in der Natur ·
in der Natur ·
· 1. bis 4. Tausend · Verlegt beiEugen Diederichs
Florenz, undLeipzig: ·1898
Alle Rechte,
insbeſondere das der Überſetzung in fremde Sprachen,
ſind vorbehalten.
Vorwort.
Mein Buch wendet ſich an alle, die vernünftig denken
können und den Mut haben, ſich eine eigene Weltanſchauung zu
bilden. Die Welt iſt ein zäher Sauerteig, und wer hindurch
will, darf ſich vor keinen Himmeln und vor keinen Höllen ſcheuen.
Selbſtverſtändlich habe ich an reife Menſchen dabei gedacht.
Reif iſt aber jeder, der einmal die Erleuchtungsſtunde durch¬
lebt hat, da ihm der Drang nach Erkenntnis aufgegangen iſt;
da er eingeſehen hat, daß dieſes ganze flüchtige Menſchenleben
mit all ſeiner Hatz durch die paar Jahre und all ſeinen Ent¬
täuſchungen ein unendlicher Blödſinn iſt, wenn wir ihm nicht
einen höheren Sinn durch die Erkenntnis geben, durch das
kleine Lichtſtümpfchen „Denken“, das uns in all dem Finſter¬
graus verliehen iſt. Wer Erkenntnis ſucht, der geht nackt und
bloß, und es giebt nur ein Kleid, das ihn hüllt: die Wahrheit.
Aber er geht auch mit eiſerner Sicherheit auf ein einziges
Lichtziel los, und es ſind keine Mißverſtändniſſe für ihn möglich.
Mit ihm kann ich mich vertragen, — alle anderen ſind mir
vollkommen gleichgültig. Das Gerüſt von Thatſachen, das ich
gebe, iſt mit mehr oder weniger Glück aus dem unabſehbaren
Gebiete moderner phyſiologiſcher und zoologiſcher Forſchung
herausgeſucht. Die Verknüpfung und philoſophiſche Verwertung
iſt durchweg eine ſubjektive, für die ich allein die Verantwortung
trage. Wer das Thatſachenfeld ſelber überſchaut, den brauche
ich nicht noch beſonders zu erinnern, wie ſehr die Dinge dort
ſtündlich im Fluſſe ſind und oft unter den Fingern ſchon ver¬
[VI] alten. Aber man wird von den Einzelheiten einen guten Teil
ruhig abziehen dürfen, ſo bleibt doch der logiſche Gedanke des
Ganzen beſtehen und wahrt ſich ſeine Wirkung weit über dieſes
oder jenes Spinnenfädchen hinaus. Und ein derbes Stück
einmal gewonnener Grundthatſachen iſt, denke ich, heute wirklich
nicht gut mehr umzuſtoßen, wenn auch dem Zweifel ſein Recht
ſo unbenommen wie möglich bleiben ſoll, — ein Recht, für
das ich ſelber allerwege eintreten werde. Die äußere Form,
in der ich die Dinge vorgetragen habe, halte ich nun einmal
für die brauchbarſte, um zum erſprießlichen Ziel zu kommen.
Ich meine, daß die Brücke vom ſtrengen Fachgebiet, wo man
gewiſſe Thatſachen halb- oder ganzwahr anhäuft, bis zur Ver¬
ſtändigung in Kreiſe hinein, wo man mehr große Linien des
allgemeinen Denkens und Weltdurchgrübelns braucht, weſentlich
über die Kunſt geht. Und zwar über alle Mittel der Kunſt:
vom farbigen Pathos bis zum bunten Humor. Verſteht ſich:
die Kunſt hat noch ganz andere Aufgaben. Aber hier hat ſie
auch eine, — eine kleine freundliche, die doch unendlich wichtig
iſt, wenn wir uns überlegen, wie viele denken wollen und nur
durch denken froh werden, die aber ſonſt niemals gewiſſe
beſonders ſauerteiglichen Thatſachen der Wiſſenſchaft in ihre
Gewalt bekommen würden. Dieſer Band iſt innerlich rund in
ſich abgeſchloſſen, er hilft dem Leſer einfach ein Stück weit,
das als ſolches keines Kommentars mehr bedarf. Aber es liegt
doch im Stoffe, daß ein zweiter Teil folgen kann, und das ſoll
er auch. Er wird weſentlich vom Menſchen erzählen.
Friedrichshagen bei Berlin, im Auguſt 1898.
Wilhelm Bölſche.
Inhaltsüberſicht.
- (Seite 1 – 43.) Ein Frühlingsmorgen an der Riviera. —
Minucius Felix. — Die doppelte Verſicherung der neuen Zeit. —
Stunden der Wahrheit in der Liebe. — Sinnenliebe und Geiſtes¬
liebe. — „Von dir wird erzählt!“ — Drei Bilder. — Ein Sommer¬
abend am Fluß. — Die Auferſtehung der Eintagsfliegen. — Zwei
Stunden Seligkeit. — Die Stimme der Jahrmillionen in der Ein¬
tagsfliege. — Geſpenſterluft an der Küſte Norwegens. — Ein Meer¬
wunder. — Die ſilberne Liebesinſel der Häringe. — Liebesſturm
der Fiſche. — Der Menſch und der Fiſch. — Die ſixtiniſche Ma¬
donna. — Das Weib. — Die Trennung der Geſchlechter. — Das
Kind. — Menſch und Schnabeltier. — Prometheus. — Das obere
Stockwerk in der Liebe. — Chriſtus. — Myſtik und Entwickelung. —
Wie die Geſchlechtsliebe Menſchenliebe ward. — Das ſoziale Ideal. —
Liebe und Religion. — Der Kultus der Liebe. — Iſis und Maria. —
Das Zeitalter Goethes. — Die Natur. — Weltenfriede. — Liebe iſt
ſtärker als der Tod. — Ahasver der Liebe. — Liebe und Kunſt. —
Urgeſchichte der Kunſt. — Die Kunſt als höhere Zeugung. - (Seite 44 – 73.) Ein Myſterium. — Hinab in die Tiefe! — Die
geheimnisvolle Kugel. — In der Eizelle. — Die Begegnung der
Samenzelle und der Eizelle. — Seeigel und Menſch. — Das Er¬
gebnis der Verſchmelzung. — Was man unter „Zelle“ verſteht. —
Philoſophie der Zeugung. — Die Enträtſelung des Zeugungsvor¬
gangs in der modernen Forſchung. — Grundthatſachen des menſch¬
lichen Lebens. — Der Tod. — Die Zeugung als Form der Unſterb¬
lichkeit. — Die beiden Prinzipien der Unſterblichkeit. — Individuelle
Unſterblichkeit. — Unſterblichkeit durch Liebe. — Was heißt „ewig?“ - (Seite 74 – 103.) — Der Begriff der Entwickelung. — Das
Werden in der Liebe. — Das Märchen der modernen Natur¬
forſchung. — Die Meilenmillion. — Das Sternbild des Kentauren. —
Die Zeitmillion. — Von Cheops zur Eiszeit. — Urzeit der Erde. —
Ein neuer Himmel und eine neue Erde. — Die neue Liebe. — Im
Stuttgarter Muſeum. — Das Liebesſpiel der Ichthyoſaurier. — Die
Liebe der Mammute. — Das Megatherium. — Die Rieſenſchild¬
kröte. — Das Rückenmark des Atlantoſaurus. — Vom Ur-Vogel
und ſeiner Liebe. — Der letzte Strand. — Liebesreliquien vom
kambriſchen Urſtrand. — Die Endſtation ſichtbarer Liebe auf Erden. —
Die Lehre Darwins. — Wie der Bazillus liebt. — Das große Ge¬
heimnis. — Die Erde in Rotglut. - (Seite 104 – 129.) Urzeugung. — Iſt die Liebe „entſtanden?“ —
Der Geburtsakt der Liebe. — Die Sage von der Geburt der Aphro¬
dite und die Affenabſtammung. — Das Wunder der Schöpfung. —
Das Anorganiſche und das Lebendige. — Der Kohlenſtoff. — Das
Leben als Grundeigenſchaft der Materie. — Der Menſch als Ur-
Bazillus einer neuen Welt. — Geiſt und Stoff. — Der Begriff des
Individuums. — Der Waſſertropfen in der Höhle. — Erotiſche und
[VIII] mechaniſche Anziehung. — Die „Wahlverwandtſchaften“. — Der
Atome Haſſen und Liebe. — Die Liebe ſinkt ins große Myſterium. —
Der Regenbogen der Liebe. — Die geſchlechtliche Zeugung. —
Zur bibliſchen Schöpfungslegende. - (Seite 130–140.) Ein Märchen von klugen Zwergen. — Der
dicke Stern. — Wie die Rumpelſtilzchen zu Kindern kamen. — Zwei
Zwerge, die ſich freſſen. — Eine Hiſtorie vom Zahnſchmerz. — Die
großen und die kleinen Zwerge. — Wie die Zwerge alles aufs
feinſte regelten und zuletzt ſozial wurden. - (Seite 141–169.) Vom „dritten Reich“ und ſeiner Liebe. —
Der Menſch und der Bazillus als Herren der Erde. — Die Geſchlechts¬
loſigkeit der Ur-Zellen. — Wachstum und Fortpflanzung. — Die
Verſchmelzung zweier Ur-Zellen. — Die Geburtsſtunde der Ge¬
ſchlechtsliebe. — Die Liebe als eine verfeinerte Form des Freſſens. —
Warum man ſeine Geſchwiſter nicht heiratet. — Die Liebe der
Blumen. — Was die Fliege im Aronsſtab erleben mußte. — Die
Liebe per Mauſefalle. — Von der ſinnreichen Vallisneria. — Die
Löſung des Märchens von den Zahnſchmerzen. — Der bewegliche
Mann und das ſeßhafte Weib. — Vom luſtigen Volvox. — Der
Zeugungsakt beim Seetang. — Der Geruchsſinn in der Liebe. —
Die Schlußlöſung des Zwergenmärchens. — Die Entſtehung von
Fortpflanzungsorganen. — Vom Infuſorium und von den Siphoneen. - (Seite 170–196.) Das Wörtchen „Sozial“ in der Geſchichte
der Liebe. — Der Menſch und der Volvox. — Arbeitsteilung. —
Die Arbeitsteilung im Freſſen. — Die Entſtehung der Gaſträa. —
Wie deine Seele zu ſtande kommt. — Männliche und weibliche Zell¬
verbände. — Die Arbeitsteilung in der Liebe. — Das große Rätſel
der Vererbung. — Der Fall Schenk. — Die Hypotheſe der Pange¬
neſis. — Ob Weismann recht hat? — Nochmals vom Volvox. —
Das biogenetiſche Grundgeſetz. — Die geſchichtliche Löſung des
menſchlichen Zeugungsvorgangs. — Was mit dem menſchlichen
Embryo wird. — Rückblick auf freie Bahn. - (Seite 197–229.) Eine Träumerſtunde im märkiſchen Kiefern¬
wald. — Die Woge des Lebendigen. — Jakobs Traum. — Vom
Stammbaum des Lebens. — Pflanze und Tier. — Bei den Flieder¬
mütterchen. — Die Pflaume. — Wie der Polyp entſtand. — Zur
Urgeſchichte des Wurms. — Om mani padme, hum! — Vier un¬
umſtößliche Wahrheiten aus dem menſchlichen Liebesleben. — Was
der Süßwaſſer-Polyp umwirft. — Die Qualle. — Eine Geſpenſter¬
geſchichte von Kaffeetaſſen. — Ein Embryo, der ſich fortpflanzt. —
Die Sozialentwickelung des Menſchen. — Die Staatsqualle. —
Einiges vom Rattenkönig. — Wie die Staatsqualle liebt. — Zur
Theorie der Unſterblichkeit. - (Seite 230–261.) Der Bandwurm. — Philoſophiſches zum Band¬
wurm. — Der zoologiſche Begriff der „Ammenzeugung“. — Ein
Schwindler im Fabrikbetrieb. — Der Liebesroman des Band¬
wurms. — Fünfzig Millionen Enkel. — Eine Liebesgeſchichte über
vier Generationen hinweg. — Zum Syſtem der Würmer. — Das
Doppeltier. — Der Weibträger. — Im Gallengang des Schafes. —
Der Opfertod einer Mutter. — Wie die Enkel die Kinder morden. —
Das zähe Weizenälchen. — Der Fadenwurm der Rübenmüdigkeit. —
[IX] Das grauſige Ende des Hummelälchens. — Wie eine Mutter von
ihren Kindern gefreſſen wird. — Zur Philoſophie der Fadenwürmer. —
Der Syngamus in der Luftröhre. — Die Bonellia, ein Kapitel vom
kleinen Mann und der großen Frau. - (Seite 262–278.) Die Liebe der Regenwürmer. — Der Blut¬
egel. — Zum Hermaphroditismus. — Der Gegenſatz von Mann und
Weib als Entwickelungsmoment. — Weiteres von der Ammen¬
zeugung. — Der Seeigel. — Die abgeſtreifte Pickelhaube. — Der
Begriff des Individuums in der Mauſerung. — Ein Weſen, das
ſich von ſich ſelber ſcheiden läßt. — Der Seeſtern bei der Selbſt¬
teilung. — Muttergefühle. - (Seite 279–301.) Panis, finis .... — Die
Poeſie der Auſter. — Die Liebesgeſchichte der Auſter. — Von den
Liebespfeilen der Weinbergſchnecken. — Die Schnecke als Mutter. —
Zum Erhabenen in der Natur. — Der Tintenfiſch. — Ein Liebes¬
kampf. — Der losgeriſſene Arm. — Hektokotylus. - (Seite 302–322.) Im Zeichen des Krebſes. — Der Planet der
Ameiſe. — Menſch und Inſekt. — Das Bauchmark und das
Rückenherz. — Achttauſend Krebſe. — Die Liebe als Gehirnſache. —
Der Wurzelkrebs. — Ein Krebs, der auf dem Kopf ſteht. — Wie
der Wurzelkrebs zur Wurzel wird. — Die „Ergänzungsmännchen
der Rankenkrebſe“. — Die Pyramide der Schmarotzerkrebſe. —
Vom Kellertier. — Das Kellertier als Känguruh. - (Seite 323–339.) „Zum Totenſchädel“. —
Der Konflikt des Freſſens und der Liebe. — „Spinn, Spinne,
Töchterlein ....“ — Ein Räuberleben. — Der Spinnerich in
Liebesnöten. — Vom wunderſamen Bau der Spinnenſchnauze. —
Frau Brunhild. — Der Epilog der Mutterliebe. — Die Augen der
Madonna am Spinnenzaun. - (Seite 340–359.) Herr Stachelinsky. — Im grünen Waſſer. —
Die alte Melodie: „Das Weib iſt bitter.“ — Das Hochzeitskleid. —
Wie Herr Stachelinsky ein Neſt baute. — Die Zigeunerin. — Vom
braven Vater und den böſen Müttern. — Ein Exkurs von der Ehe
überhaupt. — Zoologiſches zur modernen Ehefrage. — Das Moral¬
geſetz der Stachelinskys. — Die Philoſophie des Zufalls und die
ewige Weltordnung. - (Seite 360–402.) Im roten Heidekraut. — Der Heilige und das
Sonnenſtäubchen. — Was iſt die Biene? — Ein postillon d'amour
wider Willen. — Die Tragödie einer armen Veſtalin. — Die Ent¬
erbten im Heidekraut. — Planetenjugend und Planetenalter. — In
der Trojanerburg. — Das Liebesmärchen der Frau Königin. —
Die Jungfernzeugung, — ein zoologiſches Geheimnis. — Von einem
Königskinde. — Die Veſtalin als Kunſtprodukt! — Die Patriarchin. —
Das Ende des Bienenmärchens. — Zur Philoſophie des Bienen¬
ſtaates. — Ein ſoziales Experiment. — Der Liebesſtaat. — Das
Urprogramm der Bienenliebe. — Zweierlei Weiber. — Wie der
Bienenſtaat entſtand. — Die Staatsqualle und die Staatsbiene. —
Die Vergewaltigung des Individuums. — Staatsraiſon und Ver¬
fall. — Der Bankerott des Stammes der Gliedertiere. — Das
Wirbeltier ſteigt zum Menſchen auf. — Ein neues Lied.
Zum Buchſchmuck.
Es iſt Gewicht darauf gelegt worden, daß auch der rein orna¬
mentale Buchſchmuck ſtets richtige naturgeſchichtliche Objekte zu Grunde
legt. Die Kopfleiſte S. 10 ſtellt entſprechend Eintagsfliegen dar,
unten im Waſſer Larven, rechts und links je ein Exemplar bei der
letzten Häutung, oben die fertigen, liebesfähigen Fliegen. Die Kopf¬
leiſte S. 16 bilden Häringe. S. 24 das eierlegende auſtraliſche
Waſſerſchnabeltier (vergl. dazu Text S. 27, 28). S. 44 ſechs
Embryonen oder Keime im Mutterleibe, links drei von der Katze,
rechts in frappanter Ähnlichkeit drei entſprechende vom Menſchen (die
Figuren nach Häckel). S. 63 zwei Smaragdeidechſen. S. 70 zwei
Teichmolche im ſogenannten Hochzeitskleid. S. 73 geflügelte und un¬
geflügelte Ameiſen. S. 75 eine Kelleraſſel (vergl. Text S. 320 ff.).
S. 76 ein männlicher Herkuleskäfer. S. 82 der ausgeſtorbene
Ichthyoſaurus der Jurazeit; rechts und links Palmfarne. S. 88
rechts und links Flußkrebſe, in der Mitte ein Taſchenkrebs.
S. 91 ein ausgeſtorbener Tribolitenkrebs. S. 92 das auſtraliſche
Landſchnabeltier. S. 96 ein männlicher Hirſchkäfer. S. 97 ein
lebender Korallenaſt; die ſcheinbaren Blüten ſind freſſende Mäuler
der Einzeltiere. S. 103 ein Tauſendfuß. S. 104 Teichfröſche.
S. 126 das Grundſchema der Entwickelung bei den Tieren von der
Einzelzelle zum Zellenklumpen und zur Gaſträa (unten rechts
und links; die ausführliche Erklärung im Text S. 176, 177). S. 141
in der Mitte ein Schwalbenſchwanz, rechts und links Perlmutter¬
falter. S. 145 Libellen. S. 152 die Waſſerpflanze Vallisnerie;
Text dazu S.156. S.153 der Blütenſtand von Arum conocepha¬
loides. S.159 Salbeiblüten, deren Befruchtung durch Hummeln
vermittelt wird (vergl. Text S.153). S.163 ein Haarſtern (Tier
aus der Verwandtſchaft des Seeigels und des S.17 erwähnten Wurzel¬
haarſterns). S.170 in der Mitte unſere Kreuzſpinne, rechts und
links die zangenartige Dornſpinne aus Java. S.189 eine Krebs¬
ſpinne (vergl. Text S. 332). S. 197 unſer Kukuk. S. 202 der
heilige Pillenkäfer (Scarabaeus) der Ägypter. S. 208 Quallen
oder Meduſen. S. 226 ein Bandwurm, in der Mitte der ſoge¬
nannte Kopf mit ſeinen Saugnäpfchen. S. 265 der Ölkäfer (Meloe).
S. 272 ein Seeigel, der ſogenannte Türkenbund aus der Südſee.
S. 293 ein Tintenfiſch. S. 311 der Wurzelkrebs. S. 391 Ter¬
miten, rechts ein Arbeiter, links ein Soldat, in der Mitte das rieſige
eierlegende Weibchen; vergl. Text S. 401.
„Ein weißer Glanz ruht über Land
und Meer,Und duftend ſchwebt der Äther ohne
Wolken.“
An einen ſchönen Ort möchte ich dich entführen.
Und dort möchte ich dir erzählen .....
Öſtlich von San Remo, im Paradies der Riviera, ragt
Kapo Verde, eine vorſpringende braune Felsklippe gegen das
freie Meer. Geſteinſchichten, einſt vor Jahrmillionen ſelber
weicher Meeresgrund, brechen wie eine phantaſtiſche Burg aus
dem weichen grünen Uferbilde. Das blaue Mittelmeer hat ſie
aufgeſchloſſen, hat ſie zernagt, nicht mit rauher Fauſt, ſondern
leiſe, in unendlicher Zeit, immer und immer wieder wie im
Traum mit zarten weißen Schaumhänden darüber taſtend. Nun
liegen die angeſchnittenen, entblößten Schichtenköpfe da wie die
Gerippteile eines verſchollenen Rieſentieres, deſſen Grab ſich
urplötzlich an der Flutgrenze aufgethan. Zwiſchen ſich bilden
ſie Niſchen ſeifengrünen, nur leiſe ziehenden Seichtwaſſers, auf
deſſen flachem Boden geheimnisvolle violettrote Schatten der
ſchaukelnden Seegewächſe bald aufdunkeln und wieder verwehen.
Nur am äußerſten Klippenrande blinkt der Schaumkranz der
anſtrömenden freien Wellen unabläſſig wie ein Fächeln und
Spreizen blendend weißer Flügel ins Sonnenlicht. Dann
fernhin alles blau, tief und bezaubernd blau .....
Auf der Höhe des Kaps, von den Seeklippen getrennt
durch eine offene ſonnendurchglühte Berglehne, an der blühende
Ginſterbüſche wie goldene Kugeln hängen und über die der
violette Thymian ſeinen heißen, ſtaubigen Duft ſtreut, liegt
ein einſames Kirchlein mit weißgelber Wand und blaßrotem
Dach: die Madonna della Guardia.
Ein Regiment alter Cypreſſen wacht darum her, in dieſe
weltentrückte Offenbarung heller, im Glaſt zerfließender Farben
hineingepflanzt wie ſchwarze Rabenfedern des Schickſals, reglos
auf ihren bleichen Spulen vor der unendlichen blauen Fern¬
ſicht, über dem glühenden gelben Fels. Nächſt der Kirche
ſteht eine ebenſo ſchlichte Oſteria, ſchneeweiß mit grasgrünen
Läden. Ein paar wackelige Tiſche und ein guter Tropfen
Landwein. Ein Feigenbaum, jetzt im April erſt mit ganz
jungen grünen Sproſſen, die überall wie zarte Polypen¬
fingerchen aus dem dicken grauen Geäſt langen, biegt ſich vom
Abhang herzu.
Hier iſt gut ſein.
Der Blick ſchweift vom blendenden Meeresblau fort in
die Thäler, auf die Hügel landeinwärts. In ſmaragdenen
Wieſenterraſſen, denen der üppig blühende Löwenzahn einen
leiſen Goldton giebt, überall zerſtreut wie ſtumpfe ſilberne
Wolken die Kronen der Ölbäume. Ein naher einzelner alter
windverwunſchener Olivenſtamm reckt ſich über einer Kante gerade
vor den Himmelsazur als bald dunkle, bald im Wechſelſpiel
der hellen Blattunterſeiten ſilberig aufflimmernde Silhouette, —
ſo klaſſiſch edel in der Form wie von einem Künſtlerauge er¬
dacht. Fern, wo die Oliven einheitlich zu grauer Gewölkbank
verſchwimmen, hier und dort ein Dorf, klein, weiß und rot
wie aus dem Baukaſten. Gelbe Steinbruchwände, wo die
Berge ſteiler werden, oben darauf ſchwarzwolliger Wald, dann
violette Höhen, wo alles in einen Ton zuſammenfließt. Endlich
über dem zarteſten Violettblau ein paar Spitzen mit ſtechend
weißem Schnee.
[3]
Ein blaßgelber, ſchwarzſtreifiger Segelfalter ſchwebt träu¬
meriſch ab und zu. Vom Meere ein ganz leiſer Wind, leiſe
und doch groß in dieſer Stille, in dieſer Höhe, wo alles von
unendlicher Seeweite kommt und zu unendlichen Himmels¬
weiten geht.
Und nun das Meer ſelbſt. Milchig lichtblau in dieſem
Mittagsglaſt, mit faſt ganz weißen Windſtreifen, gegen die
Hochſee zu völlig in weißen Duft mit dem unendlich zart wei߬
blauen Licht des Horizontes verſchwimmend. Nur da, wo die
Sonne darüber ſteht, eine Glorie von Silber, — vorne Silber¬
flitterchen, getrennt blitzend im weichen ſüßen Blau — viel
ferner draußen ein Rieſenſee von reinem, leiſe glimmendem
Silber ohne jedes Blau.
In dieſe einige Silbermaſſe mitten hinein zieht jetzt gerade
ein kleines Segelboot. Selbſt Silber, bloß einen leiſen Ton
undurchſichtiger, ſchwebt es wie fremdes Licht im Licht, geiſter¬
haft abgelöſt von aller harten Farbenwelt wie der Fliegende
Holländer eines ewigen glitzernden Sonnentraums, der nur auf¬
taucht in ſolcher Mittagsſtunde, wenn der Silberglanz zwiſchen
Himmel und Ozean faſt über die Kraft eines menſchlichen
Auges geht .....
Hier laß uns von der Liebe reden.
Kennſt du ein altes Buch, aus frühen Tagen des Chriſten¬
tums: den philoſophiſchen Dialog „Oktavius“ des Minucius
Felix? Vielleicht die liebenswürdigſte jungchriſtliche Apologie,
ſchlicht, ohne Bekehrungseifer. In einer Zeit der Stürme, da
die Erde unter den Waffen des Cäſars bebte und der neue
Glaube vor den Panthern der Arena lag, führt der Philoſoph
ſeine Freunde ans blaue Meer, an den Strand bei Oſtia.
Sie lagern ſich im weichen Sande, ſuchen bunte Muſcheln und
werfen um die Wette flache Steine, die hüpfend über den
Silberplan des windſtillen Spiegels fliehen. In der Stille
dieſes einfachen Naturbildes ſcheint aller Sturm und Staub der
Welt verweht, wie hinter eine unſichtbare Schranke zauberhaft
1*[4] gebannt. Und hier, am guten Orte, heißt es, redeten wir —
von Gott. Laß uns ſo von der Liebe reden.
Auch durch unſere Tage geht der Sturm. Alles wirbelt,
jede ſchlichteſte Frage ſteht im Kampf. Weltanſchauungen zer¬
brechen, ein ungeheurer Staub erfüllt die Zeit. Wer fühlte
nicht die Sehnſucht, auch jene geheime Mauer um ſich zu ziehen,
wenn er ſich beſinnen will, — beſinnen auf ein großes Problem
der Welt ....?
Vielerlei möchte ich mit dir bereden. Vom Heraufgang
der Liebe durch die Zeiten. Von ihrem Werden im Tier.
Und wie ſie Menſch wurde. Menſch in ſeiner Roheit — und
Menſch im Geiſt. Rohes und Süßes muß ich dir erzählen.
Aber ſieh hinaus in den uferloſen Glaſt dieſes Meeres dort.
Aus dieſer fleckenloſen Bläue iſt das Leben geſtiegen, in tauſend
und tauſend Formen ſich regend und verwandelnd bis zu dir
ſelber hinauf. Sieh in den Himmel empor, in ſeine unend¬
liche, blendende Reinheit. Aus dieſem Blau der Raumesewig¬
keit ſind die Welten herabgeronnen wie ſilberner Staub. Wie
viel Banges, Schauriges, Wildes bargen und bergen die Ab¬
gründe dieſer Flut. Und doch im ganzen dieſes wunderbare
Blau, in das die Seele taucht wie in ein Friedensbad. Soll
es nicht ein Bild ſein? Ein Bild, wie all das Rohe des
Einzelnen ſchließlich doch fleckenlos verfließen muß in einheitlich
reinem Licht? Und der Himmel darüber. Dieſer Himmel, in
dem ſo viel Sehnſucht, Verzweiflung und Irren der ringenden
Menſchheit liegt, als müßte jeder Stern ein Grabkreuz ſein, —
dieſer Himmel, der uns eigentlich alle umklammert wie ein
Sarg, uns dunklen Gäſte auf der dunklen Erde .... löſt nicht
auch er ſich zu derſelben Bläue fleckenlos reiner Herrlichkeit?
Ich denke mir, an ſolchem Orte läßt ſich nicht nur
einſam reden, als ſchweige aller Sturm der Welt und als
ſpielten zwei Menſchenkinder mit den heiligſten Fragen ſo
ſchlicht wie mit flachen Steinen, die man auf der Welle hüpfen
läßt. Es läßt ſich auch von allem Rohen und Wilden ſo reden,
[5] als ſei alles ſchon ganz nah der Verklärung ins ewige Blau und
ſchwebe nur noch wie ein zartes ſilbernes Wölkchen, wie jenes
dort drüben im Glaſt verzitternde Silberſchiff, daran hin .....
Du und ich, — wir ſind ein paar vernünftige Menſchen,
nicht wahr, die ſich verſtehen? Laß uns einen Bund ſchließen,
daß wir durch kein Geſtrüpp und keine noch ſo tollen Geſpenſter
uns abſchrecken laſſen wollen, ein Stück Wahrheitsweg mit¬
einander zu wandern. Vom Blau zum Blau. Was dazwiſchen
liegt, das wollen wir mit gutem Mut und dem Humor ſchlichten
Kinderfriedens hinnehmen.
Von der Liebe wollen wir reden.
Von der Liebe im All, ſo weit wir Menſchen von heute
dieſes All, mutig und beſcheiden zugleich, umfaſſen. Eine
andere Stunde ſteht über uns, mit anderen Zeichen, als ſie
über jenem alten Minucius Felix ſtand. Auch er, wenn er
mit den Freunden am Strande von Oſtia von ſeinem Gotte
ſprach, dachte an die Liebe dabei. Aber die Liebe war ihm
ein übernatürliches Wunder geworden. Auf Erden, in der ge¬
fallenen, ſündigen, gequälten Menſchheit ſchien die eigene Liebe
damals bankerott und tot. Aus einem myſtiſchen Blau jenſeits
alles Wirklichen und Bekannten ſollte ſie erſt neu wieder herab¬
geſtiegen ſein, — im Gegenſatz zur Natur, in Umkehrung ihres
innerſten Lebens. Kein Band zwiſchen hier und dort, die
natürliche Entwickelung Sünde und Verfall, das ganze Licht
allein in jenem myſtiſchen, weltabgekehrten Dämmerblau.
Zweitauſend Jahre aber bald wieder — ſeitdem! Und in
der Menſchheit junger, feuriger Geiſt, der ſich aufwärts ringt, —
Forſchung, — Erkenntnis, — das Ahnen und Ergreifen der
alten Wirklichkeitswelt als einen neuen Beſitz, — zum erſtenmal
mit ganzer Kraft erwacht das Bewußtſein von einer Welt ohne
Vorhang, ohne Riß, ohne myſtiſches Zweierlei.
Sieh dir das weiße Kirchlein da drüben zwiſchen den
rabenſchwarzen Cypreſſen an. Das iſt die verklungene Zeit,
noch hineinragend in unſeren Tag. In dem gelblichen Türmchen
[6] mit der kleinen Kuppel hängt eine Glocke, grün von Alter: ſie
klingt von der Liebe, die nicht von dieſer Welt. Aber ſieh
ſchärfer hin.
Das Kreuz, das von der Kuppel ins uferloſe Wunderblau
ſich reckt, läuft oben in eine lange, verdächtige Spitze aus.
Ein Blitzableiter. Die doppelte Verſicherung der neuen Zeit:
über dem Kreuz der Myſtik der metallene Schaft, der den
Himmelsſtrahl bändigt mit der Erkenntnis der Phyſik, der
Wiſſenſchaft ..... mag die alte grüne Glocke rufen, wenn
die ſchwarze Wetterwolke ſich wie ein Raubvogel auf dieſe freie
Höhe wirft und mit glühenden Fängen krallt ..... der Blitz¬
ableiter iſt ſtärker, — er iſt das Kreuz unſerer Zeit.
Eine andere Rede muß es in dieſen anderen Tagen ſein,
wenn wir von der Liebe reden ſollen. Schau dem ſchönen
Segelfalter dort nach, wie er majeſtätiſch ſich zu dem Thymian
niederſenkt. Aus Tieren, niedriger als dieſer ſchwebende
Schmetterling, biſt du, Menſch, geworden, du als Menſch der
modernen Erkenntnis. Von Urweſen ging dein Stamm aus,
unvollkommener noch als dieſer ſtumme, reglos in der glühenden
Sonne ſich badende Thymian. Groteske Geſchöpfe ohne eine
Spur deiner Geſtalt waren „du“. Sie krochen am Meeres¬
ſtrand, als dieſer Strand noch der weiche Schlamm war,
der heute jene meſſerharten Felsgräten bildet, an denen ſich
da unten am Kap die blaue Welle zu Schaum zermalmt.
Und mit allen dieſen Weſen, die du waren und doch nicht du
vor Äonen der Zeit, hängſt du zuſammen durch die ungeheure
Weltenkraft der Liebe, der Zeugung, des ewigen Gebärens und
Werdens. Tauſend- und tauſend-, millionen- und millionemal
haſt du da unten geliebt, gelitten und geblutet, biſt gekreuzigt
worden und geſtorben und biſt doch wieder auferſtanden am
dritten Tag. Dort, in der Vergangenheit, in der unerme߬
lichen Kette aller dieſer Vor-Ichs deines eigenen Ich, das heute
hier auf Capo Verde ſeinen ſtillen Karfreitag in Naturſchöne
lebt, liegen die Löſungen all deiner Rätſel, deiner tiefen Ge¬
[7] heimniſſe, die dich durchſpinnen wie ein dunkles Schickſalsnetz,
wie ein ſchwarzes Spinngewebe, an dem deine Thränen wie
Tautropfen blinken.
Dort liegt auch die Löſung deiner Liebe. Der Segel¬
falter, der wie berauſcht von all der Feiertagsſonne reglos jetzt
auf den violetten Blüten liegt, ſagt dir mehr davon als alle
altersgrünen Glocken der Welt. Von ihm und ſeinesgleichen
laß mich dir erzählen. Unter den neuen Zeichen, die noch nie
eine Zeit vor uns beſeſſen hat.
Aber ſchließe deine Augen erſt noch auf einen Moment.
Laß das ganze feierſtille Bild da draußen verſchwinden,
das einſame weiße Kirchlein mit dem Kreuz und dem Blitz¬
ableiter, die ſchwarzen Cypreſſen, das ſilberne und blaue Meer.
Laß alles dunkel werden — und erinnere dich.
An zwei Ereigniſſe in deinem Leben — erlebte, wieder¬
kehrende, wieder verſchwimmende — muß ich dich mahnen,
damit du im Kern verſtehſt, was ich will. Zweierlei Augen¬
blicke, da du dein Ich verloren haſt in der Liebe. Verloren
in vollkommener Seligkeit des pulſenden Lebens ohne jede Spur
von Todesangſt. Da du ſtarbeſt als „du“, aber ſtarbeſt ins
Leben hinein. Einmal im Körper. Und ein andermal im Geiſt.
Erinnere dich .....
Du haſt Liebe geübt, Liebe genoſſen im Leben. Sinnen¬
liebe. Rohe Bilder — oder wenigſtens ſolche, die du einmal
für roh hielteſt — ſteigen herauf. Aber auch wunderbar ſüße.
An Ängſte und Irrtümer der Jugend denkſt du. An erbärm¬
liche Stunden, die das Gold deiner Träume erbarmungslos in
den Staub traten, wie goldenes Laub in eine Pfütze ſinkt. Und
doch auch an goldene Stunden, die aus dir einen neuen Men¬
ſchen machten weit über alle deine unerfahrenen Träume hinaus.
An Stunden der Wahrheit in der Sinnenliebe. Die heilig
waren wie jede echte Wahrheitsſtunde. Wo es über dich kam wie
ein herber Glanz, aber doch ſtrahlendes Licht, Licht, das Seelen
ſchmiedet und die Erze des Ich aus der Schlacke ſchweißt .....
[8]
Dein Ich iſt mit den Sinnen verſunken in einem anderen
Ich. Es iſt wieder aufgetaucht, — und du warſt wieder du.
Aber eines Tages war ein neues da, blaue Kinderaugen
ſchauten dich an, in denen etwas von dir war, ein rätſelhaftes
Neuleben, ein neuer Menſch, der doch einen Teil von dir um¬
ſchloß ..... das große Myſterium.
Erinnere dich .....
Es kamen dann noch wieder andere Stunden. Da ver¬
lorſt du dich auch, aber wieder anders.
In einem zweiten Weſen gingſt du auf — im Geiſt. Eure
Seelen ſchmolzen in Eins. Ob Mann, ob Weib, war hier gleich.
Und es blieb nicht bei dem einen Menſchen. Dieſe Liebe
ſchwoll auf über alle. Ward Menſchenliebe. Heilige Ziele
der Weite riſſen dich über deine Enge fort. Dein Ich ward
ein Klang in einer Melodie. Und alles diesmal im Geiſt .....
Und aus dem Geiſte, der über du und du ausſtrömte,
wuchſen neue Träume, Ideale, Schöpfungen auf. Ein neuer
blauer Himmel, aus dem die Welten rannen wie ſilberner
Staub. Ein Zuſammenſchluß der Geiſter, ein Leben über den
einzelnen hinaus. In das deine Kinder einſt wieder einwachſen
würden, wenn ihr Geiſt erwachte. Wenn ihr Ich reif wäre,
lebendig zu verſinken in der großen Melodie.
Iſt es nicht das Größte, das Wunderbarſte deines Lebens,
an das du dich mit beiden Momenten erinnerſt? Welche Macht
kam hier über dich? Riß dein Ich in dieſes tief geheimnis¬
volle Verlieren und Auferſtehen hinein?
An dieſes Erinnern und dieſe Frage möchte ich anknüpfen
bei dir. Das Grundbild deſſen, was wir bereden ſollen, ſteht
als tiefſte Erfahrung in dir ſelbſt und es muß hier ſtehen,
wenn wir uns verſtändigen ſollen. Du mußt die Damaskus¬
ſtunde zwiefach im Leben gehabt haben, da es über dich kam
wie ein Sturzbad von Licht: die Erkenntnis, daß in dieſen
höchſten geſegneten Liebesmomenten deines Seins nicht ein
Abfall zur Sünde dich übermannt, ſondern daß ein Heiliges
[9] dir darin genaht, das größer war als du, eine tiefe blaue
Weltenwelle, die dich ſelbſt einſt herausgetragen hat und jetzt
über dich fortgegangen iſt.
Nur ſo kann meine Rede dich feſſeln. Wenn du immer
an dich dabei denkſt. Über dich wird erzählt. Auf dich läuft
ſchließlich alles hinaus. In der Liebe biſt du Welt. Und die
Weltgeſchichte der Liebe, aus der ich dir erzählen will, iſt in
dieſem Sinne nur ein Kapitel aus deiner Geſchichte. Eine
Ur-Erinnerung, hinauswandernd in die Äonen des Raumes
und der Zeit, hinauswandernd zu all den alten Brüdern im
Tier- und Pflanzenreich, — hinauswandernd im Gedanken,
um zu dir zurückzukehren zur That: — wenn du liebſt.
Schaue wieder hinaus ..... immer tiefer ſinkt die
Mittagsſtille auf das blaue Meer vor uns herab. Kaum ein
ganz zages Vogelzwitſchern im Olivenſilber. Ein dumpfes, wie
im Grunde verhallendes Rollen: der Eiſenbahnzug, der das
Capo Verde im Tunnel durcheilt. Ein verlorener Glockenlaut
von den Dörfern im Thal. Schmetterlinge jetzt überall, in
traumhaft unhörbarem Wiegen über dem goldenen Ginſter und
dem violetten Thymian. Über Land und Meer liegt es wie
ein Duft der Reinheit, wie ein erſter Schöpfermorgen. Wir
glauben nicht mehr an Schaffen. Nur noch an Werden. Werden
im ewigen Geſetzeslauf der Natur. Werden durch die Liebe.
Da iſt die Welt ein ewiger Frühlingstag. Laß uns denn aus
dem Frühling, der uns hier mit ſo unſagbarer Süße umfängt,
ein Stück weit hinausſchreiten in die Sonne dieſes ewigen
Frühlings hinein .....
Drei Bilder tauchen mir auf, wie ich hinabſtarre in das
flimmernde Silberblau dieſes Meeres. Mir iſt, als ſei der
ganze Weg darin, den eine Geſchichte der Liebe gehen müßte.
Drei Stationen.
[10]
„Und ſo lang du das nicht haſt,Dieſes: Stirb und Werde!Biſt du nur ein trüber GaſtAuf der dunklen Erde.“
Es iſt ein wilder Sommerabend am Fluß. Dumpfe
Schwüle brütet über dir. Elektriſches Zucken huſcht an einer
fernen Wolkenbank. Wie eine drohend rote Mohnblüte hängt
der Mond über den dunkelnden Waſſern.
Das iſt die Auferſtehungsſtunde eines ſeltſamen Geſchlechts.
Lautlos, geiſterhaft erheben ſich aus dem Strom winzige, zarte
Geſtalten, — ſo zart und durchſichtig, als wäre jede nur aus
einem kleinſten Stäubchen farbloſen Lichtes gewebt.
Erſt ſind es ein paar, die ſich verflattern, im ſchwülen
Dunſt verlieren, — dann mehr, viele — dann wie wenn die
graue Flut ein blütenſchwangerer Frühlingsbaum würde, der
unendliche ſchneeige Blumenblättchen von ſich in die Lüfte
treibt, — Tauſende, Myriaden.
Vom fernen Kirchturm, über die verträumten Felder, ſchlägt
es neun Uhr.
Als liege in der Stunde eine magiſche Gewalt, ſo reißt
es alle dieſe kleinen Weſen herauf über den ſchweren, zähen
Spiegel der Flut in die offene heiße Abendluft hinein....
ſilberne Flügelchen glänzen auf, wehen wie Perlmutterſchleier,
[11] verſinken, verſchwimmen ineinander im Gedränge zur weichen,
vom erſtarkenden Mondlicht funkelnd zuſammengeſchmolzenen
Wolke, die das düſtere Waſſer überhellt, als ſtrahle ſie ſelber
eigenes Licht .... immer weiter wallt die Wolke dahin, ſie
rollt über die ganze Stromesbreite, — auf das Ufer, wo die
Erlen ſchlafen, regnet es wie unendliche mondhelle Flocken,
hängt ſich an die ſchwarzen Zweige wie leuchtender Schaum ....
Schaum, aus dem Aphrodite, die Liebesgöttin, ſteigt.
Denn all dieſe ſchwärmenden Elfen der Gewitterſtunde ſind
Inſekten vom Schlage der Eintagsfliegen im Stadium letzter
Lebensverklärung durch den allbeſeligenden Liebesrauſch, im
Begattungsſturm, der die Krone ihres ganzen Daſeins iſt ....
Jede dieſer tanzenden Bacchantinnen im Silberduft da oben
hat eine lange Arbeitszeit als Individuum hinter ſich. Als
häßliche, gefräßige Larve hat ſie ſeit zwei, drei Jahren im
Schlamm oder Uferſand des Fluſſes ihr Weſen getrieben, freſſend,
anſchwellend, ſich häutend, ein wilder, rückſichtsloſer Räuber
trotz ihrer Kleinheit, der mit zäheſter Energie Tag um Tag für
ſeine Erhaltung als Individuum gekämpft hat. Die Zeit war
lang genug, daß das kleine, ruppige, biſſige Vieh ſich allerlei
Übung im Lebenskampfe erwerben konnte. Immer in Gefahr,
immer in der Not, ſelber gefreſſen zu werden oder Hungers
zu ſterben, hat es ſich mit äußerſter Anſtrengung endlich doch
durchgedrückt und behauptet, bis ein gewiſſes Maß der Lebens¬
fülle, ein gewiſſer Höhepunkt individueller Artung erreicht war.
Da auf einmal, an dieſem ſchwülen Auguſtabend, gegen
die neunte Stunde, ein Riß im ganzen Daſein, wunderbarer
als Tod, eine Auferſtehung in neue Form, in ein neues Ele¬
ment, in einen gänzlich veränderten neuen Zweck ....
Jähe letzte Häutungen wandeln den Körper aus der Lar¬
venform, die dem Leben in der Waſſertiefe angepaßt war, zu
jener kriſtallhellen Sylphengeſtalt, die vom Mondlicht jetzt ge¬
badet ſtatt von der trüben Flut wie flüſſiges Silber über die
Welle ſprüht. Verſchwunden iſt mit dem alten Leibe der oberſte
[12] Zweck des alten Lebens, die Nahrungsaufnahme; der zarte ge¬
flügelte Körper des neuen Weſens beſitzt gar keine brauchbaren
Kauwerkzeuge mehr. Die Jahre des Raubens, Würgens, Ver¬
ſchlingens mit ihrem verheerenden Kampfe ſind auf einmal zu nichts
verweht. Aber neue Organe ſind dafür da und regen ſich ver¬
langend an dem durchſichtigen Elfenleibe: die Organe der Liebe.
Und das Leben, wie lang oder kurz es nun noch währen
mag, hat einen neuen Zweck.
Über das Individuum greift er hinaus.
Dieſe im Mondesduft aufſchillernde Wolke federleichter, be¬
flügelter Luftweſen iſt kein Heer von Einſiedlern mehr, die in
der Tiefe unten nur ein Zufall an denſelben Ort gebannt zu
haben ſchien, die aber jeder für ſich hartnäckig ihren Weg gingen
oder ihre ſelbſtgewählte Zelle behaupteten und die ſich gegen¬
ſeitig höchſtens die Nahrung fortſchnappten .... wie durch die
Gewitterwolke dort neben dem roten Mond die Elektrizität in
wallenden Schauern zuckt, ſo wallt durch dieſe ganze Wolke
ſchwebender Inſekten ein einziges unſägliches Verlangen nach
Vereinigung, Verſchmelzung des eigenen Individuums mit
einem zweiten in überſtrömendem, alle Einzelheit und Endlich¬
keit in die Gemeinſchaft und Unendlichkeit der Gattung hinüber¬
ſchmelzendem Liebesglück .... alle wollen zwei werden und
in der Inbrunſt dieſes Wollens werden die Einſiedler zu einer
ſeligen Wolke ſelbſtloſer Geſelligkeit .... immer neue Brüder
und Schweſtern tauchten auf aus dem ſchwarzen Schlund, hinauf
in die Herrlichkeit der Gewitterluft und der Mondverklärung —
und in den Lüften, im betäubenden Wirbel der unzählbaren
Menge greift ſich Paar um Paar und vollzieht unter allen
Seligkeitsſchauern, die dieſer winzige, blumenzarte Organismus
für einen Moment vollkommenſter Erlöſung und Harmonie bis
zur Neige ertragen kann, den großen Akt des neuen Zweckes:
die Begattung.
Über die heißen, nach dem Tau des Gewitters lechzenden
Felder tönt von neuem die Dorfuhr, es iſt zehn Uhr. Der
[13] Liebesſturm der Inſekten iſt jetzt auf ſeinem Höhepunkt. In
der Fläche des Stromes bilden die aufſteigenden und verſin¬
kenden Elfen weiße Lichtinſeln, die ſich unabläſſig löſen [und]
wieder erneuern. Auf die Uferwege wirbelt die Wolke wie
das dichteſte Schneegeſtöber. Du ſelbſt als einſamer Wanderer
biſt im Augenblick davon umhüllt, bedeckt, daß du dir mühſam
deinen Weg bahnen mußt. Ein Boot verſchwindet unter dem
lebendigen Schleier. Auf den Stufen, die zu ihm hinabführen,
wimmelt es mehrere Zoll hoch, Schicht um Schicht wirft ſich
im Taumel des Fliegens, des Luftatmens, des Zueinander¬
findens und der ſtürmiſch ausgelöſten, lähmenden Wolluſt darauf.
Aber inmitten der aufſtrebenden Bewegung iſt auch ſchon
eine abſinkende merkbar. Paar um Paar hat ſein Werk voll¬
bracht. Ein Augenblick der Seligkeit und der Lenz iſt hin.
Nun wirbelt es abwärts wie welkes Laub. Das Weibchen
wirft die befruchteten Eier in den Strom und ſtirbt als Opfer,
als ſei der arme weiche Sylphenleib zu Tode getroffen durch
allzuviel Glück, Liebesfreuden und Mutterfreuden in der Spanne
eines einzigen kurzen Augenblicks. Fern verweht davon durch
den erſten Lufthauch, der von der Gewitterwolke kommt, geht
aber gleichzeitig auch das Männchen ein, getötet vom Blitz der
Liebe, der alle ſeine Sinne auf ihr Höchſtes trieb, aber ſie auch
für immer fortnahm in dieſem Sturm und das ganze ſchwache
Leben zerbrach im Moment, da alle ſeine Saiten ihre gewaltigſte
Melodie abſangen in nie vorher erreichter Harmonie ....
Der erſte ferne Donner rollt. Der Wind fällt leiſe ſingend
in die Uferbinſen. Elf Uhr. Der Elfenſpuk iſt aus. Myriaden
weißer Leichen hat die ruhelos ſich dahinſchiebende ſchwarze
Stromfläche aufgeſaugt, hinabgeſchwemmt, ein Feſtmahl für die
kleinen Silberfiſche der Tiefe. Die letzten ſchwachen Nachzügler,
ſchon vom Tode gezeichnet, wird der Regen niederſchlagen.
Zwei Stunden — und der ganze Hochzeitsrauſch iſt dahin, alle
Zwecke des neuen Weſens ſind erfüllt bis über die Neige, bis
in den Tod. Und mitten in das Bacchantenfeſt hinein mäht
[14] dieſer Tod, Garbe um Garbe, bis das letzte glitzernde Silber¬
ſtäubchen von der alten heimatlichen Flut wieder zurückgenommen
und mit der Strömung fortgetrieben iſt in die tiefe Nacht hinein.
Selige Kreatur, ſagt ein alter Grieche, — ſie hat ſo raſch
gelebt, daß außer dem Tode kein eigener Schmerz ſie mehr
erreichen, kein Anblick eines fremden ſie betrüben konnte.
Zwei Stunden.
Aber in dieſen zwei Stunden eines Gewitterabends iſt die
Gattung wieder weitergegeben auf Jahre hinaus. Die befruchteten
Eier, — lautlos in der Waſſertiefe verſunken wie die tauſend
Liebesleichen, aber ſelbſt keine Leichen, ſondern lebendigſten
Lebens voll, — ſie werden ſich in geheimnisvollem Werdegang
zu neuen Larven geſtalten. Und nach Jahren dann abermals
Auferſtehung, Bacchantenſturm, Liebeserfüllung und Opfertod.
Zwei Stunden.
Aber in dieſen zwei Stunden hat ſich ein Schauſpiel
wiederholt, auf das Jahrmillionen ſchauen.
Die Eintagsfliege iſt älter als du, älter als der Menſch.
Ihr Hochzeitsreigen ſchwillt herauf durch die Unendlichkeiten
der Erdgeſchichte. Sie hat das blaue Meer der devoniſchen
Urzeit ſchon geſehen, da noch kein Berg wie heute ſtand, kein
Fluß wie heute floß. Sie war dabei, als der lebendige Wind
noch in den Wäldern baumhoher Farne und Schachtelhalme
brauſte, die jetzt als ſchwarze Kohle unſern Herd erwärmen.
Eine weiße, im Mondlicht aufglimmende Lichtwolke wie heute
ſind dieſe liebedurſtigen Elfen aus den Waſſern aufgeblüht in
der ſchickſalsreichen Jurazeit, da der Ichthyoſaurus ſchwamm
und der Reptilvogel Archäopteryx durch die Lüfte flatterte.
Und ihr wunderbarer Erdentraum blieb der gleiche, als an
Stelle der Palmfarne und Araukarien jener Juraperiode über
ihren Strom der Fichtenhain der Tertiärzeit ſeine Äſte hing,
Äſte, von denen als goldenes Harz niederthränte, was ſpäter
verhärtet Bernſtein geworden iſt und dir in ſeinem Innern
noch heute oft den Sylphenleib einer uralten Eintagsfliege zeigt.
[15]
Erſt in dieſer Tertiärzeit begann der Menſch. In all den
Jahrtauſenden ſeines Emporganges, von der wilden Steinzeit
neben Mammut und Höhlenbär bis zu den höchſten Weihe¬
ſtunden aufgrünender Weltkultur, hat ihn am einſamen Strom,
am ſtillen Bach dieſer ewig gleiche Kreislauf der Eintagsfliege
begleitet. Sie ſchwärmte in zwei Stunden einer Mondnacht
auf, als er am Euphrat zuerſt in den Sternen las, als er am
Nil über das Myſterium des Lebens ſann, als er am Iliſſos
eine höhere, lichte Welt aus Rhythmus und Marmor ſchuf zum
Erſatz für dieſe Welt des Kummers und der Dunkelheit.
Und immer dasſelbe. Immer dieſes Erſterben der In¬
dividuen für die Art, dieſer gleiche Sinnentaumel, zuſammen¬
gedrängt auf eine winzige Spanne Zeit, dieſer jähe, dunkle
Wandel der Zwecke ... Jahrtauſende, Jahrmillionen, Zeit¬
räume, in denen die Sternbilder ſich verſchieben, in denen das
Wandern der Sonne im Weltraum, die Eigenbewegung der
Fixſterne, die leiſen, über ungeheure Zeiten verteilten Wand¬
lungen der Erdbahn und Erdſtellung ſichtbar wie große Mark¬
ſteine werden: und alle zwei, drei Jahre in dieſer unabſeh¬
baren Folge zwei Stunden, in denen das Schickſal einer Gat¬
tung wie ein Wurfball geſchleudert von einer Generation zur
folgenden fliegt. Zwei Stunden, in denen das Individuum
faſt im Augenblick ſeines Todes noch Weltgeſchichte wird und
in eine Kette greift, die aus Urtagen der Schöpfung, zwiſchen
verſchollenen Märchenwäldern, fremden Ungetümen, längſt ver¬
glühten oder weggewanderten Sternen, fort und fort ſich herauf¬
ſchiebt bis auf dieſen Tag.
Die Eintagsfliege denkt nicht. Sie erwacht, taumelt, be¬
ſeligt ſich und ſtirbt.
Aber du, der einſame, ſpäte, unendlich hoch verſtiegene
Epigone all dieſer niederen Tierheit, ſtehſt am Ufer und ſtarrſt
den kleinen blaſſen Liebesleichen nach und ſinnſt, — ſinnſt dem
Geheimnis nach in dieſem Liebestanz und Totentanz .....
Was iſt die Liebe?
[16]
Vorbei!
Ein anderes Bild. Zu dem tragiſch-ſüßen ein grotesk¬
derbes. Aber auf die gleiche Melodie.
Hörſt du den Wind pfeifen und die Waſſer klatſchen?
Norwegen. Herbe Seeluft ſtreicht, mit ihrem Salzhauch und
Fiſchgeruch. Die Wogen ſpritzen an der Granitküſte. Der ur¬
alten Küſte! Hier ragte ſchon eine rieſige Feſte, als das andere
Europa noch der Korallenarchipel war, um den die Juradrachen
ſchwammen. Von hier aus wälzte ſich ſpäter der ſchauerliche
Gletſcherwall der Eiszeit über das ſterbende, verödende, er¬
frierende Norddeutſchland. Ein großes, dräuendes, geheimnis¬
reiches Zauberſchloß der Erdgeſchichte, — bis auf die Tage,
da die Drachenſchiffe der Wikinger ſich von hier in die un¬
bekannte Schaumwüſte des ungeheuren Erdwaſſers ſtürzten,
nach den rot flammenden Vulkanen Islands, nach den grünen
Weinreben des mythiſchen Amerika vom Jahre Tauſend.
Geſpenſterluft! Auf dem Lande laſtet Regengewölk. Über
den Klippen der Seeſeite ſteht hart und nackt ein fahles Licht.
In Himmel und Waſſern iſt etwas, als nahe ein Unfaßbares
vom offenen Meer. Ein Fliegender Holländer, wie ihn die
Sage ſich erſonnen, mit pechſchwarzem Takelwerk vor dem
ſchwefelgelben Himmel. Die Satanshand des Schiffermärchens,
die ihre koloſſalen roten Krallen über die Schaumkämme reckt.
Seevögel kreiſchen mit bangem Laut.
Geſpenſterluft. Was iſt der Menſchheit gerade an dieſer
Küſte nicht ſchon alles zugeſchwommen, — in der Wahrheit
und im Traum! Hier hat ſie den Walfiſch zuerſt genauer
kennen gelernt, das rieſige Säugetier des freien Meeres. Hier
ſpann ſich die Legende an vom Kraken, der wie eine Inſel aus
[17] dem Abgrund ſtieg und wieder ſinkend das größte Schiff mit
ſeinen ungeheuren Spinnenarmen ins Verderben zog, — die
Legende, die endlich ihre Löſung gefunden hat durch die gigan¬
tiſchen Tintenfiſche in den Schlünden der See. Hier iſt immer
einmal wieder die Seeſchlange geſehen worden, mit wallender
Mähne, mit grauenhaft endloſen Windungen, die das grüne
Waſſer des Fjordes aufkochen machten — ein Geheimnis, ſo
grau und alt wie die Exiſtenz ſeefahrender Völker und doch
noch immer ohne klärenden Schluß. In den Abgründen dieſes
Meeres, dort, wo in einigem Abſtand von der Felsküſte der
Grund jäh zu ſchaudervollem Thale niederſtürzt, als ſinke der
Ozean in einen tieferen, dem Erdinnern näheren zweiten Ozean
hinab, hauſt der Wurzelhaarſtern, — mit federnder Krone auf
ſchlankem, feſtwurzelndem Stengel, einer wunderbaren Lilie der
bunten Korallengründe gleich, in Wahrheit aber ein Tier, fremd
in ſeiner Zeit, ein einſamer Nachzügler aus dem blauen Wunder¬
meer der Kreideperiode, wo die rieſenhaften Seelilien wie ſchil¬
lernde Palmenwälder der Tiefe ſich wiegten und den ſcheu߬
lichen Reptilien jener Tage Schlupfwinkel boten wie heute das
indiſche Dſchungel dem Königstiger .....
Naht irgend eins dieſer Meerwunder jetzt wieder dem
Strand?
Dämmerung ſenkt ihre kühlen Farbtöne über die See.
Aber nun glimmt es aus den Waſſern ſelbſt wie magiſcher
Schein, der vom hohen Spiegel her gegen die alte Granitküſte
heranzuſchleifen ſcheint. Der Schein malt ſich nach oben in die
Luft hinein, man ſieht ihn hoch in den Dünſten ſilbern näher
kommen. So, obwohl viel gewaltiger, zeigt ſich dem Polar¬
fahrer am Himmel ſchon von ferne als Eisblick die Nähe der
vordringenden Kriſtallmaſſen, die ihm den Weg verſperren
werden, Vorpoſten der Wüſte, die vom erſtarrten Polende des
Erdballs niederſinkt, als münde dort die ewige, vernichtende
Grabeskälte der freien Planetenräume ein in die ungeheure
ſauſende Kugel, die mit ſo viel Lebenslaſt auf ihrer warmen
2[18] Mitte um die Sonne kreiſt. Aber um dieſe Zeit naht hier kein
Eis. Es iſt der Silberglanz eines vielköpfig Lebendigen, das
ſich da näher und näher ſchiebt.
Nicht ein einzelnes Seeungetüm kommt. In unermeßlichem
Gewimmel zuſammengedrängt wälzt ſich eine ſilberne Inſel von
Tieren heran.
Der Häring naht, zu Millionen vereint.
Der Lichtſchein, der den Nebel hellt, iſt Wiederſchein der
ungezählten glitzernden Leiber ſelbſt, die der Maſſenſturm gegen
die Fläche, ja heraus aus den Wellen treibt, bis das Ganze
ſich hier und da wölbt wie eine rieſenhafte Schildkröte, deren
blanker Rücken das Mondlicht wiederſtrahlt. Aber nie, auch
in keinen Urtagen fabelhafteſter Rieſentiere, hat eine Schildkröte
von ſolcher Ausdehnung gelebt. Eine Meile in die Länge wie
Breite dehnt ſich die Inſel lebendiger Fiſche. Scharen weißer
Möwen ſchweben darüber, als handle es ſich um eine jener ein¬
ſamen Klippen des Weltmeers, die Myriaden lärmender See¬
vögel als Niſtplatz dient. Jetzt hier, jetzt dort blitzt ein ganzer
Körper herauf, als ſpielten weißblaue Flammen aus dem er¬
regten, brauſenden Element, als wolle die Inſel ſich in vulka¬
niſchen Zuckungen entladen.
So müßte es ſein, wenn Gigantenhand ein Netz quer
durch den Bauch des freien Ozeans ſpannte und nun langſam
damit gegen die Feſtlandküſte ruderte, alles Lebendige der fiſch¬
durchwimmelten Weite vor ſich her zuſammendrängend, bis das
verengte Element die Maſſe nicht mehr faßte und das Gewirre
ſich gegen den Strand heraufſtaute wie eine ungeheure Pyra¬
mide lebenden, zuckenden Stoffs, — in all den wahnſinnigen
Fratzenformen der Tiefe.
Der Gigant iſt die Liebe.
Wie ein Stäubchen im flutenden Sonnenlicht verliert ſich
ſonſt der einzelne Häring im offenen Weltenmeer. Kaum daß
menſchliche Forſchung bis heute ergründet hat, wo er eigentlich in
den ſtillen, leidenſchaftsloſen Zeiten ſeines Lebens ſich birgt, ob
[19] in den Abgründen unterſeeiſcher Thäler, ob, was wohl wahrſchein¬
licher iſt, in geringer Tiefe, aber in der freieſten, landfernen See.
Da auf einmal iſt es, als erklinge der Poſaunenruf aus
der Viſion des alten Propheten, der die Knochen ſich ſammeln
ließ im Thal. Durch das innerſte Mark all der einſam Ver¬
ſtreuten zittert ein dunkles Verlangen nach Enge, nach flachem
Grund zwiſchen Klippen, wo viele ſich wollüſtig aneinander
drängen können. Es ſind Erinnerungsbilder früheſter Jugend
darin. Am Ufer, in der Enge ſind ſie alle einſt geboren
worden, ehe ſie das offene Weltmeer fanden. Wer ahnt, bis
zu welcher greifbaren Geſtalt beſtimmter Örtlichkeit dies ver¬
blaßte Bild in der plötzlichen tiefen Erregung des ganzen
Organismus noch einmal erwächſt! Sicher iſt, daß eine voll¬
kommene Wandlung in allen Lebensgewohnheiten jetzt erfolgt.
Der Häring drängt zur Küſte. Bald ſind Scharen beiſammen,
die das gleiche Ziel nicht voneinander läßt. Schar ſtößt zu
Schar. Es iſt ein unendliches, dumpfes, blindes Dahin¬
ſchwimmen nach einer Seite, ſchwindelerregend, wenn man ſich
den unermeßlichen Raum des Ozeans ausmalt, aus dem die
Liebe hier ihre Maſſen zuſammenſiebt. Endlich wird der Boden
flach, die erſehnte Küſte iſt nah. Alle Radien ſtreben jetzt
in einen Punkt zuſammen ..... und aus den dunkeln Waſſern
ſchimmert die ſilberne Inſel der Millionen, die ihren Schein
bis in die Nebelwolken wirft.
Aber die ungeheure Fiſchmenge ſtaut ſich. Die Enge des
Zuſammendrängens löſt die ganze verhaltene Liebeswolluſt
plötzlich aus, — in einer Form, die wie dieſer ganze Maſſen¬
ſturm etwas beinahe Brutales, jedenfalls etwas Gigantiſches
hat. Durch die Salzflut ergießen ſich dichte Wolken männlicher
Samenflüſſigkeit, Wolken ſo gewaltig, daß der Ozean ſich weit¬
hin trübt, daß die ganze Silberinſel wollüſtig bewegter Fiſche
darin badet, darin ſchwimmt.
Derſelbe Blitz höchſter Gefühlsauslöſung durchfährt aber
gleichzeitig auch die Weibchen, — in die weißen Samenwolken
2*[20] hinein treiben Millionen und Abermillionen jäh abgelegter
Eier. Auf dieſe Eier wirkt der freie Samen wie ein goldener
Lebensquell: indem er ſie umhüllt, umfängt, förmlich in ſich
hineintrinkt, dringt in jede Eizelle eine winzige Samenzelle ein,
verſchmilzt mit ihr und vollendet ſie zu der eigentlich neuſchaffenden
Kraft, die ein neues Weſen aus ihr hervorblühen läßt.
Ein Schauſpiel ohnegleichen.
Die Zeugung zu einem Geſamtakt erweitert, unter deſſen
Zuckungen, deſſen wilden Ergießungen der Ozean ſchwillt und gärt.
Jedes Individuum gemeinſam ſchwimmend in der Lebenskraft
von Millionen und gebend und nehmend im allgemeinen Quell.
So malte ſich naiver Sinn einſt die Schöpfung: daß die
Kraft eines Gottes zu einer hohen Weiheſtunde unendlichen
Samen alles Lebendigen ausgoß in die tote Öde des Ozeans.
Aus Wolkenhöhen warf Brahma das goldene Ei, das in Gott
befruchtet den farbentrunkenen Schleier des Lebens gebar .....
Aber keine Dichterphantaſie konnte das Groteske, die ganze
derbe Ungeheuerlichkeit ſolchen Aktes ahnen, wie ſie die Natur
in die Wirklichkeit dieſer Fiſch-Orgie legt.
Erhabene, komiſche und grauſige Momente fließen darin
zuſammen. Über dieſen ſilbernen Knäuel liebestoller Fiſche
deren Kraft wie ein Wolkenbruch in unausgeſetzten Strömen
niedergeht, über die Millionen funkelnder, zuckend bewegter
Leiber, wollüſtig ſchwänzelnder Floſſen und großer regungs¬
loſer, wie ſehnend bang erſtarrter Augen brechen alle Plagen
Ägyptens herein. Sie, die einzeln ſo federleicht in die Tiefe
entglitten, wahre Seiltänzer ihres Elements, — als dicht ge¬
keilte, in wildem Liebesſturm verkettete Maſſe ſind ſie jetzt ſo
gut wie wehrlos und allem Unheil bloßgeſtellt. Und das
Unheil iſt da. Wilde Räuber nahen in Scharen der großen
Liebesinſel, gelockt ſchon von weitem durch den hellen Schein,
der in die Nebel wie eine ſelbſt entzündete Hochzeitsfackel glüht.
Ihnen iſt dieſer meilenlange Brautknäuel nichts anderes als
eine rieſige, ſehr erwünſchte Vorratskammer lebendigen Fleiſches.
[21] Aus den Waſſern brauſen mit dumpfem, weithin hallendem
Geräuſch mehrere Meter hohe Dampffontänen, als ſiedeten
Geiſer im verborgenen Schlund: der gigantiſche Finnwal kommt,
ein Koloß bis zu dreißig Metern an Länge. Er klappt mechaniſch
bloß den bodenloſen Rachen auf, und mit dem wild ein¬
ſtrömenden Gewäſſer ſtürzen hunderte liebesentflammter Häringe
mit hinein, die dann die enorme fleiſchige Zunge langſam am
harten Gaumen des zahnloſen Mundes zerreibt, bis ſie ſchluck¬
gerecht ſind. Dem Finnwal folgen kleinere Seeſäugetiere, luſtige
Delphine und Seehunde, dann ein nicht minder vernichtungs¬
frohes Heer echter Fiſche, wie Schellfiſche, Kabeljaue und Dorſche,
auch Haie, deren entſetzliches Gebiß den weichen Häring wie
Butter zermalmt. Von oben her aber, aus den Nebelwolken des
Dämmerabends fallen geflügelte Scharen mordgieriger Möwen,
Alke und Lummen in unabläſſigem Angriff ein und reißen mit
hartem Schnabel Stück um Stück von dem lebendigen Silberſchilde
wie gierige Schatzgräber von einer jäherſchloſſenen Erzader los.
Und da endlich naht auch noch der gefährlichſte Jäger,
der Menſch. Durch den Nebel rudert es, Boot um Boot, die
Häringsfiſcher mit ihren Netzen. Sie brechen unentwegt ein
in den dichteſten Hochzeitsſchwarm. Das Boot wird eingeklemmt
im Gedränge, emporgehoben auf Momente aus der See durch
die Wucht der Milliarden, — ein Ruder, in die Maſſe der
Fiſche eingeſtoßen, wird fortgeriſſen und eine Weile aufrecht
im kompakten Zuge mitgeführt. Die Maſchen der Netze über¬
ziehen ſich mit dickem, hemmendem Schleim: ſie ſind in das
Meer von frei ſchwimmendem Samen hineingeraten. Gleich
darauf brechen ſie faſt unter der Laſt der Fiſche ſelbſt. Aber
umſonſt iſt aller Verſuch der wehrloſen Geſchöpfe, durch die
Wucht ihrer Millionenzahl allein den Gegner zu entwaffnen.
Mit Schaufeln werden die Häringe inmitten all ihrer Wolluſt
unmittelbar von der Oberfläche ab ins Boot geworfen. Dann
ſperren Netze ganze Teile des Schwarmes in ſchmale Fjord¬
arme ab. Hekatomben fallen dort in den ſicheren Tod.
[22]
So von allen Seiten zerbröckelt, ſchwindet die ſilberne
Inſel endlich dahin. Über Millionen liebesfroher Individuen
iſt es hereingebrochen wie ein Weltgericht. Aber der große,
dunkle Zweck iſt erfüllt. Aus den befruchteten Eiern, um die
ſich keiner von all den Angreifern gekümmert hat, wird ein
Heer winziger neuer Fiſchlein erſtehen. Zu ihrer Zeit werden
ſie wieder vom Ufer fort auf die Hochſee wandern. Bis auch
über ſie in ſchwellender Reife die Sehnſucht kommt. Die
Sehnſucht, die ſie an die Küſte treibt, in die Liebe und in den
Opfertod. Und dann wird eine neue ſilberſtrahlende Liebes¬
inſel aus der ſchwarzen Tiefe tauchen .....
Auch dieſer Hochzeitszug der Fiſche wiederholt ſich ſeit
undeutlicher Zeit. Auch der Fiſch iſt viel, viel älter als der
Menſch. In ſeinem ſtieren Auge liegt ein Blick der Urwelt,
die den bunten Erdengarten noch ohne Menſchen ſah. Mehr
aber noch als das. Der Menſch war gar nicht möglich ohne
ihn. Erſt mußte der Fiſch ſein, ehe der Menſch ſich entwickeln
konnte. Jahrmillionen zurück: und der Menſch iſt Fiſch, ein
Urfiſch verſchollener Zeit, in dem nur erſt die Anlage ſteckte,
dermaleinſt ein Menſch zu werden.
In liebender Sehnſucht finden ſich heute ein Mann und
Weib, — im hellen Licht des neunzehnten Jahrhunderts, neun¬
zehn Jahrhunderte nach der Geburt des großen Reformators,
hinter dem es noch bergetief liegt an Geſchichte der Menſchheit
bis in die blutigen Nebel der erſten Anfänge zurück. Aus
den heißen Schauern dieſer vollendeten Liebesminute erwächſt
im Leibe der Frau ein Kind. Und nach ſo viel Jahrtauſenden
der Zwiſchenzeit ſeit der erſten Menſchwerdung auf Erden, nach
ſo viel Wandlungen des Geiſtes von dämmernder Ahnung bis
in die ſtrahlende Erfüllung der Kultur: tief im Leibe der
ſchwangeren Mutter zeigt ſich an dem eben keimenden Embryo
ein großes, bedeutſames Myſterium. Der reifende Keim wird,
ehe er Menſch wird, noch einmal Fiſch. In der dunklen
Muttertiefe, wo weder Land iſt noch Meer, zeigen ſich an der
[23] winzigen zarten Knoſpe des kommenden Menſchleins die Kiemen¬
ſpalten am Halſe, die der Fiſch braucht, um aus ſeinem Element,
dem Waſſer, beſonders kunſtvoll den nährenden Sauerſtoff aus¬
zuſcheiden. Und die Gliedmaßen treten hervor in gerundeter
Floſſenform. Das Bild des Urfiſches zittert wie im Dunſte
noch einmal auf, — des Urfiſches, der im Grau verdämmerter
Zeiten höheren Weſen das Leben gab, Weſen, die immer
aufwärts ſteigen ſollten, bis zuletzt der Menſch wie eine neue
Überwelt aus ihrer Krone flammte, — der Menſch, der alles
Leid und alle Luſt der Kreatur auf ſeinen Schultern trägt .....
So iſt auch dieſes wilde, dieſes groteske Bild aufs innigſte
verknüpft mit dir.
Wieder ſtehſt du als der ſpäte Träumer auf der Granitklippe
und denkſt und denkſt. Aus dieſem Wirrſal roh ſich drängender
Fiſche dieſelbe dunkle Frage. Wozu? Was iſt die Liebe?
Wie die Stimme Jehovas einſt zu Hiob kam. „Gürte
deine Lenden wie ein Mann, ich will dich fragen, lehre mich!“
So rufſt du der Liebe in dieſer geſpenſterhaften Offenbarung zu.
Antwort! Das Meer, das uralte graue Meer, in dem
Welten verſunken ſind, gurgelt und rauſcht und ſchlingt ſeine
Millionen liebestoller Fiſche wieder hinab. Und ſchweigt.
Höher!
Du mußt noch viel höher. Um zu ahnen, was das alles
ſagen will. Wohin das wollte und wohin es gekommen iſt.
Gürte deine Lenden, ich will dich führen.
Empor! Ein drittes Bild.
Ein Bild, das ſtill und groß aus der Krönungsflamme
alles Irdiſchen ſteigt.
Du ſchauſt in eines jener ſtillen Heiligtümer der Menſch¬
heit, wo der Abglanz einer Weltenſtunde lebt. Einer jener
Stunden, da einem Einzelmenſchen das Ungeheure gelang: den
Geiſt langer Jahrhunderte der ringenden Menſchheit in ſich zu
fühlen. Durch den Kriſtall des hohen Fenſters rinnt das tiefe
Goldlicht eines klaren Herbſttages, — es ſchmilzt in zarter
Welle wie ein Heiligenſchein über der ſixtiniſchen Madonna
Rafaels.
Das Wort Heiligtum iſt zu ſchwach. Es entſtammt einem
Gedankenkreiſe, der das Höchſte nur zu faſſen weiß als ein
Loch in der bunten Welt der Wirklichkeit, — ein Loch in die
uferloſe Schwärze hinein, an der das Auge ſich wund ſucht,
um die geiſterbleichen Sterne einer außerweltlichen Offenbarung
zu entdecken.
Die großen Meiſter der Renaiſſance haben keine Löcher
gemalt. Als Rafael ſeine liebende Allmutter mit dem Jeſus¬
kinde in der individuellen Form erfand, wie ſie heute noch vor
uns ſteht, warf er alles hinein, was die Menſchheit bis dahin
über die Liebe an ſich ſelbſt erfahren hatte.
Alles, was noch aus der Tierheit herüberkam. Alles auch,
was in den Jahrtauſenden über die Tierheit hinausgeführt
hatte. Mit der Kraft des ganz großen Künſtlers goß er das
[25] in einen Moment. Aber es ſteckt die Wallfahrt auf Erden
ungezählter Generationen darin. Über dieſer Wallfahrt ragen
wie Fahnen die Namen der Völker, der großen Kulturſtätten,
der Ideen empor. Die wundervollen Augen dieſes Kindes ſind
keine Löcher, — ſie ſtarren nicht aus der Wirklichkeit fort ins
ewig Dunkle. Aber es iſt etwas darin wie Träumerei über
endloſe Räume und Stundenreihen fort, — ein Stück Er¬
innerungstraum der Menſchheit, die des Künſtlers Kraft auf
einen Augenblick zum Individuum gebannt hat .....
Im feſten Kern ihrer Geſtalt iſt dieſe Madonna ein
Weib. In Rafaels Nähe wird es Geſtalten gegeben haben,
die ihr unmittelbar ähnlich waren, die der Beſchauer als
irdiſches Modell in Fleiſch und Blut wiedererkannt hätte. Dieſe
engſten Beziehungen ſind verſchollen, — mit dem ausgelöſchten
Menſchenindividuum Rafael, deſſen Schädel in der alten
heidniſchen Götterrotunde des römiſchen Pantheons ſchläft, iſt
auch all das allzu Perſönliche — vielleicht der Schatten
ſtarker, wilder, liebesatmender Mädchen, die dem asketiſchen
Gläubigen wohl die Madonnenandacht ſtören könnten —
hinabgezaubert in die große Vergeſſenheit, mit ſo viel anderer
roſenbekränzter Menſchlichkeitsliebe, die das Los der Eintags¬
fliege mit ihren zwei Stunden wie ein verwandtes fühlen
mußte ..... Aber es bleibt von allen perſönlichen Be¬
ziehungen ledig das Weib.
Der Menſch erſcheint, zerriſſen in die Zweiheit der Ge¬
ſchlechter. Mann und Weib. Das iſt nicht erſt errungen in
der großen Folge zwiſchen Gorilla und Rafael. Der Herauf¬
gang höherer organiſcher Entwickelung ſetzte damit ein. Im
Tierreich wie im Pflanzenreich. Eine tiefe Naturnotwendigkeit,
von der ich dir ſpäter erzählen werde, muß dazu gedrängt
haben. Das einzellige Geſchöpf niedrigſter Art, noch jenſeits
von Tier und Pflanze, pflanzt ſich fort, indem es ſich teilt, —
jeder Teil wird ein neues Individuum. Aber dieſe ſchlichte
Methode wird verlaſſen, indem die Organismen ſich vorwärts
[26] entwickeln, — ſie iſt verlaſſen worden ſchon in Urtagen von
der Mehrzahl der Pflanzen, der Mehrzahl der Tiere. Wenn
die indiſche Sage recht hätte und der erſte Menſch durch
warmen Kuß des goldenen Gottesauges aus einer roſenfarbigen
Lotosblüte des heiligen Gangesſtromes aufgeblüht wäre: er hätte
von dieſer Blume ſchon die Zweigeſchlechtlichkeit erben müſſen.
Allerdings trägt die Waſſerroſe noch beide Geſchlechtswerkzeuge
in einem Blütenkörper vereint. Aber die weibliche Narbe
fordert die Befruchtung durch Samenſtaub aus einem zweiten
Kelch, ſo daß die wahre Zeugung doch auch hier eines Doppel¬
lebens, der Kräfte zweier geſonderter Individuen ſchon bedarf.
In Wahrheit iſt der Menſch kein Kind der Pflanze, ſo
wohllautend auch die Legende klingt. Er iſt aus dem Tier
erwachſen. Selbſt jene einfachſte Form der doppelten Geſchlechts¬
liebe, wie ſie die Lotosblume noch weiſt, iſt ſchon früh im
Reich der höheren Tiere, bei den Wirbeltieren ſchon von den
Fiſchen, verlaſſen worden zu gunſten abſoluter Trennung in
Mann und Weib, die jedes nur ihre echte Geſchlechtshälfte
verkörpern, mit männlichem oder weiblichem Organ, mit
männlichem oder weiblichem Gefühl. Vom Fiſch an aufwärts
giebt es keinen Rückfall unter dieſes feſte Prinzip hinunter
mehr. Das Amphibium erbte es vom Fiſch, das Reptil
vom Amphibium, das Säugetier vom Reptil. In der an¬
ſteigenden Kette der Säuger war es der Affe, der ſein
Doppelgeſchlecht dem Menſchen weitergab. Als Mann und
Weib tritt der Menſch in die Geſchichte ein. Wie jener
Menſch der Lotosblume, ſo iſt auch der Adam vor Erſchaf¬
fung der Eva eine ſchöne Dichtung, — der wirkliche wilde
Urmenſch, der das Mammut, den Höhlenbären und das Rieſen¬
faultier jagte, umfing in der Höhle oder Sandgrube, die ihm
als Schlupfwinkel diente, vom erſten Tage an ſein wildes
Urmenſchenweib.
Das ſymboliſch höchſte Weib, wie es Rafael gemalt hat,
trägt auf ſeinen Armen ein Kind. Du brauchſt bei der rein
[27] menſchlichen, bloß ins vollkommenſte Ideal erhöhten Form, die
der Meiſter uns giebt, dabei nicht gleich des religiöſen
Myſteriums zu gedenken, mit dem das Dogma einer be¬
ſtimmten Welle des Chriſtentums gerade die Entſtehung dieſes
Kindes — als des Jeſuskindes — umgeben und aus dem
allgemein Menſchlichen vollkommen herausgerückt hat. Dem
ſchlichten Blick, den dieſe Probleme nicht berühren, erſcheint
bloß in wundervoller Verklärung die Mutter. Und es lag
in jenem Myſterium der „unbefleckten Empfängnis“ nur
etwas, was dem Maler ermöglichte, den Typus der Mutter,
des vollendeten Weibes, leiſe, faſt unmerklich diskret zu ver¬
miſchen mit dem zarteſten Zauber unberührter Jungfräulich¬
keit. Die Maria des Bildes als Menſchenweib genommen
wird dadurch reicher als eine gewöhnliche Mutter ..... in
der einen Geſtalt drängt ſich gleichſam eine ganze Reihe von
Momenten zuſammen: die ganze Geſchichte des Weibes als
Individuum.
Durch das ſchmeichelnde Blau dieſes Gewandes ahnt der
Blick den Leib, der das Kind getragen. Das weiße Tuch über
dem roten Mieder hüllt ſchamhaft die Bruſt, die ihm die erſte
Nahrung bot. Alle dieſe Akte innigſter Verknüpfung von
Mutter und Kind deuten, rein menſchlich genommen, nicht auf
Überweltliches, aber ſie deuten innerhalb des Menſchen und
ſeiner Geſchichte zunächſt ebenſo wie die Zweigeſchlechtlichkeit
noch über ihn hinaus. Zurück in die Tierheit, aus der er
kam. Bloß daß die Anfangsſtelle jetzt ſchon weſentlich näher
liegt. Was weiß die Lotosblume von dieſen Vorgängen, —
ihre Frucht fliegt über die Waſſer hinaus, ſucht ſich ihre Stelle
und wuchert als fremde Pflanze auf. Was ſoll die Eintags¬
fliege davon kennen, die faſt im Augenblick ſtirbt, da ſie
Mutter ward ..... Erſt die höchſte Entwickelung im Bereich
der Wirbeltiere eilt hier konſequent auf ein feſtes Ziel. Von
den leuchtenden Farben der Madonna wandert dein Blick fern
hinaus in das wilde Sumpfdickicht Auſtraliens. Dort birgt
[28] ſich das Schnabeltier, das niedrigſte aller Säugetiere, heute
noch ein Abbild der erſten Säuger auf Erden. Das Schnabel¬
tier legt noch Eier wie ein Reptil; die unendlich innige Ver¬
kettung, die das Menſchenkind im Mutterleibe mit dem mütter¬
lichen Organismus erfährt, fehlt noch ganz. Aber ſchon trägt
die eine der beiden überlebenden Arten dieſer Schnabeltiere
das Ei in einem weichen Hautbeutel am Leibe mit ſich herum.
Und iſt das Junge hier endlich ausgebrütet, ſo ſaugt es aus
einer Drüſe des mütterlichen Leibes Milch. Das iſt das Ur¬
bild der Mutter im menſchlichen Sinne. Von da herauf dann
wieder Geſtalt um Geſtalt: Säugetiere, die überhaupt ſchon
keine Eier mehr legen, die das Junge im Mutterleibe ſelbſt
tragen und lange noch innerlich, durch den gemeinſamen Blut¬
kreislauf, der von den Adern der Mutter in die Adern der
ungeborenen Leibesfrucht als heiliger Lebensquell rinnt, er¬
nähren, — die es dann, nach endlich erfolgter reifer Geburt,
noch an regelrechten Mutterbrüſten ſäugen. Auch hier iſt es
der Affe, der den Brauch in fertiger Form auf den Menſchen
vererbt.
Und doch: wie dein Gedanke, der von der ſtrahlenden
Herrlichkeit der ſixtiniſchen Madonna bis zum Schnabeltier
herniederſank, jetzt wieder den Menſchen erreicht, iſt es, als
reiße jäh ein großer Schleier auseinander, der bisher Menſch
und Tierheit in grauen Vorzeitbildern zuſammenſchob.
Der Begriff der Mutter, überkommen vom Tier, aus der
ganzen Kette dämoniſcher Geſtalten vom grotesken Schnabeltier
bis zum Orang Utan und Gorilla herauf, flammt mit einem
ganz neuen Lichte auf, da er in die Geſchichte der Menſchheit
tritt. Es iſt das helle Licht der Natur, die ſich zu Kultur
enthüllt.
Auf Äonen der Natur folgen Jahrtauſende der Menſch¬
heitsentwickelung als Kultur.
Da giebt ſich, was aus dem Tiere kam, nicht einfach
weiter als das ewig gleiche tieriſche Erbe.
[29]
Die Madonna Rafaels, mit dem Leibe, der in all ſeiner
Schöne doch noch das uralte organiſche Prinzip der Zwei¬
geſchlechtlichkeit malt, mit dem Kinde, das die Mutter an¬
deutet, — ſie ſchwebt zugleich als eine freie Geiſteszeugung
wie in einer höheren, einer Überwelt.
So iſt auch die Liebe heraufgewandelt in der Geſchichte
der Menſchheit wie eine immer mehr befreite Lichtgeſtalt, unter
der das Tieriſche, die Schwere des Tieriſchen, ſank und ſank.
Der Menſch ward Menſch.
Ein oberes Stockwerk der Dinge baute ſich in ihm ſelbſt
auf ſeiner Tierheit wie auf einer Granitquader auf, die fortan
nur noch roher Baugrund war.
Das ragt nun wie ein Tempel, deſſen Marmorſchnee in
ein verklärtes Blau ſteigt.
Es giebt keine echten Vergleichungsbilder dafür. Aus der
Fülle der Naturformen, vom fernen, grünlich glimmenden
Nebelflecke des Alls bis zur hartgelben Flechte des irdiſchen
Granitgebirges, wächſt unſerem Wiſſen nur eine einzige Menſch¬
heit. Ob auf irgend einem anderen, rot oder weiß herüber¬
ſtrahlenden Planeten ähnliches ſich im Banne der gleichen
Kräfte aufgebaut: die Kunde ſchweigt, — kaum daß die Ahnung
zu wandern wagt. Wie eine endloſe nackte Wüſte zieht ſich
um unſeren „Lebensplaneten“ nach allen Seiten in die Sternen¬
räume hinein unſere Unwiſſenheit und ſchafft uns jedenfalls
eine praktiſche Einſamkeit, vor der jeder Vergleich verſagt.
Aber vor Augen ſteht, wie dieſe eine einzige, unvergleich¬
bare Menſchheit auf dieſem ihrem Planeten die Begriffe ver¬
wandelt hat. Auch den Begriff der Liebe.
Er iſt herausgewachſen aus ſich ſelbſt, über ſich ſelbſt.
Im höchſten Sinne, wie dieſe Madonna ihn ſymboliſch ganz
zu faſſen ſucht, ſteht er da in einer Größe, gegen die die
Liebe des Tieres ſich ſtellt, etwa wie das ſchlichte Lager aus
Zweigen, das der rothaarige Orang Utan ſich im Baumdickicht
Borneos bereitet, gegen den Parthenon des Phidias oder die
[30] Peterskuppel Michel Angelos, in deren ſtrahlendem Lichtbau
nicht bloß die Leiber vergänglicher Individuen, ſondern los¬
gelöſt zu einer Art höheren Lebens die Gedanken von Jahr¬
tauſenden wohnen.
In der Prometheusſchmiede der Menſchheit, da das über¬
kommene dunkle Erz in der Geiſtesflamme zu neuem Daſein
ſchmolz, ward die blinde Gier und Brunſt der einfachen Ge¬
ſchlechtsliebe zu einer allumfaſſenden Kraft und Sehnſucht von
höherer, neuer, vergeiſtigter Art.
Der Zwang, der die Geſchlechter zu einander trieb, der
das Individuum aufgehen ließ in der Gattung: er wuchs in
unendlichem Wandel herauf bis zu einem Sehnen nach gemein¬
ſamem Zuſammenſchluß Aller auf Grund idealer Liebe und bis
zu der Kraft zu ſolchem Zuſammenſchluß.
Die unendliche Seligkeit, das vollkommene Welt- und
Schmerz- und Todvergeſſen der vereinigten Geſchlechtsindividuen
verſchmolz mit der Sehnſucht nach einer Harmonie der ganzen
Welt, einer zum Lichte aufwärts führenden Ordnung im All
noch über die Menſchen und ihre Liebe hinaus.
Und neben die Zeugung, die immer neu Lebendiges im
alten Sinne ſchuf, trat, geſtählt durch jenes Sehnen nach
Harmonie, die Kraft eigenen vergeiſtigten Neuſchaffens harmo¬
niſcher Gebilde von beſonderer Art: in Stein und Farbe, in
rhythmiſcher Rede und geläutertem Klang formte der Menſch
ſich inmitten der alten Natur eine neue, vergeiſtigte, eigene
Natur.
Die Liebe ward Menſchenliebe.
Sie ward eine Triebkraft religiöſer Erhebung.
Sie ward Kunſt.
Von alle dem erzählt dir auch die Madonna.
Das Kind, das ſich an die ſchöne Bruſt dieſes Weibes
ſchmiegt, iſt nicht mehr bloß ein einfaches Menſchenkind, ge¬
zeugt in der liebenden Umarmung zweier Menſchen nach dem
alten Geſetze der Natur, das auch den Fiſch und die Eintags¬
[31] fliege zeugen läßt. Es iſt zugleich ein Symbol der Menſchen¬
liebe. In jenem „nicht mehr bloß“ des Kindes erſcheint die
Liebe wie losgelöſt von ihrem urſprünglichen Stamm, befreit
zu einem höheren Daſein.
Es giebt niedere Seetiere im Meeresgrund, aus deren
Ei ein feſtgewachſener Polyp entſpringt; in einer gewiſſen Reife
aber löſt ſich die Krone dieſes Polypen plötzlich frei ab und
ſchwimmt, ein entzückend ſchöner Körper, durchſichtig wie eine
kornblumblaue Glasglocke und bei Nacht von eigenem Lichte
wie ein goldener Stern erhellt, unbehindert in die Weite des
Ozeans hinaus. So iſt es auch mit der Liebe. Als ſei hier
ein jugendlich unreifes Wurzelſtadium durchgeriſſen zu feſſel¬
loſer, unendlich reicherer Wanderſchaft. Die Liebe wandert, —
wandert als ein Geiſteswert in alle Lande, in die ganze
„Menſchheit“ hinaus. Statt des einfachen Geſchlechtsverbandes
erſtrebt ſie den ſozialen Verband aller Menſchenindividuen zu
gemeinſamer Arbeit, gemeinſamer Hilfe zum Glück.
Rafael, indem er dieſes Kind mit den großen flammen¬
den Menſchheitsaugen ſchuf, dieſen Augen, die nie ein Kind
getragen hat und die nur möglich ſind, wenn ſymboliſch aus
dieſem Kindesblick das erwachende Auge der Menſchheit ſich zu
dem Beſchauer wie eine ungeheure Knoſpe auseinanderſchließt:
er dachte an einen ganz beſtimmten Vorgang aus der Ge¬
ſchichte des Menſchen auf Erden. Sein Blick ſchweifte zurück
über anderthalb Jahrtauſende. Er haftete im öſtlichſten
Winkel des Mittelmeeres, — dort, wo ein kleines, ſchmales
Land ſich zwiſchen Meer und Wüſte ſchiebt. Es iſt das Meer,
über das die Phönikier einſt nach Weſten Kulturgold ver¬
frachtet haben. Die Wüſte, über deren weißer Fläche noch
früher, im Anfang aller Überlieferung, von Oſten her die
erſten Kulturvölker wie Schemen aus dem Unbekannten auf¬
geſtiegen ſind.
Und in dem Lande fand der Blick einen grünen Palmen¬
hügel über einem glitzernden blauen See. Auf dem Hügel
[32] verkündete ein einſamer Denker aus der Tiefe ſeines Herzens
heraus der zagen Menge das Evangelium vom Erwachen der
Menſchenliebe. Fortan war das Wort in der Welt und konnte
nicht mehr ſterben. Der Begriff dazu war damals freilich
ſelber ſchon alt. Er hing nicht an einer Stunde, nicht an
dem Munde eines Einzelmenſchen. Mindeſtens ein Jahr¬
tauſend lang vor Chriſtus war die Welt in allen Tiefen ſchon
ſchwanger geweſen mit dieſer Idee. Nur daß ſie jetzt auf
einmal emporflammte und über die Völker dahin brannte,
gleich einer jener geheimnisvollen Erdgasquellen der ſogenannten
ewigen Feuer von Baku, die Äonen durch unſichtbar aus der
Erde aufſteigen mögen, bis die Hand eines Einzigen, vielleicht
eines Kindes, einen Funken hineinwirft und jetzt die Lohe zu
abermals äonenlangem Brande entfacht ...
Der Zeit ſelbſt erſchien das Wort, der zündende Augen¬
blicksfunke, der aus dem Dunkel jäh dieſe Lichtgarbe ohne¬
gleichen riß, ſo übergewaltig groß, daß ihr die Erde dafür zu
klein dünkte. Der natürliche Lauf der Dinge ſollte durchbrachen
ſein. Der Blitz der Menſchenliebe, ſo hieß es, zuckte aus
einer anderen, bisher unbekannten Welt, einer dunklen Wolke
jenſeits alles Irdiſchen, die auch außerhalb der ganzen ge¬
gebenen Menſchheitsentwickelung ſtand. Unter den Schauern
dieſes Furchtbaren riß Liebe von Liebe. Die Menſchheitsliebe
ſollte kein Teil haben an der Geſchlechtsliebe. Sie ſollte keine
Knoſpe ſein, ſondern ein Meteor, das fremd, ja zerſtörend in
dieſe irdiſchen Liebesſaaten fiel.
Dieſe Deutung war in Rafaels Tagen noch faſt allmächtig.
Heute iſt ſie ſtark eigentlich nur noch durch Tradition. Uns
erſcheinen die Wunder des Wirklichen, die Wunder der natür¬
lichen Entwickelung groß genug, daß auch ein ſolcher Rieſen¬
moment wie die Verkündigung der Menſchenliebe reſtlos in
ſie fallen mag. Es bedarf des beſonderen Wunders nicht.
Alle Schauer der äußerſten Erhabenheit umwehen uns, gerade
wenn der Blick ſich anſchickt, auch hier nur ein geſetz¬
[33] mäßiges, in der Menſchheitsentwickelung notwendiges Werden
zu ſehen.
Ja, das Bild wird erſt jetzt ſo rieſig, daß dem Auge
ſchwindelt. Es ſtarrt wie in einen Trichter, in dem die Schemen
der zerfallenen Individuen, der überwundenen, wie welkes
Laub dahingeſunkenen Ideen auf und nieder wogen gleich den
zwitſchernden, fledermausartigen Schatten der Homeriſchen Unter¬
welt. Kein Gedanke, daß ein Riß wirklich zwiſchen Liebe und
Liebe klafft. Der ganze koloſſale wilde Unterbau der Ge¬
ſchlechtsliebe — vom Tier herauf, vom Fiſch, von der Ein¬
tagsfliege — iſt nötig, um die große Menſchenſchöpfung der
Menſchheitsliebe organiſch werden zu laſſen. In der Geſchlechts¬
liebe mußten die rohen, einſamen, vom Nahrungskampf ge¬
hetzten Individuen ſich zähmen, ſich zu einander finden, als
Mann und Weib, als Mutter und Kind, als blutsverwandtes
Geſchlecht. Aus ihr wuchſen ſoziale Verbände auf. Schon im
Tierreich. Unerſchütterlich ſtark dann in der Menſchenwelt.
Jahrtauſende, lange Jahrtauſende mußte das Blut ſie auch
hier immer noch wieder ſchließen, das heiße Blut, das von den
Geſchlechtsorganen auſſtrömte und erwärmt wurde.
Langſam dann, ganz langſam wandelte ſich das alles
in Geist.
Wie das Blut Geiſt ward: das iſt die große, durch¬
ſchlagende Geheimgeſchichte der Menſchheit.
Es iſt auch die Geſchichte der Menſchenliebe.
Aus der realen Blutsverwandtſchaft ſproßte wie eine erſte
zaghafte Blume, die noch die Winterſonne bleich hält, der
ideelle Begriff einer ſeeliſchen Stammeseinheit, der Heiligkeit
und Unantaſtbarkeit des Stammesindividuums auch jenſeits aller
Geſchlechtswünſche.
Noch war der Schritt rieſig bis zu der Übertragung dieſes
Begriffs auf ein nicht unmittelbar blutsverwandtes Geſchlecht.
Auf ein ganzes Volk, deſſen Blut höchſtens in mythiſcher Ur¬
väterzeit noch in wirklichem Aderſchlag zuſammengefloſſen ſein
3[34] konnte. Aber das Geiſtige riß fort. Und der geiſtige Begriff,
der das „Volk“ geſchaffen, war dann auch die Brücke über das
Volk hinaus zur Gemeinſchaft aller Kulturmenſchen, zuletzt
aller Menſchen überhaupt.
Dein Blick, der in den gärenden Trichter dieſer Ent¬
wickelungen ſtarrt, fühlt es jäh wie einen Blitz, der ihn auf¬
wärts reißt.
Du vermeinteſt am Rande zu ſtehen und bloß niederwärts
zu ſchauen. Da faßt es dich, daß du ſelber mitten darin biſt.
Wie es unendlich aus der ſchemenhaften Tiefe unter dir herauf¬
wirbelt, ſo wälzt es ſich über dir in lichten Geſtalten in das
bloß Geahnte der Zukunft hinan, in immer fernere Dunſt¬
ſchleier hinein.
Als die Menſchenliebe auf jenem Palmenhügel über dem
glitzernden See Wort wurde, da umſchloß dieſes Wort nicht
bloß wie ein goldener Reif unermeßliche dunkle Arbeit der
Vergangenheit: es münzte auch ſchon aus, was erſt die Arbeit
folgender Jahrtauſende zur Wahrheit geſtalten ſollte. In dem
Wort von der „Menſchenliebe“ lag im tiefſten Sinn ſchon alles,
was wir heute als kühnſtes ſoziales Zukunftsideal vor der
Seele tragen ....
Das ſoziale Ideal. Wie das dampft, blutet, wogt in
unſere faſt grauenhaft helle Tageswirklichkeit hinein. Und doch
auch das zuletzt nur eine Frage der Liebe. Eine Frage aus
jener Kette der Empfindungen, die das Wort in ſo viel Wandel
doch mit immer gleicher ſtahlharter Fügung ineinander hält.
Eine Frage, angelegt in jenen Eintagsfliegen, die der Brunſt¬
drang aus der räuberiſchen Einſiedlerſchaft des Larven-Indi¬
viduums zu zwei Stunden Seligkeit der Geſchlechtsgemeinſchaft
ohne Daſeinsſorgen erweckt. Angelegt in jenen Fiſchen, die die
Geſchlechtsliebe aus dem Ozean ſiebt, bis die ſilberne Maſſe
inſelartig aus den Waſſern ſteigt, eine Gemeinſchaft zeugender
Geſchlechtsweſen, denen der enge, ſeichte Fjord ein einziges
großes Brautbett iſt. Emporentwickelt, vergeiſtigt in der
[35] Menſchheit. Ein neues Wort geworden in jenen Weihetagen, von
denen das Evangelium ſingt. That werdend erſt unter uns,
unter tauſend, Millionen Kreuzen, die unſichtbar zu dem einen
aufſteigen, das die Legende zur durchſichtigen Lilie verklärt
hat, — aufſteigen aus dunklen Höhlen der modernen Großſtadt¬
fenſter, aus Fabriken, wo das eiſerne Rad über die zuckenden
Leiber rollt, aus Gefängniſſen, Bordellen, Irrenhäuſern und
Armenhäuſern. Und doch ſiegreich, das Schwert und die Flamme
unſerer Zeit, der ſtille, ſpäte Lichtfunken am fernten Ausgang
des ungeheuren dunklen Schachtes, in dem wir alle keuchen ....
Fühlſt du nun ſchon, wie hoch du ſchwebſt? Vernimmſt
du den Poſaunenruf einer neuen Stimme, die ſich in deine alte
Frage miſcht: Was iſt die Liebe?
Aber Rafael wollte dich noch höher haben. Seine Ma¬
donna ſchwebt aus lichten Wolken. Ein Weltenlicht, das jen¬
ſeits aller Sonnen und Planeten des Alls dem innigſten Herzen
aller phyſiſchen Dinge zu entſtrömen ſcheint, geht von ihr aus.
Ihr Fuß bedarf keiner Erde, als ſchreite ſie im reinen Raum,
wo alle Gravitationskräfte einander die Wage halten. Rafael
träumte nicht bloß ein Weib. Auch nicht bloß die Menſchheit
in eines Weibes Geſtalt. Er träumte die Madonna. Mit dem
liebesverklärten Antlitz dieſes Weibes, dieſes Kindes träumte er
die Liebe pulſend bis ins wirkliche Herz der Welt. Alle Ge¬
heimniſſe Himmels und der Erden umſchloß ihr Schoß. Welt¬
ſymbol wurde ſie. Und Welterlöſung zugleich.
Eine neue ungeheure Wanderſchaft der Menſchheit thut ſich
dir auf. Und die Liebe wandernd darin als ruheloſer Ahasver.
Die Liebe ward Glaube, die Liebe ward Religion. Erſt nackt
und roh und wild, — dann doch auch hier immer mehr in
der ſtillen Läuterung von Blut zu Geiſt.
3 *[36]
Wechſelnde Bilder gleißen deinem Auge vorüber. Da
ſind die Tempelhaine von Hierapolis. Männliche Zeugungs¬
glieder, in gigantiſcher Form von Stein gemeißelt, ragen zum
Blau empor, Symbole der göttlichen Zeugungskraft. Da iſt
der Tempel der Aſtarte, wo die Proſtitution ein Gottesopfer
iſt, junge Mädchen ſich hingeben, um eine höhere religiöſe
Reinheit dafür einzutauſchen. Das befruchtete, gebärende Weib
wird Iſis, die Allmutter, deren Schoß ewig neu die Welt ge¬
biert. In Eleuſis wird die Zeugung ein Myſterium, das
ſchlichte Ährenkorn ein heiliges Wunder, das die Gläubigen
erlöſt. Dann bricht Chriſtus in dieſe Welt. Jene andere
ideelle Fortentwickelung der einfachen Geſchlechtsliebe, die aufs
Soziale, durch gemeinſame vergeiſtigte Liebesarbeit Erlöſende
geht, gewinnt jählings ungeheure Macht. Und ſie tritt auf in
einer Form, die den Kultus des extrem Geſchlechtlichen, der
Zeugung, des Weibes zu vernichten droht. Und doch rafft
der ſich wieder auf. Aus den grellbunten Säulenſtümpfen des
liebesglühenden, vom heißen Atem des Zeugens und Gebärens
durchhauchten Heiligtums der Allmutter Iſis wächſt die Marien¬
kirche, mit zarten goldenen Sternen im keuſchen Blau. Und
wieder iſt es dasſelbe, nur in unendliche Weichheit des ver¬
geiſtigten Ideals entwickelt. Nicht nur der wilde Rauſch der
Zeugenden, der ſelige Schmerz der Gebärenden: auch das Reine
der Jungfrau, der erſt knoſpenden Liebe wird jetzt ins Unend¬
liche, Weltumſpannende verklärt.
Aus dieſer Weltanſchauung wuchs Rafael. Sein Glaube
an das Weib im Herzen der Welt floß ihm zuſammen mit
jenem anderen, daß auch die Menſchenliebe nicht aus dem
Menſchen ſelber geſtiegen ſei, ſondern vom Himmel herab. An
der Bruſt der Madonna, die über Sonnen und Erden ſtand,
lag ihm das Gotteskind, das die Gebote dieſer Menſchenliebe
aus dem Jenſeits trug .....
Verklungen, verklungen heute auch das. Vineta-Glocken
im Ozean!
[37]
Wie Aſtarte, ſo auch Maria nur eine Durchgangsform zu
noch Reinerem. Im Zeitalter Goethes iſt es, als ſchmiede ſich
langſam aus Aſtarte und Iſis und Maria ein neues Bild.
Wieder ein ins letzte unſeres Weltgedankens verklärtes
Liebesbild.
Die Natur.
Wir ringen noch damit. Der Zweifel raunt uns ins Ohr,
wir bauten eine Schädelpyramide auf. In der entgötterten
Natur werde nie mehr die Liebe wohnen. Und doch! Rafael
trägt dich hier nicht mehr, du mußt einſam empor.
Der alte treue Glaube an den liebenden Vater im Himmel
ſinkt zuſammen wie eine kleine Guirlande, die der Menſch aus
armen Erdenblumen ſich erbaut. Ein Windſtoß bricht ſie, und
zu dir herüber glühen aus dem Riß wieder die fernen, rätſel¬
vollen Sterne des uferloſen Firmaments.
Das Myſtiſche im liebenden Chriſtus fällt, — was er
gelehrt, wird ſchwer erkämpftes Menſchengut.
Und doch: bleibe ſtark. Aus der Natur kommt dir die
Idee der Entwickelung. Sterne werden zu Leben. Und das
Leben ſteigt empor. Über Form und Form bis zum Geiſt
hinauf, der die Entwickelung nicht nur lebt, ſondern auch er¬
kennt. Hier liegt der ſtarke Troſt. Hier richtet ſich ein neuer
Optimismus auf.
Sieh aber hinein in das Gezweige dieſer Entwickelung.
Wie das webt und ſich verſchlingt ..... ſiehſt du nicht die
Liebe überall dabei? Auf Liebe ſteht die Folge der Ge¬
ſchlechter, durch ſie kommt der Baum des Lebens auf dem
wandernden Planeten von Aſt zu Aſt herauf, bis endlich die
Geiſtesknoſpe bricht. Die Liebe iſt Kraft, die treibt, und
zugleich an ſich ſelber Beiſpiel, wie das Dunkle zum Lichte
wächſt — wie ſie ſelbſt ſich vom Wilden löſt und ins Ver¬
geiſtigte wächſt.
Die Spanne der Entwickelung, die wir überſchauen, iſt
winzig klein. Ein einziges Planetenleben — und auch das
[38] nur halb. Karges Los. Aus wenigen Anzeichen müſſen wir
den Glauben an das Ganze ſchöpfen, unſeren Troſt der Welt.
Aber iſt die Liebe nicht das ſtärkſte aller Zeichen, ſo weit
unſer Wiſſen reicht? Aus der Liebe ſtieg nicht nur die Ent¬
wickelung. Mit ihr kam auch in dieſer Entwickelung der erſte
zage Friedenshauch. Das erſte Singen und Summen wie
traumverlorener Klang von einer Überwindung des rauhen
Exiſtenzkampfes durch ein mächtigeres harmoniſches Prinzip.
Was wiſſen wir auf winzigem Einzelſtern unter Millionen
von Weltverſöhnung, Welterlöſung, vollkommenem Weltenglück!
Und doch blüht in der Menſchenliebe dieſes kleinen Sternes
eine Blume auf, ſo ſüß und ſchön, daß ſich der „Weltenfriede“
auf unſere Lippe drängt. So greift die Liebe in unſer
Bitterſtes: den Kampf.
Aber mehr. Es war der alte Traum des Glaubens:
nicht nur den Kampf zu löſen, ſondern auch den Tod. Liebe,
die wirkliche, nicht die myſtiſch dunkle, in der Natur lehrt uns
einzig und allein, wie über das ſtarre Individuum Zuſammen¬
ſchlüſſe greifen, Zuſammenſchlüſſe, in denen das Individuum
allerdings auch wie aus ſtrengem Bande ſich langſam löſt,
doch nicht mit der Bitterkeit des Todes, ſondern in eine
höhere, ſeligere Einheit hinein. Mann und Weib, Eltern und
Kind, Menſch in Menſchheit, Blut in Geiſt, Geiſt in Ideal,
in überſtrömenden Weltentraum. Liebe iſt die einzige frei¬
willige Auflöſung des Individuums, der ſchmerzloſe, unſäglich
ſelige Tod, den jede Kreatur in unendlicher brennender Sehn¬
ſucht ſucht ..... Steigen dir hier nicht Geiſterhände über
Geiſterhände auf, die auf ein tiefes Geheimnis deuten —
nicht auf ein Geheimnis jenſeits aller Wirklichkeitsdinge, ſon¬
dern gerade innerhalb der greifbarſten Natur? Ein Ge¬
heimnis, vielleicht einmal ſtark genug, unſere Enkel lächeln
Zu laſſen über alle Todesfurcht, auch ohne daß der alte
Glaube mit ſeinen Träumen wiederkehrt? Gewiß: es ſcheint,
daß aus unſerem natürlichen Entwickelungsbilde der Welt —
[39] gerade dem, auf deſſen Geſamtheraufgang ſich unſer Optimis¬
mus ſtützt — eine eherne Forderung klingt. Vernichtung des
Individuums. Gerade über dieſe Vernichtung ſcheint die Ent¬
wickelung zu gehen. Und die Seele bebt unter den Schauern
der Todesangſt. Wenn aber nun die Liebe doch das Symbol
wäre? Sie lehrt uns die einzige Form, wo die Vernichtung
nicht grauenvoll iſt. Wo ſie ein ſeliges Aufſteigen in eine
höhere Gemeinſchaft iſt. Wenn der Tod des Individuums nun
auch in ſeiner bangen Form nichts anderes wäre als ein ver¬
kannter Liebesakt? Über den nach allem bitteren Sträuben
zuletzt doch auch die vollkommene Seligkeit des lebendigen Auf¬
gehens in eine höhere Gemeinſchaft käme, wie ſie die Liebe
giebt .....
„Wohl endet Tod des Lebens Not,Doch ſchauert Leben vor dem Tod —Das Leben ſieht die dunkle Hand,Den blanken Kelch nicht, den ſie bot.So ſchauert vor der Lieb' ein Herz,Als wie vom Untergang bedroht,Denn wo die Lieb' erwachet, ſtirbtDas Ich, der dunkele Deſpot.Du, laß ihn ſterben über NachtUnd atme frei im Morgenrot.“
Nur wie durch einen Riß in den Wolken kannſt du das
heute erſt ſchauen. Denn die neue Weltanſchauung formt ſich
noch, ballt ſich, verdichtet ſich und wirft Ringe ſelber erſt wie
ein werdender Stern. Wer will ahnen, was einſt alles noch
um ſie kreiſen und wer ihre Sonne werden wird. Aber der
Blick genügt. Auch dieſe Wanderſchaft der Menſchheit nach dem
Weltenlicht geht in immer weitere Weiten hinaus. Und in alle
dieſe Weiten wandert der alte Ahasver, die Liebe, ruhelos mit.
Empor!
Noch einmal recke deine Flügel aus.
Die Madonna Rafaels giebt dir nochmals Kraft.
Umſchließe ſie noch einmal ganz mit deinem Blick: in
ihrem goldenen Rahmen, mit ihren wunderbaren Farben, mit
ihrem Antlitz, in dem alle weibliche Schönheit der Jahr¬
tauſende zuſammenzufließen ſcheint — ſie, die Menſchheit iſt
und Weltgeheimnis iſt.
Woher ſtammt dieſes Wunderwerk, das die alte Erde
nun ſeit faſt vierhundert Jahren um die Sonne trägt? Wo
wuchs es heraus aus dem Stammbaum der Dinge im großen
Weltengarten zwiſchen Menſchenauge und Doppelſtern?
Es iſt Kunſt.
Von der Madonna gleitet dein Blick hinüber zu einer
Schar ähnlich vollkommener Weiber. Die einen auf eine
Fläche mit Farben gemalt wie dieſes. Die anderen in Marmor
zu ganzem Umriß ausgeformt. Die mileſiſche Venus mit ihrer
aufrecht ſtarken, unbeſiegbar heiteren Reine. Die Pieta Michel
Angelos, deren Gigantenkraft in liebendem Mitleid ſchmilzt.
Die morgenhelle nackte Venus des Tizian in der Tribuna von
Florenz, die alles Süßeſte als genoſſen noch einmal träumt.
Eine enge, innerlich verwandte Genoſſenſchaft, die in ſtiller
Schöne hier und dort aus der ſchnellen, wechſelnden, grau ab¬
ſtrömenden Flut der Menſchengenerationen ragt.
Keines dieſer Weiber hat im einfach menſchlichen Sinne
je „gelebt“. Keines iſt erzeugt durch den körperlichen Akt
organiſcher Fortpflanzung. Und doch ſtehen ſie in all ihrer
Schöne mitten unter uns. Sie ſtehen da, erzeugt aus einer
unendlichen lodernden Liebe heraus, aus der vollkommenen
Hingabe eines menſchlichen Individuums an ein Neues, ein
Zweites, an ein „Schaffen“, eine Übertragung des höchſten
Ideals im eigenen Ich auf ein anderes, dauerndes, das den
Tod dieſes Ich überleben ſoll. Mit dem Geiſte und der vom
Geiſte bis in jede feinſte Muskel durchwärmten Hand ſind ſie
[41] gezeugt in dieſelbe Natur, dieſelbe Wirklichkeit hinein, der auch
ein in der Geſchlechtsumarmung erzeugtes Kind angehört —
aber doch als Sonderdaſein in ihr, das der Begriff jenes
Kindes nicht deckt und die geſchlechtliche Lebenszeugung nicht
umfaßt.
Nun zu dieſen Bildern, dieſen Statuen noch weiterhin
Geſtalt um Geſtalt, ein unabſehbarer Zug von Königen an
Gedanke und Kraft, die alle aufleben, wenn das Wort des
Dichters erklingt. Rhythmen der Sprache, nie vernommen in
all dem Stimmengewirre der Natur, als ſei es Geiſterrede
aus einer Uberwelt. Und reiner Klang, aufjubelnd und auf¬
donnernd wie eine ewige Löſung aller Dinge, wie die Stimme
der innerſten Weltenharmonie ſelbſt .... Und alles ebenſo
aus dieſer heißeſten Geiſtesliebe in die Wahrheit hineingezeugt
— gezeugt, als habe der Geiſt, der aus der Sinnenliebe
Menſchenliebe ſchuf, endlich auch das Myſterium der Zeugung
für neue, wunderbare Zwecke in ſeine Hand gebracht ....
Zum drittenmal eine große Wanderſchaft. Die Liebe
ward Kunſt.
Auch die Kunſt liegt auf dem Wege vom Blut zum Geiſt.
Auch ſie ſank nicht wie ein fremdes Meteor herab. Derſelbe
Menſch von Fleiſch und Bein hat ſie geſchaffen, der Menſchen¬
kinder im Fleiſche zeugte nach dem ehernen Geſtaltungsgeſetze
der Natur. Der Menſch, der aus dem Tiere kam. Von dieſem
Tier ſchon erbte er den Keim der Kunſt. Das Tier aber hatte
ihn geſäet in den Stunden — ſeiner Liebe.
Hörſt du das rhythmiſche Lied der Nachtigall klingen ....
ſiehſt du den Schmetterling ſich wiegen in ſeinem wunderbaren
Farbenkleid .....
Welcher Weg, — von dort herauf! Und doch war es
der Weg.
Aus dem tiefen, dunklen Weltenfüllhorn der Natur rann
es herzu, durch Äonen, — Licht, Farben, Klänge, rhythmiſche
Verhältniſſe aller Art.
[42]
Da tauchen auf der ſonnenerwärmten Erde lebende Weſen
auf. Sie empfinden Licht, empfinden Klang. Erſt dumpf und
matt. Dann erzeugt der Lebenskampf, erzeugt die Entwicke¬
lung ihnen Sinnesorgane von feſter Art, Auge und Ohr.
Ihr erſter Zweck iſt Verteidigung. Angſtvoll ſtarrt das Tier
um ſich in die drohende Welt, lauſcht auf die Gefahr. Alles
iſt Angriff um es her. Oder es behauptet ſich ſelbſt. Greift
an. Dann iſt alles Beute, die mit wilder Gier erjagt, zer¬
riſſen werden kann. Da auf einmal im Leben des Individuums
aber eine Stunde von ganz anderer Wertung. Die Liebe. Das
Tier ſucht ein anderes ſeiner Art. Sucht es nicht als Feind,
ſondern mit der Sehnſucht der Liebe. Mit den Augen der Liebe.
Das Auge der Liebe, — es war das erſte Auge des Ideals. Und
die Kraft der Liebe: ſie zeugte die erſte „Schönheit“ im aktiven
Sinne an den Liebenden ſelbſt. Sie malte den Schmetterling,
gab dem Vogel ſein Hochzeitskleid. Sie komponierte der Nachti¬
gall ihr Lied. Die Liebe war der Spiegel, der zunächſt äußer¬
lich alle Harmonie, allen Rhythmus, alle blind angebahnte
Schönheit der lebendigen Natur in einen Brennpunkt fing.
Nun aber wuchs der Geiſt mehr und mehr dazu. Zu
dem ſchauenden Auge draußen trat das innerlich ſchaffende Auge:
die Phantaſie. Es kam der Menſchengeiſt. Der Menſch er¬
zeugte ſich am Leibe ſelbſt keine bunten Flügel, kein Hochzeits¬
gefieder mehr. Er ſah das alles innerlich, als Licht und
Harmonie, Sehnſucht und Ideal — in der Phantaſie. Wie
er nicht mehr Löwenklauen und Gürteltierpanzer ſich am eigenen
Leibe zum Schutze wachſen ließ. Sondern im Geiſte ſann und
in der Phantaſie das Werkzeug ſah. Wie aber ſeine Hand,
weich und bildſam geblieben und ganz nur Schüler noch des
Gehirns, dieſe Werkzeuge dann wirklich formte aus Stein, Horn
und Metall, ſie in die Wirklichkeit hinein projizierte mit ſelbſt¬
thätig ſchaffender Kraft und die Technik begründete als Kern
aller künftigen Naturbeherrſchung: — ſo formte er mit der¬
ſelben Hand, was die Phantaſie an rhythmiſchen Bildern, Sehn¬
[43] ſuchtsbildern, Schönheitsbildern ſah, — er ſchuf die bewußte
Kunſt im höchſten Zeugungsſinne als Kern aller künftigen
menſchlichen Naturerweiterung.
Jahrtauſende auf dieſem Wege: Rafael, die Madonna.
Und ſo fort und fort. Ein neues Naturreich blüht auf: nicht
Stern, nicht anorganiſch, nicht Pflanze oder Tier, nicht im
organiſchen Sinne Menſch ſelber — die Klänge, Geſtalten,
Ereigniſſe der Kunſt. Eine heiße Welt, vom Liebesatem
durchglüht, mit allen Schauern wilder Zeugung. Und doch
zugleich verklärt, der Erdentrübe entrückt in einen reinen blauen
Geiſtesäther hinein .....
„Die Braut verdient ſich mehrMit einem Kuß um GottAls alle MietlingeMit Arbeit bis in Tod.“
Das iſt die Liebe, die zu etwas geworden iſt.
Die Liebe in ihrem Hochbau.
Von hier, von der Goldkuppel mußt du ſie ſehen, um zu
ahnen, was in ihren Anfängen war. Und dieſes Goldlicht
mußt du dir zurückſtrahlen laſſen in dieſe Anfänge hinein.
Darum der Tanz der Eintagsfliegen. Darum das groteske
Nachtbild des Häringszuges. Dieſelbe Naturkraft, die da unten
in den grauen Urwaſſern gärt. Und die oben als purpurne
Lotosblüte der Kultur aus dem blauen Spiegel in die Sonne
ſteigt. Weil es ſo iſt, darum kann alles Vergangene nicht roh
ſein. Es muß ſelber dir wie eine edle Knoſpe ſcheinen. Nichts
bleibt da innerlich klein. Licht ſtrömt zurück auf dieſe Eintags¬
fliegen am Bach, dieſe Fiſche im Ozean. Wie dunkel ringende
Urſeelen der Liebe treten ſie vor dich hin. Vorauf wandernde
Träume des großen Liebesgeiſtes, der aufwärts will. Dieſer
Fiſch, dieſe Eintagsfliege iſt Chriſtus, iſt Goethe, iſt Rafael.
Iſt das Evangelium, iſt Fauſt, iſt die Madonna. Iſt die
Menſchenliebe, der Sternentraum, die Kunſt.
[44]
Und nun komm ganz in die Tiefe unten zurück.
Laß uns beim Anfang beginnen, ſoweit es einen giebt.
Laß uns behaglich plaudern und ſchauen. Ohne Haſt. Wo
uns gerade Licht ſcheint und ein Stück Wurzelwerk erhellt.
Wir wiſſen, was aus den Dingen am Ende Großes ſteigt.
Aber laß uns all dieſes Große jetzt einmal herunterſchrauben
auf das denkbar kleinſte blaue Flämmchen im innerſten Schacht.
Gieb mir die Hand, ich muß dich zuerſt allen Ernſtes in
einen Schacht bringen. Zu einem wunderbaren Myſterium.
Nimm deine Phantaſie zuſammen und folge mir, — ohne
Angſt.
„Ja, wer ein Adler iſt,Der kann ſich wohl erſchwingenUnd über SeraphimDurch tauſend Himmel dringen.“
Ein künſtliches Licht von außerordentlicher Kraft ſoll uns
eine Unterwelt erhellen, in der ſonſt tiefes Dunkel brütet. Und
die Gegenſtände, indem ſie plötzlich im Glanze auftauchen, ſollen
zugleich ins Märchenhafte vergrößert erſcheinen.
Dein Blick verliert ſich in einem ungeheuren Gewölbe.
Durch den gähnenden Schacht des Hintergrundes wälzt ſich ein
Seltſames auf dich zu. Eine große, ſchimmernde Kugel ohne
[45] eigene Lichtwirkung, aber von unſerem künſtlichen Tage tief
durchhellt. Die Kugel ſchwebt nicht eigentlich frei, wie ein Ge¬
ſtirn des Weltalls, das die Schwerkraft im offenen Raum
balanciert. Sie ſcheint den Schacht abwärts geſchoben zu
werden. Und indem du ſchärfer zuſchauſt, gewahrſt du es aus
der Sohle des Schachtes heraufglänzen wie Ähren eines gigan¬
tiſchen, taufeuchten Kornfeldes. Ein elaſtiſcher Ball, läuft
unſere Kugel langſam auf dieſer Garbe dahin, im Tau ge¬
tragen und bewegt von der leiſen Welle des Ährenmeers.
Oberflächlich durchſichtig, wie ſie iſt, erlaubt uns die
Kugel, während ſie ſo heranrollt, einen Einblick in gewiſſe
Verhältniſſe ihres Innern. Ihre äußerſte Schicht erſcheint
völlig glasartig hell, gleich dem Deckglas einer Uhr, farblos,
dabei aber ziemlich dick. Als einzige Struktur dieſer Hülle
glauben wir an durchſcheinenden Randſtellen eine Art ſchmaler
Kanäle zu gewahren, die quer durch die Decke der Kugel ge¬
bohrt ſind und eine offene Verbindung zwiſchen der freien Luft
ringsum und dem Innern der Kugel herzuſtellen ſcheinen.
Dieſes Innere, die Hauptmaſſe des ganzen Balls, ſcharf
abgeſetzt gegen die Glasdecke, ſchimmert blaßgelblich. Jene
Kanäle gehen nicht ins Innere hinein. Dafür blinken darin
eine Menge feſterer, regellos verteilter Körper, zwiſchen die ſich
die durchſichtigere Grundmaſſe wie eine zähe, vermittelnde
Flüſſigkeit ſchmiegt. Und an einer Stelle, ziemlich genau im
Mittelpunkt, hebt es ſich aus dem Ganzen herauf wie eine
zweite, noch innerlichere Kernkugel, heller als die gelbliche
Hauptmaſſe, und nur an einem Fleck nochmals durchſetzt von
einem dunklen Körper, der wieder in ihren Waſſern zu ſchwimmen
ſcheint, wie ſie ſelbſt in dem größeren Meer der gewaltigen
gelben Kugel. In ganz feiner Verzweigung gehen von dieſem
innerſten Körper netzartig verknüpfte Fäden aus, die in der
ganzen Zentralkugel eine Art von Gerüſt herſtellen.
Sei es, daß unſer Licht noch immer nicht hell genug iſt:
jedenfalls läßt ſich auch mit angeſpannteſtem Sehen außer dieſen
[46] ziemlich grob ſinnfälligen Dingen nichts an unſerer geheimnis¬
vollen Kugel entdecken. Aber dein Intereſſe wächſt, da du
wahrnimmſt, daß in ihr Veränderungen ſich vollziehen. Die
Weichheit der inneren Maſſe bereitet auf ſolche vor. Aber was
du erlebſt, iſt doch noch in ganz beſonderem Maße merkwürdig
und deutet auf höchſt myſteriöſe Kräfte, die offenbar in dieſem
gärenden Gebilde der Unterwelt thätig ſind.
Die kleine Innenkugel mit ihrem Kern verläßt, unabhängig
von dem langſamen Vorwärtsrollen der Geſamtkugel auf der
Rieſengarbe, auf einmal ſelbſtthätig ihren Platz, der bisher im
Zentrum des ganzen Körpers war. Sie beginnt nach der
Außenfläche der umſchließenden Hauptkugel zu wandern. Gleich¬
zeitig wird ſie undeutlicher, eine Weile lang ſo undeutlich, daß
es faſt ausſieht, als ſei ſie ganz in der gelblichen Hauptmaſſe
zergangen, — entleert, aufgeſaugt von dieſer. Aber der auf¬
merkſame Blick hält doch einen letzten, ſchattenhaften Reſt feſt,
und nach einiger Zeit wird auch der Umriß wieder ſchärfer.
Die kleine Kugel oder wenigſtens, was von ihren urſprüng¬
lichen Beſtandteilen noch übrig iſt, hat inzwiſchen den Rand
erreicht, wo die große gelbliche Kugel ſich gegen die durch¬
ſichtige Glashülle abgrenzt. Wie ſie nun dort wieder ein deut¬
licheres Bild zeigt, iſt es, als wolle ſie ſich total verändern.
Statt des runden Gebildes mit Netzwerk und Kern erſcheint ein
ſpindelförmiger Gegenſtand mit zwei Ecken, von denen ſtern¬
förmige Strahlen auslaufen. Die eine Ecke berührt den Rand
der großen Kugel: es ſcheint: das kleinere Innengebilde will
ganz herausbrechen aus der Hauptmaſſe.
Und in der That ſchiebt es ſeine äußere Spitze aus dieſer
vor, wobei ein kleines Stück aus der Maſſe der großen Kugel
wie eine Warze mit emporgewölbt wird. Du erwarteſt, daß
auch die Glasdecke durchbrochen werde. Aber das geſchieht nicht.
Vielmehr gewahrſt du jetzt, daß dieſe Decke und[] die gelbe
Hauptmaſſe der Kugel nicht ganz prall aufeinander liegen, ſon¬
dern einen ſchmalen Zwiſchenraum laſſen, in den die warzen¬
[47] artige Erhebung ſich hineinwölben kann, ohne die oberſte Hülle
zu ſprengen.
Wird der ganze ſpindelförmige Körper nachdrängen und
in den Zwiſchenraum treten? Es ſcheint ſchwierig, und es ge¬
ſchieht auch nicht. Das Vordrängen hört vielmehr plötzlich auf:
ſtatt deſſen reißt aber auf einmal die ganze Spindel mitten
auseinander. Ihre eine Hälfte, die mit der vorgeſchobenen
Randmaſſe jene Art Warze am Hauptleibe der Kugel bildete,
gleitet ganz aus dem Verband dieſes großen Kugelleibes heraus:
die Warze ſchnürt ſich gleichſam los und liegt ſchließlich als
geſonderte kleine Kugel in dem ſchmalen Raum zwiſchen der
gelben Hauptkugel und der durchſichtigen Glashülle.
Die andere Hälfte der Spindel iſt inzwiſchen wieder in
die große Kugel hinabgetaucht. Aber ihre lebhaften Bewegungen
und Wandlungen ſcheinen dort noch lange nicht zu Ende zu
ſein. Unmittelbar nachher erlebſt du mit Staunen, daß ſie ſich
abermals zur vollen, zweieckigen Spindelform entwickelt hat.
Und abermals treibt die äußere Ecke eine Warze über die gelbe
Kugel in den ſchmalen Raum zwiſchen Kugel und Glasdach
hinauf. Abermals reißt die Spindel mitten auseinander. Und
zu der erſten kleinen Kugel, die ſchon wie ein abgelegtes Ei
neben der Hauptkugel in der Geſamthülle ſchwimmt, kommt auf
genau gleichem Wege eine zweite.
Nach dieſem zweiten Akt ſcheint das thätige Innengebilde
allerdings erſchöpfter. Es wandert zurück gegen die alte Stelle
ungefähr im Mittelpunkt der großen Kugel. Dort angelangt,
erſcheint es durchaus wieder als Zentralkugel des Hauptballs
wie zu Beginn. Nur daß dieſe nach zweimaliger Teilung jetzt
ſehr viel kleiner iſt. Auch den früheren feſten Körper, den ſie
ſelbſt noch wieder in ſich trug, hat ſie bei Gelegenheit ihrer
Wanderung und Teilung offenbar eingebüßt.
In der ganzen Kugel tritt Ruhe ein. Nur der leiſe
treibende Wellenſchlag der naſſen Garbenfläche, auf der ſie liegt,
bleibt äußerlich nach wie vor in Thätigkeit. Gerade jetzt ſcheint
[48] es ſogar, daß er die Kugel bis an eine Stelle gefördert hat,
wo, jenſeits eines engen Thors, die Wölbung ſich ringsum noch
erweitert: der Schacht ſcheint hier in eine Halle auszumünden.
In welche Welt hat uns unſere Phantaſie entrückt? .....
Haben wir in die geſpenſtiſchen Wallungen einer Urwelt
geſchaut, — eines jener kosmiſchen Nebel am Anfang der
Dinge? Oder in die Zuckungen eines Planeten, der noch nicht
ganz erkaltet iſt, — um den die weiße Wolkenhülle wie ein
brodelndes Waſſer ſchwimmt, ſo wie um den Koloß unſeres
Sonnenſyſtems, den Jupiter, deſſen eigentliche Kugel nur bis¬
weilen als düſterroter Fleck aus dem Schleier zu glühen ſcheint?
Löſten ſich in jenen beiden kleinen Körpern, die unſere Kugel
vor unſerem Blick aus ſich gebar, ohne ſie doch ganz von ſich
zu laſſen, Gebilde von dem kreißenden Stern gleich unſerem
Mond, von dem die Ahnung auch wähnt, daß er einſt wie
eine Knoſpe vom großen Erdball ſich körperlich losgerungen,
ohne doch je der bannenden Anziehungskraft dieſer Erde ganz
entrinnen zu können?
Nichts von alledem.
Wir haben auch im kühnſten Phantaſiefluge die Erde nicht
verlaſſen. Wir ſind an ihrer bewohnten Oberfläche geblieben.
Dicht im Gewimmel der Menſchen. Von dieſen Menſchen
haben wir uns einen herausgegriffen. Einen weiblichen Men¬
ſchen, in geſunden Reifejahren. Und wir haben in die Tiefen
gewiſſer Organe dieſes weiblichen Körpers einfach hinein¬
geſchaut, — hineingeſchaut, während der Körper in normalem
Zuſtand „lebte“ und dieſe Organe gerade eine ſehr merk¬
würdige Thätigkeit entfalteten. Wie wir das zu Wege ge¬
bracht, ſei einerlei. Vielleicht erfindet das nächſte Jahrhundert
einmal die Apparate dazu. Apparate, die nach Analogie unſerer
[49] Röntgenſtrahlen den ganzen Menſchenkörper bei ungeſtörter
Lebensthätigkeit mit Licht durchgießen. Die vielleicht ein ge¬
treues Abbild auch aller feinſten Innenteile nach außen auf
eine weiße Wand projizieren. Und zugleich dieſe Teile und
ihre Bewegungen in eine ungeheuerliche Vergrößerung bringen.
Aber einerlei, ob das nun wirklich einmal als Realität zu uns
kommt: einſtweilen leiſtet uns die Phantaſie den Dienſt. Sie
hat uns alles beliebig vergrößert und erhellt.
Das Myſterium, dem wir bereits beigewohnt haben, ohne
daß es noch zu Ende zu ſein ſcheint, waren Vorgänge in und
an einem weiblichen menſchlichen Ei kurz oder unmittelbar vor
dem großen Akt der Befruchtung dieſes Eies durch den männ¬
lichen Samen.
Zum Zweck der Fortpflanzung erzeugt das menſchliche Weib
ebenſo gut Eier, wie etwa ein Huhn. Bloß daß dieſe Eier
nicht äußerlich abgelegt werden wie die des Huhns: die ganze
Vorentwickelung des neuen kleinen Menſchleins findet ja kon¬
ſequent bis zum Schluß in der Mutter ſelbſt, im „Mutter¬
leibe“, ſtatt. Im übrigen entſtehen die menſchlichen Eier genau
ſo wie die des Huhns an einem beſonderen Organ des weib¬
lichen Leibes, dem Eierſtock. Jedes normal entwickelte Weib
trägt von Jugend auf wie zwei Lungen, zwei Nieren, zwei
Gehirnhälften ſo auch zwei Eierſtöcke in ſich, an denen ſich
viele Tauſende von Eiern ausbilden, deren jedes bei genügen¬
der Ausreifung und Befruchtung einen neuen Menſchen er¬
zeugen könnte. Die Befruchtung iſt zu letzterem unumgänglich
nötig. Und eben um ihr — zu der es eines zweiten und
zwar männlichen Weſens bedarf — entgegen zu kommen,
unterliegt das Ei eigentümlichen Vorgängen, mitten in deren
bewegten Verlauf uns unſere Phantaſie oben geführt hat.
Das Gewölbe, in das wir uns verſetzt ſahen, iſt (in un¬
geheuerliche Vergrößerung gebracht) einer der beiden ſogenannten
Eileiter des Weibes. Dieſe Eileiter verbinden die eigentlichen
Eierſtöcke mit dem größeren Hohlraum der Gebärmutter.
4[50]
Die Kugel, die ſich darin heranbewegte, iſt das Ei ſelbſt.
In den Verhältniſſen der Wirklichkeit würde es dem Auge
bloß als gerade noch ſichtbares Pünktchen erſcheinen.
Die glashelle Deckſchicht umſchließt die gelbliche Dotter¬
maſſe. In dieſer Hauptmaſſe ſchwimmt das ſogenannte Keim¬
bläschen, das anfangs noch einen beſonderen Keimfleck in
ſich trägt.
Wir müſſen uns denken, daß dieſes Ei ſich bereits vom
Eierſtock losgelöſt hat, wo es bis dahin in einer beſonderen
Hülle, dem ſogenannten Graafſchen Bläschen, knoſpenartig
haftete.
Es befindet ſich jetzt auf der Wanderung vom Eierſtock zur
Gebärmutter in dem vermittelnden Schacht des Eileiters.
Die naſſen Kornähren, die in dieſen Schacht hineinzuragen
ſchienen und unſere Kugel mit ihrem weichen Wellenſchlag
dahintrugen, ſind in Wahrheit die feinen, haarartigen Fort¬
ſätze ſogenannter Flimmerzellen, die alle Wände des ganzen
weiblichen Geſchlechtsapparates auskleiden und durch ihre Be¬
wegung jetzt auch das freie, der Befruchtung entgegeneilende
Ei durch den Eileiter nach der Gebärmutter hin befördern.
Inzwiſchen vollzieht ſich in dem Ei ſelbſt noch ein letzter,
notwendiger Reifungsprozeß, der jener erwarteten Befruchtung
vorauflaufen muß. Wir haben geſehen, was geſchieht. Der
Eikern oder das „Keimbläschen“ verläßt vorübergehend ſeine
Stelle, verändert ſich und hilft durch den Akt zweimaliger
Teilung zwei kleine Körperchen zwiſchen Glashülle und Dotter
erzeugen. Man nennt dieſe Körperchen die „Richtungskörper“.
Was ſie eigentlich bedeuten, iſt vorläufig abſolut unbekannt.
Auf alle Fälle zeigt aber ihre Erzeugung, daß in dem
weiblichen Ei jetzt, und zwar ſchon vor der Befruchtung, ein
lebhaftes, ſelbſtthätiges Innenleben erwacht iſt. Geheimnisvolle
Kräfte ſind in voller Thätigkeit wie in einer werdenden Welt,
und die Befruchtung, wenn ſie eintritt, findet alles bereits in
erwartungsvoller Gärung.
[51]
Wir kehren aus dem trockenen Bereich der Erklärungen
zum Phantaſiebild der Dinge ſelbſt zurück. Das Ei iſt durch
den ſchmalen Spalt des Eileiters in die Gebärmutter gelangt.
Nun entwickelt ſich eine höchſt dramatiſch ſpannende Handlung:
der Akt der Befruchtung.
Unſere große Kugel hat den Schacht verlaſſen und iſt in
die Halle eingetreten. In dieſer Halle nahen ſich ihr jetzt
fremdartige Gäſte von eigentümlicher Geſtalt.
Im Vergleich zu der Kugel ſind ſie Zwerge. Aber ſie
rücken dafür in ſtattlicher Vielzahl und unter lebhafteſter
äußerer Bewegung an. Auf den erſten Blick ließe ſich glauben,
es nähere ſich eine Schar geſpenſtiſcher Kaulquappen. Ein
dicker Kopf ſetzt ſich nach hinten faſt unmittelbar in einen
ziemlich langen Schwanz fort. Schaut man näher hin, ſo er¬
weiſt ſich der vermeintliche Kopf als einfache Scheibe, von der
Seite geſehen birnenförmig geformt und auf beiden Flächen
napfartig vertieft. Eine innere Struktur oder gar irgend
welche Organe ſind nicht darin wahrnehmbar. An dieſe
Scheibe, offenbar den Hauptteil des kleinen Ungetüms, ſchließt
ſich der ſcheinbare Schwanz als zunächſt noch verdickter, dann
mehr und mehr zugeſpitzter Faden an.
Alle nahen zunächſt nur aus einer beſtimmten Richtung
der Halle, ſonſt regellos.
Ihre Bewegung iſt dabei eine hüpfende, der Hauptteil
voran, das Schwänzchen nachzitternd. Jetzt plötzlich aber ge¬
raten ſie in die Nähe der großen Kugel. Und auf einmal
ſcheinen ſie ein gemeinſames Ziel zu haben. Es iſt, als walle
von der Kugel irgend ein Atem, ein Duft ihnen entgegen, der
ſie jählings anſchwärmen läßt wie die Falter eines ſchwülen
Sommerabends ſich auf eine wollüſtig duftende Gaisblattblüte
ſtürzen.
4 *[52]
Sie umwimmeln die Kugel. Jetzt erſt, im nahen Kon¬
traſt, wird ganz deutlich, wie klein ſie im Vergleich zu dieſer
ſind. Jene engen Kanäle in dem prallen Glasdach der Kugel,
die wir ſchon zu Anfang bemerkt haben, geben den ge¬
ſchwänzten Ankömmlingen Raum genug, um in das Innere
der Kugel vorzudringen. Und dahin geht offenbar ihr Streben.
Mehrere zugleich ſind alsbald in den Kanälen längelang
ausgeſtreckt und kriechen wie Dachshunde in den Keſſel hinab.
Es ſcheint ein Wettkriechen, wer zuerſt den Innenraum zwiſchen
Glasdeckel und gelber Kugelmaſſe (jenen Innenraum, in dem
früher die „Richtungskörper“ abgelagert worden ſind) erreiche.
Einer der Räuber iſt voran. Und plötzlich, wie wir ihn
inwendig mit ſeinem Köpfchen ſich aus dem Kanal in den
offenen Zwiſchenraum herausarbeiten ſehen, ergreift ein über¬
raſchendes Leben auch die gelbe Maſſe in der Kugel ſelbſt.
Auch dort iſt es, als zeige irgend ein jäh erwachender
Sinn die Nähe des erſten verwegenen Eindringlings jetzt an.
Genau der Stelle gegenüber, wo dieſer ſein Köpfchen aus dem
Kanal des Glasdachs ſtreckt, drängt die gelbe Kugel wie ent¬
gegenkommend eine hügelartige Erhebung in den freien Raum
hinauf. Ein Moment: und der Kopf des fremden Weſens hat
dieſe gleichſam vorgeſtreckte Hand ergriffen, — er ſinkt in die
Erhöhung der gelblichen Kugelmaſſe direkt hinein. Und die
Maſſe, wie ſelbſt befriedigt davon, umſchließt ihn von allen
Seiten feſt zum Nichtmehrloslaſſen.
Vergebens erwarten andere, etwas verſpätete Räuber, indem
ſie jetzt auch aus den Kanälen nach innen vorkommen, ein ähn¬
liches Entgegenkommen der gelben Maſſe. Aber ihnen bietet die
Kugel keine innere Hand mehr dar, — im Gegenteil: die ganze
gelbe Maſſe überzieht ſich, kaum iſt jener erſte glücklichſte Gaſt
kopfüber in ihr verſunken, ſogleich mit einer feſten Separathülle,
die jedes Eindringen in ihren weichen Leib fortan unmöglich
macht. Was außerhalb dieſer neuen Hülle iſt, muß nach hoffnungs¬
loſem Antichambrieren endlich elendiglich zu Grunde gehen.
[53]
Der kühne Sieger, der erſte Eindringling, hat es dagegen
offenbar im Innern andauernd vortrefflich. Eine kurze Weile
wippt noch ſein Schwänzchen über der Stelle, wo ſein Kopf
verſunken iſt, hin und her, — dann iſt es, als ſterbe das
Schwänzchen als überflüſſig ganz ab, und alles weitere ſcheint
nunmehr Innenarbeit des Kopfes im ausſchließlichen Sinne.
Eine ſehr intenſive Innenarbeit.
Ganz deutlich ſieht man in der erhellten Maſſe, wie der
kleine, aber energiſche Gaſt zunächſt tiefer und tiefer einſinkend
den gelblichen Stoff mit ſeinen mancherlei blinkenden Körper¬
chen und Körnchen durcheinanderwühlt und -rührt. Es bleibt
aber nicht bei regelloſem Rühren. Wohnt dem Fremden nun
eine Art elektriſcher Kraft oder ſonſt etwas Beſonderes an un¬
bekannter Kraftbethätigung inne: jedenfalls hört er bei einer
gewiſſen Tiefe mit dem einfach wilden Wühlen auf und ordnet
die zunächſt liegenden gelblichen Kugelmaſſen zu einem ſchönen
regelmäßigen Strahlenſyſtem um ſich her.
Es iſt, als gehe eine kleine Sonne in der Kugel ſelber
auf. Und wie die wirkliche Sonne, ihre Strahlen höher und
reckend, überall die Weſen zum Erwachen, zum Bewegen treibt,
ſo übt dieſe tief verborgene Sonne unſerer Kugelmaſſe wachſend
und wachſend auch auf einmal eine wunderbar erweckende
Wirkung aus auf ein Ding im Herzen der Kugel ſelbſt, das
längere Zeit jetzt ganz unthätig geruht, vielleicht wirklich ge¬
ſchlafen hatte.
Jenes kleine Zentralbläschen, von deſſen Schickſalen wir
früher ſo viel erlebt haben, beginnt ſich jäh zu regen. Die
Strahlen des gelben Stoffes ſind bis zu ihm herangewachſen.
Die Kraft, die dieſe Strahlen erzeugt, fließt jetzt offenbar
auch zu ihm unmittelbar über, eine Kraft, die von dem
neuen Eindringling ausgeht. Und die kleine Zentralkugel regt
ſich, rückt und beginnt langſam dem magiſchen Beſucher ent¬
gegen zu wandern. Sie kriecht in der ſtrahligen Maſſe wie
ein Tier.
[54]
Aber ehe ſie noch weit gekommen, iſt auch der Gegenſtand
ihrer plötzlichen Sehnſucht ſelbſt ſchon da. Das urſprüngliche
Köpfchen der „Kaulquappe“ hat ſich vom Moment, da es ſich
als kleine Sonne in einen Strahlenkranz brachte, gleichzeitig
etwas verändert: es ſcheint jetzt ſelbſt ein Bläschen zu ſein
ganz ähnlich der alten Kernkugel da drüben, — nur ein gut
Teil kleiner. Und dieſes neue Bläschen bewegt ſich jäh jetzt
auf die alte Blaſe des Zentrums an, — in weit ſchnellerem
Tempo, als dieſe ſelbſt es eben angeſtimmt.
Sehr bald hat es ſein Gegenüber erreicht. Die urſprüng¬
liche Kernkugel benimmt ſich im wahrſten Sinne des Wortes,
als wolle ſie den Gaſt umarmen. Sie entſendet fingerartige
Auswüchſe, die ſich um die fremde Kugel herumlegen, — ſie
drückt den Freund an ſich, wölbt ſich an der Berührungsſtelle
nach innen ein ..... plötzlich iſt das Doppelbild zweier Kugeln
verſchwunden, ſie ſind ineinander gefloſſen, — ſie ſind eins
geworden. Die Strahlenſonne, die der Eindringling mit¬
gebracht, ſteht in voller Korona um die neu entſtandene ge¬
meinſchaftliche Zentralkugel, — die große gelbe Kugel hat,
wie früher, ſo jetzt wiederum nur eine einzige, genau im
Zentrum ſchwimmende Innenkugel, einen einzigen „Kern“.
Du begrei[f]ſt, was äußerlich geſchehen iſt. Zur Erklärung
des Details bedarf es nur weniger Worte. Der Vorgang,
deſſen Zeuge du diesmal warſt, hat ſich ganz im Innern der
weiblichen Gebärmutter abgeſpielt, alſo in demſelben Organ,
in dem ſpäter das Kind bis zu ſeiner Geburt verweilt und reift.
Die Trägerin dieſer Gebärmutter iſt unmittelbar oder
doch in nicht zu langer Friſt vor dem Schauſpiel, dem wir
beigewohnt haben, mit einem zweiten menſchlichen Weſen in
Beziehung getreten. In dieſem zweiten menſchlichen Weſen
befanden ſich als Erſatz für die Eierſtöcke des Weibes gewiſſe
[55] Organe, die in großer Anzahl jene kaulquappenähnlichen Ge¬
bilde zu erzeugen pflegen, die du als Fremdlinge in die Gebär¬
mutter des Weibes eintreten ſaheſt. Man bezeichnet dieſe Ge¬
bilde, mikroſkopiſch kleine, aber intenſiv lebendige Körperchen,
als Samenkörperchen oder Samentierchen. Es ſind aber nicht
etwa beſondere „Tiere“, ſondern ganz in derſelben Weiſe kleine
losgelöſte Produkte oder Stücke des lebendigen Mannesleibes,
wie die Eier am Eierſtock ſolche des Weibes ſind.
Den Akt der Übertragung kennſt du. Es iſt geſorgt, daß
die Gebärmutter des Weibes, wo das Ei wartet, durch einen
freien Ausführungsgang mit der Außenwelt in Verbindung
ſteht. Einmal in dieſen Ausführungsgang hineingeworfen,
arbeiten ſich die Samentierchen durch eigene Bewegung wirklich
bis in die Gebärmutter hinauf.
Sie ſtoßen dort, falls alles günſtig liegt, gerade auf die
friſche weibliche Eizelle.
Eines dringt bis in die Dotterkugel des Eies vor. Das
Keimbläschen des Eies verſchmilzt mit dem Kopfe des Samen¬
tierchens ..... die Befruchtung im eigentlichen Sinne iſt
vollzogen.
Das „Wie“ haſt du im Detail geſehen. Das Weſen der
auffälligen Kräfte und „Sympathien“, die dabei zur Geltung
kommen, iſt auch der modernen Wiſſenſchaft noch völlig rätſel¬
haft .....
In Parentheſe nur noch: Du haſt mit der Phantaſie
etwas geſehen, was als wirklichen inneren Akt bisher auch der
findigſte Naturforſcher noch niemals direkt beobachten konnte.
Man kennt das Ei des Menſchen, kennt die Samentierchen,
kennt die allgemeinen Bedingungen des Aktes — und man
kennt, was ſehr wichtig iſt, die ſpätere Entwickelung des
werdenden Menſchleins aus dem befruchteten Ei. In ſich
ſelber hineingeſehen zur Kontrolle jener ganz raffinierten
Details hat aber noch keiner. Indeſſen weiß man eins mit
eben ſolcher Sicherheit. Im Punkte des engeren Befruchtungs¬
[56] vorganges — von jenem Abſcheiden der myſteriöſen Richtungs¬
körper an bis auf die Verſchmelzung von Eikern und Samen¬
kopf, — ſind ſich die höheren Tiere ſchier unglaublich ähnlich.
Überall faſt kehrt auch äußerlich genau derſelbe Prozeß wieder
und im Weſen, im Schema des Prozeſſes, ſcheint überhaupt
nicht der mindeſte Unterſchied zu beſtehen.
Alſo iſt es thatſächlich kein Sprung, wenn wir von
Tieren, wo wir zufällig die Sache ganz genau verfolgen
konnten, auch noch in gewiſſem Detail einfach auf den Menſchen
ſchließen und unſere Phantaſie danach einrichten. Solche Tiere
ſind zum Beiſpiel die Seeigel. Sie haben die Freundlichkeit,
glashell durchſichtige Eier zu liefern, die ſich außerhalb des
Muttertieres und unmittelbar unter dem Mikroſkop des Forſchers
künſtlich mit lebendigem Seeigelmannesſamen befruchten laſſen.
Da ſiehſt du alles ſonnenklar. Wenn du aber dazu nun noch
das nimmſt, was man von des Menſchen direkten Verwandten,
den Säugetieren, weiß und dich mit dem Ganzen in die
anatomiſchen Verhältniſſe des Menſchenkörpers hineindenkſt, ſo
iſt gar kein Zweifel, daß dein Bild im groben Umriß — mehr
habe ich dir ja nicht gegeben, — auch für den Menſchen
richtig wird. Alſo!
Ich gehe an dieſer Stelle jetzt nicht näher darauf ein,
was mit dem befruchteten Menſchenei geſchieht und wie es zum
fertigen Menſchen wird. Das iſt in den Einzelheiten noch
eine lange, höchſt verwickelte Geſchichte. Aus dem alten Ei und
dem neuen Samenkopf iſt ein neues, einheitliches Ding ge¬
worden, allerdings ein Ding, das jetzt von zwei Parteien etwas
ſtofflich in ſich ſchließt: ein Stückchen Vater und ein Stückchen
Mutter. Das Nächſte darauf iſt, daß ſich der Dotter mit
ſeinem Kern innerhalb der Eihülle jetzt abermals in zwei
Teile trennt, dann in vier und ſo weiter, bis ein ganzer
[57] Klumpen gleichſam organiſcher Bauſteine daliegt, aus denen
der Wunderbau des kindlichen Leibes nun werden mag. Die
lebendigen Bauſteine lagern ſich zu Schichten aufeinander, aus
jeder dieſer Schichten werden beſtimmte Organe und Ordnungen
von Organen. Das krümmt ſich, faltet ſich, gruppiert ſich wie
in einem rechten Hexenkeſſel, dem ein Homunkulus entſteigen
ſoll. Auf einmal iſt ein Rückenmark da, ein Kopf, Augen,
Beine. Eine Zeitlang zeigt ſich im Ganzen noch eine ge¬
ſchwänzte Mißgeſtalt, aus der recht wohl auch ein Schwein
oder Haſe werden könnte. Dann geht auch das vorüber und
nun iſt's endlich wirklich ein poſſierlich kleines, aber waſchechtes
Menſchlein, das bloß noch eine gewiſſe Größe und Schwere
zu erreichen braucht, um, unter jähem Losreißen aller körper¬
lichen Verknüpfungen mit der Mutter, aus der Öffnung der
Gebärmutter und ſchließlich der des ganzen weiblichen Körpers
nach außen an die freie Luft befördert zu werden. Dieſe
„Geburt“ vollendet im Grunde nur, was die „Zeugung“ ent¬
ſcheidend begonnen hat: die Schaffung eines neuen, ſelbſtändig
lebensfähigen Menſchen.
Wiſſen mußt du zu dem ganzen Vorgange nur noch eins.
Ich ſagte dir, das weibliche Ei wie das männliche Samen¬
tierchen ſtellten jedes ein kleines lebendiges „Stückchen“ dar,
das von dem lebendigen weiblichen oder männlichen Leibe los¬
geriſſen würde. Die Wiſſenſchaft definiert das in ihrer Sprache
etwas genauer, indem ſie ein Wort anwendet, das uns noch
öfter in dieſen Betrachtungen begegnen wird. Sie ſagt: das
Ei wie das Samentierchen ſtellen je eine einzige lebendige, vom
elterlichen Organismus losgelöſte „Zelle“ dar.
Dazu iſt nun nötig, daß du dir eine ziemlich einfache, in
unſere konventionelle Allgemeinbildung aber noch nicht über¬
gegangene naturgeſchichtliche Sache vergegenwärtigſt.
[58]
Alſo denke dir ein großes Haus. Mit einer Maſſe von
Zimmern. Die Zimmer haben ſehr verſchiedene Höhe und
Größe und ſind ganz verſchieden möbliert. Das eine dient
dieſen Zwecken, das andere jenen: Schlafzimmer, Eßzimmer,
Küche u. ſ. w. Die Zimmer ſind alſo unter ſich ſo ungleich
wie möglich, wenn ſchon ſie im Ganzen einem einzigen großen
Hausſtande für ſeine vielfältigen Bedürfniſſe dienen mögen.
Nun unterſuchſt du aber hinter den Möbeln und Tapeten die
Wände und du findeſt: allemal ſtößt du in dieſen Wänden auf
die ganz gleichen Baubeſtandteile, nämlich Ziegelſteine.
Da kann nun eine Wand hoch ſein oder niedrig, mag die
Wand eines Salons oder eines Korridors oder gar des Aborts
ſein: immer beſteht ſie aus an ſich ganz gleichartigen Ziegel¬
ſteinen, die Stück für Stück feſt verklebt aufeinander liegen
und das ganze Haus recht eigentlich als Elementarſtoff zu¬
ſammenſetzen.
Jetzt ſieh dir ein Tier an, ſagen wir einen Hund. Er
iſt auch in ſeiner Art ein großes kompliziertes Haus. Wenn
du in ſeinen Leib ſchauſt, ſo ſiehſt du Kammern und Gänge
aller Art. Hier das Herz, dort die beiden Lungenflügel, den
Magen, die Gedärme, — kurz die Organe. Die ſehen unter¬
einander gewiß auch verſchieden genug aus. Und ihre Be¬
ſtimmungen ſind die allerverſchiedenſten: im Herzen wird das
Blut gepumpt, in der Lunge wird es gereinigt, im Magen und
Darm wird Speiſe verarbeitet und ſo fort.
Und doch: prüfe auch hier die Wand eines ſolchen Organs.
Schneide ein Stück Darm aus und lege es unter gute Ver¬
größerungsgläſer. Du erlebſt etwas ähnliches, wie bei der
wirklichen Hauswand. Dieſe Darmwand beſteht natürlich nicht
aus Ziegelſteinen. Aber ſie beſteht auch aus gewiſſen kleinen
Bauteilen, die im kleinen allen Ernſtes beinahe wie winzige
Steinchen Stück für Stück aufeinander kleben und den ganzen
Darm regelrecht zuſammenſetzen, wie jene Ziegel die maſſive
Hauswand. Der weſentlichſte Unterſchied iſt, abgeſehen von der
[59] mikroſkopiſchen Kleinheit, nur der, daß dieſe Darmbauteilchen
nicht harte, ſteinartige Gebilde, ſondern durchweg weiche Klümp¬
chen der eigenartigſten Maſſe ſind. Der Darm iſt ja ein Teil,
ein „Zimmer“, eines lebendigen Organismus, — eines Tieres,
eines Hundes. Auch er „lebt“, ſo lange der ganze Hund
lebt. Das Leben dieſes Hundes aber haftet, wie alles Leben
auf Erden, an einem beſtimmten Naturſtoff von merkwürdigſter
chemiſcher Miſchung. Jeder „Bauziegel“ des Darmes iſt ent¬
ſprechend ein Klümpchen ſolchen Lebensſtoffes. Eine Un¬
menge dieſer Klümpchen ſetzt den ganzen Darm zuſammen
und bedingt ſein „Leben“. Sie bildet nicht nur ſeine Wand,
ſondern ſie bedingt auch (darin der Ziegelmauer allerdings
weit voraus), was in ihm geſchieht.
Nun nimm ein anderes „Zimmer“ des lebendigen Hauſes,
Hund genannt: etwa die Lunge. Betrachte ein Stück Lunge
unter dem Mikroſkop. In der Lunge geſchehen andere Dinge
für den Geſamthaushalt des Hundekörpers als im Darm. Und
trotzdem: wie in unſerm echten Hauſe derſelbe Ziegelſtein Salon¬
wand und Abortwand zuſammenſetzte, ſo ſetzen hier die Wand
der Lunge ziegelartig aufeinander ganz ähnliche, ja in allem
weſentlichen gleiche lebende Stoffteilchen zuſammen, wie wir ſie
beim Darm fanden. Freilich: ihre Beſchäftigung iſt hier in
der Lunge eine andere als dort im Darm. Aber das thut
der Grundthatſache keinen Abbruch, daß ſie im Prinzip hier
wie dort der eigentliche Bauſtein des lebendigen Organs ſind.
Und ſo kannſt du nun den ganzen Hund zerſtückeln bis
in jedes Hautfetzchen und jedes Muskelſtückchen und jeden
Blutstropfen hinein: immer erſcheint dasſelbe Grundelement
kleiner Klümpchen lebendigen Stoffs, die ganz wie Ziegelſteine
aufeinander liegen und den geſamten Hundeleib genau ſo auf¬
bauen, wie echte Ziegel ein echtes Haus.
Man hat ein Wort dafür erfinden müſſen und hat ſich
ſchließlich auf ein nicht ganz ſchlechtes, aber auch nicht ganz
rechtes konventionell geeinigt: man nennt die lebendigen Einzel¬
[60] klümpchen „Zellen“ und ſagt: der ganze Hund iſt in allen
ſeinen Organen durch die Bank aufgebaut aus Millionen und
Abermillionen ſolcher lebendigen „Zellen“, — er iſt ein großes
Gebäude, deſſen einheitlicher Bauſtein die „Zelle“ iſt. Die
Lebensgewohnheiten, die „Arbeiten“ dieſer Zellen ſind dabei
ſehr verſchiedenartige. Die Zellen des Darmes ſaugen Nah¬
rungsſäfte auf, die Zellen der Lunge verarbeiten die dem Or¬
ganismus nötige Luft, die Zellen des Gehirnes empfinden,
überlegen und ordnen als Oberleitung den ganzen Leibeshaus¬
halt — und ſo fort. Aber die Zellen ſelbſt bleiben ſich als
ſolche trotz verſchiedenſter Leiſtung innerlich ſo gut wie weſens¬
gleich und wahren ſich ſämtlich das Grundbild des einheitlichen
Lebens-Ziegelſteins.
Der Hund, den wir als Beiſpiel gewählt haben, iſt ein
verhältnismäßig ſchon ſehr hoch entwickeltes Tier. Nimm ein
niedrigeres Tier: etwa einen Regenwurm. Du findeſt dieſelbe
Sache. Auch er beſteht nicht aus einheitlichem Lebensſtoff,
ſondern dieſer Lebensſtoff erſcheint auch in ihm zunächſt ge¬
gliedert in „Zellen“, und eine Unmaſſe ſolcher Zellen ſetzen
dann ſeinen Leib, ſeine Organe zuſammen. Er iſt kleiner als
der Hund und hat nicht ſo komplizierte Organe wie dieſer.
Alſo beſteht er aus weniger Zellen, — genau ſo, wie eine
Hütte weniger Ziegelſteine enthält als ein Palaſt. Das iſt
aber der einzige weſentliche Unterſchied. Ganz unten in der
Kette findeſt du Tiere, die ſchließlich gar nur mehr aus einer
einzigen Zelle beſtehen. Ein einziger Ziegelſtein, auf blanke
Ackerfläche gelegt, bildet ein „Haus“ für ſich: ſo iſt es hier.
Umgekehrt gehſt du wieder zu den Pflanzen, ſo findeſt du dort
die höheren abermals aus vielen Millionen von Zellen zu¬
ſammengeſetzt: der Ölbaum da drüben trägt in jedem Blatt
allein eine ganze Fülle davon und wie viel ſolcher Blätter
ſchüttelt er im Winde!
Nun aber zu dir ſelbſt, zum Menſchen, aufwärts noch
über den Hund hinaus. Auch du biſt vom Tier gekommen,
[61] biſt zoologiſch geſprochen noch jetzt ein echtes Tier. Auch deine
Lunge, dein Darm, dein Gehirn weiſen den treuen Bauſtein
aufs ſäuberlichſte auf. Dein Leib, deine Organe, dein ganzes
Du ſind ein einziger großer Wunderbau aus Millionen
winziger Zellen, genau ſo wie Hund, Regenwurm und Öl¬
baum es ſind.
Da ſprachen wir nun aber vorhin von einigen Organen
deiner Menſchlichkeit im beſonderen. Von den Geſchlechts¬
organen bei Mann und Weib. Es ſind Organe, — Organe
im Grunde wie alle anderen auch. Ob du nun den weiblichen
Eierſtock nimmſt oder den Darm oder die Lunge, — du ſtehſt
auf alle Fälle vor einem Organ. Auch der Eierſtock und
ebenſo das männliche Samenorgan ſind aber als regelrechte
Organe natürlich auch ihrerſeits zuſammengeſetzt aus Zellen.
Bloß daß dieſe Zellen eben auch hier ihre beſonderen Ge¬
wohnheiten, ihre ganz beſondere, nur ihnen im großen Menſchen¬
leibe zufallende „Arbeit“ haben. Sie ſaugen nicht Nahrung
wie der Darm oder pumpen Blut wie das Herz. Ihre Auf¬
gabe iſt eine ganz beſonders merkwürdige.
Denke dir ein Zimmer in dem Hauſe mit den beſagten
Backſteinwänden. In dieſem Zimmer vollzieht ſich ein verrückter
Spuk. Von Zeit zu Zeit regt es ſich in der Wand, die Tapete
klafft, und es fällt ein einzelner Ziegel aus dem Mauerverbande
heraus mitten ins Zimmer hinein. Kaum iſt er da, ſo beginnt
er zu krabbeln. Krabbelt durch die Thür und ſchließlich gar aus
dem Hauſe heraus. Und wächſt draußen nach allerlei Aben¬
teuern und nachdem er noch mit einem zweiten loſen Ziegel¬
ſtein eines Nachbarhauſes zuſammengekommen iſt, zu einem
kleinen neuen Hauſe ſelbſtthätig auf.
Buchſtäblich ſo geht es mit unſeren menſchlichen Zellen¬
häuſern Mann und Weib. Von Zeit zu Zeit löſt ſich von der
Zellwand des männlichen Samenorgans eine einzelne Zelle ab
und wandert aus dem ganzen Hauſe heraus. Sie ſucht ein
weibliches Menſchenhaus. Dort hat ſich im Eierorgan eben¬
[62] falls eine Zelle vom Verbande gelöſt und iſt ebenfalls wenig¬
ſtens ein kleines Stück gewandert. Die beiden freien Zellen
finden ſich ..... und was ſie machen, das haſt du geſehen.
Ei und Samentierchen: ſie ſind nichts anderes als zwei ſolcher¬
art von ihrem Organ abgefallene Einzelzellen. Indem ſie ſich
in der Begattung finden und miteinander verſchmelzen, bilden
ſie einen Grundſtein, eine erſte Bauzelle zu einem neuen
Zellenbau, einem neuen Organismus, einem neuen Menſchen.
Dies der einfache Sachverhalt. Die Kraft des Neubauens
müſſen ſie natürlich in ſich beſitzen. Das könnte kein Ziegelſtein.
Hier liegt ein großes Geheimnis des Lebens, das in unſerem rohen
Bilde von dem Hausbau aus Ziegeln nicht mehr enthalten ſein
konnte, aber auch nicht brauchte, da du zunächſt nur die Ge¬
ſchichte mit der „Zelle“ überhaupt in ihrer Beziehung zum
Zeugungsakt dir vergegenwärtigen ſollſt. Halte ſie dir feſt, wir
kommen noch mehrfach darauf zurück.
„Der Adler ſieht getroſtGrad' in die Sonn' hinein,Und du in ew'gen Blitz,Im Fall dein Herz iſt rein.“
Das wäre nun alſo der menſchliche Zeugungsvorgang, —
modern angeſchaut. Die Schaffung eines neuen Menſchen —
ſo weit in den Kern der Dinge hinein geſehen, wie wir es
heute überhaupt können.
Du magſt dich drehen und wenden, wie du willſt: — mit
dieſer kleinen Sonne da drinnen und dieſer ſiegreichen Kaul¬
quappe, die das Sonnenherzchen erobert und mit ihm verſchmilzt,
ſtehſt du im Zentrum des geſamten Liebesproblems. Zunächſt
beim Menſchen. Dann in dem Sinne aber, daß alle weitere
Naturauffaſſung für uns immer wie in unendlichen Radien von
dem einen Denkmittelpunkte „Menſch“ ausſtrahlt, auch für die
ganze erkennbare Welt.
Du kannſt alles von dem Worte „Liebe“ bei dir abziehen.
Den ganzen blauen Himmel über ihr. Alles was in den
Geiſt, in die Kultur, in ideales Menſchentum, in religiöſe Er¬
hebung und künſtleriſchen Harmonientraum hineingewachſen iſt.
Nur dieſen einfachen, realen Prozeß der Zeugung kannſt du
nicht abziehen, ohne daß der Begriff dir elendiglich ſtirbt.
Ich weiß wohl, daß es Leute die Menge giebt, die ſich
vor ſolcher Behauptung entſetzen. Sie werden auch die ganze
[64] Erzählung, wie ich ſie dir eben gegeben habe, greulich finden.
Laß ſie. Es ſind die Menſchen, die nie etwas erfahren haben
von den tiefen Schauern philoſophiſchen Denkens. Die nie mit
der Welt gerungen haben: „Ich laſſe dich nicht, du ſegneſt mich
denn.“ Und die nie erkannt haben, daß dieſer Segen überall
fließt, daß es vor ihm nichts Schlechtes und Gemeines giebt.
Dieſer Zeugungsakt iſt wie eine blitzſchwangere Wolke geladen
mit Philoſophie. Was wiſſen ſie davon! Gerade die, die am
meiſten zetern über Unmoral im Beſprechen ſolcher Dinge, ſind
meiſtens dieſelben, die in der Wirklichkeit den Akt wie einen
dummen Scherz nehmen. Die nie den furchtbaren Ernſt em¬
pfinden, den die Natur dahinter gelegt hat. Für ſie iſt es,
wenn nicht unſittlich, doch mindeſtens auch ein Scherz, wenn
man von einer Philoſophie der Zeugung ſpricht.
Auch dieſe Dummköpfe empfinden, daß die Sonne, die
dort über dem Silbermeer glüht, etwas Erhabenes iſt, etwas,
das die Seele des Menſchen ins Unendliche reißt. Dieſes un¬
geheure Flammengeſtirn, an deſſen Kräften die kleine Erde
hängt wie das winzige weiße Segel dort an dem unabſehbar
blauen Meeresplan, der von Europa bis Afrika reicht. Mit
ihren dunklen Flecken, in denen die Erde viermal verſinken könnte.
Ihren roten Protuberanzen, in denen glühender Waſſerſtoff bis
zu einer halben Million Kilometer hoch in die Lüfte ſpritzt.
Und doch: jene andere, winzige Sonne, die ſich da aus Samen¬
zelle und Eizelle baut, iſt ſie in ihrer Art und für dich nicht
noch gewaltiger und wichtiger als die flammende Planeten¬
ſonne dort? Die wirkliche Sonne hebt ſich alltäglich über dir
und ſinkt. Du trinkſt ihre Kraft. Sie hält den Planeten unter
dir im feſten Geleiſe. Vielleicht von allem, was dich umgiebt,
iſt ſie nächſt der Erde ſelber die ſtärkſte äußerliche Macht,
die dir gegenüberſteht. Mit der Eizelle aber hängſt du im
Innenleben des Kosmos. In der Folge des Lebendigen.
Nicht bloß mit dem empfangenden Auge, ſondern mit der
eigenen That. Du wirſt ſelber Kosmos in ihr. Dieſe Sonne
[65] wandelt nicht bloß außen über dir. Sie kreuzt deine eigene
Bahn, wandelt unter heiligen Schauern einmal durch dich ſelbſt.
Mit ihr rührſt du an das Geheimnis aller Geheimniſſe:
an das Problem von Leben und Tod.
Laß uns den Weg an dieſer Ecke einen Augenblick weiter
gehen .....
Unſer Wiſſen von dem entſcheidenden Akt der Zeugung
hat ſich ja als „Wiſſen“ ſo unendlich erweitert heute. Für
den Menſchen früherer Jahrhunderte waren die realen Dinge
dabei noch dunkel, — ſo dunkel! Faſt ſo dunkel und zuſammen¬
fallend mit dieſem Dunkeln wie das Innere des weiblichen
Körpers. Man ſah die Präliminarien des Akts. In Sonne,
Mondſchein und Sternennacht das Aufkeimen erotiſcher Em¬
pfindungen zwiſchen Mann und Weib — jener Empfindungen,
die ſo bezaubernd viel Ideales ſchon mit umſpannten ſeit Jahr¬
tauſenden der Kulturgeſchichte und immer mehr erfaßten. Man
ſah den Sturm der Sinne, — jetzt ganze Ur-Natur, die alles
Kulturelle hinter ſich ließ — mit dem die Geſchlechter aufs
engſte zu einander drängten. Bis zu dem Höhepunkt der körper¬
lichen Geſchlechtsvereinigung ..... Dann ſchloß ſich der
Schleier. Und wie ein ganz neues, im Bilde abſolut Zu¬
ſammenhangloſes erſchien nach Monaten der „neue Menſch“,
erſt pochend, als ſei es nur ein Organ unter einer warmen
Hülle im Dunkeln des Mutterleibes, — dann jäh, unter Qualen
dieſer Mutter, die an Todesſchmerz gemahnten, auftauchend
zum Licht, für das der ganze Körper in Auge, Atmung, Be¬
wegung ſchon vollkommen bereitet ſchien. Was Akt und Akt
verknüpfte, blieb aber purpurdunkles Myſterium.
Wir jetzt ſind ja ein gut Stück darüber hinaus.
Um 1590, alſo rund hundert Jahre nach der That des
Kolumbus, iſt das Mikroſkop erfunden worden. Eine Reihe
5[66] von Jahrzehnten ſpäter hatte ein holländiſcher Student den
Mut, warmen, lebendigen Mannesſamen unter die vergrößernden
Glaslinſen zu bringen. Alsbald erkannte er jene kaulquappen¬
ähnlichen hüpfenden Körperchen: die Samentierchen. Die Ent¬
deckung wurde von dem erſten bedeutenden Mikroſkopiker des
ſiebzehnten Jahrhunderts, Leeuwenhoek, beſtätigt und weiter aus¬
gelegt. Der intimſte Freund Leeuwenhoeks, Regnier de Graaf,
fand gleichzeitig die nach ihm benannten Bläschen am weiblichen
Eierſtock, in denen die menſchlichen Eier entſtehen: er hielt ſie
irrtümlich für die Eier ſelbſt. Das wirkliche Ei ſelbſt ſah der
große Karl Ernſt von Bär ſehr viel ſpäter, im Jahre 1827.
Seitdem erſt datiert auch das allgemeine Verſtändnis der
Zeugungsdinge im modernen Sinn. Jene Details über Aus¬
ſtoßung der Richtungskörper und Verſchmelzung eines Samen¬
kopfs mit dem Kern der Eikugel ſind nicht vor 1875, alſo in
den letzten beiden Jahrzehnten, mühſam Stück für Stück be¬
obachtet worden. Immerhin haben wir jetzt in der Lücke, wo
vormals die volle Nacht ſtand, einige Sterne und durch Ana¬
logie ſogar bereits eine feſte Milchſtraße. Der Prozeß, der
früher abriß in der Sekunde, da der Mann ſich vom Weibe
wieder löſte, fängt für uns nach dieſem erſt recht an: nun erſt
beginnt das geheime Werk zwiſchen Samentierchen und Ei, das
in der Form, wie wir es oben mit erlebt haben, zu der echten,
der entſcheidenden Zeugung erſt führt. Die ſchließliche Ge¬
burt des reifen Kindes erſcheint uns dann wieder bloß als
eine einfache Konſequenz von dieſem intimſten Akte.
Und doch: auch dieſe unendlich verbeſſerte Kenntnis des
wirklichen Sachverhalts ändert im tiefſten Weſen nichts an dem
Herzteil einer Philoſophie der Zeugung, die thatſächlich ſchon
ſo alt iſt wie die menſchliche Philoſophie überhaupt.
Durch den Wechſel der Weltanſchauungen von mindeſtens
viertauſend Jahren klingt ſie herauf wie eine große Melodie,
die niemals wieder verſtummen konnte, nachdem gewiſſe Ge¬
dankengänge einmal angeregt waren. Was wir heute davon
[67] wiederholen, weil es noch immer der Ausgangspunkt iſt auch
all unſerer Weisheit jenſeits von Mikroſkopen und phyſiologiſchen
Theorien, iſt im Herzen grau wie Mumienſtaub. Der Euphrat,
der Nil, der Ganges und der Iliſſos wühlen ſich mit ſingender
Welle hindurch. Gegen dieſe uralten Ideen gehalten, iſt
Chriſtus ein Epigone.
Dieſe Philoſophie richtet ihren Blick auf die einfachſten
Grundthatſachen des menſchlichen Lebens.
Der Menſch, als Individuum genommen, ſteht plötzlich
inmitten dieſes Lebens, er fühlt ſich als Ich, als lebendig, als
bewußt vorwärts ſchreitend in der Zeit. Seine Erinnerung
giebt ihm keinen Anfangspunkt ſeiner Exiſtenz. Unmittelbar iſt
ihm weder begreiflich, daß er jemals vorher nicht da war,
noch, daß er in der Folge jemals nicht da ſein ſollte. Aber
er lernt. Und zwar lernt er zweierlei in erſter Linie.
Mit Unerbittlichkeit wirft ihn das Leben ſelbſt vor die
Thatſache des Todes.
Eine beſtimmte Zeitſpanne begrenzt das Individuum.
Keine Größe, keine Kleinheit des geiſtigen Wertes, den das
Individuum entwickelt, ſchützt gegen die Senſe, die allerorten
ſchwirrt. Patroklus liegt begraben, aber auch Therſites hat
eines Tages daran glauben müſſen. In der Jobſiade lieſt
du als einen gelungenen Scherz das große Totenregiſter, in
dem alle Helden der Weltgeſchichte in unmögliche Reime ge¬
bracht ſind und zwar jeder mit dem Zuſatz, daß er auch
geſtorben ſei. Auch Cäſar. Auch Alexander. Auch Ariſtoteles.
Und auch Schinderhannes. Und der Kandidat Jobs. Das
wirkt komiſch. Aber hinter der Komik liegt eine verborgene
Tragik, die in einen furchtbaren Ernſt umſchlägt, wenn man
5*[68] wirklich ſich vergegenwärtigt, welche Hekatomben ohne jede
Rückſicht auf Wert oder Nichtwert, ideale Größe oder voll¬
kommene Lächerlichkeit hingemäht worden ſind. Der Einzelne
erlebt in den Jahren ſeiner Exiſtenz die Bekanntſchaft mit glück¬
lichen und ſiegreichen Naturen, die das Unbekannte der Erde
durchwandert haben; die in den Schacht der Vorwelt hinab¬
getaucht ſind; die mit Auge und Geiſt durch Milchſtraßen und
Siriusweiten geflogen ſind. Was nützt all dieſe Weite. Die
Individuengeneration dieſer Forſcher allein auf der Erde —
hundert Jahre: ein paar uralte gebeugte, faſt oder ganz blinde
Greiſe ſchleppten ſich noch als letzter Menſchenreſt auf dem ver¬
ödeten Planeten Erde kümmerlich dahin. Noch ein viertel
Säkulum: und es herrſchte jene Wüſtenſtille des ausgeſtorbenen
Sterns, die wir uns als höchſtes Grauenbild vielleicht bei
unſerem Monde denken oder in den Tiefen des Alls auf eiſigen
Trabanten nachtſchwarz erloſchener Urſonnen träumen.
Das iſt die eine ſichere Beobachtung: der Tod.
Nun die zweite. Der Menſch lernt einen wunderbaren
Akt kennen, der ihn aus derſelben Wirklichkeit, die den Tod
als ewigen Schattenſtreifen durch alle ſeine Hoffnungen ſchleift,
wie eine ewige Sonne anſtrahlt.
Den Akt der Zeugung.
Ein Weib entflammt ſeine Sinne, unendliche Seligkeiten
durchſtrömen ihn für einen Moment. Sie fliegen ſelbſt gleich
wieder dahin, wie alle Luſt und Kraft der Kreatur als ſolche
alsbald verwehen und nur noch ſchattenhafte Erinnerung ſind, —
Erinnerung, die mit allem anderen Beſitztum des Individuums
ſchließlich auch in den Schlund des Todes ſtürzen wird. Aber
aus dem Akt zwiſchen Mann und Weib erwächſt unabhängig
davon ein ganz Neues. Ein neuer Menſch. Der Zeugende
iſt vielleicht dreißig Jahre alt. Neunzig ſoll er alt werden,
dann aber trifft ihn der Tod. Auch der neue Menſch, den er
gezeugt hat, mag die vollen Neunzig erreichen. Dann wird er
dreißig Jahre fortdauern über jenen hinaus. Und wenn er
[69] abermals zur Zeugung vorgeſchritten iſt in ſeinen neunzig
Lebensjahren, ſo wird ſein Tod wiederum eine gewiſſe Zeit¬
ſpanne auf der Erde von Lebendigem überdauert werden.
Durch dieſes einfache Rechenkunſtſtück hebt die Zeugung
den Tod wenigſtens in ſeiner Totalwirkung auf.
Anſtatt mit der erſten Todeshekatombe des erſten Jahr¬
hunderts ſchon in den ewigen Abgrund zu ſtürzen, windet ſich
die Menſchheit an dem kleinen Prä, das die gezeugte Gene¬
ration jedesmal zeitlich vor der zeugenden voraus hat, wie ein
zähes Schlinggewächs durch die Jahrtauſende.
Vor dieſen beiden Grundthatſachen — Tod und Zeugung —
ſteht der Menſch ſo lange wie er überhaupt denken kann. Der
Affenmenſch, wie ihn Gabriel Max gemalt hat, mit dem erſten
Strahl keimenden Geiſteslichts unter den noch tieriſch wulſtigen
Augenbrauenvorſprüngen, mag ein erſtes dumpfes Ahnen em¬
pfunden haben. Der rohe Höhlenmenſch, der Mammut und
Megatherium jagte, ſetzte mit ſeinem Grübeln hier ein. Von
hier ſpann ſich der Mythus ins Unendliche. Aber hierher
wanderte wie zum Magnetberg auch jeder tiefere, größere
Weiſe, der das Gehirn der Menſchheit im reinen Wahrheits¬
dienſte ein Stück höher trieb, immer und immer wieder zurück.
Und der ſchlichteſte Mann begriff dieſen Weiſen gerade vor der
Einfachheit dieſer Grundthatſachen immer wieder. Unter dem
dämmergrünen Baldachin auf ſchwarzen Wurzelſäulen des
heiligen Feigenbaums am Ganges, der die Welt wie ein
lebendiger Tempel abſchloß. Im Angeſicht des ätherreinen
Sternenhimmels auf den luftklaren Gebirgshöhen von Peru.
An den unendlichen fahlgelben Waſſern Chinas oder dort, wo
die glühende Wüſte zur ſchillernden Fata Morgana zerfloß.
Die Zeugung erſchien als die einzige unzweideutig ſichtbare
Form einer Unſterblichkeit in der Menſchenexiſtenz. Durch
ſie war eine „Menſchheit“ überhaupt da, ein Denken über
Generationen hinweg, ein Fortleben der Tradition, ein Faden
des Denkinhalts.
[70]
„Der Menſch hat eher nichtVollkommne Seligkeit,Bis daß die Einheit hatVerſchluckt die Anderheit.“
Unſterblichkeit!
Die Jahrtauſende des menſchlichen Denkens wachſen im
Flackerglanz dieſes Wortes auf einmal zu gewaltig klingenden
Säulen aus, — mit einem Klang, der in mehrfachem Sinne
an jene alte Stimme der berühmten Memnonsſäule in Ägypten
erinnert, über die ſich bekanntlich hundert Privatmeinungen der
Reiſenden in den Haaren lagen und von der man heute noch
nicht weiß, ob ſie einem Prieſterbetrug, einer Sinnestäuſchung
oder einer realen, mechaniſchen Wirkung (allerdings Sonnen¬
wirkung) ihren Urſprung verdankte.
So weit jene philoſophiſche Erkenntnis des einfachen
Sachverhalts von Tod und Zeugung in der Denkgeſchichte
zurückreicht, ſo weit gehen auch zwei Faſſungen des Unſterb¬
lichkeitsgedankens zurück. Zwei Faſſungen, die zwar ideell
einander nicht ausſchließen, aber doch an den beiden denkbar
verſchiedenſten Ecken einſetzen.
Die eine Faſſung klammert ſich an den Begriff des Indi¬
viduums. Das Individuum iſt ihr das Höchſte. Jedes
Individuum iſt ihr eine Welt für ſich, die ſich emporentwickelt.
Aus Dunklem herauf, auf Dunkles zu. Aber immer vorwärts.
Ein ſolcher Gedankengang muß den äußerſten Verſuch machen,
[71] die eine jener Grundthatſachen der menſchlichen Exiſtenz voll¬
kommen umzudeuten. Sie läßt den Tod nicht als Abſchluß zu.
Er darf nur eine eigentümliche Entwickelungsſtufe in der Welten¬
wallfahrt des Individuums ſein. Eine Entwickelungsſtufe, bei
der es nur einfach aus dem Geſichtskreiſe der noch nicht ſo
hoch Entwickelten, alſo der Lebenden, verſchwindet, ohne des¬
halb unterzugehen. Die ſichtbare Lebenszeit, mit ihren fünfzig
bis hundert Jahren oder noch weniger, iſt in dieſem Sinne
nur eine flüchtige Konſtellation, — der wahre Stern des
Individuums aber leuchtet über die Jahrtauſende. Er hat ſeine
verborgene Sonne, um die er kreiſt, — feſter kreiſt als ein
Planet um die ſichtbare Sonne unſeres Syſtems. Der Planet
kann abſtürzen, aufflammen: das unſterbliche Individuum nie.
Mit einer ungeheuren Energie hat ſich dieſe Faſſung der Dinge
durch das Denken der Menſchheit gekämpft. Getragen von dem
ganzen Trotz der Individuen, die ſich auflehnten dagegen, daß
die Welt, dieſes bunte Kaleidoſkop da draußen, ewig ſein ſollte,
das Ich aber, das ein König über dieſen fluchtartig ſauſenden
Dingen zu ſtehen ſchien, eines Tages wie ein wertloſes Blatt
vom Baume dieſer Welt fallen ſoll. Getragen von dem tief¬
innerlichen Gefühl einer Unlogik des Geſchehens, die man ſich
nicht aufzwingen laſſen wollte. In den wunderbarſten idealen
Denkformen iſt dieſer Gedanke aufgeſtiegen, wie in den banalſten.
Von Plato, für den die irdiſche Realität des Individuums nur
ein raſch verrinnender, bleicher Traum war in einer viel höheren
Idealexiſtenz jenſeits von Zeit und Raum, bis auf den großen
Fechner, der zu den mechaniſchen Wellen, die von jedem In¬
dividuum je einmal ausgeſtrahlt ſind und als Nachwirkung auch
nach ſeinem Tode noch unendlich weiterrollen in der Mechanik
der Welt, eine parallel erweiterte Pſyche über den Tod hinaus
ahnte. Aber auch bis auf das arme Bild herunter von einem
Schulhaus, wo nach dem Semeſterſchluß der Lehrer Zenſuren
austeilt, und die Schüler Strafe für das bekommen, was
ihnen nicht genügend beigebracht worden iſt.
[72]
Philoſophiſche Syſteme kommen und gehen, jeder neue
Philoſoph iſt Simſon, der die Säulen ſeines Hauſes bricht.
Kirchendogmen, die über ſolchen Syſtemen verſteinten, werden
vom Sturm der Gedanken wieder zernagt, bis ſie wie feiner
Meteorſtaub im leeren Raum verwirbelt ſind. Magſt du die
Dinge ſelber werten, wie du willſt: ſicher iſt, daß mit der
Annäherung an die Gegenwart eine immer dunklere Wolken¬
bank ſich über dieſem Gebiete lagert. Wir können ſie für
unſeren Zweck lagern laſſen..... wir beide wiſſen ja, welch
ungeheure Frage darunter ſchläft. Die Erwähnung genügt.
Laſſen wir die große Sphinx ruhen an dieſer Stelle und fragen
jetzt nicht, ob der Sand, in der ſie heute begraben liegt, ſteigt
oder ſinkt.....
Mit unvergleichlich ſicherem Tritt aber ſtellt ſich neben
den Glauben an die Unſterblichkeit des Individuums die Er¬
kenntnis des zweiten Unſterblichkeitsweges, der zwar von ſich
aus das Individuum nicht retten kann, aber wenigſtens die
Menſchheit. Es iſt der Weg über die Zeugung, über die Liebe.
Im Prinzip iſt auch dieſe Faſſung eine uralte Weisheit.
Sie iſt ſo naheliegend, daß ſie es ſein muß.
Die paar Jahrtauſende menſchlichen Denkens ſind vor
ſolchen ſchlicht logiſchen Schlüſſen im Sinne des bibliſchen
Spruchs wirklich nur eine Nachtwache. Ein Vater, der ſterbend
ſein junges Kind ſegnet: und der ganze Gedankengang iſt im
Umriß klar. Der Vater ſtirbt, — was man ſich dann je nach
der angedeuteten anderen Faſſung für ſich wieder erklären mag.
Aber das Kind lebt, und in ihm geht die Linie weiter.
Millionen ſolcher Linien, ſich kreuzend, verſpinnend, neue
Linien erzeugend: die Menſchheit. Das Kind wird Enkel
bringen, die Enkel Urenkel. Alles auf dieſer Erde, unter dieſer
Sonne, die dem älteſten Ahnen, von dem noch Kunde da iſt,
ſchon Boden, Wärme, Licht gaben. Auf ewiger Erde, — unter
ewiger Sonne: — der ewige Menſch, fußend auf dem My¬
ſterium der Liebe, das ihn unſterblich macht.
[73]
Aber wenn auch dieſe Anſchauung an ſich alt iſt, ſo iſt
jedenfalls das eine von ihr ſicher, daß ſie, je näher wir der
Gegenwart kommen, immer jünger, immer lebenskräftiger ge¬
worden iſt. Allerdings mit einer gewiſſen Korrektur. Dieſe
zugeſtanden, iſt es, als ſei hier das Gewölk immer weiter
und weiter auseinander gefloſſen.
Eine Frage mußte auch hier dazwiſchen treten.
Ewige Menſchheit .....!
Ewige Erde, — ewige Sonne!
Giebt es in unſerer modernen Auffaſſung überhaupt noch
etwas ſchlechthin „ewig“ zu Denkendes?
Die alte Zeit ſah ein paar hundert Jahre Menſchheit
rückwärts. Ihr Blick drang innerhalb des großen Menſchheits¬
lebens noch nicht einmal über die Kultur hinaus. Der Natur¬
forſcher von heute aber legt deine Hand auf dieſes Stück
braunen, von der Welle zerſpaltenen Felſens dort. Dieſer Fels
ſtammt aus einer Zeit, da es noch keine Menſchen gab .....
Und die ganze Erde? Iſt nicht auch die Erde uns bloß ein
relativer Begriff? Ein Lichtſtäubchen, das aus der Tiefe der
Zeiten aufwirbelt, blitzt, abdunkelt, „lebt“ und verweht? Iſt
nicht die „ewige Sonne“ ein Traum, ausgeträumt, ſeitdem wir
wiſſen, daß alle Fixſterne Sonnen ſind und daß über ſolche
Fixſterne der rote Herbſt bricht wie über einen irdiſchen Eichen¬
hain, daß Kataſtrophen ſie treffen, die ſie auflodern laſſen wie
eine junge Eiche im Blitzſtrahl verflammt, daß der eiſige Raum
ihre Herzglut ſaugt bis zum ſtarren Wintertod?
In Wahrheit ſchiebt ſich hier für uns heute noch ein ganz
neues Bild, eine ganz neue Auffaſſung der Weltendinge vor,
die auch dieſe Idee einer Unſterblichkeit, einer Ewigkeit, einer
[74]logiſchen Erneuerung unterwerfen, ehe du ſie im alten Sinne
weiter gebrauchen darfſt.
Was dem ſchlichten Denken der älteren Tage ebenſo fehlte
wie durchweg dem raffinierten, das war ein Begriff, den wir
heute in Fleiſch und Blut haben: der Begriff der Entwickelung.
Er fällt im innerſten Kern nicht heraus aus dem, was
das Wort „ewig“ umſchließt. Aber über das konkrete Bild
unter dieſem hallenden Worte gießt er den Zauber unendlichen
Wechſels, unendlichen Reichtums aus. In einen gleichmäßig
weißen Nebel wirft er ein Lichtband, aus dem auf einmal
eine blühende, atmende Landſchaft ſich erhebt, in der alles in
lebendiger Bewegung iſt: die Bäume brechen in Knoſpen auf,
die Berge dehnen, recken, zerſpalten ſich, das Meer ſchwillt
empor und rauſcht. Und im tiefen Blau über den veränderten
Horizonten blühen neue Sterne, als ſei auch im kalten All
ein wunderbarer Frühling erwacht.
In jener einen „Nachtwache“ der Kulturgeſchichte hat
die Menſchheit in der That gewacht. In dieſer Nachtwache
haben die Denker geſonnen und gebaut, Inſtrumente ſind er¬
funden worden, Bibliotheken haben ſich angehäuft, Muſeen und
Sternwarten ſich emporgetürmt. Wenn wir heute, am Ende
dieſer Nachtwache, ſagen, daß der Menſch durch die Zeugung,
durch die Liebe am ſichtbarſten im „ewigen“ Leben des Kosmos
hängt, ſo klingt uns eben in den Begriffen „Menſch“ und „Kosmos“
ſelbſt die ganze heiße Arbeit der großen Nachtwache mit.
Wir ſehen den Kosmos ſich dehnen nicht bloß in die
dunkle Ewigkeit, die eine Melodie iſt, aber kein Bild, ſondern
in koloſſale wirkliche Raumfernen und Zeitfernen hinein. Wir
ſehen die Menſchheit als Ganzes auftauchen in dem ungeheuren
greifbar hellen Panorama, das ſich unſerm Auge in dieſem
Lichtbande des großen Nebels auseinander ſchließt.
Und wir ahnen ein Werden auch innerhalb der Liebe.
Statt des einfachen Wortes „ewig“ treibt es uns, die Liebe
zu ſuchen im werdenden, aus dem blauen Meer der Zeiten
[75] langſam wie eine bunte Inſel heraufwachſenden Kosmos. Das
iſt das recht eigentlich Neue, was unſere Zeit zu dem alten
einfachen Thatſachenbilde hinzugiebt.
Ein goldenes Seil fliegt uns zu. Laß uns verſuchen,
unſer Schifflein hier ein Stück Weges anzubinden, um zu
ſehen, wie weit wir kommen. Sicherlich iſt es mit modernen
Mitteln eine beſſere Meerfahrt, als wenn wir uns nach der
Unſterblichkeit des Individuums einſchifften. Dieſer Weg iſt
heute trügeriſche Odyſſee. Holde, nackte Sirenen, die den
Seefahrer verlocken und freſſen, wenn er ſich zu eigen giebt.
Cyklopen, die den Denker in ihre Höhle ſperren, daß er froh
ſein darf, an eines Bockes Bauch geklammert zu entfliehen.
Cirke, die Zauberin, die Philoſophen in Eſel bannt. Und
Lotophagen, wo man ſich an Zuckerbrot in den ewigen Ge¬
dankenſchlaf ſchleckt ..... Unſer Pfad iſt ſchlichter, obwohl
auch er des märchenhaften Elementes nicht ganz entbehrt.
Er führt durch das ungeheure Märchen der modernen
Naturforſchung.
Ein Regenbogen flimmert über dem Blau. Der Regen¬
bogen der Liebe. Sein eines Ende haſt du mit dem Blick
erfaßt. Es glänzt über dem einfachen Akt der menſchlichen
Zeugung durch Samentierchen und Ei, dem du beigewohnt haſt.
Laß uns im Fluge zunächſt jetzt einmal verſuchen, nach dem
andern Stützpunkt hinauszutauchen. Dorthin, wo die Liebe
überhaupt zuerſt in das Lichtfeld des Naturforſchers tritt.
„Ich bin das Sonnenſtäubchen, ich bin der Sonnenball;Zum Stäubchen ſag' ich: bleibe! und zu der Sonn': entwall'!Ich bin der Morgenſchimmer, ich bin der Abendhauch,Ich bin des Haines Säuſeln, des Meeres Wogenſchwall.Ich bin der Maſt, das Steuer, der Steuermann, das Schiff,Ich bin, woran es ſcheitert, die Klippe von Korall.Ich bin der Hauch der Flöte, ich bin des Menſchen Geiſt,Ich bin der Funk' im Steine, der Goldblick im Metall.Ich bin der Rauſch, die Rebe, die Kelter und der Moſt,Der Zecher und der Schenke, der Becher von Kriſtall.Die Kerz' und der die Kerze umkreiſt, der Schmetterling,Die Roſ' und von der Roſe berauſcht die Nachtigall.“
Ein Ding mit den Augen des modernen Naturforſchers
anſchauen, das heißt: es in einen Raum ſetzen, in dem die
räumliche Million, die Meilenmillion herrſcht. Und es heißt:
es über eine Vergangenheit ſetzen, die mit der zeitlichen Million,
der Jahresmillion, zählt.
Die blaue Kriſtallglocke mit den goldenen Sternennägeln,
die ſich ſo freundlich über dem antiken Menſchen wölbte wie
die Scheibe eines Gewächshauſes, unter dem der treue Himmels¬
gärtner feines und grobes Menſchenobſt zog, iſt zerſplittert.
Zerſplittert in ein Heer einzeln glimmender Weltenſtäubchen.
Zwiſchen den Stäubchen dehnt ſich der freie Raum, eiſig kalt,
luftlos. Und die Stäubchen erſcheinen nur als Stäubchen,
[77] weil der Raum zwiſchen ihnen und uns unter die Gewalt der
Meilenmillion gelangt.
Jenſeits der Meilen ſtehen gigantiſche Sonnen, von denen
das Licht in rieſigen Strömen fließt — fließt und fließt, bis
in die weiteſten Weiten des Alls hinein. Es fließt unglaublich
raſch, dieſes Licht: mit einer Geſchwindigkeit von über vierzig¬
tauſend Meilen in der Sekunde perlt ſein Wellenſchlag in den
Raum hinaus. Und doch braucht es vom nächſten dieſer Fix¬
ſterne ſchon vier ganze Jahre, um in unſer Menſchenauge auf
dem Sonnenplaneten Erde zu gelangen. Am Südhimmel, wo
das Sternbild des Kentauren flammt, ſtrahlt dieſer Stern,
der herrlichſte und hellſte aller Doppelſterne. Jene vier Licht¬
jahre ſind entſprechend der Meilenzahl pro Sekunde mehrere
Billionen Meilen ſeines wahren Abſtandes von uns. Und er
gilt von allen Myriaden Fixſternen des Firmaments für den
nächſten! Von andern gelangt das Licht erſt nach Jahr¬
hunderten zu uns. Sie können heute, da wir ſie ſehen, längſt
ganz anders ausſchauen als damals, da der Lichtſtrahl, der
uns jetzt endlich erreicht hat, von ihnen ausging. Und wenn
umgekehrt der ſchwache Glanz unſerer Erde dort noch erſpäht
werden ſollte, ſo erſcheint die Erde, wie ſie vor Jahrzehnten,
vor Jahrhunderten war: ohne Eiſenbahnen, ohne Eiffelturm,
ohne Suezkanal, mit der Inſel Krakatau an der Sundaſtraße
vor der furchtbaren Vulkanexploſion, die ſie 1883 in die Luft
ſprengte. Vielleicht gehen die Entfernungen anderer Sterne
bis in die Tauſende ſolcher Lichtjahre — Jahre, deren jedes
dreihundertfünfundſechzig Tage zu vierundzwanzig Stunden hat,
die Stunde zu ſechzig Minuten, die Minute zu ſechzig Sekunden
— und jede dieſer Sekunden gleich vierzigtauſend Meilen Ent¬
fernung gerechnet .... Bis vor kurzem gab man den ſoge¬
nannten Nebelflecken, wilden Gasmaſſen, die oft wie regelrechte
Embryonen erſt werdender Weltſyſteme ausſchauen, ſolche Ab¬
ſtände. Heute iſt man etwas in Skrupel, vielleicht ſind uns
gerade dieſe formloſen Himmelsnebel zum Teil näher als wir
[78] ahnten. Aber einerlei: die Meilenziffern ſchon für einzelne
noch halbwegs meßbare Fixſterne ſind ſo enorm, daß der
kühnſte kosmiſche Phantaſt Frieden finden mag.
Das iſt der Raum, in den dich der Naturforſcher wirft —
wirft, weil du und wir alle ein Gewürm dieſer dicken Kugel
Erde ſind, die ſeit undenklichen Tagen in den Raum hinein¬
geworfen iſt und, getroffen von den tauſend und tauſend Licht¬
wellen all der näheren und ferneren Silberwelten da draußen,
ihre lange elliptiſche Wurfbahn um die Sonne abfliegt nach
genau demſelben Geſetz, das auf ihr ſelbſt eine Kanonenkugel
fliegen läßt.
Nicht minder ungeheuerlich die Zeit. Als die Menſchen
noch als braves Gewächshausobſt eines myſtiſchen Gärtner¬
zwecks unter der ſicheren blauen Kriſtallglocke ſaßen, war auch
das Zählen in die Vergangenheit hinein noch ein ſchlichtes
Vergnügen. Ein paar tauſend Jahre zurück. Dann hörten
auch die ſtrengſten Ariſtokraten-Stammbäume auf. Das Ge¬
wimmel der Völker ſchwand, und aus dem uferloſen Blau
ſtieg ein blumenbunter Garten. Adam und Eva küßten ſich —
heilige Stille eines Weltenmorgens — bloß das lautloſe
Schleichen der Schlange, mit der all das unſägliche Elend der
Folgezeit über die taufeuchte Paradieswieſe kroch. Noch eine
kürzeſte Spanne zurück — und Gott warf die Erde in den
Raum, die Sonne an das bebende Firmament, mit jenem
grandioſen Schöpferſchwung, den Michel Angelo, als er das
Bild an der Decke der ſixtiniſchen Kapelle ſchuf, vielleicht allein
von allen Gläubigen und Ungläubigen der chriſtlich-dogma¬
tiſchen Ära ganz an ſich ſelbſt empfunden und künſtleriſch
wiedergegeben hat.
Nicht die Kunſt und individuelle Vorſtellungskraft jenes
unſterblichen Deckenbildes hat die Forſchung heute überwunden.
Aber die ideelle Decke, die in der ganzen Tradition als einer
angeblich wahren Geſchichtstradition lag, hat ſie eingeſtoßen mit
eiſerner Hand. Hinter den paar tauſend Jahren der Menſch¬
[79] heit und gar den paar Tagen jenes fabelhaften Schöpfungs¬
wurfs hat ſie ein Thor geriſſen abermals in eine wahrhafte
Unendlichkeit. Diesmal Zeit-Millionen, nicht ſolche des Raums.
Zeit-Millionen ſtrenger geſchichtlicher Entwickelung.
Nimm dir einmal als Maß loſe an, der alte Cheops von
Ägypten, deſſen Namen die große Pyramide, ein Werk unbedingt
ſchon hoch entwickelter Kultur, trägt, habe um Dreitauſend vor
Chriſtus gelebt, rund beinahe fünftauſend Jahre vor heute.
Aus der Zeit des Cheops melden Inſchriften von Tempeln aus
ſagenhafter Vorzeit, die, im Wüſtenſande verſchüttet, damals
wieder aufgefunden worden ſeien. Die große Sphinx war in
Cheops' Tagen ſchon ſo alt, daß ſie ausgebeſſert werden mußte.
In welche Zeit verliert ſich hier ſchon die menſchliche Kultur,
— Kultur in einer Form, die Werke ſchuf, vor denen du heute
noch in Bewunderung, mit einem gewiſſen Schauer des Nicht¬
nachmachen-könnens, ſtehſt .....
Nun kennen wir, dank ſehr moderner Forſchung, eine weit
einfachere, ältere Urkultur, die jenſeits aller Benutzung der
Metalle ſtand, die ſich mit Steinwerkzeugen behalf und mit
dieſen Steinwerkzeugen gigantiſche Tiere erlegte, die zu Beginn
ſchriftlicher Überlieferung ſchon vollſtändig ausgeſtorben waren.
Dieſe Urkultur, in Mitteleuropa in unanzweifelbaren Reſten
nachgewieſen, verliert ſich rückwärts in eine Epoche hinein, die
der moderne Geologe als Eiszeit bezeichnet. Nach einer aſtro¬
nomiſchen Rechnung, die manches für ſich hat, wird der Höhe¬
punkt dieſer Eiszeit (oder beſſer Eiszeiten, denn es handelt ſich
um einen Vorgang mit Intervallen und Wiederholungen) bis
über das Jahr Hunderttauſend vor Chriſtus zurückgeſchoben.
Dennoch ſind die Schädel der Menſchen vom letzten Rande oder
vielleicht ſogar bis zum Anfang dieſer noch in ſich wieder un¬
[80] geheuer langen Eisperiode keine beſonders affenähnlichen Schädel.
Durch gute theoretiſche Begründung iſt aber anderweitig nach¬
gewieſen, daß der Menſch urſprünglich aus affenähnlichen Tier¬
formen hervorgegangen ſein muß. Vom Ende der Tertiärzeit,
alſo der geologiſchen Epoche, die der Eiszeit voraufgeht und
ganz zweifellos hinter jene Ziffer Hunderttauſend weit, weit
zurückgeht, kennen wir jetzt aus Java einen Affen, der ſchon
regelrechte Menſchenbeine hatte und offenbar gewohnheitsmäßig
aufrecht ging wie ein Menſch. Damals mag alſo die eigent¬
liche „Menſchwerdung“ ſtattgefunden haben. Du begreifſt, wie
weit das ſchon führt — und doch gilt der Menſch von allen
wichtigeren Tierformen der Erde für das unbedingt jüngſte
Produkt.
In der erſten Hälfte jener Tertiärzeit ragten in Deutſch¬
land noch hohe Palmbäume. Wälder von Magnolien und
immergrünen Eichen zogen ſich bis in heute abſolut unwirtliche
Gegenden der polaren Eiswüſte hinein. Und doch ſagt dir
ſchon der Name Tertiärzeit (ſoviel wie die dritte große Zeit¬
epoche der Erdgeſchichte), daß es ſich um eine ſpäte, relativ
junge Epoche handelt. Unermeßliche Zeiten trennen ſie von
jener Juraperiode, in der das heutige Juragebirge als horizon¬
tale Schlammſchicht in der Meerestiefe ſich ablagerte, — Schlamm,
der ſpäter erhärtete und durch die bauenden Kräfte der Erd¬
rinde hoch über die Waſſer hinaus zum Gebirge aufgeſtaut
wurde. Im Jurameer ſchwamm der Ichthyoſaurus, den ſchon
die Tertiärzeit nicht mehr kennt. Und das geht nun immer
weiter ſo zurück, — in das Urgrau der Erdendinge zurück.
Bis in die Wälder der Steinkohlenzeit, jene geheimnisvollen
Farrenwälder, deren verſteinerten Reſt wir heute als praktiſche
Geologen im Ofen verbrennen. Bis zum erſten Auftauchen
organiſcher Weſen überhaupt. Das reicht ſicher hinab bis in
die Millionen. Und doch war auch das wieder nur eine Stufe,
eine hohe zweifellos auf endloſer Leiter. War die Erde viel¬
leicht vorher glühend, — mußte ſie ſich erſt zuſammenballen
[81] aus loſem Weltenſtoff, — gab es einen Urſtand der Dinge,
da alle Planeten noch mit der Sonne eins waren, — und,
noch entlegener, da die Sonne ſich erſt aus dem kosmiſchen
Hochofen eines Geſamtſyſtems löſte? ..... Der freieſte Ge¬
danke vermag das nicht mehr recht durchzudenken. Aber auch
die freieſte Jahresziffer erlahmt ebenſo gewiß. In grauer
Folge der Millionen wälzt es ſich zurück, zurück in die un¬
abſehbare Zeit, wie dort im gegenwärtigen All in den un¬
abſehbaren Raum.
„Denn ſiehe: ich will einen neuen Himmel und eine neue
Erde ſchaffen.“ Der neue Himmel und die neue Erde, von
denen einſt die Viſion des Propheten ſprach, iſt unſeren Tagen
wirklich verliehen worden. Ein neuer Raum, eine neue Zeit.
In ſolcher Umgebung erhalten alle alten Begriffe von ſelbſt
ein neues Geſicht. Auf das winzigſte Ding fällt ein Abglanz
dieſes in Wahrheit neuen Kosmos; man ſucht unwillkürlich
ſeinen jetzt erſt kosmiſchen Sinn. Dieſer Granitblock iſt viel¬
leicht mit dabei geweſen in feuerbrodelnden Urtagen der Erd¬
entwickelung. Dieſes Bröckchen Schiefer entſtand, als der
Ichthyoſaurus im Korallengrund räuberte. Dieſes unſcheinbare
Stück Meteoreiſen ſtammt aus den Tiefen des Raums, hat
vielleicht Siriusweiten durchmeſſen, iſt vielleicht ein Trümmer¬
teil einer Welt, die lange vor aller Erdenkultur geblüht hat,
ihre Menſchen und ihre Sehnſucht trug — und in irgend einer
Stunde verklungener Grauen in winzige Splitter zerborſten iſt.
Die aber dabei ſo weit von uns abſteht, daß ihr Licht viel¬
leicht heute noch unſer Auge trifft, — Licht, das vor Ur¬
tagen von ihr ausging, als ſie noch war .....
Wie viel mehr müſſen vor ſolcher
Sachlage die größten, tiefſten Dinge der
Menſchheit in neuen Fluß kommen. Auch
die Liebe. Das Auge ſucht ſie in den
Millionen der Zeit, den Millionen des
Raums.
In der Stadt Stuttgart giebt es einen kleinen, geweihten
Fleck, — geweiht für den Naturforſcher. Schlichte weiße
Wände ohne allen Prunk. In langen Schränken daran gereiht
dunkle Geſteinſtrümmer, auf denen dein ſuchender Blick gewiſſe
Umriſſe erkennt, die an die mehr oder minder zerbrochenen
Skelette von Tieren erinnern. Es ſind Platten des ſchwarzen
Juraſchiefers, wie er am Fuße der ſchwäbiſchen Alb gebrochen
wird. Und nun auf den Platten die verſteinerten Reſte eines
großen meerbewohnenden Reptils mit ſtarken Floſſen, koloſſalen
Augen und einer Krokodilſchnauze voll fürchterlicher Zähne.
Dieſes Ungetüm iſt der vielberühmte Ichthyoſaurus, zu deutſch:
die „Fiſcheidechſe“. Die Geſteinsplatten, die dir die letzten
Überbleibſel ſeiner einſt offenbar höchſt daſeinskräftigen und
imponierenden Exiſtenz erhalten haben, ſind in den Tiefen eines
Ozeans als zunächſt weiche Schlammmaſſen entſtanden zu einer
Zeit, da es noch keine Alpen gab und die offene See vom
Mittelmeer her frei bis nach Schwaben herüberflutete. Dieſe
Zeit iſt von uns heute durch eine Folge von Jahren getrennt,
für die das einfache Wort „Million“ keinesfalls reicht und erſt
Multiplikationen erfahren müßte, — wie viele, das mag hier
beiſeite bleiben.
[83]
Und doch erzählt uns dieſes Schattenheer uralter Ichthyo¬
ſaurier, das einſt in Fleiſch und Blut auf Erden war, von der
Liebe.
Zwiſchen den Rippen eines ſolchen Ichthyoſaurus liegen
niedliche Miniaturausgaben des großen Muttertiers: ungeborene
Junge, mit der trächtigen Alten noch vor der Geburt von
irgend einem Sturm erſtickt und im Schlamm begraben. Der
Ichthyoſaurus legte keine Eier, ſondern trug ſeine Kleinen
lebendig aus gleich unſerer ſaffranbäuchigen Bergeidechſe.
Kein Zweifel, daß dieſe Jungen im übrigen erzeugt waren
in regelrechtem Liebesakt, wie heute noch alle Reptile, alle
Wirbeltiere erzeugt werden. Durch körperliche Vermiſchung einer
Samenzelle und einer Eizelle. Durch einen gemeinſamen Akt
von Mann und Weib, der jedenfalls auch von einer heftigen
Liebesbrunſt begleitet war. Die Ichthyoſaurier waren wenigſtens
zum Teil koloſſale Tiere: bis zu zehn Metern Länge. Wenn
ihre enorme ſenkrechte Schwanzfloſſe die Wellen peitſchte im
erotiſchen Sturm, ſo muß das kein ſchwächliches Schauſpiel
geweſen ſein. Vielleicht haben die Männchen vorher erbitterte
Kämpfe um den Beſitz des Weibchens geführt, wie es heute
noch unſere kleinen Zauneidechſen an grüner Frühlingshalde
treiben, die ſich gegenſeitig zu regelrechtem Zweikampf ſtellen
und nicht eher ruhen, bis möglichſt einem der beiden Rivalen
das zierliche Eidechſenſchwänzchen abgebiſſen iſt. Dort müſſen
das allerdings Kämpfe geweſen ſein, bei denen das Meer wie
vom bibliſchen Leviathan „ſiedete wie ein Topf“. Vielleicht
hat dann der glückliche Sieger mit der ſchwer Errungenen den
wilden Liebesakt vollführt nach Art unſerer Walfiſche, die zwar
keine Reptile, ſondern Säugetiere ſind, in vieler Hinſicht den
Ichthyoſauriern aber mehr ähneln als irgend ein anderes leben¬
des oder ausgeſtorbenes Tier. Walfiſchmann und Walfiſchweib,
unter Umſtänden Rieſen von mehr als zwanzig Metern Länge,
richten ſich zur Zeugung im Waſſer ſenkrecht auf und umfaſſen
ſich mit den ungeheuren Vorderfloſſen. Dabei peitſcht das
6*[84] Männchen mit der Schwanzfloſſe die See, daß ſie dröhnt und
kocht. Die Ichthyoſaurier mögen noch dazu gebrüllt haben nach
Art ihrer näheren Verwandten, der Krokodile. Vielleicht erhob
ſich auch über der Stätte ihres Liebesrauſchs jene Wolke pene¬
tranten Moſchusgeruchs, die vom brünſtigen Krokodil ausſtrömt.
So ſchaut die Phantaſie in ein Liebesidyll, das allen
Ernſtes ſchon die Jahrmillion von uns trennt. Wie entlegen
es zeitlich iſt, erhellt am beſten, wenn du dir denkſt, daß dieſe
Schaumwelle, die der Begattungsakt der Ichthyoſaurier in der
Gegend des heutigen Schwaben etwa erregte, in Sicht der
Liebenden ſich am Riff einer ozeaniſchen Koralleninſel gleich
denen der heutigen Südſee brechen konnte. Über der Korallen¬
kante nickten die großen harten Wedel von Palmfarnen oder
Sagopalmen, wie ſie heute in den Tropen wachſen und uns
die Palmenzweige zu unſeren Begräbniſſen liefern. Oder es
wogte das goldgrüne Laub jener ſchönen Ginkgobäume, die jetzt
nur noch in den Tempelhainen Chinas und Japans gehegt
werden, — ein Nadelholz, das doch helle Laubblätter trägt,
ſeltſam doppelt gelappte Blätter, die für Goethe einſt ein
poetiſches Symbol der Liebe waren, die aus Zweien Eines
ſchafft: „Fühlſt du nicht an meinen Liedern, daß ich eins und
doppelt bin .....“
Wie uns der Ichthyoſaurus ſo greifbar mit ſeiner Liebe
aufſteht, mögen ſie ſich aber alle erheben: die grotesken Un¬
getüme auf den Steinplatten, in den Glasſärgen unſerer
Muſeen, alle jene unſagbar ſcheuſäligen Scheuſale, die von
heute an rückwärts bis eben auf jene Ichthyoſauruszeit Meer,
Luft und Erde durchſchwommen, durchflattert und überklettert
haben. Alle mag man ſie ſich ausmalen in Liebesgefühlen,
Liebesakten, Liebesſtellungen, — eine Phantasmagorie, daß die
Länder beben, die Ozeane ſchwellen, der tauſendjährige Urwald
ſplittert unter der entfeſſelten Leidenſchaft.
[85]
Da trabt ein rotwolliges Mammutpaar durch den ſchwarzen
Eibenforſt, — ganz nahe dem heutigen Berlin, bei den heutigen
Kiesgruben von Rixdorf, zu denen jetzt der elektriſch helle
Abend der Weltſtadt ſeinen magiſch blauen Lichtſchein herüber¬
wirft. Koloſſe von der Größe des ſtärkſten Elefanten, mit
langen Rüſſeln, die über den ganzen Forſt weg ihren ohrzer¬
reißenden Trompetenton gellen laſſen, wenn ſie andonnern mit
dem ſchweren Paßgang aller Elefanten. Und das Männchen
jetzt liebesbrünſtig. Die Ohrdrüſen beginnen zu ſchwitzen, über
den ganzen Rieſen kommt die furchtbarſte Erregung, die ihn
zuerſt brutal das widerſtrebende Weibchen anrempeln läßt.
Schließlich ſtreicheln ſich beide liebkoſend mit den Rüſſeln, bis
endlich der Liebesſturm ſich austobt in ungeheuerlichem Akt,
als wollten zwei Berge aneinander emporklettern. So treibt
es der heutige Elefant, — warum nicht das Mammut ſchon!
Bloß daß die langen weißen, wild geſchweiften Stoßzähne bei
dem ſtürmiſchen Liebeskampf im Mondlicht aufgeblinkt und ſich
hin und her gewirbelt haben müſſen wie vier Gigantenſchlangen,
die aus dem rohen Doppelklumpen roten Zottenhaares empor¬
züngelten.
Da ſind zwei Megatherien, die Rieſenfaultiere Südamerikas,
Ungeheuer, deren Hinterſchenkel faſt dreimal ſo dick waren als
die des Mammut und deren Arme bei ſitzender Haltung ſtarke
Waldbäume umreißen konnten. Langſam in ihren Bewegungen,
wie ſie ſicherlich waren, mag ihre Liebe äußerlich ohne jede
Leidenſchaft geweſen ſein. Aber über die weite Grasebene, in
deren Löchern ſich vorſichtig ſchon der Urmenſch barg, wird wie
ein drohender Orkanſtoß ihr „Ai“, der Liebesruf der heutigen
Faultiere, gebrauſt ſein, wenn die Geſchlechter ſich von Gehölz
zu Gehölz durch die Nachtſtille lockten.
Im ſumpfigen Röhricht Madagaskars legt der Rieſenvogel
Aepyornis, der noch einen halben Meter höher war als der
Strauß und Beine viel dicker als ein ſtarker Ochſe beſaß, ſein
Ei, in deſſen Schale der Inhalt von fünf Straußeneiern Platz hat.
[86]
Mit welchen Nöten mögen Mann und Weib der Koloſſo¬
chelys, der tertiären Landſchildkröte Indiens, die zwanzig Fuß
lang und acht Fuß hoch wurde, ihre Liebesfreuden vollendet
haben: bringen doch unſere kleinen griechiſchen Schildkröten
oft ſchon Stunde um Stunde in vergeblicher Bemühung hin,
ihre ſteinhart verpanzerten Klotzleiber, den einen flach, den
anderen dahinter aufrecht ſo aneinander zu ſchieben, daß die
Geſchlechtsteile ſich überhaupt erreichen können.
Und nun die Zeitgenoſſen des Ichthyoſaurus ſelbſt, die
fabelhaften Landdrachen und Luftdrachen vom Sauriergeſchlecht.
Der Iguanodon, deſſen Gerippe aus den Kohlenſchachten
Belgiens wieder erſtanden iſt und im Muſeum durch zwei
Stockwerke ragt, — ein Reptil, das aufrecht auf den Hinter¬
beinen trabte wie ein Känguruh, bei einer Länge von zehn
Metern. Dieſe Iguanodons hatten vielleicht ſchon warmes
Blut und ſicher wohl brachten ſie lebendige Junge zur Welt.
Ob dieſe wandelnden Türme ſich ſtehend umarmt, gleichſam
aufrecht einander in den Armen gewiegt haben, wie unſere
Känguruhs das ſo keck zu machen wiſſen? Gerade bei ſolchem
weltvergeſſenen Schaukelſpiel mochten ſie unvorſichtig auf weichen
Sumpfboden geraten, in dem ſie dann rettungslos verſunken
ſind wie lecke Panzerſchiffe, den Gelehrten von heute zur Freude,
die ganze Reihen dieſer Rieſen aufrecht wie Säulen im alten,
längſt zu Stein verhärteten Moor der Kreidezeit entdecken durften.
Dann der größte von allen, das größte aller Landtiere
überhaupt, das je die Erde geſtampft hat: der Atlantoſaurus,
den uns Othniel Marſh aus dem Jurageſtein der nordamerika¬
niſchen Felſengebirge geſchachtet hat, — bloß hundertundfünf¬
zehn Fuß lang, mit allein zwei Meter langen Oberſchenkeln.
Man muß ſich den Raum vergegenwärtigen, den ein verliebtes
Paar dieſer Atlantoſaurier zu ſeiner Liebe verbrauchte, — an¬
genommen ſelbſt, daß das Männchen das Weibchen dabei auf
den Rücken wälzte, wie es heute unſer Nilkrokodil macht.
Faſt möchte man übrigens geneigt ſein, dieſem Atlantoſaurus
[87] die Krone unter allen Geſchöpfen zuzuerteilen hinſichtlich der
Empfindungen, die er beim Geſchlechtsakt verſpürt haben muß.
Dieſer Atlasdrache, der, wenn nicht die Erde, ſo doch ein
kleines Haus ganz gut hätte auf dem Rücken herumſchleppen
können, beſaß einen geradezu winzigen Schädelraum für das
Gehirn, ſo klein, daß er nicht im entfernteſten Verhältnis zu
den Proportionen des Geſamtkörpers auch nur nach ſonſtigem
Reptilienmaß ſtand. Dafür aber erweiterte ſich der Hohlraum
der Rückenwirbel gerade in der Gegend, die über den Ge¬
ſchlechtsteilen lag, ſo bedeutend, daß das Rückenmark hier etwa
dreimal ſo dick geweſen ſein muß als das eigentliche Gehirn.
Man hat geradezu von einem „Schwanzgehirn“ dieſer Tiere
geſprochen, einem beſonderem Gehirn über dem Becken, das
den hinteren Körperteil, vor allem den enorm ſchweren Schwanz,
regieren half. Unwillkürlich bringt man dieſes Schwanzgehirn
aber auch mit dem Geſchlechtsakt in Verbindung: man ahnt
ungeheuerliche Nervenerregungen, die eine ſolche Anhäufung
von Rückenmarkſubſtanz gerade in der kritiſchen Gegend ſehr
wohl bedingen konnte.
Hoch durch das Blau über dieſen ſchwerfälligen Scheu¬
ſalen ſchwang ſich das kunſtvollſte, rätſelhafteſte aller Urwelt¬
geſchöpfe dahin: die zierlich kleine Archäopteryx, halb Vogel
mit Schwingen und Federkleid, halb Eidechſe mit langem
Schwanz und einem Maul voll ſpitzer Zähne. Nichts verrät,
wie ihre Liebe ſich vollzog. Wie die vielleicht märchenhaft
bunten Federfarben verblaßt ſind zu dem einförmigen Braun
des Solnhofener Schiefers, aus dem die beiden einzigen be¬
kannten Exemplare ſtammen, ſo iſt alles Erotiſche an ihm ver¬
ſchollen. Aber die Phantaſie ſieht auch ihn nach Vogelart ſein
Neſt bauen und Eier legen, ſieht die Geſchlechter ſich jagen in
den Lüften, ſieht das Männchen mit dem gewaltigen, doppel¬
reihig befiederten Schweif gaukeln und die Kraft ſeiner Liebe
prahleriſch ankündigen .... ein verſchollenes Märchen, über
verſchollenem Wald am Geſtade eines verſchollenen Ozeans.
[88]
All dieſe Liebe der Vorzeit iſt ſtarr und tot. Die Lieben¬
den Gerippe in den Muſeen der Menſchheit. Gerippe und
Stein, auf die der Forſcher Zettel mit wunderlichen Namen klebt.
Mag der Sturm jener Reptilleidenſchaften noch ſo groß
geweſen ſein: die ungeheure Zeit dämpft das doch heute ab
wie zu einem fernen, verhallenden Akkord aus einer halb ver¬
lorenen Melodie. Und in ſolchen verhallenden, eben nur noch
das Ohr erreichenden Klängen geht die Melodie dann noch
viel weiter zurück. Der Ichthyoſaurus, ſo alt er iſt, er gehört
doch noch hoch in die Linie organiſcher Entwickelung auf
Erden. Dieſelbe Linie, von der — man mag ſich im einzelnen
ſtreiten, wie man will — letzten Endes doch auch der Menſch
abzuleiten iſt. Man bleibt da immer noch in gewiſſem Sinne
in der „Familie“. Es geht aber abwärts an dieſer Linie
ohne Bruch noch ein gut Stück, das ſicher nach Millionen
weiter rechnet, über den Ichthyoſaurus rückwärts hinaus.
Man braucht ſymboliſch gern das Bild von einem letzten
Strande des Bekannten. Ein verlaſſenes Geſtade. Sand und
Schaumflocken. Und dann das unendliche, ſilbergrau ver¬
dämmernde Meer des Unbekannten mit dem weißen Horizont
der unfaßbaren Ewigkeit.
Der Naturforſcher, der dem organiſchen Leben auf der
Erde bis in immer fernere Tage nachgeht, kennt einen ſolchen
[89] Strand. Er liegt geradezu handgreiflich an einer gewiſſen
Ecke der irdiſchen Überlieferung. Und zwar wirklich ein
Strand.
Der Ort iſt Schweden. Da findeſt du uralte Sandſteine,
abgelagert in der unterſten Abteilung der kambriſchen Epoche
der Erdentwickelung. Die kambriſchen Steine ſind unvergleich¬
lich viel älter als jene Juraſchiefer, in denen die Atlantoſaurier,
Archäopteryxe und Ichthyoſaurier liegen. Dem ſinnenden
Forſcherblick klappen ſich aber auch dieſe Geſteine noch aus¬
einander wie ein Buch. In den kleinen Spuren, die ihnen da
in Schweden eingeprägt ſind, erſcheint dir das rege Leben
eines ganz ur-urweltlichen Meeresufers. Obwohl die Jahres¬
millionen ſich über ihm gehäuft haben wie ein Turm, hat der
alte Sand, zu Stein zuſammengebacken, die unſcheinbarſten
Zeichen bewahrt. Da iſt die Fährte des kriechenden Wurms,
des Krebſes, der Schnecke. Da iſt der vierteilige, wie ein
grobes Kreuz ausſchauende Sandausguß der Magenhöhle einer
glashellen Qualle, die der Sturm ans Ufer geworfen hat und
die dann im Seichtwaſſer zu Grunde gegangen iſt, wie es
heute noch ihren blauſchillernden Leidensſchweſtern am Oſtſee¬
ſtrande geſchieht. Da iſt die Kritzellinie, die der leicht vom
Wellenzug bewegte grüne Tang der Strandzone in dem feinſten
Sandſchlamm gezeichnet hat.
Er hat an ſich eigentlich nicht viel Beſonderes, dieſer alte
kambriſche Strand in Schweden. Und doch übt er auf den Forſcher
eine ganz eigentümliche Magie aus. Es iſt der letzte Strand
mit organiſchem Leben, den er kennt. Jenſeits der kambriſchen
Formation Schwedens, aus Geſteinsſchichten, die noch älter
ſind, haben wir keinen einzigen Pflanzen- oder Tierreſt mehr.
Die Geſteine, die zunächſt noch weiter zurückgehen, befinden ſich
in einem eigentümlichen Zuſtande, der ſie früher oder ſpäter
betroffen haben muß. Ihre innerſte Struktur iſt total ver¬
wandelt: auch wenn ſie organiſche Reſte enthalten haben, ſo
ſind dieſe doch in der Maſſe aufgelöſt und unkenntlich gemacht.
[90] Keine Muſchel, keine Krebsſchale, keinen Blattabdruck giebt es
da mehr. Jener ſchwediſche Strand iſt unſer letzter hinſichtlich
aller direkten, handgreiflichen Überlieferung. Hier reißt ein
Faden.
Die Tiere, die am kambriſchen Strande lebten, haben noch
ihr Liebesleben gehabt, — wer wollte das beſtreiten? Die
Krebſe, die dort gekrochen ſind, mögen zum Geſchlechte der ſo¬
genannten Trilobiten gehört haben, wunderliche Geſellen, die
heute in dieſer Form gar nicht mehr exiſtieren, die in den
Meeren dieſer und noch der nächſtfolgenden Epoche aber in
ungezählten Maſſen ſich getummelt haben müſſen. Gerade von
ſolchen Trilobiten kennt man aus kambriſchen Geſteinen Böhmens
(die allerdings nicht Strand-, ſondern Tiefſeeablagerungen zu
enthalten ſcheinen) die ganze Entwickelung der Jungen. Man
findet zahlloſe winzig kleine ſchwarze Kügelchen, die wohl die
Eier ſind. Und daneben eine ganze Kette von Larven- oder
Jugendzuſtänden, — bis endlich herauf zum fertigen Krebs.
Da hat es auch Liebesakte gegeben, ganz zweifellos, und zum
Zweck dieſer Liebesakte erotiſche Gefühle. Es leben heute ge¬
wiſſe Krebsarten, bei denen nicht jedes weibliche Ei der männ¬
lichen Befruchtung unmittelbar bedarf, um entwickelungsfähig
zu werden, — es tritt die merkwürdige Erſcheinung der ſo¬
genannten Parthenogeneſis oder Jungfernzeugung auf. Aber
daneben findet ſich auch hier zeitweilig immer wieder echte Be¬
gattung. Unſere bekannteſten Krebſe, der Flußkrebs, der Hummer,
die Garneele, der Taſchenkrebs: ſie alle begatten ſich regel¬
mäßig. Den befruchteten Eiern gegenüber waltet bei ihnen
eine oft geradezu raffinierte Brutpflege: beſondere Taſchen und
Hohlräume des weiblichen Körpers ſchützen die Eier, oder dieſe
werden, wie wohl jeder es von unſerem Flußkrebs kennt, an
den Anhängen des Hinterleibes ſorgſam verſteckt. Vielleicht
haben jene alten Trilobiten ihre Eier in ſelbſtgegrabenen Sand¬
vertiefungen an der Flutgrenze wie in Neſtern untergebracht,
gleich dem lebenden Molukkenkrebs, der gerade mit den Trilo¬
[91] biten noch die ſtärkſte Verwandtſchaft im ganzen Körperbau
aufweiſt. Vielleicht haben die jungen, ſchon ſelbſtändig
ſchwimmenden, aber noch ſchwächlichen Sprößlinge ſich auch
noch eine Weile mit der Mutter zuſammengehalten und bei
Gefahren ſich an ihrem Leibe verſteckt nach Art unſerer jungen
Flußkrebschen, die zu der Alten wie Küken zu ihrer Henne
flüchten.
Der kambriſche Strand iſt der letzte von organiſchen
Weſen, Tieren und Pflanzen belebte Strand unſerer Erkennt¬
nis, — ſo iſt alſo auch das Liebesleben dieſes Strandes die
letzte Station ſichtbarer Liebe, die wir geſchichtlich in die
Jahrmillionen hinein verfolgen können. Auch hier reißt der
Faden jenſeits ab.
Laß uns aber einen Augenblick hier das geologiſche Fern¬
rohr überhaupt beiſeite ſetzen.
Es iſt ein Gedanke nachzuholen.
Wir ſind ausgegangen von der Unſterblichkeit des Menſchen¬
geſchlechts, garantiert durch die Liebe. Die moderne Forſchung
ſollte uns zu dieſem alten Gedanken neue Perſpektiven eröffnen.
Und auf einmal befinden wir uns am kambriſchen Strand.
Wir ſehen wie im Nebel, daß die Liebe dort noch waltete.
Wo aber iſt der Menſch?
Jener ſchwediſche Sandſtein, der einſt ſo zarter Sand¬
ſchlamm war, daß die Fährte des ziehenden Wurms, des viel¬
füßig krabbelnden Krebſes ſich darauf abprägen konnte, —
bietet er nicht irgendwo auch einmal den tiefen Ausguß eines
menſchlichen Fußes dar? Eines nackten, weiblichen Fußes?
Von einem kambriſchen Urmädchen an dem alten Strande, das
vielleicht in einem unendlich verſchollenen Sonnengolde den
Freuden der Liebe gerade entgegen ging .....?
Ein durch und durch moderner Gedanke ſetzt hier ein, der
jede Phantaſie der Art abſchneidet. Ein Gedanke von koloſſaler
Wucht, der ganze Weltanſchauungen zermalmt hat wie ein ent¬
feſſelter Marmorblock. Und der doch im Herzen ſo einfach iſt,
daß man ſich wundert, wie an ihm je gezweifelt werden konnte.
An jenem kambriſchen Urſtrand und früher ſchon von oben
her an jenem ſchwäbiſchen Tropenozean, den die Ichthyoſaurier
durchſchwammen, gab es noch keine Menſchen. Es gab nur
Weſen, die einmal Menſchen werden ſollten. Sie
[93] pflanzten ſich fort, erhielten ſich gegenüber dem ewigen Sterben
des Individuums genau ſo wie der Menſch heute durch das
große Unſterblichkeitsprinzip der Liebe. Im Laufe von Jahr¬
millionen brachten ſie es bis zur Menſchengeſtalt. Und dieſe
war es dann, die fortan durch Zeugung weiter erhalten wurde.
Wir kehren auf einen Moment zu jener einfachen Szene
zurück, die oben als der typiſche Ausgangspunkt aller Liebes¬
philoſophie bezeichnet wurde. Ein ſterbender Vater, der ſein
Kind ſegnet, — die Menſchheit, durch Liebe gerettet über den
Tod des Einzelnen hinaus. Denke dich in die Situation ganz
hinein. Blicke dem Kinde ins Antlitz und dem Vater. Sind
ſie ſich völlig gleich? Beide ſind Menſchen. Aber es waltet
ein Unterſchied. Und nicht bloß der von Jugend und Alter.
Das Kind wird Mann werden und doch in gewiſſen Zügen
anders ſein als der Vater. Auch als die Mutter. Als die
Eltern, die Ahnen überhaupt. Es iſt eben nicht bloß ein neues
Individuum in dem Sinne, daß es auf eigenen zwei Beinen
läuft, anſtatt mit den Eltern zeitlebens verwachſen zu bleiben
wie ein Glied, — und daß es noch in Kraft, ja in Zeugungs¬
kraft fortlebt, wenn der Vater als morſcher Greis ſtirbt.
Es iſt Individuum überhaupt, ſchlechtweg einzig noch
wieder innerhalb der ganzen Menſchheit vor ihm, nach ihm,
neben ihm.
Und doch ſagen wir: die Menſchheit lebt auch in ihm
fort und ſeine Individualität iſt ein Glied in der Kette jener
durch Liebe garantierten Unſterblichkeit.
Dieſes Kind wird nun wieder Kinder haben, die abermals
anders ſind. Noch bleiben dieſe Kinder vielleicht in ähnlicher
Umgebung und dieſe wird trotz aller Differenz den Enkeln
eine gewiſſe engere Zugehörigkeit zu den Vorfahren, von der
andere Menſchen gar nichts haben, erhalten. Aber die Enkel
ſollen auswandern, in ganz neue Verhältniſſe treten.
Wir haben geſchichtlich geſehen, wie neue Völker ent¬
ſtanden ſind, aus dem Gemiſch alter.
[94]
Die romaniſchen Völker ſind in relativ ſchon ganz hellen
Tagen der Weltgeſchichte ſo empor gewachſen. Die modern¬
amerikaniſchen geſtalten ſich heute, daß man ſie unter den
Augen wachſen zu ſehen glaubt. Und doch: wie weit liegt
ſchon innerhalb der Menſchheit nachher Volk von Volk! Sich
zu denken, wie es der naivſte Bibelgläubige ohne Skrupel ſeit
Jahrhunderten zugegeben hat, daß der Auſtralneger des neu¬
holländiſchen Buſchs und der Engländer, der ihn ausrottet und
neben ſeinen Eukalyptuswald voller Känguruhs und Schnabel¬
tiere die moderne, fabrikqualmende, von Eiſenbahnen umſpannte
Großſtadt mit modern politiſcher Verfaſſung ſetzt, aus derſelben
Generationsfolge, die durch Zeugung unſterblich blieb, urſprüng¬
lich entſproſſen ſein ſollen, — welche Kühnheit, welche Wand¬
lung im Gedanken.
Ja Wandlung, notwendige Wandlung. Der Gedanke muß
ſich eben dazu erheben, daß die Liebe wohl eine Unſterblichkeit
der Generationen garantiert, daß ſie aber gar nichts damit zu
thun hat, ob dieſe Generationen als Individuen und Individuen¬
ketten ſo voneinander abweichen, daß ſchließlich — nach einer
Folge von Jahrhunderten, — die Enkel und Urenkel ſich von
ihren Ahnen bis zur Unkenntlichkeit entfernt haben.
Der moderne Naturforſcher verallgemeinert das nun einfach
ins Unbegrenzte. Er fragt, ob eine Individuenfolge, die hier
den Auſtralneger in ſich ſchließt und dort den Engländer, nicht
auch einmal eine Form in ſich geſchloſſen haben könne, die,
heute lebend vor uns hingeſtellt, von uns mit den Menſchen¬
affen der tropiſchen Wälder, Gorilla oder Orang Utan, ver¬
glichen, ja im wichtigſten gleichgeſetzt werden müßte?
Nun ſpricht aber alles Bekannte aus gewiſſen entlegeneren
Urzeiten durchaus für ſolchen Sachverhalt.
Jenſeits der Eiszeit hören alle Menſchenreſte auf. Nicht
nur die richtigen Menſchenknochen, ſondern auch die Reſte
irgendwelcher menſchlichen Kultur. Heute iſt dieſe Kultur für
ganze Erdteile das Entſcheidende des Landſchaftsbildes. Denke
[95] dir den heutigen Boden Europas, hinabgeſenkt in tiefe Geſteins¬
ſchichten, mit all ſeinen unendlichen Trümmermaſſen menſch¬
licher Induſtrie! Dort aber ſiehſt du nichts mehr. Nur den
jungfräulichen Urwald, wie er heute den einſamen Wanderer
in neu entdecktem Gebiet märchengrün umfängt. Und in dem
Urwald nur Tiere unterhalb der Menſchenorganiſation. Zwiſchen
den grell bunten Blüten der Urwaldbäume, wo die Sonne
feine Lichtſtreifen in das grüne Geheimnis webt, klettern Affen.
Warum ſoll in ihnen nicht die Kette der Generationen,
die heute „Menſchheit“ heißt, rückwärts weitergehen?
Wieder eine unendliche Zeit — und im Walde von Palm¬
farnen und Araukarien ſpringen langgeſchwänzte Beuteltiere,
bergen ſich im Moor Weſen nach Art unſeres Schnabeltieres.
Im Syſtem der Tiere wie es unſere Wiſſenſchaft endlich heute
nach heißeſter, unermüdlicher Arbeit aufgeſtellt hat, verhalten
ſich dieſe Beuteltiere und Schnabeltiere zu den Affen und
affenähnlichen Säugetieren etwa ſo wie dieſe zu dem hoch ent¬
wickelten Menſchentier. Sie ſtehen eine Stufe tiefer in ihrem
Knochenbau, ihrem Gehirn, ihrer Methode, die Jungen vor
der eigentlichen Geburt ausreifen zu laſſen.
In dieſer Zeit der Beuteltiere und Schnabeltiere, die
etwa dem Zeitalter des Ichthyoſaurus entſpricht, giebt es ſo
wenig Menſchen wie in jenem alten tropiſchen Affenwalde.
Aber es giebt auch noch keine Affen. Warum ſoll nicht das,
was ſpäter Affe und zuletzt Menſch war, damals die Geſtalt
eines Beuteltieres und Schnabeltieres gehabt haben?
Und ſo immer weiter zurück.
Es kommen Epochen, aus denen kein einziger kleinſter
Reſt eines Schnabeltieres oder Beuteltieres, überhaupt keiner
irgend eines Säugetieres mehr überliefert iſt. Den Ozean aber
durchwimmeln bereits unzählige Fiſche. Das, was ſpäter am
Lande lebte, durch Lungen atmete und ſeine Jungen ſäugte
und von uns Schnabeltier genannt wird: es muß in dieſen
Tagen Kiemen am Halſe und Floſſen am Leibe getragen haben.
[96] Schnabeltier, Beuteltier, Affe und Menſch ſteckten damals
im Fiſch.
An dem kambriſchen Strande endlich, wo unſere Kenntnis
ſchließt, waren ſie wohl noch Wurm, ein Tier, das noch wieder
in ſeinem Leibesbau tief unter dem Fiſch ſteht, — gleichſam
ein noch viel einfacheres Grundſchema darſtellt, das im Fiſch
ſchon ein gut Stück mehr kompliziert erſcheint.
In einer ſchlichten Größe baut ſich dir dieſe Gedanken¬
folge vor dem innern Auge auf. Niemals ein Riß in der
Kette der Liebe zwiſchen dem kambriſchen Wurm und dem
Menſchen von heute. Unbegrenzte Generationenfolge. Aber
in dieſer Folge ein ganz allmählicher Wandel im Ausſehen
der Individuen, — ein Wandel, wie er dich und dich unter
den Menſchen dieſes Tages von einem alten Kreuzfahrer oder
einem Römer Cäſars in der Toga oder einem Hirten der
ſagenhaften jüdiſchen Patriarchenzeit trennt, von denen du durch
eine feſte Kette unzähliger Liebesgeſchichten, Umarmungen und
Geburten abſtammſt, ohne doch ſelbſt heute noch ein Jeruſalems¬
ſtreiter, Senator oder Erzvater zu ſein. Kein kambriſches Ur¬
menſchenmädchen, das an jenem äußerſten Nebelſtrande nach
Liebe ging. Aber in dem Wurm, der dort ſich für die Zeit
der Ebbe ängſtlich im Sande vergrub, enthalten der Kraft
nach ſchon alle Menſchenmädchen der kommenden Zeit .....
Erſt durch dieſen Kern der Lehre Darwins iſt der Satz
von der „Unſterblichkeit durch Liebe“ an der Linie der realen
geologiſchen Thatſachen vorbei wirklich gerettet bis zum kam¬
briſchen Strand. — Nehmen wir ihn dort wieder auf.
Urſtrand! Der kambriſche Strand kann kein wirklicher
Urſtrand ſein. Gerade die Lehre Darwins verbietet es. Me¬
duſen, Würmer und Krebſe, wie du ſie dort findeſt, ſind tiefere
organiſche Formen als etwa eine Ameiſe oder ein Menſch.
Aber ſie bilden gleichwohl nur eine Stufe, über die du noch
weiter hinab kannſt. Heute noch leben auf der Erde eine
ganze Fülle lebendiger Weſen, die weit einfacher gebaut ſind,
alſo dem reinen Entwickelungsſchema nach tiefer ſtehen als ein
Wurm oder gar ein Krebs.
Der Wurm ſetzt ſich, wie du, aus organiſchen Zellen zu¬
ſammen. Dieſe Zellen ſind in ſeinem Leibe geordnet zu Or¬
ganen, es herrſcht Arbeitsteilung unter ihnen: einige bilden
dieſes, einige jenes Organ. Tiefer ſtehend als du, hat der
Wurm doch in dieſer Hinſicht noch eine große Ähnlichkeit mit
dir. Jetzt findeſt du aber heute noch bei uns lebende Ge¬
ſchöpfe, die gar keine Organe mehr beſitzen, — die bloß aus
einem rohen Klumpen völlig gleichartiger Zellen beſtehen. Und
ſelbſt über dieſen organloſen Zuſtand kommſt du hinaus.
Du haſt vom Bazillus gehört, wenigſtens vom Cholera¬
bazillus, der die Cholera erzeugt oder doch immer gleich¬
zeitig mit dieſer grauſamen Krankheit ſich zeigt. Millionen
und Millionen ähnlicher Bazillen, alle mikroſkopiſch klein, wenn
auch nicht alle ſo gefährlich, durchſchwirren allerorten die Luft,
durchwimmeln das Waſſer. So lieſt du in der Zeitung. Was
aber iſt ein ſolcher Bazillus? Er iſt ein lebendes Weſen und
eben ſein intenſives Leben iſt es ja, was ihn unter Umſtänden
7[98] ſo bedenklich macht. Aber iſt er ein Tier, etwa eine Art Wurm
von kleinſtem Körpermaß? Oder eine Pflanze, etwa eine Alge
oder ein Pilz? Das letztere hört man häufig ſagen und in
der That verführt der direkt verwertete wiſſenſchaftliche Namen
„Spaltpilze“ dazu. Aber vom eigentlichen Pilz iſt der Bazillus
doch noch ſtark verſchieden. Er iſt viel niedriger organiſiert.
Und er iſt unvergleichlich niedriger noch organiſiert als der Wurm.
Weder das Wort Tier, noch das Wort Pflanze deckt ihn recht.
Er vertritt ein Urreich, aus dem Tier wie Pflanze entſproſſen
ſind, aus dem jedes für ſich erſt als Spezialiſierung hervorgegangen
iſt. Der Bazillus ſtellt nicht mehr dar als eine einzige Zelle.
Ein einziges jener Klümpchen lebendigen Stoffs, — einen einzelnen
Ziegelſtein in unſerem früheren Bilde, der aber vermöge ſeines
„Alleinſeins“ eben ein winzigſtes „Haus“ für ſich repräſentiert.
Mit ſolchem Bazillus haſt du denn in der That jetzt das
Unterſte, das Einfachſte erreicht, was wir auf der heutigen Erde
von ſelbſtändigen Lebensformen kennen. Er iſt allerdings
durchweg ſchon ſo winzig, daß die Frage bleibt, ob er nicht
noch Verwandte haben könnte, die von ſolcher raffinierteſten
Kleinheit wären, daß ſelbſt unſere feinſten Mikroſkope ſie nicht
mehr wahrnähmen. Aber der Bazillus ſelbſt iſt ſchon gleichſam
im reinen Gedankenſchema das Einfachſte, was wir uns über¬
haupt bei einem echten lebenden Weſen vorſtellen können.
Unſere Phantaſie iſt bei ihm bereits hinſichtlich der Verein¬
fachung bei einem gewiſſen Schluß. Und ſo würden wohl auch
ſolche noch kleineren Weſen unter den Bazillus wohl nur hin¬
ſichtlich der Größe, nicht aber des Baues wirklich hinabſteigen.
Wir glauben ſchon mit ihm auf der Null zu ſein, von der ſich
nichts mehr abziehen läßt, — es ſei denn, wir zögen das
Leben ſelber von ihm ab, womit er aber ganz aus der Kette
fiele, die mit ihm nach oben anheben ſoll.
Jenſeits des kambriſchen Strandes, ſagte ich dir, giebt's
keine Reſte von Tieren und Pflanzen mehr. Die Urſache iſt
offenbar eine rein äußerliche: die noch älteren Schlamm- und
[99] Sandablagerungen ſind durch einen ſeltſamen Kriſtalliſations¬
prozeß wie mit der Wurſthacke durcheinander gearbeitet, ſo daß
jede Überlieferung organiſcher Formen von ſelbſt ausgeſchloſſen
iſt. Unſere Phantaſie hat aber gar keinen Grund, ſich durch
dieſe äußerliche und wohl nachträgliche Sache kommandieren zu
laſſen. Wenn am kambriſchen Strand ſchon Würmer krochen
und Quallen angeſpült wurden, ſo muß eine Zeit vorausge¬
gangen ſein, in der ſich in einem völlig verſchollenen Urmeer
ſolche Würmer und Quallen aus noch einfacheren Tieren ent¬
wickelt haben. Und ſchließlich muß de facto ein ganz äußerſter
Urſtrand irgendwo gelegen haben, an dem nur mehr allerein¬
fachſte organiſche Weſen exiſtiert haben. Weſen jener Sorte,
die noch nicht einmal die ſcharfe Sonderung in Tier und
Pflanze zulaſſen, ſondern aus denen echte Tiere ſowohl wie
echte Pflanzen ſich erſt in der Folge als zwei parallele Stämme
entwickeln ſollten. Weſen nach Art jener heute noch ſo maſſen¬
haft vorhandenen Bazillen, deren ganzer Leib bloß ein einziges
anſcheinend ziemlich gleichartiges Klümpchen lebenden Stoffs, —
eine einzige Zelle, darſtellt.
Auch der Bazillus „liebt“, das heißt: er zeigt Zeugungs-,
zeigt Fortpflanzungsvorgänge, durch die aus lebendigen Indi¬
viduen neue Individuen geſchaffen werden. Natürlich in ſeiner
ganz primitiven Weiſe. Es iſt an ihm alles ſo „einfach“ ge¬
worden, ſo auf den alleinigen Ziegelſtein herausgearbeitet, daß
eben auch die Liebe auf den denkbar dünnſten Extrakt geſetzt
erſcheint. Wir wollen gleich noch ein Wort davon reden, —
hier nur einſtweilen die ſchlichte Thatſache. Die feuchte Urluft,
in der Bazillen ſchwärmten, — oder das Urwaſſer, in dem ſie
ſich ſchlängelten, oder der Urſchlammſtrand, wo ſie krochen: ſie
waren ſchon Schauplatz gewiſſer allerſimpelſter Vorgänge, bei
denen Individuen neue Individuen aus ſich herausgeſtalteten, —
es gab da Fortpflanzung, gab Liebe. Das iſt nicht eine
vage Hypotheſe, ſondern es iſt ein einfacher logiſcher Schluß.
Wie die Aſtronomen einſt den Planeten Neptun aus gewiſſen
7*[100] Schwerkraftſtörungen beim Uranus „errechnet“ haben, ohne ihn
zunächſt unmittelbar zu ſehen, ſo errechnet auch unſere biolo¬
giſche Phantaſie jenen vorkambriſchen Strand mit ſeiner reinen
Bazillenliebe auch unter dem vollen Bewußtſein der Thatſache,
daß das Wiſſen greifbare geologiſche Spuren davon wahr¬
ſcheinlich niemals finden wird.
Jetzt aber, mein Lieber, entſteht eine verwickelte Situation.
Wir ſind an dem Leitſeil Darwins hinabgeklettert in den Schacht
der Jahrmillionen, ſo tief es ging. Vom Komplizierteſten zum
Einfachſten. Vom Menſchen zum Bazillus. Wir ſind über
das Wiſſen ſogar hinausgeklettert mit der Theorie. Nun aber
ſtehen wir an einem kritiſchen Fleck. Darwin ſchüttelt uns die
Hand und geht. „Im Anfang war der Bazillus.“ Woher?
Du kennſt die hübſche indiſche Legende. Die Welt ruht
auf einem Elefanten. Der Elefant ſteht auf einer Schildkröte.
Aber wer trägt nun die Schildkröte? Der Prieſter ſagt:
das iſt göttliches Myſterium.
So ſtänden wir denn jetzt auch mit dem Urbazillus auf
unſerer Schildkröte. Das Wort Myſterium wird dich aber
kaum befriedigen.
Schließlich bleibt ja eines wahr. Auch der Naturforſcher
mündet mit den letzten Weltfragen im Myſterium wenigſtens in
dem Sinne, daß es da für ſein Wiſſen ſchlechterdings pechſchwarze
Nacht wird. Woher die ganze Welt im letzten Grunde auftaucht,
wie die großen grundlegenden Bewegungen im All angefangen
haben, was die uns ſichtbaren Naturgeſetze ſelber im Sinne von
„Entwickelungen“ darſtellen: das rutſcht für ihn in die große Ver¬
ſenkung allgemein erkenntnistheoretiſcher Fragen. Was praktiſch
wirklich nichts viel anderes beſagt, als es rutſcht ins Geheimnis.
Aber das Mißliche iſt, daß anſcheinend dieſer weiteſte
Begriff des „Letzten“ in der Natur noch gar nicht auf unſeren
Bazillenſtrand zutreffen will.
Er lag auf der Erde. Mag die Erdoberfläche damals
noch ſo anders geweſen ſein, als heute, was Verteilung von
[101] Waſſer und Land und vielleicht auch, was allgemeine Tem¬
peratur anbetrifft: immerhin ähnlich den heutigen Verhält¬
niſſen muß ſie ſchon geweſen ſein. Nun giebt es aber eine
gangbare geologiſche Hypotheſe, nach der in einer ſehr alten
Zeit die ganze Erdkugel glühend geweſen ſein ſoll, — eine
Sonne im kleinen, um die glühende Metalldämpfe wogten und
aus der der heiße Waſſerſtoff in Säulen ſpritzte. In einer
Atmoſphäre von Metalldämpfen, wo das Eiſen als eine Wolke
ſchwebt und vor ungeheuerlicher Hitze ſchließlich keine einzige
chemiſche Verbindung mehr zwiſchen den Grundelementen glückt,
kann auch der zäheſte Bazillus nicht mehr ausdauern. Er beſteht
ja nur aus einer Zelle, — aber dieſe eine Zelle führt in ſich eben
doch jene chemiſche Subſtanz, an der für unſere gangbaren Be¬
griffe das „Leben“ haftet, und die „ſtirbt“, wenn man ſie ſo er¬
hitzt, daß ihre chemiſche Zuſammenſetzung in die Brüche geht ....
In jener Epoche der allgemeinen Erdenglut können alſo
Bazillen in unſerem Sinne noch nicht exiſtiert haben. Es muß,
wenn die Hypotheſe richtig iſt, irgendwo erſt innerhalb der
Erdentwickelung ein Punkt liegen, wo die Bazillen zuerſt auf¬
getreten ſind, nachdem ſie vorher noch nicht vorhanden waren.
Und zwar lag der Punkt, wenn die Sache ſo zu recht beſteht,
augenſcheinlich da, wo die Erdenglut zuerſt ſo weit nachgelaſſen
hatte, daß eine für das Bazillenleben annehmbare Temperatur
eingetreten war.
Du darfſt mit unſeren Erkenntnismitteln von einer ſolchen
Hypotheſe wie der von der Urglut der Erde natürlich nicht
ohne weiteres ſagen, daß ſie unerſchütterlich feſt ſtehe. Ihre
beſte Stütze iſt ein Analogieſchluß. Wohin wir von unſerer
irdiſchen Sternwarte aus im All blicken, ſcheinen Phaſen eines
fortlaufenden Erkaltungsprozeſſes zu ſchweben, dem die Welt¬
körper unterliegen. In den Nebelflecken ſcheinen kosmiſche Ge¬
bilde vor uns zu ſtehen, die noch rein gasförmig ſind, — ſo,
wie die Erde werden müßte, wenn man ſie ins denkbar
Äußerſte erhitzte. Eine Anzahl Fixſterne verraten dann höchſte
[102] Weißglut. Unſere Sonne, offenbar im Geſamtbau des Alls
nichts anderes als auch ein ſolcher Fixſtern, iſt dagegen ge¬
halten ſchon etwas weniger in Glut, man rechnet ſie zum
Typus des gelben Sterns, und viele Aſtronomen ſehen in den
Sonnenflecken die erſten Anſätze eines gerade beginnenden noch
relativ gemäßigteren Stadiums, das etwa als Rotglut zu be¬
zeichnen wäre. Von gewiſſen anderen Fixſternen da draußen
iſt ziemlich ſicher, daß ſie ſchon bis zur ſchwachen Rotglut
wirklich herabgebrannt ſind. Da der Weltraum eiſigkalt iſt,
ſo liegt die Erklärung, warum im Laufe ungezählter Jahres¬
folgen die Hitze überall heruntergeht, ja nahe genug. Aber
offenbar hat alles mit einem Maximum von Glut angefangen.
Warum ſoll es bei der Erde nicht auch ſo geweſen ſein?
Winzig, wie ſie iſt, iſt ſie heute längſt ſo erkaltet, daß ſie kein
eigenes Licht und keine meßbare eigene Wärme mehr aus¬
ſtrahlt. Es ſtärkt dabei die Analogie, daß der noch viel
kleinere Trabant der Erde, der Mond, gewiſſe Spuren weiſt,
die ihn vielleicht als noch weiter vorgeſchritten, gleichſam noch
„erkalteter“ als die Erde erſcheinen laſſen.
Zu dieſem großen Analogieſchluß kommen dann noch
andere mehr ſekundäre Gründe. Man malt ſich eine äußerſte
Entwickelungsfolge aus, bei der die Erde — als glühender
Ring — von der Sonne einſtmals abgeſchleudert ſein ſollte.
Sie wäre gleichſam ein Sprößling der Sonne. Und der Mond
von ihr. Und natürlich die Sonne auch wieder von anderen
Fixſternen. Dieſe Betrachtungsweiſe, die im einzelnen viel
Schwieriges hat, beſitzt den einen großen Wert, daß ſie uns
immerzu im Atem von Entwickelungen hält. Auch die Erde,
auch die Sonne, ſchließlich alle Sternſyſteme und Nebelflecke,
erſcheinen als Sproſſen eines einzigen kosmiſchen Rieſenbaumes,
der ſeit Jahrmyriaden wächſt und wächſt. Die Urglut der
Erde aber iſt ſelbſt eine der logiſchen Folgerungen dieſer An¬
ſchauung, und wenn das Ganze plauſibel erſcheint aus allgemein
logiſchen Gründen, ſo findet ſie ſelbſt dabei natürlich wieder
[103] ihre Stütze. Und ſo giebt es der Gründe mehr. Faßt du ſie
als Bündel zuſammen, ſo merkſt du wohl, daß ſie einzeln das
kühne Bild einer ſonnenhaft flammenden Urerde kaum tragen
könnten, aber im Verbande allerdings ſtark genug ſind, um in
den roten Nebel, der allgemein über ſolcher Urphantasmagorie
ſchwebt, wenigſtens die vorläufig beſten Umriſſe zu bringen.
Alſo: die Geſamtentwickelung der Dinge geht für unſere
Phantaſie noch weit über den irdiſchen Urbazillenſtrand hinaus.
Erſt jenſeits ungeheuerlicher Syſtembildungen, Ringabſchleude¬
rungen, kosmiſchen Verdichtungen und Erkaltungen fällt ſie in
die Schwärze des ganz Unfaßbaren — des Myſteriums — ab.
Innerhalb dieſer extremeren Entwickelung beginnt aber jenſeits
des Urbazillenſtrandes ſofort Rotglut der Erdkugel, die den
Bazillen, dem Leben, der Liebe ein Ziel zu ſetzen ſcheint.
Erinnere dich noch einmal wohl: in dem Urbazillus ſteckt
ſchon der Menſch. Im Sinne einer durch Entwickelung ver¬
änderten, aber innerlich kontinuierlichen Zeugungskette der
älteſte Menſch. Bis hierher zurück geht der feſte, nie zer¬
riſſene Faden der Unſterblichkeit durch die Liebe. Aber was
nun? Woher kamen die erſten Bazillen an der Grenzſcheide
zwiſchen rotglühender und abgekühlter Erde?
Der Naturforſcher macht dir einen ſcharfen Schnitt. Alles
vom Bazillus der vorkambriſchen Jahrmillionen bis auf den Men¬
ſchen von heute läuft an dem goldenen Schickſalsſeil der Zeugung.
Der erſte Bazillus aber ſoll entſtanden ſein — durch Urzeugung.
Das iſt nun ein Begriff der beſonderſten Art. Unſere
Betrachtung, die von dem großen Bilde der Geſchlechtszeugung
beim heutigen, lebenden Menſchen ausging und dann in den
Schacht der Äonen ſtieg auf der Suche nach ſeinem tiefſten
philoſophiſchen Sinn, muß einen Moment hier feſt Auge in
Auge ſtehen .....
„Von Gott dem Vater ſtammt Natur,Das allerliebſte Frauenbild;Des Menſchen Geiſt, ihr auf der Spur,Ein treuer Werber fand ſie mild.Sie liebten ſich nicht unfruchtbar:Ein Kind entſprang von hohem Sinn.So iſt uns allen offenbar:Naturphiloſophie ſei Gottes Enkelin.“
nach Dantes Inferno canto XI. 98.
Urzeugung!
Wenn du ein gewöhnliches Lehrbuch auf die Rubrik
„Zeugung“ hin nachſchlägſt, ſo findeſt du zumeiſt eine doppelte
Definition. Zuerſt die echte Zeugung, alſo die, der du ſelbſt
dein Daſein verdankſt. Dann die Urzeugung. Der Paragraph
pflegt dir hinzuzuſetzen, daß die letztere von Menſchenaugen
noch niemals beobachtet worden ſei, alſo im aktuellen Sinn
überhaupt nicht vorkomme. Je nach dem Maße ſeiner dar¬
winiſtiſchen Färbung ſchränkt das Buch dir das aber offen oder
zaghaft wieder dahin ein, es müſſe Urzeugung geſchichtlich
wenigſtens einmal exiſtiert haben: für den Anfang alles Lebens
überhaupt.
Mir ſummt, wenn ich ſolchen Paragraphen leſe, immer
ganz leiſe etwas im Ohr von der famoſen Antwort des
Kandidaten Jobs:
„Eine gute Predigt hat zwei Teile,Den einen Teil niemand verſtehen kann,Den andern Teil aber verſtehet man.“
Sicherlich iſt die Urzeugung das komplizierteſte Kapitel in
der ganzen Zeugungsphiloſophie.
Das Lehrbuch hat recht: ſie iſt heute nirgendwo nach¬
gewieſen. Zu den Zeiten des alten Ariſtoteles ſah man noch
vergnüglich Mäuſe und Flöhe ſich aus Dreck entwickeln. Die
Fliegenmaden im Käſe entſtanden wirklich urgezeugt aus dem
Käſe ſelbſt. Und noch bis in unſer Jahrhundert hinein,
eigentlich bis auf den braven Leuckart, der eben erſt geſtorben
iſt, ſollte in dir ſelber der Bandwurm ein elternloſes Produkt
deiner eigenen Darmſtoffe ſein. Das alles iſt heute als Unſinn
aufgeklärt: die Maus deiner Diele wie der Floh deines Betts,
die Made deines reifen Limburgers wie der Bandwurm deines
Darms ſind regelrecht gezeugt wie alle anderen höheren Tiere,
deren Daſein unerſchütterlich im großen Lebensbaum der fort¬
geſetzten Zeugung von Individuum zu Individuum hängt.
Aber auch wo man wiſſenſchaftlich exakt geſucht hat, bei den
niedrigſten Weſen ſelbſt, beim Bazillus von heute, ſind alle
Experimente ohne Erfolg geblieben. Entweder die Sache geht
heute thatſächlich nirgendwo vor ſich — oder unſere Mittel
ſind mindeſtens zu ſchwach, es zu erkennen.
Bleibt aber die Ausnahme für das „erſte Mal“, bei den
erſten Bazillen der Erde. Für dieſe Bazillen wäre etwas an¬
zunehmen, was ſie von allen ihren Nachkommen bis zu dir
ſelber herauf fundamental unterſchiede. Sie haben zwar Liebes¬
akte im Sinne einfachſter Fortpflanzung von ſich ausgehen
laſſen. Aber ſie hatten ſelber keine an ſich erfahren.
Und ſo wären wir denn hier thatſächlich bei einer „Ent¬
ſtehung der Liebe“ angekommen. Denke dir — auf das Detail¬
bild kommt ja bei dieſen riskant alten Geſchichten nicht viel
an — den erſten Bazillus an der Grenze von Waſſer, Luft
[106] und Erde, alſo am Meeresſtrande etwa, aus „totem“ Stoff,
irgend einer anorganiſchen Miſchung, plötzlich erwachſen — ſo
wäre der Moment ſeines Werdens, da er mit all ſeinen Fähig¬
keiten erſtand, auch der große Geburtsakt der Liebe als
einer dieſer Fähigkeiten geweſen. Warum es ſtrenggenommen
nur ein einziger Bazillus zu ſein brauchte und wie er durch
den merkwürdigen Prozeß der ſogenannten Selbſtteilung ſich
ſelber ſeine Eva ſchaffen konnte, davon erzähle ich dir gleich
noch mehr. Auf alle Fälle: dieſer erſte Bazillus war Adam
des Lebens zugleich — und Aphrodite.
Es iſt mehr als ein Scherz, wenn du hier der alten Sage
gedenkſt. Aphrodite, die unter der Gunſt einer heiligen Stunde
in ihrer nackten Menſchenſchöne dem Schaum entſteigt .....
Wohl iſt es ein gutes Stück Weges: von dem rohen
Klümpchen Lebensſtoff der einzelnen „Zelle“ in ſolchem Ur-
Bazillus bis herauf zu einem vollendet herrlichen nackten
weiblichen Menſchenkörper, den die Liebe zur höchſten Schön¬
heit verklärt. Aber ſchließlich: dieſer Weg iſt eben durch die
Fähigkeit der Liebe von ſelbſt gegeben. Der Bazillus erzeugt
zahlloſe Nachkommen, auf die äußere Umſtände und innere
Bedingungen immerfort einwirken, bis in einer Kette von
Myriaden liebeserzeugter Individuen aus dem formloſen Ur¬
weſen eine Aphrodite, das heißt: ein ideal ſchönes nacktes
Menſchenweib geworden iſt. Die Sage ſchiebt das nur etwas
zuſammen und hebt gleich die Aphrodite als ſolche aus dem
Schaum. Der Naturforſcher braucht dazu noch einige Millionen
Jahre und eine luſtige Reihe von Tierformen, in die ſich, von
der Liebe immer weiter gegeben, die aufſteigende Reihe des
Lebendigen bis zum Menſchen herauf kleidete: Urdarmtiere,
Würmer, Fiſche, Amphibien, Schnabeltiere, Beuteltiere, zuletzt
Affen und Affenmenſchen. Aber im Prinzip macht das nicht
viel aus. Die Liebe ſcheint auf alle Fälle einmal aus Schlamm
geſtiegen, an einem geweihten Tage weißer Urzeit jenſeits aller
irdiſchen Farben, die wir kennen.
[107]
Denke den Gedanken noch einen Schritt weiter und ich
habe dich da, wo ich dich will. Aphrodite im altgriechiſchen
Märchenreiche entſtand im Schaum durch einen myſtiſchen Akt.
Gaia, die Erdgöttin, gebiert den Uranos, die zeugende Himmels¬
kraft. Uranos zeugt mit der eigenen Mutter die Titanen.
Der Titane Kronos entmannt den Vater und wirft ſein
Zeugungsglied in den Ozean. Es verſinkt in einer Schaum¬
welle und aus dieſem Schaum ſteigt Aphrodite empor. Götter
und Myſtik .....
Nun überlege dir, aus welchem Grunde der moderne
Naturforſcher an jener letzten Lebensſcheide vor der Rotglut
der Ur-Erde die Hypotheſe von der „Urzeugung“ erfunden hat.
In ſtreng wiſſenſchaftlicher Form kam die Hypotheſe in
unſerm Jahrhundert allmählich auf als die darwiniſtiſche
Gegenhypotheſe zu einer Behauptung, die als ſolche keines¬
wegs wiſſenſchaftlicher Forſchung und Denkart entſtammte,
ſondern gerade einer gewiſſen Myſtik und ihrer unverwüſtlich
zähen Tradition. Religiöſer Dogmatik vertraut, hatte dieſe
ſich eine Zeitlang gleichſam heimatlos herumgetrieben, als ſie
plötzlich in der wiſſenſchaftlichen Geologie ſelber eine Art
rettender Planke ſah. Vorher Urfeuer der Erde — keine
Möglichkeit lebendigen Stoffs auf Erden. Später Leben in
greifbarer Geſtalt. Da mußte ſich, ſo ſchloſſen Philoſophen,
die auf dem Boden gewiſſer religiöſer Glaubensſätze ſtanden,
an dieſem Fleck wohl das „Wunder der Schöpfung“ ein¬
gemiſcht haben. Der erſte Bazillus war durch myſtiſchen Akt
aus Gottes Hand gefallen. Um für unſern Zweck hier zu
reden: alſo auch die Liebe war an der Grenze von glühender
Unbewohnbarkeit und abgekühlter Bewohnbarkeit der Erde „ge¬
ſchaffen“ worden.
Es liegt etwas Tragiſches darin, wie ſolche myſtiſchen
Ideen während unſeres Jahrhunderts auf die „Platz-Suche“
im logiſchen Menſchenverſtand gegangen ſind. Zuerſt die alte
Tradition felſenfeſt: ſechs Tage Schöpfung — ganz buchſtäblich
[108] Tage — und alles darin — Erde, Weltlicht, Gewürm, Blumen,
Vögel unter dem Himmel, Adam und, aus ſeiner Rippe, Eva —
alles göttlicher Schöpferakt, alles durch einen Ruck aus dem
myſtiſch Unfaßbaren in die Realität geſchleudert, wie auf
dem Bilde Michel Angelos. Dann langſam die Wiſſenſchaft.
Saugend, Kraft raubend wie ein böſer Meerpolyp. Ein gut
Teil Geologie mit den enormen Zeiträumen, mit den endloſen
Erdepochen, die ſich folgten wie Akte eines gigantiſchen Dramas
neuerer Äſthetik, die alle Ariſtoteliſchen Einheiten lachend ver¬
wirft, konnte denn doch nicht mehr einfach abgeleugnet werden.
Ein Stück darwiniſtiſcher Entwickelung wurde auch allzu plauſibel.
Die „Schöpfung“, dieſes ſchöne Gedicht, das ſich im Banne
enger Dogmatik in die Welt des „Wiſſens“ verirrt, flatterte
hoffnungslos über den dröhnenden Waſſern der geologiſchen
Unterwelt. Da auf einmal doch noch ein trockener Punkt!
Der dunkle Moment der erſten Entſtehung von „Leben“. Hier
mindeſtens ſchien ein abſoluter Anfang ohne Entwickelung.
Und der müde geflatterte metaphyſiſche Gedanke ſank auf die
weiße Stelle der Weltenkarte wie einer jener armen Schmetter¬
linge, die der Seefahrer im Ozean ins Takelwerk taumeln
ſieht — taumeln ſieht mit dem wehmütigen Mitleid, wie leicht
auch er durch irgend eine Ungunſt des Elements ſolch fern
verſcheuchter Fremdling werden könnte ..... Hatte Gott
ſonſt nichts gethan in den Wehen der Erdgeſchichte: hier war
denn doch ſeine Hand im Spiel — vor dem Ur-Bazillus .....
Jetzt aber war es die Urzeugungslehre, die auch dieſe
letzte Poſition dem myſtiſchen Schaffensbegriffe energiſch beſtritt.
Auch hier forderte ſie ſchlechtweg ein mechaniſches Geſchehen.
Du kennſt aus der myſtiſchen Gedankenwelt ſelbſt die ſchöne
Legende von den Steinen, die redeten, als die Menſchen¬
thorheit ſchwieg. So, wo die Stimme des Lebens ganz zu
verſagen ſchien, rief der unentwegte Forſcherſinn die tote
Materie wach: Urzeugung — Entſtehung des erſten Lebens
ohne myſtiſchen Eingriff einfach aus dem unbelebten, aber
[109] kraft ſeiner Geſetze entwickelungsſchwangeren anorganiſchen Roh¬
ſtoff heraus.
Dieſen Gegenſatz mußt du ganz in dich aufnehmen, um
von Grund aus zu begreifen, was die Hypotheſe der Ur¬
zeugung im wiſſenſchaftlichen Sinne eigentlich will und not¬
wendig wollen muß. Um den myſtiſchen Gewaltakt mit ſeiner
motivloſen Plötzlichkeit zu beſeitigen, muß ſie ſelbſt von Anfang
an konſequent in den Bann der Entwickelungsidee treten.
Die Urzeugung darf unter keinen Umſtänden einen Sprung
darſtellen: ſie muß eine Brücke ſein.
Sobald über dieſen Punkt eine klare Gedankenverſtändigung
eintritt, verliert, meine ich, die Urzeugungsfrage ſehr viel von
ihrem Fremdartigen. Sie wird unvergleichlich beweglicher, wird
ein offenes Thor des weiteren Denkens anſtatt eines Riegels.
Und das kommt auch unſerm Liebesproblem aufs beſte zu nutze.
Denke dir das Folgende einmal möglichſt klar durch.
Sage ich: Anorganiſches, lebloſer und lebensfremder Stoff
wurde eines Tages plötzlich zum Bazillus, zur lebenden Zelle,
ſo iſt das ein Sprung. Die beiden Sachen ſind bei ſolcher
Definition extrem verſchieden. Ich aber ſetze einen Akt, der die
eine zur andern „macht“. Das iſt und bleibt ein Gewaltakt.
Anders aber ſo. Ich ſage: der Bazillus hat ſich aus
dem Anorganiſchen, das noch nicht Bazillus war, „entwickelt“.
Damit ſetze ich von vorne herein etwas Verwandtes in beiden
voraus. Das Anorganiſche konnte Bazillus werden. Es mußte
alſo die Bedingungen dazu ſchon in ſich tragen, genau ſo, wie
der Bazillus niemals hätte Menſch werden können, wenn er
nicht etwas innerlich dieſem Menſchen Verwandtes, etwas auf
dieſen Menſchen Hinleitendes ſchon in ſich trüge. Läßt unſer
Satz nach der einen Seite den Bazillus aus dem Anorganiſchen
naturgemäß herausſteigen, ſo trägt er notwendig auf der andern
Seite gewiſſe Vorausſetzungen dieſer Bazillus-Exiſtenz — alſo
Vorausſetzungen des Lebens! — in das Anorganiſche ſelber
hinein. Damit Leben in der Form, wie der Bazillus es auf¬
[110] weiſt, aus ihm kam, mußten gewiſſe Anſätze zum Leben ſchon
im Anorganiſchen ſelber vorhanden ſein. Nicht natürlich im
Sinne einer realen Einſchachtelung, daß etwa Bazillen in der
„toten“ Natur geheimnisvoll eingekapſelt ſeit Ewigkeit geſteckt
hätten. Sondern im Sinne eben einer Entwickelung als Mög¬
lichkeit, als Anlage, die ſich je nach Umſtänden ſteigern ließ
und geſteigert hat.
Um Leben an einer Stelle — beim Urbazillus auf der
friſch abgekühlten Erde — aus dem Anorganiſchen ziehen zu
können, mußt du dir notwendig dieſes „Anorganiſche“ als den
großen übergreifenden Geſamtbegriff vorſtellen, der auch
die Wurzeln des ſogenannten Organiſchen oder Lebendigen
von Beginn an in ſich ſchloß und ſchließt.
Wie du dir das dann enger ausmalen willſt, dafür giebt's
einen ganzen Blütenſtrauß von Möglichkeiten.
Die uns ſichtbare anorganiſche Natur zerteilt ſich, wie du
weißt, in eine Reihe feſter Grundſtoffe oder Elemente. Gold
iſt ein ſolcher Grundſtoff, Blei iſt einer, der Sauerſtoff der
Luft und der Waſſerſtoff im Waſſer je einer, das Natrium im
Kochſalz und das Queckſilber in deinem Thermometer ſind welche
und ſo fort. Da könnteſt du dir denn wohl zunächſt ausmalen,
es möchte ein einzelner dieſer Grundſtoffe von altersher der
ſpezielle Träger der Lebensmöglichkeit ſein.
Auffälligerweiſe ſpielt in allem Organiſchen; im Leben und
Weben aller Zellen vom Bazillus bis zu dir als Menſch herauf,
wirklich ein ſolcher Grundſtoff eine ganz auffällige, ja geradezu
entſcheidende Rolle. Der Kohlenſtoff. So könnteſt du dir ja
am Ende denken, gerade der ſei jener Urlebensträger.
Als die Erde noch weißglühend war, wie der Sirius, und
chemiſche Verbindungen der Grundſtoffe in ihrem furchtbaren
[111] Hochofen nicht duldete, — als ſie alſo auch gewiß noch keine
dickflüſſige Zellmaſſe eines „lebenden Bazillus“ in ſich trug, —
da wäre in jenem Sinne der frei in jener Glutatmoſphäre
ſchwebende reine Kohlenſtoff das vordeutende Entwickelungsglied
des „Lebens“ geweſen, in dem der Möglichkeit nach damals
dann allerdings auch ſchon der Bazillus ebenſo lag, wie ſpäter
im Bazillus der Menſch. Kaum ging die Temperatur herunter
und ermöglichte ausreichende chemiſche Verbindungen auf Erden,
ſo wurde alſogleich ein Teil des irdiſchen Kohlenſtoffs zu
Zellen, zu Bazillen, zu „Leben“ im engeren Sinn.
Schon dieſe einfachſte Anſicht, der ſich aus den wenigen
Anhaltspunkten heraus, die wir überhaupt haben, ſchwerlich
ſtark widerſprechen läßt, führt dich aber ganz von ſelbſt noch
ein Rieſenſtück weiter.
Gewiß: der Kohlenſtoff unterſcheidet ſich von den anderen
Grundſtoffen der Natur offenbar ganz individuell durch be¬
ſtimmte Eigenſchaften. Und trotzdem zählſt du ihn zu dieſen
Grundſtoffen, wie du ja auch eine Ameiſe und einen Affen
beide unter die gleiche Rubrik „Tier“ bringſt. Ameiſe und
Affe ſtehen ſich in vielem ſehr fern, aber ſie ſtehen dennoch in
einem gewiſſen Verwandtſchaftsverhältnis hinſichtlich ihrer Eigen¬
ſchaften miteinander. Darwin ſagt dir ſogar direkt: ſie ſtehen
in einem Stammbaumverhältnis miteinander, das ſie geſchicht¬
lich verknüpft, wenn auch heute beide wie ſehr entfernte Vettern
an zwei recht extremen Ecken des Stammbaumes ſtehen mögen.
Und ſo geht's geradeſo mit den Grundſtoffen, mit Gold und
Eiſen und Schwefel und Kohlenſtoff. Man ſagt von gewiſſen,
daß ſie ſich näher, von anderen, daß ſie ſich ferner ſtehen.
Sicherlich giebt es da Verwandtſchaften, Verwandtſchafsgrade,
ſchließlich etwas überall Gemeinſames. Darwiniſtiſche Ent¬
wickelungsideen, mit beſonnener Kritik in die moderne Chemie
übertragen, legen dir dann nahe, daß auch hier die allgemeine
ſyſtematiſche Verwandtſchaft höchſtwahrſcheinlich eine echte
Stammesverwandtſchaft ſei. Man ahnt, daß die Elemente, wie
[112] ſie heute da ſtehen, ſich geſchichtlich erſt auseinander gruppen¬
weiſe entwickelt haben dürften. Der ſpekulierende Chemiker von
heute träumt faſt wieder wie der alte Alchymiſt (bloß auf der
Grundlage methodiſcheren Denkens!), ob ſich nicht alle jetzt ſo
ſcharf getrennten Grundſtoffe oder Elemente einfach wieder
ineinander rückverwandeln, ja ſchließlich in einen einzigen Ur¬
ſtoff auflöſen müßten, wenn man ſie immenſen Hitzegraden
ausſetzte? Und der Aſtronom, der in gewiſſen Rieſenſonnen
des Fixſternhimmels bei der Spektralanalyſe immer weniger
Elemente findet, bis ſchließlich die ganz loſen Nebelflecke nur
noch als Wolken von zweien oder dreien ſolcher Urſtoffe er¬
ſcheinen, — er grübelt, ob dort nicht noch ſolche Urzuſtände
direkt uns vor Augen ſtänden, Urzuſtände, in denen erſt ein
paar Grundſtoffe ſich entwickelt hätten ſtatt der vielen, die
unſere ſchon ſchwächer glühende Sonne und kühle Erde zeigten?
So bleibt dir über die ehemalige weißglühende Erde und
die Sonne hinaus auch dein Kohlenſtoff mit ſamt ſeinem
Lebensinhalt wohl ſchwerlich ganz iſoliert, — er fließt über in
die unendliche kosmiſche Entwickelungsbahn der Grundſtoffe
überhaupt. Da müſſen ſich ſchließlich auch ſeine Separateigen¬
ſchaften mit ſeiner Individualität, die nur eine Entwickelungs¬
ſtation im ganzen war, im Tiefſten dieſes Ganzen verlieren.
Und ſo ſinkt dir die Kette, die oben den Bazillus trug,
auch mit der anfänglichen engen Beſchränkung auf den Kohlen¬
ſtoff doch ſchließlich ins All. Und mit dieſem ſchließlich folge¬
richtig in das große letzte Myſterium .....
Du kannſt, mit dieſem Ziel im Auge, aber auch gleich
von Anfang an andere Wege der Spekulation einſchlagen. Du
kannſt ohne viel beſondere Rückſicht auf den Kohlenſtoff auch
ganz allgemein davon ausgehen, daß du ſagſt: alle anorganiſche
[113] Materie iſt von Beginn an in gewiſſem Maße „belebt“. Je
im Banne beſtimmter äußerer Möglichkeiten erheben ſich aus
ihr beſtimmte Formen ſolchen Lebens. Eine ſteht uns auf
unſerem abgekühlten Planeten in der Kette vom Bazillus bis
zum Menſchen vor Augen: — die in allem den hier gegebenen
Anpaſſungsbedingungen am meiſten entſprechende. Aber dieſe
uns ſichtbare Kohlenſtoffzellenwelt, die wir ſeit Beginn der
Erdabkühlung auf Erden ſehen, ſtellt eben thatſächlich nur eine
dar unter zahlloſen überhaupt „möglichen“ Höherentwickelungen.
Willſt du deine Phantaſie ſchweifen laſſen, ſo magſt du
dir ausmalen, daß am Ende gar die Linie, die mit dem
Bazillus einſetzte, ſchon heraufkam als Entwickelungsform aus
anderen Linien mit entſprechend anderen Anpaſſungen nicht für
relativ kühle, ſondern für glühende Verhältniſſe. Es könnte
ſchon eine Lebenslinie innerhalb der Rotglut beſtanden haben,
natürlich haftend an Stoffen und Stoffvereinigungen, die in
ſolcher Hitze unzerſetzt ausdauerten. Und ſo weiter zurück.
Unſer ganzes ſogenanntes „Leben“ mit ſeinem beſtimmten Zell¬
ſtoff wäre eben im ganzen eine Anpaſſung an beſtimmte Tem¬
peratur, die aus anderen für andere Temperatur gerade ſo
organiſch herausgekommen wäre, wie etwa innerhalb unſeres
Lebens die Landtiere ſich als neue Anpaſſung aus den Waſſer¬
tieren entwickelt haben.
Der Gedanke iſt an und für ſich intereſſant auch in ſeinen
Zukunftsfolgerungen.
Als die Urbazillen entſtanden, war es aller Wahrſcheinlich¬
keit nach auf der Erde im ganzen noch wärmer als heute. Im
Laufe der Jahrmillionen iſt die Temperatur dann wohl einiger¬
maßen ſchon heruntergegangen. Unſere Lebenslinie auf der Erde
dieſer Jahrmillionen hat ſich aber, wie es ſcheint, fort und fort
dieſem Sinken noch weiter angepaßt. Es entſtanden die warm¬
blütigen Tiere mit ihrer ſtarken Wappnung gegen höhere Kälte¬
grade. Schließlich entſtand der Menſch, der das Radikalmittel
erfand: künſtliche Feuererzeugung. Der Menſch, der heute den
8[114] ſonnenloſen Polarwinter glatt erträgt. Hat mit dieſem Menſchen
und ſeinem erfinderiſchen, kraftverwandelnden Genie die Natur
etwa ſchon die endgültig neue Anpaſſungsform gefunden, die
das Leben ſich abermals weiter entwickeln läßt in eine ſtrengſte
Kälteepoche hinein, — eine Epoche, da die Erkaltung, die vor¬
her nur die Erde traf und hier den Bazillus möglich machte,
nunmehr auch die Sonne übermannt und damit die Erde in
einen endloſen Polarwinter ſtürzt? Wird der Menſch, vervoll¬
kommnet mit ſeinen Maſchinen ins ungeheure, einſt das Problem
der Weltraumkälte ſpielend überwinden? Wird er — weit
entfernt, wie unſere kleinmütigen Propheten jetzt ſchon ſo gern
orakeln, in einer kommenden Weltvereiſung armſelig mit all
ſeiner Kultur zur Eismumie zu gefrieren — vielmehr eben als
Menſch und durch dieſe Kultur der Bazillus gleichſam einer
neuen Lebensära werden, die der Kälte von einigen hundert
Grad ſpottet wie der erſte Bazillus eines Herabgangs der
Temperatur von Rotglut vielleicht bis auf einige vierzig Grad
Wärme voreinſt geſpottet hat ....?
Doch das nur nebenbei.
Das Weſentlichſte iſt, daß auch dieſer zweite Gedanken¬
gang dich mit dem Leben ohne jeden Riß in die unabſehbaren
Sternentwickelungen hineinführt und zugleich das Problem des
Lebens im Unfaßbaren der letzten Weltendinge und Welt¬
urſachen zur Ruhe bringt. Die Veranlagung der Geſamt¬
materie zur ungehemmten Lebensentwickelung ſinkt ganz natur¬
gemäß als eine Grunderſcheinung der Materie in das funda¬
mentale Geheimnis, das über dem Weſen dieſer Materie
überhaupt liegt. In dieſem Sinne läuft dieſer Weg ganz
genau auf daſſelbe Ziel hinaus wie jener andere.
Nur eins bleibt dir noch zu erwägen für beide Möglich¬
keiten — und das iſt gerade, was uns nach einigem Umweg
recht eigentlich wieder auf unſer Liebesproblem zurückbringt.
Es muß ſich die Frage aufdrängen, was von den ſicht¬
baren Lebenserſcheinungen des Bazillus du unter jene all¬
gemeine Lebensveranlagung der geſamten Materie (oder enger
zunächſt des Kohlenſtoffes) rechnen willſt und was nicht. Dieſe
Frage iſt praktiſch die eigentlich kitzeligſte an der ganzen Sache.
Je nachdem du gewiſſe Schlüſſe als logiſch richtig an¬
erkennſt, kommſt du da ins weiteſte hinaus. Iſt „Empfindung“
eine ſolche Baſis, die ſchon in der Möglichkeit einer Zellen¬
entwickelung von vorne herein mit enthalten ſein muß, — die
alſo ins Anorganiſche irgendwie direkt hinunterginge? Dieſe
Frage iſt deswegen ſo beſonders ſchwerwiegend, weil man ſich
Empfindung ſchlechterdings nicht ohne Bewußtſein denken kann.
Hat ein Kohlenſtoffatom oder gar jedes Atom überhaupt eines
Elementes ſchon ein empfindendes Bewußtſein? Und weiter.
Iſt „Gedächtnis“ eine Grundeigenſchaft der Materie?
Du fühlſt: das geht jetzt ins allerverwickeltſte. Das Gebiet
der „Seele“ wird angeſchnitten. Magſt du unter der „Seele“
nun ein Produkt des Stofflichen verſtehen, — magſt du im
paralleliſtiſchen Sinne ſie als eine ewige Begleiterſcheinung zu
gewiſſen phyſiſchen Prozeſſen anſehen, — oder magſt du den
ganzen ſcheinbaren Unterſchied von Seeliſchem und Mechaniſchem
bloß als einen in unſerer Beobachtungsart begründeten Doppel¬
anblick desſelben Dinges faſſen: auf alle Fälle gleiten dir hier
unter den Fingern die wichtigſten pſychiſchen Merkmale des
Lebens mit den mechaniſchen ins Anorganiſche hinab.
Wir wollen, um nicht ins Uferloſe zu geraten, den Blick
bei unſerer engſten Sache halten. Auch die Zeugung, die
Fortpflanzung, die Liebe gehört zu den Grunderſcheinungen
ſchon des Bazillus und es fragt ſich, ob wir ſie noch über ihn
hinaus ebenfalls ins Anorganiſche hinabſchieben ſollen. Mit der
ſymboliſchen Wendung von vorhin: wenn Adam im Urmyſterium
der Dinge erſt unendlich weit jenſeits des Bazillus und der
ganzen irdiſchen Unterſcheidung von Organiſch und Anorganiſch
verſinkt, — geht dann auch Aphrodite ſo weit zurück?
8*[116]
Ich denke, ich habe dir die ganze lange Beweisführung
jetzt genügend bis auf den Punkt getrieben, daß du einſiehſt,
daß es möglich iſt. Im übrigen ſind wir aber hier in einem
Nebel, wo direkte Antworten ſchlechterdings aufhören müſſen.
Es fragt ſich, welche Macht du noch weiter gehenden Ana¬
logieen beimeſſen willſt. Davon hängt alles ab.
Du gewahrſt in dem Prozeß der Fortpflanzung bei den
lebenden Weſen eine ganze Fülle von Erſcheinungen. Die
grundlegendſte für die Zeugung des Menſchen haſt du oben
genau geſehen. Andere werde ich dir in der Folge noch
vorführen. Für eine Anzahl ſolcher Erſcheinungen laſſen ſich
nun zweifellos aus dem Gebiete des ſogenannten anorganiſchen
Stoffes gewiſſe Ähnlichkeiten, Analogieen, aufſtellen.
Eine grundlegende Sache beiſpielsweiſe iſt für die ganze
Möglichkeit einer Fortpflanzung, ſei ſie nun hoch oder niedrig
entwickelt, Bazillus oder Menſch, die Exiſtenz eines Individuums.
Du biſt ein Individuum, deine Frau iſt eines, dein Sohn iſt
eines. Dieſer Sperling hier iſt eines und die Eidechſe dort
eines. Du wirſt allerdings bei näherer Betrachtung noch öfter
darauf aufmerkſam werden, daß der Begriff des Individuums
in der Tier- und Pflanzenwelt nicht immer ſo ganz leicht zu
faſſen iſt. Aber das ſchließt nicht aus, daß man mit einem
guten Recht ſagen darf: die ganze Geſchichte der Liebe im
Bereich des Lebendigen iſt eigentlich nur ein Ausſchnitt, ein
Kapitel aus einem viel umfaſſenderen Buche: der Geſchichte
des Individuums. Das Individuum mag ſo einfach gebaut
ſein, wie es will. Es mag Bazillus ſein, alſo aus einer
einzelnen Zelle nur beſtehen im Gegenſatz zu dir, der du aus
Myriaden Zellen dich bauſt. Aber ein Individuum muß da
ſein, um den Prozeß der Fortpflanzung überhaupt logiſch zu
[117] machen: damit aus Eins Zwei werden können, muß zunächſt
Eins als ſolches vorhanden ſein. Auf der Exiſtenz getrennter
Individuen ſtand ſchon die Fortpflanzung der Bazillen. Bei
dir, beim Menſchen, ſind ſogar direkt zwei Individuen als
Vorausſetzung des Zeugungsaktes unentbehrlich. Aber ſelbſt
angenommen, es ſei nur die Mutter allein nötig, um das Kind
zu erzeugen: ſo iſt doch die Exiſtenz des einen Individuums,
der Mutter, eine ſchlechterdings bindende Vorausſetzung.
Intereſſant nun: zum Prozeß der Individualitätenbildung
iſt offenbar ſchon die einfache, „anorganiſche“ Natur jenſeits
des Bazillus übergegangen. Ein ſehr ſinnfälliges Beiſpiel
bietet der Kriſtall. Betrachte dir eine ſchöne Stufe Berg¬
kriſtall. Oder bewundere die auf deinen ſchwarzen Mantel
fallenden reizenden Schneekriſtalle eines Wintertages. Aber es
giebt noch andere Anläufe verwandter Art. Mit dem Fern¬
rohr ſiehſt du im Weltraum die ganze Kette fortgeſetzter Phaſen
der Individualiſierung beim Sternenreich. Der formloſe Nebel¬
fleck zerfällt zum Sternhaufen, wo Sonne neben Sonne ſteht.
Jede Sonne ſcheint im engeren wieder zu Planeten, jeder große
Planet zu Monden zu zerfallen. Als Abſchluß erſcheint eine
unendliche Reihe äußerſt ſcharf geſonderter Individuen, die zwar
zu Syſtemen im großen zuſammenhalten, aber im engeren jedes
ſtarr für ſich ſtehen und ſich allein weiter entwickeln. Was
iſt die Erde im ganzen für ein ſcharf geprägtes Individuum!
Weiter. Im Gebiet der Chemie, die am eindringlichſten ſich
in die Betrachtung des kleinen, innerlichen Weſens der anorga¬
niſchen Stoffe vertieft, ſiehſt du dich mit ebenſo großem Nach¬
druck allenthalben auf die Exiſtenz gewiſſer kleiner und kleinſter
Individualitäten innerhalb der Verbindungen und Grundſtoffe
geſtoßen. Auf ihrem Wechſelſpiel und individuellen Wirken
baut ſich im Herzen die ganze Chemie auf und der Chemiker
erſchließt ſie aus ſeinen Rechnungen als eine Art logiſcher
Notwendigkeit auch da, wo jede Möglichkeit des Sehens auf¬
hört. Schon die einzelnen reinen Mineralſtoffe, vor allem die
[118] Elemente, haben an ſich etwas Individuelles. Aber hinter
dieſen großen Gattungsverſchiedenheiten erſcheinen dann in der
chemiſchen Verbindung wie im Elemente als tiefſte Inſtanz
überall erſt die eigentlichen Individuen der Moleküle und
Atome, von denen das chemiſche Atom geradezu die ſchärfſte
und dauerhafteſte Individualiſierungsform der ganzen ſtofflichen
Welt darſtellt, die unſer Ahnen umfaßt.
Nimm eine andere Sache. Eine Grunderſcheinung der
Fortpflanzung iſt die Teilung eines Individuums zum Zweck
eines Neuwerdens. Von dir ſpalten ſich die Samentierchen ab,
vom Weibe die Eizellen. Aus beiden erwächſt vereinigt ein
neuer Menſch. Bei niederen Tieren iſt die Teilung oft ſehr
viel radikaler: ſtatt der bloßen Abſpaltung eines winzig kleinen
Teilchens zerfällt das ganze elterliche Individuum in zwei oder
mehr Stücke. Und zwar tritt das deutlich auf als Folge eines
gewiſſen Wachstums. Ein Bazillus nimmt Nahrung auf. Er
wächſt, — wächſt bis zu einem gewiſſen Grade. Dann iſt es
aber auf einmal, als mache ſich eine beſondere neue Natur¬
kraft ihm gegenüber geltend. Bisher hat ihn irgend eine
Naturkraft als Individuum in ſich zuſammengehalten. Auch
das Wachstum änderte daran anfangs nichts: die Kraft ſchien
der vermehrten Größe gewachſen. Aber das Wachstum über¬
ſchreitet eine gewiſſe Grenze — und auf einmal iſt die andere,
neue Naturkraft da. Sie reißt das Individuum einfach aus¬
einander. Es zerfällt in zwei Stücke: zwei neue Individuen.
Und wir ſagen, ohne daß wir das Weſen der dabei thätigen Kräfte
ſelber irgendwie näher kennten, einfach: es hat ſich fortgepflanzt.
Bei dir ſelber geht's im Grunde nicht anders als beim
Bazillus. Du wächſt vom Kinde heran, zunächſt bloß als
Einzelmenſch, als das Individuum „du“. Du ißt aber kräftig,
wächſt, eines Tages biſt du Jüngling — und auf einmal geht
[119] dein überſchüſſiger Nahrungskonſum nicht mehr einfach raſtlos
in Längerwachſen, Entwickelung von Barthaaren und dergleichen
auf, ſondern es ſpalten ſich im Reſervoir deines Geſchlechts¬
apparates zahlreiche Samentierchen von dir ab, die mit allen
Mitteln von dir ſelber, von deiner Individualität fort wollen,
um jedes für ſich eine weibliche Eizelle zu finden, mit der ver¬
bunden ſie ein neues Individuum, einen neuen Menſchen un¬
abhängig von dir, begründen können.
Nun ſieh dir daneben einen anorganiſchen Vorgang an, —
einen furchtbar einfachen. Hier hängt ein Tropfen an der
Decke einer Höhle. Durch eine feine Ritze des Deckengeſteins
iſt er herabgeſickert und hält ſich nun hier durch die Wirkung
einer gewiſſen Naturkraft in der Balance. In ſich geſchloſſen
wie er da hängt, mag er für eine kurze Weile ganz gut ein
Individuum darſtellen. Nun rinnt durch die Ritze Waſſer nach.
Eine Zeitlang nimmt unſer Tropfen es ruhig in ſich auf: er
frißt es gleichſam als Beſtandteil in ſeine Individualität hinein.
Natürlich wächſt er dabei. Die Naturkraft, die ihn hält,
ſcheint aber zunächſt dieſem Wachstum Schritt zu halten, ſie
hält ihn nach wie vor. Doch das Wachstum eilt rapid dahin —
und auf einmal hat das Ganze nun doch ein Ende. Der
Tropfen, fort und fort gefüttert, wird zu „ſchwer“. Die un¬
geheure Ziehkraft der Erde, die vom Boden der Höhle auf¬
wärts wirkt, überwiegt die relativ ſchwache andere Naturkraft,
die den Tropfen am Stein da oben bisher haften ließ. Mit
einem Ruck reißt der Tropfen plötzlich entzwei, — ein kleiner
Reſt bleibt oben der alten Stelle treu: der losgeriſſene Teil
aber fällt mit einem Platſch herab. Indem der obere Tropfen¬
reſt ſich durch Nachwuchs aus der ſpeiſenden Ritze raſch ergänzt,
der andere aber unten auffallend einen neuen Tropfen bildet,
haſt du jetzt ſtatt des einen zwei Individuen. Iſt das nicht
eine Analogie? Du wirfſt ein, hier handle es ſich um einfache
Schwerkraft, bei der Fortpflanzung aber um ganz andere, von
innen heraus handelnde Kräfte. Fällt mir bei Leibe nicht ein,
[120] zu behaupten, der Bazillus, der ſich teilt, oder du, der du ein
Samentierchen von dir abſpalteſt, ihr wäret dazu gezwungen
durch die einfache Schwerkraft. Aber um die Art der Kräfte
handelt es ſich ja gar nicht. Es handelt ſich um die Analogie im
Geſamtvorgang. Du ſollſt begreifen, daß Teilung als Folge von
Wachstum auch anorganiſch ſich durchaus plauſibel denken läßt.
Ein drittes Feld. Du ſiehſt das ganze Gebiet der Fortpflan¬
zung durchſetzt mit Erſcheinungen, die du ſeeliſch als Sympathie
bezeichneſt. Die ganze „Liebe“ im engeren Sinne gehört hierher.
Mann und Weib ſuchen ſich. Fühlen die entſchiedenſte Zuneigung.
Entbrennen in ſehnſüchtiger, verlangender, nach Vereinigung
drängender Liebe. Sie fühlen ſich zu einander hingezogen ....
In dieſem letzten Ausdruck liegt geradezu ſchon das
mechaniſche, auch anorganiſch gebräuchliche Erſatzwort für den
Begriff der Sympathie: Anziehung.
Mag dieſe Anziehung bei den Organismen noch ſo kom¬
plizierte Wege gehen, — mag ſie nicht direkt, ſondern über die
Sinnesorgane, den Nervenapparat laufen, — mag ſie der Ver¬
mittelung durch Geſichtseindrücke und vor allem wahrſcheinlich
auch Geruchseindrücke bedürfen: — im Grunde und als Kern
bleibt eine „Anziehung“.
Erinnere dich vor allem auch hier wieder an jenes „Ur¬
phänomen“, von dem wir ausgegangen ſind: die Samenzelle,
wie ſie bei deinem menſchlichen Geſchlechtsakte in die Eizelle
dringt. Es mag, wofür manches ſpricht, ſelbſt bei dieſem in¬
timſten Schluß- und Kardinalakt deiner ganzen Liebe der Weg
noch über eine Sinneswirkung laufen, hier wohl zweifellos
dann eine Geruchswirkung, die die reife, bereite Eizelle und
ihr Kern auf das Samentierchen ausüben.
Zu leugnen iſt aber ſchon hier gewiß nicht, daß der ganze
intime Vorgang eine verzweifelte Ähnlichkeit auch ſchon mit ge¬
[121] wiſſen Formen direkter, im Anorganiſchen allgemein bekannter
Anziehung zeigt. Sorgfältige und faſt übermäßig kritiſche Beob¬
achter des Aktes an Tiereiern haben keinen Anſtand genommen,
an „elektriſche Anziehung“ zu erinnern. Bei den Eiern der
ſogenannten Seegurken (alſo von Tieren aus der Verwandt¬
ſchaft der Seeſterne und Seeigel) zeigte ſich unter dem Mikro¬
ſkop ein ſolches Losſtürzen der Samentierchen auf das Ei, ein
Zurückprallen und Wiederanrennen und Feſtkleben, kurz ein
ſolch wechſelndes Spiel, daß die Ähnlichkeit mit dem Tanz ab¬
wechſelnd angezogener und abgeſtoßener Körperchen am Kon¬
duktor einer Elektriſiermaſchine ſich den Beſchauern geradezu
aufdrängte. Und ähnlich wilder Sturm wurde bei Pflanzen¬
eiern, z. B. denen des bekannten Blaſentangs, den du überall
am nordiſchen Seeſtrand findeſt, beobachtet: hier ſtürmen die
Samentierchen (bedenke: bei einer Pflanze!) derartig toll, daß
die ganze, im Verhältnis rieſengroße und ſehr träge Eikugel
infolge der Stöße anfängt, ſich um ihre Achſe zu drehen.
Nun erinnere dich, wie von direkten Anziehungskräften,
die von Körper zu Körper einfach überzugreifen ſcheinen, die
ſogenannte anorganiſche, „tote“ Natur allenthalben voll iſt.
Gravitation, Adhäſion, magnetiſche und elektriſche Anziehung,
chemiſche Affinität. Die ganze mechaniſche Welt, wie wir ſie
vor Augen haben, ſteht eigentlich auf dieſen Anziehungen.
Natürlich: ich will dir auch hier wieder keineswegs auf¬
reden, daß du einfach dieſe oder jene allgemeine Stoffanziehung
mit der erotiſchen Anziehung gleichſetzen ſollſt. Seit langer
Zeit richtet das willkürliche Vermengen etwa von Magnetismus
und Liebe genug Konfuſion in der Welt, wo man nur halb
und viertel denkt, an, ohne bisher auch nur einen Zoll weiter¬
geführt zu haben. Und Gravitation etwa und Liebe ſind an
ſich wohl ſo verſchieden, wie nur überhaupt zwei Dinge des
Alls verſchieden ſein können. Wenn du aus dem Fenſter
kugelſt, ſo packt dich die Schwerkraft mit ihren furchtbaren
Geierkrallen, ob du nun im tiefſten Duſel aller Sinne liegſt,
[122] taub, blind und gefühlsſtumpf biſt oder ob du deine Sinne alle
hell beiſammen haſt, ſie packt dich im Verhältnis zu deiner
realen Körpermaſſe und fragt ſonſt abſolut nach gar nichts.
Die erotiſche Anziehung umgekehrt bedarf gerade deiner Sinne
und kümmert ſich nicht im leiſeſten um die Gewichtsverhältniſſe.
Alſo in einen Topf werfen kannſt du das alles ſicherlich nicht.
Wohl aber bleibt auch hier die Grundanalogie beſtehen:
die Fortpflanzung, die Liebe benutzt ein Mittel, eine Kraft¬
methode, wenn ich ſo ſagen ſoll, die in der Natur im ganzen
ſchon überall daheim ſind und — im Prinzip — deinen Kom¬
paß auf der Erde und deine eigene Stellung im Sonnenſyſtem
ebenſo regulieren wie das Schickſal deiner Samentierchen.
Die Anziehung ſelbſt leitet dich gleich noch hinüber in
jenes Gebiet, das ſeit Goethes gigantiſcher Dichtung geradezu
klaſſiſcher Boden für vage Analogieen erotiſcher und anorganiſcher
Vorgänge iſt: in das Gebiet der chemiſchen Wahlverwandtſchaften.
Die Sache wird allerdings auch hier erſt eigentlich reinlich in
der Analogie, wenn du einſtweilen noch von den ſchwerſten
Problemen des menſchlichen Seelenlebens etwas abſiehſt und
wiederum bei der Eizelle und dem Samentierchen bleibſt.
Der Samen — Vertreter eines männlichen Individuums
und belaſtet offenbar mit einem feſten Erbe dieſes Individuums,
in gewiſſem berechtigten Sinne alſo ſelber eine ganz aus¬
geſprochene Individualität — trifft mit dem Ei zuſammen, das
genau in derſelben Lage iſt, bloß daß es ein vom Samen ver¬
ſchiedenes weibliches Individuum darſtellt. Der Zeugungsakt
erfolgt und beide verſchmelzen: es entſteht ein ſchlechterdings
neues drittes Individuum, das, werde es nun ſelbſt Mann
oder Weib, von Vater und Mutter etwas beſitzt, aber doch weder
Vater noch Mutter, ſondern ein ſo ſelbſtändiges Drittes und
Neues iſt, wie es „einheitlicher“ gar nicht gedacht werden kann.
Nun wirf gewiſſe chemiſche Elemente unter geeigneten Be¬
dingungen zuſammen: nach ganz genauer Regel ſtürzt ſich Atom
zu Atom und als Produkt beider entſteht ebenſo ein abſolut
[123] neuer, dritter Körper, der weder das eine mehr noch das andere
iſt. Waſſerſtoff, für unſere Durchſchnittstemperatur ein Gas,
verbindet ſich mit Sauerſtoff, ebenfalls einem Gaſe — und die
beiden Gaſe ergeben als Verſchmelzungsprodukt das flüſſige, in
jedem Betracht gänzlich andersartige Waſſer.
Es giebt im gleichen Exempel der Analogieen noch mehr.
Wunderbare Regelungen beherrſchen die Vereinigung von Samen
und Ei. Du kannſt keinen Menſchen zeugen bloß mit Samen
allein. Das vom Samen individuell Verſchiedene, das Ei, iſt
dazu nötig, ſoweit geſchlechtliche Erzeugung im Reiche des Leben¬
digen herrſcht. Aber die Verſchiedenheit hat ſelber wieder ihre
ſcharfe Grenze.
Umſonſt, daß du deine eigenen lebendigen Samentierchen
zu der liebesbereiten Eizelle eines Seeigels bringſt! Wo die
Samen des Seeigels wie toll auf die Partnerin losſtürzen,
bleibt der fremde Samen unthätig, er beißt gleichſam nicht an,
und keine Zeugung kommt mit ihm zu ſtande. Eine wirkliche
„Wahlverwandtſchaft“ herrſcht hier, die das Liebesſpiel im
Banne ganz beſtimmter Geſetze ordnet. Ganz ſo aber die
Elementaratome. Auch hier nicht ein blindes Verbinden von
jedem mit jedem. Eigenſinnigſte Wahl der geeigneten Partner,
— unter vielen ganz beſtimmte, — ein großartiges Spiel ge¬
heimer Wahlverwandtſchaften.
Abermals, auch hier im Bereich der Wahlverwandtſchaft,
iſt die Analogie ganz gewiß nicht Identität. Der organiſche
Liebesprozeß, ſelbſt auf die ſchlichte Form von Samenzelle und
Eizelle herabgeſchraubt, macht wie alles Organiſche den Ein¬
druck einer unendlichen Verwickelung und Verfeinerung der Dinge,
gegen den das Spiel der Atome in keiner Weiſe aufkommt. Und
die Sache wird auch noch nicht ohne weiteres gleich gemacht,
wenn du von „der Atome Haſſen und Lieben“ ſprichſt.
Es läßt ſich von einer gewiſſen logiſchen Gedankenfolge
gegen dieſen Ausdruck ja nichts Triftiges einwenden. Ich ſagte
dir: die Vorausſetzungen des Lebens ſinken uns allenthalben
[124] unter den Händen ins Anorganiſche hinab. Damit geht aber
eben auch die Pſyche, das Seeliſche ins Anorganiſche noch
jenſeits des Bazillus ein.
Wenn du von der Atome Haſſen und Lieben redeſt, ſo
begehſt du da nur das einfach Umgekehrte, wie wenn du bei
Samen und Eizelle von einer „Anziehung“, alſo urſprünglich
einem rein mechaniſchen Begriff, ſprichſt. Bei Samen und Eizelle
liegt dir die ſeeliſche Auffaſſung mit Sinnesreiz und Empfin¬
dung an und für ſich am nächſten, da du eventuell aus ſolcher
befruchteten Eizelle einen Menſchen hervorgehen ſiehſt, ja dich
ſelbſt aus einer hervorgegangen weißt. Bei den chemiſchen
Wahlverwandtſchaften iſt dagegen die mechaniſche Anſchauung,
die das Wort Anziehung nach dem Muſter etwa von Schwerkraft
oder Magnetkraft ausdrückt, zunächſt ſicherlich die vertrautere.
Aber es kann dich thatſächlich auch keine Logik direkt ab¬
halten, die Deutungen einmal umzukehren oder wenigſtens für
die Atome auch ſeeliſch zu erweitern. Daß bei der organiſchen
Zeugung ſeeliſche Dinge vorgehen, iſt ja auch nicht deine
direkte Beobachtung, ſondern ein Schluß. Du ſchließt von dir
aus, — wie denn überhaupt die Annahme fremder Seelen
außer deiner eigenen ein ſolcher Schluß und nicht eine Beob¬
achtung iſt: du ſiehſt und merkſt mit deinen Sinnen auch von
deinen intimſten Mitmenſchen ſtreng genommen nie die Seele
ſelbſt, ſondern nur mechaniſche Wirkungen, die du in dieſer
Reihenfolge und Art dann erſt auf Grund eines Analogie¬
ſchluſſes nach deinem eigenen Muſter „beſeelſt“. Scheinen dir
nun in ihrer Reihenfolge und Art die organiſchen und chemiſchen
Wahlverwandtſchaften ſich hochgradig zu entſprechen und haſt
du ſonſt keine Skrupel, mit „Seele“ über das Organiſche hin¬
auszugehen, ſo magſt du ruhig auch beim Atom deinen Schluß
machen und ſtatt Anziehung und Abſtoßung Liebe und Haß ſagen.
Deswegen darfſt du aber doch nicht den eigentlichen In¬
halt der Vorgänge ſchon unmittelbar gleich ſetzen. Oder ſiehſt
du nicht, daß dich, den Menſchen mit ſeinem weltumſpannenden
[125] Geiſtesinhalt eine geradezu ungeheure Kluft etwa vom Bazillus
trennt, trotzdem ihr beide wohl ſicherlich alle beide echt ſeeliſche
Vorgänge zeigt? Welche Rieſenkluft (vielleicht noch viel koloſ¬
ſaler, wer weiß es!) kann noch wieder zwiſchen dem Liebesakt
zweier organiſcher Zellen, deren jede etwa einem Bazillus ent¬
ſpricht, und dem „Lieben“ von ein paar Sauerſtoff- und
Waſſerſtoffatomen beim chemiſchen Einigungsakt liegen!
Alſo zum letzten Mal: wir erwarten nicht und finden
auch nicht Identität. Wir verlangen nicht, daß der Bazillus,
dieſe ſcharf geformte Entwickelungsſtufe der Natur, oder daß
die Eizelle als ſolche ſchon eingekapſelt ſteckten im Atom. Sie
ſtecken ſo wenig darin, wie in ihnen ſelber der Menſch etwa
als ein dermaleinſt durch Vergrößerung ſichtbarer Homunkulus
ſteckt. Nur nach einer Baſis ſuchen wir im Anorganiſchen, die
uns das als Kraft angelegt zeigt, was im Bazillus und ſo
weiter eine beſtimmte, wahrſcheinlich nur einmal ſo entſtandene
Anpaſſungsform angenommen hat.
Und das, denke ich, haben dir eben die Analogieen, alle
cum grano salis angeſehen, wirklich gezeigt. Es iſt, als ſegel¬
ten auch alle Einzelſtücke des Begriffes der Liebe, der Fort¬
pflanzung ſchon allenthalben im Anorganiſchen herum. Der
Bazillus und ſeine Nachkommen bis zum Menſchen herauf haben
ſie bloß, um das früher gebrauchte Bild hier noch einmal zu
wiederholen, wie in einem Brennglaſe gefangen.
Wir können die Urzeugung getroſt hier verlaſſen. Auch
Aphrodite ſchwebt der Möglichkeit nach ins unendliche Blau
der kosmiſchen Geſamtentwickelung, ſie wird Element, Atom,
Stern, Urſtoff, — letztes Myſterium .....
„Menſch, was du liebſt, in dasWirſt du verwandelt werden:Gott wirſt du, liebſt du Gott,Und Erde, liebſt du Erden.“
Wir ſind auf Milchſtraßen gewandelt.
An den Grenzen des dunklen Naturgrundes. „Da lag
die Welt, ein Waſſer tief und klar, Lichtinſeln zogen funkelnd,
Schar an Schar .....“ Im fernſten Blau dieſer Waſſer¬
tiefe verglimmt das andere Ende des großen Regenbogens der
Liebe. Kein noch ſo kühner Taucher des Gedankens dringt
ihm dort unten nach.
Dein Blick aber gewahrt oben, unter der bunten Spange
dieſes Regenbogens ſelbſt jetzt Geſtalt um Geſtalt, ein unend¬
liches Heer, das da hindurchzieht: die ſichtbaren Liebesformen
zwiſchen dem Urlebendigen der Erde und dir. Myriaden ſelt¬
ſamer Gebilde, heraufſchwirrend wie die Eintagsfliegen, ſich
drängend wie die Fiſche des Ozeans, herauf und herauf durch
die Jahrmillionen, an deren raſſelnder Kette die Erdgeſchichte
abläuft. Vom Bazillus zum Menſchen. Eine Phantasmagorie,
gigantiſcher als Dantes Viſion. Hölle und Fegefeuer und
Paradies.
Die Erde war da, war bewohnbar im heutigen Sinne.
Erſte Lebensformen von der Art, der wir in höchſter Ent¬
wickelung dermaleinſt ſelber angehören ſollten, hatten ſich ein¬
[127] gefunden. Und die Liebe in der engeren Bedeutung des Wortes
ſetzte mit ihnen ein .....
Hier laß mich dir jetzt weiter erzählen.
Du weißt: der Fleck, von wo wir ausgingen, wo der eine
Fuß des Regenbogens ſeine Farben grell über einen Markſtein
gaukelte, war dein eigener menſchlicher Zeugungsakt. Von dir,
dem Manne, löſt ſich eine einzelne Zelle, ein Samentierchen,
und vereinigt ſich mit einer ebenſo befreiten Zelle des Weibes,
dem Ei. Aus dem Bunde beider erwächſt der neue Menſch.
Am Anfang des Erdenlebens, in Urtagen lange noch vor jenem
kambriſchen Grenzſtrand, gab es aber noch weder Menſchen¬
mann, noch Menſchenweib. Es gab keinen Menſchenſamen und
kein Menſchenei. Aber es gab Weſen, aus denen in unend¬
licher Folge der Entwickelung auch einmal Menſchen werden
ſollten.
Dieſe Weſen waren die denkbar einfachſten. Sie ſtellten
jedes für ſich nur eine einzige lebende Zelle dar, genau ſo wie
jedes deiner Samentierchen heute noch eine einzige Zelle, wie
jedes Ei deines Weibes eine einzige Zelle iſt. Der Liebesakt
des Menſchen beſteht darin, daß er dieſe ſeine beiden Einzel¬
zellen vereinigt. Auf Liebesakten ruht in unabſehbarer Kette
die Entwickelung, — auch die vom einzelligen Bazillus bis
zum Menſchen herauf. Was war nun der Liebesakt jener erſt¬
geborenen Einzelligen am Anfang der ganzen Entwickelungs¬
linie ſelbſt? Suchte ein ganzes einzelliges Tier von damals
gleich einem heutigen Samentierchen ein zweites einzelliges
Weſen und bekundete ſeine Liebe darin, daß es mit ihm als
Ganzes verſchmolz wie das Samentierchen mit dem Ei ver¬
ſchmilzt?
Da mußt du nun vor allem auf eins achten.
Der Akt, wie du ihn bei dir ſelber ſiehſt, iſt nicht bloß
ein Liebesakt, ein Zeugungsakt überhaupt. Er iſt ſchon mehr:
er iſt ein Geſchlechtsakt. Zwei Geſchlechter ſind dazu nötig.
Mann und Weib. Jedes mit beſonderen Geſchlechtsteilen und
[128] Geſchlechtsſtoffen. Dieſe Geſchlechter vollziehen als ſolche den
Akt einer geſchechtlichen Zeugung.
Eine neue große Frage wächſt dir dazu. Hat die Liebe
im Sinne einer Zeugung, einer Fortpflanzung, eines Unſterb¬
lichkeitsprinzips über das Individuum hinaus von Beginn des
Lebens auf Erden an mit einer Zweiheit der Geſchlechter
und einem echten Geſchlechtsakt der beiden begonnen? Oder war
ſelbſt das ſchon eine Entwickelungsform, nicht nur allgemein
der Liebe überhaupt, ſondern innerhalb der noch erkennbaren
Ur-Liebe der einfachſten Lebensformen auf der Erde?
Verſtehe mich recht. Um dir ein Bild zu geben, — denke
an die bibliſche Schöpfungslegende. Gott erſchafft durch eine
Art myſtiſcher Urzeugung den Adam aus einem anorganiſchen
Erdenkloß. Adam wieder erzeugt ungeſchlechtlich aus ſeiner
Rippe mit Gottes Beiſtand die Eva. Mit Eva ſelbſt vermiſcht
er ſich dann erſt zu geſchlechtlicher Zeugung und Eva gebiert
regelrechte Kinder nach allgültigem Menſchenbrauch.
In dieſer Legende iſt offenbar die geſchlechtliche Zeugung
erſt eine letzte, dritte Stufe. Die Steigerung iſt: Urzeugung, —
dann einfache Zeugung ohne Zweiheit der Eltern und durch
eine Art Knoſpung direkt aus dem Leibe eines einzigen In¬
dividuums heraus — endlich Geſchlechtszeugung zwiſchen Mann
und Weib. Die Legende deutet allerdings Eins und Zwei in
ihrer myſtiſchen Weiſe um. Aber das könnten wir ja beiſeite
laſſen. Du haſt geſehen, wie ſich der Begriff Urzeugung auch
ohne Myſtik rein wiſſenſchaftlich faſſen läßt. Der echte Ge¬
ſchlechtsakt bleibt ſelbſt in der Bibel ohne Myſtik. Warum
nicht einmal einen Moment überlegen, ob du nicht auch die
Station Zwei ganz unmyſtiſch als Symbol eines wirklichen
Urvorgangs hinnehmen könnteſt? Wenn auch keinerlei modernes
Wiſſen, ſo ſteckt in ſolcher alten Völkerlegende ja doch auf alle
Fälle eine gewiſſe Logik des Grübelns. Unſer Adam iſt der
Ur-Bazillus: irgend ein einzelliges Urweſen, in dem auch der
Menſch ſchon gleich allen anderen ſpäteren Lebeweſen der Ur¬
[129] Anlage nach gegeben war. Hat dieſer Ur-Bazillus ſich nicht
wirklich gleich dem Adam der Legende zuerſt ohne Doppel¬
geſchlecht fortgepflanzt? Sich zunächſt gewiſſermaßen erſt ſelber
in Adam und Eva — das heißt: einen männlichen und einen
weiblichen Bazillus — auseinander geſpalten?
Klingt aber etwas nach ſcholaſtiſcher Haarſpalterei, —
was? Und doch: wo der Scholaſtiker, der bloß grübelnde
Philoſoph, der Gläubige über einem altersdunklen Buchtext,
wo ſie alle thatſächlich ins unfruchtbare Haarſpalten und
Mückenſeigen verfallen müßten, da beginnt die Naturforſchung
heute ein wunderbares Erkenntnisproblem vor dir aufzurollen,
das zweitgrößte des ganzen Liebesromans nach der Ergrün¬
dung des geſchlechtlichen Zeugungsaktes ſelber.
9[130]
„..... So daß Natur in Haß und
LiebenAls ihre Blüte Gott getrieben.“
Ein Märchen.
Es war einmal ein lieber dicker Stern im
Weltall. Die Aſtronomen einer benachbarten
Weltengegend beobachteten ihn ſchon ſeit langen,
langen Zeiten. Sie rechneten ihn nicht als Einzel¬
ſtern, ſondern als Planeten in einem größeren
Bunde. In ganz alten Urkunden ſpukte bei ihnen
noch die Behauptung, der Stern ſei einmal blut¬
rot geweſen, und man habe mit Hilfe der Spektral¬
analyſe eigenes Licht bei ihm nachweiſen können.
Aber das mußte lange her ſein. Sicherlich war
das ganz ſchwache Licht, das er jetzt überhaupt
nur noch ausſtrahlte, bloß der Wiederſchein eines
nahen, viel größeren und helleren Sternes, um
den der kleine Dicke ſich in Jahresfriſt gerade
einmal herumkugelte.
Auf dieſem Stern nun erwuchs ein Geſchlecht
luſtiger kleiner Zwerge.
Keiner wußte, woher ſie ſtammten. Waren
ſie eines Tages vom blauen Himmel gepurzelt,
als hartgefrorene Dauermumien, in denen das
[131] Leben wie in hypnotiſcher Erſtarrung ſchlief? Oder waren
von den ſpitzen, hartkantigen Bergkriſtallen ihres Schachtes
einige auf einmal weich und beweglich geworden und hatten
ſich als leibhaftige Zwerglein mit ſpitzen Mützen entpuppt?
Das wußte nun niemand mehr, aber da waren ſie.
Sie hauſten jeder für ſich als knurrige Einſiedler, jagten
und fiſchten nach Herzensluſt und aßen ſich bei guter Gelegen¬
heit recht einen Ranzen an. Das Merkwürdigſte aber war
folgendes. Beim Zwergenvolk gab es weder Mann noch Weib.
Alle waren ſich ganz und gar gleich, — abgeſehen natürlich
davon, daß dieſer vielleicht etwas dicker und handfeſter war
als jener oder ſonſt ſo ähnliche kleine Unterſchiede herrſchten,
die aber nichts mit Männleins- oder Weibleinseigenſchaften zu
thun hatten. Die Kinder aber kriegten ſie auf die aller¬
verrückteſte Weiſe.
Du haſt vom böſen Zwerge Rumpelſtilzchen in der Ge¬
ſchichte geleſen, der ſich in der Verzweiflung mit der einen
Hand bei der Bartſpitze und mit der anderen beim dicken Zeh
packte und ſich dann mit einem herzhaften Ruck ſelber in zwei
Stücke riß. Nun, unſere Zwerge waren eigentlich alleſamt
ſolche Rumpelſtilze. Bloß daß ſie die Sache nicht aus reiner
Angſt und als gute Art, um ſich ſelber umzubringen, trieben.
Sondern ſie machten aus der Selbſtzerreißerei den puren
Sport ohne alle ſchlimmen Folgen. Hatte ſich einer ſo recht
kugeldick gefreſſen und war bis auf ein Maß gewachſen, das
zu überſchreiten bei der Zwergenwelt nicht für anſtändig galt, —
ritſch, hatte er ſich ſelber mitten durch gehackt und lag da in
zwei Hälften.
Aber kurios: das war nun durchaus nicht ſo, wie wenn
unſereiner unters Wurſtmeſſer fällt. Jede Hälfte blieb fidel
lebendig, und nicht lange, ſo war jede durch etzliche gute
Mahlzeiten und raſchen Nachwuchs auch ſchon wieder ein voll¬
kommen wohl proportionierter Zwerg, der genau ſo groß
wurde wie der alte unzerriſſene Rumpelſtilz geweſen war. Und
9*[132] das — weißt du, es iſt eigentlich furchtbar dumm — das
nannten die Kerle Kinder kriegen.
Aber es ging, und das Zwergenvolk wuchs dabei wie
Sand am Meere. Erſt nach einer langen Weile ſtellten ſich
gewiſſe Mißſtände ein, die denn doch die Geſchichte auf die
Dauer etwas bedenklich zu machen drohten. Das kam aber ſo.
Wenn Rumpelſtilz ſich ſelber auseinander riß, dann war ur¬
ſprünglich eine Hauptbedingung, daß die Stücke hübſch genau
die beiden Hälften bildeten. Nur dann hatten die Teilſtücke
die rechte Kraft, ſich in kurzer Friſt wieder auf die volle Größe
auszuwachſen. Nun kam es aber mehr und mehr vor, daß
Rumpelſtilze in dieſem Punkte ganz leichtfertig und ungenau
zu Werke gingen. Mochte es nun ſein, daß die einen bei
knapper Koſt an Kraft zum Zerreißen einbüßten, wieder andere
aber in der Fülle allzuviel Kräfte in ſich entwickelten — genug,
es geſchah, daß in dem Reißakt bald zu wenig, bald zu viel
gethan wurde. Die einen Rumpelſtilze zerriſſen ſich ſo läſſig,
daß das eine Stück etwa drei Viertel von dem alten Leibe
behielt, das andere aber nur mit einem Viertel heraus kam.
Schon in dieſem Falle hinkte das zweite Stück natürlich in der
Entwickelung nach und hatte eine verzweifelte Mehrarbeit nötig,
um ſich auf die ganze Größe hinaufzufreſſen.
Dieſe Form war aber noch lange nicht die ſchlimmſte.
Wie ſo oft, ſchadete blinder Übereifer noch mehr als die Läſſig¬
keit. Andere Rumpelſtilze, die ſo recht fett lange Zeit ruhig
in den Fleiſchtöpfen Ägyptens geſeſſen hatten, faßten, als ſie
endlich an die Kinderkriegerei herangingen, die Sache mit
ſolcher Energie auf, daß ſie ſich ſtatt in zwei, gleich in vier,
in acht, ja ein Dutzend und noch viel mehr junge Rumpel¬
ſtilzchen zerhackten. Hier gab's denn wohl Kinder genug, aber
gleichzeitig waren's ſolche Duodezwürmchen und Zwergzwerglein
an Größe, daß ſelbſt der köſtlichſte Fleiſchtopf nicht mehr aus¬
reichte, um ſie je auf eine nur halbwegs anſtändige Größe
heraufzupäppeln. Das war jetzt wirklich mißlich. Mindeſtens
[133] aus dem letzten Falle erwuchs geradenweges die Gefahr, es
möchte das ganze Volk der Rumpelſtilzer eines Tages mitten
im beſten äußeren Wohlſein und im Lande, da Milch und
Honig floß, an Leibesgröße immer mehr heruntergehen und
ſchließlich — da eine gewiſſe Größe und Kraft die Vermehrung
überhaupt erſt bedingten — allen Ernſtes auf gedeckter Tafel
ganz ausſterben. Was thun?
Eines Tages ergab ſich mit Naturnotwendigkeit ein drolliger
Ausweg.
Da war ſo ein armes Dezimierungsrumpelchen, das ſich
ſchon ſeit einiger Zeit verzweifelt mühte, durch ſtarke Mahl¬
zeiten in die Höhe zu kommen. Es lief und lief und aß und
aß, aber kein Biſſen half raſch genug. Auf einmal kommt
dieſem brüllenden Löwlein ein zweites ſeines Schlages, ebenfalls
ein ſolcher Duodezzwerg aus einer Maſſenteilung, entgegen.
Der andere Geſelle iſt in derſelben Lage wie unſer Freund,
auch er träumt von einem Engrosbiſſen, der auf einmal in
die kleinen Beine einen Schuß bringen ſoll, findet aber nichts
derart. Die beiden beſchauen ſich und jeder ſcheint zu denken:
das wäre dir ein guter Biſſen da drüben. Und wirklich:
jetzt ſiehſt du ſie aufeinander losrücken, jetzt faſſen ſie ſich.
Du denkſt, einer wird wohl doch der ſtärkere ſein und den
anderen totſchlagen und auffreſſen — pfui, der Kannibale,
Fleiſch eines Mitzwerges ſoll offenbar das letzte, ſtärkſte Elixir
ſein, das ihm hochhilft.
Aber was geſchieht? Bei dieſen Zwergen giebt's halt
verrückte Sachen. Die beiden haben ſich feſt umſchlungen;
aber im Moment dieſer innigſten Umſchlingung ſcheint ihnen
ein ganz anderer Gedanke gekommen zu ſein. Wozu einer den
anderen töten? Sind ſie nicht Fleiſch vom gleichen Fleiſch
und Blut vom ſelben Blut? Warum nicht ineinander aufgehen
inmitten vollen Lebens? Feſter und feſter preſſen ſie ſich. Da
brechen die kleinen Leiber aneinander auf, Lebensſaft ſtrömt
gegenſeitig über — ein Ruck noch ..... und die beiden ſind
[134]eins geworden. Eine große Seligkeit durchdringt ſie: die
Seligkeit der großen Sättigung. Sie haben ſich ja thatſächlich
„gefreſſen“ wie die zwei Löwen, und nicht einmal die Schwänze
ſind übrig geblieben. Aber keiner hat bei dieſem Freſſen
Todesſchmerz gefühlt, Leben ging reſtlos in Leben auf. Und
zugleich jetzt pulſt in dem neu entſtandenen Doppelkörper eine
doppelte Kraft gegenüber jedem einzelnen früheren. Jetzt wird
Auswachſen zur Vollgröße ein Spiel. Bald iſt's erreicht —
und dann giebt's wieder Selbſtzerreißung, Kinderkriegen, Fort¬
pflanzung des Zwergenvolkes ins Unendliche — Juchhe!
Etwas beſondere Zwergenveranlagung gehörte freilich dazu,
daß ſolcher Salto mortale von Leben in Leben glückte. Aber
verpfropfſt du als Menſch nicht auch Pflanzenreiſer von einer
Pflanze auf die andere, auf daß ſie dort lebendig einwachſen, —
pumpt dir der Arzt nicht bei der ſogenannten Transfuſion
lebendiges fremdes Blut in die Adern, — wird dir nicht bei
der mediziniſchen Praxis der Dermoplaſtik zur Deckung ent¬
blößter Wundſtellen einfach ein Stück Haut „lebendig“ ver¬
pflanzt? Denken kannſt du dir es alſo immerhin einmal im
Zwergenland.
Nachdem die Sache ſich durch natürliche Gleichheit der
Gelegenheit einmal ſo und ſo oft wiederholt, verbreitete ſich
allmählich die Tradition bei all den Zwergen, die für Viel¬
teilerei Neigung hatten, und das Verſchmelzen mit Genoſſen im
Falle allzugroßer eigener Winzigkeit wurde hier ein feſter
Brauch, ebenſo wie es allgemein das Kinderkriegen durch
Teilung ſelbſt war. Nur eins lernte man noch hinzu, und
das war allerdings äußerſt wichtig.
Unſere Zwerglein hatten, wie ich dir ſagte, von Beginn
an als Einſiedler gelebt. Sie hatten ſich ſo wenig um Brüder
wie um Fremde gekümmert. Jetzt aber, ſeit die Verſchmelzerei
wenigſtens für die allzukleinen eine Lebensfrage wurde, wurde
ihnen gleichſam vom Leben ſelber auch eingebläut, daß ein
Unterſchied beſtehe zwiſchen engen Verwandten und Fremden.
[135] Im allgemeinen ſtoben ja die jungen Zwerglein aus demſelben
Neſt alsbald völlig auseinander, ohne ſich anzuſehen. Aber
ſeit das Verſchmelzen Mode war, kam es doch ganz naturgemäß
oft genug vor, daß gerade zwei Brüder ſich noch einmal im
kritiſchen Moment begegneten und wieder miteinander zuſammen¬
wuchſen. Ziemlich regelmäßig ſtellte ſich dann aber nach und nach
heraus, daß ſolches Zuſammenwachſen mit einem eigenen Bruder
weniger günſtige Chancen bot, als das Zuſammenwachſen mit
einem ganz fremden Geſellen, der gerade des Weges kam.
Denke dir das am ſimpelſten Beiſpiel. Alſo etwa: ein
alter Zwerg, der zur Selbſtteilung ſchritt, hatte Zahnſchmerzen.
Alle ſeine Sprößlinge, als Teile von ihm, kriegten natürlich
auch Zahnſchmerzen mit. Nun kam die Verſchmelzung bei
dieſen Sprößlingen. Verſchmolz Bruder mit Bruder, ſo kam
Zahnſchmerz wieder zu Zahnſchmerz. Das Prinzip, „in der
Familie zu bleiben“, hieß zugleich „in allen Erbübeln der
Familie bleiben“. Niemals kam eine ſolche Sippe, die immer
unter ſich blieb, auf dieſem Wege aus den Zahnſchmerzen
heraus, im Gegenteil.
Umgekehrt aber: ein ſolcher Zahnſchmerzſprößling verwuchs
mit einem gerade daher kommenden fremden Kerlchen, das
keine Zahnſchmerzen hatte. Alles Kranke in ihm wurde gleich¬
ſam verdünnt durch den Zuwachs neuer Geſundheit. Und
wenn das durch immer neue Generationen in derſelben Weiſe
weiter ging, ſo wurde durch die ewige Auffriſchung mit ge¬
ſundem Blut das Tröpfchen Krankheit immer homöopathiſcher,
wie ein Tropfen Kognak, zu dem du nach und nach ein Welt¬
meer reinen Waſſers zugießeſt, — bis es endlich in der Wirkung
geradezu verſchwand. Ein ſolcher Vorteil erſten Ranges: daß
das Verſchmelzen mit einem zweiten Zwerge nicht bloß ſtärker
im Sinne einfachen Maſſenzuwachſes, ſondern auch noch unter
Umſtänden viel geſunder im Sinne einer Blutauffriſchung machte:
er konnte auf die Dauer nicht vernachläſſigt werden. Zu der
einfachen Sitte des Verſchmelzens überhaupt trat die andere,
[136] daß man das eigene Brüderlein immer möglichſt vermied und
den Fremden zum Zwecke bevorzugte.
Das hatte aber wieder eine neue Folge. Die kleinen
Dezimierungszwerge aus derſelben Teilungshecke gewöhnten ſich
noch mehr als früher ans Wandern. Bei dem allgemein ziem¬
lich gleichen Ausſehen war es meiſt verzweifelt ſchwer, im
Moment zu entſcheiden, ob ein Begegnender ein Bruder oder
ein Fremder ſei. In der Ferne, weit ab von allen Brüdern
überhaupt, verlor ſich dieſe Gefahr aber ſo gut wie ganz.
Alſo hinaus auf die Wanderſchaft! Das Wandern war bald
nicht mehr bloß eine Laune, ſondern ein Lebenszweck. Und
die kleinen Rumpelſtilzchen fuchſten ſich allmählich ſo darauf
ein, daß ſie mit ihrem rüſtigen Schritt ſchließlich kaum noch
gegen früher wiederzuerkennen waren. Nicht lange: und das
Wandern ſelbſt zeitigte einen neuen Fortſchritt zur Sache.
Wir haben jetzt immer von den Duodez-Zwerglein gehört,
die aus der Maſſenzerreißung eines alten Rumpelſtilzes in
zwölf oder mehr Teile hervorgingen. Aber du erinnerſt dich:
es wurden auch andere Rumpelſtilzler vorher erwähnt, die
ſich zwar noch in zwei Stücke zerriſſen, aber zwei ungleich
große. Solche Zwerge lebten in den Weiten des Zwergen¬
reichs ebenfalls reichlich genug. Ich ſagte dir ſchon: das
kleinere losgeriſſene Zwerglein nach der Teilung hatte auch
hier wohl ſeine liebe Not, durch ſtarke Mahlzeiten ſich auf
die Normalgröße wieder heraufzubringen. Aber die Ver¬
ſchmelzerei war hier doch bisher nicht ſo recht in Mode ge¬
kommen. Weißt du, ein ſolches ungleiches Stilzchen aus der
Zweiteilung war ja immer noch ein Rieſe gegen jene Zwölf¬
linge oder Zwanziglinge. Es brauchte die Schmelzmethode
nicht unbedingt. Öfter führte ſie ihm geradezu zu Mißſtänden,
wenn nämlich die Stilzchen beide ſchon zu groß waren und
zuſammenwachſend dann über das normale Hauptmaß weit
hinausſchnellten. Kurz: man war hier der Sache nicht gerade
prinzipiell abgeneigt, aber man ſuchte ſie nicht. Da auch noch
[137] Brudervermiſchung ohnehin wegfiel (es gab ja überhaupt keine
gleichgroßen Brüder hier), ſo hatte man ſich im ganzen auch
von dem Herumwandern viel ferner gehalten, war ſeßhafter
am Fleck geblieben und ſpielte mehr eine geduldig abwartende
als eine aktive Rolle.
Nun aber kam's! Auf ſolche relativ großen, ſeßhaften
Zwerge ſtoßen wandernde Duodezrumpelchen. Heiſa, was ein
Biſſen! Sicherlich iſt er fremd, denn er iſt ja mächtig viel
größer und im behäbigen Habitus auch ſonſt alsbald vom
reiſigen Wanderburſchen zu unterſcheiden. Die Frage iſt nur:
wird dieſer dicke Kerl noch in einen Zuſammenſchluß willigen?
Aber wahrhaftig: er will. Ihm fehlt ja gerade zur vollen
Größe nur noch eine kleine Zuthat. Nun bietet ſich das an¬
reiſende fremde Stilzchen wie vom Himmel gefallen dar —
gerade mit der noch fehlenden Maſſe, nicht zu viel, nicht zu
wenig. Offene Arme — ritſch — Zuſammenſchluß — ein
ſchönſter Zwerg ſteht da.
Das war nun ein Glücksfund für beide Teile. Der
mußte ausgenutzt werden! Eine neue Parole ſchien aus¬
gegeben. Nur noch ſolche großen trägen Zwerge ſuchen! Nicht
mehr Verſchmelzung mit Brüdern, aber auch draußen nicht
mehr mit beliebigen Fremden, ſondern nur noch Anſchluß an
jene verſchieden ausſehenden ſeßhaften Fremdzwerge.
Mit der Zeit gewöhnten ſich beide Parteien aneinander,
als müßte es ſo ſein, daß die eine die andere fand. Die
großen Zwerge erwarteten die kleinen und die kleinen zählten
darauf, große bereit zu finden. Jetzt erſt war das Schickſal
der kleinen Zwerglein bis zu den kleinſten herab eigentlich
geſichert, ja ſie konnten getroſt ſogar gelegentlich noch kleiner
werden: die große andere Partei half doch durch mit ihrer
dauerhaften eigenen Größe. Heiſa, wie ſchön jetzt alles klappte!
Die alte, ſchlichte Kinderkriegerei war zwar jetzt im ganzen
eine kompliziertere Sache geworden. Es hieß nicht mehr einfach:
friß, wachſe und zerſpalte dich. Mitten ins Wachstum hinein
[138] kam jetzt noch die beſondere Einlage: und ſuche einen Genoſſen
von einer etwas von dir verſchiedenen Art — oder harre und
hoffe eines ſolchen zu dir wandernden Genoſſen — und dann
gieb dich ihm hin bis zur völligen Selbſtauflöſung in ihm;
erſt aus euch zweien wird dann das fertige Weſen, das ſich
durch Zerteilung wieder mehrt. Aber wie viel hübſcher, wie
viel ſicherer war das ganze Lebensſpiel damit auch im Grunde
geworden! War früher das gewöhnliche Freſſen eigentlich der
weſentliche Lebensinhalt eines Zwergleins von der Geburt bis
zum eigenen Teilungstage geweſen, ſo hatte er jetzt noch den
ganzen Roman mit ſeinem Suchen, Hoffen, Harren und Er¬
füllen, ſeinem ſeligen Ineinanderaufgehen — ſeiner Zweiheit
im Finden, anſtatt daß es früher bloß eine Zwei- oder Viel¬
heit im ſchließlichen Trennen gegeben hatte.
Dieſer Zuſtand bildete gleichſam eine höchſte Staffel.
Im Prinzip konnte das weder je wieder verſchwinden, noch
überboten werden. Und es kamen auch eigentlich nur noch
gewiſſe Äußerlichkeiten mit der Zeit hinzu. Nämlich folgende.
Zunächſt wird dir ja da ſelber die Frage aufgetaucht
ſein: Ja, wie teilten ſich denn nun diejenigen Zwerglein, die
aus der Vermiſchung eines ſolchen kleinen Wanderzwerges und
eines großen ſeßhaften Zwerges hervorgegangen waren? Du
haſt doch geſehen: der Wanderzwerg verdankte ſeine Exiſtenz
der Zerteilung eines Zwerges in zwölf oder zwanzig oder noch
mehr gleiche Teilſtücke; der ſeßhafte Zwerg aber ſeine einer
Zerteilung bloß in zwei (und zwar zwei ungleiche) Stücke.
Na, die Sache hatte ſich bald ganz gemütlich geregelt.
Je nach gewiſſen Umſtänden bei der Verſchmelzung, die
ziemlich zweckentſprechend abwechſelnd in Kraft traten, folgte
der neu entſtandene Zwerg hier dieſer Methode der Teilung,
dort jener. Summa Summarum kamen immer wieder etwa
ebenſoviel Zwerge mit Vielteilung wie mit Zweiteilung heraus
als nötig waren, ſo daß für beide Gruppen der nötige Stamm
ſtets wieder garantiert war.
[139]
Bloß eins zeigte ſich durchweg als Zugabe. Du erinnerſt
dich: jene Zwerglein, die ſich durch ungleiche Zweiteilung
mehrten, zeigten als Teilungsergebnis immer ein großes —
gleichſam ein Mutterſtück, und ein kleineres — gleichſam ein
Tochterſtück. Dieſe Methode der „Ungleichheit“ bei der Teilung
vererbte ſich nun allmählich auf alle Nachkommen, auch auf
die, die ſich nicht in zwei, ſondern in zwölf und zwanzig
Teile zerſpalteten. Auch bei dieſen letzteren erfolgte durchweg
die Teilerei jetzt ſo, daß der alte Rumpelſtilz von ſich zwar
eine ganze Maſſe kleiner Teilchen losriß, einen größeren Teil
aber als ungleichen Hauptreſt übrig ließ. Alſo: auf der einen
Seite fortan Zweiteilung — ein großer Teil und ein kleiner;
auf der andern Seite, ſagen wir, Zwanzigteilung — ein großer
Teil und neunzehn kleine. Beide Hauptteile waren groß
genug, um ſich ohne Verſchmelzung durch einfache Nahrungs¬
aufnahme wieder zur vollen Größe auszuwachſen. Sie blieben
zunächſt in beiden Fällen einfach ſitzen, und bloß die neunzehn
kleinen Spaltzwerglein ſchwärmten von dem einen aus, und
eines davon erreichte ſchließlich den einen Spaltzwerg des
andern zu glücklicher Vermiſchung.
Später kam aber hierzu noch eine Verfeinerung auf.
Der große Teilreſtzwerg mit den neunzehn kleinen Zwerglein
ließ dieſe muntere Bande nicht mehr ſelbſtändig auf gut Glück
loswandern. Er ſelbſt machte ſich ſamt der ganzen Kolonie
auf die Wanderſchaft. Er ſuchte ſich einen Zwerg der anderen
Sorte, der gerade ſeinen kleineren Teil von ſich losſpaltete.
Und indem er ſich dicht an dieſen anderen Zwerg heranlegte,
ließ er raſch eines der eigenen neunzehn Kleinzwerglein los,
ließ es hinüberflitſchen und ließ es mit dem ſich ablöſenden
Teilzwerge drüben zuſammenſchmelzen.
Dieſe Methode war auf alle Fälle eine Verfeinerung der
ganzen Sache hinſichtlich der Sicherheit. Zugleich deutete ſie
allerdings ſchon auf eine Wandlung im ganzen Benehmen der
Zwerge hin, die ſehr bemerkenswert zu werden verſprach. Das
[140] Verſchmelzen überhaupt hatte ja zum erſtenmal in gewiſſem
Sinne den Bann der Einſiedelei und mürriſchen Alleinleberei
bei dem Zwergenvölkchen durchbrochen. Jetzt trieb das offen¬
bar ſchon weitere Früchte. Jenes Zuſammenbleiben der zwanzig
Teilzwerge unter Führung des einen, größten Zwerges zeigte
den erſten Beginn eines ſozialen Bruderverbandes zu gemein¬
ſamem Vorgehen und Nutzen — ein bedeutſamer Fingerzeig!
Doch das beiſeite. Fixiere dir nur noch einmal recht
ſcharf das Schlußbild. Zwei Zwerge. Der eine ſpaltet von
ſich neunzehn kleinſte Zwerglein ab; der andere nur eins;
aber ein ziemlich großes. Der erſte Zwerg bewegt ſich zu
dem zweiten hin und läßt, ganz nahe herantretend, eines
ſeiner neunzehn Kleinen auf das Spaltjunge des andern los.
Aus der Vermiſchung der beiden jungen geht ein neuer Zwerg
entweder von der erſten oder von der zweiten Art hervor ....
[141]
..... Setze die Märchenbrille ab. Was haſt du ge¬
ſehen? Es war einmal .....? Ja, wo denn?
Jene Zwerge bilden in Wahrheit ein Geſchlecht, deß die
Erde aller Orten voll iſt. Es ſind die einzelligen Urweſen.
Nicht Tier, noch Pflanze. Noch nicht Tier, noch nicht Pflanze!
Zwerge, winzigſte Zwerge in der That die meiſten, wenn du
ſie an dir ſelbſt (alſo einem hochentwickelten Tier) oder einem
Fiſch, oder einer Auſter, oder einer Kartoffelpflanze mißt. Land,
Luft und Meer ſind überall voll davon, obwohl ſie zumeiſt
eben ſo winzig ſind, daß du ſie mit bloßem Auge gar nicht
gewahren kannſt.
Ich habe vorhin immer gern die Bezeichnung „Bazillen“
gebraucht, weil ich an einen dir wenigſtens in etwa bekannten
Begriff anknüpfen wollte. Die Bazillen bilden aber in der
unzählbaren Menge nur eine beſtimmte Gruppe, neben ihnen
giebt es noch eine Maſſe anderer Sorten. Trotz des enorm
einfachen Baues — eine Zelle nur, ein einziger organiſcher
Ziegelſtein bildet ja den ganzen Leib, und Organe haben ſie
in dieſem Leib meiſt noch ſo gut wie gar keine, — trotzdem
zeigen dieſe Sorten untereinander mancherlei Unterſchiede. Be¬
ſonders hinſichtlich der Lebensweiſe. Die einen nähren ſich wie
die Pflanzen (die ſich wohl aus dieſer Sorte entwickelt haben
mögen) unmittelbar von anorganiſchen Stoffen. Andere da¬
gegen leben ausſchließlich erſt wieder von jener anderen Sorte
ſelbſt, verfahren alſo ſo wie die aus ihnen entwickelten Tiere,
[142] die niemals direkt Mineralſtoffe des Bodens zerſetzen und ver¬
dauen können, ſondern zur Ernährung andere Tiere oder vor
allem Pflanzen gebrauchen. Aber auch in der Größe, in der Art
und dem Vorhandenſein eines ſogenannten Kerns in der Zelle
und ſonſt in gewiſſen Eigenſchaften giebt es trennende Unter¬
ſchiede. Du ſchauſt eben in ein Rieſenreich organiſchen Lebens, —
die Erde umſpannend gleich dem Pflanzen- und Tierreich, die
als ſolche ja nichts anderes darſtellen als zwei Äſte jenes großen
dritten, urſprünglichen Reiches, die ſich eigenſinnig hoch ge¬
arbeitet haben, während die Maſſe jener Einzelligen auch heute
noch im alten Urſtadium die Erdkugel umſchwärmt.
Unaufhörlich ſtößt du ſelbſt, der du dich Herr der Erde
nennſt, auf das allgegenwärtige Zwergenreich. Kein Mund voll
Luft, kein Schluck Waſſer, in dem du nicht Bazillen ſchluckſt.
Wehe dir, wenn eine Gegenſätzlichkeit beſteht zwiſchen den Zellen
deines Leibes und einer Horde ſolcher einzelligen Eindringlinge!
Als Cholerabazillen mähen die Zwerge euch Menſchen hin wie
gelbes Korn, und mit keinem zweiten Weſen der Erde, nicht
mit Tiger oder Giftſchlange oder Tollkirſche, iſt der Kampf
noch heute für den Kulturmenſchen ſo heiß, im Siege ſo zweifel¬
haft, wie mit dieſen Urzwergen der Einzelzelle. Andererſeits
wäre aber auch dieſe ganze Menſchenkultur mit ihrer Landwirt¬
ſchaft und Produktion ſo gut wie unmöglich ohne die Hülfe
gewiſſer nützlicher Zwerge der Art, denen wir die wichtigſten
Zerſetzungs- und Gärungserſcheinungen verdanken. Verwebt
und verſponnen biſt du, wohin du ſchauſt, ins Netz und in die
Arbeit dieſer Kinder vom dritten Reich, — von deiner Zeugung
an, wo Samentierchen und Ei zwei freie „Einzellige“ noch
einmal innerhalb eines höheren Organismus zu werden ſcheinen,
um dich ſelbſt zu zeugen, — bis zu deinem Tode, wo einzellige
Bakterien die Verweſung einleiten, die deine Körperſtoffe in
den großen Naturkreislauf zurückgiebt.
Aber nicht deswegen allein, weil ſie noch ſo „aktuell“ für
uns ſind, wecken dieſe Urzeller unſer höchſtes Intereſſe. Sie
[143] ſind ja noch mehr. Sie ſind heute noch die offenbar wenig
oder gar nicht veränderten Abbilder unſerer älteſten Ahnen auf
Erden.
Mögen ſie nun heute noch durch nie zerriſſene Lebensfolge
ebenſo unmittelbare, unveränderte Nachkommen jener Erſtlings¬
generation der Erde ſein, wie die Pflanzen und wie wir Tiere
es indirekt und verändert ſind, — oder mögen ſie millionenfach
nach dem alten Muſter immer wieder neu durch fortgeſetzte Ur¬
zeugung entſtanden ſein, — auf alle Fälle ſind ſie Porträts
unſerer älteſten Vorfahren. Und ihre Lebensgewohnheiten
malen uns mehr oder minder immer noch, was im Leben
jener ſchon Gewohnheit geweſen ſein mag.
Auch ihre Liebe iſt ein Schattenbild, eine letzte, noch in
unſer Auge fallende Lichtprojektion der „Urliebe“ auf Erden.
Nun zeigt dir aber dieſe „Liebe“, intereſſant genug, eine
ganze Anzahl unter ſich verſchiedener Formen. Allerlei Me¬
thoden gleichſam, Anſätze, Varianten, — ziemlich kunterbunt
durcheinander und ſcheinbar recht regellos. Blickſt du indeſſen
ſchärfer hin, ſo ſteigt dir eine Vermutung auf. Die vielerlei,
oft äußerlich geringfügigen Varianten der Urzeller-Liebe er¬
ſcheinen dir höchſt bedeutſam, wie alle möglichen zerſtreuten
Reminiscenzen an eine beſtimmte feſte Entwickelungslinie der
älteſten Zeit, — eine Entwickelungslinie innerhalb der Liebe.
Unwillkürlich machſt du dich daran, die Dinge dir noch
einmal zu ordnen. Es iſt, als habe dieſer noch lebende Ein¬
zeller hier dieſe Stufe in der Erinnerung bewahrt und vertrete
ſie heute in ſeiner Liebesart noch zäh, — jener jene, ein dritter
eine dritte, und ſo fort. Sollte es nicht möglich ſein, da eine
ganze logiſche Kette zurückzufinden?
Du gewahrſt ſofort folgende Hauptſache. In den vielen
Liebesmethoden der heutigen Einzelligen iſt es, als trieben ſich
gewiſſermaßen alle Planken und Wrakſtücke noch einer großen,
uralten Brücke herum: der Brücke von der einfachſten Art der
Fortpflanzung überhaupt zur geſchlechtlichen Zeugung. Bei
[144] den höheren Tieren und Pflanzen ſiehſt du dieſe geſchlechtliche
Zeugung überall glatt im Gange. Bei den niederen Tieren
und Pflanzen ſiehſt du ſie noch gleichſam unvollkommen, holprig,
hapernd. Die Einzeller aber haben, ſo ſcheint es, direkt ein¬
mal den Weg erſt als Neuentdeckung überhaupt gefunden, der
zur geſchlechtlichen Zeugung führte.
Setze dir ſtatt Zwergen Zellen — und du verſtehſt jetzt
mein Märchen.
Es iſt nichts anderes, als der ſymboliſch rohe Verſuch,
dir jenen Weg noch einmal in Bildern vor Augen zu ſtellen.
Wenn du kein Wort dabei auf die Goldwage legen willſt, ſo
magſt du dir immerhin einmal denken, daß die Dinge ſo ver¬
laufen ſind. Die parallelen Stücke findeſt du heute noch ſämt¬
lich bei den vorhandenen einzelligen Geſchöpfen der Erde wie
einzelne Trümmerbrocken herumgeſtreut.
[145]
Unſere Zwerge erſcheinen von Beginn an individualiſiert:
als eine Vielheit von Einzelweſen. So müſſen wir uns die
Einzeller der Urzeit, mit denen das Leben in unſerem Sinne
begann, ebenfalls denken, und ſo treten uns heute noch ein¬
zellige Weſen in Myriaden und Abermyriaden auf der Erde
entgegen. Von einem einheitlichen Urſchleim, aus dem dieſe
Ur-Individuen ſelbſt erſt hervorgegangen wären, lehrt uns weder
Theorie noch Praxis, weder Vergangenheit noch Gegenwart
etwas, und falls er doch einmal exiſtiert haben ſollte, ſo lag
das jedenfalls noch vor aller echten „Liebeszeit“.
Die Zwerge waren zu Beginn der Geſchichte individua¬
liſiert, aber ſie waren dabei noch abſolut geſchlechtslos, weder
Mann noch Weib. Dieſen Zuſtand zeigen dir noch heute faſt
alle Einzelligen, ja er bildet geradezu ein weſentliches Merk¬
mal des ganzen dritten Reichs. Umſonſt ſuchſt du bei den
kleinen formloſen Schleimklümpchen im Schlamm unſerer Ge¬
wäſſer, den ſogenannten Amöben, oder bei einem der berühmten
Bazillen nach „Mann“ oder „Weib“. Sie ſind keines von
beiden. Auch nicht etwa ſogenannte „Hermaphroditen“ oder
Zwitter, die beide Geſchlechtsteile am gleichen Leibe vereinigen.
Nein: ſie haben eben gar keine Geſchlechtsteile. Alle ſind ſich
gleich, und, obwohl ſie „Kinder kriegen“, können ſie ſie doch
ohne jede Spur und Möglichkeit einer geſchlechtlichen Zeugung
bekommen. Sie machen es halt genau wie jene Zwerge.
10[146]
Sie beſitzen die Fähigkeit, gewiſſe fremde Stoffe ſo in ſich
aufzunehmen, daß ſie ſie völlig in ſich verarbeiten, in eigenen
Lebensſtoff verwandeln. Dieſe Aufnahme und Verwandlung
iſt nötig zum ſogenannten „Stoffwechſel“, — einer Grund¬
erſcheinung offenbar des ganzen Lebens. Beſtändig werden im
Lebensprozeß die alten Beſtandteile des Körpers unbrauchbar
und müſſen ausgeſchieden werden. Da muß Erſatz geſchaffen
werden, — und das geſchieht durch — Freſſen und Verdauen.
Wie wir als höchſt entwickelte Tiere, als Menſchen, es heute
noch thun, thaten und thun es die Einzeller auch ſchon: ſie
freſſen, verdauen und erhalten ſich ſo, — ſie ergänzen ſich un¬
abläſſig im Stoffwechſel.
Aber es bleibt nicht bei der einfachen Ergänzung. Ein
Kind, das ißt, ergänzt ſich nicht bloß einfach im Stoffwechſel:
es ſetzt auch poſitiv zu, — es wächſt. Gerade ſo das einzellige
Urweſen, unſer „Zwerg“. Auch er nimmt Nahrung auf Über¬
ſchuß auf, er wird poſitiv größer: wächſt.
Jetzt aber: erreicht dieſes Wachſen eine gewiſſe Größe, ſo
iſt es, als löſe es eine beſondere Kraft in dem kleinen Orga¬
nismus aus, er ſpaltet ſich in ſich ſelbſt, — er teilt ſich in
zwei Teile ..... er „kriegt Kinder“, das heißt: er zerfällt
einfach in zwei Kinder. Offenbar iſt auch dieſe Fähigkeit ebenſo
eine innere Notwendigkeit und Grundeigenſchaft des einzelligen
Lebens, wie das Freſſen und Wachſen ſelbſt, ſie muß auf Grund¬
kräften dieſes Lebens beruhen, die wir in ihrem Weſen noch
nicht durchſchauen können, aber als ſolche hinnehmen müſſen
wie etwas feſt Gegebenes. In gewiſſem Sinne ſcheint es, als
ſei das „Zerfallen“, dieſe einfachſte Form der Fortpflanzung,
geradezu eine poſitive Fortführung der Ausſcheidung im Stoff¬
wechſel, — entſprechend der poſitiven Fortführung der er¬
gänzenden Nahrungsaufnahme im Wachstum. Doch einerlei:
jedenfalls ſteht das Faktum der Sache an ſich eiſern feſt. Eine
einzelne Amöbe von heute macht dir den Vorgang direkt vor,
indem ihr weicher Schleimleib bei einer gewiſſen Größe anſtatt
[147] weiter zu wachſen, einfach ſich in der Mitte einſchnürt, — die
Kerben von jeder Seite her werden tiefer und tiefer, — jetzt
hält nur noch ein dünnes Fädchen lebendigen Stoffs die beiden
Teile zuſammen, — jetzt reißt auch dieſes Fädchen — und nun
haſt du zwei Geſchöpfe ſtatt des einen vor Augen, jedes genau
halb ſo groß wie die alte Amöbe war, aber jedes ein ge¬
ſchloſſenes Individuum, bereit, ſich durch Freſſen und Wachstum
auf die alte Größe heraufzuarbeiten und dann abermals ſich zu
teilen. Bei den Bazillen geht der ganze Prozeß, Wachstum,
Teilung, abermaliges Anwachſen der Teile und neue Teilteilung,
oft mit einer ſchier unerhörten Schnelligkeit vor ſich, ſo daß die
Generationen in wenigen Stunden, ja Teilen einer Stunde
auseinander hervorſtürzen wie unter dem Meſſer einer ſchwin¬
delnd ſchnell gedrehten Maſchine. Ständen dieſer ebenſo be¬
quemen wie rapiden Fortpflanzungswelle hier nicht gewiſſe
natürliche Hemmniſſe entgegen, ſo würde eine einzige ſolche
Bazillenkultur in ein paar Tagen alle Ozeane erfüllen und ſich
zu Hochgebirgen emportürmen — eine ſchauerliche Liebesbethä¬
tigung, wie denn überhaupt gerade im Bereich dieſer ſcheinbar
winzigſten Zwerglein alles Naturwalten eigentlich einen grob¬
rieſigen, dämoniſchen Anſtrich hat.
Aber weiter in der Zwergengeſchichte. Die Zwerge ver¬
fielen in abweichende Teilmethoden: bald löſte einer nicht eine
Hälfte, ſondern nur ein viel kleineres Stück von ſich, — bald
brach einer in eine Maſſe winziger Teilchen entzwei. Beide
Fälle findeſt du noch bei lebenden Einzellern.
Bei einer ganzen Menge von ſogenannten Infuſorien oder
Aufgußtierchen, alſo einer Gruppe von Geſchöpfen, die eben¬
falls noch durchaus ins einzellige Urreich gehören, ſiehſt du die
echte Hälftenteilung erſetzt durch eine einfachſte Form ſo¬
10*[148] genannter „Knoſpung“. Anſtatt daß das ganze Infuſorium
ſich in zwei gleich große Hälften zum Zweck des Kinderkriegens
ſpaltete, löſt ſich von dem Hauptteil bloß ein kleiner Nebenteil
wie eine Art Knoſpe ab: die Teilung iſt zwar noch Zweiteilung,
aber mit ſehr ungleich großen Produkten.
Umgekehrt: bei einer noch viel größeren Maſſe einzelliger
Urweſen findeſt du die Zweiteilung überhaupt verlaſſen zu
gunſten eines Zerfalles des elterlichen Geſchöpfes gleich in
einen ganzen Haufen von ſelbſtändigen Teilſtücken. In ihrer
entwickelteren, meiſtens bereits etwas veränderten Form pflegt
man dieſe Methode ſchon als „Sporenbildung“ zu bezeichnen:
der Zellkörper des einen Urweſens zerplatzt gleichſam in eine
ganze kleine Staubwolke von ausſchwärmenden Liliputzellen
(„Sporen“), von denen jede jetzt ein ſelbſtändiges neues Indi¬
viduum darſtellt. Im Weſen iſt's aber auch hier nur noch der
zweite Zwergenfall!
Unſere Duodezzwerglein, allzu klein und kraftlos geworden,
drohten auszuſterben, als im letzten Moment die Verſchmelzung
zweier Zwergzwerglein eine Rettung ſchuf. Nun, die Grund¬
thatſache auch dieſes Hergangs — die Verſchmelzung zweier
gleichartiger kleiner Zellen zum Zweck erhöhten Kraftzuwachſes —
kannſt du noch heute bei ungezählten Einzellern, als da ſind
Konjugaten, Diatomeen, Gregarinen, Rhizopoden, Infuſorien
und andere mehr, aufs bequemſte ſtudieren. Ja mehrere dieſer
wunderlichen Heiligen haben es ſich geradezu, wie es ſcheint,
noch immer zur feſten Gewohnheit gemacht, jedesmal jene Ge¬
fahr bis auf den höchſten Punkt bei ſich anwachſen zu laſſen,
um dann das Rettungsmittel gleichſam programmmäßig wie
eine abgekartete Sache ins Spiel zu ſetzen. Sie teilen ſich
einfach auf gut Glück, bis die Größe der Einzelnen auf ein
Minimum herunterkommt — dann laſſen ſie Verſchmelzung von
zwei Individuen eintreten und bringen damit wieder neues
raſches Maſſenwachstum und neue Energie in ihr ganzes Volk.
Kaum noch irgend ein Zweifel kann beſtehen, daß dieſer Vor¬
[149] gang dir in Sache wie Handlung eine uralte Station des
Liebesweges vor Augen ſtellt. Dieſe einfache Konjugation (wie
man es benannt hat) zweier gleichartiger, aber ſehr kleiner und
einzeln ſehr ſchwacher Jungzellweſen bezeichnet in ſcharfem
Sinne den erſten Anſatz zur Geſchlechtsliebe und
damit zur Liebe im engeren Sinne überhaupt.
Noch ſind die Geſchlechter nicht äußerlich, in der Form,
getrennt, — die beiden verſchmelzenden Weſen tragen ja ab¬
ſolut die gleiche Geſtalt. Und ſolche Gleichartigkeit kannſt du
in manchen Fällen heute noch bis über das Reich der Ein¬
zelligen hinaus verfolgen. Du weißt: Tiere wie Pflanzen
haben ſich aus dem dritten, dem einzelligen Reiche geſchichtlich
erſt entwickelt. Nun: ſelbſt bei niedrigſten echten Pflanzen
findeſt du noch ſolche Konjugation verwechſelbar gleich geformter
kleiner Einzelweſen. Da haſt du feine ſmaragdgrüne Algen¬
fädchen an Bachkieſeln und Brunnentrögen. Algen ſind niedrigſte
Pflanzen. Jeder Faden beſteht aus einer loſen Kette von
Zellen. Um die rechte Zeit zerfällt jede dieſer Zellen für ſich
und innerlich in eine ganze Kolonie, ein ganzes Gewimmel
winziger Neuzellchen. Alsbald ſchwärmen dieſe Zellchen, leb¬
haft beweglich wie ſie ſind, ins Waſſer hinaus. Begegnen ſich
dort nun zwei, die zwar aus zwei verſchiedenen Kolonien
ſtammen, im übrigen aber abſolut gleich in der äußeren Ge¬
ſtalt ſind, ſo weichen ſie ſich nicht aus, ſondern ſtoßen vielmehr
direkt und wie von plötzlicher Sympathie erfaßt zuſammen,
legen ſich feſt aneinander und verſchmelzen endlich mit einem
letzten Ruck zu einem Körper. So noch bei echten Algenpflanzen
von heute! Warum ſoll, bei ſo außerordentlicher Logik der
Sache, dies nicht auch der Weg im ganzen in Urzeiten ge¬
weſen ſein, der Weg, der überhaupt auf eine Verſchmelzung
und damit geſchichtlich in die Linie der Geſchlechtszeugung führte?
Natürlich bleiben dabei gewiſſe Geheimniſſe übrig. Aber
die bleiben eben überall im Herzen aller Lebenserſcheinungen.
Wie iſt es möglich, daß zwei in ſich geſchloſſene Individuen,
[150] einerlei ob nun klein oder groß, gleich oder ungleich, über¬
haupt lebendig ineinander fließen können? Welche „Sympathie“
tritt hier plötzlich in Wirkung, die lebendige Zellen zuſammen¬
ſchießen läßt wie Atome zweier Grundſtoffe bei der Bildung
einer chemiſchen Verbindung? Das wiſſen wir halt nicht.
Aber du mußt dir immer klar machen: wir wiſſen auch inner¬
lich nicht, warum Stoffwechſel in der Zelle nötig wird, warum
Ausſcheidung und Neuaufnahme, Freſſen und ſein Gegenteil,
warum Wachſen und Selbſtteilen ſtattfinden. Man hat auch
bei dieſem Vorgang der lebendigen Verſchmelzung zweier Zellen
im allgemeinen ja den Eindruck, daß auch hier nur eine Art
poſitiver Fortſetzung oder Umbildung eines jener anderen Vor¬
gänge ſichtbar werde. Ich ſagte dir ſchon: die einfachſten
Ereigniſſe im Zellenleben beruhen offenbar auf dem einfachen
Stoffwechſel, — es ſind: Nahrungsaufnahme (Freſſen) zum
Zweck der Ergänzung des unbrauchbar gewordenen Zellſtoffes, —
und Ausſcheidung zum Zweck der Entfernung dieſer unbrauch¬
baren Stoffe ſowie der unverarbeitbaren Aufnahmeteile. Dazu
tritt dann als poſitive Erweiterung der einfachen Ergänzung
das Wachstum, — und dieſes Wachstum ſcheint wieder eine
Art poſitiver Form einer höheren, lebendigen Ausſcheidung
hervorzurufen: die Fortpflanzung durch Selbſtteilung oder
wenigſtens durch Ablöſung einer Knoſpe. Nun könnteſt du das
ohne Mühe noch wieder weiter treiben und ſagen: wie das
einfache Freſſen immerzu erſetzen muß, was mit der Aus¬
ſcheidung verloren geht, ſo muß unter Umſtänden auch eine be¬
ſondere neue Art Freſſen das Manko erſetzen, das bei einer
allzu lebhaften Ausſcheidung durch Fortpflanzung erzeugt wird.
Da die Fortpflanzung aber eine „lebendige Ausſcheidung“ iſt,
muß hier auch ein „lebendiges“ Freſſen ſtattfinden — das
heißt: es muß lebendiger Stoff als ſolcher in die lebendige
Zelle überſtrömen. Willſt du es ganz grob ausdrücken, ſo
käme etwa heraus: der Vorgang des Kinderkriegens iſt bloß
eine höhere Form der Abſcheidung eines Exkrements; und die
[151] Liebe im Sinne der Verſchmelzung zweier Individuen zum
Zweck der Erzeugung eines dritten iſt bloß eine verfeinerte
Form des Freſſens. Du begreifſt aber im engeren, wie
das wirklich gemeint iſt, — ohne paradoxen Scherz und im
Sinne eines höchſt nüchternen Gedankenganges, bei dem wir
ſchließlich am Anfang ſo wenig wie am Schluß, beim „ein¬
fachen“ ſo wenig wie beim „verfeinerten“, den Dingen eigent¬
lich in die Karten ſchauen. Freſſen und Exkrement bleiben am
Ende ebenſo tiefe und erhabene Rätſel des Lebendigen wie
Fortpflanzung und Liebe. Und nur das eine ſcheint gerade
durchzuleuchten, daß die letzteren Begriffe erſt die ſekundären,
die höheren, die überbietenden innerhalb einer Entwickelungs¬
leiter darſtellen.
Die nächſte Stufe in unſerem Märchenbilde iſt ein bißchen
kitzelig. Die Zwerge gewöhnten ſich aus Nützlichkeitsgründen
daran, nicht mehr ihre unmittelbar blutsverwandten Brüder,
ſondern fremde Stammesgenoſſen zum Verſchmelzen zu benutzen.
Es liegt hier ein großes Problem für die ganze Lebens- und
Liebesforſchung vor. Das Problem der Kreuzung und Inzucht.
[152]
Sieh dir noch einmal die kleinen grünen Algenfäden von
vorhin an, — niedrigſte Pflanzen, die zwar ſchon etwas über
das einfache einzellige Urweſen hinaus ſind, aber doch noch
ſchlichteſte Verſchmelzung gleicher Teilindividuen zeigen. Da
gewahrſt du zwei ſolcher kleinſten Teilalgen, wie ſie ſich im
Waſſer herum bewegen und einen Partner zum Verſchmelzen
ſuchen. Es ſind echte Brüder aus derſelben zerſpaltenen Zelle.
Jetzt begegnen ſie ſich — aber ſie weichen einander aus. Sie
wollen ſich nicht! Im nächſten Moment dagegen hat jede eine
fremde, nicht brüderliche Schwärmzelle erreicht und dort giebt's
alsbald intenſivſten Zuſammenſchluß. Warum verſchmäht der
Bruder den Bruder?
Sieh dir anderes an. Höhere Pflanzen. Hier iſt ſchon
echte Geſchlechtertrennung, ein weiblicher Teil in der Blüte:
der Fruchtknoten, und männliche Teile: die ſamenhaltigen Staub¬
gefäße. Aber das nebenbei. Jedenfalls haſt du in einer Un¬
maſſe von Fällen beide Teile, die zum Geſchlechtsakt ſich ver¬
miſchen, verſchmelzen ſollen, hier anſcheinend dicht nebeneinander
in derſelben Blüte. Dieſe höheren Pflanzen entſenden keine beweg¬
lichen Schwärmzellen mehr wie jene Algen. Die Blüte ſitzt feſt
wie die ganze Pflanze. Um ſo glücklicher ſcheint die Vereinigung
beider Geſchlechtsteile in einer und derſelben Blüte. Die Staub¬
fäden, ſcheint es, brauchen bloß zur rechten Zeit ihre Samenzellen
abzuwerfen, ſo werden dieſe auf den Griffel, den Fruchtknoten
fallen und den weiblichen Teil durch Verſchmelzung befruchten.
[153]
Aber weit gefehlt. In neunundneunzig Fällen ſiehſt du
die raffinierteſten Vorkehrungen, um dieſe Zellenverſchmelzung,
dieſe „Zeugung“ innerhalb derſelben Blüte zu verhindern.
In unzähligen Fällen iſt die ganze Blüte darauf angelegt,
daß trotz größter Nähe eine Selbſtbefruchtung unmöglich
gemacht wird. Dagegen iſt die Blüte, ſelbſt unbeweglich, wie
ſie iſt, aufs genaueſte auf den Beſuch gewiſſer beweglicher, von
Blume zu Blume ſchwärmender Inſekten angelegt. Dieſe In¬
ſekten — Bienen, Hummeln, Fliegen, Schmetterlinge — werden
von der Pflanze durch allerlei Farben, Gerüche und ſüße Honig¬
quellen angelockt. Um an den Honig zu gelangen, müſſen ſie
in die Blume hineinkriechen oder mit dem Rüſſel hineinlangen.
Bei dieſer Gelegenheit bepudert die eine Blüte das Inſekt aber
mit ihrem Blütenſtaub, alſo Samenzellen, und indem das In¬
ſekt jetzt weiterfliegt zu einer zweiten Blüte derſelben Art, klebt
es dort die Samenzellen an den weiblichen Geſchlechtsteil (den
Griffel und Fruchtknoten) ganz von ſelbſt und ohne Willen an
und vermittelt ſo doch eine Befruchtung übers Kreuz, die offenbar
für den ganzen Lebenshaushalt auch dieſer Pflanzen eine wich¬
tige, ja unerläßliche Bedingung iſt. Derſelbe Fall hier, wie
dort, wenn auch unendlich viel komplizierter: der Bruderſamen
am eigenen Blütenſtock wird ängſtlich vermieden, — der fremde
Samen dagegen, den das Inſekt anſchleift, iſt will¬
kommenſter Verſchmelzungsfreund! Ich will dir
ein Beiſpiel ausmalen, da die Sache nach jeder
Richtung zu intereſſant iſt.
Greife dir dort hinten im Graſe unter den Öl¬
bäumen einen jener ſeltſamen bleichgrünen Schäfte,
in denen ein großes Blatt wie eine eingerollte
Fahne über ihrer Blüte zuſammengefaltet ſcheint.
Ein ſogenannter Aronsſtab, aus der Pflanzengruppe
der Aroideen. Brich die grüne Blütenſcheide ge¬
[154] waltſam auf. Du ſiehſt in der Tiefe, wo ſie ſich feſt geſchloſſen
rundlich wölbte, wie in einen Keſſel. Und indem du ſeine Wand
ſprengſt, ſauſt ein ganzer Schwarm kleinſter ſchwarzer Mückchen
heraus. Sie ſcheinen aus einem Kerker jäh befreit. Aber wie
kamen ſie hinein? Du haſt einen der wunderbarſten Mecha¬
nismen der ganzen Pflanzenwelt vor dir: einen Mechanismus
zum Zweck der Kreuzbefruchtung.
Der Aronsſtab haucht einen fauligen Geruch aus, der
kleine Aasfliegen anlockt, daß ſie von oben her in die offene
grüne Tüte kriechen. Da ragt ihnen aus dem ebenfalls oben
offenen Keſſelchen ein feiſter Kolben entgegen: die Spitze der
eigentlichen Blüte (oder beſſer Blütenkolonie), die ohne beſon¬
dere Innenhülle als nackte Achſe durch den Keſſel ſteigt. Die
Inſekten klettern an dem Kolben abwärts und gelangen in den
Keſſel ſelbſt. Da iſt gut ſein, die Pflanze entwickelt, während
draußen kühler Tau fällt, innen die molligſte Temperatur, und
die Innenwände des Keſſels ſtrotzen wirklich von Saft zu aus¬
giebigſter Speiſung. Aber was iſt das? Ein Flieglein, geſättigt
und gewärmt genug, will das freundliche Aſyl wieder verlaſſen.
Da merkt es, daß die ganze naſchhafte Geſellſchaft im Keſſel
gefangen iſt. Unachtſam ſind ſie beim Einkriechen über einen
Kranz biegſamer Borſten abwärts geklettert, der jetzt, da ſie
zurückwollen, genau nach der Methode einer Fiſchreuſe oder ge¬
wiſſer Mauſefallen den Aufſtieg unbarmherzig ſperrt. Was thun?
Die kleinen Gefangenen wimmeln ein paar Tage unruhig, aber
immerhin wohlbeköſtigt und gewärmt in ihrem Kerker herum
und warten ab. Inzwiſchen vollzieht ſich an der Pflanze aber
ein ſeltſames Neues, das die Fliegen zunächſt wohl gar nicht
beachten, da es ſie nichts anzugehen ſcheint.
An der Achſe des Keſſels ſitzen dicht gedrängt übereinander
erſt ein Kranz männlicher, dann weiblicher Geſchlechtsblütchen.
Dicht bei einander, ja in gefährlichſter Form übereinander, wie
ſie da liegen, müßten ſie ſich eigentlich aufs leichteſte gegen¬
ſeitig miſchen können und das Herumwimmeln der Fliegen wäre
[155] erſt recht das Mittel, dieſe Vermiſchung zu fördern. Aber das
gäbe Ehen im eigenen Vaterhauſe und die eben will die Pflanze
nicht, will ſie durchaus nicht. Was macht ſie alſo? Die beiden
Blütenkränze reifen nicht gleichzeitig, ſondern nachein¬
ander. Früher der weibliche, ſpäter erſt der männliche. Wäh¬
rend nun die Gefangenen noch unruhig wimmeln, wird auf
einmal der männliche Blütenkranz geſchlechtsreif und ſpaltet
dicke Maſſen von „Blütenſtaub“, das heißt: echtem Mannes¬
ſamen der Pflanze, von ſich ab. Die Fliegen werden dick be¬
pudert damit, ohne davon Notiz zu nehmen. Denn ihnen
winkt alsbald jetzt etwas noch viel Wichtigeres. Als habe die
Samenreife da oben die Kraft weggezehrt, ſo lockern ſich und
welken jetzt ganz plötzlich von ſelber die Reuſenborſten: der
Weg in die Sonne wird wieder frei, die Inſekten ſchwärmen
in heller Freude aus. Das ſcheint mit den Aronsſtäben alſo
doch keine ſo ſchlimme Sache! Kaum befreit, ſiehſt du dieſelben
Flieglein abermals der Verſuchung des ihnen ſympathiſchen
Aasdunſtes erliegen und in einen zweiten Blütenſchaft klettern.
Huſch ſind ſie abermals durch die Reuſe und im Innern. Aber¬
mals ein paar Tage Haft.
Aber nun beobachte genau etwas, was ſich diesmal voll¬
zieht, lange ehe die Samenreife auch dieſer Blüte ſchlägt.
Lange vor der Samenreife, im Moment gleich ſchon, da die
Gäſte eindringen, ſind hier die weiblichen Blütchen der
Keſſelachſe reif und bereit zur Befruchtung. Und dieſen
reifen Weiberblütchen bringen die Fliegen ja allen Ernſtes
diesmal reifen Mannesſamen eines anderen, fremden Aron¬
ſtabes huckepack mit, — einfach wimmelnd kleben ſie ihn jetzt
ohne Willen, aber ganz ſelbſtverſtändlicher Weiſe hier am
geeignetſten Orte an. Iſt das nicht ein Raffinement ohne
gleichen zur Vermeidung von Bruderehen? Bei manchen Arten
der Aronsſtäbe giebt's ſogar zwei Fiſchreuſen im Keſſel,
eine am Eingang vor den männlichen, eine zweite zwiſchen
den männlichen und weiblichen Blüten. Die untere kerkert
[156] die einkriechenden Mücken zunächſt im unterſten Stockwerk bei
den weiblichen Blüten eine Weile ein, die zweite hält die
zurückkriechenden nochmals in der männlichen Zone zum Be¬
pudern feſt.
Und ſolcher Kunſtſtücke, wie geſagt, iſt Legion. Wo die
Inſekten die Übertragung von einer Blüte auf eine zweite
nicht beſorgen, da vermittelt's der Wind — der Wind, der dich
ſelber, wenn du im Frühling am Haſelſtrauch vorbeigehſt, oft
über und über mit Samen überſtäubt. In ſeltenen Fällen iſt
es ſogar auch höheren Pflanzen noch geglückt, ihre zähe Un¬
beweglichkeit für dieſen einen Fall vollſtändig zu überwinden.
In den blauen Waſſern des Gardaſees triffſt du auf die nied¬
liche Vallisneria, eine Waſſerpflanze, die niemals beide Ge¬
ſchlechtsteile in einer Blüte vereinigt trägt und doch keinerlei
Inſekt braucht, um zur Befruchtung zu kommen. Ihre eine
Blüte, die bloß einen weiblichen Fruchtknoten enthält, wächſt
an langem Stiel vom Grunde zur Waſſeroberfläche herauf.
Ihre andere Blüte aber, die bloß männlich iſt, alſo klebrigen
Samen erzeugt, reißt ſchon als Knoſpe unten vom Pflanzen¬
ſtock einfach ganz ab, ſchwebt im Waſſer aufwärts und ſegelt
luſtig wie ein loſer kleiner Kahn mit dem Winde und ſelbſt¬
ſtändig auf dem Waſſerſpiegel dahin, bis ſie die Weiberblüte
findet, die ſie dann landend befruchten kann.
Gehe aber noch weiter. Zu höheren Tieren. Frage einen
gewiegten Viehzüchter, was er von Inzucht oder noch enger, von
Inzeſtzucht denkt. Wenn man Tiere, z. B. Schweine, aus der¬
ſelben Familie, vor allem Geſchwiſter untereinander, immer
wieder ohne Blutauffriſchung zur Paarung bringt, ſo ſtellen
ſich in der Folge der Generationen die ſeltſamſten Verfalls¬
erſcheinungen ein. Die Tiere werden ſchwächlich, kurzlebig, im
männlichen wie im weiblichen Geſchlecht ſchließlich meiſt im¬
potent. Jeder Viehzüchter weiß, daß er da vorſichtig ſein muß,
daß die Inzucht in extremer Form unabänderlich zu Schäden
führt, — er ſagt dir einfach: die Inzucht iſt etwas „Wider¬
[157] natürliches“, das ſchwächt, degeneriert, ſchließlich zum Stillſtand
der betreffenden ganzen Familie führt.
Nun endlich erinnere dich an dich ſelbſt. Würdeſt du
deine Schweſter, deinen Bruder heiraten? Das juriſtiſche „Ge¬
ſetz“ im modernen Kulturſtaat verbietet es ſtreng. Worauf
beruht dieſes Geſetz? Auf Moralanſchauungen, die unendlich
viel älter ſind als alle unſere modernen Staaten, ja älter als
unſere ganze Kultur. Wilde Völker ohne Staat und Geſetzes¬
paragraphen und faſt jenſeits aller Kultur halten die Ge¬
ſchwiſterehe oder die Ehe zwiſchen Eltern und Kindern für
ebenſo verwerflich wie wir. Sind dieſe Anſchauungen, die
älter und eherner zwiſchen uns ſtehen als Pyramiden, Religionen
und Kronen bloß eine myſtiſche Schrulle der Menſchheit? Der
Arzt, deſſen Moralkodex die Statiſtik iſt, ſagt: Nein. Er zeigt
dir in Ziffernreihen, daß die größte Wahrſcheinlichkeit dafür
beſteht, daß Inzucht bis zum Inzeſt bei den Menſchen genau
ſo gefährlich iſt wie bei den Schweinen. Die Nachkommen
aus Bruder-Schweſterehen oder Vater-Tochterehen u. ſ. w. de¬
generiern hier wie dort. So ſagt dir wenigſtens eine er¬
drückende Majorität von Ärzten, wollen wir einſchränkend ſagen.
Die Sache wird aber geradezu „furchtbar wahrſcheinlich“, wenn
du bedenkſt, daß der Menſch nur ein Spezialfall im Reich des
Lebendigen iſt und daß die Verurteilung der Inzucht wie ein
brauſender Sturm aus den Reihen alles pflanzlichen und tieri¬
ſchen Lebens über ihm zuſammenſchlägt.
Was bedeutet das alles? Darwin ſagt dir: ein Natur¬
geſetz. Ein Naturgeſetz im Lebendigen widerſtreitet der Inzucht.
Der oberſte Ausdruck iſt unſere Averſion gegen Geſchwiſterehen.
Dem unterſten nahe wäre etwa jene Averſion der ſchwärmenden
Teilzellen bei der Alge, die wir beobachtet haben, gegen
Verſchmelzung mit Bruderzellen derſelben Teilkolonie. Und
als erſten ſymboliſchen Ausdruck hätten wir unſere Zwergen¬
geſchichte, die den wahren Urzuſtand ſpiegeln ſoll. Du ſiehſt in
der Zwergengeſchichte ſelbſt: ich habe dir die Sache etwas plau¬
[158] ſibel zu machen verſucht. Das Hiſtörchen vom Zahnſchmerz
kleidet das allegoriſch ein. Natürlich haben Urzellen, die noch
ſo gut wie gar keine eigentlichen Organe in unſerem Sinne
beſaßen, auch noch keine Zähne und alſo auch keine Zahn¬
ſchmerzen gehabt. Aber gewiſſe Schäden und Schädlichkeiten
konnten doch die Individuen bei ihnen ſchon im Lebenskampfe
aufnehmen. Und es iſt klar, daß in der angedeuteten Weiſe
ſolche individuellen Schädlichkeiten durch „Inzucht“ gleichſam
konſerviert, zäh bewahrt, durch Verſchmelzung von „fremden“
Teilzellen dagegen allmählich paralyſiert, wieder beſeitigt werden
mußten. Es iſt mir nun immerhin eine denkbare Sache, daß
dieſe urſprüngliche Nützlichkeit wirklich den Ausgangspunkt des
ſpäteren „Naturgeſetzes gegen die Inzucht“ gebildet haben
könnte. Natürlich müßte das zuerſt als „unnützlich“ immer
wieder Ausgemerzte ſpäter in darwiniſtiſchem Sinne durch be¬
ſondere vererbte Schutzmittel gleichſam erſt „geſetzlich“ unmög¬
lich gemacht worden ſein. Zum Beiſpiel eine ſolche Erſchei¬
nung, wie das Impotentwerden der Nachkommen von Bruder¬
ehen, wäre als ſolche ſekundäre, erſt nachmals entwickelte Sache
anzuſehen. Doch kann es ja auch ſein, daß in dem Ganzen
urſprünglich ſchon ein organiſches Grundgeſetz ſteckte gleich
den Geſetzen des Stoffwechſels, des Wachstums, der Fortpflan¬
zung u. ſ. w. überhaupt. Dann hätten jene Ur-Zwerge ſich
einfach gleichſam a priori und wie im Banne einer Art Po¬
larität, die „gleich von gleich“ d. h. echten Bruder von echtem
Bruder, abſtieß, von Beginn an an dem Bruder vorbeigedrückt
und dem Fremden zugewendet, ſobald es Verſchmelzung galt.
Ganz zu löſen wird dieſe Sache jedenfalls einſtweilen nicht
ſein und die Hauptſache iſt nur: die Thatſache bleibt als
ſolche feſt. Die Verſchmelzung bevorzugte Fremd zu Fremd,
nicht Bruder zu Bruder. Dieſe Thatſache öffnet aber, einerlei
wie nun die Erklärung ſei, logiſch allein ſchon den Weg zur
Fortſetzung.
[159]
Die Bevorzugung fremder Genoſſen zum Verſchmelzungs¬
akt trieb die kleinen Zwerge zum Wandern. Dabei ſtießen ſie
auf gewiſſe träge Fremdzwerge aus ungleicher Doppelteilung,
mit denen ſie ſich in beſonders günſtiger Weiſe zu verſchmelzen
gewöhnten. So kam Verſchiedenheit der Verſchmelzungs¬
genoſſen auf: die Zweigeſchlechtigkeit ſetzte in dem Sinne ein,
daß man jetzt auch äußerlich zwei Geſchlechter unterſcheiden
konnte, — ein kleines, bewegliches, ſuchendes — und ein
größeres, trägeres, erwartendes.
Nimm dich ſelber: das höchſt entwickelte Tier der Erde.
Gewahrſt du nicht noch in dir ſelbſt den nachſchleifenden
Schatten des uralten Vorgangs aus dem Zwergenmärchen der
Urzellenwelt?
Zunächſt auch bei dir noch eine feſte, durchgreifende Ge¬
ſtaltverſchiedenheit der beiden zeugenden Individuen. Nicht
bloß der Bruder ſcheut den Bruder und ſucht einen fremden
Menſchen zum Geſchlechtsakt. Sondern er ſucht auch dort einen
von ihm körperlich ſehr weſentlich verſchiedenen Menſchen: er
ſucht als Mann ein Weib. Und das Weib umgekehrt ſucht
einen Mann. Schau aber ſchärfer jetzt in dieſen Gegenſatz
hinein.
Siehſt du ſie wohl, — die Spur des uralten Zwergen¬
märchens, des Märchens von der beweglichen Zelle, die ſuchte,
und der ſeßhaften, die erwartete? In dem ungeheuren Lebens-
und Kulturgetriebe der Menſchheit iſt auch das Weib allerorten
[160] gleichſam „auf dem Rade“, es nimmt teil an tauſend und
tauſend Bewegungen körperlicher und geiſtiger Art, und dieſe
eigene Regſamkeit und Beweglichkeit iſt gerade unter unſeren
Augen in unhemmbares Wachstum entrafft. Aber halte durch
das alles hindurch deinen Blick zäh beim Geſchlechtsleben ſelbſt.
Noch immer iſt der Mann hier der gebende, das Weib der
empfangende Teil. Lenke deine Phantaſie zurück zu jenem ge¬
heimnisvollen Urphänomen deiner menſchlichen Zeugung. Im
dunklen Grunde des weiblichen Geſchlechtsapparates: im kleinen,
engſten, aber entſcheidendſten derſelbe Gegenſatz. Wohl hat die
Eizelle ihr eigenes Leben. Sie löſt ſich vom Eierſtock des
rieſigen Weibesorganismus durch einen Spaltungsakt genau
wie jenes ſeßhafte Zwerglein ſich von ſeinem Elternzwerg zu¬
nächſt auch durch einen energiſchen Bewegungsakt abſpaltete.
Sie wandert durch den Eileiter der Gebärmutter zu, alſo ein
gewiſſes Stück ſelbſtbewegt dem Mannesſamen entgegen. Aber
etwas herumbewegt werden ſich die nur im allgemeinen und
relativ ſeßhaften Zwerge des Märchens auch haben, — wenn
ſchon viel weniger als die anderen. Und kein Zweifel iſt:
ſiehſt du in die Gebärmutter jetzt die Samentierchen ein¬
dringen und das Ei umſchwärmen, ſo haſt du ganz und gar
das Bild, daß jetzt erſt die aktive, eigentlich bewegliche Macht
anlange, — die Macht, die genau jenen luſtigen Wander¬
burſchen des Märchens entſpricht. Selbſt der Unterſchied von
Klein und Groß iſt ja in dem Verhältnis von Samen¬
tierchen und Ei ſcharf gewahrt. Ein Samentierchen dringt
ins Ei. Und nun haſt du nochmals die Parallele: ſie läuft
jetzt durch Eikern und Samenkopf. Beide bewegen ſich. Aber
ganz langſam nur der eine, pfeilſchnell der andere. Dann
endlich die Verſchmelzung als Krönung, die Kraft zu neuer
Vollentwickelung giebt: derſelbe Schlußakt hier wie dort als
Ende des Gegenſatzes von Beweglich und Unbeweglich, Groß
und Klein — von Manneszwerg, Manneszelle und Weib¬
zwerg, Weibzelle.
[161]
Was der Menſch dir aber im intimſten Innenakt ſo noch
ſpiegelt, das geben dir eine ganze Anzahl noch lebender Einzel¬
zeller von heute unmittelbar in voller Leibesgeſtalt. Da wirbelt
ein winziges grünes Kügelchen in raſcher Rotation durchs
Waſſer, im ganzen noch kein Millimeter dick. Du löſt es unter
dem Mikroſkop auf: es iſt keine einzelne Zelle, kein einzelnes
Einzellweſen, ſondern ein Klumpen von ſolchen. Tauſende, die
durch eine Art allerſchlichteſten ſozialen Verbandes ſich zu be¬
weglicher Kugel aneinanderhängen. Volvox, die Kugelalge oder
auch das Kugeltierchen, nennt der Forſcher die ſeltſamen
Dinger. Thatſächlich ſind es weder echte Tiere noch echte
Pflanzen, ſondern geſellig lebende Urweſen, denen allerdings
die Pflanzen ihrem Urſprung nach näher ſtehen mögen als die
Tiere. Laß das ſoziale Moment, das hier ſchon vortritt, zu¬
nächſt einmal beiſeite. Halte dich an die Einzelgeſchöpfchen
einer ſolchen Volvoxkugel. Und betrachte die Fortpflanzung.
Da gewahrſt du bei verſchiedenen Gattungen ſolcher Volvocinen,
wie öfters bei den heute lebenden Urzellern, allerlei Ver¬
mehrungsmethoden noch nebeneinander. Du ſiehſt einfache Zell¬
teilung, ſiehſt Zerfall in viele kleine ſchwärmende Zellen, ſiehſt
Verſchmelzung (Konjugation) ſolcher noch völlig gleichartigen
Zellen. Dann aber ſiehſt du auch einen auftauchenden Unter¬
ſchied zwiſchen den verſchmelzenden Zellen in der Art, daß die
eine größer iſt als die andere. Und ſchließlich findeſt du
einen ſcharfen Gegenſatz. Bei der eigentlichen gewöhnlichen
Volvoxkugel werden vielfach in der einen Zellkugel zur Fort¬
pflanzung nur noch große, träge, ſeßhafte Zellen abgeſpaltet,
in der anderen aber ebenſo nur kleine, lebhaft bewegte — und
die kleinen beweglichen ſuchen dann die großen trägen zur
Verſchmelzung auf.
Du kannſt ganz ähnliche Vorgänge noch an etwas ent¬
wickelteren echten Pflanzen ſehr hübſch beobachten. Geh an
den nordiſchen Seeſtrand und ſuche dir den überall angeſpülten
gemeinen derbgrünen Blaſentang (Fukus), eine ganz niedrig
11[162] ſtehende Pflanze. Auch hier ſpalten ſich auf der einen Seite
regelmäßig große, ruhig abwartende Zellen ab, auf der anderen
ſchwärmen kleine, wildbewegte aus. Auch hier ein regelmäßiges
Sichfinden und Verſchmelzen dieſer deutlich ſchon verſchiedenen
zwei Zellenſorten. Intereſſant iſt dabei zu beobachten, mit
welcher Sicherheit die im Flutwaſſer gelöſten, zunächſt regellos
wimmelnden Schwärmzellen die Ruhezellen zu entdecken und zu
erfaſſen wiſſen. Man nimmt an, daß die großen Ruhezellen
das ganze Waſſer in ihrer Umgebung mit gewiſſen Stoffen
(organiſchen Säuren) durchſetzen, die auf die kleinen Schwärm¬
zellen einen anlockenden Reiz ausüben: die Liebesanziehung
läuft ſchon hier über eine Sinnesempfindung. In unſerem
Zwergenmärchen habe ich zwar immer ſymboliſch ſo geſprochen,
als „ſähen“ die Zwerglein ſich. Aber du mußt dir das natür¬
lich für einzellige Urweſen oder Pflanzen ohne beſondere Sinnes¬
organe ganz allgemein umdenken. Wo noch kein Auge war
und jedenfalls die Lichtempfindung nicht ſtark genug war, um
im Einzelfalle das Bild einer zweiten Zelle genügend dem
Partner zu übermitteln, da mochten chemiſche Reize als Geruch
oder Geſchmack allein aushelfen, — Reize, die notabene auch
bei den höheren, mit Augen gut begabten Organismen zweifel¬
los noch mächtig in alle Liebesdinge hineinarbeiten. Du magſt
dir in der Sprache unſeres Märchens einfach ausmalen, daß
der ſuchende Zwerg den wartenden ſchon roch oder am Ge¬
ſchmack des von ihm durchhauchten Waſſers ſchmeckte, lange ehe
er ihn ſah.
Ich könnte dir noch eine Menge Fälle erzählen, die alle
an dieſer Ecke die Zwergengeſchichte illuſtrieren. Aber ſie laufen
ſchließlich alle auf dasſelbe hinaus. An hundert Ecken und
Enden ſiehſt du überall die Geſchlechtertrennung zunächſt als
Größenunterſchied der beiden Verſchmelzungszellen markiert.
Mit dieſem Unterſchiede vereinigen ſich dann Unterſchiede der
Beweglichkeit: hier mehr, dort weniger. Unſer Zwergen¬
beiſpiel zeigt dir gleichſam an einem Falle, wie beide Unter¬
[163] ſchiede ohne weiteres aus den einfachſten Gründen ſich urſprüng¬
lich entwickelt haben könnten. Wichtig zu wiſſen iſt dazu aber
noch folgende Thatſache.
Bei einer geradezu überwältigenden Maſſe noch lebender
Einzeller findeſt du einen Wechſel von ſeßhafter, ruhiger und
von beweglicher, ſchwärmender Lebensweiſe auch ganz un¬
abhängig von der Fortpflanzung ausgebildet. Es iſt, als hätten
die Urweſen dieſes „Entweder — Oder“ von früh an ſchon
zu allerlei gewöhnlichen Lebenszwecken bei ſich gepflegt und ge¬
hegt. Bei demſelben Individuum ſiehſt du innerhalb ſeiner
Lebensbahn gelegentlich ſchroffſten Wechſel von Seßhaftigkeit
und Beweglichkeit. Im Stadium der Verdauung, bei Aus¬
trocknen des Wohnortes, zum Schutz gegen allerlei äußere
Schäden und Gefahren ſiehſt du luſtig freiſchwärmende Urzeller
ſich plötzlich feſtſetzen und zur Ruhepauſe einkapſeln. Iſt der
Anlaß oder die Gefahr vorüber, ſo wird das ſeßhafte Zellchen
ebenſo luſtig wieder zur Schwärmzelle. Kein Wunder gewiß,
daß dieſe ohnehin ſchon verbreitete und oft ausgenutzte Sache
nun gerade auch in das Liebesleben hinein geriet und dort
eine große, ja grundlegende Bedeutung gewann. Bei Ver¬
ſchmelzung zweier Zellen bevorzugte man den Zuſtand der
Seßhaftigkeit bei der einen und der Beweglichkeit bei der
anderen Partei. War das einmal fixiert und verband ſich zu¬
gleich mit dem Größenunterſchied, ſo konnte ſehr wohl als
Reſultat die Beweglichkeit als ein mehr oder minder feſtes
Merkmal der einen (männlichen!) Partei ſich ausbilden und die
Seßhaftigkeit umgekehrt als Merkmal der „Weiblichkeit“.
11*[164]
Der Reſt des Zwergenidylls iſt als Konſequenz ungemein
einfach, — das merkſt du wohl ſelber ſchon. Aber im Kern
liegt da noch eine thatſächlich ganz enorme Umſchwungsecke.
Beide Zwergparteien werden ſich darin gleich, daß ſie ſich
„ungleich“ teilen. Das heißt: jeder eine Elterzwerg teilt ſich
in beiden Fällen in ein großes Hauptſtück und einen oder viele
kleinere Abſpaltungsteile, die je nachdem hier kleine (männliche)
Schwärmzwerge, dort relativ größere (weibliche) Siedelzwerge
darſtellen. Was heißt das mit anderen Worten?
Es heißt: weder Mann noch Weib löſten ſich fortan in
ihre Nachkommen direkt auf, — — ſondern ſie ſpalteten nur
gelegentlich einen mehr oder minder beſchränkten Teil ihrer
Körpermaſſe als Nachkommenſchaft ab. Beim Manne zerfiel
dieſer Teil in kleine Schwärmjungen, beim Weibe bildete er
eine oder dann auch wohl mehrere große Ruhetöchter. Ins
„Zelliſche“ überſetzt: zwei einzellige Urweſen, ein männliches
und ein weibliches, bethätigten ihre Männlichkeit und Weib¬
lichkeit fortan nur ſo, daß jedes ein beſchränktes Stück ſeines
Zellleibes zum Fortpflanzungszweck hergab. Und zwar ließ
die eine Zelle dieſes Stück in viele männliche Schwärm¬
zellen zerfallen, die andere bildete eine oder mehrere weibliche
Ruhezellen.
Die Zwergengeſchichte fügt noch etwas gleichſam als An¬
hang bei über die Art, wie auf dieſer Stufe Mann und Weib
ihre Fortpflanzungsprodukte zueinander brachten: — zuerſt
ließen ſie beide ihre Zellteillinge los nach altem Brauch, —
dann behielten ſie ſie bei ſich und brachten ſie zum Ver¬
ſchmelzungsakt nur dadurch zuſammen, daß ſie als Ganzes ſich
zu einander verfügten, ſich wie zu eigener Geſamtverſchmelzung
einen Moment dicht aneinander ſchloſſen, dieſes Aneinander¬
ſchließen aber keineswegs zu eigener dauernder Geſamt¬
verſchmelzung benutzten, ſondern lediglich die beiderſeitigen Ab¬
ſpaltungsprodukte zuſammenführten, die dann ihrerſeits allerdings
zwei zu zwei richtig verſchmolzen. Du merkſt, das iſt wirklich
[165] nur mehr eine Anhängſelſache, die die Grunddinge nicht mehr
berührt. Bleiben wir bei dieſen mit Einſchluß des Anhängſels
als einem Ganzen.
Mache mal wieder einen raſchen Salto mortale vom Ur¬
weſen dieſer letzten Art zu dir, dem Menſchentier. Wo liegt
der Unterſchied? Hier ſtehen zwei Menſchenindividuen. Von
verſchiedenem Geſchlecht. Mann und Weib. Beide ſchreiten
zur Fortpflanzung. Was geſchieht zuerſt? Beide ſpalten ſich.
Wie, — ein Menſchenmann oder Menſchenweib reißt ſich doch
nicht zum Liebesakt einfach in zwei Hälften wie Rumpelſtilzchen
oder wie ein Bazillus? Nein, in zwei Hälften nicht. Aber
das thun ja auch die Zwerge unſerer letzten Stufe beide ſchon
nicht mehr. Mann ſowohl wie Weib ſpalten ſich auch beim
Menſchen zunächſt, aber ſie ſpalten ſich wie dort beide un¬
gleich. Der Mann ſpaltet von ſeinem Rieſenleibe ein kleines
Stückchen ab und ebenſo das Weib von ſeinem Rieſenleibe.
Dieſes Stückchen beſteht aber, genau betrachtet, beim Manne
aus einem Haufen winziger beweglicher Schwärmzellchen: den
Samentierchen. Und beim Weibe beſteht es aus einer
großen, reifen, langſam der Gebärmutter zu bewegten Ruhe¬
zelle: der Eizelle. Mann wie Weib wiſſen: es nützt ihnen
nichts, ihre Spaltungsprodukte zu eigener Liebesfahrt ins Freie
hinaus zu entlaſſen. Es bedarf dazu einer beſonderen An¬
näherung der beiden großen Eltermenſchen ſelber: indem dieſe
ſich begegnen, als wollten ſie ſelber im urgraueſten Ahnen¬
brauch noch einmal Leib zu Leib in Eines verſchmelzen, geben
ſie einem der Samenzellchen Gelegenheit, die Eizelle zu er¬
reichen und hier innerlich wirklich einen Verſchmelzungsakt
herbeizuführen, der zum Aufbau eines neuen Weſens gleichſam
beiden Zellen die nötige „lebendige Nahrung“ giebt.
Aber da wäre ja dann gar kein beſonderer Unter¬
ſchied mehr? Unſere letzte Zwergenſtufe mit ihrem Liebes¬
akt wäre hinſichtlich der Liebesſachen ſelber ſchon der
Menſch?
[166]
Ja, in gewiſſem Sinne ſcheint es wirklich ſo. Male dir
noch etwas aus, um ganz klar zu ſehen. Die Einzelzelle oder
der Einzelzwerg — der Name iſt uns ja jetzt Schall und
Rauch — benutzt nur noch einen kleinen Bruchteil ſeines
Leibes zur Fortpflanzungsſpalterei. Dieſer Bruchteil wird hier
reſtlos zu Manneszellen, dort zu einer oder mehr Weiberzellen.
Beim Menſchen ſiehſt du das ſpezialiſierter. Da iſt der Bruch¬
teil von vorne herein gleichſam innerhalb des Geſamtleibes
mit einem Separatſchild verſehen: „Hier wird fortgepflanzt.“
Er bildet ein Fortpflanzungsorgan. Dieſes Organ erzeugt
in ſich als Hauptzweck natürlich hier wie dort die Mannes¬
ſamenzellen und Weibeseizellen. Aber es hat daneben noch
einige andere nützliche Zwecke. Zum Beiſpiel ebnet es jenem
Akt der Übertragung von Manneszelle zu Weibeszelle den
Weg: es bildet nicht nur ein inneres Reſervoir der noch nicht
ganz abgeſetzten Fortpflanzungszellen, ſondern es funktioniert
auch äußerlich als männliches und weibliches Übertragungs-
(Zeugungs-)Organ jedes ganzen Individuums. Und ſo weiter.
Das müßteſt du dir bei Zwerg und Einzeller nun auch noch
ſo hinzudenken, — im Grunde iſt's ja nichts Neues, ſondern
ſcheint immer noch ganz ſimple Konſequenz. Und was ver¬
ſchlägt's, ſich das wirklich beim ſo wie ſo menſchlich gedachten
Rumpelſtilzchen auch noch nachzutragen! Beide Stilze, Mann
und Weib, ſollte das Märchen hier ſchließen, erhielten alſo
regelrechte innere und äußere Geſchlechtsorgane ganz wie der
große Menſch ſie hat. Aber für die Einzeller, die wahren
Urweſen ..... ja, da kommt nun hier ein kritiſcher Punkt.
Nichts klingt einfacher. Auch im einzelligen Weſen ent¬
wickelten ſich, nachdem es überhaupt einmal zur Trennung in
Mann und Weib gekommen war, feſte Geſchlechtsorgane mit
inneren Samen- und Eierreſervoiren und äußeren Geſchlechts¬
werkzeugen zur Übertragung der betreffenden Produkte. Und
als das einmal „entwickelt“ war, da, — ja, da war das ein¬
zellige Urtier im Punkte der Geſchlechtsausbildung thatſächlich
[167] ſchon dem ſpäten Geiſtesweſen der Erde, dem hochentwickelten
Übertiere Menſch, ſo zu ſagen, in der Grundſache vollkommen
gleich. Unwillkürlich folgt der Blick einer Perſpektive, die ſich
aufzurollen ſcheint.
Der Einzeller hatte mit dem Menſchen jetzt nicht bloß
die Zelle, das Leben, gemein, ſondern an einem Punkt auch
ſchon ein unendlich wichtiges Organ. Was fehlte ihm noch,
um ganz Menſch zu ſein? Größe. Nun, die konnte er
ja durch Wachstum erwerben. Es giebt heute noch ſo gut
wie einzellige Weſen, die keineswegs mikroſkopiſch klein ſind,
ſondern bis zu einem Meter groß werden (Siphoneen). Was
weiter? Noch eine Unmaſſe anderer Organe. Magen und
Darm, Gehirn und Rückenmark, Lunge, Herz und Blutadern
und andere mehr. Aber warum nicht auch die erwerben,
nachdem ein Organ von ſo hoher Wichtigkeit erworben war?
Es giebt einzellige Ur- oder Vorpflanzen und einzellige tier¬
ähnliche Infuſorien, alſo echte, obwohl ſchon relativ höchſt
ſtehende Einzeller, die inmitten ihres unverkennbar einzelligen
Leibes doch die ſeltſamſten Organanfänge auch anderer Art
thatſächlich ſchon zeigen. Bei den eben erwähnten waſſer¬
bewohnenden Siphoneen, den größten aller Einzeller, entwickelt
die eine Rieſenzelle des Leibes ſich zu einem Geſamtgebilde,
das geradezu täuſchend einer echten, hoch ſtehenden Waſſerpflanze
mit verwickeltſten Pflanzenorganen gleicht: mit unterirdiſcher
Wurzel und oberirdiſchen grünen Äſten, mit zungenförmigen,
am Rande geſägten Blättern. Und gerade einzelne ſolcher
Siphoneen zeigen nun auch noch mit das beſte Muſter von
wirklicher geſchlechtlicher Fortpflanzung innerhalb der ganzen
Einzellerwelt! Noch intereſſanter iſt aber, was die meiſten
Infuſorien, alſo ſchon mehr tierähnliche Einzeller, dir vor¬
machen.
Wir haben oben mehrfach vom Freſſen und Ausſcheiden
der Einzeller geſprochen. Aber wie macht das etwa ſo ein
allerniedrigſtes Bürſchchen, ein Bazillus oder eine Amöbe?
[168] Hat es einen Magen und Darm wie wir? Bewahre. Es
frißt im buchſtäblichen Sinne mit dem ganzen Leibe und
ſcheidet ebenſo das Unbrauchbare mit dem ganzen Leibe aus.
Fütterſt du eine Amöbe mit einem Körnchen Nährſtoff, der
farbhaltig iſt, ſo ſiehſt du, wie beliebig an jeder Stelle dieſes
Körnchen in den weichen Zellenleib eintreten kann, wie es in
der ganzen Zellmaſſe gleichartig gelöſt und verarbeitet wird
und wie an jeder beliebigen Stelle ein unbrauchbares Reſt¬
exkrement davon auch wieder von der Zelle ausgeſtoßen werden
kann. Genau ſo geht's mit dem Luftfreſſen, dem Atmen, ſo
geht's mit der Empfindung, die durchweg über den ganzen
kleinen Körper gleichmäßig verteilt ſcheint, — und du haſt ja
geſehen: bei der Ganzteilung und Ganzverſchmelzung gilt ja
auch von der Liebe, daß dieſe Amöbchen im nackteſten Wort¬
ſinn mit dem „ganzen Leibe lieben“.
Nicht ſo aber eines jener Infuſorien. Einzellig iſt's noch
immer, genau wie die Amöbe. Aber ſieh' ihm zu, wie es
frißt und verdaut. Da gewahrſt du auf den erſten Blick eine
regelrechte, unveränderliche Mundöffnung, durch die feſte wie
flüſſige Nahrung eintritt. Dieſer „Zellenmund“ führt meiſt in
einen kurzen Kanal, einen Schlund, in deſſen Wand oft Stäb¬
chen wie bei einer Fiſchreuſe ſitzen, die wohl in etwa bereits
die Rolle von Zähnen ſpielen. Manchmal hat der Mund auch
ſchon Lippen, ja einen langen Rüſſel zum Saugen. Auch eine
entgegengeſetzte Öffnung, ein „Zellaſter“, iſt vielfach bemerkbar.
Bloß der Magen ſelbſt fehlt noch. Zwiſchen Schlund und
After liegt die Nahrung direkt in der offenen Zellmaſſe. Aber
ſchon ſiehſt du, wie ſie dort kunſtgerecht bewegt, wie ſie
wenigſtens wie in einem Magen behandelt wird, und un¬
willkürlich ſchaut man ſich um, ob nicht bei einem beſonders
hoch gekommenen Infuſorium zwiſchen Schlund und After eine
feſte Röhre oder Blaſe doch ſchon wirklich entſtanden ſei: die
erſte Grundanlage eines Magens oder Darms. Wäre das
aber erreicht: warum nicht weitere Sonderung des Leibes in
[169] Organe, — weitere „Arbeitsteilung“ innerhalb der Körper¬
abſchnitte genau wie bei der Abſonderung des Fortpflanzungs¬
abſchnittes ..... und glatte Bahn dann vom Infuſorium bis
zum Menſchen hinauf?
Nein. Der wahre Fortſchritt vom Urweſen zum Menſchen
und überhaupt zum höheren Organismus iſt thatſächlich nicht
über dieſe einfache, ſondern über eine viel kompliziertere Bahn
gelaufen. Und das dürfen wir hier nicht vernachläſſigen, wenn
nicht auch in die logiſche Kette unſerer Liebesbetrachtung ein
ſchwerer Knoten oder gar Riß kommen ſoll.
Die Organanfänge bei Siphoneen oder Infuſorien ſtehen
als iſolierte, unfruchtbare Verſuche da. Lange ehe ſie in Kraft
traten und Gelegenheit hatten, hoch zu kommen, war ein
Geſichtspunkt für die Fortentwickelung maßgebend geworden,
den nur ein Wort unzweideutig ausſpricht: das Wort „ſozial.“
[170]Ich habe am Schluß der Zwergengeſchichte dich ſchon auf
das Soziale verwieſen. Daß der Zwerg — oder das Ur¬
weſen — ſeine Samenzellchen und Eizellen nicht mehr gleich
wirklich von ſich trieb, ſondern zunächſt bei ſich behielt, war
im Grunde thatſächlich ſchon ein ganz ſchlichter ſozialer Akt.
Solche ſozialen Akte im erweiterten Sinne müſſen aber
eben in der Zeit, als auch jene höchſte Liebesſtufe ſich an¬
bahnte, ganz allgemein für das Leben der Einzellzwerge ſchon
hoch bedeutſam, ja entſcheidend geworden ſein. Ohne es zu
ſuchen, ſind wir bei Betrachtung der noch lebend vorhandenen
Einzeller auf Erden vorhin ſchon auf eine ſolche allgemeine
Sozialthatſache geſtoßen. Auf die Volvoxkugel. Was war das?
Ein paar tauſend winziger Einzeller, als einzellige Indi¬
viduen noch gut kenntlich, bilden durch einen gewiſſen loſen
Zuſammenſchluß eine verhältnismäßig große grüne Kugel, die
lebhaft bewegt wie ein einheitlicher Ganzorganismus durchs
Waſſer ſchwimmt. Verſtehe wohl: dieſe Zellen ſind nicht im
Sinne eines Liebesaktes miteinander „verſchmolzen“, um ſo
aus tauſend zuſammenfließenden Einzelkügelchen eine große ein¬
heitliche Kugel zu ſchaffen, gleichſam eine einige koloſſale
Maſſenliebeskugel. Es iſt zwar, als hätten die Volvoxkerlchen
gewiſſermaßen etwas gelernt von der Liebe. Sie haben das
Prinzip aufgegriffen, das die Liebe ſo ſehr deutlich lehrte: daß
man zu zweien weiter komme als allein. Aber ſie haben es
diesmal nicht als eigentliches Liebesprinzip bis zum wahren
Verſchmelzen getrieben. Sie haben ſich bloß eng aneinander
[171] gelegt, gleichſam aneinander verankert, wohl auch durch die
natürliche Durchläſſigkeit ihrer Wände eine leichte und loſe
Zirkulation flüſſiger Stoffe hergeſtellt — aber nicht mehr.
Dieſe Beſchränkung in einer Hinſicht haben ſie aber dann
weit überboten durch den anderen, eigenen Fortſchritt, daß ſie
ſich nicht mehr bloß zu zwei und zwei, ſondern zu zehn, hundert,
tauſend, ja im gewöhnlichen Volvoxkügelchen bis zu zwölftauſend
auf einmal äußerlich aneinander geklebt haben. Sie ſind über
den Liebesverband mit ſeiner unbegrenzten Innerlichkeit, die
aber durchweg auf zwei Genoſſen beſchränkt war, fortgeſchritten
zum ſozialen Verband mit weit mehr Äußerlichkeit des An¬
ſchluſſes, aber mit der Möglichkeit ſolchen Anſchluſſes von
Tauſenden aneinander.
Springe mal wieder zu dir zurück. Du, als Menſch, —
wem gleichſt du in deinem Körperaufbau mehr: einem einzelnen
einzelligen Urweſen oder einer Volvoxkugel? Erinnere dich an
unſere Unterredung über den Zellenbau deines Leibes. Was
iſt ein einzelliges einzelnes Urweſen, eine einzelne Amöbe oder
ein einzelner Bazillus? Eine Zelle, — das iſt: ein Ziegel¬
ſtein des Lebens. Was biſt du? Ein Verband von Milliarden
von Zellen, — das iſt: ein rieſiges Haus aus unzähligen
ſolcher Ziegelſteine. Was iſt aber jetzt die Volvoxkugel? Ein
Verband von einigen Tauſend Zellen — das iſt: eine kleine
Hütte, aus ein paar Tauſend Ziegeln loſe aufgemauert. Du
ſiehſt vollkommen klar: die Volvoxkugel zeigt dir den wahren
Weg an zwiſchen dem einzelligen Urweſen und dir. Es iſt der
Weg über den ſozialen Verband vieler Zellen, vieler
lebender Ziegelſteine zu Bauten höherer Art — erſt kleine
Mäuerchen, dann Hütten, dann Paläſte, endlich hohe Dome,
aus denen der Geiſt des Menſchen zum Sternenhimmel
ſchaut .....
Freilich iſt gerade dieſe Volvoxkugel ſelber ihrer Atmungs¬
weiſe nach den Pflanzen verwandter als den Tieren. Aus ihr
hat ſich in direkter Linie wohl nicht der Menſch, ſondern
[172] höchſtens die höhere Pflanzenwelt entwickelt. Aber auch die
ſchwarze Cypreſſe da drüben iſt ein gewaltiger Turm aus
vielen, vielen Millonen von Zellziegeln. Und außerdem nahmen
wir den Volvox ja nur als gerade ſich bietendes Beiſpiel. Es
giebt ihm entſprechende mehr tieriſche Urzellverbände ſolcher ein¬
fachſten Art auch bei jenen vorhin erwähnten echten Infuſorien,
alſo direkt auch an den Wurzeln des Tierreichs, — z. B. die
von Häckel beſchriebene Magoſphära oder norwegiſche Flimmer¬
kugel, bei der einige dreißig bis ſechzig birnenförmige Zellen
ebenfalls eine gemeinſame Kugel bilden, ohne wirklich zu ver¬
ſchmelzen. Alſo einerlei.
Jetzt ſieh aber noch einmal ſcharf hin. Hier ſtehſt du,
dort die Volvoxkugel, dort die einzellige Amöbe. Liegt der
Unterſchied bloß darin, daß die Amöbe gleichſam ein einziger
iſolierter Ziegelſtein iſt, die Volvoxkugel eine Gemeinſchaft von
ein paar Tauſenden ſolcher Steine, die zuſammen eine ſchwim¬
mende Kugel bilden, du ſelbſt aber ein Rieſenbau in Menſchen¬
form aus Myriaden Steinen? Nein.
Erinnere dich an das, was ich dir früher ſchon einmal
erzählt habe. Wie dein Menſchenleib gleich dem eines Hundes
oder eines Regenwurmes nicht bloß ein koloſſaler regelloſer
Zellklumpen iſt. Er iſt ein raffiniert eingerichtetes „Haus“.
In dieſem Hauſe bilden die Zellen gruppenweiſe wie die
Ziegel eines großſtädiſchen Kulturbaues beſondere „Zimmer“
zu beſonderer Bethätigung: ſie bilden eine ganze Menge
Organe. Hier einen Darm, in dem verdaut, dort eine Lunge,
in der das Blut gereinigt und bereichert, dort ein Gehirn, in
dem „gedacht“ wird. Und ein äußerſt einfaches Wort löſt das
Rätſel dieſes ganzen Haushaltes.
Zu dem Wörtchen „ſozial“ tritt das andere gute Wort:
Arbeitsteilung.
[173]
Die Myriaden Zellen, die deinen Menſchenleib zuſammen¬
ſetzen, bilden nicht nur einen ſozialen Verband allein, ſondern
es iſt innerhalb dieſes ſozialen Zellenverbandes eine höchſt
weiſe und glückliche Arbeitsteilung eingetreten. Von Myriaden
Zellen deines Leibes ſind ſo und ſo viele nur allein beſchäftigt,
zu freſſen: ſie bilden deine Ernährungsorgane, zum Beiſpiel
deinen Darm. So und ſo viele hören nur noch: ſie bilden
dein Gehörorgan bis ins Gehirn hinein. So und ſo viele
ſehen nur noch: ſie bilden deine Sehwerkzeuge vom äußeren
Auge bis abermals tief ins Gehirn. Und ſo weiter. Da aber
alle Einzelzellen und alle aus Zellen gebildeten Einzelorgane
gleichzeitig in feſtem ſozialem Verbande mit allen anderen
ſtehen, ſo dient jede Separatarbeit den ſämtlichen übrigen
Zellen mit: wenn die Darmzellen Nährſäfte aufſaugen, ſo
zirkuliert die ſo gewonnene Nahrung frei auch durch alle
übrigen, ſelber nicht direkt freſſenden Zellen des Leibes hin¬
durch, — auch die Sehzellen, Hörzellen, Bewegungszellen und
wie ſie alle heißen des ganzen Menſchenleibes werden von
hier aus indirekt gefüttert und geſtärkt, die Darmzellen „freſſen
für ſie mit“.
Solche wunderbare Arbeitsteilung kannſt du natürlich bei
der Amöbe oder dem Bazillus noch nicht ſehen, denn da iſt ja
noch gar kein ſozialer Verband von Zellen da — es liegt
überhaupt nur eine „Zelle“ vor, die allein den ganzen Leib
bildet und natürlich auch alles zugleich thun muß: freſſen,
atmen, empfinden und ſo weiter. Aber auch bei der Volvox¬
kugel ſiehſt du noch ſo gut wie nichts von jener großartigen
Arbeitsteilung ſelbſt. Hier iſt wohl ſchon ſozialer Verband.
Aber noch frißt zum Beiſpiel jede Zelle im Verband für ſich,
es iſt noch kein „Darm“ im Sinne einer durch Arbeitsteilung
geſchaffenen Einzelgruppe von Freßzellen da, die als „Fre߬
organ“ für die ganze Zellkugel mitfräßen. Dieſe verwickeltere
Arbeitsteilung hat ſich offenbar erſt entwickelt auf dem Wege
zwiſchen volvoxähnlichen Zellkugeln und dir.
[174]
Daß ſie ſich entwickelte, war — den ſozialen Verband
vieler Zellen miteinander einmal zugegeben — eine in höchſtem
Grade nahe liegende, faſt ſelbſtverſtändliche Sache. Denke dir
bloß ein Beiſpiel durch. Das vom Freſſen.
Ein paar Dutzend Zellen legen ſich zu ſozialem Verbande
feſt aneinander und bilden eine ſchwimmende Kugel. Jede hat
einen feinen ſchwingenden Fortſatz wie ein vorragendes Haar,
mit deſſen Hilfe ſie als Einzelweſen im Waſſer ſchwamm.
Jetzt ſchwingen alle gemeinſam und gewöhnen ſich an einen ge¬
wiſſen Takt, der die ganze Kugel wirbelnd dahin ſchwimmen
läßt. Das iſt an ſich noch keine eigentliche Arbeitsteilung, es
iſt nur die erſte ſoziale Handlung. Aber es muß, ſobald es
einmal da iſt, zur erſten Arbeitsteilung ganz von ſelber führen.
Alle Zellen der Kugel freſſen anfangs für ſich. Aber da
die Zellränder, mit denen ſie feſtgepreßt gegeneinander liegen,
für Flüſſigkeiten durchläſſig ſind, ſo kommt es ganz von ſelbſt,
daß verarbeitete Nährſäfte von Zelle zu Zelle überfließen, von
einer gerade freſſenden und verdauenden in die umgebenden,
nicht freſſenden. Das wäre an ſich immer noch bloß eine ein¬
fache Konſequenz des Soziallebens, wenn ſchon unter Um¬
ſtänden wenigſtens für die Nachbarzellen eine höchſt vorteilhafte.
Nun aber: eine natürliche Sache iſt, daß ſolche Zellen, die
gerade freſſen und verdauen, träger ſind als die anderen,
ſie bewegen ihren Ruderfortſatz zeitweilig läſſiger, vielleicht gar
nicht. Sie brauchen es auch nicht. Denn — wieder eine ein¬
fache Konſequenz des Sozialverbandes — die anderen, lebhaft
ſchwänzelnden und rudernden Zellen rings umher reißen ſie ja
doch mit.
Du merkſt: hier bahnt ſich ſchon ein gegenſeitiger
Nutzen an: die eine Zelle frißt für mehrere umliegende mit,
aber die umliegenden bewegen ſie auch dafür ſo lange gratis
vorwärts. Die Vorwärtsbewegung iſt aber ſelbſt wieder die
Quelle neuen Nahrungsfindens, und wenn unſere freſſende
Zelle alſo auch etwas Nährſaft an die Nachbarn verliert, ſo
[175] hat ſie doch durch die Bewegung, die ihr auch während des
Freſſens angedeiht, alsbald neue Chancen neuer Nahrung, die
ſie ſonſt einbüßte. Wie, wenn ſich dieſes nützliche Wechſel¬
verhältnis zu einer wirklichen Arbeitsteilung ausbilden ließe?
Von fünf Zellen, wollen wir mal ganz einfach ſagen,
übernähme eine, etwa die mittelſte, die ganze Ernährung auch
für alle vier umliegenden mit, — und zum Erſatz und Zweck
würde ſie von den vier anderen ſtets mitbewegt und zwar be¬
ſonders intenſiv bewegt? Die eine brauchte bloß zu freſſen,
ihre ganze Kraft hierher zu konzentrieren. Die anderen brauchten
bloß zu bewegen und hierher alle ihre Fähigkeiten zu legen.
Du ſiehſt ſofort: der Nutzen iſt unanzweifelbar. In dieſem
ſimpelſten aller Beiſpiele haſt du aber höchſtwahrſcheinlich den
Kern der ganzen raffinierten Entwickelung, die nach dieſer
Seite zwiſchen einer Volvoxkugel und dem Menſchen liegt.
An der Geſamtkugel war folgender Verlauf faſt ſelbſt¬
verſtändlich. Indem die Zellenkugel ſich gewohnheitsmäßig ein¬
ſeitig, mit dem einen Pole voraus, bewegte, war es unver¬
meidlich, daß dieſer voraufgeſtoßene Pol — reſp. die Zellen,
die dort ſaßen — die meiſte entgegenſchwimmende Nahrung
erhielten. An dieſem Pol etablierte ſich nach und nach ein
feſter Stamm ausgeſprochener Freßzellen in jenem Sinne. Sie
verſorgten den ganzen Stock mit Nahrungsſaft und wurden
zur Belohnung oder, was jedenfalls echter die Sache trifft,
einfach aus Nützlichkeitsgründen vom Reſt des Zellenkorps mit
bewegt. Nun war der Raum an dem Freßpol da vorne aber
beſchränkt. Eine Erweiterung hätte mit dem Wachstum der
Geſamtkolonie ihren großen Nutzen gehabt. Was thun? Denke
dir eine Erdkugel. Auf den Nordpol ſenkrecht ſoll es ge¬
bratene Tauben regnen. Nur die paar Leute, die direkt am
Pol ſtehen, können ſie faſſen. Haben ſie nicht Hände genug,
ſo prallt der Segen ab und ſchwirrt wieder in den Raum.
Was werden findige Köpfe machen, um die Hände trotz des
engbeſchränkten Standpunktes zu vermehren? Sie graben am
[176] Pol ein Loch und ſtellen Menſchen ſenkrecht übereinander auf
Leiterſproſſen. Es ginge auch nach oben, aber da wäre es
halsbrecheriſch und die Leitern bekämen Übergewicht. Nach
unten iſt's auf alle Fälle ſicherer. Und ſo denn auch die
Freßzellen am Pol der ſauſenden Zellenkugel. Sie bilden eine
Grube, eine Einſenkung, ſchließlich geradezu ein Loch, deſſen
Wände und Grund ſie aber beſetzt halten. Ein Waſſerſtrudel
reißt die ſchwimmenden Nahrungsteilchen in die Tiefe des
Kugelpols hinab. Geſchützt und ungeſtört können die Fre߬
zellen ſie hier verarbeiten. Was iſt das Reſultat?
Aus der Kugel wird, indem ſich ihr vorderſter Pol
trichterartig einſenkt, ein Becher. Schließlich hat die Kugel
innen eine Höhlung, die ſich nach vorne in einem Munde
öffnet, die Kugelwand aber beſteht aus zwei Schichten von
Zellen — der urſprünglichen und der allmählich vom Pol her
wie ein umgekrempelter Handſchuhfinger eingeſenkten. Die
Außenwand enthält ausſchließlich bewegende Zellen, die Innen¬
wand dagegen nur freſſende. Du haſt ſtatt einer einfachen
Zellenkugel einen Zellverband mit erſter Arbeitsteilung. Das
Loch iſt in der That ein Mund. Die Außenwand iſt eine
Haut mit Bewegungsorganen. Die Innenwand iſt ein regel¬
rechter Magen oder Darm. Von dieſem Weſen zu dir iſt
ſchon ein mächtig viel kleinerer Schritt. Es zeigt die Arbeits¬
teilung im vollen Gange. Es hat Mund, Haut, Darm wie du.
Es iſt keine einfache Zellpyramide ohne Inhalt mehr: es hat
gleichſam zwei ineinander geſchachtelte Zimmer, von denen eins
ein ausgeſprochenes Speiſezimmer iſt, und es hat eine Thür.
Es iſt ein werdendes „Haus“ im echten Sinne, ſchlicht noch,
aber von dir ſtrenggenommen nur noch durch die Schlichtheit,
nicht die Art getrennt.
Sämtliche höheren Tier-„Häuſer“, der Hund ſo gut wie
du, die Auſter, der Regenwurm, der Seeſtern — alle laſſen
ſich in all der Komplikation ihrer Säle, Kabinette, Erker und
Luxusräume im vielzelligen Leibe auf dieſes ſchlichte erſte
[177] Arbeitsteilungs-Häuschen zurückführen. Gaſträa hat es Häckel
genannt. Von Gaſter der Magen. Das erſte Magen-Tier.
Alle höheren Tiere gehen klar erkennbar in ihrem Stamm¬
baum hierher zurück. Wurm und Polyp, Krebs und Inſekt,
Muſchel und Tintenfiſch, Fiſch und Froſch und Eidechſe und
Vogel. Und Säugetier. Und du. Auch du ſtammſt von der
Ur-Gaſträa, dem erſten Zellenverbande, der die Arbeitsteilung
in Bewegungszellen und Freßzellen, in Haut und Darm, kon¬
ſequent durchführte .....
Merkſt du nun den Unterſchied? Den rieſigen Unter¬
ſchied? Du warſt auf dem Wege, den Menſchen in glatter
Kette vom Infuſorium abzuleiten, das ſich in ſeiner Einzel¬
zelle einen Zellmund und Zellafter ausbildete. Umſonſt.
Niemals glückt dir von hier, vom Einzelweſen, und hätte es
hundert Organe in ſeiner Zelle ſelbſt, der Anſchluß an den
ungeheuren Zellendom Menſch. Es ſcheint geradezu, daß der
ſoziale Verband vieler Zellen zu gemeinſamer Neubildung einer
Art höheren Individuums mit Arbeitsteilung in Zellorganen die
einfache Organbildung und überhaupt die weitere individuelle
Fortbildung bei den Einzellern gelähmt und beiſeite geſchoben
hat. Sie iſt ein verlaſſener Seitenweg für die ganze eigent¬
liche Fortentwickelung geblieben. Nicht aus dem Infuſorium
als ſolchem entſtanden die Hochweſen der Erde, entſtand der
Menſch. Sie alle und er mit ſtehen auf dem Infuſorien-
Staat, dem ſozialen Verbande vieler Infuſorien, der ſich all¬
mählich zur Grundlage neuer, höherer Individuen auswuchs.
In dieſem Entſtehen neuer Individuen aus ſozialen Ver¬
bänden liegt ja gewiß ein an ſich überaus wunderbarer Prozeß.
Du biſt ein Individuum, ein Ich, nicht wahr? Biſt dir ſelber
geradezu das Exempel, die Urform des Individuums über¬
haupt. Und doch ſollſt du vormaleinſt mit der ganzen Menſch¬
heit ſo entſtanden ſein, daß viele Millionen von winzigen
Zellindividuen zu dir ſich zuſammenſchloſſen in ſozialer Gemein¬
ſchaft und ſo eng ſich verketteten, daß dir ſelber das Ganze
12[178] wieder als ein Ich, ein Individuum erſcheint, ja als der wahre
Typus eines ſolchen einheitlichen Ich.
Die Sache iſt beſonders ſeeliſch ſo überaus merkwürdig.
Denke dir: fünfzig Zellen, ſagen wir mal, gehen einen ſolchen
ſozialen Verband ein. Das glückt auch ohne direkte Verſchmel¬
zung vor allem dadurch, daß die Zellwände durchläſſig ſind.
Zum Beiſpiel der Nahrungsſaft kann frei zirkulieren durch
ſämtliche Zellen hindurch. So werden ſie körperlich in ge¬
wiſſem Sinne ganz plauſibel eine höhere „Einheit“. Aber nun
denke es dir ſeeliſch, geiſtig durch.
Jede Einzelzelle, jede Urzelle, von der alles ausging,
hatte zweifellos von Beginn an ihre kleine individuelle Seele,
ihre „Zellſeele“. Noch heute hat jeder Bazillus, jede Amöbe,
jedes Infuſorium ſo ſein eigenes Seelchen. Magſt du, wie
ich dir ſchon früher offen ließ, den Begriff Seele nun an ſich
faſſen wie du willſt: um dieſe einfache Thatſache kommſt du
nicht herum. Sie hat an ſich abſolut nichts Wunderbares, iſt im
Gegenteil die geradezu ſelbſtverſtändliche Annahme. Jeder Ein¬
zeller hat ſein einzelnes Zellſeelchen. Er empfindet, er orientiert
ſich in einfachſter Weiſe über die Dinge, er lernt und er ſtellt,
was die Hauptſache, auch ſeeliſch offenbar eine Einheit dar, ebenſo
wie er als in ſich abgeſchloſſene Zelle eine körperliche Einheit iſt.
Nun thun ſich ſolche Einzeller zur Volvoxkugel zuſammen.
Einſtweilen wahrt in der Kugel jede Einzelzelle ihre Individual¬
exiſtenz, alſo auch ihr Seelchen. Aber trotzdem ſiehſt du jetzt
ſogleich einen Anſatz auch ſchon zu einer Art, ich möchte ſagen,
ſeeliſchen Überfließens, genau wie der einfache Zuſammenſchluß
der vielen Zellen zur Kugel ja doch ſchon der Anſatz wenig¬
ſtens zu einer gewiſſen körperlichen Vereinigung, einer neuen,
höheren Körperbildung iſt. Du ſiehſt den Klumpen von ein¬
heitlicher Direktive „beſeelt“, du ſiehſt, indem die Kugel als
Ganzes von tauſend Flimmerfädchen der Zellen bewegt dahin¬
ſchwimmt, die vielen Zellſeelchen gleichſam eine gemeinſame
Orientierung im Sinne einer beſtimmten Geſamtbewegung „ge¬
[179] meinſam denken“, „gemeinſam wollen“. Aber iſt das ſo viel
anders, wirfſt du ein, als etwa bei einem Trupp Soldaten,
die in gemeinſamem Takt marſchieren? Ja, es muß doch wohl
noch etwas anders, etwas mehr ſein. Die körperliche Be¬
rührung und Aneinanderfügung der Zellen, die erſt zum mehr
zufälligen Stoffaustauſch, ſchließlich aber bis zur regelmäßigen
Überleitung von Nahrungsſäften und ſo weiter führt, muß in
dieſe Zellenklumpen mehr und mehr auch ein ſeeliſches Zu¬
ſammenſtrömen, immer bildlich geſprochen, gebracht haben, von
dem ſoziale Verbände etwa von Menſchen untereinander zu¬
nächſt dir gar kein Bild geben oder wenigſtens in unſerm
konventionellen Denken zu geben pflegen. Und das Reſultat
iſt (abgeſehen hier ganz von der Arbeitsteilung an ſich, die
ſchließlich wie ein beſonderes Freßorgan im Magen, ſo auch
ein beſonderes „Seelenorgan“ als Orientierungszentrum im
Gehirn bei den höheren Tieren ſchuf) offenklar das geweſen,
daß der ganze Zellenſtaat ein einheitliches Ichbewußtſein er¬
hielt — gerade das Ichbewußtſein, das du ſelber als Einheit
in dir fühlſt. Wie das freilich zugegangen iſt ..... ſeeliſche
Ichs, die zu Millionen zuſammenſchmelzen in einer Art ge¬
heimnisvollſter Seelenzeugung, bis ſchließlich ein neues Über-
Ich geboren iſt, das den Inhalt von Millionen wieder als
Einheit faßt ..... das könnte uns ins Unendliche der
ſchwerſten Fragen locken. Auf geiſtige Milchſtraßen, wie wir
vorhin in körperliche geraten waren. Vielleicht merkſt du dir
die Anknüpfungsſtelle bloß fürs gelegentliche Durchdenken mit
einem roten Strich. Wir dürfen jetzt nicht zu tief hinein,
ſonſt gleitet uns unſer Goldſeil im Gewimmel der Dinge, die
Liebe, aus der Hand. Alſo ſtatt aller ſeeliſchen Nebenpfade,
wo das jahrtauſendalte Gedankenmoos deinen Tritt dämpft und
deine Spur verſchlingt, bis du ganz im märchengrünen Zauber¬
walde Merlins verloren und verſchollen biſt, .... wie ſtellte ſich
die Liebesentwickelung zu jener ungeheuren Thatſache ſozialer
Zellverbände mit Arbeitsteilung?
12*[180]
Eine ſehr einfache Sache im Grunde. Unendlich viel ein¬
facher als jene Seelenfrage und im Herzen wieder nur eine
Konſequenz.
Ich hatte dir die Liebes-Urgeſchichte ſo weit erzählt, daß
du ſaheſt: im einzelnen Zellweſen ſpaltete ſich ein Teil als
Geſchlechtsecke, als Fortpflanzungsecke ab. Es trat halt gerade
in Hinſicht auf den Liebesakt eine erſte Arbeitsteilung ein:
nicht mehr der ganze männliche Zellkörper beiſpielsweiſe zerfiel
in lauter Samenzellen, ſondern er reſervierte ſich eine Ecke nur,
wo dieſer Samenzerfall ſtattfand. Wir verglichen das mit dem
höheren Tier, mit dir ſelber, und ſahen da jene reſervierte
Ecke bei Mann wie Weib zum regelrechten „Fortpflanzungs-
Organe“ entwickelt.
Nun ſind wir inzwiſchen klug geworden, daß ein Orga¬
nismus wie deiner nicht in einfacher Parallele zum einzelligen
Urweſen ſteht, ſondern daß du eine rieſige ſoziale Gemeinſchaft
ſolcher Einzeller biſt. In dieſer Gemeinſchaft iſt jedes „Organ“
ebenfalls nur ein gewiſſer Klumpen Zellen, die mit den andern
im Verhältnis der Arbeitsteilung ſtehen. Alſo auch dein Ge¬
ſchlechtsorgan. Dein Mannesorgan, das Samen produziert,
iſt nicht mehr bloß eine reſervierte Ecke in einem einzelligen
Leibe, — — ſondern es iſt die betreffende Zellabteilung in
einem großen Zellenverbande, — die Zellabteilung, die in der
[181] waltenden Arbeitsteilung ebenſo die Samenzellen für alle mit
produziert, wie etwa die Darmabteilung für alle verdaut, die
Gehirnabteilung für alle die allgemeine Orientierung beſorgt,
die Rückenmark- und Beinabteilung den Körper gehend ſich
bewegen läßt und ſo fort. Und ebenſo iſt's beim Weibe mit
ſeinem Eierorgan.
Intereſſant und erwägenswert bleibt dabei nur noch eine
Frage. Was für Zellen thaten ſich zuerſt — etwa bei Be¬
gründung einer Volvoxkugel — zuſammen?
Ich meine das ſo.
Du erinnerſt dich: bei der echten Liebesverſchmelzung zu
zwei und zwei wurde es früh eine offenbar äußerſt wichtige
Sache, daß nur Fremd mit Fremd und nicht Bruder mit
Bruder ſich miſchte. Darauf baute ſich ja geſchichtlich, wie
du geſehen haſt, der ganze urſprüngliche Unterſchied der Ge¬
ſchlechter auf, der ganze weltgeſchichtliche Gegenſatz von „Mann“
und „Weib“.
Nun: das jetzt neu auftauchende Prinzip des ſozialen Ver¬
bandes vieler Zellen war ja keine Verſchmelzung im Liebes¬
ſinne. Er war eine Schutzgenoſſenſchaft, kein Zeugungsakt.
Nichts lag näher, als daß ſolche Schutzgenoſſenſchaften ſich ge¬
rade im Gegenſatz zur Liebe von Anfang an aus Geſchwiſtern,
aus den Zellen eines Wurfes, einer urſprünglichen Teilung der
verſchmolzenen Mannes- und Weibeszelle bildeten. Und zwar
überall da, wo ſchon Geſchlechtertrennung vorher entſtanden
und vererbt war, naturgemäß hier aus Brüdern, dort aus
Schweſtern. Es blieben als Nächſtliegendes immer wieder
volvoxartige Geſchwiſterkugeln zuſammen, die hier ganz aus
Zellen beſtanden, von denen jede kleine männliche Teilzellen
produzierte, und dort aus ſolchen, deren jede große weibliche
Teilzellen lieferte. Zur Begattung bewegte ſich dann jede
Kugel zu einer andersgeſchlechtigen Kugel und aus den Ver¬
miſchungsprodukten erwuchſen teils wieder männliche, teils
wieder weibliche Einzelzellen in großen Maſſen nebeneinander,
[182] die ſich alsbald von neuem (wohl ſchon durch ererbte Nei¬
gung getrieben) zu Bruder- und Schweſtergenoſſenſchaften zu¬
ſammenſcharten.
Nebenbei geſagt: es müſſen übrigens auch von früh an
ſchon Miſchkugeln gelegentlich immer einmal dazwiſchen auf¬
getaucht ſein, zunächſt Miſchkugeln der Art, daß Brüder und
Schweſtern ſich zu einer Genoſſenſchaft zuſammenthaten. Wahr¬
ſcheinlich kam von vorne herein auch der Fall öfter vor, daß
aus der Verſchmelzung einer männlichen und weiblichen Zelle im
Zeugungsakt nicht bloß eine echte männliche oder echte weibliche
Zelle entſtand, ſondern eine, die ſich gemiſcht teilte: teils männ¬
lich, teils weiblich. Solche Miſchkinderkriegerei führte dann auch
zu einer Miſchgenoſſenſchaft. Du darfſt aber nicht vergeſſen,
daß auch ſolche Miſchkugel, die im letzteren Falle fortan Samen¬
zellen und Eizellen aus jeder Zelle produzierte, der Aufſuchung
einer zweiten Miſchkugel zum Zweck der Zeugung keineswegs
überhoben war. Ihre Teilhaber waren ja trotz des Doppel¬
geſchlechts echte Geſchwiſter und brauchten Blutauffriſchung durch
Zeugung übers Kreuz. Dieſer dritte Fall iſt deshalb an ſich
ſehr lehrreich und du mußt ihn dir beſonders merken, da eine
Maſſe Tiere und vollends eine Unmaſſe Pflanzen ſich auch bei
vervollkommnetem Vielzellorganismus noch immer als ſolche
„Hermaphroditen“ erhalten haben. Durchweg aber muß auch
hier noch immer der Hermaphrodit trotz ſeiner Doppelgeſchlechts¬
teile am gleichen Leibe jedesmal zur Liebe einen zweiten Herm¬
aphroditen ſuchen und mit ihm die Befruchtung übers Kreuz
vollziehen, damit die Inzucht ſeine Gattung nicht zu Grunde
richte. Ich komme darauf ſpäter noch zurück, — hier das
Ganze nur nebenbei.
Bleiben wir beim einfachen Fall: wir haben eine volvox¬
artige Kugel, deren Einzelzellen ſämtlich männlich ſind und
ausſchließlich Mannesſamenzellen jede für ſich abſpalten, und
eine zweite ſolche Kugel, wo alles umgekehrt weiblich iſt. Jetzt
tritt jene ſchöne Arbeitsteilung langſam ins Werk, die den
[183] rohen Zellklumpen der Kugel nach und nach in ein geordnetes
Haus verwandelt. Du haſt geſehen, wie zum Beiſpiel Haut,
Magen, Mund ſich bildeten, — die Arbeitsteilung im Zell¬
verband ſchafft dieſe erſten Organe. Warum ſoll, was beim
Freſſen dort geſchieht, nicht auch vorher oder nachher mit der
Liebe geſchehen ſein?
Jede Zelle im Verbande fühlt das Bedürfnis zu freſſen
und auszuſcheiden urſprünglich ebenſo, wie ſie die höheren Funk¬
tionen der Selbſtteilung und Ausſendung abgeteilter Leibesteile
auf die Liebesſuche als Bedürfnis fühlt. Dennoch ſehen wir,
wie ein großer Teil der Verbandszellen ſich nach und nach
das eigentliche Freſſen ganz abgewöhnt (und damit auch das
Ausſcheiden!), weil eine gewiſſe Anzahl Zellen dieſe Thätig¬
keit für alle andern mit übernommen hat. Dieſe Zellen er¬
halten den abgeklärten Lebensſaft zum Stoffwechſelerſatz direkt
von den Freßzellen, ohne daß ſie ſich ſelbſt noch um Freſſen
und Verdauen zu kümmern haben. Warum ſoll's nicht ge¬
rade ſo mit der Fortpflanzung gehen oder ſchon vorher ge¬
gangen ſein?
Es war ſchon ein Vorteil, ja eine Art Arbeitsteilung in
jeder Einzelzelle ſelbſt, daß ſie nicht mehr ganz in Fortpflan¬
zungsſtücke zu zerfallen brauchte, ſondern ſich bloß eine Ecke in
ihrem Zellleibe dafür reſervierte. Wie viel mehr Vorteil, wenn
von hundert Zellen neunundneunzig jetzt auch dieſen Reſerve¬
winkel ganz in ſich abſchaffen konnten und dafür eine Zelle
die ganze Fortpflanzung allein übernahm, allein ſich, für alle
andern mit, in Samenzellen oder Eizellen teilte!
Der allgemeine Gedanke iſt ſo plauſibel, daß er kaum noch
weiter ausgeführt zu werden braucht. Wie der Magen ſich als
ein gemeinſames „Freßorgan“, ein Freßbureau gleichſam mit
ſeparatem Betrieb, aber öffentlichem Gewinnanſchluß für den
geſamten Verband, in der Zellgenoſſenſchaft ausbilden konnte,
ſo konnten ſich genau ebenſo beſondere Fortpflanzungsdeparte¬
ments in der Geſamtzellmaſſe ausbilden: — beſondere Fort¬
[184] pflanzungsorgane. Hier männliche, die für den ganzen
Stamm die genügende Portion Samenzellen abſpalteten. Dort
weibliche, wo die Eierabſpaltung en gros und für alle andern
Staatsbürger mit betrieben wurde.
Im Detail giebt es bei der Geſchichte allerdings nun doch
noch mancherlei zu fragen. Das Freßorgan fraß fortan für
alle mit. Gut. Aber das hieß: es that die eigentliche grobe
Arbeit, der Gewinn aber kam auch allen übrigen Zellen und
Organen in Geſtalt zwar indirekter, aber dabei doch auch höchſt
realer Ernährung zu gute. Das Fortpflanzungsorgan (männ¬
lich oder weiblich oder auch gar zwitterig) that fortan ebenſo
die grobe Fortpflanzungsarbeit für alle mit; ſtrömte ihm nun
umgekehrt gleichſam von allen irgendwie die Kraft zu?
Hier beginnt ein Gebiet, das wir deshalb nicht vollkommen
klar für die Vergangenheit und Urentwickelung durchdenken
können, weil wir bei den höchſtentwickelten Weſen von heute,
ja bei uns ſelbſt jetzt noch immer nicht wiſſen, wie dort die
Dinge denn überhaupt liegen.
Die Frage iſt an ſich noch eine dunkle, inwiefern die ge¬
ſamte Zellmaſſe unſeres Leibes mit der Neuproduktion in unſeren
Geſchlechtsorganen einzeln zuſammenhängt. Steht trotz oder
gerade wegen aller Arbeitsteilung jede von den Myriaden
Zellen, die deinen Leib außerhalb der Geſchlechtsorgane noch
zuſammenſetzen, doch in geheimem, innerſtem Zuſammenhang
mit dieſem deinem Geſchlechtsorgan und jeder einzelnen darin
produzierten Samenzelle? Dieſe Frage berührt aktuell und für
die höheren Organismen mit Einſchluß deiner eigenen werten
[185] Perſönlichkeit ein Forſchungsfeld, auf dem ſich die Forſcher von
heute in den Haaren liegen. Es iſt das Gebiet der ſogenannten
„Vererbung“.
Wir haben es eigentlich ſchon einmal ganz grob berührt
— nämlich in der Zwergengeſchichte. Ich erzählte dir: aus
den Nachkommen jener als Mann und Weib verſchmelzenden
Zwerge erwuchſen Nachkommen, die zum Teil wieder Männer,
zum Teil Weiber waren. Was regelte dieſes „teils — teils“?
Es iſt die aktuelle Frage des Profeſſors Schenk in Wien: was
bewirkt bei geſchlechtlicher Zeugung, wo ſich Mann und Weib
normal verbinden und eine Samenzelle mit einer Eizelle ver¬
ſchmelzen laſſen, die Entſtehung eines Knaben, was die eines
Mädchens? Beide entſtehen abwechſelnd, in einem immerhin
annähernden Prozentverhältnis. Aber wo ſteckt die Urſache?
Niemand weiß es, — auch der Wiener Profeſſor wohl nicht.
Was wir aber nicht einmal beim Menſchen wiſſen: wie ſollen
wir's bei den Urzellen enträtſeln? Ich bin oben hübſch um
die Sache herumgegangen und durfte es, da ſie ja in den
Faden des Ganzen thatſächlich kaum eingreift. Es bleibt eben
bloß eine kleine Lücke.
Jetzt aber ſtoßen wir auf dieſelbe Lücke. Eben hieß es:
was beſtimmt die Knaben- und Mädchenerzeugung? Jetzt heißt
es: was wirkt von den Zellen des Geſamtleibes überhaupt auf
die Zeugung ein? Beachte wohl, um was es ſich handelt. Hier
ſtehſt du. Du haſt einen beſtimmten Geſichtsbau: dieſe Form
der Naſe, braune Augen von charakteriſtiſchem Ausdruck, ein
Muttermal auf der linken Wange. Heute zeugſt du ein Kind.
Du zeugſt es nicht ſo, daß du etwa deinen ganzen Leib in
zwei Stücke teilſt, wobei auch dein Geſicht in zwei Stücke fiele.
Sondern du zeugſt es mit deinem Geſchlechtsorgan, du ſpalteſt
eine einzige winzige Samenzelle von dir ab, dieſe findet eine
Eizelle deiner Liebſten, verſchmilzt mit ihr — und aus dem
Verſchmelzungsprodukt wächſt ein neuer Menſch. Ein Junge
oder ein Mädchen, — das Warum? weißt du ſchon nicht. Aber
[186] einerlei: ſei es ein Junge. Er kommt zur Welt ..... er hat
täuſchend dein Geſicht, dieſelben Augen, dasſelbe Muttermal.
Wie iſt das möglich geworden? Denke dir, du hätteſt dich
wirklich wie ein einzelliges Urtier ganz in zwei Hälften ge¬
ſpalten. Da bekam dein Halbpart, das Kind, dein eines Auge
und gerade vielleicht mit der einen Wange zufällig auch noch
das Muttermal. Gut, — iſt nicht wunderbar. Aber ſo? Nun
erzähle ich dir, die Abſpaltung eines Samentierchens von dir
anſtatt der Geſamthalbierung ſei Folge: erſtens der Vorgänge
in jener Urzwergengeſchichte; zweitens des Sozialverbandes zahl¬
loſer Zellen zu deinem Leibe; drittens der Arbeitsteilung in
dieſem Zellverbande, die dir ein einzelnes Geſchlechtsorgan
geſchaffen hat. Dieſes Organ konzentriert in ſich die ganze ge¬
ſchlechtliche Fortpflanzungskraft deines Zellverbandes. Indem
es ein Samentierchen abſpaltet, begeht es gleichſam ſymboliſch
noch einmal den ganzen Spaltungsakt des Geſamtkörpers. Und
nun wunderbar ..... es hat offenbar thatſächlich die Kraft,
in dieſe einzelne winzige Samenzelle unter Umſtänden das
ganze Bild des Geſamtzellverbandes ſo treu hineinzuverpacken,
daß in dem Kinde ſchließlich deine Augen, dein Muttermal un¬
verkennbar echt wieder auftauchen können. Was iſt das für
eine Hexerei? Wer giebt dem Organ dieſe Kraft? Beſteht
nicht doch ein geheimnisvoller beſtändiger Konnex aller Zellen
mit ihm, der von jeder Zelle aus (alſo auch von denen deines
Auges und denen deines Muttermals) ihm einen Beitrag giebt,
den es in die Samenzelle hineinbauen kann?
[187]
Es hat höchſt geiſtreiche Leute gegeben, die das ſehr
realiter ſich ſo durchgeführt dachten. Wie der Darm allein ver¬
daut, dann aber die Nährkraft durch alle Zellen treibt, ſo ſollte
das Fortpflanzungsorgan allein Zeugungsſtoffe produzieren, aber
es ſollte dazu von allen Zellen einzeln ein Stückchen Nähr¬
kraft erhalten, Nährkraft, die (vielleicht als winzigſtes Zell¬
teilchen übertragen) an dem Abkömmling der Samenzelle, dem
Kinde, gerade die Geſtalt jeder einzelnen Zelle wieder genau ſo
wiederherſtellen ſollte. Jede Zelle auch deines Muttermals lieferte
deinem Geſchlechtsorgan ein winzigſtes Teilchen Material, das, in
jede Samenzelle aufgenommen, jedes Kind aus ſolchem Samen
unter Umſtänden auch genau wieder mit dieſem Muttermal¬
ſtückchen verſehen konnte: das Kind erhielt ſchließlich das ganze
Muttermal wieder! Darwin hat dieſe Erklärung am genaueſten
ausgemalt und „Pangeneſis“ getauft. Du ſiehſt wohl: ſtimmte
die Sache ſo, ſo ließe ſie ſich unſerer Entwickelungskette oben
glatt einfügen. Aber es iſt nun ſehr die Frage, ob ſie gerade
ſo ſtimmt. Ich habe dir nicht die Vererbungsfrage für ſich
ſelber eigentlich beantwortet, ſondern ich habe dir eine Hypo¬
theſe eines geiſtvollen Mannes vorgetragen. Es giebt noch
andere. Das Gebiet der Vererbung wimmelt, wuchert, ſtrotzt
zur Stunde von Hypotheſen, — eigentlich überzeugend aber iſt
gar keine. Die Darwinſche Anſchauung iſt gleichſam die
derbſte, roheſte. Um das Problem ſelbſt handgreiflich klar zu
machen, iſt ſie zweifellos die anſchaulichſte. Aber es iſt faſt
mehr als wahrſcheinlich, daß die Dinge in Wahrheit ſehr viel
verwickelter liegen. Ich will dir noch einen groben Einwurf
dagegen anführen, der gleich noch einen Schritt weiter in die
moderne Vererbungsdebatte hineinlenkt.
Wenu jede Zelle des Zellenverbandes zeit ihres Lebens
auf jede Samenzelle direkt im Sinne Darwins einzuwirken
fortfährt, ſo müßte wohl folgendes richtig ſein. Du haſt, ſagen
wir, von Haus aus kein Muttermal gehabt. Aber eines Tages
hat dir einer aus Verſehen die Wange verbrannt, ſo daß ein
[188] Mal, eine Narbe entſtanden iſt. Nach dieſer Zeit zeugſt du
ein Kind. Es iſt dir ſonſt höchſt ähnlich im ganzen Geſicht.
Wird es aber auch die Narbe haben? Warum nicht, im Sinne
von Darwins Vererbungstheorie? Auch jene durch Brand
veränderten Geſichtszellen gaben ihr Scherflein zu der Samen¬
zelle in deinem Geſchlechtsorgan, mit der du das Kind zeugteſt —
und ſo käme das Brandmal beim Kinde ebenfalls heraus.
Darwin und eine ganze Maſſe Naturforſcher verſichern dir,
daß Fälle gerade ſolcher Vererbung vielfach beobachtet ſeien.
Dem widerſpricht aber eine ganze andere Schule, die ſich um
Weismann ſchart. Sie ſagen: die Vererbung ſolcher friſch
erworbenen Dinge ſei noch nie und nirgendwo beobachtet
worden. Iſt dem ſo, ſo fällt's natürlich wieder ins Gewicht
gegen jene ganze Theorie vom fortgeſetzten Zuſammenhang
jeder Zelle des ganzen Zellverbandes mit jeder Samenzelle im
Geſchlechtsorgan. Weismann hat denn auch eine ganz andere
Vererbungstheorie aufgeſtellt. Aber nun fragt ſich: hat Weis¬
mann recht? Das beſtreiten nun wieder ganz allgemein ſo
und ſo viel andere, die für ſich jener Theorie Darwins gar
nicht anhangen, ſondern andere Vererbungstheorien verfechten.
Schließlich ſiehſt du in eine Debatte, wo offenbar noch an den
ſtrittigſten Punkten die einfachſte Beobachtung nicht abſolut
feſtſteht. Das gibt aber nie und nimmermehr feſten Boden, ſo
lange es ſo iſt. Laß die Parteien ſich einſtweilen mühen, —
wir ſteigen hier nicht zu tief in dieſes Labyrinth. Wie dort
bei der Seelenfrage. Das liegt ja im Liebesproblem: es
ſchneidet überall in den Kern der Dinge. Da quellen denn
alle Waſſer der Tiefe auf wie in einem allzu kühnen Schacht, —
auch die ganz ſchwarzen, die großen unterirdiſchen Sintfluten,
auf denen das Wiſſen und die Weltanſchauung des Menſchen
von heute noch wie ein flottierendes Flötz ſchwankt.
Nein, halten wir uns reſolut an die große Linie. Ohne
die Einbohrung in dunkle Spezialfragen, unter denen's gleich
bergetief liegt, purpurn, mit Molchen und Drachen.
[189]
Die große Linie, denke ich, iſt dir jetzt als Ganzes voll¬
kommen klar. Vom Urweſen, das nur eine Zelle darſtellte,
nicht Mann noch Weib war, ſich als Ganzes zum Fort¬
pflanzungsakt einfach in zwei Hälften zerriß. Bis zum höheren
Geſchöpf, das aus einer Gemeinſchaft vieler Zellen beſteht, ob¬
wohl es im Ganzen — wunderbar wie — doch wieder ein
echtes einheitliches Individuum darſtellt. Und das durch Ar¬
beitsteilung ſeiner Zellen in Organe geſondert iſt. Und das
ein ſolches Organ beſitzt, das ausſchließlich der Fortpflanzung
dient, — einerlei nun, in welchem Zuſammenhang oder Nicht¬
zuſammenhang mit allen anderen Zellen des Leibes. Und zwar
ein männliches oder weibliches Organ. Aus dem je nachdem
einzelne Samenzellen ſich abſpalten oder einzelne Eizellen,
Samenzellen und Eizellen, die im Zeugungsakt ſich miſchen.
Und aus deren Miſchung jetzt erſt in eigentlicher „Fort¬
pflanzung“ ein neues Weſen erwächſt.
Über dieſes Erwachſen des neuen Weſens iſt dann zuletzt
hier noch ein wichtiges Wort einzuſchalten, das zwar nochmals
das heikle Vererbungsproblem ſchneidet, aber an einer harm¬
loſeren Stelle ſeiner Bahn.
[190]
Überblicke und vergleiche mal ſorgfältig zwei Reihen von
Vorgängen. Hier iſt eine Zellenkugel nach Art der Volvox¬
kugel. Was liegt an geſchichtlicher Entwickelung hinter ihr?
Mancherlei Stufen. Es gab einmal bloß einzellige Weſen.
Dieſe Einzeller entwickelten ſich dahin, daß ſie ſich zu zwei und
zwei ſuchten, ein beweglicher und ein träger, ein kleiner und
ein großer. Sie verſchmolzen und erzeugten aus ſich durch
Spaltung eine Schar neuer Einzeller. Lange Zeiträume hin¬
durch mag der Fortſchritt nur bis hierher gekommen ſein. Dann
kam eine neue Entwickelungsſtufe. Viele ſolcher erzeugten Ein¬
zeller thaten ſich zu einem ſozialen Verbande zuſammen. In
dieſem Verbande entſtand eine gewiſſe Arbeitsteilung. Einige
Zellen übernahmen für alle anderen mit die Fortpflanzung, ſie
allein zerſpalteten ſich fortan in der Zellkugel zu männlichen
Samenzellen oder zu weiblichen Eizellen.
Dieſen ganzen Hergang haſt du im voraufgehenden ſelbſt
verfolgt, nicht wahr? Es iſt gerade keine weltbewegende Ent¬
wickelungslinie, aber doch immerhin ein Stückchen Geſchichte,
das im ganzen ſicherlich über einen guten Zeitraum ſich ſpann.
Und in gar alte Tage geht's wohl ſicher zurück. Noch über
jenen kambriſchen Strand weit hinaus .....
Nun betrachte die einzelne Volvoxkugel ein zweites Mal,
und zwar ſchlage dir diesmal alles aus dem Sinn, was an
Geſchichte, an urſprüngliches Werden, an alte Entwickelung
[191] irgend erinnern könnte. Nimm die kleine Zellenkugel bloß als
einzelnes Geſchöpfchen von heute, unter dieſer deiner Sonne,
die auch dich in ihr Goldnetz ſpannt, als grünes Pünktchen,
das in dieſer Minute durch die kriſtallblaue Flut hier luſtig
dahinfegt. Wie iſt dieſes Geſchöpfchen individuell, für ſich,
„entſtanden“? Vor relativ ſehr kurzer Zeit war es noch eine
einzelne Zelle, eine träge Eizelle. Zu dieſer einzelnen Zelle
kam eine noch winzigere zweite Einzelzelle: eine bewegliche
Samenzelle. Die beiden Zellen verſchmolzen und erzeugten
aus ſich durch Spaltung eine Schar neuer Einzeller. Dieſe
Schar neuer Einzeller blieb zu einem ſozialen Verbande bei¬
ſammen. Und in dieſem entſtand eine gewiſſe Arbeitsteilung,
die jetzt in der Volvoxkugel unter anderem gleich dazu führen
wird, daß einige Zellen wieder ſich zu Eizellen abſpalten und
den Kreislauf der Fortpflanzung neu einleiten.
Ja, — ſind dieſe beiden Vorgänge, der eine uralt, ſchon
in vorkambriſcher Zeit lange vor Exiſtenz des Menſchen ver¬
mutlich einmal geſchichtlich vollzogen — und der andere ganz
neu, alle Augenblicke ſich noch jetzt vor Menſchenaugen wieder
und wieder ſo abſpielend: ſind ſie nicht geradezu einander gleich?
Sie ſind es. Jede Volvoxkugel durchläuft in ihrer in¬
dividuellen Entwickelung heute noch genau dieſelbe kleine Kette
von Vorgängen und Formen, die in Urtagen auftraten, als
ſich überhaupt zum erſtenmal aus einzelligen Urweſen Volvox¬
kugeln wirklich geſchichtlich heraus entwickelten.
Nur ein einziger feſter Unterſchied beſteht. Was heute
bei der Volvoxkugel ganz ſchnell und in glatteſtem Tempo
hintereinander abſchnurrt wie eine losrollende Uhrfeder, das
iſt in alten Tagen, bei der wirklichen Erſtentwickelung, ganz
langſam wahrſcheinlich in einer ganz ungeheuerlich langen Folge
von Generationen erſt Stück für Stück ſo eingetreten. Ganz,
ganz langſam mußte jene Urfolge von Generationen jede Station
dazu erſt unter tauſend Verwickelungen und Hinderniſſen finden, —
ganz langſam mußte Generation auf Generation erſt die ein¬
[192] zelnen Stufen entdecken, mußte ſich in ſie einlernen, mußte ſie
„erwerben“. Die heutige Volvoxkugel ſteht zu dieſen alten
Generationen offenbarlich in dem Verhältnis des Erbenden
zum Erwerbenden. Die ganze Entwickelungskette iſt ihrem
Geſchlecht heute „vererbt“, ſie iſt ihm wie ein beliebiges Stück
ſeiner ganzen Exiſtenz heute einfach in Fleiſch und Blut über¬
gegangen, ſie iſt ihm wie eine uralte Stammestradition gleich¬
ſam von Beginn an unfehlbar eingelernt, eingebläut, als blinde
Reflexhandlung eingepumpt. Sobald der Volvox aus ſich wieder
eine Samenzelle produziert, eine loſe Einzelzelle, iſt es, als
ſtürze über dieſe Zelle eine zähe uralte Erinnerung als wahre
Zwangsvorſtellung herein: ſie kann gar nicht anders, ſie muß.
wieder den alten Weg geradeaus laufen bis zur richtigen
Volvoxkugel hinauf. Abermals iſt es jene geheimnisvolle
Grundthatſache des Lebens, die „Vererbung“, die dir hierbei
auftaucht. Aber ſie taucht dir diesmal an einer Stelle auf,
wo über die Thatſache ſelber ſchlechterdings kein Zweifel beſteht.
Verſuche es doch, die einfache Thatſache, die dich die
Volvoxkugel lehrt, einmal in eine Art Lehrſatz, ein „Geſetz“
zu faſſen. Jede einzelne Volvoxkugel von heute, würdeſt du
wohl etwa ſagen, durchläuft in ihrer individuellen Entwickelung
ganz raſch und gleichſam automatiſch nochmals dieſelben Ent¬
wickelungsſtufen, die ihre Vorfahren geſchichtlich voreinſt durch¬
laufen haben, als ſie ſich überhaupt zur Volvoxkugel entwickelten.
Du ſiehſt aus dem ganzen Verlauf der Dinge, wie ich ſie
dir vorgetragen, daß in dieſem „Geſetz“ keinerlei Hexerei ſteckt.
Das einzige etwas Dunkle iſt die „Vererbung“ ſelbſt, aber
hier ſtehſt du, daran wollen wir einſtweilen mal feſthalten,
eben wieder vor ſo einer Grundſache wie bei Freſſen, Wachs¬
tum, Selbſtteilung, Liebesverſchmelzung und ähnlichem. Ich
denke mir, gerade das Volvoxbeiſpiel iſt ſo beſchaffen, daß
du dir gar nicht eigentlich vorſtellen kannſt, wie die Sache denn
anders gehen ſollte.
[193]
Nun aber erkenne: mit dieſem deinem „Geſetz“ biſt du
geradezu auf den Schlüſſel zu den ganzen Entwickelungs¬
thatſachen im Liebesleben der höheren lebenden Weſen
auf Erden gelangt. Du haſt gleichſam ſelbſtthätig das große
ſogenannte „biogenetiſche Grundgeſetz“ gefunden. Es iſt von
Häckel zuerſt als feſtes Geſetz entwickelt und benannt worden, —
nach Bios, griechiſch: Leben und Genea, griechiſch: Entwicke¬
lung, — das Grundgeſetz der Lebensentwickelung.
Zum ſo und ſo vielten Male muß ich dich bitten, zu der
ſchlichten Menſchengeſchichte zwiſchen Samenzelle und Eizelle
zurückzukehren, — dieſer famoſen Geſchichte, vor der unſer
Liebesſpaziergang anhub und von der ich dir ſagte, es fuße
hier das eine Ende des ganzen großen Liebesregenbogens, der
ſich über unſeren alten Planeten ſpannt. Diesmal bringſt du
aber endlich auch hier den letzten goldenen Zauberſchlüſſel mit.
Du ſelber mit all deinen Myriaden Zellen, mit deinen
Organen, in denen dieſe Zellen Arbeitsteilung treiben, biſt, du
weißt es jetzt, nur eine herrlichſte [und] höchſte Fortſetzung jener
Zellkugelentwickelung, die im Volvox und ſeinesgleichen angelegt
iſt. Was immer dich vom Volvox trennen mag an Geiſtes¬
höhe, an höchſtem Menſchentum: hier und weiterhin noch bei
jener Gaſträa etwa ſind deine Grundfaktoren in gewiſſem
Sinne alle gegeben; Zellen, zu einem ſozialen Verbande feſt
aneinandergeſchloſſen; Arbeitsteilung, die zur Bildung von Or¬
ganen führt; unter dieſen Organen vor allem auch Fort¬
pflanzungsorgane, und zwar bei dir männliche und bei deiner
Liebſten weibliche.
Gewiß: zwiſchen dir und der Gaſträa oder dem Volvox
liegt eine ungeheure Kette weiterer hiſtoriſcher Entwickelung.
Der erſte Volvox und die erſte Gaſträa lebten wohl lange vor
jener kambriſchen Zeit, die ſelbſt doch wohl viele Millionen
von Jahren vor deiner Gegenwart lag. Aus der Gaſträa
mußte dann erſt ein Wurm werden. Aus dem Wurm ein
älteſtes, einfachſtes Wirbeltier etwa von der Sorte, wie es dir
13[194] heute noch der Fiſch Amphioxus zeigt. Aus dem Amphioxus
ein Neunauge, aus dem Neunauge ein Fiſch, ähnlich unſeren
Haifiſchen, aus dem Haifiſch ein Molchfiſch, ein Molch, ein
Reptil, ein Schnabeltier, eine Beutelratte, ein Halbaffe, ein
Gibbonaffe, ein Affenmenſch. Und dann endlich kam der
Menſch. Der Menſch, der die Natur zur Kultur ſchmiedete
im roten Glanze ſeiner künſtlich erzeugten Herdflamme .....
Eine unermeßliche Entwickelungskette, anders rieſig noch
als jene kleine Folge vom einzelligen Urweſen zum Volvox
oder zur Gaſträa. Und doch! In jenen Grundlagen kam
während dieſer ganzen Kette, die vom Himmel zur Erde zu
hängen ſcheint, nichts Änderndes mehr hinzu. Der Volvox
erfüllte das biogenetiſche Grundgeſetz. Auch der Menſch erfüllt
es. Du haſt es erfüllt, als du im Mutterleibe warſt. Dein
Kind erfüllt es, das du mit deiner Liebe zeugſt. Schau her.
Von deinem Weibe ſpaltet ſich in dem Fortpflanzungs¬
organ ihres Leibes — alſo dem Gebiet ihres Vielzellleibes,
wo nach der Arbeitsteilung die Zellen bloß der Fortpflanzung
dienen — ein einzelne kleine, träge Eizelle ab. Eine einzige
Zelle! Zu dieſer einzelnen Zelle kommt durch deine Hilfe im
Liebesakt eine noch winzigere zweite Einzelzelle: eine bewegliche
Samenzelle. Die beiden Zellen — du haſt das kleine Myſterium
genau mit angeſehen — verſchmelzen und erzeugen aus ſich
durch Spaltung eine Schar neuer Einzeller. Dieſe Schar
neuer Einzeller bleibt zu einem ſozialen Verbande beiſammen.
Und in dieſem ſozialen Verbande entſteht eine gewiſſe Arbeits¬
teilung, — zunächſt im Sinne einer Anordnung zu beſtimmten
Zellgruppen als Organen .....
Merkſt du es? Der Menſch iſt kein Volvox mehr. Und
doch macht er die ganze Linie, die zum Volvox geſchichtlich
führte und die jeder Volvox nach dem biogenetiſchen Grund¬
geſetz individuell noch einmal wiederholt, auch im Mutterleibe
durch. Er muß es ..... denn er iſt ja geſchichtlich über
den Volvox oder wenigſtens ähnliche Formen weggegangen:
[195] ſeine Exiſtenz auf Erden umſchließt die des Volvox als frühe
Entwickelungsſtufe einfach in ſich.
Nun aber: er bleibt beim Volvox nicht ſtehen. Der
Menſchenembryo im Mutterleibe muß noch mehr umſchließen,
noch mehr abmachen nach dem biogenetiſchen Grundgeſetz als
den Volvox, weil ja ſeine geſchichtliche Entwickelung einſt weit
über den Volvox hinaus geſtiegen iſt zu einer ungeheuren
Ahnenkette vom Volvox aufwärts bis zu dir.
Da ſiehſt du, wie der Embryo aus einem einfachen Zell¬
klumpen zu einem Gebilde aus zwei Zellſchichten wächſt, gerade
ſo wie die Gaſträa zwei Zellſchichten — Haut und Darm —
bekam. Die zwei Zellſchichten werden zu vieren wie beim
Wurm, und aus den Zellſchichten bauen ſich Organe auf, denen
des Wurmes verwandt. Die erſte Anlage eines Rückenmarks,
einer ſchlichteſten, noch ſchädelloſen Wirbelſäule macht ſich merk¬
bar, wie beim niedrigen, noch ſchädelloſen Amphioxusfiſch.
Dann bildet der Schädel ſich, aber erſt wie beim kiefernloſen
Neunauge. Die beiden Gliedmaßenpaare erſcheinen als floſſen¬
artige Knoſpen, am Halſe liegen Kiemenſpalten: es iſt, als ſollte
ein Fiſch werden. Aber ſchon lenkt die rapid ſchnelle auto¬
matiſche Entwickelung zu Formen über, die an Lurch und
Reptil, an Schnabeltier und Beuteltier in dieſem und jenem
erinnern. Und jetzt endlich ein Äffchen, — ein Menſch. So
biſt du geworden. So deine Liebſte. So wird jedes deiner
Kinder. Jeder Menſch. Der König und der Bettler. Spinoza
und Hieronymus Jobs. Der Heilige und der Schächer .....
Du wirſt noch einmal, was du warſt. Deine Ahnen
waren das alles. Indem du „wirſt“, das heißt: dich als
Individuum vom Rieſenbaum der Menſchheit trennſt, ſauſt
deine eigene Entwickelung noch einmal im Sturm die ganze
Linie ab, vom Bazillus bis zum Menſchen hin. Freilich: die
Sache geht in vielem überrapid, geht ſo ſchnell, daß ganze
Linien nur noch wie halb im Nebel, nur ſchattenhaft noch auf¬
tauchen. Der Weg iſt zu rieſig, zu viel Zeit ginge ſelbſt in
13*[196] der tollſten Hetze noch auf ihn. So iſt manches überſprungen,
verwiſcht. Aber ſeltſam genug: nicht das Weſentlichſte. Eiſern
feſt ſteht vor allem die älteſte Bahn, als hafteten die älteſten
Dinge am zäheſten. Sie ſind ja auch die wichtigſten. Zuerſt
muß aus den zwei verſchmelzenden Einzelzellen der Grund¬
ſtamm des Zellenverbandes heraus und aus ihm die erſte
Organanlage. Nachher mag hier dann manches läſſiger kommen.
Aber im ganzen iſt's doch eine Pracht.
Und jetzt erſt ſiehſt du in das ganze Myſterium.
Begreifſt du jetzt, warum ich dich an den kambriſchen
Strand und noch weiter geſchleppt? Siehſt du ihn auftauchen,
dieſen Strand, und den Juraſtrand, wo die Schnabeltiere und
die Beuteltiere lebten, und lange vor beiden den Urſtrand mit
der Gaſträa, dem Urvolvox, den Ureinzellern, — auftauchen tief
drinnen im magiſchen Purpurdunkel des Menſchenmutterleibes
ſelbſt — und dort heute noch die Dinge beherrſchen, das tiefe,
dunkle, ſchwarze Erdreich beherrſchen, aus dem die Roſengarbe
des jungen Menſchenleibes ſchwillt ..... ?
[197]
„Der ungewordne Gott,Wird mitten in der Zeit,Was er nie war noch wardIn aller Ewigkeit.“
Märkiſche Kiefernheide in ihrer Sommereinſamkeit. Du
liegſt auf dem Rücken im Heidekraut und ſtarrſt in den ſeiden¬
blauen Himmel durch den Riß, den der Bahndamm in den
Wald geſchlagen hat. Fern, fern alles Wald. Hohe Stämme
mit ihrem derben, dunkelriſſigen Rot. Darüber das wollige,
graugrüne Nadelgeſpinnſt, in das die Sonne allerhand ſchwelende
Bronzelichter wirft. Unten für den Liegenden faſt ein kleiner
zweiter Märchenwald aus den hartgrünen Spitzenmuſtern eines
unabſehbaren Teppichs von Farnkraut. In den Tiefen des
Forſtes ein goldgrauer Dunſt wie die Hitze ſelber, die auf
allem bebt.
Du liegſt und ſinnſt, ſinnſt all den leiſen Stimmen, dem
kaum hörbaren und doch fort und fort klopfenden, pulſenden
Leben des Waldes nach. Leben, Leben überall. Organiſches
Leben. Tierwelt. Pflanzenwelt. Finken locken leiſe bald hier,
bald dort im Buſch. Der Kukuk ruft wie ein verſchollenes
Glöckchen hinter Wald und Wald, urweit fern. Vor dem Blau
des Himmelsſtreifens blitzt der weiße Bauch einer Schwalbe
jäh dahin. Ein Eichkätzchen huſcht als losgelöſter roter Fleck
von einer roten Säule zur anderen über das Farngrün. Neben
dir ein feines Kniſtern. Ameiſen marſchieren in langem,
braunem Zug. Ein groteskes Inſekt, der Ameiſenlöwe, wirft
[198] aus ſeinem kleinen weißen Trichter mit Sand danach. Eine
Hummel, haarig wie ein Bär, ſingt dumpf im Heidekraut. Und
in der Luft vor dem ſchimmernden Waldnebel ein unabläſſiges
Kommen und Gehen von anderen Inſekten wie das Wogen
leuchtender Goldpunkte, ab und zu ein Silberſtreifen dazwiſchen
wehend vom Luftſeil einer Spinne.
Unendliche Welten des Lebens umſpannt dein Blick. Un¬
trennbar liegſt du darin. Eine einige Lebenswoge auf Erden
das alles: Kiefer und Farnkraut, Inſekt und Vogel — und
du. Ihr alle geſchaukelt von dem gleichen Geſetz. Von der
Sonne mit Kraft getränkt, der Sonne, um die ihr wandert
mit eurer alten Erde. Kinder des Lichts. Wiegen des Geiſtes.
Brüder von Anbeginn des Planeten, durch die Urmillionen der
Jahre verknüpft. Nur auf wechſelnder Wanderſchaft zu ver¬
ſchiedenen Zielen gelangt, Kiefer und Farnkraut, Ameiſen,
Schwalben, Eichkätzchen und Menſch.
Ihr alle ſeid Kinder des Landes, ſchon darin enger geeint.
Kinder der großen Erdeninſeln, um die das blaue Meer wie
die eigentliche Urerde erſt ſchwimmt. Wie du in den Himmel
jetzt ſtarrſt, iſt es, als ſpiegele er dieſe Waſſerweiten, die der
Wald dir verbirgt, da oben noch einmal ätherklar. Auch dort
unendliches Leben. Aus der Korallentiefe ragende Bäume,
ſtarrend nicht von grünen Blättern, ſondern von orangegelben
Mäulern freßbereiter Polypentiere. Gaukelnd ſilberne Fiſche.
Und leiſe anſchwimmend, in langer Kette, ein Heer regenbogen¬
ſchillernder Glocken, Meduſen, die märchenhafteſten aller Kinder
der See. Leben, Leben in der Welle wie auf dem Land.
Im Tautropfen eine Welt. Myriaden zitternder Seelen. Und
überall das Sehnen von du zu du. Die Kiefer und das
Farnblatt, der Fink und der Ameiſenlöwe, die Schwalbe
und das Eichkätzchen, der Silberfiſch und das große bunte
Meeresauge, die Meduſe, alles liebt, wie du ſelber von
deiner Liebſten träumſt. Alles eine einige große Lebenskette,
Liebeskette.
[199]
Drücke dein Haupt hier an das Granitſtück, das fern von
Norwegen her mit den Gletſchern der Eiszeit einſt in dieſe Sand¬
ebene getrieben iſt, — und ſchließe einen Moment deine Augen.
Die alte Legende: Und Jakob kam an einen Ort, da blieb
er über Nacht, denn die Sonne war untergegangen. Und er
nahm einen Stein des Orts und legte ihn zu ſeinen Häupten
und legte ſich ſchlafen. [Und] ihn träumte: eine Leiter ſtand
auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel und die
Engel Gottes ſtiegen daran auf und nieder .....
Der Naturforſcher von heute rührt an deine Stirn und
auch dir wächſt eine Himmelsleiter auf.
Der Menſch iſt der Himmel der Erde, er hat zuerſt den
goldenen Sternenhimmel über ihr mit Bewußtſein geſchaut. Er
hat ſich ſelber mit ihr eine Heimat gebaut in einem überirdi¬
ſchen Geiſtes-Firmament. Er hat Gott geſchaffen, in der Kunſt,
im Ideal, in der Wahrheit, in ſich ſelbſt. Zu dieſem Menſchen
aufwärts aber ragt die ungeheure Leiter des Gewordenen.
Geſtalt um Geſtalt, noch lebende wie längſt verſchollene, ſteigen
daran auf und ab: — alle die Lebensformen, die tiefer auf
Erden ſind als der Menſch. Ein rieſiger Stammbaum, du
moderner Träumer, iſt deine Himmelsleiter, Sproſſe um Sproſſe,
Aſt an Aſt.
Unten die Urzelle, das Erſtlebendige, das noch nicht Tier,
noch Pflanze iſt. Dann die Zellengemeinſchaft, wie ſie als
Volvoxkugel vor dir ſchwamm. Solche Zellengemeinſchaften
hier ſich heraufgipfelnd zur Pflanze, zum Farnkraut, zur
Kiefer, zur Erika dieſes Heiderains. Dort durch die Gliede¬
rung in Magen und Haut, durch eine beſtimmte, andersartige
Arbeitsteilung im Bunde mit anderer Atmungs- und Ernäh¬
rungsart ſich auswachſend zur Gaſträa, zum Urmagentier mit
Mund, Magen und Haut. Und über der Gaſträa dann das
ganze vielgeſtaltige Tierreich, Leiter neben Leiter, — bis end¬
lich auf einer höchſten der Menſch mit dem ſonnenhaften Auge
Goethes ragt.
[200]
Gürte deine Lenden, — wir ſteigen jetzt auf dieſer tieri¬
ſchen Leiter jenſeits der Gaſträa mit hinan.
Die älteſten Urformen verſinken wieder im Nebel unter uns.
Neben uns aber verdämmert auch die unermeßliche Pa¬
rallelleiter der Pflanzenwelt.
Eine tiefe Kluft ſcheidet die höhere Pflanze vom höheren
Tier jenſeits von Volvox und Gaſträa. Die Pflanze nimmt
aus der Luft die Kohlenſäure und läßt den Sauerſtoff, alſo
gerade das Kraftelement des tieriſchen Stoffwechſels frei. Sie
wurzelt im Erdreich und verarbeitet unmittelbar Mineralſtoffe
in ſich, wie es dem Tiere niemals gegeben iſt. Die Zelle des
Tieres bedarf zum ewigen Neubau und Wachstum des ſchon
organiſch vorgearbeiteten Stoffs, ſei es tieriſche Subſtanz ſelber,
ſei es Pflanze, — die direkte Mineralverarbeitung iſt ihr nicht
mehr verliehen. Tief getrennt von der Pflanze im Stamm¬
baum, erſcheint das Tier ſo zugleich angewieſen auf die Pflanze
in den Bedingungen ſeiner Exiſtenz. Aber es erſcheint damit
nicht als das niedere, ſondern als das im Ganzen höhere Glied.
Es erſcheint als das Leben, das nicht mehr den tiefen Erd¬
grund und ſeine dunkelſten Lebensgeiſter, ſondern ſchon ver¬
arbeitetes helles Leben ſelber braucht. Aus dem Tiere in
ſeiner höchſten Entfaltung erwächſt dann der Menſch, der das
Tier geiſtig als ein abermals abſolut Höheres umfaßt, wie
das Tier die Pflanze, die Pflanze den Erdengrund.
Auch in der Liebe folgen wir mit dem Tier allerorten
unverkennbar dem höheren Prinzip. Wir gehen ja auf den
Menſchen los, mit deſſen Liebe ſich jene höchſten Stockwerke:
Menſchenliebe, Allliebe, Liebeszeugung durch die Kunſt, über¬
haupt erſt klar aufthun.
Es thut aber not, daß wir, einmal für dieſe einſeitige
Bahn entſchieden, hier jetzt ganz, ganz langſam aufwärts gehen.
Mit dem biogenetiſchen Grundgeſetze habe ich dir gezeigt,
wie der Menſch noch heute, wie du ſelber und deine Liebſte
durch dich und neben dir zuſammenhängt unmittelbar mit dem
[201] ganzen älteſten Entwickelungsſtück der organiſchen Liebe auf
Erden. Gerade dieſer „älteſte“ Teil eurer Liebe erſcheint euch
naturgemäß als der wichtigſte. Er umfaßt den ganzen Zeu¬
gungsakt und ſeine nächſten Folgen: alſo für dich als [Mann]
ſo zu ſagen den ganzen, für das Weib mindeſtens den ſeeliſch
bedeutendſten Liebesteil im engeren Sinne. Aber nun verkenne
nicht: mit dieſem Nachweis des Anſchluſſes, dieſer Erklärung
iſt unſer Thema noch keineswegs erſchöpft, es iſt in Wahrheit
erſt recht eigentlich jetzt angelegt. Du ſiehſt die große Urlinie
jetzt. Aber nicht mehr. Eine neue Arbeit thut ſich uns auf.
Zwiſchen Gaſträa und Menſch ſteht die unglaublich rieſige Reihe
der höheren Tiere mit ihren tauſend und tauſend Liebesformen.
Alle haben etwas gemeinſames, und das kennſt du jetzt überall
heraus. Aber die Varianten, die tauſend und tauſend Mög¬
lichkeiten von dem einen, urgegebenen Thema kennſt du noch
keineswegs. Und doch wuchs auch aus alledem der Menſch als
ein großer, märchenhaft wunderbarer Einzelfall auf.
Nicht mehr eine feſte gerade Linie gilt es uns jetzt zu¬
nächſt zu verfolgen. Kaleidoſkopbilder, — einzelne. Sie malen
dir im Fluge das ganze Tierreich, obwohl viſionenhaft ſchnell, —
nur mit loſe durchſchimmerndem Syſtem. Hier ein Lichtband
hin — und dort. Wir werden ſchon wieder zum Menſchen
kommen. Und dann wieder in einheitliche Bahn.
Mache dich gefaßt: es wird dir gerade jetzt manchmal ſo
werden, als wenn es geradenwegs durch die Hölle ginge.
Und doch iſt's keine Hölle.
Es iſt eine ſtille Reiſe durch alte Räume, alte Puppen¬
ſchreine deiner eigenen Sonnenwelt. Solche, die du ſelber
einſt bewohnt haſt. Andere, die benachbart liegen und noch
heute im alten Hausrat unverändert ſtehen. Iſt es dir nicht
ſelbſt ſo gegangen: in Mannesjahren, vielleicht mit der erſten
Reiflocke, biſt du heimgekommen in die alten Stätten deiner
Jugend. Wunderlich alles, klein, verſtaubt, Urväterhausrat.
Manches dumm, kindlich, ja kindiſch und ſo naiv, daß du
[202] lachen muß. Du, nach ſo viel heißer Weltenſonne, ſo viel
Sternenwanderung. Alte Mütterchen, in deren engem Stübchen
hinter Fliederthee und verblichenen Stickereien von Anno
Dazumal die Welt ſtillgeſtanden hat, Wand an Wand mit
Kopernikus, Darwin und der ſozialen Frage ..... du aber
lächelſt, begreifſt — und ſtehſt doch gerührt. Deine Jugend
webt hier, die erſte Liebe, die zu dir kam, und die erſte, die
von dir ging. Damals war das alles gar nicht lächerlich.
So ſieh die alte Tierwelt an. Die Meduſe, der Krebs, die
Ameiſe, der Seeſtern, der Fiſch, — es ſind alte Fliedermütter¬
chen, zu denen du, das Weltkind, in einer ſtillen Dämmerſtunde
kehrſt. Das Weltkind der Erde zu den alten Zwerglein, die
es gewiegt haben! Sie ſind runzelig. Aber du denkſt, — und
der Gedanke wird ein ſtiller, großer, geheimnißvoller Roſenflor,
der über alle verklungene Liebe dornt und blüht. Zwiſchen
den Roſenflammen die ewigen Sterne. Kein Winkel der Erde,
wo ſie nicht ſind. Und aus ihren Milchſtraßen ſingt das
Weltenlied vom Geiſt: „Und ſiehe, ich bin bei euch alle Tage,
bis an der Welt Ende“ .....
[203]
Stelle dir eine Pflaume vor.
Denke dir, daß dieſe Pflaume oben einen Mund hat.
Daß ſie innen hohl iſt und daß der Mund in dieſe Höhlung
hineinführt. Daß die Wand um die Höhlung aus zwei Häuten
beſteht. Und daß die äußere Haut kleine Zipfelchen oder
Härchen trägt. Die Pflaume fällt in den Ozean. Auf einmal
bewegen ſich die Härchen in beſtimmtem Takt, ſo daß das
Ganze ſchnell dahinſchwimmt. Kleine Tierchen kommen in den
Weg — ſchwapp, ſchluckt ſie das Loch ein. In der Höhle
ſind ſie jetzt in einem regelrechten Magen, — die innere Haut
von jenen zweien der Pflaumenwand bemächtigt ſich ihrer
genau ſo, wie unſere Magen- und Darmwände es bei einem
eingeführten Beefſteak oder Gänſebraten thun würden: ſie ver¬
arbeitet ſie, verdaut ſie. Da ein After nicht da iſt, müſſen die
unverdaulichen Reſte wieder durch den Mund ausgeſpuckt werden.
Außerdem löſen ſich noch von Zeit zu Zeit, wenn unſere
Pflaume männlichen Geſchlechts iſt, von ihr kleine bewegliche
Samenzellen, die ſich von ihrer Doppelhaut losgeſpalten haben.
Bei der weiblichen Pflaume ſind es umgekehrt große träge
Eizellen, die ſich bilden. Und es mag auch Pflaumen geben,
die beide Geſchlechtsſtoffe am gleichen Leibe tragen.
Denn was ich dir des Bildes wegen als Pflaume be¬
ſchrieben habe, iſt nichts anderes als die Gaſträa, das Ur¬
darmtier oder Urmagentier, die Stamm-, Grund- und Urform
aller höheren echten Tiere. Ein Zellenhaufen, der ſich als
Ganzes zu einem neuen Individuum höheren Grades zuſammen¬
[204] gethan hat. Und in dem ſchon eine einfachſte Arbeitsteilung
ſtattgefunden hat. Erſtlich haben ſich die Zellen dieſes ſchlichten
Sozialverbandes ja ſchon in „Haut“ (die das Ganze ſchützt
und bewegt) und in „Magen“ (der frißt und verdaut) geſondert.
Und dann ſind ſie hinſichtlich ihres Geſchlechts dazu über¬
gegangen, was ja die Volvoxkugel ſchon beſaß: nicht jede Zelle
der ganzen ſchwimmenden Pflaume zeugt beſondere Ei- oder
Samenteile, ſondern einzelne Zellen haben die Samenabſpaltung
und Eiabſpaltung für die ganze Kolonie auf ſich genommen, —
ſie vermitteln die ganze Fortpflanzung allein, — die Fort¬
pflanzung, die im übrigen feſt dabei bleibt, daß je eine Eizelle
ſich mit je einer Samenzelle eines zweiten, fremden Indivi¬
duums vermiſchen muß, — auf daß ein neues Weſen entſtehe,
das ſich im Sinne des biogenetiſchen Grundgeſetzes ſelbſtthätig
dann wieder von der einzelnen Vermiſchungszelle zum Zell¬
haufen vom Bau der Gaſträa heraufentwickelt.
Geh' an einen Teich, hole dir einen Klumpen jener all¬
bekannten ſchwimmenden Pflänzchen herauf, die man Teich¬
linſen nennt. Wirf ſie daheim in ein Waſchbecken, und wenn
ſie ſich wieder ausgebreitet haben, ſo ſuche ſie mit einem
ſchwächſten Vergrößerungsglaſe ab auf winzigſte, ein Zentimeter
etwa oder weniger lange, anhaftende grüne Knöſpchen oder
entfaltete Kelchlein, die zunächſt wie Schmarotzerpflänzchen oder
eine Sorte geheimer Blütchen der Teichlinſe ausſchauen. Ihre
Bewegungen verraten dir aber alsbald, daß es ſich um Tiere
handelt, Tiere, die zwar für gewöhnlich mit ihrer einen Ecke feſt¬
ſitzen, aber doch unverkennbar alle tieriſchen Eigenſchaften beſitzen.
Es iſt die ſogenannte Hydra oder der Süßwaſſerpolyp.
Eines der lehrreichſten Tiere in der ganzen halben Million
bekannter Tierarten auf Erden.
Setze es dir jetzt in ſchärfſte Vergrößerung, beobachte es,
zergliedere es. Was ſiehſt du? Deine Pflaume. Ja wahr¬
haftig: typiſch noch die Gaſträa. Ein Tier, bloß beſtehend
aus Mund, Magenhöhle, Magenwand und Haut, ſowie je
[205] einer Abſonderungsſtelle für Eizellen oder Samenſtellen. Bloß:
dieſe Gaſträa ſchwimmt nicht mehr. Sie hat ſich an eine
ſitzende, an irgend einer Unterlage (z. B. einem Pflanzen¬
blatt) haftende Lebensweiſe gewöhnt. Und — im klaren
Zuſammenhang damit — ſie hat ſich ſtatt des Bewegungs¬
apparates, der ſie ſonſt vorwärts trieb und ihr die Nahrung
ins Maul ſchwimmen ließ, „Polypenarme“ angeſchafft, —
das heißt kleine Fortſätze um den Mund her, die ihr die Nah¬
rung faſſen und in den Mund ſtopfen helfen.
Im einfachſten Bilde ſiehſt du hier, wie die Entwickelung
über die Gaſträa zunächſt hinausgehen konnte. Es bildeten
ſich feſtſitzende Magenpflaumen mit einem Kranz Fangarme um
den Mund: Polypen. Nur die Hydra lebt bei uns im Sü߬
waſſer, — die Maſſe der Polypen hauſt im Meer. Die
ſchöne bunte Seeroſe gehört hierher, die du im Aquarium
kennſt. Zu rieſigen Kolonien vereint ſtellen ſolche Polypen
die „Korallen“ dar, und ihr Kalkgerüſt, das ſie abſondern,
bildet dann den Schmuck deiner Frau, ebenſo wie es im heißen
Tropenmeer große Inſeln türmt und in Urtagen der Erd¬
geſchichte Riffe gebaut hat, die wir heute als hohe Gebirge
anſtaunen, wie z. B. die Dolomitſpitzen unſeres Alpengebiets.
Im weiteren Verlauf haben ſich aus den Polypen dann die
Quallen oder Meduſen entwickelt, und nahe ihnen verwandt ſind
auch die Schwämme, d. h. nicht die ſo bezeichneten Pilze, ſondern
die echten, denen du deinen Badeſchwamm verdankſt. Immer
bleibt dieſer Typus ſich aber im Weſen ſehr erkennbar gleich:
immer bleibt der Leib, der ſich aus der Gaſträa entwickelt hat,
becherartig, nur im Munde geöffnet, im Gegenpol aber geſchloſſen
ohne After.
Indeſſen: der Polyp ſtellt dir nur die eine Möglichkeit
der Fortentwickelung von der Gaſträa vor Augen. In dem¬
ſelben Teich, wo du die Hydra ſuchſt, ſtößt du allerorten auf
[206] Tiere, ebenfalls noch ſehr niedrig und zum Teil der Gaſträa
noch ziemlich nahe verwandt, einige ſchwimmend, einige kriechend,
ein Gewimmel von Geſtalten, das doch im ganzen ein feſtes
Wort umfaßt: Wurm. Wuchs die Gaſträa als Polyp an
und ſtreckte den Mund mit Fangarmen bewehrt nach oben, ſo
ſiehſt du im Wurm dieſelbe Gaſträa, wie ſie ſich auf einſeitige
Fortbewegung, ſei es geradeaus ſchwimmend, ſei es kriechend
gleichſam ſelber im Körperbau erſt recht konſequent ein¬
geſtellt hat.
Der Körper ſtreckt ſich, der Mund bleibt immer genau
vorne, hinten aber ſtellt ſich allmählich ein After ein, ſo daß
der Körper aus einem Becher ein Rohr wird. Und je mehr
ſich Organe durch Arbeitsteilung noch in der Zellmaſſe dazu
finden, — bei Würmern und Wurmnachfolgern, ſeien es
Sinnesorgane (Augen, Ohren u. a.), ſeien es beſondere Aus¬
ſcheidungsapparate, ſeien es Gefäße für zirkulierende Nährſäfte
(Blut) oder endlich gar äußere Bewegungsorgane wie Floſſen
und ſchließlich Beine: deſto deutlicher ordnen ſich alle dieſe
hinzutretenden Organe paarweiſe an den Seiten, gleichſam
doppelſeitig an. Der Darm bleibt als lange Hauptachſe des
Leibes, — rechts und links aber gruppieren ſich die übrigen
Organe zweiſeitig nach demſelben Prinzip der bequemſten
Anordnung für einſeitige Vorwärtsbewegung, das jeder Bau¬
meiſter einem Schiff oder Wagen heute noch zu Grunde legt.
Betrachte dich: du ſelber biſt noch in dieſer Weiſe zweiſeitig
gebaut, — als lange Streckpflaume, die nur einen Magen
mit Mund, Darm und After in der Mitte, aber rechts und
links je einen Arm und je ein Bein, je eine Niere, je einen
Samenapparat oder je einen Eierſtock trägt, die rechts und
links je ein Ohr hat zum Hören nach beiden Seiten und deren
Gehirn ſogar in zwei Hälften ſich ſondert. Du haſt das alles
ſo: denn du ſelber ſtammſt ja letzten Endes direkt vom zwei¬
ſeitig ſymmetriſchen Wurme ab. Der Wurm aber, indem die
Gaſträa ſich in ihn verwandelte, mußte dieſe Anordnung erſt
[207] als Neues finden, — als das eben für ihn von unten herauf
betrachtet zuerſt charakteriſtiſche, das ihn ſchließlich ſcharf von
der einfachen Gaſträa ebenſo wie von jenem andern Gaſträa-
Hochweg: dem Polypen, trennte — als das ſpezifiſch „Wurm¬
liche“, das mit ihm neu ins Tierreich kam.
Alſo du verſtehſt, nicht wahr: vom einzelligen Urweſen
in der früher geſchilderten Weiſe zur volvox-ähnlichen Kugel,
dem Urtypus jeden ſozialen Verbandes. (Welch rieſiger Begriff
begann da!) Vom Volvox durch fortgeſetzte Arbeitsteilung
zur Gaſträa. Mit der Gaſträa beim echten Tier. Über ſie
fort dann aufwärts in zwei Wegen. Die ſitzende, gleichſam
pflanzenartig als Becherblüte anwachſende Gaſträa zum Polypen
und Schwamm. Die röhrenartige, zweiſeitig in Rechts und
Links ſich ausbildende, vorwärts kriechende oder ſich ſchlängelnde
Gaſträa zum Wurm und über dem Wurm weiter dann ins
Ungemeſſene bis zu dir ſelber hinauf.
Auf beiden Seiten drängt es ſich von Material für unſere
Liebesbetrachtung. Wahre Fratzengeſtalten der Liebe. Kennſt
du die köſtlichen alten Bildchen von Teniers: wie der heilige
Antonius verſucht wird? Viel weniger von ſchönen Frauen,
als von ſchauderöſem Larvenpack, Unholden, halb Gerippe,
halb Embryo; halb Igel, halb Runzelweib. Und der Fromme
ſitzt ratlos über ſeinem Erbauungsbuch. Nun geht auch uns
der rote Mond einer ſolchen Geſpenſternacht auf, und die Wehr¬
wölfe und Zauberſchweine grunzen am Kreuzweg. Aber es
giebt einen Bannſpruch für uns, der in dem Erbauungstraktat
des Heiligen fehlte wie ſo manches ..... darwiniſtiſche An¬
ſchauungsweiſe, die in all den krauſen Wundern eine all¬
gewaltige Entwickelung ſieht. Und zuletzt fliegt der ganze
Spuk zu Boden wie leere Hülſen — und nun ſteigt wirklich
ein verklärtes Weib in der keuſchen Nacktheit einer Göttin auf:
Aphrodite, die Liebe des Menſchen, — die ſüße Lotosblume,
die aus all dem Spuk und Rauſch der tauſend tieriſchen
Liebesformen wie aus einem ſchwarzen Waſſer blüht.
[208]
„Sag' uns, Vater, wo wir wallen,Sag' uns, Guter, wer wir ſind?Glücklich ſind wir, allen allenIſt das Daſein ſo gelind.“
Ich will dich einen Augenblick beim Polypen feſthalten.
Nur einen Augenblick, — aber wie ich hoffe, einen lehrreichen.
Beim Polypen und ſeiner Gefolgſchaft.
Ich kann dir hier gleich einen Irrtum nehmen, der unſere
ganze weitere Liebesplauderei ſonſt langweilig zu machen drohte.
Der kleine grüne Süßwaſſerpolyp an ſeinem Linſenblatte
da unten — und du, homo sapiens, höchſter Sproß des Affen¬
ſtammes an der Spitze der oberſten Wirbeltiere: ihr beide habt
bis zur guten Gaſträa, dieſem ſchwimmenden Urbauch, die
gleichen älteſten Ahnen. Und da das biogenetiſche Grundgeſetz
für euch beide gilt, ſo iſt auch euer Einzelurſprung als Indi¬
viduum ſich bis zu einer gewiſſen Stufe mindeſtens ſehr ähnlich.
Mannesorgan und Weibesorgan, Samenzelle geht auf Eizelle,
das befruchtete Ei ſpaltet ſich, es entſteht ein Zellhaufen und
ſo weiter, — hier zum Polypchen, dort zu dir. Und ſo und
nicht anders iſt's ja nun nicht bloß bei Polyp und Menſch,
ſondern auch bei Wurm und Krebs, Spinne und Käfer, See¬
ſtern und Auſter, Tintenfiſch und wirklichem Fiſch, Froſch und
Vogel. Und der Einwurf regt ſich: ja ſollte nun nicht die
[209] Liebeshiſtoria bei ſolcher prinzipiellen Ähnlichkeit Stück für
Stück ungeheuer langweilig werden, — eine ewig gleiche Ab¬
haſpelei derſelben Schnur wie bei einem chineſiſchen Gebets¬
rädchen, die wir uns füglich ganz ſchenken könnten?
Im chineſiſchen Gebetsrad Tſchhuan ſauſt in ſteter Drehung
immer dasſelbe Papierſtreifchen ab und millionenmal lieſt du
immer und immer wieder: „Om mani padme, hum“ — „Das
Kleinod im Lotos, Amen.“ So klapperte hier die Mühle: die
Liebesbahn als Mann und Weib, Eizelle, Samenzelle, Miſchung,
Neuteilung, Zellhaufen, — bum, bum, — bis zum Schluß. —
Aber ſiehſt du: ſo langweilig iſt die Natur nun doch
nicht. Geh ans Fernrohr. Da haſt du Planeten, große,
kleine, weiße, rote, grünliche, gelbweiße, Venus, Mars, Neptun,
Jupiter, Saturn, — und alle hängen im gleichen Gravitations¬
geſetze, das ſie um die Sonne ſchleift. Das könnte auch lang¬
weilig ſein. Und doch iſt jeder Planet eine Welt mit ihrer
beſonderen Herrlichkeit: die Venus mit ihren weißen Wolken¬
bänken, der Mars mit ſeinen roten Wüſten und grünlichen
Vegetationsſtreifen, der ungeheure Jupiter mit ſeinen lachs¬
farbigen Dampfbändern und blutigen Purpurflecken, der Saturn
mit ſeinem ſchaurig erhabenen Ringſyſtem, — eine unerſchöpf¬
liche Fülle für das Studium, an der die Menſchheit noch für
Jahrtauſende zehren wird.
Nun ſteht aber jede einzelne Tiergruppe, ja jede Tierart
recht eigentlich auch ſo vor dir als ſolcher einzelne Planet, der
die wundervollſte Individualität iſt, wenn er auch noch ſo ſehr
im gleichen Grundgeſetz wie alle anderen hängen mag. Und
wie gerade durch die Verſchiedenheit der Geſtaltung trotz
gleicher Grundkraft bei Jupiter etwa, Saturn und Erde dieſe
Erde ſelbſt eigentlich erſt ganz klar und ganz intereſſant für
dich wird, ſo kommt auch das Liebesleben des Menſchen dir
erſt ins ganz rechte Licht, wenn du unentwegt vorher durch
alle die Varianten der Liebesmöglichkeit im übrigen Tierreich
14[210] gehſt. Was für ein Spielraum aber für ſolche Varianten trotz
der Grundähnlichkeit des Urweges aller beſteht, davon gleich
hier das ſchönſte Einleitungsbeiſpiel über den Polypen weg.
Du liebſt, — als Menſch. Nimm einmal vier Sätze aus
dieſem Liebesleben, die unumſtößlich feſt ſind.
Zunächſt: du liebſt zu zwei und zwei, Mann und Weib.
Das Weib hat die Eierſtöcke, du haſt die Samentierchen, jeder
nur einen Teil für ſich.
Zum anderen: wenn ihr beide, Mann und Weib, euch
liebt, ſo entſteht als Produkt wieder ein echter Menſch, — ein
Kind, das zwar noch ein „kleines“ Menſchlein iſt, aber doch
zweifellos vom Tage ſeiner Geburt ab ein „Menſch“ iſt und
kein andersartiges Weſen.
Drittens: das Kind, das ihr zeugt, muß erſt viele Jahre
in der Welt ſein, muß erſt die rechte volle Körperreife erlangt
haben: dann erſt wird es ſelber wieder geſchlechtsreif und
kann wiederum aus ſich Kinder zeugen oder gebären. Niemals
aber erlebſt du, daß etwa ein noch ungeborenes Kind im
Mutterleibe oder ein eben geborenes Kind „als „Kind“ ſchon
wieder neue Kinder gebären könnte.
Und endlich: du, Menſch, biſt zwar, wie du geſehen haſt,
als Menſch im ganzen eigentlich und urſprünglich ein Staat,
ein ſozialer Verband von Millionen Einzelzellen, — dein
Individuum, ſo feſt geſchloſſen es in ſich daſteht (als wahrer
Typus aller Individualität!), iſt doch gleichſam erſt ein Indi¬
viduum zweiten Grades, das durch geheimnisvolles Zuſammen¬
wachſen von Millionen einfachſter Individualitäten entſtanden
zu ſein ſcheint. Aber das ſei nun, wie es will: ſo wie du
jetzt daſtehſt, biſt du auf alle Fälle für dich als Menſch wieder
ein feſtes Individuum. Aus ſolchen Individuen bildet ſich die
Menſchheit. Es mag nun geſchehen, daß viele ſolcher ganzen
Menſchenindividuen wieder vieles gemeinſam thun. Ihr Menſchen
haltet zuſammen als Freundeskreis, als Geſellſchaft, als ſozialer
Körper, als Staat. Ihr habt auch eine gewiſſe Arbeitsteilung
[211] eingeführt, daß z. B. dieſer für viele die Schuhe ſohlt, dieſer
die Zeitung ſchreibt und jener die Bockwürſte herrichtet. Jeder
Liebesbund von zwei Menſchen iſt ja auch nur ein ſolches Zu¬
ſammenhalten. Niemals aber geſchieht es nun deswegen, daß
ganze Menſchenindividuen thatſächlich wieder aneinander
wüchſen wie Zellen. Auch der kühnſte Staatsverband ſchafft
keinen wirklichen Briareus mit hundert Köpfen und hundert
Armen. Auch die konſequenteſte Genoſſenſchaft führt nicht zum
Menſchen-Rattenkönig, wo fünfzig oder mehr Individuen mit
den Hinterleibern aneinander wüchſen. Und ſelbſt die brennendſte
Liebe, die ſich gegenſeitig freſſen möchte, läßt Mann und Weib
nicht dauernd als Ganzes zum geſchlechtlichen Doppeltier ver¬
ſchmelzen.
Mit dieſen vier Grundſätzen bepackt ſollſt du jetzt an ein
Zauberſchloß klopfen. Es iſt kriſtallblau, und ſchöne bunte
durchſichtige Elfen hauſen darin. Die einen ſitzen wie prächtige
Blütenkelche am Boden. Die anderen ſchwimmen wie große
ſchimmernde Glocken offen durch den blauen Glaſt. Du biſt
bei Polypen und Meduſen. Und nun lege deine vier Sätze
als Elle an und miß.
Schon der kleine grüne Hydrapolyp im Süßwaſſer wirft
deinen erſten Menſchenſatz um. Dasſelbe Individuum entwickelt
vorne, nahe dem Kranz von Mundärmchen, Samen und weiter
hinten ein Ei. Natürlich muß die Befruchtung wechſelſeitig,
zwiſchen den Produkten zweier Individuen ſtattfinden, — du
kennſt ja jetzt das geheime Geſetz der Inzucht. Aber es bleibt
der rieſige Unterſchied gegen dich. Die kleine Hydra braucht
ſich übrigens, um die Sache noch viel verwickelter zu machen,
überhaupt noch gar nicht ausſchließlich geſchlechtlich zu ver¬
mehren. Jenem Urzuſtande in unſerer Zwergengeſchichte noch
14*[212] ganz nahe, da neue Individuen einfach gebildet wurden durch
„Knoſpung“, durch Ablöſung eines Körperſtücks, das alsbald
ſelbſtändig, ohne die Notwendigkeit einer Vermiſchung mit
einem fremden Weſen, knoſpengleich ſich zu einem neuen Ge¬
ſchöpfe auswächſt, — kann die Hydra auch kleine Jungpolypchen
unmittelbar aus ſich herauswachſen laſſen, — genau ſo, wie
ein Geraniumſtock nicht bloß durch Blütenſamen fortzupflanzen
iſt, ſondern auch durch einfache Ableger. Bei der Pflanze
ſcheint dir das Fortbeſtehen dieſer einfachen Zweigknoſpung
noch neben der geſchlechtlichen Blütenbefruchtung wie etwas
Selbſtverſtändliches. Aber auch beim niederen Tier findeſt du
die Fähigkeit wenigſtens dazu noch konſequent allerorten er¬
halten. Freilich ſiehſt du, daß, je ſteiler der Tierſtamm in die
Höhe kam, die richtige geſchlechtliche Liebe doch ſich mehr und
mehr als die einzig nützliche erwieſen haben muß. Und dem
verdankſt du, daß du ſelber heute nur noch Kinder im richtigen
Liebesakt zeugen kannſt, die dann deine Frau nachher gebären
muß, — anſtatt daß dir und deiner Frau ab und zu auch
mal noch kleine Jungen und kleine Mädchen zum Rücken, Knie
oder Fuß herauswüchſen wie Salatköpfe aus einem fruchtbaren
Gemüſebeet.
Doch zu deinem zweiten Menſchenſatz. Aus dem Mutter¬
leibe des Menſchen ſteigt wieder ein Menſchenkind. Das er¬
ſcheint doch abſolut ſelbſtverſtändlich? Wohlan.
Ich ſagte dir: aus Polypen von jener einfachen Form
der lieben kleinen Hydra haben ſich auch jene herrlichen
Meduſen oder Quallen entwickelt, die dir jede Meeresküſte
zeigt. Du kennſt ſie. Nach der Sturmflut liegen ſie als
glatte ſchillernde Gallertſcheiben am weißen Strand, jämmerlich
hintrocknend. Im freien Meere aber ſiehſt du ſie vom Schiffe
aus in voller Lebenspracht, langſam dahinziehend, die ſelt¬
[213] ſamſten Gebilde der See, in langen Scharen oft, farbenbunt,
märchenhaft, da draußen heimiſch im unendlichen Blau, mit
ihrem elaſtiſchen Glaskörper ohne jedes Pünktchen Feſtigkeit
dem Weltmeer trotzend, das dein rieſiges Menſchenſchiff wie
Stroh zerbricht.
Eine ſolche Meduſe iſt ein Tier jenſeits der Gaſträa.
Das ganze Geſchöpf gleicht einer ſchwimmenden Glocke. Die
äußeren Teile dieſer Glocke ſind ein einziger prachtvoller
Schwimmapparat. Indem er ſich rhythmiſch zuſammenzieht,
ſchwimmt das Tier im Waſſer dahin. Von dem unteren Rande
der Glocke hängen zahlreiche feine, neſſelartig brennende Fühl¬
fäden herunter. In der Mitte der Glocke aber ſitzt wie ein
dicker Klöppel der alte echte Gaſträamagen, unten mit einem
Mund und um den Mund mit Fangarmen. Es iſt genau, als
habeſt du den kleinen Hydrapolypen losgelöſt, frei ins Waſſer
geworfen, daß der Mund nach unten hing, und oben gleich¬
zeitig zur ſchönen Schwimmglocke ausgeweitet. Du verſtehſt
ganz gut, daß dieſe Meduſe von jener Hydra „abſtammen“
ſoll. Nun aber ſieh dir die Entwickelung ſolcher Meduſe, ihre
Liebes- und Fortpflanzungsgeſchichte an.
Faſt alle dieſer Meduſen ſind getrenntgeſchlechtlich: hier
Mann mit Samen, dort Weib mit Eiern. Darin ſind ſie alſo
menſchenähnlicher als der Hydrapolyp.
Nicht gerade menſchlich iſt freilich, daß vielfach die Ge¬
ſchlechtsprodukte durch den Mund entleert werden. Aber Magen
und Mund ſind eben hier noch eine ſchlechtweg dominierende
Hauptſache des ganzen Organismus, und rückſeitige Körper¬
öffnungen, wie ein echter After, ſind überhaupt noch nicht
eigentlich da, ſo daß die Sache doch nicht ſo ganz abſonderlich
iſt. Wenn ein Geſchöpf ſeine überſchüſſigen Verdauungsreſte
durch den Mund einfach wieder ausſpuckt: warum ſoll es nicht
auch durch den Mund zeugen und Junge kriegen, wie das doch
bei dir als Menſch auch durch denſelben Ausführungskanal
erfolgt, der den Harn, alſo auch einen ſolchen überſchüſſigen
[214] Stoffwechſel- und Ernährungsreſt, aus dem Körper heraus
befördert? Die Methode iſt etwas ungewohnt, aber die Sache
bleibt. Und nun geht's auch ſonſt zunächſt anſcheinend glatt
weiter. Samenzelle findet ſich zur Eizelle und jetzt giebt's —
du denkſt, eine neue Meduſe. Ja, dann erzählte ich dir die
ganze Geſchichte hier nicht .....
Aus dem befruchteten Ei der Meduſe erwächſt ganz ver¬
gnüglich ein am Boden feſtſitzender Polyp von ähnlicher Be¬
ſchaffenheit wie unſere Hydra. Er ſitzt wie ein Becher da,
hat innen einen Magen, oben einen Mund und Fangarme
darum — und lebt und frißt und erſcheint abſolut aus¬
gewachſen. Es iſt genau ſo, wie wenn deine Liebſte dir eines
Tages niederkäme und brächte dir ſtatt eines Menſchleins
einen fertigen Molch oder ein Schnabeltier zur Welt. Was
thun? Warte ab.
Stelle dir folgendes vor. Hier ſteht eine Kaffeetaſſe.
Dieſe Kaffeetaſſe macht dir auf einmal eine höchſt verrückte
Geſchichte. Sie bekommt Junge. Und zwar macht ſie das
folgendermaßen. In ihrer Mitte wächſt ein neuer Boden.
Nachher zwiſchen dieſem und dem alten noch einer. Schlie߬
lich iſt es, als ſtänden drei kleinere Taſſen ineinander.
Und jetzt knacks, bricht die oberſte los, fällt herunter und
ſteht als neues Täßchen da. Gleich darauf auch die zweite.
Und da die unterſte auch, obwohl verkleinert, zuletzt ſtehen
bleibt, haſt du jetzt im ganzen drei Taſſen, wo vorher nur
eine war.
Mit wirklichen Kaffeetaſſen wird das nun wohl nur beim
Spukſervice des Herrn Pfarrers zu Reſau glücken. Aber mit
jenem Polypen, den das Meduſenei zeugte, glückt's alle Tage
vor deinen Augen.
Da ſitzt der Polyp, von Geſtalt einem kleinen Täßchen
wirklich gar nicht ſo unähnlich. Den Hohlraum der Taſſe
bildet ſein Magen, die Öffnung oben ſein Mund. Jetzt aber,
was geſchieht?
[215]
In den Magen hinein wachſen ihm Querwände. Außen
ſchnürt ſich das ganze Tier an den betreffenden Stellen ein.
Statt einer Taſſe ſcheinen auch hier bald mehrere, eine ganze
Reihe, ineinander zu ſtehen. Zuerſt hat nur die oberſte den
Zackenrand von Fangarmen. Bald aber ſprießen auch unten
ſolche Fangarme wie ein Krönchen um jede der Einſchnürungs¬
ſtellen auf. Auf einmal dann knacks, wie dort: die oberſte
Taſſe mit dem alten Munde und Fangarmkranz reißt ab und
wird zum ſelbſtändigen Tier, — dann die nächſte und ſo
weiter.
Und wunderbar: die losgeriſſenen Täßchen ſinken nicht
etwa jedes ſofort wieder zu Boden und werden von neuem zu
Polypen. Sie werden jetzt, indem ſie ſich umdrehen, den
Mund nach unten hängen laſſen, den Buckel auftreiben und
frei hinaus ins Waſſer ſchwimmen — — zu Meduſen.
Wo bleibt hier dein zweiter Menſchenſatz? Aus einem
Menſchen wird wieder ein Menſch. Aber aus der Meduſe
wird ein Polyp und aus dem Polypen wieder eine Meduſe ....
Doch du haſt im voraufgehenden etwas gelernt und bringſt
deine Weisheit jetzt zu guter Stelle an. Hier liegt doch gar
nichts Wunderbares, ſagſt du: hier waltete einfach nichts mehr
und nichts minder als das biogenetiſche Grundgeſetz. Die
Meduſe ſtammt geſchichtlich vom Polypen ab. Alſo wiederholt
ſie in ihrer Einzelentwickelung zunächſt noch einmal den Po¬
lypen und wird erſt nach Überwindung dieſer Polypenform
zur echten Meduſe. Die Sache, ſchließt du, iſt am Ende doch
durchaus nicht wunderbarer, als wenn der Menſch im Mutter¬
leibe noch einmal Kiemenſpalten anſetzt wie ein Fiſch oder ein
Schwänzchen kriegt wie ein Affe.
Und du haſt wirklich nach einer Seite nicht ſo übel recht.
Die Meduſe ſtammt ja wirklich geſchichtlich vom Polypen, und
wenn der Polyp in ihrer Einzelentwickelung überhaupt noch¬
mals auftaucht, ſo ſteckt darin ſicherlich im Ganzen eine ge¬
ſchichtliche Erinnerung und Wiederholung im Sinne des bio¬
[216] genetiſchen Grundgeſetzes, genau wie bei den Kiemen und dem
Schwanz des Menſchleins im Mutterleibe.
Aber: etwas Beſonderes bleibt doch und trotz alledem —
etwas ſehr Beſonderes. Überlege dir genau .....
In unſerem Vergleich zum Menſchen wäre der aus dem
Meduſenei entſtehende Polyp der Embryo, der Keim, das noch
ganz unfertige Junge der Meduſe, entſprechend etwa dem fiſch¬
ähnlichen Embryo des Menſchen im Mutterleibe. Aber dieſer
„Meduſenembryo“ hier iſt ja zugleich ein reifes Geſchöpf! Er
geht keineswegs in die Meduſe, wachſend ſich wandelnd, über, um
dann erſt reif zu werden, ſo wie der Menſchenembryo endlich
geboren wird, heranwächſt und nun endlich ein reifer Menſch
wird. Der Polypenembryo der Meduſe benimmt ſich ſchon ganz
genau wie ein ausgewachſenes Tier: er ſelbſt pflanzt ſich fort.
Ja, das thut er unzweideutig. Was iſt jene ganze Taſſen¬
ſpalterei anders als eine Fortpflanzung? Allerdings keine ge¬
ſchlechtliche; aber wir haben ja ſchon eben bei dem echten Hydra¬
polypen geſehen, daß bei dieſem niedrigen Tiervolk die echte
Geſchlechtszeugung mit Samen und Eizelle noch durchaus nicht
die einzige, abſolut nötige Fortpflanzungsform ſein muß. Das
ſchlichte alte Knoſpen ohne eigentlichen Liebesakt läuft friedlich
noch neben her.
Nun alſo genau ſo: der polypenförmige Meduſenembryo
„knoſpet“, — er treibt aus ſich eine ganze Stülptaſſenpyramide
junger Meduſen hervor. Und dieſe Meduſen ſelbſt bekommen
dann auch noch wieder die Organe zu der anderen, echt geſchlecht¬
lichen Methode, — ſie erzeugen Samen und Eier und laſſen
ſo den Kreislauf regelrecht wieder beim Anfang beginnen.
Du merkſt alſo: da iſt doch ein koloſſaler Unterſchied
gegen dich. Dein fiſchähnlicher Menſchenembryo wächſt ſich ein¬
fach zu dir aus, und wenn du ſo und ſo alt geworden biſt,
wirſt du geſchlechtsreif und zeugungsfähig. Der polypenähnliche
Meduſenembryo aber iſt als ſolcher ſchon zeugungsfähig
und erzeugt aus ſich ein ganzes Bündel fertiger Meduſen durch
[217] Fortpflanzung, anſtatt daß er zu einer einzigen ſolchen Meduſe
direkt auswüchſe.
Und du ſiehſt auch: wir ſind unverſehens bereits deinem
dritten Menſchengeſetz hier ins Gehege gekommen und haben
es für unſeren Fall gleich ſehr unzweideutig in die Enge ge¬
bracht. Die beiden Geſetze — unſer zweites und drittes —
halten ſich hinſichtlich ihres Schwankens hier gleichſam im
Schach. Entweder du nimmſt an: aus der Meduſe wird ein
ganz anderes Tier, ein Polyp, und der zeugt wieder Meduſen.
Dann fällt Geſetz zwei: der Fall tritt ein, als wenn deine
Frau ein Känguruh oder Schnabeltier bekäme und das zeugte
dann erſt wieder aus ſich einen Menſchen. Oder du nimmſt
den Polypen, der aus einem Meduſenei wächſt, als Embryo
oder Larve, als „unreife Meduſe“ an, — ſo fällt Geſetz drei,
denn du haſt einen unreifen Embryo, der (paradox genug ſchon
im Worte) als ſolcher reif wird und Junge zeugt.
..... Es ſchwindelt dir etwas? Aber du mußt mit.
Auch das Buch der Liebe in der Natur hat ſeine Stellen, wo
dem Neuling zu Mute wird, wie dem braven Sancho, da es bei
Cervantes heißt: „Und er zog beruhigt fürbaß, denn er war nun¬
mehr ſeiner Sache ganz ſicher, daß ſein Herr wirklich verrückt ge¬
worden ſei.“ Ich muß dich noch ſtärker beſchwören. Denn es
kommt dein vierter Satz. Und da wappne dich wider eines
der größten organiſchen Wunder, die überhaupt auf dieſer alten
Wundererde exiſtieren.
Wäre die Tierkunde nicht trotz aller volkstümlichen Wiſſen¬
ſchaft heute noch ein ſo verſchloſſener Zwinger, in den ſich bloß
ab und zn ein paar Eingeweihte wagen, ſo müßten längſt alle
Politiker, Soziologen und Philoſophen vor dem einzigartigen
Ding ſitzen, das ich dir jetzt vorzuführen habe — und müßten
[218] nachdenken und lernen. Ich weiß aber nicht, wie viele in der
Welt ſind, die überhaupt je davon auch nur den nackten Namen
gehört haben. Du kennſt es ſicher nicht, und wenn ich dir
einen ſchlechten Witz anthäte und dir weis machte, ich erzählte dir
jetzt etwas vom Mars, ſo würdeſt du es für eine höchſt luſtige
Satire halten, eine Münchhauſiade, erfunden, um menſchliche
Geſellſchaftsverhältniſſe lächerlich zu machen, aber doch erfunden
auch recht mit dem Stempel des Unmöglichen an der Stirn.
Dein vierter Satz lautete, daß ganze Menſchenindividuen
als ſolche nicht noch einmal wieder miteinander zuſammen¬
wachſen könnten, wie Einzelzellen zu Menſchenkörpern urſprüng¬
lich verwachſen ſind. Keinerlei ſozialer Verband, auch die Liebe
nicht, weiß ſo etwas zu ermöglichen. Die ſiameſiſchen Zwillinge
ſind eine Mißgeburt, keine höhere Entwickelung. Gerade auf
der Unabhängigkeit und körperlichen Selbſtändigkeit der menſch¬
lichen Einzelindividuen ſteht das Ideal des Sozialen im
Menſchentum, — und ſo weiter. Dich gelüſtet nach einem
ſoziologiſchen Exkurs, und ich ſchüttle dir vorher ſchon die
Hand, daß du recht haſt. Darum bleibt dir aber doch für die
Ecke des großen Tierzwingers, an der wir gerade ſtehen, fol¬
gender Fall unentrinnbar wahr und fordert dein ganzes Nach¬
denken, indem er ſeiner zunächſt zu ſpotten ſcheint.
Hier ſchwimmt eine Qualle oder Meduſe — ein einzelnes
Individuum. Es iſt ein einheitliches Einzelgeſchöpf, im Prinzip
genau wie du. Es beſteht aus einem Klumpen von Zellen
genau wie du. Dieſe Zellen haben ſich zu feſteſtem Verbande
vereint, genau wie deine — ſo daß als Reſultat ein neues,
höheres, aber thatſächlich wieder ganz ſicher in ſich geſchloſſenes
Individuum herausgekommen iſt, genau wie du eines biſt.
Unter den Zellen iſt Arbeitsteilung eingetreten, genau wie bei
deinen in deinem Leibe. Sie bilden Organe — nicht ſo viele
wie die Zellen in deinem Leibe, aber doch einige ſehr bemerk¬
bare, zum Beiſpiel den Magen, die Schwimmblaſe, einen ge¬
wiſſen einfachen Nervenapparat, und vor allem gewiſſe Gruppen,
[219] die Samen und Eier abſpalten. Kurz, die einzelne Meduſe
hier iſt als Tier im Ganzen nicht ſo hoch entwickelt wie du —
aber im einfachen Betracht als Individuum ſteht ſie offen¬
bar ganz auf derſelben Stufe wie du, ſie iſt Frau Einzelqualle
ſo und ſo, genau wie du der und der beſtimmte, benannte,
mit Legitimationspapieren ausgerüſtete, gleichſam polizeilich an¬
erkannte und eingeſchriebene Einzelmenſch biſt.
Solche Einzelquallen findeſt du, wie geſagt, in der See
meiſt in großen Schwärmen beiſammen. Warum nicht? Sie
leben eben geſellig. Jede bleibt darum Individuum für ſich.
Aber da miſcht ſich auf einmal ein Geſchöpf in die ſchöne
blaue oder orangegelbe Reihe, das denn doch eine ganz be¬
ſondere Sorte zu ſein ſcheint. Du bemächtigſt dich ſeiner mit
Mühe und Not und unterſuchſt es. Es iſt eine Meduſe und
doch eigentlich wieder keine. Was iſt es?
Denke dir, du hätteſt dir ein Dutzend Einzelmeduſen her¬
genommen und jede gewaltſam auseinandergeſchnitten. Organ
von Organ. Hier wäre die Schwimmglocke einzeln, hier der
Magen mit ſeinem Mund, hier die eigentümlich wie Brenn¬
neſſeln dich kitzelnden Fühlfäden, hier die männlichen oder
weiblichen Geſchlechtsſtellen. Und du hätteſt dieſe Organe dann
von dem ganzen Dutzend Tiere fein ſäuberlich zu Häufchen
zuſammengelegt, wie man von einem Gartenbeet bunte Roſen
und Nelken bricht und nach den Farben ſortiert: hier ein
Haufen Schwimmglocken, hier ein Haufen Magen mit Mäulern
und ſo weiter. Und dann hätteſt du dieſes ganze Material
zuletzt willkürlich dir wieder zu einem großen Strauß zu¬
ſammengebunden — zu einem Quallenſtrauß, der jetzt als
Ganzes an einer Ecke zwölf Schwimmglocken, an einer andern
zwölf bemundete Mägen, an einer dritten zwölf teils männ¬
liche, teils weibliche Geſchlechtsſtellen, und an einer vierten
einen ungeheuren Sammelknäuel neſſelnder Fühlfäden darböte.
Es ſind ſo ſchöne bunte, blumenähnliche Geſchöpfe, dieſe
Quallen — warum ſollte eine ganz beſonders zarte Hand in
[220] ihrem Element ſie nicht zu Sträußen binden gleich Georginen
oder Roſen, von denen du ja in der „Blüte” auch immer ein
beſtimmtes Organ nur abſchneideſt und mit ſeinesgleichen zum
künſtlichen Strauße formſt?
Aber wunderbar. Lebt in den Tiefen dieſer blauen
Kriſtallſchlöſſer der Ozeane irgend ein Böckliniſcher Meer¬
menſch, der wirklich in ſeinen Mußeſtunden ſolche Sträuße
aus bunten Meduslein flicht, um ſie ſeiner grünäugigen Nixen¬
liebſten ans Mieder zu ſtecken? Und iſt ihm ein ſolches
tieriſches Sträußlein entwiſcht, von der Welle fortgewiegt und
dir, dem grübelnden Naturforſcher, eben zugeſpült worden?
Denn was da als ſcheinbar ganz abſonderliche Meduſe dir
entgegenkam und jetzt vor dir zergliedert liegt — das iſt ja
nichts mehr und nichts minder als wahrhaftig ein ſolcher
„Strauß”. Bloß daß er als Ganzes „lebte”.
Kein Nix hat ihn in Wahrheit gewaltſam geformt, kein
trennendes Meſſer ihn erſt aus ſo und ſo viel Meduſen künſt¬
lich zurecht geſchuſtert. Er ſelber als Ganzes iſt als ein in
ſich geſchloſſener, lebens- und liebesfähiger Organismus durchs
Meer geſchwommen. Vor dir liegt die ſogenannte Siphono¬
phore oder Staatsqualle.
Die Siphonophore iſt zunächſt durch Eins grundſätzlich
von jeder der ſonſt herumſchwimmenden Einzelquallen ver¬
ſchieden. Ob jene Einzelquallen auch zu Zehntauſenden in
einer Reihe hintereinanderſchwimmen: ſie bleiben doch jede ein
Tier für ſich. Die Siphonophore aber iſt nicht ein Tier: ſie
iſt ſelber ſchon ein Strauß, ein Stamm, eine Kolonie, eine
ſoziale Genoſſenſchaft, oder wie du es nun nennen willſt, von
vielen Tieren. Ein Klumpen einzelner Meduſen iſt in ihr
wie ein Rattenkönig zu Eins zuſammengeflochten.
Du kennſt das liebe Vieh, das die Naturkunde „Ratten¬
könig“ nennt. In irgend einem hohlen Balken oder Speicher¬
loch einer von Ratten durchwimmelten alten Scheuer hörſt du
längere Zeit durch ein abſcheuliches Geraſſel und Gequieke, das
[221] noch über allen gewohnten Rattenlärm geht. Endlich reißt dir
die Geduld, du hauſt mit der Axt zu und brichſt die Diele
oder den morſchen Balken auf. Da fährt ein Monſtrum auf
dich los, durch ſcheußliche Verkümmerung oder Krankheit in
dem engen, ſchmutzigen Rattenneſt-Loch gebildet: an die zwanzig
Ratten und mehr ſind mit den langen Schwänzen ſo ineinander
verflochten und verklebt, daß keine ſich einzeln mehr von den
anderen loswinden kann und ſo alle beiſammen zwangsweiſe
ihr Lebenlang einen ſiameſiſchen Zwanzigling bilden müſſen.
Das iſt der berühmte „Rattenkönig“.
In ſich iſt er gewiß keine Monarchie, ſondern eine höchſt
unpraktiſche Zwangs-Republik, die als Ganzes ſchlechterdings wohl
nur als zeitweiſe Krankheit im ſonſtigen anarchiſtiſch freien
Rattenleben auftritt. Aber male dir einmal wieder mit Phan¬
taſie aus, eine ſolche Rattenkolonie mit verwachſenen Schwänzen
fühle ſich thatſächlich wohl in ihrem Zuſtand. Und es ſtellte
ſich etwas Beſonderes ein dadurch. Die Schwänze ſollen ſo
verſchmelzen, daß der Blutkreislauf darin von einem Individuum
zum anderen (und ſchließlich zu allen anderen) übertritt. Die
Ratten ſtehen jetzt alle zwanzig zueinander in dem Verhältnis
wie eine Mutter zu ihrem noch nicht geborenen Kinde. Das
Kind erhält den Blutkreislauf der Mutter als ſolchen innerhalb
der Gebärmutter noch mit. Es braucht alſo nicht beſonders
zu eſſen: das Mutterblut füttert es mit. Es braucht nicht be¬
ſonders zu atmen: das Mutterblut reinigt und erneut ſich für
es mit, die Lunge der Mutter atmet für es mit. Wie, wenn
nun in dem Sinne, den wir ſchon einmal bei den Urzellen be¬
obachtet haben, der eben genugſam durchblutete Ratten-Zwanzig¬
ender eines Tages dazu überginge, Arbeitsteilung unter ſeinen
ganzen Individuen einzuführen?
Dieſe fünf Ratten ſollen nur noch freſſen und verdauen.
Dieſe fünf nur noch beißen, wenn ein Feind ſich naht. Und
dieſe fünf nur noch laufen und die anderen mitziehen. Da
jede auch außer jenen erſten fünfen Nährblut mitbekommt, ſo
[222] genügt das Freſſen der fünf. Da jede mit verteidigt wird,
wenn fünf für alle beißen, ſo genügt die Beißerei der fünf.
Und die dritten fünf ſchleppen alle anderen bequem mit vom
Fleck. Jede hat ja ſonſt nichts zu thun als das eine und
kann ihre ganze Kraft auf die eine Thätigkeit konzentrieren.
Nicht lange: und die konſequente Arbeitsteilung wird
Folgen am Leibe unſerer Sozialratten zeitigen. Die fünf,
die bloß noch aufs Freſſen aus ſind, werden einen immer
intenſiver arbeitenden Magen bekommen, ſonſt aber werden ſie
faul werden, die Füße werden ihnen einſchnurren und allmählich
werden ſie ganz lahm werden. Den fünf anderen, die fort¬
geſetzt bloß noch fauchen und beißen, wird umgekehrt der Mut
und die Beißluſt immer energiſcher werden, aber der unbenutzte
Magen wird ihnen ſchrumpfen und verkümmern: ſie brauchen
ihn ja nicht. Und ſchließlich, wohin wird das führen? Die
einen Ratten am König werden reinweg nur noch Magen ſein,
die anderen nur noch beißende Köpfe und die dritten nur noch
Springbeine. Betrachtete einer unverhofft jetzt das ganze
Ungeheuer, ſo meinte er, nicht mehr zwanzig echte Ratten zu
ſehen, ſondern ein einheitliches Geſchöpf der tollſten Art: mit
fünf Beißköpfen, fünf Magen, fünf mal vier Beinen und ſo
weiter. Der verwachſene Schwanzknäuel in der Mitte erſchiene
wie der eigentliche Grundkörper dieſes wahnſinnigen Über¬
ſcheuſals, dieſer Kollektivratte nach der Methode Cerberus.
Nun, mit den Ratten giebts ſo etwas nicht, und der arme
Rattenkönig iſt alles andere eher als ein hölliſcher Cerberus:
ein trauriges Zufallsgewächs eines ungeſunden Neſtes, nichts
weiter. Wo aber die Sache wirklich ſich ſo ereignet hat, das
iſt bei unſerer Siphonophore.
Ein Haufen Quallen iſt aneinander feſt gewachſen, — ſo
feſt, daß die Nahrungsſäfte durch die gemeinſame Achſe wie dort
durch die Schwänze unſerer Ratten hindurchpulſieren können und
zugleich eine Fortbewegung an einer Ecke die ganze Quallenkette
wie ein einziges Individuum mitbewegt und als Ganzes dahin
[223] ſchwimmen macht. Nachdem dieſe Verwachſung einmal erfolgt
war, iſt aber dann wirklich auch hier Arbeitsteilung eingetreten.
Ein Teil der Quallen hat bloß noch gefreſſen. Ein Teil
bloß noch die Schwimmglocke in Thätigkeit geſetzt. Ein Teil
bloß den Stamm verteidigt. Und ein Teil bloß noch der Fort¬
pflanzung gedient. Was aber iſt auch hier dabei als natür¬
liche Folge herausgekommen? Indem jede Einzelqualle des
Verbandes nur noch eines ihrer Organe ausſchließlich in Arbeit
ſetzte, hat ſie alle anderen Organe nach und nach bei ſich ver¬
kümmern laſſen, — — bis ſie endlich ganz verſchwunden ſind!
Dieſe Quallen hier oben am Stamm, die bloß noch ihre
Schwimmglocken dehnen und ſchließen, auf daß das Ganze im
blauen Meer dahinſchwimme, ſind thatſächlich nur noch reine
Schwimmglocken, ohne Magen, ohne Geſchlechtszellen, ohne
Neſſelfäden. Dieſe hier weiter unten, die offenen Polypenblüten
gleichen: ſie ſind, weil ſie nur mehr „Magen mit Maul“
ſpielten, ſchließlich unter Verluſt der Schwimmglocke zu reinen
polypenartigen Magentieren geworden. Und ſo fort. Andere
ſind nur noch Neſſelarme zur Wehr und zum Beutefang, andere
nur noch Geſchlechtsträger mit Samen und Ei.
Alſo! du haſt vom vielzelligen Tier gehört, — du
ſelber biſt ja eins. Hier aber haſt du das vieltierige Tier.
Im vielzelligen Tier formten ſich die Zellen durch Arbeits¬
teilung zu Organen. Hier ſiehſt du das vieltierige Tier, in
dem ſich viele ganze vielzellige Tiere abermals zu Organ-Tieren
ausgebildet haben und als Ganzes ſo einen „Überorganismus“
formen, — wahrhaftig jetzt einen Cerberus oder Briareus,
kühner, als ihn je die kühnſte Sage erfunden hat. Schlagender
kann wohl dein vierter Menſchenſatz nicht umgeworfen werden.
Füge dir des ganzen Bildes wegen hinzu, daß dieſe
Staatsquallen oder Siphonophoren vielfach zu den äſthetiſch herr¬
lichſten Gebilden der ganzen Natur gehört. Wie ein ſchwim¬
mender Blumenſtock, doch nicht aus wahren Blumen, ſondern
aus durchſichtigem bunten Kriſtall, ſo ſchildert ſie ihr genaueſter
[224] Kenner, Häckel. So durchqueren ſie, ſchwimmende Gärten von
unſagbarer Schönheit, die tiefblaue Meerenge von Meſſina, wo
die Natur ſonſt ſchon all ihre Wunder verſchwenderiſch gehäuft.
So begegnen ſie dem Seefahrer im freien Tropenozean als
ſogenannte Seeblaſe oder Phyſalia: die kindskopfgroße Schwimm¬
blaſe auf dem Waſſerſpiegel wie getriebenes Silber, das in
Himmelblau, Violett und Purpur ſpielt und mit einem Kamm
von leuchtendem Karminrot gekrönt iſt, die herabhängenden Freß-,
Geſchlechts- und Verteidigungsquallen zart ultramarinblau.
Und dieſer ganze ſchillernde Farbentempel liebt natürlich
auch. Dieſe Liebe iſt aber noch beſonders lehrreich, weil ſie
dir zugleich klar zeigt, wie dieſes Staatsungetüm „individuell“
(falls dieſes Wort hier geſtattet iſt) zuſtande kommt.
Zwiſchen den Freßtieren, Bewegungstieren, Verteidigungs¬
tieren des Stammes ſitzen, wie erwähnt, auch rein männliche
und weibliche Geſchlechtstiere — bald beide am gleichen Stock,
bald hier nur männliche, dort nur weibliche. Sie haben ſich
im Außeren noch relativ am meiſten ihre allgemeine Quallen¬
geſtalt bewahrt, — mit dem glockenförmigen Mantel und einem
Zapfen unter der Glocke, der wie ein Mundende ausſchaut.
Aber wenn du ſchärfer zuſchauſt, ſo ſiehſt du, daß der ver¬
meintliche Mund zugewachſen iſt, — auch hier kommt die Er¬
nährung als direkter Nährſaft von den Freßgenoſſen in der
Kolonie herübergeſtrömt. Dafür ſpaltet die Wand des Zapfens
hier weibliche Eier, dort männliche Samenzellen in reichſter
Fülle ab. Und die ſeparat hier noch erhaltene Schwimmglocke
hat nur den einen guten Zweck, daß ſie unter Umſtänden ſolcher
Geſchlechtsqualle ermöglicht, bei voller Reife den Verband ſelbſt¬
ſtändig zu verlaſſen und ein Stück weit auf eigene Fauſt zwecks
Abſatz ihrer Geſchlechtsfracht ins offene Meer hinauszuſegeln.
Denn die Grundſache iſt auch hier natürlich wieder die
abſolut gleiche und ewig gleich notwendige: Samenzelle und
Eizelle zweier verſchiedener „Übertiere“ müſſen ſich finden und
vermiſchen, auf daß der Kreislauf von vorne anhebe. Aus
[225] dem Miſchprodukt ſolchen „Staatsſamens“ und ſolchen „Staats¬
eies“ wird zunächſt ganz regelrecht ein Tier, — eine Qualle.
Aus dieſer einen Urqualle erwachſen dann aber wie aus einem
zunächſt einſamen, aber überaus fruchtbar veranlagten Landes¬
vater durch Knoſpung (alſo ungeſchlechtlich!) ein Gewimmel anderer
Quallen, die den „Staat“ in der geſchilderten Weiſe bilden helfen.
Jener Weg vom Quallenei zum Polypen und von da
erſt wieder zur Qualle, den ich dir oben als Regel für die
Einzelquallen anderer Art gezeigt habe, iſt wahrſcheinlich hier
ganz durchbrochen: aus dem Ei geht ſofort die Urqualle hervor
und aus dieſer durch Knoſpung der ganze Quallenſtock mit
ſeiner Arbeitsteilung. Doch ſind die Einzelheiten dieſes Vor¬
ganges heute ſelbſt bei den beſten Beobachtern noch ver¬
ſchiedenen Deutungen ausgeſetzt: dir genüge die zweifelfreie
Grundthatſache, daß aus einem befruchteten Siphonophoren-
Ei abermals die ganze verwickelte Siphonophore entſteht.
Wie es beim Rattenkönig wahrſcheinlich iſt, ſo ſind auch hier
alle Staatsbürger im Quallenkönig Geſchwiſter von dem¬
ſelben Wurf, — bloß daß hier nicht gleich ſo und ſo viel
Quallen auf einmal wie Ratten geworfen werden, ſondern
zunächſt aus dem Ei eine Qualle entſteht, die dann (gleich
dem Larvenpolypen jener Kaffeetaſſengeſchichte) aus ſich noch
wieder ſo und ſo viel Geſchwiſterquallen nachträglich erzeugt.
Daran darfſt du keinen Anſtoß nehmen: daß hier alſo
zur Abwechſelung auch ein ſchon fertiges Kind ſich erſt noch
aus ſich einen Haufen Geſchwiſter erzeugt. Das geht mit
in die Summe der Wunder dieſes ganzen Geſchlechtes ein.
Im Prinzip aber haſt du jetzt alle deine vier Menſchenſätze
ſchachmatt, nicht wahr? Alle vier niedergeſungen mit einer
Melodie, — mit Polyp und Meduſe .....
Polyp und Meduſe ſind aber nur erſt ein erſtes winziges
Sternchen im Gewimmel deſſen, was ſich über der Gaſträa
ins Tierreich hinein erhebt.
Nun zum andern Prinzip, — — dem Wurm.
15[226]
„Die Ungeſtalten ſeh ich anAls irden-ſchlechte Töpfe,Nun ſtoßen ſich die Weiſen dranUnd brechen harte Köpfe.“
Ich greife dir recht ſo ein Ungetüm erſter Güte heraus,
an dem du deine helle Freude haben ſollſt: den Bandwurm.
Aber vorher wenigſtens noch einen herzhaften Schluck
gleichſam für den ſchweren Weg. Wappne dich zum Drachen¬
kampf mit einem Gedanken, einem Problem.
Ehe ich dir das Liebesleben des Bandwurmes ſchildere,
erlaube mir einen kurzen Exkurs in die gangbare Theorie von
der Unſterblichkeit der Seele.
Erinnere dich an eines der ſtärkſten Fundamente dieſer
Theorie, — die Säule, auf die ſie ſeit Jahrtauſenden im Denken
und in der Sehnſucht der Menſchen ſo recht eigentlich immer
wieder aufgeſtützt worden iſt. Man will das Individuum, die
Seele, das Ich des Einzelmenſchen gerettet ſehen nicht nur in
der bedingten Weiſe, daß es in der Exiſtenz von Kindern und
Enkeln weiterlebt: ſondern unmittelbar über den eigenen Tod
hinaus. Und man folgt dabei einem an und für ſich ſehr
ſchlichten Gedankengang. Gewiß, ſagt man, es hat eine Be¬
rechtigung, zu behaupten: der Menſch lebt in ſeinen Kindern
weiter. In den Kindern leben wenigſtens teilweiſe und hier
und da Eigenſchaften, Stücke gleichſam unſeres eigenen Ich
weiter, gewiſſe Talente oft, gewiſſe Anlagen im guten und
[227] böſen Sinne, allerlei Eigengut, das offenbar im Akte der
Zeugung mit übertragen worden iſt: dieſer Akt bedeutet ja die
reale Ablöſung eines Körperſtückes, einer Samenzelle oder Ei¬
zelle, — kein Wunder alſo. Es iſt auch möglich, unter geſunden
Bedingungen ſogar wahrſcheinlich, daß dieſe Kinder abermals
Kinder hervorbringen, denen wieder ein Teil unſeres Charakters
weitergegeben wird und ſo fort, — es kann wenigſtens hier
eine thatſächliche Kette in die Unendlichkeit gehen, die in dieſe
Unendlichkeit immerzu Bruchteile und Reſtteile des beſtimmten
Menſchen noch hinaustreibt und lebendig erhält. Aber, ſo wirft
der grübelnde Sinn ein, was iſt das alles ſelbſt im günſtigſten
Falle für eine einſeitige und mehr als halbe Sache. Heute
löſt ſich von mir eine Samenzelle, ein mikroſkopiſch winziges
Teilchen meines körperlichen Ich, von deſſen Mitgift und Erb¬
ſchaft ich ſelber verzweifelt wenig weiß. Ich ſelber aber bleibe,
innerlich ganz unbekümmert um das Wachstum aus jener Zelle,
nach dieſem Akt noch dreißig oder vierzig oder noch mehr Jahre
als feſtes Ich ſtehen, lebe weiter, entwickele, kläre, bereichere
mich, leiſte der Welt und mir ſelber in dieſen Jahren vielleicht
noch erſt mein Beſtes oder überhaupt erſt etwas, was ernſt zu
nehmen iſt: und dieſes ganze Ende „Ich“ ſoll aus jeder Un¬
ſterblichkeitsbahn heraus ſein?
Nehmen wir gleich ein ganz ſcharfes Exempel: Goethe.
Alſo Goethe hat mit der Chriſtiane Vulpius den bekannten
unglücklichen Sohn Auguſt erzeugt, deſſen traurige Erdenbahn
der Vater ſelbſt noch bis zur Neige erlebte. Von dieſem Sohne
blieben über den Großvater hinaus die ebenfalls genügend be¬
kannten beiden ſteifen Onkel in Weimar, deren beſte Lebensthat
ihr Teſtament war und die keine leiblichen Nachkommen mehr
hinterließen. Hier reißt die verfolgbare Goetheſche Liebeslinie
überhaupt ſchon ab, — eine ſehr kurze „Unendlichkeit“. Aber
das falle nebenbei, — angenommen, ſie ginge heute noch flott
weiter. Vergleiche! Halte dir daneben das Individuum Wolf¬
gang Goethe mit ſeiner Gigantenleiſtung in den Jahren noch
— 227 —15*[228] nach 1789, wo Auguſt ſich von ihm abſpaltete. Stellte es
nicht das unvergleichlich koſtbarere Teil dar, das in einer ver¬
nünftig gebauten Welt gewiß das beſte Anrecht hatte auf eine
andersartige, beſondere Seelenunſterblichkeit mit mehr Erhal¬
tungskraft zugleich und mehr Garantie überhaupt, als ſie jene
Keimzellfolge bot?
Einmal im Fahrwaſſer dieſer Frage, pflegt man dann
einfach aus der Sache von hier her ein Poſtulat zu machen:
man ſagt, es muß noch eine beſondere Unſterblichkeit geben
neben der bedingten, die über Liebesakte und Kinder läuft, —
eine für das beim Zeugungsakt übrig bleibende elterliche Indi¬
viduum. Ja, wenn die Dinge anders lägen, ſetzt man hinzu!
Malen wir's uns einmal aus, wie es ſein könnte, wenn uns
jener Gedanke nicht kommen ſollte. Denken wir uns, der
Zeugungsakt wäre ſtets und naturgeſetzlich eiſern zugleich der
Schlußakt des zeugenden Individuums. Ein Menſch lebt,
entwickelt ſich, leiſtet ſein Teil, — zeugt ein Kind, und in
dieſem Moment ſinkt er tot hin, oder noch beſſer, er verwandelt
ſich einfach unmittelbar in das Kind, die Mutter taucht im Ge¬
burtsakt unter wie in einem Jungbrunnen, iſt plötzlich ver¬
ſchwunden und ſtatt ihrer erſcheint ein kleines Kind, in deſſen
Stoffe alles hineingezehrt iſt, was vorher das Individuum der
Mutter zuſammenſetzte. Vollkommen wäre die Sache auch ſo
noch nicht. Aber man ſähe doch eine viel handgreiflichere
Hervorkehrung der einen Unſterblichkeitslinie: der Tod wäre in
gewiſſem bedingten Sinne wenigſtens für das Individuum,
das zur Zeugung gelangt, aufgehoben in einen radikalen Ver¬
jüngungsprozeß. Das eine zur Zeugung nötige Samentierchen
oder die eine weibliche Eizelle verſchlänge gleichſam das ganze
erwachſene elterliche Individuum zum Akt eines Neubeginns.
Zu mutmaßen wäre, daß bei ſo radikalem Akt auch die Über¬
tragung der Charaktereigenſchaften von Vater und Mutter
auf das Kind eine intenſivere wäre, das neue Individuum
umſchlöſſe wohl immer das ganze Kernerbe des alten. Der
[229] Tod wäre wie eine tiefe Schlafnacht, aus der man mit dem alten
Charakter, aber gleichſam in der Lebensbahn herabgeſchraubt
und mit wieder hergeſtellter Anfangskraft erwachte. Freilich
riſſe eines doch ab: die alten Erinnerungen. Aber was ſind
im Grunde unſere Erinnerungen? Schriftzeichen im Gehirn,
zum Teil und mit den Jahren recht undeutlich. Echte äußere
Schrift in Notizen und Tagebüchern iſt ſchon jetzt uns ſelber
eventuell mehr wert, wenigſtens auf lange Dauer. Sollte es
nicht einer findigen Zukunftsmenſchheit gelingen, das Gedächtnis,
ich möchte ſagen, photographiſch nach außen zu projizieren, ſo
daß ſein ganzer oder weſentlicher Inhalt auch äußerlich über¬
liefert werden könnte nach Fortfall des erlebenden Gehirns?
Und könnte ſo nicht das neugeborene, verjüngte Ich die alten
Erinnerungen wieder lernen? Es gäbe da noch unendlich
vielerlei zu phantaſieren. Höchſt intereſſant wäre das Zu¬
ſammenfließen von Mann und Weib zu einem dritten neuen
Individuum im Lichte dieſer Anſchauungen, höchſt intereſſant
und zugleich wahrhaft ſchwindelnd kompliziert. Aber es möchte,
glaube ich, gut geſchehen, daß ſich die hübſche Geſchichte ganz
im Sinne des alten Märchens vom Jungbrunnen bis in eine
ſolche logiſche Folge hineinmalte, daß eine ganze, eventuell ins
Blaue weitergehende Kette blutsverwandter Generationen über
Jahrtauſende weg wie ein und dasſelbe Individuum erſchiene,
bloß in ſeinem Rieſenleben durchquert von gewiſſen Momenten
tiefen, verjüngenden, krafterneuernden Ich-Schlafes, ſo wie unſer
Einzelleben durchquert iſt von ſo und ſo viel Nächten gewöhn¬
lichen Schlafes, in denen auch das Bewußtſein zeitweiſe (und
offenbar ebenfalls zu wenigſtens ſchlichten Krafterneuerungs¬
zwecken) unterbrochen erſcheint. Am Ende wäre eine perſönliche
Unſterblichkeit neben jener Kinderunſterblichkeit thatſächlich über¬
flüſſig.
Nur, ſo fügt der Träumende nach aller Phantasmagorie
ernſthaft hinzu, es iſt eben nicht ſo. Das elterliche Individuum
geht bei den höheren Organismen nicht reſtlos in das kind¬
[230] liche ein, ſondern es bleibt jener Rieſenreſt, es bleibt jener
ganze Fall Goethe, wie er oben dargelegt iſt. Und weil es
nicht ſo iſt und ſein ſoll, muß unſer Optimismus ſich andere
Verſicherungen ſuchen.
Hier iſt nun die Stelle, wo ich dich ganz gemach über
die Unſterblichkeit und über Goethe hinweg an etwas ganz
anderes anſpinnen möchte, nämlich eben an den lieben Bandwurm.
Die Nutzanwendung wirſt du ſelbſt ſchon finden.
Der Bandwurm iſt für uns Menſchen ein ärgerlicher Ge¬
ſelle. Er zählt zu den böſeſten Ausbeutern unſeres Körpers,
und ſeine Lebensweiſe im Dunkel des Darmkanals macht ihn
obenein zum wahren Typus des Unappetitlichen. Und doch
geht es mit ihm, wie mit dem Menſchenfleiſch in der Anekdote.
Der Miſſionar eifert gegen die Menſchenfreſſerei als eine Sünde
zugleich und eine Geſchmacksroheit. Nein, ſagt der zerknirſchte
Wilde in einer letzten Auflehnung ſeines Barbarengewiſſens,
Sünde mag's ſchon ſein, aber daß es ſchlecht ſchmeckte, davon
verſteht ihr nun nichts. Unſer Todfeind iſt der Bandwurm,
aber behaupten, das er darum ein unintereſſantes Geſchöpf an
ſich wäre, heißt wirklich nichts von den Dingen wiſſen.
Vom Standpunkt der naiven Naturbetrachtung, die ſich
um keinen Kriegszuſtand kümmert, iſt der Bandwurm eines
der lehrreichſten Geſchöpfe der Erde und ein wahres Natur¬
wunder. Forſchern wie Philoſophen hat er unendlichen Stoff
zur heißeſten Arbeit gegeben. Seit langer Zeit wickelt er ſich
durch die Geſchichte der Philoſophie. Man hatte behauptet,
[231] daß er durch Urzeugung aus den Verdauungsſtoffen des
Menſchenleibes (alſo totem Stoff) entſtehe. Je nachdem nun
die materialiſtiſche oder theologiſche Philoſophie ſolche Urzeugung
gebrauchen konnte oder vervehmte, holte man den Bandwurm
als Paradeſtück heran oder prügelte auf ihn ein. Schließlich
hat dann allerdings die wirkliche Sachforſchung den ganzen
bandwürmlichen Urzeugungstraum als Seifenblaſe enthüllt.
Gerade dabei aber iſt ſie dem wirklichen Liebesleben dieſes
lichtfremden Ungetüms in den tiefen Grotten unſeres edeln
Menſchenleibes ernſtlich auf die Spur gekommen und hat eine
Kette von Dingen enträtſelt, die kein kühnſter Philoſoph ſo
erfinden konnte.
Ins Gebiet der wiſſenſchaftlich ſo benamſeten Ammen¬
zeugung führt uns dieſe Liebe im lebendigen Schacht. Du
darfſt aber jetzt nicht an Spreewälder-Ammen mit rotem Rock
denken. Der Zoologe tiſcht dir einmal wieder den denkbar
ſchlechteſten Namen auf, von dem du erſt einen Gedankenfaden,
lang mindeſtens wie ein ausgewachſener Schafbandwurm von
runden ſechzig Metern Länge, fortſpinnen mußt, um auf den
wahren Sachverhalt zu kommen. Schließlich aber findeſt du
wenigſtens dahinter etwas, das die Mühe lohnt und von dem
du auch begreifen wirſt, daß es nicht ſo leicht iſt, es mit
irgend einem guten, wirklich begriffsverankerten Namen zu
benennen.
Die Geſchichte beginnt ziemlich ſchlicht, um nachher in
Verwickelungen zu geraten, die noch über die Liebeslabyrinthe
in Arioſts Raſendem Roland gehen, von denen man wohl
geſagt hat, ſie ſeien endlos wie die Bandwürmer — ohne daß
man bedachte, welch köſtliches Zaubermärchen in Meiſter
Ludovicos Sinne erſt die erotiſche Schickſalsfahrt des Band¬
wurms ſelber abgegeben hätte.
In der Tiefe deines Leibes, nehmen wir an, ruht ver¬
gnüglich der Bandwurm. Wir müſſen die Sache ja jetzt von
ſeinem Standpunkt anſehen, und ſo ſetze ich von dir voraus,
[232] daß du nicht ein Menſch biſt, der im Bandwurmſinne „ſeinen
Beruf verfehlt“ hat, ſondern du ſollſt normal ſein und ihn haben.
Du haſt auch dann noch die Wahl zwiſchen dem ſogenannten
bewaffneten Bandwurm, der durchſchnittlich nicht über dreiein¬
halb Meter lang wird, dem unbewaffneten, der es auf acht
Meter bringt, und dem breiten, der bis an die neune kommt.
Alle dreie haben ihr Liebesleben, nur mit gewiſſen Varianten.
Entſchlage dich auf einen Moment ganz des Begriffes der Un¬
ſchönheit, der Widerlichkeit. Schließlich iſt doch dein eigener
Körper in ſeinen intimen Lebensprozeſſen nichts Unappetitliches.
Wie die Wurſt, die ſich ſelbſt verſchlingt, mußt du in
dieſen Körper dich aber einmal hineindenken. In deinen Darm
und in dieſen Darm, während er verdaut. Du ſtellſt dir, wie
wir es früher mit der Gebärmutter gemacht haben, das Ganze
am beſten ins Ungeheuerliche vergrößert vor und läßt es vom
blauen Schein elektriſchen Lichtes durchſtrömt ſein ...
Schlage die Augen auf. Du wandelſt in einer rieſigen
Galerie, in der es von intenſiver Arbeit ſtrotzt. Eine chemiſche
Fabrik größten Stiles umgibt dich. Laboratorien, wo Stoffe
verwandelt werden, wo es rauſcht und dröhnt und ſich ergießt,
ſich formt und verſchiebt. Pumpwerke, wo koſtbare Flüſſig¬
keiten aufgeſaugt, fortgeleitet, in den ungeheuren ſtrömenden
Kreislauf anderer Maſchinenbetriebe übergeleitet werden. Aus
einer weiten Halle (dem Magen) kommen die betreffenden
Chemikalien, ſchon zum Betriebe mehr oder minder verarbeitet,
ſtoßweiſe wie durch einen Etagenaufzug herab. Alsbald faßt
ſie das große Werk mit ſeinen Retorten und Pumpen, ſondert,
wandelt und leitet ſie. Ein Reſt wird als unbrauchbar ab¬
geſchieden und in einen tiefſten Schacht wüſt hinabgeſpült.
Das übrige aber wird ſo lange deſtilliert und umgeformt, bis
es als reinſter Extrakt durch zahlreiche, äußerſt kunſtvolle
Saugapparate in eine Art Oberleitung des ganzen Betriebes
eingeführt iſt, in deren weitverzweigtem Rührenſyſtem eine
prachtvolle rote Flüſſigkeit nach feſtem Rhythmus zirkuliert.
[233]
Dieſe Flüſſigkeit iſt dein Blut. Durch die chemiſche und
mechaniſche Arbeit im Laboratorium des Darmes wird die
ſchon im Mund und Magen wie auf Vorſtationen zurecht ge¬
machte und zugeleitete Nahrung in reinen Nährextrakt um¬
deſtilliert. Dieſer Extrakt wird dann in den Blutkreislauf ein¬
geführt, womit ſeine eigentliche Beſtimmung als Heizmittel
und Betriebskraft eines noch viel umfaſſenderen Maſchinen¬
ſyſtems, als es der Darm ſelber darſtellt, erfüllt iſt. Das
Wunderbarſte iſt, wie dieſer ganze komplizierte Fabrikbetrieb
anſcheinend rein automatiſch funktioniert: er bedarf nicht einmal
des Lichtes, im tiefen Dunkel arbeiten ſeine Retorten, ſaugen
ſeine Pumpen, löſen, ſcheiden, reinigen ſich die Stoffe, bis
das rohe Chaos geläutert im roten Strom von dannen fließt.
Ein Schauer des Erhabenen ohne gleichen müßte den Beſucher
überkommen, der durch das alles wandelte wie ein Menſch durch
ein wirkliches Laboratorium, eine prachtvoll organiſierte Fabrik,
in der alle Automatenideale der Zukunft erfüllt wären.
Nun aber: in dieſes Prachtgetriebe hinein hat ſich für
unſern Fall jetzt der Bandwurm eingeſchmuggelt.
Der große Betrieb in der Halle da, mit ſeiner koloſſalen
Umwandlungsarbeit für die Nährzwecke einer großartigen
Maſchinenanlage, iſt ihm vollſtändig gleichgültig. Er befindet
ſich in der Lage eines kleinen Fabrikanten, dem es gelungen
iſt, durch raffinierteſte Freibeuterei in unbewachter Stunde ſeine
eigene winzige Maſchine mit ihren Privatzwecken an einen
großen Motor ſo anzuſchließen, daß ihm einfach Kraft von
drüben zufließt, ohne daß er ſelber zu heizen und durch koſt¬
bare Werke Kraft zu erzeugen braucht; ein Recht hat er nicht,
aber die Gelegenheit gab ſich: ſo macht er's einfach und lacht ſich
dazu ins Fäuſtchen. Ganz ſo der Bandwurm in deinem Darm.
Als Tier von einer gewiſſen Höhe der Entwickelung, als
„Wurm“, hat er ſeinen eigenen Leibesmechanismus. Auch er
braucht zur Lebens-Heizung gewiſſe Nährſtoffe, die von Rechts¬
wegen in ihm ſelber durch einen Mund aufgenommen und
[234] einen Darm verarbeitet und als Extrakt dem ganzen Orga¬
nismus als Kraftquelle einverleibt werden ſollten. Indeſſen
wozu die Eigenarbeit! Während im Großbetriebe des Menſchen¬
darms die Retorten kochen, die Pumpen ſich regen und der edle
Nährſaft aus dem Deſtillationsapparat quillt, liegt unverſehens
in der Dunkelheit der Bandwurm in einer Ecke des Fabrik¬
raums, hat ganz im ſtillen ſeinen Schwungriemen oder Lei¬
tungsdraht an den koloſſalen Automatenbetrieb angelenkt und
zieht die pure, abgeklärte Nährkraft in dicken Zügen einfach
zu ſich herüber, als ſei er ſelbſt ein Blutreſervoir des großen
Betriebes, in dem Bedarf iſt. Spielend hat dieſer ſchlaue
Kunde unter dem Tiſch das große ſoziale Problem gelöſt:
wie der Kleinbetrieb ſich neben dem zermalmenden Großbetriebe
halten ſoll — indem er ſich einfach in den Großbetrieb ein¬
geſchmuggelt hat, wie ein Organ von ſeinem Einkommen mit¬
zehrt und doch dabei unentwegt er ſelbſt mit kleinem Eigen¬
betrieb bleibt.
Sein Sitz im innerſten Heiligtum der fremden Fabrik
ermöglicht ihm den Verzicht auf die ſonſt wichtigſten Dinge.
Er braucht kein offenes Ladenlokal mehr, das ihn mit der
Außenwelt und ihrer Einfuhr in ſtändiger Berührung hält:
er braucht keinen Mund, der Nahrung zunächſt grob aufnimmt,
und hat auch thatſächlich keinen mehr. Er braucht keinen
eigenen Magen und Darm: der Nährſaft geht ihm ja unmittel¬
bar zu, indem der Menſchenmagen und Menſchendarm die Um¬
wandlung der rohen Nahrung in ſolchen Saft ſchon für ihn
leiſten. Mundlos und magenlos, wie er iſt, ſchwitzt er die
fremde menſchliche Nährflüſſigkeit einfach direkt mit der ganzen
Körperoberfläche in ſich hinein. Ein Idealtypus arbeitsfreier
Schlemmerei, pfeift er auf den Satz, daß wer nicht arbeitet,
auch nicht eſſen ſoll, und wird fett in ſeiner hingeräkelten
Faulheit inmitten des intenſivſten Arbeitsbetriebes. Und, dunkel
und verborgen, wie dieſe inneren Hallen der großen Menſchen¬
fabrik ſind, bleibt er in zahlloſen Fällen dauernd unbemerkt,
[235] und die Leiter der Fabrik droben im Gehirn verzeichnen bloß
gelegentlich ein unbegreifliches Defizit im Kontoausgleich von
Kraftzufuhr und wirklichem Gewinn an Blutkraft: ſie rechnen
den Miteſſer gleichſam in Ziffern heraus, ohne ihn als realen
blinden Paſſagier unter dem Laboratoriumstiſch zu erkennen.
Er aber, randvoll gegeſſen wie er iſt, und höchſt gemütlich in
ſeiner genialen Löſung des ſozialen Problems, aller andern
Sorgen baar, ſchreitet zur Erfüllung des Lebens durch
die — Liebe.
In dir, mein Lieber, denn ob du nun der frömmſte und
keuſcheſte Asket biſt, der für immer der Liebe abgeſchworen
hat: dieſen leichtfertigen Gaſt kannſt du nicht hindern, das
große Geſetz der naiven Natur zu erfüllen inmitten all deiner
Strenge und naturabgewendeten Heiligkeit, und er erfüllt es
in den Tiefen deines Darmes ſogar mit einer beiſpielloſen
Energie — wenn ſchon unter etwas abſonderlichen Voraus¬
ſetzungen.
Du haſt wohl ein ungefähres Bild, wie ein Bandwurm
ausſieht. Zuerſt der ſogenannte Kopf, mit beſonderen Appa¬
raten, Saugnäpfen (die irrtümlich wohl für Augen gehalten
werden) oder Haken, um ſich im Darm feſtzuheften, nach
hinten etwas verſchmälert wie zu einem tragenden Halſe.
Dann die endloſe Kette ſogenannter Glieder, die dem Ganzen
erſt eigentlich das Anſehen eines „Wurmes“ im Laienſinne
geben und einzeln bekanntlich ſich leicht ablöſen und abgehen.
Aber du mußt dir dieſes allgemeine Erinnerungsbild jetzt erſt
etwas zoologiſch genau umdenken.
Was du Kopf und Hals nennſt, iſt zunächſt allein ſchon
der eigentliche in Betracht kommende Bandwurm ſelbſt, ein
echtes Wurmtier aus der Klaſſe der ſogenannten Platt¬
würmer, die im Syſtem ganz außerordentlich viel tiefer noch
ſtehen als jene dir bekannteſten Vertreter des Wurmgeſchlechts:
der Regenwurm und der Blutegel. Ein ſolcher Bandwurm¬
kopf mit ſeinen Saugnäpfen und ſeinem Hals kann in deinem
[236] Darm ohne allen Anhang ſitzen und ſtellt doch bereits ein
echtes, in ſich geſchloſſenes Bandwurm-Individuum dar. Es
hat eine gewiſſe Anlage zu einem Gehirn (allerdings ohne
Augen und Ohren), nährt ſich in der geſchilderten Weiſe vom
Nahrungsextrakt des zwangsweiſen Wirtes, in deſſen Haus es
wohnt, und wäre vollends komplett, wenn es noch eines beſäße:
nämlich Geſchlechtsorgane. Aber davon keine Spur!
Dieſer vergnügte Miteſſer iſt nicht Mann, nicht Weib
und ebenſowenig ein Hermaphrodit, der beides in ſich ver¬
einigte. Und doch: beobachte ihn jetzt. Er hat ſich ſatt ge¬
freſſen und fühlt ſich aufgelegt zur reifſten Handlung. An der
Stelle, wo der ſcheinbare Hals (in Wahrheit das hintere Leibes¬
ende des ganzen Wurms) ſtumpf abbricht, beginnt ihm auf
einmal ein neues, ein junges Geſchöpf hervorzuknoſpen. Es
„knoſpet“, einen beſſeren Ausdruck weiß man auch hier wieder
nicht, da das Junge thatſächlich genau ſo entſteht, wie eine
Knoſpe an einer Pflanze: es wächſt einfach aus dem hinteren
Leibesſtamm des alten Tieres ohne beſonderen Zeugungsakt
hervor. Und wie eine Knoſpe löſt es ſich zunächſt noch gar
nicht von dem Eltertiere ab. Es bleibt daran hängen, ſo
daß es ausſieht, als ſei dem Kopfwurm jetzt bloß ein weiteres
Wurmglied nach hinten gewachſen.
Der Zuſammenhang reißt ſelbſt dann noch nicht, wenn ſich
aus dem älteren Wurm eine zweite Wurmknoſpe löſt und
zwiſchen den erſten Sprößling und den Alten ſchiebt. Die
beiden Knoſpen, durch oberflächlichen Einſchnitt zwar als „zwei“
markiert, aber nicht wirklich getrennt, ſchmiegen ſich jetzt hinter¬
einander an ihren Erzeuger wie Anfangsglieder einer Kette.
Nicht lange und die Kette wächſt abermals. Die Liebes¬
energie des urſprünglichen Bandwurms erweiſt ſich auf die
Dauer und bei guter Nahrung als geradezu unerſchöpflich:
Knoſpe um Knoſpe treibt er hinten aus ſich heraus, Glied um
Glied ſchiebt ſich in die Kette, bis das zuerſt geſproßte junge
Bandwurmkind durch eine ſchier endloſe Reihe nachgeborener
[237] Geſchwiſter vom Elterwurm getrennt oder (was hier dasſelbe
ſagt) mit ihm verknüpft erſcheint. Statt eines Wurmindivi¬
duums beherbergt die chemiſche Fabrik deines Darmes fortan
eine ganze Familie, die in dichtgedrängter Folge ſchließlich
jenes koloſſale Gebilde formt, das, als Ganzes genommen, der
Laie erſt für den eigentlichen „Bandwurm“ hält, weil es eben
als Ganzes für den oberflächlichen Blick erſt recht jetzt wie ein
Rieſenwurm mit Kopf und Ringelgliedern ausſchaut. Das
Intereſſanteſte aber iſt folgendes.
Die Wurmjungen, die da durch Knoſpung entſtanden ſind,
gleichen nicht völlig ihrem Erzeuger. Sie haben auch ihre
Nerven und gewiſſe Reſte von Organen, ſie ſaugen Nährſaft
in ſich ein, kurz ſie ſind regelrechte Bandwurmjunge. Aber ſie
beſitzen außerdem noch vollkommen ausgebildete Geſchlechts¬
organe und zwar männliche und weibliche in einem und dem¬
ſelben Körper. Jedes Wurmjunge erzeugt in ſich Samentierchen,
die in einem vorſtreckbaren Begattungsglied herausbefördert
werden können, und daneben auch einen Eierſtock mit einer
Scheide, in der ſich die Eier vordrängen. Und während der
alte Bandwurm noch emſig fortfährt ſeine Liebe durch Knoſpen¬
treiben zu bewähren, regt ſich in dieſen geknoſpeten Bandwurm¬
jungen alsbald auch ſchon dieſelbe Liebe, bloß mit dem Unter¬
ſchied, daß hier nicht Knoſperei getrieben, ſondern der echte
tieriſche Weg der geſchlechtlichen Zeugung eingeſchlagen wird.
Die Bandwurmglieder, jedes zum anderen Mann und Weib in
einer Perſon, begatten ſich, eng verkettet wie ſie da im Menſchen¬
darm liegen, gegenſeitig Paar zu Paar übers Kreuz, indem
jedes dem andern Samen zur Befruchtung ſeiner Eier zuſteckt
und zugleich Eier für den Samen des anderen zur Verfügung
ſtellt. Selbſtbefruchtung ſcheint auch hier nur der Ausnahme¬
fall zu ſein, wie überall bei hermaphroditiſchen Verhältniſſen.
Alsbald nach vollzogener Befruchtung der Eier trocknen
die Samen ein, die Eier aber pflegen ſich mit einer feſten
Schale zu umgeben, in der ſich meiſtens ſogleich und noch im
[238] Mutterleibe ein junger Enkelbandwurm als Embryo entwickelt.
Die Zahl der Eier, die bei dieſen Liebesakten der geknoſpeten
Bandwurmjungen zu ſtande kommen, iſt ungeheuerlich. Der
ſogenannte bewaffnete (mit einem Hakenkranz am Kopf an¬
geklammerte) Bandwurm deines Leibes pflegt durch Knoſpung
bis zu tauſend und mehr junge, doppelgeſchlechtige Bandwürmer
als Kette hinter ſich her zu erzeugen. Jedes dieſer lieben
jungen Bandwürmlein erzeugt in ſich aber wieder an die
fünfzigtauſend regelrechte befruchtete Eier: das ergiebt rund
fünfzig Millionen Enkel im ganzen.
Mit der Fertigſtellung reifer Eier iſt das weſentliche
Lebenswerk der zweiten Bandwurmgeneration gethan. Unmög¬
lich kann die ganze Kette mit tauſend Gliedern dauernd im
lebendigen Menſchen feſtwurzeln: wenn auch der Kopf vermöge
ſeiner Haken und Saugnäpfe zäh verklammert bleibt und unter
Umſtänden zwölf Jahre ſaugend und knoſpentreibend in ſeinem
Verſteck ſich hält, ſo reißen doch die äußerſten Kettenpoſten
nach und nach immerzu ab und verſchwinden durch die Ver¬
ſenkung, in der die große chemiſche Fabrik ihre überſchüſſigen,
unverwertbaren Reſte ableitet. Vielfach ſind ſie dabei noch dick
gefüllt mit reifen Eiern, manchmal auch bereits leer, — die
Eier kommen im letzteren Falle natürlich ſelbſtändig ebenſo
ſicher in den Ausführungsgang. Du begreifſt, wo die Ge¬
ſchichte jetzt hinführt ....
Die Bandwurmjungen, losgelöſt von ihrer Familienkette,
fortgeſchwemmt von dem ewig gedeckten Tiſch des großen
Laboratoriums, jäh hinabgeſtürzt in einen grauenhaften Schlund,
erſt innerhalb der Fabrik, dann überhaupt aus dem ganzen
Fabrikgebäude heraus, bewegen ſich wohl noch ein bißchen zuckend
da unten, wo's fürchterlich iſt ..... dann gehen ſie jämmerlich
ein und laſſen als Zeugnis ihrer Exiſtenz einzig die Eier zurück.
[239]
Ein ſolches Ei iſt dauerhafter. Es braucht ja einſtweilen
keine Nahrung, und den zerſetzenden Einflüſſen ſeiner ſchauder¬
voll verweſenden Umgebung widerſteht die harte, chemiſch hier
unangreifbare Schale. Aber was ſoll bei alledem mit ihm
werden? Nun, es wird zunächſt, was mit dem wird, worin
es ſich befindet.
Da giebt es ja verſchiedene Wege des Schickſals. Etliches
wandert aufs freie Feld, in die liebe offene grüne Natur
hinaus. Etliches ſinkt hernieder in den allzerſtreuenden,
läuternden Arm des Waſſers, ſchwimmt in kriſtallgrüne Seen,
in blaue Flüſſe hinaus. Etliches wird von den Schweinen
gefreſſen mit der Naivetät des reinlich Hungernden, dem alles
rein iſt. Etliches natürlich fällt auch auf den nackten Fels,
wo keinem Lebendigen ein Fortkommen ermöglicht iſt. Auf die
drei anderen Eventualitäten aber ſcheint jene dritte Bandwurm¬
generation gleichſam je nach Art eingefuchſt zu ſein. Ein Rind
weidet das Gras ab. Auf einmal iſt ſo ein Ei mit ſeinem
innerlichen Bandwurmembryo riſch verſchluckt in einem Rinder¬
magen. Ein Hecht ſchnappt einen herzhaften Schluck, — und
der Bandwurmembryo, der inzwiſchen ſeine Eiſchale ſogar ſchon
geſprengt und ſich im Waſſer wirbelnd herumgetummelt hat,
ſitzt im Fiſchmagen. Die brave alte Familienſau mürſchelt ihr
Frühſtück — und ein drittes Bandwurmei, das vielleicht noch
nicht aus ſeinem abſterbenden Muttertier heraus iſt, ſinkt ſamt
dieſem, nachdem es eben die Reiſe abwärts durch den Schreckens¬
ſchlund von oben mitgemacht, gleich darauf in eine neue warme
Tiefe: den Schweinemagen.
An allen drei Stellen iſt es aber, als wiſſe der kleine
Embryo ganz genau Beſcheid. Steckt er noch in der Eierſchale,
ſo löſt ſich dieſe jetzt einfach in der Magenſäure und läßt ihn
frei. Mit ſeinen Haken, die er trägt, ſpießt er ſich an die
Magenwand, bohrt ſie durch und wandert in die beſten Muskel¬
fleiſchpartieen. Dort ſetzt er ſich feſt, wirft die Haken ab und
treibt ſich zu einer dicken Blaſe auf. Blaſenwurm oder Finne
[240] nennt ihn jetzt der Laie, wenn er ihm begegnet, ohne zu wiſſen,
daß er einen verkappten Bandwurm vor ſich hat.
Die Finne ſcheint zur Unthätigkeit verdammt. Durch
eigene Arbeit aus ihrem Wirte heraus kann ſie nicht mehr.
Geſchlechtsteile beſitzt ſie nicht, ſo daß ſie nach dieſer Richtung
ſich ebenſowenig bethätigen kann. Aber nach einer Weile zeigt
ſich doch ein geheimes Leben in ihr.
Wie aus dem Menſchenbandwurm zu Anfang unſeres
Liebesromans die erſte Generation von Bandwurmkindern durch
Knoſpung pflanzenartig entſprang, ſo wächſt im Innern der
Finne, zapfenartig in die Finnenblaſe hineingeſpitzt, ein Köpfchen
mit zugehörigem Hälschen hervor, das jetzt nichts Geringeres
darſtellt als einen urſprünglichen Kopfbandwurm, wie du ihm
oben in deinem eigenen Menſchendarm begegnet biſt. Bei
manchen Bandwurmarten bleibt es nicht bei dem einen Band¬
wurmkopf in der Finne, — es wachſen nach und nach mehrere
aus ihr durch Knoſpung heran, entweder unmittelbar als
Innenzapfen der einen Finnenblaſe, oder ſo, daß die Finne
erſt aus ſich durch Knoſpung neue Tochterfinnen hervorgehen
läßt, deren dann jede ihren Kopfbandwurm wieder in ſich
knoſpen läßt. Aber halten wir uns an den einfachſten Fall,
mit einem Kopf in der Blaſe.
Die Situation iſt ſchon ſo ſeltſam genug. Die Finne
ſteckt weltabgeſchloſſen im Muskelfleiſch eines Schweines, Rindes
oder Hechtes. Und in dieſer Finne ſteckt, als Knoſpenkind
einſtweilen noch feſt an ihr hängend, der Bandwurm in der
Form, die ſelbſtändig nur im Darm des Menſchen gedeihen
und dort erſt das Bandwurmgeſchlecht abermals fortſetzen kann.
Wie ſoll da Rat werden? Finne und Bandwurmkopf hoffen
und harren. Und eine Stunde ſchlägt, da werden Rind und
Schwein geſchlachtet und hängen in ſchönen muskulöſen Hinter¬
vierteln ſamt Finnenblaſe und Bandwurmkopf in der Metzgerei.
Und eine Stunde ſchlägt, da geht der Hecht ins Netz. Jetzt
kommt die Schickſalswende.
[241]
Ob du nun als armer Dichter auf der Dachkammer dein
Genie mit billigſter Zwiebelleberwurſt heizeſt, oder ob du ſtreng
das Schwein verſchmähſt, oder ob du in frommem Frieden
deinen Freitagsfiſch ſchwimmen läßt: du ißt, freuſt dich — und
haſt den Bandwurm. Die Finne, winzig wie ſie iſt, wird
mit dem Fleiſch verſchluckt und gerät in den Magen. Sie ſelbſt
iſt hier am irdiſchen Ziel, der Magenſaft zerſtört die Blaſe, er
„verdaut“ ſie, wie er das Fleiſch, in dem ſie kam, zur Ver¬
dauung führt. Aber wie das hartſchalige Ei einſt ſich inmitten
der wildeſten chemiſchen Angriffe, denen die Erzeuger erlagen,
unentwegt hielt, ſo hält ſich jetzt jenes Bandwurmköpfchen, das
aus der Finne hervorgeknoſpet iſt und ſich im Magen des
Menſchen alsbald ganz aus ihr herausgearbeitet hat. Es dringt,
nicht als verarbeitete Menſchennahrung, ſondern als fröhlicher
Herr der Situation vom Magen aus in den Darm ein, und
nun ..... du biſt wieder beim Anfang. Saugender Kopf¬
bandwurm, Knoſpung, Begattung der geknoſpeten Geſchlechts¬
bandwürmer, — fünfzig Millionen Eier im armen Dichter
und ſo weiter.
Laß dich durch die Zahl nicht zu ſehr erſchrecken. Es
ſcheint nicht, daß die Bandwürmer im Ganzen zunehmen. Jeder
Bandwurm erzeugt alſo praktiſch nur mindeſtens einen neuen.
Von fünfzig Millionen Eiern pflegt nur je eines über die ganze
verwickelte Brücke der tieriſchen Finne hinweg wieder in einen
Menſchen zu gelangen, was bei der Raffiniertheit eben dieſer
Brücke im Grunde auch kein Wunder iſt. Aber überdenke jetzt
noch einmal den ganzen Fall.
Der Liebesroman des Bandwurms geht offenklar über nicht
weniger als vier Generationen. Echte Geſchlechtsliebe mit
Samen, Eiern und Begattung kennzeichnet die erſte Generation:
die der kettenartig vereinten Bandwurmjungen im Menſchendarm.
16[242] Ihre regelrecht befruchteten Eier wachſen zur Finne aus.
Aus der Finne knoſpet der Kopfbandwurm.
Aus dem Kopfbandwurm aber knoſpen wieder die zwei¬
geſchlechtigen Kettenjungen.
Denke dir's menſchlich. Du zeugſt mit deiner Frau regel¬
recht einen Jungen. Er legt ſich zuerſt ganz menſchlich an,
wie er aber groß wird, ſiehſt du, daß er ganz wunderlich ver¬
ſchieden von dir ausſieht und auch ganz anders leben will als
du. Du ſchauſt ihm noch kopfſchüttelnd zu, da wächſt ihm aus
der Naſe ein neuer Junge, ihm ſelbſt wiederum ganz unähnlich,
dagegen dir etwas ähnlicher, wenn ſchon gewiß nicht gleich.
Du folgſt dem Enkel mit neuem Intereſſe: da wächſt ihm aus
der Schulter ſchon wieder ein dritter Junge, der jetzt endlich
dir zum Verwechſeln gleich iſt, auch ganz wie du ſich ein Weib
ſucht und ſtatt der bedenklichen Naſen- und Schulterproduktion
wieder den altbewährten Liebespfad, den du ſelbſt gewandelt
biſt, einſchlägt.
Du merkſt die Ähnlichkeit mit der Geſchichte der Meduſe.
Aber der Hergang iſt diesmal doch noch verwickelter. Der
Zoologe hat ein Wort finden müſſen, um in das Wirrſal
Licht zu bringen. Er hat eingeſehen — und dir ſelbſt, wenn
dir's ſo paſſierte, ginge es nicht anders, daß die alte kurze
Reihenfolge: Vater — Sohn — Enkel — Urenkel u. ſ. w.,
hier nicht genügt. In unſerem Bilde hieß es etwa: Vater —
unähnlicher Sohn — Naſenjunge — Schulterjunge = ähnlicher
Sohn. Der Zoologe ſetzt beim Bandwurm das Wort „Amme“
ein. Er zählt: echter Bandwurmvater (das Kettenglied im
Menſchendarm) — Großamme (die Finne) — Amme (der Kopf¬
bandwurm im Menſchendarm) — echtes Bandwurmkind (das
aus dem Kopfbandwurm geknoſpete neue Kettenjunge).
Du ſiehſt: dieſer Liebesroman iſt niemals in derſelben
Generation damit zum guten Ende zu bringen, daß ſie „ſich
kriegen“. Er muß, um dahin zu kommen, notwendig erſt über
mehrere Generationen fortſpielen, und, ſo wahnſinnig es klingt:
[243] ehe der Bandwurm einmal zum wahren geſchlechtlichen Liebes¬
ziel kommt, muß er mindeſtens einmal zuvor ſterben (als Finne)
und zweimal (als Finne wie als Kopfbandwurm) ein lebens¬
längliches Cölibat durchleiden.
Dir ſchwindelt ..... aber laß dich noch auf Eins auf¬
merkſam machen. Beachte genau, wie in dieſem Roman zwei¬
mal der Fall eintritt, daß das eine Individuum ſterben
muß, damit das folgende lebe. Das Kettenglied — zweifel¬
los in vieler Hinſicht die oberſte Stufe der ganzen Folge als
die einzige wirklich geſchlechtlich begabte, begattete Form —
muß den lieben warmen Nährdarm, wo das Manna in Geſtalt
ſchon verarbeiteter menſchlicher Nährſäfte von allen Seiten quillt,
roh verlaſſen, muß in die Verſenkung erſt des menſchlichen
Ausfuhrganges, dann des ſchaurigen Verweſungslaboratoriums
außerhalb des Menſchenleibes hinabſtürzen und muß dort hoff¬
nungslos der Zerſetzung erliegen: damit das wohl verpanzerte
Ei den Weg des Heils einſchlage gen Rind, Schwein oder Hecht.
Abermals aber die Finne muß aus Rind, Schwein und Hecht
heraus in den Menſchenmagen, muß dort elend an der Magen¬
ſäure ſterben, auf daß der Kopfbandwurm an die Stätte ſeiner
Beſtimmung, in den Menſchendarm, gelange.
Eine Generation freilich lebt und lebt fort trotz und jen¬
ſeits aller Nachkommenſchaft: der Kopfbandwurm. Er ſitzt an
der Quelle fünf, zehn, in gewiſſen Fällen zwanzig Jahre, läßt
die Generationen hinter ſich knoſpen und knoſpen, unbekümmert,
ein Patriarch, den der Tod vergeſſen zu haben ſcheint. Auf
ihn trifft Buſch's Wort: er „hat alles hinter ſich und iſt
gottlob recht tugendlich“. Erſt wenn ſein Menſch ſtirbt,
rafft ihn der Hungertod. Und doch iſt gerade er nur ein
Geſchöpf zweiten Grades, eine „Amme“, der die hohe Liebe
verſchloſſen bleibt, ohne du und du ....
— 243 —16*[244]
Nachdem du die Ammenzeugung jetzt an einem großen Bei¬
ſpiel kennen gelernt haſt, kann ich dir zu dem letzten Gedanken
noch einige Liebesgeſchichtchen beifügen, die das Verhältnis von
Erzeuger und Kind eigentlich noch glatter ausdrücken.
Wir bleiben bei den Würmern.
Ich kann dir hier nicht das ganze Syſtem der Würmer
aufrollen. Das iſt eine verzweifelt ſchwierige Sache. Die
Zoologen liegen ſich ſelbſt darüber genug in den Haaren, und
ſchon vor Zeiten hat der dicke Karl Vogt von Genf geſagt, es
ſei faſt das Beſte, die ganze Syſtematik hier an den Nagel zu
hängen und ſich auf den Vers von Buſch zu einigen: „Des
Wurmes Länge iſt verſchieden.“ Alſo nur zwei Worte zur
notdürftigſten Verſtändigung. Wirf dir die Würmer im Kopf
einfach auf drei Haufen.
Der eine ſeien die Plattwürmer. Hierher gehören die
auch dem Laien bekannten Bandwürmer. Dieſer Haufen Würmer
ſteht im Stammbaum am tiefſten: er hat ſich wahrſcheinlich
unmittelbar aus jenem braven Ur-Bauchtier, der Gaſträa, ent¬
wickelt, von der ich dir vorhin erzählt habe.
Aus den Plattwürmern haben ſich dann geſchichtlich die
eigentlichen oder echten Würmer erſt herausgeſtaltet, ein Rieſen¬
haufen mit mindeſtens fünfzehn Klaſſen und zahlloſen Gruppen¬
namen. Da haſt du Rädertiere, Igelwürmer, Kratzwürmer,
Fadenwürmer, Pfeilwürmer, Moostiere, Armfüßler, Stern¬
[245] würmer, Schnurwürmer, Eichelwürmer und andere mehr. Als
Laie kennſt du, wie ich faſt ſicher glaube, thatſächlich auch aus
dieſem bunten Heer nur eine einzige Gruppe in wirklichen Ver¬
tretern: nämlich einige Fadenwürmer, als da ſind die menſchen¬
freundliche Trichine, den Spulwurm, der auch in deinem Darm
ſchmarotzt, das Eſſigälchen, das ſich in deiner Flaſche vergnügt.
Das ſind alſo ſogenannte echte Würmer.
Und nun ſondere dir noch einen dritten Haufen ab, ſo
haſt du die Ringelwürmer. Eigentlich ſind die ſchon über den
regelrechten Wurmtypus weit hinaus. Du mußt dir einprägen,
daß aus den echten Würmern die ſämtlichen oberſten Tier¬
gruppen: die Muſcheln, Schnecken, Tintenfiſche, Seeſterne, See¬
igel, Krebſe, Spinnen, Inſekten, Fiſche, Amphibien, Reptilien,
Vögel, Säugetiere, Menſchen letztes Endes alle geſchichtlich
herausgewachſen ſind. Dabei hat es natürlich Übergangsgruppen
gegeben, die noch nicht ganz aus dem Wurm heraus waren und
doch auch nicht mehr ganz mit ihm zuſammenfielen. Eine ſolche
Übergangsgruppe ſind nun die Ringelwürmer: ſie ringeln ſich
von den echten Würmern herauf auf die Krebſe und Inſekten
zu. Hierher gehören aber gerade die „Würmer“, die dir am
geläufigſten ſind: der Regenwurm und der Blutegel, und ſo
kannſt du dir alſo jetzt wenigſtens in je einem oder zwei Bei¬
ſpielen alle drei Haupthaufen des Wurmgeſchlechts vergegen¬
wärtigen: das genügt für unſern Zweck.
Nebenbei (zur Warnung) nur noch: eine Unmenge Tiere,
die du „Würmer“ zu nennen pflegſt, all die dicken Geſellen
im faulenden Fleiſch, im „lebendigen“ Limburger Käſe, im
madigen Apfel, ſind überhaupt, zoologiſch geſprochen, keine
Würmer, — es ſind die Maden oder unentwickelten Jugend¬
formen von Inſekten, und wenn du die Käſemade oder Fleiſch¬
made eine Weile beobachteſt, ſo verwandelt ſie ſich dir ſchlie߬
lich in eine echte Fliege, die ein unendlich verwickelteres, höher
organiſiertes Tier iſt als ein echter Wurm.
[246]
Wir bleiben noch einen Moment bei den Plattwürmern,
alſo ganz unten. Seltſame Liebesgeſchichten giebt es da
noch genug.
Da iſt das Doppeltier oder Diplozoon, ein kleines Mon¬
ſtrum, das auf den Kiemen von Karpfen ſchmarotzt. Denke
dir, natürlich ganz im winzigen, zwei Gurken kreuzweiſe mit¬
einander verwachſen. Jede Gurke iſt eigentlich ein Wurm
für ſich. Jeder hat ſich auch vorher eine Weile allein umher¬
getrieben. Damals hatte er noch keine Andeutung von Ge¬
ſchlechtsteilen. Und doch faßte ihn eines Tages ein ſelt¬
ſames Begehren. Er geſellte ſich zu einem zweiten ſeiner Art.
Jeder packte den anderen mit einem kleinen Saugloch ſeines
Bauches bei einem beiderſeitig vorhandenen kleinen Zapfen im
Rücken, und ſiameſiſch-zwillingshaft verſchmolzen ſchienen beide
fortan gewiſſermaßen nur noch ein einziges Tier zu bilden.
Jetzt erſt, als „Doppeltier“, werden ſie geſchlechtsreif, und
zwar jede Hälfte ſowohl männlich wie weiblich: ein Liebes¬
monſtrum, ein erotiſcher Briareus mit im ganzen vier Geſchlechts¬
teilen, die ſich übers Kreuz am Doppelleibe begatten .....
Da iſt ein anderer nah verwandter Plattwurm, der mit
Recht Gynäkophorus oder Weibträger heißt. Er iſt ausnahms¬
weiſe einmal ganz getrennt geſchlechtig, zur Sicherheit bleibt
das Weibchen aber auch hier gleich an dem Männchen hängen
und ſchmiegt ſich dauernd bei dem Beſchützer in eine beſondere
Rinne an deſſen Bauchſeite, ſo daß man faſt ſagen möchte: das
Männchen ſtellt eine Art Känguruh dar, das ſeine eigene Ehe¬
liebſte wie ein Junges im Beutel trägt. Dieſes treue Tier
hängt, ſaugenderweiſe wie alle dieſe Schmarotzerwürmer, mit
Liebhaberei in der Harnblaſe der kleinen Negerknaben und er¬
zeugt hier die böſeſten Blutungen.
[247]
Doch das war, alles noch nicht eigentlich, was ich dir
zum Fall Bandwurm hinzufügen wollte.
Verſetze dich noch einmal in die kunſtvolle chemiſche Fabrik
eines verdauenden Körpers, — diesmal ſoll es beim Schaf ſein.
Eine beſonders wichtige Halle dieſer Fabrik heißt die Leber.
Hier wird ein höchſt köſtlicher Extrakt deſtilliert, den der ganze
Fabrikbetrieb aufs notwendigſte braucht: die Galle. An der
Grenze der betreffenden Halle liegt ein großes Reſervoir für
dieſen Extrakt, die Gallenblaſe, und von der Halle wie von
dieſem Reſervoir führt ein beſonderer Leitungskanal in den
Hauptſaal, wo die Verdauungsapparate arbeiten: der Gallen¬
gang, der im Darm mündet.
Hier, in dieſem bedeutſamen Rohr der Fabrik, hauſt der
Leberegel, ein Plattwurm, der als ſolcher da natürlich ebenſo
ein reiner Freibeuter und unberufener Miteſſer iſt wie der
Bandwurm im Darme ſelbſt.
Der Leberegel iſt in ſeiner Art ſelbſtändiger als der Band¬
wurm: er hat noch ſeinen regelrechten eigenen Mund und Darm.
Gerade darum iſt er der Fabrik, in der er ſich eingeſchmuggelt
hat, aber um ſo gefährlicher, er ſäuft, nicht Galle, ſondern
direkt Leberblut und greift die Kanalwände an. In Scharen
beiſammen am gleichen Ort, läßt er ſchließlich die ganze Fabrik
bankrott werden: die Schafe ſterben an ſogenannter Leberfäule.
Einſtweilen, ſolange der Nährſtoff ihnen noch quillt, freuen
die Leberegelein ſich aber in ihrem Gallenkanal neben der
Tafel auch an der Liebe. Alle ſelber doppelgeſchlechtig, lieben
ſie nach Art der Bandwurmglieder kreuzweiſe und werfen be¬
trächtliche wohl befruchtete Eiermaſſen (Millionen von Einzel¬
eiern) in den großen Darmraum hinab, die mit deſſen Abfällen
ungeſtört ins Freie gelangen.
Das Schaf hat jetzt ſeine Schuldigkeit gethan und kann
gehen. Der Regen ſchwemmt die Wieſe ab, wo jene Fabrikabfälle
ſich zerſtreut haben: die Egeleier gelangen ins Waſſer und aus
der zerſprengten Schale huſcht ein luſtiger kleiner Embryo, ein
[248] Egellärvchen, das mit Hilfe eines dichten Röckchens feiner
Wimperhaare frei im Naß ſich herumwirbelt und ſogar ein
Auge beſitzt, um das Licht der Welt zu genießen. Kurz genug
freilich iſt ſein Freiheitsrauſch. Der flimmernde Pelz verliert
ſich wieder, und wie ein echter Wurm kriecht das Egelchen nach
geringer Burſchenherrlichkeit in den Leib einer jener Teichſchnecken
vom Geſchlechte Limnäa hinein, deren zierliche Gehäuſe allent¬
halben im Schlamm unſerer Gewäſſer ſtecken. Du ahnſt es:
ſie wird, wie es beim Bandwurm geſchah, zur „Finne“. Aber
ſie ſoll doch wieder ins Schaf. Schafe pflegen nicht gerade
Teichmuſcheln zu freſſen. Und überhaupt: die Sache entwickelt
ſich hier noch viel raffinierter.
Im Leibe ſeiner Schnecke angelangt, fühlt unſer Wurm
ſonderbare Dinge im eigenen Körper. Haben ſeine Eltern
früher die chemiſche Fabrik im Schaf bedroht, ſo ſcheint ſich
jetzt in ihm ſelber etwas anzumelden, das wie eine Nemeſis
wirkt. Eigentliche Freuden der Liebe ſind es gewiß nicht, denn
dazu hat er gar keine Organe. Und Freuden ſind es, wie an¬
zunehmen, wohl überhaupt nicht.
In ſeinem Leibe knoſpet es, es wachſen junge Tiere von
ſchlauchartiger Geſtalt, — ſtets mehr und immer mehr. Nicht
lange: und ſie füllen den ganzen Leibesraum des alten
Wurmes aus, die Organe gehen ein, die Haut wird prall ge¬
ſpannt wie eine Blaſe, das ganze Muttertier, dem dieſe
Schreckensbrut erblüht, ſtirbt ab zu einer großen rings ge¬
ſchloſſenen Wurſtpelle, in der in Geſtalt einer Kolonie ein¬
geſchachtelter kleiner Würſte die neue Wurmgeneration einſt¬
weilen wohl verwahrt liegt.
Opfertod, — neues Leben ..... Du erwarteſt, daß die
kleinen Würſte zur rechten Stunde die Pelle ſprengen und
eigenen Lebenszielen zuſtreben werden. Sie ſind ſelber ja nicht
bloß Hülle, ſondern ſcheinen zum individuellen Leben fix und
fertig, mit Mund und Darm, wie die anfänglichen Leberegel im
Gallengang des Schafes ſie hatten. Aber es kommt nicht zum
[249] Auskriechen. Noch liegen die kleinen Egelwürſte reglos in der
großen hohlen Mutterpelle, da gärt es ſchon in den lebendigen,
eben lebensfertigen Würſtlein von neuem Leben: Junge knoſpen
in ihnen ſelbſt, diesmal kleinſte Egel mit einem Ruderſchwänzchen,
die faſt wie Kaulquappen ausſchauen. Und wiederum quellen
dieſe Kleinen dritten Grades auf, bis ihr Mutterwurm tote
Wurſthaut wird, — ſie, die einen vorſtoßbaren Bohrſtachel am
Kopfende führen, ſtechen dann alle Wurſthüllen durch, wimmeln
frei in die große beherbergende Schnecke hinaus und endlich ſogar
aus dieſer hervor. Sie ſchwimmen ins freie Waſſer, wo einſt
ihre Ahne in ihrem Flimmerhaar her kam. Mit dem Waſſer
geht's diesmal weit hinaus, in überſchwemmte Wieſen hinein.
An gutem Fleck bei irgend einer Pflanze wird Halt gemacht.
Das Schwänzchen wird abgeworfen, eine Drüſe des Leibes er¬
zeugt einen zähen Schleim, der trocknend raſch eine Kapſel um
das ganze Ungetümchen bildet. Jetzt heißt's Warten. Die
Kapſel ſchützt ſo gut, wie einſt das Ei die Ahne ſchützte. Über
kurz oder lang, wenn das Glück will, kommt ein Schaf und
frißt die Pflanze ſamt der winzigen Kapſel: die Kapſel ſchmilzt,
der Leberegel kriecht aus dem Magen in den Darm, aus dem
Darm in den Gallengang ..... dreimal Heil, die Urpoſition
iſt erreicht, das Schaf bekommt die Leberfäule und die Liebe im
Gallengang ſchickt Millionen Egeleier neu auf die Wanderſchaft.
Das iſt der Liebesroman des Leberegels. Denke auch ihn
dir raſch noch einmal „menſchlich“ um.
Du nimmſt ein Weib und zeugſt mit ihm ein regelrechtes
Kind, das dir aber ziemlich unähnlich iſt. In einem gewiſſen
Alter ſiehſt du das Kind jählings in bedenkliche Wehen fallen.
Ohne daß es je geliebt hätte, erwachſen ihm innerlich Enkel
in fürchterlicher Zahl, ſie preſſen es ſelber im eigenen Leibe
wider die Wand, bis es nur noch als hohle Haut um die böſe
Brut ſchlottert. In den Enkeln aber wachſen in grauſiger
Steigerung des Dramas ſchon wieder Urenkel und quetſchen
entſprechend die Enkel wieder zu Tode, — bis endlich der
[250] ganze Schreckenspilz platzt und dieſe Urenkel herausſauſen. Sie
wachſen dann zu neuen Menſchen gleich dir auf, die wieder
Weibesliebe mit ihrer Süße finden gleich dir .....
Wie beim Bandwurm haſt du hier die Kette: Geſchlechts¬
egel — Großamme — Amme — echtes Egelkind. Auch hier
kommt zu zweimaligem Lebenscölibat zweimaliger Opfertod,
ehe einmal in der Kette volle Liebe eintritt. Nur ſiehſt
du dieſen Opfertod des elterlichen Individuums nicht mehr
bewirkt bloß durch äußere, den Jungen günſtige Umſtände, wie
Verſenkung in den zerſetzenden Abort oder in die freſſende
Magenſäure: du ſiehſt die Erzeugerin ſelber zur Wurſtpelle
zerquetſcht und ſchließlich wie einen einfachen lebloſen Regen¬
ſchirm aufgeſpannt von der wachſenden Brut des eigenen Leibes
in ſich ſelbſt ..... iſt dir nicht, als ſenke ſich der berühmte
Pelikan aus der treuen chriſtlich-zoologiſchen Legende über dich,
der ſich von ſeinen Kindern das Herzblut ſaugen läßt .....?
Sie gehen ſogar ſo weit, die armen Würmlein, die an der
Mutterbruſt zehren in des Wortes verwegenſter Bedeutung ....
Ich ſagte dir: das mittlere, breiteſte Stockwerk des lieben
Würmergeſchlechts umſchließt neben zahlloſen anderen Gruppen
auch die ſogenannten Fadenwürmer, zu denen die Trichine und
das Eſſigälchen zählen. In der Nähe der Eſſigälchen laß uns
abermals einen Moment zur Ergänzung des Bandwurmbildes
Halt machen.
Wenn du deine Eſſigflaſche oder als berufstreuer Schrift¬
ſteller deinen Kleiſterpott gegen's Licht ſchüttelſt und in der
Trübe die winzigen Hausfreunde wirbeln läßt, die weder Säure
noch Klebe ſcheuen, ſo ahnſt du ſchwerlich, in was für eine
köſtliche Geſellſchaft du da geraten biſt — köſtlich in jenem
[251] guten Sinne der naiven Natur, die unerſchöpflich in ihren
Liebesromanen iſt.
Da haſt du nahebei das Weizenälchen, das als Larve eine
wahre Mumienzähigkeit beſitzt, maßen es jahrelang in trocken
liegenden Weizenkörnern harret, hoffet und überlebet, bis die
Körner endlich ausgeſäet werden und nun das höhere Liebes¬
leben des Aalwürmchens bis in die Ährenknoſpen hinauf ſeine
Scherze treiben darf.
Da iſt die Heterodera, der ſogenannte „Fadenwurm der
Rübenmüdigkeit“, deſſen Entwickelungsroman ſich auf der Spanne
Welt von der Haut bis ins Herzfleiſch und abermals bis auf
die Haut einer Zuckerrübenwurzel abſpielt.
Du, Menſch, lebſt im Kosmos, dein Blick ſucht die fern¬
ſten Sterne, und die ungeheure Erde fängt ſchon an dir zu
klein zu werden. Zu klein iſt ſie längſt für dein Denken. Faſt
zu klein bald aber auch ſchon für eine ſimpele Hochzeitsreiſe.
Hier aber haſt du den Raum einer Zuckerrübe — und auf
einem Bruchteil dieſes Raumes einen ganzen Schickſalsroman,
verwickelt bis aufs äußerſte, luſtjubelnd und in alle bitterſte
Tragik verſenkt, mit Leben, Liebe und Tod, — auf dem Raum
eines Bruchteils einer Rübe.
In geſunder derber Vollkraft wächſt die Rübe im Erden¬
grund. Da bohren ſich winzige Würmchen, noch nicht einen
halben Millimeter lang, tief unten mit ſpitzem Stachel in ihre
feinſten Wurzelenden ein. Langſam ſteigen ſie in die ſaftige Kern¬
maſſe des Wurzelfleiſches auf. Wie das Kind im Pfannkuchen¬
berg des Märchens ſich durchfreſſend, durchqueren ſie dann den
Wurzelleib und finden ſich eines Tages, ein Kolumbus ihres
ganzen Planeten, dich unter der Außenwand, — an der Grenze
einer neuen Welt. Eine letzte Tunnelbohrung — und auch die
Wurzelhaut wäre durchſetzt, die Pforte in die überrübiſche Welt
aufgethan.
Aber gerade jetzt, ſo hart an der Scheide von Rüben¬
diesſeits und Rübenjenſeits, überkommt die Weltfahrer ein
[252] dunkles Gären und Sehnen: noch in der Rübe ſelbſt faßt ſie
der Liebestraum. Bisher hatten ſie nichts, was an Liebe
mahnen konnte: keines war Mann oder Weib, — jeder Anſatz
zu Geſchlechtsteilen fehlte überhaupt. Aber jetzt auf einmal
eine Häutung: und aus dem ſchlichten Würmchen ſcheint ein
ganz neues Geſchöpf zu werden. Dicht unter die äußerſte
Wurzelwand geſchmiegt, ſchwillt jedes winzige lebendige Fädchen
zu einer Geſtalt an, die an eine kleine Flaſche erinnert.
Fläſchchen um Fläſchchen wird eine Weile immer dicker, —
ſchon wölbt ſich die elaſtiſche Wurzelhaut darüber nach außen
vor, als wolle der alte Rübenleib ein Geſchlecht ſeltſamer junger
Rüben vorknoſpend gebären. Und wirklich: ein Teil der Flaſchen
ſchwillt und ſchwillt, bis die Flaſche einer bauchigen Zitrone
gleicht, die Zitrone drängt und drängt, und knacks — die
Pflanzenhaut platzt, die Spitze der Zitrone ſchaut nach außen.
In Wahrheit iſt die vorwitzige Spitze das lebendige Hinterteil
des Wurms. Eine Öffnung zeigt ſich darin. Ein Geſchlechts¬
thor. Ein weibliches. Das Zitronentierchen iſt ganz in der
Stille Weib geworden. Die Hinterecke mit der Geſchlechts¬
pforte frei hinausgedrängt, harrt es jetzt regungslos der Dinge,
die da kommen ſollen.
Und ſie kommen alsbald. Nicht alle Rübenweltfahrer da
drinnen ſind zu weiblichen Zitronen geworden. Ein Teil hat
ſich, nachdem er ſatt gefreſſen die bewußte Flaſchenform erreicht
hatte, aus dieſer ſeiner Flaſchenhaut alsbald ſelber nach unten
wieder herausgezogen wie eine Wurſt, die aus der eigenen
Haut kriecht. Abermals zum dünnen Fadenwürmlein geworden,
iſt jedes dieſer unruhigen Seelchen zugleich mit dieſem Paletot¬
wechſel aber auch „Mann“ geworden, — mit regelrechtem
männlichen Geſchlechtsorgan. Und jetzt, im Beſitz der neuen
Kraft, ſcheint wenigſtens dieſe Partei der alten Rübenwurzel
endgültig überdrüſſig geworden zu ſein: die neugebackenen Herren
durchſtechen für ihren Teil wirklich die Pflanzenhaut, klimmen
außen am Dach ihres Gefängniſſes lang und ſuchen im Banne
[253] der alt geheimnisvollen erotiſchen „Anziehung“ liebend das
ewig Weibliche. Es liegt am Wege: allenthalben ragen ihnen
ja die Zitronenweiblein entgegen. Raſch iſt die Gelegenheit
ausgenutzt.
Ein nur zu flüchtiger Rauſch! „Die Liebe vergeht, die
Frucht muß treiben.“
Kaum ſind ſeine Eier befruchtet und beginnen zu reifen,
ſo hebt im Zitronenweib ein unhemmbarer Schwund aller
inneren Organe an. Die Gebärmutter platzt und wirft die
Eier offen in den Mutterbauch, dafür aber ſchmilzt dieſem der
eigene Darm dahin. Und die Tragödie der Mutterſchaft
ſchreitet ſchnell: noch ſind die Eier nicht zu wirklichen Jungen
geworden, da iſt das ganze Muttertier ſchon nichts anderes
mehr als, eine braune Kapſel, die ſteif und tot in der Wurzel¬
haut ſteckt. Eines Tages fällt dieſe Kapſel wie eine reife
Frucht ganz vom Rübenſtamm ab, — jetzt endlich ſprengen
auch die jungen Würmchen ſie, wimmeln ins ſchwarze Erdreich
hinaus und ſuchen ſich von neuem eine Rübenwurzel. Die
Männchen, aus der nährenden Heimatsrübe verbannt, ſind in¬
zwiſchen ebenfalls längſt verkommen. Und zum Schluß geht
als der Tragödie letzter Teil auch noch die ganze große Rübe
an allgemeiner Wachstumhemmung, an „Rübenmüdigkeit“,
ein, — Weltuntergang.
Eine anderes Kaleidoſkopbild. Die Sphärularia bombi.
Mit einer Bombe hat ſie nichts zu thun, Bombus heißt die
Hummel. Alſo das Hummelälchen.
Kennſt du das Volksmärchen vom Breitopf, der verzaubert
war, daß er immer weiter kochen ſollte bis auf ein hemmendes
Zauberwort? Das Wort war vergeſſen, und nun kochte er fort
und fort, bis das ganze Dorf im ſüßen Reisbrei verſunken
lag. Die Schreckensgeſchichte, die ich dir zu erzählen habe,
[254] erinnert daran, iſt aber noch viel ärger. Der Anfang freilich
klingt ſanft wie ein Lenzidyll.
Die jungen Hummelälchen hauſen fern von Hummeln,
Gut, Böſe und Reisbrei in der Erde, werden dort reif und
lieben ſich untereinander. Die Begattung iſt vollzogen, das
Weibchen hat ſeine befruchten Eier im Leibe und das Männchen
ſtirbt. Da beginnt die tollſte Jules Verniade der Würmerwelt
ganz nachträglich noch.
Das Weib mitſamt ſeinen Eiern ſchleicht ſich meuchlings
in erdbewohnende, überwinternde Hummelweiber ein und ſetzt
ſich tief drinnen an der Darmwand der Frau Hummeln feſt.
Es wird ſeine Eier da drinnen ablegen, denkſt du. Und zu
denken ſcheint es ſelber ſo. Nachdem es ſich nämlich behaglich im
neuen Aſyl eingerichtet, beginnt es ganz gelaſſen ſeine Scheide
durch die weibliche Geſchlechtsöffnung vorzuſtülpen, — zweifellos
in der guten Abſicht, auf dieſem einfachſten Wege ſeine lebendige
Fracht ſchnellmöglichſt nach außen hinaus zu praktizieren. Aber
was iſt das?
Anſtatt daß die junge Brut austritt und der Mutter
Ruhe giebt, iſt es, als werde die vorgeſtülpte Scheide ſelber
lebendig.
Sie reckt ſich, wächſt, ſchwillt, bläht ſich wie ein entfeſſelter
Ballon aus der Pforte heraus. Der Breitopf im Märchen!
Jetzt iſt das entſetzliche Ding ſchon ſo groß wie die ganze ge¬
quälte Mutter, jetzt iſt es größer, jetzt doppelt ſo groß, drei¬
fach, zehnfach, — hundertfach — ein Rieſenſchlauch von un¬
geheuerlichſter Dimenſion — und noch wächſt es. Wie das
Dorf im Brei, ſo ſchmilzt hinter ihm der Mutterleib zu einem
bloßen Anhängſel zuſammen, — gleich iſt es tauſendmal ſo
groß und noch immer kein Ende. Bis übers Fünfzehntauſend¬
fache ſchwillt der Maſſenunterſchied zum Schluß .....
Denke dir's menſchlich und rein in die Länge: ein Gebär¬
muttervorfall, der meterlang, zehnmeterlang, hundertmeterlang
herausſchwillt — bis endlich ein Kilometer davon überſpannt
[255] iſt. Du erinnerſt dich der Geſchichte aus Jean Paul: von dem
Herrn, deſſen Naſe ſo lang war, daß ſie eine Meile Vorſprung
hatte, zwei Stunden vor ihm ans Stadtthor kam und arretiert
wurde, weil ſie keinen Paß bei ſich trug.
Kleiner und kleiner verliert ſich hinten die Mutter, zu¬
ſammenbrechend unter der Laſt und Schauerlichkeit des Phä¬
nomens. Noch ein Weilchen — und ſie iſt als mikroſkopiſch
winziges zweckloſes Reſtſchwänzchen von ihrem eigenen raſend
gewordenen Organ gänzlich fortgetrocknet — und in die Hummel
fällt gleich einer reifen Erbſenſchote die koloſſale Scheide, zum
Berſten angefüllt mit einer friſch-fromm-fröhlichen Hecke eben
ausgekrochener junger Sphärularia-Älchen .....
Doch — das alles wieder nebenbei. Der eigentlich
wichtige Fall, weshalb ich dich in dieſe Geſellſchaft führe,
trifft den Fadenwurm vom Geſchlecht jener Älchen, den der
Zoologe die Rhabditis getauft hat (Rhabdos heißt griechiſch
Stab), mit engerem Namen die ſchwarzaderige (nigrovenoſa)
Rhabditis.
Rhabditis-Mann und Rhabditis-Weib, ſtreng getrennt ge¬
ſchlechtig zunächſt, tauchen im Schlamm in winzigſter Geſtalt
auf, das Männlein ein halbes, das Weiblein faſt ein ganzes
Millimeter lang. Sie finden ſich ſchnell und lieben ſchnell,
alles im weichen Schlamm als freie, der Schmarotzerei voll¬
kommen abgeneigte Weltbürger.
Bei dieſem ganzen Volk der Fadenwürmer iſt geſorgt für
einen ganz ordentlichen Begattungsakt. Das größere Weibchen
hat ſeine Geſchlechtsöffnung in oder nahe an der Körpermitte,
das kleine Männchen trägt ſie am Leibesende vereinigt mit der
Ausgangspforte des Darms. Zum Geſchlechtsakt wird aber
nicht bloß die männliche Öffnung an die weibliche gepreßt,
[256] ſondern es finden ſich durchweg noch höchſt wirkſame beſondere
Begattungsapparate. Meiſt hat das Männlein an ſeiner Darm¬
pforte ein paar handfeſte Stacheln, die für gewöhnlich in einer
beſonderen Taſche liegen und nur zum Zweck hervorgeſtoßen
werden. Bisweilen erweitert ſich das ganze Leibesende auch
noch zu einer kleinen Glocke, die das Weibchen ſaugend umfaßt.
Kaum aber jetzt, daß bei unſerm Stabälchen die Flitter¬
ſtunde mit ihrem ganzen Apparat vorüber iſt, ſo beginnen im
Leibe des liebeſatten Weibchens Zeichen und Wunder der be¬
denklichſten Art. Wie alle ihresgleichen hat auch Frau Rhabditis
im Bauche einen regelrechten Fruchthalter, der nunmehr, nach
beendetem Akt, befruchtete Eier umſchließt. Nicht lange — und
die Eier ſind zu Jungen geworden, allerwinzigſten Rhabditis¬
lein, die ganz gut ſchon frei in die große Schlammſtube
hinausſpazieren könnten. Nichts aber davon. Sie ſind ihrer
nicht viele, höchſtens vier, oft iſt ſogar nur ein einziges da.
Aber ſie recken ſich, rollen ſich auf — ratſch, reißt die Wand
des Fruchthalters innen im Muttertier auseinander und jetzt
wird's ungemütlich.
Das heißt für die Mutter. Die kleinen Wurmpelikane
beginnen zu freſſen, zu freſſen im buchſtäblichen Sinne an den
Eingeweiden ihrer Mutter ſelbſt. Und ſie ruhen nicht eher,
als bis Mutter Rhabditis bis auf die Haut ausgefreſſen iſt
und nur noch als leere, tote Hülle um ihre mörderiſchen
Kinder hängt .....
Nach einer Weile wird dann auch die mütterliche Haut
geſprengt und die Rhabditisbrut ſchlängelt ſich in den Schlamm.
Noch geſchlechtslos, gelangt ſie aus ihm in die Lunge eines
Froſches. Schmarotzertiere von ſeltſam verwandelter Geſtalt
geworden, hauſen die Würmer hier längere Zeit und ent¬
wickeln jedes für ſich jetzt beide Geſchlechtsteile am gleichen
Leibe, ganz im Gegenſatz zu den getrenntgeſchlechtigen Eltern.
Und erſt ihre, aus gegenſeitiger Doppelbegattung entſprießenden
Jungen wandern wieder durch den Darm aus dem Froſche
[257] aus, kehren in den Schlamm zurück und werden zu getrennt¬
geſchlechtigen Rhabditispärchen von der urſprünglichen Art.
Vielleicht prägſt du dir dieſen Fall Rhabditis noch aus
beſonderen Gründen ein. Wenn fromme Seelen dir etwas
allzu eifrig und etwas allzu leichtſinnig die Natur auf der
Liebe aufbauen wollen. Wenn man dir predigt, jedes kleinſte
Würmlein preiſe die Liebe deſſen, der es gemacht. Dann mag
die arme kleine Rhabditis im Schlammgrunde dir als Viſion
auftauchen, wie ſie ſich krümmt als Kannibalenmahlzeit ihrer
eigenen Kinder ..... Ich habe dir früher einmal angedeutet,
daß auch ich im innerſten Herzen daran glaube, daß in einem
ganz beſtimmten Sinne die „Liebe“ auch uns wieder in den
Kern der Welt rücken könnte. Daß wir eines Tages wieder
begreifen könnten, wie dieſes Wort doch auch ganz realiſtiſch
gedacht unſer tiefſtes Symbol wäre: das Symbol der Über¬
windung aller ſchmerzenden Trennung, aller bangen Iſolierung
des Individuums, das Symbol des lächelnden Todes, der kein
wirklicher Tod iſt, ſondern nur eine Entwickelung ..... wir
ahnen das heute noch mehr, als wir es feſt beſitzen, aber es
mag kommen, gewiß. Unendlich weit wird aber ſolche Neu¬
geburt aus der keimenden Seele heraus über den alten Ge¬
ſpenſtern ſtehen, die heute noch wie Sand am Meere zwiſchen
uns ſind. Auch der Glaube, daß die Natur im groben Sinne
von Beginn an auf die Feinheiten menſchlicher Höhenliebe,
menſchlichen Allmitleids begründet und danach geordnet ſei, iſt
nichts anderes als ein ſolches Geſpenſt. Ein einziger Blut¬
zeuge wie die Rhabditis — und es fällt. Die Philoſophie
des winzigen Wurmes ſchlägt alle klügelnde Menſchenphiloſophie
nach dieſer Richtung in den Staub .....
Von den Würmern im allgemeinen läßt ſich noch manch
ſeltſames Liebeskapitel ſchreiben. Gleich neben den Älchen
findeſt du unter den Fadenwürmern den Syngamus. Syn heißt
auf griechiſch zuſammen und Gamos heißt die Ehe. Da haſt
du denn nun in der That ein Geſchöpf, das die Ehe ver¬
zweifelt ernſt nimmt. Der Syngamus bietet zugleich ein
hübſches Beiſpiel, daß man überall wohnen kann. Laß dir
ein Härchen ins verkehrte Hälschen, wie man am Rhein ſagt,
kommen, recht tief und ungemütlich, daß du vor Huſten beinah
erſtickſt. Und in dieſem inſtruktiven Moment male dir aus,
daß das Härchen zu einem lebendigen Wurm auswachſe, der
deine Luftröhre zum gewohnheitsmäßigen Verkehrslokal, Koſt¬
haus und Liebeslager erkoren habe. Eine größere Anzahl
Vögel, Elſtern, Spechte, Faſanen, Enten und andere mehr,
ſind in der beneidenswerten Lage, an dieſem geeignetſten der
Orte vom Syngamus bewohnt zu werden. Wie winzige feuer¬
rote Würſtchen in einem Rauchfang, ſo hängen die Würmer
am großen Ventilationsgang der Luftröhre und bringen es
unter Umſtänden fertig, den ganzen Kanal ſo zu ſtopfen, daß
der Vogel erſtickt. Sei es nun, daß die beſtändig ein- und
ausbrauſende Zugluft in ihrem Heim die Trennungsgefahr
für alle Liebenden beſonders erhöht, oder ſei es der Eifer der
Liebe ſelbſt, — jedenfalls findet man den ausgewachſenen
Syngamus allemal in Doppelgeſtalt der Art, daß das Männ¬
chen Zeit ſeines Lebens mit ſeiner Geſchlechtsöffnung, die am
Leibesende klafft, feſt an die etwa in der Mitte des Leibes
befindliche Geſchlechtsöffnung des Weibchens angeſaugt bleibt.
Du haſt das Tier vor Augen, von dem mit wenig Übertreibung
zu ſagen iſt, daß es in „ewiger Begattung“ lebe. Es ſcheint
nur noch ein Schritt — und die Geſchlechter wüchſen wirklich
wieder zuſammen: aus Mann und Weib würde nachträglich
noch wieder ein doppeltgeſchlechtiger Hermaphrodit, — womit
dann allerdings wohl im Sinne des Inzuchtgeſetzes das direkte
Begatten mit einem Schlage ganz aufhörte (gleichſam ins
[259] Gegenteil umkippend an der äußerſten Extremgrenze) und das
Aufſuchen eines zweiten Zwitters nötig würde. Merke dir den
tollen Fall, unſere Betrachtung lenkt noch wieder hierher zurück.
Daneben ſtelle dir die Bonellia, die „grüne“ zubenannt,
und nach jeder Richtung einer der wunderbarſten Würmer der
Welt, der auch in der Art ſeiner Ehe nicht leicht ſeines¬
gleichen hat.
Es giebt eine luſtige Legende bei den Batakvölkern auf
Sumatra. Ein böſer Hausfreund will einem braven Ehe¬
mann durchaus die Frau abſpenſtig machen. Umſonſt, er findet
keine Thür zu ihrem Herzen. Was thut er? Er verwandelt
ſich in einen ſüßen Apfel und gleißt am Baum. Die Frau
bekommt juſt ein Schwangerſchaftsgelüſt, bricht den Apfel und
ißt ihn auf. Da, heißt es, frohlockte der ſchlechte Geſelle tief
drinnen im Magen und rief: „Heiſa, ſo hab' ich's doch er¬
reicht!“ Dem guten Batak macht's in ſeiner Anatomie wohl
nicht viel aus, ob Herz oder Magen. Wenn du aber die Ehe¬
verhältniſſe der Bonellia ſtudierſt, ſo meinſt du, die ſchöne
Hiſtoria ſei die eigens für ſie erfundene Schöpfungslegende.
Die Bonellia ähnelt in ihrer gewöhnlichen Erſcheinungs¬
form einer kleinen dunkelgrünen Eſſiggurke von etwa fünf
Zentimeter Länge, aus der eine Art dehnbaren Stieles oder
Keims noch um ein mehrfaches länger hervorwächſt, der ſich
vorne gabelt wie eine Weinranke. So liegt ſie unter Steinen
im Schlamm des Adriatiſchen Meeres, die Gurke iſt der Leib
und der Stiel der Rüſſel, das ganze zuwidere Vieh in dieſer
Geſtalt aber iſt zunächſt bloß das weibliche Tier, die Bonellia¬
frau. Das Problem, den Mann neben ihr zu finden, geht
in ſeiner Schwierigkeit weit über die Witzblattfrage: „Wo iſt
die Katz?“
17*[260] Du kennſt das Lied von der großen Frau, die tanzen
ging, und dem kleinen Manne, der „wollt' auch mitgeh'n“.
Das iſt aber noch nichts gegen die Eheverhältniſſe im Hauſe
Bonellia. Neben dem Weibe, das mit ausgeſtrecktem Rüſſel
über zwanzig Zentimeter lang wird, ſteht der Mann mit
höchſtens zwei Millimeter Militärmaß. Das giebt die
Differenz etwa zwiſchen Menſch und Fliege. Die ſicherſte
Form des „Mitgehens“ dürfte ſolchem Miniaturmännchen darin
beſtehen, daß es der „großen Frau“ einfach in die Rocktaſche
kriecht. Und in der That mußt du die männliche Linie vom
Bonelliaſtamm im buchſtäblichen Sinn in den Tiefen der weib¬
lichen aufſpüren.
Ein großes Aſyl, wie ſolch grünes Weib darſtellt, ſammelt
es unter ſeinem ſchützenden Dache aber nicht einen Liliputer
allein, ſondern meiſt gleich mehrere. Bis zu achtzehn Stück
hat man gelegentlich gefunden. Zuerſt, wenn die Männlein
ſich als noch ganz unerfahrene Jungen einfinden, dünkt ihnen
das weite Maul ihrer Dame die nächſtbeſte Pforte. In der
Speiſeröhre (alſo faſt wie jener Batakliebhaber) ſaugen ſie ſich
gleich Bandwürmern feſt und führen eine Weile ein wohliges
Schmarotzerdaſein. Satt gefüttert, fühlen ſie aber dann die
Regungen der Liebe, zu denen ein ganz gewaltiger Samen¬
ſchlauch in ihrem ſonſt ſtark verkümmerten Leibe ihnen das
volle Anrecht verleiht. Die Speiſeröhre dünkt ihnen jetzt nicht
mehr der geeignete Ort. Sie krabbeln dem zukünftigen Gegen¬
ſtande ihrer Liebe wieder zum Schlunde heraus, ſteigen an
der grünen Gurke ein Stückchen abwärts und entdecken eine
beſſere Pforte, nämlich die weibliche Geſchlechtsöffnung.
In den Größenverhältniſſen, die hier herrſchen, iſt auch
dieſe für die Männlein ein geräumiges Thor gleich dem ver¬
laſſenen Munde. Von einem Begattungsakt im gewöhnlichen
Sinne kann natürlich gar keine Rede ſein, denn die Öffnung
allein iſt ja breiter als ſo ein ganzes Männlein an ſeiner
dickſten Stelle iſt. So muß es denn anders gehen.
[261]
Wie Münchhauſen kühn mit ſeinem ganzen Schiff in den
Bauch des Walfiſches hineinſegelte, ſo ziehen unſere Liliputer
einfach in ganzer Körpergröße als zielbewußte Pfadfinder auch
in dieſe Tiefe hinab. Einmal vom Schlunde verſchlungen,
bleiben ſie fortan darin. Sie ſiedeln ſich feſt an in den
inneren Geſchlechtsteilen des Weibes, dort, wo der Frucht¬
halter herabkommt und die Eier, der Befruchtung bedürftig
und gewärtig, gerade vor ihren Sitz verfrachtet werden. Ob
noch ſo winzig und der Größe nach ſelber eher Samentierchen
als ganzen Männern gleich, ſind ſie jetzt natürlich am unfehlbar
ſicheren Fleck und dürfen die Befruchtung in aller Ruhe voll¬
ziehen: ſchützend wölbt ſich ja der Rieſenkörper des grünen
Weibes über dem ganzen Akt und trennt die Männer wie die
Brut von allen Unbilden des Meeres draußen, bis jedem Ei
das nötige Scherflein der Vaterſchaft zu teil geworden iſt.
Die fertigen Eier finden natürlich in der Folge den Weg ins
Freie hinaus. Die kleinen Tannhäuſer aber verharren bis an
ihr Lebensende in der Frau Venus Berg.
Die Zoologen katzbalgen ſich ſeit vielen Jahren, in
welchen Käfig der großen Würmermenagerie die Bonellia
eigentlich gehöre. Früher zählte man ſie zu den ſogenannten
Sternwürmern, die ſich den echten Würmern (alſo auch jenen
Fadenwürmern wie Trichinen und Älchen) anſchließen. Man
ſetzte ſie neben den ſogenannten Priapulus, der ſeinen ominöſen
Namen der allerdings ziemlich kurioſen Façon verdankt. Heute
glaubt man zu erkennen, daß die Bonellia ein ſtark degenerierter,
[262] rückgebildeter Ringelwurm ſei. So wären wir mit ihr ſchon
in der oberſten Würmergruppe, jenem dritten Haufen, von dem
ich dir geſprochen habe.
Regenwurm und Blutegel ſind hier daheim, vornehme
Herren, wenn man aus dem wüſten Gewimmel da unten
kommt.
Uns ſind beide beſonders vertraut, weil ſie gleichſam
Anteil haben an der menſchlichen Kulturgeſchichte. Der Blut¬
egel wahrt ſeine Rolle in der Entwickelungsgeſchichte der Medizin.
Der Regenwurm aber, dieſer ſtille Durchkneter und Durch¬
ackerer des Erdreichs, der unabläſſig Erdkrumen nach oben
bringt, bis er im Laufe der Zeiten die ganze Oberfläche ſeines
Gebietes in die Tiefe vergraben und eine neue Fläche ge¬
ſchaffen hat: er iſt ſeit Jahrtauſenden der ſtille Helfer des
Archäologen geweſen, durch ſeine Macht ſind Moſaikböden und
Säulenſtümpfe, Münzen und Schmuckgegenſtände in die Erde
hinabgearbeitet und der Nachwelt erhalten worden. Das
Liebesleben beider ähnelt ſich ſtark und iſt verhältnismäßig
einfach.
Regenwurm wie Blutegel ſind Zwitter oder Hermaphroditen
von wahrhaft typiſcher Vollkommenheit. Jeder Wurm führt
beide Geſchlechtsapparate im Leibe. Aber du erinnerſt dich
des großen Geſetzes, das durch die organiſche Welt geht, des
Geſetzes: du ſollſt dich nicht ſelbſt befruchten. Auch Regen¬
wurm und Egel ſtehen unerſchütterlich in ſeinem Bann.
In der Kühle einer feuchten Nacht, wenn kein Feind ſich
regt, kein Lichtſchein ihre augenloſe und doch ſeltſam licht¬
empfindliche Kopfſpitze ſchreckt, kriechen zwei Regenwürmer ganz
aus der ſchwarzen Scholle hervor. Sie ſchlängeln ſich dicht
aneinander, doch ſo, daß die Vorderenden nach zwei entgegen¬
geſetzten Seiten angeln. Nun betrachte ſie genau. Die ganzen
Leiber ſind zuſammengeſetzt aus den bekannten fleiſchroten
Ringeln. Äußerliche Unterſchiede gewahrſt du nicht, denn es
iſt ja nicht Mann und Weib, was du ſiehſt, ſondern jeder
[263] Wurm iſt beides zugleich. Könnten die verliebten Ringer aber
jetzt kriſtallhell im Innern werden, ſo ſäheſt du folgendes.
Im zehnten und elften Ringe jedes Leibes (vom Kopfende
her gezählt, wo der Mund liegt) ſitzen bei jedem zwei Paar
Hoden (Samenerzeuger), die durch große Samenleiter ſich im
fünfzehnten Ring nach außen öffnen. In denſelben Ringen,
die die Hoden führen, finden ſich aber auch bei jedem je ein
Paar ſogenannter Samentaſchen, bereit, männlichen Samen von
außen aufzunehmen und zur rechten Zeit den etwas weiter
zurückgelegenen Eileitern zuzuführen, wo er die vom Eierſtock
herabſteigenden weiblichen Eier befruchten mag.
Jeder Zwitterwurm ſucht ſich alſo jetzt mit der kritiſchen
Gegend des zehnten bis fünfzehnten Leibesringes ſo an ſeinen
Widerpart anzudrängen, daß die eigene ſtrotzende Samen¬
mündung auf die leere Samentaſche des anderen und die
eigene Samentaſche gegen die fremde Samenmündung gepreßt
wird. In der Erregung des Augenblicks beginnen die Haut¬
drüſen der betreffenden Ringe eine jäh eintrocknende Flüſſigkeit
abzuſondern, die für die Dauer des Aktes eine Art von gemein¬
ſamer Schwimmhoſe um die ganze Geſchlechtsgegend beider
bildet und das Paar auch äußerlich ſo feſt verknüpft, als ſeien
ſie zeitweiſe wirklich zuſammengewachſen. Unter dem Schutz
dieſer Bandage löſt ſich jetzt bei beiden die Samenflüſſigkeit
und fließt in die Samentaſchen beider ein. Iſt das Ganze
vollzogen, ſo ſtreift ſich der zähe Ring auch alsbald wieder ab:
jeder Wurm iſt jetzt von ſeinem eigenen Samen befreit, trägt
dafür aber ein Reſervoir mit fremdem im Leibe, aus dem er
nunmehr, da die Gefahr der eigentlichen Selbſtbefruchtung be¬
ſeitigt iſt, nach Bedarf die eigenen weiblichen Eier ſelber be¬
fruchten darf.
Sehr ähnlich vollzieht ſich der Liebesakt der Blutegel,
bloß natürlich im Waſſer. Das Blutegelpaar legt ſich zur
Frühlingszeit ſo aneinander, daß Kopf und Schwanz der beiden
nach derſelben Richtung ſchaut. Die beſonderen Samentaſchen
[264] fehlen hier und der Same wird durch ein Begattungsglied
wechſelſeitig unmittelbar in die weibliche Scheide eingeführt.
Willſt du dir nach dem Muſter höherer, nicht zwitterhaft
gebauter Tiere ausmalen, daß auch bei dieſen Zwittern beide
Geſchlechtsteile mit beſonderen ſtarken Empfindungen für den
Akt ausgerüſtet ſeien, ſo läßt ſich nicht leugnen, daß in dieſem
Falle jeder Blutegel die doppelte Geſchlechtsempfindung gleich¬
zeitig an ſich erfahren müßte, die gebende ſowohl wie die
empfangende.
Man wird an den römiſchen Kaiſer Heliogabalus erinnert,
der in ſeiner kaiſerlichen Verrücktheit einen Preis darauf ſetzte,
wenn ihm einer zu ſeiner Männlichkeit noch den Beſitz des
Weiblichen im Sinne eigener Empfindung verſchaffen könnte.
Es unterliegt aber gar keiner Frage, daß die fundamentale
Auseinanderreißung der Geſchlechter, wie ſie auch dieſer ge¬
krönte Narr als höheres Wirbeltier mit auf den Lebensweg
bekommen hatte, eine der wichtigſten Vorausſetzungen gerade
höherer und idealerer Entwickelung geweſen iſt, die wir ſehr
zu unſerem Schaden wieder verleugnen würden. Der Herma¬
phroditismus iſt eine Station der Liebe, die für uns ſchlechter¬
dings hinter uns liegt und liegen muß. Sieh dir die Kunſt
an, von der man mit der Zeit hoffentlich immer mehr lernen
wird, daß in ihr die eigentliche Naturgeſchichte, die natürliche
Entwickelungsgeſchichte der Menſchheit wie in einem hellen
Spiegel uns vor Augen ſteht. Wie haben die Griechen ſich
noch abgequält, Hermaphroditen in Marmor zu formen, eine
Idealgeſtalt, die Mann und Weib vereinigen ſollte. Es ging
nicht mehr, — was heraus kam, war eine Mißgeburt. Beim
Blutegel iſt es noch echte, aufwärts drängende Natur. Beim
Menſchen in den Tagen des Phidias iſt es hoffnungsloſe
Stückelei.
Auf dem Gegenſatz von Weib und Mann, auf dieſer
einzigen Arbeitsteilung, die über das Individuum wirklich
phyſiſch hinausgriff auch noch beim vollkommenſten Organis¬
[265] mus, ruht der Menſch in allen Wurzeln wie in allen Blüten
ſeiner Kraft.
Willſt du an dieſen Dingen mit Zukunftsgedanken rütteln,
ſo mußt du den Weg ſchon durch den Geiſt nehmen. Gewiß,
im Geiſtesſinne taucht vielleicht ſchon uns ſichtbar ein ſchwaches
Vormorgenrot auf, als könnte auch dieſer Gegenſatz ſich noch
einmal irgendwie wieder verſchmelzen, nachdem er ſeine Arbeit
an der Menſchwerdung bis zur letzten Neige gethan. Aber das
kann dann nicht im Sinne eines Rückfalls geſchehen. Durch
den Geiſt muß es wandern, in dieſem oberen Stockwerk bloß
könnte es ſich vollziehen. Wenn es dann von da zum Körper
zurückkehrt, wird alles ganz neu, ganz anders ſein. Was iſt
aber vielleicht Körper, was ſind all dieſe heutigen Begriffe in
einer Zukunft, die im Geiſte überhaupt weitergegangen iſt, —
ſelbſt vielleicht nur wieder leere Hüllen der Vergangenheit,
Hüllen, die die Entwickelung abgeſtreift hat, wie ſie den Wurm
abſtreifen mußte, um zum Menſchen zu gehen .....
[266]
Doch ich wollte dich eigentlich noch immer ein Stück
weiter bei der Ammenzeugung und mehr oder minder verwandten
Dingen halten, damit du dieſes intereſſante Prinzip bis in alle
ſeine philoſophiſchen Tiefen auskoſten möchteſt.
Alſo: wir waren mit dem Liebesroman der Rhabditis¬
mutter glücklich bis zu der Ecke vorgedrungen, wo die Fort¬
pflanzung nicht bloß den Opfertod des mütterlichen Individuums
als Notwendigkeit umſchließt, ſondern wo das Junge die Mutter
einfach aufzehrt wie ein Hühnchen im Ei allmählich den gelben
Nahrungsdotter in ſich ſchluckt. Die inneren Organe der Mutter
erſchienen wie eine Art wohl ausgeſparter erſter Wegzehrung
und die Haut der Mutter diente eine Weile zugleich noch als
oberſte Schutzhaut des Jungen, als eine Art Organ, das von
der Mutter auf dieſes überging.
Es läge nahe, ſich mit noch etwas Steigerung nach dieſer
Richtung auszudenken, daß das Junge in dieſe Mutterhaut
ſchließlich dauernd als in eine eigene hineinwüchſe oder ſonſt
das eine oder andere Organ der Mutter gleich mit übernähme.
Das heißt: das läge nahe, wenn man ſich das Tollſte aus¬
malen will, was wohl in dieſen Sachen noch denkbar iſt.
[267]
Stelle dir ein Menſchenweib vor. In ihm ſoll ein Kind
wachſen. Das Kind bekommt ſchon im Mutterleibe Zähne und
beginnt die Mutter auszufreſſen. Aber es frißt ſie nicht ganz.
Es läßt meinetwegen die Hände und das Geſicht übrig. Und
es zieht dieſe Hände und dieſes Geſicht ſo ſich ſelber über,
daß ſie einfach mit ihm verwachſen, ſeine eigenen werden.
Du kennſt die Geſchichte, die heilig vom frommen Antonius
von Padua und profan vom Edeln von Münchhauſen erzählt
wird: wie ein Bär ſich von hinten in ſeinen Eſel oder ſein
Roß, während der Reiter noch darauf ſitzt, einfrißt, bis er
ſchließlich das ganze arme Opfer heraus- und in ſich hinein¬
gefreſſen hat und plötzlich an Stelle des Reittiers den Heiligen
oder Ritter tragend ſelber im Zaum und Sattel ſteckt. Der
Eſel iſt in unſerem Falle die Mutter, der Bär das junge Tier
und der Zaum die Naſe der Mutter, bloß daß dieſe geradezu
mit dem Jungen verwachſen ſoll, was ſo verrückt iſt, daß ſelbſt
die Legende es für ihre verwöhnteſten Kinder nicht zu erfinden
wagte. Ich will dir aber das Tier vorſtellen, wo mindeſtens
etwas verblüffend Ähnliches paſſiert.
Freilich müſſen wir da aus dem Reich der Würmer heraus!
Bitte rekapituliere dir noch einmal das Gerüſt des höheren
tieriſchen Stammbaums. Aus dem einfachen Urdarmtier, der
Gaſträa, kamen einerſeits die Polypen, Meduſen, Schwämme.
Andererſeits aber die Würmer, in drei Hauptgruppen: den
Plattwürmern (Bandwürmer u. a.), den echten Würmern (Faden¬
würmer wie die Trichinen u. v. a.) und den Ringelwürmern
(Regenwurm).
Auf den Würmern ſtehen dann die vier höchſten Stämme
des Tierreichs: die Weichtiere (Schnecken u. a.), die Gliedertiere
(Krebſe, Inſekten u. a.), die Wirbeltiere (zu denen du ſelber
ſamt Fiſch, Vogel, Eidechſe u. a. m. gehörſt) und die ſo¬
genannten Stachelhäuter, als deren Typus dir der Seeigel und
Seeſtern vorſchweben mögen. Alle vier großen Gruppen ſind
geſchichtlich aus Würmern hervorgegangen, aber nicht hinter¬
[268] einander und auseinander, ſondern nebeneinander. Niemals
iſt ein Seeſtern eine Muſchel, eine Muſchel ein Krebs, ein
Krebs ein Fiſch geworden. In jeder dieſer großen Abteilungen
iſt vielmehr die Entwickelungsſtufe des Wurms ganz für ſich
und eigenſinnig weiter gewachſen. Eines Tages fanden ſich
nebeneinander auf der Erde Seeſterne, Muſcheln, Krebſe und
Fiſche, die dann jedes für ſich wieder ſich weiter entwickelten,
ohne aber je nach oben zu wieder zuſammen zu kommen. Aus
dem Stamme, der (oberflächlich geſprochen) mit der Muſchel
einſetzt, iſt als höchſte Form der ſogenannte Tintenfiſch hervor¬
gegangen. Vom Krebs aufwärts iſt die Linie bis, ſagen wir
etwa, der Ameiſe gediehen. Der Fiſch iſt im Laufe der Jahr¬
millionen Menſch geworden. Am wenigſten aber ſind die See¬
igel und Seeſterne in die Höhe gekommen, der Seeſtern iſt
ſelber ſo ziemlich die Spitze ſeines ganzen Entwickelungsaftes
geblieben.
Dieſes Verhältnis: vier alleſamt höhere, obwohl ungleich
lange Parallelen auf einer gemeinſamen niederen Wurmbaſis,
mußt du dir in allem folgenden unausgeſetzt vor Augen halten,
um nicht in Konfuſion zu kommen.
Nachdem wir die Würmer jetzt erledigt haben, habe ich
dir aus all den vier oberen Parallelſtämmen ein ganzes
Dekamerone von Seeſtern-, Muſchel-, Krebs- und Wirbeltier-
Liebesgeſchichten zu erzählen: es muß dir aber ſtets klar bleiben,
daß wir im ganzen fortan vier Hauptromane verfolgen, deren
Kapitel wohl in ſich vielfach geſchloſſen hintereinander gehen,
aber niemals von Roman zu Roman übergreifen.
Wir beginnen mit der Seeſternlinie, da dieſe uns im
angedeuteten Sinne zugleich in der Linie der geſteigerten
Wundermären hält.
Stelle dir einen Seeigel vor, wie du ihn im Aquarium
geſehen oder am Seeſtrande ſelber aufgeleſen haſt. Du be¬
greifſt ſogleich, warum man dieſe ganze Tiergruppe die
„Stachelhäuter“ getauft hat. Da liegt ein Tier vor dir, an¬
[269] zuſchauen wie eine ſtachelige Frucht, ein Klumpen harter Schale
mit ſcharfen Spitzen nach allen Seiten. Erſt daran, daß das
Ding ſich bewegt, merkſt du, daß es keine ins Meer geſpielte
wirkliche Kaſtanienfrucht, ſondern ein Tier iſt.
Bei genauerem Zuſchauen entdeckſt du wohl auch bei den
meiſten Sorten an den beiden Polen der Kugel je eine Art
Pforte zum Innern. Die obere, der Nordpol der Stachelkugel, iſt
die After- und Geſchlechtsöffnung, die untere der Mund. Und
zwiſchen dieſem After und Mund liegt kopfgeſtellt in der Schale
thatſächlich ein ganz gut entwickeltes Tier, das in vielem ſchon
fortgeſchrittener iſt als ein Wurm. Am beſten knüpfſt du dir
in Gedanken bei einem ſolchen Wurm an, denkſt ihn dir zu¬
ſammengewurſchtelt, bis er eine Kugel bildet mit dem After
oben und dem Maul unten, und denkſt dir dann die weiche
Haut durch Einlagerung von Kalkplättchen in einen harten
Panzer verwandelt, auf dem zum weiteren Schutz noch beweg¬
liche Stacheln ſitzen. Die weiteren zoologiſchen Details kannſt
du dir für unſeren Zweck ſchenken, ſie ſind entſprechend ſo ab¬
ſonderlichem Bau verwickelt genug.
Unſere tieriſche Stachelkaſtanie hat nun auch ihre Liebes¬
geſchichte und zwar eine ausreichend kurioſe.
Der italieniſche Fiſcher am Mittelmeer holt ſich beſtimmte
Seeigel derſelben Art heraus, andere wirft er fort. Jene kann
er brauchen, er bricht ihre Schale auseinander und greift ſich
fünf traubige goldgelbe Gebilde darin, die er unter die Lecker¬
biſſen ſeiner Tafel zählt. Die gelben Dinger ſind die Eier¬
ſtöcke, und die ausgewählten Seeigel ſind alleſamt Weibchen.
Die fortgemuſterten hatten keine Eiertrauben und waren Männer.
So ſiehſt du: wir ſind nach ſo vielerlei Zwitterei jetzt wieder
im Gebiete feſter Geſchlechtstrennung.
Wenn der Vollmond ſeinen Silberduft über das träumende
Meer ſtreut, ſtößt in der Tiefe die weibliche Stachelkugel ihre
reifen Eier ins Waſſer hinaus, und die männliche gießt als¬
bald ihren Samen darüber, ohne daß eine eigentliche innere
[270] Begattung ſtattfände. Dieſe ſchlichteſte Form der Geſchlechts¬
liebe, die natürlich nur im feuchten Element möglich iſt, findeſt
du weit verbreitet im Mittelſtock des Tierreichs, und noch bei
den Fiſchen iſt ſie die Regel. In der offenen Flut treffen ſich
Samenzelle und Eizelle zur Gründung eines neuen Stachelers.
Aber bis dieſer fertig vor Augen ſteht, vollziehen ſich noch die
befremdlichſten Sachen.
Aus der Verſchmelzung von Samen und Ei bildet ſich
ein winziges durchſichtiges Geſchöpfchen, ſcheinbar völlig fertig
in ſeinem Bau, aber allem eher ähnlich als einem Stachelvieh
vom Hauſe Seeigel. Das gallertig weiche Körperchen beſitzt
Mund, Darm und After und ſchwimmt mit Hilfe lebhaft be¬
wegter Wimperhaare luſtig im offenen Waſſer umher. Dem
ganzen Bau nach muß man es für einen jungen, ſich ent¬
wickelnden Wurm halten, und wenn es eines Tages geſchlechts¬
reif würde und wieder junge, ähnliche Tiere erzeugte, wäre es
einfach gewiſſen Würmern unmittelbar anzureihen. Aber es wird
nicht geſchlechtsreif.
Es entwickelt ſich durch ſeltſame Spitzen und Auswüchſe
zu einem Ding, das faſt wie eine kleine Pickelhaube ausſchaut.
Und eines Tages knoſpet es im Innern dieſer Pickelhaube: in
dem Hohlraum zwiſchen Leibeswand und Magen legt ſich ein
ganz neues, ſeinem ganzen Bau nach total anders kon¬
ſtruiertes Tier an.
Die Pickelhaube war nichts als gleichſam erſt ein „vor¬
läufiges“ Individuum, in dem durch Knoſpung erſt das eigent¬
liche Geſchöpf wächſt.
Das knoſpende Enkelgeſchöpf iſt, wie ſich bald erkennen
läßt, diesmal ein wirklicher kleiner Seeigel. Dieſer doſen¬
förmige Seeigel wächſt im Innern der lebendigen Pickelhaube
ſo heran, daß er deren Magen in ſich ſchließt. Er nimmt
ihn einfach in ſich ſelber als eigenes Organ auf. Die Pickel¬
haube, von ihrem eigenen Ernährungsorgan im eigenen Leibe
durch den aufwuchernden Zwiſchengaſt abgetrennt, verfällt na¬
[271] türlich, ſtirbt und ſinkt ſchließlich eintrocknend wie eine welke
Blüte von dem jungen Igel herunter. Münchhauſens Bär ſteckt
im Zaum! Der Seeigel, nach vollbrachter innerer Halbierung
ſeiner „Mutter“ und im frohen Beſitz des mütterlichen, fort¬
geſetzt funktionsfähig erhaltenen Magens, kümmert ſich wenig
um das abfallende Geſpenſt: er frißt, wächſt, vervollkommnet ſich
und wird endlich geſchlechtsreif wie ſeine Großeltern waren.
Ich will hier nicht mit dir in die verwickelte zoologiſche
Debatte eintreten, ob dieſer märchenhafte Prozeß eine echte
„Ammenzeugung“ wirklich im Sinne der Bandwurmgeſchichte
(mit der Pickelhaube als „Amme“) ſei oder einen beſonderen
Namen verdiene. Hier ſind die Meinungen heute noch keines¬
wegs geklärt und die endgültige Entſcheidung hängt weſentlich
davon ab, wie man ſich darwiniſtiſch die urſprüngliche Ent¬
wickelung eines ſolchen Seeigels aus einem wurmähnlichen
Tiere vorſtellen will. Für den denkenden Naturforſcher, der
die „Geſchichte“ der Tierwelt, den großen Zuſammenhang des
Stammbaumes der einzelnen Tiergruppen zu ergründen ſucht,
hat dieſe verzwickte Geſchichte ja ſelbſtverſtändlich äußerſt lehr¬
reiche Momente. Er erinnert ſich an jenes große Grundgeſetz
der organiſchen Entwickelung, das in zahlloſen Fällen den nach¬
geborenen Geſchöpfen vorſchreibt, im Ei, als Keim oder Larve
noch einmal raſch die Formenreihe der Ahnen durchzulaufen.
Der Menſch wird im Mutterleibe noch einmal ein fiſchähn¬
liches Weſen mit floſſenartigen Gliedmaßen und Kiemen am
Halſe. Der Froſch wird als Kaulquappe Fiſch und Molch.
So ſcheint es, muß der junge Seeigel erſt noch einmal Wurm
werden zum Zeugnis, daß ſeine Vorfahren Würmer waren.
Das iſt auf alle Fälle intereſſant und bemerkenswert genug, —
die volle logiſche Enträtſelung iſt aber, wie du dir auch wohl
denken kannſt, dem Naturforſcher eine harte Nuß, an der noch
längere Zeit herumgeknackt werden wird. Uns intereſſiert die
Sache hier weſentlich in ihrem rein äußerlichen Hergang, —
ſie intereſſiert uns als neue Verzweigung im „Labyrinth“ des
[272] Begriffs Individuum. Dieſe ganze Seeigelgeſchichte, bis zur
extremſten Ecke entwickelt, wo das Junge die Mutter oder
Amme oder Über-Larve, oder wie du es nennen willſt, nicht
mehr bloß als fremdes Objekt frißt, ſondern ihr ein Organ
geradenweges fortnimmt und in ſich ſelber hineinwachſen läßt:
dieſe gruſelige Hiſtoria, ſollte ſie nicht den Philoſophen zum
tiefſten Nachdenken über das Individuum überhaupt anregen?
Ja ſiehſt du! Und hier lenkt unſere Betrachtung über
ſo viel Bandwürmer, Leberegel, Aalwürmchen und ſchließlich
Seeigel von ſelbſt zu dem zurück, was ich dir über Unſterblich¬
keit geſagt habe.
Du haſt nun Fälle genug geſehen, wo das eine Indi¬
viduum thatſächlich rund aufgebraucht wurde zur Exiſtenz des
nächſten, — bis zu unſerem Seeigel herab, wo das eine ſeinen
Magen laſſen mußte, damit das andere lebensfähig wurde.
Nun ſagſt du wohl: was geht das alles den Menſchen an, für
den alle die Unſterblichkeitsgedanken doch eigentlich gebraut
ſind. Aber vergiß nicht, daß der Menſch ein Tier iſt. Daß
er als Wirbeltier letzten Endes auch aus ſolchen Würmern
heraufgekommen iſt. Und daß der Prozeß jener Ammenzeugung
wahrſcheinlich doch als Station auch in ſeiner Geſchichte ge¬
legen hat, wenn er auch heute als etwas Überwundenes von
ihm ſchon abgeſtoßen iſt.
Wann, ſo frage ich dich, ſoll in dieſer Entwickelung das
Individuum ſo wichtig geworden ſein, daß es eine Unſterblich¬
keit verdiente über die einfache Umwandlung in ſeine Kinder
hinaus? Oder wird es dir vor jenen handgreiflich groben
Beiſpielen nicht klar, daß wir das ganze Problem des Indi¬
[273] viduums als unendlich viel verwickelter anſehen lernen müſſen,
als es unſere gewöhnlichen Phantaſiezüge faſſen?
Wir wirtſchaften da offenbar philoſophiſch mit einem Be¬
griff, der naturgeſchichtlich ſich in einen ganzen Rattenkönig von
Einzelproblemen verwirrt. Du haſt gut predigen: das Indi¬
viduum ſoll unſterblich ſein. Aber wenn dir nun allenthalben,
je tiefer du ins Tier- und Pflanzenreich dringſt, dieſes Indi¬
viduum ſelber unter den Händen fließt? Nicht zerfließt, wohl
verſtanden, im Tode, ſondern zerfließt im Leben.
Eltern, in Kinder ſich zerteilend, Kinder, in Eltern hinein¬
wachſend, Eltern und Kinder ſich vermengend bis in den Beſitz
eines Organs, wie des Magens, hinein ..... überall Fluß,
überall Übergang von Leben in Leben — und aus dieſem
ganzen Gewoge kommt nun eines Tages der Menſch ſelber
herauf, Tier von ganz beſtimmter Sorte noch in jeder Faſer,
ein Zellenkomplex, geſchlechtlich zeugend mit Samenzellen und
Eizellen, ein Wirbeltier, ein Säugetier, — es geht doch nicht
an, daß wir für ihn Separaterfindungen machen, — was wir
von ihm klügeln, das müſſen wir auch da unten überall ein¬
paſſen können.
Du zögerſt, — du haſt dir das alles bisher nicht mit
ſolchen Thatſachen illuſtriert. Nun, verſtehe mich recht. Ich
will dir nichts zerſtören, was dir lieb iſt, was dir für dein
Leben gleichſam nötig ſcheint. Ich möchte dir eben wirklich
bloß Thatſachen geben, die Schlüſſe magſt du dir dann nach
Bedarf ſelber ziehen. Nur das eine ſollte dir klar werden.
Du mußt das, was der Naturforſcher dir liefert, hineinziehen
in deine Spekulation. Du kannſt da nicht vorübergehen wie
der Phariſäer an dem wunden Mann, der in der Wüſte lag.
Du mußt dir reinen Wein darüber einſchenken, daß der ganze
konventionelle Unterbau deiner Ideen über Welt, Individuum,
Ewigkeit, Unſterblichkeit, Leben, Tod, Ich, Du, Mutter, Kind
und ſo fort dir überkommen iſt aus Zeiten, die von den Reſul¬
taten unſerer Naturforſchung noch keine blaſſeſte Ahnung hatten.
18*[274]
Auf dieſem ſchlechten Unterbau iſt oben allerdings wunder¬
bar tief und groß weiterſpekuliert worden, und der Glanz des
Denkens hat das ſchlechte Fundament immer wieder vergeſſen
laſſen. Aber inzwiſchen iſt die Forſchung für ſich unabläſſig
ſtill bei der Arbeit geweſen, um da unten neu zu mauern,
und ſchließlich hat ſie neu gemauert. Nun iſt aber zu ver¬
langen, daß das wenigſtens reſpektiert werde.
Eine Menge Menſchen meint freilich, alles Denken, alle
Philoſophie, aller große freie Flug ſei im Moment ſelber dahin,
wo dem Naturforſcher dieſes Recht eingeräumt wird. Das iſt
die höchſte Thorheit. Was er liefert, iſt an ſich ja wieder
abſolut freies Material. Nur aufnehmen ſollſt du dieſes
Material. Was du damit machſt, iſt nach wie vor deine Sache.
Baue dir die kühnſten Gedanken nach wie vor über das Indi¬
viduum, ich wünſche dir alles Glück. Aber baue ſie auf und
mit dem neuen Material. Nimm die Ammenzeugung des
Bandwurms von vorne herein in deine Rechnung — um bei
dem Beiſpiel zu bleiben, obwohl es nur eins unter zahlloſen
iſt — und dann wandere im übrigen auf Reſultate los, wie du
willſt. Dann biſt du Herr der Situation. Die Forſchung iſt
dann der ſichere Planet, der dich ſchützt und trägt. Im anderen
Falle bleibt ſie der dräuende Magnetberg, der dir immer und
immer wieder die Nägel aus deinen philoſophiſchen Schiffen zieht.
Den meiſten geht es heute noch ſo. In ihr Denken
ſtürzt die Naturforſchung wie ein Klotz, den ſie nicht zu regen
wiſſen. Alles ſchäumt, kippt und erſäuft. Und doch iſt ſie
das wirklich Ungeheure im guten Sinne, das unſere Zeit dir
als eigenſtes hinzugiebt, auf ihr wird dein Denken wie ver¬
jüngt aufblühen. Wohlverſtanden: dein Denken in jedem Sinne.
Mit Reſultaten, ſo kühn, wie du dir nur träumen laſſen willſt.
Auch im Problem des Individuums. Aus der ungeheuerlichen
Komplizierung, die der Naturforſcher auch ihm auf einmal
giebt, mag ſeine ideelle Bewältigung erſt recht wie ein junger
Phönix auferſtehen ....
[275]
Einſtweilen, damit du gleich noch eine hübſche Probe
dazu erhältſt, hier noch eine zweite Stachelhäutergeſchichte.
Eine Liebesgeſchichte eigentlich nur ſehr bedingt, denn
wenn ſich's auch um Vermehrung handelt, ſo ſieht die Sache
doch ſchon mehr aus nach Eheſcheidung. Eheſcheidung mit dem
beſonderen Raffinement, das wohl noch kein moderner Sitten¬
roman ſich zu eigen gemacht hat: daß nämlich ein Weſen, er
oder ſie, ſich von ſich ſelber ſcheiden läßt.
Mir iſt bisweilen, als ſei ſolche Scheidung im eigenen Ich
ein wünſchenswertes Ziel für manche allzu konſequenten Indi¬
vidualiſten unter uns Menſchen.
Sie ſperren ſich ab gegen die Mitmenſchen, und die Ehe
iſt ihnen ein Graus, weil ſie ſie vergewaltigen könnte in der
individuellen Freiheit. Es liegt ein großer Gedanke in ſolchem
Streben, wenn es rein auftritt. Aber wer iſt ſtark genug dazu?
Die Einſamkeit erſcheint als neue Feuertaufe. Aber nun ſitzt
der Störenfried ſchließlich im innerſten Ich ſelber, und du ſiehſt
den konſequenten Individualiſten mit einer dunklen Sehnſucht
auf der Wanderſchaft, — der Sehnſucht: wenn mich doch einer
jetzt nur noch in mir ſelbſt von mir ſelber frei machte, mich
von mir ſelber ſchiede!
Umſonſt! — Du magſt im ſeeliſchen Sinne Stachelhäuter
ſein, ſo viel du willſt: als Menſch glückt dir zwar noch, wie
Buſch ſagt, der „eigene Sterbefall“ als letzte Wahl, aber nicht
mehr die lebendige Selbſtzerteilung. Da müßteſt du ſchon wirk¬
licher Stachelhäuter im zoologiſchen Sinne werden.
Du erinnerſt dich der einzelligen Urtiere, die ſich einfach
dadurch fortpflanzten, daß ſie in zwei oder mehr Stücke zerfielen.
Für das Problem des Individuums, an dem wir eben ſo eifrig
herumgenagt haben, iſt das ja an ſich ſchon eine hinreichend
verwickelte Sache. Aber ſchließlich mag man ſagen, es ſei bei
dieſen niedrigſten Weſen eben der ganze Begriff Individuum
noch ſo ſchwankend und die Natur der gleichzeitigen ſeeliſchen
18*[276] Regungen ſo unerforſcht, daß man nicht zuviel Schlüſſe daran
knüpfen ſollte. Jetzt ſieh dir aber folgenden Fall an.
Der nächſte Verwandte des Seeigels iſt der Seeſtern.
Auch ein Stachelhäuter, wenn ſchon ohne die runde
ſtachelichte Fruchtſchale des Igels. Habe ich dich beim Seeigel
gebeten, dir einen dicken Wurm zu denken, den einer zum
Klumpen in der Fauſt zerquetſcht hat, ſo zerre dir jetzt in der
Phantaſie einen Wurm in Zacken auseinander, bis er aus¬
ſchaut, als habe er fünf junge Würmer aus ſich erzeugt, die
aber unten noch mit ihm zuſammenhingen und einen regel¬
rechten Wurmſtern erzeugten. Das Bild iſt um ſo erlaubter,
als Naturforſcher erſten Ranges ſich zeitweilig der Idee hin¬
gegeben haben, es möchte der Seeſtern geſchichtlich gerade ſo
entſtanden ſein: durch Zuſammenwachſen von fünf Einzel¬
würmern; die Hypotheſe iſt allerdings heute wieder verlaſſen.
Ein ſolcher Seeſtern, in erwachſenem, geſchlechtsreifem Zu¬
ſtande, iſt nun ganz unzweideutig ein wohl entwickeltes, ſeeliſch
wie körperlich ſchlechterdings einheitliches „Individuum“. Seine
Jugendentwickelung vollzog ſich ähnlich wie beim Seeigel: auch
er hat ſchon einmal ſeiner eigenen Mutteramme bei lebendigem
Leibe den Magen fortſtibizt und den überflüſſigen Mutterleib
dann wie eine Nachtmütze ſich vom Kopfe geſtreift. Aber dann
iſt er „einheitlich“ geblieben in des Wortes ſtrikteſter Bedeu¬
tung und iſt, alles in allem gerechnet, einfach ein Individuum,
wie du ſelber eins biſt.
Obwohl ein ſolcher Seeſtern in der Form, wie man ihn
am Strande findet, ſtarr wie eine Apfelſinenſchale erſcheint,
darf man ſich doch nicht darüber täuſchen, daß er ſein ganz
wohl entwickeltes tieriſches Seelenleben zeigt. Ein komplizierter
Nervenapparat mit einem großen Nervenring, von dem Nerven¬
ſtränge ſtrahlig ausgehen, zeigt ihn als ſtraffe ſeeliſche Einheit.
Im Gegenſatz zu den meiſten anderen Stachelhäutern beſitzt er
ſogar deutlich erkennbare Augen in Geſtalt lichtbrechender roter
Punkte an den Spitzen der Arme. Weit entfernt, ein paſſiver
[277] Gaſt aus den „Stillen im Meere“ zu ſein, führt er ein echtes
Raubtierleben da unten und überfällt und verſpeiſt kleine Krebſe,
Auſtern und Fiſche der purpurnen Tiefe nach Herzensluſt. Und
vollends bei einigen Arten findeſt du etwas, das vielleicht
ſtärker als irgend etwas anderes dieſen Eindruck des ſeeliſch
und körperlich gefeſtigten Individuums bewährt.
Der erwachſene weibliche Seeſtern, ſelbſt einſt hervor¬
gegangen aus der rückſichtsloſen Zerſtörung ſeiner Ammenform,
zeigt in unverkennbarer Weiſe gewiſſe Muttergefühle gegen¬
über ſeiner eigenen Nachkommenſchaft. Wie eine brütende Gluck¬
henne ſiehſt du im Verſteck unter Steinen das Seeſternweib
mit gekrümmten Armen über ſeinen befruchteten Eiern und aus¬
kriechenden Jungen ſitzen, — ein ſeltſames Bild und zugleich
eine rührende erſte Stufe der ungeheuren Leiter, die hoch in
der Vergeiſtigung des Menſchlichen mit dem Kinde an der
Bruſt der Madonna gipfelt .....
Nun denn: dieſes „gute Individuum“ bringt es gelegent¬
lich trotz all ſeiner komplizierten Individualität fertig, ſich wie
eines jener organloſen Urtiere noch einmal in zwei Individuen
auseinanderzuſpalten. Unter den wildeſten Zuckungen geht es
auf einmal durch den ganzen Stern wie ein innerlicher Riß.
Ein Teil der Sternarme will von dem anderen los. Aber er
kann es nur ſo, daß auch das Mittelſtück einfach zerhackt wird.
Alles platzt: Nervenſtränge und Gefäße reißen, harte Gerüſt¬
teile brechen, ja der Magen wird aufgeſpalten und in zwei
offene Hälften zerteilt. Buchſtäblich ſiehſt du dann wie im Liede
„zur Rechten wie zur Linken einen halben Türken herunter
ſinken.“ Aber jede Hälfte lebt. War der Stern fünfſtrahlig,
ſo pflegt die eine Hälfte drei, die andere zwei Arme übrig zu
behalten. Bei acht Armen wird auf vier zu vier, bei ſechſen
auf drei zu drei halbiert. Wenig ſpäter: und die grauenhafte
Rißwunde verklebt zunächſt und heilt dann in der Weiſe ganz
aus, daß die fehlenden Teile ſich bei jeder der beiden Hälften
einfach neu bilden. Auch die auf jeder Seite fehlenden Arme
[278] ſproſſen allmählich nach, ſo daß über kurz oder lang beide
Individuen wieder „ganz“ ſind.
Bloß: es ſind halt zwei Individuen da ſtatt des einen
urſprünglichen. Nun verſetze dich in die Individualſeele dieſes
anfänglichen Seeſterns vor der Teilung und mache die Teilung
ſeeliſch mit ..... was ſoll das Tier „denken“ dabei? Wie
lange ſoll es denken als „es“, als „Eins“, — und von wann
ab ſollen zwei Seelen ihr eigenes Denk-Ich bilden? Iſt die
Trennung ein „Tod“, bei der ein Individuum „ſtirbt“ —
oder iſt ſie ein Schritt zu erweitertem Leben, eine Fortpflanzung,
bei der das eine Individuum in eine höhere Form eingeht?
Vielleicht benutzeſt du die Muße eines Badeaufenthalts
an der Nordſee, wo dir die Flut alle Tage große und kleine
rote und gelbe Sternchen ihres blauen Waſſerhimmels vor die
Füße ſpült, einmal zum Nachdenken über dieſe Fragen. Ver¬
laß dich darauf, daß ſie dich weiterführen werden als viele
Bände ſpekulativer Philoſophie und Theologie, — einerlei,
wohin du nun auch ſchließlich gelangen magſt.
[279]
„Welch neues Geheimnis in Mitte der
ScharenWill unſeren Augen ſich offenbaren?Was flammt um die Muſchel um
Galatees Füße?Bald lodert es mächtig, bald lieblich,
bald ſüße,Als wär' es von Pulſen der Liebe ge¬
rührt.“
Du haſt auf der Schule allerlei hübſche Sachen gelernt.
Ich will dich im Schlafe anſtoßen und anfangen: Panis,
piscis, ſo wirſt du fortfahren: Crinis, finis. Als alter Mann
wirſt du noch, wenn du etwas zu viel Hummerſalat gegeſſen
haſt, im Albdruck des Traumes unregelmäßige griechiſche Verba
oder irreale Bedingungsſätze herſagen, ſtecken bleiben und Arreſt
bekommen. Und mit dieſen Dingen haſt du nun deine ſchönſten
Jahre, da in dir die Phantaſie wie ein junger Blütengarten
aufknoſpete, auf grauer Schulbank verbracht. Dieſe Dinge
waren die humaniſtiſche Mitgift, auf der du nachher den idealen
Teil deiner Weltanſchauung aufbauen ſollteſt.
Ich will dich aber fragen, und zwar nicht im Schlafe,
ſondern in deinen geweckteſten Augenblicken: was iſt die Auſter
auf deiner Tafel, ſo ſtehſt du ratlos.
Und du tröſteſt dich höchſtens, daß die Auſter niemals
Zuſammenhang haben könne mit deiner Weltanſchauung. Es
[280] wird Geld verdient, um ſie zu bezahlen. Und dann wird ſie
gegeſſen, mit oder ohne Zitrone. Das haben die alten
Schlemmer an der Tafel des Horaz auch ſchon ſo gemacht
und wußten ebenſo wenig, was das für ein Geſchöpf war.
Sie kannten aber die irrealen Bedingungsſätze und vermachten
ſie uns und die gehören nun als unumgänglich nötiger Be¬
ſtandteil zu unſerer humaniſtiſchen Bildung. Darüber ließe
ſich nun ſehr ſtreiten.
Die Auſter iſt aber auf alle Fälle eigentlich ein zu liebens¬
würdiger Gegenſtand, um ſich über ſie weg zu ſtreiten, und
ſo ſei es ferne von uns.
Für mich hat jede Auſter ein gut Stück Poeſie. Ich ge¬
denke ſtiller Lebensſtunden, die ich ſo nicht miſſen möchte in
der Erinnerung. Stunden, wo der einfache Genuß in eine
gewiſſe weihevolle Vergeiſtigung überging. Liebe Mädchenköpfe
tauchen mir auf — und allerlei ..... Sicherlich von ſämt¬
lichen kulinariſchen Hochgaben iſt die Auſter eine der idealſten.
Nur ganz wenige können ſich mit ihr meſſen, — charakte¬
riſtiſcherweiſe lauter „reine“ Speiſen, die keiner eigentlichen
Zubereitung mehr bedürfen. Zum Beiſpiel die Trüffel. Was
ſonſt nur vom Getränk, vom Wein gilt: die Auſter hat Blume.
Und ſie hat Perſpektive. Wie der Duft der Trüffel ferne
fort in die wurzelverſponnene Dornröschenheimlichkeit des ver¬
wunſchenen Waldes, zu dem Grabe Merlins lockt, der unter
flammendgrünen tauſendjährigen Eichen ſchläft, ſo läßt die
Auſter dich weit im Binnenland im Geiſte hinauswandern an
die See mit ihrem Salzatem, ihrem Schaum, abgrundtief
hinein in das ſchwarzgrüne Rieſenmärchen des ewigen Meeres,
das weiße Kämme wirft und über dem die Möwen wie Flocken
wehen.
Und der Geiſt ſchwebt mit der Möwe von dem einen
Märchen zu dem anderen. Wie einſt alle Menſchen, alle, bei
Auſtern und altem Rheinwein ſäßen, einig und verſöhnt und
endlich alle wirklich daheim auf dieſer reichen Erde, die von
[281] Auſtern und von Trauben ſchwillt, wenn die Menſchen ſich nur
helfen, nur verſtändigen wollten .....
„Wie in der Muſchel das heilige MeerWehmütig träumend klingt,Alſo durch meine SeeleTräumende Sehnſucht ſingt.“
Die Auſter iſt ein Tier. So viel weißt du wenigſtens
als gewiß, nicht wahr?
Ein äußerſt friedliches freilich, — ſie läßt ſich von dir
ja lebendig aufeſſen und regt ſich nicht. Vor dem Pflanzen¬
ſchlaf, der ſie zu umfangen ſcheint, müßteſt du eigentlich ſtutzen,
ob das wirklich noch ein Tier ſei. Mindeſtens wirſt du auf
ein ganz niedriges raten. Denke dir einen Wurm, wie er ſich
krümmen würde, wenn du ihm ſein Verſteck ſprengteſt und ihn
auf einer Schüſſel noch lebend ins elektriſch helle Kabinett eines
Großſtadtreſtaurants brächteſt. Und doch iſt dieſe regloſe Mär¬
tyrerin höher organiſiert als ein einfacher Wurm.
Mit ihr trittſt du in ein zweites jener vier Stockwerke
höheren tieriſchen Lebens, die ſich über den Würmern erheben.
Du ſtehſt vor den Weichtieren.
Zwei Gruppen ſolcher Weichtiere begegnen dir im Leben
auf Schritt und Tritt, zwei, die du freilich in eins zuſammen
und durcheinander zu werfen pflegſt. Unſer Sprachgebrauch
ſondert ſie an ſich vollkommen richtig voneinander ab durch
zwei Worte, aber der Laie weiß eben dieſe Worte nicht richtig
zu gebrauchen und hält ſie wohl einfach für Synonyma.
Das eine Wort lautet Muſchel, das andere Schnecke.
Grob getrennt, läßt ſich definieren: die Muſchel iſt das
Weichtier, das zwiſchen zwei Schalen ſteckt wie eine Scheibe
roten Schinkens zwiſchen zwei weißen Brotſchnitten. Die köſt¬
liche Auſter in ihrem unſcheinbaren Röcklein iſt eine ſolche
Muſchel und nicht minder die blaue Miesmuſchel mit dem
dottergelben Kern. Dagegen iſt die Schnecke entweder ganz
nackt wie unſere große rote, ſchwarze oder weißlichgrüne Weg¬
[282] ſchnecke. Oder ſie hat wie unſere eßbare Weinbergſchnecke eine
einzelne, meiſt gewundene Schale, ein „Haus“, aus dem ſie
beliebig aus- und einkriechen kann.
Die Schnecke iſt nach jeder Richtung das höher gebildete
Weichtier neben der Muſchel, ſie hat einen deutlich geſonderten,
meiſt mit beweglichen Fühlern und Augen verſehenen Kopf und
ſie hat nicht bloß Vertreter im Waſſer, die mit Kiemen atmen,
wie es alle Muſcheln ausnahmslos thun, ſondern es giebt auch
landbewohnende Schnecken, die direkt durch Lungen wie wir
Menſchen Luft einſchöpfen.
Im Sinne geſchichtlicher Entwickelung wird das Verhältnis
beider Gruppen wohl ſo ſein, daß vor Zeiten aus Würmern
gewiſſe Ur-Schnecken entſtanden ſind, aus denen ſich nach der
einen Seite die heutigen Schnecken entwickelt haben, während
nach der anderen Seite durch Anpaſſung an eine konſequent
ſitzende Lebensweiſe und eine damit verbundene unzweifelhafte
Degeneration die Muſcheln entſtanden ſind. Während du alſo
in der hübſchen Weinbergſchnecke eine Spitze und Zier des
Weichtierreiches verſpeiſt, ſchluckſt du im formloſen Klumpen
des Auſternleibes den verſtockten und etwas verkommenen Pfahl¬
bürger und Philiſter desſelben Reichs.
Und dieſer Gegenſatz ſpiegelt ſich ſehr anſchaulich auch im
Liebesleben beider, — der Schnecken wie der Muſcheln.
So viel Poeſie im Auſternſtübli und ſeinen ſtillen Freuden
ſteckt: von der Auſter iſt bei beſtem Willen keine irgendwie
anregende Liebesgeſchichte zu erzählen.
Die meiſten Muſcheln ſind doppelgeſchlechtig, haben aber
keinerlei Begattungsorgane und helfen ſich in der primitivſten,
nur im bewegten Waſſer möglichen Weiſe. Weiblein wie Männ¬
lein, nahe bei einander in ihren Schalen ſitzend, erzeugen und
entleeren zu ihrer Zeit das eine Eier, das andere Samen.
[283]
Das Weiblein hält bloß ſeine Eier noch loſe bei ſich feſt,
indem es ſie einfach in ſeinen Atmungsapparat, die ſogenannten
Kiemenblätter, wie in eine Fiſchreuſe vorläufig mal hineinſchluckt.
Das Männlein dagegen ſtößt ſeine Fracht offen heraus
und erfüllt zeitweilig das ganze Waſſer vor der aufgeklappten
Schale der Jungfrau mit eitel Samen. Die Jungfrau atmet
tief, — das heißt: ſie zieht einen großen Schluck Waſſer in
ihre Kiemen — und die Sache iſt gemacht: Samen und Eier
ſind beiſammen.
Später ſchwärmen die Jungen dann aus der mütterlichen
Atmungstaſche aus. Sie ſchwärmen. Du mußt dir nämlich
ein für allemal vorſtellen, daß die junge, friſch ausgeſchlüpfte
Muſchel zwar ſchon eine kleine Schale, aber noch keineswegs
mit ihr die ſeßhafte Neigung des alten Tieres zu beſitzen pflegt.
Beſonders die Jungen der meerbewohnenden Muſcheln ſchwimmen
und wimmeln noch längere Zeit mit ihrem Doppelſchälchen hucke¬
pack im offenen Waſſer umher und ſuchen ſich einen geeigneten
Ort zur Anſiedlung, ehe ſie endlich der zunehmenden Schwere
ihres natürlichen Häusleins nachgebend ſich wirklich irgendwo
dauernd feſtſetzen. Die Jungen der meiſten Süßwaſſermuſcheln
klammern ſich wenigſtens an Fiſche an und laſſen ſich von
dieſen oft mehrere Monate lang im Waſſer ſpazieren führen.
Im großen und ganzen iſt nun dieſer einfache Hergang
auch der Liebesroman unſerer Auſter. Bloß eine Beſonderheit
hat ſie voraus. Gerade ſie iſt nämlich als Ausnahme unter
ihren Schweſtern Zwitter: ſie erzeugt im gleichen Leibe, ja
ſogar geradezu im gleichen Organ Eier ſowohl wie Samen.
Trotzdem findet die Befruchtung ganz in der geſchilderten Weiſe
ſtatt. Denn die Natur hat einmal wieder ihr Geſetz gegen die
Selbſtbefruchtung mit Nachdruck durchgeſetzt.
Gewiß: dasſelbe Organ im Leibe eines und desſelben
Auſtertiers erzeugt Samen und Eier, Männliches und Weib¬
liches; aber es erzeugt beide nicht zu gleicher Zeit, ſondern
abwechſelnd. Heute ſproſſen Eier und löſen ſich ab, ſie
[284] ſchwimmen am Mutterleibe lang in den Atmungsapparat der
Mutter, die Mutter ſchluckt Waſſer, das von nachbarlich hilf¬
reicher Seite mit Samen geſchwängert iſt, und die Befruchtung
vollzieht ſich regelrecht bei dem einen Auſterindividuum von
einem zweiten her. Morgen aber wird unſere gleiche Mutter¬
auſter auf einmal zum Herrn Vater werden und bloß Samen
produzieren. Drüben beim Nachbar aber iſt jetzt umgekehrt
gerade der „Muttertag“, dort giebt's heute ſtatt Samen Eier
und der Samen von dieſer Seite gilt jetzt drüben als willkom¬
mener Atmungsſchluck, der da nun wieder die Eier befruchtet.
Unglaublich ſchier iſt bei ſolcher Doppelarbeit in der
Liebe die Maſſe der Eier, die jede Einzelauſter hervorbringen
kann: eine einzige ältere, liebeserfahrene Auſter kann mehr als
eine Million Eier im Jahre produzieren. Wirklich zur vollen Ent¬
wickelung kommt davon natürlich nur ein winziger Prozentſatz.
Immerhin iſt aber gar kein Zweifel, daß ſich durch ratio¬
nelle Auſternkultur, die ſich vor allem eine ſorgſame Pflege
der ausſchwärmenden jungen Brut zur Aufgabe ſtellt, gerade
die Auſter an all unſeren Seeküſten ſo vermehren ließe, daß
Auſtern zur billigſten Volksnahrung bis tief ins Binnenland
hinein werden könnten. Man ſagt: ein voller Bauch ſtudiert
nicht gern. Sozial geſprochen iſt das ein arger Unſinn. Ein
ſatter, vernünftig genährter Bauch fängt überhaupt erſt an zu
ſtudieren. Ob es nicht gerade für die Bildung der Menſchheit
doch von größerem Nutzen wäre, wenn man ſich in ihrem
Intereſſe etwas mehr um die Auſter als um die unregel¬
mäßigen griechiſchen Verba und die irrealen Bedingungsſätze
bekümmerte .....?
[285]
Male dir ein zierliches Bildchen mit Watteau-Farben aus.
Auf goldiggrünen Weinblättern nahen ſich von verſchiede¬
nen Seiten zwei große Schnecken der allbekannten Art mit dem
dicken braunen, undeutlich geſtreiften Haus. Sie wackeln an
und heben die Köpfe. Aber auf einmal erkennſt du: die grauen
Schneckenleiber ſind roſige Engelchen geworden, kleine ſchalk¬
hafte Amoretten, die nur wie im Scherz ſich als Schellenkappen
die langen geknöpften Fühlhörner auf die Köpfchen geſtülpt
haben. Und nun ziehen die beiden Schelme unter ihren Schutz¬
dächern zierliche Bogen hervor, zielen aufeinander und be¬
ſchießen ſich mit winzigen ſilbernen Pfeilen, — Liebespfeilen,
die untrüglich ins Herz treffen, obwohl ſie keine wirklichen
blutenden Wunden ſchlagen .....
Huſch, iſt die Zauberei verſchwunden: es ſind wieder bloß
zwei alte fette gefräßige Weinbergſchnecken. Und doch haſt
du etwas mit den Augen der Poeſie geſehen, was die Natur¬
geſchichte in ihrer Weiſe auch zu berichten weiß.
In der Liebesgeſchichte der Schnecken erzählt auch die
ſtrenge Wiſſenſchaft von „Liebespfeilen“, deren ſich die Lieben¬
den bedienen. Bloß, wie immer, geht die Geſchichte eher nach
Ariſtophanes zu als nach Petrarca .....
Eine ſolche Schnecke iſt für den Laienverſtand immer noch
ein gut Teil verſtändlicher in ihrem Geſamtbau, als eine
[286] Auſter. Gegen den ſcheinbar regelloſen Brei der geöffneten
Muſchel, der beinah wie ſchon einmal zerkaut und weggeſpuckt
ausſieht, erſcheint die Schnecke wohl proportioniert. Du erkennſt,
wo Kopf und Leibesende, Rücken und Bauch ſitzen. Beine
hat's freilich nicht und auf dem Kopf dräuen ſtatt deutlicher
Augen und Ohren jene wunderlichen ſtreckbaren Fühler, die
nur unwiſſende Kinder die „Ohren“ nennen. Das größere
Paar trägt in Wahrheit je ein kleines, ziemlich ſchlechtes Auge.
Nicht weit hinter dem rechten Augenfühler aber öffnet ſich
ein kleines Loch, und dieſes, ſo nahe dem Kopf an ſeltſamſter
Stelle, iſt nichts anderes als die Geſchlechtsöffnung. Wenn
du dir eine lebende Schnecke darauf anſiehſt, ſo mußt du es
nur nicht mit dem großen Atemloch der Lunge verwechſeln,
das noch weiter zurückliegt.
Nicht leicht hat ein zweites Tier hinter ſolcher ſchlichten
Öffnung einen ſo verzwickten Apparat ſitzen wie dieſe gute
Schnecke hinter ihrem Geſchlechtsthor. Als Grundthatſache: die
Weinbergſchnecke iſt Zwitter genau wie die Auſter. Tief im
Leibe beſitzt ſie eine ſogenannte Zwitterdrüſe, in der in wunder¬
ſamſter Vermengung beide Stoffe, Mannesſamen und Weiber¬
eier, je nach Bedarf produziert werden. Zuſammenkommen im
Sinne einer Befruchtung dürfen beide Stoffe im gleichen Mutter¬
ſchoße aber auch hier bei Leibe nicht. Von der Zwitterdrüſe
herab bis zu jenem äußeren Geſchlechtsthor führt eine außer¬
ordentlich verwickelte Kanalleitung, in der ſowohl Eier wie
Samentierchen beliebig herabverfrachtet werden können. An
einer Stelle zweigt ſich von dem Hauptkanal, der ſenkrecht zu
dem Thore leitet, ein feiner Nebenkanal ab, in den ausſchlie߬
lich die Samentierchen hineinkönnen. Er führt ſie nach kurzem
Lauf in ein ganz gewaltig großes Reſervoir, das nichts anderes
iſt als ein rieſiges, vorſtülpbares Begattungsglied. Dieſes Be¬
gattungsglied mündet ſelber ſchließlich auch noch dicht bei dem
äußeren Geſchlechtsthor, und wenn es ſich vorſtülpt, ſo kann es
die Samentierchen durch dieſes Thor bei paſſender Gelegenheit
[287] ebenſo hinausſchleudern, wie die direkt zu dem Thore abſteigenden
Eier dort aus dem Körper des Muttertiers treten können, wenn
es ſein ſoll.
Zunächſt bleiben die Samentierchen aber eine Weile tief
in dem eingezogenen Begattungsgliede liegen und machen hier
noch etwas Toilette. Durch abgeſonderten kittenden Schleim
werden ſie nämlich zu einem einheitlichen Klumpen verſchmolzen,
einer ſogenannten Samenpatrone. Dieſe Samenpatrone hat
ihren ganz beſonderen Zweck, wie wir gleich ſehen werden.
Mit dieſen umſtändlichen Dingen iſt nun im ganzen der
Apparat der Schnecke noch nicht erſchöpft, er beſitzt noch zwei
verwickelte Nebenmaſchinen. Zunächſt iſt da noch ein leerer
Keſſel, der in einem Separatkanal ebenfalls mit dem großen
Geſchlechtsthor verbunden iſt. Von innen erhält er keinerlei
Füllung, weder Eier noch Samen. Er ſcheint eben gemacht,
von außen durch jenes Thor etwas aufzunehmen — und da¬
von werden wir denn auch gleich hören.
Dann iſt aber dicht an der Geſchlechtsöffnung noch ein
viertes Ding, und das iſt offenbar das allermerkwürdigſte. Es
iſt ein nach dem Loch zu öffenbares Etui, eine ſackartige Hülſe,
in der ein kleiner Gegenſtand aus Kalkmaſſe von Geſtalt eines
ſpitzen Säbelchens oder Pfeilchens ſteckt. Auch dieſes Rätſel¬
ding hat zu den Eiern und Samen direkt abſolut keine Be¬
ziehung: es muß wohl auch auf etwas warten, was von außen
kommen ſoll.
Verlaſſen wir jetzt das Innere unſerer Schnecke, wo wir
alle dieſe Zeichen und Wunder entdeckt haben, und ſehen wir
eine Weile dem ganzen Tiere von außen zu. Seine Geſchlechts¬
produkte gären ihm in üppiger Reife im Leibe, aber es kann
in ſich ſelbſt allein ſchlechterdings nichts damit anfangen. Wohl
wäre eine Selbſtbegattung an ſich, dem Apparat nach, leicht
genug. Das bewegliche, vorſtreckbare Begattungsglied brauchte
ſich bloß, mit ſeiner Samenpatrone bewaffnet, etwas in den
großen Kanal, durch den die Eier herabſteigen, heraufzubiegen
[288] und ſeine Patrone auf die jetzt und hier vollkommen befruch¬
tungsfähigen Eier loszuſchießen. Oder, falls die Eier noch nicht
gleich da ſind, brauchte es bloß die Patrone einſtweilen in jenen
ſcheinbar zwecklos leeren Reſervekeſſel hineinzuſchieben, — zur
rechten Zeit könnte ſie dann von ſelbſt den Eiern, wenn ſie
herabkämen, auf den Kopf fallen.
Aber unſere Schnecke ſcheint weit entfernt von ſolcher, im
Sinne des Naturverbots der Selbſtbefruchtung zweifellos „per¬
verſen“ Handlung. Sie bleibt auf dem Boden der „Moral“,
freilich wohl im Sinne einer Moralhandlung nicht ſo ſehr auf
Grund des kategoriſchen Imperativs, ſondern mehr aus gewiſſen
Nützlichkeitsgründen. Sie hofft noch etwas Beſonderes, das ihr
die ganze Selbſtbefruchterei offenbar niemals geben würde. Und
dieſes „Andere“ taucht alsbald jetzt wirklich auf, — einfach
in Geſtalt einer anderen Schnecke ihrer Art.
Da kommt ſie daher, durch den naſſen Maientag, gravi¬
tätiſch nach Schneckenbrauch. Gebaut wie ihre Partnerin —
die Worte Braut und Bräutigam laſſen ſich hier nicht an¬
wenden —, hat ſie auch dieſelben Wünſche. Aber man merkt,
daß man nicht mehr bei ganz niederen Tieren iſt. Es tritt
ein ſeeliſches Element hinzu.
Die beiden Schnecken gehen nicht gleich aufeinander los.
Sie umkreiſen einander erſt mit einer Art von drolligſtem
Schneckentanze, ehe ſie ſich berühren. Dann richten ſie ſich auf
einmal beide ein Stück weit auf, preſſen Leibesſohle, ſo weit
es die Stellung zuläßt, gegen Leibesſohle und ſchnäbeln eine
Weile anmutig mit den Fühlhörnern.
Steht endlich Geſchlechtsthor nahe genug dem Geſchlechts¬
thor gegenüber, ſo ſchnellt auf einmal jeder Liebespartner auf
den andern aus ſeiner Pforte heraus jenes kleine ſpitze Kalk¬
pfeilchen: den Liebespfeil.
Die gute Abſicht — die freilich nicht immer im Eifer er¬
reicht wird — iſt, genau die Liebespforte des andern mit dem
Pfeil zu treffen. Wohl ziemlich ſicher handelt es ſich dabei
[289] um eine beſondere geſchlechtliche Reizung, deren Detail wir nur
mit unſerem beſchränkten Menſchenverſtande, der nicht in die
Geheimniſſe der verliebten Schneckenſeele ſelbſt hineinzuſchauen
vermag, nicht ganz klar zu ergründen vermögen. Iſt der
Liebespfeil aus ſeinem Köcher geſchnellt, ſo geht der eigentliche
Naturakt des weiteren raſch und glatt von ſtatten. Von beiden
Parteien werden die Begattungsglieder gleichzeitig vorgeſtülpt
und je in des Genoſſen Geſchlechtspforte eingeſenkt. Jetzt,
nachdem die Liebespfeile ihre Thätigkeit bewährt, zeigt ſich auch,
warum der leere Keſſel da drinnen vorhanden war. In ihn
greift jetzt das fremde Geſchlechtsglied ein und ſetzt hier jene
wohl verpackte Samenpatrone ab, auf daß ihr Inhalt gelegenen¬
falles auf die vorbeidrängenden Eier wohlthätig herabregne und
die Befruchtung vollziehe.
So empfängt auch hier jede der beiden Schnecken als Weib
und giebt zugleich als Mann. Iſt der große Akt aber vorbei,
ſo bleibt jede zunächſt nur noch eins: nämlich Mutter.
Die befruchteten Eier reifen vollends aus, indem ſie durch
beſondere Drüſenabſonderungen noch im Leibe der Alten mit
einer ſchönen harten Kalkſchale umgeben werden, die ihnen eine
auffällige Ähnlichkeit mit ſchneeweißen Vogeleiern verleiht. Bei
unſeren einheimiſchen Arten natürlich mit unendlich liliputaniſchen
Vogeleiern von höchſtens ſechs Millimetern Durchmeſſer. Doch
giebt es ſüdamerikaniſche Landſchnecken, die allen Ernſtes ein
Ei legen ſo groß wie ein volles Taubenei. Unſere Weinberg¬
mutter legt durchſchnittlich immer ein Eierhäufchen von ſechzig
bis achtzig Stück hintereinander ab. Ehe ſie aber daran geht,
baut ſie ſich ſelbſt eine ſichere Wiege dazu. Sie, die ſonſt nicht
an Graben denkt, wühlt ſich auf einmal mit dem Vorderkörper,
ſo weit ſie ihn nur aus ihrem Hauſe zu drängen vermag, tief
in feuchte Erde ein, bis ein rundes Loch von etwa ſieben Zenti¬
meter Tiefgang offen iſt. Über dieſes Loch kauert ſie ſich dann
hin, immer ſo, daß ihr Schneckenhaus das Ganze von oben
zudeckt und verbirgt. Jetzt erſt werden die Eier in Zeit von
19[290] ein bis zwei Tagen hineingeheckt, und kaum iſt die Zahl voll,
ſo ſcharrt die beſorgte Alte auch ſchon wieder mit Erde die
ganze Wiege zu, daß ihre Spur nicht mehr gefunden werde.
Nach Monatsfriſt ſteigen die Jungen endlich, fertig entwickelt
zum Freileben an der Luft, luſtig aus ihrem Wiegengrab hervor.
Wieder ſteht dir auf der Staffel vom Seeſtern zur Ma¬
donna eine neue Sproſſe vor dem Blick ..... an Stelle des
wilden Opfertodes für die aufkeimenden Jungen, den der Wurm
dir in ſo grauſigen Bildern bot, jetzt rührende Sorge für das
Wohl der erſt werdenden Jungen durch die lebende Mutter.
Die Mutterſorge, dieſes Stück überſtrömender, in neue Ziele
einlenkender Geſchlechtsliebe, tritt aus dem paſſiven Tode über
ins aktive Leben, — wieder ein Fingerzeig, wie in der Liebe
ſich Leben und Tod verſchlingt und höhere Liebesformen den
Tod zugleich aufheben in höheres Leben hinein .....
Laß mich das Bild der Schneckenliebe dir beſchließen noch
mit einem wilden Schauſpiel, das wie ein wahrer Dithyrambus
äußerſter Liebesenergie aus den Waſſern ſteigt.
Erinnerſt du dich der kleinen Leberegel, von denen ich dir
erzählt habe? Aus dem Gallengang der Schafe wanderten die
jungen Tiere in den Leib jener hübſchen Schlammſchnecken vom
Geſchlechte Limnäa in unſeren Teichen aus. Dort wuchs in
jedem winzigen Egelchen eine neue Egelbrut, die die Mutter
oder Amme innerlich zerquetſchte, und in den kleinſten Egeln
keimten dann, noch ehe ſie die Haut der toten Mutter geſprengt,
abermals allerkleinſte Enkelegel, die ihnen wieder den Garaus
machten. Dieſe Schreckenspyramide gipfelte ſich, wie geſagt, im
Innern von Schnecken auf, ohne daß die Schnecken ſelbſt ſich
darum bekümmerten.
Jetzt laß uns außen bei dieſen Schnecken im ganzen bleiben
und laß uns ſehen, was ſie unter ſich wieder für eigene Liebes¬
pyramiden türmen.
Dieſe Sumpfbewohner ſind echte Schnecken genau wie
unſere alte Weinbergſchnecke und ſie ſind innerlich Zwitter, alſo
[291] Mann und Weib in einem, gleich dieſer. Nur darin beſteht
ihre Eigenart, daß ſie ſtatt des einen Geſchlechtsthores, aus dem
beide Stoffe vortreten, deren zwei am Leibe beſitzen, ein männ¬
liches nahe dem Fühler und ein weibliches etwas weiter hinten,
näher dem Atemloch. Dieſe Trennung der äußeren Möglich¬
keit giebt aber jetzt die Grundlage zu Begattungskomplikationen,
die noch weit über die der Weinbergſchnecke hinausgehen.
Die Trennung im Apparat hat zunächſt die eine Folge
gezeitigt, daß trotz ihrer Zwitterei die Geſchlechter ſich gewohn¬
heitsmäßig nur ſo begegnen, daß das eine als Männchen auf¬
tritt und das andere als Weibchen. Sie begatten ſich alſo
Eins zu Zwei niemals ſo, daß jede Schnecke der anderen
giebt, von derſelben aber gleichzeitig auch nimmt. Sondern
eine Schnecke faßt die andere bloß ſo, daß ſie ihre männliche
(alſo weiter vorn liegende) Geſchlechtspforte auf die weibliche,
weiter hinten liegende der andern drückt und alſo bloß Mann
zu Weib die andere befruchtet.
Das wäre nun ſogar einfacher als die frühere Hiſtoria
im Weinberg. Aber nun denke dir mathematiſch ſcharf die
folgende Fortſetzung durch. Die eine Schnecke behandelt die
andere männlich. Dabei bleibt ihre eigene weibliche Geſchlechts¬
pforte, die weiter hinten liegt, natürlich in dieſer aktiven Hand¬
lung unbeteiligt. Nun erſcheint neben ihr aber eine dritte
Schnecke, ebenfalls bereit, als Mann zu funktionieren. Sie
findet die freie weibliche Öffnung der zweiten und beginnt hier
ihr Werk. Zwangsweiſe wird alſo jetzt jene zweite ihrem
Willen nach eigentlich bloß männliche Schnecke auch noch Weib
für die dritte. Dabei bleibt aber nunmehr bei der dritten
wieder die weibliche Pforte frei und hier meldet ſich alsbald
eine vierte Schnecke zum Manneswerk. So entſteht ſchließlich
eine ganze Kette. Erſt die zu allerletzt kommende Schnecke
bleibt nach ihrer weiblichen Seite wirklich frei und ſchließt als
der einzige faktiſch bloß als Mann engagierte Teil die Reihe,
deren erſtes Glied als Gegenpol bloß Weib iſt, während die
19*[292] ſämtlichen Zwiſchenglieder der Kette gleichzeitig aktiv Mann und
paſſiv Weib ſind.
Nun male dir zu dieſer grotesken Arabeske noch aus:
vielleicht in jeder dieſer Schnecken vollzieht ſich gleichzeitig jenes
grauſige Einſchachtelungsdrama der jungen Leberegel — und
du bekommſt einen hübſchen Begriff, was das alte Wort von
der „wilden Zeugungskraft der Natur“ wirklich beſagen will.
Wenn du ſtark genug biſt, der Natur ins Antlitz zu ſchauen,
ſo mußt du hier einen Schauer des Erhabenen fühlen, gewaltig,
wie wenn der Ozean tobt oder die Lawine vom Schneekoloß
donnert. Es iſt der Ozean des Lebens, der vor dir auf¬
brandet, die Lawine des unerſchöpflichen Werdens, die über dich
rollt.
[293]
Nimm eine Spinne. Setze ihr die ſtarren Glasaugen
eines Schellfiſchs ein. Gieb dem Körper das Naſſe, Schlüpfrige,
Weiche, Faltige, abſolut Nackte der Schnecke. Glätte aus den
Beinen die Gelenke fort, bis ſie Eingeweiden ähnlich werden,
ſich regellos kringeln wie ſolche und nur noch durch eine ge¬
heimnisvolle Saugkraft, die ſie an der Unterlage bald da bald
dort haften läßt, ſich mit dem dicken Körperſack des Spinnen¬
leibes von der Stelle ſchleppen. Im übrigen aber laſſe der
Spinne all das Wilde, Angreiferiſche, Räuberiſche ihrer Natur,
laſſe ihr ihre Kraft und Zähigkeit, ihre Intelligenz, die ſie
zum Herrn jeder Situation macht. Und nur, zum letzten,
mache ſie noch groß: wie eine Fauſt, wie einen Kopf, wie
einen Ochſen, ſchließlich wie einen Walfiſch.
Du haſt den Tintenfiſch.
Der Tintenfiſch hat eine unleugbar ſtarke Ähnlichkeit mit
der Spinne. Aber er iſt keine Spinne, iſt nicht einmal ver¬
wandt mit ihr, — ebenſowenig wie er ein Fiſch iſt.
Er iſt ein Weichtier, unmittelbar zuſammengehörig mit
jenen Muſcheln und Schnecken, ein Stammesbruder der Auſter
und der Weinbergſchnecke. Bloß daß er dieſe ſeine Genoſſen
weit überflügelt hat. Zerbrich ein Ei mit einem ſchon eben
angebrüteten Hühnchen und ſchütte die Maſſe auf einen Teller:
du haſt einen wüſten Gallertklumpen von undefinierbarer Geſtalt,
[294] der wie tot liegen bleibt; und halte dir daneben das erwachſene
Huhn, wie es dich anäugt mit einem Blick, der von einem
Gehirn kommt und zu einem Gehirn geht, wie es läuft, ſcharrt,
gackert und fliegt; ſo etwa ſtehen im Kontraſt zu einander das
eine niedrige und noch dazu degenerierte Weichtier: die Auſter,
und das andere, hoch entwickelte: der Tintenfiſch.
Der Tintenfiſch iſt die Krone ſeines Stammes.
Ein ſtarkes Gehirn zentraliſiert im Kopf ſeine Geiſtes¬
kräfte, und obwohl er ſonſt wenig Gerippe im weichen Körper
trägt, ſchützt doch dieſes Gehirn wie beim höheren Wirbeltier,
beim Froſch, Vogel oder Menſchen, eine beſondere knorpelharte
Schädelkapſel, die gewiß ſich nicht entwickelt hätte, wenn es
hier nicht etwas Ernſtes und Wertvolles zu ſchützen gäbe.
Intellekt hängt aber, das kann man beinahe wie ein Geſetz
ausſprechen, immer mit ſtarker Beweglichkeit zuſammen. Und
unendlich iſt denn auch hierin die Auſter übertroffen: der
Tintenfiſch iſt ein Schwimmer, Läufer, Kletterer, ja ſelbſt
Baukünſtler, der ſich mit Steinen verbarrikadiert, wie er in
ſeinem Element, dem Seewaſſer, ſeines gleichen ſucht. Bloß
in der äußeren Geſtalt klebt ihm noch etwas Stammeserbe an,
es ſteckt etwas Barockes, Verrücktes in ſeinem Bau: die Arme
ſitzen auf dem Kopf oberhalb der Augen und rings um den
gefräßigen Mund, und ſie packen ihre Beute, indem ſie ſich
mit einer Reihe von Schröpfköpfen unabſchüttelbar an ihr
feſtſaugen. Die Ungeſtalt wird um ſo auffälliger bei der
Größe, die ſchließlich ins Koloſſale geht.
Denn der Tintenfiſch iſt, in ſeinen rieſigſten Arten, der
„Krake“ der Schifferſagen, von dem Exemplare bis zu zwanzig
Metern Geſamtlänge vorkommen. Eine Spinne von dieſer
Grüße würde zweifellos das entſetzlichſte aller Landtiere und
das Schreckensmärchen aller Völker ſein.
Die Tintenfiſche ſind uralt. Sie erſcheinen in ungeheuren
Maſſen faſt ſchon an der Stelle, wo für unſer Wiſſen der
Vorhang über dem Leben in der Erdgeſchichte aufgeht. Von
[295] früh an ſcheint ſich die ganze Intelligenz des Weichtierſtammes
hierher konzentriert zu haben. Von allen Tierformen, die wir
bisher betrachtet haben, ſind ſie überhaupt die „ſeeliſchſten“.
Aber es iſt eine wilde Räuberſeele, die uns entgegentritt,
aller Intellekt angeſpannt auf rückſichtsloſen Kampf, gegen
Fremde wie gegen ſeinesgleichen. In dieſem klugen, aber
ewig kriegeriſchen Daſein kann auch die Liebe nicht gut ein
Idyll ſein, das läßt ſich vorausſehen. In der That erſcheint
ſie wie eine Probe auf die ganze Charakteriſtik des Tiers.
Der Intellekt kommt in ihr zum Ausdruck. Die Räubernatur.
Und dann auch das erwähnte Weichtier-Erbe des etwas Ver¬
rückten, wie aus unmöglichen Stücken Zuſammengenagelten.
Stelle dir vor, daß der Geſchlechtsakt nicht bloß den
Endzweck hätte, die männliche Samenflüſſigkeit in das Leibes¬
innere des Weibes zu bringen, ſondern daß die Schlußkataſtrophe
vielmehr ſo verliefe, daß das männliche Glied vom Körper
des Mannes mit einem furchtbaren Ruck losriſſe und in der
weiblichen Scheide auf Niemehrwiederſehen verſchwände. Das
iſt die Situation des Tintenfiſchs.
Im Grunde iſt der Tintenfiſch auch geſchlechtlich ein hoch¬
entwickeltes Tier.
Das geſchlechtliche Zwitterweſen, wie es die Schnecken ſo
ausgiebig zeigen, das rohe Samenausſchütten auf gut Glück,
wie es bei den Auſtern vorkommt, nichts von alledem macht
er mit. Stets iſt er regelrecht zweigeſchlechtig: Tintenmann
und Tintenweib. Und beide Geſchlechter ſcheinen mit ihren
langen Armen wie geſchaffen zu einer regelrechten Begattung
in einem Moment engſter Umklammerung. Wirklich ſieht man
ſie, wenn die rechte Laune ſich einſtellt, dazu ſchreiten. Schon
äußerlich geht es aber wüſt genug dabei zu.
In den prachtvollen Becken der zoologiſchen Station zu
Neapel, wo ſo viel ſcheues Getier der Tiefe ſeine diskreteſten
Herzensgeheimniſſe hat offenbaren müſſen, iſt auch die Hochzeit
der Tintenfiſche gelegentlich genau beobachtet worden.
[296]
Dicht an der Innenfläche des Aquariumfenſters packten
ſich zwei liebestolle „Kraken“ und begannen, wie ein Zuſchauer
berichtet, einen Tanz miteinander, daß man meinte, es gehe
auf Leben und Tod. Die Tiere ſchaukeln halb frei im Waſſer,
einer Spinne gleich, die auf ihrem Netze ſchwebt. Das ſtützende
Netz bilden dabei einige der langen Arme ſelbſt, die mit ihren
Saugnäpfen hier an der Glasſcheibe, dort an den Steinen der
Beckenwand haften und ſo die dicken Leiber frei balancieren.
Was von Armen nicht nötig iſt, umklammert ſich dagegen zu
unzerreißbarem Knäuel, als gälte es die Knebelung eines Beute¬
opfers, das gefreſſen werden ſoll. Die Augen funkeln, die
runden Bäuche, deren Haut bei den Tintenfiſchen die Gabe
beliebigen Farbenwechſels wie beim Chamäleon beſitzt, färben
ſich dunkelbraun und wenden und blähen ſich ſo heftig, daß
das Waſſer in mächtige Wallung gerät. Über eine Stunde
lang dauert die verliebte Balgerei. Rückſichtslos wird der
Genoſſe bald faſt zum Platzen gepreßt, bald dieſer oder jener
angeſaugte Arm ſo gewaltſam wieder von ihm losgeriſſen,
daß die Haut in Fetzen geht.
Kein Wunder aber: all dieſes Ungeſtüm. Denn die Be¬
gattung der Tintenfiſche macht, in ihren anatomiſchen Details
betrachtet, wie Ibſens Baumeiſter Solneß ſagt: das Unmög¬
liche möglich.
Die innerliche Begattung der Tiere wird, im Gegenſatz
zu andern Formen, wie du weißt und auch im Laufe unſerer
Betrachtung hier jetzt ſchon mehrfach bei niederen Tieren beob¬
achtet haſt, ſo vollzogen, daß ein Körperteil des Männchens
in den Leib des Weibchens eingeführt werden muß. Es iſt
keine Frage, daß dieſe Methode für den Gattungszweck ſelbſt
ziemlich ſicher iſt. Aber ſie hat auch ihre unverkennbaren
Schattenſeiten.
Je mehr die Tiere ſich kompliziert haben, große, freie
Bewegungsmaſchinen geworden ſind, deſto unbequemer iſt dieſer
Einigungsprozeß geworden. Wir ſehen in der ganzen höheren
[297] Tierentwickelung eine Tendenz, die vom Feſthaften, Ankleben,
Einwurzeln fortführt. Deshalb, weil er nicht mehr ſo an der
Scholle feſtniſtet, ſondern zeitlebens als freies Individuum mit
jeweiliger ſchutzentſprechender Selbſtbeſtimmung ſich herum¬
bewegt, ſetzen wir den Tintenfiſch hoch über die Auſter. Und
im höchſten Stamm des ganzen Tierreichs, bei den Wirbel¬
tieren, giebt es überhaupt keine gewohnheitsmäßig angewachſenen
oder eingewurzelten Weſen mehr. Der Begattungsakt iſt aber
nun überall eine letzte Stelle, wo wenigſtens noch für einen
Moment eine ſolche Einwurzelei und Feſthafterei auf alle Fälle
ſtattfinden ſoll. Erklärlich genug, daß das die denkbar höchſten
Unbequemlichkeiten, unmögliche Akte, Lagen und Stellungen
in Menge hervorruft. Der Menſch hat wohl ein Recht, von
dieſem Intermezzo höheren tieriſchen Lebens zu ſagen, was
Helmholtz vom menſchlichen Auge ſagte: alle Geſamtleiſtung
in Ehren, würde er doch einen menſchlichen Mechanikus, der
ihm einen Apparat mit ſo viel Mängeln und überflüſſigen
Erſchwerungen gebracht hätte, als Stümper ſamt ſeinem Werk
in Schanden heimgeſchickt haben. Solche „Unpraktiſchkeiten“
der Natur ſind im höheren Sinne ja lehrreich. Sie zeigen,
wie die Welt der tieriſchen Dinge nicht vorgeplante Schöpfer¬
weisheit, ſondern das Ergebnis unendlich langſamer, ſchwieriger
„Selbſtmache“ im Verlaufe ungezählter Generationen iſt. Aber
in der Praxis bleibt das Teufelsendchen des Unbequemen auf
alle Fälle. Im Tintenfiſch ſehen wir die Beweglichkeit des
Individuums um einen rieſigen Ruck gegen die Auſter etwa
erhöht. Aber doppelt und dreifach deshalb die Schwierigkeit
einer regelrechten Einwurzelung des Männchens im Weibchen
bei der Begattung.
Tintenmann und Tintenweib haben ihre eigentlichen Ge¬
ſchlechtsorgane, wo die Sache gebraut wird, tief drinnen im
Leibesſack, eng verknüpft mit den übrigen Eingeweiden. Der
Tintenmann hat da ſeinen Hoden (nur einen), in dem die
Samentierchen fabriziert werden, das Tintenweib ſeinen (eben¬
[298] falls einteiligen) Eierſtock, der unbefruchtete Eier liefert.
Samenwerkſtatt wie Eierwerkſtatt haben jede ihre äußere
Öffnung, durch die das Fabrikat in Umlauf kommen könnte,
und es wäre nun an und für ſich wohl das Plauſibele, wenn
der Tintenmann bei jener wüſten Umklammerei, wie ſie oben
geſchildert iſt, ſeine Samenpforte unmittelbar an das weibliche
Eierthor brächte und ſo die Befruchtung vollzöge.
Aber ſo einfach geht das leider nicht, hier kommt eben
die ganz konfuſe, abſonderliche Bauart des Tintenfiſchkörpers
in Betracht. Der Tintenfiſch hat oben ſeinen regelrechten
Kopf, kenntlich an den zwei Glotzaugen und der Schnauze.
Um die Schnauze herum ſtehen die Beine. Der Reſt des
Körpers iſt ein einfacher, äußerlich nicht mehr gegliederter
Sack, der, wenn das Tier köpflings auf ſeinen Beinen läuft,
ſich heraufwölbt wie ein einziges großes Hinterteil. Nach dem
Muſter anderer höherer Tiere ſollte man erwarten, daß etwa
am Ende dieſes Leibesſackes mindeſtens eine zweite Öffnung
ſich fände, die als After und Geſchlechtsthor diente. Aber da
hinten iſt alles rund und glatt wie ein Apfel. Dafür findet
ſich dicht unter dem Kopfe an der Bauchſeite ein Spalt, ähnlich
etwa dem Spalt einer Kieme, wie ſie der Fiſch zu Atmungs¬
zwecken beſitzt. Neben dem Spalt kommt noch eine kleine be¬
ſondere Öffnung wie das Mundloch einer Röhre hervor. Spalt
wie Röhre führen nebeneinander in eine merkwürdige Höhlung
des Innenleibes, die wie eine äußere Taſche am Bauch herab¬
geht. Es zeigt ſich, wenn man die Taſche aufdeckt, daß der
ganze Leibesſack des Tintenfiſchs eigentlich aus zwei Säcken
beſteht: einem innerlichen, wirklichen Leibesſack, der die Ein¬
geweide, Hoden, Eierſtock u. ſ. w. enthält, und einem äußeren
Hautſack, der den Innenſack wie ein loſer Mantel umkleidet.
Die ſcheinbare Taſche iſt nichts anderes als der offene Hohl¬
raum der Bauchſeite zwiſchen dem echten Leibesſack [und] dem
äußeren Mantel. Erſt in dieſen Hohlraum öffnen ſich vom
Innenſack her durch richtige Löcher die im tiefſten Innern
[299] gelegenen Geſchlechtswerkſtätten. Sollte der männliche Samen
alſo bei der Begattung durch irgend ein Organ des Tinten¬
mannes bis an die wahre weibliche Eierſtelle gebracht werden,
ſo müßte das betreffende männliche Organ erſt durch den er¬
wähnten Spalt oder Trichter in den großen Hohlraum ein¬
geführt werden. Du ahnſt, daß das ein gewaltig langes Be¬
gattungsglied nötig machte.
Die Sache wird aber noch komplizierter, wenn du ſiehſt,
daß dieſer Hohlraum und ſeine Außenöffnung für gewöhnlich
noch anderen wichtigen Zwecken ihres Beſitzers dienen. Sie
vermitteln zunächſt ſeine Atmung: in den Hohlraum öffnen
ſich ſeine Kiemen, die von dem durch den Spalt eintretenden
Meerwaſſer beſpült und mit Sauerſtoff verſorgt werden. Ferner
dient der Hohlraum als äußerſt ſinnreicher Schwimmapparat:
indem er Waſſer durch den Spalt aufnimmt, dann der Spalt
feſt zugepreßt und das Waſſer durch die erwähnte kleine Röhre
neben ihm gewaltſam ausgetrieben wird, entſteht ein kräftiger
Rückſtoß, der den ganzen leichten Tintenfiſch pfeilſchnell rück¬
wärts dahinſchießen läßt. Eine zeitweilige Verſperrung der
Hohlraumſpalte durch ein eindringendes Mannesglied würde
alſo, wie du begreifſt, hier ſowohl mit dem wichtigſten Be¬
wegungsmechanismus wie mit der Atmung in Kolliſion kommen:
es wäre, ins Menſchliche umgedeutet, ſchon allein das letztere
etwa ſo, wie wenn die Luftröhre des Weibes zugleich als
Scheide dienen und bei der Begattung das männliche Werkzeug
in die Stimmritze eingeführt werden ſollte!
Der Tintenfiſch, wie geſagt, macht das Unmögliche möglich.
Auf den erſten äußeren Anblick ſcheint es allerdings, als
habe der Tintenmann weder ein entſprechend langes noch ein
kurzes Geſchlechtsglied am Leibe, ſondern überhaupt keins.
Sein Leibesſack erſcheint als der gleiche lückenloſe Apfel wie
der des Tintenweibes, mit Spalt und Röhre, aber ohne jede
Andeutung eines beſonderen Mannesapparates. Aber der
Beobachter bei jenem wüſten Liebeskampf der Tintengatten
[300] erlebt dafür etwas ganz Unerwartetes. In der äußerſten
Steigerung des Umſchlingungsaktes ſteckt das Männchen plötzlich
einen ſeiner Arme in den Höhlungsſpalt des Weibchens,
und das Weib nimmt den ganzen Arm in ſich auf, als handle
es ſich um ein Begattungsglied .....
Der Arm iſt ein Begattungsglied.
Mangels eines ſolchen im gewöhnlichen Sinne iſt einfach
beim Tintenmann einer der gewöhnlichen Arme dazu her¬
gerichtet, in beſonderen Hautfalten oder Höhlungen die Samen¬
tierchen aufzunehmen. Im gegebenen Moment greift er wie
ein rieſiger Medizinlöffel den Hohlraum des weiblichen
Leibes hinein und gießt den koſtbaren Lebensſtoff an die nötige
Stelle, wo der Eierſtock ſich nach dieſem Hohlraum hin auf¬
thut. In wie weit dieſer Übertragungsakt für beide Teile mit
ſeeliſchen Wolluſtempfindungen verknüpft iſt, läßt ſich allerdings
ſchwer beſtimmen, — ſicherlich tritt gleich nach der Einführung
des Armes eine Beruhigung ein, die auch im Gefühl auf eine
Auslöſung, auf eine Gipfelüberwindung ſchließen läßt. Aber
gemütlich im mechaniſchen Sinne kann der Akt ſelbſt kaum
ſein. Denn es bleibt beſtehen, daß der Arm recta via dem
Weibe durch die Luftröhre kriecht.
Man denkt ſich nun, es müſſe mindeſtens von größtem
Vorteil ſein, wenn die Sperrung der Atemwege ſo raſch wie
möglich wieder aufhörte. Und in der Tendenz nach dieſem
Vorteil hin liegt zweifellos wohl die eigentliche Urſache zu
der Steigerung des Aktes, die eigentlich erſt allem die Krone
aufſetzt.
Bei einer Anzahl von Tintenfiſcharten reißt der Be¬
gattungsarm im Moment, da ihn das Weib im Leibe hat, an
der Wurzel einfach ab und fällt wie eine verſchluckte Beute
ganz in den Hohlraum hinunter, während das verſtümmelte
Männchen ruhig, als müßte es ſo ſein, ſeines Weges geht.
Der haarſträubende Liebesroman iſt damit noch nicht zu
Ende. Das abgeriſſene Mannesglied ringelt ſich in der Höhle
[301] des weiblichen Leibes ſelbſtändig herum wie ein Wurm, und
die erſten Beobachter, darunter der große Cuvier, haben ihn
auch ganz naiv für einen ſolchen, einen Eingeweidewurm, der
da in der Tiefe ſchmarotzerte, gehalten und mit einem beſonders
ſchönen Namen bedacht: Hektokotylus, der Wurm mit den
hundert Saugnäpfchen.
Zur freien Verfügung liegt da unten jetzt vor dem „Hekto¬
kotylus“ die weibliche Eileiteröffnung, und in Muße kann er
ſein Werk der Befruchtung beginnen. Es iſt, als ſei eine
kleine Kanone mit ihm im Innern des Weibes ſelber auf¬
geſtellt, die automatiſch Schuß um Schuß giebt, eine Liebes-
Mitrailleuſe, die das Männchen bloß wie ein guter Mechaniker
aufzuſtellen brauchte und nun ſich ſelber überlaſſen kann. Und
in der That: wie ein modernes Geſchütz nicht mehr bloß ein¬
fache Eiſenkugeln, ſondern explodierende Sprengbomben wirft,
die jeden Schuß eigentlich zu einem ganzen Sturzbad ver¬
heerender Eiſenteile machen, — ſo ſpeit dieſe erotiſche Kanone
des Hektokotylus nicht bloß einzelne Samentierchen gegen ihr
Ziel, ſondern wahre Samenkartätſchen, längliche Gebilde, die
zum Platzen mit Samentierchen gefüllt ſind.
Im Moment, wo dieſe Samenkartätſche aufprallt, bricht
vorne der höchſt kunſtreiche Verſchluß und die Samenladung
wird durch die Elaſticität der Wandung exploſionsartig heraus¬
geſchleudert.
Solcher zielbewußten Kanonade mit Sprenggeſchoſſen
widerſteht natürlich kein reifes Ei des Weibes: trotz aller
unendlichen Umwege vollzieht ſich auch hier ſchließlich das
große Myſterium, deſſen Zeuge wir ſo oft jetzt geweſen ſind:
das Mysterium magnum der Natur, auf das alle Wege auch
in unmöglichſter Verſchlingung doch ſchließlich hinleiten, das
Myſterium, mit dem das Individuum zur Gattung überſpringt
und in das Leben der Jahrtauſende tritt.
[302]
Ein ganz neues Bild.
Über blumenduftender Matte gaukeln farbenſchöne Schmetter¬
linge, — losgerungenen, mit der Kraft des Tieres frei ins
Blaue hinausbewegten Blüten gleich. Und unter ſchattigem
Walddach, im geheimnisvollen Halbdunkel uralter Fichten, regen
ſich Geſchöpfe, klein, aber wunderbar zierlich von Bau, —
Tiere, die in Städten wohnen, die ihren Forſt mit Straßen
durchziehen, die eine Art Sprache, eine Art Moral beſitzen,
die nicht einzeln, ſondern als feſte Staatenverbände beiſammen¬
leben, gemeinſam Kriege führen, — Tiere, die zur Kulturſtufe
der Viehzucht und des Ackerbaues übergegangen ſind .....
Uns ſtreift ein Ahnen, als näherten wir uns dem großen
Riß im Gewölk, wo das Tier Menſch wird. Aber noch iſt
es nicht der Menſch. Wir wandeln nicht einmal in der Linie
weiter, der dieſer Menſch entſproſſen iſt. Wir folgen jenem
dritten Seitenarm im oberen Stockwerk des Tierreichs, — dem
höchſten, der ſich im Laufe der unendlichen Jahresfolge, die
dieſer alte Planet Erde jetzt ſchon ſteht und Leben trägt, neben
dem letzten und allerhöchſten aufgethan hat, der zum Menſchen
wachſen ſollte.
Es iſt die Linie, die in der Ameiſe gipfelt.
Denkſt du dir den Menſchen von der Erde fort und die
engere Tierkette, die zu ihm gehört: den Fiſch, den Molch, die
Eidechſe, den Vogel und das niedere und mittlere Säugetier,
[303] ſo wäre die Ameiſe wahrſcheinlich der intellektuelle Gipfel des
ganzen Erdenballs. Man könnte ſich ſehr gut einen Planeten
vorſtellen, auf dem die Dinge ſo lägen. Das ganze Feſtland
dieſes Planeten durch die Arbeit von Jahrmillionen in Kultur¬
land umgeformt. Rieſenſtädte, mit Kuppeln und Gebäuden
von den verſchiedenſten Formen. Ausſtrahlend ein Netz von
geradlinigen Chauſſeen. Bis zum Horizont endloſe einförmige
Felder beſtimmter Kulturpflanzen, ab und zu unterbrochen nur
von Hürden, in denen ein ſeltſames Vieh gefüttert und zur
rechten Zeit gemolken wird. Die Herren dieſes Kulturplaneten
aber nicht zweibeinige, aufrecht ſchreitende Menſchen, ſondern
viel kleinere, ſechsbeinige, eigentümlich am Leibe gegliederte
Geſchöpfe: Ameiſen. Ameiſen von jenen höchſten, auch heute
bei uns exiſtierenden Gattungen, die in umfaſſenden ſozialen
Verbänden lebend ihre großartigen Bauten anlegen, beſtimmte,
ihnen angenehme Grasarten zu hegen und zu mehren wiſſen,
Blattläuſe wie Kühe einſperren, ſchützen und durch Melken
ihres Zuckerſaftes entleeren, und die nichts brauchten als
abſolute Konkurrenzfreiheit und die nötige Zeit, um ihren ge¬
ſamten Planeten ebenſo in „ihr Werk“ zu verwandeln, wie
es der Kulturmenſch jetzt ſeit einigen Jahrtauſenden ſo energiſch
zu thun begonnen hat.
Du kennſt die Ameiſe, wenn du auch vielleicht nicht
darüber unterrichtet biſt, daß ſie ſo hoch ſteht; du kennſt auch
den Schmetterling. Ameiſe ſowohl wie Schmetterling ſind
Inſekten.
Das Wort wird deutſch mit „Kerbtiere“ wiedergegeben, —
Tiere, die gewiſſe Kerben oder Einſchnitte an ihrem Leibe
zeigen, die dieſen Leib in mehrere unterſcheidbare Teile trennen.
Tiere, die außer Schmetterling und Ameiſe noch zu den In¬
ſekten gehören, umgeben dich auf Schritt und Tritt. Die
Fliege, die ſich dir eben auf die Naſe ſetzt, iſt ein Inſekt.
Ein Inſekt iſt das Heimchen, das an deinem Herde ſingt, ein
Inſekt der geſpenſtiſche ſchwarze Schwabe, der nächtlicher Weile
[304] in deinem Speiſeſchrank räubert, ein Inſekt der treue Floh,
dem nichts Menſchliches fremd iſt, ein Inſekt die Wanze, die
dein Lager teilen möchte. Inſekten ſind die Blattläuſe, die
deine Blumen am Fenſter ausſaugen, ein Inſekt iſt das
niedliche rote Marienkäferchen, das dir dieſe Blattläuſe weg¬
frißt und von dir mit dem alten Kreuzigungsgruß, den die
Menſchen ihren Wohlthätern entgegenbringen, unbarmherzig als
angeblicher „Blumenfeind“ zerquetſcht wird. Inſekten pflegſt
du als Imker im Bienenkorb, Inſekt iſt der grasgrüne Heu¬
ſchreck, der höchſtens ein zimperliches Mädchen erſchreckt, wie
die Horniſſe, von der man ſagt, daß ein Paar genügt, um
den Menſchen kampfunfähig zu machen. Ein Inſekt iſt die
dicke Termite, die in den Tropenländern ihre Burgen fünf
Meter hoch emportürmt, ein Inſekt die zarte Libelle, die wie
ein blaues Geiſtchen deine Kahnfahrt auf dem blumenumſäumten
Wieſenbach begleitet, ein Inſekt die ſchreckliche Phylloxera, die
deine ſtille Flaſche im Sorgenwinkel bedroht.
Alle dieſe Inſekten ſind ſich im inneren Bau ſehr ähnlich,
ſie ſind gleichſam alle über einen Leiſten geſchlagen. Allerdings
einen Leiſten, der faſt genau umgekehrt zu dem ſteht, nach dem
deine eigene werte Perſönlichkeit konſtruiert iſt.
Du als Menſch biſt ein ſogenanntes Wirbeltier und ge¬
hörſt einem ganz anderen Typus Tier an als das Inſekt. Die
Größe thut dabei am wenigſten: die Fledermaus, die ſo gut
ein waſchechtes Wirbeltier iſt, wie du, iſt zumeiſt nicht größer
als der Koloß unter den Schmetterlingen, der zimtrote chineſiſche
Atlasſpinner, der in die Verwandtſchaft der berühmten Seiden¬
ſpinner gehört und dreiundzwanzig Zentimeter klaftert. Ein
Inſekt auch ſo groß wie ein Menſch gedacht behielte im wich¬
tigſten ſeine ganze Eigenart.
Du als Menſch haſt ein inneres feſtes Knochengerüſt, das
die Weichteile ſtützt wie das Holzgeſtell in einer weichen Thon¬
figur. Die Muskeln ſetzen ſich nach außen an dieſe Knochen
an. Genau ſo iſt es bei jener Fledermaus, bei deinem Hund
[305] und deiner Katze, bei dem Hahn auf deinem Hühnerhof, der
Eidechſe an deiner Gartenmauer, dem Karpfen in deinem Fiſch¬
teich. Alle ſind dieſe gleich dir Wirbeltiere, ſo benannt nach
dem wichtigſten Stück jenes inneren Skeletts, der Wirbelſäule.
Das Inſekt aber hat keine leiſeſte Spur eines ſolchen
inneren Knochenſkeletts. Dafür beſitzt nun ſeine ganze Deck¬
haut eine eigentümlich ſolide Beſchaffenheit, für die man den
Ausdruck „äußeres Skelett“ oder „Hautſkelett“ hat erfinden
müſſen. Es lagert ſich darin ein holzartig unverwüſtlicher
Stoff, das Chitin, ab, und dieſer Chitinpanzer ſpinnt ſich mit
der Haut ſogar tief in das innere Röhrenwerk des Inſekten¬
leibes hinein, dem ganzen Körper eine große Feſtigkeit auch
dann verleihend, wenn die Chitindecke für unſer Gefühl gar
nicht direkt „hart“ iſt. Eine Mücke erſcheint uns beinah als
Exempel äußerſter Weichheit. Und trotzdem ſteckt auch ſie recht
ſolid für ihre kleinen Verhältniſſe in einem ſolchen Hautſkelett.
Ferner: du als Menſch haſt ein Rückenmark, das über
deinem Schlunde direkt in das Gehirn übergeht. Beim Inſekt
liegt der entſprechende Markſtrang an der Bauchſeite: ſtatt des
Rückenmarks giebt es alſo ein Bauchmark, das vorne die
Schlundöffnung wie eine Schlinge umfaßt und dann erſt über
ihr eine Art von Gehirn bildet. Umgekehrt liegt bei dir als
Wirbeltier das Herz nach vorne, diesſeits des Rückenmarks in
der Bruſt, beim Inſekt dagegen beſteht ein regelrechtes Rücken¬
herz. Nun nimm noch dazu, daß du vier Gliedmaßen am
Leibe haſt (kein Säugetier oder Vogel oder Reptil hat mehr),
das Inſekt dagegen allemal ſechs, — drei Paare regelrechter
Beine: es iſt alles in allem gewiß zwiſchen dir und dem Inſekt
ein ganz koloſſaler Unterſchied, der auch den Gedanken voll¬
kommen ausſchließt, es könne der Menſch ſich jemals unmittel¬
bar aus einem Inſekt, ſei es auch ſo klug wie die Ameiſe (die
ein ganz rieſiges Gehirn hat) entwickelt haben. Aus einer
Ameiſe hätte ſich immer nur eine „Über-Ameiſe“ mit menſchen¬
feinem Gehirn, aber ſonſt mit Hautſkelett, Bauchmark und
20[306] Rückenherz geſtalten können, — wogegen der Affe in ſeinem
Innenſkelett, Rückenmark und Herz ſchon ganz auf den Men¬
ſchen ging und bloß noch das ſtärkere Gehirn brauchte, um
es wirklich zu werden.
Dafür hängt das Inſekt aber mit ganz anderen Tier¬
gruppen aufs engſte zuſammen.
Du ſitzt ernſthaft bei der Arbeit. Plötzlich ſchauſt du auf.
Da laſſen ſich dir von der Decke deines Arbeitszimmers zwei
vergnügte Tiere herunter. Sie kommen an langen Fäden herab
und kümmern ſich bei einer offenbar ſehr wichtigen Beſchäftigung
nicht um Gott noch Menſchen. Jetzt ſind ſie eine Sekunde
beiſammen und jetzt pendeln ſie ſchon wieder auseinander.
Und jetzt klettert das eine pfeilſchnell empor, wobei es ausſieht,
als verſchlucke es ſeinen eigenen Faden und ſauſe ſo ſenkrecht
an die Decke. Nach einer Weile geht auch das andere nach.
Es iſt ein Pärchen Spinnen beim Liebesſpiel.
Die Spinne iſt kein Inſekt. Sie erlaubt ſich, acht Beine
ſtatt ſechſen zu haben und iſt auch ſonſt in mehrerem ſtrenge
Indivualiſtin. Aber wenn man ſie am Wirbeltier mißt, ſo iſt
doch alles: Bauchmark, Rückenherz, Chitinſkelett, ſo durch und
durch Inſektentypus, daß man ſie mindeſtens ganz nahe dabei
einreihen muß. Das Gleiche gilt von einem Tier, das bei
uns harmlos iſt, in den Tropen aber nicht ſelten die Liebens¬
würdigkeit hat, in aufdringlichſter Länge von über ein Viertel
Meter von der Hüttendecke dem Reiſenden ins Eſſen zu fallen,
wobei es noch obendrein giftig beißt: dem Tauſendfuß. Ferner
dem Skorpion, der wohl ſattſam bekannt iſt. Und endlich
einem der größten Humoriſten unter den Tieren, dem Krebs.
[307]
Der Krebs gehört zu den Geſchöpfen, von denen der Laie
im zoologiſchen Syſtem meiſtens am wenigſten Ahnung hat,
wohin er ſie ſetzen ſoll. Er gilt eben als er ſelbſt. Und in
vielem iſt er auch ein ſo ſelbſtändiger Hanswurſt, daß man
ihm den Rang ſo laſſen möchte. Andererſeits iſt aber nicht
zu leugnen, daß auch der Krebs im Normalzuſtande die wich¬
tigſten Merkmale mit Inſekt, Spinne, Skorpion und Tauſend¬
fuß gemein hat. Sein ſcheinbar ausſchließliches Waſſerleben
(vor allem im Meer, wohin ſonſt faſt kein Inſekt ſich wagt)
wird belanglos, wenn du dir einprägſt, daß nicht nur in
deinem Quell am Gartenrande Krebstiere hauſen, ſondern auch
hinter den Fäſſern und Kiſten deines feuchten Kellers. Hier
birgt ſich ein alter lieber Hausfreund, unſcheinbar grau und
ohne Neigung, deine Bekanntſchaft bei Licht zu machen: das
Kellertier oder der Kellereſel. Das iſt nun nichts Beſſeres und
nichts Schlechteres als ein aufs Land verirrter, notdürftig hier
atmender Zwergkrebs, der als ſolcher zu den merkwürdigſten
Tieren unſeres Hauſes gehört, ohne daß wir ihn dafür achten.
Das Kellertier nahe zu den Inſekten oder mindeſtens den
Tauſendfüßen zu rechnen, wird dir nicht beſonders ſchwer fallen.
Alſo magſt du es auch mit dem Krebs verſuchen, der noch
dazu dir ganz beſonders deutlich macht, was man unter Haut¬
ſkelett bei dieſen Tieren verſteht: beim Krebs iſt durchweg die
Chitinhaut durch Einlagerung von kohlenſaurem Kalk wirklich
20*[308] ſo „knochenhart“ geworden, daß bei den großen Hummern das
Beil nötig wird, um an die inneren Weichteile zu gelangen.
Dabei gehen gerade dieſen Hummern Chitinteile bis in den
Magen hinein, ſo daß man ſagen kann, dieſe Tiere haben ein
Skelett noch im Magen ſitzen, das ihnen wie mit Zähnen die
ſchon verſchluckte Nahrung inwendig noch einmal kaut.
Da Inſekt, Spinne, Skorpion, Tauſendfüßler und Krebs
im Bau alle ſo eng zuſammen paſſen, hat man ſie im Syſtem
der Tiere zum Stamm oder Kreis der Gliederfüßer ver¬
einigt, ſo wie man Säugetiere, Vögel, Reptile, Lurche und
Fiſche als Wirbeltiere zu einander ſetzt. Die Inſekten erſcheinen
dabei als der höchſte Sproß des Stammes, die Krebſe als der
niedrigſte.
Doch darfſt du dir wahrſcheinlich die Sache nicht ſo vor¬
ſtellen, daß geſchichtlich ſich alle Hauptgruppen des Stammes
glatt hintereinander ordneten und geradlinig auseinander ent¬
wickelt hätten. Im ganzen werden wir zweifellos auch die
Gliederfüßer von den Würmern ableiten müſſen, — jene
Würmergruppe der Ringelwürmer, zu denen unſer Regenwurm
und Blutegel gehören, ſchließt ſich ihnen ſogar heute noch ſo eng
an, daß ſie von einigen Forſchern mit vielem Recht geradezu mit
den Gliederfüßern zu einer gemeinſamen Hauptgruppe (Glieder¬
tiere) vereinigt wird. Aus ſolchen Würmern mögen ſich ſchon
in ſehr alter Zeit zunächſt die Krebſe entwickelt haben. Dann
unabhängig davon die Tauſendfüße, die ja auch im äußeren
entſchieden noch etwas Wurmähnliches beſitzen.
Eine direkte, ſehr lehrreiche Übergangsform vom Wurm
zum Tauſendfuß lebt jetzt noch in der heißen Zone: der ſo¬
genannte Peripătus. Aus Tauſendfüßen mögen, wieder in
zwei unabhängigen Nebenäſten, die Skorpione und Spinnen
und die eigentlichen Inſekten hervorgegangen ſein.
Das als Ariadnefaden in dem Labyrinth toller Tierformen,
das du jetzt auf unſerer Liebesſuche wieder durchwandern mußt.
Wir beginnen unten, — beim Krebs.
[309]
Ich vermute, daß du vier Arten von Krebſen kennſt und
voneinander unterſcheiden kannſt. Den Flußkrebs, den „Krebs“
ſchlechthin, der unſer roter Tafelheld für die Monate ohne R
(Mai bis Auguſt) iſt. Den Hummer, der eigentlich nur ein
ſehr vergrößerter Flußkrebs des Meeres iſt. Die Garneele,
Granate oder ſogenannte „Krabbe“, das niedliche, faſt durch¬
ſichtige Krebselfchen, das dem Feinſchmecker doch einen ſo ſoliden
Schwanzbiſſen liefert. Und endlich den runden Taſchenkrebs,
die eigentliche Krabbe, die alle Meeresküſten als poſſierlicher
Kobold belebt und meiſt nur vom Volke gegeſſen wird, während
ſie in der Delikateßhandlung fehlt.
Vier Arten. Die Wiſſenſchaft zählt ſo ungefähr achttauſend.
Und alle lieben oder haben (wenn ſie heute ausgeſtorben ſind)
in verſchollenen Quellen und Meeresbuchten der Vorzeit einmal
geliebt .....
Die Grundmelodie der Krebsliebe wie überhaupt der
ganzen Gliedertierliebe bis zum höchſten Inſekt hinauf iſt natür¬
lich dieſelbe, die uns immer und immer wieder begegnet iſt.
Zwei Geſchlechtstiere: Männchen und Weibchen. Das Männchen
hat den Hoden, in dem der männliche Samen mit Samentierchen
(Samenzellen) erzeugt wird. Das Weibchen hat den Eierſtock,
wo die Eizellen ſich bilden. Eine Begattung bringt Samen
und Ei zuſammen, und aus dem befruchteten Ei erwächſt ein
neues Tier. Die Schablone ſcheint immer wieder ermüdend
einfach, ein ewiges Leitmotiv, von dem man erwarten ſollte,
daß es langweilig wird.
Aber die Natur geigt aus dem einfachen Thema immer
und immer wieder die hellen Wunder heraus. Achttauſend
Arten. Wenn man ſie alle auf das bunteſte Märchen ihres
Lebens, die Zeugung, prüfen könnte: es wären ſicher nicht
tauſendundeines, ſondern achttauſend Märchen, ſo ſpannend, daß
kein Sultan darüber einſchlafen würde.
Und noch ein ſehr wichtiges kommt hinzu, was fortan,
je höher man ſteigt, ganz allgemein und nicht mehr bloß vom
[310] Krebs gilt: die Lebensregungen der Gattungsindividuen werden
in dem Sinne, den man gewöhnlich „geiſtig“ nennt, lebhafter.
Ein Krebs oder gar eine Ameiſe iſt ein ganz anders regſames
Liebesweſen als etwa ein Blutegel oder gar ein Bandwurm.
Wir haben das Erwachen ſolcher Dinge ſchon beim Tintenfiſch
erlebt. Die Liebe wird mit einem Wort jetzt mehr und mehr
Gehirnſache.
Wenn man im Menſchenleben wohl ſagt, Gehirn und Ge¬
ſchlechtsrauſch ſchlöſſen ſich aus, die Liebe mache dumm und ſei
wirklich ein rechter Rauſch, der die beſten Fähigkeiten des
Menſchen außer Kraft ſetze, ſo paßt das eben höchſtens auf
den Menſchen, in dem bewußte Beherrſchung der Dinge und
dunkler Naturtrieb ſeit ein paar Jahrtauſenden in einer Art
Kriſis ſtehen; und ſelbſt auf ihn paßt es eigentlich nur ein¬
ſeitig und halb.
In der Geſamtheit der tieriſchen Entwickelung aber ſiehſt
du Gehirn und Geſchlechtsapparat in einem ganz unzertrenn¬
lichen, höchſt fruchtbaren Wechſelverhältnis. Gerade die Liebe
bedarf des Gehirns in erſter Linie, und umgekehrt iſt kein
Zweifel, daß je beweglicher, thatkräftiger und umſichtiger das
Gattungsleben mit allem, was darum und daran hängt (Pflege
für die Jungen u. ſ. w.), ſich beim Tier geſtaltet, deſto ſichtbar¬
licher ſich ein „Gehirn“ ausbildet als eine einheitliche Leitungs¬
ſtelle für alle dieſe Handlungen, — eine oberſte Leitungsſtelle,
die auf die verſchiedenſten äußeren Anforderungen hin jedesmal
möglichſt zweckentſprechend reagiert.
Gehirntiere ſind auch Liebestiere im verfeinerten Sinne:
das iſt ein Satz, der unumſtößlich iſt.
Und ſo dürfen wir jetzt mit dem Aufſtieg in Regionen,
wo das Hirn anfängt mächtig zu werden, auch neue inter¬
eſſantere Liebesregungen in Hülle und Fülle erwarten.
[311]
Das Liebesleben der Krebſe kann ich dir nicht paſſender
und liebenswürdiger ſchildern als in einem Geſchöpf, das auf
der Höhe ſeines Daſeins ganz Liebe iſt. Allerdings in einer
Form, die nicht gerade nach jedermanns Geſchmack ſein dürfte.
Es iſt der Wurzelkrebs.
Dieſer Wurzelkrebs gehört zu den Tieren, die ich dir
nicht ohne weiteres beſchreiben kann; es thut not, daß du dich
gewiſſermaßen in ihn „hineindenkſt“.
Alſo denke dir zunächſt eine Art roter Frankfurter Wurſt,
ohne Gliederung und Gliedmaßen, bloß mit einem Loch. Im
Innern findeſt du keinen Darm, kein Herz, ſondern bloß Eier¬
ſtöcke. Das Loch erſcheint als die zugehörige weibliche Ge¬
ſchlechtsöffnung.
Dieſe groteske Geſchlechtswurſt ſchwimmt nun nicht etwa
frei im Meere herum. Um ſie zu erjagen, mußt du zunächſt
Jagd auf gewiſſe Krebſe der bekannteſten Art, z. B. gewöhn¬
liche Strandkrabben an der Nordſee, machen. Bei der einen
oder anderen ſolcher Krabben findeſt du dann wohl unſere
geſpenſtiſche rote Frankfurter unten an dem kurzen, unter den
Bauch geſchlagenen Schwanze (beim Krebs iſt das, was man
gemeinhin Schwanz nennt, eigentlich noch Hinterleib) feſtſitzend.
Es ſieht aus, als wachſe der Krabbe hier ein beſonderes weib¬
liches Geſchlechtsorgan aus dem Leibe. Aber die Krabbe hat
in Wahrheit ihren eigenen Geſchlechtsapparat, und zwar hübſch
[312] nach der hergebrachten Ordnung nur einen einzigen männlichen
oder weiblichen tief drinnen im eigenen Körper. Die Wurſt
da außen iſt entſchieden etwas Fremdes.
Wir ſchauen zu, wie ſie an der Krabbe feſthängt und
nun erſcheint etwas nach jeder Richtung Scheußliches.
Aus der einen Längsſeite der Wurſt bohrt ſich in den
Leib der Krabbe ein verzweigtes Geflecht, ganz und gar wie
die Wurzel einer Pflanze anzuſchauen. Die Wurzel ſpinnt ſich
tief in den dunklen Bauch der Krabbe hinein, bis um Darm
und Leber herum, und es kann nicht anders ſein: ſie ſaugt an
dieſen Organen, trinkt mit von dem Nährſafte der Krabbe
genau ſo, wie wir es beim Bandwurm erlebt haben. Die
Krabbe wird dadurch natürlich in ihren eigenen Rationen etwas
beeinträchtigt, aber es ſcheint nicht, daß ihr die gefährliche
Wurzel, die ihr wie der Schnabel des Prometheusadlers in die
Leber hängt, ernſtlich ans Leben geht, ſo wenig wie den
meiſten Menſchen ihr rieſiger Miteſſer, der Bandwurm.
Wurſt und Freßgeflecht: dieſes Ganze zuſammen bildet den
„Wurzelkrebs“.
Einen Krebs alſo, genau wie die Krabbe ſelbſt einer iſt.
Bloß daß jener auf dieſem ein Schmarotzerleben führt. Denke
dir einen Menſchen als Vergleich, an deſſen Bauch ſich ein
ganz kleines zweites Menſchlein zäh feſtgebiſſen hat. Es hat
ein Loch in den großen Menſchenbauch gefreſſen und eine un¬
geheuer lange Zunge um den Menſchendarm gewickelt, mit der
es das reine Nährblut des Herrn Gaſtgebers auflöffelt. Einen
eigenen Magen und Darm, überhaupt eigene Ernährungswerk¬
ſtätten irgend welcher Art, braucht das Schmarotzermenſchlein
nicht und hat ſie denn auch thatſächlich nicht mehr. Bloß
ſeinen Geſchlechtsapparat beſitzt es noch in dem ſackartig leeren
eigenen Leibe.
In dem Bilde habe ich dir von einer „Zunge“ geredet.
In Wirklichkeit iſt das ſchauerliche Geflecht, das der Wurzel¬
[313] krebs (oder die Sakkulina, wie er lateiniſch heißt) in die arme
Strandkrabbe wie einen lebenslänglichen müheloſen Speiſeaufzug
verſenkt hat, zwar der Ernährungskanal, aber nicht eigentlich
die Zunge der Sakkulina. Die edle Sakkulina hat nämlich ſo
wenig wie einen richtigen Magen auch einen richtigen Mund
und alſo auch keine Zunge. Um zu verſtehen, wie die Fre߬
wurzel entſteht, muß man ſich anſehen, zu welchem engeren
Krebsgeſchlecht der Wurzelkrebs gehört, und das führt denn
auch gleich zur Erklärung, warum man in ſeinem Wurſt- und
Wurzelſtadium ihn überhaupt noch für einen wirklichen und
wahrhaftigen Krebs halten darf.
Der Wurzelkrebs gehört zu einer Gruppe von Krebstieren,
die man als Rankenfüßer bezeichnet.
In ihrer Jugend ſind dieſe Rankenfüßer von anderen
jungen Krebschen kaum zu unterſcheiden. Luſtig ſchwimmen ſie
im freien Meere herum. Man ſieht ihnen zwar an, daß ſie
noch nicht fertig, noch eine Art Larve ſind, aber alles an
dieſer Larve ſpricht für einen werdenden echten Krebs. Eines
Tages geſchieht mit ihnen aber etwas Beſonderes.
Der junge, bisher ſo vergnügt lebhafte Rankenfüßerkrebs
findet einen Fleck, der ihm zuſagt: flugs ſtellt er ſich auf den
Kopf und entwickelt aus einer beſonderen Drüſe an den Kopf¬
fühlern, die man die Zementdrüſe nennt, einen feſten Kitt, mit
dem er ſich im buchſtäblichen Sinne in Kopfſtellung ſelber an¬
kittet, um fortan wie ein Gewächs auf der einmal gewählten
Unterlage zu verharren. Meiſt iſt dieſe Unterlage ein Stück
Holz oder Koralle oder ganz gemütlich auch die dicke Haut des
lebendigen Walfiſchs. In vielen Fällen zeigt ſich die Kittſtelle
ſtielartig in die Länge gezogen, ſo daß ſchließlich ein Ding wie
eine dicke Blütenknoſpe herauskommt, aus deren Spalt (in
Wirklichkeit der Schale des kopfſtehenden und ſo angeleimten
Krebstieres) die rankenartig gekrümmten Krebsbeine gleich vor¬
quellenden Staubgefäßen der aufbrechenden Blume heraus¬
wimmeln.
[314]
Das hat Kopfzerbrechen gemacht: in dieſem feſtgewachſenen
Rankentier noch den Krebs herauszukennen.
Das fertige Ding ſelbſt kannte man längſt, ohne zu ahnen,
was es ſei. In der naiven Tierkunde des Volks hatte ſich,
Allah weiß, wie, die Anſicht hartnäckig feſtgeſetzt, jene myſteri¬
öſen Knoſpen, die man von ſturmverſchlagenen Schiffsplanken
in dicken Sträußen mit rotem Stil und blauer Krone herab¬
hängen ſah, ſeien eine ganz geheimnisvolle Art von Vogel¬
eiern, aus denen durch eine Art Urzeugung die Ringel- oder
Bernickelgänſe hervorkämen. Es iſt, als ſteckten dieſe verrückten
Tiere den Menſchenverſtand mit in den Sack. Die nüchterne
Forſchung hat aber doch ſchließlich den Krebs herausgeſchält
und nur der Name „Entenmuſchel“ iſt jener Art geblieben.
Ein Spezialfall dieſes kopfhängeriſchen Rankenfüßerlebens¬
laufs iſt nun auch unſer Wurzelkrebs. Auch er fegt als regel¬
rechte Krebslarve, die ebenſo gut auch eine Garneele werden
könnte, durchs freie Waſſer. Doch eines Tages kommt auch
ſein Damaskus, da er Kopf ſteht. Aber ſtatt der Schiffsplanke
oder dem dicken Fell eines alten Walfiſchvaters, das dem Holz
nicht viel nachgiebt, ſucht er ſich einen näheren Verwandten:
die Krabbe. Er will nicht bloß anwachſen. Statt ſich mit
Zement anzukitten, kriecht er der Krabbe — er nimmt ſich ſtets
eine noch ganz junge dazu — unter den Schwanz und ſetzt
ſich mit ihr in eine ungeheuerliche engſte Verbindung.
Er ſenkt nämlich von ſich aus eine Art hohlen Stiels in
das Innere der Krabbe und in dieſem Stiel läßt er ſich dann
gewiſſermaßen ſelbſt in die Krabbe hineinrutſchen, indem er
gleichzeitig aus ſeiner bisherigen Larvenhülle ſich löſt.
Denke dir einen Menſchen, der ſich etwa mit einem herz¬
haften Kuß an einen zweiten anheftet, — der dann in ſich
ſelbſt aus der eigenen Haut fährt und mit einem Ruck ganz
in den Mund des anderen flitſcht und darin abwärts ver¬
ſchwindet. Nicht ganz leicht zu denken, was? Aber zeige mal
guten Willen!
[315]
Im Innern angelangt, ſtellt unſer kleiner böſer Wurzler
jetzt das grauſige Geflecht her, von dem wir ſprachen: er „um¬
ſpinnt“ geradezu das Gedärm ſeines unfreiwilligen Wirtes
und ſaugt ſich da aufs vergnüglichſte voll. Beinahe zwei
Jahre dauert dieſes ausſchließliche Innenleben. Eigentliche
Organe braucht er dabei nicht mehr. Die Krabbe, die ſich
mühſam durch Beutejagen, Freſſen und Verdauen ihren
nährenden Lebensſaft ſchafft, ſtrömt gleichſam in ihn über,
ſie jagt, frißt und verdaut auch für ihn mit. Und nur eine
einzige ſelbſtſtändige Handlung bleibt ihm zu thun übrig: zu
lieben.
Das geht nun ſchlechterdings nicht in der Krabbe ſelbſt.
Wohl beſitzt er Geſchlechtsteile, — ſogar urſprünglich Anlage
zu beiden, männlichen und weiblichen. Aber du kennſt das
alte, unerbittliche Geſetz: keine Selbſtbefruchtung. In der
That: das Mannesorgan verkümmert ihm auch lange vor
jeder Benutzungsmöglichkeit und in der Vollkraft ſeiner
Liebeszeit fühlt er ſich ausſchließlich Weib. Was thun? Er
drängelt wieder rückwärts und rutſcht mit einem größeren
Stück ſeines formloſen Leibes wieder aus der Krabbe heraus.
Bloß das ſaugende Wurzelgeſpinſt bleibt im Innern. Außen
aber erſcheint jetzt jene komiſche nachklappernde rote Frank¬
furter Wurſt. Sie birgt ſeine Eierſtöcke und ſein weibliches
Geſchlechtsthor.
Aber eine neue Frage. Woher jetzt den Mann nehmen?
Ich habe dir bisher von einem männlichen Wurzelkrebs mit
Abſicht überhaupt nicht geredet. Denkſt du ihn dir ebenſo am
Hinterteil einer Krabbe angeſaugt, ſo dürfte die Frage eine
wahre Doktorfrage werden: wie jetzt der eine Schmarotzer zum
zweiten kommen ſoll, um die Begattung zu vollziehen. Ja, es
müßten eben zwei Krabben zunächſt zum Aktus ſchreiten, —
und während ſich die Liebe der beiden beweglichen Großen
vollzieht, müßten die nachgeſchleiften Kleinen hinterrücks gleich¬
zeitig ihr Programm erfüllen. Gut erdacht. Aber ein neues
[316] Malheur. Die Krabbe, vom Wurzelkrebs befallen, geht zwar,
wie geſagt, nicht ein, aber ſie wird doch gerade ſo weit in ihrer
Lebensluſt und Lebenskraft eingeengt, daß ſie durchaus nicht
zur Liebe zu ſchreiten pflegt. Und ſo wäre die Sache endgültig
verzweifelt, wenn es keine ganz beſondere Hilfe gäbe, — eine
Hilfe, die eben wieder nur aus der allgemeinen Verrücktheit
dieſer ganzen Rankenfüßerkrebſe als logiſche Spezialfolge er¬
ſtehen kann.
Die Rankenfüßer ſamt ihrem faulſten Bruder, dem Wurzel¬
krebs, ſind ein märchenhaftes Volk, das nicht umſonſt die beſte
Lebenszeit durch auf dem Kopf ſteht. Aber ihr Liebesleben
iſt doch das allerſeltſamſte an ihnen. Man würde es kaum
glauben, hätte nicht ein ſo unendlich vorſichtiger Beobachter
wie der alte Darwin gerade hier den Grund unſerer Kennt¬
niſſe gelegt.
Im allgemeinen ſind die Rankenkrebſe, wie du es auch
beim Wurzelkrebs wenigſtens der Anlage nach ſiehſt, Zwitter
oder Hermaphroditen. Angewachſen, wie die reifen Tiere vom
Schlage jener Entenmuſcheln ſind, ſollteſt du alſo meinen, es
träte ein Begattungsprozeß nach der Methode der Auſtern
ein: Samentierchen und Eier abwechſelnd frei entleert und im
Waſſer oder unter der klaffenden Schale ſich findend. Offenbar
aber: dieſe Methode hat noch nicht recht gereicht. Die Inzucht
durch Selbſtbefruchtung ſollte natürlich auch vermieden werden,
ſo weit es ging. Und ſo geſtaltete ſich das folgende erotiſche
Prachtexempel.
Bei einer ganzen Reihe von Rankenkrebſen exiſtieren
neben den doppelgeſchlechtigen Zwittern noch beſondere
Männchen, die bloß Samen produzieren. Dieſe Männchen
ſind (ähnlich wie bei jener famoſen Bonellia) winzig klein, ſo
klein im Verhältnis zu den Zwittern, daß ſie auf dieſen ſelbſt
wie Schmarotzertiere, etwa wie eine Art Fiſchläuſe, ſich anſiedeln
und feſtſetzen können. „Sie ſitzen den Zwittern an“, wie der
Naturforſcher ſich maleriſch ausdrückt. Ihrem Bau nach be¬
[317] ſtehen ſie dabei oft faſt nur noch aus einem ſelbſtthätig lebenden
männlichen Geſchlechtsteil: ſie ſind männliche Liebesweſen in
des Wortes kühnſter Realiſierung. Nicht bloß eins, ſondern
zwei und mehr ſolcher Zwergmännchen ſetzen ſich unter Um¬
ſtänden an einem großen Zwitter-Individuum feſt, — liebend
beſorgt, dieſen großen Bruder vor den Gefahren der Inzucht
bei zu ausſchließlichem Selbſtgebrauch zu bewahren.
Je nach den Arten iſt das entſprechende Verhalten des
Zwitterbruders, der zugleich den Wirt, den Träger und den
Geſchlechtsgenoſſen ſeiner hilfsbereiten Gatten ſpielt, ein ver¬
ſchiedenes. Entweder er fährt, auch nachdem ſich die Zwerg¬
männchen bei ihm gemeldet haben, fort im Werke, beides,
Eier ſowohl wie Samen, aus ſich allein zu erzeugen, und läßt
bloß einfach zu, daß die Männchen durch die Dachluke ſeines
harten Körperhauſes ſelbſtthätig noch etwas fremden Mannes¬
ſamen zu ſeinem Haushalt beiſteuern und ſo die Gefahr der
Inzucht wenigſtens ſtark vermindern.
In dem Falle nennt man die Männchen „Ergänzungs-
oder Komplementär-Männchen“.
Oder aber er hat ein Einſehen, begreift, was ihm da
durch die Dachluke liebesfreigebig geboten wird, und ſtellt die
eigene Produktion zur Hälfte, nämlich was den Samen an¬
belangt, ein. Alle ſeine Eier genießen jetzt die Befruchtung
durch die fremden Zwerge. Und da der unbenutzte Samen¬
apparat des großen Zwitters alsbald ganz verkümmert, ſo iſt
damit eigentlich der anfängliche Zwitter nunmehr ein regel¬
rechtes Weib geworden: ein kopfſtehendes Rieſenweib, das
ſeine Anbeter wie Läuſe an ſich ſitzen hat.
So und nicht anders geht's nun auch beim weiblichen
Wurzelkrebs.
An der Pforte ſeiner roten Frankfurter ſetzen ſich drei
bis ſechs anſchwimmende Zwergmännchen feſt und befruchten
ihm ums Ende des zweiten Jahres ſeiner intereſſanten und
fleißigen Lebensbahn die Eier.
[318]
Aus dieſen Eiern geht — und hier fängt nun noch etwas
Beſonderes wieder an — zunächſt eine Generation von Jungen
hervor, die ausſchließlich zu echten weiblichen Wurzelkrebſen
werden. Im Lenz und Sommer des nächſten Jahres erfolgen
dann noch einige weitere Eierablagen, von denen man nicht
ſicher weiß, ob ſie überhaupt noch befruchtet ſind oder nicht.
Und aus dieſen ſpäteren Eiern entwickeln ſich auf alle Fälle
jetzt ausſchließlich nicht feſtwurzelnde Zwergmännchen .... ein
geheimnisvoller Wechſel, deſſen Urſachen bis heute noch un¬
aufgehellt ſind. Ich habe dir dazu weiter unten, bei den
Bienen, einiges anzumerken.
Erſt im Winter ihres vierten Lebensjahres ſtirbt endlich
die Wurzelmutter vor Altersſchwäche gänzlich ab und fällt von
ihrer Krabbe ins große Meeresgrab hinunter. Ein freund¬
liches Stück Tierleben, was?
[319]
Ein anderes Bild. Nach der Tragödie des Krabben¬
innern jetzt eine Innenkomödie von harmloſerer, aber nicht
minder romantiſcher Art, die ich dir ausführlicher erzähle als
Exempel, zu welcher abenteuerlichen Odyſſee der Zeugungsakt
auch bei äußerer relativer Glätte noch wieder innerlich ſich
verwickeln kann.
Der erwachſene Wurzelkrebs hängt, wie du geſehen haſt,
als rote Wurſt und ſaugendes Wurzelgeflecht an der Krabbe,
umſchwärmt von winzigen Ergänzungsmännchen.
Jetzt aber: an dieſer Wurſt ſaugt ſich vielfach abermals
ein dritter Krebs feſt.
Auch er ſchmarotzert. Auch er ſteckt eine Art freſſender
Schnauze (diesmal den wirklichen Kopf) in den Wurzelkrebs
hinein und ſaugt ihm wieder fort, was er von der Krabbe
an Nährblut ſtibitzt hat. Auch er verliert alle ſeine Organe
und hängt außen an der Wurſt des Wurzelkrebſes wie eine
zweite kleinere Wurſt, die ebenfalls nur Eierſtöcke enthält.
Und auch ihm wieder ſitzt ſchließlich in noch wohl er¬
kennbarer Krebsgeſtalt ein eigenes Ergänzungsmännchen an.
Meinſt du nicht eine Tierpyramide zu ſehen, in der die
Familien und Geſchlechter in drei und mehr Etagen auf¬
einander hocken wie die Menſchenhaushalte in einer gro߬
ſtädtiſchen Mietskaſerne?
Dieſer Schmarotzer dritten Grades, von dem ich dir jetzt
erzähle, gehört aber ſelber nicht mehr zu den Rankenkrebſen,
[320] ſondern zu jener merkwürdigen Krebsgruppe der Aſſeln, von
denen oben ſchon die Rede war und zu denen unſer braves
Kellertier zählt. Von ihm laß mich dir genauer berichten.
Das Kellertier, der „Landkrebs“, wie es mit Fug heißen
ſollte, erlaubt ſich ſelbſt durchaus keine erotiſchen Extra¬
vaganzen im Sinne der Zwitterei und Erſatz-Vielmännerei
der Rankenkrebſe.
Es verharrt treu auf dem alten Prinzip: Mann und Weib —
und regelrechte Begattung. Aber ein abſonderliches Geſchöpf,
wie es iſt, hat es doch auch wieder innerhalb dieſer — man
möchte faſt ſagen: philiſtröſen — Schranken ſeine höchſt kon¬
ſequente Eigenart. Das Kellertier, Krebs wie es iſt, atmet
noch weſentlich durch Kiemen wie ein echter Waſſerfreund und
ſitzt auf dem Lande nicht viel anders als ein Fiſch, der ins
Trockene verſchlagen iſt. Nur mühſam quält es ſich mit ſeinem
Atmungsorgane den nötigen Sauerſtoff zuſammen — es glückt
ihm vollkommen nur an feuchten, dunſtigen, waſſerdampfhaltigen
Orten wie im tiefen Keller. Dort iſt ſein Bereich und dort
auch findet ſich Kellermann zu Kellerweib.
Der Hochzeitsakt findet zumeiſt im April und Mai ſtatt.
Ganz regelrecht erfolgt die Übertragung des männlichen Bei¬
trags an das Weib. An der Bauchſeite des fünften Bruſt¬
ringes findet ſich dort anſcheinend unverkennbar die geeignete
Stelle dafür, — ſogar zwei Geſchlechtsöffnungen ſtatt einer.
Soweit wäre da nichts Merkwürdiges. Aber wenn der Keller¬
mann mit Scharfblick in den Leib ſeiner Gattin ſehen könnte,
ſo müßte ihn nach vollbrachtem Akt einiger Zweifel beſchleichen,
ob all ſeine Liebesmüh nicht umſonſt geweſen ſei.
Denn jene Pforten des Kellerweibleins führen gar nicht
in das eigentliche weibliche Geſchlechtsorgan, in den Eileiter,
durch den die Eier vom Eierſtock herabwandern ſollen. Es
ſind einfach blinde Scheiden, oben feſt zugewachſen wie mit
einer auch beim Akte unzerreißbaren Jungfernhaut.
Den wirklichen Kellermann kümmert das nicht, er giebt
[321] ſich der Sache hin ohne anatomiſchen Peſſimismus. Die Keller¬
frau aber wartet ruhig der Dinge, die da kommen ſollen.
Die Samentierchen in den hohlen Leibestaſchen regen ſich
ein paar Tage lang wie Eingeſperrte vor einer verrammelten
Thür. Da plötzlich reißt die Hinterwand des Kerkers und das
ganze [Manneserbe] rollt baucheinwärts ein Stockwerk weiter —
diesmal dahin, wo es ſoll: in den Eileiter. Der Weg zum
Eierſtock, wo Eier der Befruchtung harren, liegt jetzt der Rich¬
tung nach klar. Rüſtig ſtreben die Samentierchen aufwärts —
o Schrecken: den Eileiter ſchließt gegen den Eierſtock hin eine neue
Thür. Alles ſtaut ſich zum Pfropfen auf und harrt abermals.
Und wieder öffnet ſich erſt nach einer Weile das Hemmnis.
Nun erfolgt der eigentliche Akt wenigſtens für die Eier, die
gerade bereit dazu ſind. Wenig ſpäter drängen ſchon befruchtete
Eier abwärts: du denkſt, ſie werden durch den Riß, den der
Samen ſich geöffnet, in die Begattungsſcheide einfach zurück¬
treten und ſo auf dem umgekehrten Wege des Samens ans
Licht kommen.
Aber — o neuer Schrecken —: inzwiſchen hat ſich die
ganze Kellermutter gehäutet und in der neuen Haut giebt es
keine Scheidenöffnungen mehr. Wo ſie ſich dem Kellermanne
aufthaten, da iſt jetzt derbe Bauchwand ohne den leiſeſten Durch¬
gang. An einer anderen Stelle, zwiſchen' dem fünften und
ſechſten Bruſtring, liegt allerdings nunmehr ein neues, früher
nicht vorhandenes Loch, wie geſchaffen zur Geburt der reifen
Eier. Aber wie dahin kommen aus der jetzt nach unten ab¬
geſchloſſenen Sackgaſſe?
Wieder muß ein Gewaltakt erfolgen: platzte früher die
Scheide nach innen, ſo platzt jetzt noch innerlicher die Eileiter¬
wand. Sie platzt gegen die Bauchhöhle der Mutter und in
dieſe Bauchhöhle fällt Ei um Ei. Beim Menſchen wäre das der
Höhepunkt des Grauſens: Platzen der Gebärmutter mit Übertritt
des Kindes in den offenen Mutterleib, in dem die Gedärme
liegen. Unſerer Kellermutter macht das aber offenbar gar nichts.
21[322]
Sie hat ihre Eier jetzt, wo ſie ſie haben will. Denn
eben in dieſe Bauchhöhle öffnet ſich auch nach außen jene neu
entſtandene Geburtsöffnung, und kaum ſind die Eier frei im
Bauch, ſo ſind ſie auch ſchon hier herausbefördert. Allerdings
noch nicht ganz ins Freie. Denn an den fünf erſten Bein¬
paaren der Mutter ſind inzwiſchen auch noch fünf ſogenannte
Brutplatten entſtanden, die zuſammen eine äußere Taſche bilden,
in der die Eier jetzt erſt behaglich ausreifen können. Das
Kellertier iſt thatſächlich eine Art Känguruh in ſeiner Art ge¬
worden: es hat einen Beutel, in dem es die Eier mit ſich
herumſchleppt, bis die Jungen zum Auskriechen reif ſind. Eine
kurze Weile: und es iſt ſo weit. Eine Schar hoffnungsvoller
Kellerſprößlinge verläßt die mütterliche Wiege und geht auf
eigene Fauſt in den großen Kellerkosmos hinaus.
Aber die Wiege bleibt noch nicht leer. Am Eierſtock haben
ſich inzwiſchen neue Eier in der Mutter entwickelt. Ein Teil
Samen iſt im Eierſtock „auf Reſerve“ geblieben und befruchtet
auch den neuen Nachwuchs. Zum zweitenmal kugeln ent¬
wickelungsfähige Eier iu den offenen Mutterleib und fallen
alsbald durch das Geburtsloch in die leere Wiege, wo ſie einer
neuen Generation von Kellerkindern das Leben ſchenken. Erſt
wenn auch dieſe das Weite der Kellerwelt geſucht haben, fühlt
ſich das Kellerweib aller Verpflichtungen bar, häutet ſich noch¬
mals reinlich um und verfällt dann in die Winterruhe.
Und nun kommt der Lohn treuer Pflichterfüllung. Denn
mit dem Frühling, der zwar den Keller nicht erhellt, aber doch
irgendwie wohl auch dort ſich bemerkbar machen muß, erſteht
dasſelbe Kellertier, das zweimal Gattin, Mutter und Familien¬
känguruh war, abermals als vollkommene Jungfrau.
Bei jener letzten herbſtlichen Häutung iſt die Kinderwiege
wieder abgefallen, die Geburtspforte wie die Eileiterpforte iſt
wieder zugewachſen, und von neuem haben ſich dafür am
Bauche die urſprünglichen Scheiden aufgethan: die neue Braut
wartet des neuen Kellermanns.
[323]
„O Weltgeiſt, was haſt du ge¬
trieben!So grade zu bauen, ſo toll zu ver¬
ſchieben!In deinem weiten KönigtumWird alles ſchief, wird alles krumm,Wo nicht Menſchen denken und
lieben.“
In meines Vaters Hauſe am ſchönen Rhein ſtand auf
einem alten verſtaubten Bücherregal in einem halb verſchollenen
Hauswinkel ein alter gelber Menſchenſchädel.
Er war vor Zeiten in der Nähe römiſcher Terrakotten
gefunden worden und galt dem guten Glauben als Römer¬
ſchädel. Generationen lebensfroher Dienſtmädchen hatten ſich
gefürchtet, ihn zur Reinigung je herab zu nehmen. Und ſo
war er freies Reich für eine ebenſo lange Geſchlechterfolge
grauer Achtbeiner geworden, die aus dem finſteren Winkel¬
grunde dahinter herausgekrochen kamen und in den Schädel
ihre Neſter bauten. Über die alten ſtarren Augenhöhlen bauten
ſie neue, zarte, watteweiche Lider und dahinter hatten ſie
Brautbett und Kinderwiege.
Wenn ich an Spinnen denke, ſo ſehe ich dies luſtige
Spinnenwirtshaus „Zum Totenſchädel“ wieder vor mir. Ich
bin ein Kind und weiß noch nichts von Liebe. Weder von
der Liebe der Menſchen, noch von der der Spinnen. Nur
der Schädel ſcheint mir uralt und die kleinen wimmelnden
21*[324] Achtbeiner hinter ihren ſtaubgrauen Seidenfähnchen jüngſte
Kobolde, die nichts nach ehrwürdigem Alter fragen.
Heute ginge es mir umgekehrt. Ob das Menſchenkind,
das dieſen Schädel trug, auch thatſächlich vor achtzehnhundert
Jahren ſchon geliebt haben mag — es liebte als Menſch, als
Kulturmenſch. Die Spinne aber trägt ein wirkliches Greiſen¬
antlitz, ihre Liebe iſt eisgrau wie von einem fremden Planeten.
Eine uralte Verworrenheit ſteckt darin, die nie überwunden
worden iſt.
Im Liebesleben der Spinne, das mit dieſer Spinne ſelbſt
vielleicht bis auf die Steinkohlenzeit zurückreicht, iſt ein Problem
noch nicht ordentlich gelöſt, das eigentlich ans Herz aller Liebe
greift. Das Problem vom Unterſchied des Freſſens und des
Liebens.
Beſinne dich einen Augenblick zurück. Auf die Zwergen¬
geſchichte. Du erinnerſt dich: wie die Liebe überhaupt anfing.
Das Freſſen war eine Notwendigkeit ſchon für die Urzellen. Es
erſetzte in der Zelle den ewigen Verbrauch, es ermöglichte einen
Stoffwechſel, bei dem der Körper ſich gleich blieb. Dann er¬
möglichte es aber über den einfachen Erſatz hinaus auch eine
poſitive [Zunahme]: der Körper wuchs. Und dieſes Wachſen
wieder führte zur Zerſpaltung des einen Individuums in zwei, —
zu der einfachſten Form der Fortpflanzung.
In dieſem Sinne gilt das Wort, daß das Freſſen eine
Urbedingung der Liebe war, — kein Gegenſatz, ſondern eine
reinliche logiſche Vorausſetzung.
Dann kam aber die geſchlechtliche Liebe. Mit ihrer Ver¬
ſchmelzung von Leben in Leben. Zelle zu Zelle. Eizelle zu
Samenzelle. Aus dieſer Verſchmelzung erwuchs ein erhöhtes
Wachstum. Und ſo war dieſe Geſchlechtsliebe mit ihrer
Einigung gewiſſermaßen wirklich eine Art höheren Freſſens.
[325]
Höheren Freſſens! Mit einem ganz beſonderen, ekla¬
tanten Unterſchied. Bei dem einfachen Freſſen nahm das Ge¬
ſchöpf unzweifelhaft „tote“ Nahrung zu ſich. Sei es nun, daß
es nach früher Pflanzenart direkt anorganiſche, mineraliſche
Stoffe aufnahm und verarbeitete. Sei es, daß es nach
tieriſcher Methode ſchon vorhandenen lebenden Pflanzenſtoff
tötete und in ſich fraß. Auf alle Fälle beſaß auch hier der
Organismus die Kraft, das aufgeſpeiſte tote Material in ſich
zu lebendigem Bauſtoff ſelbſtthätig wieder umzuformen. Aber
das war erſt wieder ein Nachträgliches, ein eigenes Neuſchaffen
von Leben, das im Geheimnis des Stoffwechſels und Wachs¬
tums enger wieder lag. Die Grundthatſache blieb: im ge¬
meinen Sinne „Totes“ diente als Freßſtoff.
Bei der geſchlechtlichen Liebe dagegen verſchmolz reſtlos
Leben mit Leben, — Leben fraß Leben als ſolches, wenn der
Ausdruck (den ich dir immer wenigſtens an der Grenze der
Bildlichkeit halten möchte) erlaubt iſt. Oder es ließ ſich von
ihm freſſen, was in dieſem Falle wohl ganz gleichbedeutend
iſt, — keine Partei wurde ja dabei zerſtört, ſondern beide ver¬
ſchmolzen zu intenſiverem Leben.
[Du] ſiehſt, auch hier iſt logiſch eine gewiſſe Kette, aber
zugleich auch der Kern eines gewiſſen Gegenſatzes. Nun denke
dir die Dinge einſeitig ins Tierreich hinauf weiter. Hier
mußte der Gegenſatz alsbald eine kritiſche Schärfe annehmen.
Die Pflanze nahm zur einfachen Nahrung im allgemeinen
nur anorganiſche Mineralſtoffe auf. Zur „Liebesnahrung“
dagegen lebenden Zellſtoff verwandter Pflanzenart. Da war
in beiden Stoffen wohl Unterſchied, aber noch keine Möglich¬
lichkeit eines Konfliktes. Jetzt kommt im Tierreich aber jene
andere Methode des einfachen Freſſens auf: das Tier braucht
auch zur einfachen Nahrung (ich ſehe hier von der Atmung
ab und denke jetzt nur an den Magen!) ſchon Zellſtoff. Aller¬
dings keinen dauernd lebendigen, ſondern friſch getöteten.
Wenn Pflanzen da ſind, ſo iſt natürlich der einfachſte Weg:
[326] es nimmt eben Pflanzenſtoff. Es ſaugt, pflückt, zerbeißt, ver¬
daut zur einfachen Nahrung Pflanzen, — es wird Pflanzen¬
freſſer.
Auch jetzt iſt zunächſt noch immer kein Konflikt mit der
Liebe da, obwohl der Unterſchied gegen die Pflanzenmethode
ſelbſt an ſich ſchon gewaltig iſt. Das Tier frißt zum gewöhn¬
lichen Ernährungszweck Pflanzen, indem es ſich daran gewöhnt,
deren eigenes Leben dabei gewaltſam zu zerſtören. Zu
Liebeszwecken dagegen „frißt“ es verwandten lebendigen tieri¬
ſchen Stoff, der aber bei Leibe nicht zerſtört werden darf,
ſondern mit dem eine abſolut friedliche Verſchmelzung bei
beiderſeitigem Leben ſtattfindet. Du ſiehſt: der Kontraſt iſt
ſchon gewaltig. Aber noch kein Konflikt!
Dieſer kommt erſt mit dem folgenden Moment.
Eine Unzahl von Tieren gewöhnt ſich an, auch jene organiſche,
aber tote „einfache Nahrung“ nicht mehr von der Pflanze zu
nehmen, ſondern vom Tier ſelbſt. Tiere fangen an, ſich nicht
bloß mit Tieren in Liebe zu begatten, ſondern auch Tiere bei
einfachem Hungergefühl zu faſſen, durch Zerbeißen oder ſonſt
irgendwie in ihrem eigenen Leben zu zerſtören und dann als
mundgerechten einfachen Nahrungsſtoff zu freſſen. Jetzt haſt
du gegeneinander: Tier ſucht Tier, um ſich lebendig mit ihm
zu einen, — zu höchſter Harmonie unter abſoluter Wahrung
des fremden Lebens; und Tier ſucht Tier, um es als zwar
organiſchen, aber vorher zu tötenden Stoff in ſich aufzunehmen —
in abſoluter Disharmonie und unter Zerſtörung des anderen
Lebens.
Nun, das Tierreich iſt nicht untergegangen, ſondern hat
ſich im Gegenteil bis zur Geiſtesherrlichkeit des Menſchen
herauf entwickelt. Beweis genug, daß jener Konflikt nicht ſein
wirklicher Galgen geweſen ſein kann. Im großen und ganzen
ſtellten ſich eben gewiſſe Hilfskonventionen ähnlich wie bei
jenem gefährlichen Konflikt der Inzucht ein, von dem ich dir
erzählt habe.
[327]
Je mehr ſich die Tiere in feſte Einzelarten zerſpalteten,
deſto feſter wurde ja in Liebesſachen das Untergeſetz: zum
„Liebesfreſſen“, d. h. zur geſchlechtlichen Vereinigung meidet
man zwar Geſchwiſter und ſucht „Fremde“, — aber dieſe
Fremden müſſen doch immer noch annähernd derſelben Tier¬
ſorte angehören; der Froſch kann nicht eine Fliege, der See¬
ſtern eine Auſter lieben! Hier knüpfte eine gewiſſe Löſung
nun an. Lieben können ſich nur Auſter und Auſter, Seeſtern
und Seeſtern, Fliege und Fliege, Froſch und Froſch. Freſſen
im gewöhnlichen Sinne aber kann ohne weiteres auch Seeſtern
die Auſter, Froſch die Fliege. Alſo ſei Geſetz: niemals frißt
Froſch Froſch, Seeſtern Seeſtern. Damit er nicht in den
Konflikt von Freſſen und Lieben kommt. Dagegen mag See¬
ſtern ruhig Auſter, Froſch Fliege freſſen. Mit anderen Worten:
gleiche Artgenoſſen beſchränken ſich in ihrem Verkehr auf die
ſchöne harmoniſche Freßform des Liebens, gegen ungleiche aber
walte frei die zerſtörende gewöhnliche Nahrungsfreſſerei, —
hier kann ſie ja mit der Liebe nicht in Konflikt kommen, da
dieſe hier ſo wie ſo nicht gilt.
Aber nun: auch ſolche Geſetze fallen nicht eines Tages
vom Himmel. Das hat ſich erſt ſehr mühſam unter tauſend
Nöten herauskryſtalliſieren müſſen. Vielfach ganz mangelhaft,
ſchwankend. In gewiſſem Sinne kann man geradezu ſagen,
das „Geſetz“ hat für eine Reihe von Tiergruppen mehr oder
minder nur theoretiſch beſtanden, — mit der halben Praxis
mindeſtens als „Ausnahme, die die Regel beſtätigte“. Noch heute
giebt es Tiere, die in ihren Gewohnheiten gleichſam an der
Grenze verſteint, ſtehen geblieben ſind. Nichts ſeltſamer als
ſolche Gewohnheitsfoſſile. Statt alter Knochen im Geſtein
lebende Weſen, emſig weiter lebend. Und doch in dieſem Leben,
in beſtimmter zäh bewahrter Lebensart ein Ahasver-Antlitz,
das tief hinab erſt ins Werden der Dinge zeigt. Es iſt, als
ſei eine Brücke gebaut worden. Als der erſte Spatenſtich
gethan wurde, war ein Mann dabei, den einer in Hypnoſe
[328] ſchlug. Heute ſteht die Brücke als vollendeter Bau im
prangenden Licht. Aber unten am Eckpfeiler ſteht noch immer
der Mann und ſtößt und ſtößt den Spaten ein, thut ewig
von neuem den erſten Spatenſtich. Die Spinne iſt ein ſolcher
Mann .....
Die Spinne hat noch heute nicht feſt begriffen, daß man
den Gegenſtand ſeiner Liebe, mit deſſen Leben man zur Un¬
ſterblichkeit der Gattung zuſammenfließen ſoll in idealſtem Liebes¬
mahl, nicht gleichzeitig als fetten Nahrungsbrocken für den
profanen Alltagsmagen lüſtern beäugeln darf.
„Spinn, Spinne, Töchterlein, morgen kommt der Freier
dein.“ Ein merkwürdiges Töchterlein und eine bedenkliche
Freite fürwahr!
Da ſind Spinne und Spinnerich. Beide vom Geſchlecht
der Kreuzſpinnen.
Er verdient an zweiter Stelle genannt zu werden, denn
er iſt weſentlich kleiner als ſie, etwa nur zwei Drittel ſo groß.
Ein ſchöner Septembermorgen ſteht über uns. Im Garten
recken die reifen Sonnenblumen ihre Goldarme zum klaren
Herbſtblau. Aſtern glühen im Graſe wie rot und blaue
Doppelſterne. Über dem alten morſchen grünen Zaun der
ernſte Kiefernwald, die Kronen wie von grauem Rauch über¬
ſchwelt, ein verdämmerndes Märchen. Und an dieſem Zaun
hier und dort ein großes Netz. Seit langen Monaten treiben
Spinnen hier ihr Weſen, Männlein und Weiblein. Aber jedes
für ſich, unnahbar, ſpinnefeind auch dem Nachbar vom
eigenen Volk.
Jede dieſer Spinnen iſt auf der Höhe ihrer Bahn. Sie
hat ein langes Leben hinter ſich, ein Leben voll Kraft und
Arbeit. Lang freilich nur im Spinnenſinn, der die Zeit unter
[329] einem anderen Geſichtswinkel mißt als du. Für deinen
Menſchenſinn nicht einmal ganz ein Jahr. Einmal Sonnen¬
wanderung der Erde.
Aber der Spinne war das ein Weltenjahr. Es teilte ſich
in zwei große kosmiſche Epochen. Erſt eine furchtbare Eiszeit.
Winter. Da lagen alle dieſe Spinnen noch im Halbſchlaf im
winzigen Ei. Hundert ſolcher gelben Eichen beiſammen in
einem warmen Eierneſtchen.
Dann ein neuer, unglaublich verwandelter Erdentag. Die
Schneelaſt ſchmolz, grüne Knoſpen gingen auf. Frühling. Die
Sonne ſtieß an das Eierneſt und die Spinnchen ſprengten ihre
Eihaut. Acht Tage litt es ſie noch in geſelligen Klumpen bei¬
ſammen. Dann lief der Geſchwiſterſchwarm auseinander. Keines
achtete des anderen mehr.
Die Spinne kennt kein Larvenleben wie das höhere Inſekt,
wie Eintagsfliege oder Schmetterling. Aus dem Ei kriecht ſie,
wie ſie iſt, bloß unausgefärbt und winzig klein. In ihrem
Netz wächſt ſie dann, — in einem Sommer zur ganzen Größe
des furchtbaren Raubtieres, zur fetten Kreuzſpinne, wie ſie
ſelbſt dich erſchreckt. Solch raſches Wachstum baut ſich aber
natürlich nur auf auf unerhörter Gefräßigkeit.
Unter der Peitſche des Hungers wird ſie in den paar
Sommermonaten zur wahren Künſtlerin der Tierſchlächterei.
Das herrliche Netz wird aufgebaut, — aber nur zu dieſem
Zweck. Opfer um Opfer fällt hinein. Eine Orgie des
Schlachtens, des Freſſens im „Nahrungsſinne“, dieſes ganze
Leben vom Mai bis September. Eine Rieſenleiſtung von
Intellekt, aber alles auf die eine Arbeit geſtellt. Intellekt zum
Teil ſchon der Vorfahren, der vererbt iſt: die allgemeine Ver¬
anlagung zum Netzbauen. Intellekt aber auch in höchſtem
Maße bei jedem Individuum, das ſich den rechten Ort ſuchen
muß für dieſes Netz und in tauſend Einzelfällen das Beſte,
das Angemeſſene entſprechend abzuändern und neu hinzu zu
finden hat. Intellekt, der die Beute zu taxieren verſteht, der
[330] die eigenen Kräfte kennt, der mit Wetter und Wind zu rechnen
weiß, — ein wahrer kleiner Heiligenſchein des Geiſtes um dieſes
winzige, aber ſcharfe, eng konzentrierte Gehirn. Aber alles
in einem Bann: Freſſen, Freſſen im Dienſte einfachen Wachs¬
tums, Freſſen in jenem Sinne, der unerbittlich erſt den anderen
zerſtört, das fremde Leben erſt tötet, — tötet — zerſtört ....
Eine wilde Hatz. Immer der Ritter auf ſeiner Raub¬
burg lauernd. Was kommt, wird gepackt, wenn irgend die
Kraft es erlaubt. Nur vorwärts, auf eine gewiſſe Wachstums¬
höhe hinauf. Eben war eine Fliege im Netz, die daran
glauben, ihr Herzblut hergeben mußte. Jetzt fällt eine kleinere
Spinne derſelben Art hinein. Was Verwandtſchaft: ſie wird
ebenſo gepackt, mit dem Laſſo umwickelt, geknebelt, ausgeſaugt.
Es war eine männliche Spinne, — die Männchen ſind ja
kleiner. Einerlei. Was Geſchlecht! Hunger. Freſſen. Wachs¬
tum. In fünf Monaten von einem poſſierlichen gelben Zwerg¬
lein zu dem großen Ungetüm. Das erlaubt, erklärt alles.
Herbſtgold. Septemberblau. Und nun der große Umſchlag,
das große Verhängnis. Wachstum? Die Spinne iſt aus¬
gewachſen, — eines Tages. Der Zweck ſcheint erfüllt. Die
Poſition iſt behauptet. Der Magen hat ſeine Schuldigkeit
gethan. Aber wie? Das ganze Wachstum war ja gar nicht
ein in ſich geſchloſſenes, abſchließendes Ziel. Es war nur die
Unterſtufe zu etwas Höherem. Im Augenblick, da es ſelber
erfüllt iſt, deutet es ſchon auf ein ganz anderes. Der er¬
wachſene, reife Körper ſpaltet in ſeinen Geſchlechtsorganen auf
einmal Samen und Eier ab. Eier bei der Spinne, Samen
beim Spinnerich. Und der ganz neue, unſichtbare Faden eines
dunklen Begehrens ſpinnt ſich jäh von Samen zu Ei. Als
Reſultat all des Freſſens mit all ſeiner wilden Verachtung
fremden Lebens auf einmal Liebesſehnſucht nach fremdem Leben
als Leben .....
Hier beginnt nun bei den Spinnengatten, was man ſo
recht im Sinne einer Tragödie großen Stiles einen Konflikt
[331] der Pflichten nennen könnte. Mann wie Weib ſind daran ge¬
wöhnt, daß man ein ſich näherndes kleineres Weſen unerbittlich
frißt. Auch eine Mitſpinne. Auch eine männliche Mitſpinne.
Das letztere weiß die Spinne gleichſam aktiv, der Spinnerich
paſſiv. Sie weiß, daß man auch einen ſolchen kleinen Spinnen¬
mann als gute Beute einſpinnt und verſpeiſt, wenn er ſich für¬
witzig zu nahe heran wagt. Er weiß, daß man ſich vor der
dicken Frau Spinne hübſch in acht nimmt und ihre energiſche
Nähe nach Kräften flieht. Jetzt aber der Konflikt: die Liebe.
Beide ſollen auf einmal „in Liebe“ zuſammen kommen, ſollen
ſich geradezu aufſuchen.
Spinne und Spinnerich ſind bei dieſem Kreuzrittervolk
wie bei aller Spinnenſippe überhaupt von ſtrengſter Teilung
des Geſchlechts. Er hat zwei lange Samenſchläuche im Leibe,
ſie zwei traubenförmige Eierſtöcke. Einfach ins Blaue hinein
zeugen ohne direkte körperliche Annäherung, wie es die faulen
Auſtern treiben, giebt's hier nicht, denn ſo was iſt überhaupt
nur im Waſſer und bei an ſich ſchon geſellig dicht neben¬
einander ſitzenden Tieren möglich. Es hilft alles nichts: die
beiden müſſen zu einander.
Die Geſchlechtsorgane, ſelber tief im dicken Spinnen¬
hinterleibe verborgen, münden bei Mann wie Weib in einer
einfachen Pforte der Bauchſeite. Das Regelrechte wäre alſo,
Männlein und Weiblein machten nun doch für den Ausnahme¬
fall einmal ernſtlich Frieden und kämen auf dem Netz der
einen Partei ſo zuſammen, daß Pforte die Pforte berührte.
Wenn's nur nicht ſo gefährlich wäre. Herr Spinnerich hat
natürlich am meiſten Angſt.
Wenn er nun wirklich einen Antrag wagt, ins fremde
Netz klettert ..... ein Korb bedeutet hier mehr als eine
Herzenswunde. Wer hier abblitzt, der wird eingeſponnen, ein¬
geſponnen nicht im liebenden Sinne in Fäden des Herzens,
ſondern in ſehr reale Hanfſtricke — und dann kommt kein
roſiger Küßmund, ſondern eine fürchterliche wahre Meſſer¬
[332] ſchnauze, die kurzen Prozeß macht. Aber die Herbſtſonne lacht
und die Sehnſucht gärt, — da drüben wiegt ſich die lieb¬
werteſte Spinnenkönigin im Silbernetz — er muß den Verſuch
wagen, auf Tod und — Liebe.
Aber ehe er ſich aufmachen kann, gilt es noch die ſchwierigſte
Sache als unerläßliche Vorbereitung.
Du haſt den Tintenfiſch geſehen, der die Samenpatronen
in einem ſeiner Kopfarme trug. Es giebt ein poſſierlich aus¬
ſchauendes ſpinnenähnliches Tierchen am Seeſtrande, die ſo¬
genannte Krebsſpinne, bei der ebenfalls die Beine eine ent¬
ſcheidende Rolle für den Geſchlechtsapparat ſpielen, — maßen,
daß hier Männlein wie Weiblein in jedem der acht Beine je
ein Geſchlechtsorgan tragen, im ganzen alſo ſechszehn; und
da Eier wie Samen unmittelbar aus den langen Spinnen¬
beinen hervorquellen, ſo kann man von dieſen geſpenſtiſchen
Beintieren (Pantopoda oder Ganzbeiner heißt die Gruppe
wiſſenſchaftlich) ſicher behaupten, daß ihr ganzer Zeugungs¬
prozeß regelrecht ſich Bein über Bein vollziehe. Etwas nach
dieſer wunderlichen Richtung wandelt nun auch unſer Spinnerich
am Gartenzaun. Bloß daß er gleichſam erſt aktiv ſich bereitet,
was jene anderen ſchon von Natur beſitzen.
Schau hin, was er macht. Noch geht er nicht zur Spinne,
er beſchäftigt ſich erſt vorſorgend mit ſich ſelbſt. Seine Ge¬
ſchlechtspforte iſt eine einfache Pforte, — ohne jede Spur eines
Begattungsgliedes. Und wie er nun ſo ſitzt und den Leib hin
und her bewegt, ſinnend und bangend, ob er zur Spinne
hinüber ſoll oder nicht, ſieh, da rinnt auf einmal die Samen¬
flüſſigkeit von ſelbſt aus der kleinen Pforte als winziges
Tröpfchen aufs Netz. Alsbald ändert unſer Herr den Sitz
und dreht ſich ſo, daß die Unterſeite des Kopfes in der Maul¬
gegend das Tröpfchen berühren kann. Es ſieht aus, als
wolle er es freſſen, — womit dann im Sinne jener Kon¬
kurrenz von Freſſen im Nahrungsſinne und Verſchmelzen
oder „Freſſen höheren Grades“ im Liebesſinne die denkbar
[333] größte Konfuſion angebahnt wäre. Aber ſo weit geht's nun
doch nicht.
Allerdings ſiehſt du das Tröpfchen unmittelbar am Munde
verſchwinden, als ſei es thatſächlich gefreſſen worden. Die
Sache liegt aber ſo. Du mußt dir die ſonderbaren Schnauzen¬
verhältniſſe einer ſolchen Spinne einmal raſch vergegenwärtigen.
Das Spinnenmaul iſt an ſich die regelrechte Vorder¬
öffnung des Verdauungsapparates, durch den die Nahrung in
den Magen kommt, genau wie bei dir, — alſo ein Loch. Um
dieſes Loch aber ſitzen zum Faſſen, Töten, Bewältigen der
Magennahrung handfeſte bewegliche Kiefern, — genau wie Du
einen beweglichen Unterkiefer und zwei Reihen ſolider Zähne
zu ſolchem Zwecke haſt.
Die Kiefern der Spinne ſehen bloß etwas ſeltſam und
von deinen ſehr verſchieden aus, — und das einfach, weil ſie
noch in einer unverkennbaren Weiſe ihre urſprüngliche Ent¬
ſtehung aus Beinen verraten.
Ja, aus Beinen! Oberkiefer wie Unterkiefer ſolcher Spinne
ſind eigentlich nichts, als je ein Paar kleine Beinchen, die
vorne am Kopfe nächſt der Mundöffnung ebenſo ſitzen, wie
etwas weiter hinten die vier Paare gewöhnlich ſo genannter
echter Spinnenbeine. Du mußt dir folgendes denken. Die
Spinne, wie alle höheren Gliedertiere, ſtammt geſchichtlich von
gewiſſen wurmähnlichen Geſchöpfen ab, deren ganzer Leib mit
Einſchluß auch des Kopfes in geringelte, „eingekerbte“ Teile
zerfiel — und an jedem dieſer Ringelteile ſaß je ein Paar
Beine. Noch der Tauſendfuß ſpiegelt dir dieſe Stufe ſehr treu,
obwohl er ſchon kein Wurm mehr iſt, ſondern bereits unſeren
Spinnen ziemlich nahe ſteht, ja vielleicht direkt ihr Ahne iſt.
Beim höheren Gliedertiere wie der Spinne iſt dieſer lange
Wurmleib nun ſo zu ſagen eng zuſammengedrängt worden.
Gerade die Spinne ſelbſt beſitzt nicht einmal mehr Kopf und
Bruſt getrennt, ſondern alles iſt ihr ſelbſt hier in eins zu¬
ſammengewachſen und nur zwiſchen dieſer „Kopfbruſt“ und dem
[334] übrigen Leib iſt noch eine alte Wurmkerbe, ein „Abſatz“ übrig
geblieben.
Aber die Beine ſelbſt blieben auch ſo noch in reicher Zahl
beſtehen. War Kopf und Bruſt ein Körper geworden, ſo ſaßen
doch noch daran ſechs Beinpaare. Das waren bei der engen
Konzentrierung des Körpers aus einem langen Wurm zur
kurzen dicken Spinne zum Laufen überflüſſig viele. Und ſo
kam's, daß allmählich nur mehr vier Paare wirklich zum Laufen
benutzt wurden. Die beiden erſten Paare aber traten enger in
den Dienſt des gerade in ihrer Nähe befindlichen Mundes: ſie
verengten ſich aus langen Pack- und Laufbeinen zu engeren
Pack- und Beißorganen des Mundes, — ſie wurden einfach
zu Kiefern. Siehſt du dir ein anderes, heute noch höher
entwickeltes Gliedertier an, das wohl parallel zu den Spinnen
auch aus Tauſendfüßlern und noch früher echten Ringelwürmern
heraufgekommen iſt, ein Inſekt etwa wie den Käfer, ſo ge¬
wahrſt du dort, wie der Prozeß noch weiter gegangen iſt: hier
ſind gar drei von den ſechs Beinpaaren als Kiefern verwertet
worden und nur noch drei Paar echte Laufbeine ſtatt vieren
vorhanden, — der Käfer hat ſechs Beine, ſtatt acht wie die
Spinne, dafür aber dreierlei Kiefern ſtatt zweierlei wie die
Spinne. Mit dieſem Stückchen Darwinismus wirſt du jetzt
die Sache ſchon eher begreifen, die unſer Spinnerich macht, —
eine an ſich höchſt, höchſt ſeltſame Sache.
Obwohl jene Spinnenkiefern am Munde in erſter Linie
als echte Kiefern zum Ernährungszweck arbeiten, ſo haben ſie
doch noch ihre allgemeine Geſtalt als Gliedmaßen, — als
Beine oder Arme, wie du es nennen willſt — im kleinen treu
bewahrt. Man könnte ſich denken, daß ſie gelegentlich doch
auch noch manchen anderen Zwecken nebenher dienen möchten.
Denke dir's doch menſchlich durch: du ſollſt ſtatt Kiefern mit
Zähnen um den Mund vier kleine Arme ſitzen haben, oben
zwei und unten zwei. Dieſe Ärmchen paſſen mit den Ober¬
armen feſt wie Zähne aufeinander und arbeiten, aufeinander
[335] und gegeneinander mahlend, auch in etwa wie ſolche. Die
Unterärmchen und Händchen dagegen angeln nach außen
frei vor und könnten wohl noch ihre beſondere Beſchäftigung
kriegen.
Ganz ähnlich bei der Spinne. Die kleinen Mundbeinchen
oder Kiefern ſind gegliedert wie dein Menſchenarm, ſogar noch
verwickelter. Je die unterſten Stücke (ſagen wir die Oberarme)
paſſen feſt als echte Freßkiefern aufeinander. Die weiteren
Gliedchen aber (ſagen wir Unterarm und Hand im Bilde)
ſpringen unten und oben wie feine Endſpitzchen dieſer eigent¬
lichen Kiefern noch beſonders wieder vor. Oben bilden ſie der
Spinne je einen kleinen Spitzzahn, in den eine böſe Giftdrüſe
zur Lähmung des erfaßten Opfers einmündet. Unten aber
treten ſie jederſeits wie ein längerer Taſtfühler vor, — ſagen
wir, um im Bilde des Menſchenmundes zu bleiben, obwohl
das Bild nur ganz mangelhaft ſein kann, — wie zwei vor¬
geſchobene Lippenſpitzen, die frei herummümmeln, während
tiefer innen herzhaft gekaut wird.
Ja und nun! Mit dieſen Spitzchen des Unterkiefers faßt
unſer Spinnerich jetzt ſein eigenes, in Einſamkeit ausgeſchiedenes
Samentröpfchen und — ſaugt es ein. Das Lippenſpitzchen iſt
genau dazu gebaut: es nimmt den Samen in eine Höhlung
wie in ein kleines vorläufiges Reſervoir auf, ohne daß er
dabei irgendwie dem großen Spinnenmunde im Hintergrunde
zu nahe käme. Denke dir im gröbſten Bilde, du rollteſt deine
Lippe nach unten um und hielteſt etwa einen Bleiſtift zwiſchen
Lippe und Kinn feſt. So etwa hält der Spinnenmann den
freien Samen jetzt in den äußerſten, lippenartig vorſpringenden
Spitzchen des Unterkiefers — natürlich einzig in der guten
Abſicht, ihn ſolchermaßen auf dem Präſentierbrett und zugleich
in einer möglichſt zähnefletſchenden Frontſtellung der Frau
Spinne da drüben zuzutragen .....
Daß er das will und wie er es will, das kannſt du als¬
bald jetzt weiter beobachten.
[336]
Mit Mut wandert er hinüber an den Rand des anderen
Netzes. Die große dicke Spinne im Zentrum dort gewahrt ihn.
Nun iſt mancherlei möglich.
Es iſt möglich, daß er ihr individuell nicht gefällt. Viel¬
leicht iſt er zu klein, nicht ſchön und deutlich genug gezeichnet,
kurz aus irgend einem Grunde mißliebig. Dann iſt die Sache
natürlich von vorne herein verzweifelt. Das Weib lauert ihm
auf genau wie einer Fliege.
Doch es ſoll nicht ſo ſein. Die Spinne beſchaut den
Werber und findet ſo weit Wohlgefallen an ihm. Langſam
klettert ſie von ihrem Thron herab auf die Netzecke zu, wo
das Männchen beſcheiden wartet. Kein Zweifel, ſie empfindet
ſelbſt Liebesſehnſucht. Die ungeheure Weltenneigung ſchläfert
auf eine Stunde die individuelle Freßneigung ein. Mit
dem Rücken nach unten, den Kopf voraus, die Beine wie
erſtarrt angezogen hängt ſich Frau Spinne im Netze an, —
ſie erwartet den Spinnerich ..... Wird er Siegfried ſein?
Oder wird es ihm gehen wie dem armen König Gunther, den
Frau Brunhild in der Brautnacht knebelte und an die Decke
hing .....?
Aber noch entſcheidet ſich nichts. Eine neue Möglichkeit.
Auf eine Spinne kommen an unſerem Spinnenzaun mehrere
wartende und hoffende Männchen. Im allgemeinen iſt das
Prozentverhältnis ein Weibchen auf ein Dutzend Männer!
Das giebt Konkurrenzgefahr. Unverſehens, wie er noch über
die guten oder böſen Abſichten der Heldin in einigen Zweifeln
zu ſchweben ſcheint, ſieht ſich der Held von einem Nebenbuhler
angegriffen. Streit, Abwehr, Balgerei. Die Heldin wartet.
Wer wird ſiegen? Der Sieger iſt ſicherlich der energiſchſte
Mann. Alſo Gottesurteil. Nun, unſer Spinnerich ſoll der
Stärkere wirklich ſein. Der Nebenbuhler zieht ab. Und jetzt —
vom Kampf zur Liebe.
Vorſichtig, immer vorſichtig geht Herr Spinnerich auf
ſeine Dame zu, den Rücken nach unten wie ſie. Jetzt faßt er ihr
[337] mit den Beinen an den Leib. Sie läßt es ſich gefallen. Wohl
eine Viertelſtunde lang ſtreichelt er ſie bloß, — wie ein Menſch,
der langſam ein ſcheues Tier beruhigt und zum Frieden ſtimmt.
Und doch — glaubwürdige Beobachter haben noch gerade
in dieſer letzten vorbereitenden Liebkoſungsviertelſtunde eine
ganz jähe Kataſtrophe erlebt: abſolut unvermittelt, als ſei der
gemeine Freßinſtinkt urplötzlich mit einem Ruck doch noch Herr
des feineren Liebeshungers geworden und habe alles wie ein
Klotz zum Sinken gebracht, brach die Spinne noch los, — im
Nu war der Spinnerich als armer Sünder gepackt, eingeſponnen,
angebiſſen und ausgeſaugt. Bei gewiſſen Spinnenarten, wo
die Männchen ganz beſonders winzig ſind, ſiehſt du ſogar den
kleinen Spinnen-Gunther ſeiner drohenden Brunhild zur Vor¬
ſorge einfach mit einem Satz auf den Rücken ſpringen und von
dort erſt liebkoſen, — es iſt der ſicherſte Sitz, da die Spinne
den Kleinen gerade dort oben ſelber nicht mehr faſſen kann,
auch wenn ſie es plötzlich noch wollte.
Offenbar iſt gerade dieſe äußerſte Situation noch die ganz
gefährliche. Es iſt die abſolut unberechenbare, — die, wo
am ſchärfſten in Kraft tritt, was ich oben ſagte: der eigentliche
Konflikt, das Problematiſche, das auf einer Wende der Inſtinkte
unentſchieden Schwankende des ganzen Spinnenlebens.
Auf dem Gipfel dieſer bänglichſten Kriſis wagt das
Männchen, offenbar getrieben von einem nicht mehr zu be¬
wältigenden Drange, trotzdem den entſcheidendſten Schritt. Mit
raſcher Drehung wirft es ſich herum und ſpringt dem im Netz
herabhängenden Weibe überſchlüpfend von oben Leib gegen
Leib. Im ſelben Moment fahren auch ſchon jene Taſtſpitzen
ſeines Unterkiefers, die die Samenfracht tragen, in die weib¬
liche Scheide der Spinne hinein. An dieſer Scheide zeigt,
ſeltſam genug, hier die weibliche Spinne eine Art regelrechten,
vorſtreckbaren Begattungsgliedes, das den Samen empfängt.
Das iſt der Moment der wahren Begattung, — von
Dauer etwa eine halbe Minute. Ebenſo ſchnell wie der
22[338] Spinnerich gekommen iſt, ſpringt er ſofort hinterher wieder ab
und zieht ſich überhaupt jetzt ganz von Frau Brunhild zurück.
Erſt nach einer Viertelſtunde wird das Spiel noch einmal
wiederholt und ſodann noch öfter, — wahrſcheinlich wohl, bis
jedes letzte Reſtchen Samen des Männchens an den rechten
Fleck gebracht iſt. Die Spinne kann offenbar ſo viel vertragen,
wie ihr nur irgend geliefert wird. Denn der Mannesſamen
geht bei ihr ganz oder doch teilweiſe auch einmal wieder in
eines jener trefflichen Reſervedepots ein: — eine ſogenannte
Samentaſche, in der Samentierchen auf „Reſerve“ ſo lange
lebendig aufbewahrt bleiben können, bis die Eier alle reif ſind.
Ja vielleicht bis ſie gelegt ſind. Denn du ſiehſt Spinnen,
nachdem ſie ihre Eier abgelegt haben, auf dieſe noch nachträglich
etwas darauf ſpritzen, was wahrſcheinlich ſolcher Reſerveſamen
iſt, — eine drollige Parallele zu der vorbereitenden Art, wie
das Männchen auch erſt für ſich allein den Samen ausgeſpritzt hat.
Dieſer letzte Akt übrigens oder eigentlich Epilog der
ganzen Tragikomödie — die Stellung der Spinne zu ihrer
Nachkommenſchaft — iſt rührend über alle Maßen. So
problematiſch in dieſem krauſen Spinnenleben Liebe und Ehe
war: die Mutterſchaft iſt von abſoluter Reinheit. Der ganze
kurze Reſt des herbſtlichen Spinnenlebens ſteht in ihrem Dienſt.
Mit höchſtem Geſchick bereitet die Mutter ihren Eiern ein Neſt
aus feinſtem Geſpinſt. Sind ſie hineingelegt und nach jener
Weiſe noch ſorgſam befruchtet, ſo wird das Ganze zugeſponnen
und dann — die letzte Lebensaufgabe der alten Spinne —
mit unendlicher Sorgfalt bewacht und verteidigt.
Das Auskriechen der Kleinen fällt aber nicht mehr ins
irdiſche Programm dieſes treuen Muttertieres. Die Sonnen¬
blumen welken und knicken, die Aſtern ſchrumpfen eines Tages
ein. Die „Eiszeit“ bricht abermals herein, — Winter und
Weltuntergang.
Gegen ſie brauchen die Jungen ſelbſt keinen Schutz mehr,
in ihrem dichten Geſpinſtpelz ſchlummernd fühlen ſie ſelber ja
[339] gerade die Kälte nicht, ſchlummern fröhlich dem Frühling zu, —
die Feinde aber, die ſie bedrohen könnten, rafft der Froſt
durchweg dahin. Derſelbe Froſt, der auch die gealterte welke
Mutterſpinne rafft: als verhungertes, erfrorenes Herbſtblättchen
liegt ſie eines Tages neben ihrer Brut, die ſie nicht mehr
braucht .....
Siehſt du über den alten grünen Gartenzaun die Augen
der Madonna leuchten? Mit ihrer unendlichen Wanderſchaft
durch die Jahrmillionen, vom Blut zum Geiſt? Das wilde
Spinnenweib, das über einer grauenvollen Mordhöhle groß
geworden iſt, das noch ſchwankt, ob es den Mann, der ihm
Liebe bietet, nicht auch kaltblütig abſchlachten ſoll, wie es alle
ſeine Vorgänger, die in die Mördergrube gefallen ſind, ab¬
geſchlachtet hat ..... und die Mutter, die über einer Wiege
bis zum letzten Atemszuge wacht ..... aus dieſen Gegenſätzen
hat die Natur geſchmiedet, was du heute Liebe nennſt.
22*[340]Vom Spinnenzaun am Kiefernwald an die Seeküſte.
Es gilt nur auf einen Augenblick. Ich muß dir neben
das Märchen von der Spinne gleich hier ein zweites ſtellen,
des Kontraſtes wegen. Obwohl aus ganz anderem Gebiet.
Laß einen Moment die Gliedertiere dir wieder im blauen
Wolkendunſt verſinken. Wir kehren ſofort zurück. Jetzt nur
ein Intermezzo. Fern aus anderem Tierſtamm, von den
Wirbeltieren. Aus der Gaſträa wurde ein Wurm. Aus dem
Wurm wurde hier ein Krebs, ein Tauſendfuß, eine Spinne.
Und dort ein Urfiſch, ein Neunauge, ein Haifiſch, ein Stör,
ein echter Fiſch, etwa ein Hering. Du erinnerſt dich, — die
Heringe, wie ſie liebten. Hierher tauche für eine Minute mit
mir — zu der Verwandtſchaft des Herings. Ins Waſſergrün,
in das Smaragdgrün der fiſchdurchwimmelten Tiefe. Wieder
ein dumpfer Konflikt. Und wieder die Augen der Madonna, —
auch hier.
Ich hatte einen Bekannten, deſſen ganze Lebensphiloſophie
auf den Vers ging: das Weib iſt bitter. In ſeinen ſchlimmſten
Stunden ſann er, ob das Weib nicht überflüſſig ſei. Ein
Hemmnis der Kultur. Vielleicht ſpiritiſtiſch neben den Mann
gezaubert bloß als ein böſer Schatten ſeines Lichtgeiſtes, ein
Spuk, der ihn äfft. Vielleicht darwiniſtiſch bloß eine minder¬
wertige Art, die der Menſch wie ein Rudiment mitſchleift, durch
[341] ein altes Unglück der Entwickelung mit ihr verknüpft. Dann
erging er ſich in Utopieen, wie der Mann zu retten ſei vor
dieſem „Weib“. Abſolute ſoziale Trennung. Eine „Menſch¬
heit“, beſtehend aus Nationen unabhängiger, geiſtesſtarker
Männer. Und da und dort, möglichſt iſoliert davon, eine Art
großen Zigeunerlagers, wo das Geſchöpf Weib ſich aufhielt.
Ab und zu für den Mann die ſchwere Pflicht, auf kürzeſte
Zeit ſich mit dieſer fremden Welt zu beſchäftigen. Aber wahr¬
lich nur aus leidiger Pflicht — und ſo kurz wie möglich.
Dann kehrte er wieder heim in das wahre große Geiſtesreich,
wie ein Kulturmenſch vom Nordpol kehrt. Und alle Kinder¬
erziehung bei den Männern, ausſchließlich. Die Zukunft mußte
etwas derart bringen kein Zweifel. Und es war doch
wenigſtens ein ſtolzes Gefühl, um die Zukunft zu wiſſen .....
Ich ſehe ihn noch wie heute, wie er mir das einmal vor¬
dozierte, in grauem Ton, ein graues Männlein. Ein Regen¬
tag und die Waſſer rannen. Ich aber dachte an Ovids Meta¬
morphoſen und in was der Geiſt des alten luſtigen Dichters
dieſen galligen Erdenſohn wohl verwandelt hätte.
Dein Körper, du Lieber, den die Galle ohnehin ſchon
ſchrumpfen ließ, wäre ganz aufs winzige zuſammengeſchnurrt, —
bis auf acht Zentimeter herab. Hinten wäre dir ein zierliches
Fächerſchwänzchen gewachſen, deine Beine und Arme wurden
Floſſen, über deinen Rücken und Leib goß ſich ein zartes Grün
und Silber aus, das ſchuppig glänzte. All deine Seelen¬
borſtigkeit und Weiberverachtung aber ſtach dir in ein paar
langen, haarſcharfen Spitzen aus dem Leibe heraus, Stacheln
ſo mörderiſch, daß ſelbſt der grimmigſte Hecht dich entſetzt aus¬
ſpeien möchte, ohne es gleich zu können, da du ihm den
Gaumen anbohrteſt, wie ein Igel ſich in eine Hundeſchnauze bohrt.
Alles in allem, du wärſt unſer luſtigſter Fiſch geworden:
der Stichling, Stechbüttel oder Stachelinſky. Und das nicht
bloß zur Strafe für deine Stachelſeele überhaupt, ſondern weil
dieſer Stichling drunten tief im verſchwiegenen Waſſer alles
[342] ſchon verwirklicht hat, was du von weiberfeindlicher Zukunft
erhoffteſt.
Ach, unſere menſchlichen Träume ſind ſo dünn: wir bauen
die großartigſten Utopieen, einen neuen Himmel über Wolken¬
kuckucksheim, im Jahre 3000 oder noch ſpäter. Die Natur
hat das aber in Wahrheit alles längſt vor uns gemacht, hat
es durchgeprobt und durchgeſiebt in der Erfahrung längſt ver¬
floſſener Jahrtauſende. Hat es aber zu leicht gefunden, um
es in die große Lichtlinie Tier-Menſch aufzunehmen. So
daß es uns heute nur noch wie eine krauſe Reliquie aus
irgend einem Sumpfwinkel anglotzt .....
Der Mann und dreimal der Mann iſt der Held im
Lebensepos der Stichlingheit. Das Weib iſt beſten Falles nur
eine Epiſode darin. Der Mann iſt der Vertreter der ganzen
Gattungsmoral, der nicht bloß als Individuum zu Selbſt¬
zwecken exiſtiert, ſondern gleichſam noch Bürger einer höheren
Gemeinſchaft iſt, die als Gattung durch die Jahrtauſende geht.
Das Weib iſt daneben wirklich nichts anderes, als eine ſchweifende
Zigeunerin, die ohne Gewiſſenspflichten in den Tag lebt.
Damit es ſo ſein kann, iſt denn allerdings ein verwickelter
Roman nötig, der ſich in grünen Waſſertiefen ſpinnt.
Herr Stachelinsky hat von Natur einen knurrigen, herri¬
ſchen, mißgünſtigen Zug im Temperament. Unermüdlich balgt
er ſich mit ſeinesgleichen, und nur wenn ein gemeinſamer
großer Feind, ein Raubfiſch etwa, der die Stacheln der
kleinen Ungeheuer nicht fürchtet oder noch nicht kennt, in der
Nähe auftaucht, fährt eine vorübergehende Solidarität in eine
ganze Bande ſolcher raufboldigen Stachelinskys zum Zweck ge¬
meinſamer Verteidigung.
Das „Weib“ im Sinne eines liebenswerten Weſens oder
gar einer treuen Genoſſin in Kampf und Arbeit exiſtiert im
gewöhnlichen Zuſtande für den räuberiſchen Stachelindividualiſten
nicht. Gelegentlich, auf einem Beutezug, gerät er wohl einmal
unter die „Weiber“, die ſich gewohnheitsmäßig in geſonderter
[343] Schar abſeits halten, meiſt nahe der Oberfläche des Waſſers,
während die Männer im Tiefen hauſen. Statt Liebe giebt's
dann aber auch dort ſofort Zank, Prügelei und Stecherei, bis
entweder der Mann die Weibsleute auseinander gejagt und
um ihre Beute gebracht hat oder ein beſonders maſſives Weib
dem männlichen Eindringling eins aufzubrennen weiß und er
wie ein ſchlechter Jäger, den der Hirſch verbeuelt hat, in ſein
Revier zurückkehrt.
So im Alltagsleben. Es kommt die Stunde, wo Stache¬
linsky der Mann eine ſeltſame Erregung in ſich fühlt. Jene
Erregung, die im Leben der Geſchöpfe ſo entſcheidend losbricht.
Aus dem großen Zellenverband des Manneskörpers haben ſich
gewiſſe Einzelzellen losgelöſt: an einer Stelle des Innenleibes
hat ſich eine Subſtanz angeſammelt, in der zahlloſe kleine
Zellenindividuen nach Befreiung, nach Entleerung drängen: der
Samen iſt triebkräftig und will heraus, um auch Stachelinskys
Individualexiſtenz zu erweitern zum Gattungsleben, zur Gat¬
tungsunſterblichkeit. Der weihevolle Moment, wo das jugend¬
lich ſpröde „Verachte das Weib!“ umzuſchlagen pflegt in die
große Paſſion, in das freudvoll-leidvolle Suchen und Finden
des Ewig Weiblichen!
Ganz anders aber bei unſerem Stachelinsky. Der gärende
Stoff läßt ihn zwar keineswegs kalt. Schon vorher hatte er
die Gabe, wie ein choleriſcher Menſch oder Truthahn, dem das
Blut zu Kopfe ſteigt, in Augenblicken heftigen Affektes, bei
Zorn und höchſtem Kampfeseifer, das blaſſe Grün und Silber
ſeines Leibes jählings in leuchtend grelle Farben zu ver¬
wandeln: der Bauch wurde durch blitzſchnell einſchießende Farb¬
welle knallrot wie der Schnitt eines Liebhaberbandes, der Rücken
ſmaragdig, die weiße Iris des Auges tiefgrün. Jetzt, wo eine
dauernde Erregung alle Nerven vibrieren läßt, werden dieſe
Prachtfarben zum dauernden Kleid: es ſtellt ſich jener Zuſtand
ein, den man als „Hochzeitskleid“ bezeichnet. Aber an Hochzeit
ſcheint Stachelinsky gerade jetzt am allerwenigſten zu denken.
[344]
War er vorher ein Unruhſtifter und unverbeſſerlicher
Balgbruder, ſo kommt es jetzt mit dem bunten Frack über ihn
wie vollkommenſte Welt- und Mitfiſchverachtung. Sein galliges
Temperament erſcheint auf dem Höhepunkt und das ſcheinbare
Hochzeitsrot nur als die in Permanenz erklärte Puterfarbe
des individualiſtiſchen Fanatikers, dem ſchon der einfache An¬
blick eines zweiten Weſens die Wutadern beinahe zum Platzen
bringt.
Das freie Herumſchweifen im Waſſer ſteckt er plötzlich auf.
Er ſucht ſich einen feſten Fleck, von dem er nicht mehr gewillt
ſcheint zu weichen. Wer ſich naht, den verjagt er wie ein
Raſender, Mann wie Weib. Iſt das Terrain aber klar, Ruhe
ringsum und die volle Freiheit zu völlig einſiedleriſchen Thaten
gegeben, ſo beginnt er dort ein geheimnisvolles Werk.
Zunächſt ſchleppt er allerlei Material an, wie es der
Waſſergrund bietet, Wurzeln, Stücke von Waſſerpflanzen, Halme
und Geniſt vielfältiger Art. Manchen paſſenden Teil reißt er
gewaltſam erſt da und dort los und läßt ihn prüfend dann
noch einmal fallen, ob er wohl als zu leichtes Schwemm¬
material vom bewegten Waſſer mitgenommen werde oder zu
Boden ſinke und ſich durch eigene Schwere ſelbſt verankere.
Nur das ſchwere Blatt, den ſchweren Halm nimmt er als
brauchbar mit. Wie ein Star lange Strohfäden einer Fahne
gleich hinter ſich herſchleppt, ſo macht es ihm nichts aus, mit
Pflanzenſtücken im Maule anzukommen, die länger ſind als ſein
ganzer Leib.
Am guten Ort, im Süßwaſſer (denn er lebt hier ſo gut
wie in der See) meiſt auf ſandigem Grunde, über dem das
Waſſer nicht ſtagniert, ſondern hell und raſch fließt, wird das
gewonnene Rohmaterial angehäuft und mit unendlicher Sorg¬
falt nach und nach zu einem kunſtvollen, feſt vernieteten Bau
verarbeitet.
Den Grund bildet eine Höhlung im Sande, durch Kies¬
körner geſtützt. Darauf erhebt ſich allmählich eine rundliche
[345] Wölbung aus Pflanzenmaterial. Die Wände wachſen, indem
der kleine Baumeiſter (Stachelinsky mißt ja durchweg noch
nicht zehn Zentimeter und oft weit weniger) Schicht um Schicht
des Gewürzels und Geniſtes wie ein regelrechter Maurer auf¬
trägt und ankittet.
Den Mörtel oder Kitt hat er im eigenen Leibe: wenn
die Rohſchicht loſe liegt, ſpreizt er den Körper darüber und
notdürftelt einen dicken Tropfen klebriger Subſtanz darauf, der
die Stoffe alsbald unter ſich und an der Unterlage feſthaften
läßt. Ab und zu, wenn ein Stück Wölbungswand glücklich
ſteht, ſchmeißt er ſich gewaltſam gegen ſein Werk zur Prüfung,
ob es wohl noch durch Druck zum Einſturz gebracht werden
könne. Oder er bringt mit ſtürmiſchem Floſſenſchlag das
Waſſer darüber in Wallung, daß nach einer Art grober Aus¬
leſe alle noch nicht ganz niet- und nagelfeſten Teile wieder als
loſe Spreu aufſtrudeln und ſo die Lücken ſich weiſen, wo noch
mit Kitt nachzuhelfen iſt.
Die ganze Arbeit erſcheint um ſo wunderbarer, als der
Maurer ja ein Fiſch iſt, der keine Hände, ſondern nur rohe
Floſſen hat und der auch buchſtäblich eigentlich mit dem ganzen
Leibe zugreift, alles durch Anſchmiegen, Drücken, Schwenken
und Strudeln im ganzen zu einander treibt oder höchſtens mit
dem Maule nachhilft, das in den Kinnladen einen ganz feinen
Strich ſammetartiger Zähne trägt.
Stunde um Stunde währt die unermüdliche Thätigkeit
unſeres Eremiten ſo. Vier allein braucht der Rohbau, die
feinere Ausgeſtaltung mehrere ganze Tage. Dann endlich iſt
das Kunſtwerk fertig: im ganzen jetzt eine ſolide Wölbung etwa
von Fauſtgröße, oben völlig geſchloſſen, dagegen an der Seite
mit einem Eingangsloch von Stichlingsbreite. Vielfach werden
Schlamm oder Sand zum Schluß noch ſo über den Bau weg¬
geſtreut, daß außer dieſer Öffnung überhaupt nichts von ihm
direkt zugänglich oder ſichtbar bleibt.
Stachelinsky hat nicht bloß für ſich gebaut.
[346]
Seine Abſicht ging in Wahrheit nicht auf eine Eremiten¬
klauſe. In ihm iſt jener rätſelhafte Zug erwacht: der dunkle
Fernblick auf eine Exiſtenz jenſeits ſeiner eigenen, auf junge
Weſen, die erſt ſein Samen erzeugen ſoll und in denen die
Gattung fortleben wird. Die Zelle im Teichgrund, die er ſo
mühſam errichtet hat, iſt ein Neſt, beſtimmt, die Jungen in
ihrer früheſten Entwickelung zu hegen.
Stachelinskys des Mannes Eigenart iſt es bloß, daß er
als zukünftiger Vater ganz unabhängig vom Weibe dieſes
Neſt baut.
Stachelinska dem Weibe fiele es niemals ein. In fernen
Waſſerſchichten treiben ſich die Stachelweiber nach wie vor mit
freier Zigeunerluſtigkeit umher, während der Einſiedel in
dunkler Viſion irgendwie den Begriff „Nachkommenſchaft“ auf¬
dämmern ſieht und der inneren Pflicht getreu an ſeine Arbeit
im Gattungsdienſte geht. Nun, da das Neſt fertig iſt, fordert
der Gattungszweck aber ſelber, ob wohl, ob übel, eine wenigſtens
temporäre Befaſſung mit dem „Weib“, — da hilft kein Beten,
wie Falſtaff ſagt.
Und ſo muß Stachelinsky alſo jetzt in den ſauren Apfel
beißen, ſeine eremitiſche Borſtigkeit für eine kurze Spanne
Zeit etwas abzuſchleifen und die leidig notwendige Ergänzung
„Weib“ in irgend einer Form ſelber herbeizuſchaffen. Wie er
es macht, das gleicht freilich nicht gerade einer ehrſamen Ehe¬
freite, ſondern ſieht verzweifelt ähnlich dem Gebaren eines
böſen Junggeſellen, der eine ſchöne Stube daheim geheizt hat
und nun zu ſehr vorübergehenden Zwecken ein Weib ſich von
der Straße lieſt......
Stachelinsky ſchwimmt vom Neſte ab und kehrt nach
einiger Zeit mit einer Stachelinska heim, — ſei es nun (hier
ſchwanken die Beobachter), daß er eine betreffende gerade
vorbeiſchwimmend und durch ſeinen Neſtbau angelockt in nächſter
Nähe entdeckte, — ſei es, daß er mitten ins Weiberlager ein¬
gebrochen iſt und (vielleicht ſeiner herrlichen Hochzeitsfarben
[347] wegen) ausnahmsweiſe dort nicht die gewohnte Prügelei, ſondern
das Entgegenkommen einer verträglicheren Seele gefunden hat.
Einmal unter vier Augen mit der Zigeunerin, findet
Stachelinsky die Sache offenbar gar nicht ſo ganz übel. Das
Weiblein, das ſelber noch nicht recht zu wiſſen ſcheint, was es
vor der Eremitenhöhle ſoll, wird von ihm recht vergnügt um¬
ſchwänzelt. Vor ſeinen Augen ſtürzt ſich der Mann durch das
offene Loch in die Neſthöhle, fegt das Innere noch ein letztes
Mal rein und deutet durch manchelei Bewegungen an, es ſei
erwünſcht, daß Stachelinska höchſtſelber einfahre. Stellt die
Zigeunerin ſich jetzt ſehr dumm, ſo erwacht etwas von der
alten Rauhbeinigkeit: Stachelinsky drängelt ihr ziemlich grob
auf den Leib, kitzelt ſie mit den Stacheln und prügelt ſie
leicht mit dem Schwanz: ſie ſoll und muß ins Neſt hinunter.
Hilft auch das nicht, ſo reißt dem Pflichtbräutigam die
Geduld: „Weiber“ kann er „mehr“ haben, — die Blöde wird
brutal verjagt und eine neue herangeholt.
Schließlich nimmt aber doch wohl die erſte oder irgend
eine ſpätere Raiſon an, ſchlüpft in das Neſt und begreift nun
offenbar auch den eigentlichen Sinn des Ganzen. Sie ſoll da¬
hinein ihre Eier legen .....
Wie bei allen Fiſchen, iſt zu dieſem Akt bei dem Weibe
offenbar auch hier eine gewiſſe Höhe und Auslöſung geſchlecht¬
licher Erregung nötig, die ſich in ihm durch die langen Präli¬
minarien des eigentlichen Neſtbeſuches genügend angeſammelt
haben mag und nun in regelrechter Weiſe zum Ziele gelangt.
Wahrſcheinlich giebt das Männchen ſelbſt noch einen letzten
Effekt dazu, indem es dem Weibe in das Neſt nachrückt und
ſeinen Leib von der Seite her gegen den anderen reibt. Jeden¬
falls: Stachelinska verliert haſtig zwei oder drei Eier. Dann
aber bricht ſie mit einem wüſten Ruck aus der anderen Seite
des Neſtes heraus, das ſo eine zweite Öffnung bekommt, und
fort iſt ſie, heim zu den Genoſſen, ins freie Zigeunerlager der
Stachelfrauen.
[348]
Stachelinsky hat inzwiſchen ſeinerſeits auch den Gipfel
erotiſcher Gefühle erklommen: kaum ſtreicht das Weib über die
Eier fort, ſo iſt er darauf und ergießt das nötige Quantum
Samenmilch zu ihrer Befruchtung. Das Schickſal des Weibes
ſelbſt kümmert ihn von dieſem Augenblicke an abſolut
nicht mehr.
Nur eines weiß er: die paar Eier ſind ihm für ſeine
Gattungspflicht lange noch nicht genug. Er kann nicht nur:
er muß noch mehr Weiber haben. Mit dem neuen Tage
zieht er abermals aus, holt wiederum genau nach demſelben
Rezept eine paſſende Braut und läßt ſich von ihr das Gelege
entſprechend vermehren. Monogamiſche Begriffe ſtehen ihm
vollſtändig fern. Das „Weib“ in Anführungszeichen hat für ihn
einen Zweck, nämlich Eierlegen; irgend welche Individualität
kommt bei dieſen Zigeunerinnen nicht in Betracht, abgeſehen
davon, daß einzelne ganz vernagelt Dumme, die ſich nicht einmal
zu dem Eiergeſchäft eignen, ausgemerzt werden. Iſt die ge¬
nügende Eierzahl erreicht, ſo hört die ganze Weiberfreundſchaft
überhaupt auf.
Wehe dem Weibe, ſei es nun ein gehabtes oder ein
fremdes, das fortan dem Neſt, das nun wieder ausſchließlicher
Eremitenbeſitz iſt, nahen will, — mit höchſter Brutalität wird
es in die Flucht getrieben. Übrigens eine Brutalität, die in
mildem Lichte erſcheint, wenn man ſieht, daß dieſe Weiber, und
zwar gerade die gehabten, ſelber aller Muttergefühle bar ſind
und nichts ſehnlicheres erſtreben, als das Neſt nachträglich noch
einmal gewaltſam zu erobern, die Eier nach Zigeunerart zu
rauben und, was noch über die Behandlung bei Zigeunerkindern
geht, aufzufreſſen .....
Sind ſolche Gefahren außer Sicht, ſo beginnt für Stache¬
linsky, nunmehriger Vater, wieder eine ſtille Zeit in ſtrenger,
aber beſchaulicher Pflichterfüllung, ähnlich der, da er einſam
das Neſt erbaute.
[349]
Rund etwa zehn Tage brauchen die Eier in der ſchlamm¬
verhüllten Wölbung, um winzigen jungen Fiſchlein das Leben
zu ſchenken.
In dieſer ganzen Zeit weicht der Alte keinen Moment
vom Neſt.
Jede geringſte Schädigung, die das ſtrudelnde Waſſer an
der kleinen Kunſtkugel hervorbringt, verfolgt er mit wachſamem
Blick, — augenblicklich beſſert er ſie aus. Oft erſcheint er an
einem der Neſtlöcher oder im Innern ſelbſt, flimmert leiſe mit
den Bruſtfloſſen hin und her und führt ſo durch die Bewegung
des Waſſers den Eiern den Sauerſtoff zu, deſſen ihr ver¬
borgenes Keimleben bedarf.
Es iſt, als bethätige jeder dieſer Stachelväter eine end¬
loſe Kette heilſamer Erfahrungen, — Erfahrungen, die er ſelbſt
in ſeiner Individualexiſtenz unmöglich gemacht haben kann und
die nicht ihm, ſondern einer neuen Generation erſt in dunklem
Werdegang begriffener Individuen zu gute kommen .....
Eines Tages endlich ſind die Jungen da, unglaublich
kleine, nur mit dem Vergrößerungsglas erkennbare Geſchöpfchen,
denen ein Pfleger anfangs eher noch mehr not thut als den
im Schlammneſt verborgenen Eiern. In dieſer Zeit gewinnt
das Verhalten des Vaters vollends einen rührenden Zug.
Mühſam bricht er das Neſtdach über der entwickelten Brut ab,
läßt die Kleinen ſelbſt aber noch keineswegs frei in das viel¬
bewegte Lebenswaſſer hinaus. Wollen ſie ſich, mählich er¬
erſtarkend, kühn ins Weite wagen, ſo holt er ſie behutſam
heim, indem er ihnen nachſchwimmt, ſie ganz einfach mal über¬
ſchluckt und rückkehrend wieder in die Neſthöhle hineinſpuckt.
Wie ein ſilbernes Flöckchen erſcheint ſo die dicht gedrängte
kleine Schar noch eine ganze Weile auf der Flut, ſorgſam be¬
hütet vom alten dicken Stachelinsky mit dem roten Bauch.
Erſt wenn das junge Volk eine gewiſſe Größe hat und
ſich ausreichend ſelbſt ernähren kann (die ganz jungen Fiſchlein
zehren zunächſt ihren am Leibe mitgeſchleiften Eidotterſack auf),
[350] erliſcht des Alten reges Intereſſe und die Kolonie zerſtiebt in
alle Waſſer hinein.
Die Stärke der Vatergefühle, die Stachelinsky im ganzen
beſeelen, ſind von trefflichſten Beobachtern noch durch maſſen¬
hafte Einzelzüge belegt worden. Ein Stachler, der ſein Neſt,
an ſich dummer Weiſe, am Meeresſtrand im Gebiet der Ebbe
angelegt hatte und mit der abfließenden Welle davon mußte,
kehrte jedesmal mit der Flut zurück und beſſerte etwaige Schäden
aus. Ein anderer, deſſen Neſt aus einem Aquariumbecken in
ein anderes gewaltſam verſetzt worden war, fand es wieder
und ſetzte die Pflege fort. Dieſer gleiche treue Vater raſte ſich
zu Tode, als ihm ſeine eigenen ſcheuſäligen Weiber, während
er mit beutelüſternen anderen Männern kämpfte, hinterrücks
das Neſt zerſtört und die Eier weggefreſſen hatten. „Das
Weib iſt bitter.“
Du merkſt, warum ich dir vom Stachelinsky unmittelbar
hinter der Spinne erzählt habe.
Dort die Konkurrenz gleichſam der einfachen Freßgelüſte
mit der erotiſchen Empfindung: das Weib, das den Mann noch
im Moment der Liebesumarmung mit kannibaliſchen Abſichten
bedroht. Dasſelbe Weib aber dann als ideale Mutter. Hier
dagegen der Konflikt der Freßgelüſte eben mit den Mutter¬
gefühlen: die Mütter, die räuberiſch ihre eigene Brut bedrohen.
Im Kontraſt aber eine Steigerung der Vatergefühle ins
äußerſte hinauf, die alles wieder wett macht.
In beiden Fällen die Geſchlechter weit auseinander, —
ſo weit, daß Mann und Weib ſich mit Ausnahme eines ganz
[351] kurzen Moments wie Feinde, wie wilde Konkurrenten oder gar
Beuteobjekte im Daſeinskampfe gegenüber ſtehen.
Welch ein Abſtand, — erinnere dich an den grotesken
Syngamus in der Entenluftröhre, wo die Gatten ſich zeitlebens
nicht aus innigſter Geſchlechtsverknüpfung löſten, an das tolle
Diplozoon, wo zwei Hermaphroditen übers Kreuz miteinander
verwuchſen.
Spinne wie Stichling ſtehen in der Entwickelungskette
enorm hoch über Diplozoon und Syngamus. Iſt es nicht, als
wolle die Höherentwickelung auf eine wachſende Trennung der
Geſchlechter, auf eine zunehmende Zerſtörung der Ehe, der
engen Geſchlechtsverkettung an? Täuſche dich aber nicht.
Wir ſind eigentlich im Laufe der Dinge noch unterhalb
aller echten Ehe in ſolchen Fällen wie Spinne und Stichling.
Wohl findeſt du die Ehe ſchon ein gut Stück abwärts von dir
inmitten der Tierwelt ganz zweifellos echt aufblitzend. Aber
wo ſie möglich wurde, da wurde ſie es nur als nachträgliche
neue Wiedervereinigung zweier gleichſam geiſtig in ſich ge¬
ſchloſſener, zunächſt innerlich ganz auf ſich geſtellter, ſcharf
geſonderter Individuen. Solche Individuen waren aber erſt
möglich von einer gewiſſen Stufe der Geiſtesentfaltung an.
Indem dieſe Stufe eintrat, mußte ſie zunächſt im äußeren
Bilde wie eine Iſolierung, eine Entfernung der Geſchlechts¬
partner voneinander ausſehen. Von der ſtumpfen Lebens¬
verwachſung der Diplozoon und Syngamus führt der Weg zur
wahren, hilfsbereiten, in Arbeitsteilung noch weit über das
Geſchlecht hinaus ſich ſozial zuſammenthuenden Ehegemeinſchaft
zweier höherer Tierindividuen allenthalben dunkel über eine
Trennungsſtufe, die die Individuen — auch die geſchlechtlich
aufeinander angewieſenen — zunächſt einmal ſchärfer vonein¬
ander trieb, aufs einzelne jedes für ſich ſtellte. Erſt auf der
Errungenſchaft dieſer ſchärferen Individualiſierung konnte ſich
dann erſt wieder der Fortſchritt in Geſtalt höherer Einigung
aufbauen. Und es iſt zweifellos, daß auch von dieſem Zwiſchen¬
[352] prozeß die Spuren in die wunderlichen Liebeskomödien bei
Spinne wie Stichling hineinragen.
Bloß daß du hier verſteinerte Extreme des notwendigen
Überganges ſiehſt. Bis in das Extrem der Extreme, bei dem
die Geſchlechter einer und derſelben Spinnenart ſich ſo weit
voneinander „fortindividualiſiert“ haben, daß bei der ſchließlich
doch notwendig werdenden Begegnung ein Konflikt der Inſtinkte:
Freſſen gegen Liebe, möglich wird.
Wie nah du aber trotzdem mit beiden Fällen der höheren,
gerade dieſe geſteigerte Gegenſätzlichkeit der Geſchlechtsindividuali¬
täten wieder ideal zuſammenfaſſenden Tierehe ſchon ſtehſt, kannſt
du an dem außerordentlichen Anwachſen, ja der geradezu
elementar durchbrechenden Wucht der Elterngefühle ermeſſen.
Gewiß: ſie erſcheinen in jedem Falle je auf ein Geſchlecht
beſchränkt, — aber bezeichnender Weiſe je auf ein verſchiedenes.
Einmal auf die Spinnenmutter. Und einmal auf den Stich¬
lingvater. Ich will bei einer anderen Gelegenheit über dieſe
Gefühle noch ein beſonderes Wörtchen mit dir reden, — da,
wo uns die ganze Linie gleichſam in ihrer Verdickung und
Aufſtauung gegen den Menſchen zu entgegentritt und erſt ihre
allerhöchſte Wucht erreicht. Nimm hier zunächſt einmal an, es
handle ſich einfach wieder um eine Grunderſcheinung der
lebendigen Weſen, — freilich jetzt eine mit ſehr geiſtigem Aus¬
druck, wie ſie denn auch erſt von einer beſtimmten Geiſtesſicht¬
barkeit an dir bei den Tieren deutlich ſichtbar wird.
Auf alle Fälle war mit dem Vordrängen dieſer neuen
Aufgabe des Individuums eine neue Brücke zu einer höheren
ehelichen oder wenigſtens eheartigen Zuſammenarbeit und
idealeren Wiedervereinigung der Geſchlechter auch neben und
nach dem eigentlichen Geſchlechtsakt angebahnt, die der extremen
Individualiſierung und Iſolierung ganz von ſelbſt wieder als
Regulativ entgegenarbeiten mußte.
Spinne und Spinnerich, Stachelinsky und Stachelfrau
ſind jedes für ſich ſchärfſte Individualitäten, — extrem bis zur
[353] Leugnung faſt irgend welcher Liebesempfindung, irgend welcher
Geſchlechtsbeziehung zu einander, irgend welchen „Liebes¬
hungers“, der die Raub-, die Mageninſtinkte dem Geſchlechts¬
genoſſen gegenüber ausſchaltet und hemmt. Der Geſchlechtsakt,
zwar als ſolcher unvermeidlich auch hier, da ſonſt die ganze
Fortexiſtenz zuſammenpurzelte, engt ſich auf einen widerwilligen
Moment zuſammen, ganz abgeſehen davon, daß ihn der Kon¬
flikt der Inſtinkte in einem Falle ſogar geradezu mit Lebens¬
gefahr umgiebt. Du meinſt, du biſt an der äußerſten Gegenecke
aller Eheentwickelung. Und doch. Inmitten aller extremen
Iſolierung der Geſchlechter tauchen bei Frau Spinne die ſtarken
Muttergefühle, bei Stachelinsky die entſprechend nachhaltigen
Vatergefühle gegenüber der Nachkommenſchaft auf.
Das Individuum, auf dem Punkt, ſich von der Geſchlechts¬
gemeinſchaft zu emanzipieren, ſieht ſich an einer Stelle, die
wenigſtens indirekt mit dem Geſchlecht doch wieder zuſammen¬
hängt, an etwas gekettet, das über die Iſolierung als Indi¬
viduum hinausgreift. Wie, wenn von hier eine neue Not¬
wendigkeit eines Doppellebens doch wieder erwüchſe? Wenn
der Fall einträte, daß Frau Spinne und Herr Stachelinsky
allein ihre Elternſorge nicht genügend erfüllen könnten?
Ein zweites Weſen dazu brauchten? Es liegt auf der Hand,
daß die andere elterliche Geſchlechtshälfte der naturgemäße
Partner auch hier wäre. Wenn nun, anſtatt daß bloß die
Spinne und der Stachelinsky das Neſt bauen, auch der
Spinnerich und die Stachelinska ſich für dieſe Arbeit intereſſierten?
Siehſt du den roten Streifen, zu dem der fauſtdicke Morgen¬
nebel zerreißt .....?
Nicht eine neue Syngamusehe, bei der die Gatten zeit¬
lebens wie zwei verwachſene Würſte körperlich aneinander
hängen. Sondern eine ganz neue Schutzgenoſſenſchaft zunächſt
zwiſchen zwei ſonſt ganz ſcharf und individuell getrennten Ge¬
ſchlechtsindividuen, eine Schutzgenoſſenſchaft zum Schutz der
Jungen, zum Neſtbau und zur Neſtverteidigung. Dann an
23[354] dieſem neuen Idealverbande, der ſelbſt das äußerſte Gegenteil
einer neuen körperlichen Verwachſerei und Verwurſterei wäre,
gleichſam rückwärts aber auch zu neuer Kraft wieder erſtarkend
der einfache Liebeszug von Mann zu Weib, — doch verbeſſert,
erhöht, vergeiſtigt, unter abſoluter Achtung der beiden geſchlecht¬
lichen Individualitäten: — die höhere Tierehe. Ein höheres
Tier: — der Menſch!
Blicke noch einmal im Fluge [auf] den ganzen Weg, —
bis zurück in die Nebel der alten Zwergengeſchichte. Der An¬
fang überhaupt ohne Geſchlechtertrennung. Erſte Fortpflanzung
durch Spaltung einer Zelle. Dann aus dieſer Spaltung in
verwickeltem Wege zur Notwendigkeit einer Überbietung gleichſam
der Spaltung wieder durch höhere Verſchmelzung. Zwei Zellen
ſuchen ſich, — verſchmelzen. Eine kleine männliche, eine große
weibliche. Die Einzelzellen werden zu Zellgenoſſenſchaften.
Jede Genoſſenſchaft erzeugt ein beſtimmtes Quantum männ¬
licher oder weiblicher Zellen zum Verſchmelzungszweck: es treten
vielzellige Mannes- und Weibesindividuen höheren, gleichſam
zweiten Grades auf. In dieſen Männern und Weibern
kämpfen jetzt zwei Prinzipien. Der fortſchreitende Individuali¬
ſierungsprozeß, der Tier von Tier, Individuum von Indivi¬
duum, Mann ſchließlich auch von Weib trennt. Und der alte
Liebesinſtinkt, der beide mindeſtens zu einem Akt — der Be¬
gattung — zu einander nötigt, dabei aber auch allgemein
immer wieder eine gewiſſe Neigung auslöſen muß, die auf
ganze, dauernde Vereinigung drängt. Gelegentliches Über¬
wiegen des letzten Prinzipes. Fälle bis an die Grenze des
Wiederverwachſens. Das Diplozoon, das ſchon vorher herma¬
phroditiſch. Der Syngamus. Viele andere mehr. Aber in
dieſen groben Verſuchen nach der einen Seite etwas rückſchritt¬
liches. Abſinken der geſchloſſenen Individualität auf der einen
Seite. Zum Beiſpiel die jammervollen Erſatzmännchen der
Rankenkrebſe; die lächerlichen Tannhäuſer in der grünen
Bonellia. Rückſchritte! Gerade das andere, — das ſcharfe,
[355] zunächſt iſolierende Individualiſierungsprinzip ſcheint durchaus
der höhere Weg. Im ganzen, ja! Aber doch deutlich, daß
zu Schäden auch das, wenn zu extrem. Iſolierung geht ge¬
legentlich ſo weit, daß die Geſchlechter faſt ganz auseinander
getrieben werden. Nur noch widerwillige, gefährdete Be¬
gattungsmomente, kein Liebesleben mehr. Spinnengatten, die
ſich freſſen. Das Stichlingweib, das wie eine Proſtituierte
herangerufen, alsbald aber wieder verſcheucht wird. So auch
hier etwas Verkehrtes. Aber doch Brücke zu Höherem. Über
berechtigte Individualiſierung und Trennung auch der Geſchlechts¬
individuen hinweg neue Form der Gemeinſchaft. Jungenpflege!
Elterngefühle verlängern das Zuſammenſein der Elternindivi¬
duen vorwärts über den Begattungsmoment hinaus. Darüber
erhält das Gute, das doch im Kern auch des anderen Prinzipes
(der Geſchlechtseinigung) lag, eine neue, höhere, idealiſierte
Macht. Es erwächſt ein freies, der Individualität im ganzen
doch noch gerecht bleibendes Zuſammenſein der Eltern auch in
der eigentlichen, noch kinderloſen Geſchlechtsaktzeit, — ein
abſoluter Friedensſchluß der Geſchlechter, der doch allem Zu¬
ſammenwachſen ſternenfern bleibt, vielmehr die Färbung eines
höheren vergeiſtigten Sozialverbandes wahrt: — — die Ehe.
Siehſt du ſie in dieſer Weiſe tiergeſchichtlich an, ſo ſiehſt
du auch ſofort ihre noch heute und bei uns thätigen Rückfall¬
gefahren. Die ſchwerſte iſt die doch wieder einreißende Ver¬
gewaltigung des einen Geſchlechts. Rückfall gegen den Typus
Bonellia oder Wurzelkrebs. Dort waren die Männchen das
Degenerierte. Es kann aber auch das Weib die Rolle über¬
nehmen. Bei der Spinne iſt das Weib noch phyſiſch ſtärker.
Beim Stichling ſchon nicht mehr. Nun denke, wo die tieriſche
Entwickelung in den Lichtkreis „Menſch“ trat. Mit einem
ſchwächeren Weibe! Ahnſt du den großen Kampf, den die
Menſchheit kämpfen mußte?
Mit der Menſchheit ging alles aufs Licht. Alles Über¬
kommene wird unter tauſend Kämpfen verklärt. Die Ehe ver¬
23*[356] klärt. Gerettet ins Höchſt-Menſchliche. Aber in der Ehe zu¬
gleich die Axt gelegt an die alte Unheilwurzel: die Vergewalti¬
gung der einen Geſchlechtsindividualität. Rettung der Ehe.
Aber zugleich abſolute Rettung der Individualität des Weibes
als Menſch neben Menſch.
Aus der Spinne, die den Mann frißt, und dem Stich¬
ling, dem das Weib eine feile Zigeunerin iſt, die Ehe zwiſchen
Menſch und Menſch, — nicht erbaut auf irgend welchen klein¬
lichen Satzungen einer vergänglichen Zeitmoral, ſondern auf
einem ungeheuren Nützlichkeitsmoment, einer idealen Schutz¬
genoſſenſchaft, — aber erbaut mit einer unerläßlichen Klauſel,
deren geringſte Verſchiebung alles ins Verderben ſtürzt: der
abſoluten inneren Freiheit beider Individuen als ſolcher, —
Mann wie Weib. Du weißt, in welche Kette der Verwickelung
das noch heute führt. Noch iſt der uralte Konflikt in uns
nicht rein gelöſt. Noch ſchwebt die wahre Ehe, anſtatt eine
uralt geheiligte Tradition zu ſein, die man bloß zu „glauben“
braucht, um ſie zu beſitzen, zum großen Teil als wahrer
Zukunftsſtern erſt über uns. Vorwärts mußt du blicken, um
ſie zu faſſen, nicht zurück. Gerade heute umrauſcht dich wieder
eine beſonders hohe Sturzwelle des Gegenſatzes, der nun ſchon
über Jahrmillionen tief vom Tier heraufkommt, — der viel
älter iſt als du als Menſch überhaupt.
Aus einer Geſchichtsepoche, die das Weib wieder einmal
ſtärker zu vergewaltigen, herabzudrücken ſuchte, wächſt unter
deinen Augen die Reaktion der Individualfreiheit, der Forde¬
rung einer ſolchen Freiheit wieder einmal turmhoch. Sie
droht die ganze Ehe zu verſchlingen. Aber der Schwall wird
verrauſchen, die Gegenſätze werden ſich abermals ins Gleich¬
gewicht ſtellen. Eine Zeit wird kommen und dieſe Dinge
vollenden, der biſt du von heute wieder mir Diplozoon und
Syngamus, Bonellia und Wurzelkrebs, Spinne und Stachelinsky.
Verachte darum dieſe alten Kämpfer nicht. Lerne von ihnen.
Verhülle dir die Augen nicht, als ſei es ein alter Wahnſinn
[357] der Natur, in den du da ſchauſt. Es iſt dein Wahnſinn,
wenn es Wahnſinn iſt. Wenn du aber an Licht glaubſt —
Licht in der unendlichen Folge der Dinge, aus der die Welten
rinnen wie ſilberner Staub, Licht in dir, in deinem ſonnen¬
haften Auge, das die Sonne trinkt, — dann iſt es dein
Licht, das auch dort ſchon leiſe wie ein bläuliches Sternchen
glimmt .....
Der Stachelinsky iſt ein Fiſch aus der Klaſſe der ſo¬
genannten Knochenfiſche. Wenig unterhalb dieſer Klaſſe bog
der Stammbaum des Menſchen vom Stammbaum der Fiſche
ab, um über Molchfiſch, Amphibium und Reptil ſich zum
Säugetier empor zu arbeiten. Der Fiſch, zum Stachelinsky
entwickelt, blieb ſtehen. Das Säugetier wurde Menſch. Heute
prallen die entlegenen Äſte des großen Stammbaumes wieder
zuſammen. Und der eine iſt Herr der Erde, ſein Gutdünken
wird über kurz oder lang über den anderen entſcheiden. Der
kleine Stachelfiſch bietet dem Gaumen des Menſchen nichts, —
manche halten ihn ſogar für direkt ungeſund. So wird der
Menſch ihn wohl eines Tages ausrotten, — ihn mit ſamt
ſeiner ſeltſamen Liebestradition.
Unwillkürlich aber denkt man ſich einen Moment einmal
hinein: wenn nun umgekehrt die Kette der Menſchwerdung über
die Stachelinskys ſelber gegangen wäre? Wenn heute nicht
der Menſch, wie er jetzt iſt, Herr der Erde wäre, ſondern
irgend welche Nachkommen der Stachler aus dem Waſſergrün?
Der Stachelinsky, zum Geiſtestier erſter Ordnung um¬
geformt, hätte in aller ſonſtigen Wandlung doch vielleicht ſeine
abſtruſe Liebesart tief in die Kultur hinein bewahrt! Was
wäre das ſcheinbar für eine veränderte Situation geworden.
[358]
Die Kulturgeſchichte hätte eingeſetzt mit einer Moral, der
die Mutter als die natürliche Feindin ihrer Kinder galt. Eine
lapidare Geſetzgebung, die das zuſammenfaßte, hätte ſcharf
ſondern müſſen: ehre deinen Vater — und haſſe deine Mutter.
Und ein Weiſer am See Genezareth dieſer Stichlingsmenſchheit,
der die Liebe ſo weit faſſen wollte, wie nie ein anderer vor
ihm, der alle bisher gültige Moral umkehren wollte bis in
ihren äußerſten Gegenſatz um der Liebe willen, — er hätte
kein ſchärferes, kein ungeheuerlicheres Beiſpiel finden können
als: „Liebet ſogar eure Mutter .....“ Das Meer ſeiner
Zeit wäre wahrſcheinlich im wildeſten Sturme emporgebrauſt
und hätte ihn verſchlungen ob der Verwegenheit ſolcher Forde¬
rung. Dann aber hätten ſie's langſam doch glauben müſſen, —
in ſchwerer, faſt verzweifelnder Gewöhnung, wie wir es be¬
griffen haben oder wenigſtens zu begreifen anfangen, daß man
alle Menſchen lieben ſoll .....
Und doch: das eigentlich Intereſſante an ſolcher Träumerei
iſt, daß im ganzen die Dinge doch ſchließlich dieſelben ge¬
worden wären. Die Menſchheit hätte an einer Ecke vielleicht
ein Paar tauſend Jahre moraliſchen Freiheitskampfes mehr
gehabt. Etwas, was ſie bei uns ſchon vom Tier mitbekam,
hätte ſie erſt noch erwerben müſſen innerhalb ihrer Kultur.
Aber erworben hätte ſie es auch, — mit abſoluter Sicherheit!
Er wäre ja doch eines Tages wirklich gekommen, jener große
Verkündiger der Mutterliebe. Die Mutterliebe iſt eine Station
in der Menſchheitsliebe. Wir konnten von hier ſchon aus¬
gehen. Dort hätte man erſt die Station als ſolche erwerben
müſſen. Aber kommen mußte man auf ſie in der gleichen
logiſchen Folge.
Und das iſt das eigentliche Lehrreiche des ganzen Ge¬
dankenganges, weshalb ich ihn dir hier eingeſtreut habe. Ge¬
ſchichtlich war es jedenfalls eine innere Notwendigkeit, daß
nicht der Stichling und ſeine Nachkommen, ſondern eine ſchon
vor ihm abzweigende andere Linie des Wirbeltierſtammes zu
[359] „Menſchen“ wurden. Es muß ſeine beſtimmten Einzelgründe
in der Entwickelungsfolge gehabt haben. Aber gerade wer ſich
etwas in darwiniſtiſche Gedanken heute oberflächlich eingeſchult
hat, der iſt oft gern geneigt, von „Zufällen“ ſolcher Entwickelung
als etwas Abſolutem zu reden. Bah, das Stückchen biegſamen
Knochenmaterials oder Nervenſubſtanz oder das Endchen anderer
Methode beim Atmen oder was ſonſt die Menſchwerdung hier
herübergetrieben hat anſtatt dorthin, über den Molchfiſch anſtatt
über den Stichling, — Zufall! Und wäre dies winzigſte
Fünkchen Zufall nicht geweſen, ſo hätten wir oben ein ganz
anderes Feuerwerk erhalten!
Was aber iſt die Wahrheit? Es hätte doch letzten Endes
alles nachgeholt werden müſſen, und das Ergebnis wäre doch
dasſelbe geweſen. Der „Zufall“ hätte, anders fallend, nicht
den eigentlichen großen Lauf geändert, ſondern nur kaleidoſkop¬
artig gewiſſe Verſchiebungen der Reihenfolge bewirken können.
Gewiſſe Dinge, die ſonſt früh erreicht wurden, wären jetzt ſpät
nachzuholen geweſen, dafür wäre's jedenfalls bei anderen aber
wieder ausgleichend umgekehrt geweſen.
Du verſtehſt mich recht, nicht wahr: gerade ſolches extreme
Andersdenken der Dinge im Sinne des Stichlingbeiſpiels be¬
wirkt alles andere eher, als daß uns der Boden unſerer wirk¬
lichen menſchlichen Kulturerrungenſchaften unter den Füßen
ſchwankend gemacht würde. Es macht ihn im Gegenteil erſt
recht feſt. Das Bewußtſein ſchaut das Unverrückbare, das
unabänderlich logiſche „Empor“ erſt ganz ſicher und unzerſtör¬
bar jetzt hinter allen möglichen Stellungen des Kaleidoſkops
der äußeren Vorgänge und „Zufälligkeiten“. Nur in einem
kommſt du natürlich zu kurz. Wenn du ſtatt auf Entwickelung
überhaupt zu ſchwören, dich auf irgend eine äußerliche Moral¬
form, irgend ein Moralereignis der hinter uns liegenden
menſchlichen Kulturbahn feſtbeißt und hier mit Gewalt das
Siegel der abſoluten „Weltordnung“ im Sinne einer dauernden
Verankerung ſuchſt.
[360]
„Dieſe UnvergleichlichenWollen immer weiter,Sehnſuchtsvolle HungerleiderNach dem Unerreichlichen.“
Walpurgisnacht).
Wühle dein Haupt ins wilde Heidekraut wie in eine rote
Dornenkrone. Dein müdes Menſchenhaupt, auf dem ſo viel
Philoſophie laſtet. Das die Welt begreifen ſoll vom Flammen¬
gürtel des Orion bis zum Volvox, deſſen Weltkugel durch ein
Tröpfchen irdiſchen Waſſers rollt.
Hörſt du das leiſe Singen der Biene, die von Blüte zu
Blüte eilt? Dort verſchwebt ſie im Licht wie ein blinkendes
Sonnenſtäubchen, — ihre zarte Flügelmelodie klingt ferne aus.
Philoſophie, alles Philoſophie. Eine Welt wieder von Problemen
in dieſer kleinen Biene im Heidekraut. Und auch tiefſte Liebes¬
philoſophie.
Kennſt du die Legende von dem Heiligen, der ſich bei
ſeinem Gott beklagte, die Welt ſei ſeinem Denken zu eng?
Da öffnete ihm der Gott die Augen für die Geheimniſſe eines
Sonnenſtäubchens. Tauſend Jahre gingen hin, bis der Gott
wieder auf die Erde kam. Da ſaß der Heilige immer noch
und ſtarrte dem Sonnenſtäubchen nach, — er war erſt beim
Anfang .....
Folge der Biene im Geiſte nach. Und auch ihr leiſes,
traumhaft zartes Summen wächſt dir zu einer rieſigen Melodie.
Das Epos umklingt dich auf einmal von der Liebe, die
Staat wurde. Die im Staate aufging. Und die im ſtarren
[361] Gefüge eines „Liebesſtaates“ ſchließlich doch vor einer Mauer
ſtand .....
Eine ſchwermütige Melodie im Grunde. Aber mächtig
wie wenige. Du kennſt ſie kaum. Du haſt von der Biene
wohl gehört und ihrem Staat. Von der Drohne, von der
Bienenkönigin. Flüchtig, wie man ſo heute von Tauſenderlei
hört. Es iſt ja das Charakteriſtiſche unſerer modernen Bildung,
daß ſie dir Unzähliges an den Kopf wirft, vom Orion bis
zum Infuſorium — als Wort. Und mit dem Worte ſcheint
dann alles abgethan, die Dinge ſelbſt aber bleiben fremd, als
habe das Wort ſie totgeſchlagen. Vom eigentlichen Liebes¬
roman der Biene weißt du nichts. Weißt nicht, daß hier
wieder ein unendlich lehrreiches Kapitel anhebt, das auch ins
Herz deiner tiefſten Menſchenfragen greift. Höre denn.
Dort geht ſie hin, die kleine haarige Schöne, und dort
noch eine und noch eine. Von Blüte zu Blüte, — die be¬
kannte Bienenweiſe, die als ſolche jedes Kind kennt. Es iſt
nicht müßige Angewohnheit. Auch nicht bloß Tafelfreude. Sie
ſammeln etwas, ſie „arbeiten“. Hier wird Blütenhonig ein¬
geſaugt, dort Waſſer. Hier wird Blütenſtaub (Samen) an die
eigens dazu gebauten Hinterbeine höschenartig feſtgeklebt und
ſo mit fortgetragen, dort Harz. Zunächſt — was iſt nun
überhaupt eine ſolche Biene?
Ein Inſekt.
Laufe raſch noch einmal die große Leiter ab. Vom ein¬
zelligen Urtier zur Gaſträa, die den erſten Magen hatte. Von
da ging es links zum Polypen, rechts zum Wurm. Vom
Wurm gipfelten mehrere große Tierſtämme aufwärts. Der
eine führte zum Wirbeltier, — zu dir. Ein anderer aber lief
über den Regenwurm zum Krebs, zum Tauſendfuß, zur Spinne.
Und ſchließlich ging’s in dieſer letzteren Linie dann auch zum
Inſekt.
Es bildet den Gipfel ſeines Stammes, des ſogenannten
Stammes der Gliedertiere. Wahrſcheinlich iſt’s auch, wie
[362] die Spinne, letzten Endes vom Tauſendfuß heraufgekommen.
Die vielen Beine dieſes Tauſendfußes ſchmolzen, wie ich dir
ſchon bei der Spinne erzählt habe, auf ſechs Paare zuſammen.
Davon wurden drei Paare allmählich zu Freßwerkzeugen, drei
blieben zum Laufen übrig. Das giebt ſechs echte Beine —
und an denen kannſt du denn auch jedes echte Inſekt kennen.
Die Flügel, die du daneben noch bei vielen Inſekten findeſt,
haben mit dieſen Beinen ihrem Urſprung nach nichts zu thun:
ſie ſind aus Hautfalten des Rückens entſtanden, — ſehr im
Gegenſatz zu den Flügeln bei Wirbeltieren, z. B. den Vögeln
oder Fledermäuſen, die ſtets echte, bloß fluggerecht etwas um¬
geformte Vorderbeine ſind.
Nun male dir im engeren noch aus, daß dieſe Inſekten
ſich von früh an in eine ganze Reihe von unter ſich ziemlich
verſchiedenen Gruppen auseinander teilten. Eine ſolche Gruppe
waren die Schmetterlinge, eine waren die Käfer, eine die
Fliegen, eine die Wanzen, eine die Heuſchrecken, Libellen und
Eintagsfliegen.
Und eine ſo auch neben anderen die ſogenannten Haut¬
flügler oder Immen.
Im gemeinen Sprachgebrauch iſt Imme zwar nur die
Biene ſelber. Aber der Naturforſcher zählt hierher auch noch
alles, was Weſpe, Hummel und Horniſſe heißt, und ſchließlich
hängt er auch die Ameiſe an.
Es ſteht dir nichts im Wege, dieſe Immen als den
rechten Gipfel des geſamten Inſektengeſchlechts anzuſehen. Und
da das Inſekt an ſich ſchon der Gipfel der Gliedertierentwicke¬
lung iſt, ſo ſtehſt du mit dem ſummenden Bienlein dort ge¬
ſchichtlich auf einer turmhohen Staffel, über die an dieſer Ecke
nichts mehr hinausgekommen iſt, — im kühnen Vergleich magſt
du ſagen: die Biene und die eng zugehörige Ameiſe, kurz die
Imme iſt der „Menſch“ ihres Stammes, ſie iſt bei ihrem ſechs¬
beinigen Ahnenvolk ebenſo die Spitze, wie du, der zweibeinige
Menſch, die Spitze des Stammes der Wirbeltiere (Fiſche,
[363] Amphibien, Reptilien, Vögel, Säugetiere) biſt. Bloß daß du
als Menſch denn doch dich im Ganzen noch ein ungeheueres
Stück weiter „gegipfelt“ haſt als ſelbſt die klügſte Imme dort.
So viel wieder mal zum Darwinismus. Jetzt aber
zur Liebe.
Die Biene dort iſt alſo ein Inſekt von dem und dem
Rang. Was iſt ſie aber nun hinſichtlich der Liebe gerade in
dieſem Falle? Iſt dieſes Bienchen hier Mann? Iſt es Weib?
Iſt es eines jener monſtröſen Mannweiber oder Weibmänner
vom Hermaphroditengeſchlecht? Ja ſiehſt du, — da ſind wir
nun gleich beim Wunderbaren.
Du haſt vorhin die Kreuzſpinne auf ihre Erotik ſondiert.
Das war noch ein gut Stück weiter unten im Gliedertierſtamm.
Trotzdem hatteſt du gewiſſe Züge ſchon ganz klar. Die Ge¬
ſchlechtertrennung war eine überaus ſcharfe. Mann und Weib.
Und Mann und Weib jedes ein extrem vom anderen ge¬
ſondertes Individuum. So extrem, daß von Ehe keine Rede
war. Bloß eine flüchtige Begattungsbegegnung, — ſonſt
Spinnefeindſchaft auch von Geſchlecht zu Geſchlecht.
Aber ich zeigte's dir eben als Extrem. Ich ſagte dir:
die ſcharfe Individualiſierung beider Gatten ſei an ſich eine
große Notwendigkeit geweſen. Ein Stück inneren Fortſchrittes,
ein Stück Freiheit im Ganzen. Sie mußte zuerſt einmal
kommen, dann erſt war eine neue, wiederum einigende Zu¬
einanderbewegung der Geſchlechter erſt gleichſam wieder „reif“, —
es konnte ſich unter Achtung jener Individualiſierung eine
höhere, freier konſtruierte Schutzgenoſſenſchaft zwiſchen Mann
und Weib entwickeln: die eigentliche Ehe in unſerem großen Sinn.
Aber ſie mußte ſich dann auch wieder entwickeln. Ich
deutete dir an, wo die natürliche Einſatzſtelle für dieſen aber¬
maligen verſöhnenden Fortſchritt wahrſcheinlich gelegen hat: in
der Jungenpflege. Du haſt die einſame Spinnenmutter ge¬
ſehen, den einſamen Stichlingvater. Nun denke an ein Vogel¬
pärchen, wo jene höhere Ehe eklatant heraustritt: beide Eltern
[364] die Jungen fütternd und hegend ..... du haſt den ganzen
Weg vor dir, der wieder zuſammenführen mußte.
Nun biſt du mit der Biene allerdings noch nicht bei der
Schwalbe oder Nachtigall. Aber du biſt doch ein ſtarkes
Stück immerhin höher als die Kreuzſpinne ſtand. Du weißt
auch, daß die Bienen und Ameiſen geſellig leben, darin offen¬
bar weit nach der verträglichen Seite den Spinnen vorauf, —
und daß ſie ihre Jungen ſorgſam pflegen. Alſo erwarteſt du
wohl mindeſtens jetzt jener höheren Eheſtufe auch hier ſchon
ein Stück näher zu ſein. Die Bienen da drüben im Heidekraut
„ſammeln“ etwas, wie du geſehen haſt. Sie wollen etwas
irgendwohin heimbringen. Was liegt näher, als daß ſie das
Geſammelte ihren Jungen, ihrer Brut, ihren Larven mit¬
bringen?
Der Zufall will, daß dieſes Sammeln ſelbſt ſchon eine
permanente Liebeshandlung iſt, — nicht für die fleißigen Bienen
ſelbſt, aber für die Blüten, die ſie beſuchen. Ich habe dir
früher ſchon einmal von der Kreuzbefruchtung der Pflanzen
erzählt. Wie das Geſetz der Inzucht ſie hindert, ſich ſelbſt zu
begatten, auch wenn ſie beide Geſchlechtsteile (männliche Staub¬
gefäße und weibliche Fruchtknoten) in derſelben Blüte haben.
Und wie ſie, die ſelber nicht zum Liebesakt ſich zu einander hin¬
begeben können, in ihrer Notlage eine glückliche zwangsweiſe
Liebespoſt in den ab- und zufliegenden Inſekten gefunden
haben. Sie bepacken den Beſucher hier mit Samenſtaub und
recken ihm dort befruchtungsreife weibliche Glieder entgegen, die
den fremden Samen als Lebensmanna begierig abnehmen. Auch
die Biene iſt ein ſolcher ewiger Postillon d'amour, der den
Pflanzen durch die Samenteilchen, die er ungewollt herum¬
ſchleppt und am rechten Ort verſchleudert, gleichſam wieder
wett macht, daß er auf der anderen Seite für ſeinen Privat¬
gebrauch ganze Ladungen Blütenſtaub und Honig einpackt und
mitnimmt. Doch das nebenbei, — nur um anzudeuten, wie
das Bienlein ſchon in ſeiner einfachen nüchternen Brotarbeit
[365] einen Kometenſchweif fremder Liebe hinter ſich her wirbelt.
Wie aber ſteht's mit der eigenen Liebe? Wenn es Kinder
daheim hat, viele Kinder mit hungrigen Mäulern, denen die
emſige Sammelei gilt, ſo liegt wohl nahe, daß es auch ſelbſt
ſchon rege Liebesfreuden hinter ſich weiß .....?
Hole dir eine heran. Sie wehrt ſich, ſticht. Nun iſt ſie
doch verloren, ein ſicherer Todeskandidat, denn der ſcharfe
Dolch, mit dem ſie ſich wehrt und den ſie dir in der Wunde
läßt, war kein äußeres Werkzeug, ſondern ein Glied ihres
Leibes ſelbſt, das abreißend auch ihr eine tödliche Wunde ſetzt.
Alſo opfere ſie und betrachte dir ihre Innenteile, ihre Liebes¬
organe auf die große Frage: Mann oder Weib?
Seltſamer Fund. Faſt könnte dir dein Opfer leid thun.
Du haſt, was Liebesſachen anbetrifft, offenbar eine arme
Märtyrerin getroffen, die das Leben ſelbſt ſchon lieblos genug
gezeichnet hatte.
Noch erkennſt du in der Anlage, daß es ein Weib iſt.
Aber gerade in Geſchlechtsdingen ein jammervoll verkümmertes
Weib. Verkümmert das Organ der Eiererzeugung, kaum noch
als ſolches, als Eierſtock erkennbar, mit ein paar leeren
Stummeln an Stelle der ſonſt hier zu erwartenden zahlreichen
dicken Schläuche. Verkümmert und unwegſam alles, was einer
Begattung dienen könnte. Alſo eine zwangsweiſe Veſtalin, ab¬
getrennt von allen Gatten- wie allen Mutterfreuden. Und
doch ſammelte das arme Ding? Für wen?
Ein rührender Gedanke: ſoll es, ſelbſt aller Mutterſchaft
bar, für fremde Kinder mit ſchaffen, — im dunkeln Drange
des Weges zur Madonna .....?
Aber was iſt das? Du greifſt eine zweite jener Samm¬
lerinnen im Heidekraut, — eine dritte. Immer dasſelbe
traurige Rätſel. Sie ſcheinen alle verkümmert, alle ſo gut
wie geſchlechtslos. Sie alle dort — die Hunderte, die Tauſende,
die ſummend und ſummend durch den Wald, um den Rain, in
deinen Blumengarten ziehen ..... unfruchtbar, geſchlechtsunfähig.
[366]
Wie ein Schleier ſinkt es über das heitere Bild. Überall
der Rauſch von Liebe. Jeder Bienenbeſuch in einer reifen
Blüte ein Zeugungsfeſt. Allenthalben Käfer, Fliegen, Libellen
ſich findend, ſich faſſend, ſich begattend. Der bunte Schmetter¬
ling ganz nur noch losgelöſte Liebeselfe. In der blauen Luft
wie ein einiger goldener Liebesſtaub, — ſtäubende Blüten,
heiße begehrende Geſchlechtsindividuen der Tiere. Und zwiſchen
all das jetzt ein Schatten. Die liebſte, regſte, uns vertrauteſte
Schar, die Bienen: eine arme, traurige, graue Genoſſenſchaft
Enterbter, die an der Liebe nie teil hatten und nie teil
haben werden ..... Aber jetzt ernſtlicher noch die Frage:
wem ſammeln ſie? Wenn ſie alle geſchlechtslos ſind, — für
welchen Nachwuchs, für Nachwuchs von wem? Wie geht ihr
Geſchlecht überhaupt weiter?
Gieb das Morden auf und folge einer der Veſtalinnen,
wie ſie lebendig dahingeht. Sie hat genug eingeheimſt. Hoch¬
bepackt erhebt ſie ſich und fliegt heim. Nahe dem grünen
Zaun, wo wir das Spinnenpaar beobachtet haben, ſtehen die
allbekannten Bienenkörbe, — künſtliche Wohnungen, die der
Menſch der fleißigen Biene zum inneren Ausbau überlaſſen hat.
Er iſt zu ihr in ein ähnliches Verhältnis getreten, wie die
Biene ſelbſt zur ſtäubenden Blüte. Er leiſtet ihr nachdrücklich
Hilfe im Rahmen ihrer Lebensbedürfniſſe — und zum Entgelt
nimmt er ihr immerfort einen gewiſſen Überſchuß ihrer Leiſtung
in Geſtalt ſchmackhaften Honigs für ſeine Privatzwecke fort.
Im Flugloch eines ſolchen Korbes verſchwindet unſere be¬
packte Veſtalin. Sie iſt zu Hauſe. Zu Hauſe in einer Wunder¬
welt, die auch ihr Rätſel — das Rätſel der armen Geſchlechts¬
loſen — löſt. Gegen dieſes Naturmärchen iſt eigentlich alles,
[367] was ich dir bisher aus dem Reich der Liebe erzählt habe, ein
Kinderſpiel. Selbſt der Bandwurm kommt nicht dagegen an.
Es iſt ſchlechtweg einzig. Und wenn unſer Planet nichts
darüber hinaus mehr erzeugt hätte — keinen Menſchen, kein
Menſchenparadies und keinen Menſchenwahnſinn: er wäre ge¬
zeichnet als ein Wunderplanet, der einen Gipfel erreicht hätte.
Alſo die Veſtalin kriecht in den Korb. In dieſem künſt¬
lichen Hauſe leben viele Tauſende von Bienen in engſter Ge¬
meinſchaft. Gäbe ihnen der Menſch das Haus nicht, ſo müßten
ſie ſich mit einem hohlen Baum oder ähnlichem behelfen.
Aber der Menſch giebt es ihnen thatſächlich ſeit Jahrtauſenden
ſo konſequent, daß die freie Siedelung ſo gut wie überhaupt
nicht mehr in Betracht kommt. Aber freilich: was die Biene
in dieſem künſtlichen Hauſe treibt, das iſt in jedem Zuge dann
ebenſo konſequent auch wieder nur ihr eigenſtes Werk. Und
nur bedingt darfſt du ſie ein „Haustier“ nennen. Den Hund,
der ihm treu dient und im Verſtande geweckt ſcheint für alle
möglichen Menſchenzwecke, hat der Menſch in gewiſſem Sinne
wirklich „gemacht“. Die Biene hat er gehegt, aber nicht
innerlich beeinfluſſen können. Kein Zweifel, daß ſie ihm in
ihrem tollen Liebesmärchen und Staatsverſuch eine uralte zähe
Tradition bietet, die als ſolche auf ſeine paar menſchlichen
Kulturjahrtauſende herabſieht wie auf ein winzigſtes Zeitſtäubchen.
Er iſt Planetenjugend, grünſte noch. Sie Planetenalter. Seit
der Kreidezeit mindeſtens (die erſt Schnabeltiere und Beuteltiere
und vielleicht igelartige Inſektenfreſſer, aber noch keine Affen und
Menſchen ſah) beſtehen jene Blütenpflanzen, die des Inſekten¬
beſuches zur Befruchtung bedürfen. So lange mag es auch Bienen
auf der Erde geben. Sicher lebten ſie ſchon in der Tertiärzeit,
als der Menſch noch als Menſchenaffe kletterte. So ungeheuer
kann alſo auch die Tradition ihrer Gebräuche ſein. Was ſind
dagegen Menſchenſtaaten, — die paar Jahrtauſende, die Perſe¬
polis und Palmyra in die Wüſtenöde geſtürzt und Athen und
Rom in archäologiſche Muſeen verwandelt haben .....?
[368]
Doch unſere kleine Veſtalin tritt in ihren Stock. Um ſie
ſummt es und brummt es, die Kammern und Gänge auf und
ab. Eine enge, wahrhaft beängſtigend übereinander getürmte
Burg, faſt wie das alte Troja, das Schliemann ausgegraben
hat. Kammer an Kammer, Zellchen an Zellchen. Gefüllte
Vorratskammern, wo bald das leckere Brot lagert, ſorgſam zu¬
ſammengeſtampft aus köſtlichem Blütenſtaub, bald in ſchwellender,
duftender Fülle der goldene Honigtrank bis zur Decke ſchwillt,
als ſchauteſt du in einen der rieſigen Krüge eben jener Trojaner¬
burg, die größer als ein Menſch waren. Und Kinderſtuben,
wo die kleinen hungrigen Würmchen ſich regen oder in weißer
Seidenwiege ſchlafen. Kinder, — ja woher Kinder?
Überall, wo du gehſt und ſtehſt, auf und ab, an den
Zellthüren, in den Verſenkungen, am großen Burgthor fort-
und anfliegend: alles ja nur — Veſtalinnen. Tauſende zählſt
du und Abertauſende. Zwiſchen zehntauſend und dreißigtauſend
pflegt ein Stock zu haben. Ganz deutlich gewahrſt du jetzt,
daß ſie wirklich trotz ihres verkümmerten Geſchlechts eines nicht
verkümmert haben: Muttergefühle. Mit rührender Sorgfalt
werden die zahlreichen Jungen des Stockes in den Kinder¬
ſtübchen gefüttert und gewartet, bis ſie endlich als fertige
Bienlein aus ihrer Wiege kriechen. Aber es ſind von neuem
Veſtalinnen, — dieſe Jungen: — Weibchen mit abſolut ver¬
kümmertem Geſchlecht. Sie erſetzen die Lücken, die der Tod
in die Reihen der ſchon vorhandenen reißt. Bald ſind ſie ſelbſt
reif zu jeder Leiſtung, fliegen aus, bringen Vorräte heim,
pflegen die inzwiſchen neu entſtandene nächſte Kindergeneration.
Doch immer die alte Frage. Woher der neue Kinderſegen?
Der Storch arbeitet hier ganz ſichtbarlich ohne Zuthun
der veſtaliſchen Bienengenerationen ſelbſt. Sechs Wochen
dauert in dieſer Sommerzeit durchweg nur die normale Lebens¬
zeit einer ſolchen Einzelveſtalin. Aber in dieſen ſechs Wochen
erlebt ſie um ſich her im Stock eine unausgeſetzt wirkende
Kinderproduktion, die jeden Todesfall ſofort erſetzt. Die Kürze
[369] der Zeit erlaubt einen genauen Überblick. Es iſt nicht etwa
ſo, daß alle oder ein Teil der Veſtalinnen vor Lebensſchluß
oder ſonſt zu irgend einer Zeit ihres Sechswochendaſeins doch
noch plötzlich ihr Geſchlecht wieder erhielten. Kein Gedanke.
Sie wachſen in irgend einer der Kinderzellen heran, werden
von ſchon älteren Veſtalinnen gepflegt, machen ihre natürliche
Inſektenentwickelung als wurmähnliche Larve und eingeſponnenes
Püppchen durch, erſcheinen nach etwa drei Wochen frei im
Stock, arbeiten, wirken ſelber wieder mit zur Kinderpflege
anderer Generationen — und ſterben zu ihrer Zeit ab, als
Veſtalin geboren, als Veſtalin vom Leben verbraucht, als
Veſtalin vom Tode wieder heimgerafft. Nein, kein Zweifel:
Kinderwärterinnen erſten Ranges und offenbar von innerſtem
Beruf, wie ſie ſind, ſtehen ſie doch der wirklichen Kinderproduk¬
tion vollkommen fern. Die wickelt ſich ab, ohne daß ſie direkt
irgend etwas dazu thäten, — wie ein Myſterium im dunklen
Hintergrund.
Du ſtudierſt und ſtudierſt an der Sache herum, und endlich
entdeckt dein Scharfſinn folgendes.
Zunächſt wirſt du aufmerkſam auf einen kleinen Kreis
Bienen im Stock, die im Ausſehen und der Große ſich einiger¬
maßen von der Maſſe unterſcheiden. Zwei bis drei Hundert
auf die vielen Tauſende. Sie fliegen, ſcheint es, nicht aus,
ſie arbeiten nicht, ſie laſſen ſich füttern — und das alles, ob¬
wohl ſie ganz ausgewachſen, ja beſonders groß und ſtark ſind.
Eine ſeltſame Faulenzerbande in einem Rieſenhaushalt, wo alles
ſonſt vor Arbeit ſchwitzt und keucht.
Du fängſt dir einen Müßiggänger heraus und unterſuchſt
ihn: wahrhaftig — ein Männchen. Eine ſogenannte Drohne.
Durchaus normal, mit allen Werkzeugen der Männerſchaft.
Ein Schritt offenbar weiter zur Sache. Zu zwanzigtauſend
Veſtalinnen jetzt zweihundert geſchlechtsfähige Männer. Aber
doch noch keine ganze Löſung. Ja wohl Männer! Aber dieſe
Männer und die Veſtalinnen können ja nichts miteinander an¬
24[370] fangen! Sollen wir an den monſtröſen Fall denken, daß
weibloſe Männer hier für ſich allein Junge hecken? Undenk¬
bar. Und du ſiehſt auch gar keine Andeutung von ſo etwas.
Dieſe faulen Drohnen thun faktiſch gar nichts. Sie ſuchen
weder nach Begattung, noch kümmern ſie ſich um Werden und
Verbleib der Jungen, — ſie faulenzen dahin in des Wortes
verwegenſtem Sinn.
Eines Tages indeſſen lohnt dein emſiges Suchen ein
neuer Fund. Du beobachteſt, wie eine einzelne Biene, die ſich
äußerlich kaum von einer gewöhnlichen Veſtalin unterſcheidet,
an einer leeren Kinderzelle ſich zu ſchaffen macht. Es ſcheint
etwas beſonderes mit ihr los zu ſein. Andere Bienen ſtehen
eifrig dabei, ſtreicheln und hätſcheln und füttern ſie und be¬
nehmen ſich in jeder Weiſe liebenswürdig und devot — und
auf einmal ſtopft deine verdächtige Biene das Hinterteil in die
Zelle — — und legt ein hübſches kleines milchweißes — Ei.
Du haſt das myſteriöſe Weſen entdeckt, das man die
„Bienenkönigin“ nennt. Im Angeſicht des friſch gelegten Eies
verſtehſt du aber, was es eigentlich iſt: es iſt das Bienen¬
weib. „Das“ Weib. Vergebens durchmuſterſt du den ganzen
Stock nach einem zweiten ſeiner Art.
Auf zwanzigtauſend zwangskeuſche Veſtalinnen und zwei¬
hundert echte Männer — ein einziges echtes Weib.
Alles, was du an Nachkommenſchaft haſt im Stamme
aufblühen ſehen, all der Erſatz an jungen Veſtalinnen: es
ſtammte ausſchließlich von dieſer einen Nichtveſtalin, dieſem
einen echten Weibe, dieſer einen und einzigen echten Mutter
her. Während die armen ſterilen Jüngferchen um ſie herum,
Tauſend und Tauſend und Abertauſend, kommen und gehen wie
Blätter am Baum, ſitzt ſie daſeinskräftig und ſtrotzend in ihrer
Frauenkraft jetzt ſchon ſeit dem Frühjahr immer und immer
dieſelbe da und legt Eier, immer wieder Eier, grenzenlos viele
Eier. Tauſend, zweitauſend, zwanzigtauſend, fünfzigtauſend,
ſechzigtauſend Eier in dem einen Frühling und Sommer. Von
[371] eigener Jungenpflege kann bei einer ſolchen Sand-am-Meer-
Produktion keine Rede ſein. Aber das beſorgen ja auch die
Veſtalinnen, Generation um Generation, mit rührender Sorg¬
falt für ſie. Sie braucht nur ihre Eier zu legen und ſich
füttern zu laſſen, damit die Kraft nicht verſage, — alles andere
geht von ſelber wie ein Automat.
Ja füttern ....! Die Eierlegerei iſt gewiß an ſich an¬
ſtrengend genug und fordert gute Ernährung in der zu Per¬
manenz erklärten Wochenſtube der Frau Königin. Aber du
erinnerſt dich: das Wörtchen Fütterung hat in der Liebe noch
einen ganz beſonderen Sinn. Damit ein neues Weſen werde,
verlangt jedes weibliche Ei, ſo haſt du wenigſtens bisher als
Regel geſehen, noch ein ſehr eigentümliches Spezialfutter: eine
männliche Samenzelle nämlich. Und zu dieſer geheimnisvollen
Mahlzeit verhilft nur eins, nämlich Begattung.
Nun gut. Dafür haſt du ja vorher die zweihundert
Männer im Reiche entdeckt. Zweihundert für ein einziges
Weiblein ſollten wohl genügen. Unwillkürlich malſt du dir mit
reger Phantaſie aus, wie dieſer ungeheure Veſtatempel mit
ſeinen zwanzigtauſend Alt- und Jungjüngferchen mindeſtens an
einer Ecke auch ein ſeparates kleines Heiligtum der Aphrodite
ſein müſſe, wo die Liebe im Verhältnis zu ſo ungeheuerlicher
Schaffenskraft eifrig verehrt werde. Aber da kannſt du dir
nun die Augen ausſehen. Keins der faulen Männchen regt
ſich. Und die Frau Königin, in ihrer Art und erſprießlichen
Beſchäftigungsweiſe ja ein Muſter von Fleiß wie alle anderen
arbeitenden Glieder des Stockes, kümmert ſich anſcheinend ebenſo
wenig um dieſe faule Ecke der fleißigen Genoſſenſchaft. Was
nun wieder? Alſo auch hier keine Brücke?
24*[372]
Wieder grübelſt du und beobachteſt. Und — du wirſt
jetzt ſchon Jahre des Studiums brauchen — abermals kommſt
du auf ein Neues.
Zunächſt kontrollierſt du die Königin in ihrer einſam¬
hoffnungsvollen Thätigkeit. Da liegt gerade wieder ſo ein
friſch gelegtes Ei. Unters Mikroſkop damit. Hier iſt die Ei¬
zelle. Die gab der königlich-weibliche Eierſtock aus ſich, ohne
fremde Beihilfe. Aber hier, — hier ſind ja auch Samen¬
tierchen! Das Ei iſt zweifellos im Moment, da es gelegt
wurde, geradezu überſchüttet worden mit Mannesſamen. Woher?
Du nimmſt dir eine Königin her und ſchneideſt ihr den
Bauch auf. Da haſt du's. Am Eileiter eine große dicke
„Samentaſche“. Gefüllt mit Mannesſamen. Erinnere dich an
die Weinbergſchnecken und Spinnen. Wie die auch nicht bloß
den Samen einfach bei der Begattung ſchon an die Eizellen
gelangen ließen. Sondern wie ſie ſich eine beſondere Leibes¬
taſche gleichſam auf Reſerve mit Samen füllen ließen, die ſie
dann nachmals beliebig über den reifen Eiern zu entladen
wußten. Die Löſung dämmert dir auf. Mag unſere Frau
Königin auch an die ſechzigtauſend Eier in einem Jahre
legen: begattet braucht ſie ſich nur einmal ganz zu Anfang
zu haben. Damals füllte man ihr das Samenreſervoir. Sie
aber iſt ſeitdem gleichſam in einem Idealſinne doppelgeſchlecht¬
lich: indem die einmal empfangenen fremden Samentierchen in
ihrem Geheimfach ihr in dulce infinitum luſtig weiter leben,
hat ſie jederzeit genug „Mann“ zur Hand, um alle ihre
ſechzigtauſend Eier Stück für Stück, wie ſie ihr reifen und ſich
im Laufe der Monate vordrängen, ſelber und ohne weitere
wirkliche Manneshilfe zu „befruchten“, — das heißt, mit dem
nötigen Lebensfutter im Sinne unſerer uralten Zwergengeſchichte
zu verſehen.
Und ſo iſt's wirklich. Im Frühjahr war ein Tag, da
verließ Fräulein Königin die Burg. „Als alle Knoſpen
ſprangen“, tummelte ſie ſich hoch in den Lüften umher.
[373] Damals flogen auch die faulen Drohnen mit aus. Und ſolche
Drohnen geſellten ſich zu ihr. Bis zu dieſer Hochzeitsſtunde
war auch ſie Veſtalin geweſen, — doch nur durch mangelnde
Gelegenheit, — nicht wie die tauſend armen anderen des Reiches
durch den vernichtenden Machtſpruch körperlicher Unfähigkeit.
Bis zu dieſer Stunde, — aber nicht weiter. Als Frau Königin
von ihrem wilden Fluge heimkam, war ſie für immer — Frau.
Aber — des Mannes bedurfte ſie gleichzeitig nie mehr.
Einmal für immer! Ihre Samentaſche, einmal gefüllt bis zum
Rande, bot Befruchtungsſtoff für Eier ohne Zahl. Man ſagt,
auch im Menſchenweibe lebe der Mannesſamen unter Umſtänden
eine Woche lang, ohne ſeine Lebenskraft einzubüßen. Denke
dir das geſteigert auf Monate, Jahre, und du haſt die Situation
der „einmal für immer“ begatteten Bienenkönigin .....
Ja Jahre. Denn mit dem einen Sommer, von dem ich
dir jetzt immer geredet habe, iſt das Leben dieſes Wunderdings,
das „Bienenkönigin“ genannt wird, an ſich keineswegs noch
erſchöpft. Sie hat geliebt. Ihre Samentaſche iſt gefüllt. Sie
hat Eier gelegt. Die Veſtalinnen, die ſchon um ſie waren,
ehe der Liebesakt erfolgte, haben die erſte Kindergeneration
aufgepäppelt und ſind dann ſelber nach und nach der Sechs¬
wochengrenze ihres armen arbeitſamen Veſtalinnenlebens erlegen.
Veſtas erſte Generation ging. Die neue blieb. Aber auch
Aphrodite blieb. Nebenbei auch noch Drohnen, — dieſe
allerdings fortan höchſt zwecklos. Neues Eierlegen. Und ſo
fort. Ein ganzer Sommer in unerſchöpfter ſtolzer Mutterkraft
der einen Königin, — ſelbſtloſer Jungenpflege durch die tauſend
und abertauſend lieben armen raſchlebigen Jüngferchen, —
und Rieſenfaulenzerei der Drohnenmänner. Was nun weiter?
[374]
Ich denke, du haſt ſelber bei der ganzen Hiſtoria ſchon
etwas zurückgeblinzelt nach einer neuen Frage hin. Nämlich
nach der Anfangsfrage im Ganzen. Die Tauſende beſtändig
neu auftauchender Veſtalinnen ſind Kinder der konſequenten
weiblichen Geſchlechtsbiene im Stock: der Königin. Gut, das iſt
begriffen. Den Mannesſamen zu ihrer ungeheuerlichen Maſſen¬
produktion haben dieſer Königin die Drohnen geliefert. Gut,
das ſei auch klar, wenn es auch etwas ſummariſch geſchah.
Aber nun eine folgerichtig neue Gewiſſensfrage. Woher ſtammt
urſprünglich die Königin? Woher ſtammen die Drohnenpapas,
deren Exiſtenz einfach ſchon im Frühjahr vorausgeſetzt wurde?
Und woher endlich ſtammte die erſte Generation von Veſta¬
linnen? Denn du verſtehſt: eine ſolche Generation muß da
geweſen ſein, ehe überhaupt die Eierlegerei der Königin mit
Erfolg einſetzen konnte. Dieſe erſte Generation muß zunächſt
die Kinderzellchen gebaut haben, in die unſere gute Frau ihre
Eier legen ſollte. Und, als dann die erſte Eierlage da war,
muß ſie die auskriechende erſte Ration hilfloſer Würmchen auf¬
gefüttert haben, — andernfalls wäre der ganze hübſche Mechanis¬
mus überhaupt von vornherein nie in Gang gekommen.
Um dieſe drei neuen Fragen zu löſen, müßten wir von
Rechtswegen jetzt rückwärts den Dingen nachgehen. Aber in
dieſer Wunderwelt verſchlägt's auch nichts, wenn wir einfach
vorwärts ſchreiten. Die Schlange beißt ſich wieder in den
Schweif, wie das Jahr ſelber, das, vom Frühling kommend,
über Sommer, Herbſt und Winter doch wieder auf den Früh¬
ling ausläuft.
Alſo geradeaus im Text. Gegen den Herbſt hin giebt's
im Bienenſtock zunächſt furchtbaren Krach. Die faulen Drohnen
werden in einer wahren Bartholomäusnacht von den Veſtalinnen
totgeſchlagen. Brutal werden ſie überfallen, gejagt, aus¬
gehungert, erſtochen. Nur fort damit! Es iſt wie ein plötz¬
licher Reinigungsteufel, der die fleißigen Jüngferchen im Stock
überkommt. Allerdings ein verflixt grober. Fort mit dem
[375] Überflüſſigen. Keine Möglichkeit ja mehr, daß man die dicken
Miteſſer noch einmal gebrauchen könnte. Im Gegenteil —
der Winter wird kommen, wo ohnehin das Durchretten der
wichtigen Glieder der großen Staatsfamilie ſchwer genug hält.
Was da noch Miteſſer ohne Zweck!
Nach dieſem grauſigen Opfer aus Haushaltsraiſon geht's
dann wirklich in den Winter ein. Der wohl verwahrte Stock
und die eigene gedrängte Nähe ſchützen vor dem Erfrieren, an¬
geſammelte Vorräte vor dem Hungertod. Das Kinderkriegen
hört natürlich auf. Aber die Königin und eine letzte Herbſt¬
generation lebenszäherer Veſtalinnen, die nicht mehr an die
Lebenszeit von ſechs Wochen gebunden ſcheint, kommen glücklich
durch und erleben einen neuen Lenz. Was nun? Jetzt kommt
eigentlich erſt das Allermerkwürdigſte.
Sonne und Blüten ſind da. Die überwinterten Veſta¬
linnen ſchwärmen wieder aus und bringen friſche Nahrung
vom neu eröffneten Markt. Und die Königin — beginnt aber¬
mals mit der Eierproduktion. Ja, mit regelrechten Eiern,
immer noch. Denn wie der goldſchwangere Säckel Fortunats,
ſo bewährt ſich dieſer großen Mutter nach wie vor unerſchöpf¬
lich die alte Samentaſche, — immer noch gießt ſie von dort
auf jedes Ei das nötige Stäubchen Manneskraft. Lebendige
Manneskraft der alten längſt verſchollenen und begrabenen
Drohnenmänner vom vorigen Jahr, — Samentierchen, die den
Liebesakt ſelbſt jetzt ein ganzes und das Leben auch der letzten
Drohnen um mehr als ein halbes Jahr überlebt haben .....!
Neue Veſtalinnen wachſen auf, — alles ſcheint regelrecht
wieder von vorne anzufangen. Da auf einmal aber nun etwas
abſolut neues.
Unſere Veſtalinnen, die ja nicht bloß Brot und Nektar
einholen, ſondern auch im Stock ſelbſt unabläſſig als kluge
Baumeiſterinnen beſſern und neu bauen, haben ganz in der
Stille eine Anzahl Kinderſtuben bereit geſtellt, die größer ſind
als die ſonſt üblichen. Und indem unſere treue Frau Königin
[376] dieſe mit dem nötigen Lebensinhalt bedenken ſoll, vollführt
auch ſie dabei etwas ganz revolutionär neues.
Sie legt zwar auch in jede dieſer Rieſenzellen ihr ſchlecht¬
rechtes Ei. Aber nimm das Ei unters Mikroſkop: ſie hat
etwas ſonſt Unumgängliches diesmal fortgelaſſen. Das Ei hat
ſeinen nötigen Schuß Samen nicht erhalten! Offenbar freie
Herrin ihrer inneren Samentaſche, was Öffnung oder Ver¬
ſchluß anbelangt, hat die gute Frau diesmal einfach grund¬
ſätzlich da den Riegel zugehalten. Unbefruchtete Eier — es
ſcheint ein Kinderſpiel. Die großen Zellen ſollen alſo wohl
vorſätzlich leer bleiben.
Aber was ſiehſt du! Die Veſtalinnen häufen wie immer
auch um dieſes unbefruchtete Eilein ſüßen Futterbrei, ſie er¬
erwarten alſo ganz unzweideutig eine Entwickelung trotz alle¬
dem und alledem. Und richtig: das Würmlein kommt auf,
wird weiter gepäppelt, verpuppt ſich — und am vierund¬
zwanzigſten Tage ſpaziert aus dem Kinderſtubenfach eine dicke —
Drohne.
Rätſel der Rätſel. Die Königin hat die Befruchtung
ihrer Eier mit Mannesſamen frei in der Gewalt. Will ſie
nicht, ſo befruchtet ſie gewiſſe Eier in beſonders großen Kinder¬
ſtuben des Korbes nicht — — und aus dieſen unbefruchteten
Eiern gehen dann allemale nach eiſernem Geſetz, wie es ſcheint,
anſtatt verkümmerter veſtaliſcher Jungfräulein echte geſchlechts¬
fähige Drohnen — alſo Männchen hervor. Laß den ganzen
Bienenſtaat mal einen Moment aus dem Auge und beherzige
nur die einzige kurioſe Thatſache, die er dir hier in den Weg wirft.
[377] Parthenogeneſis nennt's der Naturforſcher.
Von Parthenos, griechiſch, die Jungfrau, und Geneſis,
die Entſtehung oder Zeugung. Jungfernzeugung alſo. Das
Wort iſt gerade für unſer Beiſpiel ſchlecht.
Denn augenfällig iſt doch unſere Frau Bienenkönigin
längſt keine Jungfrau mehr, — ſie, die in einem Jahre
allein an die ſechzigtauſend regelrecht befruchtete Eier gelegt
hat und die eine Rieſenbüchſe voll Sparſamen von ihrer vor¬
jährigen Begattung her noch jetzt im Leibe trägt, ausreichend,
um noch mindeſtens eine Million Eier mit vollem Mannes¬
erbe zu verſetzen. Wahr bleibt bloß, daß die Drohneneier, die
ſie legt, an ſich gleichſam jungfräuliche Eier darſtellen, die als
ſolche kein Mannesſamen berührt hat.
Zum Wunderbaren genügt dieſe letztere Thatſache aber vollauf.
Es liegt hier einer der Fälle vor, wo der Naturforſcher
wohl in den alten paradoxen Verzweiflungsruf ausbrechen
möchte: ich habe's geſehen, aber ich glaube's nicht. An der
Sache ſelbſt iſt ſchlechterdings heute nicht mehr zu zweifeln.
Die haarſpalterigſten Beobachter haben ſich wieder und wieder
daran erprobt. Es ſind auch eine Anzahl verwandter Fälle
bei anderen Gliedertieren nachgewieſen worden, die dem Drohnen¬
fall eine gewiſſe allgemeinere Bedeutung geben. Alſo!
Sachlich liegt hier ſcheinbar die gröbſte Ausnahme von
dem vor, was ſonſt in der ganzen höheren Tier- und Pflanzen¬
welt „ehernes Geſetz der Zeugung“ iſt. Eine Ausnahme davon,
daß zu einem Zeugungsakt, der von einem regelrechten Ge¬
ſchlechtsorgan (einem weiblichen Eierſtock) ausgeht, die regel¬
rechte Vermiſchung einer Samenzelle und einer Eizelle als un¬
erläßliche Station gehört. Dieſes Geſetz ſteht auf der Tradition
von Myriaden lebender Weſen, die unverbrüchlich alle ſo ent¬
ſtanden ſind und weiter ſo entſtehen laſſen. Unſere Betrachtung
hat dir gezeigt, wie es zu ſtande kam auf Grund der Zwergen¬
geſchichte, — zu ſtande kommen mußte. Und nun doch eine
Ausnahme gerade davon!
[378]
Es hält ſchwer, ſich da hinein zu denken. Auf den erſten
Blick wirſt du eins ſagen. Ja, wenn ſo was alſo doch noch
bei einem ſo hoch ſtehenden Tier wie der Biene möglich iſt —
echte Erzeugung von Nachkommen aus Weibeseiern ohne
Mannesſamen — — wozu dann die ganze Rieſenkomödie der
Geſchlechtertrennung, der Zerteilung in Mann und Weib, der
echten Jungfrauenſchaft, der Begattung, — kurz dieſes ganze
ungeheuer verwickelte Netz, aus dem das ſonſtige höhere Liebes¬
leben ſich millionenmaſchig in äußerſter Künſtlichkeit zuſammen¬
ſpinnt — — wozu alles nicht viel einfacher? Aber bei einigem
Nachdenken kannſt du nun doch wohl nicht ſo grob argumen¬
tieren, ſo ſeltſam die Sache auch bleiben mag. Zunächſt er¬
innere dich mal an eins.
Du weißt noch vom Polypen her: die geſchlechtliche Zeugung
mit Vereinigung von Samen- und Eizelle iſt mindeſtens im
niederen Tierreich (und im Pflanzenreich!) nur eine Art der
Fortpflanzung, — wenn ſchon die höhere, aufwärts ſtrebende.
Daneben ſteht als gröbere, niedere Art noch die einfache
„Knoſpung“.
Du weißt: dem Hydrapolypen wuchſen wie einer Pflanze
auch noch Nachkommen zweigartig oder wie kleine Ableger
direkt aus dem Leibe heraus, — ohne jede Rückſicht auf die
männlichen oder weiblichen Geſchlechtsorgane des betreffenden
Tieres. Bei der Meduſe und noch beſſer beim Bandwurm
haſt du dann geſehen, wie dieſe Fortpflanzung durch Knoſpung
gleichſam in Abwechſelung geriet mit der Fortpflanzung durch
geſchlechtliche Zeugung. Du ſahſt Tiere, die ſich regelrecht be¬
gatteten, mit Mann und Weib, Samen und Ei. Wo aber
nachher aus dem ſo entſtandenen Jungen ein zweites, ja ge¬
legentlich drittes Junges hervorwuchs durch Knoſpung wie ein
Pflanzenzweig. Und wo dann in der dritten oder vierten
Generation erſt wieder auf das Prinzip „Mann und Weib“
zurückgekommen und von neuem geſchlechtlich gezeugt wurde.
Nun, dieſe Sache paßt nun nicht etwa ohne weiteres hierher.
[379]
Bedenke genau: die jungen Drohnen entſtehen ja keines¬
wegs durch Knoſpung irgendwo in oder an der Bienenkönigin.
Sie entſtehen vielmehr aus regelrechten „Eiern“, die am echten
Eierſtock erzeugt und äußerlich abgelegt werden, — alſo gleich¬
ſam auf dem halben Wege ſchon der echten geſchlechtlichen
Fortpflanzung. Bloß daß ſie dieſer geſchlechtlichen Fortpflanzung
dann im halben Wege doch noch eine Naſe drehen, indem ſie
ſich ohne die andere Weghälfte, nämlich ohne Mannesſamen,
zu fertigen Tieren entwickeln. Gleichwohl, wenn auch die
Sache ſicher nicht identiſch iſt, kannſt du auch hier vielleicht
einmal wieder an der Analogie lernen.
Bei dem Hydrapolypen hatteſt du die geſchlechtliche und
die Knoſpenfortpflanzung nebeneinander am gleichen Tier.
Beim Bandwurm hatteſt du dann dieſes Nebeneinander gleich¬
ſam ausgereckt in ein zeitliches Nacheinander. Es folgten
regelmäßig beim gleichen Tier nacheinander geſchlechtlich und
knoſplich gezeugte Individuen. Nun laß mal den Unterſchied
zwiſchen Geſchlechtlich und Knoſpe für uns beiſeite und halte
bloß das Nebeneinander und Nacheinander im Auge.
Hier ſteht ein beliebiges Inſekt. Es pflanzt ſich zunächſt
ganz regelrecht im Sinne der großen Errungenſchaft unſerer
alten Zwergengeſchichte fort: nämlich rein geſchlechtlich. Mann
ſucht Weib, beide bringen eine Samenzelle zu einer Eizelle,
und aus dem Verſchmelzungsprodukt, in dem Samen und Ei
ſich gleichſam „gefreſſen“ haben, erwächſt ein neues, junges
Inſekt. Dieſes neue Inſekt iſt (erinnere dich der Zwergen¬
geſchichte!) entweder wieder ein Mann — oder ein Weib. Das
alte Inſektenpaar bringt eben geſchlechtlich Junge hervor —
und bei dieſen Jungen finden ſich nebeneinander Männlein
und Weiblein.
Nun ſtelle dir aber mal vor, dieſes „Nebeneinander“ ver¬
wandelte ſich auch in dieſem geſchlechtlichen Falle durch irgend
welche wunderliche Verwickelung der Umſtände in ein „Nach¬
einander“. Ich meine ſo. Die zwei Elterninſekten, Männlein
[380] und Weiblein, begatten ſich regelrecht geſchlechtlich. Als Produkt
aber entſteht nicht ein Wurf Junge, von denen dieſes wieder
Mann, jenes Weib iſt. Sondern es entſteht eine wie beim
Bandwurm gleichſam zeitlich getrennte Generationsfolge: zuerſt
etwa ein Weiblein, das aber die Fähigkeit beſitzt, nach einiger
Zeit noch erſt aus ſich wieder ohne neue Begattung auch noch
ein Männlein hervorgehen zu laſſen. Erſt jenſeits dieſer
Männleinsgeburt wäre dann eine neue Begattung abſolut nötig,
die abermals die Kette einleitete.
Da wir nichts mit Knoſpung zu thun haben wollen, —
auch die direkte Umwandlung eines Weibleins in ein Männlein
innerhalb desſelben Individuums nicht ſtattfinden ſoll, — ſo
bliebe für dieſe kurioſe Lebensfolge wohl nichts anderes übrig,
als eine ſcheinbare Verzettelung über drei Generationen in
einer teils echten, teils aber halben und mangelhaften Ge¬
ſchlechtszeugung. Zuerſt das alte, echte Geſchlechtspaar. Davon
ein einzelnes Weib als direktes, ganzgeſchlechtlich erzeugtes
Junges. Von dieſem Weibe aber bloß durch ein Ei (alſo in
„halber“ Geſchlechtszeugung) erzeugt ein Männchen. Mit dieſem
halbgeſchlechtlich gezeugten Männchen jetzt müßte die Kette ſtill
ſtehen, wenn es nicht abermals ſich echt ganzgeſchlechtlich mit
einem fremden Weibe miſchte und abermals damit die ganze
Generationsfolge von vorne begönne.
Du begreifſt dieſe Kette wenigſtens theoretiſch, nicht wahr?
Sie läßt aber natürlich auch noch Komplikationen zu. Zum
Beiſpiel, was ziemlich nahe liegt: wenn das erſte weibliche
Junge, das in ſich die Kraft hat, auch ohne Begattungsakt ein
oder mehrere männliche Junge in Eiern weiter zu zeugen,
neben der Bethätigung dieſer an und für ſich vorhandenen
Kraft nun doch auch noch zur regelrechten Begattung mit
irgend einem gerade vorhandenen Männchen ſich verſtände!
Mit dieſem Männchen könnte es dann außerhalb ſeiner
eigenen Generationsfolge gleichſam wieder eine neue, un¬
abhängige Kette als erſtes Glied anfangen, — das heißt: es
[381] würde mit ihm wieder Weibchen zeugen, die als ſolche (als
Glieder dieſer neuen Kette) wieder ſelbſtthätig und ohne
Begattung Männer zeugen könnten. Das gäbe alſo als Haupt¬
kette jetzt: Geſchlechtszeugung von Mann und Weib; als Reſultat
ein Weib; dieſes Weib kann ohne neue Begattung direkt aus
ſich durch halbgeſchlechtliche Zeugung (einſeitig bloß durch Eier!)
beliebig Männer erzeugen; aber es kann auch unter Umſtänden
durch eigene, neue Begattung mit einem Manne daneben noch
gleich ſeinen Eltern neue Weiber in ganzgeſchlechtlicher Zeugung
(durch befruchtete Eier!) erzeugen; die von ihm im erſteren
Sinne erzeugte Männergeneration bedarf auf alle Fälle neuer
Weiber zur regelrechten Begattung und kehrt damit zum Zu¬
ſtand der Großeltern an den Kettenanfang zurück; die von ihm
im zweiten Sinne erzeugten Weiber dagegen bilden eine neue
Kette und verfahren und zeugen gleich ihm.
Einen Moment geht dir alles rund, was? Und eine harte
Nuß iſt's ſchon. Aber faſſe Boden: du biſt ja ſchon genau bei
unſerem Fall mit der Bienenkönigin. Überlege! Unſere Bienen¬
königin, wie wir ſie oben geſehen haben, hat offen klar die
Gabe der zweiten Generationsſtufe.
Sie iſt ein Weib, das aus ſich heraus als Kettenglied
ohne Neubegattung noch eine dritte Generation halbgeſchlechtlich
(durch unbefruchtete Eier) erzeugen kann, und zwar eine männ¬
liche: — Drohnen. Das heißt: ein Weib, das das kann. Es
kann aber auch ſich nebenher noch ſelbſt mit einem Manne neu
begatten. Du haſt geſehen, wie unſere Königin das letztere
wirklich eines Tages ganz zu Anfang ihrer Bahn fidel voll¬
führte, — mit damals im Stock vorhandenen Mannes-Drohnen.
Und dann legt es — das heißt: legte unſere Königin —
ganz folgerichtig auch Eier, die befruchtet waren und aus
dieſen Eiern ſtiegen — Weiber. Es waren in unſerem
Spezialfalle zunächſt ſchlechte geſchlechtsverkrüppelte Weiber:
unſere tauſend und tauſend Veſtalinnen. Aber das iſt eine
Sache wieder für ſich: auf alle Fälle gab's jetzt auch hier
[382] Weiber. Alſo alle Vorausſetzungen der zweiten, mittleren
Generation erfüllt!
Nun fragt ſich bloß noch folgendes. Stammt auch die
Bienenkönigin ſelber aus einer echten ganzgeſchlechtlichen Zeugung
zwiſchen Mann und Weib? Und vollführen die von unſerer
Königin „parthogenetiſch“ gezeugten Männer, das heißt: die
erwähnten Frühjahrsdrohnen des zweiten Jahres, abermals mit
Weibern regelrechte Begattungen, ſo daß die Kette ſich wieder
neu knüpft? Da wären wir aber glücklich gerade wieder zum
rechten Ort auf unſerem Haupttext, und ich brauche dir nur
einfach in dieſem weiter zu erzählen, ſo ſiehſt du: ja, es iſt
auch in dieſen beiden Punkten alles ganz und gar jenem
theoretiſchen Falle gleich.
Zunächſt gleich noch eins zur Klärung. Unſere Königin
zeugte bisheran thatſächlich aus ihren befruchteten Eiern nur
Veſtalinnen, die zwar Weiber waren, aber doch keine eigentlich
leiſtungsfähigen. Jetzt, nachdem auch die Drohnen noch (un¬
befruchtet) gezeugt ſind, kommt gleichſam als Krone von allem
ein drittes: ſie zeugt auch noch geſchlechtsfähige Weiber.
Das iſt aber ſo zu verſtehen.
Kaum ſind die Drohnenzellen gebaut und belegt, ſo zeigt
ſich die plötzliche Neuerungsſucht der guten bauenden Veſtalinnen
in einem noch ſeltſameren Werke. Sie bauen nämlich flaſchen¬
förmige, noch größere und noch ſolidere Zellen. Diesmal meiſt
nur ein paar. Aber die ſind auch nun beſtimmt, die wichtig¬
ſten des ganzen Stocks zu werden. Nichts geringeres ſoll
[383] darin erwachſen als — neue Königinnen. Mindeſtens eine,
eventuell ſogar mehrere.
Bald ſind die ſchönen Königszellen, — echte Königs-
Kinderſtuben, — fertig. Jetzt iſt bloß die Frage: woher
Königinneneier? Nun — die alte Königin hat bisher ſo treu
alles hier gezeugt und gelegt, was zu zeugen und zu legen
war: ſo wird ſie wohl auch dieſes letzte Kunſtſtück verſtehen.
Unwillkürlich überdenkſt du das Wie? Eine ſolche neue Königin
der Zukunft ſoll doch auch wieder ein Weibchen werden, nicht
wahr? Alſo giebt's hier keinenfalls ein unbefruchtetes Ei, denn
das gäbe ja einen Mann: eine Drohne. Aber auch das be¬
fruchtete Ei, — — wird es reichen? Bisher gab ja jedes
befruchtete Ei — viele tauſende haben dir's bewieſen — zwar
ein „Weib“, aber ſtets ein gleichſam nur defektes, eines mit
verkümmertem Eierſtock und unbrauchbaren Begattungsteilen:
eine Veſtalin. Sollte die Königin doch noch eine Extraſorte
von Eiern in ſich führen, die auch noch dieſe Klippe um¬
ſchifften?
Umſonſt. Sie ſelbſt hat kein „drittes Fach“ mehr, aus
dem ſie ſchöpfen kann. Aber ein neues, äußerlich doch noch
„Drittes“ tritt von unerwarteter Seite hinzu.
In die Königinzelle kommt ein ſimples Ei, genau als
ſollte es eine Veſtalin geben. Es bekommt ſeinen Guß Mannes¬
ſamen aus Fortunats unſterblichem Säckel, und damit hat die
Königin als Mutter ihr Werk gethan. Aber jetzt treten die
pflegenden Veſtalinnen des Stockes auf einmal wieder vor.
Ihr Werk war ja ſchon die andersartige Wiege für dieſes vor¬
nehme Kind. Und dieſes ihr Werk ſetzen ſie jetzt planmäßig
fort, indem ſie unſer bevorzugtes Kindlein, nachdem es einmal
da iſt, von Beginn an anders und reichlicher füttern.
Das Ergebnis dieſer Fütterung iſt die Entwickelung eines
echten geſchlechtsfähigen Weibes .....
Statt einer Veſtalin entſteht in der Königinzelle eine echte
neue Königin, — das heißt: ein Bienenweib mit unverküm¬
[384] mertem Eierſtock, begattungsfähigem Scheideneingang und nor¬
maler Samentaſche. Dieſe Thatſache, iſt, wie du begreifſt,
von höchſter Tragweite für die Beurteilung des ganzen
Wunders dieſer Bienenfamilie überhaupt! Sofort ſiehſt du
aber zunächſt damit das oben geſtellte Rätſel gelöſt: warum
aus befruchteten Weibeseiern Veſtalinnen und nicht wieder ge¬
ſchlechtsreife Weiber wurden.
Thatſächlich gab und giebt jedes befruchtete Ei der Königin
in der Anlage wieder ein echtes, normales Weib. Je nach
der Fütterung in der Kindheit verkümmert aber dieſes Weib
ſchon früh zur Veſtalin — oder es reift wirklich aus zur
Königin.
Mit anderen Worten: die Veſtalin iſt als ſolche ſtreng¬
genommen ein Kunſtprodukt, erzwungen erſt nachträglich durch
mangelhafte Ernährung. Den ganzen vorigen Sommer hin¬
durch haben die Veſtalinnen des Stockes in ihrer Eigenſchaft
als Kindermädchen immer nur wieder Veſtalinnen abſichtlich
entſtehen laſſen. Und jetzt zum erſtenmal ſind ſie ebenſo ab¬
ſichtlich von ihrem Prinzip abgewichen und haben durch ſchein¬
bar „beſſere“, das heißt offenbar zum erſtenmal überhaupt
normale Päppelung eines Kleinen eine „Königin“ zum Aus¬
wachſen gebracht.
Das Faktum ſteht dabei abſolut feſt. Du kannſt eine noch
ganz kleine Päppelmade der Königinwiege mit einem anderen
Kleinen in einer beliebigen Veſtalinnenwiege vertauſchen: un¬
abänderlich wird das Junge in der vornehmen Wiege bei ſeiner
Normalkoſt Königin, das andere mit ſeiner Arbeiterbettelkoſt
Veſtalin. Ja noch mehr. Geſetzt, der Stock verliert die Königin
durch jähen Todesfall im Frühjahr, noch ehe Königswiegen
erbaut und belegt ſind. Dann wird einfach eine beliebige
junge, ſchon zur Veſtalin beſtimmte Made nachträglich mit
Luxuskoſt zur Königin aufgepäppelt. Und dieſe Sache gar iſt
noch extremer beobachtet worden. Geſetzt die Königin ſtirbt
und es iſt zur Zeit im ganzen Stock auch keine aufpäppelbare
[385] junge Veſtalinnenmade da. Was nun? Da haben die anderen
Veſtalinnen halt in letzter Not einfach eine erwachſene Veſtalin
gewählt, ſyſtematiſch eine Weile dick herausgefüttert und noch
nachträglich wirklich wenigſtens ſoweit gebracht, daß ſie, gleichſam
überheizt wie ein Menſch, den man auf rohe Eier, Schabe¬
fleiſch, Tokayer und Paprika ſetzt, endlich doch noch ihren
Eierſtock zur Eierproduktion gepreßt hat. Freilich gab's nur
Drohneneier, da eine Begattungstaſche ſich auch ſo nicht mehr
entwickeln wollte. Aber der Fall ſtellt an ſich alles zu genüge
klar: das „Künſtliche“ der Veſtalin, das unter Umſtänden ſelbſt
bei ihrem ausgewachſenen Zuſtande noch einer Diätänderung
bis zu gewiſſem Grade wieder weicht .....
Du ſiehſt aber jetzt auch ſchon: die wirkliche Bienen¬
geſchichte fällt vollſtändig mit unſerem angenommenen Fall
oben zuſammen. Ein echter Begattungsakt am Anfang zwiſchen
Mann und Weib: Drohne und Königin. Aus dieſem Be¬
gattungsakt aber erwachſend nicht eine Generation mit Neben¬
einander männlicher und weiblicher Geburten. Sondern zwei
Generationen mit nacheinander wechſelndem Geſchlecht: eine
weibliche Bienenkönigin, die ohne Neubefruchtung noch einmal
männliche Drohnen aus ſich erzeugt. Eine einfache Kompli¬
kation ohne grundlegenden Eingriff giebt dann hier wie dort
bloß noch die Thatſache, daß dieſelbe Königin noch ehe ſie per
Parthenogeneſis oder „Jungfernzeugung“, alſo ohne Neu¬
begattung, Männer erzeugt hat, auch noch ſich von neuem hat
begatten laſſen und aus dieſer Begattung heraus, abermals teils
echte fruchtbare Bienenköniginnen, teils verkümmerte, aber im
Prinzip doch auch weibliche Veſtalinnen erzeugt.
Jedenfalls verliert der wunderbare „Jungfernakt“ der
Drohnenzeugung, wenn du ihn ſo anſchauſt, wenigſtens etwas
von ſeinem ſchlechtweg Paradoxen und Umſtürzleriſchen. Das
Begattungsprinzip mit ſeinem alten Rezept aus Samenzelle
und Eizelle erſcheint nicht umgeworfen damit — du ſiehſt ja,
wie verflixt nötig die Begattung doch immer und immer wieder
25[386] iſt, um die Maſchine im Ganzen im Gang zu halten. Das
Prinzip ſcheint vielmehr nur etwas elaſtiſch in die Länge ge¬
zerrt, — mit einer Art periodiſchen Pauſierens im entſcheidenden
Radſtoß, während deſſen aber doch die Maſchine, gewaltig ge¬
ſtoßen, wie ſie noch iſt, von ſelber wie im Bann des Träg¬
heitsgeſetzes ein Stück weiter vorwärts rollt.
Schließlich können uns die unglaublichſten Verzettelungen
eigentlich nicht mehr in Verwunderung verſetzen in einer Hiſtoria
wie dieſer, wo innerhalb der Begatterei Verzettelungen und
gleichſam Sparkaſſenanlagen ſtattfinden, die denn doch alles
ähnliche ſonſt im Tierreich wie einen Scherz hinter ſich laſſen.
Laß mich dir nämlich nochmals ein Stück weiter erzählen im
Bienenmärchen.
Alſo du haſt im Stock jetzt zur Frühlingszeit: erſtens die
alte, vorjährig begattete, aber bis jetzt wenigſtens noch immer
lebhaft zeugungsfähige Königin. Zweitens einen rieſigen
Stamm Veſtalinnen, die ſich noch immerfort mehren. Drittens
einen kleinen Stamm neuer, eben geborener Drohnen. Und
endlich mindeſtens in einer „Königswiege“ ſich eben heranfreſſend
eine neue Königin, — es können auch mehrere ſein. Was
nun? Es gäbe jetzt in der Logik einen höchſt einfachen Schluß.
Die neue kleine Königin träte eines Tages ausgewachſen
hervor. Sie freundete ſich mit den Drohnen an und über¬
nähme fortan ſelbſt das ganze Weiterzeugen, — den Sommer
über Veſtalinnen, im nächſten Frühjahr neue Drohnen und eine
neue Königin. Die alte Frau Königin-Mutter aber machte
nach ſoviel tauſendfältiger Zeugungsarbeit während eines ganzen
Jahres jetzt endlich Schluß und verſchwände ſtill vom Erden¬
ſchauplatz, den vielen Generationen von Veſtalinnen nach, die
ſie ſchon überlebt hat.
Aber du machſt die Rechnung ohne den Wirt. Du unter¬
ſchätzeſt gewaltig zweierlei: erſtens die Lebenszähigkeit eben
dieſer Königin-Mutter. Und zweitens im Inneren der Königin-
Mutter die nicht minder unverwüſtliche Lebenszähigkeit jener
[387] überlebenden Samentierchen vom vorigen Jahr, die nach wie
vor in ihrer Samentaſche eines eigenen Fortlebens ſich er¬
freuen, das noch die Erzeugung zahlloſer weiterer Veſtalinnen
und Königinnen zu garantieren ſcheint. Was ſich allerdings in
der That erfüllt, iſt der erſte Teil deiner logiſchen Schlußkette.
Nur daß er ſich in Anbetracht vergnügten Weiterlebens der
Königin-Mutter unter etwas revolutionären Formen recht ge¬
waltſam geſtalten muß.
Das geht doch nicht an: zwei Königinnen im Staat mit
voller Zeugethätigkeit. Die Zahl der Veſtalinnen müßte damit
alsbald ins ungeheuerliche wachſen und überhaupt in allem
ein embarras de richesse an Mutterſchaftsdingen entſtehen, der
jegliche Ordnung ſtörte. Schon jetzt, mit den neueſten gehäuften
Frühlingserfolgen der alten Königin, iſt der Stock ja übervoll.
Was iſt zu machen: es muß halt eine Teilung erfolgen, —
eine Teilung des ganzen Perſonals in zwei Stämme, von
denen nur einer am Platze bleiben kann, der andere aber aus¬
wandern muß! Jeder Stamm, verſteht ſich, mit einer Königin,
— dieſer mit der alten, jener mit der neuen. Wie die alten
italiſchen Stämme in ſchwerer Zeit eine ganze Generation reifender
Jünglinge und Jungfrauen als „Weihefrühling“ (ver sacrum)
frei in die Hand der Götter gaben, indem ſie ſie einfach zum
Auswandern zwangen, — ſo muß auch hier einer der beiden
Spaltungsſchwärme als Weihefrühling ins Ungewiſſe des Exils
zu neuer Heimatsſuche gehen. Alter Brauch in der weiſen
Bienenwelt iſt nur, daß das verſtändige ältere Geſchlecht ſich
dazu zunächſt verſteht, nicht das unreife, junge.
Eines Tages iſt die Larvenzeit der jungen Königin in
ihrer Königswiege zu Ende. Aus der noch verſchloſſenen Wiege
ſchallt ein ſeltſam tütender Ton. Das iſt das Signal. Um
die alte Königin ſammelt ſich ein Stamm von zehn- bis fünf¬
zehntauſend Veſtalinnen, und dann geht's auf und davon. Der
„Hauptſchwarm“ verläßt den Korb, wie der Bienenzüchter ſagt.
Willig läßt er ſich vom Imker einfangen und in ein neues Haus
25*[388] ſperren, das er alsbald wieder ausbaut und in raſch nach¬
wachſender Vollzahl von neuem jetzt für ein Jahr bevölkert.
Im alten Hauſe vollzieht ſich inzwiſchen alles in ſchnur¬
gerader Logik. Iſt nur eine junge Königin ausgekrochen, ſo
eröffnet dieſe glatt die Ära. Sie wird ausfliegen, ſich mit
Drohnen begatten, wird den Sommer lang Tauſende und Aber¬
tauſende von Weiberbienen kraft dieſer Begattung zeugen, die
durch beſtimmte kümmerliche Ernährung aber immer wieder
bloß zu Veſtalinnen werden — u. ſ. w. Melden ſich dagegen
kurz nach dem Auftreten der erſten Jungkönigin noch andere
Königinlein in benachbarten Königswiegen, ſo wird alsbald
nochmals ein „ver sacrum“ nötig: die erſtgeborene Jungkönigin
ſammelt, anſtatt im Stocke die Herrſchaft anzutreten, abermals
gleich der alten einen Teil des vorhandenen Stammes um ſich
und geht als „Nachſchwarm“ mit ihm ebenfalls ins Exil, auf
die Suche einer neuen Heimat ins weite hinaus. Der Stamm
kann aber auch zu klein ſein, um ſolches Experiment im Wieder¬
holungsfalle zuzulaſſen: dann werden die nachgeborenen über¬
zähligen Königinnen unbarmherzig von den Veſtalinnen ab¬
geſchlachtet, — genau ſo, wie ſpäter gegen Sommersende die
faulen Drohnen als hilfloſe Opfer unter tödlichen Stichen fallen.
Viel merkwürdiger aber als dieſe Dinge iſt gleichzeitig der
Fortgang in jener erſten Mutterkolonie mit der alten Königin.
In voller Glorie tritt dort erſt die ganze Leiſtungsfähigkeit dieſer
ehrwürdigen älteren Dame ans Licht. Mit der neuen Kolonie
geht ſie jetzt in den zweiten Sommer, — immer und immer
aber noch legt ſie unentwegt Eier, Tauſende und abermals
Tauſende. Und den ganzen Sommer über befruchtet ſie aber¬
mals alle dieſe Tauſende von Eiern aus der alten, jetzt andert¬
halbjährigen Samentaſche.
Keinerlei neue Begattung findet ſtatt, — nie mehr be¬
rührt dieſe keuſche Witwe ein Bienenmann. Und doch hat ſie
noch immer von der einen älteſten Frühjahrsbegattung her
Samen genug in jener Taſche, ſo daß Ei um Ei eine Veſtalin
[389] liefern kann. Und abermals wird es Winter, abermals über¬
wintert ſie mit einem Schlußreſt lebenszäheſter Veſtalinnen.
Abermals aber im Frühjahr — dem dritten alſo ihres Lebens
— reicht auch in ihr jene parthenogenetiſche Kraft, die „Jungfern¬
zeugung“, — alſo ein Prinzip, das ſchon bei ihrer eigenen
Erzeugung von den Eltern in ſie gepflanzt wurde — aus, um
jetzt unbefruchtete Drohnen zu erzeugen. Und abermals in
demſelben Frühjahr reicht wieder ihre Samentaſche aus, um
daneben eine oder mehrere echte befruchtete Königinnen hervor¬
zubringen. Abermals infolge deſſen Auszug eines „Weihe¬
frühlings“: die uralte Königin zum zweitenmal an der Spitze
eines Trupps exilierter Veſtalinnen.
Zum drittenmal, über ein drittes Jahr weg, wiederholt
ſich jetzt der ganze Hergang. Wohl wird die Kraft der Patri¬
archin erſichtlich etwas geringer. Sechzigtauſend Eier wie im
erſten Jahre legt ſie jetzt doch nicht mehr. Aber legen thut ſie
unentwegt. Und das dritte Jahr geht auch herum: zum vierten¬
mal beginnt der Kreislauf! Bedenke: du haſt ein Inſekten¬
individuum vor dir, das im Verhältnis zu der Mehrzahl
ſeines Geſchlechts, den nur ſechs Wochen lang lebenden Sommer¬
veſtalinnen, jetzt ſchon ein Alter repräſentiert wie ein Menſch,
der etwa das Sechsundzwanzigfache eines Durchſchnittsalters
von dreißig Jahren erreicht hätte: ein Patriarchenalter von faſt
achthundert Jahren!
In dieſem Individuum lebt während dieſer ganzen rieſen¬
haften Lebensdauer erſtens das von den Eltern bei der Be¬
gattung, wie es ſcheint, ſofort mitübertragene Vermögen, durch
reine „Jungfernzeugung“ neue Bienen und zwar ſtets männliche
(Drohnen) aus ſich zu erzeugen. Solcher frei gezeugten Drohnen
wird es jetzt im vierten Jahre bereits die dritte Generation über¬
leben. Und es lebt zweitens in ihm von einer erſten eigenen
Begattung im erſten Frühling ſeines erſten Jahres her das
weitere Vermögen, befruchtete und zwar ſtets in dieſem Falle
weibliche Bienen, Veſtalinnen und Königinnen, zu erzeugen.
[390]
Damit es das letztere aber könne, iſt nötig: daß in ſeiner
Samentaſche der männliche Samen einer Drohnengeneration,
die es bei ſeiner Geburt vorfand, mehrere Jahre lang un¬
verändert lebendig bleibe. Die betreffende Drohnengeneration
iſt ſelbſt vor drei Jahren bereits ganz umgekommen. Bleibt
alſo der Fall: daß Samentierchen — unveränderte, noch
keinen Strich weiter entwickelte Samentierchen ſtrikt als ſolche —
drei ganze Jahre ihren „Mann“, das heißt ihren urſprüng¬
lichen Beſitzer, überlebt haben. Wenn wir der männlichen
Vaterdrohne eine faktiſche Lebensdauer ſelbſt einmal von zwölf
Wochen zugeſtehen (die Ziffer iſt ſchon viel zu hoch, wenn die
Angabe recht hat, daß das wirklich begattende Männchen ſchon
früh an den Folgen des Aktes ſelber ſtirbt) und dieſe doppelte
Veſtalinnenzeit mit einer menſchlichen Lebenszeit etwa von ſechzig
Jahren gleichſetzen, ſo kämen im Verhältnis hier immer noch
Samentierchen heraus, die beim Ende des dritten Königinnen¬
jahres ihre urſprünglichen männlichen Beſitzer um das Zwölf¬
fache überlebt hätten: — wenn der Vater mit ſechzig Jahren
geſtorben iſt, ſo hat ſein Samen als ſolcher noch mit faſt
achthundert Jahren weitergelebt, mehr als ſiebenhundert Jahre
über den Vater hinaus — und das nicht als „Same“ im
bibliſchen Sinne, der ſymboliſch die fortlaufenden Kindergene¬
rationen meint, ſondern im eigentlichſten Wortſinne. Du be¬
greifſt, daß wir hier abermals vor einem der größten Wunder
des ſo unendlich wunderreichen Zeugungslebens ſtehen .....
Das Bienenmärchen ſelber geht mit dieſem letzten Wunder
ſeinem Ende zu. Unter Umſtänden lebt und zeugt eine ſolche
Patriarchenkönigin noch ins fünfte Jahr hinein, womit alſo alle
Ziffern nochmals wachſen. Dann aber (oder meiſtens vorher
ſchon) kommt ſie nun doch endlich zum Ziel, — der uner¬
ſchöpfliche Zauberbrunnen des Lebens verſagt, die Samentaſche
iſt leer und die Kraft der Jungfernzeugung ſtirbt, — da ver¬
fällt endlich auch der eigene Lebensnerv, ..... Ende.
[391]
Laß uns aber noch ein Wörtchen über den Bienenſtaat
philoſophieren.
In dem Ausdruck „Staat“, weißt du, liegt eigentlich eine
gefährliche Quelle von Mißverſtändniſſen. Zumal, wenn du
dich nun auch noch gewöhnt haſt, von einer „Königin“ zu
ſprechen. Es kommt das Phantaſiebild einer beſtimmten Form
des monarchiſchen Staates nach Menſchenart heraus: eine
Königin herrſchend an der Spitze, — in den Drohnen eine
Art fauler Ariſtokratie, — das große Volk aber mehr oder
minder unterdrücktes Arbeiterprolelariat. Das klingt nun
hübſch: die Drohnenabſchlachterei erſcheint ſogar wie die regel¬
rechte Revolution eines zum Berſten eingeengten ſozialen
Standes, und ſo laſſen ſich der Analogieen im Märchen noch
mehr ausmalen. Aber gerade mit ſolcher loſen Analogie ſiehſt
du am wenigſten in den Kern der Sache, ja du ſiehſt, was
die Hauptſache iſt, nicht in das, was man wirklich lehrreich
auf Menſchenverhältniſſe hin aus ſolchem Bienenſtaat folgern
könnte.
Du mußt dir ganz klar bleiben: der Bienenſtaat, magſt
du ihn immerhin einen „Staat“ nennen — (eine ſoziale Ver¬
einigung Vieler zu einer gewiſſen Einheit iſt er ja zweifellos),
baut ſich ſeinem ganzen Weſen nach auf einem einzigen Prinzip
auf: nämlich der Liebe. Er iſt ein „Liebesſtaat“ in des
Wortes verwegenſter Bedeutung. Von einer echten Tyrannis
mit einer abſolut herrſchenden wirklichen Königin kann gar
keine Rede ſein, das ganze Wort „Königin“ iſt nur ein un¬
genaues Bild. Und ebenſo wenig ſind die Drohnen eine
[392] herrſchende, ausbeutende, faulenzende höchſte Kaſte und die
„Arbeiterinnen“ im Sinne ſolcher Kaſten und Sozialſtände aus¬
gebeutete Proletarier.
Die vermeintliche „Königin“ iſt einfach nichts mehr und
nichts minder als das „Weib“ des Staates. Das Weib!
Die vermeintlichen Drohnenariſtokraten ſind die „Männer“ des
Staates. Die Männer! Die vermeintlichen Arbeiterinnen
aber ſind die „Kinderpfleger“ des Staates, die Pflegeeltern,
denen ausſchließlich die Sorge um die jungen Generationen zu¬
fällt; gleichſam als ein Anhängſel dieſer Kinderpflege haben ſie
bloß auch noch die Pflege der wirklichen Eltern — der Drohnen
und der Königin — mit übernommen, ſo daß ſie in Wahrheit
allerdings die ganze Arbeitsleiſtung im Stock mit einziger
Ausnahme des Begattens und Eierlegens auf den Schultern
tragen.
Alſo ein Weib, — Männer, — Kinderpflegerinnen und
Kinder — — du ſiehſt: das Grundelement dieſes Staates
ſind einfach die weſentlichſten Stücke des Begriffs „Familie“.
Dieſer ganze Rieſenklumpen von vielen tauſenden ſozial ver¬
einigten Tieren bildet im innerſten Bau nichts anderes, als
eine einzige ungeheuere Familie. Allerdings: die Details
ſind nun doch höchſt ſeltſam. Sie zeigen dir die Biene aber¬
mals als eine ganz tolle individuelle Experimentatorin hin¬
ſichtlich der großen Sache, die ſich hinter den Worten Liebe,
Ehe, Familie birgt. Eine tollkühne, — aber keine eigentlich
glückliche!
Es thut zunächſt not, daß du dir zur klaren Enträtſelung
einmal einen gewiſſen Ausgangspunkt fixierſt, über den hinweg
experimentiert worden iſt. Erinnere dich alſo an Kellertier
und Spinne. Beides Gliedertierformen, die noch weſentlich
tiefer ſtehen als die Biene und die, wenn ſchon gewiß nicht in
direkter Linie, ſo doch irgendwie und annähernd mit den Ahnen
auch der Bienen zuſammenhängend ſind. Was hatteſt du dort?
Mann. Weib. Kind. Aber keine beſondere „Kinderpflegerin“.
[393] Vielmehr ſaheſt du folgendes. Mann und Weib vereinigen
ſich gelegentlich zu einem Begattungsakt. Der Mann zieht ſich
nach dem Akt zurück, ohne ſich um die Folgen zu kümmern.
Das Weib dagegen bringt jetzt die Jungen hervor und ſorgt
für ihr Wohl, ſo weit es das kann: ſei es, daß es ſie als
Kellerfrau im Bauchbeutel wie ein Känguruh hegt, ſei es, daß
es, wie die Spinne, wenigſtens ein ſicheres Eierneſt baut und
bis zu ſeinem eigenen herbſtlichen Lebensende als treue Ver¬
teidigerin bewacht. Alſo die Kinderpflegerin iſt ideell doch
da, — aber ſie fällt einfach zuſammen mit dem Weibe,
mit der Mutter.
Wir haben in einem fremden, aber innerlich ähnlichen
Falle, beim Stichling, geſehen, daß auch der Vater gelegentlich
die Kinderpflege übernehmen kann, und ich habe dir angedeutet,
was von hier aus im höheren Sinne alles für die Ehe ſich
folgern ließ. Doch das geht uns hier nichts an. Wir ver¬
folgen den Weg jetzt erſt noch einmal einſeitig über Spinne
und Kellertier und ſehen, was die Biene aus dem Prinzip
gemacht hat.
Ganz offenbar ging die Biene von dem dort üblichen
Prinzip gleichſam wie einem Urprogramm aus. Die Drohne,
der Bienenmann, bekümmert ſich ja auch bei ihr abſolut nicht
um die Kinderpflege. Alſo von Stichlingverhältniſſen oder gar
von noch höheren, wo beide Eltern ſich der Kinderpflege
widmen, iſt keine Rede. Auch hier ſteht die Kinderpflege aus¬
ſchließlich beim Weibe. Du haſt ja geſehen: auch die Veſtalin
war urſprünglich ein „Weib“, wenn ſchon ein verkümmertes.
Aber dabei das ganz Merkwürdige doch: dieſe Veſtalin pflegt
nicht ihre eigenen Kinder, ſondern die der Königin. Du haſt
eben einfach zweierlei Sorten Weiber hier.
Das eine Weib — die Königin — iſt Mutter bloß im
Sinne, daß es ſich begatten läßt und Eier legt. Das andere
Weib — die Veſtalin — iſt Mutter umgekehrt bloß in dem
Sinne, daß es jene von dem anderen Weibe realiter gelegten
[394] Eier und Jungen pflegt. Geradezu: was das Spinnenweib
in ſich als einer und derſelben Perſon vereinigte: liebende und
gebärende Gattin und pflegende Mutter, — das erſcheint hier
auseinander geriſſen in zwei Perſonen, in eine „liebende und
gebärende Gattin“, — die Königin — und eine „pflegende
Mutter“ — die Veſtalin.
Dieſe einfache Thatſache iſt nun offenbar der Schlüſſel
des ganzen Bienenſtaates. Bei der Spinne und dem Keller¬
tier haſt du zunächſt zwei Perſonen mit einer gewiſſen Arbeits¬
teilung innerhalb der Liebe. Hier den Mann mit dem Samen.
Dort das Weib mit den Eiern. Die Mutterliebe kam dann
darüber hinaus als einſeitige Extraarbeit noch bloß dem
Weibe zu. Bei der Biene haſt du jene erſte Arbeitsteilung
voll fortbeſtehend in Drohne und Königin. Dann aber haſt
du hier noch eine neue Arbeitsteilung innerhalb der weib¬
lichen Seite: — jene „Extraarbeit“ des Weibes als Pflegerin
ihrer Kinder wird einer Art von Sekundärweib aufgepackt, das
ganz in dieſer Arbeit aufgeht, — es ſchiebt ſich in die Reihe
der Typus der unbegatteten und für gewöhnlich ſelbſt niemals
eierlegenden Veſtalin, die aber in der Pflege der fremden Brut
ſich aufopfert bis zum letzten Stäubchen ihrer Kraft.
Du ſiehſt jetzt, was im Bienenſtaat als Entſcheidendes
geleiſtet iſt, nicht wahr? Da drängen ſich aber ſogleich zwei
weitere Fragen zu. Erſtens: wie konnte ſo was werden?
Und zweitens: ob's nun ſehr nützlich und fortſchrittlich war,
daß es ſo wurde?
Die erſte Frage iſt wahrſcheinlich ſofort beantwortet, wenn
du dich erinnerſt, wie im vorhandenen Bienenſtock noch heute
Veſtalinnen entſtehen. Jede Veſtalin iſt der eigentlichen Natur¬
anlage nach ein echtes Weib. Sie iſt nur in ihrer Ge¬
ſchlechtsgegend verkümmert. Dieſe Verkümmerung aber iſt, wie du
geſehen haſt, nicht ein angeborener organiſcher Fehler, ſondern
ſie iſt ein Produkt mangelhafter Ernährung im Säuglingszuſtand.
Das läßt geſchichtlich ſehr tief blicken. Denke dir folgendes.
[395]
Es war einmal eine Urbiene, die hatte die bei Inſekten
nicht weiter wunderbare Eigenſchaft, auf Grund einer Begattung
(und obendrein etwa noch durch die beſondere, im Inſekten¬
ſtamm für ſich wieder angelegte wunderbare Gabe der Jungfern¬
zeugung ſogar ohne Begattung) ungeheure Maſſen von Eiern
zu legen. Die aus den Eiern kriechenden Lärvchen brauchten
nun ein gewiſſes Maß guter Pflege. Die alte Biene beſaß
auch Muttergefühle genug, ſie ſchleppte Nahrung, was das Zeug
halten wollte.
Aber da war nun doch ein fatales Plus.
Ihre Zeugungskraft ging weit über ihre Pflegekraft. Der
Mann half nicht mit, — was thun? Es war ſelbſt bei
höchſtem Eifer unmöglich, alle die hungernden Mäuler genügend
zu ſtopfen. Nach einer Weile kroch eine erſte Rate junger
Bienlein aus. Aber o Graus! Die ungenügende Fütterung
hatte ſie verkümmern laſſen. Ihre Geſchlechtsteile waren zur
Begattung völlig ungeeignet geworden. Ewig ſchienen ſie der
eigenen Gattenliebe verſchloſſen. Da ſaßen ſie nun, arme
Jüngferchen. Wohin mit ihnen? Aber ſie ſahen die alte
Mutter, die ja noch Wickelkinder die ſchwere Menge liegen
hatte und ſich abrackerte, denen zu helfen. Aller eigenen Liebes¬
ſehnſucht bar, machten ſich die Jüngferchen daran, der Alten
zu helfen. Sie trugen auch Nahrung an. Sei es, daß es
bloß Nachahmung war. Sei es, daß die doch auch ihnen
innerlich vererbten Muttergefühle erwachten, ob's ſchon nicht
ihre Kinder waren, die ſie fütterten. Genug: — ſie entlaſteten
die Alte, halfen überall — viele, wie ſie waren, — energiſch
nach und bewirkten ſchließlich, daß doch auch noch neben manchem
verkümmerten endlich wieder genügend viele unverkümmerte,
geſchlechtsfähige Bienlein zur Reife gelangten, womit die Fort¬
dauer der Art geſichert war.
Nicht wahr: von hier bis zu dem vollkommenen „Bienen¬
ſtaat“ iſt noch ein gewiſſer Schritt. Aber du begreifſt gleich¬
wohl, daß von hier die Dinge in langem Verlauf etwa ſo
[396]werden konnten. Du ahnſt mindeſtens, daß das „Zweierlei“
von zeugender Königin und bloß pflegender Veſtalin urſprüng¬
lich einmal möglich wurde.
Intereſſant genug: ich erzähle dir dabei nicht einfach ins
Blaue hinein. Bei Verwandten der Biene, die zwar ſchon in
größeren Familien, aber noch nicht annähernd in ſolchen rieſigen
Staaten leben, — bei Hummeln und vor allem Weſpen, —
findeſt du heute noch gewiſſe Stufen jenes Entwickelungsprozeſſes
einmal wieder gleichſam lebendig verſteinert vor, — das heißt:
heute noch allgemein als Normalſtand in Brauch. Da ſiehſt
du ein abſolut entwickeltes, echtes Weſpenweibchen, vergleichbar
einer Bienenkönigin, das im Herbſt ſich hat von einem Manne
begatten laſſen und das dann allein überwintert iſt. Im
Frühling legt es eine erſte Schicht Eier, es entſtehen Lärvchen,
und die Alte füttert, ſo gut ſie kann. Natürlich bei der Menge
mangelhaft! Es entſtehen aus den Eiern neue Weibchen, die
aber mindeſtens in der Größe etwas verkümmertes an ſich
haben. Klein, wie ſie ſind, und von allen Drohnen fern um
dieſe Zeit, kommen dieſe erſtgeborenen Weibchen zu keiner
Begattung: dagegen greifen ſie alsbald lebhaft bei der weiteren
Larvenpäppelung mit ein, — ſie nehmen der alten Eierlegerin
die Mühe des Nahrungsholens ab und päppeln ſchließlich regel¬
rechte große Weibchen wieder aus ſpäteren Larven gegen den
Herbſt zu heraus. Dieſe richtigen Weiber finden dann wieder
ihre Drohnen, die inzwiſchen von beiden Parteien, von der
alten Stammmutter neben ihrer ſonſtigen Eierlegerei und von
den Kümmerweiber noch gelegentlich wieder extra, per Par¬
thenogeneſis im früher beſchriebenen Sinne in die Welt geſetzt
worden ſind. Sie begatten ſich, überwintern und fangen die
Hiſtoria im grünen Lenz luſtig wieder von vorne an. Sicher¬
lich ſiehſt du hier in die Brücke.
Laß die kleine Zahl jetzt zur Rieſenmaſſe ſchwellen. Laß
alles ſich ſtarr regeln. Die Eierlegekraft des Ur-, Erz- und
Oberweibes, — der regelrechten „Königin“, — wachſe ins
[397] Ungeheuerliche. Die Veſtalinnen ſollen ſich in einer Kette von
Generationen zunächſt immer wiederholen, damit die Neu¬
entſtehung von befruchtungsfähigen Neuköniginnen möglichſt
über die drohnenloſe Herbſt- und Winterszeit hinaus verzettelt
werde bis in den Frühling. Da die „Königin“ auch für die
Jungfernzeugung (alſo Männerproduktion) genügt, ſoll auch
dieſe bei den Veſtalinnen als Regel eingehen und nur für den
Notfall als latente „Kraft“ beſtehen bleiben. Das Schickſal
der Männer im Stamme ſoll ſich endlich auch nach beſtimmten
Prinzip regeln: ſie ſollen, anſtatt ſonſt ruhmlos im Weiten ſich
zu verlieren, noch eine Weile das Gnadenbrot behalten, um
allerdings dann um ſo ſchonungsloſer der Vernichtung in öffent¬
licher Metzelei zu verfallen. Eines Tages haſt du den Bienen¬
ſtaat. Nun laß den Menſchen noch gute Häuslein bieten .....
du biſt am Ziel.
Bliebe die zweite Frage. Es iſt ein intereſſanter Fall,
ganz gewiß, dieſer mit der Biene. Aber nun fragt ſich: ſteckte
hier wirklich ein Fortſchrittsprinzip? Unwillkürlich wird man
verführt zu glauben, hier müſſe ein wirklicher großer Fort¬
ſchritt liegen, weil eine ſo große ſoziale Einigung auf den
erſten Blick ſich aufdrängt.
Es iſt keine Einigung nach dem alten Siphonophoren¬
prinzip. Du erinnerſt dich: die Quallen, die wie ein Ratten¬
könig zu einer Art Übertier verwuchſen. Ich ging damals
nicht weiter darauf ein, dieſes ſiphonophoriſche Übertier zu
kritiſieren. Es war gebaut auf völlige Arbeitsteilung. Ganze
Tierindividuen wurden wieder zu „Organen“, — dieſe zu
Mägen mit Mäulern, jene zu Schwimmglocken und ſo weiter.
In der ganzen höheren Tierwelt oberhalb der Würmer iſt
etwas derartiges nun nicht möglich geworden. Das muß ſeinen
guten Grund gehabt haben. Und man ſieht ihn leicht genug.
Er liegt in der zunehmenden Individualiſierung. Je feſter die
Individuen, deſto ſchwerer, ja ſchließlich unmöglich dieſe Art
der ſozialen Einigung durch körperliches Zuſammenwachſen.
[398] Du haſt geſehen, wie gerade im Geſchlechtsleben noch der
Konflikt herüber- und hinüberwogte. Umſonſt. Auch hier
brach die Individualiſierung ſich Bahn. Nur kein dauerndes
Verwachſen, — jedes Individuum für ſich und frei. Aller¬
dings: dieſe Freiheit ſchloß nicht im Prinzip den Begriff
„ſozial“ für alle Ewigkeit als ſolchen aus. Aus den in ſich
geſchloſſenen, „freien“ Individuen konnten neue, höher orga¬
niſierte Sozialverbände abermals entſtehen. Aber in ganz
anderer, freierer Form. Sie ſind entſtanden. Denke nur an
die einfache Ehe. Aber noch weiter. Wir Menſchen ſind nach
jeder Richtung das beſte Beiſpiel, — das Beiſpiel, das gleich¬
ſam zu den Sternen glänzt. Aber das war dann wirklich
höheres Stockwerk, — ganz und gar nicht mehr nach Siphono¬
phorenart, ohne körperliches Zuſammenwachſen. Auch ſo ent¬
hielt es noch viel Unterdrückung, — gerade wir Menſchen in
unſerer Sozialgeſchichte wiſſen das ja am beſten. Da mußte
ſich auch ſo noch viel abſchleifen und muß es heute noch, —
Gott ſei's geklagt, wie viel .....
Doch wir gehen zur Biene zurück. Alſo ich ſagte: zum
Siphonophorenſtaat iſt auch ſie ganz gewiß nicht zurückgekehrt.
Das konnte ſie einfach nicht. Bienenindividuen, zu Tauſenden
miteinander verwachſend, — das gab's nicht mehr. Aber iſt
darum nun von ihr ſchon der Weg gefunden worden gegen
jene höhere, freiere ſoziale Einigung hin? Mit dieſem „Staat“
von ſo viel tauſend Individuen? Man muß ſagen: nein!
Der Bienenſtaat arbeitet mit ſo und ſo viel tauſend „Indi¬
viduen“, ohne jede Verwachſerei im Siphonophorenſinne. Und
doch enthält er innerlich einen Rückſchritt.
Der Bienenſtaat ſetzte — und hier liegt ſeine Kühnheit,
wie ſeine Tragik — an der Geſchlechtsecke ein. An jener Ecke,
wo im Ganzen der Tierentwickelung die Ehe im höheren
Sinne ſich herausentwickelt hat. Viel ſpäter, beim Menſchen,
ſollte dieſe Ehe von außerordentlicher Bedeutung werden in
der Linie zur Staatsentwickelung. Aber die Biene begann mit
[399] der Staatenbildung auf einer Stufe, wo jene Eheentwickelung
ſelber noch durchaus nicht geklärt war. Und das war ihr
Verhängnis.
Der Bienenſtaat ging aus von der feſten Individualiſierung
von Mann und Weib. Dieſes Prinzip hat er ſich treu bewahrt.
Aber er hat ſelbſt nicht den geringſten Anlauf genommen, es
zu vertiefen. Die Begattung führt Mann und Weib auf einen
Moment zuſammen. Das iſt die ganze „Ehe“. Ohne Fre߬
inſtinkte, aber ſonſt ganz wie bei der Spinne. Die ganzen
Elterngefühle bleiben auf der Weiberſeite. Der Mann, die
Drohne, behält einen belangloſen, am eigentlichen Gattungs¬
leben nur momentweiſe beteiligten Charakter. Faul und zweck¬
los verbringt er vielfach ſein ganzes Leben, ſein gewaltſames
Ende iſt dann nicht viel minder erbärmlich als das des
Spinnerichs, der von der größeren Spinne gefreſſen wird; dieſe
Erbärmlichkeit iſt ſogar bei ihm die Regel. Alſo hier gar kein
Fortſchritt, eher ſchon ein Herabgang.
Nun aber beim Weibe. Das Weib erſcheint als Doppel¬
individuum: Königin hier, Veſtalin dort. Siehſt du näher zu,
ſo hat aber bei dem Verdoppeln jedes der beiden Individuen
eine ſchwere Einbuße erlitten. Das eine, die Königin, hat
ſeine Muttergefühle vollkommen eingebüßt. Gerade hier lag
aber ein rieſiger geiſtiger Fortſchritt. Und es iſt auch ſonſt
unfrei geworden, bedarf beiſpielsweiſe fremder Fütterung. Um¬
gekehrt die Veſtalin aber hat das ganze edelſte Geſchlechtsleben
verloren, ſie iſt überhaupt aus dem Geſichtskreis der höheren
Genoſſenſchaft „Mann und Weib“ gerückt, ſie kennt den Mann
nur noch als faulen Gaſt, den man gelegentlich tot ſchlägt,
ihre Lebensdauer iſt verkürzt, — kurz, Einbuße über Einbuße.
Summa: doch ein Verarmen des Individuums nach jeder
Richtung. Arm die Drohne. Arm die Königin. Unendlich
arm die Veſtalin. Dieſer ganze Liebesſtaat ein Holzweg.
Mit ſeinen ungeheuren, für ſolche Inſekten ganz ſicherlich un¬
geheuren ſozialen Inſtitutionen ganz aufgebaut auf dem Ge¬
[400] ſchlechtsleben, der Fortpflanzung, — der Liebe: und doch ein
Rückſchritt gerade in dieſer Liebe, — in der Geiſtesleiter
innerhalb dieſer Liebe.
Das iſt lehrreich weit über das Bienlein im Heidekraut
hinaus. Wenn auch durchaus kein Staat im gangbaren menſch¬
lichen Sinne, ſo iſt der Bienenſtaat doch ein ganz famoſes
Exempel deſſen, was man „Verſtaatlichung der Geſchlechtsver¬
hältniſſe“ nennen könnte. Aber er iſt zugleich ein böſes Exempel.
Aus vielen Tauſenden von einzelnen Liebesindividuen ſchmiedet
er eine an ſich gewiß höchſt kunſtvolle einheitliche Genoſſen¬
ſchaft. Aber indem er eine in ſich mangelhafte Liebesmethode
dabei als Fundament ſetzt, baut er, anſtatt dem beweglichen
Fortſchritt eine wahre Gaſſe zu bahnen, einen rieſigen Kerker
auf, deſſen kriſtallſcharfe Form gleichſam äſthetiſch etwas Be¬
rückendes hat, in dem aber das Individuum und ſeine auf¬
wärts weiſende Lichtbahn aufs jammervollſte geknebelt liegen.
Es ragt hier etwas wie eine Warnungstafel. Auf der einen
Seite die großen, unverkennbar großen Vorteile einer ſozialen
Einigung, einer rieſigen Schutzgenoſſenſchaft, wo jedes Indivi¬
duum einen Anhalt an viel tauſend anderen hat und im
Einzelnen die glücklichſten Arbeitsteilungen im Lebenshaushalt
möglich werden. Auf der anderen Seite aber die ſchwere Ge¬
fahr, daß gewiſſe Inſtitutionen, zum Beiſpiel hier eine noch
ganz mangelhafte und rohe Regelung der Geſchlechtsverhält¬
niſſe, zur Staatsraiſon erhoben werden, damit ihre innere
Beweglichkeit zur Fortentwickelung verlieren und ſchließlich wie
ein verſteinerter Klotz ſeelenlos über den Genoſſen des Ver¬
bandes liegen, alles quetſchend und lähmend.
Die Biene ſelbſt hat jedenfalls keinen Ausweg mehr über
über ihre eigene Liebespagode gefunden. In ihr und an ihr
iſt ſie abſolut verſteint, — ewig ſtehen geblieben. Und es war
in gewiſſem Sinne offenbar der Gipfel des ganzen Gliedertier¬
ſtammes, der in ähnlichen „Staatenbildungen“ wider ein hartes
Gewölbe ſtieß und ſich feſtrannte.
[401]
Neben dem Bienenſtaat ſtehen noch zwei ausgeſprochen
große Anläufe der Inſektenwelt zum Staatsbau. Beide mehr
oder minder ebenfalls „Liebesſtaaten“. Und beide als ſolche
ebenſo unfruchtbar.
Der eine iſt der Ameiſenſtaat. Im Gegenſatz zum Bienen¬
ſtaat fehlt ihm auch der letzte Schein monarchiſcher Verfaſſung.
Im übrigen wie dort dreierlei Staatsbürger: Männchen,
Weibchen und im Geſchlecht abſolut verkümmerte „Arbeiter“.
Oft teilen ſich die Arbeiter noch wieder in echte kinderpflegende
Arbeiter und großköpfige, wehrhafte Soldaten. Doch das iſt
für die Liebesfrage nebenſächlich. Es bleibt auch hier der
ganz grelle Kontraſt der Individuen. Männchen, deren ganze
Kulturaufgabe (und du ſtehſt mit ſolchem Inſektenſtaat ſchon
in einer gewiſſen „Kultur“, zweifellos) ſich auf den einen
Begattungsmoment konzentriert, und Weibchen, die ſchlechter¬
dings nichts thun als ſich begatten laſſen und Eier legen.
Schließlich doch ein Haremsdaſein für beide Parteien. Und
die ganze eigentliche Staatsarbeit in der Hand von lebens¬
länglichen natürlichen Eunuchen, denen die Liebe eine abſolut
fremde Welt bleibt.
Der zweite Fall iſt der Staat der ſogenannten Termiten.
Du kennſt die ſchwarzen Geſellen in deiner Speiſenkammer, die
man Kakerlaken, Schwaben oder Ruſſen nennt. Die Hausfrau
pflegt ſie für „Käfer“ zu halten. Aber es ſind keine Käfer,
wenn ſie auch Inſekten gleich dieſen ſind. Sie bilden eine
Inſektengruppe, die den Ohrwürmern und Heuſchrecken näher
ſteht als den Käfern. Neben dieſen Schwaben magſt du dir
jetzt auch die Termiten einreihen, ameiſenähnliche Tiere, die
doch ſo wenig Ameiſen ſind, wie die Schwaben Käfer. Du
haſt von den Termitenbauten der Tropen gehört, Koloſſen, wie
ſie keine Ameiſe je baut. Hier hauſt der Termitenſtaat. Und
wieder iſt's ein Liebesſtaat. Begattende Männchen. Eine eier¬
legende „Königin“, die in der Vollkraft, wenn ſie von Eiern
ſtrotzt, wie eine kleine Kartoffel ſchwillt. Und zweierlei abſolut
26[402] geſchlechtsunfähige Kümmer-Individuen, die den eigentlichen
Stamm des Staates abgeben als „Arbeiter“ und „Soldaten“.
Haremstum, Eunuchentum hier wie dort. Eine Sackgaſſe der
Liebesentwickelung — und das in allen drei Fällen, bei Ter¬
mite, Ameiſe und Biene, an der Spitze der Intelligenz des
ganzen Gliedertierſtammes.
Es war eben nichts mit dieſem Stamm.
Nicht das Gliedertier: — das Wirbeltier ſollte die Welt
aus den Angeln heben. Das Wirbeltier, das zum Menſchen
ſich erhob.
Doch da beginnt ein neues Lied .....
Ende.
Appendix A
Eugen Diederichs
Florenz und Leipzig
Verlag für moderne Bestrebungen
in Litteratur, Sozialwissenschaft
und Naturwissenschaft
Zu unſeren Dichtern, deren Werke die Weltlitteratur
zieren müſſen, gehörtFerdinand Avenarius. Seine
Kunſt hat die alles überdauernde Natur, die Einfachheit der
großen Natur, die das Gewaltigſte und Feinſte, den Welten¬
donner und das Kindesſtammeln, mit den ſchlichteſten, nur ihr
eigenen Mitteln giebt. Eine Natur, die uns ſo ſelbſtverſtändlich
iſt wie der Schlag des Herzens und doch wie dieſes ein heiligſtes
Kunſtwerk. M.Vittrich(Freiburger Zeitung).
VonFerdinand Avenarius,
dem Herausgeber desKunſtwarterſchien:
Lebe. 3. Auflage, br. Mk. 2.–; eleg. geb. Mk. 3.–.
Gerhard Heine (Wahrheit): Wir haben eine große Dichtung vor uns, faſt
möchte ich ſagen, zu groß für eine Epigonenzeit. Groß in der Macht und Eigenart
der Form. Groß ſodann durch ihren tief innerlichen, ſittlichen Inhalt und modern
zugleich durch die eindringende Seelenſchilderung.
Stimmen und Bilder. Mit Buchſchmuck von J. V. Ciſſarz, br. Mk. 3.–;
eleg. geb. Mk. 4.–.
Mitteldeutſche Morgen-Zeitung: Es iſt etwas Großes, eigenartig Ge¬
waltiges, was in dieſen Gedichten Geſtalt gewonnen hat; es iſt der Widerſchein aus
einer Seele, die groß und tief und ernſt genug iſt, das große Rätſel des Lebens
aufzunehmen; und lebendig und kräftig, um es in großen Bildern und Stimmungen
zu geſtalten.
Wandern und Werden. Erſte Gedichte. Zweite gänzlich veränderte
Auflage. Mit Buchſchmuck von J. V. Ciſſarz. br. M. 3.–; eleg.
geb. Mk. 4.–.
Prof. Klee (Bautzener Nachrichten); Wer die Lyrik Mörikes, Storms,
Greifs in ihrer Ureigentümlichteit verſteht und genießt, der wird auch an dieſen
Liedern und Rhythmen ſeine helle Freude haben; denn Avenarius iſt ein Dichter.
Wer aber blumenreiche Rhetorik für Poeſie hält, der bleibe ihnen fern.
Kinder von Woldorf. 2. Auflage. eleg. kart. M. 1.50.
Deutſches Litteraturblatt: Ein unbeſchreiblicher Hauch der Unſchuld
und des Gottesfriedens weht um dieſe Kinder von Wohldorf.
Richard Batka, Musikalische Streifzüge. Eſſays. br. M. 4.–.
Der Verfaſſer iſt als Herausgeber einer muſikaliſchen Zeitſchrift und verſchiedener
Muſikerbiographien allen Muſikern wohl bekannt.
[]
Verlag Eugen Diederichs, Florenz und Leipzig.
Hans Blum, Die deutſche Revolution 1848–49. Eine Jubiläums¬
gabe für das deutſche Volk. 10–13. Tauſend. Mit 256 hoch¬
intereſſanten, zeitgenöſſiſchen Fakſimilebeilagen, Karikaturen, Porträts
und Illuſtrationen. br. Mk. 10.– ; geb. Mk. 12.–.
Rudolf von Bennigſen, der bekannte Parlamentarier, ſchrieb an den Ver¬
faſſer: „Nachdem ich das neueſte Werk Ihrer Feder über die deutſche Revolution 1848
vollſtändig durchgeleſen habe, drängt es mich, Ihnen meinen beſten Dank für das
Werk ſelbſt auszuſprechen. Sie haben es in der That in einer ſehr glücklichen Weiſe
verſtanden, die große nationale Bewegung und ihr Scheitern unbefangen, gerecht
und dazu höchſt anſchaulich und lebendig zu ſchildern, ſodas Vernunft und Aberwitz,
Edles und Unſauberes in dieſem erſten gewaltigen Ringen um unſeren Nationalſtaat
voll zur Geltung kommen ... In Erinnerung an unſere gemeinſame Thätigkeit im
Reichstage Ihr aufrichtig ergebener R. v. Bennigſen.“
Wilhelm Bölsche, Das Liebesleben in der Natur. Eine Ent¬
wicklungsgeſchichte der Liebe. Mit Buchſchmuck von Müller-
Schönefeld. 1.–4. Tauſend. 1. Folge. br. Mk. 5.–.
Das Werk behandelt naturwiſſenſchaftlich, philoſophiſch und poetiſch ein bisher
totgeſchwiegenes Thema. Es iſt voll gewaltiger Geſichtspunkte und kann man es als
einen Überblick über die Reſultate der bisherigen Naturwiſſenſchaft bezeichnen und
nach der philoſophiſchen Seite hin als eine Ergänzung zu den Dialogen Platos.
Hugo Böttger, Geſchichte und Kritik des neuen Handwerker¬
geſetzes vom 26. Juli 1897. Mit 19 Tabellen und einer Anlage:
Vergleichende Gegenüberſtellung des Regierungsentwurfs und des
endgiltigen Geſetzes. br. Mk. 5.–; geb. Mk. 6.–.
Deutſcher Reichsanzeiger: Die anregende Schilderung enthält eine Fülle
von Thatſachen- und Zahlenmaterial; ihre Lektüre iſt jedem anzuraten, welcher der
Mühe enthoben ſein will, dieſes Material aus den mancherlei zum Teil weitläufigen
Publikationen zu ſammeln und zu ſichten.
Carl Otto Erdmann. Alltägliches und Neues. Eſſays.
br. Mk. 5.–; geb. M. 6.50.
Deutſche Zeitung, herausgegeben von Fr. Lange: Das Buch hat ein Kopf
geſchrieben, ein ruhiger, heller, klarer, kluger Kopf, der bei Rudolf Ihering in die
Schule gegangen iſt und von Herbert Spencer das unbarmherzige naturwiſſenſchaft¬
liche Denken gelernt hat. Sein Buch verſchmäht deshalb auch alles Geiſtreiche,
wenigſtens was man im landläufigen Sprachgebrauche ſo zu nennen pflegt, ſucht
immer bloß nach der ſchlichten Wahrheit und Klarheit der Thatſachen, aber es lohen
dafür deſto reichlicher gewiſſe Silberblicke des Gedankens, wie ſie nur ein großer
und freier Geiſt eröffnen kann.
Als Sonderabdruck erſchien daraus:
Carl Otto Erdmann, Das monarchische Gefühl. 1.–5. Tau¬
ſend. Mk. 0.50.
Dieſe Broſchüre iſt kein Geſchwätz, ſondern eine wertvolle Arbeit mit neuen
Geſichtspunkten.
Julius Hart, Der neue Gott. Ein Ausblick auf das kommende
Jahrhundert. Mit Kopfleiſten von W. Caſpari. br. Mk. 5.–.
Das Werk eröffnet die Serie „Zukunftsland“. Es folgen noch die Bände:
„Die neue Erde“ und „Die neue Kunſt“. Julius Hart, der Bahnbrecher der modernen
Litteraturbewegung, der bekannte Kritiker der „Täglichen Rundſchau“, der Verfaſſer
der „Geſchichte der Weltlitteratur“ ſchrieb mit dieſem Buch ein revolutionäres Werk,
in dem neue Weltanſchauungen aufgeſtellt werden.
[]
Verlag Eugen Diederichs, Florenz und Leipzig
Julius Hart, Triumph des Lebens. Mit Buchſchmuck von Fidus.
br. Mk. 3.– ; geb. 4.–.
Tägliche Rundſchau: Aus all dem grenzenlos Trüben, Verzweifelten des
aufs Tiefſte durchſchütterten Gemüts ſteigt eine große, reine Harmonie.
Julius Hart, Stimmen in der Nacht. Visionen. Mit Buchſchmuck
von B. Pankok. br. Mk. 3.– ; geb. 4.–.
Hamburger Fremdenblatt: Dieſe Novellen ſind ohne Zweifel ganz
wunderbare und eigenartige künſtleriſche Erzeugniſſe, ſie enthalten Charakterzeich¬
nungen, denen man Größe zuſprechen muß und eine tiefe Naturſymbolik. Mit
Böcklin und — Ibſen hat Julius Hart das Streben gemeinſam, für das Dunkle,
das nur in Ahnungen, Gefühlen und blitzartigem geiſtigen Schauen lebt, Worte und
Bilder zu erſinnen. Wie der phantaſtiſche Böcklin und der trockene Ibſen ſchafft
auch er neue Werte.
Jens Peter Jacobsen, Gesammelte Werke. Aus dem Däniſchen
von Marie Herzfeld und Dr. Robert F. Arnold. Mit Buch¬
ſchmuck von H. Vogeler-Worpswede und Müller-Schönefeld.
Band I. Einleitung, Novellen, Gedichte, Fragmente, Briefwechsel.
" II. Marie Grubbe.
" III. Nils Lyhne.
Jeder Band br. Mk. 3.–, eleg. geb. Mk. 4.–.
Über Jens Peter Jacobſen urteilte der bekannte Litterarhiſtoriker Georg
Brandes, Kopenhagen: „Er iſt der größte Koloriſt der Jetztzeit-Proſa. Entſchieden
iſt in der nordiſchen Litteratur niemals ſo mit Worten gemalt worden, wie er es
thut. Seine Sprache iſt farbenſatt. Sein Stil iſt Farbenübereinſtimmung. Und er
iſt der ſeelenvollſte und meiſt dichteriſche Sonderling unſerer Proſa. Alles, was er
ſieht, wird zur Sonderheit, alles, was er ſchreibt, bekommt ein Sondergepräge. Er
iſt eigentümlich in der Form bis zur Manieriertheit, er iſt innig im Ton bis zur
Krankhaftigkeit. Alles iſt verdichtet, zuſammengedrängt, ohne Füllung oder Zwiſchen¬
raum, „zwei Welten“ auf zehn Seiten. Jeder Tropfen, den man aus dem ſtillen
Born ſeiner Sprache auffängt, iſt ſchwer, ſtark wie ein Tropfen Elixier oder Gift,
duftend wie ein Tropfen köſtlicher Eſſenz. In ſeinem Vortrag liegt etwas Beſtrickendes,
Berauſchendes.Es iſt der ſtärkſte Stimmungstrank, der in unſerer Proſa gebraut worden.“
M. Maeterlinck, Schatz der Armen. Aus dem Franzöſiſchen
von v. Oppeln-Bronikowski. Mit Buchausſtattung von Melchior
Lechter. br. Mk. 6.—.
Maeterlinck giebt die moderne Seele, ein Buch für Grübler und in ſich gekehrte
Naturen. Die Ausſtattung, gewiſſermaßen ein mittelalterliches Gebetbuch in modernen
Formen, iſt für jeden Kunſtfreund von Intereſſe.
Müller-Rastatt, In die Nacht. Ein Dichterleben. br. Mk. 2.50,
geb. Mk. 3.50.
Ein wahres Hausbuch und veredelndes Geſchenk für junge Mädchen. Die
Jugendliebe Hölderlins, des unglücklichen, im Wahnſinn geſtorbenen Dichters,
ſteht wie leibhaftig vor unſern Augen, ein echtes Kind des kerntüchtigen, ſchwäbiſchen
Volksſtammes, deren Lebensglück beinahe an dem krankhaften Weſen des Jünglings
ſcheiterte. Der Verfaſſer hat eingehend den Nachlaß Hölderlins durchgearbeitet,
Wahrheit und Dichtung haben ſich zu einem feſſelnden Lebensbild verknüpft.
[]
Verlag Eugen Diederichs, Florenz und Leipzig
Novalis, Gesammelte Werke. 3 Bände. Herausgegeben von
C. Meißner. Mit Einleitung von Julius Hart. geb. Mk. 7.50.
Die erſte vollſtändige Novalis-Ausgabe. Nachdem Maeterlinck die Aufmerk¬
ſamkeit in Frankreich auf Novalis gelenkt hatte und ſeitdem dort eine ganze
litterariſche Richtung, die Neuromantik, an ihn anknüpft, beginnt er auch wieder in
Deutſchland das Intereſſe eines jeden Litteraturfreundes zu finden.
Karl Söhle, Musikanten-Geschichten. Mit Buchſchmuck von
J. V. Ciſſarz. br. Mk. 2.50, geb. Mk. 3.50.
Deutſche Zeitung, herausgegeben von Fr. Lange: Glaube mir ja
niemand, daß ihm hier pikante Liebesgeſchichten mähnenumflatterter Klavierakrobaten
oder anmutige Lügen von weltumſegelnden Wunderkindern oder tolle Hiſtörchen von
lyriſchen Tenören und anderen Genies aufgetiſcht werden! Nein! Hier haben wir
ein einfaches, herziges, herrliches Buch: das Werk eines innigen, ſonnigen, durch
und durch heimatlich deutſchen Empfindens. Fünf „Geſchichten“ ſind es, oder eigent¬
lich keine.
Karl Spitteler, Lachende Wahrheiten. Eſſays. br. Mk. 4.20,
geb. Mk. 5.–.
Norddeutſche Allgemeine Zeitung: Das vorliegende Buch iſt aufs
beſte geeignet, auch bei uns in Deutſchland die Aufmerkſamkeit auf dieſen klaren und
einſichtsvollen Geiſt zu lenken, der mit ſo geſunden Augen in das Leben blickt und
Bitteres lachenden Mundes, ohne geiſtreiche Pikanterieen und blendende Antitheſen,
dabei aber doch in packender und glänzender Rede vorzubringen weiß. Geſundheit
der Weltanſchauung, Vornehmheit des Auftretens, Eigenart der Auffaſſung — drei
ſeltene Vorzüge in heutiger Zeit, wo Verſtandesſchärfe nicht immer mit ethiſcher
Lauterkeit Hand in Hand geht, wo die ſogenannte Eigenart der Auffaſſung nicht
ſelten kein Zeichen von Charakter, ſondern eitle Renommage iſt und die eigene
Meinung nur darin beſteht, ſtets eine andere Meinung als die anderen zu haben.
E. R. Weiss, Eleanor, eine Liebe. kart. Mk. 3.–.
E. R. Weiss, Die blassen Cantilenen. Auf japaniſchem Papier
Mk. 3.–.
Die Dichtungen des Malers E. R. Weiß wenden ſich nur an künſtleriſch
empfindende moderne Menſchen, an ſenſitive Naturen. Während „Eleanor“ eine
Dante's Beatrice ähnliche Geſtalt ſchildert, geben „Die blaſſen Cantilenen“ die
Stimmungen eines Novemberparkes.
Im Kommiſſionsverlag erſchien:
G. Gamper, cello. Dichtungen in Poeſie und Proſa. br. 2.–.
Für dieſes Werk erhielt der junge Maler ein Stipendium zum Beſuch der
Bayreuther Feſtſpiele.
Appendix B
Spamerſche Buchdruckerei, Leipzig.
[][][]
- Rechtsinhaber*in
- Kolimo+
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2025). Collection 1. Das Liebesleben in der Natur. Das Liebesleben in der Natur. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bj16.0