Eine Auswahl der besten modernen Romane aller Völker.
Verlag von J. Engelhorn.
1899.
Alle Rechte, namentlich das Uebersetzungsrecht, vorbehalten.
Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart.
Ihrer Durchlaucht
der Frau
Prinzessin Marie von Thurn-Taxis
geb. Prinzessin zu Hohenlohe
in herzlicher Verehrung zugeeignet.
Bonrepos, 14. August 1898.
Erstes Kapitel.
[5]Der Oberst des 32. Dragonerregiments, Baron Stahl, war soeben von einer Inspektion nach Breznitz zurückgekehrt. Die Inspektion hatte in Zdibitz stattgefunden, einem Städtchen, das von Breznitz volle anderthalb Reitstunden entfernt lag, und in dem die vierte Eskadron dieses Regiments garnisoniert war.
Es war ein kalter, windiger Oktobernachmittag. Die Sonne schien zwar hell, aber sie wärmte nicht, und auf den Straßen lag ein dicker, brauner Brei, in dem die Pferde bis über die Hufe versanken. Der lange Ritt hatte nicht zu den erquicklichsten gehört. Der Oberst fühlte sich, wenn auch nicht müde – welcher flotte Reitersmann würde so etwas zugestehen? – doch immerhin froh, unter Dach zu kommen. Er forderte die ihn begleitenden Offiziere auf, eine Tasse Thee bei ihm zu trinken.
[6]In seiner Wohnung fand er alles genau, wie es sein sollte: die Öfen geheizt, die Lampen angezündet. Er hieß seinen Diener das Theezeug in das Rauchzimmer bringen und sprach die Hoffnung aus, daß seine Gäste sich recht zu Hause bei ihm fühlen möchten. Dies schien ihnen nicht schwer zu fallen, und da nun einer nach dem andern dem Obersten die Behaglichkeit seines Heims rühmte, bemerkte er triumphierend: „Nicht wahr, meine Herren, der Mangel einer Hausfrau macht sich entschieden nicht – unangenehm fühlbar?“ Das „Nicht“ betonte er mit der Verbissenheit eines alten Junggesellen, dem einmal etwas quer gegangen ist.
Die meisten Herren lachten über das „Nicht“ und die Kunstpause wie über einen sehr guten Witz. Über die Witze des Obersten lachen seine Offiziere immer.
„Nicht … unangenehm … nein, nicht … unangenehm fühlbar macht sich der Hausfrauenmangel,“ wiederholte einer nach dem andern, und dann setzten sie hinzu: „Freilich, wenn der Hausherr so vorzüglich ist!“
Nur ein Oberstlieutenant Baron Drewinsky brummte: „Laß gut sein, alter Kamerad, es ist sehr gemütlich bei dir – aber schade ist’s doch!“
Der Oberst fand diesen Ausspruch taktlos und ärgerte sich darüber. Eben wollte er dem Waffenbruder etwas recht Übellauniges erwidern, da bemerkte er einen Brief, der knapp neben dem Fuß der Lampe in der Mitte eines Tisches lag. Die Schrift [7] einer Dame mußte es sein, das war klar; undiszipliniert und kühn, großmächtig und steil füllte sie fast die ganze Fläche des Umschlags aus, obwohl die Adresse sich, alle offiziellen Floskeln weglassend, knapp auf Titel und Namen des Obersten beschränkte. Postmarke und Stempel fehlten, der Brief mochte persönlich abgegeben worden sein.
„Wo kommt der Brief her?“ fragte der Oberst etwas unwirsch seinen Diener, der soeben frisch gestopfte Tschibuks für die Herren hereintrug.
„Ich bitte, Herr Oberst, der Herr Graf Swoyschin haben den Brief gebracht.“
Dem Obersten sagte der Name nichts, er schüttelte den Kopf, stierte ärgerlich vor sich hin, bis einer seiner Majore ihm ins Gedächtnis zu rufen wagte: „Der neue Oberlieutenant.“
„Ach richtig … der, der von den Windischgrätz-Dragonern herversetzt worden ist,“ murmelte der Oberst. „Den hatte ich ganz vergessen. Ja, ja, er sollte heute eintreffen – der Wind hatte mir ihn aus dem Kopf geblasen. Aber was fällt denn dem ein, mir gleich mit so einer Epistel ins Haus zu fallen?“
„Hm, der Brief enthält gewiß eine warme Empfehlung des jungen Mannes von einer nahen Anverwandten,“ bemerkte der Oberstlieutenant von Drewinsky, derselbe, der soeben das Junggesellentum des Hausherrn bedauert hatte. Er war ein famoser [8] Soldat, schneidiger Reiter, vorzüglicher Kamerad und hatte nur eine unangenehme Eigenschaft: er fühlte sich bei jeder halbwegs möglichen Gelegenheit verpflichtet, den Demokraten herauszukehren, obzwar er es eigentlich nicht nötig gehabt hätte, da er aus einer sehr anständigen Militäradelsfamilie stammte. Im Herzen hatte er eigentlich nichts gegen die Aristokraten, er that nur so, vielleicht um den Strebern eine Lektion zu geben, von denen sich einige unter die Zweiunddreißiger verirrt hatten. Diese Streber haßte er nämlich wirklich.
„Unsre Hocharistokraten,“ fuhr er fort, „sind meistens so verwöhnte Muttersöhnlein, daß ihr Eintritt ins Regiment immer mit einem halben Dutzend um Schonung bittender Petitionen einbegleitet wird, damit man sie beileibe nicht zu hart anfaßt.“
„Ich glaube nicht, daß Swoyschin darum zu thun sein wird, sich besonders zart anfassen zu lassen,“ bemerkte einer der jüngeren Offiziere, ein Rittmeister Gerhart, der infolge einer Erkrankung des Adjutanten zeitweilig dessen Stelle vertrat.
„Kennst du ihn?“ fragte der Oberst. Er nannte den Rittmeister „du“, und dieser ihn auch – natürlich „du, Herr Oberst“, des Respekts wegen.
„Ja,“ erwiderte der Rittmeister, „er ist ein famoser Mensch! Er wird dir gefallen, Herr Oberst. Das ganze Regiment wird stolz auf ihn sein!“
[9]„Na, ’s ist immerhin gut, wenn wir wieder ein paar junge Leute von Familie ins Regiment bekommen,“ sagte, sich mit gezierter Vorsichtigkeit nach unbefugten Zuhörern umsehend, ein Oberlieutenant. Er hieß Hermann von Märzfeld, war der Sohn eines neugeadelten Ofenfabrikaten. „Ganz gut, daß wir ein paar Leute von Familie ins Regiment bekommen, wir haben uns letzterer Zeit ohnehin zu stark demokratisiert!“ Einer verjährten Mode gemäß näselte er wie der Graf im Lustspiel auf einer Provinzbühne – der wohlbekannte junge Graf mit der strohgelben Perücke, der immer ein Trottel sein muß. „Da rühm’ ich mir die preußischen Einrichtungen,“ näselte er weiter, „nicht ein Bürgerlicher in einem anständigen Offizierscorps! Haben doch was für sich – sehr viel für sich – die wirklich vornehmen Leute!“
„Haben gewöhnlich das eine vor den minder vornehmen voraus,“ unterbrach ihn Drewinsky, „daß sie es nicht nötig haben, vornehm zu thun!“
Das war scharf, aber es prallte an dem Hochmut des Einfaltspinsels ab, denn während die andern Herren sich vielsagend ansahen, ließ er nur nachlässig die Enden seines Schnurrbarts durch die Finger gleiten und versicherte: „Sehr gut, Herr Oberstlieutenant – famos!“ Und dann setzte er hinzu: „Es gibt so viele Swoyschins, was für eine Geborene ist denn die Mutter dieses Swoyschin?“
[10]„Eine Sensenheim,“ erwiderte ihm ein lustiger Lieutenant – Graf Bärenburg –, und halblaut, so daß die neben ihm sitzenden Kameraden es hören konnten, murmelte er vor sich hin: „Den Kerl kauf’ ich mir noch einmal – der Kerl muß ’raus!“
Damit meinte er: heraus aus dem Offizierscorps, und die Kameraden gaben ihm im stillen recht.
Indessen fragte Märzfeld, der sich trotz all seiner aristokratischen Prätensionen im „Gotha“ nicht auskannte: „Eine – Komtesse Sensenheim?“
„Ja, entschiedene Komtesse … Komtesse Theres Sensenheim – kannst dich beruhigen!“ versicherte Bärenburg. „Mutter eine Donnersberg … Ich sollt’s wissen, da sie und meine Mama Schwestern sind.“
Theres Sensenheim! Bei dem Namen zuckte der Oberst zusammen. Wieder griff er nach dem Brief und hielt ihn diesmal etwas näher an sein Gesicht. Ein schwacher, aber sehr eigenartiger Wohlgeruch entströmte dem dicken Papier. Die Schrift kannte der alte Reitersmann nicht, aber den Duft. Mit einemmal war’s ihm, als ob der Herbstwind den Weg ins Zimmer gefunden hätte durch unsichtbare Ritzen in der Wand.
„Hm! Weshalb hat er sich eigentlich von den Windischgrätzern versetzen lassen? Bei den Kaiserhusaren war er auch schon,“ brummte der dicke Major Falb.
[11]„Schulden!“ mutmaßte lakonisch Drewinsky.
„Zdenko und Schulden!“ rief halb lachend, halb empört der Vetter des Besprochenen, Graf Bärenburg, „nicht einen Kreuzer! Zdenko weiß, daß sein Alter die Schulden bezahlen müßte, und das thäte ihm leid.“
„Also, warum dieser Wankelmut?“ fragte mit seiner krächzenden Stimme der Major. „Einen Grund muß es doch haben, daß ein Mensch von vierundzwanzig Jahren schon zum zweitenmal das Regiment wechselt. Ist er unverträglich?“
„Der beste Kerl von der Welt,“ beteuerte Bärenburg.
Und der Rittmeister Gerhart fügte hinzu: „Ein famoser Kamerad.“
„Also, wo hapert’s?“ fragte jetzt aus seinem langen Schweigen heraus der Oberst.
„Du wirst schon selber darauf kommen, Herr Oberst,“ erwiderte mit einem diskreten Lächeln Rittmeister Gerhart.
Worauf der Oberst etwas heiser: „Wenn er seiner Mutter ähnlich sieht, muß es ein hübscher Mensch sein!“ Und fragend setzte er hinzu: „Weiber?“
Bärenburg und der Rittmeister sahen einander an.
„Na, das kommt mir aber verflucht ungelegen,“ ereiferte sich der Oberst. „Jemand, den ich nicht mit Namen nennen will“ – mit einem Blick auf Bärenburg –, [12] „gibt mir nach der Richtung hin gerade genug zu thun! Ein zweiter Don Juan im Regiment paßt mir gar nicht.“
Bärenburg kratzte sich hinter dem Ohr, und der Rittmeister rief: „O! das ist etwas ganz andres – eine sehr komplizierte Abart des Urtypus. Bei Swoyschin fängt es gewöhnlich mit Gutmütigkeit an.“
„So, und hört auch mit Gutmütigkeit auf?“ fragte der Oberst kurz. Bärenburg und der Rittmeister lächelten.
„Hol ihn der Teufel!“ grollte der Oberst.
„Wenn du ihn einmal kennen gelernt hast, wirst du’s nicht mehr sagen, Herr Oberst!“ behauptete der Rittmeister Gerhart.
Der Oberst verfiel von neuem in tiefes Schweigen. Er hatte eine Falte zwischen den Augenbrauen, hielt den Tschibuk auf Armeslänge von sich gestreckt, ohne zu rauchen, und schien über etwas nachzudenken.
Mit der Gemütlichkeit war’s vorbei, die Konversation erlosch. Die Konversation ist wie ein Kaminfeuer, sie stirbt, wenn man nicht von Zeit zu Zeit ein neues Scheit Holz nachlegt. Der Oberst hatte vergessen, nachzulegen, in weniger als einer Viertelstunde war das Zimmer leer. –
Jetzt saß er allein neben der Lampe mit dem roten Schirm. Theres! Theres Sensenheim! … Er hatte sie geliebt – und hatte vor sechsundzwanzig [13] Jahren einen Korb von ihr bekommen! Aus dem Grunde war er Junggeselle geblieben. Kennen gelernt hatte er sie in dem Schloß ihrer Eltern, das an der mährisch-ungarischen Grenze, gerade dort gelegen war, wo die Karpathen ihren Wald- und Wasserzauber am malerischsten ausbreiten.
Mit seinem Zug in dem Dorf einquartiert, wohnte er im Schloß. Die Sensenheims bewiesen ihm große Freundlichkeiten, besonders die Komtesse Theres. Ehe zwei Tage vergangen waren, hatte er sich über Hals und Kopf in sie verliebt.
Machte es ihrer Eitelkeit Spaß, rührte es sie, kokettierte sie einfach mit ihm, that er ihr leid oder – gefiel er ihr wirklich? Er war sich nicht klar geworden darüber, und vielleicht mochte sie’s selber nicht gewußt haben! … Jedenfalls munterte ihn ihr Wesen zu den unsinnigsten Hoffnungen auf.
Wenn er jetzt daran zurückdachte, sagte er sich, daß er sich damals nicht nur als Grünspecht, sondern als Gimpel gezeigt, indem er sich eingebildet hatte, die Komtesse Theres Sensenheim könnte sich entschließen, so einen armen Freiherrn und schlecht besoldeten Lieutenant, wie er es war, zu heiraten. Aber mit dreiundzwanzig Jahren glaubt man an Wunder.
Später sagte er sich oft, daß hinter all ihrer berückenden Lieblichkeit nicht viel Tiefes gesteckt habe; aber er gestand sich’s ungern und fand immer noch [14] beschönigende Entschuldigungen für sie. Sie hatte ihm den Korb, den sie ihm geben mußte, mit Thränen in den Augen gegeben. Das vergaß er ihr nie!
Am Allerseelentag verließ er das Schloß, ritt fort an der Spitze seines Zuges über die kotdurchweichten Straßen. Es war ein kalter, neblichter Morgen, durch die scharfe, graue Luft wehten die roten und gelben Herbstblätter, und schwarze Krähenzüge flatterten krächzend über die frisch geackerten Felder.
Am östlichen Horizont arbeitete sich eine müde, schwache Sonne aus den kalten Windwolken heraus. Er sagte sich, daß es seine Lebenssonne war, die da am Horizont aufstrebte, – eine Sonne, die weder Glanz noch Wärme mehr gab, nur ein wenig Licht – Licht genug, um ihm die eigene Thorheit zu zeigen!
Den Obersten überkam’s noch immer, wenn er an jenen Morgen dachte.
Na, er hatte es überstanden, aber die Krankheit war schwer und lang gewesen, und etwas von der Kratzbürstigkeit, die ihn neben allen seinen wirklich vorzüglichen Eigenschaften auszeichnete, verdankte er jener Krankheit. Die Kratzbürstigkeit war nämlich eine Defensiveigenschaft, die er sich angearbeitet hatte, um sich nicht ein zweites Mal zum besten haben zu lassen.
Es gibt Menschen, die Dornenzweige auf ihre Blumenbeete legen, damit ihnen Hunde und Katzen [15] nicht darüber laufen. Zu denen gehörte der Oberst. Er war froh, die traurige und demütigende Geschichte vergessen zu haben. Der Brief, der sie ihm ins Gedächtnis zurückrief, machte ihm wenig Vergnügen. Er öffnete ihn widerwillig, vorsichtig, als ob er Angst gehabt hätte, ein Skorpion könne herauskriechen – ein Skorpion mit Thränen in den Augen –, aber es sprang nichts heraus.
Alles, was der Umschlag enthielt, war der Brief einer gutmütigen, etwas albernen Frau, die dem ehemaligen Anbeter im festen Vertrauen an seine unerschütterliche Anhänglichkeit ihren Sohn ans Herz legte.
Offenbar war sie davon überzeugt, daß er sie heute noch liebe. Und bis dahin war allerdings etwas von der alten Neigung in ihm übrig geblieben – das Gefühl einer großen Kränkung, das Gefühl eines schrecklichen Verlustes. Der Brief riß auch noch das Letzte mit sich fort – er bewies dem Obersten schonungslos, daß er nichts verloren hatte!
Von einem Augenblick zum andern wurde sein Herz leer, ganz leer, aber es war an die Last, die es jahrelang mit sich herumgetragen hatte, dermaßen gewöhnt, daß ihm nun die Last fehlte. Es sehnte sich nach den Gespenstern, die es gepeingt und ihm dazwischen alte Märchen erzählt hatten. Das nüchterne Tageslicht war in das Herz gedrungen und hatte sie verscheucht!
Zweites Kapitel.
Die Nacht schlief der Oberst schlecht. Er ärgerte sich im voraus über den neuen Oberlieutenant. „Hm! hm! Wird ganz seiner Mutter nachgeraten sein,“ murmelte er vor sich hin, „bei der fing es auch immer mit Gutmütigkeit an!“
Trotz der freundlichen Dinge, die Bärenburg und der Rittmeister Gerhart über ihn geäußert hatten, brachte der Oberst dem neuen Offizier ein großes Mißtrauen entgegen. Seine feindseligen Gefühle wuchsen von einer Viertelstunde zur andern und hatten sich bereits zu einer Art Haß gesteigert, als am nächsten Tag gegen zwölf Uhr der Diener meldete: „Der Herr Graf Swoyschin!“
„Ich lasse bitten!“
Die Thür öffnete sich – der junge Mann trat ein. Der Oberst fuhr zusammen – er machte eine krampfhafte Anstrengung, um seinen entfliehenden Mißmut festzuhalten – aber vergebens. Der Anblick [17] des jungen Offiziers hatte ihn verscheucht! Die alten Erinnerungen tauchten von neuem in der Seele des Obersten auf, und zwar im schönsten, verklärtesten Lichte! Wie er ihr ähnlich sah – so ähnlich als ein Mann einer Frau überhaupt ähnlich sehen kann! Dieselbe hoch aufgeschossene Gestalt, dasselbe schmale Gesicht, dieselben leuchtenden dunklen Augen, dieselbe kurze, gerade Nase, derselbe volle, schöne Mund mit klassisch geschnittener Oberlippe.
Zdenko Swoyschin kam damals, wie schon erwähnt, von den Windischgrätz-Dragonern und hatte nicht Zeit gehabt, sich den Schnurrbart wachsen zu lassen*). Die Windischgrätz-Dragoner sehen immer entweder aus wie die Kammerdiener oder wie die Engel – und Swoyschin sah entschieden nicht wie ein Kammerdiener aus.
Die Schönheit seiner Erscheinung gewann noch sehr durch den liebenswürdigen Freimut des Ausdrucks, durch die sympathische Natürlichkeit des ganzen Auftretens. Es war die einschmeichelnde Natürlichkeit eines verwöhnten Kindes, das nie dazu gekommen ist, sich zu fürchten, und es nie nötig gehabt hat, sich zu verstellen, – eine spezifische Eigenschaft des jungen österreichischen Aristokraten, wenn er einschlägt.
Ehe der Oberst von dem neuen Oberlieutenant [18] schied, hatte er ihn aufgefordert, noch denselben Nachmittag mit ihm spazieren zu reiten; er wollte ihm die Honneurs der Gegend machen. –
Das Wetter hatte sich indessen geändert. Die Luft war feucht-weich, fast warm. Der Sonnenschein kämpfte mit dem Nebel. In den weiten Breznitzer Wäldern glitzerte und flimmerte alles von Tau, und ein schillernder bläulicher Dunst verwischte die Fernen. Gegen den Dunst hoben sich die Bäume in ungewöhnlich tiefen, satten Farben ab. Die Birken mit grellweißen Stämmen und goldig schimmerndem Laub, mit schwermütig-launiger Anmut dem Tod entgegenschauernd, mischten sich zwischen den großartigen Ernst der hohen alten Kiefern, die, unverändert schwarzgrün, sich von dem Wechsel der Jahreszeit nichts anhaben ließen. Die Eichen, von bronzefarbigen Blättern verhüllt, streckten ihre knorrigen Äste in den Himmel, dann plötzlich sah man’s hinter ihnen wie eine Feuersbrunst aufglühen. Es waren die Zweige eines Ahornbaumes. Das Moos, teilweise vom Nebel verwischt, leuchtete an andern Stellen smaragdgrün. Die rötlich verschwimmenden Strahlen der tiefstehenden Nachmittagssonne breiteten sich lang über den Boden aus, malten leuchtende Regenbogenfarben in die schleichenden Nebelschleier und verkrochen sich wohlig in das feuchte Moos. Es machte den Eindruck, als ob das Moos aus einem goldigen Untergrund herauswüchse.
[19]Swoyschin, der offenbar ein empfängliches, angenehmen und unangenehmen Empfindungen gleichermaßen zugängliches Gemüt besaß, lobte die Schönheiten der Landschaft, und der Oberst freute sich daran, als ob ihm die Wälder von Breznitz gehört hätten. Anfangs hatte sich das Gespräch der beiden Männer nur um die edle Reitkunst gedreht; der Oberst bewunderte die Geschicklichkeit, zugleich auch den diplomatischen Takt, mit dem der junge Mann sein ungewöhnlich feuriges Pferd ritt. Er erteilte dem Oberlieutenant erst Lob, dann – ein Oberst muß doch etwas an Erfahrung voraus haben – gute Ratschläge. Für beides schien der jüngere Offizier gleich dankbar.
Sie ritten einen lustigen, gestreckten Galopp über die breiten Rasenstreifen, die sich die Waldränder entlang an der Straße hinziehen. Der Duft der Nadelbäume würzte die Luft, die Sonne wärmte liebkosend, ohne zu brennen, die Pferdehufe versanken weich im Gras.
„Es ist herrlich, wunderschönes Terrain, eine prachtvolle Luft und allem Anscheine nach“ – Swoyschin legte die Hand an die Mütze – „ein eminent liebenswürdiger Oberst; ich wüßte nicht, was ich mir noch mehr wünschen sollte!“ Dabei parierte er, dem Beispiel des Obersten folgend, sein Pferd.
Der Oberst lächelte gutmütig. Er war ein sympathisch aussehender Mann von fünfzig Jahren, dem [20] seine romantische Jugendschwärmerei noch immer aus den grauen Augen herausglänzte. „Freut mich, daß es Ihnen bei uns gefällt, ’s ist wirklich nicht übel,“ sagte er, „und über den Obersten sollen Sie sich auch nicht zu beklagen haben! Das können Sie,“ fuhr er mit einem etwas maliziösen Lächeln fort, „Ihrer Frau Mutter versichern, die Sie mir so warm ans Herz gelegt hat.“
Swoyschin wurde feuerrot.
„Ach, Herr Oberst!“ rief er, „wenn Sie wüßten, wie ungern ich den Empfehlungsbrief abgab! Aber ich konnte es meiner Mutter doch nicht gut abschlagen.“
„Ihre Mutter hatte ganz recht, mir zu schreiben,“ erklärte der Oberst, der sich gar nicht mehr zu erinnern schien, wie sehr ihn der Brief gestern geärgert hatte. „Ihre Mutter wußte, daß ich allezeit bereit sein würde, ihren Wünschen entgegenzukommen. Ich … hm! … ich war einmal ein großer Verehrer Ihrer Mutter.“
Der junge Mann lächelte zutraulich. „Das weiß ich, Herr Oberst,“ versicherte er, „meine Mutter hat mir davon erzählt. Sie sagte mir gleich: wenn der Oberst gehalten hat, was der Lieutenant versprach, würde ich einen Freund an Ihnen haben im Regiment.“
„Ah! … Und hat Sie das ein wenig bestimmt, bei uns einzutreten?“ fragte lächelnd der Oberst.
[21]„Vielleicht … ein wenig,“ gestand Swoyschin, – „aber … Sie dürfen nicht fürchten, daß ich irgendwie daran dachte, auf Ihre Nachsicht zu sündigen oder Ihr Wohlwollen auszunützen.“
„Hüten Sie sich!“ Der Oberst drohte ihm mit dem Finger. „Sie werden keine überschüssige Nachsicht finden. Im Gegenteil, – ich nehme mir vor, sehr streng gegen Sie zu sein, so streng, wie vernünftige Väter nur gegen die Söhne sind, von denen sie viel halten und infolgedessen viel verlangen können.“
Sie lachten beide – sie waren sehr zufrieden miteinander. Das Gespärch nahm einen immer vertraulicheren Charakter an. Es schien Swoyschin Vergnügen zu machen, ungeniert von seinen Verhältnissen reden zu können. Sein Vater lebte noch, war aber seit zehn Jahren gelähmt. Zdenko war der zweite Sohn. Der Älteste, dem nach des Vaters Ableben das Majorat zufallen sollte, war ein Verschwender. Kaum hatte Swoyschin das harte Wort fallen lassen, so nahm er es schon wieder zurück. Er schien sehr an dem Bruder zu hängen, verteidigte ihn gegen seine harte Anschuldigung.
Verschwender war nicht das richtige Wort – Konrad war eigentlich kein Verschwender, er brauchte für sich verhältnismäßig wenig, hatte nur ein zu gutes Herz, und – die Mama konnte nicht sparen. Ach, das Sparen sei eine so schauderhaft unästhetische [22] Sache, klagte er. Wenn man überhaupt keine Bedürfnisse und einen angeborenen Ordnungssinn besitze wie er, Zdenko, da ergab sich ja das Sparen von selbst, – aber von einer so verwöhnten Frau, wie seine Mutter es war, konnte man das nicht verlangen. Nur war leider das Majorat infolgedessen sehr verschuldet. Swoyschin hatte eigentlich Diplomat werden sollen – dazu langte es nun nicht. Er sprach von der Knappheit seiner Geldverhältnisse mit einem Freimut, den nur die jüngeren Söhne böhmischer Fideikommißbesitzer kennen.
So habe er sich denn die Gelüste aus dem Kopf geschlagen und sei Offizier geworden. Glücklicherweise sei der militärische Beruf auch seiner Natur angemessener, und dazu reiche seine Zulage prachtvoll. Bei der Armee, in den Nestern, in denen die Kavallerieregimenter gewöhnlich stationiert sind, da brauche man rein gar nichts. Für den armen Papa sei’s wirklich von Wichtigkeit, daß er zum wenigsten einen Sohn habe, der nichts brauche, – denn jetzt stand es mit den Finanzen zu Hause recht schlecht. Ja, wenn der Papa den Prozeß gewinnen sollte, den großen Familienprozeß, – der Herr Oberst habe ja wohl davon gehört.
Der Oberst hatte von nichts gehört. … Wie es schien, handelte es sich um einen Erbschaftsprozeß mit einem Vetter – dem Rimitzer Swoyschin. Der Papa [23] müsse ihn gewinnen, wenn es noch eine Gerechtigkeit gäbe in Österreich, nun, dann hätte alle Not ein Ende. Hier in der Gegend müsse auch eines von den Schlössern gelegen sein, das zu der bestrittenen Erbschaft gehöre – Zdibitz heiße es.
„Man sieht die Fassade von hier aus; bei der nächsten Lichtung zeig’ ich sie Ihnen,“ bemerkte der Oberst.
Und in der That, als sie die nächste Lichtung erreichten, zeigte der Oberst seinem jungen Begleiter ein weißes Schloß, das einen fernen Hügel krönte.
Wieder legte Swoyschin lustig salutierend die Hand an die Mütze. Dann gönnten sich die Herren noch einen schneidigen Galopp und ließen hierauf die Pferde verschnaufen, ritten ruhig nebeneinander, behaglich träg. Obzwar sie sich erst seit einigen Stunden kannten, fühlten sie sich als gute alte Freunde und benahmen sich als solche. Wenn ihnen nichts mehr zu sagen einfiel, schwiegen sie.
Es war nichts zu hören als das leise Versinken der Pferdehufe in dem weichen, kurzen Rasen, das leise Knistern des Herbstes in den Wäldern – ringsum nur ein großes, dem Schlaf entgegenträumendes Schweigen in Wald und Flur, – goldene Blätter fielen von den Zweigen der Linden, wiegten sich einen letzten Augenblick wie frühlingstrunkene Schmetterlinge in der von Nebelgewinden durchschwebten Luft [24] und sanken dann still zu Boden. Plötzlich veränderte sich das etwas eintönige landschaftliche Bild dadurch, daß die Hauptstraße von einer schmäleren Nebenallee durchquert wurde. Zwischen vielfarbigen, von dem schwärzlichen Grün der Kiefern unterbrochenen Laubbogen sah man in einen geheimnisvoll schillernden Dunst.
Auf der Erde lag zwischen den tief in die Straße hineinwachsenden Rasenrändern der Sonnenschein wie ein langsam in Licht zerfließender Goldklumpen.
Plötzlich, in die beklommene Herbststille hinein, langgezogen und schauerlich drangen die Töne von Trauerposaunen. Man hörte die unrhythmischen Schritte einer großen, nicht disziplinierten Menschenmenge. Aus einem der Seitenwege des Waldes trat ein Begräbnis. Voran der Priester im Trauerornat mit seinen Ministranten, mit Weihrauchfässern und Kreuzen und einem Muttergottesfähnlein. Dann die Musikanten mit ihren schrill jammernden Trompeten und endlich, von sechs Burschen getragen, mit Kränzen bedeckt, der Sarg. Vor dem Sarg hinschreitend ein weiß gekleidetes Mädchen, das einen Myrtenkranz auf weißem Seidenkissen trug, – hinter dem Sarg ein zweites Mädchen, welches jedoch schwarz gekleidet, dazu vom Kopf bis zu den Füßen schwarz verschleiert war. Dieses trug ein schwarzes Kissen, auf dem eine gebrochene Kerze ruhte – wahrscheinlich das gebrochene [25] Lebenslicht symbolisierend; hinterher noch viele Menschen, Männer und Frauen mit brennenden Wachskerzen in der Hand.
Der dunkle Zug, aus dem geheimnisvollen Nebeldunst auftauchend und langsam zwischen den goldenen Herbstbäumen weiterschreitend, machte einen schauerlichen, gespenstischen Eindruck. Die Musik tönte laut – traurig! Der Geruch des Weihrauchs und der Wachskerzen verband sich mit dem süßen und wehmütigen Herbstduft der Wälder.
Die beiden Reiter hielten ihre Pferde an; ehrerbietig salutierend ließen sie den Zug vorbei. Er bog in den nächsten, gegenüberliegenden Querweg ein. Der Nebel zog sich hinter ihm zusammen, die gelben Blätter fielen dich, – man sah ihn nicht mehr.
Der Oberst blickte jetzt nach seinem Begleiter hin. Swoyschin war totenblaß geworden und zitterte wie im Fieber.
„Ja, was ist Ihnen denn?“ fragte der Oberst.
„Ich kann den Geruch nicht vertragen – den Leichengeruch!“
„Der hat doch nicht bis zu Ihnen dringen können durch all den Weihrauch und Wachskerzenduft aus dem geschlossenen Sarg!“ rief der Oberst.
„Doch, Herr Oberst, – es war entsetzlich! Ich spür’ ihn immer, wenn ein Begräbnis an mir vorüberkommt.“
[26]Der Oberst starrte ihn an. „Mensch! wie wird denn das werden! Was werden Sie machen in der Schlacht, wenn Ihnen dermaßen vor Leichen graut?“
Ein Lächeln zog über Swoyschins blasses Gesicht. „Fürchten Sie nichts, Herr Oberst,“ gab er dem Vorgesetzten zur Antwort, „in der Schlacht hoff’ ich meinen Mann zu stellen.“ Und leise fügte er hinzu: „Es ist nur vor Mädchenleichen, daß mir so graut!“
Drittes Kapitel.
Einen anspruchsloseren, gutmütigeren Kameraden, – einen, der rascher bereit gewesen wäre zu helfen, wo er konnte, – schneidiger wo es sein mußte, oder geduldiger, wo es sein durfte, hatte das Regiment nicht gesehen.
Dabei mit Männern sehr lustig, – kein Spaßverderber, – wenn auch etwas sensitiv veranlagt. Rohe Witze waren ihm widerwärtig! – Ein sehr heller Kopf!
Der Oberst fand täglich mehr Gefallen an seinem jungen Schützling, und da sein Adjutant noch immer nicht hergestellt war, der Rittmeister Gerhart aber um einen Urlaub nachgesucht hatte, so fragte er Swoyschin, ob er nicht an seine Stelle treten, provisorisch den Adjutantenposten ausfüllen wolle.
Swoyschin war mit Freuden dabei. Im Regiment schüttelte man natürlich ein wenig den Kopf über diese Vereinbarung. Die Adjutanten wählte man [28] gewöhnlich nicht aus den Reihen der Hochgeborenen, besonders nicht im Frieden. Der Posten ist mit viel zu viel Schererei und Schreiberei verbunden, um einem jungen Kavalier wünschenswert zu erscheinen. Aber Swoyschin füllte ihn vorzüglich aus, hielt sich auch tapfer mit der leidigen Schreiberei. Seine Neider – natürlich hatte er deren im Regiment – behaupteten, der Oberst mache es ihm leicht. Das mochte sein – jedenfalls vertrugen sich die beiden sehr gut, auch ganz abgesehen von dienstlichen Angelegenheiten.
Der Oberst klimperte ein wenig Klavier, der Adjutant kratzte ein wenig auf der Geige. Wenn der Abend kam, sperrten sie die Thür zu und musizierten bis Mitternacht. Beide hatten denselben ruhigen, klassische Musik vorziehenden Geschmack. Sie spielten Mozart und Bach und hie und da ein Andante von Beethoven. Und wenn sie nicht spielten, so verloren sie sich in endlosen Gesprächen über Gott, die Menschen und die Weltordnung – oder vertieften sich in ein interessantes Buch, das Swoyschin dem Obersten vorlas.
Die Adjutantenwohnung stieß an die des Vorgesetzten, und so waren Oberst und Adjutant von früh bis abends beisammen.
Man lachte im Regiment über diese intime Freundschaft – nannte die beiden Wallenstein und Max –, [29] aber man ließ sie gewähren. Der einzige im Regiment, der sich unermüdlich über Swoyschin den Mund zerriß, war der schöne Märzfeld.
„Ein netter Bursch,“ pflegte er zu näseln, „immerhin ganz gut fürs Regiment, – aber daß der ein Don Juan sein soll! … Er fürchtet sich vor allem, das einen Unterrock trägt.“
Worauf ihm Bärenburg erwiderte: „Mein preußischer Vetter bei der Garde würde sagen: ‚Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste‘ – auf österreichisch: ‚Das gebrannte Kind scheut ’s Feuer!‘“ – Aber auf deutlichere Auseinandersetzungen ließ er sich nicht ein.
Es war übrigens wirklich merkwürdig, daß Swoyschin ein Don Juan sein sollte. Selbst der Oberst fing an, sich darüber zu wundern, wie er zu dem Ruf gekommen war. Er fragte sich, ob Bärenburg sich nicht einfach einen Spaß mit ihm und dem ganzen Offizierscorps erlaubt hatte. Dafür, daß er solcher lustiger Nichtsnutzigkeiten fähig war, kannte er ihn.
Einigermaßen mußte man dem schönen Märzfeld recht geben; es machte thatsächlich den Eindruck, als fürchte sich Swoyschin vor jedem Weiberrock. Bei den Damenabenden im Offizierskasino, die der Oberst zur Belebung der Geselligkeit in Scene gesetzt hatte, erschien er selten – immer nur, wenn er vom Obersten besonders aufgefordert worden war –, drückte sich gegen die Wand und sprach mit keinem weiblichen Wesen.
[30]Manchmal wurde bei diesen Abenden getanzt. Swoyschin tanzte vorzüglich, machte aber den denkbar geringsten Gebrauch davon. – Die Damen erklärten ihn für hochmütig, aber diesen Verdacht, von dem er gewiß nie etwas ahnte, schlug er rasch und siegreich aus dem Feld.
Einmal nämlich hatte sich die Frau des Regimentsarztes in eine dieser Elitegesellschaften hineingewagt. Die Damen spotteten über ihre unmögliche Toilette – sie war in ihrem Brautkleid aus lilagefärbter, dünn raschelnder Seide erschienen. Auch die Herren spotteten über sie, besonders die ganz jungen Lieutenants, die bekanntlich gern mit ihrer up to date-Weisheit in Bezug auf weiblichen Tand prahlen. Einige lachten über den verjährten Schnitt ihrer Ärmel, und andre behaupteten, sie könnten den Benzingeruch ihrer frischgereinigten Handschuhe nicht vertragen. Nur Swoyschin bemerkte, daß sie wunderschöne Augen habe. Er ließ sich ihr sofort vorstellen und tanzte im Laufe des Abends mehrmals mir ihr, zum Schluß sogar den Lancier. Als er sich zu dieser komplizierten und exotischen Quadrille mit ihr anstellte, heftete Bärenburg, der zufällig nicht mittanzte, einen langen, kuriosen Blick auf ihn, dann sich gegen den Obersten wenden, der sich zufällig neben ihm befand, sagte er leise: „Passen Sie auf, Herr Oberst, jetzt fängt’s an!“
[31]Und der Oberst paßte auf. Er sah nichts, was seinen Sympathieen für Swoyschin hätte Eintrag thun können. Im Gegenteil …
Kaum irgend etwas wirkt demütigender auf die Menschen als das Zartgefühl, wenn es sichtbar wird. Bei Swoyschin wurde es nicht sichtbar. Eine Prinzessin von Geblüt, die ihn zum Tanz befohlen, hätte er nicht mit freundlicherer Ritterlichkeit durch alle Verwickelungen des Lanciers hindurchpilotieren können als die verschmähte, kleine Regimentsärztin. Dabei sah er gänzlich unbefangen, sehr vergnügt, in seine Beschäftigung vertieft aus, als mache ihm das Tanzen wirklich Spaß.
Als der Lancier seinem Ende zuging, war die Frau Emmi Swoboda vor lauter Glückseligkeit und innerer Aufregung hübsch geworden. Aber sie hatte sich auch mit einem Schlag grenzenlos in ihren schönen Kavalier verliebt.
„Hab’ ich’s Ihnen nicht gesagt, Herr Oberst?“ flüsterte Bärenburg dem Vorgesetzten zu. „So fängt es an! … Nun, ich will nicht sagen, daß es immer gerade so anfängt, denn schließlich stammen Zdenkos Opfer nicht alle aus so bescheidenen Verhältnissen. Manches Mal fängt’s auch mit ein wenig Eitelkeit an – aber irgendwie tritt die Gutmütigkeit schließlich mit ins Spiel. Mir ist’s herzlich leid um meinen alten Zdenko, denn er ist ein Goldmensch, und es [32] ist sehr schade, daß er sich trotz all seiner guten Vorsätze immer wieder dort einpantscht, wo kein Pläsier und viel Verdruß zu holen ist. Sie werden sehen, ohne Verdruß wird’s auch in diesem Fall nicht abgehen!“
Der Oberst zuckte die Achseln. Was sollte schließlich da für ein Verdruß herauskommen – die Sache war doch ganz harmlos.
Kurz darauf gab die Gattin des schönen Märzfeld eine Soiree. Sie war eine sehr gebildete Dame aus einer hohen Wiener Beamtenfamilie. Hübsch, kalt, gefallsüchtig, ebenso stolz auf ihre Tugend als auf ihre Schönheit, kokettierte sie mit jedem vornehmen Offizier im Regiment, da es ihr darum zu thun war, so viele Verehrer als möglich hoffnungslos zu ihren Füßen schmachten zu sehen.
Obwohl ihr Swoyschin von Anfang an geflissentlich ausgewichen war, wurde sie es nicht müde, ihn, wo sie nur konnte, bei den Haaren zu sich heranzuziehen, worauf sie ihn dann mit allerhand geistvollen Bemerkungen zu verblüffen und neben sich festzuhalten trachtete. Aber er ließ sich nicht halten; trotz aller seiner berühmten Gutmütigkeit legte er in der Kunst, sich ihren Zudringlichkeiten zu entziehen, ein großes Geschick an den Tag.
Eine Weile machte es den Eindruck, als ob Frau von Märzfeld ihrer fruchtlosen Anstrengungen ihm [33] gegenüber müde geworden sei. Aber die Freundlichkeit, die er der armen, unansehnlichen Doktorin bewiesen, reizten natürlich die Eitelkeit der schönen und vielbewunderten Frau auf das äußerste.
Swoyschin wußte, daß er bei dem Fest, zu dem er natürlich mit dem ganzen Offizierscorps geladen worden war, einiges von ihr zu bestehen haben würde. Dennoch hielt er sich nicht für berechtigt, sich fernzuhalten, besonders da es in Breznitz, wo jeder von dem Thun und Lassen der Kameraden wußte, schwer gewesen wäre, einen triftigen Vorwand dafür zu erfinden.
So erschien er denn mit den andern bei der Märzfeldschen Soiree, wo er aber dann der Hausfrau gegenüber die äußerste Zurückhaltung bewies.
Nach dem obligaten Diener, den er ihr pflichtschuldigst hatte machen müssen, bekümmerte er sich nicht weiter um sie, sondern plauderte fast ausschließlich mit ein paar schüchternen Freiwilligen, denen er gutmütig das Selbstgefühl zurückzufinden half, das ihnen in dieser glänzenden Umgebung verloren gegangen war.
Frau von Märzfeld kokettierte indessen auf Leben und Tod mit Bärenburg, der sich jederzeit bereit zeigte, einer hübschen Frau alle Huldigungen zu bieten, die sie von ihm verlangte. Da er es sehr dick hinter den Ohren hatte, wußte er ganz genau, weshalb sie sich ihm eigentlich an den Kopf warf, und humoristisch [34] veranlagt, wie er war, fand er Vergnügen daran, das Interesse für seinen Vetter, das sie nur mühsam hinter gehässigen Bosheiten verbarg, durch allerhand Mitteilungen aufs äußerste zu reizen. Erst erzählte er ihr Räubergeschichten von Zdenkos fabelhafter Schneidigkeit, dann begann er Zdenkos Eroberungen aufzuzählen.
Das Büffett war glänzend, mit Champagner wurde nicht gespart, und Bärenburg hatte demselben freimütig zugesprochen. Gegen Mitternacht hatte er einen kleinen Spitz, in welchem Zustande er immer geneigt war, Indiskretionen zu begehen. Die unglaublichsten Dinge von Zdenkos Unwiderstehlichkeit erzählte er ihr und setzte schließlich mit verdächtigem Augenblinzeln hinzu, das Merkwürdige bei der Sache sei: Zdenkos Liebesabenteuer endigten alle hochtragisch. Er könnte ihr mehr als eine Frau aufzählen, die sich umgebracht – aber thatsächlich umgebracht hatte für ihn! „Er ist nun einmal ein homme fatal!“ seufzte Bärenburg.
„Es ist zu komisch! Dieser arme, gute Swoyschin … ein homme fatal!“ lispelte affektiert die Märzfeld. „Ich kann nichts an ihm finden. Mir ist er zu lang und zu schwarz – mir haben von jeher nur blonde Männer gefallen!“ Dies sagte sie mit einem schmachtenden Blick auf Bärenburg, – der war nämlich blond.
[35]Er kassierte diese feine Huldigung mit einem Schmunzeln ein und bestätigte den Empfang mit einem Handkuß. Im Grunde seines Herzens war es ihm vollständig gleichgültig, ob Frau Helene von Märzfeld an blonden oder schwarzen Männern Gefallen fand.
Sie hatte indessen ihr langstieliges Lorgnon an die Augen gesetzt, um Swoyschin dadurch zu fixieren. Er flüchtete sich vor ihren musternden Blicken in ein Nebengemach. Kaum hatte er sich entfernt, so setzte sich Bärenburg ans Klavier, wo er erst auf allgemeines Verlangen ein paar ganz neue komische und zeitgemäße Couplets vorzutragen begann und zwar mit der Verve von Alexander Girardi in seiner guten Zeit.
Sehr begabt, wie viele junge Österreicher, die ihre Talente häufig aus dem Grunde nie entdecken, weil sie das Leben auch ohne Zuhilfenahme derselben genügend kurzweilig finden, war er unter anderm fabelhaft musikalisch, viel mehr als Swoyschin, ohne jedoch, wie dieser letztere, mit einer Neigung für das Klassische behaftet zu sein. Er vermochte jede Melodie, die er einmal gehört, nachzuspielen und sie mit einer Begleitung zu versehen. Ja zuweilen, wenn ihm irgend ein Vers Spaß machte, erfand er sich die Melodie dazu selbst.
Nachdem er auf die Girardi-Couplets den berühmten Walzer „Nur für Natur!“ hatte folgen lassen, [36] modulierte er mit den ergreifendsten Mollaccorden in einen Trauermarsch hinüber, dann sich seinem Publikum zuwendend, schleuderte er ihm die Worte zu:
„L’homme fatal! Gedichtet von einer geknickten Lilie.“ Worauf er anfing, eine uralte Pariser Bänkelsängerballade zu gröhlen, mit der ihn einmal seine Base Nita Sankjewitsch bekannt gemacht hatte.
Der Refrain der Ballade lautete: „Ne m’aime pas, infortunée, car mon amour donne la mort!“ und der letzte Vers ging folgendermaßen:
Die gezierte Sentimentalität, mit der er diese Elegie zum besten gab, spottete jeder Beschreibung. Alles, was im Salon französisch kannte, wand sich in Lachkrämpfen.
Swoyschin trat aus dem Rauchzimmer, um zu sehen, worum sich der Spektakel handle.
„Was Sie wieder für ein Gesicht machen, Graf Swoyschin!“ redete ihn die Hausfrau an. „Wissen Sie, gerade so, als ob Sie in der Romanze des Grafen Bärenburg eine Anspielung witterten! Ha! ha! ha!“
[37]Der junge Mann wurde sehr blaß. „Eine Anspielung, – auf was?“ fragte er, die Brauen zusammenziehend und mit dem leisen Nasenrümpfen, das den Obersten manchmal an seine alte Flamme erinnerte. Nur, daß es bei ihr einfach Hochmut bedeutet hatte, während es bei Zdenko ein sensitives Ablehnen alles ihm gegen den Strich gehenden Kleinlichen und Gemeinen verriet.
Frau von Märzfeld verlor an diesem Punkte ihre Sicherheit. Ihr Gatte aber, der sich indessen nicht nur einen kleinen Spitz, wie Bärenburg, sondern einen gehörigen Rausch angetrunken hatte, in welchem Zustand er seine Familiarität mit allen Hochgeborenen des Regiments ganz besonders hervorzukehren pflegte, klopfte Swoyschin auf die Schulter und sagte affektiert:
„Na, meine Frau meint halt Anspielungen auf deine eigene Unwiderstehlichkeit, mein lieber Swoyschin!“
„Auf meine … was?“
„Auf deine Unwiderstehlichkeit. Wie’s scheint, muß deine Eroberercarriere parallel laufen mit der des bel Arthur – ha! – ha! – ha!“
Swoyschin warf den Kopf ein wenig zurück und stierte den eleganten Märzfeld in einer so zurechtweisenden Art an, daß Märzfeld sich aufrichtig nach dem Anblick der Medusa zu sehnen begann. Dann, [38] ohne ein Wort zu sagen, drehte Zdenko sich auf dem Absatz um und verließ die Soiree.
Bärenburg, der das Feuer gelegt, war natürlich von der Brandstätte geflohen, sobald es gefangen hatte. Er unterhielt sich im Nebenzimmer mit einem ganz jungen Mädchen. Sie tauschten ihre Meinungsverschiedenheiten über Gefrorenes aus. Er schwärmte für Himbeer und Schmankerln – sie erklärte Himbeer für fad und zog Ananaseis vor.
Nichtsdestoweniger gab es den nächsten Tag zwischen den beiden Vettern eine heftige Auseinandersetzung. Bärenburg gestand sofort, er sei angeheitert gewesen, und meinte, daß man einen Menschen nicht verantwortlich machen könne für die Dummheiten, die er in diesem Zustande gesagt oder gethan haben mochte. Er lieferte auch noch außer diesem Geständnis die rührendsten Beweise einer reumütigen Gesinnung. Zum Schluß erklärte er sich bereit, dem Vetter alle mögliche Satisfaktion zu geben, außer derjenigen, sich ihm mit der Pistole in der Hand gegenüberzustellen. Denn das eine stehe fest: so wenig ihn vorläufig der Selbstmord locke, möchte er doch noch viel lieber sich selber als seinen alten Zdenko erschießen. Da es Swoyschin im Grunde ebensowenig darum zu thun war, seinem leichtsinnigen Vetter eines seiner sehr kurz geschorenen Haare zu krümmen, so löste sich die Sache in Wohlgefallen auf. Die Freundschaft zwischen [39] beiden erwärmte sich sogar noch um einige Grade, wie es sich bei Menschen, die sich gegenseitig sympathisch sind, fast immer ereignet nach einem Zank.
Zwischen Märzfeld und Swoyschin hatte sich indessen die Spannung bis zu einem für die Regimentskameraden recht unerquicklichen Grade gesteigert. Nicht nur, daß Swoyschin die Schwelle des Märzfeldschen Hauses nie mehr überschritt – selbst in dem Verkehr, der durch die Regimentsangelegenheiten geboten war, verriet sich die feindliche Stimmung der beiden. Man sah, daß es nicht mehr lange so dauern konnte. Der Zweikampf schwebte in der Luft.
Eine Person war rasend erfreut über die Wendung, welche die Dinge genommen hatten: die kleine Frau Regimentsarzt Swoboda, die so oft von dem bornierten Hochmut der schönen Märzfeld verletzt worden war. Kurz nach der prunkvollen Märzfeldschen Soiree lud sie den Obersten, Bärenburg und Swoyschin zu einem einfachen bürgerlichen Mittagessen ein.
Der Oberst und Bärenburg wunderten sich einigermaßen über den Einfall und äußerten dies gegen Swoyschin.
Dieser wurde etwas verlegen und meinte: „Ach, sie hat ein Pockerl (einen Truthahn) von Hause bekommen, und da sie und ihr Mann dies Geflügel unmöglich allein verzehren können, so fragte sie mich, ob sie sich erlauben dürfe, die Herren einzuladen. Ich [40] – verzeihen Sie, Herr Oberst – ich sagte ja. So einen armen Hascher stößt man doch nicht vor den Kopf!“
„Natürlich,“ erwiderte der Oberst, „Sie haben ganz recht gethan, Swoyschin.“ Er war sehr gutmütig, der Oberst von Stahl, und ein Gentleman vom Scheitel bis zur Zehe. Aber sehr schlau war er nicht.
Bärenburg kratzte sich ein wenig an seinem kleinen, eng am Kopf anliegenden Ohr. „Hm, Zdenko, siehst du die Swoboda so oft, daß du von ihr in ihren häuslichen Angelegenheiten zu Rate gezogen wirst?“
Swoyschin runzelte ungeduldig die Stirn. „Ich musiziere manchmal mit ihr, sie spielt wunderhübsch Klavier.“
„Ach, meine Begleitung genügt Ihnen nicht mehr, Swoyschin!“ beklagte sich gutmütig der Oberst. „Sie hatten Angst, mich zu kränken, darum beichteten Sie mir nie, wo Sie Ihre Zeit außer dem Hause verbrachten. Na, mir ist’s lieber so. Ich hatte Ihnen schon allerhand Schwerenötereien zugemutet. Die kleine Swoboda wird Ihnen nicht gefährlich werden.“
„Das glaube ich auch,“ erklärte mit etwas feierlicher Betonung Bärenburg, dabei suchte er den Blick des Obersten, ohne ihn jedoch finden zu können. Der Oberst sah gerade aus dem Fenster und ärgerte sich über ein Dragonerpferd, das vorübergeführt wurde [41] und das schlecht beschlagen war. Darüber hatte er Swoyschins milde Flirtation mit der Frau Doktorin Swoboda vollständig vergessen. Übrigens maß er der Angelegenheit wirklich keinerlei Wichtigkeit bei.
An dem bewußten Tag erschienen richtig die drei Herren bei dem Ehepaar Swoboda, um den Truthahn zu verzehren. Der Oberst verwunderte sich darüber, wie hübsch die Frau Swoboda geworden, wie nett ihre kleine Häuslichkeit eingerichtet, wie gut das Essen war. Dazu ein herzlicher Willkomm – keine Spur von dem gewissen „Wir wissen, daß Sie’s besser gewohnt sind!“-Gethue, das den Wohlgesinntesten unter den Vornehmen so häufig die Gastfreundschaft ihrer minder bemittelten Mitmenschen verleidet.
So wenig Spürsinn der Oberst auch in dieser ganzen Angelegenheit bekundet hatte, merkte er doch, daß die junge Frau nicht nur viel geschmackvoller als sonst, sondern auch in Swoyschins Lieblingsfarbe gekleidet war; er merkte auch, daß sich Zdenko gut auskannte in dem Hause, und daß die beiden Kinder, die nach dem Essen für einen Augenblick hereingebracht wurden, ihm gegenüber eine Zutraulichkeit bekundeten, die Kinder nur gegen Menschen zeigen, die sie oft sehen und von denen freundschaftlich behandelt zu werden sie gewohnt sind. Das war beunruhigend. Er fing an, Swoyschin und die Doktorin schärfer zu beobachten. Aber seine Beobachtungen trugen nichts [42] dazu bei, ihn in der plötzlich aufgekommenen Vermutung zu bestärken, daß Zdenko aus Garnisonslangeweile und faute de mieux sich in ein Verhältnis mit der armen Doktorin eingelassen habe. Der Ton, den er ihr gegenüber anschlug, war aufmunternd freundlich, das war alles. Von ungewöhnlicher Familiarität ebensowenig eine Spur als von jener betonen Zurückhaltung, mit der zwei heimlich Liebende ihr Verhältnis vor der Welt zu decken trachten. Dabei bewies Swoyschin der kleinen Frau noch immer, wie an jenem ersten Abend, da er den Lancier mit ihr getanzt hatte, die vollendetste Achtung. Nach wie vor nichts, was die Sympathieen des Obersten für den jungen Menschen hätte vermindern können. Und doch war ihm etwas bei dem Ganzen nicht recht.
Eine kleine Episode hatte besonders dazu beigetragen, ihn zu verstimmen. Nachdem die Doktorin den schwarzen Kaffee eingeschenkt hatte, zog sie sich zurück, um die Herren ungestört dem Genuß des vorzüglichen Weichselschnapses zu überlassen, den sie selber zu bereiten pflegte, und dem der russischen Cigaretten, die ihr Mann von einem nach Rußland ausgewanderten Kollegen geschenkt bekommen hatte. Ehe sie das Zimmer verließ, war der Doktor auf sie zugekommen, hatte ihre kulinarischen Leistungen gelobt und ihr einen Kuß auf die Wange geben wollen. Sie schrak zusammen, mit einer Bewegung, als ob jemand [43] ausgeholt hätte, um sie zu schlagen, und verschwand eilig.
Der Doktor machte, um die Situation zu decken, einen derben Witz über die Ziererei der Weiber, worauf er zwei Gläser Slivowic hinuntergoß und sofort unvermittelt anfing, jene starkgewürzten Anekdoten zu erzählen, für die er im ganzen Offizierscorps berühmt war und denen die Herren sonst keineswegs ihre Anerkennung versagten. Diesmal lachte keiner der drei so recht von Herzen über die auf dem Altar der Gastfreundschaft dargebrachten Zoten. Dem Obersten waren sie geradezu unangenehm.
Es war etwas faul im Staate Dänemark, das stand fest. Zum erstenmal sprang es dem Obersten in die Augen, wie schlecht die beiden Swobodas zusammenpaßten. Er wunderte sich darüber, daß ihm der Umstand nicht schon früher aufgefallen war. Auch konnte er sich’s nicht verhehlen, daß das Verhältnis zwischen den Gatten ein unerquickliches war – und doch hatte das Ehepaar Swoboda bis dahin für ein verhältnismäßig glückliches gegolten.
Ehe die Herren den Heimweg antraten, erschien die Hausfrau noch einmal, um ihnen adieu zu sagen. Swoyschin küßte ihr die Hand, und nicht nur Bärenburg, sondern auch der Oberst folgten seinem Beispiel.
„War ganz nett heute!“ begann der Oberst draußen auf der Straße.
[44]„Sehr nett,“ versicherte Bärenburg. „Gute Bewirtung und keine Flausen, – mehr kann man nicht erwarten.“
„Letzteres, der Mangel an Flausen, wunderte mich am meisten,“ bemerkte der Oberst. „Ich hatte keine Ahnung, daß die Swoboda eine so gebildete Person ist; sie hat etwas fast Vornehmes, das ich früher gar nicht an ihr bemerkt hatte.“
„Es war auch längst in ihr eingeschlafen. Die Neubelebung dieser Eigenschaft ist gewissen Einflüssen beizumessen, die ich nicht näher bezeichnen will,“ brummte Bärenburg.
„Einflüsse, die gute Eigenschaften ans Tageslicht fördern, müssen immer als lobenswert bezeichnet werden,“ versicherte der Oberst, der in der Bemerkung Bärenburgs sofort eine unfreundliche Beurteilung seines Lieblings Swoyschin witterte und dieselbe übelnahm.
Swoyschin schwieg. Bärenburg hingegen fing sofort wieder an: „Finden Sie nicht, Herr Oberst, daß die Derbheit des Mannes heute etwas unangenehm gegen die Feinheit der Frau abgestochen hat?“
„Ja, der Mann war mir heute zuwider,“ murmelte der Oberst. „Er verwildert und verbauert schrecklich.“
„Verzeihen Sie, daß ich Ihnen widerspreche, mein verehrtester Herr Oberst,“ entgegnete Bärenburg, „der Mann ist ganz genau so, wie er immer war, [45] aber die Frau ist anders geworden. Neben der Frau muß er gemein wirken – es spürt’s keiner besser als sie selbst, das ist das Unglück.“
„Vielleicht haben Sie recht,“ meinte der Oberst. Die freistreichende Winterluft, die aus dem schwarzblauen, wolkenlosen Himmel herausblickenden Sterne, ja selbst das leise Geräusch des unter seinen Füßen knirschenden festgefrorenen Schnees wirkten belebend auf sein Denk- und Urteilsvermögen. Ihm war’s zu Mute, als erwache er langsam aus einem hypnotischen Dusel.
„Ja, eigentlich haben Sie recht, Bärenburg.“
„Hm! Und unter den Umständen werden Sie den fördernden Einflüssen, welche die innere und äußere Verfeinerung der Doktorin zur Folge gehabt haben, vielleicht auch nicht mehr unbedingt Lob sprechen.“
Der Oberst stand perplex vor der neuen Auffassung der Dinge, die sich ihm aufzwang. Er blickte nach Swoyschin. Dieser war in tiefes Nachdenken versunken und schien dem Gespräch der beiden andern keine Aufmerksamkeit gewidmet zu haben.
„Ich glaube, wir stehen alle im Begriff, der armen Person den Kopf zu verdrehen,“ murmelte der Oberst.
„Wer ist schuld?“ erwiderte Bärenburg achselzuckend, mit einem Blick auf den Vetter.
Jetzt brauste Zdenko auf. „Deine Anspielungen [46] fangen an, mir herzlich zuwider zu werden,“ fuhr er den Vetter an. „Jeder Mensch, der die Verhältnisse kennt, muß Mitleid haben mit der armen Frau. Es ist wirklich nur einfach anständig, zu trachten, ihr Los ein wenig zu erleichtern. Sie hat eine ganz gute Erziehung genossen, – sie ist eine Polin und stammt von vermögenden Eltern, die plötzlich verarmt sind. Später bildete sie sich zur Pianistin aus, absolvierte das Konservatorium glänzend. Zwei Tage, ehe sie das erste Mal öffentlich spielen sollte, fühlte sie einen rasenden Schmerz in der rechten Hand. Es stellte sich heraus, daß sie sich den vierten Finger ‚verspielt‘ hatte – daß sie allenfalls noch zu ihrem Vergnügen musizieren, aber keineswegs mehr an eine künstlerische Carriere denken konnte. Die Not starrte ihr ins Gesicht, ihre sterbende Mutter redete ihr zu – und so heiratete sie den Swoboda. Mir ist einfach leid um sie – verstehst denn du das nicht? Sie ist gar so ein armer Hascher!“
„Hm,“ murmelte Bärenburg gedehnt, „und du glaubst vielleicht, daß deine Freundschaft sie reich machen wird?“
Viertes Kapitel.
Den nächsten Abend hatten sich Bärenburg und Swoyschin bei dem Obersten zu einer gemütlichen Tarockpartie zusammengefunden. Der Oberst hatte soeben einen großartigen Pagat gemacht, als sein Diener, wie jeden Tag um diese Stunde, den Posteinlauf hereinbrachte. Der Oberst unterbrach die Partie, um denselben zu sichten.
„Für Sie ist ein Paket von Rodeck eingelangt,“ wandte er sich an Swoyschin, „ein Federfächer in Schildpatt gefaßt, Wert … Der Teufel auch …“ Und der Oberst betrachtete kopfschüttelnd die gelbe Postbegleitadresse. „Welcher der Damen bestimmen Sie denn das kostspielige Ding?“
„Ach, der kleinen Doktorin,“ erwiderte Swoyschn etwas verlegen, „ich hab’ ein Vielliebchen an sie verloren!“
„Und da schenken Sie ihr ein so pompöses Objekt?“ rief der Oberst. „Denn der Fächer muß pompös sein, nach diesem Signalement zu urteilen!“
[48]„Ich möcht’ ihr gerne eine Freude machen,“ entschuldigte sich Zdenko.
„Ja, sie ist gar so ein armer Hascher,“ äffte ihn Bärenburg mit humoristischem Augenblinzeln. Dann zog er seine Uhr, klappte den Deckel auf, klappte ihn wieder zu und erhob sich.
„Wollen Sie nicht zum Souper bleiben?“ fragte ihn der Oberst.
„Danke vielmals, Herr Oberst, kann leider nicht,“ entgegnete Bärenburg, „ich habe etwas sehr Wichtiges zu thun!“
„So, was denn?“ fragte der Oberst, dem es anfing, lustig in den Augen zu blitzen.
„Ich … muß einen Brief schreiben … an meine Mutter,“ versicherte Bärenburg scheinheilig.
„So … nun, da will ich Sie um Gottes willen nicht aufhalten!“ rief der Oberst. Er wußte genau, wieviel es geschlagen hatte, und daß sich Bärenburg zu einem Rendezvous begab. Und diese Kenntnis verdankte er durchaus nicht einer geschmacklosen Prahlerei Bärenburgs, der in Bezug auf seine „bonnes fortunes“ verschlossen war wie das Grab, sondern den Indiskretionen der „schönen Müllerin“, welcher er den Hof machte, und die sehr stolz auf ihre noble Eroberung war.
Die „schöne Müllerin“ war die Gattin eines behäbig und philosophisch veranlagten Dampfmühlenbesitzers, [49] eine üppige Blondine, die sich langweilte – und Bärenburgs Vorgänger war ein Bezirksgerichtsadjunkt gewesen.
„Empfehle mich Ihnen zu besonderer Gnade, Herr Oberst,“ sagte, die Hacken zusammenschlagend, Bärenburg, dann dem Vetter auf die Schulter klopfend, rief er: „Servus, Alter!“
Zdenko reagierte nicht. Der Oberst reichte ihm zum Abschied die Hand und warf ihm einen Blick zu, der so viel sagen sollte als: „Viel Vergnügen!“ – und Bärenburg verschwand. Hinter der Thür hörte man ihn noch leise und gefühlvoll eine Stelle aus Elsas Duett mit Ortrud pfeifen.
Der musikalische Oberst kannte die Stelle und summte lächelnd den Text dazu: „Es gibt ein Glück – es gibt ein Glück, das ohne Reu’ …“
„Verfluchter Kerl, der Bärenburg,“ wendete er sich hierauf an Swoyschin, „man kann ihm nicht gram sein, einen guten Witz hat er immer bei der Hand! … Und recht hat er noch obendrein!“ Noch einmal summte er vor sich hin: „Es gibt ein Glück – es gibt ein Glück, das ohne Reu’!“
Swoyschin, an dem diese sinnige Anspielung bis dahin spurlos verloren gegangen war, hob den gesenkten Kopf. Er schien sich zugleich beunruhigt und verletzt zu fühlen. Der Oberst hatte indessen mit mühsam gespielter Unbefangenheit fortgefahren: „Neben [50] all seinem anscheinenden Leichtsinn ist Bärenburg merkwürdig vernünftig. Es ist mir kurzweilig, zuzusehen, wie sicher er sein Lebensschifflein führt, anscheinend ohne je einen Blick auf das Steuerruder zu werfen. Er gönnt sich mancherlei Pläsir im Leben, aber er vermeidet es dabei spitzfindig, sich oder dem, hm! … in den meisten Fällen sollte es heißen … der andern zu schaden. Das ist eine große Kunst!“
Der Oberst verstummte, er war seine Weisheit losgeworden, aber er fühlte, daß es in einer schwerfälligen und aufreizenden Art geschehen war. Etwas unruhig erwartete er eine Gegenäußerung Swoyschins. Diese erfolgte erst nach einer langen Pause.
„Herr Oberst!“ begann mit finsterem Blick und nur mühsam von Freundschaft und Respekt zurückgehaltenem Zorn der Oberlieutenant, „Herr Oberst, ich bin nicht sehr scharfsinnig, aber ich müßte geradezu blöde sein, wenn ich nicht gemerkt haben sollte, daß Sie diesen Vortrag zu meiner speziellen Belehrung gehalten haben.“
„Ich mache kein Hehl daraus,“ erwiderte der Oberst.
„Was meinen Sie eigentlich damit, Herr Oberst?“
„Sich darüber klar zu werden, überlasse ich Ihnen,“ entgegnete der Vorgesetzte.
„So gut ich’s verstehe,“ erklärte Swoyschin, „scheinen Sie zu glauben, daß meine Beziehungen zu [51] der armen Swoboda mit denen meines Vetters zu der schönen Müllerin parallel laufen, daß ich aber die Sache zu ernst nehme.“
„Daß Sie die Sache zu ernst nehmen, glaube ich allerdings,“ erklärte der Oberst –, „daß Ihre Beziehungen zu der armen, nervösen kleinen Swoboda mit denen des Vetters zu der schönen Müllerin parallel laufen, glaube ich nicht – aber verzeihen Sie mir das harte Wort – wir sind ja ganz unter uns – eigentlich bedaure ich es.“
Der Oberlieutenant runzelte die Stirn. Der Oberst fuhr fort: „Es wäre normaler, gesünder, und … unschädlicher!“
„Herr Oberst!“ rief Swoyschin fast heftig, „ich bin weder ein Duckmäuser noch ein Heiliger, aber eine Frau, in deren Häuslichkeit ich so vertrauensvoll aufgenommen worden bin, steht für mich außer dem Spiel. Ich habe nie Gelegenheit gehabt, ihr meine Achtung zu versagen, und habe ihr nie etwas angeboten als meine Freundschaft.“
„Freundschaft? Der Teufel hole die Freundschaft zwischen zwei so jungen Leuten wie Sie und die Doktorin!“ rief energisch der Oberst, „und was kann Ihre Freundschaft der kleinen Swoboda taugen?“
Swoyschin brachte seine alte bewährte Entschuldigungsformel vor: „Mir war so leid um sie. Sie ist gar so ein armer Hascher!“
[52]„Und glauben Sie, um mit Bärenburg zu reden, daß Ihre Freundschaft sie reich machen wird? Bärenburg hatte recht, von Anfang an hatte er recht in diesem Fall. Und ich war vernagelt. Das einzige, was Sie bewirkt haben durch Ihre Freundschaft, ist, daß sich die junge Frau über ihre Armut klar geworden ist. Wissen Sie, wie Sie mir vorkommen, Swoyschin? Wie die gewissen grausamen Volksbeglücker, die durch ihre thöricht verfrühten Bildungsversuche dem Volk die Fähigkeit abgewöhnen, sich in seinen kleinen Verhältnissen wohl zu fühlen![“]
„Die arme Swoboda ist vielleicht zu gut für ihre Stellung. Sei’s darum! Immerhin hatte sie sich an die dumpfe Luft, in der ihre Existenz sich abspann, gewöhnt, hatte sich gewöhnt, ihr Leben hinter trüben Fensterscheiben abzuwerkeln, aus denen es keinen Ausblick gab. Sie haben die Fensterscheiben für sie gesäubert, so daß sie einen Ausblick in die große, sich draußen ausbreitende Weltschönheit gewonnen hat. Geöffnet aber haben Sie das Fenster für sie nicht. Und jetzt ist sie wie ein armer, gefangener Vogel, der die Grenzen seiner Gefangenschaft nicht begreift und sich gegen das Glas, das er nicht sieht, den Kopf wundstößt!“
Der Oberst hielt inne – der Adjutant sah düster vor sich hin. „Etwas Wahres ist wohl an dem, was Sie sagen, Herr Oberst,“ murmelte er, „ich muß zugeben, [53] daß Sie recht haben, aber ich hatte es wirklich nur gut gemeint!“
„Das, mein liebes Kind, brauchen Sie mir nicht erst zu versichern,“ erklärte der Oberst, „ich verüble Ihnen die Sache auch nicht weiter. Weniges auf der Welt wirkt schädlicher als zu fein fühlende Menschen – aber es gibt auch weniges, das sympathischer ist!“
Damit klopfte der Oberst seinem geliebten Adjutanten auf die Schulter, freundschaftlich, aufmunternd und etwas kräftig, – letzteres, um nicht selber in den Verdacht übermäßiger Feinfühligkeit zu geraten.
Der Diener meldete, das Souper sei angerichtet. Der Oberst versicherte seinem Adjutanten – vielleicht um der Situation ihre sentimentale Spitze abzubrechen –, daß er riesig hungrig sei, und als der Adjutant nicht zu einem ähnlichen Geständnis zu bewegen war, erklärte er ihm: „Was nicht ist, wird werden, – ich meine, in Bezug auf Ihren Hunger. L’appétit vient en mangeant. Was nun Ihre großen Sorgen anbelangt, so ist die ganze Sache doch nur eine Lappalie! Ein wenig Festigkeit und Takt bringt alles ins Geleise. Sie werden sehen!“ …
Aber der freundliche Oberst irrte sich.
Nach Beratschlagung mit dem Freund gab Swoyschin richtig den für sie bestimmen Fächer bei der kleinen Doktorin ab, nahm jedoch zugleich Abschied von ihr, da er für die Weihnachtsferien nach Hause reiste.
[54]Die kleine Frau, hocherfreut über das Geschenk, gab bei dem Abschied Beweise von nervöser Erregung, die zugleich rührend und beunruhigend waren. Es war, als ob sie ahnte, daß dieser Abschied mehr als eine Trennung für vierzehn Tage, – daß er den Abschluß der hübschesten Episode in ihrer kahlen, nüchternen Existenz bedeute.
* * *
Zdenko atmete auf, als er nach längerer Wagenfahrt in das Eisenbahncoupé stieg, das ihn nach der Heimat befördern sollte. Zum erstenmal klang ihm der Pfiff, mit dem die Lokomotive die Abfahrt verkündete, wie Musik.
Als er am zweiten Januar nach Breznitz zurückkehrte, hatte er die blasse Doktorin fast vergessen. Leider sollte sie ihm nur zu bald ins Gedächtnis zurückgerufen werden.
Wie sich’s von selbst versteht, fand er einen starken Einlauf von Weihnachts- und Neujahrskarten vor. Anfänglich äußerte er die Absicht, die Dinger en bloc an eine Cousine zu schicken, welche solchen Krimskrams sammelte. Der allezeit vernünftige Oberst wendete ihm ein, daß es vielleicht doch besser sei, die Kärtchen vorher anzusehen, es könne sich immerhin ein schlechter Witz zwischen diese Sendungen eingeschlichen haben, den es geraten wäre, einem jungen [55] Mädchen vorzuenthalten. Zdenko wunderte sich lachend darüber, daß ihm eine solche Möglichkeit nicht selber eingefallen war, und die beiden Männer machten sich daran, die Karten zu prüfen. Die meisten stellten sich als äußerst harmlos heraus – kleine Landschaften, Frauenköpfe, Pferde, Genrescenen in Farbe oder Lichtdruck ausgeführt. Plötzlich fuhr Zdenko zusammen und ließ eine Karte fallen, als ob es eine unvorsichtig angefaßte glühende Kohle gewesen wäre.
Der Oberst warf einen Blick darauf. Die Karte war mit einer Federzeichnung verziert, und zwar stellte dieselbe einen Dragonerlieutenant vor, der, inmitten eines Kirchhofs stehend, auf die ihn umgebenden, mit weiblichen Namen verzierten Grabsteine Thränen herunter weint, die im Verhältnisse zu dem aufgezeichneten Lieutenant die Größe eines mäßigen Wasserkürbisses aufwiesen. Darunter stand geschrieben:
„Stimmen aus der Unterwelt. Auf die bekannte Melodie von Rubinstein zu singen.
Eine Neujahrswarnung aus dem Jenseits!“
Dieser äußerst geschmackvolle Scherz vor von einem vergilbten Zeitungsausschnitt begleitet, den Zdenko neben die Zeitung hatte fallen lassen. Auf diesem [56] Zeitungsausschnitt erspähte der Oberst, welcher, wie fast alle Reiteroberste, sehr rasche Augen hatte, die in Fettschrift gedruckten Worte:
„Weiblicher Doppelselbstmord – beklagenswerte Opfer aristokratischen Leichtsinns. Die Stelle des herzlosen Verführers hat in diesem Fall Graf S…“
Und plötzlich trat dem Freiherrn eine dunkle, jämmerliche Geschichte ins Gedächtnis zurück – eine Geschichte, die er vor etwa drei Jahren in der Zeitung gelesen hatte und welche zwei junge Mädchen betraf, von denen sich die eine aus unglücklicher Liebe zu einem jungen Kavalier, Grafen S…, erschossen, nachdem ihre Freundin, um ihr Mut zu machen, sich durch einen ersten Schuß aus demselben Revolver entleibt hatte.
Er sah den Adjutanten verdutzt an. Dieser war totenblaß geworden. „Sie wußten doch von der Sache,“ begann er heiser.
„Von dem unglückseligen Vorfall hatte ich allerdings gehört,“ stotterte der Oberst –, „vielmehr hatte ich davon in der Zeitung gelesen … Aber ich war damals in Polen. Um zu erfahren, wer dieser Graf S… sei, hätte ich erst nach Wien schreiben müssen, – dazu interessierte mich die Sache zu wenig. Damals wußte ich noch gar nicht von Ihrer Existenz, mein lieber Swoyschin, und als Sie in mein Regiment eintraten, hatte ich den Jammer längst vergessen. [57] Übrigens wäre es mir auch nicht im Traum eingefallen, Sie damit in Verbindung zu bringen … Hm! … Also Sie waren der Held der Geschichte?“
„Held!“ … Swoyschin zuckte die Achseln – „was Held … der unschuldige, fast ganz unschuldige Anlaß war ich … weiter nichts!“
„Hm! … hm!“ Der Oberst trommelte mit den Fingern auf dem Tisch; ganz geheuer schien ihm die Sache doch nicht zu sein.
„Vor allem,“ fuhr Swoyschin fast heftig werdend fort, „bitte ich, mir zu glauben, daß von leichtsinniger Verführung, – ja, von irgend einer Verführung gar nicht die Rede gewesen ist. Das eine von den beiden Mädchen – die, welche sich zuerst umgebracht hat –, kannte ich fast gar nicht – und die andre – mit der hab’ ich allerdings eine Zeitlang viel verkehrt. Ich hatte sie kennen gelernt … durch irgend einen Zufall …“
„Das kann ich mir anbetrachts der Lebensstellung der Armen denken,“ murmelte der Oberst.
„Sie that mir leid, – ich nahm mich ihrer an … aber ich versichere Ihnen, Herr Oberst …“
„Daß Sie die Situation nicht ausgebeutet haben!“
„Gewiß nicht,“ beteuerte er, „im Gegenteil.“ Und der Oberst setzte etwas trocken hinzu: „Ich glaub’s Ihnen aufs Wort. Gewiß war das Mädel der aggressive Teil.“
[58]Eine lange Pause folgte. Swoyschin hatte die beiden Ellbogen auf den Tisch gestützt und hielt sich die Hände übers Gesicht. „Gegen das Mädchen ist auch nicht viel zu sagen, Herr Oberst,“ murmelte er. „Sie war ein armer Narr. Wissen Sie, was die ganze Sache auf die Spitze trieb?“
„Wie sollt’ ich?“
„Nun … es ist ein Fall, den ich Ihrem Urteil unterbreiten möchte!“
„Ich stehe zu Diensten,“ versicherte der Oberst.
„Es handelt sich natürlich durchaus nicht um eine Person mit tadellosen Antecedenzien – das ist ausgemacht. Sie war leichtsinnig, wie sie alle sind, und nebstbei ein wenig sentimental. Sie sehnte sich nach reiner Luft – nach anständigen Lebensbedingungen. Ich unterstützte sie darin und behandelte sie mit einer gewissen Rücksicht, die sie sich als Achtung auslegte. Unsre Beziehungen liefen daneben her wie sie konnten. Wie alle diese Art von Mädchen, wenn sie sich und das Leben nicht einfach nüchtern und cynisch auffassen, war sie total konfus.“
Der Oberst schüttelte den Kopf. „Wie Sie sich auskennen, mein Lieber,“ bemerkte er; „um so zu generalisieren, müssen Sie nach der Richtung hin ausgiebige kulturhistorische Studien gemacht haben.“
Swoyschin errötete ein wenig und fuhr fort: [59] „Sie dauerte mich. Um sie zu zerstreuen, ließ ich sie Stunden nehmen und borgte ihr Bücher. Sie las mit einer wahren Gier. Aber anstatt besser wurde es immer ärger und ärger mit ihr!“
„Das hätte ich Ihnen im voraus sagen können,“ meinte der Oberst. Ohne auf diese Bemerkung etwas zu erwidern, nahm Swoyschin seinen Bericht wieder auf:
„Sie trieb mich mit den unmöglichsten Fragen in die Enge, wie zum Beispiel, ob sie, wenn sie sich einmal von ihrer Vergangenheit losgelöst haben würde, noch das Recht hätte, einen Ehrenmann zu heiraten oder in einer anständigen Familie Erzieherin zu werden. Und andre solche Fragen, auf die es keine Antworten gibt, die sich in den Sackgassen der Civilisation die Köpfe wund stoßen. Mir war so schrecklich leid um sie, aber da ich gar keinen Ausweg mehr wußte und ich ohnehin zu diesem Verhältnis gekommen war wie der Pontius ins Credo, so zog ich mich zurück, löste es endlich schriftlich. Ich atmete auf, als es vorüber war. Eigentlich wunderte ich mich, daß sie die Trennung so ruhig hinnahm, – spottete mich aus dafür, daß ich die Person ernst genommen, und meinte, die tröstet sich mit einem andern.
Kurze Zeit darauf kommt meine Mutter mit meiner Cousine Annie nach Wien. Ich war selig und von früh bis abends mit den beiden beisammen, denen ich recht ausgiebig die Honneurs der Kaiserstadt [60] machen half, – denn meine Mutter hatte Wien beinahe vergessen, und Annie kannte es gar nicht, und ihr zwitscherndes Stimmchen war so herzig, und die großen, erstaunten Augen und die Atmosphäre von absoluter Reinheit und Lebensunkenntnis um so ein jungen Mädchen herum, – ach, was ist das lieb! Ich dankte meinen Sternen, daß es mit der armen Lydia aus war! Da, – wir waren in den Prater gefahren, und da das Wetter sehr schön war, stiegen wir aus, machten ein paar Schritte zu Fuß. Ich war ganz stolz, mich mit zwei so schönen Damen zu zeigen, denn meine Mutter ist immer noch eine schöne Frau, und Annie – Annie ist reizend. Alle Leute sahen uns an, unter andern ein paar Kameraden, denen die Neugier aus den Augen leuchtete. Da plötzlich kamen zwei merkwürdige Erscheinungen auf uns zu: Lydia und ihre Freundin – beide geschminkt, auffällig gekleidet, unmöglich. Lydia sieht mir voll ins Gesicht. Ich unterlass’ es, sie zu grüßen – absichtlich. Was hätte ich andres thun sollen?
Gegen Abend reisen meine Damen ab, ich begleite sie bis auf den Semmering – wir übernachten dort, bringen einen entzückenden Tag in den Bergen zu. Als ich spät abends des nächsten Tages nach Hause komme, find’ ich die Nachricht vor, daß sich Lydia Böckel bereits in der vorhergegangenen Nacht erschossen hat mit ihrer Freundin, – finde einen [61] Brief, in dem sie mich bittet, ein ‚Vaterunser‘ neben ihrer Leiche zu beten. Der Brief war lang, verwickelt, voll Phrasen, aber er schnitt mir ins Herz. An einen Satz erinnere ich mich genau: ‚Die Kluft zwischen dem, was ich bin, und dem, was ich sein möchte, ist zu groß, als daß ich noch weiter versuchen könnte, eine Brücke darüber zu bauen. Es ist alles aus – nimm mir meinen Tod nicht übel und mach Dir keine Vorwürfe, Du kannst nichts dafür, hast nur Deine Pflicht gethan, aber ich … ich kann es eben nicht länger aushalten in einer Welt, in der es die Pflicht eines Ehrenmannes ist, Geschöpfe wie mich so tief zu verletzen, wie Du mich heute verletzt hast …‘
Wie das weh gethan hat – es war so schrecklich wahr! Natürlich fuhr ich sofort in die Roßau, wo sie wohnte, um ihre letzte Bitte zu erfüllen.
Es war gegen elf Uhr, als ich hinausfuhr. Sie kennen diese schwülen Sommernächte in Wien, die verpestete Luft, in der es nach allem riecht, was faul ist und was man den Tag über versteckt! Und am allerärgsten war die Luft in dem Haus, in dem sie wohnte, in der elenden Vorstadtbaracke! … Die hohe, schmutzige Treppe, die kein Ende nehmen wollte, und ganz oben im dritten Stock ihr Zimmerchen, das ich kannte. Sie lag auf ihrem Bett mit gefalteten Händen, auf dem Gesicht ein Ausdruck von unbefriedigter [62] Sehnsucht, der mir durch Mark und Bein ging! – Sie hatte sich ins Herz geschossen.
Vierundzwanzig Stunden waren seit ihrem Tod verflossen. Die Leiche war bedeckt mit Blumen. Alle hysterischen Frauen Wiens hatten Blumen geschickt, der Duft war betäubend, er mutete mich sonderbar an nach den Miasmen auf der Straße, auf der Treppe! … Ich kniete nieder und betete mein ‚Vaterunser‘, und während ich mitten im Beten war, hatte ich das Gefühl, jemand träte herein. Plötzlich überkam mich eine Übelkeit, eine Beängstigung – aus dem Blumenduft drang etwas Fürchterliches, Ekelhaftes, Schauriges. Ich richtete mich auf – und da … am Fußende des Bettes, auf dem die Tote lag, sah ich eine hohe, schmale Gestalt in einem schwarzen Mantel, deren Kapuze so weit um ihr Gesicht vorgezogen war, daß man dasselbe nicht erkennen konnte. Nur zwei ungeheure schwarze Augen sah ich, die mich gierig anfunkelten. Ich blieb stehen wie gebannt – die schwarze Gestalt kam auf mich zu. Sie machte den Eindruck zu schweben – ohne jegliche Bewegung ihrerseits – sie kam näher – alles drehte sich mit mir …
Als ich wieder zu mir kam, lag ich in meinem Bett. Man hatte mich ohnmächtig neben der Leiche gefunden und nach Haus transportiert. Ich fragte nach der schwarzen Gestalt, niemand konnte mir Auskunft geben … kein Mensch hatte sie bemerkt!
[63]Wer’s war … was es war … weiß ich nicht. Später redete ich mir ein, es müsse doch ein Gebilde meiner Phantasie gewesen sein, die Verkörperung meines schlechten Gewissens. Aber ich habe kein schlechtes Gewissen, Herr Oberst, ich habe Ihnen genau die Wahrheit gesagt. Was hätten denn sie gethan, wenn Sie mit, sagen wir, mit Ihrer Mutter und Schwester so einem Geschöpf begegnet wären?“
„Gewiß, mein Lieber, hätte ich in dem Falle nicht anders gehandelt als Sie,“ erklärte der Oberst, „und niemand konnte anders handeln, aber … Ihr Unrecht liegt weiter zurück … Unrecht … Unrecht ist nicht das Wort … Unklugheit … ich weiß nicht … kurz, Sie hätten das arme Ding nicht erst mit so viel Rücksichten verwöhnen sollen – Rücksichten, die doch zu nichts führen konnten. Wenn Ihnen noch einmal ein hysterisches Mädel nachläuft, so werden Sie lieber gleich von Anfang an grob, es wird Ihnen wenigstens die Notwendigkeit ersparen, zum Schluß grausam zu sein! Ziehen Sie eine Lehre daraus für die Zukunft – und im übrigen lassen Sie die Toten ruhen in Frieden; es taugt zu nichts, in Gräbern zu wühlen!“
„Ach, ich war so froh, ein wenig vergessen zu haben!“ murmelte Swoyschin, der ganz blaß geworden war. „Diese Zusendung“ – er deutete auf den Zeitungsausschnitt – „ist eine unerhörte Gemeinheit, [64] und derjenige, der sie auf dem Gewissen hat, der soll mir Rede stehen!“
* * *
Den Abend legte sich der Oberst mit einem bekümmerten, unbehaglichen Gefühl zu Bett.
Wie es sich herausstellte, hatte Swoyschin den Urheber des geschmackvollen Scherzes sofort erraten. Den nächsten Tag kam es zwischen ihm und dem schönen Hermann im Offizierskasino zu einer sehr kurzen, aber scharfen und deutlichen Auseinandersetzung, deren Resultat um vierundzwanzig Stunden später ein Säbelduell war, bei dem Swoyschin seinen Gegner unbarmherzig zusammenhieb. Er lieferte den Beweis, daß er in der Schlacht ganz tüchtig seinen Mann stellen würde, und daß seine übermäßige Feinfühligkeit wirklich nur dem zarten Geschlecht galt.
Er selber kam mit einer Schmarre davon, während Märzfeld lebenslänglich einen steifen Arm behalten sollte. Letzterer fand es auch geraten, den Dienst zu verlassen, was ihm insofern nicht allzu schwer fiel, als ihm die Reichtümer seines Vaters gestatteten, seinem anstrengenden militärischen Beruf gegen die angenehme Faulenzerexistenz eines Countrygentleman, der nicht auf das Erträgnis seiner Güter angewiesen ist, zu vertauschen.
Aber trotz des für ihn glänzenden Verlaufs des [65] Duells konnte sich Swoyschin zu keiner rechten Lustigkeit aufraffen. Der Oberst verwünschte die Taktlosigkeit Märzfelds und gönnte ihm alle Unbill, mit der er dafür büßen mußte.
Zdenko lebte jetzt noch zurückgezogener als früher, besorgte seine Dienstpflichten pünktlich, aber mechanisch, gerade so wie er jetzt musizierte – nämlich streng im Takt, aber ohne alle persönliche Empfindung.
Mehreremal erhielt er Briefe, die er einsteckte, ohne sie vor dem Obersten zu öffnen. Da übrigens der Adjutant des Obersten zu Neujahr als gänzlich geheilt aus seinem Sanatorium zurückgekehrt war, so war das Verhältnis zwischen den beiden natürlich einigermaßen gestört, der unbeschränkte Gedankenaustausch zwischen ihnen nicht mehr möglich.
Wenngleich Zdenko fortfuhr, im selben Hause mit dem Obersten zu wohnen, so wußte dieser in Bezug auf sein Privatleben doch nichts mehr, als was die ganze Stadt wußte, – daß Zdenko den Verkehr mit der hübschen, blassen Doktorin fast gänzlich abgebrochen hatte, und daß diese sich nicht hineinzufinden vermochte.
Ende Januar sah der Oberst bei helllichtem Tage Swoyschin aus dem kleinen, gelb angestrichenen Haus in der auf den Ringplatz hinaus mündenden Straße treten, das die Swobodas bewohnten. Er hatte die Augenbrauen fest zusammengezogen und die Zähne in [66] die Unterlippe gepreßt. Als ihn der Oberst anreden wollte, warf er ihm einen flehenden Blick zu und machte eine abwehrende Handbewegung, dann schritt er rasch und stumm an seinem Vorgesetzten vorbei.
Der Oberst begriff, daß er den jungen Menschen vorläufig in Ruhe lassen mußte; er erriet, daß Swoyschin endlich, um die Sache abzuschließen, sich zu der von der Doktorin so heiß ersehnten Auseinandersetzung herbeigelassen hatte; er erriet auch, wie dieselbe ausgefallen war.
Mehrmals im Laufe des Tages trat er leise an die Thür des jungen Mannes, welche dieser versperrt hatte; immer hörte er ihn im selben hastigen Schritt auf und nieder gehen. Das dauerte bis tief in den Abend hinein. Der Oberst hatte soeben das Souper abtragen lassen, als es an seine Thür pochte. Swoyschin trat ein, stumm drückten die beiden Männer einander die Hand, dann nahm Zdenko auf die freundliche Einladung des Obersten in seinem Lieblingseckchen Platz. Der Oberst gönnte ihm die Zeit, sich zu sammeln, beunruhigte ihn nicht mit Fragen, sondern sah ihn nur aus seinen freundlichen grauen Augen teilnehmend an.
Endlich räusperte sich der junge Mensch ein paarmal, dann begann er: „Sie haben das Ganze werden sehen – also kann ich offen mit Ihnen reden – und das erleichtert mir vielleicht die Seele. Mir [67] ist’s freilich heute zu Mut, als ob mir nichts mehr die Seele erleichtern könnte – aber das ist Unsinn, man lebt ja doch darüber hinweg.“ Er legte seiner Gewohnheit gemäß die Hand über die Augen, schöpfte tief Atem und fuhr fort: „Der Umstand, daß die Leute anfingen über meine Beziehungen zu der armen kleinen Doktorin zu reden, was die widerwärtige Neujahrssendung Märzfelds bewies, hatte mich – mehr noch als Ihre vorhergehenden, freundlichen Warnungen, Herr Oberst – dazu bestimmt, den Verkehr mit ihr so gut wie gänzlich aufzugeben, ihr gegenüber eine durchaus reservierte Haltung anzunehmen. Sie konnte sich nicht hineinfinden, armer Narr! – Sie schrieb mir Brief auf Brief, und ihre Briefe waren herzzerreißend! … Sie bildete sich ein, daß ein geheimer Grund mein verändertes Benehmen herbeigeführt haben müsse, – es konnte nicht mit richtigen Dingen zugehen, man mußte sie mir gegenüber verleumdet haben. Sie flehte mich an, ich solle ihr Gelegenheit geben zu einer Auseinandersetzung. Und endlich sagte ich mir, daß es so doch nicht weitergehen könne, und ich entschloß mich, ihre Bitte zu erfüllen.
Ich besuchte sie zu der Stunde, die sie angegeben hatte – einer Stunde, in der wir ungestört miteinander reden konnten –, ich hoffte, daß es mir gelingen würde, sie zu beruhigen.
[68]Natürlich … nur um sie so wenig zu demütigen als möglich, fing er damit an, ihr zu versichern, daß es mir wenigstens ebenso schwer falle, unsere Beziehungen abzubrechen, als es ihr schwer fallen könne. Ich hatte gelogen!“ Er stockte.
Der Oberst sah ihm forschend ins Gesicht. „Hm! Barmherzigkeitslügen sind erlaubt,“ brummte er – „nur beschwören sie manches Mal höchst unerwünschte Wirkungen herauf. Das mag wohl bei der Doktorin der Fall gewesen sein.“
„Ja,“ gestand Zdenko, ohne aufzublicken. „Sie war sofort bereit, alles über den Haufen zu werfen, ihren Mann, ihre Kinder, ihr Pflichtgefühl und die Meinung der Welt, – das war alles, als ob es nie für sie existiert hätte“ – er schüttelte sich – „es war gräßlich! Beim Anblick der beiden Selbstmörderleichen in Wien hatte ich nicht gelitten, was ich litt beim Anblick ihres armen Gesichts, als sie anfing zu verstehen, daß es keine Hilfe gab, daß es aus war, wirklich aus! – Ich mußte sie schließlich anfahren, ich mußte ihre Hände von meiner Uniform herunterreißen, so schwache, hilflose Hände! Ich höre noch den Laut, mit dem die Nägel an dem Tuch herunterfuhren! – Ach, ich versichere Ihnen, Herr Oberst, nichts auf der Welt ist ärger, als in so einer armen Frau die Hoffnung tot zu schlagen und sie ihrer Scham preiszugeben! Zehnmal lieber hau’ ich einem Kerl [69] wie dem Märzfeld mit meinem Säbel den Kopf ab bei einem Duell!“ Wieder hielt er sich die Hand über die Augen.
Aus einem verlegenen Schweigen heraus trachtete der Oberst den jungen Freund zu trösten.
„Gar zu ernst dürfen Sie die Sache nicht auffassen – sie wird’s verwinden – bei diesen sentimentalen, überspannten Frauen geht so etwas gewöhnlich nicht zu tief.“
„Ja, Herr Oberst, das Gefühl für mich geht vielleicht nicht tief, – aber der Ekel vor ihren Lebensbedingungen, der Ekel, den ich ihr unvorsichtigerweise beigebracht hab’, der geht tief! Mich würde sie wahrscheinlich leicht genug vergessen, wenn sie einen andern Ausweg aus der Plattheit ihrer Existenz finden könnte als ihre Leidenschaft. Haben Sie je eine Blume gesehen, die, im Schatten einer hohen Mauer aufwachsend, sich streckt und streckt bis über die Mauer hinauf, weil sie nicht blühen kann ohne Licht? Sie streckt sich und streckt sich, bis sie ganz dünn wird davon, aber es gelingt ihr doch, über die Mauer zu sehen, es gelingt ihr einmal, ihre Blüten zu entfalten und die Sonne zu grüßen. Und kaum, daß sie über die Mauer geschaut hat, kommt ein kalter Sturm und bricht ihre armselig und mühsam entfaltete Blüte ab! – Sehen Sie, Herr Oberst, an so eine Pflanze erinnert mich die Doktorin.“
[70]„Bah! werden Sie nicht zu poetisch und kommen Sie sich nicht gar zu wichtig vor, liebes Kind,“ erwiderte der Oberst, „die Sache wird sich geben, – viel schneller als Sie sich denken. In kürzester Zeit wird Gras gewachsen sein über die Sentimentalitäten der Doktorin!“
Der Oberst sagte Dinge, die er nicht glaubte, wie die meisten Menschen, wenn sie sich bemühen, ihre Nebenmenschen zu trösten, aber diesmal sollte sich seine Prophezeiung erfüllen, freilich in einer ganz andern Weise als der gutmütige Reitersmann dies gemeint hatte.
* * *
Wenige Tage nach dieser hier wiedergegebenen Unterredung erschien der Regimentsarzt bei dem Obersten, und zwar in Parade, was auf einen wichtigen Grund seines Besuches zu deuten schien.
Und einen wichtigen Grund hatte dieser Besuch. Wie es sich herausstellte, war Swoboda gekommen mit der Bitte, der Oberst möge ihm zu seiner Versetzung in ein andres Regiment verhelfen. Die ausschließlich tschechischen Schulen in Breznitz seien hinderlich bei der Erziehung seiner Knaben, begann er, und dann – seine Frau könne das Klima nicht vertragen.
Nicht ein unfreundliches Wort über die Frau, [71] nicht eine Anspielung auf den wirklichen Stand der Dinge! Der schwerfällige Regimentsarzt, Sohn eines kleinen Spezereikrämers aus Komotau, benahm sich wie ein Gentleman. Der Oberst zollte ihm in seinem Herzen die warme Anerkennung, die er mit den Lippen für immer verschweigen mußte! Und doch – als er ihn ansah, kurz, gedrungen, mit den schmalen grauen Augen in dem flachen, von einem blonden Vollbart umrahmten roten Gesicht, mit den kurzen, dicken Händen, die in den oft gewaschenen und etwas zu engen Militärhandschuhen doppelt dick und kurz aussahen, ergriff ihn zugleich mit dem Mitleid für den Mann das Mitleid mit der Frau.
Die Stimme des Regimentsarztes, immer ein wenig heiser und dünn, besonders in Anbetracht des Umfangs seines Brustkastens, klang, von seiner mühsam bekämpften Erregung zugeschnürt, geradezu krähend. Einer seiner Handschuhe war beim Knopfloch geplatzt – das rote Fleisch quoll hervor. Der Oberst erinnerte sich dessen, wie die Hände aussahen ohne Handschuhe – die stumpfen, rotbeharrten Finger, die flachen, schartigen, schaufelförmigen, fast nie ganz sauberen Nägel.
Es war wirklich zu traurig, die Frau dieses Mannes zu sein mit einer unglücklichen Liebe für Zdenko Swoyschin – traurig und ein wenig lächerlich zugleich, wie so viele Dinge im Leben.
[72]Da dem Obersten übrigens gar nichts gelegener kommen konnte, als die Bitte des Doktors, so versicherte er ihn aufs wärmste, daß er sich sofort für ihn verwenden wolle, und daß es ihm auch sicherlich gelingen werde, seine Versetzung zu bewirken.
Sobald der Arzt gegangen war, teilte der Oberst diese neue Wendung der Dinge seinem jungen Freunde mit, der seinerseits aufrichtige Befriedigung darüber empfand.
* * *
Bis dahin hatte er sich noch immer nicht beruhigen können; immer wieder hatten ihn die Bilder aus der Existenz der jungen Frau verfolgt, – ihre Existenz, in der alles klein war, außer der Sehnsucht, herauszukommen, einer Sehnsucht, die nicht befriedigt werden konnte. Er sah ihr kleines Wohnzimmer, die mühseligen Handarbeiten, die sorgfältig eingerahmten Vedutenphotographieen, die paar Blumen, alle ihre rührenden und kläglichen Versuche, sich aus der Kümmerlichkeit heraus den Weg zu irgend einem Ideal zu bahnen.
Es war besser, daß sie ging, leiden würde sie überall, aber vielleicht doch weniger, als sie hier litt.
Nach vielfacher Schreiberei erreichte der Oberst richtig die gewünschte Versetzung für den Regimentsarzt. Im Frühjahr sollte dieser die Garnison wechseln. [73] Seine Frau wollte er schon früher und zwar zu ihren Eltern schicken.
„Die Emmi ist den Umzugsstrapazen nicht gewachsen,“ erklärte er; „bei einem Umzug stehen immer zu viele Fenster und Thüren offen, da erkältet sie sich mir auf den Tod.“
Sie leistete keinen Widerstand, sondern erklärte sich mit allem zufrieden, was er vorschlug.
Im übrigen war ihre Haltung jetzt musterhaft. Man sah sie selten auf der Straße, und wenn, immer zwischen ihren zwei kleinen Buben – den Buben mit den dicken Köpfen und derben Stumpfnasen, die ihrem Gatten ähnlich sahen. Und die Buben machten verdutzte, traurige Gesichter, wie alle Kinder, wenn ihr Heim unter einem moralischen Druck leidet, wenn niemand mit ihnen spielt und lacht.
Frau Emmi wurde alle Tage schmäler und blässer und drückte sich alle Tage tiefer in den Schatten. Wenn es je vorkam, daß Swoyschin ihr begegnete, so erwiderte sie seinen ehrerbietigen Gruß mit einem Kopfnicken und einem ängstlich verlegenen Lächeln, bei dem ihr jedesmal die Thränen in die Augen traten. Von ihrer Zudringlichkeit, einem Versuch, ihn anzusprechen, ihre Beziehungen zu ihm neuerdings anzuknüpfen – nie eine Spur!
* * *
[74]Der Winter war kalt und lang, das einzige Vergnügen der Offiziere in Breznitz bestand im Schlittenfahren und Schlittschuhlaufen. Bei letzterem zeichnete sich der Oberst ganz besonders durch seine tüchtige, wenn auch ein wenig altmodische Kunstfertigkeit aus, während sich Swoyschin als ein Virtuose ersten Ranges erwies.
Beim Schlittschuhlaufen wurde er ausgelassen lebendig. Solange er, auf seinen schmalen Eisen dahinfahrend, allerhand spitzfindig ausgeklügelte geometrische Figuren beschrieb oder auch mit planloser Geschicklichkeit im Genuß rasch hinschwebender Bewegung schwelgte, vergaß er alle seine Sorgen, vergaß, daß es überhaupt Weiber auf der Welt gibt.
Der beliebteste Versammlungsort der Schlittschuhläufer war ein Weiher, der sich in einem von dem Garnisonsstädtchen eine halbe Stunde weit entfernten verwilderten Parke befand, der sich um ein verlassenes Schlößchen zog, das den Namen Monbijou trug und im Sommer zu einer Restauration verwendet wurde, während es im Winter gänzlich leer stand.
Es war ein poetisches Plätzchen, und die Soldaten mußten eifrig herhalten mit dem Herrichten der Eisbahn, mit Kehren und Schaufeln.
Die Offiziere liefen Schlittschuh bei Sonnenaufgang, sie liefen Schlittschuh bei Sonnenuntergang – sie liefen Schlittschuh bei Mondschein.
[75]Aber auch der strengste Winter nimmt sein Ende. Auf der Elbe draußen schwammen die Eisschollen, – den Tag zuvor war die Eisdecke geborsten mit furchtbarem Gekrach.
Aber der Weiher von Monbijou trug noch, wie die Offiziere sich ausdrückten; ein letztes Mal mußte man sich die Freude gönnen. Das Eis schwitzte bereits stark, und gewissen Stellen an der südlichen Seite des Teiches mußte man ausweichen. Der Park hatte seine weißglitzernde Märchenpracht eingebüßt und zeigte sich in seiner ganzen häßlichen braunen Vorfrühlingskahlheit, die Bäume schienen aus dem Schlamm herauszuwachsen, hie und da breitete sich ein schmutzigweißer Schneefleck zwischen zwei Pfützen aus. Es war häßlich, aber durch die Kronen zog sich ein geheimnisvolles Rauschen, das von kommender Frühlingsschönheit weissagte, und der Geruch, der aus der häßlichen, kahlen Erde aufstieg, kündete von neuem Keimen und Blühen.
Die Offiziere wußten, daß es ihr letzter Eistag war, und konnten sich von ihrem Vergnügen nicht losreißen – der Oberst mitten unter ihnen.
Ein paar Offiziersdamen mischten sich in den Reigen. Am Rande des Teiches stand eine Gruppe neugieriger Bürger und Bürgersfrauen und betrachteten das Schauspiel, unter ihnen die schöne Müllerin, die ihren Anbeter durch ein großmächtiges Opernglas [76] fixierte, und die gebildete Gattin des Schuldirektors.
Da erschien die Doktorin für einmal ohne ihre beiden Buben, aber mit dem traurigen, gebrochenen Blick in den Augen, den Swoyschin so gut kannte.
Auch die andern Offiziere kannten diesen Blick, besonders der Oberst. Ihm war sehr leid um die junge Frau. Er trat bis knapp an den Rand des Teiches, um sie zu begrüßen. „Sie schleifen heuer gar nicht, gnädige Frau,“ bemerkte er, „und sind doch, so gut ich mich erinnere, eine eminente Eiskünstlerin.“
„Ich hatte diesen Winter keine Zeit, ich mußte doch die Übersiedelung vorbereiten,“ murmelte sie schüchtern mit ihrer weichen, umflorten Stimme und ihrem fremdartigen polnischen Accent.
„Wie es scheint, werden Sie uns bald verlassen,“ bemerkte der Oberst.
„Ja, sehr bald.“
„Wann gedenken Sie abzureisen?“
„Morgen. Wenn die große Kälte nicht gewesen wäre, wär’ ich früher fort, – ich wollte das warme Wetter abwarten,“ erwiderte sie, immer in ihrer hastigen, eingeschüchterten Art.
„Nun, das warme Wetter scheint sich ernstlich eingestellt zu haben,“ mischte sich Bärenburg ins Gespräch, – offenbar drängte es auch ihn, ein letztes [77] Mal freundlich gegen die arme Doktorin zu sein, – „das Eis taut uns ja unter den Füßen, und dort, neben den Weiden“ – er deutete auf eine Stelle an der Südseite des Teichs –, „dort kracht es ganz abscheulich, man darf sich da gar nicht mehr hinwagen. Es ist heute entschieden unser letzter Tag. Schade, – es geht nichts über das Schleifen!“ Mit einer kühnen Wendung beschrieb er einen weitläufigen und verwickelten Schnörkel auf der Eisdecke, um dann plötzlich wieder vor der Doktorin, zu deren Verblüffung und Zerstreuung er sich angestrengt hatte, stehen zu bleiben.
„Ich bin auch immer sehr gerne Schlittschuh gelaufen,“ sagte die Doktorin.
„Schade, daß Sie es aufgegeben haben, gnädige Frau,“ rief jetzt eine Stimme, bei deren Klang nicht nur die Doktorin, sondern auch Bärenburg und der Oberst zusammenschraken. Es war die Stimme Swoyschins. Bärenburg und der Oberst fanden es ganz in der Ordnung, daß er der unglücklichen Frau zum Schluß ein paar tröstliche Huldigungen bieten wolle. Sie zogen sich zurück, um ihm freieres Spiel zu gönnen.
Die Situation war in jedem Fall linkisch für ihn; wenn er sich beobachtet gefühlt hätte, wäre ihm jeder Schatten von Unbefangenheit geschwunden.
„Also schon bald verlassen Sie uns?“ begann er, als sie allein waren.
[78]Sie nickte nur.
„Schade,“ meinte er, und dann nach einer Pause – es waren zu viele Menschen am Rande des Teichs, lauter Menschen, die ihn anstarrten – „wollen Sie nicht ein wenig schleifen zum Abschied?“
Sie machte ein unschlüssiges Gesicht – sie hatte keine Schlittschuhe mit. Eine der Regimentsdamen, die im Begriff stand, den Eisplatz zu verlassen, bot ihr ihre Schlittschuhe an. O, man war allgemein liebenswürdig gegen die Doktorin, seitdem man wußte, daß sie morgen abreisen sollte!
Konnte sie dem Vergnügen, ein letztes Mal mit ihm über das Eis hinzuschweben, nicht widerstehen oder war plötzlich aus der Freude an seiner Freundlichkeit eine verzweifelte Absicht in ihr erwacht?
Sie setzte sich auf eine Bank am Rande des Teichs, und Swoyschin kniete vor ihr nieder, um die Schlittschuhe an ihren Füßen zu befestigen. Ihre Füße waren sehr klein – rührend klein und schmal – die Schlittschuhe waren zu groß für sie. Swoyschin mußte sie zusammenschieben und schrauben. Als er sie endlich fest gemacht, bemerkte er: „Sie werden sich ein wenig unsicher fühlen das erste Mal, darf ich Sie führen?“ Sie legte ihre Hand in die seine, und sie schwebten dahin.
Sie wußte, daß er nur so gut gegen sie war, weil sie morgen abreiste – weil es ihn zu nichts [79] mehr verpflichten konnte, aber sie war doch selig. Auf ihren Wangen waren die Rosen erblüht, und aus ihren Augen strahlten die Sterne. Sie dachte nicht über den Augenblick hinaus, nicht an das, was später kommen sollte.
Man konnte sich keine bessere Partnerin wünschen zum Eislauf, – in jeder Bewegung paarte sich Sicherheit und Grazie – es war, als ob sie mit den Schlittschuhen an den Füßen geboren worden wäre.
Hie und da sagte er ihr etwas Weiches, Aufmunterndes. Sie antwortete nur mit einem verträumten Lächeln – wozu reden!
Fast eine halbe Stunde hatte er sie geführt. Dann hatte ihn Bärenburg abgelöst. Jetzt flog sie allein über das Eis, die Arme über der Brust verschränkt, mit halb geschlossenen Augen. Die Sonne senkte sich, die Schatten der Bäume streckten sich lang über das fahle, graugelbe Wintergras und die Flecken schmutzigen Schnees, die stellenweise übrig geblieben waren. Am östlichen Horizont glühte es dumpf rot hinter abdämpfenden Wolkenschleiern. Alle Konturen waren verwischt.
„Swoyschin, ich geh’ nach Hause – bleiben Sie noch?“ rief der Oberst, worauf der Oberlieutenant ihm erwiderte: „Nur einen Augenblick, Herr Oberst, ich begleite Sie.“ Er wollte nur zu der Doktorin hin, um sich von ihr zu verabschieden. „Gott [80] sei Dank, daß es vorüber ist!“ murmelte er, als er zu seinem Freunde zurückkehrte.
Er bückte sich, um sich die Schlittschuhe von den Füßen zu ziehen. Plötzlich entfuhr ihm ein halberstickter Laut, – dann den Obersten, der neben ihm stand, heftig am Arm packend, stieß er hervor: „Herr Oberst! … sehen Sie dort … die schwarze Gestalt, die gierigen Augen …“ Unter die herabhängenden Äste eines Faulbaums deutete er. Der Oberst sah nichts.
„Herr Oberst! …“
Plötzlich, was war das? Der scharfe harte Laut berstendes Eises, dann das zornige Aufrauschen von Wasser, das einen Menschenkörper verschlingt!
„Um Gottes willen, die Doktorin!“ schrie man von allen Seiten – „die Doktorin!“
Rascher als alle andern war Zdenko am Platz; er tauchte unter, hob den Kopf aus dem Wasser, tauchte noch einmal unter … Alles wollte auf den Platz zueilen, alle seine Kameraden ihm nachspringen. Aber es war nichts zu machen – das Eis trug keinen mehr – und einer, der durchbrach, nützte nichts. Alle, die sich ihm näherten, konnten nur hinderlich und verderbenbringend sein.
Ein paar Offiziere waren fortgeeilt, um Eishaken zu holen, damit die Öffnung der Eisdecke erweitert werden könnte. Atemloses Entsetzen … [81] fiebrige Spannung! Die Kameraden wußten, daß er nicht zurückkehren würde ohne sie.
Alles still … still … totenstill, – nur das Knistern und Knattern des berstenden Eises … da … jetzt tauchte der Kopf Swoyschins aus dem Wasser!
Bärenburg beugte sich vor und zog den Vetter ans Land. Zdenko hielt sie in den Armen … er hatte sie gerettet!
Gerettet? …
Dort auf die Bank neben dem Ufer legten sie sie nieder. Ihre Kleider waren schwer von Schlamm, das wasserüberrieselte Gesichtchen war weiß und rein und von einem wundersamen Ausdruck verklärt. Es war, als ob sie’ noch im letzten Augenblick gewußt habe, daß er sein Leben eingesetzt hatte für sie – als ob sie es empfunden, daß sie in seinen Armen gestorben war!
* * *
Zwei Tage später folgte das ganze Offizierscoprs dem Sarg der armen Doktorin bis zu dem nahen Kirchhof. Nur Swoyschin fehlte. Ein heftiges Nervenfieber hielt ihn auf seinem Lager fest.
Als sich sein Bewußtsein von seinen Delirien losrang, thaten sowohl der Oberst als die Kameraden, was sie konnten, um ihm den marternden Gedanken auszureden, daß die Unglückliche sich absichtlich auf das [82] dünne Eis gewagt hatte, vor dem sie ausdrücklich gewarnt worden war.
Es gelang ihnen auch, ihn zu beruhigen. Aber so fest ihre Behauptungen klangen, daß es lächerlich sei, die Katastrophe irgend einem andern Umstand als ein einem unglücklichen Zufall beizumessen, – im Herzen stand’s bei ihm fest, daß die arme Emmi Swoboda freiwillig in den Tod gegangen war.
Im Grunde genommen verwunderten sie sich darüber, daß Swoyschin sich die Sache verhältnismäßig rasch ausreden ließ, daß er sich früher, als man erwarten durfte, beruhigte.
Am meisten wunderte sich der Oberst. Doch hatte er schon einmal, als ihm der junge Mann seine Geständnisse hinsichtlich der unglücklichen Lydia Bökel-Katastrophe gemacht hatte, bemerkt, daß Swoyschin mit seinen selbstquälerischen Vorwürfen verhältnismäßig leicht fertig geworden war.
Es hatte ihm schon damals das ideale Bild seines liebsten Offiziers gestört. Jetzt störte es ihn wieder. Er tröstete sich damit, daß sich in dieser energischen Abwehr des Schuldbewußtseins der Selbsterhaltungstrieb einer sehr sensitiven Natur äußerte, die das Schuldbewußtsein entweder negieren oder daran zu Grunde gehen müßte. Der Selbsterhaltungstrieb war freilich an und für sich keine besonders schöne Eigenschaft, aber einem, der sein Leben so kühn aufs Spiel [83] gesetzt hatte, wie Swoyschin bei diesem Ereignis auf dem Eisplatz, dem konnte man etwas nachsehen.
Als gegen Ende April Zdenko von seinem Nervenfieber hergestellt war, nahm er einen einjährigen Urlaub. So schwer ihn der Oberst entbehrte, so hatte er ihm doch selbst zu dieser Unterbrechung des Dienstes geraten.
Fünftes Kapitel.
Das Jahr war vorbei – das Jahr und noch einige Tage darüber.
Zdenko Swoyschin sollte zu seinem Regimente zurückkehren, und zwar sollte er jetzt allen Ernstes die früher provisorisch von ihm ausgefüllte Stelle des Adjutanten bei dem Obersten übernehmen. Der frühere Adjutant war nach verschiedenen Versuchen, in harmloseren Sanatorien seinen havarierten Geisteszustand zu reorganisieren, in einem Irrenhaus gelandet, – die Bahn war frei.
Swoyschin freute sich über die dauernde Zusammengehörigkeit mit seinem alten Freund, die ihm der Posten sicherte, und er freute sich über verschiedenes an jenem letzten April, an dem er mit dem Schnellzug der Station Zdibitz zurollte, von wo er noch eine Stunde nach Breznitz zu fahren hatte.
Von fern grüßte ihn der sandige Exerzierplatz, zwischen dunklen Wäldern weißgelblich aufschimmernd. Wie ihn das anheimelte!
[85]Die Erinnerung an die bescheidene, alltägliche Tragödie, der er beigewohnt, in der er eine Rolle gespielt, hatte sich in seiner Seele verwischt. Er blickte mit ungetrübtem Auge in die Zukunft – eine Zukunft, die ihm irgend etwas Schönes zu versprechen schien.
Der Zug hielt – „Zdibitz, fünf Minuten Aufenthalt!“
Swoyschin stieg aus. Er wechselte ein paar lustige Worte mit den zwei alten Trägern, typischen Figuren der Zdibitzer Station, sprang in eine der klappernden Mietkutschen, die hinter dem Bahngebäude warteten, und fort ging’s.
Im Vorüberfahren warf er einen Blick nach dem Schloß, das von einem Hügel aus auf das Städtchen niedersah. Er merkte, daß die Fahne auf dem Turme wehte. War denn das Schloß jetzt bewohnt? Dann vergaß er, darüber nachzudenken, – seine Gedanken waren mit andern Dingen beschäftigt.
Er hatte das Städtchen hinter sich. Zwischen blühenden Apfelbäumen zog sich die Straße hin, neben der sich mit zartem Frühlingsgetreide bedeckte Felder bis an den Saum der schwarzen Wälder hinstreckten. Wie hübsch sich die rosigen Apfelblüten gegen den giftgrünen Hintergrund der sanft ansteigenden Felder abhoben!
Alles war still, nur die Abendglocken läuteten [86] in den Dörfern, und wenn die verklungen waren, hörte man Musik, die Musik, mit der die Menschen dem kommenden Mai entgegenjauchzten.
Jetzt bog der Wagen in den Waldweg ein. Das Gras in den flachen Straßengräben und an den breiten Waldrändern war weiß von Erdbeerblüten, die Fichten hatten grüne Kerzchen aufgesteckt, die Blätter auf den Laubbäumen waren noch wenig entwickelt. Jeder Baum hatte eine andre Farbe, und jeder hatte einen andern Duft. Der rötliche Abglanz der tiefstehenden Sonne schimmerte über der Straße, über dem Moos im Wald, und lange Schattenstreifen streckten sich dazwischen hin.
Zu Ende der langen, geraden Straßenperspektive, zwischen den grünen Waldcoulissen erblickte Zdenko die zwei Türme der wunderthätigen Marienkirche von Breznitz.
Die Schatten wurden blaß, – die Sonne war untergegangen.
Der Wald lag hinter ihm. Wieder blühende Obstbäume, Felder – der ganze Himmel eine blaßblaue Kuppel mit grünlichen, sich ins Topasfarbene verlaufenden Schattierungen am Horizont.
Durch die Luft zog etwas Feuchtes, wundersam Kühlendes – der Tau, der unsichtbar auf die Erde niedersank, und der Duft des Taus, dieser unbeschreiblichste, berauschendste aller Düfte. Es war, als sei [87] der Frühling selber leise über die Felder geschlichen und der Tauduft bezeichne seine Spur.
Die Brust des jungen Mannes hob und senkte sich in einem tief aufatmenden Glücksgefühl. Ach, wie war die Welt schön! Die Hoffnung verarbeitete die Erinnerungen, die er von daheim mitgebracht hatte, zu einem zwischen Zukunft und Vergangenheit hin und her schwebenden Traum.
„Wie schön das wäre nächsten Frühling, falls …“
Der Himmel färbte sich dunkler, die Sterne wurden sichtbar, der Tau duftete stärker …
Wie hübsch das wäre, mit ihr so ahnungsbeklommen dem neuen Heim entgegenzueilen, ihrem und seinem Heim, an einem Frühlingsabend wie heute! Ringsum Friede, Duft und keimendes Leben, alles still, nur in der Ferne die huschende Musik.
Der Wagen hielt vor dem Hause, das der Oberst bewohnte; ein altes Herrschaftshaus mit Standbildern auf dem Giebel und mit aus Sandstein geschnittenen, in Lorbeerkränzen eingefaßten Cäsarenköpfen unter den Fenstern. Man wußte nicht, wie es sich nach Breznitz verirrt hatte, an dessen äußerstem Rand es erbaut war.
Der Oberst stand auf der Schwelle und zog seinen Adjutanten ungestüm ins Haus hinein.
In dem hübschen Speisezimmer mit den geschnitzten Möbeln, die der Oberst einmal aus Venedig mitgebracht hatte, und auf die er sehr stolz war, stand [88] der Theekessel auf einem Tisch, der so blank und präzis gedeckt war, daß sich jede Hausfrau daran ein Beispiel hätte nehmen können; Schüsseln mit kaltem Fleisch und belegten Brötchen gruppieren sich darauf.
„Aber es kommt noch etwas Warmes, es kommt noch etwas Warmes,“ versicherte der Oberst, worauf der Diener etwas hereinbrachte, das, die Phantasie aufreizend, in einer gefalteten Serviette verborgen lag. Die Hängelampe verbreitete ein mildes Licht.
„Es ist wirklich zu gemütlich!“ rief Swoyschin gerührt, und dann setzte er hinzu: „Ich muß entschieden zwei Heimaten haben – heute morgen reise ich von einer Heimat fort, und abends kehre ich in die zweite Heimat zurück. Ich bin sehr reich, Herr Oberst!“
„Es freut mich, daß Sie sich so fühlen,“ versicherte dieser. „Wissen Sie, daß Sie ein andrer Mensch geworden sind in diesen zwölf Monaten, Swoyschin! Nicht ganz ein andrer, nicht ausgetauscht, nur vorteilhaft verändert. Sie sehen aus, als ob Sie sich wieder freuen gelernt hätten am Leben!“
„Das hab’ ich auch, Herr Oberst.“
Die Fenster standen weit offen, mit dem Frühlingsduft drang der Klang der Musik herein – nicht so leise, verschwommen, huschend, wie auf der Straße draußen, sondern deutlich, hüpfend und schleifend, jauchzend und jubelnd und doch mit etwas ahnungsvoll Wehmütigem darin.
[89]„Seltsam,“ murmelte der Oberst hinaushorchend, „etwas Elegisches klingt doch durch jede echte Tanzmusik hindurch, ’s ist wie der Geruch der trockenen Herbstblätter, der sich in den Frühlingsduft hineinmischt. Aber daran darf man nicht denken! Erzählen Sie mir lieber wie es zu Hause war … sehr schön, scheint’s.“
„Ja, sehr schön, Herr Oberst. Mama läßt Sie vielmals grüßen, läßt Ihnen danken für die Sorgfalt, die Sie ihrem Buben zuwenden.“
„So, hm! Und war Annie da?“ fragte der Oberst mit einem verschmitzten Augenblinzeln.
Die Blicke des jungen und des alten Mannes begegneten einander. Beide fingen mit einemmal an zu lachen. „Woher wissen Sie, daß Annie existiert?“ fragte Swoyschin.
„Sie selber haben es mir verraten,“ erklärte der Oberst, wobei er sich hütete, seinen jungen Freund zu erinnern, bei welcher Gelegenheit dies gewesen war.
„Hm!“ Swoyschin blickte schmunzelnd vor sich hin.
„Nun, darf man gratulieren?“ fragte der Oberst.
„Gratulieren? Wozu?“
„Zu einer fröhlichen Verlobung.“
„O, da stehen wir noch lange nicht.“
„So – na, also wo stehen wir denn?“
Das war alles sehr indiskret von seiten des [90] Obersten. Aber Indiskretionen, die aus warmer Teilnahme entspringen, werden demjenigen, der sie begeht, immer verziehen.
„Wo wir stehen?“ wiederholte Swoyschin. „Wo wir stehen? Sie weiß, daß ich sie gern habe, und es ist ihr nicht unangenehm.“
„So, das ist ja immerhin recht erfreulich,“ meinte der Oberst, „und ein Bild haben Sie nicht von der jungen Dame?“
„Sie bekommen doch alles aus mir heraus,“ scherzte Swoyschin. „Nun, bei Ihnen werden meine kleinen Geheimnisse gut aufgehoben sein. Eigentlich freu’ ich mich, mit Ihnen von Annie reden zu können. Da, Herr Oberst!“ Er zog ein kleines Etui aus der Tasche, öffnete es und reichte es dem alten Freund.
„Also das ist sie! Der Oberst versenkte sich in die Betrachtung der jungen Schönheit. Eigentlich war die Bezeichnung falsch, von einer sogenannten Schönheit konnte gar nicht die Rede sein. Eine niedrige Stirn, von der das volle, krause Haar einfach zurückgestrichen war, ein gerades Stumpfnäschen, ein etwas großer, aber hübscher, zugleich gutmütiger und charaktervoller Mund, zwei wundervolle Augen.
Herzig, reizend, das war die Kleine im vollsten Maße, aber das, was man so gewöhnlich eine Schönheit nennt, nicht. Vielleicht gerade darum, weil sie nämlich gar nicht das war, was man so recht eigentlich [91] eine Schönheit nennt, konnte der Oberst sich gar nicht sattsehen an ihr. „Donnerwetter!“ murmelte er ein Mal ums andre, „Donnerwetter!“
Der sehr auffällige Beifall, mit welchem der ältere Freund das Bildchen betrachtete, rührte den jungen Mann, schmeichelte auch ein wenig seiner Eitelkeit, die in solchen Fällen selbst bei dem edelsten Liebhaber nicht ganz aus dem Spiel bleibt.
„Nicht wahr, sie ist ein lieber Kerl!“
„Allerliebst, ganz allerliebst!“ bestätigte der Oberst.
„Und wissen Sie,“ erzählte Swoyschin, „das Bildchen hat sie mir heimlich zugesteckt zum Abschied; sie ist extra nach Wien gefahren mit der Kammerjungfer, zum Zahnarzt, um bei dieser Gelegenheit das Etui zu kaufen. Wie mich das gefreut hat, können Sie sich denken, und die lieben, vergnügten, mutwilligen, zärtlichen Augen, mit denen sie mir nachgeblickt hat, als ich wegfuhr auf die Bahn!“
„Na, ich kann nur sagen, ich gratuliere,“ erklärte der Oberst, „gratuliere von Herzen! Wenn ihr Inneres hält, was ihr Gesichtchen verspricht, so ist Annie gerade die Frau, die Sie brauchen. Nerv, Energie, ein fester Charakter, ein weiches Herz, ein heiteres Temperament, ein heller, zum Praktischen geneigter Verstand, und dabei ein feines Empfindungsvermögen, das es versteht, den alltäglichsten Dingen des Lebens eine poetische Seite abzugewinnen.“
[92]„Das ist so richtig, aber so richtig!“ rief Swoyschin. „Sie schildern sie, als ob Sie sie jahrelang gekannt hätten.“
„Ich versteh’ mich auf Physiognomieen,“ schmunzelte der Oberst. „Aber jetzt, zu was die Ziererei und Bummelei? Eins, zwei, drei in die Kirche!“
„Ja, wenn davon die Rede sein könnte!“ Der junge Offizier blickte sehnsüchtig vor sich hin, während er das Bildchen von neuem in seiner Brusttasche verbarg.
„Bah, wo liegen die Hindernisse?“ Der Oberst brachte der ganzen Angelegenheit ein unglaubliches Interesse entgegen. In einem gewissen Alter freut man sich daran, sich bescheiden und uneigennützig an einem fremden Jugendfeuer zu wärmen, sich, von allen selbstsüchtigen Wünschen absehend, in eine fremde Liebesgeschichte hineinzuträumen.
An wirkliche Hindernisse glaubte er nicht, aber leider waren doch solche und zwar ziemlich ernster Natur vorhanden. Zdenkos Vater, seit Jahren gelähmt, außerdem sehr nervös und gänzlich von seiner Frau beherrscht, durfte durch keinen Verdruß aufgeregt werden. Die Mutter schätzte Annie wohl, aber – das war nun einmal ihre Idiosynkrasie – sie hatte eine absolute Abneigung gegen arme Bräute. Ihre Söhne mußten ihrer Ansicht nach reich heiraten, besonders der jüngere. Sie hatte im gräflichen Taschenbuch [93] die reichen Komtessen alle rot angestrichen. Und Annie war nicht reich, im Gegenteil ganz arm, eine Cousine im dritten Glied; sie sagten sich „du“, weil sie sich von Kindesbeinen an kannten, sonst war’s mit der Verwandtschaft nicht weit her. Sie lebte seit Jahren in dem Hause seiner Eltern, wo sie die fehlende Tochter ersetzte, sozusagen die Hauskomtesse machte.
Sie wurde sehr geschätzt von seinen Eltern, seit ihrem fünfzehnten Jahre lebte sie bei ihnen, führte jetzt das ganze Haus. Alle hatten sie gern, aber an eine Heirat war vorläufig nicht zu denken.
„Ich darf mir auch gar nichts anmerken lassen vor der Mama,“ schloß Swoyschin seine vertraulichen Mitteilungen. „Wenn meine Mama ahnen würde, daß ich mich für Annie interessiere, gibt sie das Mädel aus dem Haus, und das wäre für unsre arme, lustige Annie, die gar keine Lust hat, Hof- oder Stiftsdame zu werden, fatal. Na, vorläufig sind wir gute Freunde! Es wär’ was wert, so einen Sonnenstrahl neben sich zu haben, der einem alle Schatten aus der Seele herausleuchtet!“
Seine Augen wurden plötzlich feucht. Der alte Oberst klopfte ihm auf die Schulter und meinte: „Na, Kopf oben, mein Junge, es wird noch alles gut werden. Vielleicht gelingt es mir, den Mittler zu machen. Das wär’ eine Freud’! Sapperlot!“
[94]Damit hob der Oberst die Tafel auf, um sich mit dem jungen Freund in das Rauchzimmer zu begeben.
„Ich hoffe, Sie sind noch munter, spüren die Reise nicht,“ bemerkte der Oberst, „ich habe nämlich einen Teil meiner Herren eingeladen, die uns helfen sollen zur Feier Ihrer Ankunft eine Maibowle zu leeren. Die meisten derselben sind aber vor zehn Uhr nicht disponibel. Sie waren zu einem Diner in der Umgebung geladen.“
„Bei wem?“
„Bei den Zells in Zdibitz. Das Schloß ist samt der Jagdbarkeit für den Sommer vermietet an ein sehr nettes Ehepaar, Graf und Gräfin Zell. Sie kennen sie vielleicht?“
„Ich hab’ von ihnen gehört. Also die wohnen in Zdibitz? Hm! hm!“ sagte er sinnend. „Die Zells interessieren mich nicht weiter, aber Zdibitz interessiert mich. Ich hab’ Ihnen schon gesagt, daß es eine von den Herrschaften ist, um die mein Vater prozessiert, und falls wir den Prozeß gewinnen, sind wir reiche Leute, die sich ein Vergnügen leisten dürfen!“ In seinen Augen schimmerte es vielsagend.
Der Oberst teilte ihm mit, daß er sich den Besuch, den er bei Zells zu machen beabsichtigte, bis zu seiner Ankunft aufgespart habe, und fragte, ob er ihn nicht demnächst nach Zdibitz begleiten wolle.
[95]Unten hörte man Sporen- und Säbelgeklirr, und wenige Minuten später war das ganze Rauchzimmer des Obersten voll Cigarrendampf und Offizieren.
* * *
Nachdem die gegenseitigen Begrüßungen vorüber waren, drehte sich das Gespräch natürlich um die neuen Nachbarn. Besonders die Offiziere, die nicht eingeladen gewesen waren, erkundigten sich nach allen Einzelheiten des Diners. Wer war alles dort gewesen, wie hatte man gegessen? Besonders der dicke Major Falb war unersättlich im Fragen.
„Eine famose Idee, das Schloß zu vermieten,“ versicherte Bärenburg seinem Vetter. „Ich weiß nicht, von wem sie ausgegangen ist, aber wir profitieren alle dadurch. Sind scharmante Leute, die Zells.“
„Hm!“ räusperte sich achselzuckend der stets mit seiner nüchternen Beurteilung von allem Aristokratischen prahlende Drewinsky. „Ist noch zum Aushalten. Die Gräfin ist schwatzhaft, umständlich, beschränkt, aber gutmütig. Er war, glaub’ ich, zum Schluß seiner Laufbahn Gesandter bei einem kleinen deutschen Hof und trat dann aus der Carriere, weil er den Posten in Petersburg, auf den er sich, weiß Gott, warum, gefaßt gemacht hatte, nicht erhielt. Ist ein bißchen ledern, aber man gewöhnt’s.“
„Also, wenn weder Zell noch seine Frau die Anziehungskraft [96] des Hauses bilden, so möcht’ ich wohl wissen, wer sie ausmacht?“ fragte Swoyschin.
„Ach, wie soll ich das sagen,“ meinte Bärenburg. „Die Hauptsache … die Hauptsache ist das Haus selbst, die Art, wie es geführt wird, die Luft, die man darin atmet, die Umgebung. Jetzt hat sich übrigens noch ein ganz besonderer Magnet dort festgesiedelt, eine Verwandte der Zells, die schöne Gina Ginori!“
„So? Es soll ein interessantes Mädchen sein,“ bemerkte Oberlieutenant von Zewusky, ein Pole, der es auf eine gute Partie abgesehen hatte.
„Ja, interessant ist die schöne Gina, aber unheimlich,“ erklärte Bärenburg.
„Wieso unheimlich?“ fragte einer von jenen, die nicht eingeladen gewesen waren.
„Ach, sie hat so Zustände!“ Bärenburg, der für gewöhnlich durch seine gesunden Nerven gegen alle Unheimlichkeiten der Welt gefeit war, schüttelte sich ein wenig.
„Was für Zustände?“ fragte man.
„Ach, sie soll manchmal plötzlich zum Scheintod erstarren. Wenn sie dann erwacht, erzählt sie die sonderbarsten Dinge, die sich, wer weiß wo, zugetragen haben an Orten, von denen sie unmöglich eine Nachricht erreicht haben konnte. Es scheint, daß, solang der kataleptisch-hysterisch-magnetisch-mysterische Schlaf [97] dauert, ihre Seele, vom Körper getrennt, frei herumspaziert.“
„Wer hat dir den Bären aufgebunden?“ fragte Swoyschin.
„Die Gräfin Zell selbst,“ erklärte Bärenburg mit einem gewissen Stolze. „Wie es scheint, hat’s die schöne Gina voriges Jahr als Geisterseherin in Rom bis zu einer Lokalberühmtheit gebracht. Die Gräfin bedauerte sehr, daß sie Gina noch nie während eines Anfalls beobachten konnte.“
„Die Eitelkeit spielt bei hysterischen Zuständen immer eine aufreizende Rolle. Es wäre besser für das Mädel, wenn man ihre Zustände ignorieren würde,“ bemerkte der Oberst.
Und der dicke Major von Falb sagte: „Heiraten soll sie, dann hört der ganze Schwindel auf!“ und er schob drei von den belegten Butterbrötchen, die der Oberst zur Erfrischung der Herren hatte vorbereiten lassen, auf einmal in seinen großen Mund. Der Major kurierte alle weiblichen Verkehrtheiten immer mit dem Heiraten.
„Schau, daß du ihre Eroberung machst, Zdenko!“ rief Bärenburg lustig. „Ganz dein Fall – bildhübsch, und soll mordmäßig viel Schotter haben.“
„Danke bestens,“ erklärte Swoyschin mit einer lustig abwehrenden Handbewegung, und dabei trat ein sehr sympathisches Lächeln auf seinen Mund, ein [98] Lächeln, durch das es wie liebliche Erinnerungen, hoffnungsvolle Träume huschte. Der Oberst konnte nicht umhin, ihm verständnisvoll zuzublinzeln.
„Schade!“ behauptete mit wichtigem Ernst Bärenburg, „sie interessiert sich entschieden für dich.“
„Aber Tapsch!“ rief Swoyschin ärgerlich. Tapsch war der Spitzname Bärenburgs. Man hatte ihm denselben noch im Theresianum beigelegt, seiner lustigen Tappigkeit halber, die an diejenige junger Hunde erinnerte. Der Name hatte ihn ins Leben hinausbegleitet. Er hörte viel lieber darauf als auf den ihm offiziell in der Taufe beigelegten, welcher „Joseph“ lautete.
Seiner oftmals energisch ausgedrückten Ansicht gemäß gab es auf der Welt wenig, das lächerlicher war, als „Joseph“ zu heißen, und wie man den Namen auch verunstaltet und verblümt als Seppl, Peppi, Pips oder Pepsch, pflegte er elegisch zu seufzen, der Joseph klingt doch durch.
„Tapsch hin, Tapsch her, es ist, wie ich dir’s sage,“ entgegnete der Vetter. „Sie kennt dich, wenn sie mir auch nicht verraten wollte, wo sie dich bereits gesehen hat. Gehört hatte sie jedenfalls sehr viel von dir, aber ihrer Ansicht nach noch lange nicht genug. Denn sie fragte mich nach dir aus, wie, na, wie ein Polizeikommissar nach einem Anarchisten. Dann plötzlich – ja, das ist demütigend, ich weiß aber nicht, [99] ob für dich oder für mich –, aber mitten in unsrer Konversation über dich fielen ihr die Augen zu. Sie mußte sie mit Gewalt aufreißen, dann verschwand sie.“
„Da hat sie jedenfalls ganz merkwürdige Beweise von Interesse an meiner Person gegeben,“ erklärte Swoyschin lustig. „Deine Geschichte erinnert mich lebhaft an den Herrn, der unlängst um eine Cousine von mir anhielt, und als meine Mutter ihn fragte, ob er denn eine Ahnung habe, daß ihm ihre Nichte geneigt sei, erwiderte: ‚O ja, sie geht jedesmal aus dem Zimmer, wenn ich erscheine.‘“
Über diese Anekdote lachte man natürlich; Bärenburg lachte auch, machte aber zugleich sehr schmale Augen, mit denen er den Vetter neugierig fixierte.
„Welche Cousine war denn das, Zdenko?“ fragte er. „Die Annie Binsky, nicht?“
„Ja,“ sagte Swoyschin kurz.
An diesem Punkt fiel der Major ein: „Wenn ich mir nur das Rezept von der Mehlspeise (er sagte Möllspeis) verschaffen könnt’, die heute im Schloß serviert worden ist, ich sag’ dir, Herr Oberst, dos wer dir ein Mehlspeis’!“ – er schnalzte mit den Lippen – „wenn die die Kasinoköchin zusammenbrächte!“
Bald darauf zogen sich die Herren zurück.
„Träum von der Gina Ginori,“ rief Bärenburg seinem Vetter zu.
[100]„Möcht’s besorgen, wenn ich nur wüßt’, wie sie ausschaut,“ erwiderte Swoyschin.
„Rotes Haar bis an die Fersen, große, grüne Augen, junonische Figur, – o, ein Prachtweib sag’ ich dir!“
„Hm! mein lieber Tapsch, das sollte ja doch eigentlich dein Geschmack sein,“ entgegnete Swoyschin, „ich habe nie eine besondere Vorliebe für rote Haare und junonische Weiber an den Tag gelegt.“
„Für mich ist sie zu exotisch, zu interssant, ist mir mit einem Wort zu hoch,“ erklärte Bärenburg. Nichts auf der Welt wirkte auf Bärenburg so abstoßend bei einem Mädchen, als wenn selbes, wie er sich ausdrückte, zu „hoch“ für ihn war. „Uebrigens ganz abgesehen davon,“ fuhr er fort, „hat sie mir gegenüber eine Gleichgültigkeit an den Tag gelegt, eine Art, mir über den Kopf hinüberzuschauen! … Das Unglück teile ich mit allen meinen Kameraden; die Herren müssen gestehen, daß es ihnen mit der schönen Ginori nicht besser gegangen ist, und das ist mir ein Trost!“
„Famose Möllspeis!“ murmelte der dicke Major.
„Gute Nacht, Herr Oberst!“
„Gute Nacht allerseits!“
* * *
Heiter und müde zog sich Swoyschin in sein [101] Schlafzimmer zurück. Kaum, daß er sich auf seinem eisernen Bett ausgestreckt hatte, fielen ihm die Augen zu. Er träumte von „zu Haus“, von Annie Binsky, von der Zukunft, von seinem Hochzeitstag.
Der Frühling duftete aus Bäumen und Sträuchern, und in der Luft war ein großes, feierliches Glockengeschwirr, und Annie ging neben ihm in einem weißen Kleide und mit einem Kranz auf dem Kopf. Sie sagte ihm etwas Liebes, aber er konnte nicht genau verstehen, was – die Glocken schwirrten zu laut.
Er ärgerte sich über die Glocken, eine von ihnen war gesprungen, das hörte er ganz deutlich, es brachte einen Mißklang in die dröhnende, schwirrende Feierlichkeit. Die Glocken riefen ihm etwas zu, einen Namen. Jetzt vernahm er es deutlich, immer denselben Namen, immer denselben: „Gina Ginori, – Gina Ginori!“
Und dann schwiegen die Glocken, und durch die stumme Frühlingsnacht glitt etwas Eigentümliches, ein rätselhafter Laut, leise, wie aus weiter Ferne, dann näher, immer näher. Eine seltsame Melodie, ein Lied ohne Worte, mit einer immer wiederkehrenden chromatischen Figur, in viertel, nicht in halben Tönen – magisch, aufreizend, unabweisbar, anlockend …
Näher … ganz nah, er hörte etwas wie ein leises Pochen an seiner Fensterscheibe. Endlich öffnete er die Augen. Sein Zimmer war voll matten Silberglanzes [102] … dann … er schrak zusammen, sein Herz pochte laut … neben seinem Bett stand eine schlanke Gestalt, ein Mädchen in einem blaßlila Gewand, das faltig und weich an ihren Gliedern niederfloß.
Das Gesicht der Fremden war bleich, die vollen Lippen eher dunkel veilchenblau als rot, dazu eine kurze Nase und sehr große, tiefliegende Augen, die fast dieselbe Farbe wie die Lippen hatten und zwischen rötlichbraunen, dicht und dunkel umwimperten Lidern starr auf ihn niederblickten.
Ohne sich dermaßen zu wundern, wie es anbetrachts der merkwürdigen Erscheinung zu erwarten gewesen wäre, fragte er sich doch, wie sie hereingekommen war, und was sie bei ihm wolle.
Da kniete sie nieder neben seinem Bett, schlang die Arme um seinen Hals und murmelte: „Ich heiße Gina Ginori!“
Ihre Arme waren eiskalt, ebenso der Hauch, der von ihren Lippen kam und seine Wange streifte. Dann drückte sie ihre Lippen auf seinen Mund, und auch die Lippen waren kalt wie Eis. Mit einemmal fingen sie an, auf seinem Munde zu brennen …
„Mein!“ flüsterte die Fremde, „mein!“
* * *
„Swoyschin, Swoyschin, es ist Zeit. – Weiß Gott, ich gönn’ Ihnen Ihren schönen, jungen Schlaf, [103] aber es ist doch Zeit, daß wir endlich auf den Exerzierplatz kommen.“
Swoyschin fuhr auf: neben ihm stand der Oberst wohlwollend lächelnd, die Cigarette in der Hand, was bedeutete, daß er schon gefrühstückt hatte.
„Zu Befehl, Herr Oberst!“ Der Adjutant rieb sich schlaftrunken die Augen.
„Es ist die höchste Zeit. Ihr Diener meldete mir soeben, daß er trotz aller Anstrenung Sie nicht habe wecken können,“ sagte der Oberst.
Swoyschin griff sich an die Stirn. „Gleich, gleich, Herr Oberst – nein, wie ich so verschlafen konnte! Ihre Bowle hat mir’s angethan. Ich hab’ so sonderbar geträumt! Zu merkwürdig!“
„Von Annie?“ fragte der Oberst schlau.
„Ja … nein! … Ach, verzeihen Sie, Herr Oberst, wie hat doch Tapsch diese rätselhafte Ginori beschrieben? Rothaarig, junonisch, nicht wahr?“
„So gut ich mich erinnere …“
„Ja, die Sirene in der Kunstausstellung einer Provinzhauptstadt. Das stimmt entschieden nicht!“
„Stimmt nicht – womit?“
„Ich werd’s Ihnen später einmal erzählen, Herr Oberst.“
Swoyschin hatte indessen summarisch Toilette gemacht und bereitete sich vor, mit nüchternem Magen sein Pferd zu besteigen. Schon im Weggehen wandte [104] er sich noch einmal um. „Herr Oberst, entschuldigen Sie, ich habe etwas vergessen.“
Das Bildchen seiner Cousine war’s, er pflegte sich nie davon zu trennen; bei Tag trug er es bei sich, in der Nacht stellte er es auf seinen Betttisch.
Er hätte geschworen, daß er es auch gestern dorthin gestellt habe. Aber es war nicht zu finden, er mußte ohne seinen Talisman ausrücken.
Erst auf dem Exerzierplatz erinnerte er sich dessen, daß die blasse Erscheinung, die sich unter dem Namen Gina Ginori bei ihm eingeführt, das Bildchen mit einer Gebärde der Eifersucht vom Nachttisch hinuntergestoßen und in einen Winkel geschleudert hatte.
Als er nach Hause kam, suchte er es an der Stelle, die der Traum ihm angab. Das Bildchen lag richtig dort, das Glas der kleinen Photographie war zerbrochen.
* * *
„Sonderbar … recht sonderbar!“ Der Traum gab ihm zu denken, er hätte immerhin gern gewußt …
Nicht ohne Spannung sah er dem Besuch in Zdibitz entgegen. Erinnern mochte er den Obersten daran nicht, irgend eine ihm selber ganz unerklärliche Befangenheit hinderte ihn daran.
Eine Woche verging. Der Oberst hatte viel zu thun, da mußte der Adjutant natürlich mithalten. [105] Die raschen, lustigen und langwierigen täglichen Übungen auf dem Exerzierplatz und schließlich ein langer Brief von seiner Cousine, ein Brief voll drolliger Einfälle auf einem Hintergrund von uneingestandener Zärtlichkeit, verdrängten Gina Ginori aus seinen Gedanken.
Er war eben im Begriff, den Brief von Annie zu beantworten, mit schlauer Vorsicht, so daß sein Schreiben der strengen Mama in die Hände fallen könne, ohne Annie zu schaden, als der Oberst zu ihm trat und ihm zurief: „Swoyschin, wenn Sie es über sich bringen, sich von Ihrer Schreiberei zu trennen, so könnten wir heute endlich den Besuch in Zdibitz machen.“
* * *
Und so machten sie denn endlich ihren Besuch in Zdibitz.
Der Oberst fuhr den Adjutanten selbst auf einem neuen Kutschierwagen, bespannt mit zwei wundervollen, leicht gebauten Schimmeln, die einem berühmten ungarischen Gestüt entstammten.
Er hatte sich mit der Zusammenstellung dieses „Zeugels“ nicht wenig Mühe gegeben. Besonders wegen der leichten Brustgeschirre hatte er lange mit einem Wiener Sattler korrespondiert. Die waren aber auch mustergültig ausgefallen in ihrer zweckentsprechenden [106] Knappheit und Einfachheit. Und wie sie die feinen Knöpfe hielten, und wie sie ausgriffen, immer im Takt – man glaubte, anstatt acht Hufe nur zwei zu hören, die im leichten Staccato über die glatte Straße, die sogenannte „Kaiserstraße“, dahinflogen.
Swoyschin sparte den Schimmeln gegenüber nicht mit seiner Anerkennung. Der Oberst freute sich wie eine eitle Mutter, der man ihre Kinder lobt. „Noch zwei solche, etwas kleinere, als Vorauspferde zu einem Postzug,“ meinte er, „dann hoff’ ich die Ehre zu haben, nächstes Frühjahr Ihre Frau mit dem Gespann von der Bahn zu holen.“
Zdenko lachte. „Hübsch wär’s,“ meinte er „und Annie hat so eine Liebe für Pferde, auch Verständnis, was die Liebe bekanntermaßen nicht immer mit sich bringt.“
„Sie muß überhaupt ein Schatz sein, die Annie,“ erklärte der Oberst, der das längst zu seiner eigenen Genugthuung festgestellt hatte.
„Das ist sie, weiß Gott!“ gestand Swoyschin, „ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie ich mich manchmal nach dem kleinen Racker sehne! Ein Sonnenstrahl, Herr Oberst, ich versichere Ihnen, ein Sonnenstrahl! Ich kenne kein zweites Mädchen, das ohne alle Ausgelassenheit – notabene, ich kann ausgelassene Mädel nicht leiden – so lustig wäre wie unsre Annie. In unserer Familie geht die Sage, wenn Annie an [107] einer Trauerweide vorüberspaziert, so steckt die Trauerweide alle Äste in die Höh’.“
Der Oberst lächelte; er fragte nach allem möglichen, besonders wo und wie Annie erzogen worden sei, welcher Art ihre Eltern gewesen wären. Im Laufe der Fahrt rückte Swoyschin mit der ganzen Biographie seiner herzigen Cousine heraus.
Annies Eltern waren ihrer Zeit die zwei schönsten Menschen in Österreich gewesen, aber um ihren Hausstand zu gründen, hatten sie nichts gehabt als ihre herzliche Liebe und ein Gut in Südtirol, das dem jungen Ehemann gehörte, und von dem die beiden gehofft hatten, daß es etwas tragen würde. Es hatte nichts getragen, wenigstens nicht viel, nur gerade genug, um sich ungestört lieben und ein halbes Dutzend Kinder in die Welt setzen zu können. Die Kinder wurden von einem alten Engländer erzogen, der, im Lauf seiner Reisen eines Tages zufällig von den Schönheiten des cypressenumstandenen Schlößchens gefesselt, sich darin eingemietet hatte. Da ihm die Luft sehr gut bekam, blieb er in dem Eulennest bis an sein seliges Ende. Anstatt Kostgeld zu zahlen, unterrichtete er die Kinder. Infolgedessen waren sie samt und sonders ungewöhnlich gebildet. In den Sommermonaten waren sie vielfach barfuß gelaufen, aber sie hatten alle den Shakespeare in der Originalsprache gelesen. Das Barfußgehen hatte ihnen übrigens nicht [108] geschadet. Die Gesundheit der sämtlichen Kinder war vortrefflich, und Annie hatte ein Füßchen …
Das Gespräch wurde jäh unterbrochen, man war angekommen.
* * *
Das Zdibitzer Schloß erhebt sich, aus einer alten Abtei umgestaltet, auf einem Hügel, von dem aus es die ganze Gegend übersieht. Es ist ein langer, grauer Bau, an dem sich wilde Weinranken hinaufschlingen. Auf der vorderen Fassade ruht ein niedriger Giebel, den altmodische Statuen mit rostigen Heiligenscheinen schmücken. Etwas altväterisch Gemütliches hatte das ehrwürdige Gebäude, und altväterisch und gemütlich mutete die Atmosphäre jeden an, sobald er den Fuß über die Schwelle setzte.
Bärenburg hatte recht, das Haus übte einen sympathischen Zauber auf die Besucher aus. Alles darin war anheimelnd, von dem freundlichen Gesicht des grauhaarigen Kammerdieners, der die Herren an der Treppe unten empfing, bis zu der nach Primeln und Veilchen duftenden Luft, die sämtliche Gemächer durchwehte. Große Fehler hatte das Schloß nebstbei allerdings, zum Beispiel war es recht unbequem in langen Enfiladen gebaut, so daß die Herren mehrere Zimmer durchschreiten mußten, ehe sie dasjenige erreichten, in dem sich die Hausfrau aufhielt.
[109]Diese Zimmer waren alle groß und luftig, mit tiefen Fensternischen, glattgewichsten Parketten, fast ohne Teppiche und mit wenig zahlreichen, aber bequemen und soliden Möbeln, meistens im Stil des ersten Kaiserreichs, ausgestattet.
Der Oberst betrachtete alles mit Wohlgefallen und Interesse.
„Hm, wär’ ganz famos, wenn Sie den Prozeß gewännen!“ raunte er seinem Adjutanten zu, „ein reizendes, poetisches Nest für ein junges Paar!“
Swoyschin schien nicht zuzuhören. Er war entschieden zerstreut; der Gedanke, ob sein nächtlicher Besuch ein einfacher Traum oder wirklich etwas Übernatürliches gewesen war, erregte ihn.
Ein paar Sekunden später befanden sich die beiden Herren in dem Allerheiligsten der Gräfin Zell, einem Eckzimmer, das aus vier Fenstern ins Grüne sah. Trotzdem zwei dieser Fenster offen standen, brannte im Kamin ein hellloderndes Holzfeuer, aus dem es bisweilen wie Pistolenschüsse herauskrachte.
Neben dem Kamin saßen zwei alte Damen, von denen die eine, mittelgroß, stark, sehr gerade in ihrer Haltung, mit einem freundlichen Gesicht unter grauen Scheiteln, sich bewillkommend erhob und den Herren eine winzige, wie aus weißem Atlas und Rosenblättern fabrizierte Hand entgegenstreckte.
Sie versicherte den Herren, daß sie sich sehr [110] freue, ihre Bekanntschaft zu machen, und bedauerte unendlich für ihren Mann, welcher gerade ein paar Tage zu irgend einem Freund gereist war, um Auerhähne zu schießen, daß er um das Vergnügen des liebenswürdigen Besuchs gekommen war. Dann wurden sie der zweiten Dame neben dem Kamin vorgestellt – einer Gräfin Ronitz, die mit dem Taufnamen Rosin’ hieß und eine Jugendfreundin der Hausfrau war.
Sie hatte einen Schnurrbart und sprach mit einer rauhen, tiefen Stimme wie ein alter Mann. Alles, was sie sagte, war entweder sauer oder giftig. Sie war Stiftsdame, das heißt alte Jungfer. Anstatt die zahlreichen Vorteile ihrer Lage ruhig zu genießen, hörte sie nie auf, mit dem Schicksal zu hadern. Ihr Anzug machte im Gegenteil zu dem der Gräfin Zell Anspruch auf Modernität. Den tiefen Diener der beiden Herren beantwortete sie nur mit einem kaum merklichen Kopfnicken. Dann setzte sie ihr kurzes, altmodisches, in Gold gefaßtes Lorgnon an die Augen, betrachtete einen der Herren nach dem andern, ließ das Lorgnon, das ihr an einer aus Haaren zusammengeflochtenen Kette um den Hals hing, fallen und kreuzte die Arme über der Brust, worauf sie in ungeduldigem Tempo mit ihren langen, hageren Fingern auf ihren Unterarmen den Radetzkymarsch zu trommeln begann. Sie ärgerte sich offenbar über die Ankunft der zwei Dragoner. Die Gräfin Zell mußte [111] gerade im Begriff gewesen sei, ihr eine spannende Geschichte zu erzählen, und war durch den Besuch unterbrochen worden. Natürlich fühlte Gräfin Zell sich verpflichtet, höflich gegen die Herren zu sein. Sie neckte den Obersten mit seiner Menschenscheu, lächelte Swoyschin freundlich zu und versicherte ihn, daß sie in ihrer Jugend viel mit seinem Vater getanzt habe, der vor dreißig Jahren der beste Walzertänzer in Wien gewesen sei.
„Hm! wirklich!“ fiel ihr hier die Gräfin Ronitz ins Wort, „das möcht’ ich nicht unterschreiben, mir hat er einmal so auf den Fuß getreten, daß ich mich heute noch nicht davon erholt habe. Na, vielleicht hat er’s mit Fleiß gethan. Es sei ihm verziehen; jetzt wird er wahrscheinlich nicht mehr Walzer tanzen, infolgedessen keine Gelegenheit haben, seine Tänzerinnen zu maltraitieren.“
„Der Arme!“ seufzte die Gräfin Zell, welche von seinem kontrakten Zustande erfahren hatte, mitleidig.
„Ja, ja, ich bedauere ihn von Herzen,“ fertigte die Gräfin Ronitz das Thema ab, „aber jetzt, meine liebe Marietta, erzähle mir doch weiter von Gina. Ist es wahr, was man von ihr sagt, daß sie nach einem ihrer Schlafanfälle so merkwürdige Dinge zu erzählen weiß – Dinge, die am andern Ende der Welt vorgefallen sind, und über die sie inzwischen keine Nachrichten [112] erhalten haben konnte, nicht einmal durch das Telephon?“
„Es handelt sich um eine Nichte von mir, der man diese sonderbare Eigenschaft zuschreibt,“ erklärte freundlich die alte Hausfrau den beiden Herren. Dann sich der neugierigen Freundin zuwendend: „Ich kann dir nicht sagen, ob es wahr ist. Neulich hatte sie den Anfall, aber den nächsten Tag war sie still und in sich gekehrt und wollte mit der Farbe nicht heraus.“
„Und wie benimmt sie sich während des Anfalls? Spricht sie aus dem Schlaf, kann man Fragen an sie stellen?“ forschte die Stiftsdame weiter.
„Ich habe sie während des Anfalls nicht gesehen, niemand hat sie gesehen. Emma läßt niemand zu ihr, während sie, wie Emma sich ausdrückt, krank ist. Emma ist wie ein Tiger!“
„Schade – hm – da hast du also gar nichts davon,“ brummte die Ronitz.
„Wovon denn?“ fragte die Gräfin Zell und rückte an der goldenen Nadel, mit der ihr schwarzes Spitzenhäubchen auf ihren grauen Scheiteln befestigt war.
„Na, von dem Besuch. Du hast doch Gina hauptsächlich eingeladen, weil du neugierig warst.“
„Nein, nein, Rosin’, du gehst zu weit,“ wehrte lachend die Freundin.
[113]„Das wird einem immer gesagt, wenn man jemand mit der Wahrheit an den Leib rückt,“ gab die liebenswürdige Stiftsdame zurück. „Gesteh’s nur ein, du warst neugierig. Du bist Spiritistin und suchst Belege für deine Theorieen, sagen wir für deine Wünsche. Denn im Grunde haben die Spiritisten keine stichhaltigen Theorieen, sie haben nur sehr, sehr unvernünftige Wünsche. Du hast, wer weiß was erwartet und bist jetzt enttäuscht. Welcher Art diese Zustände deiner Nichte sind, ob hysterisch oder epileptisch oder noch etwas andres, das weiß ich nicht. Aber das eine weiß ich, daß alle damit verbundenen Übernatürlichkeiten – die Ahnungen und Weissagungen – Schwindel sind. Es gibt keine Trennungen von Seele und Körper bei lebendigem Leib, das glaub’ ich nicht und werd’s nie glauben!“ Sie grunzte noch einmal energisch und schob ihr breites, stoppliges Kinn in die Höhe, mit einer Miene, als ob sie hätte sagen wollen: „Ich möcht’ doch wissen, ob jemand den Mut hat, mir auf meine Weisheit etwas zu entgegnen!“
Die Gräfin Zell lachte. „Du magst glauben, was du willst, jedem Tierchen sein Pläsierchen,“ sagte sie, „jedenfalls ist die Gina ein recht merkwürdiges Geschöpf. Das Sonderbarste an ihr ist ihre Leidenschaft für Leichen und Kirchhöfe. Neulich ist unten im Städtchen eine Müllerstochter angeblich an unglücklicher Liebe verschieden. Gina war nicht zu halten. Sie [114] soll an der Toten herumhantiert haben wie eine Leichenfrau. Sie hat sie frisiert und hat ihr den Myrtenkranz aufs Haar gesteckt. Ich hab’s erst später erfahren, sonst hätt’ ich’s nicht zugegeben. Zum Schluß hat sie ihr noch selbst eine Grabschrift gedichtet und mit goldenen Buchstaben auf ihr Grabkreuz drucken lassen, und jetzt pilgert sie jeden Tag hinunter zu dem Kirchhof.“
In dem Augenblick öffnete sich die Thür. Noch eine Dame trat ein. „Ach, kommst du endlich?“ rief die Gräfin Zell. „Wir haben Besuch bekommen.“ Mit einer Handbewegung nach den beiden Herren nannte sie vorstellend deren Namen, worauf sie erklärend hinzufügte: „Meine Nichte Marchesina Ginori!“
Gespannt heftete Swoyschin, der sich indessen zugleich mit dem Obersten erhoben und verbeugt hatte, die Augen auf die Italienerin. Er fühlte sich enttäuscht.
Die Marchesina Ginori war ein großes, etwas grobknochiges Mädchen mit rotem Haar und weißen Augenwimpern, die Züge regelmäßig, ohne Anmut, die Hautfarbe frisch, aber stark von Sommersprossen entstellt. Die Haltung energisch, der Blick eigentümlich gerade, forschend, fast bannend.
Nein, sein Traum war durchaus keine Offenbarung gewesen – kein Geisterspuk war dabei im Spiel. Bärenburg hatte sich einen Scherz mit dem [115] Vetter erlaubt, in dem er die Marchesina hübsch genannt hatte, im übrigen stimmte seine Schilderung mit den Thatsachen überein – groß, rothaarig, mit grünen Augen.
Hingegen erinnerte das Mädchen in nichts an Zdenkos nächtliche Vision. An etwas andres erinnerte es ihn, aber an was oder vielmehr an wen denn?
Ja, richtig, jetzt wußte er’s. Zu seltsam – an eine Wärterin, die vor längerer Zeit eine geisteskranke Verwandte seiner Mutter gepflegt hatte.
Sie war wegen ihrer Energie und Verläßlichkeit sehr gerühmt worden, aber daß Gina Ginori, von der seine Phantasie ihm ein so interessantes Bild entworfen hatte, gerade der nüchternen, sachlichen Marie Holoubeck ähnlich sehen sollte, das war doch eigentlich etwas komisch!
Man sprach von gleichgültigen Dingen. Die Marchesina Ginori hatte eine sehr geschmacklose, in violette und rote Carreaus eingeteilte Handarbeit mitgebracht, an der sie eifrig, fast ohne aufzublicken, stickte.
Plötzlich fragte die Gräfin Ronitz: „Ich bitte dich, Emma – du weißt, daß ich mich für Magnetismus und Geisterseherei und Klopferei interessiere, freilich nur aus der Opposition, weil es mich reizt, den schwachen Punkt von allen Belegen für Spiritismus aufzudecken. Es gibt immer einen schwachen Punkt … [116] Sag mir, wie lang hat neulich der Anfall deiner Schwester gedauert?“
Die Marchesina hob den Kopf, ein finsterer Ausdruck trat in ihre Augen. „Ich weiß von keinem Anfall,“ sagte sie. „Den Abend nach dem kleinen Diner am letzten April fühlte sich meine Schwester müde und legte sich früher nieder als sonst.“
„Aber Emma! Du weißt doch …“ rief fast ärgerlich die Gräfin Zell. Es war ihr nicht darum zu thun, als eine erfinderische Prahlerin dazustehen, nachdem sie bereits so viel von den Eigentümlichkeiten der Nichte berichtet hatte.
„Ich weiß nur, was ich sage, nichts mehr,“ erklärte Emma herb.
„So, aber Gina selbst …“ warf die Gräfin ein.
„Ach, Gina macht sich wichtig, redet Unsinn,“ erwiderte immer in derselben nüchternen, sachlichen Art Emma Ginori, „wenn man ihr nicht zuhörte, würde sie’s aufgeben!“
„Wo bleibt denn übrigens die Gina? Wir werden ja gleich Thee trinken,“ erklärte die Gräfin.
„Sie ist hinuntergegangen auf den Kirchhof, um einen Kranz auf das Grab des armen Mädchens niederzulegen, für das sie sich so lebhaft interessiert hat. Wenn du es wünschest, Tante, werde ich sie holen.“
„Ich bitte dich, die Herren begleiten dich vielleicht, der Weg durch den Park ist sehr schön.“
[117]Emma erhob sich, von den beiden Herren gefolgt. Noch im Hinausgehen hörte Swoyschin, wie die Gräfin ihrer Freundin zuraunte: „Hab’ ich dir’s nicht gesagt – Leichen und Gräber – um etwas andres kümmert sie sich nicht!“
Es gab also zwei Ginoris – eine, von der man sprach, und eine, von der man es nicht der Mühe wert fand, zu reden. Die Sache fing nun doch an, dem jungen Offizier unheimlich zu werden. Mit fast atemloser Spannung wartete er auf den Moment, wo er die zweite Ginori kennen lernen sollte.
Emma ging indessen, den beiden Männern voran, die Treppe hinab. Swoyschin machte die Wahrnehmung, daß trotz ihrer großen knochigen Gestalt und ihres energischen Wesens ihr Gang sehr leicht war. Man hörte ihren Schritt kaum, auch darin erinnerte sie an die Wärterin Marie Holoubeck.
Im Vestibül unten nahm sie einen großen, flachen braunen Strohhut von einem Nagel, setzte ihn, ohne einen Blick in den Spiegel zu werfen, auf den Kopf, dann schritt sie mit den beiden Herren in den Park hinaus.
Die Büsche und Bäume waren noch durchsichtig, aber ein grüner Hauch schimmerte bereits über allem. Emma Ginori redete mit den jetzt neben ihr her gehenden Herren von allem möglichen, nur nicht von ihrer Schwester, und so sehr sich der Oberst auch bemühte, [118] vermochte er nicht, sie zu veranlassen, das Thema zu berühren. Swoyschin verhielt sich stumm.
Endlich hatten sie den Kirchhof erreicht. Er ragte, von niedrigen Mauern umfaßt, aus den grünen Wiesen auf, die sich zu Füßen des Hügels ausbreiteten, den das Schloß krönte und an dem der Park herunterlief.
Emma schob das eiserne Thürchen auf, das rostig in seinen Angeln hin. „Gina … Gina!“ rief sie in den Friedhof hinein.
Zufällig streifte der Oberst seinen Adjutanten mit dem Blick – er wunderte sich über den unruhigen, gespannten Ausdruck, den er auf dem Gesicht des jungen Mannes wahrnahm. Plötzlich schrak Zdenko auffällig zusammen.
Auf einem Grabhügel, leicht gegen ein Kreuz gelehnt, den Kopf über ein Buch, das auf ihren Knieen ruhte, gebeugt, saß ein blasses Mädchen. Ihr biegsamer Körper beschrieb eine komplizierte und doch wieder stilvolle Linie, die an gewisse englische Bilder erinnerte – aus der Schule von Rossetti und Burne Jones. Auch ihr Kleid, das in einfachen geraden Falten um ihre Glieder floß, erinnerte an jene Bilder. Es war von matter blaßlila Farbe.
Ein Kranz von Frühlingsblumen schmückte das eiserne Kreuz zu Häupten des Grabes, auf welchem sie saß, und eine sehr alte Trauerweide, die hinter [119] dem Kreuz emporragte, senkte ihre müden Äste über die phantastische Gestalt.
„Gina, was fällt dir ein, ich habe dich schon so oft gebeten, dir diese Bizarrerieen abzugewöhnen!“ rief, auf sie zutretend, die Schwester in strengem, ermahnendem Ton. „Du kannst deiner Vorliebe für englische Dichter doch anderswo als auf Gräbern frönen!“
„Du weißt, mich schrecken die Gräber nicht,“ erwiderte Gina. Ihre Stimme hatte einen merkwürdigen metallischen und zugleich heiseren Klang – den Klang einer leicht gesprungenen Glocke – einer von den Glocken, die Swoyschin in jener denkwürdigen Nacht immer denselben Namen zugerufen hatte: Gina Ginori! – Gina Ginori! – Gina Ginori!
„Es gibt keine Toten für mich!“ setzte sie trotzig hinzu.
Sie hob den Kopf, schlug die Augen auf – blaue Augen zwischen breiten, rötlichbraunen Augenlidern – abgrundtiefe Augen, in denen ein dumpfes Feuer aus dunklen Schatten hervorglühte. Ihr Blick fiel auf Zdenko, wurde starr und senkte sich dann plötzlich zu Boden. Ein dunkles Rot überzog ihre Wangen. Das Buch fiel ihr aus der Hand, und während er sich bückte, um es aufzuheben, richtete sie sich wie von einer Feder geschnellt empor. Sie machten den Eindruck, als ob plötzlich Leben in sie [120] hineingekommen wäre – den Eindruck einer Blume, die ein Sonnenstrahl aus ihrer herben Knospenhülle gelockt hat.
Während die Schwester den Obersten und seinen Adjutanten vorstellte, sah Gina – sei’s aus Koketterie, sei’s aus Befangenheit – von den Herren weg und machte sich mit dem Kranz auf dem Kreuz zu schaffen, den sie zurecht rückte.
Ein langer, schräger Nachmittagssonnenstrahl schimmerte auf den goldenen Buchstaben der Grabschrift. Swoyschin las die Worte:
„Du könntest doch endlich aufhören, dich mit der liebeskranken Müllerin zu beschäftigen,“ sagte indessen Emma fast barsch.
„Was willst du, sie thut mir leid!“ murmelte Gina, „sterben, ohne das große Glück des Lebens kennen gelernt zu haben! Es ist schrecklich!“
Der Oberst kam sofort zu der Überzeugung, daß Gina Ginori nichts andres sei als eine schauderhafte Poseuse! Etwas ironisch fragte er: „Was nennen Sie das große Glück des Lebens?“
[121]„Das Glück, sich selber für einmal gänzlich vergessen zu können!“ erklärte sie. Dabei sah sie von dem Obersten weg und heftete den Blick von neuem auf Zdenko Swoyschin. Worauf der Oberst zu einer zweiten Überzeugung kam, zu der nämlich, daß Gina nicht nur eine Poseuse sei, sondern auch eine unheimliche Person, ganz und gar unheimlich, und eine Kokette!
„Beeile dich, wir müssen nach Hause!“ rief Emma, „es wird gleich Zeit sein zum Thee.“ Das auffällige Betragen Ginas verdroß augenscheinlich die Schwester, deren Bestreben dahin zu gehen schien, die Excentricitäten Ginas zu vertuschen, wo sie nicht vermochte, sie einzudämmen. Sie verwickelte Swoyschin sofort in ein Gespräch, nur damit er sich nicht dem phantastischen Mädchen widmen könne. In sonderbare Gedanken versunken, folgte der Oberst dem voranschreitenden Paar.
Die Luft war weich und warm, ringsum rauschte, flüsterte und duftete der Frühling. Plötzlich, ganz plötzlich bemächtigte sich des vernünftigen, ruhigen, gefaßten Mannes ein unbeschreiblich beängstigendes, fröstelndes Gefühl, als ob ihm eine Leiche sehr nahe wäre. Er sah auf – neben ihm schritt Gina Ginori.
* * *
Die beiden Herren blieben natürlich über den Nachmittagsimbiß, der in Zdibitz nach alter österreichischer [122] Sitte „Jause“ und nicht „five o clock“ hieß.
Immerhin hatte man dem Zeitgeist auch in Bezug auf diesen Imbiß eine Konzession gemacht, indem man ihn im Salon, die Tasse auf den Knieen oder in der Luft haltend, einnahm.
Gina saß mit finsterem Gesicht etwas abseits, wobei sie nicht aufhörte, lange, verträumte Blicke nach Swoyschin zu werfen, den die Gräfin Ronitz in ein tiefsinniges Gespräch über die neuesten nationalen Streitigkeiten verwickelt hatte. Der Oberst, welcher Gina aufmerksam beobachtete, verurteilte ihr Benehmen immer strenger als außerordentlich kurios, und ihre Zudringlichkeiten wunderten ihn um so mehr, als nach allem, was er durch seine Offiziere von Gina Ginori gehört, dieselbe von irgend welcher Koketterie bis dahin auch nicht die geringsten Beweise geliefert, ja dem männlichen Geschlecht gegenüber nicht einmal eine aufreizende Opposition, sondern einfach die entmutigendste Gleichgültigkeit gezeigt hatte.
Der Oberst dachte an Annie und gleich darauf an die schwache Seite im Charakter seines Adjutanten. Was wird daraus werden? fragte er sich und schüttelte unwillkürlich den Kopf.
Während die Ronitz fortfuhr, mit ihren politischen Fragen Zdenko zu behelligen, näherte sich die Italienerin dem Flügel, griff erst stehend ein paar [123] mißtönige Accorde, setzte sich dann und begann zu spielen.
Es war kein neues Klavier, über dessen Tasten sie ihre blassen Finger gleiten ließ, sondern ein bereits überspielter Bechstein, den die Gräfin Zell für den Sommer von einer bekannten Klavierniederlage gemietet hatte, aber es war doch ein Bechstein und hatte die singende, verklingende Weichheit und Süßigkeit des Tons, welcher allen Bechsteins eigen ist. Der Anschlag Ginas war übrigens zauberisch. Sie spielte erst ein paar Präludien, dann ein Notturno von Chopin. Es klang wie das Schaudern und Beben des jungen Laubes, das der Frühlingswind streichelt, es klang wie das Lachen der Nixen, die sich an einem Unglück freuen.
Swoyschin hörte auf, die Fragen der Gräfin Ronitz zu beantworten. Von der Musik wie von einem Zauber angezogen, erhob er sich und näherte sich dem Flügel. Gina hielt ein wenig inne in ihrem Spiel, als er ihr gegenüber; die eine Hand auf dem Klavierdeckel, stehen blieb, und ihn aus ihren eigentümlichen Augen voll ansehend, fragte sie: „Haben Sie es für eine Pose gehalten oder für eine Verrücktheit, als Sie mich heute lesend auf dem Kirchhof fanden?“
Er zögerte einen Moment, bis er mit einem langsamen Lächeln, dem Lächeln, mit der er allen [124] Frauen den Kopf verdrehte, sagte: „Keines von beiden. Mir erschien Ihr Betragen nicht anders als die sonderbare Laune eines sehr eigenartigen Geschöpfs.“
Ohne sich davon Rechenschaft zu geben, wußte er ganz instinktiv jeder Frau gegenüber gerade den Ton anzuschlagen, den sie am liebsten hörte.
„Laune!“ Sie zuckte die Achseln, aber offenbar nicht unzufrieden. „Laune, meine Vorliebe für Gräber ist keine Laune, es ist eine Leidenschaft. Mich dauern die armen verlassenen Toten, die keine Toten sind für mich.“
Zdenko stutzte. Hatte er eine durchtriebene Kokette und Komödiantin oder eine Wahnsinnige vor sich? Doch ob Komödiantin, ob Irrsinnige, jedenfalls war sie ein Weib von seltenem, wenn auch krankhaftem Liebreiz.
Nach einer kleinen Pause fragte er: „Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen, daß es keine Toten für Sie gibt, Gräfin?“ Man nannte die Mädchen immer einfach Gräfin, weil der Titel Marchesina etwas zu Exotisches hatte für eine österreichische Konversation.
„Was ich damit meine?“ gab sie ihm zur Antwort. „Ich hätte einfach sagen sollen, daß ich die Scheidewand, welche im allgemeinen zwischen den Toten und den Lebenden besteht, nicht kenne. Ich sehe alle Toten wieder. Sie haben nicht dieselbe Scheu vor mir wie vor andern Menschen. Manchmal [125] denke ich mir, ich mute sie fast wie ihresgleichen an.“
Sie lachte ein Lachen, das an das Knistern von dürren Blättern und auch an das Zusammenklirren von Eisstücken erinnerte. Den jungen Mann überlief es kalt.
„Denken Sie,“ fuhr sie fort, „jahrelang meinte ich von einem Tag zum andern, ich müßte sterben! Von Kindheit an war ich krank. Man fürchtete die Schwindsucht für mich. Dann später wurde mir besser. Jetzt glaube ich fast, daß ich ganz gesund werden könne, aber nur unter der Bedingung, daß ich das Leben lieben lernte! Bis jetzt war mir meine Existenz so schrecklich gleichgültig.“ Dann, viel leiser, so leise, daß er seine Ohren anstrengen mußte, um sie zu verstehen, sagte sie: „Ich weiß, derjenige, der mich das Leben lieben lehrt, der macht mich lebendig – oder …“ sie stockte.
„Oder?“ – er lehnte sich etwas fester auf den Klavierdeckel und beugte sich weiter zu ihr vor – „oder?“ wiederholte er. Aber sie antwortete nicht. Sie hatte von neuem angefangen zu spielen, leise, träumerisch, aufreizend – und plötzlich … Zdenko erschrak, unter ihren Fingern glitten Töne hervor, die noch niemand einem Klavier entlockt hatte, aufreizend, klagend und doch wieder süß verheißend wie die Stimme des Frühlingswindes, wenn er über die [126] kahle Erde fährt und neues Leben aus den alten Gräbern lockt – jetzt ein-, zweimal die chromatische Figur.
Eine tiefe Falte zwischen den Brauen, trat Emma Ginori auf die Schwester zu. „Hör auf mit dieser Katzenmusik,“ rief sie zurechtweisend, „du weißt, daß ich diese Melodie nicht leiden kann!“
Gina erhob sich und lachte ihr freudloses, an zusammenklirrende Eisstückchen erinnerndes Lachen. Dann warf sie halblaut über ihre Schulter hinüber Swoyschin die Worte zu: „Erkennen Sie das Lied?“
– – – – – – – – – – –
Es war spät geworden, Oberst und Adjutant begaben sich auf die Heimfahrt. Der gelbe Schein der tiefstehenden Sonne vergoldete die Welt, lange Schatten streckten sich dazwischen. In den Duft der blühenden Obstbäume mischte sich der herbe, würzige Atem der den Horizont umdunkelnden Wälder. Ein kühlender, erfrischender Hauch schwebte aus dem fruchtbaren Boden empor.
Längere Zeit blieben die beiden Männer stumm. Der Oberst war unzufrieden mit seinem Adjutanten, gründlich unzufrieden. Was hatte der im Herzen erklärte Bräutigam Annies mit dieser italienischen Faxenmacherin zu liebäugeln? Was hatte ein Mensch, der durchgemacht hatte, was Swoyschin durchgemacht, überhaupt leichtsinnig mit irgend einem weiblichen [127] Wesen anzubandeln?! Die Sache machte ihm schwere Sorgen. Er war davon überzeugt, daß Swoyschin sich wieder einmal für viel Verdruß und wenig Pläsier „eintunken“ würde, und trachtete vorzubeugen.
„Swoyschin!“ begann er in bedeutsamen Ton aus seinem gedankenvollen Schweigen heraus.
„Ja, Herr Oberst!“ entgegnete etwas beunruhigt der Adjutant, der offenbar schon ahnte, was ihm bevorstand.
„Hm! hm!“ Der Oberst räusperte sich, dann hub er von neuem an: „Sagen Sie mir, was halten Sie von der Italienerin? Ist sie einfach eine Erzkokette, oder ist sie wirklich gestört?“
Zdenko sann einen Augenblick nach, nahm seine Cigarette von den Lippen und blies langsam den Rauch in die feuchte, goldschimmernde Luft. „Darüber bin ich mir selber nicht klar,“ sagte er langsam.
„Nun, ich auch nicht,“ erwiderte ihm der Oberst, „aber über das eine herrscht bei mir kein Zweifel – darüber, daß Sie wieder einmal im Begriff stehen, Unheil anzurichten, mein lieber Swoyschin. Nehmen Sie sich in acht; besonders in Ihrer jetzigen Lage wär’s nicht angenehm für Sie, zwischen zwei Stühle zu geraten.“
Swoyschin nagte unruhig an seiner Oberlippe. Seine auffällige Empfindlichkeit bewies in diesem Fall deutlich, daß er kein ganz reines Gewissen habe. Er [128] fühlte infolgedessen doppelt das Bedürfnis, sich zu verteidigen, sich zu entschuldigen.
„Lieder Herr Oberst, Sie werden doch nicht einen Augenblick denken, daß mir’s einfallen könnte, dieser Italienerin wirklich den Hof zu machen? Sie interessiert mich auch gar nicht wie ein Geschöpf von Fleisch und Blut, sie interessiert mich wie ein Gespenst.“
Der Oberst starrte den Adjutanten an, als ob dieser plötzlich verrückt geworden wäre.
„Den Blick verdien’ ich nicht,“ versicherte kopfschüttelnd Swoyschin. „Ich bin nun einmal überzeugt, daß mit Gina Ginori etwas Unheimliches verbunden ist, etwas, von dem die Schwester mehr weiß als Gina selbst, weshalb Emma es verbergen möchte, während Gina damit prahlt. Urteilen Sie selbst, Herr Oberst!“
Hiermit schilderte Swoyschin seinem Vorgesetzten den seltsamen Besuch, der ihm in der Nacht nach seiner Rückkehr in Breznitz zu teil geworden war, und den er sich erst als einen Traum ausgelegt hatte.
„Es ist auch nichts andres gewesen als ein sonderbarer Traum und ein sonderbarer Zufall,“ erklärte der Oberst barsch. Er konnte keine Phantastereien leiden und machte allem spiritistischen Unfug fast mit derselben Vehemenz Opposition wie die Gräfin Ronitz.
„Aber wie erklären Sie sich’s, daß die nächtliche [129] Erscheinung Zug für Zug Gina Ginori glich?“ fragte eigensinnig der Oberlieutenant.
Sein Vorgesetzter dachte einen Augenblick nach, dann sagte er: „Sie müssen sie doch schon früher einmal gesehen haben; es bleiben so manches Mal Dinge in unsrer Seele abphotographiert, ohne daß wir das deutliche Bewußtsein davon haben, und unter gewissen Bedingungen treten die Bilder zu Tage.“
„Ich habe sie nie gesehen,“ behauptete Swoyschin fast verdrießlich.
„Ich merke, Sie lehnen jede natürliche Erklärung der Situation ab, weil Sie sich durchaus Ihren geisterseherischen Nimbus bewahren möchte,“ erklärte der Oberst. „Wenn Sie sich durchaus interessant vorkommen wollen, so kommen Sie sich meinetwegen interessant vor, aber wenn Sie meinem Rat folgen, so lassen Sie’s jetzt dabei bewenden, stöbern Sie nicht weiter in der dunklen Psychologie dieser verrückten Italienerin herum, es kommt nichts Gutes dabei heraus. Mögen Sie sich hundertmal hinter das Bewußtsein Ihrer guten Absichten zurückziehen, etwas Schuld hat ein Mann doch immer, wenn ihm aus Weibergeschichten Scherereien herauswachsen. Ein guter Kerl sind Sie ja, aber das kompliziert die Sache nur, denn nebstbei sind Sie eitel und neugierig. Sie wollen kein Unglück anrichten, aber es schmeichelt Ihnen doch, wenn sich ein Mädchen stark mit Ihnen beschäftigt. [130] Sie stecken die Hand ins Wasser, um sich zu vergewissern, ob die Temperatur steigt. Die Temperatur steigt in solchen Fällen immer. Da Sie sich schon mehr als einmal die Hand tüchtig verbrüht haben, könnten Sie sich in acht nehmen. Ihre Erfahrungen waren unangenehm; aber es könnten noch unangenehmere kommen. Mit der Gina Ginori wär’s nicht leicht auszubandeln, wenn man einmal angebandelt hätte! Ich warne Sie!“
Warnungen nützen in den seltensten Fällen etwas. Gewöhnlich sind sie nur Wegweiser zur Versuchung. –
* * *
Das, was er gewünscht hatte, erreichte der Oberst durch seine weitläufigen Ermahnungen nicht, aber er erreichte andre, ihm weit weniger erwünschte Dinge: daß Zdenko nicht mehr ganz so offen mit ihm war, daß er ihm nicht mehr so viel Zeit widmete wie früher, ja ihm manches Mal geradezu auswich, daß er seine Briefe an Annie nicht mehr in dem Rauchzimmer des Obersten und unter derselben Lampe schrieb, bei deren Licht der Oberst Napoleons Feldzug von 1814 studierte, und daß er ihm nicht mehr unbefangen plaudernd von jeder Viertelstunde in seinem Tag Rechenschaft gab.
Einmal fuhr er nach Zdibitz hinüber, zu einer Lawn-Tennis-Partie, die der Oberst abgesagt hatte, [131] und das erfuhr der Oberst erst durch die Neckereien, mit welchen die Kameraden Swoyschin nachträglich verfolgten, oder mit denen sie vielmehr seinen allerneuesten Sieg betonten. Besonders Bärenburg, der aus guten Gründen auch nicht im mindesten auf seinen Vetter eifersüchtig war – seine eigenen Eroberungen gaben ihm ganz genug zu thun –, leistete Ausgiebiges hierin.
„Schade, daß Sie nicht dabei waren, Herr Oberst,“ bemerkte er zu diesem, als er am Abend jenes Tages bei einer freundschaftlichen Partie Billard im Offizierskasino mit ihm zusammentraf, „es hätte Ihnen Spaß gemacht, zu sehen, wie sich unser liebenswürdiger Zdenko wieder einmal in der Lilienknickerei geübt hat.“
„Aber so schweig doch, Tapsch, du bist unausstehlich!“ rief Swoyschin, der sich offenbar vor dem Obersten genierte, mit blitzenden Augen.
„Welche Lilie hat er denn neuerdings geknickt?“ fragte der Oberst, indem er mit strafender Miene an Swoyschin vorbeisah. Er wußte es nämlich ganz gut, um welche Lilie es sich handelte, aber er that nur so unschuldig, weil er auf Swoyschin böse war und ihn beschämen wollte.
„Nun, die Gina Ginori! Das Mädel benimmt sich ja rein wie verrückt!“ erklärte lachend Bärenburg. „Zu komisch!“ fuhr er fort. „Gegen uns verhielt sie sich so, daß wir geneigt waren, sie nicht [132] nur für eine ausgemachte Männerfeindin, nein, für ein absolutes Neutrum anzusehen. Ihre Gleichgültigkeit grenzte ans Unnatürliche! Dem Zdenko hingegen hat sie sich geradezu an den Kopf geworfen.“
„Tapsch!“ schrie Swoyschin wütend.
„Nichts für ungut,“ erklärte Bärenburg mit großer Ruhe dem aufgeregten Swoyschin, „die Thatsache läßt sich nicht leugnen; sie hat sich auf den ersten Blick in dich verliebt, und wenn sich eine so bildhübsche passionierte Italienerin mir aus freien Stücken an den Kopf werfen wollte, so versichere ich dir, daß ich meinen Namensbruder in Ägypten den Tugendpreis nicht streitig machen würde. Übrigens, stille Wasser sind tief, Herr Oberst, einen neuen Paletot braucht sich der Zdenko auch noch nicht zu bestellen. Sie hätten ihn heute mit dieser hübschen Gina Ginori Süßholz rapseln sehen sollen!“
Swoyschin zerbrach den Billardstock, den er in der Hand hielt, über seinem Knie und verließ wütend das Zimmer.
Die Hände in den Hosentaschen, blickte der Oberst vor sich hin. „Hm! Sie, Bärenburg,“ brummte er, indem er jetzt die Hände aus den Taschen zog und die langen Enden seines Schnurrbarts durch seine Finger gleiten ließ, „die Geschichte ist mir nicht recht – gefällt mir gar nicht!“
„Ach, Herr Oberst, Sie sehen zu schwarz.“
[133]„Ich sehe, daß Swoyschin unverbesserlich ist,“ erklärte der Oberst.
„Sie sind sehr streng, er kann wirklich nichts dafür,“ verteidigte Bärenburg den Vetter.
„Man kann immer dafür,“ entgegnete verdrießlich der Oberst.
„Nun, Herr Oberst“ – Bärenburg kraute sich nachdenklich den Kopf –, „es ist ja richtig, daß man mit ausdauernder Tugend selbst die unwiderstehlichste Unwiderstehlichkeit besiegt, aber ob sich diese Tugendprotzerei bei einem Mann gut ausnehmen würde, frag’ ich mich. Bitte, denken Sie sich so einen Mann, der sich vor ein in ihn unerwünschterweise verliebtes Mädchen hinstellt und dasselbe anpredigt:
Es ist ja möglich, daß dieses Verfahren die Jungfrau von ihren thörichten Gefühlen gründlich heilen würde, ich für meinen Teil nehme dies als wahrscheinlich an; aber finden Sie im Ernst, daß dergleichen von einem Mann zu verlangen ist, Herr Oberst?“
Sie waren ganz allein in dem großen niedrigen Billardsaal, in dem das Licht durch kleine, viereckige Fenster hereinbrach. Der Oberst begann unruhig auf [134] und ab zu gehen. Bärenburg löste mit großer Geschicklichkeit schwierige Billardprobleme. Das Zusammenprallen und Weiterrollen der Kugeln unterbrach allein die Stille.
Jetzt blieb der Oberst vor dem Billard stehen. „Hm! Wissen Sie, Bärenburg, das dümmste ist, daß Swoyschin, wenn er bei seinen Abenteuern nicht mit der Verteidigungspredigt aus dem ‚Toggenburg‘ anfängt, doch eigentlich immer mehr oder minder damit aufhört! Er gehört zu dem gefährlichsten Don Juan-Typus – dem Typus, der am meisten Unheil anstellt – dem Typus des Don Juan, der stecken bleibt.“
„Das ist allerdings richtig,“ gab Bärenburg zu, „er sticht immer frisch und fröhlich mit seinem Liebesschifflein in See, und sobald das Wetter stürmisch wird, verläßt er das Schifflein, um sich auf die Insel der strengen Gewissenhaftigkeit – vor nachträglichen Vorwürfen zu retten. Es gelingt ihm geradezu großartig, sich die Vorwürfe vom Leibe zu halten. Darin ist er mir am merkwürdigsten.“
„Allerdings ist er darin recht merkwürdig!“ bekräftige der Oberst mit wegwerfender Betonung, und zornig fügte er hinzu: „Hol ihn der Teufel!“
„Herr Oberst, sagen Sie das nicht so laut,“ erwiderte ihm Bärenburg lachend, „niemand würde es mehr bedauern als Sie, wenn Sie der Teufel beim Wort nähme!“
[135]„Ach, ob ich es laut sage oder nicht,“ murmelte der Oberst finster, „das wird nichts an der Sache ändern. Rächen wird sich das Unheil, welches er immer wieder heraufbeschwört, an ihm doch früher oder später – und dann fürchterlich.“
„Sie meinen, der ‚Kommandeur‘ bleibt nicht aus,“ sagte Bärenburg, „vielleicht haben Sie recht. Und es ist doch so schrecklich schade! Komisch, daß ich Ihnen gegenüber den Zdenko verteidigen muß, Herr Oberst. Sie sind eben ein wenig enttäuscht. Ich kenn’ ihn schon länger und weiß, was ich von ihm zu erwarten habe. Sie haben nur von den zwei traurigen Fällen gehört, Lydia Böckel und der Doktorin; nun, ich könnte Ihnen noch eine ganze Reihe von Liebeleien Zdenkos aufzählen, die, wenn nicht alle mit dem Tod, doch alle tragisch geendet haben.“
„Und da ist er noch nicht kuriert!“ brummte der Oberst.
„Den wird nichts kurieren,“ behauptete Bärenburg. „Wie soll den etwas kurieren, da er sich nie einer bösen Absicht bewußt wird. Er ist nun einmal mit einer wunderbaren Fähigkeit geboren, dem Instrument der weiblichen Seele Töne zu entlocken, die diesem Instrument kein andrer zu entlocken versteht. Er spielt auf dem Instrument als Künstler allerersten Rangs. Eine solche Fähigkeit läßt sich nicht unterdrücken. Ich bitte, stellen Sie sich das vor: [136] sperren Sie Paganini oder Wieniawsky, oder wie die Kerle alle heißen, in ein Zimmer, in dem so und so viele Geigen an der Wand hängen, und verbieten Sie ihm bei Todesstrafe, darauf zu spielen. Ehe eine Woche vorüber ist, wird er die Todesstrafe vergessen haben und wird auf einer der Geigen spielen. Das ist nun einmal seine Natur!“
„Bah! – wenn es sich nicht um eigenes, sondern um fremdes Unglück handelt, dem man vorbeugen soll, kann man seine Natur Mores lehren,“ ereiferte sich der Freiherr, „man ist verpflichtet dazu, und ich kann’s nicht begreifen, daß ihm solche Katastrophen wie die, um die es sich handelt, keinen tieferen Eindruck machen.“
„Aber sie machen ihm ja einen tiefen Eindruck – einen sehr tiefen Eindruck. Jedesmal nach einer derartigen Katastrophe bekommt er ein Nervenfieber oder einen Anfall von Influenza oder irgend einen andern mit gastrischen Erscheinungen komplizierten Zustand. Nach ein paar Wochen, manchmal Monaten, ist er ganz gesund und hat die feste Überzeugung erlangt, daß er gar nichts dafür gekonnt hat. Und sagen Sie, was Sie wollen, bei alledem bleibt er rasend sympathisch.“
„Ihnen vielleicht,“ schnaubte der Oberst, „bei mir hat er ausgespielt, total ausgespielt.“
„Wollen’s abwarten,“ lachte Bärenburg. „Sie [137] werden sehen, nicht vierzehn Tage dauert Ihre Antipathie. Unter Männern ist er musterhaft, der verläßlichste Freund, der schneidigste Kamerad, kennt keinen Neid, keine Kleinlichkeit, immer bei der Hand, wenn man was braucht, mag’s ihm noch so unbequem sein, ein guter Ratgeber, taktvoll, besonnen …“
„Strengen Sie sich nicht weiter an,“ unterbrach ihn der Oberst unwirsch, „ich hab’s Ihnen schon einmal gesagt, bei mir hat er ausgespielt.“
Sechstes Kapitel.
Inmitten des malerisch verwilderten Parkes, in dem die Offiziere im Winter so lustig dem Eissport gefrönt hatten, befindet sich ein verfallenes Lustschlößchen mit Namen Monbijou. Es soll von einem Kavalier erbaut worden sein, der Franz Graf Sternfeld hieß. Jetzt gehört es einem dicken Breznitzer Gastwirt, der den unternehmenden Gedanken ausgeführt hat, das Schlößchen in eine Sommerrestauration zu verwandeln. Hie und da flüchten sich ein paar, nach frischer Luft lechzender Städter in diese entlegene Herberge. Den Hauptbestandteil der Kundschaft aber bildet das jeweilig in Breznitz garnisonierende Offizierscorps. Alle kleinen Sommerfeste des 32. Dragonerregiments werden in dem ehemaligen Jagdschlößchen veranstaltet.
Gegen die Mitte Mai lud der Oberst die angesehensten Familien der Umgebung zu einem großen Lawn-Tennis-Turnier. Gräfin Ronitz mit zwei sehr [139] hübschen Nichten und einem rothaarigen Neffen, Graf und Gräfin Zriny mit vier altjüngferlichen Töchtern, ein Baron Forstheim mit seiner sehr schönen Frau, Herr und Frau von Märzfeld, die sich in der Nähe angekauft hatten, natürlich auch die Zells waren gebeten worden.
Die Forstheims erschienen zuerst. Zwei hübsche Cousinen begleiteten die Baronin. Alle drei Damen waren außerordentlich hübsch gekleidet, nahmen sich gut aus, hatten sich offenbar Mühe gegeben, das Fest zu schmücken.
Die vier Zrinys waren im Gegenteil fast herausfordernd schäbig erschienen, es lohnte wirklich nicht, Staat zu machen für ein Offiziersfest in Breznitz. Diese Zriny-Komtessen waren in ganz Österreich wegen ihres Hochmutes bekannt. Es hatte eine Zeit gegeben, wo sie sich, in Wien wenigstens, nicht herabgelassen hätten, mit einem 32er Dragoner zu tanzen, der nicht mindestens ein Graf gewesen wäre, und jetzt hätten sie sich sogar entschlossen, einen zu heiraten, aber das war freilich etwas ganz andres.
Die Zells kamen spät, und zu der großen Enttäuschung des Obersten brachten sie nur eine ihrer Nichten mit, und zwar Gina; Emma war durch eine Migräne an das Haus gefesselt.
„Es ist zu schade! Emma hat so selten Migräne, kaum zweimal des Jahrs. Wenn sie aber einmal daran leidet, so ist mit ihr nichts anzufangen, da [140] kann sie weder Hand noch Fuß rühren,“ erzählte die Gräfin Ronitz, „wirklich schade!“
„Ja wahrhaftig, zu schade!“ stimmte der Oberst mit ein.
Das Wegbleiben der sommersprossigen Emma, die wenig zum Schmucke des Festes beitragen hätte, verstimmte ihn so auffällig, daß die alte Gräfin Ronitz ihrer Freundin Zell zuraunte: „Die Emma hat entschieden bei Stahl eine Eroberung gemacht, er muß Absichten haben auf sie. Freilich, er hat nichts, dem wird darum zu thun sein, Geld zu heiraten.“
Aber diesmal hatte der große Scharfsinn der Gräfin Ronitz doch nicht ausgereicht, die Situation zu überblicken. Dem Obersten war es gar nicht darum zu thun, Geld zu heiraten, er fragte sich nur ganz einfach, was diese „verrückte Gina“ aufführen würde ohne den bändigenden Zügel der Schwester, da sie doch selbst in deren Gegenwart excentrisch genug war.
Nun, anfangs benahm sie sich überraschend manierlich. Sie sah sehr exotisch und hübsch aus in einem großen, schwarzen Federhut und einem weißen Kleid, das die übermäßige Schlankheit ihrer Gestalt zu reizvoller Geltung brachte. In ihren Ohren blitzten zwei Brillantboutons, die die Größe von türkischen Haselnüssen hatten.
Die Zriny-Komtessen erklärten einstimmig, es sei [141] unschicklich für ein junges Mädchen, so kostbares Geschmeide zu tragen, und die Gräfin Ronitz behauptete schlechtweg, die zwei flammenden Steine nähmen sich neben dem blassen Gesicht aus wie zwei Wagenlaternen, aber das war Neid! Die Herren waren alle entzückt von der eigentümlichen und vornehmen Erscheinung. Einige meinten, sie erinnere an die schöne Marie Vecséra, der Rittmeister von Finke aber, der Schöngeist des Regiments, der sogar im stande war, eine Stunde mit der Eisenbahn zu fahren, um einer Vorlesung über Nietzsche beizuwohnen, und zehn Stunden, um ein neues Stück am Burgtheater aufführen zu sehen, der erklärte, die Ginori erinnere an niemand so sehr, wie an Eleonore Duse, und der fremdartige Zauber ihrer Persönlichkeit sei nur mit einem einzigen Wort zu bezeichnen. Das Wort war italienisch. Im Laufe des Nachmittags fiel’s ihm ein, es hieß: „morbidezza“.
An dem Tenniswettspiel nahm Gina nicht teil, sie saß wie geistesabwesend neben dem Schlachtfeld und zeichnete mit der Spitze ihres Sonnenschirms Figuren in den Sand.
„Sie darf sich nicht erhitzen,“ erklärte die Gräfin Zell, „’s ist ohnehin eine Eigenmächtigkeit von mir, daß ich sie hergebracht habe. Die Emma wollte nichts davon hören, daß Gina ohne sie fährt. Aber wir hatten’s uns in den Kopf gesetzt, nicht wahr, Gina?“
[142]Gina lächelte und fuhr fort, kabbalistische Zeichen in den Sand zu zeichnen.
Die andern spielten alle Lawn Tennis bis zur Bewußtlosigkeit. Dem Obersten, der von einer kleinen Estrade aus als „Unparteiischer“ das Spiel beobachtete, drehte sich bereits der Kopf vor lauter „thirty, forty, out“, die er gewissenhaft notierte.
Die Baronin Forstheim spielte am besten, sie wurde von den übertragenen Zriny-Komtessen ein wenig über die Achsel angesehen, weil ihre Ahnen nicht bis ins zwölfte Jahrhundert zurückreichten, und rächte sich an ihnen dadurch, daß sie ihnen den ersten Preis vor der Nase weggewann.
„Sie spielt charmant, famos, die Forstheim, ganz famos!“ erklärte die Gräfin Ronitz, die sich mit den Forstheims angefreundet hatte. „Sie spielt am besten von euch allen!“
„Sie hat’s auch nötig,“ erklärte Minny Zriny kurz, bündig und treffend mit ihrer in ganz Österreich bekannten Impertinenz. Sie war stolz auf diese Impertinenz wie auf ein Talent und kultivierte sie mit Sorgfalt. Auch mußte man gestehen, daß sie es darin zu einer anerkennenswerten Künstlerschaft gebracht hatte.
Die Gräfin Ronitz blieb die Antwort nicht schuldig: „Na ja, ihr braucht euch nicht anzustrengen, ihr ruht halt wieder einmal auf den Lorbeeren aus, die [143] eure Ahnen für euch gesammelt haben. Nehmt euch nur in acht, daß ihr die Zeit nicht darauf verschlaft. Die ‚Neuen‘ werden euch bald in etwas Wichtigerem geschlagen haben, als im Lawn Tennis!“
Die Komtessen fanden die Tante Rosin’ heute ganz besonders witzig und lachten fürchterlich.
Nach der Preisverteilung wurden Erfrischungen herumgereicht. Gäste und Offiziere versammelten sich um das kleine Zelt, in dem Zitronengefrorenes, Eiskaffee und Champagner zu gleicher Zeit mit Sandwiches und Bier den Gästen zur Erfrischung verabreicht wurden. Die Offiziere wetteiferten miteinander, die Damen zu bedienen, und zwei Dragoner spülten unermüdlich die Gläser in einem länglichen Holzschaff ab.
Die Komtessen zwitscherten herzigen Unsinn, die Offiziere lachten dazu, die Gläser klirrten, die Kaffeelöffel klapperten gegen die Eisschalen. Es war alles lustig, bunt und belebt, und nach einer Stunde spielte man weiter, aber nicht mehr mit dem früheren Eifer.
Die Komtessen behauptete, die „Jause“ habe sie faul und genußsüchtig gemacht, und trällerten Walzermotive, während sie um den Platz herumstanden. Sie fühlten sich der Anstrengung des Spiels nicht mehr gewachsen.
Swoyschin, der sich mit anerkennenswerter Selbstverleugnung dem Tennissport, dem er nicht sehr geneigt [144] war, gewidmet hatte, stand jetzt müßig zwischen den walzerträllernden Komtessen. Er konnte nicht umhin, nach Gina zu schielen, von der er sich bis dahin gänzlich fern gehalten hatte, teilweise aus Gewissenhaftigkeit, nebstbei aus Angst vor den Augen des Obersten, die sich mehr als einmal forschend und mahnend auf ihn gerichtet hatten. Bald aber sollten weder Swoyschins Gewissenhaftigkeit noch die Blicke des Obersten mehr ausreichen, den magnetischen Zauber Gina Ginoris zu bekämpfen. Sie bildete den Mittelpunkt einer Gruppe von Offizieren, der besten im Regiment, und sie schienen es sich alle recht sehr angelegen sein zu lassen, ihr Wohlgefallen zu erregen. Zu verwundern war dabei nichts, da sie wirklich verführerisch aussah.
Ganz abgesehen von ihrer Schönheit und von der exotischen Vornehmheit ihrer Toilette, war sie berückend. Es durfte sich keine der anwesenden Damen mit ihr messen, nicht einmal die allerliebste Isa Ronitz, die doch unter vielen bildhübschen Wiener Komtessen im vorigen Winter den allgemeinsten Beifall errungen hatte, und deren Bild sogar als österreichischer Schönheitstyp in ausländischen Zeitungen erschienen war, ja nicht einmal die Baronin Forstheim, welche ihrer Schönheit halber, trotz ihres Ahnenmangels, zu allen aristokratischen Wohlthätigkeitsfesten in Wien zugezogen wurde.
[145]Die Offiziere mußten ihr gerade einen lebhaften Wunsch vorbringen, einige falteten bittend die Hände. Sie lehnte ab, lächelnd, liebswürdig. Was konnten sie nur von ihr wollen? Swoyschin legte seiner Neugier die Zügel an, hielt sie so fest nieder, als er konnte. Er hatte keine Lust, Bärenburg zu erneuerten Witzen, dem Obersten zu erneuerten Moralpredigten Anlaß zu geben. Er versuchte, sich in ein Gespräch mit Isa Ronitz zu vertiefen, die ihm vom vorigen Fasching vorplapperte, von Komödiespielen, von den komischen Hemdkragen des Fritzi Z. und den noch komischeren Ballkleidern der Fredi X. und so weiter.
Als er wieder nach Gina hinsah, war diese samt dem Troß ihrer Bewunderer verschwunden. Nun nützte kein Zügel mehr, die Neugier war nicht länger zu bändigen.
Wie ihn die kleine Ronitz langweilte! – Es war recht spät geworden. Selbst die fanatischsten Tennisspieler mußten den Kampf aufgeben, die Rackets niederlegen. Eine von den Komtessen pfiff jetzt ganz stil- und regelrecht einen Walzer, die andern tanzten dazu. Isa Ronitz warf einen verlangenden Blick nach Swoyschin; der merkte es gar nicht oder hatte keine Lust zu tanzen; so faßte sie denn lustig eine der vier Zrinys um den Leib und wirbelte mit ihr fort.
Swoyschin machte sich daran, Gina zu suchen, längere Zeit vergeblich. Nach allen Seiten durchstrich er den großen, verwilderten Park, spähte dahin, dorthin.
[146]Es war ein wunderschöner Frühlingsabend. Anstatt des eintönigen Grüns, das sich später im Sommer über alles Laub ausbreitet, prangte jeder Busch und Baum noch in einer andern Farbe; der eine war grün, der andre fast rosa, der dritte gelbbraun; dazwischen ragte der dunkle Ernst einer Fichte oder Tanne, deren breite, flache, sich schwer über dem Boden zuneigenden Äste der Frühling mit hellgrünen Spitzen verziert hatte. Zwischen ein paar schlanken, silbernen Birkenstämmen, die sich anmutig in ihre hellen Laubgewänder hüllten, sah man die düstere Glut des Sonnenunterganges in einem aufsteigenden Gewitter versinken.
Zu den Füßen der Birken, aus dem noch nicht hinweggefegten dürren Herbstlaub steckten einige Maiglöckchen ihre neugierigen Köpfchen über die sie umschließenden grünen Blätterdüten heraus. Ihr holder Duft mische sich mit dem Geruch des vorjährigen Herbstmoders, aber über das alles hinaus schwebte noch ein andrer Duft, der immer stärker, berauschender, betäubender wurde, etwas bezwingend Süßes, in das sich eine unheimliche Unlauterkeit mischte.
Aus einem Gewirr von metallisch-braun glänzenden Ahornsträuchen ragte, ganz mit weißen Blüten bedeckt, ein ungeheurer Faulbaum auf. Er schien dem jungen Mann zuzunicken, zu winken. Swoyschin ging auf ihn zu. Ja dort …! Zu seinen Füßen breitete [147] sich ein dunkelgrüner Weiher aus, an seinen Rändern von bühenden, weißen und gelben Wasserlilien umkränzt.
Es war derselbe Weiher, worin die arme, junge Frau den Tod gefunden hatte. Ein Schauder durchfuhr Swoyschin, etwas stieß ihn zurück, er wollte fort. Aber … unter dem Faulbaum auf einer Bank von roh zusammengezimmerten Ästen saß Gina Ginori. Sie hatte ihren Hut abgelegt und sich eine Krone von Faulbaumzweigen auf den Kopf gesteckt. Die großen, weißen Blütentrauben, kaum merklich mit blaßgrünen Blättchen vermischt, schmiegten sich zärtlich in das bauschige, dunkle Haar. Ihre jungen Anbeter waren um sie versammelt, sie hielt eine alte Guitarre im Arm und sang.
Swoyschin kannte die alte Guitarre, sie gehörte dem Wirt, der aus Schloß Monbijou eine Herberge gemacht. Er hatte seinerzeit als Junggeselle unter den Fenstern seiner jetzigen Frau Ständchen darauf geklimpert. Jetzt veranlaßten ihn die Offiziere noch manchmal, darauf herumzuzupfen, wenn er betrunken war und sie selber sich in erhöhter Stimmung befanden. Er sang dazu, er hatte noch ein ganzes Repertoire von halbvergessenen Liedern, die er alle untereinander mischte.
Die Musik, die Gina Ginori auf dem alten Instrument machte, glich keineswegs den Vorträgen des Gastwirts von Monbijou. Ihre schlanken weißen Hände berührten die Saiten kaum, man hörte nur [148] ein geisterhaftes Huschen und Rauschen, etwas, das an das leise Eintauchen eines Ruders erinnerte und an das Flüstern des Windes in jungen Frühlingslaub.
Ihre Stimme, leicht umflort und keineswegs stark, war dennoch von demselben geheimnisvollen Zauber durchdrungen, der ihre ganze Erscheinung und Persönlichkeit auszeichnete.
Swoyschin vergaß alles, blieb wie verzaubert stehen und horchte. Sie sang ein Lied, das er an schönen Mondscheinnächten öfters von jenen venetianischen Volkssängern gehört hatte, die man, ich weiß nicht recht warum, „pittori“ nennt.
Ein Lied von Tosti: „Penso“. Es fing mit den Worten an:
Die rings um sie gelagerten jungen Leute brachen, als sie geendet hatte, in heftigen Beifall aus. Ohne sich auch nur um dieselben zu bekümmern, richtete sie den Blick auf Zdenko.
„Nicht wahr,“ sagte sie mit ihrer langsamen, verträumten Aussprache, „Sie finden es sonderbar, Graf Swoyschin, daß ich hier zur Erbauung des halben Offizierscorps die Bänkelsängerin abgebe. Aber was wollen Sie, man ist doch manchmal gutmütig. Rittmeister von Fink hatte es den andern Herren verraten, daß ich ein wenig singe, und da war auch schon die [149] Guitarre bei der Hand, und wie ich mich auch wehrte, ich mußte diesen musikalischen Herren den Willen thun!“
„Ich bin sehr froh, daß Sie sich dazu herbeigelassen haben, Gräfin,“ erwiderte Swoyschin, „ich habe, wenngleich zu spät, doch noch etwas von Ihrer Freundlichkeit profitiert!“
„Nur das letzte Lied haben Sie gehört?“ fragte Gina.
„Leider – nur das letzte!“ bestätigte er.
„’s ist ein alter, abgedroschener Gassenhauer,“ sagte sie wegwerfend, worauf er erwiderte: „Von Ihnen gesungen, war’s ein wunderschönes, neues Lied, Gräfin.“
„Soll ich weiter singen?“ fragte sie.
„Ja, ja, Gräfin, wir bitten, wir beschwören Sie!“ Die jungen Offiziere riefen’s einmütig.
Sie aber hatte nur noch Augen für Swoyschin. Sollte sie singen? Seine Lippen bewegten sich nicht, aber seine Augen sagten ja.
Sie that ein paar Griffe auf der Guitarre, dann klang weich und leise, leidenschaftlich anschwellend und wieder müde verhallend, von ihren Lippen ein Lied, das Swoyschin nie früher gehört hatte und auch nie mehr hören sollte, ein Lied, das in ihrem leidenschaftlichen Herzen erwacht war und in ihrem Herzen sterben mußte. Nicht, daß sie es ganz selbständig komponiert hätte, aber jedenfalls hatte sie’s zurecht gemacht. [150] Es war stellenweise keck, banal und einschmeichelnd, wie ein neapolitanischer Gassenhauer, dann wieder tief und geheimnisvoll aufreizend, wie ein Wagnerisches Leitmotiv, dann plötzlich ganz leise in einem magischen mezzo voce kam die seltsame musikalische Phrase mit der chromatischen Figur. Diesmal begleitete sie die Phrase mit Worten:
„Un quarto d’oro potrei mi amar!“
* * *
Der Sonnenuntergang war verglommen. Wie ein finsterer Wall türmten sich die Gewitterwolken an der Stelle, wo das Gestirn versunken war. Um die Ufer des Weihers, dort, wo die Wasserlilien aufhörten, zog sich ein breiter Silberrand. Der Silberrand wurde schmäler, die weißen Blüten des Faulbaums wurden grau unter den langsam herabsinkenden Schleiern der Dämmerung.
Ein letztes Mal hinsterbend, halb erstickt, zitterte, schmachtete es in den Faulbaumduft hinein, den süßen Duft, in den sich eine heimliche Unlauterkeit mischt.
„Un quarto d’oro potrei mi amar!“ dann war alles still.
Es blieb auch still, der Beifall regte sich nicht. Die Kühnsten unter den Zuhörern fühlten sich erschreckt, fast verletzt, wie wohlerzogene Menschen immer, wenn plötzlich ein wilder Naturlaut in die zahme Civilisation hineindringt.
[151]„Meine Herrschaften, Sie werden vermißt. Ich glaube, es ist Zeit, sich zum Souper herzurichten,“ rief jetzt unzufrieden, fast mürrisch der Oberst, der unbemerkt hinzugetreten war.
„Ja, es ist Zeit,“ wiederholte Gina, und ihre Stimme klang plötzlich rauh, hölzern, trotzig und gelangweilt, eine Stimme, der kein Mensch mehr Talent zu sinnbethörenden Liebesliedern zugemutet hätte. Sie rieb sich die Augen, wie um sich aus einer großen Schläfrigkeit wachzurütteln, reichte Swoyschin, der an sie herantrat, die Guitarre und ging, gleichgültig von alltäglichen Dingen redend, an der Seite des Obersten auf das Gasthaus zu, in dem für die Damen Zimmer vorbereitet worden waren, damit sie sich für das Souper und den darauf folgen sollenden Tanz entsprechend umkleiden könnten.
Der Oberst fing an, sich zu fragen, ob sie mit dem letzten Lied wirklich ein Stück ihres innersten Empfindens rücksichtslos preisgegeben oder ob sie ihre Zuhörer einfach zum besten gehabt habe.
* * *
Die Damen erschienen vollzählig beim Souper: die, die sich aus der Nachbarschaft eingefunden hatten, und die Damen des Regiments. Eine nach der andern fanden sie sich ein, in dem langen, offenbar aus zwei Zimmern zusammengestückelten Raum, in dem ein [152] Klavier stand, und der an den Speisesaal stieß. Sie sahen alle hübsch und belebt aus, als ob sie sich auf einen vergnügten Abend gefaßt machten. Gina Ginori erschien etwas später als die andern, in einem frischen, weißen Kleid und mit einem Kranz auf dem Kopfe. Es war nicht mehr derselbe Kranz, den sie draußen bei dem Weiher getragen hatte, nicht ausschließlich aus Faulbaumzweigen zusammengefügt, nein, alles, was der Frühling zum Schmuck der Erde darbringt, mischte sich hinein, Maiglöckchen, Anemonen und ein paar goldenen Himmelsschlüsselchen, und das duftete, duftete.
Die Komtessen, die nicht daran gedacht hatten, sich auf ähnliche Weise zu schmücken, fanden, daß es eine Pose sei, mit solch phantastischem Kopfputz bei einer so anspruchslosen Gelegenheit zu erscheinen. Aber das war Ansichtssache.
Kurz nach Ginas Erscheinen setzte man sich zu Tisch.
Der Speisesaal war das letzte Überbleibsel der vergangenen Glanzperiode von Monbijou: ein mit verblaßten Fresken geschmückter Raum, von dessen hoher Kuppel ein aus geschliffenen Glastropfen zusammengefügter venetianischer Kronleuchter herabhing. Im Hintergrund befanden sich drei tiefe Nischen, in die große, alte Spiegel eingelassen waren, an der gegenüberliegenden Wandseite drei Glasthüren, die [153] in den Park hinausführten. Spiegel und Glasthüren waren von geschnitzter Eichenvertäfelung umrahmt.
Nicht ohne Staunen betrachteten die eintretenden Offiziere den Saal als etwas ganz Neues, ihnen Unbekanntes. Was war es denn, das ihn heute zu so märchenhaft vornehmer Geltung brachte? Anstatt der Petroleumwandlampen, die sonst rücksichtslos die Fresken verunstalteten, ging die Beleuchtung von dem Kronleuchter aus, der mit zahllosen Wachslichtern besteckt war; das aber war nicht das einzig Merkwürdige.
Geradezu überraschend wirkte auf die Herren der Anblick der in Hufeisenform gedeckten Tafel.
Großer Luxus wird bei österreichischen Offiziersfesten nicht getrieben. Die Vornehmsten im Offizierscorps waren es gewöhnt, die Tische bei diesen Gelegenheiten mit derbem Linnen, mit schwerfälligem weißen Porzellan und mit eisernen Bestecken in schwarzen Holzgriffen besetzt zu sehen. Und gegen das alles hatten auch die Geschmackvollsten unter ihnen nie etwas einzuwenden gehabt. Diese altgewohnte Schlichtheit heimelte sie an. Eigentlich konnten sie sich ein Fest bei einem in einem kleinen Landstädtchen garnisonierenden Kavallerieoffizierscorps nicht recht vorstellen ohne eiserne Bestecke mit schwarzen Holzgriffen. Was aber jeder von ihnen stets gern hätte missen mögen, das waren die Golddrahtkörbe voll [154] verstaubter künstlicher Blumen, mit denen der Wirt bei festlichen Gelegenheiten die Tafeln zu verunstalten liebte. Dennoch hatte noch keiner daran gedacht, diese Körbe zu beseitigen. Erstens wollte man den Wirt nicht kränken, und dann war man zu faul, es war nicht wichtig.
Diesmal aber waren die Körbe verschwunden, und statt ihrer dufteten frische Frühlingsblumen aus Krügen und Vasen. Wie es sich herausstellte, hatte Gina Ginori das so hergerichtet.
Der Oberst war der Einzige, dem dieser Umstand die Freude an dem Tafelschmuck verdarb; er war schlechter Laune, der Oberst, und sah danach aus.
Er hatte die Gräfin Zell zu Tisch geführt, zu seiner Linken saß die Gräfin Ronitz. Die Gräfin Zell lobte alles, fand den Speisesaal süperb, das Souper magnifique, wunderte sich darüber, daß man im stande war, eine so famose Bewirtung in Breznitz herzustellen, und gratulierte dem Obersten zu der Liebenswürdigkeit seines Offizierscorps.
Die Gräfin Ronitz klagte darüber, daß sie sich an der Zähigkeit des Filets fast einen Zahn ausgebrochen hätte, und unterzog die ganze Veranstaltung den kritischen Betrachtungen; besonders die eisernen Bestecke waren gar nicht nach ihrem Geschmack.
Der Oberst ersuchte sie höflichst, sich, wenn sie dem Offizierscorps wieder einmal die Ehre geben [155] würde, ihre eigenen Bestecke mitzubringen oder vorauszuschicken. Momentan hatte er sich wahrlich über etwas andres zu ärgern als über eiserne Bestecke.
Mit großer Vorsicht hatte er die Tafelordnung so eingerichtet, daß Swoyschin möglichst weit von Gina Ginori zu sitzen kommen sollte. Aber, l’homme propose – femme dispose! Beim Niedersetzen war eine Konfusion entstanden, und das Ende davon war gewesen, daß die Ginori doch neben Swoyschin zu sitzen kam.
Der Oberst war nicht der Einzige, der beobachtende Blicke auf die beiden warf. Sie aßen beängstigend wenig und plauderten sehr viel, das heißt, sie plauderte, er hörte zu, und es war zu merken, daß es ihr gelungen war, in seinem Innern Saiten zu berühren, die noch nie berührt worden waren, die noch nie geklungen hatten.
Der Oberst wendete den Kopf ab, wozu sich abquälen mit Dingen, die nicht zu ändern waren. „Arme Annie!“
Ja fürwahr, arme Annie!
Die drei auf den Park hinausmündenden Thüren des ebenerdigen Saales standen offen. Die Musikanten spielten draußen beim Licht ihrer kleinen Lämpchen, die sie auf einen weiß lackierten Tisch unter einen von hochragenden Blütendolden ganz bedeckten Kastanienbaum hingestellt hatten. Wie sie spielten! Der Atem des Frühlings trug die Töne in den Saal herein, die ganze Musik duftete nach Frühling.
[156]Der Champagner perlte in den Gläsern; in den Spiegeln, die an den Wänden hingen, wiederholte sich das Bild. Die vielen hellblauen Uniformen, dazwischen die jungen Mädchen mit vor Lebensfreudigkeit funkelnden Augen.
Die Musikanten spielten weiter, weiter … Die Gläser klirrten aneinander, leises Mädchenlachen girrte dazwischen, und der Frühling duftete.
Als endlich die Tafel aufgehoben war, schob man die Tische in das Nebenzimmer und fing an zu tanzen. Man tanzte wie verrückt, alles tanzte, selbst die Gräfin Ronitz tanzte, freilich nur einmal, herum, dann sank sie atemlos zwischen zwei Lieutenants zusammen, vor denen sie sich in heftigen Klagen ausließ über die Schäden des Parketts.
Gina Ginori hatte sich erst ausschließen wollen vom Tanz. Aber bald schwebte sie mit den andern unter dem leise klirrenden Kronleuchter dahin. Ihre Art zu tanzen, war seltsam. Sie tanzte vorzüglich. Mit denen, die ihr gleichgültig waren, tanzte sie leicht wie eine Feder, den Oberkörper stark zurückgebogen, fast wie in einer Art Abwehr.
Von Swoyschin ließ sie sich geradezu tragen. Sie hielt das Köpfchen zur Seite geneigt und die Augen fest geschlossen. In wonnige Träume versunken, überließ sie sich ganz seiner Führung. Er war sonst kein eifriger Tänzer. Diesmal aber ruhte er keinen Augenblick [157] Er tanzte mit allen, unermüdlich, damit es nicht auffallen möge, wie oft er mit Gina Ginori tanzte.
Endlich kam der Kotillon, den tanzte er natürlich mir ihr.
Es war schwül geworden in dem Saal. Der Rittmeister von Fink, der den Kotillon führte, lockte die Gesellschaft gleich nach der ersten Tour in den Park hinaus. Der Mond stand voll am Himmel und goß sein Licht über den alten, verwilderten Park, über die hochragenden Blütenkerzen der Kastanien, über die silberigen, grün umschleierten Birken, über die schwarzen Tannen und die großen, glasigen Teiche, in deren dunklen Flächen sich der Zauber der Landschaft widerspiegelte.
Der Frühling duftete, und die Musikanten spielten weiter, weiter. Sie spielten wie im Traum, mit starren, nach innen blickenden Augen. Sie waren die einzigen Schläfrigen unter den Anwesenden. In allen andern pochte eine wilde, sinnverwirrende, nach Leben dürstende Freudenlust.
Ein leiser, schwüler Lufthauch regte sich, das junge Laub koste und flüsterte, dazwischen mischte sich ein scharfer Laut, das Knistern der dürren Blätter, die an den Eichen vom Vorjahre noch hängen geblieben waren.
Ende des ersten Bandes.
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CC-BY-4.0
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- Zitationsvorschlag für diese Edition
- TextGrid Repository (2025). Schubin, Ossip. Vollmondzauber. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bj0d.0