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Geſchichte
vom
braven Kasperl
und

dem schönen Annerl.

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Geſchichte
vom
braven Kasperl
und
dem schönen Annerl.



Mit Darſtellung der Schluß-Scene.


Berlin: .1838.
Vereins-Buchhandlung.
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Geſchichte
vom
braven Kasperl
und
dem ſchönen Annerl.


1*[][]

Es war Sommers-Frühe, die Nachtigallen ſangen erſt
ſeit einigen Tagen durch die Straßen, und verſtummten
heut in einer kühlen Nacht, welche von fernen Gewittern
zu uns herwehte; der Nachtwächter rief die elfte Stunde
an, da ſah ich, nach Hauſe gehend, vor der Thür eines
großen Gebäudes einen Trupp von allerlei Geſellen, die
vom Biere kamen, um Jemand, der auf den Thürſtufen
ſaß, verſammelt. Ihr Antheil ſchien mir ſo lebhaft, daß
ich irgend ein Unglück beſorgte und mich näherte.


Eine alte Bäuerin ſaß auf der Treppe, und ſo
lebhaft die Geſellen ſich um ſie bekümmerten, ſo wenig
ließ ſie ſich von den neugierigen Fragen und gutmüthigen
Vorſchlägen derſelben ſtören. Es hatte etwas ſehr Be¬
fremdendes, ja ſchier Großes, wie die gute alte Frau ſo
[6] ſehr wußte, was ſie wollte, daß ſie, als ſey ſie ganz
allein in ihrem Kämmerlein, mitten unter den Leuten
es ſich unter freiem Himmel zur Nachtruhe bequem
machte. Sie nahm ihre Schürze als ein Mäntelchen
um, zog ihren großen ſchwarzen wachsleinenen Hut tiefer
in die Augen, legte ſich ihr Bündel unter den Kopf zu¬
recht und gab auf keine Frage Antwort.


Was fehlt dieſer alten Frau? fragte ich einen der
Anweſenden; da kamen Antworten von allen Seiten:
Sie kömmt ſechs Meilen Weges vom Lande, ſie kann
nicht weiter, ſie weiß nicht Beſcheid in der Stadt, ſie
hat Befreundete am andern Ende der Stadt und kann
nicht hin finden. Ich wollte ſie führen, ſagte Einer,
aber es iſt ein weiter Weg und ich habe meinen Haus¬
ſchlüſſel nicht bei mir. Auch würde ſie das Haus nicht
kennen, wo ſie hin will. Aber hier kann die Frau nicht
liegen bleiben, ſagte ein Neuhinzugetretener. Sie will
aber platterdings, antwortete der Erſte, ich habe es ihr
längſt geſagt: ich wolle ſie nach Haus bringen, doch ſie
redet ganz verwirrt, ja ſie muß wohl betrunken ſeyn.
— Ich glaube, ſie iſt blödſinnig. Aber hier kann ſie
doch in keinem Fall bleiben, wiederholte Jener, die Nacht
iſt kühl und lang.


[7]

Während allem dieſem Gerede war die Alte, gerade
als ob ſie taub und blind ſey, ganz ungeſtört mit ihrer
Zubereitung fertig geworden, und da der Letzte abermals
ſagte: Hier kann ſie doch nicht bleiben, erwiederte ſie,
mit einer wunderlich tiefen und ernſten Stimme:


Warum ſoll ich nicht hier bleiben, iſt dies nicht ein
herzogliches Haus? ich bin acht und achtzig Jahr alt,
und der Herzog wird mich gewiß nicht von ſeiner
Schwelle treiben. Drei Söhne ſind in ſeinem Dienſt
geſtorben, und mein einziger Enkel hat ſeinen Abſchied
genommen; — Gott verzeiht es ihm gewiß und ich will
nicht ſterben, bis er in ſeinem ehrlichen Grabe liegt.


Acht und achtzig Jahre und ſechs Meilen gelaufen!
ſagten die Umſtehenden, ſie iſt müd', und kindiſch, in
ſolchem Alter wird der Menſch ſchwach.


Mutter, Sie kann aber den Schnupfen kriegen und
ſehr krank werden hier, und Langeweile wird Sie auch
haben, ſprach nun einer der Geſellen und beugte ſich
näher zu ihr.


Da ſprach die Alte wieder mit ihrer tiefen Stimme,
halb bittend, halb befehlend:


O laßt mir meine Ruhe, und ſeyd nicht unver¬
nünftig; ich brauch' keinen Schnupfen, ich brauche keine
[8] Langeweile; es iſt ja ſchon ſpät an der Zeit, acht und
achtzig bin ich alt, der Morgen wird bald anbrechen, da
geh' ich zu meinen Befreundeten. Wenn ein Menſch
fromm iſt, und hat Schickſale, und kann beten, ſo kann
er die paar armen Stunden auch noch wohl hinbringen.


Die Leute hatten ſich nach und nach verloren, und
die letzten, welche noch da ſtanden, eilten auch hinweg,
weil der Nachtwächter durch die Straße kam und ſie
ſich von ihm ihre Wohnungen wollten öffnen laſſen.
So war ich allein noch gegenwärtig. Die Straße ward
ruhiger. Ich wandelte nachdenkend unter den Bäumen
des vor mir liegenden freien Platzes auf und nieder;
das Weſen der Bäuerin, ihr beſtimmter ernſter Ton,
ihre Sicherheit im Leben, das ſie acht und achtzigmal
mit ſeinen Jahreszeiten hatte zurück kehren ſehen, und
das ihr nur wie ein Vorſaal im Bethauſe erſchien, hatten
mich mannigfach erſchüttert. Was ſind alle Leiden, alle
Begierden meiner Bruſt, die Sterne gehen ewig unbe¬
kümmert ihren Weg, wozu ſuche ich Erquickung und
Labung und von wem ſuche ich ſie und für wen? Alles
was ich hier ſuche und liebe und erringe, wird es mich
je dahin bringen, ſo ruhig, wie dieſe gute fromme Seele,
die Nacht auf der Schwelle des Hauſes zubringen zu
[9] können, bis der Morgen erſcheint, und werde ich dann
den Freund finden, wie ſie? Ach, ich werde die Stadt
gar nicht erreichen, ich werde, wegemüde, ſchon in dem
Sande vor dem Thore umſinken und vielleicht gar in
die Hände der Räuber fallen. So ſprach ich zu mir
ſelbſt und als ich durch den Lindengang mich der Alten
wieder näherte, hörte ich ſie halb laut mit geſenktem
Kopfe vor ſich hin beten. Ich war wunderbar gerührt,
und trat zu ihr hin und ſprach: Mit Gott, fromme
Mutter, bete Sie auch ein wenig für mich! — bei welchen
Worten ich ihr einen Thaler in die Schürze warf.


Die Alte ſagte hierauf ganz ruhig: Hab tauſend
Dank, mein lieber Herr, daß Du mein Gebet erhört.


Ich glaubte, ſie ſpreche mit mir und ſagte: Mutter,
habt Ihr mich denn um Etwas gebeten, ich wüßte nicht.


Da fuhr die Alte überraſcht auf und ſprach: Lieber
Herr, gehe Er doch nach Haus und bete Er fein und
lege Er ſich ſchlafen. Was zieht Er ſo ſpät noch auf
der Gaſſe herum, das iſt jungen Geſellen gar nichts
nütze, denn der Feind geht um, und ſuchet, wo er ſich
Einen erfange. Es iſt Mancher durch ſolch Nachtlaufen
verdorben; wen ſucht Er, den Herrn? der iſt in des
Menſchen Herz, ſo er züchtiglich lebt, und nicht auf der
[10] Gaſſe. Sucht Er aber den Feind, ſo hat Er ihn ſchon,
gehe Er hübſch nach Haus und bete Er, daß Er ihn
los werde. Gute Nacht.


Nach dieſen Worten wendete ſie ſich ganz ruhig
nach der andern Seite, und ſteckte den Thaler in ihren
Reiſeſack. Alles was die Alte that, machte einen eigen¬
thümlichen ernſten Eindruck auf mich, und ich ſprach zu
ihr: Liebe Mutter, Ihr habt wohl recht, aber Ihr ſelbſt
ſeyd es, was mich hier hält, ich hörte Euch beten und
wollte Euch anſprechen, meiner dabei zu gedenken.


Das iſt ſchon geſchehen, ſagte ſie, als ich Ihn ſo
durch den Lindengang wandeln ſah, bat ich Gott: er
möge Euch gute Gedanken geben. Nun habe Er ſie,
und gehe Er fein ſchlafen.


Ich aber ſetzte mich zu ihr nieder auf die Treppe,
und ergriff ihre dürre Hand und ſagte: Laſſet mich hier
bei Euch ſitzen die Nacht hindurch, und erzählet mir,
woher Ihr ſeyd, und was Ihr hier in der Stadt ſucht;
Ihr habt hier keine Hülfe, in Eurem Alter iſt man Gott
näher als den Menſchen; die Welt hat ſich verändert,
ſeit Ihr jung waret. —


Das ich nicht wüßte, erwiederte die Alte, ich hab's
mein Lebetag ganz einerlei gefunden; Er iſt noch zu
[11] jung, da verwundert man ſich über Alles; mir iſt Alles
ſchon ſo oft wieder vorgekommen, daß ich es nur noch
mit Freuden anſehe, weil es Gott ſo treulich damit
meinet. Aber man ſoll keinen guten Willen von ſich
weiſen, wenn er Einem auch grade nicht noth thut, ſonſt
möchte der liebe Freund ausbleiben, wenn er ein andermal
gar willkommen wäre; bleibe Er drum immer ſitzen,
und ſehe Er, was Er mir helfen kann. Ich will ihm
erzählen, was mich in die Stadt den weiten Weg her¬
treibt. Ich hätt' es nicht gedacht, wieder hierher zu
kommen. Es ſind ſiebzig Jahre, daß ich hier im Hauſe
als Magd gedient habe, auf deſſen Schwelle ich ſitze,
ſeitdem war ich nicht mehr in der Stadt; was die Zeit
herumgeht? es iſt als wenn man eine Hand umwendet.
Wie oft habe ich hier am Abend geſeſſen vor ſiebzig
Jahren und habe auf meinen Schatz gewartet, der bei
der Garde ſtand. Hier haben wir uns auch verſprochen.
Wenn er hier — aber ſtill, da kömmt die Runde
vorbei.


Da hob ſie an mit gemäßigter Stimme, wie etwa
junge Mägde und Diener in ſchönen Mondnächten, vor
der Thür zu ſingen, und ich hörte mit innigem Ver¬
gnügen folgendes ſchöne alte Lied von ihr:


[12]
Wann der jüngſte Tag wird werden,

Dann fallen die Sternelein auf die Erden.

Ihr Todten, ihr Todten ſollt auferſtehn,

Ihr ſollt vor das jüngſte Gerichte gehn,

Ihr ſollt treten auf die Spitzen,

Da die lieben Engelein ſitzen;

Da kam der liebe Gott gezogen

Mit einem ſchönen Regenbogen,

Da kamen die falſchen Juden gegangen,

Die führten einſt unſern Herrn Chriſtum gefangen,

Die hohen Bäum' erleuchten ſehr,

Die harten Stein zerknirſchten ſehr.

Wer dies Gebetlein beten kann,

Der bet's des Tages nur einmal,

Die Seele wird vor Gott beſtehn,

Wann wir werden zum Himmel eingehn.

Amen.

Als die Runde uns näher kam, wurde die gute
Alte gerührt; ach, ſagte ſie, es iſt heute der ſechszehnte
Mai, es iſt doch alles einerlei, gerade wie damals, nur
haben ſie andere Mützen auf, und keine Zöpfe mehr.
Thut nichts, wenn's Herz nur gut iſt! Der Offizier der
Runde blieb bei uns ſtehen und wollte eben fragen, was
wir hier ſo ſpät zu ſchaffen hätten, als ich den Fähnrich
Graf Groſſinger, einen Bekannten in ihm erkannte.
[13] Ich ſagte ihm kurz den ganzen Handel, und er ſagte,
mit einer Art von Erſchütterung: hier haben Sie einen
Thaler für die Alte und eine Roſe, — die er in der
Hand trug — ſo alte Bauersleute haben Freude an
Blumen. Bitten Sie die Alte, Ihnen Morgen das Lied
in die Feder zu ſagen, und bringen Sie mir es. Ich
habe lange nach dem Liede getrachtet, aber es nie ganz
habhaft werden können. Hiermit ſchieden wir, denn der
Poſten der nahgelegenen Hauptwache, bis zu welcher ich
ihn über den Platz begleitet hatte, rief: Wer da! Er
ſagte mir noch, daß er die Wache am Schloſſe habe, ich
ſolle ihn dort beſuchen. Ich ging zu der Alten zurück,
und gab ihr die Roſe und den Thaler.


Die Roſe ergriff ſie mit einer rührenden Heftigkeit
und befeſtigte ſie ſich auf ihren Hut, indem ſie mit einer
etwas feineren Stimme und faſt weinend die Worte
ſprach:


Roſen die Blumen auf meinem Hut,

Hätt' ich viel Geld, das wäre gut,

Roſen und mein Liebchen.

Ich ſagte zu ihr: Ei Mütterchen, Ihr ſeyd ja ganz
munter geworden, und ſie erwiederte:


[14]
Munter, munter,

Immer bunter

Immer runder

Oben ſtund er,

Nun bergunter,

'S iſt kein Wunder!

Schau' Er, lieber Menſch, iſt es nicht gut, daß ich
hier ſitzen geblieben, es iſt alles einerlei, glaub' Er mir;
heut ſind es ſiebzig Jahre, da ſaß ich hier vor der
Thüre, ich war eine flinke Magd und ſang gern alle
Lieder. Da ſang ich auch das Lied vom jüngſten Gericht
wie heute, da die Runde vorbei ging, und da warf mir
ein Grenadier im Vorübergehen eine Roſe in den Schooß,
— die Blätter hab' ich noch in meiner Bibel liegen —
das war meine erſte Bekanntſchaft mit meinem ſeligen
Mann. Am andern Morgen hatte ich die Roſe vorge¬
ſteckt in der Kirche, und da fand er mich, und es ward
bald richtig. Drum hat es mich gar ſehr gefreut, daß
mir heut wieder eine Roſe ward. Es iſt ein Zeichen,
daß ich zu ihm kommen ſoll, und darauf freu' ich mich
herzlich. Vier Söhne und eine Tochter ſind mir geſtorben,
vorgeſtern hat mein Enkel ſeinen Abſchied genommen,
— Gott helfe ihm und erbarme ſich ſeiner! — und
[15] morgen verläßt mich eine andere gute Seele, aber was
ſag' ich morgen, iſt es nicht ſchon Mitternacht vorbei?


Es iſt zwölfe vorüber, erwiederte ich, verwundert
über ihre Rede.


Gott gebe ihr Troſt und Ruhe die vier Stündlein,
die ſie noch hat, ſagte die Alte und ward ſtill, indem
ſie die Hände faltete. Ich konnte nicht ſprechen, ſo
erſchütterten mich ihre Worte und ihr ganzes Weſen.
Da ſie aber ganz ſtille blieb und der Thaler des Offiziers
noch in ihrer Schürze lag, ſagte ich zu ihr: Mutter,
ſteckt den Thaler zu Euch, Ihr könntet ihn verlieren.


Den wollen wir nicht weglegen, den wollen wir
meiner Befreundeten ſchenken in ihrer letzten Noth!
erwiederte ſie; den erſten Thaler nehm' ich morgen wieder
mit nach Haus, der gehört meinem Enkel, der ſoll ihn
genießen. Ja ſeht, es iſt immer ein herrlicher Junge
geweſen, und hielt etwas auf ſeinen Leib und auf ſeine
Seele — ach Gott, auf ſeine Seele! — ich habe gebetet
den ganzen Weg, es iſt nicht möglich, der liebe Herr
läßt ihn gewiß nicht verderben. Unter allen Burſchen
war er immer der reinlichſte und fleißigſte in der Schule,
aber auf die Ehre war er vor Allem ganz erſtaunlich.
Sein Lieutenant hat auch immer geſprochen: wenn
[16] meine Schwadron Ehre im Leibe hat, ſo ſitzt ſie bei dem
Finkel im Quartier. Er war unter den Uhlanen. Als
er zum erſtenmal aus Frankreich zurück kam, erzählte er
allerlei ſchöne Geſchichten, aber immer war von der
Ehre dabei die Rede. Sein Vater und ſein Stiefbruder
waren bei dem Landſturm und kamen oft mit ihm wegen
der Ehre in Streit, denn was er zuviel hatte, hatten ſie
nicht genug. Gott verzeih' mir meine ſchwere Sünde,
ich will nicht ſchlecht von ihnen reden, Jeder hat ſein
Bündel zu tragen: aber meine ſelige Tochter: ſeine
Mutter hat ſich zu Tode gearbeitet bei dem Faulpelz,
ſie konnte nicht erſchwingen, ſeine Schulden zu tilgen.
Der Uhlan erzählte von den Franzoſen, und als der
Vater und Stiefbruder ſie ganz ſchlecht machen wollten,
ſagte der Uhlan: Vater, das verſteht Ihr nicht, ſie haben
doch viel Ehre im Leibe; da ward der Stiefbruder
tückiſch und ſagte: wie kannſt Du Deinem Vater ſo viel
von der Ehre vorſchwatzen? war er doch Unteroffizier im
R . . . ſchen Regiment, und muß es beſſer als Du
verſtehn, der nur Gemeiner iſt. Ja, ſagte da der alte
Finkel, der nun auch rebelliſch ward, das war ich und
habe manchem vorlauten Burſchen fünf und zwanzig
aufgezählt; hätte ich nur Franzoſen in der Compagnie
[17] gehabt, die ſollten ſie noch beſſer gefühlt haben, mit
ihrer Ehre. Die Rede that dem Uhlanen gar weh und
er ſagte: ich will ein Stückchen von einem franzöſiſchen
Unteroffizier erzählen, das gefällt mir beſſer. Unterm
vorigen König ſollten auf einmal die Prügel bei der
franzöſiſchen Armee eingeführt werden. Der Befehl des
Kriegsminiſters wurde zu Straßburg bei einer großen
Parade bekannt gemacht, und die Truppen hörten in
Reih und Glied die Bekanntmachung mit ſtillem Grimm
an. Da aber noch am Schluß der Parade ein Gemeiner
einen Exzeß machte, wurde ſein Unteroffizier vorkom¬
mandirt, ihm zwölf Hiebe zu geben. Es wurde ihm mit
Strenge befohlen, und er mußte es thun. Als er aber
fertig war, nahm er das Gewehr des Mannes, den er
geſchlagen hatte, ſtellte es vor ſich an die Erde, und
drückte mit dem Fuße los, daß ihm die Kugel durch den
Kopf fuhr und er todt niederſank. Das wurde an den
König berichtet, und der Befehl, Prügel zu geben, ward
gleich zurück genommen; ſeht, Vater, das war ein Kerl,
der Ehre im Leib hatte! Ein Narr war es, ſprach der
Bruder, — freß Deine Ehre, wenn Du Hunger haſt!
brummte der Vater. Da nahm mein Enkel ſeinen
Säbel und ging aus dem Hauſe und kam zu mir in
2[18] mein Häuschen, und erzählte mir alles und weinte die
bittern Thränen. Ich konnte ihm nicht helfen; die
Geſchichte, die er mir auch erzählte, konnte ich zwar nicht
ganz verwerfen, aber ich ſagte ihm doch immer zuletzt:
Gieb Gott allein die Ehre! Ich gab ihm noch den
Segen, denn ſein Urlaub war am andern Tage aus,
und er wollte noch eine Meile umreiten nach dem Orte,
wo ein Pathgen von mir auf dem Edelhof diente, auf
die er gar viel hielt, er wollte einmal mit ihr hauſen;
— ſie werden auch wohl bald zuſammen kommen, wenn
Gott mein Gebet erhört. Er hat ſeinen Abſchied ſchon
genommen, mein Pathgen wird ihn heut erhalten, und
die Ausſteuer hab' ich auch ſchon beiſammen, es ſoll auf
der Hochzeit weiter Niemand ſehn, als ich. Da ward
die Alte wieder ſtill und ſchien zu beten. Ich war in
allerlei Gedanken über die Ehre, und ob ein Chriſt den
Tod des Unteroffiziers ſchön finden dürfe? Ich wollte:
es ſagte mir einmal Einer etwas Hinreichendes darüber.


Als der Wächter Ein Uhr anrief, ſagte die Alte:
nun habe ich noch zwei Stunden; ei, iſt Er noch da,
warum geht Er nicht ſchlafen? Er wird morgen nicht
arbeiten können, und mit Seinem Meiſter Händel kriegen;
von welchem Handwerk iſt Er denn, mein guter Menſch?


[19]

Da wußte ich nicht recht, wie ich es ihr deutlich
machen ſollte, daß ich ein Schriftſteller ſey. Ich bin
ein Gestudirter durfte ich nicht ſagen, ohne zu lügen.
Es iſt wunderbar, daß ein Deutſcher immer ſich ein
wenig ſchämt, zu ſagen: er ſey ein Schriftſteller; zu
Leuten aus den untern Ständen ſagt man es am un¬
gernſten, weil dieſen gar leicht die Schriftgelehrten und
Phariſäer aus der Bibel dabei einfallen. Der Name
Schriftſteller iſt nicht ſo eingebürgert bei uns, wie das
homme de lettres bei den Franzoſen, welche überhaupt
als Schriftſteller zünftig ſind, und in ihren Arbeiten
mehr hergebrachtes Geſetz haben, ja bei denen man auch
fragt: ou avez vous fait votre Philosophie, wo haben
ſie ihre Philoſophie gemacht? wie denn ein Franzoſe
ſelbſt viel mehr von einem gemachten Manne hat. Doch
dieſe nicht deutſche Sitte iſt es nicht allein, welche das
Wort Schriftſteller ſo ſchwer auf der Zunge macht, wenn
man am Thore um ſeinen Charakter gefragt wird,
ſondern eine gewiſſe innere Scham hält uns zurück, ein
Gefühl, welches Jeden befällt, der mit freien und geiſtigen
Gütern, mit unmittelbaren Geſchenken des Himmels
Handel treibt. Gelehrte brauchen ſich weniger zu ſchämen
als Dichter, denn ſie haben gewöhnlich Lehrgeld gegeben,
2*[20] ſind meiſt in Aemtern des Staats, ſpalten an groben
Klötzen, oder arbeiten in Schachten, wo viel wilde
Waſſer auszupumpen ſind. Aber ein ſogenannter Dichter
iſt am übelſten daran, weil er meiſtens aus dem Schul¬
garten nach dem Parnaß entlaufen, und es iſt auch
wirklich ein verdächtiges Ding um einen Dichter von
Profeſſion, der es nicht nur nebenher iſt. Man kann
ſehr leicht zu ihm ſagen: mein Herr, ein jeder Menſch
hat, wie Hirn, Herz, Magen, Milz, Leber und dergleichen,
auch eine Poeſie im Leibe, wer aber eines dieſer Glieder
überfüttert, verfüttert, oder mäſtet, und es über alle
andre hinüber treibt, ja es gar zum Erwerbzweig macht,
der muß ſich ſchämen vor ſeinem ganzen übrigen Men¬
ſchen. Einer, der von der Poeſie lebt, hat das Gleich¬
gewicht verloren, und eine übergroße Gänſeleber, ſie mag
noch ſo gut ſchmecken, ſetzt doch immer eine kranke Gans
voraus. Alle Menſchen, welche ihr Brod nicht im
Schweiß ihres Angeſichts verdienen, müſſen ſich einiger¬
maßen ſchämen, und das fühlt Einer, der noch nicht
ganz in der Tinte war, wenn er ſagen ſoll, er ſey ein
Schriftſteller. So dachte ich Allerlei, und beſann mich,
was ich der Alten ſagen ſollte, welche, über mein Zögern
verwundert, mich anſchaute und ſprach:


[21]

Welch' ein Handwerk Er treibt? frage ich, warum
will Er mir's nicht ſagen, treibt Er kein ehrlich Hand¬
werk, ſo greif Er's noch an, es hat einen goldnen
Boden. Er iſt doch nicht etwa gar ein Henker oder
Spion, der mich ausholen will; meinet halben ſey Er wer
Er will, ſag' Er's, wer Er iſt! Wenn Er bei Tage ſo
hier ſäße, würde ich glauben, Er ſey ein Lehnerich, ſo
ein Tagedieb, der ſich an die Häuſer lehnt, damit er
nicht umfällt vor Faulheit.


Da fiel mir ein Wort ein, das mir vielleicht eine
Brücke zu ihrem Verſtändniß ſchlagen könnte: Liebe
Mutter, ſagte ich, ich bin ein Schreiber. Nun, ſagte
ſie, das hätte Er gleich ſagen ſollen; Er iſt alſo ein
Mann von der Feder, dazu gehören feine Köpfe und
ſchnelle Finger, und ein gutes Herz, ſonſt wird Einem
drauf geklopft. Ein Schreiber iſt Er? kann Er mir
dann wohl eine Bittſchrift aufſetzen an den Herzog, die
aber gewiß erhört wird, und nicht bei den vielen andern
liegen bleibt?


Eine Bittſchrift, liebe Mutter, ſprach ich, kann ich
Ihr wohl aufſetzen, und ich will mir alle Mühe geben,
daß ſie recht eindringlich abgefaßt ſeyn ſoll.


[22]

Nun, das iſt brav von Ihm, erwiederte ſie; Gott
lohn' es Ihm, und laſſe Ihn älter werden, als mich,
und gebe Ihm auch in Seinem Alter einen ſo geruhigen
Muth und eine ſo ſchöne Nacht mit Roſen und Thalern,
wie mir, und auch einen Freund, der Ihm eine Bitt¬
ſchrift macht, wenn es Ihm Noth thut. Aber jetzt gehe
Er nach Haus, lieber Freund, und kaufe Er ſich einen
Bogen Papier und ſchreibe Er die Bittſchrift; ich will
hier auf Ihn warten, noch eine Stunde, dann gehe ich
zu meiner Pathe, Er kann mitgehen, ſie wird ſich auch
freuen an der Bittſchrift. Sie hat gewiß ein gut Herz,
aber Gottes Gerichte ſind wunderbar.


Nach dieſen Worten ward die Alte wieder ſtill,
ſenkte den Kopf und ſchien zu beten. Der Thaler lag
noch auf ihrem Schooß. Sie weinte. Liebe Mutter,
was fehlt Euch, was thut Euch ſo weh, Ihr weinet?
ſprach ich.


Nun warum ſoll ich denn nicht weinen, ich weine
auf den Thaler, ich weine auf die Bittſchrift, auf Alles
weine ich. Aber es hilft nichts, es iſt doch Alles viel,
viel beſſer auf Erden, als wir Menſchen es verdienen,
und gallenbittre Thränen ſind noch viel zu ſüße. Sehe
Er nur einmal das goldne Kameel da drüben, an der
[23] Apotheke, wie doch Gott Alles ſo herrlich und wunderbar
geſchaffen hat, aber der Menſch erkennt es nicht, und
ein ſolch' Kameel geht eher durch ein Nadelöhr, als ein
Reicher in das Himmelreich. — Aber was ſitzt Er denn
immer da, gehe Er, den Bogen Papier zu kaufen, und
bringe Er mir die Bittſchrift.


Liebe Mutter, ſagte ich, wie kann ich Euch die
Bittſchrift machen, wenn Ihr mir nicht ſagt, was ich
hinein ſchreiben ſoll.


Das muß ich Ihm ſagen? erwiederte ſie, dann iſt
es freilich keine Kunſt, und wundre ich mich nicht mehr,
daß Er ſich einen Schreiber zu nennen ſchämte, wenn
man Ihm Alles ſagen ſoll. Run, ich will mein Mög¬
liches thun. Setz' Er in die Bittſchrift, daß zwei Lie¬
bende bei einander ruhen ſollen und daß ſie Einen nicht
auf die Anatomie bringen ſollen, damit man ſeine Glieder
beiſammen hat, wenn es heißt: ihr Todten, ihr Todten
ſollt auferſtehn, ihr ſollt vor das jüngſte Gerichte gehn.
Da fing ſie wieder bitterlich an zu weinen.


Ich ahnte, ein ſchweres Leid müſſe auf ihr laſten,
aber ſie fühle bei der Bürde ihrer Jahre nur in ein¬
zelnen Momenten ſich ſchmerzlich gerührt. Sie weinte
ohne zu klagen, ihre Worte waren immer gleich ruhig
[24] und kalt. Ich bat ſie nochmals, mir die ganze Veran¬
laſſung zu ihrer Reiſe in die Stadt zu erzählen, und ſie
ſprach:


Mein Enkel, der Uhlan, von dem ich Ihm erzählte,
hatte doch mein Pathgen ſehr lieb, wie ich Ihm vorher
ſagte, und ſprach der ſchönen Annerl, wie die Leute ſie
ihres glatten Spiegels wegen nannten, immer von der
Ehre vor, und ſagte ihr immer, ſie ſolle auf ihre Ehre
halten, und auch auf ſeine Ehre. Da kriegte dann das
Mädchen etwas ganz Apartes in ihr Geſicht und ihre
Kleidung von der Ehre, ſie war feiner und manierlicher,
als alle andere Dirnen. Alles ſaß ihr knapper am
Leibe und wenn ſie ein Burſche einmal ein wenig derb
beim Tanze anfaßte oder ſie etwa höher als den Steg
der Baßgeige ſchwang, ſo konnte ſie bitterlich darüber
bei mir weinen, und ſprach dabei immer: es ſey wider
ihre Ehre. Ach, das Annerl iſt ein eignes Mädchen
immer geweſen, manchmal, wenn kein Menſch es ſich
verſah, fuhr ſie mit beiden Händen nach ihrer Schürze
und riß ſie ſich vom Leibe, als ob Feuer drinn ſey, und
dann fing ſie gleich entſetzlich an zu weinen; aber das
hat ſeine Urſache, es hat ſie mit Zähnen hingeriſſen, der
Feind ruht nicht. Wäre das Kind nur nicht ſtets ſo
[25] hinter der Ehre her geweſen, und hätte ſich lieber an
unſern lieben Gott gehalten, hätte ihn nie von ſich ge¬
laſſen, in aller Noth, und hätte ſeinetwillen Schande und
Verachtung ertragen, ſtatt ihrer Menſchenehre. Der
Herr hätte ſich gewiß erbarmt, und wird es auch noch,
ach, ſie kommen gewiß zuſammen, Gottes Wille geſchehe!


Der Uhlan ſtand wieder in Frankreich, er hatte
lange nicht geſchrieben, und wir glaubten ihn faſt todt
und weinten oft um ihn. Er war aber im Hospital an
einer ſchweren Bleſſur krank gelegen und als er wieder
zu ſeinen Kameraden kam, und zum Unteroffizier ernannt
wurde, fiel ihm ein, daß ihm vor zwei Jahren ſein
Stiefbruder ſo über's Maul gefahren: er ſey nur Ge¬
meiner und der Vater Korporal, und dann die Geſchichte
von dem franzöſiſchen Unteroffizier und wie er ſeinem
Annerl von der Ehre ſo viel geredet, als er Abſchied
genommen. Da verlor er ſeine Ruhe und kriegte das
Heimweh und ſagte zu ſeinem Rittmeiſter, der ihn um
ſein Leid fragte: ach, Herr Rittmeiſter, es iſt, als ob es
mich mit den Zähnen nach Hauſe zöge. Da ließen ſie
ihn heimreiten mit ſeinem Pferd, denn alle ſeine Offiziere
trauten ihm. Er kriegte auf drei Monate Urlaub und
ſollte mit der Remonte wieder zurück kommen. Er eilte
[26] ſo ſehr er konnte, ohne ſeinem Pferde wehe zu thun,
welches er beſſer Pflegte, als jemals, weil es ihm war
anvertraut worden. An einem Tage trieb es ihn ganz
entſetzlich, nach Hauſe zu eilen, es war der Tag vor dem
Sterbetage ſeiner Mutter, und es war ihm immer als
laufe ſie vor ſeinem Pferde her, und riefe: Kasper, thue
mir eine Ehre an! Ach, ich ſaß an dieſem Tage auf
ihrem Grabe ganz allein, und dachte auch, wenn Kasper
doch bei mir wäre; ich hatte Blümelein Vergiß nicht
mein in einen Kranz gebunden und an das eingeſunkene
Kreuz gehängt, und maaß mir den Platz umher aus, und
dachte: hier will ich liegen, und da ſoll Kasper liegen,
wenn ihm Gott ſein Grab in der Heimath ſchenkt, daß
wir fein beiſammen ſind, wenn's heißt: Ihr Todten, ihr
Todten ſollt auferſtehn, ihr ſollt zum jüngſten Gerichte
gehn! Aber Kasper kam nicht, ich wußte auch nicht, daß
er ſo nahe war und wohl hätte kommen können. Es
trieb ihn auch gar ſehr zu eilen, denn er hatte wohl oft
an dieſen Tag in Frankreich gedacht, und hatte einen
kleinen Kranz von ſchönen Goldblumen von daher mit¬
gebracht, um das Grab ſeiner Mutter zu ſchmücken, und
auch einen Kranz für Annerl, den ſollte ſie ſich bis zu
ihrem Ehrentage bewahren. —


[27]

Hier ward die Alte ſtill und ſchüttelte mit dem
Kopf; als ich aber die letzten Worte wiederholte: den
ſollte ſie ſich bis zu ihrem Ehrentag bewahren, — fuhr
ſie fort: wer weiß, ob ich es nicht erflehen kann, ach,
wenn ich den Herzog nur wecken dürfte! — Wozu, fragte
ich, welch' Anliegen habt Ihr denn, Mutter? da ſagte
ſie ernſt: O, was läge am ganzen Leben, wenn's kein
End' nähme, was läge am Leben, wenn es nicht ewig
wäre! und fuhr dann in ihrer Erzählung fort:


Kasper wäre noch recht gut zu Mittag in unſerm
Dorfe angekommen, aber morgens hatte ihm ſein Wirth
im Stalle gezeigt, daß ſein Pferd gedrückt ſey, und
dabei geſagt: mein Freund, das macht dem Reiter keine
Ehre. Das Wort hatte Kasper tief empfunden, er legte
deswegen den Sattel hohl und leicht auf, that Alles,
ihm die Wunde zu heilen, und ſetzte ſeine Reiſe, das
Pferd am Zügel führend, zu Fuße fort. So kam er am
ſpäten Abend bis an eine Mühle, eine Meile von unſerm
Dorf, und weil er den Müller als einen alten Freund
ſeines Vaters kannte, ſprach er bei ihm ein, und wurde
wie ein recht lieber Gaſt aus der Fremde empfangen.
Kasper zog ſein Pferd in den Stall, legte den Sattel
und ſein Felleiſen in einen Winkel, und ging nun zu dem
[28] Müller in die Stube. Da fragte er dann nach den
Seinigen, und hörte, daß ich alte Großmutter noch lebe,
und daß ſein Vater und ſein Stiefbruder geſund ſeyen
und daß es recht gut mit ihnen gehe; ſie wären erſt
geſtern mit Getreide auf der Mühle geweſen, ſein Vater
habe ſich auf den Roß- und Ochſenhandel gelegt und
gedeihe dabei recht gut, auch halte er jetzt etwas auf ſeine
Ehre, und gehe nicht mehr ſo zerriſſen umher. Darüber
war der gute Kasper nun herzlich froh, und da er nach
der ſchönen Annerl fragte, ſagte ihm der Müller: er
kenne ſie nicht, aber wenn es die ſey, die auf dem
Roſenhof gedient habe, die hätte ſich, wie er gehört, in
der Hauptſtadt vermiethet, weil ſie da eher etwas lernen
könne und mehr Ehre dabei ſey; ſo habe er vor einem
Jahre von dem Knecht auf dem Roſenhof gehört. Das
freute den Kasper auch; wenn es ihm gleich leid that,
daß er ſie nicht gleich ſehen ſollte, ſo hoffte er ſie doch
in der Hauptſtadt bald recht fein und ſchmuck zu finden,
daß es ihm, als einem Unteroffizier, auch eine rechte
Ehre ſey, mit ihr am Sonntag ſpazieren zu gehn. Nun
erzählte er dem Müller noch mancherlei aus Frankreich,
ſie aßen und tranken mit einander, er half ihm Korn
aufſchütten, und dann brachte ihn der Müller in die
[29] Oberſtube zu Bett, und legte ſich ſelbſt unten auf eini¬
gen Säcken zur Ruhe. Das Geklapper der Mühle und
die Sehnſucht nach der Heimath ließen den guten Kas¬
per, wenn er gleich ſehr müde war, nicht feſt einſchlafen.
Er war ſehr unruhig und dachte an ſeine ſelige Mutter
und an das ſchöne Annerl, und an die Ehre, die ihm
bevorſtehe, wenn er als Unteroffizier vor die Seinigen
treten würde. So entſchlummerte er endlich leiſ' und
wurde von ängſtlichen Träumen oft aufgeſchreckt, es war
ihm mehrmals: als trete ſeine ſelige Mutter zu ihm und
bäte ihn händeringend um Hülfe; dann war es ihm, als
ſey er geſtorben und würde begraben, gehe aber ſelbſt
zu Fuße als Todter mit zu Grabe, und ſchön Annerl
gehe ihm zur Seite; er weine heftig, daß ihn ſeine Ka¬
meraden nicht begleiteten, und da er auf den Kirchhof
komme, ſey ſein Grab neben dem ſeiner Mutter; und
Annerls Grab ſey auch dabei, und er gebe Annerl das
Kränzlein, das er ihr mitgebracht und hänge das der
Mutter an ihr Grab, und dann habe er ſich umgeſchaut
und Niemand mehr geſehen als mich, und die Annerl
die habe einer an der Schürze ins Grab geriſſen, und
er ſey dann auch ins Grab geſtiegen, und habe geſagt:
Iſt denn Niemand hier, der mir die letzte Ehre anthut,
[30] und mir ins Grab ſchießen will als einem braven Sol¬
daten, und da habe er ſein Piſtol gezogen und ſich ſelbſt
ins Grab geſchoſſen. Ueber den Schuß wachte er mit
großem Schrecken auf, denn es war ihm als klirrten die
Fenſter davon; er ſah um ſich in der Stube, da hörte
er noch einen Schuß fallen, und hörte Getöſe in der
Mühle und Geſchrei durch das Geklapper. Er ſprang
aus dem Bett, und griff nach ſeinem Säbel; in dem
Augenblick ging ſeine Thür auf, und er ſah beim Voll¬
mondſchein zwei Männer mit berußten Geſichtern mit
Knitteln auf ſich zuſtürzen, aber er ſetzte ſich zur Wehre,
und hieb den Einen über den Arm, und ſo entflohen
Beide, indem ſie die Thür, welche nach außen aufging
und einen Riegel draußen hatte, hinter ſich verriegelten.
Kasper verſuchte umſonſt, ihnen nachzukommen, endlich
gelang es ihm, eine Tafel in der Thür einzutreten. Er
eilte durch das Loch die Treppe hinunter, und hörte das
Wehgeſchrei des Müllers, den er geknebelt zwiſchen den
Kornſäcken liegend fand. Kasper band ihn los, und
eilte dann gleich in den Stall, noch ſeinem Pferde und
Felleiſen, aber beides war geraubt. Mit großem Jam¬
mer eilte er in die Mühle zurück und klagte dem Mül¬
ler ſein Unglück, daß ihm all ſein hab und Gut, und
[31] das ihm anvertraute Pferd geſtohlen ſey, über welches
leztere er ſich gar nicht zufrieden geben konnte. Der
Müller aber ſtand mit einem vollen Geldſack vor ihm,
er hatte ihn in der Oberſtube aus dem Schranke geholt
und ſagte zu dem Hylan: Lieber Kasper, ſey Er zufrie¬
den, ich verdanke Ihm die Rettung meines Vermögens;
auf dieſen Sack, der oben in Seiner Stube lag, hatten
es die Räuber gemünzt, und Seiner Vertheidigung danke
ich Alles, mir iſt nichts geſtohlen; die Sein Pferd und
Sein Felleiſen im Stall fanden, müſſen ausgeſtellte Die¬
beswachen geweſen ſeyn, ſie zeigten durch die Schüſſe
an, daß Gefahr da ſey. Weil ſie wahrſcheinlich am Sat¬
telzeug erkannten, daß ein Kavalleriſt im Hauſe herberge.
Nun ſoll Er meinethalben keine Noth haben, ich will
mir alle Mühe geben und kein Geld ſparen, Ihm Seinen
Gaul wieder zu finden, und finde ich ihn nicht, ſo will
ich Ihm einen kaufen, ſo theuer er ſeyn mag. Kasper
ſagte: geſchenkt nehme ich nichts, das iſt gegen meine
Ehre, aber wenn Er mir im Nothfall ſiebzig Thaler vor¬
ſchießen will, ſo kriegt er meine Verſchreibung, ich ſchaffe
ſie in zwei Jahren wieder. Hierüber wurden ſie einig,
und der Uhlan trennte ſich von ihm, um nach ſeinem
Dorfe zu eilen, wo auch ein Gerichtshalter der umlie¬
[32] genden Edelleute wohnt, bei dem er die Sache berichten
wollte. Der Müller blieb zurück, um ſeine Frau und
ſeinen Sohn zu erwarten, welche auf einem Dorfe in
der Nähe bei einer Hochzeit waren. Dann wollte er
dem Uhlanen nachkommen, und die Anzeige vor Gericht
auch machen.


Er kann ſich denken, lieber Herr Schreiber, mit
welcher Betrübniß der arme Kasper den Weg nach un¬
ſerm Dorfe eilte, zu Fuß und arm, wo er hatte ſtolz
einreiten wollen; ein und funfzig Thaler, die er erbeutet
hatte, ſein Patent als Unteroffizier, ſein Urlaub, und die
Kränze auf ſeiner Mutter Grab und für die ſchöne An¬
nerl waren ihm geſtohlen. Es war ihm ganz verzwei¬
felt zu Muthe, und ſo kam er um ein Uhr in der Nacht
in ſeiner Heimath an, und pochte gleich an der Thür des
Gerichtshalters, deſſen Haus das erſte vor dem Dorfe
iſt. Er ward eingelaſſen und machte ſeine Anzeige und
gab Alles an, was ihm geraubt worden war. Der Ge¬
richtshalter trug ihm auf, er ſolle gleich zu ſeinem Vater
gehn, welches der einzige Bauer im Dorfe ſey, der Pferde
habe, und ſolle mit dieſem und ſeinem Bruder in der
Gegend herum patroulliren, ob er vielleicht den Räubern
auf die Spur komme; indeſſen wolle er andre Leute zu
[33] Fuß ausſenden, und den Müller, wenn er komme, um
die weiteren Umſtände vernehmen. Kasper ging nun
von dem Gerichtshalter weg, nach dem väterlichen Hauſe;
da er aber an meiner Hütte vorüber mußte, und durch
das Fenſter hörte: daß ich ein geiſtliches Lied ſang, wie
ich denn vor Gedanken an ſeine ſelige Mutter nicht
ſchlafen konnte, ſo pochte er an und ſagte: Gelobt ſey
Jeſus Chriſtus, liebe Großmutter, Kasper iſt hier. Ach!
wie fuhren mir die Worte durch Mark und Bein, ich
ſtürzte an das Fenſter, öffnete es und küßte und drückte
ihn mit unendlichen Thränen. Er erzählte mir ſein Un¬
glück mit großer Eile und ſagte, welchen Auftrag er an
ſeinen Vater vom Gerichtshalter habe, er müſſe drum
jetzt gleich hin, um den Dieben nachzuſetzen, denn
ſeine Ehre hänge davon ab, daß er ſein Pferd wieder
erhalte.


Ich weiß nicht, aber das Wort Ehre fuhr mir
recht durch alle Glieder, denn ich wußte ſchwere Gerichte
die ihm bevorſtanden. Thue Deine Pflicht, und gieb
Gott allein die Ehre, ſagte ich; und er eilte von mir
nach Finkels Hof, der am andern Ende des Dorfs liegt.
Ich ſank, als er fort war, auf die Kniee, und betete zu
3[34] Gott, er möge ihn doch in ſeinen Schutz nehmen, ach,
betete mit einer Angſt wie niemals, und mußte dabei
immer ſagen: Herr, Dein Wille geſchehe wie im Himmel
ſo auf Erden.


Der Kasper lief zu ſeinem Vater mit einer entſetz¬
lichen Angſt. Er ſtieg hinten über den Gartenzaun, er
hörte die Plumpe gehen, er hörte im Stall wiehern, das
fuhr ihm durch die Seele; er ſtand ſtill, er ſah im Mond¬
ſchein, daß zwei Männer ſich wuſchen, es wollte ihm
das Herz brechen; der eine ſprach: das verfluchte Zeug
geht nicht herunter, da ſagte der Andre: komm' erſt in
den Stall, dem Gaul den Schwanz abzuſchlagen und
die Mähnen zu verſchneiden. Haſt Du das Felleiſen
auch tief genug unterm Miſt begraben? Ja, ſagte der
Andre. Da gingen ſie nach dem Stall, und Kasper,
vor Jammer wie ein Raſender, ſprang hervor und
ſchloß die Stallthür hinter ihnen und ſchrie: Im Namen
des Herzogs! ergebt Euch; wer ſich widerſetzt, den
ſchieße ich nieder! Ach, da hatte er ſeinen Vater und ſei¬
nen Stiefbruder als die Räuber ſeines Pferdes gefan¬
gen. Meine Ehre, meine Ehre iſt verloren! ſchrie er,
ich bin der Sohn eines ehrloſen Diebes. Als die Bei¬
den im Stall dieſe Worte hörten, iſt ihnen bös zu
[35] Muthe geworden; ſie ſchrieen: Kasper; lieber Kasper,
um Gotteswillen, bringe uns nicht ins Elend. Kasper,
Du ſollſt ja Alles wieder haben, um Deiner ſeligen Mut¬
ter willen, deren Sterbetag heute iſt, erbarme Dich Dei¬
nes Vaters und Bruders. Kasper aber war wie ver¬
zweifelt, er ſchrie nur immer: meine Ehre, meine Pflicht!
und da ſie nun mit Gewalt die Thür erbrechen wollten,
und ein Fach in der Lehmwand einſtießen, um zu ent¬
kommen, ſchoß er ein Piſtol in die Luft, und ſchrie:
Hülfe, Hülfe, Diebe, Hülfe! Die Bauern, von dem Ge¬
richtshalter erweckt, welche ſchon herannahten, um ſich
über die verſchiedenen Wege zu bereden, auf denen ſie
die Einbrecher in die Mühle verfolgen wollten, ſtürzten
auf den Schuß und das Geſchrei ins Haus. Der alte
Finkel flehte immer noch, der Sohn ſolle ihm die Thür
öffnen, der aber ſagte: ich bin ein Soldat und muß der
Gerechtigkeit dienen. Da traten der Gerichtshalter und
die Bauern heran. Kasper ſagte: um Gottes Barm¬
herzigkeit willen, Herr Gerichtshalter, mein Vater, mein
Bruder ſind ſelbſt die Diebe, o, daß ich nie geboren
wäre! hier im Stall hab' ich ſie gefangen, mein Fell¬
eiſen liegt im Miſte vergraben. Da ſprangen die Bauern
3*[36] in den Stall und banden den alten Finkel und ſeinen
Sohn und ſchleppten ſie in ihre Stube. Kasper aber
grub das Felleiſen hervor und nahm die zwei Kränze
heraus, und ging nicht in die Stube, er ging nach dem
Kirchhofe an das Grab ſeiner Mutter. Der Tag war
angebrochen: ich war auf der Wieſe geweſen, und hatte
für mich und für Kasper zwei Kränze von Blümelein
Vergiß nicht mein geflochten, ich dachte: er ſoll mit mir
das Grab ſeiner Mutter ſchmücken, wenn er von ſei¬
nem Ritt zurück kommt. Da hörte ich allerlei unge¬
wohnten Lärm im Dorf, und weil ich das Getümmel
nicht mag, und am liebſten allein bin, ſo ging ich um's
Dorf herum nach dem Kirchhof. Da fiel ein Schuß,
ich ſah den Dampf in die Höhe ſteigen, ich eilte auf
den Kirchhof, o Du lieber Heiland! erbarme Dich ſein.
Kasper lag todt auf dem Grabe ſeiner Mutter, er hatte
ſich die Kugel durch das Herz geſchoſſen, auf welches er
ſich das Kränzlein, das er für ſchön Annerl mitgebracht,
am Knopfe befeſtigt hatte, durch dieſen Kranz hatte er
ſich ins Herz geſchoſſen. Den Kranz für die Mutter
hatte er ſchon an das Kreuz befeſtigt. Ich meinte, die
Erde thäte ſich unter mir auf bei dem Anblick, ich ſtürzte
über ihn hin und ſchrie immer: Kasper, o Du unglück¬
[37] ſeliger Menſch, was haſt Du gethan? ach, wer hat Dir
denn Dein Elend erzählt, o, warum habe ich Dich von
mir gelaſſen, ehe ich Dir alles geſagt! Gott, was wird
Dein armer Vater, Dein Bruder ſagen, wenn ſie Dich
ſo finden. Ich wußte nicht, daß er ſich wegen dieſen
das Leid angethan, ich glaubte, es habe eine ganz andere
Urſache. Da kam es noch ärger; der Gerichtshalter
und die Bauern brachten den alten Finkel und ſeinen
Sohn mit Stricken gebunden, der Jammer erſtickte mir
die Stimme in der Kehle, ich konnte kein Wort ſprechen;
der Gerichtshalter fragte mich, ob ich meinen Enkel nicht
geſehn? Ich zeigte hin, wo er lag, er trat zu ihm, er
glaubte, er weine auf dem Grabe, er ſchüttelte ihn, da
ſah er das Blut niederſtürzen. Jeſus Marie! rief er
aus, der Kasper hat Hand an ſich gelegt. Da ſahen
die beiden Gefangenen ſich ſchrecklich an; man nahm
den Leib des Kaspers und trug ihn neben ihnen her
nach dem Hauſe des Gerichtshalters, es war ein Weh¬
geſchrei im ganzen Dorfe, die Bauerweiber führten mich
nach. Ach, das war wohl der ſchrecklichſte Weg in mei¬
nem Leben!


Da ward die Alte wieder ſtill und ich ſagte zu ihr:
Liebe Mutter, Euer Leid iſt entſetzlich, aber Gott hat
[38] Euch auch recht lieb; die er am härteſten ſchlägt, ſind
ſeine liebſten Kinder. Sagt mir nun, liebe Mutter,
was Euch bewogen hat, den weiten Weg hieher zu ge¬
hen, und um was Ihr die Bittſchrift einreichen wollt?


Ei, das kann Er ſich doch wohl denken, fuhr ſie
ganz ruhig fort, um ein ehrliches Grab für Kasper und
die ſchöne Annerl, der ich das Kränzlein zu ihrem Ehren¬
tag mitbringe, es iſt ganz mit Kaspers Blut unterlau¬
fen, ſeh' Er einmal.


Da zog ſie einen kleinen Kranz von Flittergold aus
ihrem Bündel und zeigte ihn mir; ich konnte bei dem
anbrechenden Tage ſehen, daß er vom Pulver geſchwärzt
und mit Blut beſprengt war. Ich war ganz zerriſſen
von dem Unglück der guten Alten, und die Größe und
Feſtigkeit, womit ſie es trug, erfüllte mich mit Vereh¬
rung. Ach, liebe Mutter, ſagte ich: wie werdet Ihr der
armen Annerl aber ihr Elend beibringen, daß ſie nicht
gleich vor Schrecken todt niederſinkt, und was iſt denn
das für ein Ehrentag, zu welchem Ihr dem Annerl den
traurigen Kranz bringt?


Lieber Menſch, ſprach ſie, komme Er nur mit, Er
kann mich zu ihr begleiten, ich kann doch nicht geſchwind
[39] fort, ſo werden wir ſie gerade noch zu rechter Zeit fin¬
den. Ich will Ihm unterwegs noch Alles erzählen.


Nun ſtand ſie auf, und betete ihren Morgenſegen
ganz ruhig, und brachte ihre Kleider in Ordnung, und
ihren Bündel hängte ſie dann an meinen Arm; es
war zwei Uhr des Morgens, der Tag grante und wir
wandelten durch die ſtillen Gaſſen.


Seh' Er, erzählte die Alte fort, als der Finkel und
ſein Sohn eingeſperrt waren, mußte ich zum Gerichtshalter
auf die Gerichtsſtube; der todte Kasper wurde auf einen
Tiſch gelegt und mit ſeinem Uhlanenmantel bedeckt her¬
eingetragen, und nun mußte ich Alles dem Gerichtshalter
ſagen, was ich von ihm wußte und was er mir heute
Morgen durch das Fenſter geſagt hatte. Das ſchrieb er
Alles auf ſein Papier nieder, das vor ihm lag; dann
ſah er die Schreibtafel durch, die ſie bei Kasper gefun¬
den; da ſtanden mancherlei Rechnungen drin, einige
Geſchichten von der Ehre und auch die von dem fran¬
zöſiſchen Unteroffizier, und hinter ihr war mit Bleiſtift
etwas geſchrieben. Da gab mir die Alte die Brieftaſche,
und ich las folgende letzte Worte des unglücklichen Kas¬
pers: Auch ich kann meine Schande nicht überleben; mein
Vater und mein Bruder ſind Diebe, ſie haben mich ſelbſt
[40] beſtohlen; mein Herz brach mir, aber ich mußte ſie ge¬
fangen nehmen und den Gerichten übergeben, denn ich
bin ein Soldat meines Fürſten, und meine Ehre erlaubt
mir keine Schonung. Ich habe meinen Vater und Bru¬
der der Rache übergeben um der Ehre willen; ach! bitte
doch Jedermann für mich, daß man mir hier, wo ich
gefallen bin, ein ehrliches Grab neben meiner Mutter
vergönne. Das Kränzlein, durch welches ich mich er¬
ſchoſſen, ſoll die Großmutter der ſchönen Annerl ſchicken
und ſie von mir grüßen, ach! ſie thut mir leid durch
Mark und Bein, aber ſie ſoll doch den Sohn eines Die¬
bes nicht heirathen, denn ſie hat immer viel auf Ehre
gehalten. Liebe ſchöne Annerl, mögeſt Du nicht ſo ſehr
erſchrecken über mich, gieb Dich zufrieden, und wenn
Du mir jemals ein wenig gut warſt, ſo rede nicht ſchlecht
von mir. Ich kann ja nichts für meine Schande! Ich
hatte mir ſo viele Mühe gegeben, in Ehren zu bleiben
mein Leben lang, ich war ſchon Unteroffizier und hatte
den beſten Ruf bei der Schwadron, ich wäre gewiß
noch einmal Offizier geworden, und Annerl, Dich hätte
ich doch nicht verlaſſen, und hätte keine Vornehmere ge¬
freit — aber der Sohn eines Diebes, der ſeinen Vater
aus Ehre ſelbſt fangen und richten laſſen muß, kann
[41] ſeine Schande nicht überleben. Annerl, liebes Annerl,
nimm doch ja das Kränzlein, ich bin Dir immer treu
geweſen, ſo Gott mir gnädig ſey! Ich gebe Dir nun
Deine Freiheit wieder, aber thue mir die Ehre, und hei¬
rathe nie Einen, der ſchlechter wäre, als ich; und wenn
Du kannſt, ſo bitte für mich: daß ich ein ehrliches Grab
neben meiner Mutter erhalte, und wenn Du hier in
unſerm Ort ſterben ſollteſt, ſo laſſe Dich auch bei uns
begraben; die gute Großmutter wird auch zu uns kom¬
men, da ſind wir Alle beiſammen. Ich habe funfzig
Thaler in meinem Felleiſen, die ſollen auf Intreſſen ge¬
legt werden für Dein erſtes Kind. Meine ſilberne Uhr
ſoll der Herr Pfarrer haben, wenn ich ehrlich begraben
werde. Mein Pferd, die Uniform und Waffen gehören
dem Herzog, dieſe meine Brieftaſche gehört Dein. Adies,
herztauſender Schatz, Adies, liebe Großmutter, betet für
mich und lebt alle wohl — Gott erbarme ſich meiner —
ach, meine Verzweiflung iſt groß!


Ich konnte dieſe letzten Worte eines gewiß edeln un¬
glücklichen Menſchen nicht ohne bittere Thränen leſen. —
Der Kasper muß ein gar guter Menſch geweſen ſeyn,
liebe Mutter, ſagte ich zu der Alten, welche nach dieſen
Worten ſtehen blieb und meine Hand drückte und mit
[42] tief bewegter Stimme ſagte: ja, es war der beſte Menſch
auf der Welt. Aber die letzten Worte von der Ver¬
zweiflung hätte er nicht ſchreiben ſollen, die bringen ihn
um ſein ehrliches Grab, die bringen ihn auf die Ana¬
tomie. Ach, lieber Schreiber, wenn Er hierin nur hel¬
fen könnte.


Wie ſo, liebe Mutter? fragte ich, was können dieſe
letzten Worte dazu beitragen? Ja gewiß, erwiederte ſie,
der Gerichtshalter hat es mir ſelbſt geſagt. Es iſt ein
Befehl an alle Gerichte ergangen, daß nur die Selbſt¬
mörder aus Melancholie ehrlich ſollen begraben werden,
Alle aber, die aus Verzweiflung Hand an ſich gelegt,
ſollen auf die Anatomie, und der Gerichtshalter hat mir
geſagt, daß er den Kasper, weil er ſelbſt ſeine Ver¬
zweiflung eingeſtanden, auf die Anatomie ſchicken müſſe.


Das iſt ein wunderlich Geſetz, ſagte ich, denn man
könnte wohl bei jedem Selbſtmörder einen Prozeß an¬
ſtellen: ob er aus Melancholie oder Verzweiflung ent¬
ſtanden, der ſo lange dauern müßte, daß der Richter
und die Advokaten drüber in Melancholie und Ver¬
zweiflung fielen, und auf die Anatomie kämen. Aber
ſeyd nur getröſtet, liebe Mutter, unſer Herzog iſt ein ſo
guter Herr, wenn er die ganze Sache hört, wird er dem
[43] armen Kasper gewiß ſein Plätzchen neben der Mutter
vergönnen.


Das gebe Gott! erwiederte die Alte; ſehe Er nun,
lieber Menſch, als der Gerichtshalter Alles zu Papier
gebracht hatte, gab er mir die Brieftaſche und den Kranz
für die ſchöne Annerl, und ſo bin ich dann geſtern hier¬
her gelaufen, damit ich ihr an ihrem Ehrentag den
Troſt noch mit auf den Weg geben kann. — Der Kas¬
per iſt zu rechter Zeit geſtorben, hätte er Alles gewußt,
er wäre närriſch geworden vor Betrübniß.


Was iſt es denn nun mit der ſchönen Annerl?
fragte ich die Alte, bald ſagt Ihr: ſie habe nur noch
wenige Stunden, bald ſprecht Ihr von ihrem Ehrentag,
und ſie werde Troſt gewinnen durch Eure traurige Nach¬
richt; ſagt mir doch Alles heraus, will ſie Hochzeit hal¬
ten mit einem Andern, iſt ſie todt, krank? Ich muß
Alles wiſſen, damit ich es in die Bittſchrift ſetzen kann.


Da erwiederte die Alte: Ach, lieber Schreiber, es
iſt nun ſo, Gottes Wille geſchehe! ſehe Er, als Kasper
kam, war ich doch nicht recht froh, als Kasper ſich das
Leben nahm, war ich doch nicht recht traurig, ich hätte
es nicht überleben können, wenn Gott ſich meiner nicht
erbarmt gehabt hätte mit größerem Leid. Ja, ich ſage
[44] Ihm: es war mir ein Stein vor das Herz gelegt, wie
ein Eisbrecher, und alle die Schmerzen, die wie Grund¬
eis gegen mich ſtürzten und mir das Herz gewiß abge¬
ſtoßen hätten, die zerbrachen an dieſem Stein und trie¬
ben kalt vorüber. Ich will Ihm etwas erzählen, das
iſt betrübt:


Als mein Pathchen, die ſchöne Annerl, ihre Mutter
verlor, die eine Baſe von mir war und ſieben Meilen
von uns wohnte, war ich bei der kranken Frau. Sie
war die Wittwe eines armen Bauern, und hatte in ihrer
Jugend einen Jäger lieb gehabt, ihn aber wegen ſeines
wilden Lebens nicht genommen. Der Jäger war endlich
in ſolch Elend gekommen, daß er auf Tod und Leben
wegen eines Mordes gefangen ſaß. Das erfuhr meine
Baſe auf ihrem Krankenlager und es that ihr ſo weh,
daß ſie täglich ſchlimmer wurde und endlich in ihrer
Todesſtunde, als ſie mir die liebe ſchöne Annerl als
mein Pathchen übergab, und Abſchied von mir nahm,
noch in den letzten Augenblicken zu mir ſagte: Liebe
Anne Margareth, wenn Du durch das Städtchen kömmſt,
wo der arme Jürge gefangen liegt, ſo laſſe ihm ſagen
durch den Gefangenwärter, daß ich ihn bitte auf mei¬
nem Todesbett: er ſolle ſich zu Gott bekehren, und daß
[45] ich herzlich für ihn gebetet habe in meiner letzten Stunde
und daß ich ihn ſchön grüßen laſſe. — Bald nach die¬
ſen Worten ſtarb die gute Baſe, und als ſie begraben
war, nahm ich die kleine Annerl, die drei Jahr alt war,
auf den Arm und ging mit ihr nach Haus.


Vor dem Städtchen, durch das ich mußte, kam ich
an der Scharfrichterei vorüber, und weil der Meiſter
berühmt war als ein Viehdoctor, ſollte ich einige Arznei
mitnehmen für unſern Schulzen. Ich trat in die Stube
und ſagte dem Meiſter, was ich wollte, und er antwor¬
tete, daß ich ihm auf den Boden folgen ſolle, wo er die
Kräuter liegen habe, und ihm helfen ausſuchen. Ich
ließ Annerl in der Stube und folgte ihm. Als wir zu¬
rück in die Stube traten, ſtand Annerl vor einem klei¬
nen Schranke, der an der Wand befeſtigt war, und
ſprach: Großmutter, da iſt eine Maus drin, hört, wie
es klappert, da iſt eine Maus drin!


Auf dieſe Rede des Kindes machte der Meiſter ein
ſehr ernſthaftes Geſicht, riß den Schrank auf und ſprach:
Gott ſey uns gnädig! denn er ſah ſein Richtſchwerdt,
das allein in dem Schranke an einem Nagel hing, hin
und her wanken. Er nahm das Schwerdt herunter und
mir ſchauderte. Liebe Frau, ſagte er, wenn Ihr das
[46] kleine liebe Annerl lieb habt, ſo erſchreckt nicht, wenn
ich ihm mit meinem Schwerdt, rings um das Hälschen,
die Haut ein wenig aufritze; denn das Schwerdt hat vor
ihm gewankt, es hat nach ſeinem Blut verlangt, und
wenn ich ihm den Hals damit nicht ritze, ſo ſteht dem
Kinde groß Elend im Leben bevor. Da faßte er das
Kind, welches entſetzlich zu ſchreien begann, ich ſchrie
auch und riß das Annerl zurück. Indem trat der Bür¬
germeiſter des Städtchens herein, der von der Jagd
kam und dem Richter einen kranken Hund zur Heilung
bringen wollte. Er fragte nach der Urſache des Ge¬
ſchrei's, Annerl ſchrie: er will mich umbringen; ich war
außer mir vor entſetzen. Der Richter erzählte dem
Bürgermeiſter das Ereigniß. Dieſer verwies ihm ſeinen
Aberglauben, wie er es nannte, heftig und unter ſcharfen
Drohungen; der Richter blieb ganz ruhig dabei und
ſprach: ſo haben's meine Väter gehalten, ſo halt' ich's.
Da ſprach der Bürgermeiſter: Meiſter Franz, wenn Ihr
glaubt, Euer Schwerdt habe ſich gerührt, weil ich Euch
hiermit anzeige: daß morgen früh um ſechs Uhr der
Jäger Jürge von Euch ſoll geköpft werden, ſo wollt'
ich es noch verzeihen; aber daß Ihr daraus etwas auf
dies liebe Kind ſchließen wollt, das iſt unvernünftig und
[47] toll, es könnte ſo etwas einen Menſchen in Verzweiflung
bringen, wenn man es ihm ſpäter in ſeinem Alter ſagte,
daß es ihm in ſeiner Jugend geſchehen ſey. Man ſoll
keinen Menſchen in Verſuchung führen. — Aber auch
keines Richters Schwerdt, ſagte Meiſter Franz vor ſich,
und hing ſein Schwerdt wieder in den Schrank. Nun
küßte der Bürgermeiſter das Annerl und gab ihm eine
Semmel aus ſeiner Jagdtaſche und da er mich gefragt,
wer ich ſey, wo ich herkomme und hin wolle? und ich
ihm den Tod meiner Baſe erzählt hatte, und auch den
Auftrag an den Jäger Jürge, ſagte er mir: Ihr ſollt
ihn ausrichten, ich will Euch ſelbſt zu ihm führen; er
hat ein hartes Herz, vielleicht wird ihn das Andenken
einer guten Sterbenden in ſeinen letzten Stunden rühren.
Da nahm der gute Herr mich und Annerl auf ſeinen
Wagen, der vor der Thür hielt und fuhr mit uns in
das Städtchen hinein.


Er hieß mich zu ſeiner Köchin gehn; da kriegten
wir gutes Eſſen, und gegen Abend ging er mit mir zu
dem armen Sünder; und als ich dem die letzten Worte
meiner Baſe erzählte, fing er bitterlich an zu weinen,
und ſchrie: ach Gott! wenn ſie mein Weib geworden,
wäre es nicht ſo weit mit mir gekommen. Dann be¬
[48] gehrte er, man ſolle den Herrn Pfarrer doch noch ein¬
mal zu ihm bitten, er wolle mit ihm beten. Das ver¬
ſprach ihm der Bürgermeiſter, und lobte ihn wegen ſei¬
ner Sinnesveränderung und fragte ihn: ob er vor ſei¬
nem Tode noch einen Wunſch hätte, den er ihm erfüllen
könne. Da ſagte der Jäger Jürge: ach, bittet hier die
gute alte Mutter, daß ſie doch morgen mit dem Töch¬
terlein ihrer ſeligen Baſe bei meinem Rechte zugegen ſeyn
mögen, das wird mir das Herz ſtärken in meiner letzten
Stunde. Da bat mich der Bürgermeiſter, und ſo grau¬
lich es mir war, ſo konnte ich es dem armen elenden
Menſchen nicht abſchlagen. Ich mußte ihm die Hand
geben und es ihm feierlich verſprechen und er ſank wei¬
nend auf das Stroh. Der Bürgermeiſter ging dann
mit mir zu ſeinem Freunde, dem Pfarrer, dem ich noch¬
mals Alles erzählen wußte, ehe er ſich in's Gefängniß
begab.


Die Nacht mußte ich mit dem Kinde in des Bür¬
germeiſters Haus ſchlafen, und am andern Morgen ging
ich den ſchweren Gang zu der Hinrichtung des Jägers
Jürge. Ich ſtand neben dem Bürgermeiſter im Kreis,
und ſah wie er das Stäblein brach; da hielt der Jäger
Jürge noch eine ſchöne Rede und alle Leute weinten, und er
[49] ſah mich und die kleine Annerl, die vor mit ſtand, gar
beweglich an, und dann küßte er den Meiſter Franz, der
Pfarrer betete mit ihm, die Augen wurden ihm verbun¬
den, und er kniete nieder. Da gab ihm der Richter den
Todesſtreich. Jeſus, Maria, Joſeph! ſchrie ich aus;
denn der Kopf des Jürgen flog gegen Annerl zu und
biß mit ſeinen Zähnen dem Kinde in ſein Röckchen, das
ganz entſetzlich ſchrie; ich riß meine Schürze vom Leibe
und warf ſie über den ſcheuslichen Kopf und Meiſter
Franz eilte herbei, riß ihn los, und ſprach: Mutter,
Mutter, was habe ich heut Morgen geſagt; ich kenne
mein Schwerdt, es iſt lebendig! — Ich war niedergeſun¬
ken vor Schreck, das Annerl ſchrie entſetzlich. Der Bür¬
germeiſter war ganz beſtürzt und ließ mich und das
Kind nach ſeinem Hauſe fahren; da ſchenkte mir ſeine
Frau andre Kleider für mich und das Kind, und Nach¬
mittag ſchenkte uns der Bürgermeiſter noch Geld, und
viele Leute des Städtchens auch, die Annerl ſehen woll¬
ten, ſo daß ich an zwanzig Thaler und viele Kleider für
ſie bekam. Am Abend kam der Pfarrer in's Haus und
redete mir lange zu: daß ich das Annerl nur recht in
der Gottesfurcht erziehen ſollte, und auf alle die betrüb¬
4[50] ten Zeichen gar nichts geben, das ſeyen nur Schlingen
des Satans, die man verachten müſſe; und dann ſchenkte
er mir noch eine ſchöne Bibel für das Annerl, die ſie
noch hat, und dann ließ uns der gute Bürgermeiſter,
am andern Morgen, noch an drei Meilen weit nach
Haus fahren. Ach Du mein Gott, und Alles iſt doch
eingetroffen! ſagte die Alte und ſchwieg.


Eine ſchauerliche Ahnung ergriff mich, die Erzäh¬
lung der Alten hatte mich ganz zermalmt. Um Gottes
willen, Mutter, rief ich aus, was iſt es mit der armen
Annerl geworden, iſt denn gar nicht zu helfen?


Es hat ſie mit den Zähnen dazu geriſſen, ſagte die
Alte, heut wird ſie gerichtet; aber ſie hat es in der Ver¬
zweiflung gethan, die Ehre, die Ehre lag ihr im Sinn;
ſie war zu Schanden gekommen aus Ehrfucht, ſie wurde
verführt von einem Vornehmen, er hat ſie ſitzen laſſen,
ſie hat ihr Kind erſtickt in derſelben Schürze, die ich
damals über den Kopf des Jägers [Jürge] warf, und die
ſie mir heimlich entwendet hat; ach, es hat ſie mit Zäh¬
nen dazu geriſſen, ſie hat es in der Verwirrung gethan.
Der Verführer hatte ihr die Ehe verſprochen, und geſagt:
der Kasper ſey in Frankreich geblieben; dann iſt ſie ver¬
zweifelt und hat das Böſe gethan, und hat ſich ſelbſt
[51] bei den Gerichten angegeben. Um vier Uhr wird ſie
gerichtet. Sie hat mir geſchrieben: ich möchte noch zu
ihr kommen, das will ich nun thun und ihr das Kränz¬
lein und den Gruß von dem armen Kasper bringen,
und die Roſe, die ich heut Nacht erhalten, das wird ſie
tröſten. Ach, lieber Schreiber, wenn Er es nur in der
Bittſchrift auswirken kann: daß ihr Leib und auch der
Kasper dürfen auf unſern Kirchhof gebracht werden.


Alles, Alles will ich verſuchen! rief ich aus, gleich
will ich nach dem Schloſſe laufen; mein Freund, der Ihr
die Roſe gab, hat die Wache dort, er ſoll mir den Her¬
zog wecken, ich will vor ſein Bett knieen, und ihn um
Pardon für Annerl bitten.


Pardon? ſagte die Alte kalt, es hat ſie ja mit Zäh¬
nen dazu gezogen; hör' Er, lieber Freund, Gerechtigkeit
iſt beſſer als Pardon, was hilft aller Pardon auf Erden,
wir müſſen doch Alle vor das Gericht:

Ihr Todten, ihr Todten ſollt auferſteh'n,

Ihr ſollt vor das jüngſte Gerichte geh'n.

Seht, ſie will keinen Pardon, man hat ihn ihr angebo¬
ten, wenn ſie den Vater des Kindes nennen wolle, aber
das Annerl hat geſagt: Ich habe ſein Kind ermordet
4*[52] und will ſterben, und ihn nicht unglücklich machen; ich
muß meine Strafe leiden, daß ich zu meinem Kinde
komme, aber ihn kann es verderben, wenn ich ihn nenne.
Darüber wurde ihr das Schwerdt zuerkannt. Gehe Er
zum Herzog, und bitte Er für Kasper und Annerl um
ein ehrlich Grab. Gehe Er gleich, ſeh' Er: dort geht
der Herr Pfarrer in's Gefängniß, ich will ihn anſpre¬
chen, daß er mich mit hinein zum ſchönen Annerl nimmt.
Wenn Er ſich eilt, ſo kann Er uns draußen am Ge¬
richte vielleicht den Troſt noch bringen: mit dem ehr¬
lichen Grab für Kasper und Annerl.


Unter dieſen Worten waren wir mit dem Prediger
zuſammengetroffen, die Alte erzählte ihr Verhältniß zu
der Gefangenen und er nahm ſie freundlich mit zum
Gefängniß. Ich aber eilte nun, wie ich noch nie gelau¬
fen, nach dem Schloſſe, und es machte mir einen tröſten¬
den Eindruck, es war mir wie ein Zeichen der Hoffnung,
als ich an Graf Groſſingers Hauſe vorüberſtürzte, und
aus einem offnen Fenſter des Gartenhauſes eine liebliche
Stimme zur Laute ſingen hörte:

Die Gnade ſprach von Liebe,

Die Ehre aber wacht,

Und wünſcht voll Lieb' der Gnade

In Ehren gute Nacht.

[53]
Die Gnade nimmt den Schleier,

Wenn Liebe Roſen giebt,

Die Ehre grüßt den Freier,

Weil ſie die Gnade liebt.

Ach, ich hatte der guten Wahrzeichen noch mehr! ein
hundert Schritte weiter fand ich einen weißen Schleier
auf der Straße liegend; ich raffte ihn auf, er war voll
von duftenden Roſen. Ich hielt ihn in der Hand und
lief weiter, mit dem Gedanken: ach Gott, das iſt die
Gnade. Als ich um die Ecke bog, ſah ich einen Mann,
der ſich in ſeinem Mantel verhüllte, als ich vor ihm vor¬
über eilte und mir heftig den Rücken wandte, um nicht
geſehen zu werden. Er hätte es nicht nöthig gehabt,
ich ſah und hörte nichts in meinem Innern, als: Gnade,
Gnade! und ſtürzte durch das Gitterthor in den Schlo߬
hof. Gott ſey Dank, der Fähndrich, Graf Groſſinger,
der unter den blühenden Kaſtanienbäumen vor der Wache
auf und ab ging, trat mir ſchon entgegen.


Lieber Graf, ſagte ich mit Ungeſtüm, Sie müſſen
mich gleich zum Herzog bringen, gleich auf der Stelle,
oder Alles iſt zu ſpät, Alles iſt verloren!


Er ſchien verlegen über dieſen Antrag und ſagte:
Was fällt Ihnen ein, zu dieſer ungewohnten Stunde?
[54] Es iſt nicht möglich, kommen Sie zur Parade, da will
ich Sie vorſtellen.


Mir brannte der Boden unter den Füßen. Jetzt,
rief ich aus, oder nie! es muß ſeyn, es betrifft das
Leben eines Menſchen.


Es kann jetzt nicht ſeyn, erwiederte Groſſinger ſcharf
abſprechend, es betrifft meine Ehre, es iſt mir unterſagt,
heute Nacht irgend eine Meldung zu thun.


Das Wort Ehre machte mich verzweifeln; ich dachte
an Kaspers Ehre, an Annerls Ehre, und ſagte: die
vermaledeite Ehre, gerade um die letzte Hülfe zu leiſten,
welche ſo eine Ehre übrig gelaſſen, muß ich zum Herzoge,
Sie müſſen mich melden oder ich ſchreie laut nach dem
Herzog.


So Sie ſich rühren, ſagte Groſſinger heftig, laſſe
ich Sie in die Wache werfen, Sie ſind ein Phantaſt, Sie
kennen keine Verhältniſſe.


O, ich kenne Verhältniſſe, ſchreckliche Verhältniſſe!
ich muß zum Herzoge, jede Minute iſt unerkauflich! ver¬
ſetzte ich, wollen Sie mich nicht gleich melden, ſo eile ich
allein zu ihm.


Mit dieſen Worten wollte ich nach der Treppe, die
zu den Gemächern des Herzogs hinaufführte, als ich den
[55] Nämlichen, in einem Mantel Verhüllten, der mir begeg¬
nete, nach dieſer Treppe eilend, bemerkte. Groſſinger
drehte mich mit Gewalt um, daß ich dieſen nicht ſehen
ſollte. Was machen Sie, Thöriger, flüſterte er mir zu,
ſchweigen Sie, ruhen Sie, Sie machen mich unglücklich.


Warum halten Sie den Mann nicht zurück, der da
hinauf ging? ſagte ich; er kann nichts Dringenderes
vorzubringen haben, als ich. Ach, es iſt ſo dringend,
ich muß, ich muß! Es betrifft das Schickſal eines un¬
glücklichen verführten armen Geſchöpfs.


Groſſinger erwiederte: Sie haben den Mann hin¬
auf gehen ſehen; wenn Sie je ein Wort davon äußern,
ſo kommen Sie vor meine Klinge; gerade, weil Er
hinauf ging, können Sie nicht hinauf, der Herzog hat
Geſchäfte mit ihm.


Da erleuchteten ſich die Fenſter des Herzogs. Gott,
er hat Licht, er iſt auf! ſagte ich, ich muß ihn ſprechen,
um des Himmels willen, laſſen Sie mich, oder ich ſchreie
Hülfe.


Groſſinger faßte mich beim Arm, und ſagte: Sie
ſind betrunken, kommen Sie in die Wache: ich bin Ihr
Freund, ſchlafen Sie aus, und ſagen Sie mir das Lied,
das die Alte heut Nacht an der Thüre ſang, als
[56] ich die Runde vorüber führte; das Lied intereſſirt
mich ſehr.


Gerade wegen der Alten und den Ihrigen muß ich
mit dem Herzoge ſprechen! rief ich aus.


Wegen der Alten? verſetzte Groſſinger, wegen der
ſprechen Sie mit mir, die großen Herren, haben keinen
Sinn für ſo etwas; geſchwind kommen Sie nach der
Wache.


Er wollte mich fortziehen, da ſchlug die Schloßuhr
halb Vier, der Klang ſchnitt mir wie ein Schrei der
Roth durch die Seele, und ich ſchrie aus voller Bruſt
zu den Fenſtern des Herzogs hinauf:


Hülfe! um Gottes willen, Hülfe für ein elendes,
verführtes Geſchöpf! Da ward Groſſinger wie unſinnig,
er wollte mir den Mund zuhalten, aber ich rang mit
ihm; er ſtieß mich in den Nacken, er ſchimpfte, ich fühlte,
ich hörte nichts. Er rief nach der Wache, der Korporal
eilte mit etlichen Soldaten herbei, mich zu greifen, aber
in dem Augenblick ging des Herzogs Fenſter auf, und
es rief herunter:


Fähndrich Graf Groſſinger, was iſt das für ein
Skandal? bringen Sie den Menſchen herauf, gleich auf
der Stelle!


[57]

Ich wartete nicht auf den Fähndrich; ich ſtürzte
die Treppe hinauf, ich fiel nieder zu den Füßen des Her¬
zogs, der mich betroffen und unwillig aufſtehen hieß.
Er hatte Stiefel und Sporen an, und doch einen Schlaf¬
rock, den er ſorgfältig über der Bruſt zuſammen hielt.


Ich trug dem Herzoge Alles, was mir die Alte von
dem Selbſtmorde des Uhlanen, von der Geſchichte der
ſchönen Annerl erzählt hatte, ſo gedrängt vor, als es
die Noth erforderte, und flehte ihn wenigſtens um den
Aufſchub der Hinrichtung auf wenige Stunden und um
ein ehrliches Grab für die beiden Unglücklichen an, wenn
Gnade unmöglich ſey. — Ach, Gnade, Gnade! rief ich
aus, indem ich den gefundenen weißen Schleier voll
Roſen aus dem Buſen zog; dieſer Schleier, den ich auf
meinem Wege hierher gefunden, ſchien mir Gnade zu
verheißen.


Der Herzog griff mit Ungeſtüm nach dem Schleier,
und war heftig bewegt; er drückte den Schleier in ſeinen
Händen und als ich die Worte ausſprach, dieſes arme
Mädchen iſt ein Opfer falſcher Ehrſucht; ein Vornehmer
hat ſie verführt, und ihr die Ehe verſprochen, ach, ſie
iſt ſo gut, daß ſie lieber ſterben will, als ihn nennen —
da unterbrach mich der Herzog mit Thränen in den
[58] Augen, und ſagte: Schweigen Sie, ums Himmels wil¬
len, ſchweigen Sie — und nun wendete er ſich zu dem
Fähndrich, der an der Thür ſtand, und ſagte mit drin¬
gender Eile: Fort, eilend zu Pferde mit dieſem Menſchen
hier; reiten Sie das Pferd todt; nur nach dem Gerichte
hin: heften Sie dieſen Schleier an ihren Degen, winken
und ſchreien Sie Gnade, Gnade! ich komme nach.


Groſſinger nahm den Schleier; er war ganz verwan¬
delt, er ſah aus wie ein Geſpenſt vor Angſt und Eile; wir
ſtürzten in den Stall, ſaßen zu Pferde und ritten im
Galopp, er ſtürmte wie ein Wahnſinniger zum Thore
hinaus. Als er den Schleier an ſeine Degenſpitze hef¬
tete, ſchrie er: Herr Jeſus, meine Schweſter! Ich ver¬
ſtand nicht, was er wollte. Er ſtand hoch im Bügel,
und wehte und ſchrie: Gnade, Gnade! wir ſahen auf
dem Hügel die Menge um das Gericht verſammelt.
Mein Pferd ſcheute vor dem wehenden Tuch. Ich bin
ein ſchlechter Reiter, ich konnte den Groſſinger nicht ein¬
holen, er flog im ſchnellſten Carriere: ich ſtrengte alle
Kräfte an. Trauriges Schickſal! die Artillerie exerzirte
in der Nähe, der Kanonendonner machte es unmöglich,
unſer Geſchrei aus der Ferne zu hören. Groſſinger
ſtürzte, das Volk ſtob auseinander, ich ſah in den Kreis,
[59] ich ſah einen Stahlblitz in der frühen Sonne — ach
Gott, es war der Schwerdtblitz des Richters! — Ich
ſprengte heran, ich hörte das Wehklagen der Menge.
Pardon, Pardon! ſchrie Groſſinger und ſtürzte mit
wehendem Schleier durch den Kreis, wie ein Raſender,
aber der Richter hielt ihm das blutende Haupt der ſchö¬
nen Annerl entgegen, das ihn wehmüthig anlächelte.
Da ſchrie er: Gott ſey mir gnädig! und fiel auf die
Leiche hin zur Erde, tödtet mich, tödtet mich, ihr Men¬
ſchen, ich habe ſie verführt, ich bin ihr Mörder!


Eine rächende Wuth ergriff die Menge; die Weiber
und Jungfrauen drangen heran und riſſen ihn von der
Leiche, und traten ihn mit Füßen, er wehrte ſich nicht;
die Wachen konnten das wüthende Volk nicht bändigen.
Da erhob ſich das Geſchrei: der Herzog, der Herzog! —
er kam im offnen Wagen gefahren, ein blutjunger Menſch,
den Hut tief in's Geſicht gedrückt, in einen Mantel ge¬
hüllt, ſaß neben ihm. Die Menſchen ſchleifen Groſſinger
herbei; Jeſus, mein Bruder! ſchrie der junge Offizier
mit der weiblichſten Stimme aus dem Wagen. Der Her¬
zog ſprach beſtürzt zu ihm: ſchweigen Sie! Er ſprang
aus dem Wagen, der junge Menſch wollte folgen, der
Herzog drängte ihn ſchier unſanft zurück, aber ſo beför¬
[60] derte ſich die Entdeckung: daß der junge Menſch die,
als Offizier verkleidete, Schweſter Groſſingers ſey. Der
Herzog ließ den mißhandelten, blutenden, ohnmächtigen
Groſſinger in den Wagen legen, die Schweſter nahm
keine Rückſicht mehr, ſie warf ihren Mantel über ihn;
Jedermann ſah ſie in weiblicher Kleidung. Der Herzog
war verlegen, aber er ſammelte ſich, und befahl den
Wagen ſogleich umzuwenden, und die Gräfin mit ihrem
Bruder nach ihrer Wohnung zu fahren. Dieſes Ereig¬
niß hatte die Wuth der Menge einigermaßen geſtillt.
Der Herzog ſagte laut zu dem wachthabenden Offizier:
die Gräfin Groſſinger hat ihren Bruder an ihrem Hauſe
vorbei reiten ſehen, den Pardon zu bringen und wollte
dieſem freudigen Ereigniß beiwohnen; als ich zu demſel¬
ben Zwecke vorüber fuhr, ſtand ſie am Fenſter, und bat mich,
ſie in meinem Wagen mitzunehmen, ich konnte es dem gut¬
müthigen Kinde nicht abſchlagen. Sie nahm einen Man¬
tel und Hut ihres Bruders, um kein Aufſehen zu erre¬
gen, und hat, von dem unglücklichen Zufall überraſcht,
die Sache gerade dadurch zu einem abenteuerlichen Skan¬
dal gemacht. Aber wie konnten Sie, Herr Lieutenant,
den unglücklichen Grafen Groſſinger nicht vor dem
Pöbel ſchützen? es iſt ein gräßlicher Fall: daß er, mit
[61] dem Pferde ſtürzend, zu ſpät kam, er kann doch aber
nichts dafür: ich will die Mißhandler des Grafen ver¬
haftet und beſtraft wiſſen.


Auf dieſe Rede des Herzogs erhob ſich ein allge¬
meines Geſchrei: Er iſt ein Schurke, er iſt der Verführer,
der Mörder der ſchönen Annerl geweſen, er hat es ſelbſt
geſagt, der elende, der ſchlechte Kerl!


Als dies von allen Seiten her tönte und auch der
Prediger und der Offizier und die Gerichtsperſonen es
beſtätigten, war der Herzog ſo tief erſchüttert, daß er
nichts ſagte, als: Entſetzlich, entſetzlich, o der elende
Menſch!


Nun trat der Herzog blaß und bleich in den Kreis,
er wollte die Leiche der ſchönen Annerl ſehen. Sie lag
auf dem grünen Raſen in einem weißen Kleide mit ſchwar¬
zen Schleifen, die alte Großmutter, welche ſich um Al¬
les was vorging nicht bekümmerte, hatte ihr das Haupt
an den Rumpf gelegt und die ſchreckliche Trennung mit
ihrer Schürze bedeckt; ſie war beſchäftigt, ihr die Hände
über die Bibel zu falten, welche der Pfarrer in dem
kleinen Städtchen der kleinen Annerl geſchenkt hatte, das
goldene Kränzlein band ſie ihr auf den Kopf und ſteckte
die Roſe vor die Bruſt, welche ihr Groſſinger in
[62] der Nacht gegeben hatte, ohne zu wiſſen, wem er
ſie gab.


Der Herzog ſprach bei dieſem Anblick: Schönes,
unglückliches Annerl! ſchändlicher Verführer, Du kamſt
zu ſpät! — arme alte Mutter, Du biſt ihr allein treu
geblieben, bis in den Tod. Als er mich bei dieſen Wor¬
ten in ſeiner Nähe ſah, ſprach er zu mir: Sie ſagten
mir von einem letzten Willen des Korporal Kasper,
haben Sie ihn bei ſich? Da wendete ich mich zu der
Alten, und ſagte: Arme Mutter, gebt mir die Brieftaſche
Kaspers; Se. Durchlaucht wollen ſeinen letzten Willen
leſen.


Die Alte, welche ſich um nichts bekümmerte, ſagte
mürriſch: Iſt Er auch wieder da? Er hätte lieber ganz
zu Hauſe bleiben können. Hat Er die Bittſchrift? jetzt
iſt es zu ſpät, ich habe dem armen Kinde den Troſt
nicht geben können, daß ſie zu Kasper in ein ehrliches
Grab ſoll; ach, ich hab' es ihr vorgelogen, aber ſie hat
mir nicht geglaubt.


Der Herzog unterbrach ſie und ſprach: Ihr habt
nicht gelogen, gute Mutter, der Menſch hat ſein Mög¬
lichſtes gethan, der Sturz des Pferdes iſt an Allem ſchuld;
aber ſie ſoll ein ehrliches Grab haben bei ihrer Mutter
[63] und bei Kasper, der ein braver Kerl war; es ſoll ihnen
Beiden eine Leichenpredigt gehalten werden über die
Worte: Gebt Gott allein die Ehre! Der Kasper ſoll als
Fähndrich begraben werden, ſeine Schwadron ſoll ihm
dreimal in's Grab ſchießen, und des Verderbers Groſ¬
ſingers Degen ſoll auf ſeinen Sarg gelegt werden.


Nach dieſen Worten ergriff er Groſſingers Degen,
der mit dem Schleier noch an der Erde lag, nahm den
Schleier herunter, bedeckte Annerl damit und ſprach: Die¬
ſer unglückliche Schleier, der ihr ſo gern Gnade gebracht
hätte, ſoll ihr die Ehre wieder geben, ſie iſt ehrlich und
begnadigt geſtorben, der Schleier ſoll mit ihr begraben
werden.


Den Degen gab er dem Offizier der Wache mit
den Worten: Sie werden heute noch meine Befehle
wegen der Beſtattung des Uhlanen und dieſes armen
Mädchens bei der Parade empfangen.


Nun las er auch die letzten Worte Kaspers laut
mit vieler Rührung, die alte Großmutter umarmte mit
Freudenthränen ſeine Füße, als wäre ſie das glücklichſte
Weib. Er ſagte zu ihr: gebe Sie ſich zufrieden, Sie ſoll
eine Penſion haben bis an Ihr ſeliges Ende, ich will
Ihrem Enkel und der Annerl einen Denkſtein ſetzen laſſen.
[64] Nun befahl er dem Prediger, mit der Alten, und einem
Sarge, in welchem die Gerichtete gelegt wurde, nach
ſeiner Wohnung zu fahren, und ſie dann nach ihrer
Heimath zu bringen und das Begräbniß zu beſorgen.
Da während dem ſeine Adjutanten mit Pferden gekom¬
men waren, ſagte er noch zu mir: Geben Sie meinem Ad¬
jutanten Ihren Namen an, ich werde Sie rufen laſſen,
Sie haben einen ſchönen menſchlichen Eifer gezeigt. Der
Adjutant ſchrieb meinen Namen in ſeine Schreibtafel,
und machte mir ein verbindliches Kompliment. Dann
ſprengte der Herzog, von den Segenswünſchen der Menge
begleitet, in die Stadt. Die Leiche der ſchönen Annerl
ward nun mit der guten alten Großmutter in das Haus
des Pfarrers gebracht, und in der folgenden Nacht fuhr
dieſer mit ihr nach der Heimath zurück. Der Offizier
traf, mit dem Degen Groſſingers und einer Schwadron
Uhlanen, auch daſelbſt am folgenden Abend ein. Da
wurde nun der brave Kasper, mit Groſſingers Degen
auf der Bahre und dem Fähndrichs-Patent, neben der
ſchönen Annerl, zur Seite ſeiner Mutter begraben. Ich
war auch hingeeilt und führte die alte Mutter, welche
kindiſch vor Freude war, aber wenig redete; und als
die Uhlanen dem Kaſper zum dritten Mal in's Grab
[65] ſchoſſen, fiel ſie mir todt in die Arme, ſie hat ihr Grab
auch neben den Ihrigen empfangen. Gott gebe ihnen
Allen eine freudige Auferſtehung!

Sie ſollen treten auf die Spitzen,

Wo die lieben Engelein ſitzen,

Wo kömmt der liebe Gott gezogen,

Mit einem ſchönen Regenbogen;

Da ſollen ihre Seelen vor Gott beſtehn,

Wann wir werden zum Himmel eingehn.

Amen.

Als ich in die Hauptſtadt zurück kam, hörte ich: Graf
Groſſinger ſey geſtorben: er habe Gift genommen; in
meiner Wohnung fand ich einen Brief von ihm, er ſagte
mir darin:


Ich habe Ihnen viel zu danken, Sie haben meine
Schande, die mir lange das Herz abnagte, zu Tage
gebracht. Jenes Lied der Alten kannte ich wohl,
die Annerl hatte es mir oft vorgeſagt, ſie war ein
unbeſchreiblich edles Geſchöpf. Ich war ein elender Ver¬
brecher, ſie hatte ein ſchriftliches Eheverſprechen von
mir gehabt und hat es verbrannt. Sie diente bei einer
alten Tante von mir, ſie litt oft an Melancholie. Ich
habe mich durch gewiſſe mediciniſche Mittel, die etwas
5[66] Magiſches haben, ihrer Seele bemächtigt. — Gott ſey
mir gnädig! — Sie haben auch die Ehre meiner Schwe¬
ſter gerettet, der Herzog liebt ſie, ich war ſein Günſt¬
ling — die Geſchichte hat ihn erſchüttert — Gott helfe
mir, ich habe Gift genommen.


Joſeph Graf Groſſinger.


Die Schürze der ſchönen Annerl, in welche ihr der
Kopf des Jägers Jürge bei ſeiner Enthauptung gebiſ¬
ſen, iſt auf der herzoglichen Kunſtkammer bewahrt wor¬
den. Man ſagt: die Schweſter des Grafen Groſſinger
werde der Herzog mit dem Namen: Voil de Grace, auf
deutſch: Gnadenſchleier, in den Fürſtenſtand erheben und
ſich mit ihr vermählen. Bei der nächſten Revue in der
Gegend von D . . . . ſoll das Monument auf den
Gräbern der beiden unglücklichen Ehrenopfer, auf
dem Kirchhof des Dorfs, errichtet und eingeweiht wer¬
den, der Herzog wird mit der Fürſtin ſelbſt zugegen
ſeyn. Er iſt ausnehmend zufrieden damit; die Idee ſoll
von der Fürſtin und dem Herzoge zuſammen erfunden
ſeyn. Es ſtellt die falſche und wahre Ehre vor, die ſich
vor einem Kreuze beiderſeits gleich tief zur Erde beugen,
die Gerechtigkeit ſteht mit dem geſchwungenen Schwerdte
[67] zur einen Seite, die Gnade zur andern Seite und wirft
einen Schleier heran. Man will im Kopfe der Ge¬
rechtigkeit Aehnlichkeit mit dem Herzoge, in dem Kopfe
der Gnade Aehnlichkeit mit dem Geſichte der Fürſtin
finden.

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Lizenz
CC-BY-4.0
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Brentano, Clemens. Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bj1t.0