte, und daß
Gott daran kein Gefallen haben koͤnnte. Nun bin ich
durch meinen Spalding daruͤber voͤllig ruhig geworden.
Jch weiß nun gewiß, alles kommt auf das Vertrauen
zu Gott durch Chriſtum an, und auf die wahre Sin-
nesaͤnderung vom Boͤſen zum Guten. Und das muß
ich empfinden koͤnnen, daruͤber, ob ich dieß Vertrauen
habe, ob dieſe Aenderung bey mir vorgegangen iſt, muß
ich ſelbſt im Stande ſeyn, mit Gewißheit zu urtheilen.
Jch
[176]
Jch hatte dem Grafen Gellerts und Cramers
geiſtliche Lieder mitgebracht, und bat ihn zuweilen eins
davon zu leſen. Vielleicht wuͤrde er dadurch Anlaß zur
andaͤchtigen Richtung des Herzens auf Gott finden. Er
antwortete mir: er ſey nie ein Liebhaber der Poeſie gewe-
ſen, er habe immer den ſimplen ungeſchmuͤckten Vortrag
vorgezogen. Doch wolle er die Buͤcher bey ſich behalten,
und einen Verſuch machen, ob er ſich dadurch erbauen
koͤnnte. Jch erinnerte ihn, daß ſich geiſtliche Lieder
vornemlich durch ihre Simplicitaͤt von andern Poeſien
unterſchieden. u. ſ. w.
Ein und zwanzigſte Unterredung, den
4ten April.
Der Graf Struenſee war von der Wahrheit des Chri-
ſtenthums voͤllig uͤberzeugt. Jch mußte alſo nun
meine Bemuͤhungen bey ihm darauf richten, zu unter-
ſuchen, wie weit ſeine Geſinnungen bisher durch die
Kraft der Wahrheit gebeſſert waͤren, und dann mußte
ich mich bemuͤhen die Maͤngel, die ich finden wuͤrde,
durch Anwendung der Mittel, die das Evangelium dar-
beut, zu heben.
Jch bat ihn alſo, er moͤchte mir, als in der Ge-
genwart Gottes, ſagen, ob er nun die Lehre Jeſu mit
Ueberzeugung glaube. Er antwortete mir: Jch habe
ſonſt immer, wie Sie wiſſen, geglaubt, daß das Chri-
ſtenthum ohne alle Beweiſe ſey, und bloß auf die Auto-
ritaͤt der Geiſtlichen angenommen werden muͤſſe. Nun
ſehe ich ein, was fuͤr Gruͤnde es fuͤr ſich hat, glaube ſie
auch hinlaͤnglich zu kennen, und ihre Kraft genug zu
empfinden, als daß ich befuͤrchten ſollte, auch in dem
Falle, wenn ich noch lange Zeit zu leben haͤtte, mich
jemals wieder durch die Luſt zur Suͤnde oder durch ſolche
nichts-
[177]
nichtsbedeutende Einwuͤrfe und Spoͤttereyen, als die
Freygeiſter dieſen Beweiſen entgegenſetzen, gegen das
Chriſtenthum einnehmen zu laſſen.
So kommt es alſo nun, fuhr ich fort, zur voͤlli-
gen Beruhigung Jhres Gewiſſens noch darauf an, daß
Sie auch thun, was Jhnen Gott durch Chriſtum befielt,
und Jhre Geſinnungen durch das Evangelium nach dem
Wohlgefallen Gottes beſſern laſſen, ſo viel es nach Jhrer
Zeit und Jhren Umſtaͤnden moͤglich iſt. Jch muß Jhnen
nun zeigen, was in dieſer Abſicht Jhre Pflicht iſt, und
wir wuͤrden beyde Urſache haben uns zu freuen, wenn
wir wahrnehmen ſollten, daß Sie ſchon in einigen Stuͤcken
den Vorſchriften des Evangelii gemaͤß gehandelt haͤtten.
Die Gnade, die uns Gott in Chriſto Jeſu erwei-
ſet, iſt eine voͤllig freye Gnade. Dieß gilt von allen
Wohlthaten Gottes, auch von denen, die zur Erhaltung
unſres Lebens noͤthig ſind. Aber wir haben doch einigen
Grund dieſe von Gott zu erwarten, wenn er uns einmahl
das Leben gegeben hat, und will, daß wir daſſelbe bis
zu einem gewiſſen Ziele fortſetzen ſollen. Die Gnade der
Erloͤſung, beſonders durch die Aufopferung ſeines Soh-
nes, haͤtten wir nie erwarten koͤnnen, und Gott wuͤrde
darum doch der Allguͤtige geblieben ſeyn, wenn er ſie uns
auch nicht bewilligt haͤtte. — Eine ſolche freye Gnade
muͤſſen wir alſo auch mit Freyheit annehmen. Dazu ge-
hoͤrt, daß wir uns um Erkenntniß der Lehren und Vor-
ſchriften des Chriſtenthums, und um Ueberzeugung von
der Wahrheit und Goͤttlichkeit deſſelben bemuͤhen: wobey
es ſich aber von ſelbſt verſteht, daß Gott von niemand
mehr Nachdenken und Pruͤfung fordern wird, als ſeine
Faͤhigkeiten und Umſtaͤnde verſtatten. Ohne dieſe Unter-
ſuchung iſt die Annahme des Chriſtenthums ein blinder,
traͤger Glaube, ohne Vernunft und Freyheit.
MJch
[178]
Jch muß Jhnen das Zeugniß geben, daß Sie
dieſe Forderung mit Treue und Rechtſchaffenheit erfuͤllt
haben. Sie haben zuerſt die natuͤrliche Religion unter-
ſucht, und Jhre derſelben widerſprechenden Jrrthuͤmer
willig fahren laſſen, nachdem ſie den Ungrund und die
Schaͤdlichkeit derſelben wahrgenommen hatten. Erin-
nern Sie ſich hier an die Wuͤrkung, die Jeruſalems,
Geller[t]s und Reimarus Buͤcher bey Jhnen gehabt haben,
und die Sie nicht haͤtten haben koͤnnen, wenn Sie ſie
nicht mit Nachdenken und redlicher Geſinnung geleſen
haͤtten. Hierauf haben Sie Jhren moraliſchen Zuſtand
und Jhre Verhaͤltniſſe zu Gott unterſucht, ich bin Jhnen
dabey zu Huͤlfe gekommen, und Sie mir wieder durch
ein aufrichtiges Geſtaͤndniß Jhrer Vergehungen. Sie
haben ferner mit mir nachgeforſcht, ob Jhnen die bloße
Vernunft eine beruhigende Verſicherung Jhrer Begna-
digung geben koͤnne, und Sie geſtunden, ſo bald Sie es
einſahen, daß der Troſt, den Sie von Jhr erwarten
konnten, ſehr ungewiß und unzulaͤnglich ſey. Nun gien-
gen wir weiter zur chriſtlichen Religion. Zuerſt lernten
Sie den Stifter derſelben von ſeiner hiſtoriſchen Seite
und ſeine Lehre von der moraliſchen kennen. Sie laſen
in dieſer Abſicht die Geſchichte der drey letzten Lebensjahre
Jeſu, und lernten bald den großen Mann und ſeine
Moral lieben und bewundern. Jch halte es fuͤr unmoͤg-
lich, ſagte hier der Graf, daß ein vernuͤnftiger Menſch,
der die Sittenlehre und den moraliſchen Charakter Chriſti
kennen lernt, dadurch nicht ſollte eingenommen werden.
Sie funden es, fuhr ich fort, ganz unglaublich, daß
eine ſo vortreffliche Moral ſich auf falſchen und erdichte-
ten Lehrſaͤtzen gruͤnden, daß ſo ein weiſer und guter
Mann ein Schwaͤrmer oder ein Betruͤger ſeyn ſollte.
Sie hielten es alſo fuͤr Jhre Pflicht, zu unterſuchen, ob
ſich Jeſus als einen Geſandten Gottes an die Menſchen
erwieſen habe. Sie pruͤften in dieſer Abſicht die hiſtoriſche
Glaub-
[179]
Glaubwuͤrdigkeit ſeiner Auferſtehung; Sie dachten uͤber
die Weißagungen der Bibel nach, und funden auf bey-
den Seiten mehr Beweiſe, als noͤthig waren Sie zu
uͤberzeugen, daß Jeſus von Gott geſandt, und daß ſein
Wort Wahrheit ſey. Hier laſen Sie den Bonnet, den
Leß, den Neuton. Jtzt lernten Sie die theoretiſchen
Lehren des Chriſtenthums kennen. Wir fiengen bey der
Hauptlehre von der Verſoͤhnung an, wir giengen fort
zu dem Unterricht des Chriſtenthums von der Perſon
Chriſti und des heiligen Geiſtes. Wir ſchoͤpften unſre
Kenntniſſe davon aus der heiligen Schrift, der einzigen
unverfaͤlſchten Quelle. Sie glaubten dieſe Wahrheiten
auf die Autoritaͤt Gottes, und auf das Zeugniß Jhrer
Vernunft, daß Sie nichts in denſelben entdeckte, das
der Gottheit unanſtaͤndig oder andern gewiß erkannten
Wahrheiten widerſprechend ſey.
Auf dieſe Art erinnerte ich den Grafen an den
Weg, welchen wir bisher mit einander zuruͤckgelegt,
wiederholte kurz die Reihe der Beweiſe, die am meiſten
auf ihn gewuͤrkt hatten, und hatte das Vergnuͤgen aus
ſeinen Antworten zu ſehen, daß er ſie gut gefaßt, und
daß ſie ihm gegenwaͤrtig waren. Das Reſultat, ſetzte
ich noch hinzu, von dieſen Jhren Bemuͤhungen iſt dieſes,
daß Sie ſich nun mit wahrer Ueberzeugung zum Chri-
ſtenthum bekennen, Jeſum als Jhren Erloͤſer anbeten,
und ſchon die Wuͤrkungen Jhres Glaubens in der unge-
kuͤnſtelten Ruhe und Heiterkeit ſpuͤren, die Jhre Seele
empfindet. Jch entwickelte dieſe letztern Saͤtze umſtaͤnd-
lich, und fragte ihn bey einem jeden beſonders, ob ich
ſeinen Sinn getroffen haͤtte, welches er jedesmahl mit
Empfindung bejahete. Von ſeiner gegenwaͤrtigen Ruhe
ſagte er, daß ſie ganz etwas anders waͤre, als diejenige,
die er vorhin zu haben geglaubt haͤtte. Jtzt fuͤhle er ſich
heiter: vorhin habe er ſich gezwungen es zu ſcheinen.
M 2Er
[180]
Er wuͤrde zwar auch in ſeinem unbekehrten Zuſtande es viel-
leicht dahin haben bringen koͤnnen, mit allem aͤußerlichen
Anſtande der Standhaftigkeit zu ſterben: aber in ſeinem
Herzen wuͤrde er gewiß ganz etwas anders dabey empfun-
den haben, als er nun bey ſeinem Tode zu empfinden hoffe.
Jch glaubte ihm nun das Zeugniß geben zu duͤr-
fen, daß er die erſte Forderung, die das Evangelium an
uns thut, gewiſſenhaft erfuͤllt habe. Sie haben ſich,
ſagte ich, um Erkenntniß und Ueberzeugung bemuͤht,
Sie haben Jhre geliebten Jrrthuͤmer willig fahren laſſen,
ſobald Sie ſie fuͤr Jrrthuͤmer erkannten. Haͤtten Sie
das nicht gethan, haͤtten Sie nicht ſelbſt gearbeitet, ſon-
dern alles auf mich und meine Unterredungen mit Jhnen
ankommen laſſen, wie weit wuͤrden Sie dann noch zuruͤck
ſeyn! Preiſen Sie Gott dafuͤr, daß er Jhnen die Sache
Jhrer Seeligkeit wichtig und Sie geneigt gemacht hat,
ſich um die dazu nothwendige Erkenntniß zu bemuͤhen,
und ſie willig anzunehmen. —
Die foͤrmliche fiscaliſche Anklage des Grafen
ſollte in dieſen Tagen vor ſich gehen, und er war vorge-
laden worden ſie anzuhoͤren, und was er zu ſeiner Ver-
theidigung zu ſagen wuͤßte anzubringen. Er erzaͤhlte
mir dieſes, und fragte mich um Raht, ob er die Sache
nun gehen laſſen ſolle, wie ſie gehen wuͤrde, oder ob es
ihm erlaubt ſey, zur Milderung ſeines Urtheils zu ſagen,
was er etwa noch ſagen zu koͤnnen glaubte. Jch ant-
wortete ihm, das Chriſtenthum verboͤte es ihm nicht,
wenn er rechtmaͤßige Mittel zu ſeiner Rettung wuͤßte,
ſie anzuwenden. Unter meinen Verbrechen, woruͤber ich
werde angeklagt werden, ſagte er hierauf, iſt eines, das
gar keiner Entſchuldigung oder Milderung faͤhig iſt. Jch
ſehe alſo ein, daß die Wahrſcheinlichkeit, die ich habe,
mein Leben zu erhalten, gegen die Wahrſcheinlichkeit meines
Todes,
[181]
Todes, ſehr klein iſt. Jch ſehe auch nichts angenehmes
vor mir, wenn ich mit dem Leben davon kaͤme. Ein
ewiges Gefaͤngniß wuͤrde mir ein unertraͤglicher Zuſtand
ſeyn. Gleichwohl kann ich nicht laͤugnen, es ſchaudert
mich, wenn ich an den Augenblick des Todes unter ſol-
chen Umſtaͤnden denke! Ueberlegen Sie, was Sie mir
rathen koͤnnen. Jch ſehe keine Hoffnung fuͤr Sie, ant-
wortete ich ihm. Die Regierung hat Jhnen einen De-
fenſor zugeordnet. Er kennt die Geſetze genauer, als
ich ſie kennen kann. Er wird Jhnen alſo auch zuverlaͤſſi-
ger als ich ſagen koͤnnen, was Sie hoffen, und was Sie
nicht hoffen duͤrfen. Ueber dieß ſind Jhre Richter ſehr
gewiſſenhafte und einſichtsvolle Maͤnner. Davon bin ich
uͤberzeugt, ſagte er, ſie ſind als rechtſchaffene Leute mit
mir umgegangen. Aber darum muß ich Sie bitten, Herr
Graf, ſetzte ich hinzu, laſſen Sie den Wunſch zu leben
ja nicht zu lebhaft werden, zumahl da Sie ſelbſt erken-
nen, daß Sie ſo viel wie gar keine Wahrſcheinlichkeit
haben, ihn erfuͤllt zu ſehen. Sie wiſſen, eine jede maͤch-
tige Begierde ſtoͤrt die Seele in ihrer Ruhe, und dieſe
beſonders koͤnnte auf den Fortgang Jhrer Ruͤckkehr zu
Gott einen uͤblen Einfluß haben. Er gab mir die Hand
darauf, daß er ſich davor huͤten wolle. Jch glaube,
ſagte er, Gott wird es nicht misbilligen, daß ich den
Trieb der Conſervation empfinde, den er ſelbſt mir einge-
pflanzet hat. Jch hoffe aber auch, wenn ich ſterben muß,
daß ich mich daruͤber beruhigen werde, da ich gewiß
erwarte, daß es mir in der Ewigkeit wenigſtens nicht
ſchlechter als itzt ergehen wird. — Thue ich denn auch
unrecht, wenn ich beym Hingange zum Tode meine na-
tuͤrliche oder durch Uebung erlangte Standhaftigkeit mit
zu Huͤlfe rufe? “Wenn ſie nicht aus falſchen, Gott
misfaͤlligen Grundſaͤtzen fließt, wenn ſich kein Stoltz kein
Leichtſinn darin miſcht, wenn Sie ſich bloß dadurch ſtaͤr-
ken, aber nicht die Augen der Zuſchauer auf ſich ziehen
M 3und
[182]
und Ehre bey ihnen einlegen wollen, ſo ſehe ich nicht ein,
daß das unrecht iſt. Aber ich hoffe, die Religion ſoll
Jhnen beſſern und zuverlaͤſſigern Troſt und ſo viel Muth
geben, als Sie dann noͤthig haben werden.„
Er las itzt die Briefe Pauli an die Corinthier,
und ſagte, er faͤnde in Paulo einen großen Geiſt, viele
Klugheit und wahre Philoſophie. Unter andern habe
ihm dieſes Apoſtels Entſcheidung der ſtreitigen Frage,
ob es erlaubt ſey Goͤtzenopfer zu eſſen, die Klugheit deſſel-
ben ſehr ſichtbar gemacht. Er ſagte daruͤber vieles, das
ich wuͤnſchte angemerkt zu haben. — Jch gab ihm zur
Unterhaltung ſeiner Lectuͤre beyde Theile von Spaldings
Predigten, die er voll Hochachtung und Dankbarkeit
gegen ihren Verfaſſer annahm.
Zwey und zwanzigſte Unterredung, den
6ten April.
Die Bemuͤhungen, ſagte ich, welche Sie angewendet
haben, vom Evangelio Erkenntniß und Ueberzeu-
gung zu erlangen, der Beyfall, womit Sie die Lehren
deſſelben angenommen haben, ſind gut und Gott wohlge-
faͤllig: aber das iſt noch nicht alles, was Sie zu thun
haben, wenn Sie an den Begnadigungen, die Gott Jh-
nen in demſelben darbietet, Theil haben wollen. Der
Glaube, den Gott von uns fordert, ſoll lebendig oder
fruchtbar ſeyn. Er muß unſre Geſinnungen auf eine
heilſame Art veraͤndern. Er muß unſre Handlungen dey
Abſichten Gottes und unſers Erloͤſers gemaͤß beſtimmen.
Unſre moraliſche Verbeſſerung muß die Folge deſſelben
ſeyn, nach welcher wir das Boͤſe, das wir vorher geliebt
haben, nun haſſen und meiden, das Gute aber, gegen
welches wir vorher feindſeelig oder gleichguͤltig geſinnt
waren, nun lieben und thun. Daß dieß billige Forde-
rungen
[183]
rungen ſind, das zeigt Jhnen die Natur und Abſicht der
Erloͤſung, die Gott fuͤr uns veranſtaltet hat, und daß
das Evangelium ſie auch wuͤrklich an uns thut, davon
uͤberzeugen Sie folgende Schriftſtellen. Roͤm. 2, 13.
Tit. 1, 16. Matth. 7, 21. Jac. 2, 17.
Wollen Sie daher gewiß daruͤber werden, ob
Sie ſich Hoffnung machen duͤrfen von Gott begnadigt zu
ſeyn, ſo muͤſſen Sie ſich pruͤfen, ob durch die Erkenntniß
und Annahme des Evangelii dieſe Veraͤnderung bey Jh-
nen bewuͤrkt worden iſt. Forſchen Sie alſo nach, ob
Sie Jhre Vergehungen alle, ohne Ausnahme, ohne ſich
ſelbſt zu ſchmeicheln, wuͤrklich verabſcheuen, ob Sie ſie
von Herzen bereuen, ob Sie ſie, wie ſie es denn in der
That ſind, fuͤr die groͤßeſten unter allen Uebeln halten,
von denen Sie itzt gedruͤckt werden? Und das nicht etwa
allein deswegen, weil Sie die unangenehme Folgen der-
ſelben erfahren, ſondern vornemlich darum, weil Sie
Gott, Jhren wohlthaͤtigen Vater, der aus Liebe zu Jh-
nen ſeines einigen Sohnes nicht verſchont hat, dadurch
beleidigt haben. Hat die Religion bey Jhnen dieſe Ver-
aͤnderung hervorgebracht, ſo wird ſie auch in Jhrer Seele
eine Neigung zu dem entgegengeſetzten Guten, und uͤber-
haupt zu allem, was gut und Gott wohlgefaͤllig iſt,
gewuͤrkt haben. Auch daruͤber muͤſſen Sie ſich pruͤfen.
Sie haben bey dieſer Unterſuchung nicht ſo ſehr auf den
Grad Jhrer Veraͤnderung, als auf das Daſeyn und die
Wahrheit derſelben zu ſehen. Das Evangelium beſtimmt
nirgends, welchen Grad der Reue uͤber die Suͤnde, des
Vertrauens auf Gott und der Liebe zu ihm wir haben
muͤſſen. Aber das ſagt es, daß wahre unverſtellte Reue
uͤber alle unſre Suͤnden, ernſtliches Verlangen nach
Gnade, kindliche Zuverſicht zu Gott durch Chriſtum,
aufrichtige Liebe gegen Gott und unſern Erloͤſer, und
feſter allgemeiner Vorſatz dieſe Liebe in allen uns moͤglichen
M 4guten
[184]
guten Geſinnungen und Thaten zu beweiſen, unumgaͤng-
lich nothwendig ſind.
Ehe Sie vom Chriſtenthum uͤberzeugt waren,
unterſuchten wir Jhren moraliſchen Zuſtand: laſſen Sie
uns nun, da Sie ein Chriſt ſind, dieſe Unterſuchung wie-
derhohlen. Damals war meine Abſicht die, Jhr Gewiſſen
unruhig, und nach dem Troſte der Religion dadurch be-
gierig zu machen: itzt iſt es dieſe, beurtheilen zu koͤnnen,
ob Sie faͤhig ſind, die Troͤſtungen des Evangelii auf ſich
anzuwenden. Jhre Reue wird dadurch erneuert, ſie
wird durch die Erinnerung an die durch Chriſtum offen-
bahrte Liebe Gottes, die Sie damals noch nicht erkann-
ten, verſtaͤrkt werden. Und dieſe Reue darf Sie auch
nie verlaſſen, ſo lange Sie leben. Sie wird aber nun
nicht mehr eine erſchuͤtternde aͤngſtliche Empfindung ſeyn,
denn Sie wiſſen itzt ſchon, wo Sie Vergebung der
Suͤnde finden werden.
Jch ſtellte hierauf dem Grafen vor, daß es nun
darauf ankaͤme, wie er ſich in dieſer Unterſuchung finden
wuͤrde, ob und was fuͤr Hoffnungen er zu Gott faſſen
duͤrfe. Jch wollte ihm diejenigen Fragen vorlegen, die
ich dabey fuͤr noͤthig hielte, und ich baͤte ihn mir dieſelben
aufrichtig zu beantworten, damit er mich nicht in die
Gefahr ſetzte, ihm falſche Hoffnungen zu machen, und
ſich ſelbſt, ſich einer ungegruͤndeten Beruhigung zu uͤber-
laſſen. Zugleich erſuchte ich ihn, mir ſeine Antworten
in die Feder zu dictiren, damit ich zu Hauſe mit Nachden-
ken uͤber die Beſchaffenheit ſeiner Geſinnungen urtheilen,
und wo ich noch etwas mit dem Sinne des Evangelii
nicht uͤbereinſtimmendes faͤnde, auf Mittel denken koͤnnte,
es zu verbeſſern. Er verſprach mir heilig, daß er mir
ſein Herz ganz entdecken wolle, und folgende Antworten
auf meine Fragen ſind ganz genau ſeine eignen Worte.
Jſt
[185]
Jſt es Jhnen von Herzen leid, daß Sie Gott
durch die wolluͤſtigen Gedanken und Handlungen beleidigt
haben, deren Sie ſich ſchuldig wiſſen? “Jch ſehe das
an als eines meiner groͤßten Verbrechen, und weiß, daß
ich dadurch immer mehr von der Wahrheit entfernt wor-
den bin, die ich in der Erkenntniß der Religion haͤtte
finden koͤnnen, und ich halte davor, daß dieß die Haupt-
quelle aller meiner Vergehungen und Laſter iſt.„
Denken Sie aus eben dieſem Grunde mit Abſcheu
an diejenigen Ausſchweifungen zuruͤck, die Jhnen nach
Jhrer ehemaligen verderbten Geſinnung die meiſte Freude
gemacht haben? “ Jch denke nicht bloß mit der groͤße-
ſten Gleichguͤltigkeit an alle die Freuden, die ich im
Sinnlichen geſucht; und um ſo viel mehr, da ich itzt
empfinde, daß die wahre Gluͤckſeeligkeit in ganz entgegen-
geſetzten Geſinnungen beſteht, haſſe ich daher die erſten
eben ſo ſehr, als ich wuͤnſche die andern zu erhalten,
indem ich wuͤnſche Gott durch die Berichtigung meiner
Geſinnungen gefaͤllig zu werden.„
Glauben Sie gewiß zu ſeyn, daß Sie kuͤnftig,
wenn Sie Gelegenheit zu dieſen Suͤnden haͤtten, ſie
aus Gehorſam gegen Gott vermeiden wuͤrden? “Jch
bin verſichert, daß ich ſie aus keiner andern Urſache zu
vermeiden im Stande ſeyn wuͤrde. Daher, da ich einen
lebhaften Vorſchmack von der Gluͤckſeeligkeit der Tugend
habe, und ich gewiß verſichert bin, daß ich dieſe nicht
anders, als durch die wahre Furcht Gottes und die Be-
gierde mich ſeinem Willen gemaͤß zu verhalten, erlangen
koͤnnen wuͤrde, ſo habe ich auch den gewiſſen Vorſatz ge-
faßt, ſolche nie aus der Acht zu ſetzen, ſondern alle meine
Geſinnungen und Handlungen durch den kraͤftigen Bey-
ſtand dieſer Mittel, welche ich durch die wahre Erkennt-
niß Gottes und ſeiner Lehre habe kennen gelernt, zu
berichtigen.„
M 5Bekla-
[186]
Beklagen Sie es ernſtlich, und weil Sie empfin-
den, wie ſehr Sie ſich auch dadurch gegen Gott vergan-
gen, daß Sie nicht etwa allein dieſe oder jene Perſon,
ſondern auch andere Menſchen durch Jhre Wolluſt unmo-
raliſch und ungluͤcklich gemacht haben? “Jch empfinde
nichts heftiger, als daß ich durch meine Grundſaͤtze,
Leichtſinnigkeit und Neigung zur Wolluſt gewiſſe Perſo-
nen ungluͤcklich gemacht habe. Nicht allein in Abſicht
ihrer zeitlichen Wohlfart, ſondern auch in Anſehung der
Verderbung ihres moraliſchen Characters. Doch bereue
ich zugleich ſehr lebhaft das Verderben, welches ich in
den Sitten anderer Menſchen durch mein Exempel veran-
laßt. Um ſo viel mehr, da ich erkennen gelernt, wie
ſehr misfaͤllig Gott die Veranlaſſung der Zerſtoͤrung ſeiner
heiligen Ordnung durch gegebene Aergerniſſe ſey. Jch
mache mir auch große Vorwuͤrfe uͤber diejenigen Perſo-
nen, welche ich thaͤtlich verfuͤhrt habe.„
Verabſcheuen Sie aus eben dieſem Grunde der
Liebe zu Gott alle Vergehungen, zu denen Sie der Ehr-
geiz verleitet hat? Auch die falſchen Grundſaͤtze, auf denen
ſich Jhre Ambition ſtuͤtzte? Auch die unerlaubten Mittel,
deren Sie ſich bedient haben? “Da die erſten morali-
ſchen Grundſaͤtze, nach denen ich handelte, vor Gott
nichts taugten; da ſie bloß in einem mir ſelbſt gemachten
Syſtem uͤber die Ehre beſtanden; da ſie allein in den,
in der ſogenannten honnetten Welt angenommenen Be-
griffen von der Rechtſchaffenheit gegruͤndet waren; da
ich mich bloß, mit Ausſchließung aller aus der goͤttlichen
Lehre fließenden Erkenntniß, durch meine den Begierden
gehorſame Vernunft leiten ließ; da ich mir zu vortheil-
hafte Vorſtellungen von meinen Einſichten machte, und
da niemals dabey mein Endzweck der war, Gott gefaͤllig
zu werden, oder ſeinen Willen zu erfuͤllen, ſondern bloß
zeitliche Abſichten, wenn ſie auch nicht allezeit auf mich
allein gerichtet waren: ſo kann ich nach meiner itzigen
Ueber-
[187]
Ueberzeugung nicht anders, als vor Gott dieſen ganzen
Zuſammenhang meiner Handlungen in Abſicht auf die
Ehre fuͤr verwerflich halten, ſelbſt wenn ich ſie auch vor
der Welt entſchuldigen und rechtfertigen koͤnnte.„
Sind Sie daruͤber bekuͤmmert, daß ſo vieler
Menſchen Gluͤck, nicht bloß Jhrer Freunde, die nun
mit Jhnen leiden, ſondern auch anderer, die in der Zeit
Jhrer Groͤße gelitten haben, ein Opfer Jhrer ehrgeizigen
Unternehmungen geworden iſt? “Jndem ich oft zu
leichtſinnig uͤber die Gluͤckſeeligkeit anderer geurtheilt,
und den Satz gemißbraucht, daß einzelne Perſonen um
des Beſten des Ganzen willen leiden muͤßten, ſo muß
ich geſtehen, daß ich dieß nicht vor Gott entſchuldigen
kann, da derſelbe die Liebe des Naͤchſten ſo ſehr und als
die hauptſaͤchliche Tugend empfohlen hat, welche will,
daß ein jeder, der ſich dazu im Stande befindet, auch
das zeitliche Wohl einzelner Perſonen ſo viel moͤglich be-
foͤrdere, oder wenigſtens nicht zernichte. Und es koͤnnen
ſelbſt alle die politiſchen Urſachen, die mich dazu veran-
laßt, in meinem Gewiſſen mich nicht daruͤber entſchuldi-
gen und beruhigen. Das Ungluͤck meiner Freunde empfin-
de ich um ſo viel heftiger, da meine natuͤrliche Empfind-
lichkeit mich ohnehin dazu diſponirt. „
Glauben Sie, daß Sie nun, wenn es moͤglich
waͤre, daß Sie wieder in die Welt treten koͤnnten, aus
Grundſaͤtzen der Religion alle unordentliche Ehrbegierde
vermeiden wuͤrden? “Nach meinen itzigen Geſinnun-
gen bin ich gewiß verſichert, daß ich mich darnach beſtre-
ben, und ohne Unterlaß Gott um Beyſtand, um mir die
Kraͤfte dazu zu geben, anrufen wuͤrde.„
Sind Jhnen Jhre leichtſinnigen Vergehungen
gegen die Religion und die Sitten aus dem Grunde von
Herzen leid, weil Sie nun einſehen, daß Sie dadurch
den Abſichten Gottes entgegen gearbeitet haben? Auch
der
[188]
der Leichtſinn und die Unehrerbietung, womit Sie ſelbſt
uͤber Gott, Religion und Tugend gedacht haben? “Sie
ſind mir nicht allein leid, ſondern es demuͤthigt mich gar
ſehr, daß ich ſo lange in Jrrthum gelebt, und aus ſtolzer
Einbildung und Zuverſicht auf meine damaligen Grund-
ſaͤtze, die ich einer leichtſinnigen Unterſuchung der Wahr-
heit zu danken habe, mich ſo ſehr von dieſer letztern ent-
fernt, und mich ſo lange des Vergnuͤgens, welches ich
itzt aus der Erkenntniß derſelben ſchoͤpfe, beraubt habe.
Da ich itzt uͤberzeugt bin, daß die wahre Gluͤckſeeligkeit
der Menſchen bloß in der Religion und den guten Sit-
ten beſtehe, ſo empfinde ich um ſo viel heftiger den
Schmerz des Bewußtſeyns, das ich auch durch meine
Leichtſinnigkeit Schaden angerichtet, und Gelegenheit
gegeben, daß manche vielleicht von Tugend und Religion
ſind zuruͤck gebracht worden.„
Bereuen Sie den Leichtſinn, mit welchem Sie
ſich ans Ruder des Staats geſetzt, Geſetze gegeben, und
die Gluͤckſeeligkeit der Nation behandelt haben? “Jch
finde mich in meinem Gewiſſen auch daruͤber ſchuldig.
Wenn ich auch aus den Umſtaͤnden, in denen ich mich
befunden, und welche mich weiter hineingezogen, als ich
anfaͤnglich gedacht, einige Entſchuldigung deswegen ma-
chen koͤnnte, ſo bleibt es doch immer meine Schuld, daß
ich mich nicht ernſtlicher widerſetzt, und aus der Religion
diejenigen Bewegungsgruͤnde, die ich darin finden koͤn-
nen, hergenommen habe.„
Bereuen Sie alle Jhre Suͤnden, keine einzige
ausgenommen? “Jch habe mich genau unterſucht, und
finde alle diejenigen Handlungen, welche Gott an mir
misfaͤllig ſind, als eine reiche Quelle mir Schmerz und
Reue zu verurſachen. Auch habe ich bey genauer Unter-
ſuchung meiner vorhergehenden Geſinnungen gefunden,
daß ich noch zu viel mehreren Vergehungen faͤhig geweſen
waͤre, wenn ich nicht durch Nebenumſtaͤnde oder eine
natuͤr-
[189]
natuͤrliche Diſpoſition meiner Neigungen davon waͤre ab-
gehalten worden, daß ſie nicht zur Wuͤrklichkeit gekom-
men ſind. Jch erinnere mich keiner Suͤnde ohne Reue.„
Wuͤnſchen Sie, und wuͤrden Sie ſich beſtreben,
wenn Sie dazu Gelegenheit haͤtten, den Schaden, den
Sie in der Welt verurſacht haben, ſo viel es moͤglich
waͤre zu erſetzen? “Da es mir itzt nicht moͤglich iſt,
durch Handlungen meinen aufrichtigen Abſcheu gegen
alles Boͤſe zu beweiſen, und mein Verlangen, ſo viel
Gutes als moͤglich zu thun, und den verurſachten Scha-
den zu erſetzen, ſo geht mein einziges Beſtreben dahin,
meine Geſinnungen ſo zu berichtigen, daß ſie Gott wohl-
gefaͤllig und ich dadurch faͤhig werde, alle meine noch
moͤglichen Handlungen ſo einzurichten, wie ſie ſeinem
Endzweck und Willen gemaͤß ſind.„
Wuͤrden Sie ſuchen, diejenigen, die Sie zum
Unglauben und zur Suͤnde verleitet haben, wieder zuruͤck-
zubringen? “Da ich hoffe, daß ich beſtaͤndig die Gluͤck-
ſeeligkeit meiner Veraͤnderung gleich ſtark empfinden wuͤr-
de, und da ich immer meine Zufriedenheit darin geſetzt
habe, andre an meinem Vergnuͤgen Theil nehmen zu ma-
chen, ſo bin ich verſichert, daß ich auch alles anwenden
wuͤrde, diejenigen, die ſich von Wahrheit und Tugend
entfernt, zuruͤckzubringen, zumahl die, welche ich durch
mein Exempel oder Reden irre gemacht, und andre im
Guten zu befeſtigen.„
Wuͤrden Sie das Chriſtenthum ſtandhaft beken-
nen und uͤben, und ſind Sie feſt entſchloſſen, es bis ans
Ende zu bekennen und nach den Vorſchriften deſſelben zu
handeln? “Jch mache mir itzt eben ſo viel Ehre daraus
ſolches zu bekennen, und zu geſtehen, daß ich vorher im
Jrrthum gelebt habe, als ich vorher vielleicht einen Ruhm
darin geſucht habe, es geringe zu ſchaͤtzen. Mein Ent-
ſchluß, welcher in einer vollkommenen Ueberzeugung,
und
[190]
und nicht in blindem Gefuͤhl, gegruͤndet iſt, giebt mir die
zuverſichtliche Hoffnung, daß ich unter allen Umſtaͤnden
und bis ans Ende darin beharren, und darnach handeln
werde.„
Sind Sie ſichs bewußt, daß Sie keine feindſee-
lige Geſinnungen gegen diejenigen hegen, die Sie etwa
fuͤr Jhre Feinde halten, auch nicht gegen die, welche
Jhr gegenwaͤrtiges Ungluͤck befoͤrdert haben? “Da ich
uͤberhaupt nach meinem Temperament nicht rachſuͤchtig
bin, ſo bin ich es in dieſem Falle um deſto weniger, da
ich denen Perſonen, die an meinem Ungluͤcke Schuld ſind,
zutraue, daß Sie aus Ueberzeugung und in der Abſicht,
das Beſte des Koͤnigs und des Landes zu befoͤrdern, die
Sache ausgefuͤhrt haben. Und ſollte auch jemand aus
perſoͤnlicher Feindſchaft gehandelt haben, ſo vergeſſe ich
es doch mit derſelbigen Bereitwilligkeit.„
Bitten Sie in Jhrem Herzen alle, die von Jh-
nen beleidigt worden ſind, ohne Ausnahme, um Ver-
gebung? “Da ich aufrichtig bereue andre beleidigt zu
haben, ſo iſt das wenigſte, das ich thun kann, dieſes,
daß ich dieſe Perſonen um Verzeihung bitte.„
Sind Sie ſichs bewußt, daß Sie vor Jhren
Richtern und auch in Jhren Unterredungen mit mir, die
lautere Wahrheit geredet haben, und in dem, was Sie
etwa mit Jhrem Defenſor zu Jhrer Vertheidigung ver-
abreden moͤgen, ſagen werden? “Jch kann mich nicht
erinnern, daß ich vor meinen Richtern eine vorſetzliche
Unwahrheit geſagt habe, wenn ſich nicht etwa aus Man-
gel meines Gedaͤchtniſſes etwas unrichtiges eingeſchlichen
hat. Jhnen bin ichs mir noch weniger bewußt, habe
auch den Vorſatz nichts zu meiner Vertheidigung zu ſa-
gen, daß nicht mit der Wahrheit uͤbereinſtimmt.„
Empfinden Sie ein wahres Verlangen nach Jh-
rer Begnadigung von Gott, und zwar durch die ver-
ſoͤhnung
[191]
ſoͤhnung Jeſu Chriſti, und trauen Sie es Gott zu, daß
er Jhnen dieſelbe nicht verſagen werde? “Jch habe
keine andere Hoffnung, als in der Begnadigung von
Gott, und bin uͤberzeugt, daß kein anderes Mittel fuͤr
mich ſey ſolche zu erhalten, als durch das Verdienſt
Chriſti. Jch beſtrebe mich derſelben wuͤrdig zu werden
durch aufrichtigen Glauben an dieſen Erloͤſer, und daß
ich alle meine Gedanken und Geſinnungen nach ſeinem
Sinn einrichte, um dadurch faͤhig zur Gemeinſchaft Got-
tes zu werden. Jch bitte Gott mir dazu Kraft zu geben,
da ich in mir ſelbſt nur Unvermoͤgen und Schwaͤche dazu
empfinde.„
Halten Sie dieſe Begnadigung fuͤr die hoͤchſte
Wohlthat, die Jhnen wiederfahren kann, fuͤr eine weit
groͤßere, als die Erhaltung Jhres zeitlichen Lebens ſeyn
wuͤrde? “Die Erhaltung meines zeitlichen Lebens und
aller Vortheile ſcheinen mir nur gering in Ruͤckſicht auf
die Erlangung dieſer Gluͤckſeeligkeit, wovon mir meine
innere Empfindungen ſchon Erfahrungen gegeben haben.„
Erkennen Sie ſich um dieſer Begnadigung willen
fuͤr verbunden zur herzlichen Liebe Gottes und Jhres Er-
loͤſers, und werden Sie allen Fleiß anwenden, in dieſer
Liebe zuzunehmen? “Je laͤnger ich es fuͤhle, und je
mehr ich davon uͤberzeugt werde, deſto mehr Eindruck
macht die Guͤte Gottes und meines Erloͤſers auf mich,
und meine eifrige Liebe und Dankbarkeit gegen Gott und
Jeſum wird dadurch immer groͤßer und lebhafter.„
Sind Sie entſchloſſen, dieſe Jhre Liebe zu Gott,
ſo lange Sie noch Zeit dazu haben werden, durch einen
willigen Gehorſam gegen ſeinen Willen zu beweiſen?
“Da ich hoffe immer mehr und mehr von der Liebe Got-
tes auch gegen mich uͤberzeugt zu werden, da ich erkenne,
daß auch das, was er uͤber mich beſchloſſen, in aller Ab-
ſicht, zumahl in Hinſicht meiner Seele, mir das vortheil-
hafteſte
[192]
hafteſte iſt, ſo bin ich verſichert, daß ich mich in alles,
was ſein Wille iſt, ohne Murren und Widerwillen erge-
ben werde.„
Auch wenn unter der Regierung Gottes Jhr
Tod in wenig Tagen unvermeidlich wird, wollen Sie
ihn, mit allen den ſchrecklichen Umſtaͤnden, die mit ihm
verbunden ſeyn koͤnnen, demuͤthig und mit Vertrauen
auf Gott leiden? “So viel in meinen Kraͤften iſt, und
durch das Vertrauen, ſo ich auf Gott ſetzen werde, hoffe
ich den Tod in Gott wohlgefaͤlliger Faſſung zu leiden.„
Sind Sie entſchloſſen, dabey Jhren Troſt aus
der Religion herzuleiten, und nicht irgend einen verſteck-
ten Ehrgeiz oder eine erzwungene Standhaftigkeit zu
Huͤlfe zu rufen? “Nachdem ich ſo ſehr auf alles, was
Ehrgeiz iſt, Verzicht gethan und habe thun muͤſſen, ſo
bin ich verſichert, daß ich auch in dem Augenblick keine
Regung dieſer Leidenſchaft empfinden, ſondern daß ich
bloß meine Standhaftigkeit aus den Grundſaͤtzen und
Troſtgruͤnden der Religion herzuleiten ſuchen werde.
Selbſt mein vormaliger Ehrgeiz wuͤrde mich nicht zur
Affectation getrieben haben. Jch wuͤrde auch ohne Reli-
gion gerade mit einem ſolchen aͤußerlichen Bezeugen ge-
ſtorben ſeyn, wie es meiner innern Empfindung gemaͤß
geweſen ſeyn wuͤrde. Jch bin eigentlich nur in Behaup-
tung meiner Meynungen opiniatre geweſen, und darin
habe ich oft ſtandhaft zu ſeyn affectirt.„
Beym Schluſſe dieſer Pruͤfung verſicherte mich
der Graf, daß er mir in allen Stuͤcken ganz genau die
Geſinnungen ſeines Herzens eroͤffnet habe. Jch hatte
auch waͤhrend des Dictirens ſeine Aufrichtigkeit an ſeinem
ganzen Bezeugen, und beſonders daran gemerkt, daß er
ſorgfaͤltig auf die Bedeutung der Worte achtete, und
oft eines oder das andere zuruͤcknahm, weil es ſeinen
Gedanken nicht ganz angemeſſen waͤre, und zu wenig oder
zu
[193]
zu viel ſagte. Jch verſprach ihm, daß ich nun uͤber dieſe
ſeine Aeußerungen von ſeiner gegenwaͤrtigen Geſinnung
ſorgfaͤltig nachdenken, und ihm alsdann aufrichtig nach
meiner Ueberzeugung ſagen wolle, ob dieſe mit dem Sin-
ne des Evangelii uͤbereinſtimme, und er ſich alſo fuͤr
begnadigt von Gott halten koͤnne. —
Als ich ihn verlaſſen wollte, bat er mich noch ein
wenig bey ihm zu bleiben, weil er mir noch etwas zu
ſagen haͤtte. Jch habe, ſagte er hierauf, uͤber die Sache
nachgedacht, uͤber die ich Sie neulich um Raht fragte.
Jch ſehe es ein, mein Leben kann nicht gerettet werden.
Jch bin auch daruͤber ruhig, und hoffe der Wunſch zu
leben ſoll mich nicht mehr beunruhigen, ob ich gleich itzt
nicht wiſſen kann, wie mir ſeyn wird, wenn ich dem
Tode ganz nahe ſeyn werde. Wenn nur der ſchreckliche
Augenblick erſt uͤberſtanden iſt, ſo habe ich nichts verloh-
ren. Bin ich bey meinem Hingange zum Tode nur im
Stande zu denken, ſo bin ich gewiß, daß ich in der Re-
ligion Ruhe und Troſt genug finden werde. “Und
wenn Sie ſich nicht darauf beſinnen koͤnnten, Herr Graf,
ſo will ich Sie daran erinnern. Jch weiß zwar auch nicht,
wie mir dann ſeyn wird.„ Wenn Sie nur nicht, ſagte
er hierauf, zu ſehr afficirt werden! Das wuͤrde mich ſehr
beunruhigen. “Jch will mein moͤglichſtes thun mich in
meiner Faſſung zu erhalten, und ich hoffe, ich werde es
koͤnnen, wenn ich dann nur die Hoffnung habe, daß
Sie als ein Chriſt ſterben werden.„
Jch habe aber, fuhr er fort, uͤber eine andre
Sache viel Unruhe gehabt. Sie wiſſen mein Hauptver-
brechen. Sie wiſſen, daß durch mein Geſtaͤndniß deſſel-
ben auch andre Perſonen, denen ich viel ſchuldig bin,
ungluͤcklich worden ſind. Dieſe Betrachtung hat mir
den Gedanken erweckt, ob es nicht meine Pflicht geweſen
Nwaͤre
[194]
waͤre, um ihrentwillen die Wahrheit zu verſchweigen, ob
mich nicht Dankbarkeit und Freundſchaft dazu verbunden
haͤtten. Jch bin ſehr unruhig daruͤber geweſen. Aber,
wie ich es itzt immer mache, wenn mir aͤngſtlich iſt, ich
nahm ſo gleich meine Zuflucht zum Gebet, und dachte
darauf die Sache, mit beſtaͤndiger Richtung meines Her-
zens auf Gott, von allen Seiten durch. Jch fand bald,
daß mein Laͤugnen doch ohne Zweifel die Wahrheit nicht
haͤtte verhindern koͤnnen offenbar zu werden. Jch fand,
daß ich ſehr uͤbel gethan haben wuͤrde, wenn ich ein Ver-
brechen mit dem andern haͤtte bedecken wollen, daß mich
das nicht allein mit neuer Gewiſſensangſt erfuͤllt, ſondern
mich auch aller Begnadigung von Gott unfaͤhig gemacht ha-
ben wuͤrde. Und das waͤre doch zu viel gefordert, daß ich
um andre zu erhalten, meine Seeligkeit aufopfern ſollte.
Jch fand endlich, daß, wenn ich auch bis itzt alles ge-
laͤugnet gehabt haͤtte, ich es Jhnen nun doch noch, mein
wehrter Freund, geſtehen, und Sie bitten muͤßte, es
meinen Richtern zu eroͤffnen. Durch dieſe Gruͤnde bin
ich ſo gluͤcklich geweſen beruhigt zu werden. Jch mache
mir auch nun nichts daraus, wenn Leute, die keine
Vorſtellung davon haben, was es heißt um ſein ewiges
Heil bekuͤmmert zu ſeyn, mich fuͤr einen Treuloſen und
Verraͤther halten. Mein Geſtaͤndniß muß doch den Bey-
fall rechtſchaffener und verſtaͤndiger Chriſten haben. Jn-
zwiſchen bekuͤmmert mich das Ungluͤck, welches meinen
Freunden durch mein Geſtaͤndniß zugezogen worden iſt,
mehr als ich ſagen kann. Jch kann nichts thun um ihnen
ihren Schaden gut zu machen, als daß ich Gott um den
Troſt der Religion und Tugend fuͤr ſie anſtehe. Darum
bitte ich ihn unablaͤßig, und wird mein Gebet erhoͤrt,
ſo bin ich uͤberzeugt, daß ihnen ihr Verluſt reichlich er-
ſetzt iſt. —
[195]
Drey und zwanzigſte Unterredung, den
7ten April.
Jch habe alles genau uͤberlegt, Herr Graf, was Sie
mir geſtern auf meine Fragen geantwortet haben.
Jch finde nichts darin, das den Vorſchriften des Evan-
gelii widerſpricht. Zum Voraus geſetzt alſo, daß Sie
aufrichtig gegen mich geweſen ſind, wie ich denn keine
Urſache habe daran zu zweifeln, ſo haben Sie durch Got-
tes Gnade die Bedingungen bis hierher erfuͤllt, unter
denen uns Gott ſeine Begnadigung verſprochen hat.
Gottlob, antwortete er, meine Gemuͤthsruhe iſt mir auch
ein Beweis davon, daß mich Gott nicht verworfen hat.
Jch kann es mir gar nicht verhehlen, daß ich itzt in mei-
nen Banden und in der Naͤhe eines ſchrecklichen Todes
viel gluͤcklicher bin, als ich in meiner vorigen irdiſchen
Groͤße war.
Daß ich Jhnen keine falſche Hoffnung mache,
das will ich Jhnen aus dem Worte Gottes zeigen. Es
verſteht ſich aber von ſelbſt, daß Sie in Jhren gegen-
waͤrtigen Geſinnungen bis ans Ende beharren, und ſie,
ſo ſehr Sie koͤnnen, zu befeſtigen, zu vermehren und
fruchtbar zu machen ſuchen muͤſſen, wenn folgende
Schriftſtellen Jhnen die Zuverlaͤſſigkeit Jhrer Hoffnung
beweiſen ſollen. Joh. 3, 16. Matth. 10, 32. Matth. 6,
14. 1 Joh. 2, 5. Roͤm. 8, 35-39. Tit. 3, 3-7. 1 Tim.
1, 12-16. Roͤm. 6, 20-22. Luc. 15, 11-32. Wir giengen
alle dieſe Ausſpruͤche der Schrift mit einander durch, ich
zeigte ihm, wie in einem jeden derſelben die Hoffnung,
die ich ihm gemacht haͤtte, gegruͤndet waͤre, und einige
unter ihnen, die ganz beſonders auf ihn angewendet wer-
den konnten, z. Ex. die drey letztern, waren ihm vorzuͤg-
lich beruhigende Zeugniſſe.
N 2Es
[196]
Es wird Jhnen nun ſehr erfreulich ſeyn, die Vor-
theile genauer kennen zu lernen, die Sie von Jhrer Be-
kehrung zu erwarten haben. Das wird Sie im Glauben
befeſtigen, das wird Jhnen uͤberſchwenglichen Troſt gegen
den Tod geben. Ja, ſagte er, ich werde ſehen, daß mein
Tod nur Ein ſchwerer Schritt iſt, und daß mir alles, was
ich durch denſelben verliere, herrlich erſetzt werden wird.
Wer durch wahren Glauben an Jeſum, fuhr ich
fort, und durch rechtſchaffene Sinnesaͤnderung mit Gott
verſoͤhnt iſt, der hat Vergebung aller ſeiner Suͤnden, ſo
groß, ſo mannigfaltig ſie auch ſeyn moͤgen, ſo lange Zeit
er auch im Dienſt derſelben mag verſchwendet haben.
Gott ſieht ihn an, als wenn er nie geſuͤndigt haͤtte, und
hat alſo an ihm kein Misfallen weiter, ſpricht ihn auch
frey von aller Strafe, die er mit derſelben fuͤr die Ewig-
keit verdient hat. Roͤm. 8, 1. 1 Cor. 6, 11. Auch die Suͤn-
den der Schwachheit und Uebereilung, die er nach ſeiner
Bekehrung noch begehen moͤchte, womit aber keine muht-
willigen und vorſetzlichen Vergehungen zu verwechſeln ſind,
werden ihm nicht weiter zugerechnet. 1 Joh. 2, 1.
Jhre Suͤnden waren gewiß groß, ihrer waren
unzaͤhlige, unter zehn tauſend Suͤndern war vielleicht
kaum einer, der mit einer ſo guten natuͤrlichen Anlage ſo
boͤſe geworden, ſo viel Schaden in der Welt Gottes ver-
urſacht haͤtte, als Sie. Jhr ganzes Leben, von Jhrer
erſten Jugend an, bis auf die Zeit, da der Nebel Jhrer
Jrrthuͤmer anfieng ſich zu zertheilen, war eine Kette von
Vergehungen. Je mehr ein Menſch geſunde Vernunft,
moraliſches Gefuͤhl, natuͤrliche Ehrlichkeit hat, um ſo
viel ſchwerer muß ſein Urtheil vor Gott ausfallen, wenn
er gleichwohl boͤſer wird, und mehr Schaden ſtiftet, als
andre, die jene Vortheile in einem geringen Grade haben.
Was hatten Sie nun fuͤr ein Urtheil an dem großen
Gerichts-
[197]
Gerichtstage zu erwarten! Was ſtund Jhnen fuͤr eine
furchtbare, ſchreckliche Ewigkeit bevor! Wenden Sie
aber nun die Worte Pauli auf ſich an. 1 Tim. 1, 15-16.
Sie paſſen ſo genau auf Sie, als wenn ſie allein zu Jh-
rem Troſt geſchrieben waͤren. Sie ſagen mit einer ge-
gruͤndeten voͤlligen Ueberzeugung: Das iſt je gewißlich
wahr, es iſt ein theuer wehrtes Wort, daß Jeſus Chri-
ſtus in die Welt kommen iſt, die Suͤnder ſeelig zu machen.
Sie waren einer der vornehmſten unter den Suͤndern:
aber Jhnen iſt Barmherzigkeit wiederfahren. Gott und
Jhr Erloͤſer hat an Jhnen den Reichthum ſeiner Geduld
und Langmuth erwieſen, andern zum Beyſpiel, die an
ihn zum ewigen Leben glauben ſollen. Jch hoffe ſehr,
da itzt aller Welt Augen auf Sie gerichtet, und Jhre
vorige Jrreligion und Laſterhaftigkeit ſo allgemein bekannt
ſind, daß mancher, der bisher noch eben ſo denkt und
handelt, durch die Nachricht von Jhrer vernuͤnftigen
und aufrichtigen Bekehrung zu einer gleichen Sinnesaͤn-
derung erweckt werden wird.
Vor Gott ſind Sie alſo von aller Schuld und
Strafe Jhrer Suͤnden losgeſprochen, vor ihm werden
Sie angeſehen, als wenn Sie nie geſuͤndigt haͤtten.
Menſchen moͤgen noch uͤbel von Jhnen denken: haſſen
werden ſie Sie wenigſtens nicht, wenn ſie Chriſten ſind.
Jhr eignes Gewiſſen mag Sie noch daran erinnern, wer
Sie geweſen ſind, aber es wird Jhnen auch ſagen, daß
Sie nun beſſer denken und handeln. Zeitliche Strafen
werden noch auf Jhre Vergehungen folgen: aber der
Tod iſt auch die letzte. Jn der Ewigkeit iſt fuͤr Sie
nichts weiter zu fuͤrchten, ſondern alles zu hoffen. Denn
wo Vergebung der Suͤnde iſt, da iſt auch Leben und
Seeligkeit. Und die Suͤnden der Schwachheit, die Sie
etwa noch begeben moͤchten, koͤnnen Jhnen dieſe Vor-
theile nicht entziehen. —
N 3Bey
[198]
Bey dieſer Gelegenheit redeten wir von der taͤg-
lichen Buße, ich zeigte ihm worin ſie beſtehe, und wie
noͤthig ſie uns ſey, wenn wir uns nicht in Gefahr ſetzen
wollten, nach und nach von unſern Begierden uͤberwun-
den zu werden, und unſre Vortheile wieder zu verlieren.
Er antwortete mir, er ſey ſchon von der
Nothwendigkeit
der Sache ſelbſt durch Nachdenken oder Leſen uͤberzeugt
worden, ob er ſie gleich nicht unter dieſem Nahmen
gedacht habe. Jch unterſuche mich itzt, ſagte er, jeden
Abend, ob ich den Tag uͤber etwas gethan oder gedacht
habe, das Gott misfaͤllig iſt, und finde ich etwas, ſo
bitte ich Gott gleich im Nahmen meines Erloͤſers um Ver-
gebung, und wiederhohle meine guten Vorſaͤtze mit ihren
Gruͤnden. Mich deucht auch, ich kann itzt mit mehr
Freudigkeit beten. Bisher fuͤhlte ich mich noch immer
unwuͤrdig dazu: aber ich habe es doch im Vertrauen auf
Gottes Guͤte oft gewagt zu beten.
Danken Sie alſo auch, fuhr ich fort, unſerm
Gott taͤglich in Jhrem Gebet, daß er Sie durch die Kraft
der Wahrheit zum Glauben, an Jeſum und zu der Beſſe-
rung Jhrer Geſinnungen gebracht, wodurch Sie auch
itzt zu der Zuverſicht berechtigt werden, daß an Jhnen
nichts verdammliches mehr iſt. Danken Sie ihm, daß
er Jhre Aufmerkſamkeit auf Jhren moraliſchen Zuſtand
gelenkt, daß er Jhnen den Willen gegeben, Jhr Elend
einſehen zu lernen, daß er Sie geneigt gemacht durch
den einzigen zuverlaͤſſigen Weg der Ueberzeugung von Jh-
ren Jrrthuͤmern zuruͤck zu kommen und der Wahrheit
entgegen zu eilen. Danken Sie ihm fuͤr jede heilſame
Ruͤhrung, die ſein Wort in Jhrer Seele verurſacht, fuͤr
jeden guten Gedanken, den es Jhnen eingefloͤßt, fuͤr jede
gottſeelige Entſchließung, zu der Sie durch daſſelbe ver-
anlaßt wurden, fuͤr die ganze Reihe der Vorſtellungen und
Empfindungen, deren Ende Jhre wahre und aufrichtige
Bekeh-
[199]
Bekehrung geweſen iſt. Er erinnerte ſich hier mit Dank-
barkeit an die maͤchtigen Eindruͤcke, die viele Stellen in
den geleſenen Buͤchern, zumahl in der Lebensgeſchichte
Jesu, auf ſein Herz gemacht haͤtten, und geſtand, daß
dadurch ſeine Neigung die Wahrheit zu ſuchen und anzu-
nehmen von Zeit zu Zeit waͤre geſtaͤrkt worden. —
Jch bin nun mit mir ſelbſt daruͤber einig worden,
ſagte der Graf noch kurz vorher, ehe ich ihn verließ, wie
ich mich in Anſehung meiner Defenſion verhalten will.
Mein Leben kann nicht erhalten werden, und rechtfertigen
kann ich meine Handlungen auch nicht. Doch glaube ich
zeigen zu koͤnnen, daß einige derſelben nicht ſo ſehr boͤſe
ſind, als ſie zu ſeyn ſcheinen. Denn Sie wiſſen, es iſt
zweyerley, ſein Verhalten moraliſch und politiſch, vor
Gott und vor der Welt beurtheilen. Jch weiß, wie
ſchlecht alle die meinigen in jener Abſicht geweſen ſind,
aber es folgt nicht, daß eine Sache, die moraliſch ſehr
boͤſe iſt, es von der politiſchen Seite betrachtet in eben
dem Grade auch ſeyn muͤſſe. Jch will zufrieden ſeyn zu
zeigen, und mehr kann ich auch nicht, daß meine politi-
ſchen Fehler Fruͤchte des Jrrthums, der Uebereilung und
der Begierden, aber keine Folgen eines Vorſatzes Ungluͤck
zu ſtiften geweſen ſind. Jch glaube dieſes mir, der Wahr-
heit und ſelbſt der Religion ſchuldig zu ſeyn, in ſo fern
ihr durch meine Bekehrung Vortheil oder Schaden zu-
wachſen kann. Gebe ich es gleichſam ſtillſchweigend zu,
daß ich boͤſe Abſichten gehabt habe, da ich mich ihrer
doch nicht bewußt bin, ſo kann man leicht meine Bekeh-
rung fuͤr Schwachheit oder Gemuͤhtsverwirrung halten,
da ſie doch das Reſultat einer ernſtlichen vernunftmaͤßigen
Unterſuchung iſt. Man kann ſagen, derjenige, dem es
gleichguͤltig iſt, ob man ihn fuͤr einen durch Jrrthum
und Begierden verfuͤhrten Menſchen, oder fuͤr einen er-
klaͤrten Boͤſewicht haͤlt, kann auch wohl ſeine Religions-
N 4meynungen
[200]
meynungen eben ſo leichtſinnig aufgeopfert haben. —
Jch konnte gegen dieſe ſeine Entſchließung nichts einz[u]-
wenden haben, und bat ihn nur, ſich dieſe Sache nicht
zu viele Zeit koſten zu laſſen.
Vier und zwanzigſte Unterredung, den
9ten April.
Jch hatte die Abſicht in dieſer Unterredung mit der Un-
terſuchung der Vortheile fortzufahren, die der Graf
von ſeiner Bekehrung zu erwarten haͤtte.
Gott iſt durch ſeine Liebe, ſagte ich, weſentlich
geneigt, die Menſchen ſo gluͤcklich zu machen, als Sie
es werden koͤnnen, und ihre Suͤnde iſt die einzige Urſa-
che, wodurch dieß verhindert werden kann. So bald
dieß Hinderniß gehoben iſt, ſo ergießt ſich die Liebe Got-
tes mit allen ihren Wuͤrkungen uͤber ſie, ſo wie z. Ex. die
Stralen der Sonne ſich in einem Zimmer verbreiten, ſo
bald die Fenſterladen eroͤffnet werden. Sind alſo dem
Suͤnder ſeine Suͤnden vergeben, huͤtet er ſich in ſeinen
gebeſſerten Geſinnung vor neuen Suͤnden, und verzeiht
ihm Gott, wie er es denn wuͤrklich thut, die noch vor-
kommenden Fehler der Schwachheit, ſo iſt die Urſache
gehoben, wodurch Gottes Liebe zuruͤckgehalten ward, ſich
mit aller ihrer Staͤrke an ihm wuͤrkſam zu beweiſen, und
die ihn zugleich verhinderte mit Zuverſicht und Freudigkeit
an Gott zu denken. Jeſ. 59,2. Jeſ. 1,15-18. Er iſt alsdann
berechtigt, alles Gute von Gott zu erwarten, was ihm
Gott geben kann, deſſen er faͤhig iſt, und das die Weis-
heit Gottes fuͤr ihn vortheilhaft findet. Er darf mit
kindlicher Geſinnung zu Gott beten, und hat nicht mehr
zu befuͤrchten, daß er unwuͤrdig ſey vor dem Angeſichte
des heiligſten Weſens zu erſcheinen. Roͤm. 8, 14-17.
Roͤm. 5, 1-2. 1 Joh. 3, 19-22. Wer alſo gewiß iſt, daß
ihm
[201]
ihm Gott ſeine Suͤnden vergeben habe, deſſen Seele wird
ruhig, und in den groͤßeſten Truͤbſalen verſichert ſeyn, daß
ſie Gott zum Freunde und Vater habe. Roͤm. 8, 28-34.
Jch wendete nun dieſe allgemeinen Wahrheiten
auf den Grafen an. Vergeſſen Sie, ſagte ich, keinen
Augenblick, ſelbſt nicht in den letzten und furchtbarſten
Jhres Lebens, daß Sie ein ſolcher Begnadigter Gottes
ſind. Mit Wohlgefallen ſiehet nun Gott auf Sie, Jhr
Heil iſt theuer vor ihm geachtet, mit aller ſeiner Liebe iſt
er zu Jhrer Gluͤckſeeligkeit geſchaͤfftig. Alles, was Jh-
nen nuͤtzlich iſt, duͤrfen Sie ſich mit Zuverſicht von ſeiner
Gnade verſprechen, und was es auch ſey, das Jhnen
wiederfaͤhrt, ſelbſt die zeitliche Strafe Jhrer Suͤnden,
iſt fuͤr Sie wahrer Vortheil: denn es begegnet Jhnen
unter der Regierung Gottes, der Sie liebt, und keinen
Augenblick aufhoͤrt ſeine Liebe an Jhnen zu beweiſen.
Bisher haben Sie wenigſtens mit einiger Schuͤchternheit
zu ihm gebetet. Sie wußten, wer Sie waren, ein Suͤn-
der, ein Abtruͤnniger. Sie wußten, wer Gott iſt, der
Heiligſte unter den Heiligen. Nun ſtehen Sie mit ihm in
der ſeeligſten Uebereinſtimmung. Er iſt Jhr Vater und
Sie ſein Kind. Mit Zuverſicht koͤnnen Sie nun beten,
mit Gewißheit erwarten, daß er Jhnen alles geben werde,
warum Sie ihn bitten, und das ſeinen wohlthaͤtigen Ab-
ſichten mit Jhnen gemaͤß iſt. — Nun koͤnnen Sie ſichs
erklaͤren, woher die heitre Ruhe der Seele ruͤhrt, die
Sie ſeit einiger Zeit ſchon empfunden haben, und die von
nun an noch immer feſter und unzerſtoͤrbarer werden wird.
Denken Sie zuruͤck an die vorigen Tage der Weltluſt und
der irdiſchen Groͤße. War ein einziger unter ihnen ſo
heiter, ſo voll von wahrer Zufriedenheit fuͤr Sie, als
Jhnen itzt die Zeit Jhres Gefaͤngniſſes und Jhrer Bande
iſt? Sie haben ſehr recht, antwortete er mir, und wenn
mich auch ſonſt in meinem Gluͤcke nichts ungluͤcklich
N 5gemacht
[202]
gemacht haͤtte, ſo haͤtte es doch die Unerſaͤttlichkeit mei-
ner Begierden gethan, die durch den haͤufigſten Genuß
nicht befriedigt wurden. — Empfinden Sie es nicht
ſchon, fuhr ich fort, daß ſelbſt Jhre Todesſtunde, nur
die natuͤrliche Furcht des Todes, nur die ſchrecklichen Um-
ſtaͤnde des Jhrigen ausgenommen, nichts fuͤrchterliches,
nichts beunruhigendes fuͤr Sie haben wird? Davon bin
ich verſichert, ſagte er, denn ich weiß wohin mich der
Tod fuͤhrt. Jch erinnerte den Grafen hier, wenn etwa
in ſeinen letzten Tagen, oder beym Hingange zum Tode,
ihm ſein Herz ſchwer und beklommen ſeyn ſollte, ſo muͤſſe
er dieſe aͤngſtlichen Empfindungen nicht fuͤr Mangel der-
jenigen Seelenruhe halten, zu der ihn ſeine aufrichtige
Bekehrung berechtige, und die er itzt ſchon empfinde.
Er koͤnne dieſe nicht anders wieder verlieren, als durch
einen Ruͤckfall aus der Gnade Gottes, durch Liebe des
Jrrthums und der Suͤnde. Und davor, hoffe ich gewiß,
werde Gott ihn bewahren.
Bloß um dieſer vortheilhaften Veraͤnderung un-
ſrer Verhaͤltniſſe zu Gott, fuhr ich fort, bloß um dieſer
Seelenruhe willen, waͤre es der Muͤhe wehrt ein Chriſt
zu ſeyn, und ſich den Forderungen des Evangelii zu un-
terwerfen, wenn ſie gleich, ſo lange wir ſie noch nicht
kennen, und ihre Vernunftmaͤßigkeit und ihren Einfluß
auf unſer Heil noch nicht einſehen, unſern Begierden
ſchwer und unnatuͤrlich vorkommen moͤgen. Aber Gott hat
uns noch weit mehr Vortheile von der willigen Annahme
und Befolgung der Wahrheit verſprochen. Eine ſeelige
Zukunft nach dem Tode ſoll der Lohn unſrer glaͤubigen
Sinnesaͤnderung ſeyn. Die Hoffnung, die der Chriſt dazu
hat, macht ihn ſchon hier gewiſſermaaßen ſeelig. Roͤm. 8,24.
Durch den Tod wird die Verbindung des Leibes
und der Seele, in der ſie hier mit einander leben, aufge-
hoben.
[203]
hoben. Der Leib wird durch die Verweſung zerſtoͤrt.
Von der Seele wiſſen wir, aus der Vernunft mit vieler
Wahrſcheinlichkeit, aus der Offenbahrung mit Gewißheit,
daß ſie nicht mit ſterbe. Von dem Zuſtand der Seele
des Gerechten nach dem Tode des Leibes und waͤhrend
deſſelben, giebt uns die Schrift dieſe Nachrichten. Sie
iſt in Gottes Haͤnden, in ſeinem Schutz, in ſeiner Be-
wahrung. Pſ 31,6. Luc. 23,46. Ap. Geſch 7,28. Sie
iſt von allem Uebel erloͤſt, vor aller Gefahr in Sicherheit,
alſo auch vor der Gefahr ihre kuͤnftige Gluͤckſeeligkeit noch
zu verlieren. 2 Tim. 4,18. Sie iſt bey Chriſto, in ſeiner
Vereinigung, und alſo ſchon im Beſitz und Genuß himm-
liſcher Gluͤckſeeligkeit. Phil. 1, 21-24. Genauere und
umſtaͤndlichere Belehrung giebt uns die Offenbarung
hieruͤber nicht. Aber wir brauchen auch nichts mehr da-
von zu wiſſen, um uns voͤllig zu beruhigen. — Der
Graf erinnerte mich hier noch an die Worte Chriſti:
Heute wirſt du mit mir im Paradieſe ſeyn.
Dieſer ſeeligen Veraͤnderung, ſo wendete ich dieß
auf ihn an, ſind Sie nun ſehr nahe: denn ſeelig iſt ſie
fuͤr Sie gewiß, wenn Sie in Jhrer itzigen Geſinnung
ſterben. Jhr Leib wird ruhen, und in ſeiner Ruhe zer-
ſtoͤrt werden. Jnzwiſchen ſagt Jhnen Jhre Vernunft
ſchon, daß auch kein Staͤubchen, das zu demſelben ge-
hoͤrt, verlohren gehen kann, ſondern gewiß in der Natur
vorhanden bleibt, und von dem allwiſſenden Herrn der-
ſelben gekannt und erhalten wird. Ob Sie ſich nun
gleich keine Vorſtellung von dem Vergnuͤgen machen koͤn-
nen, das Jhre Seele im Stande der Abſonderung von
dem Leibe genießen wird, ſo wiſſen Sie doch, daß ein
ſolches Vergnuͤgen moͤglich iſt. Denn es giebt ja Freu-
den des Geiſtes, an denen der Leib gar nicht Theil hat,
z. Ex. die Wolluſt in der Erkenntniß der Wahrheit in
dem Bewußtſeyn guter Geſinnungen und Thaten. —
Wenn
[204]
Wenn auch die Meynung wahr ſeyn ſollte, ſagte hier der
Graf, daß die Seele waͤhrend ihrer Trennung vom Leibe,
ſich in einem Zuſtande dunkler Vorſtellungen und Em-
pfindungen, oder in einem Schlafe, befinden werde, ſo
wuͤrde mich das gar nicht beunruhigen. Denn, wenn
meine Seele ſich ihrer nicht bewußt waͤre, und wuͤrde
nur ſicher aufgehoben, ſo litte ſie ja nichts. Und ob
dieſer Schlaf ein oder zehn tauſend Jahre daurete, das
machte ſie auch nicht ungluͤcklich, denn waͤhrend des
Schlafs wuͤßte ſie ja von nichts. Aber weit angenehmer
iſt es mir, ſetzte er hinzu, aus den angefuͤhrten Schrift-
ſtellen zu lernen, daß ſie gleich nach dem Tode des Lei-
bes zum Genuß und Bewußtſeyn ihrer Gluͤckſeeligkeit
gelangen wird.
Gott hat es verheißen, ſagte ich hierauf, daß
die Seelen der Gerechten waͤhrend ihrer Trennung vom
Leibe es gut haben ſollen: ſo wird es alſo auch der Jhri-
gen in dieſer Zwiſchenzeit nicht an Freude und Zufrieden-
heit fehlen. Gott wird ſie in ſeinen Schutz und unter
ſeine Bewahrung nehmen. Und welcher Feind, welcher
Zufall wird ihr dann ſchaden koͤnnen! Sie wird von
allem Uebel befreyt ſeyn. Alſo von aller Unruhe, von
allen unangenehmen Gemuͤthsbewegungen, von aller
Angſt des Gewiſſens, vornemlich von aller Suͤnde. Jtzt
ſind Sie noch immer in einiger Ungewißheit, ob Sie
auch ſtandhaft in Jhrer heilſamen Verbeſſerung beharren
werden, Sie muͤſſen ſich immer noch vor dem Betruge
des Jrrthums und der Suͤnde in Acht nehmen, was
Paulus Phil. 3, 12-14. ſagt, das muͤſſen auch Sie noch
ſagen. Aber dann wird Jhre Seele ſich Jhres Heils
vollkommen gewiß bewußt ſeyn, ſie wird ihr Kleinod
ſchon ergriffen haben, es wird nicht mehr moͤglich ſeyn,
daß Sie es noch verlieren koͤnnte. Und noch mehr. Sie
wird bey Chriſto ſeyn. Alſo in der Gemeinſchaft Jhres
Erloͤſers,
[205]
Erloͤſers, in ſeiner naͤheeren Gegenwart. Und ſollte es
bey ihm, den Gott zum Herrn uͤber alles gemacht hat,
an wuͤrklicher Gluͤckſeeligkeit und Freude fehlen? Haͤtte
Jhre Seele in ihrer Vereinigung mit ihm auch weiter
nichts zu erwarten, ſo muͤßte es ihr doch ſchon ein unaus-
ſprechliches Vergnuͤgen ſeyn, ihn und ſeine Geſinnungen
naͤher kennen zu lernen, ſie ſich gewoͤhnlich zu machen,
und in ſeiner Liebe zuzunehmen, die eine der groͤßeſten
Freuden und Gluͤckſeeligkeiten der Zukunft ſeyn wird.
So wenig beſtimmtes, ſagte er beym Schluſſe
dieſes Vortrages, uns die Schrift uͤber den Zuſtand der
Seele waͤhrend ihrer Trennung vom Leibe ſagt, ſo iſt
doch dieß wenige ſehr troͤſtend. Wenn Gott es noͤthig
und nuͤtzlich gefunden haͤtte uns daruͤber naͤheren Unter-
richt zu geben, ſo wuͤrde es auch geſchehen ſeyn. Meine
Seele zu beruhigen iſt dieſes ſchon voͤllig zureichend, daß
ich weiß, ſie wird in der Hand Gottes ſeyn. — Urthei-
len Sie aber nun, ſetzte er hinzu, wie ſehr mich das auf
mich ſelbſt verdrießen muß, daß mir noch zuweilen der
verhaßte Gedanke einfaͤllt, vielleicht iſt keine Ewigkeit.
Jch habe mich heute noch aufs genaueſte gepruͤft, ob ich
etwa ein heimliches Wohlgefallen an ihm habe, oder
ihn dunkel fuͤr wahr halte: aber ich verſichere Sie heilig,
ich habe keines von beyden gefunden. Jch weiß nicht die
geringſte Wahrſcheinlichkeit fuͤr ihn, und die vielen und
ſtarken Beweiſe des Gegentheils ſind mir auch immer vor
Augen. Jch bin uͤber dieſes ſo ſehr fuͤr meine itzige beſſere
Ueberzeugung intereſſirt, daß ich mir um keinen Preis ſie
nehmen laſſen, oder ihr vorſetzlich zuwider handeln wollte.
Koͤnnte ich durch ein Verbrechen, und ſollte es auch
in der Welt nicht davor gehalten werden, alle moͤglichen
irdiſchen Vortheile erlangen, ſo weiß ich gewiß, ich be-
gienge es nicht. Wenn mir die gewiſſe Verſicherung gege-
ben wuͤrde, ich ſollte mein Leben behalten, und voͤllig in
meine
[206]
meine vorige Situation wieder hergeſtellt werden, unter
der Bedingung, daß ich das Geſtaͤndniß, welches ich
von meinen Verbrechen abgelegt habe, wieder zuruͤcknaͤh-
me, und meine neue Auſſage durch einen Eid bekraͤftigte,
ſo bin ich uͤberzeugt, ich wuͤrde lieber ſterben, als die
Wahrheit wiederrufen und den Eid ablegen. So wuͤrde
ich gewiß nicht denken, wenn ich nicht von der Ewigkeit
uͤberzeugt waͤre, ſondern vielmehr wuͤnſchte und glaubte,
daß ſie eine leere Einbildung ſey. Aber ich ſehe nun,
wie ſchwer es iſt, ſolche falſche Jdeen, die man ſonſt
gerne gedacht hat, ganz auszurotten.
Er hatte Spaldings Predigten durchgeleſen,
und verſicherte mich, daß er ſehr dadurch erbaut worden
waͤre. Einige von ſeinen Buͤchern, die am meiſten zu
ſeiner Erleuchtung und Beſſerung beygetragen hatten,
hatte er ſeinem Freunde, dem Grafen Brandt, zugeſchickt,
fuͤr den er die zaͤrtlichſte Sorgfalt bezeugte. Jch hatte
ihm ſchon bey meinem letzten Beſuch Schlegels Paſſions-
predigten gebracht, und heute gab ich ihm den Doddrid-
ge vom Anfange und Fortgange der wahren Gottſeelig-
keit. Er bat mich auch an ſeine Eltern zu ſchreiben,
und ſie durch die Nachrichten zu troͤſten, die ich ihnen
nun von ihm wuͤrde geben koͤnnen.
Fuͤnf und zwanzigſte Unterredung, den
11ten April.
Dieſe Unterredung hatte keinen gewiſſen und beſtimm-
ten Zweck. Wir ſprachen uͤber verſchiedene Wahr-
heiten der Religion. Folgendes halte ich nicht fuͤr un-
wuͤrdig angemerkt zu werden.
Es hatte in dieſen Tagen jemand dem Grafen
geſtanden, daß er nicht gern in der Bibel laͤſe, weil die
Schreib-
[207]
Schreibart derſelben nicht modern waͤre. Sie haben wohl
von Sully reden gehoͤrt, antwortete ihm der Graf. Er
ward zu ſeiner Zeit fuͤr einen der groͤßten Maͤnner gehal-
ten, und man erkennt ihn noch davor. Dieſer große
Mann war eine geraume Zeit vom franzoͤſiſchen Hofe
entfernt geweſen, als ihn der Koͤnig in Frankreich wie-
der zuruͤckberief. Waͤhrend ſeiner Entfernung hatte der
Hof die alte franzoͤſiſche Kleidertracht abgelegt, und die
italiaͤniſche war Mode geworden. Sully war der alten
Mode treu geblieben, und erſchien bey Hofe in der Tracht,
die nicht mehr gebraͤuchlich war. Und er ward, ſo ein
großer und allgemein dafuͤr gehaltener Mann er war, von
den jungen Hofleuten ausgelacht. Eben ſo, mein Herr,
machen Sie es mit der Bibel. So ein vortreffliches
Buch ſie iſt, ſo gefaͤllt ſie Jhnen nicht, weil der Ton,
welcher in ihr herrſcht, nicht der herrſchende unſrer Zei-
ten iſt. Sie ſollten aber bedenken, daß die heiligen
Schriftſteller zunaͤchſt fuͤr ihre Zeiten geſchrieben, und
vielleicht gar nicht daran gedacht haben, daß Gott ihre
Schriften noch nach vielen Jahrhunderten brauchen wuͤrde,
die Welt zu erleuchten. Dazu aber hat Gott ſie uns
nun aufbehalten. Wie haͤtten denn wohl dieſe Maͤnner
ſich nach dem heutigen Geſchmack richten koͤnnen? Und
haͤtten ſie das thun koͤnnen und wuͤrklich gethan, ſo wuͤr-
den ihre Schriften fuͤr diejenigen, um deren willen ſie
eigentlich geſchrieben wurden, fuͤr ihre Zeitgenoſſen,
ganz unſchicklich geweſen ſeyn. Dieſe wuͤrden ſie gar
nicht haben verſtehen koͤnnen, da es uns hingegen nicht
an Huͤlfsmitteln fehlt, uns ihre Art zu ſchreiben gewoͤhn-
lich zu machen, und ſie ſelbſt angenehm und vortrefflich
zu finden.
Die Spoͤttereyen der Freygeiſter uͤber Chriſtum
und ſeine Lehre, ſagte der Graf bey dieſer Gelegenheit
zu mir, zeugen augenſcheinlich, daß ſie nicht aufrichtig
handeln
[208]
handeln wollen. Es iſt uͤberhaupt unverſchaͤmt eines tu-
gendhaften Mannes zu ſpotten. Der antike und unge-
woͤhnliche Ausdruck der heiligen Schrift kann es im
Grunde auch nicht ſeyn, wodurch ſie ſich fuͤr berechtigt
zu ihren Spoͤttereyen halten koͤnnen. Sie lachen ja nicht
uͤber andre alte Schriften, die in eben einem ſolchen Tone
geſchrieben ſind. Wenn ſie z. Ex. des Confucius Buͤcher
leſen ſollten, ſo weiß ich gewiß, ſie wuͤrden ſich uͤber die
Schreibart deſſelben nicht aufhalten, ſondern ſeine Moral
loben. So erheben ſie Aeſops Fabeln: Chriſti Gleich-
niſſe und Erzaͤhlungen aber wollen ihnen nicht gefallen,
ob ſie gleich aus einer weit tiefern Kenntniß der Natur
geſchoͤpft, weit reichhaltiger an Moral, und mit einer
edlern Simplicitaͤt vorgetragen ſind, als alle aͤhnlichen
Aufſaͤtze alter und neuer Schriftſteller. Die ſeiner ſpot-
ten muͤſſen alſo ſonſt etwas wider ihn haben, und ich
wuͤßte nicht, was das anders ſeyn koͤnnte, als die Wider-
ſetzlichkeit ihres Herzens gegen ſeine Vorſchriften.
Seit einigen Tagen hatte der Graf die Erlaub-
niß zu ſchreiben, und er ſagte mir, daß er dieſe nun
brauchen wolle die Nachricht von ſeiner Bekehrung auf-
zuſetzen, die er mir zu hinterlaſſen verſprochen haͤtte.
Sie wird mir ein ſehr angenehmes Vermaͤchtniß ſeyn,
antwortete ich ihm. Schreiben Sie ſie mit Ueberlegung.
Jch hoffe ſie wird nicht ohne Nutzen bleiben. Sie ſoll
ein avthentikes Document Jhrer Geſinnungen gegen Re-
ligion und Froͤmmigkeit ſeyn: deswegen uͤberlaſſe ich es
Jhnen ganz allein Jhre Gedanken in Ordnung zu bringen
und aufzuzeichnen. Jch darf und will weiter kein Theil
daran nehmen, als daß ich Jhnen uͤberhaupt ſage, wie
ſie ihrem Zweck gemaͤß eingerichtet werden muß. Jhre
Abſicht dabey iſt, theils die Eindruͤcke, die Sie auf
andre wider Religion und Tugend gemacht haben koͤnnen,
auszuloͤſchen, theils andre Jrrende, die ſo denken als
Sie
[209]
Sie gedacht haben, aufmerkſam zu machen. Es muß
alſo ſichtbar daraus ſeyn, daß Jhre Geſinnung in Abſicht
auf Religion und Tugend wuͤrklich geaͤndert worden iſt.
Zugleich aber muͤſſen Sie zeigen, auf welchem Wege Sie
zu dieſer Veraͤnderung Jhrer Denkungsart gelangt ſind.
Dieß halte ich fuͤr noͤthig, damit niemand an der Wahr-
heit der Sache zweifeln koͤnne. Jn Anſehung der Aus-
druͤcke muͤſſen Sie Jhre Wahl ſo zu treffen ſuchen, daß
Weltleute ſich nicht daran ſtoßen, andre aber auch un-
widerſprechlich uͤberzeugt werden koͤnnen, daß Sie ein
Chriſt worden ſind. Jch will ſuchen, ſagte er hierauf,
dieſe Regeln immer vor Augen zu behalten. Finden Sie
aber, daß ich gefehlt, daß ich dieſe oder jene Wahrheit
nicht recht begriffen habe, daß einzelne Stellen anſtoͤßig
ſind, ſo behalten Sie immer das Recht der Ausbeſſerung.
“Nein, Herr Graf, ich darf mir nicht erlauben nur
ein einziges Wort zu aͤndern. Es werden immer Leute
ſeyn, die dieſen Aufſatz fuͤr untergeſchoben erklaͤren wer-
den, und deswegen iſt in dieſer Sache die puͤnctlichſte
Rechtſchaffenheit noͤthig. Es koͤnnte bey weitem nicht ſo
anſtoͤßig ſeyn, wenn man in Jhrer Schrift hin und wie-
der eine unrichtige Vorſtellung oder einen falſchen Aus-
druck entdeckte, als wenn man auch nur den geringſten
Vorwand haͤtte zu ſagen, ſie ſey nicht ganz von Jhrer
Hand.„ So will ich ſie denn, ſagte er, auf gebroche-
nem Papier ſchreiben, und wenn Sie dann nach ſorgfaͤl-
tiger Pruͤfung und in Uebereinſtimmung mit meiner Ueber-
zeugung Zuſaͤtze oder Aenderungen noͤthig finden, ſie
mit eigenen Worten und mit eigner Hand machen.
Aus einem an mich gerichteten Aufſatz des Gra-
fen, den er an dieſem Tage geſchrieben hat, und der eine
Angelegenheit ſeines Herzens betrifft, will ich meinen
Leſern folgende Stellen mittheilen, die von der Beſchaffen-
heit ſeiner Geſinnungen die zuverlaͤſſigſten Zeugniſſe ſind.
“Jch vertraue Jhnen mein Herz an. Sie haben das
ORecht
[210]
Recht in dem Jnnerſten meiner Seele zu leſen: Sie haben
ſie erleuchtet. Sie ſind Zeuge davon, wie ſehr mein Herz
durch Schmerz, Reue und Vorwuͤrfe uͤber mein voriges
Leben zerriſſen worden iſt. — Mein Gewiſſen macht mir
die bitterſten Vorwuͤrfe uͤber den Eindruck, den meine
Beyſpiele und Reden auf die Herzen anderer gegen die
Religion koͤnnen gemacht haben. Es wuͤrde ein Troſt
fuͤr mich ſeyn, wenn ich etwas dazu beytragen koͤnnte den-
ſelben auszuloͤſchen. Meine Vernunft, meine Unterſu-
chungen, mein Nachdenken haben mich uͤberzeugt, daß
keine andre Quelle der Gluͤckſeeligkeit iſt, als diejenige die
die Religion uns kennen lehrt. Moͤchten doch diejenigen,
die ich verfuͤhrt habe, ſich auch davon zu uͤberzeugen ſu-
chen! — Sie werden ſich an die Unzufriedenheit und
Unruhe erinnern, die ihnen die Entfernung von der Tu-
gend verurſacht hat, und wie wenig die Zerſtreuungen
und Ergoͤtzlichkeiten ſie haben befriedigen koͤnnen. Koͤnnen
wir hoffen ruhig zu ſeyn, wenn unſer Gewiſſen uns Vor-
wuͤrfe macht, und wenn wir es innerlich empfinden, daß
wir ſie verdient haben? Wir koͤnnen uns betaͤuben, aber
wir kommen immer wieder zu uns ſelbſt, waͤre es auch
nur im Ungluͤck. Was haben wir dann fuͤr Troſt? Das
Andenken an die vergangene Zeit? Es iſt voll von Bit-
terkeit, die Gegenſtaͤnde die uns vorhin intereſſirten,
ruͤhren uns itzt nur durch den Verdruß, daß wir ſie ver-
lohren haben! Die Hoffnung einer gluͤcklichern Zukunft?
Unſer Schickſal haͤngt nicht von uns ſelbſt ab! Die Ver-
nunft? Sie iſt unterdruͤckt, die maͤchtige Stimme des
Gewiſſens dringt wider ihren Willen durch! — Und
wenn es auch moͤglich waͤre, daß wir uns uͤber alle Schick-
ſale unſers Lebens beruhigen koͤnnten, ſind wir denn allein
fuͤr dieſes Leben gemacht? Alles beweiſt uns davon das
Gegentheil. Die Ewigkeit ſtellt ſich uns dar, und erfuͤllt
uns mit Furcht, wenn unſre Geſinnungen unregelmaͤßig
geweſen ſind, wenn unſre Handlungen die von der Reli-
gion
[211]
gion vorgeſchriebene Ordnung verletzt haben. — Wir
wollen gluͤcklich ſeyn; dieß verlangen wir alle, und es
iſt auch mein Wunſch geweſen. Um dazu zu gelangen,
erlaubte ich mir alles, wovon ich glaubte, daß es mir
und andern keinen Schaden verurſachen wuͤrde. Die
Vernunft, durch meine Neigungen geleitet, war meine
Fuͤhrerinn, und ich beſtimmte mich nach Grundſaͤtzen,
die ich aus einer Moral geſchoͤpft hatte, welche nach mei-
nem Geſchmack war. Durch meine Klugheit hoffte ich
den boͤſen Folgen meiner Handlungen zuvor zu kommen,
die ich in ſich ſelbſt fuͤr gleichguͤltig hielt. Es fehlte mir
ſelbſt nicht an Gruͤnden, ſie ſo gar fuͤr unſchuldig, fuͤr
uͤbereinſtimmend mit meiner und anderer Gluͤckſeeligkeit
zu halten. — Wie muß ich nicht itzt dieſe Grundſaͤtze
verabſcheuen, muͤßte ich es auch nur darum thun, weil
ſie mich verfuͤhrt haben Perſonen ungluͤcklich zu machen,
die aller meiner Dankbarkeit wuͤrdig ſind! Dazu kommt
noch ein ſtaͤrkerer Grund, den ich empfinde, ſeitdem ich
durch die Religion erleuchtet bin, daß ich nemlich Gott
dadurch beleidigt habe. — Urtheilen Sie nun ſelbſt von
der Lebhaftigkeit meiner Reue und meiner Qual! Zum
Gluͤck fuͤr mich hat dieſe Erkenntniß mir zugleich Mittel
gewieſen, von meiner Verirrung zuruͤck zu kommen, und
durch aufrichtige Buße, durch Glauben an die Wahr-
heiten, die uns Gott offenbahrt hat, durch die Berichti-
gung meiner Geſinnungen nach ſeinem Willen, meine
Suͤnden vor ihm auszuloͤſchen, und mich ſeiner Begna-
digung faͤhig zu machen. Dieß iſt mein Troſt worden,
der einzige, der fuͤr mich vorhanden war! — Jch richte
nun meine eifrigſten Wuͤnſche und Gebete zu Gott, daß
er meine durch meine Beyſpiele und Reden verfuͤhrten
Freunde auf den Weg der Tugend zuruͤckfuͤhren wolle.
Jch beſchwoͤre ſie, ihre Gluͤckſeeligkeit nur in dieſer Quelle
zu ſuchen, und keine andre zu hoffen, als diejenige, die
uns die Zufriedenheit mit uns ſelbſt, die Religion und
O 2das
[212]
das gute Gewiſſen geben koͤnnen. — Sie wiſſen, wie
ſehr ich von Zweifeln wider die Religion eingenommen
war, daß ich mich ungeachtet meines ſtarken Vorurtheils
nach einer ſehr ſorgfaͤltigen Pruͤfung von ihnen losgemacht
habe, und daß ich nun mit einer vollkommenen Ueberzeu-
gung die Wahrheiten glaube, die uns unſer Erloͤſer ge-
lehrt hat. u. ſ. w.
Der Graf erinnerte ſich des ſeeligen Alberti in
Hamburg, den er von Perſon gekannt hatte, und wuͤnſchte
die Predigten deſſelben zu leſen, die ich ihm auch zuſchickte.
Sechs und zwanzigſte Unterredung, den
13ten April.
Alberti Predigten, ſagte der Graf, haben mich ſehr
erbaut. Sie haben auch etwas dazu beygetragen,
daß ich von Tage zu Tage mehr fuͤr die Religion einge-
nommen, und zugleich ruhiger und gluͤcklicher werde.
Jch hoffe Sie auch heute, antwortete ich, mit einer Be-
trachtung zu unterhalten, die ihre Liebe zum Chriſten-
thum und Jhre Zufriedenheit mit Jhrem itzigen Zuſtand
nicht vermindern wird. Wir haben noch nicht von der
Auferſtehung des Leibes geredet, und nun iſt es die rechte
Zeit dazu, da wir zuletzt von dem Zuſtande der Seele
waͤhrend Jhrer Trennung vom Leibe gehandelt haben.
Sie wiſſen, die chriſtliche Religion verſpricht
uns, daß dieſe Trennung nicht ewig dauren ſoll. Es
wird ein Tag kommen, an welchem der Ueberwinder des
Todes alle Todten auferwecken wird. Seine eigne Aufer-
ſtehung, die eine Wuͤrkung ſeiner eignen Kraft war,
Joh. 10, 17. 1 Cor. 15, 12-22. iſt uns eine hinlaͤngliche
Verſicherung, daß er uns auferwecken koͤnne, und ſeine
wiederhohlte Zuſage davon, daß er es wolle. Joh. 5,
25[-]29. Nicht der ganze Leib des Gerechten, mit allen
ſeinen groben, irdiſchen und zufaͤlligen Theilen, mit allem,
was
[213]
was bey ſeinem Tode zu demſelben gehoͤrt hat, wird wie-
der lebendig werden. So wie der Menſch, ſagte hier
der Graf, bey ſeiner erſten Entſtehung gleichſam in einem
Punct concentrirt iſt, ſo kann es ſich auch wohl bey der
Wiederherſtellung ſeines Leibes nach dem Tode verhalten.
Vielleicht iſt der Nervenſaft der Keim des neuen Leibes,
und das Weſentliche des alten, welches Gott zur Aufer-
ſtehung aufbewahrt. Gewiß iſt wenigſtens, fuhr ich
fort, daß der neue Leib aus dem alten, der gleichſam der
Saame des neuen iſt, hervorwachſen, und das Weſent-
liche des alten Leibes in ſich faſſen wird. 1 Cor. 15, 35-38.
Wir koͤnnen alſo mit Wahrheit behaupten, jeder werde
ſeinen eignen Leib wieder erhalten. Der neue Leib wird
den alten an Vollkommenheit weit uͤbertreffen. 1 Cor.
15, 42-44. Er wird zu den Abſichten, Geſchaͤfften und
Freuden des kuͤnftigen Lebens geſchickt ſeyn, ſo wie die-
ſer unſer Leib fuͤr das itzige gemacht iſt. Er wird nach
dem Ausſpruche Pauli Phil. 3, 21. dem verklaͤrten Leibe
Chriſti aͤhnlich ſeyn.
Was verſteht man denn unter einem verklaͤrten
Leibe? fragte mich hier der Graf. Jch antwortete: Ei-
gentlich kann ich Jhnen das nicht ſagen. Verſtehen Sie
darunter einen Leib, der nach der Beſchaffenheit des kuͤnf-
tigen Lebens veredelt und verfeinert iſt, ſo werden Sie ſich
wenigſtens keinen unrichtigen Begriff machen, wenn er
gleich die Sache nicht erſchoͤpft. Sie wiſſen, daß es
viel feinere Materie giebt, als diejenige, woraus dieſer
unſer Leib beſteht. Z. Ex. Licht, Aether. Vielleicht
werden wir in der Auferſtehung Leiber von ſo gerei-
nigter und feiner Materie erhalten. Und der gewoͤhnli-
che Begriff des Worts verklaͤren, ſcheint damit uͤber-
einzuſtimmen.
Die Vernunft kann es nicht beweiſen, daß die
Auferſtehung der Todten unmoͤglich ſey. Soll der Menſch,
O 3wie
[214]
wie es die Religion verheißt, in der Ewigkeit wieder
leben, ſo muhtmaßt die Vernunft ſchon eine Wiederher-
ſtellung des Leibes, denn nicht die Seele allein, ſondern
die Verbindung der Seele mit dem Leibe, macht den
ganzen Menſchen aus. Ja, ſie hat es gemuhtmaßt, ehe
ſie den Unterricht der Religion davon gehabt hat. Das
beweiſen die Begraͤbnißgebraͤuche der alten heidniſchen
Voͤlker, und ihre fabelhaften Erzaͤhlungen von dem koͤr-
perlichen Aufenthalt ihrer Verſtorbenen in angenehmen
oder unangenehmen Gegenden. Als Darius gegen die
Scythen zu Felde zog, und ſie der Feigherzigkeit beſchul-
digte, weil ſie ihm immer auswichen, ließen ſie ihm ſagen,
er moͤchte ſich nur an den Graͤbern ihrer Vaͤter vergreifen,
ſo ſollte er erfahren, ob ſie eine feige Nation waͤren.
Warum ſahen ſie die Verletzung dieſer Grabſtaͤtten fuͤr
eine ſolche Beleidigung an, die ſie nothwendig raͤchen
muͤßten, wenn ſie den Staub ihrer Vorfahren fuͤr nichts
anders als gemeinen Staub, wenn ſie ihn nicht fuͤr ein
koſtbares Depot hielten, das einmahl wieder abgefordert
werden ſollte? — Man hat nun zwar gegen die Moͤg-
lichkeit der Auferſtehung mancherley Einwendungen ge-
macht, ja ſo gar berechnen wollen, daß die ganze Ober-
flaͤche des Erdbodens zu klein ſeyn wuͤrde, allen Aufer-
ſtandenen Platz zu geben, worauf ſie ſtehen koͤnnten. Es
iſt aber auch gewieſen worden, daß man ſich ſehr ver-
rechnet hat, und uͤberhaupt zeigen alle dieſe Einwuͤrfe,
wie eingeſchraͤnkte und ſinnliche Vorſtellungen diejenigen
von der Auferſtehung haben, die ſie machen. Sie treffen
folgende Wahrheiten gar nicht, auf denen die Moͤglich-
keit der Auferſtehung beruht. Die Theile des alten Lei-
bes, aus denen der neue zuſammengeſetzt werden ſoll,
koͤnnen ſich nicht aus der Natur der Dinge verlieren,
wie oft ſie auch in der allgemeinen Circulation der Mate-
rie mit andern fremden Theilen vermiſcht werden moͤgen.
Der Allwiſſende, der ſie zum fernern Gebrauch beſtimmt
hat,
[215]
hat, muß immer wiſſen, wo ſie anzutreffen ſind, und
wem ſie zugehoͤren. Der Allmaͤchtige, der einmahl im
Stande geweſen iſt, einen menſchlichen Leib aus ihnen
zuſammenzuſetzen und zu beleben, muß dieſen Leib auch
wieder aus ſeinem Verfalle herſtellen, und der Seele
noch einmahl zur Wohnung einraͤumen koͤnnen. — Jch
glaube, ſagte der Graf hierauf, man hat nicht eher Ein-
wuͤrfe gegen die Auferſtehung gemacht, bis ſie durch die
poſitive Verſicherung Chriſti gewiß worden iſt. Von
der Zeit an haben ſich diejenigen, die kein gutes Gewiſſen
hatten, davor gefuͤrchtet, und ſich durch dieſe Einwuͤrfe
vor ihrer aͤngſtlichen Erwartung in Sicherheit zu ſetzen
geſucht.
Jch lerne uͤberhaupt, ſetzte er hinzu, immer mehr
einſehen, wie klein und unwuͤrdig die itzigen ſogenannten
Philoſophen uͤber Gott denken. Sie ſollten ſich als Phi-
loſophen aus der eingeſchraͤnkten Sphaͤre, in der der
Menſch lebt, hervorzuheben und Gott und der geiſtigen
Natur mehr zu naͤhern ſuchen. Aber ſie haͤngen ſo ſehr
an Materie und Sinnlichkeit, daß ſie ſelbſt uͤber Gott
nur ſinnlich denken koͤnnen, und ſeine Vollkommenheiten
und Kraͤfte nach dem Maaße der ihrigen beſtimmen. So
ſagen ſie: Gott bekuͤmmere ſich um die Menſchen nicht,
weil ſie fuͤr ihn zu klein waͤren. Gerade, als wenn in
Beziehung auf Gott irgend etwas groß oder klein ſeyn
koͤnnte. Gott gewinnt ja dadurch in unſern Vorſtellun-
gen, wenn wir glauben, daß auch kein einziges noch ſo
unbekanntes und verachtetes Geſchoͤpf exiſtirt, das er
nicht genau kenne und eben ſo gut zu ſeinem Ziele leite,
als ein ganzes Weltenſyſtem. So werfen ſie es Jeſu,
als einen Beweis gegen ſeine Hoheit und goͤttliche Sen-
dung vor, daß er ein Jude, daß ſein Pflegevater ein
Zimmermann war. Sollten ſie nicht denken, daß Gott
nicht die Vorurtheile gegen die Juden haben kann, welche
uns dieſe Nation veraͤchtlich machen, und daß vor ihm
O 4ein
[216]
ein Zimmermann eben ſo viel iſt, als ein Koͤnig. Und
eben ſo kommen mir ihre Einwuͤrfe gegen die Auferſte-
hung vor. Weil ſie den in der Natur uͤberall umherge-
ſtreuten Staub der Verſtorbenen nicht aufſuchen, zuſam-
menſetzen und beleben koͤnnen, ſo ſoll Gott dazu auch
nicht im Stande ſeyn. —
Jhr Leib alſo, fuhr ich nun fort, den in kurzer
Zeit die Verweſung angreifen und zerſtoͤren wird, dieſer
Leib, den Jhre Seele als Jhr Werkzeug und Jhre Woh-
nung liebt, und deſſen ſie nicht wohl entbehren zu koͤnnen
glaubt, wird wieder hergeſtellt werden. Er wird die
Stimme des Erweckers hoͤren, und Leben und Bewegung
fuͤhlen. Und verbeſſert, veredelt, verfeinert werden Sie
ihn aus der Bewahrung des Todes wieder empfangen.
Hier war er Jhnen immer eine ſchwere Laſt, die mit
Muͤhe fortbewegt werden mußte; dort wird er, von gro-
ber irdiſcher Materie frey, leicht, behend und geſchwinde
ſeyn. Hier war er der Schwachheit, dem Schmerz,
der Krankheit unterworfen; dort wird er nur angeneh-
mer Empfindungen faͤhig ſeyn, eine ewig bluͤhende Ge-
ſundheit genießen, und mit Kraft erfuͤllt werden. Hier
iſt er Jhnen die maͤchtigſte Verſuchung zur Suͤnde gewe-
ſen; dort wird er heilig ſeyn, keine Aufwallung boͤſer
Luͤſte wird durch ihn veranlaßt werden, keine verfuͤhreri-
ſche Empfindungen wird er der Seele mittheilen. Hier
ſteht ihm der Tod bevor; dort wird er ihn nicht wieder zu
befuͤrchten haben. — Vielleicht, ſagte hier der Graf,
werden wir in der kuͤnftigen Welt noch manche Epoche
unſrer Exiſtenz zu erwarten haben, und alſo aus einem
Zuſtande in den andern uͤbergehen. Aber gewiß nicht
durch den unangenehmen Weg des Todes, der eine Folge
der Suͤnde iſt. Gott haͤtte uns auch von hier aus auf
einem andern angenehmern Wege zu unſrer naͤchſten Be-
ſtimmung fuͤhren koͤnnen, wie die Beyſpiele Enochs und
Elias beweiſen, wenn nicht durch die Suͤnde der Tod
noth-
[217]
nothwendig geworden waͤre. — Gott wird endlich, ſetzte
ich noch hinzu, ihren kuͤnftigen Leib ſo bilden, wie er Jh-
nen dort brauchbar ſeyn wird: er wird das Unvollkommene,
das hier noͤthig war, von ihm abſondern. So iſt z. Ex.
der grobe Stoff, aus welchem hier unſer Koͤrper beſteht,
eine nothwendige Unvollkommenheit, da wir hier mit
lauter groben koͤrperlichen Dingen umgeben ſind, die wir
mit Gliedern von feiner Materie gar nicht wuͤrden hand-
haben koͤnnen. Uebergeben Sie alſo Jhren Leib mit Ruhe
und Hoffnung der Bewahrung und Zubereitung des We-
ſens aller Weſen, das jedes Staͤubchen, worin er zer-
fallen mag, ganz gewiß kennt und zu ſeinen Abſichten
brauchen wird. —
Der Graf verſicherte mich hier, daß ihm der Tod
zwar nicht gleichguͤltig, aber doch auch nicht ſchrecklich
ſey. Er koͤnne und wolle es ſich freylich nicht verhehlen,
daß er große Urſache habe alles dasjenige zu bereuen,
wodurch er ihn beſchleunigt habe. Da aber nun das nicht
zu aͤndern, und er der Vergebung ſeiner Suͤnden gewiß
ſey, ſo binde ihn, außer dem natuͤrlichen Triebe der Con-
ſervation, gar nichts an das Leben, und er ſey bereit, ſo
bald ihn Gott abriefe, die Welt zu verlaſſen. Er bekuͤm-
mere ſich auch gar nicht darum, was etwa nach ſeinem
Tode mit ſeinem Koͤrper vorgehen moͤchte. Er ſey unter
der Aufſicht Gottes uͤberall ſicher aufgehoben.
Jnzwiſchen, ſagte er, will ich meine Zeit gewiſſen-
haft anwenden und mich bemuͤhen taͤglich beſſer und Gott
wohlgefaͤlliger zu werden. Jch leſe in dieſer Abſicht, ich
bete, ich denke uͤber meinen vorigen und itzigen Zuſtand
nach und vergleiche ſie mit einander, ich rede mit den
Officiers, aber ohne Zudringlichkeit und Affectation uͤber
Religion und Tugend. Jch ſagte in dieſen Tagen einem
unter ihnen, daß man mit der Bibel immer mehr bekannt
wuͤrde, daß man ſie taͤglich verſtaͤndlicher und ihren Jn-
halt lehrreicher faͤnde, wenn man ſie nur fleißig ſtudirte.
O 5Dieſer
[218]
Dieſer junge Menſch antwortete mir, es waͤren doch ſo
viele Ausdruͤcke in derſelben ſehr auſfallend. Daruͤber,
ſagte ich ihm, ſetzt man ſich bald hinaus, wenn man ſie
nur in der Abſicht lieſt, wozu Gott ſie uns gegeben hat.
Jch ſtoße nun nirgends mehr an, als wenn ich etwa eine
Stelle nicht verſtehe, auſfallend iſt mir nichts mehr.
Aber ſagen Sie mir doch, was iſt Jhnen zum Exempel
anſtoͤßig? “Ja, wenn Chriſtus zu ſeiner Mutter ſagt:
Weib, was habe ich mit dir zu ſchaffen? ſo iſt das doch
hart, und wenn ichs ſagen darf, unanſtaͤndig.[„] Jch
will Jhnen ſagen, wie ich mir das vorſtelle. Wenn zum
Exempel drey verſchiedene Perſonen, die eine aus dem
niedrigen Stand, die andre aus dem mittlern, die dritte
aus dem hoͤhern, unter eben ſolchen Umſtaͤnden, denſel-
bigen Gedanken ausdruͤcken wollten, wie wuͤrden ſie ihn
ungefaͤhr ſagen? Die erſte wuͤrde etwa ſprechen, wie Je-
ſus ſprach, von dem ſie wiſſen werden, daß er in dem
Hauſe eines Zimmermanns erzogen war: Mutter, oder
Frau, was geht es uns an, daß die Brautleute keinen
Wein mehr haben? Die andere wuͤrde ſich ungefaͤhr ſo
ausdruͤcken: Meine liebe Mutter, beunruhigen Sie ſich
daruͤber nicht. Die dritte wuͤrde vielleicht gar nichts ſagen,
ſondern eine leichte Verbeugung machen. Haͤtten ſie nun
aber nicht im Grunde alle drey einerley geſagt? Man muß
wenn man den Wehrt eines Menſchen beurtheilen will,
nicht auf den Rock ſehen, den er traͤgt, und die Guͤte ſei-
ner Geſinnungen kann nicht aus der Feinheit und Zier-
lichkeit der Ausdruͤcke geſchloſſen werden, worin er ſie
einkleidet.
Sieben und zwanzigſte Unterredung, den
14ten April.
Auf die Auferſtehung wird das Gericht folgen. Laſſen
Sie uns, theurer Freund, heute von dieſer großen
Begebenheit reden. — Zu eben der Zeit, da Jeſus
Chriſtus
[219]
Chriſtus die Todten auferwecken wird, wird er auch
Gericht uͤber das menſchliche Geſchlecht halten, und das
wird mit einer Feyerlichkeit geſchehen, die der Wuͤrde
eines ſolchen Richters und eines ſolchen Gerichts gemaͤß iſt.
Jeſus ſelbſt hat uns dieſen großen Tag umſtaͤndlich be-
ſchrieben Matth. 25, 31-46. Er wird mit Guͤte und Ge-
rechtigkeit richten. Sie wiſſen, Gottes Gerechtigkeit iſt
die vollkommenſte Guͤte. Mit Guͤte wird er diejenigen
zum ewigen Leben beſtimmen, die die Wahrheit ange-
nommen, und ſo viel ihnen moͤglich war nach den Vor-
ſchriften derſelben gehandelt haben: mit Gerechtigkeit die
zum Verderben verurtheilen, die der Wahrheit nicht ge-
horchten und Boͤſes thaten Roͤm. 3, 6-10.
Hier wuͤnſchte der Graf die Lehre der Schrift von
den Hoͤllenſtrafen und von ihrer Dauer zu wiſſen. Jch
trug ſie ihm vor, nebſt den Gruͤnden fuͤr und wider die
Ewigkeit dieſer Strafen. Jch berief mich vornehmlich
auf die Worte Chriſti, Matth. 25, 46. um ihm zu zeigen,
daß es uns nicht erlaubt ſey, ein Ende des Verderbens der
Verdammten zu hoffen oder zu lehren, wenn wir nicht
auch zugleich die Ewigkeit des Heils der Gerechten in
Zweifel ziehen wollten. Die Guͤte Gottes, ſetzte ich hinzu,
leidet darunter auch nicht, wenn die Gottloſen ewig un-
gluͤcklich ſind, denn ſie werden es nur darum ſeyn, weil
es unmoͤglich ſeyn wird, daß ſie nicht ewig ungluͤcklich
ſeyn ſollten. Jhre Strafen werden zwar fuͤrchterlich und
peinlich ſeyn, aber ich zweifle doch nicht, daß es ihnen
immer noch eine Wohlthat ſeyn wird zu exiſtiren, und
daß ſie auch an gewiſſen allgemeinen Vortheilen Antheil
haben werden, wie etwa in dieſer Welt die Gottloſen an
dem Licht und an der Waͤrme der Sonne, an der Frucht-
barkeit des Landes u. ſ. w. Ein Verbrecher, der hier zu
lebenswieriger Feſtungsarbeit verurtheilt iſt, wird doch
ſein trauriges Leben fuͤr beſſer halten als den Tod. So
ſteht es auch in der Gnade des Koͤnigs ihm noch ſeine
Freyheit
[220]
Freyheit zu ſchenken: aber niemand iſt berechtigt ihm die
Hoffnung zu machen, oder die Verſicherung zu geben,
daß das geſchehen werde. So behaͤlt auch Gott ſeine
freye Macht das Schickſal der Verdammten zu beſtimmen,
ſo wie es ſeiner Guͤte und Weisheit in Anſehung einiger
oder aller gemaͤß ſeyn wird. Und wenn auch die Stra-
fen in der kuͤnftigen Welt nur ein Menſchenleben durch
dauren ſollten, ſagte hierauf der Graf, ſo waͤren ſie
fuͤrchterlich und von der Suͤnde abſchreckend genug. Es
waͤre auch ſchon ſehr ſchrecklich verdammt zu ſeyn, wenn
dieſe Strafen ohne weitere Veranſtaltung Gottes bloß in
den natuͤrlichen Folgen der Suͤnde beſtehen ſollten. Jch
habe den Gedanken gehabt, daß die Menſchen, die ſich
hier durch ihre Begierden haben beherrſchen laſſen, durch
ihre Begierden ſelbſt in der Ewigkeit beſtraft werden
koͤnnten. Sie gehen z. Ex. mit allen ihren Luͤſten, mit
aller wuͤtenden Staͤrke derſelben aus der Welt. Dort
aber iſt nichts, wodurch ihre Begierden gekitzelt oder be-
friedigt werden koͤnnten. Sie werden ſich alſo gleichſam
in ungeſaͤttigten Trieben und leeren Wuͤnſchen verzehren.
Gott koͤnnte ihnen nur ſagen: Jch will euch weiter nichts
thun, aber ihr ſollt bleiben, wie ihr ſeyd. Doch man
kann daruͤber wohl nichts beſtimmtes und gewiſſes ſagen.
Allerdings, atwortete ich ihm, werden die unbefriedigten
Begierden auch eine von den Strafen der Verdammten
ſeyn. Aber es kommen auch Stellen in der Bibel vor,
die nicht anders als von poſitiven Schmerzen und Quaa-
len verſtanden werden koͤnnen. Sie ſelbſt muͤſſen noch
außer dem Mangel an allem, wozu dieſe Ungluͤckſeeligen
Luſt haben moͤgen, noch mehr Elend entdecken koͤnnen,
das ſie druͤcken wird. Denken Sie ſich einmahl eine Ver-
ſamlung ſtolzer, geiziger, wolluͤſtiger, ungerechter, treulo-
ſer, undankbarer, feindſeeliger Menſchen, und ſagen Sie
mir, ob es nicht fuͤr jeden unter ihnen ein unertraͤglicher
Zuſtand ſeyn muß in der Geſellſchaft aller der uͤbrigen zu
leben, und ihnen nie ausweichen zu koͤnnen? —
Es
[221]
Es mag nun aber, fuhr ich fort, das Elend der
Verdammten und die Dauer deſſelben beſchaffen ſeyn,
wie es will: Sie, mein theurer Freund, haben davon
durch die Gnade Gottes nichts zu befuͤrchten. Sie wer-
den mit Freudigkeit im Gerichte Jeſu Chriſti ſtehen, denn
Sie haben ſich vom Jrrthum zur Wahrheit, und von der
Suͤnde zu heiligen und Gott wohlgefaͤlligen Geſinnungen
bekehrt. Wenn nicht dieſe ſeelige Veraͤnderung mit Jh-
nen vorgegangen waͤre, mit was fuͤr ſchrecklichen Empfin-
dungen haͤtten Sie dann aus der Welt gehen muͤſſen!
Welch eine traurige Begebenheit wuͤrde Jhnen Jhre
Auferſtehung geworden ſeyn! Mit welcher unheilbaren
Verzweiflung haͤtten Sie vor dem Angeſichte des Welt-
richters erſcheinen muͤſſen! Sie haben es erfahren, was
es heiße, mit einem verwundeten Gewiſſen vor Richtern
zu erſcheinen, die nur Menſchen ſind, die nur nach einem
und dem andern Verbrechen fragen, die die geheimen
Gedanken nicht richten, vor denen man die Wahrheit
noch wohl verhehlen kann, und die hoͤchſtens nur mit dem
zeitlichen Tode drohen und ſtrafen koͤnnen. Wie unaus-
ſprechlich viel ſchrecklicher wuͤrde es fuͤr Sie geweſen ſeyn,
vor dem Richter aufzutreten, der Gott iſt, der alle Jhre
Suͤnden bis auf die verborgenſten boͤſen Geſinnungen nach
ſelbſt geſehen hat, und Leib und Seele zugleich haͤtte ver-
derben koͤnnen, und verderben muͤſſen, wenn Sie unge-
reinigt von ihren Suͤnden, und ungeheiligt durch den
Glauben und gute Geſinnungen aus der Welt gegangen
waͤren! — Liebſter Freund, wie koͤnnen Sie Gott genug
danken, daß er Sie durch Jhre Bekehrung vor dieſem
ſchrecklichſten Auftritt in Sicherheit geſetzt, daß er Jhnen
zum Voraus ſchon alle Jhre Suͤnden vergeben, daß er
Sie faͤhig gemacht hat, nicht nur ohne Entſetzen an das
letzte Gericht zu denken, ſondern ſich ſogar darauf zu
freuen. Ja, Sie duͤrfen ſich freuen: denn Sie wiſſen
und ſinds gewiß, daß der Weltrichter Jhr Freund iſt,
der
[222]
der Jhnen Gnade und Vergebung angeboten hat, und
deſſen menſchenfreundliches Anerbieten Sie im Vertrauen
auf ſeine Wahrheit angenommen haben. Sie koͤnnen
ſeinem Urtheile mit freudiger Zuverſicht entgegen ſehen,
denn es kann nicht anders als vortheilhaft fuͤr Sie ſeyn,
wie er ſelbſt es Jhnen verheißen hat. — Jch verſichere
Sie, ſagte er hier, daß ich mich wuͤrklich darauf freue,
und mich auf Gottes Gnade verlaſſe.
Halten Sie nun, ſo beſchloß ich dieſen Vortrag,
auf Jhren Glauben und auf Jhre gebeſſerte Geſinnung,
als auf Jhr einziges, und zugleich als auf ein unſchaͤtz-
bares Gut. Tragen Sie, je naͤher Sie Jhrem Ziele
kommen, mit deſto groͤſſerer Sorgfalt Jhre Seele, wie
ein koſtbares und zerbrechliches Kleinod, immer in Jh-
ren Haͤnden, damit ſie nicht noch verwahrloſet werde.
Wachen Sie uͤber ſich ſelbſt, Jhre Gedanken, Neigun-
gen und Thaten, mit einer Aufmerkſamkeit, die der Wich-
tigkeit des großen Schrittes gemaͤß iſt, dem Sie entge-
gen eilen. Erlauben Sie ſich nichts, das Sie nicht vor
Jhrem nun erleuchteten Gewiſſen rechtfertigen koͤnnen,
nichts, daß einer Entſchuldigung bedarf. Je weiter Sie
noch in der ſo gluͤcklich angefangenen Beſſerung kommen,
um ſo viel freudiger werden Sie am Tage des Gerichts,
um ſo viel erwuͤnſchter wird fuͤr Sie der Ausſpruch des
Richters ſeyn. — Er betheurete mir, daß er die Wich-
tigkeit dieſer Ermahnungen erkenne, und ſich auch bewußt
ſey, daß er ihnen gemaͤß handele. Er finde ſich auch
dadurch immer mehr in der Erkenntniß der Wahrheit ge-
ſtaͤrkt, und in guten Geſinnungen befeſtigt. Seine ihm
vordem ſo unuͤberwindlich vorgekommene Einwuͤrfe waͤren
itzt ganz verſchwunden, oder doch wenigſtens ſo ſchwach,
daß ſie ihn eben ſo wenig an der Wahrheit der Reli-
gion zweifeln machten, als er daran zweifelhaft gemacht
werden koͤnnte, daß ich wuͤrklich bey ihm ſaͤße, und daß
dieß keine Jlluſion der Einbildungskraft ſey. Er ſey
auch
[223]
auch itzt ſo gewiſſenhaft, daß er alles, was er daͤchte und
thaͤte, ſorgfaͤltig pruͤfe, ob es auch dem Willen Gottes
gemaͤß ſey. Und dabey befinde er ſich ſo gut, und fuͤhle
ſich ſo ruhig und gluͤcklich, daß er gewiß wiſſe, er werde
nicht wieder aufhoͤren, ſo zu denken und zu handeln. Er
ſagte bey dieſer Gelegenheit noch vieles, das mich ſehr
erfreute, und das wuͤrdig geweſen waͤre aufbehalten zu
werden, wenn ich mich wieder daran haͤtte erinnern koͤnnen.
Jch hielt es bey der Herannaͤherung ſeines Todes
fuͤr nuͤtzlich ſeine Seele mit Vorſtellungen von der Ewig-
keit zu erfuͤllen, und gab ihm in dieſer Abſicht Lavaters
Ausſichten in die Ewigkeit. Jch machte ihn vorher mit
dem Character des Verfaſſers bekannt, und beſchrieb ihm
das Buch ſelbſt als ein Product einer ſtarken Einbil-
dungskraft, vieler geſunden Vernunft und uͤberwiegen-
der Froͤmmigkeit.
Acht und zwanzigſte Unterredung, den
17ten April.
Je naͤher der Graf Struenſee ſeiner Ewigkeit kam,
deſto noͤthiger und nuͤtzlicher war es ihm, ſich mit
Vorſtellungen von derſelben zu beſchaͤfftigen. Um ihn
dazu zu veranlaſſen, hatte ich ihm Lavaters Auſſichten
gegeben, und in eben dieſer Abſicht entſchloß ich mich itzt
ihn in unſern Unterredungen mit Betrachtungen uͤber die
Ewigkeit zu unterhalten.
Jch erinnerte ihn an die Wiedervereinigung des
Leibes und der Seele, die am Tage der Auferſtehung
erfolgen ſoll, und von deren Moͤglichkeit und gewiſſer
Zukunft wir das letztemahl gehandelt hatten. Von die-
ſem Zeitpunct an, fuhr ich fort, nimmt alſo auch erſt die
voͤllige Gluͤckſeeligkeit des ganzen Menſchen ihren Anfang,
der in Gott wohlgefaͤlligen Geſinnungen geſtorben iſt.
Von der Beſchaffenheit dieſer Gluͤckſeeligkeit ſagt uns die
Schrift
[224]
Schrift etwas, etwas kann die Vernunft aus analogi-
ſchen Gruͤnden davon muthmaßen: aber alles, was wir
davon gewiß wiſſen oder muthmaßen koͤnnen, kann nur
fuͤr einen ſehr unvollkommenen und unausgebildeten Ab-
riß des wuͤrklichen Heils der Ewigkeit gehalten werden.
Nicht eher, als bis wir es lange werden erfahren haben,
werden wir es recht kennen lernen. Wir ſind hier faſt
an lauter irdiſche und vergaͤngliche Guͤter gewoͤhnt, wie
ſollten wir uns himmliſche und ewige Vortheile richtig
und deutlich vorſtellen koͤnnen?
Wir werden dort wieder unſern organiſchen Leib
haben, von welchem die Sinne ein weſentliches Stuͤck
zu ſeyn ſcheinen. Jch vermuhte daher, daß wir dort
auch angenehme ſinnliche Empfindungen werden erwarten
duͤrfen. Unſer Leib wird verklaͤrt ſeyn, das iſt, verfei-
nert, veredelt und den Abſichten und Geſchaͤfften des
kuͤnftigen Lebens gemaͤß eingerichtet. Alſo werden auch
jene ſinnliche Freuden in eben dem Verhaͤltniſſe edler,
feiner und himmliſcher ſeyn, als wir ſie hier haben koͤn-
nen. — Der angenehme Eindruck, den hier Schoͤnheit,
Harmonie, Erhabenheit, in den Werken der Natur und
Kunſt, auf uns macht, iſt immer von undeutlichen Vor-
ſtellungen begleitet, und gruͤndet ſich oft in der Jlluſion.
Dort werden wir ohne Zweifel mit unſern Sinnen tiefer
in die Gegenſtaͤnde eindringen, mehr auf einmahl faſſen,
keinem Betruge der Sinne unterworfen ſeyn, und daher
auch mehr und deutlicher erkannte Urſache zur Freude
uͤber die Empfindung ſinnlicher Annehmlichkeiten haben.
— Es koͤnnen auch wohl mehr Sinne fuͤr den verklaͤr-
ten Leib moͤglich ſeyn, als der irdiſche hat. Dadurch
koͤnnen unzaͤhlige Quellen neuer Freuden eroͤffnet werden,
von denen wir uns hier, wegen unſrer gaͤnzlichen Unbe-
kanntſchaft mit ihnen, gar keine Vorſtellungen machen
koͤnnen. — Die richtigere und ausgebreitetere Erkenntniß
der Werke Gottes, von denen wir hier nur ſehr wenige
in
[225]
in der Naͤhe zu betrachten Gelegenheit haben, wird gewiß
eine von den angenehmſten Wuͤrkungen ſeyn, die dort der
Gebrauch unſrer verbeſſerten und vielleicht auch vermehr-
ten Sinne fuͤr uns haben wird. Und worin auch nun im-
mer die ſinnlichen Freuden in der Ewigkeit beſtehen wer-
den, ſo werden ſie doch nie ſuͤndlich ſeyn, ſo wird die
Begierde nach ihnen nie eine Gott misfaͤllige Art der Be-
friedigung ſuchen, und uns zur Abweichung von ihm ver-
leiten koͤnnen.
Noch groͤßere Freuden wird uns die Verbeſſerung
unſrer hoͤhern Kraͤfte und die Gelegenheit gewaͤhren, die
wir finden werden, ſie immer vollkommener zu machen.
Dem Jrrthum werden wir dann nicht mehr unterworfen
ſeyn. Unſre Seele wird nur die lauterſte und fruchtbarſte
Wahrheit denken. Welch ein unerſchoͤpfliches Meer von
Wahrheiten, deren Erkenntniß die ſeeligſte Wolluſt ver-
urſachen wird, wird fuͤr uns die Uendlichkeit Gottes ſeyn!
Was fuͤr neue Vollkommenheiten werden wir nicht an
ihm entdecken, und in welch einem hellern Lichte diejenigen
kennen lernen, die wir hier ſchon, da wir ſie nur in dunk-
ler Ferne erblicken, an ihm bewundern! Seine Guͤte,
ſeine Weisheit, ſeine Macht, die wir hier aus ſeinen
Werken hervorſtralen ſehen, von denen wir nur ſehr we-
nige kennen, und keines ganz durchſchauen, erfuͤllen uns
ſchon mit Freude, ſo oft wir uͤber ſie nachdenken: was
werden wir dort fuͤr Luſt daran haben, wenn wir einen ſo
viel groͤßern Schauplatz derſelben betreten, und mit un-
ſern Nachforſchungen immer tiefer in ihre innere Beſchaf-
fenheit eindringen werden! — Hier erblicken wir nur hin
und wieder einige Fußſtapfen Gottes auf den Wegen ſei-
ner Vorſehung: dort werden wir den weiſen und einfachen
Plan ſeiner Weltregierung voͤlliger uͤberſehen, und Gott
uͤberall finden, ihn uͤberall ſeiner wuͤrdig handeln ſehen,
wo wir hier vielleicht geglaubt oder befuͤrchtet haben, daß
er nicht Theil an den Begebenheiten der Welt nehmen
Pmoͤchte.
[226]
moͤchte. — Hier muͤſſen wir in Anſehung ſeines Raht-
ſchluſſes von unſrer Seeligkeit mit Schwuͤrigkeiten kaͤm-
pfen, und uns durch Finſterniſſe hindurch arbeiten: dort
wird ſich alles, was uns itzt in der Religion ſchwer und
dunkel iſt, in die einfachſte Wahrheit, in das hellſte Licht
aufloͤsen, ſo daß wir uns mit Freuden daruͤber verwundern
werden, wie vortrefflich alles zuſammenhaͤngt, und wie
unmoͤglich es anders und beſſer ſeyn konnte, als es iſt.
1 Joh. 3, 2. 1 Cor. 13, 9-12.
Bey Gelegenheit der Worte Pauli in der ange-
fuͤhrten Stelle ward der Zuſammenhang unſrer Unterre-
dung ein wenig unterbrochen. Jch erklaͤrte ſie ihm, und
zeigte, wie ſchoͤn ſich Paulus hier ausdruͤcke. Der Graf
bewunderte das Richtige und Treffende in den Bildern,
deren er ſich bediene. Jch finde nun, ſagte er, da ich mit
der Schreibart der Apoſtel immer mehr bekannt werde,
daß ſie ſehr gut ja zuweilen unnachahmlich ſchoͤn und zu-
gleich ſimpel und verſtaͤndlich ſchreiben. Er fuͤhrte mir
verſchiedene Stellen zum Beyſpiele an, beſonders aus
Roͤm. 8. Es moͤgen einmahl, ſetzte er hinzu, andere Fi-
ſcher oder Zoͤllner oder Teppichmacher es verſuchen ſo zu
ſchreiben, als die Evangeliſten und Apoſtel. —
Endlich, fuhr ich hierauf fort, wird auch unſer
Herz, deſſen Freuden immer die empfindlichſten und ſuͤße-
ſten ſind, beſtaͤndig der angenehmſten Empfindungen voll
ſeyn. Was muß nicht ſchon das Bewußtſeyn, daß man
von aller Suͤndlichkeit befreyt ſey, daß man gewiß nichts
anders denke und wolle, als was Gott gefaͤllt, was muß
nicht die davon abhaͤngende Seelenruhe fuͤr eine Gluͤckſee-
ligkeit ſeyn? Beurtheilen Sie das aus Jhrer eignen
Empfindung, die Sie itzt ſchon haben. Wie ſuͤß iſt es
Jhnen nicht zu wiſſen, daß Sie itzt beſſer denken und han-
deln, als vormals, daß Sie ſich, weil Sie nun glau-
ben und thun, wie Gott es Jhnen vorſchreibt, ſeines
Wohlgefallens an Jhnen getroͤſten duͤrfen! Gruͤndet ſich
nicht
[227]
nicht darin Jhre, unter den Umſtaͤnden, in denen Sie
ſich befinden, ganz außerordentliche und mir ſelbſt uner-
wartete, Seelenruhe? Sie iſt ganz gewiß, antwortete er
mir, eine Folge meiner feſten Ueberzeugung von meiner
Begnadigung durch Chriſtum, und meines Bewußtſeyns
daß meine Geſinnungen gebeſſert ſind. Jch kann es nun
begreifen, wie man auf die unerweislichen Vorſtellungen
von den Gefuͤhlen im Chriſtenthum verfallen iſt. Die
Ruhe der Seele, die das Chriſtenthum giebt, iſt ein ſolch
Gefuͤhl. Jch habe es itzt ſelbſt. Man hat nur in der Er-
klaͤrung der Urſachen davon geirret. Gott braucht ſolche
Empfindungen nicht unmittelbar und durch Wunder zu
wuͤrken. Sie ſind das natuͤrliche Reſultat einer gegruͤn-
deten Ueberzeugung und wahrer Sinnesaͤnderung. —
Die moraliſche Vollkommenheit der Seeligen,
ſetzte ich hinzu, wird immer zunehmen, und zugleich mit
ihr ihre gegruͤndete Selbſtzufriedenheit. Denn die hoͤhere,
richtigere und ausgebreitetere Erkenntniß von Gott und
ſeinem Willen, die wir dort nach und nach erlangen wer-
den, wird ganz gewiß ihre Kraft an unſrer Seele aͤußern,
unſre Geſinnungen den goͤttlichen immer naͤher zu bringen
und aͤhnlicher zu machen. — Alle die ſuͤßen Empfindun-
gen der Liebe, der Freundſchaft, des Wohlwollens, der
Geſelligkeit, die ſchon hier fuͤr fuͤhlende Herzen das Gluͤck
des Lebens ausmachen, werden dort von aller Unvollkom-
menheit gereinigt, und vor aller unangenehmen Abwech-
ſelung geſichert, unaufhoͤrlich in unſern Seelen herrſchen.
Jn der naͤhern Gegenwart Gottes werden wir ſeine un-
ausſprechliche Liebenswuͤrdigkeit erſt recht empfinden, und
eine Liebe zu ihm hegen, die wir hier gar nicht kennen.
Jm perſoͤnlichen Umgange mit unſerm Erloͤſer, Joh. 17,
24. werden wir aus ſeinem eigenen Munde himmliſche
Weisheit hoͤren, die hier in keines Menſchen Verſtand
kommen iſt; wir werden es noch mehr als hier erfahren,
wie ſehr er uns liebt, wie hoch er uns, ſeine Theuererloͤſten
P 2ſchaͤtzt
[228]
ſchaͤtzt. Unſere Geſellſchaften werden die weiſen und heili-
gen Geiſter des Himmels ſeyn, und die ſeeligen Menſchen.
Ebr. 12, 22-23. Jeder unter ihnen wird bey aller perſoͤn-
lichen Verſchiedenheit, einerley Geſinnungen, einerley
Geſchaͤffte der Wahrheit und Tugend, einerley Jntereſſe
mit allen uͤbrigen haben. Welch eine vertraute allgemeine
Freundſchaft wird ſich darin gruͤnden! Vergleichen Sie
die beſte irdiſche Freundſchaft mit dieſer himmliſchen, und
ſchließen Sie dann von der Freude, die jene bey aller
ihrer Unvollkommenheit einer guten Seele gewaͤhrt, auf
die Wolluſt, die wir uns dort von dieſer werden verſpre-
chen koͤnnen.
Setzen Sie endlich noch hinzu, daß dieſer gluͤck-
liche Zuſtand der Seeligen nie ein Ende haben, wohl aber
eines allmaͤhligen und unausgeſetzten Fortganges zur
hoͤchſtmoͤglichen Vollkommenheit faͤhig ſeyn wird. Die
Vollkommenheit endlicher Weſen muß aber doch irgend
eine hoͤchſte Stufe haben, wie hoch dieſe auch ſtehen mag.
Es ſcheint mir daher zu erwarten zu ſeyn, daß die Seeli-
gen endlich aufhoͤren werden in der Vollkommenheit zuzu-
nehmen, nur den Wachsthum in der Erkenntniß Gottes
ausgenommen, denn die iſt, weil Gott unendlich iſt, un-
erſchoͤpflich. Daraus iſt mir muhtmaßlich, daß alle See-
ligen einmahl zu einerley, oder doch ungefaͤhr zu einerley,
Grad von Gluͤckſeeligkeit gelangen werden. Der Abſtand
zwiſchen den Faͤhigkeiten einzelner Menſchen, der hier
oft ſehr betraͤchtlich iſt, wird es dort vielleicht weniger ſeyn.
Doch dieß ſind nur meine unerwieſene und noch unreife
Vorſtellungen. Sollte es aber auch ſich ſo verhalten,
daß alle Seeligen einmahl in gleichem Grade ſeelig ſeyn
werden, ſo werden ſie ſich doch in der Auferſtehung, im
Anfange ihrer himmliſchen Gluͤckſeeligkeit nicht gleich ſeyn.
Der Richter der Welt wird ſie auf verſchiedene Stufen
ſtellen, und dieſe Stufen werden in Verhaͤltniß mit dem
Grade der moraliſchen Guͤte ſtehen, welche ſie aus dieſer
Welt
[229]
Welt in die kuͤnftige hinuͤber bringen werden. 1 Cor. 15,
40-42. 2 Cor. 9, 6. Aber es wird doch ohne Zweifel kei-
nen, auch dem geringſten nicht, an irgend einer von den
Seeligkeiten fehlen, von denen wir geredet haben. —
Jch verſprach dem Grafen dieſe allgemeine Be-
trachtung in unſrer naͤchſten Unterredung auf ihn anzu-
wenden. Er war ſehr ruhig, und bezeugte mir, daß er
ſich gluͤcklich ſchaͤtze der Ewigkeit nahe zu ſeyn, ob ihm
gleich die Art ſeines Einganges in dieſelbe betruͤbt ſeyn
muͤſſe. Er wolle inzwiſchen allen ſeinen Fleiß anwenden,
ſich in eine ſolche Verfaſſung zu ſetzen, in der er hoffen
duͤrfe, die Schrecken dieſes Todes uͤberwinden und einer
ſeeligen Ewigkeit gewiß ſeyn zu koͤnnen. Er glaube daß
ſeine Pflichten, die ihm in dieſer Abſicht oblaͤgen, darin
beſtuͤnden, daß er erſtlich ſein voriges Leben beſtaͤndig vor
Augen behielte, um ſeine Reue daruͤber bis ans Ende
lebhaft zu erhalten, und dann unaufhoͤrlich daran arbei-
tete ſeine gegenwaͤrtigen Geſinnungen zu befeſtigen, ſich
gewoͤhnlich zu machen und zu verbeſſern.
Dieß, ſetzte er hinzu, iſt nun meine ganze Be-
ſchaͤftigung, und ſie intereſſirt mich auch ſo ſehr, ich finde
ſo viel Befriedigung darin, daß ich an nichts ſonſt Ge-
ſchmack finde. Jch habe noch vor kurzem zuweilen eine
Stunde in der hiſtoire generelle des Voïages geleſen,
und es Jhnen damals, wie Sie ſich erinnern werden,
auch geſagt. Jch habe es auch zu der Zeit ſchon gefuͤhlt,
daß ich meine Stunden nuͤtzlicher brauchen koͤnnte. Aber,
weil ich nicht gleichſam ſcheinheilig gegen mich ſelbſt thun
wollte, ſo wollte ich mich auch nicht mit Gewalt zwingen
meine Luſt zu dieſem Buche zu unterdruͤcken. Jtzt hat ſie
ſich von ſelbſt verlohren. Jch kann nichts anders leſen und
denken, und es intereſſirt mich ſonſt nichts, als was mit
meinem einzigen Geſchaͤffte, mich auf die Ewigkeit zuzu-
bereiten, in Verbindung ſteht. Jch bin auch nun, Gott-
lob, ſo weit gekommen, daß meine Zweifel mich gar nicht
P 3mehr
[230]
mehr beunruhigen. Was Sie mir von Anfang an geſagt
haben, das habe ich nun erfahren. Es faͤllt mir kein
Zweifel mehr ein, den ich mir nicht ſelbſt zu meiner voͤlli-
gen Beruhigung ſollte heben koͤnnen.
Die chriſtliche Religion, ſagte er bey einer andern
Gelegenheit, hat ſo viel einnehmendes, daß ſie nothwen-
dig einem jeden gefallen muß, der ſie nur recht kennen
lernt. Sie wuͤrde ſelbſt bey dem gemeinen Volke die vor-
trefflichſten Wuͤrkungen hervorbringen, und die Welt auf
das vortheilhafteſte veraͤndern, wenn ſie immer von der
rechten Seite vorgetragen wuͤrde, und man es den Leuten
nach ihrer Faſſung begreiflich genug machte, daß ſie ſelbſt
fuͤr dieß Leben nicht gluͤcklicher werden koͤnnten, als wenn
ſie die Vorſchriften des Chriſtenthums erfuͤllten; Jeder-
mann wuͤrde es bald einſehen, daß, wenn es auch moͤg-
lich waͤre, daß dieſe Religion ein Jrrthum ſeyn koͤnnte,
ſie ein ſolcher Jrrthum ſeyn muͤßte, der der Natur des
Jrrthums ganz widerſpraͤche, indem er der beſte und
wahre Weg zur Gluͤckſeeligkeit waͤre. Jedermann wuͤrde
dann finden, daß es der Muͤhe wehrt ſey, dieſen Jrrthum
ſorgfaͤltig zu ernaͤhren und auszubreiten.
Jch wuͤnſchte, fuhr er fort, daß Sie und andre
Geiſtliche allerley kleine fliegende Blaͤtter ſchrieben, um
den Leuten die Vortheile des Chriſtenthums bekannter zu
machen, als es, wie ich glaube, durch das bloße Predi-
gen moͤglich iſt. Man koͤnnte, z. Ex. die Kalender zu die-
ſer Abſicht brauchen, und anſtatt der vielen aberglaͤubi-
ſchen Dinge, womit ſie gewoͤhnlich angefuͤllt ſind, nach
der Faſſung des gemeinen Haufens Religion und Tugend
darin lehren. Der Bauer wuͤrde dann dieſe Sachen taͤg-
lich leſen, und wenn ſie ihm denn immer wieder in einer
andern Geſtalt unter die Augen kaͤmen, ſo muͤßte er doch
nothwendig zuletzt beſſer denken und handeln lernen. Auf
die Art ſchreibt Voltaire, wie Sie wiſſen, unzaͤhlige kleine
Piecen gegen die Religion, die immer unter veraͤnderten
Nahmen
[231]
Nahmen und Geſtalten wieder daſſelbe enthalten. Ver-
nuͤnftige Verehrer des Chriſtenthums ſollten ihm dieſe
Maxime, wodurch er viel Unheil anrichtet, ablernen um
Gutes dadurch zu ſtiften. Voltaire thut ſich viel darauf
zu gut, daß er dieß Mittel, wie er ſagt, erfunden hat die
Welt zu erleuchten. Jch erinnere mich, daß Alembert in
Paris, als ich ihn auf meiner Reiſe ſprach, von dieſer Me-
thode viel Ruͤhmens machte, und Voltairens Weisheit
darin bewunderte. Jnzwiſchen glaube ich nicht einmahl
daß er der Erfinder derſelben iſt. Er kann wohl gar dieſe
Art ſeine Gedanken auszubreiten und allgemein zu machen
von Chriſto ſelbſt gelernt haben. Denn eben ſo lehrte
Chriſtus die Wahrheit, bald in Parabeln, bald in Fra-
gen und Antworten, bald in Predigten. —
Alembert ſagte mir damals auch, daß er das
Chriſtenthum ſorgfaͤltig unterſucht und nichts vernunftwi-
driges in demſelben gefunden habe. Daß er aber es gleich-
wohl nicht annehme gruͤnde ſich darin, daß er kein Ge-
fuͤhl davon habe. Dieß Gefuͤhl ſey eine Wuͤrkung Gottes.
Wenn ihm Gott daſſelbe verſage, ſo glaube er entſchul-
digt zu ſeyn, daß er es nicht habe, und daher auch kein
Chriſt ſey. —
Endlich klagte mir der Graf noch, daß er ſeit eini-
gen Tagen boͤſe Traͤume haͤtte, und begehrte meine Mey-
nung zu wiſſen, in wie ferne ſolche Traͤume moraliſch ſeyn
und dem Menſchen, der ſie haͤtte, zugerechnet werden koͤnn-
ten. Jch antwortete ihm, in ſo ferne ſie ſich in freyen
Vorſtellungen der Seele waͤhrend des wachenden Zuſtan-
des gruͤndeten. Dieß, ſagte er hierauf, beruhigt mich, denn
ich verſichere Sie, ich denke itzt gar nicht an die Dinge,
worauf ſich meine Traͤume beziehen. Ueberhaupt habe ich
bey mir angemerkt, daß die Materie zu meinen Traͤumen
faſt nie aus nahe vorhergehenden, ſondern immer aus
entfernten Empfindungen und Vorſtellungen hergenom-
men iſt. So habe ich in der erſten Woche meiner Gefan-
P 4genſchaft
[232]
genſchaft von nichts als von meinen Eltern getraͤumt,
die ich doch lange nicht geſehen hatte. Jch glaubte im-
mer in ihrem Hauſe und in ihrer Geſellſchaft zu ſeyn, und
viele Begebenheiten meiner Jugend, die ich in ihrer Ge-
genwart erlebt habe, ſtellten ſich mir wieder vor Augen.
Neun und zwanzigſte Unterredung, den
20ſten April.
Die Anwendung der in der letztern Unterredung vorge-
tragener Erwartungen von dem Heil der Ewigkeit
auf den Grafen zu machen, war dieß mahl meine Haupt-
abſicht. Jch erinnerte ihn alſo, daß er, als ein Erloͤſter
Jeſu Chriſti, der auch an ihn glaube und ſich ernſtlich
bemuͤhe, ſeine Geſinnungen und noch moͤglichen Hand-
lungen nach dem Wohlgefallen Gottes einzurichten, eine
gegruͤndete Hoffnung zu aller dieſer Seeligkeit habe.
Sie haben die ſinnliche Freude, ſagte ich hierauf,
in dieſer Welt geliebt. Sie iſt hier die Urſache Jhres
Verderbens geworden, weil Sie ſich durch Jhre Begierde
nach ihr zum Jrrthum und zur Suͤnde haben verleiten
laſſen. Dieſe Verfuͤhrung werden Sie dort nicht zu be-
fuͤrchten haben. Sie werden ihr Vergnuͤgen nicht in Din-
gen ſuchen, deren Genuß Sie ungluͤcklich machen kann.
Der unerſchoͤpfliche Reichthum der Schoͤnheit in den Wer-
ken Gottes wuͤrde allein ſchon Jhre Sinne auf die edelſte
Art beſchaͤfftigen, und Jhnen ewig eine Quelle der rein-
ſten Freude ſeyn. Die Erkenntniß der Werke Gottes in
der Natur, antwortete er, hat mir hier ſchon, ſo oft ich
ſie geſucht und gefunden habe, viel Vergnuͤgen verurſacht.
Sie iſt die einzige Urſache geweſen, die mich vom Atheis-
mus, zu dem ich ſonſt gewiß auch verfallen ſeyn wuͤrde,
zuruͤckgehalten hat.
Sie haben, fuhr ich fort, wenn es nicht eher ge-
ſchehen iſt, doch gewiß hier in Jhrem Gefaͤngniſſe empfun-
den,
[233]
den, wie ſuͤß es ſey der Wahrheit nachzuforſchen und ſich
durch ſie erleuchten zu laſſen. Welch eine goͤttliche Freude
wird es Jhnen dort verurſachen, ein unermeßliches Feld
der edelſten Kenntniſſe vor ſich zu ſehen, und, von aller
Gefahr des Jrrthums befreyt, eine Frucht der Weisheit
nach der andern von demſelben zu erndten! Sie lieben
nun das Chriſtenthum, weil Sie es ſo gut, ſo wohlthaͤ-
tig finden: wie viel liebenswuͤrdiger wird es Jhnen dort
werden, wo Sie den Plan Gottes in Anſehung unſrer
Erloͤſung vollkomner werden einſehen lernen! Welch eine
Wolluſt wird ihnen beſonders das verurſachen, noch mehr
uͤberzeugt zu werden, wie wohl Sie gethan haben, daß
Sie noch durch Jeſum zu Gott zuruͤckkehrten! u. ſ. w.
Sie empfinden itzt eine Ruhe der Seele, die Sie
ſonſt in allem Jhrem Gluͤcke nie geſchmeckt haben. Sie
iſt eine Folge Jhrer Ueberzeugung, daß Jhnen Jhre Suͤn-
den vergeben ſind, und daß Sie ſich vor neuen Abwei-
chungen von Gott huͤten. Welch eine Zufriedenheit wer-
den Sie dort haben, wo Sie ſo ſehr im Guten befeſtigt
ſeyn werden, daß Sie gar nicht mehr werden ſuͤndigen
koͤnnen! — Sie wiſſen aus der Erfarung, wie viel
Reize ſelbſt eine verbotene ſinnliche Liebe fuͤr den Menſchen
hat, wenn er vom Jrrthum und der Begierde beherrſcht
wird. Wie ſuͤß wird Jhnen dort nicht die reinſte, ſeeligſte
Liebe, die eine Folge der Wahrheit und Tugend iſt, die
Liebe Gottes und Jhres Heilandes, die Freundſchaft der
Engel und Heiligen im Himmel ſeyn! Und wie theuer
werden Sie vor Gott und Jhrem Erloͤſer geachtet ſeyn,
dem Sie faſt verlohren gegangen waren, und zu dem
Sie ſich von Jhrer Verirrung wieder gewendet haben!
Erinnern Sie ſich hier an die Erzaͤhlung Chriſti vom ver-
lohrnen Sohn, die ſo viel Eindruck auf Sie machte, als
Sie ſie in der Lebensgeſchichte Jeſu laſen. Dieſer mein
Sohn, ſagte der erfreute Vater, war todt, und ſiehe,
er lebet!
P 5Zwar
[234]
Zwar werden Sie nicht hoffen, daß Sie in der
Auferſtehung der Todten einer der erſten unter den Be-
gnadigten Gottes ſeyn werden: aber dieß duͤrfen Sie hof-
fen, daß Sie den erſten endlich nachkommen werden. Jch
muͤßte ſehr zufrieden ſeyn, antwortete er, wenn mich Gott
nur nicht ungluͤcklicher wollte werden laſſen, als ich itzt
bin. Gott wird um meinetwillen die Ordnung nicht un-
terbrechen, die er fuͤr die kuͤnftige Welt beſtimmt hat.
Fahren Sie alſo fort, ſetzte ich hinzu, ſo lange Sie Zeit
dazu haben werden, ſich um Wachsthum im Guten zu
bemuͤhen. Jede, auch kleine Nachlaͤſſigkeit in dieſem
Geſchaͤfte, welches itzt Jhr einziges iſt, wuͤrde Suͤnde
ſeyn, und Sie zuruͤckſetzen. Jeder Schritt aber, den Sie
noch vorwaͤrts thun, bringt Sie auch in Anſehung Jhres
kuͤnftigen Heils weiter. Eher koͤnnte Gott aufhoͤren Gott
zu ſeyn, als er auch nur einen einzigen guten Gedanken,
eine einzige edle Entſchließung, unbelohnt laſſen koͤnnte.
Eilen Sie, ſo ſehr Sie koͤnnen, denn Jhr Ziel iſt nun
ſehr nahe! Mit einer ſo ſanften und ruhigen Miene, als
ich ſie noch nie auf ſeinem Angeſicht geſehen hatte, ant-
wortete er mir: Gottlob, ich bin bereit, und wenns auch
Morgen ſeyn ſollte! —
Die Freygeiſter, fuhr er fort, werden nun ſagen:
Jch haͤtte, ohne zur Religion meine Zuflucht nehmen zu
duͤrfen, in mir ſelbſt Staͤrke genug gegen mein Elend ſu-
chen und finden muͤſſen. Nun haͤtte ich mich als ein Pol-
tron bewieſen, und waͤre aus dieſem Grunde meines Gluͤcks
nicht wuͤrdig geweſen. Wollte Gott, daß ich deſſelben
aus andern Gruͤnden nicht unwuͤrdig geweſen waͤre! Jch
moͤchte ſie aber doch wohl fragen, wie ich das haͤtte anfan-
gen ſollen, Troſt in mir ſelbſt zu finden. An meine Ver-
gebungen, an meinen itzigen Zuſtand, an meine Zukunft
durfte ich nicht denken, wenn ich mich beruhigen wollte.
Es blieb mir nichts uͤbrig, als mich zu betaͤuben und meine
Gedanken zu zerſtreuen. Aber wie haͤtte ich das in einer
ſolchen
[235]
ſolchen Einſamkeit und Entfernung von aller Gelegenheit
zur Zerſtreuung thun und in die Laͤnge fortſetzen koͤnnen?
Und wenn das auch moͤglich geweſen waͤre, ſo wuͤrde es
mich doch nichts geholfen haben, denn die Urſache zur
Furcht, zur Aengſtlichkeit, waͤre doch immer da geblieben,
und wuͤrde mich oft genug aus meiner erkuͤnſtelten Betaͤu-
bung zu mir ſelbſt zuruͤck gerufen haben. Jn den erſten
Wochen meines Gefaͤngniſſes, ehe ich auf meinen Zuſtand
aufmerkſam geworden war, habe ich dieß Mittel der Be-
ruhigung verſucht. Jch lag oft drey und mehrere Stun-
den an einander auf meinem Bette, machte in Gedanken
Romanen, durchreiſte die Welt, und meine Jmagination
ſchuf mir tauſend Bilder, die ich betrachtete und die mir
die Zeit vertrieben. Aber ich glaubte damals noch allerley
moͤgliche Faͤlle meiner Rettung vor mir zu ſehen. Jch
wußte noch nicht, ob und wie weit meine Verbrechen ent-
deckt worden waͤren. Ein gewiſſer Umſtand, mit welchem
zugleich alle meine Hoffnung hinfallen mußte, war mir
noch unbekannt. Und ſelbſt damals wollte das Mittel der
Zerſtreuung doch nicht recht anſchlagen. Wenn ich gleich
einige Stunden vertraͤumen koͤnnte, ſo waren doch nach-
her alle meine Schrecken und Aengſtlichkeiten wieder da.
Vielleicht wird man wollen, ich ſollte nun ſtolz ſeyn, und
durch mein Verhalten beweiſen, daß mich doch nichts de-
muͤthigen ſolle. Aber elender Stolz wenn man kein gut
Gewiſſen hat und auf der Blutbuͤhne ſterben muß! —
Nein, ich befinde mich beſſer dabey, meinen Troſt aus
der einzigen wahren Quelle, aus der Religion herzuleiten,
und ich wuͤnſche allen denen, die mich tadeln moͤgen, daß
ich zu ihr meine Zuflucht genommen habe, einſt bey ihrem
Tode eben die Ruhe, die ſie mir giebt.
Es iſt nur eine Sache in der Welt, die mich
wuͤrklich und anhaltend beunruhigt, nemlich das Bewußt-
ſeyn, daß ich andre Menſchen zur Jrreligion und Laſter-
haftigkeit verleitet habe. Jch glaube, ich wuͤrde in jener
Welt
[236]
Welt meine Seelichkeit nicht recht empfinden koͤnnen,
wenn ich jemand von meinen Verfuͤhrten ungluͤcklich wuͤßte.
Kein Wunſch iſt mir daher wichtiger als dieſer, und die
Erfuͤllung deſſelben haͤngt mit meinem eignen Heile feſt
zuſammen, daß Gott allen denen, die ich auf irgend eine
Art von ihm entfernt habe, die Gnade erweiſen wolle,
die mir wiederfahren iſt, daß ſie nemlich zur Religion
und Tugend zuruͤckgefuͤhrt werden moͤgen. Jch rufe Gott
von Herzen darum an. —
Sie ſagen mir itzt, Herr Graf, und haben es
mir mehrmals geſagt, daß Sie oft zu Gott beten. Jch
habe mich auf Jhr Wort verlaſſen und deswegen nur ſel-
ten mit Jhnen gebetet. Sie muͤſſen ſelbſt Jhre Beduͤrf-
niſſe am beſten empfinden, und ich kann Jhnen auch zu-
trauen, daß Sie im Stande ſind, ſie mit Richtung Jhrer
Gedanken auf Gott, und mit der Zuverſicht zu ihm, wozu
Sie der Glaube an Chriſtum berechtigt, durchzudenken
oder in Worten auszudruͤcken. Meine Gebete mit Jhnen
wuͤrden fuͤr Sie nur Formeln ſeyn koͤnnen, und es koͤnnte
leicht geſchehen, daß dieſe Formeln, wenn ich mich nicht
vollkommen in Jhren Fall ſetzen koͤnnte, nicht recht an-
paſſend auf ihren Zuſtand und Jhre jedesmaligen Empfin-
dungen waͤren. Jch halte es alſo fuͤr beſſer, daß Sie
allein Jhr Gebet vor Gott darbringen, da Sie es koͤnnen,
und nicht noͤthig haben, meine Empfindungen und Worte
gleichſam zu borgen. Sollte ich aber wahrnehmen, daß
Sie etwa ganz nahe am Tode, Jhre Gedanken nicht ſelbſt
zuſammenfaſſen koͤnnten, ſo will ich Sie im Gebet zu un-
terſtuͤtzen ſuchen. Er antwortete, daß er ſehr oft bete,
in dem er nemlich mit Erhebung ſeines Herzens zu Gott
Selbſtgeſpraͤche in ſeinem Herzen hielte, ſich zur Beybe-
haltung und mehrerer Berichtigung ſeiner Geſinnungen
ermunterte und Gott auch ſelbſt anredete und ihn um
Beyſtand und Gnade fuͤr ſich und ſeine Freunde anriefe.
Er
[237]
Er bat mich um einige Predigten von Cramer.
Zugleich moͤchte ich ihm doch den Meſſias mitbringen. Er
habe es mehr als einmahl verſucht dieß Gedicht zu leſen,
aber nie Geſchmack daran finden koͤnnen. Ohne Zweifel
aber habe die Schuld an ihm gelegen, weil er ſich mit den
Wahrheiten der Religion, auf die es gegruͤndet ſey, nicht
bekannt gemacht gehabt, ſie auch nicht fuͤr wichtig gehal-
ten habe. Jtzt da er mehr Erkenntniß davon habe, und
ganz anders daruͤber denke, wolle er es doch wieder ver-
ſuchen, ob nicht auch Klopſtock gute Empfindungen in
ſeiner Seele veranlaſſen wuͤrde.
Dreißigſte Unterredung, den 21ſten April.
So weit ich nun den Grafen Struenſee beurtheilen
konnte, und ich ſah ihn faſt taͤglich, beobachtete ihn
ſehr genau und verglich ſein ganzes Verhalten mit ſeinen
Worten, glaubte ich mit ihm zufrieden ſeyn zu duͤrfen.
Wenigſtens war ich gewiß, daß alle, die ihn vorhin ge-
kannt hatten, ihn ſehr vortheilhaft veraͤndert finden wuͤr-
den, wenn ſie ihn itzt ſaͤhen, und ich fand auch einige
ſeiner ehemaligen Freunde, die es fuͤr unglaublich hielten,
als ich ihnen ſeine gegenwaͤrtige Geſinnung beſchrieb. An
ſeiner Aufrichtigkeit gegen mich und die Wahrheit, fand
ich nicht die mindeſte Urſache zu zweifeln. Jch konnte gar
keine Abſicht entdecken, warum er mich haͤtte ſollen hin-
tergehen wollen, die Verſtellung war ſeinem Character
nicht gemaͤß, alle, die Gelegenheit hatten ihn zu ſehen,
fanden ihn ſo wie ich ihn fand, es zweifelte faſt niemand
daran, daß er wuͤrklich ſo waͤre, wie er ſich zeigte, und
ich war mirs bewußt, daß ich immer auf meiner Hut ge-
weſen waͤre, mich nicht betruͤgen zu laſſen. Vornemlich
war mir ſeine gegenwaͤrtige Ruhe ein gar zu ſicherer Be-
weis von den Wuͤrkungen der Religion auf ſein Herz.
Jch zweifelte alſo gar nicht daran, daß ich durch die Gnade
Gottes
[238]
Gottes die Abſicht meines Berufs bey ihm gluͤcklich erreicht
haͤtte, und entſchloß mich nun in freyen Unterredungen an
der Befeſtigung ſeiner itzigen Geſinnungen zu arbeiten,
und ſo oft ich noch Maͤngel entdecken wuͤrde, auch fuͤr
ihre Verbeſſerung zu ſorgen. Jch werde von nun an in
meiner Erzaͤhlung ſeltener ſelbſt reden, und meine Leſer
mehrentheils mit dem unterhalten, was er geſagt hat.
Jch denke itzt, ſagte er, ſehr viel an den Zuſtand
der Seele nach dem Tode. Unter andern habe ich den
Gedanken gehabt, daß die Seele waͤhrend ihrer Trennung
vom Koͤrper doch wol in einem Stande dunkler Vorſtel-
lungen, aber doch mit dem Bewußtſeyn ihrer Gluͤckſee-
ligkeit, ſeyn koͤnnte. Die Sinne ſind ja die Quelle wor-
aus ſie ihre Begriffe ſchoͤpft, und die fehlen ihr dann.
Jch antwortete ihm, man koͤnne nicht wiſſen, ob nicht die
Seele irgend ein feines unſichtbares Schema perceptio-
nis mit ſich aus dem Koͤrper nehmen werde, durch deſſen
Huͤlfe ſie klare Vorſtellungen haben, und auch aͤußerliche
Dinge werde empfinden koͤnnen. Die Begriffe, die ſie
ſich hier geſammelt haͤtte, werde ſie, auch ohne einen Koͤr-
per zu haben, beybehalten und verbinden koͤnnen. Und
wenn ja auch eine Dunkelheit in ihren Vorſtellungen ſtatt
finden ſollte, ſo wuͤrde es doch nur in Beziehung auf
ihren kuͤnftigen Zuſtand in der Verbindung mit dem neuen
Leibe ſeyn koͤnnen, nicht aber in Beziehung auf dieß zu-
ruͤckgelegte Leben. Denn ſonſt wuͤrde ſie ja gewiſſermaaßen
unvollkommener nach, als vor dem Tode ſeyn, wovon
doch das Gegentheil zu erwarten waͤre. Sie wird frey-
lich auch, ſetzte er hinzu, nach dem Ausſpruche der Schrift
bey Chriſto ſeyn, und dabey laͤßt ſich kein Zuſtand dunk-
ler Vorſtellungen denken. Jch habe uͤber dieſen Aufent-
halt der Seelen bey Chriſto dieſes gedacht. Jch glaube,
ich habe es irgendwo geleſen. Eine unſrer vornehmſten
Seeligkeiten ſoll das Anſchauen Gottes ſeyn. Von Ange-
ſicht zu Angeſicht koͤnnen wir aber Gott im eigentlichen
Ver-
[239]
Verſtande nicht ſehen, ſondern es muͤſſen uns durch Un-
terricht, durch Aufklaͤrung und Erweiterung der Begriffe
neue und vollkommene Kenntniſſe von Gott mitgetheit
werden. Das muß durch jemand geſchehen, der Gott
voͤllig kennt, und zugleich ſich zu uns herabzulaſſen und
ſich nach unſern Faͤhigkeiten zu richten weiß. Dieſer wird
Chriſtus ſeyn. Er iſt Gott, und weiß alſo, was in Gott
iſt. Er iſt Menſch, und kann alſo ſeinen Unterricht von
Gott, den er uns geben wird, uns verſtaͤndlich machen. —
Jch finde in der goͤttlichen Einrichtung zur Ver-
ſoͤhnung und Verbeſſerung des menſchlichen Geſchlechts,
ſagte er ferner, eine weiſe Gradation. Jm alten Teſta-
ment hat Gott um die Menſchen auf ſeine Heiligkeit und
Gerechtigkeit aufmerkſam zu machen, die Opfer angeord-
net. Die Juden mußten etwas, das ihnen lieb war,
hergeben, wenn ſie geſuͤndigt hatten, und das ſollte ihnen
das Suͤndigen ſchwer machen. Nach und nach aber ver-
gaßen ſie die Abſicht und blieben an dem Sinnlichen des
Mittels haͤngen. Nun opferte Gott ſelbſt Chriſtum ſei-
nen Sohn auf, um den Menſchen dadurch noch weit ſtaͤr-
ker ſeinen Abſcheu an der Suͤnde und zugleich ſeine Liebe
zu beweiſen. Sollte ein tauſendjaͤhriges Reich oder irgend
eine aͤhnliche Begebenheit zukuͤnftig ſeyn, wo ſich ihnen
Gott in großer Herlichkeit zeigte, ſo wuͤrde das ſie viel-
leicht noch ſtaͤrker ruͤhren.
Es kommt mir itzt ſehr thoͤricht vor, fuhr er fort,
daß ſich die Freygeiſter an der niedrigen Geſtalt Chriſti
und der erſten Lehrer des Chriſtenthums aͤrgern. Denn
zu geſchweigen, daß in Beziehung auf Gott nichts klein
oder groß iſt, ſo iſt dieſe niedrige Geſtalt zur Erreichung
des Zwecks, den Chriſtus hatte, etwas weſentliches ge-
weſen. Wenn z. Ex. ein großer Herr ein Dorf voll Bauern
in Perſon reformiren wollte, ſo wuͤrde er nicht viel aus-
richten, wenn er in aller ſeiner Groͤße unter ihnen er-
ſchiene. Sie wuͤrden ihn dann fuͤr ein Weſen von
einer
[240]
einer hoͤhern Art halten, deſſen Antraͤge ihnen zu hoch
waͤren, oder das dabey vielleicht keine wohlthaͤtigen
Abſichten fuͤr ſie haͤtte. Wenn aber dieſer Große
ſich zu ihnen herabließe, mit ihnen lebte und umgienge,
und den Bauer vorſtellte, ſo wuͤrde er viel weiter mit
ihnen kommen. Deswegen, glaube ich, ließ ſich
Chriſtus in einer ſo niedrigen Geſtalt ſehen. Nun hielt
ihn der große Haufen fuͤr einen von ſeines gleichen, und
faßte Zutrauen zu ihm. Deswegen waͤhlte er auch zu
ſeinen Apoſteln lauter geringe Leute. Deswegen hielt er
ſowohl als die Apoſtel ſich am meiſten unter dem gemei-
nen Mann auf. Und der gemeine Mann konnte die Wun-
der, die ſie thaten, eben ſo gut anſchauen, als eine Ver-
ſamlung von Philoſophen, denn ſie waren alle von der
Beſchaffenheit, daß nur geſunde Sinne und allgemeiner
Menſchenverſtand dazu gehoͤrten, ſie zu beobachten. Ein
gemeiner Soldat waͤre vielleicht faͤhiger eine ſolche Er-
ſcheinung genau anzuſehen, als ein General, der etwa
den Kopf von andern Dingen voll haͤtte, oder es der Muͤhe
nicht wehrt ſchaͤtzte darauf zu achten. Das Zeugniß der
Sinne gemeiner Leute von den Thaten Chriſti, in denen
ſeine Wunder beſtehen, iſt alſo ſehr zuverlaͤſſig. Nun
koͤnnen ja die Gelehrten und Philoſophen uͤber dieſe hin-
laͤnglich bezeugten Thatſachen nachdenken, ſie pruͤfen ob
ſie Wunder ſind, und dann ſchließen, was ſie fuͤr Jeſum
und ſeine Lehre beweiſen.
Es iſt nun kein einziger Zweifel mehr uͤbrig,
auch dieß ſind des Grafen Worte, der mich beunruhigen,
oder uͤber meine Begnadigung bey Gott unſicher machen
koͤnnte, als etwa dieſer: ob nicht meine Verbeſſerung
durch die Religion mehr im Verſtande als in den Geſin-
nungen beſtehe. Jch habe daruͤber nachgedacht, und
folgendes zu meiner Beruhigung gefunden. Jch bin
mirs bewußt, daß ich alles moraliſche Boͤſe ohne Aus-
nahme verabſcheue, und das entgegengeſetzte Gute liebe.
Jch
[241]
Jch beſſere unermuͤdet an meinen Geſinnungen. Jch em-
pfinde in meiner Seele eine wahre Liebe gegen Gott und
meinen Erloͤſer. Sinnlich iſt dieſe Liebe nicht, aber das
kann ſie nach der Natur des Gegenſtandes nicht ſeyn.
Sie zeigt ſich zwar in keinen andern Wuͤrkungen, als in
meinem ernſtlichen Verlangen und Beſtreben Gott durch
Berichtigung meiner Geſinnungen und durch ſo viele gute
Thaten wohlgefaͤllig zu werden, als noch durch mich moͤg-
lich ſind: aber ich ſehe auch nicht, daß der Menſch ſeine
Liebe zu Gott auf eine andre Art beweiſen kann. Jch freue
mich auf das Heil der Ewigkeit: aber ich kann nicht ſa-
gen, daß ich die Zeit nicht abwarten koͤnne, biß ich dazu
gelange. Daß meine Vorempfindung davon nicht ſo leb-
haft iſt, das gruͤndet ſich theils in meiner natuͤrlichen
Denkungsart, nach welcher ich mich nie auf einen kuͤnfti-
gen gluͤcklichen Zuſtand mit Ungeduld gefreut habe, theils
in meiner Ueberzeugung, daß ich beſſer thue, mich mit
Ruhe und geſetztem Nachdenken auf die Gluͤckſeeligkeit der
Zukunft zuzubereiten, um ihrer, wenn die Zeit dazu
kommt, deſto gewiſſer zu ſeyn. Endlich muß ich geſtehen,
daß meine Reue uͤber meine Suͤnden itzt nicht mehr ſo
lebhaft iſt, als ſie vorhin war. Jch glaube z. Ex. nicht,
daß ich itzt uͤber meine Vergehungen wuͤrde weinen koͤnnen,
es waͤre denn, daß ich mir wieder Zeit dazu naͤhme ſie
von allen Seiten durchzudenken. Aber es iſt auch nicht
moͤglich, daß meine Reue itzt ſo heftig als ſonſt ſeyn koͤnnte,
weil ich ſchon den Troſt des Evangelii kenne, und zur
Beruhigung meines Gewiſſens auf mich anwenden darf.
Jch bitte Sie, ſetzte er hinzu, denken Sie daruͤber nach,
ob Sie mich ſo finden, wie ich ſeyn ſoll. Schreiben Sie
es auch an Cramern und bitten ihn mich zu beurtheilen.
Jch will gern alles thun, was Er oder Sie mir noch vor-
ſchreiben werden.
Der Graf wußte, daß ich mit Cramern uͤber den
Fortgang ſeiner Bekehrung correſpondirte. Jch pflegte
Qihm
[242]
ihm die Briefe deſſelben, in ſo weit ſie ihn betrafen, mit-
zutheilen, und er machte ſich Cramers Anmerkungen und
Zweifel uͤber ihn mit Freuden zu Nutze. Er war ſehr
begierig nach dieſen Briefen, und fragte mich heute und
noch am letzten Morgen ſeines Lebens ob keiner gekommen
waͤre, der ihn angienge.
Ein und dreißigſte Unterredung, den
22ſten April.
Jch weiß nicht aus welchem Grunde der Graf befuͤrch-
tete, daß mir uͤber die Methode, nach welcher ich
ihn zum Chriſtenthum angefuͤhrt hatte, Vorwuͤrfe ge-
macht werden moͤchten. Er hatte mich ſchon mehr als
einmahl gebeten mit derſelben wegen der Wuͤrkung, die
ſie bey ihm gehabt haͤtte, zufrieden zu ſeyn und zu blei-
ben, wenn man auch hin und wieder glauben ſollte, daß
ich dieſen Weg nicht mit ihm haͤtte gehen ſollen. Heute
wiederhohlte er dieſe ſeine Bitte, und zwar ſehr umſtaͤnd-
lich. Jch will das vornehmſte, was er uͤber dieſe Sache
ſagte, mittheilen, weil es nachdenkenden Leſern Gelegen-
heit giebt, den Character des Mannes noch beſſer kennen
zu lernen.
Jch bitte Sie ſehr, ſagte er, laſſen Sie ſich nicht
dadurch beunruhigen, wenn etwa jemand ſagen wollte,
Sie haͤtten weniger philoſophiſch und mehr evangeliſch
bey mir verfahren ſollen. Jch verſichere Sie, Sie haͤtten
auf keinem andern Wege einen Eingang in meine Seele
finden koͤnnen, als auf dem, welchen Sie gewaͤhlt haben.
Drey Wege waren uͤberhaupt nur moͤglich: Declamation,
Erregung der Einbildungskraft, und kaltbluͤtige Unter-
ſuchung. Haͤtten Sie declamirt, ſo wuͤrde ich gleich ge-
dacht haben: wenn der Mann eine gute Sache hat,
warum legt er mir nicht ſeine Gruͤnde ungekuͤnſtelt vor
Augen? Hat Gott eine Religion offenbahrt, ſo muß ſie
eine
[243]
eine vernuͤnftige Pruͤfung aushalten koͤnnen. Jch wuͤrde
Sie alſo unbeweglich angehoͤrt haben. Haͤtten Sie meine
Jmagination zu Jhrem Vortheil brauchen wollen, ſo
wuͤrden Sie haben ſuchen muͤſſen, ſie mit ſchreckenden
Bildern von der Ewigkeit zu erfuͤllen. Und da wuͤrden
Sie noch weniger ausgerichtet haben, als durch die De-
clamation. Jch glaubte viel zu feſt, daß ich nach dem
Tode nichts zu hoffen noch zu fuͤrchten haͤtte, und uͤber
dieſes wuͤrde auch aller Eindruck, den Sie etwa durch die
Furcht bey mir gemacht haͤtten, bald wieder geſchwaͤcht
und durch die darauf folgende Wiederhohlung meines alten
Syſtems ganz ausgeloͤſcht worden ſeyn. Es blieb alſo
kein andrer Weg fuͤr Sie uͤbrig, als der, welchen Sie
mit mir gegangen ſind, die ruhige Unterſuchung. Jch will
Jhnen nun erzaͤhlen, was ich fuͤr eine Entſchließung gefaßt
hatte, ehe Sie zu mir kamen, und aus welchen Gruͤnden
ich mich mit Jhnen einließ. Etwa acht Tage vor Jhrem
erſten Beſuch, fragte mich der Herr Commendant, ob ich
nicht mit einem vernuͤnftigen Geiſtlichen ſprechen wollte?
Weil ich mir vorſtellte, daß jeder Geiſtliche mir entwe-
der viel vorpredigen, oder mich mit fuͤrchterlichen Vor-
ſtellungen uͤberhaͤufen wuͤrde, ſo verbat ich mir den Vor-
ſchlag des Generals. Jch ſagte: ich und jeder Geiſtliche
werden in unſern Meynungen unendlich weit abſtehen,
und zu diſputiren habe ich keine Luſt. Jnzwiſchen konnte
ich mir wohl vorſtellen, daß mir die Regierung gleichwohl
einen Prediger ſenden wuͤrde. Jch nahm mir alſo vor
den Prediger, wenn er ſich meldete, anzunehmen, ihm
hoͤflich zu begegnen, ihn ruhig und anſtaͤndig anzuhoͤren,
und ihm bey Endigung des erſten Beſuches zu ſagen, daß,
wenn er Befehl haͤtte, mich fleißig zu beſuchen, er mir
immer willkommen ſeyn ſollte. Jch baͤte ihn aber, er
moͤchte ſich keine Hoffnung machen, daß er bey mir etwas
ausrichten wuͤrde, denn ich ſey von meinen Meynungen
viel zu ſehr uͤberzeugt, und werde mich daher in keine
Q 2unnuͤtze
[244]
unnuͤtze und ermuͤdende Diſputation einlaſſen. — Nun
kamen Sie, mein wehrteſter Freund! Jch ſah gleich, daß
Sie die Abſicht nicht hatten, ſich bey mir niederzulaſſen
und zu predigen, oder mich in Furcht und Schrecken zu
ſetzen und meine Jmagination zu erhitzen. Sie baten mich
nur, da die Sache doch ſo wichtig ſey, meine Meynun-
gen und das Chriſtenthum zu unterſuchen. Den Vorſchlag
fand ich billig. Jch hatte Zeit dazu. Jch ſtellte mir vor,
ich wuͤrde durch dieſe Unterſuchung den Ungrund des Chri-
ſtenthums noch gewiſſer erkennen lernen, und deſto feſter
von meinen Grundſaͤtzen uͤberzeugt werden. Nun fuͤhr-
ten Sie mich alſo auf den dritten moͤglichen Weg, wir
fiengen unſre Unterredungen mit kaltem Blute an, und
ich las die Buͤcher, die Sie mir gaben, mit Mistrauen,
aber doch mit Nachdenken. Es dauerte nicht lange, ſo
konnte ichs mir nicht mehr verhehlen, daß ich geirret haͤtte.
Jch kann Jhnen nicht ſagen, wie viel Ueberwindung mich
das gekoſtet hat, mir ſelbſt zuerſt und dann Jhnen, mei-
nen Jrrthum zu geſtehen. Sie werden ſich erinnern, ich
habe es Jhnen von Anfang an nicht gelaͤugnet, daß ich
viel Unrecht gethan haͤtte, daß ich in meinem vorigen Zu-
ſtande nicht gluͤcklich geweſen waͤre, daß mein Gewiſſen
mir itzt Vorwuͤrfe machte u. ſ. w. Aber daß ich meine
vorigen Grundſaͤtze fuͤr falſch erklaͤrte, das war nach mei-
ner ehemaligen in Behauptung meiner Meynungen hoͤchſt
eigenſinnigen Denkungsart ein großer Sieg uͤber mich
ſelbſt. Mich dazu zu bringen, das war auf keine Art als
durch die bloße Vernunft moͤglich. Sie wiſſen die aus
der Natur der Sache hergenommenen Gruͤnde beſſer als
ich, durch die Sie bewogen worden ſind, ſo mit mir zu
handeln, als Sie gehandelt haben. Und der Erfolg recht-
fertigt Sie auch. Die Abſicht meiner Bekehrung iſt durch
Gottes Gnade gluͤcklich erreicht. Auf welchem Wege das
geſchehen iſt, das kann jedem dritten gleichguͤltig ſeyn,
und vernuͤnftige Chriſten, die ſich daruͤber freuen werden,
daß
[245]
daß meine Seele errettet iſt, werden ſich auch daruͤber
freuen, daß Sie die Methode gewaͤhlt haben, die wenig-
ſtens bey mir die einzige gute war.
Nach einigen Betrachtungen, die wir mit einan-
der uͤber die Gruͤnde ſeiner Beruhigung und Hoffnung
anſtellten, deren Jnhalt ſchon in den vorigen Unterredun-
gen erzaͤhlt iſt, und den ich deswegen nicht wiederhohlen
will, benachrichtigte ich ihn, daß dieſe Woche vermuht-
lich die letzte ſeines Lebens ſeyn wuͤrde. Jch wußte ſo viel
gewiß, daß am naͤchſten Sonnabend das Urtheil uͤber ihn
gefaͤllt werden, und daß zwiſchen dem Spruch und der
Vollziehung nur wenig Tage verſtreichen wuͤrden. Er
blieb bey dieſer Nachricht bey aller ſeiner Faſſung und
Heiterkeit. Jch hoffe gewiß, ſagte er, daß ich meinem
Tode ohne betaͤubende Furcht und Angſt entgegen gehen
werde. Jch beſorge nur, daß Sie bey dieſem furchtba-
ren Auftritte viel leiden werden. Wenn es nicht auf die
Zuſchauer einen widrigen Eindruck machen koͤnnte, ſo woll-
te ich Sie bitten mich lieber nicht zu begleiten. “Nein,
Herr Graf, ich bin ihr einziger Freund, und darf Sie
nicht verlaſſen. Jch will mich mit der Hoffnung zu ſtaͤr-
ken ſuchen, die ich ſo zuverlaͤſſig haben darf, daß es Jh-
nen in der Ewigkeit wohlgehen wird, und ſo will ich Jh-
nen, ſo viel mir moͤglich ſeyn wird, bey dieſem ſchweren
Schritte beyſtehen, und meine Belohnung ſoll die ſeyn,
daß ich ſehe, wie Sie als ein Chriſt ſterben. —
Zwey und dreißigſte Unterredung, den
23ſten April.
Was kann doch die Urſache davon ſeyn, ſagte der Graf,
daß viele Menſchen, die von der Wahrheit des Chri-
ſtenthums uͤberzeugt ſind, ſich gleichwohl wegern den Vor-
ſchriften deſſelben Folgen zu leiſten? Wahrhaftig uͤber-
zeugt, antwortete ich, ſind dieſe wohl nicht; ſie halten
Q 3allen-
[246]
allenfalls die Religion fuͤr wahr, ohne ſie je unterſucht zu
haben; haben falſche Vorſtellungen von ihren Vorſchrif-
ten; machen ſich uͤber dieſe und jene Suͤnden, die ihnen
die liebſten ſind, Entſchuldigungen, welche ſie wohl gar
durch Lehren der Religion beſtaͤtigen zu koͤnnen glauben;
oder hoffen zu der Guͤte Gottes, daß ſie es ſo genau
nicht nehmen werde. Seichte oder falſche Erkenntniß
kann man allemahl ſicher bey demjenigen annehmen, der
die Lehre des Evangelii fuͤr wahr und goͤttlich haͤlt, und
es ſich doch erlaubt, ihre Vorſchriften zu uͤbertreten. Jch
habe in dieſen Tagen, fuhr der Graf fort, mit jemand
eine Unterredung gehabt, die mich veranlaßt Jhnen dieſe
Frage vorzulegen. Dieſer Mann geſtund, daß er das
Chriſtenthum fuͤr wahr erkenne, aber es doch nicht fuͤr
moͤglich halte die Geſetze deſſelben zu erfuͤllen. Die Sitten
der Zeit, die Zerſtreuungen des Lebens, die einmahl ange-
nommenen und allgemein reſpectirten Vorurtheile, und
tauſend andere Umſtaͤnde erlaubten das nicht. Jch ant-
wortete ihm, daß ich mir davon keine Vorſtellung zu ma-
chen wuͤßte, wie man Grundſaͤtze fuͤr wahr halten koͤnnte,
ohne ſie befolgen zu wollen. So lange ich von der Wahr-
heit derjenigen uͤberzeugt geweſen waͤre, die ich vormals
gehabt haͤtte, waͤre ich mich ihrer bey meinen Handlun-
gen meiſtentheils bewußt geweſen und ihnen treu geblieben.
Und nun wuͤrde ich auch gewiß denen gemaͤß handeln die
ich itzt aus Ueberzeugung angenommen haͤtte. Jch zeigte
ihm uͤber dieſes, daß der Vorwand von den Schwuͤrig-
keiten, die die Beobachtung der Vorſchriften des Evan-
gelii unmoͤglich machen ſollten, ſehr ungegruͤndet ſey.
Wenn Jhnen, zum Exempel, ſagte ich, Jhr Oberſter eine
Compagnie verſpraͤche, mit der Bedingung, daß Sie ſich
ein Jahrlang gaͤnzlich nach ſeinen Vorſchriften richten
ſollten, wuͤrden Sie dieſe Bedingung nicht willig erfuͤllen,
wenn auch der Oberſte noch ſo ſonderbar und eigenſinnig
in ſeinen Forderungen waͤre? Er bejahete dieſes. Nun,
fuhr
[247]
fuhr ich fort, machen Sie die Anwendung. Welch ein
Heil verſpricht Jhnen das Evangelium, als die Beloh-
nung des Gehorſams, den Sie den Vorſchriften deſſelben
leiſten ſollen! Jſt das nicht einer ſolchen Bemuͤhung
wehrt? Ja, ſagte der Officier, man hofft denn mit der
Zeit, wenn man aͤlter wird, froͤmmer zu werden. Wenn
Sie aber, antwortete ich, in dem angenommenen Falle
eben ſo handeln, wenn Sie ſich in den eilf Monaten des
Jahrs an die Befehle des Oberſten nicht weiter binden
wollten, als es Jhnen bequem waͤre, und nur den zwoͤlf-
ten und letzten aufmerkſam darauf ſeyn: wie viel Hoffnung
meynten Sie denn wohl zu der Compagnie zu haben?
“Es iſt freylich wahr, man muß jene Schwierigkeiten
zu uͤberwinden ſuchen!„
Jſt nun das nicht, fragte mich hierauf der Graf,
die Suͤnde wider den heiligen Geiſt, wenn jemand das
Chriſtenthum glaubt und davon uͤberzeugt iſt, und es doch
nicht halten will? Jch entwickelte ihm den Begriff dieſer
Suͤnde aus den Worten Jeſu, die hieher gehoͤren, und
zeigte ihm daß und warum ſie itzt nicht mehr koͤnne began-
gen werden. Doch, ſagte ich, hat die Suͤnde, von der
Sie reden, viel Aehnlichkeit und Verwandtſchaft mit der
Suͤnde wider den heiligen Geiſt, und jene kommt dieſer
um ſo viel naͤher, um wie viel mehr der Menſch, der ſie
begeht, Beweiſe von der Wahrheit der Religion kennet.
So zum Exempel wuͤrden Sie eine Suͤnde begehen, die
ſehr nahe an die Suͤnde wider den heiligen Geiſt graͤnzte,
wenn Sie bey Jhrer itzigen Einſicht von der Wahrheit
des Chriſtenthums noch wieder abfallen, und etwa um
den Beyfall der Freygeiſter zu gewinnen, oder um als
ein philoſophiſcher Held zu ſterben das Evangelium foͤrm-
lich verleugnen wollten. Vor der Suͤnde, antwortete er,
bin ich gewiß ſicher, Gott bewahre mich nur vor andern,
die mich leichter uͤbereilen koͤnnten.
Q 4Zuletzt
[248]
Zuletzt bat mich der Graf ihm einen Tag zu be-
ſtimmen, an welchem er das heilige Abendmahl empfan-
gen koͤnnte. Jch vermuhtete daß der naͤchſte Donnerſtag
ſein Todestag ſeyn wuͤrde, und er wuͤnſchte dieſe heilige
Handlung nicht ganz nahe an dieſem Tage zu begehen.
Wir ſetzten alſo den bevorſtehenden Montag dazu an. Bey
dieſer Veranlaſſung unterredeten wir uns noch uͤber die
Natur und Abſicht dieſer Stiftung Jeſu, und ich ver-
ſprach noch beſonders davon mit ihm zu handeln.
Drey und dreißigſte Unterredung, den
24ſten April.
Der Graf war geſtern mit ſeinem Aufſatz uͤber ſeine
Bekehrung fertig worden, und uͤbergab mir denſel-
ben. Er verſicherte mich, er habe mit einer gewiſſen
Aengſtlichkeit daran gearbeitet, um ja nichts zu ſagen,
was nicht ſeinen vormaligen oder itzigen Geſinnungen ge-
maͤß waͤre. Daher waͤre die Arbeit langſam von ſtatten
gegangen. Er beſorgte, daß er ſich hin und wieder nicht
deutlich oder beſtimmt genug moͤchte ausgedruckt haben,
indem er theils ſeit verſchiedenen Jahren nicht vieles in
deutſcher Sprache, und niemals uͤber ſolche Materien ge-
ſchrieben, theils ſich bemuͤhet habe, ſeine Gedanken kurz
zuſammen zu faſſen, damit er nicht zu weitlaͤuftig wuͤrde.
Uebrigens ſey ihm dieſe Beſchaͤfftigung ſehr angenehm ge-
weſen, weil ſie ihm Gelegenheit gegeben haͤtte noch ein-
mahl die ganze Reihe der Beweiſe durchzudenken, die
ſeine Ueberzeugung verurſacht haͤtten: und er habe dieſe
itzt ſo ſtark gefunden, daß er gewiß ſey, er wuͤrde ſein
Leben mit aller irdiſchen Gluͤckſeeligkeit durch keine Hand-
lung erkaufen, die derſelben widerſpraͤche. Er baͤte mich
nun ſeinen Aufſatz durchzuleſen und zu beurtheilen, ob ich
ihn der Abſicht gemaͤß faͤnde, wozu er geſchrieben waͤre.
Weil wir nur wenig Zeit mehr vor uns ſahen, ſo ent-
ſchloſſen wir uns diejenige, die wir nun gleich haͤtten,
dazu
[249]
dazu zu gebrauchen. Jch las alſo in ſeiner Gegenwart
den ganzen Aufſatz laut vor. Jch fand hin und wieder
undeutliche Stellen, auch Ausdruͤcke und Gedanken, die
etwa von Chriſten oder Unchriſten gemißdeutet werden
koͤnnten, und machte ihm daruͤber meine Anmerkungen.
Einige dieſer Stellen verbeſſerte er mit eigner Hand. An-
dre aber wollte er gern laſſen, wie ſie waͤren. Jch habe
dieſe Nachricht, ſagte er, geſchrieben, ſo wohl die Chriſten
als diejenigen die es nicht ſind, und denen dieſe Blaͤtter
in die Haͤnde fallen moͤchten, zu uͤberzeugen, daß ich mit
Ueberlegung ein Chriſt worden bin, und als ein Chriſt
ſterbe. Die Denkungsart der letztern kenne ich ziemlich
genau. Will ich verhindern, daß ſie keinen Vorwand
finden zu ſagen, ich ſey aus Poitronnerie oder Schwach-
heit des Verſtandes ein Chriſt worden, ſo muß ich es ih-
nen ſichtbar machen, daß ich ſelbſt nachgedacht und raiſon-
nirt habe, ſo muß ich ihnen z. Ex. zeigen, wie meine
Vernunft uͤber die Geheimniſſe der Religion denkt, und
warum ich ſie nicht widerſprechend finde. Findet der andre
Theil der Leſer, die Chriſten, meine Vorſtellungen nicht
uͤberall richtig und meine Ausdruͤcke zuweilen ſchief oder
unbeſtimmt, ſo werden dieſe ſich daruͤber nicht wundern,
wenn ſie nur bedenken wollen, wie neu ich in dieſen Wahr-
heiten bin, und wie ungeuͤbt daruͤber zu reden oder zu
ſchreiben. Sie wiſſen, wehrter Freund, daß ich ohne
weitere Erklaͤrung oder Einſicht in den Zuſammenhang der
Sachen, alles ohne Ausnahme, auf Chriſti Wort glaube,
was er gelehrt hat.
Ob die runden Zahlen, fragte er mich heute, die
in der Bibel, zumahl im alten Teſtamente vorkaͤmen, wohl
immer zuverlaͤſſig waͤren, und nothwendig dafuͤr gehalten
werden muͤßten? Jch antwortete ihm: Voltaire und an-
dre haͤtten dagegen viele Einwendungen gemacht. Weil
man aber Maaß, Gewicht, Wehrt des Geldes u. ſ. w.
worauf ſich dieſe Zahlen bezoͤgen, unmoͤglich allemahl
Q 5genau
[250]
genau beſtimmen koͤnnte, ſo waͤren die Einwendungen eben
ſo unbedeutend, als die Antworten nicht immer befriedi-
gend waͤren. Zuweilen koͤnnten ſich auch Schreibfehler in
die Codices eingeſchlichen haben, hin und wieder haͤtte
man auch wohl nicht die richtige Bedeutung der Worte
gefunden. Jch erlaͤuterte ihm das mit einigen Beyſpielen
aus den alten Teſtament. — Jn Schweden koͤnnten unge-
heure Summen berechnet werden, wenn man nach Kupfer-
dalern rechnete. Wenn nun eine ſolche Rechnung nach vie-
len Jahrhunderten, da man etwa nicht mehr wuͤßte, wie
hoch der Wehrt eines Kupferdalers geweſen waͤre, und
vielleicht ihn aus Jrrthum fuͤr gleich mit dem Wehrt eines
Reichsthalers annaͤhme, beurtheilt werden ſollte, ſo wuͤr-
den ſich gegen dieſelbe unaufloͤsliche Schwuͤrigkeiten ma-
chen laſſen. —
Der bevorſtehende Montag war, wie ich ſchon
erwaͤhnt habe, zur Communion angeſetzt. Da dieſe feyer-
liche Handlung, ſagte ich zu dem Grafen, zugleich ein
oͤffentliches Bekenntniß des Chriſtenthums iſt, ſo halte ich
es nicht fuͤr anſtaͤndig, daß Sie ſie ohne Zeugen begehen.
Billig ſollte doch irgend ein wahrer Chriſt, der dafuͤr be-
kannt iſt, dabey gegenwaͤrtig ſeyn. Jch wuͤnſchte, antwor-
tete er, daß ich zugleich mit dem Grafen Brandt das heilige
Abendmahl empfangen koͤnnte. Weil das aber Schwuͤrig-
keiten haben kann, ſo bitte ich Sie den Herrn Commendan-
ten zu erſuchen, daß er Zeuge dabey ſeyn wolle.
Der Graf ſchien mir heute nicht voͤllig ſo heiter zu
ſeyn, als er ſonſt zu ſeyn pflegt. Jch erkundigte mich bey
ihm nach der Urſache davon. Sie wiſſen, antwortete er,
daß ich morgen mein Urtheil erwarte. Dieß hat mich veran-
laßt uͤber die vorigen Zeiten nachzudenken. Es iſt mir dabey
eingefallen, wenn ich dieß nicht gethan und jenes anders
gemacht haͤtte, ſo wuͤrde ich nicht ſo ungluͤcklich geworden
ſeyn. Und das hat mich ein wenig beunruhigt. Jnzwiſchen
verlaſſen Sie ſich darauf, daß dieſe Unruhe nur ein kleiner
Ueber-
[251]
Uebergang iſt. Jch habe ſchon hinglaͤngliche Urſachen gefun-
den, mich uͤber alle ſolche Betrachtungen hinauszuſetzen,
und das um ſo viel mehr, da ſie itzt doch ganz uͤberfluͤſſig
und unzeitig ſind.
Vier und dreißigſte Unterredung, den
25ſten April.
Die Wolluſt, ſagte der Graf iſt die Quelle alles meines
Ungluͤcks. Der Ehrgeiz hat es nur beſchleunigt und
fruͤher zur Reife gebracht. Jch habe Jhnen zwar einmahl
geſagt, daß ich gleich von meiner Ankunft in Daͤnnemark
an entſchloſſen geweſen bin, den Umſtaͤnden nach eine große
Rolle zu ſpielen, wobey ich eben nicht mein Abſehen auf die
Wuͤrde und Macht gerichtet habe, wozu ich gelangt bin,
ſondern auch allenfalls zufrieden geweſen ſeyn wuͤrde, in mei-
ner Wiſſenſchaft mich hervorzuthun. Eigentlich iſt es aber
doch nicht der Ehrgeiz geweſen, der mich ſo ſehr wuͤnſchen
machte hierher zu kommen. Sie werden dieß aus folgender
Erzaͤhlung ſehen. Jch hatte mich damals entſchloſſen, Alto-
na zu verlaſſen und mein Amt daſelbſt niederzulegen. Nun
war ich Willens entweder nach Mallaga zu gehen, und
mich da als Medicus niederzulaſſen, oder nach Oſtindien
zu reiſen. Zu jener Abſicht hatte ich folgende Urſachen. Jch
war damals kraͤnklich, und glaubte ein milderes Klima wuͤr-
de meiner Geſundheit zutraͤglicher ſeyn. Auch kam dabey
der Gedanke, daß in einer waͤrmern Gegend die Freuden
der Wolluſt ſtaͤrker und reizender ſeyn wuͤrden, ſehr mit in
Betrachtung. Die vielen meine Jmagination ruͤhrenden
Dinge, die ich von Oſtindien in Reiſebeſchreibungen gele-
ſen hatte, und die Begierde mir daſelbſt Geld zu machen,
beſtimmten mich, vereinigt mit jenen Urſachen, noch mehr
fuͤr Oſtindien als fuͤr Mallaga. Nun eroͤffnete ſich die Aus-
ſicht nach Daͤnnemark. Jch waͤhlte das Gluͤck, das ſie mir
darbot. Und warum? Jch ſchaͤme mich es zu ſagen. Es
war eine wolluͤſtige Bekanntſchaft, die mich hierher zog.
Wie
[252]
Wie muß ich nicht meine vorige Denkungsart verabſcheuen,
daß ich immer einer wilden und blinden Leidenſchaft folgte!
Wie nachdruͤcklich werde ich itzt dafuͤr beſtraft!
Er redete nun noch von verſchiedenen Angelegenhei-
ten ſeines Herzens, von ſeinen Geſinnungen gegen ſeine El-
tern und Geſchwiſter, von ſeiner Zufriedenheit mit dem
Wege, auf welchem ihn Gott zu ſeiner Beſtimmung fuͤhrte,
als ſein Defenſor ins Zimmer trat, ihn von dem uͤber ihn ge-
faͤllten Urtheile zu benachrichtigen. Herr Graf, ſagte er,
ich bringe Jhnen eine ſchlechte Nachricht. Hier zog er die
Abſchrift des Urtheils aus der Taſche. Das habe ich mir
nicht anders vorgeſtellt, antwortete der Graf, laſſen Sie
michs nur ſehen. Er las es. Jch beobachtete ihn ſehr genau,
und bemerkte nicht die geringſte Veraͤnderung in ſeinem Ge-
ſichte. Als er es geleſen hatte, gab ers mir. Es lautete
ſo. — “Zufolge des daͤniſchen Geſetzes ſechsten Buchs,
vierten Kapitels, erſten Artikels, wird hiemit fuͤr Recht
erkannt: Der Graf, Johann Friedrich Struenſee ſoll ſich
ſelbſt zur wohlverdienten Strafe und andern Gleichgeſinn-
ten zum Beyſpiel und Abſcheu, ſeine Ehre, Leib und Gut
verbrochen haben, derſelbe ſeiner graͤflichen und aller an-
dern ihm verliehenen Wuͤrden entſetzt, und ſein graͤfliches
Wapen von dem Scharfrichter zerbrochen werden. So ſoll
auch Johann Friedrich Struenſees rechte Hand, und dar-
auf ſein Kopf ihm lebendig abgehauen, ſein Koͤrper gevier-
theilt und aufs Rad gelegt, der Kopf mit der Hand aber auf
einen Pfahl geſteckt werden.
Waͤhrend der Zeit, da ich das Urtheil las und zit-
terte, fieng er an ganz ruhig mit ſeinem Defenſor zu reden,
und ihn zu fragen, ob alle Puncte der Anklage wider ihn
zur Deciſion gebraucht waͤren. Der Defenſor bejahete es.
„Und was wird Brandts Schickſal ſeyn?“ Sein Urtheil
iſt dem Jhrigen voͤllig gleichlautend. “Hat denn ſein De-
fenſor gar nichts thun koͤnnen um ihn zu retten?„ Er hat
alles geſagt, was er ſagen konnte, aber Graf Brandt hat
zu
[253]
zu viel wider ſich. — Dieß ruͤhrte den Grafen mehr, als
ſein eigenes Schickſal, doch faßte er ſich gleich, ſchrieb noch
etwas an einen Aufſatz, den er ſeinem Defenſor mitgeben
wollte, und ſtellte ihm denſelben zu.
Als wir wieder allein waren bezeugte ich ihm mein
herzliches Mitleid, und ermahnte ihn ſein trauriges Schick-
ſal mit chriſtlicher Geduld und Unterwerfung zu ertragen.
Jch verſichere Sie, ſagte er, ich bin daruͤber ruhig. Der-
gleichen Strafen ſollen ja Eindruck bey andern machen,
deswegen muͤſſen ſie hart ſeyn. Jch habe mich auf dieſes
und mehreres gefaßt gemacht. Jch habe mir vorgeſtellt,
daß ich vielleicht geraͤdert werden koͤnnte, und ſchon uͤber-
legt, ob ich auch die Schmerzen einer ſolchen Hinrichtung
mit Geduld wuͤrde uͤberwinden koͤnnen. Habe ich dieſen
Tod verdient, ſetzte er hinzu, ſo wuͤrde meine Schande
nicht ausgeloͤſcht werden, wenn auch die beſchimpfenden
Umſtaͤnde deſſelben nicht damit verbunden waͤren. Und
haͤtte ich ihn nicht verdient, welches ich nicht behaupten
kann noch will, ſo wuͤrden mir verſtaͤndige Leute Gerechtig-
keit wiederfahren laſſen, und dann gewoͤnne ich wieder an
meiner Ehre. Und was iſt mir nun uͤberhaupt irdiſche Ehre
und Schande wehrt? Meine Richter haben das Geſetz vor
ſich, und konnten nicht anders urtheilen. Jch geſtehe, mein
Verbrechen iſt groß, und ich kann nicht laͤugnen, daß ich
die Majeſtaͤt des Koͤnigs beleidigt habe. Vieles wuͤrde ich
nicht gethan haben, wenn ich das Geſetz genug gekannt
haͤtte. Aber warum machte ichs mir nicht bekannt? Sie
koͤnnen freylich, antwortete ich, niemand als ſich ſelbſt an-
klagen. Das eine Verbrechen, woruͤber auch nicht der
mindeſte Zweifel ſtatt findet, iſt nicht allein Beleidigung der
Majeſtaͤt des Koͤniges ſondern auch der Nation, und wuͤr-
de es in jedem Lande ſeyn. Die ungeſetzmaͤßige ja widerge-
ſetzliche Gewalt, die Sie ſich angemaßt haben, iſt es nach
der daͤniſchen Conſtitution gleichfalls. Jch glaube zwar
wohl, daß Sie nicht gedacht haben, ſich dadurch des Ver-
brechens
[254]
brechens der beleidigten Majeſtaͤt ſchuldig zu machen. Aber
das kann Sie nicht rechtfertigen; das Factum iſt erwieſen
und das Geſetz iſt deutlich. Er geſtand mir dieß alles zu,
und es that mir wehe ihm ſo viel Unangenehmes geſagt zu
haben. Aber ich glaubte dazu verbunden zu ſeyn, damit er
nicht etwa heimlich uͤber Unrecht oder ungeſetzmaͤßige Haͤrte
klagen moͤchte.
Jch will Sie nur bitten, ſetzte er hinzu, auf Jh-
rer Hut zu ſeyn, daß Sie bey meinem Hingange zum Tode
nicht zu ſehr bewegt werden. Meine einzige empfindliche
Seite iſt die Freundſchaft. Es wuͤrde mich ſehr beunruhi-
gen, wenn ich Sie leiden ſaͤhe. Laſſen Sie uns bis zuletzt
unſre Unterredungen gelaſſen und ruhig fortſetzen. Auf
dem Richtplatz ſelbſt ſprechen Sie ſo wenig zu mir, als moͤg-
lich und anſtaͤndig ſeyn wird. Jch werde gewiß alle meine
Kraͤfte zuſammenfaſſen, um meine Gedanken auf Gott und
unſern Erloͤſer zu richten. Abſchied werde ich nicht von
Jhnen nehmen. Glauben Sie mir ohne dieſe Ceremonie,
die mich leicht aus meiner Faſſung bringen koͤnnte, daß ich
weiß und fuͤhle, wie viel ich Jhnen ſchuldig bin.
Meine Leſer werden ſich erinnern, wie heftig der
ungluͤckliche Mann durch den Brief ſeines Vaters zu einer
Zeit erſchuͤttert ward, als er noch voll von ſeinen irreligioͤ-
ſen Grundſaͤtzen war. Jtzt haben Sie geſehen, mit welcher
Gelaſſenheit er nun, da er ein Chriſt war, ſich ein ſolch To-
desurtheil ankuͤndigen hoͤrte. —
Er ſtellte mir nachfolgenden Brief an ſeine Eltern
zu, und uͤberließ es mir, ob ich ihnen denſelben itzt oder erſt
nach ſeinem Tode zuſchicken wollte. Jch waͤhlte das letztere,
weil ich wußte daß ſeine Hinrichtung ſehr bald vor ſich gehen
wuͤrde, und ich ihnen die traurige Erwartung derſelben
erſparen wollte.
“Jhre Briefe, ſo lautet dieſer Brief, haben meinen
“Schmerz vermehrt, aber ich habe zugleich die Geſin-
“nungen
[255]
“nungen der Liebe, ſo Sie jederzeit fuͤr mich gehabt, darin
“gefunden. Das Andenken der Betruͤbniß, und itzt der
“ſtaͤrkſten, die ich Jhnen veranlaßt, da ich Jhren Geſin-
“nungen zuwider gelebt, iſt mir um ſo viel fuͤhlbarer, da
“die Erkenntniß der Wahrheit mein Unrecht mir lebhafter
“zeigt. Mit der aufrichtigſten Reue bitte ich Sie deswe-
“gen um Vergebung. Jch habe meinem itzigen Zuſtande
“die Annehmung des Glaubens an die Verſoͤhnung Chri-
“ſti zu danken. Jhr Gebet und die Erinnerung Jhres
“Beyſpiels haben viel dazu beygetragen. Seyn Sie ver-
“ſichert, daß Jhr Sohn das Gut gefunden, welches
“Sie fuͤr das einzige wahre halten. Sehen Sie ſein Un-
“gluͤck als das Mittel an, ſo ihn verhindert deſſelben zu
“verfehlen. Der Eindruck von dieſer Seite wird alle die
“uͤbrigen bey Jhnen ſchwaͤchen, ſo wie er ſie mir ganz aus-
“geloͤſcht hat. Jch empfehle mich Jhrer fernern Vorbitte
“bey Gott, ſo wie ich Chriſtum meinen Erloͤſer unaufhoͤr-
“lich bitte, Jhnen Jhr itziges Leiden ſo ertraͤglich zu ma-
“chen, wie ich es ſeinem Beyſtand zu danken habe. Mit
“kindlicher Ergebenheit und Begruͤßung meiner Geſchwi-
“ſter verharre ich u. ſ. w.„
Fuͤnf und dreißigſte Unterredung, den
26ſten April.
Jch erfuhr von dem Herrn Generallieutenant von Hoben,
daß Struenſee in der abgewichenen Nacht ſehr unru-
hig geweſen ſey, Er habe mit den Fuͤßen geſtampft, mit
den Zaͤhnen geknirſcht, ſich an den Fingern gebiſſen. Der
wachhabende Officier ſey hinzugetreten, habe ihm aber im
tiefen Schlafe gefunden. Jch erkundigte mich bey meinem
ungluͤcklichen Freunde, ob er etwa beunruhigende Traͤume
gehabt habe. Er antwortete mir, er habe ſich des Morgens
beym Aufwachen an nichts anders erinnert, als daß ihm im
Schlafe die Reihe ſeiner Ueberzeugungsgruͤnde vom Chri-
ſtenthum durchs Gedaͤchtniß gegangen waͤre. Von aller
dieſer koͤrperlichen Unruhe wiſſe er nichts.
Jch
[256]
Jch hatte ihm die traurige Nachricht zu bringen,
daß ſein Urtheil in allen Stuͤcken beſtaͤtigt ſey, und daß es
uͤbermorgen vollzogen werden ſolle. Was ich vermuhtet
hatte, daß er ſie mit der moͤglichſten Gelaſſenheit anhoͤren
wuͤrde, das geſchah auch. Jn Anſehung der beſchimpfen-
den Umſtaͤnde ſeiner Todesſtrafe druͤckte er ſich ſo aus: Jch
habe mich uͤber das alles weit hinausgeſetzt, und wuͤnſche
nur daß mein Freund Brandt das auch thun moͤge. Hier in
der Welt kann mich, der ich im Begriff bin, ſie zu verlaſſen,
weder Ehre noch Schande mehr treffen. Ob mein Fleiſch in
der Erde oder in der Luft verweſet, ob es von Wuͤrmern oder
Voͤgeln verzehrt wird, das iſt in Beziehung auf mich ſelbſt
voͤllig einerley. Gott wird die Theile meines Koͤrpers, die
bey der Auferſtehung deſſelben zu meinem kuͤnftigen verklaͤr-
ten Leibe noͤthig ſeyn werden, ſchon aufzubewahren wiſſen.
Jch bin ja das nicht, was aufs Rad gelegt wird. Jch weiß
Gottlob ſehr gut, wie wenig dieſer Staub mein Jch aus-
macht. — Als ich ihm ſagte, daß der bevorſtehende Dien-
ſtag ſein Todestag ſeyn werde, antwortete er: Jch dachte
es wuͤrde der Freytag ſeyn. Aber ich wuͤnſchte mir nicht ein-
mahl dieſen kurzen Aufſchub. Das wuͤrde eben ſo viel ſeyn,
als wenn ich eine ſchmerzhafte zu meiner Geſundheit noth-
wendige Operation auszuſtehen haͤtte, und ſie nun, da ſie
vor ſich gehen ſollte, auszuſetzen verlangte. Jch wuͤrde
mich ihr ja doch endlich unterwerfen muͤſſen, und um ſo viel
ſpaͤter geſund werden. Er gieng hierauf noch beſonders alle
mit ſeinem Tode verknuͤpften Umſtaͤnde einzeln durch, ver-
glich ſie mit den Umſtaͤnden des Todes Jeſu, und fand daß
Jeſus aus Liebe zu ihm unendlich viel mehr gelitten habe,
als er um ſeiner Suͤnden willen werde leiden muͤſſen. Er
ruͤhmte auch die Kraft des Gebets zu ſeiner Beruhigung,
wenn er zuweilen uͤber den ſchweren Schritt, der ihm bevor-
ſtuͤnde bekuͤmmert waͤre.
Die Ruhe und Zufriedenheit, mit der er uͤber das
alles redete, weiß ich nicht zu beſchreiben. Sehr viel hatte
ich
[257]
ich von den Wuͤrkungen der Religion auf ſein Herz erwartet,
aber ſie that weit mehr als ich hatte hoffen duͤrfen. Er verſi-
cherte mich, daß er der Religion, und der Gewißheit, die
er durch ſie von ſeiner Begnadigung bey Gott haͤtte, dieſe
ſeine Gemuͤhtsverfaſſung zu danken habe. Er werde zwar
durch ſein natuͤrlich kaltes Blut, durch ſeine vieljaͤhrige
Gewohnheit die Einbildungskraft in Schranken zu erhal-
ten, und ſich vielmehr mit Ueberlegungen der geſunden
Vernunft als mit Bildern der Jmagination zu beſchaͤffti-
gen, dabey unterſtuͤtzt. Aber er fuͤhle zu ſehr, daß das alles
ihn ohne die Religion nicht wuͤrde beruhigen koͤnnen. Da
Gott ſie ſo eingerichtet habe, daß ſie ſich fuͤr alle Arten der
menſchlichen Temperamente und Charactere ſchicke, und
den Menſchen unter allen Umſtaͤnden angemeſſen ſey, ſo
faͤnde ſie ſo zu ſagen bey ihm einen guten Boden, in welchem
ſie dieſe ihre Frucht, Ruhe und Standhaftigkeit in den
Truͤbſalen, erzeugen koͤnnte.
So unangenehm der Weg iſt, ſetzte er hinzu, auf
welchen Gott mich aus der Welt fuͤhrt, ſo habe ich doch
große Urſache ihm dankbar dafuͤr zu ſeyn, daß er ihn ge-
waͤhlt, mir den Tod eine Zeitlang zum Voraus gezeigt,
und mich zugleich ganz aus den Luͤſten und Zerſtreuungen
des Lebens herausgeriſſen hat. Auf keine andre Art wuͤrde
ich zur Erkenntniß der Wahrheit und zur Verbeſſerung
meiner Geſinnungen haben gebracht werden koͤnnen. Jch
weiß zwar gewiß, daß ich unter allen Umſtaͤnden das Chri-
ſtenthum angenommen haͤtte, wenn ich es ſo haͤtte kennen
lernen, als ich es nun kenne. Aber ich haͤtte mir die Zeit
nicht gegeben es zu unterſuchen. Wenn ich ſonſt an den Tod
dachte, machte dieſe Erinnerung nie einen Eindruck auf
mich. Jch unterdruͤckte vielmehr dieſen Gedanken immer
wieder, bald durch die Vorſtellung, daß der Tod ein un-
vermeidliches Schickſal ſey, welches man ruhig abwarten
aber nicht in Gedanken gleichſam vor der Zeit herbeyrufen
muͤſſe; bald durch den Gedanken, man muͤſſe ſich das
RGegen-
[258]
Gegenwaͤrtige nicht durch die Betrachtung des Zukuͤnfti-
gen verbittern. Selbſt in Lebensgefahren habe ich mich
immer vor der Auſſicht in die Zukunft gehuͤtet. Jch bin
einigemahl toͤdtlich krank geweſen, ich bin mit großer Ver-
wegenheit geritten, ich habe in dem letzten Sommer bey
einem Sturz mit dem Pferde den Arm zerbrochen, aber
nie iſt es mir eingefallen nur einen Schritt uͤber das Leben
hinauszudenken.
Jch bat ihn nun ſorgfaͤltig nachzudenken, ob noch
in ſeinen Geſinnungen etwas vorhanden ſey, das Gott mis-
faͤllig ſeyn und noch gebeſſert werden koͤnne. Jch ſey zwar
uͤber ſeine Zukunft gar nicht unruhig, aber ich wuͤnſchte daß
er ſo rein vom moraliſchen Uebel und ſo Gott gefaͤllig, als
es unter ſeinen Umſtaͤnden moͤglich waͤre, in die Ewigkeit
eintreten moͤchte. Um deſto beſſer wuͤrde auch dort ſogleich
ſein Zuſtand werden. Jch verſichere Sie, antwortete er
mir, daß es mein einziges und liebſtes Geſchaͤfft iſt, dieß
zu unterſuchen. Jch beurtheile mich mit der groͤßeſten Ge-
nauigkeit. Unter andern habe ich mir einen Vorwurf daruͤ-
ber gemacht, daß meine auf die Ewigkeit gerichteten Geſin-
nungen keinen groͤßern Grad der Lebhaftigkeit haben. Aber
ich habe gefunden, daß ich nicht noͤthig habe daruͤber unru-
hig und mistrauiſch gegen mich zu ſeyn, da ichs mir bewußt
bin, daß ich nichts in der Welt ſo lebhaft oder lebhafter em-
pfinde. Ueber meine Staatsverwaltung geſtehe ich gern ein,
daß ſie vor Gott und meinem Gewiſſen, auch vor den
Menſchen, wegen der ſchlechten Bewegungsgruͤnde, des
Leichtſinns, der Eilfertigkeit, des Stolzes und Eigen-
nutzens, die mich dabey geleitet haben, ſehr verwerflich
iſt. Jn wie weit ſie im Ganzen und ſtuͤckweiſe betrachtet po-
litiſch ſchlecht geweſen iſt, das unterſtehe ich mich nicht zu
beurtheilen, weil ich den Erfolg nicht erlebe, doch muß ich
vermuhten, daß ich in meinen politiſchen Grundſaͤtzen, wie
in meinen Religionsmeynungen, werde geirret haben. Jch
uͤberlaſſe willig die Entſcheidung dieſer Frage den Nachle-
benden,
[259]
benden, und unterwerfe mich ihrem Urtheil. Nur das darf
ich ſagen und muß es ſagen, weil ich ſonſt die Unwahrheit
reden wuͤrde: ich bin mirs bewußt, daß ich keine boͤſen Ab-
ſichten gehabt habe. Ueber meine Ueberzeugung vom Chri-
ſtenthum und uͤber die Aufrichtigkeit meiner Reue bin ich
ganz ruhig. Jch verabſcheue alle meine Suͤnden, ich kenne
keinen Zweifel an der Wahrheit des Evangelii, und meine
Gewißheit davon iſt nicht ploͤtzlich, ſondern durch eine ſorg-
faͤltige Unterſuchung nach und nach entſtanden. Jch weiß
mich an drey oder vier Tage zu erinnern, da ich gleichſam
auf dem Scheidewege zwiſchen Glauben und Unglauben
ſtand, und nicht wußte, auf welche Seite ich mich wenden
ſollte. Aber ſeit der Zeit habe ich die Wahrheit von Tage zu
Tage mehr eingeſehen, und nun kann ich mit voͤlliger Ueber-
zeugung ſagen: Jch weiß, an wen ich glaube.
Jch hatte ihm verſprochen in dieſer Unterredung
mit ihm vom heiligen Abendmahl zu handeln. Er kam mir
zuvor. Jch habe uͤber dieſe Stiftung Jeſu, ſagte er, ſelbſt
nachgedacht. Jch finde ſie zu ihrer Abſicht weislich gewaͤhlt.
Chriſtus wollte das Andenken an ſeine Liebe und Wohltha-
ten durch eine ſinnliche Handlung unterhalten und erneuren.
Er waͤhlte dazu eine ſolche, die zu allen Zeiten und an allen
Orten vorgenommen werden kann. Jn dieſer Anſtalt iſt
weder etwas unnatuͤrliches noch ungewoͤhnliches. Gewiſſe
Voͤlker in America pflegen zum Andenken ihrer verſtorbe-
nen Freunde Gedaͤchtnißmahlzeiten zu halten. Ein Be-
weis, daß die Jdee, ſich bey Speiſe und Trank eines andern
zu erinnern, der menſchlichen Vernunft nichts fremdes iſt.
Wenn nun Chriſtus ſaget, dieß iſt mein Leib, und dieß iſt
mein Blut, ſo laſſe ich mich gar nicht darauf ein, mir das
erklaͤren zu wollen. Genug, er, der immer die Wahrheit
geſagt hat, kann darin nichts widerſprechendes geſagt ha-
ben. Man muß ſich nur die Sache nicht gar zu ſinnlich und
koͤrperlich vorſtellen. Eben ſo halte ich auch die Taufe nicht
allein fuͤr eine ſehr gut gewaͤhlte Jnitiationsceremonie, ſon-
R 2dern
[260]
dern ſie iſt auch ein ſehr paſſendes Bild der Reinigung von
der Suͤnde. Durch bloßes Waſſer wird die Unreinigkeit
des Leibes weggenommen, und eben ſo die Unreinigkeit des
Geiſtes, oder die Suͤnde, durch den Glauben an Jeſum.
Sie ſehen hieraus, ſetzte ich hinzu, wie Sie ſich
auf den Genuß des heiligen Abendmahls zubereiten muͤſſen.
Sie wollen ſich der Liebe und alſo des Leidens und Todes
Jeſu auf eine feyerliche Weiſe erinnern, und darin zugleich
Jhr Bekenntniß ablegen, daß Sie ihn fuͤr den Erloͤſer des
menſchlichen Geſchlechts halten, deſſen Tod das Mittel
auch Jhrer Verſoͤhnung mit Gott iſt, und ſich fuͤr verbun-
den, die Bedingungen zu erfuͤllen, die er Jhnen vorge-
ſchrieben hat. Die Abſicht davon iſt, ſich die Vortheile, die
Sie von Jhrer Erloͤſung haben ſollen, die Vergebung Jh-
rer Suͤnden und alle Hoffnung, die ſich darin gruͤndet,
durch den Glauben an Jeſum zuzueignen. Dieß erfordert
Erinnerung an Jhre Vergehungen, Demuͤthigung daruͤ-
ber vor Gott, Standhaftigkeit im Glauben und im Be-
kenntniſſe, herzliche Liebe zu dem, der Sie von dem Elen-
de, welches Sie ſich durch Jhre Uebertretungen zugezogen
hatten, errettet hat, feſte Entſchließung ſich nicht wieder
durch Suͤnde zu beflecken, ſondern durch voͤlligen Gehor-
ſam gegen Gott und beſonders durch wahre Liebe gegen alle
Menſchen, ſelbſt gegen Jhre Feinde, ſich der Liebe Jeſu
wuͤrdig zu beweiſen. Nehmen Sie eine von dieſen Forde-
rungen weg, welche Sie wollen, ſo iſt die Erinnerung an
den Tod Jeſu durch den Genuß des Abendmahls fruchtlos
fuͤr Sie und geſchicht ohne die Abſicht wozu Jeſus dieſe
Stiftung verordnet hat. — Dieß war der Jnhalt unſrer
Unterredung uͤber das heilige Abendmahl. —
Ein Bauer, der mir heute auf der Straße begeg-
net war, hatte mir zugerufen: Vater, ſucht Struenſee zu
uͤberzeugen, daß er ſich wider unſern Herrn Jeſum vergan-
gen hat. Wenn er das erkennt, ſo wird er ſeelig.„ Jch
erzaͤhlte ihm dieſen kleinen Umſtand bey Gelegenheit. Er
erfreute
[261]
erfreute ſich uͤber die chriſtliche Liebe, die dieſer Mann gegen
ihn geaͤußert hatte, und machte die Anmerkung, daß man
daraus ſaͤhe, wie das Chriſtenthum auch einfaͤltige und
durch keine Erziehung bearbeitete Seelen mit Empfindun-
gen der Menſchenliebe erfuͤllte.
Das Leſen, ſagte er, will mich nicht recht unter-
halten, deswegen habe ich mich heute mit Schreiben be-
ſchaͤfftigt. Unter andern hatte er folgenden Brief an die
Frau von Perkentin in Pinneberg aufgeſetzt, den er mir zu
beſtellen gab.
“Jch bediene mich, gnaͤdige Frau, des erſten Augen-
“blicks, da es mir erlaubt iſt, an Sie zu ſchreiben. Die
“Geſchaͤffte, die Pflichten, die Beziehungen der vergan-
“genen Zeit haben vielleicht das Andenken an meine Freun-
“de geſchwaͤcht, aber nie ausloͤſchen koͤnnen. Die Muße
“meines gegenwaͤrtigen Zuſtandes hat daſſelbe deſto leb-
“hafter wieder hergeſtellt. Hat mein Stillſchweigen Ver-
“dacht gegen meine Geſinnungen erweckt, ſo bitte ich alle
“diejenigen deswegen um Vergebung, die ein Recht an
“meine Erkenntlichkeit haben, und Sie, gnaͤdige Frau,
“vornehmlich. Dieß iſt gleichwohl nicht der einzige Vor-
“theil, den mir die Veraͤnderung meines Schickſals ge-
“bracht hat. Jch bin ihr die Erkenntniß der Wahrheit
“ſchuldig, ſie hat mir ein Gluͤck verſchafft, wovon ich gar
“keine Erwartung mehr hatte, ſo ſehr hatte ich mich da-
“von entfernt. Sehen Sie gnaͤdige Frau, mein Ungluͤck
“nie anders, als mit Geſinnungen der Religion an. Es
“giebt mir unendlich viel mehr, als ich durch daſſelbe ver-
“liere. Mit Ueberzeugung, mit Ruhe und Freude in
“meinem Herzen, verſichere ich Sie davon. Jch bitte Sie
“ſehr, wiederhohlen Sie dieſes in dem Hauſe des Herrn
“von Ahlefeld und zu Ranzau. Jch bin dieſen beyden
“Haͤuſern unendlich viel Dank ſchuldig, und es iſt mir
“um ſo viel empfindlicher geweſen Perſonen mit mir hin-
R 3einzuziehen,
[262]
“einzuziehen, die ihnen angehoͤren. Erlauben Sie mir,
“gnaͤdige Frau, daß ich noch Empfehlungen an das Fraͤu-
“lein von Thun und an das Haus des Herrn von Waiz
“hinzufuͤge. Jch habe die Ehre mit den ehrerbietigſten
“Geſinnungen zu ſeyn u. ſ. w.„ den 26 April 1772.
Sechs und dreißigſte Unterredung, den
27ſten April.
Jch kam in Begleitung des Herrn Generallieutenants
von Hoben, der auf meine Bitte bey der Communion
des Vorurtheilten gegenwaͤrtig ſeyn wollte. Dieſer verſi-
cherte jenen mit vieler Bewegung, daß ihm dieſes eine ſehr
wichtige und freudenvolle Handlung ſey. Jch hielt eine
kurze Anrede an ihn, abſolvirte ihn nach dem Gebrauch der
Kirche und reichte ihm das heilige Abendmahl. Der
Mann, der ſein fuͤrchterliches Todesurtheil ohne die min-
deſte in die Augen fallende Bewegung empfieng, war bey
dieſer feyerlichen Erinnerung an den Tod Jeſu ſo weich, daß
er in Thraͤnen zerfloß. Jch habe nie eine Thraͤne in ſeinen
Augen wahrgenommen, ſo oft auch von ſeinem Ungluͤcke
und Tode unter uns die Rede geweſen iſt: aber uͤber ſeine
Suͤnden, uͤber das Elend, vornehmlich das moraliſche,
in welches er andre geſtuͤrzt, uͤber die Liebe Gottes gegen
ihn und das menſchliche Geſchlecht, hat er mehr geweint,
als ich ſelbſt glauben wuͤrde, wenn ich es nicht geſehen haͤtte.
Als die heilige Handlung mit Gebet beſchloſſen
war, bat er den Herrn Commendanten um Erlaubniß, die
Kleinigkeiten an Betten und Waͤſche, die er bey ſich hatte,
und das wenige Geld, welches ihm von ſeinem taͤglichen
Reichsthaler uͤbrig geblieben war, verſchenken zu duͤrfen.
Jch habe itzt kein Eigenthum, ſagte er. Aber das edelſte
Geſchenk, unterbrach ich ihn, das Jhnen Gott anvertraut
hat, Jhre unſterbliche Seele, iſt ganz das Jhrige und
Gottes. Er nahm hierauf von dem Commendanten auf eine
ruͤhrende Art Abſchied, dankte ihm fuͤr alle ſeine Guͤte, und
bezeugte,
[263]
bezeugte, daß ihm derſelbe keine Gefaͤlligkeit verſagt habe,
die ihm erlaubt geweſen ſey ihm zu erweiſen. Der ehrwuͤrdi-
ge Greis verließ ihn mit den Worten: Jch weiß gewiß, wir
werden uns einſt vor dem Angeſichte Gottes wieder ſehen.
Mir iſt alles daran gelegen, ſagte er nun zu mir als
wir wieder allein waren, gewiß zu ſeyn, daß ich in der
moͤglichſten Rechtſchaffenheit meiner Geſinnungen vor
Gott erſcheinen werde. Jch habe mich deswegen noch ein-
mahl ſorgfaͤlltig gepruͤft, und ich finde darin ſehr viel Ver-
gnuͤgen, weil es meine Pflicht iſt. Jch bin es mir vor Gott
bewußt, daß ich alles, was ich in meiner Erleuchtung durch
das Chriſtenthum fuͤr meine Pflicht halten gelernt habe, mit
Vergnuͤgen und ohne den mindeſten Widerſtand thue. So
habe ich es fuͤr meine Schuldigkeit erkannt, die Nachricht
von meiner Bekehrung aufzuſetzen, die Sie von mir in
Haͤnden haben, um wenigſtens den uͤblen Eindruck, den
meine Geſpraͤche und Beyſpiele bey andern gemacht haben,
ſo gut als es durch mich moͤglich iſt, wieder auszuloͤſchen.
Und ich kann Sie verſichern, daß ich dieß mit ungemein
vielem Vergnuͤgen gethan habe, mit weit mehrerem, als
ich bey meinen uͤbrigen Aufſaͤtzen, die zum Theil meine De-
fenſion zur Abſicht hatten, empfunden habe. Jch habe auch
noch genauer als vorher uͤber meine Staatsverwaltung
nachgedacht, und kann nach meiner Ueberzeugung nicht
anders davon urtheilen, als ich Jhnen geſtern geſagt habe.
Jch nehme das Bewußtſeyn meines Gewiſſens mit mir in
die Ewigkeit, daß ich dem Koͤnig und das Land nicht habe
ungluͤcklich machen wollen. Es iſt wahr, ich habe mir in
kurzer Zeit betraͤchtliche Summen zugewendet, ich habe
mir darin des Koͤnigs Gnade auf eine Art zu Nutze gemacht,
die ich nicht verantworten kann. Aber die Rechnung daruͤ-
ber habe ich nicht verfaͤlſcht, ob gleich alle Wahrſcheinlich-
keit in dieſem Stuͤcke wider mich iſt, und ich es niemand
verdenken kann, der mich darin fuͤr ſchuldig haͤlt. — Es
iſt ſehr ſchwer uͤber dieſe Sache allen Verdacht gegen
R 4Struen-
[264]
Struenſee fahren zu laſſen. Und wie ſo ganz keinen Wehrt
haͤtte ſeine Bekehrung, wenn er ſchuldig waͤre! Jch bin
oft daruͤber bekuͤmmert geweſen, und bin es noch zuweilen
nach ſeinem Tode. Der Augenſchein, ſein Geſtaͤndniß
daß er nicht vermoͤgend ſey, dieſen Verdacht von ſich abzu-
lehnen, und noch andre ſehr wahrſcheinliche Beweiſe zeu-
gen wider ihn. Auf der andern Seite beruhigt mich dann
wieder die Betrachtung, daß er groͤßere und noch ſtrafwuͤr-
digere Verbrechen ohne allen Zwang geſtanden, dieſes aber
mit einer Standhaftigkeit, mit einer Ruhe und Zuverſicht
gelaͤugnet hat, die, ſo unerklaͤrbar die Sache immer noch
bleibt, es wieder ſchwer machen zu glauben, daß er ſich
ſollte ſchuldig gewußt haben.
Jch habe ferner, fuhr er fort, nach den Quellen ge-
forſcht, aus denen meine itzige Ruhe und Gelaſſenheit
fließt. Jch bin gewiß, daß es ganz andre ſind, als diejeni-
gen, aus welchen ich ſonſt in meinen unangenehmen Schick-
ſalen Troſt geſchoͤpft habe. Zerſtreuung und Entfernung
der Gedanken von der bevorſtehenden Gefahr iſt itzt gar
nicht moͤglich. Der andringende Tod wuͤrde ſich gewiß nicht
aus den Gedanken vertreiben laſſen. Vom Stolz verſpuͤre
ich nicht die geringſte Regung. Jch empfinde es viel zu ſehr,
wie klein ich itzt bin. Den Gedanken, daß nach dem Tode
nichts zu erwarten ſey, verabſcheue ich. Nichts als die
Verſicherung der goͤttlichen Gnade durch mein Vertrauen
auf Chriſtum, und das Bewußtſeyn, daß ich allen Fleiß
anwende meine Geſinnungen Gott wohlgefaͤllig zu machen,
troͤſtet und beruhiget mich.
Jnzwiſchen, ſetzte er hinzu, hebt dieſe meine Ruhe
meine Thaͤtigkeit nicht auf, ſondern ich fahre fort, und
werde bis ans Ende fortfahren, ernſtlich nachzuforſchen,
was noch Gott misfaͤlliges an mir iſt, um es ſo viel moͤglich
iſt zu beſſern. Unter verſchiedenen Beweiſen, die er mir
davon gab, will ich nur folgenden anfuͤhren, weil er zeigt,
wie genau er es mit ſich nahm. Jch halte itzt, ſagte er, das
Gebet
[265]
Gebet bey Tiſche fuͤr eine chriſtliche Pflicht, ob ich gleich
nicht aberglaͤubiſch daruͤber denke. Es iſt nichts billiger, als
daß man auch bey dem Genuſſe der Speiſe und des Tranks
ſeine Gedanken auf den guͤtigen Geber dieſer Beduͤrfniſſe
mit Dankbarkeit richte. Jch habe es mir deswegen ſeit eini-
ger Zeit zum Geſetz gemacht bey Tiſche zu beten. Aber die
Gewalt meiner alten Gewohnheit iſt noch ſo ſtark geweſen,
daß ich mehrentheils, wenn meine Mahlzeit gekommen iſt
angefangen habe zu eſſen, ohne gebetet zu haben. Nun iſt
es freylich an ſich einerley, ob man vor dem erſten oder
beym dritten oder vierten Loͤffel der Suppe an Gott denkt:
aber es hat mich doch ſehr auf mich und meine leichtſin-
nige Gewohnheit verdroſſen, daß ich nicht aufmerkſamer
auf das geweſen bin, was ich fuͤr meine Pflicht halte. —
Wie gefaͤllt meinen Leſern dieſe Gewiſſenhaftigkeit des
Mannes, der ſich ſonſt alles erlaubte, wozu ihn ſeine Be-
gierden trieben?
Sieben und dreißigſte Unterredung, den
27ſten April.
Jch fand ihn in aller der ungekuͤnſtelten Stille der Seele,
die ich ſeit verſchiedenen Wochen bey ihm gewohnt war,
[die mir a]ber in dieſer Naͤhe eines ſolchen Todes immer ehr-
wuͤrdiger ward. Wie preis ich Gott in meinem Herzen, der
an dem ungluͤcklichen Manne ſo große Barmherzigkeit that!
Wie wuͤnſchte ich, daß ich doch nicht der einzige Sterbliche
ſeyn moͤchte, der ihn mit ſolcher Ruhe uͤber ſeinen Tod
reden hoͤrte!
Er hatte noch einen Brief an den Bruder ſeines mit
ihm ungluͤcklichen Freundes, den Herrn Kammerherrn
von Brandt geſchrieben, den er mir zuſtellte. Einige andre
Aufſaͤtze von ſeiner Hand wurden in ein Couvert gelegt,
und in ſeiner Gegenwart von dem Herrn Commendanten,
der deswegen noch einmahl ſo guͤtig geweſen war zu uns zu
kommen, und von mir verſiegelt. Die uͤbrigen Papiere,
R 5die
[266]
die aus meinen ihm von Zeit zu Zeit gegebenen Aufſaͤtzen und
den beyden Briefen ſeiner Eltern beſtunden, hatte er zu-
ſammengelegt und ſtellte mir ſie zu. Nun hatte er ſein Haus
beſtellt. —
Der Brief an den Herrn von Brandt iſt dieſer.
“Erlauben Sie, daß ich mit Jhnen und Jhrer Frau
“Mutter das Schickſal unſres lieben Enevolds beweine.
“Halten Sie mich nicht fuͤr unwuͤrdig dazu, ob ich gleich
“unſchuldiger weiſe die Urſache davon bin. Sie wiſſen,
“wie ſehr ich ihn liebe. Er iſt der einzige Menſch in der
“Welt geweſen, der meine ganze Freundſchaft beſeſſen
“hat. Sein Ungluͤck verurſacht mir die lebhafteſten
“Schmerzen, und von dieſer Seite iſt mir das meinige
“am empfindlichſten geworden. Er hat mein Gluͤck mit
“mir getheilt, und wir werden mit einander der Gluͤckſee-
“ligkeit genießen, die unſer Erloͤſer uns verſprochen hat.
“Jch weiß nichts zu Jhrem Troſte hinzuzuſetzen. Sie
“kennen die Religion. Jch habe in ihr meine Zuflucht ge-
“funden, um mich uͤber den Reſt meines Ungluͤcks zu be-
“ruhigen. Jch bitte Gott, daß er Sie in dieſem Augen-
“blick alle Kraft derſelben empfinden laſſe. Jch werde
“nicht aufhoͤren, die lebhafteſte Erkenntlichkeit gegen alle
“die Perſonen zu hegen, die mir zu Ranzau lieb ſind.
“Ganz der Jhrige.„ den 27. April 1772.
“Jch habe gehofft und ich ſchmeichle mir noch, daß das
“Schickſal meines Freundes wird gemildert werden.„
Wir redeten heute zuerſt von der Verſoͤhnung der
Welt durch Chriſtum. Jch wiederhohlte das mehreſte von
dem, was ich ihm damals vorgetragen hatte, als wir ei-
gentlich von dieſer Sache handelten. Er ſagte ungemein
viel ſchoͤnes und erbauliches daruͤber, das ich aber theils,
wegen der Gemuͤthsbewegung, in der ich mich befand,
nicht feſt genug ins Gedaͤchtniß gefaßt hatte, um es anmer-
ken zu koͤnnen. Was mir noch davon gegenwaͤrtig geblieben
war,
[267]
war, iſt folgendes. Die Verſoͤhnung der Menſchen mit
Gott durch den Tod Chriſti halte ich fuͤr das einzige Mittel
der Vergebung der Suͤnden. Alles, was ſonſt in der Welt
fuͤr ein Mittel dazu iſt ausgegeben worden, iſt augenſchein-
lich unzureichend. Dieſes aber iſt allen unſern Begriffen
von Gott gemaͤß, es erweckt uns die wuͤrdigſten Vorſtel-
lungen von ſeinen Eigenſchaften, es iſt durch die kraͤftig-
ſten Beweiſe dargethan, und giebt uns Ruhe und Freudig-
keit im Tode. Wer es nicht annehmen und gebrauchen will,
der erklaͤrt dadurch, daß er auch nicht tugendhaft ſeyn und
Gott fuͤrchten wolle. Denn er verwirft darin die ſtaͤrkſten
Bewegungsgruͤnde, die je zur Tugend und Furcht vor
Gott gegeben werden koͤnnen, und zugleich verachtet er den
Beyſtand Gottes ſelbſt, ohne den man nicht rechtſchaffen
und gut werden kann.
Jch gehe mit der voͤlligſten Ueberzeugung, ſetzte er
hinzu, von der Wahrheit der chriſtlichen Religion aus der
Welt. Haben Sie noch die geringſte Unruhe oder Unge-
wißheit daruͤber, ſo erbiete ich mich das apoſtoliſche Glau-
bensbekenntniß, als das meinige, foͤrmlich zu unterſchreiben.
Jch kann es mit gutem Gewiſſen thun, denn es ſteht nicht
ein Wort darin, das ich nicht auf das Zeugniß der heiligen
Schrift glaube. Jch antwortete ihm, daß es dieſes Be-
weiſes nicht beduͤrfe. Bey ſeinen mir bekannten Geſinnun-
gen, waͤre er uͤberfluͤſſig, und wenn ich dieſe nicht kennte,
ſo wuͤrde mich eine ſolche Unterſchrift nicht beruhigen.
Nachdem er mir auf dieſe Art mit ſichtbaren Merk-
mahlen der Aufrichtigkeit und Empfindung ein Bekenntniß
ſeines Glaubens an Chriſtum wiederhohlt hatte, ſo lenkte
ich unſer Geſpraͤch auf die Liebe eines durch den Glauben an
Chriſtum Begnadigten zu Gott, zeigte ihm wie groß die
Verbindlichkeit der Erloͤſten zu dieſer Liebe ſey, und bat
ihn, mir zu ſagen, wie er nun ſeine Liebe zu Gott und un-
ſerm Erloͤſer finde. Jch ſehe Gott und Chriſtum, ſagte er,
fuͤr meinen beſten Freund an, und aus dieſem Geſichts-
puncte
[268]
puncte ſtelle ich mir die Pflichten der Liebe vor, die ich ge-
gen Gott und meinen Erloͤſer empfinde. Jch muß erſtlich
wiſſen und fuͤhlen, was ich meinem Freunde und Wohlthaͤ-
ter ſchuldig bin. Er wuͤnſcht mich gluͤcklich zu machen, er
bemuͤht ſich darum, er opfert mir auf, was ihm lieb und
wehrt iſt. So lange ich das alles nicht erkenne und zu
ſchaͤtzen weiß, ſo lange bin ich ſeiner Freundſchaft noch un-
wehrt, ich liebe ihn nicht. Jch bin ihm aber auch ſchuldig
thaͤtig zu ſeyn, um ſeinen Abſichten gemaͤß zu handeln.
Sonſt bin ich undankbar, liebe ſeine Freundſchaft aus blo-
ßem Eigennutz, und thue nichts ihrer wuͤrdig zu ſeyn. Hier
ſehen Sie, nach welchen Grundſaͤtzen ich Gott und meinen
Erloͤſer liebe. Jch weiß, was Gott an mir gethan, was
Chriſtus an mich gewendet hat, um mich ſelig zu machen.
Jch weiß, welch ein Heil ich dadurch erlangen ſoll. Aber
ich bin mirs auch bewußt, daß ich alle meine Kraͤfte anwende
nach dem Willen Gottes thaͤtig zu ſeyn, meine Geſinnungen
zu berichtigen, mich zu einer Gott gefaͤlligen Faſſung beym
Tode zuzubereiten. Jch unterwerfe mich auch ohne den
mindeſten Widerſtand dem Willen Gottes mit mir, weil
ich weiß, daß er mich liebt. Jch ſehe meinen Tod, und
ſelbſt alles Schreckliche und Beſchimpfende, was mit dem-
ſelben verbunden iſt, als Dinge an, die Gott zu meinem
Beſten noͤthig findet. Jm Anfange meiner Gefangenſchaft
dachte ich daruͤber ganz anders, wenn es mir zuweilen ein-
fiel, daß dieſer Ausgang meiner Sache wahrſcheinlich
waͤre. Jch wuͤnſchte, daß ich krank werden und ſterben
moͤchte. Auch habe ich wohl den Gedanken gehabt, nicht
zu eſſen und todt zu hungern: aber die Hand wuͤrde ich doch
nie an mich gelegt haben, wenn ich auch Gelegenheit dazu
gehabt haͤtte. Jtzt danke ich Gott von Herzen, daß keines
von beyden geſchehen iſt.
Jch verſicherte ihn hierauf, daß ich bey dieſen ſei-
nen Geſinnungen uͤber ſeine Seeligkeit ſehr getroſt waͤre,
und daß ich ſaͤhe, wie ſehr er Urſache haͤtte, ſo ruhig und
heiter
[269]
heiter zu ſeyn, als ich ihn faͤnde. Ja, Gottlob, ſagte er,
ich bin ſo zufrieden, als man ſeyn muß, wenn man die groͤ-
ßeſte Gluͤckſeeligkeit vor ſich ſieht. Jch verehre deswegen
dankbar die Gnade Gottes und die Kraft der Religion.
Wenn ja meine Ruhe zuweilen noch auf einige Augenblicke
unterbrochen wird, ſo geſchicht es allein durch den Wunſch
gewiß zu wiſſen, ob ich alle Bedingungen der Gnade Got-
tes erfuͤllt habe, ob ich auch ſo beſchaffen bin, als Gott mich
itzt haben will. Jch habe deswegen meinen Spalding wie-
der hervorgenommen, um durch Huͤlfe deſſelben daruͤber
zu Richtigkeit zu kommen. Jch antwortete, mir waͤren
keine andere Bedingungen des Heils bekannt, und in der
Bibel ſtuͤnden auch keine andere, als dieſe beyden, nemlich,
uneingeſchraͤnktes Vertrauen auf Gott durch Chriſtum,
und ernſtliche Bemuͤhung in allem nach dem Willen Gottes
zu denken und zu handeln, oder, welches einerley waͤre,
der Glaube, der durch die Liebe thaͤtig iſt. Und er ſey ſichs
ja bewußt, daß er an Jeſum glaube und Gott liebe. Jch
habe alles unterſucht, ſagte er hierauf, ich habe mich von
allen Seiten, die ich nur habe erdenken koͤnnen, gepruͤft,
und ich finde nichts, daß mich beunruhigen koͤnnte. Jch wuͤr-
de es Jhnen ſonſt ſagen und Sie um Raht bitten. Aber wie
leicht kann ich etwas uͤberſehen haben: Gott kann und wird
noch vieles finden. Wenn Gott denn nun noch unmoraliſche
Geſinnungen in mir ſieht, die ich mir nicht entdecken und
beſſern kann? “So wird Jhnen doch Gott gnaͤdig ſeyn.
Sie haben ja gethan, was Sie unter Jhren Umſtaͤnden
konnten, der Menſch kann ſich nicht bis zur Untadelhaftig-
keit vor Gott erheben, Gott iſt die Liebe und Chriſtus iſt
geſtorben, damit wir den Troſt haͤtten: Ob jemand ſuͤndigt,
ſo haben wir einen Fuͤrſprecher bey dem Vater, Jeſum
Chriſtum, der gerecht iſt. u. ſ. w.
Nun nahmen wir noch uͤber einige Dinge Abrede,
die auf unſer beyderſeitiges Verhalten an dem morgenden
Tage ihre Beziehung hatten. Jch verſprach ihm am
Morgen
[270]
Morgen vor ſeinem Hingange zum Tode noch ein paar
Stunden mit ihm zuzubringen. Mit ihm duͤrfte ich nicht,
nach einer Koͤniglichen Verordnung, zum Richtplatz fah-
ren, ſondern ich muͤßte voraus gehen, und ihn erwarten.
Er bat mich, ich moͤchte auch morgen ſo wie bisher meine
Unterredungen mit ihm ruhig und kaltbluͤtig fortſetzen, mich
ſo gut als mir moͤglich ſeyn wuͤrde in Faſſung zu erhalten
ſuchen, damit er mich nicht leiden ſaͤhe, und auf der Blut-
buͤhne mein Geſchaͤfft ſo kurz, als es ſeyn koͤnnte, vollen-
den. Er werde daſelbſt nichts reden, als was hoͤchſtnoͤthig
ſeyn werde, denn er wolle ſeine Gedanken ganz auf Gott
und ſeinen Eingang in die Ewigkeit richten. Jch ſagte
ihm, daß ich zwar ihm nach dem Ritual eine ziemlich lange
Reihe von Fragen vorlegen ſollte, daß ichs mir aber fuͤr
erlaubt hielte, ſie kurz zuſammen zu faſſen. Jch that dieß
in ſeiner Gegenwart, ſchrieb die Fragen, die ich an ihn
thun wollte, auf, und las ſie ihm vor.
Jch mag um der Zaͤrtlichkeit der Situation willen,
ſagte er, meinen Bruder nicht ſehen und Abſchied von ihm
nehmen. Jch bitte Sie, thun Sie es in meinem Nahmen.
Jch bitte ihn um Vergebung, daß ich ihn mit ins Ungluͤck
gezogen habe, aber ich hoffe und bin gewiß, daß ſeine Sache
einen guten Ausgang haben wird. Jch verſichere ihn, daß
ich mit wahrer bruͤderlicher Liebe gegen ihn aus der Welt
gehe. Sagen Sie ihm auch, mit welchen Geſinnungen ich
ſterbe, und wie Sie mich finden. — Dieſen Auftrag, den
zaͤrtlichſten und ruͤhrendeſten, den ich je gehabt habe, rich-
tete ich mit Erlaubniß des Herrn Commendanten noch die-
ſen Abend aus, und brachte auch die Antwort des ſehr be-
wegten Bruders zuruͤck.
Acht und dreißigſte Unterredung, den
28ſten April.
Nach der Erzaͤhlung des wachthabenden Officiers hatte
der nun gewiß nicht mehr ungluͤckliche Mann ſich am
vorigen
[271]
vorigen Abend fruͤhzeitig zu Bette gelegt und eine ziemliche
Zeit geleſen. Fuͤnf bis ſechs Stunden hatte er ruhig geſchla-
fen. Als er den Morgen erwacht war hatte er eine lange
Weile im tiefem Nachdenken zugebracht, war darauf auf-
geſtanden, hatte ſich angekleidet, und mit dem Officier eine
ruhige Unterredung gehalten.
Jch traf ihn voͤllig ſo angekleidet, wie er nach dem
Richtplatz gehen wollte, auf ſeinem Kanapee liegend an.
Er las in Schlegels Paſſionspredigten, und empfieng
mich mit ſeiner gewoͤhnlichen ruhigen und freundlichen
Miene. Jch dachte geſtern Abends, ſagte er, daß es mir
vielleicht meinen Hingang zum Tode erleichtern koͤnnte,
wenn ich nun meine Jmagination mit angenehmen Bildern
von der Ewigkeit und ihren Freuden erfuͤllte. Jch haͤtte
dazu Lavaters Auſſichten gut gebrauchen koͤnnen. Aber ich
habe es doch nicht wagen moͤgen. Jch halte es fuͤr beſſer,
daß ich meinen großen Schritt mit ſtiller Ueberlegung thue.
Die Einbildungskraft, wenn ſie einmahl in Bewegung ge-
ſetzt iſt, kann leicht eine falſche Wendung machen. Sie
koͤnnte jene angenehme Bilder fahren laſſen, und auf die
ſchrecklichen Umſtaͤnde meines Todes fallen, und mich da-
durch um meine Faſſung bringen. Jch will mich ſelbſt unter-
weges ihr nicht uͤberlaſſen, ſondern meine Vernunft mit dem
Andenken an den Hingang Jeſu zu ſeinem Tode und mit
Anwendungen daraus auf mich beſchaͤfftigen.
Er bat mich hierauf in ſeinem Nahmen, wenn ich
es fuͤr noͤthig hielte, nochmahls gehoͤrigen Orts die Verſi-
cherung zu geben, daß ſeine vor ſeinen Richtern geſchehenen
Auſſagen in allen Stuͤcken der Wahrheit gemaͤß waͤren,
und daß er nichts vorſetzlich verhehlt haͤtte, was ihm ſelbſt
oder andern zur Laſt fallen koͤnnte.
Als ich dieſen Morgen, ſagte er, erwachte, und
ſah, daß es Tag war, uͤberfiel mich ein heftiges Zittern am
ganzen Leibe. Jch nahm aber gleich meine Zuflucht zum
Gebet,
[272]
Gebet, und dachte meine Beruhigungsgruͤnde aus der
Religion durch. Jch betete zugleich fuͤr den Koͤnig, daß
ihn Gott mit Weisheit und Gnade regieren, und ihn auch
perſoͤnlich hoͤchſtgluͤcklich machen wolle. Da bekam ich bald
meine Faſſung wieder. Jch bin nun ruhig und zufrieden,
und ich weiß gewiß, ich werde es bleiben. Warum ſollte
ich unruhig ſeyn, da ich von meinem Heile voͤllig uͤberzeugt
bin? Gott hat mir meine Suͤnden vergeben, auch diejeni-
gen, deren ich mich nicht erinnert habe, auch das, was ihm
an mir noch misfaͤllig iſt, und das ich durch mein Nachfor-
ſchen nicht habe entdecken, und alſo auch nicht ablegen koͤn-
nen. Gott kann nicht das genus ohne die individua verge-
ben. Das Andenken an die Leiden Jeſu, der fuͤr alle Suͤn-
den aller Menſchen genug gethan hat, giebt mir dieſe Ver-
ſicherung. Bey dieſer Gewißheit meines Heils fuͤrchte ich
mich vor dem Tode nicht. Sobald ich Gottes Guͤte und
meine Hoffnung erkenne, iſt es mir nicht erlaubt, mich zu
fuͤrchten. Jch darf an jener nicht zweifeln, und dieſe nicht
fuͤr ungewiß halten. Beydes wuͤrde ich thun, wenn ich mich
fuͤrchten wollte zu ſterben, da ich ſehe, daß Gott es ſo will.
Jch kann mich auch nicht beſchweren, daß mir zu viel ge-
ſchehe. Jch weiß und erkenne, ich habe dieß und noch
mehreres verdient. Aber wer will mich nun, da ich ein
Auserwaͤhlter Gottes bin, beſchuldigen? Wer will mich
verdammen?
Jch ergriff die Gelegenheit, die er mir hier gab,
ihm das ganze achte Kapitel des Briefes Pauli an die Roͤ-
mer vorzuleſen, und die vielen Stellen in demſelben, die ſo
vortrefflich auf ihn paßten, durch eine beſtaͤndige Anwen-
dung auf ſeinen vorigen und itzigen Zuſtand, und mit einge-
miſchten kurzen Gebeten, ihm ans Herz zu legen. Die
ſichtbarſte Ruhe war uͤber ſeinem Angeſicht ausgebreitet,
und er nahm mir oft die Worte gleichſam aus dem Munde,
um ſich das ſelbſt zu ſagen, was ich eben im Begriff war
zur Staͤrkung ſeines Glaubens vorzutragen.
Wie
[273]
Wie weit, fragte er mich nun, iſt es mir erlaubt,
mich durch natuͤrliche Mittel geſetzt und ſtandhaft zu erhal-
ten? z. Ex. Dadurch, daß ich ſuche bey moͤglichſter Ueber-
legung zu bleiben, daß ich der Jmagination nicht verſtatte
mich hinzureißen u. ſ. w. Hat Jhnen Gott, antwortete ich,
eine gewiſſe Staͤrke der Seele gegeben, ſo will er auch, daß
Sie ſie itzt anwenden, da ſie Jhnen am meiſten noͤthig iſt.
Nur muß ſich kein heimlicher Stolz, keine Selbſtgefaͤlligkeit
mit einmiſchen. Sie muͤſſen nichts thun, um bey den Zu-
ſchauern ein guͤnſtiges Urtheil von Jhrer Standhaftigkeit
und Freymuͤthigkeit zu veranlaſſen. Ueber alle ſolche Be-
trachtungen muͤſſen Sie ſich weit hinausſetzen. Gott liebet
die Aufrichtigkeit, und die beſteht in der Uebereinſtimmung
des aͤußerlichen Bezeugens mit der innerlichen Verfaſſung.
Zeigen Sie ſich alſo voͤllig ſo, wie Sie ſich fuͤhlen. Und
ſollten Sie bis zum Weinen weich werden, ſo ſuchen Sie
die Thraͤnen nicht zuruͤckzuhalten, und ſchaͤmen ſich ihrer
nicht, denn ſie machen Jhnen keine Schande. Sie koͤnnen
ſichs ja bis auf den letzten Augenblick nicht verhelen, warum
Sie ſterben muͤſſen. Sie wuͤrden alſo ſuͤndigen, und ver-
ſtaͤndigen Chriſten ein Aergerniß geben, wenn Sie mit ei-
ner Freymuͤthigkeit ſterben wollten, die nur derjenige bewei-
ſen kann, der um der Wahrheit und Tugend willen leidet.
Jch wuͤnſche Sie mit ſichtbaren Merkmaalen der Reue und
Traurigkeit, aber auch der Seelenruhe, die aus der Zuver-
ſich entſteht, daß Gott Jhnen Jhre Suͤnden vergeben hat,
auf dem Blutgeruͤſte zu erblicken. Jch wuͤrde es ſo gar un-
gern ſehen, wenn Sie die natuͤrliche Furcht vor dem Tode
verlaͤugneten. Jch bin gewiß nicht Willens, ſagte er, einige
Parade vor den Menſchen zu machen. Mir kann itzt an
nichts etwas gelegen ſeyn, als Gott zu gefallen und die
Schrecken des Todes zu uͤberwinden. Wollte ich mich zwin-
gen aͤußerlich eine fremde Geſtalt anzunehmen, ſo wuͤrde es
mir gehen, wie einem Menſchen, der vor einem großen
Herrn reden ſoll, alles, was er reden will, vorher wohl
Suͤber-
[274]
uͤberlegt hat, nun anfaͤngt zu ſtammlen, und uͤber der Be-
muͤhung nicht zu ſtammlen, ganz verſtummt. Jch will, ſo
ſehr ich es koͤnnen werde, meine Gedanken auf Gott richten,
und mich durch keine Beſtrebung, die Erwartung der Zu-
ſchauer zu befriedigen, zerſtreuen. Deswegen werde ich
auch auf dem Richtplatz nichts reden, als wozu Sie mich
veranlaſſen werden. “Jch verſichere Sie, daß das ſehr
wenig ſeyn ſoll. Dort iſt weder fuͤr Sie noch fuͤr mich der
Ort viel zu ſprechen. Wenn Sie erſt da ſind, ſo iſt es Zeit
fuͤr Sie in der ſtaͤrkſten Bedeutung zu denken: Jch ver-
geſſe, was dahinten iſt, und ſtrecke mich nach dem, was
daforne iſt.„ —
Jtzt, da ich ſo nahe am Tode ſtehe, ſagte er hier-
auf, empfinde ich erſt recht, wie noͤthig die poſitive Verſi-
cherung Chriſti von der Ewigkeit, und welch eine Wohl-
that ſie fuͤr die Menſchen iſt. Haͤtte ich ſie nicht, ſo wuͤrde
mir die bloße Vernunft wenig Befriedigung uͤber die Frage
geben koͤnnen, ob nach einigen Stunden noch etwas von mir
uͤbrig ſeyn und leben werde. Auch kann ich Jhnen itzt aus
meiner Erfahrung ſagen, daß das boͤſe Gewiſſen ein weit
groͤßeres Uebel iſt, als der Tod. Gegen dieſen finde ich itzt
Beruhigung: aber ſo lange als jenes daurete, war kein
Friede in mir. Jch glaube, ich waͤre verſtockt worden,
wenn dieſe Wunde nicht geheilt worden waͤre.
Sie werden wahrgenommen haben, daß ich die vor-
theilhaften Vorſtellungen, die mir die Gewißheit meiner
Begnadigung bey Gott verurſacht hat, nicht ſehr lebhaft
habe werden laſſen. Sie haͤtten ſonſt meine Thaͤtigkeit in
Verbeſſerung meines Herzens und in der Berichtigung mei-
ner Geſinnungen leicht aufhalten und verringern koͤnnen.
Nun habe ich den Troſt des Bewußtſeyns, daß ich gethan
habe, was mir moͤglich geweſen iſt, um Gott noch wohl-
gefaͤllig zu werden.
Jm dem Briefe an den Kammerherrn Brandt ſagt
er, er ſey unſchuldiger weiſe Urſache an dem Ungluͤck ſeines
Bruders.
[275]
Bruders. Er bat mich demſelben dieſe Worte ſo zu erklaͤ-
ren: Er habe ſeinen Freund Brandt aus guter Abſicht hie-
her zuruͤckgebracht, und ihn abgehalten ſich herauszuzie-
hen, da er Gelegenheit dazu gehabt haͤtte. —
Nun eroͤffnete ſich die Thuͤr des Gefaͤngniſſes, nach
welcher ich oft, er aber nie, einen furchtſam erwartenden
Blick gerichtet hatte. Ein Officier trat hinein und bat mich
nun voraus zu fahren. Jch ward ſehr weich. Der Verur-
theilte, als wenn ihn die Sache gar nicht angienge, redete
mir zu. Beruhigen Sie ſich, ſagte er, mein wehrteſter
Freund, durch die Betrachtung meiner Vortheile, und
durch Jhr Bewußtſeyn, daß Gott Sie gebraucht hat, mir
dieſelben zu verſchaffen. Jch umarmte ihn, empfohl ihn
der Liebe Gottes und eilte nach dem Richtplatz. —
Als er bald nach mir abgerufen worden war, war
er ſogleich von ſeinem Lager aufgeſtanden, und denen ge-
folgt, die ihn begleiten ſollten. Beym Herausgehen aus
dem Gefangenhauſe nach dem Wagen hatte er die Umſte-
henden gegruͤßt. Auf dem Wege nach dem Richtplatz hatte
er ſich theils mit dem bey ihm ſitzenden Officier geſprochen,
theils nachdenkend vor ſich geſeſſen.
Sobald beyde Verurtheilte, jeder in ſeinem beſon-
dern Wagen, nahe am Blutgeruͤſte angelangt waren, und
Brandt daſſelbe zuerſt beſtieg, ſetzte ich mich zu Struenſee
ein, und ließ die Kutſche umwenden, damit wir nicht die
A[u]ſſicht aufs Schafot haben moͤchten. “Jch habe ihn ſchon
geſehen, ſagte er.„ Jch konnte mich nicht ſogleich in
Faſſung ſetzen. Er merkte meine Unruhe, ſah mich mit ei-
ner laͤchelnden Miene an, und ſagte: Attendriren Sie mich
ja nicht. Jch ſehe, Sie leiden. Erinnern Sie ſich daran,
daß Sie das Werkzeug Gottes geweſen ſind, mich gluͤcklich
zu machen. Jch kann mir vorſtellen, wie ſuͤß es Jhnen ſeyn
muß ſich das bewußt zu ſeyn. Jch werde mit Jhnen Gott in
der Ewigkeit dafuͤr danken, daß Sie meine Seele gerettet
S 2haben.
[276]
haben. Noch mehr als vorhin geruͤhrt, antwortete ich,
daß ich mein Geſchaͤfft bey ihm, wegen des belohnenden
Erfolgs, womit es Gott benadigt haͤtte, lebenslang fuͤr
eines meiner wichtigſten halten wuͤrde. Es ſey mir auch eine
erwuͤnſchte Ausſicht, daß ich hoffen duͤrfe, unſre Freund-
ſchaft in der kuͤnftigen Welt fortſetzen zu koͤnnen. — Jch
ſollte ſein Troͤſter ſeyn, und er troͤſtete mich.
Er bat mich hierauf, verſchiedene ſeiner Bekann-
ten von ihm zu gruͤßen, und einigen unter Jhnen zu ſagen,
daß, wenn er Sie etwa durch ſeine Reden oder Handlungen
in Jhren Begriffen von Tugend und Religion irre gemacht
haͤtte, er ſie als ein Sterbender, der dieß ſein Unrecht er-
kenne, bitten ließe, dieſe Eindruͤcke wieder auszuloͤſchen,
und es ihm zu vergeben, daß er ſie veranlaßt haͤtte.
Nachdem wir beyde eine kurze Zeit ſtille geſchwie-
gen hatten, fragte er mich: Wenn nun Gott nach ſeiner All-
wiſſenheit ſaͤhe, daß ich auf den Fall, da ich laͤnger gelebt
haͤtte, meinen itzigen Grundſaͤtzen und Geſinnungen nicht
treu geblieben waͤre, koͤnnte das einen nachtheiligen Einfluß
auf das Urtheil haben, das ich nun bald empfangen werde?
Jch antwortete ihm: Gott urtheilt aus wuͤrklichen nicht
aus ungeſchehenen Thaten; er richtet den Menſchen, wie
er ihn bey ſeinem Ausgange aus der Welt findet, er iſt die
Liebe und hat ſo wenig Gefallen am Tode des Suͤnders, daß
er gewiß keinen dazu verurtheilen wird, der in ſolchen Ge-
ſinnungen ſtirbt, denen er Begnadigung verheißen hat.
Jch bin freylich, ſagte er ferner, ſehr ſpaͤt zu Gott
zuruͤckgekehrt. Aber ich weiß, der ewige Gott achtet nicht
auf die Laͤnge oder Kuͤrze der Zeit, in der ſich der Menſch
bemuͤht ihm wohlzugefallen. Unſer Heiland ſagt, ohne die-
ſen Umſtand zu beſtimmen: Wer zu mir kommt, den will
ich nicht hinausſtoßen. Jch will mich alſo nun daruͤber nicht
beunruhigen, daß ich ſo lange von Gott und Wahrheit und
Tugend entfernt geblieben bin.
Bey
[277]
Bey dem Anblick der großen Menge von Zuſchau-
ern ſagte ich ihm, daß gewiß unter dieſen Tauſenden auch
viele ſeyn wuͤrden, die Gott anriefen ihm gnaͤdig zu ſeyn.
Das hoffe ich, ſagte er, und dieſer Gedanke erfreut mich.
Unmittelbar darauf ſetzte er hinzu: Es iſt ein großer An-
blick ſo viele tauſend Menſchen beyſammen zu ſehen. Aber
was ſind dieſe tauſende, wenn man ſie mit der ganzen Sum-
me der Geſchoͤpfe Gottes vergleicht? Und wie ſogar nichts
wird in dieſer Vergleichung ein einzelner Menſch? Gleich-
wohl liebt Gott einen jeden einzelnen Menſchen ſo ſehr, daß
er durch die Aufopferung ſeines Sohns die Seeligkeit deſſel-
ben veranſtaltet hat. Welch eine Liebe Gottes!
Sie ſehen mich itzt, fuhr er fort, aͤußerlich gerade
ſo, wie ich innerlich bin. “Jch fand ihn waͤhrend dieſer
Unterredung im Wagen weiter nicht veraͤndert, als daß
er blaß war, und daß es ihn mehr Muͤhe koſtete zu denken
und zu reden als ſonſt, und noch dieſen Morgen. Er war
uͤbrigens voͤllig gegenwaͤrtig, erkannte unter den Umſtehen-
den dieſen und jenen, gruͤßte ſie mit Abziehung des Huts,
einige auch mit einer freundlichen Miene. „Meine Ruhe,
ſetzte er hinzu, iſt nicht erzwungen. Und ich bin mir keine
Urſache derſelben bewußt, die Gott misfallen koͤnnte. Jch
denke gar nicht daran bey Menſchen Ehre einzulegen. Jch
verſpreche auch nicht, daß ich auf dem Schafot keine Unru-
he werde blicken laſſen. Sinnliche unangenehme Empfin-
dungen habe ich itzt, ich werde ſie dort noch mehr haben,
und ſie nicht zu verhehlen ſuchen. Aber ſeyn Sie verſichert,
meine Seele wird mit Ruhe und Hoffnung uͤber den Tod
hinausſehen. Und wie wenig iſt es auch, was ich zu leiden
habe, wenn ich es mit den Leiden Jeſu bey ſeinem Tode ver-
gleiche. Erinnern Sie ſich an ſeine Worte: Mein Gott,
mein Gott, warum haſt du mich verlaſſen? Und ſtellen Sie
ſich vor, welche unſaͤgliche Schmerzen ihm, bloß das Haͤn-
gen am Kreuz einige Stunden lang, muß verurſacht haben.
Jch ermahnte ihn ja bey ſeinem Vorſatz zu bleiben, und in
S 3den
[278]
den letzten Augenblicken keine Standhaftigkeit zu affectiren,
die er nicht haͤtte. Gott muͤßte eine ſolche Verſtellung noth-
wendig ſehr misfallen, und, wenn es fuͤr ihn noch Zeit waͤre,
ſich um das Urtheil der Menſchen zu bekuͤmmern, ſo wuͤrde
ich ihm ſagen, daß nur einige nicht weit ſehende Leute eine
erzwungene Freymuͤthigkeit fuͤr Wahrheit halten wuͤrden.
Jch ſagte hierauf: Jeſus betete noch am Kreuz
fuͤr ſeine Moͤrder. Kann ich mich nun feſt darauf verlaſſen,
daß Sie mit aͤhnlichen Geſinnungen der Liebe gegen diejeni-
gen, die Sie etwa fuͤr Jhre Feinde halten moͤgen, aus der
Welt gehen? Erſtlich, antwortete er, will ich gar nicht
glauben, daß ich perſoͤnliche Feinde habe, ſondern daß die-
jenigen, die mein Ungluͤck befoͤrdert, es aus Liebe zum
Guten thaten. Ferner weiß ich, daß ich mich itzt ſchon als
einen Buͤrger der zukuͤnftigen Welt anzuſehen habe, und
daß ich alſo zu ſolchen Geſinnungen verbunden bin, die dort
herſchend ſeyn werden. Jch bin gewiß verſichert, wenn ich
diejenigen, die hier etwa meine Feinde ſeyn moͤgen, dort
in eben der Gluͤckſeeligkeit erblickte, die ich zu erlangen
hoffe, daß mir das die lebhafteſte Freude verurſachen wuͤr-
de. Und ich rufe Gott an, wenn meine etwanigen Feinde
ihre feindſeelige Geſinnung gegen mich je gereuen ſollte,
daß dieſe Reue die Veranlaſſung fuͤr ſie werden moͤge, ſich
um das Heil zu bemuͤhen, das ich mir durch Gottes Gnade
gewiß verſpreche.
Ob ich gleich das Blutgeruͤſt nicht ſehen konnte, ſo
merkte ich doch aus den Bewegungen der Zuſchauer, daß
Struenſee es nun gleich werde beſteigen muͤſſen. Jch ſuchte
ihn durch ein kurzes Gebet dazu vorzubereiten, und in
wenig Augenblicken wurden wir gerufen. Er gieng mit
Anſtaͤndigkeit und Demuth durch die Zuſchauer und gruͤßte
einige unter ihnen. Mit einiger Beſchwerde ſtieg er die
Treppe hinan. Als wir oben kamen, redete ich ganz kurz
und ohne Erhebung der Stimme zu ihm uͤber die Worte
Chriſti:
[279]
Chriſti: Wer an mich glaubt, der wird leben ob er gleich
ſtuͤrbe. Es waͤre mir ganz unmoͤglich geweſen viel und laut
zu reden, wenn ich es auch gewollt haͤtte.
Jch bemerke hier noch, daß ich in ſeinem Betragen
auf dem Schafot nicht die geringſte Kunſt wahrgenommen
habe. Jch erkannte in ihm den Mann, der es wußte, daß
er itzt um ſeiner Suͤnden willen unter der Hand des Scharf-
richters ſterben ſollte. Er war blaß, es ward ihm ſchwer
zu reden, die Furcht des Todes war auf ſeinem Geſichte
kenntlich. Aber es war auch zugleich Gelaſſenheit, Ruhe
und Hoffnung, was ſeine Mienen ausdruͤckten.
Jhm ward nun das Urtheil und die koͤnigliche Con-
firmation deſſelben vorgeleſen, ſein graͤfliches Wapen vor-
gezeigt und zerbrochen. Waͤhrend der Zeit, da ihm die
Ketten abgenommen wurden, legte ich ihm folgende
Fragen vor. Bereuen Sie von ganzem Herzen alles, wo-
mit Sie Gott und Menſchen beleidigt haben? “Sie ken-
nen daruͤber meine Empfindungen, und ich verſichere Sie,
daß ſie noch in dieſem Augenblicke dieſelbigen ſind.„ Ver-
laſſen Sie ſich, um von Gott begnadigt zu werden, allein
auf die Verſoͤhnung Jeſu Chriſti? “Jch kenne kein ande-
res Mittel bey Gott Gnade zu erlangen, und verlaſſe mich
daher allein auf dieſes.„ Gehen Sie aus der Welt ohne
feindſeelige Geſinnungen gegen irgend jemand, wer es auch
ſey? “Jch will nicht glauben, daß mich jemand perſoͤnlich
haßt. Uebrigens wiſſen Sie uͤber dieſen Punct meine Ge-
ſinnung, und ich berufe mich daher auf das, was ich Jh-
nen ſo eben davon geſagt habe.„ Jch legte ihm die Hand
aufs Haupt, und ſagte: So gehen Sie hin im Friede Got-
tes, wohin Gott Sie ruft! Seine Gnade ſey mit Jhnen!
Er fieng hierauf an ſich auszukleiden, erkundigte
ſich bey den Scharfrichtern, wie weit er ſich entbloͤßen
ſollte, bat ſie ihm zu helfen, eilte nach dem Blocke, der
noch vom Blute ſeines Freundes gefaͤrbt war, legte ſich
S 4geſchwinde
[280]
geſchwinde nieder, und bemuͤhete ſich den Hals und das Kinn
recht einzupaſſen. Als die Hand abgehauen war ward der
ganze Koͤrper von Convulſionen ergriffen. Jn dem Augen-
blick, da der Scharfrichter das Beil hob, die Hand ab-
zuhauen, fieng ich an ihm langſam zuzurufen: Halt im
Gedaͤchtniß Jeſum Chriſtum, den Gekreuzigten, der
geſtorben iſt, der auch auferſtanden iſt! Ehe ich dieſe
Worte ganz vollendet hatte, lag der Kopf, vom Koͤrper
getrennt, zu meinen Fuͤßen.
Wie wunderbar iſt Gott, und wie ſorgfaͤltig
nimmt er ſich der Menſchen an, die noch zur Wahrheit
zuruͤck zu bringen ſind! Wie ſehr iſt aber nicht auch das
Urtheil, welches man uͤber ſolche Menſchen nach den
Grundſaͤtzen des Reichs Gottes faͤllen muß, von demje-
nigen unterſchieden, das die Welt uͤber ſie ausſpricht!
Waͤre Graf Struenſee in ſeinen vorigen Umſtaͤnden ge-
blieben, und einſt eines natuͤrlichen Todes geſtorben, ſo
wuͤrde er vielleicht in den Augen der nach dem aͤußerli-
chen Schein urtheilenden Welt ein großer und erleuchte-
ter Mann fuͤr allen Zeiten geheißen haben, wenn er auch
im Grunde ein Lotterbube geweſen waͤre. Jtzt hat ihn
die Welt als einen Boͤſewicht ſterben ſehen; aber die Art
ſeines Betragens im Sterben verurſacht, daß verſtaͤndige
Chriſten ihm die Schande verzeihen, mit der er ſein
Leben befleckt hat, und Gott danken, daß er gut geſtor-
ben iſt.
Eigen-
[281]
Eigenhaͤndige Nachricht
des
Grafen Struenſee
von der Art, wie er zur Aenderung ſeiner Geſinnungen
uͤber die Religion gekommen iſt.
An den
Herrn D. Muͤnter.
Sie verlangen, wehrter Freund, daß ich meine Ge-
danken uͤber die Art, wie ich zur Aenderung meiner
Kenntniß und Geſinnungen in Abſicht der Religion gekom-
men bin, hinterlaſſen ſoll. Sie iſt unter Jhren Augen ge-
ſchehen, Sie haben mich dabey geleitet, und ich bin Jhnen
deswegen unendlichen Dank ſchuldig. Jch erfuͤlle Jhr Ver-
langen mit ſo viel mehrerem Vergnuͤgen, da ich dabey Ge-
legenheit haben werde, die Reihe von Begriffen und Ein-
druͤcken, ſo meine jetzige Gemuͤhtsverfaſſung hervorgebracht
haben, mir in Erinnerung zu bringen, und meine Ueber-
zeugung zu beſtaͤrken.
Mein Unglaube und meine Abneigung gegen die Re-
ligion ſind eben ſo wenig auf eine genaue Unterſuchung der
Wahrheiten derſelben, als auf eine regelmaͤßige Pruͤfung
der Zweifel, ſo man gegen dieſelbe macht, gegruͤndet gewe-
ſen. Sie ſind entſtanden, ſo wie es wohl in den meiſten
Faͤllen geſchicht: allgemeine und ſeichte Kenntniß von der
Religion auf der einen Seite und auf der andern viele
Neigung, die Vorſchriften derſelben nicht befolgen zu duͤr-
fen, mit einer großen Bereitwilligkeit alle die Zweifel an-
zunehmen, ſo ich gegen dieſelbe fand. Sie kennen den
gewoͤhnlichen Unterricht im Chriſtenthum, den man auf
S 5oͤffent-
[282]
oͤffentlichen Schulen erhaͤlt: doch war es meine Schuld,
daß ich mir die beſondern Unterweiſungen und das Beyſpiel
meiner Eltern nicht beſſer zu Nutze machte. Seit meinem
vierzehenden Jahre beſchaͤfftigte ich mich bloß mit der Erler-
nung der Arzneywiſſenſchaft. Wenn ich nachher viele Zeit
auf die Lectuͤr anderer Art gewendet habe: ſo geſchah es
allein zu meinem Vergnuͤgen, und um die Kenntniſſe, mein
Gluͤck zu machen, zu erweitern. Die Heftigkeit der Begier-
den, mit welcher ich mich allen ſinnlichen Vergnuͤgen und
Ausſchweifungen in meiner Jugend uͤberließ, erlaubte mir
kaum an die Sittlichkeit, noch viel weniger an die Reli-
gion, zu denken.
Als die Erfahrung mich nachher lehrte, wie wenige
Zufriedenheit in dem unordentlichen Genuß dergleichen
Vergnuͤgungen zu finden ſey, und ich durch Nachdenken
uͤberzeugt ward, daß meine Gluͤckſeeligkeit eine gewiſſe in-
nere Befriedigung erfordere, die weder durch die Erfuͤl-
lung einzelner Pflichten, noch durch die Unterlaſſung groͤ-
berer Laſter erhalten werden koͤnne: ſo ſuchte ich mir gewiſſe
Grundſaͤtze einzupraͤgen, die ich dieſem Endzweck gemaͤß
hielt. Allein mit was fuͤr einer Verfaſſung unternahm ich
dieß? Mein Gedaͤchtniß, angefuͤllt mit moraliſchen
Grundſaͤtzen, aber auch zugleich mit den Entſchuldigungen
einer gefaͤlligen Vernunft gegen die Schwachheiten und
Fehler des menſchlichen Herzens; mein Verſtand einge-
nommen mit Zweifeln und Schwierigkeiten gegen die Unſi-
cherheit der Huͤlfsmittel zur Wahrheit und Gewißheit zu
kommen; und mein Wille, wo nicht feſt entſchloſſen, doch
heimlich ſehr geneigt, meine Pflichten ſo zu beſtimmen, daß
ich nicht genoͤthigt ſeyn moͤchte meine Lieblingsneigungen
dabey aufzuopfern: das waren die Fuͤhrer bey den Unterſu-
chungen, ſo ich anſtellte.
Jch ſetzte zum Voraus, daß in einer Sache, ſo die
einzelne Gluͤckſeeligkeit eines Menſchen betraf, weder Tief-
ſinnigkeit, noch Scharfſinnigkeit oder Gelehrſamkeit, ſon-
dern
[283]
dern bloß eigene Erfahrungen, und die Begriffe, wovon
ſich jeder ſelbſt uͤberzeugen koͤnnte, zur Findung der Wahr-
heit vonnoͤthen ſeyn. So wie die Nothwendigkeit alle unan-
genehme Empfindungen der Schmerzen, der Krankheiten,
meiner eignen Vorwuͤrfe und der Vorwuͤrfe anderer, zu ver-
meiden, die ſorgfaͤltige Beobachtung der Pflichten gegen
mich ſelbſt und gegen meinen Naͤchſten ſehr wichtig mach-
ten: ſo glaubte ich jedoch durch die Betrachtung Gottes der
Natur und des Menſchen, keine beſondere Verpflichtungen
gegen das hoͤchſte Weſen zu finden, als die, ſo aus der
Bewunderung ſeiner Groͤße, und der allgemeinen Dank-
barkeit wegen meines Daſeyns floͤſſen. Des Menſchen
Handlungen, beſtimmt durch Vorſtellungen, ſo die natuͤr-
lichen Triebe, der angenehme oder unangenehme Eindruck
der aͤußern Gegenſtaͤnde, die Erziehung, die Gewohnheit
und die Verſchiedenheit der Umſtaͤnde, worin er ſich befin-
det, hervorbringen, ſchienen mir eben ſo wenig in einzelnen
Faͤllen Gott gefallen oder misfallen zu koͤnnen, als die ver-
ſchiedenen Begebenheiten in der Natur, ſo in den feſtgeſetz-
ten phyſiſchen Regeln ihren Grund haben. Es war mir
genug zu bemerken, daß alles, ſowohl in dieſem als in je-
nem Fall zu Einem Endzweck, nemlich zur Erhaltung des
Allgemeinen, abziele: und dieſen hielt ich allein der Vorſor-
ge des hoͤchſten Weſen wuͤrdig. Meine Aufmerkſamkeit
ward daher groͤßtentheils auf die Pflichten gegen den Naͤch-
ſten gezogen. Die Erfuͤllung derſelben beſtimmte mein
aͤußeres Gluͤck, und ich hoffte auch darin meine innere Be-
friedigung zu finden.
Der Wunſch, den jeder fuͤhlt, tugendhaft zu ſeyn,
und eine natuͤrliche Neigung zu geſellſchaftlichen guten
Handlungen, bewogen mich, mich eifrigſt zu bemuͤhen die
Tugend kennen zu lernen. Aber wo konnte ich die wahre
finden, da ich ſie nicht da ſuchte, wo ſie allein anzutreffen
iſt? Was fuͤr eine Verſchiedenheit herrſcht nicht in den
Meynungen der Weltweiſen uͤber die Natur und Bewe-
gungsgruͤnde
[284]
gungsgruͤnde derſelben, und wie widerſprechend iſt nicht das
Urtheil der Menſchen uͤber die Wuͤrkungen, ſo ſie in einzel-
nen Faͤllen hervorbringt? Jedoch ſollten dieſe mich richten,
wenn Gott es nicht thut, und ich mich nicht allein auf mein
Gewiſſen verlaſſen wollte, das ſo leicht verblendet, von
den Begierden uͤberſtimmt, und meiſtentheils gar nicht
gehoͤrt wird. Wenigſtens fand ich, daß es ſehr leicht ſey,
ſich in Abſicht ſeiner Geſinnungen zu betruͤgen, und dieſe
waͤren doch jedem ſelbſt allein zu beurtheilen uͤberlaſſen.
Wie viele bemerkte ich nicht auf der andern Seite, die bey
der groͤßten Unthaͤtigkeit voll von guten Geſinnungen zu
ſeyn ſchienen! Dieſe und andre Betrachtungen verfuͤhrten
mich, die Tugend allein in die Handlungen, ſo einen nuͤtz-
lichen Einfluß in die Geſellſchaft haͤtten, in der ich lebte,
und in die Begierde ſolche hervorzubringen, zu ſetzen. —
Die Bewegungsgruͤnde dazu, die Ehrbegierde, die Va-
terlandsliebe, ein natuͤrlicher Trieb zum Guten, eine wohl-
verſtandne Selbſtliebe, oder ſelbſt die Kenntniß der Reli-
gion, ſchienen mir gleichguͤltig, je nachdem einer mehr
oder weniger auf die Geſinnungen einzelner Perſonen
wuͤrkte. — Der Verſtand, die Ueberlegung muͤſſe allein
die Anwendung und Ausfuͤhrung der Tugend beſtimmen.
— Derjenige ſey der tugendhafteſte, der die nuͤtzlichſten,
die ſchwerſten und weit ausgebreiteſten Handlungen hervor-
bringe. — Niemand duͤrfe ſich Vorwuͤrfe machen, wenn
er nur in der Wahl der Mittel die Landesgeſetze, und die
ohne Vorurtheile feſtgeſetzten Grundſaͤtze der Ehre ſorg-
faͤltig beobachte.
Jch glaubte in der Natur des Menſchen hinlaͤngliche
Kraͤfte und Triebfedern zu finden, die ihn zur Tugend be-
wegen koͤnnten, ohne daß eine geoffenbahrte Religion dazu
noͤthig ſey, die bloß eine Verbindlichkeit bey weniger aufge-
klaͤrten Menſchen zu Wege bringen koͤnne. Das Gefuͤhl,
die Empfindungen, ſo ſie erregen ſollte, hatte ich nie erfahren,
oder wenigſtens nicht darauf geachtet. Die Wahrheiten
des
[285]
des Glaubens ſchienen allen meinen uͤbrigen Begriffen zu
widerſprechen, ihre Lehre zu ſtreng, und glaubte ich ſolche,
wo nicht mehr, doch eben ſo deutlich, vollkommen und nutz-
bar in den Schriften der Weltweiſen ausgefuͤhrt zu finden.
Fuͤgen Sie dahinzu die Zweifel, ſo ich gegen dieſelbe fand;
in dem engen Zirkel der Menſchen, welchen ſie bekannt
war, — in der kleinen Anzahl, auf welche ſie Eindruck
machte, — die uͤbeln Folgen, welche fuͤr das menſchliche
Geſchlecht aus ihrem Misbrauch entſtanden waren — wie
wenige ihr gemaͤß handelten, wenn ſie auch ſolche glaubten
— die wenige Hoffnung, ſo ich mir von meiner Fortdauer
nach dieſem Leben machte — den Begriff von der Guͤte
Gottes, daß ſolcher die Fehler des Jrrthums und der
Uebereilung ohne hin vergeben wuͤrde — endlich den Wi-
derſpruch und nicht zu uͤberwindenden Widerſtand, ſo ich
in der Natur des Menſchen wahrzunehmen glaubte, die
Vorſchriften der Religion zu erfuͤllen: und Sie werden
leicht den Schluß errahten, welchen ich mich daraus zu fol-
gern berechtigt hielt.
Die Vernunft, geleitet vom Verſtande und unter-
ſtuͤtzt durch die Ehre, die Selbſtliebe und der natuͤrliche
Trieb zum Guten waren nun die Fuͤhrer, ſo meine Hand-
lungen beſtimmten. Wie vielen Jrrthuͤmern und Verge-
bungen war ich nicht ausgeſetzt? Jch fand es nicht mehr
ſchwer meine Lieblingsneigungen zu entſchuldigen und gar
mit Beruhigung mich ihnen zu uͤberlaſſen. Die Verge-
hungen und ſelbſt die Laſter der Wolluſt ſchienen mir hoͤch-
ſtens Schwachheiten zu ſeyn, wenn ſolche nur keinen ſchaͤd-
lichen Erfolg auf mich ſelbſt oder auf andre haͤtten, und
dieſem koͤnnte Vorſicht und Klugheit vorbeugen. — Viele,
die Anſpruch auf Ehre und Tugend machten, entſchuldigten
es und erlaubten ſie ſich. — Die Sitten der Zeit erlaubten
ſtillſchweigends Freyheiten, ſo nur ſtrenge Sittenlehrer ver-
dammten, billigere aber mit der Kenntniß des menſchlichen
Herzens gelinder und mit mehrerer Nachſicht anſaͤhen. —
Die
[286]
Die Enthaltſamkeit ſey eine Tugend des Vorurtheils, und
ganze Nationen beſtuͤnden, und haͤtten beſtanden, ohne
dieſe Tugend zu kennen noch auszuuͤben.
Es gereicht zu meiner wahren Demuͤthigung, mein
wehrteſter Freund, daß ich Jhnen Scheingruͤnde wieder-
hohle, die mir itzt hoͤchſtabgeſchmackt ſind, die Sie aber
bey allen denjenigen mehr oder weniger werden gefun-
den haben, die nicht ganz gedankenlos handeln, und bey
der unregelmaͤßigſten Lebensart in dem Verſtande Mittel
zu ihrer Beruhigung ſuchen. Wie leicht koͤnnen nicht auf
dieſe Art alle unſre Begierden bemaͤntelt und gerechtfertigt
werden! Der Ehrgeizige ſiehet in ſeinen Unternehmungen
Liebe zum Vaterland und eine edle Ehrbegirrde; der Einge-
bildete edlen Stolz auf ſeine Verdienſte und die Gerechtig-
keit, ſo er ſich ſelbſt ſchuldig iſt; der Verlaͤumder Wahr-
heitsliebe und unſchuldigen Scherz. u. ſ. w.
Dieſen Jrrthuͤmern hoffte ich durch eine ſtrenge Pruͤ-
fung und Unterſuchung meiner ſelbſt, und der Folgen, ſo
meine Handlungen haben koͤnnten und haben wuͤrden, aus-
zuweichen. Bin ich darin gluͤcklich geweſen, und iſt es moͤg-
lich, wenn ich auch nur fuͤr die unmittelbaren Folgen der-
ſelben einſtehen ſollte? Betrog ich mich nicht ſelbſt, wenn
ich mich mit dem lebhaften Vorſatz, ſo viel Gutes zu thun als
ich konnte, und der Ueberzeugung, daß ich es, ſo viel die
Umſtaͤnde, in denen ich mich befand, thaͤte, zu befriedigen
glaubte? War es Betaͤubung, Unempfindlichkeit, Affec-
tation, wenn ich in mir ſelbſt Ruhe, Standhaftigkeit und
Gelaſſenheit bey meinem itzigen Ungluͤck zu finden hoffte?
Unterſuchte ich die Urſachen deſſelben, ſo blieb ich bey den
politiſchen ſtehen, und wie viel konnte ich nicht in den Zu-
faͤlligen und der Natur meiner Situation zu meiner Ent-
ſchuldigung entdecken? Meine moraliſchen Geſinnungen
ſah ich nur von ferne: und wie konnte ich ſie verdammen,
wenn ich mich nicht auf einmahl aller Beruhigung berauben
wollte? Was ich von der Zukunft hoffte, habe ich vorhin
geſagt,
[287]
geſagt, und da ich wußte, daß eine anhaltende Vorſtellung
und beſtaͤndiges Nachdenken uͤber den nemlichen Vorwurf
den Eindruck deſſelben nur um ſo viel lebhafter auf uns
macht, ſo ſuchte ich durch Zerſtreuung und Beſchaͤfftigung
meiner Gedanken mit andern Vorwuͤrfen, mein Ungluͤck
mir weniger fuͤhlbar zu machen, und meine natuͤrliche Ge-
muͤhtsverfaſſung dadurch zu unterſtuͤtzen.
Jn dieſem Zuſtande fanden Sie mich, mein wehrte-
ſter Freund, und wir fiengen unſre Unterredungen an. Sie
erinnern ſich, wie ſehr ich von meinen Grundſaͤtzen uͤber-
zeugt zu ſeyn glaubte, wie feſt ich mir ſie eingepraͤgt, und
wie ſehr ich gegen alle Leidenſchaften, die in mir erregt wer-
den konnten, auf meiner Hut war. Dieß fand ich billig,
daß eine Sache, ſo meine Gluͤckſeeligkeit betraͤfe, die noch
einen Einfluß auf die Zukunft haben koͤnnte, eine Unterſu-
chung verdiene; eine Meynung, darin die groͤßte Wahr-
ſcheinlichkeit die Gewißheit ſey, erhalte neue Staͤrke durch
die Pruͤfung der entgegengeſetzten, und die Widerlegung
der Zweifel erfordre wenigſtens ſo viel Aufmerkſamkeit, als
auf die Ueberlegung der Gruͤnde bey ihrer Annehmung ſey
gewandt worden.
Bey der Betrachtung meiner moraliſchen Grundſaͤtze
und ihrer Folgen erregte ſich gar bald der Zweifel, ob ich
nicht durch jene meines Zwecks, der innern Beruhigung
und Zufriedenheit uͤber meine Handlungen, verfehlt haͤtte.
Jch konnte mir nicht verbergen, daß ich Vorwuͤrfe von mir
ſelbſt und andern verdiente, wenn es auch nur von der Seite
meiner mit mir ungluͤcklichen Freunde ſey, welche mich am
lebhafteſten ruͤhrte. Wuͤrde es nicht ſichrer geweſen ſeyn,
dachte ich, wenn ich meine Handlungen mehr nach ihrem
Urſprung, als nach den Verhaͤltniſſen und Folgen beurtheilt
haͤtte? — Wie wenig Vergnuͤgen und Thaͤtigkeit waͤre
alsdann in meinem Leben geweſen! Jetzt weniger Reue
und Misvergnuͤgen, aber vorhin mehr Kampf und Wider-
ſtand gegen mich ſelbſt. Die Zeit des Leidens ward bloß
veraͤn-
[288]
veraͤndert. Mit jenem Falle ſind lebhafte und kurze Schmer-
zen, mit dieſem Einfoͤrmigkeit und anhaltende unangeneh-
me Empfindungen verknuͤpft. Jch wuͤrde aber nur allein
gelitten haben. Und wie viel Zufriedenheit hat mir der Ge-
nuß alles deſſen, was ich vom Gluͤck erwarten konnte, gege-
ben? — Die Befriedigung von Begierden, die eine un-
vermeidliche Leere nach ſich zieht; die Erfuͤllung von Wuͤn-
ſchen, deren Reiz durch die unruhige Geſchaͤfftigkeit ſich
darin zu erhalten vermindert wird; vervielfaͤltigte Vergnuͤ-
gungen, die ihrer Natur nach ſich unter einander zerſtoͤren,
und endlich nichts als hoͤchſtens Zerſtreuungen ſind; die
Unempfindlichkeit, eine natuͤrliche Folge des Beſitzes alles
deſſen, was das Leben geſchwind und leicht angenehm ma-
chen kann. — Das Vergnuͤgen der Freundſchaft und der
Geſelligkeit wird man mir doch nicht abſprechen koͤnnen?
Nein, wenn eine Situation voller Zerſtreuungen, voller
Aufmerkſamkeit auf hundert Kleinigkeiten, mit der Unmoͤg-
lichkeit den Gedanken von ihrer Unſicherheit zu entfernen,
ſolches geben konnte, und es nicht vielleicht ſeiner Natur
widerſpraͤche. Geſetzt aber, ich ſey mir bloß guter Abſich-
ten und erlaubter Mittel bewußt, und meine moraliſchen
Vergehungen waͤren die Folgen des Leichtſinns und der
Schwachheit? So raubten mir doch itzt die Vorwuͤrfe von
dieſen alle Beruhigung uͤber jene. Vermieden wuͤrde ich ſie
haben, wenn ich ihre Folgen nach allen Verhaͤltniſſen uͤber-
dacht haͤtte. War dieſer Entſchluß aber moͤglich, wenn auf
der andern Seite die Leidenſchaft mir, die Gluͤckſeeligkeit
meiner und andrer, die Verachtung der Gefahr, die Unge-
wißheit der entfernten Folgen, und die Sicherheit die naͤch-
ſten in der Gewalt zu haben, ſo lebhaft vorſtellen? Der
Ausſchlag mußte nothwendig auf die Seite fallen, wo das
Vergnuͤgen nahe und der Schmerz entfernt und ungewiß
war: der Fall aber, wo Vernunft und lebhafte Begierden
ſtreiten, und der Verſtand entſcheiden ſoll, kann nicht anders
gedacht werden. Die Ehre und Selbſtliebe, der Einfluß ſo
eine
[289]
eine Handlung auf andre haben kann, und andre Bewe-
gungsgruͤnde ſind leicht erklaͤrt, und bey der Anwendung dem
vorgeſetzten Endzweck gemaͤß gefunden. Konnte ich nun
wohl anders als zugeſtehen, daß meine Grundſaͤtze mir keine
moraliſche Beruhigung geben koͤnnten, daß die Leidenſchaf-
ten meine Handlungen beſtimmt haͤtten, und daß mir kein
andrer Troſt, als der aus dem Zufaͤlligen und Unvermeidli-
chen des menſchlichen Schickſals hergenommene, uͤbrig blie-
be? Mein Gluͤck konnte ich ihnen zu verdanken haben, und
daß ſie mir Wuͤrkſamkeit in Erfuͤllung der Pflichten gege-
ben: wenn ſie mich aber nur einmahl verleitet, eine Handlung
zu begehen, die ich vermeiden koͤnnen und ſollen, woruͤber ich
mit Recht Vorwuͤrfe verdiene, und deren Andenken meine
innere Gluͤckſeeligkeit zerſtoͤrt: ſo mußte ich ſie verwerfen.
Dieß war ich bereit zu thun, wenn ich beſſere fin-
den konnte. Jch bemerkte vornehmlich zwey Maͤngel bey
ihnen. Die Beurtheilung der Handlungen nach ihren Ver-
haͤltniſſen und Folgen hob alle Gewißheit und Sicherheit
auf, zu einer moraliſchen Ueberzeugung meiner ſelbſt zu kom-
men; die von mir angenommenen Bewegungsgruͤnde zur
Tugend koͤnnen eben ſo leicht zur Befriedigung, als zum
Widerſtande der Begierden dienen, ſie wuͤrken nicht lebhaft
genug, auch ſind ſie leicht einer Misdeutung faͤhig, wenn
die Seele etwas heftig begehrt. Das Gewiſſen, die innere
Empfindung des Guten und des Boͤſen und die Furcht Got-
tes ſchienen mir nicht dieſem abzuhelfen. Mein Verſtand
war reich an Gruͤnden ſie zu verkennen, und die Sinnlich-
keit erlaubte mir nicht ihren Eindruck zu bemerken. Haͤtten
mich dieſe unter allen Umſtaͤnden richtig handeln lehren und
beruhigen koͤnnen, wenn gleich die Folgen, das Urtheil der
Menſchen und die Vorwuͤrfe meiner Freunde wider mich
waͤren? Ohne Zweifel. Aber dann haͤtten meine Handlun-
gen in den Geſinnungen ihren Urſprung nehmen, und dieſe
eine ſichre Richtſchnur haben muͤſſen, nach welcher ſie nicht
irren konnten.
TDer
[290]
Der Jrrthum war klar, daß ich die Tugend in die
Handlungen und nicht in die Geſinnungen geſetzt, und da-
durch meines Endzwecks, der innern Beruhigung verfehlt
haͤtte. Gellert zeigte mir die Regeln, nach welchen ich ihn
haͤtte vermeiden koͤnnen; Jeruſalem uͤberfuͤhrte mich von
der Kraft und Staͤrke, ſo die wahre Verehrung Gottes
giebt, ſolche zu beobachten, und Reimarus bewies mir die
Nichtigkeit der Zweifel, ſo der Verſtand findet, den An-
theil Gottes an den einzelnen moraliſchen Handlungen zu
laͤugnen. Jch will nicht die Reihe der Betrachtungen wie-
derholen, die mich von den Wahrheiten, ſo dieſe vortreffli-
chen Schriftſteller lehren, uͤberzeugten. Es wird genug
ſeyn, mir einige in Erinnerung zu bringen, die ſich mir am
lebhafteſten darſtellten.
War es nicht die Sinnlichkeit, ſo mich Wahrheiten,
die mein Verſtand kannte, verlaͤugnen, und mir andre Ge-
genſtaͤnde und falſche Begriffe wichtig machte? — Jſt
Sicherheit und Weisheit da, wo ich einfache Grundſaͤtze
finde, die in allen Faͤllen ohne Ausnahme mit Deutlichkeit
anzuwenden ſind, oder dort, wo die mannichfaltigen Mey-
nungen, und Bedingungen ohne Zahl, mehr Zeit zum Un-
terſuchen als zum Handeln erfordern? — Jſt der morali-
ſche Unterſchied von Tugend und Laſter nicht wirklich in den
Geſinnungen, ſo kann niemand auf Tugend Anſpruch ma-
chen, wenigſtens haͤngt ſie nicht von ſeinem Willen ab. Der
Kluge, der Vorſichtige, der Liſtige, der Heuchler iſt recht-
ſchaffen: der Einfaͤltige, der Leichtſinnige, der Ungluͤckli-
che, der Aufrichtige wird laſterhaft ſeyn. — Die innere
Beruhigung haͤngt von der Meynung anderer und dem Zu-
faͤlligen ab, wenn ich nicht meine Geſinnungen nach feſtge-
ſetzten Regeln beurtheilen kann.
Jſt der Begriff nicht ſehr eingeſchraͤnkt, wenn ich das
Ganze bloß Gottes Aufmerkſamkeit wuͤrdig finde? Wir
wiſſen, daß die Kenntniß und Combinaiſon vieler einzelnen
Mittel und wuͤrkenden Urſachen, in ſo ferne ſolche zu Einem
Endzweck
[291]
Endzweck angewendet werden, die moraliſchen großen
Handlungen hervorbringen. Die Faͤhigkeiten des Men-
ſchen erlauben ihm nicht, ſich jene gleich deutlich auf ein-
mahl vorzuſtellen. Er verliert das Ganze aus dem Geſicht,
wenn er ſich zu viel mit dem Einzelnen beſchaͤfftigt. Daher
iſt er genoͤthigt ſeine Aufmerkſamkeit allein auf die naͤchſten
und wuͤrkſamſten Urſachen zu richten, und die entferntern
dem Zufaͤlligen zu uͤberlaſſen, oder, welches damit uͤberein
kommt, vorauszuſetzen, daß ſolche nicht fehlen werden, ob
er ſie gleich nicht in ſeiner Gewalt hat. Jedoch laſſen Sie
uns hiebey nicht ſtehen bleiben. Derjenige, welcher die
meiſten und entfernteſten Mittel zugleich uͤberſehen, jedes
nach ſeinem Endzweck beſtimmen und anwenden, und alle
Schwierigkeiten leicht und geſchwinde zuvorkommen und
abwenden koͤnnte, der wuͤrde mit Recht den Nahmen eines
großen Mannes verdienen. Je mehr Ordnung und Ueber-
einſtimmung er jedem Theile geben kann, deſto ſicherer iſt
der Erfolg. Misvergnuͤgen muß es ihm erwecken, wenn er
es nicht uͤberall kann. Verſchiedene fehlerhafte Bewegun-
gen einzelner Soldaten koͤnnen im Treffen einem General
kein Vergnuͤgen machen, wenn er ſie bemerken kann, und
er wird jede einzeln empfinden. Viele kleine Unordnungen
machen das Ganze unvollkommner. Muͤſſen wir ſolche
uͤberſehen, weil unſre Faͤhigkeiten es nicht anders erlau-
ben, und pflegen wir zu verachten, was wir aus Mangel
der Kraͤfte nicht erreichen koͤnnen: ſo iſt doch ungereimt,
dieſen Begriff auf Gott anzuwenden, und zu glauben, daß
er unſerm Beyſpiel folge und ſich mit dem Ganzen, ohne auf
die einzelnen Fehler zu ſehen, beſchaͤfftigte. Der Satz, daß
Gott die Einrichtung des Ganzen ſo gemacht, daß die ein-
zelnen Fehler der Menſchen nichts dabey ſchaden, und ſie
ihm daher gleichguͤltig waͤren, kommt beſtaͤndig darauf hin-
aus, ich mag ihn betrachten, von welcher Seite ich will,
wenn ich nicht annehme, daß der Menſch nach einer feſtge-
ſetzten Nothwendigkeit handeln muͤſſe. Gott wird daher
T 2gewiß
[292]
gewiß bemerken, in wie fern jeder einzeln nach ſeinem freyen
Willen ſich deſſen Beſtimmung gemaͤß verhaͤlt. Die Ab-
ſicht der allgemeinen Gluͤckſeeligkeit kann nicht erreicht wer-
den, wenn nicht alle darin uͤbereinſtimmen.
Gott habe ſo viele Guͤter in die Natur, und ſo man-
nichfaltige Triebe in den Menſchen gelegt, daß jeder gluͤcklich
werden koͤnne: iſt ein Scheingrund. Ein groͤßerer Beſitz
und mehrere Befriedigung geſchicht allezeit auf Unkoſten
und zum Misvergnuͤgen anderer. Die Begierde darin
einen groͤßern Zuwachſ zu erhalten, iſt daher ſchon eine
Abweichung von meiner Beſtimmung. Nur die Erweite-
rung der moraliſchen Vollkommenheit kann ohne Schaden
und zum Vortheil des Ganzen geſchehen. Die geringſte
Ausweichung hierin kann nicht anders als Gott misfaͤllig
ſeyn. Was koͤnnen wir uns fuͤr eine Entſchuldigung deswe-
gen machen? Diejenige, ſo dem Hofmann erlaubt, ſeinen
Herrn zu hintergehn um ſeinen Freunden zu dienen, und
dem Miniſter, den Vortheil des Ganzen aus perſoͤnlichen
Abſichten aus den Augen zu verlieren.
Jſt es nicht Stolz und Einbildung von unſrer innern
Staͤrke, wenn wir durch unſre eigenen Kraͤfte tugendhaft
zu werden hoffen? Wenn wir in den Gegenſtaͤnden gemei-
niglich ſehen, was wir wollen; wenn es unendlich ſchwer
iſt, alle Begriffe im Gedaͤchtniß gegenwaͤrtig zu haben, die
zu einem richtigen Schluß erforderlich ſind; wenn wir die-
jenigen am leichteſten finden, die zu unſerm Endzweck die-
nen; wenn der kalte Weltweiſe oͤfters dasjenige findet, was
er vor der Unterſuchung als wahr angenommen: ſo kann
man leicht uͤberzeugt werden, wie unſicher die Vernunft-
ſchluͤſſe ſeyn muͤſſen, die uns den Genuß einer Sache, die
wir heftig begehren, erlauben oder verbieten ſollen. Nur
ein lebhafter Eindruck, der uns gegenſeitige Vorſtellungen
gleich gegenwaͤrtig macht, kann uns vom Jrrthum zuruͤck-
halten. Jſt aber einer, der bey allen Gemuͤhtsverfaſſungen
gleich ſtark wuͤrken kann, als das Andenken an Gott?
Wie
[293]
Wie viel Misvergnuͤgen uͤber mich ſelbſt erregten mir
nicht dieſe Betrachtungen? Es war genug, daß ich uͤber-
fuͤhrt ward, wie weit ich mich von meinem Entzweck entfernt,
wie wenig ich meiner Beſtimmung gemaͤß gehandelt, und
wie viele Vorwuͤrfe ich verdiente. Empfindlich demuͤthi-
gend fuͤhlte ich, falſchen Grundſaͤtzen und eingeſchraͤnkten
Vorurtheilen gefolgt zu ſeyn. Sie wiſſen, wie heftig ich
beſonders das Ungluͤck derjenigen Perſonen empfand, mit
denen ich in Verbindung geſtanden: und nun blieb mir
nichts uͤbrig meinen Schmerz zu lindern, da ich mich allein
die Urſache deſſelben zu ſeyn fand. Er ward um ſo viel leb-
hafter, wenn ich ihn von der Seite anſah, die jetzt den mei-
ſten Eindruck auf mich machte. Die vielen Folgen, ſo meine
moraliſchen Vergehungen nach ſich ziehen, und der Gedan-
ke, Gott beleidigt zu haben, wuͤrkten auf mich am heftigſten.
Meine mir zur Gewohnheit gewordenen Vorſtellun-
gen erregten mir jedoch oͤfters das Mistrauen, ob nicht meine
itzige Gemuͤthsverfaſſung mehr als die Ueberzeugung des
Verſtandes dieſe Geſinnungen verurſache. Die Ungewiß-
heit uͤber die Natur der Seele, und ihrer Fortdauer nach
dieſem Leben, hielt mich vornemlich zuruͤck mich Jhnen
voͤllig zu uͤberlaſſen. Bonnet ließ mir keinen Zweifel deswe-
gen uͤbrig, in ſo fern die Vernunft darin zur Gewißheit kom-
men kann. Jch konnte nicht laͤugnen, daß meine jetzige
Gemuͤhtsverfaſſung, verglichen mit der vorigen, weit faͤ-
higer ſey, die Wahrheit zu unterſuchen und zu finden. Die-
ſe uͤberſah fluͤchtig, was meinen Neigungen misfiel, und
fand wahr, was ſie wuͤnſchten. Jene war weit vorſichtiger,
voller Mistrauen, und es koſtet viel zu geſtehen, daß man
ſich geirrt habe. Jemehr ich meinen uͤbrigen Zweifeln nach-
dachte, deſto weniger Urſache fand ich ſolche gegruͤndet zu
halten. Jch gieng alles einzeln durch, was ich mir zur Be-
ſtaͤtigung meiner Meynungen ſo oft wiederhohlt hatte: aber
endlich mußte ich mit Gellert geſtehen, wenn das was wir
von Gott, von der Seele, und von unſrer moraliſchen
T 3Gluͤck-
[294]
Gluͤckſeeligkeit aus der Vernunft erkennen, nicht gewiß iſt,
ſo muß Wahrheit Thorheit, und Jrrthum Weisheit ſeyn.
Sie wiſſen, wehrter Freund, wie die Erkenntniß
dieſer Wahrheiten meine Unruhe vermehrte. Es zeigten
ſich mir beſtaͤndig neue Gegenſtaͤnde, die durch die Lebhaf-
tigkeit der naͤhern Eindruͤcke verborgen geblieben waren.
Die Gleichguͤltigkeit meine Geſinnungen in Ordung zu
bringen, die Verabſaͤumung jeder einzelnen Pflicht, die
Nachlaͤſſigkeit das Gute zu thun, wozu ich Gelegenheit und
Faͤhigkeit gehabt, das Uebel, ſo mein Beyſpiel und die
Ausbreitung meiner Grundſaͤtze verurſachen koͤnnten, das
Misfallen, ſo meine Vergehungen bey Gott verdienten:
dieß alles erregte mir die empfindlichſten Schmerzen. Wie
konnte ich ſolche lindern? Den Vorſatz faßte ich, den er-
kannten Wahrheiten mich gemaͤß zu verhalten; meine Reue
uͤber die begangenen Fehler fuͤhlte ich aufrichtig: aber konnte
ich hoffen, das Vergangene zu erſetzen und auszuloͤſchen?
Es iſt ungewiß, ob ein guter Vorſatz beſtaͤndig gleich ſtark
ſeyn, ob nicht neue Reizungen und Jrrthuͤmer des Verſtan-
des ihn zernichten, ob das Andenken an Gott, das Gewiſſen,
die Erinnerung des Schmerzens nicht geſchwaͤcht werde.
Tugenden koͤnnen den Schaden des Laſters nicht verhin-
dern, noch weniger erſetzen. Die Zeit, die Gelegenheit,
die vorigen Verhaͤltniſſe, waren fuͤr mich verlohren. Von
dieſer Seite konnte ich wenig Troſt zu meiner Beruhigung
finden. Die Betrachtung Gottes aus der Vernunft gab
mir nicht mehrere Hoffnung zur Vergebung meiner Verge-
bungen. Wenn ich mir auch noch ſo vortheilhafte Begriffe
von ſeiner Guͤte machen wollte, daß er bey deren Beurthei-
lung auf die Unvollkommenheit und Schwaͤche der menſch-
lichen Natur Ruͤckſicht nehmen werde: ſo zeigte ſich mir
doch zugleich ſeine Gerechtigkeit und Unveraͤnderlichkeit,
welche dieſem widerſprechen. Die Folgen der Handlungen
geſchehen im moraliſchen, wie im phyſiſchen, nach feſtgeſetz-
ten Regeln. Dieſer Ordnung uͤberlaͤßt Gott das Schickſal
des
[295]
des Menſchen, und dieſer hat es in ſeiner Gewalt, da er
mit Freyheit handelt. Die Erfahrung kann uns deutlich
uͤberfuͤhren, daß keine Ausnahme davon gemacht werde.
Jedes Vergehen und jedes Laſter zieht ſchon hier ſeine Be-
ſtrafung nach ſich. Es wird vielleicht kein Fall ſeyn, wo
man nicht von dieſer Wahrheit uͤberfuͤhrt werden kann,
wenn man die Gluͤckſeeligkeit eines Menſchen nach den in-
nern Empfindungen, und nicht nach dem, was man Gluͤck
nennt, beurtheilt. Unordentliche und gehaͤufte Begierden
ſind Uebel, und das ſchmerzhafte Bewuſtſeyn eines began-
genen Laſters verlaͤßt uns nie. Wird Gott aus dem Uebel
etwas Gutes machen, um das Ungluͤck, ſo der Beweis ſei-
nes Misfallens iſt, von uns abzuwenden?
Von dieſen Wahrheiten bin ich jederzeit uͤberzeugt ge-
weſen, aber ich ſah ſie als nothwendige unſerm Schickſale
eingeflochtene Uebel an, die mit dieſem Leben aufhoͤren wuͤr-
den, wenn ſie auch Strafen genannt werden koͤnnten. Die
Standhaftigkeit der Seele, der durch Uebung erlangte Kalt-
ſinn, und die Betrachtung der Uebel ſelbſt ohne Einbil-
dungskraft, glaubte ich, verminderten den lebhaften Ein-
druck derſelben. Die Geduld mache uns gleichguͤltig dage-
gen und die Zerſtreuungen braͤchten ſie in Vergeſſenheit.
Mit dieſen Huͤlfsmitteln ertrug ich das Ungluͤck, ſo ich nicht
vermeiden konnte, gelaſſen, und ſchien es mir weniger
ſchrecklich. Wir glauben zuletzt einen Jrrthum, wie eine
Unwahrheit, die man oft wiederhohlt. Die Hoffnung, daß
der Tod das Ende des Ungluͤcks ſey, erforderte die groͤßte
Standhaftigkeit und Kaltſinn, und Sie wiſſen die Beruhi-
gungsgruͤnde uͤber das zukuͤnftige Leben, wenn man ſich nach
meinen vorigen Grundſaͤtzen beurtheilt, und es aus dem Ge-
ſichtspuncte, wie ich gethan, anſieht. Die Ungewißheit daruͤ-
ber wuͤrde mir vielleicht unendliche Unruhe verurſacht haben,
wenn ich auch noch kein Mistrauen in meine Kraͤfte ſetzte.
Die Fortſetzung meiner moraliſchen Unterſuchungen
verminderte wenigſtens jene nicht. Das Gedaͤchtniß wird
T 4das
[296]
das weſentliche ſeyn, was unſern kuͤnftigen Zuſtand mit
dem gegenwaͤrtigen in Verbindung erhalten wird. Wie
ſollte ich das Andenken der Vorwuͤrfe ausloͤſchen, die mich
itzt quaͤlten, und meinen Geſinnungen die erforderliche re-
gelmaͤßige Ordnung geben? Alles erneuerte das Andenken
von jenen, und die Richtung, an welche dieſe gewoͤhnt, iſt
vielleicht noch ſchwerer zu veraͤndern, als eine koͤrperliche
Gewohnheit zu unterlaſſen. Jch fand es bey mir ſelbſt,
mit aller Ueberzeugung des Verſtandes dachte, zweifelte,
entſchuldigte ich mich, und ſah die Moͤglichkeit mich nicht
geirrt zu haben. Die Wiederhohlung der Reihe von Be-
griffen, ſo mir meinen Jrrthum gezeigt, brachte mich zur
Wahrheit zuruͤck; jedoch konnte ich wegen des Zuſtandes
in jenem Leben und der Folgen meiner Vergehungen in Ab-
ſicht Gottes zu keiner Gewißheit kommen. Die Erinnerung
der Wahrheiten der geoffenbahrten Religion machte noch
keinen Eindruck auf mich.
Sie gaben mir die Geſchichte der drey letzten Jahre
Jeſu zu leſen. Wie vortrefflich fand ich nicht die darin ent-
haltenen Lehren? Jhre moraliſchen Saͤtze ſind einfach,
deutlich und auf alle Faͤlle paſſend. Wer da weiß, wie ſchwer
es ſey eine Wiſſenſchaft auf allgemeine Grundſaͤtze zu brin-
gen, der wird dieß nicht ohne Bewunderung bemerken,
wenn er Chriſtum bloß als einen Menſchen betrachtet. Es
gereichte zu meiner Beſchaͤmung hier wieder zu finden, was
ich vorhin vergeſſen, und nachher der Leſung unendlich vie-
ler moraliſchen Schriftſteller zu danken haben glaubte. Daß
die Empfindung der Rache ein Uebel ſey, hatte ich mir be-
wieſen, und nicht dabey gedacht, daß es Chriſtus gelehrt
habe. Die Liebe ſeiner Feinde war vorhin niemand in den
Sinn gekommen, und ſie ſchien mir jederzeit der menſchli-
chen Natur widerſprechend. Jch wuͤnſchte nicht allein hier-
von, ſondern von allen uͤbrigen Grundſaͤtzen der Lehre
Chriſti, die einen lebhaften Eindruck auf mich machten,
uͤberzeugt zu werden. Die Zweifel, ſo aus ſeiner Herkunft,
Erzie-
[297]
Erziehung in Egypten, Unterricht in den juͤdiſchen Wiſſen-
ſchaften hergenommen ſind, gaben mir vielmehr Anlaß ih-
ren außerordentlichen Urſprung zu vermuhten. Wie haͤtte
er ſich uͤber die Vorurtheile von jenen hinausſetzen, und dieſe
verrahten koͤnnen, indem er ihnen entgegengeſetzte Mey-
nungen behauptete? Es finden ſich keine Widerſpruͤche in
ſeinen Geſpraͤchen und Handlungen. Es iſt leicht, ſich
von dieſem allen zu uͤberzeugen, wenn man nur nicht glaubt,
daß unſre Sitten, Gebraͤuche und Vorurtheile bey der Un-
terſuchung zum Grunde geleget werden muͤſſen. Das
Evangelium ſich nicht bekannt machen wollen, weil Chri-
ſtus ein Jude war, iſt eben ſo viel, als Mendelſons Schrif-
ten nicht zu leſen, weil er es noch iſt. Die Lebensgeſchichte
Jeſu, ſo in Zuͤrich herausgekommen, verhindert, daß man
ſich nicht beym Ausdruck und der Art zu erzaͤhlen aufhaͤlt,
und zeigt den Zuſammenhang der Begebenheiten. Dieſe
Hinderniſſe haben zwar nicht den meiſten Eindruck auf mich
gemacht: doch moͤgen ſie mich abgehalten haben, gruͤndli-
chere Unterſuchungen uͤber die Offenbahrung anzuſtellen, da
ich beſtaͤndig die Schriften las, welche ſie von der Seite
angriffen.
Die Offenbahrung ſchien mir nicht nothwendig, ihre
hiſtoriſche Glaubwuͤrdigkeit zweifelhaft, und die darin er-
zaͤhlten Begebenheiten wenig wahrſcheinlich. Von dem
erſten war ich itzt uͤberzeugt. Die Ungewißheit uͤber die bey-
den vorhin angezeigten Puncte, und die Nothwendigkeit,
ſtaͤrkere Bewegungsgruͤnde zur Tugend zu finden, als die,
ſo die Vernunft uns giebt, ließen mich nicht laͤnger daran
zweifeln. Die hiſtoriſche Glaubwuͤrdigkeit und die Moͤg-
lichkeit der Wunder bewieſen mir Leß und Bonnet. Es
waͤre hinlaͤnglich geweſen, durch Weſt die Gewißheit von
der Auferſtehung Chriſti erhalten zu haben: aber Sie
wiſſen, ich bin alle uͤbrigen Beweiſe durchgegangen. Jch
hatte vorhin viele Thatſachen in der Naturlehre geglaubt,
wovon ich den Zuſammenhang zwiſchen der Urſache und
T 5Wuͤr-
[298]
Wuͤrkung nicht begriff: warum zweifelte ich an den Wun-
dern, deren Endzweck deutlich iſt? Gewiß, bloß weil ich
wollte. Jch bin itzt von den hiſtoriſchen Wahrheiten, worauf
die Gewißheit der Offenbahrung hauptſaͤchlich ankommt,
ſo gewiß, als wenn ich ſie mit Augen geſehen haͤtte. Die
Uebereinſtimmung glaubwuͤrdiger Zeugen, wo es bloß auf
ſinnliche Beobachtung ankommt, iſt mir ſo ſicher, als
meine eigne Erfahrung. Es war mir noͤthig darin zur
groͤßten Gewißheit zu kommen, um alle die Zweifel zu ent-
fernen, die ſich ohne Unterlaß meinem Verſtande zeigten,
und ich danke Gott mit der lebhafteſten Empfindung, daß
ich darin gluͤcklich geweſen bin.
Sie kennen, wehrter Freund, die Gemuͤthsver-
faſſung, mit der ich dieſe Unterſuchung anſtellte. Meine
vorigen Grundſaͤtze lehrten mich die Nothwendigkeit, ge-
gen alle heftige Leidenſchaften auf meiner Hut zu ſeyn. Die
Uebung, die Art meiner Beſchaͤfftigungen, und der Weg,
auf dem ich mein Gluͤck gemacht, hatten mir eine Fertigkeit
gegeben, in allen Umſtaͤnden mit Kaltſinn zu handeln. Jch
war mich nur einer empfindlichen Seite bewußt, nemlich
der Freundſchaft. Dieſe machte mir meinen itzigen Zuſtand
allein fuͤhlbar, da mich der Beſitz und Verluſt des vorigen
außer dem wenig geruͤhrt hat. Gegen meine Einbildungs-
kraft, die meinen Abſichten hinderlich ſeyn konnte, ſuchte
ich mich jederzeit in Sicherheit zu ſetzen, ſo daß ich weder
Poeten noch andre Schriftſteller las, ſo ſolche in Be-
wegung ſetzen konnten. So wie ich anfaͤnglich mistrauiſch
und zweifelhaft war, ſo verließ ich doch nachher nicht leicht
eine Meynung, die ich fuͤr wahr hielt, weil ich uͤberzeugt
war, daß oft wiederhohlte Unterſuchungen und Aenderun-
gen die Thaͤtigkeit aufhuͤben. Wenn dieſe Hartnaͤckigkeit,
die auhaltende Verfolgung Eines Gegenſtandes und der
Kaltſinn im Handeln vieles zu meinem Gluͤck und Ungluͤck
beygetragen: ſo wuͤrden ſie auch mich verfuͤhrt haben, mei-
ner ewigen Gluͤckſeeligkeit zu verfehlen, haͤtten mich nicht
die
[299]
die vielen Beweiſe, ſo ich geleſen und von Jhnen gehoͤrt,
von meinem Jrrthum zuruͤckgebracht.
Es gereicht anitzt zu meiner Beruhigung und Ueber-
zeugung, daß ich die Beweiſe der hiſtoriſchen Gewißheit
der Offenbahrung mit aller Vorſicht und Behutſamkeit ge-
pruͤft habe. Nachdem ich davon gewiß war, ſo konnte ich
alle uͤbrige Zweifel mir ſelbſt heben. Von der Nothwen-
digkeit eines ſtaͤrkern Bewegungsgrundes, als den die
Vernunft uns giebt, war ich uͤberzeugt. Die wohlver-
ſtandene Selbſtliebe, die Ehre, die Liebe zur Tugend,
leiden ſo viele Erklaͤrungen, und der Verſtand kann ſich
bey ihrer Anwendung ſo leicht irren, wenn er nicht durch
einen ſtarken Bewegungsgrund zuruͤckgehalten wird, die
Sache, ſo er begehrt, bloß von der Seite, die ihm die
angenehmſte iſt, anzuſehen. Nichts iſt kraͤftiger als die
Erinnerung, daß ich Gott wohlgefaͤllig geſinnt ſeyn und
handlen ſoll. Wenn ich in dieſer Abſicht die Religion jeder-
zeit fuͤr nuͤtzlich gehalten, ſo glaubte ich doch, daß eine
richtige und deutliche Kenntniß der Pflichten, und der
Wille ſolche zu erfuͤllen, demjenigen, ſo ſich gewoͤhne nach
Grundſaͤtzen zu handeln, hinlaͤnglich zur Tugend ſey.
Jch fand den Urſprung der Religionsgebraͤuche in der
natuͤrlichen Furcht und Schwaͤche der Menſchen, ſo durch
die verſchiedenen Revolutionen der Erde noch vermehrt
waͤre, welche nachher durch die Sitten, Gewohnheiten
und Denkungsart der Nationen verſchiedene Geſtalten be-
kommen haͤtten. Dieſe Betrachtung machte mich gegen die
chriſtliche Religion wegen ihrer Zuverlaͤſſigkeit und Deut-
lichkeit dankbarer. Wir gewoͤhnen uns an die Begebenhei-
ten, ſo wir taͤglich ſehen, wir finden die naͤchſten Urſachen
derſelben, und die außerordentlichen verlieren mit der Zeit
den Eindruck, ſo ſie auf uns machen. Deswegen wird das
Andenken Gottes und der Wuͤrkungen, ſo uns daran erin-
nern koͤnnen, meiſtentheils nur ſchwach empfunden. Die
innern Empfindungen, das Gewiſſen, die Betrachtung
der
[300]
der Natur, die außerordentlichen Begebenheiten derſel-
ben, fuͤhren uns ſelten dahin zuruͤck: und wenn es geſchicht,
ſo machen wir daraus keine moraliſche Anwendung auf uns.
Der Wille Gottes in Abſicht unſrer Gluͤckſeeligkeit bleibt
der Vernunft zweifelhaft, ſo lange der Verſtand ihn finden
ſoll. Die verſchiedenen Offenbahrungen im alten Teſtament,
die Strafen, die Weißagungen, das Geſetz, ließen noch
Zweifel uͤbrig, ob ſolche nicht natuͤrliche Urſachen und
Menſchen zum Urſprung haben koͤnnten. Jtzt aber, da
Chriſtus in die Welt gekommen iſt, und geſagt, daß er den
Willen Gottes lehre, daß er zu dieſem Endzweck geſandt,
und daß er ſelbſt Gott ſey: ſo bleibt keine Entſchuldigung
der Unwiſſenheit und des Jrrthums uͤbrig. Jeder, der
die Gelegenheit dazu hat, und es will, kann ſich davon
uͤberzeugen.
Ein glaubwuͤrdiges Zeugniß iſt eben ſo zuverlaͤſſig,
als wenn ich einer Begebenheit aus meiner Erfahrung ge-
wiß bin, und wer das letzte verlangt, kann noch taͤglich die
Beſtaͤtigung der Weißagung Chriſti in Abſicht der Juden
mit ſeinen Augen ſehen. Ein Volk, das durch keine Ver-
achtung, Verfolgung und Unterdruͤckung dahin gebracht
werden koͤnnen, ſich mit andern Nationen zu vermiſchen
und ihre Sitten und Gebraͤuche anzunehmen. Die Wun-
der, wodurch Chriſtus ſeine goͤttliche Sendung beſtaͤtigt
hat, koͤnnen mit gleicher Gewißheit bewieſen werden. Sie
ſind ohne Vorbereitung, ohne Nebenumſtaͤnde, ſo die
Sinne verblenden koͤnnen, gelegentlich, unerwartet und
in Gegenwart mistrauiſcher Zuſchauer geſchehen, ſo daß
kein Betrug dabey vermuhtet werden kann. Es waren
außerdem Handlungen, von denen jedermann ohne be-
ſondre Einſichten begreifen konnte, daß ſolche nicht durch
das Mittel, ſo dazu angewendet ward, hervorzubringen
moͤglich ſey. Ein Blindgebohrner ward ſehend, ein vier
Tage im Grabe gelegener Todter lebendig und einer durch
die Gicht contract gewordener geſund: und dieß geſchah
auf
[301]
auf ein Wort. Es mag nun in der Ordnung der Natur vor-
herbeſtimmt geweſen ſeyn, daß ſolches um die Zeit erfolgen
ſollte, oder Gott wuͤrkte es unmittelbar: ſo mußte Chri-
ſtus im erſten Fall davon benachrichtigt ſeyn, und im an-
dern von Gott erhoͤrt werden. Beydes war ein Wunder
und Beweis ſeiner goͤttlichen Sendung.
So bald ich hievon gewiß war, ſo blieb mir weiter
nichts uͤbrig als zu unterſuchen, ob etwas in deſſen Lehre
und was er zu glauben befielt enthalten ſey, ſo meiner Ver-
nunft widerſpricht. Er will, daß ich gluͤcklich und tugend-
haft ſeyn, daß ich meine Gluͤckſeeligkeit nicht in dem ſinnli-
chen Vergnuͤgen und in der Befriedigung meiner Begier-
den ſuchen, daß ich Gott uͤber alles lieben und mit meinem
Naͤchſten ſo handeln ſoll, als ich wuͤnſche von ihm begegnet
zu werden. Er befielt mir zu glauben, daß ein Leben nach
dieſem ſeyn, in welchem die Geſinnungen und Handlungen
des itzigen meinen Zuſtand beſtimmen werden; daß ich ohne
Gottes Beyſtand keine hinlaͤngliche Kraͤfte in mir ſelbſt ha-
be, beſtaͤndig gleich tugendhaft geſinnt zu ſeyn und zu han-
deln; daß Gott nichts außerordentliches fuͤr mich allein
thun werde, um die uͤbeln Folgen meiner Vergehungen im
kuͤnftigen Leben von mir abzuwenden; daß Gott ihn ge-
ſandt habe um mir die ſtaͤrkſten Verſicherungen von ſeiner
Gerechtigkeit und Unveraͤnderlichkeit zu geben; daß es
aber zugleich der ſicherſte Beweis ſeiner Liebe ſey, indem
Gott mir durch ihn das zuverlaͤſſigſte Mittel anzeige, unter
deſſen Gebrauch ich dieſem hoͤchſten Weſen gefaͤllig werden
koͤnne. Alles dieſes ſtimmte mit meiner Vernunft uͤberein.
Aber Chriſtus befohl mir außerdem zu glauben, daß
er wahrer Gott und Menſch, daß er Gottes Sohn ſey, und
daß in Gott, Vater, Sohn und heiliger Geiſt Eins ſeyn.
Dieß ſchien allen meinen bisherigen Begriffen zu widerſpre-
chen. Jedoch wußte ich, daß Chriſtus in allem die Wahr-
heit geſagt, daß ihm dieſe Geheimniſſe voͤllig bekannt ſeyn
muͤßten, und das nicht die geringſte Vermuthung da ſey,
er
[302]
er wolle mir etwas, ſo meiner Vernunft widerſpreche, zu
glauben heißen. Ueber meinen Verſtand konnte es ſeyn;
allein wie viele Sachen ſind nicht in der Natur, daran wir
nicht zweifeln, ohne ihren Zuſammenhang zu begreifen!
Jch hielt mich fuͤr verbunden, dieſe Geheimniſſe auf die
Verſicherung Chriſti anzunehmen. Jedoch dachte ich viel
daruͤber nach, ohne etwas widerſprechendes darin zu finden,
Gott wollte ſich uns auf eine Art zu erkennen geben, ohne
daß die Art und Weiſe, die Zeichen und der Endzweck, ſo
wie bis dahin geſchehen, aus natuͤrlichen Urſachen erklaͤrt
werden koͤnnten. Gott erwaͤhlte dazu die Sprache der
Menſchen, den Unterricht der verſtaͤndlichſten Zeichen, wo-
durch wir uns unter einander unſere Gedanken mittheilen.
Der Gott, ſo durch Chriſtum redete, war derſelbige, ſo
dieſer uns nachher als Vater und heiligen Geiſt bekannt ge-
macht hat. Es kann niemand laͤngnen, das Weſen Gottes
koͤnne nicht mit allen ſeinen Eigenſchaften verſchiedene Wuͤr-
kungen zu gleicher Zeit hervorbringen, ohne daß man den
Begriff damit verbinde, er habe noͤthig ſich deswegen zu
theilen. Es war alſo das hoͤchſte Weſen, ſo wir aus der
Vernunft als Eins erkennen, welches durch Chriſtum, der
uͤbrigens alle Eigenſchaften eines Menſchen hatte, auf uns
wuͤrkte, ſich uns bekannt machte und zeigte, da wir es ſelbſt
durch unſre Sinne nicht empfinden koͤnnen. Wir ſind ge-
wohnt fremde Begriffe auf uns bekannte Gegenſtaͤnde anzu-
wenden um ſie begreiflicher zu finden. Jch habe mich dabey
der Schwere erinnert, die in verſchiedenen Koͤrpern ver-
ſchiedene Wuͤrkungen hervorbringt, und doch immer die-
ſelbige Kraft iſt. Jn dem Begriff ſelbſt, den ich ſehr oft viel
weitlaͤuftiger, als ich hier ihn wiederhohle, und auf alle
mir bekannte Arten durchgedacht, habe ich nie etwas wider-
ſprechendes gefunden. Eben ſo wenig als daß Chriſtus uns
Gott als Vater und heiligen Geiſt hat kennen gelehrt.
Wie leicht faͤllt man nicht in Jrrthum, wenn uns je-
mand einen unbekannten Gegenſtand mit einem uns bekann-
ten
[303]
ten vergleicht? Es iſt mir nicht erlaubt alle Nebenbegriffe,
ſo ich von dieſem habe, auf jenen anzuwenden. Wenn man
einem Jndianer ſagt, daß Waſſer im Winter hier ſo hart
als Stein werde, und er wollte daraus ſchließen, man koͤnne
das Eis gluͤhend machen und zum Bau eines Hauſes ge-
brauchen, ſo wuͤrde er etwas ungereimtes denken. Chri-
ſtus hat uns Gott als Vater gezeigt, um den Begriff der
Liebe deſſelben mit einer uns bekannten Art der Liebe zu ver-
gleichen. Eine philoſophiſche Umſchreibung wuͤrde ihn nicht
deutlicher gemacht haben. Wollen wir aber dabey alles den-
ken, was wir uns unter einem Vater vorſtellen, ſo geht es
uns als dem Jndianer. Auf dieſe Art wird auch begreiflich,
daß Chriſtus, Gottes Sohn, von ihm als Vater, gezeugt
iſt. Von Ewigkeit her wollte Gott uns durch Chriſtum ſich
zu erkennen geben, und hievon gab uns der Ausdruck, zeu-
gen, den erforderlichen Begriff. Wir koͤnnen uns daraus
zugleich eine Vorſtellung von den Verhaͤltniſſen Gottes des
Vaters und Chriſti machen, indem wir dieſen als Gottes
Sohn denken. Nur muͤſſen wir davon abſondern, was die
Vernunft uns lehrt nicht auf Gott angewendet werden zu
koͤnnen. Der Sohn hat ſein Weſen vom Vater, deſſen We-
ſen iſt dem des Vaters gleich, dieſer liebt ihn, und die Guͤter,
ſo er beſitzt, gehoͤren auch ſeinem Sohne zu.
Endlich verſpricht Chriſtus, daß nach ſeinem Tode der
Geiſt Gottes die Wahrheit, ſo er gelehrt, beſtaͤtigen werde.
Dieß geſchah auch auf eine ſinnliche Art durch die Faͤhigkei-
ten, ſo die Apoſtel erhielten: und er wuͤrkt auf diejenigen,
ſo die Lehre Chriſti in Andenken haben, und durch dieſe leb-
hafte Erinnerung an Gott im Stande ſind richtige Ent-
ſchluͤſſe zu nehmen, und ſo geſinnt zu ſeyn und zu handeln,
wie ſie wiſſen, daß es Gott gefaͤllt.
Gott hat ſich mir nun auf dreyerley Art zu erkennen ge-
geben, und dieß bringt mir ihn auf eine dreyfache Art in
Erinnerung, wenn ich uͤber meine Beſtimmung und Gluͤck-
ſeeligkeit nachdenke. Wir ſind gewohnt zuſammengeſetzte
Vor
[304]
Vorſtellungen und Begriffe unter Einer Benennung zu
erinnern, um nicht jedesmahl die einzelnen im Reden
oder Denken zu wiederhohlen: und dazu hat man das
Wort Perſon fuͤr das Beſte gehalten. Finde ich alsdenn
einen Widerſpruch, wenn ich ſage: Es iſt ein Gott, aber
ich erkenne in ihm drey Perſonen, ſo iſt es die Schuld
meines Verſtandes, daß er die richtigen Begriffe nicht ge-
genwaͤrtig hat, und andre, die ihm zuerſt einfallen, oder
die er gewoͤhnlich mit dem Worte Gott und Perſon denkt,
damit verbindet. Es wuͤrde mir wie dem Jndianer gehen,
wenn ich die Sache als ungereimt verwerfen wollte, da jener
nachher glaubt, ich habe ihm eine Unwahrheit geſagt,
weil er erfahren, daß Eis im Sommer oder beym Feuer
wieder zu Waſſer werde.
Jch denke mir die Verſoͤhnung Chriſti, ohne daß
mein Verſtand den geringſten Anſtoß dabey findet. Ueber-
zeugt von der Wichtigkeit zu meiner Gluͤckſeeligkeit, gewiß
zu wiſſen, daß meine Handlungen Gott nicht gleichguͤltig
ſind, erfahre ich mit der groͤßeſten hiſtoriſchen Gewißheit,
daß Chriſtus gelebt, und bewieſen, er ſtehe mit Gott in
Verbindung, indem er Sachen that, die durch keine natuͤr-
liche Urſachen erklaͤrt werden koͤnnen. Er verſichert mich
ſeiner Freundſchaft, ich kann keinen Vortheil, den er von
mir erwarte, noch Abſicht erdenken, die ihn mich zu hin-
tergehen veranlaſſen koͤnnten. Jch bin geneigt, meinem
Freunde in einer Sache zu glauben, von der ich aus ſei-
nen vorhergegangenen Handlungen geſehen, daß er mehr
Kenntniß als ich habe, wenn nur der Verſtand nichts
widerſprechendes darin findet. Chriſtus ſagt mir, daß er
die Geſinnungen Gottes wiſſe, und daß Gott ſelbſt durch
ihn mit mir rede; die beſte Art, ſo ich hoffen konnte, jene
zu erfahren. Die Lehren, ſo er mir giebt, ſtimmen mit
demjenigen uͤberein, was ich aus der Vernunft zu meinem
Gluͤck fuͤr noͤthig erkenne: ich wußte aber zugleich, daß ich
bey der Anwendung derſelben leicht in Jrrthum verfallen
koͤnnte,
[305]
koͤnnte, wenn ich nicht beſtaͤndig gleich lebhaft den Antheil,
ſo Gott an meinen Handlungen nimmt, erinnerte. Was
es vorhin thun koͤnnen, hatte ich andern Urſachen und Ab-
ſichten zugeſchrieben, und vielleicht wuͤrde ich die Hand-
lungen und Freundſchaft Chriſti auf gleiche Weiſe erklaͤrt
haben. Chriſtus bringt mir alles ins Gedaͤchtniß, was
ich hievon aus der Geſchichte und Kenntniß der Natur
weiß, und verſichert mich, daß beſonders die außeror-
dentlichen Begebenheiten zu dieſem Endzweck von Gott be-
ſtimmt waren. Alles dieſes zieht er in den Begriff zuſam-
men, daß Gott den Menſchen als Vater liebe. Nun zeigt
ſich Gott als ein Freund. Chriſtus wird verſpottet, fuͤr
einen Betruͤger gehalten, ob er gleich bloß lehrt, wie wir
gluͤcklich werden koͤnnen, und dienſtfertige Handlungen
ausuͤbet. Um mir keinen Zweifel an ſeiner Aufrichtigkeit
uͤbrig zu laſſen, ſo giebt er mir die ſtaͤrkſte Probe der Freund-
ſchaft: er leidet den Tod, um eine Wahrheit zu beſtaͤtigen,
ohne deren Gewißheit und Befolgung ich nicht gluͤcklich
ſeyn kann. Gott, mit dem Chriſtus als Sohn in Ver-
haͤltniß ſteht, erlaubt ihm dieſes. Kann ich nun jemals
wieder zweifeln, daß Gott Antheil an mir nehme? Jch
weiß aus der Vernunft, daß die Regelmaͤßigkeit, nach
welcher ich handle und geſinnt bin, mich Gott wohlgefaͤl-
lig mache, und daß ich ſolche ohne eine lebhafte Erinne-
rung Gottes nicht erhalten koͤnne. Jtzt kenne ich ihn als
Vater und Freund. Dieſe beyden Arten mir ihn vorzu-
ſtellen, will ich nie vergeſſen!
Chriſtus empfielt mir vornehmlich an ihn zu glauben,
mich ſeiner Freundſchaft zu erinnern, ohne dem koͤnnte ich
meinen Endzweck nicht erreichen. Jemehr ich den Wahr-
heiten, ſo er mir hinterlaſſen, nachdenke, deſto mehr finde
ich, wie weit ich von der Ordnung entfernt war, deren
Beobachtung allein mich Gott gefaͤllig machen konnte.
Soll ich nicht auf das empfindlichſte bereuen einen Freund
beleidigt zu haben, den ich geringſchaͤtzte und nicht kennen
Uwollte?
[306]
wollte? — Jch bin ungewiß ob ein kuͤnftiges Leben ſey,
und ob die uͤblen Folgen meiner Vergehungen keinen Ein-
fluß darauf haben werden. Chriſtus verſpricht mir, daß
Gott, den ich als Vater kenne, ſolches von mir abwen-
den werde, wenn ich von nun an ein uneingeſchraͤnktes
Zutrauen in ſeine Freundſchaft ſetze. — Jch beruhige
mich uͤber das Vergangene, jedoch weiß ich aus der Er-
fahrung, wie leicht es ſey, eine entfernte durch eine ge-
genwaͤrtige Vorſtellung zu ſchwaͤchen: und dieß iſt der
Fall, wenn ich etwas heftig begehre, ſo ich mir unterſagen
ſoll. Chriſti Lehre giebt mir auch hievon Unterricht. Gott,
der heilige Geiſt, wird dieſe Eindruͤcke erneuren, wenn
ich mir die Wahrheiten der Lehre genau bekannt mache,
und mit dem Vorſatze ſie zu befolgen mir wiederhohle.
Nichts iſt nunmehr in meiner Vernunft, welches
mich zuruͤckhaͤlt vollkommen uͤberzeugt zu ſeyn, die Mittel,
ſo Chriſtus mich lehrt, ſind die einzigen, ſo mich tugendhaft
und Gott gefaͤllig machen koͤnnen. Es iſt meine Schuld,
wenn ich ſie nicht annehme und gebrauche: Jch will nicht
gluͤcklich ſeyn. Gott wird nicht in jenem Leben die Ordnung
der Dinge um meinetwillen unterbrechen, und ich werde
die uͤbeln Folgen meiner Nachlaͤſſigkeit, Leichtſinns und
eiteln Hoffnung von deſſen Guͤte, empfinden muͤſſen. Bin
ich ihm nicht ohnehin unendlichen Dank ſchuldig, daß er
ſich mir auf eine außerordentliche Art zu erkennen gegeben
hat? Jch konnte es nicht erwarten, wie ich auch die gluͤck-
lichen Folgen meines Vorſatzes, mich den Lehren Chriſti
gemaͤß zu verhalten, nicht verdienen werde. Ohne die be-
ſtaͤndige Gegenwart des Geiſtes Gottes kann ich ſolchen
nicht ausfuͤhren, und wie oft werde ich mich dem ohngeach-
tet durch Uebereilung hinreißen laſſen ihn zu vergeſſen!
Dieß alles ſtimmt genau mit der Lehre Chriſti uͤberein.
Jch denke beſtaͤndig an Einen Gott, und die verſchiedenen
Begriffe, unter denen ich mir ihn vorſtelle, ſind keine ein-
zelne Goͤtter. Alles ſtimmt mit meiner Vernunft uͤberein.
Nur
[307]
Nur wagte ſie nie zu hoffen, wenn ſie Gott und mich be-
trachtete, daß dieſes hoͤchſte Weſen ſo unausſprechlich guͤtig
ſeyn, und mich lehren wuͤrde, den Erkenntnißkraͤften mei-
ner Seele gemaͤß gluͤcklich zu ſeyn. Voller Dankbarkeit,
mit demuͤthigem Bewußtſeyn meiner Unwuͤrdigkeit, bete ich
es an, und werde nie aufhoͤren, die Gnade, ſo es mir
durch Chriſtum erwieſen, mit Verehrung zu erinnern.
Jch las die Lebensgeſchichte Jeſu mit vieler Empfin-
dung. Sie vermehrte meine Schmerzen, und erregte
mir neue. Allein ich fuͤrchtete, es ſey mehr meine Ge-
muͤhtsverfaſſung, weil ich noch voller Zweifel war. Die
Unterſuchung der Wahrheit der chriſtlichen Religion
machte mir mehr Vergnuͤgen, je weiter ich darin kam.
Meine Vernunft nahm ſie an, aber ich empfand nicht
das Gefuͤhl, ſo ich nach einer undeutlichen Vorſtellung
mit der Annehmung derſelben verbunden zu ſeyn gehoͤrt.
Spalding berichtigte meine Begriffe daruͤber. Jch erfuhr
wie ſchwer es ſey, Meynungen und Geſinnungen, ſo zur
Gewohnheit geworden zu verlaſſen, ob ich gleich von ihrer
Unwahrheit und Schaͤdlichkeit uͤberzeugt war. Meine
Zweifel zeigten ſich mir wider meinen Willen, und ich
verlohr ſie nicht eher, bis jeden einzeln unterſucht, und
die Beweiſe fuͤr die Religion oͤfters durchgedacht hatte.
Die Anwendung ihrer Wahrheiten erregte mir leb-
hafte Reue, Traurigkeit, Schaam, Demuͤthigung. Ohne
Angſt und Verzweifelung erwartete ich die Beruhigung,
ſo mir das Evangelium verſprach. Meine Geſinnungen
nach deſſen Vorſchrift in Ordnung zu bringen, beſchaͤff-
tigte mich am meiſten. Die beſtaͤndige Erinnerung der
großen Guͤte Gottes, ſo mir beſonders durch die Verſoͤh-
nung Chriſti wiederfahren, uͤberwand die Schwierigkei-
ten, ſo ich in meiner Gemuͤhtsverfaſſung fand. Das
Vergnuͤgen eine Gluͤckſeeligkeit zu finden, von der ich
mich vorſetzlich entfernt, konnte keine lebhafte Freude ver-
anlaſſen, weil ich mich erinnerte, daß ich ſie auf eine
U 2Gott
[308]
Gott misfaͤllige Art vorhin geſucht haͤtte. Zu ruhig
konnte ich nicht daruͤber werden. Der Gedanke verhin-
derte es, daß ich mit meiner itzigen Erkenntniß die Per-
ſonen, deren Vertrauen ich vorhin beſeſſen, haͤtte auf-
muntern koͤnnen, dieſelbe Gluͤckſeeligkeit zu ſuchen. Jtzt
bete ich zu Gott, daß er es thun moͤge, und ich bin ver-
ſichert erhoͤrt zu werden, denn Chriſtus hat es zugeſagt.
Das Gebet hebt meine Unruhe uͤber dieſe oder andre Er-
innerungen. Jch richte meine Gedanken an Gott, wie-
derhohle die Lehren des Evangelii, denke uͤber ihren Zu-
ſammenhang nach, wende ſie auf mich an, und wenn
ich ſo im Nahmen meines Erloͤſers bete, ſo finde ich das
Mittel meiner Beruhigung, und bewundre dankbar die
Kraft der Wahrheit.
Jch weiß itzt, wie wenig der Chriſt den Vorwurf
des Eigennutzes verdient. Er bittet und erhaͤlt keine
Belohnung, als durch die Bemuͤhung Gott wohlgefaͤllig
zu ſeyn, indem er nach der ihm gegebenen Vorſchrift
ſeine Geſinnungen in Ordnung bringt. Wird er erhoͤrt,
ſo erkennt er mit Dankbarkeit, die Mittel dazu in Chriſti
Lehre empfangen zu haben, erinnert ſich ſeiner Schwaͤche
und des Beyſtandes Gottes. Kein blindes Zutrauen der
Guͤte Gottes noch die Hoffnung der Gluͤckſeeligkeit des
kuͤnftigen Lebens erhitzt ſeine Einbildungskraft. Dieſe
wird verhaͤltnißmaͤßig nach ſeiner itzigen Gemuͤhtsver-
faſſung beſtimmt werden. Bonnet und Lavater haben
mich ſtufenweiſe zur Empfindung der Ewigkeit gefuͤhrt.
Aber ich beſchaͤftige mich lieber mit Spaldings, Alberti
und aͤhnlichen Schriften.
Das Andenken, wie lange und beſtaͤndig ich meine
vorigen Grundſaͤtze gedacht und befolgt, noͤthigt mich
aufmerkſam zu ſeyn, damit ſie nicht unvermerkt einen
Einfluß auf meine Geſinnungen habe. Wie ſehr wuͤn-
ſche ich nicht den Eindruck, ſo ſie auf andre machen koͤn-
nen, auszuloͤſchen! Ohne ſie zu lehren, habe ich ſie doch
nie
[309]
nie gelaͤugnet. Wenn ich gleich kein Verbrechen, ſo
man vor der Welt, die ſo denkt, wie ich gedacht habe,
zu geſtehen ſich ſcheuen muß, zu beweinen haͤtte: ſo
fuͤhle ich um ſo viel lebhafter diejenigen, deren ich mir
vor Gott bewußt bin. Das Gefuͤhl der Freundſchaft und
der Menſchenliebe erinnert mich ohne Unterlaß an das
Beyſpiel, den Leichtſinn, die Verfuͤhrung, wodurch ich
andre verleitet, die ſinnlichen Vergnuͤgen als den Haupt-
zweck ihrer Beſtimmung anzuſehen. Außer dieſer und
aͤhnlichen Betrachtungen ruͤhrt mich nichts, was eine
Beziehung auf meinen itzigen Zuſtand hat. Schrecken
und die Vernunft betaͤubende Furcht habe ich vorhin
wenig gekannt. Der Tod ruͤhrte mich wenig, da ich ihn
als die Folge natuͤrlicher Urſachen und eines unvermeid-
lichen Schickſals anſah. Jtzt iſt er mir nichts ſchreckli-
ches, da ich weiß, daß ich von Gott abhange, da ich
von der Wahrheit der geoffenbarten Religion uͤberzeugt
bin, und eine gluͤckliche Ewigkeit erwarte.
Jch danke Gott unendlich zu dieſer Ueberzeugung
gelangt zu ſeyn, und erkenne es mit der lebhafteſten
Dankbarkeit, mein wehrteſter Freund, daß Sie mich
dahin gefuͤhrt haben. Sie haben die einzige Art gewaͤhlt,
ſo meine Gemuͤhtsverfaſſung zuließ. Bilder und Decla-
mationes wuͤrden wenig auf mich gewuͤrkt haben. Haͤtten
Sie meine Einbildungskraft und Leidenſchaften in Be-
wegung ſetzen koͤnnen, ſo wuͤrden meine Grundſaͤtze ſie
bald wieder beruhigt haben. Die Wahrheiten der Re-
ligion waren in meinem Gedaͤchtniſſe. Jn meinem erſten
Alter hatte ich haͤufig die Bibel geleſen, aber mit ganz
andern Vorſtellungen als ich ſie itzt leſe. Jhre Aus-
druͤcke waren mir bekannt, und ich hatte nachher eine
Fertigkeit erlangt, alle die Zweifel und Begriffe, ſo
meiner Meynung gemaͤß waren, damit zu verbinden.
Ehe der Verſtand mir die Falſchheit der letztern erwie-
ſen, konnten Sie keine aufrichtige Annehmung der
U 3Offen-
[310]
Offenbahrung bey mir hoffen. Meine moraliſchen Ver-
gehungen erkannte ich leicht: aber meinen Jrrthum mir
ſelbſt zu geſtehen, koſtete mich mehr Ueberwindung, als
Sie wiſſen, und ich Jhnen geſagt habe. Die Vor-
ſtellung der Furcht vor der Ewigkeit wuͤrde meinen Stolz
ermuntert haben, auch dieſe Furcht, wie andre Arten
derſelben zu uͤberwinden. Die Begierde hier ſo gluͤck-
lich als moͤglich zu ſeyn, hatte mich alle Arten Gefahr
verachten gelehrt, und zwar mehr durch kaltes Nach-
denken uͤber dieſe, als durch eine lebhafte Empfindung
des Gluͤcks. Die Wahrheit konnte mich allein zuruͤck-
bringen, und dieſe uͤberließen Sie meinen Unterſuchun-
gen. Sie zeigten bloß meinen Vorſtellungen die Folgen,
ſo meine Art zu denken und zu handeln auf meine Freun-
de, diejenigen ſo Antheil an mir genommen, und auf
deren Schickſal ich einen Einfluß gehabt, machen koͤn-
nen. Dieſe Seite war mir ohnehin fuͤhlbar und die ein-
zige, ſo meine Empfindungen in Bewegung ſetzte. Je-
doch wuͤrde ſie mich nicht ohne eine deutliche Erkenntniß
der Wahrheit zur Annehmung der Religion gebracht ha-
ben. Jch bin gewiß verſichert, daß ich ſolches vorhin,
als ich der Ueberlegung faͤhig war, unter jeden Umſtaͤn-
den gethan haͤtte, wenn Sie mir ſo gezeigt und gelehrt
worden, als Sie gethan. Jch habe in der Religion
gefunden, was ich gewuͤnſcht, aber zu hoffen mir nicht
erlaubt ſchien. Jch kannte ihre Wahrheiten bloß unter
Bildern, und gewiſſen Redensarten, die mir durch die
oͤftere Wiederholung zur Gewohnheit geworden, ohne
daß ich Begriffe damit verband. Der erſte Unterricht
kann nur durch ſinnliche Bilder oder Vorſtellungen ge-
ſchehen, und nachher erinnerte ich mich derſelben um
Zweifel dagegen zu finden. Dieß hielt mich ab bey ihr
zu vermuhten, was ich ſuchte.
Zwey
[311]
Zwey Urſachen vermochten mich vornehmlich keine
genauere Pruͤfung der Beweiſe fuͤr die Religion anzuſtellen.
Sie wiſſen, was man wider die hiſtoriſche Glaubwuͤr-
digkeit der Begebenheiten und der Wunder einwendet.
Leß und Bonnet kannte ich nicht, und die Einwuͤrfe,
ſo man dagegen macht, ſchienen mir ſo gegruͤndet, daß
ich ſie als wahr annahm. Auf der andern Seite, wenn
ich der Verſoͤhnung Chriſti nachdachte, ſo fand ich ſie
allen meinen Begriffen widerſprechend. Um die Gerech-
tigkeit und Liebe Gottes den Menſchen lebhafter einzu-
druͤcken, ſo wird ſie gemeiniglich ſo vorgeſtellt: daß
Gott wegen der Suͤnde auf die Menſchen zornig ſey, ſie
aber doch auch ſo ſehr liebe, daß er wuͤnſche ihnen verge-
ben zu koͤnnen. Dieß habe nicht anders, als durch den
Tod ſeines eingebohrnen Sohns, welcher Gott wie er
ſey, geſchehen koͤnnen. Hiebey ward meine Aufmerk-
ſamkeit am meiſten auf den Begriff, ſo ich von Gott
hatte, gezogen: und wie konnte ich damit die Nothwen-
digkeit einer ſolchen Veranſtaltung einſehen? Konnte
Gott nicht ohnehin vergeben? fragte ich. Die Bezie-
hung auf Gott erregte mir den Anſtoß. Sobald Sie
mich aber gelehrt, daruͤber nachzudenken in Ruͤckſicht
auf die Beſchaffenheit des Menſchen, ſo hoben ſich die
Schwuͤrigkeiten. Jch ſah die Nothwendigkeit davon,
und die Groͤße der Guͤte Gottes, der ſeines Sohnes
ſelbſt nicht verſchonet, um die Menſchen gluͤcklich zu
machen.
Bey der Anwendung des Chriſtenthums iſt mir
beſonders anſtoͤßig geweſen, wenn ich gefunden, daß bey
vielen die Geſinnungen und Handlungen mit der Lebhaf-
tigkeit ihres Glaubens und ihrer Empfindung der Wahr-
heiten nicht uͤbereinſtimmten. Jch entdeckte die Wuͤr-
kungen der Einbildungskraft und des Selbſtbetrugs, da
ſie ſich beruhigten die ſinnlichen Ausſchweifungen vermie-
den zu haben, und hingegen dem Stolz, dem Neid,
Haß
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Haß und Verfolgungsgeiſt unter dem Schein des Eifers
ſich uͤberließen. Dieſer Misbrauch zeigte mir die Reli-
gion als eine Verblendung, die zu allen Zeiten auf die
menſchliche Geſellſchaft mehr ſchaͤdliche Folgen gehabt,
als der unordentliche Genuß der ſinnlichen Vergnuͤgen.
Die Einbildungskraft uͤberſieht die Mittel, und waͤhlt
aus Uebereilung unrichtige, wenn ſie ſich zu lebhaft mit
dem Endzweck beſchaͤfftigt. Die Anwendung der Wahr-
heiten der Religion ſorgfaͤltig auf ſich ſelbſt zu machen,
die Rechtſchaffenheit und die Erfuͤllung der Pflichten
ſeines Verhaͤltniſſes zu ſuchen, halte ich daher fuͤr das
nothwendigſte, um ein wahrer Chriſt zu ſeyn. Jn die-
ſer Abſicht habe mit Vergnuͤgen dieſen Aufſatz geſchrie-
ben. Jch uͤbergebe ihn Jhnen, wehrteſter Freund, zur
Beurtheilung, und uͤberlaſſe Jhnen den Gebrauch, den
Sie davon zu machen fuͤr nuͤtzlich finden werden.
den 23ſten April 1772.
Struenſee.
Gedruckt im Wayſenhauſe,
bey Gerhard Gieſe Salikath.
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- Zitationsvorschlag für diese Edition
- TextGrid Repository (2025). Münter, Balthasar. Bekehrungsgeschichte des vormaligen Grafen und Königlichen Dänischen Geheimen Cabinetsministers Johann Friederich Struensee. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bj2b.0