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in den
letzten Jahren ſeines Lebens.
F. A. Brockhaus.
1836.
1828.
II. 1[[2]][[3]]Wir hatten nicht lange am Tiſch geſeſſen, als Herr
Seidel mit den Tyrolern ſich melden ließ. Die Saͤn¬
ger wurden ins Gartenzimmer geſtellt, ſo daß ſie durch
die offenen Thuͤren gut zu ſehen, und ihr Geſang aus
dieſer Ferne gut zu hoͤren war. Herr Seidel ſetzte ſich
zu uns an den Tiſch. Die Lieder und das Gejodel der
heiteren Tyroler behagte uns jungen Leuten; Fraͤulein
Ulrike und mir gefiel beſonders der Strauß und Du,
du liegſt mir im Herzen, wovon wir uns den Text
ausbaten. Goethe ſelbſt erſchien keineswegs ſo entzuͤckt
als wir Andern. „Wie Kirſchen und Beeren behagen,
ſagte er, muß man Kinder und Sperlinge fragen.“
Zwiſchen den Liedern ſpielten die Tyroler allerlei natio¬
nale Taͤnze, auf einer Art von liegenden Zittern, von
einer hellen Querfloͤte begleitet.
Der junge Goethe wird hinausgerufen und kommt
bald wieder zuruͤck. Er geht zu den Tyrolern und ent¬
laͤßt ſie. Er ſetzt ſich wieder zu uns an den Tiſch.
1*[4] Wir ſprechen von Oberon, und daß ſo viele Menſchen
von allen Ecken herbeygeſtroͤmt, um dieſe Oper zu ſehen,
ſo daß ſchon Mittags keine Billets mehr zu haben ge¬
weſen. Der junge Goethe hebt die Tafel auf. „Lieber
Vater, ſagt er, wenn wir aufſtehen wollten! Die Her¬
ren und Damen wuͤnſchten vielleicht etwas fruͤher ins
Theater zu gehen.“ Goethen erſcheint dieſe Eile wun¬
derlich, da es noch kaum vier Uhr iſt, doch fuͤgt er ſich
und ſteht auf, und wir verbreiten uns in den Zimmern.
Herr Seidel tritt zu mir und einigen Anderen, und ſagt
leiſe und mit betruͤbtem Geſicht: „Eure Freude auf das
Theater iſt vergeblich, es iſt keine Vorſtellung, der
Großherzog iſt todt! auf der Reiſe von Berlin hie¬
her iſt er geſtorben.“ Eine allgemeine Beſtuͤrzung ver¬
breitete ſich unter uns. Goethe kommt herein, wir thun
als ob nichts paſſirt waͤre und ſprechen von gleichguͤlti¬
gen Dingen. Goethe tritt mit mir ans Fenſter und
ſpricht uͤber die Tyroler und das Theater. „Sie gehen
heut in meine Loge, ſagte er, Sie haben Zeit bis ſechs
Uhr; laſſen Sie die Andern und bleiben Sie bey mir,
wir ſchwaͤtzen noch ein wenig.“ Der junge Goethe ſucht
die Geſellſchaft fortzutreiben, um ſeinem Vater die Er¬
oͤffnung zu machen, ehe der Canzler, der ihm vorhin
die Bothſchaft gebracht, zuruͤckkommt. Goethe kann das
wunderliche Eilen und Draͤngen ſeines Sohnes nicht
begreifen und wird daruͤber verdrießlich. „Wollt Ihr
denn nicht erſt Euren Kaffee trinken, ſagt er, es iſt ja
[5] kaum vier Uhr!“ Indeß gingen die Uebrigen und auch
ich nahm meinen Hut. „Nun? wollen Sie auch
gehen?“ ſagte Goethe, indem er mich verwundert anſah.
Ja, ſagte der junge Goethe, Eckermann hat auch vor
dem Theater noch etwas zu thun. Ja, ſagte ich, ich
habe noch etwas vor. „So geht denn, ſagte Goethe,
indem er bedenklich den Kopf ſchuͤttelte, aber ich begreife
Euch nicht.“
Wir gingen mit Fraͤulein Ulrike in die oberen Zim¬
mer; der junge Goethe aber blieb unten, um ſeinem
Vater die unſelige Eroͤffnung zu machen.
Ich ſah Goethe darauf ſpaͤt am Abend. Schon
ehe ich zu ihm ins Zimmer trat, hoͤrte ich ihn ſeufzen
und laut vor ſich hinreden. Er ſchien zu fuͤhlen, daß
in ſein Daſeyn eine unerſetzliche Luͤcke geriſſen wor¬
den. Allen Troſt lehnte er ab und wollte von derglei¬
chen nichts wiſſen. „Ich hatte gedacht, ſagte er, ich
wollte vor Ihm hingehen; aber Gott fuͤgt es, wie er
es fuͤr gut findet, und uns armen Sterblichen bleibt
weiter nichts, als zu tragen und uns empor zu halten
ſo gut und ſo lange es gehen will.“
Die Großherzogin Mutter traf die Todesnachricht in
ihrem Sommeraufenthalte zu Wilhelmsthal, den jungen
[6] Hof in Rußland. Goethe ging bald nach Dornburg,
um ſich den taͤglichen betruͤbenden Eindruͤcken zu ent¬
ziehen und ſich in einer neuen Umgebung durch eine
friſche Thaͤtigkeit wieder herzuſtellen. Durch bedeutende
ihn nahe beruͤhrende literariſche Anregungen von Seiten
der Franzoſen ward er von Neuem in die Pflanzenlehre
getrieben, bey welchen Studien ihm dieſer laͤndliche
Aufenthalt, wo ihm bey jedem Schritt ins Freye die
uͤppigſte Vegetation rankender Weinreben und ſproſſen¬
der Blumen umgab, ſehr zu Statten kam.
Ich beſuchte ihn dort einige Mal in Begleitung ſei¬
ner Schwiegertochter und Enkel. Er ſchien ſehr gluͤck¬
lich zu ſeyn und konnte nicht unterlaſſen, ſeinen Zuſtand
und die herrliche Lage des Schloſſes und der Gaͤrten
wiederholt zu preiſen. Und in der That! man hatte aus
den Fenſtern von ſolcher Hoͤhe hinab einen reizenden
Anblick. Unten das mannigfaltig belebte Thal mit der
durch Wieſen ſich hinſchlaͤngelnden Saale. Gegenuͤber
nach Oſten waldige Huͤgel, uͤber welche der Blick ins
Weite ſchweifte, ſo daß man fuͤhlte, es ſey dieſer Stand
am Tag der Beobachtung vorbeyziehender und ſich im
Weiten verlierender Regenſchauer, ſo wie bey Nacht der
Betrachtung des oͤſtlichen Sternenheers und der auf¬
gehenden Sonne beſonders guͤnſtig.
„Ich verlebe hier, ſagte Goethe, ſo gute Tage wie
Naͤchte. Oft vor Tagesanbruch bin ich wach und liege
im offenen Fenſter, um mich an der Pracht der jetzt
[7] zuſammenſtehenden drey Planeten zu weiden und an dem
wachſenden Glanz der Morgenroͤthe zu erquicken. Faſt
den ganzen Tag bin ich ſodann im Freyen, und halte
geiſtige Zwieſprache mit den Ranken der Weinrebe, die
mir gute Gedanken ſagen und wovon ich Euch wunder¬
liche Dinge mittheilen koͤnnte. Auch mache ich wieder
Gedichte, die nicht ſchlecht ſind, und moͤchte uͤberall,
daß es mir vergoͤnnt waͤre, in dieſem Zuſtande ſo fort¬
zuleben.“
Heute zwey Uhr, bey dem herrlichſten Wetter, kam
Goethe von Dornburg zuruͤck. Er war ruͤſtig und ganz
braun von der Sonne. Wir ſetzten uns bald zu Tiſch,
und zwar in dem Zimmer, das unmittelbar an den
Garten ſtoͤßt, und deſſen Thuͤren offen ſtanden. Er er¬
zaͤhlte von mancherley gehabten Beſuchen und erhaltenen
Geſchenken, und ſchien ſich uͤberall in zwiſchen geſtreu¬
ten leichten Scherzen zu gefallen. Blickte man aber
tiefer, ſo konnte man eine gewiſſe Befangenheit nicht
verkennen, wie ſie derjenige empfindet, der in einen
alten Zuſtand zuruͤckkehrt, der durch mancherley Verhaͤlt¬
niſſe, Ruͤckſichten und Anforderungen bedingt iſt.
Wir waren noch bey den erſten Gerichten, als eine
Sendung der Großherzogin Mutter kam, die ihre Freude
uͤber Goethe's Zuruͤckkunft zu erkennen gab, mit der
[8] Meldung, daß ſie naͤchſten Dienſtag das Vergnuͤgen
haben werde, ihn zu beſuchen.
Seit dem Tode des Großherzogs hatte Goethe Nie¬
manden von der fuͤrſtlichen Familie geſehen. Er hatte
zwar mit der Großherzogin Mutter in fortwaͤhrendem
Briefwechſel geſtanden, ſo daß ſie ſich uͤber den erlitte¬
nen Verluſt gewiß hinlaͤnglich ausgeſprochen hatten.
Allein jetzt ſtand das perſoͤnliche Wiederſehen bevor, das
ohne einige ſchmerzliche Regungen von beyden Seiten
nicht wohl abgehen konnte, und das demnach im Voraus
mit einiger Apprehenſion mochte empfunden werden.
So auch hatte Goethe den jungen Hof noch nicht ge¬
ſehen und als neuer Landesherrſchaft gehuldigt. Dieſes
alles ſtand ihm bevor, und wenn es ihn auch als gro¬
ßen Weltmann keineswegs genieren konnte, ſo genierte
es ihn doch als Talent, das immer in ſeinen angebore¬
nen Richtungen und in ſeiner Thaͤtigkeit leben moͤchte.
Zudem drohten Beſuche aus allen Gegenden. Das
Zuſammenkommen beruͤhmter Naturforſcher in Berlin
hatte viele bedeutende Maͤnner in Bewegung geſetzt, die,
in ihren Wegen Weimar durchkreuzend, ſich theils hat¬
ten melden laſſen und deren Ankunft zu erwarten war.
Wochenlange Stoͤrungen, die den inneren Sinn hinnah¬
men und aus der gewohnten Bahn lenkten, und was
ſonſt fuͤr Unannehmlichkeiten mit uͤbrigens ſo werthen
Beſuchen in Verbindung ſtehen mochten, dieſes alles
mußte von Goethe geſpenſtiſch voraus empfunden wer¬
[9] den, ſo wie er wieder den Fuß auf die Schwelle ſetzte
und die Raͤume ſeiner Zimmer durchſchritt.
Was aber alles dieſes Bevorſtehende noch laͤſtiger
machte, war ein Umſtand, den ich nicht uͤbergehen darf.
Die fuͤnfte Lieferung ſeiner Werke, welche auch die
Wanderjahre enthalten ſoll, muß auf Weihnachten
zum Druck abgeliefert werden. Dieſen fruͤher in Einem
Bande erſchienenen Roman hat Goethe gaͤnzlich umzu¬
arbeiten angefangen, und das Alte mit ſo viel Neuem
verſchmolzen, daß es als ein Werk in drey Baͤnden
in der neuen Ausgabe hervorgehen ſoll. Hieran iſt
nun zwar bereits viel gethan, aber noch ſehr viel zu
thun. Das Manuſcript hat uͤberall weiße Papierluͤcken,
die noch ausgefuͤllt ſeyn wollen. Hier fehlt etwas in
der Expoſition, hier iſt ein geſchickter Uebergang zu fin¬
den, damit dem Leſer weniger fuͤhlbar werde, daß es
ein collectives Werk ſey; hier ſind Fragmente von gro¬
ßer Bedeutung, denen der Anfang, andere, denen das
Ende mangelt, und ſo iſt an allen drey Baͤnden noch
ſehr viel nachzuhelfen, um das bedeutende Buch zugleich
annehmlich und anmuthig zu machen.
Goethe theilte mir vergangenes Fruͤhjahr das Ma¬
nuſcript zur Durchſicht mit; wir verhandelten damals
ſehr viel uͤber dieſen wichtigen Gegenſtand muͤndlich und
ſchriftlich; ich rieth ihm, den ganzen Sommer der Voll¬
endung dieſes Werkes zu widmen, und alle anderen Ar¬
beiten ſo lange zur Seite zu laſſen; er war gleichfalls
[10] von dieſer Nothwendigkeit uͤberzeugt und hatte den feſten
Entſchluß, ſo zu thun. Dann aber ſtarb der Großher¬
zog; in Goethe's ganze Exiſtenz war dadurch eine un¬
geheure Luͤcke geriſſen, an eine ſo viele Heiterkeit und
ruhigen Sinn verlangende Compoſition war nicht mehr
zu denken, und er hatte nur zu ſehen, wie er ſich per¬
ſoͤnlich oben halten und wieder herſtellen wollte.
Jetzt aber, da er mit Herbſtes Anfang von Dorn¬
burg zuruͤckkehrend die Zimmer ſeiner Weimariſchen Woh¬
nung wieder betrat, mußte ihm auch der Gedanke an
die Vollendung ſeiner Wanderjahre, wozu ihm nur noch
die kurze Friſt weniger Monate vergoͤnnet war, lebendig
vor die Seele treten, und zwar im Conflict mit den
mannigfaltigen Stoͤrungen, die ihm bevorſtanden und
einem reinen ruhigen Walten und Wirken ſeines Ta¬
lentes im Wege waren.
Faßt man nun alles Dargelegte zuſammen, ſo wird
man mich verſtehen, wenn ich ſage, daß in Goethe,
trotz ſeiner leichten heiteren Scherze bey Tiſch, eine tiefer
liegende Befangenheit nicht ſey zu verkennen geweſen.
Warum ich aber dieſe Verhaͤltniſſe beruͤhre, hat noch
einen anderen Grund. Es ſteht mit einer Aeußerung
Goethe's in Verbindung, die mir ſehr merkwuͤrdig er¬
ſchien, die ſeinen Zuſtand und ſein eigenthuͤmliches We¬
ſen ausſprach, und wovon ich nun reden will.
Profeſſor Abeken zu Osnabruͤck hatte mir in den
Tagen vor dem 28. Auguſt einen Einſchluß zugeſendet,
[11] mit dem Erſuchen, ihn Goethe zu ſeinem Geburtstage
zu ſchicklicher Stunde zu uͤberreichen. Es ſey ein An¬
denken in Bezug auf Schiller, das gewiß Freude
verurſachen werde.
Als nun Goethe heute bey Tiſch von den mannig¬
faltigen Geſchenken erzaͤhlte, die ihm zu ſeinem Geburts¬
tag nach Dornburg geſendet worden, fragte ich ihn,
was das Paket von Abeken enthalten.
„Es war eine merkwuͤrdige Sendung, ſagte Goethe,
die mir viele Freude gemacht hat. Ein liebenswuͤrdiges
Frauenzimmer, bey der Schiller den Thee getrunken, hat
die Artigkeit gehabt, ſeine Aeußerungen niederzuſchreiben.
Sie hat alles ſehr huͤbſch aufgefaßt und treu wiederge¬
geben, und das lieſet ſich nun nach ſo langer Zeit gar
gut, indem man dadurch unmittelbar in einen Zuſtand
verſetzt wird, der mit tauſend anderen bedeutenden vor¬
uͤbergegangen iſt, in dieſem Fall aber gluͤcklicherweiſe in
ſeiner Lebendigkeit auf dem Papiere gefeſſelt worden.“
„Schiller erſcheint hier, wie immer, im abſoluten
Beſitz ſeiner erhabenen Natur; er iſt ſo groß am Thee¬
tiſch, wie er es im Staatsrath geweſen ſeyn wuͤrde.
Nichts geniert ihn, nichts engt ihn ein, nichts zieht den
Flug ſeiner Gedanken herab; was in ihm von großen
Anſichten lebt, geht immer frey heraus ohne Ruͤckſicht
und ohne Bedenken. Das war ein rechter Menſch, und
ſo ſollte man auch ſeyn! — Wir Andern dagegen fuͤh¬
len uns immer bedingt; die Perſonen, die Gegenſtaͤnde,
[12] die uns umgeben, haben auf uns ihren Einfluß; der
Theeloͤffel geniert uns, wenn er von Gold iſt, da er
von Silber ſeyn ſollte, und ſo, durch tauſend Ruͤckſich¬
ten paralyſirt, kommen wir nicht dazu, was etwa Großes
in unſerer Natur ſeyn moͤchte, frey auszulaſſen. Wir
ſind die Sclaven der Gegenſtaͤnde, und erſcheinen ge¬
ringe oder bedeutend, je nachdem uns dieſe zuſammen¬
ziehen oder zu freyer Ausdehnung Raum geben.“
Goethe ſchwieg, das Geſpraͤch miſchte ſich anders,
ich aber bedachte dieſe merkwuͤrdigen, auch mein eigenes
Innere beruͤhrenden und ausſprechenden Worte in mei¬
nem Herzen.
Herr Hoͤnninghauſen aus Crefeld, Chef eines großen
Handelshauſes, zugleich Liebhaber der Naturwiſſenſchaf¬
ten, beſonders der Mineralogie, ein durch große Reiſen
und Studien vielſeitig unterrichteter Mann, war heute
bey Goethe zu Tiſch. Er kam von der Verſammlung
der Naturforſcher aus Berlin zuruͤck, und es ward uͤber
dahinſchlagende Dinge, beſonders uͤber mineralogiſche
Gegenſtaͤnde manches geſprochen.
Auch von den Vulkaniſten war die Rede und von
der Art und Weiſe, wie die Menſchen uͤber die Natur
zu Anſichten und Hypotheſen kommen; bey welcher Ge¬
legenheit denn großer Naturforſcher und auch des
[13]Ariſtoteles gedacht wurde, uͤber welchen ſich Goethe
alſo ausſprach.
„Ariſtoteles, ſagte er, hat die Natur beſſer geſehen
als irgend ein Neuerer, aber er war zu raſch mit ſeinen
Meinungen. Man muß mit der Natur langſam und
laͤßlich verfahren, wenn man ihr etwas abgewinnen will.“
„Wenn ich bey Erforſchung naturwiſſenſchaftlicher
Gegenſtaͤnde zu einer Meinung gekommen war, ſo ver¬
langte ich nicht, daß die Natur mir ſogleich Recht geben
ſollte; vielmehr ging ich ihr in Beobachtungen und Ver¬
ſuchen pruͤfend nach, und war zufrieden, wenn ſie ſich
ſo gefaͤllig erweiſen wollte, gelegentlich meine Meinung
zu beſtaͤtigen. That ſie es nicht, ſo brachte ſie mich
wohl auf ein anderes Aperçuͤ, welchem ich nachging
und welches zu bewahrheiten ſie ſich vielleicht williger
fand.“
Ich ſprach dieſen Mittag bey Tiſch mit Goethe uͤber
Fouqué's Saͤngerkrieg auf der Wartburg, den
ich auf ſeinen Wunſch geleſen. Wir kamen darin uͤber¬
ein, daß dieſer Dichter ſich zeitlebens mit altdeutſchen
Studien beſchaͤftiget, und daß am Ende keine Cultur
fuͤr ihn daraus hervorgegangen.
„Es iſt in der altdeutſchen duͤſteren Zeit, ſagte
Goethe, eben ſo wenig fuͤr uns zu holen, als wir aus
[14] den ſerbiſchen Liedern und aͤhnlichen barbariſchen Volks¬
poeſieen gewonnen haben. Man lieſt es und intereſſirt
ſich wohl eine Zeitlang dafuͤr, aber bloß um es abzu¬
thun und ſodann hinter ſich liegen zu laſſen. Der Menſch
wird uͤberhaupt genug durch ſeine Leidenſchaften und
Schickſale verduͤſtert, als daß er noͤthig haͤtte, dieſes
noch durch die Dunkelheiten einer barbariſchen Vorzeit
zu thun. Er bedarf der Klarheit und der Aufheiterung,
und es thut ihm noth, daß er ſich zu ſolchen Kunſt-
und Literatur-Epochen wende, in denen vorzuͤgliche
Menſchen zu vollendeter Bildung gelangten, ſo daß
es ihnen ſelber wohl war, und ſie die Seligkeit ihrer
Cultur wieder auf Andere auszugießen im Stande ſind.“
„Wollen Sie aber von Fouqué eine gute Meinung
bekommen, ſo leſen Sie ſeine Undine, die wirklich
allerliebſt iſt. Freylich war es ein guter Stoff, und
man kann nicht einmal ſagen, daß der Dichter alles
daraus gemacht haͤtte, was darinne lag; aber doch, die
Undine iſt gut und wird Ihnen gefallen.“
Es geht mir unguͤnſtig mit der neueſten deutſchen
Literatur, ſagte ich. Zu den Gedichten von Egon Ebert
kam ich aus Voltaire, deſſen erſte Bekanntſchaft ich ge¬
macht, und zwar durch die kleinen Gedichte an Perſo¬
nen, die gewiß zu dem Beſten gehoͤren, was er je ge¬
ſchrieben. Nun mit Fouqué geht es mir nicht beſſer.
Vertieft in Walter Scotts Fair maid of Perth, gleich¬
falls das Erſte, was ich von dieſem großen Schriftſteller
[15] leſe, bin ich veranlaßt, dieſes an die Seite zu legen
und mich in den Saͤngerkrieg auf der Wartburg zu
begeben.
„Gegen ſo große Auslaͤnder, ſagte Goethe, koͤnnen
freylich die neueren Deutſchen keine Probe halten; aber
es iſt gut, daß Sie ſich nach und nach mit allem In-
und Auslaͤndiſchen bekannt machen, um zu ſehen, wo
denn eigentlich eine hoͤhere Weltbildung, wie ſie der
Dichter bedarf, zu holen iſt.“
Frau von Goethe trat herein und ſetzte ſich zu uns
an den Tiſch.
„Aber nicht wahr? fuhr Goethe heiter fort, Walter
Scott's Fair maid of Perth iſt gut! — Das iſt gemacht!
Das iſt eine Hand! — Im Ganzen die ſichere Anlage
und im Einzelnen kein Strich, der nicht zum Ziele
fuͤhrte. Und welch ein Detail! ſowohl im Dialog als
in der beſchreibenden Darſtellung, die beyde gleich vor¬
trefflich ſind. — Seine Scenen und Situationen glei¬
chen Gemaͤlden von Teniers; im Ganzen der Anord¬
nung zeigen ſie die Hoͤhe der Kunſt, die einzelnen Figuren
haben eine ſprechende Wahrheit und die Ausfuͤhrung
erſtreckt ſich mit kuͤnſtleriſcher Liebe bis aufs Kleinſte,
ſo daß uns kein Strich geſchenkt wird. — Bis wie
weit haben Sie jetzt geleſen?“
Ich bin bis zu der Stelle gekommen, ſagte ich, wo
Henri Smith das ſchoͤne Zittermaͤdchen durch Straßen
und Umwege nach Hauſe fuͤhrt, und wo ihm zu ſeinem
[16] Aerger der Muͤtzenmacher Proutfut und der Apotheker
Dwining begegnen.
„Ja, ſagte Goethe, die Stelle iſt gut! — Daß der
widerſtrebende ehrliche Waffenſchmied ſo weit gebracht
wird, neben dem verdaͤchtigen Maͤdchen zuletzt ſelbſt das
Huͤndchen mit aufzuhocken, iſt einer der groͤßten Zuͤge,
die irgend in Romanen anzutreffen ſind. Es zeugt von
einer Kenntniß der menſchlichen Natur, der die tiefſten
Geheimniſſe offenbar liegen.“
Als einen hoͤchſt gluͤcklichen Griff, ſagte ich, muß
ich auch bewundern, daß Walter Scott den Vater der
Heldin einen Handſchuhmacher ſeyn laͤßt, der durch den
Handel mit Fellen und Haͤuten mit den Hochlaͤndern
ſeit lange in Verkehr geſtanden und noch ſteht.
„Ja, ſagte Goethe, das iſt ein Zug der hoͤchſten
Art. Es entſpringen daraus fuͤr das ganze Buch die
guͤnſtigſten Verhaͤltniſſe und Zuſtaͤnde, die dadurch alle
zugleich eine reale Baſis erhalten, ſo daß ſie die uͤber¬
zeugendſte Wahrheit mit ſich fuͤhren. Ueberall finden
Sie bey Walter Scott die große Sicherheit und Gruͤnd¬
lichkeit in der Zeichnung, die aus ſeiner umfaſſenden
Kenntniß der realen Welt hervorgeht, wozu er durch
lebenslaͤngliche Studien und Beobachtungen und ein
taͤgliches Durchſprechen der wichtigſten Verhaͤltniſſe ge¬
langt iſt. Und nun ſein großes Talent und ſein um¬
faſſendes Weſen! — Sie erinnern ſich des engliſchen
Critikers, der die Poeten mit menſchlichen Saͤnger¬
[17] Stimmen vergleicht, wo Einigen nur wenig gute Toͤne
zu Gebote ſtaͤnden, waͤhrend Andere den hoͤchſten Um¬
fang von Tiefe und Hoͤhe in vollkommener Gewalt haͤt¬
ten. Dieſer letzteren Art iſt Walter Scott. In dem Fair
maid of Perth werden Sie nicht eine einzige ſchwache
Stelle finden, wo es Ihnen fuͤhlbar wuͤrde, es habe
ſeine Kenntniß und ſein Talent nicht ausgereicht. Er
iſt ſeinem Stoff nach allen Richtungen hin gewachſen.
Der Koͤnig, der koͤnigliche Bruder, der Kronprinz, das
Haupt der Geiſtlichkeit, der Adel, der Magiſtrat, die
Buͤrger und Handwerker, die Hochlaͤnder, ſie ſind alle
mit gleich ſicherer Hand gezeichnet und mit gleicher
Wahrheit getroffen.“
Die Englaͤnder, ſagte Frau v. Goethe, lieben beſon¬
ders den Character des Henri Smith, und Walter Scott
ſcheint ihn auch zum Helden des Buchs gemacht zu
haben. Mein Favorit iſt er nicht; mir koͤnnte der Prinz
gefallen.
Der Prinz, ſagte ich, bleibt bey aller Wildheit im¬
mer noch liebenswuͤrdig genug, und er iſt vollkommen
ſo gut gezeichnet wie irgend ein Anderer.
„Wie er zu Pferde ſitzend, ſagte Goethe, das huͤb¬
ſche Zittermaͤdchen auf ſeinen Fuß treten laͤßt, um ſie
zu einem Kuß zu ſich heranzuheben, iſt ein Zug von
der verwegenſten engliſchen Art. Aber Ihr Frauen habt
Unrecht, wenn Ihr immer Partey macht; Ihr leſet ge¬
woͤhnlich ein Buch, um darin Nahrung fuͤr Euer Herz
II. 2[18] zu finden, einen Helden, den Ihr lieben koͤnntet! So
ſoll man aber eigentlich nicht leſen, und es kommt gar
nicht darauf an, daß Euch dieſer oder jener Character
gefalle, ſondern daß Euch das Buch gefalle.“
Wir Frauen ſind nun einmal ſo, lieber Vater, ſagte
Frau von Goethe, indem ſie uͤber den Tiſch neigend ihm
die Hand druͤckte. „Man muß Euch ſchon in Eurer
Liebenswuͤrdigkeit gewaͤhren laſſen, erwiederte Goethe.“
Das neueſte Stuͤck des Globe lag neben ihm, das
er zur Hand nahm. Ich ſprach derweile mit Frau
v. Goethe uͤber junge Englaͤnder, deren Bekanntſchaft
ich im Theater gemacht.
„Was aber die Herren vom Globe fuͤr Menſchen
ſind, begann Goethe wieder mit einigem Feuer, wie
die mit jedem Tage groͤßer, bedeutender werden und alle
wie von Einem Sinne durchdrungen ſind, davon hat
man kaum einen Begriff. In Deutſchland waͤre ein
ſolches Blatt rein unmoͤglich. Wir ſind lauter Particu¬
liers; an Übereinſtimmung iſt nicht zu denken; Jeder
hat die Meinungen ſeiner Provinz, ſeiner Stadt, ja
ſeines eigenen Individuums, und wir koͤnnen noch lange
warten, bis wir zu einer Art von allgemeiner Durch¬
bildung kommen.“
[19]
Heute bey Tiſch war die heiterſte Geſellſchaft. Außer
den Weimariſchen Freunden waren auch einige von Ber¬
lin zuruͤckkehrende Naturforſcher zugegen, unter denen
Herr von Martius aus Muͤnchen, der an Goethe's
Seite ſaß, mir bekannt war. Über die mannigfaltigſten
Dinge wurde hin und her geſcherzt und geſprochen.
Goethe war von beſonders guter Laune und uͤberaus
mittheilend. Das Theater kam zur Sprache, die letzte
Oper, Moſes von Roſſini, ward viel beredet. Man
tadelte das Suͤjet, man lobte und tadelte die Muſik;
Goethe aͤußerte ſich folgendermaßen.
„Ich begreife Euch nicht, Ihr guten Kinder, ſagte
er, wie Ihr Suͤjet und Muſik trennen und jedes fuͤr
ſich genießen koͤnnt. Ihr ſagt, das Suͤjet tauge nicht,
aber Ihr haͤttet es ignorirt und Euch an der trefflichen
Muſik erfreuet. Ich bewundere wirklich die Einrichtung
Eurer Natur, und wie Eure Ohren im Stande ſind,
anmuthigen Toͤnen zu lauſchen, waͤhrend der gewaltigſte
Sinn, das Auge, von den abſurdeſten Gegenſtaͤnden
geplagt wird.“
„Und daß Euer Moſes doch wirklich gar zu abſurd
iſt, werdet Ihr nicht laͤugnen. So wie der Vorhang
aufgeht, ſtehen die Leute da und beten! — Dieß iſt ſehr
unpaſſend. Wenn Du beten willſt, ſteht geſchrieben, ſo
gehe in dein Kaͤmmerlein und ſchleuß die Thuͤr hinter
dir zu. Aber auf dem Theater ſoll man nicht beten.“
2*[20]
„Ich haͤtte Euch einen ganz anderen Moſes machen
wollen und das Stuͤck ganz anders anfangen laſſen. Ich
haͤtte Euch zuerſt gezeigt, wie die Kinder Israel, bey
ſchwerem Frohndienſt, von der Tyranney der egyptiſchen
Voͤgte zu leiden haben, damit es nachher deſto anſchau¬
licher wuͤrde, welche Verdienſte ſich Moſes um ſein Volk
erworben, das er aus ſo ſchaͤndlichem Druck zu befreyen
gewußt.“
Goethe fuhr fort mit großer Heiterkeit die ganze
Oper Schritt vor Schritt durch alle Scenen und Acte
aufzubauen, immer geiſtreich und voller Leben, im hiſto¬
riſchen Sinne des Suͤjets, und zum freudigen Erſtaunen
der ganzen Geſellſchaft, die den unaufhaltſamen Fluß
ſeiner Gedanken und den heiteren Reichthum ſeiner Er¬
findungen zu bewundern hatte. Es ging alles zu raſch
voruͤber um es aufzufaſſen, doch iſt mir der Tanz der
Egyptier im Gedaͤchtniß geblieben, den Goethe nach der
uͤberſtandenen Finſterniß, als Freude uͤber das wieder¬
gegebene Licht, eintreten ließ.
Das Geſpraͤch lenkte ſich von Moſes zuruͤck auf die
Suͤndfluth, und ſo nahm es bald, durch den geiſtreichen
Naturforſcher angeregt, eine naturhiſtoriſche Wendung.
„Man will, ſagte Herr von Martius, auf dem
Ararat ein Stuͤck von der Arche Noahs verſteinert ge¬
funden haben, und es ſollte mich wundern, wenn man
nicht auch die verſteinerten Schaͤdel der erſten Menſchen
finden ſollte.“
[21]
Dieſe Aeußerung gab zu aͤhnlichen Anlaß, und ſo
kam die Unterhaltung auf die verſchiedenen Menſchen¬
raçen, wie ſie als Schwarze, Braune, Gelbe und
Weiße die Laͤnder der Erde bewohnen; ſo daß man mit
der Frage ſchloß, ob denn wirklich anzunehmen, daß
alle Menſchen von dem einzigen Paare Adam und Eva
abſtammen?
Herr v. Martius war fuͤr die Sage der heiligen
Schrift, die er als Naturforſcher durch den Satz zu be¬
ſtaͤtigen ſuchte, daß die Natur in ihren Productionen
hoͤchſt oͤconomiſch zu Werke gehe.
„Dieſer Meinung, ſagte Goethe, muß ich wider¬
ſprechen. Ich behaupte vielmehr, daß die Natur ſich
immer reichlich, ja verſchwenderiſch erweiſe, und daß es
weit mehr in ihrem Sinne ſey, anzunehmen, ſie habe,
ſtatt eines einzigen armſeligen Paares, die Menſchen
gleich zu Dutzenden, ja zu Hunderten hervorgehen
laſſen.“
„Als naͤmlich die Erde bis zu einem gewiſſen Punkt
der Reife gediehen war, die Waſſer ſich verlaufen hat¬
ten und das Trockene genugſam gruͤnete, trat die Epoche
der Menſchwerdung ein, und es entſtanden die Menſchen
durch die Allmacht Gottes uͤberall wo der Boden es
zuließ, und vielleicht auf den Hoͤhen zuerſt. Anzuneh¬
men, daß dieſes geſchehen, halte ich fuͤr vernuͤnftig;
allein daruͤber nachzuſinnen, wie es geſchehen, halte ich
fuͤr ein unnuͤtzes Geſchaͤft, das wir denen uͤberlaſſen
[22] wollen, die ſich gerne mit unaufloͤsbaren Problemen
beſchaͤftigen, und die nichts beſſeres zu thun haben.“
Wenn ich auch, ſagte Herr v. Martius mit einiger
Schalkheit, mich als Naturforſcher von der Anſicht Eurer
Excellenz gerne uͤberzeugen ließ, ſo fuͤhle ich mich doch
als guter Chriſt in einiger Verlegenheit, zu einer Mei¬
nung uͤberzutreten, die mit den Ausſagen der Bibel
nicht wohl zu vereinigen ſeyn moͤchte.
„Die heilige Schrift, erwiederte Goethe, redet aller¬
dings nur von Einem Menſchenpaare, das Gott am
ſechsten Tage erſchaffen. Allein die begabten Maͤnner,
welche das Wort Gottes aufzeichneten, das uns die Bi¬
bel uͤberliefert, hatten es zunaͤchſt mit ihrem auserwaͤhl¬
ten Volke zu thun, und ſo wollen wir auch dieſem die
Ehre ſeiner Abſtammung von Adam keinesweges ſtreitig
machen. Wir andern aber, ſo wie auch die Neger und
Lapplaͤnder, und ſchlanke Menſchen, die ſchoͤner ſind als
wir alle, hatten gewiß auch andere Urvaͤter; wie denn
die werthe Geſellſchaft gewiß zugeben wird, daß wir
uns von den echten Abkoͤmmlingen Adams auf eine gar
mannigfaltige Weiſe unterſcheiden, und daß ſie, beſon¬
ders was das Geld betrifft, es uns allen zuvorthun.“
Wir lachten; das Geſpraͤch miſchte ſich allgemein;
Goethe, durch Herrn v. Martius zu Widerſpruͤchen an¬
geregt, ſagte noch manches bedeutende Wort, das, den
Schein des Scherzes tragend, dennoch aus dem Grund
eines tieferen Hinterhaltes hervorging.
[23]
Nach aufgehobener Tafel ließ ſich der preußiſche
Miniſter, Herr v. Jordan, melden und wir zogen uns
in das angrenzende Zimmer.
Tieck, mit Gemahlin und Toͤchtern und Graͤfin
Finkenſtein, von ſeiner Rheinreiſe zuruͤckkommend, wurde
heute bei Goethe zu Tiſch erwartet. Ich traf in den
Vorzimmern mit ihnen zuſammen. Tieck ſah ſehr wohl
aus, die Rheinbaͤder ſchienen eine gute Wirkung auf
ihn gehabt zu haben. Ich erzaͤhlte ihm, daß ich in der
Zwiſchenzeit den erſten Roman von Walter Scott
geleſen, und welche Freude ich uͤber dieſes außerordent¬
liche Talent empfunden. „Ich zweifle, ſagte Tieck, daß
dieſer neueſte Roman, den ich noch nicht kenne, das
Beſte ſey, was Walter Scott geſchrieben; allein dieſer
Schriftſteller iſt ſo bedeutend, daß das Erſte, was man
von ihm lieſet, immer in Erſtaunen ſetzet, man mag zu
ihm gelangen von welcher Seite man wolle.“
Profeſſor Goͤttling trat herein, von ſeiner italie¬
niſchen Reiſe ganz friſch zuruͤckgekehrt. Ich hatte große
Freude ihn wieder zu ſehen und zog ihn an ein Fenſter,
daß er mir erzaͤhlen moͤchte. „Nach Rom! ſagte er,
nach Rom muͤſſen Sie, um etwas zu werden! Das
iſt eine Stadt! das iſt ein Leben! das iſt eine Welt! —
[24] Alles was in unſerer Natur Kleines iſt, kann in Deutſch¬
land nicht herausgebracht werden. Aber ſobald wir in
Rom eintreten, geht eine Umwandlung mit uns vor
und wir fuͤhlen uns groß wie die Umgebung.“ Warum
ſind Sie nicht laͤnger dort geblieben? fragte ich. „Geld
und Urlaub, entgegnete er, waren zu Ende. Aber es
ward mir wunderlich zu Muthe, als ich, das ſchoͤne
Italien im Ruͤcken, den Fuß wieder uͤber die Alpen
ſetzte.“
Goethe kam und begruͤßte die Anweſenden. Er ſprach
Verſchiedenes mit Tieck und den Seinigen, und bot ſo¬
dann der Graͤfin den Arm, um ſie zu Tiſch zu fuͤhren.
Wir Andern folgten und machten, indem wir uns ſetz¬
ten, bunte Reihe. Die Unterhaltung war lebhaft und
ungenirt, von dem jedoch, was geſprochen worden, weiß
ich mich wenig zu erinnern.
Nach aufgehobener Tafel ließen ſich die Prinzen von
Oldenburg melden. Wir gingen alle hinauf in die Zim¬
mer der Frau v. Goethe, wo Fraͤulein Agnes Tieck ſich
zum Fluͤgel ſetzte, und das ſchoͤne Lied: Im Felde
ſchleich' ich ſtill und wild ꝛc. mit einer trefflichen
Alt-Stimme ſo im Geiſte der Situation vortrug, daß
es einen Eindruck ganz eigener unvergeßlicher Art
machte.
[25]
Dieſen Mittag bey Tiſch war ich mit Goethe und
Frau v. Goethe allein. Und wie ein Geſpraͤch fruͤherer
Tage wohl wieder aufgenommen und fortgefuͤhrt wird
ſo geſchah es auch heute. Der Moſes von Roſſini
kam abermals zur Sprache und wir erinnerten uns gerne
Goethe's heiterer Erfindung von vorgeſtern.
„Was ich in Scherz und guter Laune uͤber den Moſes
geaͤußert haben mag, ſagte Goethe, weiß ich nicht mehr;
denn ſo etwas geſchieht ganz unbewußt. Aber ſo viel iſt
gewiß, daß ich eine Oper nur dann mit Freuden genießen
kann, wenn das Suͤjet eben ſo vollkommen iſt wie die
Muſik, ſo daß beyde mit einander gleichen Schritt ge¬
hen. Fragt Ihr mich, welche Oper ich gut finde, ſo
nenne ich Euch den Waſſertraͤger; denn hier iſt das
Suͤjet ſo vollkommen, daß man es ohne Muſik als ein
bloßes Stuͤck geben koͤnnte und man es mit Freuden
ſehen wuͤrde. Dieſe Wichtigkeit einer guten Unterlage
begreifen entweder die Componiſten nicht, oder es fehlt
ihnen durchaus an ſachverſtaͤndigen Poeten, die ihnen
mit Bearbeitung guter Gegenſtaͤnde zur Seite traͤten.
Waͤre der Freyſchuͤtz kein ſo gutes Suͤjet, ſo haͤtte
die Muſik zu thun gehabt, der Oper den Zulauf der
Menge zu verſchaffen, wie es nun der Fall iſt, und
man ſollte daher dem Herrn Kind auch einige Ehre
erzeigen.“
Es ward noch Verſchiedenes uͤber dieſen Gegenſtand
[26] geſprochen, dann aber gedachten wir des Profeſſor Goͤtt¬
ling und ſeiner italieniſchen Reiſe.
„Ich kann es dem Guten nicht verargen, ſagte
Goethe, daß er von Italien mit ſolcher Begeiſterung
redet; weiß ich doch wie mir ſelber zu Muthe geweſen
iſt! Ja ich kann ſagen, daß ich nur in Rom empfun¬
den habe, was eigentlich ein Menſch ſey. — Zu dieſer
Hoͤhe, zu dieſem Gluͤck der Empfindung bin ich ſpaͤter
nie wieder gekommen; ich bin, mit meinem Zuſtande in
Rom verglichen, eigentlich nachher nie wieder froh ge¬
worden.“
„Doch wir wollen uns nicht melancholiſchen Be¬
trachtungen hingeben, fuhr Goethe nach einer Pauſe
fort; wie geht es mit Ihrem Fair maid of Perth? Wie
haͤlt es ſich? Wie weit ſind Sie? Erzaͤhlen Sie mir
und geben Sie Rechenſchaft.“
Ich leſe langſam, ſagte ich; ich bin jedoch bis zu
der Scene vorgeruͤckt, wo Proutfut in der Ruͤſtung von
Henri Smith, deſſen Gang und deſſen Art zu pfeifen
er nachahmt, erſchlagen und am andern Morgen von
den Buͤrgern in den Straßen von Perth gefunden wird,
die ihn fuͤr Henri Smith halten und daruͤber die ganze
Stadt in Allarm ſetzen.
„Ja, ſagte Goethe, die Scene iſt bedeutend, ſie iſt
eine der beſten.“
Ich habe dabey beſonders bewundert, fuhr ich fort,
in wie hohem Grade Walter Scott das Talent beſitzt,
[27] verworrene Zuſtaͤnde mit großer Klarheit auseinander zu
ſetzen, ſo daß alles zu Maſſen und zu ruhigen Bildern
ſich abſondert, die einen ſolchen Eindruck in uns hin¬
terlaſſen, als haͤtten wir dasjenige, was zu gleicher Zeit
an verſchiedenen Orten geſchieht, gleich allwiſſenden We¬
ſen, von oben herab mit Einem Male uͤberſehen.
„Überhaupt, ſagte Goethe, iſt der Kunſtverſtand bey
Walter Scott ſehr groß, weßhalb denn auch wir und
unſers Gleichen, die darauf, wie etwas gemacht iſt, ein
beſonderes Augenmerk richten, an ſeinen Sachen ein
doppeltes Intereſſe und davon den vorzuͤglichſten Gewinn
haben. Ich will Ihnen nicht vorgreifen, aber Sie wer¬
den im dritten Theile noch einen Kunſtpfiff der erſten
Art finden. Daß der Prinz im Staatsrath den klugen
Vorſchlag gethan, die rebelliſchen Hochlaͤnder ſich unter
einander todt ſchlagen zu laſſen, haben Sie bereits ge¬
leſen, auch daß der Palm-Sonntag feſtgeſetzt worden,
wo die beyden feindlichen Staͤmme der Hochlaͤnder nach
Perth herabkommen ſollen, um dreyßig gegen dreyßig
auf Tod und Leben mit einander zu fechten. Nun ſollen
Sie bewundern, wie Walter Scott es macht und ein¬
leitet, daß am Tage der Schlacht an der einen Partey
ein Mann fehlt, und mit welcher Kunſt er es von fern
her anzuſtellen weiß, ſeinen Helden Henri Smith an
den Platz des fehlenden Mannes unter die Kaͤmpfenden
zu bringen! — Dieſer Zug iſt uͤberaus groß, und Sie
werden ſich freuen, wenn Sie dahin kommen.“
[28]
„Wenn Sie aber mit dem Fair maid of Perth zu
Ende ſind, ſo muͤſſen Sie ſogleich den Waverley leſen,
der freylich noch aus ganz anderen Augen ſieht, und
der ohne Frage den beſten Sachen an die Seite zu ſtel¬
len iſt, die je in der Welt geſchrieben worden. Man
ſieht, es iſt derſelbige Menſch, der die Fair maid of Perth
gemacht hat, aber es iſt derjenige, der die Gunſt des
Publicums erſt noch zu gewinnen hatte, und der ſich
daher zuſammen nimmt, ſo daß er keinen Zug thut, der
nicht vortrefflich waͤre. Die Fair maid of Perth dage¬
gen iſt mit einer breiteren Feder geſchrieben, der Autor
iſt ſchon ſeines Publicums gewiß, und er laͤßt ſich ſchon
etwas freyer gehen. Wenn man den Waverley geleſen
hat, ſo begreift man freylich wohl, warum Walter Scott
ſich noch jetzt immer den Verfaſſer jener Production
nennt; denn darin hat er gezeigt, was er konnte, und
er hat ſpaͤter nie etwas geſchrieben, das beſſer waͤre,
oder das dieſem zuerſt publicirten Romane nur gleich
kaͤme.“
Zu Ehren Tiecks war dieſen Abend in den Zim¬
mern der Frau v. Goethe ein ſehr unterhaltender Thee.
Ich machte die Bekanntſchaft des Grafen und der Graͤfin
Medem; letztere ſagte mir, daß ſie am Tage Goethe
geſehen und wie ſie von dieſem Eindruck noch im
[29] Innerſten begluͤckt ſey. Der Graf intereſſirte ſich beſon¬
ders fuͤr den Fauſt und deſſen Fortſetzung, uͤber welche
Dinge er ſich mit mir eine Weile lebhaft unterhielt.
Man hatte uns Hoffnung gemacht, daß Tieck et¬
was leſen wuͤrde, und ſo geſchah es auch. Die Geſell¬
ſchaft begab ſich ſehr bald in ein entfernteres Zimmer,
und nachdem jeder es ſich in einem weiten Kreis auf
Stuͤhlen und Sopha's zum Anhoͤren bequem gemacht,
las Tieck den Clavigo.
Ich hatte das Stuͤck oft geleſen und empfunden,
doch jetzt erſchien es mir durchaus neu, und that eine
Wirkung wie faſt nie zuvor. Es war mir, als hoͤrte
ich es vom Theater herunter, allein beſſer; die einzelnen
Charactere und Situationen waren vollkommener ge¬
fuͤhlt; es machte den Eindruck einer Vorſtellung, in der
jede Rolle ganz vortrefflich beſetzt worden.
Man koͤnnte kaum ſagen, welche Partieen des Stuͤckes
Tieck beſſer geleſen, ob ſolche, in denen ſich Kraft und
Leidenſchaft der Maͤnner entwickelt, ob ruhig klare Ver¬
ſtandes-Scenen, oder ob Momente gequaͤlter Liebe. Zu
dem Vortrag letzterer Art ſtanden ihm jedoch ganz be¬
ſondere Mittel zu Gebot. Die Scene zwiſchen Marie
und Clavigo toͤnet mir noch immer vor den Ohren; die
gepreßte Bruſt, das Stocken und Zittern der Stimme,
abgebrochene, halb erſtickte Worte und Laute, das Hau¬
chen und Seufzen eines in Begleitung von Thraͤnen
heißen Athems, alles dieſes iſt mir noch vollkommen
[30] gegenwaͤrtig und wird mir unvergeßlich ſeyn. Jeder¬
mann war im Anhoͤren verſunken und davon hingeriſ¬
ſen; die Lichter brannten truͤbe, Niemand dachte daran,
oder wagte es, ſie zu putzen, aus Furcht vor der leiſe¬
ſten Unterbrechung; Thraͤnen in den Augen der Frauen,
die immer wieder hervorquollen, zeugten von des Stuͤckes
tiefer Wirkung, und waren wohl der gefuͤhlteſte Tribut,
der dem Vorleſer wie dem Dichter gezollt werden konnte.
Tieck hatte geendigt und ſtand auf, ſich den Schweiß
von der Stirne wiſchend, die Hoͤrenden aber waren noch
immer wie gefeſſelt auf ihren Stuͤhlen; jeder ſchien in
dem, was ihm ſo eben durch die Seele gegangen war,
noch zu tief begriffen, als daß er paſſende Worte des
Dankes fuͤr den haͤtte bereit haben ſollen, der eine ſo
wunderbare Wirkung auf alle hervorgebracht hatte.
Nach und nach fand man ſich wieder; man ſtand
auf und ſprach und ging erheitert durch einander; dann
aber begab man ſich zu einem Soupé, das in den Ne¬
benzimmern auf kleinen Tiſchen bereit ſtand.
Goethe ſelbſt war dieſen Abend nicht gegenwaͤrtig;
aber ſein Geiſt und ſein Andenken war unter uns allen
lebendig. Er ſendete Tieck ſeine Entſchuldigung, deſſen
beyden Toͤchtern Agnes und Dorothea aber zwey Tuch¬
nadeln mit ſeinem Bildniß und rothen Bandſchleifen,
die Frau v. Goethe uͤberreichte und wie kleine Orden
ihnen vorſteckte.
[31]
Von Herrn William Fraſer in London, Heraus¬
geber des Foreign Review, gelangten dieſen Morgen
zwey Exemplare des dritten Stuͤcks jener periodiſchen
Schrift zu mir, wovon ich das eine Exemplar dieſen
Mittag Goethen uͤberreichte.
Ich fand wieder eine heitere Tiſchgeſellſchaft geladen,
zu Ehren Tiecks und der Graͤfin, die auf das Bitten
Goethe's und der uͤbrigen Freunde noch einen Tag zu¬
gegeben hatten, waͤhrend der uͤbrige Theil dieſer Familie
ſchon am Morgen nach Dresden vorausgereiſet war.
Ein beſonderer Gegenſtand der Unterhaltung bey Tiſch
war die engliſche Literatur und namentlich Walter Scott,
bey welcher Gelegenheit Tieck unter andern ſagte, daß er
vor zehn Jahren das erſte Exemplar des Waverley nach
Deutſchland gebracht habe.
Das gedachte Foreign Review des Herrn Fraſer ent¬
hielt unter vielen bedeutenden und intereſſanten Gegen¬
ſtaͤnden auch einen hoͤchſt wuͤrdigen Aufſatz uͤber Goethe
von Carlyle, den ich dieſen Morgen ſtudirte. Ich
ging Mittags ein wenig fruͤher zu Tiſch, um vor der
Ankunft der uͤbrigen Gaͤſte mich mit Goethe daruͤber zu
bereden.
[32]
Ich fand ihn, wie ich wuͤnſchte, noch allein, in Er¬
wartung der Geſellſchaft. Er trug ſeinen ſchwarzen
Frack und Stern, worin ich ihn ſo gerne ſehe; er ſchien
heute beſonders jugendlich heiter, und wir fingen ſogleich
an von unſerm gemeinſamen Intereſſe zu reden. Goethe
ſagte mir, daß er Carlyle's Aufſatz uͤber ihn gleichfalls
dieſen Morgen betrachtet, und ſo waren wir denn im
Stande, uͤber die Beſtrebungen der Auslaͤnder manche
Worte des Lobes gegenſeitig auszutauſchen.
„Es iſt eine Freude, zu ſehen, ſagte Goethe, wie
die fruͤhere Pedanterie der Schotten ſich in Ernſt und
Gruͤndlichkeit verwandelt hat. Wenn ich bedenke, wie
die Edinburger vor noch nicht langen Jahren meine
Sachen behandelt haben, und ich jetzt dagegen Carly¬
le's Verdienſte um die deutſche Literatur erwaͤge, ſo iſt
es auffallend, welch ein bedeutender Vorſchritt zum
Beſſeren geſchehen iſt.“
An Carlyle, ſagte ich, muß ich vor allem den Geiſt
und Character verehren, der ſeinen Richtungen zum
Grunde liegt. Es iſt ihm um die Cultur ſeiner Nation
zu thun, und da fragt er denn bey den literariſchen
Erzeugniſſen des Auslandes, womit er ſeine Landsleute
bekannt zu machen wuͤnſcht, weniger nach Kuͤnſten des
Talents, als nach der Hoͤhe ſittlicher Bildung, die aus
ſolchen Werken zu gewinnen.
„Ja, ſagte Goethe, die Geſinnung aus der er
handelt, iſt beſonders ſchaͤtzbar. Und wie iſt es ihm
[33] Ernſt! und wie hat er uns Deutſche ſtudirt! Er iſt
in unſerer Literatur faſt beſſer zu Hauſe als wir ſelbſt;
zum wenigſten koͤnnen wir mit ihm in unſern Bemuͤ¬
hungen um das Engliſche nicht wetteifern.“
Der Aufſatz, ſagte ich, iſt mit einem Feuer und
Nachdruck geſchrieben, daß man ihm wohl anmerkt, daß
in England noch viele Vorurtheile und Widerſpruͤche zu
bekaͤmpfen ſind. Den Wilhelm Meiſter zumal ſcheinen
uͤbelwollende Critiker und ſchlechte Überſetzer in kein
guͤnſtiges Licht gebracht zu haben. Dagegen benimmt
ſich nun Carlyle ſehr gut. Der dummen Nachrede, daß
keine wahre Edelfrau den Meiſter leſen duͤrfe, wider¬
ſpricht er ſehr heiter mit dem Beyſpiele der letzten Koͤ¬
nigin von Preußen, die ſich mit dem Buche ver¬
traut gemacht, und die doch mit Recht fuͤr eine der
erſten Frauen ihrer Zeit gelte.
Verſchiedene Tiſchgaͤſte traten herein, die Goethe be¬
gruͤßte. Er wendete ſeine Aufmerkſamkeit mir wieder
zu und ich fuhr fort.
Freylich, ſagte ich, hat Carlyle den Meiſter ſtudirt,
und ſo, durchdrungen von dem Werth des Buches wie
er iſt, moͤchte er gerne, daß es ſich allgemein verbrei¬
tete, er moͤchte gerne, daß jeder Gebildete davon glei¬
chen Gewinn und Genuß haͤtte.
Goethe zog mich an ein Fenſter, um mir zu ant¬
worten.
„Liebes Kind, ſagte er, ich will Ihnen etwas ver¬
II. 3[34] trauen, das Sie ſogleich uͤber Vieles hinaushelfen und
das Ihnen lebenslaͤnglich zu Gute kommen ſoll. Meine
Sachen koͤnnen nicht popular werden; wer
daran denkt und dafuͤr ſtrebt, iſt in einem Irrthum.
Sie ſind nicht fuͤr die Maſſe geſchrieben, ſondern nur
fuͤr einzelne Menſchen, die etwas Ähnliches wollen und
ſuchen, und die in aͤhnlichen Richtungen begriffen ſind.“
Er wollte weiter reden; eine junge Dame trat heran,
ihn unterbrechend und ihn in ein Geſpraͤch ziehend. Ich
wendete mich zu Anderen, worauf wir uns bald zu
Tiſch ſetzten.
Von dem, was geſprochen wurde, wuͤßte ich nichts
zu ſagen; Goethe's Worte lagen mir im Sinn und be¬
ſchaͤftigten ganz mein Inneres.
Freylich, dachte ich, ein Schriftſteller wie Er, ein
Geiſt von ſolcher Hoͤhe, eine Natur von ſo unendlichem
Umfang, wie ſoll der popular werden! Kann doch kaum
ein kleiner Theil von ihm popular werden! Kaum ein
Lied, das luſtige Bruͤder und verliebte Maͤdchen ſingen
und das fuͤr Andere wiederum nicht da iſt.
Und, recht beſehen, iſt es nicht mit allen außeror¬
dentlichen Dingen ſo? Iſt denn Mozart popular? Und
iſt es denn Raphael? — Und verhaͤlt ſich nicht die
Welt gegen ſo große Quellen uͤberſchwenglichen geiſtigen
Lebens uͤberall nur wie Naſchende, die froh ſind, hin
und wieder ein Weniges zu erhaſchen, das ihnen eine
Weile eine hoͤhere Nahrung gewaͤhre?
[35]
Ja! fuhr ich in meinen Gedanken fort, Goethe hat
Recht! Er kann ſeinem Umfange nach nicht popular
werden, und ſeine Werke ſind nur fuͤr einzelne Men¬
ſchen, die etwas Ähnliches ſuchen und die in aͤhnlichen
Richtungen begriffen ſind.
Sie ſind im Ganzen fuͤr betrachtende Naturen, die
in die Tiefen der Welt und Menſchheit zu dringen
wuͤnſchen und ſeinen Pfaden nachgehen. — Sie ſind
im Einzelnen fuͤr leidenſchaftlich Genießende, die des
Herzens Wonne und Weh im Dichter ſuchen. — Sie
ſind fuͤr junge Poeten, die lernen wollen, wie man ſich
ausdruͤcke und wie man einen Gegenſtand kunſtgemaͤß
behandele. — Sie ſind fuͤr Critiker, die darin ein
Muſter empfangen, nach welchen Maximen man urthei¬
len ſolle, und wie man auch eine Recenſion intereſſant
und anmuthig mache, ſo daß man ſie mit Freuden
leſe. — Seine Werke ſind fuͤr den Kuͤnſtler, weil ſie
ihm im Allgemeinen den Geiſt aufklaͤren und er im Be¬
ſonderen aus ihnen lernt, welche Gegenſtaͤnde eine kunſt¬
gemaͤße Bedeutung haben, und was er demnach dar¬
ſtellen ſolle und was nicht. — Sie ſind fuͤr den Na¬
turforſcher, nicht allein weil gefundene große Geſetze
ihm uͤberliefert werden, ſondern auch vorzuͤglich, weil
er darin eine Methode empfaͤngt, wie ein guter Geiſt
mit der Natur verfahren muͤſſe, damit ſie ihm ihre Ge¬
heimniſſe offenbare.
Und ſo gehen denn alle wiſſenſchaftlich und kuͤnſt¬
3 *[36] leriſch Strebenden bey den reichbeſetzten Tafeln ſeiner
Werke zu Gaſte, und in ihren Wirkungen zeugen ſie
von der allgemeinen Quelle eines großen Lichtes und
Lebens, aus der ſie geſchoͤpft haben.
Dieſe und aͤhnliche Gedanken gingen mir bey Tiſch
durch den Kopf. Ich dachte an einzelne Perſonen, an
manchen wackeren deutſchen Kuͤnſtler, Naturforſcher,
Dichter und Critiker, die einen großen Theil ihrer Bil¬
dung Goethen zu danken haben. Ich dachte an geiſt¬
reiche Italiener, Franzoſen und Englaͤnder, die auf ihn
ihre Augen richten und die in ſeinem Sinne handeln.
Unterdeſſen hatte man um mich her heiter geſcherzt
und geſprochen und es ſich an guten Gerichten wohl ſeyn
laſſen. Ich hatte auch mitunter ein Woͤrtchen mit drein
geredet, aber alles, ohne eigentlich bey der Sache zu
ſeyn. Eine Dame hatte eine Frage an mich gerichtet,
worauf ich vielleicht nicht die beſte Antwort mochte ge¬
geben haben. Ich wurde geneckt.
„Laßt nur den Eckermann, ſagte Goethe, er iſt im¬
mer abweſend, außer wenn er im Theater ſitzt.“
Man lachte auf meine Koſten; doch war es mir
nicht unlieb. Ich war heute in meinem Gemuͤth beſon¬
ders gluͤcklich. Ich ſegnete mein Geſchick, das mich,
nach manchen wunderlichen Fuͤgungen, den Wenigen
zugeſellet hatte, die den Umgang und das naͤhere Ver¬
trauen eines Mannes genießen, deſſen Groͤße mir noch
vor wenig Augenblicken lebhaft durch die Seele gegan¬
[37] gen war, und den ich nun in ſeiner vollen Liebenswuͤr¬
digkeit perſoͤnlich vor Augen hatte.
Biscuit und ſchoͤne Trauben wurden zum Nachtiſch
aufgetragen. Letztere waren aus der Ferne geſendet und
Goethe that geheimnißvoll, woher ſie gekommen. Er
vertheilte ſie und reichte mir eine ſehr reife uͤber den
Tiſch. „Hier, mein Guter, ſagte er, eſſen Sie von
dieſen Suͤßigkeiten und ſeyn Sie vergnuͤgt.“ Ich ließ
mir die Traube aus Goethe's Haͤnden wohlſchmecken
und war nun mit Leib und Seele voͤllig in ſeiner
Naͤhe.
Man ſprach vom Theater, von Wolff's Verdien¬
ſten, und wie viel Gutes von dieſem trefflichen Kuͤnſt¬
ler ausgegangen.
„Ich weiß ſehr wohl, ſagte Goethe, daß unſere hie¬
ſigen aͤlteren Schauſpieler manches von mir gelernt ha¬
ben, aber im eigentlichen Sinne kann ich doch nur
Wolff meinen Schuͤler nennen. Wie ſehr er in meine
Maximen eingedrungen war, und wie er in meinem
Sinne handelte, davon will ich einen Fall erzaͤhlen, den
ich gerne wiederhole.“
„Ich war einſt gewiſſer anderer Urſachen wegen auf
Wolff ſehr boͤſe. Er hatte Abends zu ſpielen und ich
ſaß in meiner Loge. Jetzt, dachte ich, ſollſt du ihm
doch einmal recht aufpaſſen; es iſt doch heute nicht die
Spur einer Neigung in dir, die fuͤr ihn ſprechen und
ihn entſchuldigen koͤnnte. — Wolff ſpielte und ich wen¬
[38] dete mein geſchaͤrftes Auge nicht von ihm. Aber wie
ſpielte er! wie war er ſicher! wie war er feſt! — Es
war mir unmoͤglich, ihm nur den Schein eines Ver¬
ſtoßes gegen die Regeln abzuliſten, die ich ihm einge¬
pflanzt hatte, und ich konnte nicht umhin, ich mußte
ihm wieder gut ſeyn.
Oberbergrath Noeggerath aus Bonn, von dem
Verein der Naturforſcher aus Berlin zuruͤckkehrend, war
heute an Goethe's Tiſch ein ſehr willkommener Gaſt.
Über Mineralogie ward viel verhandelt; der werthe
Fremde gab beſonders gruͤndliche Auskunft uͤber die mi¬
neralogiſchen Vorkommen und Verhaͤltniſſe in der Naͤhe
von Bonn.
Nach aufgehobener Tafel traten wir in das Zimmer
mit der coloſſalen Buͤſte der Juno. Goethe zeigte den
Gaͤſten einen langen Papierſtreifen mit Contouren des
Frieſes vom Tempel zu Phigalia. Man betrachtete das
Blatt und wollte bemerken, daß die Griechen, bey ihren
Darſtellungen von Thieren, ſich weniger an die Na[tur]
gehalten, als daß ſie dabey nach einer gewiſſen Conve¬
nienz verfahren. Man wollte gefunden haben, daß ſie
in Darſtellungen dieſer Art hinter der Natur zuruͤckge¬
blieben, und daß Widder, Opferſtiere und Pferde, wie
[39] ſie auf Basreliefs vorkommen, haͤufig ſehr ſteife, unfoͤrm¬
liche und unvollkommene Geſchoͤpfe ſeyen.
„Ich will daruͤber nicht ſtreiten, ſagte Goethe, aber
vor allen Dingen muß man unterſcheiden, aus welcher
Zeit und von welchem Kuͤnſtler ſolche Werke herruͤhren.
Denn ſo ließen ſich wohl Muſterſtuͤcke in Menge vorle¬
gen, wo griechiſche Kuͤnſtler, in ihren Darſtellungen von
Thieren, die Natur nicht allein erreicht, ſondern ſogar
weit uͤbertroffen haben. Die Englaͤnder, die erſten
Pferdekenner der Welt, muͤſſen doch jetzt von zwei an¬
tiken Pferdekoͤpfen geſtehen, daß ſie in ihren Formen ſo
vollkommen befunden werden, wie jetzt gar keine Raçen
mehr auf der Erde exiſtiren. Es ſind dieſe Koͤpfe aus
der beſten griechiſchen Zeit; und wenn uns nun ſolche
Werke in Erſtaunen ſetzen, ſo haben wir nicht ſowohl
anzunehmen, daß jene Kuͤnſtler nach einer mehr vollkom¬
menen Natur gearbeitet haben, wie die jetzige iſt, als
vielmehr, daß ſie im Fortſchritte der Zeit und Kunſt ſel¬
ber etwas geworden waren, ſo daß ſie ſich mit perſoͤn¬
licher Großheit an die Natur wandten.“
Waͤhrend dieſes geſprochen wurde, ſtand ich mit
einer Dame ſeitwaͤrts an einem Tiſch, um ein Kupfer¬
werk zu betrachten, und ich konnte zu Goethe's Worten
nur ein halbes Ohr wenden; deſto tiefer aber ergriff ich
ſie mit meiner Seele.
Die Geſellſchaft war nach und nach gegangen und
[40] ich mit Goethe allein gelaſſen, der ſich zum Ofen ſtellte.
Ich trat in ſeine Naͤhe.
Euer Excellenz, ſagte ich, haben vorhin in der Äuße¬
rung, daß die Griechen ſich mit perſoͤnlicher Großheit
an die Natur gewandt, ein gutes Wort geſprochen, und
ich halte dafuͤr, daß man ſich von dieſem Satz nicht
tief genug durchdringen koͤnne.
„Ja, mein Guter, ſagte Goethe, hierauf kommt
alles an. Man muß etwas ſeyn, um etwas zu ma¬
chen. Dante erſcheint uns groß, aber er hatte eine
Cultur von Jahrhunderten hinter ſich; das Haus Roth¬
ſchild iſt reich, aber es hat mehr als Ein Menſchen¬
alter gekoſtet, um zu ſolchen Schaͤtzen zu gelangen.
Dieſe Dinge liegen alle tiefer, als man denkt. Unſere
guten altdeutſchelnden Kuͤnſtler wiſſen davon nichts, ſie
wenden ſich mit perſoͤnlicher Schwaͤche und kuͤnſtleriſchem
Unvermoͤgen zur Nachahmung der Natur, und meinen
es waͤre was. Sie ſtehen unter der Natur. Wer aber
etwas Großes machen will, muß ſeine Bildung ſo ge¬
ſteigert haben, daß er gleich den Griechen im Stande
ſey, die geringere reale Natur zu der Hoͤhe ſeines Gei¬
ſtes heranzuheben, und dasjenige wirklich zu machen,
was in natuͤrlichen Erſcheinungen, aus innerer Schwaͤch[e]
oder aus aͤußerem Hinderniß, nur Intention gebli[e][b]en iſt.“
[41]
Heute war bey Tiſch von den Frauen die Rede,
und Goethe aͤußerte ſich daruͤber ſehr ſchoͤn. „Die
Frauen, ſagte er, ſind ſilberne Schalen, in die wir gol¬
dene Äpfel legen. Meine Idee von den Frauen iſt nicht
von den Erſcheinungen der Wirklichkeit abſtrahirt, ſon¬
dern ſie iſt mir angeboren, oder in mir entſtanden,
Gott weiß wie. Meine dargeſtellten Frauen-Charactere
ſind daher auch alle gut weggekommen, ſie ſind alle
beſſer, als ſie in der Wirklichkeit anzutreffen ſind.“
Goethe ſprach von einem neuen Stuͤck des Edin¬
burgh Review. „Es iſt eine Freude, zu ſehen, ſagte
er, zu welcher Hoͤhe und Tuͤchtigkeit die engliſchen Cri¬
tiker ſich jetzt erheben. Von der fruͤheren Pedanterie iſt
keine Spur mehr, und große Eigenſchaften ſind an de¬
ren Stelle getreten. In dem letzten Stuͤck, in einem
Aufſatz uͤber deutſche Literatur, finden Sie folgende
Äußerung: „Es giebt Leute unter den Poeten, deren
Neigung es iſt, immer in ſolchen Dingen zu verkehren,
die ein Anderer ſich gerne aus dem Sinne ſchlaͤgt.“ Nun,
was ſagen Sie? da wiſſen wir mit einem Male, woran
[42] wir ſind, und wiſſen, wohin wir eine große Zahl unſerer
neueſten Literatoren zu claſſificiren haben.“
Ich war heute mit Goethe in ſeiner Arbeitsſtube
allein zu Tiſch; wir ſprachen uͤber verſchiedene literari¬
ſche Dinge.
„Die Deutſchen, ſagte er, koͤnnen die Philiſterey
nicht loswerden. — Da quaͤngeln und ſtreiten ſie jetzt
uͤber verſchiedene Diſtichen, die ſich bey Schiller gedruckt
finden und auch bey mir, und ſie meinen, es waͤre von
Wichtigkeit, entſchieden herauszubringen, welche denn
wirklich Schillern gehoͤren und welche mir. Als ob et¬
was darauf ankaͤme, als ob etwas damit gewonnen
wuͤrde, und als ob es nicht genug waͤre, daß die Sachen
da ſind!“
„Freunde wie Schiller und ich, Jahre lang verbun¬
den, mit gleichen Intereſſen, in taͤglicher Beruͤhrung und
gegenſeitigem Austauſch, lebten ſich in einander ſo ſehr
hinein, daß uͤberhaupt bei einzelnen Gedanken gar nicht
die Rede und Frage ſeyn konnte, ob ſie dem Einen ge¬
hoͤrten oder dem Andern. Wir haben viele Diſtichen ge¬
meinſchaftlich gemacht, oft hatte ich den Gedanken und
Schiller machte die Verſe, oft war das Umgekehrte der
[43] Fall, und oft machte Schiller den einen Vers und ich
den andern. Wie kann nun da von Mein und Dein
die Rede ſeyn! Man muͤßte wirklich ſelbſt noch tief in
der Philiſterey ſtecken, wenn man auf die Entſcheidung
ſolcher Zweifel nur die mindeſte Wichtigkeit legen wollte.“
Etwas Ähnliches, ſagte ich, kommt in der literari¬
ſchen Welt haͤufig vor, indem man z. B. an dieſes oder
jenes beruͤhmten Mannes Originalitaͤt zweifelt, und die
Quellen auszuſpuͤren ſucht, woher er ſeine Cultur hat.
„Das iſt ſehr laͤcherlich! ſagte Goethe; man koͤnnte
eben ſo gut einen wohlgenaͤhrten Mann nach den Och¬
ſen, Schafen und Schweinen fragen, die er gegeſſen und
die ihm Kraͤfte gegeben. Wir bringen wohl Faͤhigkeiten
mit, aber unſere Entwickelung verdanken wir tauſend
Einwirkungen einer großen Welt, aus der wir uns an¬
eignen was wir koͤnnen und was uns gemaͤß iſt. Ich
verdanke den Griechen und Franzoſen viel, ich bin Shak¬
ſpeare, Sterne und Goldſmith Unendliches ſchuldig ge¬
worden. Allein damit ſind die Quellen meiner Cultur
nicht nachgewieſen; es wuͤrde ins Grenzenloſe gehen
und waͤre auch nicht noͤthig. Die Hauptſache iſt, daß
man eine Seele habe, die das Wahre liebt, und die es
aufnimmt wo ſie es findet.“
„Überhaupt, fuhr Goethe fort, iſt die Welt jetzt ſo
alt, und es haben ſeit Jahrtauſenden ſo viele bedeutende
Menſchen gelebt und gedacht, daß wenig Neues mehr
zu finden und zu ſagen iſt. Meine Farbenlehre iſt auch
[44] nicht durchaus neu. Plato, Leonardo da Vinci und
viele andere Treffliche haben im Einzelnen vor mir daſ¬
ſelbige gefunden und geſagt; aber daß ich es auch fand,
daß ich es wieder ſagte, und daß ich dafuͤr ſtrebte, in
einer confuſen Welt dem Wahren wieder Eingang zu
verſchaffen, das iſt mein Verdienſt.“
„Und denn, man muß das Wahre immer wiederho¬
len, weil auch der Irrthum um uns her immer wieder
geprediget wird, und zwar nicht von Einzelnen, ſondern
von der Maſſe. In Zeitungen und Encyklopaͤdien, auf
Schulen und Univerſitaͤten, uͤberall iſt der Irrthum oben
auf, und es iſt ihm wohl und behaglich, im Gefuͤhl der
Majoritaͤt, die auf ſeiner Seite iſt.“
„Oft lehret man auch Wahrheit und Irrthum zu¬
gleich und haͤlt ſich an letzteren. So las ich vor eini¬
gen Tagen in einer engliſchen Encyklopaͤdie die Lehre
von der Entſtehung des Blauen. Obenan ſtand die
wahre Anſicht von Leonardo da Vinci; mit der groͤßten
Ruhe aber folgte zugleich der Newtoniſche Irrthum, und
zwar mit dem Bemerken, daß man ſich an dieſen zu
halten habe, weil er das allgemein Angenommene ſey.“
Ich mußte mich lachend verwundern, als ich dieſes
hoͤrte. Jede Wachskerze, ſagte ich, jeder erleuchtet[e]
Kuͤchenrauch, der etwas Dunkeles hinter ſich hat, jeder
duftige Morgennebel, wenn er vor ſchattigen Stellen
liegt, uͤberzeugen mich taͤglich von der Entſtehung der
blauen Farbe und lehren mich die Blaͤue des Himmels
[45] begreifen. Was aber die Newtoniſchen Schuͤler ſich da¬
bey denken moͤgen, daß die Luft die Eigenſchaft beſitze,
alle uͤbrigen Farben zu verſchlucken und nur die blaue
zuruͤckzuwerfen, dieſes iſt mir voͤllig unbegreiflich, und
ich ſehe nicht ein, welchen Nutzen und welche Freude
man an einer Lehre haben kann, wobey jeder Gedanke
voͤllig ſtille ſteht und jede geſunde Anſchauung durchaus
verſchwindet.
„Gute Seele, ſagte Goethe, um Gedanken und An¬
ſchauungen iſt es den Leuten auch gar nicht zu thun.
Sie ſind zufrieden, wenn ſie nur Worte haben womit
ſie verkehren, welches ſchon mein Mephiſtopheles gewußt
und nicht uͤbel ausgeſprochen hat:
Goethe recitirte dieſe Stelle lachend und ſchien uͤberall
in der beſten Laune. „Es iſt nur gut, ſagte er, daß
ſchon alles gedruckt ſteht, und ſo will ich fortfahren, fer¬
ner drucken zu laſſen, was ich gegen falſche Lehren und
deren Verbreiter noch auf dem Herzen habe.“
„Treffliche Menſchen, fuhr er nach einer Pauſe fort,
kommen jetzt in den Naturwiſſenſchaften heran und ich
ſehe ihnen mit Freuden zu. Andere fangen gut an, aber
ſie halten ſich nicht; ihr vorwaltendes Subjective fuͤhrt
[46] ſie in die Irre. Wiederum Andere halten zu ſehr auf
Facta und ſammeln deren zu einer Unzahl, wodurch
nichts bewieſen wird. Im Ganzen fehlt der theoretiſche
Geiſt, der faͤhig waͤre, zu Urphaͤnomenen durchzudrin¬
gen und der einzelnen Erſcheinungen Herr zu werden.“
Ein kurzer Beſuch unterbrach unſere Unterhaltung;
bald aber wieder allein gelaſſen lenkte ſich das Geſpraͤch
auf die Poeſie, und ich erzaͤhlte Goethen, daß ich die¬
ſer Tage ſeine kleinen Gedichte wieder betrachtet, und
beſonders bey zweyen verweilet habe, bey der Bal¬
lade naͤmlich von den Kindern und dem Alten und
bey den gluͤcklichen Gatten.
„Ich halte auf dieſe beyden Gedichte ſelber etwas,
ſagte Goethe, wiewohl das deutſche Publicum bis jetzt
nicht viel daraus hat machen koͤnnen.“
In der Ballade, ſagte ich, iſt ein ſehr reicher Ge¬
genſtand in große Enge zuſammengebracht, mittelſt aller
poetiſchen Formen und Kuͤnſte und Kunſtgriffe, worun¬
ter ich beſonders den hochſchaͤtze, daß das Vergangene
der Geſchichte den Kindern von dem Alten bis zu dem
Punkt erzaͤhlt wird, wo die Gegenwart eintritt und
das Übrige ſich vor unſern Augen entwickelt.
„Ich habe die Ballade lange mit mir herumgetra¬
gen, ſagte Goethe, ehe ich ſie niederſchrieb; es ſtecken
Jahre von Nachdenken darin, und ich habe ſie drey bis
vier Mal verſucht, ehe ſie mir ſo gelingen wollte wie
ſie jetzt iſt.“
[47]
Das Gedicht von den gluͤcklichen Gatten, fuhr ich
fort, iſt gleichfalls ſehr reich an Motiven; es erſcheinen
darin ganze Landſchaften und Menſchenleben, durchwaͤrmt
von dem Sonnenſchein eines anmuthigen Fruͤhlingshim¬
mels, der ſich uͤber dem Ganzen ausbreitet.
„Ich habe das Gedicht immer lieb gehabt, ſagte
Goethe, und es freut mich, daß Sie ihm ein beſonderes
Intereſſe ſchenken. Und daß der Spaß zuletzt noch auf
eine Doppel-Kindtaufe hinausgeht, daͤchte ich, waͤre
doch artig genug.“
Wir kamen ſodann auf den Buͤrgergeneral, wo¬
von ich erzaͤhlte, daß ich dieſes heitere Stuͤck in dieſen
Tagen mit einem Englaͤnder geleſen, und daß in uns
beyden der lebhafte Wunſch entſtanden, es auf dem
Theater zu ſehen. Dem Geiſte nach, ſagte ich, iſt darin
nichts veraltet, und im Einzelnen der dramatiſchen Ent¬
wickelung iſt darin kein Zug, der nicht fuͤr die Buͤhne
gedacht waͤre.
„Es war zu ſeiner Zeit ein ſehr gutes Stuͤck, ſagte
Goethe, und es hat uns manchen heiteren Abend ge¬
macht. Freylich, es war trefflich beſetzt, und ſo vortreff¬
lich einſtudirt, daß der Dialog Schlag auf Schlag ging,
[im] voͤlligſten Leben Malkolmi ſpielte den Maͤrten,
man konnte nichts Vollkommneres ſehen.“
Die Rolle des Schnaps, ſagte ich, erſcheint mir
nicht weniger gluͤcklich; ich daͤchte, das Repertoir haͤtte
nicht viele aufzuweiſen, die dankbarer und beſſer waͤren.
[48]
Es iſt in dieſer Figur, wie im ganzen Stuͤck, eine
Deutlichkeit, eine Gegenwart, wie ſie das Theater nur
wuͤnſchen kann. Die Scene, wo er mit dem Felleiſen
kommt und nach einander die Sachen hervorbringt, wo
er Maͤrten den Schnurbart anklebt und ſich ſelbſt mit
Freyheitsmuͤtze, Uniform und Degen bekleidet, gehoͤrt zu
den vorzuͤglichſten.
„Dieſe Scene, ſagte Goethe, hat in fruͤherer Zeit
auf unſerm Theater immer viel Gluͤck gemacht. Es kam
dazu noch der Umſtand, daß das Felleiſen mit den Sachen
ein wirklich hiſtoriſches war. Ich fand es naͤmlich zur
Zeit der Revolution auf meiner Reiſe an der franzoͤſi¬
ſchen Grenze, wo die Flucht der Emigrirten durchge¬
gangen war, und wo es einer mochte verloren oder
weggeworfen haben. Die Sachen, ſo wie ſie im Stuͤck
vorkommen, waren alle darin; ich ſchrieb danach die
Scene, und das Felleiſen mit allem Zubehoͤr ſpielte
nachher, zu nicht geringem Vergnuͤgen unſerer Schau¬
ſpieler, immer mit, ſo oft das Stuͤck gegeben wurde.“
Die Frage, ob man den Buͤrgergeneral noch
jetzt mit Intereſſe und Nutzen ſehen koͤnne, machte noch
eine Weile den Gegenſtand unſerer Unterhaltung.
Goethe erkundigte ſich ſodann nach meinen Fort¬
ſchritten in der franzoͤſiſchen Literatur, und ich erzaͤhlte
ihm, daß ich mich abwechſelnd noch immer mit Vol¬
taire beſchaͤftige, und daß das große Talent dieſes
Mannes mir das reinſte Gluͤck gewaͤhre. Ich kenne
[49] immer nur noch wenig von ihm, ſagte ich; ich halte
mich noch immer in dem Kreiſe ſeiner kleinen Gedichte
an Perſonen, die ich leſe und immer wieder leſe und
von denen ich mich nicht trennen kann.
„Eigentlich, ſagte Goethe, iſt alles gut, was ein
ſo großes Talent wie Voltaire ſchreibt, wiewohl ich nicht
alle ſeine Frechheiten gelten laſſen moͤchte. Aber Sie
haben nicht Unrecht, wenn Sie ſo lange bey ſeinen klei¬
nen Gedichten an Perſonen verweilen; ſie gehoͤren
ohne Frage zu den liebenswuͤrdigſten Sachen, die er
geſchrieben. Es iſt darin keine Zeile, die nicht voller
Geiſt, Klarheit, Heiterkeit und Anmuth waͤre.“
Und man ſieht darin, ſagte ich, ſeine Verhaͤltniſſe
zu allen Großen und Maͤchtigen der Erde, und bemerkt
mit Freuden, welche vornehme Figur Voltaire ſelber
ſpielt, indem er ſich den Hoͤchſten gleich zu empfinden
ſcheint, und man ihm nie anmerkt, daß irgend eine
Majeſtaͤt ſeinen freyen Geiſt nur einen Augenblick hat
geniren koͤnnen.
„Ja, ſagte Goethe, vornehm war er. Und bey
all ſeiner Freyheit und Verwegenheit hat er ſich immer
in den Grenzen des Schicklichen zu halten gewußt,
welches faſt noch mehr ſagen will. Ich kann wohl
die Kaiſerin von Öſtreich als eine Autoritaͤt in ſolchen
Dingen anfuͤhren, die ſehr oft gegen mich wiederholt
hat, daß in Voltaire's Gedichten an fuͤrſtliche Perſonen
II. 4[50] keine Spur ſeh, daß er je die Linie der Convenienz
uͤberſchritten habe.“
Erinnern ſich Euer Excellenz, ſagte ich, des kleinen
Gedichtes, wo er der Prinzeß von Preußen, nachherigen
Koͤnigin von Schweden, die artige Liebeserklaͤrung macht,
indem er ſagt, daß er ſich im Traum zum Rang der
Koͤnige habe erhoben geſehen?
„Es iſt eins ſeiner vorzuͤglichſten, ſagte Goethe,
indem er recitirte:
Ja, das iſt artig! — Und dann, fuhr Goethe fort, hat
es wohl nie einen Poeten gegeben, dem ſein Talent
jeden Augenblick ſo zur Hand war wie Voltaire. Ich
erinnere mich einer Anekdote, wo er eine Zeitlang zum
Beſuch bey ſeiner Freundin Du Chatelet geweſen
war, und in dem Augenblick der Abreiſe, als ſchon der
Wagen vor der Thuͤre ſteht, einen Brief von einer gro¬
ßen Anzahl junger Maͤdchen eines benachbarten Kloſters
erhaͤlt, die zum Geburtstag ihrer Äbtiſſin den Tod Ju¬
lius Caͤſars auffuͤhren wollen und ihn um einen Prolog
bitten. Der Fall war zu artig, als daß Voltaire ihn
ablehnen konnte; ſchnell laͤßt er ſich daher Feder und
Papier geben, und ſchreibt ſtehend auf dem Rande eines
Kamins das Verlangte. Es iſt ein Gedicht von etwa
zwanzig Verſen, durchaus durchdacht und vollendet,
[51] ganz fuͤr den gegebenen Fall paſſend, genug, von der
beſten Sorte.“ Ich bin ſehr begierig, es zu leſen
ſagte ich. „Ich zweifle, ſagte Goethe, daß es in
Ihrer Sammlung ſteht, es iſt erſt kuͤrzlich zum Vor¬
ſchein gekommen, wie er denn ſolche Gedichte zu Hun¬
derten gemacht hat, von denen noch manche hie und
dort im Privatbeſitz verborgen ſeyn moͤgen.“
Ich fand dieſer Tage eine Stelle in Lord Byron,
ſagte ich, woraus zu meiner Freude hervorging, welche
außerordentliche Achtung auch Byron vor Voltaire ge¬
habt. Auch ſieht man es ihm wohl an, wie ſehr er
Voltaire mag geleſen, ſtudirt und benutzt haben.
„Byron, ſagte Goethe, wußte zu gut wo etwas
zu holen war, und er war zu geſcheidt, als daß er aus
dieſer allgemeinen Quelle des Lichts nicht auch haͤtte
ſchoͤpfen ſollen.“
Das Geſpraͤch wendete ſich hiernaͤchſt ganz auf By¬
ron und einzelne ſeiner Werke; wobey Goethe haͤufigen
Anlaß fand, manche ſeiner fruͤheren Äußerungen von
Anerkennung und Bewunderung jenes großen Talentes
zu wiederholen.
In alles was Euer Excellenz uͤber Byron ſagen,
erwiederte ich, ſtimme ich von Herzen bey; allein wie
bedeutend und groß jener Dichter als Talent auch ſeyn
mag, ſo moͤchte ich doch ſehr zweifeln, daß aus ſeinen
Schriften fuͤr reine Menſchenbildung ein entſchie¬
dener Gewinn zu ſchoͤpfen.
4 *[52]
„Da muß ich Ihnen widerſprechen, ſagte Goethe.
Byrons Kuͤhnheit, Keckheit und Grandioſitaͤt, iſt das
nicht alles bildend? — Wir muͤſſen uns huͤten, es ſtets
im entſchieden Reinen und Sittlichen ſuchen zu wollen. —
Alles Große bildet, ſobald wir es gewahr werden.“
1829.
[[54]][[55]]„Ich habe im Schubart zu leſen fortgefahren, ſagte
Goethe; er iſt freylich ein bedeutender Menſch, und er
ſagt ſogar manches ſehr Vorzuͤgliche, wenn man es ſich
in ſeine eigene Sprache uͤberſetzt. Die Hauptrichtung
ſeines Buches geht darauf hinaus, daß es einen Stand¬
punct außerhalb der Philoſophie gebe, naͤmlich den des
geſunden Menſchenverſtandes; und daß Kunſt und Wiſ¬
ſenſchaft, unabhaͤngig von der Philoſophie, mittelſt freyer
Wirkung natuͤrlicher menſchlicher Kraͤfte, immer am beſten
gediehen ſey. Dieß iſt durchaus Waſſer auf unſere Muͤhle.
Von der Philoſophie habe ich mich ſelbſt immer frey
erhalten; der Standpunct des geſunden Menſchenverſtan¬
des war auch der meinige, und Schubart beſtaͤtiget alſo,
was ich mein ganzes Leben ſelber geſagt und gethan habe.
Das Einzige, was ich an ihm nicht durchaus loben
kann, iſt, daß er gewiſſe Dinge beſſer weiß als er ſie
ſagt, und daß er alſo nicht immer ganz ehrlich zu Werke
geht. So wie Hegel zieht auch er die chriſtliche Reli¬
[56] gion in die Philoſophie herein, die doch nichts darin zu
thun hat. Die chriſtliche Religion iſt ein maͤchtiges
Weſen fuͤr ſich, woran die geſunkene und leidende
Menſchheit von Zeit zu Zeit ſich immer wieder empor¬
gearbeitet hat; und indem man ihr dieſe Wirkung zuge¬
ſteht, iſt ſie uͤber aller Philoſophie erhaben und bedarf
von ihr keiner Stuͤtze. So auch bedarf der Philoſoph
nicht das Anſehen der Religion, um gewiſſe Lehren zu
beweiſen, wie z. B. die einer ewigen Fortdauer. Der
Menſch ſoll an Unſterblichkeit glauben, er hat dazu ein
Recht, es iſt ſeiner Natur gemaͤß, und er darf auf re¬
ligioͤſe Zuſagen bauen; wenn aber der Philoſoph den
Beweis fuͤr die Unſterblichkeit unſerer Seele aus einer
Legende hernehmen will, ſo iſt das ſehr ſchwach und
will nicht viel heißen. Die Überzeugung unſerer Fort¬
dauer entſpringt mir aus dem Begriff der Thaͤtigkeit;
denn wenn ich bis an mein Ende raſtlos wirke, ſo iſt
die Natur verpflichtet, mir eine andere Form des Da¬
ſeyns anzuweiſen, wenn die jetzige meinem Geiſt nicht
ferner auszuhalten vermag.“
Mein Herz ſchlug bey dieſen Worten vor Bewun¬
derung und Liebe. Iſt doch, dachte ich, nie eine Lehre
ausgeſprochen worden, die mehr zu edlen Thaten reizt,
als dieſe. Denn wer will nicht bis an ſein Ende un¬
ermuͤdlich wirken und handeln, wenn er darin die Buͤrg¬
ſchaft eines ewigen Lebens findet.
Goethe ließ ein Portefeuille mit Handzeichnungen
[57] und Kupferſtichen vorlegen. Nachdem er einige Blaͤtter
ſtille betrachtet und umgewendet, reichte er mir einen
ſchoͤnen Stich nach einem Gemaͤlde von Oſtade. „Hier,
ſagte er, haben Sie die Scene zu unſerm Good man
und good wife.“ — Ich betrachtete das Blatt mit
großer Freude. Ich ſah das Innere einer Bauernwoh¬
nung vorgeſtellt, wo Kuͤche, Wohn- und Schlafzimmer
alles in Einem und nur ein Raum war. Mann und
Frau ſaßen ſich nahe gegenuͤber; die Frau ſpinnend, der
Mann Garn windend; ein Bube zu ihren Fuͤßen. Im
Hintergrunde ſah man ein Bette, ſo wie uͤberall nur
das roheſte allernothwendigſte Hausgeraͤthe; die Thuͤr
ging unmittelbar ins Freye. Den Begriff beſchraͤnkten
ehelichen Gluͤckes gab dieſes Blatt vollkommen; Zufrie¬
denheit, Behagen und ein gewiſſes Schwelgen in lie¬
benden ehelichen Empfindungen, lag auf den Geſichtern
vom Manne und der Frau wie ſie ſich einander an¬
blickten. Es wird einem wohler zu Muthe, ſagte ich,
je laͤnger man dieſes Blatt anſieht; es hat einen Reiz
ganz eigener Art. „Es iſt der Reiz der Sinnlichkeit,
ſagte Goethe, den keine Kunſt entbehren kann, und der
in Gegenſtaͤnden ſolcher Art in ſeiner ganzen Fuͤlle herrſcht.
Bey Darſtellungen hoͤherer Richtung dagegen, wo der
Kuͤnſtler ins Ideelle geht, iſt es ſchwer, daß die gehoͤ¬
rige Sinnlichkeit mitgehe, und daß er nicht trocken und
kalt werde. Da koͤnnen nun Jugend oder Alter guͤnſtig
oder hinderlich ſeyn, und der Kuͤnſtler muß daher ſeine
[58] Jahre bedenken und danach ſeine Gegenſtaͤnde waͤhlen.
Meine Iphigenie und mein Taſſo ſind mir gelun¬
gen, weil ich jung genug war, um mit meiner Sinn¬
lichkeit das Ideelle des Stoffes durchdringen und beleben
zu koͤnnen. Jetzt in meinem Alter waͤren ſo ideelle Ge¬
genſtaͤnde nicht fuͤr mich geeignet, und ich thue vielmehr
wohl, ſolche zu waͤhlen, wo eine gewiſſe Sinnlichkeit
bereits im Stoffe liegt. Wenn Genaſts hier bleiben,
ſo ſchreibe ich euch zwey Stuͤcke, jedes in einem Act
und in Proſa. Das eine von der heiterſten Art, mit
einer Hochzeit endend, das andere grauſam und erſchuͤt¬
ternd, ſo daß am Ende zwey Leichname zuruͤckbleiben.
Das letztere ruͤhrt noch aus Schillers Zeit her, und er
hat auf mein Antreiben ſchon eine Scene davon geſchrie¬
ben. Beyde Suͤjets habe ich lange durchdacht, und ſie
ſind mir ſo vollkommen gegenwaͤrtig, daß ich jedes in
acht Tagen dictiren wollte, wie ich es mit meinem Buͤr¬
gergeneral gethan habe.“
Thun Sie es, ſagte ich, ſchreiben Sie die beyden
Stuͤcke auf jeden Fall; es iſt Ihnen nach den Wan¬
derjahren eine Erfriſchung und wirkt wie eine kleine
Reiſe. Und wie wuͤrde die Welt ſich freuen, wenn Sie
dem Theater noch etwas zu Liebe thaͤten, was Niemand
mehr erwartet.
„Wie geſagt, fuhr Goethe fort, wenn Genaſts
hier bleiben, ſo bin ich gar nicht ſicher, daß ich euch
[59] nicht den Spaß mache. Aber ohne dieſe Ausſicht waͤre
dazu wenig Reiz, denn ein Stuͤck auf dem Papiere iſt
gar nichts. Der Dichter muß die Mittel kennen, mit
denen er wirken will, und er muß ſeine Rollen denen
Figuren auf den Leib ſchreiben, die ſie ſpielen ſollen.
Habe ich alſo auf Genaſt und ſeine Frau zu rechnen,
und nehme ich dazu La Roche, Herrn Winterberger und
Madam Seidel, ſo weiß ich was ich zu thun habe,
und kann der Ausfuͤhrung meiner Intentionen gewiß
ſeyn.“
„Fuͤr das Theater zu ſchreiben, fuhr Goethe fort, iſt
ein eigenes Ding, und wer es nicht durch und durch
kennet, der mag es unterlaſſen. Ein intereſſantes Fac¬
tum, denkt jeder, werde auch intereſſant auf den Bret¬
tern erſcheinen; aber mit nichten! — Es koͤnnen Dinge
ganz huͤbſch zu leſen und huͤbſch zu denken ſeyn, aber,
auf die Bretter gebracht, ſieht das ganz anders aus,
und was uns im Buche entzuͤckte, wird uns von der
Buͤhne herunter vielleicht kalt laſſen. Wenn man meinen
Hermann und Dorothea lieſet, ſo denkt man, das waͤre
auch auf dem Theater zu ſehen. Toͤpfer hat ſich ver¬
fuͤhren laſſen es hinaufzubringen; allein was iſt es,
was wirkt es, zumal wenn es nicht ganz vorzuͤglich
geſpielt wird, und wer kann ſagen, daß es in jeder
Hinſicht ein gutes Stuͤck ſey? — Fuͤr das Theater zu
ſchreiben iſt ein Metier, das man kennen ſoll, und will
ein Talent, das man beſitzen muß. Beydes iſt ſelten,
[60] und wo es ſich nicht vereinigt findet, wird ſchwerlich
etwas Gutes an den Tag kommen.“
Goethe ſprach viel uͤber die Wahlverwandtſchaften,
beſonders daß jemand ſich in der Perſon des Mittler
getroffen gefunden, den er fruͤher im Leben nie gekannt
und geſehen. „Der Charakter, ſagte er, muß alſo wohl
einige Wahrheit haben, und in der Welt mehr als Ein
Mal exiſtiren. Es iſt in den Wahlverwandtſchaften
uͤberall keine Zeile, die ich nicht ſelber erlebt haͤtte, und
es ſteckt darin mehr, als irgend jemand bey einmaligem
Leſen aufzunehmen im Stande waͤre.“
Ich fand Goethe umringt von Charten und Plaͤnen
in Bezug auf den Bremer Hafenbau, fuͤr welches
großartige Unternehmen er ein beſonderes Intereſſe zeigte.
Sodann viel uͤber Merck geſprochen, von welchem
er mir eine poetiſche Epiſtel an Wieland vom Jahre
1776 vorlieſet, in hoͤchſt geiſtreichen aber etwas derben
Knittelverſen. Der ſehr heitere Inhalt geht beſonders
gegen Jacobi, den Wieland, in einer zu guͤnſtigen Re¬
[61] cenſion im Merkur, uͤberſchaͤtzt zu haben ſcheint, welches
Merck ihm nicht verzeihen kann.
Über den Zuſtand damaliger Cultur, und wie ſchwer
es gehalten, aus der ſogenannten Sturm- und Drang¬
periode ſich zu einer hoͤheren Bildung zu retten.
Über ſeine erſten Jahre in Weimar. Das poetiſche
Talent im Conflict mit der Realitaͤt, die er, durch ſeine
Stellung zum Hof, und verſchiedenartige Zweige des
Staatsdienſtes, zu hoͤherem Vortheil in ſich aufzunehmen
genoͤthigt iſt. Deßhalb in den erſten zehn Jahren nichts
Poetiſches von Bedeutung hervorgebracht. Fragmente
vorgeleſen. Durch Liebſchaften verduͤſtert. Der Vater
fortwaͤhrend ungeduldig gegen das Hofleben.
Vortheile, daß er den Ort nicht veraͤndert, und daß
er dieſelbigen Erfahrungen nicht noͤthig gehabt zweymal
zu machen.
Flucht nach Italien, um ſich zu poetiſcher Producti¬
vitaͤt wieder herzuſtellen. Aberglaube, daß er nicht hin¬
komme, wenn jemand darum wiſſe. Deßhalb tiefes
Geheimniß. Von Rom aus an den Herzog geſchrieben.
Aus Italien zuruͤck mit großen Anforderungen an
ſich ſelbſt.
Herzogin Amalie. Vollkommene Fuͤrſtin mit voll¬
kommen menſchlichem Sinne und Neigung zum Lebens¬
genuß. Sie hat große Liebe zu ſeiner Mutter, und
wuͤnſcht, daß ſie fuͤr immer nach Weimar komme. Er
iſt dagegen.
[62]
Über die erſten Anfaͤnge des Fauſt.
„Der Fauſt entſtand mit meinem Werther; ich
brachte ihn im Jahre 1775 mit nach Weimar. Ich
hatte ihn auf Poſtpapier geſchrieben und nichts daran
geſtrichen; denn ich huͤtete mich, eine Zeile niederzuſchrei¬
ben, die nicht gut war und die nicht beſtehen konnte.“
Mit Oberbaudirector Coudray bey Goethe zu Tiſch.
Coudray erzaͤhlt viel von der weiblichen Induſtrie-Schule
und dem Waiſen-Inſtitut, als den beſten Einrichtungen
dieſer Art des Landes; erſtere von der Großfuͤrſtin,
letzteres vom Großherzog Carl Auguſt gegruͤndet.
Mancherley uͤber Theater-Decoration und Wegebau.
Coudray legt Goethen den Riß zu einer fuͤrſtlichen Ca¬
pelle vor. Über den Ort, wo der herrſchaftliche Stuhl
anzubringen; wogegen Goethe Einwendungen macht, die
Coudray annimmt. Nach Tiſch Soret. Goethe zeigt
uns abermals die Bilder von Herrn von Reutern.
Goethe lieſet mir das friſch entſtandene, uͤberaus herr¬
liche Gedicht: Kein Weſen kann zu nichts zer¬
[63] fallen ꝛc. „Ich habe, ſagte er, dieſes Gedicht als
Widerſpruch der Verſe: Denn alles muß zu n chts
zerfallen, wenn es im Seyn beharren will ꝛc.
geſchrieben, welche dumm ſind, und welche meine Ber¬
liner Freunde, bey Gelegenheit der naturforſchenden Ver¬
ſammlung, zu meinem Ärger in goldenen Buchſtaben
ausgeſtellt haben.“
Über den großen Mathematiker Lagrange, an wel¬
chem Goethe vorzuͤglich den trefflichen Character hervor¬
hebt. „Er war ein guter Menſch, ſagte er, und eben
deßwegen groß. Denn wenn ein guter Menſch mit
Talent begabt iſt, ſo wird er immer zum Heil der Welt
ſittlich wirken, ſey es als Kuͤnſtler, Naturforſcher, Dich¬
ter, oder was alles ſonſt.“
„Es iſt mir lieb, fuhr Goethe fort, daß Sie
Coudray geſtern naͤher kennen gelernt haben. Er
ſpricht ſich in Geſellſchaft ſelten aus, aber ſo unter uns
haben Sie geſehen, welch ein trefflicher Geiſt und Cha¬
racter in dem Manne wohnt. Er hat anfaͤnglich vielen
Widerſpruch erlitten, aber jetzt hat er ſich durchgekaͤmpft
und genießt vollkommene Gunſt und Vertrauen des Ho¬
fes. Coudray iſt einer der geſchickteſten Architekten un¬
ſerer Zeit. Er hat ſich zu mir gehalten und ich mich
zu ihm, und es iſt uns beyden von Nutzen geweſen.
Haͤtte ich den vor funfzig Jahren gehabt!“ —
Über Goethe's eigene architektoniſche Kenntniſſe. Ich
bemerke, er muͤſſe viel in Italien gewonnen haben. „Es
[64] gab mir einen Begriff vom Ernſten und Großen, ant¬
wortete er, aber keine Gewandtheit. Der Weimariſche
Schloßbau hat mich vor allem gefoͤrdert. Ich mußte
mit einwirken, und war ſogar in dem Fall, Geſimſe
zeichnen zu muͤſſen. Ich that es den Leuten von Metier
gewiſſermaßen zuvor, weil ich ihnen in der Intention
uͤberlegen war.“
Das Geſpraͤch kam auf Zelter. „Ich habe einen
Brief von ihm, ſagte Goethe; er ſchreibt unter andern,
daß die Auffuͤhrung des Meſſias ihm durch eine ſei¬
ner Schuͤlerinnen verdorben ſey, die eine Arie zu weich,
zu ſchwach, zu ſentimental geſungen. Das Schwache
iſt ein Characterzug unſers Jahrhunderts. Ich habe die
Hypotheſe, daß es in Deutſchland eine Folge der An¬
ſtrengung iſt, die Franzoſen los zu werden. Maler,
Naturforſcher, Bildhauer, Muſiker, Poeten, es iſt, mit
wenigen Ausnahmen, alles ſchwach, und in der Maſſe
ſteht es nicht beſſer.“
Doch, ſagte ich, gebe ich die Hoffnung nicht auf,
zum Fauſt eine paſſende Muſik kommen zu ſehen.
„Es iſt ganz unmoͤglich, ſagte Goethe. Das Ab¬
ſtoßende, Widerwaͤrtige, Furchtbare, was ſie ſtellenweiſe
enthalten muͤßte, iſt der Zeit zuwider. Die Muſik muͤßte
im Character des Don Juan ſeyn; Mozart haͤtte den
Fauſt componiren muͤſſen. Meyer-Beer waͤre vielleicht
dazu faͤhig, allein der wird ſich auf ſo etwas nicht ein¬
laſſen; er iſt zu ſehr mit italieniſchen Theatern verflochten.“
[65]
Sodann, ich weiß nicht mehr in welcher Verbindung
und welchem Bezug, ſagte Goethe folgendes ſehr Be¬
deutende.
„Alles Große und Geſcheidte, ſagte er, exiſtirt in
der Minoritaͤt. Es hat Miniſter gegeben, die Volk
und Koͤnig gegen ſich hatten, und die ihre großen Plane
einſam durchfuͤhrten. Es iſt nie daran zu denken, daß
die Vernunft popular werde. Leidenſchaften und Gefuͤhle
moͤgen popular werden, aber die Vernunft wird immer
nur im Beſitz einzelner Vorzuͤglicher ſeyn.“
Mit Goethe allein zu Tiſch. „Ich werde nach Be¬
endigung der Wanderjahre, ſagte er, mich wieder
zur Botanik wenden, um mit Soret die Überſetzung
weiter zu bringen. Nur fuͤrchte ich, daß es mich wieder
ins Weite fuͤhrt, und daß es zuletzt abermals ein Alp
wird. Große Geheimniſſe liegen noch verborgen, man¬
ches weiß ich, von vielem habe ich eine Ahndung. Et¬
was will ich Ihnen vertrauen und mich wunderlich aus¬
druͤcken.“
„Die Pflanze geht von Knoten zu Knoten und
ſchließt zuletzt ab mit der Bluͤthe und dem Samen. In
der Thierwelt iſt es nicht anders. Die Raupe, der
Bandwurm, geht von Knoten zu Knoten und bildet
ll. 5[66] zuletzt einen Kopf; bey den hoͤher ſtehenden Thieren und
Menſchen ſind es die Wirbelknochen, die ſich anfuͤgen
und anfuͤgen und mit dem Kopf abſchließen, in welchem
ſich die Kraͤfte concentriren.“
„Was ſo bey Einzelnen geſchieht, geſchieht auch bey
ganzen Corporationen. Die Bienen, auch eine Reihe
von Einzelnheiten, die ſich aneinander ſchließen, bringen
als Geſammtheit etwas hervor, das auch den Schluß
macht, und als Kopf des Ganzen anzuſehen iſt, den
Bienen-Koͤnig. Wie dieſes geſchieht iſt geheimnißvoll,
ſchwer auszuſprechen, aber ich koͤnnte ſagen, daß ich
daruͤber meine Gedanken habe.“
„So bringt ein Volk ſeine Helden hervor, die, gleich
Halbgoͤttern, zu Schutz und Heil an der Spitze ſtehen;
und ſo vereinigten ſich die poetiſchen Kraͤfte der Fran¬
zoſen in Voltaire. Solche Haͤuptlinge eines Volkes
ſind groß in der Generation in der ſie wirken; manche
dauren ſpaͤter hinaus; die meiſten werden durch Andere
erſetzt und von der Folgezeit vergeſſen.“
Ich freute mich dieſer bedeutenden Gedanken. Goethe
ſprach ſodann uͤber Naturforſcher, denen es vor allem
nur daran liege, ihre Meinung zu beweiſen. „Herr
von Buch, ſagte er, hat ein neues Werk herausgege¬
ben, das gleich im Titel eine Hypotheſe enthaͤlt. Seine
Schrift ſoll von Granitbloͤcken handeln, die hier und
dort umherliegen, man weiß nicht wie und woher. Da
aber Herr v. Buch die Hypotheſe im Schilde fuͤhrt,
[67] daß ſolche Granitbloͤcke durch etwas Gewaltſames von
Innen hervorgeworfen und zerſprengt worden, ſo deutet
er dieſes gleich im Titel an, indem er ſchon dort von
zerſtreuten Granitbloͤcken redet, wo denn der Schritt
zur Zerſtreuung ſehr nahe liegt, und dem argloſen
Leſer die Schlinge des Irrthums uͤber den Kopf gezogen
wird, er weiß nicht wie.“
„Man muß alt werden, um dieſes alles zu uͤber¬
ſehen, und Geld genug haben, ſeine Erfahrungen bezah¬
len zu koͤnnen. Jedes Bonmot das ich ſage, koſtet
mir eine Boͤrſe voll Gold; eine halbe Million meines
Privatvermoͤgens iſt durch meine Haͤnde gegangen, um
das zu lernen was ich jetzt weiß, nicht allein das ganze
Vermoͤgen meines Vaters, ſondern auch mein Gehalt
und mein bedeutendes literariſches Einkommen ſeit mehr
als funfzig Jahren. Außerdem habe ich anderthalb
Millionen zu großen Zwecken von fuͤrſtlichen Perſonen
ausgeben ſehen, denen ich nahe verbunden war und an
deren Schritten, Gelingen und Mißlingen ich Theil
nahm.“
„Es iſt nicht genug, daß man Talent habe, es ge¬
hoͤrt mehr dazu, um geſcheidt zu werden; man muß
auch in großen Verhaͤltniſſen leben, und Gelegenheit
haben, den ſpielenden Figuren der Zeit in die Karten
zu ſehen, und ſelber zu Gewinn und Verluſt mitzu¬
ſpielen.“
„Ohne meine Bemuͤhungen in den Naturwiſſenſchaf¬
5*[68] ten haͤtte ich jedoch die Menſchen nie kennen gelernt
wie ſie ſind. In allen anderen Dingen kann man dem
reinen Anſchauen und Denken, den Irrthuͤmern der
Sinne wie des Verſtandes, den Character-Schwaͤchen
und -Staͤrken nicht ſo nachkommen; es iſt alles mehr
oder weniger biegſam und ſchwankend, und laͤßt alles
mehr oder weniger mit ſich handeln; aber die Natur
verſteht gar keinen Spaß, ſie iſt immer wahr, immer
ernſt, immer ſtrenge; ſie hat immer Recht, und die
Fehler und Irrthuͤmer ſind immer des Menſchen. Den
Unzulaͤnglichen verſchmaͤht ſie, und nur dem Zulaͤngli¬
chen, Wahren und Reinen ergiebt ſie ſich und offenbart
ihm ihre Geheimniſſe.“
„Der Verſtand reicht zu ihr nicht hinauf, der Menſch
muß faͤhig ſeyn, ſich zur hoͤchſten Vernunft erheben zu
koͤnnen, um an die Gottheit zu ruͤhren, die ſich in Ur¬
phaͤnomenen, phyſiſchen wie ſittlichen, offenbaret, hinter
denen ſie ſich haͤlt und die von ihr ausgehen.“
„Die Gottheit aber iſt wirkſam im Lebendigen, aber
nicht im Todten; ſie iſt im Werdenden und ſich Ver¬
wandelnden, aber nicht im Gewordenen und Erſtarrten.
Deßhalb hat auch die Vernunft in ihrer Tendenz zum
Goͤttlichen es nur mit dem Werdenden, Lebendigen zu
thun; der Verſtand mit dem Gewordenen, Erſtarrten,
daß er es nutze.“
„Die Mineralogie iſt daher eine Wiſſenſchaft fuͤr
den Verſtand, fuͤr das practiſche Leben, denn ihre Ge¬
[69] genſtaͤnde ſind etwas Todtes, das nicht mehr entſteht,
und an eine Syntheſe iſt dabey nicht zu denken. Die
Gegenſtaͤnde der Meteorologie ſind zwar etwas Le¬
bendiges, das wir taͤglich wirken und ſchaffen ſehen, ſie
ſetzen eine Syntheſe voraus; allein der Mitwirkungen
ſind ſo mannigfaltige, daß der Menſch dieſer Syntheſe
nicht gewachſen iſt, und er ſich daher in ſeinen Beob¬
achtungen und Forſchungen unnuͤtz abmuͤhet. Wir ſteuern
dabey auf Hypotheſen los, auf imaginaͤre Inſeln, aber
die eigentliche Syntheſe wird wahrſcheinlich ein unent¬
decktes Land bleiben. Und mich wundert es nicht, wenn
ich bedenke, wie ſchwer es gehalten, ſelbſt in ſo einfachen
Dingen, wie die Pflanze und die Farbe, zu einiger
Syntheſe zu gelangen.“
Goethe empfing mich mit großem Lobe wegen mei¬
ner Redaction der naturhiſtoriſchen Aphorismen fuͤr die
Wanderjahre. „Werfen Sie ſich auf die Natur, ſagte
er, Sie ſind dafuͤr geboren, und ſchreiben Sie zunaͤchſt
ein Compendium der Farbenlehre.“ Wir ſprachen viel
uͤber dieſen Gegenſtand.
Eine Kiſte vom Niederrhein langte an, mit ausge¬
grabenen antiken Gefaͤßen, Mineralien, kleinen Dom¬
[70] bildern und Gedichten des Carnevals, welches alles nach
Tiſch ausgepackt wurde.
Viel uͤber den Großkophta geſprochen. „Lavater,
ſagte Goethe, glaubte an Caglioſtro und deſſen Wun¬
der. Als man ihn als einen Betruͤger entlarvt hatte,
behauptete Lavater: dieß ſey ein anderer Caglioſtro, der
Wunderthaͤter Caglioſtro ſey eine heilige Perſon.“
„Lavater war ein herzlich guter Mann, allein er war
gewaltigen Taͤuſchungen unterworfen, und die ganz ſtrenge
Wahrheit war nicht ſeine Sache; er belog ſich und An¬
dere. Es kam zwiſchen mir und ihm deßhalb zum voͤlli¬
gen Bruch. Zuletzt habe ich ihn noch in Zuͤrich geſehen,
ohne von ihm geſehen zu werden. Verkleidet ging ich
in einer Allee, ich ſah ihn auf mich zukommen, ich bog
außerhalb, er ging an mir voruͤber und kannte mich
nicht. Sein Gang war wie der eines Kranichs, we߬
wegen er auf dem Blocksberg als Kranich vorkommt.“
Ich fragte Goethe, ob Lavater eine Tendenz zur
Natur gehabt, wie man faſt wegen ſeiner Phyſiognomik
ſchließen ſollte. „Durchaus nicht, antwortete Goethe,
ſeine Richtung ging bloß auf das Sittliche, Religioͤſe.
Was in Lavaters Phyſiognomik uͤber Thierſchaͤdel vor¬
kommt, iſt von mir.“
[71]
Das Geſpraͤch lenkte ſich auf die Franzoſen, auf die
Vorleſungen von Guizot, Villemain und Couſin,
und Goethe ſprach mit hoher Achtung uͤber den Stand¬
punct dieſer Maͤnner, und wie ſie alles von einer freyen
und neuen Seite betrachteten, und uͤberall grade aufs
Ziel losgingen. „Es iſt, ſagte Goethe, als waͤre man
bis jetzt in einen Garten auf Umwegen und durch Kruͤm¬
mungen gelangt; dieſe Maͤnner aber ſind kuͤhn und frey
genug, die Mauer dort einzureißen und eine Thuͤr an
derjenigen Stelle zu machen, wo man ſogleich auf den
breiteſten Weg des Gartens tritt.“
Von Couſin kamen wir auf indiſche Philoſophie.
„Dieſe Philoſophie, ſagte Goethe, hat, wenn die Nach¬
richten des Englaͤnders wahr ſind, durchaus nichts Frem¬
des, vielmehr wiederholen ſich in ihr die Epochen, die
wir alle ſelber durchmachen. Wir ſind Senſualiſten, ſo
lange wir Kinder ſind; Idealiſten, wenn wir lieben und
in den geliebten Gegenſtand Eigenſchaften legen, die
nicht eigentlich darin ſind. Die Liebe wankt, wir zwei¬
feln an der Treue und ſind Skeptiker ehe wir es glaub¬
ten. Der Reſt des Lebens iſt gleichguͤltig, wir laſſen
es gehen wie es will, und endigen mit dem Quietis¬
mus, wie die indiſchen Philoſophen auch.“
„In der deutſchen Philoſophie waͤren noch zwey
große Dinge zu thun. Kant hat die Critik der reinen
Vernunft geſchrieben, womit unendlich viel geſchehen,
aber der Kreis nicht abgeſchloſſen iſt. Jetzt muͤßte ein
[72] Faͤhiger, ein Bedeutender, die Critik der Sinne und
des Menſchenverſtandes ſchreiben, und wir wuͤrden, wenn
dieſes gleich vortrefflich geſchehen, in der deutſchen Phi¬
loſophie nicht viel mehr zu wuͤnſchen haben.“
„Hegel, fuhr Goethe fort, hat in den Berliner
Jahrbuͤchern eine Recenſion uͤber Hamann geſchrieben,
die ich in dieſen Tagen leſe und wieder leſe und die ich
ſehr loben muß. Hegels Urtheile als Critiker ſind im¬
mer gut geweſen.“
„Villemain ſteht in der Critik gleichfalls ſehr
hoch. Die Franzoſen werden zwar nie ein Talent wie¬
der ſehen, das dem von Voltaire gewachſen waͤre. Von
Villemain aber kann man ſagen, daß er in ſeinem gei¬
ſtigen Standpunct uͤber Voltairen erhaben iſt, ſo daß
er ihn in ſeinen Tugenden und Fehlern beurtheilen kann.“
Wir ſprachen uͤber die Farbenlehre, unter andern
uͤber Trinkglaͤſer, deren truͤbe Figuren gegen das Licht
gelb und gegen das Dunkele blau erſcheinen, und die
alſo die Betrachtung eines Urphaͤnomens gewaͤhren.
„Das Hoͤchſte, wozu der Menſch gelangen kann,
ſagte Goethe bey dieſer Gelegenheit, iſt das Erſtaunen;
und wenn ihn das Urphaͤnomen in Erſtaunen ſetzt, ſo
[73] ſey er zufrieden; ein Hoͤheres kann es ihm nicht gewaͤh¬
ren, und ein Weiteres ſoll er nicht dahinter ſuchen; hier
iſt die Grenze. Aber den Menſchen iſt der Anblick eines
Urphaͤnomens gewoͤhnlich noch nicht genug, ſie denken
es muͤſſe noch weiter gehen, und ſie ſind den Kindern
aͤhnlich, die, wenn ſie in einen Spiegel gegukt, ihn ſo¬
gleich umwenden, um zu ſehen was auf der anderen
Seite iſt.“
Das Geſpraͤch lenkte ſich auf Merck, und ich fragte,
ob Merck ſich auch mit Naturſtudien befaßt. „O ja,
ſagte Goethe, er beſaß ſogar bedeutende naturhiſtoriſche
Sammlungen. Merck war uͤberall ein hoͤchſt vielſeitiger
Menſch. Er liebte auch die Kunſt, und zwar ging die¬
ſes ſo weit, daß, wenn er ein gutes Werk in den Haͤn¬
den eines Philiſters ſah, von dem er glaubte, daß er
es nicht zu ſchaͤtzen wiſſe, er Alles anwendete, um es
in ſeine eigene Sammlung zu bringen. Er hatte in
ſolchen Dingen gar kein Gewiſſen, jedes Mittel war
ihm recht, und ſelbſt eine Art von grandioſem Betrug
wurde nicht verſchmaͤht, wenn es nicht anders gehen
wollte.“ Goethe erzaͤhlte dieſer Art einige ſehr intereſ¬
ſante Beyſpiele.
„Ein Menſch wie Merck, fuhr er fort, wird gar
nicht mehr geboren, und wenn er geboren wuͤrde, ſo
wuͤrde die Welt ihn anders ziehen. Es war uͤberall
eine gute Zeit, als ich mit Merck jung war. Die deut¬
ſche Literatur war noch eine reine Tafel, auf die man
[74] mit Luſt viel Gutes zu malen hoffte. Jetzt iſt ſie ſo
beſchrieben und beſudelt, daß man keine Freude hat ſie
anzublicken, und daß ein geſcheidter Menſch nicht weiß,
wohin er noch etwas zeichnen ſoll.“
Mit Goethe in ſeiner Arbeitsſtube allein zu Tiſch. —
Er war ſehr heiter und erzaͤhlte mir, daß ihm am Tage
manches Gute widerfahren, und daß er auch ein Ge¬
ſchaͤft mit Artaria und dem Hof gluͤcklich beendigt ſehe.
Wir ſprachen ſodann viel uͤber Egmont, der am
Abend vorher, nach der Bearbeitung von Schiller,
gegeben worden, und es kamen die Nachtheile zur Er¬
waͤhnung, die das Stuͤck durch dieſe Redaction zu lei¬
den hat.
Es iſt in vielfacher Hinſicht nicht gut, ſagte ich, daß
die Regentin fehlt; ſie iſt vielmehr dem Stuͤcke durchaus
nothwendig. Denn nicht allein, daß das Ganze durch
dieſe Fuͤrſtin einen hoͤheren, vornehmeren Character erhaͤlt,
ſondern es treten auch die politiſchen Verhaͤltniſſe, be¬
ſonders in Bezug auf den ſpaniſchen Hof, durch ihre
Dialoge mit Machiavell durchaus reiner und entſchiede¬
ner hervor.
„Ganz ohne Frage, ſagte Goethe. Und dann ge¬
[75] winnet auch Egmont an Bedeutung durch den Glanz,
den die Neigung der Fuͤrſtin auf ihn wirft, ſo wie auch
Claͤrchen gehoben erſcheint, wenn wir ſehen, daß ſie,
ſelbſt uͤber Fuͤrſtinnen ſiegend, Egmonts ganze Liebe
allein beſitzt. Dieſes ſind alles ſehr delicate Wirkungen,
die man freylich ohne Gefahr fuͤr das Ganze nicht ver¬
letzen darf.“
Auch will mir ſcheinen, ſagte ich, daß bey den vie¬
len bedeutenden Maͤnnerrollen, eine einzige weibliche Fi¬
gur, wie Claͤrchen, zu ſchwach und etwas gedruͤckt er¬
ſcheint. Durch die Regentin aber erhaͤlt das ganze
Gemaͤlde mehr Gleichgewicht. Daß von ihr im Stuͤcke
geſprochen wird, will nicht viel ſagen; das perſoͤnliche
Auftreten macht den Eindruck.
„Sie empfinden das Verhaͤltniß ſehr richtig, ſagte
Goethe. — Als ich das Stuͤck ſchrieb, habe ich, wie
Sie denken koͤnnen, alles ſehr wohl abgewogen, und
es iſt daher nicht zu verwundern, daß ein Ganzes ſehr
empfindlich leiden muß, wenn man eine Hauptfigur
herausreißt, die ins Ganze gedacht worden und wodurch
das Ganze beſteht. Aber Schiller hatte in ſeiner Natur
etwas Gewaltſames; er handelte oft zu ſehr nach einer
vorgefaßten Idee, ohne hinlaͤngliche Achtung vor dem
Gegenſtande, der zu behandeln war.“
Man moͤchte auf Sie ſchelten, ſagte ich, daß Sie
es gelitten und daß Sie in einem ſo wichtigen Fall ihm
ſo unbedingte Freyheit gegeben.
[76]
„Man iſt oft gleichguͤltiger als billig, antwortete
Goethe. Und dann war ich in jener Zeit mit anderen
Dingen tief beſchaͤftigt. Ich hatte ſo wenig ein Intereſſe
fuͤr Egmont wie fuͤr das Theater; ich ließ ihn gewaͤh¬
ren. Jetzt iſt es wenigſtens ein Troſt fuͤr mich, daß das
Stuͤck gedruckt daſteht, und daß es Buͤhnen giebt, die
verſtaͤndig genug ſind, es treu und ohne Verkuͤrzung
ganz ſo aufzufuͤhren wie ich es geſchrieben.“
Goethe erkundigte ſich ſodann nach der Farben¬
lehre und ob ich ſeinem Vorſchlage, ein Compendium
zu ſchreiben, weiter nachgedacht. Ich ſagte ihm wie es
damit ſtehe, und ſo geriethen wir unvermuthet in eine
Differenz, die ich bey der Wichtigkeit des Gegenſtandes
mittheilen will.
Wer es beobachtet hat, wird ſich erinnern, daß bey
heiteren Wintertagen und Sonnenſchein, die Schatten
auf dem Schnee haͤufig blau geſehen werden. Dieſes
Phaͤnomen bringt Goethe in ſeiner Farbenlehre unter
die ſubjectiven Erſcheinungen, indem er als Grundlage
annimmt, daß das Sonnenlicht zu uns, die wir nicht
auf den Gipfeln hoher Berge wohnen, nicht durchaus
weiß, ſondern, durch eine mehr oder weniger dunſt¬
reiche Atmoſphaͤre dringend, in einem gelblichen Schein
herabkomme; und daß alſo der Schnee, von der Sonne
beſchienen, nicht durchaus weiß, ſondern eine gelblich
tingirte Flaͤche ſey, die das Auge zum Gegenſatz und
alſo zur Hervorbringung der blauen Farbe anreize. Der
[77] auf dem Schnee geſehen werdende blaue Schatten ſey
demnach eine geforderte Farbe, unter welcher Rubrik
Goethe denn auch das Phaͤnomen abhandelt, und danach
die von Sauſſuͤre auf dem Montblanc gemachten Beob¬
achtungen ſehr conſequent zurechtlegt.
Als ich nun in dieſen Tagen die erſten Capitel der
Farbenlehre abermals betrachtete, um mich zu pruͤfen,
ob es mir gelingen moͤchte, Goethe's freundlicher Auf¬
forderung nachzukommen und ein Compendium ſeiner
Farbenlehre zu ſchreiben, war ich, durch Schnee und
Sonnenſchein beguͤnſtigt, in dem Fall, ebengedachtes
Phaͤnomen des blauen Schattens abermals naͤher in
Augenſchein zu nehmen, wo ich denn zu einiger Über¬
raſchung fand, daß Goethe's Ableitung auf einem Irr¬
thum beruhe. Wie ich aber zu dieſem Aperçuͤ gelangte,
will ich ſagen.
Aus den Fenſtern meines Wohnzimmers ſehe ich
grade gegen Suͤden, und zwar auf einen Garten, der
durch ein Gebaͤude begrenzt wird, das, bey dem niede¬
ren Stande der Sonne im Winter, mir entgegen einen
ſo großen Schatten wirft, daß er uͤber die halbe Flaͤche
des Gartens reicht.
Auf dieſe Schattenflaͤche im Schnee blickte ich nun
vor einigen Tagen, bey voͤllig blauem Himmel und
Sonnenſcheine, und war uͤberraſcht, die ganze Maſſe
vollkommen blau zu ſehen. Eine geforderte Farbe, ſagte
ich zu mir ſelber, kann dieſes nicht ſeyn, denn mein
[78] Auge wird von keiner von der Sonne beſchienenen
Schneeflaͤche beruͤhrt, wodurch jener Gegenſatz hervorge¬
rufen werden koͤnnte; ich ſehe nichts als die ſchattige
blaue Maſſe. Um aber durchaus ſicher zu gehen und
zu verhindern, daß der blendende Schein der benachbar¬
ten Daͤcher nicht etwa mein Auge beruͤhre, rollte ich
einen Bogen Papier zuſammen, und blickte durch ſolche
Roͤhre auf die ſchattige Flaͤche, wo denn das Blau un¬
veraͤndert zu ſehen blieb.
Daß dieſer blaue Schatten alſo nichts Subjectives
ſeyn konnte, daruͤber blieb mir nun weiter kein Zweifel.
Die Farbe ſtand da, außer mir, ſelbſtſtaͤndig, mein
Subject hatte darauf keinen Einfluß. Was aber war
es? und da ſie nun einmal da war, wodurch konnte ſie
entſtehen?
Ich blickte noch einmal hin und umher, und ſiehe!
die Aufloͤſung des Raͤthſels kuͤndigte ſich mir an. Was
kann es ſeyn, ſagte ich zu mir ſelber, als der Wieder¬
ſchein des blauen Himmels, den der Schatten herablockt,
und der Neigung hat, im Schatten ſich anzuſiedeln?
Denn es ſteht geſchrieben: die Farbe iſt dem Schatten
verwandt, ſie verbindet ſich gerne mit ihm, und erſcheint
uns gerne in ihm und durch ihn, ſobald der Anlaß nur
gegeben iſt.
Die folgenden Tage gewaͤhrten Gelegenheit, meine
Hypotheſe wahr zu machen. Ich ging in den Feldern,
es war kein blauer Himmel, die Sonne ſchien durch
[79] Duͤnſte, einem Heerrauch aͤhnlich, und verbreitete uͤber
den Schnee einen durchaus gelben Schein; ſie wirkte
maͤchtig genug, um entſchiedene Schatten zu werfen,
und es haͤtte in dieſem Fall, nach Goethe's Lehre, das
friſcheſte Blau entſtehen muͤſſen. Es entſtand aber nicht,
die Schatten blieben grau.
Am naͤchſten Vormittage, bey bewoͤlkter Atmoſphaͤre,
blickte die Sonne von Zeit zu Zeit herdurch, und warf
auf dem Schnee entſchiedene Schatten. Allein ſie waren
ebenfalls nicht blau, ſondern grau. In beyden Faͤllen
fehlte der Wiederſchein des blauen Himmels, um dem
Schatten ſeine Faͤrbung zu geben.
Ich hatte demnach eine hinreichende Überzeugung
gewonnen, daß Goethe's Ableitung des mehrgedachten
Phaͤnomens von der Natur nicht als wahr beſtaͤtiget
werde, und daß ſeine dieſen Gegenſtand behandelnden
Paragraphen der Farbenlehre einer Umarbeitung dringend
beduͤrften.
Etwas Ähnliches begegnete mir mit den farbigen
Doppelſchatten, die mit Huͤlfe eines Kerzenlichtes Mor¬
gens fruͤh bey Tagesanbruch, ſo wie Abends in der
erſten Daͤmmerung, deßgleichen bey hellem Mondſchein,
beſonders ſchoͤn geſehen werden. Daß hiebey der eine
Schatten, naͤmlich der vom Kerzenlichte erleuchtete, gelbe,
objectiver Art ſey und in die Lehre von den truͤben Mit¬
teln gehoͤre, hat Goethe nicht ausgeſprochen, obgleich es
ſo iſt; den andern, vom ſchwachen Tages- oder Mond¬
[80] lichte erleuchteten, blaͤulichen, oder blaͤulich-gruͤnen Schat¬
ten aber, erklaͤrt er fuͤr ſubjectiv, fuͤr eine geforderte
Farbe, die durch den auf dem weißen Papier verbreite¬
ten gelben Schein des Kerzenlichtes im Auge hervorge¬
rufen werde.
Dieſe Lehre fand ich nun, bey ſorgfaͤltigſter Beob¬
achtung des Phaͤnomens, gleichfalls nicht durchaus be¬
ſtaͤtigt; es wollte mir vielmehr erſcheinen, als ob das
von außen hereinwirkende ſchwache Tages- oder Mond¬
licht einen blaͤulich faͤrbenden Ton bereits mit ſich bringe,
der denn, theils durch den Schatten, theils durch den
fordernden gelben Schein des Kerzenlichtes verſtaͤrkt
werde, und daß alſo auch hiebey eine objective Grund¬
lage Statt finde und zu beachten ſey.
Daß das Licht des anbrechenden Tages, wie des
Mondes, einen bleichen Schein werfe, iſt bekannt. Ein
bey Tagesanbruch oder im Mondſchein angeblicktes Ge¬
ſicht erſcheint blaß, wie genugſame Erfahrungen beſtaͤti¬
gen. Auch Shakſpeare ſcheint dieſes gekannt zu ha¬
ben, denn jener merkwuͤrdigen Stelle, wo Romeo bey
Tagesanbruch von ſeiner Geliebten geht, und in freyer
Luft Eins dem Andern ploͤtzlich ſo bleich erſcheint, liegt
dieſe Wahrnehmung ſicher zum Grunde. Die bleich¬
machende Wirkung eines ſolchen Lichtes aber waͤre ſchon
genugſame Andeutung, daß es einen gruͤnlichen oder
blaͤulichen Schein mit ſich fuͤhren muͤſſe, indem ein ſol¬
ches Licht dieſelbige Wirkung thut, wie ein Spiegel aus
[81] blaͤulichem oder gruͤnlichem Glaſe. Doch ſtehe noch Fol¬
gendes zu weiterer Beſtaͤtigung.
Das Licht, vom Auge des Geiſtes geſchaut, mag
als durchaus weiß gedacht werden; allein das empiriſche,
vom koͤrperlichen Auge wahrgenommene Licht wird ſelten
in ſolcher Reinheit geſehen; vielmehr hat es, durch
Duͤnſte oder ſonſt modificirt, die Neigung, ſich entweder
fuͤr die Plus- oder Minus-Seite zu beſtimmen, und
entweder mit einem gelblichen oder blaͤulichen Ton zu
erſcheinen. Das unmittelbare Sonnenlicht neigt ſich in
ſolchem Fall entſchieden zur Plus-Seite, zum gelblichen,
das Kerzenlicht gleichfalls; das Licht des Mondes aber,
ſo wie das bey der Morgen- und Abenddaͤmmerung
wirkende Tageslicht, welches beydes keine directe, ſondern
reflectirte Lichter ſind, die uͤberdieß durch Daͤmmerung
und Nacht modificirt werden, neigen ſich auf die paſſive,
auf die Minus-Seite und kommen zum Auge in einem
blaͤulichen Ton.
Man lege in der Daͤmmerung, oder bey Monden¬
ſchein, einen weißen Bogen Papier ſo, daß deſſen eine
Haͤlfte vom Mond oder Tageslichte, deſſen andere aber
vom Kerzenlichte beſchienen werde, ſo wird die eine
Haͤlfte einen blaͤulichen, die andere einen gelblichen
Ton haben, und ſo werden beyde Lichter, ohne hin¬
zugekommenen Schatten, und ohne ſubjective Stei¬
gerung, bereits auf der activen oder paſſiven Seite ſich
befinden.
II. 6[82]
Das Reſultat meiner Beobachtungen ging demnach
dahin, daß auch Goethe's Lehre von den farbigen Dop¬
pelſchatten nicht durchaus richtig ſey, daß bey dieſem
Phaͤnomen mehr Objectives einwirke als von ihm be¬
obachtet worden, und daß das Geſetz der ſubjectiven
Forderung dabey nur als etwas Secundaͤres in Betracht
komme.
Waͤre das menſchliche Auge uͤberall ſo empfindlich
und empfaͤnglich, daß es bey der leiſeſten Beruͤhrung
von irgend einer Farbe ſogleich disponirt waͤre die ent¬
gegengeſetzte hervorzubringen; ſo wuͤrde das Auge ſtets
eine Farbe in die andere uͤbertragen, und es wuͤrde das
unangenehmſte Gemiſch entſtehen.
Dieß iſt aber gluͤcklicher Weiſe nicht ſo, vielmehr
iſt ein geſundes Auge ſo organiſirt, daß es die gefor¬
derten Farben entweder gar nicht bemerkt, oder, darauf
aufmerkſam gemacht, ſie doch nur mit Muͤhe hervor¬
bringt; ja daß dieſe Operation ſogar einige Übung und
Geſchicklichkeit verlangt, ehe ſie, ſelbſt unter guͤnſtigen
Bedingungen, gelingen will.
Das eigentlich Charakteriſtiſche ſolcher ſubjectiven
Erſcheinungen, daß naͤmlich das Auge zu ihrer Hervor¬
bringung gewiſſermaßen einen maͤchtigen Reiz verlangt,
und daß, wenn ſie entſtanden, ſie keine Staͤtigkeit ha¬
ben, ſondern fluͤchtige, ſchnell verſchwindende Weſen
ſind, iſt bey den blauen Schatten im Schnee, ſo wie
bey den farbigen Doppelſchatten, von Goethe zu ſehr
[83] außer Acht gelaſſen; denn in beyden Faͤllen iſt von einer
kaum merklich tingirten Flaͤche die Rede, und in beyden
Faͤllen ſteht die geforderte Farbe beym erſten Hinblick ſo¬
gleich entſchieden da.
Aber Goethe, bey ſeinem Feſthalten am einmal er¬
kannten Geſetzlichen, und bey ſeiner Maxime, es ſelbſt
in ſolchen Faͤllen vorauszuſetzen, wo es ſich zu verber¬
gen ſcheine, konnte ſehr leicht verfuͤhrt werden eine
Syntheſe zu weit greifen zu laſſen, und ein liebgewon¬
nenes Geſetz auch da zu erblicken, wo ein ganz anderes
wirkte.
Als er nun heute ſeine Farbenlehre zur Erwaͤhnung
brachte, und ſich erkundigte, wie es mit dem beſproche¬
nen Compendium ſtehe, haͤtte ich die ſo eben entwickelten
Puncte gerne verſchweigen moͤgen, denn ich fuͤhlte mich
in einiger Verlegenheit, wie ich ihm die Wahrheit ſagen
ſollte, ohne ihn zu verletzen.
Allein da es mir mit dem Compendium wirklich ernſt
war, ſo mußten, ehe ich in dem Unternehmen ſicher vor¬
ſchreiten konnte, zuvor alle Irrthuͤmer beſeitigt und alle
Mißverſtaͤndniſſe beſprochen und gehoben ſeyn.
Es blieb mir daher nichts uͤbrig, als voll Vertrauen
ihm zu bekennen, daß ich nach ſorgfaͤltigen Beobachtun¬
gen mich in dem Fall befinde, in einigen Puncten von
ihm abweichen zu muͤſſen, indem ich ſowohl ſeine Ablei¬
tung der blauen Schatten im Schnee, als auch ſeine
6*[84] Lehre von den farbigen Doppelſchatten, nicht durchaus
beſtaͤtiget finde.
Ich trug ihm meine Beobachtungen und Gedanken
uͤber dieſe Puncte vor; allein da es mir nicht gegeben
iſt, Gegenſtaͤnde im muͤndlichen Geſpraͤch mit einiger
Klarheit umſtaͤndlich zu entwickeln, ſo beſchraͤnkte ich
mich darauf, bloß die Reſultate meines Gewahr¬
werdens hinzuſtellen, ohne in eine naͤhere Eroͤrterung
des Einzelnen einzugehen, die ich mir ſchriftlich vor¬
behielt.
Ich hatte aber kaum zu reden angefangen, als
Goethe's erhaben-heiteres Weſen ſich verfinſterte, und
ich nur zu deutlich ſah, daß er meine Einwendungen
nicht billige.
Freylich, ſagte ich, wer gegen Euer Excellenz Recht
haben will, muß fruͤh aufſtehen; allein doch kann es
ſich fuͤgen, daß der Muͤndige ſich uͤbereilt und der Un¬
muͤndige es findet.
„Als ob Ihr es gefunden haͤttet! antwortete Goethe
etwas ironiſch ſpoͤttelnd; mit Eurer Idee des farbigen
Lichtes gehoͤrt Ihr in das vierzehnte Jahrhundert, und
im Übrigen ſteckt Ihr in der tiefſten Dialektik. Das
Einzige, was an Euch Gutes iſt, beſteht darin, daß
Ihr wenigſtens ehrlich genug ſeyd, um grade herauszu¬
ſagen, wie Ihr denket.“
„Es geht mir mit meiner Farbenlehre, fuhr er dar¬
auf etwas heiterer und milder fort, gerade wie mit der
[85] chriſtlichen Religion. Man glaubt eine Weile treue
Schuͤler zu haben, und ehe man es ſich verſieht, wei¬
chen ſie ab und bilden eine Sekte. Sie ſind ein Ketzer
wie die anderen auch, denn Sie ſind der erſte nicht, der
von mir abgewichen iſt. Mit den trefflichſten Menſchen
bin ich wegen beſtrittener Puncte in der Farbenlehre
auseinander gekommen. Mit *** wegen ..... und mit
*** wegen ....“ Er nannte mir hier einige bedeu¬
tende Namen.
Wir hatten indeß abgeſpeiſt, das Geſpraͤch ſtockte,
Goethe ſtand auf und ſtellte ſich ans Fenſter. Ich trat
zu ihm und druͤckte ihm die Hand, denn, wie er auch
ſchalt, ich liebte ihn, und dann hatte ich das Gefuͤhl,
daß das Recht auf meiner Seite und daß er der lei¬
dende Theil ſey.
Es waͤhrte auch nicht lange, ſo ſprachen und ſcherz¬
ten wir wieder uͤber gleichguͤltige Dinge; doch als ich
ging und ihm ſagte, daß er meine Widerſpruͤche zu
beſſerer Pruͤfung ſchriftlich haben ſolle, und daß bloß
die Ungeſchicklichkeit meines muͤndlichen Vortrages Schuld
ſey, warum er mir nicht Recht gebe, konnte er nicht
umhin, Einiges von Ketzern und Ketzerey mir noch in
der Thuͤre halb lachend halb ſpottend zuzuwerfen.
[86]
Wenn es nun problematiſch erſcheinen mag, daß
Goethe in ſeiner Farbenlehre nicht gut Widerſpruͤche
vertragen konnte, waͤhrend er bey ſeinen poetiſchen Wer¬
ken ſich immer durchaus laͤßlich erwies und jede gegruͤn¬
dete Einwendung mit Dank aufnahm, ſo loͤſet ſich viel¬
leicht das Raͤthſel, wenn man bedenkt, daß ihm, als
Poet, von außen her die voͤlligſte Genugthuung zu Theil
ward, waͤhrend er bey der Farbenlehre, dieſem groͤßten
und ſchwierigſten aller ſeiner Werke, nichts als Tadel
und Mißbilligung zu erfahren hatte. Ein halbes Leben
hindurch toͤnte ihm der unverſtaͤndigſte Widerſpruch von
allen Seiten entgegen, und ſo war es denn wohl natuͤr¬
lich, daß er ſich immer in einer Art von gereiztem krie¬
geriſchen Zuſtand, und zu leidenſchaftlicher Oppoſition
ſtets geruͤſtet, befinden mußte.
Es ging ihm in Bezug auf ſeine Farbenlehre,
wie einer guten Mutter, die ein vortreffliches Kind
nur deſto mehr liebt, je weniger es von Andern er¬
kannt wird.
„Auf Alles was ich als Poet geleiſtet habe, pflegte
er wiederholt zu ſagen, bilde ich mir gar nichts ein.
Es haben treffliche Dichter mit mir gelebt, es lebten
noch Trefflichere vor mir, und es werden ihrer nach
mir ſeyn. Daß ich aber in meinem Jahrhundert in der
ſchwierigen Wiſſenſchaft der Farbenlehre der Einzige
bin, der das Rechte weiß, darauf thue ich mir etwas
[87] zu gute, und ich habe daher ein Bewußtſeyn der Su¬
perioritaͤt uͤber Viele.“
Mit Goethe zu Tiſch. Er iſt froh uͤber die Been¬
digung der Wanderjahre, die er morgen abſenden will.
In der Farbenlehre tritt er etwas heruͤber zu meiner
Meinung, hinſichtlich der blauen Schatten im Schnee.
Er ſpricht von ſeiner italieniſchen Reiſe, die er gleich
wieder vorgenommen.
„Es geht uns wie den Weibern, ſagte er; wenn ſie
gebaͤren, verreden ſie es wieder beym Manne zu
ſchlafen, und ehe man ſich's verſieht, ſind ſie wieder
ſchwanger.“
Über den vierten Band ſeines Lebens; in welcher
Art er ihn behandeln will, und daß dabey meine No¬
tizen vom Jahre 1824, uͤber das bereits Ausgefuͤhrte
und Schematiſirte, ihm gute Dienſte thuen.
Er lieſet mir das Tagebuch von Goͤttling vor,
der mit großer Liebenswuͤrdigkeit von fruͤheren jenai¬
ſchen Fechtmeiſtern handelt. Goethe ſpricht viel Gutes
von Goͤttling.
[88]
„Ich habe unter meinen Papieren ein Blatt gefun¬
den, ſagte Goethe heute, wo ich die Baukunſt eine er¬
ſtarrte Muſik nenne. Und wirklich, es hat etwas; die
Stimmung, die von der Baukunſt ausgeht, kommt dem
Effect der Muſik nahe.“
„Praͤchtige Gebaͤude und Zimmer ſind fuͤr Fuͤrſten
und Reiche. Wenn man darin lebt, fuͤhlt man ſich be¬
ruhigt, man iſt zufrieden und will nichts weiter.“
„Meiner Natur iſt es ganz zuwider. Ich bin in
einer praͤchtigen Wohnung, wie ich ſie in Carlsbad ge¬
habt, ſogleich faul und unthaͤtig. Geringe Wohnung
dagegen, wie dieſes ſchlechte Zimmer worin wir ſind,
ein wenig unordentlich ordentlich, ein wenig zigeuner¬
haft, iſt fuͤr mich das Rechte; es laͤßt meiner inneren
Naur volle Freyheit thaͤtig zu ſeyn und aus mir
ſelber zu ſchaffen.“
Wir ſprachen von Schillers Briefen und dem Leben,
das ſie mit einander gefuͤhrt, und wie ſie ſich taͤglich
zu gegenſeitigen Arbeiten gehetzt und getrieben. Auch
an dem Fauſt, ſagte ich, ſchien Schiller ein großes
Intereſſe zu nehmen; es iſt huͤbſch wie er Sie treibt,
und ſehr liebenswuͤrdig wie er ſich durch ſeine Idee verlei¬
ten laͤßt, ſelber am Fauſt fortzuerfinden. Ich habe dabey
bemerkt, daß etwas Voreilendes in ſeiner Natur lag.
„Sie haben Recht, ſagte Goethe, er war ſo, wie
alle Menſchen, die zu ſehr von der Idee ausgehen.
[89] Auch hatte er keine Ruhe und konnte nie fertig werden,
wie Sie an den Briefen uͤber den Wilhelm Meiſter
ſehen, den er bald ſo und bald anders haben will. Ich
hatte nur immer zu thun, daß ich feſt ſtand und ſeine
wie meine Sachen von ſolchen Einfluͤſſen frey hielt und
ſchuͤtzte.“
Ich habe dieſen Morgen, ſagte ich, ſeine nadoweſſi¬
ſche Todtenklage geleſen, und mich gefreut, wie das Ge¬
dicht ſo vortrefflich iſt.
„Sie ſehen, antwortete Goethe, wie Schiller ein
großer Kuͤnſtler war, und wie er auch das Objective zu
faſſen wußte, wenn es ihm als Überlieferung vor Augen
kam. Gewiß die nadoweſſiſche Todtenklage gehoͤrt zu
ſeinen allerbeſten Gedichten, und ich wollte nur, daß
er ein Dutzend in dieſer Art gemacht haͤtte. Aber koͤn¬
nen Sie denken, daß ſeine naͤchſten Freunde ihn dieſes
Gedichtes wegen tadelten, indem ſie meinten, es trage nicht
genug von ſeiner Idealitaͤt? — Ja, mein Guter, man
hat von ſeinen Freunden zu leiden gehabt! — Tadelte
doch Humboldt auch an meiner Dorothea, daß ſie
bey dem Überfall der Krieger zu den Waffen gegriffen
und drein geſchlagen habe! Und doch, ohne jenen Zug,
iſt ja der Character des außerordentlichen Maͤdchens,
wie ſie zu dieſer Zeit und zu dieſen Zuſtaͤnden recht
war, ſogleich vernichtet, und ſie ſinkt in die Reihe des
Gewoͤhnlichen herab. — Aber Sie werden bey weite¬
rem Leben immer mehr finden, wie wenige Menſchen
[90] faͤhig ſind, ſich auf den Fuß deſſen zu ſetzen, was ſeyn
muß, und daß vielmehr Alle nur immer das loben und
das hervorgebracht wiſſen wollen, was ihnen ſelber ge¬
maͤß iſt. Und das waren die Erſten und Beſten, und
Sie moͤgen nun denken, wie es um die Meinungen der
Maſſe ausſah, und wie man eigentlich immer allein
ſtand.“ —
„Haͤtte ich in der bildenden Kunſt und in den Na¬
turſtudien kein Fundament gehabt, ſo haͤtte ich mich in
der ſchlechten Zeit und deren taͤglichen Einwirkungen
auch ſchwerlich oben gehalten; aber das hat mich ge¬
ſchuͤtzt, ſo wie ich auch Schillern von dieſer Seite zu
Huͤlfe kam.“
„Je hoͤher ein Menſch, ſagte Goethe, deſto mehr
ſteht er unter dem Einfluß der Daͤmonen, und er muß
nur immer aufpaſſen, daß ſein leitender Wille nicht auf
Abwege gerathe.“
„So waltete bey meiner Bekanntſchaft mit Schil¬
lern durchaus etwas Daͤmoniſches ob; wir konnten
fruͤher, wir konnten ſpaͤter zuſammengefuͤhrt werden;
aber daß wir es grade in der Epoche wurden, wo ich
die italieniſche Reiſe hinter mir hatte, und Schiller der
[91] philoſophiſchen Speculationen muͤde zu werden anfing,
war von Bedeutung und fuͤr Beyde von groͤßtem
Erfolg.“
„Ich will Ihnen ein politiſches Geheimniß entdecken,
ſagte Goethe heute bey Tiſch, das ſich uͤber kurz oder
lang offenbaren wird. Capodiſtrias kann ſich an der
Spitze der griechiſchen Angelegenheiten auf die Laͤnge
nicht halten, denn ihm fehlet eine Qualitaͤt, die zu einer
ſolchen Stelle unentbehrlich iſt: er iſt kein Soldat.
Wir haben aber kein Beyſpiel, daß ein Cabinetsmann
einen revolutionairen Staat haͤtte organiſiren und Mili¬
taͤr und Feldherren ſich haͤtte unterwerfen koͤnnen. Mit
dem Saͤbel in der Fauſt, an der Spitze einer Armee,
mag man befehlen und Geſetze geben, und man kann
ſicher ſeyn, daß man gehorcht werde; aber ohne dieſes
iſt es ein mißliches Ding. Napoleon, ohne Soldat
zu ſeyn, haͤtte nie zur hoͤchſten Gewalt emporſteigen koͤn¬
nen, und ſo wird ſich auch Capodiſtrias als Erſter auf die
Dauer nicht behaupten, vielmehr wird er ſehr bald eine
ſecundaͤre Rolle ſpielen. Ich ſage Ihnen dieſes voraus,
und Sie werden es kommen ſehen; es liegt in der Na¬
tur der Dinge und iſt nicht anders moͤglich.“
[92]
Goethe ſprach darauf viel uͤber die Franzoſen, beſon¬
ders uͤber Couſin, Villemain und Guizot. „Die
Einſicht, Umſicht und Durchſicht dieſer Maͤnner, ſagte
er, iſt groß; ſie verbinden vollkommene Kenntniß des
Vergangenen, mit dem Geiſt des neunzehnten Jahrhun¬
derts, welches denn freylich Wunder thut.“
Von dieſen kamen wir auf die neueſten franzoͤſiſchen
Dichter und auf die Bedeutung von claſſiſch und
romantiſch. „Mir iſt ein neuer Ausdruck eingefallen,
ſagte Goethe, der das Verhaͤltniß nicht uͤbel bezeichnet.
Das Claſſiſche nenne ich das Geſunde, und das Ro¬
mantiſche das Kranke. Und da ſind die Nibelungen
claſſiſch wie der Homer, denn beyde ſind geſund und
tuͤchtig. Das meiſte Neuere iſt nicht romantiſch, weil
es neu, ſondern weil es ſchwach, kraͤnklich und krank iſt,
und das Alte iſt nicht claſſiſch, weil es alt, ſondern
weil es ſtark, friſch, froh und geſund iſt. Wenn wir
nach ſolchen Qualitaͤten Claſſiſches und Romantiſches
unterſcheiden, ſo werden wir bald im Reinen ſeyn.“
Das Geſpraͤch lenkte ſich auf Bérangers Gefan¬
genſchaft. „Es geſchieht ihm ganz Recht, ſagt Goethe.
Seine letzten Gedichte ſind wirklich ohne Zucht und Ord¬
nung, und er hat gegen Koͤnig, Staat und friedlichen
Buͤrgerſinn ſeine Strafe vollkommen verwirkt. Seine
fruͤheren Gedichte dagegen ſind heiter und harmlos, und
ganz geeignet, einen Zirkel froher gluͤcklicher Menſchen
[93] zu machen, welches denn wohl das Beſte iſt, was man
von Liedern ſagen kann.“
Ich bin gewiß, verſetzte ich, daß ſeine Umgebung
nachtheilig auf ihn gewirkt hat, und daß er, um ſeinen
revolutionairen Freunden zu gefallen, manches geſagt
hat, was er ſonſt nicht geſagt haben wuͤrde. Euer Ex¬
cellenz ſollten Ihr Schema ausfuͤhren und das Capitel
von den Influenzen ſchreiben, der Gegenſtand iſt wich¬
tiger und reicher, jemehr man daruͤber nachdenkt.
„Er iſt nur zu reich, ſagte Goethe, denn am Ende
iſt Alles Influenz, inſofern wir es nicht ſelber ſind.“
Man hat nur darauf zu ſehen, ſagte ich, ob eine
Influenz hinderlich oder foͤrderlich, ob ſie unſerer Natur
angemeſſen und beguͤnſtigend, oder ob ſie ihr zuwider iſt.
„Das iſt es freylich, ſagte Goethe, worauf es an¬
kommt; aber das iſt auch eben das Schwere, daß un¬
ſere beſſere Natur ſich kraͤftig durchhalte und den Daͤ¬
monen nicht mehr Gewalt einraͤume als billig.“
Beym Nachtiſch ließ Goethe einen bluͤhenden Lorbeer
und eine japaneſiſche Pflanze vor uns auf den Tiſch
ſtellen. Ich bemerkte, daß von beyden Pflanzen eine
verſchiedene Stimmung ausgehe, daß der Anblick des
Lorbeers heiter, leicht, milde und ruhig mache, die ja¬
paneſiſche Pflanze dagegen barbariſch melancholiſch wirke.
„Sie haben nicht Unrecht, ſagte Goethe, und daher
kommt es denn auch, daß man der Pflanzenwelt eines
Landes einen Einfluß auf die Gemuͤthsart ſeiner Be¬
[94] wohner zugeſtanden hat. Und gewiß! wer ſein Leben¬
lang von hohen ernſten Eichen umgeben waͤre, muͤßte
ein anderer Menſch werden, als wer taͤglich unter luf¬
tigen Birken ſich erginge. Nur muß man bedenken,
daß die Menſchen im Allgemeinen nicht ſo ſenſibler Na¬
tur ſind als wir andern, und daß ſie im Ganzen kraͤf¬
tig vor ſich hinleben, ohne den aͤußeren Eindruͤcken ſo
viele Gewalt einzuraͤumen. Aber ſo viel iſt gewiß, daß
außer dem Angeborenen der Raçe, ſowohl Boden und
Clima, als Nahrung und Beſchaͤftigung einwirkt, um
den Character eines Volkes zu vollenden. Auch iſt zu
bedenken, daß die fruͤheſten Staͤmme meiſtentheils von
einem Boden Beſitz nahmen, wo es ihnen gefiel, und
wo alſo die Gegend mit dem angeborenen Character der
Menſchen bereits in Harmonie ſtand.“
„Sehen Sie ſich einmal um, fuhr Goethe fort, hin¬
ter Ihnen auf dem Pult liegt ein Blatt, welches ich
zu betrachten bitte.“ Dieſes blaue Briefcouvert? ſagte
ich. „Ja, ſagte Goethe. — Nun, was ſagen Sie zu
der Handſchrift? Iſt das nicht ein Menſch, dem es groß
und frey zu Sinne war, als er die Adreſſe ſchrieb? —
Wem moͤchten Sie die Hand zutrauen?“
Ich betrachtete das Blatt mit Neigung. Die Zuͤge
der Handſchrift waren ſehr frey und grandios. Merck
koͤnnte ſo geſchrieben haben, ſagte ich. „Nein, ſagte
Goethe, der war nicht edel und poſitiv genug. Es iſt
von Zelter! — Papier und Feder hat ihn bey dieſem
[95] Couvert beguͤnſtigt, ſo daß die Schrift ganz ſeinen gro¬
ßen Character ausdruͤckt. Ich will das Blatt in meine
Sammlung von Handſchriften legen.“
Mit Oberbaudirector Coudray bey Goethe zu
Tiſch. — Coudray erzaͤhlte von einer Treppe im Gro߬
herzoglichen Schloß zu Belvedere, die man ſeit Jahren
hoͤchſt unbequem gefunden, an deren Verbeſſerung der
alte Herrſcher immer gezweifelt habe, und die nun un¬
ter der Regierung des jungen Fuͤrſten vollkommen
gelinge.
Auch von dem Fortgange verſchiedener Chauſſee-
Bauten gab Coudray Nachricht, und daß man den Weg
uͤber die Berge nach Blankenhain, wegen zwey Fuß
Steigung auf die Ruthe, ein wenig haͤtte umleiten
muͤſſen, wo man doch an einigen Stellen noch achtzehn
Zoll auf die Ruthe habe.
Ich fragte Coudray, wie viel Zoll die eigentliche
Norm ſey, welche man beym Chauſſee-Bau in huͤge¬
ligen Gegenden zu erreichen trachte. „Zehn Zoll auf
die Ruthe, antwortete er, da iſt es bequem.“ Aber,
ſagte ich, wenn man von Weimar aus irgend eine
Straße nach Oſten, Suͤden, Weſten oder Norden faͤhrt,
[96] ſo findet man ſehr bald Stellen, wo die Chauſſee weit
mehr als zehn Zoll Steigung auf die Ruthe haben
moͤchte. „Das ſind kurze, unbedeutende Strecken, ant¬
wortete Coudray, und dann geht man oft beym Chauſſee-
Bau uͤber ſolche Stellen in der Naͤhe eines Ortes ab¬
ſichtlich hin, um demſelben ein kleines Einkommen fuͤr
Vorſpann nicht zu nehmen.“ Wir lachten uͤber dieſe
redliche Schelmerey. „Und im Grunde, fuhr Coudray
fort, iſt's auch eine Kleinigkeit; die Reiſewagen gehen
uͤber ſolche Stellen leicht hinaus, und die Frachtfahrer
ſind einmal an einige Plackerey gewoͤhnt. Zudem, da
ſolcher Vorſpann gewoͤhnlich bey Gaſtwirthen genommen
wird, ſo haben die Fuhrleute zugleich Gelegenheit ein¬
mal zu trinken, und ſie wuͤrden es einem nicht danken,
wenn man ihnen den Spaß verduͤrbe.“
„Ich moͤchte wiſſen, ſagte Goethe, ob es in ganz
ebenen flachen Gegenden nicht ſogar beſſer waͤre, die
grade Straßen-Linie dann und wann zu unterbrechen,
und die Chauſſee kuͤnſtlich hier und dort ein wenig ſtei¬
gen und fallen zu laſſen; es wuͤrde das bequeme Fahren
nicht hindern, und man gewoͤnne, daß die Straße we¬
gen beſſerem Abfluß des Regenwaſſers immer trocken
waͤre.“ Das ließe ſich wohl machen, antwortete
Coudray, und wuͤrde ſich hoͤchſt wahrſcheinlich ſehr nuͤtz¬
lich erweiſen.
Coudray brachte darauf eine Schrift hervor, den
Entwurf einer Inſtruction fuͤr einen jungen Architekten,
[97] den die Ober-Baubehoͤrde zu ſeiner weiteren Ausbildung
nach Paris zu ſchicken im Begriff ſtand. Er las die
Inſtruktion, ſie ward von Goethe gut befunden und ge¬
billigt. Goethe hatte beym Miniſterium die noͤthige
Unterſtuͤtzung ausgewirkt, man freute ſich, daß die Sache
gelungen, und ſprach uͤber die Vorſichtsmaßregeln, die
man nehmen wolle, damit dem jungen Manne das
Geld gehoͤrig zu gute komme, und er auch ein Jahr
damit ausreiche. Bey ſeiner Zuruͤckkunft hatte man die
Abſicht, ihn an der neu zu errichtenden Gewerkſchule
als Lehrer anzuſtellen, wodurch denn einem talentreichen
jungen Mann alſobald ein angemeſſener Wirkungskreis
eroͤffnet ſey. Es war alles gut und ich gab dazu mei¬
nen Segen im Stillen.
Bauriſſe, Vorlegeblaͤtter fuͤr Zimmerleute von Schin¬
kel wurden darauf vorgezeigt und betrachtet. Coudray
fand die Blaͤtter bedeutend und zum Gebrauch fuͤr die
kuͤnftige Gewerkſchule vollkommen geeignet.
Man ſprach von Bauten, vom Schall und wie er
zu vermeiden, und von großer Feſtigkeit der Gebaͤude
der Jeſuiten. „In Meſſina, ſagte Goethe, waren alle
Gebaͤude vom Erdbeben zuſammengeruͤttelt, aber die
Kirche und das Kloſter der Jeſuiten ſtanden ungeruͤhrt,
als waͤren ſie geſtern gebaut. Es war nicht die Spur
an ihnen zu bemerken, daß die Erderſchuͤtterung den
geringſten Effect auf ſie gehabt.“
II. 7[98]
Von Jeſuiten und deren Reichthuͤmern lenkte ſich
das Geſpraͤch auf Catholiken und die Emancipation der
Irlaͤnder. „Man ſieht, ſagte Coudray, die Emancipa¬
tion wird zugeſtanden werden, aber das Parlament wird
die Sache ſo verklauſuliren, daß dieſer Schritt auf keine
Weiſe fuͤr England gefaͤhrlich werden kann.“
„Bey den Catholiken, ſagte Goethe, ſind alle Vor¬
ſichtsmaßregeln unnuͤtz. Der paͤbſtliche Stuhl hat In¬
tereſſen, woran wir nicht denken, und Mittel, ſie im
Stillen durchzufuͤhren, wovon wir keinen Begriff haben.
Saͤße ich jetzt im Parlament, ich wuͤrde auch die Eman¬
cipation nicht hindern, aber ich wuͤrde zu Protocoll neh¬
men laſſen, daß wenn der erſte Kopf eines bedeutenden
Proteſtanten durch die Stimme eines Catholiken falle,
man an mich denken moͤge.“
Das Geſpraͤch lenkte ſich auf die neueſte Literatur
der Franzoſen, und Goethe ſprach abermals mit Bewun¬
derung von den Vorleſungen der Herren Couſin,
Villemain und Guizot. „Statt des Voltairiſchen
leichten oberflaͤchlichen Weſens, ſagte er, iſt bey ihnen
eine Gelehrſamkeit, wie man ſie fruͤher nur bey Deut¬
ſchen fand. Und nun ein Geiſt, ein Durchdringen und
Auspreſſen des Gegenſtandes, herrlich! es iſt als ob ſie
die Kelter traͤten. Sie ſind alle drey vortrefflich, aber
dem Herrn Guizot moͤchte ich den Vorzug geben, er iſt
mir der liebſte.“
[99]
Wir ſprachen darauf uͤber Gegenſtaͤnde der Weltge¬
ſchichte, und Goethe aͤußerte Folgendes uͤber Regenten.
„Um popular zu ſeyn, ſagte er, braucht ein großer
Regent weiter keine Mittel als ſeine Groͤße. Hat er ſo
geſtrebt und gewirkt, daß ſein Staat im Innern gluͤck¬
lich und nach Außen geachtet iſt, ſo mag er mit allen
ſeinen Orden im Staatswagen, oder er mag im Baͤren¬
felle und die Cigarre im Munde auf einer ſchlechten
Troſchke fahren, es iſt alles gleich, er hat einmal die
Liebe ſeines Volkes und genießt immer dieſelbige Achtung.
Fehlt aber einem Fuͤrſten die perſoͤnliche Groͤße, und
weiß er nicht durch gute Thaten bey den Seinen ſich in
Liebe zu ſetzen, ſo muß er auf andere Vereinigungs¬
mittel denken, und da giebt es kein beſſeres und wirk¬
ſameres, als die Religion, und den Mitgenuß und die
Mituͤbung derſelbigen Gebraͤuche. Sonntaͤglich in der
Kirche erſcheinen, auf die Gemeinde herabſehen, und von
ihr ein Stuͤndchen ſich anblicken laſſen, iſt das trefflichſte
Mittel zur Popularitaͤt, das man jedem jungen Regen¬
ten anrathen moͤchte, und das, bey aller Groͤße, ſelbſt
Napoleon nicht verſchmaͤhet hat.“
Das Geſpraͤch wendete ſich nochmals zu den Catho¬
liken und wie groß der Geiſtlichen Einfluß und Wirken
im Stillen ſey. Man erzaͤhlte von einem jungen
Schriftſteller in Hanau, der vor kurzem in einer Zeit¬
ſchrift, die er herausgegeben, ein wenig heiter uͤber den
Roſenkranz geſprochen. Dieſe Zeitſchrift ſey ſogleich ein¬
7 *[100] gegangen, und zwar durch den Einfluß der Geiſtlichen
in ihren verſchiedenen Gemeinden. „Von meinem Wer¬
ther, ſagte Goethe, erſchien ſehr bald eine italieniſche
Überſetzung in Mayland. Aber von der ganzen Auflage
war in kurzem auch nicht ein einziges Exemplar mehr
zu ſehen. Der Biſchof war dahinter gekommen und
hatte die ganze Edition von den Geiſtlichen in den Ge¬
meinden aufkaufen laſſen. Es verdroß mich nicht, ich
freute mich vielmehr uͤber den klugen Herrn, der ſogleich
einſah, daß der Werther fuͤr die Catholiken ein ſchlech¬
tes Buch ſey, und ich mußte ihn loben, daß er auf
der Stelle die wirkſamſten Mittel ergriffen, es ganz im
Stillen wieder aus der Welt zu ſchaffen.“
Goethe erzaͤhlte mir, daß er vor Tiſch nach Belve¬
dere gefahren ſey, um Coudray's neue Treppe im
Schloß in Augenſchein zu nehmen, die er vortrefflich
gefunden. Auch ſagte er mir, daß ein großer verſtei¬
nerter Klotz angekommen, den er mir zeigen wolle.
„Solche verſteinerte Staͤmme, ſagte er, finden ſich
unter dem einundfunfzigſten Grade ganz herum bis nach
Amerika, wie ein Erdguͤrtel. Man muß immer mehr
[101] erſtaunen! Von der fruͤheren Organiſation der Erde hat
man gar keinen Begriff, und ich kann es Herrn von
Buch nicht verdenken, wenn er die Menſchen endoctri¬
nirt, um ſeine Hypotheſen zu verbreiten. Er weiß
nichts, aber niemand weiß mehr, und da iſt es denn
am Ende einerley was gelehret wird, wenn es nur eini¬
germaßen einen Anſchein von Vernunft hat.“
Von Zelter gruͤßte mich Goethe, welches mir Freude
machte. Dann ſprachen wir von ſeiner italieniſchen
Reiſe, und er ſagte mir, daß er in einem ſeiner Briefe
aus Italien ein Lied gefunden, das er mir zeigen wolle.
Er bat mich, ihm ein Paket Schriften zu reichen, das
mir gegenuͤber auf dem Pulte lag. Ich gab es ihm,
es waren ſeine Briefe aus Italien; er ſuchte das Ge¬
dicht und las:
Ich freute mich ſehr uͤber dieß Gedicht, das mir voll¬
kommen neu erſchien. „Es kann Ihnen nicht fremd
[102] ſeyn, ſagte Goethe, denn es ſteht in der Claudina
von Villa Bella, wo es der Rugantino ſingt. Ich
habe es jedoch dort zerſtuͤckelt, ſo daß man daruͤber
hinauslieſet und niemand merkt was es heißen will.
Ich daͤchte aber, es waͤre gut! Es druͤckt den Zuſtand
artig aus und bleibt huͤbſch im Gleichniß; es iſt in
Art der Anakreontiſchen. Eigentlich haͤtten wir dieſes
Lied, und aͤhnliche andere aus meinen Opern, unter den
Gedichten wieder ſollen abdrucken laſſen, damit der
Componiſt doch die Lieder beyſammen haͤtte.“ Ich fand
dieſes gut und vernuͤnftig, und merkte es mir fuͤr
die Folge.
Goethe hatte das Gedicht ſehr ſchoͤn geleſen; ich
brachte es nicht wieder aus dem Sinne, und auch ihm
ſchien es ferner im Kopfe zu liegen. Die letzten Verſe:
ſprach er noch mitunter wie im Traume vor ſich hin.
Er erzaͤhlte mir ſodann von einem neu erſchienenen
Buch uͤber Napoleon, das von einem Jugendbekann¬
ten des Helden verfaßt ſey, und worin man die merk¬
wuͤrdigſten Aufſchluͤſſe erhalte. „Das Buch, ſagte er,
iſt ganz nuͤchtern, ohne Enthuſiasmus geſchrieben, aber
man ſieht dabey, welchen großartigen Character das
Wahre hat, wenn es einer zu ſagen wagt.“
Auch von einem Trauerſpiele eines jungen Dichters
erzaͤhlte mir Goethe. „Es iſt ein pathologiſches Product,
[103] ſagte er; die Saͤfte ſind Theilen uͤberfluͤſſig zugeleitet,
die ſie nicht haben wollen, und andern, die ſie bedurft
haͤtten, ſind ſie entzogen. Das Suͤjet war gut, ſehr
gut, aber die Scenen, die ich erwartete, waren nicht
da, und andere, die ich nicht erwartete, waren mit Fleiß
und Liebe behandelt. Ich daͤchte, das waͤre pathologiſch
oder auch romantiſch, wenn Sie nach unſerer neuen
Theorie lieber wollen.“
Wir waren darauf noch eine Weile heiter beyſam¬
men, und Goethe bewirthete mich zuletzt noch mit vie¬
lem Honig, auch mit einigen Datteln, die ich mitnahm.
Goethe gab mir einen Brief von Egon Ebert,
den ich bey Tiſche las und der mir Freude machte.
Wir ſprachen viel Loͤbliches von Egon Ebert und Boͤh¬
men, und gedachten auch des Profeſſors Zauper mit
Liebe.
„Das Boͤhmen iſt ein eigenes Land, ſagte Goethe,
ich bin dort immer gerne geweſen. Die Bildung der
Literatoren hat noch etwas Reines, welches im noͤrdli¬
chen Deutſchland ſchon anfaͤngt ſelten zu werden, indem
hier jeder Lump ſchreibt, bey dem an ein ſittliches Fun¬
dament und eine hoͤhere Abſicht nicht zu denken iſt.“
[104]
Goethe ſprach ſodann von Egon Eberts neueſtem
epiſchen Gedicht, deßgleichen von der fruͤheren Weiber¬
herrſchaft in Boͤhmen, und woher die Sage von den
Amazonen entſtanden.
Dieß brachte die Unterhaltung auf das Epos eines
anderen Dichters, der ſich viel Muͤhe gegeben, ſein Werk
in oͤffentlichen Blaͤttern guͤnſtig beurtheilt zu ſehen.
„Solche Urtheile, ſagte Goethe, ſind denn auch hier
und dort erſchienen. Nun aber iſt die Halliſche Lite¬
raturzeitung dahinter gekommen, und hat gradezu aus¬
geſprochen, was von dem Gedicht eigentlich zu halten,
wodurch denn alle guͤnſtigen Redensarten der uͤbrigen
Blaͤtter vernichtet worden. Wer jetzt nicht das Rechte
will, iſt bald entdeckt; es iſt nicht mehr die Zeit, das
Publicum zum Beſten zu haben und es in die Irre zu
fuͤhren.“
Ich bewundere, ſagte ich, daß die Menſchen um
ein wenig Namen es ſich ſo ſauer werden laſſen, ſo
daß ſie ſelbſt zu falſchen Mitteln ihre Zuflucht nehmen.
„Liebes Kind, ſagte Goethe, ein Name iſt nichts
Geringes. Hat doch Napoleon eines großen Namens
wegen faſt die halbe Welt in Stuͤcke geſchlagen!“ —
Es entſtand eine kleine Pauſe im Geſpraͤch, dann
aber erzaͤhlte Goethe mir Ferneres von dem neuen Buche
uͤber Napoleon. „Die Gewalt des Wahren iſt groß,
ſagte er. Aller Nimbus, alle Illuſion, die Journaliſten,
Geſchichtsſchreiber und Poeten uͤber Napoleon gebracht
[105] haben, verſchwindet vor der entſetzlichen Realitaͤt dieſes
Buchs; aber der Held wird dadurch nicht kleiner, viel¬
mehr waͤchſt er, ſo wie er an Wahrheit zunimmt.“
Eine eigene Zaubergewalt, ſagte ich, mußte er in
ſeiner Perſoͤnlichkeit haben, daß die Menſchen ihm ſo¬
gleich zufielen und anhingen und ſich von ihm leiten
ließen.
„Allerdings, ſagte Goethe, war ſeine Perſoͤnlichkeit
eine uͤberlegene. Die Hauptſache aber beſtand darin,
daß die Menſchen gewiß waren, ihre Zwecke unter ihm
zu erreichen. Deßhalb fielen ſie ihm zu, ſo wie ſie es
jedem thun, der ihnen eine aͤhnliche Gewißheit einfloͤßt.
Fallen doch die Schauſpieler einem neuen Regiſſeur zu,
von dem ſie glauben, daß er ſie in gute Rollen brin¬
gen werde. Dieß iſt ein altes Maͤhrchen, das ſich im¬
mer wiederholt; die menſchliche Natur iſt einmal ſo ein¬
gerichtet. — Niemand dienet einem Andern aus freyen
Stuͤcken; weiß er aber, daß er damit ſich ſelber dient,
ſo thut er es gerne. Napoleon kannte die Menſchen zu
gut, und er wußte von ihren Schwaͤchen den gehoͤrigen
Gebrauch zu machen.“
Das Geſpraͤch wendete ſich auf Zelter. „Sie
wiſſen, ſagte Goethe, daß Zelter den preußiſchen Orden
bekommen. Nun hatte er aber noch kein Wappen; aber
eine große Nachkommenſchaft iſt da, und ſomit die Hoff¬
nung auf eine weit hinaus dauernde Familie. Er mußte
alſo ein Wappen haben, damit eine ehrenvolle Grund¬
[106] lage ſey, und ich habe den luſtigen Einfall gehabt, ihm
eins zu machen. Ich ſchrieb an ihn und er war es zu¬
frieden; aber ein Pferd wollte er haben. Gut! ſagte
ich, ein Pferd ſollſt du haben, aber eins mit Fluͤ¬
geln. — Sehen Sie ſich einmal um, hinter Ihnen
liegt ein Papier, ich habe darauf mit einer Bleifeder
den Entwurf gemacht.“
Ich nahm das Blatt und betrachtete die Zeichnung.
Das Wappen ſah ſehr ſtattlich aus und die Erfindung
mußte ich loben. Das untere Feld zeigte die Thurm¬
zinne einer Stadtmauer, um anzudeuten, daß Zelter in
fruͤherer Zeit ein tuͤchtiger Maurer geweſen. Ein ge¬
fluͤgeltes Pferd hebt ſich dahinter hervor, nach hoͤheren
Regionen ſtrebend, wodurch ſein Genius und Aufſchwung
zum Hoͤheren ausgeſprochen war. Dem Wappenſchilde
oben fuͤgte ſich eine Lyra auf, uͤber welcher ein Stern
leuchtete, als ein Symbol der Kunſt, wodurch der treff¬
liche Freund, unter dem Einfluß und Schutz guͤnſtiger
Geſtirne, ſich Ruhm erworben. Unten, dem Wappen
an, hing der Orden, womit ſein Koͤnig ihn begluͤckt
und geehrt, als Zeichen gerechter Anerkennung großer
Verdienſte.
„Ich habe es von Facius ſtechen laſſen, ſagte
Goethe, und Sie ſollen einen Abdruck ſehen. Iſt es
aber nicht artig, daß ein Freund dem andern ein Wap¬
pen macht, und ihm dadurch gleichſam den Adel giebt?“
Wir freuten uns uͤber den heiteren Gedanken, und
[107] Goethe ſchickte zu Facius, um einen Abdruck holen zu
laſſen.
Wir ſaßen noch eine Weile am Tiſch, indem wir
zu gutem Biscuit einige Glaͤſer alten Rheinwein tran¬
ken. Goethe ſummte Undeutliches vor ſich hin. Mir
kam das Gedicht von geſtern wieder in den Kopf; ich
recitirte:
Ich kann das Gedicht nicht wieder los werden, ſagte
ich, es iſt durchaus eigenartig, und druͤckt die Unord¬
nung ſo gut aus, die durch die Liebe in unſer Leben
gebracht wird. „Es bringt uns einen duͤſteren Zuſtand
vor Augen,“ ſagte Goethe. Es macht mir den Ein¬
druck eines Bildes, ſagte ich, eines niederlaͤndiſchen.
„Es hat ſo etwas von Good man und good wife,“ ſagte
Goethe. Sie nehmen mir das Wort von der Zunge,
ſagte ich, denn ich habe ſchon fortwaͤhrend an jenes
Schottiſche denken muͤſſen, und das Bild von Oſtade
war mir vor Augen. „Aber wunderlich iſt es, ſagte
Goethe, daß ſich beyde Gedichte nicht malen laſſen; ſie
geben wohl den Eindruck eines Bildes, eine aͤhnliche
Stimmung, aber gemalt, waͤren ſie nichts.“ Es ſind
dieſes ſchoͤne Beyſpiele, ſagte ich, wo die Poeſie der
Malerey ſo nahe als moͤglich tritt, ohne aus ihrer
eigentlichen Sphaͤre zu gehen. Solche Gedichte ſind
mir die liebſten, indem ſie Anſchauung und Empfindung
[108] zugleich gewaͤhren. Wie ſie aber zu dem Gefuͤhl eines
ſolchen Zuſtandes gekommen ſind, begreife ich kaum; das
Gedicht iſt wie aus einer anderen Zeit und einer ande¬
ren Welt. „Ich werde es auch nicht zum zweyten
Male machen, ſagte Goethe, und wuͤßte auch nicht zu
ſagen, wie ich dazu gekommen bin, wie uns denn die¬
ſes ſehr oft geſchieht.“
Noch etwas Eigenes, ſagte ich, hat das Gedicht.
Es iſt mir immer als waͤre es gereimt, und doch iſt
es nicht ſo. Woher kommt das? „Es liegt im Rhyth¬
mus, ſagte Goethe. Die Verſe beginnen mit einem
Vorſchlag, gehen trochaͤiſch fort, wo denn der Dactylus
gegen das Ende eintritt, welcher eigenartig wirkt und
wodurch es einen duͤſter klagenden Character bekommt.“
Goethe nahm eine Bleyfeder und theilte ſo ab:
Wir ſprachen uͤber Rhythmus im Allgemeinen und
kamen darin uͤberein, daß ſich uͤber ſolche Dinge nicht
denken laſſe. „Der Tact, ſagte Goethe, kommt aus
der poetiſchen Stimmung, wie unbewußt. Wollte man
daruͤber denken, wenn man ein Gedicht macht, man
wuͤrde verruͤckt und braͤchte nichts Geſcheidtes zu Stande.“
Ich wartete auf den Abdruck des Siegels; Goethe
fing an uͤber Guizot zu reden. „Ich gehe in ſeinen
Vorleſungen fort, ſagte er, und ſie halten ſich trefflich.
Die dießjaͤhrigen gehen etwa bis ins achte Jahr¬
[109] hundert. Er beſitzt einen Tiefblick und Durchblick, wie
er mir bey keinem Geſchichtsſchreiber groͤßer vorgekom¬
men. Dinge, woran man nicht denkt, erhalten in ſei¬
nen Augen die groͤßte Wichtigkeit, als Quellen bedeu¬
tender Ereigniſſe. Welchen Einfluß z. B. das Vorwal¬
ten gewiſſer religioͤſer Meinungen auf die Geſchichte
gehabt, wie die Lehre von der Erbſuͤnde, von der
Gnade, von guten Werken, gewiſſen Epochen eine
ſolche und eine andre Geſtalt gegeben, ſehen wir deut¬
lich hergeleitet und nachgewieſen. Auch das roͤmiſche
Recht, als ein fortlebendes, das, gleich einer untertau¬
chenden Ente, ſich zwar von Zeit zu Zeit verbirgt, aber
nie ganz verloren geht, und immer einmal wieder leben¬
dig hervortritt, ſehen wir ſehr gut behandelt, bey wel¬
cher Gelegenheit denn auch unſerm trefflichen Savigny
volle Anerkennung zu Theil wird.“
„Wie Guizot von den Einfluͤſſen redet, welche die
Gallier in fruͤher Zeit von fremden Nationen empfan¬
gen, iſt mir beſonders merkwuͤrdig geweſen, was er von
den Deutſchen ſagt. „„Die Germanen, ſagt er, brach¬
ten uns die Idee der perſoͤnlichen Freyheit, welche die¬
ſem Volke vor allem eigen war.““ Iſt das nicht ſehr
artig, und hat er nicht vollkommen recht, und iſt nicht
dieſe Idee noch bis auf den heutigen Tag unter uns
wirkſam? — Die Reformation kam aus dieſer Quelle,
wie die Burſchenverſchwoͤrung auf der Wartburg, Ge-
ſcheidtes wie Dummes. Auch das Buntſchaͤckige unſerer
[110] Literatur, die Sucht unſerer Poeten nach Originalitaͤt,
und daß jeder glaubt eine neue Bahn machen zu muͤſſen,
ſo wie die Abſonderung und Veriſolirung unſerer Ge¬
lehrten, wo jeder fuͤr ſich ſteht und von ſeinem Puncte
aus ſein Weſen treibt, Alles kommt daher. Franzoſen
und Englaͤnder dagegen halten weit mehr zuſammen
und richten ſich nach einander. In Kleidung und Be¬
tragen haben ſie etwas Übereinſtimmendes. Sie fuͤrch¬
ten von einander abzuweichen, um ſich nicht auffallend
oder gar laͤcherlich zu machen. Die Deutſchen aber
gehen jeder ſeinem Kopfe nach, jeder ſucht ſich ſelber
genug zu thun; er fragt nicht nach dem Andern, denn
in jedem lebt, wie Guizot richtig gefunden hat, die
Idee der perſoͤnlichen Freyheit, woraus denn, wie geſagt,
viel Treffliches hervorgeht, aber auch viel Abſurdes.“
Ich fand, als ich hereintrat, Hofrath Meyer, der
einige Zeit unpaͤßlich geweſen, mit Goethe am Tiſch
ſitzen, und freute mich, ihn wieder ſo weit hergeſtellt
zu ſehen. Sie ſprachen von Kunſtſachen, von Peel,
der einen Claude Lorrain fuͤr viertauſend Pfund ge¬
kauft, wodurch Peel ſich denn beſonders in Meyers
[111] Gunſt geſetzt hatte. Die Zeitungen wurden gebracht,
worin wir uns theilten, in Erwartung der Suppe.
Als an der Tagesordnung kam die Emancipation
der Irlaͤnder ſehr bald zur Erwaͤhnung. „Das Lehr¬
reiche fuͤr uns dabey iſt, ſagte Goethe, daß bey dieſer
Gelegenheit Dinge an den Tag kommen, woran niemand
gedacht hat, und die ohne dieſe Veranlaſſung nie waͤren
zur Sprache gebracht worden. Recht klar uͤber den
irlaͤndiſchen Zuſtand werden wir aber doch nicht, denn
die Sache iſt zu verwickelt. So viel aber ſieht man,
daß dieſes Land an Übeln leidet, die durch kein Mittel
und alſo auch nicht durch die Emancipation gehoben
werden koͤnnen. War es bis jetzt ein Ungluͤck, daß
Irland ſeine Übel alleine trug, ſo iſt es jetzt ein Ungluͤck,
daß England mit hineingezogen wird. Das iſt die
Sache. Und den Catholiken iſt gar nicht zu trauen.
Man ſieht, welchen ſchlimmen Stand die zwei Millionen
Proteſtanten, gegen die Übermacht der fuͤnf Millionen Ca¬
tholiken, bisher in Irland gehabt haben, und wie z. B.
arme proteſtantiſche Paͤchter gedruͤckt, chikanirt und ge¬
quaͤlt worden, die von catholiſchen Nachbarn umgeben
waren. Die Catholiken vertragen ſich unter ſich nicht,
aber ſie halten immer zuſammen, wenn es gegen einen
Proteſtanten geht. Sie ſind einer Meute Hunden gleich,
die ſich unter einander beißen, aber, ſobald ſich ein
Hirſch zeigt, ſogleich einig ſind und in Maſſe auf ihn
los gehen.“
[112]
Von den Irlaͤndern wendete ſich das Geſpraͤch zu
den Haͤndeln in der Tuͤrkey. Man wunderte ſich, wie
die Ruſſen, bey ihrer Übermacht, im vorigjaͤhrigen Feld¬
zuge nicht weiter gekommen. „Die Sache iſt die, ſagte
Goethe, die Mittel waren unzulaͤnglich, und deßhalb
machte man zu große Anforderungen an Einzelne, wo¬
durch denn perſoͤnliche Großthaten und Aufopferungen
geſchahen, ohne die Angelegenheit im Ganzen zu foͤr¬
dern.“
Es mag auch ein verwuͤnſchtes Local ſeyn, ſagte
Meyer; man ſieht, in den aͤlteſten Zeiten, daß es in
dieſer Gegend, wenn ein Feind von der Donau her zu
dem noͤrdlichen Gebirg eindringen wollte, immer Haͤn¬
del ſetzte, daß er immer den hartnaͤckigſten Widerſtand
gefunden, und daß er faſt nie hereingekommen iſt. Wenn
die Ruſſen ſich nur die Seeſeite offen halten, um ſich
von dorther mit Proviant verſehen zu koͤnnen! „Das
iſt zu hoffen,“ ſagte Goethe.
„Ich leſe jetzt Napoleons Feldzug in Egypten,
und zwar was der taͤgliche Begleiter des Helden, was
Bourrienne davon ſagt, wo denn das Abenteuer¬
liche von vielen Dingen verſchwindet, und die Facta
in ihrer nackten erhabenen Wahrheit daſtehen. Man
ſieht, er hatte bloß dieſen Zug unternommen, um eine
Epoche auszufuͤllen, wo er in Frankreich nichts thun
konnte, um ſich zum Herrn zu machen. Er war an¬
faͤnglich unſchluͤſſig, was zu thun ſey; er beſuchte alle
[113] franzoͤſiſchen Haͤfen an der Kuͤſte des atlantiſchen Meeres
hinunter, um den Zuſtand der Schiffe zu ſehen und
ſich zu uͤberzeugen, ob eine Expedition nach England
moͤglich oder nicht. Er fand aber, daß es nicht gera¬
then ſey, und entſchloß ſich daher zu dem Zuge nach
Egypten.“
Ich muß bewundern, ſagte ich, wie Napoleon, bey
ſolcher Jugend, mit den großen Angelegenheiten der
Welt ſo leicht und ſicher zu ſpielen wußte, als waͤre
eine vieljaͤhrige Praxis und Erfahrung vorangegangen.
„Liebes Kind, ſagte Goethe, das iſt das Angeborene
des großen Talents. Napoleon behandelte die Welt
wie Hummel ſeinen Fluͤgel; Beydes erſcheint uns
wunderbar, wir begreifen das Eine ſo wenig wie das
Andere, und doch iſt es ſo und geſchieht vor unſern
Augen. Napoleon war darin beſonders groß, daß er
zu jeder Stunde derſelbige war. Vor einer Schlacht,
waͤhrend einer Schlacht, nach einem Siege, nach einer
Niederlage, er ſtand [i][m]mer auf feſten Fuͤßen, und war
immer klar und entſchieden was zu thun ſey. Er war
immer in ſeinem Element und jedem Augenblick und
jedem Zuſtande gewachſen, ſo wie es Hummeln gleich¬
viel iſt, ob er ein Adagio oder ein Allegro, ob er im
Baß oder im Discant ſpielt. Das iſt die Facilitaͤt, die
ſich uͤberall findet, wo ein wirkliches Talent vorhanden
iſt, in Kuͤnſten des Friedens wie des Krieges, am Cla¬
vier wie hinter den Kanonen.“
II. 8[114]
„Man ſieht aber an dieſem Buch, fuhr Goethe fort,
wie viele Maͤhrchen uns von ſeinem egyptiſchen Feld¬
zuge erzaͤhlet worden. Manches beſtaͤtiget ſich zwar,
allein Vieles gar nicht, und das Meiſte iſt anders.“
„Daß er die achthundert tuͤrkiſchen Gefangenen hat
erſchießen laſſen, iſt wahr; aber es erſcheint als reifer Be¬
ſchluß eines langen Kriegsrathes, indem, nach Erwaͤgung
aller Umſtaͤnde, kein Mittel geweſen iſt, ſie zu retten.“
„Daß er in die Pyramiden ſoll hinabgeſtiegen ſeyn,
iſt ein Maͤhrchen. Er iſt huͤbſch außerhalb ſtehen ge¬
blieben und hat ſich von den Andern erzaͤhlen laſſen
was ſie unten geſehen.“
„So auch verhaͤlt ſich die Sage, daß er orientali¬
ſches Coſtuͤm angelegt, ein wenig anders. Er hat bloß
ein einziges Mal im Hauſe dieſe Maskerade geſpielt,
und iſt ſo unter den Seinigen erſchienen, zu ſehen wie
es ihn kleide. Aber der Turban hat ihm nicht geſtan¬
den, wie er denn allen laͤnglichen Koͤpfen nicht ſteht,
und ſo hat er dieſes Coſtuͤm nie wieder angelegt.“
„Die Peſtkranken aber hat er wirklich beſucht, und
zwar um ein Beyſpiel zu geben, daß man die Peſt
uͤberwinden koͤnne, wenn man die Furcht zu uͤberwinden
faͤhig ſey. Und er hat Recht! — Ich kann aus mei¬
nem eigenen Leben ein Factum erzaͤhlen, wo ich bey
einem Faulfieber der Anſteckung unvermeidlich ausgeſetzt
war, und wo ich bloß durch einen entſchiedenen Willen
die Krankheit von mir abwehrte. Es iſt unglaublich,
[115] was in ſolchen Faͤllen der moraliſche Wille vermag!
Er durchdringt gleichſam den Koͤrper und ſetzt ihn in
einen activen Zuſtand, der alle ſchaͤdlichen Einfluͤſſe zu¬
ruͤckſchlaͤgt. Die Furcht dagegen iſt ein Zuſtand traͤger
Schwaͤche und Empfaͤnglichkeit, wo es jedem Feinde
leicht wird, von uns Beſitz zu nehmen. Das kannte
Napoleon zu gut, und er wußte, daß er nichts wagte,
ſeiner Armee ein impoſantes Beyſpiel zu geben.“
„Aber, fuhr Goethe ſehr heiter ſcherzend fort, habt
Reſpect! Napoleon hatte in ſeiner Feldbibliothek was
fuͤr ein Buch? — meinen Werther!“ —
Daß er ihn gut ſtudirt gehabt, ſagte ich, ſieht man
bey ſeinem Lever in Erfurt.
„Er hatte ihn ſtudirt wie ein Criminalrichter ſeine
Acten, ſagte Goethe, und in dieſem Sinne ſprach er
auch mit mir daruͤber.“
„Es findet ſich in dem Werke des Herrn Bourrienne
eine Liſte der Buͤcher, die Napoleon in Egypten bey
ſich gefuͤhrt, worunter denn auch der Werther ſteht.
Das Merkwuͤrdige an dieſer Liſte aber iſt, wie die
Buͤcher unter verſchiedenen Rubriken claſſificirt werden.
Unter der Aufſchrift Politique z. B. finden wir aufge¬
fuͤhrt: Le vieux testament, le nouveau testament, le coran,
woraus man denn ſieht, aus welchem Geſichtspunct
Napoleon die religioͤſen Dinge angeſehen.“
Goethe erzaͤhlte uns noch manches Intereſſante aus
dem Buche, das ihn beſchaͤftigte. Unter andern auch
8*[116] kam zur Sprache, wie Napoleon mit der Armee, an
der Spitze des rothen Meeres, zur Zeit der Ebbe durch
einen Theil des trockenen Meerbettes gegangen, aber
von der Fluth eingeholt worden ſey, ſo daß die letzte
Mannſchaft bis unter die Arme im Waſſer habe waten
muͤſſen, und es alſo mit dieſem Wageſtuͤck faſt ein pha¬
raoniſches Ende genommen haͤtte. Bey dieſer Gelegen¬
heit ſagte Goethe manches Neue uͤber das Herankommen
der Fluth. Er verglich es mit den Wolken, die uns
nicht aus weiter Ferne kommen, ſondern die an allen
Orten zugleich entſtehen, und ſich uͤberall gleichmaͤßig
fortſchieben.
Goethe ſaß ſchon am gedeckten Tiſch, als ich herein¬
trat; er empfing mich ſehr heiter. „Ich habe einen
Brief erhalten, ſagte er, woher? — Von Rom! Aber
von wem? — Vom Koͤnig von Bayern.“
Ich theile Ihre Freude, ſagte ich. Aber iſt es nicht
eigen, ich habe mich ſeit einer Stunde auf einem Spa¬
ziergange ſehr lebhaft mit dem Koͤnige von Bayern in
Gedanken beſchaͤftigt, und nun erfahre ich dieſe ange¬
nehme Nachricht. „Es kuͤndigt ſich oft etwas in un¬
ſerm Innern an, ſagte Goethe. Dort liegt der Brief,
[117] nehmen Sie, ſetzen Sie ſich zu mir her und leſen
Sie.“
Ich nahm den Brief, Goethe nahm die Zeitung,
und ſo las ich denn ganz ungeſtoͤrt die Koͤniglichen
Worte. Der Brief war datirt: Rom, den 26. Maͤrz
1829, und mit einer ſtattlichen Hand ſehr deutlich ge¬
ſchrieben. Der Koͤnig meldete Goethen, daß er ſich in
Rom ein Beſitzthum gekauft, und zwar die Villa di
Malta mit anliegenden Gaͤrten, in der Naͤhe der
Villa Ludoviſi, am nordweſtlichen Ende der Stadt,
auf einem Huͤgel gelegen, ſo daß er das ganze Rom
uͤberſchauen koͤnne und gegen Nordoſt einen freyen An¬
blick von Sanct Peter habe. „Es iſt eine Ausſicht,
ſchreibt er, welche zu genießen man weit reiſen wuͤrde,
und die ich nun bequem zu jeder Stunde des Tages
aus den Fenſtern meines Eigenthums habe.“ Er faͤhrt
fort ſich gluͤcklich zu preiſen, nun in Rom auf eine ſo
ſchoͤne Weiſe anſaͤſſig zu ſeyn. „Ich hatte Rom in
zwoͤlf Jahren nicht geſehen, ſchreibt er, ich ſehnte mich
danach wie man ſich nach einer Geliebten ſehnt; von
nun an aber werde ich mit der beruhigten Empfindung
zuruͤckkehren, wie man zu einer geliebten Freundin geht.“
Von den erhabenen Kunſtſchaͤtzen und Gebaͤuden ſpricht
er ſodann mit der Begeiſterung eines Kenners, dem
das wahrhaft Schoͤne und deſſen Foͤrderung am Herzen
liegt, und der jede Abweichung vom guten Geſchmack
lebhaft empfindet. Überall war der Brief durchweg ſo
[118] ſchoͤn und menſchlich empfunden und ausgedruͤckt, wie
man es von ſo hohen Perſonen nicht erwartet. Ich
aͤußerte meine Freude daruͤber gegen Goethe. „Da
ſehen Sie einen Monarchen, ſagte er, der neben der
Koͤniglichen Majeſtaͤt ſeine angeborene ſchoͤne Menſchen¬
natur gerettet hat. Es iſt eine ſeltene Erſcheinung und
deßhalb um ſo erfreulicher.“ Ich ſah wieder in den
Brief und fand noch einige treffliche Stellen. „Hier
in Rom, ſchreibt der Koͤnig, erhole ich mich von den
Sorgen des Thrones; die Kunſt, die Natur, ſind meine
taͤglichen Genuͤſſe, Kuͤnſtler meine Tiſchgenoſſen.“ Er
ſchreibt auch, wie er oft an dem Hauſe vorbeygehe wo
Goethe gewohnt, und wie er dabey ſeiner gedenke. Aus
den roͤmiſchen Elegieen ſind einige Stellen angefuͤhrt,
woraus man ſieht, daß der Koͤnig ſie gut im Gedaͤcht¬
niß hat und ſie in Rom, an Ort und Stelle, von Zeit
zu Zeit wieder leſen mag. „Ja, ſagte Goethe, die
Elegieen liebt er beſonders; er hat mich hier viel damit
geplagt, ich ſollte ihm ſagen was an dem Factum ſey,
weil es in den Gedichten ſo anmuthig erſcheint, als
waͤre wirklich was Rechtes daran geweſen. Man be¬
denkt aber ſelten, daß der Poet meiſtens aus geringen
Anlaͤſſen was Gutes zu machen weiß.“
„Ich wollte nur, fuhr Goethe fort, daß des Koͤnigs
Gedichte jetzt dawaͤren, damit ich in meiner Antwort
etwas daruͤber ſagen koͤnnte. Nach dem Wenigen zu
ſchließen was ich von ihm geleſen, werden die Gedichte
[119] gut ſeyn. In der Form und Behandlung hat er viel
von Schiller, und wenn er nun, in ſo praͤchtigem Ge¬
faͤß, uns den Gehalt eines hohen Gemuͤthes zu geben
hat, ſo laͤßt ſich mit Recht viel Treffliches erwarten.“
„Indeſſen freue ich mich, daß der Koͤnig ſich in
Rom ſo huͤbſch angekauft hat. Ich kenne die Villa,
die Lage iſt ſehr ſchoͤn, und die deutſchen Kuͤnſtler woh¬
nen alle in der Naͤhe.“
Der Bediente wechſelte die Teller, und Goethe ſagte
ihm, daß er den großen Kupferſtich von Rom im
Decken-Zimmer am Boden ausbreiten moͤge. „Ich
will Ihnen doch zeigen, an welch einem ſchoͤnen Platz
der Koͤnig ſich angekauft hat, damit Sie ſich die Loca¬
litaͤt gehoͤrig denken moͤgen.“ Ich fuͤhlte mich Goethen
ſehr verbunden.
Geſtern Abend, verſetzte ich, habe ich die Clau¬
dine von Villa Bella geleſen und mich ſehr daran
erbauet. Es iſt ſo gruͤndlich in der Anlage, und ſo
verwegen, locker, frech und froh in der Erſcheinung,
daß ich den lebhaften Wunſch fuͤhle, es auf dem Theater
zu ſehen. „Wenn es gut geſpielt wird, ſagte Goethe,
macht es ſich gar nicht ſchlecht.“ Ich habe ſchon in
Gedanken das Stuͤck beſetzt, ſagte ich, und die Rollen
vertheilt. Herr Genaſt muͤßte den Rugantino machen,
er iſt fuͤr die Rolle wie geſchaffen. Herr Franke den
Don Pedro, denn er iſt von einem aͤhnlichen Wuchs,
und es iſt gut, wenn zwey Bruͤder ſich ein wenig gleich
[120] ſind. Herr La Roche den Basko, der dieſer Rolle,
durch treffliche Maske und Kunſt, den wilden Anſtrich
geben wuͤrde, deſſen ſie bedarf. „Madam Eberwein,
fuhr Goethe fort, daͤchte ich, waͤre eine ſehr gute Lu¬
cinde, und Demoiſelle Schmidt machte die Claudine.“
Zum Alonzo, ſagte ich, muͤßten wir eine ſtattliche Figur
haben, mehr einen guten Schauſpieler als Saͤnger, und
ich daͤchte, Herr Oels oder Herr Graff wuͤrden da
am Platze ſeyn. Von wem iſt denn die Oper compo¬
nirt, und wie iſt die Muſik? „Von Reichardt, ant¬
wortete Goethe, und zwar iſt die Muſik vortrefflich.
Nur iſt die Inſtrumentirung, dem Geſchmack der fruͤhe¬
ren Zeit gemaͤß, ein wenig ſchwach. Man muͤßte jetzt
in dieſer Hinſicht etwas nachhelfen, und die Inſtrumen¬
tirung ein wenig ſtaͤrker und voller machen. Unſer Lied:
Cupido, loſer, eigenſinniger Knabe ꝛc. iſt dem
Componiſten ganz beſonders gelungen.“ Es iſt eigen
an dieſem Liede, ſagte ich, daß es in eine Art behag¬
lich traͤumeriſche Stimmung verſetzt, wenn man es ſich
recitirt. „Es iſt aus einer ſolchen Stimmung hervor¬
gegangen, ſagte Goethe, und da iſt denn auch mit Recht
die Wirkung eine ſolche.“
Wir hatten abgeſpeiſt. Friedrich kam und meldete,
daß er den Kupferſtich von Rom im Deckenzimmer aus¬
gebreitet habe. Wir gingen ihn zu betrachten.
Das Bild der großen Weltſtadt lag vor uns; Goethe
fand ſehr bald die Villa Ludoviſi und in der Naͤhe den
[121] neuen Beſitz des Koͤnigs, die Villa di Malta. „Sehen
Sie, ſagte Goethe, was das fuͤr eine Lage iſt! — Das
ganze Rom ſtreckt ſich ausgebreitet vor Ihnen hin, der
Huͤgel iſt ſo hoch, daß Sie gegen Mittag und Morgen
uͤber die Stadt hinausſehen. Ich bin in dieſer Villa
geweſen und habe oft den Anblick aus dieſen Fenſtern
genoſſen. Hier, wo die Stadt jenſeit der Tiber gegen
Nordoſt ſpitz auslaͤuft, liegt Sanct Peter, und hier der
Vatikan in der Naͤhe. Sie ſehen, der Koͤnig hat aus
den Fenſtern ſeiner Villa den Fluß heruͤber eine freye
Anſicht dieſer Gebaͤude. Der lange Weg hier, von Nor¬
den herein zur Stadt, kommt aus Deutſchland; das iſt
die Porta del Populo; in einer dieſer erſten Straßen
zum Thor herein wohnte ich, in einem Eckhauſe. Man
zeigt jetzt ein anderes Gebaͤude in Rom, wo ich gewohnt
haben ſoll, es iſt aber nicht das rechte. Aber es thut
nichts; ſolche Dinge ſind im Grunde gleichguͤltig, und
man muß der Tradition ihren Lauf laſſen.“
Wir gingen wieder in unſer Zimmer zuruͤck. — Der
Canzler, ſagte ich, wird ſich uͤber den Brief des Koͤnigs
freuen. „Er ſoll ihn ſehen,“ ſagte Goethe.
„Wenn ich in den Nachrichten von Paris die Reden
und Debatten in den Kammern leſe, fuhr Goethe fort,
muß ich immer an den Canzler denken, und zwar daß
er dort recht in ſeinem Element und an ſeinem Platz
ſeyn wuͤrde. Denn es gehoͤrt zu einer ſolchen Stelle
nicht allein, daß man geſcheidt ſey, ſondern daß man
[122] auch den Trieb und die Luſt zu reden habe, welches ſich
doch Beydes in unſerm Canzler vereinigt. Napoleon
hatte auch dieſen Trieb zu reden, und wenn er nicht
reden konnte, mußte er ſchreiben oder dictiren. Auch
bey Bluͤcher finden wir, daß er gerne redete, und
zwar gut und mit Nachdruck, welches Talent er in der
Loge ausgebildet hatte. Auch unſer Großherzog redete
gerne, obgleich er lakoniſcher Natur war, und wenn er
nicht reden konnte, ſo ſchrieb er. Er hat manche Ab¬
handlung, manches Geſetz abgefaßt, und zwar meiſten¬
theils gut. Nur hat ein Fuͤrſt nicht die Zeit und die
Ruhe, ſich in allen Dingen die noͤthige Kenntniß des
Details zu verſchaffen. So hatte er in ſeiner letzten
Zeit noch eine Ordnung gemacht, wie man reſtaurirte
Gemaͤlde bezahlen ſolle. Der Fall war ſehr artig.
Denn wie die Fuͤrſten ſind, ſo hatte er die Beurtheilung
der Reſtaurationskoſten mathematiſch auf Maß und Zah¬
len feſtgeſetzt. Die Reſtauration, hatte er verordnet,
ſoll fußweiſe bezahlt werden. Haͤlt ein reſtaurirtes Ge¬
maͤlde zwoͤlf Quadratfuß, ſo ſind zwoͤlf Thaler zu
zahlen; haͤlt es vier, ſo zahlet vier. Dieß war fuͤrſt¬
lich verordnet, aber nicht kuͤnſtleriſch. Denn ein Gemaͤlde
von zwoͤlf Quadratfuß kann in einem Zuſtande ſeyn,
daß es mit geringer Muͤhe an einem Tage zu reſtauri¬
ren waͤre; ein anderes aber von vier, kann ſich der Art
befinden, daß zu deſſen Reſtauration kaum der Fleiß
und die Muͤhe einer ganzen Woche hinreichen. Aber
[123] die Fuͤrſten lieben als gute Militairs mathematiſche Be¬
ſtimmungen, und gehen gerne nach Maß und Zahl gro߬
artig zu Werke.“
Ich freute mich dieſer Anecdote. Sodann ſprachen
wir noch Manches uͤber Kunſt und derartige Gegen¬
ſtaͤnde.
„Ich beſitze Handzeichnungen, ſagte Goethe, nach
Gemaͤlden von Raphael und Dominichin, woruͤber
Meyer eine merkwuͤrdige Äußerung gemacht hat, die
ich Ihnen doch mittheilen will.“
„Die Zeichnungen, ſagte Meyer, haben etwas Un¬
geuͤbtes, aber man ſieht, daß derjenige, der ſie machte,
ein zartes richtiges Gefuͤhl von den Bildern hatte, die
vor ihm waren, welches denn in die Zeichnungen uͤber¬
gegangen iſt, ſo daß ſie uns das Original ſehr treu vor
die Seele rufen. Wuͤrde ein jetziger Kuͤnſtler jene Bil¬
der copiren, ſo wuͤrde er alles weit beſſer und vielleicht
auch richtiger zeichnen; aber es iſt vorauszuſagen, daß
ihm jene treue Empfindung des Originals fehlen, und
daß alſo ſeine beſſere Zeichnung weit entfernt ſeyn wuͤrde
uns von Raphael und Dominichin einen ſo reinen voll¬
kommenen Begriff zu geben.“
„Iſt das nicht ein ſehr artiger Fall? ſagte Goethe.
Es koͤnnte ein Ähnliches bey Überſetzungen Statt finden.
Voß hat z. B. ſicher eine treffliche Überſetzung vom
Homer gemacht; aber es waͤre zu denken, daß jemand
eine naivere, wahrere Empfindung des Originals haͤtte
[124] beſitzen und auch wiedergeben koͤnnen, ohne im Ganzen
ein ſo meiſterhafter Überſetzer wie Voß zu ſeyn.“
Ich fand dieſes alles ſehr gut und wahr und ſtimmte
vollkommen bey. Da das Wetter ſchoͤn und die Sonne
noch hoch am Himmel war, ſo gingen wir ein wenig
in den Garten hinab, wo Goethe zunaͤchſt einige Baum¬
zweige in die Hoͤhe binden ließ, die zu tief in die Wege
herabhingen.
Die gelben Crokus bluͤhten ſehr kraͤftig. Wir blick¬
ten auf die Blumen und dann auf den Weg, wo wir
denn vollkommen violette Bilder hatten. „Sie meinten
neulich, ſagte Goethe, daß das Gruͤne und Rothe ſich
gegenſeitig beſſer hervorrufe als das Gelbe und Blaue,
indem jene Farben auf einer hoͤherer Stufe ſtanden und
deßhalb vollkommener, geſaͤttigter und wirkſamer waͤren
als dieſe. — Ich kann das nicht zugeben. Jede Farbe,
ſobald ſie ſich dem Auge entſchieden darſtellt, wirkt zur
Hervorrufung der geforderten gleich kraͤftig; es kommt
bloß darauf an, daß unſer Auge in der rechten Stim¬
mung, daß ein zu helles Sonnenlicht nicht hindere, und
daß der Boden zur Aufnahme des geforderten Bildes
nicht unguͤnſtig ſey. Überall muß man ſich huͤten, bey
den Farben zu zarte Unterſcheidungen und Beſtimmun¬
gen zu machen, indem man gar zu leicht der Gefahr
ausgeſetzt wird, vom Weſentlichen ins Unweſentliche,
vom Wahren in die Irre, und vom Einfachen in die
Verwickelung gefuͤhrt zu werden.“
[125]
Ich merkte mir dieſes als eine gute Lehre in meinen
Studien. Indeſſen war die Zeit des Theaters heran¬
geruͤckt und ich ſchickte mich an zu gehen. „Sehen Sie
zu, ſagte Goethe lachend, indem er mich entließ, daß
Sie die Schreckniſſe der dreyßig Jahre aus dem
Leben eines Spielers heute gut uͤberſtehen.“
„In Erwartung der Suppe will ich Ihnen indeß
eine Erquickung der Augen geben.“ Mit dieſen freund¬
lichen Worten legte Goethe mir einen Band vor, mit
Landſchaften von Claude Lorrain.
Es waren die erſten, die ich von dieſem großen
Meiſter geſehen. Der Eindruck war außerordentlich,
und mein Erſtaunen und Entzuͤcken ſtieg, ſo wie ich
ein folgendes und abermals ein folgendes Blatt um¬
wendete. Die Gewalt der ſchattigen Maſſen huͤben und
druͤben, nicht weniger das maͤchtige Sonnenlicht aus
dem Hintergrunde hervor in der Luft und deſſen Wie¬
derglanz im Waſſer, woraus denn immer die große
Klarheit und Entſchiedenheit des Eindrucks hervorging,
empfand ich als ſtets wiederkehrende Kunſtmaxime des
großen Meiſters. So auch hatte ich mit Freude zu be¬
wundern, wie jedes Bild durch und durch eine kleine
[126] Welt fuͤr ſich ausmachte, in der nichts exiſtirte was nicht
der herrſchenden Stimmung gemaͤß war und ſie befoͤr¬
derte. War es ein Seehafen mit ruhenden Schiffen,
thaͤtigen Fiſchern und dem Waſſer angrenzenden Pracht¬
gebaͤuden; war es eine einſame duͤrftige Huͤgelgegend
mit naſchenden Ziegen, kleinem Bach und Bruͤcke, etwas
Buſchwerk und ſchattigem Baum, worunter ein ruhen¬
der Hirte die Schalmei blaͤſt; oder war es eine tiefer¬
liegende Bruchgegend mit ſtagnirendem Waſſer, das bey
maͤchtiger Sommerwaͤrme die Empfindung behaglicher
Kuͤhle giebt, immer war das Bild durch und durch nur
Eins, nirgends die Spur von etwas Fremdem, das
nicht zu dieſem Element gehoͤrte.
„Da ſehen Sie einmal einen vollkommenen Men¬
ſchen, ſagte Goethe, der ſchoͤn gedacht und empfunden
hat, und in deſſen Gemuͤth eine Welt lag, wie man
ſie nicht leicht irgendwo draußen antrifft. — Die Bil¬
der haben die hoͤchſte Wahrheit, aber keine Spur von
Wirklichkeit. Claude Lorrain kannte die reale Welt bis
ins kleinſte Detail auswendig, und er gebrauchte ſie als
Mittel, um die Welt ſeiner ſchoͤnen Seele auszudruͤcken.
Und das iſt eben die wahre Idealitaͤt, die ſich realer
Mittel ſo zu bedienen weiß, daß das erſcheinende Wahre
eine Taͤuſchung hervorbringt als ſey es wirklich.“
Ich daͤchte, ſagte ich, das waͤre ein gutes Wort,
und zwar eben ſo guͤltig in der Poeſie wie in den bil¬
denden Kuͤnſten. „Ich ſollte meinen,“ ſagte Goethe.
[127]
„Indeſſen, fuhr er fort, waͤre es wohl beſſer, Sie
ſparten ſich den ferneren Genuß des trefflichen Claude
zum Nachtiſch, denn die Bilder ſind wirklich zu gut
um viele davon hinter einander zu ſehen.“ Ich fuͤhle
ſo, ſagte ich, denn mich wandelt jedesmal eine gewiſſe
Furcht an, wenn ich das folgende Blatt umwenden will.
Es iſt eine Furcht eigener Art, die ich vor dieſem Schoͤ¬
nen empfinde, ſo wie es uns wohl mit einem trefflichen
Buche geht, wo gehaͤufte koſtbare Stellen uns noͤthigen
inne zu halten, und wir nur mit einem gewiſſen Zau¬
dern weiter gehen.
„Ich habe dem Koͤnig von Bayern geantwortet,
verſetzte Goethe nach einer Pauſe, und Sie ſollen den
Brief leſen.“ Das wird ſehr lehrreich fuͤr mich ſeyn,
ſagte ich, und ich freue mich dazu. „Indeß, ſagte
Goethe, ſteht hier in der allgemeinen Zeitung ein Ge¬
dicht an den Koͤnig, das der Canzler mir geſtern vor¬
las und das Sie doch auch ſehen muͤſſen.“ Goethe gab
mir das Blatt und ich las das Gedicht im Stillen.
„Nun, was ſagen Sie dazu?“ ſagte Goethe. Es ſind
die Empfindungen eines Dilettanten, ſagte ich, der mehr
guten Willen als Talent hat und dem die Hoͤhe der
Literatur eine gemachte Sprache uͤberliefert, die fuͤr ihn
toͤnet und reimet, waͤhrend er ſelber zu reden glaubt.
„Sie haben vollkommen recht, ſagte Goethe, ich halte
das Gedicht auch fuͤr ein ſehr ſchwaches Product; es
[128] giebt nicht die Spur von aͤußerer Anſchauung, es iſt
bloß mental, und das nicht im rechten Sinne.“
Um ein Gedicht gut zu machen, ſagte ich, dazu ge¬
hoͤren bekanntlich große Kenntniſſe der Dinge, von de¬
nen man redet, und wem nicht, wie Claude Lorrain,
eine ganze Welt zu Gebote ſteht, der wird, bey den
beſten ideellen Richtungen, ſelten etwas Gutes zu Tage
bringen.
„Und das Eigene iſt, ſagte Goethe, daß nur das
geborene Talent eigentlich weiß, worauf es ankommt,
und daß alle Übrigen mehr oder weniger in der Irre
gehen.“
Das beweiſen die Äſthetiker, ſagte ich, von denen
faſt keiner weiß was eigentlich gelehrt werden ſollte, und
welche die Verwirrung der jungen Poeten vollkommen
machen. Statt vom Realen zu handeln, handeln ſie
vom Idealen, und ſtatt den jungen Dichter darauf hin¬
zuweiſen, was er nicht hat, verwirren ſie ihm das was
er beſitzt. Wem z. B. von Haus aus einiger Witz
und Humor angeboren waͤre, wird ſicher mit dieſen
Kraͤften am beſten wirken, wenn er kaum weiß, daß er
damit begabt iſt; wer aber die geprieſenen Abhandlun¬
gen uͤber ſo hohe Eigenſchaften ſich zu Gemuͤthe fuͤhrte,
wuͤrde ſogleich in dem unſchuldigen Gebrauch dieſer
Kraͤfte geſtoͤrt und gehindert werden, das Bewußtſeyn
wuͤrde dieſe Kraͤfte paralyſiren und er wuͤrde, ſtatt einer
gehofften Foͤrderung, ſich unſaͤglich gehindert ſehen. „Sie
[129] haben vollkommen Recht, und es waͤre uͤber dieſes Ca¬
pitel Vieles zu ſagen.“
„Ich habe indeß, fuhr er fort, das neue Epos von
Egon Ebert geleſen und Sie ſollen es auch thun,
damit wir ihm vielleicht von hier aus ein wenig nach¬
helfen. — Das iſt nun wirklich ein recht erfreuliches
Talent, aber dieſem neuen Gedicht mangelt die eigent¬
liche poetiſche Grundlage, die Grundlage des Realen.
Landſchaften, Sonnen-Auf- und Untergaͤnge, Stellen,
wo die aͤußere Welt die ſeinige war, ſind vollkommen
gut und nicht beſſer zu machen. Das Übrige aber, was
in vergangenen Jahrhunderten hinauslag, was der Sage
angehoͤrte, iſt nicht in der gehoͤrigen Wahrheit erſchie¬
nen und es mangelt dieſem der eigentliche Kern. Die
Amazonen und ihr Leben und Handeln ſind ins Allge¬
meine gezogen, in das was junge Leute fuͤr poetiſch
und romantiſch halten und was dafuͤr in der aͤſthetiſchen
Welt gewoͤhnlich paſſirt.“
Es iſt dieß ein Fehler, ſagte ich, der durch die
ganze jetzige Literatur geht. Man vermeidet das ſpecielle
Wahre, aus Furcht, es ſey nicht poetiſch, und verfaͤllt
dadurch in Gemeinplaͤtze.
„Egon Ebert, ſagte Goethe, haͤtte ſich ſollen an
die Überlieferung der Chronik halten, da haͤtte aus ſei¬
nem Gedicht etwas werden koͤnnen. Wenn ich bedenke,
wie Schiller die Überlieferung ſtudirte, was er ſich
fuͤr Muͤhe mit der Schweiz gab als er ſeinen Tell
II. 9[130] ſchrieb, und wie Shakſpeare die Chroniken benutzte
und ganze Stellen daraus woͤrtlich in ſeine Stuͤcke auf¬
genommen hat, ſo koͤnnte man einem jetzigen jungen
Dichter auch wohl dergleichen zumuthen. In meinem
Clavigo habe ich aus den Memoiren des Beau¬
marchais ganze Stellen.“ Es iſt aber ſo verarbeitet,
ſagte ich, daß man es nicht merkt, es iſt nicht ſtoff¬
artig geblieben. „So iſt es recht, ſagte Goethe, wenn
es ſo iſt.“
Goethe erzaͤhlte mir ſodann einige Zuͤge von Beau¬
marchais. „Er war ein toller Chriſt, ſagte er, und
Sie muͤſſen ſeine Memoiren leſen. — Proceſſe waren
ſein Element, worin es ihm erſt eigentlich wohl wurde.
Es exiſtiren noch Reden von Advocaten aus einem ſei¬
ner Proceſſe, die zu dem Merkwuͤrdigſten, Talentreich¬
ſten und Verwegenſten gehoͤren was je in dieſer Art ver¬
handelt worden. Eben dieſen beruͤhmten Proceß verlor
Beaumarchais. Als er die Treppe des Gerichtshofes
hinabging, begegnete ihm der Canzler, der hinauf wollte.
Beaumarchais ſollte ihm ausweichen, allein dieſer wei¬
gerte ſich, und beſtand darauf, daß jeder zur Haͤlfte
Platz machen muͤſſe. Der Canzler, in ſeiner Wuͤrde
beleidigt, befahl den Leuten ſeines Gefolges, Beaumar¬
chais auf die Seite zu ſchieben, welches geſchah; worauf
denn Beaumarchais auf der Stelle wieder in den Ge¬
richtsſaal zuruͤckging, und einen Proceß gegen den Canz¬
ler anhaͤngig machte, den er gewann.“
[131]
Ich freute mich uͤber dieſe Anecdote und wir unter¬
hielten uns bey Tiſche heiter fort uͤber verſchiedene
Dinge.
„Ich habe meinen zweyten Aufenthalt in
Rom wieder vorgenommen, ſagte Goethe, damit ich
ihn endlich loswerde und an etwas Anderes gehen kann.
Meine gedruckte Italieniſche Reiſe habe ich, wie
Sie wiſſen, ganz aus Briefen redigirt. Die Briefe
aber, die ich waͤhrend meines zweyten Aufenthaltes in
Rom geſchrieben, ſind nicht der Art, um davon vorzuͤg¬
lichen Gebrauch machen zu koͤnnen; ſie enthalten zu viele
Bezuͤge nach Haus, auf meine Weimariſchen Verhaͤlt¬
niſſe, und zeigen zu wenig von meinem italieniſchen
Leben. Aber es finden ſich darin manche Äußerungen,
die meinen damaligen inneren Zuſtand ausdruͤcken.
Nun habe ich den Plan, ſolche Stellen auszuziehen und
einzeln uͤber einander zu ſetzen, und ſie ſo meiner Er¬
zaͤhlung einzuſchalten, auf welche dadurch eine Art
von Ton und Stimmung uͤbergehen wird.“ Ich fand
dieſes vollkommen gut und beſtaͤtigte Goethe in dem
Vorſatz.
„Man hat zu allen Zeiten geſagt und wiederholt, fuhr
Goethe fort, man ſolle trachten ſich ſelber zu kennen.
Dieß iſt eine ſeltſame Forderung, der bis jetzt niemand
genuͤget hat und der eigentlich auch niemand genuͤgen ſoll.
Der Menſch iſt mit allen ſeinen Sinnen und Trachten
aufs Äußere angewieſen, auf die Welt um ihn her, und er
9*[132] hat zu thun, dieſe inſoweit zu kennen und ſich inſoweit
dienſtbar zu machen, als er es zu ſeinen Zwecken bedarf.
Von ſich ſelber weiß er bloß wenn er genießt oder lei¬
det, und ſo wird er auch bloß durch Leiden und Freu¬
den uͤber ſich belehrt, was er zu ſuchen oder zu meiden
hat. Übrigens aber iſt der Menſch ein dunkeles Weſen,
er weiß nicht woher er kommt, noch wohin er geht, er
weiß wenig von der Welt und am wenigſten von ſich
ſelber. Ich kenne mich auch nicht und Gott ſoll mich
auch davor behuͤten. Was ich aber ſagen wollte iſt
dieſes, daß ich in Italien in meinem vierzigſten Jahre
klug genug war, um mich ſelber inſoweit zu kennen,
daß ich kein Talent zur bildenden Kunſt habe, und daß
dieſe meine Tendenz eine falſche ſey. Wenn ich etwas
zeichnete, ſo fehlte es mir an genugſamem Trieb fuͤr
das Koͤrperliche; ich hatte eine gewiſſe Furcht die Ge¬
genſtaͤnde auf mich eindringend zu machen, vielmehr war
das Schwaͤchere, das Maͤßige nach meinem Sinn.
Machte ich eine Landſchaft und kam ich aus den ſchwa¬
chen Fernen durch die Mittelgruͤnde heran, ſo fuͤrchtete
ich immer dem Vordergrund die gehoͤrige Kraft zu geben,
und ſo that denn mein Bild nie die rechte Wirkung.
Auch machte ich keine Fortſchritte, ohne mich zu uͤben,
und ich mußte immer wieder von vorne anfangen wenn
ich eine Zeitlang ausgeſetzt hatte. Ganz ohne Talent
war ich jedoch nicht, beſonders zu Landſchaften, und
Hackert ſagte ſehr oft: wenn Sie achtzehn Monate
[133] bey mir bleiben wollen, ſo ſollen Sie etwas machen,
woran Sie und Andere Freude haben.“
Ich hoͤrte dieſes mit großem Intereſſe. Wie aber,
ſagte ich, ſoll man erkennen, daß einer zur bildenden
Kunſt ein wahrhaftes Talent habe?
„Das wirkliche Talent, ſagte Goethe, beſitzt einen
angeborenen Sinn fuͤr die Geſtalt, die Verhaͤltniſſe und
die Farbe, ſo daß es alles dieſes unter weniger Anlei¬
tung ſehr bald und richtig macht. Beſonders hat es
den Sinn fuͤr das Koͤrperliche, und den Trieb, es durch
die Beleuchtung handgreiflich zu machen. Auch in den
Zwiſchenpauſen der Übung ſchreitet es fort und waͤchſt
im Innern. Ein ſolches Talent iſt nicht ſchwer zu er¬
kennen, am beſten aber erkennt es der Meiſter.“
„Ich habe dieſen Morgen das Fuͤrſtenhaus beſucht,
fuhr Goethe ſehr heiter fort; die Zimmer der Großher¬
zogin ſind hoͤchſt geſchmackvoll gerathen und Coudray
hat mit ſeinen Italienern neue Proben großer Geſchick¬
lichkeit abgelegt. Die Maler waren an den Waͤnden
noch beſchaͤftigt; es ſind ein paar Maylaͤnder; ich redete
ſie gleich italieniſch an und merkte, daß ich die Sprache
nicht vergeſſen hatte. Sie erzaͤhlten mir, daß ſie zuletzt
das Schloß des Koͤnigs von Wuͤrtemberg gemalt, daß
ſie ſodann nach Gotha verſchrieben worden, wo ſie indeß
nicht haͤtten einig werden koͤnnen; man habe zur ſelben
Zeit in Weimar von ihnen erfahren, und ſie hieher be¬
rufen, um die Zimmer der Großherzogin zu decoriren.
[134]
Ich hoͤrte und ſprach das Italieniſche einmal wieder
gern, denn die Sprache bringt doch eine Art von Atmo¬
ſphaͤre des Landes mit. Die guten Menſchen ſind ſeit
drey Jahren aus Italien heraus; ſie wollen aber, wie
ſie ſagten, von hier directe nach Haus eilen, nachdem
ſie zuvor in Auftrag des Herrn von Spiegel noch
ein Decoration fuͤr unſer Theater gemalt haben, woruͤber
Ihr wahrſcheinlich nicht boͤſe ſeyn werdet. Es ſind ſehr
geſchickte Leute; der Eine iſt ein Schuͤler des erſten De¬
corations-Malers in Mayland, und Ihr koͤnnt alſo eine
gute Decoration hoffen.“
Nachdem Friedrich den Tiſch abgeraͤumt hatte, ließ
Goethe ſich einen kleinen Plan von Rom vorlegen.
„Fuͤr uns Andere, ſagte er, waͤre Rom auf die Laͤnge
kein Aufenthalt; wer dort bleiben und ſich anſiedeln
will, muß heirathen und catholiſch werden, ſonſt haͤlt
er es nicht aus und hat eine ſchlechte Exiſtenz. Hackert
that ſich nicht wenig darauf zu gute, daß er ſich als
Proteſtant ſo lange dort erhalten.“
Goethe zeigte mir ſodann auch auf dieſem Grundriß
die merkwuͤrdigſten Gebaͤude und Plaͤtze. „Dieß, ſagte
er, iſt der Farneſiſche Garten.“ War es nicht hier,
ſagte ich, wo Sie die Hexenſcene des Fauſt geſchrieben?
„Nein, ſagte er, das war im Garten Borgheſe.“
Ich erquickte mich darauf ferner an den Landſchaften
von Claude Lorrain, und wir ſprachen noch Man¬
ches uͤber dieſen großen Meiſter. Sollte ein jetziger
[135] junger Kuͤnſtler, ſagte ich, ſich nicht nach ihm bilden
koͤnnen?
„Wer ein aͤhnliches Gemuͤth haͤtte, antwortete Goethe,
wuͤrde ohne Frage ſich an Claude Lorrain auf das treff¬
lichſte entwickeln. Allein wen die Natur mit aͤhnlichen
Gaben der Seele im Stiche gelaſſen, wuͤrde dieſem
Meiſter hoͤchſtens nur Einzelnheiten abſehen und ſich
deren nur als Phraſe bedienen.“
Ich fand heute den Tiſch im langen Saale gedeckt
und zwar fuͤr mehrere Perſonen. Goethe und Frau
v. Goethe empfingen mich ſehr freundlich. Es traten
nach und nach herein: Madame Schopenhauer, der
junge Graf Reinhard von der franzoͤſiſchen Geſandt¬
ſchaft, deſſen Schwager Herr v. D., aus einer Durch¬
reiſe begriffen, um gegen die Tuͤrken in ruſſiſche Dienſte
zu gehen; Fraͤulein Ulrike, und zuletzt Hofrath Vogel.
Goethe war in beſonders heiterer Stimmung; er
unterhielt die Anweſenden, ehe man ſich zu Tiſch ſetzte,
mit einigen guten Frankfurter Spaͤßen, beſonders zwi¬
ſchen Rothſchild und Bethmann, wie der Eine
dem Andern die Speculationen verdorben.
Graf Reinhard ging an Hof, wir Andern ſetzten
[136] uns zu Tiſch. Die Unterhaltung war anmuthig belebt,
man ſprach von Reiſen, von Baͤdern, und Madame
Schopenhauer intereſſirte beſonders fuͤr die Einrichtung
ihres neuen Beſitzes am Rhein, in der Naͤhe der Inſel
Nonnenwerth.
Zum Nachtiſch erſchien Graf Reinhard wieder, der
wegen ſeiner Schnelle gelobt wurde, womit er waͤhrend
der kurzen Zeit nicht allein bey Hofe geſpeiſt, ſondern
ſich auch zweymal umgekleidet hatte.
Er brachte uns die Nachricht, daß der neue Papſt
gewaͤhlet ſey, und zwar ein Caſtiglione, und Goethe
erzaͤhlte der Geſellſchaft die Foͤrmlichkeiten, die man bey
der Wahl herkoͤmmlich beobachtet.
Graf Reinhard, der den Winter in Paris gelebt,
konnte manche erwuͤnſchte Auskunft uͤber bekannte Staats¬
maͤnner, Literatoren und Poeten geben. Man ſprach
uͤber Chateaubriand, Guizot, Salvandy, Bé¬
ranger, Merimée und Andere.
Nach Tiſch und als jedermann gegangen war, nahm
Goethe mich in ſeine Arbeitsſtube und zeigte mir zwey
hoͤchſt merkwuͤrdige Scripta, woruͤber ich große Freude
hatte. Es waren zwey Briefe aus Goethe's Jugendzeit,
im Jahre 1770 aus Straßburg an ſeinen Freund Dr.
Horn in Frankfurt geſchrieben, der eine im July, der
andere im December. In beyden ſprach ſich ein junger
Menſch aus, der von großen Dingen eine Ahndung hat
die ihm bevorſtehen. In dem letzteren zeigten ſich ſchon
[137] Spuren vom Werther; das Verhaͤltniß in Seſenheim iſt
angeknuͤpft, und der gluͤckliche Juͤngling ſcheint ſich in
dem Taumel der ſuͤßeſten Empfindungen zu wiegen und
ſeine Tage halb traͤumeriſch hinzuſchlendern. Die Hand¬
ſchrift der Briefe war ruhig, rein und zierlich, und
ſchon zu dem Character entſchieden, den Goethe's Hand
ſpaͤter immer behalten hat. Ich konnte nicht aufhoͤren,
die liebenswuͤrdigen Briefe wiederholt zu leſen, und ver¬
ließ Goethe in der gluͤcklichſten, dankbarſten Empfindung.
Goethe las mir ſeine Antwort an den Koͤnig von
Bayern. Er hatte ſich dargeſtellt wie einen der per¬
ſoͤnlich die Stufen der Villa hinaufgeht und ſich in des
Koͤnigs unmittelbarer Naͤhe muͤndlich aͤußert. Es mag
ſchwer ſeyn, ſagte ich, das richtige Verhaͤltniß zu treffen
wie man ſich in ſolchen Faͤllen zu halten habe. „Wer
wie ich, antwortete Goethe, ſein ganzes Leben hindurch
mit hohen Perſonen zu verkehren gehabt, fuͤr den iſt es
nicht ſchwer. Das Einzige dabey iſt, daß man ſich
nicht durchaus menſchlich gehen laſſe, vielmehr ſich ſtets
innerhalb einer gewiſſen Convenienz halte.“
Goethe ſprach darauf von der Redaction ſeines
zweyten Aufenthaltes in Rom, die ihn jetzt be¬
ſchaͤftiget.
[138]
„Bey den Briefen, ſagte er, die ich in jener Pe¬
riode geſchrieben, ſehe ich recht deutlich, wie man in
jedem Lebensalter gewiſſe Avantagen und Desavantagen,
in Vergleich zu fruͤheren oder ſpaͤteren Jahren hat. So
war ich in meinem vierzigſten Jahre uͤber einige Dinge
vollkommen ſo klar und geſcheidt als jetzt und in man¬
chen Hinſichten ſogar beſſer; aber doch beſitze ich jetzt
in meinem achtzigſten Vortheile, die ich mit jenen nicht
vertauſchen moͤchte.“
Waͤhrend Sie dieſes reden, ſagte ich, ſteht mir die
Metamorphoſe der Pflanze vor Augen, und
ich begreife ſehr wohl, daß man aus der Periode der
Bluͤthe, nicht in die der gruͤnen Blaͤtter, und aus der
des Samens und der Fruͤchte nicht in die des Bluͤthen¬
ſtandes zuruͤcktreten moͤchte.
„Ihr Gleichniß, ſagte Goethe, druͤckt meine Mei¬
nung vollkommen aus. Denken Sie ſich ein recht aus¬
gezacktes Blatt, fuhr er lachend fort, ob es aus dem
Zuſtande der freyeſten Entwickelung in die dumpfe Be¬
ſchraͤnktheit der Cotyledone zuruͤckmoͤchte? — Und nun
iſt es ſehr artig, daß wir ſogar eine Pflanze haben, die
als Symbol des hoͤchſten Alters gelten kann, indem ſie,
uͤber die Periode der Bluͤthe und der Frucht hinaus,
ohne weitere Production noch munter fortwaͤchſt.“
„Das Schlimme iſt, fuhr Goethe fort, daß man
im Leben ſo viel durch falſche Tendenzen iſt gehindert
[139] worden und daß man nie eine ſolche Tendenz erkannt,
als bis man ſich bereits davon frey gemacht.“
Woran aber, ſagte ich, ſoll man ſehen und wiſſen
daß eine Tendenz eine falſche ſey?
„Die falſche Tendenz, antwortete Goethe, iſt nicht
productiv, und wenn ſie es iſt, ſo iſt das Hervorge¬
brachte von keinem Werth. Dieſes an Andern gewahr
zu werden iſt nicht ſo gar ſchwer, aber an ſich ſelber,
iſt ein eigenes Ding und will eine große Freyheit des
Geiſtes. Und ſelbſt das Erkennen hilft nicht immer;
man zaudert und zweifelt und kann ſich nicht entſchlie¬
ßen, ſo wie es ſchwer haͤlt, ſich von einem geliebten
Maͤdchen los zu machen, von deren Untreue man laͤngſt
wiederholte Beweiſe hat. Ich ſage dieſes, indem ich
bedenke, wie viele Jahre es gebrauchte, bis ich einſah,
daß meine Tendenz zur bildenden Kunſt eine falſche ſey,
und wie viele andere, nachdem ich es erkannt, mich da¬
von loszumachen.“
Aber doch, ſagte ich, hat Ihnen dieſe Tendenz ſo
vielen Vortheil gebracht, daß man ſie kaum eine falſche
nennen moͤchte.
„Ich habe an Einſicht gewonnen, ſagte Goethe,
weßhalb ich mich auch daruͤber beruhigen kann. Und
das iſt der Vortheil, den wir aus jeder falſchen Ten¬
denz ziehen. Wer mit unzulaͤnglichem Talent ſich in
der Muſik bemuͤhet, wird freylich nie ein Meiſter wer¬
den, aber er wird dabey lernen, dasjenige zu erkennen
[140] und zu ſchaͤtzen, was der Meiſter gemacht hat. Trotz
aller meiner Beſtrebungen bin ich freylich kein Kuͤnſtler
geworden, aber, indem ich mich in allen Theilen der
Kunſt verſuchte, habe ich gelernt von jedem Strich
Rechenſchaft zu geben, und das Verdienſtliche vom
Mangelhaften zu unterſcheiden. Dieſes iſt kein kleiner
Gewinn, ſo wie denn ſelten eine falſche Tendenz ohne
Gewinn bleibt. So z. B. waren die Kreuzzuͤge zur
Befreyung des heiligen Grabes offenbar eine falſche
Tendenz; aber ſie hat das Gute gehabt, daß dadurch
die Tuͤrken immerfort geſchwaͤcht und gehindert worden
ſind ſich zu Herren von Europa zu machen.“
Wir ſprachen noch uͤber verſchiedene Dinge, und
Goethe erzaͤhlte ſodann von einem Werk uͤber Peter
den Großen von Seguͤr, das ihm intereſſant ſey
und ihm manchen Aufſchluß gegeben. „Die Lage von
Petersburg, ſagte er, iſt ganz unverzeihlich, um ſo mehr
wenn man bedenkt, daß gleich in der Naͤhe der Boden
ſich hebt, und daß der Kaiſer die eigentlich Stadt ganz
von aller Waſſersnoth haͤtte frey halten koͤnnen, wenn
er mit ihr ein wenig hoͤher hinaufgegangen waͤre, und
bloß den Hafen in der Niederung gelaſſen haͤtte. Ein
alter Schiffer machte ihm auch Gegenvorſtellungen, und
ſagte ihm voraus, daß die Population alle ſiebenzig
Jahre erſaufen wuͤrde. Es ſtand auch ein alter Baum
da, mit verſchiedenen Spuren eines hohen Waſſerſtan¬
des. Aber es war alles umſonſt, der Kaiſer blieb bey
[141] ſeiner Grille, und den Baum ließ er umhauen, damit
er nicht gegen ihn zeugen moͤchte.“
„Sie werden geſtehen, daß in dieſem Verfahren
eines ſo großen Characters durchaus etwas Problemati¬
ſches liege. Aber wiſſen Sie wie ich es mir erklaͤre?
Der Menſch kann ſeine Jugendeindruͤcke nicht los wer¬
den, und dieſes geht ſo weit, daß ſelbſt mangelhafte
Dinge, woran er ſich in ſolchen Jahren gewoͤhnt, und
in deren Umgebung er jene gluͤckliche Zeit gelebt hat,
ihm auch ſpaͤter in dem Grade lieb und werth bleiben,
daß er daruͤber wie verblendet iſt, und er das Fehlerhafte
daran nicht einſieht. So wollte denn Peter der Große
das liebe Amſterdam ſeiner Jugend in einer Hauptſtadt
am Ausfluſſe der Newa wiederholen; ſo wie die Hollaͤn¬
der immer verſucht worden ſind, in ihren entfernten
Beſitzungen ein neues Amſterdam wiederholt zu gruͤnden.“
Heute, nachdem Goethe uͤber Tiſch mir manches gute
Wort geſagt, erquickte ich mich zum Nachtiſch noch an
einigen Landſchaften von Claude Lorrain. „Die
Sammlung, ſagte Goethe, fuͤhrt den Titel: Liber veri¬
tatis, ſie koͤnnte eben ſo gut liber naturae et artis hei¬
ßen, denn es findet ſich hier die Natur und Kunſt auf
der hoͤchſten Stufe und im ſchoͤnſten Bunde.“
[142]
Ich fragte Goethe nach dem Herkommen von Claude
Lorrain und in welcher Schule er ſich gebildet. „Sein
naͤchſter Meiſter, ſagte Goethe, war Antonio Taſſo;
dieſer aber war ein Schuͤler von Paul Brill, ſo daß
alſo deſſen Schule und Maximen ſein eigentliches Fun¬
dament ausmachten und in ihm gewiſſermaßen zur
Bluͤthe kamen; denn dasjenige was bey dieſen Meiſtern
noch ernſt und ſtrenge erſcheint, hat ſich bey Claude
Lorrain zur heiterſten Anmuth und lieblichſten Freyheit
entfaltet. Über ihn konnte man nun weiter nicht
hinaus.“
„Übrigens iſt von einem ſo großen Talent, das in
einer ſo bedeutenden Zeit und Umgebung lebte, kaum
zu ſagen von wem es gelernt. Es ſieht ſich um, und
eignet ſich an, wo es fuͤr ſeine Intentionen Nahrung
findet. Claude Lorrain verdankt ohne Frage der Schule
der Carracci's eben ſo viel wie ſeinen naͤchſten namhaf¬
ten Meiſtern.“
„So ſagt man gewoͤhnlich: Julius Roman war
ein Schuͤler von Raphael; aber man koͤnnte eben ſo
gut ſagen: er war ein Schuͤler des Jahrhunderts. Nur
Guido Reni hatte einen Schuͤler, der Geiſt, Gemuͤth
und Kunſt ſeines Meiſters ſo in ſich aufgenommen hatte,
daß er faſt daſſelbige wurde und daſſelbige machte, wel¬
ches indeß ein eigener Fall war, der ſich kaum wieder¬
holt hat. Die Schule der Carracci dagegen war be¬
freyender Art, ſo daß durch ſie jedes Talent in ſeiner
[143] angeborenen Richtung entwickelt wurde, und Meiſter
hervorgingen, von denen keiner dem andern gleich ſah.
Die Carracci waren zu Lehrern der Kunſt wie geboren;
ſie fielen in eine Zeit wo nach allen Seiten hin bereits
das Beſte gethan war, und ſie daher ihren Schuͤlern
das Muſterhafteſte aus allen Faͤchern uͤberliefern konn¬
ten. Sie waren große Kuͤnſtler, große Lehrer, aber ich
koͤnnte nicht ſagen daß ſie eigentlich geweſen was man
geiſtreich nennt. Es iſt ein wenig kuͤhn, daß ich ſo
ſage, allein es will mir ſo vorkommen.“
Nachdem ich noch einige Landſchaften von Claude
Lorrain betrachtet, ſchlug ich ein Kuͤnſtler-Lexicon auf,
um zu ſehen, was uͤber dieſen großen Meiſter ausge¬
ſprochen. Wir fanden gedruckt: „Sein Hauptverdienſt
beſtand in der Palette.“ Wir ſahen uns an und lach¬
ten. „Da ſehen Sie, ſagte Goethe, wie viel man ler¬
nen kann, wenn man ſich an Buͤcher haͤlt und ſich
dasjenige aneignet was geſchrieben ſteht.“
Als ich dieſen Mittag hereintrat, ſaß Goethe mit
Hofrath Meyer ſchon bey Tiſch, in Geſpraͤchen uͤber
Italien und Gegenſtaͤnde der Kunſt. Goethe ließ einen
Band Claude Lorrain vorlegen, worin Meyer uns
diejenige Landſchaft ausſuchte und zeigte, von der die
[144] Zeitungen gemeldet, daß Peel ſich das Original fuͤr
viertauſend Pfund angeeignet. Man mußte geſtehen,
daß es ein ſchoͤnes Stuͤck ſey, und daß Herr Peel kei¬
nen ſchlechten Kauf gethan. An der rechten Seite des
Bildes fiel der Blick auf eine Gruppe ſitzender und ſte¬
hender Menſchen. Ein Hirte buͤckt ſich zu einem Maͤd¬
chen, das er zu unterrichten ſcheint wie man die Schal¬
mei blaſen muͤſſe. Mitten ſah man auf einen See im
Glanz der Sonne, und an der linken Seite des Bildes
gewahrte man weidendes Vieh im Schatten eines Ge¬
hoͤlzes. Beyde Gruppen balancirten ſich auf das Beſte,
und der Zauber der Beleuchtung wirkte maͤchtig, nach
gewohnter Art des Meiſters. Es war die Rede, wo
das Original ſich zeither befunden, und in weſſen Beſitz
Meyer es in Italien geſehen.
Das Geſpraͤch lenkte ſich ſodann auf das neue Be¬
ſitzthum des Koͤnigs von Bayern in Rom. „Ich
kenne die Villa ſehr gut, ſagte Meyer, ich bin oft
darin geweſen und gedenke der ſchoͤnen Lage mit Ver¬
gnuͤgen. Es iſt ein maͤßiges Schloß, das der Koͤnig
nicht fehlen wird ſich auszuſchmuͤcken und nach ſeinem
Sinne hoͤchſt anmuthig zu machen. Zu meiner Zeit
wohnte die Herzogin Amalie darin, und Herder in
dem Nebengebaͤude. Spaͤter bewohnte es der Herzog
von Suſſer und der Graf Muͤnſter. Fremde hohe
Herrſchaften haben es immer wegen der geſunden Lage
und herrlichen Ausſicht beſonders geliebt.“
[145]
Ich fragte Hofrath Meyer wie weit es von der
Villa di Malta bis zum Vatican ſey. „Von Trinita
di Monte, in der Naͤhe der Villa, ſagte Meyer, wo
wir Kuͤnſtler wohnten, iſt es bis zum Vatican eine gute
halbe Stunde. Wir machten taͤglich den Weg und oft
mehr als einmal.“ Der Weg uͤber die Bruͤcke, ſagte
ich, ſcheint etwas um zu ſeyn; ich daͤchte man kaͤme
naͤher, wenn man ſich uͤber die Tiber ſetzen ließe und
durch das Feld ginge. „Es iſt nicht ſo, ſagte Meyer,
aber wir hatten auch dieſen Glauben und ließen uns
ſehr oft uͤberſetzen. Ich erinnere mich einer ſolchen Über¬
fahrt, wo wir in einer ſchoͤnen Nacht bey hellem Mond¬
ſchein vom Vatican zuruͤckkamen. Von Bekannten wa¬
ren Bury, Hirt und Lips unter uns, und es hatte
ſich der gewoͤhnliche Streit entſponnen, wer groͤßer ſey,
Raphael oder Michel Angelo. So beſtiegen wir
die Faͤhre. Als wir das andere Ufer erreicht hatten und
der Streit noch in vollem Gange war, ſchlug ein luſti¬
ger Vogel, ich glaube es war Bury, vor, das Waſſer
nicht eher zu verlaſſen, als bis der Streit voͤllig abge¬
than ſey und die Parteyen ſich vereiniget haͤtten. Der
Vorſchlag wurde angenommen, der Faͤhrmann mußte
wieder abſtoßen und zuruͤckfahren. Aber nun wurde
das Disputiren erſt recht lebhaft, und wenn wir das
Ufer erreicht hatten, mußten wir immer wieder zuruͤck,
denn der Streit war nicht entſchieden. So fuhren wir
Stundenlang hinuͤber und heruͤber, wobey niemand ſich
II. 10[146] beſſer ſtand als der Schiffer, dem ſich die Bajoc's bey
jeder Überfahrt vermehrten. Er hatte einen zwoͤlfjaͤhri¬
gen Knaben bey ſich, der ihm half, und dem die Sache
endlich gar zu wunderlich erſcheinen mochte. „Vater,
ſagte er, was haben denn die Maͤnner, daß ſie nicht
ans Land wollen, und daß wir immer wieder zuruͤck
muͤſſen wenn wir ſie ans Ufer gebracht?“ „„Ich weiß
nicht mein Sohn, antwortete der Schiffer, aber ich
glaube ſie ſind toll.““ Endlich, um nicht die ganze
Nacht hin und her zu fahren, vereinigte man ſich noth¬
duͤrftig und wir gingen zu Lande.“
Wir freuten uns und lachten uͤber dieſe anmuthige
Anecdote von kuͤnſtleriſcher Verruͤcktheit. Hofrath Meyer
war in der beſten Laune, er fuhr fort uns von Rom
zu erzaͤhlen, und Goethe und ich hatten Genuß ihn zu
hoͤren.
„Der Streit uͤber Raphael und Michel Angelo,
ſagte Meyer, war an der Ordnung und wurde taͤglich
gefuͤhrt, wo genugſame Kuͤnſtler zuſammentrafen, ſo daß
von beyden Parteyen ſich einige anweſend fanden. In
einer Oſterie, wo man ſehr billigen und guten Wein
trank, pflegte er ſich zu entſpinnen; man berief ſich auf
Gemaͤlde, auf einzelne Theile derſelben, und wenn die
Gegenpartey widerſtritt und dieß und jenes nicht zuge¬
ben wollte, entſtand das Beduͤrfniß der unmittelbaren
Anſchauung der Bilder. Streitend verließ man die
Oſteri und ging raſchen Schrittes zur Sixtiniſchen Ca¬
[147] pelle, wozu ein Schuſter den Schluͤſſel hatte, der immer
fuͤr vier Groſchen aufſchloß. Hier, vor den Bildern, ging
es nun an Demonſtrationen, und wenn man lange ge¬
nug geſtritten, kehrte man in die Oſterie zuruͤck, um
bey einer Flaſche Wein ſich zu verſoͤhnen und alle Con¬
troverſen zu vergeſſen. So ging es jeden Tag, und der
Schuſter an der Sixtiniſchen Capelle erhielt manche vier
Groſchen.“
Bey dieſer heiteren Gelegenheit erinnerte man ſich
eines anderen Schuſters, der auf einem antiken Mar¬
morkopf gewoͤhnlich ſein Leder geklopft. „Es war das
Portrait eines roͤmiſchen Kaiſers, ſagte Meyer; die
Antike ſtand vor des Schuſters Thuͤre, und wir haben
ihn ſehr oft in[] dieſer loͤblichen Beſchaͤftigung geſehen
wenn wir vorbeygingen.“
Wir ſprachen uͤber Leute, die, ohne eigentliches Ta¬
lent, zur Productivitaͤt gerufen werden, und uͤber An¬
dere, die uͤber Dinge ſchreiben die ſie nicht verſtehen.
„Das Verfuͤhreriſche fuͤr junge Leute, ſagte Goethe,
iſt dieſes. Wir leben in einer Zeit, wo ſo viele Cultur
verbreitet iſt, daß ſie ſich gleichſam der Atmoſphaͤre mit¬
getheilt hat, worin ein junger Menſch athmet. Poe¬
10 *[148] tiſche und philoſophiſche Gedanken leben und regen ſich
in ihm, mit der Luft ſeiner Umgebung hat er ſie einge¬
ſogen, aber er denkt ſie waͤren ſein Eigenthum, und ſo
ſpricht er ſie als das Seinige aus. Nachdem er aber der
Zeit wiedergegeben hat was er von ihr empfangen, iſt
er arm. Er gleicht einer Quelle, die von zugetragenem
Waſſer eine Weile geſprudelt hat, und die aufhoͤrt zu
rieſeln, ſobald der erborgte Vorrath erſchoͤpft iſt.“
Ich erzaͤhlte Goethe von einem Durchreiſenden, der
bey Hegeln ein Collegium uͤber den Beweis des Da¬
ſeyns Gottes gehoͤrt. Goethe ſtimmte mir bey, daß
dergleichen Vorleſungen nicht mehr an der Zeit ſeyen.
„Die Periode des Zweifels, ſagte er, iſt voruͤber;
es zweifelt jetzt ſo wenig jemand an ſich ſelber als
an Gott. Zudem ſind die Natur Gottes, die Un¬
ſterblichkeit, das Weſen unſerer Seele und ihr Zu¬
ſammenhang mit dem Koͤrper, ewige Probleme, worin
uns die Philoſophen nicht weiter bringen. Ein franzoͤ¬
ſiſcher Philoſoph der neueſten Tage faͤngt ſein Capitel
ganz getroſt folgendermaßen an: „Es iſt bekannt, daß
der Menſch aus zwey Theilen beſteht, aus Leib und
Seele. Wir wollen demnach mit dem Leibe anfangen
[149] und ſodann von der Seele reden.“ Fichte ging doch
ſchon ein wenig weiter und zog ſich etwas kluͤger aus der
Sache, indem er ſagte: Wir wollen handeln vom Men¬
ſchen als Leib betrachtet und vom Menſchen als Seele
betrachtet. Er fuͤhlte zu wohl, daß ſich ein ſo enge
verbundenes Ganzes nicht trennen laſſe. Kant hat un¬
ſtreitig am meiſten genuͤtzt, indem er die Grenzen zog,
wie weit der menſchliche Geiſt zu dringen faͤhig ſey,
und daß er die unaufloͤslichen Probleme liegen ließ.
Was hat man nicht alles uͤber Unſterblichkeit philoſo¬
phirt! und wie weit iſt man gekommen! — Ich zweifle
nicht an unſerer Fortdauer, denn die Natur kann die
Entelechie nicht entbehren. Aber wir ſind nicht auf
gleiche Weiſe unſterblich, und um ſich kuͤnftig als große
Entelechie zu manifeſtiren, muß man auch eine ſeyn.“
„Waͤhrend aber die Deutſchen ſich mit Aufloͤſung
philoſophiſcher Probleme quaͤlen, lachen uns die Eng¬
laͤnder mit ihrem großen practiſchen Verſtande aus, und
gewinnen die Welt. Jedermann kennt ihre Declama¬
tionen gegen den Sclavenhandel, und waͤhrend ſie uns
weiß machen wollen, was fuͤr humane Maximen ſolchem
Verfahren zu Grunde liegen, entdeckt ſich jetzt, daß das
wahre Motiv ein reales Object ſey, ohne welches es
die Englaͤnder bekanntlich nie thun, und welches man
haͤtte wiſſen ſollen. An der weſtlichen Kuͤſte von Afrika
gebrauchen ſie die Neger ſelbſt in ihren großen Beſitzun¬
gen, und es iſt gegen ihr Intereſſe, daß man ſie dort
[150] ausfuͤhre. In Amerika haben ſie ſelbſt große Neger-
Colonieen angelegt, die ſehr productiv ſind und jaͤhrlich
einen großen Ertrag an Schwarzen liefern. Mit dieſen
verſehen ſie die nordamerikaniſchen Beduͤrfniſſe, und in¬
dem ſie auf ſolche Weiſe einen hoͤchſt eintraͤglichen Han¬
del treiben, waͤre die Einfuhr von Außen ihrem mer¬
kantiliſchen Intereſſe ſehr im Wege, und ſie predigen
daher, nicht ohne Object, gegen den inhumanen Han¬
del. Noch auf dem Wiener Congreß argumentirte der
engliſche Geſandte ſehr lebhaft dagegen; aber der por¬
tugieſiſche war klug genug, in aller Ruhe zu antwor¬
ten, daß er nicht wiſſe, daß man zuſammengekommen
ſey, ein allgemeines Weltgericht abzugeben, oder die
Grundſaͤtze der Moral feſtzuſetzen. — Er kannte das
engliſche Object recht gut, und ſo hatte auch er das
ſeinige, wofuͤr er zu reden und welches er zu erlangen
wußte.“
Heute nach Tiſch las Goethe mir die erſte Scene
vom zweyten Act des Fauſt. Der Eindruck war groß,
und verbreitete in meinem Innern ein hohes Gluͤck.
Wir ſind wieder in Fauſts Studirzimmer verſetzt, und
Mephiſtopheles findet noch alles am alten Platze wie er
es verlaſſen hat. Fauſts alten Studirpelz nimmt er
[151] vom Haken; tauſend Motten und Inſecten flattern her¬
aus, und indem Mephiſtopheles ausſpricht, wo dieſe
ſich wieder unterthun, tritt uns die umgebende Localitaͤt
ſehr deutlich vor die Augen. Er zieht den Pelz an,
um, waͤhrend Fauſt hinter einem Vorhange im paraly¬
ſirten Zuſtande liegt, wieder einmal den Herrn zu ſpie¬
len. Er zieht die Klingel; die Glocke giebt in den ein¬
ſamen alten Kloſter-Hallen einen ſo fuͤrchterlichen Ton,
daß die Thuͤren aufſpringen und die Mauern erbeben.
Der Famulus ſtuͤrzt herbey und findet in Fauſts Stuhle
den Mephiſtopheles ſitzen, den er nicht kennt, aber vor
dem er Reſpect hat. Auf Befragen giebt er Nachricht
von Wagner, der unterdeß ein beruͤhmter Mann gewor¬
den und auf die Ruͤckkehr ſeines Herrn hofft. Er iſt,
wie wir hoͤren, in dieſem Augenblick in ſeinem Labora¬
torium tief beſchaͤftigt, einen Homunculus hervorzubrin¬
gen. Der Famulus wird entlaſſen; es erſcheint der
Baccalaureus, derſelbige, den wir vor einigen Jahren
als ſchuͤchternen jungen Studenten geſehen, wo Mephi¬
ſtopheles, in Fauſts Rocke, ihn zum Beſten hatte. Er
iſt unterdeß ein Mann geworden und ſo voller Duͤnkel,
daß ſelbſt Mephiſtopheles nicht mit ihm auskommen
kann, der mit ſeinem Stuhle immer weiter ruͤckt und
ſich zuletzt ans Parterre wendet.
Goethe las die Scene bis zu Ende. Ich freute
mich an der jugendlich productiven Kraft, und wie alles
ſo knapp beyſammen war.
[152]
„Da die Conception ſo alt iſt, ſagte Goethe, und
ich ſeit funfzig Jahren daruͤber nachdenke, ſo hat ſich
das innere Material ſo ſehr gehaͤuft, daß jetzt das Aus¬
ſcheiden und Ablehnen die ſchwere Operation iſt. Die
Erfindung des ganzen zweyten Theiles iſt wirklich ſo
alt wie ich ſage. Aber daß ich ihn erſt jetzt ſchreibe,
nachdem ich uͤber die weltlichen Dinge ſo viel klarer
geworden, mag der Sache zu Gute kommen. Es geht
mir damit wie Einem, der in ſeiner Jugend ſehr viel
kleines Silber- und Kupfer-Geld hat, das er waͤhrend
dem Lauf ſeines Lebens immer bedeutender einwechſelt,
ſo daß er zuletzt ſeinen Jugendbeſitz in reinen Gold¬
ſtuͤcken vor ſich ſieht.“
Wir ſprachen uͤber die Figur des Baccalaureus. Iſt
in ihm, ſagte ich, nicht eine gewiſſe Claſſe ideeller Phi¬
loſophen gemeint? „Nein, ſagte Goethe, es iſt die An¬
maßlichkeit in ihm perſonificirt, die beſonders der Ju¬
gend eigen iſt, wovon wir in den erſten Jahren nach
unſerm Befreyungskriege ſo auffallende Beweiſe hatten.
Auch glaubt jeder in ſeiner Jugend, daß die Welt
eigentlich erſt mit ihm angefangen, und daß Alles eigent¬
lich um ſeinetwillen da ſey. Sodann hat es im Orient
wirklich einen Mann gegeben, der jeden Morgen ſeine
Leute um ſich verſammelte, und ſie nicht eher an die
Arbeit gehen ließ, als bis er der Sonne geheißen auf¬
zugehen. Aber hiebey war er ſo klug, dieſen Befehl
[153] nicht eher auszuſprechen, als bis die Sonne wirklich
auf dem Punkt ſtand von ſelber zu erſcheinen.“
Wir ſprachen noch Vieles uͤber den Fauſt und deſſen
Compoſition, ſo wie uͤber verwandte Dinge.
Goethe war eine Weile in ſtilles Nachdenken ver¬
ſunken; dann begann er folgendermaßen.
„Wenn man alt iſt, ſagte er, denkt man uͤber die
weltlichen Dinge anders als da man jung war. So
kann ich mich des Gedankens nicht erwehren, daß die
Daͤmonen, um die Menſchheit zu necken und zum Beſten
zu haben, mitunter einzelne Figuren hinſtellen, die ſo
anlockend ſind, daß jeder nach ihnen ſtrebt, und ſo groß,
daß niemand ſie erreicht. So ſtellten ſie den Raphael
hin, bey dem Denken und Thun gleich vollkommen war;
einzelne treffliche Nachkommen haben ſich ihm genaͤhert,
aber erreicht hat ihn niemand. So ſtellten ſie den Mo¬
zart hin, als etwas Unerreichbares in der Muſik. Und
ſo in der Poeſie Shakſpeare. Ich weiß was Sie mir
gegen dieſen ſagen koͤnnen, aber ich meine nur das Na¬
turell, das große Angeborene der Natur. So ſteht
Napoleon unerreichbar da. Daß die Ruſſen ſich ge¬
maͤßigt haben und nicht nach Conſtantinopel hineinge¬
gangen ſind, iſt zwar ſehr groß, aber auch ein ſolcher
Zug findet ſich in Napoleon, denn auch er hat ſich ge¬
maͤßigt und iſt nicht nach Rom gegangen.“
An dieſes reiche Thema knuͤpfte ſich viel Verwandtes;
bey mir ſelbſt aber dachte ich im Stillen, daß auch mit
[154] Goethe die Daͤmonen ſo etwas moͤchten im Sinne haben,
indem auch er eine Figur ſey, zu anlockend, um ihm
nicht nachzuſtreben, und zu groß, um ihn zu erreichen.
Heute nach Tiſch las Goethe mir die zweyte Scene
des zweyten Acts von Fauſt, wo Mephiſtopheles zu
Wagner geht, der durch chemiſche Kuͤnſte einen Menſchen
zu machen im Begriff iſt. Das Werk gelingt, der Ho¬
munculus erſcheint in der Flaſche, als leuchtendes We¬
ſen, und iſt ſogleich thaͤtig. Wagners Fragen uͤber un¬
begreifliche Dinge lehnt er ab, das Raiſonniren iſt nicht
ſeine Sache; er will handeln, und da iſt ihm das
Naͤchſte unſer Held Fauſt, der in ſeinem paralyſirten
Zuſtande einer hoͤheren Huͤlfe bedarf. Als ein Weſen,
dem die Gegenwart durchaus klar und durchſichtig iſt,
ſieht der Homunculus das Innere des ſchlafenden Fauſt,
den ein ſchoͤner Traum von der Leda begluͤckt, wie ſie,
in anmuthiger Gegend badend, von Schwaͤnen beſucht
wird. Indem der Homunculus dieſen Traum ausſpricht,
erſcheint vor unſerer Seele das reizendſte Bild. Me¬
phiſtopheles ſieht davon nichts, und der Homunculus
verſpottet ihn wegen ſeiner nordiſchen Natur.
„Überhaupt, ſagte Goethe, werden Sie bemerken,
[155] daß der Mephiſtopheles gegen den Homunculus in Nach¬
theil zu ſtehen kommt, der ihm an geiſtiger Klarheit
gleicht, und durch ſeine Tendenz zum Schoͤnen und
foͤrderlich Thaͤtigen ſo viel vor ihm voraus hat. Übri¬
gens nennt er ihn Herr Vetter; denn ſolche geiſtige
Weſen, wie der Homunculus, die durch eine vollkom¬
mene Menſchwerdung noch nicht verduͤſtert und beſchraͤnkt
worden, zaͤhlte man zu den Daͤmonen, wodurch denn
unter Beyden eine Art von Verwandtſchaft exiſtirt.“
Gewiß, ſagte ich, erſcheint der Mephiſtopheles hier
in einer untergeordneten Stellung; allein ich kann mich
des Gedankens nicht erwehren, daß er zur Entſtehung
des Homunculus heimlich gewirkt hat, ſo wie wir ihn
bisher kennen und wie er auch in der Helena immer
als heimlich wirkendes Weſen erſcheint. Und ſo hebt er
ſich denn im Ganzen wieder, und kann ſich in ſeiner
ſuperioren Ruhe im Einzelnen wohl etwas gefallen
laſſen.
„Sie empfinden das Verhaͤltniß ſehr richtig, ſagte
Goethe; es iſt ſo, und ich habe ſchon gedacht, ob ich
nicht dem Mephiſtopheles, wie er zu Wagner geht und
der Homunculus im Werden iſt, einige Verſe in den
Mund legen ſoll, wodurch ſeine Mitwirkung ausgeſpro¬
chen und dem Leſer deutlich wuͤrde.“
Das koͤnnte nicht ſchaden, ſagte ich. Angedeutet
jedoch iſt es ſchon, indem Mephiſtopheles die Scene
mit den Worten ſchließt:
[156]
„Sie haben Recht, ſagte Goethe, dieß koͤnnte dem
Aufmerkenden faſt genug ſeyn; indeß will ich doch noch
auf einige Verſe ſinnen.“
Aber, ſagte ich, jenes Schlußwort iſt ein großes,
das man nicht ſo leicht ausdenken wird.
„Ich daͤchte, ſagte Goethe, man haͤtte eine Weile
daran zu zehren. Ein Vater, der ſechs Soͤhne hat, iſt
verloren, er mag ſich ſtellen wie er will. Auch Koͤnige
und Miniſter, die viele Perſonen zu großen Stellen ge¬
bracht haben, moͤgen aus ihrer Erfahrung ſich etwas
dabey denken koͤnnen.“
Fauſts Traum von der Leda trat mir wieder vor die
Seele, und ich uͤberſah dieſes im Geiſt als einen hoͤchſt
bedeutenden Zug in der Compoſition.
Es iſt wunderbar, ſagte ich, wie in einem ſolchen
Werke die einzelnen Theile auf einander ſich beziehen,
auf einander wirken und einander ergaͤnzen und heben.
Durch dieſen Traum von der Leda hier im zweyten Act
gewinnt ſpaͤter die Helena erſt das eigentliche Funda¬
ment. Dort iſt immer von Schwaͤnen und einer
Schwanerzeugten die Rede; aber hier erſcheint dieſe
Handlung ſelbſt, und wenn man nun mit dem ſinnli¬
chen Eindruck ſolcher Situation ſpaͤter zur Helena kommt,
wie wird dann alles deutlicher und vollſtaͤndiger erſchei¬
nen! —
[157]
Goethe gab mir Recht, und es ſchien ihm lieb, daß
ich dieſes bemerkte. „So auch, ſagte er, werden Sie
finden, daß ſchon immer in dieſen fruͤheren Acten das
Claſſiſche und Romantiſche anklingt und zur Sprache
gebracht wird, damit es, wie auf einem ſteigenden
Terrain, zur Helena hinaufgehe, wo beyde Dichtungs¬
formen entſchieden hervortreten und eine Art von Aus¬
gleichung finden.“
„Die Franzoſen, fuhr Goethe fort, fangen nun auch
an uͤber dieſe Verhaͤltniſſe richtig zu denken. „„Es
iſt alles gut und gleich, ſagen ſie, Claſſiſches wie Ro¬
mantiſches, es kommt nur darauf an, daß man ſich
dieſer Formen mit Verſtand zu bedienen und darin vor¬
trefflich zu ſeyn vermoͤge. So kann man auch in Bey¬
den abſurd ſeyn, und dann taugt das Eine ſo wenig
wie das Andere.““ Ich daͤchte das waͤre vernuͤnftig
und ein gutes Wort, womit man ſich eine Weile beru¬
higen koͤnnte.“
Bey Goethe zu Tiſch. Wir ſprachen vom Canz¬
ler, und ich fragte Goethe, ob er ihm bey ſeiner Zu¬
ruͤckkunft aus Italien keine Nachricht von Manzoni
mitgebracht. „Er hat mir uͤber ihn geſchrieben, ſagte
[158] Goethe. Der Canzler hat Manzoni beſucht, er lebt auf
ſeinem Landgute in der Naͤhe von Mayland und iſt zu
meinem Bedauern fortwaͤhrend kraͤnklich.“
Es iſt eigen, ſagte ich, daß man ſo haͤufig bey
ausgezeichneten Talenten, beſonders bey Poeten, findet,
daß ſie eine ſchwaͤchliche Conſtitution haben.
„Das Außerordentliche was ſolche Menſchen leiſten,
ſagte Goethe, ſetzt eine ſehr zarte Organiſation voraus,
damit ſie ſeltener Empfindungen faͤhig ſeyn und die
Stimme der Himmliſchen vernehmen moͤgen. Nun iſt
eine ſolche Organiſation, im Conflict mit der Welt und
den Elementen, leicht geſtoͤrt und verletzt, und wer
nicht, wie Voltaire, mit großer Senſibilitaͤt eine
außerordentliche Zaͤhheit verbindet, iſt leicht einer fort¬
geſetzten Kraͤnklichkeit unterworfen. Schiller war auch
beſtaͤndig krank. Als ich ihn zuerſt kennen lernte, glaubte
ich, er lebte keine vier Wochen. Aber auch er hatte eine
gewiſſe Zaͤhheit; er hielt ſich noch die vielen Jahre und
haͤtte ſich bey geſuͤnderer Lebensweiſe noch laͤnger halten
koͤnnen.“
Wir ſprachen vom Theater und inwiefern eine ge¬
wiſſe Vorſtellung gelungen ſey.
„Ich habe Unzelmann in dieſer Rolle geſehen, ſagte
Goethe, bey dem es einem immer wohl wurde, und
zwar durch die große Freyheit ſeines Geiſtes, die er
[159] uns mittheilte. Denn es iſt mit der Schauſpielkunſt
wie mit allen uͤbrigen Kuͤnſten. Was der Kuͤnſtler thut
oder gethan hat, ſetzt uns in die Stimmung, in der er
ſelber war, da er es machte. Eine freye Stimmung
des Kuͤnſtlers macht uns frey, dagegen eine beklommene
macht uns baͤnglich. Dieſe Freyheit im Kuͤnſtler iſt ge¬
woͤhnlich dort, wo er ganz ſeiner Sache gewachſen iſt,
weßhalb es uns denn bey niederlaͤndiſchen Gemaͤlden ſo
wohl wird, indem jene Kuͤnſtler das naͤchſte Leben dar¬
ſtellten, wovon ſie vollkommen Herr waren. Sollen wir
nun im Schauſpieler dieſe Freyheit des Geiſtes empfin¬
den, ſo muß er durch Studium, Phantaſie und Na¬
turell vollkommen Herr ſeiner Rolle ſeyn, alle koͤrper¬
lichen Mittel muͤſſen ihm zu Gebote ſtehen, und eine
gewiſſe jugendliche Energie muß ihn unterſtuͤtzen. Das
Studium iſt indeſſen nicht genuͤgend ohne Einbildungs¬
kraft, und Studium und Einbildungskraft nicht hinrei¬
chend ohne Naturell. Die Frauen thun das Meiſte
durch Einbildungskraft und Temperament, wodurch denn
die Wolff ſo vortrefflich war.“
Wir unterhielten uns ferner uͤber dieſen Gegenſtand,
wobey die vorzuͤglichſten Schauſpieler der Weimariſchen
Buͤhne zur Sprache kamen, und mancher einzelnen Rolle
mit Anerkennung gedacht wurde.
Mir trat indeß der Fauſt wieder vor die Seele,
und ich gedachte des Homunculus, und wie man dieſe
[160] Figur auf der Buͤhne deutlich machen wolle. Wenn
man auch das Perſoͤnchen ſelber nicht ſaͤhe, ſagte ich,
doch das Leuchtende in der Flaſche muͤßte man ſehen,
und das Bedeutende was er zu ſagen hat, muͤßte doch
ſo vorgetragen werden, wie es von einem Kinde nicht
geſchehen kann.
„Wagner, ſagte Goethe, darf die Flaſche nicht aus
den Haͤnden laſſen, und die Stimme muͤßte ſo kommen,
als wenn ſie aus der Flaſche kaͤme. Es waͤre eine Rolle
fuͤr einen Bauchredner, wie ich deren gehoͤrt habe, und
der ſich gewiß gut aus der Affaire ziehen wuͤrde.“
So auch gedachten wir des großen Carnevals und
inwiefern es moͤglich, es auf der Buͤhne zur Erſcheinung
zu bringen. Es waͤre doch noch ein wenig mehr, ſagte
ich, wie der Markt von Neapel. „Es wuͤrde ein ſehr
großes Theater erfordern, ſagte Goethe, und es iſt faſt
nicht denkbar.“ Ich hoffe es noch zu erleben, war
meine Antwort. Beſonders freue ich mich auf den Ele¬
phanten, von der Klugheit gelenkt, die Victoria oben,
und Furcht und Hoffnung in Ketten an den Seiten.
Es iſt doch eine Allegorie wie ſie nicht leicht beſſer
exiſtiren moͤchte.
„Es waͤre auf der Buͤhne nicht der erſte Elephant,
ſagte Goethe. In Paris ſpielt einer eine voͤllige Rolle;
er iſt von einer Volkspartey und nimmt dem einen Koͤ¬
nig die Krone ab und ſetzt ſie dem andern auf, welches
[161] freylich grandios ſeyn muß. Sodann, wenn am Schluſſe
des Stuͤcks der Elephant herausgerufen wird, erſcheint
er ganz alleine, macht ſeine Verbeugung und geht wie¬
der zuruͤck. Sie ſehen alſo, daß bey unſerm Carneval
auf den Elephanten zu rechnen waͤre. Aber das Ganze
iſt viel zu groß und erfordert einen Regiſſeur wie es
deren nicht leicht giebt.“
Es iſt aber ſo voller Glanz und Wirkung, ſagte
ich, daß eine Buͤhne es ſich nicht leicht wird entgehen
laſſen. Und wie es ſich aufbaut und immer bedeutender
wird! Zuerſt ſchoͤne Gaͤrtnerinnen und Gaͤrtner, die
das Theater decoriren und zugleich eine Maſſe bilden,
ſo daß es den immer bedeutender werdenden Erſcheinun¬
gen nicht an Umgebung und Zuſchauern mangelt. Dann,
nach dem Elephanten, das Drachengeſpann aus dem
Hintergrunde durch die Luͤfte kommend, uͤber den Koͤpfen
hervor. Ferner die Erſcheinung des großen Pan und
wie zuletzt alles in ſcheinbarem Feuer ſteht und ſchlie߬
lich von herbeyziehenden feuchten Nebelwolken gedaͤmpft
und geloͤſcht wird! — Wenn das alles ſo zur Erſchei¬
nung kaͤme wie Sie es gedacht haben, das Publicum
muͤßte vor Erſtaunen daſitzen und geſtehen, daß es ihm
an Geiſt und Sinnen fehle, den Reichthum ſolcher Er¬
ſcheinungen wuͤrdig aufzunehmen.
„Geht nur, ſagte Goethe, und laßt mir das Publi¬
cum, von dem ich nichts hoͤren mag. Die Haupſache
iſt, daß es geſchrieben ſteht; mag nun die Welt damit
II. 11[162] gebahren ſo gut ſie kann, und es benutzen ſo weit ſie
es faͤhig iſt.“
Wir ſprachen darauf uͤber den Knabe Lenker.
„Daß in der Maske des Plutus der Fauſt ſteckt,
und in der Maske des Geizes der Mephiſtophe¬
les, werden Sie gemerkt haben. Wer aber iſt der
Knabe Lenker.“ — Ich zauderte und wußte nicht
zu antworten. „Es iſt der Euphorien!“ ſagte
Goethe. — Wie kann aber dieſer, fragte ich, ſchon
hier im Carneval erſcheinen, da er doch erſt im dritten
Act geboren wird? — „Der Euphorion, antwortete
Goethe, iſt kein menſchliches, ſondern nur ein alle¬
goriſches Weſen. Es iſt in ihm die Poeſie per¬
ſonificirt, die an keine Zeit, an keinen Ort und an
keine Perſon gebunden iſt. Derſelbige Geiſt, dem es
ſpaͤter beliebt Euphorien zu ſeyn, erſcheint jetzt als
Knabe Lenker, und er iſt darin den Geſpenſtern aͤhn¬
lich, die uͤberall gegenwaͤrtig ſeyn und zu jeder Stunde
hervortreten koͤnnen.“
Heute nach Tiſch las Goethe mir die Scene vom
Papiergelde.
„Sie erinnern ſich, ſagte er, daß bey der Reichs¬
[163] verſammlung das Ende vom Liede iſt, daß es an Geld
fehlt, welches Mephiſtopheles zu verſchaffen verſpricht.
Dieſer Gegenſtand geht durch die Maskerade fort, wo
Mephiſtopheles es anzuſtellen weiß, daß der Kaiſer in
der Maske des großen Pan ein Papier unterſchreibt,
welches, dadurch zu Geldeswerth erhoben, tauſendmal
vervielfaͤltigt und verbreitet wird.“
„In dieſer Scene nun wird die Angelegenheit
vor dem Kaiſer zur Sprache gebracht, der noch nicht
weiß was er gethan hat. Der Schatzmeiſter uͤber¬
giebt die Banknoten und macht das Verhaͤltniß deutlich.
Der Kaiſer, anfaͤnglich erzuͤrnt, dann bey naͤherer Ein¬
ſicht in den Gewinn hoch erfreut, macht mit der neuen
Papier-Gabe ſeiner Umgebung reichliche Geſchenke, und
laͤßt im Abgehen noch einige tauſend Kronen fallen, die
der dicke Narr zuſammenrafft und ſogleich geht, um das
Papier in Grundbeſitz zu verwandeln.“
Indem Goethe die herrliche Scene las, freute ich
mich uͤber den gluͤcklichen Griff, daß er das Papiergeld
von Mephiſtopheles herleitet und dadurch ein Haupt¬
intereſſe des Tages ſo bedeutend verknuͤpft und verewigt.
Kaum war die Scene geleſen und manches daruͤber
hin und her geſprochen als Goethe's Sohn herunterkam
und ſich zu uns an den Tiſch ſetzte. Er erzaͤhlte uns von
Coopers letztem Roman, den er geleſen und den er in ſei¬
ner anſchaulichen Art auf das Beſte referirte. Von unſerer
geleſenen Scene verriethen wir nichts, aber er ſelbſt fing
11*[164] ſehr bald an, viel uͤber preußiſche Treſorſcheine zu reden
und daß man ſie uͤber den Werth bezahle. Waͤhrend
der junge Goethe ſo ſprach, blickte ich den Vater an
mit einigem Laͤcheln, welches er erwiederte und wodurch
wir uns zu verſtehen gaben, wie ſehr das Dargeſtellte
an der Zeit ſey.
Heute nach Tiſch las Goethe mir die fernere
Scene.
„Nachdem ſie nun am Kaiſerlichen Hofe Geld haben,
ſagte er, wollen ſie amuͤſirt ſeyn. Der Kaiſer wuͤnſcht
Paris und Helena zu ſehen, und zwar ſollen ſie durch Zau¬
berkuͤnſte in Perſon erſcheinen. Da aber Mephiſtopheles
mit dem griechiſchen Alterthum nichts zu thun und uͤber
ſolche Figuren keine Gewalt hat, ſo bleibt dieſes Werk
Fauſten zugeſchoben, dem es auch vollkommen gelingt.
Was aber Fauſt unternehmen muß um die Erſcheinung
moͤglich zu machen, iſt noch nicht ganz vollendet, und
ich leſe es Ihnen das naͤchſte Mal. Die Erſcheinung
von Paris und Helena ſelbſt aber ſollen Sie heute
hoͤren.“
Ich war gluͤcklich im Vorgefuͤhl des Kommenden
und Goethe fing an zu leſen. In dem alten Ritter¬
[165] ſaale ſah ich Kaiſer und Hof einziehen, um das Schau¬
ſpiel zu ſehen. Der Vorhang hebt ſich und das Thea¬
ter, ein griechiſcher Tempel, iſt mir vor Augen. Me¬
phiſtopheles im Souffleurkaſten, der Aſtrolog auf der
einen Seite des Proſceniums, Fauſt auf der andern
mit dem Dreyfuß heraufſteigend. Er ſpricht die noͤthige
Formel aus und es erſcheint, aus dem Weihrauch¬
dampf der Schale ſich entwickelnd, Paris. Indem
der ſchoͤne Juͤngling bey aͤtheriſcher Muſik ſich be¬
wegt, wird er beſchrieben. Er ſetzt ſich, er lehnt ſich,
den Arm uͤber den Kopf gebogen, wie wir ihn auf
alten Bildwerken dargeſtellt finden. Er iſt das Ent¬
zuͤcken der Frauen, die die Reize ſeiner Jugendfuͤlle
ausſprechen; er iſt der Haß der Maͤnner, in denen ſich
Neid und Eiferſucht regt und die ihn herunterziehen
wie ſie nur koͤnnen. Paris entſchlaͤft und es erſcheint
Helena. Sie naht ſich dem Schlafenden, ſie druͤckt
einen Kuß auf ſeine Lippen; ſie entfernt ſich von ihm
und wendet ſich, nach ihm zuruͤckzublicken. In dieſer
Wendung erſcheint ſie beſonders reizend. Sie macht
den Eindruck auf die Maͤnner, wie Paris auf die
Frauen. Die Maͤnner zu Liebe und Lob entzuͤndet, die
Frauen zu Neid, Haß und Tadel. Fauſt ſelber iſt
ganz Entzuͤcken und vergißt, im Anblick der Schoͤnheit
die er hervorgerufen, Zeit, Ort und Verhaͤltniß, ſo daß
Mephiſtopheles jeden Augenblick noͤthig findet, ihn zu
erinnern, daß er ja ganz aus der Rolle falle. Neigung
[166] und Einverſtaͤndniß ſcheint zwiſchen Paris und Helena
zuzunehmen, der Juͤngling umfaßt ſie, um ſie zu ent¬
fuͤhren; Fauſt will ſie ihm entreißen, aber, indem er
den Schluͤſſel gegen ihn wendet, erfolgt eine heftige
Exploſion, die Geiſter gehen in Dunſt auf und Fauſt
liegt paralyſirt am Boden.
1830.
[[168]][[169]]Goethe zeigte mir das engliſche Taſchenbuch Keepsake
fuͤr 1830, mit ſehr ſchoͤnen Kupfern und einigen hoͤchſt
intereſſanten Briefen von Lord Byron, die ich zum
Nachtiſche las. Er ſelbſt hatte derweil die neueſte fran¬
zoͤſiſche Überſetzung ſeines Fauſt von Gérard zur
Hand genommen, worin er blaͤtterte und mitunter zu
leſen ſchien.
„Es gehen mir wunderliche Gedanken durch den
Kopf, ſagte er, wenn ich bedenke, daß dieſes Buch noch
jetzt in einer Sprache gilt, in der vor funfzig Jahren
Voltaire geherrſcht hat. Sie koͤnnen ſich hiebey nicht
denken was ich mir denke, und haben keinen Begriff
von der Bedeutung, die Voltaire und ſeine großen Zeit¬
genoſſen in meiner Jugend hatten, und wie ſie die ganze
ſittliche Welt beherrſchten. Es geht aus meiner Bio¬
graphie nicht deutlich hervor was dieſe Maͤnner fuͤr einen
Einfluß auf meine Jugend gehabt, und was es mich
gekoſtet, mich gegen ſie zu wehren und mich auf eigene
[170] Fuͤße in ein wahreres Verhaͤltniß zur Natur zu
ſtellen.“
Wir ſprachen uͤber Voltaire Ferneres, und Goethe
recitirte mir das Gedicht les Systèmes, woraus ich mir
abnahm, wie ſehr er ſolche Sachen in ſeiner Jugend
mußte ſtudirt und ſich angeeignet haben.
Die erwaͤhnte Überſetzung von Gérard, obgleich groͤ߬
tentheils in Proſa, lobte Goethe als ſehr gelungen.
„Im Deutſchen, ſagte er, mag ich den Fauſt nicht
mehr leſen; aber in dieſer franzoͤſiſchen Überſetzung wirkt
alles wieder durchaus friſch, neu und geiſtreich.“
„Der Fauſt, fuhr er fort, iſt doch ganz etwas In¬
commenſurabeles, und alle Verſuche, ihn dem Verſtand
naͤher zu bringen, ſind vergeblich. Auch muß man be¬
denken, daß der erſte Theil aus einem etwas dunkelen
Zuſtand des Individuums hervorgegangen. Aber eben
dieſes Dunkel reizt die Menſchen, und ſie muͤhen ſich
daran ab, wie an allen unaufloͤsbaren Problemen.“
Heute zum Nachtiſch bereitete Goethe mir einen
hohen Genuß, indem er mir die Scene vorlas, wo
Fauſt zu den Muͤttern geht.
Das Neue, Ungeahndete des Gegenſtandes, ſo
[171] wie die Art und Weiſe, wie Goethe mir die Scene
vortrug, ergriff mich wunderſam, ſo daß ich mich ganz
in die Lage von Fauſt verſetzt fuͤhlte, den bey der
Mittheilung des Mephiſtopheles gleichfalls ein Schauer
uͤberlaͤuft.
Ich hatte das Dargeſtellte wohl gehoͤrt und wohl
empfunden, aber es blieb mir ſo vieles raͤthſelhaft, daß
ich mich gedrungen fuͤhlte, Goethe um einigen Auſſchluß
zu bitten. Er aber, in ſeiner gewoͤhnlichen Art, huͤllte
ſich in Geheimniſſe, indem er mich mit großen Augen
anblickte und mir die Worte wiederholte:
Die Muͤtter! Muͤtter! 's klingt ſo wunderlich! —
„Ich kann Ihnen weiter nichts verrathen, ſagte er
darauf, als daß ich beym Plutarch gefunden, daß im
griechiſchen Alterthume von Muͤttern, als Gottheiten,
die Rede geweſen. Dieß iſt alles was ich der Überlie¬
ferung verdanke, das Übrige iſt meine eigene Erfindung.
Ich gebe Ihnen das Manuſcript mit nach Hauſe, ſtudi¬
ren Sie alles wohl und ſehen Sie zu wie Sie zurecht
kommen.“
Ich war darauf gluͤcklich bey wiederholter ruhiger
Betrachtung dieſer merkwuͤrdigen Scene, und entwickelte
mir uͤber der Muͤtter eigentliches Weſen und Wirken,
uͤber ihre Umgebung und Aufenthalt, die nachfolgende
Anſicht.
Koͤnnte man ſich den ungeheuren Weltkoͤrper unſerer
Erde im Innern als leeren Raum denken, ſo daß man
[172] hunderte von Meilen in einer Richtung darin fortzu¬
ſtreben vermoͤchte, ohne auf etwas Koͤrperliches zu ſto¬
ßen, ſo waͤre dieſes der Aufenthalt jener unbekannten
Goͤttinnen, zu denen Fauſt hinabgeht. Sie leben gleich¬
ſam außer allem Ort, denn es iſt nichts Feſtes das ſie
in einiger Naͤhe umgiebt; auch leben ſie außer aller
Zeit, denn es leuchtet ihnen kein Geſtirn, welches auf¬
oder unterginge und den Wechſel von Tag und Nacht
andeutete.
So, in ewiger Daͤmmerung und Einſamkeit behar¬
rend, ſind die Muͤtter ſchaffende Weſen, ſie ſind das
ſchaffende und erhaltende Prinzip, von dem
alles ausgeht, was auf der Oberflaͤche der Erde Geſtalt
und Leben hat. Was zu athmen aufhoͤrt, geht als
geiſtige Natur zu ihnen zuruͤck, und ſie bewahren es,
bis es wieder Gelegenheit findet, in ein neues Daſeyn
zu treten. Alle Seelen und Formen von dem was einſt
war und kuͤnftig ſeyn wird, ſchweift in dem endloſen
Raum ihres Aufenthaltes wolkenartig hin und her; es
umgiebt die Muͤtter, und der Magier muß alſo in ihr
Reich gehen, wenn er durch die Macht ſeiner Kunſt uͤber
die Form eines Weſens Gewalt haben, und ein fruͤheres
Geſchoͤpf zu einem Scheinleben hervorrufen will.
Die ewige Metamorphoſe des irdiſchen Daſeyns, des
Entſtehens und Wachſens, des Zerſtoͤrens und Wieder¬
bildens, iſt alſo der Muͤtter nie aufhoͤrende Beſchaͤfti¬
gung. Und wie nun bey allem, was auf der Erde
[173] durch Fortzeugung ein neues Leben erhaͤlt, das Weib¬
liche hauptſaͤchlich wirkſam iſt, ſo moͤgen jene ſchaffen¬
den Gottheiten mit Recht weiblich gedacht, und es
mag der ehrwuͤrdige Name Muͤtter ihnen nicht ohne
Grund beygelegt werden.
Freylich iſt dieſes alles nur eine poetiſche Schoͤpfung;
allein der beſchraͤnkte Menſch vermag nicht viel weiter
zu dringen, und er iſt zufrieden etwas zu finden, wo¬
bey er ſich beruhigen moͤchte. Wir ſehen auf Erden
Erſcheinungen und empfinden Wirkungen, von denen
wir nicht wiſſen woher ſie kommen und wohin ſie ge¬
hen. Wir ſchließen auf einen geiſtigen Urquell, auf
ein Goͤttliches, wofuͤr wir keine Begriffe und keinen
Ausdruck haben, und welches wir zu uns herabzie¬
hen und anthropomorphiſiren muͤſſen, um unſere dun¬
kelen Ahndungen einigermaßen zu verkoͤrpern und fa߬
lich zu machen.
So ſind alle Mythen entſtanden, die von Jahrhun¬
dert zu Jahrhundert in den Voͤlkern fortlebten, und
ebenſo dieſe neue von Goethe, die wenigſtens den
Schein einiger Naturwahrheit hat, und die wohl den
beſten gleichzuſtellen ſeyn duͤrfte, die je gedacht worden.
[174]
„Ich habe dieſer Tage einen Brief von unſerm be¬
ruͤhmten Salzbohrer in Stotternheim erhalten, ſagte
Goethe, der einen merkwuͤrdigen Eingang hat und wo¬
von ich Ihnen erzaͤhlen muß.“
„Ich habe eine Erfahrung gemacht, ſchreibt er, die
mir nicht verloren ſeyn ſoll.“ Was aber folgt auf ſol¬
chen Eingang? Es handelt ſich um nichts Geringeres,
als den Verluſt von wenigſtens Tauſend Thalern. Den
Schacht, wo es durch weicheren Boden und Geſtein
zwoͤlfhundert Fuß tief zum Steinſalz hinabgeht, hat er
unvorſichtiger Weiſe an den Seiten nicht unterſtuͤtzt;
der weichere Boden hat ſich abgeloͤſt und die Grube
unten ſo verſchlaͤmmt, daß es jetzt einer hoͤchſt koſtſpie¬
ligen Operation bedarf, um den Schlamm herauszu¬
bringen. Er wird ſodann, die zwoͤlfhundert Fuß hin¬
unter, metallene Roͤhren einſetzen, um fuͤr die Folge
vor einem aͤhnlichen Ungluͤck ſicher zu ſeyn. Er haͤtte
es gleich thun ſollen, und er haͤtte es auch ſicher gleich
gethan, wenn ſolche Leute nicht eine Verwegenheit be¬
ſaͤßen, wovon man keinen Begriff hat, die aber dazu
gehoͤrt, um eine ſolche Unternehmung zu wagen. Er
iſt aber durchaus ruhig bey dem Unfall und ſchreibt
ganz getroſt: „Ich habe eine Erfahrung gemacht, die
mir nicht verloren ſeyn ſoll.“ Das nenne ich doch noch
einen Menſchen an dem man Freude hat, und der, ohne
[175] zu klagen, gleich wieder thaͤtig iſt und immer auf den
Fuͤßen ſteht. Was ſagen Sie dazu, iſt es nicht
artig?“
Es erinnert mich an Sterne, antwortete ich, welcher
beklagt, ſein Leiden nicht wie ein vernuͤnftiger Mann be¬
nutzt zu haben. „Es iſt etwas Ähnliches,“ ſagte Goethe.
Auch muß ich an Behriſch denken, fuhr ich fort,
wie er Sie belehrt was Erfahrung ſey, welches Capitel
ich gerade dieſer Tage zu abermaliger Erbauung geleſen:
„Erfahrung aber iſt, daß man erfahrend erfaͤhrt, was
erfahren zu haben, man nicht gerne erfahren haben
moͤchte.“ „Ja, ſagte Goethe lachend, das ſind die
alten Spaͤße, womit wir ſo ſchaͤndlich unſere Zeit ver¬
darben!“ Behriſch, fuhr ich fort, ſcheint ein Menſch
geweſen zu ſeyn voller Anmuth und Zierlichkeit. Wie
artig iſt der Spaß im Weinkeller, wo er Abends den
jungen Menſchen verhindern will zu ſeinem Liebchen zu
gehen, und dieſes auf die heiterſte Weiſe vollbringt, in¬
dem er ſeinen Degen, umſchnallet, bald ſo und bald ſo,
ſo daß er Alle zum Lachen bringt, und den jungen
Menſchen die Stunde des Rendezvous daruͤber vergeſſen
macht. „Ja, ſagte Goethe, es war artig; es waͤre
eine der anmuthigſten Scenen auf der Buͤhne, wie
denn Behriſch uͤberall fuͤr das Theater ein guter Cha¬
racter war.“
Wir wiederholten darauf geſpraͤchsweiſe alle die
Wunderlichkeiten, die von Behriſch in Goethe's Leben
[176] erzaͤhlt werden. Seine graue Kleidung, wo Seide,
Sammt und Wolle gegen einander eine abſtechende
Schattirung gemacht, und wie er darauf ſtudirt habe,
immer noch ein neues Grau auf ſeinen Koͤrper zu brin¬
gen. Dann wie er die Gedichte geſchrieben, den Setzer
nachgeaͤfft und den Anſtand und die Wuͤrde des Schrei¬
benden hervorgehoben. Auch wie es ſein Lieblings-
Zeitvertreib geweſen, im Fenſter zu liegen, die Vorbey¬
gehenden zu muſtern und ihren Anzug in Gedanken ſo
zu veraͤndern, daß es hoͤchſt laͤcherlich geweſen ſeyn
wuͤrde, wenn die Leute ſich ſo gekleidet haͤtten. „Und
dann ſein gewoͤhnlicher Spaß mit dem Poſtboten, ſagte
Goethe, wie gefaͤllt Ihnen der, iſt der nicht auch luſtig?“
Der iſt mir unbekannt, ſagte ich, es ſteht davon nichts
in Ihrem Leben. „Wunderlich! ſagte Goethe, ſo will
ich es Ihnen denn erzaͤhlen.“
„Wenn wir zuſammen im Fenſter lagen, Beh¬
riſch in der Straße den Brieftraͤger kommen ſah, wie
er von einem Hauſe ins andere ging, nahm er gewoͤhn¬
lich einen Groſchen aus der Taſche und legte ihn bey
ſich ins Fenſter. Siehſt Du den Brieftraͤger? ſagte er
dann zu mir gewendet, er kommt immer naͤher und wird
gleich hier oben ſeyn, das ſehe ich ihm an. Er hat einen
Brief an Dich, und was fuͤr einen Brief, keinen gewoͤhn¬
lichen Brief, er hat einen Brief mit einem Wechſel, —
mit einem Wechſel! ich will nicht ſagen wie ſtark. —
Siehſt Du, jetzt kommt er herein. Nein! — Aber er
[177] wird gleich kommen. Da iſt er wieder. Jetzt! — Hier!
hier herein mein Freund! hier herein! — Er geht vor¬
bey? Wie dumm! o wie dumm! Wie kann einer nur
ſo dumm ſeyn und ſo unverantwortlich handeln! So
unverantwortlich in doppelter Hinſicht! Unverantwort¬
lich gegen Dich, indem er Dir den Wechſel nicht bringt,
den er fuͤr Dich in Haͤnden hat, und ganz unverant¬
wortlich gegen ſich ſelbſt, indem er ſich um einen Gro¬
ſchen bringt, den ich ſchon fuͤr ihn zurecht gelegt hatte
und den ich nun wieder einſtecke.“ So ſteckte er denn
den Groſchen mit hoͤchſtem Anſtande wieder in die Taſche
und wir hatten etwas zu lachen.“
Ich freute mich dieſes Scherzes, der den uͤbrigen
vollkommen gleich ſah. Ich fragte Goethe, ob er Beh¬
riſch ſpaͤter nie wieder geſehen.
„Ich habe ihn wieder geſehen, ſagte Goethe, und
zwar bald nach meiner Ankunft in Weimar, ungefaͤhr
im Jahre 1776, wo ich mit dem Herzog eine Reiſe
nach Deſſau machte, wohin Behriſch von Leipzig aus
als Erzieher des Erbprinzen berufen war. Ich fand
ihn noch ganz wie ſonſt, als feinen Hofmann und vom
beſten Humor.“
Was ſagte er dazu, fragte ich, daß Sie in der
Zwiſchenzeit ſo beruͤhmt geworden?
„Hab' ich es Dir nicht geſagt? war ſein Erſtes,
war es nicht geſcheidt, daß Du damals die Verſe nicht
drucken ließeſt, und daß Du gewartet haſt bis Du etwas
II. 12[178] ganz Gutes machteſt? Freylich, ſchlecht waren damals
die Sachen auch nicht, denn ſonſt haͤtte ich ſie nicht
geſchrieben. Aber waͤren wir zuſammen geblieben, ſo
haͤtteſt Du auch die andern nicht ſollen drucken laſſen;
ich haͤtte ſie Dir auch geſchrieben und es waͤre eben ſo
gut geweſen.“ Sie ſehen, er war noch ganz der Alte.
Er war bey Hof ſehr gelitten, ich ſah ihn immer an
der fuͤrſtlichen Tafel.“
„Zuletzt habe ich ihn im Jahre 1801 geſehen, wo
er ſchon alt war, aber immer noch in der beſten Laune.
Er bewohnte einige ſehr ſchoͤne Zimmer im Schloß, de¬
ren eines er ganz mit Geranien angefuͤllt hatte, womit
man damals eine beſondere Liebhaberey trieb. Nun
hatten aber die Botaniker unter den Geranien einige
Unterſcheidungen und Abtheilungen gemacht, und einer
gewiſſen Sorte den Namen Pelargonien beygelegt.
Daruͤber konnte ſich nun der alte Herr nicht zufrieden
geben und er ſchimpfte auf die Botaniker. „Die dum¬
men Kerle! ſagte er; ich denke ich habe das ganze Zim¬
mer voll Geranien und nun kommen ſie und ſagen es
ſeyen Pelargonien. Was thu ich aber damit wenn es
keine Geranien ſind, und was ſoll ich mit Pelar¬
gonien!“ So ging es nun halbe Stunden lang fort
und Sie ſehen, er war ſich vollkommen gleich ge¬
blieben.“
Wir ſprachen ſodann uͤber die claſſiſche Walpurgis¬
nacht, deren Anfang Goethe mir vor einigen Tagen ge¬
[179] leſen. „Der mythologiſchen Figuren, die ſich hiebey
zudraͤngen, ſagte er, ſind eine Unzahl; aber ich huͤte
mich und nehme bloß ſolche, die bildlich den gehoͤrigen
Eindruck machen. Fauſt iſt jetzt mit dem Chiron zu¬
ſammen und ich hoffe die Scene ſoll mir gelingen.
Wenn ich mich fleißig dazu halte, kann ich in ein paar
Monaten mit der Walpurgisnacht fertig ſeyn. Es ſoll
mich nun aber auch nichts wieder vom Fauſt abbringen;
denn es waͤre doch toll genug, wenn ich es erlebte ihn
zu vollenden! Und moͤglich iſt es; — der fuͤnfte Act
iſt ſo gut wie fertig, und der vierte wird ſich ſodann
wie von ſelber machen.“
Goethe ſprach darauf uͤber ſeine Geſundheit, und
pries ſich gluͤcklich, ſich fortwaͤhrend vollkommen wohl
zu befinden. „Daß ich mich jetzt ſo gut halte, ſagte
er, verdanke ich Vogel; ohne ihn waͤre ich laͤngſt
abgefahren. Vogel iſt zum Arzt wie geboren, und uͤber¬
haupt einer der genialſten Menſchen, die mir je vorge¬
kommen ſind. Doch wir wollen nicht ſagen wie gut er
iſt, damit er uns nicht genommen werde.“
Bey Goethe zu Tiſch. Wir ſprachen uͤber Mil¬
ton. „Ich habe vor nicht langer Zeit ſeinen Simſon
12 *[180] geleſen, ſagte Goethe, der ſo im Sinne der Alten iſt;
wie kein anderes Stuͤck irgend eines neueren Dichters.
Er iſt ſehr groß; und ſeine eigene Blindheit iſt ihm zu
Statten gekommen, um den Zuſtand Simſons mit ſol¬
cher Wahrheit darzuſtellen. Milton war in der That
ein Poet und man muß vor ihm allen Reſpect haben.“
Es kommen verſchiedene Zeitungen, und wir ſehen
in den Berliner Theaternachrichten, daß man Seeunge¬
heuer und Wallfiſche auf dortige Buͤhne gebracht.
Goethe lieſt in der franzoͤſiſchen Zeitſchrift, le Temps,
einen Artikel uͤber die enorme Beſoldung der engliſchen
Geiſtlichkeit, die mehr betraͤgt, als die in der ganzen
uͤbrigen Chriſtenheit zuſammen. „Man hat behauptet,
ſagte Goethe, die Welt werde durch Zahlen regiert; das
aber weiß ich, daß die Zahlen uns belehren ob ſie gut
oder ſchlecht regiert werde.“
Bey Goethe zu Tiſch. Wir ſprachen uͤber Mozart.
„Ich habe ihn als ſiebenjaͤhrigen Knaben geſehen, ſagte
Goethe, wo er auf einer Durchreiſe ein Concert gab.
Ich ſelber war etwa vierzehn Jahr alt, und ich erinnere
mich des kleinen Mannes in ſeiner Friſur und De¬
gen noch ganz deutlich.“ Ich machte große Augen,
[181] und es war mir ein halbes Wunder zu hoͤren, daß
Goethe alt genug ſey, um Mozart als Kind geſehen zu
haben.
Mit Goethe zu Tiſch. Mancherley Geſpraͤche uͤber
Fuͤrſt Primas; daß er ihn an der Tafel der Kaiſerin
von Öſtreich durch eine geſchickte Wendung zu vertheidi¬
gen gewagt. Des Fuͤrſten Unzulaͤnglichkeit in der Phi¬
loſophie, ſein dilettantiſcher Trieb zur Malerey, ohne
Geſchmack. Bild, der Miß Gore geſchenkt. Seine
Gutherzigkeit und Weichheit, Alles wegzugeben, ſo daß
er zuletzt in Armuth dageſtanden.
Geſpraͤche uͤber den Begriff des Desobligeanten.
Nach Tiſch ſtellt ſich der junge Goethe, mit Walter
und Wolf, in ſeinem Maskenanzuge als Klingsohr
dar und faͤhrt an Hof.
Mit Goethe zu Tiſch. Er ſprach mit wahrer Aner¬
kennung uͤber das Feſtgedicht Riemers zur Feyer des
2. Februar. „Überall, fuͤgte Goethe hinzu, was Riemer
[182] macht, kann ſich vor Meiſter und Geſellen ſehen
laſſen.“
Wir ſprachen ſodann uͤber die claſſiſche Walpurgis¬
nacht, und daß er dabey auf Dinge komme, die ihn ſel¬
ber uͤberraſchen. Auch gehe der Gegenſtand mehr aus¬
einander als er gedacht.
„Ich habe jetzt etwas uͤber die Haͤlfte, ſagte er, aber
ich will mich dazu halten und hoffe bis Oſtern fertig
zu ſeyn. Sie ſollen fruͤher nichts weiter davon ſehen,
aber ſobald es fertig iſt, gebe ich es Ihnen mit nach
Hauſe, damit Sie es in der Stille pruͤfen. Wenn Sie
nun den 38ſten und 39ſten Band zuſammenſtellten, ſo
daß wir Oſtern die letzte Lieferung abſenden koͤnnten,
ſo waͤre es huͤbſch und wir haͤtten den Sommer zu et¬
was Großem frey. Ich wuͤrde im Fauſt bleiben und
den vierten Act zu uͤberwinden ſuchen.“ Ich freute mich
dazu und verſprach ihm meinerſeits jeden Beyſtand.
Goethe ſchickte darauf ſeinen Bedienten, um ſich
nach der Großherzogin Mutter zu erkundigen, die
ſehr krank geworden und deren Zuſtand ihm bedenklich
ſchien.
„Sie haͤtte den Maskenzug nicht ſehen ſollen, ſagte
er; aber fuͤrſtliche Perſonen ſind gewohnt ihren Willen
zu haben, und ſo iſt denn alles Proteſtiren des Hofes
und der Ärzte vergeblich geweſen. Dieſelbige Willens¬
kraft, mit der ſie Napoleon widerſtand, ſetzt ſie auch
ihrer koͤrperlichen Schwaͤche entgegen; und ſo ſehe ich
[183] es ſchon kommen: ſie wird hingehen, wie der Großher¬
zog, in voller Kraft und Herrſchaft des Geiſtes, wenn
der Koͤrper ſchon aufgehoͤrt haben wird zu gehorchen.“
Goethe ſchien ſichtbar betruͤbt und war eine Weile
ſtille. Bald aber ſprachen wir wieder uͤber heitere
Dinge, und er erzaͤhlte mir von einem Buch, zur
Rechtfertigung von Hudſon Lowe geſchrieben.
„Es ſind darin Zuͤge der koſtbarſten Art, ſagte er,
die nur von unmittelbaren Augenzeugen herruͤhren koͤn¬
nen. Sie wiſſen, Napoleon trug gewoͤhnlich eine dun¬
kelgruͤne Uniform. Von vielem Tragen und Sonne
war ſie zuletzt voͤllig unſcheinbar geworden, ſo daß die
Nothwendigkeit gefuͤhlt wurde, ſie durch eine andere zu
erſetzen. Er wuͤnſchte dieſelbe dunkelgruͤne Farbe, allein
auf der Inſel waren keine Vorraͤthe dieſer Art; es fand
ſich zwar ein gruͤnes Tuch, allein die Farbe war unrein
und fiel ins Gelbliche. Eine ſolche Farbe auf ſeinen
Leib zu nehmen, war nun dem Herrn der Welt un¬
moͤglich, und es blieb ihm nichts uͤbrig, als ſeine alte
Uniform wenden zu laſſen und ſie ſo zu tragen.“ —
„Was ſagen Sie dazu? Iſt es nicht ein vollkom¬
men tragiſcher Zug? Iſt es nicht ruͤhrend, den Herrn
der Koͤnige zuletzt ſoweit reducirt zu ſehen, daß er eine
gewendete Uniform tragen muß? Und doch, wenn man
bedenkt, daß ein ſolches Ende einen Mann traf, der
das Leben und Gluͤck von Millionen mit Fuͤßen getreten
hatte, ſo iſt das Schickſal, das ihm widerfuhr, immer
[184] noch ſehr milde; es iſt eine Nemeſis, die nicht umhin
kann, in Erwaͤgung der Groͤße des Helden, immer noch
ein wenig galant zu ſeyn. Napoleon giebt uns ein
Beyſpiel, wie gefaͤhrlich es ſey, ſich ins Abſolute zu
erheben und alles der Ausfuͤhrung einer Idee zu opfern.“
Wir ſprachen noch manches dahin Bezuͤgliche, und
ich ging darauf ins Theater um den Stern von
Sevilla zu ſehen.
Dieſen Mittag auf meinem Wege zu Goethe, der
mich zu Tiſch eingeladen hatte, traf mich die Nachricht
von dem ſo eben erfolgten Tode der Großherzogin
Mutter. Wie wird das bey ſeinem hohen Alter auf
Goethe wirken! war mein erſter Gedanke, und ſo betrat
ich mit einiger Apprehenſion das Haus. Die Diener¬
ſchaft ſagte mir, daß ſeine Schwiegertochter ſo eben zu
ihm gegangen ſey, um ihm die betruͤbende Botſchaft
mitzutheilen. Seit laͤnger als funfzig Jahren, ſagte ich
mir, iſt er dieſer Fuͤrſtin verbunden geweſen, er hat
ihrer beſonderen Huld und Gnade ſich zu erfreuen ge¬
habt, ihr Tod muß ihn tief beruͤhren. Mit ſolchen Ge¬
danken trat ich zu ihm ins Zimmer; allein ich war
nicht wenig uͤberraſcht, ihn vollkommen heiter und kraͤf¬
[185] tig mit ſeiner Schwiegertochter und ſeinen Enkeln am
Tiſch ſitzen und ſeine Suppe eſſen zu ſehen, als ob
eben nichts paſſirt waͤre. Wir ſprachen ganz heiter fort
uͤber gleichguͤltige Dinge; nun fingen alle Glocken der
Stadt an zu laͤuten; Frau v. Goethe blickte mich an
und wir redeten lauter, damit die Toͤne der Todes-
Glocken ſein Inneres nicht beruͤhren und erſchuͤttern
moͤchten; denn wir dachten er empfaͤnde wie wir. Er
empfand aber nicht wie wir, es ſtand in ſeinem Innern
gaͤnzlich anders. Er ſaß vor uns, gleich einem Weſen
hoͤherer Art, von irdiſchen Leiden unberuͤhrbar. Hofrath
Vogel ließ ſich melden; er ſetzte ſich zu uns und erzaͤhlte
die einzelnen Umſtaͤnde von dem Hinſcheiden der hohen
Verewigten, welches Goethe in ſeiner bisherigen voll¬
kommenſten Ruhe und Faſſung aufnahm. Vogel ging
wieder und wir ſetzten unſer Mittagseſſen und Geſpraͤche
fort. Auch vom Chaos war viel die Rede, und Goethe
pries die Betrachtungen uͤber das Spiel, in der
letzten Nummer, als ganz vorzuͤglich. Als Frau v.
Goethe mit ihren Soͤhnen hinaufgegangen war blieb ich
mit Goethe allein. Er erzaͤhlte mir von ſeiner claſſi¬
ſchen Walpurgisnacht, daß er damit jeden Tag weiter
komme, und daß ihm wunderbare Dinge uͤber die Er¬
wartung gelaͤngen. Dann zeigte er mir einen Brief
des Koͤnigs von Bayern, den er heute erhalten und
den ich mit großem Intereſſe las. Die edle treue Ge¬
ſinnung des Koͤnigs ſprach ſich in jeder Zeile aus, und
[186] Goethen ſchien es beſonders wohl zu thun, daß der
Koͤnig gegen ihn ſich fortwaͤhrend ſo gleich bleibe. Hof¬
rath Soret ließ ſich melden und ſetzte ſich zu uns.
Er kam mit beruhigenden Troſtesworten der Kaiſerlichen
Hoheit an Goethe, die dazu beytrugen, deſſen heiter¬
gefaßte Stimmung noch zu erhoͤhen. Goethe ſetzt ſeine
Geſpraͤche fort; er erwaͤhnt die beruͤhmte Ninon de
Lenclos, die in ihrem ſechzehnten Jahre bey großer
Schoͤnheit dem Tode nahe geweſen, und die Umſtehen¬
den in voͤlliger Faſſung mit den Worten getroͤſtet habe:
Was iſt's denn weiter? laſſe ich doch lauter Sterbliche
zuruͤck! — Übrigens habe ſie fortgelebt und ſey neunzig
Jahr alt geworden, nachdem ſie bis in ihr achtzigſtes
hunderte von Liebhabern begluͤckt und zur Verzweiflung
gebracht.
Goethe ſpricht darauf uͤber Gozzi und deſſen Thea¬
ter zu Venedig, wobey die improviſirenden Schauſpieler
bloß die Suͤjets erhielten. Gozzi habe die Meinung
gehabt, es gebe nur ſechs und dreyßig tragiſche Situa¬
tionen; Schiller habe geglaubt, es gebe mehr, allein
es ſey ihm nicht einmal gelungen, nur ſo viele zu finden.
Sodann manches Intereſſante uͤber Grimm, deſſen
Geiſt und Character und ſehr geringes Vertrauen zum
Papiergelde.
[187]
Wir ſprachen uͤber das Theater, und zwar uͤber die
Farben der Decorationen und Anzuͤge. Das Reſultat
war folgendes.
Im Allgemeinen ſollen die Decorationen einen fuͤr
jede Farbe der Anzuͤge des Vordergrundes guͤnſtigen
Ton haben, wie die Decorationen von Beuther, welche
mehr oder weniger ins Braͤunliche fallen und die Far¬
ben der Gewaͤnder in aller Friſche herausſetzen. Iſt
aber der Decorationsmaler von einem ſo guͤnſtigen un¬
beſtimmten Tone abzuweichen genoͤthigt, und iſt er in
dem Fall, etwa ein rothes oder gelbes Zimmer, ein
weißes Zelt, oder einen gruͤnen Garten darzuſtellen, ſo
ſollen die Schauſpieler klug ſeyn und in ihren Anzuͤgen
dergleichen Farben vermeiden. Tritt ein Schauſpieler
mit einer rothen Uniform und gruͤnen Beinkleidern in
ein rothes Zimmer, ſo verſchwindet der Oberkoͤrper und
man ſieht bloß die Beine; tritt er mit demſelbigen An¬
zuge in einen gruͤnen Garten, ſo verſchwinden ſeine
Beine und ſein Oberkoͤrper geht auffallend hervor. So
ſah ich einen Schauſpieler mit weißer Uniform und ganz
dunkelen Beinkleidern, deſſen Oberkoͤrper, in einem wei¬
ßen Zelt, und deſſen Beine, auf einem dunkelen Hin¬
tergrund, gaͤnzlich verſchwanden.
„Und ſelbſt, fuͤgte Goethe hinzu, wenn der Deco¬
rationsmaler in dem Fall waͤre, ein rothes oder gelbes
Zimmer, oder einen gruͤnen Garten oder Wald zu ma¬
[188] chen, ſo ſollen dieſe Farben immer etwas ſchwach und
duftig gehalten werden, damit jeder Anzug im Vorder¬
grunde ſich abloͤſe und die gehoͤrige Wirkung thue.“
Wir ſprechen uͤber die Ilias, und Goethe macht
mich auf das ſchoͤne Motiv aufmerkſam, daß der Achill
eine Zeitlang in Unthaͤtigkeit verſetzt werde, damit die
uͤbrigen Helden zum Vorſchein kommen und ſich ent¬
wickeln moͤgen.
Von ſeinen Wahlverwandtſchaften ſagt er,
daß darin kein Strich enthalten, der nicht erlebt, aber
kein Strich ſo, wie er erlebt worden. Daſſelbe von
der Geſchichte in Seſenheim.
Nach Tiſch ein Portefeuille der niederlaͤndiſchen Schule
durchgeſehen. Ein Hafenſtuͤck, wo Maͤnner auf der einen
Seite friſches Waſſer einnehmen und auf der andern
Wuͤrfel auf einer Tonne ſpielen, gab Anlaß zu ſchoͤnen
Betrachtungen, wie das Reale vermieden, um der Wir¬
kung der Kunſt nicht zu ſchaden. Der Deckel der
Tonne hat das Hauptlicht; die Wuͤrfel ſind geworfen,
wie man an den Geberden der Maͤnner ſieht, aber ſie
ſind auf der Flaͤche des Deckels nicht gezeichnet, weil
ſie das Licht unterbrochen und alſo nachtheilig gewirkt
haben wuͤrden.
Sodann die Studien von Ruysdael zu ſeinem Kirch¬
hof betrachtet, woraus man ſah, welche Muͤhe ſich ein
ſolcher Meiſter gegeben.
[189]
Mit Goethe zu Tiſch. Er zeigt mir die Luftpflanze
die ich mit großem Intereſſe betrachte. Ich bemerke
darin ein Beſtreben, ihre Exiſtenz ſo lange wie moͤglich
fortzuſetzen, ehe ſie einem folgenden Individuum erlaubt,
ſich zu manifeſtiren.
„Ich habe mir vorgenommen, ſagte Goethe darauf,
in vier Wochen ſo wenig den Temps als Globe zu
leſen. Die Sachen ſtehen ſo, daß ſich innerhalb dieſer
Periode etwas ereignen muß, und ſo will ich die Zeit
erwarten, bis mir von Außen eine ſolche Nachricht
kommt. Meine claſſiſche Walpurgisnacht wird dabey
gewinnen, und ohnehin ſind Jenes Intereſſen wovon
man nichts hat, welches in manchen Faͤllen nicht genug
bedacht wird.“
Er giebt mir ſodann einen Brief von Boiſſerée
aus Muͤnchen, der ihm Freude gemacht und den ich
gleichfalls mit hohem Vergnuͤgen leſe. Boiſſerée ſpricht
beſonders uͤber den zweyten Aufenthalt in Rom,
ſo wie uͤber einige Punkte des letzten Heftes von Kunſt
und Alterthum. Er urtheilt uͤber dieſe Dinge ſo wohl¬
wollend als gruͤndlich, und wir finden Veranlaſſung,
uͤber die ſeltene Bildung und Thaͤtigkeit dieſes bedeu¬
tenden Mannes viel zu reden.
Goethe erzaͤhlt mir darauf von einem neuen Bilde
von Cornelius, als ſehr brav durchdacht und ausge¬
[190] fuͤhrt, und es kommt zur Sprache, daß die Gelegenheit
zur guten Faͤrbung eines Bildes in der Compoſition
liege.
Spaͤter, auf einem Spaziergange, kommt mir die
Luftpflanze wieder vor die Seele, und ich habe den Ge¬
danken, daß ein Weſen ſeine Exiſtenz fortſetzt ſo lange
es geht, dann aber ſich zuſammennimmt, um wieder
ſeines Gleichen hervorzubringen. Es erinnert mich dieſes
Naturgeſetz an jene Legende, wo wir uns die Gottheit
im Urbeginn der Dinge alleine denken, ſodann aber den
Sohn erſchaffend, welcher ihr gleich iſt. So auch ha¬
ben gute Meiſter nichts Angelegentlicheres zu thun, als
ſich gute Schuͤler zu bilden, in denen ſie ihre Grund¬
ſaͤtze und Thaͤtigkeiten fortgeſetzt ſehen. Nicht weniger
iſt jedes Werk eines Kuͤnſtlers, oder Dichters, als ſei¬
nes Gleichen zu betrachten, und in demſelbigen Grade,
wie ein ſolches Werk vortrefflich iſt, wird der Kuͤnſtler
oder Dichter vortrefflich geweſen ſeyn, da er es machte.
Ein treffliches Werk eines Andern ſoll daher niemals
Neid in mir erregen, indem es mich auf einen vortreff¬
lichen Menſchen zuruͤckſchließen laͤßt, der es zu machen
werth war.
[191]
Mit Goethe zu Tiſch. Wir ſprechen uͤber den Ho¬
mer. Ich bemerke, daß ſich die Einwirkung der Goͤt¬
ter unmittelbar ans Reale anſchließe. — „Es iſt un¬
endlich zart und menſchlich, ſagte Goethe, und ich danke
Gott, daß wir aus den Zeiten heraus ſind, wo die
Franzoſen dieſe Einwirkung der Goͤtter Maſchinerie
nannten. Aber freylich! ſo ungeheure Verdienſte nach¬
zuempfinden, bedurfte einiger Zeit, denn es erforderte
eine gaͤnzliche Umwandlung ihrer Cultur.“
Goethe ſagte mir ſodann, daß er in die Erſcheinung
der Helena noch einen Zug hineingebracht, um ihre
Schoͤnheit zu erhoͤhen, welches durch eine Bemerkung
von mir veranlaßt worden, und meinem Gefuͤhl zur
Ehre gereiche.
Nach Tiſch zeigte Goethe mir den Umriß eines Bil¬
des von Cornelius: den Orpheus vor Pluto's Throne
darſtellend, um die Eurydice zu befreyen. Das Bild
erſchien uns wohl uͤberlegt und das Einzelne vortreff¬
lich gemacht, doch wollte es nicht recht befriedigen und
dem Gemuͤth kein rechtes Behagen geben. Vielleicht,
dachten wir, bringt die Faͤrbung eine groͤßere Harmo¬
nie hinein; vielleicht auch waͤre der folgende Moment
guͤnſtiger geweſen, wo Orpheus uͤber das Herz des
Pluto bereits geſiegt hat und ihm die Eurydice zuruͤck¬
gegeben wird. Die Situation haͤtte ſodann nicht mehr
[192] das Geſpannte, Erwartungsvolle, vielmehr wuͤrde ſie
vollkommene Befriedigung gewaͤhren.
Bey Goethe zu Tiſch mit Hofrath Voigt aus
Jena. Die Unterhaltung geht um lauter naturhiſtori¬
ſche Gegenſtaͤnde, wobey Hofrath Voigt die vielſeitigſten
Kenntniſſe entwickelt. Goethe erzaͤhlt, daß er einen
Brief erhalten, mit der Einwendung, daß die Cotyle¬
donen keine Blaͤtter ſeyen, und zwar, weil ſie kein
Auge hinter ſich haͤtten. Wir uͤberzeugen uns aber an
verſchiedenen Pflanzen, daß die Cotyledonen allerdings
Augen hinter ſich haben, ſo gut wie jedes folgende
Blatt. Voigt ſagt, daß das Aperçuͤ von der Metamor¬
phoſe der Pflanze eine der fruchtbarſten Entdeckungen
ſey, welche die neuere Zeit im Fache der Naturforſchung
erfahren.
Wir reden uͤber Sammlungen ausgeſtopfter Voͤgel,
wobey Goethe erzaͤhlt, daß ein Englaͤnder mehrere Hun¬
derte lebendiger Voͤgel in großen Behaͤltern gefuͤttert
habe. Von dieſen ſeyen einige geſtorben und er habe
ſie ausſtopfen laſſen. Dieſe ausgeſtopften haͤtten ihm
nun ſo gefallen, daß ihm der Gedanke gekommen: ob
es nicht beſſer ſey, ſie alle todtſchlagen und ausſtopfen
[193] zu laſſen, welchen Gedanken er denn auch alſobald aus¬
gefuͤhrt habe.
Hofrath Voigt erzaͤhlt, daß er im Begriff ſey Cu¬
viers Naturgeſchichte, in fuͤnf Baͤnden, zu uͤberſetzen
und mit Ergaͤnzungen und Erweiterungen herauszu¬
geben.
Nach Tiſche, als Voigt gegangen war, zeigt Goethe
mir das Manuſcript ſeiner Walpurgisnacht, und ich bin
erſtaunt uͤber die Staͤrke, zu der es in den wenigen
Wochen herangewachſen.
Mit Goethe vor Tiſch ſpazieren gefahren. Er ſpricht
guͤnſtig uͤber mein Gedicht in Bezug auf den Koͤnig
von Bayern, indem er bemerkt, daß Lord Byron
vortheilhaft auf mich gewirkt. Mir fehle jedoch noch
dasjenige was man Convenienz heiße, worin Voltaire
ſo groß geweſen. Dieſen wolle er mir zum Muſter vor¬
ſchlagen.
Darauf bey Tiſch reden wir viel uͤber Wieland,
beſonders uͤber den Oberon, und Goethe iſt der Mei¬
nung, daß das Fundament ſchwach ſey, und der Plan
vor der Ausfuͤhrung nicht gehoͤrig gegruͤndet worden.
Daß zur Herbeyſchaffung der Barthaare und Backen¬
II. 13[194] zaͤhne ein Geiſt benutzt werde, ſey gar nicht wohl er¬
funden, beſonders weil der Held ſich dabey ganz unthaͤ¬
tig verhalte. Die anmuthige, ſinnliche und geiſtreiche
Ausfuͤhrung des großen Dichters aber mache das Buch
dem Leſer ſo angenehm, daß er an das eigentliche Fun¬
dament nicht weiter denke und daruͤber hinausleſe.
Wir reden fort uͤber viele Dinge und ſo kommen
wir auch wieder auf die Entelechie. „Die Hartnaͤckig¬
keit des Individuums und daß der Menſch abſchuͤttelt
was ihm nicht gemaͤß iſt, ſagte Goethe, iſt mir ein
Beweis daß ſo etwas exiſtire.“ Ich hatte ſeit einigen
Minuten daſſelbige gedacht und ſagen wollen, und ſo
war es mir doppelt lieb, daß Goethe es ausſprach,
„Leibnitz, fuhr er fort, hat aͤhnliche Gedanken uͤber
ſolche ſelbſtſtaͤndige Weſen gehabt, und zwar, was wir
mit dem Ausdruck Entelechie bezeichnen, nannte er Mo¬
naden.“
Ich nahm mir vor das Weitere daruͤber in Leibnitz
an Ort und Stelle nachzuleſen.
Um zwoͤlf Uhr zu Goethe, den ich heute beſonders
friſch und kraͤftig fand. Er eroͤffnete mir, daß er ſeine
claſſiſche Walpurgisnacht habe zuruͤcklegen muͤſſen, um
[195] die letzte Lieferung fertig zu machen. „Hiebey aber,
ſagte er, bin ich klug geweſen, daß ich aufgehoͤrt habe,
wo ich noch in gutem Zuge war, und noch viel bereits
Erfundenes zu ſagen hatte. Auf dieſe Weiſe laͤßt ſich
viel leichter wieder anknuͤpfen, als wenn ich ſo lange
fortgeſchrieben haͤtte bis es ſtockte.“ Ich merkte mir
dieſes als eine gute Lehre.
Es war die Abſicht geweſen, vor Tiſch eine Spazier¬
fahrt zu machen; allein wir fanden es beyderſeits ſo
angenehm im Zimmer, daß die Pferde abbeſtellt wurden.
Unterdeſſen hatte der Bediente Friedrich eine große
von Paris angekommene Kiſte ausgepackt. Es war
eine Sendung vom Bildhauer David, in Gips abge¬
goſſene Portraits, Basreliefs, von ſieben und funfzig
beruͤhmten Perſonen. Friedrich trug die Abguͤſſe in ver¬
ſchiedenen Schieblaͤden herein, und es gab große Unter¬
haltung, alle die intereſſanten Perſoͤnlichkeiten zu be¬
trachten. Beſonders erwartungsvoll war ich auf Mé¬
rimée; der Kopf erſchien ſo kraͤftig und verwegen, wie
ſein Talent, und Goethe bemerkte, daß er etwas Hu¬
moriſtiſches habe. Victor Hugo, Alfred de Vigny,
Emile Deschamps, zeigten ſich als reine, freye,
heitere Koͤpfe. Auch erfreuten uns die Portraits der
Demoiſelle Gay, der Madame Taſtuͤ und anderer jun¬
ger Schriftſtellerinnen. Das kraͤftige Bild von Fabvier
erinnerte an Menſchen fruͤherer Jahrhunderte, und wir
hatten Genuß, es wiederholt zu betrachten. So gingen
13 *[196] wir von einer bedeutenden Perſon zur andern, und
Goethe konnte nicht umhin wiederholt zu aͤußern, daß
er durch dieſe Sendung von David einen Schatz beſitze,
wofuͤr er dem trefflichen Kuͤnſtler nicht genug danken
koͤnne. Er werde nicht unterlaſſen, dieſe Sammlung
Durchreiſenden vorzuzeigen und ſich muͤndlich uͤber ein¬
zelne ihm noch unbekannte Perſonen unterrichten zu
laſſen.
Auch Buͤcher waren in der Kiſte verpackt geweſen,
die er in die vorderen Zimmer tragen ließ, wohin wir
folgten und uns zu Tiſch ſetzten. Wir waren heiter
und ſprachen von Arbeiten und Vorſaͤtzen hin und her.
„Es iſt nicht gut daß der Menſch alleine ſey, ſagte
Goethe, und beſonders nicht daß er alleine arbeite; viel¬
mehr bedarf er der Theilnahme und Anregung, wenn
etwas gelingen ſoll. Ich verdanke Schillern die Achil¬
leïs und viele meiner Balladen, wozu er mich ge¬
trieben, und Sie koͤnnen es ſich zurechnen, wenn ich
den zweyten Theil des Fauſt zu Stande bringe. Ich
habe es Ihnen ſchon oft geſagt, aber ich muß es wie¬
derholen, damit Sie es wiſſen.“ Ich freute mich dieſer
Worte, im Gefuͤhl daß daran viel Wahres ſeyn moͤge.
Beym Nachtiſch oͤffnete Goethe eins der Pakete.
Es waren die Gedichte von Emile Deschamps,
begleitet von einem Brief den Goethe mir zu leſen gab.
Hier ſah ich nun zu meiner Freude, welcher Einfluß
Goethen auf das neue Leben der franzoͤſiſchen Literatur
[197] zugeſtanden wird, und wie die jungen Dichter ihn als
ihr geiſtiges Oberhaupt verehren und lieben. So hatte
in Goethe's Jugend Shakſpeare gewirkt. Von Vol¬
taire laͤßt ſich nicht ſagen, daß er auf junge Poeten
des Auslandes einen Einfluß der Art gehabt, daß ſie
ſich in ſeinem Geiſt verſammelten und ihn als ihren
Herrn und Meiſter erkannten. Überall war der Brief
von Emile Deschamps mit ſehr liebenswuͤrdiger herzli¬
cher Freyheit geſchrieben. „Man blickt in den Fruͤhling
eines ſchoͤnen Gemuͤths,“ ſagte Goethe.
Ferner befand ſich unter der Sendung von David
ein Blatt mit dem Hute Napoleons, in den ver¬
ſchiedenſten Stellungen. „Das iſt etwas fuͤr meinen
Sohn,“ ſagte Goethe, und ſendete das Blatt ſchnell
hinauf. Es verfehlte auch ſeine Wirkung nicht, indem
der junge Goethe ſehr bald herunter kam, und voller
Freude dieſe Huͤte ſeines Helden fuͤr das non plus ultra
ſeiner Sammlung erklaͤrte. Ehe fuͤnf Minuten vergin¬
gen befand ſich das Bild unter Glas und Rahmen und
an ſeinem Ort, unter den uͤbrigen Attributen und
Denkmaͤlern des Helden.
[198]
Morgens beſucht mich Herr v. Goethe und eroͤffnet
mir, daß ſeine lange beabſichtigte Reiſe nach Italien
entſchieden, daß von ſeinem Vater die noͤthigen Gelder
bewilligt worden, und daß er wuͤnſche daß ich mitgehe.
Wir freuen uns gemeinſchaftlich uͤber dieſe Nachricht
und bereden viel wegen der Vorbereitung.
Als ich darauf gegen Mittag bey Goethe's Hauſe
vorbeygehe, winkt Goethe mir am Fenſter, und ich bin
ſchnell zu ihm hinauf. Er iſt in den vorderen Zimmern
und ſehr heiter und friſch. Er faͤngt ſogleich an von
der Reiſe ſeines Sohnes zu reden, daß er ſie billige,
ſie vernuͤnftig finde, und ſich freue daß ich mitgehe.
„Es wird fuͤr Euch beyde gut ſeyn, ſagte er, und Ihre
Cultur insbeſondere wird ſich nicht ſchlecht dabey be¬
finden.“
Er zeigt mir ſodann einen Chriſtus mit zwoͤlf
Apoſteln, und wir reden uͤber das Geiſtloſe ſolcher
Figuren, als Gegenſtaͤnde der Darſtellung fuͤr den Bild¬
hauer. „Der eine Apoſtel, ſagte Goethe, iſt immer
ungefaͤhr wie der andere, und die wenigſten haben Leben
und Thaten hinter ſich, um ihnen Character und Be¬
deutung zu geben. Ich habe mir bey dieſer Gelegen¬
heit den Spaß gemacht, einen Cyclus von zwoͤlf bibli¬
ſchen Figuren zu erfinden, wo jede bedeutend, jede an¬
ders und daher jede ein dankbarer Gegenſtand fuͤr den
Kuͤnſtler iſt.“
[199]
„Zuerſt Adam, der ſchoͤnſte Mann, ſo vollkommen
wie man ſich ihn nur zu denken faͤhig iſt. Er mag die
eine Hand auf einen Spaten legen, als ein Symbol,
daß der Menſch berufen ſey die Erde zu bauen.“
„Nach ihm Noah, womit wieder eine neue Schoͤpfung
angeht. Er cultivirt den Weinſtock, und man kann die¬
ſer Figur etwas von einem indiſchen Bachus geben.“
„Naͤchſt dieſem Moſes, als erſten Geſetzgeber.“
„Sodann David, als Krieger und Koͤnig.“
„Auf dieſen Jeſaias, ein Fuͤrſt und Prophet.“
„Daniel ſodann, der auf Chriſtus, den kuͤnfti¬
gen, hindeutet.“
„Chriſtus.“
„Ihm zunaͤchſt Johannes, der den gegenwaͤrti¬
gen liebt. Und ſo waͤre denn Chriſtus von zwey jugend¬
lichen Figuren eingeſchloſſen, von denen der eine (Daniel)
ſanft und mit langen Haaren zu bilden waͤre, der an¬
dere (Johannes) leidenſchaftlich mit kurzem Lockenhaar.
Nun, auf den Johannes, wer kommt?“
„Der Hauptmann von Capernaum, als Re¬
praͤſentant der Glaͤubigen, eine unmittelbare Huͤlfe Er¬
wartenden.“
„Auf dieſen die Magdalena, als Symbol der
reuigen, der Vergebung beduͤrfenden, der Beſſerung ſich
zuwendenden Menſchheit. In welchen beyden Figuren
der Inbegriff des Chriſtenthums enthalten waͤre.“
[200]
„Dann mag Paulus folgen, welcher die Lehre
am kraͤftigſten verbreitet hat.“
„Auf dieſen Jacobus, der zu den entfernteſten
Voͤlkern ging, und die Miſſionaire repraͤſentirt.“
„Petrus machte den Schluß. Der Kuͤnſtler muͤßte
ihn in die Naͤhe der Thuͤr ſtellen und ihm einen Aus¬
druck geben, als ob er die Hereintretenden forſchend be¬
trachte, ob ſie denn auch werth ſeyen, das Heiligthum
zu betreten.“
„Was ſagen Sie zu dieſem Cyclus? — Ich daͤchte
er waͤre reicher als die zwoͤlf Apoſtel, wo jeder ausſieht
wie der andere. Den Moſes und die Magdalene wuͤrde
ich ſitzend bilden.“
Ich war ſehr gluͤcklich dieſes Alles zu hoͤren und
bat Goethe, daß er es zu Papier bringen moͤge, wel¬
ches er mir verſprach. „Ich will es noch alles durch¬
denken, ſagte er, und es dann nebſt andern neueſten
Dingen Ihnen zum neununddreyßigſten Band geben.“
Mit Goethe zu Tiſch. Ich ſprach mit ihm uͤber
eine Stelle in ſeinen Gedichten, ob es heißen muͤſſe:
„Wie es dein Prieſter Horaz in der Entzuͤckung verhieß“
wie in allen aͤlteren Ausgaben ſteht; oder: „Wie es dein
Prieſter Properz ꝛc.“ welches die neue Ausgabe hat.
[201]
„Zu dieſer letzteren Lesart, ſagte Goethe, habe ich
mich durch Goͤttling verleiten laſſen. Prieſter Pro¬
perz klingt zudem ſchlecht, und ich bin daher fuͤr die
fruͤhere Lesart.“
So, ſagte ich, ſtand auch in dem Manuſcript Ihrer
Helena, daß Theſeus ſie entfuͤhret als ein zehenjaͤh¬
rig ſchlankes Reh. Auf Goͤttling's Einwendungen da¬
gegen haben Sie nun drucken laſſen: ein ſiebenjaͤh¬
rig ſchlankes Reh, welches gar zu jung iſt, ſowohl fuͤr
das ſchoͤne Maͤdchen, als fuͤr die Zwillingsbruͤder Caſtor
und Pollux, die ſie befreyen. Das Ganze liegt ja ſo
in der Fabelzeit, daß niemand ſagen kann wie alt ſie
eigentlich war, und zudem iſt die ganze Mythologie ſo
verſatil, daß man die Dinge brauchen kann wie es am
bequemſten und huͤbſcheſten iſt.
„Sie haben Recht, ſagte Goethe; ich bin auch dafuͤr,
daß ſie zehn Jahr alt geweſen ſey als Theſeus ſie entfuͤh¬
ret, und ich habe daher auch ſpaͤter geſchrieben: vom
zehnten Jahr an hat ſie nichts getaugt. In der kuͤnf¬
tigen Ausgabe moͤgt Ihr daher aus dem ſiebenjaͤhrigen
Reh immer wieder ein zehnjaͤhriges machen.“
Zum Nachtiſch zeigte Goethe mir zwey friſche Hefte
von Neureuther, nach ſeinen Balladen, und wir be¬
wunderten vor allen den freyen heitern Geiſt des lie¬
benswuͤrdigen Kuͤnſtlers.
[202]
Mit Goethe zu Tiſch. Er ſpricht zunaͤchſt uͤber die
Reiſe ſeines Sohnes, und daß wir uns uͤber den Er¬
folg keine zu große Illuſion machen ſollen. „Man
kommt gewoͤhnlich zuruͤck wie man gegangen iſt, ſagte
er, ja man muß ſich huͤten, nicht mit Gedanken zuruͤck¬
zukommen, die ſpaͤter fuͤr unſere Zuſtaͤnde nicht paſſen.
So brachte ich aus Italien den Begriff der ſchoͤnen
Treppen zuruͤck, und ich habe dadurch offenbar mein
Haus verdorben, indem dadurch die Zimmer alle kleiner
ausgefallen ſind als ſie haͤtten ſollen. Die Hauptſache
iſt, daß man lerne ſich ſelbſt zu beherrſchen. Wollte
ich mich ungehindert gehen laſſen, ſo laͤge es wohl in
mir, mich ſelbſt und meine Umgebung zu Grunde zu
richten.“
Wir ſprachen ſodann uͤber krankhafte koͤrperliche Zu¬
ſtaͤnde, und uͤber die Wechſelwirkung zwiſchen Koͤrper
und Geiſt.
„Es iſt unglaublich, ſagte Goethe, wie viel der
Geiſt zur Erhaltung des Koͤrpers vermag. Ich leide
oft an Beſchwerden des Unterleibes, allein der geiſtige
Wille und die Kraͤfte des oberen Theiles halten mich im
Gange. Der Geiſt muß nur dem Koͤrper nicht nach¬
geben! — So arbeite ich bey hohem Barometerſtande
leichter als bey tiefem; da ich nun dieſes weiß, ſo ſuche
ich, bey tiefem Barometer, durch groͤßere Anſtrengung
[203] die nachtheilige Einwirkung aufzuheben, und es gelingt
mir.“
„In der Poeſie jedoch laſſen ſich gewiſſe Dinge
nicht zwingen, und man muß von guten Stunden er¬
warten, was durch geiſtigen Willen nicht zu erreichen iſt.
So laſſe ich mir jetzt in meiner Walpurgisnacht Zeit,
damit Alles die gehoͤrige Kraft und Anmuth erhalten
moͤge. Ich bin gut vorgeruͤckt und hoffe es zu vollen¬
den bevor Sie gehen.“
„Was darin von Piquen vorkommt, habe ich ſo
von den beſonderen Gegenſtaͤnden abgeloͤſt und ins All¬
gemeine geſpielt, daß es zwar dem Leſer nicht an Be¬
ziehungen fehlen, aber niemand wiſſen wird, worauf es
eigentlich gemeint iſt. Ich habe jedoch geſtrebt, daß
Alles, im antiken Sinne, in beſtimmten Umriſſen da¬
ſtehe, und daß nichts Vages, Ungewiſſes vorkomme,
welches dem romantiſchen Verfahren gemaͤß ſeyn mag.“
„Der Begriff von claſſiſcher und romantiſcher Poeſie,
der jetzt uͤber die ganze Welt geht und ſo viel Streit
und Spaltungen verurſacht, fuhr Goethe fort, iſt ur¬
ſpruͤnglich von mir und Schiller ausgegangen. Ich
hatte in der Poeſie die Maxime des objectiven Verfah¬
rens, und wollte nur dieſes gelten laſſen. Schiller aber,
der ganz ſubjectiv wirkte, hielt ſeine Art fuͤr die rechte,
und, um ſich gegen mich zu wehren, ſchrieb er den
Aufſatz uͤber naive und ſentimentale Dichtung. Er be¬
wies mir, daß ich ſelber, wider Willen, romantiſch ſey,
[204] und meine Iphigenie, durch das Vorwalten der Em¬
pfindung, keineswegs ſo claſſiſch und im antiken Sinne
ſey, als man vielleicht glauben moͤchte. Die Schlegel
ergriffen die Idee und trieben ſie weiter, ſo daß ſie ſich
denn jetzt uͤber die ganze Welt ausgedehnt hat, und
nun jedermann von Claſſicismus und Romanticismus
redet, woran vor funfzig Jahren niemand dachte.“
Ich lenkte das Geſpraͤch wieder auf den Cyclus der
zwoͤlf Figuren, und Goethe ſagte mir noch Einiges zur
Ergaͤnzung.
„Den Adam muͤßte man bilden wie ich geſagt,
jedoch nicht ganz nackt, indem ich ihn mir am beſten
nach dem Suͤndenfall denke; man muͤßte ihn mit einem
duͤnnen Rehfellchen bekleiden. Und zugleich, um auszu¬
druͤcken, daß er der Vater der Menſchheit, ſo wuͤrde
man wohl thun, ihm ſeinen aͤlteſten Sohn beyzugeben,
einen trotzigen, kuͤhn um ſich blickenden Knaben, einen
kleinen Herkules, in der Hand eine Schlange erdruͤckend.“
„Auch wegen Noah haben ich einen anderen Ge¬
danken gehabt, der mir beſſer gefaͤllt; ich wuͤrde ihn
nicht dem indiſchen Bachus anaͤhneln, ſondern ich wuͤrde
ihn als Winzer darſtellen, wobey man ſich eine Art von
Erloͤſer denken koͤnnte, der, als erſter Pfleger des Wein¬
ſtocks, die Menſchheit von der Qual der Sorgen und
Bedraͤngniſſe frey machte.“
Ich war begluͤckt uͤber dieſe guten Gedanken und
nahm mir vor ſie zu notiren.
[205]
Goethe zeigte mir ſodann das Blatt von Neureu¬
ther zu ſeiner Legende vom Hufeiſen. Der Kuͤnſtler,
ſagte ich, hat dem Heiland nur acht Juͤnger beygegeben.
„Und ſchon dieſe acht, fiel Goethe ein, waren ihm zu
viel, und er hat ſehr klug getrachtet, ſie durch zwey
Gruppen zu trennen und die Monotonie eines geiſtloſen
Zuges zu vermeiden.“
Bey Goethe zu Tiſch in den heiterſten Geſpraͤchen.
Er erzaͤhlt mir von einem franzoͤſiſchen Gedicht, das
als Manuſcript in der Sammlung von David mitge¬
kommen, unter dem Titel: le rire de Mirabeau. „Das
Gedicht iſt voller Geiſt und Verwegenheit, ſagte Goethe,
und Sie muͤſſen es ſehen. Es iſt als haͤtte der Me¬
phiſtopheles dem Poeten dazu die Tinte praͤparirt. Es
iſt groß, wenn er es geſchrieben, ohne den Fauſt gele¬
ſen zu haben, und eben ſo groß, wenn er ihn ge¬
leſen.“
[206]
Ich nahm heute Abſchied von Goethe, indem die
Abreiſe nach Italien mit ſeinem Sohn dem Kammer¬
herrn auf morgen fruͤh beſtimmt war. Wir ſprachen
manches auf die Reiſe Bezuͤgliche durch, beſonders em¬
pfahl er mir, gut zu beobachten, und ihm dann und
wann zu ſchreiben.
Ich fuͤhlte eine gewiſſe Ruͤhrung Goethe zu verlaſſen;
doch troͤſtete mich der Anblick ſeiner feſten Geſundheit,
und die Zuverſicht, ihn gluͤcklich wiederzuſehen.
Als ich ging ſchenkte er mir ein Stammbuch, worin
er ſich mit folgenden Worten eingeſchrieben:
Hiob.
Den Reiſenden
Weimar
den 21. April 1830.
Goethe.
Ich machte gegen eilf Uhr einen Spaziergang um
die Stadt und durch die Gaͤrten, nach dem Taunusge¬
birge zu, und freute mich an dieſer herrlichen Natur
[207] und Vegetation. Vorgeſtern, in Weimar, waren die
Baͤume noch in Knospen; hier aber fand ich die neuen
Triebe der Kaſtanien ſchon einen Fuß lang, die der
Linden eine Viertel-Elle; das Laub der Birken war
ſchon dunkelgruͤn, die Eichen waren alle ausgeſchlagen.
Das Gras ſah ich einen Fuß hoch, ſo daß am Thor
mir Maͤdchen begegneten, die ſchwere Graskoͤrbe herein¬
trugen.
Ich ging durch die Gaͤrten, um eine freye Anſicht
des Taunusgebirges zu gewinnen; es war ein muntrer
Wind, die Wolken zogen aus Suͤdweſt, und warfen
ihre Schatten auf das Gebirge, ſo wie ſie nach Nordoſt
vorbeyzogen. Zwiſchen den Gaͤrten ſah ich einige Stoͤrche
niedergehen, und ſich wieder aufheben, welches in dem
Sonnenſchein, zwiſchen den ziehenden weißen Wolken
und blauen Himmel, ein ſchoͤner Anblick war und den
Character der Gegend vollendete. Als ich zuruͤckging,
kamen mir vor dem Thore die ſchoͤnſten Kuͤhe entgegen,
braun, weiß, gefleckt und von glaͤnzender Haut.
Die hieſige Luft iſt anmuthig und wohlthaͤtig, das
Waſſer von ſuͤßlichem Geſchmack. Beefſteaks habe ich
ſeit Hamburg nicht ſo gute gegeſſen als hier; auch freue
ich mich uͤber das treffliche Weißbrod.
Es iſt Meſſe, und das Getreide und Geleyer und
Gedudel auf der Straße geht vom Morgen bis ſpaͤt in
die Nacht. Ein Savoyardenknabe war mir merkwuͤrdig,
der eine Leyer drehte, und hinter ſich einen Hund zog,
[208] auf welchem ein Affe ritt. Er pfiff und ſang zu uns
herauf, und reizte uns lange, ihm etwas zu geben. Wir
warfen ihm hinunter, mehr als er erwarten konnte,
und ich dachte er wuͤrde einen Blick des Dankes herauf¬
ſenden. Er that aber nicht dergleichen, ſondern ſteckte
ſein Geld ein und blickte ſogleich nach Anderen, die
ihm geben ſollten.
Wir machten dieſen Morgen eine Spazierfahrt um
die Stadt, in einem ſehr eleganten Wagen unſeres Wir¬
thes. Die reizenden Anlagen, die praͤchtigen Gebaͤude,
der ſchoͤne Strom, die Gaͤrten und einladenden Garten¬
haͤuſer erquickten die Sinne; ich machte jedoch bald die
Bemerkung, daß es ein Beduͤrfniß des Geiſtes ſey, den
Gegenſtaͤnden einen Gedanken abzugewinnen, und daß,
ohne dieſes, am Ende alles gleichguͤltig und ohne Be¬
deutung an uns voruͤbergehe.
Mittags, an Table d'hôte, ſah ich viele Geſichter,
allein wenige von ſolchem Ausdruck, daß ſie mir merk¬
wuͤrdig ſeyn konnten. Der Oberkellner jedoch intereſſirte
mich in hohem Grade, ſo daß denn meine Augen nur
ihm und ſeinen Bewegungen folgten. Und wirklich, er
war ein merkwuͤrdiger Menſch! Gegen zweyhundert Gaͤſte
[209] ſaßen wir an langen Tiſchen, und es klingt beynahe
unglaublich, wenn ich ſage, daß dieſer Oberkellner faſt
allein die ganze Bedienung machte, indem er alle Ge¬
richte aufſetzte und abnahm, und die uͤbrigen Kellner
ihm nur zureichten und aus den Haͤnden nahmen. Da¬
bey wurde nie etwas verſchuͤttet, auch nie jemand der
Speiſenden beruͤhrt, ſondern alles geſchah luftartig, be¬
hende, wie durch Geiſtergewalt. Und ſo flogen Tau¬
ſend von Schuͤſſeln und Tellern aus ſeinen Haͤnden auf
den Tiſch, und wiederum vom Tiſch in die Haͤnde ihm
folgender Bedienung. Ganz in ſeine Intention vertieft
war der ganze Menſch bloß Blick und Hand, und er
oͤffnete ſeine geſchloſſenen Lippen nur zu fluͤchtigen Ant¬
worten und Befehlen. Und er beſorgte nicht bloß den
Tiſch, ſondern auch die einzelnen Beſtellungen an Wein
und dergleichen; und dabey merkte er ſich alles, ſo daß
er am Ende der Tafel eines jeden Zeche wußte und das
Geld eincaſſirte. Ich bewunderte den Überblick, die
Gegenwart des Geiſtes und das große Gedaͤchtniß die¬
ſes merkwuͤrdigen jungen Mannes. Dabey war er im¬
mer vollkommen ruhig und ſich bewußt, und immer be¬
reit zu einem Scherz und einer geiſtreichen Erwiederung,
ſo daß ein beſtaͤndiges Laͤcheln auf ſeinen Lippen ſchwebte.
Ein franzoͤſiſcher Rittmeiſter der alten Garde beklagte
ihn gegen Ende der Tafel, daß die Damen ſich entfern¬
ten; er antwortete ſchnell ablehnend: C'est pour vous
autres; nous sommes sans passion. Das Franzoͤſiſche
II. 14[210] ſprach er vollkommen, ebenſo das Engliſche, und man
verſicherte mich, daß er noch drey andere Sprachen in
ſeiner Gewalt habe. Ich ließ mich ſpaͤter mit ihm in
ein Geſpraͤch ein, und hatte nach allen Seiten hin eine
ſeltene Bildung an ihm zu ſchaͤtzen.
Abends im Don Juan hatten wir Urſache, mit
Liebe an Weimar zu denken. Im Grunde waren alles
gute Stimmen und huͤbſche Talente, allein ſie ſpielten
und redeten faſt alle wie Naturaliſten, die keinem Meiſter
etwas ſchuldig geworden. Sie waren undeutlich, und
thaten als ob kein Publicum da waͤre. Das Spiel eini¬
ger Perſonen gab zu der Bemerkung Anlaß, daß das
Unedle, ohne Character, ſogleich gemein und unertraͤg¬
lich werde, waͤhrend es durch Character ſich ſogleich in
die hoͤhere Sphaͤre der Kunſt erhebt. Das Publicum
war ſehr laut und ungeſtuͤm, und es fehlte nicht an
vielfaͤltigem Da Capo- und Hervorgerufe. Der Zerline
ging es gut und uͤbel zugleich, indem die eine Haͤlfte
des Hauſes ziſchte, waͤhrend die andere applaudirte, ſo
daß ſich die Parteyen ſteigerten, und es jedesmal mit
einem wuͤſten Laͤrm und Tumult endigte.
[211]
Ich bin nun bald drey Wochen hier und es iſt wohl
Zeit, daß ich Einiges aufſchreibe.
Das große Theater della Scala iſt zu unſerm Be¬
dauren geſchloſſen; wir waren darin und ſahen es an¬
gefuͤllt mit Geruͤſten. Man nimmt verſchiedene Repa¬
raturen vor und bauet, wie man ſagt, noch eine Reihe
Logen. Die erſten Saͤnger und Saͤngerinnen haben
dieſen Zeitpunct wahrgenommen und ſind auf Reiſen
gegangen. Einige, ſagt man, ſind in Wien, andere
in Paris.
Das Marionetten-Theater habe ich gleich nach mei¬
ner Ankunft beſucht, und habe mich gefreut an der
außerordentlichen Deutlichkeit der redenden Perſonen.
Dieß Marionetten-Theater iſt vielleicht das beſte in der
Welt; es iſt beruͤhmt, und man hoͤrt davon reden, ſo
wie man Mailand nahe kommt.
Das Theater della Canobiana, mit fuͤnf Reihen Lo¬
gen uͤber einander, iſt nach der Scala das groͤßte. Es
faßt dreytauſend Menſchen. Es iſt mir ſehr angenehm;
ich habe es oft beſucht und immer dieſelbige Oper und
daſſelbige Ballet geſehen. Man giebt ſeit drey Wochen
il Conte Ory, Oper von Roſſini, und das Ballet
l'Orfana di Genevra. Die Decorationen von San
Quirico oder unter deſſen Anleitung gemacht, wirken
durchaus angenehm, und ſind beſcheiden genug, um ſich
14*[212] von den Anzuͤgen der ſpielenden Figuren uͤberbieten zu
laſſen. San Quirico, ſagt man, hat viele geſchickte
Leute in ſeinem Dienſt; alle Beſtellungen gehen an ihn,
er uͤbertraͤgt ſie ferner, und giebt die Anleitungen, ſo
daß alles unter ſeinem Namen geht und er ſelbſt ſehr
wenig macht. Er ſoll vielen geſchickten Kuͤnſtlern jaͤhr¬
lich ein ſchoͤnes Fixum geben, und dieſes auch bezahlen,
wenn ſie krank ſind und das ganze Jahr nichts zu
thun haben.
Bey der Oper ſelbſt war es mir zunaͤchſt lieb, kei¬
nen Souffleurkaſten zu ſehen, der ſonſt, ſo unangenehm,
immer die Fuͤße der handelnden Perſonen verdeckt.
Sodann gefiel mir der Platz des Capellmeiſters.
Er ſtand ſo, daß er ſein ganzes Orcheſter uͤberſieht, und
rechts und links winken und leiten kann, und von Allen
geſehen wird, ein wenig erhoͤht, in der Mitte, zunaͤchſt
am Parket, ſo daß er, uͤber das Orcheſter hinaus, frey
auf die Buͤhne ſieht. In Weimar dagegen ſteht der
Capellmeiſter ſo, daß er zwar frey auf die Buͤhne ſieht,
aber das Orcheſter im Ruͤcken hat, ſo daß er ſich immer
umwenden muß, wenn er jemanden etwas bedeuten will.
Das Orcheſter ſelbſt iſt ſehr ſtark beſetzt, ich zaͤhlte
ſechzehn Baͤſſe, und zwar an jedem aͤußerſten Ende acht.
Das gegen hundert Perſonen ſich belaufende Perſonal
iſt von beyden Seiten zu nach innen auf den Capell¬
meiſter gewendet, und zwar ſo, daß ſie den Ruͤcken ge¬
gen die ins Proſcenium hineingehenden Parterre-Logen
[213] haben, und mit dem einen Auge auf die Buͤhne und
mit dem andern ins Parterre ſehen; grade aus aber auf
den Capellmeiſter.
Die Stimmen der Saͤnger und Saͤngerinnen betref¬
fend, ſo entzuͤckte mich dieſer reine Klang und die Staͤrke
der Toͤne, dieſes leichte Anſprechen und freye Heraus¬
gehen ohne die geringſte Anſtrengung. Ich dachte an
Zelter und wuͤnſchte ihn an meiner Seite zu ſeyn. Vor
allen begluͤckte mich die Stimme der Signora Corradi-
Pantanelli, welche den Pagen ſang. Ich ſprach
uͤber dieſe treffliche Saͤngerin gegen Andere, und hoͤrte,
ſie ſey auf naͤchſten Winter fuͤr die Scala engagirt.
Die Prima-Donna, als Conteſſa Adele, war eine junge
Anfaͤngerin, Signora Albertini; in ihrer Stimme
liegt etwas ſehr Zartes, Hellreines, wie das Licht der
Sonne. Jeden aus Deutſchland Kommenden muß ſie
in hohem Grade erfreuen. Sodann ein junger Baſſiſt
ragte hervor. Seine Stimme hat den gewaltigſten Ton,
iſt jedoch noch ein wenig unbeholfen, ſo wie auch ſein
Spiel, obgleich frey, auf die Jugend ſeiner Kunſt ſchlie¬
ßen ließ.
Die Choͤre gingen vortrefflich und mit dem Orcheſter
auf das Praͤciſeſte.
Die Koͤrperbewegung der ſpielenden Perſonen anlan¬
gend, ſo war mir eine gewiſſe Maͤßigkeit und Ruhe
merkwuͤrdig, indem ich Äußerungen des lebhaften italie¬
niſchen Characters erwartet hatte.
[214]
Die Schminke war nur ein Hauch von Roͤthe, ſo
wie man es in der Natur gerne ſieht, und ſo, daß
man nicht an geſchminkte Wangen erinnert wird.
Bey der ſtarken Beſetzung des Orcheſters war es
mir merkwuͤrdig, daß es nie die Stimmen der Saͤnger
uͤbertoͤnte, ſondern daß dieſe immer die herrſchenden
blieben. Ich ſprach daruͤber an Table d'hôte, und
hoͤrte einen verſtaͤndigen jungen Mann Folgendes er¬
wiedern.
„Die deutſchen Orcheſter, ſagte er, ſind egoiſtiſch und
wollen als Orcheſter ſich hervorthun und etwas ſeyn. Ein
italieniſches Orcheſter dagegen iſt discret. Es weiß recht
gut, daß in der Oper der Geſang der menſchlichen
Stimmen die Hauptſache iſt, und daß die Begleitung
des Orcheſters dieſen nur tragen ſoll. Zudem haͤlt der
Italiener dafuͤr, daß der Ton eines Inſtruments nur
ſchoͤn ſey, wenn man ihn nicht forcirt. Moͤgen daher
in einem italieniſchen Orcheſter noch ſo viele Geigen,
Clarinetten, Trompeten und Baͤſſe geſpielt und geblaſen
werden, der Total-Eindruck des Ganzen wird immer
ſanft und angenehm bleiben, waͤhrend ein deutſches Or¬
cheſter, bey dreyfach ſchwaͤcherer Beſetzung, ſehr leicht
laut und rauſchend wird.“
Ich konnte ſo uͤberzeugenden Worten nicht wider¬
ſprechen, und freute mich, mein Problem ſo klar geloͤſt
zu ſehen.
Aber ſollten nicht auch, verſetzte ich, die neueſten
[215] Componiſten ſchuld ſeyn, indem ſie die Orcheſter-Beglei¬
tung der Oper zu ſtark inſtrumentiren?
„Allerdings, erwiederte der Fremde, ſind neuere
Componiſten in dieſen Fehler gefallen; allein niemals
wirklich große Meiſter wie Mozart und Roſſini. Ja
es findet ſich ſogar bey dieſen, daß ſie, in der Beglei¬
tung, eigene, von der Melodie des Geſanges unabhaͤn¬
gige, Motive ausgefuͤhrt haben; allein demungeachtet
haben ſie ſich immer ſo maͤßig gehalten, daß die Stimme
des Geſanges immer das Herrſchende und Vorwaltende
geblieben iſt. Neueſte Meiſter dagegen uͤbertoͤnen, bey
wirklicher Armuth an Motiven in der Begleitung, durch
eine gewaltſame Inſtrumentirung ſehr oft den Geſang.“
Ich gab dem verſtaͤndigen jungen Fremden meinen
Beyfall. Mein Tiſchnachbar ſagte mir, es ſey ein jun¬
ger lieflaͤndiſcher Baron, der ſich lange in Paris und
London aufgehalten und nun ſeit fuͤnf Jahren hier ſey
und viel ſtudire.
Noch etwas muß ich erwaͤhnen, das ich in der Oper
bemerkt, und welches mir Freude machte zu bemerken.
Es iſt naͤmlich dieſes, daß die Italiener auf dem Thea¬
ter die Nacht nicht als wirkliche Nacht, ſondern nur
ſymboliſch behandeln. Auf deutſchen Theatern war es
mir immer unangenehm, daß in naͤchtlichen Scenen
eine vollkommene Nacht eintrat, wo denn der Ausdruck
der handelnden Figuren, ja oft die Perſonen ſelber, ganz
verſchwanden, und man eben nichts mehr ſah als die
[216] leere Nacht. Die Italiener behandeln das weiſer. Ihre
Theater-Nacht iſt nie eine wirkliche, ſondern nur eine
Andeutung. Nur der Hintergrund des Theaters ver¬
dunkelte ſich ein Weniges, und die ſpielenden Perſonen
zogen ſich ſo ſehr in den Vordergrund, daß ſie durchaus
beleuchtet blieben, und kein Zug in dem Ausdruck ihrer
Geſichter uns entging. In der Malerey ſollte es billig
auch ſo ſeyn, und es ſoll mich wundern, ob ich Bilder
finden werde, wo die Nacht die Geſichter ſo verdunkelt
hat, daß der Ausdruck unkenntlich wird. Ich hoffe von
guten Meiſtern kein ſolches Bild zu finden.
Dieſelbige ſchoͤne Maxime fand ich auch im Ballet
angewendet. Eine naͤchtliche Scene war vorgeſtellt, wo
ein Maͤdchen von einem Raͤuber uͤberfallen wird. Das
Theater iſt nur ein Weniges verdunkelt, ſo daß man
alle Bewegungen und den Ausdruck der Geſichter voll¬
kommen ſieht. Auf das Geſchrey des Maͤdchens entflieht
der Moͤrder, und die Landleute eilen aus ihren Huͤtten
herzu mit Lichtern. Aber nicht mit Lichtern von truͤber
Flamme, ſondern dem Weißfeuer aͤhnlichen, ſo daß uns
durch dieſen Contraſt der helleſten Beleuchtung erſt fuͤhl¬
bar wird, daß es in der vorigen Scene Nacht war.
Was man mir in Deutſchland von dem lauten ita¬
lieniſchen Publicum vorausſagte, habe ich beſtaͤtigt ge¬
funden, und zwar nimmt die Unruhe des Publicums zu,
je laͤnger eine Oper gegeben wird. Vor vierzehn Tagen
ſah ich eine der erſten Vorſtellungen von dem Conte
[217] Ory. Die beſten Saͤnger und Saͤngerinnen empfing
man bey ihrem Auftreten mit Applaus; man ſprach
wohl in gleichguͤltigen Scenen, allein bey dem Eintritt
guter Arien wurde alles ſtille, und ein allgemeiner Bey¬
fall lohnte den Saͤnger. Die Choͤre gingen vortrefflich,
und ich bewunderte die Praͤciſion, wie Orcheſter und
Stimmen ſtets zuſammentrafen. Jetzt aber, nachdem
man die Oper ſeit der Zeit jeden Abend gegeben hat,
iſt beym Publicum jede Aufmerkſamkeit hin, ſo daß alles
redet und das Haus von einem lauten Getoͤſe ſummet.
Es regt ſich kaum eine Hand mehr, und man begreift
kaum wie man auf der Buͤhne noch die Lippe oͤffnen
und im Orcheſter noch einen Strich thun mag. Man
bemerkt auch keinen Eifer und keine Praͤciſion mehr,
und der Fremde, der gerne etwas hoͤren moͤchte, waͤre
in Verzweiflung, wenn man in ſo heiterer Umgebung
uͤberall verzweifeln koͤnnte.
am 1. Pfingſttage.
Ich will noch Einiges notiren was mir bis jetzt in
Italien zu bemerken Freude machte, oder ſonſt ein In¬
tereſſe erweckte.
Oben auf dem Simplon, in der Einoͤde von Schnee
[218] und Nebel, in der Naͤhe einer Refuge, kam ein Knabe
mit ſeinem Schweſterchen den Berg herauf an unſern
Wagen. Beyde hatten kleine Koͤrbe auf dem Ruͤcken,
mit Holz, das ſie in dem untern Gebirge, wo noch
einige Vegetation iſt, geholt hatten. Der Knabe reichte
uns einige Bergkriſtalle und ſonſtiges Geſtein, wofuͤr
wir ihm einige kleine Muͤnze gaben. Nun hat ſich mir
als unvergeßlich eingepraͤgt, mit welcher Wonne er ver¬
ſtohlen auf ſein Geld blickte, indem er an unſerm Wa¬
gen herging. Dieſen himmliſchen Ausdruck von Gluͤck¬
ſeligkeit habe ich nie vorher geſehen. Ich hatte zu be¬
denken, daß Gott alle Quellen und alle Faͤhigkeiten des
Gluͤcks in das menſchliche Gemuͤth gelegt hat, und daß
es zum Gluͤck voͤllig gleich iſt, wo und wie einer wohnt.
Ich wollte in meinen Mittheilungen fortfahren, allein
ich ward unterbrochen, und kam waͤhrend meines ferne¬
ren Aufenthaltes in Italien, wo freylich kein Tag ohne
bedeutende Eindruͤcke und Beobachtungen verging, nicht
wieder zum Schreiben. Erſt nachdem ich mich von
Goethe dem Sohne getrennt und die Alpen im Ruͤcken
hatte, richtete ich Folgendes wieder an Goethe.
[219]
Ich habe Ihnen dießmal ſoviel mitzutheilen, daß
ich nicht weiß, wo ich anfangen und wo ich endi¬
gen ſoll.
Eure Excellenz haben oft im Scherz geſagt, daß das
Fortreiſen eine recht gute Sache ſey, wenn nur das
Wiederkommen nicht waͤre. Ich finde dieß nun zu mei¬
ner Qual beſtaͤtigt, indem ich mich an einer Art von
Scheideweg befinde, und nicht weiß welchen ich einſchla¬
gen ſoll.
Mein Aufenthalt in Italien, ſo kurz er auch war,
iſt doch wie billig nicht ohne große Wirkung fuͤr mich
geweſen. Eine reiche Natur hat mit ihren Wundern zu
mir geſprochen und mich gefragt, wie weit ich denn ge¬
kommen, um ſolche Sprache zu vernehmen. Große
Werke der Menſchen, große Thaͤtigkeiten, haben mich
angeregt und mich auf meine eigenen Haͤnde blicken
laſſen, um zu ſehen was denn ich ſelbſt vermoͤge.
Exiſtenzen tauſendfacher Art haben mich beruͤhrt und
mich gefragt, wie denn die meinige beſchaffen. Und ſo
ſind drey große Beduͤrfniſſe in mir lebendig: Mein
Wiſſen zu vermehren, meine Exiſtenz zu verbeſſern,
und, daß beydes moͤglich ſey, vor allen Dingen etwas
zu thun.
Was nun dieſes letztere betrifft, ſo bin ich uͤber das,
was zu thun ſey, keineswegs in Zweifel. Es liegt mir
[220] ſeit lange ein Werk am Herzen, womit ich mich dieſe
Jahre her in freyen Stunden beſchaͤftiget habe, und
das ſo weit fertig iſt, wie ungefaͤhr ein neugebautes
Schiff, dem noch das Tauwerk und die Segel fehlen
um in die See zu gehen.
Es ſind dieß jene Geſpraͤche uͤber große Maximen
in allen Faͤchern des Wiſſens und der Kunſt, ſo wie
Aufſchluͤſſe uͤber hoͤhere menſchliche Intereſſen, Werke
des Geiſtes und vorzuͤgliche Perſonen des Jahrhunderts,
wozu ſich im Laufe der ſechs Jahre, die ich in Ihrer
Naͤhe zu ſeyn das Gluͤck hatte, die haͤufigſten Anlaͤſſe
fanden. Es ſind dieſe Geſpraͤche fuͤr mich ein Funda¬
ment von unendlicher Cultur geworden, und wie ich im
hoͤchſten Grade begluͤckt war, ſie zu hoͤren und in mich
aufzunehmen, ſo wollte ich auch anderen Guten dieſes
Gluͤck bereiten, indem ich ſie niederſchrieb und ſie der
beſſeren Menſchheit bewahrte.
Eure Excellenz haben von dieſen Converſationen hin
und wieder einige Bogen geſehen, Sie haben ſelbigen
Ihren Beyfall geſchenkt, und mich wiederholt aufgemun¬
tert, in dieſem Unternehmen fortzufahren. Solches iſt
denn periodenweiſe geſchehen, wie mein zerſtreutes
Leben in Weimar es zuließ, ſo daß ſich etwa zu zwey
Baͤnden reichliche Materialien geſammelt finden.
Vor meiner Abreiſe nach Italien habe ich dieſe wich¬
tigen Manuſcripte nicht mit meinen uͤbrigen Schriften
und Sachen in meine Koffer verpackt, ſondern ich habe
[221] ſie, in einem beſonderen Paket verſiegelt, unſerm Freunde
Soret zur Aufbewahrung vertraut, mit dem Erſuchen,
im Fall mir auf der Reiſe ein Unheil zuſtieße und ich
nicht zuruͤckkaͤme, ſie in Ihre Haͤnde zu geben.
Nach dem Beſuche in Venedig, bey unſerm zweyten
Aufenthalt in Mailand, uͤberfiel mich ein Fieber, ſo
daß ich einige Naͤchte ſehr krank war und eine ganze
Woche, ohne Neigung zu der geringſten Nahrung, ganz
ſchmaͤhlich danieder lag. In dieſen einſamen verlaſſenen
Stunden gedachte ich vorzuͤglich jenes Manuſcripts, und
es beunruhigte mich, daß es ſich nicht in einem ſo kla¬
ren abgeſchloſſenen Zuſtand befinde, um davon entſchie¬
den Gebrauch zu machen. Es trat mir vor Augen,
daß es haͤufig nur mit der Bleyfeder geſchrieben, daß
einige Stellen undeutlich und nicht gehoͤrig ausgedruͤckt,
daß Manches ſich nur in Andeutungen befinde, und,
mit einem Wort, eine gehoͤrige Redaction und die letzte
Hand fehle.
In ſolchen Zuſtaͤnden und bey ſolchem Gefuͤhl er¬
wachte in mir ein dringendes Verlangen nach jenen Pa¬
pieren. Die Freude, Neapel und Rom zu ſehen, ver¬
ſchwand, und eine Sehnſucht ergriff mich, nach Deutſch¬
land zuruͤckzukehren, um, von allem zuruͤckgezogen, ein¬
ſam, jenes Manuſcript zu vollenden.
Ohne von dem was tiefer in mir vorging zu reden,
ſprach ich mit Ihrem Herrn Sohn uͤber meine koͤrper¬
lichen Zuſtaͤnde; er empfand das Gefaͤhrliche, mich in
[222] der großen Hitze weiter mitzuſchleppen, und wir wurden
eins, daß ich noch Genua verſuchen, und wenn dort
mein Befinden ſich nicht beſſern ſollte, es meiner Wahl
uͤberlaſſen ſey, nach Deutſchland zuruͤckzugehen.
So hatten wir uns einige Zeit in Genua aufgehal¬
ten, als ein Brief von Ihnen uns erreichte, worin Sie
aus der Ferne her zu empfinden ſchienen, wie es unge¬
faͤhr mit uns ſtehen moͤchte, und worin Sie ausſprachen,
daß, im Fall ich etwa Neigung haͤtte zuruͤckzukehren, ich
Ihnen willkommen ſeyn ſolle.
Wir verehrten Ihren Blick, und waren erfreut, daß
Sie jenſeits der Alpen Ihre Zuſtimmung zu einer An¬
gelegenheit gaben, die ſo eben unter uns ausgemacht
worden. Ich war entſchloſſen ſogleich zu gehen, Ihr
Herr Sohn jedoch fand es artig, wenn ich noch bleiben
und an demſelbigen Tage mit ihm zugleich abreiſen
wollte.
Dieſes that ich mit Freuden, und ſo war es denn
Sonntag den 25. July Morgens vier Uhr, als wir
uns auf der Straße in Genua zum Lebewohl umarm¬
ten. Zwey Wagen ſtanden, der eine um an der Kuͤſte
hinauf nach Livorno zu gehen, welchen Ihr Herr Sohn
beſtieg, der andere uͤber das Gebirge nach Turin bereit,
worin ich mich zu anderen Gefaͤhrten ſetzte. So fuhren
wir auseinander, in entgegengeſetzten Richtungen, beyde
geruͤhrt und mit den treueſten Wuͤnſchen fuͤr unſer wech¬
ſelſeitiges Wohl.
[223]
Nach einer dreytaͤgigen Reiſe, in großer Hitze und
Staub, uͤber Novi, Alexandria und Aſti, kam ich nach
Turin, wo es noͤthig war, mich einige Tage zu erholen
und umzuſehen, und eine weitere paſſende Gelegenheit
uͤber die Alpen zu erwarten. Dieſe fand ſich Montag
den 2. Auguſt uͤber den Mont Cenis nach Chambery,
wo wir Abends den 6. ankamen. Am 7., Nachmittags,
fand ich weitere Gelegenheit nach Aix, und am 8. ſpaͤt,
in Dunkelheit und Regen erreichte ich Genf, wo ich im
Gaſthof zur Krone ein Unterkommen fand.
Hier war alles voll von Englaͤndern, die, von Paris
geflohen, als Augenzeugen der dortigen außerordentlichen
Auftritte viel zu erzaͤhlen hatten. Sie koͤnnen denken,
welchen Eindruck das erſte Erfahren jener welterſchuͤttern¬
den Begebenheiten auf mich machte, mit welchem In¬
tereſſe ich die Zeitungen las, die im Piemonteſiſchen
unterdruͤckt waren, und wie ich den Erzaͤhlungen der
taͤglich neu Ankommenden, ſo wie dem Hin- und Wie¬
derreden und Streiten politiſirender Menſchen an Table
d'hôte zuhoͤrte. Alles war in der hoͤchſten Aufregung,
und man verſuchte die Folgen zu uͤberſehen, die aus ſo
großen Gewaltſchritten fuͤr das uͤbrige Europa hervor¬
gehen koͤnnten. Ich beſuchte Freundin Sylveſtre,
Sorets Eltern und Bruder, und da jeder in ſo auf¬
geregten Tagen eine Meinung haben mußte, ſo bildete
ich mir die, daß die franzoͤſiſchen Miniſter vorzuͤglich
deßwegen ſtrafbar ſeyen, weil ſie den Monarchen zu
[224] Schritten verleitet, wodurch beym Volke das Vertrauen
und das Koͤnigliche Anſehen verletzt worden.
Es war meine Abſicht geweſen, Ihnen bey meiner
Ankunft in Genf ſogleich ausfuͤhrlich zu ſchreiben; allein
die Aufregung und Zerſtreuung der erſten Tage war zu
groß, als daß ich die Sammlung finden konnte, um
mich Ihnen mitzutheilen wie ich es wollte. Sodann am
15. Auguſt erreichte mich ein Brief unſers Freundes
Sterling aus Genua, mit einer Nachricht, die mich
im Tiefſten betruͤbte und mir jede Communication nach
Weimar unterſagte. Jener Freund meldete, daß Ihr
Herr Sohn, am Tage ſeiner Trennung von mir, bey
einem Umſturz mit dem Wagen, das Schluͤſſelbein ge¬
brochen habe und in Spezzia danieder liege. Ich ſchrieb
ſogleich als Erwiederung, daß ich bereit ſey, auf den
erſten Wink uͤber die Alpen zuruͤckzukommen, und daß
ich Genf auf keinen Fall zur Fortſetzung meiner Reiſe
nach Deutſchland verlaſſen wuͤrde, bis nicht durchaus
beruhigende Nachrichten aus Genua bey mir eingegan¬
gen. In Erwartung ſolcher, richtete ich mich in einem
Privatlogis wirthſchaftlich ein, und benutzte meinen
Aufenthalt zu meiner weiteren Ausbildung in der fran¬
zoͤſiſchen Sprache.
Endlich, am 28. Auguſt, ward mir ein doppelter
Feſttag bereitet, indem an dieſem Tage ein zweyter Brief
von Sterling des Inhalts mich begluͤckte, daß Ihr Herr
Sohn von ſeinem Unfall in kurzer Zeit voͤllig hergeſtellt
[225] ſey, und durchaus heiter, wohl und ſtark ſich in Li¬
vorno befinde. So waren denn alle meine Beſorgniſſe
von jener Seite mit einem Mal voͤllig gehoben, und ich
betete in der Stille meines Herzens die Verſe:
Ich ſchickte mich nun ernſtlich an Ihnen Nachricht
von mir zu geben; ich wollte Ihnen ſagen was unge¬
faͤhr auf den vorliegenden Blaͤttern enthalten; ich wollte
ferner erſuchen, ob es mir nicht vergoͤnnt ſeyn wolle,
jenes Manuſcript, das mir ſo ſehr am Herzen liegt,
von Weimar entfernt, in ſtiller Zuruͤckgezogenheit zu
vollenden; indem ich nicht eher voͤllig frey und froh zu
werden glaube, als bis ich Ihnen jenes lange gehegte
Werk in deutlicher Reinſchrift, geheftet, zur Genehmi¬
gung der Publication vorlegen koͤnne.
Nun aber erhalte ich Briefe aus Weimar, woraus
ich ſehe, daß meine baldige Zuruͤckkunft erwartet wird,
und daß man die Abſicht hat, mir eine Stelle zu geben.
Solches Wohlwollen habe ich zwar mit Dank zu er¬
kennen, allein es durchkreuzt meine jetzigen Plaͤne, und
bringt mich in einen wunderlichen Zwieſpalt mit mir
ſelber.
Kaͤme ich jetzt nach Weimar zuruͤck, ſo waͤre an eine
ſchnelle Vollendung meiner naͤchſten literariſchen Vorſaͤtze
gar nicht zu denken. Ich kaͤme dort ſogleich wieder in
die alte Zerſtreuung; ich waͤre in der kleinen Stadt,
II. 15[226] wo Einer dem Andern auf dem Halſe liegt, ſogleich
wieder von verſchiedenen kleinen Verhaͤltniſſen hin und
hergezerrt, die mich zerſtoͤren, ohne mir und Andern ent¬
ſchieden zu nutzen.
Zwar enthaͤlt ſie viel Gutes und Treffliches, das ich
ſeit lange geliebt habe und das ich ewig lieben werde;
denke ich aber daran zuruͤck, ſo iſt es mir, als ſaͤhe ich
vor den Thoren der Stadt einen Engel mit einem feu¬
rigen Schwerdt, um mir den Eingang zu wehren und
mich davon hinwegzutreiben.
Ich bin, wie ich mich kenne, ein wunderliches We¬
ſen von einem Menſchen. An gewiſſen Dingen haͤnge
ich treu und feſt, ich halte an Vorſaͤtzen durch viele
Jahre hindurch, und fuͤhre ſie aus, hartnaͤckig, durch
tauſend Umwege und Schwierigkeiten; aber in einzelnen
Beruͤhrungen des taͤglichen Lebens iſt niemand abhaͤn¬
giger, wankender, beſtimmbarer, allerley Eindruͤcke faͤhi¬
ger, als ich, welches beydes denn das hoͤchſt veraͤnder¬
liche und wiederum feſte Geſchick meines Lebens bildet.
Sehe ich auf meine durchlaufene Bahn zuruͤck, ſo ſind
die Verhaͤltniſſe und Zuſtaͤnde, durch die ich gegangen,
hoͤchſt bunt und verſchieden; blicke ich aber tiefer, ſo
ſehe ich durch alle hindurch einen gewiſſen einfachen
Zug eines hoͤheren Hinaufſtrebens hindurchgehen, ſo daß
es mir denn auch gelungen iſt, von Stufe zu Stufe
mich zu veredeln und zu verbeſſern.
Aber eben jene große Beſtimmbarkeit und Fuͤgſam¬
[227] keit meines Weſens macht es von Zeit zu Zeit noͤthig,
meine Lebensverhaͤltniſſe zu rectificiren; ſo wie ein Schif¬
fer, den die Launen verſchiedener Winde von ſeiner Bahn
gebracht, immer wieder die alte Richtung ſucht.
Eine Stelle anzunehmen, iſt mit meinen ſo lange zuruͤck¬
gedraͤngten literariſchen Zwecken jetzt nicht zu vereinigen.
Stunden an junge Englaͤnder zu geben, iſt nicht ferner
meine Abſicht. Ich habe die Sprache gewonnen, und das
iſt alles was mir fehlte und woruͤber ich nun froh bin.
Ich verkenne nicht das Gute, das mir aus dem langen
Verkehr mit den jungen Fremdlingen erwachſen iſt, allein
jedes Ding hat ſeine Zeit und ſeinen Wechſel.
Überall iſt das muͤndliche Lehren und Wirken gar
nicht meine Sache. Es iſt ein Metier, wozu ich ſo
wenig Talent als Ausbildung beſitze. Es fehlt mir alle
redneriſche Gabe, indem jedes lebendige vis-à-vis ge¬
woͤhnlich eine ſolche Gewalt uͤber mich ausuͤbt, daß ich
mich ſelber vergeſſe, daß es mich in ſein Weſen und
Intereſſe zieht, daß ich mich dadurch bedingt fuͤhle, und
ſelten zur Freyheit und zu kraͤftigem Hinwirken des Ge¬
dankens gelange.
Dagegen, dem Papiere gegenuͤber, fuͤhle ich mich
durchaus frey und ganz im Beſitz meiner ſelbſt; das
ſchriftliche Entwickeln meiner Gedanken iſt daher auch
meine eigentliche Luſt und mein eigentliches Leben, und
ich halte jeden Tag fuͤr verloren, an dem ich nicht einige
Seiten geſchrieben habe, die mir Freude machen.
15 *[228]
Meine ganze Natur draͤngt mich jetzt, aus mir ſel¬
ber heraus auf einen groͤßeren Kreis zu wirken, in der
Literatur Einfluß zu gewinnen, und zu weiterem Gluͤck
mir endlich einigen Namen zu machen.
Zwar iſt der literariſche Ruhm, an ſich betrachtet,
kaum der Muͤhe werth; ja ich habe geſehen, daß er
etwas ſehr Laͤſtiges und Stoͤrendes ſeyn kann; allein
doch hat er das Gute, daß er den Thaͤtig-Strebenden
gewahr werden laͤßt, daß ſeine Wirkungen einen Boden
gefunden, und dieß iſt ein Gefuͤhl goͤttlicher Art, wel¬
ches erhebt und Gedanken und Kraͤfte giebt, wozu man
ſonſt nicht gekommen waͤre.
Wenn man ſich dagegen zu lange in engen kleinen
Verhaͤltniſſen herumdruͤckt, ſo leidet der Geiſt und Cha¬
racter, man wird zuletzt großer Dinge unfaͤhig, und hat
Muͤhe ſich zu erheben.
Hat die Frau Großherzogin wirklich die Abſicht,
etwas fuͤr mich zu thun, ſo finden ſo hohe Perſonen
ſehr leicht eine Form, um ihre gnaͤdigen Geſinnungen
auszulaſſen. Will ſie meine naͤchſten literariſchen Schritte
unterſtuͤtzen und beguͤnſtigen, ſo wird ſie ein gutes Werk
thun, deſſen Fruͤchte nicht verloren ſeyn ſollen.
Vom Prinzen kann ich ſagen, daß er eine beſondere
Stelle in meinem Herzen hat. Ich hoffe viel Gutes
von ſeinen geiſtigen Faͤhigkeiten und ſeinem Character,
und werde gern meine wenigen Kenntniſſe zu ſeiner
Dispoſition ſtellen. Ich werde mich immer weiter aus¬
[229] zubilden ſuchen, und er wird immer aͤlter werden, um
das empfangen zu koͤnnen, was ich etwa Beſſeres zu
geben haͤtte.
Zunaͤchſt aber liegt mir vor allen Dingen die voͤllige
Ausarbeitung jenes mehr erwaͤhnten Manuſcripts am
Herzen. Ich moͤchte einige Monate in ſtiller Zuruͤckge¬
zogenheit, bey meiner Geliebten und deren Verwandten
in der Naͤhe von Goͤttingen, mich dieſer Sache widmen,
damit ich, von einer alten Buͤrde mich befreyend, zu
kuͤnftigen neuen mich wieder geneigt und bereit machte.
Mein Leben iſt ſeit einigen Jahren in Stocken gerathen
und ich moͤchte gern, daß es noch einmal einigen friſchen
Cours bekaͤme. Zudem iſt meine Geſundheit ſchwach
und wankend, ich bin meines langen Bleibens nicht
ſicher, und ich moͤchte gern etwas Gutes zuruͤcklaſſen,
das meinen Namen in dem Andenken der Menſchen eine
Weile erhielte.
Nun aber vermag ich nichts ohne Sie, ohne Ihre
Zuſtimmung und Ihren Segen. Ihre ferneren Wuͤnſche
in Bezug auf mich ſind mir verborgen, auch weiß ich
nicht was man hoͤchſten Orts vielleicht Gutes mit mir
im Sinne hat. So aber, wie ich es ausgeſprochen,
ſteht es mit mir, und da ich Ihnen nun klar vorliege,
ſo werden Sie leicht ſehen, ob wichtigere Gruͤnde zu
meinem Gluͤck meine naͤchſte Zuruͤckkunft wuͤnſchen laſſen,
oder ob ich getroſt vor der Hand meinen eigenen geiſti¬
gen Vorſaͤtzen folgen kann.
[230]
Ich gehe in einigen Tagen von hier uͤber Neufchatel,
Colmar und Straßburg, mit gehoͤriger Muße und Um¬
herſchauung, nach Frankfurt, ſo wie ich die Reiſegele¬
genheit finde. Nun wuͤrde es mich ſehr begluͤcken, wenn
ich in Frankfurt einige Zeilen von Ihnen erwarten
koͤnnte, die ich dorthin poste restante an mich gehen zu
laſſen bitte.
Ich bin nun froh, daß ich dieſe ſchwere Beichte von
der Seele habe, und freue mich, in einem naͤchſten
Brief uͤber Dinge leichterer Art mich Euer Excellenz
mitzutheilen.
Ich bitte um einen herzlichen Gruß an Hofrath
Meyer, Oberbaudirector Coudray, Profeſſor Riemer,
Canzler von Muͤller und was Ihnen ſonſt nahe iſt und
meiner gedenken mag.
Sie ſelbſt aber druͤcke ich zu meinem Herzen, und
verharre in den Geſinnungen der hoͤchſten Verehrung
und Liebe, wo ich auch ſey, ganz der Ihrige.
E.
Zu meiner großen Freude habe ich aus einem Ihrer
letzten Briefe in Genua erſehen, daß die Luͤcken und
das Ende der claſſiſchen Walpurgisnacht gluͤcklich erobert
worden. Die drey erſten Acte waͤren alſo vollkommen
[231] fertig, die Helena verbunden, und demnach das Schwie¬
rigſte gethan. Das Ende iſt, wie Sie mir ſagten, ſchon
da, und ſo wird, wie ich hoffe, der vierte Act ſich Ih¬
nen bald uͤberwunden ergeben, und etwas Großes waͤre
zu Stande gebracht, woran kuͤnftige Jahrhunderte ſich
erbauen und uͤben moͤchten. Ich freue mich dazu ganz
außerordentlich, und werde jede Nachricht, die mir das
Vorruͤcken der poetiſchen Maͤchte vermeldet, mit Jubel
empfangen.
Ich habe auf meiner Reiſe haͤufige Gelegenheit ge¬
habt, des Fauſt zu gedenken, und daraus einige claſſi¬
ſche Stellen anzuwenden. Wenn ich in Italien die ſchoͤ¬
nen Menſchen und das Gedeihen der friſchen Kinder
ſah, waren mir die Verſe zugegen:
Dagegen wenn ich, von dem Anblick der ſchoͤnen Natur
hingeriſſen, Herz und Augen an Seen, Bergen und
Thaͤlern weidete, ſchien irgend ein unſichtbarer kleiner
Teufel ſein Spiel mit mir zu treiben, indem er mir
jedesmal die Verſe zufluͤſterte:
Alle vernuͤnftige Anſchauung war ſodann mit einem Mal
verſchwunden, die Abſurditaͤt fing an zu herrſchen, ich
fuͤhlte eine Art Umwaͤlzung in meinem Innern, und es
war keine Huͤlfe, als jedesmal mit Lachen zu endigen.
Bey ſolchen Gelegenheiten habe ich recht empfunden,
daß der Poet eigentlich immer poſitiv ſeyn ſollte. Der
Menſch gebraucht den Dichter, um das auszuſprechen,
was er ſelbſt nicht auszudruͤcken vermag. Von einer
Erſcheinung, von einer Empfindung wird er ergriffen,
er ſucht nach Worten, ſeinen eigenen Vorrath findet er
unzulaͤnglich, und ſo muß ihm der Dichter zu Huͤlfe
kommen, der ihn frey macht, indem er ihn befriedigt.
In dieſem Gefuͤhl habe ich denn jene erſteren Verſe
wiederholt geſegnet, und die letzteren taͤglich lachend
verwuͤnſcht. Wer aber moͤchte ſie an der Stelle ent¬
behren, fuͤr die ſie gemacht ſind, und wo ſie im ſchoͤn¬
ſten Sinne wirken!
Ein eigentliches Tagebuch habe ich in Italien nicht
gefuͤhrt; die Erſcheinungen waren zu groß, zu viel, zu
ſchnell wechſelnd, als daß man ſich ihrer im naͤchſten
Augenblick haͤtte bemaͤchtigen moͤgen und koͤnnen. Ich
habe jedoch meine Augen und Ohren immer offen ge¬
habt und mir Vieles gemerkt. Solche Erinnerungen
will ich nun zu einander gruppiren und unter einzelnen
Rubriken behandeln. Beſonders habe ich huͤbſche Be¬
merkungen zur Farbenlehre gemacht, auf deren naͤchſte
Darſtellung ich mich freue. Es iſt natuͤrlich nichts
[233] Neues, allein immer iſt es erwuͤnſcht, neue Manifeſta¬
tionen des alten Geſetzes zu finden.
In Genua hat Sterling fuͤr die Lehre ein großes
Intereſſe gezeigt. Was ihm von Newtons Theorie uͤber¬
liefert worden, hat ihm nicht genuͤgt, und ſo hatte er
denn offene Ohren fuͤr die Grundzuͤge, die ich ihm von
Ihrer Lehre in wiederholten Geſpraͤchen habe geben koͤn¬
nen. Wenn man Gelegenheit haͤtte, ein Exemplar des
Werks nach Genua zu ſpediren, ſo koͤnnte ich wohl ſa¬
gen, daß ihm ein ſolches Geſchenk nicht unwillkommen
ſeyn wuͤrde.
Hier in Genf habe ich ſeit drey Wochen eine wi߬
begierige Schuͤlerin an Freundin Sylveſtre gefunden.
Ich habe dabey die Bemerkung gemacht, daß das Ein¬
fache ſchwerer zu faſſen iſt als man denkt, und daß es
eine große Übung erfordert, in den mannigfaltigſten Ein¬
zelnheiten der Erſcheinung immer das Grundgeſetz zu
finden. Dem Geiſt aber giebt es eine große Gewandt¬
heit, indem die Natur ſehr delicat iſt, und man immer
auf der Hut ſeyn muß, durch einen zu raſchen Aus¬
ſpruch ihr nicht Gewalt zu thun.
Übrigens findet man hier in Genf an einer ſo gro¬
ßen Sache auch nicht die Spur einer Theilnahme. Nicht
allein, daß man auf hieſiger Bibliothek Ihre Farben¬
lehre nicht hat, ja man weiß nicht einmal, daß ſo etwas
in der Welt iſt. Hieran moͤgen nun die Deutſchen mehr
[234] Schuld ſeyn als die Genfer, allein es verdrießt mich
doch und reizt mich zu ſchalkhaften Bemerkungen.
Bekanntlich hat Lord Byron einige Zeit ſich hier
aufgehalten, und da er die Geſellſchaft nicht liebte, ſo
hat er ſein Weſen bey Tag und Nacht in der Natur
und auf dem See getrieben, wovon man hier noch zu
erzaͤhlen hat, und wovon in ſeinem Childe Harold
ein ſchoͤnes Denkmal geblieben. Auch die Farbe der
Rhone hat er bemerkt, und wenn er auch die Urſache
nicht ahnen konnte, ſo hat er doch ein empfaͤngliches
Auge gezeigt. Er ſagt in einer Bemerkung zum dritten
Geſange:
„The colour of the Rhone at Geneva isblue,
to a depth of tint which I have never seen equalled in
water, salt or fresh, except in the Mediterranean and
Archipelago.“
Die Rhone, wie ſie ſich zuſammendraͤngt um durch
Genf zu gehen, theilt ſich in zwey Arme, uͤber welche
vier Bruͤcken fuͤhren, auf denen hin und hergehend man
die Farbe des Waſſers recht gut beobachten kann.
Nun iſt merkwuͤrdig, daß das Waſſer des einen Ar¬
mes blau iſt, wie Byron es geſehen hat, das des an¬
dern aber gruͤn. Der Arm, wo das Waſſer blau er¬
ſcheint, iſt reißender, und hat den Grund ſo tief
gehoͤhlt, daß kein Licht hinabdringen kann und alſo un¬
ten vollkommene Finſterniß herrſchet. Das ſehr klare
Waſſer wirkt als ein truͤbes Mittel und es entſteht aus
[235] den bekannten Geſetzen das ſchoͤnſte Blau. Das Waſſer
des anderen Armes geht nicht ſo tief, das Licht erreicht
noch den Grund, ſo daß man Steine ſieht, und da es
unten nicht finſter genug iſt, um blau zu werden, aber
nicht flach und der Boden nicht rein, weiß und glaͤnzend
genug, um gelb zu ſeyn, ſo bleibt die Farbe in der
Mitte, und manifeſtirt ſich als gruͤn.
Waͤre ich nun, wie Byron, zu tollen Streichen auf¬
gelegt, und haͤtte ich die Mittel, ſie auszufuͤhren, ſo
wuͤrde ich folgendes Experiment machen.
Ich wuͤrde in dem gruͤnen Arm der Rhone, in der
Naͤhe der Bruͤcke, wo taͤglich Tauſende von Menſchen
paſſiren, ein großes ſchwarzes Bret, oder ſo etwas, ſo
tief befeſtigen laſſen, daß ein reines Blau entſtaͤnde, und
nicht weit davon ein ſehr großes Stuͤck weißes glaͤnzen¬
des Blech, in ſolcher Tiefe des Waſſers, daß im Schein
der Sonne ein entſchiedenes Gelb erglaͤnzte. Wenn nun
die Menſchen vorbeygingen und in dem gruͤnen Waſſer
den gelben und blauen Fleck erblickten, ſo wuͤrde ihnen
das ein Raͤthſel ſeyn, das ſie neckte, und das ſie nicht
loͤſen koͤnnten. Man kommt auf Reiſen zu allerley
Spaͤßen; dieſer aber ſcheint mir zu den guten zu gehoͤ¬
ren, worin einiger Sinn vorhanden iſt und einiger
Nutzen ſeyn koͤnnte.
Vor einiger Zeit war ich in einem Buchladen, wo
in dem erſten kleinen Duodezbaͤndchen, das ich zur
[236] Hand nahm, mir eine Stelle vor Augen trat, die in
meiner Überſetzung alſo lautet:
„Aber jetzt ſaget mir: wenn man eine Wahrheit
entdeckt hat, muß man ſie den anderen Menſchen mit¬
theilen? Wenn ihr ſie bekannt macht, ſo werdet ihr
von einer Unzahl von Leuten verfolgt, die von dem
entgegengeſetzten Irrthum leben, indem ſie verſichern,
daß eben dieſer Irrthum die Wahrheit, und alles was
dahin geht, ihn zu zerſtoͤren, der groͤßte Irrthum ſel¬
ber ſey.“
Dieſe Stelle ſchien mir auf die Art, wie die Maͤn¬
ner vom Fach Ihre Farbenlehre aufgenommen, eine An¬
wendung zu finden, als waͤre ſie dafuͤr geſchrieben wor¬
den, und ſie gefiel mir dermaßen, daß ich ihr zu Liebe
das ganze Buch kaufte. Es enthielt Paul und Vir¬
ginia und „La Chaumière indienne“ von Bernardin
de Saint Pierre, und ich hatte alſo auch uͤbrigens mei¬
nen Kauf nicht zu bereuen. Ich las das Buch mit
Freuden; der reine herrliche Sinn des Verfaſſers er¬
quickte mich, und ſeine zarte Kunſt, beſonders wie er
bekannte Gleichniſſe ſchicklich anwendet, wußte ich zu
erkennen und zu ſchaͤtzen.
Auch die erſte Bekanntſchaft mit Rouſſeau und
Montesquieu habe ich hier gemacht; damit aber mein
Brief nicht ſelbſt zum Buche werde, ſo will ich uͤber
dieſe, ſo wie uͤber vieles Andere, das ich noch ſagen
moͤchte, fuͤr heute hinweggehen.
[237]
Seitdem ich den langen Brief von vorgeſtern von
der Seele habe, fuͤhle ich mich heiter und frey, wie
nicht ſeit Jahren, und ich moͤchte immer ſchreiben und
reden. Es iſt mir wirklich das hoͤchſte Beduͤrfniß, mich
wenigſtens vor der Hand von Weimar entfernt zu hal¬
ten; ich hoffe, daß Sie es billigen, und ſehe ſchon die
Zeit, wo Sie ſagen werden, daß ich recht gethan.
Morgen wird das hieſige Theater mit dem Barbier
von Sevilla eroͤffnet, welches ich noch ſehen will; dann
aber gedenke ich ernſtlich abzureiſen. Das Wetter ſcheint
ſich auch aufklaͤren und mich beguͤnſtigen zu wollen. Es
hat hier geregnet ſeit Ihrem Geburtstage, wo es ſchon
morgens fruͤh mit Gewittern anfing, die den ganzen
Tag, in der Richtung von Lyon her, die Rhone herauf
uͤber den See zogen nach Lauſanne zu, ſo daß es faſt
den ganzen Tag donnerte. Ich habe ein Zimmer fuͤr
16 Sous taͤglich, das mir die ſchoͤnſte Ausſicht auf den
See und das Gebirge gewaͤhrt. Geſtern regnete es
unten, es war kalt, und die hoͤchſten Spitzen des Jura
zeigten ſich nach vorbeygezogenem Schauer zum erſten
Mal weiß mit Schnee, der aber heute ſchon wieder ver¬
ſchwunden iſt. Die Vorgebirge des Montblanc fangen
ſchon an ſich mit bleibendem Weiß zu umhuͤllen; an der
Kuͤſte des See's hinauf, in dem Gruͤn der reichen Ve¬
getation, ſtehen ſchon einige Baͤume gelb und braun;
die Naͤchte werden kalt, und man ſieht, daß der Herbſt
vor der Thuͤr iſt.
[238]
Ich gruͤße Frau v. Goethe, Fraͤulein Ulrike, und
Walter, Wolf und die Alma herzlich. Ich habe an
Frau v. Goethe Vieles uͤber Sterling zu ſchreiben, wel¬
ches morgen geſchehen ſoll.
Ich freue mich, von Ew. Excellenz einen Brief
in Frankfurt zu erhalten, und bin gluͤcklich in dieſer
Hoffnung.
Mit den beſten Wuͤnſchen und treueſten Geſinnun¬
gen verharrend.
E.
Ich reiſte am 21. September von Genf ab, und
nachdem ich mich in Bern ein paar Tage aufgehalten,
kam ich am 27. nach Straßburg, wo ich abermals
einige Tage verweilte.
Hier, an dem Fenſter eines Friſeurs vorbeygehend,
ſah ich eine kleine Buͤſte Napoleons, die, von der Straße
zu gegen das Dunkel des Zimmers betrachtet, alle Ab¬
ſtufungen von Blau zeigte, vom milchigen Hellblau
bis zum tiefen Violet. Ich hatte eine Ahndung, daß,
vom Innern des Zimmers gegen das Licht angeſehen,
die Buͤſte mir alle Abſtufungen des Gelben gewaͤhren
wuͤrde, und ſo konnte ich einem augenblicklichen lebhaf¬
ten Trieb nicht widerſtehen, zu den mir ganz unbekann¬
ten Perſonen geradezu hineinzutreten.
[239]
Mein erſter Blick war nach der Buͤſte, wo mir denn
die herrlichſten Farben der activen Seite, vom blaſſeſten
Gelb bis zum dunkelen Rubinroth, zu großer Freude
entgegenglaͤnzten. Ich fragte lebhaft, ob man nicht ge¬
neigt ſeyn wolle, mir dieſes Bruſtbild des großen Hel¬
den zu uͤberlaſſen? — Der Wirth erwiederte mir, daß
er, aus gleicher Anhaͤnglichkeit fuͤr den Kaiſer, ſich vor
kurzem die Buͤſte aus Paris mitgebracht habe; da jedoch
meine Liebe die ſeinige noch um ein gutes Theil zu
uͤbertreffen ſcheine, wie er aus meiner enthuſiaſtiſchen
Freude ſchließe, ſo gebuͤhre mir auch der Vorzug des
Beſitzes, und er wolle ſie mir gerne uͤberlaſſen.
In meinen Augen hatte dieß glaͤſerne Bild einen
unſchaͤtzbaren Werth, und ich konnte daher nicht umhin,
den guten Eigenthuͤmer mit einiger Verwunderung an¬
zuſehen, als er es fuͤr wenige Franken in meine
Haͤnde gab.
Ich ſchickte es, nebſt einer in Mailand gekauften,
gleichfalls merkwuͤrdigen Medaille, als ein kleines Reiſe¬
geſchenk an Goethe, der es denn nach Verdienſt zu
ſchaͤtzen wußte.
In Frankfurt und ſpaͤter erhielt ich von ihm fol¬
gende Briefe.
Erſter Brief.
„Nur mit dem Wenigſten vermelde: daß Ihre bey¬
den Schreiben von Genf gluͤcklich angekommen ſind,
[240] freylich erſt am 26. September. Ich eile daher nur ſo
viel zu ſagen: bleiben Sie ja in Frankfurt, bis wir
wohl uͤberlegt haben, wo Sie Ihren kuͤnftigen Winter
zubringen wollen.“
„Ich lege fuͤr dießmal nur ein Blaͤttchen an Herrn
und Frau Geh. Rath von Willemer bey, welches ich
baldigſt abzugeben bitte. Sie werden ein paar Freunde
finden, die im edelſten Sinne mit mir verbunden ſind
und Ihnen den Aufenthalt in Frankfurt nuͤtzlich und
angenehm machen koͤnnen.“
„Soviel alſo fuͤr dießmal. Schreiben Sie mir alſo¬
bald wenn Sie dieſen Brief erhalten haben.“
Unwandelbar
Weimar
den 26. Septbr. 1830. Goethe.
Zweyter Brief.
„Zum allerſchoͤnſten begruͤße ich Sie, mein Theuer¬
ſter, in meiner Vaterſtadt, und hoffe, Sie werden die
wenigen Tage in vertraulichem Vergnuͤgen mit meinen
vortrefflichen Freunden zugebracht haben.“
„Wenn Sie nach Nordheim abzugehen und da¬
ſelbſt einige Zeit zu verweilen wuͤnſchen, ſo wuͤßt' ich
nichts entgegen zu ſetzen. Wollen Sie ſich in ſtiller
[241] Zeit mit dem Manuſcripte beſchaͤftigen, das in Sorets
Haͤnden iſt, ſo ſoll es mir um deſto angenehmer ſeyn,
weil ich zwar keine baldige Publication deſſelben wuͤn¬
ſche, es aber gern mit Ihnen durchgehen und rectificiren
moͤchte. Es wird ſeinen Werth erhoͤhen, wenn ich be¬
zeugen kann, daß es ganz in meinem Sinne aufge¬
faßt ſey.“
„Mehr ſage ich nicht, uͤberlaſſe Ihnen und erwarte
das Weitere. Man gruͤßt Sie freundlich aus meinem
Hauſe; von den uͤbrigen Theilnehmern habe, ſeit dem
Empfang Ihres Briefes, niemand geſprochen.“
„Alles Gute wuͤnſchend
Weimar treulichſt
den 12. Octbr. 1830.
J. W. v. Goethe.“
Dritter Brief.
„Der lebhafte Eindruck, den Sie beym Anblick des
merkwuͤrdigen, Farbe vermittelnden Bruſtbildes erfuh¬
ren, die Begierde, ſich ſolches anzueignen, das artige
Abenteuer, welches Sie deßhalb beſtanden, und der gute
Gedanke, mir ſolches als Reiſegabe zu verehren, das
alles deutet darauf: wie durchdrungen Sie ſind von
dem herrlichen Urphaͤnomen, welches hier in allen ſeinen
II. 16[242] Äußerungen hervortritt. Dieſer Begriff, dieſes Gefuͤhl
wird Sie mit ſeiner Fruchtbarkeit durch Ihr ganzes
Leben begleiten, und ſich noch auf manche productive
Weiſe bey Ihnen legitimiren. Der Irrthum gehoͤrt den
Bibliotheken an, das Wahre dem menſchlichen Geiſte;
Buͤcher moͤgen ſich durch Buͤcher vermehren, indeſſen
der Verkehr mit lebendigen Urgeſetzen dem Geiſte ge¬
faͤllt, der das Einfache zu erfaſſen weiß, das Verwickelte
ſich entwirrt und das Dunkle ſich aufklaͤrt.“
„Wenn Ihr Daͤmon Sie wieder nach Weimar
fuͤhrt, ſollen Sie jenes Bild in der heftigen klaren
Sonne ſtehen ſehen, wo, unter dem ruhigen Blau des
durchſcheinenden Angeſichts, die derbe Maſſe der Bruſt
und der Epauletten von dem maͤchtigſten Rubinroth in
allen Schattirungen auf- und abwaͤrts leuchtet, und
wie das Granitbild Memnons in Toͤnen, ſo ſich hier
das truͤbe Glasbild in Farbenpracht manifeſtirt. Man
ſieht hier wirklich den Helden auch fuͤr die Farbenlehre
ſieghaft. Haben Sie den ſchoͤnſten Dank fuͤr dieſe un¬
erwartete Bekraͤftigung der mir ſo werthen Lehre.“
„Auch mit der Medaille haben Sie mein Cabinet
doppelt und dreyfach bereichert; ich bin auf einen Mann
aufmerkſam worden mit Namen Dupré. Ein vor¬
trefflicher Bildhauer, Erzgießer, Medailleur; er war
es, der das Bildniß Heinrichs des Vierten auf dem
Pontneuf modellirte und goß. Durch die geſendete Me¬
daille angeregt, ſah ich meine uͤbrigen durch, fand noch
[243] ſehr vorzuͤgliche mit demſelben Namen, andere vermuth¬
lich von ihm, und ſo hat Ihre Gabe auch hier eine
ſchoͤne Anregung veranlaßt.“
„Mit meiner Metamorphoſe, die Soretſche
Überſetzung an der Seite, ſind wir erſt am fuͤnften Bo¬
gen; ich wußte lange nicht, ob ich dieſem Unternehmen
mit Fluch oder Segen gedenken ſollte. Nun aber, da
es mich wieder in die Betrachtung der organiſchen Na¬
tur hineindraͤngt, freu' ich mich daran und folge dem
Berufe willig. Die fuͤr mich nun uͤber vierzig Jahr
alte Maxime gilt noch immer fort; man wird durch ſie
in dem ganzen labyrinthiſchen Kreiſe des Begreiflichen
gluͤcklich umher geleitet, und bis an die Grenze des Un¬
begreiflichen gefuͤhrt, wo man ſich denn, nach großem
Gewinn, gar wohl beſcheiden kann. Alle Philoſophen
der alten und neuen Welt vermochten auch nicht weiter
zu gelangen. Mehr darf man ſich in Schriften auszu¬
ſprechen kaum anmaßen.“
J. W. v. Goethe.
Bey meinem Aufenthalte zu Nordheim, wo ich, nach
einigem Verweilen zu Frankfurt und Caſſel, erſt gegen
Ende Octobers angekommen war, vereinigten ſich alle
Umſtaͤnde dahin, um meine Ruͤckkehr nach Weimar er¬
wuͤnſcht zu machen.
16*[244]
Die baldige Herausgabe meiner Converſationen hatte
Goethe nicht gebilligt, und ſomit war denn an eine er¬
folgreiche Eroͤffnung einer rein literariſchen Laufbahn
nicht mehr zu denken.
Sodann das Wiederſehen meiner ſeit Jahren innigſt
Geliebten, und das taͤglich erneute Gefuͤhl ihrer großen
Tugenden, erregten den Wunſch ihres baldigen Beſitzes
und das Verlangen nach einer ſichern Exiſtenz auf das
lebhafteſte.
Unter ſolchen Umſtaͤnden erreichte mich eine Botſchaft
aus Weimar, von der Frau Großherzogin befohlen,
die ich mit Freuden ergriff, wie aus folgendem Brief
an Goethe naͤher hervorgeht.
Der Menſch denkt und Gott lenkt, und ehe man
eine Hand umwendet, ſind unſere Zuſtaͤnde und Wuͤn¬
ſche anders als wir es voraus dachten.
Vor einigen Wochen hatte ich eine gewiſſe Furcht,
nach Weimar zuruͤckzukehren, und jetzt ſtehen die Sachen
ſo, daß ich nicht allein bald und gerne zuruͤckkomme,
ſondern auch mit Gedanken umgehe, mich dort haͤuslich
einzurichten und fuͤr immer zu befeſtigen.
Ich habe vor einigen Tagen ein Schreiben von
[245]Soret erhalten, mit dem Anerbieten eines fixen Ge¬
haltes von Seiten der Frau Großherzogin, wenn ich
zuruͤckkommen und in meinem bisherigen Unterricht mit
dem Prinzen fortfahren wolle. Noch anderes Gute will
Soret mir muͤndlich mittheilen, und ſo ſehe ich denn
aus allem, daß man gnaͤdige Geſinnungen gegen mich
hegen mag.
Ich ſchriebe nun gerne eine zuſtimmende Antwort
an Soret; allein ich hoͤre, er iſt zu den Seinigen nach
Genf gereiſet, und ſo bleibt mir weiter nichts uͤbrig als
mich an Eure Excellenz mit der Bitte zu wenden: der
Kaiſerlichen Hoheit den Entſchluß meiner baldigen Zu¬
ruͤckkunft geneigteſt mitzutheilen.
Ihnen ſelbſt hoffe ich zugleich durch dieſe Nachricht
einige Freude zu machen, indem doch mein Gluͤck und
meine Beruhigung Ihnen ſeit lange am Herzen liegt.
Ich ſende die ſchoͤnſten Gruͤße allen lieben Ihrigen
und hoffe ein baldiges frohes Wiederſehen.
E.
Am 20. November Nachmittags reiſte ich von Nord¬
heim ab, auf dem Wege nach Goͤttingen, das ich in
der Dunkelheit erreichte.
Abends an Table d'hôte, als der Wirth hoͤrte, daß
ich aus Weimar ſey und dahin zuruͤckwolle, aͤußerte
[246] er in gemuͤthlicher Ruhe, daß doch der große Dichter
Goethe in ſeinem hohen Alter noch ein ſchweres Leid
habe erfahren muͤſſen, indem, wie er heut in den Zei¬
tungen geleſen, ſein einziger Sohn in Italien am
Schlage geſtorben ſey.
Man mag denken, was ich bey dieſen Worten em¬
pfand. Ich nahm ein Licht und ging auf mein Zim¬
mer, um nicht die anweſenden Fremden zu Zeugen mei¬
ner inneren Bewegung zu machen.
Ich verbrachte die Nacht ſchlaflos. Das mich ſo
nahe beruͤhrende Ereigniß war mir beſtaͤndig vor der
Seele. Die folgenden Tage und Naͤchte unterwegs,
und in Muͤhlhauſen und Gotha, vergingen mir nicht
beſſer. Einſam im Wagen, bey den truͤben November¬
tagen, und in den oͤden Feldern, wo nichts Äußeres
mich zu zerſtreuen und aufzuheitern geeignet war, be¬
muͤhte ich mich vergebens, andere Gedanken zu faſſen,
und in den Gaſthoͤfen unter Menſchen hoͤrte ich, als
von einer Neuigkeit des Tages, immer von dem mich
ſo nahe betreffenden traurigen Fall. Meine groͤßte Be¬
ſorgniß war, daß Goethe in ſeinem hohen Alter den
heftigen Sturm vaͤterlicher Empfindungen nicht uͤber¬
ſtehen moͤchte. „Und welchen Eindruck, ſagte ich mir,
wird deine Ankunft machen, da du mit ſeinem Sohne
gegangen biſt und nun alleine zuruͤckkommſt! Er wird
ihn erſt zu verlieren glauben, wenn er dich wiederſieht.“
Unter ſolchen Gedanken und Empfindungen erreichte
[247] ich Dienſtag den 23. November Abends ſechs Uhr das
letzte Chauſſeehaus vor Weimar. Ich fuͤhlte abermals
in meinem Leben, daß das menſchliche Daſeyn ſchwere
Momente habe, durch die man hindurch muͤſſe. Meine
Gedanken verkehrten mit hoͤheren Weſen uͤber mir, als
mich ein Blick des Mondes traf, der auf einige Secun¬
den aus dichtem Gewoͤlk glaͤnzend hervortrat und ſich
dann wieder finſter verhuͤllte wie zuvor. War dieſes
nun Zufall oder war es etwas mehr, genug ich nahm
es als ein guͤnſtiges Zeichen von oben, und gewann
daraus eine unerwartete Staͤrkung.
Kaum daß ich meine Wirthsleute begruͤßt hatte, ſo
war mein erſter Weg in das Goetheſche Haus. Ich
ging zuerſt zu Frau v. Goethe. Ich fand ſie bereis in
tiefer Trauerkleidung, jedoch ruhig und gefaßt, und wir
hatten viel gegen einander auszuſprechen.
Ich ging ſodann zu Goethe hinunter. Er ſtand
aufrecht und feſt und ſchloß mich in ſeine Arme. Ich
fand ihn vollkommen heiter und ruhig; wir ſetzten uns
und ſprachen ſogleich von geſcheidten Dingen, und ich
war hoͤchſt begluͤckt, wieder bey ihm zu ſeyn. Er zeigte
mir zwey angefangene Briefe, die er nach Nordheim
an mich geſchrieben, aber nicht hatte abgehen laſſen.
Wir ſprachen ſodann uͤber die Frau Großherzogin, uͤber
den Prinzen und manches Andere; ſeines Sohnes jedoch
ward mit keiner Sylbe gedacht.
[248]
Goethe ſendete mir am Morgen einige Buͤcher, die
als Geſchenk engliſcher und deutſcher Autoren fuͤr mich
angekommen waren. Mittags ging ich zu ihm zu Tiſch.
Ich fand ihn eine Mappe mit Kupferſtichen und Hand¬
zeichnungen betrachtend, die ihm zum Verkauf zugeſen¬
det waren. Er erzaͤhlte mir, daß die Frau Großherzogin
ihn am Morgen mit einem Beſuche erfreut, und daß er
Ihr meine Ankunft verkuͤndiget habe.
Frau v. Goethe geſellte ſich zu uns und wir ſetzten
uns zu Tiſch. Ich mußte von meiner Reiſe erzaͤhlen.
Ich ſprach uͤber Venedig, uͤber Mailand, uͤber Genua,
und es ſchien ihm beſonders intereſſant, naͤhere Nach¬
richten uͤber die Familie des dortigen engliſchen Conſuls
zu vernehmen. Ich erzaͤhlte ſodann von Genf, und er
erkundigte ſich theilnehmend nach der Familie Soret
und Herrn von Bonſtetten. Von letzterem wuͤnſchte
er eine naͤhere Schilderung, die ich ihm gab ſo gut es
gelingen wollte.
Nach Tiſch war es mir lieb, daß Goethe von mei¬
nen Converſationen zu reden anfing. „Es muß Ihre
erſte Arbeit ſeyn, ſagte er, und wir wollen nicht eher
nachlaſſen, als bis alles vollkommen gethan und im
Reinen iſt.“
Übrigens erſchien Goethe mir heute beſonders ſtille
und oft in ſich verloren, welches mir kein gutes Zei¬
chen war.
Goethe ſetzte uns vorigen Freytag in nicht geringe
Sorge, indem er in der Nacht von einem heftigen
Blutſturz uͤberfallen wurde und den ganzen Tag nicht
weit vom Tode war. Er verlor, einen Aderlaß mit
eingerechnet, ſechs Pfund Blut, welches bey ſeinem acht¬
zigjaͤhrigen Alter viel ſagen will. Die große Geſchick¬
lichkeit ſeines Arztes, des Hofraths Vogel, verbunden
mit ſeiner unvergleichlichen Natur, haben jedoch auch
dießmal geſiegt, ſo daß er mit raſchen Schritten ſeiner
Geneſung entgegengeht, ſchon wieder den beſten Appetit
zeigt und auch die ganze Nacht wieder ſchlaͤft. Es darf
niemand zu ihm, das Reden iſt ihm verboten, doch ſein
ewig reger Geiſt kann nicht ruhen, er denkt ſchon wie¬
der an ſeine Arbeiten. Dieſen Morgen erhielt ich von
ihm folgendes Billet, das er mit der Bleyfeder im
Bette geſchrieben.
„Haben Sie die Guͤte, mein beſter Doctor, bey¬
kommende ſchon bekannte Gedichte nochmals durchzu¬
gehen und die voranliegenden neuen einzuordnen, damit
es ſich zum Ganzen ſchicke. Fauſt folgt hierauf!
Ein frohes Wiederſehen!
W. d. 30. Nov.
1830. Goethe.“
[250]
Nach Goethe's raſch erfolgender voͤlligen Geneſung
wendete er ſein ganzes Intereſſe auf den vierten Act
des Fauſt, ſo wie auf die Vollendung des vierten
Bandes von Wahrheit und Dichtung.
Mir empfahl er die Redaction ſeiner kleinen bis
dahin ungedruckten Schriften, deßgleichen eine Durch¬
ſicht ſeiner Tagebuͤcher und abgegangenen Briefe, damit
es uns klar werden moͤchte, wie damit bey kuͤnftiger
Herausgabe zu verfahren.
An eine Redaction meiner Geſpraͤche mit ihm war
nicht mehr zu denken; auch hielt ich es fuͤr vernuͤnftiger,
anſtatt mich mit dem bereits Geſchriebenen zu befaſſen,
den Vorrath ferner durch Neues zu vermehren, ſo lange
ein guͤtiges Geſchick geneigt ſeyn wolle, es mir zu ver¬
goͤnnen.
1831.
[[252]][[253]]Von Goethe's Briefen an verſchiedene Perſonen, wo¬
von die Concepte ſeit dem Jahre 1807 geheftet aufbe¬
wahrt und vorhanden ſind, habe ich in den letzten
Wochen einige Jahrgaͤnge ſorgfaͤltig betrachtet, und will
nunmehr in nachſtehenden Paragraphen einige allgemeine
Bemerkungen niederſchreiben, die bey einer kuͤnftigen
Redaction und Herausgabe vielleicht moͤchten genutzt
werden.
§. 1.
Zunaͤchſt iſt die Frage entſtanden, ob es gerathen
ſey, dieſe Briefe ſtellenweiſe und gleichſam im Auszuge
mitzutheilen.
Hierauf ſage ich, daß es im Allgemeinen Goethe's
Natur und Verfahren iſt, auch bey den kleinſten Gegen¬
ſtaͤnden mit einiger Intention zu Werke zu gehen, wel¬
ches denn auch vorzuͤglich in dieſen Briefen erſcheint,
wo der Verfaſſer immer als ganzer Menſch bey der
Sache geweſen, ſo daß jedes Blatt von Anfang bis zu
[254] Ende nicht allein vollkommen gut geſchrieben iſt, ſondern
auch darin eine ſuperiore Natur und vollendete Bildung
ſich in keiner Zeile verlaͤugnet hat.
Ich bin demnach dafuͤr, die Briefe ganz zu geben
von Anfang bis zu Ende, zumal da einzelne bedeutende
Stellen durch das Vorangehende und Nachfolgende oft
erſt ihren wahren Glanz und wirkſamſtes Verſtaͤndniß
erhalten.
Und genau beſehen, und dieſe Briefe vis-à-vis
einer mannigfaltigen großen Welt betrachtet, wer wollte
ſich denn anmaßen und ſagen, welche Stelle bedeutend
und alſo mitzutheilen ſey und welche nicht? — Hat
doch der Grammatiker, der Biograph, der Philoſoph,
der Ethiker, der Naturforſcher, der Kuͤnſtler, der Poet,
der Academiker, der Schauſpieler, und ſo ins Unend¬
liche, hat doch jeder ſeine verſchiedenen Intereſſen, ſo
daß der eine grade uͤber die Stelle hinauslieſet, die der
andere als hoͤchſt bedeutend ergreift und ſich aneignet.
So findet ſich z. B. in dem erſten Hefte von 1807
ein Brief an einen Freund, deſſen Sohn ſich dem Forſt¬
fache widmen will, und dem Goethe die Carriere vor¬
zeichnet, die der junge Mann zu machen hat. Einen
ſolchen Brief wird vielleicht ein junger Literator uͤber¬
ſchlagen, waͤhrend ein Forſtmann ſicher mit Freuden
bemerken wird, daß der Dichter auch in ſein Fach hin¬
eingeblickt, und auch darin guten Rath hat ertheilen
wollen.
[255]
Ich wiederhole daher, daß ich dafuͤr bin, dieſe
Briefe, ohne Zerſtuͤckelung, ganz ſo zu geben wie ſie
ſind, und zwar um ſo mehr, als ſie in der Welt in
ſolcher Geſtalt verbreitet exiſtiren, und man ſicher darauf
rechnen kann, daß die Perſonen, die ſie erhalten, ſie
einſt ganz ſo werden drucken laſſen, wie ſie geſchrieben
worden.
§. 2.
Faͤnden ſich jedoch Briefe, deren unzerſtuͤckte Publi¬
cation bedenklich waͤre, die aber im Einzelnen gute
Sachen enthielten, ſo ließe man dieſe Stellen ausſchrei¬
ben, und vertheilte ſie entweder in das Jahr, wohin ſie
gehoͤren, oder machte auch daraus nach Gutbefinden
eine beſondere Sammlung.
§. 3.
Es koͤnnte der Fall vorkommen, daß ein Brief uns
in dem erſten Hefte, wo wir ihm begegnen, von keiner
ſonderlichen Bedeutung erſchiene und wir alſo nicht fuͤr
ſeine Mittheilung geſtimmt waͤren. Faͤnde ſich nun aber
in den ſpaͤteren Jahrgaͤngen, daß ein ſolcher Brief Folge
gehabt, und alſo als Anfangsglied einer ferneren Kette
zu betrachten waͤre, ſo wuͤrde er durch dieſen Umſtand
bedeutend werden und unter die Mitzutheilenden aufzu¬
nehmen ſeyn.
§. 4.
Man koͤnnte zweifeln, ob es beſſer ſey, die Briefe
nach den Perſonen zuſammen zu ſtellen, an die ſie
[256] geſchrieben worden; oder ſie, nach den verſchiedenen
Jahren, bunt durch einander fortlaufen zu laſſen.
Ich bin fuͤr dieſes Letztere, zunaͤchſt, weil es eine
ſchoͤne immer wieder anfriſchende Abwechſelung gewaͤhren
wuͤrde, indem, einer anderen Perſon gegenuͤber, nicht
allein immer ein anders nuͤancirter Ton des Vortrages
eintritt, ſondern auch ſtets andere Sachen zur Sprache
gebracht werden, ſo daß denn Theater, poetiſche Arbei¬
ten, Naturſtudien, Familienangelegenheiten, Bezuͤge zu
hoͤchſten Perſonen, freundſchaftliche Verhaͤltniſſe u. ſ. w.
ſich abwechſelnd darſtellen.
Sodann aber bin ich fuͤr eine gemiſchte Herausgabe
nach Jahren auch aus dem Grunde, weil die Briefe
eines Jahres, durch die Beruͤhrung deſſen was gleich¬
zeitig lebte und wirkte, nicht allein den Character des
Jahres tragen, ſondern auch die Zuſtaͤnde und Beſchaͤf¬
tigungen der ſchreibenden Perſon nach allen Seiten und
Richtungen hin zur Sprache bringen, ſo daß denn ſolche
Jahres-Briefe ganz geeignet ſeyn moͤchten, die bereits
gedruckte ſummariſche Biographie der Tag- und Jahres-
Hefte mit dem friſchen Detail des Augenblicks zu er¬
gaͤnzen.
§. 5.
Briefe, die andere Perſonen bereits haben drucken
laſſen, indem ſie vielleicht eine Anerkennung ihrer Ver¬
dienſte, oder ſonſt ein Lob und eine Merkwuͤrdigkeit ent¬
halten, ſoll man in dieſer Sammlung noch einmal brin¬
[257] gen, indem ſie theils in die Reihe gehoͤren, anderntheils
aber jenen Perſonen damit ein Wille geſchehen moͤchte,
indem ſie dadurch vor der Welt beſtaͤtiget ſehen, daß
ihre Documente echt waren.
§. 6.
Die Frage, ob ein Empfehlungsbrief in die Samm¬
lung aufzunehmen ſey oder nicht, ſoll in Erwaͤgung der
empfohlenen Perſon entſchieden werden. Iſt aus ihr
nichts geworden, ſo ſoll man den Brief, im Fall er
nicht ſonſtige gute Dinge enthaͤlt, nicht aufnehmen; hat
aber die empfohlene Perſon ſich in der Welt einen ruͤhm¬
lichen Namen gemacht, ſo ſoll man den Brief auf¬
nehmen.
§. 7.
Briefe an Perſonen, die aus Goethe's Leben bekannt
ſind, wie z. B. Lavater, Jung, Behriſch, Kniep, Hackert
und Andere, haben an ſich Intereſſe, und ein ſolcher
Brief waͤre mitzutheilen, wenn er auch außerdem eben
nichts Bedeutendes enthalten ſollte.
§. 8.
Man ſoll uͤberhaupt in Mittheilung dieſer Briefe
nicht zu aͤngſtlich ſeyn, indem ſie uns von Goethe's
breiter Exiſtenz und mannigfaltiger Wirkung nach allen
Ecken und Enden einen Begriff geben, und indem ſein
Benehmen gegen die verſchiedenſten Perſonen und in
II. 17[258] den mannigfaltigſten Lagen als im hohen Grade lehr
reich zu betrachten iſt.
§. 9.
Wenn verſchiedene Briefe uͤber eine und dieſelbe
Thatſache reden, ſo ſoll man die vorzuͤglichſten auswaͤh¬
len, und wenn ein gewiſſer Punct in verſchiedenen
Briefen vorkommt, ſo ſoll man ihn in einigen unter¬
druͤcken und ihn dort ſtehen laſſen, wo er am beſten
ausgeſprochen iſt.
§. 10.
In den Briefen von 1811 und 1812 dagegen kom¬
men vielleicht zwanzig Stellen vor, wo um Handſchrif¬
ten merkwuͤrdiger Menſchen gebeten wird. Solche und
aͤhnliche Stellen muͤſſen nicht unterdruͤckt werden, indem
ſie als durchaus characteriſirend und liebenswuͤrdig er¬
ſcheinen.
Vorſtehende Paragraphen ſind durch Betrachtung
der Briefe von den Jahren 1807, 1808 und 1809 an¬
geregt. Was ſich im ferneren Verlauf der Arbeit an
allgemeinen Bemerkungen noch ergeben moͤchte, ſoll Ge¬
genwaͤrtigem nachtraͤglich hinzugefuͤgt werden.
W. d. 1. Januar 1831.
E.
[259]
Heute nach Tiſch beſprach ich mit Goethe die vor¬
ſtehende Angelegenheit punctweiſe, wo er denn dieſen
meinen Vorſchlaͤgen ſeine beyfaͤllige Zuſtimmung gab.
„Ich werde, ſagte er, in meinem Teſtament Sie zum
Herausgeber dieſer Briefe ernennen, und darauf hin¬
deuten, daß wir uͤber das dabey zu beobachtende Ver¬
fahren im Allgemeinen mit einander einig geworden.“
Ich las geſtern mit dem Prinzen in Voſſens
Luiſe weiter und hatte uͤber das Buch fuͤr mich im
Stillen Manches zu bemerken. Die großen Verdienſte
der Darſtellung der Localitaͤt und aͤußeren Zuſtaͤnde der
Perſonen entzuͤckten mich; jedoch wollte mir erſcheinen,
daß das Gedicht eines hoͤheren Gehaltes entbehre, welche
Bemerkung ſich mir beſonders an ſolchen Stellen auf¬
drang, wo die Perſonen in wechſelſeitigen Reden ihr
Inneres auszuſprechen in dem Fall ſind. Im Vicar of
Wakefield iſt auch ein Landprediger mit ſeiner Familie
dargeſtellt, allein der Poet beſaß eine hoͤhere Weltcultur,
und ſo hat ſich dieſes auch ſeinen Perſonen mitgetheilt,
die alle ein mannigfaltigeres Innere an den Tag legen.
In der Luiſe ſteht Alles auf dem Niveau einer be¬
ſchraͤnkten mittleren Cultur, und ſo iſt freylich immer
17*[260] genug da, um einen gewiſſen Kreis von Leſern durch¬
aus zu befriedigen. Die Verſe betreffend, ſo wollte es
mir vorkommen, als ob der Hexameter fuͤr ſolche be¬
ſchraͤnkte Zuſtaͤnde viel zu praͤtentioͤs, auch oft ein wenig
gezwungen und geziert ſey, und daß die Perioden nicht
immer natuͤrlich genug hinfließen um bequem geleſen zu
werden.
Ich aͤußerte mich uͤber dieſen Punct heute Mittag
bey Tiſch gegen Goethe. „Die fruͤheren Ausgaben jenes
Gedichts, ſagte er, ſind in ſolcher Hinſicht weit beſſer,
ſo daß ich mich erinnere, es mit Freuden vorgeleſen zu
haben. Spaͤter jedoch hat Voß viel daran gekuͤnſtelt,
und aus techniſchen Grillen das Leichte, Natuͤrliche der
Verſe verdorben. Überhaupt geht Alles jetzt aufs Tech¬
niſche aus, und die Herren Critiker fangen an zu quaͤn¬
geln, ob in einem Reim ein s auch wieder auf ein s
komme und nicht etwa ein ß auf ein s. — Waͤre ich
noch jung und verwegen genug, ſo wuͤrde ich abſichtlich
gegen alle ſolche techniſche Grillen verſtoßen, ich wuͤrde
Allitterationen, Aſſonanzen und falſche Reime, Alles
gebrauchen wie es mir kaͤme und bequem waͤre; aber
ich wuͤrde auf die Hauptſache losgehen, und ſo gute
Dinge zu ſagen ſuchen, daß jeder gereizt werden ſollte,
es zu leſen und auswendig zu lernen.“
[261]
Heute bey Tiſch erzaͤhlte mir Goethe, daß er den
vierten Act des Fauſt angefangen habe und ſo fortzu¬
fahren gedenke, welches mich ſehr begluͤckte.
Sodann ſprach er mit großem Lob uͤber Carl
Schoͤne, einen jungen Philologen in Leipzig, der ein
Werk uͤber die Coſtume in den Stuͤcken des Euripides
geſchrieben, und, bey großer Gelehrſamkeit, doch davon
nicht mehr entwickelt habe, als eben zu ſeinen Zwecken
noͤthig.
„Ich freue mich, ſagte Goethe, wie er mit produc¬
tivem Sinn auf die Sache losgeht, waͤhrend andere
Philologen der letzten Zeit ſich gar zu viel mit dem
Techniſchen und mit langen und kurzen Sylben zu
ſchaffen gemacht haben.“
„Es iſt immer ein Zeichen einer unproductiven Zeit,
wenn ſie ſo ins Kleinliche des Techniſchen geht, und
eben ſo iſt es ein Zeichen eines unproductiven Indivi¬
duums, wenn es ſich mit dergleichen befaßt.“
„Und dann ſind auch wieder andere Maͤngel hinder¬
lich. So finden ſich z. B. im Grafen Platen faſt
alle Haupterforderniſſe eines guten Poeten: Einbildungs¬
kraft, Erfindung, Geiſt, Productivitaͤt beſitzt er im ho¬
hen Grade; auch findet ſich bey ihm eine vollkommene
techniſche Ausbildung, und ein Studium und ein Ernſt
wie bey wenigen Andern; allein ihn hindert ſeine unſe¬
lige polemiſche Richtung.“
[262]
„Daß er in der großen Umgebung von Neapel und
Rom die Erbaͤrmlichkeiten der deutſchen Literatur nicht
vergeſſen kann, iſt einem ſo hohen Talent gar nicht zu
verzeihen. Der romantiſche Ödipus traͤgt Spuren
daß, beſonders was das Techniſche betrifft, grade Platen
der Mann war, um die beſte deutſche Tragoͤdie zu ſchrei¬
ben; allein, nachdem er in gedachtem Stuͤck die tragi¬
ſchen Motive parodiſtiſch gebraucht hat, wie will er jetzt
noch in allem Ernſt eine Tragoͤdie machen!“
„Und dann, was nie genug bedacht wird, ſolche
Haͤndel occupiren das Gemuͤth, die Bilder unſerer Feinde
werden zu Geſpenſtern, die zwiſchen aller freyen Pro¬
duction ihren Spuk treiben und in einer ohnehin zarten
Natur große Unordnung anrichten. Lord Byron iſt an
ſeiner polemiſchen Richtung zu Grunde gegangen, und
Platen hat Urſache, zur Ehre der deutſchen Literatur,
von einer ſo unerfreulichen Bahn fuͤr immer abzulenken.“
Ich leſe im neuen Teſtament, und gedenke eines
Bildes, das Goethe mir in dieſen Tagen zeigte, wo
Chriſtus auf dem Meere wandelt, und Petrus, ihm auf
den Wellen entgegenkommend, in einem Augenblick an¬
wandelnder Muthloſigkeit ſogleich einzuſinken anfaͤngt.
[263]
„Es iſt dieß eine der ſchoͤnſten Legenden, ſagte Goe¬
the, die ich vor allen lieb habe. Es iſt darin die hohe
Lehre ausgeſprochen, daß der Menſch durch Glauben
und friſchen Muth im ſchwierigſten Unternehmen ſiegen
werde; dagegen bey anwandelndem geringſten Zweifel
ſogleich verloren ſey.“
Bey Goethe zu Tiſch. Er erzaͤhlt mir, daß er im
vierten Act des Fauſt fortfahre, und daß ihm jetzt der
Anfang ſo gelungen wie er es gewuͤnſcht. „Das, was
geſchehen ſollte, ſagte er, hatte ich, wie Sie wiſſen,
laͤngſt; allein mit dem Wie war ich noch nicht ganz
zufrieden, und da iſt es mir nun lieb, daß mir gute
Gedanken gekommen ſind. Ich werde nun dieſe ganze
Luͤcke, von der Helena bis zum fertigen fuͤnften Act,
durcherfinden und in einem ausfuͤhrlichen Schema nieder¬
ſchreiben, damit ich ſodann mit voͤlligem Behagen und
Sicherheit ausfuͤhren, und an den Stellen arbeiten kann,
die mich zunaͤchſt anmuthen. Dieſer Act bekommt wie¬
der einen ganz eigenen Character, ſo daß er, wie eine
fuͤr ſich beſtehende kleine Welt, das Übrige nicht beruͤhrt,
und nur durch einen leiſen Bezug zu dem Vorhergehen¬
den und Folgenden ſich dem Ganzen anſchließt.“
[264]
Er wird alſo, ſagte ich, voͤllig im Character des
uͤbrigen ſeyn; denn im Grunde ſind doch der Auerbach¬
ſche Keller, die Hexenkuͤche, der Blocksberg, der Reichs¬
tag, die Maskerade, das Papiergeld, das Laboratorium,
die claſſiſche Walpurgisnacht, die Helena, lauter fuͤr
ſich beſtehende kleine Weltenkreiſe, die, in ſich abge¬
ſchloſſen, wohl auf einander wirken, aber doch einander
wenig angehen. Dem Dichter liegt daran, eine mannig¬
faltige Welt auszuſprechen, und er benutzt die Fabel
eines beruͤhmten Helden bloß als eine Art von durch¬
gehender Schnur, um darauf aneinander zu reihen was
er Luſt hat. Es iſt mit der Odyſſee und dem Gil-Blas
auch nicht anders.
„Sie haben vollkommen Recht, ſagte Goethe; auch
kommt es bey einer ſolchen Kompoſition bloß darauf an,
daß die einzelnen Maſſen bedeutend und klar ſeyen, waͤh¬
rend es als ein Ganzes immer incommenſurabel bleibt,
aber eben deßwegen, gleich einem unaufgeloͤsten Problem,
die Menſchen zu wiederholter Betrachtung immer wieder
anlockt.“
Ich erzaͤhlte ſodann von dem Brief eines jungen
Militairs, dem ich, nebſt anderen Freunden, gerathen
hatte in auslaͤndiſche Dienſte zu gehen, und der nun,
da er die fremden Zuſtaͤnde nicht nach ſeinem Sinne
gefunden, auf alle diejenigen ſchilt, die ihm gerathen.
„Es iſt mit dem Rathgeben ein eigenes Ding, ſagte
Goethe, und wenn man eine Weile in der Welt geſehen
[265] hat, wie die geſcheidteſten Dinge mißlingen, und das
Abſurdeſte oft zu einem gluͤcklichen Ziele fuͤhrt, ſo kommt
man wohl davon zuruͤck, jemanden einen Rath ertheilen
zu wollen. Im Grunde iſt es auch von dem, der einen
Rath verlangt, eine Beſchraͤnktheit, und von dem, der
ihn giebt, eine Anmaßung. Man ſollte nur Rath geben
in Dingen, in denen man ſelber mitwirken will. Bit¬
tet mich ein Anderer um guten Rath, ſo ſage ich wohl,
daß ich bereit ſey ihn zu geben, jedoch nur mit dem
Beding, daß er verſprechen wolle, nicht danach zu
handeln.“
Das Geſpraͤch lenkte ſich auf das neue Teſtament,
indem ich erzaͤhlte, daß ich die Stelle nachgeleſen wo
Chriſtus auf dem Meere wandelt und Petrus ihm ent¬
gegengeht. Wenn man die Evangeliſten lange nicht ge¬
leſen, ſagte ich, ſo erſtaunt man immer wieder uͤber die
ſittliche Großheit der Figuren. Man findet in den hohen
Anforderungen an unſere moraliſche Willenskraft auch
eine Art von categoriſchem Imperativ. „Beſonders,
ſagte Goethe, finden Sie den categoriſchen Imperativ
des Glaubens, welches ſodann Mahomet noch weiter
getrieben hat.“ Übrigens, ſagte ich, ſind die Evange¬
liſten, wenn man ſie naͤher anſieht, voller Abweichun¬
gen und Widerſpruͤche, und die Buͤcher muͤſſen wun¬
derliche Schickſale gehabt haben, ehe ſie ſo beyſammen
gebracht ſind, wie wir ſie nun haben. „Es iſt ein
Meer auszutrinken, ſagte Goethe, wenn man ſich in
[266] eine hiſtoriſche und critiſche Unterſuchung dieſerhalb ein¬
laͤßt. Man thut immer beſſer, ſich ohne Weiteres an
das zu halten, was wirklich da iſt, und ſich davon an¬
zueignen, was man fuͤr ſeine ſittliche Cultur und Staͤr¬
kung gebrauchen kann. Übrigens iſt es huͤbſch, ſich die
Localitaͤt deutlich zu machen, und da kann ich Ihnen
nichts Beſſeres empfehlen, als das herrliche Buch von
Roͤhr uͤber Palaͤſtina. Der verſtorbene Großherzog
hatte uͤber dieſes Buch eine ſolche Freude, daß er es
zweymal kaufte, indem er das erſte Exemplar, nachdem
er es geleſen, der Bibliothek ſchenkte, und das andere
fuͤr ſich behielt, um es immer in ſeiner Naͤhe zu haben.“
Ich wunderte mich uͤber des Großherzogs Theilnahme
an ſolchen Dingen. „Darin, ſagte Goethe, war er
groß. Er hatte Intereſſe fuͤr Alles, wenn es einiger¬
maßen bedeutend war, es mochte nun in ein Fach ſchla¬
gen in welches es wollte. Er war immer vorſchreitend,
und was in der Zeit irgend an guten neuen Erfindun¬
gen und Einrichtungen hervortrat, ſuchte er bey ſich
einheimiſch zu machen. Wenn etwas mißlang, ſo war
davon weiter nicht die Rede. Ich dachte oft wie ich
dieß oder jenes Verfehlte bey ihm entſchuldigen wollte,
allein er ignorirte jedes Mißlingen auf die heiterſte
Weiſe, und ging immer ſogleich wieder auf etwas
Neues los. Es war dieſes eine eigene Groͤße ſeines
Weſens, und zwar nicht durch Bildung gewonnen, ſon¬
dern angeboren.“
[267]
Zum Nachtiſch betrachteten wir einige Kupfer nach
neueſten Meiſtern, beſonders im landſchaftlichen Fach,
wobey mit Freuden bemerkt wurde, daß daran nichts
Falſches wahrzunehmen. „Es iſt ſeit Jahrhunderten ſo
viel Gutes in der Welt, ſagte Goethe, daß man ſich
billig nicht wundern ſollte wenn es wirkt und wieder
Gutes hervorruft.“ Es iſt nur das Üble, ſagte ich, daß
es ſo viele falſche Lehren giebt, und daß ein junges
Talent nicht weiß welchem Heiligen es ſich widmen ſoll.
„Davon haben wir Proben, ſagte Goethe; wir haben
ganze Generationen an falſchen Maximen verloren gehen
und leiden ſehen, und haben ſelber darunter gelitten.
Und nun in unſern Tagen die Leichtigkeit, jeden Irr¬
thum durch den Druck ſogleich allgemein predigen zu
koͤnnen! Mag ein ſolcher Kunſtrichter nach einigen Jah¬
ren auch beſſer denken, und mag er auch ſeine beſſere
Überzeugung oͤffentlich verbreiten, ſeine Irrlehre hat doch
unterdeß gewirkt und wird auch kuͤnftig, gleich einem
Schlingkraut, neben dem Guten immer fortwirken.
Mein Troſt iſt nur, daß ein wirklich großes Talent
nicht irre zu leiten und nicht zu verderben iſt.“
Wir betrachteten die Kupfer weiter. „Es ſind wirk¬
lich gute Sachen, ſagte Goethe; Sie ſehen reine huͤbſche
Talente, die was gelernt und die ſich Geſchmack und
Kunſt in bedeutendem Grade angeeignet haben. Allein
doch fehlet dieſen Bildern allen etwas und zwar: das
Maͤnnliche. — Merken Sie ſich dieſes Wort und
[268] unterſtreichen Sie es. Es fehlt den Bildern eine gewiſſe
zudringliche Kraft, die in fruͤheren Jahrhunderten ſich
uͤberall ausſprach und die dem jetzigen fehlt, und zwar
nicht bloß in Werken der Malerey, ſondern auch in
allen uͤbrigen Kuͤnſten. Es lebt ein ſchwaͤcheres Geſchlecht,
von dem ſich nicht ſagen laͤßt ob es ſo iſt durch die Zeu¬
gung, oder durch eine ſchwaͤchere Erziehung und Nahrung.“
Man ſieht aber dabey, ſagte ich, wie viel in den
Kuͤnſten auf eine große Perſoͤnlichkeit ankommt, die
freylich in fruͤheren Jahrhunderten beſonders zu Hauſe
war. Wenn man in Venedig vor den Werken von
Titian und Paul Veroneſe ſteht, ſo empfindet man
den gewaltigen Geiſt dieſer Maͤnner, in ihrem erſten
Aperçuͤ von dem Gegenſtande, wie in der letzten Aus¬
fuͤhrung. Ihr großes energiſches Empfinden hat die
Glieder des ganzen Bildes durchdrungen, und dieſe
hoͤhere Gewalt der kuͤnſtleriſchen Perſoͤnlichkeit dehnet
unſer eigenes Weſen aus und erhebt uns uͤber uns
ſelbſt wenn wir ſolche Werke betrachten. Dieſer maͤnn¬
liche Geiſt, von dem Sie ſagen, findet ſich auch ganz
beſonders in den Rubensſchen Landſchaften. Es ſind
freylich auch nur Baͤume, Erdboden, Waſſer, Felſen
und Wolken, allein ſeine kraͤftige Geſinnung iſt in die
Formen gefahren, und ſo ſehen wir zwar immer die
bekannte Natur, allein wir ſehen ſie von der Gewalt
des Kuͤnſtlers durchdrungen und nach ſeinem Sinne
von neuem hervorgebracht.
[269]
„Allerdings, ſagte Goethe, iſt in der Kunſt und
Poeſie die Perſoͤnlichkeit alles; allein doch hat es unter
den Critikern und Kunſtrichtern der neueſten Zeit ſchwache
Perſonagen gegeben, die dieſes nicht zugeſtehen, und die
eine große Perſoͤnlichkeit, bey einem Werke der Poeſie
oder Kunſt, nur als eine Art von geringer Zugabe woll¬
ten betrachtet wiſſen.“
„Aber freylich, um eine große Perſoͤnlichkeit zu em¬
pfinden und zu ehren, muß man auch wiederum ſelber
etwas ſeyn. Alle, die dem Euripides das Erhabene
abgeſprochen, waren arme Heringe, und einer ſolchen
Erhebung nicht faͤhig; oder ſie waren unverſchaͤmte Char¬
latane, die durch Anmaßlichkeit in den Augen einer
ſchwachen Welt mehr aus ſich machen wollten und auch
wirklich machten als ſie waren.“
Mit Goethe zu Tiſch. Er hatte die Memoiren des
General Rapp geleſen, wodurch das Geſpraͤch auf
Napoleon kam, und welch ein Gefuͤhl die Madame
Laͤtitia muͤſſe gehabt haben, ſich als Mutter ſo vieler
Helden und einer ſo gewaltigen Familie zu wiſſen. Sie
hatte Napoleon, ihren zweyten Sohn, geboren als ſie
achtzehn Jahr alt war und ihr Gemahl dreyundzwanzig,
[270] ſo daß alſo die friſcheſte Jugendkraft der Eltern ſeinem
phyſiſchen Theile zu Gute kam. Neben ihm gebiert ſie
drey andere Soͤhne, alle bedeutend begabt, tuͤchtig und
energiſch in weltlichen Dingen und alle mit einem ge¬
wiſſen poetiſchen Talent. Auf ſolche vier Soͤhne folgen
drey Toͤchter, und zuletzt Jerome, der am ſchwaͤchſten
von Allen ausgeſtattet geweſen zu ſeyn ſcheint.
Das Talent iſt freylich nicht erblich, allein es will
eine tuͤchtige phyſiſche Unterlage, und da iſt es denn
keineswegs einerley, ob jemand der Erſt- oder Letztge¬
borene, und ob er von kraͤftigen und jungen, oder von
ſchwachen und alten Eltern iſt gezeugt worden.
Merkwuͤrdig iſt, ſagte ich, daß ſich von allen Ta¬
lenten das muſikaliſche am fruͤheſten zeigt, ſo daß
Mozart in ſeinem fuͤnften, Beethoven in ſeinem
achten, und Hummel in ſeinem neunten Jahre ſchon
die naͤchſte Umgebung durch Spiel und Compoſitionen
in Erſtaunen ſetzten.
„Das muſikaliſche Talent, ſagte Goethe, kann ſich
wohl am fruͤheſten zeigen, indem die Muſik ganz etwas
Angeborenes, Inneres iſt, das von Außen keiner großen
Nahrung und keiner aus dem Leben gezogenen Erfah¬
rung bedarf. Aber freylich, eine Erſcheinung wie Mo¬
zart, bleibt immer ein Wunder, das nicht weiter zu er¬
klaͤren iſt. Doch wie wollte die Gottheit uͤberall Wunder
zu thun Gelegenheit finden, wenn ſie es nicht zuweilen
[271] in außerordentlichen Individuen verſuchte, die wir an¬
ſtaunen und nicht begreifen woher ſie kommen.“
Mit Goethe zu Tiſch. Ich erzaͤhle ihm vom Thea¬
ter; er lobt das geſtrige Stuͤck, HeinrichIII. von
Duͤmas, als ganz vortrefflich, findet jedoch natuͤrlich,
daß es fuͤr das Publicum nicht die rechte Speiſe gewe¬
ſen. „Ich haͤtte es unter meiner Direction nicht zu
bringen gewagt, ſagte er, denn ich erinnere mich noch
gar wohl, was wir mit dem Standhaften Prinzen
fuͤr Noth gehabt, um ihn beym Publicum einzuſchwaͤr¬
zen, der doch noch weit menſchlicher und poetiſcher iſt
und im Grunde weit naͤher liegt als Heinrich der
Dritte.“
Ich rede vom Groß-Cophta, den ich in dieſen
Tagen abermals geleſen. Ich gehe die einzelnen Scenen
geſpraͤchsweiſe durch und ſchließe mit dem Wunſch, es
einmal auf der Buͤhne zu ſehen.
„Es iſt mir lieb, ſagte Goethe, daß Ihnen das
Stuͤck gefaͤllt, und daß Sie herausfinden, was ich hin¬
eingearbeitet habe. Es war im Grunde keine geringe
Operation, ein ganz reales Factum erſt poetiſch, und
dann theatraliſch zu machen. Und doch werden Sie
[272] zugeben, daß das Ganze recht eigentlich fuͤr die Buͤhne
gedacht iſt. Schiller war auch ſehr fuͤr das Stuͤck,
und wir haben es einmal gegeben, wo es ſich denn fuͤr
hoͤhere Menſchen wirklich brillant machte. Fuͤr das
Publicum im Allgemeinen jedoch iſt es nicht; die be¬
handelten Verbrechen behalten immer etwas Apprehen¬
ſives, wobey es den Leuten nicht heimlich iſt. Es faͤllt,
ſeinem verwegenen Character nach, ganz in den Kreis
der Clara Gazul, und der franzoͤſiſche Dichter koͤnnte
mich wirklich beneiden, daß ich ihm ein ſo gutes Suͤjet
vorweggenommen. Ich ſage ein ſo gutes Suͤjet,
denn im Grunde iſt es nicht bloß von ſittlicher, ſondern
auch von großer hiſtoriſcher Bedeutung; das Factum
geht der franzoͤſiſchen Revolution unmittelbar voran und
iſt davon gewiſſermaßen das Fundament. Die Koͤnigin,
der fatalen Halsbandsgeſchichte ſo nahe verflochten, ver¬
lor ihre Wuͤrde, ja ihre Achtung, und ſo hatte ſie denn
in der Meinung des Volkes den Standpunct verloren,
um unantaſtbar zu ſeyn. Der Haß ſchadet niemanden,
aber die Verachtung iſt es was den Menſchen ſtuͤrzet.
Kotzebue wurde lange gehaßt, aber damit der Dolch
des Studenten ſich an ihn wagen konnte, mußten ihn
gewiſſe Journale erſt veraͤchtlich machen.“
[273]
Mit Goethe zu Tiſch. Ich bringe ihm ſeinen
Aufenthalt in Carlsbad vom Jahre 1807, deſſen
Redaction ich am Morgen beendigt. Wir reden uͤber
kluge Stellen, die darin als fluͤchtige Tagesbemerkungen
vorkommen. „Man meint immer, ſagte Goethe lachend,
man muͤſſe alt werden um geſcheidt zu ſeyn; im Grunde
aber hat man bey zunehmenden Jahren zu thun, ſich
ſo klug zu erhalten als man geweſen iſt. Der Menſch
wird in ſeinen verſchiedenen Lebensſtufen wohl ein An¬
derer, aber er kann nicht ſagen, daß er ein Beſſerer
werde, und er kann in gewiſſen Dingen ſo gut in ſei¬
nem zwanzigſten Jahre Recht haben, als in ſeinem ſech¬
zigſten.“
„Man ſieht freylich die Welt anders in der Ebene,
anders auf den Hoͤhen des Vorgebirgs, und anders auf
den Gletſchern des Urgebirgs. Man ſieht auf dem
einen Standpunct ein Stuͤck Welt mehr als auf dem
andern; aber das iſt auch alles, und man kann nicht
ſagen, daß man auf dem einen mehr Recht haͤtte, als
auf dem andern. Wenn daher ein Schriftſteller aus
verſchiedenen Stufen ſeines Lebens Denkmale zuruͤcklaͤßt,
ſo kommt es vorzuͤglich darauf an, daß er ein angebo¬
renes Fundament und Wohlwollen beſitze, daß er auf
jeder Stufe rein geſehen und empfunden, und daß er
ohne Nebenzwecke grade und treu geſagt habe wie er
II. 18[274] gedacht. Dann wird ſein Geſchriebenes, wenn es auf
der Stufe recht war, wo es entſtanden, auch ferner
recht bleiben, der Autor mag ſich auch ſpaͤter entwickeln
und veraͤndern wie er wolle.“
Ich gab dieſen guten Worten meine vollkommene
Beyſtimmung. „Es kam mir in dieſen Tagen ein Blatt
Maculatur in die Haͤnde, fuhr Goethe fort, das ich
las. Hm! ſagte ich zu mir ſelber, was da geſchrieben
ſteht, iſt gar nicht ſo unrecht, du denkſt auch nicht an¬
ders, und wuͤrdeſt es auch nicht viel anders geſagt ha¬
ben. Als ich aber das Blatt recht beſehe, war es ein
Stuͤck aus meinen eigenen Werken. Denn da ich im¬
mer vorwaͤrts ſtrebe, ſo vergeſſe ich was ich geſchrieben
habe, wo ich denn ſehr bald in den Fall komme, meine
Sachen als etwas durchaus Fremdes anzuſehen.“
Ich erkundigte mich nach dem Fauſt und wie er
vorruͤcke. „Der laͤßt mich nun nicht wieder los, ſagte
Goethe, ich denke und erfinde taͤglich daran fort. Ich
habe nun auch das ganze Manuſcript des zweyten
Theiles heute heften laſſen, damit es mir als eine ſinn¬
liche Maſſe vor Augen ſey. Die Stelle des fehlenden
vierten Actes habe ich mit weißem Papier ausgefuͤllt,
und es iſt keine Frage, daß das Fertige anlocket und
reizet, um das zu vollenden was noch zu thun iſt. Es
liegt in ſolchen ſinnlichen Dingen mehr als man denkt,
und man muß dem Geiſtigen mit allerley Kuͤnſten zu
Huͤlfe kommen.“
[275]
Goethe ließ den gehefteten neuen Fauſt hereinbrin¬
gen, und ich war erſtaunt uͤber die Maſſe des Geſchrie¬
benen, das im Manuſcript als ein guter Folioband mir
vor Augen war.
Es iſt doch alles, ſagte ich, ſeit den ſechs Jahren
gemacht, die ich hier bin, und doch haben Sie bey dem
andern Vielen, was ſeitdem geſchehen, nur ſehr wenige
Zeit darauf verwenden koͤnnen. Man ſieht aber wie
etwas heranwaͤchſt, wenn man auch nur hin und wieder
etwas hinzuthut.
„Davon uͤberzeugt man ſich beſonders wenn man
aͤlter wird, ſagte Goethe, waͤhrend die Jugend glaubt,
es muͤſſe alles an Einem Tage geſchehen. Wenn aber
das Gluͤck mir guͤnſtig iſt, und ich mich ferner wohl
befinde, ſo hoffe ich in den naͤchſten Fruͤhlingsmonaten
am vierten Act ſehr weit zu kommen. Es war auch
dieſer Act, wie Sie wiſſen, laͤngſt erfunden; allein da
ſich das Übrige waͤhrend der Ausfuͤhrung ſo ſehr geſtei¬
gert hat, ſo kann ich jetzt von der fruͤheren Erfindung
nur das Allgemeinſte brauchen, und ich muß nun auch
dieſes Zwiſchen-Stuͤck durch neue Erfindungen ſo heran¬
heben, daß es dem Anderen gleich werde.“
Es kommt doch in dieſem zweyten Theil, ſagte ich,
eine weit reichere Welt zur Erſcheinung als im erſten.
„Ich ſollte denken, ſagte Goethe. Der erſte Theil
iſt faſt ganz ſubjectiv; es iſt alles aus einem befange¬
neren, leidenſchaftlicheren Individuum hervorgegangen,
18*[276] welches Halbdunkel den Menſchen auch ſo wohl thun
mag. Im zweyten Theile aber iſt faſt gar nichts Sub¬
jectives, es erſcheint hier eine hoͤhere, breitere, hellere,
leidenſchaftsloſere Welt, und wer ſich nicht etwas um¬
gethan und Einiges erlebt hat, wird nichts damit an¬
zufangen wiſſen.“
Es ſind darin einige Denkuͤbungen, ſagte ich, und
es moͤchte auch mitunter einige Gelehrſamkeit erfordert
werden. Es iſt mir nur lieb, daß ich Schellings
Buͤchlein uͤber die Kabiren geleſen, und daß ich nun
weiß, wohin Sie in jener famoͤſen Stelle der claſſiſchen
Walpurgisnacht deuten.
„Ich habe immer gefunden, ſagte Goethe lachend,
daß es gut ſey etwas zu wiſſen.“
Mit Goethe zu Tiſch. Wir reden uͤber verſchiedene
Regierungsformen, und es kommt zur Sprache, welche
Schwierigkeiten ein zu großer Liberalismus habe, indem
er die Anforderungen der Einzelnen hervorrufe, und man
vor lauter Wuͤnſchen zuletzt nicht mehr wiſſe, welche
man befriedigen ſolle. Man werde finden, daß man
von oben herab mit zu großer Guͤte, Milde und mora¬
liſcher Delicateſſe auf die Laͤnge nicht durchkomme, in¬
[277] dem man eine gemiſchte und mitunter verruchte Welt zu
behandeln und in Reſpect zu erhalten habe. Es wird
zugleich erwaͤhnt, daß das Regierungsgeſchaͤft ein ſehr
großes Metier ſey, das den ganzen Menſchen verlange,
und daß es daher nicht gut, wenn ein Regent zu große
Nebenrichtungen, wie z. B. eine vorwaltende Tendenz
zu den Kuͤnſten habe, wodurch nicht allein das Intereſſe
des Fuͤrſten, ſondern auch die Kraͤfte des Staates ge¬
wiſſen noͤthigeren Dingen entzogen wuͤrden. Eine vor¬
waltende Neigung zu den Kuͤnſten ſey mehr die Sache
reicher Privatleute.
Goethe erzaͤhlte mir ſodann, daß ſeine Metamor¬
phoſe der Pflanzen mit Sorets Überſetzung gut
vorruͤcke, und daß ihm bey der jetzigen nachtraͤglichen
Bearbeitung dieſes Gegenſtandes, beſonders der Spirale,
ganz unerwartet guͤnſtige Dinge von Außen zu Huͤlfe kom¬
men. „Wir beſchaͤftigen uns, ſagte er, wie Sie wiſſen,
mit dieſer Überſetzung ſchon laͤnger als ſeit einem Jahre,
es ſind tauſend Hinderniſſe dazwiſchen getreten, das Un¬
ternehmen hat oft ganz widerwaͤrtig geſtockt, und ich
habe es oft im Stillen verwuͤnſcht. Nun aber komme
ich in den Fall alle dieſe Hinderniſſe zu verehren, indem
im Laufe dieſer Zoͤgerungen, außerhalb, bey andern
trefflichen Menſchen, Dinge herangereift ſind, die jetzt
als das ſchoͤnſte Waſſer auf meine Muͤhle, mich uͤber
alle Begriffe weiter bringen, und meiner Arbeit einen
Abſchluß erlangen laſſen, wie es vor einem Jahre nicht
[278] waͤre denkbar geweſen. Dergleichen iſt mir in meinem
Leben oͤfter begegnet, und man kommt dahin, in ſolchen
Faͤllen an eine hoͤhere Einwirkung, an etwas Daͤmoni¬
ſches zu glauben, das man anbetet, ohne ſich anzuma¬
ßen es weiter erklaͤren zu wollen.“
Bey Goethe zu Tiſch mit Hofrath Vogel. Goe¬
then war eine Brochuͤre uͤber die Inſel Helgoland zu¬
gekommen, worin er mit großem Intereſſe las und uns
das Weſentlichſte daraus mittheilte.
Nach den Geſpraͤchen uͤber eine ſo eigenthuͤmliche
Localitaͤt kamen aͤrztliche Dinge an die Reihe, und Vo¬
gel erzaͤhlte, als das Neueſte des Tages, von den na¬
tuͤrlichen Blattern, die, trotz aller Impfung, mit einem
Male wieder in Eiſenach hervorgebrochen ſeyen und in
kurzer Zeit bereits viele Menſchen hingerafft haͤtten.
„Die Natur, ſagte Vogel, ſpielt einem doch im¬
mer einmal wieder einen Streich, und man muß ſehr
aufpaſſen, wenn eine Theorie gegen ſie ausreichen ſoll.
Man hielt die Schutzblattern ſo ſicher und ſo untruͤg¬
lich, daß man ihre Einimpfung zum Geſetz machte.
Nun aber dieſer Vorfall in Eiſenach, wo die Geimpf¬
ten von den natuͤrlichen dennoch befallen worden, macht
[279] die Unfehlbarkeit der Schutzblattern verdaͤchtig und ſchwaͤcht
die Motive fuͤr das Anſehen des Geſetzes.“
„Dennoch aber, ſagte Goethe, bin ich dafuͤr, daß
man von dem ſtrengen Gebot der Impfung auch ferner
nicht abgehe, indem ſolche kleine Ausnahmen gegen die
unuͤberſehbaren Wohlthaten des Geſetzes gar nicht in
Betracht kommen.“
„Ich bin auch der Meinung, ſagte Vogel, und
moͤchte ſogar behaupten, daß in allen ſolchen Faͤllen,
wo die Schutzblattern vor den natuͤrlichen nicht geſichert,
die Impfung mangelhaft geweſen iſt. Soll naͤmlich die
Impfung ſchuͤtzen, ſo muß ſie ſo ſtark ſeyn, daß Fieber
entſteht; ein bloßer Hautreiz ohne Fieber ſchuͤtzt nicht.
Ich habe daher heute in der Seſſion den Vorſchlag ge¬
than, eine verſtaͤrkte Impfung der Schutzblattern allen
im Lande damit Beauftragten zur Pflicht zu machen.“
„Ich hoffe daß Ihr Vorſchlag durchgegangen iſt,
ſagte Goethe, ſo wie ich immer dafuͤr bin, ſtrenge auf
ein Geſetz zu halten, zumal in einer Zeit wie die jetzige,
wo man aus Schwaͤche und uͤbertriebener Liberalitaͤt
uͤberall mehr nachgiebt als billig.“
Es kam ſodann zur Sprache, daß man jetzt auch
in der Zurechnungsfaͤhigkeit der Verbrecher anfange weich
und ſchlaff zu werden, und daß aͤrztliche Zeugniſſe und
Gutachten oft dahingehen, dem Verbrecher an der ver¬
wirkten Strafe vorbey zu helfen. Bey dieſer Gelegen¬
heit lobte Vogel einen jungen Phyſikus, der in aͤhn¬
[280] lichen Faͤllen immer Character zeige, und der noch kuͤrz¬
lich, bey dem Zweifel eines Gerichtes, ob eine gewiſſe
Kindesmoͤrderin fuͤr zurechnungsfaͤhig zu halten, ſein
Zeugniß dahin ausgeſtellt habe, daß ſie es allerdings ſey.
Mit Goethe zu Tiſch. Er eroͤffnet mir, daß er
meine Beobachtung uͤber die blauen Schatten im Schnee,
daß ſie naͤmlich aus dem Wiederſchein des blauen Him¬
mels entſtehen, gepruͤft habe und fuͤr richtig anerkenne.
„Es kann jedoch Beydes zugleich wirken, ſagte er, und
die durch das gelbliche Licht erregte Forderung kann die
blaue Erſcheinung verſtaͤrken.“ Ich gebe dieſes vollkom¬
men zu, und freue mich daß Goethe mir endlich bey¬
ſtimmet.
Es aͤrgert mich nur, ſagte ich, daß ich meine Far¬
benbeobachtungen am Monteroſa und Montblanc nicht
an Ort und Stelle im Detail niedergeſchrieben habe.
Das Hauptreſultat jedoch war, daß in einer Entfernung
von achtzehn bis zwanzig Stunden, Mittags bei der
helleſten Sonne, der Schnee gelb, ja roͤthlich gelb er¬
ſchien, waͤhrend die ſchneefreyen dunkelen Theile des
Gebirgs im entſchiedenſten Blau heruͤberſahen. Das
Phaͤnomen uͤberraſchte mich nicht, indem ich mir haͤtte
[281] vorherſagen koͤnnen, daß die gehoͤrige Maſſe von zwi¬
ſchenliegender Truͤbe dem, die Mittagsſonne reflectiren¬
den, weißen Schnee einen tiefgelben Ton geben wuͤrde;
aber das Phaͤnomen freute mich beſonders aus dem
Grunde, weil es die irrige Anſicht einiger Naturforſcher,
daß die Luft eine blaufaͤrbende Eigenſchaft beſitze, ſo
ganz entſchieden widerlegt. Denn waͤre die Luft in
ſich blaͤulich, ſo haͤtte eine Maſſe von zwanzig Stun¬
den, wie ſie zwiſchen mir und dem Monteroſa lag, den
Schnee muͤſſen hellblau oder weißblaͤulich durchſcheinen
laſſen, aber nicht gelb und gelbroͤthlich.
„Die Beobachtung, ſagte Goethe, iſt von Bedeu¬
tung und widerlegt jenen Irrthum durchaus.“
Im Grunde, ſagte ich, iſt die Lehre vom Truͤben
ſehr einfach, ſo daß man gar zu leicht zu dem Glauben
verfuͤhrt wird, man koͤnne ſie einem Andern in wenig
Tagen und Stunden uͤberliefern. Das Schwierige aber
iſt, nun mit dem Geſetz zu operiren und ein Urphaͤno¬
men in tauſendfaͤltig bedingten und verhuͤllten Erſchei¬
nungen immer wieder zu erkennen.
„Ich moͤchte es dem Whiſt vergleichen, ſagte Goe¬
the, deſſen Geſetze und Regeln auch gar leicht zu uͤber¬
liefern ſind, das man aber ſehr lange geſpielt haben
muß, um darin ein Meiſter zu ſeyn. Überhaupt lernet
niemand etwas durch bloßes Anhoͤren, und wer ſich in
gewiſſen Dingen nicht ſelbſt thaͤtig bemuͤhet, weiß die
Sachen nur oberflaͤchlich und halb.“
[282]
Goethe erzaͤhlte mir ſodann von dem Buche eines
jungen Phyſikers, das er loben muͤſſe, wegen der Klar¬
heit mit der es geſchrieben, und dem er die teleologiſche
Richtung gerne nachſehe.
„Es iſt dem Menſchen natuͤrlich, ſagte Goethe, ſich
als das Ziel der Schoͤpfung zu betrachten, und alle
uͤbrigen Dinge nur in Bezug auf ſich, und in ſo fern
ſie ihm dienen und nuͤtzen. Er bemaͤchtiget ſich der ve¬
getabiliſchen und animaliſchen Welt, und, indem er an¬
dere Geſchoͤpfe als paſſende Nahrung verſchlingt, erken¬
net er ſeinen Gott, und preiſet deſſen Guͤte, die ſo
vaͤterlich fuͤr ihn geſorget. Der Kuh nimmt er die
Milch, der Biene den Honig, dem Schaf die Wolle,
und indem er den Dingen einen ihm nuͤtzlichen Zweck
giebt, glaubt er auch daß ſie dazu ſind geſchaffen wor¬
den. Ja er kann ſich nicht denken, daß nicht auch das
kleinſte Kraut fuͤr ihn da ſey, und wenn er deſſen Nutzen
noch gegenwaͤrtig nicht erkannt hat, ſo glaubt er doch,
daß ſolches ſich kuͤnftig ihm gewiß entdecken werde.“
„Und wie der Menſch nun im Allgemeinen denkt,
ſo denkt er auch im Beſondern, und er unterlaͤßt nicht,
ſeine gewohnte Anſicht aus dem Leben auch in die Wiſ¬
ſenſchaft zu tragen, und auch bey den einzelnen Theilen
eines organiſchen Weſens nach deren Zweck und Nutzen
zu fragen.“
„Dieß mag auch eine Weile gehen, und er mag
auch in der Wiſſenſchaft eine Weile damit durchkommen;
[283] allein gar bald wird er auf Erſcheinungen ſtoßen, wo
er mit einer ſo kleinen Anſicht nicht ausreicht, und wo
er, ohne hoͤheren Halt, ſich in lauter Widerſpruͤchen
verwickelt.“
„Solche Nuͤtzlichkeitslehrer ſagen wohl: der Ochſe
habe Hoͤrner um ſich damit zu wehren. Nun frage ich
aber: warum hat das Schaf keine? und, wenn es
welche hat, warum ſind ſie ihm um die Ohren gewickelt,
ſo daß ſie ihm zu nichts dienen?“
„Etwas Anderes aber iſt es, wenn ich ſage: der
Ochſe wehrt ſich mit ſeinen Hoͤrnern weil er ſie hat.“
„Die Frage nach dem Zweck, die Frage warum?
iſt durchaus nicht wiſſenſchaftlich. Etwas weiter aber
kommt man mit der Frage Wie? — Denn wenn ich
frage: wie hat der Ochſe Hoͤrner? ſo fuͤhret mich das
auf die Betrachtung ſeiner Organiſation, und belehret
mich zugleich, warum der Loͤwe keine Hoͤrner hat und
haben kann.“
„So hat der Menſch in ſeinem Schaͤdel zwey un¬
ausgefuͤllte hohle Stellen. Die Frage Warum? wuͤrde
hier nicht weit reichen, wogegen aber die Frage Wie?
mich belehret, daß dieſe Hoͤhlen Reſte des thieriſchen
Schaͤdels ſind, die ſich bey ſolchen geringeren Organi¬
ſationen in ſtaͤrkerem Maße befinden, und die ſich beym
Menſchen, trotz ſeiner Hoͤhe, noch nicht ganz verloren
haben.“
„Die Nuͤtzlichkeitslehrer wuͤrden glauben ihren Gott
[284] zu verlieren, wenn ſie nicht den anbeten ſollen, der dem
Ochſen die Hoͤrner gab, damit er ſich vertheidige. Mir
aber moͤge man erlauben, daß ich den verehre, der in
dem Reichthum ſeiner Schoͤpfung ſo groß war, nach
tauſendfaͤltigen Pflanzen noch eine zu machen, worin
alle uͤbrigen enthalten, und nach tauſendfaͤltigen Thie¬
ren ein Weſen das ſie alle enthaͤlt: den Menſchen.“
„Man verehre ferner den, der dem Vieh ſein Fut¬
ter giebt und dem Menſchen Speiſe und Trank ſo viel
er genießen mag. Ich aber bete den an, der eine
ſolche Productionskraft in die Welt gelegt hat, daß,
wenn nur der millionteſte Theil davon ins Leben tritt,
die Welt von Geſchoͤpfen wimmelt, ſo daß Krieg,
Peſt, Waſſer und Brand ihr nichts anzuhaben vermoͤ¬
gen. Das iſt mein Gott! —“
Goethe lobte ſehr die neueſte Rede von Schelling,
womit dieſer die Muͤnchener Studenten beruhigt. „Die
Rede, ſagte er, iſt durch und durch gut, und man
freuet ſich einmal wieder uͤber das vorzuͤgliche Talent,
das wir lange kannten und verehrten. Es war in die¬
ſem Falle ein trefflicher Gegenſtand und ein redlicher Zweck,
wo ihm denn das Vorzuͤglichſte gelungen iſt. Koͤnnte
[285] man von dem Gegenſtande und Zweck ſeiner Kabiren¬
ſchrift daſſelbige ſagen, ſo wuͤrden wir ihn auch da
ruͤhmen muͤſſen, denn ſeine rhetoriſchen Talente und
Kuͤnſte hat er auch da bewieſen.“
Schellings Kabiren brachten das Geſpraͤch auf die
claſſiſche Walpurgisnacht, und wie ſich dieſe von den
Brockenſcenen des erſten Theiles unterſcheide.
„Die alte Walpurgisnacht, ſagte Goethe, iſt mon¬
archiſch, indem der Teufel dort uͤberall als entſchiedenes
Oberhaupt reſpectirt wird. Die claſſiſche aber iſt durch¬
aus republikaniſch, indem Alles in der Breite neben ein¬
ander ſteht, ſo daß der Eine ſo viel gilt wie der An¬
dere, und niemand ſich ſubordinirt und ſich um den
Andern bekuͤmmert.“
Auch, ſagte ich, ſondert ſich in der claſſiſchen alles
in ſcharf umriſſene Individualitaͤten, waͤhrend auf dem
deutſchen Blocksberg jedes Einzelne ſich in eine allge¬
meine Hexenmaſſe aufloͤſet.
„Deßhalb, ſagte Goethe, weiß auch der Mephiſto¬
pheles, was es zu bedeuten hat, wenn der Homuncu¬
lus ihm von theſſaliſchen Hexen redet. Ein guter
Kenner des Alterthums wird bey dem Wort theſſali¬
ſche Hexen ſich auch Einiges zu denken vermoͤgen,
waͤhrend es dem Ungelehrten ein bloßer Name bleibt.“
Das Alterthum, ſagte ich, mußte Ihnen doch ſehr
lebendig ſeyn, um alle jene Figuren wieder ſo friſch ins
Leben treten zu laſſen, und ſie mit ſolcher Freyheit
[286] zu gebrauchen und zu behandeln, wie Sie es gethan
haben.
„Ohne eine lebenslaͤngliche Beſchaͤftigung mit der
bildenden Kunſt, ſagte Goethe, waͤre es mir nicht moͤg¬
lich geweſen. Das Schwierige indeſſen war, ſich bey
ſo großer Fuͤlle maͤßig zu halten, und alle ſolche Figu¬
ren abzulehnen, die nicht durchaus zu meiner Intention
paßten. So habe ich z. B. von dem Minotaurus, den
Harpyen, und einigen andern Ungeheuern, keinen Ge¬
brauch gemacht.“
Aber was Sie in jener Nacht erſcheinen laſſen, ſagte
ich, iſt alles ſo zuſammengehoͤrig und ſo gruppirt, daß
man es ſich in der Einbildungskraft leicht und gerne
zuruͤckruft und alles willig ein Bild macht. Die Ma¬
ler werden ſich ſo gute Anlaͤſſe auch gewiß nicht entge¬
hen laſſen; beſonders freue ich mich den Mephiſtopheles
bey den Phorkyaden zu ſehen, wo er im Profil die fa¬
moͤſe Maske probirt.
„Es ſtecken darin einige gute Spaͤße, ſagte Goethe,
welche die Welt uͤber kurz oder lang auf manche Weiſe
benutzen wird. Wenn die Franzoſen nur erſt die Helena
gewahr werden, und ſehen was daraus fuͤr ihr Theater
zu machen iſt! Sie werden das Stuͤck, wie es iſt, ver¬
derben; aber ſie werden es zu ihren Zwecken klug ge¬
brauchen, und das iſt alles was man erwarten und
wuͤnſchen kann. Der Phorkyas werden ſie ſicher einen
[287] Chor von Ungeheuern beygeben, wie es an einer Stelle
auch bereits angedeutet iſt.“
Es kaͤme darauf an, ſagte ich, daß ein tuͤchtiger
Poet von der romantiſchen Schule das Stuͤck durchweg
als Oper behandelte, und Roſſini ſein großes Talent
zu einer bedeutenden Compoſition zuſammennaͤhme, um
mit der Helena Wirkung zu thun. Denn es ſind darin
Anlaͤſſe zu praͤchtigen Decorationen, uͤberraſchenden Ver¬
wandlungen, glaͤnzenden Coſtumen und reizenden Bal¬
letten, wie nicht leicht in einem anderen Stuͤck, ohne zu
erwaͤhnen, daß eine ſolche Fuͤlle von Sinnlichkeit ſich
auf dem Fundament einer geiſtreichen Fabel bewegt, wie
ſie nicht leicht beſſer erfunden werden duͤrfte.
„Wir wollen erwarten, ſagte Goethe, was uns die
Goͤtter Weiteres bringen. Es laͤßt ſich in ſolchen Din¬
gen nichts beſchleunigen. Es kommt darauf an, daß
es den Menſchen aufgehe, und daß Theater-Directoren,
Poeten und Componiſten darin ihren Vortheil gewahr
werden.“
Ober-Conſiſtorialrath Schwabe begegnet mir in den
Straßen; ich begleite ihn eine Strecke, wo er mir von
ſeinen mannigfaltigen Geſchaͤften erzaͤhlt und ich in den
bedeutenden Wirkungskreis dieſes vorzuͤglichen Mannes
[288] hineinblicke. Er ſagt, daß er in den Nebenſtunden ſich
mit Herausgabe eines Baͤndchens neuer Predigten be¬
ſchaͤftige, daß eins ſeiner Schulbuͤcher kuͤrzlich ins Daͤ¬
niſche uͤberſetzt, daß davon vierzigtauſend Exemplare ver¬
kauft worden, und man es in Preußen in den vorzuͤg¬
lichſten Schulen eingefuͤhrt habe. Er bittet mich, ihn
zu beſuchen, welches ich mit Freuden verſpreche.
Darauf mit Goethe zu Tiſch, rede ich uͤber Schwabe,
und Goethe ſtimmt in deſſen Lob vollkommen ein. „Die
Großherzogin, ſagte er, ſchaͤtzet ihn auch im hohen
Grade, wie denn dieſe Dame uͤberall recht gut weiß,
was ſie an den Leuten hat. Ich werde ihn zu meiner
Portraitſammlung zeichnen laſſen, und Sie thun ſehr
wohl, ihn zu beſuchen, und ihn vorlaͤufig um dieſe Er¬
laubniß zu bitten. Beſuchen Sie ihn ja, zeigen Sie
ihm Theilnahme an dem was er thut und vorhat. Es
wird fuͤr Sie von Intereſſe ſeyn, in einen Wirkungs¬
kreis eigener Art hineinzublicken, wovon man doch, ohne
einen naͤheren Verkehr mit einem ſolchen Mann, keinen
rechten Begriff hat.“
Ich verſpreche dieſes zu thun; indem die Kenntniß
practiſch-thaͤtiger, das Nuͤtzliche befoͤrdernder Menſchen
meine wahre Neigung iſt.
[289]
Vor Tiſch, bey einem Spaziergange auf der Erfur¬
ter Chauſſee, begegnet mir Goethe, welcher halten laͤßt
und mich in ſeinen Wagen nimmt. Wir fahren eine
gute Strecke hinaus bis auf die Hoͤhe neben das Tan¬
nenhoͤlzchen, und reden uͤber naturhiſtoriſche Dinge.
Die Huͤgel und Berge waren mit Schnee bedeckt,
und ich erwaͤhne die große Zartheit des Gelben, und
daß in der Entfernung von einigen Meilen, mittelſt
zwiſchenliegender Truͤbe, ein Dunkeles eher blau erſcheine
als ein Weißes gelb. Goethe ſtimmet mir zu, und wir
ſprechen ſodann von der hohen Bedeutung der Urphaͤ¬
nomene, hinter welchen man unmittelbar die Gottheit zu
gewahren glaube.
„Ich frage nicht, ſagte Goethe, ob dieſes hoͤchſte
Weſen Verſtand und Vernunft habe, ſondern ich fuͤhle:
es iſt der Verſtand, es iſt die Vernunft ſelber. Alle
Geſchoͤpfe ſind davon durchdrungen und der Menſch hat
davon ſoviel, daß er Theile des Hoͤchſten erkennen mag.“
Bey Tiſch kam das Beſtreben gewiſſer Naturforſcher
zur Erwaͤhnung, die, um die organiſche Welt zu durch¬
ſchreiten, von der Mineralogie aufwaͤrts gehen wollen.
„Dieſes iſt ein großer Irrthum, ſagte Goethe. In der
mineralogiſchen Welt iſt das Einfachſte das Herrlichſte,
und in der organiſchen iſt es das Complicirteſte. Man
ſieht alſo, daß beyde Welten ganz verſchiedene Tenden¬
II. 19[290] zen haben, und daß von der einen zur andern keines¬
wegs ein ſtufenartiges Fortſchreiten Statt findet.“
Ich merkte mir dieſes, als von großer Bedeutung.
Ich leſe Goethe's Aufſatz uͤber Zahn in den Wie¬
ner Jahrbuͤchern, den ich bewundere, indem ich die Praͤ¬
miſſen bedenke, die es vorausſetzte, um ihn zu ſchreiben.
Bey Tiſch erzaͤhlet mir Goethe, daß Soret bey
ihm geweſen, und daß ſie in der Überſetzung der Me¬
tamorphoſe einen huͤbſchen Fortſchritt gemacht.
„Das Schwierige bey der Natur, ſagte Goethe, iſt:
das Geſetz auch da zu ſehen wo es ſich uns verbirgt,
und ſich nicht durch Erſcheinungen irre machen zu laſſen,
die unſern Sinnen widerſprechen. Denn es widerſpricht
in der Natur manches den Sinnen und iſt doch wahr.
Daß die Sonne ſtill ſtehe, daß ſie nicht auf- und unter¬
gehe, ſondern daß die Erde ſich taͤglich in undenkbarer
Geſchwindigkeit herumwaͤlze, widerſpricht den Sinnen ſo
ſtark wie etwas, aber doch zweifelt kein Unterrichteter
daß es ſo ſey. Und ſo kommen auch widerſprechende
Erſcheinungen im Pflanzenreiche vor, wobey man ſehr
auf ſeiner Hut ſeyn muß, ſich dadurch nicht auf falſche
Wege leiten zu laſſen.“
[291]
Ich las heute viel in Goethe's Farbenlehre, und
freute mich zu bemerken, daß ich dieſe Jahre her, durch
vielfache Übung mit den Phaͤnomenen, in das Werk ſo
hineingewachſen, um jetzt ſeine großen Verdienſte mit
einiger Klarheit empfinden zu koͤnnen. Ich bewundere,
was es gekoſtet hat, ein ſolches Werk zuſammenzubrin¬
gen, indem mir nicht bloß die letzten Reſultate erſchei¬
nen, ſondern indem ich tiefer blicke, was alles durchge¬
macht worden, um zu feſten Reſultaten zu gelangen.
Nur ein Menſch von großer moraliſcher Kraft konnte
das durchfuͤhren, und wer es ihm nachthun wollte, muͤßte
ſich daran ſehr hoch hinaufbringen. Alles Unzarte, Un¬
wahre, Egoiſtiſche wuͤrde aus der Seele verſchwinden muͤſ¬
ſen, oder die reine, wahre Natur wuͤrde ihn verſchmaͤhen.
Bedaͤchten dieſes die Menſchen, ſo wuͤrden ſie gern ei¬
nige Jahre ihres Lebens daran wenden, und den Kreis
einer ſolchen Wiſſenſchaft auf ſolche Weiſe durchmachen,
um daran Sinne, Geiſt und Charakter zu pruͤfen und
zu erbauen. Sie wuͤrden Reſpect vor dem Geſetzlichen
gewinnen, und dem Goͤttlichen ſo nahe treten, als es
einem irdiſchen Geiſte uͤberall nur moͤglich.
Dagegen beſchaͤftiget man ſich viel zu viel mit Poeſie
und uͤberſinnlichen Myſterien, welches ſubjective nach¬
giebige Dinge ſind, die an den Menſchen weiter keine
Anforderungen machen, ſondern ihm ſchmeicheln und im
guͤnſtigen Fall ihn laſſen wie er iſt.
19*[292]
In der Poeſie iſt nur das wahrhaft Große und Reine
foͤrderlich, was wiederum wie eine zweyte Natur daſteht,
und uns entweder zu ſich heraufhebt, oder uns ver¬
ſchmaͤht. Eine mangelhafte Poeſie hingegen entwickelt
unſere Fehler, indem wir die anſteckenden Schwaͤchen
des Poeten in uns aufnehmen. Und zwar in uns auf¬
nehmen, ohne es zu wiſſen, weil wir das unſerer Na¬
tur Zuſagende nicht fuͤr mangelhaft erkennen.
Um aber in der Poeſie aus Gutem wie aus Schlech¬
tem einigen Vortheil zu ziehen, muͤßte man bereits auf
einer ſehr hohen Stufe ſtehen, und ein ſolches Funda¬
ment beſitzen, um dergleichen Dinge als außer uns lie¬
gende Gegenſtaͤnde zu betrachten.
Deßhalb lobe ich mir den Verkehr mit der Natur,
die unſere Schwaͤchen auf keine Weiſe beguͤnſtigt, und
die entweder etwas aus uns macht, oder uͤberall nichts
mit uns zu thun hat.
Ich beſchaͤftige mich den ganzen Tag mit dem Ma¬
nuſcript des vierten Bandes von Goethe's Leben, das
er mir geſtern zuſandte, um zu pruͤfen was daran etwa
noch zu thun ſeyn moͤchte. Ich bin gluͤcklich uͤber die¬
ſes Werk, indem ich bedenke was es ſchon iſt und was
[293] es noch werden kann. Einige Buͤcher erſcheinen ganz
vollendet und laſſen nichts Weiteres wuͤnſchen. An an¬
dern dagegen iſt noch ein gewiſſer Mangel an Congruenz
wahrzunehmen, welches daher entſtanden ſeyn mag,
daß zu ſehr verſchiedenen Epochen daran iſt gearbeitet
worden.
Dieſer ganze vierte Band iſt ſehr verſchieden von
den drey fruͤheren. Jene ſind durchaus fortſchreitend in
einer gewiſſen gegebenen Richtung, ſo daß denn auch
der Weg durch viele Jahre geht. Bey dieſem dagegen
ſcheint die Zeit kaum zu ruͤcken, auch ſieht man kein
entſchiedenes Beſtreben der Hauptperſon. Manches wird
unternommen, aber nicht vollendet, manches gewollt,
aber anders geleitet, und ſo empfindet man uͤberall eine
heimlich einwirkende Gewalt, eine Art von Schickſal,
das mannigfaltige Faͤden zu einem Gewebe aufzieht,
das erſt kuͤnftige Jahre vollenden ſollen.
Es war daher in dieſem Bande am Ort, von jener
geheimen problematiſchen Gewalt zu reden, die Alle em¬
pfinden, die kein Philoſoph erklaͤrt, und uͤber die der
Religioͤſe ſich mit einem troͤſtlichen Worte hinaushilft.
Goethe nennet dieſes unausſprechliche Welt- und Le¬
bens-Raͤthſel das Daͤmoniſche, und indem er ſein
Weſen bezeichnet, fuͤhlen wir daß es ſo iſt, und es
kommt uns vor, als wuͤrden vor gewiſſen Hintergruͤn¬
den unſers Lebens die Vorhaͤnge weggezogen. Wir glau¬
ben weiter und deutlicher zu ſehen, werden aber bald
[294] gewahr, daß der Gegenſtand zu groß und mannigfaltig
iſt, und daß unſere Augen nur bis zu einer gewiſſen
Grenze reichen.
Der Menſch iſt uͤberall nur fuͤr das Kleine geboren,
und er begreift nur und hat nur Freude an dem was
ihm bekannt iſt. Ein großer Kenner begreift ein Ge¬
maͤlde, er weiß das verſchiedene Einzelne dem ihm be¬
kannten Allgemeinen zu verknuͤpfen, und das Ganze
wie das Einzelne iſt ihm lebendig. Er hat auch keine
Vorliebe fuͤr gewiſſe einzelne Theile, er fragt nicht ob
ein Geſicht garſtig oder ſchoͤn, ob eine Stelle hell oder
dunkel, ſondern er fragt ob Alles an ſeinem Ort ſtehe
und geſetzlich und recht ſey. Fuͤhren wir aber einen
Unkundigen vor ein Gemaͤlde von einigem Umfang, ſo
werden wir ſehen, wie ihn das Ganze unberuͤhrt laͤſſet
oder verwirret, wie einzelne Theile ihn anziehen, andere
ihn abſtoßen, und wie er am Ende bey ihm bekannten
ganz kleinen Dingen ſtehen bleibt, indem er etwa lobt,
wie doch dieſer Helm und dieſe Feder ſo gut gemacht ſey.
Im Grunde aber ſpielen wir Menſchen vor dem
großen Schickſalsgemaͤlde der Welt mehr oder weniger
alle die Rolle dieſes Unkundigen. Die Lichtpartien, das
Anmuthige zieht uns an, die ſchattigen und widerwaͤr¬
tigen Stellen ſtoßen uns zuruͤck, das Ganze verwirrt
uns und wir ſuchen vergebens nach der Idee eines ein¬
zigen Weſens, dem wir ſo Widerſprechendes zuſchreiben.
Nun kann wohl einer in menſchlichen Dingen ein
[295] großer Kenner werden, indem es denkbar iſt, daß er
ſich die Kunſt und das Wiſſen eines Meiſters vollkom¬
men aneigne, allein in goͤttlichen Dingen koͤnnte es nur
ein Weſen, das dem Hoͤchſten ſelber gleich waͤre. Ja
und wenn nun dieſes uns ſolche Geheimniſſe uͤberliefern
und offenbaren wollte, ſo wuͤrden wir ſie nicht zu faſſen
und nichts damit anzufangen wiſſen, und wir wuͤrden
wiederum jenem Unkundigen vor dem Gemaͤlde gleichen,
dem der Kenner ſeine Praͤmiſſen, nach denen er urtheilt,
durch alles Einreden nicht mitzutheilen im Stande waͤre.
In dieſer Hinſicht iſt es denn ſchon ganz recht, daß
alle Religionen nicht unmittelbar von Gott ſelber gege¬
ben worden, ſondern daß ſie, als das Werk vorzuͤgli¬
cher Menſchen, fuͤr das Beduͤrfniß und die Faßlichkeit
einer großen Maſſe ihres Gleichen berechnet ſind.
Waͤren ſie ein Werk Gottes, ſo wuͤrde ſie niemand
begreifen; da ſie aber ein Werk der Menſchen ſind, ſo
ſprechen ſie das Unerforſchliche nicht aus.
Die Religion der hochgebildeten alten Griechen kam
nicht weiter, als daß ſie einzelne Äußerungen des Un¬
erforſchlichen durch beſondere Gottheiten verſinnlichte.
Da aber ſolche Einzelnheiten beſchraͤnkte Weſen waren,
und im Ganzen des Zuſammenhangs eine Luͤcke blieb,
ſo erfanden ſie die Idee des Fatums, das ſie uͤber Alle
ſetzten, wodurch denn, da dieſes wiederum ein vielſeitig
Unerforſchliches blieb, die Angelegenheit mehr abgethan
als abgeſchloſſen wurde.
[296]
Chriſtus dachte einen alleinigen Gott, dem er alle
die Eigenſchaften beylegte, die er in ſich ſelbſt als Voll¬
kommenheiten empfand. Er ward das Weſen ſeines
eigenen ſchoͤnen Innern, voll Guͤte und Liebe wie er
ſelber, und ganz geeignet, daß gute Menſchen ſich ihm
vertrauensvoll hingeben und dieſe Idee, als die ſuͤßeſte
Verknuͤpfung nach oben, in ſich aufnehmen.
Da nun aber das große Weſen, welches wir die
Gottheit nennen, ſich nicht bloß im Menſchen, ſondern
auch in einer reichen gewaltigen Natur, und in maͤchti¬
gen Weltbegebenheiten ausſpricht, ſo kann auch natuͤr¬
lich eine nach menſchlichen Eigenſchaften von ihm gebil¬
dete Vorſtellung nicht ausreichen, und der Aufmerkende
wird bald auf Unzulaͤnglichkeiten und Widerſpruͤche ſto¬
ßen, die ihn in Zweifel, ja in Verzweiflung bringen,
wenn er nicht entweder klein genug iſt, ſich durch eine
kuͤnſtliche Ausrede beſchwichtigen zu laſſen, oder groß
genug, ſich auf den Standpunct einer hoͤheren Anſicht
zu erheben.
Einen ſolchen Standpunct fand Goethe fruͤh in
Spinoza, und er erkennet mit Freuden, wie ſehr die
Anſichten dieſes großen Denkers den Beduͤrfniſſen ſeiner
Jugend gemaͤß geweſen. Er fand in ihm ſich ſelber,
und ſo konnte er ſich auch an ihm auf das Schoͤnſte
befeſtigen.
Und da nun ſolche Anſichten nicht ſubjectiver Art
waren, ſondern in den Werken und Äußerungen Gottes
[297] durch die Welt ein Fundament hatten, ſo waren es nicht
Schalen, die er bey ſeiner eigenen ſpaͤtern tiefen Welt-
und Naturforſchung als unbrauchbar abzuwerfen in den
Fall kam, ſondern es war das anfaͤngliche Keimen und
Wurzeln einer Pflanze, die durch viele Jahre in gleich
geſunder Richtung fortwuchs, und ſich zuletzt zu der
Bluͤthe einer reichen Erkenntniß entfaltete.
Widerſacher haben ihn oft beſchuldigt, er habe keinen
Glauben. Er hatte aber bloß den ihrigen nicht, weil
er ihm zu klein war. Wollte er den ſeinigen ausſpre¬
chen, ſo wuͤrden ſie erſtaunen, aber ſie wuͤrden nicht
faͤhig ſeyn ihn zu faſſen.
Goethe ſelbſt aber iſt weit entfernt zu glauben, daß
er das hoͤchſte Weſen erkenne wie es iſt. Alle ſeine
ſchriftlichen und muͤndlichen Äußerungen gehen darauf
hin, daß es ein Unerforſchliches ſey, wovon der Menſch
nur annaͤhernde Spuren und Ahndungen habe.
Übrigens iſt die Natur und ſind wir Menſchen alle
vom Goͤttlichen ſo durchdrungen, daß es uns haͤlt, daß
wir darin leben, weben und ſind, daß wir nach ewigen
Geſetzen leiden und uns freuen, daß wir ſie ausuͤben
und daß ſie an uns ausgeuͤbt werden, gleichviel ob wir
ſie erkennen oder nicht.
Schmeckt doch dem Kinde der Kuchen, ohne daß es
vom Baͤcker weiß, und dem Sperling die Kirſche, ohne
daß er daran denkt wie ſie gewachſen iſt.
[298]
Heute bey Goethe zu Tiſch, kam das Geſpraͤch bald
wieder auf das Daͤmoniſche, und er fuͤgte zu deſſen naͤ¬
heren Bezeichnung noch Folgendes hinzu.
„Das Daͤmoniſche, ſagte er, iſt dasjenige, was
durch Verſtand und Vernunft nicht aufzuloͤſen iſt. In
meiner Natur liegt es nicht, aber ich bin ihm unter¬
worfen.“
Napoleon, ſagte ich, ſcheint daͤmoniſcher Art ge¬
weſen zu ſeyn. „Er war es durchaus, ſagte Goethe,
im hoͤchſten Grade, ſo daß kaum ein Anderer ihm zu
vergleichen iſt. Auch der verſtorbene Großherzog
war eine daͤmoniſche Natur, voll unbegrenzter Thatkraft
und Unruhe, ſo daß ſein eigenes Reich ihm zu klein
war, und das groͤßte ihm zu klein geweſen waͤre. Daͤ¬
moniſche Weſen ſolcher Art rechneten die Griechen unter
die Halbgoͤtter.“
Erſcheint nicht auch, ſagte ich, das Daͤmoniſche in
den Begebenheiten? „Ganz beſonders, ſagte Goethe,
und zwar in allen, die wir durch Verſtand und Ver¬
nunft nicht aufzuloͤſen vermoͤgen. Überhaupt mani¬
feſtirt es ſich auf die verſchiedenſte Weiſe in der gan¬
zen Natur, in der unſichtbaren wie in der ſichtbaren.
Manche Geſchoͤpfe ſind ganz daͤmoniſcher Art, in man¬
chen ſind Theile von ihm wirkſam.“
Hat nicht auch, ſagte ich, der Mephiſtopheles daͤ¬
moniſche Zuͤge? — „Nein, ſagte Goethe; der Mephi¬
[299] ſtopheles iſt ein viel zu negatives Weſen; das Daͤmo¬
niſche aber aͤußert ſich in einer durchaus poſitiven That¬
kraft.“
„Unter den Kuͤnſtlern, fuhr Goethe fort, findet es
ſich mehr bey Muſikern, weniger bey Malern. Bey
Paganini zeigt es ſich im hohen Grade, wodurch er
denn auch ſo große Wirkungen hervorbringt.“
Ich war ſehr erfreut uͤber alle dieſe Bezeichnungen,
wodurch es mir nun deutlicher wurde, was Goethe ſich
unter dem Begriff des Daͤmoniſchen dachte.
Wir reden ſodann viel uͤber den vierten Band,
und Goethe bittet mich aufzuzeichnen, was noch daran
moͤchte zu thun ſeyn.
Mittags mit Goethe. Er ſah einige architectoniſche
Hefte durch, und meinte, es gehoͤre einiger Übermuth
dazu, Palaͤſte zu bauen, indem man nie ſicher ſey, wie
lange ein Stein auf dem andern bleiben wuͤrde. „Wer
in Zelten leben kann, ſagte er, ſteht ſich am beſten.
Oder wie gewiſſe Englaͤnder thun, die von einer Stadt
und einem Wirthshaus ins andere ziehen und uͤberall
eine huͤbſche Tafel gedeckt finden.“
[300]
Mit Goethe zu Tiſch in mancherley Unterhaltungen.
Wir reden auch von Kindern und deren Unarten, und
er vergleicht ſie den Stengelblaͤttern einer Pflanze, die
nach und nach von ſelber abfallen, und wobey man es
nicht ſo genau und ſo ſtrenge zu nehmen brauche.
„Der Menſch, ſagte er, hat verſchiedene Stufen,
die er durchlaufen muß, und jede Stufe fuͤhrt ihre be¬
ſonderen Tugenden und Fehler mit ſich, die in der
Epoche, wo ſie kommen, durchaus als naturgemaͤß zu
betrachten und gewiſſermaßen recht ſind. Auf der fol¬
genden Stufe iſt er wieder ein Anderer, von den fruͤhe¬
ren Tugenden und Fehlern iſt keine Spur mehr, aber
andere Arten und Unarten ſind an deren Stelle getre¬
ten. Und ſo geht es fort, bis zu der letzten Verwand¬
lung, von der wir noch nicht wiſſen wie wir ſeyn
werden.“
Zum Nachtiſch las Goethe mir ſodann einige ſeit
1775 ſich erhaltene Fragmente von Hanswurſts Hoch¬
zeit. Kilian Bruſtfleck eroͤffnet das Stuͤck mit einem
Monolog, worin er ſich beklagt, daß ihm Hanswurſts
Erziehung, trotz aller Muͤhe, ſo ſchlecht gegluͤckt ſey.
Die Scene, ſo wie alles Übrige, war ganz im Tone
des Fauſt geſchrieben. Eine gewaltige productive Kraft
bis zum Übermuth ſprach ſich in jeder Zeile aus, und
ich bedauerte bloß, daß es ſo uͤber alle Grenzen hinaus¬
[301] gehe, daß ſelbſt die Fragmente ſich nicht mittheilen laſ¬
ſen. Goethe las mir darauf den Zettel der im Stuͤck
ſpielenden Perſonen, die faſt drey Seiten fuͤllten und
ſich gegen hundert belaufen mochten. Es waren alle
erdenklichen Schimpfnamen, mitunter von der derbſten
luſtigſten Sorte, ſo daß man nicht aus dem Lachen
kam. Manche gingen auf koͤrperliche Fehler, und zeich¬
neten eine Figur dermaßen, daß ſie lebendig vor die
Augen trat; andere deuteten auf die mannigfaltigſten
Unarten und Laſter, und ließen einen tiefen Blick in
die Breite der unſittlichen Welt vorausſetzen. Waͤre
das Stuͤck zu Stande gekommen, ſo haͤtte man die Er¬
findung bewundern muͤſſen, der es gegluͤckt, ſo mannig¬
faltige ſymboliſche Figuren in eine einzige lebendige
Handlung zu verknuͤpfen.
„Es war nicht zu denken, daß ich das Stuͤck haͤtte
fertig machen koͤnnen, ſagte Goethe, indem es einen Gipfel
von Muthwillen vorausſetzte, der mich wohl augen¬
blicklich anwandelte, aber im Grunde nicht in dem Ernſt
meiner Natur lag, und auf dem ich mich alſo nicht hal¬
ten konnte. Und dann ſind in Deutſchland unſere Kreiſe
zu beſchraͤnkt, als daß man mit ſo etwas haͤtte hervor¬
treten koͤnnen. Auf einem breiten Terrain, wie Paris,
mag dergleichen ſich herumtummeln, ſo wie man auch
dort wohl ein Béranger ſeyn kann, welches in Frank¬
furt oder Weimar gleichfalls nicht zu denken waͤre.“
[302]
Heute mit Goethe zu Tiſch erzaͤhlte er mir zunaͤchſt,
daß er den Ivanhoe leſe. „Walter Scott iſt ein
großes Talent, ſagte er, das nicht ſeines Gleichen hat,
und man darf ſich billig nicht verwundern, daß er
auf die ganze Leſewelt ſo außerordentliche Wirkungen
hervorbringt. Er giebt mir viel zu denken, und ich ent¬
decke in ihm eine ganz neue Kunſt, die ihre eigenen
Geſetze hat.“
Wir ſprachen ſodann uͤber den vierten Band der
Biographie, und waren im Hin- und Wiederreden uͤber
das Daͤmoniſche begriffen, ehe wir es uns verſahen.
„In der Poeſie, ſagte Goethe, iſt durchaus etwas
Daͤmoniſches, und zwar vorzuͤglich in der unbewußten,
bey der aller Verſtand und alle Vernunft zu kurz kommt,
und die daher auch ſo uͤber alle Begriffe wirkt.“
„Deßgleichen iſt es in der Muſik im hoͤchſten Grade,
denn ſie ſteht ſo hoch, daß kein Verſtand ihr beykommen
kann, und es geht von ihr eine Wirkung aus, die Alles
beherrſcht und von der niemand im Stande iſt, ſich
Rechenſchaft zu geben. Der religioͤſe Cultus kann ſie
daher auch nicht entbehren; ſie iſt eins der erſten Mittel,
um auf die Menſchen wunderbar zu wirken.“
„So wirft ſich auch das Daͤmoniſche gern in be¬
deutende Individuen, vorzuͤglich wenn ſie eine hohe Stel¬
lung haben, wie Friedrich und Peter der Große.“
[303]
„Beym verſtorbenen Großherzog war es in dem
Grade, daß niemand ihm widerſtehen konnte. Er uͤbte
auf die Menſchen eine Anziehung durch ſeine ruhige
Gegenwart, ohne daß er ſich eben guͤtig und freundlich
zu erweiſen brauchte. Alles, was ich auf ſeinen Rath
unternahm, gluͤckte mir, ſo daß ich in Faͤllen, wo mein
Verſtand und meine Vernunft nicht hinreichte, ihn nur
zu fragen brauchte was zu thun ſey, wo er es denn
inſtinktmaͤßig ausſprach, und ich immer im Voraus eines
guten Erfolgs gewiß ſeyn konnte.“
„Ihm waͤre zu goͤnnen geweſen, daß er ſich meiner
Ideen und hoͤheren Beſtrebungen haͤtte bemaͤchtigen koͤn¬
nen; denn wenn ihn der daͤmoniſche Geiſt verließ, und
nur das Menſchliche zuruͤckblieb, ſo wußte er mit ſich
nichts anzufangen und er war uͤbel daran.“
„Auch in Byron mag das Daͤmoniſche in hohem
Grade wirkſam geweſen ſeyn, weßhalb er auch die Attrac¬
tiva in großer Maße beſeſſen, ſo daß ihm denn beſon¬
ders die Frauen nicht haben widerſtehen koͤnnen.“
In die Idee vom Goͤttlichen, ſagte ich verſuchend,
ſcheint die wirkende Kraft, die wir das Daͤmoniſche nen¬
nen, nicht einzugehen.
„Liebes Kind, ſagte Goethe, was wiſſen wir denn
von der Idee des Goͤttlichen, und was wollen denn
unſere engen Begriffe vom hoͤchſten Weſen ſagen! Wollte
ich es, gleich einem Tuͤrken, mit hundert Namen nen¬
nen, ſo wuͤrde ich doch noch zu kurz kommen, und im
[304] Vergleich ſo grenzenloſer Eigenſchaften noch nichts ge¬
ſagt haben.“
Goethe fuhr heute fort, mit der hoͤchſten Anerken¬
nung uͤber Walter Scott zu reden.
„Man lieſ't viel zu viel geringe Sachen, ſagte er,
womit man die Zeit verdirbt und wovon man weiter
nichts hat. Man ſollte eigentlich immer nur das leſen
was man bewundert, wie ich in meiner Jugend that,
und wie ich es nun an Walter Scott erfahre. Ich
habe jetzt den Rob Roy angefangen, und will ſo ſeine
beſten Romane hinter einander durchleſen. Da iſt frey¬
lich Alles groß, Stoff, Gehalt, Charactere, Behandlung,
und dann der unendliche Fleiß in den Vorſtudien, ſo
wie in der Ausfuͤhrung die große Wahrheit des Details!
Man ſieht aber, was die engliſche Geſchichte iſt, und
was es ſagen will, wenn einem tuͤchtigen Poeten eine
ſolche Erbſchaft zu Theil wird. Unſere deutſche Geſchichte
in fuͤnf Baͤnden iſt dagegen eine wahre Armuth, ſo daß
man auch, nach dem Goͤtz von Berlichingen, ſo¬
gleich ins Privatleben ging, und eine Agnes Ber¬
nauerin und einen Otto von Wittelsbach ſchrieb,
womit freylich nicht viel gethan war.“
[305]
Ich erzaͤhlte, daß ich Daphnis und Chloe leſe
und zwar in der Überſetzung von Courier. „Das iſt
auch ein Meiſterſtuͤck, ſagte Goethe, das ich oft geleſen
und bewundert habe, worin Verſtand, Kunſt und Ge¬
ſchmack auf ihrem hoͤchſten Gipfel erſcheinen, und wo¬
gegen der gute Virgil freylich ein wenig zuruͤcktritt.
Das landſchaftliche Local iſt ganz im Pouſſiniſchen Styl,
und erſcheint hinter den Perſonen mit ſehr wenigen Zuͤ¬
gen vollendet.“
„Sie wiſſen, Courier hat in der Bibliothek zu Flo¬
renz eine neue Handſchrift gefunden, mit der Hauptſtelle
des Gedichts, welche die bisherigen Ausgaben nicht hat¬
ten. Nun muß ich bekennen, daß ich immer das Ge¬
dicht in ſeiner mangelhaften Geſtalt geleſen und bewun¬
dert habe, ohne zu fuͤhlen und zu bemerken, daß der
eigentliche Gipfel fehlte. Es mag aber dieſes fuͤr die
Vortrefflichkeit des Gedichts zeugen, indem das Gegen¬
waͤrtige uns ſo befriedigte, daß man an ein Abweſen¬
des gar nicht dachte.“
Nach Tiſch zeigte Goethe mir eine von Coudray
gezeichnete hoͤchſt geſchmackvolle Thuͤr des Dornburger
Schloſſes, mit einer lateiniſchen Inſchrift, ungefaͤhr da¬
hin lautend, daß der Einkehrende freundlich empfangen
und bewirthet werden ſolle, und man dem Vorbeyziehen¬
den die gluͤcklichſten Pfade wuͤnſche.
Goethe hatte dieſe Inſchrift in ein deutſches Diſti¬
chon verwandelt und als Motto uͤber einen Brief geſetzt,
II. 20[306] den er im Sommer 1828, nach dem Tode des Gro߬
herzogs, bey ſeinem Aufenthalte in Dornburg, an den
Oberſten von Beulwitz geſchrieben. Ich hatte von
dieſem Brief damals viel im Publicum reden hoͤren,
und es war mir nun ſehr lieb, daß Goethe mir ihn
heute mit jener gezeichneten Thuͤr vorlegte.
Ich las den Brief mit großem Intereſſe, und hatte
daran zu bewundern, wie er die Localitaͤt des Dorn¬
burger Schloſſes ſowohl, als das untere Terrain im
Thale benutzt um daran die groͤßten Anſichten zu knuͤpfen,
und zwar Anſichten ſolcher Art, um den Menſchen, nach
einem erlittenen großen Verluſt, durchaus wieder auf¬
zurichten und auf die friſcheſten Fuͤße zu ſtellen.
Ich war uͤber dieſen Brief ſehr gluͤcklich, indem ich
fuͤr mich bemerkte, daß man nach einem guten Stoff
nicht weit zu reiſen brauche, ſondern daß Alles auf einem
tuͤchtigen Gehalt im Innern des Dichters ankomme,
um aus den geringſten Anlaͤſſen etwas Bedeutendes zu
machen.
Goethe legte den Brief und die Zeichnung in eine
beſondere Mappe zuſammen, um Beydes fuͤr die Zu¬
kunft zu erhalten.
[307]
Ich las heute mit dem Prinzen Goethe's Novelle
vom Tiger und Loͤwen, woruͤber der Prinz ſehr gluͤck¬
lich war, indem er den Effect einer großen Kunſt em¬
pfand, und ich nicht weniger gluͤcklich, indem ich in das
geheime Gewebe einer vollendeten Compoſition deutlich
hineinſah. Ich empfand daran eine gewiſſe Allgegen¬
wart des Gedankens, welches daher entſtanden ſeyn mag,
daß der Dichter den Gegenſtand ſo viele Jahre in ſei¬
nem Innern hegte, und dadurch ſo ſehr Herr ſeines Stof¬
fes ward, daß er das Ganze wie das Einzelne in hoͤch¬
ſter Klarheit zugleich uͤberſehen, und jede einzelne Partie
geſchickt dahin ſtellen konnte, wo ſie fuͤr ſich nothwen¬
dig war und zugleich das Kommende vorbereitete und
darauf hinwirkte. Nun bezieht ſich alles vorwaͤrts und
ruͤckwaͤrts und iſt zugleich an ſeiner Stelle recht, ſo daß
man als Compoſition ſich nicht leicht etwas Vollkom¬
meneres denken kann. Indem wir weiter laſen empfand
ich den lebhaften Wunſch, daß Goethe ſelbſt dieſes Ju¬
wel einer Novelle als ein fremdes Werk moͤchte betrach¬
ten koͤnnen. Zugleich bedachte ich, daß der Umfang des
Gegenſtandes grade ein ſehr guͤnſtiges Maß habe, ſowohl
fuͤr den Poeten um Alles klug durcheinander zu verar¬
beiten, als fuͤr den Leſer um dem Ganzen wie dem
Einzelnen mit einiger Vernunft wieder beyzukommen.
20*[308]
Mit Goethe zu Tiſch in mannigfaltigen Geſpraͤchen.
„Bey Walter Scott, ſagte er, iſt es eigen, daß
eben ſein großes Verdienſt in Darſtellung des Details
ihn oft zu Fehlern verleitet. So kommt im Ivanhoe
eine Scene vor, wo man Nachts in der Halle eines
Schloſſes zu Tiſche ſitzt, und ein Fremder hereintritt.
Nun iſt es zwar recht, daß er den Fremden von oben
herab beſchrieben hat, wie er ausſieht und wie er geklei¬
det iſt, allein es iſt ein Fehler, daß er auch ſeine Fuͤße,
ſeine Schuhe und Struͤmpfe beſchreibt. Wenn man
Abends am Tiſche ſitzt und jemand hereintritt, ſo ſieht
man nur ſeinen obern Koͤrper. Beſchreibe ich aber die
Fuͤße, ſo tritt ſogleich das Licht des Tages herein, und
die Scene verliert ihren naͤchtlichen Character.“
Ich fuͤhlte das Überzeugende ſolcher Worte, und
merkte ſie mir fuͤr kuͤnftige Faͤlle.
Goethe fuhr ſodann fort, mit großer Bewunderung
uͤber Walter Scott zu reden. Ich erſuchte ihn ſeine
Anſichten zu Papiere zu bringen, welches er jedoch mit
dem Bemerken ablehnte, daß die Kunſt in jenem Schrift¬
ſteller ſo hoch ſtehe, daß es ſchwer ſey, ſich daruͤber
oͤffentlich mitzutheilen.
[309]
Mit Goethe zu Tiſch, mit dem ich mancherley berede.
Ich muß ihm von der Stummen von Portici er¬
zaͤhlen, die vorgeſtern gegeben worden, und es kommt
zur Sprache, daß darin eigentlich gegruͤndete Motive zu
einer Revolution gar nicht zur Anſchauung gebracht
worden, welches jedoch den Leuten gefalle, indem nun
jeder in die leergelaſſene Stelle das hineintrage, was
ihm ſelber in ſeiner Stadt und ſeinem Lande nicht be¬
hagen mag. „Die ganze Oper, ſagte Goethe, iſt im
Grunde eine Satyre auf das Volk, denn wenn es den
Liebeshandel eines Fiſchermaͤdchens zur oͤffentlichen An¬
gelegenheit macht, und den Fuͤrſten einen Tyrannen
nennt, weil er eine Fuͤrſtin heirathet, ſo erſcheint es
doch wohl ſo abſurd und ſo laͤcherlich wie moͤglich.“
Zum Nachtiſch zeigte Goethe mir Zeichnungen nach
Berliner Redensarten, worunter die heiterſten Dinge
vorkommen, und woran die Maͤßigkeit des Kuͤnſtlers
gelobt wurde, der an die Caricatur nur heran-, aber
nicht wirklich hineingegangen.
Ich beſchaͤftige mich den ganzen Morgen mit dem
Manuſcript des vierten Bandes von Wahrheit und
[310] Dichtung, und ſchreibe daruͤber folgende Notiz an
Goethe.
Das zweyte, vierte und fuͤnfte Buch ſind als voll¬
endet anzuſehen, bis auf einige Kleinigkeiten, die
bey einer letzten Durchſicht ſehr leicht werden abzu¬
thun ſeyn.
Über das erſte und dritte Buch folgen hier einige
Bemerkungen.
Erſtes Buch.
Die Erzaͤhlung von Jungs verungluͤckter Augen¬
kur iſt von ſo ernſter Bedeutung, daß es die Menſchen
auf innere tiefe Betrachtungen fuͤhrt, und daß, wenn
in Geſellſchaft erzaͤhlt, darauf ſicherlich eine Pauſe im
Geſpraͤch entſtehen wuͤrde. Ich rathe daher, das erſte
Buch damit zu ſchließen, damit auch auf ſolche Weiſe
eine Art von Pauſe eintrete.
Die artigen Anekdoten vom Feuer in der Juden¬
gaſſe und Schlittſchuhlaufen im rothen Sammetpelz der
Mutter, die jetzt am Ende des erſten Buches liegen
und da nicht an paſſender Stelle ſind, wuͤrden ſehr
ſchicklich dort zu verknuͤpfen ſeyn, wo von dem bewußt¬
loſen ganz unvorbedachten poetiſchen Produciren die
Rede iſt. Denn jene Faͤlle deuten auf einen aͤhnlichen
gluͤcklichen Zuſtand des Gemuͤths, das auch handelnd
ſich nicht lange fragt und beſinnt was zu thun ſey, ſon¬
dern ſchon gethan hat ehe noch der Gedanke kommt.
Drittes Buch.
Dieſes wuͤrde nach der Verabredung dasjenige auf¬
nehmen, was uͤber den aͤußeren politiſchen Zuſtand von
1775, ſo wie uͤber den inneren von Deutſchland, die
Bildung des Adels u. ſ. w. noch zu dictiren ſeyn
moͤchte.
Was uͤber Hanswurſts Hochzeit, ſo wie uͤber an¬
dere zu Stande gekommene und nicht zu Stande gekom¬
mene poetiſche Unternehmungen zu ſagen waͤre, koͤnnte,
im Fall es ſich in dem bereits ſehr ſtarken vierten
Buche nicht beſſer anſchloͤſſe, oder vielleicht gar dort den
ſehr gut verknuͤpften Zuſammenhang unterbraͤche, ſich
gleichfalls dieſem dritten Buche anfuͤgen.
Ich habe alle Schemata und Fragmente zu dieſem
Zweck im dritten Buche zuſammengelegt, und wuͤnſche
nun Gluͤck und Neigung, auch dieſes noch Fehlende mit
friſchem Geiſt und gewohnter Anmuth zu dictiren.
E.
Mittags zu Tiſch mit dem Prinzen und Herrn
Soret. Wir reden viel uͤber Courier und ſodann
uͤber den Schluß von Goethe's Novelle, wobey ich die
Bemerkung mache, daß Gehalt und Kunſt darin viel
zu hoch ſtehen, als daß die Menſchen wuͤßten was ſie
[312] damit anzufangen haben. Man will immer wieder hoͤ¬
ren und wieder ſehen, was man ſchon einmal gehoͤrt
und geſehen hat; und wie man gewohnt iſt, die Blume
Poeſie in durchaus poetiſchen Gefilden anzutreffen, ſo
iſt man in dieſem Falle erſtaunt, ſie aus einem durch¬
aus realen Boden hervorwachſen zu ſehen. In der poe¬
tiſchen Region laͤßt man ſich alles gefallen, und iſt kein
Wunder zu unerhoͤrt, als daß man es nicht glauben
moͤchte; hier aber, in dieſem hellen Lichte des wirklichen
Tages, macht uns das Geringſte ſtutzen, was nur ein
Weniges vom gewoͤhnlichen Gange der Dinge abweicht;
und von tauſend Wundern umgeben, an die wir gewohnt
ſind, iſt uns ein einziges unbequem, das uns bis jetzt
neu war. Auch faͤllt es dem Menſchen durchaus nicht
ſchwer, an Wunder einer fruͤheren Zeit zu glauben;
allein einem Wunder, das heute geſchieht, eine Art von
Realitaͤt zu geben, und es, neben dem ſichtbar Wirkli¬
chen, als eine hoͤhere Wirklichkeit zu verehren, dieſes
ſcheint nicht mehr im Menſchen zu liegen, oder wenn
es in ihm liegt, durch Erziehung ausgetrieben zu wer¬
den. Unſer Jahrhundert wird daher auch immer proſai¬
ſcher werden, und es wird, mit der Abnahme des Ver¬
kehrs und Glaubens an das Überſinnliche, alle Poeſie
auch immer mehr verſchwinden.
Zu dem Schluß von Goethe's Novelle wird im
Grunde weiter nichts verlangt, als die Empfindung,
daß der Menſch von hoͤheren Weſen nicht ganz ver¬
[313] laſſen ſey, daß ſie ihn vielmehr im Auge haben, an
ihm Theil nehmen, und in der Noth ihm helfend zur
Seite ſind.
Dieſer Glaube iſt etwas ſo Natuͤrliches, daß er zum
Menſchen gehoͤrt, daß er einen Beſtandtheil ſeines We¬
ſens ausmacht, und, als das Fundament aller Religion,
allen Voͤlkern angeboren iſt. In den erſten menſchlichen
Anfaͤngen zeigt er ſich ſtark; er weicht aber auch der
hoͤchſten Cultur nicht, ſo daß wir ihn unter den Grie¬
chen noch groß in Plato ſehen, und zuletzt noch eben
ſo glaͤnzend in dem Verfaſſer von Daphnis und
Chloe. In dieſem liebenswuͤrdigen Gedicht waltet das
Goͤttliche unter der Form von Pan und den Nymphen,
die an frommen Hirten und Liebenden Theil nehmen,
welche ſie am Tage ſchuͤtzen und retten, und denen ſie
Nachts im Traum erſcheinen und ihnen ſagen was zu
thun ſey. In Goethe's Novelle iſt dieſes behuͤtende
Unſichtbare unter der Form des Ewigen und der Engel
gedacht, die einſt in der Grube, unter grimmigen Loͤ¬
wen, den Propheten bewahrten, und die hier, in der
Naͤhe eines aͤhnlichen Ungeheuers, ein gutes Kind ſchuͤtzend
umgeben. Der Loͤwe zerreißt den Knaben nicht, er zeigt
ſich vielmehr ſanft und willig; denn die in alle Ewig¬
keit fort thaͤtigen hoͤheren Weſen ſind vermittelnd im
Spiele.
Damit aber dieſes einem unglaͤubigen neunzehnten
Jahrhundert nicht zu wunderbar erſcheine, ſo benutzt der
[314] Dichter noch ein zweytes maͤchtiges Motiv, naͤmlich das
der Muſik, deren magiſche Gewalt die Menſchen von
den aͤlteſten Zeiten her empfunden haben, und von der
auch wir uns noch taͤglich beherrſchen laſſen, ohne zu
wiſſen wie uns geſchieht.
Und wie nun Orpheus durch eine ſolche Magie alle
Thiere des Waldes zu ſich heranzog, und in dem letz¬
ten griechiſchen Dichter ein junger Hirt mit ſeiner Floͤte
die Ziegen leitet, ſo daß ſie auf verſchiedene Melodien
ſich zerſtreuen und verſammeln, vor dem Feind fliehen
und ruhig hinweiden, ſo uͤbt auch in Goethe's Novelle
die Muſik auf den Loͤwen ihre Macht aus, indem das
gewaltige Thier den Melodien der ſuͤßen Floͤte nachgeht,
und uͤberall folget, wohin die Unſchuld des Knaben ihn
leiten will.
Indem ich nun uͤber ſo unerklaͤrliche Dinge mit ver¬
ſchiedenen Leuten geſprochen, habe ich die Bemerkung
gemacht, daß der Menſch von ſeinen trefflichen Vorzuͤ¬
gen ſo ſehr eingenommen iſt, daß er ſie den Goͤttern
beyzulegen gar kein Bedenken traͤgt, allein den Thieren
daran einen Antheil zu vergoͤnnen ſich nicht gerne ent¬
ſchließen mag.
[315]
Mit Goethe zu Tiſch, dem ich das Manuſcript vom
vierten Band ſeines Lebens zuruͤckbringe und daruͤber
mancherley Geſpraͤche habe.
Wir reden auch uͤber den Schluß des Tell und ich
gebe mein Verwundern zu erkennen, wie Schiller den
Fehler habe machen koͤnnen, ſeinen Helden durch das
unedle Benehmen gegen den fluͤchtigen Herzog von
Schwaben ſo herabſinken zu laſſen, indem er uͤber die¬
ſen ein hartes Gericht haͤlt, waͤhrend er ſich ſelbſt mit
ſeiner eigenen That bruͤſtet.
„Es iſt kaum begreiflich, ſagte Goethe, allein Schiller
war dem Einfluß von Frauen unterworfen wie Andere
auch; und wenn er in dieſem Fall ſo fehlen konnte, ſo
geſchah es mehr aus ſolchen Einwirkungen, als aus ſei¬
ner eigenen guten Natur.“
Mit Goethe zu Tiſch. Ich bringe ihm Daphnis
und Chloe, welches er einmal wieder zu leſen wuͤnſcht.
Wir reden uͤber hoͤhere Maximen, und ob es gut
und ob es moͤglich ſey, ſie anderen Menſchen zu uͤber¬
liefern. „Die Anlage, das Hoͤhere aufzunehmen, ſagte
[316] Goethe, iſt ſehr ſelten, und man thut daher im gewoͤhn¬
lichen Leben immer wohl, ſolche Dinge fuͤr ſich zu be¬
halten, und davon nur ſo viel hervorzukehren, als noͤthig
iſt, um gegen die Andern in einiger Avantage zu ſeyn.“
Wir beruͤhren ſodann den Punct, daß viele Men¬
ſchen, beſonders Critiker und Poeten, das eigentlich
Große ganz ignoriren, und dagegen auf das Mittlere
einen außerordentlichen Werth legen.
„Der Menſch, ſagte Goethe, erkennet nur das an
und preiſet nur das, was er ſelber zu machen faͤhig iſt;
und da nun gewiſſe Leute in dem Mittleren ihre eigent¬
liche Exiſtenz haben, ſo gebrauchen ſie den Pfiff, daß
ſie das wirklich Tadelnswuͤrdige in der Literatur, was
jedoch immer einiges Gute haben mag, durchaus ſchel¬
ten und ganz tief herabſetzen, damit das Mittlere, was
ſie anpreiſen, auf einer deſto groͤßeren Hoͤhe erſcheine.“
Ich merkte mir dieſes, damit ich wiſſen moͤchte, was
ich von dergleichen Verfahren kuͤnftig zu denken.
Wir ſprachen ſodann von der Farbenlehre, und
daß gewiſſe deutſche Profeſſoren noch immer fortfahren,
ihre Schuͤler davor, als vor einem großen Irrthum, zu
warnen.
„Es thut mir nur um manchen guten Schuͤler leid,
ſagte Goethe; mir ſelbſt aber kann es voͤllig einerley
ſeyn, denn meine Farbenlehre iſt ſo alt wie die Welt,
und wird auf die Laͤnge nicht zu verlaͤugnen und bey
Seite zu bringen ſeyn.“
[317]
Goethe erzaͤhlte mir ſodann, daß er mit ſeiner neuen
Ausgabe der Metamorphoſe der Pflanzen und
Sorets immer beſſer gelingenden Überſetzung gut fort¬
ſchreite. „Es wird ein merkwuͤrdiges Buch werden,
ſagte er, indem darin die verſchiedenſten Elemente zu
einem Ganzen verarbeitet werden. Ich laſſe darin einige
Stellen von bedeutenden jungen Naturforſchern eintre¬
ten, wobey es erfreulich iſt zu ſehen, daß ſich jetzt in
Deutſchland unter den Beſſeren ein ſo guter Styl ge¬
bildet hat, daß man nicht mehr weiß ob der eine redet
oder der andere. Das Buch macht mir indeß mehr
Muͤhe als ich dachte; auch bin ich anfangs faſt wider
Willen in das Unternehmen hereingezogen, allein es
herrſchte dabey etwas Daͤmoniſches ob, dem nicht zu
widerſtehen war.
Sie haben wohl gethan, ſagte ich, ſolchen Einwir¬
kungen nachzugeben, denn das Daͤmoniſche ſcheint ſo
maͤchtiger Natur zu ſeyn, daß es am Ende doch Recht
behaͤlt.
„Nur muß der Menſch, verſetzte Goethe, auch wie¬
derum gegen das Daͤmoniſche Recht zu behalten ſuchen,
und ich muß in gegenwaͤrtigem Fall dahin trachten,
durch allen Fleiß und Muͤhe meine Arbeit ſo gut zu
machen, als in meinen Kraͤften ſteht und die Umſtaͤnde
es mir anbieten. Es iſt in ſolchen Dingen wie mit
dem Spiel, was die Franzoſen Codille nennen, wobey
zwar die geworfenen Wuͤrfel viel entſcheiden, allein wo
[318] es der Klugheit des Spielenden uͤberlaſſen bleibt, nun
auch die Steine im Bret geſchickt zu ſetzen.“
Ich verehrte dieſes gute Wort und nahm es als eine
treffliche Lehre an mein Herz, um danach zu handeln.
Goethe erzaͤhlte mir bey Tiſch, daß er in dieſen Ta¬
gen Daphnis und Chloe geleſen.
„Das Gedicht iſt ſo ſchoͤn, ſagte er, daß man den
Eindruck davon, bey den ſchlechten Zuſtaͤnden in denen
man lebt, nicht in ſich behalten kann, und daß man
immer von neuem erſtaunt, wenn man es wieder lieſ't.
Es iſt darin der helleſte Tag, und man glaubt lauter
herculaniſche Bilder zu ſehen, ſo wie auch dieſe Gemaͤlde
auf das Buch zuruͤckwirken und unſerer Phantaſie beym
Leſen zu Huͤlfe kommen.“
Mir hat, ſagte ich, eine gewiſſe Abgeſchloſſenheit
ſehr wohl gethan, worin alles gehalten iſt. Es kommt
kaum eine fremde Anſpielung vor, die uns aus dem
gluͤcklichen Kreiſe herausfuͤhrte. Von Gottheiten ſind
bloß Pan und die Nymphen wirkſam, eine andere wird
kaum genannt, und man ſieht auch, daß das Beduͤrfniß
der Hirten an dieſen Gottheiten genug hat.
„Und doch, bey aller maͤßigen Abgeſchloſſenheit, ſagte
[319] Goethe, iſt darin eine vollſtaͤndige Welt entwickelt. Wir
ſehen Hirten aller Art, Feldbautreibende, Gaͤrtner, Win¬
zer, Schiffer, Raͤuber, Krieger und vornehme Staͤdter,
große Herren und Leibeigene.“
Auch erblicken wir darin, ſagte ich, den Menſchen
auf allen ſeinen Lebensſtufen, von der Geburt herauf
bis ins Alter; auch alle haͤuslichen Zuſtaͤnde, wie die
wechſelnden Jahreszeiten ſie mit ſich fuͤhren, gehen an
unſeren Augen voruͤber.
„Und nun die Landſchaft! ſagte Goethe, die mit
wenigen Strichen ſo entſchieden gezeichnet iſt, daß wir
in der Hoͤhe hinter den Perſonen Weinberge, Äcker und
Obſtgaͤrten ſehen, unten die Weideplaͤtze mit dem Fluß
und ein wenig Waldung, ſo wie das ausgedehnte Meer
in der Ferne. Und keine Spur von truͤben Tagen, von
Nebel, Wolken und Feuchtigkeit, ſondern immer der
blaueſte reinſte Himmel, die anmuthigſte Luft und ein
beſtaͤndig trockener Boden, ſo daß man ſich uͤberall
nackend hinlegen moͤchte.“
„Das ganze Gedicht, fuhr Goethe fort, verraͤth die
hoͤchſte Kunſt und Cultur. Es iſt ſo durchdacht, daß
darin kein Motiv fehlt, und alle von der gruͤndlichſten
beſten Art ſind, wie z. B. das von dem Schatz bey
dem ſtinkenden Delphin am Meeresufer. Und ein Ge¬
ſchmack und eine Vollkommenheit und Delicateſſe der
Empfindung, die ſich dem Beſten gleichſtellt das je ge¬
macht worden. Alles Widerwaͤrtige, was von Außen
[320] in die gluͤcklichen Zuſtaͤnde des Gedichts ſtoͤrend herein¬
tritt, wie Überfall, Raub und Krieg, iſt immer auf
das Schnelleſte abgethan, und hinterlaͤßt kaum eine
Spur. Sodann das Laſter erſcheint im Gefolg der
Staͤdter, und zwar auch dort nicht in den Hauptperſo¬
nen, ſondern in einer Nebenfigur, in einem Untergebe¬
nen. Das iſt alles von der erſten Schoͤnheit.“
Und dann, ſagte ich, hat mir ſo wohl gefallen, wie
das Verhaͤltniß der Herren und Diener ſich ausſpricht.
In erſteren die humanſte Behandlung, und in letzteren,
bey aller naiven Freyheit, doch der große Reſpect und
das Beſtreben, ſich bey dem Herrn auf alle Weiſe in
Gunſt zu ſetzen. So ſucht denn auch der junge Staͤdter,
der ſich dem Daphnis durch das Anſinnen einer unna¬
tuͤrlichen Liebe verhaßt gemacht hat, ſich bey dieſem, da
er als Sohn des Herrn erkannt iſt, wieder in Gnade
zu bringen, indem er den Ochſenhirten die geraubte
Chloe auf eine kuͤhne Weiſe wieder abjagt und zu
Daphnis zuruͤckfuͤhrt.
„In allen dieſen Dingen, ſagte Goethe, iſt ein
großer Verſtand; ſo auch daß Chloe gegen den beyder¬
ſeitigen Willen der Liebenden, die nichts Beſſeres ken¬
nen als nackt neben einander zu ruhen, durch den gan¬
zen Roman bis ans Ende ihre Jungfrauſchaft behaͤlt,
iſt gleichfalls vortrefflich, und ſo ſchoͤn motivirt, daß
dabey die groͤßten menſchlichen Dinge zur Sprache
kommen.“
[321]
„Man muͤßte ein ganzes Buch ſchreiben, um alle
großen Verdienſte dieſes Gedichts nach Wuͤrden zu
ſchaͤtzen. Man thut wohl, es alle Jahr einmal zu le¬
ſen, um immer wieder daran zu lernen, und den Ein¬
druck ſeiner großen Schoͤnheit aufs neue zu empfinden.“
Wir ſprachen uͤber politiſche Dinge, uͤber die noch
immer fortwaͤhrenden Unruhen in Paris, und den Wahn
der jungen Leute, in die hoͤchſten Angelegenheiten des
Staates mit einwirken zu wollen.
Auch in England, ſagte ich, haben die Studenten
vor einigen Jahren bey Entſcheidung der katholiſchen
Frage durch Einreichung von Bittſchriften einen Einfluß
zu erlangen verſucht; allein man hat ſie ausgelacht und
nicht weiter davon Notiz genommen.
„Das Beyſpiel von Napoleon, ſagte Goethe,
hat beſonders in den jungen Leuten von Frankreich, die
unter jenem Helden heraufwuchſen, den Egoismus auf¬
geregt, und ſie werden nicht eher ruhen, als bis wieder
ein großer Despot unter ihnen aufſteht, in welchem ſie
das auf der hoͤchſten Stufe ſehen, was ſie ſelber zu ſeyn
wuͤnſchen. Es iſt nur das Schlimme, daß ein Mann
wie Napoleon nicht ſobald wieder geboren wird, und
ich fuͤrchte faſt, daß noch einige hunderttauſend Men¬
II. 21[322] ſchen darauf gehen, ehe die Welt wieder zur Ruhe
kommt.“
„An literariſche Wirkung iſt auf einige Jahre gar
nicht zu denken, und man kann jetzt weiter nichts thun,
als fuͤr eine friedlichere Zukunft im Stillen manches
Gute vorzubereiten.“
Nach dieſem wenigen Politiſchen waren wir bald
wieder in Geſpraͤchen uͤber Daphnis und Chloe.
Goethe lobte die Überſetzung von Courier als ganz
vollkommen. „Courier hat wohl gethan, ſagte er, die
alte Überſetzung von Amyot zu reſpectiren und beyzu¬
behalten, und ſie nur an einigen Stellen zu verbeſſern
und zu reinigen und naͤher an das Original hinanzu¬
treiben. Dieſes alte Franzoͤſiſch iſt ſo naiv, und paßt
ſo durchaus fuͤr dieſen Gegenſtand, daß man nicht leicht
eine vollkommnere Überſetzung in irgend einer anderen
Sprache von dieſem Buche machen wird.“
Wir redeten ſodann von Courier's eigenen Werken,
von ſeinen kleinen Flugſchriften, und der Vertheidigung
des beruͤchtigten Tintenflecks auf dem Manuſcript zu
Florenz.
„Courier iſt ein großes Naturtalent, ſagte Goethe, das
Zuͤge von Byron hat, ſo wie von Beaumarchais und
Diderot. Er hat von Byron die große Gegenwart al¬
ler Dinge, die ihm als Argument dienen; von Beau¬
marchais die große advocatiſche Gewandtheit; von Dide¬
rot das Dialektiſche, und zudem iſt er ſo geiſtreich, daß
[323] man es nicht in hoͤherem Grade ſeyn kann. Von der
Beſchuldigung des Tintenflecks ſcheint er ſich indeß nicht
ganz zu reinigen, auch iſt er in ſeiner ganzen Richtung
nicht poſitiv genug, als daß man ihn durchaus loben
koͤnnte. Er liegt mit der ganzen Welt im Streit, und
es iſt nicht wohl anzunehmen, daß nicht auch etwas
Schuld und etwas Unrecht an ihm ſelber ſeyn ſollte.“
Wir redeten ſodann uͤber den Unterſchied des deut¬
ſchen Begriffes von Geiſt und des franzoͤſiſchen esprit.
„Das franzoͤſiſche esprit, ſagte Goethe, kommt dem
nahe, was wir Deutſchen Witz nennen. Unſer Geiſt
wuͤrden die Franzoſen vielleicht durch esprit und ame
ausdruͤcken. Es liegt darin zugleich der Begriff von
Productivitaͤt, welchen das franzoͤſiſche esprit nicht hat.“
Voltaire, ſagte ich, hat doch nach deutſchen Be¬
griffen dasjenige, was wir Geiſt nennen. Und da nun
das franzoͤſiſche esprit nicht hinreicht, was ſagen nun
die Franzoſen?
„In dieſem hohen Falle, ſagte Goethe, druͤcken ſie
es durch génie aus.“
Ich leſe jetzt einen Band von Diderot, ſagte
ich, und bin erſtaunt uͤber das außerordentliche Talent
dieſes Mannes. Und welche Kenntniſſe, und welche
Gewalt der Rede! Man ſieht in eine große bewegte
Welt, wo Einer dem Andern zu ſchaffen machte, und
Geiſt und Character ſo in beſtaͤndiger Übung erhalten
wurden, daß beyde gewandt und ſtark werden mußten.
21 *[324] Was aber die Franzoſen im vorigen Jahrhundert in
der Literatur fuͤr Maͤnner hatten, erſcheint ganz außer¬
ordentlich. Ich muß ſchon erſtaunen, wie ich nur eben
hineinblicke.
„Es war die Metamorphoſe einer hundertjaͤhrigen
Literatur, ſagte Goethe, die ſeit Ludwig dem vierzehn¬
ten heranwuchs, und zuletzt in voller Bluͤthe ſtand.
Voltaire hetzte aber eigentlich Geiſter wie Diderot,
D'Alembert, Beaumarchais und Andere herauf, denn
um neben Ihm nur etwas zu ſeyn, mußte man viel
ſeyn, und es galt kein Feyern.“
Goethe erzaͤhlte mir ſodann von einem jungen Pro¬
feſſor der orientaliſchen Sprache und Literatur in Jena,
der eine Zeit lang in Paris gelebt und eine ſo ſchoͤne
Bildung habe, daß er wuͤnſche, ich moͤchte ihn kennen
lernen. Als ich ging, gab er mir einen Aufſatz von
Schroͤn uͤber den zunaͤchſt kommenden Cometen, damit
ich in ſolchen Dingen nicht ganz fremd ſeyn moͤchte.
Goethe las mir zum Nachtiſch Stellen aus einem
Briefe eines jungen Freundes aus Rom. Einige deut¬
ſche Kuͤnſtler erſcheinen darin mit langen Haaren,
Schnurrbaͤrten, uͤbergeklappten Hemdkragen auf alt¬
deutſchen Roͤcken, Tabackspfeifen und Bullenbeißern.
[325] Der großen Meiſter wegen, und um etwas zu lernen,
ſcheinen ſie nicht nach Rom gekommen zu ſeyn. Ra¬
phael duͤnkt ihnen ſchwach, und Tizian bloß ein
guter Coloriſt.
„Niebuhr hat Recht gehabt, ſagte Goethe, wenn
er eine barbariſche Zeit kommen ſah. Sie iſt ſchon da,
wir ſind ſchon mitten darinne; denn worin beſteht die
Barbarey anders als darin, daß man das Vortreffliche
nicht anerkennt.“
Der junge Freund erzaͤhlt ſodann vom Carneval,
von der Wahl des neuen Pabſtes, und der gleich hinter¬
drein ausbrechenden Revolution.
Wir ſehen Horaz Vernet, welcher ſich ritterlich
verſchanzet; einige deutſche Kuͤnſtler dagegen ſich ruhig
zu Hauſe halten und ihre Baͤrte abſchneiden, woraus
zu bemerken, daß ſie ſich bey den Roͤmern durch ihr
Betragen nicht eben ſehr beliebt moͤgen gemacht haben.
Es kommt zur Sprache, ob die Verirrung, wie ſie
an einigen jungen deutſchen Kuͤnſtlern wahrzunehmen,
von einzelnen Perſonen ausgegangen ſey, und ſich als
eine geiſtige Anſteckung verbreitet habe, oder ob ſie in
der ganzen Zeit ihren Urſprung gehabt.
„Sie iſt von wenigen Einzelnen ausgegangen, ſagte
Goethe, und wirkt nun ſchon ſeit vierzig Jahren fort.
Die Lehre war: der Kuͤnſtler brauche vorzuͤglich Froͤm¬
migkeit und Genie, um es den Beſten gleich zu thun.
Eine ſolche Lehre war ſehr einſchmeichelnd und man
[326] ergriff ſie mit beyden Haͤnden. Denn um fromm zu
ſeyn, brauchte man nichts zu lernen, und das eigene
Genie brachte jeder ſchon von ſeiner Frau Mutter. Man
kann nur etwas ausſprechen, was dem Eigenduͤnkel und
der Bequemlichkeit ſchmeichelt, um eines großen Anhan¬
ges in der mittelmaͤßigen Menge gewiß zu ſeyn.“
Goethe zeigte mir einen eleganten gruͤnen Lehnſtuhl,
den er dieſer Tage in einer Auction ſich hatte kaufen
laſſen.
„Ich werde ihn jedoch wenig oder gar nicht gebrau¬
chen, ſagte er, denn alle Arten von Bequemlichkeit ſind
eigentlich ganz gegen meine Natur. Sie ſehen in mei¬
nem Zimmer kein Sopha; ich ſitze immer in meinem
alten hoͤlzernen Stuhl, und habe erſt ſeit einigen Wo¬
chen eine Art von Lehne fuͤr den Kopf anfuͤgen laſſen.
Eine Umgebung von bequemen geſchmackvollen Meublen
hebt mein Denken auf, und verſetzt mich in einen be¬
haglichen paſſiven Zuſtand. Ausgenommen, daß man
von Jugend auf daran gewoͤhnt ſey, ſind praͤchtige
Zimmer und elegantes Hausgeraͤthe etwas fuͤr Leute,
die keine Gedanken haben und haben moͤgen.“
[327]
Das heiterſte Fruͤhlingswetter iſt nach langem Er¬
warten endlich eingetreten; am durchaus blauen Himmel
ſchwebt nur hin und wieder ein weißes Woͤlkchen, und
es iſt warm genug, um wieder in Sommerkleidern zu
gehen.
Goethe ließ in einem Pavillon am Garten decken,
und ſo aßen wir denn heute wieder im Freyen. Wir
ſprachen uͤber die Großfuͤrſtin, wie ſie im Stillen
uͤberall hinwirke und Gutes thue, und ſich die Herzen
aller Unterthanen zu eigen mache.
„Die Großherzogin, ſagte Goethe, hat ſo viel Geiſt
und Guͤte, als guten Willen; ſie iſt ein wahrer Segen
fuͤr das Land. Und wie nun der Menſch uͤberall bald
empfindet, woher ihm Gutes kommt, und wie er die
Sonne verehrt und die uͤbrigen wohlthaͤtigen Elemente,
ſo wundert es mich auch nicht, daß alle Herzen ſich ihr
mit Liebe zuwenden, und daß ſie ſchnell erkannt wird,
wie ſie es verdient.“
Ich ſagte, daß ich mit dem Prinzen Minna von
Barnhelm angefangen, und wie vortrefflich mir die¬
ſes Stuͤck erſcheine. Man hat von Leſſing behauptet,
ſagte ich, er ſey ein kalter Verſtandesmenſch; ich finde
aber in dieſem Stuͤck ſo viel Gemuͤth, liebenswuͤrdige
Natuͤrlichkeit, Herz, und freye Weltbildung eines heite¬
ren friſchen Lebemenſchen, als man nur wuͤnſchen kann.
[328]
„Sie moͤgen denken, ſagte Goethe, wie das Stuͤck
auf uns jungen Leute wirkte, als es in jener dunkelen
Zeit hervortrat. Es war wirklich ein glaͤnzendes Me¬
teor. Es machte uns aufmerkſam, daß noch etwas
Hoͤheres exiſtire, als wovon die damalige ſchwache lite¬
rariſche Epoche einen Begriff hatte. Die beyden erſten
Acte ſind wirklich ein Meiſterſtuͤck von Expoſition, wo¬
von man viel lernte und wovon man noch immer ler¬
nen kann.“
„Heut zu Tage will freylich niemand mehr etwas
von Expoſition wiſſen; die Wirkung, die man ſonſt im
dritten Act erwartete, will man jetzt ſchon in der erſten
Scene haben, und man bedenkt nicht, daß es mit der
Poeſie wie mit dem Seefahren iſt, wo man erſt vom
Ufer ſtoßen und erſt auf einer gewiſſen Hoͤhe ſeyn muß,
bevor man mit vollen Segeln gehen kann.“
Goethe ließ etwas trefflichen Rheinwein kommen,
womit Frankfurter Freunde ihm zu ſeinem letzten Geburts¬
tag ein Geſchenk gemacht. Er erzaͤhlte mir dabey einige
Anekdoten von Merck, der dem verſtorbenen Großherzog
nicht habe verzeihen koͤnnen, daß er in der Ruhl bey
Eiſenach eines Tages einen mittelmaͤßigen Wein vor¬
trefflich gefunden.
„Merck und ich, fuhr Goethe fort, waren immer
mit einander wie Fauſt und Mepyiſtopheles. So mo¬
quirte er ſich uͤber einen Brief meines Vaters aus
Italien, worin dieſer ſich uͤber die ſchlechte Lebensweiſe,
[329] das ungewohnte Eſſen, den ſchweren Wein und die
Muskito's beklagt, und er konnte ihm nicht verzeihen,
daß in dem herrlichen Lande und der praͤchtigen Umge¬
bung, ihn ſo kleine Dinge wie Eſſen, Trinken und
Fliegen haͤtten incommodiren koͤnnen.“
„Alle ſolche Neckereien gingen bey Merck unſtreitig aus
dem Fundament einer hohen Cultur hervor; all eida er
nicht productiv war, ſondern im Gegentheil eine ent¬
ſchieden negative Richtung hatte, ſo war er immer we¬
niger zum Lobe bereit als zum Tadel, und er ſuchte
unwillkuͤhrlich alles hervor, um ſolchem Kitzel zu ge¬
nuͤgen.“
Wir ſprachen uͤber Vogel und ſeine adminiſtrativen
Talente, ſo wie uͤber *** und deſſen Perſoͤnlichkeit,
„***, ſagte Goethe, iſt ein Mann fuͤr ſich, den man
mit keinem andern vergleichen kann. Er war der Ein¬
zige, der mit mir gegen den Unfug der Preßfreyheit
ſtimmte; er ſteht feſt, man kann ſich an ihm halten,
er wird immer auf der Seite des Geſetzlichen ſeyn.“
Wir gingen nach Tiſch ein wenig im Garten auf
und ab und hatten unſere Freude an den bluͤhenden
weißen Schneegloͤckchen und gelben Crokus. Auch die
Tulpen kamen hervor und wir ſprachen uͤber die Pracht
und Koſtbarkeit der hollaͤndiſchen Gewaͤchſe ſolcher Art.
„Ein großer Blumenmaler, ſagte Goethe, iſt gar nicht
mehr denkbar; es wird jetzt zu große wiſſenſchaftliche
Wahrheit verlangt, und der Botaniker zaͤhlt dem Kuͤnſt¬
[330] ler die Staubfaͤden nach, waͤhrend er fuͤr maleriſche
Gruppirung und Beleuchtung kein Auge hat.“
Ich verlebte heute mit Goethe wieder ſehr ſchoͤne
Stunden. „Mit meiner Metamorphoſe der Pflan¬
zen, ſagte er, habe ich ſo gut wie abgeſchloſſen. Das¬
jenige, was ich uͤber die Spirale und Herrn von
Martius noch zu ſagen hatte, iſt auch ſo gut wie
fertig, und ich habe mich dieſen Morgen ſchon wieder
dem vierten Bande meiner Biographie zugewendet, und
ein Schema von dem geſchrieben, was noch zu thun
iſt. Ich kann es gewiſſermaßen beneidenswuͤrdig nen¬
nen, daß mir noch in meinem hohen Alter vergoͤnnt
iſt, die Geſchichte meiner Jugend zu ſchreiben, und zwar
eine Epoche, die in mancher Hinſicht von großer Be¬
deutung iſt.“
Wir ſprachen die einzelnen Theile durch, die mir
wie ihm vollkommen gegenwaͤrtig waren.
Bey dem dargeſtellten Liebesverhaͤltniß mit Lili,
ſagte ich, vermißt man Ihre Jugend keineswegs, viel¬
mehr haben ſolche Scenen den vollkommenen Hauch der
fruͤhen Jahre.
„Das kommt daher, ſagte Goethe, weil ſolche
Scenen poetiſch ſind, und ich durch die Kraft der Poeſie
[331] das mangelnde Liebesgefuͤhl der Jugend mag erſetzt
haben.“
Wir gedachten ſodann der merkwuͤrdigen Stelle, wo
Goethe uͤber den Zuſtand ſeiner Schweſter redet. „Die¬
ſes Capitel, ſagte er, wird von gebildeten Frauen mit
Intereſſe geleſen werden, denn es werden viele ſeyn,
die meiner Schweſter darin gleichen, daß ſie, bey vor¬
zuͤglichen geiſtigen und ſittlichen Eigenſchaften, nicht zu¬
gleich das Gluͤck eines ſchoͤnen Koͤrpers empfinden.“
Daß ſie, ſagte ich, bey bevorſtehenden Feſtlichkeiten
und Baͤllen gewoͤhnlich von einem Ausſchlag im Geſicht
heimgeſucht wurde, iſt etwas ſo Wunderliches, daß man
es der Einwirkung von etwas Daͤmoniſchem zuſchreiben
moͤchte.
„Sie war ein merkwuͤrdiges Weſen, ſagte Goethe,
ſie ſtand ſittlich ſehr hoch und hatte nicht die Spur
von etwas Sinnlichem. Der Gedanke, ſich einem Manne
hinzugeben, war ihr widerwaͤrtig, und man mag denken,
daß aus dieſer Eigenheit in der Ehe manche unange¬
nehme Stunde hervorging. Frauen, die eine gleiche
Abneigung haben, oder ihre Maͤnner nicht lieben, wer¬
den empfinden, was dieſes ſagen will. Ich konnte
daher meine Schweſter auch nie als verheirathet denken,
vielmehr waͤre ſie als Äbtiſſin in einem Kloſter recht
eigentlich an ihrem Platze geweſen.“
„Und da ſie nun, obgleich mit einem der bravſten
Maͤnner verheirathet, in der Ehe nicht gluͤcklich war,
[332] ſo widerrieth ſie ſo leidenſchaftlich meine beabſichtigte
Verbindung mit Lili.“
Wir ſprachen heute uͤber Merck, und Goethe er¬
zaͤhlte mir noch einige characteriſtiſche Zuͤge.
„Der verſtorbene Großherzog, ſagte er, war Mer¬
cken ſehr guͤnſtig, ſo daß er ſich einſt fuͤr eine Schuld
von viertauſend Thalern fuͤr ihn verbuͤrgte. Nun dauerte
es nicht lange, ſo ſchickte Merck zu unſerer Verwunde¬
rung die Buͤrgſchaft zuruͤck. Seine Umſtaͤnde hatten
ſich nicht verbeſſert, und es war raͤthſelhaft, welche Art
von Negotiation er mochte gemacht haben. Als ich
ihn wiederſah, loͤſte er mir das Raͤthſel in folgenden
Worten.“
„Der Herzog, ſagte er, iſt ein freygebiger, treff¬
licher Herr, der Zutrauen hat und den Menſchen hilft,
wo er kann. Nun dachte ich mir: betruͤgſt du dieſen
Herrn um das Geld, ſo wirket das nachtheilig fuͤr
tauſend Andere; denn er wird ſein koͤſtliches Zutrauen
verlieren, und viele ungluͤckliche gute Menſchen werden
darunter leiden, daß Einer ein ſchlechter Kerl war. —
Was habe ich nun gethan? — ich habe ſpeculirt und
das Geld von einem Schurken geliehen; denn wenn ich
dieſen darum betruͤge, ſo thut's nichts, haͤtte ich aber
[333] den guten Herrn darum betrogen, ſo waͤre es Schade
geweſen.“
Wir lachten uͤber die wunderliche Großheit dieſes
Mannes.
„Merck hatte das Eigene, fuhr Goethe fort, daß er
im Geſpraͤch mitunter he! he! herauszuſtoßen pflegte.
Dieſes Angewoͤhnen ſteigerte ſich, wie er aͤlter wurde,
ſo daß es endlich dem Bellen eines Hundes glich. Er
fiel zuletzt in eine tiefe Hypochondrie, als Folge ſeiner
vielen Speculationen, und endigte damit, ſich zu erſchie¬
ßen. Er bildete ſich ein, er muͤſſe bankerott machen;
allein es fand ſich, daß ſeine Sachen keineswegs ſo
ſchlecht ſtanden, wie er es ſich gedacht hatte.“
Wir reden wieder uͤber das Daͤmoniſche.
„Es wirft ſich gern an bedeutende Figuren, ſagte
Goethe, auch waͤhlt es ſich gerne etwas dunkele Zeiten.
In einer klaren proſaiſchen Stadt, wie Berlin, faͤnde
es kaum Gelegenheit ſich zu manifeſtiren.“
Goethe ſprach hiedurch aus, was ich ſelber vor
einigen Tagen gedacht hatte, welches mir angenehm war,
ſo wie es immer Freude macht, unſere Gedanken beſtaͤ¬
tigt zu ſehen.
Geſtern und dieſen Morgen las ich den dritten Band
[334] ſeiner Biographie, wobey es mir war, wie bey einer
fremden Sprache, wo wir, nach gemachten Fortſchritten,
ein Buch wieder leſen, das wir fruͤher zu verſtehen
glaubten, das aber erſt jetzt in ſeinen kleinſten Theilen
und Nuͤançen uns entgegentritt.
Ihre Biographie iſt ein Buch, ſagte ich, wodurch
wir in unſerer Cultur uns auf die entſchiedenſte Weiſe
gefoͤrdert ſehen.
„Es ſind lauter Reſultate meines Lebens, ſagte
Goethe, und die erzaͤhlten einzelnen Facta dienen bloß,
um eine allgemeine Beobachtung, eine hoͤhere Wahrheit,
zu beſtaͤtigen.“
Was Sie unter andern von Baſedow erwaͤhnen,
ſagte ich, wie er naͤmlich zu Erreichung hoͤherer Zwecke
die Menſchen noͤthig hat und ihre Gunſt erwerben moͤchte,
aber nicht bedenkt, daß er es mit allen verderben muß,
wenn er ſo ohne alle Ruͤckſicht ſeine abſtoßenden reli¬
gioͤſen Anſichten aͤußert, und den Menſchen dasjenige,
woran ſie mit Liebe haͤngen, verdaͤchtig macht, ſolche
und aͤhnliche Zuͤge erſcheinen mir von großer Bedeutung.
„Ich daͤchte, ſagte Goethe, es ſteckten darin einige
Symbole des Menſchenlebens. Ich nannte das Buch
Wahrheit und Dichtung, weil es ſich durch hoͤhere
Tendenzen aus der Region einer niedern Realitaͤt erhebt.
Jean Paul hat nun, aus Geiſt des Widerſpruchs,
Wahrheit aus ſeinem Leben geſchrieben! — Als ob
die Wahrheit aus dem Leben eines ſolchen Mannes et¬
[335] was anderes ſeyn koͤnnte, als daß der Autor ein Phi¬
liſter geweſen! — Aber die Deutſchen wiſſen nicht leicht,
wie ſie etwas Ungewohntes zu nehmen haben, und das
Hoͤhere geht oft an ihnen voruͤber, ohne daß ſie es
gewahr werden. Ein Factum unſeres Lebens gilt nicht,
inſofern es wahr iſt, ſondern in ſo fern es etwas zu
bedeuten hatte.“
Zu Tafel beym Prinzen mit Soret und Meyer
Wir redeten uͤber literariſche Dinge, und Meyer erzaͤhlte
uns ſeine erſte Bekanntſchaft mit Schiller.
„Ich ging, ſagte er, mit Goethe in dem ſogenann¬
ten Paradies bey Jena ſpazieren, wo Schiller uns be¬
gegnete und wo wir zuerſt mit einander redeten. Er
hatte ſeinen Don Carlos noch nicht beendigt; er war
eben aus Schwaben zuruͤckgekehrt und ſchien ſehr krank
und an den Nerven leidend. Sein Geſicht glich dem
Bilde des Gekreuzigten. Goethe dachte, er wuͤrde keine
vierzehn Tage leben, allein, als er zu groͤßerem Be¬
hagen kam, erholte er ſich wieder und ſchrieb dann erſt
alle ſeine bedeutenden Sachen.“
Meyer erzaͤhlte ſodann einige Zuͤge von Jean Paul
und Schlegel, die er beyde in einem Wirthshauſe zu
Heidelberg getroffen; ſo wie Einiges aus ſeinem Aufent¬
[336] halte in Italien, heitere Sachen, die uns ſehr be¬
hagten.
In Meyers Naͤhe wird es mir immer wohl, welches
daher kommen mag, daß er ein in ſich abgeſchloſſenes
zufriedenes Weſen iſt, das von der Umgebung wenig
Notiz nimmt, und dagegen ſein eigenes behagliches In¬
nere in ſchicklichen Pauſen hervorkehrt. Dabey iſt er
in allem fundirt, beſitzt den hoͤchſten Schatz von Kennt¬
niſſen, und ein Gedaͤchtniß, dem die entfernteſten Dinge
gegenwaͤrtig ſind, als waͤren ſie geſtern geſchehen. Er
hat ein Übergewicht von Verſtand, den man fuͤrchten
muͤßte, wenn er nicht auf der edelſten Cultur ruhte;
aber ſo iſt ſeine ſtille Gegenwart immer angenehm, im¬
mer belehrend.
Mit Goethe zu Tiſch in mannigfaltigen Geſpraͤchen.
Er zeigte mir ein Aquarell-Gemaͤlde von Herrn v. Reu¬
tern, einen jungen Bauern darſtellend, der auf dem
Markt einer kleinen Stadt bey einer Korb- und Decken-
Verkaͤuferin ſteht. Der junge Menſch ſieht die vor ihm
liegenden Koͤrbe an, waͤhrend zwey ſitzende Frauen und
ein dabey ſtehendes derbes Maͤdchen den huͤbſchen jun¬
gen Menſchen mit Wohlgefallen anblicken. Das Bild
componirt ſo artig, und der Ausdruck der Figuren iſt
[337] ſo wahr und naiv, daß man nicht ſatt wird es zu be¬
trachten.
„Die Aquarellmalerey, ſagte Goethe, ſteht in dieſem
Bilde auf einer ſehr hohen Stufe. Nun ſagen die ein¬
faͤltigen Menſchen, Herr von Reutern habe in der Kunſt
niemanden etwas zu verdanken, ſondern habe alles von
ſich ſelber. Als ob der Menſch etwas anderes aus ſich
ſelber haͤtte, als die Dummheit und das Ungeſchick!
Wenn dieſer Kuͤnſtler auch keinen namhaften Meiſter
gehabt, ſo hat er doch mit trefflichen Meiſtern verkehrt,
und hat ihnen und großen Vorgaͤngern und der uͤberall
gegenwaͤrtigen Natur das Seinige abgelernt. Die Na¬
tur hat ihm ein treffliches Talent gegeben, und Kunſt
und Natur haben ihn ausgebildet. Er iſt vortrefflich,
und in manchen Dingen einzig, aber man kann nicht
ſagen, daß er Alles von ſich ſelber habe. Von einem
durchaus verruͤckten und fehlerhaften Kuͤnſtler ließe ſich
allenfalls ſagen, er habe alles von ſich ſelber, allein von
einem trefflichen nicht.“
Goethe zeigte mir darauf, von demſelbigen Kuͤnſtler,
einen reich mit Gold und bunten Farben gemalten Rah¬
men mit einer in der Mitte freygelaſſenen Stelle zu einer
Inſchrift. Oben ſah man ein Gebaͤude im gothiſchen
Styl; reiche Arabesken, mit eingeflochtenen Landſchaften
und haͤuslichen Scenen, liefen zu beyden Seiten hinab;
unten ſchloß eine anmuthige Waldpartie mit dem fri¬
ſcheſten Gruͤn und Raſen.
II. 22[338]
„Herr v. Reutern wuͤnſcht, ſagte Goethe, daß ich
ihm in die freygelaſſene Stelle etwas hineinſchreibe; al¬
lein ſein Rahmen iſt ſo praͤchtig und kunſtreich, daß
ich mit meiner Handſchrift das Bild zu verderben fuͤrchte.
Ich habe zu dieſem Zweck einige Verſe gedichtet, und
ſchon gedacht, ob es nicht beſſer ſey, ſie durch die Hand
eines Schoͤnſchreibers eintragen zu laſſen. Ich wollte
es dann eigenhaͤndig unterſchreiben. Was ſagen Sie
dazu, und was rathen Sie mir?“
Wenn ich Herr v. Reutern waͤre, ſagte ich, ſo
wuͤrde ich ungluͤcklich ſeyn, wenn das Gedicht in einer
fremden Handſchrift kaͤme, aber gluͤcklich, wenn es von
Ihrer eigenen Hand geſchrieben waͤre. Der Maler hat
Kunſt genug in der Umgebung entwickelt, in der Schrift
braucht keine zu ſeyn, es kommt bloß darauf an, daß
ſie echt, daß ſie die Ihrige ſey. Und dann rathe ich
ſogar, es nicht mit lateiniſchen, ſondern mit deutſchen Let¬
tern zu ſchreiben, weil Ihre Hand darin mehr eigen¬
thuͤmlichen Character hat, und es auch beſſer zu der
gothiſchen Umgebung paßt.
„Sie moͤgen Recht haben, ſagte Goethe, und es iſt
am Ende der kuͤrzeſte Weg, daß ich ſo thue. Vielleicht
kommt mir in dieſen Tagen ein muthiger Augenblick,
daß ich es wage. Wenn ich aber auf das ſchoͤne Bild
einen Klecks mache, fuͤgte er lachend hinzu, ſo moͤgt
Ihr es verantworten.“ Schreiben Sie nur, ſagte ich,
es wird recht ſeyn, wie es auch werde.
[339]
Mittags mit Goethe. „In der Kunſt, ſagte er, iſt
mir nicht leicht ein erfreulicheres Talent vorgekommen,
als das von Neureuther. Es beſchraͤnkt ſich ſelten
ein Kuͤnſtler auf das, was er vermag, die meiſten wol¬
len mehr thun als ſie koͤnnen, und gehen gar zu gern
uͤber den Kreis hinaus, den die Natur ihrem Talente
geſetzt hat. Von Neureuther jedoch laͤßt ſich ſagen, daß
er uͤber ſeinem Talent ſtehe. Die Gegenſtaͤnde aus
allen Reichen der Natur ſind ihm gelaͤufig, er zeichnet
eben ſo wohl Gruͤnde, Felſen und Baͤume, wie Thiere
und Menſchen; Erfindung, Kunſt und Geſchmack beſitzt
er im hohen Grade, und indem er eine ſolche Fuͤlle in
leichten Randzeichnungen gewiſſermaßen vergeudet, ſcheint
er mit ſeinen Faͤhigkeiten zu ſpielen, und es geht auf
den Beſchauer das Behagen uͤber, welches die bequeme
freye Spende eines reichen Vermoͤgens immer zu beglei¬
ten pflegt.“
„In Randzeichnungen hat es auch niemand zu der
Hoͤhe gebracht wie er, und ſelbſt das große Talent von
Albrecht Duͤrer war ihm darin weniger ein Muſter
als eine Anregung.“
„Ich werde, fuhr Goethe fort, ein Exemplar dieſer
Zeichnungen von Neureuther an Herrn Carlyle nach
22*[340] Schottland ſenden, und hoffe jenem Freunde damit kein
unwillkommenes Geſchenk zu machen.“
Goethe erfreute mich mit der Nachricht, daß es ihm
in dieſen Tagen gelungen, den bisher fehlenden An¬
fang des fuͤnften Actes von Fauſt ſo gut wie fertig zu
machen.
„Die Intention auch dieſer Scenen, ſagte er, iſt
uͤber dreyßig Jahre alt; ſie war von ſolcher Bedeutung,
daß ich daran das Intereſſe nicht verloren, allein ſo
ſchwer auszufuͤhren, daß ich mich davor fuͤrchtete. Ich
bin nun durch manche Kuͤnſte wieder in Zug gekommen,
und wenn das Gluͤck gut iſt, ſo ſchreibe ich jetzt den
vierten Act hintereinander weg.“
Goethe erwaͤhnte darauf eines bekannten Schrift¬
ſtellers. „Es iſt ein Talent, ſagte er, dem der Par¬
teyhaß als Alliance dient und das ohne ihn keine
Wirkung gethan haben wuͤrde. Man findet haͤufige
Proben in der Literatur, wo der Haß das Genie er¬
ſetzet, und wo geringe Talente bedeutend erſcheinen,
indem ſie als Organ einer Partey auftreten. So
auch findet man im Leben eine Maſſe von Perſo¬
nen, die nicht Character genug haben, um alleine
zu ſtehen; dieſe werfen ſich gleichfalls an eine Partey,
[341] wodurch ſie ſich geſtaͤrkt fuͤhlen und nun eine Figur
machen.“
„Béranger dagegen iſt ein Talent, das ſich ſel¬
ber genug iſt. Er hat daher auch nie einer Partey
gedient. Er empfindet zu viele Satisfaction in ſeinem
Innern, als daß ihm die Welt etwas geben oder neh¬
men koͤnnte.“
Mit Goethe in ſeiner Arbeitsſtube alleine zu Tiſch.
Nach manchen heiteren Unterhaltungen brachte er zuletzt
das Geſpraͤch auf ſeine perſoͤnlichen Angelegenheiten,
indem er aufſtand und von ſeinem Pulte ein beſchriebe¬
nes Papier nahm.
„Wenn einer, wie ich, uͤber die achtzig hinaus iſt,
ſagte er, hat er kaum noch ein Recht zu leben; er muß
jeden Tag darauf gefaßt ſeyn, abgerufen zu werden,
und daran denken, ſein Haus zu beſtellen. Ich habe,
wie ich Ihnen ſchon neulich eroͤffnete, Sie in meinem
Teſtament zum Herausgeber meines literariſchen Nach¬
laſſes ernannt, und habe dieſen Morgen, als eine Art
von Contract, eine kleine Schrift aufgeſetzt, die Sie
mit mir unterzeichnen ſollen.“
Mit dieſen Worten legte Goethe mir den Aufſatz
vor, worin ich die nach ſeinem Tode herauszugebenden,
[342] theils vollendeten, theils noch nicht vollendeten Schrif¬
ten namentlich aufgefuͤhrt, und uͤberhaupt die naͤheren
Beſtimmungen und Bedingungen ausgeſprochen fand.
Ich war im Weſentlichen einverſtanden, und wir unter¬
zeichneten darauf beyderſeitig.
Das benannte Material, mit deſſen Redaction ich
mich bisher ſchon von Zeit zu Zeit beſchaͤftigt hatte,
ſchaͤtzte ich zu etwa funfzehn Baͤnden; wir beſprachen
darauf einzelne noch nicht ganz entſchiedene Puncte.
„Es koͤnnte der Fall eintreten, ſagte Goethe, daß
der Verleger uͤber eine gewiſſe Bogenzahl hinauszugehen
Bedenken truͤge, und daß demnach von dem mittheil¬
baren Material verſchiedenes zuruͤckbleiben muͤßte. In
dieſem Fall koͤnnten Sie etwa den polemiſchen Theil der
Farbenlehre weglaſſen. Meine eigentliche Lehre iſt in
dem theoretiſchen Theile enthalten, und da nun auch
ſchon der hiſtoriſche vielfach polemiſcher Art iſt, ſo daß
die Hauptirrthuͤmer der Newtoniſchen Lehre darin zur
Sprache kommen, ſo waͤre des Polemiſchen damit faſt
genug. Ich desavouire meine etwas ſcharfe Zergliederung
der Newtoniſchen Saͤtze zwar keineswegs, ſie war zu
ihrer Zeit nothwendig und wird auch in der Folge ihren
Werth behalten, allein im Grunde iſt alles polemiſche
Wirken gegen meine eigentliche Natur und ich habe daran
wenig Freude.“
Ein zweyter Punct, der von uns naͤher beſprochen
wurde, waren die Maximen und Reflexionen, die am
[343] Ende des zweyten und dritten Theiles der Wanderjahre
abgedruckt ſtehen.
Bey der begonnenen Umarbeitung und Vervollſtaͤn¬
digung dieſes fruͤher in Einem Bande erſchienenen Ro¬
mans, hatte Goethe naͤmlich ſeinen Anſchlag auf zwey
Baͤnde gemacht, wie auch in der Ankuͤndigung der neuen
Ausgabe der ſaͤmmtlichen Werke gedruckt ſteht. Im
Fortgange der Arbeit jedoch wuchs ihm das Manuſcript
uͤber die Erwartung, und da ſein Schreiber etwas
weitlaͤufig geſchrieben, ſo taͤuſchte ſich Goethe und glaubte,
ſtatt zu zwey Baͤnden, zu dreyen genug zu haben, und
das Manuſcript ging in drey Baͤnden an die Verlags¬
handlung ab. Als nun aber der Druck bis zu einem
gewiſſen Puncte gediehen war, fand es ſich, daß Goethe
ſich verrechnet hatte, und daß beſonders die beyden letzten
Baͤnde zu klein ausfielen. Man bat um weiteres
Manuſcript, und da nun in dem Gang des Romans
nichts mehr geaͤndert, auch in dem Drange der Zeit
keine neue Novelle mehr erfunden, geſchrieben und ein¬
geſchaltet werden konnte, ſo befand ſich Goethe wirklich
in einiger Verlegenheit.
Unter dieſen Umſtaͤnden ließ er mich rufen; er er¬
zaͤhlte mir den Hergang und eroͤffnete mir zugleich, wie
er ſich zu helfen gedenke, indem er mir zwey ſtarke
Manuſcript-Buͤndel vorlegte, die er zu dieſem Zweck
hatte herbeyholen laſſen.
„In dieſen beyden Paketen, ſagte er, werden Sie
[344] verſchiedene bisher ungedruckte Schriften finden, Einzeln¬
heiten, vollendete und unvollendete Sachen, Ausſpruͤche
uͤber Naturforſchung, Kunſt, Literatur und Leben, alles
durcheinander. Wie waͤre es nun, wenn Sie davon
ſechs bis acht gedruckte Bogen zuſammenredigirten, um
damit vorlaͤufig die Luͤcken der Wanderjahre zu fuͤllen.
Genau genommen gehoͤrt es zwar nicht dahin, allein
es laͤßt ſich damit rechtfertigen, daß bey Makarien von
einem Archiv geſprochen wird, worin ſich dergleichen
Einzelnheiten befinden. Wir kommen dadurch fuͤr den
Augenblick uͤber eine große Verlegenheit hinaus, und ha¬
ben zugleich den Vortheil, durch dieſes Vehikel eine
Maſſe ſehr bedeutender Dinge ſchicklich in die Welt zu
bringen.“
Ich billigte den Vorſchlag und machte mich ſogleich
an die Arbeit und vollendete die Redaction ſolcher Ein¬
zelnheiten in weniger Zeit. Goethe ſchien ſehr zufrieden.
Ich hatte das Ganze in zwey Hauptmaſſen zuſammen¬
geſtellt; wir gaben der einen den Titel: Aus Maka¬
riens Archiv, und der anderen die Aufſchrift: Im
Sinne der Wanderer, und da Goethe gerade zu
dieſer Zeit zwey bedeutende Gedichte vollendet hatte,
eins auf Schillers Schaͤdel, und ein anderes:
Kein Weſen kann zu nichts zerfallen, ſo hatte
er den Wunſch, auch dieſe Gedichte ſogleich in die Welt
zu bringen, und wir fuͤgten ſie alſo dem Schluſſe der
beyden Abtheilungen an.
[345]
Als nun aber die Wanderjahre erſchienen, wußte
niemand, wie ihm geſchah. Den Gang des Romans
ſah man durch eine Menge raͤthſelhafter Spruͤche unter¬
brochen, deren Loͤſung nur von Maͤnnern vom Fach,
d. h. von Kuͤnſtlern, Naturforſchern und Literatoren zu
erwarten war, und die allen uͤbrigen Leſern, zumal Le¬
ſerinnen, ſehr unbequem fallen mußten. Auch wurden
die beyden Gedichte ſo wenig verſtanden, als es geah¬
net werden konnte, wie ſie nur moͤchten an ſolche Stel¬
len gekommen ſeyn.
Goethe lachte dazu. „Es iſt nun einmal geſchehen,
ſagte er heute, und es bleibt jetzt weiter nichts, als
daß Sie bey Herausgabe meines Nachlaſſes dieſe ein¬
zelnen Sachen dahin ſtellen, wohin ſie gehoͤren; damit
ſie, bey einem abermaligen Abdruck meiner Werke, ſchon
an ihrem Orte vertheilt ſtehen, und die Wanderjahre
ſodann, ohne die Einzelnheiten und die beyden Gedichte,
in zwey Baͤnden zuſammenruͤcken moͤgen, wie anfaͤng¬
lich die Intention war.“
Wir wurden einig, daß ich alle auf Kunſt bezuͤg¬
lichen Aphorismen in einen Band uͤber Kunſtgegenſtaͤnde,
alle auf die Natur bezuͤglichen in einen Band uͤber
Naturwiſſenſchaften im Allgemeinen, ſo wie alles Ethi¬
ſche und Literariſche in einen gleichfalls paſſenden Band
dereinſt zu vertheilen habe.
[346]
Wir ſprachen uͤber Wallenſteins Lager. Ich hatte
naͤmlich haͤufig erwaͤhnen hoͤren, daß Goethe an die¬
ſem Stuͤcke Theil gehabt, und daß beſonders die Capu¬
zinerpredigt von ihm herruͤhre. Ich fragte ihn deßhalb
heute bey Tiſch, und er gab mir folgende Antwort.
„Im Grunde, ſagte er, iſt alles Schillers eigene
Arbeit. Da wir jedoch in ſo e [...]nem Verhaͤltniß mit
einander lebten, und Schiller mir nicht allein den
Plan mittheilte und mit mir durchſprach, ſondern auch
die Ausfuͤhrung, ſo wie ſie taͤglich heranwuchs, commu¬
nicirte und meine Bemerkungen hoͤrte und nutzte, ſo
mag ich auch wohl daran einigen Theil haben. Zu der
Capuziner-Predigt ſchickte ich ihm die Reden des Abra¬
ham a Sancta Clara, woraus er denn ſogleich jene
Predigt mit großem Geiſte zuſammenſtellte.“
„Daß einzelne Stellen von mir herruͤhren, erinnere
ich mich kaum, außer jenen zwey Verſen:
Denn da ich gerne motivirt wiſſen wollte, wie der
Bauer zu den falſchen Wuͤrfeln gekommen, ſo ſchrieb
ich dieſe Verſe eigenhaͤndig in das Manuſcript hinein.
Schiller hatte daran nicht gedacht, ſondern in ſeiner kuͤh¬
nen Art dem Bauer geradezu die Wuͤrfel gegeben, ohne
[347] viel zu fragen, wie er dazu gekommen. Ein ſorgfaͤltiges
Motiviren war, wie ich ſchon geſagt, nicht ſeine Sache,
woher denn auch die groͤßere Theater-Wirkung ſeiner
Stuͤcke kommen mag.“
Goethe erzaͤhlte mir von einem Knaben, der ſich
uͤber einen begangenen kleinen Fehler nicht habe beruhi¬
gen koͤnnen.
„Es war mir nicht lieb, dieſes zu bemerken, ſagte
er, denn es zeugt von einem zu zarten Gewiſſen, wel¬
ches das eigene moraliſche Selbſt ſo hoch ſchaͤtzet, daß
es ihm nichts verzeihen will. Ein ſolches Gewiſſen
macht hypochondriſche Menſchen, wenn es nicht durch
eine große Thaͤtigkeit balancirt wird.“
Man hatte mir in dieſen Tagen ein Neſt junger
Graſemuͤcken gebracht, nebſt einem der Alten, den man
in Leimruthen gefangen. Nun hatte ich zu bewundern,
wie der Vogel nicht allein im Zimmer fortfuhr ſeine
Jungen zu fuͤttern, ſondern wie er ſogar, aus dem
Fenſter frey gelaſſen, wieder zu den Jungen zuruͤck¬
kehrte. Eine ſolche, Gefahr und Gefangenſchaft uͤber¬
windende, elterliche Liebe ruͤhrte mich innig, und ich
aͤußerte mein Erſtaunen daruͤber heute gegen Goethe.
„Naͤrriſcher Menſch! antwortete er mir laͤchelnd bedeu¬
[348] tungsvoll, wenn Ihr an Gott glaubtet, ſo wuͤrdet Ihr
Euch nicht verwundern.“
„Beſeelte Gott den Vogel nicht mit dieſem allmaͤch¬
tigen Trieb gegen ſeine Jungen, und ginge das Gleiche
nicht durch alles Lebendige der ganzen Natur, die Welt
wuͤrde nicht beſtehen koͤnnen! — So aber iſt die goͤtt¬
liche Kraft uͤberall verbreitet und die ewige Liebe uͤberall
wirkſam.“
Eine aͤhnliche Äußerung that Goethe vor einiger
Zeit, als ihm von einem jungen Bildhauer das Modell
von Myrons Kuh mit dem ſaͤugenden Kalbe geſendet
wurde. „Hier, ſagte er, haben wir einen Gegenſtand
der hoͤchſten Art; das, die Welt erhaltende, durch die
ganze Natur gehende, ernaͤhrende Princip iſt uns hier
in einem ſchoͤnen Gleichniß vor Augen; dieſes und aͤhn¬
liche Bilder nenne ich die wahren Symbole der All¬
gegenwart Gottes.“
Goethe zeigte mir heute den bisher noch fehlenden
Anfang des fuͤnften Actes von Fauſt. Ich las bis zu
[349] der Stelle, wo die Huͤtte von Philemon und Baucis
verbrannt iſt, und Fauſt in der Nacht, auf dem Balkon
ſeines Palaſtes ſtehend, den Rauch riecht, den ein leiſer
Wind ihm zuwehet.
Die Namen Philemon und Baucis, ſagte ich, ver¬
ſetzen mich an die phrygiſche Kuͤſte, und laſſen mich
jenes beruͤhmten alterthuͤmlichen Paares gedenken; aber
doch ſpielet unſere Scene in der neueren Zeit und in
einer chriſtlichen Landſchaft.
„Mein Philemon und Baucis, ſagte Goethe, hat
mit jenem beruͤhmten Paare des Alterthums und der
ſich daran knuͤpfenden Sage nichts zu thun. Ich gab
meinem Paare bloß jene Namen, um die Charactere
dadurch zu heben. Es ſind aͤhnliche Perſonen und aͤhn¬
liche Verhaͤltniſſe, und da wirken denn die aͤhnlichen
Namen durchaus guͤnſtig.“
Wir redeten ſodann uͤber den Fauſt, den das Erb¬
theil ſeines Characters, die Unzufriedenheit, auch im
Alter nicht verlaſſen hat, und den, bey allen Schaͤtzen
der Welt, und in einem ſelbſtgeſchaffenen neuen Reiche,
ein paar Linden, eine Huͤtte und ein Gloͤckchen genieren,
die nicht ſein ſind. Er iſt darin dem israelitiſchen Koͤ¬
nig Ahab nicht unaͤhnlich, der nichts zu beſitzen waͤhnte,
wenn er nicht auch den Weinberg Naboths haͤtte.
„Der Fauſt, wie er im fuͤnften Act erſcheint, ſagte
Goethe ferner, ſoll nach meiner Intention gerade hun¬
dert Jahr alt ſeyn, und, ich bin nicht gewiß, ob es
II. 23[350] nicht etwa gut waͤre, dieſes irgendwo ausdruͤcklich zu
bemerken.“
Wir ſprachen ſodann uͤber den Schluß, und Goethe
machte mich auf die Stelle aufmerkſam, wo es heißt:
„In dieſen Verſen, ſagte er, iſt der Schluͤſſel zu
Fauſt's Rettung enthalten. In Fauſt ſelber eine immer
hoͤhere und reinere Thaͤtigkeit bis ans Ende, und von
oben die ihm zu Huͤlfe kommende ewige Liebe. Es
ſteht dieſes mit unſerer religioͤſen Vorſtellung durchaus
in Harmonie, nach welcher wir nicht bloß durch eigene
Kraft ſelig werden, ſondern durch die hinzukommende
goͤttliche Gnade.“
„Übrigens werden Sie zugeben, daß der Schluß, wo
es mit der geretteten Seele nach oben geht, ſehr ſchwer
zu machen war, und daß ich, bey ſo uͤberſinnlichen,
kaum zu ahnenden Dingen, mich ſehr leicht im Vagen
haͤtte verlieren koͤnnen, wenn ich nicht meinen poetiſchen
Intentionen, durch die ſcharf umriſſenen chriſtlich-kirch¬
lichen Figuren und Vorſtellungen, eine wohlthaͤtig be¬
ſchraͤnkende Form und Feſtigkeit gegeben haͤtte.“
[351]
Den noch fehlenden vierten Act vollendete Goethe
darauf in den naͤchſten Wochen, ſo daß im Auguſt der
ganze zweyte Theil geheftet und vollkommen fertig da¬
lag. Dieſes Ziel, wonach er ſo lange geſtrebt, endlich
erreicht zu haben, machte Goethe uͤberaus gluͤcklich.
„Mein ferneres Leben, ſagte er, kann ich nunmehr als
ein reines Geſchenk anſehen, und es iſt jetzt im Grunde
ganz einerley, ob und was ich noch etwa thue.“
Mit Goethe zu Tiſch. Wir ſprachen, woher es ge¬
kommen, daß ſeine Farbenlehre ſich ſo wenig verbreitet
habe. „Sie iſt ſehr ſchwer zu uͤberliefern, ſagte er,
denn ſie will, wie Sie wiſſen, nicht bloß geleſen und
ſtudirt, ſondern ſie will gethan ſeyn, und das hat ſeine
Schwierigkeit. Die Geſetze der Poeſie und Malerey
ſind gleichfalls bis auf einen gewiſſen Grad mitzuthei¬
len, allein, um ein guter Poet und Maler zu ſeyn
bedarf es Genie, das ſich nicht uͤberliefern laͤßt. Ein
einfaches Urphaͤnomen aufzunehmen, es in ſeiner hohen
Bedeutung zu erkennen und damit zu wirken, erfordert
einen productiven Geiſt, der Vieles zu uͤberſehen ver¬
mag, und iſt eine ſeltene Gabe, die ſich nur bey ganz
vorzuͤglichen Naturen findet.“
23*[352]
„Und auch damit iſt es noch nicht gethan. Denn
wie einer mit allen Regeln und allem Genie noch kein
Maler iſt, ſondern wie eine unausgeſetzte Übung hinzu
kommen muß, ſo iſt es auch bey der Farbenlehre nicht
genug, daß einer die vorzuͤglichſten Geſetze kenne und
den geeigneten Geiſt habe, ſondern er muß ſich immer¬
fort mit den einzelnen oft ſehr geheimnißvollen Phaͤno¬
menen und ihrer Ableitung und Verknuͤpfung zu thun
machen.“
„So wiſſen wir z. B. im Allgemeinen recht gut,
daß die gruͤne Farbe durch eine Miſchung des Gelben
und Blauen entſteht; allein bis einer ſagen kann, er
begreife das Gruͤn des Regenbogens, oder das Gruͤn
des Laubes, oder das Gruͤn des Meerwaſſers, dieſes
erfordert ein ſo allſeitiges Durchſchreiten des Farben¬
reiches und eine daraus entſpringende ſolche Hoͤhe von
Einſicht, zu welcher bis jetzt kaum jemand gelangt iſt.“
Zum Nachtiſch betrachteten wir darauf einige Land¬
ſchaften von Pouſſin. „Diejenigen Stellen, ſagte
Goethe bey dieſer Gelegenheit, worauf der Maler das
hoͤchſte Licht fallen laͤßt, laſſen kein Detail in der Aus¬
fuͤhrung zu; weßhalb denn Waſſer, Felsſtuͤcke, nackter
Erdboden und Gebaͤude, fuͤr ſolche Traͤger des Haupt¬
lichtes die guͤnſtigſten Gegenſtaͤnde ſind. Dinge dage¬
gen, die in der Zeichnung ein groͤßeres Detail erfordern,
kann der Kuͤnſtler nicht wohl an ſolchen Lichtſtellen ge¬
brauchen.“
[353]
„Ein Landſchaftsmaler, ſagte Goethe ferner, muß
viele Kenntniſſe haben. Es iſt nicht genug daß er Per¬
ſpective, Architektur und die Anatomie des Menſchen
und der Thiere verſtehe, ſondern er muß ſogar auch
einige Einſichten in die Botanik und Mineralogie be¬
ſitzen. Erſtere, damit er das Charakteriſtiſche der Baͤume
und Pflanzen, und letztere, damit er den Character der
verſchiedenen Gebirgsarten gehoͤrig auszudruͤcken verſtehe.
Doch iſt deßhalb nicht noͤthig, daß er ein Mineralog
vom Fache ſey, indem er es vorzuͤglich nur mit Kalk-,
Thonſchiefer- und Sandſtein-Gebirgen zu thun hat, und
er nur zu wiſſen braucht, in welchen Formen es liegt,
wie es ſich bey der Verwitterung ſpaltet, und welche
Baumarten darauf gedeihen oder verkruͤppeln.“
Goethe zeigte mir ſodann einige Landſchaften von
Hermann von Schwanefeld, wobey er uͤber die
Kunſt und Perſoͤnlichkeit dieſes vorzuͤglichen Menſchen
Verſchiedenes ausſprach.
„Man findet bey ihm, ſagte er, die Kunſt als Nei¬
gung und die Neigung als Kunſt, wie bey keinem an¬
dern. Er beſitzt eine innige Liebe zur Natur und einen
goͤttlichen Frieden, der ſich uns mittheilt wenn wir ſeine
Bilder betrachten. In den Niederlanden geboren, ſtu¬
dirte er in Rom unter Claude Lorrain, durch welchen
Meiſter er ſich auf das vollkommenſte ausbildete und
ſeine ſchoͤne Eigenthuͤmlichkeit auf das freyeſte ent¬
wickelte.“
[354]
Wir ſchlugen darauf in einem Kuͤnſtler-Lexicon nach,
um zu ſehen, was uͤber Hermann von Schwanefeld ge¬
ſagt ward, wo man ihm denn vorwarf, daß er ſeinen
Meiſter nicht erreicht habe. „Die Narren! ſagte Goe¬
the, Schwanefeld war ein Anderer als Claude Lorrain,
und dieſer kann nicht ſagen, daß er ein Beſſerer gewe¬
ſen. Wenn man aber weiter nichts vom Leben haͤtte,
als was unſere Biographen und Lexiconſchreiber von
uns ſagen, ſo waͤre es ein ſchlechtes Metier, und uͤberall
nicht der Muͤhe werth.“
Am Schluſſe dieſes und zu Anfange des naͤchſten
Jahres wandte ſich Goethe ganz wieder ſeinen Lieblings¬
ſtudien, den Naturwiſſenſchaften, zu, und beſchaͤftigte
ſich theils, auf Anregung von Boiſſerée, mit fernerer
Ergruͤndung der Geſetze des Regenbogens, ſo wie be¬
ſonders auch, aus Theilnahme an dem Streit zwiſchen
Cuvier und St. Hilaire, mit Gegenſtaͤnden der
Metamorphoſe der Pflanzen- und Thier-Welt. Auch
redigirte er mit mir gemeinſchaftlich den hiſtoriſchen Theil
der Farbenlehre, ſo wie er auch an einem Capitel uͤber
die Miſchung der Farben innigen Antheil nahm, das
ich auf ſeine Anregung, um in den theoretiſchen Band
aufgenommen zu werden, bearbeitete.
[355]
Es fehlte in dieſer Zeit nicht an mannigfachen in¬
tereſſanten Unterhaltungen und geiſtreichen Äußerungen
ſeinerſeits. Allein, wie er in voͤlliger Kraft und Friſche
mir taͤglich vor Augen war, ſo dachte ich es wuͤrde im¬
mer ſo fortgehen, und war in Auffaſſung ſeiner Worte
gleichguͤltiger als billig, bis es denn endlich zu ſpaͤt
war, und ich am 22. Maͤrz 1832 mit Tauſenden von
edlen Deutſchen ſeinen unerſetzlichen Verluſt zu bewei¬
nen hatte.
Folgendes notirte ich nicht lange darauf aus der
naͤchſten Erinnerung.
Goethe erzaͤhlte bey Tiſch, daß der Baron Carl
v. Spiegel ihn beſucht, und daß er ihm uͤber die Maßen
wohl gefallen. „Er iſt ein ſehr huͤbſcher junger Mann,
ſagte Goethe; er hat in ſeiner Art, in ſeinem Benehmen
ein Etwas, woran man ſogleich den Edelmann erkennet.
Seine Abkunft koͤnnte er eben ſo wenig verleugnen, als
jemand einen hoͤheren Geiſt verleugnen koͤnnte. Denn
Beydes, Geburt und Geiſt, geben dem, der ſie einmal
beſitzet, ein Gepraͤge, das ſich durch kein Incognito ver¬
bergen laͤßt. Es ſind Gewalten wie die Schoͤnheit, de¬
[356] nen man nicht nahe kommen kann, ohne zu empfinden,
daß ſie hoͤherer Art ſind.“
Wir ſprachen uͤber die tragiſche Schickſals-Idee der
Griechen.
„Dergleichen, ſagte Goethe, iſt unſerer jetzigen Den¬
kungsweiſe nicht mehr gemaͤß, es iſt veraltet, und uͤber¬
haupt mit unſeren religioͤſen Vorſtellungen in Wider¬
ſpruch. Verarbeitet ein moderner Poet ſolche fruͤhere
Ideen zu einem Theaterſtuͤck, ſo ſieht es immer aus wie
eine Art von Affectation. Es iſt ein Anzug, der laͤngſt
aus der Mode gekommen iſt, und der uns, gleich der
roͤmiſchen Toga, nicht mehr zu Geſichte ſteht.“
„Wir Neueren ſagen jetzt beſſer mit Napoleon: die
Politik iſt das Schickſal. Huͤten wir uns aber mit
unſeren neueſten Literatoren zu ſagen, die Politik ſey
die Poeſie, oder ſie ſey fuͤr den Poeten ein paſſender
Gegenſtand. Der engliſche Dichter Thomſon ſchrieb ein
ſehr gutes Gedicht uͤber die Jahreszeiten, allein ein ſehr
ſchlechtes uͤber die Freyheit; und zwar nicht aus Man¬
gel an Poeſie im Poeten, ſondern aus Mangel an Poeſie
im Gegenſtande.“
„So wie ein Dichter politiſch wirken will, muß er
[357] ſich einer Partey hingeben; und ſo wie er dieſes thut,
iſt er als Poet verloren; er muß ſeinem freyen Geiſte,
ſeinem unbefangenen Überblick Lebewohl ſagen, und da¬
gegen die Kappe der Bornirtheit und des blinden Haſſes
uͤber die Ohren ziehen.“
„Der Dichter wird als Menſch und Buͤrger ſein
Vaterland lieben, aber das Vaterland ſeiner poetiſchen
Kraͤfte und ſeines poetiſchen Wirkens iſt das Gute, Edle
und Schoͤne, das an keine beſondere Provinz und an
kein beſonderes Land gebunden iſt, und das er ergreift
und bildet wo er es findet. Er iſt darin dem Adler
gleich, der mit freyem Blick uͤber Laͤndern ſchwebt, und
dem es gleichviel iſt, ob der Haſe, auf den er hinab¬
ſchießt, in Preußen oder in Sachſen laͤuft.“
„Und was heißt denn: ſein Vaterland lieben, und
was heißt denn: patriotiſch wirken? Wenn ein Dichter
lebenslaͤnglich bemuͤht war, ſchaͤdliche Vorurtheile zu be¬
kaͤmpfen, engherzige Anſichten zu beſeitigen, den Geiſt
ſeines Volkes aufzuklaͤren, deſſen Geſchmack zu reinigen,
und deſſen Geſinnungs- und Denkweiſe zu veredeln,
was ſoll er denn da Beſſeres thun? und wie ſoll er denn
da patriotiſcher wirken? — An einen Dichter ſo unge¬
hoͤrige und undankbare Anforderungen zu machen, waͤre
eben ſo, als wenn man von einem Regiments-Chef ver¬
langen wolle: er muͤſſe, um ein rechter Patriot zu ſeyn,
ſich in politiſche Neuerungen verflechten und daruͤber ſei¬
nen naͤchſten Beruf vernachlaͤſſigen. Das Vaterland
II. 24[358] eines Regiments-Chefs aber iſt ſein Regiment, und
er wird ein ganz vortrefflicher Patriot ſeyn, wenn er
ſich um politiſche Dinge gar nicht bemuͤht als ſo weit
ſie ihn angehen, und wenn er dagegen ſeinen ganzen
Sinn und ſeine ganze Sorge auf die ihm untergebenen
Bataillons richtet, und ſie ſo gut einzuexerciren und in
ſo guter Zucht und Ordnung zu erhalten ſucht, daß ſie,
wenn das Vaterland einſt in Gefahr kommt, als tuͤch¬
tige Leute ihren Mann ſtehen.“
„Ich haſſe alle Pfuſcherey wie die Suͤnde, beſonders
aber die Pfuſcherey in Staatsangelegenheiten, woraus
fuͤr Tauſende und Millionen nichts als Unheil hervor¬
geht.“
„Sie wiſſen, ich bekuͤmmere mich im Ganzen wenig
um das was uͤber mich geſchrieben wird, aber es kommt
mir doch zu Ohren, und ich weiß recht gut, daß, ſo
ſauer ich es mir auch mein Lebelang habe werden laſ¬
ſen, all mein Wirken in den Augen gewiſſer Leute fuͤr
nichts geachtet wird, eben weil ich verſchmaͤht habe,
mich in politiſche Parteyungen zu mengen. Um dieſen
Leuten recht zu ſeyn, haͤtte ich muͤſſen Mitglied eines
Jacobiner-Clubs werden und Mord und Blutvergießen
predigen! — Doch kein Wort mehr uͤber dieſen ſchlech¬
ten Gegenſtand, damit ich nicht unvernuͤnftig werde,
indem ich das Unvernuͤnftige bekaͤmpfe.“
Gleicherweiſe tadelte Goethe die von Anderen ſo ſehr
geprieſene politiſche Richtung in Uhland. „Geben Sie
[359] Acht, ſagte er, der Politiker wird den Poeten aufzehren.
Mitglied der Staͤnde ſeyn und in taͤglichen Reibungen
und Aufregungen leben, iſt keine Sache fuͤr die zarte
Natur eines Dichters. Mit ſeinem Geſange wird es
aus ſeyn, und das iſt gewiſſermaßen zu bedauern.
Schwaben beſitzt Maͤnner genug, die hinlaͤnglich unter¬
richtet, wohlmeinend, tuͤchtig und beredt ſind, um Mit¬
glied der Staͤnde zu ſeyn, aber es hat nur Einen Dich¬
ter der Art wie Uhland.“
Der letzte Fremde, den Goethe gaſtfreundlich bey ſich
bewirthete, war der aͤlteſte Sohn der Frau von Arnim;
das Letzte was er geſchrieben, waren einige Verſe in
das Stammbuch des gedachten jungen Freundes.
Am andern Morgen nach Goethe's Tode ergriff mich
eine tiefe Sehnſucht, ſeine irdiſche Huͤlle noch einmal zu
ſehen. Sein treuer Diener Friedrich ſchloß mir das
Zimmer auf, wo man ihn hingelegt hatte. Auf dem
Ruͤcken ausgeſtreckt, ruhte er wie ein Schlafender; tiefer
Friede und Feſtigkeit waltete auf den Zuͤgen ſeines erha¬
ben-edlen Geſichts. Die maͤchtige Stirn ſchien noch Ge¬
danken zu hegen. Ich hatte das Verlangen nach einer
24*[360] Locke von ſeinen Haaren, doch die Ehrfurcht verhinderte
mich, ſie ihm abzuſchneiden. Der Koͤrper lag nackend
in ein weißes Betttuch gehuͤllet, große Eisſtuͤcke hatte
man in einiger Naͤhe umhergeſtellt, um ihn friſch zu
erhalten ſo lange als moͤglich. Friedrich ſchlug das Tuch
auseinander, und ich erſtaunte uͤber die goͤttliche Pracht
dieſer Glieder. Die Bruſt uͤberaus maͤchtig, breit und
gewoͤlbt; Arme und Schenkel voll und ſanft mus¬
kuloͤs; die Fuͤße zierlich und von der reinſten Form;
und nirgends am ganzen Koͤrper eine Spur von Fettig¬
keit, oder Abmagerung und Verfall. Ein vollkommener
Menſch lag in großer Schoͤnheit vor mir, und das
Entzuͤcken, das ich daruͤber empfand, ließ mich auf
Augenblicke vergeſſen, daß der unſterbliche Geiſt eine
ſolche Huͤlle verlaſſen. Ich legte meine Hand auf ſein
Herz, — es war uͤberall eine tiefe Stille, — und ich
wendete mich abwaͤrts, um meinen verhaltenen Thraͤ¬
nen freyen Lauf zu laſſen.
- Lizenz
-
CC-BY-4.0
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- Zitationsvorschlag für diese Edition
- TextGrid Repository (2025). Eckermann, Johann Peter. Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bj1r.0