[][][][][][][][[I]]
ANSICHTEN
VOM
NIEDERRHEIN,
VON
BRABANT, FLANDERN, HOLLAND,
ENGLAND UND FRANKREICH,

IM APRIL, MAI UND JUNIUS 1790.


DRITTER THEIL.

BERLIN: 1794.
IN DER VOSSISCHEN BUCHHANDLUNG.

[[II]]
Grabschrift auf G. F.
Weltumsegler, du suchtest auf pfadlosem Ocean Zonen,

Wo die Unschuld der Ruh böte vertraulich die Hand —

Edler Forscher, was fandest du dort? Die Kinder der Erde

All’ an Schwachheit sich gleich, alle dem Tode geweiht.

Sohn der Freiheit! Du öffnetest ihr die männliche Seele,

Ihr die vom Himmel herab sandte der Vater zum Heil —

Ach, es wandte die Göttin sich schnell von der blutigen
Erde!

Forster, du schwebtest mit ihr hin wo dein Glaube sich
lohnt.
F. Brun, geb. Münter.

[[III]]

Vorrede des Herausgebers.


Zu dem Verlust, den unsre Litteratur
durch Forsters vorzeitigen Tod er-
litten hat, gehört es unstreitig auch,
daß er seine Ansichten unvollendet las-
sen mußte. Ich darf indessen hoffen,
mit den gegenwärtigen, aus dem Nach-
laß des Verstorbenen geretteten Frag-
menten, die er während der Reise,
und gleichsam in dem Augenblicke des
Anschauens selbst, aufgezeichnet hatte,
dem Publikum eine Art von Ersatz für
diesen Verlust zu verschaffen.


Als Anhang ist die Geschichte der
Kunst in England
beigefügt, die For-
[IV] ster
für ArchenholzAnnalen der
Brittischen Geschichte
(Band III. S. 122.
u. f.) geschrieben hat, und die, wenn
nun einmal (was wirklich geschieht)
seine Schriften gesammelt werden soll-
ten, hier ganz am rechten Orte steht.
Ihr sind übrigens noch die kurzen No-
tizen angehängt, die sich Forster bei
seinem letzten Aufenthalte in London
in der Shakspear-Gallery und in Sir
Ashton Livers
Museum aufgezeichnet
hatte. Der Herausgeber trug Beden-
ken, sie mitten unter den etwas sorg-
fältiger gezeichneten Ansichten aufzu-
stellen; aber er konnte sie auch nicht
verloren gehen lassen, da sie manchem
Kunstliebhaber gewiß willkommen seyn
werden.


In Ansehung der überdachteren Ver-
[V] arbeitung, der mühsameren Aneignung,
der mannichfaltigeren Kombination der
Ideen, die Forster von jener Reise
mitgebracht hatte, würde dieser dritte
Band freilich mit den zwei ersten keine
Vergleichung aushalten; es sind aber
Ansichten im eigentlichen Verstande des
Wortes, die man hier erhält: es sind
Gegenstände von allgemeinem Interesse,
die gerade mit der Leichtigkeit und Ab-
wechselung hier vorübergeführt werden,
mit welcher sie vor den Augen des un-
terrichteten und gefühlvollen Reisenden
vorübergingen. Durch die eigenthüm-
liche Art, wie Forsters Geist gebil-
det worden war, lag überhaupt bei ihm
der Trieb und die Fähigkeit aufzufassen
mit der berufsmäßigen Arbeit, das Auf-
gefaßte wieder zu geben, gewissermaßen
[VI] in fortwährendem Streit. Er war weit
mehr für die thätige Betreibung seiner
Wissenschaften, für eine rastlose Erfah-
rungsjagd in ihrem unermeßlichen Re-
vier gemacht, als für den stillen Kreis
der Stubengelehrsamkeit; und so wie
diese Stimmung seines Charakters einen
wichtigen, bisher noch nicht genug in
Anschlag gebrachten Einfluß auf seine
letzten Schicksale gehabt hat, so kann
sie, wenn ich nicht irre, auch die Wir-
kung haben, daß man ihn hier mehr
in seinem Element erkennen wird, als
in der ausgearbeitetern und zusammen-
hangenderen Manier der ersten Bände.


An dieser Manier haben Deutsche
Kritiker in den letzten Zeiten sehr viel
auszusetzen gefunden. Wie viel oder
wie wenig Grund ihr Tadel hat, gehört
[VII] nicht hieher zu untersuchen; aber es
sind manche traurige Mißverständnisse
und Ideenverwechselungen dabei vorge-
fallen, die zur Ehre unsrer Litteratur
nicht aus unnöthiger Furchtsamkeit un-
bemerkt bleiben dürfen. Die Heraus-
geber der Jenaischen Allgemeinen Lit-
teraturzeitung haben geglaubt, sich über
die Einrückung einer Französischen An-
zeige von Forsters Tod in ihrem
Intelligenzblatte verantworten zu müssen.
Hoffentlich wird eine Zeit kommen, wo
Männer von ihrem Werthe, die an der
Spitze einer Anstalt von so allgemeinem
und verdientem Rufe stehen, es nicht
überflüßig finden werden, sich über das
auffallende Stillschweigen zu verantwor-
ten, das die Allgemeine Litteratur-Zei-
tung so viele Jahre hindurch über die
[VIII] Forsterschen Schriften beobachtet hat,
um endlich zu einer Zeit, wo des Ver-
fassers persönliche Verhältnisse sein eig-
nes Vaterland gegen ihn aufbrachten,
mit Anzeigen loszubrechen, die freilich
nicht früher hätten geliefert werden kön-
nen, da sie fast jede Zeile, die Forster
vor Jahren schrieb, nach dem Maß-
stabe dessen, was er späterhin that oder
litt, beurtheilen; da sie überall, wo
zwischen seinen frühern Meinungen und
seinen nachmaligen Handlungen ein Zu-
sammenhang wahrzunehmen ist, die ei-
nen wechselsweise um der andern wil-
len verdammen, und aus dem entgegen-
gesetzten Grunde wiederum überall, wo
der Schriftsteller nicht mehrere Jahre
voraus errieth, was dem Menschen be-
vorstand, beide herabwürdigen; da sie
[IX] sogar die heilige Empfindung des Mit-
leidens zu unedeln, oder, wo sie nicht
dafür erkannt werden, unverständlichen
Persönlichkeiten mißbrauchen. Wahr-
lich, es war nicht der Mühe werth, die
Anzeigen der Ansichten und der Erin-
nerungen
zu verspäten, bis der Verfas-
ser ein Staatsverbrecher geworden war,
wenn man die Grundsätze der Kritik,
der litterarischen Ehre und Gerechtigkeit
so über den Haufen werfen wollte, sich
in diesen Anzeigen gleichsam mit un-
ter die Exekutoren des politischen Straf-
urtheils, das Georg Forstern traf,
zu drängen.


Dieses ganze Verfahren hat ein so
unwürdiges, ungroßmüthiges, unlittera-
risches Ansehen, es widerspricht so sehr
den Grundsätzen jener edlen Freimü-
[X] thigkeit, durch welche die Allgemeine
Litteratur-Zeitung sich sonst so rühm-
lich auszeichnet, und ohne welche es um
die Wissenschaften gethan wäre, daß
eine Erklärung darüber ungleich wich-
tiger seyn wird, als die undankbaren
statistischen Kritteleien, die Exklamatio-
nen u. s. w. über die Anzeige eines zwar
zum Theil falsch unterrichteten, zwar
republikanischen, aber doch, wie es
scheint, von herzlicher Theilnehmung
für Forster durchdrungnen Franzosen
im Moniteur. Wenn es auf den Grad
der Unrichtigkeit und sogar der Gehäs-
sigkeit in Zeitungsanekdoten ankäme,
so würde die Rechnung zwischen dem
Deutschen und dem Franzosen sicher-
lich wenigstens aufgehen; wer aber
Deutscher und Mensch genug war, um
[XI]Forstern zu bedauern, daß er von
seinem alten Vaterlande losgerissen
ward, der mußte es für ein Unglück
weniger ansehen, daß in seinem neuen
Vaterlande sein Andenken doch nicht
mit seinem letzten Athemzuge verhallte;
und dieser Gesichtspunkt wäre für die
Anzeige im Moniteur unstreitig der rich-
tigste und würdigste, dem wahren kol-
legialischen Geiste, dem besseren Geiste
der Litteratur, um so angemessener ge-
wesen, als er von Forsters politi-
schem Verhältnisse gegen seine Nation
vollkommen unabhängig gewesen seyn
würde. Aber eine Deutsche Regierung
versagt dem unschuldigen Nachlasse des
achtungswürdigen Schriftstellers, der das
Unglück gehabt hat, sich als Bürger ih-
rer schwersten Ahndung auszusetzen,
[XII] ihren erhabenen und weisen Schutz
nicht; und eine Deutsche Litteraturzei-
tung, die bis dahin dem Publikum ihre
Schuld abzutragen versäumte, hat seit
dem Augenblick seines bürgerlichen To-
des angefangen, ihn als vogelfrei zu
behandeln!


Dies ist aber noch nicht alles: die
Kritik der Anzeige im Moniteur ist
selbst von Unrichtigkeiten nicht frei;
und das ist an der Kritik unstreitig ein
größerer Fehler als an der Anzeige.
Hätten die Verfasser der ersten gewußt
oder überlegt, in welchem Verhältnisse
sich Forster nach der Einnahme von
Mainz befand, so würden sie es nicht
allein für sehr natürlich erkannt haben,
daß ein Franzose ihn à la tete de l’uni-
versité
angestellt glaubte, sondern sie
[XIII] hätten sogar eingesehen, daß kein Fran-
zose, der nach der Übergabe dieser Stadt
an Custine in Mainz gewesen war, es
anders glauben noch wissen konnte.
Die erste und hauptsächlichste Quelle
von Forsters Unglück war es eben,
daß ihm alle Geschäfte der Universität
mit dem Französischen General und
dem Kommissariat, folglich alle damals
vorkommenden Geschäfte der Univer-
sität überhaupt, aufgetragen wurden.
Man hielt mit Recht dafür, daß seine
bekannte Vorliebe für die Sache der
Französischen Revolution, und seine ver-
traute Bekanntschaft mit der Französi-
schen Sprache, wie überhaupt mit jeder
Art von ausländischem Geist, ihn vor-
züglich dazu geschickt machten, das In-
teresse der sich selbst überlassenen Uni-
[XIV] versität gegen die Übermacht der Frem-
den so viel als möglich zu schützen,
und nach Maßgabe der Umstände bei
dieser Gelegenheit sogar auszubreiten.
Dies verhinderte ihn, gewisse Plane zu
seiner Entfernung von Mainz, die von
einigen seiner Freunde aus besorgtem
Eifer entworfen wurden, zu genehmi-
gen; und ich erinnere mich, daß er ge-
gen das Ende des Monats Oktober 1792
in Höchst zu mir sagte: »er habe bisher
so wenig für die Universität thun kön-
nen, und sei deshalb mit so manchen
ungerechten Vorwürfen überladen wor-
den, daß es in diesem Augenblicke, wo
seine Kollegen seiner bedürften, und ihn
dringend aufforderten, der Universität
Dienste zu leisten, zu denen er sich nicht
untüchtig fühlte, ihm schlechterdings
[XV] unmöglich wäre, seiner persönlichen
Konvenienz zu Liebe, (und aus Furcht
vor den gefährlichen Alternativen, zwi-
schen denen man voraus sah, daß er
sich in Mainz noch gedrängt finden
möchte) seinen Posten gerade unter
den einzigen Umständen, die ihn darin
nützlich und wichtig gemacht hätten,
zu verlassen.» Verminderung der Kon-
tributionen, und überhaupt manche an-
dre Schonung erhielt er für die Univer-
sität, deren Dankbarkeit damals manche
Rücksichten beseitigte, nach denen er
freilich in der Regel nicht dafür gelten
konnte, an der Spitze der Universität
zu stehen, die aber den fremden An-
kömmlingen, bei denen er immer und
in allen Angelegenheiten der Universi-
tät, als Wortführer und Geschäftsträger
[XVI] derselben auftrat, unbekannt bleiben
mußten. Mehrere Personen könnten
dies alles bezeugen. Es ist voraus zu
sehen, daß es wenige wollen werden,
aber es giebt deren, die sich im Noth-
falle nicht weigern würden es zu thun;
und diese erste Epoche in Forsters
traurigen bürgerlichen Mißverhältnissen
ist wichtiger, als die psychologischen
Erklärungen derselben, auf welche mit
zweideutigem Mitleiden angespielt wird,
und zu denen sein Tod freilich einen
weiten Spielraum öffnen könnte, da er,
wenn er gelebt hätte, wenigstens dieser
versteckten Wendung der Lieblosigkeit
gegen ihn sich entgegen gestellt haben
würde, weil sie Andre als ihn treffen
konnte.


Neuburg, im Jul.
1794.


L. F. Huber.


[[1]]

ANSICHTEN.


I.
London.


1.
Ausstellung der königlichen Akademie.


Die Überschrift des Verzeichnisses scheint
anzudeuten, daß die Akademisten selbst
wohl gefühlt haben, wie gering die An-
zahl großer Stücke in der diesjährigen Aus-
stellung ist. Das: In tenui labor, ist in so
fern richtig, wie hier eine große Menge
kleiner, unbedeutender Sachen hangen, die
III. Theil. A
[2] freilich auch ihren Antheil von Arbeit ko-
steten. Aber ist auch mehr als Arbeit darin?
Vor dieser Frage fürchteten sich die Britti-
schen Künstler wohl selbſt, als sie ihr zwei-
deutiges Motto aufdruckten. Es ist wahr,
die Zimmer sind voll; aber, so schönes
Licht sie auch, insbesondere das Hauptzim-
mer, von oben erhalten, sehr klein, und
der Indolenz der Herren Akademiker ange-
messen. Eine sehr kleine Anzahl von gro-
ßen Gemälden würde sie ausfüllen; daher
exhibiren die großen Meister nichts, und
lassen dem kleinen Troß mit seinen Staffelei-
und Kabinetstückchen den Platz.


Reynolds Fleiß ist vor den übrigen doch
bemerkenswerth. Wenigstens hangen ver-
schiedene Porträte von seiner Meisterhand
da, die seine reiche, mannigfaltige Phan-
tasie, seinen gebildeten Geist, seinen Sinn
für das Idealischschöne, und seine Grazie
[3] verrathen. Mistriß Billington’s Apotheoſe
hat großes Verdienst. Die ganze schöne
Figur steht da in zauberischer Einfalt; und
was hat er nicht alles aus dem Leben ge-
hascht, was nicht alles in dieses Gesicht ge-
legt, das sie selbst ist, und doch auch sie,
in jenen Augenblicken; wo sie mehr als sie
selbst
ist! Ihr Gewand ist so ganz ohne alle
Koketterie des Pinsels einfach schön, daß
es nicht das Auge wegzieht von dem schö-
nen seelenvollen Kopfe; und selbst die
Hände können, meint man, das Notenbuch
nicht anders halten. Es ist so recht; und
man denkt nicht weiter dran, sondern hängt
mit Ruhe und Genuß an diesem Auge, diesen
Lippen, diesen Harmonieen himmlischer Ge-
stalten, welche sich auf ihrem Antlitze zu
einem hohen Einklange verschmelzen. Die
kleinen Genien, die ihr Haupt umschweben,
mögen nur plärren und gestikuliren; ich
A 2
[4] sehe sie nicht und höre sie nicht: und wer
könnte das vor einem solchen Wesen!


Die sechs andern Porträte haben eigne
Kraft im Ausdruck, Mannigfaltigkeit in der
Darstellung, und Kennzeichen der festen,
geübten Hand des erfahrnen Meisters. —


Rigauds Werke verdienen hier die näch-
ste Stelle. Simson, der seine Bande zer-
reißt, ist eine vortreffliche Akademie; es ist
mehr: ein sehr edles Gemälde. Simsons
Kopf ist schön gedacht, der Kopf eines schö-
nen Mannes, der hohe Indignation haucht,
indem er sich von den Folgen einer niedri-
gen Ueberlistung befreiet. Die Nebenfigur
ist nicht so interessant, und wohl nicht er-
schrocken genug, wenn es die Verrätherin
seyn soll. Doch in diesen Fällen verzeihet
man dem Künstler immer lieber zu wenig
als zu viel Ausdruck, wenn er nur Schön-
heitssinn blicken läßt.


[5]

Ein schöner Kopf nach der Natur, von
ebendemselben, ist mit Guido’s Engeln ver-
wandt; aber er hat mehr rosige Wärme als
sie. Des Künstlers eigene Familie ist sehr
brav gemalt.


Hodges. Auch der Landschaftsmaler kann
phantasieren, dichten, und aus den schönen
Zügen der Natur das Vollkommenste erle-
sen und vereinigen, das Erhabene fassen, und
den Zuschauer mit sich fortreißen in idea-
lische Welten. Wer wird diesem Künstler
Genie absprechen können? Seine Figuren
sind indeß nicht mit seinen Landschaftsma-
lereien zu vergleichen.


Marlow. Außerordentlich schön und treu
nach der Natur kopirt. Aussichten! Man
möchte bei diesen Bildern oft fragen: ist
dies von diesem Meister, jenes von jenem?
so unähnlich sehen sie sich, und so wahr
ist jedes in seiner Art. —


A 3
[6]

Hamilton. Salomons Bewirthung der Kö-
nigin von Saba! Dieses Stück gehört zu de-
nen, von welchen der Künstler zu urtheilen
pflegt: sie haben Verdienst. Allein dieses
Verdienst ist Machwerk, und sonst nichts.
Was läßt sich auch von einem Gastmahl In-
teressantes erwarten? Man sitzt bei Tisch
und ißt, oder sieht einander an. Warum
wählen aber die Maler solche Süjets? Je
nun! Sie müssen wohl, wenn sie historische
Stücke malen wollen. Der Lord, der die-
ses bestellte, that es aus Eitelkeit. Es ist
gleichsam nur Carton zu einem Gemälde auf
Glas, welches Se. Lordship in dem Fenster
der Kirche auf seinem Landsitze anbringen
läßt. — Mylord hat das Vergnügen, seiner
Eitelkeit zu fröhnen, indem er die Kirche
beschenkt; und er selbst sitzt da porträtirt
als der weiseste König. Die Königin von
Saba ist seine Nichte, Mistriß Howard; und
[7] eine dritte Figur ist ebenfalls aus seiner
weiblichen Verwandtschaft. Das giebt denn
freilich einen Salomon und eine Königin,
die der Kunstliebhaber nicht bewundern
kann! —


A 4
[8]

2.
Westminster-Abtei. Messias, am
3ten Junius.


Ein Bild von der Beschäftigung der Seli-
gen im Himmel. Das Chor der Sängerin-
nen sitzt sehr gedrängt; es ist wenig Platz
im Himmel: daher muß man sich in Zeiten
um Tickets bei den Geistlichen bemühen.


Über der Orgel im Fenster stehen die
Patriarchen in Glasmalerei, welches die
Ähnlichkeit mit dem Himmel noch voll-
ständiger macht! Die hellen durchsichtigen
Farben — So werden sie dort leuchten und
zuhören; und da sie sonst nichts zu [thun]
haben, so können sie eben so wohl auch nur
in Glas gemalt da stehen.


[9]

Das Orchester ist an dem Amphitheater
über dem westlichen Eingange. Zuoberst
im Hintergrunde steht die Orgel; noch hö-
her, auf einem schmalen Gange, mit dem
Gipfel der Orgel gleich, die Heerpauken.
Dann folgen die Instrumente, und vorn die
Stimmen. Die Bänke sehr hoch über ein-
ander; die höchste Bank eine Reihe Knaben.


Um eilf Uhr war das Haus schon voll,
und alle Bänke besetzt. Ich wurde in einen
Gang gepreßt, wo ich anfangs verzweifelte,
irgend etwas aufzeichnen zu können; und
nur die leidige Wahrnehmung, daß immer
mehr Zuhörer zuströmten, konnte mich
überzeugen, es sey eine stärkere Kompres-
sion möglich. In einem Avertissement wird
versprochen, daß man Sorge tragen will,
nicht mehr Tickets auszutheilen, als es die
Convenience der Gesellschaft erlaube. Mich
schauderte, wenn ich bedachte, was Mr.
A 5
[10]John Ashley, der assistent conductor, einen
ungemächlichen Zustand nennt, da er die-
sen noch gemächlich findet. Für den hohen
Preis einer Guinee könnte man allerdings
Bequemlichkeit verlangen; aber die men-
schenfreundliche Absicht, den Fonds für
arme Tonkünstler, Söhne von Geistlichen,
und das Middlesex-Hospital so viel als mög-
lich zu vermehren, ist schon einer kleinen
Aufopferung werth.


Ueber die Hüte ist hier ein Anathema
gesprochen. No Ladies, heißt es in dem
Reglement, will be admitted with hats. Aber
die Damen wissen sich durch sehr hohen
Kopfputz zu rächen, und das Uebel ist oben
so groß. Auch Federn sind verboten; doch,
da man die Grausamkeit gegen die hoops
nicht hat allzu weit treiben wollen, so er-
laubt man wenigstens kleine Federn. Eine
Dame, die zur royal Society of Musicians
[11] geht, ist also in allen Dimensionen, in der
Länge und Breite, bestimmt. Man sollte sie
durch ein ausgeschnittenes Loch durchschik-
ken, und die, welche nicht das Maß hät-
ten, zurückweisen. Dieses Verbot von Fe-
dern ist in einem Koncert, wo man Genuß
für das Ohr sucht, sonderbar, da in allen
andern Schauspielen so wenig für eine un-
gehinderte Aussicht gesorgt wird. Der An-
blick so vieler tausend Menschen in full
dreß
ist sehr angenehm. Die Damen sind
fast alle weiß gekleidet.


Ein Viertel vor Zwölf ward das Thor
der Abtei geschlossen, und keiner mehr ein-
gelassen. Zwei Yeomen mit großen Helle-
barden wurden unter die königliche Loge,
und zwei unter das Amphitheater gestellt.
Die letztern mußten, um sich stattlicher
auszunehmen, auf eine Bank steigen, wo
sie so sehr gedrängt wurden, daß sie mit
[12] dem einen Fuße gewöhnlich in der Luft
schwebten. Sie sind, wie wohl aller Hof-
staat der Könige, geschmacklos gekleidet:
in rothen Mänteln mit blauen Sammetstrei-
fen besetzt, den Namen des Königs auf der
Brust, und den Namen Gottes an einem
Orte, wo er nicht schicklich verherrlicht
werden kann. Da diese Yeomen of the guard
ihre beschwerliche Stellung nicht lange aus-
halten können, so lösen sich mehrere ab.


Nur ein Theil der Abtei ist zur Musik
bestimmt; der andere ist abgeschlagen: theils
um die Monumente nicht beschädigen zu
lassen, theils um mehr Eingänge zu gewin-
nen. Die Gänge sind mit Argantischen Lam-
pen erleuchtet; für gewisse Bedürfnisse der
Herren und Damen ist, da die Thüren ver-
schlossen sind, sehr schicklich gesorgt.


Die königliche Loge ist mit rothem Taf-
fent bekleidet, auf den das königliche Wa-
[13] pen und andere Verzierungen in Gold ge-
stickt sind. Gerade um zwölf Uhr erschien
der König von den Prinzessinnen begleitet,
und der Herzog von Gloucester mit dem Prin-
zen William und seinem jüngeren Sohne.
Der König war sehr steif geputzt in Fran-
zösischer Kleidung, nicht in der Windsor-
Uniform. Er scheint für die Musik wenig
Ohr zu haben; denn er war immer beschäf-
tigt, mit dem Fernglase seine königliche
Neugierde zu befriedigen.


Die Musik war in der Ausführung weit
vorzüglicher als die vorige, die wir hörten;
auch in den Texten und in der Composition
mehr Einheit. Bald nach der Ankunft des
Königs fing die Musik mit einer prächtigen
Ouverture an, gegen die das stille tröstende
Recitativ der Mara: comfort ye, my people,
saith your God
, einen schönen Kontrast
machte. Die Sängerin ging mit vieler
[14] Kunst von jenen milden wohlthätigen Tö-
nen über, zu den befehlenden: prepare ye the
way of the lord
. Schade, daß in der darauf
folgenden Arie der Dichter bei dem Bilde
des Wegbaues bleibt, Thäler ausfüllen und
Berge abtragen läßt, um dem Gotte einen —
high way zu bahnen! Wie viel erhabener
ist das Recitativ, das Herr Salle so meister-
haft ausführte: This saith the lord of Host
In den Worten I will shake the heavens and
the earth, the sea and the dry land
sind alle
Künste der musikalischen Malerei erschöpft;
der Komponist bleibt bei der Handlung ste-
hen. In der Handlung: a Virgin shall con-
ceive
, war dies unmöglich. Die Musik
drückt die Freude über die Empfängniß
aus; da aber gleich darauf die Jungfrau wie-
der selbst den Namen Emanuel ruft, so ist
der Effekt zerrissen. Der Komponist durfte,
wenn er der obigen Schwierigkeit so aus-
[15] wich, nicht auf dem shall call his name ru-
hen. Eben dieser Fehler ist auch in der De-
klamation, der artikulirten Musik, nur all-
zu häufig. Die Schauspieler drücken im Er-
zählen erst ihre eigne Empfindung aus, und
dann ahmen sie doch wieder die Stimme
des Erschlagenen, des Fürchtenden, des
Fröhlichen nach.


Die schönste Stelle in dem ersten Theile
ist von dem Chore: For unto us a Child is
born
, bis zu der Arie: rejoice o daughter of
Zion
. Hier ist am meisten Gedachtes in der
Komposition. Die Worte: Wundervoll,
Richter, Allmächtiger
, sind von ungemei-
ner Kraft; sie kündigen ein furchtbares We-
sen an, bis die sanften Töne: everlasting
Father
, daran erinnern, daß der Allmäch-
tige auch ein gütiger Friedensfürst ist. Zwi-
schen dem Recitativ und dem Chor ist eine
lange Zwischenmusik, deren Wirkung auf
[16] den edleren Theil des Publikums sichtbar
war. Alles Liebliche und Harmonische der
Tonkunst ist aufgeboten, um die unschul-
digen Freuden des Landlebens zu schildern.
Endlich beginnen die Worte: there were
shepherds abiding in the field
.... Die Stimme
einer Storace mit jenen Flötentönen ver-
schmolzen: dieser Zauber läßt sich nur
fühlen. — Der Engel erscheint; die Musik
hebt sich nach und nach, und der Lobge-
sang Glory to God in the highest, and peace
on earth
, korrespondirt gleichsam mit dem
obigen: for unto us a Child is born.


In dem zweiten Theile hat der Text
wenig Zusammenhang. Dennoch ist die
Musik im Einzelnen nicht minder schön.
Miss Cautels erregte in der unpoetischen
Arie: but thou didst not leave his soul in
hell
, allgemeine Bewunderung. Sie zeigte
einen Umfang der Stimme, den ich ihr nicht
zugetrauet
[17] zugetrauet hätte. Die darauf folgenden Dop-
pelchöre verfehlen ihre Wirkung nie, be-
sonders die Worte: Who is this King of
Glory? The Lord strong and mighty, the Lord
mighty in battle
. Sie erinnerten mich an die
Manier der Alten, die eben so ihre Strophen
und Antistrophen sangen. Auch ist die Spra-
che des Dichters hier kräftig und edel.
Mr. Griffiths konnte mit aller seiner Kunst
dennoch nicht den Mißklang des thou hast
led captivity captive
vermeiden. Wie leicht
könnte der Text geändert werden! Und die
Ketzerei wäre nicht groß, da die Bibel doch
nicht zum Gesange bestimmt ist.


In den zwei letzten Chören zeigen sich
alle Vorzüge eines solchen vollstimmigen
Koncerts. Das Chor let us break their bands
asunder
stürmte mit einer Gewalt ein, daß
mehrere Damen vor Schrecken zusammen-
fuhren. Aber die Musik der Worte: Halle-
III. Theil. B
[18]lujah, the lord God omnipotent reigneth, sind
viel erhabener und tiefer empfunden. Die
feierliche Pause bei der zweiten Wiederho-
lung macht, nach dem Donner der Pauken,
und dem Schmettern der Trompeten, einen
wunderbaren Effekt.


Der dritte Theil drückt die Wirkung der
Erlösung aus. Madame Mara wetteiferte in
der Arie: I know that my redeemer lives. Sie
schien einer so glänzenden Versammlung
sich doch auch in ihrem Glanze zeigen zu
wollen. Sie machte Läufe und Kadenzen,
die nur sie unternehmen und ausführen
konnte; und wenn alle glaubten, ihre
Stimme sei erschöpft, so überraschte sie
doch noch mit einem neuen Triller — alles
mit einer Leichtigkeit, einem scheinbaren
Mangel an Anstrengung, als wenn nur diese
Töne ihre Sprache wären.


[19]

Der Text zu diesem dritten Theil ist
auffallend schlecht und zerrissen. Wenn es
bei einer geistlichen Kantate einmal des
Dichters Wille ist, sie aus biblischen Stel-
len zusammen zu flicken, so sollte er doch
vorsichtiger in seiner Wahl seyn. Die
Orientalischen Bilder: wie ein Topf zer-
schlagen, in den twinkling of a use verwan-
delt zu werden, die wiederholten Verglei-
chungen zwischen Gott und einem Schafe,
und so fort, sind uns jetzt eben so widrig
als das Italienische Concetto:


The sting of death is sin
and the strength of sin is the law
.
()

Das letzte Chor: Worthy is the lamb,
hält man für den schönsten Theil der Musik.
Kunstreicher und kräftiger ist er freilich, als
das Hallelujah for the Lord; ob es aber so
tief und dauernd auf die Empfindung wirkt?


[20]

3.
Erziehung und Theater der Engländer.
Litteratur. Beaux Stratagem
.


Die Engländer haben Gutherzigkeit, Em-
pfindsamkeit, Rohheit und Sinnlichkeit bei-
sammen. Daher ist in ihren Schauspielen
auch so viel Vortrefflichkeit, Naivetät, ne-
ben so vieler Indecenz. Die Franzosen neh-
men Rücksicht auf die bienséances, und sa-
gen öffentlich nichts, was eine honette Frau
nicht wiederholen dürfte. Daher sind ihre
Weiber wirklich frei im Ausdruck; denn
sie sagen alles, was im Publikum gesagt
wird.


Die Engländer nehmen auf dem Theater,
wie in ihren Gesellschaften, keine Rücksicht
auf die Weiblichkeit. Sie sind indecent;
und die Weiber, die Dinge hören müssen,
[21] welche ihnen zu wiederholen nicht ziemt,
werden ängstlich, steif, pretiös und prüde.


Die Erziehung raubt den Engländern die
Gelegenheit, ihr Herz und ihren Geist aus-
zubilden
und reinen Geschmack zu erlan-
gen. Sie sind daher alle geniemäßiger, und
haben keine allgemeine Regel des Betragens:
immer plump, unfein, unachtsam auf sich
und andre, und oft embarassirt in honnetter
Gesellschaft; ja fast durchgehends bei hon-
netten Frauenzimmern. — Denn ihr vieles
Absondern, ihre vielen bloß männlichen
Gesellschaften, in denen sie sich gar nicht
genieren, gewöhnen sie an keine Egards.
Hingegen, sobald das Herz spricht, sobald
es auf das Empfinden von sinnlichen Ein-
drücken oder zarten Verhältnissen ankommt,
sind sie oft auch wahr, naiv, empfindsam.


B 3
[22]

Die Siddons hatte London längst ver-
lassen, ehe wir ankamen, weil ihr Engage-
ment schon aus war; und mit ihr sind die
schönsten Trauerspiele für dieses Jahr vor-
über. Von neuen Stücken ist dies Jahr
nichts von einiger Bedeutung erschienen.
The Crusade ist eine Art Oper, die man
doch selbst nur dramatische Romanze nennt.
The haunted Tower, von Cobb, soll eben das-
selbe seyn: artige Musik, aber kein Men-
schenverstand im Stücke. No Song no Supper,
eine musikalische Farce, ist von eben der
Art, und wird nur durch die Stimme und
das Spiel der Storace, einer Italienischen
Sängerin, die vortrefflich Englisch gelernt
hat, interessant. Die Musik ist von ihrem
Manne komponirt: aus Pleyel, Gretry, Cior-
dani
zusammen gestohlen, aber sehr hübsch.
The Dramatist, von einem jungen Manne,
Namens Reynolds, der sich selbst darin ge-
[23] schildert hat, ist voll Witz und Anspielun-
gen auf hiesige Sitten, aber ohne Dialog.
Auf guten Dialog wird gar nicht mehr ge-
sehen; Effekt ist alles, was man verlangt.
Man geht in die Komödie, um zu sehen,
kaum mehr zu hören; und die Kotzebue,
wenn sie sich eine Dosis Salz könnten ein-
trichtern lassen, würden auch hier Glück
machen. The rivals, von Sheridan, das ich
vor der Farce: No Song no Supper, spielen
sah, gehört unter die ältern Stücke, und ist
schon ins Deutsche übersetzt. Miß Farren
spielte die Julie ganz gut; nur bewundert
man sie zu viel: ein Fehler, den jetzt alle
Zuschauer von allen Nationen gemein ha-
ben. In den mehr hochkomischen Rollen
reicht sie nicht an die Abington, die aber
jetzt nicht mehr spielt. Die Deklamation
im Tragischen ist sehr vervollkommt, sehr
präcis, rein und deutlich; aber bei Kemble,
B 4
[24] dem ersten hiesigen Schauspieler, zu mono-
tonisch, und bei Holman (wie man versi-
chert, denn ich habe ihn noch nicht gese-
hen) zu wild und ranting. Garrick und
seine Schule hatten mehr wahres Feuer der
Empfindung, oder wußten es besser zu spie-
len
; hier ist zu viel Kälte, und zu viel ge-
suchter Nachdruck im Hersagen. Dennoch
spielt Kemble verhältnißmäßig sehr gut,
und was ihm, besonders wo es auf Würde
ankommt, sehr nützt: er spricht langsam,
wenn der Affekt keine schnelle Sprache for-
dert. Seine Deklamation ist nicht Gesang,
aber mehr als gemeines Reden. Diese Wür-
de, diesen Anstand in Königs- und Helden-
rollen, sah ich auf den Deutschen Theatern
nie, weil man dort bei diesen Gelegenheiten
nicht natürlich genug, oder auch wohl zu
natürlich ist; mit Einem Worte: weil man
den Sinn eines großen Menschen nicht hat.
[25] Ich möchte fast glauben, daß die Familia-
rität des Umganges zwischen Menschen aus
allen Ständen in England, und das Edle,
welches bis in die letzte Klasse hinab hier
in Bildung und Charakter so unverkennbar
ist — mag es mit Einseitigkeit und Unwis-
senheit über gewisse Gegenstände auch noch
so sehr versetzt seyn — den Schauspieler hier
natürlich veredeln. Allein die allgemeine
Klage, die wir über unsre Litteratur füh-
ren, höre ich auch hier im Munde der be-
sten Köpfe: es fehlt im Publikum an Ge-
schmack, und in den schönen Wissenschaf-
ten an einem kompetenten Tribunal. Mit
Johnsons Tod, so einseitig und schneidend
er auch war, hat man nichts mehr, und es
geht drunter und drüber in den Gefilden der
Litteratur. Wenn schon ein solches Tribu-
nal zuweilen ein ungerechtes Urtheil fällt,
so ist es doch sehr nützlich, daß etwas in
B 5
[26]terrorem da stehe, um die elenden Skriben-
ten in Zügel zu halten. Anekdotenjägerei
ist jetzt so allgemein, daß man von be-
rühmten Männern jedes Visitenkärtchen
drucken läßt, wie bei uns; und wenn man
einem Gelehrten etwas Schlimmes nachsa-
gen kann, so glaubt man, wie bei uns, daß
er nun kein großer Mann mehr seyn könne.
So einen elenden Begriff macht man sich
von menschlicher Größe, daß man sie ver-
kennt, wo sie wirklich vorhanden ist, und
Friedrich für einen gewöhnlichen Menschen
hält, sobald man weiß, daß er physische
Bedürfnisse hatte, wie jeder Sterbliche.
Muß man denn die großen Gegenstände so
mit dem Mikroskop betrachten? Oder muß
man von einem berühmten Manne sich nicht
mit einem Konterfei seines Kopfes begnü-
gen, sondern ein Konterfei von der ganzen
nackten Figur verlangen, und alles, was
[27] an ihm mißgestaltet und ekelhaft ist, her-
vorsuchen? — —


An dem herrlichen Lustspiel Beaux Stra-
tagem
konnte ich recht angenscheinlich den
Unterschied zwischen dem Styl der theatra-
lischen Darstellung vor zwölf Jahren, und
dem jetzigen wahrnehmen. Mr. Lewis als
Archer, Mr. Quick als Scrub, und Mrs. Pope,
die ehemalige Miß Younge, als Mrs. Sal-
len
— gaben mir in der That einen sehr
schwachen Begriff von Garrick, Weston
und Mrs. Barry in eben diesen Rollen. Mr.
Lewis war nicht, was er seyn sollte: ein als
Bedienter verkleideter Gentleman; sondern
ein Bedienter, der Gentlemans-Manieren
affektirte. Scrub sollte ein dummer, un-
wissender Bauerlümmel seyn, dem zuwei-
len eine Idee bis in das Gehirn trifft; Quich
[28] hingegen spielte ihn so, daß er immer zu
viel zu ahnden und zu errathen schien.
Weston wußte gar wohl, daß man dieser
Rolle nicht alle Anlagen nehmen müßte;
allein er ließ sie leer an wirklich erworbe-
nen Begriffen, an Übung der Geisteskräfte:
und dies war die ächte Art, sie zu spielen.
Mrs. Pope endlich, eine für mich sehr an-
genehme Schauspielerin, hat für die Rolle
von Mrs. Sallen weder Lebhaftigkeit, noch
Laune genug. Sie spielt sie mit Anstand,
aber nicht mit komischem Nachdruck.


Die Farce: Love in a camp, war an Platt-
heit und Jämmerlichkeit unausstehlich.


[29]

4.
Westminsterhall. — Warren Hastings
Proceß
.


Die ganze Halle ist bekanntlich mit Sitzen
eingerichtet: rothen für die Peers und ihre
Tickets; grünen für das Unterhaus. Die
Verschlage für die Managers heißen: Zim-
mer
; sind aber ganz finster, und werden
durch Lampen und Lichter erleuchtet. Das
Zimmer für den Gefangenen (Prisonner’s-
room
), wo Hastings sitzt, bis er gerufen und
vom Blackrod vorgeführt wird, ist wirklich
ein finsteres trauriges Loch, und nach vorn
zu hat es zwei kleine Fensterchen mit eiser-
nen Stangen davor. Im Managers-room sa-
hen wir mehr als zwanzig große Folianten
von Akten. Überall brannten große Feuer-
[30] becken. Jedesmal, bei jeder Sitzung, muß
Hastings auf die Knie fallen, wenn er hin-
einkommt. Dann heißt ihn der Kanzler auf-
stehen, und erlaubt ihm zu sitzen. Die
Größe eines Indischen Despoten so ernie-
drigt, das mag wohl schmerzen; aber jetzt
ist er daran gewöhnt. So stumpft sich je-
des Gefühl endlich ab! — Wohlthätige Na-
tur, die für unsere Erhaltung sorgt auf Ko-
sten unserer Reitzbarkeit! Aber noch un-
endlich wohlthätiger in jenen großen See-
len, die eine einzige Verletzung ihres Selbst-
gefühls nicht wieder ruhig werden läßt.


Den 5ten Junius. Ich möchte wohl zu-
gegen gewesen seyn, wenn das heilige Volk
von Athen so einen Aktus vorhatte, um ei-
nen Vergleich mit dem anstellen zu können,
der hier vorgeht. So glänzend wie West-
minsterhall, war freilich wohl die Ver-
sammlung dort nicht; es fehlten die Damen,
[31] die hier ungleich zahlreicher als die Manns-
personen sind. Welch ein Anblick! Die
Hyacinthenflor in Harlem war nicht pracht-
voller, und duftete nicht stärker! Fast alles
ist weiß: wenigstens lauter weiße Enve-
loppen und Kopfzeuge, und beinahe kein
anderes als rosenfarbenes und himmelblaues
Band. Nirgends ist ein Hut zu sehen; denn
hier ist alles full dreß’d, was den Kopf be-
trifft. Der Platz, den das Oberhaus selbst
einnimmt, ist verhältnißmäßig klein. Die
Zuschauer, auf vielen Reihen von Bänken
umher und über einander, können vielleicht
zweitausend ausmachen. Und wie oft ha-
ben nicht schon 2000 Menschen die Stelle
von andern 2000 hier eingenommen! Es
können wenigstens 500,000 Britten Zeu-
gen von dem Gerichte gewesen seyn, wel-
ches hier über ihren Mitbürger gehalten
wird. Göttliche Publicität! erhabne Würde
[32] der Gerechtigkeit, die nicht das Licht
scheuet! Daß kein Volk, kein Land, keine
Stadt es wage, sich frei zu nennen, so lange
ihre Richter bei verschlossenen Thüren über
das Schicksal ihrer Mitmenschen entschei-
den! Ich hasse das ewige Kreischen von
Freiheit, das Gekrächz derer, die nicht wis-
sen, was frei seyn heißt, und des goldenen
Vorrechtes nicht werth sind; ich hasse die
Sklaven, die nur sprechen, und nicht han-
deln
. Aber kein Ausdruck ist zu hart, um
Abschen gegen den Tyrannen zu erwecken,
der seines Volkes Vater zu seyn vorgiebt,
und es im Verborgenen richtet. Im Verbor-
genen richten, ist Meuchelmord; und kein
Zusatz von Umständen, keine Modifikation,
kann dieses Verfahren je so weit entschul-
digen, daß sie ihm diesen Namen wieder
nehmen könnte. Jeder, den ein Rechtsur-
theil traf, das im Verborgenen gefällt und
motivirt
[33] motivirt wurde, ist ein Tyrannenopfer, ge-
gen das man alle Gerechtigkeit aus den Au-
gen setzte; mithin ist er zurückgestoßen aus
dem Bunde der bürgerlichen Gesellschaft, in
die Sphäre des natürlichen Lebens, wo je-
der sein eigner Vertheidiger und Rächer ist.


Um 9 Uhr wurden die Thüren geöffnet,
und um halb 12 Uhr fanden wir das Haus
schon über die Hälfte voll. Und was ma-
chen denn die Damen in einem Hause, wo
sie nicht recht hören können, was gespro-
chen wird; wo sie nicht verstehen, was sie
hören; und bis zwei Uhr, also gegen vier
Stunden, warten müssen, ehe es angeht?
Kommen sie hin, um sich sehen zu las-
sen? Schwerlich; denn man erkennt und
trifft einander nicht in diesem großen Saale,
wo die Sitze nach verschiedenen Richtungen
laufen, und nicht alle einander in’s Gesicht
sehen können. Kommen sie, um zu plau-
III. Theil. C
[34] dern? Eine so große Versammlung so still
zu finden, war vielleicht das Erstaunlichste
am Ganzen. Man scheint einen Sinn für
das Schickliche mitzubringen, der an dem
Orte, wo wir uns befanden, kein Gespräch
duldet. Wie soll man sich also das Räthsel
dieser Erscheinung erklären? Durch Lange-
weile, Neugier und guten Ton. In Hastings
Verhör geht man, weil es Sitte ist, und
weil man wenigstens auf eine entfernte Art
zeigen kann, daß man mit eines Lords Fa-
milie bekannt ist, und Billets bekommen
kann, — wiewohl wir die unsrigen für eine
halbe Guinee erkauften, weil wir keinen
Lord darum ansprechen mochten. Neu-
gier
— um doch davon sprechen zu können;
um zu sehen, wie man sich heute kleidete;
um das Schauspiel einmal genossen zu ha-
ben; um zu wissen, wie ein Kanzler auf
seinem Wollsack, die Lords in ihren Män-
[35] teln, die Herolde in ihren buntgestickten
Kleidern, die zwölf Richter und der Spre-
cher des Unterhauses in ihren Perücken sich
ausnehmen; um den Mann, von dem alle
Welt spricht, W. Hastings, oder die be-
rühmten Volksredner Burke, Fox und She-
ridan
, einmal von Angesicht zu Angesicht
zu schauen. Langeweile — doch, bedarf es
hier noch einer Erklärung?


„Das wäre denn alles,” wird mir man-
cher Geck zurufen, der hier mit leichter
Mühe zu der Ehre zu kommen hofft, auch
einmal den Verdacht eines eigenen Gedan-
kens auf sich zu ziehen — „alles, was die
gepriesene Publicität wirkt? Ob Weiber
hören oder gaffen — die Juristen machen,
was sie wollen.” — Nicht also, mein fei-
ner Herr! Es giebt unter diesen Damen auch
verschiedene, die lebhaften Antheil an dem
Processe nehmen. Man sicht sie allemal,
C 2
[36] so oft er fortgesetzt wird, mit Papier und
Bleistift Bemerkungen aufzeichnen, und den
Gang der Sache, die Beschuldigungen, Ver-
theidigungen, Gegenaussagen nie aus dem
Gesichte verlieren. In England, in einer
Republik, zumal in einer so blühenden, so
thätigen, die alle individuellen Kräfte her-
vorruft und entwickelt, ist der Zusammen-
hang des Interesse tausendfältig, und wo
man es nicht erwarten sollte, zeigt sich
Theilnahme aus eigenem Bedürfnisse. Doch
wozu dieser Beweis? Hat man denn verges-
sen, daß auch Mannspersonen Zuschauer
und Zuhörer sind? daß die Freunde des
Angeklagten und der Kläger sich anwesend
befinden, und jedes Wort niederschreiben?
daß das ganze Unterhaus mit anhört, wie
seine Mitglieder den Proceß führen? daß
endlich das ganze Oberhaus, der Adel des
ersten Landes in der Welt — ein Adel, zu
[37] welchem Verdienst unfehlbar den Weg
bahnt — hier sitzt, um zu hören, zu ent-
scheiden, und zu richten?


Um zwei Uhr endlich erschien ein Theil
der Mitglieder des Unterhauses auf ihren
Sitzen; und bald kam auch das ganze Ober-
haus in Procession: voran die zwölf Rich-
ter in ihren Perücken und Mänteln, dann
die Lords, endlich die Herolde, der Siegel-
und der Insignienträger, und der Kanzler.
Jeder ohne Ausnahme, wie er dem Thron
gegenüber kam, neigte sich gegen densel-
ben, obgleich niemand da saß. Hierauf
rief der Insignienträger (Mace-bearer) drei-
mal: Oyés, und befahl den Anwesenden bei
Gefangnißstrafe, im Namen des Königs,
Stillschweigen an. Hierauf citirte er Ha-
stings
, zu erscheinen; und nachdem der
Usher of the blackrod gegangen war, ihn ab-
zuholen, erschien Hastings an seiner Stelle,
C 3
[38] machte drei Verbeugungen, knieete nieder,
stand aber sogleich wieder auf, und setzte
sich in den für ihn bestimmten Lehnstuhl.


Der Kanzler eröffnete hierauf die Sitzung
indem er den Managers sagte, daß sie fort-
fahren möchten. Nun folgten Verhöre von
Zeugen; ein Clerk mußte viel vorlesen, wel-
ches endlich manchen Zuhörern so viel Lan-
geweile verursachte, daß sie sich entfernten.
Die Lords sitzen nicht sehr still, verlassen
ihre Plätze, sprechen mit einander und mit
den Mitgliedern des Unterhauses, und schei-
nen unter der Last ihrer Hermelinmäntel
bei diesem Wetter nicht sehr beneidenswür-
dig zu seyn. Einer von den Managers (Mr.
Anstruther) sprach sehr widrig; er stieß im-
mer einige Worte aus, und hielt dann wie-
der inne, alles sehr monotonisch. Des Kanz-
lers deutliche, volle Baßstimme, ist überall
vernehmlich.


[39]

5.
Zünfte.


In Deutschen Büchern steht bald, England
habe Zünfte: bald, England habe keine
Zünfte. Beides ist wahr, beides falsch.
Man verstehe sich nur! Deutsches Zunft-
wesen herrscht in England freilich nicht.
Warum? weil das Municipalwesen in Eng-
land anders als auf dem festen Lande ist,
weil England weniger als Deutschland und
Frankreich das Unglück hatte, Italiänisch-
ägyptische Laster anzunehmen. — — Die
Englischen Zünfte zielen wenig auf die ver-
meintliche Vervollkommnung der Künste
ab, wie in Deutschland; sie haben bloß po-
litische Zwecke: denn keiner braucht sich
da einzunften zu lassen, wohin er seines
C 4
[40] Handwerks wegen gehört. Ein Buchdrucker
kann sich zu den Malern, Bäckern etc. hal-
ten. In der city of London und in jeder Stadt,
wo Incorporationen sind, darf keiner ein
Gewerbe für sich treiben, der nicht zu einer
Zunft gehört. In eine Zunft gelangt man,
wenn man die Freiheit der Stadt erwirbt,
oder Freeman of the city wird. Diese Er-
werbung der Freiheit geschieht entweder
durch sieben Lehrjahre bei einem incorpo-
rirten Meister, oder durch Kauf. Die Frei-
heit der Stadt kostet im Durchschnitt dreißig
Pfund Sterling. Bei einigen Incorporationen
ist sie wohlfeiler, und kostet nur vier und
zwanzig Pfund Sterling; deshalb hält man
sich gewöhnlich zu einer wohlfeileren Zunft,
zum Beispiel zu den Musicians, da es einem
Schustergesellen frei steht, sich zu der Zunft
zu halten, zu welcher er will. Dieses Ein-
zunften als Freeman of the city geschieht
[41] durch Einschreiben in der Guildhall (dem
Rathhause) und der Zunfthalle. Wer Free-
man
durch die sieben verflossenen Lehrjahre
oder durch Erkaufung der Stadtfreiheit ist,
kann für eigne Rechnung, wie wir sagen,
als Meister sein Handwerk treiben. Ein
Freeman, ob er gleich zu einer Zunft ge-
hört (was Volkmann in seinem ersten Theil,
Seite 225 fälschlich leugnet), nimmt noch
keinen Theil an Parlamentswahlen; dazu ge-
hört das Pelzkleid. Ein Freeman, der also
auch diesen Vorzug genießen will, muß Li-
veryman
werden, welches abermal einige
Pfunde kostet. Besondere Geschicklichkeit
aber, wie Volkman wähnt, gehört gar nicht
dazu; die Englischen Zünfte haben Vervoll-
kommnung der Zünfte kaum zum Neben-
zweck. Keine Zunft ist geschlossen, jeder
Meister, er sey Freeman oder Liveryman
kann so viele Gesellen halten, als er will.
C 5
[42] Meisterstücke kennt man in England auch
nicht. Zwischen Lehrjungen und Gesellen
ist ebenfalls keine Scheidewand. Gesellen
(ich neune die Leute so, die nicht auf eigne
Rechnung arbeiten) lassen sich, wenn sie
außer Arbeit sind, in der Halle einschrei-
ben. Ein Meister, der Gesellen nimmt, muß
gerade die nehmen, die zuerst eingeschrieben
sind, er mag sie für geschickt halten oder
nicht. Will er sich welche auswählen, so
muß er ein gewisses Geld dafür erlegen.
Das Gesellenlohn ist nur bei einigen Zünf-
ten, zum Beispiel bei den Schneidern, durch
eine Parlamentsakte bestimmt; ein Meister,
der mehr Lohn giebt als vorgeschrieben ist,
kann gerichtlich belangt werden. Fast jede
Innung hat ihre Armenhäuser. Das Geld
dazu fließt aus der Zunftkasse, in welche je-
der Geselle, Freeman und Liveryman jährlich
einige Schillinge zahlen muß. Ein Geselle,
[43] der diese Schillinge nicht gezahlt hat, muß
sie alle nachzahlen, wenn er Meister werden
will, sei es nach Ablauf der sieben Dienst-
jahre oder durch Erkauf der Freiheit.


Die Royal Society eine Zunft zu nennen,
wie einige Deutsche Schriften thaten, ist
sehr lächerlich. Sie ist indeß allerdings eine
durch Charter incorporated Society; das heißt:
sie gehört zu der allgemeinen Klasse von
dem Staat untergeordneten Gesellschaften.


In allen Städten, wo keine Incorporatio-
nen sind, kann jeder nach Belieben jegliches
Gewerbe treiben; zum Beispiel in ganz
Westminster, und in den Liberties der cor-
porirten Städte. Dieser Umstand macht al-
len auch in ungeschloßnen Zünften noch
möglichen Schaden nichtig; denn die Waare
des unzünftigen Meisters concurrirt immer
mit der Waare des zünftigen. In Westmin-
ster zum Beispiel, kann jederman Schneider
[44] oder Schuster seyn, oder aus einem Schnei-
der morgen ein Schuster werden, u. s. w.
Hier ist auch keine politische Verbindung
unter den Handwerkern; die Parlamentsglie-
der werden in Westminster bloß von den
Hausbesitzern gewählt. Ein Jude kann in
England alle Handwerke treiben, nehm-
lich die, welche von keiner Corporation
sind. Daß das Mosaische Gesetz sich auch
wohl damit verträgt, zeigen die vielen jü-
dischen Handwerker in Westminster, beson-
ders die vielen jüdischen Schlächter in Good-
mansfield
. Man findet einen beschnittenen
Schlächter nicht unreinlicher, als einen unbe-
schnittenen.


Auf dem platten Lande kann jegliches
Gewerbe getrieben werden, und nur in der
Gerichtsbarkeit corporirter Städte muß ein
Handwerker sich zu einer Incorporation die-
ser Stadt halten.


[45]

Das Unwesen eines blauen Montags ist
in England so arg als in Deutschland.


Warum ist genaue Kenntniß des Eng-
lischen Zunftwesens in Deutschland so
nöthig? —


[46]

6.
The Monster.



Wie sich die Neuigkeiten hier jagen! Wie
immer frische Nahrung für das gefräßige
Thier mit achtmal hunderttausend Schlün-
den herbeigeschafft werden muß! Gestern
ist der König von Schweden an einem Gal-
lenfieber gestorben; heute ersticht man die
Kaiserin von Rußland; die Spanier haben
Jamaika weggenommen; Frankreich rüstet
zwanzig Linienschiffe aus. Bald erschallen
wieder durch die ganze Stadt lauter Frie-
densgerüchte! Diese widersprechenden Er-
dichtungen sind auf den nächsten Kreis um
die Londoner Börse berechnet; die öffent-
lichen Fonds steigen und fallen, je nachdem
man dieses oder jenes Gerücht wahrschein-
[47] lich zu machen weiß; authentische Briefe,
gerichtliche Aussagen von Schiffskapitainen,
Ministerconfidencen, nichts wird dabei ge-
spart, um Wirkung hervorzubringen; und
wenn es endlich nun einmal gelingt, dieje-
nigen, die sich die Weisesten und Vorsich-
tigsten dünken, zu übertölpeln, so ist der
Gewinn schon entschieden. — Man fragt
sich also schon immer bei jeder neuen Mähre,
wohin sie zielt, und welchen Effekt auf die
Barometer des öffentlichen Kredits sie haben
könne; und wahrlich! künstlich muß der
Mäkler seyn, der jetzt noch seinen Zweck
erreichen will. — Allein der größere Kreis
des Publikums, der zur bestimmten Stunde
seines Frühstücks die Zeitung liest, und die
Zeit theils mit dieser Lektüre, theils mit
der Conversation, wozu sie den Stoff giebt,
zu tödten sucht, hat noch einen ganz andern
Heißhunger nach Neuigkeiten, und eine
[48] gesegnete Gabe der Verdauung, die mit dem
Wunderglauben in eine Klasse gesetzt zu
werden verdient. Seit vier Wochen spricht
ganz London von dem Ungeheuer; die Zei-
tungen sind voll davon; die Theaterdichter
unterhalten das Volk davon auf der Bühne;
die Damen fürchten sich davor; der Pöbel
sieht jeden Vorübergehenden schärfer darauf
an, ob er nicht in ihm das Ungeheuer ent-
decken könne; alle Wände sind mit Ankün-
digungen und Darbietungen einer Beloh-
nung für denjenigen, der das Ungeheuer
greifen wird, beklebt; freiwillige Sub-
skriptionen sind eröffnet worden, um es fan-
gen zu lassen; Mrs. Smith, eine Dame du
bon ton
, hat es mit einem Pistol hinters Ohr
geschossen, — es hat sich verkleidet, geht
in vielerlei Gestalten umher, verwundet
schöne Frauenzimmer mit einem eigends er-
fundenen Instrument, mit Haken in Blumen-
sträußern
[49] sträußern verborgen, mit Packnadeln, u. s. f.
— und dieses Ungeheuer ist nichts mehr und
nichts weniger als — ein Unding, womit
man die müßigen Einwohner von London
amüsirt. Ein Taschendieb, der vermittelst
eines Instruments die Taschen umzukehren
und auszuleeren gelernt hatte, konnte viel-
leicht eine Dame verwundet haben, indem
er dieses Kunststück an ihren Taschen pro-
bierte; dieser unbedeutende Zufall war hin-
reichend, um eine ganze Geschichte von
einem Ungeheuer darauf zu gründen, wel-
ches gegen weibliche Schönheit wüthete,
und eine Verschwörung zwischen mehreren
Geschöpfen dieser Art wahrscheinlich zu
machen, die aus Bosheit, oder Rache, oder
verkehrtem Geschmack, das ganze Geschlecht,
oder doch den schöneren Theil desselben,
vernichten sollten.


III. Theil. D
[50]

7.
Naturgeschichte. Banks.


Außer der Botanik ist alles kläglich be-
stellt; die Mineralogie am schlechtesten.
Es giebt fast gar keine Liebhaberei, und
schlechthin keine Kenntniß. Hawkins ist
der einzige Mineraloge. Mr. Greville zeigt
acht oder vierzehn Tage lang an seinem Ka-
binet. Mr. Macie und die übrigen, studieren
Mineralogie nur um der Luftchymie wil-
len, und wissen von den neuen Entdeckun-
gen nichts. Greville ist in der Opposition,
und hat nichts zu leben. Raspe arbeitet in
Schottland, ist aber auch nicht mit den
neuen Entdeckungen, und überhaupt mit
der heutigen Form der Wissenschaft be-
kannt. Zoologen giebt es sehr wenige. Pen-
[51]nant war nicht tief; Latham hat seine Vö-
gel vollendet; Yeats hat ein Insektenkabinet.


Botanik hingegen ist en vogue. Martyn
übersetzte Rousseau’s Briefe, und that vier
und zwanzig neue hinzu, zierte sein Werk-
chen mit Kupfern, und die Damen kauften
es, so dürr auch der Inhalt ist. Curtis las
den Damen Botanik, schrieb für sie ein bo-
tanisches Magazin, und gab seine Flora
Londinensis
heraus. Smith liest auch Bota-
nik, und fährt fort, Linné’s Kräuterbuch,
welches er an sich gekauft hat, zu publici-
ren. Dickson giebt Moose, Farrn und
Schwämme heraus. Bauer, der vortreffli-
che Zeichner, den der junge Jacquin nach
England brachte, wird die seltenen Pflanzen
des Hortus Kewensis herausgeben; sie sind
herrlich gezeichnet: klar, richtig, deutlich
und schön. Eine Mrs. Margaret Meen ist
ihm indeß zuvorgeeilt, und hat auf dem
D 2
[52] allergrößten Atlasformat eine Nummer von
vier Blättern herausgegeben, welche seltene
und gemeine Pflanzen zugleich enthält, z. B.
Strelitzia Regina, und die Solandra speciosa;
dann aber auch Plumbago rosea und Cypri-
pedium album
. Die Ausführung ist nicht zu
rühmen. Nichts ist botanischrichtig ge-
zeichnet, und die vier Pflanzen kosten
16 Shilling.


Das große Werk von Banks ist noch im-
mer ein Gegenstand, der die Konversation
lebendig erhält. Er wird, sagt und schreibt
er seinen Freunden, es nie verkaufen, son-
dern nur wenige Exemplare abziehen lassen,
und sie verschenken. — Es sollen schon
beinahe alle 17 bis 1800 Platten fertig seyn.
Woran der fernere Aufschub liegt, weiß kein
Mensch zu sagen; Dryander selbst scheint es
nicht sagen zu können oder zu wollen.


[53]

8.
Kapitain Bligh. Reisen nach Nordwest-
Amerika
.


Cook gebrauchte den Kapitain Bligh bei sei-
ner letzten Reise, um Landkarten zu ma-
chen und Aussichten aufzunehmen; und er
hat fast alles, was während dieser langen
Reise in diesem Fache gearbeitet worden ist,
allein gethan. Nach seiner Rückkehr kamen
seine Zeichnungen in die Hände der Admi-
ralität. Roberts erhielt von dieser den Auf-
trag, die Karten für den gedruckten Bericht
der Reise darnach auszusuchen und zusam-
menzutragen. Aber er hatte zu eben der
Zeit das Kommando über einen Zollhaus-
Kutter bekommen, und fand das Handwerk,
Schleichhändler zu verfolgen, einträglicher,
D 3
[54] als das Kartenmachen. Dnrch seine Nach-
lässigkeit ward die Herausgabe des Werkes
verzögert, und die Admiralität mußte ihm
einen gemessenen Befehl zuschicken, her-
aufzukommen, und seine Arbeit zu vollen-
den. Die elende Generalkarte ist die Frucht
dieses übereilten Geschäfts, außer einer
Menge Fehler in andern Karten. Kapitain
Bligh hat versichert, daß zwischen den Ori-
ginalzeichnungen und den herausgegebenen
Karten ein sehr großer Unterschied sei.


Die Canadischen Kaufleute und die Hud-
sonsbay-Kompagnie sind einander entge-
gen. — Ein gewisser Turner ward von der
letzteren ausgeschickt, um geographische
Entdeckungen zu machen. Er war ein gu-
ter Astronom, nahm viele Längen und Brei-
ten, und bestimmte unter andern die Lage
von Hudsons house. Hernach brauchte ihn
[55] die Kompagnie in Handelsgeschäften; da
hatte er über die Branntweinfässer zu befeh-
len, fing an zu trinken, und gerieth darüber
mit seinen Rechnungen in Unordnung. Die
Kompagnie hat ihn dessen ungeachtet noch-
mals ausgeschickt; und wenn er nur seinen
Branntwein bald austrinkt, so kann er noch
etwas leisten.


Die Canadier stahlen ihm das erstemal
seine Journale; wenigstens will man wis-
sen, daß ein ungetreuer Beamter diese Jour-
nale an die Canadier verkauft hat. Diese
haben drei Leute nach Westen geschickt,
wovon einer über den Slavelake (Sklaven-
see) bis nach Cooks River, und von da nach
Kamtschatka gekommen ist.


D 4
[56]

9.
Dr. Johnson. Warton.


Als man Johnson fragte, was der König mit
ihm gesprochen hätte, sagte er: The questions
of His Majesty were multifarious
; (so
sehr war er gewohnt, Lateinische Wörter
in der Englischen Sprache zu adoptiren, und
sogar im gemeinen Leben einzuflicken) but,
thank God! he answered them all himself
*).


Warton spricht in seinem Buche über
Englische Dichter lang und breit über ein
Miniaturportrait von Milton, welches Sir
Joshua Reynolds für 100 Guineen gekauft
[57] haben soll. T. Brand Hollis behauptet: es
sei das Porträt von John Selden, und ärgert
sich, daß Warton mit keinem Worte der
vier Köpfe von Milton in den Memoirs of
Mr. Hollis
erwähnt, die doch ächt sind.


D 5
[58]

10.
Etwas von den Sitten. Veränderung der
Sitten. Nägel. Ranelagh. Boxing.
Dr. Mayersbach
.


Die Verschiedenheit des Essens am östli-
chen und westlichen Ende der Stadt ist be-
merkenswerth. Der ganz Fremde würde in-
deß wenig Unterschied finden; denn über-
all geht es gleich steif und unbeholfen zu.
Man sitzt vor Tische unbeweglich im Stuhl,
spricht wenig, schlägt die Arme über ein-
ander, [und] hat Langeweile, bis zur Tafel
gerufen wird. Dann ziehen die Weiber wie
die Kraniche ins Speisezimmer; niemand
führt sie. Man fodert zu trinken, wie in
einem Wirthshause, oder macht Partie mit
jemand, um ein Glas zu trinken; und nach
[59] Tische werden Gesundheiten getrunken.
Auch erscheint, sobald die Damen sich ent-
fernt haben, überall der Nachttopf. Suppe
ist nirgends zu sehen. Man setzt noch im-
mer Gläser mit Wasser auf den Tisch, und
jedermann spült sich, Angesichts der ganzen
Gesellschaft, den Mund und wäscht sich
die Hände. Bis Thee und Kaffee im Neben-
zimmer servirt werden, sitzt man am Tisch,
und trinkt Wein. — Nur im Westen giebt
es Servietten, die in der City durchgehends
wegbleiben. Kleine Schüsseln findet man
auch nur an dem vornehmen Ende der Stadt;
am östlichen ißt man mancherlei durch ein-
ander und mit einander.


Die Engländer pflegen ihre Hospitalität
zu rühmen, und nennen ihr Land das gast-
freieste
in der Welt. Ausländer hingegen
beklagen sich, daß, wenn sie zu Hause den
[60] durchreisenden Engländern alle erdenkliche
Höflichkeit erwiesen haben, diese, wenn man
sie in England besucht, den Fremden zu
einem Mittagsessen im Wirthshause bitten,
und ihn alsdann seine Zeche mit einer hal-
ben, oder gar mit einer ganzen Guinee be-
zahlen lassen. Anfänglich lachte ich selbst
über diesen, wie es mir vorkam, ganz ver-
kehrten Begriff von Hospitalität. Allein ich
habe der Sache nachgedacht, und finde man-
ches zu erinnern, was sie in ein ganz ande-
res Licht stellen kann. Erstlich also, ist es
wenigstens von den Einwohnern auf dem
Lande sehr buchstäblich wahr, daß sie ge-
gen Fremde, die ihnen empfohlen werden,
die Gastfreiheit in einem hohen Grade aus-
üben. Zweitens sind die Veranlassungen zu
einem Mittagsmahl in dem Wirthshause in
London häufiger als anderwärts, indem so
mancher daselbst kein Haus hält, sondern
[61] Jahr aus Jahr ein täglich in ein öffentliches
Wirthshaus geht, um dort zu essen. Drit-
tens glaubt mancher seinem Gaste mehr Frei-
heit zu lassen, wenn er ihn an eine Tafel
führt, wo er seinen freien Willen behält,
und fordern kann, was ihm beliebt, als
wenn er ihn nöthigte, sich nach seinem Ge-
schmacke zu richten. Endlich auch in Lon-
don selbst, sind die Fälle gar nicht selten,
daß Fremde in den Häusern ihrer Bekann-
ten bewirthet werden, wie es mir selbst
vielfältig widerfahren ist. — Mehr aber,
als dies alles, ließe sich noch zur Entschul-
digung oder Rechtfertigung des Englischen,
mir sonst so paradox scheinenden Begriffes
von Hospitalität sagen, der zuletzt auf die
Definition hinausläuft, daß man in England
für Geld haben kann, was man will. Schöne
Gastfreundschaft! sagte ich, als ich diesen
Ausdruck zum erstenmal hörte; und tausend
[62] Ausländer für Einen werden in Versuchung
seyn, denselben Ausruf zu thun. Ich ge-
stehe gern, daß ich nicht mehr so verächt-
lich von dieser Gastfreiheit urtheile, wel-
she jedem für Celd verschafft, was er nur
an Bequemlichkeit und Genuß verlangen
kann. Es ist nichts Geringes, den Fremd-
ling, den Reisenden, den Käufer, der im
Laden etwas kaufen will, mit Freundlich-
keit und Dienstfertigkeit aufzunehmen.
Diese Attention ist aber in England recht ei-
gentlich zu Hause. Kauft man für eine bloße
Kleinigkeit, für zwei Schilling z. B., in
einem Laden, so ist der Kaufmann erbötig,
das Gekaufte selbst nach Hause zu schicken;
gleichviel, ob in die nächste Straße, oder
durch den ganzen Diameter der unermeßli-
chen Hauptstadt zu gehen ist. Kauft man
für mehrere Pfund Sterling, so wird man
fast unfehlbar von dem Kaufmann zu Tische
[63] gebeten. Im Laden präsentirt man dem Käu-
fer einen Stuhl, ein Glas Wein, eine Tasse
Chokolade, oder andere Erfrischungen. Um
eine Kleinigkeit abzusetzen, läßt sich der
reichste Kaufmann keine Mühe verdrießen;
man mag hundert Stücke Zeug um- und
durchwühlen: er wird nicht müde, im-
mer wieder andere herbeizuschaffen. — In
den Wirthshäusern ist alles Aufmerksamkeit,
und der gewöhnlichste Passagier wird wie
der erste Lord bewirthet. Die Aufwärter
laufen an den Wagen, so bald sie jemand
ankommen sehen; der Wirth selbst erscheint
und bewillkommt seine Gäste. Er bedient
sie bei Tisch, und das Kammermädchen
sorgt bestens dafür, daß die Betten frisch
und rein sind. Fährt man fort, so ist man
wieder eben so mit dem Wirthe, der Wir-
thin, und den Aufwärtern umgeben. Jedes
hat im Hause sein bestimmses Amt. Boots
[64] ist bei der Hand, Schuh und Stiefeln abzu-
ziehen, zu putzen, und dem Fremden Pan-
toffeln zu präsentiren. Kommt man zu Pferde
an, so hat der Horseler, oder wie das Wort
gewöhnlich ausgesprochen wird, Ostler, die
Sorge für die Pferde. Will man ausfahren,
so hat jeder Gastwirth mehrere nette Post-
chaisen und etliche Züge Pferde im Stall,
deren sich ein Deutscher Edelmann nicht
schämen dürfte. Fast Jahr aus Jahr ein
brennt ein Feuer in dem Kamin; und die
Wirthshäuser sind schon darauf eingerich-
tet, daß man, außer dem Schlafzimmer,
für jede Gesellschaft ein besonderes Wohn-
zimmer hat, ohne daß die Kosten darum
besonders erhöhet würden. — Tische und
Stühle sind durchgehends vom schönsten
Mahagonyholz, mit roßhaarnen Küssen;
und der Teppich von der vortrefflichen
Wollenmanufaktur in Wiltshire, oder we-
nigstens
[65] nigstens ein Schottischer, liegt den Winter
hindurch in jedem Zimmer; so wie vor
jedem Bette Jahr aus Jahr ein, und in den
zierlichern Gasthöfen auf allen Treppen, ein
schmaler Streif von eben diesem Tuche liegt.
Des Silberzeugs, des Tafelgeschirrs ist kein
Ende; nur Servietten muß man nicht erwar-
ten. Wahrlich das Land ist gastfrei zu nen-
nen, wo es Menschen sich so angelegen
seyn lassen, andern das Leben bequem und
angenehm zu machen, Reisende nach einem
beschwerlichen Cahotage zu erquicken, und
ihnen einigen Ersatz zu verschaffen für die
liebe Heimath, von der sie sich entfernen
müssen. Wer empfunden hat, wie der Rei-
sende in andern Ländern in sich selbst zu-
rückgetrieben wird; wie er so gar keine
Theilnahme erweckt, so gar kein freundli-
ches Gesicht ihn bewillkommen sieht, für
sein Herz so gar keine Nahrung findet, wenn
III. Theil. E
[66] er sich einmal von den Seinigen entfernt;
wie es den Gastwirthen gar nicht um seine
Bequemlickkeit, sondern lediglich um ihren
Gewinn zu thun ist: der muß den Vorzug
des Reisens in England empfinden, wo ihn
so manches freundliche Wort, so viel ächte
Urbanität in den Sitten der Menschen, mit
denen er auf der Reise umzugehen genöthigt
ist, unaufhörlich mit dem ganzen Geschlechte
versöhnt und in eine zufriedene Stimmung
versetzt. Ein gutes Gesicht, und Bereit-
willigkeit, jeden seiner Wünsche zu erfül-
len, lassen sich wahrlich nicht mit dem
Gelde erkaufen, das er für seine Zehrung
zahlt. Allein die Begriffe, daß man als
Gastwirth verbunden sei, für die Bequem-
lichkeit und das Wohl der Gäste zu sorgen,
daß man wirklich die Rechte der Hospitali-
tät an ihnen ausüben müsse, und ein schönes
Gefühl von Unabhängigkeit und Gleichheit,
[67] womit man sich bewußt ist, daß man nicht
bloß vom Fremden lebt, sondern ihm auch
wirklich das geben kann, was seine Börse
nicht bezahlt: — dies wird schon mit der
Muttermilch eingesogen, und mit den An-
fangsgründen der Erziehung in den Gemü-
thern entwickelt. Dazu kommt noch, daß
hier nicht leicht ein hungriger Abentheurer
einen Gasthof anlegt, sondern daß dieses
Geschäft insgemein den Besitz eines ansehn-
lichen Vermögens voraussetzt; daß folglich
die Gastwirthe selten so gröblich unwissend
wie in andern Ländern sind, und im Gegen-
theil die Erziehung, die ihrem Vermögen
angemessen war, genossen haben; mithin,
daß die Ueberzeugung, Zufriedenheit und
Glück müsse nur in einer bestimmten Ge-
schäftigkeit gesucht werden, den Entschluß:
leitet, auf irgend eine Art das Vermögen
anzulegen und zu einem gemeinnützigen
E 2
[68] Endzwecke damit zu wirthschaften. Dieser
Geist der Thätigkeit unterscheidet den Eng-
länder, wie mich dünkt, am meisten von
allen andern Nationen. Ein Deutscher, ein
Franzos, ein Italiener von gewöhnlichem
Schlage, der dreißig- oder vierzigtausend
Thaler hätte, würde sich erniedrigt glauben,
wenn er ein Gewerbe oder eine Hantie-
rung triebe; der Engländer fängt damit
erst recht an, und hält das Geld nur für
eine Federkraft in seinen Händen, wodurch
er für seine Thätigkeit Platz gewinnen, und
in eigenem Wirken und Schaffen sich selbst
gefallen kann. Ich weiß, es giebt auch auf
dem festen Lande einige Ausnahmen; allein
zu geschweigen, daß diese eigentlich, wie
immer, die Regel bestätigen, so ist doch in
den Gelenken unserer Gastwirthe eine natür-
liche Steifigkeit, die sich nur durch die Zau-
berkraft einer Equipage mit Sechsen, oder
[69] eines adlichen Wapenschildes vertreiben
läßt. Die Huldigung, die sie dem Reich-
thum leisten, möchte man ihnen noch ver-
zeihen: sie hat wenigstens einen Gegenstand;
allein die Furcht vor der privilegirten Klasse
der Nation ist ein Schandfleck von ange-
stammter Niederträchtigkeit, der die mensch-
liche Natur entehrt, am meisten da, wo der
Adel durch keinen Zügel, weder durch Ei-
gennutz, noch durch Begriffe von Ehre und
Schande, sich gehalten fühlt, mithin, weil
er die oberste Stelle ohne sein Verdienst be-
sitzt, dem eigenthümlichen Werthe nach
auf die allerunterste Stufe hinabgesunken ist,
und die Verachtung aller übrigen, die alle
besser und edler sind als er, in vollem Maße
verdient.


Es sind nun zwölf Jahre verflossen, seit-
dem ich in England war. In diesem Zwi-
E 3
[70] schenraume kann eine wesentliche Verände-
rung der Sitten in einem Volke Statt finden,
dessen Wirksamkeit einen so raschen Um-
schwung hat. — A priori läßt sie sich sogar
erwarten, und a posteriori möchte man aus
allerlei Auftritten in der neuesten Geschichte
sich davon versichert halten. — Bei einer
sehr genauen Untersuchung ließen sich un-
streitig auch einige Abweichungsgrade be-
stimmen, die vielleicht in der Folge mit
wachsender Geschwindigkeit zunehmen, und
wesentlichere Umwandelungen auf die Bahn
bringen können; allein für den allgemeinen
Eindruck ist gleichwohl der Zwischenraum,
den ich hier angegeben habe, noch zu unbe-
deutend, und England ist noch das alte,
wie seine Einwohner es emphatisch zu nen-
nen pflegen. Ich darf dieses mit desto grö-
ßerer Zuversicht sagen, da ich wirklich eine
merkliche Veränderung erwartet hatte, und
[71] mich in dieser Erwartung sehr getäuscht
finde. Ich bin so wenig fremd in London,
weder in Absicht auf die Phraseologie, noch
im Punkte der Lebensart und Sittenstim-
mung, daß diese Identität der erneuerten
Eindrücke mit den alten Vorstellungen mich
gewissermaßen in der Eigenschaft des Be-
obachters stört, indem mir das gewohnt und
alltäglich in der Erinnerung scheint, was
ich mit Rücksicht auf Dich, da Du nie in
England warst, als merkwürdig, und von
unserer Art zu leben verschieden, anzeich-
nen sollte. Um mit der Sprache anzufangen,
so ist es zwar gewiß, daß die Bücherspra-
che epigrammatischer geworden ist, und
daß auch im gemeinen Leben manche neue
Wörter, zumal in Beziehung auf Indien, in
Cours gekommen sind; allein die Ausspra-
che ist völlig unverändert, und die große
Masse der Redensarten, die Sprichwörter,
E 4
[72] die Benennungen der Dinge, bleiben die-
selben. Fast ein wenig höflicher, als sonst,
scheint mir der gemeine Mann zu sprechen,
wie er auch in Absicht auf fremde Kleider-
tracht, ausländische Sitten und Sprachen,
die sich seinen Sinnen auf den öffentlichen
Straßen darstellen, toleranter geworden ist.
Diese Ausbildung ist unstreitig eine Folge
der in England so allgemeinen Zeitungs-
lektüre, und ein Beweis für die Milde des
ächtenglischen Charakters, der am Ende der
Vernunft doch immer Gehör giebt, so laut
auch seine Vorurtheile, seine üblen Ge-
wohnheiten und seine Leidenschaften zu-
weilen dagegen reden.


Die Toleranz gegen die Ausländer, und
zumal die Franzosen, scheint auch mit ei-
nem größeren Umfange in Befolgung und
Nichtbefolgung der Moden, als ehedem, in
Verbindung zu stehen. So stark auch die
[73] Nachahmung wirkt, so sieht man doch un-
zählige Menschen in den Straßen, die sich
in ihrer Kleidung nicht irre machen lassen,
sondern ihren Rock noch so tragen, wie sie
ihn vor zwanzig Jahren zu tragen gewohnt
waren. Vielleicht ist auch die schnelle Suc-
cession der Moden schuld, daß sie nicht all-
gemein werden können, sondern sich bloß
auf die höheren Kreise der verfeinerten Ge-
sellschaft einschränken. Eine bekannte all-
gemeine Revolution in der Kleidung der
Mannspersonen, ist die Abschaffung des De-
gens, den man sonst überall zu sehen gewohnt
war, und jetzt nur noch bei Hofe sieht; die
allgemeine Einführung der kurzen Westen,
und jetzt die fast gänzliche Vertauschung
der dreieckigen gegen runde Hüte. Das Mi-
litair und die Officiere von der Flotte tragen
fast ganz allein ihre dreieckigen Uniform-
hüte. Kinder kleidet man noch, wie ehe-
E 5
[74] dem. Ihr rund geschnittenes, ins Gesicht
gekämmtes Haar, wird in der Welt Mode
bleiben, wo nur immer der Menschenver-
stand genug aufdämmert, um die Absurdität
einer koëffirten Diminutivfigur zu empfin-
den. Ganz junge Kinder, bis ins vierte Jahr,
erhalten aber hier noch immer keine Strüm-
pfe, obgleich das Klima augenscheinlich
diesen plötzlichen Übergang von Wärme zur
Kälte verbietet. Es ist aller Erfahrung zu-
wider, daß der menschliche Körper diese
Extreme zu gleicher Zeit ausstehen kann,
ohne eine größere oder geringere Zerrüt-
tung seiner Organisation zu erleiden. Von
der Blutwärme, die das Kind vor der Ge-
burt überall umschloß, ist der Übergang
zur Temperatur der atmosphärischen Luft
in England, zumal im Winter, so groß,
daß ich mich nicht wundern würde, wo-
fern künftige Physiologen in der plötzlichen
[75] Kälte, der man die zarte Organisation des
Kindes aussetzt, die erste Veranlassung zu
der in England so häufigen Gicht entdecken
sollten. Allein in diesen Theil der Erzie-
hung mischen sich die Ärzte; mithin die
Theorie, die Systemsucht, und die gelehrte
Rechthaberei. Gesunder Menschensinn läßt
sich in dieser Gesellschaft nicht antreffen.


Die gewöhnlichste Haube der Frauen-
zimmer hat einen ungeheuer breiten Strich,
und ist überhaupt so weitläuftig, daß ich
eher alles von ihr sagen und glauben möch-
te, als daß sie schön sei, und ziere. Die
vornehmste Frau und das gemeinste Mäd-
chen tragen diese Haube; mit dem Unter-
schiede, daß diese nie ohne dieselbe gese-
hen wird, da sie hingegen bei jener nur das
tiefste Negligé andeutet. Hohe Hüte von
Filz, von allen Farben: weiß, rosenroth,
braun, grün, himmelblau, und col de ca-
[76] nard
, — am meisten aber schwarz, mit ei-
nem runden schmalen Rand, und hohem
spitzer zulaufenden Kopf, einer Bandkokarde
oder einem Federbusch zuoberst, und einem
goldenen, oder seidenen, farbigen und mit
Gold gewirkten Bande unten, sind jetzt die all-
gemeine Tracht des Frauenzimmers, fast von
allen Ständen. Zum vollen Anzuge gehört
es aber noch jetzt, wie immer, daß man
ohne Hut erscheint; und in diesem Falle ist
eine sehr vollständige Frisur mit vielen
Locken im Toupet, und einem Bande oder
einer Agraffe von Juwelen im Haar, oder
eine hohe, sich vorn über thürmende, tur-
banähnliche Haube, der Putz, womit Junge
und Alte prangen. Die Hüte sind an Gestalt
völlig denen ähnlich, die man auf Rubens
und Vandyks Porträten bemerkt. Die Hau-
ben sind äußerst verunstaltend; und es fehlt
nicht viel, so werden sie den Fontangen ähn-
[77] lich seyn, die man in Ludwigs XIV. Zeiten
trug. — Viele, zumal junge Frauenzimmer,
gehen ungepudert; es ist indeß keine allge-
meine Mode, und am wenigsten zur vollen
Kleidung anwendbar. — Eine Art Negligé
ist es auch, wenn man vollständig frisirt ist,
statt der Haube aber nur ein kleines Küs-
sen oben auf dem Kopfe trägt, welches der
Haube eigentlich zum point d’appui dient,
und wie Vesta’s oder Cybelens Thurm aus-
sieht. Dabei trägt man noch immer die ekel-
haft großen Halstücher, so zusammengeschla-
gen, daß die obersten Falten mit dem Munde
in gleicher Höhe stehen, und es beinahe so
viel Kunst erfordert, einen Bissen, ohne das
Halsbollwerk zu beschmutzen, in den Mund
zu steuern, als mit Chinesischen Stäbchen
zu essen. Ein anderer Gräuel des hiesigen
Anzuges sind die Schnürbrüste, die so allge-
mein wie jemals getragen werden, und jetzt
[78] nur wegen der fürchterlich hohen Florbusen
eine Exkrescenz vor der Brust bilden, welche
wenigstens diesen zarten Theil vor Beschä-
digung sichert, aber zur Schönheit der weib-
lichen Figur nichts beiträgt. Poschen gehö-
ren nur zum vollen Anzuge. Sonst hängt
das Kleid so lang und schlank an den Schen-
keln hinunter, wie nur etwas [hängen] kann.
Große baumwollene Tücher tragen die mitt-
leren Stände, und Shawls, in Nottingham,
nach den Indischen verfertigt, die vornehme-
ren, gegen die kalte Luft. Diese Shawls wer-
den jetzt weit länger gemacht, als ehemals,
weil man sie, nachdem sie über die Brust
zusammengeschlagen worden sind, hinten
in einen Knoten schlägt, und die Zipfel wie
eine Schärpe herabhangen läßt. Große Flor-
tücher mit Blonden oder gehackten Spitzen
gehören zum vollen Anzuge, der sehr oft
aus Crepflor, oder überhaupt ganz weißen
[79] Zeugen besteht. Um die Taille schließt ein
elastischer Gürtel, den die Erfindsamkeit
der Englischen Putzhändler einen Cestus
nennt, mit einem Schlosse, oder nach der
neuesten Mode, drei Schleifen und brillantir-
ten Knöpfen von Stahl. Anstatt dieses Putzes
tragen viele Frauenzimmer eine zur Taille
passende ausgeschweifte Binde von seidenem
Stoff, und ein breit seidnes Band als Schärpe.
Unmöglich kann ich alle die eleganten oder
doch prätensionsvollen Negligés und Kara-
kos beschreiben, in denen die Petite-Mai-
tressen auf der Schaubühne, in den Logen,
und in Ranelagh und Vauxhall erscheinen.
Genug die unermüdete Anstrengung der Fa-
brikanten in Nottingham und Manchester
erfindet immer neue Stoffe, und die Mode-
händlerinnen geben sich die Tortur, um
nicht minder erfinderisch zu seyn, als ihre
Französischen Nachbarinnen.


[80]

Die Schuhe der Engländerinnen haben
das Besondere, daß die Absätze weiter nach
hinten stehen, als an unsern Französisch-
Deutschen Damenschuhen. Man trägt jetzt
zierliche Rosetten von Stahl darauf, die sehr
gut kleiden. Die Herren haben ihre Schnal-
len meistens mit Springfedern, so daß das
Herz von dem Theile der Schnalle, der bloß
für das Auge dient, gänzlich getrennt ist,
und nur an Einem Charnier, und dann
durch eine Feder, damit zusammen hängt.


Durchgehends bemerke ich, daß die Eng-
länder jetzt die Nägel ungeheuer lang wach-
sen lassen; am längsten und spitzigsten die,
welche in Ostindien gewesen sind, woher
auch die Mode augenscheinlich nach Europa
herüber gekommen ist. Man hat wenigstens
eben so vornehm scheinen wollen, als ein
vornehmer
[81] vornehmer Indier, dessen Nägel die Stelle
seines Stammbaums vertreten. Es ist aber
eine häßliche Mode, und ein wahres Em-
blem der Faulheit, da man mit solchen Kral-
len unmöglich irgend ein Geschäft verrich-
ten kann, das nur einige Anstrengung erfor-
dert. Aber auf dem Sofa zu sitzen und dem
lieben Himmel den Tag zu stehlen: dazu
sind sie ersonnen.


Erst um 10 Uhr fängt jetzt die Gesell-
schaft an, sich in Ranelagh einzufinden. Das
Coup d’oeil ist immer zauberisch. Die Verthei-
lung der Lichter gießt so etwas Festliches,
Heiteres umher, daß die trübste Seele dadurch
erhellet werden muß. Im Garten war mir
so wohl zu Muth; es war so dunkelblau der
Himmel, so niedlich das Blinkern der Lam-
III. Theil. F
[82] pen, so balsamisch erquickend der Duft von
unzähligen Eglantin-Rosenhecken, herbei-
gewehet von einem mildsäuselnden West;
die Töne des Orchesters in der Rotonde ver-
hallten dort so gedämpft; — es war der
erste ungetrübte Genuß, seitdem ich in
England bin.


Mendoza, der nur durch Verabredung
den Kampf mit Humphries als Sieger beste-
hen konnte, da ihm sonst Humphries in fünf
Minuten zu Grunde richten würde, — be-
gegnete neulich einem Bauerkerl, und schlug
ihn. Der Bauer nahm es übel, und wider-
stand. Er schlug ihn nochmals nieder, weil
er agiler, als der Bauer war. Hierauf ent-
schloß sich der Bauer zu einem ordentlichen
Kampf, zog seine Kleider aus, und drang
auf seinen Gegner dergestalt ein, daß diesem
[83] seine Geschwindigkeit nichts half, sondern
er eine gewaltige Tracht Schläge bekam.


Dr. Mayersbach, dieser Quacksalber, ist
wieder hier, wohnt in Red lion square, und
hat noch immer Zulauf wie ehedem. Er
war Postschreiber in —, und wußte nichts
von der Medecin; allein er associirte sich
mit einem gewissen Apothekergesellen, Na-
mens Koch, der die Hallischen Medikamente
zu bereiten gelernt hatte, und ward in Eng-
land durch Lord Baltimore’s Empfehlung
als Arzt bekannt. Durch die elendesten Kün-
ste erwarb er sich die Reputation, aus dem
Urin alle Krankheiten wissen zu können.
Ein Londoner Arzt, Dr. Lettsom, schickte
ihm etwas Urin von einer Kuh zu, worauf
er sogleich die Patientin für eine schwangere
Frau erklärte — wie er es von dem Bedien-
F 2
[84] ten des Doktors erfahren hatte. — Sein Zu-
lauf war unglaublich. Nachdem er sich ein
schönes Vermögen erworben hatte, ging er
nach Deutschland zurück. Jetzt ist er wie-
der da, und das liebe London läßt sich aufs
neue von ihm betrügen.


[85]

II.
Reise nach Windsor. Slough.


1.
Windsor.


Eine schöne Lage, eine herrliche Aussicht,
und immer nur die ewige Wiederholung
des Schönen und Herrlichen, die es einem
so begreiflich macht, daß der unvergeßli-
che Lessing sich die Langeweile so lebhaft
mit der allgenugsamen Existenz in Verbin-
dung denken konnte! Was ist es denn nun
mehr, daß ich von dem Dach des Gefangen-
thurms in Windsor zwölf Graßchaften die-
ses Feenreichs überschaute? — Der blaue
Strich da ist Bedfordshire; jener ist Sussex;
diese kleine Erhabenheit liegt in Kent; dort
neben Harrow könnte man an einem hellen
F 3
[86] Tage die Spitze der Paulskirche sehen! —
Ich sehe beinahe rings um den Horizont ei-
nen dunkelblauen Kreis, worin ich keine
Gegenstände mehr unterscheide; diesseits ist
alles ein herrlicher Wald von schönem,
dunkelgrünem Laube, mit lieblichen Gefil-
den von lichtem Grün durchwirkt. Zu mei-
nen Füßen windet sich die Themse, ein
wasserarmes, seichtes, schmales Flüßchen,
über ihre halbtrockenen Kieselbetten hin.
Jenseits, umringt von säulenförmigen Ul-
mengruppen, liegt das Gothische, klöster-
liche Eton, in dessen finstern Hallen die
Blüthe der Brittischen Jugend ihre erste Er-
ziehung erhält. Welch eine Erziehung! —
Ist es möglich, daß dieses eiserne Joch von
freigebornen Kindern getragen wird? Ich
meine nicht das Joch des Unterrichts und
der Disciplin; beide, so unzweckmäßig sie
sind, so mechanisch sie den Menschen ma-
[87] chen, lassen noch die Möglichkeit eines
unbefleckten Charakters übrig. Nein, ich
denke an die entsetzliche Tyrannei, welche
die älteren Buben hier über die späteren
Ankömmlinge ausübten. Dadurch gerathen
sie unwiederbringlich in einen Abgrund
von Niederträchtigkeit, aus welchem sie
nur, vermöge eines günstigen Schicksals,
sich zu tugendhaften Männern entwickeln;
oder sie müssen ungewöhnlich reiche An-
lage hineinbringen, um beim Selbstdenken
zu edlen, großen Vorstellungen zu kom-
men. — — Wohin gerathe ich? — Wind-
sors
hohe Thürme liegen unter mir, und
streben umsonst zu gleicher Höhe mit die-
sem, auf welchem ich stehe, hinan. Die Pri-
vatwohnung des königlichen Paars (Queen’s
Lodge
) mit dem Nebengebäude, welches
den zahlreichen Sprößlingen ihres gesegne-
ten Ehebettes gewidmet ist (Royal Nursery),
F 4
[88] einfach und rein auf seinen Rasenplätzen,
steht zwischen mir und dem dunklen Park,
der sich über den nahen Hügel hinwegzieht.
Hier senkt sich das kleine, nette Städtchen
Windsor am Rücken des Hügels gegen die
Themse hinab; und alles, alles lacht, grünt
und lebt um mich her.


Etwa hundert Stufen tiefer kam ich auf
die Terrasse des Schlosses. Eine auf dem
Hügel erbauete Mauer läuft weit über den
fernen Horizont hinaus; die ganze Gegend
liegt unter mir und ihr, und neben dem
schönen breiten Gange steigen nun die ho-
hen Mauern des Schlosses, wie ein Feen-
pallast, in die Lüfte.


Die Zimmer.

Das Bett der Königin ist schön mit Blu-
men gestickt. Eben so schöne und noch
schönere Blumenstickerei sieht man auf dem
Thron im Drawing-room.


[89]

Die alten Zimmer enthalten allerlei Ge-
mälde von wenig Werth. Die zwei neuen
Zimmer sind sehr geschmacklos bunt. Wests
Gemälde bleiben weit unter meiner Erwar-
tung. Nur zwei sind groß: die Schlachten
von Crecy und Poitiers; beide stellen den
Zeitpunkt nach geendigter Schlacht vor.
Sie haben hölzerne Pferde, und überhaupt
eine gewisse Steifigkeit, einen gänzlichen
Mangel an Haltung. Die Stiftung des Or-
dens ist auch ein großes Gemälde. Es sind
einige schöne Weiber in dem Gefolge der
Königin; allein das Ganze sieht aus, als
hätte der Künstler, um die Costümen der
Zeit anzubringen, eine Menge Manequins
gemalt. —


Die übrigen Stücke sind klein. Die
Schlacht bei Nevils-croß finde ich schlecht
erzählt. Das Pferd der Königin bäumt sich
so, daß sie wahrscheinlich, anstatt so ker-
F 5
[90] zengrade zu sitzen, herunter gefallen wäre.
Und ein Pferd ist es — daß Gott erbarme!
Hinter der Königin sieht man den Bischof
zu Pferde im Harnisch. Es giebt keine he-
terogenere Figur in der moralischen so wohl
als in der physischen Welt.


Die St. Georgs-Kapelle ist sehr schön.
Prächtige Fascikel von Gothischen Pfeilern
schießen auf in einer langen unabsehlichen
Reihe, und breiten oben ihre Arme umher,
dem schönen Gewölbe zur Stütze. Alles ist
neu aufgeputzt; die ganze Kapelle neu ge-
pflastert; auch die Orgel neu. — West hat
sich am Altar übertroffen. Es ist unstreitig
das Schönste, was er je malte. Sein Chri-
stus hat Leben, Geist und Ausdruck; großer
Adel, hoher Schwung, kühner Enthusias-
mus und erhabene Ruhe liegen in diesem
Kopfe. Johannes ist ein vollkommen glück-
licher Schwärmer, in der Demuth und Hin-
[91] gebung; Judas ein Meis[t]erstück von Größe
und Kraft, bei seiner Bosheit: schön ge-
dacht; edel mußte er seyn, wenn gleich
nicht rein. — Die übrigen interessiren
weniger.


Darüber, nach Wests Zeichnung, das
Fenster von Jarvis gemalt, die Auferste-
hung: ein weit größeres Werk, was die
Dimensionen betrifft; nur nicht so einfach
in Gedanken und Größe des Dichters, als
jenes, — doch immer mit vieler Beson-
nenheit gemalt. Man sieht, daß diese Ge-
genstände fähiger sind, diesen Künstler zu
begeistern, als profane Geschichte. Seine
Liebe für den König, sein vertrauter Um-
gang mit ihm, seine eigene Neigung viel-
leicht — und was sonst alles konnte zusam-
men wirken, um ihn für diese Scenen zu
begeistern, und seinen Vorstellungen unge-
wöhnliche Energie zu verleihen! In der
[92] Flämischen Schule sucht man umsonst nach
dem Edeln dieses Altarblattes. Es schadet
ihm indeß, wenn man in eben jenen Zim-
mern, die ich vorhin erwähnte, die hohe
Einfalt von Raphaels Cartons bewundert
hat. Ich mag diese Bilder nicht; sie sind
in Absicht des Gegenstandes zum Theil wi-
drig, wie der Tod des Ananias, wo Petrus
wirklich etwas vom Giftmischer hat, und
der andere mit dem Finger drohende Apo-
stel etwas vom gemeinen Pfaffen, — weil
allerdings die Sache ziemlich pfäffisch ist
— ferner die Heilung der Blinden und
Lahmen im Tempel, von deren ekelhaften
Gestalten ich noch jedesmal, so oft ich
diese Cartons (nun zum drittenmal, und
im Kupfer noch öfter) betrachte, den Kopf
abwenden mußte. — Ich sage: ich mag sie
nicht; allein ich bewundere sie wegen ei-
ner Kraft, die kein anderer Künstler er-
[93] reicht. Paulus, dem die Griechen in Klein-
Asien opfern, ist aber auch ein schönes
Bild; und Paulus, der den Athenern vom
unbekannten Gotte predigt, ist eine göttli-
che Figur. — Der Fischzug gehört zu den
minder edlen. —


[94]

2.
Slough. (Herschels Teleskop).


Das Herschelsche Teleskop sieht man von
weitem, wenn man hierher kommt, denn
das Gestell ist wenigstens so hoch, als der
Tubus lang ist, also 40 Fuß. Balken stre-
ben gegen Balken in entgegengesetzter Rich-
tung; und zwischen ihren Fugen bewegt sich
das Seherohr, dessen Durchmesser 4 Fuß
10 Zoll beträgt, von der wagrechten in die
senkrechte Lage mit der Leichtigkeit, daß
ein einziger Arm es heben und richten kann.
Man hat Musik in dem Teleskop gemacht.


Das ganze Gestell liegt auf einigen Krei-
sen von Steinplatten, und rollt, vermittelst
angebrachter Walzen, darüber hin.


Zwischen den Balken hängt noch zu je-
der Seite des Rohrs ein hölzernes Haus.
[95] Eins heißt: the Observatory; hier sitzt Miß
Herschel, und schreibt die Beobachtungen
ihres Bruders auf. Das andere, the Work-
house
, ist der Aufenthalt des Bedienten, der
die Bewegung des Instruments verrichtet,
und dazu, vermittelst eines 40 Fuß langen
Sprachrohrs, von seinem vor der Öffnung
des Tubus sitzenden Herrn die jedesmaligen
Befehle erhält. Eine Gallerie ist vorn vor
dieser Öffnung angebracht, und auf dersel-
ben ein Sitz für den Astronomen, welcher
nun zu unterst an der obern Öffnung des
Seherohrs mit seinem Okularglase die Ge-
genstände, die sich 40 Fuß tiefer in dem
großen Hohlspiegel zeigen, wieder auffaßt
und beobachtet. Die Gallerie mit dem Sitze
des Beobachters wird durch einen leichten
Mechanismus wagerecht erhalten.


Dies ganze Werk nun, welches mit den
zwei Hauschen, den Balken, und der
[96] Vorrichtung, um es den ganzen Kreis des
Horizonts beschreiben zu lassen, gegen
60000 Pfund wiegt, drehet ein Mensch,
ein schwächliches Frauenzimmer sogar, mit
einer Hand. Eine Scheibe mit Gradabthei-
lungen bestimmt dem Aufwärter, wie er
alles stellen soll; ein Quadrant, unten am
Rohr befestigt, und mit seiner Wasserwage
versehen, mißt die Grade der Höhe über dem
Horizont; Gegengewichte von Blei verur-
sachen, daß in jeder Höhe das Instrument
gleich leicht bewegt werden kann.


Der große Metallspiegel hat 4 Fuß 2 Zoll
im Durchmesser, und wiegt über 2000 Pfund.
Er ist in der Röhre mit einer Blechkappe
bedeckt, welche abgenommen, und hierauf
der Spiegel selbst mit Hülfe eines Krahns
ausgehoben werden kann, um von neuem
geputzt und poliert zu werden. Der vorige,
dessen Politur ich sah, ist nicht zerbrochen,
sondern
[97] sondern nur nicht concav genug geschliffen:
(ein Fehler, dem man noch abhelfen könnte)
er war aber nicht so schwer.


Es ist zum Erstaunen, welche Kunst und
wie viel Genie in den Erfindungen liegt,
die Bewegungen des Instruments nicht nur
möglich, sondern auch leicht zu machen,
und wie glücklich der vortreffliche Erfinder
alle Schwierigkeiten überwunden hat. Was
man bei einem gewöhnlichen Instrumente
mit eigner Hand bei dem Beobachten leicht
verrichten kann, das hält hier so schwer,
daß man daran beinahe verzweifeln möchte,
wenn nicht Herschels mechanisches Genie so
reich an Hülfsmitteln wäre. Man glaubt,
am Rande eines Zauberkreises zu stehen,
wenn man den Kieselgang an dem Cirkel von
Stein betritt, und die Walzen sieht, auf
denen sich von einer schwachen Hand 60000,
Pfund umschwingen lassen! Der Tubus
III. Theil. G
[98] selbst ist ganz mit Eisenblech überzogen,
eisengrau mit Oelfarbe angestrichen.


Bei kleinen Teleskopen hat man die Vor-
richtung oft gemacht, daß das ganze Dach
des Observatoriums, wo sie stehen (wie ich
bei dem kleinen Instrument in Oxford be-
merkte), umgedrehet werden kann, wo-
durch es denn möglich wird, in allen Ge-
genden des Himmels, durch die im Dache
befindliche Öffnung zu beobachten. Allein
ein Haus zu bauen, das ein Instrument von
40 Fuß Höhe in sich faßte, und Raum
für dessen Beweglichkeit gäbe, wäre nicht
leicht thunlich gewesen. Wie geschickt hat
der Künstler nicht dieser Unbequemlichkeit
abzuhelfen gewußt, indem er auf dem Ge-
stelle des Instruments selbst die nöthigen
Zimmer zur Beobachterswerkstatt anbrachte!
Er konnte nicht das Haus über dem Instru-
ment bewegen; wohlan! so versetzte er es
[99] auf das Instrument en miniature, und schob
es mit demselben herum.


Große eiserne Barren liegen am Ende der
Röhre unter dem Objektivspiegel oder Re-
flektor; und hier bewegt sich auch der Tu-
bus auf einer dicken eisernen Achse, die an
jedem Ende auf einer kleinen Walze ruhet.
Vermöge der eigenthümlichen Bewegung,
welche der Beobachter diesen Walzen mit-
theilen kann, ist er im Stande, ohne das Te-
leskop selbst durch den größern Mechanis-
mus fortrücken zu lassen, dem Rohr eine
kleine Bewegung seitwärts oder aufwärts
mitzutheilen, vermöge deren er ein Objekt
vier bis fünf Minuten verfolgen kann, ehe
er das Rohr stellen läßt. Dieser Vortheil ist
von unbeschreiblicher Wichtigkeit bei dem
Beobachten; denn das Stellen unterbricht
jedesmal die Beobachtung, hingegen diese
kleine unmerkliche Veränderung der Rich-
tung hindert nicht, daß man fort betrachte.


G 2
[100]

Das zwanzigfüßige Teleskop ward früher
als das vierzigfüßige aufgerichtet; und da
es dieselbe Vorrichtung, nur im Kleinen, er-
heischte, so gab es dem Erfinder die Abän-
derungen und Zusätze zu dem Mechanismus
des großen an die Hand. Ein zehnfüßiges,
welches wir ebenfalls sahen, soll sehr scharf
die Objekte darstellen. Ein ganz kleines
drittehalbfüßiges, womit Miß Herschel neu-
lich den Kometen entdeckte, ist sehr porta-
tiv; sie trägt es bald hier-, bald dorthin mit
sich herum, auf den Boden, in den Garten, —
und nennt es her little Sweeper, weil sie da-
mit den Himmel kehrt. Herschel nennt seine
Schwester: His little Comet-catcher. — Dr.
Herschel macht noch immer dergleichen Te-
leskope, unter andern jetzt ein siebenfüßiges
für den Herzog von Orleans. — Er läßt jetzt
vermöge eines Mechanismus das Schleifen des
Spiegels von zwei Arbeitern verrichten, wo-
zu er sonst zwanzig brauchte. So simplifi-
[101] ciren sich nach und nach die schwersten
Operationen! Er kann mit dem großen Te-
leskop nicht in den Mond sehen, weil dieser
ihn blendet und fast eben so wie die Sonne
Flimmern vor den Augen verursacht. Schon
im zwanzigfüßigen ist der Mond sehr blen-
dend, und länger als eilf Minuten hält man
es nicht aus. Saturns Ring bleibt schon im
zwanzigfüßigen immer sichtbar.


Die Bewegung des Teleskops geschieht
auf dem Durchmesser des Gestells, in gera-
der Linie, dergestalt, daß es bei einem
kleinen Winkel, den es mit dem Horizonte
macht, mit seiner Achse nahe an der Peri-
pherie des Gestelles liegt, hingegen dem
Centro näher rückt, so wie es sich in die
Höhe richtet.


G 3
[102]

3.
Richmond.


Richmond — fürwahr ein reicher Hügel!
von dessen Höhe, über dieses Gärtchen mit
weißen und rothen Rosen, mit Nelken über-
schüttet, und von weißem Geländer zierlich
eingefaßt, das Auge hinunter streift durch
das wilde blühende Rosen- und Holunder-
gebüsch; dann längs den hohen Wänden
von schlanken tausendförmigen Ulmen die
abgemäheten Wiesen, die duftenden Hen-
kegel besucht, und zwischen den mit Laub
umwundenen Stämmen die halbversteckten
Wohnungen erblickt, von deren Dächern
über die dunkeln Wipfel der bläuliche
Rauch hindampft. Höher jetzt und dichter,
mit immer üppigerem Schatten, reihen sich
[103] die Bäume mit mannichfaltigem Grün,
daß zwischen ihnen die fernen Wiesen
kaum wie zarte Linien erscheinen. Und
vor dem ganzen Hügel rechts her windet
sich die Themse mit ihren Inseln, und hier
und dort einem segelnden Kahn zwischen
grasreichen Weiden, hinab nach Pope’s
Häuschen, Twickenham; und an ihren grü-
nen Ufern, auf hervorspringenden Land-
spitzen, sehe ich durch die glatten reinen
Stämme der rund bewipfelten Baumgrup-
pen hin auf den smaragdfarbigen Sammet-
teppich, an dessen Rande sich aus dem Ge-
sträuch in mancherlei Lagen und Gestalten
die Hütten und Palläste glücklicher Bewoh-
ner — solcher, meine ich, die glücklich
seyn könnten — erheben. Dann verliert
sich das Auge in unabsehlichen Schatten
und Reihen über Reihen von palmenähnli-
chen Ulmen, bis an den heiligen Kreis, wo
G 4
[104] die blauumnebelten Hügel den Horizont
begränzen. — Daß es auch eben ein grauer
Tag seyn muß, der mich in dieses Reich-
thums Fülle nicht vollkommen schwelgen
läßt! Blickte wenigstens nur verstohlen die
Sonne aus den Wolken, liebäugelte mit
diesem Wasserspiegel, beleuchtete in blen-
dendem Glanze diese jenseits der Themse
so schön sich ausbreitende Ebene mit ihren
Bäumen und Heerden, und zöge dann die
dunkeln Schlagschatten über den Saum der
glühenden Landschaft! — —


[105]

III.
Reise in das Innere von England.


1.
Weg nach Birmingham.


Der Weg von London nach Bath wird am
häufigsten besucht; daher ist er allmählich
mit vielen Häusern von netter Bauart be-
setzt worden. Mehrere fanden hier Nah-
rung, baueten und meublirten sich nied-
lich; andere ahmten nach, bekamen Ge-
schmack an Gärtnerei, an zierlichem Ameu-
blement u. s. w.


Bath ist eine artige Stadt, und ganz von
Kalk (Free-stone) gebauet. Aspler-stone,
eine kompakte Art, kann mit einer Axt ge-
G 5
[106] brochen werden, härtet sich aber in der
Luft. Er wird von 20 bis 30 Meilen her-
geschafft; der gemeine Free-stone findet sich
auf der Stelle, wie auch Backsteinthon. Der
Sandstein (bläuliche), der zu Platten für
die Fußbänke gebraucht wird, bricht un-
ter dem Kalk (Free-stone), einem wahren
Hammit oder Rogenstein. Er ist sehr hart
und kompakt; doch läßt sich das Korn er-
kennen. Im Hammit sind hier und da sehr
schmale Spatklüfte, etwa ¼ Zoll breit. Die
Bauleute unterscheiden sehr die verschie-
denen Arten nach Dichtigkeit und Zusam-
menhang, wo der Mineralog nur geringe
Varietät sieht.


Der Luxus ist in Bath so groß, als in
London. Man rechnet 800 neu erbauete
Häuser, und Häuser, an denen noch ge-
bauet wird. Man lebt hier übrigens bloß
für Ergötzlichkeiten, nicht für Politik.


[107]

Miß Pulteney, eine Dame von zwanzig
tausend Pfund Einkünften, hat eine große
Besitzung, Laura-place, welche jetzt be-
bauet wird. Das Erdreich fing an nach-
zusinken von dem Absturze des Berges;
daher bauet man jetzt mit Faschinen, rammt
Pfähle ein, u. s. w., um zu verhindern,
daß die Häuser nicht in Gefahr kommen.


Der Weg von Bath nach Bristol ist hü-
geliger, als der bisherige. Wir fanden an
einem Orte in der Mauer eines Hauses
große cornua Ammonis befestigt.


Bristol ist ein häßlicher, schmutziger,
schlecht gebaueter Ort; hat aber eine sehr
schöne Lage an der Avon. Längs diesem
Flusse laufen die Quays eine ziemliche
Strecke hinabwärts; und hier liegen die
kleinen Fahrzeuge, deren jedoch keine
große Anzahl vorhanden zu seyn scheint.
Hier sind auch die Werfte, wo neue Schiffe
[108] erbauet, und alte ausgebessert werden.
Unter andern sah ich hier einen so genann-
ten dry Dock. Vermittelst einer Schleuse
wird bei der Fluth das auszubessernde Schiff
hineingelassen; dann läßt man das Wasser
ablaufen, und schließt die Schleuse, so daß
das Schiff auf dem Trockenen bleibt, und
die Zimmerleute überall bequem beikom-
men können. Die Seiten dieses Bassins
sind stufenweis ausgearbeitet, so daß man
von einer Stufe zur andern bis auf den Bo-
den hinab kommen kann.


Die Ebbe steigt und fällt hier in der
Avon sehr ansehnlich, ob sie gleich erst
mehrere Englische Meilen unterhalb der
Stadt ihre Mündung in den großen Severn-
fluß hat. Dort gehört die Fluth zu den
stärksten, die es in der bekannten Welt
giebt. — Es ist indeß sehr merkwürdig,
daß die weiten Mündungen der Englischen
[109] Flüsse mit ihrer inländischen Größe nicht
in Verhältniß stehen; denn nur wenige
Meilen hinaufwärts sind sie gemeiniglich
sehr unbedeutend, so z. B. die Themse bei
Maidenhead, die Severn bei Glocester, u.
s. f. — Eigentlich kann es also wohl von
ihnen heißen: sie ergießen sich in große
Meerbusen, die wegen ihrer Tiefe und
Weite der Schifffahrt viele Bequemlich-
keiten verschaffen.


Der Handel von Bristol ist bekanntlich
seit einigen Jahren sehr in Abnahme gera-
then, fast in dem Verhältnisse, wie der
von Liverpool gestiegen ist. Die Urſachen
dieses Verfalles liegen tiefer, als daß ich sie
hier entwickeln könnte. Vielleicht gehört
die unbequeme Einfahrt in die Rhede, Kings
road
, vielleicht auch die Emancipation von
Irland unter die wesentlichsten.


[110]

Wir übernachteten im white Lion, einem
elenden Wirthshause, wo wir indeß doch
eine Bristolsche Zeitung im Kaffeezimmer
fanden, wie denn nicht bloß diese, dem
Range nach zweite oder dritte Handelstadt
in England, sondern beinahe jedes kleine
Landstädtchen mit dieser Bequemlichkeit
versehen ist.


Den andern Morgen (8. Jun.) mußten
wir schon um halb vier Uhr heraus, und um
vier Uhr ging der Postwagen nach Bir-
mingham durch das schöne Glocestershire
ab. — Einige Meilen von Bristol, in der
Gegend von Stone, auf einer Anhöhe, zeigte
sich uns plötzlich der ganze schöne lang
ausgestreckte Meerbusen des Severnstroms,
der Sommerset und Glocestershire von dem
Fürstenthum Wales trennt. Dieser Pro-
spekt ist einer der reichsten in der Welt;
und wäre es nicht trübe auf den Hügeln
[111] und am Horizont gewesen, so müßten wir
hier einen Anblick ohne seines Gleichen
gehabt haben: denn schon bei allem
Nachtheiligen des bewölkten, halb in Ne-
bel geschleierten Morgens entzückte er uns.
Der Busen der Severn lag mehrere Deutsche
Meilen lang, so weit das Auge reichte, vor
uns da, und dehnte sich immer mehr aus,
wie er sich dem Ocean nahte. Die Berge
von Wales hüllten ihre Gipfel in die Wol-
ken; aber die niedere Gegend blieb sicht-
bar, und auf ihr leuchteten in Sonnenblik-
ken, welche verloren durch die Wolken
schlüpften, einzelne Thürme, Landhäuser
oder Städtchen. Das Wasser, wo es uns
am nächsten war, verlor sich hinter einem
schönbewachsenen Hügel, und kam wieder
jenseits desselben als ein schöner See zum
Vorschein. Der Rhein im Rheingau hat
nirgends diese Breite. Diesseits war der
[112] Vordersaum eine zauberische mit hellbe-
laubten Eschen bepflanzte Anhöhe, und ein
unendliches Thal, welches sich gegen den
Severn hin in eine Ebene verflächte, ausge-
legt in köstliche Wiesen, und umzäunt mit
lebendigen Hecken, und hoch emporstre-
benden Buchen, Ulmen und Eichen. Hät-
ten wir dazu die Verzierung des Lichts und
Schattens gehabt, so wäre dies der reizend-
ste Prospekt gewesen, den ich je gesehen.


Nun kamen wir durch das fette Gloce-
stershire, das wegen seiner Viehzucht und
wegen seiner Käse berühmt ist. Eine Frau
aus der hiesigen Gegend, die mit uns rei-
sete, zeigte uns mehrere Bauern von ihrer
Bekanntschaft, die an dem Wege wohnten
und vier-bis fünfhundert Pfund Sterling
an jährlichen Einkünften haben. Sie gehen
aber ganz bäurisch gekleidet, folgen ihrem
Vieh, und füttern es; ihre Weiber und
Töchter
[113] Töchter melken und machen Käse. Mancher
Bauerhof in dieser Gegend hat siebzig und
mehr Kühe, und in einer Familie von zehn
Kindern hält man nur eine Magd. Die
Wohnungen der Landleute in dieser Pro-
vinz haben ein schlechtes, vernachlässigtes
Ansehen, und sind mit ihrem Reichthum
in keinem Verhältniß. Mir ist es wahr-
scheinlich, daß Menschen, die sich bestän-
dig mit der Viehzucht beschäftigen, für die
Annehmlichkeit einer netten, reinlichen,
zierlich möblirten Wohnung wenig Sinn
haben können, weil sie bei ihrer unrein-
lichen Beschäftigung theils nicht darauf
verfallen, theils auch, wenn sie alle Be-
quemlichkeit hätten, sie nicht genießen,
ihrer nicht froh werden könnten, ohne ihr
Gewerbe zu vernachläßigen, und solcher-
gestalt in eine Lebensart überzugehen, die
von ihrer jetzigen Sparsamkeit das Wider-
III. Theil. H
[114] spiel wäre. Wo es einmal Sitte geworden
ist, den Vorzug eines Individuums vor dem
andern in der Zahl seiner Heerden zu su-
chen, da wird nicht mehr der Endzweck,
weshalb man überhaupt Viehzucht treibt,
nämlich froher bequemer Genuß des Le-
bens, im Auge behalten, sondern das Mit-
tel wird Zweck, und das Leben ist mehr
nicht als ein emsiges Bemühen, durch frü-
he und späte Anstrengung und karge Fru-
galität, jeden Sohn und jede Tochter mit
einer eben so großen Habe auszustatten,
als der Hausvater ursprünglich hatte. Mich
dünkt, diese Stimmung muß den Kreis der
Ideen verrengen, muß für den Kopf und das
Gefühl nachtheilig wirken, und, wo nicht
geradezu eine unmoralische Engherzigkeit,
doch eine üble Einseitigkeit im Denken zu-
wege bringen, die vielleicht auch hier wirk-
lich sichtbar genug ist. Ihr kann man es zu-
[115] schreiben, daß der Anbau dieser schönen
reichen Provinz so sehr vernachläßigt wird;
daß über das Bestreben reicher zu werden,
der Landmann die Vortheile einer neuen,
weisen, einträglichern Methode nicht ein-
sehen will, lieber bei seinem alten Her-
kommen hartnäckig bleibt, und es ja nicht
wagt, sein Vieh anders als er es bisher ge-
wohnt war, zu füttern, aus Furcht, der
Käse möchte schlechter ausfallen, oder was
der albernen Einwendungen mehr sind.
Wir sahen hier das schönste Rindvieh von
der Welt bis an den Bauch in Blumen auf
der Weide gehen, so daß einem Deutschen
Oekonomen, wie z. B. dem Edlen Herrn
vom Kleefehle, das Herz über diese Ver-
schwendung der Grundstücke geblutet hätte.
Bald möchte man glauben, daß auf dieser
Insel alles, auch selbst das Vieh, im Ge-
nusse schwelgen soll; denn sicherlich
H 2
[116] könnte man, bei einer zweckmäßig einge-
richteten Stallfütterung, von dem Ertrage
derselben Oberfläche zwanzigmal so viel
Kühe und Schafe ernähren, und der Land-
mann folglich zwanzigmal reicher seyn, als
er ist.


Mir scheint indeß in dieser Unvollkom-
menheit der Englischen Landwirthschaft
eine sehr glückliche Aussicht für die Zu-
kunft zu liegen. Der Umlauf der Begriffe
ist zu stark in diesem Lande, und die öko-
nomischen Schriftsteller schreien schon seit
funfzig Jahren zu laut über die Vorurtheile,
welche noch in diesem Fache der Engli-
schen Staatswirthschaft obwalten, als daß
man nicht, sobald die Veranlassung näher
gelegt wird, auch hier eine Veränderung
treffen sollte. Es kommt sicherlich ein
Zeitpunkt, wo man den Ackerbau und die
Viehzucht nach den Regeln einer gesunden
[117] Theorie einrichten, und in ein gehöriges
Gleichgewicht mit den Kräften der Natur in
diesem Lande bringen wird. Alsdann —
welch eine glückliche Aussicht für Eng-
land! — alsdann, wenn sein auswärtiger
Handel (der, nach dem unabänderlichen
Laufe der Dinge, einmal abnehmen und in
mehrere Hände vertheilt werden muß),
den Manufakturen keinen Absatz mehr dar-
bietet, — alsdann wird der Reichthum des
Landmannes und die Anzahl seiner Produkte
in dem Maße zugenommen haben, daß
er die Fabrikwaaren in einem ungleich
größeren Verhältnisse verbraucht, und Eng-
land wird in sich selbst, in seiner eignen
Unabhängigkeit, schöner aufblühen, als es
mit Hülfe seiner allumfassenden Schifffahrt
und seines auswärtigen Debits je blühte!


Die Wiesen in Glocestershire sind für
das Auge schön, was auch der Landwirth
H 3
[118] daran tadeln mag. Einen üppigeren Gras-
wuchs wird man nirgends sehen: nirgends
so schöne Abwechselung und Mannigfal-
tigkeit der Lagen, der Gestalt der Felder,
und der hohen, prachtvollen Bäume, die
sich um jedes Feld, mit lebendigen Hek-
ken verbunden, erheben. Hügel und Thal
sind mit dem anmuthigsten Grün bekleidet,
und man fährt zwischen zwei Gebirgsrei-
hen, der einen links jenseits der Severn,
der andern rechts in Worcestershire; beide
so schön und reich, als möglich. Gloce-
ster
selbst ist ein ärmlicher, unansehnli-
cher Ort. — Tewksbury, das Vaterland des
besten Englischen Senfs, ist, dem äußeren
Ansehen nach, schon etwas besser, und
Worcester ein sehr nettes Landstädtchen.
Die Gothischen alten Kirchen in diesen
Städten sehen sich sehr ähnlich; es sind
lange einfache Gebäude, aus deren Mitte
[119] sich ein viereckiger, Gothisch verzierter
Thurm erhebt. Das Landvolk spricht in
diesen Gegenden einen groben, indeß noch
ziemlich verständlichen Dialekt, und scheint
mir etwas bäurischer, als auf der westlichen
Route und um London zu seyn. Auch
herrschte in den Physiognomieen weniger
Schönheit, weniger Phantasie; besonders
dünkte mich der Mangel bei dem andern
Geschlechte auffallend sichtbar.


Nachdem wir in Worcester zu Mittage
gegessen hatten, kamen wir durch Droit-
wich
(wo beträchtliche Salzpfannen sind)
nach Bromsgrow, einem niedlichen Land-
städtchen, und von da über einen hohen
Bergrücken, mit einer unabsehbaren öden
Gemeintrift, — in Warwickshire und nach
Birmingham. Diesen letzten Theil der
Reise, von Droitwich an, hatten wir ein
junges Frauenzimmer zur Gefährtin, deren
H 4
[120] Anzug keine gemeine Herkunft, wenigstens
keinen Mangel verrieth, und die uns den
Wagen mit Wohlgerüchen aller Art er-
füllte. Sie war nicht uneben gebildet, und
nicht kokett, aber mit einer vornehmen An-
maßung reichlich begabt, die nur durch
ihre Liebe zur Konversation ein wenig ge-
zügelt werden konnte. Ich war boshaft ge-
nug, sobald ich es merkte, mit meinen
Worten äußerst sparsam zu seyn, ohne ins
Unhöfliche zu verfallen; und diese Sprö-
digkeit gelang so gut, daß die schöne Dame
wirklich ihr pretiöses Wesen um vieles
herunter stimmte, und ihre Reisegesell-
schafter wohl beinahe für Geschöpfe von
gleicher Natur mit sich selbst gelten ließ.
Es zeigte sich, daß sie wirklich sehr wohl
erzogen war, sehr viele Kenntnisse besaß,
und ihre Wißbegierde auf nützliche Gegen-
stände gerichtet hatte. Wunderbar, daß
[121] bei solchen Vorzügen ein so lächerlicher
Stolz sich in ihren Charakter mischen, und
ihr einen kalten Egoismus eingießen konn-
te, der die Menschen von ihr entfernen
mußte! Ich kann mir die Entstehung des-
selben indeß leicht erklären. Wenige Men-
schen wissen sich selbst Würde zu geben,
ohne den Anstrich von Kälte und Gering-
schätzung gegen Andere zu bekommen; und
in seiner Würde muß ja das Englische
Frauenzimmer sich behaupten, wenn es
auch darüber in die unerträglichste Prüde-
rie verfallen sollte. Unser Dämchen nahm
ihren Hut ab, warf ihn mit Würde, oder
doch mit dem Etwas, das hier Würde vor-
stellen sollte, vor sich hin auf den Sitz,
schüttelte ihre blonden Locken um sich her,
daß sie, wie Jupiters Haar, die Atmo-
sphäre mit Ambraduft erfüllten, und spielte
mit dem Kutschfenster, welches sie ohne
H 5
[122] Unterlaß bald aufzog, bald niederließ, um
ihre Alleinherrschaft im Wagen, die ihr
niemand streitig machte, zu behaupten.
Dann sprach sie von Bath, und versicherte:
es sei, ohne gute Gesellschaft, der lang-
weiligste Ort von der Welt; und im Som-
mer könne man es dort gar nicht aushalten.
Sie pries hierauf das Wetter, und den Weg
als zum Reiten vortrefflich, weil es ein
wenig geregnet und der Staub sich gelegt
hatte. Reiten mußte bekanntlich ein so
vornehmes Frauenzimmer! Einen jungen
Menschen, der ihr Begleiter war, entdeck-
ten wir erst bei dem Absteigen in Birming-
ham. Er hatte draußen auf der Kutsche ge-
sessen, kam aber jetzt zu uns ins Zimmer,
und trank mit seiner Schönen und uns einen
Thee, worauf wir Abschied nahmen, und
sie sich zu ihren Verwandten führen ließ.


Birmingham kündigt sich nicht sehr
vortheilhaft an. Es wimmelte zwar von
[123] Menschen auf den Straßen; allein sie sahen
alle so ungewaschen und zerlumpt aus, daß
wir wohl merkten, wir kämen in eine
große Fabrikenstadt. Die Straßen in eini-
gen Quartieren der Stadt sind enge, kothig,
und mit elenden Häusern bebauet, die den
armen Handwerkern und Tagelöhnern zum
Aufenthalte dienen. Mitten in der Stadt
sieht man indeß ansehnlichere Häuser und
schönere Straßen; unter andern giebt es
hier, wie in andern Städten Englands, vor-
treffliche Wirthshäuser. Ich bemerkte ins-
besondere die Shakspear-Tavern, ein statt-
liches Gebäude, wo äußere und innere Ele-
ganz vereinigt sind. Indeß fiel sie mir nicht
sowohl wegen dieser Eleganz, als wegen
ihrer Benennung auf. Wie schön, und in
welchem vortheilhaften Lichte, erscheint
nicht die allgemeine Kultur in diesem Lan-
de selbst darin, daß die großen Männer,
[124] die es hervorgebracht hat, auf diese Art mit
den Helden in eine Klasse gesetzt werden!
Wann wird man es sich wohl in Deutsch-
land einfallen lassen, einen Gasthof anzule-
gen, mit Lessings, Göthens, Schillers, Wie-
lands
Kopfe zum Schilde? — Dies ist ge-
wiß keine so gleichgültige Sache, wie man
denkt. Der Genius eines Volkes zeigt sich
auch in diesen Dingen. Die Phantasie der
Holländer erhebt sich nicht leicht über den
Gaaper (Maulaffen): ein Lieblingsschild, das
man auf allen Straßen sieht, und das einen
Kopf mit schrecklich weit aufgerissenem
Maule vorstellt. Das gekrönte Butterfaß
(t’ gekroonte botervat) und das goldene
A B C sind ebenfalls Beweise von Hollän-
discher Erfindungskraft. In England sieht
man Pope und Dryden, Ben Johnson, Shak-
speare
, u. s. f.


[125]

2.
Birmingham und Soho.


Birmingham am Rea liegt unter 52° 33′ N.
B., hundert sechzig Meilen von London, fast
in der Mitte von England, zwischen Lich-
field, Coventry und Worcester. Ungeach-
tet des Kohlendampfes und der metallischen
Ausdünstungen, ist Birmingham, selbst nach
den Aussprüchen des unglückweißagenden
Doktors Price, eine der gesundesten Städte
in England, da es einen trockenen Boden
hat, und auf Hügeln liegt, die vom Winde
bestrichen werden. Dabei sind die Arbeiter
nicht so zusammen gedrängt, wie in eini-
gen Deutschen Manufakturstädten, zum Bei-
spiel Aachen, Berlin und Schmalkalden,
wo einer dem andern die Luft vergiftet.
[126] Vor 1676 war Birmingham noch keine Mar-
ket town
, während daß Wolverhampton längst
dieses Privilegiums genoß. Im Jahre 1690
hatte es, nach der Anzahl der Gestorbenen
und Gebornen zu rechnen, kaum viertau-
send Einwohner; 1778 waren, nach Thom.
Hanson
, schon siebentausend zweihundert
Häuser, und zwei und vierzigtausend fünf
hundert und funfzig Einwohner. 1789 zählte
man gar sechzigtausend Einwohner und eilf-
tausend Häuser. Also hat die Bevölkerung
in einem Jahrhundert funfzehnmal zuge-
nommen. Birmingham hatte vor dem Jahre
1690 allerdings schon Manufakturen, aber nur
in groben Eisenarbeiten, Nägeln u. d. gl.
Gleich nach der Revolution stieg die Indu-
strie. Es wurden Gewehrfabriken angelegt.
Die Regierung ließ sich die Waffen für die
Armee aus Birmingham liefern, und gab
Verbote gegen Französische Metallwaaren.
[127] Nun wurden Knöpfe, Schnallen, Uhrketten
u. s. w. in England selbst verfertigt. Bir-
mingham und London wetteiferten in der
Fabrikation derselben. Aber die Hauptstadt,
in der das Geld immer wohlfeiler, und der
Arbeitslohn immer theurer wurde, mußte
bald weichen. In der Mitte dieses Jahrhun-
derts war noch kein Kaufmann in Birming-
ham, der direkte Verbindung mit dem Aus-
lande hatte. Die Londoner Negozianten
trieben den commerce d’entrepôt mit Bir-
minghamer Fabrikaten. Jetzt verschreiben
Russische und Spanische Kaufleute ihre Be-
dürfnisse unmittelbar aus Birmingham. Be-
quemere Ausfuhr durch Verbindung schiff-
barer Kanäle und Flüsse, ist für keine Art
der Manufakturen so nothwendig, als für
Metallfabriken, die eine Menge Brennmate-
rialien, und schwere, rohe, unverarbeitete
Waaren bedürfen...... Birmingham hat
[128] seit 1768 eine bequeme Ausfuhr nach allen
Meeren, welche die Insel umfließen. Die
Steinkohlen sind seit dem Abzuge des Old
Canal
(1786) nach den Kohlengruben von
Wednesbury beinahe um die Hälfte wohlfei-
ler geworden. Gegenwärtig (1790) kosten
112 Pfund nur 5 Penny. Die Kohlenschiffe
sind ungemein lang und schmal, die Kohlen
selbst mürbe und stark mit Adern von
Schwefelkies durchzogen. Die neu eröff-
nete Schifffahrt von Wednesbury nach Lon-
don hat auch Gelegenheit zu einem Absatze
jener Steinkohlen nach der Hauptstadt gege-
ben, wodurch die Newcastler gezwungen
sind, ihren Kohlenpreis zu erniedrigen. (Zu
einem ähnlichen Zwecke schlug der Berli-
nische Minister Heinitz einen Kanal im
Forste Schweidniz vor, um den großen Ma-
nufakturen eine wohlfeilere Feuerung zu
verschaffen). Der Old Canal wurde 1772
bis
[129] bis Autherley verlängert, wodurch eine Ver-
bindung mit der Savern, nach Shrewsbury,
Glocester und Bristol, und mit der Trent
nach Gainsborough, Hull und London, ent-
standen ist. Ein Arm dieses verlängerten
Kanals führt auch in die Grand Line, die
durch Staffordshire fließt, und nach Man-
chester und Liverpool geht. England hat den
natürlichen Vorzug, daß nicht etwa, wie in
Deutschland und selbst in Schottland, die
Abdachung nach einer Seite geht, sondern
daß es in der Mitte der Insel (Derbyshire)
am höchsten (nach Bilkington, ungefähr
1500 bis 2500 Fuß über die Meeresfläche)
erhoben ist. Daher laufen die Englischen
Flüsse nach allen Weltgegenden aus. Die
Kunst brauchte diese Ströme nur unter sich
zu verbinden, um England auch von innen
schiffbarer als alle anderen Europäischen
Staaten zu machen.


III. Theil. I
[130]

Noch scheint eine direktere Schifffahrt
nach London zu fehlen; aber auch dieser
Mangel wird durch den new Canal ersetzt,
der durch Tacely, Fishenwik, Tannworth,
Polesworth, Atherstone, Nuncaton und Co-
ventry nach Oxford, und von da durch die
Themse nach London führt.


Da Birmingham keine chartred privileges
hat, so schickt es auch keine Repräsentan-
ten ins Parlament. Daß 60,000 Menschen,
deren Wohl in so manchen auswärtigen po-
litischen Verhältnissen gegründet ist, und
die wiederum einen so wesentlichen Ein-
fluß auf den Reichthum Englands haben —
daß diese 60,000 keinen Antheil an den
öffentlichen Berathschlagungen nehmen dür-
fen, während daß die armseligen Einwoh-
ner von Oldborough über die Herrschaft
des Meeres entscheiden: dieses Recht, oder
Unrecht, ist weder in dem republikanischen
[131] System des Plato, noch in andern klugen
Träumereien neuerer Weisen gegründet.
Der Fehler einer ungleichen Repräsentation
ist der Englischen Verfassung zu oft vorge-
worfen, um ihn hier nochmals zu rügen.
Nur die triviale Widerlegung, „daß Eng-
land sich bei dieser Verfassung bisher wohl
befunden habe”, verdient eine eben so tri-
viale Antwort: daß jedes endliche Gute
kein höheres ausschließt, und daß es Un-
wissenheit verräth, Werke des Zufalls, wie
doch alle Regierungsformen der bekannten
Welt sind, für vollendete Werke mensch-
licher Überlegung zu halten. Der Verfasser
des present state of Birmingham hält den
Mangel der Repräsentation für einen der
größten Vorzüge dieser Manufakturstadt,
weil die Industrie der Arbeiter nie durch
Partheigeist und Elektionen gestört wird.
Nach einer gewissen Moral, die in allen
I 2
[132] Übeln einen Trost findet, mag dieses Rai-
sonnement sehr philosophisch seyn; auch
konnte ein Einwohner von Aachen, der
Deutsche Zunftideen nach England über-
trägt, dazu verleitet werden. Wie unbe-
trächtlich aber im Ganzen diese nach sieben
Jahren erst wiederkehrende Störung gegen
den schöneren, edleren Gewinn an inneren
Kräften ist, das kann nur der fühlen, den
eigene Erfahrung gelehrt hat, wie sehr die
Arbeit gewisser mechanischen Künste die
Seele stumpf läßt; wie streng auch in den
freiesten Ländern die Disciplin einer großen
Manufaktur ist, und wie sehr der durch
stete Nahrungssorgen gedrückte Geist es be-
darf, wenigstens periodisch erweckt, auf
größere Zwecke geleitet, und des wohlthä-
tigen Gefühls von seinem eigenen Werthe
kundig zu werden.


[133]

Soho, die kleine Manufakturstadt der
Herren Bolton, Watt und Fothergill, liegt
eine halbe Englische Meile von Birmingham
in einer angenehmen Gegend, die durch
Wasser und Hügel durchschnitten ist. Die
Gebäude sind nicht prächtig, weniger schön
als die Preußischen Seidenmanufakturen an
der Oder bei Frankfurt, aber auch nicht so
kleinlich als die Frankenthaler. Sie sind
solid, geräumig, wohl erleuchtet, und
ihrem Zwecke gemäß eingerichtet. An
tausend Menschen werden hier beschäftigt,
worunter viele Kinder, und zum Polieren
auch Weiber sind. Der wöchentliche Ge-
winn eines gemeinen Arbeiters ist im Durch-
schnitt ungefähr vierzehn Schilling bis eine
Guinee, folglich zwei- bis dreimal so groß
als in Deutschland: ein Satz, dessen Noth-
wendigkeit sich nach der hiesigen Wohl-
feilheit des Geldes, und der Theurung der
I 3
[134] Bedürfnisse gleichsam demonstriren läßt.
Das [Arbeitslohn] muß in den verschiedensten
Beschäftigungen der Menschen, sobald sie
von keiner besondern Geschicklichkeit ab-
hangen, gleich seyn. So weit ich es be-
rechnen konnte, pflegte es im nördlichen
Deutschland ungefähr sieben bis neun Gro-
schen täglich zu betragen. Sobald eine Art
der Arbeit vortheilhafter als die andere wird,
so zieht die Hoffnung größeren Gewinnstes
mehrere Menschen an, und durch die Con-
currenz der Arbeiter fällt unmittelbar darauf
der Lohn für die Arbeit. Das ist der natür-
liche Gang der Dinge. In despotischen Regie-
rungen, wo das Gesetz seinen einzigen Zweck,
Hindernisse zu entfernen, verfehlt, und da-
durch selbst Hindernisse verursacht, kann
ein Zweig der Industrie bisweilen gewinn-
reicher seyn, als der andere. Aber auch die-
ser Vorzug ist gewöhnlich nur momentan.


[135]

Um sich von den mannichfaltigen Be-
schäftigungen in Soho einen Begriff zu ma-
chen, muß man die Manufakturen als aus
zwei fast ganz abgesonderten Theilen beste-
hend, betrachten. Erstlich die Knopfma-
cherei. Diese Arbeit ist die einträglichste,
und ernährt den größten Theil der Fabri-
kanten. Das rohe Materiale, das Kupfer,
kommt aus Cornwall und aus den neuen un-
erschöpflichen Kupferwerken der Insel An-
glesey. Es wird durch Walzen und Streck-
werke zu Lamellen gezogen, und die ein-
zelnen Knöpfe, wie bei Stückelung der
Münzen, durch einen mit Schrauben und
Schwungeisen niedergedrückten scharfen
Stempel ausgeschlagen. Zu dem Glätten
des Randes sind einige Menschen bestimmt,
welche den ausgeschlagenen Knopf zwischen
zwei bewegliche Wellen spannen, und in-
dem sie — — — — — (Caetera desunt).


I 4
[136]

3.
Theater in Birmingham.


Es ist ein herrliches Ding um ein Theater
für Reisende, die den langen Abend an einem
fremden Orte, ohne Bekanntschaft, nicht
besser hinzubringen wissen. Wir waren
hier in diesem Falle; denn um 12 Uhr Mit-
ternacht sollten wir abreisen, und der ganze
Abend war noch vor uns. Zum Glück ward
heute das Theater hier eröffnet. Ein schö-
nes, mit vieler Zierlichkeit erbauetes Schau-
spielhaus, verkündigte von außen viel Un-
terhaltung. Wir gingen hinein, und fanden
ein sehr artiges Amphitheater, fast ein we-
nig zu viel mit Zierathen im Geschmack
von Wedgwoods terra cotta beladen, und
mit einem scheußlichen Plafond-Gemälde
[137] verunziert, wo Terpsichore in einer verzerr-
ten Stellung, mit einem Fuß in den Wol-
ken, tanzte, Thalia auf beiden Knieen, und
Melpomene, um sich leichter erstechen zu
können, auf dem Rücken lag, ein geschun-
dener Apoll, und eine Pallas Shakespeare’s
Brustbild en medaillon empor hielten, und
ein Schiff, der Himmel weiß woher und zu
welcher Absicht, in den Lüften segelte. —
Als der Vorhang in die Höhe ging, zählten
wir vierzehn Personen im Parterre; doch in
der Folge erschienen mehrere, und füllten
das Haus noch ziemlich. — Lange vorher
hatte sich indeß das Krethi und Plethi auf
der Gallerie des Privilegiums seine Unge-
duld zu äußern, bedient, und uns hatte der
Lärm von einer geringen Anzahl Menschen
lächerlich geschienen, da der von den Thea-
tern in London nur widrig ist. — Die Stücke,
womit man debütirte, waren nicht die
I 5
[138] glänzendsten des Englischen Theaters: the
Country girl
und the Romp; jenes ist eine
Farce in fünf Akten, dieses in einem Akt.
Eine Madam Davis aus Manchester spielte
die Rolle des unerzognen Landmädchens mit
außerordentlicher Kraft und einer uner-
schöpflichen Beweglichkeit; sie kam fast
nie aus dem Springen und Hüpfen, und
ihre Stimme hatte eben so viel Modulation,
als ihre Beine und Arme Schwung- und
Schnellkraft. Ein wenig chargirt waren
ihre Rollen allerdings; allein der Dichter
mochte einen Theil der Schuld haben. Von
den übrigen Schauspielern mag es hinrei-
chendes Lob seyn, zu sagen, daß sie mich
lebhaft an gewisse Truppen in Deutsch-
land erinnerten; zum erstenmal seitdem ich
Deutschland verließ!


[139]

4.
Leasowes.


Hoch in den Ulmenwipfeln sauste der
Wind, rauh und kühl streifte er an uns
vorüber, und die grauen Wolken von vie-
len Schattirungen jagten sich, stürzten sich
schnell über einander her, ließen Sonnen-
blicke durchfallen, und das Blau des Him-
mels zeigte sich von Zeit zu Zeit durch zer-
rißne Oeffnungen des Gewölkes. Da um-
fing uns ein dunkler Schattengang von aller-
lei Laubwerk. Noch saußte der Wind über
uns; aber er berührte uns nicht mehr: wir
vernahmen das sanfte Rieseln des Wald-
bachs, an dem unser Pfad sich hinschlän-
gelte, und stiegen an mancherlei Gebüschen
hinab in das Thal, bis wo sich der Bach zu
einem stillen Flüßchen sammelte und leise
dahin schlich im Gebüsche. Bald, zwi-
[140] schen den überhangenden Zweigen, öffnete
es sich in einen stillen Wasserspiegel, des-
sen Gränze man nicht übersah. — Wenige
Schritte brachten uns an den lieblichen See.
Hinter uns war ein schöner Grashügel,
vorn ein Dorfkirchthurm, und seitwärts
blökende Lämmer mit ihren Müttern. Hier
stürzte sich ein neues Gewässer ins Becken.


Eine Moosgrotte am Bach, der in unend-
lichen Kaskaden zwischen dem Gebüsch und
grünen Kräutern silbern herabfällt. Am
Sitze steht die Inschrift:
Gulielmo Shenstone
qui hujusce ruris amoenitates
nec cratas olim nec cocnitas
ingenio suo indagavit
litteris exornavit
moribus commendavit
sedem cum rivo
dedicat

E. M.

[141] Und gegenüber auf einer Anhöhe zwischen
Taxus und hohen Eichen eine schöne Urne:
Genio loci.
Weiter durch einen Kranz von Eichen,
Buchen und Weißpappeln, wand sich der
Pfad hinan um eine Waldwiese, längs den
Gränzen dieses Zaubergebiets, längs Hügeln
mit Acker, Weide und Schatten gekrönt,
bis wir an einen schönen Grashügel kamen,
wo, umringt von hohen Fichten, ein alter
Krug auf einem hölzernen Gestelle steht. —
Hier schwebte das Auge hin an die äußerste
Gränze des Horizonts, und ruhete zuerst auf
den Wrokin, dem fernen Gebirg’ im blauen
Nebelduft, und zog sich dann näher in die
durch einander kreuzenden Berge und Thäler.
Diese zeigten in unbeschreiblicher Man-
nichfaltigkeit ihre Zierde von hundertfältig
schattirtem Grün, und ihre stets abwech-
selnden Umzäunungen, ihre schönen For-
[142] men, ihre Waldungen, ihre hoch empor-
strebenden schwarzen Thurmspitzen, ihre
weißen von der Sonne beschienenen Kirch-
thürme, Windmühlen, große weit ausge-
breitete, in den Thälern ruhende Dörfer,
zerstreuete Wohnungen, und den unnenn-
baren Reichthum in ewig abgeänderter
Schönheit des Wuchses, der Gruppirung
und des Laubes emporstrebender Bäume.
Näher endlich unter unsern Füßen das
ganze liebe Dichterland, und große Hügel-
rücken prangend mit grünen Saaten, und
der Bach, der sich breit um den Hügel win-
det, von Erlen beschattet, die ihre Zweige
in das Wasser senken, und Reihen schlan-
ker, junger, leichtbewipfelter Eichbäume,
die den Umkreis in allerlei Richtungen
durchschneiden, und blühendes Gebüsch,
welches die Wohnung des Eigenthümers
halb versteckt.


[143]

Einige Schritte weiter öffnet sich eine
neue Aussicht. — Ein Sitz in einem Gothi-
schen offenen Kapellchen, zu beiden Seiten
mit hohen Eichbäumen, deren Äste sich
gatten. Zwischen ihnen geht die Aussicht
über eine beschränkte, aber nicht minder
schöne Gegend von großem Reichthum.


Bei einer weit ausgebreiteten Wiese, wo
man das Wasser im Gebüsche halb versteckt
sieht, giebt ein kleines Wäldchen rechts,
Lions walk, dichten Schatten. Das Wasser
bildet einen Teich, der sich an den Gipfeln
unter die Bäume zieht, und von mehreren
Seiten kleine rieselnde Zuflüsse aus den Ge-
büschen erhält. Unter den verflochtenen
Wurzeln einer schönen Buchengruppe, an
einem moosigen Felsen, läuft ein silbernes
Fädchen Wasser, und stürzt sich einige
Schuhe tief plätschernd hinab. Über die
Wurzeln der Bäume stiegen wir den Hügel
[144] hinan. Wie braust der Sturm, wie stürzt
der Regen hinab! Kaum schützen uns hier
die dichten Buchenschatten. Auf dem Sitze
steht:


Hîc latius otia fundit

Speluncae vivique lacus, hîc frigida Tempe

Mugitusque boum mollesque sub arbore somni.

Hilf Himmel, welch ein Guß! Dieser
dicht belaubte Gang schützt uns nicht mehr!
Dort seh ich ein Sacellum. Wir wollen die
Laren um Erlaubniß bitten, an ihrem
Heerde zu stehen. Es ist Pans Tempel.


Pan primus calamos cera conjungere plures.

Edocuit; Pan curat oves, oviumque magistros.

Auf dieser modernden Bank läßt es sich ru-
hen und verschnaufen, und den langen, lan-
gen geraden Pfad durchsehen, den wir so
schnell hierher durchlaufen sind. Hier kön-
nen wir uns trösten über die plötzliche
schneidende Kälte in diesen Irrgängen. Ist
es
[145] es doch, als paßten sich Ort und Wetter
und Benennung! Siehe da ein heller Sonnen-
blick! Wir eilen weiter.


Wir steigen herab an der Gränze, längs
Wiesen und Schatten, die sich weit hinter
den Wohnhäusern hin ziehen. Plötzlich ein
Wald! Ein Pfad windet sich schnell hinab
in die jähe Tiefe; unten rauscht kühner und
mächtiger der klarste Waldstrom dieses Or-
tes; ein schäumender Sturz über die dickbe-
mooste Felsenbank aus einer heiligen Grotte
mit Epheu bekleidet, mit Stechpalmen um-
wunden, schleunigt seinen Lauf; und im-
mer wieder stürzt die Welle mit neuer Ju-
gendkraft die Bahn der Zeit sich hinab.
Wer ist der Schutzgeist dieser Schatten?
wem spielt die Najade? wen verkündigt
diese feierliche Stille des Waldes? Ha! ein
Obelisk!


III. Theil. K
[146]

Genio P. Virgilii Maronis
lapis iste cum luco
sacer esto
.


Und ein Sitz!


Celeberrimo Poetae
Jacobo Thomson
frope fontis illi non fastidite
G. S.
Sedem hanc ornavit
.


Quae tibi, quae tali reddam pro carmine done?

Nam neque me tantum venientis sibilus austri,

Nec percussa juvant fluctu tam litora, nes quae

Saxosas inter decurrunt flumina valles.

Am Baum:


Sweet Najad in this crystal wave
Thy beauteous limbs with freedom lave,
By friendly shades encompast, fly
The rude approach of vulgar eye;
Yet grant the courteous and the kind
To trace thy footsteps unconfin’d,
[147] And grant the swain thy charms to see,
Who formd these friendly shades for thee
.
R. Dodsley.
()

Diesen wunderschönen Hügel krönt eine
Gruppe blühender, dickbelaubter Roßkasta-
nien. Wir müssen uns ihren heiligen Schat-
ten nahen. Wie? diese Schatten verbergen
einen Tempel? Umhüllt mit blühendem
Geisblatt, umpflanzt mit Kiefern und Tan-
nen, steht hier eine alte Abtei in Gothi-
schem Geschmack, deren Inneres zum
Wohnhaus einer alten Dienerschaft einge-
richtet ist. Ein Zimmerchen hat der Be-
sitzer für sich. —


K 2
[148]

5.
Hayleypark.


Dieser prächtige Landsitz ist jetzt das Ei-
genthum des Lords Westcote, eines Bruders
von dem berühmten Lord George Lyttelton
der die Anlage machte. Es hält schwer,
ihn mit den lieblichen Leasowes zu verglei-
chen; denn er ist in einem ganz andern Styl,
und mußte es nach seiner Bestimmung, zum
Aufenthalt der Dannhirsche, auch seyn. —
Hier ist alles festlicher, geputzter, weit-
läuftiger, als in den Leasowes. Um das
Wohnhaus des Lords (Hall) zieht sich ein
sammetweicher Grasplatz (Lawn) weit hin-
auf an den Hügel, hier und dort durch ein-
zelne Gruppen von Buchen mit üppigem
Wuchs, von Laube strotzend, verziert. —
[149] In der Ferne auf einem hohen mit Gras
bedeckten Berge steht ein prächtiger Obe-
lisk, der in der ganzen Gegend sichtbar ist.
Die Bäume im Walde stehen weitläuftig
gepflanzt, und sind alle vom stolzesten
Wuchse; königlich streben sie empor, ragen
an den Gehängen der Hügel stufenweis
über einander hinaus, und bilden gleichsam
Wolken von grünem Laube, welche in
unaussprechlicher Fülle über dem grünen
Rasen sich thürmen. — Das Gras zwischen
ihnen ist so sammetweich, als auf den
Wiesen um das Haus, und mit Waldkräu-
tern fast ganz unvermischt: das schönste
Futter für die niedlichen Dannhirsche, die
hier mit ihrem bunten Fell, ihren muntern
Köpfchen, schlanken Körpern und schlanke-
ren schnellen Füßen in Heerden von meh-
rern Hunderten den Fremden ganz nahe
kommen lassen, ehe sie sich in leichten
K 3
[150] Sprüngen, als flögen sie dahin, von ihm
entfernen. — Dieses festliche geputzte An-
sehen giebt mir einen Vergleich an die
Hand, den ich nicht vergessen will. Die
Leasowes fand ich in einem reitzenden Ne-
gligé, wie eine Schöne, die ihrer natürli-
chen Grazie mit kaum merkbarer Kunst Ein-
heit zu geben, und Blick und Gedanken auf
sie beständig zurückzuführen weiß. Bei
Hayleypark fiel mir der Herr Ceremonien-
meister in Bath wieder ein, der eine statt-
liche, wohlgewachsene Dame vom Lande
in ein schweres Full-dreß Atlaskleid vom
schönsten Gewebe und Dessein wohl ein-
gepackt hat, und sie mit aller ihrer Herr-
lichkeit steif da sitzen und keuchen läßt. —
Noch ein anderer Vergleich — denn eine
Idee giebt die andere — läßt sich aus der
Dichtkunst hernehmen, weil hier doch von
Dichtern die Rede ist. Hayleypark ähnelt
[151] einer modernen Pindarischen Ode mit ihrer
gemessenen Zahl von Strophen, Antistro-
phen und Epoden, die weiter nichts als
diese Abtheilungen und der hochtrabende
Gang ihrer Verse zu einem Gedichte machen;
die Leasowes sind die schöne ungekünstelte
Ergießung des kühnen Dichtergenies in
einem glücklichen Augenblick. Jeder Schul-
meister in einer Lateinischen Schule weiß
ein Recept, nach welchem man eine Ode
verfertigen kann; und in der That sind die
Ingredienzien, bis auf das Eine, das Genie
des Dichters, überall zu haben. Eben so
läßt sich von jedem Gärtner lernen, daß zu
einem schönen Englischen Park Bäume und
blühendes Gebüsch, rieselnde Waldbäche,
schlängelnde Pfade, Tempelchen, Moos-
sitze, Inschriften, Denksäulen, Begräbniß-
urnen, und, so Gott will, auch Ruinen, ge-
hören. Dies alles findet man denn in so
K 4
[152] manchem Garten in England, wie in so
manchem auf dem festen Lande, der im
Englischen Geschmacke seyn soll. Allein,
daß dies Alles auch ein Ganzes bilden sollte,
daran wird selten gedacht; weil man sicher
glaubt, diese Absicht werde schon durch
die Hecke, die das Grundstück vom nach-
barlichen Gebiete trennt, vollkommen er-
reicht. Was ich hier sage, soll dem guten
Lord Lyttelton zu keinem Vorwurfe gerei-
chen. Friede sey mit seiner Asche! Nemo
dat quod non habet
. — Aber jetzt können
wir wohl sagen, was uns besser gefällt, so
wie er es sich selbst herausnehmen konnte,
seinen Freund Alexander Pope den elegan-
testen, lieblichsten Englischen Dichter, den
angenehmsten Lehrer der Weisheit, und
wer weiß was alles, zu nennen. — Ich
finde in seiner Anlage nicht die Einheit,
die einen Zauber durch das Ganze haucht;
[153] wohl aber einzelne schöne Partieen, die,
wenn sie schicklicher an ihrem Orte wären,
wirklich Effekt haben, und entzücken wür-
den. So z. B. ist die Urne zu Pope’ns An-
denken, die am Pfade steht, schön und in
herrlichem Geschmack. Allein warum just
dort? fragt man immer, und fragt umsonst.
Liegt er etwa dort begraben, oder ward er
dort erschlagen? Denn sonst hat die Stelle
schlechterdings nichts Auszeichnendes, nichts
das auf den elegantissimum dulcissimumque
poëtam
hindeutete. — Die Grotte des Ere-
miten, mit der schönen Stelle aus Milton’s
Penseroso
, sollte in tiefes heiliges Dunkel
vergraben seyn, um die Schwermuth zu
bezeichnen, die der herrschende Gedanke
ist. Statt dessen steht sie an einem Orte,
wo man aus dem Park ins freie Feld geht. —
Die Inschrift: Omnia vanitas, findet man in
einem Häuschen, welches in einer ganz
K 5
[154] beschränkten Gegend steht. Vielleicht wäre
sie an dem schönen Thurm, wo man die
halbe Welt überschaut, weit treffender ge-
wesen. — Dieser Thurm ist in der That
das Schönste im ganzen Garten. Er ist sehr
hoch und auf einer Seite mit Epheu höchst
malerisch bekleidet; es hängt mit dicht
verflochtenen Zweigen wie ein Pelzman-
tel daran herab, und übersteigt seine
höchsten Zinnen. Oben hat man eine Aus-
sicht, deren Umfang wie ihr Reichthum
unermeßlich ist. Die Mawbernhills in Wor-
cestershire, die Blackmountains in Südwa-
les, Radnorthump in Radnorshire, dreißig
Englische Meilen entfernt, die Haberleyhills
in Worcestershire, die Cleehills und der
Wrekin in Shropshire, endlich Dudley
und Rowley liegen alle umher; und ein un-
endlicher Garten Gottes zu den Füßen des
Wanderers, der auf dieser Warte schaut,
[155] streckt sich weit und breit bis hin an jene
Gebirge. Eine Rotonda, eine Säule, auf
welcher eine Statue zu Fuß des verstorbe-
nen Prinzen von Wales steht, ein bedeckter
Sitz Thomson zu Ehren, eine Kaskade, die
zwischen überhangenden Wipfeln der Bäu-
me in ein Becken stürzt, sind liebliche Par-
tieen dieses großen Lustgartens, den auch
ein gutes anmaßungsloses, und gleichwohl
der Würde des Besitzers angemessenes
Wohnhaus ziert. Ein Leichenhof ist in
diesem Garten angebracht; doch auch der
steht nicht an seiner Stelle: die Idee ist
nicht eingeleitet, nicht vorbereitet. Ein
schönes Pfarrhaus, wie eine Kirche in Go-
thischem Geschmack, außerhalb des Parkes,
doch daran stoßend und damit zusammen-
hangend, macht ebenfalls eine angenehme
Verzierung. Das häufigere Wasser in den
Leasowes ist dort auch besser benutzt
[156] worden, so wie die tieferen Gründe zwi-
schen den Bergen vieles zur natürlichen
Schönheit dieses Lieblingsplätzchens bei-
tragen, was man daher von Hayley nicht
einmal fordern kann.


[157]

6.
Reise von Birmingham nach Derby.


Um 12 Uhr Mitternacht, den 12. Junius,
reisten wir in der Manchesterkutsche mit
vier andern Passagieren ab. Es ward schon
um 2 Uhr hell. Um 6 Uhr, Morgens, kamen
wir in dem kleinen Städtchen Uttoxeter an,
welches aber Utcheter, oder auch wohl
Hutcheter ausgesprochen wird. Zwischen
diesem Orte und Cheadle vermehrte sich die
Kutschgesellschaft bis zu dreizehn Personen,
indem fünf auf der Kutschimperiale, und
einer neben dem Kutscher auf dem Bocke
saß. In Cheadle, einem kleinen Orte,
frühstückten wir. Es brechen daselbst Stein-
kohlen, deren es überhaupt in Staffordshire
einen großen Überfluß giebt. Auch ist da-
[158] selbst eine Schmelzhütte, wo Garkupfer
gesotten wird, und eine Messingdrath-Fa-
brik. Zwischen diesem Orte und Litchfield,
im Dorfe Taue, ist eine große Manufaktur
von Linnenband (tape). Mitleid und ein
wenig ausländische Artigkeit gegen ein
Frauenzimmer, das weder schön, noch ein-
nehmend war, bewogen mich hier, ihr
meinen Platz im Wagen einzuräumen, und
bis Leake, zehn Englische Meilen weit,
oben auf der Imperiale zu sitzen. Dieser
Sitz ist im Sommer bei gutem Wetter, we-
gen der freien Luft und der freien Aussicht,
so angenehm, daß kein Mensch im Wagen
würde sitzen wollen, wenn man Sorge
trüge, die Sitze draußen so bequem einzu-
richten, als es mit leichter Mühe geschehen
könnte. Geflissentlich läßt man also diese
Sitze sehr ungemächlich; und ich fand sie
so in dem Grade, daß ich es mir nicht leicht
[159] anders als aus Noth werde gefallen lassen,
je wieder draußen Platz zu nehmen. Man
sitzt zwar auf dem Kutschkasten erträglich,
aber sehr hart, und hält sich an einem krum-
men Eisen, das wie ein Geländer am Rande
befestigt ist; die Füße aber muß man gegen
einen festen Punkt am Kutschbock stemmen,
welches dem ganzen Körper eine sehr hef-
tige Erschütterung mittheilt. Man sitzt kei-
nen Augenblick fest, und, so bald man den
eisernen Griff losläßt, keinen Augenblick
sicher. Nie sitzt man bequem, und daher
kann man kaum fünf Minuten in einerlei
Stellung aushalten. Kurz, ich weiß nur die
Pein eines Deutschen Postwagens, die damit
zu vergleichen wäre. Die zehn Meilen wur-
den jedoch überstanden, und die Aussicht auf
die Vorberge von Derbyshire entschädigte
und zerstreuete mich. Die schöne reiche Ge-
gendvon Staffordshire fing an, hinter Cheadle
[160] allmählich zu verschwinden. Wir fuhren
bergan, und sichtbarlich ward alles Laub-
holz und alles Gesträuch krüppelhafter um
uns her; es zeigten sich große Heiden,
Sandsteinfelsen, und einzelne darauf umher
irrende Schafe, mit ihrem Pelz in Lappen
herabhangend. — In Leak, einem kleinen
wohlgebaueten Landstädtchen, dem seine
Manufakturen von gesponnenen Knöpfen
und Bändern viel Aktivität geben, setzten
wir uns in eine Postchaise, und fuhren nach
Buxton. Gleich Anfangs ging es in einem
fort bergan. Hecken von lebendigem Ge-
sträuch hatten wir schon eine geraume
Strecke Weges nicht gesehen; alle Befriedi-
gungen und Abmarkungen des Eigenthums
bestanden aus Mauern von lockern, bloß
auf einander gepackten Steinen. Die ganze
Gegend ward öde und traurig um uns her;
die Bäume verschwanden ganz und gar, und
die
[161] die Oberfläche der Felsen war mit der ver-
dorrten Heide des vorigen Jahres, in großen
schwarzen Flecken, und dazwischen mit
groben Gräsern bewachsen. Der röthlich
graue Sandsteinfels, aus welchem das hie-
sige Gebirge besteht, ist ziemlich grobkör-
nig, und nicht allzufest von Gefüge, we-
nigstens an den Orten, wo er zu Tage aus-
steht und der Verwitterung ausgesetzt ist.
In ein Paar Stückchen dieses Sandsteins
wurden wir kleine Bläschen Bleiglanz ge-
wahr. Er bildet hier sehr hohe und breite
Bergrücken, zwischen denen an einigen Or-
ten ein nicht minder hohes Kalkgebirge ru-
het. Die Kühlung der Luft, und der Zu-
stand des Pflanzenwachsthums, ließen uns
auf eine sehr ansehnliche Höhe dieser Sand-
steinberge schließen, und unser ununterbro-
chenes Berganfahren scheint die Sache außer.
Zweifel zu setzen. Etwa vier Englische
III. Theil. L
[162] Meilen von Leak, an einem Orte, der,
glaub’ ich, Upper Hulme heißt, stellte sich
uns einer der bewundernswürdigen An-
blicke dar, die man nur in hohen Gebirgs-
gegenden sehen kann. Das Sandsteinge-
birge zog sich hier als ein hoher Kamm
von Mitternacht nach Mittag herab; drei
bis vier hoch aufgethürmte, bogenförmige,
aber wie Messerrücken zusammengedrückte
Gipfel standen furchtbar in einer Reihe da,
und hoben ihre nackten, schwarzen, zer-
klüfteten Häupter in malerischen Formen
der Zerstörung empor. Es waren so wohl
wagrechte, etwas in die Teufe streichende
Ablosungen, als senkrechte Spalten der
Verwitterung an ihnen sichtbar, so daß
der Fels, bald schiefrig, bald säulenähnlich
zertrümmert, sich aus einander gab. Auf
einander ruhende Gelenke von Felsen, von
ungeheurer Größe; Zacken oder Zinken,
[163] die in schräger Richtung spitzig und kühn
hinaufliefen, und leicht fünfzig Fuß lang
seyn mochten; überhangende Gewölbe von
moderndem Stein, die den Einsturz droh-
ten, und unter deren Obdach alle andere
Gegenstände vor Kleinheit verschwanden;
abgerissene, hinunter gestürzte Felsmassen,
die in ihrem Fall einen Pallast zerschmet-
tert hätten, und rings umher eine Saat von
kleineren und größeren Steinen, die nicht
von der belebenden Hand Deukalions und
Pyrrhens geworfen, sondern von dem Ge-
nius der Unfruchtbarkeit und der Zwie-
tracht, oder im Titanenkriege, herabge-
schleudert schienen. Die herausstehenden
schroffen Spitzen und Trümmer dieser Fel-
senkämme sind insgesammt nach Morgen
gerichtet; gegen Abend hin verliert sich
der Fels unter einer sumpfigen Decke von
Torf, die an einigen anderen Stellen des
L 2
[164] Sandsteingebirges nur wenige Fuß dick ist,
aber dennoch gestochen und zum Nutzen
verwendet wird. Es ließe sich also muth-
maßen, daß entweder plötzliche Revolu-
tionen, oder allmähliches Anspühlen der
Regengüsse, die von Morgen her kommen,
hier das Phänomen, wovon wir eben spra-
chen, hervorgebracht haben müsse. Schreck-
licher Zeitpunkt, den man ohne Schauder
nicht denken kann! Wie sah es damals in
der Welt um die Sicherheit des Menschen-
geschlechtes aus, als die Berge sich wälz-
ten aus ihrer Stätte! — Ich stieg auf einen
der höchsten hinaus ragenden Punkte dieses
Gebirges. Die höchste Gegend umher war
weit und breit in die Farben der erstorbenen
Natur gekleidet; die Thäler und niedrige-
ren Bergrücken prangten noch mit grünen-
den Wiesen, aber ohne die schöne Zierde
der Baume, und überall mit todten Stein-
[165] mauern, wie mit Lavagüssen, umzäunt.
Von den Kalkbergen, die sich durch ein leb-
hafteres Grün und hervorstehende weiße
Felspunkte verriethen, dampften hier und
dort die Kalköfen. Näher um uns her wei-
deten einzeln etliche Schafe, die jetzt ihr
Winterkleid ablegten, und halb nackt, halb
bepelzt, die Lappen hinter sich her schlepp-
ten; zwischen dem Heidekraute, das noch
nicht wieder grünte, und dem häufigen har-
ten Moose, fanden sie einige Grashalme und
einige Futterkräuter. Fern wie das Auge
hier reichte, unaufgehalten durch die zu-
nächst umliegenden Berge, die insgesammt
niedriger sind, sahen wir nach allen Seiten
die langen Bergrücken reihen weis sich ein-
ander umgürten. Ihre Gehänge sind meh-
rentheils ziemlich gewölbt, und verflächen
sich gelinde in die geräumigen flachen Thä-
ler. Weit in Nordosten ragte die hohe
L 3
[166] Kuppe des Mam Tor bei Castleton über den
umliegenden Horizont. Unten rollte unser
Wagen einsam auf einem gebahnten Wege,
durch die unermeßliche Leere. Wir stie-
gen wieder hinab, und blickten mit Stau-
nen vom Fuß dieser hoch über unsern
Häuptern furchtbar hinaus schwebenden
Felsmassen nach ihren drohenden kühnen
Gipfeln und Zacken. Wie still, wie ruhig
ist alles in der Natur mitten unter die-
sen Schrecknissen! Tausendjähriges Moos
wächst auf den Spitzen des Gebirges, wohin
sich der verwegenste Fuß von Menschen
und Thieren nicht wagt. Die kleine Tor-
mentille, die Hyacinthe, das gelbe Veil-
chen, blühen zwischen den Klippen, die,
von dem Gipfel abgerissen, einst donnernd
hinunterstürzten. Das Vieh wandert fried-
lich und sicher über die Abgründe, und
schwebt gleichsam in der Luft auf einem
[167] morschen Gewölbe. Wir selbst, hier unter
der Wölbung, die jeden Augenblick zusam-
menstürzen und uns zerschmettern könnte,
standen sorglos, und verließen uns auf die
Baukunst der Natur; wir würden hier
Schutz gegen den Gewittersturm gesucht
haben, wenn er uns überrascht hätte.


Um 3 Uhr kamen wir endlich zu Buxton
an, und stiegen im White Hart ab, wo eben
die Gesellschaft zu Tische gehen wollte.
Es ist hier gewöhnlich — zum erstenmal
sah ich es in England — à table d’hôte zu
speisen. Die Gesellschaft bestand aus etwa
zwanzig Personen, Herren und Damen von
Stande, die hierher kommen, theils um wirk-
lich das Bad ihrer Gesundheit wegen zu
brauchen, theils um dem Todfeinde der
Reichen, der Langenweile, zu entfliehen,
die sie von Bath nach London, von Lon-
don nach Buxton, und von hier auf ihr Land-
L 4
[168] gut verfolgt, und wie eine Harpye unab-
lässig an ihnen zehrt. — Hier sind allerlei
Mittel dieses immer wieder wachsende Un-
geheuer zu tödten: öffentliche Zimmer,
öffentliche und Privatbäder, gemeinschaftli-
cher Tisch, ein Schauspielhaus, Karten,
Bälle, Promenaden, die Poolshöhle unter
der Erde, und eine öde, nackte Gegend,
welche die Anwesenden zu einiger Anstren-
gung nöthigt, um sich Unterhaltung zu er-
sinnen, und sie einander näher bringt, um
das gemeinschaftliche Bedürfniß zu befrie-
digen und dem gemeinschaftlichen Peiniger
mit vereinten Kräften Widerstand zu leisten.
Im Julius und August ist es hier am voll-
sten; dann giebt es hier mehrere Hundert
Badegäste. Auch jetzt wäre die Gesellschaft
schon zahlreicher, wenn das Parlament
nicht so lange Sitzungen hielte, wodurch
eine müßige Menge in London zurückge-
[169] halten wird, die sonst früher dieses Berg-
thal, Bristol und Tunbridgewells, Brigh-
ton, Margate, Harrowgate, Cheltenham und
noch einige andere Orte der Art, überschwem-
men. — Der Herzog von Devonshire, Eigen-
thümer der meisten Grundstücke in dieser
Gegend, hat vieles zur Verschönerung des
Ortes und für die Bequemlichkeit der Bade-
gäste gethan. Der Crescent, ein halb mond-
förmiges Gebäude von großer Eleganz,
welches lauter Arkaden, und oben eine
Reihe gereifelter Dorischer Pilaster hat,
enthält öffentliche und einzelne Bäder,
Affemblee-, Tanz- und Spielzimmer, und
Bequemlichkeiten aller Art. Dieses Ge-
bäude ist zwar nicht so groß wie der
Grescent in Bath, aber dem Endzwecke voll-
kommen angemessen, ob es gleich, wie die
meisten modernen Gebäude in England, in
den Verhältnissen gegen alle Regeln der
L 5
[170] Baukunst sündigt. Unweit dieses Gebäu-
des ist ein kleiner Spaziergang, von einigen
hundert Bäumen und Sträuchen angenehm
beschattet, und in der That desto angeneh-
mer, je öder die umliegende Gegend ist.
Etwas höher liegt ein kreisförmiges Ge-
bäude von großer Pracht, ebenfalls vom
Herzoge von Devonshire errichtet. Wer hätte,
nach den schönen Dorischen Säulen, die
rings um das erste Geschoß gehen, wohl
erwartet, daß dieses Gebäude die Bestim-
mung hat, den Pferden der Badegäste
(die etwa mit eignen Pferden herkommen)
einen Aufenthalt zu verschaffen! Es ist
hier Platz für 112 Pferde, und an zwei Sei-
ten geht in einem halben Viereck eine Wa-
genremise um den Stall, in gehöriger Ent-
fernung von dem Gebäude. Der Herzog
verpachtet diesen Stall und die Remisen an
einen Menschen, der wieder einzelne Stal-
[171] lungen vermiethet und zugleich eigne
Lehnpferde hält. Auf diese Art wird all-
mählich der Zeitpunkt herannahen, wo das
Kapital, welches der Bau kostete, sich er-
setzt, und alsdann reine Interessen abwirft.


Buxton liegt in einem von den flachen Thä-
lern des hiesigen Gebirges, und in einer trau-
rigen Gegend, wo man weit und breit,
außer dem angepflanzten Spaziergange, keine
Bäume sieht. Man geht über ein paar Fel-
der, die durch Mauern von auf einander
gelegten Steinen abgesondert sind, nach
dem Eingange einer Kalkhöhle, welche
Pool’s hole heißt. Drei alte Weiber stan-
den hier schon bereit, uns in den unterir-
dischen Schlund zu führen, gaben jedem
von uns ein Licht in die Hand, und gin-
gen selbst mit brennenden Lichtern vor
uns her. Ich dachte lebhaft an die Zauber-
schwestern im Makbeth; und die unterirdi-
[172] schen Stygischen Gewölbe, wohin sie uns
führten, waren wahrlich gemacht, um dieser
Idee ihren gehörigen Grad der Lebhaftig-
keit zu geben. Man kommt durch einen
engen, niedrigen Eingang in verschiedene
Höhlen, die sich bis 669 Yards in den Felsen
hinein winden, und an einigen Stellen eine
beträchtliche Höhe haben. Die berühmte
Baumannshöhle am Harz ist an Größe mit
dieser nicht zu vergleichen; hingegen hat
sie einen wesentlichen Vorzug in Absicht
des Sinters, den die Wasser darin absetzen.
Die dortigen Stalaktiten, auf hartem rothem
Marmor abgesetzt, sind schneeweiß; die
hiesigen überziehen einen groben, grauen,
dichten Kalkstein, und sind von einer
schmutzigen Farbe, ohne irgend etwas Aus-
zeichnendes an Gestalt: denn die vorgebli-
chen Aehnlichkeiten mit einer Schildkröte,
einer Speckseite, einem Löwen, einer Or-
[173] gel, einem Sattel, u. s. f., gehören zu den
Absurditäten, die man von unwissenden
Menschen zu hören gewohnt ist. — Wir
gingen, immer über Schutt und lockere
Steine, die von den durchhin strömenden
Fluthen irgendwo losgerissen, und in dem
Boden der Höhle zurückgelassen, oder auch
von oben hinabgestürzt waren, ungefähr
569 Yards tief hinein. Jenseits dieser Stelle
kann man noch bis an den Bauch im Wasser
100 Yards weiter gehen, wo die Höhle sich
schließt, oder wenigstens nicht weiter
gangbar ist. — Von oben träufelt es bestän-
dig in allen Theilen der Höhle; folglich ist
es auf dem Boden überall unbequem und
feucht zu gehen. Nicht fern vom Eingange
hat die Höhle einen Querschlag oder ein
doppeltes Gewölbe. Man geht durch das
höhere hinein, und kommt durch das un-
terste wieder heraus. Ein kleiner Bach rie-
[174] selt aus der Höhle hervor, und führt das
Wasser aus ihrem Hintergrunde ab. Es
giebt in derselben weder Petrefakte noch
Knochen; nur muß man sich nicht durch
die Sprache der hiesigen Führer irren lassen,
die den Sinter ein Petrefakt nennen, so wie
unsere Megären, oder eigentlich die Hekate
dieses Avernus selbst, nach der Analogie
des Wortes icicle (Eiszapfen), ein neues
Wort bildete, und die Stalaktiten watericles
nannte. Beim Austritt aus dem unterirdi-
schen Gange umringte uns eine Schaar von
Weibern und Kindern, die so ungestüm
bettelten, daß wir froh waren, mit dem
Verlust einiger Shillings von ihnen los-
zukommen.


Die angenehme Tischgesellschaft im
weißen Hirsch, konnte uns nicht verleiten,
die Nacht hier zuzubringen, zumal da wir
schlechthin gar keinen Bekannten unter
[175] diesen Herrschaften hatten, die doch den
Nationalcharakter durch einen Trunk Was-
ser in Buxton nicht, so wie die Griechi-
schen Helden und Halbgötter ihr Gedächt-
niß in einer Schale voll Lethe, ertränkt zu
haben schienen. Sobald wir uns also mit
einem Thee erfrischt hatten, den man in
der Regel fast in allen Englischen Wirths-
häusern vortrefflich und mit dem vortrefflich-
sten Rahm oder Sahne bekommt, fuhren wir
zwölf Englische Meilen weiter nach Castle-
ton
, dem Hauptsitze der sogenannten Wun-
der des Piks in Derbyshire. Ueber die An-
zahl dieser Wunder ist man nicht einig;
man zählt ihrer in Büchern sieben, weil
dies eine geheimnißvolle und wunder-
schwere Zahl ist, mithin der Wunder auch
im Pik nicht weniger seyn dürfen. Allein
die hiesigen Einwohner wissen nichts von
dieser mystischen Sieben, und bringen bald
[176] sechs bald nur fünf Wunder heraus: näm-
lich die drei unterirdischen Höhlen, Peak’s
hole, Eldenhole
und Poole’s hole; den Brun-
nen, der in Zeit von ein paar Stunden steigt
und fällt; und den höchsten Berg in dem
ganzen Gebirge, dem seine Wallisische oder
Kambrische Benennung Mam Tor, der Mut-
terberg, geblieben ist. Bei dieser Gelegen-
heit erinnert es sich am besten, daß das
hiesige Gebirge sehr uneigentlich den Na-
men eines Piks (Peak) trägt, indem hier
nirgends ein Spitzberg zu sehen ist, wel-
cher, wie die von Teneriffa, Piko, u. s. f.,
den mit diesem Worte insgemein ver-
knüpften Begriff erweckte. Allein ich ver-
muthe wohl, daß hier eine weit ältere und
allgemeinere Bedeutung des Wortes peaked
zum Grunde liegt, vermöge deren es alles
was hoch und steil ist, bezeichnen kann.
Das hiesige Gebirge ist gewissermaßen ein,
drei-
[177] dreitausend Fuß über die Meeresfläche er-
höhtes plateau, worin zwar Berge und
Thäler, aber gleichwohl keine sehr beträcht-
liche Unebenheiten bemerklich sind: eine
einzige hohe Gebirgsmasse, in mehrere klei-
nere auf ihrer Oberfläche ausgespühlt.


Wir kamen bei dem Lustwäldchen von
Buxton und hernach bei einigen in den
Dörfern angepflanzten Bäumen vorbei. Es
fiel äußerst auf, wie wenig die ganze Vege-
tation hier noch vorgerückt war. Die Bü-
chen, und etliche andere Bäume, insbeson-
dere aber die Eschen, kamen eben erst aus
ihren Knospen hervor. Dieser Baum erin-
nerte uns hier herum durchgehends, daß
der Frühling hier eben begönne. Der kalte
Wind und der kalte Gewitterregen gaben
ein bestätigendes Zeugniß. Unser Weg war
indeß noch immer ziemlich gebahnt, und
dicht vor Castleton zog er sich romantisch
III. Theil. M
[178] durch einen tiefen, tiefen Abgrund, wo
ungeheure Felsmauern zu beiden Seiten
furchtbar in der Höhe schwebten, und auf
der einen Seite des Weges einen hervor-
springenden Winkel bildeten, wo gegen-
über ein hineingehender war. Die unge-
heure Höhe dieser Riesenmanern, ihre ma-
lerische Gestalt, die Schafe die sich oben
am Rande sehen ließen, der abschüssige
Weg, den wir nur mit gehemmtem Rade
zurücklegen durften, und das eintretende
Dunkel des Abends machten diese Natur-
scene feierlich und eingreifend. Bald her-
nach langten wir zu Castleton an, und nah-
men unser Quartier im Castle-inn, wo wir
die beste Bedienung fanden, und nach einem
so ermüdenden Tagewerke die Nachtruhe
unser Hauptaugenmerk seyn ließen.


Den 13. Jun. Einen Tag wie den heuti-
gen in dem unbeständigen Klima dieses Ge-
[179] birges schenkt der Himmel den auserwähl-
testen Naturforschern nicht; allein wir sind
gute Kinder, und hatten schon längst einen
schönen Spieltag abverdient. Wenn Neu-
seeland, und das Feuerland, wenn die Eis-
felder des Südpols, und vor allem die Ebe-
nen von Taheiti mit den Lustgärten der
Freundschaftsinseln ihre Eindrücke in der
Einbildungskraft zurückgelassen haben: dann
muß der Tag schon reich an Wundern seyn,
der unvergeßlich genannt zu werden ver-
dient. Was ich heute sah, hab’ ich noch
nie gesehen. Dies ist zu wenig gesagt. Ich
will hinzusetzen, daß es alle meine Erwar-
tungen und Vorstellungen weit überstieg;
und auch dann spreche ich mehr zu meiner
eigenen Erinnerung, als zur Belehrung An-
derer, die nicht wissen können, was ich
zu erwarten oder mir vorzustellen ver-
mochte. Schon unser Erwachen war Ge-
M 2
[180] nuß der romantischen Gegend. Aus dem
kleinen Gärtchen unsers Gasthofes erblick-
ten wir längs dem Gipfel des steilen daran
stoßenden Berges, die ehrwürdigen Trüm-
mer einer uralten Burg. Eine Mauer mit
Überbleibseln von Thürmen an jeder Ecke,
erstreckte sich längs dem jähen Gehänge; in
der Mitte war sie eingestürzt, und über der
Öffnung hatte sich ein Hügel von Schutt
und Gräsern gebildet. Aus der Mitte des
innern Bezirkes hob sich ein schöner vier-
eckter Thurm, der einst mit Quadersteinen
ganz bekleidet gewesen war, jetzt aber von
unten hinaufwärts diese Bekleidung schon
verloren hatte, An jeder Ecke ging ein
zarter schlanker Pfeiler in die Höhe; über
ihm sprang die Mauer einen Stein dick wei-
ter hervor, und bildete ein etwas vorste-
hendes Viereck. Die Zinnen des Thurmes
waren eingestürzt; aus seinen zerrissenen
[181] Wänden sproßten Bäume und Pflanzen.
Epheu schlang sich üppig über seine Vor-
mauern und längs den Ritzen und Spalten.
Rechts öffnete sich hart an der Burgmauer
selbst ein tiefer weiter Schlund, dessen
senkrechter Absturz aus einer weißen Fel-
senwand bestand, auf welcher bogenförmig
ein Hügel sich wölbte; und längs dem
Rande desselben strebte malerisch ein schö-
ner Hain von Buchen, Eschen und Fichten
empor, und krönte mit seinen Schatten die
ganze Bogenlinie des hinabgleitenden Hü-
gels. In diesem Schlunde, dessen untere
Gegend der Schloßberg uns hier verdeckte,
sollten wir den Eingang zu der unermeß-
lichen Höhle des Piks antreffen.


M 3
[182]

7.
ΟΙΣ ΘΕΜΙΣ ΕΣΤΙ.
Castleton
.


Stille! heilige Stille umher! Auch ich bin
der Geweiheten einer, und spreche von der
unterirdischen Weihe, und schweige von
den unaussprechlichen Dingen. Ich war im
Reiche der Schatten, und durchwandelte die
Nacht des Erebus. Die stygischen Vögel
umflatterten mein Haupt mit furchtbarem
Gekrächz. Die Erde öffnete ihren Schooß,
und umfing mich. Felsen wölbten sich
über mir, und der Abgrund stürzte hinab
in schwindelnde jähe Tiefe, neben dem
engen schlüpfrigen Pfade. Ich sah die
furchtbaren Schwestern, mit allen Schrek-
ken der Hölle, mit Macht und Mißgestalt
[183] gerüstet, die Fäden des Lebens spinnen und
messen. Das Auge der Unterwelt liehen sie
einander, und hoben es hoch empor, um
mich zu schauen, — Parzen und Furien
zugleich. In Charons Nachen ausgestreckt,
schwamm ich unter dem tief hinabgesenk-
ten Felsengewölbe an das jenseitige Ufer
des schwarzen Kokytus. Ich ging durch
alle Elemente des stets sich wandelnden
Chaos. Ein Staubbach netzte mein Haupt.
Kalte Lüfte weheten mich an, und immer,
immer rauschte es neben mir und über mir
und unter mir, wie der Sturz der Wald-
bäche über den zerklüfteten Felsen. Meine
Lampe erlosch; ich versank in die ewige
Finsterniß des Tartarus. Mir war es, als
nähme mich ein Riese auf seine Schultern,
und trüge mich durch die gähnenden Schlün-
de. Plötzlich durchleuchtete ein Blitz die
schauerlichen Bogen des Felsens; ein kra-
M 4
[184] chender Donner betäubte mein Ohr; die
Gewölbe wankten hin und her, und zitter-
ten über mir, und dreimal kehrten die rol-
lenden Donner durch die Schneckengänge
des Gewölbes wieder. Da öffneten sich die
Grüfte in der Höhe, und helles erquicken-
des Licht strömte durch die schwarzen Hal-
len; siebenfach war das Licht, sieben glän-
zende Funken wie Sterne: und der Chor der
Wissenden stimmte nun an den hohen be-
lehrenden Hymnus. Mir ward die Schale
voll des schäumenden Göttertranks; ich ko-
stete vom Quelle des Lebens, und mein
Dankopfer floß den unterirdischen Mächten.
Neue Kraft durchströmte die Adern des Er-
matteten, und der Hierophant begann nun
die Weihe. —


Fünf Tage, nachdem Lady Craven in
die Höhle von Antiparos gestiegen war,
[185] kam Dr. Sibthorpe daselbst an. Sein Führer
erzählte ihm: die Lady habe beim Hinab-
steigen sehr gezittert; sobald sie aber in die
herrliche Grotte mit den wunderschönen
Stalaktiten gekommen sei, habe sich plötz-
lich eine so lebhafte Begeisterung ihrer be-
mächtigt, daß sie auf der Stelle die Feder
ergriffen, und ein Gedicht auf dieses ent-
zückende Schauspiel der Unterwelt verfer-
tigt habe. Ich kann mir einen sehr lebendigen
Begriff von diesem Uebergange aus einem
Extrem der Empfindung zum andern machen,
und physisch ist die Spannung die natür-
lichste Reaktion, die auf jene gewaltsame Er-
schlaffung der Furcht unausbleiblich folgen
muß. Daher sind die ärgsten Poltrons im-
mer so viel tapfrer, als andere Leute, sobald
die Gefahr überstanden ist.


M 5
[186]

8
Von Castleton bis Middleton.


Steil geht der Weg von Castleton in einem
Winkel von 38 Graden an dem Gehänge
eines noch weit steileren Berges hinauf.
Das schöne Thal von Castleton mit seinen
unzähligen Wiesen und Weiden, die doch
wieder durch lebendige Hecken begränzt
sind, hat in der Mitte einen lieblichen run-
den Hügel, rechts von dem kleinen Dörf-
chen Hope, und windet sich dann nach
Osten um den Berg, an der entgegengesetz-
ten Seite von hohen Sandsteinrücken umge-
ben. — Sobald man oben ist, sieht man das
ganze Kalkgebirge in einer erstaunlich gro-
ßen Ausdehnung flach vor sich liegen, und
wir fuhren gegen neun Englische Meilen
[187] auf dieser erhabenen Ebene, fast ohne eine
bedeutende Vertiefung anzutreffen. Die Ge-
birgszüge umher gingen sichtbarlich von
Abend nach Morgen; und wo wir schroff
emporstehende Wände sahen, waren es, so
viel wir aus der Farbe, und nach der Ana-
logie von Mam Tor schließen konnten,
Sandsteinmassen. — Die Gänge streichen
meistens in derselben Richtung von Abend
gegen Morgen, und setzen, wie es die
Haldenzüge zu erkennen gaben, oft mehrere
Englische Meilen über die Ebene fort. Wei-
ter hin nach Middleton sahen wir jenseits
des Thals auf der Morgenseite einen mitter-
nächtigen Gang. Die Gänge gehen an den
meisten Orten unter einem sehr wenig von
der Perpandikularlinie abweichenden Win-
kel in die Teufe. Eine Englische Meile
vor Middleton ging es endlich wieder berg-
ab durch eine romantische Kluft, wo die
[188] Felsmassen von weißem Kalkstein, mit ih-
ren regelmäßigen, zum Theil über manns-
hohen Schichten, bekleidet mit Epheu und
Strauchwerk, Moos und blühenden Pflänz-
chen, wie Thürme auf einer langen Strecke
zu beiden Seiten hervorragten. Augenschein-
lich ward hier alles durch die Gewalt der
Fluthen einst abgestürzt und durchgerissen;
allein die öde Oberfläche des Kalkgebirges
nährt keinen Bach; und wo ehedem die
Wogen des Meeres wüthend hindurch
strömten, da fuhren wir jetzt auf dürrem
Boden und gebahntem Wege. —


[189]

9.
Matlock.


Endlich ist sie hinabgesunken hinter die
himmelan strebenden Berge im Westen, diese
Sonne, die mich blendete, wärmte, bezauberte
durch ihre vermannichfaltigte Beleuchtung
dieses Wunderthals, seiner Felsen und sei-
ner Haine. Sei mir gegrüßt, holde Dämme-
rung, und du blauer Abendhimmel, mit
den Purpurstreifen im Westen, und will-
kommner als sie, göttliche Kühle, rau-
schend in dem wogenden Meere von Wip-
feln, lauter als die lispelnden Fluthen der
sanften Derwent, und überstimmt nur von
einzelnen schmetternden Tönen der Nachti-
gallenchöre, die in jenem Schatten das Lied
der glücklichen Liebe singen! Gebt mir
[190] stillen Genuß; umrauscht mich sanft zur
nachsinnenden, nachempfindenden Ruhe!
Ich bin des Schauens für heute satt, und
erliege unter der Unerschöpflichkeit der
Natur; ich sehne mich nach mir selbst. —
Des heutigen Tages tausendfaltige Bilder
einen Augenblick nur im Vorübergehen auf-
zufassen, ohne sie festhalten zu können, ist
Herabwürdigung zum leblosen Spiegel: sie
alle zu verzehren, alle ins eigene Wesen
verwandeln zu wollen, stürmisches Schwel-
gen, ohne Zweck, wie ohne Empfindung.
Wie wohl ist mir in dieser Einsamkeit!
Hier will ich nicht mehr mit umherspähen-
dem Blick den Gegenständen nachjagen;
nicht mit Anstrengung und Spannkraft ha-
schen, was mir links und rechts entfliehen
will; nein, ich entbinde meine Sinne ih-
res Dienstes, und überlasse mich leidend
dem all-eindringenden Berühren der Natur.
[191] Ich will nicht mehr unterscheiden, nicht
zergliedern die Gestalten, die Töne, die
Farben ihres Himmels und ihrer Erde; Ein
Lied, Ein unnennbares, untheilbares Bild
ströme sie mir durch Aug’ und Ohr, und
fülle meine lechzende Seele mit der Wonne,
die keine Zunge stammeln kann! Dies ist
die allgemeine Zauberei der schönen Na-
tur, Allen fühlbar, wenn gleich nicht von
Allen erkannt; die wohlthätige Macht, die
uns Alle hält und nährt und erfreuet,
und deren Wirkungen die Vernunft nicht
fassen kann; denn des Genusses Gränze ist
Zergliederung des Eindrucks. Dennoch! —
wunderbares Gesetz der Menschenform! —
dennoch sind die Weiseren unter uns glück-
lich nur wie ein Kind, das, wenn es die
Blume sieht, ihrer lieblichen Gestalt und
Farbe einen Augenblick froh wird, sie
dann bricht und zerpflückt. Heilige Pfle-
[192] gerin! mehr Blüthen als wir zerstören kön-
nen, schufst du um uns her; und den Quell
der ewig wiederkehrenden, ewig sich ver-
jüngenden Wesen verbargst du vor unserm
verzehrenden Geiste? O, ich wähne dir
nachzuwandeln auf deinem verborgenen
Pfade, und Absicht und Mittel, wie in
dem Lebensgang eines Menschen, darauf zu
erblicken. Er ist nicht ohne Zweck, dieser
Trieb des Forschens und Sonderns, den du
in uns legtest, der schon im Kinde sich regt,
der bis ins Alter uns begleitet. Du durch-
bebst die Saiten der thierischen Bildung,
du führst den Aetherstrom des Lebens in
ihren Adern umher, und das ferne Geblöke,
das jetzt aus den Triften emporsteigt und in
den säuselnden Abendwind tönt, — und
diese Jubelgesänge in den hochbelaubten
Buchenästen, sind der Widerhall deiner
alles erquickenden Freude. Aber ein anderer
Genuß
[193] Genuß wartet des sinnenden, sondernden
Menschen: im Labyrinthe der Gefühle sucht
er das empfindende Wesen; im unendlichen
Meere von Bildern den Seher; in der duld-
samen Materie den gebietenden Willen; in
Allem außer ihm, sich selbst.


Ich finde hier Ähnlichkeit mit dem
Plauenschen Grunde bei Dresden. Die Par-
tie der Brücke in Plauen ist romantischer,
und fehlt hier; auch hat es einen schönen
Effekt, daß die Felsenwände an einigen
Orten bis ins Wasser senkrecht stehen, und
folglich größere einfachere Wände bilden;
der Kontrast des Lichtes wird durch die
großen winklichten Brüche des Thales ro-
mantischer und lieblicher; die Mühlen
sind dort angenehme ländliche Bilder. Die
Aussicht nach Darand ist wegen des weißen
Thurms und der malerischen Gipfel des
III. Theil. N
[194] Sonnen- und Königsteins, des weit durch
das Thal sichtbaren sich schlängelnden
Flüßchens, und vor allem des Reichthums
der goldenen Saaten, von entzückender
Schönheit.


Hingegen hat Matlock den Vorzug, daß
es zwischen ungleich höheren Bergen liegt;
daß in den schönen Partien das Thal noch
enger zusammentritt, und daß die Vegeta-
tion ohne allen Vergleich reicher, üppiger,
und eigentlich mit verschwenderischer Hand
auf die Felsenmassen hingeworfen ist. Die
Derwent läuft ruhig und auf ebenem Bette,
außer wo sie über Kiesel in gelinden Fällen
hinrieselt. Die Bäume mit dem dicksten
Laube wölben sich über sie hinaus; ihre
Zweige stehen wie Schirme über einander;
die untersten tauchen ihre Spitzen in den
Fluß, und der ganze mit Wald gekrönte
Berg spiegelt sich im Wasser, wie man
[195] von der andern Seite die weißen Gebäude
darin erblickte. Die weißen Felsmauern
kommen nur hier und dort mit hervorsprin-
genden Ecken durch das Gebüsch, welches
aus ihren Klüften mit unbeschreiblicher
Üppigkeit herauswächst, zum Vorschein.
An andern Stellen zeigen sie sich von einer
unermeßlichen Höhe. Die Gebirge im We-
sten sind einige der höchsten in Derby-
shire. Die Abrahams-Höhe (nach der bei
Quebek so genannt, wo Wolfe und Mont-
calm
blieben) hinan, geht ein schlängelnder
Pfad, dessen Länge zwar ermüdet, wofür
man aber, wenn man ihn zurücklegt,
mit einer herrlichen Aussicht über den
ganzen Lauf der Derwent durch alle Win-
dungen des Thals, über die schönen, rei-
chen Hügel und Thäler mit ihren Heerden,
u. s. f. über das nahe Dorf Matlock, belohnt
wird. Die Natur ist hier so verschwende-
N 2
[196] risch mit den schönsten Formen der Land-
schaft, der Bäume, mit Licht und Grün,
daß man sich umsonst nach einer ähnlichen
Gegend im Gedächtniß umsieht. Die schö-
nen Aussichten bei Münden im Hannöveri-
schen haben den Vorzug der breiteren Weser
und der am Zusammenflusse der Werre und
Fulda malerisch liegenden Stadt mit ihren
alten Thürmen; hingegen fehlen ihnen die
hiesige endlose Abwechselung und die schö-
nen Felswände, die sich zwar wieder bei
Allendorf an der Werre, jedoch ohne die
Begleitung des reichen, unbezahlbaren
Schattens finden lassen. Die Badehäuser
sind zum Empfange der Gäste sehr bequem
angelegt, und eben nicht gar theuer. —
Das Bad ist lau und sehr erfrischend; ich
badete Nachmittags mit der besten Wir-
kung, und fühlte mich außerordentlich
dadurch gestärkt. Das Wasser ist nur
[197] reines Quellwasser. — Die Haine sind
insbesondere wegen der vielerlei Arten von
Bäumen so wunderschön; Eichen, Eschen,
Buchen, Hainbüchen, Tannen und Lärchen
wechseln mit einander ab.


[198]

10.
Chatsworth.


Von Middleton an geht es im Thale der
Derwent hinab, welches immer schöner und
reicher wird. Der Kontrast, nachdem wir
so geraume Zeit nichts als öde Gebirgs-
rücken gesehen hatten, war über alle Be-
schreibung erfreulich. — Wir hatten schöne
Weiden, Saatfelder, herrliche malerische
Umzäunungen und Raine, mit hochstäm-
migen Eichen, Eschen und Buchen, Lin-
den und Ahorn, auch hier und dort längs
den Höhen ein Wäldchen. Je näher an Chats-
worth, desto reicher wird die Gegend. Die
Waldung an beiden Seiten des Thals, so
wohl hinter dem Hause als gegenüber, ist
dicht und überschwänglich an Wuchs; zwi-
[199] schen dem Laubholze streben überall schlan-
ke Tannen und pyramidische schwarze Fich-
ten in die Höhe. Der herzogliche Park liegt
auf einer Anhöhe am linken Ufer der Der-
went, in welcher wir Gruppen von Kühen
sich kühlen sahen, indeß die schönen Wie-
sen zu beiden Seiten mit diesen malerischen
Heerden bedeckt waren. Man fährt auf ei-
ner steinernen Brücke über den Fluß durch
den Park nach dem Schlosse. Beides, Park
und Schloß, sind vor achtzig Jahren auf der
Stelle, wo das alte Schloß Chatsworth stand,
angelegt worden, und haben viel von der
Pracht jener Zeit. Das Schloß ist ganz ei-
nes so großen Englischen Peers würdig.
Auf die Architektur mag ich mich nicht ein-
lassen; die ist nun einmal in England, auch
da, wo sie Geld genug gekostet hat, nicht
fehlerfrei. Die Zimmer sind reich, doch
nicht mit dem Geschmack, den wir in
N 4
[200] Schooneberg bewunderten, möblirt; viele
haben auch noch das alte Amenblement, von
achtzig Jahren her. — Der Bau ist erst kürz-
lich ganz fertig geworden; denn man hat
nach- und angebauet. — Ein Theil des Ge-
bäudes heißt noch: the Queen of Scot’s apart-
ment
. Die Zimmer der unglücklichen Marie
sollen wirklich in dieser Gegend gestanden
haben. Das Einzige, was man aus jenen
Zeiten aufbewahrt hat, ist ihr Bett mit Vor-
hängen und Decke von rothem Sammet mit
Gold. Wer kann sich entbrechen, bei dem
Anblick eines Bettes, worin diese unglück-
liche Prinzessin so oft geschlafen, geruhet,
gesonnen, geweint, gewacht, geträumt —
und den ganzen Kreis ihrer regen Leiden-
schaften durchlaufen haben mag, in Gedan-
ken zuweilen sich in jene Zeiten zu ver-
setzen, und für die schöne Dulderin den
Athem ein wenig gepreßt zu fühlen?


[201]

Der Garten hat eine schöne Kaskade, mit
allerlei davon abhängigen Fontainen und
Wasserkünsten. Die höchste Fontaine soll
achtzig Fuß hoch springen; sechzig glaube
ich selbst, daß sie bei stillem Wetter in die
Höhe gehen kann. — Für die Phantasie ist
hier keine außerordentliche Nahrung, we-
nig Sublimes, Romantisches, Poëtisches;
aber eine reiche, geschmückte Natur, und
ein Aufenthalt, wo man ein Vermögen von
40 bis 50,000 Pfund Sterling wohl genießen
kann. —


So schön als jenseits, ist auch das Thal
unterhalb Chatsworth, welches sich immer
weiter südostwärts zieht. Die Sandstein-
gebirge umschlingen es überall auf der öst-
lichen und südlichen Seite. Innerhalb sieht
man Kalkgebirge. Endlich öffnet sich eine
Reihe Hügel gegen den Fluß, und ihre ab-
gestürzten senkrechten Felswände stehen ro-
N 5
[202] mantisch, mit Waldung bekleidet, an sei-
nen Ufern. Vom Dorfe Matlock, zwei Eng-
lische Meilen weit bis nach Matlock Bath,
zieht sich dieses verengte wunderschöne
Kalkthal in verschiedenen Krümmungen,
und läßt hier und da dreieckige Wiesen in
den Zwischenräumen der Hügel. — Dros-
seln und Nachtigallen hielten hier ihr im-
merwährendes Koncert im Walde.


[203]

11.
Fortsetzung der Reise.



Von Matlock fuhren wir heute um 1½ Uhr
Nachmittags ab. Der Weg ging bis Crom-
ford
, wo ein neuer schiffbarer Kanal ange-
legt wird, in dem schönen Derwentthale
fort. Gerade Cromford gegenüber, an einer
sehr schön gewählten Stelle, bauet sich jetzt
Sir Richard Arkwright ein neues Landhaus.
Hinter Cromford kamen wir auf einen sehr
hohen Bergrücken von Sandstein, von dem
wir nicht nur rechts das nahe, in einem
reichen Kessel gelegene niedliche Städt-
chen Wirksworth, sondern auch vor uns und
links das ganze südliche Derbyshire, nebst
Nottingham und Leicestershire, und einen
Theil von Warwickshire übersahen. Jen-
[204] seits dieses Berges kamen wir an verschie-
denen Orten vorbei, wo man die Erdschol-
len mit einem Schälpfluge abstach, und zum
Dünger verbrannte. Derbyshire hat in die-
ser Gegend schon viel angenehme Abwech-
selung, ob es gleich nicht so fett ist, als an-
dere Provinzen. Die Stadt Derby (16 Mei-
len), die wir um 4 Uhr erreichten, ist von
geringer Bedeutung. Man hatte eben heute
die so genannte Canvaß vorgenommen, d. i.
die Herren, welche Parlamentsglieder als
Repräsentanten der Stadt werden wollen,
waren zu allen Stimmgebenden herumgelau-
fen, sie um ihre Stimme zu bitten. Eine
Formalität, der sie sich unterwerfen müssen.


Den 16. Jun. Um 8 Uhr Morgens reise-
ten wir von Derby ab, nach Burton, einem
kleinen eilf Meilen entlegenen Städtchen.
Der Weg ging noch über Gebirge von Sand-
stein, die also auch von der Südwestseite
[205] den Kalkdepot des Piks umgeben. An eini-
gen Stellen bemerkten wir viel Sand. Zwi-
schen Atherstone und Burton übersahen wir
vom Gipfel eines nicht gar hohen Hügels
wieder das schöne Warwickshire; allein wir
blickten in die weite Ferne, weil eine Ebene
vor uns lag. — Hier sind wir auf klassi-
schem Grunde. Links blieb uns in einer
Entfernung von drei bis vier Meilen Bosworth
liegen, wo der Herzog von Richmond, her-
nach Heinrich VII, den König Richard den
Dritten
schlug, welcher auf der Wahlstatt
blieb. — Von Derby nach Burton sind eilf
Meilen; nach Allerstone zwanzig; nach Co-
ventry
vierzehn Meilen. Coventry mit seinen
drei langen spitzen Thürmen, worunter die
berühmte Kathedralkirche oder Coventrycroß
die größte ist, hielt uns nur eine halbe
Stunde Nachmittags auf, während daß wir
aßen. Von da eilten wir durch eine,
[206] wie Berkshire angebaute und überaus schöne
Gegend nach Warwick. Unterweges blieben
uns rechts, in einer schönen schattenreichen
Gegend, die Überreste von Killingworth-
Schloß in drei großen Thurmmassen liegen.
Aber das Schloß von Warwick (zehn Meilen)
verdiente näher gesehen zu werden. Wie
erinnerte mich hier alles an die thaten-
reiche, charaktervolle Englische Geschichte:
an den Warwick, der größer als ein König
war, indem er Könige absetzte oder machte;
und — vor allem — an den unsterblichen
Dichter, der das Große dieser Idee so ganz
zu fassen, und in seinem King Henry the
Sixth
so göttlich darzustellen gewußt hat! —
Gleich bei dem Eingange in die Stadt über
dem Stadtthor, erinnerte mich der wilde
Eberskopf auf einem Speer (seit undenkli-
chen Zeiten das Wapen der Warwicks)
an den großen Ritter, der dieses sieg-
[207] reiche Panier so oft vor sich wehen ließ.
Wir besahen das Schloß. Unter allen
Überresten des zehnten Jahrhunderts hat
keins in England sich so herrlich erhal-
ten. — Der jetzige Graf wohnt sogar darin,
und hat sich die Zimmer sehr schön einrich-
ten lassen, auch einige Nebengebäude in
demselben Geschmack, um der Gleichför-
migkeit willen, aufgeführt. Die Mauern
sind an einigen Orten vier Ellen dick.
Eine Enfilade von Zimmern enthält etliche
schöne, und etliche lehrreiche Porträts,
z. B. die Königin Elisabeth, Essex, die
Königin Marie von Schottland, die Gemahlin
Karls I
, und diesen unglücklichen König
selbst; die Infantin von Parma, und viele
andere mehr. Elisabeth sieht ihrem Vater
doch sehr ähnlich, und dieser Zug ist ihrem
Charakter nicht günstig. Essex hat eine
fausse ressemblance von Herrn Koch, dem
[208] Schauspieler in Mainz. — Marie von Schott-
land
ist entweder nicht getroffen, oder in
einer sehr späten Periode ihres Lebens
gemalt.


Die Aussicht aus den Fenstern ist sehr
reich und lieblich.


Die Rüstkammer erinnert an den kriege-
rischen ritterlichen Genius der ehemaligen
Bewohner dieser Burg. Wir sahen das
lederne Wams, welches Robert Lord Brooke
an hatte, als er bei Lichfield erschlagen
ward. Auch Südsee-Sachen giebt es hier;
ferner eine schöne Büste in Marmor von
Edward dem schwarzen Prinzen, nach einem
Gemälde; einen schönen Kopf der Pallas;
Glasmalerei nach Rubens; Anna und Maria
Boleyn
von Holbein, vortrefflich erhalten.


Den Garten sahen wir nicht, denn wir
eilten (acht Meilen) nach Stratford, wo
wir um 7 Uhr ankamen, und die elende
Hütte
[209] Hütte wo Shakespear geboren ward, den
Stuhl in welchem er zu sitzen pflegte, und
vermuthlich dichtete, das Stadthaus mit
seiner Statue in einer Nische von außen,
sein Porträt inwendig, von Garrick hin
geschenkt, — und sein Grabmal in der Kir-
che besahen. Der Stuhl ist jetzt in die
Wand gemauert, damit er nicht ganz zer-
fallen möge. Seit funfzehn Jahren, daß ich
ihn nicht sah, ist er sehr beschädigt.


Den 17ten Jun., um halb 10 Uhr Vormit-
tags, fuhren wir weiter durch Shipston und
Chapel nach Woodstock, und — fast ermüde
ich es zu schreiben — wieder durch eine
schöne liebliche Gegend. England hat keine
Waldungen, weiß jeder Schüler in der
Geographie und Länderkunde zu erzählen; —
aber daß beinahe ganz England wie Ein
fortwährender Lustwald aussieht, wo Wie-
sen und Triften, Äcker und Anger, und
III. Theil. O
[210] die lieblichen Ufer der Flüsse mit dem herr-
lichsten blühenden Gebüsch und den schat-
tenreichsten Bäumen in ewiger Abwechse-
lung prangen, das sollte man dabei zu erin-
nern nie vergessen: Wie manchen schönen
Landsitz Englischer Landedelleute fuhren
wir nicht heute vorbei! wie manches in
Haine gleichsam vergrabenes Dorf! Hier
hatte einer sein niedliches Haus auf einen
reichbeblümten Rasen gebauet. Dahinter
zog sich ein kleiner Wald; seitwärts
wölbte sich eine zierliche weiße Brücke
über einen Graben; jenseits der Heerstraße
stürzte sich ein Flüßchen einige Schuh tief
über einen Damm; und auf dem schönen
Teiche, der vor dem Rasenplatze seinen
Spiegel ausbreitete, und um grasreiche Ufer,
zwischen den Blumen der Wiese, erblickten
wir manchen schönen Schwan, an dessen
stolzer Form der Eigenthümer dieses Güt-
[211] chens vermuthlich sein Vergnügen fand. —
O Natur, was ist erquickender und zugleich
erlaubter, als deine Werke zu lieben und ih-
rer froh zu werden! Was kann unschuldiger
seyn, als die Freude an diesem schönen, in
seiner Pracht des Gefieders stolz daher
segelnden Vogel! Wenn es einen Genuß auf
Erden giebt, den keine Macht verbieten,
keine sich ausschließend zueignen darf, der
allen ewig gemein bleiben muß, und zu
dem man berechtigt ist, indem man Sinn
dafür hat: — so ist es der Genuß dieses
Anblicks. — Doch ich vergesse, daß der
Schwan ein königlicher Vogel ist, und daß
es Länder giebt, wo niemand einen Schwan
halten darf, als der König, d. i. derjenige,
der wahrscheinlicher Weise nicht zu em-
pfinden weiß, wie liebenswürdig die Natur
in diesem Thiere ist. — Ich gönne den
Großen das Wild, das sie hegen: es ist
O 2
[212] billig, daß diejenigen unter ihnen, die
nicht durch Wohlthaten des Herrscheramtes
würdig sind, wenigstens zum Scheine fort-
fahren den Nutzen zu stiften, weshalb man
sie zuerst als Beschützer der Wehrlosen über
Andere erhob; und wenn es heutiges Tages
keine Raubthiere mehr giebt, um derent-
willen man Heroen oder Halbgötter zu
Hülfe ruft, so mögen ihre Abkömmlinge
meinetwegen Hirsche in ihren Parks ein-
sperren, oder ihren Unterthanen verbieten
einen wilden Eber zu tödten, damit sie an
einem gesetzten Tage ihn vor ihrem Richter-
stuhl vorbei jagen lassen, und mit eignen
Händen erlegen können, wie der Kaiser von
China jährlich einmal den Pflug mit hoher
Hand berührt, zum Zeichen, daß vor meh-
rern tausend Jahren ein Kaiser durch dieses
Werkzeug den Namen eines Landesvaters
verdiente. Aber, daß ein Mensch sich
[213] erfrecht, allen andern den Besitz eines zah-
men Vogels zu verbieten: das scheint so
arg, als wollte er ihnen die Fenster an den
Häusern, oder die Augen im Kopfe ver-
schließen; und daß Menschen dies von
einem dulden, beweiset nur, wie tief die
Menschheit sinken kann.


So kamen wir um drei Uhr nach Wood-
stock
, wo die ganze Stadt in Bewegung
war, weil die Wahl zweier Repräsentanten
heute vor sich ging. Alles, bis auf die
Straßenjungen, trug Kokarden, gleichviel
von welcher Farbe; die Frauenzimmer, jung
und alt, häßlich und schön, reich und
dürftig, hatten ihre Feierkleider an, und
von allen Seiten ertönte ein ewiges Huzzah!
Vor unserm Gasthofe weheten hoch in der
Luft drei große, weiß-seidne Fahnen,
worin die Wapen der Bürgerschaft und der
neuen Parlamentsherren, nebst allerlei em-
O 3
[214] blematischen Verzierungen in Farben prang-
ten; denn heute speiste die Bürgerschaft mit
den neugewählten in dem Gasthofe, nach-
dem man diese letztern, wie die Sitte es mit
sich bringt, in große Armstühle gesetzt und
herumgetragen hatte. Uebrigens war hier
keine Uneinigkeit, keine Gegenparthei; der
Einfluß des Herzogs von Marlborough ist in
Oxfordshire so unwiderstehlich, daß man
die Parlamentsglieder, sowohl für Wood-
stock als für die Grafschaft selbst, ohne
Widerrede nach seinem Wunsche wählt.
Sein ältester Sohn, der Marquis Blandford,
wird in diesem Parlamente die Grafschaft
Oxford, und ein jüngerer, Lord Henry
Spencer
, die Stadt Woodstock repräsentiren.
Die Betrachtungen, die sich bei dieser Ver-
anlassung über die Konstitution von Eng-
land machen lassen, und die wir wirklich
zu machen uns nicht enthalten konnten,
[215] will ich nicht alle hierher setzen. So viel
ist indeß gewiß, daß die blinden Verthei-
diger und übertriebnen Lobredner eben so
weit vom Ziele sind, als die plumpen Tad-
ler dieser berühmten und in der That merk-
würdigen Verfassung. —


[216]

12.
Blenheim.


Wie mag dem großen Churchill zwischen
diesen unaufhörlichen Apotheosen zu Muthe
gewesen seyn! Etwa wie Ludwig XIV bei
den ewigen Fêten und Vergötterungen in
Versailles? Die menschliche Natur kann das
nicht ertragen. Ludwigs Schicksal ist be-
kannt. Seine Imbecillität datirte von diesem
Zeitpunkte. Marlborough ward aber auch
kindisch und furchtsam vor seinem Ende;
und ich möchte nicht dafür schwören, daß
nicht die Tapeten das Ihrige dazu gethan
haben. Wie aber, wenn er in dem Augen-
blicke, da er seiner Geisteskräfte noch nicht
beraubt war, mitten unter diesen ungeheu-
ren Bildern seiner Größe das Loos der
[217] Menschheit tragen, und in körperlichem
Schmerz sich winden, von Gicht oder Kolik
gequält werden mußte; wie klein und ver-
ächtlich mochte er sich da fühlen! Ich für
mein Theil bin froh, daß ich nicht Marl-
borough
bin, und seine Thaten gethan habe,
um so zu Schanden gemacht zu werden mit
der Geschwätzigkeit des Ruhmes. Ich ge-
stehe, der üble Geschmack, womit man ihn
in der großen Halle zwischen den kleinen
lachenden Faun und die Mediceische Venus
hingestellt hat, ist mir wegen der Lächer-
lichkeit noch die willkommenste von allen
diesen Vergötterungen. Ich lache heute über
diese Eitelkeit — indeß vielleicht morgen
ein Recensent dafür meinen Leichtsinn und
meine Fühllosigkeit straft —; allein, zwi-
schen heute und morgen habe ich beides,
gelacht und geweint: über mich selbst, über
ihn, und über die ganze Welt. Ist es nicht
O 5
[218] Thorheit, die Schriftsteller richten zu wol-
len wegen einzelner Empfindungen eines
Augenblicks, wo man vielmehr ihre Offen-
herzigkeit, das Herz des Menschen aufzu-
decken, bewundern sollte? Wenn sie einen
Fehler dabei begehen, so ist es nur eine un-
schickliche Wahl in der Darstellung der
Eindrücke, die ihr Gefühl bestürmten. Die
schnellen tausendfachen Übergänge in einer
empfänglichen Seele zählen zu wollen, die
sich unaufhörlich jagen, wenn Gegenstände
von außen, oder durch ihre lebhafte Phan-
tasie hervorgerufen, auf sie wirken, wäre
wirklich verlorne Mühe.


[219]

13.
Oxford.



Einen Englischen Musensitz erkennt man
leicht an den schwarzen viereckten Biretten
der Studierenden, und an ihren langen
schwarzen Mänteln mit kurzen weiten,
oder sehr langen engen Ermeln. Man
glaubt, die Schüler eines Jesuiter-Kolle-
giums zu sehen; und in gewisser Rücksicht
sieht man sie in der That. Ich wurde sehr
lebhaft an Wilna in Litthauen erinnert, als
ich diese possierlichen Gespenster an mir
vorüber flattern sah.


Ich weiß wohl, die Kleidung allein thut
nichts zur Sache; sie ist aber auch nicht so
gleichgültig, als man denkt: sie steht in
[220] unmittelbarer Verbindung mit Gesetzen, For-
malitäten und Zwangssystemen, welche eine
Falte in den Charakter biegen, deren Spur
auf Zeitlebens unauslöschlich bleibt.


Die monastische Ordnung, welche auf
den Englischen Universitäten eingeführt ist,
hat man oft in Deutschland als musterhaft
gepriesen — weil man sie nicht kannte.
Die Strenge geht hier so weit, daß man
kein Gesetz mehr beobachten kann. Dieser
Fall ist in England nicht selten. Die Ge-
setze gegen die Katholiken sind so drückend,
daß man sie schlechterdings nicht mehr in
Ausübung bringt; und dennoch hat man
nicht den Muth, sie abzuändern. Kein Volk
hängt so blindlings an alten Formen, wie
das Englische; es knüpft den Begriff seiner
politischen Existenz daran. Sagt ihm, die
Abschaffung eines einzigen Gesetzes gegen
die Katholiken sei gefährlich, so rottet sich
[221] der Pöbel noch heute zusammen, und Gor-
dons
Wahnsinn wirkt zum zweitenmal eine
furchtbare Empörung. — Die Studenten in
Oxford müssen sich so manchen Erbärm-
lichkeiten unterziehen, daß sie im Wesent-
lichen mehr Freiheit genießen, als andere
Studenten auf Deutschen Universitäten; und
wohl dem Lande, daß dem also ist! Zwi-
schen dem blinden Gehorsam des Schulkna-
ben, und dem freien Willen des Mannes,
muß es einen Mittelzustand geben, in wel-
chem der Mißbrauch der Selbstherrschaft so
wenig üble Folgen für das Gemeinwesen
hat, als möglich. Sonst wird, wenn der
Jüngling auch noch Sklav bleibt, erst der
Mann im Amte sich seinen Ausschweifun-
gen überlassen, und sein Toben wird von
üblen Folgen für das gemeine Beste seyn.
Wenn hingegen ein Student seine Freiheit
mißbraucht, so schadet er höchstens sich
[222] selbst, und gewinnt unter seines Gleichen
bald so viel Erfahrung, als er zur Lebens-
nothdurft bedarf.


Ich weiß zwar wohl, daß es theoreti-
sche und praktische Erzieher giebt, welche
den Zögling nie genug einzuschränken und
zu fesseln glauben: Menschen, die sich vor-
stellen, man dürfe die menschliche Seele im
Erziehungsinstitute treiben, wie man Spar-
gel im Lohbeete treibt, und die dann auch
wirklich nur saft- und kraftlose, ekelhafte
Geschöpfe in die Welt liefern, unfähig,
sich auf einen Augenblick von ihren aus-
wendig gelernten Regeln zu entfernen, und
selbstständig zu denken, Maschinen in jeder
Bedeutung des Wortes! An ihren Werken
müssen wir sie erkennen. Es ist eine leichte
Kunst, Maschinen aus Menschen zu schnitzen;
aber die menschliche Natur in ihrer Würde
zu lassen, und Kräften, die eine höhere
[223] Hand schuf und in die einzelnen Keime
legte, zu ihrer freien vollkommenen Ent-
wickelung behülflich zu seyn, anstatt ihnen
unwürdige, verunstaltende Fesseln anzule-
gen: — das ist die große Kunst, wozu die
wenigsten Erzieher Geduld, Billigkeit und
Selbstverläugnung genug besitzen. Anstatt
den Zögling den Gebrauch seiner Anlagen
zu lehren, wollen sie immer nur, daß er
sie nach ihrer Art gebrauchen soll, und ma-
chen ihn zur schlechten Kopie eines elenden
Originals. Ihr kurzsichtiger, enger Egois-
mus ist nicht zufrieden, Menschen in ver-
schiedenen Graden der Intension, ihrer ver-
schiedenen Organisation und der damit ver-
knüpften Kräfte genießen zu sehen, und
sich des mannigfaltigen, unerschöpflichen
Reichthums der Natur zu freuen; sondern
es ist ihr armseliger Ehrgeitz, nach ihrem
Bilde alles um sich her modeln zu wollen.
[224] Ich brauche nicht zu sagen, wie sehr diese
Methode auf die Verewigung der Vorur-
theile und Irrthümer abzwecken muß: denn
ich behaupte sogar, daß, wenn ein solches
Unding, wie ein vollkommnes System, mög-
lich wäre, die Anwendung desselben bei der
Pädagogik für den Gebrauch der Vernunft
dennoch gefährlicher als jedes andere wer-
den müßte. Die Idee des Unverbesserlichen
zieht einen lähmenden Mechanismus nach
sich, welcher mit dem Chinesischen Sitten-
gesetz am besten exemplificirt wird und den
Begriff von Tugend ganz aufhebt. Der
Erzieher hätte meines Erachtens wenig Ver-
dienst um die Menschheit, der die Jugend
dahin gebracht hätte, alles zu thun oder zu
lassen, je nachdem es dem gewohnten Her-
kommen gemäß ist oder nicht, oder, was
auf Eins hinausläuft, nachdem es mit den
Regeln, die er von seinem Lehrer lernte,
über-
[225] übereinstimmt, oder ihnen widerspricht.
Alle dogmatische, alle geistliche Erziehung
hat mehr oder weniger diese Tendenz, und
ihr nachtheiliger Einfluß, der allerdings
hier durch viele andere Umstände gemildert
wird, äußert sich doch wirklich noch
kenntlich genug in der Denkart und den
Handlungen der Engländer. Es ist ihnen
freilich eben nicht anzusehen, daß sich alle
nach dem Geläute des Tom richten müssen,
so wenig es den jungen Edelleuten einen
Adelstolz einflößt, daß sie bei den Mahl-
zeiten an einem eigenen Tische sitzen, und
durch allerlei kleine Vorrechte, wie z. B.
den Gebrauch der kollegialischen Bibliothe-
ken, vor den Bürgerlichen ausgezeichnet
werden. Unstreitig ist ihre Anzahl zu un-
bedeutend, als daß sie unter sich bleiben,
und die große Masse der Studirenden ganz
entbehren könnten; daher müssen sie ihre
III. Theil. P
[226] Vorrechte fahren lassen, und wenigstens
im Umgange sich der Vorzüge entäußern,
welche die monastisch-pfäffische Einrich-
tung ihnen mit Hinsicht auf einen mög-
lichst zu unterstützenden Despotismus ver-
lieh. Hingegen ist es sehr die Frage, ob
da, wo die Eigenliebe des großen Haufens
der Studenten nicht in Kollision kommt,
nicht der Grund zu jener blinden Anhäng-
lichkeit an religiöse Vorurtheile gelegt
wird, wodurch die Engländer sich aus-
zeichnen, und worauf unter andern ihr Be-
harren bei der unsinnigen testact beruhet.
Ich meines Theils begreife nicht, wie junge
Männer der Alternative des Aberglaubens
oder des Unglaubens entgehen können,
wenn sie sich hier sechs bis acht Jahre lang
viermal täglich zum Gebet in der Kapelle ih-
res Kollegii einstellen müssen. Dieses Opus
operatum
, wovon sich die guten Wirkungen
[227] in der Kapelle von Christchurch College,
drei Schritte weit vom Altar, an den in die
Bank geschnitzten Eselsköpfen, Namen u.
s. f. erkennen lassen, muß einen geistigen
Stumpfsinn bewirken, wenn es wirklich
zur Gewohnheit wird.


Wer schön erhaltene Gothische Gebäude
sehen will, komme hierher. Oxford nimmt
sich, nach London, vielleicht unter allen
Städten Englands aus der Ferne — und fast
möchte ich hinzusetzen, auch in der Nähe
— am besten aus. Ein Wald von Gothi-
schen Thurmspitzen ragt aus den schatten-
reichen Gängen und Gefilden an der Kam
und Isid hervor, und zwischen ihnen prangt
mit allem Pomp der modernen Baukunst der
Dom von Radcliffs Rotonda, und das schöne
Achteck seiner Sternwarte. Wandelt man
P 2
[228] auf den reinlichen, wohlgepflasterten, und
meistens mit guten neuen Häusern bebaue-
ten Straßen, so erstaunt man, überall die
weitläuftigen Klostergebäude zu erblicken,
welche der Brittischen Jugend, aber noch
mehr dem theologischen Wohlleben, gewid-
met sind. Aus einem geräumigen Vorhof,
aus einer Halle tritt man in die andere, und
es giebt hier Kollegia, wie z. B. das von
Christchurch, die aus vier großen an ein-
ander stoßenden Vierecken bestehen. Der
Umfang dieser prächtigen Werke des Alter-
thums ist so ungeheuer, daß man nicht
weiß, ob man mehr über die Verwegenheit
des Eifers, oder über den Mißbrauch der
Kosten erstaunen soll. Die große westliche
Facciate des größern Vierecks in Christ-
church College
hat eine Länge von 382 Fuß,
und seine Gothischen Thürmchen steigen
leicht und kühn in die Luft. Nichts kann
[229] einen angenehmeren Effekt machen, als der
schöne weite Bogen, der sich über dem
Thor von Merton College wölbt, mit den
Schnirkeln und Verzierungen, die den in-
nern Raum des Bogens füllen, und den ho-
hen krausen Gipfeln des breiten, viereckten
Thurms, durch den Ulmenhain gesehn, der
dieses Gebäude umgiebt. Allsouls College ist
beinahe das shönste Gothische Gebäude an
Einfachheit und schlanker Kühnheit seiner
rund um das Viereck aufsteigenden Pfeiler,
und der beiden hohen, wie Cypressengipfel
sich verlängernden Thürme. Nirgends war
mir die Ähnlichkeit dieser Bauart mit ei-
nem angepflanzten Walde so auffallend, als
hier und vor dem Stufengange, der zum
großen Speisesaale in Christchurch College
führt. Hier ruhet der Mittelpunkt des Ge-
wölbes auf einer zarten schlanken Säule, de-
ren Äste sich oben palmenförmig ausbrei-
P 3
[230] ten, zierlich wölben, und den Wölbungen
des Schwibbogens nach allen Seiten hin ent-
gegen streben.


Die Gothische Bauart, wie auffallend
auch ihre Mißverhältnisse sind, ergreift
die Phantasie auf eine unwiderstehliche
Weise. Wie leicht schießen diese schlan-
ken Säulen so himmelhoch hinan! Durch
welche Zauberkraft begegnen sich ihre hö-
her sprossenden Äste, und schließen den
spitzen kühnen Bogen! Romantische Größe,
schauervolle Stille, lichtscheue Schwer-
muth und stolzes Bewußtseyn füllten die
Seele, die sich in diesen Formen gefiel, und
in ihnen sich äußerte; — denn diese For-
men wecken jene Gefühle in einem Sinne,
der sie wieder auffaßt. —


Die Kollegia sind indeß nich auf
einmal zu ihrer jetzigen Größe und Pracht
gediehen. Dies läßt sich schon im voraus-
[231] vermuthen, und oft giebt es auch der bloße
Anblick, und die heterogene Einmischung
Römischer Architektur zwischen den altgo-
thischen Steinmassen. Peckwater court in
Christchurch College ist ein modernes mit
Radcliffe’s Vermächtniß erbautes Viereck;
Magdalen College hat ebenfalls eine moderne
Partie, u. s. f. Allein sehr alt sind freilich
die hiesigen Gebände nicht. Magdalen Col-
lege
ward als ein Hospital von Heinrich III
gestiftet, erst 1456 in ein Collegium ver-
wandelt, und von Wolsey endlich mit dem
Thurme verziert. Wolsey hat auch Christ-
church College
erbauet. Von University Col-
lege
ward der Bau erst 1634 angefangen,
und durch Dr. John Radcliffe vollendet.
Allsouls College ward 1437 gegründet; Bra-
senhose College
in 1507. Hertford College
fing man erst vor siebzig Jahren an wie-
der aufzubauen. Watham College ward
P 4
[232] erbauet 1613; Trinity 1594; Balhol 1284;
St. John’s 1557, und später; Worcester 1714;
Exeter 1316; Jesus 1571; Lincoln (1717) —
Oriel 1324. — Corpus Christi 1706; Merton
1610; Pembroke 1620.


Der Aufwand im Innern dieser Gebäude
ist nicht minder ungeheuer, und nicht min-
der gothisch als die barbarische Pracht
ihrer Mauern und ihrer unermeßlichen
Säle. Marmorne Statüen der Stifter und
Wohlthäter sieht man überall; Portraits
der berühmten Gelehrten und Staatsmänner,
die in den verschiedenen Kollegien jedes-
mal studierten, verzieren die Wände. Dazu
kommt noch, daß fast jedes Kollegium sei-
nen eignen Garten hat. — Magdalen College
hat sogar einen Park mit vierzig Stück Dam-
hirschen, von denen die Herren sich güt-
lich thun. Es ist allerdings eine schöne
Sache um diese schattenreichen Gänge, die-
[233] sen Ακαδημειαις bei jedem Kollegium, der
Betrachtung und Philosophie geweihet;
allein diejenigen, die des Umherlaufens in
Gärten am meisten bedürften, sind eben
die, welche davon ausgeschlossen sind —
Nur die wohlbeleibten und mit reichlichen
Einkünften versehenen Fellows haben Er-
laubniß dieses Heiligthum zu betreten, und
ihnen wird vermuthlich auch allein das
feiste Wildpret zu Theil.


Die Glasmalerei ist ein anderer Luxus
in diesen Gebäuden; beinahe eine jede Ka-
pelle hat etwas von dieser Art aufzuweisen,
und eine wetteifert darin mit der andern.
Einige Fenster sind so alt, daß man das
Datum ihrer Verfertigung nicht weiß; die
meisten sind aus dem 16ten, 17ten und An-
fang des 18ten Jahrhunderts. Einige, zu-
mal in Allsouls-College, sind von ausgezeich-
neter Schönheit, und noch immer fährt man
P 5
[234] fort in dieser kürzlich wiedererfundenen
Kunst neue Stücke ausarbeiten zu lassen,
und die ungeheuren Einkünfte der Kollegien
für bunte Glasscheiben zu verthun.


Eine Seltenheit von ganz besonderer Art
sind die emblematischen in Stein gehauenen
Figuren, welche in dem Viereck von Mag-
dalen College
rund umher an den Wänden
angebracht sind. Die bizarren Erfindungen
des Sicilianischen Prinzen, von welchem
Brydone erzählt, können nicht toller ausse-
hen, und man brauchte ihretwegen nicht
so weite Reisen zu thun. Hier giebt man
sie für Allegorieen aus. Vielleicht sollen
auch jene Sicilianischen einen Sinn haben,
und es kommt nur darauf an, daß jemand
sich die Mühe giebt ihn herauszubringen,
und hinterdrein auszurufen: if this be mad-
neß, yet there’s method in’t.


[235]
Christchurch College.

Dieses Kollegium war anfangs ein Non-
nenkloster unter S. Frideswiden; hernach
ward ein Mannskloster von Regularibus,
Augustinern, daraus; und erst spät bei der
Aufhebung desselben stiftete Wolsey das
Kollegium, welches in der Folge, als man
in Oxford ein Bisthum stiftete, sammt der
dazu gehörigen Kirche zum Kapitel und zur
Kathedralkirche erhoben ward. In der Ka-
pelle zeigt man noch Monumente vom Jahre
740 und älter.


Die hiesige Bildergalerie soll 35000
Pfund gekostet haben; der General Guise
hat sie hierher geschenkt. Auf die Vortreff-
lichkeit und Ächtheit einer Damaskener-
klinge hätte er sich vielleicht besser ver-
standen; denn diese Bilder sind großen-
theils Kopieen, so viel man sich auch dar-
auf zu gute thut, und zum Theil sehr
[236] schlechte Kopieen. Das beste ist unstreitig
ein verblichener Carton von Andrea del
Sarto,
eine heilige Familie, von exqui-
siter Zeichnung. Annibal Caracci’s Bild
von seiner Familie, als Fleischer ge-
kleidet, war mir wegen der plumpen
Phantasie des Malers merkwürdig. Dieser
Mensch konnte nicht dichten. Hier ist ein
Fleischerscharrn mit großen Fleischstücken
abgebildet, und die Söhne des alten Caracci’s
sind die Metzger. — Dies ist auch der ganze
Charakter seiner Werke; Fleisch und Blut
konnte er nachbilden, aber nicht den leben-
digen Geist. Es sind allerdings unter die-
ser zahlreichen Sammlung einige Originale;
allein es ekelt einen über allen Ausdruck,
den Führer je zuweilen eine Kopie einge-
stehen zu hören, oder mit dem Ausdruck:
nach Raphael, nach Titian, nach Guido,
der Lüge zu entgehen, indeß er sich bei
[237] diesen Geständnissen das Recht vorbehält,
die ärgsten Sudeleien für Meisterwerke von
der Hand der größten Künstler auszugeben.
Von Holbein sah ich hier ein paar schöne
Köpfe, wie denn überhaupt seine besten
Arbeiten in England anzutreffen sind. Es
ist in diesen weniger Härte, als ich ihm
sonst zugetrauet hätte, und eine unüber-
treffliche Treue. Kein Strich, kein Zug ist
vergessen; aber von dem Seinen ist nichts
hinzugekommen: denn was der Künstler
hinzuthun soll, Genie in der Darstellung
und Idealisirung, das hatte er nicht. Fleiß
und Anstrengung sind unverkennbar.


Eine sehr zahlreiche Sammlung von Ge-
mälden befindet sich in einem akademischen
Gebäude, neben der Bodleyischen Biblio-
thek. Hier ist ein Gemisch von Gutem,
Mittelmäßigem und Schlechtem zusammen
gehäuft, dessen vorzüglicher Werth nur
[238] darin besteht, daß selbst ein schlechtes Por-
trät doch einige Idee von einem berühmten
Manne, den es vorstellen soll, erweckt.
Was hier außer den Porträten vorhanden
ist, verdient keine Erwähnung.


In Megdalen College wird die Kapelle
jetzt reparirt. Wir sahen daher das schöne
Altarblatt in der alten Bibliothek, wo die
Bücher noch, nach der beliebten Methode
der Klosterherren, an Ketten liegen. Der
Guido ist in der That dieses Ganges werth,
und eins der vortrefflichsten Werke von
diesem Maler. Es ist ein Christus, der sein
Kreuz trägt, in Lebensgröße In dem Ko-
pfe liegt ein wunderbarer Reichthum von
Seelenausdruck, der den Zuschauer, wel-
cher auch von dem dargestellten Gegen-
stande nichts wüßte, doch mit Entzücken
über den Dichtergeist des liebevollen Künst-
lers erfüllen muß. Es ist fast der vollen-
[239] detste Christuskopf, den ich je gesehen
habe. Man erstaunt, daß der Künstler die-
ses Interesse unter den übrigen nachtheili-
gen Umständen der darzustellenden Ge-
schichte erwecken konnte. Die Stellung un-
ter dem schweren Holze, das Christus trägt;
die unmalerische Figur dieses Holzes selbst;
die Entstellung der Gesichtszüge durch die
livide Farbe, welche von den Wunden der
Dornenkrone verursacht wird; der Strick
um den Leib, der auf der Erde schleppt: —
alles scheint sich verschworen zu haben,
den edlen Gegenstand unter den ungünstig-
sten Verhältnissen so unedel als möglich
erscheinen zu lassen. Dennoch hat der Geist
des Künstlers gesiegt, wo er ungefesselt
blieb. Schade nur, daß er gerade diesen
Zeitpunkt wählte! Doch wie oft ist es der
Fall, daß der Künstler wählen darf? Ein
Mönch oder ein Pfaffe, oder, was noch ärger
[240] als beide ist, ein Andächtler, bestimmt das
Süjet, und dem Maler bleibt nur das Ver-
dienst übrig, die neue Schwierigkeit, die
aus der Wahl eines unschicklichen Gegen-
standes entspringt, durch seine Kunst zu
überwinden.


In Allsouls College sieht man ein Altarblatt
von Rafael Mengs. Es ist ein Heiland im
Garten, nach der Auferstehung. Magdalene
liegt vor ihm auf den Knieen, und seine
Linke gebietet ihr, ihn nicht zu berühren.
Dieses berühmte Noli me tangere ist unstrei-
tig besser gemalt als der Guido; allein es
läßt den Zuschauer kalt, weil ihm die thea-
tralische Stellung nicht den Ausdruck ersetzt.
Es ist fast nicht möglich einen schönern
Körper als den des Heilands zu sehen; jeder
Zug ist der Natur abgeborgt; das Ganze
ist — eine sehr schöne Akademie. Auch
wüßte ich nicht, daß Rubens etwas wahrer
und
[241] und schöner kolorirt hätte. Ich finde die
Draperie edel, die Verkürzung des Arms
meisterhaft, den Christus-, oder besser, den
bärtigen Bacchuskopf von großer Schönheit,
und selbst die knieende Magdalene hat
genug von einer Niobes-Tochter, um vor
Kenneraugen Gnade zu finden. Allein dieser
behagliche Christus-Kopf sagt mir nichts,
erzählt nichts von seiner Geschichte; und
die Magdalene mit den Thränen im Auge,
scheint zu weinen, weil sie zurückgestoßen
wird, nicht weil sie ein Wunder ahndet.


Die Ausführung und Vollendung dieses
schönen Gemäldes geht übrigens bis in die
geringsten Details. Die Blumen und Kräuter,
die Cypressen in der Mitte, und die Wipfel
der Palme in der einen Ecke des Bildes
zeugen von der Sorgsamkeit des Künstlers,
auch in diesen hors d’œuvres nichts was
täuschen konnte zu vernachlässigen.


III. Theil. Q
[242]
Botanischer Garten zu Oxford.

Der Garten enthält fünf acres. Henry
d’Anvers Earl of Darby
kaufte den Grund
von dem Magdalen-College, und schenkte
ihn der Universität. Das Thor am Eingang,
von Inigo Jones gebauet, ist mit den Statüen
Karls des Ersten, Karls des Zweiten, und
des Grafen von Darby geziert. Dillenius,
der von Gießen berufen wurde, Scheuchzer,
der erste, der vor Leers Gräser kannte,
Sherard, der sich lange in Smyrna aufhielt,
waren Aufseher dieses Gartens. Dr. Sherard,
aus dessen Stiftung der Prof. Botanices ein
Gehalt bekommt, führte ein eignes Gebäude
im Garten auf; der geräumige Saal darin
dient zur Büchersammlung, zu den Herba-
rien, und zu den öffentlichen Demonstratio-
nen. Die Büchersammlung ist wahrschein-
lich die vollständigste in Europa. Am reich-
sten ist sie an ältern Schriften, die Sherard
[243] aufs mühsamste bis zum Jahre 1726 sam-
melte. An neuern Schriftstellern wird sie
bis jetzt noch von der Banksischen Biblio-
thek übertroffen; doch hat Professor Sib-
thorpe (of Lincoln College)
auch diesem Man-
gel abzuhelfen gesucht. Rudbeck’s campi
Elisti
sind vollständig hier; sie existiren
außerdem nur in Upsal und bei Sir Joseph
Banks,
alle andere Exemplare sind verbrannt.
Die Orchis, Serapias, und Irisarten sind
in Holzschnitten vortrefflich darin abge-
bildet.


Eine Sammlung ausgemalter Zeichnun-
gen von Japanischen Pflanzen ist überaus
sauber, und ohne Vergleich deutlicher als
die oft citirte Sudelei von Menzel, die man
Flora Japanica nennt. Ein Japanese, der
nach Oxford kam, hat mehrere dieser Pflan-
zen benannt.


Q 2
[244]

Etliche Volumina Indischer Pflanzen-
zeichnungen, die Boerhave kaufte, und die
noch ungestochen sind.


Herbaria. Das von Dillenius, aus dem
viele Pflanzen durch Raub in die Heinische
Sammlung kamen. Originalzeichnungen von
Dillenius zum hortus Eltamensis, zur histo-
ria muscorum,
ebenfalls noch ungestochen.
Sammlung von Kryptogamisten, aufgeklebt,
eben so wie sie in der historia muscorum ge-
stochen sind. — Herbarium von Sherard, nebst
dem Banksischen und Linnéischen wohl
das erste in der Welt. Als Dr. Sherard Kon-
sul zu Smyrna war, schickte er junge Leute
durch den ganzen Orient, um Pflanzen zu
sammeln; auch vergrößerte er seine Samm-
lung ansehnlich durch Ankauf aller Dublet-
ten aus dem Tournefortschen Herbarium,
und durch Geschenke. Sir Joseph Banks
erstaunte, als er von der Südsee zurückkam,
[245] hier Pflanzen aus Neuholland zu finden. Sie
waren von Dampier hierher geschenkt. Dr.
Sibthorpe ist damit beschäftigt, das große
Sherardische Herbarium nach dem Linnéi-
schen System zu ordnen. Es enthält auch
viele Pflanzen von Vaillant, Bocconi, und
Micheli Fiorentino. — Herbaria von Morison
und Scheuchzer.


Der botanische Garten enthält einzelne
Seltenheiten; im Ganzen aber weder eine
solche Varietät von Pflanzen, als der Göt-
tinger oder Salzwedelsche, noch so alte und
prächtige Exemplare, als der Berliner oder
Amsterdammer. Eine große Zierde dieses
Gartens ist die vollständige Sammlung in-
ländischer Englischer Gewächse, welche
auf einem eigenen Quartiere kultivirt wer-
den. Mehr Grasarten sind wohl kaum in
Erlangen zu finden, als hier. Zwei Ge-
wächshäuser, größer als die Göttinger,
Q 3
[246] aber ohne Vergleich kleiner als die Berli-
ner. Eine neue Grasart, deren Blätter wie
Citronen riechen, vermuthlich eine Agrostis,
hat nie geblühet. Aus dem Archipelagus hat
Sibthorpe viele neue Species gebracht, neue
Hesperis, Thymus, Verbascum, Campanula,
neue Gräser — alle wohlriechend. Nach-
dem er den größten Theil von Spanien,
Frankreich, Deutschland und der Schweiz
durchreist war, ging er mit Bauer (dessen
Bruder mit dem jungen Jacquin nach Lon-
don zu Banks kam) von Wien nach Neapel;
von Neapel im Sommer auf einem Engli-
schen Schiffe nach dem Archipelagus. Dort
schifften sie mit einem kleinen Boote, das
von fünf Mann gerudert wurde, von einer
Insel zur andern. Sie besuchten den Pelo-
ponnes, einen kleinen Theil von Macedo-
nien (wegen der Unsicherheit), Negro-
pont, Rhodus, Cephalonia, das dürre Cy-
[247] pern u. s. w. und Candia, die pflanzen-
reichste Gegend im Ionischen Meere. Den
Winter brachten sie in Pera zu, wo ihnen
Hawkins nachkam; und den zweiten Som-
mer gingen sie mit Hawkins und einem Eng-
lischen Kapitain auf einem Venetianischen
Schiffe wieder nach den Griechischen Inseln
und Klein-Asien. Im Herbst kehrten sie
über Italien zurück. Morina Persica bedeckt
den ganzen Parnaß. Der Helleborus der Alten
ist eine neue Species, ein Mittelding zwi-
schen Helleborus niger und viridis; doch dem
letzteren näher. Arbutus Andrachne ist es,
dessen Dioscorides erwähnt, nicht Arbutus
Unedo,
wie die Kommentatoren glauben.
Es ist der gemeinste, aber wegen seiner
glatten, vielfarbigen Rinde, auch der schön-
ste Baum auf den Griechischen Inseln. We-
der Dianthus caryophyllus, noch Rosa centi-
folia,
fand Sibthorpe irgendwo wild, wohl
Q 4
[248] aber den seltenen, und über alle Beschrei-
bung prächtigen Dianthus fruticosus und
Dianthus arboreus. Bei Paros, an einem
Tempel, fand Sibthorpe noch denselben
Laurus nobilis, den Pausanias beschreibt.
Überhaupt wird Sibthorpe an 500 neue Spe-
cies aus dem Griechischen Meere herausge-
ben. Zeichnungen brachte er gegen 1000 mit.


Lizari ist korrumpirt von Rizari, schlecht-
weg die Wurzel, wegen der Wichtigkeit der
Pflanze. Diese wahre Rubia tinctorum fand
Sibthorpe noch eben da in der Gegend von
Athen, wo Dioscorides ihre Kultur be-
schreibt. — Ein Grieche versicherte Sibthor-
pe’n
im Archipelagus, daß der obere Theil
der Euphorbia Apios Erbrechen, der untere
Durchfall verursache. Das große Specimen
von Myrtus Pimenta im Oxfordischen Gar-
ten hat folia decussata opposita. Die Tür-
ken essen die Frucht vom Prunus Laure-
[249] ceracus. Sibthorpe
selbst konnte nicht ausfin-
dig machen, welche Gattung von Papaver
das Opium giebt. Es scheint ihm Papaver
orientale
zu seyn. Er zeigte Ladanum vor,
das er selbst vom Cistus creticus gesam-
melt; auch ächtes Balsamum Meccae, das
dem Englischen Gesandten aus dem Serail
geschenkt war. Sibthorpe glaubt, es komme
von Amyris Opobalsamum: eine Fabel, die
ja schon Gleditsch widerlegt hat.


Der botanische Kursus in Oxford dauert
nur sechs Wochen.


[250]

14.
Dover.



Diesen Spaziergang am Strande gäb’ ich
nicht um vieles! Es war etwa eine Stunde
nach Sonnenuntergang; der Himmel blau
und heiter und wolkenleer über uns. Das
Meer rauschte auf den Kieseln des abschüssi-
gen Strandes fast ohne Wellen; denn ein
sanfter Morgenwind hauchte nur längs sei-
ner Oberfläche hin, und die Ebbe milderte
die Gewalt der majestätisch anprellenden
großen Kreise, die der Krümmung des Ufers
parallel in schäumenden Linien verrausch-
ten. — Hinter uns hing Shakspeare’s Fel-
sen hoch und schauervoll in der Luft: eine
thurmähnliche senkrecht abgestürzte Masse,
fünfhundert Fuß über der Meeresfläche
erhaben, weiß, und nur mit etwas
[251] daran hangendem Grün verziert. Links
auf einer ähnlichen doch etwas mindern
Höhe, über dem Kieselstrande, straub-
ten sich im magischen Lichte der Dämme-
rung die malerischen Thürme des Schlosses
von Dover, gleichsam vor dem Sturz, an
dessen Rande sie standen. Und jenseits des
blauen Meeres, das links und rechts im un-
absehlichen Horizont sich verlor, lag Frank-
reichs weiße und blaue Küste in manchen
hervorspringenden Hügeln vor uns hinge-
streckt. So wie wir dieses Schauspiel be-
trachteten, und von einem Gegenstande
zum andern unsre Blicke wandern ließen,
wachten neue Empfindungen in uns auf. —
Plötzlich, indem ich die felsenähnlichen
Spitzen des Schlosses betrachtete, that mein
Reisegefährte einen Schrei — des Erstaunens
und Entzückens. Ich wandte mich um, und
sah über dem Ufer von Calais ein auflo-
[252] derndes Feuer. Es war der Vollmond, wel-
cher göttlich aus dem Meere stieg, und all-
mählich sich über die Region der dichtern
Dünste erhob. Welch ein Anblick von un-
beschreiblicher Einfalt und Pracht! Bald
höher und höher emporschwebend, schickte
er von Trankreichs Ufer bis nach Albion
herüber einen hellen Lichtstreif, der, wie
ein gewässertes Band, zwischen beiden
Ländern eine täuschende Vereinigung zu
knüpfen schien. Im Dunkel das längs der
Felsenwand unter dem Schlosse herrschte,
flimmerte ein Licht romantisch hervor; über
Shakspeare’s Cliff hing ein schöner Stern im
weißesten Glanze nieder. O Natur! die
Größe womit du die Seele erfüllst, ist
heilig und erhaben über allen Ausdruck.
Shakspeare’s Cliff nannten uns die Knaben,
wie sie am Strande spielten, bei diesem ge-
liebten Namen.


[]
[figure]
[][253]

IV.
Rückreise von England
.


1.
Fahrt von Dover nach Calais.



Zur Rechten von Dover am Ufer ist
Shakspear’s Felsen; zur linken Dover Cliff,
sehr abgestürzt. Auf der Fläche in der
Mitte des Busens ist die Stadt gebauet, und
hinter der Stadt sieht man wieder einen ho-
hen Kreidefelsen, der nackt und fast ohne
alle Vegetation ist. Am Ufer liegen unzäh-
lige abgerundete Feuersteine.


In dem Kanale giebt es unzählige Delphin.
Phoeaena, sechs bis sieben Fuß lang, die
sich wälzen, u. s. w. Sie sollen Sturm pro-
[254] phezeien, weil sie nur bei stiller See zum
Vorschein kommen. Die Franzosen essen
sie, und machen auch Oehl daraus.


Am Ufer findet man keine Conchylien,
keine Zoophyten, auch bei Calais nicht, da
sie doch bei Dünkirchen so häufig sind. Die
Fluth treibt sie wohl durch den Kanal, und
wirft sie an die vorstehende Belgische Küste.


Während der Überfahrt bei Sonnen-
schein bemerkten wir sonderbare leuchtende
Punkte im Wasser, die eigenthümliches
Licht zu haben schienen.


Die Ufer von Calais sind niedrig, und
haben nicht, wie die entgegengesetzten,
vorstehende Kreidefelsen; daher kann man
von Dover aus wohl die hohen Felsen bei
Boulogne, aber nicht die Küste von Calais
sehen. Auf dieser Küste liegen auch keine
Feuersteine.


[255]

2
Auf der Reise nach Paris.


Den 30. Jun. setzten wir in einer plum-
pen, schweren, achtsitzigen Französischen
Kutsche die Reise durch die Picardie fort.
Die Kreideberge zu beiden Seiten des Kanals
ähneln sich vollkommen. Welche Kata-
strophe zerriß sie? Abstürze auf beiden Sei-
ten zeigen sich hier und da; doch mehr in
einem fort an der Englischen Küste.


Wir sahen den Ort, wo der unglück-
liche Pilatre du Rosier mit seinem Gefährten
Romain hinunterstürzte. Seine Geliebte er-
wartete ihn in Dover, ward wahnsinnig,
und starb. Schon schwebte er weit über
dem Kanal, als plötzlich der Wind sich in
der obern Region änderte, und ihn wieder
[256] über das Land führte. Auf einmal sah man
den Ballon Feuer fangen, und stürzen.


In Boulogne sur mer, einer ziemlich gro-
ßen Stadt, an einem kleinen unbequemen
Fischerhafen, frühstückten wir. Die un-
endliche Munterkeit der Französischen Sol-
daten, in einer Schenke uns gegenüber, er-
götzte uns sehr. Sie sangen ohne Aufhören.
Der Franzose, der bei uns war, ließ von
Zeit zu Zeit aus dem Wagen oder aus dem
Fenster des Gasthofes ein lautes: Vive la Na-
tion!
erschallen, welches mit allgemeinem
Jauchzen erwiedert ward.


Die Kutsche fährt langsam, höchstens
anderthalb Lieues in einer Stunde. — Der
Weg ging durch eine schöne, reich be-
bauete, offne Gegend. Die Landschaft hat
einen andern Charakter, als die Englische,
weil die Felder nicht mit lebendigen Hek-
ken umzäunt sind.


Zwischen
[257]

Zwischen Abbeville und Amiens ist ein
großer Torfmoor. Den Jahrmarkt, der eben
in Amiens war, fanden wir sehr ärmlich,
und hörten große Klage über den Stillstand
der Plüchefabriken und anderer Wollenma-
nufakturen, wegen des Kommerztraktates.
Die Stadt ist ansehnlich, und hat schöne
Promenaden.


Es giebt in der Picardie viele Englische
Schafe. Die beste Wolle findet man bei
Calais; doch ist sie schlechter, als die Eng-
lische. Liegt die Ursache hiervon im Kli-
ma? Schwerlich. Oder in der Behandlung?
der Fütterung? Die Weiden sind hier frei-
lich gewiß schlechter, als am Avon.


III. Theil. R
[258]

3.
Rückreise von Paris.


Von Paris reisten wir den 6. Julius über
Livry und Cloye nach Meaux, welches eine
alte, sehr schöne Kathedralkirche hat. Die
Straße ging durch eine reiche Gegend, mit
schönem Anbau und einer herrlichen Allee
von Bäumen längs dem Wege. — La Ferté
sous Jouarre
ist hübsch gelegen. — Hier
giebt es viele Berge, Sandstein; wenig An-
bau. Die Marne und ihre Ufer sind sehr
schön. Bei La Ferté ist eine Manufaktur von
Mühlsteinen. — Chateau Thierri hat eine
herrliche Lage — Ein großes Thal der
Marne, in welchem die Stadt und die Masse
von Thürmen aus dichtem Gebüsche her-
vorragen. Das Schloß steht in der Mitte auf
[259] einem Hügel. Die besonders schönen Ul-
men machen die Aussicht vorzüglich pitto-
resk und reich. — Der Fleiß und die Ar-
beitsamkeit des Landvolkes in dieser Ge-
gend geben gute Hoffnungen für die Zu-
kunft, wenn es Früchte seiner Arbeit ern-
ten wird, und sie nicht mehr von Andern
verschlungen seyn werden.


Den 7. Jul. Wir fuhren um drei Uhr
ab. Die gestrige Diligence von Metz war
voll Deputirter, die nach Paris zogen; auch
begegneten uns viele Extraposten mit diesen
Herren. Ein reitzendes Thal von weitem
Umfange öffnete sich vor uns, mit Kalkhü-
geln umgeben, worauf der Weinbau sehr
stark getrieben wird. Die Hügel sind schön
gelegen, und haben einen vortheilhaften
Abhang; ihr kreidenartiger Boden scheint
ebenfalls dem Weinbau zuträglich zu seyn.
Im Thale, welches eine große, breite, und
R 2
[260] mehrere Meilen lang zwischen den Hügeln
sich hinziehende Ebene bildet, schlängelte
sich die Marne zwischen Sandufern, wie
ein Band von Silberstoff, indem die Mor-
gensonne sie beschien. Die Äcker, Wiesen
und Triften dieses Thals sind von großem
Reichthum und unbeschreiblicher Schön-
heit; über die Rebenhügel ragt ein höherer,
wieder mit Korn bebaueter Rücken hervor,
der oben mit Waldung, und zuweilen mit
Städten und Dörfern gekrönt ist. Dieses
Thal reicht bis Epernay, welches sehr ma-
lerisch am Fuße der östlichen Hügel liegt,
wo sie sich auf einer unabsehlichen Ebene
verlieren. Wir erreichten diesen Ort um
10 Uhr, und setzten uns schon um halb eilf
zu Tische, nachdem wir etwa zwölf Lieues
zurückgelegt hatten. Nach Chalons flogen
wir auf einer acht Lieues langen Ebene von
herrlichem Getreidebau, und um vier Uhr
[261] kamen wir dort an, um unser Nachtlager
zu halten. Chalons hat alte schöne Kirchen;
ein prächtiges Hôtel de ville; eine schöne,
feste, einfache Brücke über die Marne;
schöne, regelmäßig angepflanzte Promena-
den; viele gute Gebäude. Aber die Straßen
sind todt, und die Einwohner fehlen. Über-
haupt giebt es in Frankreich mehr große
Städte, als in England. Aber der Schmutz in
den Wirthshäusern, die schlechte Bedienung,
das grobe Tischzeug machen das Reisen hier
ungleich beschwerlicher. Das Volk in die-
ser Gegend ist im Ganzen phlegmatischer,
als in der Picardie. Man findet im Allge-
meinen unter den Franzosen vielleicht weni-
ger Naturgaben — Phantasie ausgenommen
— als unter den Engländern, aber mehr
Kultur durch gesellschaftlichen Umgang:
daher mehr Leichtigkeit und Artigkeit,
und zugleich mehr Gleichgültigkeit gegen
R 3
[262] Reinlichkeit, Bequemlichkeit u. s. w., we-
niger Luxus.


Den 8. Jul. Die Ebene geht gegen sechs
bis acht Lieues fort; sie ist überall bebauet,
und man sieht fast nirgends einen Baum.
Ein, fünf Viertel-Lieues langes Dorf liegt
längs dem Wege in einiger Entfernung
rechts, an einem Bach, überall mit Pappeln
und Weiden umgeben, die denn hier zur
Feuerung dienen. Das Erdreich ist hier sehr
arm; kaum drei bis vier Zoll tief, so ist
man auf der Kreide. Daher wird schnell
gepflügt und viel bestreift; es scheint viel
brach zu liegen.


Man brennt in der hiesigen Gegend
Steinkohlen, die unweit Sainte Ménéhould
und bei Troies gegraben werden. Bei Sainte
Ménéhould
(10 Lieues von Chalons) fangt
es wieder an hügelig zu werden. Ein
Wald von Obstbäumen erstreckt sich fast
[263] ein Paar Lieues zwischen Sainte Ménéhould
und Clermont; dieser letztere Ort verkauft in
guten Jahren für 12000 Livres Kirschen. —
Auf den Bergen von Clermont findet man
schöne Waldungen, wovon die vielen Glas-
hütten um Clermont guten Gebrauch machen.
Das Erdreich ist grauer Kalkmergel.


Von Clermont, wo wir zu Mittag aßen,
bis Verdun, fährt man fünf Lieues, und
über ein Mergelgebirge, welches aus lang-
gestreckten wogigen Rücken besteht, und
wovon das Gestein näher nach Verdun zu
immer grauer wird, und in Thommergel
überzugehen scheint. Hier liegt sehr viel
Land brach, weil das Erdreich nicht ergie-
big ist. Man sieht indeß doch schöne reiche
Saaten, welche oft ganze Ebenen oder Rü-
cken, meilenweit ohne etwas das den An-
blick unterbricht, bedecken. Bei Verdun
[264] liegen einige sehr schöne Rebenhügel, wor-
auf guter Wein wächst. Verdun ist kleiner
als Chalons, aber ungleich schöner gelegen
und besser gebauet. Die Festungswerke
werden nicht mehr unterhalten. Die Stadt
liegt auf Hügeln, die Citadelle sehr hoch.
Die Maas fließt langsam mitten durch die
Stadt. Die Wälle, die mit Linden und
Hagebuchen herrlich bepflanzt sind, machen
den schönsten Spaziergang; die Citadelle
mit ihren hohen Wällen und Gräben, und
schönen Gebäuden, der Fluß, die Stadt un-
ter den Füßen — geben ein schönes Ge-
mälde. In Verdun macht man berühmte
Dragéen von allerlei Art. Der bischöfliche
Pallast, das Hôtel de Ville und einige Kir-
chen sind in der That nicht übel.


Den 9ten Julius. Bis Mauheule kamen
wir über ebenes, wogiges, schön bebautes
[265] Land. Die hohe Ebne ist schön gelegen.
Hier giebt es keinen Weinbau, aber köstliche
Wiesen und Äcker.


Von Mauheule bis zu dem Dorfe, wo
wir zu Mittag aßen, hatten wir meistens
dieselbe Gegend. Schönen Effekt machen
in Lothringen die flachwinkeligen Dächer.
Überhaupt sind die Dörfer hübsch, und es
scheint Wohlstand unter den Leuten zu
seyn. In Mauheule wollte man für ein But-
terbrot nichts von uns nehmen.


Wir langten um halb drei Uhr in Metz
an. Ungefähr anderthalb Lieues vorher
kommt man durch eine tiefe Schlucht, wel-
che zum Theil durch einen zwanzig bis
dreißig Schuh hohen Steindamm ausgefüllt
ist, über einen Bergrücken, an dessen jen-
seitigem jähem Absturz sich das weite schö-
ne Moselthal öffnet. Hier zeigten sich
viele schöne Dörfer in Gärten gelegen,
[266] Nußbäume, köstliche Rebengebirge rings-
um: eine herrliche Aussicht auf die Mosel
und Metz. In der Schlucht ein fester splittri-
ger hornartiger Sandfels, darüber gelber
Sandstein, mit Austerschalen, die noch ihr
Email hatten. Metz ist eine schöne große
und gut gebauete Stadt. Das Gouvernement
ist prachtvoll; der bischöfliche Pallast un-
vollendet. Um die alte Kathedralkirche
gehen viele Alleen, Gräben und Wälle. Die
Festung wird für die beste in Frankreich
gehalten.


[]

ANHANG.


a
[][]

I.
Geschichte der Kunst in England.


Vom Jahre 1789.


Mit ganzen Nationen verhält es sich oft,
wie mit einzelnen Menschen; will man
sie mit Billigkeit richten, so muß man
ihre Handlungen gegen ihre Kräfte abwä-
gen, und nicht von verschiedenen Kraft-
massen gleiche Resultate verlangen. Eine
ruhige, partheilose Untersuchung würde
uns auch bald belehren, daß diese Kräfte
selbst, von Organisation, vom Klima und
anderen Lokalumständen zwar immer nicht
unabhängig, durch Verfassungen gleich-
a 2
[4] wohl am wesentlichsten afficirt, und ent-
weder zur Wirksamkeit hervorgerufen, oder
zur Unthätigkeit gebunden werden kön-
nen. Wollte man demnach Vergleichun-
gen wagen, so würde unseres Bedünkens,
unter übrigens gleichen Umständen, der
Maßstab der Vollkommenheit kein ande-
rer seyn, als der Grad der Annäherung zu
jenem Ziele der Menschheit, welches wir
in der Perfektibilität unserer Anlagen so
deutlich erkennen. Irrthum und Wahrheit
sind für uns fast so unzertrennlich wie
Seele und Leib, wie die Kraft und die
Schranken des Daseyns; allein von mensch-
lichen Dingen menschlich zu reden, bliebe
doch das Land, das Volk, die Verfassung,
unserer höchsten Achtung werth, wo das
wenigste Vorurtheil herrscht, wo der mei-
ste Gemeinsinn, der thätigste Verstand,
der blühendste Wohlstand, sich gleich-
[5] förmig ausgebreitet haben und nicht etwa
nur eine privilegirte Klasse von Menschen
auf Kosten des großen Haufens beglücken.


Hätte mancher schwarzgallichte Kritiker,
der überall nur Mängel in England zu er-
blicken weiß, auf diese allgemeine Span-
nung und Entwickelung aller Geisteskräfte,
diesen schnellen Umlauf der Begriffe, die-
sen sittlichen Reichthum durch alle Stände
Rücksicht genommen; wahrlich, er hätte
betroffen schweigen, oder bewundern müs-
sen, was er jetzt mit aristarchischem Tadel
herabzuwürdigen sucht. Der ungeheure
Zulauf, den man in London überall, wo
etwas Besonderes zu sehen ist, bemerkt;
dieses rastlose Ringen nach neuen Vorstel-
lungen aller Art, mag ich weder zur
Wißbegierde erhöhen, noch zur langweili-
gen Neugier erniedrigen. Wie unbillig
wäre es aber, nach dem Glück, welches
[6] die unzähligen Schaustellungen dort ma-
chen, Schaustellungen, die man sieht, um
sie gesehen zu haben, und wo nur der
große und kleine Pöbel seine Bewunderung
zollt, ein allgemeines Urtheil über den
Kunstsinn der Engländer zu fällen? Aus-
sprüche von dieser und ähnlicher Konse-
quenz hat man sich indessen erlaubt. —
Doch ein jeder habe seine Weise; wir
wollen zufrieden seyn, wenn man uns die
unsrige läßt.


Die Fortschritte der Kunst im moder-
nen Europa, und insbesondere ihr letztes
Aufblühen in England, lassen sich nicht
nach dem Maßstab ächtgriechischer Kunst
beurtheilen. Dies glauben wir, nach dem
bereits Gesagten, im voraus als ausge-
macht annehmen zu dürfen. Was in Grie-
chenland geschah, konnte nur einmal ge-
schehen; dieselben Verhältnisse kommen
[7] in dem ganzen Leben der Menschengat-
tung nicht wieder. Unsere neuere Kunst
ist eine Pflegetochter des Luxus, und das
Conventionelle ist ihr höchstes Gesetz; weil
unsere Künstler, anstatt den Geschmack des
Publikums zu bilden, von dem Strom der
heutigen Sitten, der erkünstelten Bedürf-
nisse, der weichlichen Bequemlichkeit, an
Ketten unauflöslicher Verhältnisse fortge-
rissen werden, und sich nach den Launen
reicher Käufer richten müssen.


Die bürgerlichen Kriege verhinderten in
England, wie ehedem im alten Rom, das
Emporkommen der bildenden Künste. Die
Epoche des höchsten Wohlstands, des über-
schwänglichen Reichthums, den der Besitz
beider Indien, die Schifffahrt und der
Handel nach allen Weltgegenden in Eng-
land zusammenhäuften, sah endlich die
erste Morgenröthe des Künstlergenies her-
[8] vorschimmern. Allein so oft die Lüstern-
heit nach großen Reichthümern sich früher
als der Sinn für das Schöne entwickelt,
so oft leidet der Nationalgeschmack unter
diesen Verhältnissen. Die Römer, deren
Kunstepoche sich erst mit dem Verlust
ihrer Freiheit anfängt, befanden sich in
diesem Falle; und wenn sie unter ihren
Cäsarn manches große, manches edle Kunst-
werk vollbrachten, so dürfen wir auch
nicht vergessen, welche göttliche Muster
sie vor Augen hatten, und wie geläufig
ihnen die erhabenen Vorstellungen der
Griechen geworden seyn mußten, nach-
dem die Schätze der Kunst aus Sicilien,
Griechenland und Kleinasien in Rom zu-
sammengeflossen waren. Bedenkt man
aber, wie sehr das Klima von Italien und
die Natur überhaupt den Künstler dort be-
günstigen, so wird man bald gewahr, wie
[9] es größtentheils an jenen politischen Ver-
hältnissen lag, daß Rom in Absicht der
Kunst kein zweites Athen werden konnte.


Ein anderes Klima, eine andere Natur,
und weit verschiedene Sitten, äußerten im
Norden ihren Einfluß auf die Erzeugnisse
des geschäftigen Triebes, der so gern die
Bilder von empfangenen Eindrücken wie-
der sinnlich zu machen sucht. Von dem
Ilissus, und selbst von der Tiber, bis an
die Themse war der Abstand zu groß. Im
schönen Ideal des Griechen hätte der Brit-
te, wenn ihn nicht etwa der Anblick
einer andern Natur im südlichen Europa
für dasselbe vorbereitete und humanisirte,
die Wahrheit der Natur vermißt, oder
verkannt. Die Freiheit hat überdies ihren
besondern Eigensinn; ihr Land mit seinen
Produkten, ihre Sitten, ihre Moden sogar,
sind ihr heilig; und Trotz sei dem ge-
[10] boten, der Vollkommenheit, es sei in
welcher Hinsicht es wolle, außer den
Gränzen der glücklichen Insel sucht! Wie
schwer mußte es da nicht halten, dieses
Volk für eine ihm fremde Größe der Kunst
empfänglich zu machen!


Von den Niederlanden und aus Deutsch-
land wanderte die Kunst zuerst nach Eng-
land hinüber. Die Talente eines Holbein,
Rubens, Vandyk
und Kneller fanden bei ein-
zelnen gebildeten Menschen des sechzehnten
und siebzehnten Jahrhunderts großen Bei-
fall, und wurden zum Theil reichlicher
als in ihrem Vaterlande belohnt. Allein
diese Verpflanzung fremder Künstler blieb
von eingeschränkter Wirkung, bis die
Engländer häufiger das Ausland und zwar
hauptsächlich Italien besuchten, und dorther
theils den Geschmack an besseren Kunst-
werken, theils kostbare Sammlungen zu-
rückbrachten.


[11]

Das Glück der fremden Künstler und
die ihnen erwiesene Achtung, die Ver-
vielfältigung guter Muster, die Läuterung
des Geschmacks und mit demselben das
steigende Bedürfniß vorzügliche Kunst-
werke selbst zu besitzen: dies alles zu-
sammengenommen, mußte endlich eine
Brittische Künstlerschule ins Daseyn rufen.


Im Jahre 1754 entstand schon eine Pri-
vatgesellschaft, welche die Aufmunterung
der bildenden und mechanischen Künste,
der Manufakturen, des Handels und des
Landbaues zum Augenmerk hatte. So
heterogen diese Gegenstände scheinen, so
gehören sie doch alle in den großen Plan
der allgemeinen Staatswirthschaft, und das
Merkwürdige des Unternehmens besteht
nur darin, daß einzelne Patrioten hier das-
jenige thaten, was man anderwärts der
Regierung zu überlassen pflegt. Die edle
[12] Absicht, der Industrie neue Bahnen zu er-
öffnen, ist schon an sich der Bemühung
freier Menschen werth, und wird nur
noch wichtiger in einem kleinen, volk-
reichen Staate, dessen Seele diese Industrie
geworden ist. Goldene und silberne Denk-
münzen und Palletten wurden von dieser
Gesellschaft unter junge Zeichner, Bossi-
rer, Kupferstecher und andere Künstler,
die sich rühmlich ausgezeichnet hatten,
ausgetheilt, und dergleichen Preisverthei-
lungen werden noch jährlich fortgesetzt.
Die Brittischen Künstler selbst traten zu
einem ähnlichen Endzweck zusammen; sie
bemühten sich ihre Schüler zum Wett-
kampf anzufeuern, und fingen an, nach
dem Muster des Auslands, in jährlichen
Schaustellungen ihre eigenen Fortschritte
dem Publikum bekannt zu machen.


[13]

Endlich fand die Kunst in Georg dem
Dritten
einen eifrigen und freigebigen Be-
schützer. Er hatte gefühlt, wie weit die
einheimischen Künstler noch hinter denen
auf dem festen Lande zurückgeblieben wa-
ren, und sah die Nothwendigkeit des Bei-
spiels ein, um das Nationalgenie zur Nach-
eiferung zu entflammen. In dieser wohl-
thätigen Absicht stiftete er, vor etwa
zwanzig Jahren, die königliche Akademie
der Künste, und besetzte die meisten Stel-
len darin mit geschickten Ausländern. Die
Italiener: Cipriani, Carlini, Zuccarelli, Zuc-
chi, Bartolozzi
; die Deutschen, Zoffani,
Moser
und seine Tochter, Meyer, Angelika
Kauffmann
; der Schwede Nollekens, gehör-
ten alle zur ersten Stiftung. Im Sommerset-
Pallast, der seit Kurzem erst wieder aus
seinen Ruinen nach einem modernen Plan
hervorgestiegen ist, ward ein großer Flü-
[14] gel den Hörsälen der Akademie und einer
reichen Sammlung von den besten Ab-
güssen antiker Bildsäulen und Brustbilder
eingeräumt. Die Würde eines Akademi-
kers ward eine ehrenvolle Auszeichnung,
und der Ritterschlag, womit die Könige
aus dem Hause Stuart das Verdienst eines
Rubens und Vandyh, eines Lely und Kneller
geadelt hatten, mußte auch dem Präsiden-
ten der Akademie, Sir Josua Reynolds, sei-
nen Glanz verleihen.


In der Künstlerschule, welche unter
Aufsicht der Akademie hervorzukeimen be-
gann, wurden besoldete Lehrer angestellt,
und der berühmte Doktor Hunter lehrte
daselbst die Zergliederungskunst, diese er-
ste, unentbehrlichste Grundlage der arti-
stischen Vorkenntnisse. Die Akademie
hatte inzwischen an der größeren Gesell-
schaft der Brittischen Künstler (Society of
[15] Artifts
) eine thätige, und zum Theil auf-
gereitzte Nebenbuhlerin, und England ver-
dankt den Ruhm, den seine Künstler sich
erworben haben, großentheils der Eifer-
sucht, womit diese beiden Partheien ihre
Kräfte anstrengten, um es einander zuvor-
zuthun. Ihre jährlichen Schaustellungen
stritten lange um den Vorzug, und das
Publikum, welches nicht frei von allem
Vorurtheil gegen die Ausländer war, und
zugleich mit der Vorstellungsart der ein-
heimischen Künstler sympathisirte, sträubte
sich lange, der Akademie die Palme zuzu-
erkennen. Indessen gewannen die akade-
mischen Schaustellungen mit jedem Jahre
sichtbarlich an vorzüglicher Behandlung
und an der Zahl der Stücke; es traten
einige der stärksten Gegner über; die
Schale sank, und in dem Augenblick war
die alte Künstlergesellschaft gesprengt. In
[16] der That ist die öffentliche Schaustellung
ein vortreffliches Mittel, die Fähigkeit der
Künstler zu prüfen. Hier, wo das Schlechte
und Mittelmäßige neben dem Meisterhaf-
ten sogleich in sein Nichts zurücksinkt,
hier den Sieg davon getragen, und die
Forderungen des schwer zu befriedigenden
Kenners erfüllt zu haben, ist ein Lob, um
welches der Künstler es der Mühe werth
achtet, seine Phantasie und alle seine Kräfte
aufzubieten. Oft versucht auch der bloße
Dilettant, den Künstlern von Profession
nachzueifern, und man hat in allen Schau-
stellungen sogar Frauenzimmer gesehen,
die den Pinsel zu führen wußten; ja,
noch neuerlich gaben Miß Boyle und Mrs.
Damer auch das Beispiel einer seltnen Ge-
schicklichkeit in der Führung des Ham-
mers und des Meißels. Seitdem die Aka-
demie das Feld allein behalten hat, und
von
[17] von den Ausländern viele weggestorben,
oder abgegangen und durch Einheimische
ersetzt worden sind, will man es an ihren
Exhibitionen bemerkt haben, daß der Ei-
fer nachzulassen scheint, und durch eine
neue Rivalität wieder geweckt zu werden
verdiente.


Indessen, dieser Vorwurf sey gegrün-
det oder nicht, so viel ist wenigstens ge-
wiß: die Entstehung einer eigenthümli-
chen, durch den besondern Charakter ihrer
Werke ausgezeichneten, Brittischen Künst-
lerschule, verdankt man lediglich der Stif-
tung der königlichen Kunstakademie. Der
Stolz, und wenn das Wort nicht zu hart
klingt, die Mißgunst der Künstler auf dem
festen Lande, scheint den Engländern un-
gern diesen Namen einer Schule zuzuge-
stehen; allein die Dauer hat ihn bereits
bestätigt, und der überhandnehmende Ge-
b
[18] schmack an Englischen Kunstwerken druckt
ihm sogar ein ehrenvolles Siegel auf, wel-
ches dadurch noch bedeutender wird, daß
in unsern Zeiten kein anderes Volk durch
die Zahl seiner Künstler, den Werth und
die Mannichfaltigkeit ihrer Werke, auf
den Besitz einer Künstlerschule Anspruch
macht.


Der Charakter der Brittischen Schule
ward theils durch die Stimmung der Na-
tion, theils durch ihre ausländischen Leh-
rer bestimmt. Zwischen dem Kunstgefühl
des einzelnen Menschen, und dem Ge-
schmack eines ganzen Volkes, findet man
aber nicht leicht die Granzen des gegen-
seitigen Eigenthums. Der feinere Sinn,
welcher das Erbtheil weniger Glücklichen
ist, deren Anlage und Ausbildung zweck-
mäßig zusammenstimmten, läßt sich vom
großen Haufen nicht erwarten; und selbst
[19] in Athen war nicht ein jeder Bürger ein
Kunstkenner, viel weniger ein Künstler.
Aber wahr ist es dessen ungeachtet, daß
Ein Volk vor dem andern empfänglicher
ist, mehr Einfalt, Wärme und Adel der
Empfindung hat, und, was vielleicht nicht
minder wichtig seyn kann, durch Verhält-
nisse richtiger geleitet wird. Im Norden
von Europa ist der bedeckte menschliche
Körper in seinen Verhältnissen theils we-
niger bekannt, theils wirklich minder
schön. Der Britte, dessen Nahrung haupt-
sächlich in Fleisch und starkem Biere be-
steht, wird fleischig, saftreich, mit Fett
durchwachsen, und bietet folglich keine
so bestimmt gezeichnete, keine so straffe
Muskeln dar, als der Körper des äußerst
mäßigen, nackten, hagern Süd-Europäers,
bei dem die festen Theile mit den flüßi-
gen mehr im Gleichgewichte stehen. Eine
b 2
[20] unmittelbare Folge dieser Verschiedenheit
der Sitten und der Organisation ist die
den Brittischen Künstlern so oft und mit
so großem Rechte vorgeworfene Inkor-
rektheit der Zeichnung: ein Fehler, dem
das fleißigste Studium ihrer übrigens wohl-
gebauten akademischen Figuren nicht ab-
helfen kann. Die Antike zwar, könnte
diesen Mangel ersetzen; allein der junge
Künstler wird zu wenig für den Fleiß be-
lohnt, den er etwa darauf wenden möchte,
indem sein Richter nicht sowohl Styl, als
nur Effekt von ihm verlangt. Der Britti-
sche Kenner selbst beurtheilt die Kunst nur
nach einer ihm geläufigen Natur; und da
ihm das Nackte fremd ist, so läßt er sich
eine konventionelle Charakteristik anstatt
desselben gefallen, oder fordert sie wohl
gar, weil er die angenommenen Zeichen
besser versteht, als die Wahrheit des Le-
[21] bens, die ihm, gegen die Auswüchse der
Manier gehalten, nicht Ausdruck genug zu
haben scheint.


Kein Wunder also, wenn unter den
bildenden Künsten in England die Bild-
hauerei
auf der niedrigsten Stufe der Ver-
vollkommnung steht. Auf Einheit des Ge-
genstandes und dessen Einfalt eingeschränkt,
bleibt die höchste Harmonie der Umrisse
ihre wesentlichste Vollkommenheit; und
gerade sie ist es, die weder der Künstler
noch das Publikum recht ergriffen zu haben
scheint. Dies sey indeß kein Vorwurf,
der die Englischen Bildhauer ausschließen-
der Weise treffen soll. Ihre Kunst mußte
fallen mit dem Sturz der Griechischen
Mythologie, mit den Sitten und dem Co-
stume des Alterthums. In der That wäre
es Vermessenheit zu behaupten, daß es
dem Meißel der Neuern jo gelingen dürfte,
[22] die Meisterwerke des Griechischen zu er-
reichen; und die Zweckwidrigkeit des
Versuchs, der Bildhauerkunst moderne
Gegenstände unterzuschieben, bedarf nicht
erst eines Beweises. Unsere erträglichsten
Statuen sind diejenigen, wo der Künstler
es wagen durfte, sich über die Formen
des Gothischen und des heutigen Zeitalters
hinwegzusetzen, und einem Deutschen oder
Gallischen Fürsten das Sagum des Römi-
schen Feldherrn, einem christlichen Heili-
gen ein Griechisches Gewand anzulegen.
Dadurch geht aber alles Charakteristische
verloren, oder es entsteht in vielen Fällen
eine heterogene Mischung des Alten und
Neuen, die das Gefühl des Kenners belei-
digt. Wo nun gar der Held in Ritter-
rüstung erscheint, oder die Wahl auf em-
pörende Gegenstände fällt, deren Werth
bloß religiöse Nebenbegriffe bestimmen,
[23] dort sind die Geschöpfe des Bildhauers
nur von relativer Vortrefflichkeit, welche
mit der Antike keinen Vergleich aushalten
kann. Die Kräfte unserer Bildhauer ver-
schwendet aber der kleinliche Egoismus
der Zeitgenossen größtentheils an Mauso-
leen, die mit dem Wunderwerke, welches
Artemisia ihrem Gemahl errichten ließ,
nur den Namen gemein haben, und wo
die Decenz, die Eitelkeit, der Wahn, und
tausend Bedenklichkeiten dem Genie Fes-
seln anlegen, und es in einen engen Kreis
von anmuthslosen Bildern bannen. In
England müßte die Bildhauerkunst wahr-
scheinlich betteln gehen, wenn sie nicht
die Kirchen mit Grabmählern füllte, an
denen Grazie und Schönheit, Erfindung
und Anordnung, den Zuschauer selten mehr
befriedigen, als die Armseligkeiten an dem
prunkvollen Grabe des Marschalls von Sach-
[42[24]] sen
in Strasburg, oder die matte Nahlische
Erfindung zu Hindelbank. Die berühm-
testen Bildhauer in England, Bacon und
Banks, müssen, wie die vom zweiten Ran-
ge, Wilton, Moore und Andere, dieser
Thorheit des Zeitalters fröhnen. Die bei-
den ersteren sind Künstler von einigem
Verdienst. Man sah vor wenigen Jahren
einen Mars in Marmor, von Bacon’s Hand,
der viel Kraft, Kenntniß des Nackten und
des Alterthums verrieth; und nicht min-
der glücklich fand man das Modell eines
Achilles von Banks. Versuche dieser Art
zeigen, was der Künstler hätte werden
können, hätte er zu Alexanders oder zu
Augusts Zeiten gelebt; gelebt in Ideen, die
ihn begeistern, und dem Kenner die Au-
gen öffnen müssen. Wer bewundert heut
zu Tage einen Mars oder Achill? Wer
fühlt die Macht des zerstörenden Gottes,
[25] wer den Zorn des Helden, beide in männ-
licher Schönheit erhaben? Allein der bes-
sere Künstler fühlt es tief, daß nur Werke
dieser Art ihm genügen können, weil er
nur an ihnen seine Kunst erschöpft. An
ihnen entschädigt er sich daher auch für
die dem falschen Geschmack geopferte
Zeit und Kraft. Das von Bacon für Ster-
ne’s Eliza
, die bekannte Mrs. Draper, in
der Kathedralkirche zu Bristol verfertigte
Denkmahl zeichnet sich jedoch von den ge-
wöhnlichen Werken dieses Faches vor-
theilhaft aus, und das Grabmahl des Dr.
Markham wird ebenfalls unter seine besten
Arbeiten gezählt.


Den berühmten Männern ihrer Insel,
Staatsmännern, Helden und Gelehrten ha-
ben ihre Freunde oder ihre Verwandten in
einer Ecke der Westminsterkirche bekannt-
lich dergleichen Denkmählergeweihet. Diese
[26] Anerkennung des Verdienstes um den Staat
und seine Bürger, dieser public Spirit, der
gewöhnlich nur Privatpersonen beseelt, er-
greift auch zuweilen ganze öffentliche
Corpora, und selbst die Repräsentanten des
gesammten Volkes. So hat man die Stadt
London ihrem patriotischen Beckford in
dem Rathhause eine Statue errichten sehen,
und so verewigte die Nation neulich in
der Westminsterkirche die Verdienste des
in Indien verstorbenen Generals Coote, und
ihrer Seehelden, Lord Robert Manners, Ca-
pitain Blair, und Capitain Baynes. Britan-
nia, vom Ruhme begleitet, empfängt aus
des Oceanus Händen die Namen dieser
Edlen, die den Tod fürs Vaterland star-
ben. So ließ die Marine-Societät, welche
die Aufnahme der Seehandlung zu ihrem
Augenmerk gewählt hat, fast zu gleicher
Zeit dem in England berühmten Freunde
[27] der Nothleidenden, dem Kaufmann Jonas
Hanway
, in derselben Kirche von den Ge-
brüdern Moore ein Denkmahl errichten; und
nur die jungfränliche Bescheidenheit des
rechtschaffenen Howard, der die Leiden der
Menschheit im Kerker so rührend darstellt,
und so dringend um die Minderung ihres
Elendes fleht, konnte die ihm zugedachte
Ehre eines ihm bei seinen Lebzeiten zu
errichtenden Standbildes verbitten. So
ward jüngst, bei der Gedächtnißfeier der
errungenen Freiheit, im Taumel patrioti-
scher Freude beschlossen, daß auf jener
Runnemede, wo König Johann die Magna
Charta
unterschrieb, hinfort eine Denksäule
den Triumph der Menschheit verkündigen
sollte. Endlich, um ein Monument nicht
zu vergessen, von welchem Britten nur
mit Begeisterung sprechen, so weihte der
König und das Parlament mit einem großen
[28] Aufwand von Kosten dem ruhmvollen Pitt
dem Vater des jetzigen Premierministers,
unter dessen Staatsverwaltung Großbrit-
tannien den höchsten Gipfel seiner Wohl-
fahrt und seines Glanzes erstieg, ein alle-
gorisches Kunstwerk, welches unter vielen
andern in der Westminsterkirche prangt,
und Bacon’s Namen für sich hat. Der
große Mann steht in der Nische einer ab-
gestumpften Pyramide; unter seinen Füßen
trauern die Staatsklugheit und die Bestän-
digkeit um seinen Sarg; hier sitzt Britan-
nia, zu ihren Seiten das Glück und der
Ocean. Doch, wie gesagt: nur als Zeug-
nisse des Nationalstolzes, welcher die Be-
friedigung seiner Eigenliebe selbst in der
Dankbarkeit gegen die großen Männer
seines Volkes sucht, können diese ge-
schmacklosen Arbeiten einen Werth haben,
der ihnen von Seiten der Kunst immer
[29] fehlen wird. Allongeperücken und mo-
derne Amtskleidungen vermag selbst der
talentvolleste Künstler mit den Regeln des
Edlen und des Schönen nicht zu reimen;
allein das Gold ist hier der Schiedsrichter
des Geschmacks geworden, und für Gold
verräth man die Kunst.


Wirkten nicht diese Verhältnisse der
Sitten, mit jenen der Natur und des Him-
melsstriches zusammen, so wäre vielleicht
außer Italien kein Ort so glücklich wie
London mit allem ausgerüstet, was den
Bildhauer zu einem hohen Grade der Ver-
vollkommnung führen kann. Außer der
Sammlung von Abgüssen, welche sich in
den Sälen der Akademie dem jungen Zeich-
ner darbietet, besitzt der Herzog von Rich-
mond
eine zweite, die an Vollständigkeit
wenige ihres Gleichen hat. Noch ungleich
lehrreicher aber sind die Museen einzelner
[30] geschmackvoller Privatmänner, die aus
dem Schutt des alten Roms, vermittelst
des allmächtigen Talismans ihres Goldes,
ächte, edle Kunstwerke hervorgezaubert,
und nach England herübergeführt haben.
Die schöne Villa des Lords Besborough,
und die nicht weit davon entlegene
des Mr. Browne enthalten einige treffliche
Stücke. Den Pallast des Marquis von
Lansdowne
in London zieren mehrere herr-
liche Bildsäulen, unter andern ein Theseus
von vorzüglicher Arbeit. Allein vor allen
verdient der Antikensaal, den Townley mit
gleichgroßem Aufwand, Glück und Ge-
schmack den auserlesensten Proben der
Bildhauerey vom edelsten Styl gewidmet
hat, die Bewunderung des Kenners. Nicht
leicht wird man in Italien, die Sammlun-
gen des Vatikans und die anbetungswürdi-
gen Meisterwerke der Florentinischen Gal-
[31] lerie abgerechnet, in einem fürstlichen
Pallast so viel Vortreffliches beisammen
finden, als eines nicht einmal außerordent-
lich begüterten Englanders Liebhaberei hier
gleichsam in ein gemeinschaftliches Heilig-
thum gestellt hat. Es sind der köstlich-
sten Werke des antiken Meißels zu viele,
als daß wir sie hier verzeichnen könnten;
aber eine Cybele und eine Dione müssen
wir wenigstens nennen, beide über Lebens-
größe, deren Göttlichkeit den Zuschauer
auf den ersten Blick ergreift; einen schö-
nen Bacchus, dem Ampelus zur Seite
steht; eine Thalia, ganz was sie seyn soll,
Grazie; eine Nachahmung der Astragali-
zonten des Polyklet; zwei liebliche Faunen;
die Brustbilder der Minerva, der Klytie,
des Antinous, des Bacchus, des Herkules,
des Trajan, des Apollo, des Mark Aurel.
Man denke sich diese heiligen Ueberbleibsel
[32] der Griechischen Phantasie in einer Reihe
von Zimmern, die der klassische Geschmack
des Besitzers mit reicher Einfalt verzierte,
zwischen Säulen und Vasen, Sarkophagen,
Inschriften, Basreliefs, Sphinxen, Löwen,
Hetrurischen Urnen, Lampen, Opfergefä-
ßen, von Granit und Porphyr, von Erz
und Marmor und gebrannter Erde; wo
nichts den Eindruck stören kann, den das
Gefühl von idealischer Schönheit, hoher
Würde und Vortrefflichkeit empfängt!


Die kostbare Sammlung von antiken
Gemmen, hauptsächlich Intaglien, welche
Townley ebenfalls besitzt, ist nicht minder
vortrefflich und sehenswerth in ihrer Art.
Fragt jemand, warum der Anblick dieser
Wunderwerke den Brittischen Künstler
nicht zum Nacheifern reitzt? Dem müssen
wir antworten, daß zwar die leidenschaft-
liche Liebhaberei, aber nicht der ver-
schwen-
[33] schwenderische Luxus die großen Werke
der Kunst bezahlen kann. Locatelli, ein
Italienischer Bildhauer, verfertigte für den
Grafen von Oxford eine kolossalische Grup-
pe, wo Herkules und Theseus den Cerbe-
rus hervorschleppen aus den Regionen der
Hölle. Nach vollendeter Arbeit forderte
der Künstler zweitausend vierhundert Pfund
Sterling, oder beinahe funfzehntausend
Reichsthaler; allein den Lord überraschte
die ungeheure Forderung: er ließ sich vor
Gericht verklagen, und als beide Partheien
endlich sich dem Spruche der Schiedsrich-
ter unterwarfen, mußte Locatelli den ge-
hofften Gewinn von seiner Arbeit ver-
schwinden sehen. Wenn es demnach zu-
weilen einzelne Beispiele von einer unge-
wöhnlichen Schätzung des Künstlerver-
dienstes giebt; wenn man auch den Eigen-
thümern des Gartens zu Vauxhall für
c
[34]Robillac’s Bildsäule des berühmten Deut-
schen Tonkünstlers Händel siebenhundert
Pfund Sterling geboten hat, so sind doch
diese Fälle zu selten, um das Genie zur
Wirksamkeit zu entflammen. Das begreift
man aber, daß jene reiche Sammlung von
Campanischen [Gefäſsen] im Brittischen Mu-
seum, welche das Parlament bei guter
Laune für achttausend Pfund Sterling von
dem Ritter Hamilton kaufte, von Englischen
Mechanikern eifrig nachgeahmt, die Ur-
bilder zu unzähligen Geräthschaften der
Bequemlichkeit und des Luxus lieferte.
Das Schöne des Alterthums muß nur die
Hülle des Nützlichen borgen, so gefällt
es noch allenfalls! Wenn es aber mit dem
Sinn für das Schöne dahin kommt, dann
verfällt man nur gar zu leicht auf ein
Nützliches, welches nicht mehr schön
ist, auf die tausend Künste der Gewinn-
[35] sucht und jeder andern niedrigen Leiden-
schaft. —


Die Malerei hat in England mehr Lieb-
haber als die Bildhauerkunst, in dem
Maße, wie es leichter ist, mit dem Pinsel
als mit dem Meißel den Forderungen des
Auges Genüge zu leisten, und wie man
mit gleichem Aufwande leichter eine Ge-
mäldegallerie als eine Sammlung antiker
Statuen anlegen kann. Gründliche, ge-
fühlvolle Kenner sind überall seltene Er-
scheinungen; die Litteratoren der Kunst,
wenn uns dieser Ausdruck vergönnt ist,
die mit dem Zirkel und Maßstab in der
Hand, wie Sterne im Tristram Shandy sie
schildert, den ganzen Schwall von Ter-
minologieen im Munde führen, und alles
was zur Beurtheilung eines Gemäldes nö-
thig ist, nur nicht Gefühl, besitzen, sind
in England unter den Künstlern und den
c 2
[36] Liebhabern, wie auf dem festen Lande,
häufig genug, und geben den Ton bei den
fast wöchentlich vorfallenden Gemäldever-
steigerungen. Die Menge der Halbwisser
und der reichen Unwissenden ist freilich
noch größer; allein mit Unrecht hat man
behaupten wollen, daß man in England
durchgehends von der Beurtheilung der
Malerei nichts wisse, und immer nur
von gewinnsüchtigen Mäklern hintergangen
werde. Es giebt in London eine große
Anzahl von trefflichen Werken Italienischer
Meister, die in den Häusern begüterter
Privatpersonen zerstreuet und zum Theil
wenig bekannt sind. Die Herzoge von De-
vonshire, Northumberland
und Marlborough
nebst vielen andern Adelichen besitzen ein-
zelne Stücke und ganze Sammlungen von
anerkanntem Werth. Endlich ist der Ge-
schmack des Königs an diesem Theile der
[37] Kunst in seiner auserlesenen Sammlung
sichtbar, welche die Zimmer des Pallasts
der Königin ziert. Hier werden auch jetzt
die herrlichen Kartons von Raphaels großen
Meisterwerken aufbewahrt, die ehedem im
Schlosse zu Hamptoncourt zur Vergessen-
heit verurtheilt schienen. In einem so
reichen Lande, wo man seines Ueberflus-
ses froh zu werden weiß, und sich zu-
gleich eines hohen Grades der Ausbildung
rühmen darf, ist der Handel mit Schilde-
reien ansehnlich genug, um eine ganze
Klasse von spekulirenden, sowohl auslän-
dischen als einheimischen Brocanteurs zu
beschäftigen, und zu bereichern. Wenn
aber vor Zeiten die Betrügereien dieser
Leute ungeahndet hingingen, so ist dieses
heut zu Tage nicht so leicht der Fall.
Das Eigenthümliche der verschiedenen
Meister, die Seltenheit ihrer Stücke, und
[38] alle dahin gehörigen Anekdoten, wissen
einzelne Kunstverständige in London so
genau zu bestimmen, als der schlauste Ita-
liener. Dessen ungeachtet findet allerdings
auch das Schlechteste seinen Käufer, wie
das Beste. Wenn Albano’s Loth und seine
Töchter, wegen der ihm eignen Lieblich-
keit und Grazie, dem Bischof zu Bristol
mehr als dreitausend Thaler entlockt, so
genügt es hingegen manchem eitlen Welt-
mann ein Bild um des berühmten Namens
seines Urhebers willen an sich zu bringen,
indeß der ungleich größere Haufe sich an
elenden Sudeleien ergötzt, bloß weil Far-
ben und Gestalten seinem Blick entgegen-
schimmern; seine Zimmer mit illuminir-
ten Kupferstichen oder mit Mr. Booth’s
neuerfundenen Kopieen von Oelgemälden
schmückt, und in Ermangelung der Mit-
tel, sich diese Kostbarkeiten zu verschaf-
[39] fen, in alle Schaustellungen und Auktio-
nen läuft, und vor jedem Bilderladen ganze
Stunden lang gaffend stehen bleibt.


Wenn man dasjenige, was wir von
dem Studium des Nackten und Idealisch-
schönen in England bereits gesagt haben,
in Erwägung zieht, so wird man mit
ziemlicher Wahrscheinlichkeit vorausbe-
stimmen können, in welcher Gattung von
Malerei die Englischen Künstler die stärk-
sten Fortschritte gethan haben. Wo es
darauf ankommt, Götter und Heroen zu
schildern, die menschliche Natur geahndet
in der Vollkommenheit des Möglichen,
oder auch nur ergriffen auf der höchsten
Stufe des wirklichen Schönen, auf der
Leinwand in die Phantasie der Zuschauer
wirken zu lassen: dort stehen sie überall
weit vom Ziele zurück. Die Ausländer,
die als Mitglieder der neuen Akademie zur
[40] Bildung der Englischen Schule beitragen
sollten, waren zwar verdienstvolle Künst-
ler; allein gerade in diesem edelsten Theile
der Malerei gehörten sie nicht zu den
Meistern in der Kunst. Cipriani, der sie
in der Zeichnung alle übertraf, kämpfte
mit seinem Schicksal, und ward nur durch
den Grabstichel seines Freundes Bartolozzi
bekannt. Die Deutsche Muse, Angelika,
verbarg die Inkorrektheit und das Einerlei
ihrer allzuschlanken Figuren unter dem
Schleier der Grazie und Unschuld. Diese
Muster, die Modelle, welche die Venus
Pandemos, oder die Herberge der Sänften-
träger hergiebt, und die Gipsabgüsse des
akademischen Antikensaals, sind die Hülfs-
mittel, wodurch der Britte sich in Lon-
don zum historischen Maler bildet.


Indessen genoß der vorzüglichste Eng-
lische Künstler im historischen Fache,
[41]Benjamin West, eine geraume Zeit hindurch
das Glück, in Italien die Meisterwerke
seiner Kunst zu studieren. Dieser Mann,
von Geburt ein Nord-Amerikaner, und
ein Mitglied der ernsthaften, stillen, stei-
fen, aber ehrwürdigen Gemeine der Quä-
ker, ist bereits durch die vielen Kupfer-
stiche, die nach seinen besten Werken ver-
fertigt worden sind, unter uns rühmlich
bekannt. Seine älteren Arbeiten, der Ab-
schied des Regulus, Scipio’s Enthaltsam-
keit, der Eid des Römerfeindes Hannibal,
die traurende Agrippina, der betroffene
Aegistheus, der heilige Stephanus, der
Erzengel Michael, haben in der That bei
aller Kälte, allen Mängeln der Zeichnung,
allen Fehlern des Kolorits, allem Flick-
werk der dem Poussin und andern großen
Malern knechtisch nachgemachten Drape-
rien, die man einigen dieser Stücke vor-
[42] werfen kann, unverkennbare Züge eines
edlen, keuschen, für das Große und Reine
sehr empfänglichen Einbildungskraft. Seine
Gegenstände sind gemeiniglich gut ge-
wählt, und haben jene Würde, die sie der
Kunst empfiehlt; seine Anordnung ist über-
dacht, seine Komposition zuweilen reich;
seine Figuren zeichnen sich durch Anstand
aus, und es herrscht in seinen Gemälden
die Einheit des Gedankens, die sie zu
einem Ganzen schafft. Allein zur Wahr-
heit der heroischen Empfindung hat er
sich nur selten hinaufzuschwingen ge-
wußt; seine Gesichter sind oft nur allzu
leer an Ausdruck, und verrathen, wie die
kalten Stellungen, den mißlungenen Ver-
such, durch Uebertragung des Griechischen
Marmors auf seine Leinwand, Griechische
Erhabenheit und Ruhe der zur Göttlich-
keit erhöheten Lebenskraft zu erzwingen.
[43] Wir könnten die Charakteristik dieses
Künstlers noch kürzer fassen und sagen:
daß seine Darstellung des heroischen Schö-
nen zwar niemals unedel ist, aber es auch
nie erschöpft. Das erhabenste Werk seiner
Phantasie ist der Ugolino, den er wahr-
scheinlich noch in Italien dichtete; man
empfindet mit der Wonne der Wiederer-
kennung, daß der Künstler hier Reminis-
cenzen aus dem Studium der Antike mit
Genie benutzt, und Züge vom Jupiter und
vom Laokoon entlehnt hat, ohne der Ori-
ginalität seines eigenen Gedankens zu nahe
zu treten.


Wests neuere Werke haben einen ganz
verschiedenen Charakter. Gegenstände, die
aus unseren Zeiten und Sitten entnommen
waren, hatte er bereits mit großem Glücke
behandelt. Sie waren seinen Talenten an-
gemessen, sein Gefühl konnte sich leichter
[44] hinein versetzen, und sein Publikum ihn
besser verstehen. Ein undankbares, an
malerischer Grazie verarmtes, ganz außer
dem Bezirk des Edlen liegendes Sujet, die
erste Zusammenkunft William Penns mit
den Wilden in Nord-Amerika, hatte we-
nigstens denjenigen Werth, den die ge-
treue Darstellung des Costume und einer
übrigens moralisch guten Handlung geben
kann. Die Glaubensverwandten des Künst-
lers fanden sich in diesem Gemälde sehr
geschmeichelt, und mit ihrem Beifalle
hatte er vielleicht für diesesmal seine Ab-
sicht erreicht. Gegen dieses kalte Blatt
machte die herrliche Scene, wo der Gene-
ral Woulfe, ein junger Brittischer Held,
als Sieger vor Quebeck den Tod fürs Va-
terland stirbt, den auffallendsten Kontrast.
Dieses Meisterwerk in seiner Art, dessen
schöne Komposition und rührender Aus-
[45] druck allgemein bekannt sind, kann ge-
wissermaßen die Hohe bestimmen, die der
Brittischen Schule in historischen Gemäl-
den erreichbar ist. Ganz bekleidete Figu-
ren, Sitten und Gewänder unserer Zeit,
und wahre sittliche Empfindung des wirk-
lichen Lebens, die einer gewissen Zartheit
und eines gewissen Schwunges bei ihrer
Lauterkeit und naiven Unbefangenheit wohl
fähig ist, setzen das Brittische Künstler-
genie in das vortheilhafteste Licht.


Mit der Vorstellung der beiden Schlach-
ten bei La Hogue und an dem Boyne er-
öffnete sich West eine neue Laufbahn.
Vielleicht konnte der Vorwurf, daß in
seinen bisherigen Arbeiten zu viel Kälte
und Monotonie geherrscht, daß es man-
chen an Ausdruck und kräftiger Farber-
mischung gefehlt habe, zugleich aber auch
der ausdrückliche Wunsch des Königs, von
[46] seinem Hofmaler die vorzüglichsten Sce-
nen der Brittischen Geschichte dargestellt
zu sehen, diese Veränderung bewirken.
Beide Schlachten kennt man bereits aus
den schönen Kupferstichen, die darnach
verfertigt sind. Es fehlt ihnen nicht an
Handlung und Ausdruck; jene fällt sogar
ins Theatralische, und diese hat schon die
Verzerrungen einer falschen Charakteristik.
Die Wirkung der Farben dieser Stücke ist
auffallender, als sie es in Wests früheren
Arbeiten war; doch scheint er im Kolorit
keine besondere Stärke erreichen zu kön-
nen. Die wichtigsten Unternehmungen
der Brittischen Truppen während des
letzten Krieges in Amerika, hat dieser ge-
schickte Maler auf sechs Gemälden vor-
gestellt, oder vielmehr von seinem Schü-
ler Trumbull, ebenfalls einem gebornen
Nord-Amerikaner, der sich auch durch
[47] seinen Ausfall der Garnison von Gibraltar
gut angekündigt hat, in einer sehr ani-
mirten Manier ausführen lassen. Uebri-
gens gehört West unter die wenigen Künst-
ler, deren Talent nicht nur anerkannt und
belohnt, sondern deren Charakter auch ge-
ehrt, und deren Umgang selbst von den
Großen der Erde gesucht wird. Der Kö-
nig, der ihn vorzüglich schätzt, hat ihm
die Verzierung der neuen Zimmer im
Schlosse zu Windsor aufgetragen, und be-
zahlt ihm jedes Stück besonders, unge-
achtet ein Jahrgehalt von tausend Pfund
Sterling, wie man sagt, mit dem Titel
eines königlichen Historienmalers verbun-
den ist. Der Fleiß des Malers und die
Freigebigkeit des Monarchen erhöhen seine
jährliche Einnahmen solchergestalt, bis
auf vierfach diese Summe. Wie glücklich
ist doch der Künstler, wenn er, anstatt
[48] nur immer Madonnen, oder dreifache Kro-
nen und Kapuzen zu malen, durch die
Wahl des Gegenstandes selbst begeistert
wird, der seine Phantasie, sein Herz und
seinen Verstand zugleich beschäftigt! Der
neuen Gemälde zu Windsor sind sechs an
der Zahl, und sie beziehen sich auf die Ge-
schichte des großen Königs, Edwards des
Dritten
. Die Scene des ersten ist bei
Cressy, wo Edward nach der Schlacht sei-
nen siegreichen Prinzen umarmt, der dem
König von Böhmen das Leben und seinen
Federbusch mit dem Wahlspruch: Ich
dien
, fortan dem Wapen des Englischen
Thronfolgers, genommen hatte. Die Schlacht
bei Nevil’s Croß macht den Gegenstand
des zweiten Stücks. Während daß Edward
Calais belagerte, siegte seine Gemahlin
Philippa über den König David von Schott-
land, der eine Diversion hatte machen
wol-
[49] wollen, und nahm ihn selbst gefangen.
Man sieht die Königin auf einem Zelter,
umringt von Baronen und Bischöfen, die
man an ihren Fahnen und Helmen erkennt;
und in der Ferne den Schottischen König,
der sich an Sir John Copeland ergiebt.
Im dritten Blatt legt Philippa für den Eu-
stache von St. Pierre
und die sechs beherz-
ten Bürger von Calais nach der Uebergabe
des Ortes bei ihrem Gemahl eine Fürbitte
ein. Das vierte Stück verewigt die Ein-
setzung des Ordens vom Hosenbande. Ed-
ward
mit seinen Rittern knieet am Altar,
wo der Bischof von Winchester das Hoch-
amt hält. Seitwärts ruhet das Auge auf
der knieenden Königin und einer Gruppe
von jungen Damen aus den edelsten Ge-
schlechtern. Unter den Zuschauern erblickt
man den Schottischen König David, einen
Marschall von Frankreich nebst andern
d
[50] vornehmen Französischen Gefangenen, und
Edwards jüngere Kinder. Den glorreichen
Augenblick, wo nach der Schlacht bei
Poitiers, der König Johann von Frankreich
mit seinem Sohne Philipp gefangen in das
Zelt des schwarzen Prinzen geführt wird,
hat West in seinem fünften Gemälde ge-
schildert. Das sechste, in der Mitte des
Ordenszimmers, ist der Sieg des Schutz-
heiligen von England, St. Georg, über den
Drachen: eine Scene, die hier ein neues
Interesse gewinnt, indem eine schöne
weibliche Figur im Vorgrunde durch die
Dazwischenkunft des Helden von dem Un-
geheuer errettet wird. Außer diesen gro-
ßen Arbeiten, welche noch nicht vol-
lendet sind, spricht man noch von einem
Vorhaben des Königs, das Grabmahl des
Kardinals Wolsey von demselben Meister
verzieren zu lassen.


[51]

Durch solche Bestellungen erwirbt sich
Georg der Dritte mit Recht den Namen
eines Beförderers der Brittischen Kunst.
Hier ist das Feld, wo diese Schule durch
Sorgfalt, Studium und Genie sich mit
Ruhm behaupten kann, wenn es nur mög-
lich ist, sie von verdienstloseren, aber
einträglicheren Beschäftigungen abzuhal-
ten. Allein die ungeheure Anzahl von
sechshundert Künstlern, welche London
in sich faßt, wird mehr von der Selbst-
liebe des Publikums, als von seinem Ge-
schmack ernährt. Desto ruhmwürdiger
sind die Versuche einzelner Kunstliebha-
ber, das Talent auf eine geziemendere Art
zu beschäftigen, und zur Behandlung äch-
ter Kunstwerke aufzumuntern. Der Alder-
mann Boydell, selbst ein geübter Zeichner
und Kupferdrucker, der ehedem einen star-
ken Handel mit Kupferstichen trieb, ist
d 2
[52] der Urheber eines Unternehmens, wodurch
er den Geschmack des Publikums zu bil-
den, und der Kunst in seinem Vaterlande
aufzuhelfen sucht. In Pallmall, einer der
Hauptstraßen der Residenzstadt, erbaute
er im vorigen Jahr ein Kunstmuseum,
welches einen Raum von 140 Fuß in der
Länge und 30 in der Breite einnimmt, und
aus drei großen, 40 Fuß hohen Zimmern
besteht, die ihr Licht von oben erhalten.
Unter diesen Zimmern, welche lauter Ge-
mälde von Brittischen Künstlern enthalten
sollen, wird zu ebener Erde eine ähnliche,
ebenfalls in drei Zimmer getheilte Gallerie
angelegt, die den Englischen Kupferstichen
bestimmt ist. Dieses Gebäude, welches
hinfort durch die Benennung der Shak-
speare-Gallery
seine Bestimmung ankün-
digt, ist von dem Baumeister Dance ent-
worfen und aufgeführt worden, und die
[53] Baukosten desselben hat man auf fünftau-
send Pfund Sterling angeschlagen. Die
Facciate nach der Straße, die Treppen,
das Licht, das Stucco machen ihrem Künst-
ler Ehre. Ueber den Eingang kommt in
ganz erhobener Arbeit ein allegorisches
Kunstwerk von Banks zu stehen, welches
den Lieblingsdichter der Britten, ihren
unnachahmlichen Shakspeare, vorstellt.
Er sitzt auf einem Felsen, und empfängt
von der Dichtkunst zu seiner Rechten den
Lorbeerkranz. Zur Linken steht die Muse
der Malerei, und zeigt auf ihn als ihr
Vorbild in der Darstellung der Natur.


Es war in der That ein schöner, frucht-
barer, patriotischer Gedanke, die Scenen
dieses großen Schauspieldichters, des kühn-
sten logischen Zeichners der Natur, der
je existirte, als Modelle für den Maler
aufzustellen, und plötzlich alle durch ei-
[54] niges Talent bereits bekannt gewordene
Künstler der Brittischen Schule zu einem
edlen Wettkampfe zu wecken. Der En-
thusiasmus der Nation für ihren Shakspeare,
die innige Bekanntschaft aller, selbst der
niederen Stände, mit seinen Charakteren,
seinen Situationen, seinen für die Dauer
gestempelten Ausdrücken, und die lange
Gewohnheit auf der Bühne seine göttliche
Bezeichnungskunst von geübten Schauspie-
lern, und fast alle Hauptrollen in der Per-
son ihres bewunderten, unersetzlichen
Garricks dargestellt, mit Aug’ und Ohr
zu Herzen zu nehmen: dies zusammenge-
nommen, mußte eines Theils für die ma-
lerische Behandlung ein unbeschreibliches
Interesse erregen, und von der andern
Seite die Künstler von der Kompetenz ih-
rer Richter überzeugen. Shakspeare’s dra-
matisirende Phantasie begegnet überdies
[55] dem Maler auf halbem Wege, indem sie
die hervorspringenden Züge so treffend
charakterisirt, und dadurch die Künstler-
Phantasie mit scharf bestimmten, lebendi-
gen Bildern erfüllt. Die Sitten des mitt-
leren Zeitalters, wohin der Dichter den
Schauplatz seiner besten Stücke verlegt,
und zumal die vaterländische Geschichte,
die ihm so reichhaltigen Stoff geliefert
hat, begünstigten endlich noch die eigen-
thümliche Richtung der Brittischen Schule.
Wirkung ist ihr höchstes Ziel, und um
dieses zu erreichen, verschmähet sie keine
Mittel. Das Schöne ist ihr nur Neben-
sache; am liebsten will sie erstaunen und
überraschen, niederdrücken durch giganti-
sche Größe, oder erschüttern durch die
Extreme der Leidenschaft; sie hascht nach
der Wahrheit der Natur in ihren gräßli-
chen Augenblicken, und erlaubt ihrer
[56] Phantasie den verwegenen Flug, nicht in
das schöne Feenland des Ideals, sondern in
die verbotene Region der Geister und Ge-
spenster. Allein was von jeher ein Vorzug
der Engländer war, mechanisches Genie,
welches zusammensetzt und vervollkomm-
net, dies äußert sich auch in einem hohen
Grade in den Werken ihrer bildenden Muse.
Sie verstehen sich auf das Machwerk des
Pinsels, und spielen mit der Farbe, um
Wirkung herbeizuzaubern, die, wenn sie
gleich nicht immer das lautere Gefühl be-
friedigt, doch, wie die Liebe, die Menge
der Fehler und Mängel verdeckt. Ein glän-
zendes Kolorit, sprechender, aber oft über-
triebener Ausdruck, und eine glückliche
Zusammenordnung der Figuren, sind die
Vorzüge einer übrigens fehlerhaften Ma-
nier, die ohne Zeichnung bezeichnen, und
ohne Schönheit gefallen will.


[57]

Von den drei Zimmern seiner Shak-
speare-Gallerie eröffnete Boydell dieses Jahr
die beiden ersten, die mit einem ansehn-
lichen Schmuck von Gemälden prangten.
Nach dem Plan des Eigenthümers war es
nicht wohl möglich, daß alle hier zur
Schau gestellten Stücke von gleichen An-
sprüchen seyn konnten. Eine Scene wirkt
vor der andern mächtiger, und neben an-
erkannten Meistern sollten auch die Zög-
linge hier zur Uebung und Bekanntwer-
dung Gelegenheit finden. West, Barry und
Füeßli haben Scenen aus dem König Lear
behandelt. Der erstere schildert die Un-
terredung des Königs mit Glosters Sohn
Edgar, welcher sich rasend stellt. Diese
angenommene Raserei, verbunden mit der
Fülle des Gefühls, die ihm der Dichter so
freigebig zutheilt, war der Talente eines
großen Künstlers würdig. Gloster, Kent
[58] und der Hofnarr, der zwar von der Bühne
verwiesen, hier aber an seiner Stelle ist,
sind im Ausdruck zum Theil verfehlt, und
zum Theil übertrieben. Der König selbst
ist von kolossalischer Größe, und bei ei-
nem Alter von mehr als achtzig Jahren
noch mit herkulischer Stärke begabt. Selt-
sam genug, daß diese Vorstellung auch
bei Barry und Füeßli herrschend gewor-
den ist, vielleicht weil alle Drei das Un-
geheure mit dem Erhabenen verwechselten.
Eine Fackel in Gloster’s Hand wirft das
Licht mit malerischem Effekt. Barry, der
jetzige Professor der Malerei an der köni-
glichen Kunst-Akademie, ein Mann von
unbezweifelt gründlichen theoretischen
Kenntnissen, der auch zu den besten Zeich-
nern der Brittischen Schule gehört, aber
den Grazien nicht geopfert hat, und im
Kolorit selten glücklich ist, verfällt hier
[59] in den Fehler seiner Landsleute, den der
Geschmack des Publikums heiligt; mit
Vernachlässigung der Anmuth, der Schön-
heit und der edlen Größe, buhlt er um
jenen verzerrten Ausdruck der an Karika-
tur gränzt, und daher die Organe der
Menge zu reitzen vermag. Alle Figuren
seines Gemäldes sind Kolosse, und unter
diesen ist der König ein Riese. Es ist die
Schlußscene, wo die drei Töchter des un-
glücklichen Fürsten nebst dem Bastard Ed-
mund, als Opfer der Leidenschaft und der
theatralischen Gerechtigkeit todt umher
liegen, Albany und Edgar sich wehmuths-
voll dem Anblick dieser Zerstörung über-
lassen, und Lear mit der schauderhaften
Dumpfheit seines unendlichen Schmerzes
sich ganz verlassen und sein Herz verödet
fühlt. Eine Venus Anadyomene von dem-
selben Meister ist bereits seit langer Zeit
[60] in dem Portefeuille eines jeden Kupfer-
stich-Sammlers. Sie steigt in der That
mit einem schönen Körper aus dem Mee-
resschaum hervor; nur Schade, daß die
Wahl dieses Augenblicks uns belehren muß,
die Göttin selbst sey minder reitzend ge-
wesen, ehe die Hand ihrer Gespielinnen
sie schmückte und ihre goldenen Locken
band.


Der Beifall, welchen Füeßlis Gemälde
in England erhalten, bezeichnet mehr als
alles die Ueberspannung des dortigen Kunst-
geschmacks. Dieser junge Schweizer, der
sich wegen der Englischen Aussprache jetzt
Fuzeli nennt, brachte nebst der Kenntniß
akademischer Modelle sein malerisches
Kraftgenie mit sich über das Meer; seiner
Phantasie ward es wohl unter wilden
Traumgestalten und Bildern des Unge-
wöhnlichen. Diese Stimmung, die, von
[61] reifer Urtheilskraft gezügelt, zu kühner
Größe gediehen wäre, verführte ihn nur
gar zu bald zu allen Ausschweifungen der
Manier. Es ist zwar leicht das Alltägliche
zu vermeiden, indem man Kontorsionen
darstellt; allein das Lob, welches man
dafür einerntet, das Lob der Londoner
Zeitungsschreiber, ist wahrlich für den
ruhmbegierigen Künstler lose Speise. Au-
ßer dem Lear, dem Füeßlis Talente nicht
recht angemessen waren, fand er in Shak-
spears
Traum einer Sommernacht (Midsum-
mernight’s dream
), im Hamlet und Mac-
beth
die Befriedigung seines Hanges zum
Uebernatürlichen, und zugleich das un-
fehlbare Mittel, die Bewunderung seines
Publikums zu fesseln. Shakspeare’s Magie
ist von der erhabenen Gattung, die, auf
Volkssage und Volksglauben tief gegrün-
det, durch ihre furchtbare Größe dem
[62] Leser nicht Raum läßt, von seiner Illusion
zurückzukehren. Kein Dichter, sagte schon
Ben Johnson, darf seinen Zauberkreis be-
treten, keiner wagt es, seine Schrecken
nachzubilden. Selbst die Vorstellung auf
der Bühne erreichte ihn nicht, obgleich
seine Macht über die Gemüther jeden
Schlag seines Zauberstabes vor dem Lä-
cherlichen sicherte. Allein zwischen der
Malerei und der Poësie, dünkt uns, sei
eine Scheidemauer gezogen, die der erste-
ren nicht gestatte, die phantastischen We-
sen des Dichters, „der das luftige Unding
mit Namen nennt,“ in materielle Umrisse
zu fassen, und den hinschwindenden Ge-
bilden der Täuschung Form und Dauer zu
verleihen. Dennoch überschritt der Deut-
sche Künstler diese Gränze. Der Geist im
Hamlet steht auf feiner Leinwand, wie ihn
freilich kein Schauspieler vorstellen kann,
[63] ein himmelanstrebender Koloß; seine Füße
berühren die Woge des Meeres, und sein
Haupt reicht an den blaßschimmernden
Mond. Wie durch einen Nebel erblickt
man die kriegerische Schreckengestalt, und
wie Schatten im ungewissen Mondenschein,
glaubt man sie immer größer werden zu
sehen. Im Macbeth hat ebenfalls der Au-
genblick, wo die drei Hexen in der Luft
zerrinnen, den Künstler begeistert. Hinge-
gen bot ihm das Feenreich, Oberon und
Titania mit ihrem Elfengefolge, (im Traum
einer Sommernacht) eine lieblichere Gat-
tung von luftigen Fabelwesen dar. Die
Verwegenheit, solche Spiele der Einbil-
dungskraft sichtbar zu machen, würde in-
dessen schwerlich hinreichend gewesen
seyn, dem Ausländer Füeßli Beifall in
England zu erwerben, wenn er sich nicht
zu gleicher Zeit so eifrig nach dem Ei-
[64] genthümlichen der dortigen Schule gebil-
det hätte, daß man ihn nunmehr füglich
dazu rechnen kann. Kürzlich hat er ein
großes Gemälde angefangen, welches 52
Fuß breit und 38 Fuß hoch ist; er stellt
darauf einen Marsch der Schatten in den
eliseischen Feldern, nach dem Lucian, vor.
Ein solches Sujet mußte für seine Phanta-
sie ein herrlicher Fund seyn. Die Seelen
der Abgeschiedenen ziehen hier bei Tau-
senden in verschiedenen Abtheilungen, vier
Mann hoch, mit ihren Fahnen umher.


Doch ist ihm die Darstellung geistiger
Gestalten nicht ausschließend eigen; sie
scheint vielmehr eine Liedlingssache der
dortigen Künstler zu werden. Selbst der
Präsident der königlichen Akademie, Sir
Joshua Reynolds, hat in Boydells Gallerie
sowohl einen Macbeth im magischen Au-
genblick seiner Visionen, den leidigen
Satan
[65] Satan in eigner Person, in jener Scene aus
Heinrich dem Sechsten vorgestellt, wo der
König und die Grafen Salisbury und War-
wick um den sterbenden Kardinal Beaufort
stehen. Wer sich mit dem Gedanken aus-
söhnen kann, daß der gräßliche Tod ei-
nes verstockten Bösewichts, mit dessen
Seele der Teufel zur Hölle fährt, ein Ge-
genstand für die Kunst seyn dürfe, wird in
der Komposition das Feierlichgroße, wel-
ches Eindruck machen kann, neben Rey-
nolds
übrigen Vorzügen nicht verkennen.
Sein Geschmack in der Wahl und Behand-
lungsart, die Kultur seines Geistes, endlich
seine Farbengebung, die, wenn sie Dauer
hätte, mit Rembrands um die Palme stritte,
setzen ihn ohne Widerrede an die Spitze
der Brittischen Künstler, und in die erste
Klasse aller jetzt lebenden Söhne der Kunst.
Ihm war es gegeben, die Stimmung des
e
[66] Zeitalters mit dem Sinne für Schönheit
glücklich zu verbinden, und mit festem
Schritte seinen eigenen Weg zum Ruhme
zu gehen. Man wird es nicht oft genug
wiederholen können, daß die Stufe der
jetzigen Kultur mit allen ihren unzertrenn-
lichen Verhältnissen keine Maler vom er-
sten Range, wie Raphael, Domenichino,
Guido, da Vinci
erwarten läßt, und daß
der Sinn für ihre Größe in dem Grade,
wie die Möglichkeit ihr Talent wieder auf-
leben zu sehen, sich unter unseren Zeitge-
nossen verliert. Allein, wir müssen gleich-
wohl gestehen, die Natur sey noch lange
nicht erschöpft, und so lange es Menschen
giebt, unerschöpflich. Die Gestalten, die
sie dem Anschauungsvermögen des Künst-
lers vorhält, treu aufgefaßt und versinn-
licht, erregen auch alsdann noch Bewun-
derung, wenn wir die Vollkommenheit
[67] des Ideals an ihnen vermissen; ja, die
meisten Menschen werden leichter von dem
Individuellen angezogen, welches, seiner
Disharmonie ungeachtet, ihnen näher liegt,
als das lautere Allgemeine der Abstraktion.
Corregio wird seinen Ruhm behaupten, so
lange seine Werke bleiben. Grazie, Em-
pfindung und die unendliche Zartheit der
Liebe wird ewig gefallen, auch da, wo
man Zeichnung und die höheren Grade
der Schönheit entbehren muß. Vermag
nicht auch ohne diesen Zauber, der in
Corregio’s Pinselspitze entzückt, die bloße
Wahrheit und Wärme des Kolorits, und
jenes üppige, zur Schan gelegte Nackte,
das von Lebenskraft emporzuschwellen
scheint, in Tizians Gemälden die Sinne
des Zuschauers gefangen zu nehmen, und
sogar den Kenner selbst zu verführen?
Laßt uns noch gestehen: die hohe Kultur
e 2
[68] des Geistes in einem freien Volke hat ihre
eigene Organisation, und es giebt in Eng-
land eine weibliche Schönheit und Jung-
fräulichkeit der Gesichtszüge, eine Man-
nichfaltigkeit des Ausdrucks von Geistes-
kraft und von verfeinertem Gefühl im
Umriß der männlichen Köpfe, woraus der
Künstler sich eine besondere Gattung des
Reitzenden, des Einnehmenden, des Inte-
ressanten, des Wahren mit Einem Worte,
sammeln kann, welches zwar, hauptsäch-
lich für die Empfänglichkeit verwandter
Brittischer Organe berechnet, dort am
meisten gefallen, aber auch auf dem festen
Lande eben so wenig, als die Originale,
von denen er es abstrahirte, seine Wir-
kung verfehlen wird.


Sir Joshua Reynolds ist der Maler der
Brittischen Grazien; das Naive, Unbefan-
gene, das zart und fein Empfindende, das
[69] das unschuldsvolle Schalkhafte, das natür-
lich ohne Anmaßung Gefallende, stiller
heiterer Genuß, sanfte Leidenschaft, umfas-
sender Sinn, selbstgeschaffene Gedanken-
fülle, Unabhängigkeit und innerer Reich-
thum des treuen, festen und stets empfäng-
lichen Herzens, die edle Weiblichkeit sei-
ner Landsmänninnen, hat seine ätherische
Phantasie aus der Natur zu schöpfen, und
sein Pinsel oft glücklich darzustellen ge-
wußt. Seine Porträte sind Gedanken, in
denen man beide, die Seele des Meisters
und des dargestellten Gegenstandes, liest;
und seine Familienstücke möchte man zu-
weilen eine besondere Gattung von elegi-
schen und erotischen Gedichten nennen.
In diesem Fache besitzt er seine größte
Stärke, und durch seine Behandlungsart
wird es für die Kunst geadelt; seine Grup-
pen und Stellungen sind natürlich und
[70] schön; seine Köpfe edel und reich, und
seine Gewänder, zumal bei weiblichen Fi-
guren, so leicht geworfen, daß man die
Mängel nicht ahndet, die sie bedecken
müssen. Ungern sieht man daher einen
so geschickten, so liebenswürdigen Künst-
ler, der auch als Redner und Schriftsteller
Verdienste besitzt, aus den Schranken tre-
ten, wo er mit Beifall gekrönt, vor sei-
nen Zeitgenossen den Vorrang behält, um
in der historischen und heroischen Gattung
der Malerei sich unter die Menge zu ver-
lieren. Zwar wird es ihm leicht, in sei-
ner eigenen Schule sich neben West zu
stellen, und über den Troß von Engli-
schen Historienmalern eine gewisse Ueber-
legenheit zu behaupten; aber mit größeren
auswärtigen Künstlern verglichen, kann das
Blendwerk von Manier gegen die Wahr-
heit des Styls nicht bestehen. Sein Gemälde
[71] für die große Kaiserin von Rußland, die
ihm sowohl die Wahl des Gegenstandes,
als die Bestimmung seiner Belohnung ganz
überließ, scheint einer so erhabenen Auf-
forderung nicht angemessen zu seyn. Es
ist indessen lehrreich, und hier, wo wir
den Kunstgeschmack der Engländer schil-
dern wollen, sogar zweckmäßig, den Kon-
trast zwischen dem Urtheile der dortigen
enthusiastischen Verehrer des Präsidenten,
und dem Tadel eines fremden Kritikers
herzusetzen. „Dreisteren Fluges,“ so hebt
der Panegyrikus an, „schwang sich die
„Phantasie des Künstlers empor, als sie je-
„nen Knaben schuf, der mit Götterstärke
„die junonischen Schlangen erwürgt. Seht
„diese Umrisse, diese Proportionen! Ruft
„nicht jede Faser euch entgegen: dieses
„Kind ist Herkules! Hier eilt ein schönes
„Weib herzu, von Angst und Entsetzen
[72] „entstellt. Wie sie ihre Arme nach dem
„Säugling ausstreckt! Die bebende Lippe,
„die starren, voranstürzenden Augen! Wer
„verkannte noch die Mutter? Vier weib-
„liche und sieben männliche Figuren, der
„Hund, der Hintergrund mit seinen Pallä-
„sten, die Luft: alles ist groß und
„herrlich in diesem Bilde, alles lebt,
„von Wahrheit und von Geist durchath-
„met und durchdrungen.“ Jetzt verneh-
men wir auch die strenge Herabwürdigung
desselben Kunstwerkes aus dem Munde ei-
nes Vertrauten der Kunst: „Er (der junge
„Herkules) liegt nicht in einem Schilde,
„sondern in einer Wiege, oder etwas ähn-
„lichem. Der Kopf des Herkules ist alles,
„was in diesem Bilde Vorzug verdient.
„Der Körper gleicht einem Schlauch, und
„würde schicklicher für einen Silenus seyn.
„Das Kind ist so ungeheuer groß, daß es
[73] „die Mutter, mit Beihülfe einer Magd,
„nicht heben kann; doch der letztern ist
„weislich eine Menge beigefügt. Schatten
„und Licht sind äußerst verwirrt. Juno
„in den Wolken ist das Schlechteste im
„Bilde.“ *)


Unseres Bedünkens scheiterte Reynolds
schon in der Wahl seines Gegenstandes.
Ein Kind, dessen unentwickelte Verhält-
nisse der Idee des Schönen so sehr zuwi-
derlaufen, zur Hauptfigur zu erheben, be-
stimmte schon das Schicksal des ganzen
Gemäldes. Dieses Kind sollte ein Herkules
seyn, folglich mußte seine Kraft der herr-
schende Zug des Ganzen bleiben, und durch
die Schönheit der Nebenfiguren nicht ver-
drängt werden können. Jetzt durfte nur
eine unglückliche Bezeichnung hinzukom-
[74] men, so war der Ausdruck gänzlich ver-
fehlt, und in der That konnte der Künst-
ler sich nicht härter an der Hermeneutik
seiner Kunst versündigen, als indem er
Kraft durch ungeheure Dimensionen anzu-
deuten wagte. Daß er, vielleicht aus Ge-
fälligkeit gegen den Nationalgeschmack,
einen Deus ex machina in den Wolken
zeigte, war schon traurig genug; aber ge-
wiß noch trauriger, daß seine Juno ihre
Göttlichkeit auf dem Olymp zurücklassen
mußte, um in seinem Bilde eine müßige
Nebenrolle zu spielen. Die Beschäftigung
mit diesem Kunstwerke scheint jedoch die
Phantasie des edeln Mannes zu ähnlichen
Versuchen begeistert zu haben; denn außer
seinem vorhin erwähnten Kardinal Beau-
fort
, hat er auch in die diesjährige aka-
demische Schaustellung mehrere Dichtun-
gen seiner Muse geliefert, unter andern
[75] die Enthaltsamkeit des Scipio, Cupido und
Psyche, Cymon und Iphigenia. Eine Au-
genkrankheit, die ihn im Sommer mit
gänzlichem Erblinden bedrohete, ließ die
Eitelkeit aller Schönen und aller liebens-
würdigen jungen Herren in den glänzen-
den Kreisen der Hauptstadt vor der Gefahr
erzittern, ihren Reitzen von Reynolds Pin-
sel nicht mehr Gerechtigkeit widerfahren
zu sehen; allein zur Beruhigung dieser
Trauernden versichert man, daß er bereits
wieder zu malen angefangen hat *).


Romney, der, von Hayley besungen, als
Porträtmaler seinem Muster Reynolds nahe
kommt, und dessen Draperieen selbst von
strengen Kritikern gelobt werden, hat in
der Shakspeare-Gallery eine Scene aus dem
Sturm (the Tempest) gemalt. Der Dich-
[76] ter läßt auch hier eine Art von Mittelge-
schöpfen aus dem Geisterreich auftreten,
welche die Einbildungskraft eines Engli-
schen Malers begeistern kann. Ariel ist
ein sanftes, liebevolles, einschmeichelndes
Wesen, dem Romney gefällige Reitze ver-
leihen durfte.


Ein anderes neues Mitglied der Kunst-
Akademie, der Maler Northcote, hat diese
Sammlung mit mehreren Stücken berei-
chert, die sich auf Shakspeare’s historische
Schauspiele beziehen. Die von ihm gewähl-
ten Scenen sind aus dem König Johann,
aus Heinrich dem Sechsten und aus Richard
dem Dritten
entnommen. Seine Komposi-
tionen sind nicht ohne Verdienst. Der zu-
gleich mit erwählte Akademiker Opie, der
im Kolorit nach Rembrandt arbeitet, im
Charakter der Köpfe aber so weit von ihm
abweicht, wie die Brittische von der Nie-
[77] derländischen Grazie, liefert hier eine Scene
aus Romeo und Julie, und eine aus dem
Winter-Mährchen; doch wäre zu wün-
schen, daß er in der Zeichnung nicht so
gar weit zurückgeblieben wäre. Aus dem
letztgenannten Stück hat auch Wheatley
den Stoff zu seinem Gemälde entlehnt.
Hamilton, der erst dieses Jahr zum Mit-
glied der Akademie erkohren ward, wählte
die Heirathsscene aus dem Lustspiel Much
ado about nothing
, und von ihm sieht man
in dieser Sammlung noch zwei andere Ge-
mälde, das eine aus Love’s Labour lost,
das andere aus dem in England vorzüglich
beliebten As you like it. Der Reichthum
des Dichters, der seine Scenen aus den
verschiedensten Verhältnissen des Ortes,
des Ranges und Charakters bildete, ist be-
sonders anwendbar auf die ganz verschie-
denen Talente der Künstler. So gab in
[78] diesem Stück die Scene, wo der melancho-
lische Jaques im Walde klagt und philo-
sophirt, eine schöne Gelegenheit, den trau-
rigen, einsamen Hirsch, wovon er spricht,
durch den bekannten Thiermaler Gilpin
trefflich darstellen zu lassen, denselben
Gilpin, der sich mit seinem Entwurf der
Swiftschen Houynhms so viel Ruhm er-
warb, indem es wirklich schien, als hätte
er seinen Pferden verschiedene Charaktere
zugetheilt, und ihnen die Gabe der Rede
verliehen.


Es führte uns zu weit, und ermüdete
vielleicht unsere Leser ohne Absicht, wenn
wir die sämmtlichen Gemälde der Shak-
speare-Gallery hier durchgehen wollten.
Josiah Boydell, ein Neffe des Aldermanns,
hat mit gutem Erfolg die Scene im Garten
erzählt, wo Richard Plantagenet und Som-
merset
die rothe und weiße Rose pflückten,
[79] und dadurch ihren Partheien von York und
Lancaster die berühmten Abzeichen gaben,
welche sechs und dreißig Jahre lang die
Nation entzweiten, und um deren Erhö-
hung während dieses Zeitraums in zwölf
entscheidenden Schlachten Brittisches Bür-
gerblut strömte. Aus dem Titus Androni-
cus, einem Trauerspiele, welches vielleicht
mit Unrecht Shakspeare’n zugeschrieben
wird, hat der junge Kirk eine gräßliche
Scene zu mildern gesucht; allein so sehr
er auch für das Gefühl der Zuschauer ge-
sorgt zu haben glaubt, indem er die ver-
stümmelten Arme der Lavinia unter dem
Gewande verbirgt, so ekelhaft bleibt dessen
ungeachtet auch dieser Anblick, der weder
für den Pinsel, noch für das Theater, noch
selbst für die Lektüre gehört. Peters, der
jetzt den Maler und den geistlichen Seel-
sorger in einer Person verbindet, ein Künst-
[80] ler, dessen Phantasie ihre Bilder nur aus
einer grobsinnlichen Natur entlehnt, und
dessen Farbengebung sehr übertrieben,
wenn gleich nicht ohne Verdienst ist,
schildert hier die Scene aus Much ado
about nothing
, wo Beatrix die Unterredung
zwischen Hero und ihrem Mädchen be-
horcht. Den schlauen Ernst der Hero, die
scherzlustige Zustimmung der Magd, und
die mißtrauische Neugier der Horcherin
ganz zu erreichen, hätte vielleicht tieferes
Studium des menschlichen Herzens, und
größere Fähigkeit, dessen leiseste Bewe-
gungen zu fassen und anzudeuten voraus-
gesetzt. Eine niedrigere, aber nicht min-
der launige Scene dieses Lustspiels, wo
Dogberry und Verjuice glänzen, hat Smirk
ziemlich humoristisch ausgeführt, und eine
andere des Grotesk-komischen, der wohl-
beleibte Ritter Falstaff mit seinen Spieß-
gesel-
[81] gesellen und Rekruten vor dem Friedens-
richter Shallow, ist dem Maler Durno nicht
übel gerathen. Diese Anzeige ist hinrei-
chend, um von dem gemeinnützigen Insti-
tut der Shakspeare-Gallery einen richti-
gen Begriff zu geben, und jeden Kunstver-
ständigen selbst urtheilen zu lassen, wie
sehr die eigenen Geisteskräfte der Engli-
schen Künstler dadurch zur Thätigkeit ge-
weckt werden, und welchen Erfolg man
sich von dieser Anstrengung versprechen
darf.


Das Gegenstück zu Boydells public Spirit,
und ein neuer Beweis der allgemeineren
Kunstliebhaberei in England ist dort der
originale Einfall eines gewissen Macklin,
auch die übrigen Brittischen Dichter durch
Brittische Künstler erläutern zu lassen, und
die in solcher Rücksicht veranstaltete
Sammlung von Gemälden dem Publikum
f
[82] zur Schau zu stellen. Diese Exhibition
ward bereits im April des vorigen Jahres
eröffnet, und enthielt damals neunzehn Ge-
mälde, die hier wenigstens angeführt zu
werden verdienen. Gainsboroughs Lavinia,
aus Thomsons Jahrszeiten, behauptet vor
allen die erste Stelle. Der Geist dieses
nunmehr verstorbenen Künstlers, der im
Porträt und in der Landschaftmalerei gleich
berühmt war, seine Leichtigkeit, sein
Chiaroscuro, seine transparenten Farben,
und eine große Einfalt der Komposition
und Ausführung empfehlen dieses Gemälde.
Die Natur hatte diesen Mann zum Maler
bestimmt, und schon als Knabe gab er Pro-
ben von einer lebhaften Einbildungskraft,
und von einem besondern Talent der Nach-
ahmung. Er war zu gleicher Zeit ein gu-
ter Tonkünstler. An seinen Porträten rühmt
man die vollkommenste Aehnlichkeit, wie-
[83] wohl es ihm bei seiner leichten, sorglo-
sen Manier auf die Striche nicht anzukom-
men schien. Er malte in einem halbdun-
keln Zimmer mit sehr langen Pinselstecken,
weit von der Staffelei, und daher wirkten
seine Gemälde erst in einer gewissen Ent-
fernung. Unter seinen neuesten Arbeiten
verdienen insbesondere die Bildnisse des
Prinzen von Wallis, des Marquis von Lans-
downe
und des Admirals Lord Rodney ge-
nannt zu werden. Seine Landschaften sind
in einer großen, leichten, einfachen Ma-
nier. In der Macklinischen Sammlung be-
findet sich noch ein zweites Stück von sei-
ner Hand, Hobbinol und Ganderetta, nach
dem Idyllendichter Sommerville, welches
ebenfalls eine rühmliche Erwähnung ver-
dient. Von Sir Joshua Reynolds bewun-
dert man hier eine Vestalin, aus Gregory’s
Ode to Meditation
. Eine etwas schlankere
f 2
[84] Gestalt zu diesem schönen Gesichte, hätte
dem Beobachter die Idee von Heiligkeit
näher gelegt; oder sollte man bei einer
Vestalin noch an etwas Irdisches denken?
Füeßli hat sich, wie gewöhnlich, an Vi-
sionen geübt. Die eine ist der Traum des
Prinzen Arthur aus Spensers Fairy Queen;
die andere der Traum der Königin Catha-
rina nach Shakspeare’s Heinrich dem Ach-
ten
. Beide haben alle Fehler und alles An-
maßliche seines bekannteren Entwurfes von
Theseus und Ariadne. Spenser’s Britomar-
tis, welche Amoretten befreiet, ist hier
unter Opie’s Händen verunglückt; und Pe-
ters
hat in seiner nach Milton geschilder-
ten Scene aus dem Paradiese eine Eva hin-
gestellt, die wahrlich nicht Adams jung-
fräuliche Braut, sondern, vielleicht um
seine philologischen Studien zu erkennen
zu geben, die Mutter der Lebendigen ist.
[85] Sansloy, der den Löwen erlegt, eine Spen-
serische
Allegorie hat Cosway, und die
Stunden, nach Gray’s Ode an den Frühling,
seine Frau, eine ziemlich glückliche Künst-
lerin, ausgeführt. Für die schöne Ode to
Mercy
von Collins, und für Pope’s Locken-
raub sieht man hier ein Paar Stücke von
Artaud, von sehr verschiedenem Werthe;
der ernste Gegenstand des ersteren überstieg
die Kräfte dieses Künstlers. Rigaud, ein
Mitglied der Akademie, der zwar aus der
Französischen Schweiz gebürtig ist, aber
seit langer Zeit mit dem Ruhm eines fleißi-
gen Porträtmalers in London arbeitet, hat
hier nach dem Vater der Englischen Dicht-
kunst, dem alten Chaucer, die Constantia
sehr gut geschildert. Dieser anspruchlose
Künstler malt mit einem kräftigen, wah-
ren Pinsel, der die Kunstgriffe seiner aka-
demischen Mitbrüder verschmähet, und
[86] vielleicht eben darum das Auge derer nicht
auf sich zieht, die sich nur von dick auf-
getragenen Lichtern und grellen Kontrasten
fangen lassen; und was noch mehr ist, er
bleibt der Zeichnung getreuer, als so man-
cher angehende Englische Maler, dessen
kühne Übertretungen die Unwissenheit für
Geniestreiche hält. Mallets Amyntor und
Theodora, von Stothard gemalt, gehört
unter die besseren Stücke dieser Sammlung.
Die übrigen sind Hamilton’s zwei Gemälde,
Palemon und Arcite, und Arcitens Tod aus
dem Chaucer; Addisons Cato, von Brown;
Parnell’s
Einsiedler von Nixon; der Hof
des Comus, nach Milton, von Martin; und
Jagos Goldfinches, von einem jungen Han-
noveraner Ramberg.


Außer der Aufmunterung, welche diese
Privatmänner, und der König selbst der
Englischen Malerschule angedeihen lassen,
[87] werden jetzt die Beispiele häufiger, daß
der begüterte Adel seine Palläste und Land-
häuser von Brittischen Künstlern verzieren
läßt. Eine frühzeitige Bekanntschaft mit
klassischer Litteratur kann dem wohlha-
benden Britten wenigstens die ersten Be-
griffe des guten Geschmacks einflößen; der
Enthusiasmus der Vaterlandsliebe kann ihn
bewegen, die Eingeweiheten der Kunst in
seiner Insel zu größeren Werken aufzufor-
dern; ein stolzes Gefühl seiner Unabhän-
gigkeit und seiner Macht kann ihn von sei-
nem Reichthum einen glänzenden Gebrauch
machen lassen. Allein es liegt auch schon
im Volks-Charakter dieser freien Insula-
ner ein gewisser Enthusiasmus für jede
Größe und jedes Verdienst um das gemeine
Beste, der seine Dankbarkeit gern auf eine
unzweideutige Art an den Tag legt. Die
Stadt London zeichnete sich von jeher,
[88] wenn gleich nicht immer durch guten Ge-
schmack, doch wenigstens durch die Wärme
ihres Patriotismus in solchen Fällen aus.
Sie stellte, wie wir bereits erwähnten,
Beckfords Bildsäule in ihrem Rathhause
auf, als er ihre Rechte im Senat verfoch-
ten hatte; sie beschenkte den Admiral Kep-
pel
, als das über ihn gehaltene Kriegesge-
richt ihn auf die ehrenvollste Art losge-
sprochen hatte, mit dem Bürgerrechte in
einer allegorisch verzierten Dose, und sie
ließ auch neulich zum Andenken der Ret-
tung von Gibraltar zwei große Gemälde
verfertigen, worauf der Maler Copley nicht
allein die Heldenthaten der Land- und
Seetruppen, sondern auch die Bildnisse
der vornehmsten Officier mit der ihm eig-
nen Treue vorgestellt hat. Um diesen End-
zweck ganz zu erreichen, mußte er sogar
nach Hannover reisen, wo er die Bildnisse
[89] der Deutschen Generale, die in Gibraltar
mitgedient hatten, zur Ergänzung seines
Gemäldes verfertigte. Elliot (der jetzige
Lord Heathfield), die Generale Sir Robert
Boyd, Delamotte
und Green, und über-
haupt achtzehn, sowohl Brittische als Han-
növerische Befehlshaber, bilden hier eine
Gruppe, die sich mit dem Schauspiele der
vernichteten schwimmenden Batterieen und
der darauf folgenden Rettung der unglück-
lichen Feinde beschäftigt. Unter denen,
die sich jenem menschenfreundlichen Werk
unterzogen, erkennt man den See-Capitain
Sir Roger Curtis, dessen Thätigkeit ein sol-
ches Denkmahl verdiente. Das zweite
Stück schildert die Ankunft der großen
Flotte unter dem Admiral Lord Howe,
welche den Transport von Mund- und
Kriegesvorräthen im Angesicht der kombi-
nirten feindlichen Macht glücklich bis in
den Hafen hinein leitet.


[90]

Auf den Nationalstolz hatte Copley schon
zuvor eine glückliche Spekulation gegrün-
det, indem er den rührenden Tod des großen
Chatham, der zuerst den Namen Pitt durch
sein persönliches Verdienst verherrlichte,
mit eben der knechtischen Wahrheit, wie
hernach den Entsatz von Gibraltar, schilder-
te. Lord Chatham verschwendete im Ober-
hause die Donner seiner Beredtsamkeit für
die Sache der Amerikanischen Staaten ge-
gen Norths Ministerium, und verkündigte
mit prophetischem Geiste, was bald her-
nach in Erfüllung ging. Sein von Krank-
heit zerrütteter Körper unterlag mitten in
diesem Kampfe seines Geistes gegen die
Ungerechtigkeit; er sank sterbend in die
Arme seiner umstehenden Freunde. We-
der die moderne Kleidung, noch die Män-
tel der Parlamentsherren könnten Theil-
nehmung für diese Scene erwecken, wenn
[91] die Geschichte selbst nicht jedem Britten
ins Herz geschrieben wäre. Um sie von
Copleys Hand vorgestellt zu sehen, und so
viele Porträte als Lords im Parlamente ge-
genwärtig waren, zu betrachten, eilte ganz
London in die deshalb besonders eröffnete
Schaustellung, und jetzt, da wir schrei-
ben, wird der nach jenem Gemälde auf
Subskription verfertigte Kupferstich von
Bartolozzi mit fünf und zwanzig Guineen
bezahlt. Der Tod des Majors Pearson,
ebenfalls von Copley gemalt, hat, wie die
vorhergehenden Stücke, durch die Porträte
die darauf vorkommen, einen konven-
tionellen Werth.


Nach allem, was wir bisher gesagt ha-
ben, und etwa noch hinzufügen könnten,
läßt es sich gleichwohl nicht läugnen, daß
diejenigen Zweige der Kunst, welche dem
Maler Gelegenheit geben, seinen inneren
[92] Reichthum zu zeigen, mit Erfindung, An-
ordnung, Auswahl, mit Gestalten und Far-
benschattirungen, die seine Phantasie sich
vom Wirklichen abstrahirt hätte, zu glän-
zen, theils vom Publikum nicht allgemein
geschätzt, theils von Liebhabern nicht ge-
sucht, theils auch von den Künstlern selbst
noch nicht mit vorzüglichem Glücke be-
handelt werden. In dem Grade, wie ein
Gemälde sich der bloßen Nachahmung be-
kannter oder beliebter Gegenstände nähert,
in dem Grade gewinnt es für die Englän-
der an allgemeinem Interesse. Die Künst-
ler, denen diese Sonderbarkeit des Ge-
schmacks nicht unbekannt ist, befleißen
sich daher, die Bildnisse solcher Personen
aufzustellen, die durch ihre Thaten Ge-
genstände des Volks-Enthusiasmus gewor-
den sind. Elliot, der Held von Gibraltar,
ward von Sir Joshua Reynolds, von Brown
[93] und mehreren Andern nach seiner Wieder-
kehr ins Vaterland gemalt. Das von Brown
verfertigte Porträt, nebst seinem Gegen-
stücke, welches den zweiten Commandan-
ten der Festung, den ehrwürdigen Sir Ro-
bert Boyd
, vorstellt, ist nach Spanien be-
stimmt, wo man vermuthlich auch begie-
rig ist, die Helden, die man nicht besie-
gen konnte, näher ins Gesicht zu fassen.
Mit ähnlichem Eifer bewarb man sich um
Rodneys Bild, der von allen im letzten
Kriege angestellten Admiralen allein den
Muth, das Glück oder den guten Willen
hatte, die Ehre der Brittischen Flagge
durch entscheidende Siege zu behaupten.
Einem höheren, mit Achtung und Liebe
vergesellschafteten Ausdruck des patrioti-
schen Hochgefühls widmete sich der Ma-
ler Wheatley, indem er den Menschen-
freund Howard, in seinem edlen Geschäfte,
[94] die Wohnungen des Elends und des Kum-
mers zu besuchen, für die akademische
Schaustellung schilderte. Die Stimme des
Publikums erhebt zuweilen auch den Schau-
spieler, wenn vorzügliche Talente ihn aus-
zeichnen, zum Gegenstand der allgemeinen
Verehrung; und in solchen Fällen schmei-
chelt die Kunst dem Modegeschmack, in-
dem sie das Porträt des Schauspielers mit
seiner glänzendsten Rolle verbindet. Ha-
milton
erwarb sich vielen Beifall dadurch,
daß er die beinahe angebetete Siddons als
Isabella, und ihren Bruder Kemble als Ri-
chard den Dritten malte. Oft ist es schon
hinlänglich, den Liebling des Parterre und
des Theater-Paradieses, auch ohne Bezie-
hung auf den Charakter, worin er gefiel,
mit Wahrheit darzustellen, um theils durch
ihn Celebrität zu erlangen, theils, wenn
man dieses Mittels nicht mehr bedarf, sich
[95] selbst im Namen des Volkes zu einem Pfle-
gevater des theatralischen Verdienstes zu
erheben. In dieser verschiedenen Rücksicht
beeiferten sich Beach, Hamilton, Hoppner,
Russel, Wheatley
und Sir Joshua Reynolds
selbst, die berühmte Mrs. Wells, die das
Talent der Nachahmung bis zum höchsten
Täuschungsgrade besitzt, für das Publikum
abzubilden. Bei der jüngsthin dem Präsi-
denten zugestoßenen Augenschwäche be-
dauerte man nichts so sehr, als daß nun-
mehr das Bildniß der Mrs. Billington, ei-
ner andern Lieblings-Aktrice, unvollendet
bleiben würde. Opie, der als Portätmaler
eine unbestechliche Treue besitzt, und sich
dadurch bei dem schönen Geschlechte nicht
immer empfiehlt, machte dem Londoner
Publikum ein sehr willkommnes Geschenk
mit dem charakteristischen Gesicht des Ve-
teranen Macklin.


[96]

Die getreue Nachahmung der Natur
bleibt immer noch ein großes Künstlerver-
dienst, auch wenn sie mit der Erfindungs-
kraft, und dem mächtigen Triebe, die eig-
nen Kinder der Phantasie mit wirklicher
Gestalt und materiellem Daseyn zu bega-
ben, in keiner Verbindung steht. Die
Nachahmungskunst ist vielmehr der Grund,
den auch der genievolleste Künstler bei
seinen Bildern legen muß, er dichte mit
dem Meißel oder dem Pinsel in der Hand.
Das wirklich Vorhandene muß ihm so ge-
läufig seyn, sich so mit seinem Wesen
identificiren, daß er es wie ein mechani-
sches Triebwerk in seine Theile zerlegen,
und diese nach einer willkührlichen Ver-
änderung oder Vervollkommnung wieder
zusammenfügen könne, zu einem völlig
ähnlichen nur zierlicheren, schöneren, ed-
leren Ganzen. Jeder wahrhaft große
Künst-
[97] Künstler im heroischen und historischen
Fach, muß wenigstens Porträte malen kön-
nen
, wenn schon sein Geist diese knechti-
sche Nachbildung des Individuellen in der
Natur verschmähet, und sich nur in eige-
nen Schöpfungen genügt. Zu einem guten
Porträt gehören in der That so viele we-
sentliche Künstlertalente, daß wir die Ver-
messenheit derer, die sich ohne im Besitz
derselben zu seyn, dem Gelüste ihrer Phan-
tasie überlassen, in keinem vortheilhaften
Lichte darstellen können. Wenn man in-
dessen nach der ungeheuren Menge von
Porträten im Durchschnitt ein allgemeines
Urtheil fällen sollte, so scheinen wohl die
wenigsten Porträtmaler etwas von den
Schwierigkeiten geahndet zu haben, die
wir bei ihrem Geschäfte voraussetzen, und
eine Menge von Kenntnissen bei dem Ko-
pieren nach der Natur dürften ihnen höchst
g
[98] überflüßig und entbehrlich vorgekommen
seyn. Das Wohlgefallen der Menschen an
ihrem lieben Selbst, sobald sie es auf ei-
ner ausgespannten Leinwand erblicken,
mag wohl zu dieser künstlerischen Sorglo-
sigkeit nicht wenig mitgewirkt haben.
Sir Godfrey Kneller, der Deutsche Maler,
den nach Lelys Tode kein anderer Neben-
buhler zum Wetteifer reitzte, ward über-
müthig genug, die Eigenliebe der Englän-
der zu mißbrauchen, seinen Ruhm der Ge-
winnsucht aufzuopfern, und eine Porträt-
Fabrik, im eigentlichen Wortverstande,
anzulegen. Seine Deutschen Handlanger
mußten an dem Bilde, wovon er lediglich
die Gesichtszüge malte, alles übrige aus-
führen. Der eine malte die Perüke, ein
anderer den Hut, der dritte den sammet-
nen Rock; dieser reichte das Gemälde ei-
nem vierten, der die Knöpfe darauf setzte;
[99] unter den Händen des fünften kamen die
Spitzenmanschetten und das Halstuch hin-
zu, und solchergestalt entstand ein Mach-
werk und ein Flickwerk, woran es, trotz
der Ähnlichkeit der Gesichtszüge, oft un-
möglich seyn mochte, das Original zu er-
kennen. An Mannichfaltigkeit in den Stel-
lungen, an Wahrheit und charakteristischer
Zeichnung des Körpers, an Harmonie im
Ton der Farben, an Ausdruck in den Zü-
gen, Feuer im Auge, kluge Wendung des
Gesichts, und Disposition der Schatten
und Lichter, um die Ähnlichkeit spre-
chender au machen, und die Seele durch
ihre körperliche Hülle leuchten zu lassen:
an alle diese Erfordernisse der Kunst hatte
weder der goldgierige Künstler, noch sein
Publikum, welches so gern von ihm ge-
malt seyn wollte, je gedacht. Auch Hud-
son
, der nach Knellern den größten Zu-
g 2
[100] lauf hatte, gab allen seinen Bildern die-
selbe ruhige, zufriedene, bedeutungsleere
Miene; und da er einst ein Porträt mit ei-
nem gebieterisch ausgestreckten Arm zu
Stande gebracht hatte, posaunten es seine
Freunde und seine Schüler durch ganz
London umher, daß Hudson eine neue
Stellung erfunden hätte. Hayman wagte
schon einige Veränderungen, und hatte
auch Anlage, wenigstens Dreistigkeit ge-
nug, zum historischen Maler, wie man
aus seinen Gemälden zu Vauxhall, und aus
den nach seinen Zeichnungen verfertigten
Kupferstichen zu der großen Ausgabe von
Miltons verlornem Paradiese, zum Don
Quichotte, und anderen Werken, noch ab-
nehmen kann.


Allein vor Reynolds Zeiten hatte Eng-
land keinen Maler, der dieses Namens
werth gewesen wäre; ihn darf man mit
[101] Recht für den Vater und Stifter der jetzi-
gen Brittischen Künstlerschule halten,
die seit dreißig Jahren so große Fort-
schritte gethan hat. Als Porträtmaler
wird man ihn zwar nicht mit Tizian und
Vandyk vergleichen, doch auch nicht weit
unter sie setzen. Er hatte mehr dichteri-
sche Phantasie und Feinheit als der erste,
mehr sogar als der zweite; nur an Wahr-
heit übertrafen ihn beide. Sein Geschmack
ließ sich nicht fesseln durch das Ungra-
ziöse unserer modernen Kleidung; er dra-
pirte seine Porträte mit einem ihm eige-
nen Sinn für Schönheit und Eleganz. In
seinen Stellungen, in seinen Physiognomien
und Beleuchtungen liest man eine seltene
Gabe, das Eigenthümliche eines jeden Cha-
rakters zu entwickeln und im vortheilhafte-
sten Licht erscheinen zu lassen. Die meisten
[102] seiner Porträte sind daher zugleich als
Werke der Einbildungskraft zu betrachten;
und wenn der Name des Individuums,
nach welchem er malte, längst vergessen
ist, wird man immer noch den Geist, der
es beseelte, darin erkennen. London ist
jetzt an Privatmalern von ausgezeichnetem
Verdienste wirklich reicher, als jede an-
dere Stadt in Europa. Nächst Reynolds
sind die vorzüglichsten: Romney, Dance,
Opie, Northcote
, der Amerikaner Stewart,
Austin, Beechy, Rigaud, Lawrence, Brown,
Nixon, Hamilton
und Hoppner. Der Tod
des vorhin erwähnten Gainsborough wird
noch immer bedauert; denn als Porträtma-
ler setzte man ihn dem Präsidenten an die
Seite. Ein anderer berühmter Künstler in
diesem Fache, der Maler Pine, starb neu-
lich in Amerika. Der beste Miniaturma-
ler in England war ein Deutscher, Jere-
[103] mias Meyer
, der ebenfalls im Jahr 1788,
als Mitglied der Akademie, gestorben ist;
Cotes, Humphry, Sheller, Engleheart und
Bowyer ersetzen diesen Verlust nicht völ-
lig und nicht mit gleichem Glücke. Un-
ter den Zeichnern in Pastell verdient Rus-
sel
vorzüglich genannt zu werden; man be-
wunderte in den späteren akademischen
Schaustellungen seine Ruth und Naemi,
und das mit einer Treue, die uns anekeln
würde, nach der Natur kopirte Porträt ei-
ner bekannten Bettlerin. Downman ist ein
anderer Pastellmaler, dem man bei aller
Einförmigkeit seiner Porträte, wenigstens
einen hohen Grad von Delikatesse nicht
absprechen kann. Zur Verzierung des Pri-
vat-Theaters im Pallast des Herzogs von
Richmond
malte er die Bildnisse der Her-
zoginnen von Richmond
und von Devonshire,
der Lady Duncannon, der Lady Elisabeth
[104] Foster
, und der beiden Schauspielerinnen
Miß Farren und Mrs. Siddons; und diese
Bildnisse wurden in der That eben so viele
Meisterwerke in ihrer Art. Von eben dem-
selben Künstler hat man auch eine schöne
Zeichnung, wo Mrs. Wells und der Schau-
spieler Edwin in theatralischen Rollen er-
scheinen.


Ein weites Feld öffnet sich dem Maler,
sobald er die idealischen Höhen des Schö-
nen, und die menschliche Gestalt als seinen
eigentlichen Gegenstand verlassen, und zu
den tausendfältigen Abstufungen der Thier-
und Pflanzengebilde hinabsteigen will.
Auch in dieser Sphäre kann die schöpferi-
sche Phantasie des Künstlers sich noch thä-
tig erweisen, und neben der treuen Nach-
ahmung bleibt es ihr unbenommen, durch
die Zusammenstellung der Formen, die Art
des Vortrags, die Distribution des Lichts,
[105] ein schönes Ganzes zuwege zu bringen,
welches ihr Eigenthum ist, und in den
Theilen des Gemäldes nicht gegeben war.
Für die Kunst wäre vielleicht schon viel
gewonnen, wenn die verschiedenen Gren-
zen der Einbildungskraft bei verschiedenen
Künstlern, von ihnen selbst erkannt, und
ihre Kräfte folglich nicht an Versuche ver-
schwendet würden, denen sie nicht ge-
wachsen sind. Wie manchem Maler, der
sich erkühnte Göttinnen und Helden auf
seiner Leinwand hinzuzeichnen, möchten
wir zurufen, daß er sich begnügte, die
individuellen Züge seiner Zeitgenossen zu
kopiren, und Gedanken, die schon in der
Natur zur Wirklichkeit gelangten, mit un-
verwandtem Blicke zu verfolgen, aufzu-
fassen, darzustellen! Manchem andern,
der es wagte, das Meisterstück der Natur,
den Menschen, den Denker, nachzubilden,
[106] möchten wir wünschen, er hätte nur thie-
rische Begierden und thierische Leiden-
schaften, mit Snyers und Hondecoeter, ge-
schildert! Wer endlich auch zu dieser
Darstellung lebendiger Kräfte nicht in sich
selbst Energie genug fühlt, dem bleibt die
Kunst noch übrig, an ihren entseelten For-
men sein Talent der Nachahmung zu üben,
oder die ruhigen Umrisse von Früchten
und Blumen, wie van Huysum, durch den
Zauber des Pinsels mit natürlichen Farben
glühend, saftreich, durchscheinend, mit
frischem Thau betropft, ins Daseyn zu ru-
fen. Man wird es nicht von uns erwar-
ten, daß wir die Künstler nennen sollen,
deren Genie sich nicht über diese Sphäre
hinwegschwingt, nachdem wir mit Still-
schweigen bei der Klasse von Malern vor-
übergegangen sind, die ihr Talent im Gro-
tesken, im Darstellen der niedrigsten Ge-
[107] werbe des Lebens, oder in der Nachah-
mung einer Natur suchen, die der Zeit
und der Kräfte des Künstlers unwürdig ist.
England hat seinen Stubbs, dessen Talent
in lebendiger Schilderung der Thiere nie
übertroffen, und selbst von unserm Ridin-
ger
nicht erreicht worden ist. Sein Tiger,
seine kämpfenden Rosse und Stiere, sind
hinreichend ihn zu verewigen, wenn auch
nicht jeder Liebhaber des Pferderennens
die sprechendsten Abbildungen seiner Lieb-
lingsrenner, von ihm gemalt, in seinen
Zimmern aufbewahrte. Gilpin, dessen
Houynhms und Yahus nach Dr. Swifts
bekannter Satire, wir bereits angeführt ha-
ben, verdient diesem Meister, hauptsäch-
lich was die charakteristische Schilderung
der Pferde betrifft, an die Seite gestellt
zu werden. Elmer malt wildes und zah-
mes Geflügel mit einer Treue, die den
[108] Niederländischen Malern in diesem Fache
auf dem Fuße folgt, und die Deutsche,
Marie Moser, ein Mitglied der königlichen
Akademie, die sich aber von Jugend auf
in England gebildet hat, besitzt in Blu-
menstücken eine bewundernswürdige Gabe
der täuschenden Darstellung. Die ge-
schmackvollen Dekorationen einiger neuen
Zimmer im königlichen Pallast zu Windsor
sind von ihrer Hand. Ihre Figuren hinge-
gen, zu denen sie von Zeit zu Zeit immer
wieder zurückkehrt, sind ihr jederzeit
mißlungen.


Diese hier angeführten Namen, denen
wir mehrere, nicht ganz unverdiente hin-
zufügen könnten, beweisen wenigstens,
daß die Brittische Künstlerschule auch in
den kleinsten Nebenzweigen der Malerei
etwas geleistet hat. Die Landschaftsmale-
rei endlich, wird in England ebenfalls
[109] mit großem Glücke behandelt, und be-
schäftigt daselbst eine sehr ansehnliche
Künstlerzahl. Die Größe des Gegenstan-
des und das Mannichfaltige, welches man
hier in einem Gemälde zusammenfassen
kann, ersetzen zum Theil, was ihm an
Würde abzugehen scheint. Die großen
Phänomene der Natur erheben die Seele
des Zuschauers; und groß ist auch der
Künstler, der, wenn er nicht den edleren
Gegenstand der Kunst, die allumfassende
Menschenvernunft, durch ihre Hülle leuch-
ten zu lassen vermag, wenigstens das Re-
gen der allgemeinen Lebenskraft im Weltall
anschaulich zu machen weiß. Was bei
der Darstellung der menschlichen Natur
uns fehlerhaft dünkt, das Haschen nach
Wirkung mit Hintansetzung der Korrektheit
im Umriß, wird in der Landschaftsmale-
rei das Wesentliche der Kunst. Der Land-
[110] schaftsmaler schildert nur unbestimmtere
formlose Gegenstände, oder solche, deren
bestimmtere Form durch die täuschende
Ferne verloren ging. An ihre Stelle setzt
er Zeichen, deren Illusion das Auge in
der Natur schon kennen lernte, die es zu
entziffern, und unter denen es, wie das
Ohr unter den Lauten der Sprache, die
Wesen der Natur zu verstehen weiß.
Vielleicht also, weil hier alles Manier,
oder künstlerische Zeichenschrift bleiben
muß, gelingt es den Brittischen Künstlern,
den Ausdruck der Natur so glücklich nach-
zubilden, und die geschäftige Phantasie des
Zuschauers durch Schilderungen, die sie
sich ausmalen oder in deren Mitte sie sich
hineinträumen kann, zu fesseln und zu er-
götzen. An die Namen berühmter Engli-
scher Landschaftsmaler können wir indes-
sen nicht denken, ohne zuvor einen Aus-
[111] länder anzuführen, der seit vielen Jahren
in London wohnt, und wo nicht die erste
Stelle, doch unstreitig eine der ersten in
diesem Fache behauptet. Der Elsasser
Loutherbourg gehört in der That zu den
genievollesten Künstlern, die es jemals
wagten, die Natur im Großen zu kopiren.
Er war mit allen zu diesem Fache erfor-
derlichen Anlagen und Talenten, vor al-
lem aber mit einer hohen komischen Laune
begabt, welche seinen Werken auch den
Beifall derer erwarb, die für die höhere
Schönheit seiner Gemälde keinen Sinn zu
haben schienen. Daß die äußerste Reitz-
barkeit gegen jedes Mißverhältniß, ohne
welche jenes schnelle Auffassen des Lä-
cherlichen nicht gedacht werden kann, in
Absicht seiner selbst plötzlich verschwin-
den konnte, als er im Jahr 1788 ganz un-
vermuthet die Rolle eines Wunderthäters
[112] zu spielen, und Taube und Blinde zu hei-
len begann, gehört zu jenen seltsamen und
zugleich schaudervollen Erscheinungen der
menschlichen Natur, deren Vervielfälti-
gung in unseren Tagen uns belehrt, wie
nahe die stärkste Spannung des Nervensy-
stems an den Wahnsinn gränzt, und wie
traurig das Loos des denkenden Wesens
ist, welches befürchten muß, indem es
seinen kühnsten Flug nun wagt, aus seiner
leichten Sphäre zu stürzen, und ein Spott
der verächtlichen Menge zu werden, über
deren Häuptern er einst so hoch empor
schwebte!


Den verstorbenen Gainsborough haben
wir bereits als einen verdienstvollen Land-
schaftsmaler genannt. Seine Landschaften
hatten das Gepräge einer in diesem Fache
nur an große Gegenstände gewöhnter Phan-
tasie, und waren mit der ihm eigenen Leich-
tig-
[113] tigkeit und Einfachheit gemalt. Des bereits
früher verstorbenen Wilsons Talente ver-
erbten sich auf seinen Schüler Hodges, und
wucherten bei ihm. Den Grund zu seinem
Ruhme legte er durch seine Weltumschif-
fung mit Cook, und befestigte ihn durch
einen langen Aufenthalt in Bengalen, nach
dessen Endigung er im vorigen Jahr unter
die Zahl der Akademisten aufgenommen
ward. Auf der langen Seereise um die
Welt und auf der Fahrt nach Indien ward
er mit dem Anblick des Oceans bekannt,
und lernte ihn in allen seinen Gestalten
schildern. In seinem Gemälde für Boydells
Gallerie hat er diese Kenntniß benutzt, um
die schaurige Scene lebhaft zu versinnli-
chen, wo Antigonus in Shakspeare’s Win-
ter’s Tale
das Kind und den Bären findet.
Die Figuren in diesem Stücke sind von
Hamilton. Ein Italienischer Künstler, der
h
[114] in Seestücken eine bewundernswürdige
Stärke zeigt, Domenico Serres, ist durch
seinen langen Aufenthalt in England gleich-
sam naturalisirt; was Vernet in der Fran-
zösischen Schule war, ist Serres in der
Englischen. Die Rückkehr des Königs von
Neapel, von einer Seereise hat unter an-
dern große Verdienste. Das Meer wim-
melt von Schiffen und Fahrzeugen, groß
und klein, aufgeputzt in ihrer höchsten
Herrlichkeit. An den Matrosen in den
Booten unterscheidet man die Nationen,
zu welchen sie gehören. Die allgemeine
Feier; die helle unbewölkte Luft; die
Durchsichtigkeit und Flüßigkeit des Meer-
wassers, und der malerische Effekt eines
großen Leuchtthurms machen dieses Ge-
mälde zu einem der vorzüglichsten in sei-
ner Art. Wright in Derby ist der Maler
eines andern Elements, des Feuers nämlich
[115] und des Lichts, dessen Wirkungen er bis
zur Tauschung nachzuahmen versteht. Die
Girandole auf der Engelsburg zu Rom, der
Ausbruch des Vesuv, Feuersbrünste, Ge-
witterscenen, Nachtstücke aller Art und
von bewundernswürdigem Effekt, erheben
diesen Künstler zu einem Liebling der Eng-
lischen Kenner. In verschiedenen Fächern
der Landschaftsmalerei haben übrigens noch
Barret, Marlow, Farrington, Sandby, Bur-
geß
, ein entschiedenes Talent; und wenn
die Verdienste einer Schule nach der An-
zahl ihrer Zöglinge berechnet werden könn-
ten, so würden wir unsere Leser auf das
jährliche Verzeichniß der akademischen
Schaustellung verweisen, welches mit meh-
reren hundert Namen wenigstens den Grad
der Geschäftigkeit beweiset, worin der Geld-
umlauf, der Luxus, die Eitelkeit und die
h 2
[116] Liebhaberei die Englischen Künstler ver-
setzen.


Die Malerei und Zeichenkunst sind über-
dies die Lieblingsbeschäftigungen eines
großen Theils der höheren Stände, und das
Dilettanten-Verzeichniß in England prangt
mit den Namen des Königs und der Köni-
gin
, der Kronprinzessin, der Herzogin von
Marlborough
, der Marquise von Lothian,
der Miß North, und vieler der angesehen-
sten Personen. Immerhin mag man also
beweisen, daß die Kunst zu ihrer Voll-
kommenheit in England noch weit zu stei-
gen hat, der Geschmack noch einer großen
Läuterung bedarf, und daß beide vielleicht,
tausend mitwirkender Ursachen wegen,
nicht viel höher kommen werden: so ist
es wenigstens nicht mehr zu bezweifeln,
daß im Verhältniß mit den Zeitgenossen,
England allein mehr für die Aufnahme der
[117] Malerei und Bildhauerkunst, mehr für die
Bildung der Künstler selbst, und die Er-
weckung ihres Talents leistet, als ganz Eu-
ropa zusammen. Außer England giebt es
kein Beispiel von jenen öffentlichen Denk-
mählern, wovon die ganze Nation, oder
die ansehnlichsten Städte das Verdienst ih-
rer Mitbürger um den Staat verewigen.
Außer England sucht man umsonst nach
Privatmännern, wie Boydell und Macklin,
die mit einem regen Eifer für das allge-
meine Beste ihre Kapitale daran wagen,
um die Kräfte der Künstler zum Wettkampf
aufzufordern, und zur Ehre ihres Volks
edlere Kunstwerke hervorbringen zu lassen.
Außer England endlich findet man unter
den wohlhabenden Bürgern und selbst un-
ter dem Adel, selten einen Liebhaber der
Kunst, der seinen Überfluß dem guten Ge-
schmack dienstbar machte, der mit einer
[118] Sammlung von antiken Statuen, oder auch
nur von Abgüssen, seine Villa zierte, der
die Werke großer Meister aus den schönen
Jahrhunderten Italiens vom Untergang zu
retten, und in seinem Pallast zusammenzu-
stellen suchte; ja, was ungleich auffallen-
der ist, außer England sieht man nie ei-
nen Beschützer der einheimischen Kunst,
keinen Fürsten, der die Künstler seines
Landes beschäftigte, der sie zu großen Ar-
beiten aufmuntern, erhabene Marmorbil-
der von ihrem Meißel, und rührende Sce-
nen, wo Menschengröße Beispiel giebt und
zur Nachahmung aufruft, von ihrem Pin-
sel fordern möchte.


Vergebens wandern unsere Künstler in
das beneidete Italien; vergebens weiden sie
ihre Blicke an den Wunderwerken eines
Raphael, eines Domenichino, eines Leo-
nardo da Vinci
, eines Giulio Romano, ei-
[116[119]] nes Michel Angelo, eines Bernini, eines
Guido, eines Tizian, eines Corregio, eines
Caracci; vergebens studieren sie den edlen
Wuchs, den gliederreichen Bau des mensch-
lichen Körpers an jenem Volke der Sonne,
wie an jenen Überbleibseln des Griechi-
schen Meißels, dem Apoll im Belvedere,
dem Farnesischen Herkules, dem Laokoon,
der Mediceischen Venus, der Niobe und
ihren Kindern: — bei der Rückkehr in ihre
Vaterstadt müssen sie sich überglücklich
schätzen, das Bildniß ihres Landesherrn
entwerfen zu dürfen, und mit den Porträ-
ten jetztregierender Potentaten, gleichviel
nach welchem Kupferstich oder nach wel-
chem Tabatierendeckel kopirt, seinen Au-
dienzsaal zu schmücken. Unsern Mengs
belohnte Don Carlos der Dritte von Spa-
nien! Wer aber ruft die Namen so man-
cher verdienstvollen Deutschen Künstler aus
[120] der Obscurität, worin sie verschmachten,
oder zu Porträtmalern hinabsinken müssen,
durch Aufträge, die eines Malers würdig
sind, hervor? Warum giebt uns Rom und
Neapel nicht unsern Trippel, unsern Hackert,
unsern Tischbein zurück? Weil die Ver-
gessenheit ein härteres Loos für den Künst-
ler ist, als die Verbannung; weil dort das
Verdienst sich noch der belebenden Huld
Katharinens der Großen zu erfreuen hat.


Wir haben bisher den Nationalge-
schmack der Engländer in Sachen der
Kunst mit aller Strenge beurtheilt, und
seine Schwächen aufgedeckt. Es giebt heu-
tiges Tages Künstler, die sich über die
Sphäre der Brittischen Schule hinausge-
schwungen haben; es giebt in Deutschland
selbst und wie viel mehr noch in Italien!
— Liebhaber und Kenner von richtigerem,
ächterem Gefühl, als der große Künstler-
[121] haufe in London es besitzt. Allein von
Ausnahmen kann hier nicht die Rede
seyn. Es kömmt darauf an, den Sinn
für das Vollkommene der Kunst im
Durchschnitt des ganzen Volkes, und ohne
Rücksicht auf besondere Klassen, mit
dem Kunstsinne des Auslands, oder na-
mentlich (weil doch kein Volk sich jetzt
so dreist wie das Deutsche Schriftsteller-
völkchen die Richtermine anmaßt) mit
Deutschem Kunstsinn zu vergleichen. Fra-
gen wir den Einwohner von London, wel-
ches neue Kunstprodukt seiner Landsleute
ihm am besten gefällt; so wird er uns hun-
dert für eins zu nennen wissen, die er ge-
stern im Vorbeigehen an den Fenstern der
Bilderladen begaffte: wir fragen in allen
unseren Hauptstädten, und man zeigt uns
die Fratzen irgend eines Taschenkalenders.
Doch wir müssen billig seyn; nach unse-
[122] rer Periode des Nürnbergischen und Augs-
burgischen Geschmacks kann auch diese
Spielerei schon ein Fortschritt heißen.
Wenn Deutscher Patriotismus einst so war-
men Antheil an vaterländischen Helden,
Staatsmännern und Menschenfreunden neh-
men wird, wie das Brittische Volk an den
seinigen, dann wird auch der Name des
Künstlers, der ihre Thaten oder ihre Ge-
sichtszüge verewigen kann, denselben Grad
der allgemeinen Achtung erlangen, den wir
jetzt an den Zeichner fremder oder er-
dichteter Handlungen in den beliebten Mo-
natskupferchen und in den Titelblättern
unserer genie-witzreichen Moderomane
verschwenden.


Denselben Gegenstand, welchen der
Bildhauer mehreren Sinnen zugleich dar-
stellen kann, dessen Erscheinung schildert
der Maler dem Auge ganz allein; und hierin
[123] liegt vielleicht ein Grund, weswegen es
dem ersteren so viel schwerer wird, alle
Forderungen zu befriedigen. Wenigstens
gilt die Analogie bei einer dritten Kunst,
welche mit der Malerei in einem ähnli-
chen Verhältnisse steht, wie diese zur Bild-
hauerei, und von der es zweifelhaft ist, ob
sie der Bildung des guten Geschmacks mehr
Vortheil als Nachtheil gebracht haben kann.
Die Erfindung, durch Abdrücke von einer
Kupfertafel, auf welcher man Zeichnungen
eingräbt, die Werke des nachahmenden
Pinsels zu vervielfältigen, scheint in der
That um so viel leichter einen gewissen
Grad der Vollkommenheit zu erreichen,
als bei derselben die Schwierigkeit der Far-
benmischungen wegfällt, und Licht und
Schatten nur als Modifikationen der allge-
meinen Behandlungsart hervorgebracht wer-
den. Was aber durch die Kupferstecher-
[124] kunst an allgemeiner Verbreitung der Haupt-
ideen des Malers gewonnen werden mag,
das, und noch mehr, verliert man wieder,
sobald die leichte und wohlfeile Befriedi-
gung der Dilettanten durch gutgestochene
Blätter sie gegen das höhere Verdienst des
Malers gleichgültig macht, oder wohl gar,
wie jetzt, zumal in England, so häufig
der Fall ist, den Maler zwingt, nur mit
Rücksicht auf den Grabstichel zu arbeiten,
und nur von diesem die Verewigung sei-
nes Namens zu hoffen. England ist jetzt
der Hauptsitz der Kupferstecherkunst, in-
deß die Spuren ehemaliger Präeminenz in
diesem Fache sich allmählich bei andern
Völkern verlieren, und Deutschland erst
anfängt, sich von neuem darin hervorzu-
thun. Durch den ungeheuren Vertrieb der
Englischen Kupferstiche, so wohl in als
außerhalb Landes, erlangen wir einen an-
[125] schauenden Begriff von der erstaunenden
Aktivität, womit die Malerei zu diesem
Endzweck in England betrieben wird, von
dem Grad ihrer Vollkommenheit, von der
Ausbreitung der Kunstliebhaberei über jene
Insel, und von der Anerkennung des Brit-
tischen Kunsttalents auch im übrigen Eu-
ropa. Ohne die Ausländer, an deren Spitze
sich Francesco Bartolozzi seit 1765 befindet,
und ohne die Landkartenstecher zu zählen,
die es in der Kunst, Buchstaben in Kupfer
zu graben, den Künstlern aller anderen Na-
tionen zuvorthun, arbeiten jetzt in Eng-
land ungefähr siebzig Meister in der Kupfer-
stecherkunst. Die Söldner der Buchhänd-
ler, die Vignettenstecher, die Subalternen
aller Art, kommen hier noch, wie billig,
nicht in Anschlag. Mit diesen und den
Lehrlingen dürfte leicht die Zahl der Kup-
ferstecher in England bereits auf dreihun-
dert und darüber angewachsen seyn.


[126]

In einer so zahlreichen Zunft finden sich
allerdings die sämmtlichen Schattirungen
zwischen dem bloßen Handwerker und dem
wahren Künstler von Einsicht und Gefühl.
Da indessen der Kupferstecher nur nach-
empfinden
muß, was die Phantasie des Ma-
lers, sein Geist und Herz, auffassen und
darstellen konnte; da er eigentlich nicht
zu erfinden, sondern nur mit Verstand und
Wahrheit nachzuahmen hat, was bereits in
seinem ganzen Zusammenhange vor ihm
liegt, wobei es sodann zunächst auf die
Richtigkeit des Augenmaßes, die Geschick-
lichkeit in mechanischen Handgriffen, auf
anhaltenden Fleiß und stets gespannte Auf-
merksamkeit ankommt: so begreift man
leicht, daß es der Betriebsamkeit des Brit-
ten vor andern gelingen müsse, in dieser
Kunst den Gipfel der Vollkommenheit zu
ersteigen, sobald die Früchte der Anstren-
[127] gung erringenswerth sind. Dieses müssen
sie aber wohl in einem Lande seyn, wo
Bartolozzi für eine einzige Platte eine
Summe von 6000 Rthlr. erhielt, die so
mancher Deutsche Künstler und Gelehrte zu-
frieden wäre, seine ganze Habe zu nennen.


Bartolozzi ist unstreitig einer der größ-
ten und zugleich der fleißigsten Künstler
in diesem Fache; gleich vortrefflich in
mehreren Manieren, und im Zeichnen so
geübt, daß nicht selten die Mängel des in-
korrekten Gemäldes, nach welchem er ar-
beitet, unter seiner Behandlung im Kupfer-
stich verschwinden, oder wenigstens ge-
mildert erscheinen. Durch die große An-
zahl der von ihm gebildeten, geschickten
Zöglinge verdient er mit Recht ein Stifter
der Englischen Kupferstecherschule genannt
zu werden; auch gehört er zu den ältesten
Mitgliedern der königlichen Kunstakade-
[128] mie. Seine Talente sind unter Kennern
und Liebhabern außerhalb England hin-
länglich bekannt; wir wollen uns also nur
begnügen, einige seiner neuesten Werke an-
zuführen, die er entweder ganz allein, oder
zum Theil mit Hülfe seiner zahlreichen
Lehrlinge vollendet hat. Das wichtigste
für den Nationalstolz der Engländer ist
der Tod Chathams von Copley gemalt, den
wir bereits oben angeführt haben: ein sehr
großes Blatt, dessen gute Abdrücke schon
jetzt mit hundert und funfzig Thalern das
Stück bezahlt werden. Mit dem Stich der
historischen Gemälde desselben Meisters in
Guildhall, welche den Entsatz von Gibral-
tar betreffen, ist er noch jetzt beschäftigt.
Außerdem aber lieferte er im vorigen Jahre
noch die Bildnisse des Lords Lansdowne
und Ashburton, dieses nach Reynolds und
jenes nach Gainsborough; den Tod des Sir
Phi-
[129]Philipp Sydney nach einer Zeichnung des
verstorbenen Mortimer; zwölf geätzte Blät-
ter nach Skizzen von seinem verstorbenen
Freunde Cipriani; zwey Scenen aus Fiel-
dings
Roman, Joseph Andrews, nach He-
arne
; Edward den Prinzen von Wallis, der
seinem Vater König Edward dem Dritten,
seinen Gefangenen, den König von Frank-
reich nach der Schlacht bei Poitiers vor-
stellt, und die erste Niederlassung der
Sachsen in Brittannien unter Vortigern und
Rowena, beide nach Rigauds Gemälden;
ferner das Bildniß Lord Heathfields und
fünf kleine ovale Porträte von bekannten
Personen. Ferner übernahm er noch den
Stich des Hamiltonschen Kemble in der
Rolle Richards des Dritten, des Bacchus,
der die Nymphen lehrt, nach der Angelika
Kauffmann
, und neuerlich das Bildniß der
Mrs. Billington nach dem nunmehr vollen-
i
[130] deten Gemälde des Sir Joshua Reynolds.
Allein es ist Zeit, daß wir einige der be-
rühmtesten Englischen Kupferstecher nen-
nen, einen Sir Robert Strange, den der Kö-
nig im vorigen Jahr zum Ritter schlug,
einen Woollet unsterblich schon allein
durch seinen nach Wests Gemälde gesto-
chenen Tod des General Wolfe; ferner
Sharpe, Hall, Sherwin, Byrne, Pouncy,
Basire, Caldwall, Simon, Ogbourne, Legatt,
Fittler
, u. a. m., die sich des Grabstichels
und Scheidewassers bedienen.


Von der sogenannten schwarzen Kunst
oder Mezzotinto, die man mit mehrerem
Rechte die Englische Manier zu nennen
pflegt, indem sie vorzüglich von Engli-
schen Künstlern gewählt und vervollkomm-
net worden ist, bleiben die Werke des
John Raphael Smith, der beiden Green;
und der Kupferstecher Dixon, Dickinson,
[131]Facius, Pether, Jones, Watson, Pollard,
Earlom, Burke, Collyer, Dupont
und Hay-
ward
vortreffliche Monumente. In Acqua-
tinta
oder der neuen Erfindung, getuschte
Zeichnungen im Kupferstich nachzuahmen,
steht Sandby unerreichbar an Weichheit
und trefflich nüancirtem Chiaroscuro. Der
Maler Barry, der Kupferstecher Jukes, die
Geschwister Green und kürzlich Mrs. Pre-
stell
, haben sich ebenfalls mit gutem Er-
folg darin versucht. Von der letzteren hat
man einige Blätter, welche Cooks dritte
Reise erläutern, nach Zeichnungen des
Schweizerischen Künstlers, Weber, der ihn
auf dieser letzten Fahrt begleitete. Gilpins
herrliche Aussichten in Westmoreland, in
Schottland, und an den Ufern des Wye-
flusses, sind ebenfalls in dieser angenehmen
Manier. Die punktirte Kupferstecherei,
das Opus mallei, ist vorzugsweise in den
i 2
[132] Händen Englischer Künstler. Man erinnert
sich hier gewiß der schönen Arbeiten, die
der unglückliche Ryland nach den gefälli-
gen Bilderchen der Angelika zu verfertigen
pflegte. Die vorhin erwähnten sechs Pa-
stellgemälde von Downman konnten nicht
größere Bewunderung erregen, als die dar-
nach vollendeten Kupferstiche in dieser Ma-
nier, wo Bartolozzi, Burke, Collyer, Tomkins
und Miß Karoline Watson mit einander
einen rühmlichen Wettstreit hielten, und
sich selbst zu übertreffen schienen. Unter
den kürzlich erschienenen Kupferstichen
können wir ein schönes Blatt von Young
nicht unberührt lassen, welches eine Scene
aus Garricks kleiner Posse Lethe nach
Zoffanis Gemälde darstellt, und worin der
Schauspieler Parsons in seiner komischen
Karikatur erscheint. Duponts Bildniß von
Lord Rodney, nach Gainsboroughs Gemäl-
[133] de; die Schauspielerin Siddons von Hay-
ward
nach Reynolds, Sharps Porträt des
berühmten Wundarztes John Hunter, und
ein Blatt desselben Meisters nach Michel
Angelo; Halls, Collyers
und Sharps drei
Ovale nach Stothard, welche sich auf den
Roman, the Sylph and Emma beziehen;
Greens Königin Eleonora oder die Geburt
Edwards, des ersten Prinzen von Wallis,
und dessen Königin Philippa, welche für
die Bürger von Calais bittet, ein paar treff-
liche Stiche in schwarzer Kunst; Earloms
zwölf Blätter nach Cipriani; Stapiers Cleo-
patra auf dem Cydnus, dem Mark Anton
entgegen schiffend; die niedlichen Aussich-
ten von Englischen Landhäusern, von An-
gus;
die Schraffirungen nach seltenen Zeich-
nungen in frelands Sammlung; Burkes
Prinz von Wallis nach Cosways Miniatur-
gemälde, und die von George Townley
[134] Stubbs
nach dem berühmten Maler Stubbs
vortrefflich gearbeiteten kämpfenden Rosse
und Stiere, verdienen unter anderen Pro-
dukten der neuesten Kunst erwähnt zu
werden. Um den Begriff von der Kunst-
liebe der Engländer, insbesondere für Kup-
ferstiche, zu ergänzen, denke man sich noch
den Luxus dieser Nation in den Verzie-
rungen ihrer Bücher hinzu; man erinnere
sich an Bells prächtige Ausgabe des Shak-
speare
, an welcher Cipriani mit andern ge-
schickten Malern, und Bartolozzi mit den
besten Kupferstechern gearbeitet haben, und
man betrachte endlich noch die Kupfer-
stiche, welche mit Cooks Reisebeschreibun-
gen erschienen, diese Denkmähler der
Pracht und Großmuth des Brittischen Vol-
kes.


Was die Kupferstecherkunst für die Ver-
vollkommnung der bildenden Künste Nach-
[135] theiliges wirkt, indem sie ihnen die Auf-
munterung des Publikums entzieht, müssen
wir um des Vortheils willen, daß sie den
Geschmack an besseren Kompositionen all-
gemeiner verbreitet, schon hingehen lassen.
Allein die geschäftige Industrie bleibt frei-
lich nicht immer in diesen Gränzen ste-
hen; oft, vor lauter Begierde, sich nach
dem Eigensinne der Mode zu bequemen
und zugleich des eigenen Vortheils wahr-
zunehmen, verfällt sie auf Erfindungen,
welche nicht einmal jene Entschuldigung
für sich haben, und vielmehr dem Kunst-
gefühl Vernichtung drohen. Zu diesen
Mißbräuchen gehört das in England jetzt
so gewöhnliche Gewerbe, die Kupferstiche
mit Oel- oder Wasserfarben zu illumini-
ren; und irren wir nicht sehr, so dürfte
die wichtige Erfindung des Quäkers Joseph
Booth
, Oelgemählde um einen wohlfeilen
[136] Preis zu vervielfältigen, die eine so ge-
nannte polygraphische Societät dem Publi-
kum nicht dringend genug empfehlen kann,
und wovon sie die Proben bereits zum
drittenmal zur Schau gestellt hat, der äch-
ten Kunst eben so wenig Vortheil bringen.
Dieser Polyplasiasmus, wie man ihn nennt,
wird mit Hülfe des Pantographs bewerk-
stelligt, und zuletzt wird jede Copie mit
dem Pinsel aus freier Hand retouchirt und
vollendet. Man beruft sich dabei laut auf
das Zeugniß der Kenner, die das Original
von dem Abdruck nicht haben unterschei-
den können, ohne zu bedenken, daß man
nach einem solchen Ausspruch berechtigt
wäre, entweder den Scharfsinn dieser ver-
meinten Kenner, oder den Werth der so
vervielfältigten Originale in Zweifel zu
ziehen. Daß die gekleckten Sudeleien
manches Artisten, wo es auf das mehr und
[137] weniger der hingeworfenen Farbenmassen
nicht ankommt, auch in der Kopie noch
ihren Ausdruck und ihre Wirkung, wenn
es anders erlaubt ist, diese Worte hier zu
mißbrauchen, unverändert beibehalten kön-
nen, läßt sich begreifen; allein wir möch-
ten den Corregio, den Tizian, den Vandyk
wohl sehen, den die Gemälde-Fabrik des
Meister Booth geliefert hätte.


Nicht viel reitzender ist die Aussicht,
welche die in England so beliebte Karika-
tur eröffnet. Wenn die Künste, zufolge
einer glücklichen Allegorie des Philoso-
phen Hemsterhuis, ihren Ursprung den
Göttern verdanken, die sich mit den See-
len der Sterblichen vermischen, so ent-
sprang gewiß, wie er sehr schön hinzu-
fügt, dieses traurige Talent, den Mängeln
und Verunstaltungen der Natur nachzu-
spüren, und die Bitterkeit des Herzens an
[138] Ungeheuern zu weiden, aus der unzüchti-
gen Umarmung irgend einer stygischen
oder ägipanischen Gottheit. Die Satire des
Malers ist zwar mit der des Dichters ge-
nau verwandt, und in England fließen
beide aus jener glücklichen Verfassung, wo
jedweder Bürger ein lebhaftes Interesse an
den politischen Auftritten nimmt, und die
Handlungen der Diener des Staats ein Ge-
genstand der strengsten öffentlichen Sich-
tung bleiben müssen. Allein es giebt des-
sen ungeachtet einen sehr wesentlichen
Unterschied zwischen beiden Gattungen
der Satire. Mit der dichterischen verträgt
sich die höchste Vollkommenheit der
Kunst: die Elemente, aus welchen sie ihre
Bilder zusammensetzt, sind logisch rich-
tig; ihre Anordnung kann rhytmisch und
sonst poetisch schön und vollkommen seyn.
Die zeichnende Satire hingegen beleidigt
[139] die Grundregeln der Kunst durch jeden
unedlen oder verzerrten Zug; sie sündigt
wider das Ebenmaß, wider die Schönheit,
wider ein jedes Gefühl, das den Urstoff
zu diesen Begriffen in sich trägt. Betrach-
tet man sie auch in ihren heilsamen Wir-
kungen als eine Geißel, welche die Tho-
ren züchtigt und den Verbrecher den Lohn
seiner Unthaten anticipiren läßt, so hat sie
doch auch hierin den großen Fehler, daß
sie in ihren Strafen kein Verhältniß be-
obachtet, und beide, den Gegenstand, den
sie belächeln, so wie jenen, den sie zertre-
ten sollte, nur verächtlich macht. Endlich,
wie ein jeder Mißbrauch zur ergiebigen
Quelle des Uebels wird, so bringt auch
dieser das Ungeziemende in seinem Gefol-
ge, daß die tadelhafte Handlung von der
Person nicht getrennt, ja jene nur vermit-
telst dieser geschildert werden kann, wo-
[140] durch Satire sich unfehlbar in Pasquill
verwandelt.


Wenn man, gerüstet mit dieser Theo-
rie, sich in das Gewühl der Menschen
wirft, die vom frühen Morgen bis in die
Nacht die Straßen der lärmenden Haupt-
stadt durchströmen; wenn man sie um die
Kupferstichladen zu allen Stunden des Ta-
ges in großen Haufen, die sich immer
wieder ergänzen, versammelt sieht, um die
neuesten Erfindungen eines Bunbury oder
Gillray anzugaffen; wenn man endlich der
Versuchung nachgiebt, mit prüfendem
Blick den Gegenstand zu betrachten, der
das geschäftige Volk in seinem raschen
Gange aufzuhalten und hier zu fesseln ver-
mag: alsdann, — welcher Zauber ist es,
der plötzlich die Falten der Stirne zertheilt,
und Aug’ und Mund zum Ausdruck des
heiteren Wohlgefallens spannt? Dem treu-
[141] herzigen Volk und dem schalkhaften Satyr
des Künstlers möchte man zurufen, daß sie
sich immerhin an diesen Ausgeburten des
leichtfertigen Witzes und der gutmüthigen
Laune ergötzen dürfen. Die heilsame Er-
schütterung des Zwerchfells scheint die
Hauptabsicht der Englischen Karikatur zu
seyn, wodurch die Sittlichkeit und selbst
die Kunst wohl schwerlich mehr gefährdet
werden, als durch Harlekins und Pantalons
Erscheinung auf der Bühne, und deren
Macht, die Lache des wohlgenährten Vol-
kes zu erregen. Bei einem ärmeren Blut,
schärferen Säften, bittrerer Galle, bleibt
dieses Mittel unwirksam, und der Witz
schal, der nicht von Bosheit trieft. Es
giebt allerdings auch boshafte Englische
Karikaturen; allein diese sind für den Ho-
rizont eines kleinen leidenschaftlichen Krei-
ses berechnet, und befriedigen nicht den
[142] allgemeinen Geschmack. Die jetzigen Sa-
tirenzeichner liefern auch gewöhnlich kei-
ne absichtliche Sittengemälde in Hogarth’s
Manier, wo Beobachtungsgeist und Kennt-
niß des Herzens reichen Stoff zum Nach-
denken geben. Sie suchen vielmehr den
Ereignissen des Tages, die jedermann im
Munde führt, eine lustige Seite abzugewin-
nen, und mit dieser nähren sie noch einen
Augenblick länger die gute Laune des ge-
meinen Mannes. Der Franzose, welcher
bei dem Faustkämpfer Humphries eine Lehr-
stunde nimmt, ist zum Beispiel ein Ent-
wurf, der die vis comica, welche auf Brit-
tische Nerven wirken soll, in vollem Maße
enthält. Der Redner Burke mit einer ma-
gischen Laterne, ist ein anderer glückli-
cher Einfall. Hier zeigt er zweien Lords
einen Bengalischen Floh zum Berge ver-
größert, und mehrere geringfügige Gegen-
[143] stände in Ungeheuer verwandelt, in An-
spielung auf die Hyperbolen seiner Ankla-
ge des ehemaligen Generalgouverneurs Ha-
stings
. Die Minister und ihre Handlungen
sind aber das Hauptziel, wogegen diese
Pfeile des Künstlerwitzes gerichtet werden;
vorzüglich ist man in abentheuerlichen Vor-
stellungen des Staatsministers Pitt, und des
bekannten Oberaufsehers der Ostindischen
Compagnie, Dundas, beinahe unerschöpflich.
Man hat es immer bemerkt, daß der Kit-
zel welcher den Witzling antreibt, seine
Einfälle an Mann zu bringen, sich durch
die Erwägung des Schicklichen nicht zü-
geln läßt; über den Sinn für das Lächerli-
che geht das Gefühl der Menschlichkeit oft
verloren. Die häufigen Karikaturen, wel-
che während der Krankheit des Königs er-
schienen, und den Partheigeist auf die un-
anständigste Weise nährten, sind neue Be-
[144] läge dieses Satzes. Wie verächtlich wird
die Moralität eines Menschen, der die Zer-
rüttung der Organisation mit ihrem Miß-
brauche verwechseln, und über jene nicht
weniger als über diese spotten kann! Um
den ächten Gehalt des Witzes dürfte es
auch dann etwas mißlich stehen, wenn
die Vorstellungen bis zur Länge von sechs
Fuß gedehnt werden, wie es mit dem so-
genannten langen Menuet, dem Cotillon,
und der Fortpflanzung der Lüge der Fall
ist. Diese Stücke enthalten zwar eine lau-
nigte Darstellung von Charakteren, die der
Natur treu nachgezeichnet sind; allein auf
den ungeheuren Dimensionen der Platte
kann nur der Müßiggänger aus langer Weile
ein Treibjagen nach lustigen Einfällen an-
stellen. Daß der Erfinder dieser Karikatu-
ren, Bunbury, ein Gentleman ist, der als
Dilettant bloß für seinen Zeitvertreib ar-
bei-
[145] beitet, entschuldigt im Grunde wenig.
Wenn Englefield, ein bekannter Zeichner
und Kupferstecher, der das Unglück hatte,
ohne Arme und Beine geboren zu werden,
etwas in seiner Art Unvollkommenes lie-
ferte, so wäre es ihm eher zu verzeihen.
Dieser arme Mensch verdiente noch unter
den Beispielen der Brittischen Industrie
erwähnt zu werden, da eine besondere
Stärke des Geistes dazu gehört, bei einer
so verunglückten Organisation sich lieber
Fertigkeiten zu erwerben, als von der
Schaustellung seines Körpers leben zu wol-
len. Wie weit müßten es gesunde, voll-
kommen gebildete Menschen nicht bringen,
wenn der Trieb sie beseelte, der in diesem
Krüppel so mächtig ward?


Die Gränzen der Perfektibilität, sagt
ein vortrefflicher Deutscher Schriftsteller,
kennen wir so wenig, als die der Anlagen
k
[146] im Menschen; und man könnte hinzufügen,
oft kommt es nur auf die rechte Triebfe-
der an, so beginnt eine bis dahin schlafen-
de Kraft zu wirken. Noth, sagt das Sprich-
wort, ist die Mutter der Erfindung; aber
Begierde ist ihre Amme, und Leidenschaft
ihre Erzieherin. Dies ist auch der Gang
der Industrie. Ist ihr erster Endzweck,
die Erhaltung, erreicht, so erwacht erst ein
höheres Bestreben, und dieses füllt allmäh-
lich die ganze Seele, je näher es dem Ziele
kommt. Nirgends erscheint aber die In-
dustrie unter so mancherlei Gestalten als
in London, auf dem großen Schauplatz,
wo die seltensten Fähigkeiten sich entwi-
ckeln und zur Reife gelangen. Eine Gat-
tung, die wir hier im Sinne führen —
denn sie veranlaßte diese Reflexionen —
ist die im vorigen Jahre verschiedentlich
wiederholte Schaustellung von musikali-
[147] schen Kindern. Der junge Crotch aus Nor-
wich machte bereits im Jahr 1777 großes
Aufsehen. Jetzt erschienen zu gleicher Zeit
zwei Brüder, Namens Bryson, aus New-
castle gebürtig, von denen einer fünf, der
andere nur zwei Jahre alt war, als Virtu-
osen auf der Orgel und dem Pianoforte.
Der ältere besaß dabei im Dambrett eine
solche Stärke, daß wenige Spieler in Lon-
don sich mit ihm messen konnten. Einige
Monate später trat aber eine kleine dreijäh-
rige Miß Hoffmann auf, die alle ihre Vor-
gänger übertraf. Sie war Meisterinn auf dem
Flügel, dem Pianoforte und der Orgel, und
berührte diese Instrumente mit der Delika-
tesse (sagt unsere Urkunde) eines Haydn
oder eines Just. Wenn auch dieses Lob
ein wenig übertrieben wäre, so ist es doch
immer merkwürdig genug, daß sie die
schwersten Stücke ohne Anstoß spielte, zu
k 2
[148] einer Zeit, wo sie kaum erst sprechen ge-
lernt hatte. Vielleicht würden diese Bei-
spiele von musikalischen Kindern noch häu-
figer vorkommen, wenn die Hoffnung, etwas
damit zu gewinnen, die Aufmerksamkeit der
Erwachsenen mehr darauf richtete. Oder
giebt es irgend einen geheimen Kunstgriff,
den Kindern die Tonkunst anzuzaubern, der
nur den Eingeweihten bekannt ist; etwa
eine musikalische Desorganisation?


Wie das Wohlgefallen an der Musik
in einem gebildeten Volke zum herrschen-
den Geschmack und sogar zur Leidenschaft
werden könne, ist schon begreiflicher.
Nie hatte diese Kunst in England eine glän-
zendere Epoche. Händels Gedächtnißfeier,
die einer Apotheose nicht unähnlich sieht,
die Italienische Oper, die großen Musiken
im Pantheon, alles ist prächtiger als je zu-
vor; und mit dem Herzoge von Bucking-
[149] ham
hat sich der Enthusiasmus auch über
Irland verbreitet. Man ist bereits verwöhnt
genug, um kein Concert mehr hören zu
wollen, wo das Orchester nicht wenigstens
aus dreihundert Künstlern besteht. Dem
Sänger Marchesi zahlten die Entrepreneurs
der Italienischen Oper für einen Winter
funfzehnhundert Pfund Sterling, nebst dem
Gewinn einer Vorstellung, freiem Tisch und
freier Equipage. Die Mara und die Sto-
race
wurden verhältnißmäßig eben so kö-
niglich von diesem Volk von Königen be-
lohnt. Noverre erhielt zum erstenmal in
England das daselbst ganz ungewöhnliche
Zeichen des Beifalls, daß er vom Publi-
kum herausgerufen ward, nachdem Vestris
sein neues Ballet, Cupido und Psyche, ge-
tanzt hatte. Diese Symptome zeugen von
etwas mehr als bloßer Modesucht; sie be-
zeichnen uns den Reichen und Großen,
[150] der Langeweile hat, und die Spannung ei-
niger Augenblicke nicht theuer genug be-
zahlen kann; sie schildern die unnatürliche
Weichlichkeit, zu welcher die Völker auf
der höchsten Stufe der Kultur, durch Uep-
pigkeit und schwelgenden Genuß entarten.
Es ist wahr, wir empfinden mit dem Oh-
re, wie mit dem Auge, Harmonie der Tö-
ne wie Harmonie der Farben und Gestal-
ten; das Vollkommene dringt in unsern in-
nersten Sinn, und verschmelzt sich mit
ihm, gleichviel durch welches äußere Werk-
zeug es aufgefaßt ward. Dennoch sind wir
unabhängiger durch das Gesicht, als durch
das Gehör; denn das Auge erfaßt einen
mannichfacheren Umfang von bestimmte-
ren Verhältnissen der Dinge, und mit Hülfe
desselben dringen wir gleichsam tiefer in
ihr Wesen hinein. Die Erschütterungen
durch das Gehör sind auch in demselben
[151] Maße gröber und unbestimmter, als die
durch die Sehenerven, wie das Medium
der Luft körperlicher ist, als jenes des Lichts.
Dunkle, leidenschaftliche Gefühle des Ton-
künstlers berühren unser Ohr in verschie-
denen Folgen von Tönen; dunkle, leiden-
schaftliche Gefühle widerhallen in unserem
Sinn. Plato hielt daher die Musik für ge-
fährlich, und insbesondere verbannte er
die weiche Lydische Tonart aus seiner Re-
publik. Minder streng als der für Tugend
schwärmerische Philosoph, erkennt unser
Zeitalter den Werth einer jeden Leiden-
schaft, und sicher in seiner Abspannung,
besorgt es keine gewaltsame Wirkungen
von dem Reitze der Musik. Woliüstiges,
schmachtendes, hinsterbendes Girren, vor-
getragen mit dem Silberton eines Ent-
mannten; mehr braucht es nicht, um ohn-
mächtige Nerven zu einem schnell vor-
überfliehenden Entzücken zu kitzeln.


[152]

Diese Musik wird indessen verhältniß-
mäßig nur von Wenigen geschätzt; der
allgemeine Geschmack ist männlicher, und
die Vorliebe für Händel beweist es schon.
Das Volk in England ist nicht musikalisch,
und seine Nationalmusik, wenn anders die
Gassenlieder dahin gerechnet werden dür-
fen, ist keinesweges zu rühmen. Seit der
Einführung der Deutschen und Italieni-
schen Musik fehlt es zwar nicht an gründ-
lichen Kennern, wovon der bekannte Dr.
Burney als Beispiel genannt werden kann;
allein die einheimischen Tonsetzer sind
noch selten, und eben nicht sehr berühmt.
Wenn man bedenkt, durch welche Aufop-
ferungen von mehr als Einer Seite dieser
Ruhm mehrentheils errungen wird, so
steht man wenigstens an, ob man den
Britten über diesen Mangel Vorwürfe ma-
chen, oder ob man ihnen dazu Glück wün-
[153] schen soll. Die Namen Arne, Shields,
Dibdin, Arnold, Jackson
, sind indessen
nicht ohne musikalisches Verdienst, und es
giebt unstreitig mehrere Künstler in die-
sem Fache, deren Kompositionen auch vor
ausländischen Richtern Gnade finden wür-
den. An musikalischen Seltenheiten fehlt
es nicht; Billington setzte Youngs Nacht-
gedanken in Musik, und ein zweiter Ton-
setzer, dessen Excentricität anderweitig be-
kannt ist, der reisende Twiß, beschenkte
das Publikum mit zwölf neuen Tänzen,
die so possierlich wie ihre höchstpossier-
lichen Ueberschriften lauten. Bei der all-
gemeinen Sitte, die Musik als einen Theil
der guten Erziehung anzusehen, konnte es
auch nicht fehlen, daß sowohl Sänger und
Sängerinnen, als auch Virtuosen auf ver-
schiedenen Instrumenten sich in England
bildeten, die zuweilen den Ausländern an
[154] die Seite gesetzt zu werden verdienen.
Harrison durfte sich im Pantheon neben
Marchesi hören lassen; Kelly und Mrs.
Billington werden in ganz London mit
Entzücken genannt; Linley behauptete sei-
nen Platz unter den geschicktesten Violi-
nisten, und Crosdill ist Meister auf dem
Violoncell.


Die schwärmerische Neigung des Adels
zur Italienischen Musik, verbunden mit
der Prachtliebe, die sich jetzt auch bei
der Verzierung der Hauptstadt mit an-
sehnlichen Gebäuden geschäftig erweiset,
führten vor einiger Zeit zu einem großen
Entwurf, ein neues Opernhaus zu erbauen.
Der Adel hatte bereits, wie man versichert,
fünf und zwanzig tausend Pfund Sterling
dazu subskribirt, als das bisherige Gebäude
ein Raub der Flammen ward, und die Un-
möglichkeit, die Vorstellungen fortzuset-
[155] zen, jenen Plan für jetzt wieder zernich-
tete. So glänzend das Zeitalter eines Jo-
nes
und Christoph Wrens für die Baukunst
in England gewesen ist, so scheint sie doch
noch jetzt mit glücklichem Erfolg daselbst
studirt zu werden. Wyatt, der Architekt
des Pantheons, die Gebrüder Adam, Sir
William Chambers, der den neuen Som-
merset-Pallast erbaute, Dance, Taylor, Carr,
Sandby, Dawkins, Hurst, Payne
und einige
Andere sind durch ihre Werke in- und
außerhalb London als Männer von Ge-
schicklichkeit und Einsicht bekannt. Einer
von diesen Künstlern, Sir Robert Taylor,
starb im November des letztverflossenen
Jahres. Er war anfänglich ein Bildhauer,
und man zeigt mehrere Stücke von seiner
Arbeit, unter andern die Bildsäule der
Britannia in der Bank von England, und
ein Basrelief im Fronton des Mansionhau-
[156] ses. Als Baumeister erwarb er sich aber
weit größeren Ruhm und zugleich ein
Vermögen von hundert und achtzig tausend
Pfund Sterling (mehr als eine Million
Rthlr.) Die geschmackvollen Zusätze zum
Bankgebäude sind sein größtes, und Asgills
Villa zu Richmond sein schönstes Werk.


Das Parlament sorgt zuweilen selbst für
die Verschönerung der Stadt durch die
Baukunst; noch kürzlich bewilligte es 6000
Pfund Sterling zur Reparatur der von
Jnigo Jones erbauten kleinen Paulskirche
in Conventgarden. Zu gleicher Zeit er-
neuerte die Stadt London ihr altes Rath-
haus, Guildhall, jedoch mit Beibehaltung
der gothischen Architektur, aus Ehrfurcht
für das graue Alterthum. Das Mausoleum
des Marquis von Rockingham, welches ihm
jetzt auf seinem ehemaligen Landsitze
Wentworth errichtet wird, ist eins der
[157] schönsten Gebäude des Baumeisters Carr,
und von vortrefflichem Effekt. Auf ein
Dorisches Erdgeschoß folgt das mittlere
Korinthische, und über diesem auf zwölf
Römischen Säulen die Kuppel. Inwendig
hat es zu ebener Erde ein Gewölbe auf
zwölf Dorischen Säulen ruhend, mit Sta-
tüen berühmter Brittischer Staatsmänner,
worunter auch die des Marquis, des Sir
George Saville, u. a. m. befindlich sind.
Im mittleren Geschosse, welches neunzig
Fuß hoch ist, steht nach antiker Art ein
prächtiger Sarkophag. Ein zweites Mauso-
leum wird jetzt von dem Architekten
Wyatt für Lord Darnley zu Cobham er-
richtet. London kann sich weder in Ab-
sicht der öffentlichen noch der Privatge-
bäude mit Italien messen; sogar Paris ist
an Pallästen ungleich reicher, wenn es
gleich keine Paulskirche aufzuweisen hat.
[158] Allein der Brittische Adel glaubt sich nur
auf seinen Gütern zu Hause: dort sind
seine Stammhäuser, seine geräumigen Woh-
nungen, seine Palläste; und nie prangte
eine so kleine Insel in allen ihren von der
Hauptstadt entfernten Gegenden mit so
zahlreichen Landhäusern, wo Pracht und
Eleganz sich zur Bequemlichkeit gesellen,
wo der Eigenthümer, ermüdet von den
lärmenden Lustbarkeiten des Winters, mit-
ten in einer schönen Natur die süßeren
Vergnügungen des Landes genießt, und
wo der abgespannteste Wüstling sich mit
der einfachen Bestimmung der Menschheit
wieder aussöhnt, oder wenigstens die Som-
mermonate hindurch seinen Geist neue
Kräfte sammlen läßt, um sie den nächsten
Winter desto glänzender zu verschwen-
den.


[159]

Dieser Gedanke, das Land für die rechte
Heimath anzusehen, scheint das seinige zur
Erhaltung jenes public spirit beizutragen,
den die freie Verfassung geboren hat, und
der ohne einen lebhaften Sinn für alles
Edle und Gute nicht gedacht werden kann.
Aus diesem Sinn entspringt die Vermäh-
lung der Kunstliebe mit dem Gefühl für
Vaterlandsehre, wodurch man sich zuwei-
len noch in England über alle Bedenklich-
keiten des Eigennutzes hinwegsetzt, um
vaterländisches Verdienst zu krönen und
Beispiele zur Nachahmung aufzustecken.
Rührende Vereinigung des sittlichen mit
dem sinnlichen Schönen! Wie viele Züge
von menschlicher Vollkommenheit und
Größe gehen nicht aus ihr hervor, die
man im Lande der Freiheit allein bewun-
dern kann! Zwar giebt es einen Gesichts-
punkt, aus welchem diese Vorzüge zu un-
[160] endlich kleinen Größen hinabsinken. Wol-
len wir den Menschen als ein schwaches,
inkonsequentes Geschöpf betrachten, so
laßt uns nur seine Kräfte und Anlagen be-
rechnen, das mögliche Ziel seiner Ver-
vollkommnung bestimmen, und dann zür-
nend über ihn und seine Führer, den un-
geheuren Abstand messen, in welchem er
von jenem Ziele zurückbleibt. Allein dem
gedemüthigten Selbstgefühl stehet es übel
an, zu diesem traurigen Hülfsmittel zu
greifen, um die beneidete Größe zu necken,
und durch Herabwürdigung dessen was
andere thaten, dem Bewußtseyn des eige-
nen Unvermögens zu entgehen.


[161]

II.
Artistische Notizen,
in London aufgezeichnet.


1.
Shakspear Gallery.


Von außen hat sie eine hohe schmale Front,
mit einem auf zwei Palmyrenisch-Ionischen
Pilastern ruhenden Fronton. Die große
Füllung zwischen den Pilastern bleibt noch
für die Gruppe von Banks. Unter den Pfei-
lern zu beiden Seiten sieht man eine Leier
en Basrelief, in einem dicken Lorbeerkran-
ze. Der Eingang ist bogenförmig mit Glas-
thüren. Unten befindet sich ein Kupfer-
stichladen, wo ein unermeßlicher Vorrath
l
[162] von Kupferstichen in Portefeuillen, oder an
den Wänden in Rahmen, nebst Kopieen von
Gemählden u. s. w. umher hangen, an de-
nen zum Theil die Preise bemerkt sind.
Man geht eine Treppe hinauf, und kommt
in das mittelste Zimmer. Die Enfilade be-
steht aus dreyen von ziemlich gleicher
Größe; sie erhalten ihr Licht von oben.
Die oberen Gemälde hangen schief, um es
besser aufzufassen.


Erstes Zimmer wenn man herauf
kommt
.

König Heinrich der Achte, Akt V. Scene 4.
Opie. Nr. 52.


Die Taufe der Prinzessin Elisabeth.

Ein großes Stück mit Figuren in Le-
bensgröße. Cranmer ist die Hauptfigur;
sie hat viel Anstand und Ausdruck, doch
ist sie ein wenig zu sehr gewunden, Seine
[163] schöne Kleidung gab dem Künstler vielen
Vortheil. Das Gesicht ist sprechend und
beseelt, aber nicht edel; Rembrandtisch.
Heinrichs Portrait, wie er war: fühllos, mit
der linken Hand über die Brust ausgespreitzt.
Dumm hätte Opie ihn doch nicht machen
sollen. Die Herzogin ist zwar hübsch, aber
leer — wie die andern Figuren alle. Die
Gruppe ist hinter einander geschichtet,
breit, die Farben bunt, Licht und Schatten
wenig verstanden, die Draperieen fleißig,
und, so viel das Costume erlaubt, gut ge-
worfen. —


Jaques, as you like it.

Akt II. Scene 1. Nr. 13. Hodges. Eine
schöne romantische Landschaft. Ein Wald-
strom kommt aus dunkel beschatteter Tiefe
des Waldes fern herab. Vorn an einem Ab-
sturz, wo die Fluthen die Erde von den
Wurzeln einer knotichten Eiche wegge-
l 2
[164] spühlt haben, liegt Jaques mürrisch und
melancholisch. Der verwundete Hirsch
geht ins Wasser; jenseits steht noch einer,
in der Ferne mehrere. Laub, Licht und
Schatten und Wasser sind vollkommen gut
behandelt, in großen Massen. Das Ganze
hat Einfalt und schauerliche Einsamkeit.
Hinter der Eiche blickt noch eine Figur
hervor. Die Thiere sind schön charakteri-
sirt: das verwundete matt und leidend;
das gesunde leichtfüßig, horchend, und
furchtsam umherblickend. Jaques ist ein
roher Entwurf, doch gut harmonierend mit
dem andern. Er hebt den Kopf von dem
Arme, der ihn stützt, und denkt nach über
das Schauspiel, das er eben betrachtete.


Beaufort.

Reynolds. Viel läßt sich für des
Künstlers Arbeit sagen, wenn man sich mit
seiner Wahl aussöhnen kann. Der zähne-
[165] blökende Kardinal ist meisterhaft, aber ab-
scheulich. Die Hände im Krampf sind gut
gezeichnet, aber der Arm schlecht verkürzt.
Der König steht so, daß er, indem er den
Arm gerade in die Höhe hebt, sein Gesicht
ganz bedekt. Die zwei andern Köpfe haben
viel Ausdruck. Der eine ist gerührt, und
sucht ein Auge, dem er sein Gefühl des
mitleidsvollen Entsetzens mittheilen kann;
der andre blickt unverwandt hin, und
scheint zu denken: er stirbt wie er gelebt
hat. Im Schatten zwischen den Bettvor-
hängen über dem Kopfe des Kardinals sieht
ein Teufelskopf mit zwei langen Zähnen
und Satyrsohren, nebst einer Kralle auf
dem Kopfküssen, hervor. Ich gestehe gern,
daß er mich in diesem gräßlichen Bilde
nicht so skandalisirt, als Andere. Er gehört
gewissermaßen dazu; und da ihn die christ-
liche Mythologie einmal hat, und selbst
[166] die Künstler verleitet, solche Süjets zu wäh-
len, so mag er die Geschichte erzählen hel-
fen. Vorn auf einem Tabouret liegt der
Kardinalshut. Farbe, Licht und Schatten
sind einfach und Rembrandtisch.


Hubert und Arthur.

Nr. 20. Das Schöne dieses Stückes ist
Huberts Gesicht, das wirklich spricht, wie
der Dichter ihn bezeichnete: ein für den
Knaben schmelzendes Herz; die rechte Hand
greift voll Schmerz die Stirn, die linke
mit geballter Faust stützt sich auf den Tisch,
wo Crucifix, Gebetbuch und Stundenglas
schön erzählen. — Die Thür des Gewölbes
ist halb offen; vorn das Feuerbecken, und
die zwei Kerle, von denen einer das glü-
hende Eisen hält. Der Knabe knieet, um-
faßt Huberts Knie, und zeigt mit der Lin-
ken auf das Eisen, weint, ist aber nicht er-
[167] schrocken und nicht so agitirt, wie es die
Scene fordert. Daß der Kerl mit dem Ei-
sen knieet, ist der Gruppirung wegen gut,
sonst aber ein wenig gezwungen. Die Ge-
schichte ist übrigens sehr gut behandelt,
das Costume gut beobachtet, Licht, Schat-
ten und Farbenton sehr gut, und verstän-
dig. Eine edle Natur, gut nüancirt durch
die verschiednen Klassen von Ständen. Van-
dyk
fällt einem doch ein. — Johanns Brief
liegt auf der Erde mit dem Namen.


Troilus und Cressida.

Von der Angelika; in ihrer bekannten
antiken Manier, mit allen ihren Vorzügen
und Fehlern. Das Stück hat schlechte Zeich-
nung des Nackten. Die Wahl ist nicht gut
gerathen; die gute Angelika konnte
diese buhlerische Scene nicht darstellen.
Diomedes ist ganz verfehlt.


[168]
All’s well that ends well.

Wheatley. Mit Figuren in halber
Größe. Gar zu flüchtig, gar zu manierirt
und theatralisch; eine bloße Skizze.


Loves labour’s lost.

Nr. 9. Hamilton. Auch sehr leicht
traktirt und skizzenähnlich; alle Figuren
im Tanzschritt, mit einem Fuß auf der Fuß-
spitze zurückstehend, Puppengesichter ohne
Ausdruck: wahre moderne Schönheit.


As you like it.

Nr. 38. Von der Angelika. Kalt.
Celia in Mannskleidern, ein wahrer Jüng-
ling mit einem Weibergesicht, ein Herma-
phrodit.


Romeo and Juliet.

Nr. 56. Northcote. Es war un-
möglich, diese Scene ganz zu verfehlen;
doch bei allen Mängeln ist hier viel, was
[169] den Beobachter freuet. Die Geschichte ist
gut erzählt. Der Mönch steigt die Stufen
hinab in die Gruft, stützt die Rechte auf
den Spaten, und hält mit der Linken die
Fackel in die Höhe, deren brennendes Ende
aus dem Bilde hinaus geht. Voll ängstli-
cher Besorgniß scheint er Julien sanft zu
rufen. — Julie ist eben erwacht; sie liegt
halb aufgerichtet auf dem linken Arm, und
streckt den rechten dem Mönch entgegen.
Die Todten, Romeo und Paris, hat sie noch
nicht gesehen. Der letztere liegt halb im
Schatten längs den Füßen ihres Lagers.
Romeo ist hingestürzt auf seine Knie; ein
Arm hängt über ihrem Lager, die Hand
krampfhaft geschlossen, der Kopf hinabge-
sunken, todt. Die Rechte hält noch das
leere Giftglas; er ist also kaum erst gestor-
ben. Julie liest im Auge des Mönches ahn-
dend, und ist dem Künstler sehr geglückt.
[170] Hinter ihr geht ein großes Grab in die
Höhe, und darauf liegt in völliger Rüstung
mit gefalteten Händen eine Ritterfigur.
Dieses Bild ist noch schöner als das von
Hubert und Arthur; und so wenig auch
alles ausgeführt ist, so guten Effekt thut es
doch. Die Figuren (in ganzer Lebensgröße)
haben ziemliche Zeichnung; die Composi-
tion ist untadelhaft, das Colorit warm, die
Draperie in einem edlen Styl. Eine La-
terne auf den Stufen, (vermuthlich ließ Ro-
meo sie da) ist sehr gut angebracht, um
Licht dahin zu bringen. Reynolds ist
der Meister, zu dem Northcote auf-
blickte: das sieht man.


Nr. 48. Josiah Boydell. Hein-
rich der Fünfte nimmt die Krone. Aber
mich dünkt, er ist ein Dieb. Ich sehe nicht,
daß er mit ihr spricht. Sonst ist das Ge-
mälde nicht übel behandelt.


[171]

Nr. 22. Skizzenhafte Figuren in halber
Größe, in der Art wie Hamilton.


Julia.

Opie. Besser als sein Heinrich der
Achte. Julie ist schön, aber elend gezeich-
net; die Arme hölzern, die Draperie
schlecht, das Bett ein Gesudel von Farben.
Die Mutter wäre sehr gut, wenn sie nicht
so wunderlich ummäntelt wäre, und so
schlecht verkürzte Arme hätte; sonst ist
der Ausdruck gut getroffen, wahr. Sie ist
nur nicht alt genug: ein verzeihlicher Feh-
ler; zumal bei Opie, der nicht schmei-
cheln kann. Die Ausführung hält in der
That keine Kritik aus, und erwartet auch
wohl keine. Aber wie Shakespear erzählt,
so kann es ihm auch ein Stümper nachsa-
gen, und es bleibt noch etwas vom ur-
sprünglichen Gehalt.


[182[172]]
Nr. 37. Ferdinand and Miranda. Tem-
pest
.

Wheatley. Angelika’s Art und Kunst.


Nr. 29. Lear.

Fuessly. Es sind nicht Menschen,
die dieser Künstler phantasiert, sondern Un-
geheuer in halbmenschlicher Gestalt, mit
einzelnen sehr groß gezeichneten und sehr
verzerrten, verunstalteten Theilen und Pro-
portionen: ausgerenkte Handgelenke, aus
dem Kopfe springende Augen, Bocksphysio-
nomien u. s. f. Die Draperien sind nach
dem Marmor kopiert, naß, schön, aber
hart, und das Nackte entweder eben so
sklavisch von der Bildhauerei entlehnt,
oder verfehlt.


Lear hat einen Jupiters-Bart; es ist aber
Jupiter Ammon, der Kretensische, der die
Ziegenbocksgestalt hat.


[173]
Nr. 34. Hamlet.

Fuessly. Eine einfache Composition,
aber eben so übertrieben. Der Geist macht
Eindruck; wäre er nur besser gezeichnet,
und nähme er nicht so ungeheure Schritte.
Das Mondlicht hinter ihm ist gut; sein
Blick vortrefflich, das vorwärts weg ge-
streckte Scepter sprechend. Aber der Bart
wird nicht zerwühlt vom Winde, sondern
der Wind geht aus ihm hervor, und weht
ihn nach allen Richtungen.


Hamlet sträubt sich brav, und sein Freund
hält ihn brav. Michel Angelo hätte in die-
ser Art gearbeitet und ein Meisterstück ge-
liefert; Füßly ist zu extravagant, um Aus-
druck, Kraft und Feuer zu erzwingen.


Nr. 3. Merry Wives of Windsor. Akt. I.
Sc. 2.


[174]
Nr. 21. 2. Part of Henry IV. Akt. III.
Sc. 2.

Durrn. In Rom gemahlt. Battoni’s
kalte, trockne Manier nachgeahmt, die Dra-
perien Italienisch, so mühsam gefältelt,
oder mit so gesuchter Eleganz gezeichnet,
daß sie steif sind.


Nr. 10. Measure for Measure.

Smirke. Karrikatur.


Zweites oder Mittel-Zimmer.

Nr. 16. Winters-tale.

Opie. Die Köpfe haben viel Wärme
und Charakter.


Nr. 28. Titus Andnroicus.

Kirn. Gut gruppirt, mit vielem Stu-
dium der Antike. Der Kopf des Markus
ist wie ein Periander, oder Plato; Titus
mit dem Helm auch antik. Laviniens Kopf
ist eine Baccha, und daher der Ausdruck
[175] ganz verfehlt. Die Verstümmelung ist ver-
hüllt; aber nun weiß man auch nicht, was
es seyn soll.


Nr. 42. Midsummernights dream.

Reynolds. Ein Knabe mit Fauns-
ohren sitzt auf einer großen Cypräe oder
Schildkrötenschale, (welcher, weiß ich
nicht), und hält Viola tricolor in einer
Hand, und hebt die andere hoch. Ein häß-
licher Einfall, das zu wählen!


Nr. 36. Tempest.

Fuessly. Miranda ist Kordelia; Pros-
pero Lear; Kaliban die Grundfigur für Füß-
ly’s
Imagination.


Nr. 17. Winter-tale.

Hodges. Nicht sein bestes Stück. Die
Figur des von Bären Gefreßnen ist häßlich.


Nr. 12. As you like it.

Downman. Nichts Besonderes. Ge-
mein.


[176]
Nr. 5. Comedy of Errors.

Rigaud. Schöne Figuren, schönes
Costume, sehr edle Komposition.


Nr. 2. Merry wifes of Windsor.

Peters. Schlecht. Ein Speelhuis.


Nr. 6. Much ado about nothing.

Peters. Unausgeführt; immer nur lock-
re Nymphchen.


  • Nr. 15. Taming of a Shrew.
    Wheetley.
  • Nr. 18. Winter-tale.
    Wheetley.
  • Nr. 46. Twelfth night.
    Hamilton.
  • Nr. 39. Merry wifes of Windsor.
    Smirke.

Nr. 93. Antonius and Cleopatra.

Tresham. Ein schönes edles Werk
der Kunst. Die Karnation ein wenig zu
hart:
[177] hart; einfach schön; die Komposition im
hohen Styl; die Köpfe meisterhaft; die
Draperien groß, und mit einem verstän-
digen Rückblick auf die Antike gemahlt.
In einigen Jahren wird es ein vortreffli-
ches Gemälde seyn. Kleopatra vom Schmerz
überwunden sinkt in die Arme eines ihrer
Mädchen in bittender Stellung. Markus
Antonius sitzt, wendet den Kopf weg, legt
die Hand an die Stirn, und blickt auf, voll
Verzweiflung. Schade, daß das Auge feh-
lerhaft aus dem Kopfe starrt!


Nr. 50. Boydell. Eine Skizze, aber
schwach erzählt. Quo musa tendis? desine
pervicax referre sermones Deorum
. —


Nr. 24. Northcote. Nichts beson-
ders Sprechendes. Der Moment ist nicht
gut gewählt. Hübsche Leute; Heinrich ist
zu jung.


m
[178]

Nr. 10. Fuessly. Hier ist er in sei-
nem Elemente. Wie kann ein Künstler
über die Gränzen seiner Kunst so unwis-
send seyn? Sunt certi denique fines. Was
der Dichter sagen kann, darf der Maler
nicht darstellen!


Nr. 54. Opie. Wie gewöhnlich seine
Komposition ist; doch nicht übertrieben:
sie ist einfach und warm. Hier erzählt er
schlecht; denn die Nüancen der Charaktere
sind sehr fein.


Nr. 4. Kirk. Zerrissene Komposition.


Nr. 26. Northcote. Matt, bis auf
den Richard, der über die vor ihm liegen-
de Krone hin die Knaben ansieht.


Nr. 43. Hodges. Ein liebliches Ge-
dicht. Stiller Abend in einem schönen
Garten, mit Mondschein, der sich im Was-
ser spiegelt. Die Architektur des Hauses
im Vorgrunde wird von einer Lampe er-
[179] leuchtet. Im Hintergrunde stehen Lusttem-
pel, Zypressen, Babylonische Weiden, Te-
rebinten. Die beiden Liebenden sehen sich
nur im Gespräch.


Nr. 30. West. Wunder konnte Shake-
spear wirken; denn nur er konnte diesen
kalten West begeistern, bis er so dichtete.
Unstreitig ist das Stück eins seiner besten
Werke, sowohl was Gedanken, als was
Komposition, Ausführung und Ausdruck
betrifft. Die Köpfe Glosters und Lears sind
voll eines edeln Feuers; Edgar blickt fin-
ster tiefsinnig hervor, in sich gehüllt; der
Narr ist charakteristisch genug; Kent ist
ein Schmerzenskopf, und leidet für seinen
König, indem er ihn hält. Eine Art von
Christuskopf.


Nr. 19. Macbeth.

Fuessly. Er wiederholt sich. — Die
Figuren sind geschunden und in verzerrter
m 2
[180] Stellung. Banquo ist abscheulich verzeich-
net. Die Hexen oben in der Luft ver-
schwinden spottend.


Nr. 47. Ricaud. Der Prinz von Wa-
les, ein edler Jüngling. Es ist le Bruns
Alexander in einem etwas veränderten Ce-
stum, mit mehr Jugend und mehr Feuer;
eine durchaus überlegte Dichtung. Die
Stellung sehr edel, graziös ohne den Fuß
so tanzen zu lassen, wie die Herren Ha-
milton
und West. Percy liegt und stirbt
und blickt auf zum Sieger in seiner Ago-
nie. Hinten deckt sich Falstaf mit seinem
Schilde, und liegt auf der Erde. Heinrich
ist schön, kühn, und mild wie ein Gott.
In der Ferne Schlachtgetümmel, aber wie
ich es mag: es stört nicht.


Nr. 51. Stothard. Heinrich hat
hier mehr Bewegung und Leben als bei
Opie; sonst ist nichts sehr Besonderes im
Stück.


[181]

Aus dem mittleren Zimmer kommt man
durch eine kleine Thür in einen Gang, der,
so wie zwei große Zimmer, zu denen er
führt, ganz mit Handzeichnungen behängt
ist. Es sind Kopieen aller in England ge-
wesenen und noch vorhandnen guten Stücke
von fremden und einheimischen Künstlern.


2.
Sir Ashton Liver’s (Mr. Townley’s)
Museum
.


Dining-room.

  • 1) Candelabrium. Bas-relief. Ein Lotus-
    stamm aus seinem Calix wiedersprossend,
    steht auf einem Tripodium mit Löwen-
    tatzen; oben bildet die Blume das Gefäß
    für das Feuer. Von den Griffen fallen
    emblematische Bänder. Es ist 2 Fuß hoch,
    [182] 20 Zoll breit, und aus dem Frigidi Ga-
    bii
    , zwanzig Meilen von Rom.
  • 2) Griechische Inschrift auf einem runden
    Schilde; 3 Fuß im Durchmesser. Sie
    enthält die Namen der Epheboi von
    Athen unter dem Alkamenes, nebst der
    Tribus, wohin sie gehörten. Dr. Ant.
    Askew
    brachte den Schild aus Athen nach
    England.
  • 3) Cippus sepulchralis. 2 Fuß 1 Zoll.
  • 4) Terminus mit dem Bilde eines jugend-
    lichen Merkurs. Der Petasus mit Flügeln;
    an den Seiten der Caduceus und Hahn.
    5 Fuß hoch, in Frascati, 1770 gefunden.
  • 5) Hermaphrodit, von der Mitte herabwärts
    Terme. In der rechten Hand hält er seine
    Traube, woran ein Ibis pickt, den er un-
    ter dem linken Arme hält. 3 Fuß, 6 Zoll;
    im Jahre 1774 am Lago di Nemi ge-
    funden.

[183]
  • 6) Vase, 3 Fuß hoch, mit Griffen. Darauf
    ein Bacchanal en Bas-relief, und Sym-
    bole der Eleusinischen Mysterien.
  • 7) Libera oder weiblicher Bacchus, in na-
    türlicher Größe. Ihr zur Seite springt
    der Leopard; der Thyrsus liegt auf der
    Schulter. Epheukranz, lange Tunica und
    kurzes Kleid darüber. Gürtel über die
    rechte Schulter zwischen den Brüsten hin.
    Zu Roma Vecchia 1774 gefunden.
  • 8) Pan. Terme, drapirt, auf der Flöte spie-
    lend, mit langem spitzem Barte. 3 Fuß
    6 Zoll. Aus der Villa Antonini Pii.
  • 9) Septimus Severus. Eine Büste.
  • 10) Isis. Semi-terme. Kopf, Arme, Kör-
    per verschleiert, nicht das Gesicht. 3 Fuß
    hoch. Im Jahre 1776 sieben Meilen
    von Tivoli am Wege nach Praeneste
    gefunden.

[184]
  • 11) Musa bacchans. Nasse Draperie. Na-
    türliche Größe. Die linke Hand mit den
    meisten Fingern ganz, sehr weich. Ganz
    gekleidet. Schöner Kopf, mit einem
    Epheukranz.
  • 12) Bacchus barbatus. Büste als Terme.
    Edel und groß. Offner Mund. Vitta.
    Krauser langlockiger Bart.
  • 13) 2 item. Mit längerem schlichterem
    Bart und langen Haarlocken, die vorn
    herüber kommen. Aeltere Manier. Als
    Philosophen-Kopf in Plato’s Charakter.
  • 14) Junger Bacchus, mit Weinlaub gekrönt.
    Büste. Bandschleife des Haars, wovon
    die Enden nach vorn gehen.
  • 15) Paris, schlafend. Sehr schön. Peta-
    sus mit einer Schnur.
  • 16) Sphynx, sitzend, geflügelt; die Flügel
    gehen von der Brust zurück über die
    Schulterblätter.

[185]
  • 17) Brunnen von Marmor, mit Bas-relief:
    Hermaphroditen und Faunen. 3 Fuß hoch,
    3 Fuß im Durchmesser.
  • 18) Trunkner Faun.
    tibi cum sine cornibus adstas
    Virgineuum caput est
    .
  • 19) Junger Bacchus, mit Epheu bekränzt,
    auf den Androgynen Ampelus sich stüt-
    zend, nehmlich einen alten Weinstock-
    stamm mit Früchten und Laub, aus des-
    sen Mitte eine weibliche Figur heraus-
    wächst. Ihre Brüste sind Trauben; in
    einer Hand hält sie an Bacchus Leib ihm
    eine Traube dar. Seine Linke ruhet über
    ihrer Schulter auf ihrer linken Traube.
    Der Leopard springt an den Weinstock
    hinauf. Eine Vitta auf der Stirn. Schö-
    nes jungfräuliches Gesicht, mit vorwärts
    gesenktem Haupte. Schöne Jünglings-
    figur. Das Pantherfell über die rechte
    [186] Schulter geknüpft, deckt den linken Arm.
    Sandalen an den Füßen. 1500 bis 2000
    Jahre alt.
  • 20) Libera — oder Ariadne. 5 Fuß 10 Zoll.
    Nackt bis zur Mitte, unten bekleidet. Im
    Jahr 1775 in den Ruinen der Seebäder
    des Claudius zu Ostia gefunden. Ein
    wahrhaft göttlicher Körper und schöner
    Kopf, nicht abgebrochen. Hals und Schul-
    tern schön.
  • 21) Isis, 6 Fuß 6 Zoll. Lotoskelch oder
    Topf auf dem Kopf: ihr Symbol. Rosen-
    kränze, und andre Zeichen der Fortpflan-
    zungskraft daran. Wie jene erste (klei-
    nere) Libera drapirt. Zwei Meilen jen-
    seits des Grabes der Cecilia Metella, an
    der Via Appia, unter dem Pontifikat
    Sixtus des Fünften, in dessen Villa gefun-
    den; — vererbt auf die Negroni.

[187]
  • 22) Kleiner Bacchus-Knabe von 3 Fuß.
    Epheukranz, Ziegenfell, die Beine davon
    in einem Knoten unter dem Bauch. Aus
    der Villa Antonini Pii.
  • 23) Hadrians Büste, auf einem Theil seiner
    Villa bei Tivoli gefunden.
  • 24) Bas-relief. Castor, das Pferd lenkend,
    hinter ihnen ein Hund. 3 Fuß □. Aus
    Hadriani villa Tiburtina.
  • 25) Büste, ähnlich der Medaille von Gor-
    dianus Africanus, pater
    . In der Toga, la-
    tus clavus. Im Jahre 1770 gefunden.
  • 26) Gruppe. Aktäon von zwei Hunden an-
    gegriffen, 3 Fuß hoch. Im Jahre 1774 in
    der Villa Antonini Pii gefunden.
  • 27) Junger Bacchus. Wie oben. Der obere
    Theil des Ampelus hat die Form eines
    Genius. Traube auf seiner Wange. Ei-
    dechse am Stamm. Der Leopard hat ein
    Epheuhalsband. Gefunden 1772, zu la
    [188] Storta
    , erste Poststation von Rom nach
    Florenz.
  • 28) Alter trunkner Faun oder Silen, ähn-
    lich dem von Bronze im Mus. d’Ercolan.
    p. 161.
  • 29) Adonis, weichlicher Jüngling, schlafend
    auf einem Felsen. Petasus unter dem
    Kinn zugebunden. Chlamys cum fibula,
    auf der Schulter befestigt, deckt zum Theil
    den Körper. Sandalen mit Binden, die
    bis auf das halbe Bein gehen. Gefunden
    zu Roma vecchia, 1774.
  • 30) Thaleia, die Hirtenmuse. Reiche Dra-
    perie. Aeußeres loses Gewand. Die Tu-
    nica so fein, daß die Gestalt durchscheint.
    Zu Ostia 1775 gefunden.
  • 31) Bacchantin, oder Mystes. Bas-relief.
    In der Rechten, die sie über den Kopf
    hält, ein Dolch; in der Linken eine
    Hinterhälfte von einem Ziegenbock.

[189]
  • 32) Bas-relief. Bacchanalprocession. Die
    Mystes voran, den Kopf zurückgeworfen,
    spielt auf dem tambour de basque. Ein
    Faun folgt ihr, spielt die doppelte Tibia,
    und dann ein betrunkner Faun, der den
    Thyrsus in der Rechten trägt, und die
    Linke mit einer Löwenhaut ausstreckt.
    Der Leopard zu seinen Füßen. Auch die
    beiden andern Figuren sind mit Löwen-
    häuten bedeckt. Im Jahre 1775 am Wege
    nach Frascati gefunden.
  • 33) Diana, natürliche Größe. Den Spieß
    werfend, oder eine Fackel haltend (luci-
    fera
    )? Ungewiß, weil der Arm restaurirt
    ist. Wahrscheinlicher das letzte, weil
    ihr Haar wie Flammen auf dem Scheitel
    gebunden ist, wie man es auf Medaillen
    sieht. Gefunden 1772 bei la Storta, wo
    der junge Bacchus war.
  • 34) Kolossalischer Kopf des Herkules, von
    [190] ältester, sehr ängstlich ausgeführter, har-
    ter Arbeit, die schon vor der siebzigsten
    Olympiade außer Gebrauch war, 500 Jah-
    re vor Christi Geburt. Aus der Villa
    Hadriani
    . Vermuthlich hatte der Kaiser
    ihn dahin gestellt als Probe von alter
    Arbeit.
  • 35) Periander, Tyrann von Korinth, einer
    der sieben Weisen. In der Villa Sixtus
    des Fünften
    . Unbekannt, bis man eben
    so einen mit dem Namen fand in der
    Pianura di Cassio bei Tivoli.

Street Drawing-room.

  • 1) Apollo Musagetes Kopf. Aehnlich einer
    Muse, im Haarputz und Charakter des Ge-
    sichts; gehörte zu einer Statüe, ähnlich
    der im Mus. Capitol. (Tom. III. tab. 15)
    gestochenen. Der verstorbne Mr. Lyder
    Browne
    brachte ihn von Rom.

[191]
  • 2) Apollo Philesias Kopf, gehörte zu einer
    Statüe, ähnlich der im Mus. Capit. (T. III.
    tab. 13.) gestochenen. S. Winkelmann
    Monum. ined. Trattato prelimin. p
    . 52.
  • 3) Cupido schlafend auf einer Löwenhaut.
    Gehörte sonst dem Kardinal Alexander
    Albani
    .
  • 4) Perikles-Kopf. Die Inschrift auf dem
    Terminus giebt ihn zuerst an. Dieser
    Kopf, und ein schlechterer ihm ähnlicher
    wurden 1780 in der Pianura di Cassio
    unweit Tivoli gefunden.
  • 5) Antinous-Kopf, über natürlicher Größe.
    Dieser Kopf mit dem größten Theile der
    Statüe, zu welcher er gehörte, wurde
    1770 in einzelnen Stücken gefunden, die
    als Steine in einer, während der barbari-
    schen Zeiten errichteten Mauer gebraucht
    waren, in den Gründen, die gegenwärtig
    Tenuta della Tedeſca genannt werden,
    [192] unweit der Villa Pamfill. Die alte Mauer
    lag zum Theil unter dem Wege, der zum
    S. Pankrazthore von Rom hinaus nach
    Palo führt.
  • 6) Ein Priapeischer Genius, ruhet mit Brust
    und Händen auf dem Ichneumon, und
    hält die Beine gerade in die Höhe: der
    Ichneumonschwanz geht auch hinter ihm
    in die Höhe. Das Thier scheint halb
    Ichneumon, halb Krokodil, hat kleine
    Ohren, starkes Gebiß, gekerbten Schwanz.
  • 7) Amazon saucia. Büste.
  • 8) Kolossalische Büste einer Roma, mit
    Helm. Die Augäpfel fehlen.
  • 9) Faustina. Büste.
  • 10) Genius des Schlafs, mit Flügeln. Eine
    Keule liegt links neben ihm, eine Ei-
    dechse kommt unter seiner Löwenhaut
    an den Daum der linken Hand; eine an-
    dre auf dem Schwanze der Löwenhaut
    berührt
    [193] berührt seine rechte große Zehe. Neben
    ihm rechts ein Köcher.

Dressing-room.

Die Wände mit Friesen und mit Bas-
reliefs bedeckt; überall umher Köpfe, Bü-
sten, Inschriften, ganze Statüen.


Büste der Messalina.


Lassata viris nec dum satiata recessis.


Hier kann man ästhetische Physiogno-
mik und Pathognomik studieren. Wie soll
man Leidenschaften und Spuren von lange
gewohnten Lastern bilden ohne Verzer-
rung? Hoc opus hic labor.


Kleines Vorzimmer (hall) daneben,
gleich an der Hausthüre
.

  • 1) Schöner Sarkophag von graulich schwar-
    zem Basalt, welcher ein Granit von
    n
    [194] unendlich zarten Theilchen scheint, so
    fein wie Sandstein, und von der schön-
    sten Politur.
  • 2) Herrliches Bas-relief. Bekleideter, bärti-
    ger, fetter Bacchus, unterstützt von einem
    Faun, indeß ein anderer etwas an sei-
    nen Sandalen macht. Hinter ihm trägt
    einer den ungeheuern Thyrsus. Vor ih-
    nen Trimalcion auf einem Bett. Im Hin-
    tergrunde Gebäude. Aus der Villa Ne-
    groni
    . Findet sich bei Santo Bartolo
    und im Montfaucon.

Library.

  • 3) Zwei Homers-Büsten. Eine göttlich.
    Die Falten der Stirn gehen quer und
    schräg aufwärts vom rechten Schlaf. Der
    Bart voll Geist. Zwei große Büschel
    Locken über den Ohren. Schöner sprach-
    reicher Mund. Tiefe, doch sanfte Au-
    [195] gen, scharfblickend. Falten tief hinal
    zwischen den Augenbraunen. Zu Bajä
    1780 gefunden.
  • 4) Schöne Büste von Perikles mit Helm.
  • 5) Torso einer kleinen Venus. Wunder-
    schön! Ohne Kopf, äußerst schöne
    Brüste, Arme, Schenkel. Sie bindet
    sich die Armilla am Fuß, und der an-
    dre Arm, so weit er vorhanden ist,
    scheint auf einer Priapus-Terme geruhet
    zu haben. Der Körper sowohl als der
    rechte Schenkel sind vorwärts gerichtet.
  • 6) Cupido, den Bogen spannend. Der
    Kopf ganz, ein kleines Stück von den
    Füßen modern, und die Flügel halb re-
    staurirt. Ueber seinem Köcher hängt
    eine Löwenhaut, und dient zur Stütze.
    Der Kopf, die Figur sind, wie nur die
    Antike sie bilden konnte. Er ward in
    einer großen Vase gefunden, und Theile
    n 2
    [196] daneben, zu Castel Guido, ehemals Lo-
    rium
    , wo Antoninus Pius starb, und
    Galeria Faustina, seine Gemahlin, eine
    Villa hatte, deren Andenken noch durch
    den Namen der dortigen Kirche, Ma-
    donna della Galeria
    erhalten wird.
  • 7) Faun, ganze Statüe, klein, hält eine
    Syringa; ein Ziegenfell hängt über sei-
    ner Schulter. Linker Arm und beide
    Beine restaurirt. Trockner Körper, bocks-
    artig.
  • 8) Faunskopf, schön lächelnd, mit spros-
    senden Hörnchen.
  • 9) Faun und sträubende Nymphe, von
    wunderschöner Arbeit. Der weibliche
    Körper über allen Begriff weich.
  • 10) Dianakopf. Das Haar sehr schön, hin-
    ten gebunden, und das von der Seite
    auf die Scheitel. Längliches, kaltes,
    ernstes Gesicht, sehr schön.
  • 11) Kopf einer Baccha.
  • 12) Marcellus? Portrait gewiß. Ganz mit
    [197] dem Piedestal. Litibus judicandis De-
    cemviri St
    . Büste.
  • 13) Diomedes? Büste. Wildes straubiges
    Haar. Der Heros blickt so wild und
    trotzend auf; und so schön ist der Trotz-
    kopf! so männlich groß! Aus der Villa
    Hadriani
    . Im Vatikan ist eine viel
    schlechtere Kopie.
  • 14) Lucius Verus. Schöne Büste, cum pa-
    ludamento
    . Aus der Villa Maffei. Vid.
    Mus. Maff
    .
  • 15) Musenkopf mit Lorbeerkranz. Unter-
    halb Frascati gefunden.
  • 16) Isis oder Fortuna, mit der rechten
    Hand auf dem Ruder; in der linken
    korrumpirt. Drei Fuß hoch. Weite Dra-
    perie. Zu Roma vecchia 1775 gefunden.
  • 17) Zwei Windhunde.
  • 18) Dioskuruskopf.
  • 19) Schöne kleine Statüe der Venus. Nur
    die Arme restaurirt. Das Kinn etwas
    schadhaft. 4 Fuß hoch. Zu Ostia 1775
    [198] gefunden. — Die allgemeine Idee der
    Liebesgöttin; der Körper ruhet auf einem
    Fuß, der andre ist zurückgezogen, und
    die Schenkel schließen dicht an einan-
    der: so fließen die Linien göttlich rein
    zusammen. Am obigen Torso waren die
    Hüften weit stärker. Hier der Leib in
    der Nabelgegend etwas eingebogen, der
    Unterleib schön gewölbt, und die Um-
    risse des ganzen Körpers so weich, so
    zart, so symmetrisch, von so lieblichen
    Formen, daß man erstaunt, wie ein
    solches Gebilde unter der Hand des
    Meisters durch Meißel und Hammer
    entstehen konnte. Anmuth und Lieb-
    lichkeit der Gestalt ist sicher ganz etwas
    anders als Ebenmaß; wir haben nur
    Sinn dafür, und nicht Begriff. Wahr-
    scheinlicher ist es eine Leda. Der Schna-
    bel des Schwans berührte das Kinn, wo-
    von noch die Spur zu sehen ist; er war
    vermuthlich klein, und sie hielt ihn mit
    beiden Händen. Die Sandalen sind auch
    [199] der Leda mehr eigen, so wie die
    schmächtigere Figur.
  • 20) Kleiner sitzender Herkules.
  • 21) Bas-relief über dem Kamin. Der Cen-
    taur Nessus und Dejanira. Aus dem Pal-
    last Verospi.
  • 22) Gegenüber von Bronze ein kleiner Her-
    kules imberbis
    , mit den Äpfeln. Hinter
    ihm der Baum mit der Drachenschlange.
    Gefunden zu Gebelet in Syrien, unweit
    Byblos. Dr. Swinney schickte die Stücke
    1779 nach London; er hatte sie von ei-
    nem Griechen in Konstantinopel gekauft.
    2 Fuß 6 Zoll hoch.

Park Drawing-room.

  • 1) Kopf von Decebalus, kolossalisch. Vom
    Forum Trajani.
    What though the field be lost!

    All is not lost; th’unconquerable will

    And study of revenge, immortal hate

    And courage never to submit and yield,

    And what is else not to be overcome;

    [200]
    That glory never shall his wrath or might

    Extort from me.

    Has conditiones Decebalus deductus ad
    Trajanum invitus accepit. Dio Cassius
    .
  • 2) Astragalizon. Eine Figur, ein Jüng-
    ling
    , der auf dem Boden sitzt, und das
    Ueberbleibsel eines Arms beißt. Ein
    Leder um seine Hüften ist ganz Leder
    in den Falten. Es scheint der Überrest
    einer Gruppe von zwei jungen Leuten,
    die sich bei dem Knöchelspiel zanken;
    ein Knöchel (talus) ist noch übrig in
    der Hand, die zu der fehlenden Figur
    gehört. Gefunden während des Pontifi-
    kats Urbans VIII in den Bädern des
    Titus, wo eine ähnliche Gruppe von
    Polyklet gestanden haben soll. Der Kar-
    dinal Franz Barberini, Neffe dieses
    Papstes, stellte es in seinem prächtigen
    Pallast auf, wo es blieb, bis 1768, da es
    nach England gebracht wurde. Es ist
    gemeine Natur, ein Straßenjunge —
    [201] aber wie ausgesucht! Der ausgestreckte
    Fuß ist schön gezeichnet.
  • 3) Kolossalische Büste von Marc Aurel. —
    Velato capite
    , mit Ähren gekrönt. Stu-
    dium Philosophiae serium et gravem red-
    didit, non tamen prorsus abolita in eo
    comitate. Jul. Capitolin
    .
  • 4) Antinous, als Bacchus, kolossalische
    Büste. Apotheosis. Epheu.
  • 5) Göttlicher Minervakopf, von Marmor.
    Mr. Townley hat ihr Helm und Aegis
    von schöner Zeichnung von Bronze ge-
    geben. Ihr Haar ist zurückgestrichen.
    Der Hals schön. Wunderbares Vorwärts.
    streben des ganzen Kopfes, Halses und
    Blickes, und des sich öffnenden Mundes
    Aufmerken. Mehr ein Bild menschli-
    chen Forschens, als göttlichen Wissens.
    Gefunden 1773 in der Villa Casali, ver-
    muthlich den Bädern des Olympiodorus.
  • 6) Clytia, Büste, aus einer Sommerblume
    hervorblühend. Kostet 1000 Pfund Ster-
    [202] ling. Weiches, schön gescheiteltes Haar,
    schmachtendes, wunderschönes Gesicht.
  • 7) Kolossalische Büste eines jungen Her-
    kules
    . Sehr mächtig. Aus dem Pallast
    Barberini.
  • 8) Trajans Büste. 1776 gefunden.
  • 9) Eine Isis, aus dem Lotos hervorblü-
    hend. Aus dem Pallast Laurenzani in
    Neapel. Ich möchte Worte finden, die
    diesen Kopf, oder besser das ganze Brust-
    bild, malten; denn gemalt müßte es
    werden, damit man es fühlte. Ich will
    erst am Äußeren verweilen. Ihr Haar,
    an der Stirne gescheitelt, fällt zurück,
    und über die Schläfe, nah an den Aug-
    braunen vorbei, in nassen wellenförmi-
    gen Locken und Flechten, die auf dem
    Nacken sich schlängeln. Das Gewand
    von feiner Leinwand ist naß, und läßt
    die Gestalt durchscheinen; es deckt den
    rechten Arm und zum Theil die Schul-
    ter, und ist vorn den Arm hinab mit
    vier runden Spangen zugeheftet; dann
    [203] fließt es in einer schrägen Wellenlinie
    über den reichen nährenden Busen, und
    schlüpft um die Mitte des linken Arms,
    wo wieder eine Spange zum Vorschein
    kommt. Die Blätter des Lotoskelches,
    unten fest vereinigt, gehen erst schräg
    breiter werdend hinauf, und biegen sich
    dann schon divergirend in lieblichen
    Formen um. Aus diesem Kelche steigt
    die Büste hervor. Bezaubernd ist die
    rechte Brust, durch das Gewand fühl-
    bar; an der linken nackten vergehen die
    Sinne. Den Hals wollüstig emporhal-
    tend, üppig, voll und weich, neigt sich
    ihr Haupt kaum merklich zur rechten
    Seite; schön und voll sind die Wangen;
    im Munde ist ein Reichthum der Affekt-
    sprache, der sich nicht ausdrücken läßt;
    sehen muß man diese dem Sinne entge-
    genkommende Oberlippe, wie viel Le-
    ben in ihr verborgen ist, wie viel man-
    nichfaltige Kraft der Bewegung in ihrer
    festen Wölbung, und welche Ruhe,
    [204] welche sanfte, milde, nichts begehrende,
    aber mild empfindende Form der Schön-
    heit in allen seinen Proportionen und
    Theilen! Die feine lange Nase ist noch
    Isisähnlich, ohne mehr Ägyptisch zu
    seyn; das Gesicht ist idealisirt: Ägyp-
    tische Schönheit mit dem schmachtend-
    melancholischen, sinnenden Ausdruck,
    mit einem Blick voll Liebe und wär-
    mender Kraft zu trösten und zu beseelen.
  • 10) Clytia.
  • 11) Liegende Diana, mit nasser Draperie.
    Klein, sehr schöner Körper. Gefunden
    in der Villa Verospi, ungefähr in der
    Lage von Sallusts prächtigen Gärten.
  • 12) Hand von der schönsten Arbeit, die
    einen noch nicht ganz entwickelten
    Schmetterling bei den Flügeln hält.

[[205]]

Appendix A Inhalt des dritten Bandes.


  • I. London.
    1. Ausstellung der königlichen Akademie S. 1
  • 2. Westminster-Abtei. Messias, am 3. Junius 8
  • 3. Erziehung und Theater der Engländer. Littera-
    tur. Beaux Stratagem 20
  • 4. Westminsterhall. — Warren Hastings Prozeß 29
  • 5. Zünfte 39
  • 6. The Monstrr46
  • 7. Naturgeschichte. Banks 50
  • 8. Kapitain Bligh. Reisen nach Nordwest-Amerika 53
  • 9. Dr. Johnson. Warton 56
  • 10. Etwas von den Sitten. Veränderung der Sitten.
    Nägel. Ranelagh. Boxing. Dr. Mayersbach 58
  • II. Reise nach Windsor. Slough.
    1. Windsor S. 85
  • 2. Slough. (Herschels Teleskop.) 94
  • 3. Richmond 103
  • III. Reise in das Innere von England.
    1. Weg nach Birmingham S. 105
  • 2. Birmingham und Soho 125
  • 3. Theater in Birmingham 135
  • 4. Leasowes 139
  • 5. Hayleypark S. 148
  • 6. Reise von Birmingham nach Derby 157
  • 7. ΟΙΣ ΘΕΜΙΣ ΕΣΤΙ. Castleton 182
  • 8. Von Castleton bis Middleton 186
  • 9. Matlock 189
  • 10. Chatsworth 198
  • 11. Fortsetzung der Reise. Den 15. Jun. 205
  • 12. Blenheim 216
  • 13. Oxford 219
  • 14. Dover. Den 28. Jun. 250
  • IV. Rückreise von England.
    1. Fahrt von Dover nach Calais. Den 29. Jun. S. 253
  • 2. Auf der Reise nach Paris 255
  • 3. Rückreise von Paris 258
  • Anhang.
    I. Geschichte der Kunst in EnglandS. 3
  • II. Artistische Notizen.
    1. Shakspeare-Gallery S. 161
  • 2. Sir Ashton Liver’s (Mr. Townley’s) Museum 181

[][][]
Notes
*)
Se. Majestät fragten mancherlei; aber, Gott-
lob! Sie beantworteten alles selbst.“
*)
S. Meusels Museum für Künstler und Kunst-
liebhaber, 4tes Stück, S. 17.
*)
Bekanntlich ist er seitdem gestorben.

Lizenz
CC-BY-4.0
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Forster, Georg. Ansichten vom Niederrhein, von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich, im April, Mai und Junius 1790. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bhzb.0