[][][][][][][[I]]
Gespräche mit Goethe.

Dritter Theil.

[[II]][[III]]
Geſpraͤche mit Goethe
in den
letzten Jahren ſeines Lebens.




Dritter Theil.


Magdeburg::
Heinrichshofen'ſche Buchhandlung.

1848.

[[IV]][[V]]

Ihro Kaiſerlichen Hoheit
der regierenden Frau Großherzogin zu
Sachſen-Weimar und Eiſenach,
Maria Paulowna,
Großfürſtin von Rußland,
in erneuter Dankbarkeit unterthänigſt zugeeignet.


[[VI]][[VII]]

Vorrede.

Indem ich endlich dieſen längſt verſprochenen
dritten Theil meiner Geſpräche mit Goethe abge¬
ſchloſſen vor mir ſehe, beglückt mich das freudige
Gefühl überwundener großer Hinderniſſe.


Mein Fall war ſehr ſchwierig. Er glich dem
eines Schiffers, der nicht mit dem Winde ſegeln
kann, der heute weht, ſondern mit großer Geduld
oft Wochen und Monate lang einen Fahrwind
erwarten muß, wie er vor Jahren geweht hat. —
Als ich ſo glücklich war, die beiden erſten Theile
zu ſchreiben, konnte ich gewiſſermaßen mit gutem
Winde gehen, weil mir damals das friſch geſpro¬
chene Wort noch in den Ohren klang und der
lebendige Verkehr mit jenem wunderbaren Manne
mich in dem Element einer Begeiſterung erhielt,
[VIII] wodurch ich mich zum Ziele getragen fühlte wie
auf Flügeln.


Jetzt aber, wo jene Stimme ſchon ſeit vielen
Jahren verſtummt iſt, und das Glück jener per¬
ſönlichen Berührungen ſo weit hinter mir liegt,
konnte ich die ſo nöthige Begeiſterung nur in ſol¬
chen Stunden erlangen, wo es mir vergönnt war,
in mein eigenes Inneres zu gehen und in unge¬
ſtörter Vertiefung das Vergangene wieder zu fri¬
ſchen Farben zu beleben, wo es denn anfing, ſich
zu regen, und ich große Gedanken und große Cha¬
rakterzüge vor mir liegen ſah, gleich Gebirgen,
fernen zwar, aber deutlich und wie von der Sonne
des wirklichen Tages beſchienen.


So kam mir denn die Begeiſterung aus der
Freude am Großen; das Einzelne des Ideengan¬
ges und mündlichen Ausdruckes ward wieder friſch,
als ob ich es geſtern erlebt hätte. Der lebendige
Goethe war wieder da; ich hörte wieder den be¬
ſondern lieben Klang ſeiner Stimme, die mit keines
Anderen zu vergleichen. Ich ſah ihn wieder Abends
in ſchwarzem Frack und Stern bei heller Erleuchtung
ſeiner Zimmer im geſelligen Kreiſe ſcherzen und
[lX] lachen und heiteres Geſpräch führen. Dann an¬
deren Tages bei ſchönem Wetter war er im Wa¬
gen neben mir, im braunen Oberrock und blauer
Tuchmütze, den hellgrauen Mantel über ſeine
Kniee gelegt. Seine Geſichtsfarbe braun-geſund,
wie die friſche Luft; ſein Geſpräch geiſtreich in
die freie Welt hinein, das Geräuſch des Wagens
übertönend. Oder ich ſah mich Abends bei ſtil¬
lem Kerzenlicht wieder in ſein Studierzimmer
verſetzt, wo er im weißen flanellenen Schlafrock
am Tiſche mir gegenüber ſaß, milde, wie die
Stimmung eines gut verlebten Tages. Wir ſpra¬
chen über große und gute Dinge, er kehrte das
Edelſte, was in ſeiner Natur lag, mir entgegen;
mein Geiſt entzündete ſich an dem ſeinigen. Es
war zwiſchen uns die innigſte Harmonie; er
reichte mir über den Tiſch herüber ſeine Hand,
die ich drückte. Dann ergriff ich wohl ein neben
mir ſtehendes gefülltes Glas, das ich, ohne etwas
zu ſagen, ihm zutrank, indem meine Blicke über
den Wein hin in ſeinen Augen ruhten.


So war ich ihm in voller Lebendigkeit wieder
zugeſellt und ſeine Worte klangen wieder wie ehemals.


[X]

Aber wie es auch ſonſt im Leben zu gehen
pflegt, daß wir wohl eines geliebten Todten ge¬
denken, doch bei dem Geräuſch des fordernden
Tages oft Wochen und Monate lang nur flüch¬
tig, und daß die ſtillen Augenblicke einer ſolchen
Vertiefung, wo wir ein vor uns dahingegangenes
Geliebtes in der ganzen Friſche des Lebens wieder
zu beſitzen glauben, zu den ſeltenen ſchönen Stun¬
den gehören, ſo erging es mir auch mit Goethe.


Es vergingen oft Monate, wo meine Seele,
durch Berührungen des täglichen Lebens hinge¬
nommen, für ihn todt war und er meinem
Geiſte mit keinem Worte zuſprach. Und wieder¬
um traten andere Wochen und Monate unfrucht¬
barer Stimmung ein, wo in meinem Gemüth
nichts keimen und nichts blühen wollte. Solche
nichtige Zeiten mußte ich mit großer Geduld nutz¬
los vorübergehen laſſen, denn das in ſolchen Zu¬
ſtänden Geſchriebene wäre nichts werth geweſen.
Ich mußte vom guten Glück die Wiederkehr von
Stunden erwarten, wo das Vergangene mir in
voller Lebendigkeit gegenwärtig und mein Inneres
an geiſtiger Kraft und ſinnlichem Behagen auf
[XI] einer Höhe ſtand, um zur Einkehr Goethe'ſcher
Gedanken und Empfindungen eine würdige Be¬
hauſung zu ſeyn. Denn ich hatte es mit einem
Helden zu thun, den ich nicht durfte ſinken laſſen.
In der ganzen Milde der Geſinnung, in der vol¬
len Klarheit und Kraft des Geiſtes und in der
gewohnten Würde einer hohen Perſönlichkeit mußte
er erſcheinen, um wahr zu ſeyn, — und das war
keineswegs etwas Geringes!


Mein Verhältniß zu ihm war eigenthümlicher
Art und ſehr zarter Natur. Es war das des
Schülers zum Meiſter, das des Sohnes zum
Vater, das des Bildungs-Bedürftigen zum Bil¬
dungs-Reichen. Er zog mich in ſeine Kreiſe und
ließ mich an den geiſtigen und leiblichen Genüſſen
eines höheren Daſeyns Theil nehmen. Oft ſah
ich ihn nur alle acht Tage, wo ich ihn in den
Abendſtunden beſuchte; oft auch jeden Tag, wo
ich Mittags mit ihm, bald in größerer Geſellſchaft,
bald tête à tête zu Tiſch zu ſeyn das Glück
hatte.


Seine Unterhaltung war mannigfaltig, wie
ſeine Werke. Er war immer Derſelbige und im¬
[XII] mer ein Anderer. Bald occupirte ihn irgend eine
große Idee und ſeine Worte quollen reich und
unerſchöpflich. Sie glichen oft einem Garten im
Frühling, wo Alles in Blüthe ſtand und man,
von dem allgemeinen Glanz geblendet, nicht daran
dachte, ſich einen Strauß zu pflücken. Zu an¬
deren Zeiten dagegen fand man ihn ſtumm und
einſilbig, als lagerte ein Nebel auf ſeiner Seele;
ja es konnten Tage kommen, wo es war, als
wäre er voll eiſiger Kälte und als ſtriche ein ſchar¬
fer Wind über Reif- und Schneefelder. Und
wiederum wenn man ihn ſah, war er wieder
wie ein lachender Sommertag, wo alle Sänger
des Waldes uns aus Büſchen und Hecken ent¬
gegenjubeln, der Kuckuck durch blaue Lüfte ruft und
der Bach durch blumige Auen rieſelt. Dann war
es eine Luſt, ihn zu hören; ſeine Nähe war dann beſe¬
ligend und das Herz erweiterte ſich bei ſeinen Worten.


Winter und Sommer, Alter und Jugend
ſchienen bei ihm im ewigen Kampf und Wechſel
zu ſeyn; doch war es an ihm, dem Siebzig- bis
Achtzigjährigen, wohl zu bewundern, daß die Ju¬
gend immer wieder obenauf war und jene an¬
[XIII] gedeuteten Herbſt- und Wintertage zu ſeltenen
Ausnahmen gehörten.


Seine Selbſtbeherrſchung war groß, ja ſie
bildete eine hervorragende Eigenthümlichkeit ſeines
Weſens. Sie war eine Schweſter jener hohen
Beſonnenheit, wodurch es ihm gelang, immer
Herr ſeines Stoffes zu ſeyn, und ſeinen einzelnen
Werken diejenige Kunſtvollendung zu geben, die
wir an ihnen bewundern. Durch eben jene Ei¬
genſchaft aber ward er, ſo wie in manchen ſei¬
ner Schriften, ſo auch in manchen mündlichen
Aeußerungen, oft gebunden und voller Rück¬
ſicht. Sobald aber in glücklichen Momenten
ein mächtigerer Dämon in ihm rege wurde, und
jene Selbſtbeherrſchung ihn verließ, dann ward
ſein Geſpräch jugendlich dahinbrauſend, gleich
einem aus der Höhe herabkommenden Bergſtrome.
In ſolchen Augenblicken ſagte er das Größte und
Beſte, was in ſeiner reichen Natur lag, und von
ſolchen Augenblicken iſt es wohl zu verſtehen,
wenn ſeine früheren Freunde über ihn geäußert,
daß ſein geſprochenes Wort beſſer ſey, als
ſein geſchriebenes und gedrucktes. So ſagte Mar¬
[XIV] montel
von Diderot, daß, wer dieſen nur aus
ſeinen Schriften gekannt, ihn nur halb gekannt;
daß er aber, ſobald er bei mündlicher Unterhaltung
lebhaft geworden, einzig und hinreißend geweſen.


Darf ich nun hoffen, daß von jenen glück¬
lichen Momenten in dieſen Geſprächen Manches
feſtzuhalten mir gelungen, ſo mag es dieſem
Bande nicht weniger zu Gute kommen, daß darin
eine doppelte Spiegelung von Goethe's Perſön¬
lichkeit ſtattfindet, einmal nämlich gegen mich,
und dann gegen einen jungen Freund.


Herr Soret aus Genf, als freiſinniger
Republikaner zur Leitung der Erziehung Sr.
K. H. des Erbgroßherzogs im Jahre 1822
nach Weimar berufen, hatte von gedachtem Jahre
bis zu Goethe's Tode zu ihm gleichfalls ein ſehr
nahes Verhältniß. Er war in Goethe's Hauſe
ein häufiger Tiſchgenoſſe, auch in ſeinen Abend¬
geſellſchaften ein oft und gerne geſehener Gaſt.
Außerdem boten ſeine naturwiſſenſchaftlichen Kennt¬
niſſe vielfache Berührungspunkte zu einem dauern¬
den Umgange. Als gründlicher Mineraloge ord¬
nete er Goethe's Cryſtalle, ſowie ſeine Kenntniſſe
[XV] der Botanik ihn fähig machten, Goethe's Meta¬
morphoſe der Pflanze ins Franzöſiſche zu über¬
ſetzen und dadurch jener wichtigen Schrift eine
größere Verbreitung zu geben. Seine Stellung
am Hofe ferner führte ihn gleichfalls oft in Goe¬
the's Nähe, indem er bald den Prinzen zu ihm
begleitete, bald Aufträge Sr. Königlichen Hoheit
des Großherzogs und Ihrer Kaiſerlichen Hoheit
der Frau Großherzogin ihm zu Beſuchen bei
Goethe Veranlaſſung gaben.


Von ſolchen perſönlichen Berührungen hat
nun Herr Soret in ſeinen Tagebüchern häufig
Notiz genommen, und vor einigen Jahren die
Güte gehabt, ein daraus zuſammengeſtelltes klei¬
nes Manuſcript mir in dem Sinne zu übergeben,
daß es mir geſtattet ſeyn ſolle, das Beſte und
Intereſſanteſte in meinen dritten Band chrono¬
logiſch zu verweben.


Dieſe in franzöſiſcher Sprache abgefaßten No¬
tizen waren bald ausführlich, bald aber nur
flüchtig und lückenhaft, ſo wie die eiligen, oft
ſehr geſchäftsreichen Tage des Verfaſſers es ihm
hatten erlauben wollen. Da jedoch in dem gan¬
[XVl] zen Manuſcript kein Gegenſtand vorgekommen,
der nicht zwiſchen Goethe und mir wiederholt und
ausführlich wäre beſprochen worden, ſo waren
meine eigenen Tagebücher ganz geeignet, das von
Soret Geſchriebene zu ergänzen, dort gelaſſene
Lücken auszufüllen und das oft nur Angedeutete
in hinlänglicher Entwickelung darzuſtellen. Alle
Geſpräche jedoch, bei denen das Manuſcript von
Soret zu Grunde liegt oder ſtark benutzt worden,
wie es beſonders in den beiden erſten Jahren der
Fall, ſind oben am Datum mit einem * bezeich¬
net, um ſie von denen, die bloß von mir ſind,
und welche, bis auf Weniges, die Jahre 1824
bis 1829 und einen großen Theil von 1830,
1831 und 1832 ausmachen, zu unterſcheiden.


Und ſo wüßte ich nun weiter nichts hinzu¬
zufügen, als daß ich dieſem lange und mit
Liebe gehegten dritten Band dieſelbe gute Auf¬
nahme wünſche, wie ſie in ſo reichlichem Maße
den beiden erſten zu Theil geworden.


Weimar, den 21. December 1847.

[[1]]

1822.

III. 1[[2]][[3]]

Dieſen Abend bei Goethe mit Hofrath Meyer. Die
Unterhaltung drehte ſich hauptſächlich um Mineralogie,
Chemie und Phyſik. Die Phänomene der Polariſation
des Lichts ſchienen ihn beſonders zu intereſſiren. Er
zeigte mir verſchiedene Vorrichtungen, größtentheils nach
ſeinen eigenen Angaben conſtruirt, und äußerte den
Wunſch, mit mir einige Experimente zu machen.


Goethe ward im Laufe des Geſprächs immer freier
und mittheilender. Ich blieb länger als eine Stunde
und er ſagte mir beim Abſchiede viel Gutes.


Seine Geſtalt iſt noch ſchön zu nennen, ſeine Stirn
und Augen ſind beſonders majeſtätiſch. Er iſt groß
und wohlgebaut und von ſo rüſtigem Anſehen, daß
man nicht wohl begreift, wie er ſich ſchon ſeit Jahren
hat für zu alt erklären können, um noch in Geſellſchaft
und an Hof zu gehen.

Den Abend bei Goethe zugebracht mit Meyer,
Goethe's Sohn, Frau v. Goethe und ſeinem Arzt,
1*[4] Hofrath Rehbein. Goethe war heute beſonders lebhaft.
Er zeigte mir prächtige Lithographien aus Stuttgart,
etwas ſo Vollkommenes in dieſer Art, wie ich noch
nicht geſehen. Darauf ſprachen wir über wiſſenſchaft¬
liche Dinge, beſonders über die Fortſchritte der Chemie.
Das Jod und das Chlor beſchäftigten Goethe vorzugs¬
weiſe; er ſprach über dieſe Subſtanzen mit einem
Erſtaunen, als ob ihn die neuen Entdeckungen der
Chemie ganz unvermuthet überraſcht hätten. Er ließ
ſich etwas Jod hereinbringen und verflüchtigte es vor
unſern Augen an der Flamme einer Wachskerze, wobei
er nicht verfehlte, uns den violetten Dunſt bewundern
zu laſſen, als freudige Beſtätigung eines Geſetzes ſeiner
Theorie der Farben.

Bei Goethe zu einer Abendgeſellſchaft. Ich fand
unter den Anweſenden auch Herrn Canzler v. Müller,
Präſidenten Peucer, Dr. Stephan Schütze, und Regie¬
rungsrath Schmidt, welcher letztere einige Sonaten
von Beethoven mit einer ſeltenen Vollkommenheit
vortrug. Hohen Genuß gewährte mir auch die Unter¬
haltung Goethes und ſeiner Schwiegertochter, die, jugend¬
lich heiter, mit einem liebenswürdigen Naturell unendlich
viel Geiſt verbindet.


[5]

In einer Abendgeſellſchaft bei Goethe mit dem
berühmten Blumenbach aus Göttingen. Blumenbach
iſt alt, aber von lebhaftem und heiterem Ausdruck; er
hat ſich die ganze Beweglichkeit der Jugend zu bewahren
gewußt. Sein Benehmen iſt der Art, daß man nicht
denkt, daß man einen Gelehrten vor ſich habe. Seine
Herzlichkeit iſt frei und froh; er macht keine Umſtände
und man iſt bald mit ihm auf einem ſehr bequemen Fuß.
Seine Bekanntſchaft war mir ſo intereſſant wie angenehm.

Abendgeſellſchaft bei Goethe. Unter den Anweſenden
befand ſich auch der Maler Kolbe. Man zeigte uns
von ihm ein trefflich ausgeführtes Gemälde, eine Copie
der Venus von Titian der Dresdener Galerie.


Auch Herrn von Eſchwege und den berühmten
Hummel fand ich dieſen Abend bei Goethe. Hummel
improviſirte faſt eine Stunde lang auf dem Piano, mit
einer Kraft und einem Talent, wovon es unmöglich iſt
ſich einen Begriff zu machen, wenn man ihn nicht
gehört hat. Ich fand ſeine Unterhaltung einfach und
natürlich, und ihn ſelbſt, für einen Virtuoſen von
ſo großer Berühmtheit, auffallend beſcheiden.


[6]

Bei Goethe in einer Abendgeſellſchaft. Die Herren
Riemer, Coudray, Meyer, Goethe's Sohn und Frau
v. Göthe waren unter den Anweſenden.


Die Studenten in Jena ſind in Aufſtand begriffen;
man hat eine Compagnie Artillerie hingeſchickt, um ſie
zu beruhigen. Riemer las eine Sammlung von Liedern,
die man ihnen verboten und die dadurch Anlaß oder
Vorwand der Revolte gegeben. Alle dieſe Lieder
erhielten beim Vorleſen entſchiedenen Beifall, beſonders
wegen des Talentes das darin ſichtbar; Goethe ſelbſt
fand ſie gut und verſprach ſie mir zur ruhigen Durchſicht.


Nachdem wir darauf eine Zeit lang Kupferſtiche und
koſtbare Bücher betrachtet hatten, machte Goethe uns
die Freude, das Gedicht Charon zu leſen. Die klare,
deutliche und energiſche Art mußte ich bewundern, womit
Goethe das Gedicht vortrug. Nie habe ich eine ſo
ſchöne Declamation gehört. Welches Feuer! Welche
Blicke! Und welche Stimme! abwechſelnd donnernd, und
dann wieder ſanft und milde. Vielleicht entwickelte er
an einigen Stellen zu viele Kraft für den kleinen Raum
in dem wir uns befanden; aber doch war in ſeinem
Vortrage nichts, was man hätte hinwegwünſchen mögen.


Goethe ſprach darauf über Literatur und ſeine Werke,
ſowie über Frau v. Stael und Verwandtes. Er be¬
ſchäftigt ſich gegenwärtig mit der Ueberſetzung und
[7] Zuſammenſtellung der Fragmente vom Phaëton des
Euripides. Er hat dieſe Arbeit bereits vor einem
Jahre angefangen und in dieſen Tagen wieder vor¬
genommen.

Dieſen Abend bei Goethe, hörte ich die Probe des
erſten Acts einer im Entſtehen begriffenen Oper, der
Graf von Gleichen, von Eberwein. Seit Goethe die
Direction des Theaters niedergelegt, ſey dieß das erſte¬
mal, ſagte man mir, daß er ein ſo großes Perſonal
der Oper bei ſich ſehe. Herr Eberwein dirigirte den
Geſang. Bei den Chören aſſiſtirten auch einige Damen
aus der Bekanntſchaft Goethe's, während die Solo¬
parthieen durch Mitglieder der Oper geſungen wurden.
Einige Stücke erſchienen mir ſehr merkwürdig, beſonders
ein Canon zu vier Stimmen.

Abends bei Goethe. Er war ſehr heiter und
behandelte das Thema, daß die Thorheiten der Väter
für ihre Kinder verloren ſeyen, mit vielem Geiſt. Die
Nachforſchungen, die man jetzt zur Entdeckung von
Salzquellen anſtellt, intereſſirten ihn ſichtbar. Er ſchalt
auf die Dummheit gewiſſer Unternehmer, welche die
äußeren Spuren und die Lage und Folge der Schichten,
[8] unter denen Steinſalz liegt und durch die der Bohrer
gehen muß, ganz außer Acht laſſen, und die, ohne den
rechten Fleck zu wiſſen und zu finden, immer ein
einziges Bohrloch an einer und derſelbigen Stelle auf's
Gerathewohl hartnäckig verfolgen.

[[9]]

1823.


[[10]][[11]]

Abends bei Goethe, den ich allein fand, in Geſprächen
mit Meyer. Ich durchblätterte ein Album vergangener
Jahrhunderte mit einigen ſehr berühmten Handſchriften,
wie z. B. von Luther, Erasmus, Mosheim und Anderen.
Der letztere hatte in lateiniſcher Sprache folgendes
merkwürdige Wort geſchrieben:


Der Ruhm eine Quelle von Mühe und
Leiden
; die Dunkelheit eine Quelle des
Glücks
.

Goethe iſt ſeit einigen Tagen gefährlich krank
geworden; geſtern lag er ohne Hoffnung. Doch hat
ſich heute eine Kriſis eingeſtellt, wodurch er gerettet zu
werden ſcheint. Noch dieſen Morgen äußerte er, daß
er ſich für verloren halte; ſpäter, Mittags, ſchöpfte er
Hoffnung, daß er es überwinden werde; und wieder
Abends meinte er, wenn er davon komme, ſo müſſe
man geſtehen, daß er für einen Greis ein zu hohes
Spiel geſpielt.

[12]

Der heutige Tag war in Bezug auf Goethe noch
ſehr beunruhigend, indem dieſen Mittag die Beſſerung
nicht erfolgte wie geſtern. In einem Anfall von Schwäche
ſagte er zu ſeiner Schwiegertochter: „Ich fühle, daß
der Moment gekommen, wo in mir der Kampf zwiſchen
Leben und Tod beginnt.“


Doch hatte der Kranke am Abend ſein volles geiſtiges
Bewußtſeyn und zeigte ſchon wieder einigen ſcherzhaften
Uebermuth. „Ihr ſeyd zu furchtſam mit Euren Mitteln,
ſagte er zu Rehbein, Ihr ſchont mich zu ſehr! — Wenn
man einen Kranken vor ſich hat, wie ich es bin, ſo
muß man ein wenig Napoleoniſch mit ihm zu Werke
gehen.“ Er trank darauf eine Taſſe eines Decocts
von Arnica, welche geſtern, im gefährlichſten Moment
von Huſchke angewendet, die glückliche Kriſis bewirkt
hatte. Goethe machte eine gracieuſe Beſchreibung dieſer
Pflanze und erhob ihre energiſchen Wirkungen in den
Himmel. — Man ſagte ihm, daß die Aerzte nicht hätten
zugeben wollen, daß der Großherzog ihn ſehe. „Wäre
ich der Großherzog, rief Goethe, ſo würde ich viel
gefragt und mich viel um Euch bekümmert haben.“


In einem Augenblick, wo er ſich beſſer befand und
wo ſeine Bruſt freier zu ſeyn ſchien, ſprach er mit
Leichtigkeit und klarem Geiſte, worauf Rehbein einem
der Naheſtehenden in's Ohr fliſterte: „Eine beſſere
Reſpiration pflegt eine beſſere Inſpiration mit ſich
[13] zu führen.“ Goethe, der es gehört, rief darauf mit
großer Heiterkeit: „Das weiß ich längſt; aber dieſe
Wahrheit paßt nicht auf Euch, Ihr Schelm!“


Goethe ſaß aufrecht in ſeinem Bette, der offenen
Thür ſeines Arbeitzimmers gegenüber, wo ſeine näheren
Freunde verſammelt waren, ohne daß er es wußte. Seine
Züge erſchienen mir wenig verändert, ſeine Stimme war
rein und deutlich; doch war darin ein feierlicher Ton,
wie der eines Sterbenden. „Ihr ſcheint zu glauben,
ſagte er zu ſeinen Kindern, daß ich beſſer bin; aber Ihr
betrügt Euch.“ Man ſuchte ihm jedoch ſeine Appre¬
henſionen ſcherzend auszureden, welches er ſich denn
auch gefallen zu laſſen ſchien. Es waren indeß immer
noch mehr Perſonen in das Zimmer hereingetreten,
welches ich keineswegs für gut finden konnte, indem die
Gegenwart ſo vieler Menſchen unnöthigerweiſe die Luft
verſchlechterte und der Bedienung des Kranken im Wege
war. Ich konnte nicht unterlaſſen, mich darüber auszu¬
ſprechen, und ging hinab in das untere Zimmer, von
wo aus ich meine Bülletins der Kaiſerlichen Hoheit
zuſchickte.

Goethe hat ſich Rechenſchaft ablegen laſſen über
das Verfahren, das man bisher mit ihm beobachtet;
auch hat er die Liſten der Perſonen geleſen, die ſich bisher
nach ſeinem Befinden erkundiget und deren Zahl täglich
[14] ſehr groß war. Er empfing darauf den Großherzog
und ſchien ſpäter von dem Beſuch nicht angegriffen.
In ſeinem Arbeitszimmer fand ich heute weniger Per¬
ſonen, woraus ich zu meiner Freude ſchloß, daß meine
geſtrige Bemerkung etwas gefruchtet hatte.


Nun aber, da die Krankheit gehoben iſt, ſcheint
man die Folgen zu fürchten. Seine linke Hand iſt
geſchwollen und es zeigen ſich drohende Vorboten der
Waſſerſucht. Erſt in einigen Tagen wird man wiſſen,
was man von dem endlichen Ausgang der Krankheit zu
halten hat. Goethe hat heute das erſtemal nach einem
ſeiner Freunde verlangt, nämlich nach ſeinem älteſten
Freunde Meyer. Er wollte ihm eine ſeltene Medaille
zeigen, die er aus Böhmen erhalten hat und worüber
er entzückt iſt.


Ich kam um zwölf Uhr, und da Goethe hörte, daß
ich dort war, ließ er mich in ſeine Nähe rufen. Er
reichte mir die Hand, indem er mir ſagte: „Sie ſehen
in mir einen vom Tode Erſtandenen.“ Er beauftragte
mich ſodann, Ihrer Kaiſerlichen Hoheit für die Theilnahme
zu danken, die ſie ihm während ſeiner Krankheit be¬
wieſen. „Meine Geneſung wird ſehr langſam ſeyn,
fügte er darauf hinzu, aber den Herren Aerzten bleibt
doch nichtsdeſtoweniger die Ehre, ein kleines Wunder
an mir gethan zu haben.“


Nach ein paar Minuten zog ich mich zurück. Seine
Farbe iſt gut, allein er iſt ſehr abgemagert und athmet
[15] noch mit einiger Beſchwerde. Es kam mir vor, als
würde ihm das Sprechen ſchwieriger als geſtern. Die
Geſchwulſt des linken Armes iſt ſehr ſichtbar; er hält
die Augen geſchloſſen und öffnet ſie nur wenn er
ſpricht.

Dieſen Abend bei Goethe, den ich in mehreren Tagen
nicht geſehen. Er ſaß in ſeinem Lehnſtuhl und hatte
ſeine Schwiegertochter und Riemer bei ſich. Er war
auffallend beſſer. Seine Stimme hatte wieder ihren
natürlichen Klang, ſein Athemholen war frei, ſeine
Hand nicht mehr geſchwollen, ſein Ausſehen wieder wie
in geſundem Zuſtand, und ſeine Unterhaltung leicht.
Er ſtand auf und ging ohne Umſtände in ſein Schlaf¬
zimmer und wieder zurück. Man trank den Thee bei
ihm, und da es heute wieder das erſtemal war, ſo
machte ich Frau v. Goethe ſcherzhaft Vorwürfe, daß
ſie vergeſſen habe, einen Blumenſtrauß auf das Theebrett
zu ſtellen. Frau von Goethe nahm ſogleich ein farbiges
Band von ihrem Hut und band es an die Theemaſchine.
Dieſer Scherz ſchien Goethen viel Vergnügen zu machen.


Wir betrachteten darauf eine Sammlung nachgemach¬
ter Edelſteine, die der Großherzog hatte von Paris
kommen laſſen.


[16]

Man hat heute im Theater Goethe's Taſſo zur Feier
ſeiner Geneſung gegeben, mit einem Prolog von Riemer,
den Frau von Heigendorf geſprochen. Seine Büſte
ward unter lautem Beifall der gerührten Zuſchauer mit
einem Lorbeerkranze geſchmückt. Nach beendigter Vor¬
ſtellung ging Frau v. Heigendorf zu Goethe. Sie war
noch im Coſtüm der Leonore und überreichte ihm den
Kranz des Taſſo, den Goethe nahm, um damit die Büſte
der Großfürſtin Alexandra zu ſchmücken.

Ich brachte Goethen von Seiten Ihrer Kaiſerlichen
Hoheit eine Nummer des Franzöſiſchen Modejournals,
worin von einer Ueberſetzung ſeiner Werke die Rede war.
Wir ſprachen bei dieſer Gelegenheit über Rameau's
Neffen
, wovon das Original lange verloren geweſen.
Verſchiedene Deutſche glauben, daß jenes Original nie
exiſtirt habe und daß Alles Goethe's eigene Erfindung
ſey. Goethe aber verſichert, daß es ihm durchaus
unmöglich geweſen ſeyn würde, Diderot's geiſtreiche Dar¬
ſtellung und Schreibart nachzuahmen, und daß der
deutſche Rameau nichts weiter ſey, als eine ſehr treue
Ueberſetzung.

Einen Theil des Abends bei Goethe zugebracht in
[17] Geſellſchaft des Herrn Oberbaudirectors Coudray. Wir
ſprachen über das Theater und die Verbeſſerungen, die
dabei ſeit einiger Zeit eingetreten ſind. „Ich bemerke
es, ohne hinzugehen, ſagte Goethe lachend. Noch vor
zwei Monaten kamen meine Kinder des Abends immer
mißvergnügt nach Hauſe. Sie waren nie mit dem
Plaiſir zufrieden, das man ihnen hatte bereiten wollen.
Aber jetzt hat ſich das Blatt gewendet; ſie kommen mit
freudeglänzenden Geſichtern, weil ſie doch einmal
ſich recht hätten ſatt weinen können
. Geſtern
haben ſie dieſe „Wonne der Thränen“ einem Drama
von Kotzebue zu verdanken gehabt.“

Abends mit Goethe allein. Wir ſprachen über
Literatur, Lord Byron, deſſen Sardanapal und Werner.
Sodann kamen wir auf den Fauſt, über den Goethe
oft und gerne redet. Er möchte, daß man ihn ins
Franzöſiſche überſetzte, und zwar im Charakter der Zeit
des Marot. Er betrachtet ihn als die Quelle, aus der
Byron die Stimmung zu ſeinem Manfred geſchöpft.
Goethe findet, daß Byron in ſeinen beiden letzten
Tragödien entſchiedene Fortſchritte gemacht, indem er
darin weniger düſter und miſanthropiſch erſcheint. Wir
ſprachen ſodann über den Text der Zauberflöte, wovon
Goethe die Fortſetzung gemacht, aber noch keinen Com¬
poniſten gefunden hat, um den Gegenſtand gehörig zu
III. 2[18] behandeln. Er giebt zu, daß der bekannte erſte Theil
voller Unwahrſcheinlichkeiten und Späße ſey, die nicht
Jeder zurechtzulegen und zu würdigen wiſſe; aber man
müſſe doch auf alle Fälle dem Autor zugeſtehen, daß
er im hohen Grade die Kunſt verſtanden habe, durch
Contraſte zu wirken und große theatraliſche Effecte
herbeizuführen.

Abends bei Goethe mit Gräfin Caroline Egloffſtein.
Goethe ſcherzte über die deutſchen Almanache und
andere periodiſche Erſcheinungen, alle von einer lächer¬
lichen Sentimentalität durchdrungen, die an der Ord¬
nung des Tages zu ſeyn ſcheine. Die Gräfin bemerkte,
daß die deutſchen Romanſchreiber den Anfang gemacht,
den Geſchmack ihrer zahlreichen Leſer zu verderben, und
daß nun wiederum die Leſer die Romanſchreiber ver¬
dürben, die, um für ihre Manuſcripte einen Verleger
zu finden, ſich jetzt ihrerſeits dem herrſchenden ſchlechten
Geſchmack des Publicums bequemen müßten.

Ich fand Coudray und Meyer bei Goethe. Man
ſprach über verſchiedene Dinge. „Die Großherzogliche
Bibliothek, ſagte Goethe unter Anderem, beſitzt einen
Globus, der unter der Regierung Carls des Fünften
von einem Spanier verfertigt worden. Es finden ſich
[19] auf ihm einige merkwürdige Inſchriften, wie z. B. die
folgende: „Die Chineſen ſind ein Volk, das ſehr viele
Aehnlichkeit mit den Deutſchen hat.“ „In älteren Zeiten,
fuhr Goethe fort, waren auf den Landcharten die
afrikaniſchen Wüſten mit Abbildungen wilder Thiere
bezeichnet. Heut zu Tage aber thut man dergleichen
nicht; vielmehr ziehen die Geographen vor, uns carte
blanche
zu laſſen.“

Abends bei Goethe. Er ſuchte mir einen Begriff
ſeiner Farbenlehre zu geben. „Das Licht, ſagte er, ſey
keineswegs eine Zuſammenſetzung verſchiedener Farben;
auch könne das Licht allein keine Farben hervor¬
bringen, vielmehr gehöre immer dazu eine gewiſſe
Modification und Miſchung von Licht und Schatten.

Ich fand Goethe beſchäftigt, ſeine kleinen Gedichtchen
und Blättchen an Perſonen zuſammen zu ſuchen. „In
früheren Zeiten, ſagte er, wo ich leichtſinniger mit
meinen Sachen umging und Abſchriften zu nehmen unter¬
ließ, ſind hunderte ſolcher Gedichte verloren gegangen.“

Der Canzler, Riemer und Meyer waren bei Goethe.
Man ſprach über die Gedichte von Béranger und
2*[20] Goethe commentirte und paraphraſirte einige derſelben
mit großer Originalität und guter Laune.


Sodann war von Phyſik und Meteorologie die Rede.
Goethe iſt im Begriff, die Theorie einer Witterungslehre
auszuarbeiten, wobei er das Steigen und Fallen des
Barometers gänzlich den Wirkungen des Erdballs und
deſſen Anziehung und Entlaſſung der Atmosphäre
zuſchreiben wird.


„Die Herren Gelehrten, und namentlich die Herren
Mathematiker, fuhr Goethe fort, werden nicht verfehlen,
meine Ideen durchaus lächerlich zu finden; oder auch,
ſie werden noch beſſer thun, ſie werden ſie vornehmer¬
weiſe völlig ignoriren. Wiſſen Sie aber warum? Weil
ſie ſagen, ich ſey kein Mann vom Fache.“


Der Caſtengeiſt der Gelehrten, erwiederte ich, wäre
wohl zu verzeihen. Wenn ſich in ihre Theorieen einige
Irrthümer eingeſchlichen haben und darin fortgeſchleppt
werden, ſo muß man die Urſache darin ſuchen, daß ſie
dergleichen zu einer Zeit als Dogmen überliefert be¬
kommen haben, wo ſie ſelber noch auf den Schulbänken
ſaßen.


„Das iſt's eben! rief Goethe. Eure Gelehrten
machen es wie unſere Weimar'ſchen Buchbinder. Das
Meiſterſtück, das man von ihnen verlangt, um in die Gilde
aufgenommen zu werden, iſt keineswegs ein hübſcher
Einband nach dem neueſten Geſchmack. Nein, weit
entfernt! Es muß noch immer eine dicke Bibel in
[21] Folio geliefert werden, ganz wie ſie vor zwei bis drꝛ
Jahrhunderten Mode war, mit plumpen Deckeln und
in ſtarkem Leder. — Die Aufgabe iſt eine Abſurdität.
Aber es würde dem armen Handwerker ſchlecht gehen,
wenn er behaupten wollte, ſeine Examinatoren wären
dumme Leute.“

Abends bei Goethe. Madame Szymanowska, deren
Bekanntſchaft er dieſen Sommer in Marienbad gemacht,
phantaſirte auf dem Flügel. Goethe, im Anhören
verloren, ſchien mitunter ſehr ergriffen und bewegt.

Kleine Abendgeſellſchaft bei Goethe, der ſeit längerer
Zeit wieder leidend iſt. Seine Füße hatte er in eine
wollene Decke gewickelt, die ihn ſeit dem Feldzuge in
der Champagne überall hin begleitet. Bei Gelegenheit
dieſer Decke erzählte er uns eine Anekdote aus dem
Jahre 1806, wo die Franzoſen Jena occupirt hatten
und der Caplan eines franzöſiſchen Regiments Behänge
zum Schmuck ſeines Altars requirirte. „Man hatte
ihm ein Stück glänzend carmoiſinrothes Zeug geliefert,
ſagte Goethe, das ihm aber noch nicht gut genug
war. Er beſchwerte ſich darüber bei mir. Schicken
Sie mir jenes Zeug, antwortete ich ihm, ich will ſehen,
ob ich Ihnen etwas Beſſeres verſchaffen kann. Indeſſen
[22][h]atten wir auf unſerm Theater ein neues Stück zu
geben und ich benutzte den prächtigen rothen Stoff, um
damit meine Schauſpieler herauszuputzen. Was aber
meinen Caplan betraf, ſo erhielt er weiter nichts; er
ward vergeſſen und er hat ſehen müſſen, wie er ſich
ſelber half.“

Goethe iſt immer noch nicht beſſer. Die Frau
Großfürſtin ſchickte ihm dieſen Abend durch mich einige ſehr
ſchöne Medaillen, deren Betrachtung ihm vielleicht einige
Zerſtreuung und Aufheiterung gewähren möchte. Goethe
war über dieſe zarte Aufmerkſamkeit ſeiner hohen Fürſtin
ſichtbar erfreut. Er klagte mir darauf, daß er den¬
ſelbigen Schmerz an der Seite des Herzens fühle, wie
er ſeiner ſchweren Krankheit vom vorigen Winter
vorangegangen. „Ich kann nicht arbeiten, ſagte er;
ich kann nicht leſen, und ſelbſt das Denken gelingt mir
nur in glücklichen Augenblicken der Erleichterung.“

Humboldt iſt hier. Ich war heute einen Augenblick
bei Goethe, wo es mir ſchien, als ob die Gegenwart
und die Unterhaltung Humboldt's einen günſtigen Ein¬
fluß auf ihn gehabt habe. Sein Uebel ſcheint nicht
bloß phyſiſcher Art zu ſeyn. Es ſcheint vielmehr, daß
die leidenſchaftliche Neigung, die er dieſen Sommer in
[23] Marienbad zu einer jungen Dame gefaßt und die er
jetzt zu bekämpfen ſucht, als Haupturſache ſeiner jetzigen
Krankheit zu betrachten iſt.

Der erſte Theil von Meyers Kunſtgeſchichte, der ſo
eben erſchienen, ſcheint Goethe ſehr angenehm zu be¬
ſchäftigen. Er ſprach darüber heute in Ausdrücken des
höchſten Lobes.

Ich brachte Goethen einige Mineralien, beſonders
ein Stück thonigen Oker, den Deſchamps zu Cormayan
gefunden, und wovon Herr Maſſot viel Rühmens macht.
Wie ſehr aber war Goethe erſtaunt, als er in dieſer
Farbe ganz dieſelbige erkannte, die Angelika Kaufmann
zu den Fleiſchpartieen ihrer Gemälde zu benutzen pflegte!
„Sie ſchätzte das Wenige, das ſie davon beſaß, ſagte
er, nach dem Gewicht des Goldes. Der Ort indeß, wo
es herſtammte und wo es zu finden, war ihr unbekannt.“
Goethe meinte gegen ſeine Tochter, ich behandele ihn
wie einen Sultan, dem man täglich neue Geſchenke
bringe. Er behandelt Sie vielmehr wie ein Kind!
erwiederte Frau v. Goethe; worüber er ſich denn nicht
enthalten konnte zu lächeln.


[24]

Ich fragte Goethen, wie er ſich heute befinde. „Nicht
ganz ſo ſchlecht als Napoleon auf ſeiner Inſel“, war
die ſeufzende Antwort. Der ſich ſehr in die Länge
ziehende krankhafte Zuſtand ſcheint denn doch nach und
nach ſehr auf ihn zu wirken.

Goethe's gute Laune war heute wieder glänzend.
Wir haben den kürzeſten Tag erreicht, und die Hoffnung,
jetzt mit jeder Woche die Tage wieder bedeutend zunehmen
zu ſehen, ſcheint auf ſeine Stimmung den günſtigſten
Einfluß auszuüben. „Heute feiern wir die Wiedergeburt
der Sonne!“ rief er mir froh entgegen, als ich dieſen
Vormittag bei ihm eintrat. Ich höre, daß er jedes Jahr
die Wochen vor dem kürzeſten Tage in deprimirter
Stimmung zu verbringen und zu verſeufzen pflegt.


Frau v. Goethe trat herein, um ihren Schwiegerpapa
zu benachrichtigen, daß ſie nach Berlin zu reiſen im
Begriff ſey, um dort mit ihrer nächſtens zurückkommenden
Mutter zuſammen zu treffen.


Als Frau v. Goethe gegangen war, ſcherzte Goethe
mit mir über die lebendige Einbildungskraft, welche die
Jugend charakteriſire. „Ich bin zu alt, ſagte er, um
ihr zu widerſprechen und ihr begreiflich zu machen, daß
die Freude, ihre Mutter dort oder hier zuerſt wieder¬
zuſehen, ganz dieſelbige ſeyn würde. Dieſe Winterreiſe
[25] iſt viel Mühe um nichts; aber ein ſolches Nichts iſt
der Jugend oft unendlich viel. — Und im Ganzen
genommen, was thut's! Man muß oft etwas Tolles
unternehmen, um nur wieder eine Zeit lang leben zu
können. In meiner Jugend habe ich es nicht beſſer
gemacht, und doch bin ich noch ziemlich mit heiler Haut
davon gekommen.“

Abends mit Goethe allein, in allerlei Geſprächen.
Er ſagte mir, daß er die Abſicht habe, ſeine Reiſe in
die Schweiz vom Jahre 1797 in ſeine Werke aufzunehmen.
Sodann war die Rede vom Werther, den er nicht wieder
geleſen habe, als einmal, ungefähr zehn Jahre nach
ſeinem Erſcheinen. Auch mit ſeinen anderen Schriften
habe er es ſo gemacht. Wir ſprachen darauf von
Überſetzungen, wobei er mir ſagte, daß es ihm ſehr
ſchwer werde, engliſche Gedichte in deutſchen Verſen
wiederzugeben. „Wenn man die ſchlagenden einſilbigen
Worte der Engländer, ſagte er, mit vielſilbigen oder
zuſammengeſetzten deutſchen ausdrücken will, ſo iſt gleich
alle Kraft und Wirkung verloren.“ Von ſeinem Rameau
ſagte er, daß er die Ueberſetzung in vier Wochen gemacht
und Alles dictirt habe.


Wir ſprachen ſodann über Naturwiſſenſchaften, ins¬
beſondere über die Kleingeiſterei, womit dieſe und jene
[26] Gelehrten ſich um die Priorität ſtreiten. „Ich habe durch
nichts die Menſchen beſſer kennen gelernt, ſagte Goethe,
als durch meine wiſſenſchaftlichen Beſtrebungen. Ich
habe es mich viel koſten laſſen und es iſt mit manchen
Leiden verknüpft geweſen; aber ich freue mich dennoch
die Erfahrung gemacht zu haben.“


In den Wiſſenſchaften, bemerkte ich, ſcheint auf eine
beſondere Weiſe der Egoismus der Menſchen angeregt
zu werden; und wenn dieſer einmal in Bewegung geſetzt
iſt, ſo pflegen ſehr bald alle Schwächen des Charakters
zum Vorſchein zu kommen.


„Die Fragen der Wiſſenſchaft, verſetzte Goethe, ſind
ſehr häufig Fragen der Exiſtenz. Eine einzige Entdeckung
kann einen Mann berühmt machen und ſein bürgerliches
Glück begründen. Deßhalb herrſcht auch in den Wiſſen¬
ſchaften dieſe große Strenge und dieſes Feſthalten und
dieſe Eiferſucht auf das Aperçü eines Andern. Im
Reich der Aeſthetik dagegen iſt Alles weit läßlicher; die
Gedanken ſind mehr oder weniger ein angeborenes
Eigenthum aller Menſchen, wobei Alles auf die Behand¬
lung und Ausführung ankommt und billigerweiſe wenig
Neid ſtattfindet. Ein einziger Gedanke kann das
Fundament zu hundert Epigrammen hergeben und es
fragt ſich bloß, welcher Poet denn nun dieſen Gedanken
auf die wirkſamſte und ſchönſte Weiſe zu verſinnlichen
gewußt habe.“


„Bei der Wiſſenſchaft aber iſt die Behandlung null,

[27] und alle Wirkung liegt im Aperçü. Es iſt dabei wenig
Allgemeines und Subjectives, ſondern die einzelnen
Manifeſtationen der Naturgeſetze liegen alle ſphynxartig,
ſtarr, feſt und ſtumm außer uns da. Jedes wahr¬
genommene neue Phänomen iſt eine Entdeckung, jede
Entdeckung ein Eigenthum. Taſte aber nur Einer das
Eigenthum an, und der Menſch mit ſeinen Leidenſchaften
wird ſogleich daſeyn.“


„Es wird aber, fuhr Goethe fort, in den Wiſſen¬
ſchaften auch zugleich dasjenige als Eigenthum angeſehen,
was man auf Academieen überliefert erhalten und
gelernt hat. Kommt nun Einer, der etwas Neues bringt,
das mit unſerm Credo, das wir ſeit Jahren nachbeten
und wiederum Anderen überliefern, in Widerſpruch ſteht
und es wohl gar zu ſtürzen droht, ſo regt man alle
Leidenſchaften gegen ihn auf und ſucht ihn auf alle
Weiſe zu unterdrücken. Man ſträubt ſich dagegen, wie
man nur kann; man thut, als höre man nicht, als
verſtände man nicht; man ſpricht darüber mit Gering¬
ſchätzung, als wäre es gar nicht der Mühe werth es
nur anzuſehen und zu unterſuchen; und ſo kann eine
neue Wahrheit lange warten, bis ſie ſich Bahn macht.
Ein Franzoſe ſagte zu einem meiner Freunde in Bezug
auf meine Farbenlehre: Wir haben funfzig Jahre lang
gearbeitet, um das Reich Newton's zu gründen und zu
befeſtigen; es werden andere funfzig Jahre nöthig ſeyn,
um es zu ſtürzen.“

[28]

„Die mathematiſche Gilde hat meinen Namen in
der Wiſſenſchaft ſo verdächtig zu machen geſucht, daß
man ſich ſcheut, ihn nur zu nennen. Es kam mir vor
einiger Zeit eine Broſchüre in die Hand, worin Gegen¬
ſtände der Farbenlehre behandelt waren; und zwar
ſchien der Verfaſſer ganz durchdrungen von meiner
Lehre zu ſeyn und hatte Alles auf dieſelben Fundamente
gebaut und zurückgeführt. Ich las die Schrift mit
großer Freude; allein zu meiner nicht geringen Ueber¬
raſchung mußte ich ſehen, daß der Verfaſſer mich nicht
einmal genannt hatte. Später ward mir das Räthſel
gelöſt. Ein gemeinſchaftlicher Freund beſuchte mich und
geſtand mir: der talentreiche junge Verfaſſer habe durch
jene Schrift ſeinen Ruf zu gründen geſucht und habe
mit Recht gefürchtet, ſich bei der gelehrten Welt zu
ſchaden, wenn er es gewagt hätte, ſeine vorgetragenen
Anſichten durch meinen Namen zu ſtützen. — Die kleine
Schrift machte Glück, und der geiſtreiche junge Ver¬
faſſer hat ſich mir ſpäter perſönlich vorgeſtellt und ſich
entſchuldigt.“


Der Fall erſcheint mir um ſo merkwürdiger, verſetzte
ich, da man in allen anderen Dingen auf Ihre Autorität
ſtolz zu ſeyn Urſache hat und Jedermann ſich glücklich
ſchätzet, in Ihrer Zuſtimmung vor der Welt einen
mächtigen Schutz zu finden. Bei Ihrer Farbenlehre
ſcheint mir das Schlimme zu ſeyn, daß Sie es dabei
nicht bloß mit dem berühmten, von Allen anerkannten
[29] Newton, ſondern auch mit ſeinen in der ganzen Welt
verbreiteten Schülern zu thun haben, die ihrem Meiſter
anhängen und deren Zahl Legion iſt. Geſetzt auch,
daß Sie am Ende recht behalten, ſo werden Sie gewiß
noch eine geraume Zeit mit Ihrer neuen Lehre allein ſtehen.


„Ich bin es gewohnt und bin darauf gefaßt, er¬
wiederte Goethe. Aber ſagen Sie ſelbſt, fuhr er fort,
konnte ich nicht ſtolz ſeyn, wenn ich mir ſeit zwanzig
Jahren geſtehen mußte, daß der große Newton und
alle Mathematiker und erhabenen Rechner mit ihm in
Bezug auf die Farbenlehre ſich in einem entſchiedenen
Irrthum befänden und daß ich unter Millionen der
Einzige ſey, der in dieſem großen Natur-Gegenſtande
allein das Rechte wiſſe? Mit dieſem Gefühl der Supe¬
riorität war es mir denn möglich, die ſtupide Anma߬
lichkeit meiner Gegner zu ertragen. Man ſuchte mich
und meine Lehre auf alle Weiſe anzufeinden und meine
Ideen lächerlich zu machen; aber ich hatte nichtsdeſto¬
weniger über mein vollendetes Werk eine große Freude.
Alle Angriffe meiner Gegner dienten mir nur, um die
Menſchen in ihrer Schwäche zu ſehen.“


Während Goethe ſo mit einer Kraft und einem
Reichthum des Ausdruckes ſprach, wie ich in ganzer
Wahrheit wiederzugeben nicht im Stande bin, glänzten
ſeine Augen von einem außerordentlichen Feuer. Man
ſah darin den Ausdruck des Triumphs, während ein
[30] ironiſches Lächeln um ſeine Lippen ſpielte. Die Züge
ſeines ſchönen Geſichtes waren impoſanter als je.

Bei Goethe zu Tiſche, in mancherlei Geſprächen.
Er zeigte mir ein Portefeuille mit Handzeichnungen,
unter denen beſonders die Anfänge von Heinrich Füßli
merkwürdig.


Wir ſprachen ſodann über religiöſe Dinge und den
Mißbrauch des göttlichen Namens.


„Die Leute tractiren ihn, ſagte Goethe, als wäre
das unbegreifliche, gar nicht auszudenkende höchſte Weſen
nicht viel mehr, als ihres Gleichen. Sie würden ſonſt
nicht ſagen: Der Herr Gott, der liebe Gott, der
gute Gott. Er wird ihnen, beſonders den Geiſtlichen,
die ihn täglich im Munde führen, zu einer Phraſe, zu
einem bloßen Namen, wobei ſie ſich auch gar nichts
denken. Wären ſie aber durchdrungen von ſeiner Größe,
ſie würden verſtummen und ihn vor Verehrung nicht
nennen mögen.“

[[31]]

1824.

[[32]][[33]]

Bei Goethe zu Tiſch in heiteren Geſprächen. Eine
junge Schönheit der Weimariſchen Geſellſchaft kam zur
Erwähnung, wobei einer der Anweſenden bemerkte, daß
er faſt auf dem Punkte ſtehe, ſie zu lieben, obgleich ihr
Verſtand nicht eben glänzend zu nennen.


„Pah! ſagte Goethe lachend, als ob die Liebe
etwas mit dem Verſtande zu thun hätte! Wir lieben
an einem jungen Frauenzimmer ganz andere Dinge,
als den Verſtand. Wir lieben an ihr das Schöne, das
Jugendliche, das Neckiſche, das Zutrauliche, den Cha¬
rakter, ihre Fehler, ihre Capricen, und Gott weiß was
alles Unausſprechliche ſonſt; aber wir lieben nicht
ihren Verſtand. Ihren Verſtand achten wir, wenn er
glänzend iſt, und ein Mädchen kann dadurch in unſern
Augen unendlich an Werth gewinnen. Auch mag der
Verſtand gut ſeyn, uns zu feſſeln, wenn wir bereits
lieben. Allein der Verſtand iſt nicht dasjenige, was
fähig wäre, uns zu entzünden und eine Leidenſchaft zu
erwecken.“


Man fand an Goethe's Worten viel Wahres und
Ueberzeugendes und war ſehr bereit, den Gegenſtand
ebenfalls von dieſer Seite zu betrachten.


III. 3[34]

Nach Tiſche und als die Uebrigen gegangen waren
blieb ich bei Goethe ſitzen und verhandelte mit ihm
noch mancherlei Gutes.


Wir ſprachen über die engliſche Literatur, über die
Größe Shakſpeare's, und welch einen ungünſtigen Stand
alle engliſchen dramatiſchen Schriftſteller gehabt, die
nach jenem poetiſchen Rieſen gekommen.


„Ein dramatiſches Talent, fuhr Goethe fort, wenn
es bedeutend war, konnte nicht umhin, von Shakſpeare
Notiz zu nehmen, ja es konnte nicht umhin, ihn zu
ſtudiren. Studirte es ihn aber, ſo mußte ihm bewußt
werden, daß Shakſpeare die ganze Menſchennatur nach
allen Richtungen hin, und in allen Tiefen und Höhen,
bereits erſchöpft habe, und daß im Grunde für ihn,
den Nachkömmling, nichts mehr zu thun übrig bleibe.
Und woher hätte Einer den Muth nehmen ſollen, nur
die Feder anzuſetzen, wenn er ſich ſolcher bereits vor¬
handener unergründlicher und unerreichbarer Vortrefflich¬
keiten in ernſter anerkennender Seele bewußt war!“


„Da hatte ich es freilich vor funfzig Jahren in
meinem lieben Deutſchland beſſer. Ich konnte mich
ſehr bald mit dem Vorhandenen abfinden, es konnte
mir nicht lange imponiren und mich nicht ſehr aufhalten.
Ich ließ die deutſche Literatur und das Studium derſelben
ſehr bald hinter mir und wendete mich zum Leben und
zur Production. So nach und nach vorſchreitend ging
ich in meiner natürlichen Entwickelung fort und bildete
[35] mich nach und nach zu den Productionen heran, die
mir von Epoche zu Epoche gelangen. Und meine Idee
vom Vortrefflichen war auf jeder meiner Lebens- und
Entwickelungsſtufen nie viel größer, als was ich auch
auf jeder Stufe zu machen im Stande war. Wäre ich
aber als Engländer geboren, und wären alle jene viel¬
fältigen Meiſterwerke bei meinem erſten jugendlichen
Erwachen mit all ihrer Gewalt auf mich eingedrungen,
es hätte mich überwältigt und ich hätte nicht gewußt,
was ich hätte thun wollen. Ich hätte nicht ſo leichten,
friſchen Muthes vorſchreiten können, ſondern mich ſicher
erſt lange beſinnen und umſehen müſſen, um irgendwo
einen neuen Ausweg zu finden.“


Ich lenkte das Geſpräch auf Shakſpeare zurück.
Wenn man ihn, ſagte ich, aus der engliſchen Literatur
gewiſſermaßen herausreißt und als einen Einzelnen
nach Deutſchland verſetzt und betrachtet, ſo kann man
nicht umhin, ſeine rieſenhafte Größe als ein Wunder
anzuſtaunen. Sucht man ihn aber in ſeiner Heimath
auf, verſetzt man ſich auf den Boden ſeines Landes
und in die Atmosphäre des Jahrhunderts in dem er
lebte, ſtudirt man ferner ſeine Mitlebenden und unmit¬
telbaren Nachfolger, athmet man die Kraft, die uns aus
Ben Jonſon, Maſſinger, Marlow und Beaumont und
Fletcher anweht, ſo bleibt zwar Shakſpeare immer noch
eine gewaltig hervorragende Größe, aber man kommt
doch zu der Ueberzeugung, daß viele Wunder ſeines
3*[36] Geiſtes einigermaßen zugänglich werden und daß Vieles
von ihm in der kräftigen productiven Luft ſeines Jahr¬
hunderts und ſeiner Zeit lag.


„Sie haben vollkommen Recht, erwiederte Goethe.
Es iſt mit Shakſpeare wie mit den Gebirgen der
Schweiz. Verpflanzen Sie den Montblanc unmittelbar
in die große Ebene der Lüneburger Heide, und Sie
werden vor Erſtaunen über ſeine Größe keine Worte
finden. Beſuchen Sie ihn aber in ſeiner rieſigen
Heimath, kommen Sie zu ihm über ſeine großen Nach¬
barn: die Jungfrau, das Finſteraarhorn, den Eiger,
das Wetterhorn, den Gotthart und Monte Roſa, ſo
wird zwar der Montblanc immer ein Rieſe bleiben,
allein er wird uns nicht mehr in ein ſolches Erſtaunen
ſetzen.“


„Wer übrigens nicht glauben will, fuhr Goethe
fort, daß Vieles von der Größe Shakſpeare's ſeiner
großen kräftigen Zeit angehört, der ſtelle ſich nur die
Frage, ob er denn eine ſolche Staunen erregende
Erſcheinung in dem heutigen England von 1824, in
dieſen ſchlechten Tagen kritiſirender und zerſplitternder
Journale, für möglich halte?“


„Jenes ungeſtörte, unſchuldige, nachtwandleriſche
Schaffen, wodurch allein etwas Großes gedeihen kann,
iſt gar nicht mehr möglich. Unſere jetzigen Talente
liegen alle auf dem Präſentirteller der Oeffentlichkeit.
Die täglich an funfzig verſchiedenen Orten erſcheinenden
[37] kritiſchen Blätter, und der dadurch im Publicum bewirkte
Klatſch, laſſen nichts Geſundes aufkommen. Wer ſich
heut zu Tage nicht ganz davon zurückhält und ſich
nicht mit Gewalt iſolirt, iſt verloren. Es kommt zwar
durch das ſchlechte, größtentheils negative, äſthetiſirende
und kritiſirende Zeitungsweſen eine Art Halbcultur in
die Maſſen, allein dem hervorbringenden Talent iſt es
ein böſer Nebel, ein fallendes Gift, das den Baum
ſeiner Schöpfungskraft zerſtört, vom grünen Schmuck
der Blätter bis in das tiefſte Mark und die verbor¬
genſte Faſer.“


„Und dann, wie zahm und ſchwach iſt ſeit den
lumpigen paar hundert Jahren nicht das Leben ſelber
geworden! Wo kommt uns noch eine originelle Natur
unverhüllt entgegen! Und wo hat Einer die Kraft,
wahr zu ſeyn und ſich zu zeigen, wie er iſt! Das
wirkt aber zurück auf den Poeten, der Alles in ſich
ſelber finden ſoll, während von Außen ihn Alles in
Stich läßt.“


Das Geſpräch wendete ſich auf den Werther.
„Das iſt auch ſo ein Geſchöpf, ſagte Goethe, das
ich gleich dem Pelikan mit dem Blute meines eigenen
Herzens gefüttert habe. Es iſt darin ſo viel Inner¬
liches aus meiner eigenen Bruſt, ſo viel von Empfin¬
dungen und Gedanken, um damit wohl einen Roman
von zehn ſolcher Bändchen auszuſtatten. Uebrigens
habe ich das Buch, wie ich ſchon öfter geſagt, ſeit
[38] ſeinem Erſcheinen nur ein einzigesmal wieder geleſen
und mich gehütet, es abermals zu thun. Es ſind
lauter Brandraketen! — Es wird mir unheimlich dabei
und ich fürchte, den pathologiſchen Zuſtand wieder durch¬
zuempfinden, aus dem es hervorging.“


Ich erinnerte an ſein Geſpräch mit Napoleon, das
ich aus der Skizze kenne, die unter ſeinen ungedruckten
Papieren vorhanden, und die ich ihn wiederholt erſucht
habe, weiter auszuführen. Napoleon, ſagte ich, bezeich¬
net gegen Sie im Werther eine Stelle, die ihm, einer
ſcharfen Prüfung gegenüber, nicht Stich zu halten
ſcheint, welches Sie ihm auch zugeben. Ich möchte
ſehr gerne wiſſen, welche Stelle er gemeint hat.
„Rathen Sie!“ ſagte Goethe mit einem geheimnißvollen
Lächeln. Nun, ſagte ich, ich dächte faſt, es wäre
die, wo Lotte Werthern die Piſtolen ſchickt, ohne
gegen Alberten ein Wort zu ſagen und ohne ihm
ihre Ahnungen und Befürchtungen mitzutheilen. Sie
haben ſich zwar alle Mühe gegeben, dieſes Schwei¬
gen zu motiviren, allein es ſcheint doch Alles gegen
die dringende Nothwendigkeit, wo es das Leben des
Freundes galt, nicht Stich zu halten. „Ihre Bemer¬
kung, erwiederte Goethe, iſt freilich nicht ſchlecht.
Ob aber Napoleon dieſelbe Stelle gemeint hat, oder
eine andere, halte ich für gut, nicht zu verrathen.
Aber wie geſagt, Ihre Beobachtung iſt eben ſo richtig
wie die ſeinige.“

[39]

Ich brachte zur Erwähnung, ob denn die große
Wirkung, die der Werther bei ſeinem Erſcheinen gemacht,
wirklich in der Zeit gelegen. Ich kann mich, ſagte ich,
nicht zu dieſer allgemein verbreiteten Anſicht bekennen.
Der Werther hat Epoche gemacht, weil er erſchien,
nicht weil er in einer gewiſſen Zeit erſchien. Es liegt
in jeder Zeit ſo viel unausgeſprochenes Leiden, ſo viel
heimliche Unzufriedenheit und Lebensüberdruß, und in
einzelnen Menſchen ſo viele Mißverhältniſſe zur Welt,
ſo viele Conflicte ihrer Natur mit bürgerlichen Ein¬
richtungen, daß der Werther Epoche machen würde und
wenn er erſt heute erſchiene.


„Sie haben wohl Recht, erwiederte Goethe, weßhalb
denn auch das Buch auf ein gewiſſes Jünglingsalter
noch heute wirkt, wie damals. Auch hätte ich kaum
nöthig gehabt, meinen eigenen jugendlichen Trübſinn
aus allgemeinen Einflüſſen meiner Zeit und aus des
Lectüre einzelner engliſcher Autoren herzuleiten. Er
waren vielmehr individuelle nahe liegende Verhältniſſe,
die mir auf die Nägel brannten und mir zu ſchaffen
machten, und die mich in jenen Gemüthszuſtand brachten,
aus dem der Werther hervorging. Ich hatte gelebt,
geliebt, und ſehr viel gelitten! — Das war es.“


„Die viel beſprochene Wertherzeit gehört, wenn man
es näher betrachtet, freilich nicht dem Gange der Welt¬
cultur an, ſondern dem Lebensgange jedes Einzelnen,
der mit angeborenem freiem Naturſinn ſich in die
[40] beſchränkenden Formen einer veralteten Welt finden und
ſchicken lernen ſoll. Gehindertes Glück, gehemmte Thä¬
tigkeit, unbefriedigte Wünſche, ſind nicht Gebrechen
einer beſonderen Zeit, ſondern jedes einzelnen Menſchen,
und es müßte ſchlimm ſeyn, wenn nicht Jeder einmal
in ſeinem Leben eine Epoche haben ſollte, wo ihm der
Werther käme, als wäre er bloß für ihn geſchrieben.“

Heute nach Tiſche ging Goethe mit mir das Porte¬
feuille von Raphael durch. Er beſchäftigt ſich mit
Raphael ſehr oft, um ſich immerfort im Verkehr mit
dem Beſten zu erhalten, und ſich immerfort zu üben,
die Gedanken eines hohen Menſchen nachzudenken. Dabei
macht es ihm Freude, mich in ähnliche Dinge einzuführen.


Hernach ſprachen wir über den Divan; beſonders
über das Buch des Unmuths, worin Manches aus¬
geſchüttet, was er gegen ſeine Feinde auf dem Herzen
hatte.


„Ich habe mich übrigens ſehr mäßig gehalten, fügte
er hinzu; — wenn ich Alles hätte ausſprechen wollen,
was mich wurmte und mir zu ſchaffen machte, ſo hätten
die wenigen Seiten wohl zu einem ganzen Bande an¬
wachſen können.“


„Man war im Grunde nie mit mir zufrieden und
wollte mich immer anders, als es Gott gefallen hatte,
mich zu machen. Auch war man ſelten mit dem zufrie¬
[41] den, was ich hervorbrachte. Wenn ich mich Jahr und
Tag mit ganzer Seele abgemüht hatte, der Welt mit
einem neuen Werke etwas zu Liebe zu thun, ſo verlangte
ſie, daß ich mich noch obendrein bei ihr bedanken ſollte,
daß ſie es nur erträglich fand. — Lobte man mich,
ſo ſollte ich das nicht in freudigem Selbſtgefühl als
einen ſchuldigen Tribut hinnehmen, ſondern man er¬
wartete von mir irgend eine ablehnende beſcheidene
Phraſe, worin ich demüthig den völligen Unwerth meiner
Perſon und meines Werkes an den Tag lege. Das
aber widerſtrebte meiner Natur und ich hätte müſſen
ein elender Lump ſeyn, wenn ich ſo hätte heucheln und
lügen wollen. Da ich nun aber ſtark genug war, mich
in ganzer Wahrheit ſo zu zeigen, wie ich fühlte, ſo galt
ich für ſtolz, und gelte noch ſo bis auf den heutigen
Tag.“


„In religiöſen Dingen, in wiſſenſchaftlichen und
politiſchen, überall machte es mir zu ſchaffen, daß ich
nicht heuchelte und daß ich den Muth hatte, mich aus¬
zuſprechen, wie ich empfand.“


„Ich glaubte an Gott und die Natur, und an den
Sieg des Edlen über das Schlechte; aber das war den
frommen Seelen nicht genug, ich ſollte auch glauben,
daß Drei Eins ſey und Eins Drei; das aber wider¬
ſtrebte dem Wahrheitsgefühl meiner Seele; auch ſah ich
nicht ein, daß mir damit auch nur im mindeſten wäre
geholfen geweſen.“

[42]

„Ferner bekam es mir ſchlecht, daß ich einſah, die
Newton'ſche Lehre vom Licht und der Farbe ſey ein
Irrthum, und daß ich den Muth hatte, dem allgemeinen
Credo zu widerſprechen. Ich erkannte das Licht in
ſeiner Reinheit und Wahrheit und ich hielt es meines
Amtes, dafür zu ſtreiten. Jene Partei aber trachtete
in allem Ernſt, das Licht zu verfinſtern, denn ſie be¬
hauptete: das Schattige ſey ein Theil des
Lichtes
. Es klingt abſurd, wenn ich es ſo ausſpreche,
aber doch iſt es ſo. Denn man ſagte: die Farben,
welche doch ein Schattiges und Durchſchattetes ſind,
ſeyen das Licht ſelber, oder, was auf eins hinaus¬
kommt, ſie ſeyen des Lichtes bald ſo und bald
ſo gebrochene Strahlen
.“


Goethe ſchwieg, während auf ſeinem bedeutenden
Geſicht ein ironiſches Lächeln verbreitet war. Er fuhr
fort:


„Und nun gar in politiſchen Dingen! — Was ich
da für Noth und was ich da zu leiden gehabt, mag
ich gar nicht ſagen. Kennen ſie meine Aufgeregten?“


Erſt geſtern, erwiederte ich, habe ich wegen der
neuen Ausgabe Ihrer Werke das Stück geleſen, und
von Herzen bedauert, daß es unvollendet geblieben.
Aber wie es auch iſt, ſo wird ſich jeder Wohldenkende
zu Ihrer Geſinnung bekennen.


„Ich ſchrieb es zur Zeit der franzöſiſchen Revolution,
fuhr Goethe fort, und man kann es gewiſſermaßen als
[43] mein politiſches Glaubensbekenntniß jener Zeit anſehen.
Als Repräſentanten des Adels hatte ich die Gräfin
hingeſtellt und mit den Worten, die ich ihr in den Mund
gelegt, ausgeſprochen, wie der Adel eigentlich denken
ſoll. Die Gräfin kommt ſo eben aus Paris zurück,
ſie iſt dort Zeuge der revolutionären Vorgänge geweſen
und hat daraus für ſich ſelbſt keine ſchlechte Lehre
gezogen. Sie hat ſich überzeugt, daß das Volk wohl
zu drücken, aber nicht zu unterdrücken iſt, und daß die
revolutionären Aufſtände der unteren Klaſſen eine Folge
der Ungerechtigkeit der Großen ſind. Jede Handlung,
die mir unbillig ſcheint, ſagt ſie, will ich künftig ſtreng
vermeiden, auch werde ich über ſolche Handlungen Ande¬
rer, in der Geſellſchaft und bei Hofe meine Meinung
laut ſagen. Zu keiner Ungerechtigkeit will ich mehr
ſchweigen, und wenn ich auch unter dem Namen einer
Demokratin verſchrieen werden ſollte.“


„Ich dächte, fuhr Goethe fort, dieſe Geſinnung wäre
durchaus reſpectabel. Sie war damals die meinige und
iſt es noch jetzt. Zum Lohne dafür aber belegte man
mich mit allerlei Titeln, die ich nicht wiederholen mag.“


Man braucht nur den Egmont zu leſen, verſetzte
ich, um zu erfahren, wie Sie denken. Ich kenne kein
deutſches Stück, wo der Freiheit des Volkes mehr das
Wort geredet würde, als in dieſem.


„Man beliebt einmal, erwiederte Goethe, mich nicht
ſo ſehen zu wollen, wie ich bin, und wendet die Blicke
[44] von Allem hinweg, was mich in meinem wahren Lichte
zeigen könnte. Dagegen hat Schiller, der, unter uns,
weit mehr ein Ariſtokrat war als ich, der aber weit
mehr bedachte was er ſagte als ich, das merkwürdige
Glück, als beſonderer Freund des Volkes zu gelten.
Ich gönne es ihm von Herzen und tröſte mich damit,
daß es Anderen vor mir nicht beſſer gegangen.“


„Es iſt wahr, ich konnte kein Freund der franzöſi¬
ſchen Revolution ſeyn, denn ihre Gräuel ſtanden mir
zu nahe und empörten mich täglich und ſtündlich, wäh¬
rend ihre wohlthätigen Folgen damals noch nicht zu
erſehen waren. Auch konnte ich nicht gleichgültig dabei
ſeyn, daß man in Deutſchland künſtlicher Weiſe
ähnliche Scenen herbeizuführen trachtete, die in Frank¬
reich Folge einer großen Nothwendigkeit waren.“


„Ebenſowenig aber war ich ein Freund herriſcher
Willkür. Auch war ich vollkommen überzeugt, daß
irgend eine große Revolution nie Schuld des Volkes
iſt, ſondern der Regierung. Revolutionen ſind ganz
unmöglich, ſobald die Regierungen fortwährend gerecht
und fortwährend wach ſind, ſo daß ſie ihnen durch
zeitgemäße Verbeſſerungen entgegenkommen, und ſich
nicht ſo lange ſträuben, bis das Nothwendige von unten
her erzwungen wird.“


„Weil ich nun aber die Revolutionen haßte, ſo nannte
man mich einen Freund des Beſtehenden. Das
iſt aber ein ſehr zweideutiger Titel, den ich mir verbitten
[45] möchte. Wenn das Beſtehende alles vortrefflich, gut
und gerecht wäre, ſo hätte ich gar nichts dawider. Da
aber neben vielem Guten zugleich viel Schlechtes, Un¬
gerechtes und Unvollkommenes beſteht, ſo heißt ein
Freund des Beſtehenden oft nicht viel weniger als ein
Freund des Veralteten und Schlechten.“


„Die Zeit aber iſt in ewigem Fortſchreiten begriffen
und die menſchlichen Dinge haben alle funfzig Jahre
eine andere Geſtalt, ſo daß eine Einrichtung, die im
Jahre 1800 eine Vollkommenheit war, ſchon im Jahre
1850 vielleicht ein Gebrechen iſt.“


„Und wiederum iſt für eine Nation nur das gut,
was aus ihrem eigenen Kern und ihrem eigenen allge¬
meinen Bedürfniß hervorgegangen, ohne Nachäffung
einer anderen. Denn was dem einen Volk auf einer
gewiſſen Altersſtufe eine wohlthätige Nahrung ſeyn
kann erweiſt ſich vielleicht für ein anderes als ein Gift.
Alle Verſuche, irgend eine ausländiſche Neuerung
einzuführen, wozu das Bedürfniß nicht im tiefen Kern
der eigenen Nation wurzelt, ſind daher thöricht, und
alle beabſichtigten Revolutionen ſolcher Art ohne Erfolg;
denn ſie ſind ohne Gott, der ſich von ſolchen
Pfuſchereien zurückhält
. Iſt aber ein wirkliches
Bedürfniß zu einer großen Reform in einem Volke
vorhanden, ſo iſt Gott mit ihm und ſie gelingt. Er
war ſichtbar mit Chriſtus und ſeinen erſten Anhängern,
denn die Erſcheinung der neuen Lehre der Liebe war
[46] den Völkern ein Bedürfniß; er war ebenſo ſichtbar
mit Luthern, denn die Reinigung jener durch Pfaffen¬
weſen verunſtalteten Lehre war es nicht weniger. Beide
genannten großen Kräfte aber waren nicht Freunde des
Beſtehenden; vielmehr waren Beide lebhaft durchdrungen,
daß der alte Sauerteig ausgekehrt werden müſſe und
daß es nicht ferner im Unwahren, Ungerechten und
Mangelhaften ſo fortgehen und bleiben könne.“

Die Papiere, welche die Studien enthalten, die
Goethe mit den Schauſpielern Wolf und Grüner ge¬
macht, haben mich dieſe Tage lebhaft beſchäftigt und
es iſt mir gelungen, dieſe höchſt zerſtückelten Notizen
in eine Art Form zu bringen, ſo daß daraus etwas
entſtanden iſt, das wohl für den Anfang eines Catechis¬
mus für Schauſpieler gelten könnte.


Ich ſprach heute mit Goethe über dieſe Arbeit und
wir gingen die einzelnen Gegenſtände durch. Beſonders
wichtig wollte uns erſcheinen, was über die Ausſprache
und Ablegung von Provinzialismen angedeutet worden.


„Ich habe in meiner langen Praxis, ſagte Goethe,
Anfänger aus allen Gegenden Deutſchlands kennen
gelernt. Die Ausſprache der Norddeutſchen ließ im
Ganzen wenig zu wünſchen übrig. Sie iſt rein und
kann in mancher Hinſicht als muſterhaft gelten. Da¬
gegen habe ich mit geborenen Schwaben, Oeſtreichern
[47] und Sachſen oft meine Noth gehabt. Auch Eingeborene
unſerer lieben Stadt Weimar haben mir viel zu ſchaffen
gemacht. Bei dieſen entſtehen die lächerlichſten Mi߬
griffe daraus, daß ſie in den hieſigen Schulen nicht
angehalten werden, das B. vom P. und das D. vom
T. durch eine markirte Ausſprache ſtark zu unterſcheiden.
Man ſollte kaum glauben, daß ſie B. P. D. und T.
überhaupt für vier verſchiedene Buchſtaben halten,
denn ſie ſprechen nur immer von einem weichen und
einem harten B. und von einem weichen und einem
harten D. und ſcheinen dadurch ſtillſchweigend anzu¬
deuten, daß P. und T. gar nicht exiſtiren. Aus einem
ſolchen Munde klingt denn Pein wie Bein, Paß wie
Baß, und Teckel wie Deckel.“


Ein hieſiger Schauſpieler, verſetzte ich, der das
T. und D. gleichfalls nicht gehörig unterſchied, machte
in dieſen Tagen einen Fehler ähnlicher Art, der ſehr
auffallend erſchien. Er ſpielte einen Liebhaber, der
ſich eine kleine Untreue hatte zu Schulden kommen
laſſen, worüber ihm das erzürnte junge Frauenzimmer
allerlei heftige Vorwürfe macht. Ungeduldig, hatte er
zuletzt auszurufen: „o ende!“ Er konnte aber das T.
vom D. nicht unterſcheiden und rief: „o ente!“, (O
Ente!) welches denn ein allgemeines Lachen erregte.


„Der Fall iſt ſehr artig, erwiederte Goethe, und
verdiente wohl in unſern Theater - Catechismus mit
aufgenommen zu werden.“

[48]

Eine hieſige junge Sängerin, fuhr ich fort, die das T.
und D. gleichfalls nicht unterſcheiden konnte, hatte neulich
zu ſagen: „Ich will dich den Eingeweihten übergeben.“
Da ſie aber das T. wie D. ſprach, ſo klang es, als
ſagte ſie: „Ich will dich den Eingeweiden übergeben.“


So hatte neulich, fuhr ich fort, ein hieſiger Schau¬
ſpieler, der eine Bedientenrolle ſpielte, einem Fremden
zu ſagen: „Mein Herr iſt nicht zu Haus, er ſitzt im
Rathe.“ Da er aber das T. vom D. nicht unterſchied,
ſo klang es, als ſagte er: „Mein Herr iſt nicht zu
Haus, er ſitzt im Rade.“


„Auch dieſe Fälle, ſagte Goethe, ſind nicht ſchlecht
und wir wollen ſie uns merken. So wenn Einer das
P. und B. nicht unterſcheidet und ausrufen ſoll: Packe
ihn an! aber ſtatt deſſen ruft: Backe ihn an! ſo iſt es
abermals lächerlich.“


„Gleicherweiſe, fuhr Goethe fort, wird hier das
Ü häufig wie I ausgeſprochen, wodurch nicht weniger
die ſchändlichſten Mißverſtändniſſe veranlaßt werden.
So habe ich nicht ſelten ſtatt Küſtenbewohner — Kiſten¬
bewohner, ſtatt Thürſtück — Thierſtück, ſtatt gründlich
— grindlich, ſtatt Trübe — Triebe, und ſtatt Ihr
müßt — Ihr mißt vernehmen müſſen, nicht ohne An¬
wandlung von einigem Lachen.“


Dieſer Art, verſetzte ich, iſt mir neulich im Theater
ein ſehr ſpaßhafter Fall vorgekommen, wo eine Dame
in einer mißlichen Lage einem Manne folgen ſoll, den
[49] ſie vorher nie geſehen. Sie hatte zu ſagen: „Ich
kenne Dich zwar nicht, aber ich ſetze mein ganzes
Vertrauen in den Edelmuth Deiner Züge.“ Da ſie
aber das Ü. wie I. ſprach, ſo ſagte ſie: „Ich kenne Dich
zwar nicht, aber ich ſetze mein ganzes Vertrauen in
den Edelmuth Deiner Ziege.“ Es entſtand ein großes
Gelächter.


„Dieſer Fall iſt abermals gar nicht ſchlecht, erwie¬
derte Goethe, und wir wollen ihn uns gleichfalls
merken. So auch, fuhr er fort, wird hier das G. und
K. häufig mit einander verwechſelt, und ſtatt G. — K.
und ſtatt K. — G. geſprochen, wahrſcheinlich abermals
aus der Ungewißheit, ob ein Buchſtabe weich oder hart
ſey, eine Folge der hier ſo beliebten Lehre. Sie werden
im hieſigen Theater wahrſcheinlich ſehr oft Kartenhaus
für Gartenhaus, Kaſſe für Gaſſe, klauben für glauben,
bekränzen für begrenzen, und Kunſt für Gunſt bereits
gehört haben, oder noch künftig hören.“


Etwas Aehnliches, erwiederte ich, iſt mir allerdings
vorgekommen. Ein hieſiger Schauſpieler hatte zu ſagen:
„Dein Gram geht mir zu Herzen.“ Er ſprach aber
das G. wie K. und ſagte ſehr deutlich: „Dein Kram
geht mir zu Herzen.“


„Dergleichen Verwechſelungen von G. und K.,
verſetzte Goethe, hören wir übrigens nicht bloß von
Schauſpielern, ſondern auch wohl von ſehr gelehrten
III. 4[50] Theologen. Mir paſſirte einſt perſönlich ein Fall der
Art, den ich Ihnen doch erzählen will.“


„Als ich nämlich vor einigen Jahren mich einige
Zeit in Jena aufhielt und im Gaſthof „Zur Tanne“
logirte, ließ ſich eines Morgens ein Studioſus der
Theologie bei mir melden. Nachdem er ſich eine Weile
mit mir ganz hübſch unterhalten, rückte er beim Ab¬
ſchiede gegen mich mit einem Anliegen ganz eigener
Art hervor. Er bat mich nämlich, ihm doch am
nächſten Sonntage zu erlauben, ſtatt meiner predi¬
gen zu dürfen
. Ich merkte ſogleich, woher der Wind
wehte, und daß der hoffnungsvolle Jüngling einer von
denen ſey, die das G. und K. verwechſeln. Ich er¬
wiederte ihm alſo mit aller Freundlichkeit, daß ich ihm
in dieſer Angelegenheit zwar perſönlich nicht helfen könne,
daß er aber ſicher ſeinen Zweck erreichen würde, wenn
er die Güte haben wolle, ſich an den Herrn Archidiaco¬
nus Koethe zu wenden.“

Abends bei Goethe in Geſellſchaft mit Riemer.
Goethe unterhielt uns von einem engliſchen Gedicht,
das die Geologie zum Gegenſtande hat. Er machte
uns davon erzählungsweiſe eine improviſirte Ueberſetzung
mit ſo vielem Geiſt, Einbildungskraft und guter Laune,
daß jede Einzelnheit lebendig vor Augen trat, als wäre
Alles eine im Moment entſtehende Erfindung von ihm
[51] ſelber. Man ſah den Helden des Gedichts, den König
Coal, in glänzendem Audienzſaal auf ſeinem Throne
ſitzen, ſeine Gemahlin Pyrites an ſeiner Seite, in
Erwartung der Großen des Reichs. — Nach ihrer
Rangordnung eintretend, erſchienen nach und nach und
wurden dem Könige vorgeſtellt: Herzog Granit, Mar¬
quis Schiefer, Gräfin Porphyry, und ſo die
Uebrigen, die Alle mit einigen treffenden Beiwörtern und
Späßen charakteriſirt wurden. Es tritt ferner ein:
Sir Lorenz Urkalk, ein Mann von großen Beſitzungen
und bei Hofe wohlgelitten. Er entſchuldigt ſeine Mutter
die Lady Marmor, weil ihre Wohnung etwas entfernt
ſey; übrigens wäre ſie eine Dame von großer Cultur-
und Politur-Fähigkeit. Daß ſie heute nicht bei Hofe
erſcheine, hätte übrigens wohl einen Grund in einer
Intrigue, in welche ſie ſich mit Canova eingelaſſen,
der ihr ſehr ſchön thue. Tuffſtein, mit Eidechſen und
Fiſchen ſein Haar verziert, ſchien etwas betrunken.
Hans Mergel und Jacob Thon kommen erſt gegen
das Ende; letzterer der Königin beſonders lieb, weil er
ihr eine Muſchelſammlung verſprochen. Und ſo ging
die Darſtellung in dem heiterſten Tone eine ganze Weile
fort; doch war das Detail zu groß, als daß ich mir
den weiteren Verlauf hätte merken können.


„Ein ſolches Gedicht, ſagte Goethe, iſt ganz
darauf berechnet, die Weltleute zu amüſiren, indem es
zugleich eine Menge nützlicher Kenntniſſe verbreitet, die
4*[52] eigentlich Niemandem fehlen ſollten. Es wird dadurch
in den höheren Kreiſen der Geſchmack für die Wiſſen¬
ſchaft angeregt und man weiß immer nicht, wie viel
Gutes in der Folge aus einem ſo unterhaltenden Halb-
Scherz entſtehen kann. Mancher gute Kopf wird viel¬
leicht veranlaßt, im Kreiſe ſeines perſönlichen Bereichs
ſelber zu beobachten. Und ſolche individuelle Wahrneh¬
mungen aus der uns umgebenden nächſten Natur ſind
oft um ſo ſchätzbarer, je weniger der Beobachtende ein
eigentlicher Mann vom Fache war.“


Sie ſcheinen alſo andeuten zu wollen, verſetzte ich,
daß man um ſo ſchlechter beobachte, jemehr man wiſſe?


„Wenn das überlieferte Wiſſen mit Irrthümern ver¬
bunden, erwiederte Goethe, allerdings! — Sobald man
in der Wiſſenſchaft einer gewiſſen beſchränkten Confeſſion
angehört, iſt ſogleich jede unbefangene treue Auffaſſung
dahin. Der entſchiedene Vulkaniſt wird immer nur
durch die Brille des Vulkaniſten ſehen, ſowie der
Neptuniſt und der Bekenner der neueſten Hebungstheorie
durch die ſeinige. Die Weltanſchauung aller ſolcher in
einer einzigen ausſchließenden Richtung befangener Theo¬
retiker hat ihre Unſchuld verloren und die Objecte erſchei¬
nen nicht mehr in ihrer natürlichen Reinheit. Geben
ſodann dieſe Gelehrten von ihren Wahrnehmungen
Rechenſchaft, ſo erhalten wir, ungeachtet der höchſten
perſönlichen Wahrheitsliebe des Einzelnen, dennoch keines¬
wegs die Wahrheit der Objecte; ſondern wir empfangen
[53] die Gegenſtände immer nur mit dem Geſchmack einer
ſehr ſtarken ſubjectiven Beimiſchung.“


„Weit entfernt aber bin ich, zu behaupten, daß ein
unbefangenes rechtes Wiſſen der Beobachtung hinder¬
lich wäre, vielmehr behält die alte Wahrheit ihr Recht,
daß wir eigentlich nur Augen und Ohren für das
haben, was wir kennen. Der Muſiker vom Fach
hört beim Zuſammenſpiel des Orcheſters jedes Inſtru¬
ment und jeden einzelnen Ton heraus, während der
Nichtkenner in der maſſenhaften Wirkung des Ganzen
befangen iſt. So ſieht ferner der bloß genießende
Menſch nur die anmuthige Fläche einer grünen oder
blumigen Wieſe, während dem beobachtenden Botaniker
ein unendliches Detail der verſchiedenartigſten einzelnen
Pflänzchen und Gräſer in die Augen fällt.“


„Doch hat Alles ſein Maß und Ziel, und wie es
ſchon in meinem Götz heißt, daß das Söhnlein vor
lauter Gelehrſamkeit ſeinen eigenen Vater nicht erkennt,
ſo ſtoßen wir auch in der Wiſſenſchaft auf Leute, die
vor lauter Gelehrſamkeit und Hypotheſen nicht mehr
zum Sehen und Hören kommen. Es geht bei ſolchen
Leuten Alles raſch nach Innen; ſie ſind von dem, was
ſie in ſich herumwälzen, ſo occupirt, daß es ihnen geht
wie einem Menſchen in Leidenſchaft, der in der Straße
ſeinen liebſten Freunden vorbeirennt, ohne ſie zu ſehen.
Es gehört zur Naturbeobachtung eine gewiſſe ruhige
Reinheit des Innern, das von gar nichts geſtört und
[54] präoccupirt iſt. Dem Kinde entgeht der Käfer an
der Blume nicht, es hat alle ſeine Sinne für ein ein¬
ziges einfaches Intereſſe beiſammen, und es fällt ihm
durchaus nicht ein, daß zu gleicher Zeit etwa auch in
der Bildung der Wolken ſich etwas Merkwürdiges
ereignen könne, um ſeine Blicke zugleich auch dorthin
zu wenden.“


Da könnten alſo, erwiederte ich, die Kinder und
ihres Gleichen recht gute Handlanger in der Wiſſen¬
ſchaft abgeben.


„Wollte Gott, fiel Goethe ein, wir wären Alle
nichts weiter, als gute Handlanger. Eben weil wir
mehr ſeyn wollen und überall einen großen Apparat
von Philoſophie und Hypotheſen mit uns herumführen,
verderben wir es.“


Es entſtand eine Pauſe im Geſpräch, die Riemer
unterbrach, indem er den Lord Byron und deſſen Tod
zur Erwähnung brachte. Goethe machte darauf eine
glänzende Auseinanderſetzung ſeiner Schriften und war
voll des höchſten Lobes und der reinſten Anerkennung.
„Uebrigens, fuhr er fort, obgleich Byron ſo jung
geſtorben iſt, ſo hat doch die Literatur hinſichtlich einer
gehinderten weiteren Ausdehnung nicht weſentlich ver¬
loren. Byron konnte gewiſſermaßen nicht weiter gehen.
Er hatte den Gipfel ſeiner ſchöpferiſchen Kraft erreicht,
und was er auch in der Folge noch gemacht haben
würde, ſo hätte er doch die ſeinem Talent gezogenen
[55] Grenzen nicht erweitern können. In dem unbegreif¬
lichen Gedicht ſeines jüngſten Gerichts hat er das
Aeußerſte gethan, was er zu thun fähig war.“


Das Geſpräch lenkte ſich ſodann auf den italie¬
niſchen Dichter Torquato Taſſo, und wie ſich dieſer
zu Lord Byron verhalte; wo denn Goethe die große
Ueberlegenheit des Engländers an Geiſt, Welt und
productiver Kraft nicht verhehlen konnte. „Man darf,
fügte er hinzu, beide Dichter nicht mit einander ver¬
gleichen, ohne den Einen durch den Andern zu vernichten.
Byron iſt der brennende Dornſtrauch, der die heilige
Ceder des Libanon in Aſche legt. Das große Epos
des Italieners hat ſeinen Ruhm durch Jahrhunderte
behauptet; aber mit einer einzigen Zeile des Don
Juan könnte man das ganze Befreite Jeruſalem
vergiften.“

Ich nahm heute Abſchied von Goethe, um meine
Lieben in Hannover und ſodann den Rhein zu beſuchen,
wie es längſt meine Abſicht geweſen. Goethe war ſehr
herzlich und ſchloß mich in ſeine Arme. „Wenn Sie
in Hannover bei Rehberg's, ſagte er, vielleicht meine
alte Jugendfreundin, Charlotte Keſtner, ſehen,
ſo ſagen Sie ihr Gutes von mir. In Frankfurt werde
ich Sie meinen Freunden Willemers, dem Grafen
Reinhardt- und Schloſſer's empfehlen. Auch ins
[56] Heidelberg und Bonn finden Sie Freunde, die mir
treu ergeben ſind und bei denen Sie die beſte Auf¬
nahme finden werden. Ich hatte vor, dieſen Sommer
wieder einige Zeit in Marienbad zuzubringen, doch
werde ich nicht eher gehen als bis Sie zurück ſind.“


Der Abſchied von Goethe ward mir ſchwer; doch
ging ich mit der feſten Zuverſicht, ihn nach zwei
Monaten geſund und froh wiederzuſehen.


Indeß war ich am andern Tage glücklich, als der
Wagen mich meiner lieben Hannover'ſchen Heimath ent¬
gegen führte, nach der meine innigſte Sehnſucht fort¬
während gerichtet iſt.

[[57]]

1825.

[[58]][[59]]

Dieſe Nacht, bald nach zwölf Uhr, wurden wir
durch Feuerlärm geweckt; man rief: es brenne im
Theater
! Ich warf mich ſogleich in meine Kleider
und eilte an Ort und Stelle. Die allgemeine Be¬
ſtürzung war groß. Noch vor wenigen Stunden waren
wir durch das treffliche Spiel von La Roche im
Juden von Cumberland entzückt worden und
Seidel hatte durch gute Laune und Späße allgemeines
Lachen erregt. Und jetzt raſ'te an dieſer ſelbigen Stelle
kaum genoſſener geiſtiger Freuden das ſchrecklichſte
Element der Vernichtung.


Das Feuer ſchien, durch Heitzung veranlaßt, im
Parterre ausgebrochen zu ſeyn, hatte bald die Bühne
und das dürre Lattenwerk der Conliſſen ergriffen, und
ſo, durch die reichlichſte Nahrung brennbarer Stoffe
ſchnell zum Ungeheuer erwachſen, dauerte es nicht
lange, bis die Flamme überall zum Dache herausſchlug
und die Sparren zuſammenkrachten.


In den Anſtalten zum Löſchen war kein Mangel.
Das Gebäude war nach und nach ganz mit Spritzen
umſtellt, die eine Unmaſſe von Waſſer in die Gluth
[60] goſſen. Allein es war Alles ohne Erfolg. Die Flamme
raſ'te nach wie vor aufwärts und trieb unerſchöpflich
eine Maſſe glühender Funken und brennende Stücke
leichter Stoffe gegen den dunkelen Himmel, die ſodann
mit geringem Lufthauche ſeitwärts über die Stadt
zogen. Der Lärm und das Rufen und Schreien der
an den Feuerleitern und Spritzen arbeitenden Menſchen¬
maſſe war groß. Alle Kräfte waren in Aufregung,
man ſchien mit Gewalt ſiegen zu wollen. Ein wenig
ſeitwärts, ſo nahe die Gluth es erlaubte, ſtand ein
Mann im Mantel und Militair-Mütze, in der ruhigſten
Faſſung eine Cigarre rauchend. Er ſchien beim erſten
Anblick ein müßiger Zuſchauer zu ſeyn; allein er war
es nicht. Perſonen gingen von ihm aus, denen er
mit wenigen Worten Befehle ertheilte, die ſogleich
vollzogen wurden. Es war der Großherzog Carl
Auguſt. Er hatte bald geſehen, daß das Gebäude
ſelbſt nicht zu retten war; er befahl daher, es in ſich
zuſammenzuſtürzen und alle nur entbehrlichen Spritzen
gegen die Nachbarhäuſer zu wenden, die von der nahen
Gluth ſehr zu leiden hatten. Er ſchien in fürſtlicher
Reſignation zu denken:


„Das brenne nieder! —

Schöner bau't ſich's wieder auf.“

Er hatte nicht Unrecht. Das Theater war alt,
keineswegs ſchön, und lange nicht geräumig genug, um
ein ſich mit jedem Jahre vergrößerndes Publicum zu
[61] faſſen. Allein immerhin war es zu bedauern, gerade
dieſes Gebäude, an das ſich für Weimar ſo viele
Erinnerungen einer großen und lieben Vergangenheit
knüpften, rettungslos verloren zu ſehen.


Ich ſah in ſchönen Augen viele Thränen, die ſeinem
Untergange floſſen. Nicht weniger rührte mich ein
Mitglied der Capelle. Er weinte um ſeine verbrannte
Geige.


Als der Tag anbrach, ſah ich viele bleiche Geſichter.
Ich bemerkte verſchiedene junge Mädchen und Frauen
der höheren Stände, die den Verlauf des Brandes die
ganze Nacht abgewartet hatten und nun in der kalten
Morgenluft einiges Fröſteln verſpürten. Ich ging nach
Hauſe, um ein wenig zu ruhen, dann im Laufe des
Vormittags zu Goethe.


Der Bediente ſagte mir, er ſey unwohl und im
Bette. Doch ließ Goethe mich in ſeine Nähe rufen.
Er ſtreckte mir ſeine Hand entgegen. „Wir haben Alle
verloren, ſagte er, allein was iſt zu thun! Mein
Wölfchen kam dieſen Morgen früh an mein Bette.
Er faßte meine Hand, und indem er mich mit großen
Augen anſah, ſagte er: So geht's den Menſchen!
Was läßt ſich weiter ſagen, als dieſes Wort meines
lieben Wolf, womit er mich zu tröſten ſuchte. Der
Schauplatz meiner faſt dreißigjährigen liebevollen Mühe
liegt in Schutt und Trümmer. Allein, wie Wolf
ſagt: So geht's den Menſchen! Ich habe die ganze
[62] Nacht wenig geſchlafen; ich ſah aus meinen vorderen
Fenſtern die Flamme unaufhörlich gegen den Himmel
ſteigen. Sie mögen denken, daß mir mancher Gedanke
an die alten Zeiten, an meine vieljährigen Wirkungen
mit Schiller, und an das Herankommen und Wachſen
manches lieben Zöglings durch die Seele gegangen iſt
und daß ich nicht ohne einige innere Bewegung davon
gekommen bin. Ich denke mich daher heute auch ganz
weislich zu Bette zu halten.“


Ich lobte ihn wegen ſeiner Vorſicht. Doch ſchien
er mir nicht im Geringſten ſchwach und angegriffen,
vielmehr ganz behaglich und heiterer Seele. Es ſchien
mir vielmehr dieſes im Bette Liegen eine alte Kriegsliſt
zu ſeyn, die er bei irgend einem außerordentlichen
Ereigniß anzuwenden pflegt, wo er den Zudrang vieler
Beſuche fürchtet.


Goethe bat mich, auf einem Stuhl vor ſeinem Bette
Platz zu nehmen und ein wenig dazubleiben. „Ich
habe viel an Euch gedacht und Euch bedauert, ſagte
er. Was wollt Ihr nun mit Euren Abenden anfan¬
gen!“


Sie wiſſen, erwiederte ich, wie leidenſchaftlich ich
das Theater liebe. Als ich vor zwei Jahren hierher
kam, kannte ich, außer drei bis vier Stücken, die ich in
Hannover geſehen, ſo gut wie gar nichts. Nun war
mir Alles neu, Perſonal wie Stücke; und da ich nun
nach Ihrem Rath mich ganz den Eindrücken der Gegen¬
[63] ſtände hingab, ohne darüber viel denken und reflectiren
zu wollen, ſo kann ich in Wahrheit ſagen, daß ich dieſe
beiden Winter im Theater die harmloſeſten, lieblichſten
Stunden verlebt habe, die mir je zu Theil geworden.
Auch war ich in das Theater ſo vernarrt, daß ich nicht
allein keine Vorſtellung verſäumte, ſondern mir auch
Zutritt zu den Proben verſchaffte; ja, auch damit noch
nicht zufrieden, konnte ich wohl am Tage, wenn ich im
Vorbeigehen zufällig die Thüren offen fand, mich halbe
Stunden lang auf die leeren Bänke des Parterr's
ſetzen und mir Scenen imaginiren, die man etwa jetzt
ſpielen könnte.


„Ihr ſeid eben ein verrückter Menſch, erwiederte
Goethe lachend; aber ſo hab' ich's gerne. Wollte Gott,
das ganze Publicum beſtände aus ſolchen Kindern! —
Und im Grunde habt Ihr Recht, es iſt was. Wer
nicht ganz verwöhnt und hinlänglich jung iſt, findet
nicht leicht einen Ort, wo es ihm ſo wohl ſein könnte,
als im Theater. Man macht an Euch gar keine An¬
ſprüche; Ihr braucht den Mund nicht aufzuthun, wenn
Ihr nicht wollt, vielmehr ſitzt Ihr im völligen Behagen
wie ein König und laßt Euch Alles bequem vorführen und
Euch Geiſt und Sinne tractiren, wie Ihr es nur wün¬
ſchen könnt. Da iſt Poeſie, da iſt Malerei, da iſt
Geſang und Muſik, da iſt Schauſpielkunſt, und was
nicht noch Alles! Wenn alle dieſe Künſte und Reize
von Jugend und Schönheit an einem einzigen Abend,
[64] und zwar auf bedeutender Stufe, zuſammenwirken, ſo
giebt es ein Feſt, das mit keinem andern zu vergleichen.
Wäre aber auch Einiges ſchlecht und nur Einiges gut,
ſo iſt es immer noch mehr, als ob man zum Fenſter
hinaus ſähe, oder in irgend einer geſchloſſenen Geſellſchaft
beim Dampf von Cigarren eine Partie Whiſt ſpielte.
Das Weimar'ſche Theater iſt, wie Sie fühlen, noch
keineswegs zu verachten; es iſt immer noch ein alter
Stamm aus unſerer beſten Zeit da, dem ſich neuere
friſche Talente zugebildet haben, und wir können immer
noch etwas produciren, das reizt und gefällt und wenig¬
ſtens den Schein eines Ganzen bietet.“


Ich hätte es vor zwanzig, dreißig Jahren ſehen
mögen! verſetzte ich.


„Das war freilich eine Zeit, erwiederte Goethe,
die uns mit großen Avantagen zu Hülfe kam. Denken
Sie ſich, daß die langweilige Periode des franzöſiſchen
Geſchmackes damals noch nicht gar lange vorbei und
das Publicum noch keineswegs überreizt war, daß
Shakſpeare noch in ſeiner erſten Friſche wirkte, daß die
Opern von Mozart jung, und endlich, daß die Schiller¬
ſchen Stücke erſt von Jahr zu Jahr hier entſtanden
und auf dem Weimar'ſchen Theater, durch ihn ſelber
einſtudirt, in ihrer erſten Glorie gegeben wurden, und
Sie können ſich vorſtellen, daß mit ſolchen Gerichten
Alte und Junge zu tractiren waren und daß wir immer
ein dankbares Publicum hatten.“

[65]

Aeltere Perſonen, bemerkte ich, die jene Zeit erlebt
haben, können mir nicht genug rühmen, auf welcher
Höhe das Weimar'ſche Theater damals geſtanden.


„Ich will nicht läugnen, erwiederte Goethe, es
war etwas. — Die Hauptſache aber war dieſes, daß
der Großherzog mir die Hände durchaus frei ließ und
ich ſchalten und machen konnte, wie ich wollte. Ich
ſah nicht auf prächtige Decorationen und eine glänzende
Garderobe, aber ich ſah auf gute Stücke. Von der
Tragödie bis zur Poſſe, mir war jedes Genre recht;
aber ein Stück mußte etwas ſeyn, um Gnade zu finden.
Es mußte groß und tüchtig, heiter und graziös, auf
alle Fälle aber geſund ſeyn und einen gewiſſen Kern
haben. Alles Krankhafte, Schwache, Weinerliche und
Sentimentale, ſowie alles Schreckliche, Gräuelhafte
und die gute Sitte Verletzende war ein- für allemal
ausgeſchloſſen; ich hätte gefürchtet, Schauſpieler und
Publicum damit zu verderben.“


„Durch die guten Stücke aber hob ich die Schau¬
ſpieler. Denn das Studium des Vortrefflichen und die
fortwährende Ausübung des Vortrefflichen mußte noth¬
wendig aus einem Menſchen, den die Natur nicht im
Stich gelaſſen, etwas machen. Auch war ich mit den
Schauſpielern in beſtändiger perſönlicher Berührung.
Ich leitete die Leſeproben und machte Jedem ſeine
Rolle deutlich; ich war bei den Hauptproben gegen¬
wärtig und beſprach mit ihnen, wie etwas beſſer zu
III. 5[66] thun; ich fehlte nicht bei den Vorſtellungen und bemerkte
am andern Tage Alles, was mir nicht recht erſchienen.“


„Dadurch brachte ich ſie in ihrer Kunſt weiter. —
Aber ich ſuchte auch den ganzen Stand in der äußern
Achtung zu heben, indem ich die Beſten und Hoffnungs¬
vollſten in meine Kreiſe zog und dadurch der Welt
zeigte, daß ich ſie eines geſelligen Verkehrs mit
mir werth achtete. Hierdurch geſchah aber, daß auch
die übrige höhere Weimar'ſche Geſellſchaft hinter mir
nicht zurückblieb und daß Schauſpieler und Schau¬
ſpielerinnen in die beſten Zirkel bald einen ehrenvollen
Zutritt gewannen. Durch Alles mußte für ſie eine
große innere wie äußere Cultur hervorgehen. Mein
Schüler Wolf in Berlin, ſowie unſer Dürand, ſind Leute
von dem feinſten geſelligen Tact. Herr Oels und Graff
haben hinreichende höhere Bildung, um der beſten
Geſellſchaft Ehre zu machen.“


„Schiller verfuhr in demſelbigen Sinne, wie ich.
Er verkehrte mit Schauſpielern und Schauſpielerinnen
ſehr viel. Er war gleich mir bei allen Proben gegen¬
wärtig, und nach jeder gelungenen Vorſtellung von
einem ſeiner Stücke pflegte er ſie zu ſich einzuladen
und ſich mit ihnen einen guten Tag zu machen. Man
freuete ſich gemeinſam an dem, was gelungen, und
beſprach ſich über das, was etwa das nächſtemal
beſſer zu thun ſey. Aber ſchon als Schiller bei uns
eintrat, fand er Schauſpieler wie Publicum bereits im
[67] hohen Grade gebildet vor und es iſt nicht zu leugnen,
daß es dem raſchen Erfolg ſeiner Stücke zu Gute kam.“


Es machte mir viele Freude, Goethe ſo ausführlich
über einen Gegenſtand ſprechen zu hören, der für mich
immer ein großes Intereſſe hatte und der beſonders
durch das Unglück dieſer Nacht bei mir obenauf war.


Der heutige Brand des Hauſes, ſagte ich, in welchem
Sie und Schiller eine lange Reihe von Jahren ſo viel
Gutes gewirkt, beſchließt gewiſſermaßen auch äußerlich
eine große Epoche, die für Weimar ſo bald nicht zurück¬
kommen dürfte. Sie müſſen doch in jener Zeit bei
Ihrer Leitung des Theaters und bei dem außerordent¬
lichen Erfolg den es hatte, viele Freude erlebt haben!


„Auch nicht geringe Laſt und Noth!“ erwiederte
Goethe mit einem Seufzer.


Es mag ſchwer ſeyn, ſagte ich, ein ſo vielköpfiges
Weſen in gehöriger Ordnung zu halten.


„Sehr viel, erwiederte Goethe, iſt zu erreichen durch
Strenge, mehr durch Liebe. Das Meiſte aber durch
Einſicht und eine unparteiiſche Gerechtigkeit, bei der
kein Anſehen der Perſon gilt.“


„Ich hatte mich vor zwei Feinden zu hüten, die
mir hätten gefährlich werden können. Das Eine war
meine leidenſchaftliche Liebe des Talents, das leicht in
den Fall kommen konnte, mich parteiiſch zu machen.
Das Andere will ich nicht ausſprechen, aber Sie werden
es errathen. Es fehlte bei unſerm Theater nicht an
5*[68] Frauenzimmern, die ſchön und jung und dabei von
großer Anmuth der Seele waren. — Ich fühlte mich
zu Mancher leidenſchaftlich hingezogen; auch fehlte es
nicht, daß man mir auf halbem Wege entgegenkam.
Allein ich faßte mich und ſagte: Nicht weiter! — Ich
kannte meine Stellung und wußte, was ich ihr ſchuldig
war. Ich ſtand hier nicht als Privatmann, ſondern
als Chef einer Anſtalt, deren Gedeihen mir mehr galt,
als mein augenblickliches Glück. Hätte ich mich in
irgend einen Liebeshandel eingelaſſen, ſo würde ich
geworden ſeyn wie ein Compaß, der unmöglich recht
zeigen kann, wenn er einen einwirkenden Magnet an
ſeiner Seite hat.“


„Dadurch aber, daß ich mich durchaus rein erhielt
und immer Herr meiner Selbſt blieb, blieb ich auch
Herr des Theaters, und es fehlte mir nie die nöthige
Achtung, ohne welche jede Autorität ſehr bald dahin iſt.“


Dieſes Bekenntniß Goethe's war mir ſehr merk¬
würdig. Ich hatte bereits von Andern etwas Aehn¬
liches über ihn vernommen und freuete mich, jetzt aus
ſeinem eigenen Munde die Beſtätigung zu hören. Ich
liebte ihn mehr als je, und verließ ihn mit einem herz¬
lichen Händedruck.


Ich ging nach der Brandſtelle zurück, wo aus dem
großen Trümmerhaufen noch Flammen und Qualm¬
ſäulen emporſtiegen. Man war noch fortwährend mit
Löſchen und Auseinanderzerren beſchäftigt. Ich fand
[69] in der Nähe angebrannte Stücke einer geſchriebenen
Rolle. Es waren Stellen aus Goethe's Taſſo.

Bei Goethe zu Tiſch. Der Verluſt des Theaters
bildete faſt den ausſchließlichen Gegenſtand des Ge¬
ſprächs. Frau v. Goethe und Fräulein Ulrike lebten
in Erinnerung glücklicher Stunden, die ſie in dem alten
Hauſe genoſſen. Sie hatten ſich aus dem Schutt einige
Reliquien geſucht, die ſie für unſchätzbar hielten; es
war aber am Ende weiter nichts, als einige Steine
und angebrannte Stücke einer Tapete. Aber dieſe
Stücke ſollten gerade von der Stelle ſeyn, wo ſie auf
dem Balcon ihre Plätze gehabt!


„Die Hauptſache iſt, ſagte Goethe, daß man ſich
ſchnell faſſe und ſich ſo ſchnell als möglich wieder
einrichte. — Ich würde ſchon in nächſter Woche wieder
ſpielen laſſen. Im Fürſtenhauſe, oder im großen Saale
des Stadthauſes, gleichviel. Nur darf keine zu lange
Pauſe eintreten, damit das Publicum für ſeine lang¬
weiligen Abende ſich nicht erſt andere Reſſourcen ſuche.“


Aber von Decorationen iſt ja ſo gut wie gar nichts
gerettet! bemerkte man.


„Es bedarf keiner vielen Decorationen, erwiederte
Goethe. Auch bedarf es keiner großen Stücke. Auch
iſt gar nicht nöthig, daß man ein Ganzes gebe, noch
weniger ein großes Ganze. Die Hauptſache iſt, daß
[70] man Sachen wähle, bei denen kein großer Ortswechſel
ſtattfindet. Irgend ein einactiges Luſtſpiel, oder eine
einactige Poſſe oder Operette. Dann irgend eine Arie,
irgend ein Duett, irgend ein Finale einer beliebten
Oper, — und Ihr werdet ſchon ganz paſſabel zufrieden
ſeyn. Es iſt nur, daß der April leidlich vorüber gehe,
im May habt Ihr ſchon die Sänger des Waldes.“


„Indeſſen, fuhr Goethe fort, werdet Ihr das
Schauſpiel haben, im Laufe der Sommermonate ein
neues Haus hervorſteigen zu ſehen. Dieſer Brand iſt
mir ſehr merkwürdig. Ich will Euch nur verrathen,
daß ich die langen Abendſtunden des Winters mich
mit Coudray beſchäftigt habe, den Riß eines für Weimar
paſſenden neuen ſchönen Theaters zu machen. Wir
hatten uns von einigen der vorzüglichſten deutſchen
Theater Grund- und Durchſchnitts-Riſſe kommen laſſen,
und indem wir daraus das Beſte benutzten und das
uns fehlerhaft Scheinende vermieden, haben wir einen
Riß zu Stande gebracht, der ſich wird können ſehen
laſſen. Sobald der Großherzog ihn genehmigt, kann
mit dem Bau begonnen werden, und es iſt keine Klei¬
nigkeit, daß dieſes Unheil uns ſehr merkwürdigerweiſe
ſo durchaus vorbereitet findet.“


Wir begrüßten dieſe Nachricht Goethe's mit großer
Freude.


In dem alten Hauſe, fuhr Goethe fort, war für
[71] den Adel geſorgt durch den Balcon, und für die dienende
Klaſſe und jungen Handwerker durch die Gallerie. Die
große Zahl des wohlhabenden und vornehmen Mittel¬
ſtandes aber war oft übel daran; denn wenn bei
gewiſſen Stücken das Parterre durch die Studenten
eingenommen war, ſo wußten Jene nicht, wohin. Die
paar kleinen Logen hinter dem Parterre und die wenigen
Bänke des Parkets waren nicht hinreichend. Jetzt haben
wir beſſer geſorgt. Wir laſſen eine ganze Reihe Logen
um das Parterre laufen und bringen zwiſchen Balcon
und Gallerie noch eine Reihe Logen zweiten Ranges.
Dadurch gewinnen wir ſehr viel Platz, ohne das Haus
ſonderlich zu vergrößern.“


Wir freueten uns dieſer Nachricht und lobten Goethe,
daß er es ſo gut mit dem Theater und Publicum im
Sinne habe.


Um auch meinerſeits für das hübſche künftige Theater
etwas zu thun, ging ich nach Tiſch mit meinem Freunde
Robert Doolan nach Oberweimar, wo wir in der dor¬
tigen Schenke bei einer Taſſe Caffee anfingen, nach
der Iſſipile des Metaſtaſio einen Operntext zu bilden.
Unſer Erſtes war, vor allen Dingen den Comödien¬
zettel zu ſchreiben und das Stück mit den beliebteſten
Sängern und Sängerinnen des Weimar'ſchen Theaters
zu beſetzen. Große Freude machte uns dieß. Es war
faſt, als ſäßen wir ſchon wieder vor dem Orcheſter.
[72] Dann fingen wir wirklich in allem Ernſte an und
vollendeten einen großen Theil des erſten Actes.

Bei Goethe zu Tiſch in größerer Geſellſchaft. Er
zeigte uns den Riß des neuen Theaters. Er war ſo
wie er uns vor einigen Tagen geſagt hatte; der Riß
verſprach ſowohl für das Aeußere als das Innere ein
ſehr ſchönes Haus.


Es ward bemerkt, daß ein ſo hübſches Theater
auch ſchöne Decorationen und beſſere Anzüge als bisher
verlange. Auch war man der Meinung, daß auch das
Perſonal anfange, nach und nach lückenhaft zu werden,
und daß ſowohl für das Schauſpiel als die Oper
einige ausgezeichnete junge Mitglieder müßten engagirt
werden. Zugleich aber verhehlte man ſich nicht, daß
alles dieſes mit einem bedeutenden Koſtenaufwande
verbunden ſey, wozu die bisherigen Mittel der Caſſe
nicht reichen dürften.


„Ich weiß recht gut, fiel Goethe ein, man wird,
unter dem Vorwand die Caſſe zu ſchonen, einige Per¬
ſönchen engagiren, die nicht viel koſten. Aber man
denke nur nicht mit ſolchen Maßregeln der Caſſe zu
nützen. Nichts ſchadet der Caſſe mehr, als in ſolchen
weſentlichen Dingen ſparen zu wollen. Man muß daran
denken, jeden Abend ein volles Haus zu bekommen.
Und da thut ein junger Sänger, eine junge Sängerin,
[73] ein tüchtiger Held und eine tüchtige junge Heldin von
ausgezeichnetem Talent und einiger Schönheit ſehr viel.
Ja, ſtände ich noch an der Spitze der Leitung, ich
würde jetzt zum Beſten der Caſſe noch einen Schritt
weiter gehen, und Ihr ſolltet erfahren, daß mir das
nöthige Geld nicht ausbliebe.“


Man fragte Goethe, was er zu thun im Sinne
habe.


„Ein ganz einfaches Mittel würde ich anwenden,
erwiederte er. Ich würde auch die Sonntage ſpielen
laſſen. Dadurch hätte ich die Einnahme von wenig¬
ſtens vierzig Theaterabenden mehr, und es müßte
ſchlimm ſeyn, wenn die Caſſe dabei nicht jährlich zehn
bis funfzehn Tauſend Thaler gewinnen ſollte.“


Dieſen Ausweg fand man ſehr praktiſch. Es kam
zur Erwähnung, daß die große arbeitende Klaſſe, die
an den Wochentagen gewöhnlich bis ſpät in die Nacht
beſchäftiget ſey, den Sonntag als einzigen Erholungs¬
tag habe, wo ſie denn das edlere Vergnügen des
Schauſpiels dem Tanz und Bier in einer Dorfſchenke
ſicher vorziehen würde. Auch war man der Meinung, daß
ſämmtliche Pächter und Gutsbeſitzer, ſowie die Beam¬
ten und wohlhabenden Einwohner der kleinen Städte
in der Umgegend, den Sonntag als einen erwünſchten
Tag anſehen würden, um in das Weimar'ſche Theater
zu fahren. Auch ſey bisher der Sonntagabend in
Weimar für Jeden, der nicht an Hof gehe, oder nicht
[74] Mitglied eines glücklichen Familienkreiſes oder einer
geſchloſſenen Geſellſchaft ſey, ſehr ſchlimm und langwei¬
lig; denn der Einzelne wiſſe nicht wohin. Und doch
mache man Anſprüche, als müſſe am Abend eines Sonn¬
tags ſich irgend ein Ort finden laſſen, wo es Einem
wohl ſey und man die Plage der Woche vergeſſe.


Goethe's Gedanke, auch die Sonntage ſpielen zu
laſſen, wie es in den übrigen deutſchen Städten üblich,
fand alſo die vollkommenſte Zuſtimmung und ward als
ein ſehr glücklicher begrüßt. Nur erhob ſich ein leiſer
Zweifel, ob es auch dem Hofe recht ſeyn würde.


„Der Weimar'ſche Hof, erwiederte Goethe, iſt zu
gut und weiſe, als daß er eine Maßregel hindern
ſollte, die zum Wohl der Stadt und einer bedeutenden
Anſtalt gereicht. Der Hof wird gewiß gern das kleine
Opfer bringen und ſeine Sonntags-Soiréen auf einen
anderen Tag verlegen. Wäre dieß aber nicht annehm¬
lich, ſo gäbe es ja für die Sonntage Stücke genug,
die der Hof ohnedieß nicht gerne ſieht, die aber für
das eigentliche Volk durchaus geeignet ſind und ganz
trefflich die Caſſe füllen.“


Das Geſpräch wendete ſich auf die Schauſpieler
und es ward über den Gebrauch und Mißbrauch ihrer
Kräfte ſehr viel hin und wieder geredet.


„Ich habe in meiner langen Praxis, ſagte Goethe,
als Hauptſache gefunden, daß man nie ein Stück oder
gar eine Oper einſtudiren laſſen ſolle, wovon man
[75] nicht einen guten Succeß auf Jahre hin mit einiger
Beſtimmtheit vorausſieht. Niemand bedenkt hinreichend
das Aufgebot von Kräften, die das Einſtudiren eines
fünfactigen Stückes oder gar einer Oper von gleicher
Länge in Anſpruch nimmt. Ja, Ihr Lieben, es gehört
viel dazu, ehe ein Sänger eine Partie durch alle
Scenen und Acte durchaus inne habe, und ſehr viel,
ehe die Chöre gehen, wie ſie gehen müſſen. Es kann
mich gelegentlich ein Grauen überfallen, wenn ich höre,
wie leichtſinnig man oft den Befehl zum Einſtudiren
einer Oper giebt, von deren Succeß man eigentlich
nichts weiß und wovon man nur durch einige ſehr
unſichere Zeitungsnachrichten gehört hat. Da wir in
Deutſchland ſchon ganz leidliche Poſten beſitzen, ja
ſogar anfangen Schnellpoſten zu bekommen, ſo würde
ich bei der Nachricht von irgend einer auswärts gege¬
benen und geprieſenen neuen Oper den Regiſſeur oder
ein anderes zuverläſſiges Mitglied der Bühne an Ort
und Stelle ſchicken, damit er ſich durch ſeine perſönliche
Gegenwart bei einer wirklichen Aufführung überzeuge,
inwiefern die geprieſene neue Oper gut und tüchtig,
und inwiefern unſere Kräfte dazu hinreichen oder nicht.
Die Koſten einer ſolchen Reiſe kommen gar nicht in
Betracht in Vergleich der enormen Vortheile, die da¬
durch erreicht, und der unſeligen Mißgriffe, die dadurch
verhütet werden.“


„Und dann, iſt einmal ein gutes Stück oder eine
[76] gute Oper einſtudirt, ſo ſoll man ſie in kurzen Zwiſchen¬
pauſen ſo lange hintereinander geben, als ſie irgend
zieht und irgend das Haus füllet. Daſſelbe gilt von
einem guten älteren Stück oder einer guten älteren
Oper, die vielleicht ſeit Jahr und Tag geruhet hat
und nun gleichfalls eines nicht geringen erneueten
Studiums bedurfte, um wieder mit Succeß gegeben
werden zu können. Eine ſolche Vorſtellung ſoll man
in kurzen Zwiſchenpauſen gleichfalls ſo oft wiederholen,
als das Publicum irgend ſein Intereſſe daran zu er¬
kennen giebt. Die Sucht, immer etwas Neues haben
und ein mit unſäglicher Mühe einſtudirtes gutes Stück
oder Oper nur einmal, höchſtens zweimal ſehen zu
wollen, oder auch zwiſchen ſolchen Wiederholungen
lange Zeiträume von ſechs bis acht Wochen verſtreichen
zu laſſen, wo denn immer wieder ein neues Studium
nöthig wird, iſt ein wahrer Verderb des Theaters und
ein Mißbrauch der Kräfte des ausübenden Perſonals,
der gar nicht zu verzeihen iſt.“


Goethe ſchien dieſe Angelegenheit ſo wichtig zu
halten und ſie ſchien ihm ſo ſehr am Herzen zu liegen,
daß er darüber in eine Wärme gerieth, wie ſie ihn
bei ſeiner großen Ruhe ſelten anwandelt.


„In Italien, fuhr Goethe fort, giebt man eine
und dieſelbige Oper vier bis ſechs Wochen lang jeden
Abend und die italieniſchen großen Kinder verlangen
darin keineswegs eine Aenderung. Der gebildete Pariſer
[77] ſieht die claſſiſchen Stücke ſeiner großen Dichter ſo oft,
daß er ſie auswendig weiß und für die Betonung einer
jeden Sylbe ein geübtes Ohr hat. Hier in Weimar
hat man mir wohl die Ehre erzeigt, meine Iphigenie
und meinen Taſſo zu geben; allein wie oft? — Kaum
alle drei bis vier Jahre einmal. Das Publicum findet
ſie langweilig. Sehr begreiflich! Die Schauſpieler
ſind nicht geübt, die Stücke zu ſpielen, und das Publi¬
cum iſt nicht geübt, ſie zu hören. Würden die Schau¬
ſpieler durch öftere Wiederholung ſich in ihre Rollen
ſo hineinſpielen, daß die Darſtellung ein Leben gewönne,
als wäre es nicht eingelernt, ſondern als entquölle Alles
aus ihrem eigenen Herzen, ſo würde das Publicum
ſicher auch nicht ohne Intereſſe und ohne Empfindung
bleiben.“


„Ich hatte wirklich einmal den Wahn, als ſey es
möglich, ein deutſches Theater zu bilden. Ja ich hatte
den Wahn, als könne ich ſelber dazu beitragen und
als könne ich zu einem ſolchen Bau einige Grundſteine
legen. Ich ſchrieb meine Iphigenie und meinen Taſſo
und dachte in kindiſcher Hoffnung, ſo würde es gehen.
Allein es regte ſich nicht und rührte ſich nicht und
blieb Alles wie zuvor. — Hätte ich Wirkung gemacht
und Beifall gefunden, ſo würde ich Euch ein ganzes
Dutzend Stücke wie die Iphigenie und den Taſſo
geſchrieben haben. An Stoff war kein Mangel. Allein,
wie geſagt, es fehlten die Schauſpieler, um dergleichen
[78] mit Geiſt und Leben darzuſtellen, und es fehlte das
Publicum, dergleichen mit Empfindung zu hören und
aufzunehmen.“

Abends großer Thee bei Goethe, wo ich außer den
hieſigen jungen Engländern auch einen jungen Ameri¬
kaner fand. Auch hatte ich die Freude, Gräfin Julie
von Egloffſtein zu ſehen und mit ihr allerlei gute
Unterhaltung zu führen.

Man hatte Goethe's Rath befolgt und ſpielte heute
Abend zuerſt im großen Saale des Stadthauſes, und
zwar gab man kleine Sachen und Bruchſtücke, wie das
beſchränkte Local und der Mangel an Decorationen es
bedingte. Die kleine Oper, „das Hausgeſinde,“ gelang
vollkommen ſo gut, wie im Theater. Sodann ein belieb¬
tes Quartett aus der Oper „Graf von Gleichen“ von
Eberwein ward mit entſchiedenem Beifall aufgenommen.
Unſer erſter Tenor, Herr Moltke, ſang darauf ein oft
vernommenes Lied aus der Zauberflöte, worauf, nach
einer Pauſe, das große Finale des erſten Actes von
Don Juan mächtig eintrat und ſo dieſes heutige erſte
Surrogat eines Abends im Theater grandios und wür¬
dig beſchloß.


[79]

Bei Goethe zu Tiſch. „Ich habe Euch die gute
Nachricht zu vermelden, ſagte er, daß der Großherzog
unſern Riß des neuen Theaters genehmigt hat und
daß mit Legung des Grundes ungeſäumt begonnen
wird.“


Ich war über dieſe Eröffnung ſehr froh.


„Wir hatten mit allerlei Gegenwirkungen zu kämpfen,
fuhr Goethe fort, allein wir ſind zuletzt glücklich durch¬
gedrungen. Wir haben dabei ſehr viel dem Geheimen¬
rath Schweitzer zu verdanken, der, wie ſich von ihm
erwarten ließ, mit tüchtiger Geſinnung treu auf unſerer
Seite ſtand. Der Riß iſt vom Großherzog eigenhän¬
dig unterſchrieben und erleidet nunmehr keine weitere
Aenderung. Freuet Euch alſo, denn Ihr bekommt ein
ſehr gutes Theater.“

Abends bei Goethe. Da unſere Geſpräche über
Theater und Theaterleitung einmal an der Zeit waren,
ſo fragte ich ihn, nach welchen Maximen er bei der
Wahl eines neuen Mitglieds verfahren.


„Ich könnte es kaum ſagen, erwiederte Goethe. Ich
verfuhr ſehr verſchieden. Ging dem neuen Schauſpieler
ein bedeutender Ruf voran, ſo ließ ich ihn ſpielen und
ſah wie er ſich zu den Andern paſſe, ob ſeine Art und
Weiſe unſer Enſemble nicht ſtöre, und ob durch ihn
[80] überhaupt bei uns eine Lücke ausgefüllt werde. War
es aber ein junger Menſch, der zuvor noch keine Bühne
betreten, ſo ſah ich zunächſt auf ſeine Perſönlichkeit, ob
ihm etwas für ſich Einnehmendes, Anziehendes, inwohne,
und vor allen Dingen, ob er ſich in der Gewalt habe.
Denn ein Schauſpieler, der keine Selbſtbeherrſchung
beſitzt und ſich einem Fremden gegenüber nicht ſo zeigen
kann, wie er es für ſich am günſtigſten hält, hat über¬
haupt wenig Talent. Sein ganzes Metier verlangt ja
ein fortwährendes Verläugnen ſeiner ſelbſt und ein
fortwährendes Eingehen und Leben in einer fremden
Maske! —“


„Wenn mir nun ſein Aeußeres und ſein Benehmen
gefiel, ſo ließ ich ihn leſen, um ſowohl die Kraft und
den Umfang ſeines Organs, als auch die Fähigkeiten
ſeiner Seele zu erfahren. Ich gab ihm etwas Erhabe¬
nes eines großen Dichters, um zu ſehen, ob er das
wirklich Große zu empfinden und auszudrücken fähig;
dann etwas Leidenſchaftliches, Wildes, um ſeine Kraft
zu prüfen. Dann ging ich wohl zu etwas klar Ver¬
ſtändigem, Geiſtreichen, Ironiſchen, Witzigen über, um
zu ſehen, wie er ſich bei ſolchen Dingen benehme und
ob er hinlängliche Freiheit des Geiſtes beſitze. Dann
gab ich ihm etwas, worin der Schmerz eines verwunde¬
ten Herzens, das Leiden einer großen Seele dargeſtellt
war, damit ich erführe, ob er auch den Ausdruck des
Rührenden in ſeiner Gewalt habe.“

[81]

„Genügte er mir nun in allen dieſen mannigfaltigen
Richtungen, ſo hatte ich gegründete Hoffnung, aus ihm
einen ſehr bedeutenden Schauſpieler zu machen. War
er in einigen Richtungen entſchieden beſſer, als in andern,
ſo merkte ich mir das Fach, für welches er ſich vorzugs¬
weiſe eigne. Auch kannte ich jetzt ſeine ſchwachen Seiten
und ſuchte bei ihm vor Allem dahin zu wirken, daß er
dieſe ſtärke und ausbilde. Bemerkte ich Fehler des
Dialekts und ſogenannte Provincialismen, ſo drang ich
darauf, daß er ſie ablege, und empfahl ihm zu geſelligem
Umgange und freundlicher Uebung ein Mitglied der
Bühne, das davon durchaus frei war. Dann fragte
ich ihn, ob er tanzen und fechten könne, und wenn dieſes
nicht der Fall, ſo übergab ich ihn auf einige Zeit dem
Tanz- und Fechtmeiſter.“


„War er nun ſo weit, um auftreten zu können, ſo
gab ich ihm zunächſt ſolche Rollen, die ſeiner Indi¬
vidualität gemäß waren, und ich verlangte vorläufig
nichts weiter, als daß er ſich ſelber ſpiele. Erſchien er
mir nun etwas zu feuriger Natur, ſo gab ich ihm phleg¬
matiſche, erſchien er mir aber zu ruhig und langſam,
ſo gab ich ihm feurige, raſche Charaktere, damit er lerne,
ſich ſelber abzulegen und in eine fremde Perſönlichkeit
einzugehen.“


Die Unterhaltung wendete ſich auf die Beſetzung
von Stücken, wobei Goethe unter Anderem Folgendes
ausſprach, welches mir merkwürdig erſchien.


III. 6[82]

„Es iſt ein großer Irrthum, ſagte er, wenn man
denkt, ein mittelmäßiges Stück auch mit mittelmäßigen
Schauſpielern beſetzen zu können. Ein Stück zweiten,
dritten Ranges kann durch Beſetzung mit Kräften erſten
Ranges unglaublich gehoben und wirklich zu etwas Gu¬
tem werden. Wenn ich aber ein Stück zweiten, dritten
Ranges auch mit Schauſpielern zweiten, dritten Ranges
beſetze, ſo wundere man ſich nicht, wenn die Wirkung
vollkommen null iſt.“


„Schauſpieler ſecondärer Art ſind ganz vortrefflich
in großen Stücken. Sie wirken dann wie in einem
Gemälde, wo die Figuren im Halbſchatten ganz herrliche
Dienſte thun, um diejenigen, welche das volle Licht haben,
noch mächtiger erſcheinen zu laſſen.“

Bei Goethe zu Tiſch mit D'Alton, deſſen Bekannt¬
ſchaft ich vorigen Sommer in Bonn gemacht und welchen
wiederzuſehen ich große Freude hatte. D'Alton iſt
ganz ein Mann nach Goethe's Sinne; auch findet zwiſchen
Beiden ein ſehr ſchönes Verhältniß ſtatt. In ſeiner
Wiſſenſchaft erſcheint er von großer Bedeutung, ſo daß
Goethe ſeine Aeußerungen werth hält und jedes ſeiner
Worte beachtet. Dabei iſt D'Alton als Menſch liebens¬
würdig, geiſtreich, und von einer Redegabe und einer
Fülle hervorquellender Gedanken, daß er wohl Wenige
[83] ſeines Gleichen hat, und man nicht ſatt wird ihm zu¬
zuhören.


Goethe, der in ſeinen Beſtrebungen, die Natur zu
ergründen, gern das All umfaſſen möchte, ſteht gleich¬
wohl gegen jeden einzelnen Naturforſcher von Bedeu¬
tung, der ein ganzes Leben einer ſpeciellen Richtung
widmet, im Nachtheil. Bei dieſem findet ſich die Be¬
herrſchung eines Reiches unendlichen Details, während
Goethe mehr in der Anſchauung allgemeiner großer
Geſetze lebt. Daher kommt nun, daß Goethe, der
immer irgend einer großen Syntheſe auf der Spur iſt,
dem aber, aus Mangel an Kenntniß der einzelnen
Facta, die Beſtätigung ſeiner Ahnungen fehlt, mit ſo
entſchiedener Liebe jedes Verhältniß zu bedeutenden
Naturforſchern ergreift und feſthält. Denn bei ihnen
findet er was ihm mangelt, bei ihnen findet er die
Ergänzung deſſen, was bei ihm ſelber lückenhaft ge¬
blieben. Er wird nun in wenigen Jahren achtzig
Jahre alt, aber des Forſchens und Erfahrens wird er
nicht ſatt. In keiner ſeiner Richtungen iſt er fertig und
abgethan; er will immer weiter, immer weiter! immer
lernen, immer lernen! und zeigt ſich eben dadurch als ein
Menſch von einer ewigen, ganz unverwüſtlichen Jugend.


Dieſe Betrachtungen wurden bei mir dieſen Mittag
bei ſeiner lebhaften Unterhaltung mit D'Alton ange¬
regt. D'Alton ſprach über die Nagethiere und die
Bildungen und Modificationen ihrer Skelette, und
6 *[84] Goethe konnte nicht ſatt werden, immer noch mehr
einzelne Facta zu vernehmen.

Gegen Abend zu Goethe, der mich zu einer Spazier¬
fahrt in den untern Garten hatte einladen laſſen.
„Ehe wir fahren, ſagte er, will ich Ihnen doch einen
Brief von Zelter geben, den ich geſtern erhalten, und
worin er auch unſere Theaterangelegenheit berührt.“


„Daß Du der Mann nicht biſt, ſchreibt Zelter unter
Anderem, dem Volk in Weimar ein Theater zu bauen,
hätte ich Dir ſchon eher angeſehen. Wer ſich grün
macht, den freſſen die Ziegen. Das möchten nur auch
andere Hoheiten bedenken, die den Wein in der Gohre
pfropfen wollen. Freunde, wir habens erlebt, ja
erleben es.“


Goethe ſah mich an und wir lachten. „Zelter iſt
brav und tüchtig, ſagte er, aber er kommt mitunter in
den Fall, mich nicht ganz zu verſtehen und meinen
Worten eine falſche Auslegung zu geben.“


„Ich habe dem Volk und deſſen Bildung mein gan¬
zes Leben gewidmet, warum ſollte ich ihm nicht auch ein
Theater bauen! — Allein hier in Weimar, in dieſer
kleinen Reſidenz, die, wie man ſcherzhafterweiſe ſagt,
zehntauſend Poeten und einige Einwohner hat, wie
kann da viel von Volk die Rede ſeyn, — und nun gar
von einem Volks-Theater! — Weimar wird ohne
[85] Zweifel einmal eine recht große Stadt werden, allein
wir können immer noch einige Jahrhunderte warten,
bis das Weimar'ſche Volk eine hinlängliche Maſſe
bildet, um ein Theater bauen und erhalten zu können.“


Es war indeſſen angeſpannt und wir fuhren in
den untern Garten. Der Abend war ſtill und milde,
faſt etwas ſchwül, und es zeigten ſich große Wolken,
die ſich gewitterhaft zu Maſſen zuſammenzogen. Wir
gingen in dem trockenen Sandwege auf und ab, Goethe
ſtill neben mir, ſcheinbar von allerlei Gedanken bewegt.
Ich horchte indeß auf die Töne der Amſel und Droſſel,
die auf den Spitzen der noch unbelaubten Eſchen jenſeit
der Ilm dem ſich bildenden Gewitter entgegen ſangen.


Goethe ließ ſeine Blicke umherſchweifen, bald an
den Wolken, bald über das Grün hin, das überall an
den Seiten des Weges und auf der Wieſe, wie an Bü¬
ſchen und Hecken, mächtig hervorquoll. „Ein warmer
Gewitterregen, wie der Abend es verſpricht, ſagte er,
und der Frühling wird in der ganzen Pracht und Fülle
abermals wieder daſeyn.“


Indeſſen ward das Gewölk drohender, man hörte
ein dumpfes Donnern, auch einige Tropfen fielen, und
Goethe fand es gerathen, wieder in die Stadt zurückzu¬
fahren. „Wenn Sie nichts vorhaben, ſagte er, als wir
an ſeiner Wohnung abſtiegen, ſo gehen Sie wohl mit
hinauf und bleiben noch ein Stündchen bei mir.“ Wel¬
ches denn mit großer Freude von mir geſchah.


[86]

Zelter's Brief lag noch auf dem Tiſche. „Es iſt
wunderlich, gar wunderlich, ſagte Goethe, wie leicht man
zu der öffentlichen Meinung in eine falſche Stellung
geräth! — Ich wüßte nicht, daß ich je etwas gegen
das Volk geſündigt, aber ich ſoll nun ein- für allemal
kein Freund des Volkes ſeyn. Freilich bin ich kein
Freund des revolutionären Pöbels, der auf Raub, Mord
und Brand ausgeht, und hinter dem falſchen Schilde
des öffentlichen Wohles nur die gemeinſten egoiſtiſchen
Zwecke im Auge hat. Ich bin kein Freund ſolcher
Leute, ebenſowenig als ich ein Freund eines Ludwigs
des Funfzehnten bin. Ich haſſe jeden gewaltſamen Um¬
ſturz, weil dabei ebenſoviel Gutes vernichtet, als
gewonnen wird. Ich haſſe die, welche ihn ausführen,
wie die, welche dazu Urſache geben. Aber bin ich darum
kein Freund des Volkes? — Denkt denn jeder rechtlich
geſinnte Mann etwa anders?“


„Sie wiſſen, wie ſehr ich mich über jede Verbeſſerung
freue, welche die Zukunft uns etwa in Ausſicht ſtellt.
Aber, wie geſagt, jedes Gewaltſame, Sprunghafte, iſt
mir in der Seele zuwider, denn es iſt nicht natur¬
gemäß
.“


„Ich bin ein Freund der Pflanze, ich liebe die
Roſe, als das Vollkommenſte, was unſere deutſche Natur
als Blume gewähren kann; aber ich bin nicht Thor
genug, um zu verlangen, daß mein Garten ſie mir ſchon
jetzt, Ende April, gewähren ſoll. Ich bin zufrieden,
[87] wenn ich jetzt die erſten grünen Blätter finde; zufrieden,
wenn ich ſehe, wie ein Blatt nach dem andern den
Stengel von Woche zu Woche weiter bildet; ich freue
mich, wenn ich im Mai die Knospe ſehe, und bin glück¬
lich, wenn endlich der Juni mir die Roſe ſelbſt in aller
Pracht und in allem Duft entgegen reicht. Kann aber
Jemand die Zeit nicht erwarten, der wende ſich an die
Treibhäuſer.“


„Nun heißt es wieder, ich ſey ein Fürſtendiener, ich
ſey ein Fürſtenknecht. — Als ob damit etwas geſagt
wäre! — Diene ich denn etwa einem Tyrannen? einem
Despoten? — Diene ich denn etwa einem Solchen, der
auf Koſten des Volkes nur ſeinen eigenen Lüſten lebt? —
Solche Fürſten und ſolche Zeiten liegen gottlob längſt
hinter uns. Ich bin dem Großherzog ſeit einem halben
Jahrhundert auf das innigſte verbunden und habe ein
halbes Jahrhundert mit ihm geſtrebt und gearbeitet;
aber lügen müßte ich, wenn ich ſagen wollte, ich wüßte
einen einzigen Tag, wo der Großherzog nicht daran
gedacht hatte, etwas zu thun und auszuführen, das dem
Lande zum Wohl gereichte und das geeignet wäre, den
Zuſtand des Einzelnen zu verbeſſern. — Für ſich per¬
ſönlich, was hatte er denn von ſeinem Fürſtenſtande als
Laſt und Mühe! — Iſt ſeine Wohnung, ſeine Kleidung
und ſeine Tafel etwa beſſer beſtellt, als die eines wohl¬
habenden Privatmannes? — Man gehe nur in unſere
Seeſtädte und man wird Küche und Keller eines
[88] angeſehenen Kaufmannes beſſer beſtellt finden, als die
ſeinigen.“


„Wir werden, fuhr Goethe fort, dieſen Herbſt den
Tag feiern, an welchem der Großherzog ſeit funfzig
Jahren regiert und geherrſcht hat. Allein, wenn ich es
recht bedenke, dieſes ſein Herrſchen, was war es weiter,
als ein beſtändiges Dienen! Was war es, als ein
Dienen in Erreichung großer Zwecke, ein Dienen zum
Wohl ſeines Volkes! — Soll ich denn alſo mit Gewalt
ein Fürſtenknecht ſeyn, ſo iſt es wenigſtens mein Troſt,
daß ich doch nur der Knecht eines Solchen bin, der ſelber
ein Knecht des allgemeinen Beſten iſt.“

Der Bau des neuen Theaters war dieſe Zeit her
raſch vorgeſchritten, die Grundmauern ſtiegen ſchon
überall empor und ließen ein baldiges ſehr ſchönes
Gebäude hoffen.


Heute aber, als ich den Bauplatz beſuchte, ſah ich
zu meinem Schrecken, daß die Arbeit eingeſtellt war;
auch hörte ich gerüchtweiſe, daß eine andere Partei gegen
Goethe's und Coudray's Plan noch endlich obgeſiegt
habe, daß Coudray von der Leitung des Baues zurück¬
trete und daß ein anderer Architekt nach einem neuen
Riß den Bau ausführen und den bereits gelegten Grund
danach ändern werde.


[89]

Dieſes zu ſehen und zu hören betrübte mich tief;
denn ich hatte mich mit Vielen darauf gefreut, in Wei¬
mar ein Theater entſtehen zu ſehen, das nach Goethe's
praktiſcher Anſicht von einer zweckmäßigen innern Ein¬
richtung ausgeführt und hinſichtlich der Schönheit ſeinem
hochgebildeten Geſchmack gemäß ſeyn würde.


Aber auch wegen Goethe und Coudray betrübte es
mich, die durch dieſes Weimar'ſche Ereigniß ſich Beide
mehr oder weniger verletzt fühlen mußten.

Bei Goethe zu Tiſch. Es iſt zu denken, daß der
veränderte Theaterbau das Erſte war, das zwiſchen uns
zur Sprache kam. Ich hatte, wie geſagt, gefürchtet,
daß die höchſt unerwartete Maßregel Goethe tief ver¬
letzen würde. Allein keine Spur! — Ich fand ihn in
der mildeſten, heiterſten Stimmung, durchaus über jede
kleine Empfindlichkeit erhaben.


„Man hat, ſagte er, dem Großherzog von Seiten
des Koſten-Punktes und großer Erſparungen, die bei
dem veränderten Bauplan zu machen, beizukommen
geſucht, und es iſt ihnen gelungen. Mir kann es ganz
recht ſeyn. Ein neues Theater iſt am Ende doch immer
nur ein neuer Scheiterhaufen, den irgend ein Ungefähr
über kurz oder lang wieder in Brand ſteckt. Damit
tröſte ich mich. Uebrigens ein Bißchen mehr oder
[90] weniger, ein Bißchen auf oder ab, iſt nicht der Rede
werth. Ihr werdet immerhin ein ganz leidliches Haus
bekommen, wenn auch nicht gerade ſo, wie ich es mir
gewünſcht und gedacht hatte. Ihr werdet hineingehen,
und ich werde auch hineingehen, und es wird am Ende
Alles ganz artig ausfallen.“


„Der Großherzog, fuhr Goethe fort, äußerte gegen
mich die Meinung, ein Theater brauche keines¬
wegs ein architektoniſches Prachtwerk zu ſeyn; wogegen
im Ganzen freilich nichts einzuwenden. Er meinte
ferner, es ſey doch immer nur ein Haus, das den Zweck
habe, Geld zu verdienen. Dieſe Anſicht klingt
beim erſten Anhören etwas materiell; allein es fehlt
ihr, recht bedacht, auch keineswegs eine höhere Seite.
Denn will ein Theater nicht bloß zu ſeinen Koſten
kommen, ſondern obendrein noch Geld erübrigen und
Geld verdienen, ſo muß eben Alles durchaus ganz
vortrefflich ſeyn. Es muß die beſte Leitung an der
Spitze haben, die Schauſpieler müſſen durchweg zu den
beſten gehören, und man muß fortwährend ſo gute
Stücke geben, daß nie die Anziehungskraft ausgehe,
welche dazu gehört, um jeden Abend ein volles Haus
zu machen. Das iſt aber mit wenigen Worten ſehr
viel geſagt und faſt das Unmögliche.“


Die Anſicht des Großherzogs, ſagte ich, mit dem
Theater Geld verdienen zu wollen, ſcheint alſo eine
durchaus praktiſche zu ſeyn, indem in ihr eine Nöthi¬
[91] gung liegt, ſich fortwährend auf der Höhe des Vortreff¬
lichen zu erhalten.


„Shakſpeare und Moliere, erwiederte Goethe, hatten
auch keine andere. Beide wollten auch vor allen
Dingen mit ihren Theatern Geld verdienen. Damit
ſie aber dieſen ihren Hauptzweck erreichten, mußten ſie
dahin trachten, daß fortwährend Alles im beſten Stande
und neben dem alten Guten immer von Zeit zu Zeit
etwas tüchtiges Neues daſey, das reize und anlocke.
Das Verbot des Tartüff war für Moliere ein Donner¬
ſchlag; aber nicht ſowohl für den Poeten, als für den
Director Moliere, der für das Wohl einer bedeuten¬
den Truppe zu ſorgen hatte, und der ſehen mußte, wie
er für ſich und die Seinigen Brod ſchaffte.“


„Nichts, fuhr Goethe fort, iſt für das Wohl eines
Theaters gefährlicher, als wenn die Direction ſo geſtellt
iſt, daß eine größere oder geringere Einnahme der
Caſſe ſie perſönlich nicht weiter berührt, und ſie in der
ſorgloſen Gewißheit hinleben kann, daß dasjenige, was
im Laufe des Jahres an der Einnahme der Theater-
Caſſe gefehlt hat, am Ende deſſelben aus irgend einer
andern Quelle erſetzt wird. Es liegt einmal in der
menſchlichen Natur, daß ſie leicht erſchlafft, wenn per¬
ſönliche Vortheile oder Nachtheile ſie nicht nöthigen.
Nun iſt zwar nicht zu verlangen, daß ein Theater in
einer Stadt wie Weimar ſich ſelbſt erhalten ſolle und
daß kein jährlicher Zuſchuß aus der fürſtlichen Caſſe
[92] nöthig ſey. Allein es hat doch Alles ſein Ziel und
ſeine Grenze, und einige tauſend Thaler jährlich mehr
oder weniger ſind doch keineswegs eine gleichgültige
Sache, beſonders da die geringere Einnahme und das
Schlechterwerden des Theaters natürliche Gefährten
ſind, und alſo nicht bloß das Geld verloren geht,
ſondern die Ehre zugleich.“


„Wäre ich der Großherzog, ſo würde ich künftig,
bei einer etwa eintretenden Veränderung der Direction,
als jährlichen Zuſchuß ein- für allemal eine feſte Summe
beſtimmen; ich würde etwa den Durchſchnitt der Zu¬
ſchüſſe der letzten zehn Jahre ermitteln laſſen, und
danach eine Summe ermäßigen, die zu einer anſtän¬
digen Erhaltung als hinreichend zu achten wäre. Mit
dieſer Summe müßte man haushalten. — Dann würde
ich aber einen Schritt weiter gehen und ſagen: wenn
der Director mit ſeinen Regiſſeuren durch eine kluge
und energiſche Leitung es dahin bringt, daß die Caſſe
am Ende des Jahres einen Ueberſchuß hat, ſo ſoll von
dieſem Ueberſchuß dem Director, den Regiſſeuren und
den vorzüglichſten Mitgliedern der Bühne eine Remu¬
neration zu Theil werden. Da ſolltet Ihr einmal ſehen,
wie es ſich regen und wie die Anſtalt aus dem Halb¬
ſchlafe, in welchen ſie nach und nach gerathen muß,
erwachen würde.“


„Unſere Theatergeſetze, fuhr Goethe fort, haben
zwar allerlei Strafbeſtimmungen, allein ſie haben kein
[93] einziges Geſetz, das auf Ermunterung und Belohnung
ausgezeichneter Verdienſte ginge. Dieß iſt ein großer
Mangel. Denn wenn mir bei jedem Verſehen ein
Abzug von meiner Gage in Ausſicht ſteht, ſo muß mir
auch eine Ermunterung in Ausſicht ſtehen, wenn ich
mehr thue, als man eigentlich von mir verlangen kann.
Dadurch aber, daß Alle mehr thun, als zu erwarten
und zu verlangen, kommt ein Theater in die Höhe.“


Frau v. Goethe und Fräulein Ulrike traten herein,
Beide wegen des ſchönen Wetters ſehr anmuthig ſommer¬
haft gekleidet. Die Unterhaltung über Tiſch war leicht
und heiter. Man ſprach über allerlei Vergnügungs-
Partieen der vergangenen Woche, ſowie über Aus¬
ſichten ähnlicher Art für die nächſte.


„Wenn wir die ſchönen Abende behalten, ſagte Frau
v. Goethe, ſo hätte ich große Luſt, in dieſen Tagen im
Park beim Geſang der Nachtigallen einen Thee zu
geben. Was ſagen Sie, lieber Vater?“ „Das könnte
ſehr artig ſeyn! erwiederte Goethe. „Und Sie, Ecker¬
mann, ſagte Frau v. Goethe, wie ſteht's mit Ihnen?
Darf man Sie einladen?“ — „Aber Ottilie! fiel
Fräulein Ulrike ein, wie kannſt Du nur den Doctor
einladen! — Er kommt ja doch nicht; und wenn er
kommt, ſo ſitzt er wie auf Kohlen und man ſieht es
ihm an, daß ſeine Seele wo anders iſt und daß er
je eher je lieber wieder fort möchte.“ Wenn ich ehr¬
lich ſagen ſoll, erwiederte ich, ſo ſtreife ich freilich lieber
[94] mit Doolan im Felde umher. Thee und Theegeſellſchaft
und Theegeſpräch widerſtrebt meiner Natur ſo ſehr,
daß es mir ſchon unheimlich wird, wenn ich nur daran
denke. „Aber Eckermann! ſagte Frau v. Goethe, bei
einem Thee im Park ſind Sie ja im Freien und ganz
in Ihrem Element.“ Im Gegentheil! ſagte ich. Wenn
ich der Natur ſo nahe bin, daß ich alle Düfte wittere,
und doch nicht eigentlich hinein kann, ſo wird es mir
ungeduldig, wie einer Ente, die man in die Nähe des
Waſſers bringt, aber am Hineintauchen hindert. „Sie
könnten auch ſagen, bemerkte Goethe lachend, es würde
Ihnen zu Sinne, wie einem Pferde, das ſeinen Kopf
zum Stalle hinaus ſtreckt und auf einer gedehnten
Weidenfläche vor ſich andere Pferde frei umherjagen
ſieht. Es riecht zwar alle Wonne und Freiheit der
friſchen Natur, aber es kann nicht hinein. Doch laßt
nur den Eckermann, er iſt wie er iſt, und Ihr macht
ihn nicht anders. Aber ſagen Sie, mein Allerbeſter,
was treiben Sie denn mit Ihrem Doolan die ſchönen
langen Nachmittage im freien Felde?“ Wir ſuchen
irgend ein einſames Thal, ſagte ich, und ſchießen mit
Pfeil und Bogen. „Hm! ſagte Goethe, das mag kein
ſchlechtes Vergnügen ſeyn.“ Es iſt herrlich, ſagte ich, um
die Gebrechen des Winters los zu werden. „Wie aber in
aller Welt, ſagte Goethe, ſind Sie hier in Weimar zu
Pfeil und Bogen gekommen?“ Zu den Pfeilen, erwie¬
derte ich, habe ich mir in dem Feldzuge von 1814 ein
[95] Modell aus Brabant mitgebracht. Das Schießen mit
Pfeil und Bogen iſt dort allgemein. Es iſt keine
Stadt ſo gering, die nicht ihre Bogen-Geſellſchaften
hätte. Sie haben ihren Stand in irgend einer Schenke,
ähnlich unſeren Kegelbahnen, und vereinigen ſich gewöhn¬
lich ſpät am Nachmittage, wo ich ihnen oft mit dem
größten Vergnügen zugeſehen. Was waren das für
wohlgewachſene Männer und was für maleriſche Stel¬
lungen, wenn ſie die Senne zogen! — Wie waren die
Kräfte entwickelt, und wie waren ſie geſchickte Treffer!
Sie ſchoſſen gewöhnlich in einer Entfernung von ſechzig
bis achtzig Schritt nach einer Papierſcheibe auf einer
naſſen Lehmwand; ſie ſchoſſen raſch hintereinander und
ließen die Pfeile ſtecken. Und da war es nicht ſelten,
daß von funfzehn Pfeilen fünf im Centrum ſtaken, von
der Größe eines Thalers, und die übrigen in der Nähe
umher. Wenn Alle geſchoſſen hatten, gingen ſie hin
und Jeder zog ſeinen Pfeil aus der weichen Wand und
das Spiel ging von vorne. Ich war damals für
dieſes Bogenſchießen ſo begeiſtert, daß ich dachte, es
ſey etwas Großes, es in Deutſchland einzuführen, und
ich war ſo dumm, daß ich glaubte, es ſey möglich. Ich
handelte wiederholt auf einen Bogen; allein unter
zwanzig Franken war keiner zu haben, und wie ſollte
ich armer Feldjäger ſo viel Geld auftreiben! Ich be¬
ſchränkte mich daher auf einen Pfeil, als das wichtigere
und künſtlichere, den ich in einer Fabrik zu Brüſſel
[96] für einen Franken kaufte und neben einer Zeichnung
als meine einzige Eroberung mit in meine Heimath
brachte.


„Das ſieht Ihnen ähnlich, erwiederte Goethe. Aber
denken Sie nur nicht, man könnte etwas Natürliches
und Schönes populär machen. Zum wenigſten will es
Zeit haben und verlangt verzweifelte Künſte. Aber ich
kann mir denken, es mag ſchön ſeyn, dieſes Brabanter
Schießen. Unſer deutſches Kegelbahn-Vergnügen erſcheint
dagegen roh und ordinär und hat ſehr viel vom Phi¬
liſter.“


Das Schöne beim Bogenſchießen iſt, erwiederte ich,
daß es den Körper gleichmäßig entwickelt und die Kräfte
gleichmäßig in Anſpruch nimmt. Da iſt der linke Arm,
der den Bogen hinaushält, ſtraff, ſtark und ohne Wan¬
ken; da iſt der rechte, der mit dem Pfeil die Senne
zieht und nicht weniger kräftig ſeyn muß. Zugleich
beide Füße und Schenkel ſtrack zum Boden geſtreckt,
dem Oberkörper als feſte Baſis. Das zielende Auge,
die Muskeln des Halſes und Nackens, Alles in hoher
Spannung und Thätigkeit. Und nun das Gefühl und
die Freude, wenn der Pfeil hinausziſcht und im erwünſch¬
ten Ziele ſteckt! Ich kenne keine körperliche Uebung, die
nur irgend damit zu vergleichen.


„Es wäre etwas für unſere Turn-Anſtalten, verſetzte
Goethe. Und da ſollte es mich nicht wundern, wenn
wir nach zwanzig Jahren in Deutſchland tüchtige
[97] Bogenſchützen zu Tauſenden hätten. Ueberhaupt mit einer
erwachſenen Generation iſt nie viel zu machen, in kör¬
perlichen Dingen, wie in geiſtigen, in Dingen des
Geſchmacks, wie des Charakters. Seid aber klug und
fanget in den Schulen an, und es wird gehen.“


Aber unſere deutſchen Turnlehrer, erwiederte ich,
wiſſen mit Pfeil und Bogen nicht umzugehen.


„Nun, antwortete Goethe, da mögen ſich einige
Turn-Anſtalten vereinigen und einen tüchtigen Schützen
aus Flandern oder Brabant kommen laſſen. Oder ſie
mögen auch einige hübſche wohlgewachſene junge Turner
nach Brabant ſchicken, daß ſie ſich dort zu guten Schützen
ausbilden und auch lernen, wie man die Bogen ſchnitze
und die Pfeile mache. Dieſe könnten dann in deutſchen
Turn-Anſtalten als Lehrer eintreten, als wandernde Lehrer,
die ſich bald bei dieſer Anſtalt eine Zeitlang aufhielten
und bald bei einer andern.“


„Ich bin, fuhr Goethe fort, den deutſchen Turn-
Uebungen durchaus nicht abgeneigt. Umſomehr hat es
mir Leid gethan, daß ſich ſehr bald allerlei Politiſches
dabei einſchlich, ſo daß die Behörden ſich genöthigt
ſahen, ſie zu beſchränken, oder wohl gar zu verbieten
und aufzuheben. Dadurch iſt nun das Kind mit dem
Bade verſchüttet. Aber ich hoffe, daß man die Turn-
Anſtalten wieder herſtelle, denn unſere deutſche Jugend
bedarf es, beſonders die ſtudirende, der bei dem vielen
geiſtigen und gelehrten Treiben alles körperliche Gleich¬
III. 7[98] gewicht fehlt und ſomit jede nöthige Thatkraft zugleich.
Aber ſagen Sie mir noch etwas von Ihrem Pfeil und
Bogen. Alſo einen Pfeil haben Sie ſich aus Brabant
mitgebracht? Ich möchte ihn ſehen!“


Er iſt längſt verloren, erwiederte ich. Aber ich
hatte ihn ſo gut in Gedanken, daß es mir gelungen iſt,
ihn wieder herzuſtellen, und zwar ſtatt des Einen ein
ganzes Dutzend. Das war aber gar nicht ſo leicht als
ich mir dachte, und ich habe dabei allerlei vergebliche
Verſuche gemacht und allerlei Mißgriffe gethan, aber
eben dadurch endlich auch allerlei gelernt. Zuerſt kam
es auf den Schaft an, und zwar, daß dieſer gerade ſey
und nach einiger Zeit ſich nicht werfe; ſodann, daß er
leicht ſey und zugleich ſo feſt, daß er bei dem Anprallen
an einen harten Gegenſtand nicht zerſplittere. Ich
machte Verſuche mit dem Holz der Pappel, dann der
Fichte, dann der Birke; aber es erwies ſich Alles in
einer oder der anderen Hinſicht als mangelhaft und war
nicht das, was es ſeyn ſollte. Dann machte ich Ver¬
ſuche mit dem Holz der Linde, und zwar aus einem
ſchlanken, gerade gewachſenen Stammende, und ich fand
durchaus was ich wünſchte und ſuchte. Ein ſolcher
Pfeilſchaft war leicht, gerade, und feſt wegen ſehr feiner
Faſer. Nun war das Nächſte, das untere Ende mit
einer Hornſpitze zu verſehen; aber es zeigte ſich bald,
daß nicht jedes Horn tauglich und daß es aus dem
Kerne geſchnitten ſeyn müſſe, um beim Schuß auf einen
[99] harten Gegenſtand nicht zu zerſplittern. Das Schwie¬
rigſte und Künſtlichſte war aber jetzt noch zu thun,
nämlich den Pfeil zu befiedern. Was habe ich da
gepfuſcht und für Mißgriffe gethan, ehe es mir gelang
und ich es darin zu einiger Geſchicklichkeit brachte!


„Nicht wahr, ſagte Goethe, die Federn werden nicht
in den Schaft eingelaſſen, ſondern aufgeleimt?“


Sie werden aufgeleimt, erwiederte ich; aber das
muß ſo feſt, zierlich und gut geſchehen, daß es ausſieht,
als wären ſie mit dem Schafte eins und aus ihm her¬
vor gewachſen. Auch iſt es nicht gleichgültig, welchen
Leim man nimmt. Ich habe gefunden, daß Hauſenblaſe,
einige Stunden in Waſſer eingeweicht und dann mit
etwas hinzugegoſſenem Spiritus über gelindem Kohlen¬
feuer ſchleimartig aufgelöſt, das Beſte war. Auch ſind
die aufzuleimenden Federn nicht von einerlei Brauch¬
barkeit. Zwar ſind die abgezogenen Fahnen der Schwung¬
federn jedes großen Vogels gut, doch habe ich die
rothen Flügelfedern des Pfau's, die großen Federn des
Truthahn's, beſonders aber die ſtarken und prächtigen
von Adler und Trappe als die vorzüglichſten gefunden.


„Ich höre dieſes Alles mit großem Intereſſe, ſagte
Goethe. Wer Sie nicht kennt, ſollte kaum glauben,
daß Ihre Richtungen ſo lebendig wären. Aber ſagen
Sie mir nun auch, wie Sie zu einem Bogen gekommen.“


Ich habe mir ſelber einige gemacht, erwiederte ich.
Aber dabei anfänglich auch wieder ganz entſetzlich
7*[100] gepfuſcht. Dann habe ich mich mit Tiſchlern und
Wagnern berathen, alle Holzarten der hieſigen Gegend
durchprobirt, und bin nun endlich zu ganz guten Reſul¬
taten gekommen. Ich hatte bei der Wahl des Holzes
dahin zu trachten, daß der Bogen ſich weich aufziehe,
daß er raſch und ſtark zurückſchnelle, und daß die Feder¬
kraft von Dauer. Ich machte zuerſt Verſuche mit der
Eſche, und zwar dem aſtloſen Stamm einer etwa zehn¬
jährigen von der Dicke eines mäßigen Armes. Ich
kam aber beim Ausarbeiten auf den Kern, welches nicht
gut war und wo ich das Holz grob und loſe fand.
Man rieth mir darauf, einen Stamm zu nehmen, der
ſtark genug ſey, um ihn ſchlachten zu können, und zwar
zu vier Theilen.


„Schlachten, fragte Goethe, was iſt das?“


Es iſt ein Kunſtausdruck der Wagner, erwiederte
ich, und heißt ſoviel als ſpalten, und zwar wird dabei
ein Keil durch den Stamm der Länge nach von einem
Ende bis zum andern durchgetrieben. War nun der
Stamm gerade gewachſen, ich meine: ſtrebte die Faſer
in gerader Richtung aufwärts, ſo werden auch die ge¬
ſchlachteten Stücke gerade ſeyn und ſich durchaus zum
Bogen eignen. War aber der Stamm gewunden, ſo
werden die geſchlachteten Stücke, indem der Keil der
Faſer nachgeht, eine gekrümmte, gewundene Richtung
haben und zum Bogen nicht zu gebrauchen ſeyn.


„Wie wäre es aber, ſagte Goethe, wenn man einen
[101] ſolchen Stamm mit der Säge in vier Theile ſchnitte?
da bekäme man doch auf jeden Fall gerade Stücke.“


Man würde, erwiederte ich, bei einem Stamm mit
etwas gewundener Richtung die Faſer durchſchneiden,
und das würde die Theile zu einem Bogen durchaus
unbrauchbar machen.


„Ich begreife, ſagte Goethe: ein Bogen mit durch¬
ſchnittener Faſer würde brechen. Doch erzählen Sie
weiter, die Sache intereſſirt mich.“


Ich machte alſo, fuhr ich fort, meinen zweiten Bo¬
gen aus einem Stück geſchlachteter Eſche. Es war
an der Rückſeite keine Faſer durchſchnitten, der Bogen
war ſtark und feſt, aber es zeigte ſich der Fehler, daß
er beim Aufziehen nicht weich, ſondern hart war. „Sie
werden, ſagte der Wagner, ein Stück Samen-Eſche ge¬
nommen haben, welches immer ein ſehr ſteifes Holz iſt;
nehmen Sie aber von der zähen, wie ſie bei Hopf¬
garten und Zimmern wächſt, ſo wird es beſſer gehen.“
Bei dieſer Gelegenheit erfuhr ich, daß zwiſchen Eſche
und Eſche ein großer Unterſchied, und daß bei allen
Holzarten ſehr viel auf den Ort und auf den Boden
ankomme, wo ſie gewachſen. Ich erfuhr, daß das Holz
des Ettersberges als Nutzholz weniger Werth habe;
daß dagegen das Holz aus der Umgegend von Nohra
eine beſondere Feſtigkeit beſitze, weßhalb denn die Wei¬
mar'ſchen Fuhrleute zu Wagenreparaturen, die in Nohra
gemacht, ein ganz beſonderes Vertrauen hätten. Ich
[102] machte im Lauf meiner weiteren Bemühungen die Er¬
fahrung, daß alles auf der Winterſeite eines Abhanges
gewachſene Holz feſter und von geraderer Faſer befunden
wird, als das auf der Sommerſeite gewachſene. Auch
iſt es begreiflich. Denn ein junger Stamm, der in der
ſchattigen Nordſeite eines Abhanges aufwächſt, hat nur
Licht und Sonne nach oben zu ſuchen, weßhalb er
denn, ſonnenbegierig, fortwährend aufwärts ſtrebt und
die Faſer in gerader Richtung mit emporzieht. Auch iſt
ein ſchattiger Stand der Bildung einer feineren Faſer
günſtig, welches ſehr auffallend an ſolchen Bäumen zu
ſehen iſt, die einen ſo freien Stand hatten, daß ihre
Südſeite lebenslänglich der Sonne ausgeſetzt war,
während ihre Nordſeite fortwährend im Schatten blieb.
Liegt ein ſolcher Stamm in Theile zerſägt vor uns da,
ſo bemerkt man, daß der Punkt des Kernes ſich keines¬
wegs in der Mitte befindet, ſondern bedeutend nach
der einen Seite zu. Und dieſe Verſchiebung des Mittel¬
punktes rührt daher, daß die Jahres-Ringe der Süd¬
ſeite durch fortwährende Sonnenwirkung ſich bedeutend
ſtärker entwickelt haben und daher breiter ſind, als die
Jahresringe der ſchattigen Nordſeite. Tiſchler und
Wagner, wenn es ihnen um ein feſtes feines Holz
zu thun iſt, wählen daher lieber die feiner ent¬
wickelte Nordſeite eines Stammes, welches ſie die
Winterſeite nennen, und dazu ein beſonderes Ver¬
trauen haben.


[103]

„Sie können denken, ſagte Goethe, daß Ihre Be¬
obachtungen für mich, der ſich ein halbes Leben mit
dem Wachsthum der Pflanzen und Bäume beſchäftiget
hat, von beſonderem Intereſſe ſind. Doch erzählen
Sie weiter! Sie machten alſo wahrſcheinlich darauf
einen Bogen von der zähen Eſche.“


Ich that ſo, erwiederte ich, und zwar nahm ich ein
gut geſchlachtetes Stück von der Winterſeite, wo ich
auch eine ziemlich feine Faſer fand. Auch war der
Bogen weich im Aufziehen und von guter Schnell¬
kraft. Allein nachdem er einige Monate in Gebrauch
geweſen, zeigte ſich bereits eine merkliche Krümmung,
und es war deutlich, daß die Spannkraft nicht Stich
halte. Ich machte dann Verſuche mit dem Stamm
einer jungen Eiche, welches auch ganz gutes Holz war,
wobei ich aber nach einiger Zeit denſelbigen Fehler
fand; dann mit dem Stamm der Wallnuß, welches
beſſer, und zuletzt mit dem Stamme des feinblättrigen
Ahorns, des ſogenannten Masholder, welches das beſte
war und nichts weiter zu wünſchen übrig ließ.


„Ich kenne das Holz, erwiederte Goethe, man findet
es auch häufig in Hecken. Ich kann mir denken, daß
es gut iſt. Doch habe ich ſelten einen jungen Stamm
gefunden, der ohne Aeſte war, und Sie bedürfen doch
wohl zum Bogen ein Holz, das ganz frei von Aeſten iſt?“


Ein junger Stamm, erwiederte ich, iſt freilich
nicht ohne Aeſte; doch wenn man ihn zum Baume
[104] aufzieht, ſo werden ihm die Aeſte genommen; oder
wenn er im Dickicht aufwächſt, ſo verlieren ſie ſich mit
der Zeit von ſelber. War nun ein Stamm, als man
ihm die Aeſte nahm, etwa drei bis vier Zoll im Durch¬
meſſer, und läßt man ihn nun fortwachſen und jährlich
neues Holz von außen ſich anbilden, ſo wird, nach
Verlauf von funfzig bis achtzig Jahren, das aſtreiche
Innere mit mehr als einem halben Fuß geſunden aſt¬
freien Holzes überwachſen ſeyn. Ein ſolcher Stamm
ſteht dann mit der glatteſten Außenſeite vor uns; aber
man weiß freilich nicht, was er im Innern für Tücke
hat. Man wird daher auf jeden Fall ſicher gehen,
wenn man bei einer aus ſolchem Stamm geſägten
Bohle ſich gleichfalls an die Außenſeite hält und einige
Zoll von demjenigen Stück ſich abſchneiden läßt, was
zunächſt unter der Rinde war, alſo den Splint und
was ihm folgt, welches überhaupt das jüngſte, zäheſte
und zu einem Bogen das tauglichſte Holz iſt.


„Ich meinte, verſetzte Goethe, das Holz zu einem
Bogen dürfte nicht geſägt, ſondern müßte geſpalten,
oder, wie Sie es nennen, geſchlachtet werden.“


Wenn es ſich ſchlachten läßt, erwiederte ich, aller¬
dings. Die Eſche, die Eiche, auch wohl der Wallnuß,
läßt ſich ſchlachten, weil es Holz von grober Faſer iſt.
Der Masholder aber nicht. Denn es iſt ein Holz
von ſo feiner, feſt ineinander gewachſener Faſer, daß
es ſich in der Faſer-Richtung durchaus nicht trennt,
[105] ſondern herüber und hinüber reißt, ganz gegen alle
Faſer und alle natürlich gewachſene Richtung. Das
Holz des Masholder muß daher mit der Säge getrennt
werden, und zwar ohne alle Gefahr für die Kraft des
Bogens.


„Hm! Hm! ſagte Goethe. Sie ſind übrigens durch
Ihre Bogen-Tendenz zu ganz hübſchen Kenntniſſen
gekommen. Und zwar zu lebendigen, die man nur auf
praktiſchem Wege erlangt. Das iſt aber immer der
Vortheil irgend einer leidenſchaftlichen Richtung, daß ſie
uns in das Innere der Dinge treibt. Auch iſt das
Suchen und Irren gut, denn durch Suchen und Irren
lernt man. Und zwar lernt man nicht bloß die Sache,
ſondern den ganzen Umfang. Was wüßte ich von der
Pflanze und der Farbe, wenn man meine Theorie mir
fertig überliefert und ich Beides auswendig gelernt
hätte! Aber daß ich eben Alles ſelber ſuchen und fin¬
den und auch gelegentlich irren mußte, dadurch kann
ich ſagen, daß ich von beiden Dingen etwas weiß, und
zwar mehr, als auf dem Papiere ſteht. — Aber ſagen
Sie mir noch Eins von Ihrem Bogen. Ich habe
ſchottiſche geſehen, die bis zu den Spitzen hinaus ganz
gerade, andere dagegen, deren Spitzen gekrümmt waren.
Welche halten Sie für die beſten?“


Ich halte dafür, erwiederte ich, daß bei einem Bo¬
gen mit rückwärts geſchweiften Enden die Federkraft
bei weitem mächtiger iſt. Anfangs machte ich ſie
[106] gerade, weil ich nicht verſtand, die Enden zu biegen.
Nachdem ich aber gelernt, damit umzugehen, mache ich
die Enden geſchweift, und ich finde, daß der Bogen
dadurch nicht allein ein ſchöneres Anſehen, ſondern
auch eine größere Gewalt erlangt.


„Nicht wahr, ſagte Goethe, man bewirkt die Krüm¬
mung durch Hitze?“


Durch feuchte Hitze, erwiederte ich. Wenn der
Bogen ſoweit fertig, daß die Spannkraft gleichmäßig
vertheilt und er nirgendwo mehr ſchwächer oder ſtärker
iſt, als er ſeyn ſoll, ſo ſtelle ich ihn mit dem einen
Ende in kochendes Waſſer, etwa ſechs bis acht Zoll
tief, und laſſe ihn eine Stunde kochen. Dieſes er¬
weichte Ende ſchraube ich dann in voller Hitze zwiſchen
zwei kleine Klötze, deren innere Linie die Form der
Biegung hat, die ich dem Bogen zu geben wünſche.
In ſolcher Klemme laſſe ich ihn ſodann wenigſtens
einen ganzen Tag und eine Nacht ſtehen, damit er völlig
austrockene, und verfahre darauf mit dem anderen Ende
auf gleiche Weiſe. So behandelte Spitzen ſtehen ſodann
unverwüſtlich, als wären ſie in ſolcher Krümmung ge¬
wachſen.


„Wiſſen Sie was? verſetzte Goethe, mit einem
geheimnißvollen Lächeln. Ich glaube, ich habe etwas
für Sie, das Ihnen nicht unlieb wäre. Was dächten
Sie, wenn wir zuſammen hinuntergingen und ich Ihnen
einen ächten Baſchkirenbogen in die Hände legte!“
[107] Einen Baſchkirenbogen? rief ich voll Begeiſterung,
und einen ächten? —


„Ja, närriſcher Kerl, einen ächten! ſagte Goethe.
Kommen Sie nur.“


Wir gingen hinab in den Garten. Goethe öffnete
das untere Zimmer eines kleinen Nebengebäudes, das
auf den Tiſchen und an den Wänden umher mit Selten¬
heiten und Merkwürdigkeiten aller Art vollgepfropft
erſchien. Ich überlief alle dieſe Schätze nur flüchtig,
meine Augen ſuchten den Bogen. „Hier haben Sie
ihn, ſagte Goethe, indem er ihn in einem Winkel aus
einem Haufen von allerlei ſeltſamen Geräthſchaften
hervornahm. Ich ſehe, er iſt noch in demſelbigen
Stande, wie er im Jahre 1814 von einem Baſchkiren-
Häuptling mir verehrt wurde. Nun? was ſagen Sie!“
Ich war voller Freude, die liebe Waffe in meinen
Händen zu halten. Es ſchien Alles unverſehrt und
auch die Senne noch vollkommen brauchbar. Ich pro¬
birte ihn in meinen Händen und fand ihn auch noch
von leidlicher Schnellkraft. Es iſt ein guter Bogen,
ſagte ich. Beſonders aber gefällt mir die Form, die
mir künftig als Modell dienen ſoll.


„Von welchem Holz, denken Sie, iſt er gemacht?“
ſagte Goethe.


Er iſt, wie Sie ſehen, erwiederte ich, mit feiner
Birkenſchale ſo überdeckt, daß von dem Holz wenig
ſichtbar und nur die gekrümmten Enden frei geblieben.
[108] Und auch dieſe ſind durch die Zeit ſo angebräunt, daß
man nicht recht ſehen kann, was es iſt. Auf den erſten
Anblick ſieht es aus wie junge Eiche, und dann wieder
wie Nußbaum. Ich denke es iſt Nußbaum, oder ein
Holz, das dem ähnlich. Ahorn oder Masholder iſt es
nicht. Es iſt ein Holz von grober Faſer, auch ſehe
ich Merkmale, daß es geſchlachtet worden.


„Wie wäre es, ſagte Goethe, wenn Sie ihn einmal
probirten! Hier haben Sie auch einen Pfeil. Doch
hüten Sie ſich vor der eiſernen Spitze! ſie könnte
vergiftet ſeyn.“


Wir gingen wieder in den Garten und ich ſpannte
den Bogen. „Nun wohin?“ ſagte Goethe. Ich dächte,
erſt einmal in die Luft, erwiederte ich. „Nur zu!“
ſagte Goethe. Ich ſchoß hoch gegen die ſonnigen Wol¬
ken in blauer Luft. Der Pfeil hielt ſich gut, dann
bog er ſich und ſauſte wieder herab und fuhr in die
Erde. „Nun laſſen Sie mich einmal“, ſagte Goethe.
Ich war glücklich, daß er auch ſchießen wollte. Ich
gab ihm den Bogen und holte den Pfeil. Goethe
ſchob die Kerbe des Pfeiles in die Senne, auch faßte
er den Bogen richtig, doch dauerte es ein Weilchen,
bis er damit zurechte kam. Nun zielte er nach oben
und zog die Senne. Er ſtand da, wie der Apoll, mit
unverwüſtlicher innerer Jugend, doch alt an Körper.
Der Pfeil erreichte nur eine ſehr mäßige Höhe und
ſenkte ſich wieder zur Erde. Ich lief und holte den
[109] Pfeil. „Noch einmal!“ ſagte Goethe. Er zielte jetzt
in horizontaler Richtung den ſandigen Weg des
Gartens hinab. Der Pfeil hielt ſich etwa dreißig Schritt
ziemlich gut, dann ſenkte er ſich und ſchwirrte am
Boden hin. Goethe gefiel mir bei dieſem Schießen mit
Pfeil und Bogen über die Maßen. Ich dachte an die
Verſe:


Läßt mich das Alter im Stich?

Bin ich wieder ein Kind?

Ich brachte ihm den Pfeil zurück. Er bat mich,
auch einmal in horizontaler Richtung zu ſchießen, und
gab mir zum Ziel einen Fleck im Fenſterladen ſeines
Arbeitszimmers. Ich ſchoß. Der Pfeil war nicht
weit vom Ziele, aber ſo tief in das weiche Holz ge¬
fahren, daß es mir nicht gelang, ihn wieder heraus
zu bringen. „Laſſen Sie ihn ſtecken, ſagte Goethe, er
ſoll mir einige Tage als eine Erinnerung an unſere
Späße dienen.“


Wir gingen bei dem ſchönen Wetter im Garten
auf und ab; dann ſetzten wir uns auf eine Bank, mit
dem Rücken gegen das junge Laub einer dicken Hecke.
Wir ſprachen über den Bogen des Odyſſeus, über die
Helden des Homer, dann über die griechiſchen Tragiker,
und endlich über die vielverbreitete Meinung, daß das
griechiſche Theater durch Euripides in Verfall gerathen.
Goethe war dieſer Meinung keineswegs.


„Ueberhaupt, ſagte er, bin ich nicht der Anſicht,
[110] daß eine Kunſt durch irgend einen einzelnen Mann in
Verfall gerathen könne. Es muß dabei ſehr Vieles
zuſammenwirken, was aber nicht ſo leicht zu ſagen.
Die tragiſche Kunſt der Griechen konnte ſowenig durch
Euripides in Verfall gerathen, als die bildende Kunſt
durch irgend einen großen Bildhauer, der neben Phidias
lebte, aber geringer war. Denn die Zeit, wenn ſie
groß iſt, geht auf dem Wege des Beſſeren fort und das
Geringere bleibt ohne Folge.“


„Was war aber die Zeit des Euripides für eine
große Zeit! Es war nicht die Zeit eines rückſchreitenden,
ſondern die Zeit eines vorſchreitenden Geſchmackes.
Die Bildhauerei hatte ihren höchſten Gipfel noch nicht
erreicht und die Malerei war noch im früheren Wer¬
den.“


„Hatten die Stücke des Euripides, gegen die des So¬
phokles gehalten, große Fehler, ſo war damit nicht geſagt,
daß die nachkommenden Dichter dieſe Fehler nachahmen
und an dieſen Fehlern zu Grunde gehen mußten. Hat¬
ten ſie aber große Tugenden, ſo daß man einige ſogar
den Stücken des Sophokles vorziehen mochte, warum
ſtrebten denn die nachkommenden Dichter nicht dieſen
Tugenden nach und warum wurden ſie denn nicht we¬
nigſtens ſo groß als Euripides ſelber! —“


„Erſchien aber nach den bekannten drei großen
Tragikern dennoch kein ebenſo großer vierter, fünfter
und ſechſter, ſo iſt das freilich eine Sache, die nicht
[111] ſo leicht zu beantworten iſt, worüber man jedoch ſeine
Vermuthungen haben und der man wohl einigermaßen
nahe kommen kann.“


„Der Menſch iſt ein einfaches Weſen. Und wie
reich, mannigfaltig und unergründlich er auch ſeyn mag,
ſo iſt doch der Kreis ſeiner Zuſtände bald durchlaufen.“


„Wären es Umſtände geweſen, wie bei uns armen
Deutſchen, wo Leſſing zwei bis drei, ich ſelber drei bis
vier, und Schiller fünf bis ſechs paſſable Theaterſtücke
geſchrieben, ſo wäre auch wohl noch für einen vierten,
fünften und ſechsten tragiſchen Poeten Raum geweſen.“


„Allein bei den Griechen und dieſer Fülle ihrer
Production, wo jeder der drei Großen über hundert
oder nahe an hundert Stücke geſchrieben hatte und die
tragiſchen Süjets des Homer und der Heldenſage zum
Theil drei- bis viermal behandelt waren, bei ſolcher
Fülle des Vorhandenen, ſage ich, kann man wohl
annehmen, daß Stoff und Gehalt nach und nach er¬
ſchöpft war und ein auf die drei großen folgender
Dichter nicht mehr recht wußte, wo hinaus.“


„Und im Grunde, wozu auch! — War es denn
nicht endlich für eine Weile genug! Und war das
von Aeſchylos, Sophokles und Euripides Hervorge¬
brachte nicht der Art und Tiefe, daß man es hören
und immer wieder hören konnte, ohne es trivial zu
machen und zu tödten? — Sind doch dieſe auf uns
[112] gekommenen wenigen grandioſen Trümmer ſchon von
ſolchem Umfang und ſolcher Bedeutung, daß wir armen
Europäer uns bereits ſeit Jahrhunderten damit beſchäf¬
tigen und noch einige Jahrhunderte daran werden zu
zehren und zu thun haben.“

Goethe erzählte mir, daß Preller bei ihm geweſen
und Abſchied genommen, um auf einige Jahre nach
Italien zu gehen.


„Als Reiſeſegen, ſagte Goethe, habe ich ihm ge¬
rathen, ſich nicht verwirren zu laſſen, ſich beſonders
an Pouſſin und Claude Lorrain zu halten, und vor
Allem die Werke dieſer beiden Großen zu ſtudiren,
damit ihm deutlich werde, wie ſie die Natur angeſehen
und zum Ausdruck ihrer künſtleriſchen Anſchauungen
und Empfindungen gebraucht haben.“


„Preller iſt ein bedeutendes Talent und mir iſt für
ihn nicht bange. Er erſcheint mir übrigens von ſehr
ernſtem Charakter und ich bin faſt gewiß, daß er ſich
eher zu Pouſſin als zu Claude Lorrain neigen wird.
Doch habe ich ihm den letzteren zu beſonderem Studium
empfohlen, und zwar nicht ohne Grund. Denn es iſt
mit der Ausbildung des Künſtlers wie mit der Aus¬
bildung jedes anderen Talentes. Unſere Stärken bil¬
den ſich gewiſſermaßen von ſelber, aber diejenigen
[113] Keime und Anlagen unſerer Natur, die nicht unſere
tägliche Richtung und nicht ſo mächtig ſind, wollen
eine beſondere Pflege, damit ſie gleichfalls zu Stärken
werden.“


„So können einem jungen Sänger, wie ich ſchon oft
geſagt, gewiſſe Töne angeboren ſeyn, die ganz vortreff¬
lich ſind und die nichts weiter zu wünſchen übrig
laſſen. Andere Töne ſeiner Stimme aber können we¬
niger ſtark, rein und voll befunden werden. Aber
eben dieſe muß er durch beſondere Uebung dahin zu
bringen ſuchen, daß ſie den anderen gleich werden.“


„Ich bin gewiß, daß Prellern einſt das Ernſte,
Großartige, vielleicht auch das Wilde, ganz vortrefflich
gelingen wird. Ob er aber im Heiteren, Anmuthigen
und Lieblichen gleich glücklich ſeyn werde, iſt eine
andere Frage, und deßhalb habe ich ihm den Claude
Lorrain ganz beſonders ans Herz gelegt, damit er ſich
durch Studium dasjenige aneigne, was vielleicht nicht
in der eigentlichen Richtung ſeines Naturells liegt.“


„Sodann war noch Eins, worauf ich ihn aufmerk¬
ſam gemacht. Ich habe bisher viele Studien nach
der Natur von ihm geſehen. Sie waren vortrefflich
und mit Energie und Leben aufgefaßt; aber es waren
Alles nur Einzelnheiten, womit ſpäter bei eigenen
Erfindungen wenig zu machen iſt. Ich habe ihm nun
gerathen, künftig in der Natur nie einen einzelnen
III. 8[114] Gegenſtand allein herauszuzeichnen, nie einen einzelnen
Baum, einen einzelnen Steinhaufen, eine einzelne Hütte,
ſondern immer zugleich einigen Hintergrund und einige
Umgebung mit.“


„Und zwar aus folgenden Urſachen. Wir ſehen
in der Natur nie Etwas als Einzelnheit, ſondern wir
ſehen Alles in Verbindung mit etwas Anderem, das
vor ihm, neben ihm, hinter ihm, unter ihm und über
ihm ſich befindet. Auch fällt uns wohl ein einzelner
Gegenſtand als beſonders maleriſch auf; es iſt aber
nicht der Gegenſtand allein, der dieſe Wirkung hervor¬
bringt, ſondern es iſt die Verbindung, in der wir ihn
ſehen, mit dem, was neben, hinter und über ihm iſt,
und welches Alles zu jener Wirkung beiträgt.“


„So kann ich bei einem Spaziergange auf eine
Eiche ſtoßen, deren maleriſcher Effect mich überraſcht.
Zeichne ich ſie aber alleine heraus, ſo wird ſie vielleicht
gar nicht mehr erſcheinen was ſie war, weil dasjenige
fehlt, was zu ihrem maleriſchen Effect in der Natur
beitrug und ihn ſteigerte. So kann ferner ein Stück
Wald ſchön ſeyn, weil gerade dieſer Himmel, dieſes
Licht und dieſer Stand der Sonne einwirkt. Laſſe
ich aber in meiner Zeichnung dieſes Alles hinweg, ſo
wird ſie vielleicht ohne alle Kraft als etwas Gleich¬
gültiges daſtehen, dem der eigentliche Zauber fehlt.“


„Und dann noch Dieſes. Es iſt in der Natur
nichts ſchön, was nicht naturgeſetzlich als wahr moti¬
[115] virt wäre. Damit aber jene Naturwahrheit auch im
Bilde wahr erſcheine, ſo muß ſie durch Hinſtellung
der einwirkenden Dinge begründet werden.“


„Ich treffe an einem Bach wohlgeformte Steine,
deren der Luft ausgeſetzte Stellen mit grünem Moos
maleriſch überzogen ſind. Es iſt aber nicht die
Feuchtigkeit des Waſſers allein, was dieſe Moosbil¬
dung verurſachte; ſondern es iſt etwa ein nördlicher
Abhang, oder ſchattende Bäume und Gebüſch, was
an dieſer Stelle des Baches auf jene Bildung ein¬
wirkte. Laſſe ich aber dieſe einwirkenden Urſachen in
meinem Bilde hinweg, ſo wird es ohne Wahrheit
ſeyn und ohne die eigentliche überzeugende Kraft.“


„So hat der Stand eines Baumes, die Art des
Bodens unter ihm, andere Bäume hinter und neben
ihm, einen großen Einfluß auf ſeine Bildung. Eine
Eiche, die auf der windigen weſtlichen Spitze eines
felſigen Hügels ſteht, wird eine ganz andere Form
erlangen, als eine andere, die unten im weichen Boden
eines geſchützten Thales grünt. Beide können in
ihrer Art ſchön ſeyn, aber ſie werden einen ſehr ver¬
ſchiedenen Charakter haben und können daher in einer
künſtleriſch erfundenen Landſchaft wiederum nur für
einen ſolchen Stand gebraucht werden, wie ſie ihn
in der Natur hatten. Und deßhalb iſt dem Künſtler
die mitgezeichnete Umgebung, wodurch der jedesmalige
Stand ausgedrückt worden, von großer Bedeutung.“

8*[116]

„Wiederum aber würde es thörigt ſeyn, allerlei
proſaiſche Zufälligkeiten mitzeichnen zu wollen, die ſo
wenig auf die Form und Bildung des Hauptgegen¬
ſtandes, als auf deſſen augenblickliche maleriſche Er¬
ſcheinung Einfluß hatten.“


„Von allen dieſen kleinen Andeutungen habe ich
Prellern die Hauptſachen mitgetheilt, und ich bin gewiß,
daß es bei ihm, als einem geborenen Talent, Wurzel
ſchlagen und gedeihen werde.“

[[117]]

1827.

[[118]][[119]]

Bei Goethe zu Tiſch. — Er ſprach viel und mit
Bewunderung über Alexander von Humboldt, deſ¬
ſen Werk über Cuba und Columbien er zu leſen angefan¬
gen und deſſen Anſichten über das Project eines Durch¬
ſtiches der Landenge von Panama für ihn ein ganz beſon¬
deres Intereſſe zu haben ſchienen. „Humboldt, ſagte
Goethe, hat mit großer Sachkenntniß noch andere Punkte
angegeben, wo man mit Benutzung einiger in den Mexi¬
kaniſchen Meerbuſen fließenden Ströme vielleicht noch
vortheilhafter zum Ziele käme, als bei Panama. Dieß
iſt nun Alles der Zukunft und einem großen Unter¬
nehmungsgeiſte vorbehalten. So viel iſt aber gewiß,
gelänge ein Durchſtich der Art, daß man mit Schiffen
von jeder Ladung und jeder Größe durch ſolchen Canal
aus dem Mexikaniſchen Meerbuſen in den ſtillen Ocean
fahren könnte, ſo würden daraus für die ganze civili¬
ſirte und nichtciviliſirte Menſchheit ganz unberechenbare
Reſultate hervorgehen. Wundern ſollte es mich aber,
wenn die vereinigten Staaten es ſich ſollten entgehen
laſſen, ein ſolches Werk in ihre Hände zu bekommen.
Es iſt vorauszuſehen, daß dieſer jugendliche Staat,
[120] bei ſeiner entſchiedenen Tendenz nach Weſten, in dreißig
bis vierzig Jahren auch die großen Landſtrecken jenſeits
der Felſengebirge in Beſitz genommen und bevölkert
haben wird. — Es iſt ferner vorauszuſehen, daß an
dieſer ganzen Küſte des ſtillen Oceans, wo die Natur
bereits die geräumigſten und ſicherſten Häfen gebildet
hat, nach und nach ſehr bedeutende Handelsſtädte ent¬
ſtehen werden, zur Vermittelung eines großen Verkehrs
zwiſchen China nebſt Oſtindien und den vereinigten Staa¬
ten. In ſolchem Fall wäre es aber nicht bloß wünſchens¬
werth, ſondern faſt nothwendig, daß ſowohl Handels- als
Kriegsſchiffe zwiſchen der nordamerikaniſchen weſtlichen
und öſtlichen Küſte eine raſchere Verbindung unterhielten,
als es bisher durch die langweilige, widerwärtige und
koſtſpielige Fahrt um das Cap Horn möglich geweſen.
Ich wiederhole alſo: es iſt für die vereinigten Staaten
durchaus unerläßlich, daß ſie ſich eine Durchfahrt aus
dem Mexikaniſchen Meerbuſen in den ſtillen Ocean
bewerkſtelligen, und ich bin gewiß, daß ſie es erreichen.“


„Dieſes möchte ich erleben; aber ich werde es nicht.
Zweitens möchte ich erleben; eine Verbindung der Donau
mit dem Rhein hergeſtellt zu ſehen. Aber dieſes Un¬
ternehmen iſt gleichfalls ſo rieſenhaft, daß ich an der
Ausführung zweifle, zumal in Erwägung unſerer deutſchen
Mittel. Und endlich drittens möchte ich die Engländer
im Beſitz eines Canals von Suez ſehen. Dieſe drei
großen Dinge möchte ich erleben, und es wäre wohl
[121] der Mühe werth, ihnen zu Liebe es noch einige funfzig
Jahre auszuhalten.“

Bei Goethe zu Tiſch. — Er erzählte mir, daß er
eine Sendung vom Grafen Sternberg und Zauper er¬
halten, die ihm Freude mache. Sodann verhandelten
wir viel über die Farbenlehre, über die ſubjectiven pris¬
matiſchen Verſuche und über die Geſetze, nach denen der
Regenbogen ſich bildet. Er freute ſich über meine
fortwährend ſich vergrößernde Theilnahme an dieſen
ſchwierigen Gegenſtänden.

Goethe zeigte mir ein Büchelchen von Hinrichs über
das Weſen der antiken Tragödie. „Ich habe es mit
großem Intereſſe geleſen, ſagte er. — Hinrichs hat
beſonders den Oedip und die Antigone von Sophokles
als Grundlage genommen, um daran ſeine Anſichten zu
entwickeln. Es iſt ſehr merkwürdig und ich will es
Ihnen mitgeben, damit Sie es auch leſen und wir
darüber ſprechen können. Ich bin nun keineswegs
ſeiner Meinung; aber es iſt im hohen Grade lehrreich,
zu ſehen, wie ein ſo durch und durch philoſophiſch ge¬
bildeter Menſch von dem eigenthümlichen Standpunkt
ſeiner Schule aus ein dichteriſches Kunſtwerk anſieht.
Ich will heute nichts weiter ſagen, um Ihnen nicht
[122] vorzugreifen. Leſen Sie nur, und Sie werden ſehen,
daß man dabei zu allerlei Gedanken kommt.“

Ich brachte Goethen das Buch von Hinrichs zurück,
das ich indeß eifrig geleſen. Auch hatte ich ſämmtliche
Stücke des Sophokles abermals durchgenommen, um
im vollkommenen Beſitz des Gegenſtandes zu ſeyn.


„Nun? ſagte Goethe, wie haben Sie ihn gefunden?
Nicht wahr? er geht den Dingen zu Leibe.“


Ganz wunderlich, ſagte ich, geht es mir mit dieſem
Buche. — Es hat keins ſo viele Gedanken in mir
angeregt als dieſes, und doch bin ich mit keinem ſo
oft in Widerſpruch gerathen, als gerade mit dieſem.


„Das iſt's eben! ſagte Goethe. — Das Gleiche
läßt uns in Ruhe; aber der Widerſpruch iſt es, der
uns productiv macht.“


Seine Intentionen, ſagte ich, ſind mir im hohen
Grade reſpectabel erſchienen; auch haftet er keineswegs
an der Oberfläche der Dinge. Allein er verliert ſich
oft ſo ſehr im Feinen und Innerlichen der Verhältniſſe,
und zwar auf ſo ſubjective Weiſe, daß er darüber die
wahre Anſchauung des Gegenſtandes im Einzelnen, wie
die Ueberſicht des Ganzen verliert, und man in den
Fall kommt, ſich und den Gegenſtänden Gewalt anthun
zu müſſen, um ſo zu denken wie er. — Auch iſt es
mir oft vorgekommen, als wären meine Organe zu
[123] grob, um die ungewöhnliche Subtilität ſeiner Unter¬
ſcheidungen aufzufaſſen.


„Wären ſie philoſophiſch präparirt, wie er, ſagte
Goethe, ſo würde es beſſer gehen. Wenn ich aber
ehrlich ſagen ſoll, ſo thut es mir leid, daß ein ohne
Zweifel kräftig geborener Menſch von der norddeutſchen
Seeküſte, wie Hinrichs, durch die Hegel'ſche Philoſophie
ſo zugerichtet worden, daß ein unbefangenes natürliches
Anſchauen und Denken bei ihm ausgetrieben und eine
künſtliche und ſchwerfällige Art und Weiſe ſowohl des
Denkens wie des Ausdruckes ihm nach und nach an¬
gebildet worden, ſo daß wir in ſeinem Buch auf Stellen
gerathen, wo unſer Verſtand durchaus ſtille ſteht und
man nicht mehr weiß, was man lieſet.“


Das iſt mir nicht beſſer gegangen, ſagte ich. Doch
habe ich mich gefreut, auch auf Stellen zu ſtoßen, die
mir durchaus menſchlich und klar erſchienen ſind, wie
z. B. ſeine Relation der Fabel des Oedip.


„Hiebei, ſagte Goethe, mußte er ſich freilich ſcharf
an der Sache halten. Es giebt aber in ſeinem Buche
nicht wenige Stellen, bei denen der Gedanke nicht rückt
und fortſchreitet und wobei ſich die dunkele Sprache
immer auf demſelbigen Fleck und immer in demſelbigen
Kreiſe bewegt, völlig ſo, wie das Einmaleins der Hexe
in meinem Fauſt. Geben Sie mir doch einmal das
Buch! Von ſeiner ſechsten Vorleſung über den Chor
[124] habe ich ſo viel wie gar nichts verſtanden. Was ſagen
Sie z. B. zu dieſem, welches nahe am Ende ſteht:“


„„Dieſe Wirklichkeit (nämlich des Volkslebens) iſt
als die wahre Bedeutung derſelben deßhalb auch allein
nur ihre wahrhafte Wirklichkeit, die zugleich als ſich
ſelber die Wahrheit und Gewißheit, darum die allgemein
geiſtige Gewißheit ausmacht, welche Gewißheit zugleich
die verſöhnende Gewißheit des Chors iſt, ſo daß allein
in dieſer Gewißheit, die ſich als das Reſultat der ge¬
ſammten Bewegung der tragiſchen Handlung erwieſen,
der Chor erſt wahrhaft dem allgemeinen Volksbewußt¬
ſeyn gemäß ſich verhält, und als ſolcher nicht bloß das
Volk mehr vorſtellt, ſondern ſelbſt an und für ſich daſ¬
ſelbe ſeiner Gewißheit nach iſt.““


„Ich dächte wir hätten genug! — Was ſollen erſt
die Engländer und Franzoſen von der Sprache unſerer
Philoſophen denken, wenn wir Deutſchen ſie ſelber
nicht verſtehen.“


Und trotz alle dem, ſagte ich, ſind wir darüber einig,
daß dem Buch ein edles Wollen zu Grunde liege und
daß es die Eigenſchaft habe, Gedanken zu erregen.


„Seine Idee von Familie und Staat, ſagte Goethe,
und daraus hervorgehen könnenden tragiſchen Conflicten
iſt allerdings gut und fruchtbar; doch kann ich nicht
zugeben, daß ſie für die tragiſche Kunſt die beſte, oder
gar die einzig richtige ſey.“


„Freilich leben wir Alle in Familien und im Staat
[125] und es trifft uns nicht leicht ein tragiſches Schickſal,
das uns nicht als Glieder von Beiden träfe. Doch
können wir auch ganz gut tragiſche Perſonen ſeyn und
wären wir bloße Familien- oder wären wir bloße
Staatsglieder. Denn es kommt im Grunde bloß auf
den Conflict an, der keine Auflöſung zuläßt, und dieſer
kann entſtehen aus dem Widerſpruch welcher Verhält¬
niſſe er wolle, wenn er nur einen ächten Naturgrund
hinter ſich hat und nur ein ächt tragiſcher iſt. So
geht der Ajas zu Grunde an dem Dämon verletzten
Ehrgefühls, und der Hercules an dem Dämon liebender
Eiferſucht. In beiden Fällen iſt nicht der geringſte
Conflict von Familienpietät und Staatstugend vor¬
handen, welches doch, nach Hinrichs, die Elemente der
griechiſchen Tragödie ſeyn ſollen.“


Man ſieht deutlich, ſagte ich, daß er bei dieſer
Theorie bloß die Antigone im Sinne hatte. Auch
ſcheint er bloß den Charakter und die Handlungsweiſe
dieſer Heldin vor Augen gehabt zu haben, als er die
Behauptung hinſtellte, daß die Familienpietät am
reinſten im Weibe erſcheine und am allerreinſten in
der Schweſter, und daß die Schweſter nur den Bruder
ganz rein und geſchlechtslos
lieben könne.


„Ich dächte, erwiederte Goethe, daß die Liebe von
Schweſter zur Schweſter noch reiner und geſchlechts¬
loſer wäre! Wir müßten denn nicht wiſſen, daß un¬
zählige Fälle vorgekommen ſind, wo zwiſchen Schweſter
[126] und Bruder, bekannter- und unbekannterweiſe, die
ſinnlichſte Neigung ſtattgefunden.“


„Ueberhaupt, fuhr Goethe fort, werden Sie be¬
merkt haben, daß Hinrichs bei Betrachtung der griechiſchen
Tragödie ganz von der Idee ausgeht, und daß er ſich
auch den Sophokles als einen Solchen denkt, der bei
Erfindung und Anordnung ſeiner Stücke gleichfalls von
einer Idee ausging und danach ſeine Charaktere und
deren Geſchlecht und Stand beſtimmte. Sophokles
ging aber bei ſeinen Stücken keineswegs von einer
Idee aus, vielmehr ergriff er irgend eine längſt fertige
Sage ſeines Volkes, worin bereits eine gute Idee
vorhanden, und dachte nur darauf, dieſe für das Theater
ſo gut und wirkſam als möglich darzuſtellen. Den
Ajas wollen die Atreiden auch nicht beerdigen laſſen;
aber ſo wie in der Antigone die Schweſter für den
Bruder ſtrebt, ſo ſtrebt im Ajas der Bruder für den
Bruder. Daß ſich des unbeerdigten Polineikes die
Schweſter und des gefallenen Ajas der Bruder an¬
nimmt, iſt zufällig und gehört nicht der Erfindung des
Dichters, ſondern der Ueberlieferung, welcher der Dichter
folgte und folgen mußte.“


Auch was er über die Handlungsweiſe des Kreon
ſagt, verſetzte ich, ſcheint ebenſowenig Stich zu halten.
Er ſucht durchzuführen, daß dieſer bei dem Verbot der
Beerdigung des Polineikes aus reiner Staatstugend
handele; und da nun Kreon nicht bloß ein Mann,
[127] ſondern auch ein Fürſt iſt, ſo ſtellt er den Satz auf,
daß, da der Mann die tragiſche Macht des Staates
vorſtelle, dieſes kein Anderer ſeyn könne, als derjenige,
welcher die Perſönlichkeit des Staates ſelber
ſey
, nämlich der Fürſt, und daß von allen Perſonen
der Mann als Fürſt diejenige Perſon ſey, welche die
ſittlichſte Staatstugend übe.


„Das ſind Behauptungen, erwiederte Goethe mit
einigem Lächeln, an die wohl Niemand glauben wird.
Kreon handelt auch keineswegs aus Staatstugend, ſon¬
dern aus Haß gegen den Todten. Wenn Polineikes
ſein väterliches Erbtheil, woraus man ihn gewaltſam
vertrieben, wieder zu erobern ſuchte, ſo lag darin keines¬
wegs ein ſo unerhörtes Vergehen gegen den Staat,
daß ſein Tod nicht genug geweſen wäre und daß es
noch der Beſtrafung des unſchuldigen Leichnams be¬
durft hätte.“


„Man ſollte überhaupt nie eine Handlungsweiſe
eine Staatstugend nennen, die gegen die Tugend im
Allgemeinen geht. Wenn Kreon den Polineikes zu
beerdigen verbietet und durch den verweſenden Leich¬
nam nicht bloß die Luft verpeſtet, ſondern auch Urſache
iſt, daß Hunde und Raubvögel die abgeriſſenen Stücke
des Todten umherſchleppen und damit ſogar die Altäre
beſudeln, ſo iſt eine ſolche Menſchen und Götter belei¬
digende Handlungsweiſe keinesweges eine Staats-
Tugend, ſondern vielmehr ein Staats-Verbrechen.
[128] Auch hat er das ganze Stück gegen ſich. Er hat die
Aelteſten des Staats, welche den Chor bilden, gegen
ſich; er hat das Volk im Allgemeinen gegen ſich; er
hat den Teireſias gegen ſich; er hat ſeine eigene Familie
gegen ſich. Er aber hört nicht, ſondern frevelt eigen¬
ſinnig fort, bis er alle die Seinigen zu Grunde gerichtet
hat und er ſelber am Ende nur noch ein Schatten iſt.“


Und doch, ſagte ich, wenn man ihn reden hört, ſo
ſollte man glauben, daß er einiges Recht habe.


„Das iſt's eben, erwiederte Goethe, worin So¬
phokles ein Meiſter iſt und worin überhaupt das Leben
des Dramatiſchen beſteht. Seine Charaktere beſitzen
alle eine ſolche Redegabe und wiſſen die Motive ihrer
Handlungsweiſe ſo überzeugend darzulegen, daß der
Zuhörer faſt immer auf der Seite deſſen iſt, der zuletzt
geſprochen hat.“


„Man ſieht, er hat in ſeiner Jugend eine ſehr tüch¬
tige rhetoriſche Bildung genoſſen, wodurch er denn
geübt worden, alle in einer Sache liegenden Gründe
und Scheingründe aufzuſuchen. Doch verleitete ihn
dieſe ſeine große Fähigkeit auch zu Fehlern, indem er
mitunter in den Fall kam, zu weit zu gehen.“


„So kommt in der Antigone eine Stelle vor,
die mir immer als ein Flecken erſcheint, und worum
ich Vieles geben möchte, wenn ein tüchtiger Philologe
uns bewieſe, ſie wäre eingeſchoben und unächt.“


„Nachdem nämlich die Heldin im Laufe des Stückes
[129] die herrlichſten Gründe für ihre Handlung ausge¬
ſprochen und den Edelmuth der reinſten Seele ent¬
wickelt hat, bringt ſie zuletzt, als ſie zum Tode geht,
ein Motiv vor, das ganz ſchlecht iſt und faſt an's
Komiſche ſtreift.“


„Sie ſagt, daß ſie das, was ſie für ihren Bruder
gethan, wenn ſie Mutter geweſen wäre, nicht für ihre
geſtorbenen Kinder und nicht für ihren geſtorbenen
Gatten gethan haben würde. Denn, ſagt ſie, wäre
mir ein Gatte geſtorben, ſo hätte ich einen anderen ge¬
nommen, und wären mir Kinder geſtorben, ſo hätte
ich mir von dem neuen Gatten andere Kinder zeugen
laſſen. Allein mit meinem Bruder iſt es ein Anderes.
Einen Bruder kann ich nicht wieder bekommen, denn
da mein Vater und meine Mutter todt ſind, ſo iſt
Niemand da, der ihn zeugen könnte.“


„Dieß iſt wenigſtens der nackte Sinn dieſer Stelle,
die nach meinem Gefühl in dem Munde einer zum
Tode gehenden Heldin die tragiſche Stimmung ſtört,
und die mir überhaupt ſehr geſucht und gar zu ſehr
als ein dialektiſches Calcül erſcheint. — Wie geſagt,
ich möchte ſehr gerne, daß ein guter Philologe uns
bewieſe, die Stelle ſey unächt.“


Wir ſprachen darauf über Sophokles weiter und
daß er bei ſeinen Stücken weniger eine ſittliche Tendenz
vor Augen gehabt, als eine tüchtige Behandlung ſeines
III. 9[130] jedesmaligen Gegenſtandes, beſonders mit Rückſicht auf
theatraliſche Wirkung.


„Ich habe nichts dawider, ſagte Goethe, daß ein
dramatiſcher Dichter eine ſittliche Wirkung vor Augen
habe; allein wenn es ſich darum handelt, ſeinen Ge¬
genſtand klar und wirkſam vor den Augen des Zuſchauers
vorüberzuführen, ſo können ihm dabei ſeine ſittlichen
Endzwecke wenig helfen und er muß vielmehr ein gro¬
ßes Vermögen der Darſtellung und Kenntniß der
Bretter beſitzen, um zu wiſſen, was zu thun und zu
laſſen. Liegt im Gegenſtande eine ſittliche Wirkung,
ſo wird ſie auch hervorgehen, und hätte der Dichter
weiter nichts im Auge, als ſeines Gegenſtandes wirk¬
ſame und kunſtgemäße Behandlung. Hat ein Poet den
hohen Gehalt der Seele wie Sophokles, ſo wird ſeine
Wirkung immer ſittlich ſeyn, er mag ſich ſtellen, wie er
wolle. Uebrigens kannte er die Bretter und verſtand
ſein Metier wie Einer.“


Wie ſehr er das Theater kannte, verſetzte ich, und
wie ſehr er eine theatraliſche Wirkung im Auge hatte,
ſieht man an ſeinem Philoktet und der großen Aehn¬
lichkeit, die dieſes Stück in der Anordnung und dem
Gange der Handlung mit dem Oedip in Kolonos hat.


In beiden Stücken ſehen wir den Helden in einem
hülfloſen Zuſtande, Beide alt und an körperlichen Ge¬
brechen leidend. Der Oedip hat als Stütze die füh¬
rende Tochter zur Seite; der Philoktet den Bogen.
[131] Nun geht die Aehnlichkeit weiter. Beide hat man in
ihrem Leiden verſtoßen; aber nachdem das Orakel über
Beide ausgeſagt, daß nur mit ihrer Hülfe der Sieg
erlangt werden könne, ſo ſucht man Beider wieder
habhaft zu werden. Zum Philoktet kommt der Odyſſeus,
zum Oedip der Kreon. Beide beginnen ihre Reden
mit Liſt und ſüßen Worten; als aber dieſe nichts fruch¬
ten, ſo brauchen ſie Gewalt, und wir ſehen den Phi¬
loktet des Bogens und den Oedip der Tochter beraubt.


„Solche Gewaltthätigkeiten, ſagte Goethe, gaben
Anlaß zu trefflichen Wechſelreden, und ſolche hülfloſe
Zuſtände erregten die Gemüther des hörenden und
ſchauenden Volkes, weßhalb denn ſolche Situationen
vom Dichter, dem es um Wirkung auf ſein Publicum
zu thun war, gerne herbeigeführt wurden. Um dieſe
Wirkung beim Oedip zu verſtärken, läßt ihn Sophokles
als ſchwachen Greis auftreten, da er doch, allen Um¬
ſtänden nach, noch ein Mann in ſeiner beſten Blüthe
ſeyn mußte. Aber in ſo rüſtigem Alter konnte ihn der
Dichter in dieſem Stück nicht gebrauchen, er hätte
keine Wirkung gethan, und er machte ihn daher zu
einem ſchwachen, hülfsbedürftigen Greiſe.“


Die Aehnlichkeit mit dem Philoktet, fuhr ich fort,
geht weiter. Beide Helden des Stückes ſind nicht
handelnd, ſondern duldend. Dagegen hat jeder dieſer
paſſiven Helden der handelnden Figuren zwei gegen
ſich. Der Oedip den Kreon und Polineikes, der Phi¬
9*[132] loktet den Neoptolemos und Odyß. Und zwei ſolcher
gegenwirkenden Figuren waren nöthig, um den Gegen¬
ſtand von allen Seiten zur Sprache zu bringen und
um auch für das Stück ſelbſt die gehörige Fülle und
Körperlichkeit zu gewinnen.


„Sie könnten noch hinzufügen, nahm Goethe das
Wort, daß beide Stücke auch darin Aehnlichkeit haben,
daß wir in beiden die höchſt wirkſame Situation eines
freudigen Wechſels ſehen, indem dem einen Helden in
ſeiner Troſtloſigkeit die geliebte Tochter, und dem andern
der nicht weniger geliebte Bogen zurückgegeben wird.“


„Auch ſind die verſöhnenden Ausgänge beider Stücke
ſich ähnlich, indem beide Helden aus ihren Leiden Er¬
löſung erlangen; der Oedip, indem er ſelig entrückt
wird, der Philoktet aber, indem wir durch Götterſpruch
ſeine Heilung vor Ilion durch den Aeskulap voraus¬
ſehen.“


„Wenn wir übrigens, fuhr Goethe fort, für unſere
modernen Zwecke lernen wollen, uns auf dem Theater
zu benehmen, ſo wäre Molière der Mann, an den
wir uns zu wenden hätten.“


„Kennen Sie ſeinen Malade imaginaire? Es iſt darin
eine Scene, die mir, ſo oft ich das Stück leſe, immer
als Symbol einer vollkommenen Bretter-Kenntniß er¬
ſcheint. Ich meine die Scene, wo der eingebildete
Kranke ſeine kleine Tochter Louiſon befragt, ob nicht
[133] in dem Zimmer ihrer älteren Schweſter ein junger
Mann geweſen.“


„Nun hätte ein Anderer, der das Metier nicht ſo
gut verſtand, wie Molière, die kleine Louiſon das Fac¬
tum ſogleich ganz einfach erzählen laſſen, und es wäre
gethan geweſen.“


„Was bringt aber Molière durch allerlei retardirende
Motive in dieſe Examination für Leben und Wirkung,
indem er die kleine Louiſon zuerſt thun läßt, als ver¬
ſtehe ſie ihren Vater nicht; dann läugnet, daß ſie etwas
wiſſe; dann, von der Ruthe bedroht, wie todt hinfällt;
dann, als der Vater in Verzweiflung ausbricht, aus
ihrer fingirten Ohnmacht wieder ſchelmiſch-heiter auf¬
ſpringt, und zuletzt nach und nach Alles geſteht.“


„Dieſe meine Andeutung giebt Ihnen von dem Le¬
ben jenes Auftritts nur den allermagerſten Begriff; aber
leſen Sie die Scene ſelbſt und durchdringen Sie ſich
von ihrem theatraliſchen Werthe, und Sie werden geſte¬
hen, daß darin mehr praktiſche Lehre enthalten, als in
ſämmtlichen Theorieen.“


„Ich kenne und liebe Molière, fuhr Goethe fort,
ſeit meiner Jugend und habe während meines ganzen
Lebens von ihm gelernt. Ich unterlaſſe nicht, jährlich
von ihm einige Stücke zu leſen, um mich immer im
Verkehr des Vortrefflichen zu erhalten. Es iſt nicht
bloß das vollendete künſtleriſche Verfahren, was mich an
ihm entzückt, ſondern vorzüglich auch das liebenswürdige
[134] Naturell, das hochgebildete Innere des Dichters. Es
iſt in ihm eine Grazie und ein Tact für das Schick¬
liche, und ein Ton des feinen Umgangs, wie es ſeine
angeborene ſchöne Natur nur im täglichen Verkehr mit
den vorzüglichſten Menſchen ſeines Jahrhunderts er¬
reichen konnte. — Von Menander kenne ich nur die
wenigen Bruchſtücke; aber dieſe geben mir von ihm
gleichfalls eine ſo hohe Idee, daß ich dieſen großen
Griechen für den einzigen Menſchen halte, der mit Mo¬
lière wäre zu vergleichen geweſen.“


Ich bin glücklich, erwiederte ich, Sie ſo gut über
Molière reden zu hören. Das klingt freilich ein wenig
anders als Herr v. Schlegel! Ich habe noch in dieſen
Tagen in ſeinen Vorleſungen über dramatiſche Poeſie
mit großem Widerwillen verſchluckt, was er über Mo¬
lière ſagt. Er behandelt ihn, wie Sie wiſſen, ganz
von oben herab, als einen gemeinen Poſſenreißer, der
die gute Geſellſchaft nur aus der Ferne geſehen und
deſſen Gewerbe es geweſen, zur Ergötzung ſeines Herrn
allerlei Schwänke zu erfinden. In ſolchen niedrig¬
luſtigen Schwänken ſey er noch am glücklichſten geweſen;
doch habe er das Beſte geſtohlen. Zu der höheren
Gattung des Luſtſpiels habe er ſich zwingen müſſen,
und es ſey ihm nie damit gelungen.


„Einem Menſchen wie Schlegel, erwiederte Göthe,
iſt freilich eine ſo tüchtige Natur wie Molière ein
wahrer Dorn im Auge; er fühlt, daß er von ihm
[135] keine Ader hat, er kann ihn nicht ausſtehen. Der
Miſanthrop, den ich, als eins meiner liebſten Stücke in
der Welt, immer wieder leſe, iſt ihm zuwider; den
Tartüff lobt er gezwungenerweiſe ein Bißchen, aber
er ſetzt ihn ſogleich wieder herab, ſo viel er nur kann.
Daß Molière die Affectationen gelehrter Frauen lächer¬
lich gemacht, kann Schlegel ihm nicht verzeihen; er
fühlt wahrſcheinlich, wie einer meiner Freunde bemerkte,
daß er ihn ſelbſt lächerlich gemacht haben würde, wenn
er mit ihm gelebt hätte.“


„Es iſt nicht zu läugnen, fuhr Göthe fort, Schlegel
weiß unendlich viel, und man erſchrickt faſt über ſeine
außerordentlichen Kenntniſſe und ſeine große Beleſenheit.
Allein damit iſt es nicht gethan. Alle Gelehrſamkeit
iſt noch kein Urtheil. Seine Kritik iſt durchaus ein¬
ſeitig, indem er faſt bei allen Theaterſtücken bloß das
Skelett der Fabel und Anordnung vor Augen hat, und
immer nur kleine Aehnlichkeiten mit großen Vorgängern
nachweiſet, ohne ſich im Mindeſten darum zu beküm¬
mern, was der Autor uns von anmuthigem Leben und
Bildung einer hohen Seele entgegenbringt. Was helfen
aber alle Künſte des Talents, wenn aus einem Theater¬
ſtücke uns nicht eine liebenswürdige oder große Per¬
ſönlichkeit des Autors entgegenkommt! dieſes Einzige,
was in die Cultur des Volkes übergeht.“


„In der Art und Weiſe, wie Schlegel, das Fran¬
zöſiſche Theater behandelt, finde ich das Recept zu
[136] einem ſchlechten Recenſenten, dem jedes Organ für die
Verehrung des Vortrefflichen mangelt, und der über
eine tüchtige Natur und einen großen Charakter hin¬
geht, als wäre es Spreu und Stoppel.“


Den Shakſpeare und Calderon dagegen, verſetzte
ich, behandelt er gerecht, und ſogar mit entſchiedener
Neigung.


„Beide, erwiederte Göthe, ſind freilich der Art, daß
man über ſie nicht Gutes genug ſagen kann, wiewohl
ich mich auch nicht wundern würde, wenn Schlegel ſie
gleichfalls ganz ſchmählich herabgeſetzt hätte. So iſt
er auch gegen Aeſchylus und Sophokles gerecht; allein
dieß ſcheint nicht ſowohl zu geſchehen, weil er von
ihrem ganz außerordentlichen Werthe lebendig durch¬
drungen wäre, als weil es bei den Philologen herkömm¬
lich iſt, Beide ſehr hoch zu ſtellen. Denn im Grunde
reicht doch Schlegel's eigenes Perſönchen nicht hin, ſo
hohe Naturen zu begreifen und gehörig zu ſchätzen.
Wäre dieß, ſo müßte er auch gegen Euripides gerecht
ſeyn und auch gegen dieſen ganz anders zu Werke ge¬
hen, als er gethan. Von dieſem weiß er aber, daß
die Philologen ihn nicht eben ſonderlich hoch halten,
und er verſpürt daher kein geringes Behagen, daß es
ihm, auf ſo große Autorität hin, vergönnt iſt, über
dieſen großen Alten ganz ſchändlich herzufallen und ihn
zu ſchulmeiſtern, wie er kann.“


„Ich habe nichts dawider, daß Euripides ſeine
[137] Fehler habe; allein er war von Sophokles und Aeſchylus
doch immerhin ein ſehr ehrenwerther Mitſtreiter. Wenn
er nicht den hohen Ernſt und die ſtrenge Kunſtvollendung
ſeiner beiden Vorgänger beſaß und dagegen als Theater¬
dichter die Dinge ein wenig läßlicher und menſchlicher
tractirte, ſo kannte er wahrſcheinlich ſeine Athenienſer
hinreichend, um zu wiſſen, daß der von ihm angeſtimmte
Ton für ſeine Zeitgenoſſen eben der rechte ſey. Ein
Dichter aber, den Socrates ſeinen Freund nannte, den
Ariſtoteles hochſtellte, den Menander bewunderte, und
um den Sophokles und die Stadt Athen bei der Nach¬
richt von ſeinem Tode Trauerkleider anlegte, mußte
doch wohl in der That etwas ſeyn. Wenn ein moderner
Menſch, wie Schlegel, an einem ſo großen Alten Fehler
zu rügen hätte, ſo ſollte es billig nicht anders geſchehen,
als auf den Knieen.“

Abends bei Goethe. Ich ſprach mit ihm über die
geſtrige Vorſtellung ſeiner Iphigenie, worin Herr
Krüger, vom Königlichen Theater zu Berlin, den
Oreſt ſpielte, und zwar zu großem Beifall.


„Das Stück, ſagte Goethe, hat ſeine Schwierig¬
keiten. Es iſt reich an innerem Leben, aber arm an
äußerem. Daß aber das innere Leben hervorgekehrt
werde, darin liegt's. Es iſt voll der wirkſamſten Mittel,
die aus den mannigfaltigſten Gräueln hervorwachſen,
[138] die dem Stück zu Grunde liegen. Das gedruckte Wort
iſt freilich nur ein matter Widerſchein von dem Leben,
das in mir bei der Erfindung rege war. Aber der
Schauſpieler muß uns zu dieſer erſten Gluth, die den
Dichter ſeinem Sujet gegenüber beſeelte, wieder zurück¬
bringen. Wir wollen von der Meerluft friſch ange¬
wehte, kraftvolle Griechen und Helden ſehen, die, von
mannigfaltigen Uebeln und Gefahren geängſtigt und be¬
drängt, ſtark herausreden, was ihnen das Herz im Bu¬
ſen gebietet. Aber wir wollen keine ſchwächlich empfin¬
denden Schauſpieler, die ihre Rollen nur ſo obenhin aus¬
wendig gelernt haben; am wenigſten aber ſolche, die
ihre Rollen nicht einmal können.“


„Ich muß geſtehen, es hat mir noch nie gelingen
wollen, eine vollendete Aufführung meiner Iphigenie zu
erleben. Das war auch die Urſache, warum ich geſtern
nicht hineinging. Denn ich leide entſetzlich, wenn ich
mich mit dieſen Geſpenſtern herumſchlagen muß, die
nicht ſo zur Erſcheinung kommen, wie ſie ſollten.“


Mit dem Oreſt, wie Herr Krüger ihn gab, ſagte
ich, würden Sie wahrſcheinlich zufrieden geweſen ſeyn.
Sein Spiel hatte eine Deutlichkeit, daß nichts begreif¬
licher, nichts faßlicher war, als ſeine Rolle. Es drang
ſich Alles ein, und ich werde ſeine Bewegungen und
Worte nicht vergeſſen.


Dasjenige, was in dieſer Rolle der exaltirten An¬
ſchauung, der Viſion, gehört, trat durch ſeine körper¬
[139] lichen Bewegungen und den veränderten abwechſelnden
Ton ſeiner Stimme ſo aus ſeinem Innern heraus, daß
man es mit leiblichen Augen zu ſehen glaubte. Beim
Anblick dieſes Oreſt hätte Schiller die Furien ſicher
nicht vermißt; ſie waren hinter ihm her, ſie waren um
ihn herum.


Die bedeutende Stelle, wo Oreſt, aus ſeiner Er¬
mattung erwachend, ſich in die Unterwelt verſetzt glaubt,
gelang zu hohem Erſtaunen. Man ſah die Reihen der
Ahnherren in Geſprächen wandeln, man ſah Oreſt ſich
ihnen geſellen, ſie befragen und ſich an ſie anſchließen.
Man fühlte ſich ſelbſt verſetzt und in die Mitte dieſer
Seligen mit aufgenommen, ſo rein und tief war die
Empfindung des Künſtlers und ſo groß ſein Vermögen,
das Unfaßlichſte uns vor die Augen zu bringen.


„Ihr ſeid doch noch Leute, auf die ſich wirken läßt!
erwiederte Göthe lachend. Aber fahren Sie fort und
ſagen Sie weiter. Er ſcheint alſo wirklich gut geweſen
zu ſeyn und ſeine körperlichen Mittel von Bedeutung?“


Sein Organ, ſagte ich, war rein und wohltönend,
auch viel geübt und dadurch der höchſten Biegſamkeit
und Mannigfaltigkeit fähig. Phyſiſche Kraft und kör¬
perliche Gewandtheit ſtanden ihm ſodann bei Aus¬
führung aller Schwierigkeiten zur Seite. Es ſchien,
daß er es ſein Lebelang an der mannigfaltigſten körper¬
lichen Ausbildung und Uebung nicht hatte fehlen laſſen.


„Ein Schauſpieler, ſagte Goethe, ſollte eigentlich
[140] auch bei einem Bildhauer und Maler in die Lehre ge¬
hen. So iſt ihm, um einen griechiſchen Helden darzu¬
ſtellen, durchaus nöthig, daß er die auf uns gekom¬
menen antiken Bildwerke wohl ſtudirt und ſich die
ungeſuchte Grazie ihres Sitzens, Stehens und Gehens
wohl eingeprägt habe.“


„Auch iſt es mit dem Körperlichen noch nicht ge¬
than. Er muß auch durch ein fleißiges Studium der
beſten alten und neuen Schriftſteller ſeinem Geiſte eine
große Ausbildung geben, welches ihm denn nicht bloß
zum Verſtändniß ſeiner Rolle zu Gute kommen, ſondern
auch ſeinem ganzen Weſen und ſeiner ganzen Haltung
einen höheren Anſtrich geben wird. Doch erzählen Sie
weiter! Was war denn noch ſonſt Gutes an ihm zu
bemerken?“


Es ſchien mir, ſagte ich, als habe ihm eine große
Liebe für ſeinen Gegenſtand beigewohnt. Er hatte
durch ein emſiges Studium ſich alles Einzelne klar
gemacht, ſo daß er in ſeinem Helden mit großer Frei¬
heit lebte und webte und nichts übrig blieb, was nicht
durchaus wäre das Seinige geworden. Hieraus ent¬
ſtand denn ein richtiger Ausdruck und eine richtige
Betonung jedes einzelnen Wortes, und eine ſolche
Sicherheit, daß für ihn der Souffleur eine ganz über¬
flüſſige Perſon war.


„Das freut mich, ſagte Goethe, und ſo iſt es recht.
Nichts iſt ſchrecklicher, als wenn die Schauſpieler nicht
[141] Herr ihrer Rolle ſind und bei jedem neuen Satze nach
dem Souffleur horchen müſſen, wodurch ihr Spiel ſogleich
null iſt, und ſogleich ohne alle Kraft und Leben. Wenn
bei einem Stück, wie meine Iphigenie, die Schauſpieler
in ihren Rollen nicht durchaus feſt ſind, ſo iſt es
beſſer, die Aufführung zu unterlaſſen. Denn das Stück
kann bloß Erfolg haben, wenn Alles ſicher, raſch und
lebendig geht.“


„Nun, nun! — Es iſt mir lieb, daß es mit Krü¬
gern ſo gut abgelaufen. Zelter hatte ihn mir empfohlen,
und es wäre mir fatal geweſen, wenn es mit ihm nicht
ſo gut gegangen wäre, wie es iſt. Ich werde ihm auch
meinerſeits einen kleinen Spaß machen und ihm ein
hübſch eingebundenes Exemplar der Iphigenie zum
Andenken verehren, mit einigen eingeſchriebenen Verſen
in Bezug auf ſein Spiel.“


Das Geſpräch lenkte ſich auf die Antigone von
Sophokles, auf die darin waltende hohe Sittlichkeit,
und endlich auf die Frage: wie das Sittliche in die
Welt gekommen?


„Durch Gott ſelber, erwiederte Goethe, wie alles
andere Gute. Es iſt kein Product menſchlicher Reflec¬
tion, ſondern es iſt angeſchaffene und angeborene ſchöne
Natur. Es iſt mehr oder weniger den Menſchen im
Allgemeinen angeſchaffen, im hohen Grade aber einzel¬
nen, ganz vorzüglich begabten Gemüthern. Dieſe haben
durch große Thaten oder Lehren ihr göttliches Innere
[142] offenbaret, welches ſodann durch die Schönheit ſeiner
Erſcheinung die Liebe der Menſchen ergriff und zur
Verehrung und Nacheiferung gewaltig fortzog.“


„Der Werth des Sittlich-Schönen und Guten aber
konnte durch Erfahrung und Weisheit zum Bewußtſeyn
gelangen, indem das Schlechte ſich in ſeinen Folgen als
ein Solches erwies, welches das Glück des Einzelnen
wie des Ganzen zerſtörte, dagegen das Edle und Rechte
als ein Solches, welches das beſondere und allgemeine
Glück herbeiführte und befeſtigte. So konnte das Sitt¬
lich-Schöne zur Lehre werden und ſich als ein Ausge¬
ſprochenes über ganze Völkerſchaften verbreiten.“


Ich las neulich irgendwo die Meinung ausgeſprochen,
verſetzte ich, die griechiſche Tragödie habe ſich die Schön¬
heit des Sittlichen zum beſondern Gegenſtand gemacht.


„Nicht ſowohl das Sittliche, erwiederte Goethe, als
das Rein-Menſchliche in ſeinem ganzen Umfange; be¬
ſonders aber in den Richtungen, wo es, mit einer
rohen Macht und Satzung in Conflict gerathend, tragi¬
ſcher Natur werden konnte. In dieſer Region lag
denn freilich auch das Sittliche, als ein Haupt-Theil
der menſchlichen Natur.“


„Das Sittliche der Antigone iſt übrigens nicht von
Sophokles erfunden, ſondern es lag im Süjet, welches
aber Sophokles um ſo lieber wählen mochte, als es
neben der ſittlichen Schönheit ſo viel Dramatiſch-Wirk¬
ſames in ſich hatte.“

[143]

Goethe ſprach ſodann über den Charakter des Kreon
und der Ismene, und über die Nothwendigkeit dieſer
beiden Figuren zur Entwickelung der ſchönen Seele der
Heldin.


„Alles Edle, ſagte er, iſt an ſich ſtiller Natur und
ſcheint zu ſchlafen, bis es durch Widerſpruch geweckt
und herausgefordert wird. Ein ſolcher Widerſpruch iſt
Kreon, welcher theils der Antigone wegen da iſt, damit
ſich ihre edle Natur und das Recht, was auf ihrer
Seite liegt, an ihm hervorkehre, theils aber um ſein
ſelbſt willen, damit ſein unſeliger Irrthum uns als ein
Haſſenswürdiges erſcheine.“


„Da aber Sophokles uns das hohe Innere ſeiner
Heldin auch vor der That zeigen wollte, ſo mußte
noch ein anderer Widerſpruch daſeyn, woran ſich ihr
Charakter entwickeln konnte, und das iſt die Schweſter
Ismene. In dieſer hat der Dichter uns nebenbei
ein ſchönes Maaß des Gewöhnlichen gegeben, woran
uns die ein ſolches Maaß weit überſteigende Höhe der
Antigone deſto auffallender ſichtbar wird.“


Das Geſpräch wendete ſich auf dramatiſche Schrift¬
ſteller im Allgemeinen, und welche bedeutende Wirkung
auf die große Maſſe des Volkes von ihnen ausgehe
und ausgehen könne.


„Ein großer dramatiſcher Dichter, ſagte Goethe,
wenn er zugleich productiv iſt und ihm eine mächtige
edle Geſinnung beiwohnt, die alle ſeine Werke durch¬
[144] dringt, kann erreichen, daß die Seele ſeiner Stücke
zur Seele des Volkes wird. Ich dächte, das wäre
etwas, das wohl der Mühe werth wäre. Von Cor¬
neille ging eine Wirkung aus, die fähig war, Helden¬
ſeelen zu bilden. Das war etwas für Napoleon, der
ein Heldenvolk nöthig hatte; weßhalb er denn von
Corneille ſagte, daß, wenn er noch lebte, er ihn zum
Fürſten machen würde. Ein dramatiſcher Dichter, der
ſeine Beſtimmung kennt, ſoll daher unabläſſig an ſeiner
höheren Entwickelung arbeiten, damit die Wirkung, die
von ihm auf das Volk ausgeht, eine wohlthätige und
edle ſey.“


„Man ſtudire nicht die Mitgeborenen und Mit¬
ſtrebenden, ſondern große Menſchen der Vorzeit, deren
Werke ſeit Jahrhunderten gleichen Werth und gleiches
Anſehen behalten haben. Ein wirklich hochbegabter
Menſch wird das Bedürfniß dazu ohnedieß in ſich
fühlen, und gerade dieſes Bedürfniß des Umgangs mit
großen Vorgängern iſt das Zeichen einer höheren An¬
lage. Man ſtudire Molière, man ſtudire Shakſpeare,
aber vor allen Dingen die alten Griechen und immer
die Griechen.“


Für hochbegabte Naturen, bemerkte ich, mag das
Studium der Schriften des Alterthums allerdings ganz
unſchätzbar ſeyn; allein im Allgemeinen ſcheint es auf
den perſönlichen Charakter wenig Einfluß auszuüben.
Wenn das wäre, ſo müßten ja alle Philologen und
[145] Theologen die vortrefflichſten Menſchen ſeyn. Dieß iſt
aber keineswegs der Fall, und es ſind ſolche Kenner
der griechiſchen und lateiniſchen Schriften des Alterthums
eben tüchtige Leute, oder auch arme Wichte, je nach
den guten oder ſchlechten Eigenſchaften, die Gott in
ihre Natur gelegt, oder die ſie von Vater und Mutter
mitbrachten.


„Dagegen iſt nichts zu erinnern, erwiederte Göthe;
aber damit iſt durchaus nicht geſagt, daß das Studium
der Schriften des Alterthums für die Bildung eines
Charakters überall ohne Wirkung wäre. Ein Lump
bleibt freilich ein Lump, und eine kleinliche Natur wird
durch einen ſelbſt täglichen Verkehr mit der Großheit
antiker Geſinnung um keinen Zoll größer werden.
Allein ein edler Menſch, in deſſen Seele Gott die
Fähigkeit künftiger Charaktergröße und Geiſteshoheit
gelegt, wird durch die Bekanntſchaft und den vertrau¬
lichen Umgang mit den erhabenen Naturen griechiſcher
und römiſcher Vorzeit ſich auf das Herrlichſte entwickeln
und mit jedem Tage zuſehends zu ähnlicher Größe
heranwachſen.“

Mit Göthe vor Tiſch ſpazieren gefahren eine Strecke
die Straße nach Erfurt hinaus. Es begegnete uns
allerhand Frachtfuhrwerk mit Waaren für die Leipziger
III. 10[146] Meſſe. Auch einige Züge Koppelpferde, worunter ſehr
ſchöne Thiere.


„Ich muß über die Aeſthetiker lachen, ſagte Göthe,
welche ſich abquälen, dasjenige Unausſprechliche, wofür
wir den Ausdruck ſchön gebrauchen, durch einige ab¬
ſtracte Worte in einen Begriff zu bringen. Das Schöne
iſt ein Urphänomen, das zwar nie ſelber zur Erſchei¬
nung kommt, deſſen Abglanz aber in tauſend verſchie¬
denen Aeußerungen des ſchaffenden Geiſtes ſichtbar
wird, und ſo mannigfaltig und ſo verſchiedenartig iſt,
als die Natur ſelber.“


Ich habe oft ausſprechen hören, ſagte ich, die Na¬
tur ſey immer ſchön; ſie ſey die Verzweiflung des
Künſtlers, indem er ſelten fähig ſey, ſie ganz zu er¬
reichen.


„Ich weiß wohl, erwiederte Goethe, daß die Natur
oft einen unerreichbaren Zauber entfaltet; allein ich bin
keineswegs der Meinung, daß ſie in allen ihren Aeuße¬
rungen ſchön ſey. Ihre Intentionen ſind zwar immer
gut, allein die Bedingungen ſind es nicht, die dazu
gehören, ſie ſtets vollkommen zur Erſcheinung gelangen
zu laſſen.“


„So iſt die Eiche ein Baum, der ſehr ſchön ſeyn
kann. Doch wie viele günſtige Umſtände müſſen zu¬
ſammentreffen, ehe es der Natur einmal gelingt, ihn
wahrhaft ſchön hervorzubringen! Wächſt die Eiche im
Dickicht des Waldes heran, von bedeutenden Nachbar¬
[147] ſtämmen umgeben, ſo wird ihre Tendenz immer nach
oben gehen, immer nach freier Luft und Licht. Nach
den Seiten hin wird ſie nur wenige ſchwache Aeſte
treiben, und auch dieſe werden im Laufe des Jahrhun¬
derts wieder verkümmern und abfallen. Hat ſie aber
endlich erreicht, ſich mit ihrem Gipfel oben im Freien
zu fühlen, ſo wird ſie ſich beruhigen und nun anfangen
ſich nach den Seiten hin auszubreiten und eine Krone
zu bilden. Allein ſie iſt auf dieſer Stufe bereits über
ihr mittleres Alter hinaus, ihr vieljähriger Trieb nach
oben hat ihre friſcheſten Kräfte hingenommen, und ihr
Beſtreben, ſich jetzt noch nach der Breite hin mächtig
zu erweiſen, wird nicht mehr den rechten Erfolg haben.
Hoch, ſtark und ſchlankſtämmig wird ſie nach vollen¬
detem Wuchſe daſtehen, doch ohne ein ſolches Verhält¬
niß zwiſchen Stamm und Krone, um in der That ſchön
zu ſeyn.“

„Wächſt hinwieder die Eiche an feuchten, ſumpfigen
Orten und iſt der Boden zu nahrhaft, ſo wird ſie, bei
gehörigem Raum, frühzeitig viele Aeſte und Zweige nach
allen Seiten treiben; es werden jedoch die widerſtre¬
benden, retardirenden Einwirkungen fehlen, das Knorrige,
Eigenſinnige, Zackige wird ſich nicht entwickeln, und,
aus einiger Ferne geſehen, wird der Baum ein ſchwaches,
lindenartiges Anſehen gewinnen, und er wird nicht ſchön
ſeyn, wenigſtens nicht als Eiche.“


„Wächſt ſie endlich an bergigen Abhängen, auf dürf¬
10 *[148] tigem ſteinigten Erdreich, ſo wird ſie zwar im Ueber¬
maß zackig und knorrig erſcheinen, allein es wird ihr
an freier Entwickelung fehlen, ſie wird in ihrem Wuchs
frühzeitig kümmern und ſtocken, und ſie wird nie errei¬
chen, daß man von ihr ſage: es walte in ihr etwas,
das fähig ſey, uns in Erſtaunen zu ſetzen.“


Ich freute mich dieſer guten Worte. Sehr ſchöne
Eichen, ſagte ich, habe ich geſehen, als ich vor einigen
Jahren von Göttingen aus mitunter kleine Touren ins
Weſerthal machte. Beſonders mächtig fand ich ſie im
Solling in der Gegend von Höxter.


„Ein ſandiger oder mit Sand gemiſchter Boden,
fuhr Goethe fort, wo ihr nach allen Richtungen hin
mächtige Wurzeln zu treiben vergönnt iſt, ſcheint ihr
am günſtigſten zu ſeyn. Und dann will ſie einen
Stand, der ihr gehörigen Raum gewährt, alle Einwir¬
kungen von Licht und Sonne und Regen und Wind
von allen Seiten her in ſich aufzunehmen. Im behag¬
lichen Schutz vor Wind und Wetter herangewachſen,
wird aus ihr nichts; aber ein hundertjähriger Kampf
mit den Elementen macht ſie ſtark und mächtig, ſo daß
nach vollendetem Wuchs ihre Gegenwart uns Erſtaunen
und Bewunderung einflößt.“


Könnte man nicht aus dieſen Ihren Andeutungen,
verſetzte ich, ein Reſultat ziehen und ſagen: ein Ge¬
ſchöpf ſey dann ſchön, wenn es zu dem Gipfel ſeiner
natürlichen Entwickelung gelangt ſey?


[149]

„Recht wohl, erwiederte Goethe; doch müßte man
zuvor ausſprechen, was man unter dem Gipfel der
natürlichen Entwickelung wolle verſtanden haben.“


Ich würde damit, erwiederte ich, diejenige Periode
des Wachsthums bezeichnen, wo der Charakter, der
dieſem oder jenem Geſchöpf eigenthümlich iſt, vollkom¬
men ausgeprägt erſcheint.


„In dieſem Sinne, erwiederte Goethe, wäre nichts
dagegen einzuwenden, beſonders wenn man noch hinzu¬
fügte, daß zu ſolchem vollkommen ausgeprägten Cha¬
rakter zugleich gehöre, daß der Bau der verſchiedenen
Glieder eines Geſchöpfes deſſen Naturbeſtimmung an¬
gemeſſen und alſo zweckmäßig ſey.“


„So wäre z. B. ein mannbares Mädchen, deſſen
Naturbeſtimmung iſt, Kinder zu gebären und Kinder zu
ſäugen, nicht ſchön ohne gehörige Breite des Beckens
und ohne gehörige Fülle der Brüſte. Doch wäre auch
ein Zuviel nicht ſchön, denn das würde über das Zweck¬
mäßige hinausgehen.“


„Warum konnten wir vorhin einige der Reitpferde,
die uns begegneten, ſchön nennen, als eben wegen der
Zweckmäßigkeit ihres Baues. Es war nicht bloß das
Zierliche, Leichte, Graziöſe ihrer Bewegungen, ſondern
noch etwas mehr, worüber ein guter Reiter und Pferde¬
kenner reden müßte und wovon wir Anderen bloß den
allgemeinen Eindruck empfinden.“


Könnte man nicht auch, ſagte ich, einen Karrengaul
[150] ſchön nennen, wie uns vorhin einige ſehr ſtarke vor
den Frachtwagen der Brabanter Fuhrleute begegneten?


„Allerdings! erwiederte Goethe; und warum nicht?
Ein Maler fände an dem ſtark ausgeprägten Charakter,
an dem mächtigen Ausdruck von Knochen, Sehnen und
Muskeln eines ſolchen Thieres wahrſcheinlich noch ein
weit mannigfaltigeres Spiel von allerlei Schönheiten,
als an dem milderen, egaleren Charakter eines zier¬
lichen Reitpferdes.“


„Die Hauptſache iſt immer, fuhr Goethe fort, daß
die Raçe rein und der Menſch nicht ſeine verſtümmelnde
Hand angelegt hat. Ein Pferd, dem Schweif und
Mähne abgeſchnitten, ein Hund mit geſtutzten Ohren,
ein Baum, dem man die mächtigſten Zweige genommen
und das Uebrige kugelförmig geſchnitzelt hat, und über
Alles eine Jungfrau, deren Leib von Jugend auf durch
Schnürbrüſte verdorben und entſtellt worden, alles die¬
ſes ſind Dinge, von denen ſich der gute Geſchmack ab¬
wendet und die bloß in dem Schönheits-Katechismus
der Philiſter ihre Stelle haben.“


Unter dieſen und ähnlichen Geſprächen waren wir
wieder zurückgekehrt. Wir machten vor Tiſch noch einige
Gänge im Hausgarten. Das Wetter war ſehr ſchön;
die Frühlingsſonne fing an mächtig zu werden und an
Büſchen und Hecken ſchon allerlei Laub und Blüthen
hervorzulocken. Goethe war voller Gedanken und Hoff¬
nungen eines genußreichen Sommers.


[151]

Darauf bei Tiſch, waren wir ſehr heiter. Der junge
Goethe hatte die Helena ſeines Vaters geleſen und
ſprach darüber mit vieler Einſicht eines natürlichen
Verſtandes. Ueber den im antiken Sinne gedichteten
Theil ließ er eine entſchiedene Freude blicken, während
ihm die opernartige romantiſche Hälfte, wie man mer¬
ken konnte, beim Leſen nicht lebendig geworden.


„Du haſt im Grunde recht, und es iſt ein eigenes
Ding, ſagte Goethe. Man kann zwar nicht ſagen, daß
das Vernünftige immer ſchön ſey; allein das Schöne
iſt doch immer vernünftig, oder wenigſtens es ſollte ſo
ſeyn. Der antike Theil gefällt dir aus dem Grunde,
weil er faßlich iſt, weil du die einzelnen Theile über¬
ſehen und du meiner Vernunft mit der deinigen bei¬
kommen kannſt. In der zweiten Hälfte iſt zwar auch
allerlei Verſtand und Vernunft gebraucht und verarbeitet
worden; allein es iſt ſchwer und erfordert einiges
Studium, ehe man den Dingen beikommt und ehe man
mit eigener Vernunft die Vernunft des Autors wieder
herausfindet.“


Goethe ſprach darauf mit allerlei Lob und Aner¬
kennung über die Gedichte der Madame Taſtü, mit
deren Lectüre er ſich in dieſen Tagen beſchäftiget.


Als die Uebrigen gingen und ich mich auch anſchickte
zu gehen, bat er mich, noch ein wenig zu bleiben. Er
ließ ein Portefeuille mit Kupferſtichen und Radierungen
Niederländiſcher Meiſter herbeibringen.


[152]

„Ich will Sie doch, ſagte er, zum Nachtiſch noch
mit etwas Gutem tractiren.“ Mit dieſen Worten legte
er mir ein Blatt vor, eine Landſchaft von Rubens. —
„Sie haben, ſagte er, dieſes Bild zwar ſchon bei mir
geſehen; allein man kann etwas Vortreffliches nicht oft
genug betrachten, und dießmal handelt es ſich noch
dazu um etwas ganz Beſonderes. Möchten Sie mir
wohl ſagen, was Sie ſehen?“


Nun, ſagte ich, wenn ich von der Tiefe anfange,
ſo haben wir im äußerſten Hintergrunde einen ſehr
hellen Himmel, wie eben nach Sonnenuntergang. Dann,
gleichfalls in der äußerſten Ferne, ein Dorf und eine
Stadt, in der Helle des Abendlichtes. In der Mitte
des Bildes ſodann einen Weg, worauf eine Heerde
Schafe dem Dorfe zueilet. Rechts im Bilde allerlei
Heuhaufen und einen Wagen, der ſoeben voll geladen
worden. Angeſchirrte Pferde graſen in der Nähe.
Ferner, ſeitwärts in Gebüſchen zerſtreut, mehrere wei¬
dende Stuten mit ihren Fohlen, die das Anſehen haben,
als würden ſie in der Nacht draußen bleiben. Sodann,
näher dem Vordergrunde zu, eine Gruppe großer
Bäume, und zuletzt, ganz im Vordergrunde links, ver¬
ſchiedene nach Hauſe gehende Arbeiter.


„Gut, ſagte Goethe, das wäre wohl Alles. Aber
die Hauptſache fehlt noch. Alle dieſe Dinge, die wir
dargeſtellt ſehen: die Heerde Schafe, der Wagen mit
[153] Heu, die Pferde, die nach Hauſe gehenden Feldarbeiter,
von welcher Seite ſind ſie beleuchtet?“


Sie haben das Licht, ſagte ich, auf der uns zuge¬
kehrten Seite und werfen die Schatten in das Bild
hinein. Beſonders die nach Hauſe gehenden Feldarbei¬
ter im Vordergrunde ſind ſehr im Hellen, welches einen
trefflichen Effect thut.


„Wodurch hat aber Rubens dieſe ſchöne Wirkung
hervorgebracht?“


Dadurch, antwortete ich, daß er dieſe hellen Figuren
auf einem dunkeln Grunde erſcheinen läßt.


„Aber dieſer dunkle Grund, erwiederte Goethe, wo¬
durch entſteht er?“


Es iſt der mächtige Schatten, ſagte ich, den die
Baumgruppe den Figuren entgegenwirft. — Aber wie?
fuhr ich mit Ueberraſchung fort, die Figuren werfen den
Schatten in das Bild hinein, die Baumgruppe dagegen
wirft den Schatten dem Beſchauer entgegen? — Da
haben wir ja das Licht von zwei entgegengeſetzten Sei¬
ten, welches aber ja gegen alle Natur iſt!


„Das iſt eben der Punkt, erwiederte Goethe mit
einigem Lächeln. Das iſt es, wodurch Rubens ſich
groß erweiſet und an den Tag legt, daß er mit freiem
Geiſte über der Natur ſteht und ſie ſeinen höheren
Zwecken gemäß tractirt. Das doppelte Licht iſt aller¬
dings gewaltſam, und Sie können immerhin ſagen, es
ſey gegen die Natur. Allein, wenn es gegen die Natur
[154] iſt, ſo ſage ich zugleich, es ſey höher als die Natur,
ſo ſage ich, es ſey der kühne Griff des Meiſters, wo¬
durch er auf geniale Weiſe an den Tag legt, daß die
Kunſt der natürlichen Nothwendigkeit nicht durchaus
unterworfen iſt, ſondern ihre eigenen Geſetze hat.“


„Der Künſtler, fuhr Goethe fort, muß freilich die
Natur im Einzelnen treu und fromm nachbilden, er
darf in dem Knochenbau und der Lage von Sehnen
und Muskeln eines Thieres nichts willkürlich ändern,
ſo daß dadurch der eigenthümliche Charakter verletzt
würde. Denn das hieße die Natur vernichten. Allein
in den höheren Regionen des künſtleriſchen Verfah¬
rens, wodurch ein Bild zum eigentlichen Bilde wird,
hat er ein freieres Spiel, und er darf hier ſogar zu
Fictionen ſchreiten, wie Rubens in dieſer Landſchaft
mit dem doppelten Lichte gethan.“


„Der Künſtler hat zur Natur ein zwiefaches Ver¬
hältniß: er iſt ihr Herr und ihr Sklave zugleich. Er
iſt ihr Sklave, inſofern er mit irdiſchen Mitteln wirken
muß, um verſtanden zu werden; ihr Herr aber, inſofern
er dieſe irdiſchen Mittel ſeinen höheren Intentionen
unterwirft und ihnen dienſtbar macht.“


„Der Künſtler will zur Welt durch ein Ganzes
ſprechen; dieſes Ganze aber findet er nicht in der Na¬
tur, ſondern es iſt die Frucht ſeines eigenen Geiſtes,
oder, wenn Sie wollen, des Anwehens eines befruchten¬
den göttlichen Odems.“

[155]

„Betrachten wir dieſe Landſchaft von Rubens nur
ſo obenhin, ſo kommt uns Alles ſo natürlich vor, als
ſey es nur geradezu von der Natur abgeſchrieben. Es
iſt aber nicht ſo. Ein ſo ſchönes Bild iſt nie in der
Natur geſehen worden, ebenſowenig als eine Landſchaft
von Pouſſin oder Claude Lorrain, die uns auch ſehr
natürlich erſcheinet, die wir aber gleichfalls in der
Wirklichkeit vergebens ſuchen.“


Ließen ſich nicht auch, ſagte ich, ähnliche kühne Züge
künſtleriſcher Fiction, wie dieſes doppelte Licht von Ru¬
bens, in der Literatur finden?


„Da brauchten wir nicht eben weit zu gehen, er¬
wiederte Goethe nach einigem Nachdenken. Ich könnte
ſie Ihnen im Shakſpeare zu Dutzenden nachweiſen. —
Nehmen Sie nur den Macbeth. Als die Lady ihren
Gemahl zur That begeiſtern will, ſagt ſie:

Ich habe Kinder aufgeſäugt ꝛc.

Ob dieſes wahr iſt oder nicht, kommt gar nicht darauf
an; aber die Lady ſagt es, und ſie muß es ſagen, um
ihrer Rede dadurch Nachdruck zu geben. — Im ſpäte¬
ren Verlauf des Stückes aber, als Macduff die Nach¬
richt von dem Untergange der Seinen erfährt, ruft er
im wilden Grimme aus:


Er hat keine Kinder!

Dieſe Worte des Macduff kommen alſo mit denen
der Lady in Widerſpruch; aber das kümmert Shak¬
ſpeare nicht. Ihm kommt es auf die Kraft der jedes¬
[156] maligen Rede an, und ſo wie die Lady zum höchſten
Nachdruck ihrer Worte ſagen mußte: „Ich habe Kinder
aufgeſäugt“, ſo mußte auch eben dieſem Zweck
Macduff ſagen: „Er hat keine Kinder!“


„Ueberall, fuhr Goethe fort, ſollen wir es mit dem
Pinſelſtriche eines Malers, oder dem Worte eines
Dichters nicht ſo genau und kleinlich nehmen; vielmehr
ſollen wir ein Kunſtwerk, das mit kühnem und freiem
Geiſte gemacht worden, auch wo möglich mit eben ſol¬
chem Geiſte wieder anſchauen und genießen.“


„So wäre es thöricht, wenn man aus den Worten
des Macbeth:


Gebier mir keine Töchter ꝛc.

den Schluß ziehen wollte, die Lady ſey ein ganz ju¬
gendliches Weſen, das noch nicht geboren habe. Und
ebenſo thöricht wäre es, wenn man weiter gehen und
verlangen wollte, die Lady müſſe auf der Bühne als
eine ſolche ſehr jugendliche Perſon dargeſtellt werden.“


„Shakſpeare läßt den Macbeth dieſe Worte keines¬
wegs ſagen, um damit die Jugend der Lady zu be¬
weiſen, ſondern dieſe Worte, wie die vorhin angeführten
der Lady und des Macduff, ſind bloß rethoriſcher Zwecke
wegen da, und wollen weiter nichts beweiſen, als daß
der Dichter ſeine Perſonen jedesmal das reden läßt,
was eben an dieſer Stelle gehörig, wirkſam und
gut iſt, ohne ſich viel und ängſtlich zu bekümmern und
[157] zu calculiren, ob dieſe Worte vielleicht mit einer anderen
Stelle in ſcheinbaren Widerſpruch gerathen möchten.“


„Ueberhaupt hat Shakſpeare bei ſeinen Stücken
ſchwerlich daran gedacht, daß ſie als gedruckte Buch¬
ſtaben vorliegen würden, die man überzählen und gegen
einander vergleichen und berechnen möchte; vielmehr
hatte er die Bühne vor Augen, als er ſchrieb; er ſah
ſeine Stücke als ein Bewegliches, Lebendiges an, das
von den Brettern herab den Augen und Ohren raſch
vorüberfließen würde, das man nicht feſthalten und im
Einzelnen bekritteln könnte, und wobei es bloß darauf
ankam, immer nur im gegenwärtigen Moment wirkſam
und bedeutend zu ſeyn.“

Auguſt Wilhelm v. Schlegel iſt hier. Goethe
machte mit ihm vor Tiſch eine Spazierfahrt ums We¬
bicht und gab ihm zu Ehren dieſen Abend einen großen
Thee, wobei auch Schlegel's Reiſegefährte, Herr Doctor
Laſſen, gegenwärtig. Alles in Weimar, was irgend
Namen und Rang hatte, war dazu eingeladen, ſo daß
das Getreibe in Goethe's Zimmern groß war. Herr
von Schlegel war ganz von Damen umringt, denen er
aufgerollte ſchmale Streifen mit indiſchen Götterbildern
vorzeigte, ſowie den ganzen Text von zwei großen in¬
diſchen Gedichten, von denen, außer ihm ſelbſt und Dr.
[158] Laſſen, wahrſcheinlich Niemand etwas verſtand. Schle¬
gel war höchſt ſauber angezogen und höchſt jugendlichen,
blühenden Anſehens, ſo daß einige der Anweſenden be¬
haupten wollten, er ſcheine nicht unerfahren in Anwen¬
dung kosmetiſcher Mittel.


Goethe zog mich in ein Fenſter. „Nun? wie ge¬
fällt er Ihnen.“ Noch ganz ſo, wie ſonſt, erwiederte
ich. „Er iſt freilich in vieler Hinſicht kein Mann, fuhr
Goethe fort; aber doch kann man ihm, ſeiner vielſeitigen
gelehrten Kenntniſſe und ſeiner großen Verdienſte wegen,
ſchon etwas zu Gute halten.“

Bei Goethe zu Tiſche mit Herrn Dr. Laſſen. Schle¬
gel war heute abermals an Hof zur Tafel gezogen.
Herr Laſſen entwickelte große Kenntniſſe der indiſchen
Poeſie, die Goethen höchſt willkommen zu ſeyn ſchienen,
um ſein eigenes immerhin nur ſehr lückenhaftes Wiſſen
in dieſen Dingen zu ergänzen.


Ich war Abends wieder einige Augenblicke bei
Goethe. Er erzählte mir, daß Schlegel in der Däm¬
merung bei ihm geweſen und daß er mit ihm ein höchſt
bedeutendes Geſpräch über literariſche und hiſtoriſche
Gegenſtände geführt, das für ihn ſehr belehrend ge¬
weſen. „Nur muß man, fügte er hinzu, keine Trauben
von den Dornen und keine Feigen von den Diſteln ver¬
langen; übrigens iſt Alles ganz vortrefflich.“


[159]

Die höchſt gelungene Ueberſetzung der dramatiſchen
Werke Goethe's von Stapfer hat in dem zu Paris er¬
ſcheinenden Globe des vorigen Jahres durch Herrn
J. J. Ampère eine Beurtheilung gefunden, die nicht
weniger vortrefflich iſt, und die Göthen ſo angenehm
berührte, daß er ſehr oft darauf zurückkam und ſich
ſehr oft mit großer Anerkennung darüber ausließ.


„Der Standpunkt des Herrn Ampère, ſagte er, iſt
ein ſehr hoher. Wenn deutſche Recenſenten bei ähn¬
lichen Anläſſen gern von der Philoſophie ausgehen und
bei Betrachtung und Beſprechung eines dichteriſchen
Erzeugniſſes auf eine Weiſe verfahren, daß dasjenige,
was ſie zu deſſen Aufklärung beibringen, nur Philo¬
ſophen ihrer eigenen Schule zugänglich, für andere
Leute aber weit dunkler iſt als das Werk, das ſie er¬
läutern wollen, ſelber, ſo benimmt ſich dagegen Herr
Ampère durchaus praktiſch und menſchlich. — Als Einer,
der das Metier aus dem Grunde kennt, zeigt er die
Verwandtſchaft des Erzeugten mit dem Erzeuger, und
beurtheilt die verſchiedenen poetiſchen Productionen als
verſchiedene Früchte verſchiedener Lebensepochen des
Dichters.“


„Er hat den abwechſelnden Gang meiner irdiſchen
Laufbahn und meiner Seelenzuſtände im Tiefſten ſtudirt
und ſogar die Fähigkeit gehabt, das zu ſehen, was ich
nicht ausgeſprochen und was, ſo zu ſagen, nur zwiſchen
[160] den Zeilen zu leſen war. Wie richtig hat er bemerkt,
daß ich in den erſten zehn Jahren meines Weimar'ſchen
Dienſt- und Hoflebens ſo gut wie gar nichts gemacht,
daß die Verzweiflung mich nach Italien getrieben, und
daß ich dort, mit neuer Luſt zum Schaffen, die Geſchichte
des Taſſo ergriffen, um mich in Behandlung dieſes
angemeſſenen Stoffes von demjenigen frei zu machen,
was mir noch aus meinen Weimar'ſchen Eindrücken
und Erinnerungen Schmerzliches und Läſtiges anklebte.
Sehr treffend nennt er daher auch den Taſſo einen
geſteigerten Werther.“


„Sodann über den Fauſt äußert er ſich nicht weni¬
ger geiſtreich, indem er nicht bloß das düſtere, unbe¬
friedigte Streben der Hauptfigur, ſondern auch den
Hohn und die herbe Ironie des Mephiſtopheles als
Theile meines eigenen Weſens bezeichnet.“


In dieſer und ähnlicher anerkennenden Weiſe ſprach
Goethe über Herrn Ampère ſehr oft; wir faßten für
ihn ein entſchiedenes Intereſſe, wir ſuchten uns ſeine
Perſönlichkeit klar zu machen, und wenn uns dieſes
auch nicht gelingen konnte, ſo waren wir doch darüber
einig, daß es ein Mann von mittleren Jahren ſeyn
müſſe, um die Wechſelwirkung von Leben und Dichten
ſo aus dem Grunde zu verſtehen.


Sehr überraſcht waren wir daher, als Herr Ampère
vor einigen Tagen in Weimar eintraf und ſich uns als
ein lebensfroher Jüngling von einigen zwanzig Jahren
[161] darſtellte; und nicht weniger überraſcht waren wir, als
er gegen uns im Laufe eines weiteren Verkehrs äußerte,
daß ſämmtliche Mitarbeiter des Globe, deſſen Weisheit,
Mäßigung und hohe Bildungsſtufe wir oft bewundert,
lauter junge Leute wären, wie er.


Ich begreife wohl, ſagte ich, daß Einer jung ſeyn
kann, um Bedeutendes zu produciren und, gleich Mé¬
rimée, im zwanzigſten Jahre treffliche Stücke zu ſchreiben;
allein daß Einem bei ähnlich jungen Jahren eine ſolche
Ueberſicht und ſo tiefe Einblicke zu Gebote ſtehen, um
eine ſolche Höhe des Urtheils zu beſitzen, wie die Her¬
ren des Globe, das iſt mir durchaus etwas Neues.


„Ihnen in Ihrer Haide, erwiederte Goethe, iſt es
freilich nicht ſo leicht geworden, und auch wir Andern
im mittleren Deutſchland haben unſer Bischen Weisheit
ſchwer genug erkaufen müſſen. Denn wir führen doch
im Grunde Alle ein iſolirtes armſeliges Leben! Aus
dem eigentlichen Volke kommt uns ſehr wenige Cultur
entgegen und unſere ſämmtlichen Talente und guten
Köpfe ſind über ganz Deutſchland ausgeſäet. Da ſitzt
Einer in Wien, ein Anderer in Berlin, ein Anderer in
Königsberg, ein Anderer in Bonn oder Düſſeldorf, Alle
durch fünfzig bis hundert Meilen von einander getrennt,
ſo daß perſönliche Berührungen und ein perſönlicher
Austauſch von Gedanken zu den Seltenheiten gehört.
Was dieß aber wäre, empfinde ich, wenn Männer wie
Alexander von Humboldt hier durchkommen und mich
III. 11[162] in dem, was ich ſuche, und mir zu wiſſen nöthig, in
einem einzigen Tage weiter bringen, als ich ſonſt auf
meinem einſamen Wege in Jahren nicht erreicht hätte.“


„Nun aber denken Sie ſich eine Stadt wie Paris,
wo die vorzüglichſten Köpfe eines großen Reiches auf einem
einzigen Fleck beiſammen ſind und in täglichem Verkehr,
Kampf und Wetteifer ſich gegenſeitig belehren und ſtei¬
gern; wo das Beſte aus allen Reichen der Natur und
Kunſt des ganzen Erdbodens der täglichen Anſchauung
offen ſteht; dieſe Weltſtadt denken Sie ſich, wo jeder
Gang über eine Brücke oder einen Platz an eine große
Vergangenheit erinnert und wo an jeder Straßenecke
ein Stück Geſchichte ſich entwickelt hat. Und zu dieſem
Allen denken Sie ſich nicht das Paris einer dumpfen
geiſtloſen Zeit, ſondern das Paris des neunzehnten
Jahrhunderts, in welchem ſeit drei Menſchenaltern durch
Männer wie Molière, Voltaire, Diderot und ihres
Gleichen eine ſolche Fülle von Geiſt in Cours geſetzt
iſt, wie ſie ſich auf der ganzen Erde auf einem einzigen
Fleck nicht zum zweitenmale findet, und Sie werden
begreifen, daß ein guter Kopf wie Ampère, in ſolcher
Fülle aufgewachſen, in ſeinem vier und zwanzigſten
Jahre wohl etwas ſeyn kann.“


„Sie ſagten doch vorhin, fuhr Goethe fort, Sie
könnten ſich ſehr wohl denken, daß Einer in ſeinem
zwanzigſten Jahre ſo gute Stücke ſchreiben könne, wie
Mérimée. Ich habe gar nichts dawider, und bin auch im
[163] Ganzen recht wohl Ihrer Meinung, daß eine jugendlich¬
tüchtige Production leichter ſey, als ein jugendlich-tüch¬
tiges Urtheil. Allein in Deutſchland ſoll Einer es
wohl bleiben laſſen, ſo jung wie Mérimée etwas ſo
Reifes hervorzubringen, als er in den Stücken ſeiner
Clara Gazul gethan. Es iſt wahr, Schiller war recht
jung, als er ſeine Räuber, ſeine Kabale und Liebe und
ſeinen Fiesco ſchrieb. Allein, wenn wir aufrichtig ſeyn
wollen, ſo ſind doch alle dieſe Stücke mehr Aeußerun¬
gen eines außergewöhnlichen Talents, als daß ſie von
großer Bildungsreife des Autors zeugten. Daran iſt
aber nicht Schiller Schuld, ſondern der Culturzuſtand
ſeiner Nation und die große Schwierigkeit, die wir Alle
erfahren, uns auf einſamem Wege durchzuhelfen.“


„Nehmen Sie dagegen Béranger. Er iſt der Sohn
armer Eltern, der Abkömmling eines armen Schneiders,
dann armer Buchdrucker-Lehrling, dann mit kleinem
Gehalte angeſtellt in irgend einem Bureau; er hat nie
eine gelehrte Schule, nie eine Univerſität beſucht, und
doch ſind ſeine Lieder ſo voll reifer Bildung, ſo voll
Grazie, ſo voll Geiſt und feinſter Ironie, und von
einer ſolchen Kunſtvollendung und meiſterhaften Be¬
handlung der Sprache, daß er nicht bloß die Bewun¬
derung von Frankreich, ſondern des ganzen gebildeten
Europa's iſt.“


„Denken Sie ſich aber dieſen ſelben Béranger, an¬
ſtatt in Paris geboren und in dieſer Weltſtadt heran¬
11*[164] gekommen, als den Sohn eines armen Schneiders zu
Jena oder Weimar, und laſſen Sie ihn ſeine Laufbahn
an gedachten kleinen Orten gleich kümmerlich fortſetzen,
und fragen Sie ſich, welche Früchte dieſer ſelbe Baum,
in einem ſolchen Boden und in einer ſolchen Atmos¬
phäre aufgewachſen, wohl würde getragen haben.“


„Alſo, mein Guter, ich wiederhole: es kommt dar¬
auf an, daß in einer Nation viel Geiſt und tüchtige
Bildung in Cours ſey, wenn ein Talent ſich ſchnell
und freudig entwickeln ſoll.“


„Wir bewundern die Tragödieen der alten Griechen;
allein, recht beſehen, ſollten wir mehr die Zeit und die
Nation bewundern, in der ſie möglich waren, als die
einzelnen Verfaſſer. — Denn wenn auch dieſe Stücke
unter ſich ein wenig verſchieden, und wenn auch der
eine dieſer Poeten ein wenig größer und vollendeter
erſcheint als der andere, ſo trägt doch, im Groben
und Ganzen betrachtet, Alles nur einen einzigen durch¬
gehenden Charakter. Dieß iſt der Charakter des Gro߬
artigen, des Tüchtigen, des Geſunden, des Menſchlich-
Vollendeten, der hohen Lebensweisheit, der erhabenen
Denkungsweiſe, der reinkräftigen Anſchauung, und
welche Eigenſchaften man noch ſonſt aufzählen könnte.
— Finden ſich nun aber alle dieſe Eigenſchaften nicht
bloß in den auf uns gekommenen dramatiſchen, ſondern
auch in den lyriſchen und epiſchen Werken; finden wir
ſie ferner bei den Philoſophen, Rhetoren und Geſchichts¬
[165] ſchreibern, und in gleich hohem Grade in den auf uns
gekommenen Werken der bildenden Kunſt, ſo muß man
ſich wohl überzeugen, daß ſolche Eigenſchaften nicht
bloß einzelnen Perſonen anhafteten, ſondern daß ſie der
Nation und der ganzen Zeit angehörten und in ihr in
Cours waren.“


„Nehmen Sie Burns. Wodurch iſt er groß, als
daß die alten Lieder ſeiner Vorfahren im Munde des
Volkes lebten, daß ſie ihm, ſo zu ſagen, bei der Wiege
geſungen wurden, daß er als Knabe unter ihnen heran¬
wuchs, und die hohe Vortrefflichkeit dieſer Muſter ſich
ihm ſo einlebte, daß er darin eine lebendige Baſis
hatte, worauf er weiter ſchreiten konnte. — Und ferner,
wodurch iſt er groß, als daß ſeine eigenen Lieder in
ſeinem Volke ſogleich empfängliche Ohren fanden, daß
ſie ihm alſobald im Felde von Schnittern und Binde¬
rinnen entgegen klangen und er in der Schenke von
heiteren Geſellen damit begrüßt wurde. Da konnte
es freilich etwas werden!“


„Wie ärmlich ſieht es dagegen bei uns Deutſchen
aus! — Was lebte denn in meiner Jugend von unſern
nicht weniger bedeutenden alten Liedern im eigentlichen
Volke? — Herder und ſeine Nachfolger mußten erſt
anfangen, ſie zu ſammeln und der Vergeſſenheit zu
entreißen; dann hatte man ſie doch wenigſtens gedruckt
in Bibliotheken. — Und ſpäter, was haben nicht Bür¬
ger
und Voß für Lieder gedichtet! Wer wollte ſagen,
[166] daß ſie geringer und weniger volksthümlich wären, als
die des vortrefflichen Burns! Allein, was iſt davon
lebendig geworden, ſo daß es uns aus dem Volke wie¬
der entgegenklänge? — Sie ſind geſchrieben und ge¬
druckt worden und ſtehen in Bibliotheken, ganz gemäß
dem allgemeinen Looſe deutſcher Dichter. — Von mei¬
nen eigenen Liedern, was lebt denn? Es wird wohl
eins und das andere einmal von einem hübſchen Mäd¬
chen am Klaviere geſungen, allein im eigentlichen Volke
iſt Alles ſtille. Mit welchen Empfindungen muß ich
der Zeit gedenken, wo italieniſche Fiſcher mir Stellen
des Taſſo ſangen!“ —


„Wir Deutſchen ſind von geſtern. Wir haben zwar
ſeit einem Jahrhundert ganz tüchtig cultivirt; allein es
können noch ein paar Jahrhunderte hingehen, ehe bei
unſeren Landsleuten ſo viel Geiſt und höhere Cultur
eindringe und allgemein werde, daß ſie gleich den Grie¬
chen der Schönheit huldigen, daß ſie ſich für ein hüb¬
ſches Lied begeiſtern, und daß man von ihnen wird
ſagen können, es ſey lange her, daß ſie Barbaren ge¬
weſen.“

Zu Ehren Ampère's und ſeines Freundes Stapfer
großes Diner bei Goethe. Die Unterhaltung war laut,
heiter und bunt durcheinander. Ampère erzählte Goe¬
then viel von Mérimée, Alfred de Vigny und anderen
[167] bedeutenden Talenten. Auch ward ſehr viel über Bé¬
ranger geſprochen, deſſen unvergleichliche Lieder Goethe
täglich in Gedanken hat. Es kam zur Erwähnung, ob
Béranger's heitere Liebeslieder vor ſeinen politiſchen
den Vorzug verdienten, wobei Goethe ſeine Meinung
dahin entwickelte, daß im Allgemeinen ein rein poetiſcher
Stoff einem politiſchen ſo ſehr voranſtehe, als die reine,
ewige Naturwahrheit der Parteianſicht.


„Uebrigens, fuhr er fort, hat Béranger in ſeinen
politiſchen Gedichten ſich als Wohlthäter ſeiner Nation
erwieſen. Nach der Invaſion der Alliirten fanden die
Franzoſen in ihm das beſte Organ ihrer gedrückten
Gefühle. Er richtete ſie auf durch vielfache Erinnerun¬
gen an den Ruhm der Waffen unter dem Kaiſer, deſſen
Andenken noch in jeder Hütte lebendig, und deſſen
große Eigenſchaften der Dichter liebt, ohne jedoch eine
Fortſetzung ſeiner despotiſchen Herrſchaft zu wünſchen.
Jetzt, unter den Bourbonen, ſcheint es ihm nicht zu
behagen. Es iſt freilich ein ſchwach gewordenes Ge¬
ſchlecht! Und der jetzige Franzoſe will auf dem Throne
große Eigenſchaften, obgleich er gerne ſelber mitherrſcht
und ſelber gerne ein Wort mitredet.“


Nach Tiſch verbreitete ſich die Geſellſchaft im Gar¬
ten und Goethe winkte mir zu einer Spazierfahrt um
das Gehölz auf dem Wege nach Tiefurt.


Er war im Wagen ſehr gut und liebevoll. Er
freute ſich, daß mit Ampére ein ſo hübſches Verhältniß
[168] angeknüpft worden, wovon er ſich für die Anerkennung
und Verbreitung der deutſchen Literatur in Frankreich
die ſchönſten Folgen verſpreche.


„Ampère, fügte er hinzu, ſteht freilich in ſeiner
Bildung ſo hoch, daß die nationalen Vorurtheile, Appre¬
henſionen und Bornirtheiten vieler ſeiner Landsleute
weit hinter ihm liegen, und er ſeinem Geiſte nach weit
mehr ein Weltbürger iſt, als ein Bürger von Paris.
Ich ſehe übrigens die Zeit kommen, wo er in Frank¬
reich Tauſende haben wird, die ihm gleich denken.“

Abermalige Tiſchgeſellſchaft bei Goethe, wobei die¬
ſelbigen Perſonen zugegen, wie vorgeſtern. Man ſprach
ſehr viel über die Helena und den Taſſo. Goethe er¬
zählte uns darauf, wie er im Jahre 1797 den Plan
gehabt, die Tage vom Tell als epiſches Gedicht in
Hexametern zu behandeln.


„Ich beſuchte, ſagte er, im gedachten Jahre noch
einmal die kleinen Cantone und den Vierwaldſtädter
See, und dieſe reizende, herrliche und großartige Natur
machte auf mich abermals einen ſolchen Eindruck, daß
es mich anlockte, die Abwechſelung und Fülle einer ſo
unvergleichlichen Landſchaft in einem Gedicht darzu¬
ſtellen. Um aber in meine Darſtellung mehr Reiz,
Intereſſe und Leben zu bringen, hielt ich es für gut,
den höchſt bedeutenden Grund und Boden mit ebenſo
[169] bedeutenden menſchlichen Figuren zu ſtaffiren, wo
denn die Sage vom Tell mir als ſehr erwünſcht zu
ſtatten kam.“


„Den Tell dachte ich mir als einen urkräftigen,
in ſich ſelbſt zufriedenen, kindlich-unbewußten Helden¬
menſchen, der als Laſtträger die Cantone durchwandert,
überall gekannt und geliebt iſt, überall hülfreich, übri¬
gens ruhig ſein Gewerbe treibend, für Weib und Kin¬
der ſorgend, und ſich nicht kümmernd, wer Herr oder
Knecht ſey.“


„Den Geßler dachte ich mir dagegen zwar als
einen Tyrannen, aber als einen von der behaglichen
Sorte, der gelegentlich Gutes thut, wenn es ihm Spaß
macht, und gelegentlich Schlechtes thut, wenn es ihm
Spaß macht, und dem übrigens das Volk und deſſen
Wohl und Wehe ſo völlig gleichgültige Dinge ſind,
als ob ſie gar nicht exiſtirten.“


„Das Höhere und Beſſere der menſchlichen Natur
dagegen, die Liebe zum heimathlichen Boden, das Ge¬
fühl der Freiheit und Sicherheit unter dem Schutze
vaterländiſcher Geſetze, das Gefühl ferner der Schmach,
ſich von einem fremden Wüſtling unterjocht und gele¬
gentlich mißhandelt zu ſehen, und endlich die zum Ent¬
ſchluß reifende Willenskraft, ein ſo verhaßtes Joch
abzuwerfen, — alles dieſes Höhere und Gute hatte ich
den bekannten edlen Männern Walter Fürſt,
Stauffacher, Winkelried und Andern zugetheilt,
[170] und dieſes waren meine eigentlichen Helden, meine mit
Bewußtſeyn handelnden höheren Kräfte, während der
Tell und Geßler zwar auch gelegentlich handelnd auf¬
traten, aber im Ganzen mehr Figuren paſſiver Natur
waren.“


„Von dieſem ſchönen Gegenſtande war ich ganz
voll, und ich ſummte dazu ſchon gelegentlich meine
Hexameter. Ich ſah den See im ruhigen Mondſchein,
erleuchtete Nebel in den Tiefen der Gebirge. Ich ſah
ihn im Glanz der lieblichſten Morgenſonne, ein Jauch¬
zen und Leben in Wald und Wieſen. Dann ſtellte ich
einen Sturm dar, einen Gewitterſturm, der ſich aus
den Schluchten auf den See wirft. Auch fehlte es
nicht an nächtlicher Stille und an heimlichen Zuſam¬
menkünften über Brücken und Stegen.“


„Von allem dieſen erzählte ich Schillern, in deſſen
Seele ſich meine Landſchaften und meine handelnden
Figuren zu einem Drama bildeten. Und da ich andere
Dinge zu thun hatte und die Ausführung meines Vor¬
ſatzes ſich immer weiter verſchob, ſo trat ich meinen
Gegenſtand Schillern völlig ab, der denn darauf ſein
bewundernswürdiges Gedicht ſchrieb.“


Wir freuten uns dieſer Mittheilung, die Allen
intereſſant zu hören war. Ich machte bemerklich, daß
es mir vorkomme, als ob die in Terzinen geſchriebene
prächtige Beſchreibung des Sonnenaufgangs in der
erſten Scene vom zweiten Theile des Fauſt aus der
[171] Erinnerung jener Natureindrücke des Vierwaldſtädter
See's entſtanden ſeyn möchte.


„Ich will es nicht läugnen, ſagte Goethe, daß dieſe
Anſchauungen dort herrühren; ja ich hätte ohne die
friſchen Eindrücke jener wundervollen Natur den In¬
halt der Terzinen gar nicht denken können. Das iſt
aber auch Alles, was ich aus dem Golde meiner Tell-
Localitäten mir gemünzt habe. Das Uebrige ließ ich
Schillern, der denn auch davon, wie wir wiſſen, den
ſchönſten Gebrauch gemacht.“


Das Geſpräch wendete ſich auf den Taſſo, und
welche Idee Goethe darin zur Anſchauung zu bringen
geſucht.


Idee? ſagte Goethe, — daß ich nicht wüßte!
Ich hatte das Leben Taſſo's, ich hatte mein eigenes
Leben, und indem ich zwei ſo wunderliche Figuren mit
ihren Eigenheiten zuſammenwarf, entſtand in mir das
Bild des Taſſo, dem ich, als proſaiſchen Contraſt,
den Antonio entgegenſtellte, wozu es mir auch nicht
an Vorbildern fehlte. Die weiteren Hof-Lebens- und
Liebesverhältniſſe waren übrigens in Weimar wie in
Ferrara, und ich kann mit Recht von meiner Darſtellung
ſagen: ſie iſt Bein von meinem Bein und
Fleiſch von meinem Fleiſch
.“


„Die Deutſchen ſind übrigens wunderliche Leute! —
Sie machen ſich durch ihre tiefen Gedanken und Ideen,
die ſie überall ſuchen und überall hineinlegen, das
[172] Leben ſchwerer, als billig. — Ei! ſo habt doch endlich
einmal die Courage, Euch den Eindrücken hin¬
zugeben
, Euch ergötzen zu laſſen, Euch rühren zu
laſſen, Euch erheben zu laſſen, ja Euch belehren und
zu etwas Großem entflammen und ermuthigen zu laſſen;
aber denkt nur nicht immer, es wäre Alles eitel, wenn
es nicht irgend abſtracter Gedanke und Idee wäre!“


„Da kommen ſie und fragen: welche Idee ich in
meinem Fauſt zu verkörpern geſucht? — Als ob ich
das ſelber wüßte und ausſprechen könnte! — Vom
Himmel durch die Welt zur Hölle
, das wäre
zur Noth etwas; aber das iſt keine Idee, ſondern Gang
der Handlung. Und ferner, daß der Teufel die Wette
verliert, und daß ein aus ſchweren Verirrungen immer¬
fort zum Beſſeren aufſtrebender Menſch zu erlöſen
ſey, das iſt zwar ein wirkſamer, Manches erklärender
guter Gedanke, aber es iſt keine Idee, die dem Gan¬
zen und jeder einzelnen Scene im Beſondern zu
Grunde liege. Es hätte auch in der That ein ſchönes
Ding werden müſſen, wenn ich ein ſo reiches, buntes
und ſo höchſt mannigfaltiges Leben, wie ich es im
Fauſt zur Anſchauung gebracht, auf die magere Schnur
einer einzigen durchgehenden Idee hätte reihen wollen!“


„Es war im Ganzen, fuhr Goethe fort, nicht meine
Art, als Poet nach Verkörperung von etwas Ab¬
ſtractem
zu ſtreben. Ich empfing in meinem Innern
Eindrücke, und zwar Eindrücke ſinnlicher, lebens¬
[173] voller, lieblicher, bunter, hundertfältiger Art, wie eine
rege Einbildungskraft es mir darbot; und ich hatte
als Poet weiter nichts zu thun, als ſolche Anſchauun¬
gen und Eindrücke in mir künſtleriſch zu runden und
auszubilden und durch eine lebendige Darſtellung ſo
zum Vorſchein zu bringen, daß Andere dieſelbigen Ein¬
drücke erhielten, wenn ſie mein Dargeſtelltes hörten
oder laſen.“


„Wollte ich jedoch einmal als Poet irgend eine
Idee darſtellen, ſo that ich es in kleinen Gedichten,
wo eine entſchiedene Einheit herrſchen konnte und wel¬
ches zu überſehen war, wie z. B. die Metamorphoſe
der Thiere, die der Pflanze, das Gedicht Ver¬
mächtniß
, und viele anderen. Das einzige Product
von größerem Umfang, wo ich mir bewußt bin, nach
Darſtellung einer durchgreifenden Idee gearbeitet zu
haben, wären etwa meine Wahlverwandtſchaften.
Der Roman iſt dadurch für den Verſtand faßlich ge¬
worden; aber ich will nicht ſagen, daß er dadurch
beſſer geworden wäre! Vielmehr bin ich der Mei¬
nung: je incommenſurabeler und für den
Verſtand unfaßlicher eine poetiſche Produc¬
tion
, deſto beſſer.“

Herr von Holtey, aus Paris kommend, iſt ſeit
einiger Zeit hier und wegen ſeiner Perſon und Talente
[174] überall herzlich empfangen. Auch zwiſchen ihm und
Goethe und deſſen Familie hat ſich ein ſehr freundliches
Verhältniß gebildet.


Goethe iſt ſeit einigen Tagen auf ſeinen Garten
gezogen, wo er in ſtiller Thätigkeit ſich ſehr beglückt
findet. Ich beſuchte ihn heute dort mit Herrn von
Holtey
und Grafen Schulenburg, welcher Erſtere
Abſchied nahm, um mit Ampère nach Berlin zu gehen.

Goethe hat in dieſen Tagen einen Brief von Wal¬
ter Scott
erhalten, der ihm große Freude machte.
Er zeigte ihn mir heute, und da ihm die engliſche
Handſchrift etwas ſehr unleſerlich vorkam, ſo bat er
mich, ihm den Inhalt zu überſetzen. Es ſcheint, daß
Goethe dem berühmten Engliſchen Dichter zuerſt ge¬
ſchrieben hatte und daß dieſer Brief darauf eine Er¬
wiederung iſt.


„Ich fühle mich ſehr geehrt, ſchreibt Walter Scott,
daß irgend eine meiner Productionen ſo glücklich ge¬
weſen iſt, die Beachtung Goethe's auf ſich zu ziehen,
zu deſſen Bewunderern ich ſeit dem Jahre 1798 gehöre,
wo ich, trotz meiner geringen Bekanntſchaft mit der
deutſchen Sprache, kühn genug war, den Götz von
Berlichingen ins Engliſche zu übertragen. Ich hatte
bei dieſem jugendlichen Unternehmen ganz vergeſſen,
[175] daß es nicht genug ſey, die Schönheit eines genialen
Werkes zu fühlen, ſondern daß man auch die Sprache,
worin es geſchrieben, aus dem Grunde verſtehen müſſe,
ehe es uns gelingen könne, ſolche Schönheit auch An¬
deren fühlbar zu machen. Dennoch lege ich auf jenen
jugendlichen Verſuch noch jetzt einigen Werth, weil er
doch wenigſtens zeigt, daß ich einen Gegenſtand zu
wählen wußte, der der Bewunderung würdig war.“


„Ich habe oft von Ihnen gehört, und zwar durch
meinen Schwiegerſohn Lockart, einen jungen Mann
von literariſcher Bedeutung, der vor einigen Jahren,
ehe er meiner Familie verbunden war, die Ehre hatte
dem Vater der deutſchen Literatur vorgeſtellt zu werden.
Es iſt unmöglich, daß Sie unter der großen Zahl
derer, die ſich gedrängt fühlen Ihnen ihre Ehrfurcht
zu bezeigen, ſich jedes Einzelnen erinnern ſollten; aber
ich glaube, es iſt Ihnen Niemand inniger ergeben, als
eben jenes junge Mitglied meiner Familie.“


„Mein Freund Sir John Hope von Pinkie hat
kürzlich die Ehre gehabt Sie zu ſehen, und ich hoffte
Ihnen zu ſchreiben, und nahm auch ſpäter mir wirklich
dieſe Freiheit durch zwei ſeiner Verwandten, die Deutſch¬
land zu bereiſen die Abſicht hatten; allein ſie wurden
durch Krankheit behindert ihr Vorhaben auszuführen,
ſo daß mir denn mein Brief nach zwei bis drei Mo¬
naten zurückkam. Ich habe alſo Goethe's Bekanntſchaft
ſchon früher zu ſuchen mich erdreiſtet, und zwar noch
[176]vor jener ſchmeichelhaften Notiz, die er ſo freundlich
geweſen iſt, von mir zu nehmen.“


„Es giebt allen Bewunderern des Genies ein
wohlthätiges Gefühl, zu wiſſen, daß eins der größten
Europäiſchen Vorbilder einer glücklichen und ehrenvollen
Zurückgezogenheit in einem Alter genießt, in welchem
er auf eine ſo ausgezeichnete Weiſe ſich geehrt ſieht.
Dem armen Lord Byron ward leider vom Schickſal
kein ſo günſtiges Loos zu Theil, indem es ihn in der
Blüthe ſeiner Jahre hinwegnahm, und ſo Vieles, was
noch von ihm gehofft und erwartet wurde, für immer
zerſchnitt. Er ſchätzte ſich glücklich in der Ehre, die
Sie ihm erzeigten, und fühlte, was er einem Dichter
ſchuldig war, dem alle Schriftſteller der lebenden Ge¬
neration ſo viel verdanken, daß ſie ſich verpflichtet
fühlen, mit kindlicher Verehrung zu ihm hinauf zu
blicken.“


„Ich habe mir die Freiheit genommen, die Herren
Treuttel und Würtz zu erſuchen, Ihnen meinen Ver¬
ſuch einer Lebensgeſchichte jenes merkwürdigen Mannes
zu ſenden, der ſo viele Jahre lang einen ſo fürchterli¬
chen Einfluß auf die Welt hatte, die er beherrſchte.
Ich weiß übrigens nicht, ob ich ihm nicht irgend einige
Verbindlichkeiten ſchuldig geworden, da er mich zwölf
Jahre lang unter die Waffen brachte, während welcher
Zeit ich in einem Corps unſerer Landmiliz diente und
trotz einer frühen Lahmheit ein guter Reiter, Jäger
[177] und Schütze wurde. Dieſe guten Fähigkeiten haben
jedoch in der letzten Zeit mich ein wenig verlaſſen,
indem der Rheumatismus, dieſe traurige Plage unſeres
nördlichen Klima's, ſeinen Einfluß auf meine Glieder
gelegt hat. Doch klage ich nicht, da ich meine Söhne
jetzt die Jagdvergnügungen treiben ſehe, ſeitdem ich ſie
habe aufgeben müſſen.“


„Mein älteſter Sohn hat eine Schwadron Huſaren,
welches für einen fünf und zwanzigjährigen jungen
Mann immer viel iſt. Mein jüngerer Sohn hat neu¬
lich zu Oxford den Grad eines Baccalaureus der
ſchönen Wiſſenſchaften erhalten und wird jetzt einige
Monate zu Hauſe zubringen, ehe er in die Welt geht.
Da es Gott gefallen hat, mir ihre Mutter zu neh¬
men, ſo führt meine jüngſte Tochter mein Hausweſen.
Meine älteſte iſt verheirathet und hat eine Familie für
ſich.“


„Dieß ſind die häuslichen Zuſtände eines Mannes,
nach dem Sie ſo gütig ſich erkundiget haben. Uebri¬
gens beſitze ich genug, um ganz ſo zu leben, wie ich
wünſche, ungeachtet einiger ſehr ſchwerer Verluſte. Ich
bewohne ein ſtattliches altes Schloß, in welchem jeder
Freund Goethe's zu jeder Zeit willkommen ſeyn wird.
Die Vorhalle iſt mit Rüſtungen angefüllt, die ſelbſt
für Jaxthauſen gepaßt haben würden; ein großer
Schweißhund bewacht den Eingang.“


„Ich habe übrigens Den vergeſſen, der dafür zu
III. 12[178] ſorgen wußte, daß man ihn nicht vergaß, während er
lebte. Ich hoffe, Sie werden die Fehler des Werkes
verzeihen, indem Sie berückſichtigen, daß der Autor
von dem Wunſch beſeelt war, gegen das Andenken
jenes außerordentlichen Mannes ſo aufrichtig zu ver¬
fahren, wie ſeine inſulariſchen Vorurtheile nur immer
erlauben wollten.“


„Da dieſe Gelegenheit, Ihnen zu ſchreiben, ſich mir
plötzlich und zufällig durch einen Reiſenden darbietet
und keinen Aufſchub erleidet, ſo fehlt mir die Zeit
etwas Weiteres zu ſagen, als daß ich Ihnen eine fort¬
geſetzte gute Geſundheit und Ruhe wünſche, und mich
mit der aufrichtigſten und tiefſten Hochachtung unter¬
zeichne.“


Edinburg, den 9. Juli 1827.


Walter Scott.


Goethe hatte, wie geſagt, über dieſen Brief große
Freude. Er war übrigens der Meinung, als enthalte
er zu viel Ehrenvolles für ihn, als daß er nicht ſehr
Vieles davon auf Rechnung der Höflichkeit eines Man¬
nes von Rang und hoher Weltbildung zu ſetzen habe.


Er erwähnte ſodann die gute und herzliche Art,
womit Walter Scott ſeine Familienverhältniſſe zur
Sprache bringe, welches ihn, als Zeichen eines brüder¬
lichen Vertrauens, im hohen Grade beglücke.


[179]

„Ich bin nun wirklich, fuhr er fort, auf ſein Le¬
ben Napoleon's
begierig, welches er mir ankündigt.
Ich höre ſo viel Widerſprechendes und Leidenſchaftliches
über das Buch, daß ich im Voraus gewiß bin: es
wird auf jeden Fall ſehr bedeutend ſeyn.“


Ich fragte nach Lockart, und ob er ſich ſeiner
noch erinnere.


„Noch ſehr wohl! erwiederte Goethe. Seine Per¬
ſönlichkeit macht einen entſchiedenen Eindruck, ſo daß
man ihn ſobald nicht wieder vergißt. Er ſoll, wie ich
von reiſenden Engländern und meiner Schwiegertochter
höre, ein junger Mann ſeyn, von dem man in der
Literatur gute Dinge erwartet.“


„Uebrigens wundere ich mich faſt, daß Walter Scott
kein Wort über Carlyle ſagt, der doch eine ſo ent¬
ſchiedene Richtung auf das Deutſche hat, daß er ihm
ſicher bekannt ſeyn muß.“


„An Carlyle iſt es bewundernswürdig, daß er bei
Beurtheilung unſerer deutſchen Schriftſteller beſonders
den geiſtigen und ſittlichen Kern, als das eigentlich
Wirkſame, im Auge hat. Carlyle iſt eine moraliſche
Macht von großer Bedeutung. Es iſt in ihm viel
Zukunft vorhanden, und es iſt gar nicht abzuſehen, was
er Alles leiſten und wirken wird.“

Goethe hatte mich auf dieſen Morgen zu einer Spa¬
12*[180] zierfahrt nach der Hottelſtedter Ecke, der weſtlichſten
Höhe des Ettersberges, und von da nach dem Jagd¬
ſchloß Ettersburg einladen laſſen. Der Tag war über¬
aus ſchön und wir fuhren zeitig zum Jacobsthore
hinaus. Hinter Lützendorf, wo es ſtark bergan geht
und wir nur Schritt fahren konnten, hatten wir zu
allerlei Beobachtungen Gelegenheit. Goethe bemerkte
rechts in den Hecken hinter dem Kammergut eine Menge
Vögel und fragte mich: ob es Lerchen wären? —
Du Großer und Lieber, dachte ich, der Du die ganze
Natur wie wenig Andere durchforſchet haſt, in der
Ornithologie ſcheinſt Du ein Kind zu ſeyn.


Es ſind Ammern und Sperlinge, erwiederte ich,
auch wohl einige verſpätete Grasmücken, die nach abge¬
warteter Mauſer aus dem Dickicht des Ettersberges
herab in die Gärten und Felder kommen und ſich zum
Fortzuge anſchicken; aber Lerchen ſind es nicht. Es iſt
nicht in der Natur der Lerche, ſich auf Büſche zu
ſetzen. Die Feld- oder Himmels-Lerche ſteigt in die
Luft aufwärts und geht wieder zur Erde herab, zieht
auch wohl im Herbſt ſchaarenweis durch die Luft hin
und wirft ſich wiederum auf irgend ein Stoppelfeld
nieder, aber ſie geht nicht auf Hecken und Gebüſche.
Die Baumlerche dagegen liebt den Gipfel hoher
Bäume, von wo aus ſie ſingend in die Luft ſteigt und
wieder auf ihren Baumgipfel herabfällt. Dann giebt
es noch eine andere Lerche, die man in einſamen
[181] Gegenden an der Mittagsſeite von Waldblößen antrifft
und die einen ſehr weichen, flötenartigen, doch etwas
melancholiſchen Geſang hat. Sie hält ſich nicht am
Ettersberge auf, der ihr zu lebhaft und zu nahe von
Menſchen umwohnt iſt; aber auch ſie geht nicht in
Gebüſche.


„Hm! ſagte Goethe, Sie ſcheinen in dieſen Dingen
nicht eben ein Neuling zu ſeyn.“


Ich habe das Fach von Jugend auf mit Liebe ge¬
trieben, erwiederte ich, und immer Augen und Ohren
dafür offen gehabt. Der ganze Wald des Ettersberges
hat wenige Stellen, die ich nicht zu wiederholten ma¬
len durchſtreift bin. Wenn ich jetzt einen einzigen Ton
höre, ſo getraue ich mir zu ſagen, von welchem Vogel
er kommt. Auch bin ich ſo weit, daß wenn man mir
irgend einen Vogel bringt, der in der Gefangenſchaft
durch verkehrte Behandlung das Gefieder verloren hat,
ich mir getraue, ihn ſehr bald vollkommen geſund und
wohl befiedert wieder herzuſtellen.


„Das zeigt allerdings, erwiederte Goethe, daß Sie
in dieſen Dingen bereits Vieles durchgemacht haben.
Ich möchte Ihnen rathen, das Studium ernſtlich fort
zu treiben; es muß bei Ihrer entſchiedenen Richtung
zu ſehr guten Reſultaten führen. Aber ſagen Sie mir
etwas über die Mauſer. Sie ſprachen vorhin von ver¬
ſpäteten Grasmücken, die nach vollendeter Mauſer aus
dem Dickicht des Ettersberges in die Felder herabge¬
[182] kommen. Iſt denn die Mauſer an eine gewiſſe Epoche
gebunden und mauſern ſich alle Vögel zugleich?“


Bei den meiſten Vögeln, erwiederte ich, tritt ſie
ſogleich nach vollendeter Brütezeit ein; das heißt, ſobald
die Jungen des letzten Geheckes ſo weit ſind, daß ſie
ſich ſelber helfen können. Nun fragt es ſich aber, ob
der Vogel von dieſem Zeitpunkte des fertigen letzten
Geheckes, bis zu dem ſeines Wegzugs, zur Mauſer
noch den gehörigen Raum hat. Hat er ihn, ſo mau¬
ſert er ſich hier und zieht mit friſchem Gefieder fort.
Hat er ihn nicht, ſo zieht er mit ſeinem alten Ge¬
fieder fort und mauſert ſich ſpäter im warmen Süden.
Denn die Vögel kommen im Frühling nicht zu gleicher
Zeit zu uns, auch ziehen ſie im Herbſt nicht zu gleicher
Zeit fort. Und dieſes rührt daher, daß die eine Art
ſich aus einiger Kälte und rauhem Wetter weniger
macht und ſie mehr ertragen kann, als eine andere.
Ein Vogel aber, der früh bei uns ankommt, zieht ſpät
weg, und ein Vogel, der ſpät bei uns ankommt, zieht
früh weg.


So iſt ſchon unter den Grasmücken, die doch zu
einem Geſchlecht gehören, ein großer Unterſchied.
Die klappernde Grasmücke, oder das Müllerchen, läßt
ſich ſchon Ende März bei uns hören; vierzehn Tage ſpä¬
ter kommt die ſchwarzköpfige, oder der Mönch; ſodann
etwa nach einer Woche die Nachtigall; und erſt ganz
zu Ende April, oder Anfangs May, die graue. Alle
[183] dieſe Vögel mauſern ſich im Auguſt bei uns, ſo auch
die Jungen ihres erſten Geheckes, weßhalb man denn
Ende Auguſt junge Mönche fängt, die ſchon das ſchwarze
Köpfchen haben. Die Jungen des letzten Geheckes aber
ziehen mit ihrem erſten Gefieder fort und mauſern ſich
ſpäter in ſüdlichen Ländern, aus welchem Grunde
man denn Anfangs September junge Mönche fangen
kann, und zwar junge Männchen, die noch das rothe
Köpfchen haben, wie ihre Mutter.


„Iſt denn die graue Grasmücke, fragte Goethe, der
ſpäteſte bei uns ankommende Vogel, oder kommen andere
noch ſpäter?“


Der ſogenannte gelbe Spottvogel und der prächtige
goldgelbe Pirol, erwiederte ich, kommen erſt gegen
Pfingſten. Beide ziehen nach vollendeter Brütezeit,
gegen die Mitte Auguſt, ſchon wieder fort, und mauſern
ſich mit ihren Jungen im Süden. Hat man ſie im
Käfig, ſo mauſern ſie ſich bei uns im Winter, weßhalb
denn dieſe Vögel ſehr ſchwer durchzubringen ſind. Sie
verlangen ſehr viele Wärme. Hängt man ſie aber in
die Nähe des Ofens, ſo verkümmern ſie aus Mangel
an fruchtbarer Luft; bringt man ſie dagegen in die
Nähe des Fenſters, ſo verkümmern ſie in der Kälte
der langen Nächte.


„Man hält dafür, ſagte Goethe, daß die Mauſer eine
Krankheit, oder wenigſtens von körperlicher Schwäche
begleitet ſey.“

[184]

Das möchte ich nicht ſagen, erwiederte ich. Es iſt
ein Zuſtand geſteigerter Productivität, der in freier
Luft herrlich von Statten geht, ohne die geringſte
Beſchwerde, ja bei einigermaßen kräftigen Individuen
auch vollkommen gut im Zimmer. Ich habe Gras¬
mücken gehabt, die während der ganzen Mauſer ihren
Geſang nicht ausſetzten, ein Zeichen, daß es ihnen
durchaus wohl war. Zeigt ſich aber ein Vogel im
Zimmer während der Mauſer kränklich, ſo iſt daraus
zu ſchließen, daß er mit dem Futter oder friſcher Luft
und Waſſer nicht gehörig behandelt worden. Iſt er
im Zimmer im Laufe der Zeit, aus Mangel an Luft
und Freiheit, ſo ſchwach geworden, daß ihm die pro¬
ductive Kraft fehlt um in die Mauſer zu kommen, ſo
bringe man ihn an die fruchtbare friſche Luft, und die
Mauſer wird ſogleich auf das Beſte von Statten gehen.
Bei einem Vogel in freier Wildniß dagegen verläuft
ſie ſich ſo ſanft und ſo allmälig, daß er es kaum ge¬
wahr wird.


„Aber doch ſchienen Sie vorhin anzudeuten, verſetzte
Goethe, daß die Grasmücken ſich während der Mauſer
in das Dickicht der Wälder ziehen.“


Sie bedürfen während dieſer Zeit, erwiederte ich,
allerdings einiges Schutzes. Zwar verfährt die Natur
auch in dieſem Falle mit ſolcher Weisheit und Mäßi¬
gung, daß ein Vogel während der Mauſer nie mit
einemmale ſo viele Federn verliert, daß er unfähig
[185] würde, ſo gut zu fliegen, als die Erreichung ſeines
Futters es verlangt. Allein es kann doch kommen,
daß er z. B. mit einemmale die vierte, fünfte und
ſechste Schwungfeder des linken und die vierte, fünfte
und ſechste Schwungfeder des rechten Flügels verliert,
wobei er zwar immer noch ganz gut fliegen kann,
allein nicht ſo gut, um dem verfolgenden Raubvogel,
beſonders aber dem ſehr ſchnellen und gewandten
Baumfalken, zu entgehen, und da kommt ihm denn ein
buſchiges Dickicht ſehr zu Statten.


„Das läßt ſich hören, erwiederte Goethe. Schreitet
aber die Mauſer, fuhr er fort, an beiden Flügeln
gleichmäßig und gewiſſermaßen ſymmetriſch vor?“


Soweit meine Beobachtungen reichen, allerdings,
erwiederte ich. Und das iſt ſehr wohlthätig. Denn
verlöre ein Vogel z. B. drei Schwungfedern des lin¬
ken Flügels und nicht zugleich dieſelben Federn des
rechten, ſo würde den Flügeln alles Gleichgewicht fehlen
und der Vogel würde ſich und ſeine Bewegung nicht
mehr in gehöriger Gewalt haben. Er würde ſeyn, wie
ein Schiff, dem an der einen Seite die Segel zu
ſchwer und an der andern zu leicht ſind.


„Ich ſehe, erwiederte Goethe, man mag in die
Natur eindringen, von welcher Seite man wolle, man
kommt immer auf einige Weisheit.“


Wir waren indeß immerfort mühſam bergan gefah¬
ren und waren nun nach und nach oben, am Rande
[186] der Fichten. Wir kamen an einer Stelle vorbei, wo
Steine gebrochen waren und ein Haufen lag. Goethe
ließ halten und bat mich, abzuſteigen und ein wenig
nachzuſehen ob ich nichts von Verſteinerungen ent¬
decke. Ich fand einige Muſcheln, auch einige zerbro¬
chene Ammonshörner, die ich ihm zureichte, indem ich
mich wieder einſetzte. Wir fuhren weiter.


„Immer die alte Geſchichte! ſagte Goethe. Immer
der alte Meeresboden! — Wenn man von dieſer Höhe
auf Weimar hinabblickt und auf die mancherlei Dörfer
umher, ſo kommt es Einem vor wie ein Wunder, wenn
man ſich ſagt, daß es eine Zeit gegeben, wo in dem
weiten Thale dort unten die Wallfiſche ihr Spiel ge¬
trieben. Und doch iſt es ſo, wenigſtens höchſt wahr¬
ſcheinlich. Die Möve aber, die damals über dem Meere
flog, das dieſen Berg bedeckte, hat ſicher nicht daran
gedacht, daß wir Beide heute hier fahren würden. Und
wer weiß, ob nach vielen Jahrtauſenden die Möve
nicht abermals über dieſem Berge fliegt.“


Wir waren jetzt oben auf der Höhe und fuhren
raſch weiter. Rechts an unſerer Seite hatten wir
Eichen und Buchen und anderes Laubholz. Weimar
war rückwärts nicht mehr zu ſehen. Wir waren auf
der weſtlichſten Höhe angelangt, das breite Thal der
Unſtrut, mit vielen Dörfern und kleinen Städten, lag
in der heiterſten Morgenſonne vor uns.


„Hier iſt gut ſeyn! ſagte Goethe, indem er halten
[187] ließ. Ich dächte, wir verſuchten, wie in dieſer guten
Luft uns etwa ein kleines Frühſtück behagen möchte!“


Wir ſtiegen aus und gingen auf trockenem Boden
am Fuße halbwüchſiger, von vielen Stürmen verkrüp¬
pelter Eichen einige Minuten auf und ab, während
Friedrich das mitgenommene Frühſtück auspackte und
auf einer Raſenerhöhung ausbreitete. Die Ausſicht
von dieſer Stelle, in der klaren Morgenbeleuchtung der
reinſten Herbſtſonne, war in der That herrlich. Nach
Süden und Südweſten hin überſah man die ganze
Reihe des Thüringerwald-Gebirges; nach Weſten, über
Erfurt hinaus, das hochliegende Schloß Gotha und
den Inſelsberg; weiter nördlich ſodann die Berge hinter
Langenſalza und Mühlhauſen, bis ſich die Ausſicht,
nach Norden zu, durch die blauen Harzgebirge ab¬
ſchloß. Ich dachte an die Verſe:


„Weit, hoch, herrlich der Blick

Rings ins Leben hinein!

Von Gebirg' zu Gebirg'

Schwebet der ewige Geiſt,

Ewigen Lebens ahndevoll.“

Wir ſetzten uns mit dem Rücken nach den Eichen
zu, ſo daß wir während dem Frühſtück die weite Aus¬
ſicht über das halbe Thüringen immer vor uns hatten.
Wir verzehrten indeß ein Paar gebratene Rebhühner
mit friſchem Weißbrod und tranken dazu eine Flaſche
ſehr guten Wein, und zwar aus einer biegſamen feinen
[188] goldenen Schale, die Goethe, in einem gelben Leder¬
futteral, bei ſolchen Ausflügen gewöhnlich bei ſich führt.


„Ich war ſehr oft an dieſer Stelle, ſagte er, und
dachte in ſpäteren Jahren ſehr oft, es würde das letzte¬
mal ſeyn, daß ich von hier aus die Reiche der Welt
und ihre Herrlichkeiten überblickte. Allein es hält immer
noch einmal zuſammen und ich hoffe, daß es auch
heute nicht das letztemal iſt, daß wir Beide uns
hier einen guten Tag machen. Wir wollen künftig
öfter hieher kommen. Man verſchrumpft in dem engen
Hausweſen. Hier fühlt man ſich groß und frei, wie
die große Natur, die man vor Augen hat, und wie man
eigentlich immer ſeyn ſollte.“


„Ich überſehe von hier aus, fuhr Goethe fort, eine
Menge Punkte, an die ſich die reichſten Erinnerungen
eines langen Lebens knüpfen. Was habe ich nicht
drüben in den Bergen von Ilmenau in meiner Jugend
Alles durchgemacht! Dann dort unten im lieben Er¬
furt, wie manches gute Abenteuer erlebt! Auch in
Gotha war ich in früheſter Zeit oft und gerne; doch
ſeit langen Jahren ſo gut wie gar nicht.“


Seit ich in Weimar bin, bemerkte ich, erinnere ich
mich nicht, daß Sie dort waren.


„Das hat ſo ſeine Bewandniß, erwiederte Goethe
lachend. Ich bin dort nicht zum Beſten angeſchrieben.
Ich will Ihnen davon eine Geſchichte erzählen. Als
die Mutter des jetzt regierenden Herrn noch in hübſcher
[189] Jugend war, befand ich mich dort ſehr oft. Ich ſaß
eines Abends bei ihr alleine am Theetiſch, als die
beiden zehn- bis zwölfjährigen Prinzen, zwei hübſche
blondlockige Knaben, hereinſprangen und zu uns an
den Tiſch kamen. Uebermüthig, wie ich ſeyn konnte,
fuhr ich den beiden Prinzen mit meinen Händen in die
Haare, mit den Worten: Nun, Ihr Semmelköpfe,
was macht Ihr? — Die Buben ſahen mich mit
großen Augen an, im höchſten Erſtaunen über meine
Kühnheit, — und haben es mir ſpäter nie vergeſſen!“


„Ich will nun juſt eben nicht damit prahlen; aber
es war ſo und lag tief in meiner Natur. Ich hatte
vor der bloßen Fürſtlichkeit, als ſolcher, wenn nicht
zugleich eine tüchtige Menſchennatur und ein tüchtiger
Menſchenwerth dahinter ſteckte, nie viel Reſpect. — Ja
es war mir ſelber ſo wohl in meiner Haut und ich
fühlte mich ſelber ſo vornehm, daß, wenn man mich
zum Fürſten gemacht hätte, ich es nicht eben ſonderlich
merkwürdig gefunden haben würde. Als man mir das
Adelsdiplom gab, glaubten Viele, wie ich mich dadurch
möchte erhoben fühlen. Allein, unter uns, es war mir
nichts, gar nichts! Wir Frankfurter Patricier hielten
uns immer dem Adel gleich, und als ich das Diplom
in Händen hielt, hatte ich in meinen Gedanken eben
nichts weiter, als was ich längſt beſeſſen.“


Wir thaten noch einen guten Trunk aus der golde¬
nen Schale und fuhren dann um die nördliche Seite
[190] des Ettersberges herum, nach dem Jagdſchloſſe Etters¬
burg. Goethe ließ ſämmtliche Zimmer aufſchließen, die
mit heiteren Tapeten und Bildern behängt waren. In
dem weſtlichen Eckzimmer des erſten Stockes ſagte er
mir, daß Schiller dort einige Zeit gewohnt. „Wir
haben überhaupt, fuhr er fort, in früheſter Zeit hier
manchen guten Tag gehabt und manchen guten Tag
verthan. Wir waren Alle jung und voll Uebermuth
und es fehlte uns im Sommer nicht an allerlei impro¬
viſirtem Comödienſpiel und im Winter nicht an allerlei
Tanz und Schlittenfahrten mit Fackeln.“


Wir gingen wieder ins Freie und Goethe führte
mich in weſtlicher Richtung einen Fußweg ins Holz.


„Ich will Ihnen doch auch die Buche zeigen, ſagte
er, worin wir vor funfzig Jahren unſere Namen ge¬
ſchnitten. — Aber wie hat ſich das verändert und wie
iſt das Alles herangewachſen! — Das wäre denn der
Baum! — Sie ſehen, er iſt noch in der vollſten
Pracht! — Auch unſere Namen ſind noch zu ſpüren;
doch ſo verquollen und verwachſen, daß ſie kaum noch
herauszubringen. Damals ſtand dieſe Buche auf einem
freien trockenen Platz. Es war durchaus ſonnig und
anmuthig umher und wir ſpielten hier an ſchönen Som¬
mertagen unſere improviſirten Poſſen. Jetzt iſt es hier
feucht und unfreundlich. Was ſonſt nur niederes Ge¬
büſch war, iſt indeß zu ſchattigen Bäumen herange¬
[191] wachſen, ſo daß man die prächtige Buche unſerer Jugend
kaum noch aus dem Dickicht herausfindet.“


Wir gingen wieder nach dem Schloſſe, und nachdem
wir noch die ziemlich reiche Waffenſammlung beſehen,
fuhren wir nach Weimar zurück.

Nachmittags einen Augenblick bei Goethe, wo ich
Herrn Geheimerath Streckfuß aus Berlin kennen
lernte, der dieſen Vormittag mit ihm eine Spazierfahrt
gemacht und dann zu Tiſch geblieben war. Als Streck¬
fuß ging, begleitete ich ihn und machte noch einen Gang
durch den Park. Bei meiner Zurückkunft über den
Markt begegnete ich dem Canzler und Raupach, mit
denen ich in den Elephanten ging. Abends wieder bei
Goethe, der mit mir ein neues Heft von Kunſt und
Alterthum beſprach, desgleichen zwölf Blätter Bleiſtift¬
umriſſe, in welchen die Gebrüder Riepenhauſen die
Gemälde Polygnots in der Leſche zu Delphi, nach
einer Beſchreibung des Pauſanias, wieder herzuſtellen
verſucht; ein Unternehmen, welches Goethe nicht genug
anzuerkennen wußte.

Im Theater das Bild von Houwald. Ich ſah
zwei Acte und ging dann zu Goethe, der mir die zweite
Scene ſeines neuen Fauſt vorlas.


[192]

„Ich habe in dem Kaiſer, ſagte er, einen Fürſten
darzuſtellen geſucht, der alle möglichen Eigenſchaften
hat, ſein Land zu verlieren, welches ihm denn auch ſpä¬
ter wirklich gelingt.“


„Das Wohl des Reichs und ſeiner Unterthanen
macht ihm keine Sorge; er denkt nur an ſich und wie
er ſich von Tag zu Tag mit etwas Neuem amüſire.
Das Land iſt ohne Recht und Gerechtigkeit, der Rich¬
ter ſelber mitſchuldig und auf der Seite der Verbrecher,
die unerhörteſten Frevel geſchehen ungehindert und un¬
geſtraft. Das Heer iſt ohne Sold, ohne Disciplin,
und ſtreift raubend umher, um ſich ſeinen Sold ſelber
zu verſchaffen und ſich ſelber zu helfen, wie es kann.
Die Staatskaſſe iſt ohne Geld und ohne Hoffnung
weiterer Zuflüſſe. Im eigenen Haushalte des Kaiſers
ſieht es nicht beſſer aus: es fehlt in Küche und Keller.
Der Marſchall, der von Tag zu Tage nicht mehr Rath
zu ſchaffen weiß, iſt bereits in den Händen wuchernder
Juden, denen Alles verpfändet iſt, ſo daß auf den
Kaiſerlichen Tiſch vorweggegeſſenes Brod kommt.“


„Der Staatsrath will Sr. Majeſtät über alle dieſe
Gebrechen Vorſtellungen thun und ihre Abhülfe bera¬
then; allein der gnädigſte Herr iſt ſehr ungeneigt,
ſolchen unangenehmen Dingen ſein hohes Ohr zu lei¬
hen; er möchte ſich lieber amüſiren. Hier iſt nun das
wahre Element für Mephiſto, der den bisherigen Nar¬
[193] ren ſchnell beſeitigt und als neuer Narr und Rathgeber
ſogleich an der Seite des Kaiſers iſt.“


Goethe las die Scene und das Zwiſchen-Gemurmel
der Menge ganz vortrefflich und ich hatte einen ſehr
guten Abend.

Dieſen Morgen, bei ſehr ſchönem Wetter, befand
ich mich mit Goethe bereits vor acht Uhr im Wagen
und auf dem Wege nach Jena, wo er bis morgen
Abend zu verweilen die Abſicht hatte.


Dort zeitig angekommen, fuhren wir zunächſt am
botaniſchen Garten vor, wo Goethe alle Sträuche und
Gewächſe in Augenſchein nahm und Alles in ſchönſter
Ordnung und im beſten Gedeihen fand. Wir beſahen
ferner das mineralogiſche Cabinet und einige andere
naturwiſſenſchaftliche Sammlungen und fuhren darauf
zu Herrn v. Knebel, der uns zu Tiſch erwartete.


Knebel, im höchſten Alter, eilte Goethen halb ſtol¬
pernd an der Thür entgegen, um ihn in ſeine Arme zu
ſchließen. Darauf bei Tiſch ging Alles ſehr herzlich
und munter zu; von Geſprächen jedoch entwickelte ſich
nichts von einiger Bedeutung. Die beiden alten Freunde
hatten genug am beiderſeitigen menſchlich nahen Bei¬
ſammenſeyn.


Nach Tiſch machten wir eine Spazierfahrt in ſüd¬
lll. 13[194] licher Richtung an der Saale hinauf. Ich kannte dieſe
reizende Gegend bereits aus früherer Zeit; doch wirkte
Alles wieder ſo friſch, als hätte ich es vorher nie
geſehen.


Als wir uns wieder in den Straßen von Jena
befanden, ließ Goethe an einem Bach hinauf fahren
und an einem Hauſe halten, das äußerlich eben kein
bedeutendes Anſehen hatte.


„Hier hat Voß gewohnt, ſagte er, und ich will Sie
doch auch auf dieſem claſſiſchen Boden einführen.“ Wir
durchſchritten das Haus und traten in den Garten.
Von Blumen und anderer Art feiner Cultur war
wenig zu ſpüren, wir gingen auf Raſen unter lauter
Obſtbäumen. „Das war etwas für Erneſtinen, ſagte
Goethe, die auch hier ihre trefflichen Eutiner Aepfel
nicht vergeſſen konnte und die ſie mir rühmte als Et¬
was ohne Gleichen. Es waren aber die Aepfel ihrer
Kindheit geweſen,— darin lag's! Ich habe übrigens hier
mit Voß und ſeiner trefflichen Erneſtine manchen
ſchönen Tag gehabt und gedenke der alten Zeit ſehr
gerne. Ein Mann wie Voß wird übrigens ſobald nicht
wiederkommen. Es haben wenig Andere auf die höhere
deutſche Cultur einen ſolchen Einfluß gehabt als er.
Es war an ihm Alles geſund und derb, weßhalb er
auch zu den Griechen kein künſtliches, ſondern ein rein
natürliches Verhältniß hatte, woraus denn für uns
Anderen die herrlichſten Früchte erwachſen ſind. Wer
[195] von ſeinem Werthe durchdrungen iſt, wie ich, weiß gar
nicht, wie er ſein Andenken würdig genug ehren ſoll.“


Es war indeß gegen ſechs Uhr geworden und
Goethe fand es an der Zeit, in unſer Nachtquartier
zu gehen, das er im Gaſthof „Zum Bären“ hatte be¬
ſtellen laſſen.


Man gab uns ein geräumiges Zimmer nebſt einem
Alkoven mit zwei Betten. Die Sonne war noch nicht
lange hinab, der Abendſchein lag auf unſern Fenſtern,
und es war uns gemüthlich, noch eine Zeitlang ohne
Licht zu ſitzen.


Goethe lenkte das Geſpräch auf Voß zurück. „Er
war mir ſehr werth, ſagte er, und ich hätte ihn gerne
der Academie und mir erhalten. Allein die Vortheile,
die man ihm von Heidelberg her anbot, waren zu be¬
deutend, als daß wir, bei unſern geringen Mitteln,
ſie hätten aufwiegen können. Ich mußte ihn mit
ſchmerzlicher Reſignation ziehen laſſen.“


„Ein Glück für mich war es indeß, fuhr Goethe
fort, daß ich Schillern hatte. Denn ſo verſchieden
unſere beiderſeitigen Naturen auch waren, ſo gingen
doch unſere Richtungen auf Eins, welches denn unſer
Verhältniß ſo innig machte, daß im Grunde Keiner
ohne den Andern leben konnte.“


Goethe erzählte mir darauf von ſeinem Freunde
einige Anekdoten, die mir ſehr charakteriſtiſch erſchienen.


„Schiller war, wie ſich bei ſeinem großartigen
13*[196] Charakter denken läßt, ſagte er, ein entſchiedener
Feind aller hohlen Ehrenbezeigungen und aller faden
Vergötterung, die man mit ihm trieb oder treiben
wollte. Als Kotzebue vorhatte, eine öffentliche Demon¬
ſtration zu ſeinem Ruhme zu veranſtalten, war es ihm
ſo zuwider, daß er vor innerem Ekel darüber faſt
krank wurde. Ebenſo war es ihm zuwider, wenn ein
Fremder ſich bei ihm melden ließ. Wenn er augen¬
blicklich behindert war, ihn zu ſehen, und er ihn etwa
auf den Nachmittag vier Uhr beſtellte, ſo war in der
Regel anzunehmen, daß er um die beſtimmte Stunde
vor lauter Apprehenſion krank war. Auch konnte er
in ſolchen Fällen gelegentlich ſehr ungeduldig und auch
wohl grob werden. Ich war Zeuge, wie er einſt einen
fremden Chirurgus, der, um ihm ſeinen Beſuch zu
machen, bei ihm unangemeldet eintrat, ſehr heftig an¬
fuhr, ſo daß der arme Menſch, ganz verblüfft, nicht
wußte, wie ſchnell er ſich ſollte zurückziehen.“


„Wir waren, wie geſagt und wie wir Alle wiſſen,
fuhr Goethe fort, bei aller Gleichheit unſerer Richtun¬
gen, Naturen ſehr verſchiedener Art, und zwar nicht
bloß in geiſtigen Dingen, ſondern auch in phyſiſchen.
Eine Luft, die Schillern wohlthätig war, wirkte auf
mich wie Gift. Ich beſuchte ihn eines Tages, und da
ich ihn nicht zu Hauſe fand und ſeine Frau mir ſagte,
daß er bald zurückkommen würde, ſo ſetzte ich mich an
ſeinen Arbeitstiſch, um mir Dieſes und Jenes zu
[197] notiren. Ich hatte aber nicht lange geſeſſen, als ich
von einem heimlichen Uebelbefinden mich überſchlichen
fühlte, welches ſich nach und nach ſteigerte, ſo daß ich
endlich einer Ohnmacht nahe war. Ich wußte anfäng¬
lich nicht, welcher Urſache ich dieſen elenden, mir ganz
ungewöhnlichen Zuſtand zuſchreiben ſollte, bis ich end¬
lich bemerkte, daß aus einer Schieblade neben mir ein
ſehr fataler Geruch ſtrömte. Als ich ſie öffnete, fand
ich zu meinem Erſtaunen, daß ſie voll fauler Aepfel
war. Ich trat ſogleich an ein Fenſter und ſchöpfte
friſche Luft, worauf ich mich denn augenblicklich wieder
hergeſtellt fühlte. Indeß war ſeine Frau wieder herein¬
getreten, die mir ſagte, daß die Schieblade immer mit
faulen Aepfeln gefüllt ſeyn müſſe, indem dieſer Geruch
Schillern wohlthue und er ohne ihn nicht leben und
arbeiten könne.“


„Morgen früh, fuhr Goethe fort, will ich Ihnen
auch zeigen, wo Schiller hier in Jena gewohnt hat.“


Es war indeß Licht gebracht, wir nahmen ein klei¬
nes Abendeſſen und ſaßen nachher noch eine Weile in
allerlei Erinnerungen und Geſprächen.


Ich erzählte Goethen einen merkwürdigen Traum
aus meinen Knabenjahren, der am anderen Morgen
buchſtäblich in Erfüllung ging.


Ich hatte, ſagte ich, mir drei junge Hänflinge er¬
zogen, woran ich mit ganzer Seele hing und die ich
über Alles liebte. Sie flogen frei in meiner Kammer
[198] umher und flogen mir entgegen und auf meine Hand,
ſowie ich in die Thür hereintrat. Ich hatte eines
Mittags das Unglück, daß bei meinem Hereintre¬
ten in die Kammer einer dieſer Vögel über mich
hinweg und zum Hauſe hinausflog, ich wußte nicht
wohin. Ich ſuchte ihn den ganzen Nachmittag auf
allen Dächern, und war untröſtlich, als es Abend
ward und ich von ihm keine Spur gefunden hatte.
Mit betrübten herzlichen Gedanken an ihn ſchlief ich
ein, und hatte gegen Morgen folgenden Traum. Ich
ſah mich nämlich, wie ich an unſern Nachbarhäuſern
umherging und meinen verlorenen Vogel ſuchte. Auf
einmal höre ich den Ton ſeiner Stimme und ſehe ihn
hinter dem Gärtchen unſerer Hütte auf dem Dache
eines Nachbarhauſes ſitzen; ich ſehe, wie ich ihn locke,
und wie er näher zu mir herabkommt, wie er futter¬
begierig die Flügel gegen mich bewegt, aber doch ſich
nicht entſchließen kann, auf meine Hand herabzufliegen.
Ich ſehe darauf, wie ich ſchnell durch unſer Gärtchen
in meine Kammer laufe und die Taſſe mit gequollenem
Rübſamen herbeihole; ich ſehe, wie ich ihm ſein belieb¬
tes Futter entgegenreiche, wie er herab auf meine Hand
kommt und ich ihn voller Freude zu den beiden andern
zurück in meine Kammer trage.


Mit dieſem Traum wache ich auf. Und da es be¬
reits vollkommen Tag war, ſo werfe ich mich ſchnell in
meine Kleider und habe nichts Eiligeres zu thun, als
[199] durch unſer Gärtchen zu laufen, nach dem Hauſe hin,
wo ich den Vogel geſehen. Wie groß war aber mein
Erſtaunen, als der Vogel wirklich da war! Es geſchah
nun buchſtäblich Alles, wie ich es im Traume geſehen.
Ich locke ihn, er kommt näher; aber er zögert, auf
meine Hand zu fliegen. Ich laufe zurück und hole das
Futter, und er fliegt auf meine Hand und ich bringe
ihn wieder zu den andern.


„Dieſes Ihr Knabenereigniß, ſagte Goethe, iſt aller¬
dings höchſt merkwürdig. Aber dergleichen liegt ſehr
wohl in der Natur, wenn wir auch dazu noch nicht den
rechten Schlüſſel haben. Wir wandeln Alle in Geheim¬
niſſen. Wir ſind von einer Atmosphäre umgeben, von
der wir noch gar nicht wiſſen, was ſich Alles in ihr
regt und wie es mit unſerm Geiſte in Verbindung
ſteht. So viel iſt wohl gewiß, daß in beſondern Zu¬
ſtänden die Fühlfäden unſerer Seele über ihre körper¬
lichen Grenzen hinausreichen können, und ihr ein Vor¬
gefühl, ja auch ein wirklicher Blick in die nächſte Zu¬
kunft geſtattet iſt.“


Etwas Aehnliches, erwiederte ich, habe ich erſt neu¬
lich erlebt, wo ich von einem Spaziergange auf der
Erfurter Chauſſee zurückkam, und ich etwa zehn Minu¬
ten vor Weimar den geiſtigen Eindruck hatte, wie an
der Ecke des Theaters mir eine Perſon begegnete, die
ich ſeit Jahr und Tag nicht geſehen, und an die
ich ſehr lange ebenſowenig gedacht. Es beunruhigte
[200] mich, zu denken, daß ſie mir begegnen könnte, und
mein Erſtaunen war daher nicht gering, als ſie mir,
ſowie ich um die Ecke biegen wollte, wirklich an der¬
ſelbigen Stelle ſo entgegen trat, wie ich es vor etwa
zehn Minuten im Geiſte geſehen hatte.


„Das iſt gleichfalls ſehr merkwürdig und mehr als
Zufall, erwiederte Goethe. Wie geſagt, wir tappen
Alle in Geheimniſſen und Wundern. Auch kann eine
Seele auf die andere durch bloße ſtille Gegenwart ent¬
ſchieden einwirken, wovon ich mehrere Beiſpiele erzäh¬
len könnte. Es iſt mir ſehr oft paſſirt, daß wenn ich
mit einem guten Bekannten ging und lebhaft an etwas
dachte, dieſer über das, was ich im Sinne hatte, ſo¬
gleich an zu reden fing. So habe ich einen Mann
gekannt, der, ohne ein Wort zu ſagen, durch bloße
Geiſtesgewalt eine in heitern Geſprächen begriffene Ge¬
ſellſchaft plötzlich ſtille zu machen im Stande war.
Ja er konnte auch eine Verſtimmung hineinbringen, ſo
daß es Allen unheimlich wurde.“


„Wir haben Alle etwas von elektriſchen und mag¬
netiſchen Kräften in uns, und üben, wie der Magnet
ſelber, eine anziehende und abſtoßende Gewalt aus, je
nachdem wir mit etwas Gleichem oder Ungleichem in
Berührung kommen. Es iſt möglich, ja ſogar wahr¬
ſcheinlich, daß wenn ein junges Mädchen in einem
dunkeln Zimmer ſich, ohne es zu wiſſen, mit einem
Manne befände, der die Abſicht hätte, ſie zu ermor¬
[201] den, ſie von ſeiner ihr unbewußten Gegenwart ein
unheimliches Gefühl hätte, und daß eine Angſt über
ſie käme, die ſie zum Zimmer hinaus und zu ihren
Hausgenoſſen triebe.“


Ich kenne eine Opern-Scene, entgegnete ich, worin
zwei Liebende, die lange Zeit durch große Entfernung
getrennt waren, ſich, ohne es zu wiſſen, in einem
dunkeln Zimmer zuſammen befinden. Sie ſind aber
nicht lange beiſammen, ſo fängt die magnetiſche Kraft
an, zu wirken, Eins ahnet des Anderen Nähe, ſie wer¬
den unwillkürlich zu einander hingezogen und es dauert
nicht lange, ſo liegt das junge Mädchen in den Armen
des Jünglings.


„Unter Liebenden, verſetzte Goethe, iſt dieſe magne¬
tiſche Kraft beſonders ſtark und wirkt ſogar ſehr in die
Ferne. Ich habe in meinen Jünglingsjahren Fälle
genug erlebt, wo auf einſamen Spaziergängen ein mäch¬
tiges Verlangen nach einem geliebten Mädchen mich
überfiel, und ich ſo lange an ſie dachte, bis ſie mir
wirklich entgegenkam. Es wurde mir in meinem Stüb¬
chen unruhig, ſagte ſie, ich konnte mir nicht helfen, ich
mußte hierher.“


„So erinnere ich mich eines Falles aus den erſten
Jahren meines Hierſeyns, wo ich ſehr bald wieder in
leidenſchaftliche Zuſtände gerathen war. Ich hatte eine
größere Reiſe gemacht und war ſchon ſeit einigen Tagen
zurückgekehrt, aber durch Hofverhältniſſe, die mich ſpät
[202] bis in die Nacht hielten, immer behindert geweſen, die
Geliebte zu beſuchen. Auch hatte unſere Neigung be¬
reits die Aufmerkſamkeit der Leute auf ſich gezogen
und ich trug daher Scheu, am offenen Tage hinzugehen,
um das Gerede nicht zu vergrößern. Am vierten oder
fünften Abend aber konnte ich es nicht länger aushal¬
ten, und ich war auf dem Wege zu ihr und ſtand vor
ihrem Hauſe, ehe ich es dachte. Ich ging leiſe die
Treppe hinauf und war im Begriff, in ihr Zimmer zu
treten, als ich an verſchiedenen Stimmen hörte, daß
ſie nicht allein war. Ich ging unbemerkt wieder hinab
und war ſchnell wieder in den dunkeln Straßen, die
damals noch keine Beleuchtung hatten. Unmuthig und
leidenſchaftlich durchſtreifte ich die Stadt in allen Rich¬
tungen wohl eine Stunde lang und immer einmal wie¬
der vor ihrem Hauſe vorbei, voll ſehnſüchtiger Gedan¬
ken an die Geliebte. Ich war endlich auf dem Punkte,
wieder in mein einſames Zimmer zurückzukehren, als
ich noch einmal an ihrem Hauſe vorbeiging und be¬
merkte, daß ſie kein Licht mehr hatte. Sie wird aus¬
gegangen ſeyn! ſagte ich zu mir ſelber; aber wohin in
dieſer Dunkelheit der Nacht? und wo ſoll ich ihr be¬
gegnen? Ich ging abermals durch mehrere Straßen,
es begegneten mir viele Menſchen, und ich war oft ge¬
täuſcht, indem ich ihre Geſtalt und ihre Größe zu ſehen
glaubte, aber bei näherem Hinzukommen immer fand,
daß ſie es nicht war. Ich glaubte ſchon damals feſt
[203] an eine gegenſeitige Einwirkung, und daß ich durch
ein mächtiges Verlangen ſie herbeiziehen könne. Auch
glaubte ich mich unſichtbar von höheren Weſen umge¬
ben, die ich anflehte, ihre Schritte zu mir, oder die
meinigen zu ihr zu lenken. Aber was biſt du für ein
Thor! ſagte ich dann wieder zu mir ſelber. Noch ein¬
mal es verſuchen und noch einmal zu ihr gehen, wollteſt
du nicht, und jetzt verlangſt du Zeichen und Wunder!“


„Indeſſen war ich an der Esplanade hinunter ge¬
gangen und bis an das kleine Haus gekommen, das
in ſpätern Jahren Schiller bewohnte, als es mich an¬
wandelte, umzukehren und zurück nach dem Palais und
von dort eine kleine Straße rechts zu gehen. Ich hatte
kaum hundert Schritte in dieſer Richtung gethan, als
ich eine weibliche Geſtalt mir entgegen kommen ſah,
die der erſehnten vollkommen gleich war. Die Straße
war nur von dem ſchwachen Licht ein wenig dämmerig,
das hin und wieder durch ein Fenſter drang, und da
mich dieſen Abend eine ſcheinbare Aehnlichkeit ſchon oft
getäuſcht hatte, ſo fühlte ich nicht den Muth, ſie auf's
Ungewiſſe anzureden. Wir gingen dicht aneinander
vorbei, ſo daß unſere Arme ſich berührten; ich ſtand
ſtill und blickte mich um, ſie auch. „Sind Sie
es?“ ſagte ſie. Und ich erkannte ihre liebe Stimme.
„Endlich!“ ſagte ich, und war beglückt bis zu Thränen.
Unſere Hände ergriffen ſich. „Nun!“ ſagte ich, meine
Hoffnung hat mich nicht betrogen. Mit dem größten
[204] Verlangen habe ich Sie geſucht, mein Gefühl ſagte
mir, daß ich Sie ſicher finden würde, und nun bin ich
glücklich und danke Gott, daß es wahr geworden.“
„Aber, Sie Böſer! ſagte ſie, warum ſind Sie nicht ge¬
kommen? Ich erfuhr heute zufällig, daß Sie ſchon
ſeit drei Tagen zurück, und habe den ganzen Nachmit¬
tag geweint, weil ich dachte, Sie hätten mich vergeſſen.
Dann vor einer Stunde ergriff mich ein Verlangen
und eine Unruhe nach Ihnen, ich kann es nicht ſagen.
Es waren ein paar Freundinnen bei mir, deren Beſuch
mir eine Ewigkeit dauerte. Endlich, als ſie fort waren,
griff ich unwillkürlich nach meinem Hut und Mäntelchen,
es trieb mich, in die Luft zu gehen, in die Dunkelheit
hinaus, ich wußte nicht wohin. Dabei lagen Sie mir
immer im Sinn, und es war mir nicht anders, als
müßten Sie mir begegnen.“ Indem ſie ſo aus treuem
Herzen ſprach, hielten wir unſere Hände noch immer
gefaßt und drückten uns und gaben uns zu verſtehen,
daß die Abweſenheit unſere Liebe nicht erkaltet. Ich
begleitete ſie bis vor die Thür, bis in ihr Haus. Sie
ging auf der finſtern Treppe mir voran, wobei ſie
meine Hand hielt und mich ihr gewiſſermaßen nachzog.
Mein Glück war unbeſchreiblich, ſowohl über das end¬
liche Wiederſehen, als auch darüber, daß mein Glaube
mich nicht betrogen und mein Gefühl von einer unſicht¬
baren Einwirkung mich nicht getäuſcht hatte.“


Goethe war in der liebevollſten Stimmung, ich hätte
[205] ihm noch Stunden lang zuhören mögen. Allein er
ſchien nach und nach müde zu werden, und ſo gingen
wir denn in unſerm Alkoven ſehr bald zu Bette.

Wir ſtanden frühzeitig auf. Während dem Anklei¬
den erzählte Goethe mir einen Traum der vorigen
Nacht, wo er ſich nach Göttingen verſetzt geſehen und
mit dortigen Profeſſoren ſeiner Bekanntſchaft allerlei
gute Unterhaltung gehabt.


Wir tranken einige Taſſen Kaffee und fuhren ſodann
an dem Gebäude vor, welches die naturwiſſenſchaftlichen
Sammlungen enthält. Wir beſahen das anatomiſche
Cabinet, allerlei Skelette von Thieren und Urthieren,
auch Skelette von Menſchen früherer Jahrhunderte, bei
welchen Goethe die Bemerkung machte, daß ihre Zähne
eine ſehr moraliſche Race andeuteten.


Er ließ darauf nach der Sternwarte fahren, wo
Herr Doctor Schrön uns die bedeutendſten Inſtrumente
vorzeigte und erklärte. Auch das anſtoßende meteoro¬
logiſche Cabinet ward mit beſonderem Intereſſe betrach¬
tet, und Goethe lobte Herrn Doctor Schrön wegen der
in allen dieſen Dingen herrſchenden großen Ordnung.


Wir gingen ſodann in den Garten hinab, wo
Goethe auf einem Steintiſch in einer Laube ein kleines
Frühſtück hatte arrangiren laſſen. „Sie wiſſen wohl
kaum, ſagte er, an welcher merkwürdigen Stelle
[206] wir uns eigentlich befinden. Hier hat Schiller gewohnt.
In dieſer Laube, auf dieſen jetzt faſt zuſammengebro¬
chenen Bänken haben wir oft an dieſem alten Stein¬
tiſch geſeſſen und manches gute und große Wort mit¬
einander gewechſelt. Er war damals noch in den drei¬
ßigen, ich ſelber noch in den vierzigen, Beide noch in
vollſtem Aufſtreben, und es war etwas. Das geht
Alles hin und vorüber; ich bin auch nicht mehr, der
ich geweſen, aber die alte Erde hält Stich, und Luft
und Waſſer und Boden ſind noch immer dieſelbigen.“


„Gehen Sie doch nachher einmal mit Schrön hin¬
auf und laſſen ſich von ihm in der Manſarde die Zim¬
mer zeigen, die Schiller bewohnt hat.“


Wir ließen uns indeß in dieſer anmuthigen Luft
und an dieſem guten Orte das Frühſtück ſehr wohl
ſchmecken. Schiller war dabei wenigſtens in unſerem
Geiſte gegenwärtig und Goethe widmete ihm noch man¬
ches gute Wort eines liebevollen Andenkens.


Ich ging darauf mit Schrön in die Manſarde und
genoß aus Schiller's Fenſtern die herrlichſte Ausſicht.
Die Richtung war ganz nach Süden, ſo daß man
Stunden weit den ſchönen Strom, durch Gebüſch und
Krümmungen unterbrochen, heranfließen ſah. Auch
hatte man einen weiten Horizont. Der Aufgang und
Untergang der Planeten war von hieraus herrlich zu
beobachten, und man mußte ſich ſagen, daß dieß Local
[207] durchaus günſtig ſey, um das Aſtronomiſche und Aſtro¬
logiſche im Wallenſtein zu dichten.


Ich ging wieder zu Goethe hinab, der zu Herrn Hof¬
rath Döbereiner fahren ließ, den er ſehr hoch ſchätzt
und der ihm einige neue chemiſche Experimente zeigte.


Es war indeß Mittag geworden. Wir ſaßen wie¬
der im Wagen. „Ich dächte, ſagte Goethe, wir führen
nicht zu Tiſch nach dem Bären, ſondern genöſſen den
herrlichen Tag im Freien. Ich dächte, wir gingen nach
Burgau. Wein haben wir bei uns und dort finden
wir auf jeden Fall einen guten Fiſch, den man ent¬
weder ſieden oder braten mag.“


Wir thaten ſo und es war gar herrlich. Wir fuh¬
ren an den Ufern der Saale hinauf, an Gebüſchen und
Krümmungen vorbei, den anmuthigſten Weg, wie ich
ihn vorhin aus Schiller's Manſarde geſehen. Wir
waren ſehr bald in Burgau. Wir ſtiegen in dem klei¬
nen Gaſthofe ab, nahe am Fluß und an der Brücke,
wo es hinüber nach Lobeda geht, welches Städtchen
wir, über Wieſen hin, nahe vor Augen hatten.


In dem kleinen Gaſthofe war es ſo wie Goethe
geſagt. Die Wirthin entſchuldigte, daß ſie auf nichts
eingerichtet ſey, daß es uns aber an einer Suppe und
einem guten Fiſch nicht fehlen ſolle.


Wir promenirten indeß im Sonnenſchein auf der
Brücke hin und her und freuten uns des Fluſſes, der
durch Flößer belebt war, die auf zuſammengebundenen
[208] fichtenen Bohlen von Zeit zu Zeit unter der Brücke
hinglitten und bei ihrem mühſamen naſſen Geſchäft
überaus heiter und laut waren.


Wir aßen unſern Fiſch im Freien und blieben ſo¬
dann noch bei einer Flaſche Wein ſitzen und hatten
allerlei gute Unterhaltung.


Ein kleiner Falke flog vorbei, der in ſeinem Flug
und ſeiner Geſtalt große Aehnlichkeit mit dem Kuckuck
hatte.


„Es gab eine Zeit, ſagte Goethe, wo das Studium
der Naturgeſchichte noch ſo weit zurück war, daß man
die Meinung allgemein verbreitet fand, der Kuckuck ſey
nur im Sommer ein Kuckuck, im Winter aber ein
Raubvogel.“


Dieſe Anſicht, erwiederte ich, exiſtirt im Volke auch
jetzt noch. Ja man dichtet dem guten Vogel auch an,
daß, ſobald er völlig ausgewachſen ſey, er ſeine eigenen
Eltern verſchlucke. Und ſo gebraucht man ihn denn
als ein Gleichniß des ſchändlichſten Undanks. Ich
kenne noch im gegenwärtigen Augenblick Leute, die ſich
dieſe Abſurditäten durchaus nicht wollen ausreden laſ¬
ſen, und die daran ſo feſt hängen, wie an irgend einem
Artikel ihres chriſtlichen Glaubens.


„Soviel ich weiß, ſagte Goethe, claſſificirt man den
Kuckuck zu den Spechten.“


Man thut ſo mitunter, erwiederte ich, wahrſcheinlich
aus dem Grunde, weil zwei Zehen ſeiner ſchwachen
[209] Füße eine Richtung nach hinten haben. Ich möchte
ihn aber nicht dahin ſtellen. Er hat für die Lebens¬
art der Spechte ſo wenig den ſtarken Schnabel, der
fähig wäre irgend eine abgeſtorbene Baumrinde zu
brechen, als die ſcharfen, ſehr ſtarken Schwanzfedern,
die geeignet wären ihn bei einer ſolchen Operation zu
ſtützen. Auch fehlen ſeinen Zehen die zum Anhalten
nöthigen ſcharfen Krallen, und ich halte daher ſeine
kleinen Füße nicht für wirkliche Kletterfüße, ſondern
nur für ſcheinbare.


„Die Herren Ornithologen, verſetzte Goethe, ſind
wahrſcheinlich froh, wenn ſie irgend einen eigenthüm¬
lichen Vogel nur einigermaßen ſchicklich untergebracht
haben; wogegen aber die Natur ihr freies Spiel treibt
und ſich um die von beſchränkten Menſchen gemachten
Fächer wenig kümmert.“


So wird die Nachtigall, fuhr ich fort, zu den
Grasmücken gezählt, während ſie in der Energie ihres
Naturells, ihren Bewegungen und ihrer Lebensweiſe
weit mehr Aehnlichkeit mit den Droſſeln hat. Aber auch
zu den Droſſeln möchte ich ſie nicht zählen. Sie iſt
ein Vogel, der zwiſchen Beiden ſteht, ein Vogel für
ſich, ſo wie auch der Kuckuck ein Vogel für ſich iſt, mit
ſo ſcharf ausgeſprochener Individualität wie einer.


„Alles was ich über den Kuckuck gehört habe, ſagte
Goethe, giebt mir für dieſen merkwürdigen Vogel ein
III. 14[210] großes Intereſſe. Er iſt eine höchſt problematiſche
Natur, ein offenbares Geheimniß; das aber nichts¬
deſtoweniger ſchwer zu löſen, weil es ſo offenbar iſt.
Und bei wie vielen Dingen finden wir uns nicht in
demſelbigen Falle! — Wir ſtecken in lauter Wundern,
und das letzte und beſte der Dinge iſt uns ver¬
ſchloſſen. Nehmen wir nur die Bienen. Wir ſehen
ſie nach Honig fliegen, Stunden weit, und zwar immer
einmal in einer anderen Richtung. Jetzt fliegen ſie
wochenlang weſtlich nach einem Felde von blühenden
Rübſamen. Dann eben ſo lange nördlich nach blühen¬
der Haide. Dann wieder in einer anderen Richtung
nach der Blüthe des Buchweizens. Dann irgendwohin
auf ein blühendes Kleefeld. Und endlich wieder in
einer anderen Richtung nach blühenden Linden. Wer
hat ihnen aber geſagt: jetzt fliegt dorthin, da giebt es
etwas für euch! Und dann wieder dort, da giebt es
etwas Neues! Und wer führt ſie zurück nach ihrem
Dorf und ihrer Zelle! Sie gehen wie an einem un¬
ſichtbaren Gängelbande hierhin und dorthin; was es
aber eigentlich ſey, wiſſen wir nicht. Ebenſo die Lerche.
Sie ſteigt ſingend auf über einem Halmenfeld, ſie
ſchwebt über einem Meer von Halmen, das der Wind
hin- und herwiegt, und wo die eine Welle ausſieht
wie die andere; ſie fährt wieder hinab zu ihren Jun¬
gen und trifft, ohne zu fehlen, den kleinen Fleck, wo
ſie ihr Neſt hat. Alle dieſe äußeren Dinge liegen
[211] klar vor uns wie der Tag, aber ihr inneres geiſtiges
Band iſt uns verſchloſſen.“


Mit dem Kuckuck, ſagte ich, iſt es nicht anders.
Wir wiſſen von ihm, daß er nicht ſelber brütet, ſondern
ſein Ey in das Neſt irgend eines anderen Vogels legt.
Wir wiſſen ferner, daß er es legt: in das Neſt der
Graſemücke, der gelben Bachſtelze, des Mönches; ferner
in das Neſt der Braunelle, in das Neſt des Rothkehl¬
chens, und in das Neſt des Zaunkönigs. Dieſes wiſſen
wir. Auch wiſſen wir gleichfalls, daß dieſes Alles In¬
ſecten-Vögel ſind und es ſeyn müſſen, weil der Kuckuck
ſelber ein Inſecten-Vogel iſt, und der junge Kuckuck
von einem Saamen freſſenden Vogel nicht könnte er¬
zogen werden. Woran aber erkennt der Kuckuck, daß
dieſes Alles auch wirklich Inſecten-Vögel ſind? da
doch alle dieſe Genannten, ſowohl in ihrer Geſtalt als
in ihrer Farbe, von einander ſo äußerſt abweichen! —
und auch in ihrer Stimme und in ihren Locktönen ſo
äußerſt abweichen! — Und ferner: wie kommt es, daß
der Kuckuck ſein Ey und ſein zartes Junges Neſtern
anvertrauen kann, die in Hinſicht auf Structur und
Temperatur, auf Trockenheit und Feuchte, ſo verſchieden
ſind, wie nur immer möglich! — Das Neſt der Graſe¬
mücke iſt von dürren Grashälmchen und einigen Pferde¬
haaren ſo leicht gebaut, daß jede Kälte eindringt und
jeder Luftzug hindurchweht, auch von oben offen und
ohne Schutz; aber der junge Kuckuck gedeiht darin
14*[212] vortrefflich. Das Neſt des Zaunkönigs dagegen iſt
äußerlich von Moos, Halmen und Blättern dicht und
feſt gebaut und innen mit allerlei Wolle und Federn
ſorgfältig ausgefüttert, ſo daß kein Lüftchen hin¬
durchdringen kann. Auch iſt es oben gedeckt und
gewölbt und nur eine kleine Oeffnung zum Hinein-
und Hinausſchlüpfen des ſehr kleinen Vogels gelaſſen.
Man ſollte denken, es müßte in heißen Junitagen in
ſolcher geſchloſſenen Höhle eine Hitze zum Erſticken
ſeyn. Allein der junge Kuckuck gedeiht darin auf's
Beſte. Und wiederum wie anders iſt das Neſt der
gelben Bachſtelze! — Der Vogel lebt am Waſſer, an
Bächen und in allerlei Naſſem. Er baut ſein Neſt
auf feuchten Triften, in einem Büſchel von Binſen.
Er ſcharrt ein Loch in die feuchte Erde und legt es
dürftig mit einigen Grashälmchen aus, ſo daß der
junge Kuckuck durchaus im Feuchten und Kühlen ge¬
brütet wird und heranwachſen muß. Und dennoch ge¬
deiht er wiederum vortrefflich. Was iſt das aber für
ein Vogel, für den im zarteſten Kindesalter Feuchtes
und Trockenes, Hitze und Kälte, Abweichungen die für
jeden anderen Vogel tödtlich wären, durchaus gleich¬
gültige Dinge ſind. Und wie weiß der alte Kuckuck,
daß ſie es ſind, da er doch ſelber im erwachſenen Alter
für Näſſe und Kälte ſo ſehr empfindlich iſt. —


„Wir ſtehen hier, erwiederte Goethe, eben vor einem
Geheimniß. Aber ſagen Sie mir doch, wenn Sie es
[213] beobachtet haben, wie bringt der Kuckuck ſein Ey in
das Neſt des Zaunkönigs, da es doch nur eine ſo
geringe Oeffnung hat, daß er nicht hineinkommen und
er ſich nicht ſelber darauf ſetzen kann.“


Er legt es auf irgend eine trockene Stelle, erwie¬
derte ich, und bringt es mit dem Schnabel hinein.
Auch glaube ich, daß er nicht bloß beim Zaunkönig,
ſondern auch bei den übrigen Neſtern ſo thut. Denn
auch die Neſter der andern Inſecten-Vögel, wenn ſie
auch oben offen, ſind doch ſo klein, oder ſo nahe von
Zweigen umgeben, daß der große langſchwänzige
Kuckuck ſich nicht darauf ſetzen könnte. Dieß iſt ſehr
wohl zu denken. Allein wie es kommen mag, daß der
Kuckuck ein ſo außerordentlich kleines Ey legt, ja ſo
klein als wäre es das Ey eines kleinen Inſecten-Vo¬
gels, das iſt ein neues Räthſel, das man im Stillen
bewundert, ohne es löſen zu können. — Das Ey des
Kuckucks iſt nur um ein Weniges größer als das der
Graſemücke, und es darf im Grunde nicht größer ſeyn,
wenn die kleinen Inſecten-Vögel es brüten ſollen.
Dieß iſt durchaus gut und vernünftig. Allein daß die
Natur, um im ſpeciellen Fall weiſe zu ſeyn, von einem
durchgehenden großen Geſetz abweicht, wonach vom
Kolibri bis zum Strauß zwiſchen der Größe des Eyes
und der Größe des Vogels ein entſchiedenes Verhält¬
niß ſtattfindet, dieſes willkürliche Verfahren, ſage
[214] ich, iſt durchaus geeignet uns zu überraſchen und uns
in Erſtaunen zu ſetzen.


„Es ſetzt uns allerdings in Erſtaunen, erwiederte
Goethe, weil unſer Standpunkt zu klein iſt, als daß
wir es überſehen könnten. Wäre uns mehr eröffnet,
ſo würden wir auch dieſe ſcheinbaren Abweichungen
wahrſcheinlich im Umfange des Geſetzes finden. Doch
fahren Sie fort und ſagen Sie mir mehr. Weiß man
denn nicht, wie viele Eyer der Kuckuck legen mag?“


Wer darüber etwas mit Beſtimmtheit ſagen wollte,
antwortete ich, wäre ein großer Thor. Der Vogel iſt
ſehr flüchtig, er iſt bald hier und bald dort, man findet
von ihm in einem einzigen Neſt immer nur ein einziges
Ey. Er legt ſicherlich mehrere; allein wer weiß, wo ſie
hingerathen, und wer kann ihm nachkommen! —Geſetzt
aber, er legte fünf Eyer, und dieſe würden alle fünf
glücklich ausgebrütet und von liebevollen Pflegeeltern
herangezogen, ſo hat man wiederum zu bewundern,
daß die Natur ſich entſchließen mag, für fünf junge
Kuckucke wenigſtens funfzig Junge unſerer beſten
Singvögel zu opfern.


„In dergleichen Dingen, erwiederte Goethe, pflegt
die Natur auch in anderen Fällen nicht eben ſcrupulös
zu ſeyn. Sie hat einen großen Etat von Leben zu vergeu¬
den, und ſie thut es gelegentlich ohne ſonderliches Be¬
denken. Wie aber kommt es, daß für einen einzigen jun¬
gen Kuckuck ſo viele junge Singvögel verloren gehen?“

[215]

Zunächſt, erwiederte ich, geht die erſte Brut ver¬
loren. Denn im Fall auch die Eyer des Singvogels
neben dem Kuckucks-Ey, wie es wohl geſchieht, mit
ausgebrütet würden; ſo haben doch die Eltern über
den entſtandenen größeren Vogel eine ſolche Freude
und für ihn eine ſolche Zärtlichkeit, daß ſie nur an
ihn denken und nur ihn füttern, worüber denn ihre
eigenen kleinen Jungen zu Grunde gehen und aus
dem Neſte verſchwinden. Auch iſt der junge Kuckuck
immer begierig und bedarf ſo viel Nahrung, als die
kleinen Inſecten-Vögel nur immer herbeiſchleppen kön¬
nen. Es dauert ſehr lange, ehe er ſeine vollſtändige
Größe und ſein vollſtändiges Gefieder erreicht, und
ehe er fähig iſt das Neſt zu verlaſſen und ſich zum
Gipfel eines Baumes zu erheben. Iſt er aber auch
längſt ausgeflogen, ſo verlangt er doch noch fortwährend
gefüttert zu werden, ſo daß der ganze Sommer darü¬
ber hingeht und die liebevollen Pflegeeltern ihrem gro¬
ßen Kinde immer nachziehen und auch an eine zweite
Brut nicht denken. Aus dieſem Grunde gehen denn
über einen einzigen jungen Kuckuck ſo viele andere
junge Vögel verloren.


„Das iſt ſehr überzeugend, erwiederte Goethe. Doch
ſagen Sie mir, wird denn der junge Kuckuck, ſobald er
ausgeflogen iſt, auch von anderen Vögeln gefüttert,
die ihn nicht gebrütet haben? Es iſt mir, als hätte
ich dergleichen gehört.“

[216]

Es iſt ſo, antwortete ich. Sobald der junge Kuckuck
ſein niederes Neſt verlaſſen und ſeinen Sitz etwa in
dem Gipfel einer hohen Eiche genommen hat, läßt er
einen lauten Ton hören, welcher ſagt, daß er da ſey.
Nun kommen alle kleinen Vögel der Nachbarſchaft, die
ihn gehört haben, herbei, um ihn zu begrüßen. Es
kommt die Graſemücke, es kommt der Mönch, die gelbe
Bachſtelze fliegt hinauf, ja der Zaunkönig, deſſen Na¬
turell es iſt beſtändig in niederen Hecken und dichten
Gebüſchen zu ſchlüpfen, überwindet ſeine Natur und
erhebt ſich, dem geliebten Ankömmling entgegen, zum
Gipfel der hohen Eiche. Das Paar aber, das ihn
erzogen hat, iſt mit dem Füttern treuer, während die
Uebrigen nur gelegentlich mit einem guten Biſſen her¬
zufliegen.


„Es ſcheint alſo, ſagte Goethe, zwiſchen dem jungen
Kuckuck und den kleinen Inſecten-Vögeln eine große
Liebe zu beſtehen.“


Die Liebe der kleinen Inſecten-Vögel zum jungen
Kuckuck, erwiederte ich, iſt ſo groß, daß, wenn man
einem Neſte nahe kommt, in welchem ein junger Kuckuck
gehegt wird, die kleinen Pflegeeltern vor Schreck und
Furcht und Sorge nicht wiſſen, wie ſie ſich gebärden
ſollen. Beſonders der Mönch drückt eine große Ver¬
zweiflung aus, ſo daß er faſt wie in Krämpfen am
Boden flattert.


„Merkwürdig genug, erwiederte Goethe; aber es läßt
[217] ſich denken. Allein etwas ſehr problematiſch erſcheint
mir, daß z. B. ein Graſemückenpaar, das im Begriff
iſt, die eigenen Eyer zu brüten, dem alten Kuckuck er¬
laubt ihrem Neſte nahe zu kommen und ſein Ey hinein
zu legen.“


Das iſt freilich ſehr räthſelhaft, erwiederte ich; doch
nicht ſo ganz. Denn eben dadurch, daß alle kleinen
Inſecten-Vögel den ausgeflogenen Kuckuck füttern, und
daß ihn alſo auch die füttern, die ihn nicht gebrütet
haben, dadurch entſteht und erhält ſich zwiſchen Beiden
eine Art Verwandtſchaft, ſo daß ſie ſich fortwährend
kennen und als Glieder einer einzigen großen Familie
betrachten. Ja es kann ſogar kommen, daß derſelbige
Kuckuck, den ein Paar Graſemücken im vorigen Jahre
ausgebrütet und erzogen haben, ihnen in dieſem Jahre
ſein Ey bringt.


„Das läßt ſich allerdings hören, erwiederte Goethe,
ſo wenig man es auch begreift. Ein Wunder aber
bleibt es mir immer, daß der junge Kuckuck auch von
ſolchen Vögeln gefüttert wird, die ihn nicht gebrütet
und erzogen.“


Es iſt freilich ein Wunder, erwiederte ich; doch
giebt es wohl etwas Analoges. Ja ich ahne in dieſer
Richtung ſogar ein großes Geſetz, das tief durch die
ganze Natur geht.


Ich hatte einen jungen Hänfling gefangen, der
ſchon zu groß war, um ſich von Menſchen füttern zu
[218] laſſen, aber noch zu jung, um allein zu freſſen. Ich
gab mir mit ihm einen halben Tag viele Mühe; da er
aber durchaus nichts annehmen wollte, ſo ſetzte ich
ihn zu einem alten Hänfling hinein, einem guten
Sänger, den ich ſchon ſeit Jahr und Tag im Käfig
gehabt und der außen vor meinem Fenſter hing. Ich
dachte: wenn der Junge ſieht wie der Alte frißt, ſo
wird er vielleicht auch ans Futter gehen und es ihm
nachmachen. Er that aber nicht ſo, ſondern er öffnete
ſeinen Schnabel gegen den Alten und bewegte mit
bittenden Tönen die Flügel gegen ihn, worauf denn
der alte Hänfling ſich ſeiner ſogleich erbarmte und ihn
als Kind annahm und ihn fütterte, als wäre es ſein
eigenes.


Ferner brachte man mir eine graue Graſemücke und
drei Junge, die ich zuſammen in einen großen Käfig
that und die die Alte fütterte. Am andern Tage
brachte man mir zwei bereits ausgeflogene junge Nach¬
tigallen, die ich auch zu der Graſemücke that und die
von ihr gleichfalls adoptirt und gefüttert wurden.
Darauf nach einigen Tagen ſetzte ich noch ein Neſt
mit beinahe flüggen jungen Müllerchen hinein, und
ferner noch ein Neſt mit fünf jungen Plattmönchen.
Dieſe alle nahm die Graſemücke an und fütterte ſie
und ſorgte für ſie als treue Mutter. Sie hatte immer
den Schnabel voll Ameiſeneyer und war bald in der
einen Ecke des geräumigen Käfigs und bald in der
[219] andern, und wo nur immer eine hungrige Kehle ſich
öffnete, da war ſie da. — Ja noch mehr! — Auch
das eine indeß herangewachſene Junge der Grasmücke
fing an, einige der Kleineren zu füttern, zwar noch
ſpielend und etwas kinderhaft, aber doch ſchon mit ent¬
ſchiedenem Triebe, es der trefflichen Mutter nachzuthun.


„Da ſtehen wir allerdings vor etwas Göttlichem,
ſagte Goethe, das mich in ein freudiges Erſtaunen
ſetzt. Wäre es wirklich, daß dieſes Füttern eines Frem¬
den als etwas Allgemein-Geſetzliches durch die Natur
ginge, ſo wäre damit manches Räthſel gelöſ't, und man
könnte mit Ueberzeugung ſagen: daß Gott ſich der ver¬
waiſ'ten jungen Raben erbarme, die ihn anrufen.“


Etwas Allgemein-Geſetzliches, erwiederte ich, ſcheint
es allerdings zu ſeyn; denn ich habe auch im wilden
Zuſtande dieſes hülfreiche Füttern und dieſes Erbarmen
gegen Verlaſſene beobachtet.


Ich hatte im vorigen Sommer in der Nähe von
Tiefurt zwei junge Zaunkönige gefangen, die wahr¬
ſcheinlich erſt ganz kürzlich ihr Neſt verlaſſen hatten;
denn ſie ſaßen in einem Buſch auf einem Zweig nebſt
ſieben Geſchwiſtern in einer Reihe und ließen ſich von
ihren Alten füttern. Ich nahm die jungen Vögel in
mein ſeidenes Taſchentuch und ging in der Richtung
nach Weimar bis an's Schießhaus, dann rechts nach
der Wieſe an der Ilm hinunter und an dem Badeplatz
vorüber, und dann wieder links in das kleine Gehölz.
[220] Hier, dachte ich, haſt du Ruhe, um einmal nach deinen
Zaunkönigen zu ſehen. Als ich aber das Tuch öffnete,
entſchlüpften ſie mir beide und waren ſogleich im Ge¬
büſch und Graſe verſchwunden, ſo daß mein Suchen
nach ihnen vergebens war. Am dritten Tage kam ich
zufällig wieder an dieſelbige Stelle, und da ich die
Locktöne eines Rothkehlchens hörte, ſo vermuthete ich
ein Neſt in der Nähe, welches ich nach einigem Umher¬
ſpähen auch wirklich fand. Wie groß war aber mein
Erſtaunen, als ich in dieſem Neſt, neben beinahe flüg¬
gen jungen Rothkehlchen, auch meine beiden jungen
Zaunkönige fand, die ſich hier ganz gemüthlich unter¬
gethan hatten und ſich von den alten Rothkehlchen
füttern ließen. Ich war im hohen Grade glücklich über
dieſen höchſt merkwürdigen Fund. Da ihr ſo klug
ſeyd, dachte ich bei mir ſelber, und euch ſo hübſch habt
zu helfen gewußt, und da auch die guten Rothkehlchen
ſich eurer ſo hülfreich angenommen, ſo bin ich weit
entfernt ſo gaſtfreundliche Verhältniſſe zu ſtören, im
Gegentheil wünſche ich euch das allerbeſte Gedeihen.


„Das iſt eine der beſten ornithologiſchen Geſchich¬
ten, die mir je zu Ohren gekommen, ſagte Goethe.
Stoßen Sie an, Sie ſollen leben, und Ihre glücklichen
Beobachtungen mit! — Wer das hört und nicht an
Gott glaubt, dem helfen nicht Moſes und die Prophe¬
ten. Das iſt es nun, was ich die Allgegenwart Gottes
nenne, der einen Theil ſeiner unendlichen Liebe überall
[221] verbreitet und eingepflanzt hat, und ſchon im Thiere
dasjenige als Knospe andeutet, was im edlen Menſchen
zur ſchönſten Blüthe kommt. Fahren Sie ja in Ihren
Studien und Ihren Beobachtungen fort! Sie ſcheinen
darin ein beſonderes Glück zu haben und können noch
ferner zu ganz unſchätzbaren Reſultaten kommen.“


Indeß wir nun ſo an unſerm Tiſche in freier Natur
uns über gute und tiefe Dinge unterhielten, neigte ſich
die Sonne den Gipfeln der weſtlichen Hügel zu, und
Goethe fand es an der Zeit, unſern Rückweg anzutre¬
ten. Wir fuhren raſch durch Jena, und nachdem wir
im Bären bezahlt und noch einen kurzen Beſuch bei
Frommann's gemacht, ging es im ſcharfen Trapp
nach Weimar.

Hegel iſt hier, den Goethe perſönlich ſehr hoch
ſchätzt, wenn auch einige ſeiner Philoſophie entſproſſenen
Früchte ihm nicht ſonderlich munden wollen. Goethe
gab ihm zu Ehren dieſen Abend einen Thee, wobei
auch Zelter gegenwärtig, der aber noch dieſe Nacht
wieder abzureiſen im Sinne hatte.


Man ſprach ſehr viel über Hamann, wobei beſon¬
ders Hegel das Wort führte und über jenen außerordent¬
lichen Geiſt ſo gründliche Anſichten entwickelte, wie ſie
nur aus dem ernſteſten und gewiſſenhafteſten Studium
des Gegenſtandes hervorgehen konnten.


[222]

Sodann wendete ſich das Geſpräch auf das Weſen
der Dialektik. — Es iſt im Grunde nichts weiter,
ſagte Hegel, als der geregelte, methodiſch ausgebildete
Widerſpruchsgeiſt, der jedem Menſchen inwohnt, und
welche Gabe ſich groß erweiſet in Unterſcheidung des
Wahren vom Falſchen.


„Wenn nur, fiel Goethe ein, ſolche geiſtigen Künſte
und Gewandtheiten nicht häufig gemißbraucht und dazu
verwendet würden, um das Falſche wahr und das Wahre
falſch zu machen!“


Dergleichen geſchieht wohl, erwiederte Hegel; aber
nur von Leuten, die geiſtig krank ſind.


„Da lobe ich mir, ſagte Goethe, das Studium der
Natur, das eine ſolche Krankheit nicht aufkommen
läßt. Denn hier haben wir es mit dem unendlich und
ewig Wahren zu thun, das Jeden, der nicht durchaus
rein und ehrlich bei Beobachtung und Behandlung ſei¬
nes Gegenſtandes verfährt, ſogleich als unzulänglich
verwirft. Auch bin ich gewiß, daß mancher dialektiſch
Kranke im Studium der Natur eine wohlthätige Hei¬
lung finden könnte.“


Wir waren noch im beſten Geſpräch und in der
heiterſten Unterhaltung, als Zelter aufſtand und, ohne
ein Wort zu ſagen, hinausging. Wir wußten, es that
ihm leid von Goethen Abſchied zu nehmen, und daß
er dieſen zarten Ausweg wähle, um über einen ſchmerz¬
lichen Moment hinwegzukommen.

[[223]]

1828.

[[224]][[225]]

Ich bin ſeit mehreren Wochen nicht ganz wohl.
Ich ſchlafe ſchlecht, und zwar in den unruhigſten Träu¬
men, vom Abend bis zum Morgen, wo ich mich in ſehr
verſchiedenartigen Zuſtänden ſehe, allerlei Geſpräche
mit bekannten und unbekannten Perſonen führe, mich
herumſtreite und zanke, und zwar Alles ſo lebendig,
daß ich mir jeder Einzelnheit am andern Morgen noch
deutlich bewußt bin. Dieſes Traumleben aber zehrt von
den Kräften meines Gehirns, ſo daß ich mich am Tage
ſchlaff und abgeſpannt fühle, zu jeder geiſtigen Thätig¬
keit ohne Luſt und Gedanken.


Ich hatte Goethen wiederholt meinen Zuſtand ge¬
klagt und er hatte mich wiederholt getrieben, mich doch
meinem Arzte zu vertrauen. „Was Euch fehlt, ſagte er,
iſt gewiß nicht der Mühe werth; wahrſcheinlich nichts
als eine kleine Stockung, die durch einige Gläſer Mi¬
neralwaſſer oder ein wenig Salz zu heben iſt. Aber
laßt es nicht länger ſo fortſchlendern, ſondern thut
dazu!“


Goethe mochte ganz recht haben, und ich ſagte mir
ſelber, daß er recht habe; allein jene Unentſchloſſenheit
III. 15[226] und Unluſt wirkte auch in dieſem Falle, und ich ließ
wiederum unruhige Nächte und ſchlechte Tage verſtrei¬
chen, ohne das Mindeſte zur Abſtellung meines Uebels
zu thun.


Als ich nun heute nach Tiſch abermals nicht ganz
frei und heiter vor Goethe erſchien, riß ihm die Ge¬
duld und er konnte nicht umhin, mich ironiſch anzu¬
lächeln und mich ein wenig zn verhöhnen.


„Ihr ſeyd der zweite Shandy, ſagte er, der Vater
jenes berühmten Triſtram, den ein halbes Leben eine
knarrende Thür ärgerte, und der nicht zu dem Entſchluß
kommen konnte, ſeinen täglichen Verdruß durch ein paar
Tropfen Oel zu beſeitigen.“


„Aber ſo iſt's mit uns Allen! Des Menſchen Ver¬
düſterungen und Erleuchtungen machen ſein
Schickſal
! Es thäte uns Noth, daß der Dämon uns
täglich am Gängelbande führte und uns ſagte und triebe,
was immer zu thun ſey. Aber der gute Geiſt verläßt
uns und wir ſind ſchlaff und tappen im Dunkeln.“


„Da war Napoleon ein Kerl! — Immer erleuchtet,
immer klar und entſchieden, und zu jeder Stunde mit
der hinreichenden Energie begabt, um das, was er als
vortheilhaft und nothwendig erkannt hatte, ſogleich ins
Werk zu ſetzen. Sein Leben war das Schreiten eines
Halbgottes von Schlacht zu Schlacht und von Sieg zu
Sieg. Von ihm könnte man ſehr wohl ſagen, daß er
ſich in dem Zuſtande einer fortwährenden Erleuchtung
[227] befunden, weßhalb auch ſein Geſchick ein ſo glänzendes
war, wie es die Welt vor ihm nicht ſah und vielleicht
auch nach ihm nicht ſehen wird.“


„Ja, ja, mein Guter, das war ein Kerl, dem wir
es freilich nicht nachmachen können!“


Goethe ſchritt im Zimmer auf und ab. Ich hatte
mich an den Tiſch geſetzt, der zwar bereits abgeräumt
war, aber auf dem ſich noch einige Reſte Wein befanden,
nebſt einigem Biscuit und Früchten.


Goethe ſchenkte mir ein und nöthigte mich, von bei¬
den etwas zu genießen. „Sie haben zwar verſchmäht,
ſagte er, dieſen Mittag unſer Gaſt zu ſeyn, doch dürfte
ein Glas von dieſem Geſchenk lieber Freunde Ihnen
ganz wohl thun!“


Ich ließ mir ſo gute Dinge gefallen, während Goethe
fortfuhr im Zimmer auf und ab zu gehen und aufge¬
regten Geiſtes vor ſich hinzubrummen und von Zeit zu
Zeit unverſtändliche Worte herauszuſtoßen.


Das, was er ſoeben über Napoleon geſagt, lag
mir im Sinn, und ich ſuchte das Geſpräch auf jenen
Gegenſtand zurückzuführen.


Doch ſcheint es mir, begann ich, daß Napoleon ſich
beſonders in dem Zuſtande jener fortwährenden Er¬
leuchtung befunden, als er noch jung und in aufſteigen¬
der Kraft war, wo wir denn auch einen göttlichen
Schutz und ein beſtändiges Glück ihm zur Seite ſehen.
In ſpäteren Jahren dagegen ſcheint ihn jene Erleuch¬
15*[228] tung verlaſſen zu haben, ſo wie ſein Glück und ſein
guter Stern.


„Was wollt Ihr! erwiederte Goethe. Ich habe
auch meine Liebeslieder und meinen Werther nicht zum
zweitenmal gemacht. Jene göttliche Erleuchtung, wo¬
durch das Außerordentliche entſteht, werden wir immer
mit der Jugend und der Productivität im Bunde
finden, wie denn Napoleon einer der productivſten
Menſchen war, die je gelebt haben.“


„Ja, ja, mein Guter, man braucht nicht bloß Ge¬
dichte und Schauſpiele zu machen, um productiv zu
ſeyn, es giebt auch eine Productivität der Tha¬
ten
, und die in manchen Fällen noch um ein Bedeu¬
tendes höher ſteht. — Selbſt der Arzt muß productiv
ſeyn, wenn er wahrhaft heilen will; iſt er es nicht, ſo
wird ihm nur hin und wieder, wie durch Zufall, etwas
gelingen, im Ganzen aber wird er nur Pfuſcherei
machen.“


Sie ſcheinen, verſetzte ich, in dieſem Fall Producti¬
vität zu nennen, was man ſonſt Genie nannte.


„Beides ſind auch ſehr nahe liegende Dinge, erwie¬
derte Goethe. Denn was iſt Genie anders, als jene
productive Kraft, wodurch Thaten entſtehen, die vor
Gott und der Natur ſich zeigen können, und die eben
deßwegen Folge haben und von Dauer ſind. Alle
Werke Mozart's ſind dieſer Art; es liegt in ihnen eine
zeugende Kraft, die von Geſchlecht zu Geſchlecht fort¬
[229] wirket und ſobald nicht erſchöpft und verzehrt ſeyn
dürfte. Von andern großen Komponiſten und Künſt¬
lern gilt daſſelbe. Wie haben nicht Phidias und Ra¬
phael auf nachfolgende Jahrhunderte gewirkt, und wie
nicht Dürer und Holbein! — Derjenige, der zuerſt die
Formen und Verhältniſſe der altdeutſchen Baukunſt er¬
fand, ſo daß im Laufe der Zeit ein Straßburger Mün¬
ſter und ein Kölner Dom möglich wurde, war auch ein
Genie, denn ſeine Gedanken haben fortwährend pro¬
ductive Kraft behalten, und wirken bis auf die heutige
Stunde. Luther war ein Genie ſehr bedeutender Art;
er wirkt nun ſchon manchen guten Tag, und die Zahl
der Tage, wo er in fernen Jahrhunderten aufhören
wird, productiv zu ſeyn, iſt nicht abzuſehen. Leſſing
wollte den hohen Titel eines Genies ablehnen; allein
ſeine dauernden Wirkungen zeugen wider ihn ſelber.
Dagegen haben wir in der Literatur andere und zwar
bedeutende Namen, die, als ſie lebten, für große Ge¬
nies gehalten wurden, deren Wirken aber mit ihrem
Leben endete, und die alſo weniger waren, als ſie und
Andere dachten. Denn, wie geſagt, es giebt kein Genie
ohne productiv fortwirkende Kraft, und ferner: es
kommt dabei gar nicht auf das Geſchäft, die Kunſt und
das Metier an, das Einer treibt, es iſt Alles daſſelbige.
Ob Einer ſich in der Wiſſenſchaft genial erweiſet,
wie Oken und Humboldt, oder im Krieg und der
Staatsverwaltung, wie Friedrich, Peter der Große und
[230] Napoleon, oder ob Einer ein Lied macht wie Béranger,
es iſt Alles gleich und kommt bloß darauf an, ob der
Gedanke, das Aperçu, die That lebendig ſey und fort¬
zuleben vermöge.“


„Und dann muß ich noch ſagen: nicht die Maſſe
der Erzeugniſſe und Thaten, die von Jemandem aus¬
gehen, deuten auf einen productiven Menſchen. Wir
haben in der Literatur Poeten, die für ſehr productiv
gehalten werden, weil von ihnen ein Band Gedichte
nach dem andern erſchienen iſt. Nach meinem Begriff
aber ſind dieſe Leute durchaus unproductiv zu nennen,
denn, was ſie machten, iſt ohne Leben und Dauer.
Goldſmith dagegen hat ſo wenige Gedichte gemacht,
daß ihre Zahl nicht der Rede werth; allein dennoch
muß ich ihn als Poeten für durchaus productiv erklä¬
ren, und zwar eben deßwegen, weil das Wenige, was
er machte, ein inwohnendes Leben hat, das ſich zu er¬
halten weiß.“


Es entſtand eine Pauſe, während welcher Goethe
fortfuhr im Zimmer auf und ab zu gehen. Ich war
indeß begierig, über dieſen wichtigen Punkt noch etwas
Weiteres zu hören, und ſuchte daher Goethen wieder
in Anregung zu bringen.


Liegt denn, ſagte ich, dieſe geniale Productivität
bloß im Geiſte eines bedeutenden Menſchen, oder liegt
ſie auch im Körper?


„Wenigſtens, erwiederte Goethe, hat der Körper
[231] darauf den größten Einfluß. — Es gab zwar eine
Zeit, wo man in Deutſchland ſich ein Genie als klein,
ſchwach, wohl gar buckelig dachte; allein ich lobe mir
ein Genie, das den gehörigen Körper hat.“ —


„Wenn man von Napoleon geſagt, er ſey ein
Menſch aus Granit, ſo gilt dieſes beſonders auch von
ſeinem Körper. Was hat ſich der nicht Alles zugemu¬
thet und zumuthen können! — Von dem brennenden
Sande der ſyriſchen Wüſte bis zu den Schneefeldern
von Moskau, welche Unſumme von Märſchen, Schlach¬
ten und nächtlichen Bivouacs liegen da nicht in der
Mitte! — und welche Strapazen und körperliche Ent¬
behrungen hat er dabei nicht aushalten müſſen! Wenig
Schlaf, wenig Nahrung, und dabei immer in der höch¬
ſten geiſtigen Thätigkeit! — Bei der fürchterlichen An¬
ſtrengung und Aufregung des achtzehnten Brumaire
ward es Mitternacht, und er hatte den ganzen Tag
noch nichts genoſſen! und ohne nun an ſeine körper¬
liche Stärkung zu denken, fühlte er ſich Kraft genug,
um noch tief in der Nacht die bekannte Proclamation an
das franzöſiſche Volk zu entwerfen. — Wenn man er¬
wägt, was der alles durchgemacht und ausgeſtanden,
ſo ſollte man denken, es wäre in ſeinem vierzigſten
Jahre kein heiles Stück mehr an ihm geweſen; allein
er ſtand in jenem Alter noch auf den Füßen eines
vollkommenen Helden.“


„Aber Sie haben ganz recht, der eigentliche Glanz¬
[232] punkt ſeiner Thaten fällt in die Zeit ſeiner Jugend.
Und es wollte etwas heißen, daß Einer aus dunkler
Herkunft und in einer Zeit, die alle Capacitäten in
Bewegung ſetzte, ſich ſo herausmachte, um in ſeinem
ſieben und zwanzigſten Jahre der Abgott einer Nation
von dreißig Millionen zu ſeyn! — Ja, ja, mein Gu¬
ter, man muß jung ſeyn, um große Dinge zu thun.
Und Napoleon iſt nicht der Einzige!“


Sein Bruder Lucian, bemerkte ich, war auch ſchon
früh ſehr hohen Dingen gewachſen. Wir ſehen ihn
als Präſidenten der Fünfhundert und darauf als Mi¬
niſter des Innern im kaum vollendeten fünf und zwan¬
zigſten Jahre.


„Was wollen Sie mit Lucian? fiel Goethe ein.
Die Geſchichte bietet uns der tüchtigſten Leute zu
Hunderten, die ſowohl im Cabinet als im Felde in
noch jugendlichem Alter den bedeutendſten Dingen mit
großem Ruhme vorſtanden.“


„Wäre ich ein Fürſt, fuhr er lebhaft fort, ſo würde
ich zu meinen erſten Stellen nie Leute nehmen, die bloß
durch Geburt und Anciennetät nach und nach heraufge¬
kommen ſind und nun in ihrem Alter in gewohntem
Gleiſe langſam gemächlich fortgehen, wobei denn freilich
nicht viel Geſcheutes zu Tage kommt. — Junge Män¬
ner wollte ich haben! — aber es müßten Capacitäten ſeyn,
mit Klarheit und Energie ausgerüſtet, und dabei vom
beſten Wollen und edelſten Charakter. Da wäre es
[233] eine Luſt, zu herrſchen und ſein Volk vorwärts zu brin¬
gen! — Aber wo iſt ein Fürſt, dem es ſo wohl würde
und der ſo gut bedient wäre!“ —


„Große Hoffnung ſetze ich auf den jetzigen Kron¬
prinzen von Preußen
. Nach Allem, was ich von
ihm kenne und höre, iſt er ein ſehr bedeutender Menſch!
und das gehört dazu, um wieder tüchtige und talent¬
volle Leute zu erkennen und zu wählen. Denn, man
ſage was man will, das Gleiche kann nur vom Glei¬
chen erkannt werden, und nur ein Fürſt, der ſelber große
Fähigkeiten beſitzt, wird wiederum große Fähigkeiten in
ſeinen Unterthanen und Dienern gehörig erkennen und
ſchätzen. Dem Talente offene Bahn! war der
bekannte Spruch Napoleon's, der freilich in der Wahl
ſeiner Leute einen ganz beſondern Tact hatte, der jede
bedeutende Kraft an die Stelle zu ſetzen wußte, wo ſie
in ihrer eigentlichen Sphäre erſchien, und der daher
auch in ſeinem Leben bei allen großen Unternehmungen
bedient war wie kaum ein Anderer.“


Goethe gefiel mir dieſen Abend ganz beſonders.
Das Edelſte ſeiner Natur ſchien in ihm rege zu ſeyn;
dabei war der Klang ſeiner Stimme und das Feuer
ſeiner Augen von ſolcher Kraft, als wäre er von einem
friſchen Auflodern ſeiner beſten Jugend durchglüht. —
Merkwürdig war es mir, daß er, der ſelbſt in ſo ho¬
hen Jahren noch einem bedeutenden Poſten vorſtand, ſo
ganz entſchieden der Jugend das Wort redete, und die
[234] erſten Stellen im Staat, wenn auch nicht von Jüng¬
lingen, doch von Männern in noch jugendlichem Alter
beſetzt haben wollte. Ich konnte nicht umhin, einige
hochſtehende deutſche Männer zu erwähnen, denen im
hohen Alter die nöthige Energie und jugendliche Be¬
weglichkeit zum Betrieb der bedeutendſten und mannig¬
faltigſten Geſchäfte doch keineswegs zu fehlen ſcheine.


„Solche Männer und ihres Gleichen, erwiederte
Goethe, ſind geniale Naturen, mit denen es eine eigene
Bewandniß hat; ſie erleben eine wiederholte Pu¬
bertät
, während andere Leute nur einmal jung ſind.“


„Jede Entelechie nämlich iſt ein Stück Ewigkeit,
und die paar Jahre, die ſie mit dem irdiſchen Körper
verbunden iſt, machen ſie nicht alt. — Iſt dieſe Ente¬
lechie geringer Art, ſo wird ſie während ihrer körper¬
lichen Verdüſterung wenig Herrſchaft ausüben, viel¬
mehr wird der Körper vorherrſchen, und wie er altert,
wird ſie ihn nicht halten und hindern. Iſt aber die
Entelechie mächtiger Art, wie es bei allen genialen
Naturen der Fall iſt, ſo wird ſie, bei ihrer belebenden
Durchdringung des Körpers, nicht allein auf deſſen
Organiſation kräftigend und veredelnd einwirken, ſon¬
dern ſie wird auch, bei ihrer geiſtigen Uebermacht, ihr
Vorrecht einer ewigen Jugend fortwährend geltend zu
machen ſuchen. Daher kommt es denn, daß wir bei
vorzüglich begabten Menſchen, auch während ihres Alters,
immer noch friſche Epochen beſonderer Productivität
[235] wahrnehmen; es ſcheint bei ihnen immer einmal wieder
eine temporäre Verjüngung einzutreten, und das iſt es,
was ich eine wiederholte Pubertät nennen möchte.“


„Aber jung iſt jung, und wie mächtig auch eine
Entelechie ſich erweiſe, ſie wird doch über das Körper¬
liche nie ganz Herr werden, und es iſt ein gewaltiger
Unterſchied, ob ſie an ihm einen Alliirten oder einen
Gegner findet.“


„Ich hatte in meinem Leben eine Zeit, wo ich täglich
einen gedruckten Bogen von mir fordern konnte, und es
gelang mir mit Leichtigkeit. Meine Geſchwiſter habe
ich in drei Tagen geſchrieben. Meinen Clavigo, wie
Sie wiſſen, in acht. — Jetzt ſoll ich dergleichen wohl
bleiben laſſen; und doch kann ich über Mangel an Pro¬
ductivität, ſelbſt in meinem hohen Alter, mich keineswegs
beklagen. Was mir aber in meinen jungen Jahren
täglich und unter allen Umſtänden gelang, gelingt mir
jetzt nur periodenweiſe und unter gewiſſen günſtigen
Bedingungen. — Als mich vor zehn zwölf Jahren, in
der glücklichen Zeit nach dem Befreiungskriege, die Ge¬
dichte des Divan in ihrer Gewalt hatten, war ich
productiv genug, um oft in einem Tage zwei bis drei
zu machen; und auf freiem Felde, im Wagen oder im
Gaſthof, es war mir Alles gleich. Jetzt, am zweiten
Theil meines Fauſt, kann ich nur in den frühen Stun¬
den des Tages arbeiten, wo ich mich vom Schlaf er¬
quickt und geſtärkt fühle und die Fratzen des täglichen
[236] Lebens mich noch nicht verwirrt haben. Und doch,
was iſt es, das ich ausführe! Im allerglücklichſten
Fall eine geſchriebene Seite; in der Regel aber nur ſo
viel, als man auf den Raum einer Handbreit ſchreiben
könnte, und oft, bei unproductiver Stimmung, noch
weniger.“


Giebt es denn im Allgemeinen, ſagte ich, kein
Mittel, um eine productive Stimmung hervorzubringen,
oder, wenn ſie nicht mächtig genug wäre, ſie zu ſteigern?


„Um dieſen Punkt, erwiederte Goethe, ſteht es gar
wunderlich, und wäre darüber allerlei zu denken und
zu ſagen.“


„Jede Productivität höchſter Art, jedes bedeu¬
tende Aperçü, jede Erfindung, jeder große Gedanke der
Früchte bringt und Folge hat, ſteht in Niemandes
Gewalt und iſt über aller irdiſchen Macht erhaben.
Dergleichen hat der Menſch als unverhoffte Geſchenke
von oben, als reine Kinder Gottes, zu betrachten, die
er mit freudigem Dank zu empfangen und zu verehren
hat. Es iſt dem Dämoniſchen verwandt, das über¬
mächtig mit ihm thut wie es beliebt und dem er ſich
bewußtlos hingiebt, während er glaubt, er handele
aus eigenem Antriebe. In ſolchen Fällen iſt der
Menſch oftmals als ein Werkzeug einer höheren Welt¬
regierung zu betrachten, als ein würdig befundenes
Gefäß zur Aufnahme eines göttlichen Einfluſſes. —
Ich ſage dieß, indem ich erwäge, wie oft ein einziger
[237] Gedanke ganzen Jahrhunderten eine andere Geſtalt
gab, und wie einzelne Menſchen durch das, was von
ihnen ausging, ihrem Zeitalter ein Gepräge aufdrückten,
das noch in nachfolgenden Geſchlechtern kenntlich blieb
und wohlthätig fortwirkte.“


„Sodann aber giebt es eine Productivität anderer
Art, die ſchon eher irdiſchen Einflüſſen unterworfen iſt
und die der Menſch ſchon mehr in ſeiner Gewalt hat,
obgleich er auch hier immer noch ſich vor etwas Gött¬
lichem zu beugen Urſache findet. In dieſe Region
zähle ich alles zur Ausführung eines Planes Gehörige,
alle Mittelglieder einer Gedankenkette, deren Endpunkte
bereits leuchtend daſtehen; ich zähle dahin alles das¬
jenige, was den ſichtbaren Leib und Körper eines
Kunſtwerkes ausmacht.“


„So kam Shakſpearen der erſte Gedanke zu ſeinem
Hamlet, wo ſich ihm der Geiſt des Ganzen als uner¬
warteter Eindruck vor die Seele ſtellte, und er die
einzelnen Situationen, Charaktere und Ausgang des
Ganzen in erhöheter Stimmung überſah, als ein reines
Geſchenk von oben, worauf er keinen unmittelbaren
Einfluß gehabt hatte, obgleich die Möglichkeit, ein
ſolches Aperçü zu haben, immer einen Geiſt wie den
ſeinigen vorausſetzte. — Die ſpätere Ausführung der
einzelnen Scenen aber und die Wechſelreden der Per¬
ſonen hatte er vollkommen in ſeiner Gewalt, ſo daß er
ſie täglich und ſtündlich machen und daran wochenlang
[238] fortarbeiten konnte wie es ihm nur beliebte. — Und
zwar ſehen wir an Allem, was er ausführte, immer die
gleiche Kraft der Production, und wir kommen in
allen ſeinen Stücken nirgend auf eine Stelle, von der
man ſagen könnte, ſie ſey nicht in der rechten Stim¬
mung und nicht mit dem vollkommenſten Vermögen
geſchrieben. Indem wir ihn leſen, erhalten wir von
ihm den Eindruck eines geiſtig wie körperlich durchaus
und ſtets geſunden kräftigen Menſchen.“


„Geſetzt aber, eines dramatiſchen Dichters körper¬
liche Conſtitution wäre nicht ſo feſt und vortrefflich,
und er wäre vielmehr häufigen Kränklichkeiten und
Schwächlichkeiten unterworfen, ſo würde die zur täg¬
lichen Ausführung ſeiner Scenen nöthige Productivität
ſicher ſehr häufig ſtocken und oft wohl Tage lang gänz¬
lich mangeln. Wollte er nun, etwa durch geiſtige Ge¬
tränke, die mangelnde Productivität herbeinöthigen und
die unzulängliche dadurch ſteigern, ſo würde das allen¬
falls auch wohl angehen, allein man würde es allen
Scenen, die er auf ſolche Weiſe gewiſſermaßen for¬
cirt
hätte, zu ihrem großen Nachtheil anmerken.“


„Mein Rath iſt daher, nichts zu forciren und
alle unproductiven Tage und Stunden lieber zu vertän¬
deln und zu verſchlafen, als in ſolchen Tagen etwas
machen zu wollen, woran man ſpäter keine Freude hat.“


Sie ſprechen, erwiederte ich, etwas aus, was
ich ſelber ſehr oft erfahren und empfunden und was
[239] man ſicher als durchaus wahr und richtig zu ver¬
ehren hat. — Aber doch will mir ſcheinen, als ob
wohl Jemand durch natürliche Mittel ſeine productive
Stimmung ſteigern könnte, ohne ſie gerade zu forciren.
Ich war in meinem Leben ſehr oft in dem Fall, bei
gewiſſen complicirten Zuſtänden zu keinem rechten Ent¬
ſchluß kommen zu können. Trank ich aber in ſolchen
Fällen einige Gläſer Wein, ſo war es mir ſogleich
klar, was zu thun ſey, und ich war auf der Stelle
entſchieden. — Das Faſſen eines Entſchluſſes iſt aber
doch auch eine Art Productivität, und wenn nun einige
Gläſer Wein dieſe Tugend bewirkten, ſo dürfte ein
ſolches Mittel doch nicht ganz zu verwerfen ſeyn.


„Ihrer Bemerkung, erwiederte Goethe, will ich nicht
widerſprechen; was ich aber vorhin ſagte, hat auch
ſeine Richtigkeit, woraus wir denn ſehen, daß die
Wahrheit wohl einem Diamant zu vergleichen wäre,
deſſen Strahlen nicht nach einer Seite gehen, ſondern
nach vielen. — Da Sie übrigens meinen Divan ſo
gut kennen, ſo wiſſen Sie, daß ich ſelber geſagt habe

Wenn man getrunken hat,

Weiß man das Rechte,

und daß ich Ihnen alſo vollkommen beiſtimme. — Es
liegen im Wein allerdings productivmachende Kräfte
ſehr bedeutender Art; aber es kommt dabei Alles auf
Zuſtände und Zeit und Stunde an, und was dem
Einen nützet, ſchadet dem Andern. Es liegen ferner
[240] productivmachende Kräfte in der Ruhe und im Schlaf;
ſie liegen aber auch in der Bewegung. Es liegen
ſolche Kräfte im Waſſer, und ganz beſonders in der
Atmoſphäre. — Die friſche Luft des freien Feldes iſt
der eigentliche Ort wo wir hingehören; es iſt als ob
der Geiſt Gottes dort den Menſchen unmittelbar an¬
wehete und eine göttliche Kraft ihren Einfluß ausübte.
Lord Byron, der täglich mehrere Stunden im Freien
lebte, bald zu Pferde am Strande des Meeres reitend,
bald im Boote ſegelnd oder rudernd, dann ſich im
Meere badend und ſeine Körperkraft im Schwimmen
übend, war einer der productivſten Menſchen, die je
gelebt haben.“


Goethe hatte ſich mir gegenüber geſetzt und wir
ſprachen noch über allerlei Dinge. Dann verweilten
wir wieder bei Lord Byron und es kamen die mancher¬
lei Unfälle zur Erwähnung, die ſein ſpäteres Leben
getrübt, bis zuletzt ein zwar edles Wollen, aber ein
unſeliges Geſchick, ihn nach Griechenland geführt und
vollends zu Grunde gerichtet.


„Ueberhaupt, fuhr Goethe fort, werden Sie finden,
daß im mittleren Leben eines Menſchen häufig eine
Wendung eintritt und daß, wie ihn in ſeiner Jugend
Alles begünſtigte und Alles ihm glückte, nun mit einem¬
mal Alles ganz anders wird, und ein Unfall und ein
Mißgeſchick ſich auf das andere häuft.“


„Wiſſen Sie aber, wie ich es mir denke? — Der
[241] Menſch muß wieder ruinirt werden
! — Jeder
außerordentliche Menſch hat eine gewiſſe Sendung, die
er zu vollführen berufen iſt. Hat er ſie vollbracht, ſo
iſt er auf Erden in dieſer Geſtalt nicht weiter vonnö¬
then, und die Vorſehung verwendet ihn wieder zu etwas
Anderem. Da aber hienieden Alles auf natürlichem
Wege geſchieht, ſo ſtellen ihm die Dämonen ein Bein
nach dem andern, bis er zuletzt unterliegt. So ging
es Napoleon und vielen Anderen. Mozart ſtarb in
ſeinem ſechs und dreißigſten Jahre. Raphael in glei¬
chem Alter. Byron nur um Weniges älter. Alle
aber hatten ihre Miſſion auf das Vollkommenſte erfüllt,
und es war wohl Zeit daß ſie gingen, damit auch
anderen Leuten in dieſer, auf eine lange Dauer berech¬
neten, Welt noch etwas zu thun übrig bliebe.“


Es war indeß tief Abend geworden, Goethe reichte
mir ſeine liebe Hand, und ich ging.

Nachdem ich Goethe geſtern Abend verlaſſen hatte,
lag mir das mit ihm geführte bedeutende Geſpräch fort¬
während im Sinne.


Auch von den Kräften des Meeres und der See¬
luft
war die Rede geweſen, wo denn Goethe die
Meinung äußerte, daß er alle Inſulaner und Meer-
Anwohner des gemäßigten Klima's bei weitem für pro¬
III. 16[242] ductiver und thatkräftiger halte, als die Völker im
Innern großer Continente.


War es nun, daß ich mit dieſen Gedanken und mit
einer gewiſſen Sehnſucht nach den belebenden Kräften
des Meeres einſchlief, genug, ich hatte in der Nacht
folgenden anmuthigen und mir ſehr merkwürdigen
Traum.


Ich ſah mich nämlich in einer unbekannten Gegend
unter fremden Menſchen überaus heiter und glücklich.
Der ſchönſte Sommertag umgab mich in einer reizenden
Natur, wie es etwa an der Küſte des mittelländiſchen
Meeres im ſüdlichen Spanien oder Frankreich, oder in
der Nähe von Genua ſeyn möchte. — Wir hatten
Mittags an einer luſtigen Tafel gezecht und ich ging
mit anderen, etwas jüngeren Leuten, um eine weitere
Nachmittagspartie zu machen. — Wir waren durch
buſchige angenehme Niederungen geſchlendert, als wir
uns mit einemmale im Meere auf der kleinſten Inſel
ſahen, auf einem herausragenden Felsſtück, wo kaum
fünf bis ſechs Menſchen Platz hatten und wo man
ſich nicht rühren konnte, ohne Furcht, in's Waſſer zu
gleiten. Rückwärts, wo wir hergekommen waren, er¬
blickte man nichts als die See; vor uns aber lag die
Küſte in der Entfernung einer Viertelſtunde auf das
Einladendſte ausgebreitet. Das Ufer war an einigen
Stellen flach, an anderen felſig und mäßig erhöhet, und
man erblickte zwiſchen grünen Lauben und weißen Zel¬
[243] ten ein Gewimmel luſtiger Menſchen in hellfarbigen
Kleidern, die ſich bei ſchöner Muſik, die aus den Zelten
herübertönte, einen guten Tag machten. „Da iſt nun
weiter nichts zu thun, ſagte Einer zum Andern, wir
müſſen uns entkleiden und hinüber ſchwimmen.“ — Ihr
habt gut reden, ſagte ich, ihr ſeid jung und ſchön und
überdieß gute Schwimmer. Ich aber ſchwimme ſchlecht
und es fehlt mir die anſehnliche Geſtalt, um mit Luſt
und Behagen vor den fremden Leuten am Ufer zu er¬
ſcheinen. „Du biſt ein Thor, ſagte einer der ſchönſten;
entkleide dich nur und gieb mir deine Geſtalt, du
ſollſt indeß die meinige haben“. Auf dieſes Wort ent¬
kleidete ich mich ſchnell und war im Waſſer und fühlte
mich im Körper des Anderen ſofort als einen kräftigen
Schwimmer. Ich hatte bald die Küſte erreicht und
trat mit dem heiterſten Vertrauen nackt und triefend
unter die Menſchen. — Ich war glücklich im Gefühl
dieſer ſchönen Glieder, mein Benehmen war ohne
Zwang, und ich war ſogleich vertraut mit den Fremden
vor einer Laube an einem Tiſch, wo es luſtig herging.
Meine Cameraden waren auch nach und nach an's
Land gekommen und hatten ſich zu uns geſellt, und es
fehlte mir noch der Jüngling mit meiner Geſtalt, in
deſſen Gliedern ich mich ſo wohl fühlte. — Endlich
kam auch er in die Nähe des Ufers und man fragte
mich: ob ich denn nicht Luſt habe mein früheres Ich zu
ſehen? Bei dieſen Worten wandelte mich ein gewiſſes
16 *[244] Unbehagen an, theils weil ich keine große Freude an
mir ſelber zu haben glaubte, theils auch, weil ich fürch¬
tete, jener Freund möchte ſeinen eigenen Körper ſogleich
zurück verlangen. Dennoch wandte ich mich zum Waſſer
und ſah mein zweites Selbſt ganz nahe heranſchwim¬
men, und, indem er den Kopf etwas ſeitwärts wandte,
lachend zu mir heraufblicken. „Es ſteckt keine Schwimm¬
kraft in deinen Gliedern!“ rief er mir zu, ich habe
gegen Wellen und Brandung gut zu kämpfen gehabt
und es iſt nicht zu verwundern, daß ich ſo ſpät komme
und von Allen der Letzte bin.“ Ich erkannte ſogleich
das Geſicht; es war das meinige, aber verjüngt und
etwas voller und breiter und von der friſcheſten Farbe.
Jetzt trat er ans Land, und indem er, ſich aufrichtend,
auf dem Sande die erſten Schritte that, hatte ich den
Ueberblick ſeines Rückens und ſeiner Schenkel und
freuete mich über die Vollkommenheit dieſer Geſtalt.
Er kam das Felsufer herauf zu uns Anderen, und als
er neben mich trat, hatte er vollkommen meine neue
Größe. Wie iſt doch, dachte ich bei mir ſelbſt, dein
kleiner Körper ſo ſchön heran gewachſen! — Haben die
Urkräfte des Meeres ſo wunderbar auf ihn gewirkt,
oder iſt es, weil der jugendliche Geiſt des Freundes
die Glieder durchdrungen hat? — Indem wir darauf eine
gute Weile vergnügt beiſammen geweſen, wunderte ich
mich im Stillen, daß der Freund nicht that, als ob
er ſeinen eigenen Körper einzutauſchen Neigung habe.
[245] Wirklich, dachte ich, ſieht er auch ſo recht ſtattlich aus,
und es könnte ihm im Grunde einerlei ſeyn; mir aber
iſt es nicht einerlei, denn ich bin nicht ſicher, ob ich in
jenem Leibe nicht wieder zuſammengehe und nicht wie¬
der ſo klein werde, wie zuvor. — Um über dieſe An¬
gelegenheit ins Gewiſſe zu kommen, nahm ich meinen
Freund auf die Seite und fragte ihn: wie er ſich in
meinen Gliedern fühle? Vollkommen gut! ſagte er,
ich habe dieſelbe Empfindung meines Weſens und mei¬
ner Kraft, wie ſonſt; ich weiß nicht, was du gegen
deine Glieder haſt! ſie ſind mir völlig recht, und du
ſiehſt, man muß nur etwas aus ſich machen. Bleibe
in meinem Körper, ſo lange du Luſt haſt, denn ich bin
vollkommen zufrieden, für alle Zukunft in dem deinigen
zu verharren.“ Ueber dieſe Erklärung war ich ſehr
froh, und indem auch ich in allen meinen Empfindun¬
gen, Gedanken und Erinnerungen mich völlig wie ſonſt
fühlte, kam mir im Traum der Eindruck einer vollkom¬
menen Unabhängigkeit unſerer Seele und der Möglich¬
keit einer künftigen Exiſtenz in einem andern Leibe.


„Ihr Traum iſt ſehr artig, ſagte Goethe, als ich
ihm heute nach Tiſch die Hauptzüge davon mittheilte.
Man ſieht, fuhr er fort, daß die Muſen Sie auch im
Schlaf beſuchen, und zwar mit beſonderer Gunſt; denn
Sie werden geſtehen, daß es Ihnen im wachen Zuſtande
[246] ſchwer werden würde, etwas ſo Eigenthümliches und
Hübſches zu erfinden.“


Ich begreife kaum, wie ich dazu gekommen bin, er¬
wiederte ich, denn ich fühlte mich alle die Tage her ſo
niedergeſchlagenen Geiſtes, daß die Anſchauung eines
ſo friſchen Lebens mir ſehr ferne ſtand.


„Es liegen in der menſchlichen Natur wunderbare
Kräfte, erwiederte Goethe, und eben wenn wir es am
wenigſten hoffen hat ſie etwas Gutes für uns in Be¬
reitſchaft. Ich habe in meinem Leben Zeiten gehabt,
wo ich mit Thränen einſchlief; aber in meinen Träumen
kamen nun die lieblichſten Geſtalten, mich zu tröſten
und zu beglücken, und ich ſtand am andern Morgen
wieder friſch und froh auf den Füßen.“


„Es geht uns alten Europäern übrigens mehr oder
weniger allen herzlich ſchlecht; unſere Zuſtände ſind viel
zu künſtlich und complicirt, unſere Nahrung und Le¬
bensweiſe iſt ohne die rechte Natur, und unſer geſelliger
Verkehr ohne eigentliche Liebe und Wohlwollen. — Je¬
dermann iſt fein und höflich, aber Niemand hat den
Muth, gemüthlich und wahr zu ſeyn, ſo daß ein red¬
licher Menſch mit natürlicher Neigung und Geſinnung
einen recht böſen Stand hat. Man ſollte oft wünſchen,
auf einer der Südſee-Inſeln als ſogenannter Wilder
geboren zu ſeyn, um nur einmal das menſchliche Da¬
ſeyn, ohne falſchen Beigeſchmack, durchaus rein zu ge¬
nießen.“

[247]

„Denkt man ſich bei deprimirter Stimmung recht
tief in das Elend unſerer Zeit hinein, ſo kommt es
Einem oft vor, als wäre die Welt nach und nach zum
jüngſten Tage reif. Und das Uebel häuft ſich von Ge¬
neration zu Generation! Denn nicht genug, daß wir
an den Sünden unſerer Väter zu leiden haben, ſondern
wir überliefern auch dieſe geerbten Gebrechen, mit un¬
ſeren eigenen vermehrt, unſeren Nachkommen.“


Mir gehen oft ähnliche Gedanken durch den Kopf,
verſetzte ich; allein wenn ich ſodann irgend ein Regiment
deutſcher Dragoner an mir vorüber reiten ſehe und die
Schönheit und Kraft der jungen Leute erwäge, ſo ſchöpfe
ich wieder einigen Troſt, und ich ſage mir, daß es denn
doch um die Dauer der Menſchheit noch nicht ſo gar
ſchlecht ſtehe.


„Unſer Landvolk, erwiederte Goethe, hat ſich freilich
fortwährend in guter Kraft erhalten, und wird hoffent¬
lich noch lange im Stande ſeyn, uns nicht allein tüch¬
tige Reiter zu liefern, ſondern uns auch vor gänzlichem
Verfall und Verderben zu ſichern. Es iſt als ein De¬
pot zu betrachten, aus dem ſich die Kräfte der ſinken¬
den Menſchheit immer wieder ergänzen und anfriſchen.
Aber gehen Sie einmal in unſere großen Städte, und
es wird Ihnen anders zu Muthe werden. Halten Sie
einmal einen Umgang an der Seite eines zweiten hin¬
kenden Teufels, oder eines Arztes von ausgedehnter
Praxis, und er wird Ihnen Geſchichten zuflüſtern, daß
[248] Sie über das Elend erſchrecken und über die Gebrechen
erſtaunen, von denen die menſchliche Natur heimgeſucht
iſt und an denen die Geſellſchaft leidet.“


„Doch wir wollen uns der hypochondriſchen Gedan¬
ken entſchlagen. Wie geht es Ihnen? Was machen
Sie? Wie haben Sie ſonſt heute gelebt? Erzählen
Sie mir und geben Sie mir gute Gedanken.“


Ich habe in Sterne geleſen, erwiederte ich, wo Yo¬
rik in den Straßen von Paris umherſchlendert und die
Bemerkung macht, daß der zehnte Menſch ein Zwerg
ſey. Ich dachte ſo eben daran, als Sie der Gebrechen
der großen Städte erwähnten. Auch erinnere ich mich,
zur Zeit Napoleon's, unter der franzöſiſchen Infanterie
ein Bataillon geſehen zu haben, das aus lauter Pariſern
beſtand, und welches alles ſo ſchmächtige kleine Leute
waren, daß man nicht wohl begriff, was man im Kriege
mit ihnen wolle ausrichten.


„Die Bergſchotten des Herzogs von Wellington,
verſetzte Goethe, mögen freilich andere Helden geweſen
ſeyn!“


Ich habe ſie ein Jahr vor der Waterloo-Schlacht
in Brüſſel geſehen, erwiederte ich. Das waren in der
That ſchöne Leute! Alle ſtark, friſch und behende, wie
aus der erſten Hand Gottes. Sie trugen alle den
Kopf ſo frei und froh, und ſchritten mit ihren kräftigen
nackten Schenkeln ſo leicht einher, als gebe es für ſie
keine Erbſünde und keine Gebrechen der Väter.


[249]

„Es iſt ein eigenes Ding, erwiederte Goethe.
Liegt es in der Abſtammung, liegt es im Boden, liegt
es in der freien Verfaſſung, liegt es in der geſunden
Erziehung, — genug! die Engländer überhaupt ſcheinen
vor vielen Andern etwas voraus zu haben. Wir ſehen
hier in Weimar ja nur ein Minimum von ihnen, und
wahrſcheinlich keineswegs die beſten; aber was ſind
das alles für tüchtige, hübſche Leute! Und ſo jung und
ſiebzehnjährig ſie hier auch ankommen, ſo fühlen ſie
ſich doch in dieſer deutſchen Fremde keineswegs fremd
und verlegen; vielmehr iſt ihr Auftreten und ihr Be¬
nehmen in der Geſellſchaft ſo voller Zuverſicht und ſo
bequem, als wären ſie überall die Herren und als ge¬
höre die Welt überall ihnen. Das iſt es denn auch,
was unſern Weibern gefällt und wodurch ſie in den
Herzen unſerer jungen Dämchen ſo viele Verwüſtungen
anrichten. Als deutſcher Hausvater, dem die Ruhe der
Seinigen lieb iſt, empfinde ich oft ein kleines Grauen,
wenn meine Schwiegertochter mir die erwartete baldige
Ankunft irgend eines neuen jungen Inſulaners ankün¬
digt. Ich ſehe im Geiſte immer ſchon die Thränen,
die ihm dereinſt bei ſeinem Abgange fließen werden. —
Es ſind gefährliche junge Leute; aber freilich, daß ſie
gefährlich ſind, das iſt eben ihre Tugend.“


Ich möchte jedoch nicht behaupten, verſetzte ich, daß
unſere Weimar'ſchen jungen Engländer geſcheuter, geiſt¬
[250] reicher, unterrichteter und von Herzen vortrefflicher wä¬
ren, als andere Leute auch.


„In ſolchen Dingen, mein Beſter, erwiederte Goethe,
liegt's nicht. Es liegt auch nicht in der Geburt und
im Reichthum. Sondern es liegt darin, daß ſie eben
die Courage haben, das zu ſeyn wozu die Natur ſie
gemacht hat. Es iſt an ihnen nichts verbildet und
verbogen, es ſind an ihnen keine Halbheiten und Schief¬
heiten; ſondern, wie ſie auch ſind, es ſind immer
durchaus complete Menſchen. Auch complete Narren
mitunter, das gebe ich von Herzen zu; allein es iſt doch
was und hat doch auf der Wage der Natur immer
einiges Gewicht.“


„Das Glück der perſönlichen Freiheit, das Bewußt¬
ſeyn des engliſchen Namens und welche Bedeutung
ihm bei andern Nationen beiwohnt, kommt ſchon den
Kindern zu Gute, ſo daß ſie ſowohl in der Familie,
als in den Unterrichtsanſtalten, mit weit größerer Ach¬
tung behandelt werden und einer weit glücklich-freieren
Entwickelung genießen, als bei uns Deutſchen.“


„Ich brauche nur in unſerm lieben Weimar zum
Fenſter hinauszuſehen, um gewahr zu werden, wie es
bei uns ſteht. Als neulich der Schnee lag und meine
Nachbarskinder ihre kleinen Schlitten auf der Straße
probiren wollten, ſogleich war ein Polizeidiener nahe,
und ich ſah die armen Dingerchen fliehen, ſo ſchnell ſie
konnten. Jetzt, wo die Frühlingsſonne ſie aus den
[251] Häuſern lockt und ſie mit ihres Gleichen vor ihren
Thüren gerne ein Spielchen machten, ſehe ich ſie immer
genirt, als wären ſie nicht ſicher und als fürchteten
ſie das Herannahen irgend eines polizeilichen Macht¬
habers. Es darf kein Bube mit der Peitſche knallen,
oder ſingen, oder rufen, ſogleich iſt die Polizei da, es
ihm zu verbieten. Es geht bei uns Alles dahin, die
liebe Jugend frühzeitig zahm zu machen und alle Na¬
tur, alle Originalität und alle Wildheit auszutreiben,
ſo daß am Ende nichts übrig bleibt, als der Philiſter.“


„Sie wiſſen, es vergeht bei mir kaum ein Tag,
wo ich nicht von durchreiſenden Fremden beſucht werde.
Wenn ich aber ſagen ſollte, daß ich an den perſönlichen
Erſcheinungen, beſonders junger deutſcher Gelehrten
aus einer gewiſſen nordöſtlichen Richtung, große Freude
hätte, ſo müßte ich lügen. — Kurzſichtig, blaß, mit
eingefallener Bruſt, jung ohne Jugend, das iſt das
Bild der Meiſten, wie ſie ſich mir darſtellen. Und wie
ich mit ihnen mich in ein Geſpräch einlaſſe, habe ich
ſogleich zu bemerken, daß ihnen dasjenige, woran unſer¬
einer Freude hat, nichtig und trivial erſcheint, daß ſie
ganz in der Idee ſtecken und nur die höchſten Probleme
der Speculation ſie zu intereſſiren geeignet ſind. Von
geſunden Sinnen und Freude am Sinnlichen iſt bei
ihnen keine Spur, alles Jugendgefühl und alle Jugend¬
luſt iſt bei ihnen ausgetrieben, und zwar unwiederbring¬
[252] lich; denn wenn Einer in ſeinem zwanzigſten Jahre nicht
jung iſt, wie ſoll er es in ſeinem vierzigſten ſeyn!“


Goethe ſeufzte und ſchwieg.


Ich dachte an die glückliche Zeit des vorigen Jahr¬
hunderts, in welche Goethe's Jugend fiel; es trat mir
die Sommerluft von Seeſenheim vor die Seele und
ich erinnerte ihn an die Verſe:


Nachmittage ſaßen wir

Junges Volk im Kühlen.

„Ach! ſeufzte Goethe, das waren freilich ſchöne
Zeiten! — Doch wir wollen ſie uns aus dem Sinne
ſchlagen, damit uns die grauen Nebeltage der Gegen¬
wart nicht ganz unerträglich werden.“


„Es thäte Noth, ſagte ich, daß ein zweiter Erlöſer
käme, um den Ernſt, das Unbehagen und den ungeheu¬
ren Druck der jetzigen Zuſtände uns abzunehmen.


„Käme er, antwortete Goethe, man würde ihn zum
zweitenmale kreuzigen. Doch wir brauchten keineswegs
ein ſo Großes. Könnte man nur den Deutſchen, nach
dem Vorbilde der Engländer, weniger Philoſophie und
mehr Thatkraft, weniger Theorie und mehr Praxis bei¬
bringen, ſo würde uns ſchon ein gutes Stück Erlöſung
zu Theil werden, ohne daß wir auf das Erſcheinen der
perſönlichen Hoheit eines zweiten Chriſtus zu warten
brauchten. Sehr viel könnte geſchehen von unten, vom
Volke, durch Schulen und häusliche Erziehung, ſehr
viel von oben durch die Herrſcher und ihre Nächſten.“

[253]

„So z. B. kann ich nicht billigen, daß man von
den ſtudirenden künftigen Staatsdienern gar zu viele
theoretiſch-gelehrte Kenntniſſe verlangt, wodurch die
jungen Leute vor der Zeit geiſtig wie körperlich rui¬
nirt werden. Treten ſie nun hierauf in den praktiſchen
Dienſt, ſo beſitzen ſie zwar einen ungeheueren Vorrath
an philoſophiſchen und gelehrten Dingen, allein er kann
in dem beſchränkten Kreiſe ihres Berufs gar nicht zur
Anwendung kommen und muß daher als unnütz wieder
vergeſſen werden. Dagegen aber, was ſie am meiſten
bedurften, haben ſie eingebüßt: es fehlt ihnen die nö¬
thige geiſtige wie körperliche Energie, die bei einem
tüchtigen Auftreten im praktiſchen Verkehr ganz uner¬
läßlich iſt.“


„Und dann! bedarf es denn im Leben eines Staats¬
dieners, in Behandlung der Menſchen, nicht auch der
Liebe und des Wohlwollens? Und wie ſoll Einer ge¬
gen Andere Wohlwollen empfinden und ausüben, wenn
es ihm ſelber nicht wohl iſt?“ —


„Es iſt aber den Leuten allen herzlich ſchlecht! Der
dritte Theil der an den Schreibtiſch gefeſſelten Gelehrten
und Staatsdiener iſt körperlich anbrüchig und dem Dä¬
mon der Hypochondrie verfallen. Hier thäte es Noth,
von oben her einzuwirken, um wenigſtens künftige Ge¬
nerationen vor ähnlichem Verderben zu ſchützen.“


„Wir wollen indeß, fügte Goethe lächelnd hinzu,
hoffen und erwarten, wie es etwa in einem Jahrhun¬
[254] dert mit uns Deutſchen ausſieht, und ob wir es ſodann
dahin werden gebracht haben, nicht mehr abſtracte Ge¬
lehrte und Philoſophen, ſondern Menſchen zu ſeyn.“

Mit Goethe ſpazieren gefahren. Er amüſirte ſich
an der Erinnerung ſeiner Streitigkeiten mit Kotzebue
und Conſorten und recitirte einige ſehr luſtige Epi¬
gramme gegen den Erſteren, die übrigens mehr ſpaßhaft
als verletzend waren. Ich fragte ihn: warum er ſie
nicht in ſeine Werke aufgenommen? „Ich habe eine
ganze Sammlung ſolcher Gedichtchen, erwiederte Goethe,
die ich geheim halte und nur gelegentlich den Vertrau¬
teſten meiner Freunde zeige. Es war dieß die einzige
unſchuldige Waffe, die mir gegen die Angriffe meiner
Feinde zu Gebote ſtand. Ich machte mir dadurch im
Stillen Luft und befreiete und reinigte mich dadurch
von dem fatalen Gefühl des Mißwollens, das ich ſonſt
gegen die öffentlichen und oft boshaften Häkeleien
meiner Gegner hätte empfinden und nähren müſſen.
Durch jene Gedichtchen habe ich mir alſo perſönlich
einen weſentlichen Dienſt geleiſtet. Aber ich will nicht
das Publicum mit meinen Privathändeln beſchäftigen
oder noch lebende Perſonen dadurch verletzen. In ſpä¬
terer Zeit jedoch wird ſich davon Dieß oder Jenes
ganz ohne Bedenken mittheilen laſſen.“


[255]

Der König von Baiern ſandte vor einiger Zeit
ſeinen Hofmaler Stieler nach Weimar, um das Por¬
trait Goethe's zu machen. Als eine Art Empfehlungs¬
brief und als Zeugniß ſeiner Geſchicklichkeit brachte
Stieler das vollendete lebensgroße Bildniß eines ſehr
ſchönen jungen Frauenzimmers mit, nämlich das der
Münchener Schauſpielerin Fräulein v. Hagen.
Goethe gewährte darauf Herrn Stieler alle gewünſch¬
ten Sitzungen und ſein Bild ward nun vor einigen
Tagen fertig.


Dieſen Mittag war ich bei ihm zu Tiſch und zwar
alleine. Beim Deſſert ſtand er auf und führte mich
in das den Speiſeſaal angrenzende Cabinet und zeigte
mir die jüngſt vollendete Arbeit Stieler's. — Darauf,
ſehr geheimnißvoll, führte er mich weiter in das ſoge¬
nannte Majolika-Zimmer, wo ſich das Bild der ſchönen
Schauſpielerin befand. „Nicht wahr, ſagte er, nachdem
wir es eine Weile betrachtet, das iſt der Mühe werth!
— Stieler war gar nicht dumm! — Er brauchte die¬
ſen ſchönen Biſſen bei mir als Lockſpeiſe, und indem er
mich durch ſolche Künſte zum Sitzen brachte, ſchmeichelte
er meiner Hoffnung, daß auch jetzt unter ſeinem Pinſel
ein Engel entſtehen würde, indem er den Kopf eines
Alten malte.“


[256]

Goethe zeigte mir heute ſeine reiche Foſſilien-Samm¬
lung, die ſich in dem freiſtehenden Pavillon an ſeinem
Hausgarten befindet. Die Sammlung iſt durch ihn
ſelber angelegt, durch ſeinen Sohn ſtark vermehrt, und
beſonders merkwürdig durch eine zahlreiche Folge ver¬
ſteinerter Knochen, die alle in der Umgebung von Wei¬
mar gefunden worden.

Bei Goethe zu Tiſch mit Herrn v. Martius, der
ſeit einigen Tagen hier iſt und ſich mit Goethe über
botaniſche Gegenſtände beſpricht. Beſonders iſt es die
Spiraltendenz der Pflanzen, worin Herr v. Martius
wichtige Entdeckungen gemacht, die er Goethen mittheilt,
dem ſich dadurch ein neues Feld eröffnet. Goethe ſchien
die Idee ſeines Freundes mit einer Art jugendlicher
Leidenſchaftlichkeit aufzunehmen. „Für die Phyſiologie
der Pflanzen, ſagte er, iſt damit ſehr viel gewonnen.
Das neue Aperçü der Spiraltendenz iſt meiner Me¬
tamorphoſenlehre durchaus gemäß, es iſt auf demſelbi¬
gen Wege gefunden, aber es iſt damit ein ungeheurer
Schritt vorwärts gethan.“

Goethe lieſt ſeit einiger Zeit ſehr eifrig den Globe
und macht dieſes Blatt ſehr oft zum Gegenſtand ſeines
[257] Geſprächs. Die Bemühungen Couſin's und ſeiner
Schule erſcheinen ihm beſonders wichtig.


„Dieſe Männer, ſagte er, ſind ganz auf dem Wege,
eine Annäherung zwiſchen Frankreich und Deutſchland
zu bewirken, indem ſie eine Sprache bilden, die durch¬
aus geeignet iſt, den Ideen-Verkehr zwiſchen beiden
Nationen zu erleichtern.“


Auch hat der Globe für Goethe dadurch noch ein
beſonderes Intereſſe, daß die neueſten Producte der
ſchönen Literatur Frankreichs darin beſprochen und die
Freiheiten der romantiſchen Schule, oder vielmehr die
Befreiung von den Feſſeln nichtsſagender Regeln,
darin oft ſehr lebhaft vertheidigt werden.


„Was will der ganze Plunder gewiſſer Regeln einer
ſteifen veralteten Zeit! ſagte er heute, und was will all
der Lärm über claſſiſch und romantiſch! Es
kommt darauf an, daß ein Werk durch und durch gut
und tüchtig ſey, und es wird auch wohl claſſiſch ſeyn.“

Goethe ſprach heute mit großer Anerkennung über
eine kleine Schrift des Canzlers, die den Großherzog
Carl Auguſt
zum Gegenſtande hat und das thaten¬
reiche Leben dieſes ſeltenen Fürſten in gedrängter Kürze
vorüberführt.


„Die kleine Schrift iſt wirklich ſehr gelungen, ſagte
Goethe, das Material mit großer Umſicht und großem
III. 17[258] Fleiß zuſammengebracht, ſodann Alles vom Hauch der
innigſten Liebe beſeelt, und zugleich die Darſtellung ſo
knapp und kurz, daß That auf That ſich drängt und
bei dem Anblick einer ſolchen Fülle von Leben und
Thun es uns zu Muthe wird, als würden wir von
einem geiſtigen Schwindel ergriffen. Der Canzler hat
ſeine Schrift auch nach Berlin geſchickt, und darauf
vor einiger Zeit einen höchſt merkwürdigen Brief von
Alexander von Humboldt erhalten, den ich nicht
ohne tiefe Rührung habe leſen können. Humboldt war
dem Großherzog während eines langen Lebens auf das
Innigſte befreundet, welches freilich nicht zu verwundern,
indem die reich angelegte tiefe Natur des Fürſten im¬
mer nach neuem Wiſſen bedürftig und gerade Humboldt
der Mann war, der bei ſeiner großen Univerſalität auf
jede Frage die beſte und gründlichſte Antwort immer
bereit hatte.“


„Nun fügte es ſich in der That wunderbar, daß
der Großherzog gerade die letzten Tage vor ſeinem
Tode in Berlin in faſt beſtändiger Geſellſchaft mit
Humboldt verleben und daß er über manches wichtige
Problem, was ihm am Herzen lag, noch zuletzt von
ſeinem Freunde Aufſchluß erhalten konnte; und wiederum
war es nicht ohne höhere günſtige Einwirkung, daß
einer der größten Fürſten, die Deutſchland je beſeſſen,
einen Mann wie Humboldt zum Zeugen ſeiner letzten
Tage und Stunden hatte. Ich habe mir von dem
[259] Briefe eine Abſchrift nehmen laſſen und will Ihnen doch
Einiges daraus mittheilen.“


Goethe ſtand auf und ging zu ſeinem Pult, wo er
den Brief nahm und ſich wieder zu mir an den Tiſch
ſetzte. Er las eine Weile im Stillen. Ich ſah Thrä¬
nen in ſeinen Augen. „Leſen Sie es für ſich, ſagte er
dann, indem er mir den Brief zureichte. Er ſtand auf
und ging im Zimmer auf und ab, während ich las.


„Wer konnte mehr durch das ſchnelle Hinſcheiden des
Verewigten erſchüttert werden, ſchreibt Humboldt, als
ich, den er ſeit dreißig Jahren mit ſo wohlwollender
Auszeichnung, ich darf ſagen, mit ſo aufrichtiger Vor¬
liebe behandelt hatte. Auch hier wollte er mich faſt
zu jeder Stunde um ſich haben; und, als ſey eine
ſolche Lucidität, wie bei den erhabenen ſchneebedeckten
Alpen, der Vorbote des ſcheidenden Lichtes, nie habe
ich den großen menſchlichen Fürſten lebendiger, geiſt¬
reicher, milder und an aller ferneren Entwickelung des
Volkslebens theilnehmender geſehen, als in den letzten
Tagen, die wir ihn hier beſaßen.“


„Ich ſagte mehrmals zu meinen Freunden ahnungs¬
voll und beängſtigt, daß dieſe Lebendigkeit, dieſe ge¬
heimnißvolle Klarheit des Geiſtes, bei ſo viel körperlicher
Schwäche, mir ein ſchreckhaftes Phänomen ſey. Er
ſelbſt oscillirte ſichtbar zwiſchen Hoffnung der Gene¬
ſung und Erwartung der großen Cataſtrophe.“


„Als ich ihn vier und zwanzig Stunden vor dieſer
17*[260] ſah, beim Frühſtück, er krank und ohne Neigung etwas
zu genießen, fragte er noch lebendig nach den von
Schweden herüber gekommenen Granitgeſchieben baltiſcher
Länder, nach Kometſchweifen, welche ſich unſerer At¬
moſphäre trübend einmiſchen könnten, nach der Urſache
der großen Winterkälte an allen öſtlichen Küſten.“


„Als ich ihn zuletzt ſah, drückte er mir zum Ab¬
ſchied die Hand mit den heiteren Worten: „Sie glau¬
ben, Humboldt, Töplitz und alle warmen Quellen ſeyen
wie Waſſer, die man künſtlich erwärmt? Das iſt nicht
Küchenfeuer! Darüber ſtreiten wir in Töplitz, wenn
Sie mit dem Könige kommen. Sie ſollen ſehen, Ihr
altes Küchenfeuer wird mich doch noch einmal wieder
zuſammenhalten.“ Sonderbar! denn Alles wird be¬
deutend bei ſo einem Manne.“


„In Potsdam ſaß ich mehrere Stunden allein mit
ihm auf dem Kanapee; er trank und ſchlief abwechſelnd,
trank wieder, ſtand auf, um an ſeine Gemahlin zu
ſchreiben, dann ſchlief er wieder. Er war heiter, aber
ſehr erſchöpft. In den Intervallen bedrängte er mich
mit den ſchwierigſten Fragen über Phyſik, Aſtronomie,
Meteorologie und Geognoſie, über Durchſichtigkeit eines
Kometenkerns, über Mond-Atmoſphäre, über die farbi¬
gen Doppelſterne, über Einfluß der Sonnenflecke auf
Temperatur, Erſcheinen der organiſchen Formen in der
Urwelt, innere Erdwärme. Er ſchlief mitten in ſeiner
und meiner Rede ein, wurde oft unruhig, und ſagte
[261] dann, über ſeine ſcheinbare Unaufmerkſamkeit milde und
freundlich um Verzeihung bittend: „Sie ſehen, Humboldt,
es iſt aus mit mir!“


„Auf einmal ging er deſultoriſch in religiöſe Ge¬
ſpräche über. Er klagte über den einreißenden Pietis¬
mus und den Zuſammenhang dieſer Schwärmerei mit
politiſchen Tendenzen nach Abſolutismus und Nieder¬
ſchlagen aller freieren Geiſtesregungen. Dazu ſind es
unwahre Burſche, rief er aus, die ſich dadurch den
Fürſten angenehm zu machen glauben, um Stellen und
Bänder zu erhalten! — Mit der poetiſchen Vorliebe
zum Mittelalter haben ſie ſich eingeſchlichen.“


„Bald legte ſich ſein Zorn, und nun ſagte er, wie
er jetzt viel Tröſtliches in der chriſtlichen Religion finde.
„Das iſt eine menſchenfreundliche Lehre, ſagte er; aber
von Anfang an hat man ſie verunſtaltet. Die erſten
Chriſten waren die Freigeſinnten unter den Ultra's.“


Ich gab Goethen über dieſen herrlichen Brief meine
innige Freude zu erkennen. „Sie ſehen, ſagte Goethe,
was für ein bedeutender Menſch er war. Aber wie
gut iſt es von Humboldt, daß er dieſe wenigen letzten
Züge aufgefaßt, die wirklich als Symbol gelten können,
worin die ganze Natur des vorzüglichen Fürſten ſich
ſpiegelt. Ja, ſo war er! — Ich kann es am beſten
ſagen, denn es kannte ihn im Grunde Niemand ſo
durch und durch wie ich ſelber. Iſt es aber nicht ein
Jammer, daß kein Unterſchied iſt, und daß auch ein
[262] ſolcher Menſch ſo früh dahin muß! — Nur ein lum¬
piges Jahrhundert länger, und wie würde er an ſo
hoher Stelle ſeine Zeit vorwärts gebracht haben! —
Aber wiſſen Sie was? Die Welt ſoll nicht ſo raſch
zum Ziele, als wir denken und wünſchen. Immer ſind
die retardirenden Dämonen da, die überall dazwiſchen
und überall entgegen treten, ſo daß es zwar im Gan¬
zen vorwärts geht, aber ſehr langſam. Leben Sie nur
fort, und Sie werden ſchon finden, daß ich Recht habe.“


Die Entwicklung der Menſchheit, ſagte ich, ſcheint
auf Jahrtauſende angelegt.


„Wer weiß, erwiederte Goethe, — vielleicht auf Mil¬
lionen! Aber laß die Menſchheit dauern, ſo lange ſie
will, es wird ihr nie an Hinderniſſen fehlen, die ihr
zu ſchaffen machen, und nie an allerlei Noth, damit ſie
ihre Kräfte entwickele. Klüger und einſichtiger wird
ſie werden, aber beſſer, glücklicher und thatkräftiger
nicht, oder doch nur auf Epochen. Ich ſehe die Zeit
kommen, wo Gott keine Freude mehr an ihr hat und
er abermals Alles zuſammenſchlagen muß zu einer
verjüngten Schöpfung. Ich bin gewiß, es iſt Alles
danach angelegt und es ſteht in der fernen Zukunft
ſchon Zeit und Stunde feſt, wann dieſe Verjüngungs-
Epoche eintritt. Aber bis dahin hat es ſicher noch
gute Weile, und wir können noch Jahrtauſende und
aber Jahrtauſende auf dieſer lieben alten Fläche, wie
ſie iſt, allerlei Spaß haben.“

[263]

Goethe war in beſonders guter, erhöhter Stimmung.
Er ließ eine Flaſche Wein kommen, wovon er ſich und
mir einſchenkte. Unſer Geſpräch ging wieder auf den
Großherzog Carl Auguſt zurück.


„Sie ſehen, ſagte Goethe, wie ſein außerordentlicher
Geiſt das ganze Reich der Natur umfaßte. Phyſik,
Aſtronomie, Geognoſie, Meteorologie, Pflanzen- und
Thier-Formen der Urwelt, und was ſonſt dazu gehört,
er hatte für Alles Sinn und für Alles Intereſſe. Er
war achtzehn Jahre alt als ich nach Weimar kam; aber
ſchon damals zeigten ſeine Keime und Knospen, was
einſt der Baum ſeyn würde. Er ſchloß ſich bald auf
das Innigſte an mich an und nahm an Allem, was ich
trieb, gründlichen Antheil. Daß ich faſt zehn Jahre
älter war, als er, kam unſerm Verhältniß zu Gute.
Er ſaß ganze Abende bei mir in tiefen Geſprächen
über Gegenſtände der Kunſt und Natur und was ſonſt
allerlei Gutes vorkam. Wir ſaßen oft tief in die Nacht
hinein und es war nicht ſelten, daß wir nebeneinander
auf meinem Sopha einſchliefen. Funfzig Jahre lang
haben wir es miteinander fortgetrieben und es wäre
kein Wunder, wenn wir es endlich zu etwas gebracht
hätten.“ —


Eine ſo gründliche Bildung, ſagte ich, wie ſie der
Großherzog gehabt zu haben ſcheint, mag bei fürſtlichen
Perſonen ſelten vorkommen.


„Sehr ſelten! erwiederte Goethe. Es giebt zwar
[264] viele, die fähig ſind, über Alles ſehr geſchickt mitzu¬
reden; aber ſie haben es nicht im Innern und krabbeln
nur an den Oberflächen. Und es iſt kein Wunder,
wenn man die entſetzlichen Zerſtreuungen und Zerſtücke¬
lungen bedenkt, die das Hofleben mit ſich führt und
denen ein junger Fürſt ausgeſetzt iſt. Von Allem ſoll
er Notiz nehmen. Er ſoll ein Bißchen Das kennen
und ein Bißchen Das, und dann ein Bißchen Das
und wieder ein Bißchen Das. Dabei kann ſich aber
nichts ſetzen und nichts Wurzel ſchlagen, und es gehört
der Fond einer gewaltigen Natur dazu, um bei ſolchen
Anforderungen nicht in Rauch aufzugehen. Der Gro߬
herzog war freilich ein geborener großer Menſch, womit
Alles geſagt und Alles gethan iſt.“


Bei allen ſeinen höheren wiſſenſchaftlichen und gei¬
ſtigen Richtungen, ſagte ich, ſcheint er doch auch das
Regieren verſtanden zu haben.


„Er war ein Menſch aus dem Ganzen, erwiederte
Goethe, und es kam bei ihm Alles aus einer einzigen
großen Quelle. Und wie das Ganze gut war, ſo war
das Einzelne gut, er mochte thun und treiben was er
wollte. Uebrigens kamen ihm zur Führung des Regi¬
ments beſonders drei Dinge zu Statten. Er hatte die
Gabe, Geiſter und Charaktere zu unterſcheiden und
Jeden an ſeinen Platz zu ſtellen. Das war ſehr viel.
Dann hatte er noch Etwas, was ebenſoviel war,
wo nicht noch mehr: Er war beſeelt von dem edelſten
[265] Wohlwollen, von der reinſten Menſchenliebe, und wollte
mit ganzer Seele nur das Beſte. Er dachte immer
zuerſt an das Glück des Landes und ganz zuletzt erſt
ein wenig an ſich ſelber. Edlen Menſchen entgegen zu
kommen, gute Zwecke befördern zu helfen, war ſeine
Hand immer bereit und offen. Es war in ihm viel
Göttliches. Er hätte die ganze Menſchheit beglücken
mögen. Liebe aber erzeugt Liebe. Wer aber geliebt
iſt, hat leicht regieren.“


„Und drittens: Er war größer, als ſeine Umgebung.
Neben zehn Stimmen, die ihm über einen gewiſſen Fall
zu Ohren kamen, vernahm er die elfte, beſſere, in ſich
ſelber. Fremde Zufliſterungen glitten an ihm ab, und
er kam nicht leicht in den Fall, etwas Unfürſtliches zu
begehen, indem er das zweideutig gemachte Verdienſt
zurückſetzte und empfohlene Lumpe in Schutz nahm. Er
ſah überall ſelber, urtheilte ſelber, und hatte in allen Fäl¬
len in ſich ſelber die ſicherſte Baſis. Dabei war er ſchweig¬
ſamer Natur und ſeinen Worten folgte die Handlung.“


Wie leid thut es mir, ſagte ich, daß ich nicht viel
mehr von ihm gekannt habe als ſein Aeußeres; doch
das hat ſich mir tief eingeprägt. Ich ſehe ihn noch
immer auf ſeiner alten Droſchke, im abgetragenen
grauen Mantel und Militairmütze und eine Cigarre
rauchend, wie er auf die Jagd fuhr, ſeine Lieblings-
Hunde nebenher. Ich habe ihn nie anders fahren
ſehen, als auf dieſer unanſehnlichen alten Droſchke.
[266] Auch nie anders als zweiſpännig. Ein Gepränge mit
ſechs Pferden und Röcke mit Ordensſternen ſcheint
nicht ſehr nach ſeinem Geſchmack geweſen zu ſeyn.“


„Das iſt, erwiederte Goethe, jetzt bei Fürſten über¬
haupt kaum mehr an der Zeit. Es kommt jetzt darauf
an, was Einer auf der Wage der Menſchheit wiegt;
alles Uebrige iſt eitel. Ein Rock mit dem Stern und
ein Wagen mit ſechs Pferden imponirt nur noch allen¬
falls der roheſten Maſſe, und kaum dieſer. Uebrigens
hing die alte Droſchke des Großherzogs kaum in Fe¬
dern. Wer mit ihm fuhr, hatte verzweifelte Stöße
auszuhalten. Aber das war ihm eben recht. Er liebte
das Derbe und Unbequeme und war ein Feind aller
Verweichlichung.“


Spuren davon, ſagte ich, ſieht man ſchon in Ihrem
Gedicht „Ilmenau“, wo Sie ihn nach dem Leben ge¬
zeichnet zu haben ſcheinen.


„Er war damals ſehr jung, erwiederte Goethe;
doch ging es mit uns freilich etwas toll her. Er war
wie ein edler Wein, aber noch in gewaltiger Gährung.
Er wußte mit ſeinen Kräften nicht wo hinaus und wir
waren oft ſehr nahe am Halsbrechen. Auf Parforçe-
Pferden über Hecken, Gräben und durch Flüſſe, und
bergauf bergein ſich tagelang abarbeiten, und dann
Nachts unter freiem Himmel campiren, etwa bei einem
Feuer im Walde: das war nach ſeinem Sinne. Ein
Herzogthum geerbt zu haben, war ihm nichts, aber
[267] hätte er ſich eines erringen, erjagen und erſtürmen
können, das wäre ihm etwas geweſen.“


„Das Ilmenauer Gedicht, fuhr Goethe fort, ent¬
hält als Epiſode eine Epoche, die im Jahre 1783, als
ich es ſchrieb, bereits mehrere Jahre hinter uns lag,
ſo daß ich mich ſelber darin als eine hiſtoriſche Figur
zeichnen und mit meinem eigenen Ich früherer Jahre
eine Unterhaltung führen konnte. Es iſt darin, wie
Sie wiſſen, eine nächtliche Scene vorgeführt, etwa nach
einer ſolchen halsbrechenden Jagd im Gebirge. Wir
hatten uns am Fuße eines Felſen kleine Hütten gebaut
und mit Tannenreiſern gedeckt, um darin auf trockenem
Boden zu übernachten. Vor den Hütten brannten
mehrere Feuer und wir kochten und brieten, was die
Jagd gegeben hatte. Knebel, dem ſchon damals die
Tabackspfeife nicht kalt wurde, ſaß dem Feuer zunächſt
und ergötzte die Geſellſchaft mit allerlei trockenen Spä¬
ßen, während die Weinflaſche von Hand zu Hand ging.
Seckendorf, der ſchlanke, mit den langen feinen Glie¬
dern, hatte ſich behaglich am Stamm eines Baumes
hingeſtreckt und ſummte allerlei Poetiſches. — Abſeits,
in einer ähnlichen kleinen Hütte, lag der Herzog im
tiefen Schlaf. Ich ſelber ſaß davor, bei glimmenden
Kohlen, in allerlei ſchweren Gedanken, auch in An¬
wandlungen von Bedauern über mancherlei Unheil, das
meine Schriften angerichtet. Knebel und Seckendorf
erſcheinen mir noch jetzt gar nicht ſchlecht gezeichnet,
[268] und auch der junge Fürſt nicht, in dieſem düſtern Un¬
geſtüm ſeines zwanzigſten Jahres.“


„Der Vorwitz lockt ihn in die Weite,

Kein Fels iſt ihm zu ſchroff, kein Steg zu ſchmal;

Der Unfall lauert an der Seite

Und ſtürzt ihn in den Arm der Qual.

Dann treibt die ſchmerzlich überſpannte Regung

Gewaltſam ihn bald da, bald dort hinaus,

Und von unmuthiger Bewegung

Ruht er unmuthig wieder aus.

Und düſter wild an heitern Tagen,

Unbändig ohne froh zu ſeyn,

Schläft er, an Seel' und Leib verwundet und zerſchlagen,

Auf einem harten Lager ein.“

„So war er ganz und gar. Es iſt darin nicht der
kleinſte Zug übertrieben. Doch aus dieſer Sturm- und
Drang-Periode hatte ſich der Herzog bald zu wohlthä¬
tiger Klarheit durchgearbeitet, ſo daß ich ihn zu ſeinem
Geburtstage im Jahre 1783 an dieſe Geſtalt ſeiner
früheren Jahre ſehr wohl erinnern mochte.“


„Ich läugne nicht, er hat mir anfänglich manche
Noth und Sorge gemacht. Doch ſeine tüchtige Natur
reinigte ſich bald und bildete ſich bald zum Beſten, ſo
daß es eine Freude wurde, mit ihm zu leben und zu
wirken.“


Sie machten, bemerkte ich, in dieſer erſten Zeit
mit ihm eine einſame Reiſe durch die Schweiz.


„Er liebte überhaupt das Reiſen, erwiederte Goethe;
doch war es nicht ſowohl, um ſich zu amüſiren und
zu zerſtreuen, als um überall die Augen und Ohren
[269] offen zu haben und auf allerlei Gutes und Nützliches
zu achten, das er in ſeinem Lande einführen könnte.
Ackerbau, Viehzucht und Induſtrie ſind ihm auf dieſe
Weiſe unendlich viel ſchuldig geworden. Ueberhaupt
waren ſeine Tendenzen nicht perſönlich, egoiſtiſch, ſondern
rein productiver Art, und zwar productiv für das all¬
gemeine Beſte. Dadurch hat er ſich denn auch einen
Namen gemacht, der über dieſes kleine Land weit hin¬
ausgeht.“


Sein ſorgloſes einfaches Aeußere, ſagte ich, ſchien
anzudeuten, daß er den Ruhm nicht ſuche und daß er
ſich wenig aus ihm mache. Es ſchien, als ſey er be¬
rühmt geworden, ohne ſein weiteres Zuthun, bloß wegen
ſeiner ſtillen Tüchtigkeit.


„Es iſt damit ein eigenes Ding, erwiederte Goethe.
Ein Holz brennt, weil es Stoff dazu in ſich hat, und
ein Menſch wird berühmt, weil der Stoff dazu in ihm
vorhanden. Suchen läßt ſich der Ruhm nicht und
alles Jagen danach iſt eitel. Es kann ſich wohl Je¬
mand durch kluges Benehmen und allerlei künſtliche
Mittel eine Art von Namen machen. Fehlt aber dabei
das innere Juwel, ſo iſt es eitel und hält nicht auf
den andern Tag.“


„Ebenſo iſt es mit der Gunſt des Volkes. Er
ſuchte ſie nicht und that den Leuten keineswegs ſchön;
aber das Volk liebte ihn, weil es fühlte, daß er ein
Herz für ſie habe.“

[270]

Goethe erwähnte ſodann die übrigen Glieder des
Großherzoglichen Hauſes, und wie durch alle der Zug
eines edlen Charakters gehe. Er ſprach über die Her¬
zensgüte des jetzigen Regenten, über die großen Hoff¬
nungen, zu denen der junge Prinz berechtige, und ver¬
breitete ſich mit ſichtbarer Liebe über die ſeltenen Eigen¬
ſchaften der jetzt regierenden hohen Fürſtin, welche im
edelſten Sinne große Mittel verwende, um überall Leiden
zu lindern und gute Keime zu wecken. „Sie iſt von
jeher für das Land ein guter Engel geweſen, ſagte er,
und wird es mehr und mehr, je länger ſie ihm verbun¬
den iſt. Ich kenne die Großherzogin ſeit dem Jahre 1805,
und habe Gelegenheit in Menge gehabt, ihren Geiſt
und Charakter zu bewundern. Sie iſt eine der beſten
und bedeutendſten Frauen unſerer Zeit, und würde es
ſeyn, wenn ſie auch keine Fürſtin wäre. Und das iſt's
eben, worauf es ankommt, daß, wenn auch der Purpur
abgelegt worden, noch ſehr viel Großes, ja eigentlich
noch das Beſte, übrig bleibe.“


Wir ſprachen ſodann über die Einheit Deutſchlands,
und in welchem Sinne ſie möglich und wünſchenswerth.


„Mir iſt nicht bange, ſagte Goethe, daß Deutſch¬
land nicht eins werde; unſere guten Chauſſeen und
künftigen Eiſenbahnen werden ſchon das Ihrige thun.
Vor Allem aber ſey es eins in Liebe untereinander!
und immer ſey es eins gegen den auswärtigen Feind.
Es ſey eins, daß der deutſche Thaler und Groſchen im
[271] ganzen Reiche gleichen Werth habe; eins, daß mein
Reiſekoffer durch alle ſechs und dreißig Staaten unge¬
öffnet paſſiren könne. Es ſey eins, daß der ſtädtiſche
Reiſepaß eines Weimar'ſchen Bürgers von dem Grenz¬
beamten eines großen Nachbarſtaates nicht für unzu¬
länglich gehalten werde, als der Paß eines Auslän¬
ders
. Es ſey von Inland und Ausland unter deut¬
ſchen Staaten überall keine Rede mehr. Deutſchland
ſey ferner eins in Maaß und Gewicht, in Handel und
Wandel, und hundert ähnlichen Dingen, die ich nicht
alle nennen kann und mag.“


„Wenn man aber denkt, die Einheit Deutſchlands
beſtehe darin, daß das ſehr große Reich eine einzige
große Reſidenz habe, und daß dieſe eine große Reſidenz,
wie zum Wohl der Entwickelung einzelner großer Ta¬
lente, ſo auch zum Wohl der großen Maſſe des Volkes
gereiche, ſo iſt man im Irrthum.“


„Man hat einen Staat wohl einem lebendigen Kör¬
per mit vielen Gliedern verglichen, und ſo ließe ſich
wohl die Reſidenz eines Staates dem Herzen verglei¬
chen, von welchem aus Leben und Wohlſeyn in die
einzelnen nahen und fernen Glieder ſtrömt. Sind aber
die Glieder ſehr ferne vom Herzen, ſo wird das zuſtrö¬
mende Leben ſchwach und immer ſchwächer empfunden
werden. Ein geiſtreicher Franzoſe, ich glaube Dupin,
hat eine Karte über den Culturzuſtand Frankreichs ent¬
worfen, und die größere oder geringere Aufklärung der
[272] verſchiedenen Departements mit helleren oder dunkleren
Farben zur Anſchauung gebracht. Da finden ſich nun,
beſonders in ſüdlichen, weit von der Reſidenz entlegenen
Provinzen, einzelne Departements, die in ganz ſchwar¬
zer Farbe daliegen, als Zeichen einer dort herrſchenden
großen Finſterniß. Würde das aber wohl ſeyn, wenn
das ſchöne Frankreich, ſtatt des einen großen Mittel¬
punktes, zehn Mittelpunkte hätte, von denen Licht und
Leben ausginge?“


„Wodurch iſt Deutſchland groß, als durch eine be¬
wundernswürdige Volks-Cultur, die alle Theile des
Reichs gleichmäßig durchdrungen hat. Sind es aber
nicht die einzelnen Fürſtenſitze, von denen ſie ausgeht
und welche ihre Träger und Pfleger ſind? — Geſetzt,
wir hätten in Deutſchland ſeit Jahrhunderten nur die
beiden Reſidenzſtädte Wien und Berlin, oder gar nur
eine, da möchte ich doch ſehen, wie es um die deutſche
Cultur ſtände? ja auch um einen überall verbreiteten
Wohlſtand, der mit der Cultur Hand in Hand geht!“


„Deutſchland hat über zwanzig im ganzen Reich
vertheilte Univerſitäten, und über hundert ebenſo ver¬
breitete öffentliche Bibliotheken. An Kunſtſammlungen
und Sammlungen von Gegenſtänden aller Naturreiche
gleichfalls eine große Zahl; denn jeder Fürſt hat dafür
geſorgt, dergleichen Schönes und Gutes in ſeine Nähe
heranzuziehen. Gymnaſien und Schulen für Technik und
Induſtrie ſind im Ueberfluß da. Ja es iſt kaum ein
[273] deutſches Dorf, das nicht ſeine Schule hätte. Wie
ſteht es aber um dieſen letzten Punkt in Frankreich!“ —


„Und wiederum die Menge deutſcher Theater, deren
Zahl über ſiebenzig hinausgeht und die doch auch als
Träger und Beförderer höherer Volksbildung keines¬
wegs zu verachten. Der Sinn für Muſik und Geſang
und ihre Ausübung iſt in keinem Lande verbreitet,
wie in Deutſchland, und das iſt auch etwas!“


„Nun denken Sie aber an Städte wie Dresden,
München, Stuttgart, Caſſel, Braunſchweig, Hannover,
und ähnliche; denken Sie an die großen Lebenselemente,
die dieſe Städte in ſich ſelber tragen; denken Sie an
die Wirkungen, die von ihnen auf die benachbarten
Provinzen ausgehen, und fragen Sie ſich, ob das Alles
ſeyn würde, wenn ſie nicht ſeit langen Zeiten die Sitze
von Fürſten geweſen?“


„Frankfurt, Bremen, Hamburg, Lübeck ſind groß
und glänzend, ihre Wirkungen auf den Wohlſtand von
Deutſchland gar nicht zu berechnen. Würden ſie aber wohl
bleiben, was ſie ſind, wenn ſie ihre eigene Souverai¬
netät verlieren und irgend einem großen deutſchen Reich
als Provinzialſtädte einverleibt werden ſollten? — Ich
habe Urſache, daran zu zweifeln.“

Heute hatte ich mit Goethen einen anmuthigen
Spaß ganz beſonderer Art. Madame Duval zu Car¬
III. 18[274] tigny im Canton Genf nämlich, die ſehr geſchickt in
Zubereitung von Confituren iſt, hatte mir als Producte
ihrer Kunſt einige Cedraten für die Frau Großfürſtin
und Goethe geſchickt, völlig überzeugt, daß ihre Con¬
fituren alle anderen ſo weit übertreffen, als die Gedichte
Goethe's diejenigen der meiſten ſeiner deutſchen Mitbe¬
werber.


Die älteſte Tochter jener Dame hatte nun ſchon
längſt eine Handſchrift Goethe's gewünſcht, — worauf es
mir einfiel, daß es klug ſeyn würde, durch die ſüße
Lockſpeiſe der Cedraten Goethen zu einem Gedicht für
meine junge Freundin anzukörnen.


Mit der Miene eines mit einem wichtigen Geſchäft
beauftragten Diplomaten ging ich daher zu ihm und
unterhandelte mit ihm als Macht gegen Macht, indem
ich für die offerirten Cedraten ein Originalgedicht ſeiner
Hand zur Bedingung machte. Goethe lachte über die¬
ſen Scherz, den er ſehr wohl aufnahm, und ſich ſogleich
die Cedraten erbat, die er ganz vortrefflich fand. We¬
nige Stunden darauf war ich ſehr überraſcht, folgende
Verſe als ein Weihnachtsgeſchenk für meine junge Freun¬
din ankommen zu ſehen:


Glücklich Land, allwo Cedraten

Zur Vollkommenheit gerathen!

Und zu reizendem Genießen

Kluge Frauen ſie durchſüßen! ꝛc.

Als ich ihn wieder ſah, ſcherzte er über den Vor¬
theil, den er jetzt aus ſeinem poetiſchen Metier zu zie¬
[275] hen im Stande ſey, während er in ſeiner Jugend zu
ſeinem Götz keinen Verleger habe finden können. „Ihren
Handelsvertrag, ſagte er, nehme ich an; wenn meine
Cedraten verſchmauſ't ſeyn werden, vergeſſen Sie ja nicht
andere zu kommandiren; ich werde pünktlich mit mei¬
nen poetiſchen Wechſeln zahlen.“

Ich hatte in voriger Nacht einen wunderlichen
Traum, den ich dieſen Abend Goethen erzählte und
den er ſehr artig fand. Ich ſah mich nämlich in einer
fremden Stadt, in einer breiten Straße gegen Südoſt,
wo ich mit einer Menge Menſchen ſtand und den Him¬
mel betrachtete, der wie mit leiſen Dünſten bedeckt
ſchien und im hellſten Gelb leuchtete. Jedermann war
erwartungsvoll, was ſich ereignen würde, als ſich zwei
feurige Punkte bildeten, die, gleich Meteorſteinen, mit
Krachen vor uns niederfuhren, nicht weit von der
Stelle, wo wir ſtanden. Man eilte hin, um zu ſehen
was herabgekommen war, und ſiehe! es trat mir ent¬
gegen: Fauſt und Mephiſtopheles. — Ich war
erfreut-verwundert, und geſellte mich zu ihnen, als
zu Bekannten, und ging neben ihnen her in heiterer
Unterhaltung, indem wir um die nächſte Straßenecke
bogen. Was wir ſprachen, iſt mir nicht geblieben;
doch der Eindruck ihres körperlichen Weſens war ſo
eigener Art, daß er mir vollkommen deutlich und nicht
18*[276] leicht zu vergeſſen iſt. Beide waren jünger, als man
ſie gewöhnlich zu denken pflegt, und zwar mochte Me¬
phiſtopheles ein und zwanzig Jahre ſeyn, wenn Fauſt
ſieben und zwanzig haben konnte. Erſterer erſchien
durchaus vornehm, heiter und frei; er ſchritt ſo leicht
einher, wie man ſich etwa den Merkur denkt. Sein
Geſicht war ſchön, ohne bösartig, und man hätte nicht
erkennen mögen, daß es der Teufel ſey, wenn nicht
von ſeiner jugendlichen Stirn zwei zierliche Hörner ſich
erhoben und ſeitwärts gebogen hätten, ſo wie wohl
ein ſchöner Haarwuchs ſich erhebt und zu beiden Sei¬
ten umbiegt. Als Fauſt im Gehen ſein Geſicht redend
mir zuwandte, war ich erſtaunt über den eigenartigen
Ausdruck. Die edelſte Sittlichkeit und Herzensgüte
ſprach aus jedem Zuge, als das Vorwaltende, Urſprüng¬
liche ſeiner Natur. Man ſah ihm an, als wären alle
menſchlichen Freuden, Leiden und Gedanken, trotz ſeiner
Jugend, bereits durch ſeine Seele gegangen, — ſo durch¬
gearbeitet war ſein Geſicht! Er war ein wenig blaß
und ſo anziehend, daß man ſich nicht ſatt an ihm ſehen
konnte; ich ſuchte mir ſeine Züge einzuprägen, um ſie
zu zeichnen. Fauſt ging rechts, Mephiſtopheles zwiſchen
uns Beiden, und es iſt mir der Eindruck geblieben,
wie Fauſt ſein ſchönes eigenartiges Geſicht herumwandte,
um mit Mephiſtopheles oder mit mir zu reden. Wir
gingen durch die Straßen und die Menge verlief ſich,
ohne weiter auf uns zu achten.

[[277]]

1830–1832.

[[278]][[279]]

Goethe ſprach über Lavater und ſagte mir viel
Gutes von ſeinem Charakter. Auch Züge von ihrer
früheren intimen Freundſchaft erzählte mir Goethe, und
wie ſie zu jener Zeit oft brüderlich zuſammen in einem
und demſelbigen Bette geſchlafen. „Es iſt zu bedauern,
fügte er hinzu, daß ein ſchwacher Myſticismus dem
Aufflug, ſeines Genies ſo bald Grenzen ſetzte!“

Wir ſprachen über die Geſchichte Napoleon's
von Walter Scott.


„Es iſt wahr, ſagte Goethe, man kann dem Ver¬
faſſer dabei große Ungenauigkeiten und eine ebenſo große
Parteilichkeit vorwerfen; allein gerade dieſe beiden Män¬
gel geben ſeinem Werke in meinen Augen einen ganz
beſonderen Werth. — Der Erfolg des Buches war in
England über alle Begriffe groß, und man ſieht alſo,
daß Walter Scott eben in ſeinem Haß gegen Napoleon
und die Franzoſen der wahre Dolmetſcher und Re¬
präſentant der engliſchen Volksmeinung und des eng¬
[280] liſchen Nationalgefühls geweſen iſt. Sein Buch wird
keineswegs ein Document für die Geſchichte Frankreichs,
allein es wird eins für die Geſchichte Englands ſeyn.
Auf jeden Fall aber iſt es eine Stimme, die bei dieſem
wichtigen hiſtoriſchen Proceß nicht fehlen durfte.“


„Ueberhaupt iſt es mir angenehm, über Napoleon
die entgegengeſetzteſten Meinungen zu hören. Ich leſe
jetzt das Werk von Bignon, welches mir einen ganz
beſonderen Werth zu haben ſcheint.“

Ich brachte Goethen die Verzeichniſſe, die ich über die
hinterlaſſenen Schriften Dumont's, als Vorbereitung
einer Herausgabe derſelben, gemacht hatte. — Goethe
las ſie mit vieler Sorgfalt und ſchien erſtaunt über die
Maſſe von Kenntniſſen, Intereſſen und Ideen, die er
bei dem Autor ſo verſchiedener und reichhaltiger Ma¬
nuſcripte vorauszuſetzen Urſache habe.


„Dumont, ſagte er, muß ein Geiſt von großem Um¬
fange geweſen ſeyn. Unter den Gegenſtänden, die er
ebhandelt hat, iſt nicht ein einziger, der nicht an ſich
intereſſant und bedeutend wäre; und die Wahl der
Gegenſtände zeigt immer, was Einer für ein Mann und
weß Geiſtes Kind er iſt. Nun kann man zwar nicht
verlangen, daß der menſchliche Geiſt eine ſolche Univer¬
ſalität beſitze, um alle Gegenſtände mit einem gleichen
Talent und Glück zu behandeln; aber wenn es auch
[281] dem Autor mit allen nicht auf gleiche Weiſe gelungen
ſeyn ſollte, ſo giebt ſchon der bloße Vorſatz und Wille,
ſie zu behandeln, mir von ihm eine ſehr hohe Meinung.
Ich finde beſonders merkwürdig und ſchätzbar, daß bei
ihm überall eine praktiſche, nützliche und wohlwollende
Tendenz vorwaltet.“


Ich hatte ihm zugleich die erſten Capitel der Reiſe
nach Paris mitgebracht, die ich ihm vorleſen wollte, die
er aber vorzog allein zu betrachten.


Er ſcherzte darauf über die Schwierigkeit des Le¬
ſens und den Dünkel vieler Leute, die ohne alle Vor¬
ſtudien und vorbereitenden Kenntniſſe ſogleich jedes phi¬
loſophiſche und wiſſenſchaftliche Werk leſen möchten, als
wenn es eben nichts weiter als ein Roman wäre.


„Die guten Leutchen, fuhr er fort, wiſſen nicht,
was es Einem für Zeit und Mühe gekoſtet, um leſen
zu lernen
. Ich habe achtzig Jahre dazu gebraucht,
und kann noch jetzt nicht ſagen, daß ich am Ziele wäre.“

Mittags mit Goethe ſehr vergnügt bei Tiſch. Er
ſprach mit großer Anerkennung über Herrn von Mar¬
tius
. „Sein Aperçu der Spiraltendenz, ſagte er, iſt
von der höchſten Bedeutung. Hätte ich bei ihm noch
etwas zu wünſchen, ſo wäre es, daß er ſein entdecktes
Urphänomen mit entſchiedener Kühnheit durchführte,
und daß er die Courage hätte, ein Factum als Geſetz
[282] auszuſprechen, ohne die Beſtätigung allzuſehr im Wei¬
ten zu ſuchen.“


Er zeigte mir darauf die Verhandlungen der natur¬
forſchenden Verſammlung zu Heidelberg, mit hinterge¬
druckten Facſimile's der Handſchriften, die wir betrach¬
ten und auf den Charakter ſchließen.


„Ich weiß recht gut, ſagte Goethe, daß bei dieſen
Verſammlungen für die Wiſſenſchaft nicht ſo viel her¬
auskommt, als man ſich denken mag; aber ſie ſind
vortrefflich, daß man ſich gegenſeitig kennen und mög¬
licherweiſe lieben lerne, woraus denn folgt, daß man
irgend eine neue Lehre eines bedeutenden Menſchen
wird gelten laſſen, und dieſer wiederum geneigt ſeyn
wird, uns in unſeren Richtungen eines anderen Faches
anzuerkennen und zu fördern. Auf jeden Fall ſehen
wir, daß etwas geſchieht, und Niemand kann wiſſen,
was dabei herauskommt.“


Goethe zeigte mir ſodann einen Brief eines eng¬
liſchen Schriftſtellers mit der Adreſſe: An Sr. Durch¬
laucht den Fürſten Goethe
. „Dieſen Titel, ſagte
Goethe lachend, habe ich wahrſcheinlich den deutſchen
Journaliſten zu danken, die mich aus allzugroßer Liebe
wohl den deutſchen Dichterfürſten genannt haben. Und
ſo hat denn der unſchuldige deutſche Irrthum den eben¬
ſo unſchuldigen Irrthum des Engländers zur Folge
gehabt.“


Goethe kam darauf wieder auf Herrn von Martius
[283] zurück und rühmte an ihm, daß er Einbildungskraft
beſitze. „Im Grunde, fuhr er fort, iſt ohne dieſe hohe
Gabe ein wirklich großer Naturforſcher gar nicht zu
denken. Und zwar meine ich nicht eine Einbildungs¬
kraft, die ins Vage geht und ſich Dinge imaginirt,
die nicht exiſtiren; ſondern ich meine eine ſolche, die
den wirklichen Boden der Erde nicht verläßt, und mit
dem Maßſtab des Wirklichen und Erkannten zu geahne¬
ten, vermutheten Dingen ſchreitet. Da mag ſie denn
prüfen, ob denn dieſes Geahnete auch möglich ſey und
ob es nicht in Widerſpruch mit anderen bewußten Ge¬
ſetzen komme. Eine ſolche Einbildungskraft ſetzt aber
freilich einen weiten, ruhigen Kopf voraus, dem eine
große Ueberſicht der lebendigen Welt und ihrer Geſetze
zu Gebote ſteht.“


Während wir ſprachen, kam ein Paket mit einer
Ueberſetzung der Geſchwiſter ins Böhmiſche, die
Goethen große Freude zu machen ſchien.

Beſuch bei Goethe in Begleitung des Prinzen. Er
empfing uns in ſeinem Arbeitszimmer.


Wir ſprachen über die verſchiedenen Ausgaben ſei¬
ner Werke, wobei es mir auffallend war, von ihm zu
hören, daß er den größten Theil dieſer Editionen ſel¬
ber nicht beſitze. Auch die erſte Ausgabe ſeines römi¬
ſchen Carnevals, mit Kupfern nach eigenen Original¬
[284] zeichnungen, beſitze er nicht. Er habe, ſagte er, in
einer Auction ſechs Thaler dafür geboten, ohne ſie zu
erhalten.


Er zeigte uns darauf das erſte Manuſcript ſeines
Götz von Berlichingen, ganz in der urſprünglichen Ge¬
ſtalt, wie er es vor länger als funfzig Jahren auf
Anregung ſeiner Schweſter in wenigen Wochen geſchrie¬
ben. Die ſchlanken Züge der Handſchrift trugen ſchon
ganz den freien klaren Charakter, wie ihn ſeine deutſche
Schrift ſpäter immer behalten und auch noch jetzt hat.
Das Manuſcript war ſehr reinlich, man las ganze Sei¬
ten ohne die geringſte Correctur, ſo daß man es eher
für eine Copie, als für einen erſten raſchen Entwurf
hätte halten ſollen.


Seine früheſten Werke hat Goethe, wie er uns
ſagte, alle mit eigener Hand geſchrieben, auch ſeinen
Werther; doch iſt das Manuſcript verloren gegangen.
In ſpäterer Zeit dagegen hat er faſt Alles dictirt, und
nur Gedichte und flüchtig notirte Pläne finden ſich von
ſeiner eigenen Hand. Sehr oft hat er nicht daran ge¬
dacht, von einem neuen Product eine Abſchrift nehmen
zu laſſen; vielmehr hat er häufig die koſtbarſte Dich¬
tung dem Zufall preisgegeben, indem er öfter als ein¬
mal das einzige Exemplar, das er beſaß, nach Stutt¬
gart in die Druckerei ſchickte.


Nachdem wir das Manuſcript des Berlichingen ge¬
nugſam betrachtet, zeigte Goethe uns das Original
[285] ſeiner italieniſchen Reiſe. In dieſen täglich niederge¬
ſchriebenen Beobachtungen und Bemerkungen finden ſich
in Bezug auf die Handſchrift dieſelbigen guten Eigen¬
ſchaften, wie bei ſeinem Götz. Alles iſt entſchieden,
feſt und ſicher, nichts iſt corrigirt, und man ſieht, daß
dem Schreibenden das Detail ſeiner augenblicklichen
Notizen immer friſch und klar vor der Seele ſtand.
Nichts iſt veränderlich und wandelbar, ausgenommen
das Papier, das in jeder Stadt, wo der Reiſende ſich
aufhielt, in Format und Farbe ſtets ein anderes wurde.


Gegen das Ende dieſes Manuſcripts fand ſich eine
geiſtreich hingeworfene Federzeichnung von Goethe, näm¬
lich die Abbildung eines italieniſchen Advocaten, wie er
in ſeiner großen Amtskleidung vor Gericht eine Rede
hält. Es war die merkwürdigſte Figur, die man ſich
denken konnte, und ſein Anzug ſo auffallend, daß man
hätte glauben ſollen, er habe ihn gewählt, um auf eine
Maskerade zu gehen. Und doch war Alles nur eine
treue Darſtellung nach dem wirklichen Leben. Den
Zeigefinger auf die Spitze des Daumens und die übri¬
gen Finger ausgeſtreckt haltend, ſtand der dicke Redner
behaglich da, und dieſe wenige Bewegung paßte recht
gut zu der großen Perücke, womit er ſich behängt hatte.

Wir ſprachen über den Globe und Temps, und dieß
führte auf die franzöſiſche Literatur und Literatoren.


[286]

Guizot, ſagte Goethe unter andern, iſt ein Mann
nach meinem Sinne, er iſt ſolide. Er beſitzt tiefe Kennt¬
niſſe, verbunden mit einem aufgeklärten Liberalismus,
der, über den Parteien ſtehend, ſeinen eigenen Weg
geht. Ich bin begierig, zu ſehen, welche Rolle er in
den Kammern ſpielen wird, wozu man ihn jetzt ge¬
wählt hat.“


Leute, die ihn nur oberflächlich zu kennen ſcheinen,
erwiederte ich, haben mir ihn als etwas pedantiſch ge¬
ſchildert.


„Es bleibt zu wiſſen übrig, entgegnete Goethe,
welche Sorte von Pedanterie man ihm vorwirft. Alle
bedeutenden Menſchen, die in ihrer Lebensweiſe eine
gewiſſe Regelmäßigkeit und feſte Grundſätze beſitzen,
die viel nachgedacht haben und mit den Angelegenheiten
des Lebens kein Spiel treiben, können ſehr leicht in
den Augen oberflächlicher Beobachter als Pedanten er¬
ſcheinen. Guizot iſt ein weitſehender, ruhiger, feſthal¬
tender Mann, der der franzöſiſchen Beweglichkeit gegen¬
über gar nicht genug zu ſchätzen und gerade ein ſolcher
iſt, wie ſie ihn brauchen.“


Villemain, fuhr Goethe fort, iſt vielleicht glän¬
zender als Redner; er beſitzt die Kunſt einer gewandten
Entwickelung aus dem Grunde; er iſt nie verlegen um
ſchlagende Ausdrücke, wodurch er die Aufmerkſamkeit
feſſelt und ſeine Hörer zu lautem Beifall fortreißt; aber
[287] er iſt weit oberflächlicher, als Guizot, und weit weniger
praktiſch.“


„Was Couſin betrifft, ſo kann er zwar uns Deut¬
ſchen wenig geben, indem die Philoſophie, die er ſeinen
Landsleuten als etwas Neues bringt, uns ſeit vielen
Jahren bekannt iſt; allein er iſt für die Franzoſen von
großer Bedeutung. Er wird ihnen eine ganz neue
Richtung geben.“


Cuvier, der große Naturkenner, iſt bewunderns¬
würdig durch ſeine Darſtellung und ſeinen Styl. Nie¬
mand exponirt ein Factum beſſer, als er. Allein er
beſitzt faſt gar keine Philoſophie. Er wird ſehr unter¬
richtete Schüler erziehen, aber wenig tiefe.“


Alles dieſes zu hören, war mir um ſo intereſſanter,
als es mit den Anſichten Dumont's über die gedachten
Männer ſehr nahe zuſammentraf. Ich verſprach Goe¬
then, ihm die betreffenden Stellen aus deſſen Manu¬
ſcripten abzuſchreiben, damit er ſie mit ſeiner eigenen
Meinung gelegentlich vergleichen möge.


Die Erwähnung Dumont's brachte das Geſpräch
auf deſſen Verhältniß zu Bentham, worüber ſich
Goethe alſo äußerte:


„Es iſt für mich ein intereſſantes Problem, ſagte
er, wenn ich ſehe, daß ein ſo vernünftiger, ſo gemäßig¬
ter und ſo praktiſcher Mann, wie Dumont, der Schüler
und treue Verehrer dieſes Narren Bentham ſeyn konnte.“


Bentham, erwiederte ich, iſt gewiſſermaßen als eine
[288] doppelte Perſon zu betrachten. Ich unterſcheide Ben¬
tham das Genie
, das die Prinzipien erſann, die
Dumont der Vergeſſenheit entzog, indem er ſie aus¬
arbeitete, und Bentham den leidenſchaftlichen
Mann
, der aus übertriebenem Nützlichkeitseifer die
Grenzen ſeiner eigenen Lehre überſchritt und dadurch
ſowohl in der Politik, als in der Religion, zum Radi¬
calen ward.


„Das aber, erwiederte Goethe, iſt eben ein neues
Problem für mich, daß ein Greis die Laufbahn eines
langen Lebens damit beſchließen kann, in ſeinen letzten
Tagen noch ein Radicaler zu werden.“


Ich ſuchte dieſen Widerſpruch zu löſen, indem ich
bemerkte, daß Bentham, in der Ueberzeugung von der
Vortrefflichkeit ſeiner Lehre und ſeiner Geſetzgebung, und
bei der Unmöglichkeit, ſie ohne eine völlige Verände¬
rung des herrſchenden Syſtems in England einzuführen,
ſich um ſo mehr von ſeinem leidenſchaftlichen Eifer habe
fortreißen laſſen, als er mit der äußern Welt wenig in
Berührung komme und die Gefahr eines gewaltſamen
Umſturzes nicht zu beurtheilen vermöge.


Dumont dagegen, fuhr ich fort, der weniger Leiden¬
ſchaft und mehr Klarheit beſitzt, hat die Ueberſpannung
Bentham's nie gebilligt, und iſt weit entfernt geweſen,
ſelber in einen ähnlichen Fehler zu fallen. Er hat
überdieß den Vortheil gehabt, die Prinzipien Bentham's
in einem Lande in Anwendung zu bringen, das in
[289] Folge politiſcher Ereigniſſe zu jener Zeit gewiſſermaßen
als ein neues zu betrachten war, nämlich in Genf,
wo denn auch Alles vollkommen gelang und der glück¬
liche Erfolg den Werth des Prinzips an den Tag legte.


„Dumont, erwiederte Goethe, iſt eben ein gemäßig¬
ter Liberaler, wie es alle vernünftigen Leute ſind und
ſeyn ſollen, und wie ich ſelber es bin und in welchem
Sinne zu wirken ich während eines langen Lebens mich
bemüht habe.“


„Der wahre Liberale, fuhr er fort, ſucht mit den
Mitteln, die ihm zu Gebote ſtehen, ſo viel Gutes zu
bewirken, als er nur immer kann; aber er hütet ſich,
die oft unvermeidlichen Mängel ſogleich mit Feuer und
Schwert vertilgen zu wollen. Er iſt bemüht, durch ein
kluges Vorſchreiten die öffentlichen Gebrechen nach und
nach zu verdrängen, ohne durch gewaltſame Maßregeln
zugleich oft eben ſo viel Gutes mit zu verderben. Er
begnügt ſich in dieſer ſtets unvollkommenen Welt ſo
lange mit dem Guten, bis ihn, das Beſſere zu errei¬
chen, Zeit und Umſtände begünſtigen.“

Bei Frau v. Goethe zu Tiſche. Der junge Goethe
erzählte einiges Artige von ſeiner Großmutter, der Frau
Rath Goethe zu Frankfurt
, die er vor zwanzig
Jahren als Student beſucht habe, und mit der er eines
Mittags beim Fürſten Primas zur Tafel geladen worden.


III. 19[290]

Der Fürſt ſey der Frau Rath aus beſonderer Höf¬
lichkeit auf der Treppe entgegen gekommen; da er aber
ſeine gewöhnliche geiſtliche Kleidung getragen, ſo habe
ſie ihn für einen Abbé gehalten und nicht ſonderlich
auf ihn geachtet. Auch habe ſie anfänglich bei Tafel,
an ſeiner Seite ſitzend, nicht eben das freundlichſte Ge¬
ſicht gemacht. Im Laufe des Geſprächs aber ſey ihr
an dem Benehmen der übrigen Anweſenden nach und
nach beigegangen, daß es der Primas ſey.


Der Fürſt habe darauf ihre und ihres Sohnes Ge¬
ſundheit getrunken, worauf denn die Frau Rath auf¬
geſtanden und die Geſundheit Sr. Hoheit ausgebracht.

Heute nach Tiſch war ich einen Augenblick bei
Goethe. Er freute ſich des herannahenden Frühlings
und der wieder länger werdenden Tage. Dann ſpra¬
chen wir über die Farbenlehre. Er ſchien an der Mög¬
lichkeit zu zweifeln, ſeiner einfachen Theorie Bahn zu
machen. „Die Irrthümer meiner Gegner, ſagte er,
ſind ſeit einem Jahrhundert zu allgemein verbreitet,
als daß ich auf meinem einſamen Wege hoffen könnte,
noch dieſen oder jenen Gefährten zu finden. Ich werde
allein bleiben! — Ich komme mir oft vor wie ein Mann
in einem Schiffbruch, der ein Brett ergreift, das nur
einen Einzigen zu tragen im Stande iſt. Dieſer Eine
rettet ſich, während alle Uebrigen jämmerlich erſaufen.“


[291]

Der heutige Tag war für Weimar ein Tag der
Trauer; die Großherzogin Luiſe ſtarb dieſen Mittag
halb zwei Uhr. Die regierende Frau Großherzogin
befahl mir, bei Fräulein v. Waldner und Goethe in
Ihrem Namen einen Condolenzbeſuch zu machen.


Ich ging zuerſt zu Fräulein v. Waldner. Ich fand
ſie in Thränen und tiefer Betrübniß, und ſich ganz
dem Gefühl ihres erlittenen Verluſtes überlaſſend. „Ich
war, ſagte ſie, ſeit länger als fünfzig Jahren im Dienſt
der verewigten Fürſtin. Sie hatte mich ſelbſt zu ihrer
Ehrendame erwählt, und dieſe freie Wahl ihrerſeits
war mein Stolz und mein Glück. Ich habe mein Va¬
terland verlaſſen, um ihrem Dienſte zu leben. Hätte
ſie mich doch auch jetzt mit ſich genommen, damit ich
nicht nach einer Wiedervereinigung mit ihr ſo lange zu
ſeufzen brauchte!“


Ich ging darauf zu Goethe. Aber wie ganz anders
waren die Zuſtände bei ihm! — Er fühlte den ihn
betroffenen Verluſt gewiß nicht weniger tief; allein er
ſchien ſeiner Empfindungen auf alle Weiſe Herr bleiben
zu wollen. Ich fand ihn noch mit einem guten Freunde
bei Tiſche ſitzen und eine Flaſche Wein trinken. Er
ſprach lebhaft und ſchien überall in ſehr heiterer Stim¬
mung. „Wohlan! ſagte er, als er mich ſah, kommen
Sie her, nehmen Sie Platz! Der Schlag, der uns
lange gedroht, hat endlich getroffen, und wir haben
19*[292] wenigſtens nicht mehr mit der grauſamen Ungewißheit
zu kämpfen. Wir müſſen nun ſehen, wie wir uns mit
dem Leben wieder zurecht ſetzen.“


Dort ſind ihre Tröſter, ſagte ich, indem ich auf
ſeine Papiere zeigte. Die Arbeit iſt ein treffliches
Mittel, uns in Leiden wieder emporzurichten.


„So lange es Tag iſt, erwiederte Goethe, wollen
wir den Kopf ſchon oben halten, und ſo lange wir noch
hervorbringen können, werden wir nicht nachlaſſen.“


Er ſprach darauf über Perſonen, die ein hohes
Alter erreicht, und erwähnte auch die berühmte Ninon.
„Noch in ihrem neunzigſten Jahre, ſagte er, war ſie
jung; aber ſie verſtand es auch, ſich im Gleichgewicht
zu erhalten, und machte ſich aus den irdiſchen Dingen
nicht mehr als billig. Selbſt der Tod konnte ihr
keinen übermäßigen Reſpect einflößen. Als ſie in ih¬
rem achtzehnten Jahre von einer ſchweren Krankheit
genas und die Umſtehenden ihr die Gefahr ſchilderten,
in der ſie geſchwebt, ſagte ſie ganz ruhig: „Was wäre
es denn weiter geweſen! Hätte ich doch lauter Sterb¬
liche zurückgelaſſen! —“ Sie lebte darauf noch über
ſiebenzig Jahre, liebenswürdig und geliebt, und alle
Freuden des Lebens genießend; aber bei dieſem ihr
eigenthümlichen Gleichmuth ſich ſtets über jeder ver¬
zehrenden Leidenſchaftlichkeit erhaben haltend. Ninon
verſtand es! — Es giebt Wenige, die ihr es nachthun.“


Er reichte mir ſodann einen Brief des Königs von
[293] Baiern
, den er heute erhalten hatte und der zu ſeiner
heiteren Stimmung wahrſcheinlich nicht wenig beige¬
tragen. „Leſen Sie, ſagte er, und geſtehen Sie, daß
das Wohlwollen, das der König mir fortwährend be¬
wahrt, und das lebhafte Intereſſe, das er an den
Fortſchritten der Literatur und höheren menſchlichen
Entwickelung nimmt, durchaus geeignet iſt, mir Freude
zu machen. Und daß ich dieſen Brief gerade heute er¬
hielt, dafür danke ich dem Himmel, als für eine beſon¬
dere Gunſt.“


Wir ſprachen darauf über das Theater und drama¬
tiſche Poeſie. „Gozzi, ſagte Goethe, wollte behaupten,
daß es nur ſechs und dreißig tragiſche Situationen
gebe. Schiller gab ſich alle Mühe, noch mehrere zu
finden; allein er fand nicht einmal ſo viele als Gozzi.“


Dieß führte auf einen Artikel des Globe, und
zwar auf eine kritiſche Beleuchtung des „Guſtav Waſa“
von Arnault. Die Art und Weiſe, wie der Recenſent
ſich dabei benommen, machte Goethen viel Vergnügen
und fand ſeinen vollkommenen Beifall. Der Beurthei¬
lende hatte ſich nämlich damit begnügt, alle Remi¬
niscenzen des Autors namhaft zu machen, ohne ihn
ſelber und ſeine poetiſchen Grundſätze weiter anzu¬
greifen. „Der Temps, fügte Goethe hinzu, hat ſich
in ſeiner Kritik nicht ſo weiſe benommen. Er maßt
ſich an, dem Dichter den Weg vorſchreiben zu wollen,
den er hätte gehen müſſen. Dieß iſt ein großer Fehler;
[294] denn damit erreicht man nicht, ihn zu beſſern. Es
giebt überhaupt nichts Dümmeres, als einem Dichter
zu ſagen: Dieß hätteſt Du müſſen ſo machen und dieſes
ſo! Ich ſpreche als alter Kenner. Man wird aus
einem Dichter nie etwas Anderes machen, als was die
Natur in ihn gelegt hat. Wollt ihr ihn zwingen, ein
Anderer zu ſeyn, ſo werdet ihr ihn vernichten.“


„Meine Freunde, die Herren vom Globe, wie ge¬
ſagt, machen es ſehr klug. Sie drucken eine lange
Liſte aller Gemeinplätze, die der Herr Arnault aus
allen Ecken und Enden her geliehen hat. Und indem
ſie dieſes thun, deuten ſie ſehr geſchickt die Klippe an,
vor welcher der Autor ſich künftig zu hüten hat. Es
iſt faſt unmöglich, heutzutage noch eine Situation zu
finden, die durchaus neu wäre. Bloß die Anſchauungs¬
weiſe und die Kunſt, ſie zu behandeln und darzuſtellen,
kann neu ſeyn, und hiebei muß man um ſo mehr vor
jeder Nachahmung ſich in Acht nehmen.“


Goethe erzählte uns darauf die Art und Weiſe,
wie Gozzi ſein Theater del Arte zu Venedig einge¬
richtet hatte und wie ſeine improviſirende Truppe be¬
liebt geweſen. „Ich habe, ſagte er, zu Venedig noch
zwei Actricen jener Truppe geſehen, beſonders die
Brighella, und habe noch mehreren ſolcher improviſirten
Stücke mit beigewohnt. Die Wirkung die dieſe Leute
hervorbrachten war außerordentlich.“


Goethe ſprach ſodann über den Neapolitaner Pulci¬
[295] nell
. „Ein Hauptſpaß dieſer niedrig-comiſchen Perſonage,
ſagte er, beſtand darin, daß er zuweilen auf der Bühne
ſeine Rolle als Schauſpieler auf einmal ganz zu ver¬
geſſen ſchien. Er that, als wäre er wieder nach Hauſe
gekommen, ſprach vertraulich mit ſeiner Familie, erzählte
von dem Stücke, in welchem er geſpielt, und von einem
anderen, worin er noch ſpielen ſolle; auch genirte er
ſich nicht, kleinen Naturbedürfniſſen ungehinderte Frei¬
heit zu laſſen. „Aber, lieber Mann, rief ihm ſodann
ſeine Frau zu, Du ſcheinſt Dich ja ganz zu vergeſſen;
bedenke doch die werthe Verſammlung, vor welcher Du
Dich befindeſt! —“ E vero! E vero! erwiederte darauf
Pulcinell, ſich wieder beſinnend, und kehrte unter gro¬
ßem Applaus der Zuſchauer in ſein voriges Spiel
zurück. Das Theater des Pulcinell iſt übrigens von
ſolchem Ruf, daß Niemand in guter Geſellſchaft ſich
rühmt, darin geweſen zu ſeyn. Frauen, wie man den¬
ken kann, gehen überall nicht hin, es wird nur von
Männern beſucht.“


„Der Pulcinell iſt in der Regel eine Art lebendige
Zeitung. Alles, was den Tag über ſich in Neapel
Auffallendes zugetragen hat, kann man Abends von
ihm hören. Dieſe Localintereſſen, verbunden mit dem
niedern Volksdialekt, machen es jedoch dem Fremden
faſt unmöglich, ihn zu verſtehen.“


Goethe lenkte das Geſpräch auf andere Erinnerun¬
gen ſeiner früheren Zeit. Er ſprach über ſein geringes
[296] Vertrauen zum Papiergelde und welche Erfahrungen
er in dieſer Art gemacht. Als Beſtätigung erzählte er
uns eine Anekdote von Grimm, und zwar aus der
Zeit der franzöſiſchen Revolution, wo dieſer, es in
Paris nicht mehr für ſicher haltend, wieder nach Deutſch¬
land zurückgekehrt war und in Gotha lebte.


„Wir waren, ſagte Goethe, eines Tages bei Grimm
zu Tiſche. Ich weiß nicht mehr wie das Geſpräch es
herbeiführte, genug, Grimm rief mit einemmale: „Ich
wette, daß kein Monarch in Europa ein Paar ſo koſt¬
bare Handmanſchetten beſitzt als ich, und daß Keiner
dafür einen ſo hohen Preis bezahlt hat als ich
es habe.“ — Es läßt ſich denken, daß wir ein lautes
ungläubiges Erſtaunen ausdrückten, beſonders die Da¬
men, und daß wir Alle ſehr neugierig waren, ein Paar
ſo wunderbare Handmanſchetten zu ſehen. Grimm ſtand
alſo auf und holte aus ſeinem Schränkchen ein Paar
Spitzenmanſchetten von ſo großer Pracht, daß wir
Alle in laute Verwunderung ausbrachen. Wir verſuch¬
ten es, ſie zu ſchätzen, konnten ſie jedoch nicht höher
halten, als etwa zu hundert bis zweihundert Louisd'or.
Grimm lachte und rief: „Ihr ſeyd ſehr weit vom
Ziele! ich habe ſie mit zweimal hundert und
f
unfzig Tauſend Franken bezahlt, und war noch
glücklich, meine Aſſignaten ſo gut angebracht zu haben.
Am nächſten Tage galten ſie keinen Groſchen mehr.“

[297]

Ich war dieſen Vormittag einen Augenblick bei
Goethe, um mich im Namen der Frau Großherzogin
nach ſeinem Befinden zu erkundigen. Ich fand ihn
betrübt und gedankenvoll und von der geſtrigen etwas
gewaltſamen Aufgeregtheit keine Spur. Er ſchien die
Lücke, die der Tod in ein funfzigjähriges freundſchaft¬
liches Verhältniß geriſſen, heute tief zu empfinden.
„Ich muß mit Gewalt arbeiten, ſagte er, um mich oben
zu halten und mich in dieſe plötzliche Trennung zu
ſchicken. Der Tod iſt doch etwas ſo Seltſames, daß
man ihn, unerachtet aller Erfahrung, bei einem uns
theuren Gegenſtande nicht für möglich hält und er
immer als etwas Unglaubliches und Unerwartetes ein¬
tritt. Er iſt gewiſſermaßen eine Unmöglichkeit, die
plötzlich zur Wirklichkeit wird. Und dieſer Uebergang
aus einer uns bekannten Exiſtenz in eine andere, von
der wir auch gar nichts wiſſen, iſt etwas ſo Gewalt¬
ſames, daß es für die Zurückbleibenden nicht ohne die
tiefſte Erſchütterung abgeht“.

Eine nahe Verwandte der Jugendgeliebten Goethe's,
Fräulein von Türkheim, war einige Zeit in Weimar.
Ich drückte heute gegen Goethe mein Bedauern über
ihre Abreiſe aus. Sie iſt ſo jung, ſagte ich, und zeigt
eine ſo erhabene Geſinnung und einen ſo reifen Geiſt,
[298] wie man ihn bei ſolchem Alter ſelten findet. Ihr Er¬
ſcheinen hat überhaupt in Weimar großen Eindruck
gemacht. Wäre ſie länger geblieben, ſie hätte für
Manchen gefährlich werden können.


„Wie ſehr thut es mir leid, erwiederte Goethe, daß
ich ſie nicht öfter geſehen und daß ich anfänglich immer
verſchoben habe, ſie einzuladen, um mich ungeſtört mit
ihr zu unterhalten und die geliebten Züge ihrer Ver¬
wandten in ihr wieder aufzuſuchen.“


„Der vierte Band von Wahrheit und Dichtung,
fuhr er fort, wo Sie die jugendliche Glücks- und Lei¬
dens-Geſchichte meiner Liebe zu Lili erzählt finden
werden, iſt ſeit einiger Zeit vollendet. Ich hätte ihn
längſt früher geſchrieben und herausgegeben, wenn mich
nicht gewiſſe zarte Rückſichten gehindert hätten, und
zwar nicht Rückſichten gegen mich ſelber, ſondern gegen
die damals noch lebende Geliebte. Ich wäre ſtolz
geweſen, es der ganzen Welt zu ſagen, wie ſehr ich ſie
geliebt; und ich glaube, ſie wäre nicht erröthet, zu ge¬
ſtehen, daß meine Neigung erwiedert wurde. Aber
hatte ich das Recht, es öffentlich zu ſagen, ohne ihre
Zuſtimmung? Ich hatte immer die Abſicht, ſie darum
zu bitten; doch zögerte ich damit hin, bis es denn
endlich nicht mehr nöthig war.“


„Indem Sie, fuhr Goethe fort, mit ſolchem An¬
theil über das liebenswürdige junge Mädchen reden,
das uns jetzt verläßt, erwecken Sie in mir alle meine
[299] alten Erinnerungen. Ich ſehe die reizende Lili wieder
in aller Lebendigkeit vor mir, und es iſt mir, als
fühlte ich wieder den Hauch ihrer beglückenden Nähe.
Sie war in der That die Erſte, die ich tief und wahr¬
haft liebte. Auch kann ich ſagen, daß ſie die Letzte
geweſen; denn alle kleinen Neigungen, die mich in der
Folge meines Lebens berührten, waren, mit jener erſten
verglichen, nur leicht und oberflächlich.“


„Ich bin, fuhr Goethe fort, meinem eigentlichen
Glücke nie ſo nahe geweſen, als in der Zeit jener Liebe
zu Lili. Die Hinderniſſe, die uns auseinander hielten,
waren im Grunde nicht unüberſteiglich, — und doch ging
ſie mir verloren!“


„Meine Neigung zu ihr hatte etwas ſo Delicates
und etwas ſo Eigenthümliches, daß es jetzt, in Dar¬
ſtellung jener ſchmerzlich-glücklichen Epoche, auf meinen
Styl Einfluß gehabt hat. Wenn Sie künftig den vier¬
ten Band von Wahrheit und Dichtung leſen, ſo werden
Sie finden, daß jene Liebe etwas ganz Anderes iſt,
als eine Liebe in Romanen.“


Daſſelbige, erwiederte ich, könnte man auch von
Ihrer Liebe zu Gretchen und Friederike ſagen. Die
Darſtellung von Beiden iſt gleichfalls ſo neu und ori¬
ginell, wie die Romanſchreiber dergleichen nicht erfinden
und ausdenken. Es ſcheint dieſes von der großen
Wahrhaftigkeit des Erzählers herzurühren, der das Er¬
lebte nicht zu bemänteln geſucht, um es zu größerem
[300] Vortheil erſcheinen zu laſſen, und der jede empfindſame
Phraſe vermieden, wo ſchon die einfache Darlegung der
Ereigniſſe genügte.


Auch iſt die Liebe ſelbſt, fügte ich hinzu, ſich nie¬
mals gleich; ſie iſt ſtets original und modificirt ſich
ſtets nach dem Charakter und der Perſönlichkeit derje¬
nigen, die wir lieben.


„Sie haben vollkommen Recht, erwiederte Goethe;
denn nicht bloß wir ſind die Liebe, ſondern es iſt es
auch das uns anreizende liebe Object. Und dann,
was nicht zu vergeſſen, kommt als ein mächtiges Drit¬
tes noch das Dämoniſche hinzu, das jede Leidenſchaft
zu begleiten pflegt und das in der Liebe ſein eigent¬
liches Element findet. In meinem Verhältniß zu Lili
war es beſonders wirkſam; es gab meinem ganzen Le¬
ben eine andere Richtung und ich ſage nicht zuviel,
wenn ich behaupte, daß meine Herkunft nach Weimar
und mein jetziges Hierſeyn davon eine unmittelbare
Folge war.“

Goethe lieſt ſeit einiger Zeit die Memoiren von
St. Simon. —


„Mit dem Tode von Ludwig dem Vierzehnten, ſagte er
mir vor einigen Tagen, habe ich jetzt Halt gemacht. Bis
dahin hat mich das Dutzend Bände im hohen Grade
intereſſirt, und zwar durch den Contraſt der Willens¬
[301] richtungen des Herrn und der ariſtocratiſchen Tugend
des Dieners. Aber von dem Augenblick an, wo jener
Monarch abgeht und eine andere Perſonage auftritt,
die zu ſchlecht iſt, als daß St. Simon ſich zu ſeinem
Vortheil neben ihr ausnehmen könnte, machte die Lec¬
türe mir keine Freude mehr; der Widerwille trat ein,
und ich verließ das Buch da, wo mich der „Tyran
verließ.“


Auch den Globe und Temps, den Goethe ſeit meh¬
reren Monaten mit dem größten Eifer las, hat er ſeit
etwa vierzehn Tagen zu leſen aufgehört. Sowie die
Nummern bei ihm unter Kreuzband ankommen, legt er
ſie uneröffnet bei Seite. Indeß bittet er ſeine Freunde,
ihm zu erzählen was in der Welt vorgeht. Er iſt ſeit
einiger Zeit ſehr productiv und ganz vertieft im zwei¬
ten Theile ſeines Fauſt. Beſonders iſt es die claſſiſche
Walpurgisnacht, die ihn ſeit einigen Wochen ganz hin¬
nimmt und die dadurch auch raſch und bedeutend heran¬
wächſt. In ſolchen durchaus productiven Epochen liebt
Goethe die Lectüre überhaupt nicht, es wäre denn, daß
ſie als etwas Leichtes und Heiteres ihm als ein wohl¬
thätiges Ausruhen diente, oder auch, daß ſie mit dem
Gegenſtande, den er eben unter Händen hat, in
Harmonie ſtände und dazu behülflich wäre. Er meidet
ſie dagegen ganz entſchieden, wenn ſie ſo bedeutend und
aufregend wirkte, daß ſie ſeine ruhige Production ſtö¬
ren und ſein thätiges Intereſſe zerſplittern und ab¬
[302] lenken könnte. Das Letztere ſcheint jetzt mit dem Globe
und Temps der Fall zu ſeyn. „Ich ſehe, ſagte er, es
bereiten ſich in Paris bedeutende Dinge vor; wir ſind
am Vorabend einer großen Exploſion. Da ich aber
darauf keinen Einfluß habe, ſo will ich es ruhig ab¬
warten, ohne mich von dem ſpannenden Gang des
Drama's unnützerweiſe täglich aufregen zu laſſen. Ich
leſe jetzt ſo wenig den Globe, als den Temps, und
meine Walpurgisnacht rückt dabei gar nicht ſchlecht
vorwärts.“


Er ſprach darauf über den Zuſtand der neueſten
franzöſiſchen Literatur, die ihn ſehr intereſſirt. „Was
die Franzoſen, ſagte er, bei ihrer jetzigen literariſchen
Richtung für etwas Neues halten, iſt im Grunde wei¬
ter nichts, als der Wiederſchein desjenigen, was die
deutſche Literatur ſeit funfzig Jahren gewollt und ge¬
worden. Der Keim der hiſtoriſchen Stücke, die bei
ihnen jetzt etwas Neues ſind, findet ſich ſchon ſeit einem
halben Jahrhundert in meinem Götz. Uebrigens, fügte
er hinzu, haben die deutſchen Schriftſteller niemals
daran gedacht und nie in der Abſicht geſchrieben, auf
die Franzoſen einen Einfluß ausüben zu wollen. Ich
ſelbſt habe immer nur mein Deutſchland vor Augen
gehabt, und es iſt erſt ſeit geſtern oder ehegeſtern, daß
es mir einfällt, meine Blicke weſtwärts zu wenden, um
auch zu ſehen, wie unſere Nachbarn jenſeits des Rhei¬
nes von mir denken. Aber auch jetzt haben ſie auf
[303] meine Productionen keinen Einfluß. Selbſt Wieland,
der die franzöſiſchen Formen und Darſtellungsweiſen
nachgeahmt, iſt im Grunde immer deutſch geblieben und
würde ſich in einer Uebertragung ſchlecht ausnehmen.“

Abends bei Goethe. Er zeigte mir alle jetzt geord¬
neten Schätze der Kiſte von David, mit deren Aus¬
packung ich ihn vor einigen Tagen beſchäftigt fand.
Die Gyps-Medaillons mit den Profilen der vorzüg¬
lichſten jungen Dichter Frankreichs hatte er in großer
Ordnung auf Tiſchen nebeneinander gelegt. Er ſprach
dabei abermals über das außerordentliche Talent Da¬
vid's, das ebenſogroß ſey in der Auffaſſung, als in
der Ausführung. Auch zeigte er mir eine Menge der
neueſten Werke, die ihm, durch die Vermittelung Da¬
vid's, von den ausgezeichnetſten Talenten der roman¬
tiſchen Schule als Autor-Geſchenke verehrt worden. Ich
ſah Werke von St. Beuve, Ballanche, Victor Hugo,
Balzac, Alfred de Vigny, Jules Janin, und Anderen.
„David, ſagte er, hat mir durch dieſe Sendung ſchöne
Tage bereitet. Die jungen Dichter beſchäftigen mich
nun ſchon die ganze Woche und gewähren mir durch
die friſchen Eindrücke, die ich von ihnen empfange, ein
neues Leben. Ich werde über die mir ſehr lieben Por¬
traits und Bücher einen eigenen Catalog machen und
beiden in meiner Kunſtſammlung und Bibliothek einen
[304] beſonderen Platz geben.“ Man ſah es Goethen an,
daß dieſe Huldigung der jungen Dichter Frankreichs ihn
innerlichſt beglückte.


Er las darauf Einiges in den „Studien“ von
Camille Deschamps. Die Ueberſetzung der „Braut
von Corinth
“ lobte er, als treu und ſehr gelungen.
„Ich beſitze, ſagte er, das Manuſcript einer italieni¬
ſchen Ueberſetzung dieſes Gedichts, welches das Original
bis zum Rythmus wiedergiebt.“


Die Braut von Corinth gab Goethen Anlaß, auch
von ſeinen übrigen Balladen zu reden. „Ich verdanke
ſie größtentheils Schillern, ſagte er, der mich dazu trieb,
weil er immer etwas Neues für ſeine Horen brauchte.
Ich hatte ſie alle ſchon ſeit vielen Jahren im Kopf,
ſie beſchäftigten meinen Geiſt als anmuthige Bilder,
als ſchöne Träume, die kamen und gingen und womit
die Phantaſie mich ſpielend beglückte. Ich entſchloß
mich ungern dazu, dieſen mir ſeit ſo lange befreundeten
glänzenden Erſcheinungen ein Lebewohl zu ſagen, indem
ich ihnen durch das ungenügende dürftige Wort einen
Körper verlieh. Als ſie auf dem Papiere ſtanden, be¬
trachtete ich ſie mit einem Gemiſch von Wehmuth; es
war mir, als ſollte ich mich auf immer von einem ge¬
liebten Freunde trennen.“


„Zu anderen Zeiten, fuhr Goethe fort, ging es mir
mit meinen Gedichten gänzlich anders. Ich hatte da¬
von vorher durchaus keine Eindrücke und keine Ahnung,
[305] ſondern ſie kamen plötzlich über mich und wollten
augenblicklich gemacht ſeyn, ſo daß ich ſie auf der
Stelle inſtinktmäßig und traumartig niederzuſchreiben
mich getrieben fühlte. In ſolchem nachtwandleriſchen
Zuſtande geſchah es oft, daß ich einen ganz ſchief lie¬
genden Papierbogen vor mir hatte, und daß ich dieſes
erſt bemerkte, wenn Alles geſchrieben war, oder wenn
ich zum Weiterſchreiben keinen Platz fand. Ich habe
mehrere ſolcher in der Diagonale geſchriebenen Blätter
beſeſſen; ſie ſind mir jedoch nach und nach abhanden
gekommen, ſo daß es mir leid thut, keine Proben ſol¬
cher poetiſchen Vertiefung mehr vorzeigen zu können.“


Das Geſpräch lenkte ſich ſodann auf die franzöſiſche
Literatur zurück, und zwar auf die allerneueſte ultra¬
romantiſche Richtung einiger nicht unbedeutenden Ta¬
lente. Goethe war der Meinung, daß dieſe im Werden
begriffene poetiſche Revolution der Literatur ſelber im
hohen Grade günſtig, den einzelnen Schriftſtellern aber,
die ſie bewirken, nachtheilig ſey.


„Bei keiner Revolution, ſagte er, ſind die Extreme zu
vermeiden. Bei der politiſchen will man anfänglich ge¬
wöhnlich nichts weiter als die Abſtellung von allerlei
Mißbräuchen; aber ehe man es ſich verſieht, ſteckt man
tief in Blutvergießen und Gräueln. So wollten auch
die Franzoſen bei ihrer jetzigen literariſchen Umwälzung
anfänglich nichts weiter als eine freiere Form; aber
dabei bleiben ſie jetzt nicht ſtehen, ſondern ſie verwerfen
III. 20[306] neben der Form auch den bisherigen Inhalt. — Die
Darſtellung edler Geſinnungen und Thaten fängt man
an für langweilig zu erklären, und man verſucht ſich
in Behandlung von allerlei Verruchtheiten. An die
Stelle des ſchönen Inhalts griechiſcher Mythologie tre¬
ten Teufel, Hexen und Vampyre, und die erhabenen
Helden der Vorzeit müſſen Gaunern und Galeeren¬
ſklaven Platz machen. Dergleichen iſt pikant! das
wirkt! — Nachdem aber das Publicum dieſe ſtark ge¬
pfefferte Speiſe einmal gekoſtet und ſich daran gewöhnt
hat, wird es nur immer nach Mehrerem und Stärkerem
begierig. Ein junges Talent, das wirken und aner¬
kannt ſeyn will, und nicht groß genug iſt, auf eigenem
Wege zu gehen, muß ſich dem Geſchmack des Tages
bequemen, ja es muß ſeine Vorgänger im Schreck- und
Schauerlichen noch zu überbieten ſuchen. In dieſem
Jagen nach äußeren Effectmitteln aber wird jedes tie¬
fere Studium und jedes ſtufenweiſe gründliche Ent¬
wickeln des Talentes und Menſchen von Innen heraus
ganz außer Acht gelaſſen. Das iſt aber der größte
Schaden, der dem Talent begegnen kann, wiewohl die
Literatur im Allgemeinen bei dieſer augenblicklichen
Richtung gewinnen wird.“


Wie kann aber, verſetzte ich, ein Beſtreben, das die
einzelnen Talente zu Grunde richtet, der Literatur im
Allgemeinen günſtig ſeyn? —


„Die Extreme und Auswüchſe, die ich bezeichnet
[307] habe, erwiederte Goethe, werden nach und nach ver¬
ſchwinden; aber zuletzt wird der ſehr große Vortheil
bleiben, daß man neben einer freieren Form auch einen
reicheren, verſchiedenartigeren Inhalt wird erreicht haben
und man keinen Gegenſtand der breiteſten Welt und
des mannigfaltigſten Lebens als unpoetiſch mehr wird
ausſchließen. Ich vergleiche die jetzige literariſche Epoche
dem Zuſtande eines heftigen Fiebers, das zwar an ſich
nicht gut und wünſchenswerth iſt, aber eine beſſere
Geſundheit als heitere Folge hat. Dasjenige wirklich
Verruchte, was jetzt oft den ganzen Inhalt eines poe¬
tiſchen Werkes ausmacht, wird künftig nur als wohl¬
thätiges Ingredienz eintreten; ja man wird das
augenblicklich verbannte durchaus Reine und Edle bald
mit deſto größerem Verlangen wieder hervorſuchen.“


Es iſt mir auffallend, bemerkte ich, daß auch Me¬
rimée, der doch zu Ihren Lieblingen gehört, durch die
abſcheulichen Gegenſtände ſeiner Guzla gleichfalls jene
ultra-romantiſche Bahn betreten hat.


„Merimée, erwiederte Goethe, hat dieſe Dinge ganz
anders tractirt als ſeine Mitgeſellen. Es fehlt freilich
dieſen Gedichten nicht an allerlei ſchauerlichen Motiven
von Kirchhöfen, nächtlichen Kreuzwegen, Geſpenſtern
und Vampyren; allein alle dieſe Widerwärtigkeiten be¬
rühren nicht das Innere des Dichters, er behandelt ſie
vielmehr aus einer gewiſſen objectiven Ferne und gleich¬
ſam mit Ironie. Er geht dabei ganz zu Werke wie
20*[308] ein Künſtler, dem es Spaß macht, auch einmal ſo et¬
was zu verſuchen. Er hat ſein eigenes Innere, wie
geſagt, dabei gänzlich verläugnet, ja er hat dabei ſo¬
gar den Franzoſen verläugnet, und zwar ſo ſehr, daß
man dieſe Gedichte der Guzla anfänglich für wirklich
illyriſche Volksgedichte gehalten und alſo nur wenig
gefehlt hat, daß ihm die beabſichtigte Myſtification ge¬
lungen wäre.“


„Merimée, fuhr Goethe fort, iſt freilich ein ganzer
Kerl! wie denn überhaupt zum objectiven Behandeln
eines Gegenſtandes mehr Kraft und Genie gehört, als
man denkt. So hat auch Byron, trotz ſeiner ſtark
vorwaltenden Perſönlichkeit, zuweilen die Kraft gehabt
ſich gänzlich zu verläugnen, wie dies an einigen ſeiner
dramatiſchen Sachen, und beſonders an ſeinem Marino
Faliero, zu ſehen. Bei dieſem Stück vergißt man ganz,
daß Byron, ja daß ein Engländer es geſchrieben.
Wir leben darin ganz und gar zu Venedig, und ganz
und gar in der Zeit, in der die Handlung vorgeht.
Die Perſonen reden ganz aus ſich ſelber und aus ihrem
eigenen Zuſtande heraus, ohne etwas von ſubjectiven
Gefühlen, Gedanken und Meinungen des Dichters an
ſich zu haben. Das iſt die rechte Art! — Von unſern
jungen franzöſiſchen Romantikern der übertriebenen
Sorte iſt das freilich nicht zu rühmen. Was ich auch
von ihnen geleſen: Gedichte, Romane, dramatiſche Ar¬
beiten, es trug Alles die perſönliche Farbe des Autors,
[309] und es machte mich nie vergeſſen, daß ein Pariſer, daß
ein Franzoſe es geſchrieben; ja ſelbſt bei behandelten
ausländiſchen Stoffen blieb man doch immer in Frank¬
reich und Paris, durchaus befangen in allen Wünſchen,
Bedürfniſſen, Conflicten und Gährungen des augen¬
blicklichen Tages.“


Auch Béranger, warf ich verſuchend ein, hat nur
Zuſtände der großen Hauptſtadt und nur ſein eigenes
Innere ausgeſprochen.


„Das iſt auch ein Menſch danach, erwiederte Goethe,
deſſen Darſtellung und deſſen Inneres etwas werth iſt.
Bei ihm findet ſich der Gehalt einer bedeutenden Per¬
ſönlichkeit. Béranger iſt eine durchaus glücklich begabte
Natur, feſt in ſich ſelber begründet, rein aus ſich ſelber
entwickelt, und durchaus mit ſich ſelber in Harmonie.
Er hat nie gefragt: Was iſt an der Zeit? was wirkt?
was gefällt? und was machen die Anderen? damit er
es ihnen nachmache. Er hat immer nur aus dem Kern
ſeiner eigenen Natur heraus gewirkt, ohne ſich zu be¬
kümmern, was das Publicum, oder was dieſe oder jene
Partei erwarte. Er hat freilich in verſchiedenen bedenk¬
lichen Epochen nach den Stimmungen, Wünſchen und
Bedürfniſſen des Volkes hingehorcht; allein das hat
ihn nur in ſich ſelber befeſtigt, indem es ihm ſagte,
daß ſein eigenes Innere mit dem des Volkes in Har¬
monie ſtand; aber es hat ihn nie verleitet, etwas An¬
[310] deres auszuſprechen, als was bereits in ſeinem eigenen
Herzen lebte.“


„Sie wiſſen, ich bin im Ganzen kein Freund von
ſogenannten politiſchen Gedichten; allein ſolche, wie
Béranger ſie gemacht hat, laſſe ich mir gefallen.
Es iſt bei ihm nichts aus der Luft gegriffen, nichts
von bloß imaginirten oder imaginären Intereſſen, er
ſchießt nie ins Blaue hinein, vielmehr hat er ſtets die
entſchiedenſten und zwar immer bedeutende Gegenſtände.
Seine liebende Bewunderung Napoleon's und das Zurück¬
denken an die großen Waffenthaten, die unter ihm ge¬
ſchehen, und zwar zu einer Zeit, wo dieſe Erinnerung
den etwas gedrückten Franzoſen ein Troſt war; dann
ſein Haß gegen die Herrſchaft der Pfaffen und gegen
die Verfinſterung, die mit den Jeſuiten wieder einzu¬
brechen droht: das ſind denn doch Dinge, denen man
wohl ſeine völlige Zuſtimmung nicht verſagen kann. —
Und wie meiſterhaft iſt bei ihm die jedesmalige Be¬
handlung! Wie wälzt und rundet er den Gegenſtand
in ſeinem Innern, ehe er ihn ausſpricht! Und dann,
wenn Alles reif iſt, welcher Witz, Geiſt, Ironie und
Perſiflage, und welche Herzlichkeit, Naivetät und Grazie
werden nicht von ihm bei jedem Schritt entfaltet!
Seine Lieder haben jahraus jahrein Millionen froher
Menſchen gemacht; ſie ſind durchaus mundrecht auch
für die arbeitende Claſſe, während ſie ſich über das
Niveau des Gewöhnlichen ſo ſehr erheben, daß das
[311] Volk im Umgange mit dieſen anmuthigen Geiſtern ge¬
wöhnt und genöthigt wird, ſelbſt edler und beſſer zu
denken. Was wollen Sie mehr? und was läßt ſich
überhaupt Beſſeres von einem Poeten rühmen?“


Er iſt vortrefflich! ohne Frage! erwiederte ich. Sie
wiſſen ſelbſt, wie ſehr ich ihn ſeit Jahren liebe; auch
können Sie denken, wie wohl es mir thut, Sie ſo
über ihn reden zu hören. Soll ich aber ſagen, welche
von ſeinen Liedern ich vorziehe, ſo gefallen mir denn
doch ſeine Liebesgedichte beſſer, als ſeine politiſchen,
bei denen mir ohnehin die ſpeziellen Bezüge und An¬
ſpielungen nicht immer deutlich ſind.


„Das iſt Ihre Sache! erwiederte Goethe; auch
ſind die politiſchen gar nicht für Sie geſchrieben; fra¬
gen Sie aber die Franzoſen, und ſie werden Ihnen
ſagen, was daran Gutes iſt. Ein politiſches Gedicht
iſt überhaupt im glücklichſten Falle immer nur als Or¬
gan einer einzelnen Nation, und in den meiſten Fällen
nur als Organ einer gewiſſen Partei zu betrachten;
aber von dieſer Nation und dieſer Partei wird es auch,
wenn es gut iſt, mit Enthuſiasmus ergriffen werden.
Auch iſt ein politiſches Gedicht immer nur als Product
eines gewiſſen Zeitzuſtandes anzuſehen; der aber freilich
vorübergeht und dem Gedicht für die Folge denjenigen
Werth nimmt, den es vom Gegenſtande hat. Béranger
hatte übrigens gut machen! Paris iſt Frankreich. Alle
bedeutenden Intereſſen ſeines großen Vaterlandes con¬
[312] centriren ſich in der Hauptſtadt und haben dort ihr
eigentliches Leben und ihren eigentlichen Wiederhall.
Auch iſt er in den meiſten ſeiner politiſchen Lieder kei¬
neswegs als bloßes Organ einer einzelnen Partei zu
betrachten, vielmehr ſind die Dinge, denen er entgegen¬
wirkt, größtentheils von ſo allgemein nationalem In¬
tereſſe, daß der Dichter faſt immer als große Volks¬
ſtimme vernommen wird. Bei uns in Deutſchland iſt
dergleichen nicht möglich. Wir haben keine Stadt, ja
wir haben nicht einmal ein Land, von dem wir entſchie¬
den ſagen könnten: Hier iſt Deutſchland! Fragen
wir in Wien, ſo heißt es: Hier iſt Oeſtreich! und fra¬
gen wir in Berlin, ſo heißt es: Hier iſt Preußen! —
Bloß vor ſechszehn Jahren, als wir endlich die Fran¬
zoſen los ſeyn wollten, war Deutſchland überall. —
Hier hätte ein politiſcher Dichter allgemein wirken kön¬
nen; — allein es bedurfte ſeiner nicht! Die allgemeine
Noth und das allgemeine Gefühl der Schmach hatte
die Nation als etwas Dämoniſches ergriffen; das be¬
geiſternde Feuer, das der Dichter hätte entzünden kön¬
nen, brannte bereits überall von ſelber. Doch will ich
nicht läugnen, daß Arndt, Körner und Rückert
Einiges gewirkt haben.“


Man hat Ihnen vorgeworfen, bemerkte ich etwas
unvorſichtig, daß Sie in jener großen Zeit nicht auch
die Waffen ergriffen, oder wenigſtens nicht als Dichter
eingewirkt haben.


[313]

„Laſſen wir das, mein Guter! erwiederte Goethe.
Es iſt eine abſurde Welt, die nicht weiß, was ſie will,
und die man muß reden und gewähren laſſen. — Wie
hätte ich die Waffen ergreifen können ohne Haß! und
wie hätte ich haſſen können ohne Jugend! Hätte je¬
nes Ereigniß mich als einen Zwanzigjährigen getroffen,
ſo wäre ich ſicher nicht der Letzte geblieben; allein es
fand mich als Einen, der bereits über die erſten ſechszig
hinaus war.“


„Auch können wir dem Vaterlande nicht auf gleiche
Weiſe dienen, ſondern Jeder thut ſein Beſtes, je nach¬
dem Gott es ihm gegeben. Ich habe es mir ein hal¬
bes Jahrhundert lang ſauer genug werden laſſen. Ich
kann ſagen, ich habe in den Dingen, die die Natur mir
zum Tagewerk beſtimmt, mir Tag und Nacht keine
Ruhe gelaſſen und mir keine Erholung gegönnt, ſondern
immer geſtrebt und geforſcht und gethan, ſo gut und
ſo viel ich konnte. Wenn Jeder von ſich daſſelbe ſagen
kann, ſo wird es um Alle gut ſtehen.“


Im Grunde, verſetzte ich begütigend, ſollte Sie jener
Vorwurf nicht verdrießen, vielmehr könnten Sie ſich
darauf etwas einbilden. Denn was will das anders
ſagen, als daß die Meinung der Welt von Ihnen ſo
groß iſt, daß ſie verlangen, daß derjenige, der für die
Cultur ſeiner Nation mehr gethan, als irgend ein An¬
derer, nun endlich Alles hätte thun ſollen!


„Ich mag nicht ſagen, wie ich denke, erwiederte
[314] Goethe. Es verſteckt ſich hinter jenem Gerede mehr
böſer Wille gegen mich, als Sie wiſſen. Ich fühle
darin eine neue Form des alten Haſſes, mit dem man
mich ſeit Jahren verfolgt und mir im Stillen beizukom¬
men ſucht. Ich weiß recht gut, ich bin Vielen ein
Dorn im Auge, ſie wären mich Alle ſehr gerne los;
und da man nun an meinem Talent nicht rühren kann,
ſo will man an meinen Charakter. Bald ſoll ich ſtolz
ſeyn, bald egoiſtiſch, bald voller Neid gegen junge Talente,
bald in Sinnenluſt verſunken, bald ohne Chriſtenthum,
und nun endlich gar ohne Liebe zu meinem Vaterlande
und meinen lieben Deutſchen. — Sie kennen mich nun
ſeit Jahren hinlänglich, und fühlen, was an alle dem
Gerede iſt. Wollen Sie aber wiſſen, was ich gelitten
habe, ſo leſen Sie meine Xenien, und es wird Ihnen
aus meinen Gegenwirkungen klar werden, womit man
mir abwechſelnd das Leben zu verbittern geſucht hat.“


„Ein deutſcher Schriftſteller, ein deutſcher Märty¬
rer! — Ja, mein Guter! Sie werden es nicht anders
finden! Und ich ſelbſt kann mich kaum beklagen; es
iſt allen Andern nicht beſſer gegangen, den Meiſten ſo¬
gar ſchlechter, und in England und Frankreich ganz
wie bei uns. Was hat nicht Molière zu leiden gehabt!
und was nicht Rouſſeau und Voltaire! Byron ward
durch die böſen Zungen aus England getrieben und
würde zuletzt ans Ende der Welt geflohen ſeyn, wenn
[315] ein früher Tod ihn nicht den Philiſtern und ihrem Haß
enthoben hätte.“


„Und wenn noch die bornirte Maſſe höhere Men¬
ſchen verfolgte! — Nein! ein Begabter und ein Ta¬
lent verfolgt das andere; Platen ärgert Heine, und
Heine Platen, und Jeder ſucht den Andern ſchlecht und
verhaßt zu machen, da doch zu einem friedlichen Hin¬
leben und Hinwirken die Welt groß und weit genug
iſt, und Jeder ſchon an ſeinem eigenen Talent einen
Feind hat, der ihm hinlänglich zu ſchaffen macht.“


„Kriegslieder ſchreiben und im Zimmer ſitzen! —
Das wäre meine Art geweſen! — Aus dem Bivouac
heraus, wo man Nachts die Pferde der feindlichen Vor¬
poſten wiehern hört: da hätte ich es mir gefallen laſſen!
Aber das war nicht mein Leben und nicht meine
Sache, ſondern die von Theodor Körner. Ihn
kleiden ſeine Kriegslieder auch ganz vollkommen. Bei
mir aber, der ich keine kriegeriſche Natur bin und
keinen kriegeriſchen Sinn habe, würden Kriegslieder
eine Maske geweſen ſeyn, die mir ſehr ſchlecht zu Ge¬
ſicht geſtanden hätte.“


„Ich habe in meiner Poeſie nie affectirt. — Was
ich nicht lebte und was mir nicht auf die Nägel brannte
und zu ſchaffen machte, habe ich auch nicht gedichtet
und ausgeſprochen. Liebesgedichte habe ich nur gemacht,
wenn ich liebte. Wie hätte ich nun Lieder des Haſſes
ſchreiben können ohne Haß! — Und, unter uns, ich
[316] haßte die Franzoſen nicht, wiewohl ich Gott dankte,
als wir ſie los waren. Wie hätte auch ich, dem nur
Cultur und Barbarei Dinge von Bedeutung ſind, eine
Nation haſſen können, die zu den cultivirteſten der
Erde gehört und der ich einen ſo großen Theil meiner
eigenen Bildung verdankte!“


„Ueberhaupt, fuhr Goethe fort, iſt es mit dem Na¬
tionalhaß ein eigenes Ding. — Auf den unterſten Stu¬
fen der Cultur werden Sie ihn immer am ſtärkſten und
heftigſten finden. Es giebt aber eine Stufe, wo er
ganz verſchwindet und wo man gewiſſermaßen über
den Nationen ſteht, und man ein Glück oder ein Wehe
ſeines Nachbarvolkes empfindet, als wäre es dem eige¬
nen begegnet. Dieſe Culturſtufe war meiner Natur
gemäß, und ich hatte mich darin lange befeſtigt, ehe ich
mein ſechszigſtes Jahr erreicht hatte.“

Abends ein Stündchen bei Goethe. Er ſprach viel
über Jena und die Einrichtungen und Verbeſſerungen,
die er in den verſchiedenen Branchen der Univerſität
zu Stande gebracht. Für Chemie, Botanik und Mine¬
ralogie, die früher nur, in ſo weit ſie zur Pharmacie
gehörig, behandelt worden, habe er beſondere Lehrſtühle
eingeführt. Vor Allem ſey für das naturwiſſenſchaftliche
Muſeum und die Bibliothek von ihm manches Gute be¬
wirkt worden.


[317]

Bei dieſer Gelegenheit erzählte er mir abermals mit
vielem Selbſtbehagen und guter Laune die Geſchichte
ſeiner gewaltſamen Beſitzergreifung eines an die Biblio¬
thek grenzenden Saales, den die mediciniſche Facultät
inne gehabt, aber nicht habe hergeben wollen.


„Die Bibliothek, ſagte er, befand ſich in einem ſehr
ſchlechten Zuſtande. Das Local war feucht und enge,
und bei weitem nicht geeignet, ſeine Schätze gehöriger
Weiſe zu faſſen, beſonders ſeit durch den Ankauf der
Büttnerſchen Bibliothek von Seiten des Großherzogs
abermals 13000 Bände hinzugekommen waren, die in
großen Haufen am Boden umherlagen, weil es, wie
geſagt, an Raum fehlte, ſie gehörig zu placiren. Ich
war wirklich dieſerhalb in einiger Noth. Man hätte
zu einem neuen Anbau ſchreiten müſſen; allein dazu
fehlten die Mittel; auch konnte ein neuer Anbau noch
recht gut vermieden werden, indem unmittelbar an die
Räume der Bibliothek ein großer Saal grenzte, der
leer ſtand und ganz geeignet war, allen unſern Bedürf¬
niſſen auf das Herrlichſte abzuhelfen. Allein dieſer
Saal war nicht im Beſitz der Bibliothek, ſondern im
Gebrauch der Facultät der Mediciner, die ihn mitunter
zu ihren Conferenzen benutzten. Ich wendete mich alſo
an dieſe Herren mit der ſehr höflichen Bitte: mir dieſen
Saal für die Bibliothek abzutreten. Dazu aber woll¬
ten die Herren ſich nicht verſtehen. Allenfalls ſeyen
ſie geneigt, nachzugeben, wenn ich ihnen für den Zweck
[318] ihrer Conferenzen einen neuen Saal wolle bauen laſſen,
und zwar ſogleich. Ich erwiederte ihnen, daß ich ſehr
bereit ſey, ein anderes Local für ſie herrichten zu laſſen,
daß ich aber einen ſofortigen Neubau nicht verſprechen
könne. Dieſe meine Antwort ſchien aber den Herren
nicht genügt zu haben. Denn als ich am andern Mor¬
gen hinſchickte, um mir den Schlüſſel ausbitten zu
laſſen, hieß es: er ſey nicht zu finden!“


„Da blieb nun weiter nichts zu thun, als erobe¬
rungsweiſe einzuſchreiten. Ich ließ alſo einen Maurer
kommen und führte ihn in die Bibliothek vor die Wand
des angrenzenden gedachten Saales. „Dieſe Mauer,
mein Freund, ſagte ich, muß ſehr dick ſeyn, denn ſie
trennt zwei verſchiedene Wohnungspartieen. Verſuchet
doch einmal und prüfet, wie ſtark ſie iſt.“ Der Mau¬
rer ſchritt zu Werke, und kaum hatte er fünf bis ſechs
herzhafte Schläge gethan, als Kalk und Backſteine fie¬
len und man durch die entſtandene Oeffnung ſchon
einige ehrwürdige Perrücken herdurchſchimmern ſah, wo¬
mit man den Saal decorirt hatte. „Fahret nur fort,
mein Freund, ſagte ich, ich ſehe noch nicht hell genug.
Genirt Euch nicht und thut ganz, als ob Ihr zu Hauſe
wäret.“ Dieſe freundliche Ermunterung wirkte auf den
Maurer ſo belebend, daß die Oeffnung bald groß ge¬
nug ward, um vollkommen als Thür zu gelten, worauf
denn meine Bibliotheksleute in den Saal drangen, Jeder
mit einem Arm voll Bücher, die ſie als Zeichen der
[319] Beſitzergreifung auf den Boden warfen. Bänke, Stühle
und Pulte verſchwanden in einem Augenblick, und
meine Getreuen hielten ſich ſo raſch und thätig dazu,
daß ſchon in wenigen Tagen ſämmtliche Bücher in ihren
Repoſituren in ſchönſter Ordnung an den Wänden um¬
herſtanden. Die Herren Mediciner, die bald darauf
durch ihre gewohnte Thür in corpore in den Saal tra¬
ten, waren ganz verblüfft, eine ſo große und unerwar¬
tete Verwandlung zu finden. Sie wußten nicht, was
ſie ſagen ſollten, und zogen ſich ſtill wieder zurück;
aber ſie bewahrten mir Alle einen heimlichen Groll.
Doch wenn ich ſie einzeln ſehe, und beſonders wenn
ich Einen oder den Andern von ihnen bei mir zu Tiſch
habe, ſo ſind ſie ganz ſcharmant und meine ſehr lieben
Freunde. Als ich dem Großherzog den Verlauf dieſes
Abenteuers erzählte, das freilich mit ſeinem Einver¬
ſtändniß und ſeiner völligen Zuſtimmung eingeleitet
war, amüſirte es ihn königlich, und wir haben ſpäter
recht oft darüber gelacht.“


Goethe war in ſehr guter Laune und glücklich in
dieſen Erinnerungen. „Ja, mein Freund, fuhr er fort,
man hat ſeine Noth gehabt, um gute Dinge durchzu¬
ſetzen. Später, als ich wegen großer Feuchtigkeit der
Bibliothek einen ſchädlichen Theil der ganz nutzloſen
alten Stadtmauer wollte abreißen und hinwegräumen
laſſen, ging es mir nicht beſſer. Meine Bitten, guten
Gründe und vernünftigen Vorſtellungen fanden kein
[320] Gehör, und ich mußte auch hier endlich eroberungs¬
weiſe zu Werke gehen. Als nun die Herren der Stadt¬
verwaltung meine Arbeiter an ihrer alten Mauer im
Werke ſahen, ſchickten ſie eine Deputation an den Gro߬
herzog, der ſich damals in Dornburg aufhielt, mit der
ganz unterthänigen Bitte: daß es doch Seiner Hoheit
gefallen möge, durch ein Machtwort mir in dem gewalt¬
ſamen Einreißen ihrer alten ehrwürdigen Stadtmauer
Einhalt zu thun. Aber der Großherzog, der mich auch
zu dieſem Schritt heimlich authoriſirt hatte, antwortete
ſehr weiſe: „Ich miſche mich nicht in Goethe's Angele¬
genheiten. Er weiß ſchon, was er zu thun hat, und
muß ſehen, wie er zurechte kommt. Geht doch hin und
ſagt es ihm ſelbſt, wenn Ihr die Courage habt!“


„Es ließ ſich aber Niemand bei mir blicken, fügte
Goethe lachend hinzu; ich fuhr fort, von der alten
Mauer niederreißen zu laſſen, was mir im Wege ſtand,
und hatte die Freude, meine Bibliothek endlich trocken
zu ſehen.“

Abends ein paar Stündchen bei Goethe. Ich
brachte ihm im Auftrag der Frau Großfürſtin Gemma
von Art
zurück, und äußerte gegen ihn über dieſes
Stück alles Gute, was ich darüber in Gedanken hatte.
„Ich freue mich immer, erwiederte er, wenn etwas her¬
vorgebracht worden, das in der Erfindung neu iſt und
[321] überall den Stempel des Talentes trägt.“ Darauf,
indem er den Band zwiſchen beide Hände nahm und
ihn ein wenig von der Seite anſah, fügte er hinzu:
„Aber es will mir nie recht gefallen, wenn ich ſehe,
daß dramatiſche Schriftſteller Stücke machen, die durch¬
aus zu lang ſind, um ſo gegeben werden zu können,
wie ſie geſchrieben. Dieſe Unvollkommenheit nimmt
mir die Hälfte des Vergnügens, das ich ſonſt darüber
empfinden würde. Sehen Sie nur, was Gemma von
Art für ein dicker Band iſt.“


Schiller, erwiederte ich, hat es nicht viel beſſer ge¬
macht, und doch iſt er ein ſehr großer dramatiſcher
Schriftſteller.


„Auch er hat freilich darin gefehlt, erwiederte
Goethe. Beſonders ſeine erſten Stücke, die er in der
ganzen Fülle der Jugend ſchrieb, wollen gar kein Ende
nehmen. Er hatte zu viel auf dem Herzen und zu viel
zu ſagen, als daß er es hätte beherrſchen können.
Später, als er ſich dieſes Fehlers bewußt war, gab er
ſich unendliche Mühe und ſuchte ihn durch Studium
und Arbeit zu überwinden; aber es hat ihm damit nie
recht gelingen wollen. Seinen Gegenſtand gehörig be¬
herrſchen und ſich vom Leibe zu halten, und ſich nur
auf das durchaus Nothwendige zu concentriren, erfor¬
dert freilich die Kräfte eines poetiſchen Rieſen und iſt
ſchwerer als man denkt.“


Hofrath Riemer ließ ſich melden und trat herein.
III. 21[322] Ich ſchickte mich an, zu gehen, weil ich wußte, daß es
der Abend war, wo Goethe mit Riemer zu arbeiten
pflegt. Allein Goethe bat mich, zu bleiben, welches
ich denn ſehr gerne that und wodurch ich Zeuge einer
Unterhaltung wurde voll Uebermuth, Ironie und me¬
phiſtopheliſcher Laune von Seiten Goethe's.


„Da iſt der Sömmering geſtorben, fing Goethe an,
kaum elende 75 Jahre alt. Was doch die Menſchen
für Lumpe ſind, daß ſie nicht die Courage haben, län¬
ger auszuhalten als das! Da lobe ich mir meinen
Freund Bentham, dieſen höchſt radicalen Narren; er
hält ſich gut, und doch iſt er noch einige Wochen älter
als ich.“


Man könnte hinzufügen, erwiederte ich, daß er Ih¬
nen noch in einem andern Punkte gleicht, denn er
arbeitet noch immer mit der ganzen Thätigkeit der
Jugend.


„Das mag ſeyn, erwiederte Goethe; aber wir befin¬
den uns an den beiden entgegengeſetzten Enden der
Kette: er will niederreißen, und ich möchte erhalten und
aufbauen. In ſeinem Alter ſo radical zu ſeyn, iſt der
Gipfel aller Tollheit.“


Ich denke, entgegnete ich, man muß zwei Arten
von Radicalismus unterſcheiden. Der eine, um künftig
aufzubauen, will vorher reine Bahn machen und Alles
niederreißen; während der andere ſich begnügt, auf die
ſchwachen Partieen und Fehler einer Staatsverwaltung
[323] hinzudeuten, in Hoffnung das Gute zu erreichen ohne
die Anwendung gewaltſamer Mittel. In England ge¬
boren, würden Sie dieſer letzten Art ſicher nicht ent¬
gangen ſeyn.


„Wofür halten Sie mich? erwiederte Goethe, der
nun ganz die Miene und den Ton ſeines Mephiſto
annahm. Ich hätte ſollen Mißbräuchen nachſpüren,
und noch obendrein ſie aufdecken und ſie namhaft
machen, ich, der ich in England von Mißbräuchen
würde gelebt haben? — In England geboren, wäre
ich ein reicher Herzog geweſen, oder vielmehr ein Bi¬
ſchof mit jährlichen 30,000 Pfund Sterling Einkünfte.“


Recht hübſch! erwiederte ich; aber wenn Sie zufällig
nicht das große Loos, ſondern eine Niete gezogen hät¬
ten? Es giebt ſo unendlich viele Nieten.


„Nicht Jeder, mein Allerbeſter, erwiederte Goethe,
iſt für das große Loos gemacht. Glauben Sie denn,
daß ich die Sottiſe begangen haben würde, auf eine
Niete zu fallen? — Ich hätte vor allen Dingen die
Partie der 39 Artikel ergriffen; ich hätte ſie nach allen
Seiten und Richtungen hin verfochten, beſonders den
Artikel 9, der für mich ein Gegenſtand einer ganz be¬
ſondern Aufmerkſamkeit und zärtlichen Hingebung ge¬
weſen ſeyn würde. Ich hätte in Reimen und Proſa
ſo lange und ſo viel geheuchelt und gelogen, daß meine
30,000 Pfund jährlich mir nicht hätten entgehen ſollen.
Und dann, einmal zu dieſer Höhe gelangt, würde ich
21*[324] nichts unterlaſſen haben, mich oben zu erhalten. Be¬
ſonders würde ich Alles gethan haben, die Nacht der
Unwiſſenheit wo möglich noch finſterer zu machen.
O wie hätte ich die gute einfältige Maſſe cajoliren
wollen, und wie hätte ich die liebe Schuljugend wollen
zurichten laſſen, damit ja Niemand hätte wahrnehmen,
ja nicht einmal den Muth hätte haben ſollen, zu be¬
merken, daß mein glänzender Zuſtand auf der Baſis
der ſchändlichſten Mißbräuche fundirt ſey.“


Bei Ihnen, verſetzte ich, hätte man doch wenigſtens
den Troſt gehabt, zu denken, daß Sie durch ein vor¬
zügliches Talent zu ſolcher Höhe gelangt. In England
aber ſind oft gerade die Dummſten und Unfähigſten
im Genuß der höchſten irdiſchen Güter, die ſie keines¬
wegs dem eigenen Verdienſt, ſondern der Protection,
dem Zufall und vor Allem der Geburt zu verdanken
haben.


„Im Grunde, erwiederte Goethe, iſt es gleichviel,
ob Einem die glänzenden Güter der Erde durch eigene
Eroberung, oder durch Erbſchaft zugefallen. Die erſten
Beſitzergreifer waren doch auf jeden Fall Leute von
Genie, welche die Unwiſſenheit und Schwäche der An¬
deren ſich zu Nutze machten. — Die Welt iſt ſo voller
Schwachköpfe und Narren, daß man nicht nöthig hat
ſie im Tollhauſe zu ſuchen. Hierbei fällt mir ein,
daß der verſtorbene Großherzog, der meinen Wider¬
willen gegen Tollhäuſer kannte, mich durch Liſt und
[325] Ueberraſchung einſt in ein ſolches einführen wollte.
Ich roch aber den Braten noch zeitig genug und ſagte
ihm, daß ich keineswegs ein Bedürfniß verſpüre, auch
noch diejenigen Narren zu ſehen, die man einſperre,
vielmehr ſchon an denen vollkommen genug habe, die
frei umhergehen. Ich bin ſehr bereit, ſagte ich, Eurer
Hoheit, wenn es ſeyn muß, in die Hölle zu folgen,
aber nur nicht in die Tollhäuſer.“


„O welch ein Spaß würde es für mich ſeyn, die
39 Artikel auf meine Weiſe zu tractiren und die ein¬
fältige Maſſe in Erſtaunen zu ſetzen!“


Auch ohne Biſchof zu ſeyn, ſagte ich, könnten Sie
ſich dieſes Vergnügen machen.


„Nein, erwiederte Goethe, ich werde mich ruhig
verhalten; man muß ſehr gut bezahlt ſeyn, um ſo zu
lügen. Ohne Ausſicht auf die Biſchofsmütze und meine
30,000 Pfund jährlich könnte ich mich nicht dazu ver¬
ſtehen. Uebrigens habe ich ſchon ein Pröbchen in die¬
ſem Genre abgelegt. Ich habe als ſechszehnjähriger
Knabe ein dithyrambiſches Gedicht über die Höllenfahrt
Chriſti geſchrieben, das ſogar gedruckt, aber nicht be¬
kannt geworden, und das erſt in dieſen Tagen mir
wieder in die Hände kommt. Das Gedicht iſt voll
orthodoxer Bornirtheit und wird mir als herrlicher Paß
in den Himmel dienen. Nicht wahr Riemer? Sie
kennen es.“


Nein, Excellenz, erwiederte Riemer, ich kenne es
[326] nicht. Aber ich erinnere mich, daß Sie im erſten Jahre
nach meiner Ankunft ſchwer krank waren und in Ihrem
Phantaſiren mit einemmale die ſchönſten Verſe über den¬
ſelbigen Gegenſtand recitirten. Es waren dieß ohne
Zweifel Erinnerungen aus jenem Gedicht Ihrer frühen
Jugend.


„Die Sache iſt ſehr wahrſcheinlich, ſagte Goethe.
Es iſt mir ein Fall bekannt, wo ein alter Mann ge¬
ringen Standes, der in den letzten Zügen lag, ganz
unerwartet die ſchönſten griechiſchen Sentenzen recitirte.
Man war vollkommen überzeugt, daß dieſer Mann kein
Wort griechiſch verſtehe, und ſchrie daher Wunder über
Wunder; ja die Klugen ſingen ſchon an, aus dieſer
Leichtgläubigkeit der Thoren Vortheil zu ziehen, als
man unglücklicherweiſe entdeckte, daß jener Alte in
ſeiner frühen Jugend war genöthigt worden allerlei
griechiſche Sprüche auswendig zu lernen, und zwar in
Gegenwart eines Knaben von hoher Familie, den man
durch ſein Beiſpiel anzuſpornen trachtete. Er hatte je¬
nes wirklich claſſiſche Griechiſch ganz maſchinenmäßig
gelernt, ohne es zu verſtehen, und hatte ſeit fünfzig
Jahren nicht wieder daran gedacht, bis endlich in ſei¬
ner letzten Krankheit jener Wortkram mit einemmale
wieder anfing ſich zu regen und lebendig zu werden.“


Goethe kam darauf mit derſelbigen Malice und
Ironie nochmals auf die enorme Beſoldung der eng¬
liſchen hohen Geiſtlichkeit zurück und erzählte ſodann
[327] ſein Abenteuer mit dem Lord Briſtol, Biſchof von
Derby.


„Lord Briſtol, ſagte Goethe, kam durch Jena,
wünſchte meine Bekanntſchaft zu machen und veranlaßte
mich, ihn eines Abends zu beſuchen. Er gefiel ſich
darin, gelegentlich grob zu ſeyn; wenn man ihm aber
ebenſo grob entgegentrat, ſo war er ganz tractabel.
Er wollte mir im Laufe unſeres Geſprächs eine Pre¬
digt über den Werther halten und es mir in's Ge¬
wiſſen ſchieben, daß ich dadurch die Menſchen zum
Selbſtmord verleitet habe. „Der Werther, ſagte er, iſt
ein ganz unmoraliſches, verdammungswürdiges Buch!“
— Halt! rief ich. Wenn Ihr ſo über den armen Wer¬
ther redet, welchen Ton wollt Ihr denn gegen die
Großen dieſer Erde anſtimmen, die durch einen einzigen
Federzug hundert Tauſend Menſchen in's Feld ſchicken,
wovon achtzig Tauſend ſich tödten und ſich gegenſeitig
zu Mord, Brand und Plünderung anreizen. Ihr dan¬
ket Gott nach ſolchen Gräueln und ſinget ein Te Deum
darauf! — Und ferner, wenn Ihr durch Eure Predig¬
ten über die Schrecken der Höllenſtrafen die ſchwachen
Seelen Eurer Gemeinden ängſtiget, ſo daß ſie darüber
den Verſtand verlieren und ihr armſeliges Daſeyn zu¬
letzt in einem Tollhauſe endigen! — Oder wenn Ihr
durch manche Eurer orthodoxen, vor der Vernunft un¬
haltbaren Lehrſätze in die Gemüther Eurer chriſtlichen
Zuhörer die verderbliche Saat des Zweifels ſäet, ſo
[328] daß dieſe halb ſtarken, halb ſchwachen Seelen in einem
Labyrinth ſich verlieren, aus dem für ſie kein Ausweg
iſt, als der Tod! — Was ſagt Ihr da zu Euch ſelber,
und welche Strafrede haltet Ihr Euch da? — Und
nun wollt Ihr einen Schriftſteller zur Rechenſchaft zie¬
hen und ein Werk verdammen, das, durch einige be¬
ſchränkte Geiſter falſch aufgefaßt, die Welt höchſtens
von einem Dutzend Dummköpfen und Taugenichtſen
befreit hat, die gar nichts Beſſeres thun konnten, als
den ſchwachen Reſt ihres Bißchen Lichtes vollends aus¬
zublaſen. — Ich dachte, ich hätte der Menſchheit einen
wirklichen Dienſt geleiſtet und ihren Dank verdient,
und nun kommt Ihr und wollt mir dieſe gute kleine
Waffenthat zum Verbrechen machen, während Ihr An¬
deren, Ihr Prieſter und Fürſten, Euch ſo Großes und
Starkes erlaubt!“


„Dieſer Ausfall that auf meinen Biſchof eine herr¬
liche Wirkung. Er ward ſo ſanft, wie ein Lamm, und
benahm ſich von nun an gegen mich in unſerer weite¬
ren Unterhaltung mit der größten Höflichkeit und dem
feinſten Tact. Ich verlebte darauf mit ihm einen ſehr
guten Abend. Denn Lord Briſtol, ſo grob er ſeyn
konnte, war ein Mann von Geiſt und Welt, und durch¬
aus fähig, in die verſchiedenartigſten Gegenſtände ein¬
zugehen. Bei meinem Abſchied gab er mir das Geleit
und ließ darauf durch ſeinen Abbé die Honneurs fort¬
ſetzen. Als ich mit dieſem auf die Straße gelangt war,
[329] rief er mir zu: O Herr von Goethe! wie vortrefflich
haben Sie geſprochen, und wie haben Sie dem Lord
gefallen und das Geheimniß verſtanden, den Weg zu
ſeinem Herzen zu finden. Mit etwas weniger Derbheit
und Entſchiedenheit würden Sie von Ihrem Beſuch
ſicher nicht ſo zufrieden nach Hauſe gehen, wie Sie es
jetzt thun.“


Sie haben wegen Ihres Werther allerlei zu ertra¬
gen gehabt, bemerkte ich. Ihr Abenteuer mit Lord
Briſtol erinnert mich an Ihre Unterredung mit Napo¬
leon über dieſen Gegenſtand. War nicht auch Talley¬
rand dabei?


„Er war zugegen, erwiederte Goethe. Ich hatte
mich jedoch über Napoleon nicht zu beklagen. Er war
äußerſt liebenswürdig gegen mich und tractirte den
Gegenſtand wie es ſich von einem ſo grandioſen Geiſte
erwarten ließ.“


Vom Werther lenkte ſich das Geſpräch auf Romane
und Schauſpiele im Allgemeinen und ihre moraliſche
oder unmoraliſche Wirkung auf das Publicum. „Es
müßte ſchlimm zugehen, ſagte Goethe, wenn ein Buch
unmoraliſcher wirken ſollte, als das Leben ſelber, das
täglich der ſkandalöſen Scenen im Ueberfluß, wo nicht
vor unſeren Augen, doch vor unſeren Ohren entwickelt.
Selbſt bei Kindern braucht man wegen der Wirkungen
eines Buches oder Theaterſtückes keineswegs ſo ängſt¬
[330] lich zu ſeyn. Daß tägliche Leben iſt, wie geſagt, lehr¬
reicher, als das wirkſamſte Buch.“


Aber doch, bemerkte ich, ſucht man ſich bei Kindern
in Acht zu nehmen, daß man in ihrer Gegenwart nicht
Dinge ſpricht, welche zu hören wir für ſie nicht gut
halten.


„Das iſt recht löblich, erwiederte Goethe, und ich
thue es ſelbſt nicht anders; allein ich halte dieſe Vor¬
ſicht durchaus für unnütz. Die Kinder haben, wie die
Hunde, einen ſo ſcharfen und feinen Geruch, daß ſie
Alles entdecken und auswittern, und das Schlimme
vor allem Anderen. Sie wiſſen auch immer ganz ge¬
nau, wie dieſer oder jener Hausfreund zu ihren Eltern
ſteht, und da ſie nun in der Regel noch keine Verſtel¬
lung üben, ſo können ſie uns als die trefflichſten Ba¬
rometer dienen, um an ihnen den Grad unſerer Gunſt
oder Ungunſt bei den Ihrigen wahrzunehmen.“


„Man hatte einſt in der Geſellſchaft ſchlecht von
mir geſprochen, und zwar erſchien die Sache für mich
von ſolcher Bedeutung, daß mir ſehr viel daran liegen
mußte, zu erfahren, woher der Schlag kam. Im All¬
gemeinen war man hier überaus wohlwollend gegen
mich geſinnt; ich dachte hin und her und konnte gar
nicht herausbringen, von wem jenes gehäſſige Gerede
könne ausgegangen ſeyn. Mit einemmale bekomme ich
Licht. Es begegneten mir nämlich eines Tages in der
Straße einige kleine Knaben meiner Bekanntſchaft, die
[331] mich nicht grüßten, wie ſie ſonſt zu thun pflegten.
Dieß war mir genug, und ich entdeckte auf dieſer
Fährte ſehr bald, daß es ihre lieben Eltern waren, die
ihre Zungen auf meine Koſten auf eine ſo arge Weiſe
in Bewegung geſetzt hatten.“

Abends einige Augenblicke bei Goethe. Er ſchien
ſehr ruhig und heiter und in der mildeſten Stimmung.
Ich fand ihn umgeben von ſeinem Enkel Wolf und
Gräfin Caroline Egloffſtein, ſeiner intimen Freundin.
Wolf machte ſeinem lieben Großvater viel zu ſchaffen.
Er kletterte auf ihm herum und ſaß bald auf der einen
Schulter und bald auf der andern. Goethe erduldete
Alles mit der größten Zärtlichkeit, ſo unbequem das
Gewicht des zehnjährigen Knaben ſeinem Alter auch
ſeyn mochte. „Aber, lieber Wolf, ſagte die Gräfin,
plage doch Deinen guten Großvater nicht ſo entſetzlich!
er muß ja von Deiner Laſt ganz ermüdet werden.“
Das hat gar nichts zu ſagen, erwiederte Wolf; wir
gehen bald zu Bette, und da wird der Großvater Zeit
haben, ſich von dieſer Fatigue ganz vollkommen wieder
auszuruhen. „Sie ſehen, nahm Goethe das Wort, daß
die Liebe immer ein wenig impertinenter Natur iſt.“


Das Geſpräch wendete ſich auf Campe und deſſen
Kinderſchriften. „Ich bin mit Campe, ſagte Goethe,
nur zweimal in meinem Leben zuſammengetroffen. Nach
[332] einem Zwiſchenraum von vierzig Jahren ſah ich ihn
zuletzt in Carlsbad. Ich fand ihn damals ſehr alt,
dürr, ſteif und abgemeſſen. Er hatte ſein ganzes Le¬
benlang nur für Kinder geſchrieben; ich dagegen gar
nichts für Kinder, ja nicht einmal für große Kinder
von zwanzig Jahren. Auch konnte er mich nicht aus¬
ſtehen. Ich war ihm ein Dorn im Auge, ein Stein
des Anſtoßes, und er that Alles, um mich zu vermei¬
den. Doch führte das Geſchick mich eines Tages ganz
unerwartet an ſeine Seite, ſo daß er nicht umhin
konnte, einige Worte an mich zu wenden. „Ich habe,
ſagte er, vor den Fähigkeiten Ihres Geiſtes allen Re¬
ſpect! Sie haben in verſchiedenen Fächern eine erſtaun¬
liche Höhe erreicht. Aber, ſehen Sie! das ſind Alles
Dinge, die mich nichts angehen und auf die ich gar
nicht den Werth legen kann, den andere Leute darauf
legen.“ — Dieſe etwas ungalante Freimüthigkeit ver¬
droß mich keineswegs und ich ſagte ihm dagegen aller¬
lei Verbindliches. Auch halte ich in der That ein
großes Stück auf Campe. Er hat den Kindern un¬
glaubliche Dienſte geleiſtet; er iſt ihr Entzücken und ſo
zu ſagen ihr Evangelium. — Bloß wegen zwei oder
drei ganz ſchrecklicher Geſchichten, die er nicht bloß die
Ungeſchicklichkeit gehabt hat zu ſchreiben, ſondern auch
in ſeine Sammlung für Kinder mit aufzunehmen, möchte
ich ihn ein wenig gezüchtigt ſehen. Warum ſoll man
die heitere, friſche, unſchuldige Phantaſie der Kinder ſo
[333] ganz unnöthigerweiſe mit den Eindrücken ſolcher Gräuel
belaſten!“

Es iſt bekannt, daß Goethe kein Freund von Bril¬
len iſt.


„Es mag eine Wunderlichkeit von mir ſeyn, ſagte
er mir bei wiederholten Anläſſen, aber ich kann es
einmal nicht überwinden. Sowie ein Fremder mit der
Brille auf der Naſe zu mir hereintritt, kommt ſogleich
eine Verſtimmung über mich, der ich nicht Herr werden
kann. Es genirt mich ſo ſehr, daß es einen großen
Theil meines Wohlwollens ſogleich auf der Schwelle
hinwegnimmt und meine Gedanken ſo verdirbt, daß an
eine unbefangene natürliche Entwickelung meines eige¬
nen Innern nicht mehr zu denken iſt. Es macht mir
immer den Eindruck des Desobligeanten, ungefähr ſo,
als wollte ein Fremder mir bei der erſten Begrüßung
ſogleich eine Grobheit ſagen. Ich empfinde dieſes
noch ſtärker, nachdem ich ſeit Jahren es habe drucken
laſſen, wie fatal mir die Brillen ſind. Kommt nun
ein Fremder mit der Brille, ſo denke ich gleich: er hat
deine neueſten Gedichte nicht geleſen! — und das iſt ſchon
ein wenig zu ſeinem Nachtheil; oder er hat ſie geleſen,
er kennt deine Eigenheit und ſetzt ſich darüber hinaus,
und das iſt noch ſchlimmer. Der einzige Menſch, bei
dem die Brille mich nicht genirt, iſt Zelter; bei allen
[334] Anderen iſt ſie mir fatal. Es kommt mir immer vor,
als ſollte ich den Fremden zum Gegenſtand genauer
Unterſuchung dienen, und als wollten ſie durch ihre
gewaffneten Blicke in mein geheimſtes Innere dringen
und jedes Fältchen meines alten Geſichtes erſpähen.
Während ſie aber ſo meine Bekanntſchaft zu machen
ſuchen, ſtören ſie alle billige Gleichheit zwiſchen uns,
indem ſie mich hindern, zu meiner Entſchädigung auch
die ihrige zu machen. Denn was habe ich von einem
Menſchen, dem ich bei ſeinen mündlichen Aeußerungen
nicht ins Auge ſehen kann und deſſen Seelenſpiegel
durch ein paar Gläſer, die mich blenden, verſchleiert iſt!“


Es hat Jemand bemerken wollen, verſetzte ich, daß
das Brillentragen die Menſchen dünkelhaft mache, in¬
dem die Brille ſie auf eine Stufe ſinnlicher Vollkom¬
menheit hebe, die weit über das Vermögen ihrer eige¬
nen Natur erhaben, wodurch denn zuletzt ſich die Täu¬
ſchung bei ihnen einſchleiche, daß dieſe künſtliche Höhe
die Kraft ihrer eigenen Natur ſey.


„Die Bemerkung iſt ſehr artig, erwiederte Goethe,
ſie ſcheint von einem Naturforſcher herzurühren. Doch
genau beſehen, iſt ſie nicht haltbar. Denn wäre es
wirklich ſo, ſo müßten ja alle Blinden ſehr beſcheidene
Menſchen ſeyn, dagegen alle mit trefflichen Augen be¬
gabten dünkelhaft. Dieß iſt aber durchaus nicht ſo;
vielmehr finden wir, daß alle geiſtig wie körperlich
durchaus naturkräftig ausgeſtatteten Menſchen in der
[335] Regel die beſcheidenſten ſind, dagegen alle beſonders
geiſtig Verfehlten weit eher einbilderiſcher Art. Es
ſcheint, daß die gütige Natur allen denen, die bei ihr
in höherer Hinſicht zu kurz gekommen ſind, die Ein¬
bildung und den Dünkel als verſöhnendes Ausgleichungs-
und Ergänzungsmittel gegeben hat.“


„Uebrigens ſind Beſcheidenheit und Dünkel ſittliche
Dinge ſo geiſtiger Art, daß ſie wenig mit dem Körper
zu ſchaffen haben. Bei Bornirten und geiſtig Dunkeln
findet ſich der Dünkel; bei geiſtig Klaren und Hochbe¬
gabten aber findet er ſich nie. Bei ſolchen findet ſich
höchſtens ein freudiges Gefühl ihrer Kraft; da aber
dieſe Kraft wirklich iſt, ſo iſt dieſes Gefühl alles An¬
dere, aber kein Dünkel.“


Wir unterhielten uns noch über verſchiedene andere
Gegenſtände und kamen zuletzt auch auf das „Chaos“,
dieſer von Frau v. Goethe geleiteten Weimar'ſchen Zeit¬
ſchrift, woran nicht bloß hieſige deutſche Herren und
Damen, ſondern vorzüglich auch die hier ſich aufhal¬
tenden jungen Engländer, Franzoſen und andere Fremd¬
linge Theil nehmen, ſo daß denn faſt jede Nummer
ein Gemiſch faſt aller bekannteſten Europäiſchen Spra¬
chen darbietet.


„Es iſt doch hübſch von meiner Tochter, ſagte
Goethe, und man muß ſie loben und es ihr Dank wiſſen,
daß ſie das höchſt originelle Journal zu Stande ge¬
bracht und die einzelnen Mitglieder unſerer Geſellſchaft
[336] ſo in Anregung zu erhalten weiß, daß es doch nun
bald ein Jahr beſteht. Es iſt freilich nur ein dilet¬
tantiſcher Spaß, und ich weiß recht gut, daß nichts
Großes und Dauerhaftes dabei herauskommt; allein es
iſt doch artig und gewiſſermaßen ein Spiegel der
geiſtigen Höhe unſerer jetzigen Weimar'ſchen Geſell¬
ſchaft. Und dann, was die Hauptſache iſt, es giebt unſe¬
ren jungen Herren und Damen, die oft gar nicht wiſſen,
was ſie mit ſich anfangen ſollen, etwas zu thun; auch
haben ſie dadurch einen geiſtigen Mittelpunkt, der ihnen
Gegenſtände der Beſprechung und Unterhaltung bietet
und ſie alſo gegen den ganz nichtigen und hohlen
Klatſch ſchützet. Ich leſe jedes Blatt, ſo wie es friſch
aus der Preſſe kommt, und kann ſagen, daß mir im
Ganzen noch nichts Ungeſchicktes vorgekommen iſt,
vielmehr mitunter ſogar einiges recht Hübſche. Was
wollen Sie z. B. gegen die Elegie der Frau von
Bechtolsheim auf den Tod der Frau Großherzogin
Mutter einwenden? Iſt das Gedicht nicht ſehr artig?
Das Einzige, was ſich gegen dieſes, ſowie gegen das
Meiſte unſerer jungen Damen und Herren ſagen ließe,
wäre etwa, daß ſie, gleich zu ſaftreichen Bäumen, die
eine Menge Schmarotzer-Schößlinge treiben, einen Ueber¬
fluß von Gedanken und Empfindungen haben, deren
ſie nicht Herr ſind, ſo daß ſie ſich ſelten zu beſchrän¬
ken und da aufzuhören wiſſen, wo es gut wäre. Die¬
ſes iſt auch der Frau v. Bechtolsheim paſſirt. Um
[337] einen Reim zu bewahren, hatte ſie einen anderen Vers
hinzugefügt, der dem Gedicht durchaus zum Nachtheil
gereichte, ja es gewiſſermaßen verdarb. Ich ſah dieſen
Fehler im Manuſcript und konnte ihn noch zeitig ge¬
nug ausmerzen. Man muß ein alter Praktikus ſeyn,
fügte er lachend hinzu, um das Streichen zu verſtehen.
Schiller war hierin beſonders groß. Ich ſah ihn ein¬
mal bei Gelegenheit ſeines Muſenalmanachs ein pom¬
pöſes Gedicht von zwei und zwanzig Strophen
auf ſieben reduciren, und zwar hatte das Product
durch dieſe furchtbare Operation keineswegs verloren,
vielmehr enthielten dieſe ſieben Strophen noch alle gu¬
ten und wirkſamen Gedanken jener zwei und zwanzig.“

Goethe erzählte mir von dem Beſuch zweier Ruſſen,
die heute bei ihm geweſen. „Es waren im Ganzen
recht hübſche Leute, ſagte er; aber der Eine zeigte ſich
mir nicht eben liebenswürdig, indem er während der
ganzen Viſite kein einziges Wort hervorbrachte. Er
kam mit einer ſtummen Verbeugung herein, öffnete
während ſeiner Anweſenheit nicht die Lippen, und nahm
nach einem halben Stündchen mit einer ſtummen Ver¬
beugung wieder Abſchied. Er ſchien bloß gekommen
zu ſeyn, mich anzuſehen und zu beobachten. Er ließ,
während ich ihnen gegenüber ſaß, ſeine Blicke nicht
von mir. Das ennüyirte mich; weßhalb ich denn an¬
III. 22[338] fing das tolleſte Zeug hin und her zu ſchwatzen, ſo
wie es mir gerade in den Kopf fuhr. Ich glaube, ich
hatte die vereinigten Staaten von Nordamerika mir
zum Thema genommen, das ich auf die leichtſinnigſte
Weiſe behandelte und davon ſagte, was ich wußte und
was ich nicht wußte, immer gerade in den Tag hinein.
Das ſchien aber meinen beiden Fremden eben recht zu
ſeyn, denn ſie verließen mich, dem Anſcheine nach, durch¬
aus nicht unzufrieden.“

Bei Goethe zu Tiſch. Frau v. Goethe war gegen¬
wärtig und die Unterhaltung angenehm belebt; doch
iſt mir davon wenig oder nichts geblieben.


Während der Tafel ließ ein durchreiſender Fremder
ſich melden, mit dem Bemerken, daß er keine Zeit habe
ſich aufzuhalten und morgen früh wieder abreiſen müſſe.
Goethe ließ ihm ſagen, daß er ſehr bedauere, heute
Niemanden ſehen zu können; vielleicht aber morgen
Mittag. „Ich denke, fügte er lächelnd hinzu, das wird
genug ſeyn.“ Zu gleicher Zeit aber verſprach er ſeiner
Tochter, daß er den Beſuch des von ihr empfohlenen
jungen Henning nach Tiſch erwarten wolle, und zwar
in Rückſicht ſeiner braunen Augen, die denen ſeiner
Mutter gleichen ſollten.

[339]

Vor Goethe's Fenſter ſtand ein kleiner broncener
Moſes, eine Nachbildung des berühmten Originals
von Michel Angelo. Die Arme erſchienen mir im Ver¬
hältniß zum übrigen Körper zu lang und zu ſtark,
welche meine Meinung ich gegen Goethe offen aus¬
ſprach.


„Aber die beiden ſchweren Tafeln mit den zehn
Geboten! rief er lebhaft, — glaubt Ihr denn, daß es
eine Kleinigkeit war, die zu tragen? Und glaubt Ihr
denn ferner, daß Moſes, der eine Armee Juden zu
commandiren und zu bändigen hatte, ſich mit ganz
ordinären Armen hätte begnügen können?“


Goethe lachte, indem er dieſes ſagte, ſo daß ich
nicht erfuhr, ob ich wirklich Unrecht hatte, oder ob er
ſich mit der Vertheidigung ſeines Künſtlers nur einen
Spaß machte.

Die Nachrichten von der begonnenen Juli-Revolu¬
tion gelangten heute nach Weimar und ſetzten Alles in
Aufregung. Ich ging im Laufe des Nachmittags zu
Goethe. „Nun? rief er mir entgegen, was denken
Sie von dieſer großen Begebenheit? Der Vulkan iſt
zum Ausbruch gekommen; Alles ſteht in Flammen, und
es iſt nicht ferner eine Verhandlung bei geſchloſſenen
Thüren!“

22*[340]

Eine furchtbare Geſchichte! erwiederte ich. Aber
was ließ ſich bei den bekannten Zuſtänden und bei
einem ſolchen Miniſterium Anderes erwarten, als daß
man mit der Vertreibung der bisherigen Königlichen
Familie endigen würde.


„Wir ſcheinen uns nicht zu verſtehen, mein Aller¬
beſter, erwiederte Goethe. Ich rede gar nicht von je¬
nen Leuten; es handelt ſich bei mir um ganz andere
Dinge! Ich rede von dem in der Academie zum
öffentlichen Ausbruch gekommenen, für die Wiſſenſchaft
ſo höchſt bedeutenden Streit zwiſchen Cüvier und
Geoffroy de Saint-Hilaire!“


Dieſe Aeußerung Goethe's war mir ſo unerwartet,
daß ich nicht wußte was ich ſagen ſollte, und daß ich
während einiger Minuten einen völligen Stillſtand in
meinen Gedanken verſpürte.


„Die Sache iſt von der höchſten Bedeutung, fuhr
Goethe fort, und Sie können ſich keinen Begriff machen,
was ich bei der Nachricht von der Sitzung des 19.
Juli empfinde. Wir haben jetzt an Geoffroy de Saint-
Hilaire einen mächtigen Alliirten auf die Dauer. Ich
ſehe aber zugleich daraus, wie groß die Theilnahme
der franzöſiſchen wiſſenſchaftlichen Welt an dieſer Ange¬
legenheit ſeyn muß, indem, trotz der furchtbaren poli¬
tiſchen Aufregung, die Sitzung des 19. Juli dennoch
bei einem gefüllten Hauſe ſtattfand. Das Beſte
aber iſt, daß die von Geoffroy in Frankreich einge¬
[341] führte ſynthetiſche Behandlungsweiſe der Natur jetzt
nicht mehr rückgängig zu machen iſt. Die Angelegen¬
heit iſt durch die freien Discuſſionen in der Academie,
und zwar in Gegenwart eines großen Publicums, jetzt
öffentlich geworden, ſie läßt ſich nicht mehr an geheime
Ausſchüſſe verweiſen und bei geſchloſſenen Thüren ab¬
thun und unterdrücken. Von nun an wird auch in
Frankreich bei der Naturforſchung der Geiſt herrſchen
und über die Materie Herr ſeyn. Man wird Blicke
in große Schöpfungsmaximen thun, in die geheimni߬
volle Werkſtatt Gottes! — Was iſt auch im Grunde
aller Verkehr mit der Natur, wenn wir auf analytiſchem
Wege bloß mit einzelnen materiellen Theilen uns zu
ſchaffen machen, und wir nicht das Athmen des Geiſtes
empfinden, der jedem Theile die Richtung vorſchreibt
und jede Ausſchweifung durch ein inwohnendes Geſetz
bändigt oder ſanctionirt!“


„Ich habe mich ſeit funfzig Jahren in dieſer großen
Angelegenheit abgemüht; anfänglich einſam, dann unter¬
ſtützt, und zuletzt zu meiner großen Freude überragt
durch verwandte Geiſter. Als ich mein erſtes Aperçü
vom Zwiſchenknochen an Peter Camper ſchickte, ward
ich zu meiner innigſten Betrübniß völlig ignorirt. Mit
Blumenbach ging es mir nicht beſſer, obgleich er, nach
perſönlichem Verkehr, auf meine Seite trat. Dann
aber gewann ich Gleichgeſinnte an Sömmering, Oken,
Dalton, Carus und anderen gleich trefflichen Män¬
[342] nern. Jetzt iſt nun auch Geoffroy de Saint-Hilaire
entſchieden auf unſerer Seite und mit ihm alle ſeine
bedeutenden Schüler und Anhänger Frankreichs. Die¬
ſes Ereigniß iſt für mich von ganz unglaublichem
Werth, und ich jubele mit Recht über den endlich
erlebten allgemeinen Sieg einer Sache, der ich mein
Leben gewidmet habe und die ganz vorzüglich auch die
meinige iſt.“

Ich empfahl Goethen einen hoffnungsvollen jungen
Menſchen. Er verſprach, etwas für ihn zu thun, doch
ſchien er wenig Vertrauen zu haben.


„Wer wie ich, ſagte er, ein ganzes Leben lang
koſtbare Zeit und Geld mit der Protection junger Ta¬
lente verloren hat, und zwar Talente, die anfänglich
die höchſten Hoffnungen erweckten, aus denen aber am
Ende gar nichts geworden iſt, dem muß wohl der
Enthuſiasmus und die Luſt, in ſolcher Richtung zu
wirken, nach und nach vergehen. Es iſt nun an euch
jüngeren Leuten, den Mäcen zu ſpielen und meine
Rolle zu übernehmen.“


Ich verglich bei dieſer Aeußerung Goethe's die
täuſchenden Verſprechungen der Jugend mit Bäumen,
die doppelte Blüthen, aber keine Früchte tragen.


[343]

Goethe zeigte mir Tabellen, wohinein er in latei¬
niſcher und deutſcher Sprache viele Namen von Pflan¬
zen geſchrieben hatte, um ſie auswendig zu lernen. Er
ſagte mir, daß er ein Zimmer gehabt, das ganz mit
ſolchen Tabellen austapezirt geweſen, und worin er, an
den Wänden umhergehend, ſtudirt und gelernt habe.
„Es thut mir leid, fügte er hinzu, daß es ſpäter über¬
weißt worden. Auch hatte ich ein anderes, das mit
chronologiſchen Notizen meiner Arbeiten während einer
langen Reihe von Jahren beſchrieben war und worauf
ich das Neueſte immer nachtrug. Auch dieſes iſt leider
übertüncht worden, welches ich nicht wenig bedauere,
indem es mir gerade jetzt herrliche Dienſte thun könnte.“

Ein Stündchen bei Goethe, um mit ihm im Auf¬
trag der Frau Großherzogin wegen eines ſilbernen
Wappenſchildes Rückſprache zu nehmen, das der Prinz
der hieſigen Armbruſtſchützen-Geſellſchaft verehren ſoll,
deren Mitglied er geworden.


Unſere Unterhaltung wendete ſich bald auf andere
Dinge, und Goethe bat mich, ihm meine Meinung über
die Saint-Simoniſten zu ſagen.


Die Hauptrichtung ihrer Lehre, erwiederte ich,
ſcheint dahin zu gehen, daß Jeder für das Glück des
[344] Ganzen arbeiten ſolle, als unerläßliche Bedingung ſeines
eigenen Glückes.


„Ich dächte, erwiederte Goethe, Jeder müſſe bei ſich
ſelber anfangen und zunächſt ſein eigenes Glück machen,
woraus denn zuletzt das Glück des Ganzen unfehlbar
entſtehen wird. Uebrigens erſcheint jene Lehre mir
durchaus unpraktiſch und unausführbar. Sie widerſpricht
aller Natur, aller Erfahrung, und allem Gang der Dinge
ſeit Jahrtauſenden. Wenn Jeder nur als Einzelner
ſeine Pflicht thut und Jeder nur in dem Kreiſe ſeines
nächſten Berufes brav und tüchtig iſt, ſo wird es um
das Wohl des Ganzen gut ſtehen. Ich habe in mei¬
nem Beruf als Schriftſteller nie gefragt: was will die
große Maſſe und wie nütze ich dem Ganzen? ſondern
ich habe immer nur dahin getrachtet, mich ſelbſt einſich¬
tiger und beſſer zu machen, den Gehalt meiner eigenen
Perſönlichkeit zu ſteigern, und dann immer nur aus¬
zuſprechen, was ich als gut und wahr erkannt hatte.
Dieſes hat freilich, wie ich nicht läugnen will, in
einem großen Kreiſe gewirkt und genützt; aber dies
war nicht Zweck, ſondern ganz nothwendige Folge,
wie ſie bei allen Wirkungen natürlicher Kräfte ſtatt¬
findet. Hätte ich als Schriftſteller die Wünſche des
großen Haufens mir zum Ziel machen und dieſe zu
befriedigen trachten wollen, ſo hätte ich ihnen Hiſtör¬
chen erzählen und ſie zum Beſten haben müſſen, wie
der ſelige Kotzebue gethan.“

[345]

Dagegen iſt nichts zu ſagen, erwiederte ich. Es
giebt aber nicht bloß ein Glück, was ich als einzelnes
Individuum, ſondern auch ein ſolches, was ich als
Staatsbürger und Mitglied einer großen Geſammtheit
genieße. Wenn man nun die Erreichung des möglich¬
ſten Glückes für ein ganzes Volk nicht zum Princip
macht, von welcher Baſis ſoll da die Geſetzgebung
ausgehen!


„Wenn Sie da hinaus wollen, erwiederte Goethe,
ſo habe ich freilich gar nichts einzuwenden. In ſolchem
Falle könnten aber nur ſehr wenige Auserwählten von
Ihrem Princip Gebrauch machen. Es wäre nur ein
Recept für Fürſten und Geſetzgeber; wiewohl es mir
auch da ſcheinen will, als ob die Geſetze mehr trachten
müßten, die Maſſe der Uebel zu vermindern, als ſich
anmaßen zu wollen, die Maſſe des Glückes herbeizu¬
führen.“


Beides, entgegnete ich, würde wohl ziemlich auf
Eins hinauskommen. Schlechte Wege erſcheinen mir
z. B. als ein großes Uebel. Wenn aber der Fürſt in
ſeinem Staate, bis auf die letzte Dorfgemeinde, gute
Wege einführt, ſo iſt nicht bloß ein großes Uebel ge¬
hoben, ſondern zugleich für ſein Volk ein großes Glück
erreicht. Ferner iſt eine langſame Juſtiz ein großes
Unglück. Wenn aber der Fürſt durch Anordnung eines
öffentlichen mündlichen Verfahrens ſeinem Volke eine
[346] raſche Juſtiz gewährt, ſo iſt abermals nicht bloß ein
großes Uebel beſeitigt, ſondern abermals ein großes
Glück da.


„Aus dieſem Tone, fiel Goethe ein, wollte ich Euch
noch ganz andere Lieder pfeifen. Aber wir wollen noch
einige Uebel unangedeutet laſſen, damit der Menſchheit
etwas bleibe, woran ſie ihre Kräfte ferner entwickele.
Meine Hauptlehre aber iſt vorläufig dieſe: Der Vater
ſorge für ſein Haus, der Handwerker für ſeine Kunden,
der Geiſtliche für gegenſeitige Liebe, und die Polizei
ſtöre die Freude nicht.“

Ich durchblätterte mit Goethe einige Hefte Zeich¬
nungen meines Freundes Töpfer in Genf, deſſen
Talent als Schriftſteller, wie als bildender Künſtler,
gleich groß iſt, der es aber bis jetzt vorzuziehen ſcheint,
die lebendigen Anſchauungen ſeines Geiſtes durch ſicht¬
bare Geſtalten, ſtatt durch flüchtige Worte, auszudrücken.
Das Heft, welches in leichten Federzeichnungen die
Abenteuer des Doctor Feſtus enthielt, machte voll¬
kommen den Eindruck eines komiſchen Romans und ge¬
fiel Goethen ganz beſonders. „Es iſt wirklich zu toll!
rief er von Zeit zu Zeit, indem er ein Blatt nach dem
andern umwendete; es funkelt Alles von Talent und
Geiſt! Einige Blätter ſind ganz unübertrefflich! Wenn
er künftig einen weniger frivolen Gegenſtand wählte
[347] und ſich noch ein Bißchen mehr zuſammennähme, ſo
würde er Dinge machen, die über alle Begriffe wären.“


Man hat ihn mit Rabelais vergleichen und ihm
vorwerfen wollen, bemerkte ich, daß er Jenen nachge¬
ahmt und von ihm Ideen entlehnt habe.


„Die Leute wiſſen nicht, was ſie wollen, erwiederte
Goethe. Ich finde durchaus nichts von dergleichen.
Töpfer ſcheint mir im Gegentheil ganz auf eigenen
Füßen zu ſtehen, und ſo durchaus originell zu ſeyn,
wie mir nur je ein Talent vorgekommen.“

Ich fand Coudray bei Goethe in Betrachtung
architektoniſcher Zeichnungen. Ich hatte ein Fünf-Fran¬
ken-Stück von 1830 mit dem Bildniß Carl's des Zehn¬
ten bei mir, das ich vorzeigte. Goethe ſcherzte über
den zugeſpitzten Kopf. „Das Organ der Religioſität
erſcheint bei ihm ſehr entwickelt, bemerkte er. Ohne
Zweifel hat er aus übergroßer Frömmigkeit nicht für
nöthig gehalten, ſeine Schuld zu bezahlen; dagegen
ſind wir ſehr tief in die ſeinige gerathen, indem wir
es ſeinem Genieſtreich verdanken, daß man jetzt in
Europa ſo bald nicht wieder zur Ruhe kommen wird.“


Wir ſprachen darauf über „Rouge et Noir“, welches
Goethe für das beſte Werk von Stendhal hält.
„Doch kann ich nicht läugnen, fügte er hinzu, daß ei¬
nige ſeiner Frauen-Charaktere ein wenig zu romantiſch
[348] ſind. Indeſſen zeugen ſie alle von großer Beobachtung
und pſychologiſchem Tiefblick, ſo daß man denn dem
Autor einige Unwahrſcheinlichkeiten des Details gerne
verzeihen mag.“

Mit dem Prinzen bei Goethe. Seine Enkel amü¬
ſirten ſich mit Taſchenſpieler-Kunſtſtückchen, worin be¬
ſonders Walther geübt iſt. „Ich habe nichts dawider,
ſagte Goethe, daß die Knaben ihre müßigen Stunden
mit ſolchen Thorheiten ausfüllen. Es iſt, beſonders in
Gegenwart eines kleinen Publicums, ein herrliches Mit¬
tel zur Uebung in freier Rede und Erlangung einiger
körperlichen und geiſtigen Gewandtheit, woran wir
Deutſchen ohnehin keinen Ueberfluß haben. Der Nach¬
theil allenfalls entſtehender kleiner Eitelkeit wird durch
ſolchen Gewinn vollkommen aufgewogen.“


Auch ſorgen ſchon die Zuſchauer für die Dämpfung
ſolcher Regungen, bemerkte ich, indem ſie dem kleinen
Künſtler gewöhnlich ſehr ſcharf auf die Finger ſehen
und ſchadenfroh genug ſind, ſeine Fehlgriffe zu ver¬
höhnen, und ſeine kleinen Geheimniſſe zu ſeinem Ver¬
druß öffentlich aufzudecken.


„Es geht Ihnen wie den Schauſpielern, verſetzte
Goethe, die heute gerufen und morgen gepfiffen wer¬
den, wodurch denn Alles im ſchönſten Gleiſe bleibt.“


[349]

Dieſen Mittag ein halbes Stündchen bei Goethe.
Ich hatte ihm die Nachricht zu bringen, daß die Frau
Großherzogin beſchloſſen habe, der Direction des hie¬
ſigen Theaters ein Geſchenk von tauſend Thalern zu¬
ſtellen zu laſſen, um zur Ausbildung hoffnungsvoller
junger Talente verwandt zu werden. Dieſe Nachricht
machte Goethen, dem das fernere Gedeihen des Thea¬
ters am Herzen liegt, ſichtbare Freude.


Sodann hatte ich einen Auftrag anderer Art mit
ihm zu bereden. Es iſt nämlich die Abſicht der Frau
Großherzogin, den jetzigen beſten deutſchen Schriftſteller,
inſofern er ohne Amt und Vermögen wäre und bloß
von den Früchten ſeines Talentes leben müßte, nach
Weimar berufen zu laſſen und ihm hier eine ſorgenfreie
Lage zu bereiten, dergeſtalt, daß er die gehörige Muße
fände, jedes ſeiner Werke zu möglichſter Vollendung
heranreifen zu laſſen, und nicht in den traurigen Fall
käme, aus Noth flüchtig und übereilt zu arbeiten, zum
Nachtheil ſeines eigenen Talents und der Literatur.


„Die Intention der Frau Großherzogin, erwiederte
Goethe, iſt wahrhaft Fürſtlich, und ich beuge mich vor
ihrer edlen Geſinnung; allein es wird ſehr ſchwer hal¬
ten, irgend eine paſſende Wahl zu treffen. Die vor¬
züglichſten unſerer jetzigen Talente ſind bereits durch
Anſtellung im Staatsdienſt, Penſionen, oder eigenes
Vermögen, in einer ſorgenfreien Lage. Auch paßt nicht
[350] Jeder hierher und nicht Jedem wäre wirklich damit ge¬
holfen. Ich werde indeß die edle Abſicht im Auge be¬
halten und ſehen, was die nächſten Jahre uns etwa
Gutes bringen.“

Goethe war in der letzten Zeit abermals ſehr un¬
wohl, ſo daß er nur ſeine vertrauteſten Freunde bei
ſich ſehen konnte. Vor einigen Wochen mußte ihm ein
Aderlaß verordnet werden; dann zeigten ſich Beſchwer¬
den und Schmerzen im rechten Beine, — bis denn zuletzt
ſein inneres Uebel durch eine Wunde am Fuße ſich
Luft machte, worauf ſehr ſchnelle Beſſerung erfolgte.
Auch dieſe Wunde iſt nun ſeit einigen Tagen wieder
heil und er iſt wieder heiter und graziös wie vorher.


Heute hatte die Frau Großherzogin ihm einen Be¬
ſuch gemacht und kam ſehr zufrieden von ihm zurück.
Sie hatte nach ſeinem Befinden gefragt; worauf er
denn ſehr galant geantwortet, daß er bis heute ſeine
Geneſung noch nicht geſpürt, daß aber Ihre Gegenwart
ihm das Glück der wiedererlangten Geſundheit auf's
Neue empfinden laſſe.

Soirée beim Prinzen. Einer der älteren anweſen¬
den Herren, der ſich noch mancher Dinge aus den erſten
[351] Jahren von Goethe's Hierſeyn erinnerte, erzählte uns
folgendes ſehr Charakteriſtiſche.


Ich war dabei, ſagte er, als Goethe im Jahre
1784 ſeine bekannte Rede bei der feierlichen Eröffnung
des Ilmenauer Bergwerks hielt, wozu er alle Beamten
und Intereſſenten aus der Stadt und Umgegend ein¬
geladen hatte. Er ſchien ſeine Rede gut im Kopfe zu
haben, denn er ſprach eine Zeit lang ohne allen An¬
ſtoß und vollkommen geläufig. Mit einemmal aber
ſchien er wie von ſeinem guten Geiſt gänzlich verlaſſen,
der Faden ſeiner Gedanken war wie abgeſchnitten und
er ſchien den Ueberblick des ferner zu Sagenden gänz¬
lich verloren zu haben. Dieß hätte jeden Andern in
große Verlegenheit geſetzt; ihn aber keineswegs. Er
blickte vielmehr, wenigſtens zehn Minuten lang, feſt
und ruhig in dem Kreiſe ſeiner zahlreichen Zuhörer
umher, die durch die Macht ſeiner Perſönlichkeit wie
gebannt waren, ſo daß während der ſehr langen, ja
faſt lächerlichen Pauſe Jeder vollkommen ruhig blieb.
Endlich ſchien er wieder Herr ſeines Gegenſtandes ge¬
worden zu ſeyn, er fuhr in ſeiner Rede fort und führte
ſie ſehr geſchickt ohne Anſtoß bis zu Ende, und zwar
ſo frei und heiter, als ob gar nichts paſſirt wäre.

Dieſen Nachmittag ein halbes Stündchen bei Goethe,
den ich noch bei Tiſch fand.


[352]

Wir verhandelten über einige Gegenſtände der Na¬
turwiſſenſchaft, beſonders über die Unvollkommenheit
und Unzulänglichkeit der Sprache, wodurch Irrthümer
und falſche Anſchauungen verbreitet würden, die ſpäter
ſo leicht nicht wieder zu überwinden wären.


„Die Sache iſt ganz einfach dieſe, ſagte Goethe.
Alle Sprachen ſind aus nahe liegenden menſchlichen
Bedürfniſſen, menſchlichen Beſchäftigungen und allge¬
mein menſchlichen Empfindungen und Anſchauungen
entſtanden. Wenn nun ein höherer Menſch über das
geheime Wirken und Walten der Natur eine Ahnung
und Einſicht gewinnt, ſo reicht ſeine ihm überlieferte
Sprache nicht hin, um ein ſolches von menſchlichen
Dingen durchaus Fernliegende auszudrücken. Es müßte
ihm die Sprache der Geiſter zu Gebote ſtehen, um ſei¬
nen eigenthümlichen Wahrnehmungen zu genügen. Da
dieſes aber nicht iſt, ſo muß er bei ſeiner Anſchauung
ungewöhnlicher Naturverhältniſſe ſtets nach menſchlichen
Ausdrücken greifen, wobei er denn faſt überall zu kurz
kommt, ſeinen Gegenſtand herabzieht oder wohl gar
verletzt und vernichtet.“


Wenn Sie das ſagen, erwiederte ich, der Sie doch
Ihren Gegenſtänden jedesmal ſehr ſcharf auf den Leib
gehen und, als Feind aller Phraſe, für Ihre höheren
Wahrnehmungen ſtets den bezeichnendſten Ausdruck zu
finden wiſſen, ſo will das etwas heißen. Ich dächte
aber, wir Deutſchen könnten überhaupt noch allenfalls
[353] zufrieden ſeyn. Unſere Sprache iſt ſo außerordentlich
reich, ausgebildet und fortbildungsfähig, daß, wenn
wir auch mitunter zu einem Tropus unſere Zuflucht
nehmen müſſen, wir doch ziemlich nahe an das eigent¬
lich Auszuſprechende herankommen. Die Franzoſen
aber ſtehen gegen uns ſehr im Nachtheil. Bei ihnen
wird der Ausdruck eines angeſchauten höheren Natur¬
verhältniſſes durch einen gewöhnlich aus der Technik
hergenommenen Tropus ſogleich materiell und gemein,
ſo daß er der höheren Anſchauung keineswegs mehr
genügt.


„Wie ſehr Sie Recht haben, fiel Goethe ein, iſt
mir noch neulich bei dem Streit zwiſchen Cüvier und
Geoffroy de Saint-Hilaire vorgekommen. Geoffroy de
Saint-Hilaire iſt ein Menſch, der wirklich in das geiſtige
Walten und Schaffen der Natur eine hohe Einſicht hat;
allein ſeine franzöſiſche Sprache, inſofern er ſich herkömm¬
licher Ausdrücke zu bedienen gezwungen iſt, läßt ihn
durchaus im Stich. Und zwar nicht bloß bei geheimni߬
voll-geiſtigen, ſondern auch bei ganz ſichtbaren, rein kör¬
perlichen Gegenſtänden und Verhältniſſen. Will er die
einzelnen Theile eines organiſchen Weſens ausdrücken, ſo
hat er dafür kein anderes Wort, als Materialien,
wodurch denn z. B. die Knochen, welche als gleichartige
Theile das organiſche Ganze eines Armes bilden, mit
den Steinen, Balken und Brettern, woraus man ein
Haus macht, auf eine Stufe des Ausdrucks kommen.“

III. 23[354]

„Ebenſo ungehörig, fuhr Goethe fort, gebrauchen
die Franzoſen, wenn ſie von Erzeugniſſen der Natur
reden, den Ausdruck Compoſition. Ich kann aber
wohl die einzelnen Theile einer ſtückweiſe gemachten
Maſchine zuſammenſetzen und bei einem ſolchen Gegen¬
ſtande von Compoſition reden, aber nicht, wenn ich
die einzelnen lebendig ſich bildenden und von einer ge¬
meinſamen Seele durchdrungenen Theile eines organi¬
ſchen Ganzen im Sinne habe.“


Es will mir ſogar ſcheinen, verſetzte ich, als ob der
Ausdruck Compoſition auch bei echten Erzeugniſſen
der Kunſt und Poeſie ungehörig und herabwürdigend
wäre.


„Es iſt ein ganz niederträchtiges Wort, erwiederte
Goethe, das wir den Franzoſen zu danken haben, und das
wir ſobald wie möglich wieder loszuwerden ſuchen ſollten.
Wie kann man ſagen, Mozart habe ſeinen Don Juan
componirt! — Compoſition! — Als ob es ein
Stück Kuchen oder Biscuit wäre, das man aus Eiern,
Mehl und Zucker zuſammenrührt! — Eine geiſtige Schö¬
pfung iſt es, das Einzelne wie das Ganze aus einem
Geiſte und Guß und von dem Hauche eines Lebens
durchdrungen, wobei der Producirende keineswegs ver¬
ſuchte und ſtückelte und nach Willkür verfuhr, ſondern wo¬
bei der dämoniſche Geiſt ſeines Genies ihn in der Gewalt
hatte, ſo daß er ausführen mußte, was jener gebot.“


[355]

Wir ſprachen über Victor Hugo. „Er iſt ein
ſchönes Talent, ſagte Goethe; aber ganz in der unſelig-
romantiſchen Richtung ſeiner Zeit befangen, wodurch er
denn, neben dem Schönen, auch das Allerunerträglichſte
und Häßlichſte darzuſtellen verführt wird. Ich habe in
dieſen Tagen ſeine Notre Dame de Paris geleſen und
nicht geringe Geduld gebraucht, um die Qualen aus¬
zuſtehen, die dieſe Lectüre mir gemacht hat. Es iſt das
abſcheulichſte Buch, das je geſchrieben worden! Auch
wird man für die Folterqualen, die man auszuſtehen
hat, nicht einmal durch die Freude entſchädigt, die man
etwa an der dargeſtellten Wahrheit menſchlicher Natur
und menſchlicher Charaktere empfinden könnte. Sein
Buch iſt im Gegentheil ohne alle Natur und ohne alle
Wahrheit! Seine vorgeführten ſogenannten handelnden
Perſonen ſind keine Menſchen mit lebendigem Fleiſch
und Blut, ſondern elende hölzerne Puppen, mit denen
er umſpringt wie er Belieben hat, und die er allerlei
Verzerrungen und Fratzen machen läßt, ſo wie er es
für ſeine beabſichtigten Effecte eben braucht. Was iſt
das aber für eine Zeit, die ein ſolches Buch nicht
allein möglich macht und hervorruft, ſondern es ſogar
ganz erträglich und ergötzlich findet! —“

Ich begleitete mit dem Prinzen Se. Majeſtät den
23*[356] König von Würtemberg zu Goethe. Der König ſchien
bei unſerer Zurückkunft ſehr befriedigt und trug mir
auf, Goethen für das Vergnügen zu danken, das dieſer
Beſuch ihm gemacht habe.

Einen Augenblick bei Goethe, dem ich meine geſtrige
Commiſſion des Königs ausrichtete. Ich fand ihn be¬
ſchäftigt in Studien in Bezug auf die Spiral-Tendenz
der Pflanze, von welcher neuen Entdeckung er der Mei¬
nung iſt, daß ſie ſehr weit führen und auf die Wiſſen¬
ſchaft großen Einfluß ausüben werde. „Es geht doch
nichts über die Freude, fügte er hinzu, die uns das
Studium der Natur gewährt. Ihre Geheimniſſe ſind
von einer unergründlichen Tiefe; aber es iſt uns Men¬
ſchen erlaubt und gegeben, immer weitere Blicke hinein¬
zuthun. Und gerade, daß ſie am Ende doch unergründ¬
lich bleibt, hat für uns einen ewigen Reiz, immer wie¬
der zu ihr heranzugehen und immer wieder neue Ein¬
blicke und neue Entdeckungen zu verſuchen.“

Nach Tiſch ein halbes Stündchen bei Goethe, den
ich ſehr heiterer, milder Stimmung fand. Wir ſprachen
über allerlei Dinge, zuletzt auch über Carlsbad, und
er ſcherzte über die mancherlei Herzensabenteuer, die er
daſelbſt erlebt. „Eine kleine Liebſchaft, ſagte er, iſt das
[357] Einzige, was uns einen Badeaufenthalt erträglich ma¬
chen kann; ſonſt ſtirbt man vor langer Weile. Auch
war ich faſt jedesmal ſo glücklich, dort irgend eine kleine
Wahlverwandtſchaft zu finden, die mir während der
wenigen Wochen einige Unterhaltung gab. Beſonders
erinnere ich mich eines Falles, der mir noch jetzt Ver¬
gnügen macht.“


„Ich beſuchte nämlich eines Tages Frau von
Reck
. Nachdem wir uns eine Weile nicht ſonderlich
unterhalten und ich wieder Abſchied genommen hatte,
begegnete mir im Hinausgehen eine Dame mit zwei
ſehr hübſchen jungen Mädchen. „Wer war der Herr,
der ſoeben von Ihnen ging?“ fragte die Dame. „Es
war Goethe,“ antwortete Frau von Reck. „O wie
leid thut es mir, erwiederte die Dame, daß er nicht
geblieben iſt, und daß ich nicht das Glück gehabt habe,
ſeine Bekanntſchaft zu machen!“ „O daran haben Sie
durchaus nichts verloren, meine Liebe, ſagte die Reck.
Er iſt ſehr langweilig unter Damen, es ſey denn, daß
ſie hübſch genug wären, ihm einiges Intereſſe einzu¬
flößen. Frauen unſeres Alters dürfen nicht daran
denken, ihn beredt und liebenswürdig zu machen.“


„Als die beiden Mädchen mit ihrer Mutter nach
Hauſe gingen, gedachten ſie der Worte der Frau v.
Reck. Wir ſind jung, wir ſind hübſch, ſagten ſie, laßt
doch ſehen, ob es uns nicht gelingt, jenen berühmten
Wilden einzufangen und zu zähmen! Am anderen
[358] Morgen auf der Promenade am Sprudel, machten ſie
mir im Vorübergehen wiederholt die graziöſeſten, lieb¬
lichſten Verbeugungen, worauf ich denn nicht unter¬
laſſen konnte, mich gelegentlich ihnen zu nähern und
ſie anzureden. Sie waren ſcharmant! ich ſprach ſie
wieder und wieder, ſie führten mich zu ihrer Mutter,
und ſo war ich denn gefangen. Von nun an ſahen
wir uns täglich, ja wir verlebten ganze Tage mitein¬
ander. Um unſer Verhältniß noch inniger zu machen,
ereignete es ſich, daß der Verlobte der Einen ankam,
worauf ich mich denn um ſo ungetheilter an die An¬
dere ſchloß. Auch gegen die Mutter war ich, wie man
ſich denken kann, ſehr liebenswürdig. Genug, wir
waren alle miteinander überaus zufrieden, und ich ver¬
lebte mit dieſer Familie ſo glückliche Tage, daß ſie mir
noch jetzt eine höchſt angenehme Erinnerung ſind. Die
beiden Mädchen erzählten mir ſehr bald die Unterre¬
dung zwiſchen ihrer Mutter und Frau v. Reck, und
welche Verſchwörung ſie zu meiner Eroberung ange¬
zettelt und zu glücklicher Ausführung gebracht.“ —


Hiebei fällt mir eine Anekdote anderer Art ein, die
Goethe mir früher erzählte und die hier einen Platz
finden mag.


„Ich ging, ſagte er mir, mit einem guten Bekann¬
ten einſt in einem Schloßgarten gegen Abend ſpazieren,
als wir unerwartet am Ende der Allee zwei andere
Perſonen unſeres Kreiſes bemerkten, die in ruhigen Ge¬
[359] ſprächen an einander hingingen. Ich kann Ihnen ſo
wenig den Herrn als die Dame nennen; aber es thut
nichts zur Sache. Sie unterhielten ſich alſo und
ſchienen an nichts zu denken, — als mit einemmal ihre
Köpfe ſich gegen einander neigten und ſie ſich gegen¬
ſeitig einen herzhaften Kuß gaben. Sie ſchlugen darauf
ihre erſte Richtung wieder ein und ſetzten ſehr ernſt
ihre Unterhaltung fort, als ob nichts paſſirt wäre.
„Haben Sie es geſehen? rief mein Freund voll Erſtau¬
nen; darf ich meinen Augen trauen?“ Ich habe es
geſehen, erwiederte ich ganz ruhig, — aber ich glaube es
nicht!“

Wir ſprachen über die Metamorphoſe der Pflanze,
und namentlich über Decandolle's Lehre von der Sym¬
metrie
, die Goethe für eine bloße Illuſion hält.


„Die Natur fügte er hinzu, ergiebt ſich nicht einem
Jeden. Sie erweiſet ſich vielmehr gegen Viele wie
ein neckiſches junges Mädchen, das uns durch tauſend
Reize anlockt, aber in dem Augenblick, wo wir es zu
faſſen und zu beſitzen glauben, unſern Armen ent¬
ſchlüpft.“

Heute war zu Belvedere die Verſammlung der Ge¬
ſellſchaft zur Beförderung des Ackerbaues; auch erſte
[360] Ausſtellung von Früchten und Gegenſtänden der In¬
duſtrie, welche reicher war, als man erwartet hatte.
Darauf großes Diner der zahlreich anweſenden Mit¬
glieder. Goethe trat herein, zu freudiger Ueberraſchung
aller Anweſenden. Er verweilte einige Zeit und be¬
trachtete ſodann die ausgeſtellten Gegenſtände mit ſicht¬
barem Intereſſe. Sein Erſcheinen machte den glücklich¬
ſten Eindruck, beſonders auch auf Solche, die ihn
früher noch nicht geſehen.

Ein Stündchen bei Goethe in allerlei Geſprächen.
Dann kamen wir auch auf Soret.


„Ich habe, ſagte Goethe, in dieſen Tagen ein ſehr
hübſches Gedicht von ihm geleſen, und zwar eine Tri¬
logie
, deren beide erſten Theile einen heiter ländli¬
chen, der letzte aber, unter dem Titel „Mitternacht“,
einen ſchauerlich-düſtern Charakter trägt. Dieſe „Mit¬
ternacht“ iſt ihm ganz vorzüglich gelungen. Man ath¬
met darin wirklich den Hauch der Nacht, faſt wie in
den Bildern von Rembrandt, in denen man auch die
nächtliche Luft zu empfinden glaubt. Victor Hugo hat
ähnliche Gegenſtände behandelt, allein nicht mit ſolchem
Glück. In den nächtlichen Darſtellungen dieſes un¬
ſtreitig ſehr großen Talents wird es nie wirklich Nacht,
vielmehr bleiben die Gegenſtände immer noch ſo deut¬
lich und ſichtbar, als ob es in der That noch Tag
[361] und die dargeſtellte Nacht bloß eine erlogene wäre.
Soret hat den berühmten Victor Hugo in ſeiner Mit¬
ternacht ohne Frage übertroffen.“


Ich freuete mich dieſes Lobes und nahm mir vor,
die gedachte Trilogie von Soret baldmöglichſt zu leſen.
Wir beſitzen in unſerer Literatur ſehr wenige Trilo¬
gieen, bemerkte ich.


„Dieſe Form, erwiederte Goethe, iſt bei den Mo¬
dernen überall ſelten. Es kommt darauf an, daß man
einen Stoff finde, der ſich naturgemäß in drei Partieen
behandeln laſſe, ſo daß in der erſten eine Art Expoſition,
in der zweiten eine Art Cataſtrophe, und in der dritten
eine verſöhnende Ausgleichung ſtattfinde. In meinen
Gedichten vom Junggeſellen und der Mülle¬
rin
finden ſich dieſe Erforderniſſe beiſammen, wiewohl
ich damals, als ich ſie ſchrieb, keineswegs daran dachte,
eine Trilogie zu machen. Auch mein Paria iſt eine
vollkommene Trilogie, und zwar habe ich dieſen Cyclus
ſogleich mit Intention als Trilogie gedacht und be¬
handelt. Meine ſogenannte Trilogie der Leiden¬
ſchaft
dagegen iſt urſprünglich nicht als Trilogie con¬
cipirt, vielmehr erſt nach und nach und gewiſſermaßen
zufällig zur Trilogie geworden. Zuerſt hatte ich, wie
Sie wiſſen, bloß die Elegie als ſelbſtſtändiges Ge¬
dicht für ſich. Dann beſuchte mich die Szimanowska,
die denſelbigen Sommer mit mir in Marienbad gewe¬
ſen war und durch ihre reizenden Melodieen einen
[362] Nachklang jener jugendlich-ſeligen Tage in mir er¬
weckte. Die Strophen, die ich dieſer Freundin wid¬
mete, ſind daher auch ganz im Versmaß und Ton
jener Elegie gedichtet und fügen ſich dieſer wie von
ſelbſt als verſöhnender Ausgang. Dann wollte Weygand
eine neue Ausgabe meines Werther veranſtalten und
bat mich um eine Vorrede, welches mir denn ein höchſt
willkommener Anlaß war, mein Gedicht an Werther zu
ſchreiben. Da ich aber immer noch einen Reſt jener
Leidenſchaft im Herzen hatte, ſo geſtaltete ſich das Ge¬
dicht wie von ſelbſt als Introduction zu jener Elegie.
So kam es denn, daß alle drei jetzt beiſammenſtehen¬
den Gedichte von demſelbigen liebesſchmerzlichen Ge¬
fühle durchdrungen worden und jene Trilogie der
Leidenſchaft ſich bildete, ich wußte nicht wie.“


„Ich habe Soret gerathen, mehr Trilogieen zu ſchrei¬
ben, und zwar ſoll er es auch machen wie ich eben
erzählt. Er ſoll ſich nicht die Mühe nehmen, zu irgend
einer Trilogie einen eigenen Stoff zu ſuchen, vielmehr
ſoll er aus dem reichen Vorrath ſeiner ungedruckten
Poeſieen irgend ein prägnantes Stück auswählen und
gelegentlich eine Art Introduction und verſöhnenden
Abſchluß hinzudichten, doch ſo, daß zwiſchen jeder der
drei Productionen eine fühlbare Lücke bleibe. Auf
dieſe Weiſe kommt man weit leichter zum Ziele und
erſpart ſich viel Denken, welches bekanntlich, wie Meyer
ſagt, eine gar ſchwierige Sache iſt.“

[363]

Wir ſprachen darauf über Victor Hugo, und daß
ſeine zu große Fruchtbarkeit ſeinem Talent im hohen
Grade nachtheilig.


„Wie ſoll Einer nicht ſchlechter werden und das
ſchönſte Talent zu Grunde richten, ſagte Goethe, wenn
er die Verwegenheit hat, in einem einzigen Jahre zwei
Tragödieen und einen Roman zu ſchreiben, und ferner,
wenn er nur zu arbeiten ſcheint, um ungeheure Geld¬
ſummen zuſammen zu ſchlagen. Ich ſchelte ihn keines¬
wegs, daß er reich zu werden, auch nicht, daß er den
Ruhm des Tages zu ernten bemüht iſt; allein wenn
er lange in der Nachwelt zu leben gedenkt, ſo muß er
anfangen weniger zu ſchreiben und mehr zu arbeiten.“


Goethe ging darauf die Marie de Lorme durch und
ſuchte mir deutlich zu machen, daß der Gegenſtand nur
Stoff zu einem einzigen guten und zwar recht tragi¬
ſchen Act enthalten habe, daß aber der Autor durch
Rückſichten ganz ſecundärer Art ſich habe verführen
laſſen, ſeinen Gegenſtand auf fünf lange Acte über¬
mäßig auszudehnen. „Hiebei, fügte Goethe hinzu,
haben wir bloß den Vortheil gehabt, zu ſehen, daß der
Dichter auch in Darſtellung des Details bedeutend iſt,
welches freilich auch nichts Geringes, und allerdings
etwas heißen will.“


[364]

Von meinem Freunde Töpfer in Genf waren
einige neue Hefte Feder-Zeichnungen und Aquarell-
Bilder eingegangen, größtentheils landſchaftliche An¬
ſichten aus der Schweiz und Italien, die er auf ſeinen
Fußreiſen nach und nach zuſammengebracht. Goethe
war von der Schönheit dieſer Zeichnungen, beſonders
der Aquarell-Bilder, ſo ſehr frappirt, daß er ſagte, es
ſey ihm, als ſähe er Werke des berühmten Lory. Ich
bemerkte, daß dieß noch keineswegs das Beſte von
Töpfer ſey und daß er ganz andere Dinge zu ſenden
habe. „Ich weiß nicht, was Ihr wollt! erwiederte
Goethe. Was ſollte es denn noch beſſer ſeyn! Und
was hätte es zu ſagen, wenn es auch wirklich noch
etwas beſſer wäre! Sobald ein Künſtler zu einer ge¬
wiſſen Höhe von Vortrefflichkeit gelangt iſt, wird
es ziemlich gleichgültig, ob eins ſeiner Werke etwas
vollkommener gerathen iſt als ein anderes. Der Ken¬
ner ſieht in jedem doch immer die Hand des Meiſters
und den ganzen Umfang ſeines Talentes und ſeiner
Mittel.“

Ich hatte Goethen ein in England geſtochenes
Portrait von Dümont zugeſchickt, das ihn ſehr zu
intereſſiren ſchien.


„Ich habe das Bild des bedeutenden Mannes oft
[365] und wiederholt betrachtet, ſagte er, als ich ihn heute
gegen Abend beſuchte. Anfangs hatte es etwas Zurück¬
ſtoßendes für mich, welches ich jedoch der Behandlung
des Künſtlers zuſchreiben möchte, der die Züge etwas
zu hart und tief eingegraben. Aber je länger ich den
im hohen Grade merkwürdigen Kopf anſah, deſtomehr
verſchwanden alle Härten und es trat aus dem dunke¬
len Grunde ein ſchöner Ausdruck von Ruhe, Güte und
geiſtreich-feiner Milde hervor, wie ſie den klugen, wohl¬
wollenden und für das allgemeine Beſte thätigen Mann
charakteriſiren und der Seele des Beſchauers ſo wohl
thun.“


Wir ſprachen darauf weiter über Dümont, beſon¬
ders aber über die Memoiren, die er in Bezug auf
Mirabeau geſchrieben, und worin er die mannigfalti¬
gen Hülfsquellen aufdeckt, die Mirabeau zu benutzen
verſtanden, auch die vielen Leute von Talent namhaft
macht, die er zu ſeinen Zwecken in Bewegung geſetzt
und mit deren Kräften er gearbeitet. „Ich kenne kein
lehrreicheres Buch, ſagte Goethe, als dieſe Memoiren,
wodurch wir in die geheimſten Winkel jener Zeit tiefe
Blicke thun, und wodurch uns das Wunder Mirabeau
natürlich wird, ohne daß dieſer Held dadurch irgend
etwas von ſeiner Größe verliert. Nun kommen aber
die neueſten Recenſenten der franzöſiſchen Journale,
die über dieſen Punkt ein wenig anders denken. Die
guten Leute glauben, der Verfaſſer jener Memoiren
[366] wolle ihnen ihren Mirabeau verderben, indem er das
Geheimniß ſeiner übermenſchlichen Thätigkeit enthüllt
und auch anderen Leuten einigen Antheil an dem gro¬
ßen Verdienſt vindicirt, das bisher der Name Mirabeau
allein verſchlang.“


„Die Franzoſen erblicken in Mirabeau ihren Her¬
kules; und ſie haben vollkommen Recht. Allein ſie
vergeſſen, daß auch der Coloß aus einzelnen Theilen
beſteht und daß auch der Herkules des Alterthums ein
collectives Weſen iſt, ein großer Träger ſeiner eigenen
Thaten und der Thaten Anderer.“


„Im Grunde aber ſind wir Alle collective Weſen, wir
mögen uns ſtellen, wie wir wollen. Denn wie Weni¬
ges haben und ſind wir, das wir im reinſten Sinne
unſer Eigenthum nennen! Wir müſſen Alle empfangen
und lernen, ſowohl von denen die vor uns waren,
als von denen die mit uns ſind. Selbſt das größte
Genie würde nicht weit kommen, wenn es Alles ſeinem
eigenen Innern verdanken wollte. Das begreifen aber
viele ſehr gute Menſchen nicht und tappen mit ihren
Träumen von Originalität ein halbes Leben im Dun¬
keln. Ich habe Künſtler gekannt, die ſich rühmten
keinem Meiſter gefolgt zu ſeyn, vielmehr Alles ihrem
eigenen Genie zu danken haben. Die Narren! als ob
das überall anginge! Und als ob ſich die Welt ihnen
nicht bei jedem Schritt aufdränge und aus ihnen, trotz
ihrer eigenen Dummheit, etwas machte! Ja ich be¬
[367] haupte, wenn ein ſolcher Künſtler nur an den Wänden
dieſes Zimmers vorüberginge und auf die Handzeich¬
nungen einiger großen Meiſter, womit ich ſie behängt
habe, nur flüchtige Blicke würfe, er müßte, wenn er
überall einiges Genie hätte, als ein Anderer und Hö¬
herer von hier gehen.“


„Und was iſt denn überhaupt Gutes an uns,
wenn es nicht die Kraft und Neigung iſt, die Mittel
der äußern Welt an uns heranzuziehen und unſeren
höheren Zwecken dienſtbar zu machen. Ich darf wohl
von mir ſelber reden und beſcheiden ſagen, wie ich fühle.
Es iſt wahr, ich habe in meinem langen Leben man¬
cherlei gethan und zu Stande gebracht, deſſen ich mich
allenfalls rühmen könnte. Was hatte ich aber, wenn
wir ehrlich ſeyn wollen, das eigentlich mein war, als
die Fähigkeit und Neigung, zu ſehen und zu hören,
zu unterſcheiden und zu wählen, und das Geſehene und
Gehörte mit einigem Geiſt zu beleben und mit einiger
Geſchicklichkeit wiederzugeben. Ich verdanke meine
Werke keineswegs meiner eigenen Weisheit allein, ſon¬
dern tauſenden von Dingen und Perſonen außer mir,
die mir dazu das Material boten. Es kamen Narren
und Weiſe, helle Köpfe und bornirte, Kindheit und
Jugend wie das reife Alter; Alle ſagten mir, wie es
ihnen zu Sinne ſey, was ſie dachten, wie ſie lebten
und wirkten und welche Erfahrungen ſie ſich geſam¬
melt, und ich hatte weiter nichts zu thun, als zuzugrei¬
[368] fen und das zu ernten, was Andere für mich geſäet
hatten.“


„Es iſt im Grunde auch Alles Thorheit, ob Einer
etwas aus ſich habe, oder ob er es von Andern habe;
ob Einer durch ſich wirke oder ob er durch Andere
wirke; die Hauptſache iſt, daß man ein großes
Wollen habe und Geſchick und Beharrlich¬
keit beſitze
, es auszuführen; alles Uebrige iſt
gleichgültig. — Mirabeau hatte daher vollkommen
Recht, wenn er ſich der äußeren Welt und ihrer Kräfte
bediente, wie er konnte. Er beſaß die Gabe, das
Talent zu unterſcheiden, und das Talent fühlte ſich
von dem Dämon ſeiner gewaltigen Natur angezogen,
ſo daß es ſich ihm und ſeiner Leitung willig hin¬
gab. So war er von einer Maſſe ausgezeichneter
Kräfte umgeben, die er mit ſeinem Feuer durchdrang
und zu ſeinen höheren Zwecken in Thätigkeit ſetzte.
Und eben, daß er es verſtand, mit Anderen und durch
Andere zu wirken, das war ſein Genie, das war ſeine
Originalität, das war ſeine Größe.“

Abends ein Stündchen bei Goethe, in allerlei guten
Geſprächen. Ich hatte mir eine engliſche Bibel gekauft,
in der ich zu meinem großen Bedauern die apokry¬
phiſchen Bücher nicht enthalten fand; und zwar waren
ſie nicht aufgenommen, als nicht für echt gehalten und
[369] als nicht göttlichen Urſprungs. Ich vermißte den durch
und durch edlen Tobias, dieſes Muſterbild eines from¬
men Wandels; ferner die Weisheit Salomonis und
Jeſus Sirach, alles Schriften von ſo großer geiſtiger
und ſittlicher Höhe, daß wenig andere ihnen gleichkom¬
men. Ich ſprach gegen Goethe mein Bedauern aus
über die höchſt enge Anſicht, wonach einige Schriften
des Alten Teſtaments als unmittelbar von Gott einge¬
geben betrachtet werden, andere gleich treffliche aber
nicht; und als ob denn überhaupt etwas Edles und
Großes entſtehen könne, das nicht von Gott komme
und das nicht eine Frucht ſeiner Einwirkung.


„Ich bin durchaus Ihrer Meinung, erwiederte
Goethe. Doch giebt es zwei Standpunkte, von welchen
aus die bibliſchen Dinge zu betrachten. Es giebt den
Standpunkt einer Art Ur-Religion, den der reinen
Natur und Vernunft, welcher göttlicher Abkunft. Die¬
ſer wird ewig derſelbige bleiben und wird dauern und
gelten ſo lange gottbegabte Weſen vorhanden. Doch
iſt er nur für Auserwählte und viel zu hoch und edel,
um allgemein zu werden. Sodann giebt es den Stand¬
punkt der Kirche, welcher mehr menſchlicher Art. Er
iſt gebrechlich, wandelbar und im Wandel begriffen;
doch auch er wird in ewiger Umwandlung dauern, ſo
lange ſchwache menſchliche Weſen ſeyn werden. Das
Licht ungetrübter göttlicher Offenbarung iſt viel zu rein
und glänzend, als daß es den armen, gar ſchwachen
III. 24[370] Menſchen gemäß und erträglich wäre. Die Kirche aber
tritt als wohlthätige Vermittlerin ein, um zu dämpfen
und zu ermäßigen, damit Allen geholfen und damit
Vielen wohl werde. Dadurch daß der chriſtlichen Kirche
der Glaube beiwohnt, daß ſie, als Nachfolgerin Chriſti,
von der Laſt menſchlicher Sünde befreien könne, iſt ſie
eine ſehr große Macht. Und ſich in dieſer Macht und
dieſem Anſehen zu erhalten, und ſo das kirchliche Ge¬
bäude zu ſichern, iſt der chriſtlichen Prieſterſchaft vor¬
zügliches Augenmerk.“


„Sie hat daher weniger zu fragen, ob dieſes oder
jenes bibliſche Buch eine große Aufklärung des Gei¬
ſtes bewirke, und ob es Lehren hoher Sittlichkeit und
edler Menſchennatur enthalte, als daß ſie vielmehr in
den Büchern Moſe auf die Geſchichte des Sündenfalles
und die Entſtehung des Bedürfniſſes nach dem Erlöſer
Bedeutung zu legen, ferner in den Propheten die wie¬
derholte Hinweiſung auf Ihn, den Erwarteten, ſowie
in den Evangelien ſein wirkliches irdiſches Erſcheinen
und ſeinen Tod am Kreuze, als unſerer menſchlichen
Sünden Sühnung, im Auge zu halten hat. Sie ſehen
alſo, daß für ſolche Zwecke und Richtungen und auf
ſolcher Wage gewogen ſo wenig der edle Tobias, als
die Weisheit Salomonis und die Sprüche Sirach's,
einiges bedeutende Gewicht haben können.“


„Uebrigens echt oder unecht ſind bei Dingen der
Bibel gar wunderliche Fragen. Was iſt echt, als das
[371] ganz Vortreffliche, das mit der reinſten Natur und
Vernunft in Harmonie ſteht und noch heute unſerer
höchſten Entwickelung dient! Und was iſt unecht, als
das Abſurde, Hohle und Dumme, was keine Frucht
bringt, wenigſtens keine gute! — Sollte die Echtheit
einer bibliſchen Schrift durch die Frage entſchieden wer¬
den: ob uns durchaus Wahres überliefert worden? ſo
könnte man ſogar in einigen Punkten die Echtheit der
Evangelien bezweifeln, wovon Marcus und Lucas
nicht aus unmittelbarer Anſicht und Erfahrung, ſondern
erſt ſpät nach mündlicher Ueberlieferung geſchrieben,
und das letzte, von dem Jünger Johannes, erſt im
höchſten Alter. Dennoch halte ich die Evangelien alle
vier für durchaus echt, denn es iſt in ihnen der Ab¬
glanz einer Hoheit wirkſam, die von der Perſon Chriſti
ausging und die ſo göttlicher Art, wie nur je auf Er¬
den das Göttliche erſchienen iſt. Fragt man mich: ob
es in meiner Natur ſey, ihm anbetende Ehrfurcht zu
erweiſen? ſo ſage ich: Durchaus! — Ich beuge mich vor
ihm, als der göttlichen Offenbarung des höchſten Prin¬
cips der Sittlichkeit. — Fragt man mich: ob es in
meiner Natur ſey, die Sonne zu verehren? ſo ſage ich
abermals: Durchaus! Denn ſie iſt gleichfalls eine
Offenbarung des Höchſten, und zwar die mächtigſte,
die uns Erdenfindern wahrzunehmen vergönnt iſt. Ich
anbete in ihr das Licht und die zeugende Kraft Gottes,
wodurch allein wir leben, weben und ſind, und alle
[372] Pflanzen und Thiere mit uns. Fragt man mich aber:
ob ich geneigt ſey, mich vor einem Daumenknochen des
Apoſtels Petri oder Pauli zu bücken? ſo ſage ich: Ver¬
ſchont mich und bleibt mir mit euren Abſurditäten vom
Leibe!“


„Den Geiſt dämpfet nicht!“ ſagt der Apoſtel.


„Es iſt gar viel Dummes in den Satzungen
der Kirche. Aber ſie will herrſchen, und da muß ſie
eine bornirte Maſſe haben, die ſich duckt und die ge¬
neigt iſt, ſich beherrſchen zu laſſen. Die hohe, reich
dotirte Geiſtlichkeit fürchtet nichts mehr, als die Auf¬
klärung der unteren Maſſen. Sie hat ihnen auch die
Bibel lange genug vorenthalten, ſo lange als irgend
möglich. Was ſollte auch ein armes chriſtliches Ge¬
meindeglied von der fürſtlichen Pracht eines reich dotir¬
ten Biſchofes denken, wenn es dagegen in den Evan¬
gelien die Armuth und Dürftigkeit Chriſti ſieht, der
mit ſeinen Jüngern in Demuth zu Fuße ging, während
der fürſtliche Biſchof in einer von ſechs Pferden gezo¬
genen Karoſſe einherbrauſet!“ —


„Wir wiſſen gar nicht, fuhr Goethe fort, was wir
Luthern und der Reformation im Allgemeinen Alles zu
danken haben. Wir ſind frei geworden von den Feſſeln
geiſtiger Bornirtheit, wir ſind in Folge unſerer fort¬
wachſenden Cultur fähig geworden, zur Quelle zurück¬
zukehren und das Chriſtenthum in ſeiner Reinheit zu
faſſen. Wir haben wieder den Muth, mit feſten Füßen
[373] auf Gottes Erde zu ſtehen und uns in unſerer gottbe¬
gabten Menſchennatur zu fühlen. Mag die geiſtige
Cultur nun immer fortſchreiten, mögen die Naturwiſſen¬
ſchaften in immer breiterer Ausdehnung und Tiefe
wachſen und der menſchliche Geiſt ſich erweitern, wie
er will, — über die Hoheit und ſittliche Cultur des Chri¬
ſtenthums, wie es in den Evangelien ſchimmert und
leuchtet, wird er nicht hinauskommen!“


„Je tüchtiger aber wir Proteſtanten in edler Ent¬
wickelung voranſchreiten, deſto ſchneller werden die Ka¬
tholiken folgen. Sobald ſie ſich von der immer weiter
um ſich greifenden großen Aufklärung der Zeit ergriffen
fühlen, müſſen ſie nach, ſie mögen ſich ſtellen wie ſie
wollen, und es wird dahin kommen, daß endlich Alles
nur Eins iſt.“


„Auch das leidige proteſtantiſche Sektenweſen wird
aufhören und mit ihm Haß und feindliches Anſehen
zwiſchen Vater und Sohn, zwiſchen Bruder und Schwe¬
ſter. Denn ſobald man die reine Lehre und Liebe
Chriſti, wie ſie iſt, wird begriffen und in ſich eingelebt
haben, ſo wird man ſich als Menſch groß und frei füh¬
len und auf ein Bißchen ſo oder ſo im äußeren Cultus
nicht mehr ſonderlichen Werth legen.“


„Auch werden wir Alle nach und nach aus einem
Chriſtenthum des Wortes und Glaubens immer mehr zu
einem Chriſtenthum der Geſinnung und That kommen.“


Das Geſpräch wendete ſich auf große Menſchen,
[374] die vor Chriſtus gelebt, unter Chineſen, Indiern, Per¬
ſern und Griechen, und daß die Kraft Gottes in ihnen
ebenſo wirkſam geweſen, als in einigen großen Juden
des Alten Teſtamentes. Auch kamen wir auf die Frage:
wie es mit Gottes Wirkungen ſtehe in großen Naturen
der jetzigen Welt, in der wir leben?


„Wenn man die Leute reden hört, ſagte Goethe,
ſo ſollte man faſt glauben, ſie ſeyen der Meinung,
Gott habe ſich ſeit jener alten Zeit ganz in die Stille
zurückgezogen, und der Menſch wäre jetzt ganz auf
eigene Füße geſtellt und müſſe ſehen, wie er ohne Gott
und ſein tägliches unſichtbares Anhauchen zurecht komme.
In religiöſen und moraliſchen Dingen giebt man noch
allenfalls eine göttliche Einwirkung zu, allein in Din¬
gen der Wiſſenſchaft und Künſte glaubt man, es ſey
lauter Irdiſches und nichts weiter als ein Product
rein menſchlicher Kräfte.“


„Verſuche es aber doch nur Einer und bringe mit
menſchlichem Wollen und menſchlichen Kräften etwas
hervor, das den Schöpfungen, die den Namen Mozart,
Raphael oder Shakſpeare tragen, ſich an die Seite
ſetzen laſſe. Ich weiß recht wohl, daß dieſe drei Edlen
keineswegs die Einzigen ſind, und daß in allen Gebie¬
ten der Kunſt eine Unzahl trefflicher Geiſter gewirkt
hat, die vollkommen ſo Gutes hervorgebracht, als jene
Genannten. Allein, waren ſie ſo groß als Jene, ſo
überragten ſie die gewöhnliche Menſchennatur in eben
[375] dem Verhältniß und waren ebenſo gottbegabt als
Jene.“


„Und überall, was iſt es und was ſoll es? —
Gott hat ſich nach den bekannten imaginirten ſechs
Schöpfungstagen keineswegs zur Ruhe begeben, viel¬
mehr iſt er noch fortwährend wirkſam, wie am erſten.
Dieſe plumpe Welt aus einfachen Elementen zuſammen¬
zuſetzen und ſie jahraus jahrein in den Strahlen der
Sonne rollen zu laſſen, hätte ihm ſicher wenig Spaß
gemacht, wenn er nicht den Plan gehabt hätte, ſich
auf dieſer materiellen Unterlage eine Pflanzſchule für
eine Welt von Geiſtern zu gründen. So iſt er nun
fortwährend in höheren Naturen wirkſam, um die ge¬
ringeren heranzuziehen.“


Goethe ſchwieg. Ich aber bewahrte ſeine großen
und guten Worte in meinem Herzen.

[]

Appendix A

Druck: Panſa'ſche Buchdruckerei (G. Hubbe) in Magdeburg.


[][][]

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Rechtsinhaber*in
Kolimo+

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Collection 1. Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bj19.0