[][][][][][][][][[I]]
Das moderne Völkerrecht
der
civiliſirten Staten.

[[II]][[III]]
Das moderne Völkerrecht
der
civiliſirten Staten
als Rechtsbuch dargeſtellt


Nördlingen.:
Druck und Verlag der C. H. Beck’ſchen Buchhandlung.
1868.

[[IV]]
[[V]]

Anſtatt des Vorworts
ein Brief
an Profeſſor Dr. Franz Lieber in New-York.


Mein lieber Freund!


„Endlich bin ich wieder da“, und dieß Mal nicht in der Geſtalt
des Meerſchaums*), ſondern in der ernſteren eines völkerrechtlichen Rechts-
buchs, deſſen Namengebung und Einführung in die Welt ich Sie bitte,
als Pathe beizuſtehn. Ihr glücklicher Gedanke, der amerikaniſchen Armee
ein kurz gefaßtes Kriegsrecht als Inſtruction ins Feld mitzugeben, und
[VI]Vorwort.
mit den Mahnungen des Rechts die wilden Leidenſchaften des Kriegs
möglichſt zu zähmen, hat mich zuerſt zu dem Vorſatze angeregt, die Grund-
züge des modernen Völkerrechts in Form eines Rechtsbuchs darzuſtellen
und Ihre Briefe haben mich ermuthigt, dieſes Wagniß durchzuführen.


Ihre Kriegsartikel haben durch die Autorität des Präſidenten Lincoln
eine amtliche Verſtärkung erhalten, welche mein Rechtsbuch völlig entbehren
muß. Dasſelbe kann nur inſofern Autorität gewinnen, als die heutige
civiliſirte Welt in ihm einen zeitgemäßen und wahren Ausdruck ihres
Rechtsbewußtſeins erkennt, und die Macht auf die öffentliche Meinung achtet.


Meines Erachtens iſt die neuere Rechtswiſſenſchaft in einer Beziehung
hinter den Fortſchritten der Rechtspraxis zurückgeblieben. Sie hat ihre
Blicke zu lange an der Vergangenheit haften laſſen und darüber die Be-
wegung des Lebens nach der Zukunft hin aus dem Geſichte verloren.
Die Wahrheit, daß das gegenwärtige Recht ein gewordenes und
daher weſentlich aus der Vergangenheit zu erklären iſt, bedarf der Ergän-
zung durch die andere Wahrheit, daß das gegenwärtige Recht zugleich ein
werdendes und berufen iſt, das fortſchreitende Leben der Menſchheit zu
begleiten. Viele unſerer rechtsgelehrten Collegen können ſich nicht losmachen
von der hergebrachten Vorſtellung, daß das Recht ein unveränderliches
ſtarres Syſtem feſter äußerer Geſetze ſei, welche das menſchliche Thun
beſchränken. Sie denken ſich das Recht, wie eine Mauer und wie Spaliere,
an welchen der Gärtner die rankenden Pflanzen anbindet, wie ein Meſſer,
womit er die geilen Triebe wegſchneidet. Nur ſchwer ringt ſich die Wiſſen-
ſchaft zu dem tieferen Verſtändniß durch, daß das Recht eine lebendige
Ordnung in der Menſchheit
, nicht eine todte außer der Menſchheit
ſei, daß nur das lebendige und nicht das todte Recht befähigt
ſei, mit den Völkern zu leben und fortzuſchreiten. Am wenigſten paßt
jener falſche Gedanke eines an ſich todten Rechts zu einer Darſtellung des
Völkerrechts, das überall noch nicht zu feſtem Abſchluß gekommen, ſondern
noch in mächtiger unaufhaltſamer Bewegung begriffen iſt. Das Recht
des natürlichen Wachsthums der Völker und Staten
, das
Recht der Entwicklung der Menſchheit, das Recht des fort-
ſchreitenden Lebens
muß von der Wiſſenſchaft unzweideutiger und
entſchiedener als bisher anerkannt und vertreten werden, wenn dieſelbe ihre
[VII]Vorwort.
hohe ſittliche und geiſtige Miſſion erfüllen ſoll, ihre leuchtende Fackel auf
den Wegen der Menſchheit voran zu tragen.


Die Rechtswiſſenſchaft darf daher meines Erachtens nicht bloß die
ſchon in frühern Zeiten zur Geltung gelangten Rechtsſätze protokolliren,
ſondern ſoll auch die in der Gegenwart wirkſame Rechtsüberzeugung neu
ausſprechen und durch dieſe Ausſprache ihr Anerkennung und Geltung ver-
ſchaffen helfen. Je empfindlicher der Mangel geſetzgeberiſcher Organe iſt,
welche für die Fortbildung des Völkerrechts ſorgen, um ſo weniger darf
ſich die Wiſſenſchaft dieſer Aufgabe entziehn.


Freilich muß ſie ſich auch davor hüten, der Zukunft vorzugreifen.
Sie darf nicht unreife Ideen als wirkliche Rechtsſätze und ſelbſt dann nicht
verkünden, wenn ſie ihre Verwirklichung in der Zukunft klar vorherſieht.
Das Recht als ein lebendiges iſt immer ein gegenwärtiges und
unterſcheidet ſich dadurch ſowohl von dem Rechte der Vergangenheit, das
nicht mehr iſt als von dem Rechte der Zukunft, das noch nicht iſt.
Vergangenheit und Zukunft leben beide nur inſofern, als ſie ſich in der
Gegenwart begegnen und fruchtbar verbinden.


In dieſer Geſinnung habe ich, mein verehrter Freund, meine Arbeit
aufgefaßt. Die großen Ereigniſſe des vorigen Jahrs, denen auch Sie mit
ſo lebhafter Theilnahme gefolgt ſind, haben mich in dieſer Ueberzeugung
beſtärkt. Wir haben es damals in Deutſchland erlebt, daß man im Namen
eines veralteten und lebensunfähigen Bundesrechts die naturnothwendige
Entwicklung der deutſchen Nation zu einem politiſchen Volke mit aller
Gewalt hat verhindern wollen. Allzu lange haben wir unter dem Miß-
brauch des Rechts zur Ertödtung des Lebens gelitten. Nachdem endlich,
Gott ſei Dank, jene falſche Autorität des todten Rechts durch die Preu-
ßiſchen Siege geſtürzt und für die Neugeſtaltung Deutſchlands freie Be-
wegung erſtritten worden iſt, darf auch die deutſche Wiſſenſchaft es nicht
länger verſäumen, das Recht der Entwicklung wie der Völker ſo der
Menſchheit offen zu vertreten.


Nach Ihrem Wunſche habe ich auch für eine franzöſiſche Ueberſetzung
dieſes Werks geſorgt. Dieſelbe wird in Bälde ebenfalls im Druck erſcheinen.
Wenn ſich das Buch, das den andern trefflichen Darſtellungen des Völker-
rechts keine Concurrenz machen, ſondern dieſelben durch den neuen Verſuch
[VIII]Vorwort.
einer geſetzähnlichen Formulirung ergänzen will, ſich als brauchbar erweiſen
wird, ſo wird wohl auch eine Ueberſetzung in engliſcher Sprache nicht
ausbleiben.


So möge denn das Buch ſeinem freundlichen Pathen keine Schande
machen, wenn es in die rauhe Luft des öffentlichen Lebens eintritt.


Heidelberg, im September 1867.


[[IX]]

Inhalt.


  • Einleitung. Die Bedeutung und die Fortſchritte des modernen
    Völkerrechts.
  • Seite
  • Grundlage des Völkerrechts1.
  • Bedenken gegen das Völkerrecht.
    1. Völkerrechtliche Geſetzgebung 7.
  • 3. Angebliche Herrſchaft der Gewalt 9.
  • Anfänge des Völkerrechts.
    1. Im Alterthum 10.
  • 2. Im Mittelalter. Chriſtenthum 12.
  • Germanen 14.
  • Aufleben des modernen Völkerrechts15.
  • Befreiung des Völkerrechts von religiöſer Befangenheit 16.
  • Schranken des Völkerrechts17.
  • Maßregeln gegen die Sclaverei 18.
  • Religiöſe Freiheit 21.
  • Geſantſchaften und Conſulate21.
  • Fremdenrecht.
    Keine Iſolirung der Staten 23.
  • Gemeinſchaft der Gewäſſer.
    Freie Schiffahrt 25.
  • Vermittlung in Streitfällen.
    Schiedsrichterliches Verfahren 29.
  • Kriegsrecht.
    Recht gegen die Feinde. Die Staten ſind Feinde, nicht die
    Privaten 30.
  • Seite.
  • Feindliches Vermögen im Landkriege 36.
  • Feindliches Vermögen im Seekriege 40.
  • Die Neutralität44.
  • Das Recht der nationalen Entwicklung und der Selbſt-
    beſtimmung der Völker
    46.
  • Rechtsbuch.
    Buch I. Begründung, Natur und Grenzen des Völkerrechts.
    §§ 1—16 53.
  • Buch II. Völkerrechtliche Perſonen.
    I.Die Staten.
    1. Statsperſönlichkeit § 17—27 63.
  • 2. Entſtehung und Anerkennung neuer Staten 28—38 67.
  • 3. Einfluß der Verfaſſungswandlung auf die völkerrechtlichen
    Verhältniſſe der Staten 39—45 72.
  • 4. Untergang der Staten, Abtretung von Statsgebiet, Einver-
    leibungen, Statenfolge 46—61 75.
  • 5. Völkerrechtliche Eigenſchaften der Staten. A. Handlungs-
    fähigkeit 62. 63 83.
  • B. Souveränetät 64—80 83.
  • C. Rechtsgleichheit 81—94 91.
  • II.Die Statenſyſteme.
    1. Gleichgewicht 95—100 96.
  • 2. Heilige Allianz 101—102 98.
  • 3. Pentarchie 103—107 100.
  • 4. Allgemeine Congreſſe 108—114 102.
  • Buch III. Völkerrechtliche Organe.
    I.Die Statshäupter.
    1. Repräſentationsrecht der Statshäupter 115—125 107.
  • 2. Die Statshäupter als ſouveräne Perſonen 126—134 112.
  • 3. Vom Recht der Exterritorialität 135—153 116.
  • 4. Die Familiengenoſſen der ſouveränen Perſonen 154—158 124.
  • II.Andere Organe des völkerrechtlichen Verkehrs.
    Geſante
    .
    5. Recht und Pflicht des völkerrechtlichen Verkehrs 159—169 126.
  • 6. Claſſen und Arten der Geſanten. Diplomatiſcher Körper
    170—182 129.
  • 7. Anfang der diplomatiſchen Sendung 183—190 133.
  • 8. Perſönliche Rechte und Pflichten der Geſanten 191—240 135.
  • Inhalt.
    III.Von den Agenten und Commiſſären 241—243 150.
  • IV.Von den Conſuln 244—275 151.
  • Buch IV. Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
    1. Bedeutung, Erwerb und Verluſt der Gebietshoheit 276—295 163.
  • 2. Grenzen des Statsgebiets 296—303 175.
  • 3. Oeffentliche Gewäſſer. Die Meeresfreiheit 304—316 179.
  • 4. Schiffsrecht 317—352 185.
  • 5. Von den Statsdienſtbarkeiten 353—359 204.
  • Buch V. Die Statshoheit im Verhältniß zu den Perſonen.
    1. Schutz der perſönlichen Freiheit 360—363 209.
  • 2. Von der Statsgenoſſenſchaft 364—374 211.
  • 3. Hoheitsrecht und Schutzpflicht des States gegenüber ſeinen
    Statsgenoſſen im Ausland 375—380 217.
  • 4. Hoheitsrecht und Rechtsſchutz gegenüber den Ausländern im
    Inland 381—393 220.
  • 5. Auslieferungspflicht und Aſylrecht 394—401 225.
  • Buch VI. Völkerrechtliche Verträge.
    1. Erforderniſſe und Wirkſamkeit der völkerrechtlichen Verträge
    402—416 231.
  • 2. Form der Verträge 417—424 238.
  • 3. Verſtärkung der Verträge. Garantieverträge 425—441 241.
  • 4. Arten der völkerrechtlichen Verträge 442—445 248.
  • 5. Von den Allianzen insbeſondere 446—449 251.
  • 6. Aufhören der Vertragsverbindlichkeit 450—461 254.
  • Buch VII. Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herſtellung
    desſelben.

    1. Im Allgemeinen 462—473 259.
  • 2. Bruch der inneren Statsordnung. Intervention 474—480 265.
  • 3. Minneverfahren 481—487 270.
  • 4. Schiedsrichterliches Verfahren 488—498 272.
  • 5. Zwangsmittel ohne Krieg. Selbſthülfe durch Repreſſalien.
    Retorſion. Sperre 499—509 278.
  • Buch VIII. Das Kriegsrecht.
    1. Begriff des Kriegs. Kriegsparieien, Kriegsurſachen und
    Kriegserklärung 510—528 287.
  • 2. Wirkungen des Kriegszuſtandes im Allgemeinen. Kriegsziel
    529—536 296.
  • 3. Kriegsrecht gegen den feindlichen Stat und in dem feind-
    lichen Statsgebiete 537—556 300.
  • 4. Unerlaubte Kriegsmittel 557—567 312.
  • Seite.
  • 5. Recht und Pflicht der Kriegsgewalt gegenüber den feindlichen
    Perſonen und den friedlichen Bewohnern in Feindesland.
    Quartiergeben. Verwundete in der Schlacht. Kriegsgefan-
    gene. Geiſeln. Auswechslung der Gefangenen. Entlaſſung
    auf Ehrenwort 568—626 317.
  • 6. Verfahren gegen Deſerteure und Ueberläufer, Spione, Kriegs-
    verräther, Wegeführer, Räuber, Marodeurs, Kriegsrebellen
    627—643 341.
  • 7. Recht der Kriegsgewalt über das feindliche Vermögen und
    das Vermögen der friedlichen Perſonen in Feindesland.
    A. Im Landkrieg 644—663 348.
  • B. Im Seekrieg 664 361.
  • 8. Verkehr und Verhandlungen unter den Kriegsparteien.
    Waffenſtillſtand. Capitulation 674—699 367.
  • 9. Beendigung des Kriegs. Friedensſchluß 700—726 380.
  • 10. Postliminium 727—741 394.
  • Buch IX. Recht der Neutralität.
    1. Begriff und Arten der Neutralität 742—748 403.
  • 2. Bedingungen der Neutralität und Pflichten der Neutralen
    749—782 406.
  • 3. Rechte der Neutralen 783—797 422.
  • 4. Neutraler Handelsverkehr. Kriegscontrebande und Durch-
    ſuchungsrecht 798—826 430.
  • 5. Blocade 827—840 448.
  • 6. Priſengerichte 841—862 455.
  • Anhang. Amerikaniſche Kriegsartikel der Vereinigten Staten von 1863467.
[]

Einleitung.
Die Bedeutung und die Fortſchritte des modernen Völkerrechts.


[][[1]]

Grundlage des Völkerrechts.


Wo immer Menſchen mit Menſchen verkehren und dauernde Be-
ziehungen anknüpfen, da regen ſich in ihnen das Rechtsgefühl und der
Rechtsſinn und verlangen eine gewiſſe Ordnung der nothwendigen Ver-
hältniſſe und eine wechſelſeitige Achtung der daraus entſpringenden Rechte.
Beide Eigenſchaften der menſchlichen Seele, das Rechtsgefühl und der
Rechtsſinn, ſind ſelbſt unter barbariſchen Stämmen deutlich wahrzunehmen,
aber nur bei civiliſirten Völkern gelangen ſie zu voller Ausbildung des
Bewußtſeins und mit Hülfe öffentlicher Inſtitutionen zu geſicherter Wirk-
ſamkeit. Sie können wohl gedrückt, aber nie ganz unterdrückt, wohl miß-
leitet, aber nicht zerſtört werden. Immer wieder erheben ſie ſich, wenn
der Druck nachläßt, und beſinnen ſie ſich, wenn die verwirrende Leiden-
ſchaft erliſcht. Der Rechtsſinn iſt ohne Zweifel ſtärker in den Männern
als in den Frauen und jene ſind bereiter als dieſe, ihr Recht gegen Jeder-
mann mit Gründen und im Rothfall mit den Waffen zu verfechten. Aber
an zähem und lebhaftem Rechtsgefühl ſtehen die Frauen den Männern
nicht nach. Sie ergeben ſich eher der übermächtigen Gewalt, aber ſie
empfinden und beklagen das Unrecht, das ihnen widerfährt, nicht deshalb
weniger, weil ſie ſich ſchwächer fühlen und weniger demſelben widerſtehen
können. Schon in den Kindern zeigt ſich dieſe Anlage der Menſchennatur
für die Rechtsbildung. Auch die Kinder haben ein ſcharfes Auge für die
Ungerechtigkeit, der ſie in der Familie oder in der Schule ausgeſetzt ſind
und werden oft tief verletzt und verbittert, wenn ſie glauben, parteiiſch
behandelt zu werden.


Wenn es aber eine unbeſtreitbare Wahrheit iſt, daß der Menſch von
Natur ein Rechtsweſen und mit der Anlage zur Rechtsbildung ausgeſtattet
iſt, dann muß auch das Völkerrecht in der Menſchennatur ſeine un-
zerſtörbare Wurzel und ſeine ſichere Begründung haben. Völkerrecht heißt
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 1
[2]Einleitung.
die als rechtlich-nothwendig anerkannte Ordnung, welche die Beziehungen
der Staten zu einander regelt. Die Staten aber d. h. die organiſirten
Völker beſtehen aus Menſchen, und ſind ſelber als einheitliche Geſammt-
weſen Perſonen, d. h. lebendige mit Willen begabte Rechtskörper, wie
die Einzelmenſchen. Die Staten ſind wie die Einzelnen einerſeits indivi-
duelle Weſen für ſich und andrerſeits Glieder der Menſchheit.
Dieſelbe Menſchennatur, und demgemäß auch dieſelbe Rechtsnatur, die
jedes Volk und jeder Stat in ſich hat, die findet er wieder in den andern
Völkern und Staten. Sie verbindet alle Völker mit unwiderſtehlicher
Nothwendigkeit. Keines kann ſich dieſer gemeinſamen Natur entäußern,
keines dieſelbe in dem andern Volke verkennen. Deshalb ſind ſie alle durch
ihre gemeinſame Menſchennatur verpflichtet, ſich wechſelſeitig als menſchliche
Rechtsweſen zu achten. Das iſt die feſte und dauerhafte Grundlage alles
Völkerrechts. Würde es heute geläugnet und untergehen, ſo würde es
morgen wieder behauptet und neu begründet.


Bedenken gegen das Völkerrecht.


Trotzdem werden heute noch ſtarke Zweifel gegen die Exiſtenz des
Völkerrechts vielfältig geäußert. Die grundſätzlichen und die thatſächlichen
Bedenken, auf welche ſich jene Zweifel ſtützen, ſind in der That nicht
geringfügig. Sie fordern vielmehr zu ernſter Prüfung auf. Man wendet
ein, es fehle vorerſt an einer beglaubigten Ausſprache des Völkerrechts durch
das Geſetz, ſodann an einem wirkſamen Schutze deſſelben durch die Rechts-
pflege; und man erinnert daran, daß in dem Streite der Staten und
Völker der Entſcheid eher von der ſiegreichen Gewalt gegeben werde, als
von irgend einer Rechtsautorität. Man fragt dann: Wie kann ernſtlich
von Völkerrecht die Rede ſein, ohne ein Völkergeſetz, welches das Recht mit
Autorität verkündet, ohne ein Völkergericht, welches dieſes Recht in Rechts-
form handhabt, wenn die Macht ſchließlich allezeit den Ausſchlag giebt?


Wir können es nicht läugnen: Dieſe Bedenken haben ihren Grund
in großen Mängeln und ſchweren Gebrechen des Völkerrechts. Dennoch iſt
der Schluß, daß es kein Völkerrecht gebe, übereilt und verfehlt. Faſſen
wir dieſelben ſchärfer ins Auge.


1. Völkerrechtliche Geſetzgebung.


Wir ſind heute gewohnt, wenn irgend Fragen des Familienrechts,
des Erbrechts, des Vermögensrechts auftauchen, ein privatrechtliches Geſetz-
[3]Einleitung.
buch nachzuſchlagen und dort die Aufſchlüſſe über die geltenden Rechts-
grundſätze aufzuſuchen, oder wenn ein Verbrechen verübt worden, nachzu-
ſehen, mit welcher Strafe es in dem Strafgeſetzbuch bedroht ſei. Die
Fundamentalſätze des Statsrechts ſind gewöhnlich in Verfaſſungsurkunden
öffentlich verkündet, und ſchon finden wir in einzelnen Staten, wie z. B.
in dem State New-York, eine Codification auch des öffentlichen Rechts.
Aber es giebt kein völkerrechtliches Geſetzbuch und nicht einmal einzelne
völkerrechtliche Geſetze, welche die Rechtsgrundſätze mit bindender Autorität
ausſprechen, nach denen völkerrechtliche Streitfragen zu entſcheiden ſind. Da
meinen denn Manche, gewohnt alles Recht aus Geſetzen abzuleiten: „Ohne
Geſetze kein Recht.“


Indeſſen ſind die Geſetze nur der klarſte und wirkſamſte Ausdruck,
aber keineswegs die einzige Quelle des Rechts. Bei allen Völkern gab es
eine Zeit, in der ſie keine Geſetzbücher und dennoch ein geltendes Recht
hatten. In der Jugendperiode auch der Culturvölker gab es Ehen, Erb-
recht der Anverwandten, Eigenthum, Forderungen und Schulden ohne Ge-
ſetze, welche dieſe Rechtsverhältniſſe ordneten und es wurden die Verbrechen
beſtraft ohne Strafgeſetz. Die in den nationalen Inſtitutionen und in den
Volksgebräuchen und Uebungen dargeſtellte Rechtsordnung iſt überall älter
als die geſetzlich beſtimmte. Erſt in dem reiferen und ſelbſtbewußteren
Lebensalter der Völker unternimmt es der Stat, das Recht in Geſetzbüchern
auszuſprechen. Es kann uns daher nicht befremden, wenn das noch junge
Völkerrecht vorerſt ebenfalls in gewiſſen Einrichtungen, Gebräuchen und
Uebungen der Völker vornehmlich zu Tage tritt.


Für das Völkerrecht beſteht aber in dieſer Hinſicht eine eigenthüm-
liche Schwierigkeit. Mag das Verlangen nach einer klaren autoritativen
Verkündung völkerrechtlicher Geſetze noch ſo dringend geworden und die
geiſtige Fähigkeit zu ſolcher Ausſprache noch ſo unzweifelhaft ſein, ſo fehlt
es doch an einem anerkannten Geſetzgeber, der das Geſetz erlaſſen
könnte. In jedem einzelnen State iſt durch die Statsverfaſſung für ein
Organ des allgemeinen Statswillens geſorgt, d. h. ein Geſetzgeber aner-
kannt. Aber wo wäre der Weltgeſetzgeber zu finden, deſſen Ausſpruch alle
Staten und alle Nationen Folge leiſteten? Die Einrichtung eines geſetz-
gebenden Körpers für die Welt, ſetzt die Organiſation der Welt
voraus und eben dieſe beſteht nicht.


Vielleicht wird die Zukunft dereinſt die erhabene Idee verwirklichen
und der geſammten, in Völker und Staten getheilten Menſchheit
1*
[4]Einleitung.
einen gemeinſamen Rechtskörper ſchaffen, welcher ihren Geſammtwillen mit
allgemein anerkannter Autorität ausſprechen wird, wie die Vergangenheit
den verſchiedenen Nationen in den Staten eine einheitliche Rechtsgeſtalt
gegeben hat, und wie die Gegenwart wenigſtens das Bewußtſein weckt und
klärt, nicht blos, daß die Menſchheit in Natur und Beſtimmung Ein
Geſammtweſen
ſei, ſondern überdem, daß auch in der Menſchheit ge-
meinſame Rechtsgrundſätze
zur Geltung kommen müſſen. Wird
einſt jene zukünftige Organiſation der Menſchheit erfüllt ſein, dann freilich
wird auch der Geſetzgeber für die Welt nicht mehr fehlen und es wird
dann das Weltgeſetz die Beziehungen der mancherlei Staten zu einander
und zur Menſchheit ebenſo klar, einheitlich und wirkſam ordnen, wie es
das heutige Statsgeſetz thut mit Bezug auf die Verhältniſſe der Privat-
perſonen unter einander und zum State.


Mag man aber dieſes hohe Endziel für einen ſchönen Traum der
Idealiſten halten oder an deſſen Erreichung mit Zuverſicht glauben, darüber
kann kein Streit ſein, daß daſſelbe zur Zeit und noch auf lange hin keines-
wegs erreichbar ſei. Das heutige Völkerrecht entſpricht dieſem Ideale nicht.
Nur langſam und allmählig führt es aus der rohen Barbarei der Gewalt
und Willkür zu civiliſirten Rechtszuſtänden. Es kann höchſtens als Ueber-
gang
dienen aus der unſichern Rechtsgemeinſchaft der Völker zu
der endlichen vollbewußten Rechtseinheit der Menſchheit. Jeder
neue völkerrechtliche Grundſatz, welcher dem gemeinſamen Rechtsbewußtſein
der Völker klar gemacht und in dem Verkehrsleben der Völker bethätigt
wird, iſt dann ein Fortſchritt auf dem Wege zu jenem Ziele.


Ganz ſo ſchlimm, wie es der oberflächlichen Betrachtung erſcheint,
ſteht es übrigens nicht. Es fehlt dem heutigen Völkerrecht nicht völlig an
gemeinſamer, autoritativer Ausſprache ſeiner Rechtsgrundſätze, die daher
einen Geſetz ähnlichen Charakter hat. Indem von Zeit zu Zeit große
völkerrechtliche Congreſſe der civiliſirten Staten zuſammengetreten ſind
und ihre gemeinſame Rechtsüberzeugung in formulirten Rechtsſätzen zu Pro-
tokoll erklärt haben, haben ſie im Grund daſſelbe gethan, was der Geſetz-
geber thut. Die eigentliche Abſicht dabei war nicht, ein Vertragsrecht
zu ſchaffen, welches lediglich die Vertragsparteien und die Unterzeichner des
Protokolles binden ſollte, ſondern allgemeine Rechtsnormen, zunächſt
freilich nur für die europäiſche Welt, feſtzuſetzen, welche alle europäiſchen
Staten zu beachten haben; ſie wollten nicht ein Willkürrecht hervor-
bringen, das ebendeshalb nicht weiter gilt, als jene Willkür Macht hat,
[5]Einleitung.
ſondern ein nothwendiges Recht anerkennen, welches in der Natur der
Verhältniſſe und in den Pflichten der civiliſirten Völker gegen die Menſch-
heit ſeine eigentliche Begründung hat.


Die mittelalterliche Rechtsbildung war oft auch in den einzelnen
Ländern nicht anders. Man wählte nicht ſelten die Form des Ver-
trags
und ſchuf den Inhalt des Geſetzes. Die heutigen Staten haben
nicht einmal die Wahl zwiſchen zweierlei Formen. Sie können ihre ge-
meinſame Rechtsüberzeugung nur in der bedenklichen Form einer viel-
ſtimmigen Erklärung
ausſprechen; die einheitliche Form der Aus-
ſprache iſt für ihre Geſammtheit unmöglich, ſo lange dieſe nicht zu Einer
Rechtsperſon organiſirt iſt. Auch in den Verträgen, welche zunächſt nur
unter einzelnen Staten abgeſchloſſen worden ſind, ſind daher manche
Beſtimmungen zu finden, welche ihrem Weſen nach Rechtsgeſetze und
keineswegs bloße Vertragsartikel ſind, welche die nothwendige Rechtsordnung,
nicht die Convenienz der contrahirenden Staten darſtellen.


Sogar die Geſetzgebung eines Einzelſtates kann ſo völkerrecht-
liche Grundſätze mit öffentlicher Autorität ausſprechen und dadurch an der
Klärung und Fortbildung des Völkerrechts überhaupt einen bedeutenden
Antheil nehmen. Die formelle und zwingende Autorität eines States reicht
freilich nicht über die Gränzen ſeines Gebietes hinaus. Aber die geiſtige
und freie Autorität deſſelben kann ſich ſehr viel weiter erſtrecken, wenn ihr
die öffentliche Meinung ihren Beifall zuwendet, wenn die Ueberzeugung ſich
verbreitet, daß jene Ausſprache dem Rechtsbewußtſein der civiliſirten Welt
entſpreche.


Wir haben in neueſter Zeit einen merkwürdigen Act dieſer Art er-
lebt, welcher zugleich einen bedeutenden Fortſchritt des modernen Völker-
rechts bezeichnet. Während des nordamerikaniſchen Bürgerkriegs nämlich
iſt im April 1863 eine „Inſtruction für die Armeen der Vereinigten
Staten im Feld“ erſchienen, welche geradezu als eine erſte Codification
des Kriegsrechts im Landkrieg
zu betrachten iſt. Dieſelbe wurde von
einem der angeſehenſten Rechtsgelehrten und Statsphiloſophen Amerikas,
von Profeſſor Lieber, entworfen, von einer Commiſſion von Officieren
geprüft und von dem Präſidenten der Vereinigten Staten, Lincoln, ge-
nehmigt. Sie enthält in 157 Paragraphen genaue Vorſchriften über die
Kriegsgewalt in Feindesland, ihre Macht und ihre Gränzen, über das
öffentliche und das Privateigenthum des Feindes, über den Schutz der
Privatperſonen und die Intereſſen der Religion, Kunſt und Wiſſenſchaft,
[6]Einleitung.
über Ausreißer und Kriegsgefangene und die Beute auf dem Schlacht-
felde, über Parteigänger und Freiſchaaren, über Späher, Räuber und
Kriegsrebellen, über Sicherheitspäſſe, Spione, Kriegsverräther, gefangene
Boten und den Mißbrauch der Parlamentärfahne, über Auswechslung der
Kriegsgefangenen, Waffenſtillſtands- und Schutzzeichen, über die Entlaſſung
auf Ehrenwort, über Waffenſtillſtand und Capitulation, über Mord, Auf-
ſtand, Bürgerkrieg, Rebellion. Dieſe Inſtruction iſt ſehr viel ausführlicher
und durchgebildeter als die Kriegsreglemente, welche bei den europäiſchen
Heeren in Uebung ſind. Da dieſelbe aber durchweg Sätze ausſpricht von
allgemeinem, völkerrechtlichem Rechtsgehalt, und da die Art ihrer Ausſprache
in Uebereinſtimmung iſt mit dem Rechtsbewußtſein der heutigen Menſch-
heit und mit der civiliſirten Kriegsführung der Gegenwart, ſo wirkt dieſes
Edict über die weiten Gränzen der Vereinigten Staten weit hinaus; und
trägt erheblich dazu bei, einen wichtigen Beſtandtheil des modernen Völker-
rechts in humanem und der Nothwendigkeit der Verhältniſſe entſprechendem
Sinne zu allgemeiner Anerkennung zu bringen. Die europäiſchen Staten
können hierin nicht hinter dem Vorbilde der amerikaniſchen Staten zurück
bleiben, ohne ſich dem beſchämenden Urtheil der öffentlichen Meinung aus-
zuſetzen, daß ſie in der Entwicklung des Völkerrechts hinter dem Fortſchritte
der civiliſirten Menſchheit zurück bleiben.


Ein anderes Surrogat der Geſetzgebung, welches in vielen Ländern
die Ausbildung des Privat- und des Strafrechts, ſelbſt des Statsrechts
erheblich gefördert hat, ſind die Rechtsbücher, in denen die geltenden
Rechtsſätze von rechtskundigen Privatperſonen aufgezeichnet und dargeſtellt
werden. Der Inhalt ſolcher Rechtsbücher iſt in der Hauptſache ganz
derſelbe
, wie der Inhalt der Geſetzbücher. Es werden darin die geltenden
Rechtsnormen ausgeſprochen und verkündet. Aber weil die Rechtsbücher
ein Werk der Privaten, die Geſetzbücher dagegen ein Werk der Statsge-
walt ſind, ſo haben jene keinen Anſpruch auf die bindende Autorität,
welche dem Geſetze Gehorſam verſchafft. Die Rechtsbücher haben nur in-
ſofern eine Autorität, als auch die Wiſſenſchaft Autorität beſitzt und als
ſie als wahr und gerecht erkannt werden. Es iſt das eher eine inner-
liche und geiſtige, von der Kritik jeder Zeit zu prüfende, freie Autorität,
nicht die gebundene unangreifbare der äußern Gewalt, welche dem Geſetze
gebührt, und Gehorſam erzwingt.


In dem folgenden Buch habe ich, durch das amerikaniſche Vorbild
angeregt, den Verſuch gewagt, ein ſolches Rechtsbuch des Völkerrechts
[7]Einleitung.
darzuſtellen. Wenn dieſe Darſtellung dem heutigen Rechtsbewußtſein der
civiliſirten Welt entſpricht, und zur Klärung und Ausſprache deſſelben
dienlich iſt, ſo iſt der Zweck dieſer Arbeit erfüllt; wenn nicht, ſo wünſche
ich nur, daß es in Bälde Andern beſſer gelingen möge, dieſes berechtigte
Bedürfniß zu befriedigen.


2. Völkerrechtliche Rechtspflege.


Faſt noch ſchlimmer als der Mangel eines Völkergeſetzes iſt der
Mangel eines Völkergerichts. Wenn der vermeintliche Eigenthümer einer
Sache von dem Beſitzer Herausgabe verlangt, oder der Gläubiger von dem
Schuldner Zahlung fordert, ſo finden die beiden ſtreitenden Parteien einen
Richter im State, welcher ihren Streit rechtskräftig entſcheidet. Wenn
ferner Jemand beſtohlen oder mißhandelt wird, ſo ſchreitet der Stats-
anwalt ein, die Geſchwornen erkennen über die Schuld, der Strafrichter
beſtimmt die Strafe, welche von der Statsgewalt vollzogen wird. Aber
wenn ein Stat Anſprüche auf einen Bezirk erhebt, den ein anderer Stat
beſetzt hält, wenn ein Stat Entſchädigung fordert für rechtswidrige Ver-
letzung ſeiner Intereſſen durch einen andern Stat, wenn ein Stat einen
ſchweren Friedens- und Rechtsbruch begeht wider einen andern Stat, ſo
giebt es keinen Gerichtshof, an welchen der Kläger ſich wenden kann,
welcher dem Unrecht wehrt, dem Rechte Anerkennung verſchafft und auch
den Schwachen wider den Mächtigen ſchützt. Das letzte und in manchen
Fällen das einzige Mittel, welches dem verletzten Stat bleibt, um ſein
Recht zu behaupten, iſt der Krieg und im Kriege entſcheidet die Gewalt
der auf einander ſtoßenden Naturkräfte. Im Kriege ſiegt leichter die
Partei, welche die Macht, als die, welche das Recht für ſich hat.


Unläugbar iſt daher der Krieg eine rohe und unſichere Form des
Rechtsſchutzes. Wir können nicht mit Zuverſicht darauf rechnen, daß
die Macht ſich dahin wende, wo das Recht iſt und der beſſer Berechtigte
in Folge deſſen auch der Stärkere ſei. Aber ſelbſt in dieſer leidenſchaft-
lichen und rohen Form der gewaltſamen Selbſthülfe macht ſich doch
das Rechtsgefühl der Völker geltend. Eben für ihr Recht greifen die
Staten zu den Waffen und unternehmen es, indem ſie alle ihre Mannes-
kraft anſpannen und das Leben der Bürger einſetzen, ihrer Rechtsbehauptung
den Sieg zu verſchaffen. Niemals iſt es auch gleichgültig, auf welcher
Seite das Recht ſei. Der Glaube an das eigene gute Recht ſtärkt und
ermuthigt die Kämpfenden, das Bewußtſein des eigenen Unrechts ängſtigt
[8]Einleitung.
und verwirrt ſie. Das offenbare Recht zieht Freunde herbei und gewinnt
die Gunſt der öffentlichen Meinung; das augenfällige Unrecht reizt die
Gegner zur Feindſchaft und weckt allgemeine Mißgunſt. Der Stärkſte
ſelbſt, wenn er Sieger wird, fühlt ſich nach dem unübertrefflichen Aus-
drucke Rouſſeau’s nicht ſtark genug ohne das Recht und wird ſeines Sieges
erſt froh, wenn es ihm glückt, dem Erfolge der Waffen die endliche An-
erkennung des Rechts zu verſchaffen. Wenn der Sieg dauernde und in-
ſofern nothwendige Wirkungen hervorbringt, ſo beſtimmt er wirklich die
Rechtsordnung für die Gegenwart und ihre Folge.


In der Jugendperiode der germaniſchen Völker und theilweiſe noch
im Mittelalter war es mit dem Rechtsſchutze des Privat- und des Straf-
rechts nicht viel beſſer beſtellt. Die männliche Selbſthülfe war auch da
eine gewöhnliche Form der Rechtshülfe. Mit den Waffen in der Hand
vertheidigte der Eigenthümer den Frieden ſeines Hauſes, der Gläubiger
pfändete ſelber den ſäumigen Schuldner, gegen die Friedensbrecher wurde
die Familien- und die Blutrache geübt, der Rechtsſtreit der Ritter und
Städte wurde in der Form der Fehde vollzogen. Sogar in die öffent-
lichen Gerichte hinein trat die Waffengewalt, der Zweikampf war ein be-
liebtes Beweismittel, und ſelbſt der Urtheilsſchelte wurde durch die Be-
rufung auf die Schwerter Nachdruck verliehen. Nur allmählig verdrängte
die friedlichere und zuverläſſigere Gerichtshülfe die ältere Selbſthülfe. Es
iſt daher nicht unnatürlich, wenn die Staten, d. h. die derzeitigen alleinigen
Inhaber, Träger und Garanten des Völkerrechts, in ihren Rechtsſtreiten
im Gefühl ihrer Selbſtändigkeit und ihrer Rechtsmacht ſich noch heute vor-
nehmlich ſelber zu helfen ſuchen.


Indeſſen der Krieg iſt doch nicht das einzige völkerrechtliche Rechts-
mittel. Es giebt daneben auch friedliche Mittel, dem Völkerrechte An-
erkennung und Schutz zu verſchaffen. Die Erinnerungen und Mahnungen,
unter Umſtänden die Forderungen der neutralen Mächte, die guten Dienſte
befreundeter Staten, die Aeußerungen des diplomatiſchen Körpers, die
Drohungen der Großmächte, die Gefahren von Coalitionen gegen den
Friedensbrecher, die laute und ſtarke Stimme der öffentlichen Meinung ge-
währen der völkerrechtlichen Ordnung auch einigen — freilich nicht immer
einen ausreichenden Schutz, und werden ſelten ungeſtraft mißachtet. Zu-
weilen endlich werden völkerrechtliche Schiedsgerichte gebildet, welche
den Streit der Staten auch in wirklicher Rechtsform nach einem vor-
gängigen Proceßverfahren entſcheiden.


[9]Einleitung.

3. Angebliche Herrſchaft der Gewalt.


Wer immer einen Blick wirft auf die Geſchichte der Völker, wird
auch die Wahrnehmung machen, daß die Macht einen großen Antheil hat
an der Bildung der Staten und dieſe Macht erſcheint oft genug in der
rohen Form der phyſiſchen Gewalt, welche mit dem Säbel in der Hand
ihre Gebote durchſetzt und unter dem Donner der Kanonen und im Ge-
witter der Schlacht die Verhältniſſe der Staten umgeſtaltet. Aber obwohl
in allen Zeitaltern viel brutale Gewalt der Mächtigen ſich breit macht
und auf die Rechtsordnung einen Druck übt, und obwohl viel verübtes
Unrecht ungeſtraft bleibt, ſo iſt die Weltgeſchichte doch nicht ein wüſtes
Durcheinander der entfeſſelten Leidenſchaften und nicht das Ergebniß der
rohen Gewaltübung. Vielmehr erkennen wir, bei näherer Prüfung und
Ueberlegung des weltgeſchichtlichen Ganges, auch eine ſittliche Ordnung.
Der ſichere Fortſchritt der allgemein-menſchlichen Rechtsentwicklung ſtellt ſich
darin unzweideutig dar. Das Wort unſeres großen Dichters: „Die Welt-
geſchichte iſt das Weltgericht“ ſpricht eine tröſtliche Wahrheit aus.


Die Regel der heutigen Welt iſt nicht mehr der Krieg, ſondern der
Friede. Im Frieden aber herrſcht in den Beziehungen der Staten zu
einander nicht die Gewalt, ſondern in der That das anerkannte Recht. In
dem friedlichen Verkehre der Staten mit einander wird die Perſönlichkeit
und die Selbſtändigkeit des ſchwächſten States ebenſo geachtet, wie die des
mächtigſten. Das Völkerrecht regelt die Bedingungen, die Formen, die
Wirkungen dieſes Verkehrs weſentlich für alle gleich, für die Rieſen wie
für die Zwerge unter den Staten. Jeder Verſuch, dieſe Grundſätze ge-
ſtützt auf die Uebermacht willkürlich zu verletzen und ihre Schranken zu
überſchreiten, ruft einen Widerſpruch und Widerſtand hervor, welchen auch
der mächtige Stat nicht ohne Gefahr und Schaden verachten darf.


Aber ſelbſt in dem Ausnahmszuſtande des Kriegs, in welchem
die phyſiſche Gewalt ihre mächtigſte Wirkung äußert, werden dieſer Gewalt
doch von dem Völkerrecht feſte Schranken geſetzt, welche auch ſie nicht
überſchreiten darf, ohne die Verdammung der civiliſirten Welt auf ſich zu
laden. In nichts mehr bewährt und zeigt ſich die Macht und das Wachs-
thum des Völkerrechts herrlicher als darin, daß es vermocht hat, die ſpröde
Wildheit der Kriegsgewalt allmählich zu zähmen und ſelbſt die zerſtörende
Wuth des feindlichen Haſſes durch Geſetze der Menſchlichkeit zu mäßigen
und zu bändigen.


[10]Einleitung.

Ueberdem dürfen wir bei der Beurtheilung geſchichtlicher Ereigniſſe
niemals vergeſſen: Was dem oberflächlichen Sinn nur als rohe Uebermacht
und als brutale Gewalt erſcheint, das ſtellt ſich der tieferen Erkenntniß
in manchen Fällen als unwiderſtehliche Nothwendigkeit der natürlichen Ver-
hältniſſe und als unaufhaltſamer Drang berechtigten Volkslebens dar,
welches die abgeſtorbenen Formen des veralteten Rechts abſtößt, wie die
jungen Pflanzentriebe im Frühling das welke Laub des Winters abſtoßen.
Wo aber das wirklich der Fall iſt, da iſt die Gewalt in Wahrheit nur
der Geburtshelfer des natürlichen oder des werdenden Rechts. Sie dient
dann der Rechtsbildung, ſie beherrſcht dieſelbe nicht.


Die Mängel alſo des Völkerrechts ſind groß, aber nicht ſo groß,
um deſſen Exiſtenz zu behindern. Das Völkerrecht ringt noch mit ihnen,
aber es hat ſchon manchen Sieg über die Schwierigkeiten erfochten, welche
ſeiner Geltung im Wege ſtehen. Man vergleiche die Rechtszuſtände der
heutigen Statenwelt mit den Zuſtänden der früheren Zeitalter und man
wird durch dieſe Vergleichung der großen und ſegensreichen Fortſchritte ge-
wahr, welche das Völkerrecht in den letzten Jahrhunderten gemacht hat und
fortwährend macht. Darin erſehen wir eine Bürgſchaft für die weiteren
Fortſchritte der Zukunft. Die Vervollkommnung des Völkerrechts begleitet
und ſichert die Vervollkommnung des Menſchengeſchlechts. Halten wir Ueber-
ſchau und betrachten wir im Großen die Entwicklung des Völkerrechts.


Anfänge des Völkerrechts.


1. Im Alterthum.


Einzelne Keime des Völkerrechts ſind zu allen Zeiten unter allen
Völkern ſichtbar geworden. Selbſt unter wilden und barbariſchen Stämmen
finden wir faſt überall eine gewiſſe, meiſtens religiöſe Scheu, die Geſandten
anderer Stämme zu verletzen, mancherlei Spuren des Gaſtrechts und die
Uebung, Bündniſſe und andere Verträge abzuſchließen, den Krieg durch
den erklärten Frieden zu beendigen.


Bei den civiliſirten alten Völkern Aſiens, wie beſonders bei den alten
Indiern mehren und entwickeln ſich theilweiſe die Anſätze und Triebe zu
völkerrechtlicher Rechtsbildung. Aber ſelbſt die hochgebildeten Hellenen,
obwohl ſie zuerſt den Stat menſchlich begriffen haben, ſind doch nur in
dem eng begränzten Verhältniß der helleniſchen Staten zu einander zu
einem noch ſehr dürftigen Völkerrecht gelangt. Die Gemeinſchaft der Re-
[11]Einleitung.
ligion, Sprache und Cultur hat in den Hellenen aller Städte das Gefühl
nationaler Gemeinſchaft und Verwandtſchaft geweckt. In Folge davon
wurde die in eine große Anzahl ſelbſtändiger Städte und Staten getheilte
Nation doch auch einer gewiſſen Rechtsgemeinſchaft inne. „Alle Hellenen
ſind Brüder“, ſagte man und erkannte an, daß jeder helleniſche Stat dem
andern gegenüber gewiſſe Rechtsgrundſätze zu beachten verpflichtet ſei. Aber
die nicht helleniſchen, die ſogenannten barbariſchen Völker betrachteten ſie
noch als „ihre natürlichen Feinde“, mit denen keine Rechtsgemeinſchaft be-
ſtehe. Der Krieg mit den Barbaren erſchien ihnen als die natürliche
Regel und jede Liſt oder Gewalt gegen die Barbaren als erlaubt. Sie
wieſen die Gleichberechtigung der Barbarenſtaten noch mit Verachtung von
ſich, und hielten ſich als die edlere Raſſe für berufen, über die Barbaren
zu herrſchen. Das war nicht etwa nur die Meinung der eiteln und
ſelbſtſüchtigen Menge, es war das ebenſo die Meinung der berühmten
Philoſophen Platon und Ariſtoteles.


Die Römer ſind als die weltgeſchichtlichen Begründer des von Re-
ligion und Moral unterſchiedenen Rechts und der Rechtswiſſenſchaft an-
erkannt. Aber auch den Römern verdankt die Welt noch nicht die erſte
allgemeine Feſtſtellung des Völkerrechts. Freilich ſind in dem alten Rom
auch vortreffliche Anfänge eines civiliſirten Völkerrechts zu entdecken. Be-
vor die Römer einen fremden Stat mit Krieg überzogen, pflegten ſie ihre
Forderungen in Rechtsform durch ihre Geſandte, die Fecialen, anzumelden
und, wenn nicht willfahrt wurde, den Krieg feierlich anzukünden. Sie
kannten und übten mancherlei Formen der Statsverträge und Bündniſſe
mit andern Staten. Obwohl ſie während des Kriegs ſchonungslos und
grauſam verfuhren, ſo pflegten ſie doch die Religion, die Sitten und theil-
weiſe ſogar das Recht der unterthänig gewordenen Völker zu ſchützen. Sie
erhoben ſich ſogar zu der Idee der Humanität, als der großen Aufgabe
ihrer Politik und faßten die Welt als Ein Ganzes in weitgreifendem Ge-
danken zuſammen. Aber alle dieſe Keime entwickelten ſich doch nicht zu
einem humanen Völker- und Weltrecht, weil der Sinn der Römer nicht
auf Rechtsgemeinſchaft unter den Völkern, ſondern auf abſolute Herr-
ſchaft Roms über die Völker
gerichtet war. Die abſolute Weltherrſchaft
Eines Volkes aber iſt die Verneinung des Völkerrechts im Princip.


Wir ſehen, die Eitelkeit, der Stolz, die Selbſtſucht und die Herrſch-
ſucht der einzelnen Völker verhinderten im Alterthum das Wachsthum des
Völkerrechts und zerſtörten die noch ſchwachen Keime, bevor ſie erſtarkt
[12]Einleitung.
waren. Ohne weſentliche Gleichberechtigung der verſchiedenen Völker iſt
kein Völkerrecht möglich.


2. Im Mittelalter.


Chriſtenthum.

Im Mittelalter treten in Europa zwei neue Mächte entſcheidend
auf, die chriſtliche Kirche und die germaniſchen Fürſten und Völker.
Haben etwa dieſe Mächte das Völkerrecht zur Welt gebracht?


In der That leuchten manche chriſtliche Ideen der Bildung des
Völkerrechts vor. Das Chriſtenthum ſieht in Gott den Vater der Menſchen,
in den Menſchen die Kinder Gottes. Damit iſt die Einheit des Menſchen-
geſchlechts und die Brüderſchaft aller Völker im Princip anerkannt. Die
chriſtliche Religion beugt jenen Stolz der antiken Selbſtgerechtigkeit und
fordert Demuth, ſie greift die Selbſtſucht in ihrer Wurzel an und verlangt
Entſagung, ſie ſchätzt die Hingebung für Andere höher als die Herrſchaft
über Andere. Sie entfernt alſo die Hinderniſſe, welche der Gründung
eines antiken Völkerrechts im Wege waren. Ihr höchſtes Gebot iſt die
Menſchenliebe und ſie ſteigert dieſelbe bis zur Feindesliebe. Sie wirkt er-
löſend und befreiend, indem ſie die Menſchen reinigt und mit Gott ver-
ſöhnt. Sie verkündet die Botſchaft des Friedens. Es liegt nahe, dieſe
Ideen und Gebote in die Rechtsſprache zu überſetzen und zu Grundſätzen
eines humanen Völkerrechts umzubilden, welches alle Völker als freie
Glieder der großen Menſchenfamilie anerkennt, für den Weltfrieden ſorgt
und ſogar im Kriege für die Menſchenrechte Achtung fordert. Im Mittel-
alter war die römiſch-katholiſche Kirche berufen, die chriſtlichen Ideen zu
vertreten, ſie hatte die Erziehung der unciviliſirten Völker übernommen.
Dennoch hat ſie ein derartiges chriſtliches Völkerrecht nicht hervorge-
bracht. Vergeblich ſieht man ſich in dem kanoniſchen Geſetzbuch darnach
um. Nur dem Kriegsrecht iſt ein Abſchnitt des alten Decretum Gratiani
(II. 23) gewidmet.


Allerdings verſuchten es die Päpſte im Mittelalter, das Amt der
oberſten Schiedsrichter über die Fürſten und Völker der abendländiſchen
Chriſtenheit ſich zuzueignen. Oefter ſaßen die Päpſte zu Gericht über die
Streitigkeiten der Fürſten unter ſich oder mit den Ständen. Wenn ſich
nur irgendwie dem Streite eine religiöſe Seite oder eine kirchliche Be-
ziehung abgewinnen ließ — und wo wäre das nicht möglich? — ſo
hielten ſie ihre Gerichtsbarkeit für begründet. Bald bemühten ſie ſich dann,
Vergleiche zu ſtiften, bald ſprachen ſie ihr Urtheil aus. Aber dieſe völker-
[13]Einleitung.
rechtliche Stellung der Päpſte litt doch an großen Mängeln. Wo das
öffentliche Recht in Frage war, da waren die mächtigen Parteien nicht ge-
neigt, ſich dem geiſtlichen Gericht zu unterwerfen, und die Päpſte ver-
mochten nicht, den trotzigen Widerſpruch zu beſeitigen, nicht den Wider-
ſtand zu brechen.


Es gelang den Päpſten ſo wenig, ihr völkerrechtliches Schiedsrichter-
amt durchzuſetzen, als es ihnen glückte, ihren Anſpruch auf Weltherr-
ſchaft
zu verwirklichen. Auch dieſer Anſpruch hatte eher einen völker-
als einen ſtaatsrechtlichen Charakter angenommen, ſeitdem das alte römiſche
Weltreich zerriſſen und in eine große Anzahl unabhängiger Fürſtenthümer
und Republiken zerfallen war. Die Päpſte begründeten nun dieſen An-
ſpruch auf abſolute Weltherrſchaft mit der religiöſen Autorität Gottes, wie
die alten römiſchen Kaiſer ihn politiſch mit dem Beruf und Willen des
römiſchen Volkes begründet hatten. Der geiſtliche Abſolutismus war aber
im Princip eben ſo wenig verträglich mit einer allgemeinen Rechtsordnung,
welche die Fürſten und Völker in ihren Rechten ſchützt, als der weltliche.
Jener war ſogar gefährlicher, als dieſer, weil er ſeine Vollmacht aus dem
unerforſchlichen Willen des allmächtigen Gottes ableitete und nicht wie
dieſer in dem ausgeſprochenen Menſchengeſetz eine deutliche Schranke fand.
Dennoch war die behauptete göttliche Herrſchaft des Papſtes über die chriſt-
lichen Völker ſchwächer als die Hoheit des antiken römiſchen Kaiſers, weil
der chriſtliche Papſt grundſätzlich genöthigt war, die Zweiheit von Stat
und Kirche
anzuerkennen und das weltliche Schwert nicht ſelber hand-
haben durfte, ſondern dem Könige überlaſſen mußte. So oft daher eine
weltliche Macht dem Papſte ihren Gehorſam oder ihren Beiſtand verſagte,
wie das trotz Kirchenbann und Interdict auch im Mittelalter nicht ſelten
geſchah, ſo war ſein Spruch und ſein Gebot in ſeiner Wirkſamkeit gelähmt.


Es zeigte ſich aber im Mittelalter noch ein zweites Grundgebrechen,
welches jede Geſtaltung eines päpſtlichen Völkerrechts unmöglich machte.
Eben die religiöſe Begründung des päpſtlichen Rechts verhinderte dasſelbe
allgemein-menſchlich zu werden. Die Kirche verlangte den Glauben als
die Grundbedingung auch des Rechts. Nur unter der gläubigen Chriſten-
heit ſollte der Friede walten und die Rechtsordnung gelten. Den Un-
gläubigen gegenüber kannte das Papſtthum keine Schonung und keine
Achtung der Menſchenrechte. Gegen die Ungläubigen war der Krieg die
Loſung; man ließ ihnen nur die Wahl zwiſchen Bekehrung oder Ver-
tilgung. Jede Ketzerei und den Unglauben auszurotten auf der Erde, das
[14]Einleitung.
wurde auf allen Kanzeln als die heilige Pflicht der Chriſtenheit verkündet.
Damit iſt aber die menſchliche Grundlage des Völkerrechts im Princip ver-
neint. Wenn das Völkerrecht Menſchenrecht iſt, weshalb ſollten denn die
ungläubigen Völker ſich nicht ebenſo darauf berufen dürfen, wie die gläu-
bigen? Hören ſie denn auf, Menſchen zu ſein, weil ſie andere Vor-
ſtellungen haben als die Kirche von Gott und göttlichen Dingen?


Die antike Welt hatte kein Völkerrecht zu Stande gebracht, weil die
ſelbſtſüchtigen Völker den Fremden, den Barbaren nicht gerecht wurden,
das chriſtliche Mittelalter kam nicht dazu, weil die glaubenseifrigen Völker
die Ungläubigen für rechtlos hielten. Die reine Idee der Menſchlichkeit
konnte die Welt nicht erleuchten, ſo lange die Atmoſphäre von dem Rauche
der Brandopfer verdunkelt war, welche der Glaubenshaß angezündet hatte.


Die Germanen.

Die zweite beſtimmende Macht des Mittelalters, die Germanen,
brachten ebenfalls eine Anlage zu völkerrechtlicher Rechtsbildung mit, aber
auch dieſe Anlage gelangte im Mittelalter nicht zu voller Entwicklung.
Der trotzige Freiheitsſinn und das lebhafte Gefühl der beſondern Perſön-
lichkeit, wodurch die Germanen von jeher ſich auszeichneten, haben einen
natürlichen Zug zu allgemeinem Menſchenrecht. Die in zahlreiche Stämme
und Völkerſchaften getheilten Germanen waren immer geneigt, auch andern
Völkern ein Recht zuzuſchreiben, wie ſie es für ſich in Anſpruch nahmen.
In dem Fremden achteten ſie doch den Menſchen und hielten es für billig,
daß ein Jeder nach ſeinem angeborenen Stammes- oder ſeinem gewählten
Volksrechte beurtheilt werde. Sie erkannten ſo ein Nebeneinander ver-
ſchiedener Volksrechte an. Für ſie hatten Perſönlichkeit, Freiheit, Ehre
höchſten Werth, aber ſie glaubten nicht im Alleinbeſitz dieſer Güter zu ſein,
wenn freilich auch ſie ſich für beſſer und ſchätzenswerther hielten als andere
Nationen. Um den Glauben Anderer kümmerten ſie ſich nicht, bevor ſie
in die Schule der römiſchen Kirche kamen. Nicht einmal im eigenen
Lande machten ſie das Recht vom Glauben abhängig. Sogar im Kriege
vergaßen ſie das Recht nicht. Sie betrachteten die Fehde und den Krieg
als einen gewaltigen Rechtsſtreit und glaubten, daß Gott dem Rechte zum
Siege verhelfe, in der Schlacht wie im Zweikampf. Auch in dem Feinde
und in den unterwürfigen Knechten und eigenen Leuten achteten ſie noch
immer von Natur berechtigte Menſchen. Sicher ſind das höchſt bedeutſame
Anſätze zum Völkerrecht, wie der Belgier Laurent zuerſt und vortrefflich
gezeigt hat.


[15]Einleitung.

Aber es fehlte den Germanen anfangs ſowohl an der Einheit des
politiſchen Willens und der ſtatlichen Macht als an der nöthigen Geiſtes-
bildung, um einem neuen Weltrecht Ausdruck zu geben und Geltung zu
verſchaffen. Ihre Sitten waren zu roh, ihr Trotz zu ungefügig, ihre
Fäuſte zu derb und ihre Raufluſt zu unbändig. Als ſie aber ſpäter von
Rom in die geiſtige und ſittliche Schule und Zucht genommen wurden,
bekamen ſie mit der Einheit des Papſtthums und des Kaiſerthums und
mit der religiöſen Bildung auch die Mängel der mittelalterlich-römiſchen
Inſtitutionen und Ideen, und jene Anſätze konnten nicht mehr zu geſundem
und fröhlichem Wachsthum gelangen.


Vergeblich wurde nun das römiſche Kaiſerthum dem deutſchen
Königthum aufgepfropft. Die Kaiſer nannten ſich wohl noch Herren der
Welt, Könige der Könige, Häupter der ewigen Stadt und Regenten des
Erdkreiſes. Auch ſie behaupteten wohl, die oberſten Richter zu ſein über
die Fürſten und die Völker, und die Schirmer des Weltfriedens. Aber
die weltliche Oberherrlichkeit der Kaiſer wurde in der abendländiſchen
Chriſtenheit noch weniger allgemein anerkannt als die geiſtliche der Päpſte.
Nicht einmal in Deutſchland und in Italien vermochten die Kaiſer den
Landfrieden vor der wilden Fehdeluſt der vielen großen und kleinen Herren
nachhaltig zu ſchützen. Um die Weltordnung zu handhaben, dazu reichten
ihre Kräfte noch weniger aus. In dem Ideale des Mittelalters herrſchen
überall Recht und Gericht; aber in der Wirklichkeit regiert die rohe Ge-
walt. Es iſt bezeichnend, daß die „Zeit des Fauſtrechts“ von jedermann
auf die mittelalterlichen Zuſtände bezogen wird und daß das Wort auf
kein anderes Zeitalter beſſer paßt. Wo aber das Fauſtrecht in Uebung
iſt, da hat das Völkerrecht keinen Raum.


Aufleben des modernen Völkerrechts.


Erſt nachdem die kirchlich-päpſtliche Einheit in dem abendländiſchen
Europa durch die Reformation des ſechszehnten Jahrhunderts zerbrochen
war, wie lange vorher ſchon die weltlich-kaiſerliche Einheit ſich als unaus-
führbar erwieſen hatte, bekamen die lange zurück gehaltenen Rechtstriebe
Luft. Die Wiſſenſchaft, welche ſich endlich der Herrſchaft des Glaubens
entwand, förderte nun zunächſt mit ihrem Lichte ihre Entfaltung. In der
That, die Begründung des neueren Völkerrechts iſt voraus ein Werk der
Wiſſenſchaft
, welche das ſchlummernde Rechtsbewußtſein der civiliſirten
Welt aufgeweckt hat. Dann folgte ihr die ſtatsmänniſche Praxis und
[16]Einleitung.
übernahm die Pflege und Erweiterung des Völkerrechts. Noch heute ſind
beide Kräfte thätig. Bald geht die Wiſſenſchaft voraus, indem ſie völker-
rechtliche Grundſätze ausſpricht und erweiſt, bald folgt die Wiſſenſchaft der
rüſtiger vorſchreitenden Praxis nach, welche von der Culturſtrömung der
Zeit getrieben und von den Bedürfniſſen der Zeit gedrängt ſich entſchließt,
neues Recht anzuwenden und ins Leben einzuführen. Wenn es der Wiſſen-
ſchaft gelingt, der Menſchheit ihre Rechtsideen als Rechtsvorſchriften klar
zu machen, und das Rechtsgefühl der Mächte dieſe Vorſchriften zu beachten
beginnt, dann iſt wirkliches Völkerrecht offenbar geworden, geſetzt auch es
ſollte nicht überall und nicht ausnahmslos anerkannt werden und die Be-
folgung nicht immer zu erzwingen ſein. Ebenſo wenn es der ſtatlichen
Praxis glückt, ſei es durch diplomatiſche Verhandlungen oder in der Kriegs-
übung oder ſonſt im Leben angeſehener Völker beſtimmte völkerrechtliche
Befugniſſe und Pflichten zur Anerkennung und ſtätigen Wirkſamkeit zu
bringen, ſo wird auch auf dieſe Weiſe das allmählige Wachsthum des
Völkerrechts ſichtbar, obwohl es an einer alle Staten bindenden formellen
Autorität und an einer geſicherten Rechtspflege noch fehlt.


Es iſt charakteriſtiſch, daß das Bahn brechende Werk des edeln Hol-
länders Hugo de Groot, der mit Recht als der geiſtige Vater des
modernen Völkerrechts geehrt wird, im Angeſicht des entſetzlichen Krieges
geſchrieben wurde (1622—1625), in welchem die deutſche Nation während
dreißig Jahren gegen ſich ſelber wüthete. Damals trat der hochgebildete
Gelehrte und Statsmann zugleich dem religiöſen Fanatismus entgegen,
welcher die Ausrottung der Andersgläubigen als ein gottgefälliges Werk
anſah und der brutalen Rohheit, welche ihren Leidenſchaften und Lüſten
zügelloſen Lauf verſtattete. Er zeigte der Welt das erhabene Bild eines
auf die menſchliche Natur gegründeten und durch die Zuſtimmung der
Weiſen und Edeln aller Zeiten geheiligten Rechts, damit ſie ſich wieder
ihrer Pflicht erinnere und Mäßigung lerne.


Befreiung des Völkerrechts von religiöſer Befangenheit.


Von Anfang an war das neue Völkerrecht frei von dem antiken
Vorurtheil, daß nur das eigene Volk berechtigt, die Fremden aber rechtlos
ſeien und ebenſo frei von dem mittelalterlichen Wahne, daß die Gültigkeit
des Menſchenrechts abhängig ſei von dem beſonderen Gottesglauben. Mit
viel Muth und großem Nachdruck hat ſodann der Nachfolger Groot’s, der
Deutſche Pufendorf ebenfalls noch im ſiebzehnten Jahrhundert wider die
[17]Einleitung.
kirchlichen Eiferer die Wahrheit verfochten, daß das Natur- und das Völker-
recht nicht auf die Chriſtenheit eingeſchloſſen ſei, ſondern alle Völker aller
Religionen verbinde, weil alle zur Menſchheit gehören.


Trotz dieſer einleuchtenden Lehren iſt in unſerm civiliſirten Europa
der große Fortſchritt der Wiſſenſchaft erſt vor wenig Jahren zu durch-
greifender practiſcher Anerkennung gelangt. Noch die ſogenannte Heilige
Allianz
vom September 1815 wollte ein ausſchließlich chriſtliches
Völkerrecht begründen und ſchützen. Allerdings war ſie nicht mehr ganz
ſo enge, wie das mittelalterliche Glaubensrecht. Sie unterſchied nicht mehr
zwiſchen rechtgläubigen und nicht rechtgläubigen chriſtlichen Bekenntniſſen
und beſeitigte die feindliche Scheidung der verſchiedenen Confeſſionen. In
ihr verband ſich der katholiſche Kaiſer von Oeſterreich mit dem proteſtanti-
ſchen Könige von Preußen und dem griechiſchen Czaren von Rußland.
Die verſchiedenen Confeſſionen ſollten nur Eine chriſtliche Völkerfamilie
bilden. Aber man wollte doch nicht über die Gränze der Chriſtenheit
hinaus gehen und meinte in der chriſtlichen Religion die Grundlage des
neuen Völkerrechts zu finden. Die Türkei blieb noch ausgeſchloſſen von der
europäiſchen Statengemeinſchaft. Freilich hatte man es ſchon ſeit Jahr-
hunderten nicht vermeiden können, auch mit der hohen Pforte völkerrecht-
liche Verträge abzuſchließen. Aber erſt auf dem Pariſer Friedenscongreß
vom Jahre 1856 wurde die Türkei als ein berechtigtes Glied in die
europäiſche Statengenoſſenſchaft aufgenommen und dadurch der allgemein-
menſchliche
Charakter des Völkerrechts anerkannt.


Seither iſt es auch in der Praxis anerkannt, daß die Gränzen der
Chriſtenheit nicht zugleich Gränzen des Völkerrechts ſeien. Unbedenklich
breitet ſich dasſelbe über andere muhammedaniſche Staten und ebenſo über
China und Japan aus und fordert von allen Völkern Achtung ſeiner
Rechtsgrundſätze, mögen dieſelben nun Gott nach der Weiſe der Chriſten
oder der Buddhiſten, nach Art der Muhammedaner oder der Schüler des
Confucius verehren. Endlich iſt die Wahrheit durchgedrungen: Der re-
ligiöſe Glaube begründet nicht und behindert nicht die Rechts-
pflicht
.


Schranken des Völkerrechts.


Das moderne Völkerrecht erkennt voraus das Nebeneinander-
beſtehen
der verſchiedenen Staten an. Es ſoll die Exiſtenz der Staten
ſichern, nicht dieſelbe gefährden, ihre Freiheit ſchützen, nicht unterdrücken.
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 2
[18]Einleitung.
Aber zugleich legt es allen Staten auch Pflichten auf, indem es ſie als
Glieder der Menſchheit verbindet und deshalb von ihnen Achtung vor dem
Menſchenrechte fordert. Würde man die Souveränetät der Staten
als ein unbegränztes Recht faſſen, ſo würde jeder Stat auch dem andern
gegenüber thun können, was ihm beliebte, d. h. es würde das Völkerrecht
im Princip verneint. Würde man umgekehrt die Zuſammengehörigkeit der
Staten und die Einheit des Menſchengeſchlechts rückſichtslos durch-
führen, ſo würde dadurch die Selbſtändigkeit der einzelnen Staten ge-
brochen, ihre Eigenart und ihre Freiheit gefährdet, ſie würden am Ende
zu bloßen Provinzen des Einen Weltreichs erniedrigt.


Deshalb iſt es nöthig, daß die Fortbildung des Völkerrechts zugleich
die Gränzen beachte, welche ſeiner Wirkſamkeit durch das Statsrecht ge-
zogen ſind. Aus dieſem Grunde beſtimmt das Völkerrecht zunächſt und
hauptſächlich die Rechtsverhältniſſe der Staten unter einander und
hütet ſich davor, ſich in die innern Angelegenheiten der Staten ein-
zumiſchen. Den Schutz der Privatrechte ſtellt es durchweg den Staten
anheim, auch dann wenn dieſe Privatrechte einen allgemein-menſchlichen
Charakter haben, und greift nicht in die Handhabung der ſtatlichen Straf-
gerichtsbarkeit ein, wenngleich auch hier zuweilen menſchliches Recht in
Frage iſt.


Es iſt nicht unmöglich, daß in der Zukunft das Völkerrecht etwas
weniger ängſtlich ſein und in manchen Fällen ſich für berechtigt halten
werde, zum Schutze gewiſſer Menſchenrechte einzuſchreiten, wenn dieſelben
von einer Statsgewalt ſelbſt unterdrückt werden; etwa ſo wie in den
Bundesſtaten die Bundesgewalt gewiſſe vorſchriftsmäßige Rechte der Privaten
auch gegen die Verletzung von Seite eines Einzelſtates zu ſchützen pflegt.
Aber die bisherigen Verſuche völkerrechtlicher Garantien zum Schutze
menſchlicher Privatrechte ſind noch ſelten und ſchwach und überall noch
hindert die Furcht vor Eingriffen in die Souveränetät der Staten ein
energiſches Vorgehen.


Maßregeln gegen die Sclaverei.


Eine derartige Ausnahme enthalten die völkerrechtlichen Maßregeln
gegen die Zufuhr von Negerſclaven.


Die meiſten Völker der alten Welt hatten die Sclaverei geduldet.
Die römiſchen Juriſten, wohlbewußt, daß das natürliche Menſchenrecht die
Freiheit, nicht die Sclaverei ſei, ſuchten dieſe eben mit der allgemeinen
Rechtsſitte aller Völker zu rechtfertigen. Auch das Chriſtenthum, obwohl
[19]Einleitung.
es den Geiſt der Bruderliebe auch unter Herren und Sclaven weckte, ließ
doch die beſtehende Sclaverei als Rechtsinſtitut unangefochten.


Während des Mittelalters wurde in dem germaniſirten Europa die
antike Sclaverei in die weniger harte Eigenſchaft umgeſtaltet und all-
mählich in die bäuerliche Hörigkeit gemildert, aber es erhielt ſich doch noch
bis tief ins achtzehnte, in einzelnen, auch deutſchen Ländern bis ins neun-
zehnte Jahrhundert hinein eine erbliche Knechtſchaft der eigenen Leute. In
Oſteuropa nahm dieſe bäuerliche Eigenſchaft ſogar in den letzten Jahr-
hunderten maſſenhaft überhand und in den europäiſchen Colonien von
Amerika erhielt ſogar die ſtrengſte Sclaverei eine neue Geſtalt und An-
wendung in der abſoluten Herrſchaft, welche die weißen Eigenthümer über
die ſchwarze Arbeiterbevölkerung erkauften, die aus Afrika dahin verpflanzt
ward.


In allen dieſen Zeitaltern kümmerte ſich das Völkerrecht niemals
darum. Im achtzehnten Jahrhundert noch ſchützte und begünſtigte das
freie England die Sclavenzufuhr aus Afrika. Noch im Jahre 1713
ſchämten ſich die engliſchen Statsmänner nicht, in dem Frieden mit
Spanien zu Utrecht ausdrücklich auszubedingen, daß es den engliſchen
Schiffen geſtattet werde, binnen der nächſten Jahre einige tauſend Neger-
ſclaven jährlich in die ſpaniſchen Colonien einzuführen. Sie betrachteten
den Menſchenhandel noch als ein vortheilhaftes Speculationsgeſchäft, wofür
England ſich Privilegien einräumen laſſen müſſe.


Seit ungefähr einem Jahrhundert finden wir eine entſchiedene
Wendung in den Anſichten der civiliſirten Welt. Die Philoſophie und
die ſchöne Literatur brachten menſchlichere Grundſätze in Umlauf. Von da
an beginnt in allen Ländern ein offener Kampf für die perſönliche Frei-
heit wider die Knechtſchaft, und die Geſetzgebung verzeichnet und ſichert die
Siege der Freiheit. Die Leibeigenſchaft und Hörigkeit werden theilweiſe
vor, theilweiſe nach der franzöſiſchen Verkündung der Menſchenrechte in den
weſteuropäiſchen Ländern abgeſchafft.


Jetzt erſt beginnt auch das Völkerrecht die Frage in Betracht zu
ziehen; und nun geht England voran in der Bekämpfung der Neger-
ſclaverei, welche es ſelber früher großgezogen hatte. Der Wiener Congreß
mißbilligt in einer förmlichen Erklärung vom 8. Februar 1815 den von
Afrika nach Amerika betriebenen Negerhandel, „durch welchen Afrika ent-
völkert, Europa geſchändet und die Humanität verletzt“ werde. Früher
ſchon hatten auch die Vereinigten Staten von Amerika dieſen ſchmählichen
2*
[20]Einleitung.
Seehandel mit ſchwarzen Menſchen geſetzlich verboten. Die Verurtheilung
dieſer beſonders gefährlichen und ſchädlichen Art der Sclavenzüchtung durch
den Spruch der civiliſirten Menſchheit war nun im Princip entſchieden
und damit wenigſtens erwieſen, daß das Rechtsgefühl der Welt humaner
und freier geworden war, als es im Alterthum und im Mittelalter geweſen.


Freilich zeigte ſich hier ſofort wieder die große Schwierigkeit alles
Völkerrechts, dem Urtheil der civiliſirten Menſchheit Geltung zu verſchaffen,
ohne die Freiheit der einzelnen Staten zu gefährden. Zwar ließen ſich
die europäiſchen Staten anfangs herbei, der unabläſſigen Beſtürmung der
engliſchen Diplomatie das verlangte Viſitationsrecht ermächtigter Kriegsſchiffe
gegen verdächtige Sclavenſchiffe innerhalb gewiſſer Meere zuzugeſtehen und
inſofern eine Art völkerrechtlicher Seepolicei auch im Friedenszuſtande ein-
zuführen. In dieſem Sinne kam der europäiſche Vertrag vom 20. De-
cember 1841 zu Stande. Aber dieſes Unterſuchungsrecht begegnete dem
Widerſpruch der Vereinigten Staten, welche beſorgten, daß dadurch die
Uebermacht der engliſchen Kriegmarine über ihre Handelsmarine verſtärkt
und der friedliche Seehandel überhaupt beläſtigt werde. Auch Frankreich
ſagte ſich nun wieder los von dem Zugeſtändniß ſolcher Durchſuchung und
trat auf den Standpunkt der Vereinigten Staten über, welche es vorzogen,
gemeinſam mit England Kreuzer auszurüſten, welche an den afrikaniſchen
Küſten zunächſt die eigenen Sclavenſchiffe verfolgen aber ſich hüten ſollten,
fremde Kauffahrer zu beläſtigen.


Auf den Vorſchlag der nordamerikaniſchen Bundesregierung kam dann
die weitere Verabredung mit England (9. Auguſt 1842) zu Stande, ge-
meinſam die Staten, welche noch öffentliche Sclavenmärkte geſtatten, zur
Abſtellung dieſes Mißbrauchs zu mahnen. Auch dieſe Maßregel zur Be-
freiung der Welt von der Schmach der Sclaverei iſt nicht ohne Wirkung
geblieben. Insbeſondere ſah ſich die Ottomaniſche Pforte veranlaßt, dem
Andringen der Diplomatie Gehör zu geben.


Neuerdings hat die Aufhebung der Leibeigenſchaft in dem ruſſiſchen
Reich durch das Manifeſt des Kaiſers AlexanderII. vom 19. Februar
1861 die große Frage endlich für Europa und für einen großen Theil von
Aſien zu Gunſten der perſönlichen Freiheit entſchieden. Noch wichtiger iſt
der Sieg der Freiheit über die Sclaverei in Nordamerika geworden. Seit-
dem die Verwerfung der Sclaverei zu einem Grundgeſetz der Vereinigten
Staten erklärt worden iſt (1865), iſt dieſes Inſtitut nirgends mehr auf
dem ganzen Welttheil zu halten.


[21]Einleitung.

Es wird daher nicht mehr lange dauern, bis das allgemeine Rechts-
bewußtſein der Welt die großen Sätze eines jeden humanen Rechts auch
mit völkerrechtlichen Garantien ſchützen wird:


Es giebt kein Eigenthum des Menſchen am Menſchen. Die
Sclaverei iſt im Widerſpruch mit dem Rechte der menſchlichen
Natur und mit dem Gemeinbewußtſein der Menſchheit
.


Religiöſe Freiheit.


Noch weniger entwickelt, aber wiederum in den Anfängen ſichtbar,
iſt der völkerrechtliche Schutz der religiöſen Freiheit gegen grauſame
Verfolgung und Unterdrückung durch den Fanatismus anderer von dem
State bevorzugter Religionen. Mit Recht überläßt man den geſetzlichen
Schutz der religiöſen Bekenntniß- und Cultusfreiheit den einzelnen Staten
und ſcheut ſich bei geringen und zweifelhaften Anläſſen die Selbſtändigkeit
des ſtatlichen Sonderlebens anzutaſten. Aber bei großen und ſchweren
Verletzungen jenes natürlichen Menſchenrechts bleibt die geſittete Völker-
genoſſenſchaft nicht mehr theilnahmelos und ſtumm. Sie äußert zum
mindeſten ihre Meinung, giebt Räthe und erläßt Warnungen und Mahnungen.
Zuletzt kann eine grobe Mißachtung der Menſchenpflicht zu ernſter Macht-
entfaltung auch der Staten führen, welche ſich vorzugsweiſe berufen fühlen,
ihre Glaubensgenoſſen oder würdiger noch das allgemeine Menſchenrecht
wider die fanatiſchen Verfolger zu ſchützen. Gegenüber der Türkei iſt das
bereits in einzelnen Fällen geſchehen. Die europäiſchen Mächte haben
wiederholt zum Schutze der chriſtlichen Rajahs völkerrechtlich eingewirkt.
Das Aufſehen, welches der kirchliche Raub des jüdiſchen Knaben Mortara
auch in dem romaniſchen und katholiſchen Weſteuropa gemacht hat, beweiſt,
daß das öffentliche Gewiſſen der heutigen Menſchheit nicht blos dann ſich
zu regen anfängt, wenn die eigene Religion gekränkt wird, ſondern auch
dann, wenn zu Gunſten der eigenen Religion die heiligen Rechte der Familie
verletzt werden.


Geſandtſchaften und Conſulate.


Geringere Schwierigkeiten ſtanden der Pflege des friedlichen Verkehrs
von Stat zu Stat und der Nationen unter einander im Wege. Zu allen
Zeiten hatten die Völker — wenige wilde Stämme ausgenommen — mit
einander durch Geſandte, als Repräſentanten unterhandelt; und von Alters
her wurden dieſe Geſandten erſt durch die Religion, dann durch das Recht
[22]Einleitung.
als unverletzlich geſchützt. Aber die Einrichtung ſtändiger Geſandtſchaften
in den verſchiedenen Hauptſtädten gehört erſt der neueren Zeit an und iſt
in Europa vorzüglich ſeit Richelieu und LudwigXIV. allgemeine Sitte
geworden. In Folge deſſen wurde der fortdauernde Zuſammenhang unter
den Staten in dem fortgeſetzten perſönlichen Verkehr ihrer Vertreter lebendig
dargeſtellt. Das Völkerrecht erhielt ſo in den Reſidenzen gleichſam einen
perſönlichen Ausdruck und eine friedlich wirkende Repräſentation. Es
fanden ſich da wie in Knotenpunkten des Weltverkehrs die Diplomaten der
verſchiedenen Staten zuſammen und fingen an, als ſogenannte diplo-
matiſche Körper
ſich als völkerrechtliche Genoſſenſchaften zu fühlen. Wenn
auch dabei ſelbſtſüchtige Abſichten mitgewirkt haben, ſo hat doch augen-
ſcheinlich die Wirkſamkeit des Völkerrechts durch dieſe Einrichtung ſehr ge-
wonnen. Wenn ein Stat ſeine völkerrechtlichen Pflichten offenbar ver-
letzen möchte, ſo findet er ſofort in dem diplomatiſchen Körper eine gewiſſe
Schranke. Da kein Stat mächtig genug iſt, um die Mißbilligung der
civiliſirten Statengeſellſchaft gleichgültig hinzunehmen, ſo wird dieſe Stimme
des Völkerrechts nicht leicht überhört. Indem dieſe ſtändigen Geſandt-
ſchaften ſich immer weiter über die ganze Erde hin erſtrecken, wächſt der
Verband aller Staten zu einer gemeinſamen Weltordnung allmählig heran
und die völkerrechtlichen Garantien nehmen an Stärke und Ausdehnung zu.


Außer den Geſandtſchaften hat das neuere Völkerrecht noch das In-
ſtitut des Conſulats weiter ausgebildet. Die Zahl der Conſuln iſt viel
größer als die der Geſandten und in ſtarker Vermehrung begriffen. Durch
die Conſulate wird ſo ein zweites Netz völkerrechtlicher Aemter über die
Erdoberfläche ausgebreitet, welche dem friedlichen Verkehr aller Nationen
dienen und die Rechtsgemeinſchaft in der Welt beleben. Die Conſuln ſind
nicht wie die Geſandten berufen, als eigentliche Stellvertreter der Staten
zu handeln, ſie haben vorzugsweiſe die Intereſſen der Privaten in fremden
Ländern zu wahren und den heimathlichen Rechtsſchutz auch in der Ferne
wirkſam zu machen. Gerade deshalb ſteigt ihre Wichtigkeit in dem Maße,
in welchem der internationale Verkehr reicher und belebter wird.


Zuerſt haben die Bedürfniſſe und Intereſſen des Handels die Kauf-
leute veranlaßt, ins Ausland zu gehen und mit Fremden zu verkehren.
Daher ſind die Conſulate anfangs nur als Handelsconſulate gegründet
worden. Auch heute noch iſt der Handelsverkehr die wichtigſte Beziehung
von Nation zu Nation. Aber er iſt es heute ſchon nicht ganz mehr, wie
früher. Es giebt bereits eine Menge von Culturbeziehungen aller Art,
[23]Einleitung.
welche die Nationen ebenfalls verbinden. Nicht einmal mehr die Mehrzahl
der Reiſenden ſind Kaufleute. Die verſchiedenſten Urſachen beſtimmen die
Privaten, vorübergehend fremde Länder zu beſuchen, oder ſich auf längere
Zeit auswärts niederzulaſſen, Intereſſen der Bildung, der Wiſſenſchaft, der
Kunſt, der Landwirthſchaft, des Vergnügens, der Verwandtſchaft u. ſ. f.
Auch dieſe Maſſe von Nichtkaufleuten tritt in den Rechtsverkehr mit den
Ausländern und bedarf gelegentlich der Förderung und des Schutzes in
der Fremde. Die Conſuln ſind berufen, auch dieſen Claſſen nöthigenfalls
beizuſtehen.


Indem ſo der Geſchäftskreis der Conſuln erweitert und ihre Ge-
ſchäftslaſt vergrößert ward, genügten nicht überall mehr die alten Handels-
conſuln, welche nur nebenher das Conſulat verwalteten. Man konnte dem
Kaufmann nicht zumuthen, daß er neben ſeinem eigenen Handel die man-
nigfaltiger, ſchwieriger und zahlreicher gewordenen Geſchäfte des Conſulats
unentgeltlich als Ehrenpflicht beſorge, und man ward genöthigt, an den
begangenſten Plätzen und in den Hauptſtädten, wo man keine Geſandt-
ſchaften unterhielt, für beſoldete Generalconſuln zu ſorgen, welche dann
das Conſulat als Hauptberuf verwalteten. Das ſo im Wachsthum begrif-
fene Conſulat iſt augenſcheinlich noch der Hebung und Steigerung fähig
und ganz geeignet, die friedlichen und freundlichen Beziehungen der Na-
tionen unter einander und mit den Staten vielfältig zu ſichern und zu
fördern. Um den erſten Ring der Geſandtſchaften wird ſo ein zweites wei-
teres Band geſchlungen, welches die Gemeinſchaft der Welt pflegt.


Fremdenrecht.


Keine Iſolirung der Staten.


Die friedlichen Siege des neueren Völkerrechts haben voraus die
Zuſtände der Fremden ſehr verbeſſert. Die antiken Völker waren noch
wie die Barbaren geneigt, die Fremden wie Feinde zu betrachten und für
rechtlos zu halten, wenn ſie nicht von dem Schutz eines einheimiſchen
Gaſtfreundes oder von der Schirmhoheit eines mächtigen Patrons gedeckt
waren. Die Verbannung in die Fremde, das Exil, galt daher als Verſtoßung
ins Elend. Auch das Mittelalter behandelte die Fremden noch mit offenbarer
Ungunſt. Die Fremden waren genöthigt, einen unſicheren Rechtsſchutz der
Landesherren und der Gemeinden mit ſchwerem Gelde zu bezahlen; wollten
ſie ihr Vermögen wieder aus dem Lande wegziehen, ſo mußten ſie auch
[24]Einleitung.
den Wegzug mit Procenten des Vermögenswerthes erkaufen; ſtarben ſie
in dem für ſie fremden Lande, ſo pflegte die Herrſchaft auch auf ihre
Verlaſſenſchaft zu greifen und dieſelbe wie herrenloſes Gut an ſich zu
ziehen oder doch die Wegfahrt der Erben mit erheblichen Abzügen zu
belaſten.


Das Alles iſt anders und beſſer geworden. Die Fremden werden
nun in der civiliſirten Welt in ihren Menſchenrechten geachtet und in den
wichtigſten Beziehungen des Privatrechts und des Verkehrs den Einheimi-
ſchen durchweg gleichgeſtellt. Die Barbarei des Wildfangs- und des Heim-
fallsrechts iſt endlich aus Europa verſchwunden. Zahlreiche Staatenverträge
haben die Abzugsrechte gänzlich abgeſchafft und ſichern die Freizügigkeit.
Der deutſche Privatmann lebt in Paris oder in New-York oder in Calcutta
eben ſo ſicher wie in Berlin oder in München. Zahlloſe Fremde aus
allen Ländern der Welt wohnen in allen Welttheilen unter einander ge-
miſcht friedlich beiſammen und fühlen ſich in Perſon, Vermögen und Ver-
kehr nicht minder geſchützt als in der Heimat. Mit dem Aufſchwung der
Transportmittel hat auch die gemeinſame Rechtsbildung Schritt gehalten.
Auch ſie hat die nationale Iſolirtheit durchbrochen und ein internationales
Verkehrsrecht geſchaffen, von dem ſich kein Stat abſchließen kann. Wollte
er daſſelbe mißachten, ſo würde er nicht blos die Mißbilligung der civili-
liſirten Welt auf ſich laden, ſondern auch in Gefahr ſein, zur Rechenſchaft
gezogen zu werden, damit er lerne, in den Fremden die Menſchen und in
dem Verkehr der Nationen die Gemeinſchaft der Völker zu achten. Der
Gedanke des Weltbürgerrechts, den Kant als eine ideale Hauptfor-
derung des neuen Völkerrechts ausgeſprochen, hat heute ſchon zum Theil
eine reale Wahrheit, und dieſes Weltbürgerrecht iſt ſo wenig unverträglich
mit dem beſondern Statsbürgerrecht, als dieſes mit dem Gemeinde- und
Ortsbürgerrecht.


Nur in dem Innern der großen Continente von Aſien und beſon-
ders von Afrika, wohin die Civiliſation noch nicht mit Macht vorgedrungen
iſt, dauert einſtweilen noch die früher allgemeine Verneinung des Fremden-
rechtes fort, gewiß nicht lange mehr. Mit vollem Rechte nimmt ſich jeder
Stat ſeiner Bürger auch in der Fremde inſofern an, als dieſelben gegen
Rechtsverweigerung und Gewaltthat ſeines Schutzes bedürfen. Der Stats-
ſchutz iſt nicht an die Gränzen des Statsgebietes gebannt. Die Verbin-
dung der Staten und die Einheit der Menſchheit zeigen ſich auch darin,
daß die ſchützenden Arme der Statsgewalt überall hin auf der Erdober-
[25]Einleitung.
fläche ſo weit ſich ausſtrecken, als es mit der rechtlichen Selbſtändigkeit
anderer Staten verträglich iſt. Dieſer ſtatliche Rechtsſchutz in der Fremde
iſt zuweilen von mächtigen Staten anmaßlich und übermüthig überſpannt
worden, aber im Großen und Ganzen iſt es doch ein großer Fortſchritt
eines wirkſamen Völkerrechts, daß der internationale Verkehr und die
Rechtsſicherheit der Fremden nicht der Willkür einer launiſchen Statsgewalt
Preis gegeben und Staten, welche dieſe Rechte verletzen, zur Genugthuung
und Entſchädigung angehalten werden.


Selbſt die völlige Abſchließung und Iſolirtheit eines States
wider jeden Fremdenverkehr, in früherer Zeit als ein ſelbſtverſtändliches
Recht eines ſouveränen States betrachtet, erſcheint dem heutigen Rechts-
bewußtſein als eine Verletzung des natürlichen Menſchenrechts, welches für
alle Nationen einen geſicherten Rechtsverkehr fordert, damit die Menſchen-
anlage zu voller und reicher Entfaltung gelangen und ſo die Beſtimmung
des Menſchengeſchlechts erfüllt werden könne. In den letzten Jahrhunderten
hatte ſich ſo die oſtaſiatiſche Welt gegen die europäiſch-amerikaniſche völlig
abgeſchloſſen. Die chineſiſchen und japaniſchen Seehäfen und Handels-
ſtädte blieben lange Zeit den Schiffen und Kaufleuten der chriſtlichen
Nationen verſperrt. Aber in unſern Tagen ſind auch dieſe trennenden
Schranken vor der zwingenden Macht des erſtarkten menſchlichen Völker-
rechts gefallen und die oſtaſiatiſchen Reiche in die Handels- und Verkehrs-
gemeinſchaft mit den Europäern und Amerikanern eingetreten. Im Jahre
1842 hat England das chineſiſche Weltreich zuerſt genöthigt, in dem Frie-
den von Nanking ſeine Häfen wieder zu öffnen, und im Jahre 1858
haben die Vereinigten Staaten von Nordamerika zuerſt wieder Japan dem
Weltverkehr erſchloſſen. Seither berühren ſich und wirken auf einander
die chriſtlich-moderne und die oſtaſiatiſche alte Civiliſation, und das Völker-
recht hat wiederum einen gewaltigen Fortſchritt zum allgemeinen Weltrecht
gemacht.


Gemeinſchaft der Gewäſſer.


Freie Schiffahrt.


Würde ſich die Luft nicht jeder menſchlichen Abſperrung im Großen
entziehen, ſo hätte ſicherlich die ſouveräne Selbſtſucht der Einzelſtaten auch
die Luft über ihrem Lande als ihr ausſchließliches Eigenthum anzuſprechen
hier oder dort den Verſuch gemacht. Aber die Staten haben keine Gewalt
[26]Einleitung.
über die mächtige Bewegung der Luftſtröme, welche unbekümmert um alle
Landesgränzen ihren Weg nehmen. Auch das Meer und die öffentlichen
Gewäſſer ſind von der Natur mit einander verbunden und, wenn ſie auch
die Länder zuweilen trennen, ſo dienen ſie doch zugleich, den Verkehr der
verſchiedenen Nationen zu erleichtern. Sie verbinden auch die Küſten und
Ufer, welche ſie beſpülen. Da haben es aber die Staten wirklich lange
verſucht, ihre Alleinherrſchaft möglichſt weit auch über die Gewäſſer auszu-
dehnen und die Freigebigkeit der gemeinſamen Natur ausſchließlich für ſich
auszubeuten. Sogar über das offene Meer hin wollte die mittelalterliche
Statshoheit ihr Eigenthum ausbreiten. Die Republik Genua nahm über
das liguriſche, Venedig über das adriatiſche Meer eine ausſchließliche See-
herrſchaft in Anſpruch. Die Könige von Spanien und Portugal behaup-
teten, die weſtindiſchen Meere gehören ihnen allein zu, weil der Papſt
AlexanderVI., dem dieſe Meere ſo wenig als die weſtindiſchen Länder
jemals gehört hatten, ihnen dieſelben geſchenkt habe. Als Hugo de Groot
zuerſt dieſe ſinnloſe Anmaßung widerlegte und für die „Freiheit der Meere“
ſeine Fürſprache unternahm, mußte er noch mancherlei hergebrachte Miß-
bräuche ſchonen. Lange nachher noch und bis ins achtzehnte Jahrhundert
hinein wollte England über die Meere, welche die Großbritanniſchen Inſeln
umſchließen, eine ausſchließliche Seehoheit behaupten.


Dem langſamen aber ſtätigen Wachsthum der völkerrechtlichen Er-
kenntniß haben endlich alle dieſe anmaßenden Uebergriffe weichen müſſen.
In dem heutigen Rechtsbewußtſein der civiliſirten Welt haben die beiden
wichtigen Sätze feſte Wurzeln:
Kein Stat hat eine beſondere Seehoheit über die
offene See. Die unter einander verbundenen Meere
ſind der freien Schiffahrt aller Nationen offen
.


Vor wenig Jahren erſt ſind einige letzte Reſte der älteren ſelbſtſüch-
tigen Beſchränkung und Ausbeutung weggeräumt worden. Das Marmor-
meer, obwohl es von den Türkiſchen Küſten umſchloſſen iſt und ſeine enge
Einfahrt leicht von den Dardanellenſchlöſſern beherrſcht werden kann, und
das Schwarze Meer, welches Rußland für ſich in Beſchlag zu nehmen
bemüht war, ſind durch die Friedensſchlüſſe von Adrianopel (1829) und
Paris (1856) der freien Schiffahrt aller Nationen geöffnet worden. Noch
im Jahre 1841 wurde der Sundzoll, den Dänemark von den Seefahrern
zwiſchen der Nordſee und der Oſtſee ſeit Jahrhunderten erhob, als her-
kömmliches und in vielen Statsverträgen beſtätigtes Recht von den meiſten
[27]Einleitung.
Seemächten anerkannt. Aber als endlich die Vereinigten Staaten erklärten,
ſie werden dieſes geſchichtliche Recht, welches dem natürlichen Recht der
freien Seefahrt widerſtreite, nicht ferner reſpectiren, ließ ſich auch Dänemark
willig auf den anerbotenen Loskauf mit den europäiſchen Staten ein. Die
Freiheit der Meere ward nun auch in dieſem Falle anerkannt.


Nachdem einmal der natürliche Zuſammenhang der öffentlichen Ge-
wäſſer und ihre Beſtimmung, der Schiffahrt aller Nationen zu dienen,
erkannt und anerkannt war, führten dieſe Gedanken zu weitern Befrei-
ungen. Man mußte zugeſtehen, daß die Gebietshoheit ſich nicht ganz auf
den feſten Erdboden beſchränken läßt. Mehr noch als der naſſe Küſten-
ſaum am Meere, und als die Buchten und Rheden, welche vom Feſtland
her theilweiſe beherrſcht werden, gehören die großen Ströme und Flüſſe,
welche durch ein Land fließen oder ſeine Gränze bilden, und die Häfen,
welche durch öffentliche Werke geſchützt ſind, damit ſie hinwieder die Schiffe
ſchützen können, einem beſtimmten Statsgebiete zu und ſind der Aufſicht
und Sorge des Einzelſtates unterworfen. Sie ſind ein fließender Theil
des Landes, und nicht wie das offene Meer frei von jeder beſondern
Statshoheit.


Allein neben jener Zutheilung zu einem Sondergebiete muß auch
die natürliche Verbindung der ſchiffbaren Ströme, Flüſſe, Seen,
Häfen mit der offenen See beachtet werden, und inſoweit iſt jene aus-
ſchließliche Gebietshoheit durch die Rückſicht auf die Verkehrsgemeinſchaft zu
ermäßigen und abzuändern. Von dem freien und offenen Meere her fahren
die Schiffe der verſchiedenen Nationen in die Seehäfen und in die Flüſſe
der Staten ein. Die Freiheit des internationalen Verkehrs wäre gehemmt
und die Gemeinſchaft in der Benutzung öffentlicher Gewäſſer wäre geſtört,
wenn jeder Stat willkürlich alle ſeine Häfen und Flüſſe für fremde
Schiffe unzugänglich machen dürfte. Wenn ein Fluß durch mehrere Stats-
gebiete hindurch fließt, um ſich ins Meer zu ergießen, ſo könnten die einen
Staten, inſofern ihre Gebietshoheit nicht beſchränkt würde, die andern von
dem Seeverkehr abſperren, und die Gewäſſer würden ihrer natürlichen
Beſtimmung, die Nationen zu verbinden, entfremdet.


Zuerſt wurde dieſe neue Forderung des Völkerrechts, daß der Zu-
ſammenhang der öffentlichen Gewäſſer beachtet und die Freiheit der Schiff-
fahrt geſchützt werde, im Pariſerfrieden von 1814 in Anwendung auf die
Rheinſchiffahrt ausgeſprochen und zugleich eine allgemeine Durchführung des
Princips auf allen europäiſchen Flüſſen in Ausſicht geſtellt. Es war haupt-
[28]Einleitung.
ſächlich das Verdienſt des Preußiſchen Geſandten, Wilhelms von
Humboldt
, dieſen Fortſchritt der völkerrechtlichen Verkehrsgemeinſchaft
anzutragen. Die Wiener Congreßacte von 1815 (Art. 108 ff.) verkün-
dete ſodann die Freiheit der Schiffahrt auf allen ſchiffbaren Flüſſen, welche
zwei oder mehrere Gebiete durchſtrömen, und wendete dieſen Grundſatz
ausdrücklich auch auf die ſchiffbaren Nebenflüſſe des Rheins an, ferner auf
die Schelde, deren Mündungen lange Zeit durch die Holländer für die
Belgiſchen Schiffe geſperrt waren, die Maas, die Elbe, die Oder, die
Weſer, die Weichſel und den Po. Von da an mußten allmählig die
mancherlei aus dem Mittelalter überlieferten Flußzölle der wachſenden
Freiheit weichen und ſowohl die Uferſtaaten als die Seemächte hatten nun
ein feſtes Princip gewonnen, von welchem aus ſie alle herkömmlichen Be-
ſchwerden und Gebühren bekämpften, durch welche der Schiffahrtsverkehr
belaſtet und gehemmt war. Nur ſolche Gebühren blieben gerechtfertigt,
welche als Gegenleiſtung erſchienen für nothwendige oder nützliche Dienſte.
Später erſt nahmen die Donauſtaten das neue Princip an. Aber endlich
wurde durch den Pariſer Frieden von 1856 auch die Donau den Schiffen
aller Nationen geöffnet.


Die Logik des Gedankens nöthigt uns, dieſelbe Freiheit der Schiff-
fahrt auch bezüglich der Flüſſe zu fordern, welche nur durch Ein Stats-
gebiet fließen, aber, indem ſie ins Meer münden, von Natur dem Welt-
verkehr dienen. Dieſe Forderung iſt aber zur Zeit noch nicht allgemein
anerkannt. Mancher Stat verweigert heute noch fremden Schiffen die
Benutzung ſeiner Eigenflüſſe, während er für ſeine Schiffe die freie Schif-
fahrt auf Flüſſen fordert, deren Waſſer nirgends ſeine Ufer beſpült, die
durch mehrere fremde Statsgebiete fließen. Das iſt ein auffallender und
grober Widerſpruch. Weshalb ſollte Ein Stat mehr Recht haben an
ſeinem Eigenfluſſe, als die ſämmtlichen Uferſtaaten zuſammen an ihrem
Gemeinfluſſe? Wenn dieſe genöthigt ſind, ihre Flüſſe dem Weltverkehr zu
öffnen, warum ſollte jener ſeine Flüſſe gegen den Welthandel abſperren
dürfen? Wie ſollten die fremden Schiffe, welche völkerrechtlich befugt ſind,
einen Gemeinfluß zu befahren, dieſe Befugniß verlieren, wenn in Folge
von Gebietsabtretungen, Ein Stat in den Beſitz des ganzen Fluſſes ge-
langt? Sollte z. B. der Po der Schiffahrt offen ſtehen, ſo lange er durch
mehrere Statsgebiete fließt, und abgeſperrt werden können, wenn er ganz
und gar in den Beſitz des Königreichs Italien kommt? Der Miſſiſſippi war
im vorigen Jahrhundert noch ein Gemeinſtrom, an dem auch England und
[29]Einleitung.
Spanien Theil hatten und gehört heute ganz den Vereinigten Staten zu.
Hat er in Folge deſſen ſeine Natur verändert und iſt ſeine Bedeutung für
den Weltverkehr geringer geworden? Jene Unterſcheidung zwiſchen der freien
Schiffahrt auf mehrſtatlichen Weltſtrömen und der unfreien Schiffahrt auf
einſtatlichen Weltſtrömen iſt alſo unhaltbar.


Vermittlung in Streitfällen.


Schiedsrichterliches Verfahren.


Gerathen zwei Staten in einen ernſten Rechtsſtreit mit einander, ſo
ſind ſie noch immer geneigt, in Ermanglung eines völkerrechtlichen Gerichts-
hofs, den Weg der Selbſthülfe zu betreten, und die äußerſte Selbſthülfe
iſt der Krieg. Es iſt das ohne Zweifel noch eine barbariſche Seite der
heutigen Weltordnung, und wir müſſen zugeſtehen, daß in dieſer höchſt
wichtigen Hinſicht die Fortſchritte des Völkerrechts noch beſchämend klein
ſind. Wir können höchſtens einige unentwickelte Keime zu einer civiliſir-
teren Rechtspflege entdecken. Auf dem Pariſer Congreſſe von 1856 gaben
die verſammelten Mächte im Intereſſe des Friedens den Wunſch zu Pro-
tokoll, daß die Staten, unter denen ein Streit ſich erhebe, nicht ſofort zu
den Waffen greifen, ſondern zuvor die guten Dienſte einer befreun-
deten Macht
anrufen möchten, um den Streit friedlich zu ſchlichten.
Man wagte nicht, den Wunſch als Rechtsforderung auszuſprechen, und die
Mächte wollten ſich ſelber nicht binden.


Vielleicht wird, was hier gewünſcht ward, ſpäter in eine völkerrecht-
liche Rechtspflicht umgewandelt, ebenſo wie in manchen Ländern die Rechts-
ſtreite der Privatperſonen vorerſt an einen Friedensrichter zum Sühnever-
ſuch gebracht werden müſſen, bevor ſie gerichtlich im Proceß verfolgt werden
dürfen. Es wäre damit der Krieg nicht verhindert, aber eine neue Ga-
rantie für den Frieden gewonnen.


In den Statenbünden gibt es auch kein Bundesgericht, welches zu-
ſtändig wäre, über die Streitigkeiten zwiſchen den verbündeten Einzelſtaten
zu urtheilen. Da kennt man ſeit Jahrhunderten das Verfahren vor
Schiedsrichtern oder Austrägen, welche den Proceß ohne Krieg
durch Rechtsſpruch erledigen. Den Einzelſtaaten iſt es oft zur Pflicht ge-
macht, dieſen ſchiedsrichterlichen Weg zu betreten und ſich aller kriegeriſchen
Gewalt zu enthalten. Auch unter nicht verbündeten Staten wird zuweilen
dieſes Mittel der Rechtspflege benutzt, aber eine allgemeine Rechtspflicht
dazu beſteht noch nicht. Vielleicht wird es einem der nächſten völkerrecht-
[30]Einleitung.
lichen Congreſſe gelingen, wenigſtens für gewiſſe Streitfragen die Pflicht
des ſchiedsrichterlichen Verfahrens auszuſprechen und dieſes zugleich in ſeinen
Grundzügen zu ordnen.


Es giebt Streitigkeiten, für welche die letzte Rechtshülfe der Krieg
vernünftiger Weiſe unmöglich iſt. Dahin gehören durchweg alle Ent-
ſchädigungs- und alle Etikette- und Rangfragen. Der Werth des Streites
ſteht in ſolchen Fällen in einem allzu großen Mißverhältniſſe zu den noth-
wendigen Kriegskoſten und zu den unvermeidlichen Kriegsübeln, als daß
ein Stat, der bei geſunden Sinnen iſt, ſich entſchließen möchte, zu dieſem
Mittel zu greifen. Für derartige Fälle ſollte immer ein friedliches Schieds-
gericht angerufen werden können; ſonſt bleiben ſie unerledigt und verbittern
die Stimmung auf die Dauer. Freilich iſt es nicht leicht, geeignete Richter
zu finden. Wählt man eine neutrale große Macht, ſo iſt man doch nicht
ſicher, daß dieſelbe auch ihre eigenen politiſchen Intereſſen und Neigungen
bei dem Schiedsſpruch in die Wage lege. Man iſt auch nicht ſicher, daß
der gewählte Fürſt, auch wenn er kein eigenes Intereſſe hat, geeignete
Berather beiziehe; die zugezogenen aber bleiben oft verborgen und daher
unverantwortlich. Den ordentlichen Gerichtshöfen, an die man ſich wenden
könnte, fehlt meiſtens die völkerrechtliche Bildung und die freie ſtatsmänniſche
Praxis. Profeſſor Lieber hat neulich in dem engliſch-nordamerikaniſchen
Streit über die Frage, ob England für Schaden einzuſtehen habe, welcher
von ſüdſtatlichen in England ausgerüſteten Kreuzern verübt worden, den
Vorſchlag gemacht, das Urtheil einer der angeſehenſten Juriſtenfacultäten
anzuvertrauen, deren Mitglieder doch ihre wiſſenſchaftliche Ehre einzuſetzen
haben. Vielleicht könnte zum voraus auf Vorſchläge von Juſtizminiſtern
und Juriſtenfacultäten eine Geſchwornenliſte von völkerrechtlich gebildeten
Männern gebildet werden, aus der im einzelnen Fall — etwa unter der
formellen Leitung eines neutralen Statshaupts (Fürſten oder Präſidenten)
als Richters, die Urtheiler bezeichnet würden.


Man ſieht, auf dieſem Gebiete ſucht man noch taſtend nach fried-
lichen Rechtsmitteln.


Kriegsrecht.


Recht gegen die Feinde.
Die Staten ſind Feinde, nicht die Privaten
.


Seine herrlichſten Siege hat der humane Geiſt des modernen Völker-
rechts gerade da erfochten, wo dem Rechte gewöhnlich die geringſte Macht
[31]Einleitung.
zugeſchrieben wird. Im Kriege nämlich tritt die maſſive Gewalt wider
die Gewalt in den Kampf und die feindlichen Leidenſchaften ringen mit
einander auf Leben und Tod. Eben in dieſem wilden Stadium des
Völkerſtreites gilt es vor allen Dingen, die civiliſatoriſche Macht des
Völkerrechts zu zeigen. In der That, ſie hat ſich in der Ausbildung
eines civiliſirten Kriegsrechts, durch welches die alte barbariſche Kriegs-
ſitte großentheils verdrängt und unterſagt wird, glänzend bewährt. Die
Kriege ſind menſchlicher, geſitteter, milder geworden, und nicht blos that-
ſächlich durch die veredelte Kriegsübung, ſondern ebenſo rechtlich durch die
Vervollkommnung des Völkerrechts.


Die alten Völker betrachteten die Feinde, mit denen ſie im Kriege
waren, als rechtloſe Weſen und hielten Alles gegen ſie für erlaubt. Dem
heutigen Rechtsbewußtſein iſt es klar, daß die Menſchenrechte auch im
Kriege
zu beachten ſind, weil die Feinde nicht aufgehört haben, Menſchen
zu ſein.


Bis auf die neueſte Zeit dehnte man überdem den Begriff des
Feindes ungebührlich aus und behandelte höchſtens aus ſittlichen oder
politiſchen Rückſichten, aber keineswegs aus Rechtsgründen, die unkriegeriſche
Bevölkerung des ſeindlichen States mit einiger Schonung. Noch Hugo
de Groot und Pufendorf betrachten es als hergebrachte, auf dem Con-
ſens der Völker beruhende Rechtsſätze, daß alle Statsangehörigen der
beiden Kriegsparteien, alſo auch die Weiber, die Kinder, die Greiſe, die
Kranken Feinde und daß die Feinde als ſolche der Willkür des
Siegers
unterworfen ſeien.


Erſt die ſchärfere Unterſcheidung des heutigen Rechtsbewußtſeins hat
den Grundgedanken klar gemacht, daß der Krieg ein Rechtsſtreit der
Staten
, beziehungsweiſe politiſcher Mächte und keineswegs ein Streit
zwiſchen Privaten
oder mit Privaten ſei. Dieſer Unterſchied, den
die Wiſſenſchaft erſt begriff, als ihn zuvor die Praxis thatſächlich beachtet
hatte, zieht eine Reihe der wichtigſten Folgerungen nach ſich.


Jedes Individuum nämlich ſteht in einem Doppelverhältniß. Ein-
mal iſt es ein Weſen für ſich, d. h. eine Privatperſon. Als ſolche hat
es einen Anſpruch auf einen weiten Kreis von perſönlichen Familien- und
Vermögensrechten, mit Einem Wort auf ſein Privatrecht. Da nun der
Krieg nicht gegen die Privaten geführt wird, ſo giebt es auch keinen
Rechtsgrund, nach welchem das Privatrecht im Kriege untergehen oder der
Willkür des Feindes bloßgeſtellt werden ſollte.


[32]Einleitung.

Sodann iſt jedes Individuum ein Glied und Angehöriger einer
Statsgemeinſchaft. Inſofern iſt es allerdings mitbetheiligt bei dem
Streite ſeines Stats. Das Schickſal des Vaterlandes iſt den Kindern des
Landes nicht fremd. Sie nehmen Theil an den Erfolgen und an den
Leiden des States, dem ſie angehören. Sie ſind auch durch ihre Bürger-
pflicht verbunden, dem State in der Gefahr Beiſtand zu leiſten mit Gut
und Blut. In dem ganzen Bereich des öffentlichen Rechts ſind alle
Statsangehörigen dem State verpflichtet.


Aus dieſer Unterſcheidung ergeben ſich folgende Hauptſätze des mo-
dernen Völkerrechts: Die Individuen ſind als Privatperſonen
keine Feinde, als Statsangehörige ſind ſie betheiligt bei der
Feindſchaft der Staten
. So weit das Privatrecht maßgebend iſt,
dauert alſo das Friedensverhältniß und das Friedensrecht fort. So
weit das öffentliche Recht entſcheidet, iſt das Feindesverhältniß ein-
getreten und wirkt das Kriegsrecht.


In Folge dieſer Grundſätze ſind die Gefahren, welche der Krieg
über die friedliche Bevölkerung herbei zieht, ſehr viel geringer geworden.


Im Alterthum waren auch die wehrloſen Perſonen, die Frauen und
Kinder, in ſtäter Gefahr, von den feindlichen Kriegern mißhandelt, zu
Sclaven gemacht und verkauft oder getödtet zu werden. Der politiſche
Verſtand der Römer hielt dieſelben in den meiſten Kriegen ab, von dieſem
vermeintlichen Recht einen ausgedehnten Gebrauch zu machen, denn ſie
wollten die Völker beherrſchen, nicht vertilgen; aber die römiſchen Rechts-
gelehrten hatten nicht den geringſten Zweifel an dem Rechte zu ſolchen
Handlungen. Nur die Götter und ihre Tempel gewährten einigen Schutz
vor der Rohheit und dem Blutdurſt der ſtürmenden Krieger; aber auch
dieſer Schutz war unſicher und auf ſehr enge Gränzen beſchränkt.


Auch im Mittelalter gab es keine ſchützende Rechtsregel. Die eigent-
liche Sclaverei war nicht mehr in den Sitten, außer etwa zum Nach-
theil kriegsgefangener Muhammedaner. Aber die Rohheit war größer als
in dem civiliſirteren Römerreiche. Auch friedliche Leute waren der äußerſten
Gewaltthat und ſelbſt dem Tode ausgeſetzt, wenn der Feind mit Kriegs-
gewalt ihr Land überzog. Der dreißigjährige Krieg noch iſt mit allen
Gräueln ſoldatiſcher Barbarei befleckt.


Der humane Groot wagt es noch nicht, ſolcher Miſſethat das
Brandmal der völkerrechtlichen Verurtheilung aufzudrücken. Im Gegen-
theil, er erkennt noch die völkerrechtliche Erlaubniß dazu an und mißbilligt
[33]Einleitung.
dieſe Barberei nur aus moraliſchen und vernünftigen Gründen. Die ein-
zige völkerrechtliche Schranke findet er in dem Verbot, die Frauen zu miß-
brauchen, zu welchem endlich das chriſtliche Völkerrecht ſich entſchloſſen habe.


Das heutige Völkerrecht verwirft den Gedanken einer abſoluten Will-
kürgewalt über die Privatperſonen vollſtändig und geſtattet weder Miß-
handlung noch Beleidigung, am wenigſten Tödtung derſelben. Das Recht
der perſönlichen Sicherheit, der Ehre, der Freiheit iſt Privatrecht und
dieſes bleibt im Kriege unverſehrt. Die feindliche Kriegsgewalt iſt nur zu
den Maßregeln befugt, welche zu Statszwecken dienen und im Intereſſe
der Kriegsführung liegen. Sie kann die freie Bewegung der Privaten
hemmen, den Privatverkehr unterbrechen, Straßen und Plätze abſperren,
die Einwohner entwaffnen u. ſ. f. Wie das Privatrecht ſich dem ge-
waltigeren Rechte der Geſammtheit, d. h. dem Statsrecht auch im Frieden
unterordnen muß, aber doch nicht von dem öffentlichen Rechte aufgehoben
und verſchlungen werden darf, ſo legt das öffentliche Kriegsrecht ſeine noth-
wendigen Gebote auch den Privaten auf, aber es erkennt zugleich das
Privatrecht an. Die allgemeine Noth und Gefahr, welche der Krieg auch
über die Privaten verhängt, iſt ohnehin groß und ſchadet genug; die un-
vermeidlichen Leiden der Bevölkerung dürfen daher nicht grund- und zweck-
los durch vermeidliche Uebel vergrößert und erſchwert werden. Freilich
wird auch jetzt noch die Rechtsregel in der Praxis nicht immer genau be-
folgt, und mancherlei Ungebühr wird noch ſtraflos im Kriege gegen Pri-
vaten verübt. Aber im Großen und Ganzen iſt es wahr, daß die fried-
lichen Bewohner einer Stadt oder ſelbſt eines Dorfes und einzelner Höfe
dem Gang der Kriegsereigniſſe mit weit mehr Ruhe entgegenſehen dürfen,
als in irgend einer früheren Periode der Geſchichte. Es iſt ein großes
Verdienſt Vattel’s, daß er zuerſt der humaner werdenden Kriegsübung
der ſtehenden Heere auch einen völkerrechtlichen Ausdruck gegeben und durch
ſeine klare Darſtellung des neueren Völkerrechts gerechtere Grundſätze
populär gemacht hat.


In einer andern Lage freilich ſind diejenigen Perſonen, welche an
der Kriegsführung
ſelbſt einen thätigen Antheil nehmen, voraus das
Heer und wer ſonſt mit den Waffen oder durch perſönliche Dienſte den
Kampf unterſtützt. Nach der ältern wiederum barbariſchen Theorie ſprach
man hier von einem Recht der Kriegsgewalt über Leben und Tod
ihrer activen Feinde. Das humane Völkerrecht von heute verwirft auch
dieſes angebliche Recht der Gewalt als grundlos.


Bluntſchli, Das Völkerrecht. 3
[34]Einleitung.

Allerdings wer an dem Kampfe Theil nimmt, freiwillig oder ge-
zwungen, der iſt den Gefahren des Kampfes Preis gegeben und dieſer
Kampf wird auf Leben und Tod geführt. So weit das natürliche Recht
des Kampfes reicht, ſo weit muß auch das Recht gehen, den kämpfenden
Feind zu tödten, aber nicht weiter. Jenes Recht aber iſt bedingt durch
die rechtliche Bedeutung und begränzt durch den Zweck des Kriegs. Nie-
mals darf der Krieg mit ſeiner furchtbaren Gewalt ſelber Zweck ſein. Er
iſt immer nur ſtatliche Rechtshülfe und ein Mittel für Statszwecke. Des-
halb iſt die Kriegsgewalt keine abſolute. Sie findet demnach von Rechts
wegen ihre Gränze und ihr Ende, wo ſie nicht mehr dem Statszweck
dient.


Es iſt daher erlaubt, den Feind, der Widerſtand leiſtet, mit tödt-
lichen Geſchoſſen zum Weichen zu nöthigen, erlaubt, den bewehrten Gegner
im Einzelkampfe zu tödten, erlaubt, den fliehenden Feind zu verfolgen,
weil das Alles nöthig iſt, um den Sieg zu erſtreiten und zu ſichern. Aber
es iſt nicht erlaubt, den Feind, der ſeine Waffen ablegt und ſich ergiebt,
oder der verwundet auf dem Schlachtfelde liegt und unfähig iſt, den
Kampf fortzuſetzen, und nicht erlaubt, die Aerzte, Feldgeiſtlichen und andere
Nichtkämpfer einzeln zu tödten, weil das nicht nöthig iſt, um den Sieg
zu gewinnen, die unzweckmäßige Tödtung aber rohe Grauſamkeit wäre.
Die kriegeriſche Gewalt darf nicht dem zügelloſen Haſſe und wilder Rach-
ſucht dienen, denn ſie iſt Rechtshülfe und Statsgewalt. Dies Gebot der
Menſchlichkeit darf auch nicht von der aufgeregten Wuth der kriegeriſchen
Leidenſchaft überhört werden. Der militäriſche Befehl, „keinen Pardon zu
geben und Alles niederzumachen“, iſt eine völkerrechtswidrige Barbarei und
wird nur als Repreſſalie noch und zur Abwendung eigener äußerſter
Lebensgefahr zugelaſſen. Auch hier iſt es wieder Vattel, welcher die
humaneren Grundſätze des neuen Völkerrechts zuerſt mit Erfolg vertheidigt
hat. Um dieſes Verdienſtes willen um die Civiliſation gebührt ihm eine
hohe Stelle unter den Lehrern und Förderern des Völkerrechts.


Mit großem Nachdruck und Eifer für militäriſche Ehre beſtreitet er
auch den abſurden Satz der früheren Schriftſteller, daß man dem hart-
näckigen Vertheidiger eines feſten Platzes den Tod als Strafe drohen dürfe,
wenn er denſelben nicht übergebe. Die Tapferkeit des Feindes wird nie-
mals ein ſtrafwürdiges Verbrechen, auch nicht, wenn ſie eine vielleicht un-
haltbare Stellung zu behaupten ſucht. Während des Kampfes iſt Schonung
nicht am Platze und, wer ſein eigenes Leben einſetzt, mit dem darf man
[35]Einleitung.
nicht rechten, wenn er das Leben ſeines Feindes angreift. Die hartnäckigſte
Vertheidigung kann dazu dienen, dem übermächtigen Feinde Achtung abzu-
nöthigen und beſſere Friedensbedingungen zu erzielen. Zur Strafe darf
der Sieger nur die tödten, welche ein ſtrafbares Verbrechen begangen
haben, z. B. die Seeräuber, die Spione oder Marodeurs. Aber dieſe Art
der Tödtung ſetzt ein ſtrafgerichtliches Verfahren voraus, wenn auch viel-
leicht das ſummariſche des Standrechts. Das iſt nicht mehr Kampfes-
recht, ſondern Strafrecht.


Auch das Recht, die Angehörigen des feindlichen States, vorzüglich
die bei der Kriegsführung Betheiligten zu Kriegsgefangenen zu machen,
iſt durch den Zweck des Kriegs begränzt und darf nur als ein Mittel
zum endlichen Frieden benutzt werden. Die Kriegsgefangenſchaft der
neueren Zeit iſt nicht mehr, wie die antike, eine zeitige Sclaverei. Die
Grundſätze, welche Preußen und die Vereinigten Staten in einem Vertrag
von 1785 anerkannt haben, ſind nach und nach allgemeines Recht ge-
worden. Die Kriegsgefangenen dürfen nicht als Verbrecher, nicht als
Züchtlinge behandelt werden. Sie werden nicht zur Strafe, ſondern der
Sicherheit wegen und um den Feind eher zum Frieden zu nöthigen, in
ihrer Freiheit beſchränkt und verwahrt. Sie dürfen daher nicht miß-
handelt und gequält, noch zu Arbeiten angehalten werden, welche ihrer
Lebensſtellung nicht angemeſſen ſind, auch dann nicht, wenn man von
ihnen fordern kann, daß ſie ihren Lebensunterhalt mit ihrer Arbeit ver-
dienen. Sogar ihre Bewegung und ihre Beſchäftigung ſind nicht mehr zu
beſchränken, als es das Intereſſe der Sicherheit fordert. Die heutige Sitte
verlangt ſogar, daß die kriegsgefangenen Officiere auf ihr Ehrenwort in
relativer Freiheit gelaſſen werden. Nur wenn ſie dieſelbe mißbrauchen zu
ſtatsfeindlichen Zwecken oder Fluchtverſuche machen, ſind ſie ſtrenger zu be-
wachen. So lange nicht die Sicherheit und die gute Ordnung darunter
leiden, ſind auch den Kriegsgefangenen unbedenklich diejenigen Genüſſe zu
verſtatten, für welche ſie auf eigene Koſten ſorgen oder die ihnen von
ihren Landsleuten und Freunden ermöglicht werden.


Mit edler Sorge nimmt ſich das heutige Völkerrecht auch der ver-
wundeten
Feinde an. Die Beſchlüſſe des internationalen Congreſſes zu
Genf im Auguſt 1864, welcher auf Einladung der Schweiz von einer
großen Anzahl von Staten beſchickt wurde, erkennen den Rechtsgrundſatz
an, daß die ärztliche Sorge, welche den eigenen Verwundeten zu Theil
wird, auch auf die verwundeten Feinde in weſentlich gleicher Weiſe aus-
3*
[36]Einleitung.
gedehnt werden ſolle. So ward das chriſtliche Princip der Feindesliebe in
die bindende Form des Menſchen- und Völkerrechts überſetzt.


Feindliches Vermögen im Landkriege.


Nicht minder groß ſind die Fortſchritte, welche das neuere Völkerrecht
in der Anerkennung und dem Schutze des feindlichen Vermögens gemacht
hat. Freilich beſteht hier noch zwiſchen Land- und Seekrieg ein be-
deutender Unterſchied. In jenem iſt die alte Barbarei früher und voll-
ſtändiger überwunden worden, als in dieſem.


Die antiken Völker, welche den Feind als rechtlos anſahen, betrach-
teten auch das Vermögen aller derer, die ſie Feinde nannten, als einen
Gegenſtand freier Beſitz- und Wegnahme. Das Grundeigenthum der Feinde
verfiel dem ſiegreichen Stat, ihre Habe ward von den Truppen erbeutet
und dem Feldherrn überliefert, welcher über die Vertheilung frei verfügte.
Keine Rechtsvorſchrift hinderte das Heer, die Häuſer der Feinde abzubrennen
und ihre Pflanzungen zu verwüſten. Die Sitte war freilich oft menſch-
licher als das Recht und die Politik ſchonte oft, wo das Recht Zerſtörung
und Raub geſtattete. Aber in vielen Fällen zeigte ſich auch die wilde
Rohheit eines barbariſchen Kriegsrechts in ihrer ſcheußlichen Geſtalt, ohne
Maß und ohne Scham.


Nicht viel anders war es im Mittelalter. Die damaligen Fehden
waren weniger blutig als die antiken Schlachten, aber um ſo verderblicher
für das Eigenthum und den Wohlſtand der betroffenen Gegenden. Das
Grundeigenthum blieb zwar meiſtens unverändert, aber die Dörfer wurden
niedergebrannt, die Burgen gebrochen, die Bäume umgehauen, das Vieh
weggeführt, die Habe der friedlichen Leute als gute Beute geraubt.


Auch hier bewährt jener Grundſatz des heutigen Rechts, daß der
Krieg gegen den Stat und nicht gegen die Privaten geführt werde, ſeine
heilſame Wirkung.


Wir unterſcheiden nun zwiſchen öffentlichem Vermögen und
Privatgut. Das öffentliche Vermögen, welches dem feindlichen State
gehört, darf im Kriege angegriffen und von dem Sieger weggenommen
werden. Voraus bemächtigt ſich die Kriegsgewalt aller der Sachen des
Feindes, welche Bezug auf die Kriegsführung ſelber haben, der Waffen,
der öffentlichen Magazine und Vorräthe, der Kriegscaſſe, denn voraus iſt
die Kriegsgewalt berechtigt, dem Feinde die Mittel zu entwinden, mit denen
derſelbe Krieg führt und Widerſtand leiſtet. Ferner ergreift ſie, indem ſie
[37]Einleitung.
in feindlichem State fortſchreitet, die Zügel der Statsgewalt und nimmt
mit Recht die öffentliche Autorität einſtweilen für ſich in Anſpruch. Sie
verfügt daher über die öffentlichen Gebäude, nimmt die Finanzgefälle aller
Art in ihre Hand, und erſtreckt ihre Hand über die öffentlichen Caſſen;
denn es dient das, den feindlichen Stat zu überwinden und zum Frieden
zu zwingen.


Indeſſen ſogar innerhalb des öffentlichen Vermögens beginnt die civi-
liſirte Welt feiner zu empfinden und wichtige Unterſcheidungen zu machen.
Nicht alles öffentliche Gut dient in gleicher Weiſe dem State und daher
auch ſchließlich ſeiner Kriegsmacht. Viele öffentliche Anſtalten dienen mit
ihrem Vermögen andern, eher ſocialen Zwecken. Die Kirchen ſind den
religiöſen Bedürfniſſen der Bewohner geweiht. Die Spitäler ſind für
Kranke beſtimmt. Die Schulen, die Bibliotheken, die Laboratorien, die
Sammlungen ſind für die Zwecke der Bildung und der Wiſſenſchaft ge-
gründet. Eben deshalb ſind ſie, wie die Amerikaniſchen Kriegsvorſchriften
es ausdrücken (§ 34), nicht im Sinne des Kriegsrechts als öffentliches Ver-
mögen zu betrachten und ſollen ihren Zwecken nicht entfremdet werden.
Der Raub von Kunſtſchätzen und Denkmälern, noch in den Revolutions-
kriegen zu Anfang dieſes Jahrhunderts oft geübt, erſcheint dem öffentlichen
Gewiſſen bereits als anſtößig und widerrechtlich, weil dieſe Dinge keinen
nahen Bezug auf den Stat und den Krieg haben, ſondern der friedlichen
Cultur der bleibenden Nation dienen.


Wenn das heutige Völkerrecht ſogar einen Theil der öffentlichen
Güter vor den Griffen des Siegers bewahrt, ſo verſteht ſich der Schutz
des Privateigenthums nun von ſelbſt. Ein Recht des Siegers, das
Grundeigenthum den Privaten wegzunehmen und ſich anzueignen,
wird nicht mehr anerkannt. Die Eroberung iſt ein Act der Statsgewalt,
und läßt das Privateigenthum unverſehrt. Der Pariſer Caſſationshof hat
daher mit gutem Grunde entſchieden, daß ſelbſt die fürſtlichen Privat-
güter kein Gegenſtand der Eroberung ſeien und daß nur die Güter, welche
dem Fürſten als Statshaupt zugehören, von dem ſiegenden Feinde weg-
genommen werden dürfen. Das Privateigenthum iſt alſo nur inſofern der
Kriegsgewalt unterworfen, als es auch der Statsgewalt unterworfen bleibt.
Die Grundeigenthümer müſſen ſich gefallen laſſen, daß das Heer, ſoweit
die Kriegsoperationen es nöthig machen, vorübergehend ihre Häuſer und
Güter beſetze; aber ſobald das kriegeriſche Nothrecht mit der Noth ſelbſt
erliſcht, tritt auch die Regel des freien Eigenthums von ſelber wieder in Kraft.


[38]Einleitung.

Endlich hat das gereiftere Rechtsbewußtſein der civiliſirten Welt es
eingeſehen, daß auch jenes angebliche Beuterecht im Krieg, trotz der
zahlreichen und ehrwürdigen Autoritäten der römiſchen Rechtswiſſenſchaft
und der mittelalterlichen Rechte, eitel Unrecht ſei und ſich mit einer
geſicherten Weltordnung durchaus nicht vertrage. Es iſt beſchämend für
unſere Wiſſenſchaft, daß ſie in dieſer wichtigen Frage nicht eher die Wahr-
heit erkannt hat, als bis ihr die veredelte Kriegsführung der heutigen Staten
durch die thatſächliche Mißbilligung und durch das militäriſche Verbot aller
Beutemacherei vorausgegangen iſt. Während die Gelehrten ſich noch immer
durch die alten Autoritäten täuſchen ließen, arbeiteten die Generale mit
eiſerner Disciplin an der Abſchaffung jenes offenbaren Raubs, den man
vergeblich ſich bemüht, als Recht auszugeben. Worauf denn ſollte ſich
dieſes angebliche Beuterecht gründen? Etwa auf den alten Wahn, daß der
Feind ein rechtloſes Weſen ſei? Aber der Feind iſt ein Menſch und jeder
Menſch ein Rechtsweſen. Oder auf die Vorſtellung, daß im Kriege die
Gewalt herrſche? Aber es iſt ja der Beruf des Völkerrechts, auch die
Kriegsgewalt mit den Zügeln des Rechts zu bändigen. Oder auf den
Gedanken, daß dem Feinde zu ſchaden natürliches Kriegsrecht ſei? Aber
die Privatperſonen ſind als ſolche nicht Feinde, und das Privateigenthum
darf daher nicht willkürlich geſchädigt werden. Oder auf die Uebereinſtim-
mung der Völker? Aber die civiliſirteſten Völker verwerfen das Beuterecht
als Raubrecht.


So entſchieden hat ſich die civiliſirte Kriegsführung in unſern Tagen
von der alten Barbarei losgeſagt, daß ſogar die Lebensmittel, deren das
Heer in feindlichem Lande bedarf, regelmäßig eingekauft und baar bezahlt
werden. Die ſcheußliche Maxime, nicht etwa nur des dreißigjährigen Kriegs,
ſondern noch der Revolutionskriege zu Ende des vorigen und zu Anfang
des jetzigen Jahrhunderts, daß der Krieg ſich ſelber ernähren müſſe und daß
daher die Heere in Feindesland auf Koſten der friedlichen Bewohner leben
dürfen, wird heute von der öffentlichen Meinung als Barbarei gebrandmarkt.
In der Noth freilich, wenn ausreichende Lebensmittel und andere unent-
behrliche Sachen in ordentlicher Verkehrsform nicht zu erwerben ſind, viel-
leicht weil die Einwohner ſie nicht dem Heere verkaufen wollen, oder die
Lieferungen zurück bleiben, dann kann es dem Truppenkörper nicht ver-
wehrt werden, auch mit Gewalt ſich die Dinge anzueignen, ohne die er
nicht leben und ſeine Beſtimmung erfüllen kann; denn niemals kann die
öffentliche Gewalt ihre Exiſtenz dem Privatrechte zum Opfer bringen, viel-
[39]Einleitung.
mehr muß dieſes der Noth des States weichen. Aber ſogar in dieſem
äußerſten Falle erkennt die heutige Kriegsgewalt, ſoweit nicht das Recht
zur Beſteuerung oder das Recht auf Kriegslaſten (Fuhrwerke, Einquar-
tirung) die Forderung unentgeltlicher (wenigſtens vorläufig unentgeltlicher)
Leiſtungen rechtfertigt, die Pflicht ſchatzungsgemäßer Entſchädigung an, und
zieht die geordnete Auferlegung von Contributionen auch der aus Noth
erlaubten Marode entſchieden vor.


Am wenigſten iſt es den Kriegsleuten geſtattet, die Hauswirthe, bei
denen ſie einquartirt werden, zu beſchädigen und zu beſtehlen. Wo der-
gleichen Unfug und Unrecht noch gelegentlich vorkommt und, ſei es aus
Rachſucht oder aus Gewinnſucht, auch von den Officieren noch geduldet
wird, da geſchieht dies nicht mehr im Sinne ſondern mit Widerſpruch des
heutigen Kriegsrechts. Die Ehre einer disciplinirten Armee und der
civiliſirten Kriegsführung fordert ſtrenge Beſtrafung ſolcher Mißbräuche und
Miſſethaten.


Nur ganz ausnahmsweiſe wird im heutigen Landkriege noch die
Beute geſtattet. Die Kriegsrüſtung insbeſondere der bewehrten Feinde,
ihre Waffen und Pferde ſind heute noch Gegenſtand erlaubter Beute, weil
vor der nahen Beziehung dieſer Sachen zur Kampfesführung die Rückſicht
auf das Privateigenthum zurück tritt. Dieſe Sachen dienen dem Krieg
und verfallen deshalb dem Sieger. Dagegen gilt es bereits als unwürdig
und dem civiliſirten Kriegsrechte nicht mehr entſprechend, dem beſiegten
Gegner ſein Geld oder ſeine Kleinode wegzunehmen. Auch der Kriegs-
gefangene bleibt Privateigenthümer. Nur wenn ein Officier große Geld-
ſummen mit ſich führt, ſo werden dieſe nicht als Privatgut, ſondern als
Kriegsmittel und Kriegsgut betrachtet.


Ebenſo wird dem Sieger gewöhnlich noch verſtattet, dem todt auf
dem Schlachtfeld gebliebenen Feinde die Habe wegzunehmen, die er zurück-
läßt. Die völlige Unſicherheit dieſer Verlaſſenſchaft läßt die Wegnahme
in milderem Lichte erſcheinen. Indeſſen der ehrenhafte Sieger wird ſolche
Sachen doch nur inſofern behalten, als er die rechtmäßigen Erben nicht
kennt, und ſie herausgeben, ſobald Jemand ein beſſeres Recht daran nach-
weiſt. Die heimliche Marode aber den Schlachtfeldern nachſchleichender
Diebe wird nicht mehr geduldet, ſondern als ein ſchweres Verbrechen
beſtraft.


Zuweilen vertheidigt man noch heute die Erlaubniß zur Plünderung
eines hartnäckig vertheidigten Platzes, mit dem Bedürfniß der Kriegsfüh-
[40]Einleitung.
rung, die Angreifer durch die Ausſicht auf Gewinn zum Sturme zu er-
muthigen. Indeſſen iſt das nur die alte Barbarei, welche verſucht, ſich in
dieſem letzten Schlupfwinkel noch eine Zeit lang wider die beſſere Rechts-
ordnung zu halten. Ganz mit denſelben ſchlechten Gründen hatte man
vordem den Stürmenden auch die Frauen in dem eroberten Platze Preis
gegeben. Was ſeiner Natur nach ſchändliches Unrecht iſt, das darf auch
nicht als Belohnung verſprochen und nicht als ein Mittel benutzt werden,
um den Pflichteifer leidenſchaftlich aufzuregen.


Feindliches Vermögen im Seekrieg.


Viel zäher hat die alte Barbarei im Seekrieg der Aufnahme neuer,
das Privateigenthum auch im Kriege ſchützender Grundſätze widerſtanden.
Sie iſt hier vorzüglich von einem State vertheidigt worden, der in anderer
Hinſicht ſich unläugbare Verdienſte um die Ausbildung eines humaneren
Völkerrechts erworben hat, nämlich von England, der größten modernen
Seemacht.


Die engliſchen Staatsmänner und Rechtsgelehrten voraus behaupteten,
das Beuterecht, das im Landkriege beſſer aufgegeben werde, ſei für den
Seekrieg nicht zu entbehren. Sie wieſen darauf hin, daß die Landmächte
in der Beſitznahme und Eroberung des feindlichen Landes ein eingreifendes
und wirkſames Zwangsmittel beſitzen, um den feindlichen Stat zur Aner-
kennung ihrer Rechtsanſprüche und Forderungen zu nöthigen, daß aber die
Seemächte dieſes Zwangsmittels entbehren, weil ihre Macht auf die See
und die Seeküſten beſchränkt ſei. Sie gründeten auf dieſen Unterſchied
die Nothwendigkeit für die Seeſtaten, nach einem andern Zwangsmittel zu
greifen, und als ſolches, meinten ſie, biete ſich nur die Unterdrückung des
Seehandels und die Wegnahme der feindlichen Schiffe und Kaufwaaren
an. Allein niemals kann die Schwäche der rechtmäßigen Kriegsmittel ein
Grund ſein, um die Zuläſſigkeit unrechtmäßiger Kriegsmittel zu rechtfer-
tigen. So wenig der Finanzmann, dem es nicht gelungen iſt, ein Dar-
lehen abzuſchließen, die leeren Statscaſſen dadurch füllen darf, daß er den
Reichen all ihr Geld wegnehmen läßt, ſo wenig darf der Kriegsmann des-
halb das Privatgut zur See berauben, weil die Kanonen ſeiner Schiffe
nicht ins Innere des Landes wirken. Die Kaufleute des feindlichen States
ſind als ſolche keine Feinde, weder der Seemacht noch der Landmacht gegen-
über; und wenn dieſe genöthigt iſt, ihr Privatrecht zu achten, ſo liegt der
Seemacht ganz dieſelbe Pflicht ob aus ganz denſelben Gründen. Die frü-
[41]Einleitung.
here Barbarei im Landkrieg wurde ganz ebenſo damit vertheidigt, daß die
Schädigung der Feinde ein unentbehrliches Mittel ſei, um den Feind zur
Nachgiebigkeit zu zwingen. Man hat dieſelbe abgeſchafft, weil man das
Unrecht und die Verderblichkeit dieſes Kriegsmittels erkannt hat. Dieſelbe
Einſicht wird endlich auch das Beuterecht im Seekrieg als einen Flecken
der heutigen Weltordnung erkennen laſſen und dieſelbe davon reinigen helfen.


Vor einem Menſchenalter ſtand es freilich noch ſchlimmer als gegen-
wärtig. Sowohl die Schiffe der feindlichen Nation ſammt ihrer Ladung
als die feindlichen Kaufgüter, ſelbſt wenn ſie auf neutralen Schiffen ver-
führt wurden, ſchienen ein offener Gegenſtand der Seebeute zu ſein, ob-
wohl ſie nicht im Eigenthum des Staates waren, mit welchem Krieg ge-
führt wurde, ſondern der Privaten, gegen welche nicht Krieg geführt ward.
Man bedachte nicht einmal, daß die Enteignung dieſer als gute Priſe weg-
genommenen Privatgüter ſogar die Gränzen eines Zwangsmittels gegen
den Feind überſchreite, indem ſie nicht wie die Beſchlagnahme für die For-
derungen ein Unterpfand ſchafft, ſondern über den Frieden hinaus wirkt
und das Recht friedlicher Privaten völlig aufzehrt.


Indeſſen einige, freilich noch nicht genügende, Fortſchritte ſind gemacht
worden, um auch das Seekriegsrecht zu civiliſiren.


Es verdienen vorzüglich folgende Maßregeln Erwähnung:


1. Die endliche Mißbilligung und Abſchaffung der Kaperei. Nach
der früheren räuberiſchen Praxis begnügten ſich die Seemächte nicht da-
mit, durch ihre Kriegsmarine den Seehandel zu behindern und die Rheder
und Kaufleute der feindlichen Nation nach Kräften zu ſchädigen. Sie
riefen ſogar die Raubluſt der Privatunternehmer zu Hülfe und ermächtig-
ten dieſelben, mit ihren Kaperſchiffen auf Beute auszulaufen. Es war
das ein von Stats wegen in Kriegszeiten autoriſirter Seeraub. Ver-
geblich hatten ſich im vorigen Jahrhundert philanthropiſche Männer, wie
Franklin, gegen dieſe ſchmachvolle Unſitte erklärt. Auch ein Staatsver-
trag zwiſchen den Vereinigten Staaten von Nordamerika und Preußen
vom Jahr 1785, worin beide Mächte verſprachen, niemals Kaperbriefe
wider einander auszuſtellen, blieb ohne allgemeine Nachfolge. Während
der Napoleoniſchen Kriege noch waren die franzöſiſchen Kauffahrer aus
allen Meeren von den Engländern weggefegt worden und franzöſiſche
Waaren nirgends vor der engliſchen Confiscation ſicher, ſo weit die eng-
liſche Seemacht reichte. Die Continentalſperre, welche der Kaiſer Napoleon
gegen England in Europa anordnete, war nur Wiedervergeltung, aber
[42]Einleitung.
nicht wirkſam genug, um von England den Verzicht auf die Seebeute zu
erzwingen.


Endlich haben ſich auf dem Pariſer Congreß vom Jahr 1856 die
verſammelten Mächte zu dem wichtigen Satze des heutigen europäiſchen
Völkerrechts geeinigt: „Die Kaperei iſt abgeſchafft“. Leider iſt der-
ſelbe durch den Widerſpruch der Vereinigten Staten noch nicht allgemein
anerkanntes Recht geworden. Die Weigerung Nordamerikas zuzuſtimmen
beruhte freilich auf einem Grunde, der an ſich volle Billigung verdient.
Der Präſident wollte nicht damit die Kaperei gutheißen, ſondern er erklärte
nur, daß die Abſchaffung derſelben für ſich allein und, ſo lange nicht auf
das verwerfliche Beuterecht zur See überhaupt verzichtet werde, eine unzu-
reichende und ſogar eine gefährliche Maßregel ſei. Es iſt wahr, die großen
Seemächte, welche über eine zahlreiche Kriegsmarine verfügen, bedürfen der
Beihülfe der Kaper nicht, und ihre Ueberlegenheit im Seekrieg über ſchwä-
chere Seeſtaten mit zahlreicher Handelsmarine aber wenig Kriegsſchiffen
wird dadurch eher vergrößert, weil nun die letztern Staten der vielleicht
nützlichen Hülfe von Kaperſchiffen, in die ſich die Kauffahrer verwandeln
können, entbehren müſſen. Indeſſen war jene Weigerung doch ein Fehler;
denn es iſt nicht recht, was man ſelbſt für Unrecht erklärt, deshalb feſtzu-
halten, weil daneben noch anderes Unrecht fortbeſteht, noch politiſch klug,
ein erreichbares minderes Gut nicht anzunehmen, weil ein größeres wünſch-
bares Gut noch nicht erlangt wird. Die Abſchaffung der Kaperei liegt auf
dem Wege zur Abſchaffung der Seebeute, ſie iſt nicht ein Hinderniß dieſer
Entwicklung.


2. Die Gefahr für die Kauffahrer iſt ferner durch die neuere Sitte
der kriegführenden Seemächte, eine ergiebige Friſt anzuſetzen, binnen wel-
cher die Schiffe der feindlichen Nation ungefährdet aus den Häfen des
Krieg drohenden States auslaufen und ſich mit ihrer Ladung nach einem
ſichern Hafen flüchten können, erheblich ermäßigt worden. In dem Kriege
mit Rußland von 1854, 1855 haben die Weſtmächte England und Frank-
reich ein nachahmungswürdiges Beiſpiel der Art gegeben.


3. Ferner wurden auf dem Pariſer Congreß von 1856 zwei wich-
tige Geſetze in das Völkerrecht aufgenommen:


a)Die neutrale Flagge deckt die feindliche Waare, mit
einziger Ausnahme der Kriegscontrebande
.“ Da kein Staat auf
offenem Meere eine Gebietshoheit beſitzt, ſo iſt ſchon lange der völkerrecht-
liche Satz anerkannt, daß jedes Schiff auf offener See nur der Schutz-
[43]Einleitung.
hoheit und Statsgewalt ſeines eigenen Landes unterthan iſt. Die nationale
Flagge bezeichnet den Staat, dem das Schiff angehört. Es wird betrachtet
wie ein ſchwimmender Theil des betreffenden Staatsgebiets. Es war da-
her nur folgerichtig, das feindliche Privateigenthum in neutralen Schiffen
ebenſo zu achten, wie wenn es in dem neutralen Lande wäre. Der Krieg
darf das neutrale Gebiet nicht antaſten. Es iſt Friedensland. Die Kriegs-
contrebande macht deshalb eine Ausnahme, weil ſie der Kriegspartei als
ſolcher zu Kriegszwecken zugeführt wird. Im Uebrigen gilt nun der Satz:
„Frei Schiff, frei Gut“.


b) Ueberdem ſoll die „neutrale Waare“ auch auf feindlichem
Schiffe
gegen das Priſenrecht geſichert werden, d. h. das Beuterecht darf
nur auf feindliche Schiffe und auf Waaren der feindlichen Nation auf
feindlichen Schiffen angewendet werden. Auf „unfreiem Schiff“ kann es
alſo „freies Gut“ geben.


4. Endlich hat der Pariſer Congreß von 1856 auch das oft un-
mäßig geübte Blokaderecht durch die Bedingung beſchränkt, daß die Blo-
kade „wirkſam“ ſein müſſe, um anerkannt zu werden, d. h. die Seeſperre
gilt nur inſoweit, als die Seemacht, welche ſie im Kriege anordnet, dieſelbe
auch thatſächlich und mit fortgeſetztem Erfolg handhabt, alſo nicht, wenn
es ihr an den nöthigen Kriegsſchiffen mangelt, um die Ein- und Ausfahrt
in den blokirten Hafen durchweg zu verhindern.


Es ſind das Alles bedeutende Ermäßigungen des hergebrachten Raub-
rechtes der Seebeute. Aber ein wahrhaft civiliſirtes Seekriegsrecht wird
erſt dann vorhanden ſein, wenn die ganze Seebeute ebenſo im Princip
unterſagt wird, wie die Beute im Landkrieg, wenn Schiffe und Waaren
der friedlichen Rheder und Kaufleute zur See ebenſo ſicher ſind, wie die
Habe der Bewohner des Landes. Dieſe Fortbildung des Völkerrechts wird
nicht mehr lange ausbleiben. Auch die Seemächte, welche bisher der For-
derung des natürlichen Rechts keine Folge gegeben und der Macht der
Logik ſich nicht gefügt haben, werden ſchließlich der lauten Stimme der
eigenen Intereſſen Gehör geben. Das Beuterecht, das gegen die fremden
Schiffe und Waaren verübt wird, gefährdet und verletzt nicht blos das
Vermögen der feindlichen, ſondern ebenſo der eigenen Nation, denn Handel
und Verkehr ſind immer wechſelſeitig. Auch der Handel und der Credit
der eigenen Kaufleute leidet ſchwer in Folge dieſer barbariſchen Ueberſpan-
nung der Kriegsübel; und volle Sicherheit hat auch ihr eigenes Privat-
eigenthum erſt dann, wenn alles Privateigenthum geachtet wird. Seit den
[44]Einleitung.
Kriegen Englands mit Napoleon I. hat ſich auch in dieſer Hinſicht die
Welt ſehr verändert. Der engliſche Welthandel bedarf nun zu ſeiner
Sicherung kaum minder des völkerrechtlichen Schutzes, als der franzöſiſche,
oder nordamerikaniſche oder deutſche; denn ſo mächtig die engliſche Kriegs-
marine auch iſt, ſie wäre doch nicht im Stande, zugleich der feindlichen
Kriegsmarine zu begegnen und überall die engliſchen Kauffahrer zu ſchützen.
Wir dürfen daher wohl die Hoffnung hegen, daß die Vorſchläge, welche
Bremen im Jahre 1859 zum Schutz des friedlichen Welthandels gemacht
hat, ſchließlich auch die Billigung Englands finden und dann zum allge-
meinen Völkerrecht erhoben werden.


Die Neutralität.


Zum Schluſſe verdient noch die Ausbildung der Rechte und Pflich-
ten der neutralen Staten erwähnt zu werden, welche ſeit dem Ende des
vorigen Jahrhunderts ebenfalls manche Fortſchritte gemacht hat. Indem
das Recht der Neutralität wächſt, wird zugleich das Recht und die Gefahr
des Krieges eingeſchränkt. Die neutralen Staten umſchließen mit ihrem
friedlichem Gebiete das Kriegsgebiet. An ihren Gränzen bricht ſich die
Brandung der Kriegsfluth.


Es iſt überhaupt ein beachtenswerthes und preiswürdiges Beſtreben,
wie es ſich in dem neueſten Ruſſiſchen, dem Italieniſchen und dem Däni-
ſchen Kriege gezeigt hat, den Krieg möglichſt zu localiſiren, d. h. die
unvermeidliche Gewalt und die Uebel des Krieges auf ein möglichſt enges
Kriegsfeld einzugränzen. Die allmählich erſtarkte Neutralität hilft den
Krieg im Großen localiſiren. Dadurch wird die Welt vor einem allge-
meinen Weltbrand geſchützt und es wird die Macht des Friedens auch dem
Kriege gegenüber fortwährend bewährt. Die neutralen Staaten vertreten
das friedliche Regelrecht, ſetzen der Ausnahme des Kriegsrechts Schranken
und tragen überdem dazu bei, die Leiden des Kriegs zu mildern, indem
ſie den Verfolgten und Flüchtlingen eine friedliche Zuflucht eröffnen, und
den Krieg eher zu beendigen, indem ſie die Friedensunterhandlungen er-
leichtern und vermitteln.


Der Anſtoß, welchen die Ruſſiſche Kaiſerin KatharinaII. auf den
Rath ihres Kanzlers Panin in der ſogenannten „bewaffneten Neutralität“
von 1780 zum Schutz der neutralen Schiffahrt gegeben, und die Verab-
redungen, welche in derſelben Richtung im Jahre 1800 von den nordiſchen
Mächten Rußland, Preußen, Schweden und Dänemark getroffen wurden,
[45]Einleitung.
haben die Rechte der neutralen Schiffahrt in Kriegszeiten gekräftigt und
Grundſätze zuerſt vertheidigt, welche endlich auf dem Pariſer Congreß von
1856 allgemein gebilligt worden ſind. Noch beſtehen freilich über den
Begriff der unerlaubten Contrebande manche Zweifel, welche den Handel
unſicher machen; aber auch in Kriegszeiten und ſelbſt wenn der Verdacht
der Contrebande ſich erhebt, iſt doch das früher rückſichtslos geübte Durch-
ſuchungsrecht der feindlichen Kriegsſchiffe gegenüber den neutralen Handels-
ſchiffen, ſorgfältiger begränzt worden. So lange freilich noch die Kriegs-
partei allein die Priſengerichte beſtellt, welche darüber erkennen, ob ein
weggenommenes neutrales Schiff Contrebande geführt habe oder die recht-
mäßige Blokade in unerlaubter Weiſe habe brechen wollen, ſo lange ſind
die Garantien für eine unparteiiſche Rechtspflege noch gering. Zwar ſind
die Priſengerichte in neuerer Zeit etwas unbefangener geworden als früher,
ſie vermuthen nicht mehr wie ehedem ſo leichtſinnig oder leidenſchaftlich
für die Schuld des eingebrachten Schiffes, ſie ſind geneigter worden, auch
die Vertheidigung zu hören und zu würdigen, die Freiſprechungen ſind
weniger ſelten geworden. Aber der Grundcharakter eines ausſchließlich von
der Partei geſetzten und beſetzten Gerichtshofs wird heute noch feſtgehalten
und deshalb können die Neutralen dieſe Handhabung der Rechtspflege noch
nicht mit Vertrauen betrachten.


Indeſſen den Rechten der Neutralen entſprechen auch Pflichten. In-
dem die Neutralen verlangen, daß ſie von den Folgen und Wirkungen des
Kriegs möglichſt wenig betroffen werden und daß die Kriegsgewalt der Feinde
vor ihrer friedlichen Haltung rückſichtsvoll vorbei gehe, ſo dürfen ſie auch
ihrerſeits nicht an der Kriegführung ſich betheiligen. Die neutralen Staten
dürfen nicht kriegen helfen, wenn ſie in ihrer friedlichen Neutralität geach-
tet bleiben wollen. Wer den Feind im Kriege und zum Kriege unterſtützt,
der hört auf, neutral zu ſein, denn neutral ſein heißt auf keiner der
beiden Seiten Theilnehmer am Kriege ſein
.


Auf die Ausbildung der Rechte und der Pflichten der Neutralen
hat einen großen Einfluß die Neutralitätsacte gehabt, welche zuerſt in Nord-
amerika auf den Betrieb Hamiltons und im Einverſtändniß mit dem
Erſten Präſidenten Washington im Jahre 1794 erlaſſen und im Jahr
1818 revidirt worden iſt. Sie iſt von der Engliſchen Parlamentsacte
von 1819 nach- und fortgebildet worden. Der letzte Bürgerkrieg in den
Vereinigten Staten hat freilich den Glauben an die Wirkſamkeit dieſer
Neutralitätsgeſetze einiger Maßen geſchwächt. Die Vereinigten Staten be-
[46]Einleitung.
klagen ſich darüber, daß England nicht ſorgfältig und nicht entſchieden
genug die Begünſtigung der Südſtaten verhindert und durch Lieferung
von engliſchen Schiffen die räuberiſchen Kreuzer ausgerüſtet habe, welche
die Meere unſicher machten; und manche Zeichen deuten darauf, daß
auch die Amerikaniſche Praxis bei Kriegen europäiſcher Staten eine laxere
Politik befolgen werde und ihren Schiffsbauern verſtatten werde, den
Kriegsparteien Kriegsſchiffe zu liefern.


Man ſieht, die theilweiſe widerſtrebenden Intereſſen des freien Han-
dels der Neutralen auch mit der Nation der Kriegspartei und der uner-
läßlichen Enthaltſamkeit von jeder Theilnahme am Krieg von Seite des
neutralen Stats ſind noch mit einander im Kampf und ſuchen noch das
gerechte Gleichgewicht.


Das Recht der nationalen Entwicklung und der
Selbſtbeſtimmung der Völker.


In unſerer Zeit hört man oft die laute Klage, der Beſtand der
Staten ſelber ſei nicht mehr wie früher durch das Völkerrecht geſichert, die
Revolution von Innen, die Uebermacht von Außen bedrohen alle legitimen
Gewalten, und ſo oft ihnen der Umſturz eines rechtlich begründeten Zu-
ſtandes glücke, ſo werde die vollendete Thatſache, das heißt zumeiſt das
ſiegreiche Unrecht von den Mächten als neues Recht gutgeheißen und an-
erkannt. Man beſchuldigt das heutige Völkerrecht, es habe alles Ver-
ſtändniß verloren für die Rechtsſicherheit der Staten und ihrer Regierun-
gen und huldige jederzeit gefügig dem brutalen Erfolg.


Man ſehe zu, ob denen, welche ſo reden, nicht ſelber alles Ver-
ſtändniß fehlt in die Natur des Völkerrechts und des öffentlichen Rechts
überhaupt.


Die inneren Verfaſſungsänderungen eines Stats und die Wechſel der
Fürſten und Dynaſtien ſind meiſtens Vorgänge in dem Leben eines ein-
zelnen Volkes und States und eben deßhalb zunächſt ſtaatsrechtlich,
nicht völkerrechtlich
zu beurtheilen. Das Völkerrecht ordnet nicht die
einzelnen Staten, ſondern nur die Beziehungen der Staten zu einander.
Erſt in zweiter Linie tritt daher an das Völkerrecht die Frage heran,
ob ein Stat, der eine ſolche Umwandlung erfahren hat und ſeine thatſäch-
lich die Statsgewalt ausübende Regierung auch in der Statengemeinſchaft
und im Statenverkehr als ſouveräne Perſonen anzuerkennen ſeien. Für
[47]Einleitung.
das völkerrechtliche Verhalten iſt daher die ſtatsrechtliche Erledigung gewöhn-
lich Maß gebend. Jene Vorwürfe, auch wenn ſie gerecht wären, würden
daher eher das moderne Statsrecht treffen als das Völkerrecht, welches
genöthigt und berufen iſt, die ſtatlichen Bildungen, wie ſie in der
Welt exiſtiren, neben einander anzuerkennen und mit einander zu ver-
binden.


In der europäiſchen Reſtaurationsperiode von 1815 bis 1830 ver-
ſuchten es die Mächte der Heiligen Allianz auf den Congreſſen von Aachen
und mehr noch auf den Congreſſen von Laibach und Verona das Princip
der dynaſtiſchen Legitimität zu einem Grundgeſetz des europäſchen
Völkerrechts zu erheben. Jede conſtitutionelle Beſchränkung der abſoluten
Fürſtengewalt und jede Aenderung in dem neu garantirten Territorialbeſitz
wurden als Revolution verdammt und der Schutz der beſtehenden Stats-
autoritäten als eine Pflicht der fünf Großmächte dargeſtellt, welche berufen
ſeien, das öffentliche Recht in Europa zu ſichern und zu ſchützen.


Die Weltgeſchichte hat über den damaligen Verſuch gerichtet, ſie hat
die Unausführbarkeit desſelben an den Tag gebracht und die Mängel jenes
Grundgedankens ſchonungslos aufgedeckt.


Die mittelalterliche Vorſtellung, welche von der Legitimitätspolitik zu
einem künſtlichen Scheinleben wieder erweckt wurde, betrachtete die Landes-
herrſchaft wie ein göttliches Lehen und wie ein Stamm- und Erbgut der
Dynaſtien, worüber beliebig zu verfügen dem regierenden Familienhaupte
zuſtehe, welches ſo wenig der Wandlung ausgeſetzt ſei, wie das feſte der
Privatperſon gehörige Grundeigenthum. Von dieſem Standpunkte aus
erſchien der Kampf um die Regierung eines Landes wie der Kampf zwi-
ſchen Eigenthümer und Räuber. Nach dem Grundſatze ſolcher Legitimität
galt es als ſelbſtverſtändlich, daß das geſchichtlich begründete Thronrecht
unter allen Umſtänden, wie ein Eigenthum erhalten werden müſſe wider
jede Beſitzſtörung.


Aber dieſe ganze Grundanſicht von Fürſtenrecht iſt noch unreif und
beinahe kindiſch. Das Recht und die davon nicht abzutrennende Pflicht,
ein Volk zu regieren, iſt in Wahrheit kein Privat- und kein Familienrecht,
es iſt kein Eigenthum. Das Volk iſt eine lebendige Perſon und der Fürſt
iſt nicht außer und nicht wie der Eigenthümer einer Herde Vieh über
ſondern in dem Volke als das Haupt des Volkes. Sein Recht iſt
öffentliches Recht und öffentliche Pflicht, Statsrecht und Statspflicht. Alle
Fragen der Statsherrſchaft ſind daher nicht nach den privatrechtlichen
[48]Einleitung.
Geſetzen über Eigenthum und Beſitz, nicht nach den ſtrafrechtlichen Be-
griffen von Raub und Diebſtahl, ſondern von dem Standpunkte des Volkes
und des States aus und ihrer Entwicklung zu beurtheilen.


Das aber hat allmählich, nicht ohne Fehlſchritte und Mißgriffe, das
moderne Völkerrecht begriffen, indem es den vielfältig durchlöcherten Schnür-
leib der alten Legitimitätsdoctrin abgelegt hat.


Es war ein großer Fortſchritt in der Rechtserkenntniß, als man
endlich einſah, daß die Völker lebendige Weſen ſeien und daß demgemäß
auch das Verfaſſungs- und Statsrecht, welches als Organiſation und
gleichſam als Leib des Volkes ſein Leben bedingt und darſtellt, diejenigen
Wandlungen vornehmen muß, welche nöthig ſind, um die Ent-
wicklung des Volkslebens zu ermöglichen und zu begleiten
. Der
Rechtsbegriff ſelbſt wurde dadurch vergeiſtigt. Zuvor war er todt und kalt.
Jetzt wurde er voll Leben und Wärme.


Die Wiſſenſchaft iſt noch in dieſer den Charakter alles öffentlichen
Rechts wandelnden Arbeit begriffen, wie die Welt in der Bewegung begrif-
fen iſt, aus dem mittelalterlichen Herren- und Landesrecht die modernen
Volksſtaten hervorzubilden.


Aber heute ſchon dürfen wir getroſt als ein Ergebniß der Kämpfe
und Errungenſchaften unſers Jahrhunderts folgende moderne von dem
heutigen Völkerrecht wenigſtens ſtatsrechtlich gebilligte Rechtsſätze ausſprechen:


Die Autorität des geſchichtlichen und formulirten Rechts verliert in
dem Maße ihre Macht, in dem es offenbar wird, daß dasſelbe das Leben
des States gefährde ſtatt demſelben zu dienen und die Entwicklung des
öffentlichen Rechts unmöglich macht, ſtatt dieſelbe zu reguliren. Alles öf-
fentliche Recht gilt nur, inwiefern es lebenskräftig iſt. Neben dem Recht
der ſtatlichen Exiſtenz iſt auch das Recht der nationalen Entwicklung
anzuerkennen. Das Völkerrecht ehrt die Ergebniſſe der Weltgeſchichte und
betrachtet die Verhältniſſe, welche ſich als nothwendige und fortwir-
kende Grundlagen und Bedingungen des derzeitigen Völkerlebens

manifeſtiren, nicht bloß als zu duldende Thatſachen, ſondern als geſchicht-
liche Fortbildung des Rechts
. Das Völkerrecht achtet das Recht der
Völker
, die Form ihres gemeinſamen Verbandes und ihres gemeinſamen
Lebens, d. h. ihre Verfaſſung ſelber zu beſtimmen.


Bei näherer Erwägung zeigt ſich, daß jene Anklage des modernen
Völkerrechts, als ſei es rechtlos geworden, völlig eitel iſt. Ganz im Ge-
gentheil, es iſt der höchſte Vorzug und die Ehre der modernen Rechtsanſicht,
[49]Einleitung.
daß ihr das Recht ſelbſt nicht mehr als ein todtes und als ein Hinderniß
des Lebens, ſondern als ein lebendiges und entwicklungsfähiges er-
ſcheint. Die Selbſtvervollkommnung iſt die Aufgabe der Menſchheit, auf
dem Gebiete des Rechtes nicht minder als in allen andern Richtungen
humaner Cultur.


Die angeführten einzelnen Momente mögen genügen, um die großen
Fortſchritte zu veranſchaulichen, welche das Völkerrecht in neuerer Zeit
wirklich gemacht hat, wenngleich ſie auch darauf hinweiſen, daß noch wei-
tere Fortſchritte zu machen ſind, wenn die civiliſatoriſche Aufgabe des
Völkerrechts erfüllt und eine humane Weltordnung hergeſtellt werden ſoll.


Wie die Wiſſenſchaft für die Begründung und Erkenntniß des Völ-
kerrechts entſcheidend geworden iſt, ſo hat ſie die Pflicht, auch ſeine Fort-
ſchritte vorzubereiten, zu beleuchten und zu begleiten. Obwohl nun die
Praxis der Staatsmänner die Leitung übernommen hat, ſo hängt doch die
Wirkſamkeit des Völkerrechts hauptſächlich davon ab, daß ſeine Grundſätze
und Grundgedanken von der öffentlichen Meinung gekannt und gebilligt
werden und daß das öffentliche Gewiſſen darüber aufgeklärt werde. Je
allgemeiner die Rechtsſätze des Völkerrechts verbreitet und verſtanden wer-
den, je beſtimmter und entſchiedener das Rechtsbewußtſein der civiliſirten
Menſchheit ſich entfaltet, umſomehr iſt auch die Wirkſamkeit des Völkerrechts
in der Welt geſichert. In dem Völkerrecht voraus bethätigt ſich noch der
Erweis des Geiſtes und der Kraft. Sein flüſſiger Stoff iſt noch nicht,
wie die andern Rechtsordnungen, zu feſter abgeſchloſſener Form geſtaltet,
aber unaufhaltſam wächſt es ſeiner Beſtimmung und ſeinem Ende, dem
humanen Weltrecht entgegen.


Bluntſchli
[[50]][[51]]

Rechtsbuch.


[[52]][[53]]

Erſtes Buch.
Begründung. Natur und Gränzen des Völkerrechts.


1.


Völkerrecht iſt die anerkannte Weltordnung, welche die verſchiedenen
Staten zu einer menſchlichen Rechtsgenoſſenſchaft verbindet, und auch den
Angehörigen der verſchiedenen Staten einen gemeinſamen Rechtsſchutz ge-
währt für ihre allgemein menſchlichen Rechte.


1. In der Anerkennung der Weltordnung liegt mehr als in der „Er-
kenntniß“ derſelben. Dieſe kann bloße Theorie ſein, jene bedeutet zugleich die Be-
währung derſelben im Völkerleben. Das Wiſſen allein bildet noch kein Recht; erſt
wenn die Macht des Rechtsbewußtſeins ſich in der Praxis offenbart, iſt eine Rechts-
ordnung da.


2. Zunächſt ordnet das Völkerrecht das Verhältniß der Staten zu einander.
Sein Hauptinhalt iſt öffentliches Recht. Inſofern kann es auch, von den ein-
zelnen Staten aus betrachtet, „äußeres Statsrecht“ genannt werden. Der
Name iſt aber ungenau, weil das Völkerrecht von weſentlich univerſeller Natur,
weil es das Recht der Menſchheit iſt. Schon Hugo Grotius hat das erkannt.
Prol. 17: „Sicut cujusque civitatis jura utilitatem suae civitatis respiciunt,
ita inter civitates aut omnes aut plerasque ex consensu jura quaedam nasci
potuerunt et nata apparet, quae utilitatem respicerent non coetuum singulorum
sed magnae illius universitatis, et hoc jus est quod gentium dicitur“.
Da-
neben ordnet das Völkerrecht aber auch die überall gleichmäßig wirkſamen und unter
den Schutz der civiliſirten Welt geſtellten Rechtsverhältniſſe der Privatperſonen, und
heißt inſofern „internationales Recht“ im engern Sinn. Dieſe zweite Be-
deutung des Völkerrechts iſt aber noch weniger entwickelt als die erſte und gewährt
[54]Erſtes Buch.
nur einen mittelbaren Schutz, durch Vermittlung der Staten. Der engliſch-
amerikaniſche Sprachgebrauch nennt das Völkerrecht überhaupt international
law
“,
verſteht aber unter nation, wie der franzöſiſche das, was wir Volk
(populus) heißen, d. h. das zum Stat organiſirte Gemeinweſen, den lebendigen
Stat, nicht die bloße Sprach- und Culturgemeinſchaft, welche wir Deutſche Nation
heißen.


2.


Die gemeinſame Menſchennatur iſt das natürliche Band, welches alle
Völker zur Einen Menſchheit verbindet. Daher hat jedes Volk ein natür-
liches Recht, in ſeiner Menſchennatur von den andern Völkern geachtet zu
werden und die Pflicht, dieſelbe Menſchennatur in dieſen zu achten.


Das iſt die menſchliche Rechtsgleichheit der Völker.


In allen Zeiten haben einzelne Weiſe dieſe Wahrheit erkannt; aber An-
erkennung hat dieſelbe erſt in dem neueren Völkerrecht gefunden, und heute noch
ſtehen ihrer allgemeinen Durchführung als Rechtsſatz vielfältige Vorurtheile, Glaubens-
und Raſſenhaß und Selbſtſucht als Hinderniſſe im Wege.


3.


Es hängt nicht von der Willkür eines States ab, das Völkerrecht
zu achten oder zu verwerfen. Da ſich kein Stat ſeiner Menſchennatur
entledigen kann, ſo darf er ſich auch ſeiner Menſchenpflicht nicht entziehen.


1. Wäre das Völkerrecht ausſchließlich das Erzeugniß des freien Willens der
einzelnen Staten, ſo wäre im Grunde alles Völkerrecht Vertragsrecht, d. h.
kein Stat wäre andern Staten gegenüber verpflichtet, völkerrechtliche Sätze zu be-
achten, wenn dieſelben nicht durch Statenvertrag ſanctionirt wären. Es bliebe dann
ſogar unerklärt, weshalb denn die Verträge die Staten auch dann noch binden,
wenn der Wille der Vertragsparteien ſich ändert, weßhalb nicht jede Willensänderung
eine Rechtsänderung nach ſich zieht. Die Verbindlichkeit des Völkerrechts ſetzt die
Nothwendigkeit deſſelben im Gegenſatze zur Willkür voraus.


2. Auf dem Congreß zu Aachen im Jahre 1818 wurde von den 5 europäiſchen
Großmächten die Verbindlichkeit des europäiſchen Völkerrechts — ſowohl für ihre
wechſelſeitigen Beziehungen als im Verhältniß zu andern Staten — anerkannt.
Protokoll v. 15. Nov. 1818: „Les souverains en formant cette union auguste,
ont regardé comme la base fondamentale, leur invariable résolution de ne
jamais s’écarter, ni entre eux ni dans leurs relations avec d’autres états, de
l’observation la plus stricte des principes du droit des gens, principes qui
dans leur application à un état de paix permanent, peuvent seuls garantir
éfficacement l’indépendance de chaque gouvernement et la stabilité de
l’association générale“.


[55]Begründung. Natur und Gränzen des Völkerrechts.

4.


In demſelben Verhältniß, in welchem das Gemeinbewußtſein der
Menſchheit an Klarheit und Energie zunimmt, wächſt auch das Völkerrecht
in Inhalt und Geltung, denn das Völkerrecht geht aus dem Rechts-
bewußtſein der Menſchheit hervor.


Vgl. darüber die Einleitung.


5.


Die civiliſirten Nationen ſind vorzugsweiſe berufen und befähigt,
das gemeine Rechtsbewußtſein der Menſchheit auszubilden, und die civili-
ſirten Staten voraus verpflichtet, die Forderungen deſſelben zu erfüllen.
Deßhalb ſind ſie vorzugsweiſe die Ordner und Vertreter des Völkerrechts.


Das Weſen der Civiliſation beſteht, wie ſchon der große Dante erklärt hat,
in der harmoniſchen Ausbildung univerſeller Menſchlichkeit, der Humanität. Das
Völkerrecht iſt eine der edelſten Früchte der Civiliſation, denn es iſt ſeinem Weſen
nach eine menſchliche Ordnung. Der Anſpruch der europäiſchen und amerikaniſchen
Staten, vor den andern Völkern die Träger und Schirmer des Völkerrechts zu ſein,
wäre eine eitle Anmaßung, wenn derſelbe ſich nicht auf die höhere Civiliſation jener
Staten gründete.


6.


Wenn gleich das heutige Völkerrecht vorerſt unter den chriſtlichen
Nationen ausgebildet worden iſt, und der chriſtlichen Religion vielfältige
Anregung zu danken hat, ſo iſt es dennoch nicht an das chriſtliche Be-
kenntniß gebunden und nicht auf die chriſtliche Welt beſchränkt.


Seine eigentliche Grundlage iſt die Menſchennatur, ſein Ziel iſt die
menſchliche Weltordnung, ſeine Mittel ſind ſtatliche Rechtsmittel, und ſeine
Ausbildung iſt das Werk der menſchlichen Wiſſenſchaft und Praxis.


Das Völkerrecht verbindet als allgemeines Menſchenrecht Chriſten
und Muhammedaner, Brahmaniſten und Buddhiſten, die Anhänger des
Kongfutſü und die Verehrer der Geſtirne, die Gläubigen und die Un-
gläubigen.


1. Im Gegenſatze zu der wiſſenſchaftlichen Begründung und Darſtellung des
Völkerrechts hatte die „Heilige Allianz“ der drei öſtlichen Mächte (14/26. Sept.
1815) nochmals den Verſuch gemacht, daſſelbe auf die chriſtliche Religion zu baſiren.
L’empereur d’Autriche, le Roi de Prusse et l’empereur de Russie — déclarent
solennellement que le présent acte n’a pour objet que de manifester à la
face de l’Univers leur détermination inébranlable, de ne prendre pour règle

[56]Erſtes Buch.
de leur conduite, soit dans l’administration de leurs états respectifs, soit
dans leurs relations politiques avec tout autre gouvernement, que les pré-
ceptes de cette religion sainte, préceptes de justice, de charité et de paix,
qui loin d’être uniquement applicables à la vie privée, doivent au contraire
influer directement sur les résolutions des princes et guider toutes leurs
démarches comme étant le seul moyen de consolider les institutions humaines
et de remédier à leurs imperfections.“
Der Verſuch mußte grundſätzlich miß-
lingen, weil Chriſtus überhaupt keine äußere Weltordnung eingeführt und keine
Rechtsgeſetze gegeben hat und er ſcheiterte thatſächlich als der Widerſtreit der In-
tereſſen die Alliirten entzweite, die neuen Bedürfniſſe nach einer neuen Rechts-
geſtaltung drängten, und der ſelbſtbewußte Geiſt der europäiſchen Philoſophie und
Rechtswiſſenſchaft aus dem träumeriſchen Schlummer der Reſtaurationszeit wieder
aufwachte.


2. Die Religion verbindet die Menſchen mit Gott, das Recht ordnet
die Beziehungen der Menſchen zu den Menſchen. Die völkerrechtlichen Fragen
ſind daher nicht aus der Glaubenslehre, ſondern nach menſchlichen Grundſätzen zu
entſcheiden. Die Beſchränkung des Völkerrechts auf die chriſtlichen Staten mochte
dem glaubenseifrigen und unduldſamen Geiſt des Mittelalters ebenſo natürlich er-
ſcheinen, wie der gleichzeitige Anſpruch der islamitiſchen Staten auf die Tribut-
leiſtung der Ungläubigen. Die heutige Menſchheit fühlt und kennt ihre Zuſammen-
gehörigkeit, wenn gleich verſchiedene Religionen in ihr wirken. Ein Stat erwirbt
nicht deßhalb beſondere Rechte gegen einen andern Stat, weil in jenem das Chriſten-
thum und in dieſem der Islam verbreitet iſt, und ſeiner Menſchenpflicht kann ſich
Niemand aus dem Grunde entziehen, weil er orthodox und der Andere nicht orthodox
iſt. So wenig das menſchliche Auge oder Ohr in Folge des religiöſen Glaubens
andere Eigenſchaften erhält, eben ſo wenig wird das menſchliche Recht durch den
Glauben geändert.


7.


Das Völkerrecht iſt nicht auf die europäiſche Völkerfamilie beſchränkt.
Das Gebiet ſeiner Herrſchaft iſt die ganze Erdoberfläche, ſo weit auf ihr
ſich Menſchen berühren.


Das heutige Völkerrecht iſt vorerſt inmitten der chriſtlichen und der
europäiſchen Völkerfamilie, zu welcher natürlich die Colonien in Amerika mit
zu rechnen ſind, entſtanden und wird durch ihre Einflüſſe allmählich über den Erd-
ball hin ausgebreitet. Vgl. § 111. Die germaniſche und die romaniſche
Raſſe haben das Meiſte dazu gethan. Aber gerade weil der Geiſt dieſer Raſſen
einen univerſellen Charakter hat, und nach Humanität trachtet, ſo verwirft er grund-
ſätzlich jede Beſchränkung des Völkerrechts auf beſtimmte Völker und will allen
Völkern gerecht werden. Dieſe Wahrheit war ſchon von Pufendorf und
Montesquieu klar gemacht worden, und dennoch hat bis tief ins neunzehnte
Jahrhundert hinein die mittelalterliche Beſchränkung auf die chriſtlichen Staten in
der Litteratur und in der Praxis ſich erhalten.


[57]Begründung. Natur und Gränzen des Völkerrechts.

8.


So weit das Recht der Menſchheit reicht, ſo weit reicht das Völker-
recht. Wo die Eigenthümlichkeit der Staten beginnt, da tritt das beſondere
Geſetz dem allgemeinen vor.


Das Völkerrecht hebt die Selbſtändigkeit und Freiheit der Staten
nicht auf, ſondern ſetzt dieſelbe voraus und achtet ſie.


Die Ausbildung des Statsrechts iſt der des Völkerrechts vorausgegangen;
die Völker ſorgten zunächſt für ſich, und waren anfangs geneigt, die andern Völker
als ihre natürlichen Feinde anzuſehen. Spät erſt erweiterte ſich ihr Blick auf
das Allgemeine, was ſie zuſammenhält, und ſie lernten in den andern Völkern ihre
Brüder erkennen.


9.


Das Völkerrecht nöthigt nur inſoweit einen Stat, ſein bisheriges
Sonderrecht außer Wirkſamkeit zu ſetzen oder abzuändern, als daſſelbe mit
den nothwendigen Geſetzen des Völkerrechts unverträglich erſcheint.


Die Unterdrückung des Sclavenhandels und der Sclavenmärkte in vielen
amerikaniſchen und aſiatiſchen Ländern, das Verbot des Seeraubs gegenüber den
Barbareskenſtaten von Nordafrika, die Nöthigung der oſtaſiatiſchen Reiche, dem Welt-
handel Thore und Wege zu öffnen, mögen als Beiſpiele dienen.


10.


Da die Menſchheit, obwohl ihrer natürlichen Gemeinſchaft und Ein-
heit bewußt geworden, doch nicht als Eine Geſammtperſon und noch nicht
einmal als eine Rechtsgenoſſenſchaft organiſirt iſt, ſo wird auch das gegen-
wärtige Völkerrecht nicht in der Form eines einheitlichen Weltgeſetzes noch
in der von ſtatutariſchen Mehrheitsbeſchlüſſen geordnet und verkündet.


Man kann ſich die Menſchheit als eine einheitliche Geſammtperſon, d. h. als
Weltſtat denken, ſei es nun in Form einer Weltmonarchie oder eines die Welt
umfaſſenden Bundesſtats. (Vgl. Bluntſchli Allgem. Statsrecht Buch 1. Cap. 2.)
Aber dieſer Gedanke hat noch keine geſchichtliche Verwirklichung erlebt; es fehlt ſomit
an einem Organ für die Weltgeſetzgebung. Unſerer Zeit liegt der Gedanke
einer genoſſenſchaftlichen Verbindung der Staten, zunächſt der europäiſchen, näher,
aber ſelbſt ein ſolcher allgemeiner Statenbund exiſtirt noch nicht und daher gibt
es auch keine rechtliche Möglichkeit, durch Mehrheitsbeſchlüſſe für die ganze
Verbindung Vorſchriften zu geben.


11.


Die heutige Welt muß ſich daher mit der weniger vollkommenen
[58]Erſtes Buch.
Offenbarung des Völkerrechts begnügen, welche in der möglichſt allgemeinen
und gleichmäßigen Anerkennung der einzelnen Staten, vorzüglich der
civiliſirten Staten liegt.


Da nur die Einzelſtaten als formale Autorität exiſtiren, nicht ihr Ver-
band, ſo iſt der Widerſpruch zwiſchen dem univerſellen Inhalt des Völker-
rechts und der particulariſtiſchen Form ſeiner Ausſprache nicht zu vermeiden.
Das Völkerrecht erſcheint daher als ein Werk der Einzelſtaten, während es in Wahr-
heit das Erzeugniß ihres Gemeinbewußtſeins iſt.


Die engliſche Regierung berief ſich im Jahre 1753 in einem Streit mit
König FriedrichII. von Preußen auf dieſe urſprüngliche Quelle des Völkerrechts
mit den Worten: „Das Völkerrecht iſt gegründet auf Gerechtigkeit und Billigkeit,
auf die Natur der Sache und wird beſtätigt durch lange Uebung.“ (Phillimore
Intern-Law
1. 21.)


12.


Die Anerkennung völkerrechtlicher Grundſätze kann von den Staten
ausgeſprochen werden ſowohl in völkerrechtlicher als in ſtatsrechtlicher Form.


Sie kann gemeinſam von mehreren Staten ausgeſprochen werden
auf Congreſſen der Statshäupter mit ihren Miniſtern oder in Conferenzen
ihrer Geſanten, durch Protokolle oder in Statsverträgen, ſie kann aber
auch einſeitig durch Geſetze oder Verordnungen der Einzelſtaten erklärt oder
in der völkerrechtlichen Uebung dargeſtellt werden.


1. Der Unterſchied der Congreſſe und der Conferenzen iſt ein fließen-
der. Wenn die Statshäupter (Fürſten) ſelber zu gemeinſamen Beſchlüſſen zuſammen-
treten, ſo wird dieſe Zuſammenkunft Congreß genannt; wenn nur die Geſanten zu-
ſammen berathen, ſo heißt das Conferenz. Aber der Charakter des Congreſſes wird
nicht verletzt, wenn etwa, wie z. B. auf dem deutſchen Fürſtencongreß zu Frank-
furt am Main 1863 anſtatt eines regierenden Königs ſein dazu ermächtigter Sohn
oder nach Umſtänden ein anderer Bevollmächtigter an den Verhandlungen Theil
nimmt. Der Congreß kann ſogar ohne Fürſten, lediglich aus Bevollmächtigten der
Staten zuſammen treten. Umgekehrt es kann auch ein Souverain gelegentlich an
den Berathungen der Geſanten Theil nehmen, ohne daß die Conferenz um deßwillen
zum Congreſſe wird. Auf den Congreſſen werden entſcheidende Beſchlüſſe gefaßt, auf
den Conferenzen werden dieſelben vorbereitet. Zum Congreß können daher nur
beſchlußfähige Perſonen zuſammentreten, an Conferenzen auch Perſonen Theil
nehmen, welche nicht beſchlußfähig ſind.


2. In den Protokollen werden die gemeinſamen Erklärungen und Beſchlüſſe
aufgezeichnet, ausnahmsweiſe auch die Vorbehalte einzelner vertretener Staten ange-
merkt. Die gemeinſame Erklärung des übereinſtimmenden Willens iſt nur dann
ein wirklicher Vertrag, wenn dieſer Wille dahin gerichtet, ſich je den andern Parteien
[59]Begründung. Natur und Gränzen des Völkerrechts.
gegenüber dadurch zu verbinden, nicht aber wenn in demſelben nur die Ueberzeugung
kund gegeben wird von dem, was allgemeine Rechtsordnung ſei und daher auch von
jedem State beachtet werden müſſe (§ 13). Was völkerrechtlich im Gewande des
Vertragsrechts erſcheint, iſt bei näherer Prüfung oft dem Weſen nach Geſetzes-
recht
, d. h. eine Rechtsregel, deren nothwendig verbindliche Kraft durch den Vertrag
nur anerkannt und beſtätigt, nicht erſt neu begründet wird.


3. Wenn die Geſetze und Verordnungen der Einzelſtaten völkerrechtliche Ver-
hältniſſe regeln, ſo ſind ſie deßhalb eine Quelle des Völkerrechts, obwohl ſie der for-
mellen Betrachtung ſich nur als ſtatsrechtliche Acte darſtellen. Dahin gehören z. B.
die Priſenreglemente, das Nordamerikaniſche Neutralitätsgeſetz u. ſ. f.


13.


Die Uebereinſtimmung der Völker (consensus gentium) wirkt mehr
noch als Ausdruck des gemeinſamen Rechtsbewußtſeins der Menſchheit denn
als Willensäußerung der einzelnen Staten.


Der Widerſpruch eines einzelnen Stats genügt daher ebenſo wenig,
ihn von den offenbaren Pflichten des Völkerrechts zu entbinden, als die
Nichtbeachtung einer Rechtsregel in einzelnen Fällen die Uebereinſtimmung
der Völker zu entkräften vermag.


1. Der Conſens der Völker bleibt nicht unveränderlich. Er wandelt
ſich mit der Zeit und entwickelt ſich mit dem Bewußtſein des Menſchengeiſtes. In
den Uebungen der Völker wird ſowohl das Beharrliche als das Veränderliche darin
offenbar (§ 14).


2. Das ſogenannte „conventionelle“, d. h. auf Vertragswillen beruhende
Völkerrecht iſt nur bindend für die Vertragsparteien; das nothwendige
Völkerrecht dagegen bindet, ſoweit ſeine Nothwendigkeit reicht, auch die Staten, welche
ſich nicht erklärt haben, ja ſogar diſſentirende Staten. Die Zweifel, ob ein Rechts-
ſatz nothwendig oder nur conventionel ſei, ſind nicht durch den bloßen Hinweis auf
einen Staatsvertrag zu beſeitigen, welcher denſelben ausſpreche, denn in dem Ver-
trage kann ſowohl conventionelles Recht willkürlich feſtgeſtellt als nothwendiges
Recht gemeinſam ausgeſprochen worden ſein. Vgl. unten §. 110.


14.


Aus den Uebungen und Sitten der Völker darf man auf ihr Rechts-
bewußtſein und auf die Rechtsgeſetze ſchließen, welche darin ſichtbar werden.
Auch die Uebungen ſind nicht unveränderlich noch unverbeſſerlich. Die
Vervollkommnung des Völkerrechts zeigt ſich in den verbeſſerten und ver-
edelten Uebungen der Völker.


1. Bynkershoek de Reb. belli praef.: „Ut mores gentium mutan-
[60]Erſtes Buch.
tur, et mutatur jus gentium.“ Quaest. Jur. Publ. II. 7. „Inter mores gen-
tium, quae nunc sunt et olim fuerunt, sollicite distinguendum est; nam mo-
ribus censetur praecipua pars juris gentium.“ De foro leg. praef.: „Scio ex
sola ratione aliud atque aliud placere posse; sed scio eam rationem vincere,
quam usus probavit.
Vgl. auch die Erklärung des engliſchen Oberrichters Lord
Stowell bei PhillimoreI. 46.


2. Gefährlich und ungenau iſt der Ausdruck bei VattelPrélim. §. 26.:
Lorsqu’une coutume, un usage est généralement établi, si elle est utile et
raisonnable, elle devient obligatoire pour toutes ces nations-là, qui sont
censées y avoir donné leur consentement; et elles sont tenues à l’observer
les unes envers les autres, tant qu’elles n’ont pas déclaré expressément ne
vouloir plus la suivre.
Soweit in jenen Uebungen nothwendiges Recht offen-
bar wird, dürfen ſich die Staten nicht losſagen; nur ſo weit ſie willkürlich ſind,
können ſie auch willkürlich beſeitigt werden.


15.


Wenn die herkömmlichen Uebungen im Widerſpruch ſind mit den
ewigen Grundſätzen des natürlichen Menſchenrechts oder von dem fortſchrei-
tenden Rechtsbewußtſein der civiliſirten Völker gemißbilligt werden, ſo ſind
dieſelben nicht oder nicht mehr rechtsverbindlich für die einzelnen Staten
und iſt eine Verbeſſerung derſelben nothwendig.


Die Abſchaffung der Sclaverei und des Beuterechts iſt überall im Gegenſatz
zu den alten Uebungen der Staten durch Verbeſſerung der Völkerſitte eingeführt
worden.


16.


Wie in den Uebungen der Völker ſo iſt auch in den Aeußerungen
erleuchteter Statsmänner und in den Werken der Wiſſenſchaft das Rechts-
bewußtſein der civiliſirten Menſchheit ausgeſprochen. Inſofern die Wiſſen-
ſchaft das Recht darſtellt, dient ſie der Klarheit des Rechts und der Ver-
breitung der Rechtskunde; in wiefern ſie eine Autorität über die Menſchen
übt und die Handlungen und das Verhalten der Staten beſtimmt, wirkt
ſie an der Fortbildung der Rechtsordnung ſelber mit.


Hugo GrotiusI. 1. XIV. „Probatur (jus gentium) pari modo quo
jus non scriptum civile, usu perpetuo et testimonio peritorum.“
Kent
(Comm. of th. Am. Law. I. p. 19.): „In cases where the principal jurists
agree, the prasumption will be very great in favour of the solidity of their
maxims.“
Die Autorität der Rechtswiſſenſchaft iſt freilich nur eine Folge des
Glaubens
an ihre Erkenntniß des Rechts, das vor ihr ſchon da war, und
nicht wie die Autorität des Geſetzgebers eine urſprüngliche Rechtsmacht. Aber
[61]Begründung. Natur und Gränzen des Völkerrechts.
der Mangel einer völkerrechtlichen Geſetzgebung erhöht den Werth der ſecundären
Rechtsquellen. Indem die Wiſſenſchaft vornehmlich das Völkerrecht vernunftmäßig
begründet und mit Autorität verkündet, hilft ſie jene Lücke ausfüllen. Hugo Groot
hat in ſeinem berühmten Werk, welches die Grundlage der neuern Wiſſenſchaft vom
Völkerrecht geworden iſt, ſich vornehmlich auf die Zeugniſſe weiſer Männer berufen,
und iſt dann ſelber wieder zur Autorität für die Nachfolger geworden. Wenn heute
Wheaton und Phillimore, Wildmann und Kent, Heffter und Oppen-
heim
einig ſind in der Darſtellung eines Rechtsſatzes, ſo wird man, auch ohne ver-
tragsmäßige Beurkundung und trotz zweifelhafter Uebung geneigt ſein, denſelben als
modernes Völkerrecht zu betrachten. Freilich hat die kritiſche Prüfung den Ausſprü-
chen der Schriftſteller gegenüber eine größere Freiheit als bezüglich des Vertragsrechts.


[[62]][[63]]

Zweites Buch.
Völkerrechtliche Perſonen.


I. Die Staten.


A. Statsperſönlichkeit.

17.

Die Staten ſind völkerrechtliche Perſonnen.


Die Perſönlichkeit iſt eine nothwendige Eigenſchaft der Staten.
Perſon im rechtlichen Sinne des Worts heißt ein Weſen, welches fähig iſt, Rechte zu
erwerben und zu behaupten und Verpflichtungen auf ſich zu nehmen. Indem der
Stat innerhalb ſeines Gebietes die Rechtsordnung ſelbſtändig ordnet, iſt er die
höchſte Rechtsperſon. Indem der Stat nach außen mit andern Staaten in
Rechtsverhältniſſe eintritt, bewährt ſich ſeine völkerrechtliche Perſönlichkeit.


18.

Das Völkerrecht verbindet die verſchiedenen Staten zu einer gemein-
ſamen Rechtsordnung, ſowohl repräſentative als abſolute, monarchiſche,
wie republikaniſche, große und kleine Staten. Es fordert keine beſtimmte
Verfaſſungsform oder Größe. Wo immer eine Völkerſchaft zu einem regie-
rungsmäßig geordneten Ganzen in einem beſtimmten Lande dauernd ver-
bunden iſt, da wird ſie völkerrechtlich als Stat betrachtet.


Die Verfaſſung des States wird zunächſt nach den innern Verhältniſſen eines
Volks beſtimmt. Sie iſt die Organiſation des politiſchen Körpers des betreffenden
Volks, und bildet die Grundlage des Statsrechts. Erſt wenn der ſchon organi-
ſirte Stat nach außen als Perſon erſcheint und ſich geltend macht, beginnt für
ihn die völkerrechtliche Beziehung. Vgl. §§. 39 f. 115 f.


[64]Zweites Buch.
19.

Eine vorübergehende Anarchie hindert die Fortdauer eines States
nicht, wenn die Reorganiſation desſelben in Ausſicht bleibt.


Die regierungsmäßige Ordnung kann in einem State momentan durch Auf-
ſtände oder Revolution erſchüttert oder zerſtört werden. Dadurch wird die Perſön-
lichkeit des States nicht aufgehoben, ſo wenig als der Einzelmenſch dieſelbe einbüßt,
wenn der Fieberzuſtand ſeine Handlungsfähigkeit hindert. Frankreich war zur Zeit
der Septembermorde 1793 noch ein Stat, wie Neapel, als die Banden Ruffos die
Hauptſtadt mit ihren Gräueln erfüllten, Juni 1799. Die Auflöſung der Statsord-
nung zieht aber den Untergang eines States dann nach ſich, wenn die Wiederher-
ſtellung oder die Neugeſtaltung der Ordnung innerhalb des Volks und Landes als
unmöglich erſcheint. Das iſt nur der Fall, wenn eine barbariſche Raſſe die Zügel
des Stats abwirft, wie in den Negeraufſtänden von St. Domingo 1791 oder wenn
eine ſtatsfeindlich geſinnte Menge, wie die Wiedertäufer im ſechszehnten Jahrhundert
und die Communiſten in neuerer Zeit mit Erfolg den Stat verneinen.


20.

Nomadenvölker gelten nicht als Stat, weil ſie keine feſten Wohnſitze
und kein eigenes Land haben; aber inſofern ſie als Völker geordnet ſind
und durch ihre Häupter oder ihre Verſammlungen einen gemeinſamen öf-
fentlichen Willen haben, werden ſie den Staten ähnlich behandelt und
können völkerrechtliche Verträge ſchließen. Die allgemein-menſchlichen Pflich-
ten des Völkerrechts liegen auch ſolchen Völkern ob.


Den Wanderſtämmen fehlt es an der Stätigkeit und meiſtens auch an einer
wirkſamen Einheit. Sie ſind hinter der Statenbildung zurück geblieben. Nur wenn
ſie ſich dauernd in einem Lande niederlaſſen, wie vormals die Juden in Paläſtina,
die arabiſchen Nomaden in Bagdad und Syrien und an den Küſten des Mittel-
meeres, die Mongolen in China, die Türken in dem oſtrömiſchen Reiche, kön-
nen ſie neue Staten bilden. Aber auch während ſie wandern, ſind die Staaten, in
deren Gebiet oder an deren Grenzen ſie ſich umher treiben, genöthigt, mit ihnen
einzelne Rechtsverhältniſſe durch völkerrechtliche Verträge zu ordnen oder ſie zur Be-
achtung völkerrechtlicher Pflichten anzuhalten. Die Staten haben ein Recht, den
Menſchenraub der Turkmannen zu verhindern und die Beduinen und Kir-
giſen
zu nöthigen, daß ſie die Pflanzungen der civiliſirten Nationen reſpectiren,
wenn gleich jene Völker nicht das Recht von Staten haben.


21.

Dasſelbe gilt von Statsvölkern mit einer Regierung, welche ihr bis-
heriges Land verlaſſen, um ein neues Gebiet in Beſitz zu nehmen. Sie
[65]Völkerrechtliche Perſonen.
ſind inzwiſchen nicht Staten und daher nicht Mitglieder der Völkergenoſſen-
ſchaft, aber ſie dürfen ſich den allgemeinen Pflichten nicht entziehen und
können völkerrechtliche Verträge ſchließen.


Zur Zeit der großen Völkerwanderung zu Anfang des Mittelalters fand die-
ſer Satz öftere Anwendung. In der heutigen Welt ſind die Staten feſter geworden;
aber unmöglich iſt eine Erneuerung ſolcher Auswanderungen nicht, wie ſchon die
Hinweiſung auf den Mormonenſtat zeigt.


22.

Die Staten ſind die Träger und Garanten des Völkerrechts und in-
ſofern völkerrechtliche Perſonen im höchſten Sinne des Worts.


Erſt ſeit der Auflöſung der Einen romano-germaniſchen Chriſtenheit des
Mittelalters in eine Anzahl ſelbſtändiger europäiſcher Staten iſt das heutige Völker-
recht entſtanden. Es ruht auf der Nothwendigkeit des menſchlich geordneten Neben-
einander der Staten, es wird gehandhabt durch die Autorität und geſchützt durch
die Macht dieſer Staten. Käme es zu einer neuen einheitlichen Geſammtordnung
und zu gemeinſamen Organen ihres Willens, ſo würde die gegenwärtige nicht
organiſirte Völkergenoſſenſchaft zum organiſirten Weltreich geeinigt, und das heutige
Völkerrecht in die Form des Weltrechts in höherem Sinne übergehen. Vgl. oben § 10.


23.

Die einzelnen Menſchen ſind keine völkerrechtliche Perſonen in dieſem
Sinne. Aber ſie haben Anſpruch auf den Schutz des Völkerrechts, wenn
in ihrer Perſon die von dem Völkerrecht gewährleiſteten Menſchenrechte
mißachtet worden ſind.


Die Anlage zum Weltbürgerrecht iſt bereits ſichtbar, aber ihre Ausbildung
iſt nur möglich, wenn es zu der politiſchen Organiſation der Welt kommen wird.
Der Einzelne iſt zunächſt als Individuum eine Privatperſon, ſodann hat er als
Bürger der Gemeinde und des Stats Antheil an den öffentlichen Rechten der Ge-
meinde und des Stats. Dort hat er auf Privatrecht, hier auf Statsrecht Anſpruch.
Auch ſeine Menſchenrechte werden zunächſt im State und durch die Rechtspflege des
States geſchützt. Seine menſchliche Perſönlichkeit reicht aber über den Stat hinaus.
„Das gemeinſame Vaterland iſt die Erde“. Heffter §. 15. Daher kann auch der
Einzelmenſch vorzüglich als Landesfremder in Beziehungen kommen, welche durch das
Völkerrecht geſchützt werden. Gäbe es ein Weltreich, ſo wäre er in dieſem Weltbür-
ger. Da es nur ein lockeres Nebeneinander der Staten gibt, ſo iſt er genöthigt, zu-
nächſt bei dem State, dem er als Statsgenoſſe angehört, auch die völkerrechtliche
Hülfe zu ſuchen. Indeſſen zeigt ſich auch darin die noch unvollſtändig entwickelte
Anlage zu höherer Statengemeinſchaft, daß auch fremde Staten ſich aus völkerrecht-
lichen Gründen des verletzten „Weltbürgers“ annehmen können, und oft an-
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 5
[66]Zweites Buch.
nehmen, wenn es an dem Schutz des genöſſiſchen States fehlt. In unzähligen
Fällen ſind ſo in Aſien Europäer von engliſchen oder ruſſiſchen Geſanten geſchützt
worden, die weder dem engliſchen noch dem ruſſiſchen Statsverband angehörten.


24.

Auch die Parteien, ſelbſt die organiſirten Kriegsparteien gelten, wenn
ſie nicht Staten ſind, nicht als völkerrechtliche Perſonen im eigentlichen
Sinn, obwohl ſie völkerrechtliche Pflichten zu beachten und je nach Um-
ſtänden durch das Völkerrecht geſchützte Anſprüche haben.


Ein Verſuch zur Statenbildung zeigt ſich zuweilen in der Organiſation von
Kriegsparteien, welche ſich ſtatliche Macht aneignen. Aber ſo lange ſie es nicht zu
wirklicher Statenbildung gebracht haben, können ſie auch nicht als Glieder des Staten-
vereins angeſehen werden. Von der Art waren z. B. die aufſtändiſchen Bewohner
der Vendée, während der franzöſiſchen Revolution, die Tyroler im Jahr 1809, das
Corps von Schill 1813, die Freiſchaar Garibaldi’s 1860. Vgl. unten Buch VIII.
Cap. I.


25.

Nationale Gemeinſchaften, welche keine ſtatliche Organiſation erhalten
haben, ſind weder im Stats- noch im Völkerrecht Perſonen geworden.
Aber ſoweit in ihnen das allgemeine Menſchenrecht zu ſchützen iſt, iſt der
Schutz des Völkerrechts begründet.


Inwiefern die Nationen zugleich politiſche Völker geworden ſind oder den
Hauptſtoff von Völkern bilden, bedürfen ſie keines beſondern völkerrechtlichen Schutzes.
Der Statsſchutz genügt. Wohl aber wird ein völkerrechtlicher Schutz
Bedürfniß, wenn Nationen, welche nicht im State eine politiſch geſicherte Stellung
haben, in einer das Menſchenrecht mißachtenden Weiſe von dem State ſelber unter-
drückt werden, auf deſſen Schutz ſie zunächſt angewieſen ſind. Es iſt ein auffallender
Mangel des zeitigen Völkerrechts und eine Ueberſpannung der Statsſouveränetät, daß
für dieſen Schutz noch ſo wenig geſorgt iſt. Die gewaltſame Ausrottung der bar-
bariſchen Ureinwohner in dem Machtgebiete europäiſcher und amerikaniſcher Colonien,
wie z. B. der Indianer in Amerika, iſt eine Verletzung des Völkerrechts. Aber auch
die zeitweiſen Judenhetzen in europäiſchen Staten ſind nicht bloß ſtats- ſondern
ebenſo völkerrechtswidrig.


26.

Die chriſtlichen Kirchen ſind keine völkerrechtlichen Perſonen im obi-
gen Sinn, indem ſie nicht Träger und Garanten des Völkerrechts ſind,
aber ſie ſind den Staten ähnliche Perſonen und können mit den Staten
[67]Völkerrechtliche Perſonen.
in Rechtsbeziehungen treten, welche einen mehr oder weniger ausgeprägten
völkerrechtlichen Charakter haben.


Im Mittelalter betrachtete ſich die römiſch-katholiſche Kirche als oberſte
völkerrechtliche Autorität. Das heutige Völkerrecht aber beruht nicht auf einer reli-
giöſen und kirchlichen, ſondern allein auf politiſcher und ſtatlicher Autorität. Aber
es erkennt die Perſönlichkeit der Kirchen an und betrachtet die Verträge
zwiſchen Kirche und Stat beſonders dann ähnlich wie die Verträge zwiſchen Stat
und Stat, wenn die Kirche nicht bloß auf das Statsgebiet begränzt iſt, und ihr
ſelbſtändiger Charakter auch in der Organiſation ausgebildet erſcheint. Am deutlich-
ſten zeigt ſich das in den Concordaten zwiſchen einzelnen Staten und dem päpſt-
lichen Stuhl. Aber auch eine Landeskirche kann vertragsmäßige Rechte haben
gegenüber dem State, mit dem ſie verbunden iſt. Nur wird dann das Verhältniß
eher einen ſtats- oder privatrechtlichen, ſeltener einen völkerrechtlichen Cha-
rakter haben.


27.

Die Statshäupter (Souveräne) und die Geſanten der Staten ſind
nur in abgeleitetem Sinne als völkerrechtliche Perſonen inſofern zu betrach-
ten, als ſie als Organe oder Repräſentanten der Staten erſcheinen und
mit andern Staten in Beziehung treten.


Es gilt das nicht allein von den Fürſten, ſondern auch von republikaniſchen
Regierungen, ebenſo nicht bloß von den eigentlichen Geſanten, ſondern von den diplo-
matiſchen Perſonen überhaupt. Sie alle aber ſind nur völkerrechtliche Perſonen in
mittelbarem Sinne, durch Vermittlung der Staten als der eigentlichen völker-
rechtlichen Perſonen. Hören ſie auf, Organe oder Vertreter der Staten zu ſein, ſo
erliſcht damit ihre völkerrechtliche Bedeutung von ſelbſt.


2. Entſtehung und Anerkennung neuer Staten.

28.

Die neue Statenbildung iſt ein geſchichtlicher Vorgang in dem poli-
tiſchen Leben der Völker.


Das Völkerrecht ſchafft nicht neue Staten, aber es verbindet die
gleichzeitig vorhandenen Staten zu einer gemeinſamen menſchlichen Rechts-
ordnung.


5*
[68]Zweites Buch.

Das Völkerrecht erkennt die dauerhaften Ergebniſſe der Weltgeſchichte
als rechtsbeſtändig an.


Bei der Statenbildung wirken verſchiedene politiſche Kräfte zuſammen, der
Ordnung und der Freiheit, der Macht und des Willens, der inſtinctiven Triebe und
des leitenden Gedankens, der inneren oder äußeren Nöthigung und der freien Selbſt-
beſtimmung. Je nachdem ein Factor als entſcheidende Autorität erkannt und aner-
kannt wird, erhält der Stat ſeine beſondere Verfaſſungsform, denn wer die höchſte
Autorität hat, der nimmt gewöhnlich die Zügel des Regiments in ſeine Hand. Nur
die Geſchichte macht es offenbar, ob ein Fürſt, oder eine Ariſtokratie oder die Ge-
meinde der Bürger die öffentlichen Angelegenheiten leite. Das Alles ſind nicht völ-
kerrechtliche ſondern ſtatsrechtliche Bildungen und Beſtimmungen (Bluntſchli,
Allg. Statsrecht. Buch III.). Das Völkerrecht ſetzt das Nebeneinander der Staten
voraus, wie ſie geſchichtlich geworden ſind. Die vorhandenen Staten verpflichtet es,
gemeinſame Rechtsgrundſätze zu beachten.


Da das Völkerrecht ſelbſt durch die Weltgeſchichte fortgebildet
wird, ſo muß es auch im übrigen die Ergebniſſe der Weltgeſchichte
reſpectiren.


29.

Die Frage, ob, aus welchen Urſachen und in welcher Form ein
neuer Stat entſtanden ſei, iſt voraus ſtatsrechtlich.


Die Frage dagegen, ob und in welcher Stellung ein neu gebildeter
Stat in der Genoſſenſchaft der Staten Zutritt erhalte, iſt weſentlich völ-
kerrechtlich.


Die Aufnahme des neuen States in die völkerrechtliche Staten-
gemeinſchaft geſchieht durch die Anerkennung der bisherigen Staten.


Die Frage, ob ein wirklicher Stat exiſtire, und was für eine Verfaſſung er
habe, iſt zunächſt eine Frage, welche ohne Rückſicht auf andere Staten lediglich im
Hinblick auf das beſtimmte, zu einem Stat geeinigte und in einem beſonderen
Lande organiſirte Volk, d. h. welche ſtats- nicht völkerrechtlich zu beant-
worten iſt. Aber wenn ein neuer Stat mit andern Staten in Beziehungen tritt, dann
iſt für dieſe die Ueberlegung nöthig, ob auch wirklich eine neue Statsperſönlichkeit
da ſei, auf welche die Rechte und Pflichten des Völkerrechtes paſſen. Als die nord-
amerikaniſchen Colonien ſich von England losriſſen, war dieſer geſchichtliche Vorgang
zunächſt ein Ereigniß innerhalb des engliſchen Stats und vorerſt nach engliſchem
Statsrecht zu beurtheilen; in dem Maße aber, in welchem die Colonien ihre Selb-
ſtändigkeit erkämpften und zu neuen Staten wurden, entſtand ein neues Stats-
recht
der nordamerikaniſchen Republiken, und in Folge deſſen eine neue völker-
rechtliche
Beziehung derſelben zu andern Staten. Die Frage, ob dieſe Staten
auch von den übrigen europäiſchen Staten anerkannt werden ſollen, war nach völker-
[69]Völkerrechtliche Perſonen.
rechtlichen Grundſätzen zu entſcheiden. Wie die Statenbildung ſo geht auch das
Statsrecht in dieſen Dingen dem Völkerrechte vorher.


30.

Die Anerkennung des bei der Neubildung betheiligten und vielleicht
dadurch verletzten alten Stats hat eine ſtärkere Wirkung als die Anerken-
nung von Seite der unbetheiligten und daher neutralen Staten, aber es
iſt nicht nothwendig, daß die erſtere der letzteren vorausgehe, wenn gleich
ſie einmal vollzogen eher die letztere nachzieht.


Die Anerkennung von Seite des alten betheiligten States hebt die Zweifel
und beendigt den Streit über die Neubildung. Sie drückt derſelben daher den Stem-
pel der Rechtmäßigkeit auf. Vgl. darüber die Rede des Miniſters Canning bei
PhillimoreII. §. 11. Aber es wird dem betheiligten alten Stat oft ſchwerer,
den neuen Stat anzuerkennen, als den unbefangenen dritten Staten. So hat, um
nur Beiſpiele aus dem letzten Jahrhundert zu geben, Frankreich früher die Ver-
einigten Staten
von Nordamerika anerkannt, als der Mutterſtat England,
und hinwieder England früher die ſüdamerikaniſchen Staten als der
Mutterſtat Spanien, die meiſten europäiſchen Mächte früher das Königreich
Italien, als das mittelbar betheiligte Oeſterreich und dieſes früher als das
unmittelbar betheiligte Papſtthum.


31.

So lange noch der offene Kampf über die neue Statenbildung fort-
dauert und es demgemäß zweifelhaft iſt, ob wirklich ein neuer Stat ent-
ſtanden ſei, iſt kein anderer Stat verpflichtet, den neuen Stat anzuerkennen.


Beiſpiele aus neuerer Zeit ſind die eine Zeit lang verfehlten Verſuche der
ſüdamerikaniſchen Colonien ſich loszureißen von den Mutterſtaten, die
unglücklichen Kämpfe der Polen 1830/32, 1863 und der Magyaren 1848/49
für Herſtellung eines beſonderen States, der nordamerikaniſche Südbund
1861—1865.


32.

Es kommt, in Ermanglung eines Weltgerichts, jedem vorhandenen
State zu, ſelbſtändig zu beurtheilen, ob die Neubildung eines States den
zeitigen Bedürfniſſen des Völkerlebens entſpreche und eine ausreichende
ſtatliche Kraft vorhanden ſei, um der Neubildung Sieg und Dauer zu
verleihen. Wenn er ſich überzeugt, daß dieſe Fragen zu bejahen ſeien,
ſo iſt er auch berechtigt, den neuen Stat als Stat anzuerkennen, obwohl
der Kampf noch fortdauert.


[70]Zweites Buch.

In dieſer frühzeitigen Anerkennung liegt keine Theilnahme an dem
Kampf und keine Rechtsverletzung gegen den Stat, welcher ſeinerſeits die
neue Statenbildung bekämpft.


Beiſpiele ſind die Anerkennung der Vereinigten Staten durch Frank-
reich
im Jahr 1778 während des engliſch-amerikaniſchen Kriegs und die Verhand-
lungen zwiſchen Frankreich und England darüber (vgl. Wheaton (hist. d. Droit
des gens I. p.
354) die Anerkennung der ſüdamerikaniſchen Staten durch
England 1825 (Depeſchen von Canning bei PhillimoreII. App. 1.), der
Vertrag zwiſchen England, Frankreich und Rußland vom 6. Juli 1827
über Griechenland als einen neuen Stat, die Anerkennung des Königreichs Bel-
gien
durch die V Mächte 1830 trotz der Einſprache des Königs der Niederlande,
die Anerkennung des Königreichs Italien auch in dem Neapolitaniſchen Gebiete
und in der Romagna durch England, während der König Franz II. von Neapel
noch in Gaëta ſich zu halten ſuchte. (Vgl. die merkwürdige Note Lord Ruſſels
vom 27. Oct. 1860.)


33.

Die frühzeitige Anerkennung kann jedoch in der Abſicht geſchehen,
ſich an dem Kampfe zu betheiligen und für die ſtatenbildende Macht Partei
zu ergreifen. In dieſem Falle iſt der Stat, welcher die neue Staten-
bildung mit Kriegsgewalt zu verhindern ſucht, berechtigt, jene Handlung
als eine feindliche That zu betrachten und demgemäß zu handeln.


Vgl. Anm. zu §. 32. England hat in Folge der frühen Anerkennung
der Vereinigten Staten durch Frankreich 1778 ſeinen Geſanten von
Paris abgerufen, und darin einen casus belli geſehen. Die Proclamation des
franzöſiſchen Nationalconvents an die Völker vom 19. Nov. 1793 und das An-
erbieten der Bundesgenoſſenſchaft war eine active Begünſtigung und Theilnahme an
der Neugeſtaltung republikaniſcher Staten, ebenſo die Unterſtützung der helveti-
ſchen
Republik durch die franzöſiſche wider die alten Republiken der Eid-
genoſſenſchaft 1798.


34.

Kein Stat iſt verpflichtet, den neuen Stat ſofort nach dem ſieg-
reichen Durchbruch der neuen Statenbildung anzuerkennen, wenn noch eine
ernſte Gefahr in Ausſicht iſt, daß der Kampf um deſſen Exiſtenz erneuert
werde, indem ebendeßhalb ſeine Fortdauer noch als zweifelhaft betrachtet
werden kann.


Aber jeder Stat iſt berechtigt, trotz ſolcher Zweifel im Vertrauen auf
[71]Völkerrechtliche Perſonen.
die Lebenskraft des neuen Stats, demſelben ſeine Anerkennung zu ge-
währen.


Um deßwillen geſchieht die Anerkennung neuer Staten gewöhnlich nicht gleich-
zeitig durch die übrigen Staten, ſondern nur ſtufenweiſe und allmählich, je nachdem
dieſelben derartigen Zweifeln ein geringes oder ein ſchweres Gewicht beilegen.
Natürlich hat bei der Schätzung des Zweifels auch die Neigung oder Abneigung
einigen Einfluß, und es wirken auch die politiſchen Intereſſen bald verzögernd bald
förderlich ein.


35.

Der neu gebildete Stat hat ein Recht auf Eintritt in die völker-
rechtliche Statengenoſſenſchaft und auf Anerkennung von Seite der übrigen
Staten, wenn ſein Beſtand unzweifelhaft und geſichert iſt. Er hat dieſes
Recht, weil er exiſtirt und das Völkerrecht die in der Welt exiſtirenden
Staten zu gemeinſamer Rechtsordnung verbindet.


Die Anerkennung eines wirklichen States durch andere Staten erſcheint frei-
lich in der Form eines freien Actes ſouveräner Staten, aber ſie iſt doch
nicht ein Act der abſoluten Willkür, denn das Völkerrecht verbindet die vor-
handenen Staten auch wider ihren Willen zu menſchlicher Rechtsgemeinſchaft. Die
in der älteren Litteratur vielfältig vertretene Meinung, daß es von dem bloßen Be-
lieben eines jeden States abhänge, ob er einen andern Stat anerkennen wolle, oder
nicht, verkennt die Rechtsnothwendigkeit des Völkerrechts und wäre nur dann richtig,
wenn das Völkerrecht lediglich auf der Willkür der Staten beruhte, d. h. bloßes
Vertragsrecht wäre.


36.

So wenig ein beſtehender Stat ſich der völkerrechtlichen Gemeinſchaft
willkürlich entziehen kann, ebenſo wenig können die übrigen Staten einen
beſtehenden Stat willkürlich aus dem Völkerverband ausſchließen.


37.

Die Pflicht zu völkerrechtlicher Anerkennung wird nicht durch die
Rückſicht darauf aufgehoben, daß die Statenbildung nicht ohne Gewaltthat
und Unrecht zu Stande gekommen ſei, indem das Völkerrecht die wirk-
lichen Staten auch dann verbindet, wenn ſie Unrecht thun und die Frage,
ob ein wirklicher Stat da ſei, nicht von der Untadelhaftigkeit ſeiner Geburt
abhängt.


Die Bildung neuer Staten geht faſt niemals ohne Gewalt vor ſich; indem
[72]Zweites Buch.
dabei Kräfte, die bis dahin nicht im Beſitz der Statsgewalt waren, dieſe durch Kampf
mit andern Gewalthabern erſtreiten müſſen. Man braucht nur die Entſtehungs-
geſchichte der gegenwärtigen Staten näher zu prüfen, ſo wird man überall wahr-
nehmen, daß die alten Autoritäten und das geſchichtliche alte Recht der neuen
Statenbildung ihren Widerſtand entgegen zu ſetzen verſucht haben und daß die neue
Rechtsbildung genöthigt war, dieſen Widerſtand zu überwältigen. Kriege, Revo-
lutionen, Uſurpationen haben einen weit größeren Antheil an der Bildung neuer
Staten als friedliche Verträge, oder freiwillige Verleihungen und unwiderſprochene
Statsacte. Für das Völkerrecht iſt aber immer entſcheidend die Exiſtenz der
Staten
. Da dieſe Rechtsperſonen ſind, ſo müſſen ſie als ſolche betrachtet und
ihre Beziehungen zu einander menſchlich geregelt werden. Die Mängel in der
Rechtsform der Entſtehung haben gewöhnlich nur eine ſtatsrechtliche Bedeutung
und werden auch ſtatsrechtlich geheilt. Das Völkerrecht braucht ſich nicht
darum zu kümmern. Nur wenn im Kampf mit einem andern State die Neu-
bildung durchgeführt wird, wird dieſe Frage zu einer völkerrechtlichen. Davon
handelt der folgende Artikel.


38.

Wenn ein Stat, deſſen Rechte bei der Neubildung eines andern
States verletzt worden ſind, außer Stande iſt, dieſe Neubildung und den
Beſtand des neuen States zu verhindern, ſo hat er auch das Recht nicht,
demſelben ſeine Anerkennung länger zu verſagen.


Der Gang der Weltgeſchichte, in welchem ſich die dauernde Macht der
Verhältniſſe
offenbart, alſo auch das lebendige Recht ſichtbar wird, zerſtört
alte und begründet neue Rechte. Wenn jene unhaltbar geworden ſind, ſo gehen
ſie unter, und wenn dieſe ihre Macht und Autorität bewährt haben, ſo ſind ſie nicht
mehr zu ignoriren. Spanien hat die Losreißung der Niederlande und das
deutſche Reich hat die Unabhängigkeit der Schweizeriſchen Cantone erſt im
Weſtphäliſchen Frieden anerkannt. So zähe die alten Mächte das längſt erſtorbene
Recht der frühern Jahrhunderte noch bewahren wollten, ſie waren dennoch ſchließlich
durch die Macht der Zeit genöthigt, die Umgeſtaltung anzuerkennen. Vgl. unten B. IV.


3. Einfluß der Verfaſſungswandlung auf die völkerrechtlichen
Verhältniſſe der Staten.

39.

Die beſondere Verfaſſung eines States bildet in der Regel keinen
Theil des Völkerrechts, ſondern iſt deſſen Statsrecht.


[73]Völkerrechtliche Perſonen.

Die Veränderung einer Statsverfaſſung hat daher in der Regel keine
völkerrechtlichen Wirkungen.


Vgl. oben §§ 9, 17, 18. Verfaſſungsfragen ſind innere Statsfragen.
Ob ein Stat als Monarchie oder Republik oder ob er abſolut oder repräſentativ
organiſirt ſei, das iſt zunächſt für das Völkerrecht gleichgültig. Die politiſchen
Beziehungen eines States zu andern Staten werden durch ſolche Verfaſſungs-
änderungen wohl oft genug verändert, indem die frühern Machthaber geſtürzt
werden und andere Parteien zur Herrſchaft gelangen. Mit der frühern Regierung
beſtand vielleicht eine intime Freundſchaft, die mit der neuen nicht fortgeſetzt werden
kann, oder es waren damals geſpannte Verhältniſſe mit jener, die leicht mit dieſer
ausgeglichen werden. Aber die völkerrechtlichen Rechtsverhältniſſe werden durch
die innere Verfaſſungsänderung nicht betroffen und nicht geändert. Möglich daß die
geänderte Politik im Krieg und Frieden auch dieſe Verhältniſſe im Verfolge ändert.
Das iſt aber nicht eine unmittelbare Wirkung der Verfaſſungsänderung, ſondern
eine Folge anderer rechtbildender Ereigniſſe.


40.

Der Stat bleibt dieſelbe völkerrechtliche Perſon, wenn er gleich bald
in der Geſtalt einer Monarchie bald in der Form einer Republik erſcheint,
in der einen Zeitphaſe conſtitutionel, in einer andern autokratiſch regiert
wird. Deßhalb bleiben auch ſeine Rechte und Verpflichtungen gegenüber
andern Staten fortbeſtehn.


Der engliſche Stat war völkerrechtlich derſelbe Stat vor, während und
nach den Revolutionen von 1649 und 1688, obwohl die Statsformen und die Re-
gierungen heftige Wechſel erlebten. Ebenſo blieb der franzöſiſche Stat als
Perſon fortbeſtehn, ungeachtet er ſeit 1789 eine Reihe der durchgreifendſten Ver-
faſſungsänderungen erfahren hat. Die Individualität des Volks und die Fortdauer
des Landes beſtimmen die Exiſtenz des States und jene verharren im Weſen, wenn
auch die äußeren Erſcheinungsformen ſich verändern.


41.

Da die Staten als Perſonen Verträge mit einander eingehen, ſo
iſt die Fortdauer der Vertragsverhältniſſe nicht bedingt durch die Fortdauer
der Regierungen, welche die Verträge abgeſchloſſen haben.


Nicht bloß die Geſanten, ſondern auch die Fürſten ſchließen die Verträge ab
nicht für ſich, ſondern als Repräſentanten der Staten. Die Staten ſelbſt
erwerben daraus Rechte und werden dadurch verpflichtet. Vgl. unten Buch VI.
Deßhalb dauern dieſe Rechtsverhältniſſe fort, wenn gleich eine andere Dynaſtie in
einem der Staten zur Herrſchaft erhoben oder die Monarchie in die Republik um-
gewandelt wird. Der Satz wurde auch in den Verhandlungen der europäiſchen
[74]Zweites Buch.
Mächte mit Frankreich nach der Erhebung Napoleons III. zum Kaiſer von Frank-
reich allſeitig anerkannt. Vgl. unten § 123. Der moderne Grundſatz iſt in dem
Protokoll der V Großmächte zu London (19. Februar 1831) ausgeſprochen:
„D’après ce principe d’un ordre supérieur, les Traités ne perdent pas leur
puissance, quels que soient les changemens qui interviennent dans l’organi-
sation intérieure des peuples.“


42.

Ueberhaupt werden Rechte und Pflichten eines States gegen einen
andern Stat nicht verändert, wenn gleich die Regierungsform eines dieſer
Staten eine Wandelung erfährt.


Auch das Statsvermögen verbleibt dem State trotz des Wechſels
der Dynaſtie oder der Statsform.


Es zeigt ſich das z. B. in den Grenzverhältniſſen und bei Statsdienſt-
barkeiten. Dieſelben bleiben dieſelben, mag der Stat monarchiſch oder republikaniſch
regiert werden, dieſe oder jene Verfaſſung haben.


43.

Nur diejenigen völkerrechtlichen Verträge und Rechtsverhältniſſe,
welche ſich weſentlich nicht auf den Stat ſelbſt ſondern nur auf die Per-
ſonen beſtimmter Regenten oder Dynaſtien im State beziehen, verlieren
durch eine Verfaſſungswandelung ihre Geltung und Wirkſamkeit, wenn jene
Perſonen in Folge derſelben ihre Eigenſchaft als Häupter oder Dynaſtien
dieſes States einbüßen.


Deßhalb haben Verträge eines States mit der Dynaſtie eines andern
States, welche den Schutz derſelben bezwecken, nur eine beſchränkte Wirkſamkeit.
Wenn trotzdem dieſe Dynaſtie durch eine Revolution geſtürzt oder durch eine
Uſurpation beſeitigt wird und die Verfaſſungsänderung ſo vollzogen iſt, daß ein
neues Statsrecht zur Wirkſamkeit gelangt iſt, ſo hört auch für den Stat, welcher
die geſtürzte Dynaſtie zu ſchützen verſprochen hatte, dieſe Verpflichtung auf. Beiſpiele
ſind die Verträge König LudwigsXIV. von Frankreich mit JakobII. von
England, die Verträge des Kaiſers von Oeſterreich mit dem Bourboniſchen
Königshauſe von Neapel und andern Italieniſchen Fürſten, nach der Reſtauration
von 1815, die Verabredungen NapoleonsIII. mit dem Kaiſer Maximilian
von Mexico in unſern Tagen. Das Statsrecht wirkt in allen dieſen Dingen ent-
ſcheidend und das Völkerrecht wirkt nur nachträglich unter der Vorausſetzung
des Statsrechts.


44.

Wird eine entthronte oder vertriebene Dynaſtie ſpäter wieder re-
ſtaurirt, ſo iſt ſie nicht berechtigt, die völkerrechtlichen Verhältniſſe, welche
[75]Völkerrechtliche Perſonen.
in der Zwiſchenzeit von der damals anerkannten Regierung geſchaffen
worden ſind, als nicht geſchehen zu betrachten, indem der Stat inzwiſchen
fortlebt und ſeinen Rechtswillen durch die jeweiligen in Wirkſamkeit be-
griffenen Organe äußert.


Z. B. Es kam den reſtaurirten Stuarts in England und den reſtaurirten
Bourbonen in Frankreich nicht zu, Verträge als nichtig zu behandeln, welche dort
der Protector Cromwell für England und der Kaiſer Napoleon für Frank-
reich inzwiſchen abgeſchloſſen hatte und es war nicht Rechtsübung, ſondern eitle
Dynaſtenlaune, wenn der reſtaurirte König von Piemont, und der reſtaurirte
Kurfürſt von Heſſen 1814 die ganze Periode der Zwiſchenregierung als nicht vor-
handen fingirten. Die Statshandlungen verbinden den Stat, der bleibt, und
deßhalb auch die wechſelnden Repräſentanten des Stats.


45.

Nur wenn die Zwiſchenregierung nicht zu wirklichem Beſtande ge-
langt iſt und deßhalb ihre Handlungen nicht als Statsacte gelten, braucht
ſich die reſtaurirte Regierung nicht darum zu kümmern.


Z. B. Die Zwiſchenregierung des Dictators Manin in Venedig, Koſſuths
in Ungarn, die republicaniſchen Regierungen von Rom und in Baden im
Jahre 1849 wurden mit Recht nicht als wahre Repräſentanten der betreffenden
Staten anerkannt.


4. Antergang der Staten, Abtretung von Statsgebiet,
Einverleibungen, Statenfolge.

46.

Die bloße Gebietsverminderung bedeutet ſo wenig Untergang eines
States als die Abnahme ſeiner Bevölkerung, wenn nur Land und Volk
weſentlich dieſelbe verbleiben.


Man ſieht dabei auf die Hauptbeſtandtheile des Landes, welche vorzüglich
den Charakter des States bedingen und den Kern des Volkes. In dem antiken
Römerreiche bildeten Italien und Rom den Hauptkern des römiſchen States,
welcher daher noch als fortdauernd angeſehen ward, obwohl eine römiſche Provinz
nach der andern von den Germanen abgeriſſen wurde. Auch in unſerm Jahr-
hunderte blieb Preußen derſelbe Stat, nachdem er im Frieden von Tilſit 1807
[76]Zweites Buch.
faſt die Hälfte ſeines Gebietes eingebüßt hatte, weil die alten Stammlande er-
halten blieben. Ebenſo blieb Frankreich nach den Abtretungen in den beiden
Pariſerfrieden 1814/15 und Oeſterreich nach dem Verluſte der Lombardei 1859
und von Venedig 1866, weil Frankreich nur ſeine Eroberungen wieder aufgeben
mußte und nicht die italieniſchen Provinzen, ſondern die Donauländer den Kern der
öſterreichiſchen Monarchie bilden.


47.

Die Abtretung einer Provinz oder eines andern Theiles des Stats-
gebietes hat inſofern auf die völkerrechtlichen Verhältniſſe des fortdauernden
States einen Einfluß, als diejenigen Rechte, welche ihm bezüglich des ab-
getretenen Gebietes gegen andere Staten bisher zuſtanden, und diejenigen
Verpflichtungen, welche ihm bisher mit Rückſicht darauf oblagen, nun von
ihm abgelöſt werden und mit der Abtretung auf den Stat übergehen,
welcher dieſelbe erwirbt.


Von der Art ſind Grenzregulirungen, Beſtimmungen über den
Uferbau und die Flußſchiffahrt (über Kirchen, Spitäler u. ſ. f.), offene
Straßen, beſondere Provincialſchulden.


Man kann dieſe Rechte und Pflichten, inſofern ſie einem beſtimmten Landes-
theile anhaften, örtliche, und inſofern ſie einem beſtimmten Stamme oder be-
ſtimmten Perſonenclaſſen anhängen, perſönliche nennen. Die örtlichen Rechte
und Pflichten ſind an den Ort, die perſönlichen an die Perſon gebunden und folgen
dem politiſchen Schickſale derſelben. Im Einzelnen freilich können Zweifel entſtehen,
ob der örtliche und perſönliche Zuſammenhang oder die Beziehung auf den Stat
als weſentlich erſcheint. Die im Auftrag der beiden Nachbarſtaten geſetzten Mark-
ſteine zur Bezeichnung der Grenzen gelten natürlich in derſelben Weiſe für die
Grenzländer fort, wenn ſchon das eine Grenzgebiet einem andern State einverleibt
worden iſt. Ebenſo verhält es ſich mit den Verabredungen zweier Staten über den
Uferſchutz, über Anlegung und Unterhaltung von Dämmen, über die Schiffahrt auf
einem beſtimmten Fluſſe, über Landungsplätze u. dgl.; ſie beziehen ſich auf eine be-
ſtimmte Oertlichkeit, und wirken fort auch gegenüber dem State, welcher ſpäter die
Hoheit über dieſe Oerter neu erworben hat. Wenn gleich dieſer Stat bei der Be-
gründung dieſer Rechtsverhältniſſe nicht mitgewirkt hat, ſo kann er doch das neue
Gebiet nur in dem rechtlichen Zuſtande übernehmen, in dem es ſich befindet, d. h.
mit den vorhandenen Ortsrechten und Ortspflichten. Aehnlich verhält
es ſich mit den durch Statenverträge garantirten perſönlichen Rechten z. B.
einer beſtimmten Religionsgenoſſenſchaft auf Ausübung ihres Cultus, mit dem An-
theil, der einer beſtimmten Claſſe von Fremden an der Benützung örtlicher Anſtalten
(Krankenheil- und pflegehäuſer, Pfründhäuſer, Bildungsanſtalten u. ſ. f.) zugeſichert
worden iſt. Dieſe Rechte gehen nicht unter, wenn gleich an die Stelle des States,
zu welchem bisher jene Religionsgenoſſen und dieſe Anſtalten gehörten, ein anderer
[77]Völkerrechtliche Perſonen.
Stat tritt. Aber immerhin iſt die Fortdauer und Wirkſamkeit ſolcher perſönlichen
Rechte mehr gefährdet als die der örtlichen Rechte, weil die perſönlichen Verhältniſſe
von der politiſchen Umgeſtaltung leichter erfaßt und gewandelt werden als bloße
örtliche Einrichtungen.


48.

Dagegen gehen keineswegs alle vertragsmäßigen Rechte und Ver-
bindlichkeiten eines States gegenüber andern Staten von Rechts wegen,
weder im Ganzen noch im Verhältniß der Ausdehnung des Gebietes oder
der Volkszahl auf den abgetrennten Theil über, wenn gleich dieſer Theil
nun zu einem ſelbſtändigen neuen State geworden iſt. Die alte Vertrags-
perſon bleibt berechtigt und verpflichtet, der neue Stat iſt weder Ver-
tragsperſon, noch Nachfolger jener Vertragsperſon.


Z. B. Die Vereinigten Staten von Nordamerika ſind nicht in alle
Vertragsverhältniſſe von Rechts wegen eingetreten, welche von den Königen von
England zu der Zeit mit fremden Staten abgeſchloſſen worden waren, als die
nordamerikaniſchen Colonien noch einen Theil des engliſchen Reiches bildeten. Ebenſo
tritt das Königreich Italien nicht ohne weiters in die ſämmtlichen Vertragsver-
hältniſſe Oeſterreichs mit andern Staten ein, an welchen auch die norditalieniſchen
Provinzen mittelbar Theil hatten, ſo lange ſie zu Oeſterreich gehörten, ſondern nur
in diejenigen, welche ſich örtlich auf die Lombardei oder auf Venedig insbeſondere
bezogen, wie z. B. die Lombardiſche und Venetianiſche Schuld.


49.

Zerfällt ein Stat in zwei oder mehrere neue Staten, von denen
keiner als die Fortſetzung des alten States zu betrachten iſt, ſo iſt der
alte Geſammtſtat untergegangen und es treten die neuen Staten als neue
Perſonen an ſeine Stelle.


Neuere Beiſpiele ſind die Auflöſung des römiſchen Reiches deutſcher
Nation
in eine Anzahl ſouveräner deutſcher Staten 1805 und 1806, die Theilung
des Cantons Baſel in die Halbcantone Baſelſtadt und Baſelland, 1833. Das
Beiſpiel der Theilung der Vereinigten Niederlande in die Königreiche Hol-
land
und Belgien 1831 gehört theilweiſe auch hieher, obwohl in gewiſſem Sinne
die Niederlande in Holland vorzugsweiſe fortdauerten, namentlich im Verhältniß zu
den Colonien.


50.

Wird ein bisheriger Stat einem andern State einverleibt, ſo geht
zwar jener Stat unter, aber ſein Untergang zieht deßhalb nicht noth-
[78]Zweites Buch.
wendig den Untergang ſeiner völkerrechtlichen Rechte und Pflichten nach
ſich, weil die Volksſubſtanz und das Land fortdauern und nur in den
neuen Statenverband übergehen.


Vielmehr gehen Rechte und Pflichten inſoweit mit Volk und Land
auf den Nachfolgeſtat über, als ihre Fortdauer möglich und in den fort-
wirkenden Verhältniſſen begründet erſcheint.


Die Beiſpiele ſind in neuerer Zeit nicht ſelten. Das erſte Napoleoniſche
Kaiſerreich
hatte ſich eine große Anzahl von Staten nach und nach einverleibt.
Aber auch die deutſchen Staten hatten zur Zeit der Auflöſung des alten
Kaiſerreichs viele geiſtliche und weltliche Territorien annexirt. Eine Zeit lang
brachte die Wiener Congreßacte das europäiſche Statenſyſtem zur Ruhe. Indeſſen
hatte ſie ſelber manche Einverleibung beſtätigt und Oeſterreich annexirte ſpäter
die Republik Krakau. Zahlreichere Annexionen kennt die neueſte Entwicklung der
nationalen Politik, insbeſondere Savoyen durch Frankreich, der italieniſchen
Fürſtenthümer durch das neue Königreich Italien (1860), der deutſchen Staten
Hannover, Kurheſſen, Naſſau, Schleswig-Holſtein und Frankfurt
durch Preußen (1867).


51.

Wenn ein Stat durch Wahl oder in Folge des Erbrechts das
Statshaupt eines andern States auch zu ſeinem Statshaupt erhält
(Perſonalunion), ſo hört er noch nicht auf, als eine beſondere Stats-
perſon zu gelten; und es tritt in dieſem Falle keine Statenfolge ein.


Jeder der ſo verbundenen Staten verbleibt in ſeinen völkerrechtlichen Ver-
hältniſſen. Im Mittelalter waren die Beiſpiele häufiger, als in unſrer Zeit,
welche die Tendenz hat, entweder die Perſonalunion in eine Realunion umzuwan-
deln, damit die Einheit in der Politik und die Gleichheit im Recht zur Geltung
kommen oder die bloß durch Perſonalunion verbundenen Staten wieder gänzlich zu
trennen. Neuere Beiſpiele ſind die Verbindung von Schweden und Norwegen, der
Herzogthümer Schleswig und Holſtein mit der Krone Dänemark, des Königreichs
Hannover mit der engliſchen Krone, des Fürſtenthums Neuenburg mit der Krone
Preußen, des Großherzogthums Luxemburg mit der Holländiſchen Krone.


52.

So viel wirkliche Staten vorhanden ſind, ſo viel völkerrechtliche Per-
ſonen ſind vorhanden. Der Stat, welcher mehrere andere Staten ſich ein-
verleibt hat, hat völkerrechtlich nur Eine Stimme, nicht mehrere Stimmen,
da er nur Eine Statsperſon iſt. Umgekehrt haben die mehreren Staten,
welche aus der Spaltung Eines States hervorgegangen ſind, völkerrechtlich
[79]Völkerrechtliche Perſonen.
jeder eine Stimme, wenn gleich dieſe Völker bis dahin zu Einem State
geeinigt nur Eine Stimme hatten.


In dem ältern deutſchen Reichsrecht und ebenſo in dem früheren ſchweizeriſchen
Bundesrecht hatte ein anderer Grundſatz gegolten, nämlich der ein für alle Mal an
beſtimmte Territorien und Cantone geknüpfter Stimmrechte, ſo daß z. B. Oeſter-
reich und Preußen mehrere Stimmen in der Curie der Fürſten und Herren übten,
weil ſie mehrere Herrſchaften beſaßen und die ſchweizeriſchen Halbcantone nur je
zuſammen Eine Stimme auf den Tagſatzungen führten. Der ſtatlich richtige Grund-
ſatz iſt aber ſpäter auch im deutſchen Bunde und in dem ſchweizeriſchen Bundes-
ſtate durchgedrungen.


53.

Mit dem Untergang eines States verliert ſein Verfaſſungsrecht die
ſelbſtändige Autorität und Wirkſamkeit. Aber es iſt möglich, beſtimmte
ſtatsrechtliche Einrichtungen, welche trotz des Ueberganges in einen Nach-
folgeſtat fortdauern ſollen, auch für die Zukunft unter den Schutz des
Völkerrechts zu ſtellen.


Die bisherige Verfaſſung und das bisherige Statsrecht hatten in dem Willen
des untergegangenen States die Quelle ihrer Autorität und in ſeiner Macht die
Garantie für ihre Wirkſamkeit gefunden. Jener beſondere Statswille und dieſe
Statsmacht ſind nun aber mit dem State ſelber untergegangen und es iſt ein
neuer Stat an ſeine Stelle getreten, deſſen Wille und Macht nun entſcheiden. Eben
deßhalb verſteht ſich auch die Fortdauer der bisherigen Verfaſſung und des bisherigen
öffentlichen Rechts nicht von ſelber. In den wichtigſten Beziehungen — insbeſondere
der politiſchen Regierung und Vertretung — iſt dieſelbe geradezu unmöglich ge-
worden, wenn der Nachfolgeſtat wirklich zur Herrſchaft und Entwicklung gelangen
ſoll. Sie können daher nur inſoweit fortdauern, als der Nachfolgeſtat das für
zuläſſig erachtet und ſeinerſeits gutheißt.


Wohl aber laſſen ſich auch bei Einverleibungen beſtimmte Verfaſſungs-
zuſtände
und Einrichtungen erhalten und es kommt wohl vor, daß das ver-
tragsmäßig verabredet wird. So ſind z. B. bei der Vereinigung der deutſchen
Oſtſeeländer
mit dem Ruſſiſchen Reiche beſtimmte Zuſicherungen gegeben worden,
zum Schutz der beſtehenden politiſchen und confeſſionellen Rechte der Bewohner.
Ebenſo enthält die Wiener Congreßacte manche derartige Vorbehalte bezüglich
der Zutheilung von Ländern an die anerkannten europäiſchen Staten. Dieſelben haben
freilich nur eine beſchränkte Wirkſamkeit und ſind immerhin unſicher, weil die Eini-
gung innerhalb eines States mit der Zeit Fortſchritte macht, und es ſchwer, oft un-
möglich und unzuläſſig iſt, der ſouveränen Statsgewalt Widerſtand zu leiſten, wenn
ſie an die Stelle des alten ein neues Recht zu ſetzen entſchloſſen iſt.


[80]Zweites Buch.
54.

Das Statsverwögen der untergehenden Staten geht in Activen und
Paſſiven auf den oder die Nachfolgeſtaten über.


Es gibt ein ſtatsrechtliches Folgerecht, das eine gewiſſe Analogie hat
mit dem privatrechtlichen Erbrecht, aber nicht mit demſelben zu verwechſeln
iſt. Das Statsvermögen kann beſtehen:


  • a) aus öffentlichem Gute (Domaine public), welches entweder von
    Natur, wie die öffentlichen Gewäſſer, Straßen, Plätze, Häfen u. ſ. f. oder
    durch beſondere ſtatliche Anordnung wie Reſidenzen, Rath- und Gerichts-
    häuſer, Caſernen, Gefängniſſe u. dgl. dem Privatrecht entzogen iſt und
    ausſchließlich der öffentlichen Herrſchaft und Benutzung angehört oder
  • b) aus Privatgut, welches dem Fiscus gehört, wie z. B. einzelne Ge-
    werbe, landwirthſchaftliche Grundſtücke, Geld.

Auf all dieſes Vermögen bezieht ſich dieſes ſtatliche Folgerecht. Für das öf-
fentliche Gut verſteht es ſich von ſelber, daß dasſelbe dem State folgt, dem es dient.
Aber auch das Privatvermögen des States wird nicht herrenloſes Gut, wenn der
Stat untergeht, ſondern da die Perſon, welcher es bisher angehörte, nicht gänzlich
verſchwindet, ſondern mit Volk und Land, alſo ihrem Stoffe nach in den neuen
Stat übergeht
, folgt es naturgemäß dieſer perſönlichen Wandelung nach, und
wird deßhalb Privatgut des neuen States, in welchem der Stoff des alten
States fortlebt
.


55.

Sind mehrere Nachfolgeſtaten vorhanden, welche an die Stelle des
Einen untergehenden States treten, und iſt die Art der Theilung des
Staatsvermögens nicht vertragsmäßig geordnet worden, ſo ſind nicht die
privatrechtlichen Regeln der Erbtheilung unter mehrere Erben einfach an-
zuwenden, ſondern es iſt voraus die öffentlich-rechtliche Natur des öffent-
lichen Gutes zu berückſichtigen.


Die öffentlich-rechtliche Statenfolge und das privatrechtliche Erbrecht ſind in-
ſofern ähnlich, daß in beiden Fällen das bisherige Subject des Vermögens dort durch
Untergang hier durch Tod wegfällt, aber das Vermögen desſelben auf andere Per-
ſonen übergeht, welche in gewiſſem Sinne als Fortſetzer ſeiner Perſönlichkeit ange-
ſehen werden. Aber das geſetzliche Privaterbrecht beruht auf dem Familienverband
zwiſchen Erblaſſer und Erben, welcher bei der Statenfolge fehlt, und die Statenfolge
beruht auf dem totalen oder theilweiſen Uebergang von Volk und Land auf den
Folgeſtat. Die privatrechtliche Verlaſſenſchaft hat nur eine Beziehung auf die Per-
ſonen der Erben und wird daher je nach der Nähe ihrer Verwandtſchaft unter die-
ſelben vertheilt, ſei es nach Stämmen, ſei es nach Köpfen. Das zurückgelaſſene
Statsvermögen dagegen hat eine natürliche Beziehung zu Volk und Land und
[81]Völkerrechtliche Perſonen.
den öffentlichen Bedürfniſſen beider. Daher iſt die Vertheilung nach öffent-
lich-rechtlichen Grundſätzen zu ordnen.


56.

Demgemäß fällt das für öffentliche Zwecke beſtimmte liegende Gut,
wie öffentliche Gebäude, Anſtalten und Stiftungen zunächſt dem State zu,
in deſſen Gebiete ſie gelegen ſind oder ſie ihren Hauptſitz haben und der
erwerbende Stat iſt nur inſofern eine billige Entſchädigung an die Thei-
lungsmaſſe ſchuldig, als dieſelben bisher auch den öffentlichen Bedürfniſſen
der Bevölkerung der andern Staten gedient haben und dieſe zur Befrie-
digung ſolcher Bedürfniſſe zu neuen Vermögensleiſtungen genöthigt werden.


Selbſtverſtändlich fallen auch die öffentlichen Gewäſſer, Straßen, Plätze, Küſten,
Häfen u. ſ. f. ohne Entſchädigung dem State zu, mit welchem ſie von Natur ver-
bunden ſind. Auch wenn damit gewiſſe Einkünfte verbunden ſind, wie z. B. Wege-
gelder, Hafengebühren u. dgl., ſo iſt dafür kein Erſatz zur Theilung zu bringen, ſo
wenig als für den Unterhalt der Straßen, Häfen u. ſ. f. eine Forderung.


Anders verhält es ſich z. B. mit einer Pflegeanſtalt für Kranke, welche auch
von den Kranken der Gemeinden benutzt werden konnten, die nun einem andern
State zugetheilt ſind, als dem, in deſſen Gebiet die Krankenpflegeanſtalt gelegen iſt.
Da iſt ein billiger Erſatz in Anrechnung zu bringen.


57.

Die vorhandenen Waffenvorräthe und Kriegsausrüſtungen (Kanonen,
Gewehre, Uniformen u. ſ. f.) ſind im Zweifel nach Verhältniß der Volks-
zahl zu vertheilen.


Nach der Volkszahl richtet ſich auch die Wehrpflicht und die Größe des Be-
dürfniſſes der Ausrüſtung. Anders freilich iſt es, wenn die Waffenvorräthe durch
Matrikularbeiträge beſchafft worden ſind, wie in dem deutſchen Bunde von 1815.
Dann wird das Verhältniß der Matrikel auch bei der Theilung zu beachten ſein.


58.

Die eigentlichen Domänen, die öffentlichen Caſſen und überhaupt das
Privateigenthum des Stats, welches nur mittelbar den öffentlichen Zwecken
dient, bildet eine gemeinſame Theilungsmaſſe und wird, wenn nicht beſon-
dere Gründe eine Abweichung rechtfertigen, nach Verhältniß der Volkszahl
unter die mehreren Folgeſtaten vertheilt, ſo jedoch, daß die Liegenſchaften
dem State verbleiben, in deſſen Gebiete ſie liegen und nur der Schätzungs-
werth derſelben zur Vertheilung kommt.


Bluntſchli, Das Völkerrecht. 6
[82]Zweites Buch.

Es gibt kein natürlicheres Theilungsverhältniß, und keinen ſichereren Maßſtab
der Theilung als die Volkszahl, obwohl vielleicht die eine Bevölkerung z. B. die
ſtädtiſche vor der anderen z. B. der bloß ländlichen durch Vermögen, Bildung und
durch höhere Bedürfniſſe hervorragt. Um eine gerechte und allgemein verſtändliche
Löſung zu finden, muß man zu den einfachſten und urſprünglichſten Elementen des
States zurückgehen und das ſind doch die Menſchen, die er einigt.


59.

Die Statsſchulden ſind nicht nach Verhältniß der Volkszahl, ſondern
wenn ſie hypotheſirt oder fundirt ſind, im Anſchluß an die verpfändeten
Liegenſchaften oder das Fundirungsgut, im übrigen nach Verhältniß der
Steuerleiſtungen zu vertheilen.


1. Indem der Stat ſeine Anleihen hypotheſirt oder fundirt, bringt er dieſel-
ben in einen nähern Zuſammenhang mit andern Gütern, und dieſer Zuſam-
menhang wirkt fort
, obwohl der Stat ſich auflöſt. Die Gläubiger halten ſich
daran und kommen eben deßhalb nur mit dem Folgeſtat in eine neue Beziehung,
welchem dieſe Güter zugefallen ſind. Eine Scheidung der perſönlichen Schuld und
der dinglichen Sicherung iſt hier nicht ebenſo ſtatthaft wie im Privatrecht.


2. Die Sicherheit der übrigen Statsſchulden beruht auf der Steuerkraft
der Statsgenoſſen
und dieſe wird bemeſſen nach der wirklichen Steuer-
leiſtung
. Dieſe gibt daher einen gerechteren Maßſtab als die Volkszahl. Man
denke ſich z. B. einen Stat in zwei Staten aufgelöſt, von denen der eine eine reiche
Städtebevölkerung, der andere eine arme Landbevölkerung hat. Da würde bei einer
Vertheilung der Statsſchulden nach der Volkszahl der eine Stat überlaſtet, er könnte
die Schuld nicht tragen, und der andere Stat unverhältnißmäßig in der bisherigen
Steuerleiſtung erleichtert, zum Schaden der Gläubiger.


60.

Geht ein Stat durch Ausſterben oder Zerſtreuung oder Aus-
wanderung ſeines Volkes auch in der Volks- oder Landesſubſtanz unter,
dann erlöſchen mit ſeiner Perſönlichkeit auch ſeine Rechte und Verpflich-
tungen.


Als die Juden mit Vertilgung der fremden Einwohner Paläſtina beſetzten,
ward der neue jüdiſche Stat in keiner Weiſe Rechtsnachfolger der daſelbſt unter-
gegangenen Staten. Ebenſo als die Germaniſchen Völker zur Zeit der Völkerwan-
derung ihre alten Wohnſitze verließen, gingen auch ihre alten Staten unter und die
nachrückenden germaniſchen oder ſlaviſchen Völker traten ebenſo wenig als ihre Rechts-
nachfolger an ihre Stelle als das römiſch-byzantiniſche Reich, welches jene aufnahm,
deßhalb zum Rechtsnachfolger ihrer untergegangenen Staten ward.


[83]Völkerrechtliche Perſonen.
61.

Die vorübergehende Schwäche oder Noth eines States führt nicht
ſeinen Untergang herbei; wohl aber die dauernde Ohnmacht und die offen-
bare Unfähigkeit desſelben, ferner ſelbſtändig zu leben.


Es gibt kein Recht, die „kranken“ Staten zu vernichten und dann zu beerben.
Es iſt möglich, daß ein tief zerrütteter und geſchwächter Stat ſich wieder erhole.
Wenn aber dieſe Möglichkeit verſchwunden und die Ohnmacht dauernd geworden iſt,
dann geht mit der Fähigkeit zu leben auch das Recht als Stat zu leben unrettbar
unter. Das Völkerrecht ſchützt nur lebensfähige Staten. So gefährlich dieſer Satz
iſt, weil er ſophiſtiſch mißbraucht werden kann, ſo iſt doch die Wahrheit desſelben
unbeſtreitbar. „Nur der Lebende hat Recht“.


5. Völkerrechtliche Eigenſchaften der Staten.

A.Handlungsfähigkeit.

62.

Jeder Stat iſt als Rechtsweſen berechtigt, ſeinen Rechtswillen zu
äußern und Handlungen mit Rechtswirkung vorzunehmen. Aber er bedarf
dazu beſonderer von Menſchen erfüllter repräſentativer Organe.


Weil der Stat eine Geſammtperſon iſt und in ſeiner Verfaſſung nicht einen
natürlichen ſondern einen nachgebildeten Culturleib hat, ſo bedarf er menſchlicher
Organe und Vertreter ſeines Willens und ſeiner Handlungen. Das Statshaupt
repräſentirt voraus den Stat im Verkehr mit andern Staten.


63.

Im Verhältniß der Staten zu einander wird der thatſächliche In-
haber und Träger der Statsgewalt (das wirkliche Statshaupt) als das
Organ des Statswillens und als der Vertreter des States betrachtet.


Vgl. unten § 315 ff.


B.Souveränetät.

64.

Die Souveränetät eines States zeigt ſich


6*
[84]Zweites Buch.
  • a) in der Unabhängigkeit desſelben von einem fremden State und
    in der Ablehnung jeder fremden Statshandlung auf ſeinem
    Gebiet;
  • b) in der Freiheit desſelben, ohne Behinderung fremder Staten
    ſeinen eigenen Statswillen ſelbſt zu beſtimmen und nach eigenem
    Ermeſſen zu äußern und zu bethätigen.

Die Souveränetät iſt zunächſt wieder ein ſtatsrechtlicher Begriff und bedeutet
die Statsgewalt in höchſter Potenz und in oberſter Inſtanz. Die
völkerrechtliche Bedeutung derſelben tritt erſt hervor im Verhältniß zu fremden
Staten.


65.

Souveränetät heißt nicht abſolute Unabhängigkeit noch abſolute Frei-
heit eines States, denn die Staten ſind keine abſoluten Weſen, ſondern
rechtlich beſchränkte Perſonen.


Der Begriff der Souveränetät iſt zuerſt in Frankreich und zwar in der Zeit
ausgebildet worden, als das franzöſiſche Königthum alle Statsgewalt in möglichſt
abſolutem Sinne in ſeiner Hand zu concentriren unternahm, im Gegenſatze zu den
Beſchränkungen der mittelalterlichen ſtändiſchen Rechte und der Lehensverfaſſung.
Seither iſt eine gewiſſe Tendenz zum Abſolutismus in dem Worte verblieben, die
ſchwer auszumerzen iſt. Dennoch widerſpricht dieſer Abſolutismus ſowohl der Rechts-
natur des modernen Verfaſſungsſtates als der völkerrechtlichen Gemeinordnung.


66.

Jeder Stat darf nur in dem Maße Unabhängigkeit und Freiheit
für ſich anſprechen, als ſich mit der nothwendigen menſchlichen Weltordnung,
mit der Selbſtändigkeit der andern Staten und mit der Verbindung aller
Staten verträgt.


Das Völkerrecht erhält aber beſchränkt zugleich die Souveränetät der Einzel-
ſtaten, weil es das friedliche Nebeneinander ſämmtlicher Staten ſchützt und auch den
Krieg durch Rechtsvorſchriften civiliſirt. Gegen das Völkerrecht kann ſich kein Stat
auf ſeine Souveränetät berufen, weil die Grundlage des Völkerrechts nicht die Will-
kür der Staten ſondern die Gemeinſchaft der Menſchheit iſt.


67.

Innerhalb der völkerrechtlichen Schranken ſpricht die Rechtsver-
muthung für volle und ungetheilte Souveränetät eines jeden States.


Die Souveränetät iſt die ſelbſtverſtändliche Eigenſchaft des wirklichen States,
d. h. eines Gemeinweſens, das ſich ſelbſt regiert. Hoheit und Einheit ſind mit dem
[85]Völkerrechtliche Perſonen.
Statsbegriff gegeben. Weitere Beſchränkungen andern Staten gegenüber erfordern
daher eine beſondere Begründung, wie namentlich durch Verträge.


68.

Zu den regelmäßigen Souveränetätsrechten eines States gehören:


  • a) das Recht, ſeine Verfaſſung ſelber zu beſtimmen;
  • b) das Recht ſelbſtändiger Geſetzgebung für ſein Volk und Land;
  • c) die Selbſtregierung und Selbſtverwaltung;
  • d) die freie Beſetzung der öffentlichen Aemter;
  • e) das Recht, für den Verkehr mit andern Staten ſeine Stellvertreter
    zu bezeichnen und zu ermächtigen.

Es kommt den fremden Staten nicht zu, ſich in die Ausübung die-
ſer Rechte einzumiſchen, es wäre denn, daß bei derſelben das Völkerrecht
mißachtet würde.


In der Verfaſſung ſpricht der Stat die Grundſätze ſeines eigenen Daſeins
aus und bildet er die Organe ſeines eigenen Lebens aus. Die Verfaſſunggebende
Gewalt iſt daher Statsgewalt. Jeder Stat erſcheint daher dem andern gegenüber
als eine ſich ſelber ordnende Macht. So wenig meine Nachbarn berechtigt
ſind, den Styl und die Einrichtung meines Hauſes mir vorzuſchreiben, ſo wenig
haben die Nachbarſtaten ein Recht, über die Verfaſſung eines fremden States Vor-
ſchriften zu geben. Es iſt freilich auch für die Nachbarſtaten politiſch nicht gleich-
gültig, wie die Verfaſſung eines anſtoßenden States beſchaffen ſei und es können je
nach Umſtänden Parteiverbindungen von einem State zum andern bald förderlich
bald gefährlich erſcheinen. Daher haben oft ſchon mächtigere Staten einen Einfluß
geübt auf die Verfaſſungsänderungen ihrer Nachbarſtaten. Die franzöſiſche Republik
hat ſich gegen Ende des vorigen Jahrhunderts mit republikaniſchen Nachbar-
ſtaten
, Napoleon I. hat Frankreich mit Napoleoniſchen Vaſallenſtaten zu
umgeben geſucht. Aber gerade dieſe Beiſpiele warnen vor ſolchen Eingriffen in die
natürliche Verfaſſungsbildung fremder Völker, denn nirgends ſind durch die Einwir-
kung von außen her dauernde Verfaſſungszuſtände zu Stande gekommen. Auch die
Interventionen der heiligen Allianz in Italien und Spanien zur Herſtellung der
abſoluten Monarchie
haben nur vorübergehend den natürlichen Entwicklungs-
gang zu ſtören, aber nicht auf die Dauer zu hindern vermocht. Ebenſo unglücklich iſt
in neueſter Zeit der Verſuch Napoleons III. ausgefallen, in Mexiko ein Kaiſerthum
mit franzöſiſcher Hülfe einzurichten. Recht und Politik weiſen darauf hin, daß man
jedem Volke überlaſſe, die Formen ſeines Geſammtlebens ſelber zu beſtimmen. Erſt
wenn daraus eine wirkliche Gefahr entſteht für die Sicherheit der andern Staten
und für die völkerrechtliche Rechtsordnung, iſt eine Einmiſchung in die Verfaſſungs-
arbeiten zu rechtfertigen.


69.

Kein Stat braucht zu dulden, daß innerhalb ſeines Gebietes ein
[86]Zweites Buch.
fremder Stat irgend welche Statshandlungen vornehme, ſei es der Policei
oder der Beſteurung, der militäriſchen oder der Juſtizgewalt. Jeder Stat
iſt verpflichtet, ſich der ſtatlichen Ein- und Uebergriffe in fremdes Stats-
gebiet zu enthalten.


Vorbehalten ſind theils allgemeine völkerrechtlich anerkannte Aus-
nahmen theils die beſonderen Statsdienſtbarkeiten.


1. In dem Bereich der civiliſirten europäiſchen und amerikaniſchen Staten-
welt iſt dieſer Grundſatz vollſtändiger anerkannt, als im Verhältniß zu barbariſchen
Völkern oder Staten einer der unſrigen ſehr fernen und fremden Civiliſation. Da
wird noch die Policei und die Juſtiz über die auswärts wohnenden Landsleute in
fremdem Gebiet möglichſt von dem State ihrer Heimat verwaltet. Der Grundſatz
des perſönlichen Rechtes, welches das Volk verbindet, wo immer ſeine Genoſ-
ſen ſich aufhalten, überwiegt da noch über die Regel des Landesrechtes, welches
ausſchließlich von der im Lande beſtehenden Statsgewalt gehandhabt wird.


2. Allgemeine völkerrechtlich anerkannte Ausnahmen ſind z. B. das Recht
der Exterritorialität und das Recht der Schiffahrt über den Küſtenſaum.


70.

In der Regel gibt es nur Eine Souveränetät für ein beſtimmtes
Volk und Land, wie nur Einen Stat.


Ausnahmsweiſe zeigt ſich in zuſammengeſetzten Staten (Bundes-
ſtaten, Statenreichen, Statenbünden) auf demſelben Boden und für dieſelbe
Bevölkerung eine Doppelſouveränetät wie eine zwiefache Statenbildung, die
eine des Geſammtſtates, die andere der Einzelſtaten.


Bundesſtaten und Statenbünde ſind beides föderative und daher meiſt repu-
blikaniſche Verbände einer Anzahl von Einzelſtaten. Aelter iſt die Form der Staten-
bünde
, welche nur eine genoſſenſchaftliche Gemeinſchaft der mehreren Einzelſtaten
zu gemeinſamen Zwecken darſtellt und daher nur Geſantencongreſſe keine einheitlichen
Geſammtorgane kennt. Man kann daher dieſe Verbindung nur in uneigentlichem
Sinne Geſammtſtat nennen. Sie ſchwankt noch zwiſchen völkerrechtlicher und ſtats-
rechtlicher Geſtaltung. Von der Art waren die Hanſeſtädte im Mittelalter die
Republik der Niederlande, die ſchweizeriſche Eidgenoſſenſchaft vor
1798 und wieder 1803 bis 1848, die urſprüngliche Bundesverfaſſung der Ver-
einigten Staten
von 1776 bis 1787, der deutſche Bund von 1815—1866.


Der Bundesſtat dagegen iſt eine einheitliche Geſtaltung des Geſammtſtates,
der ſchärfer unterſchieden wird von den Einzelſtaten und in ſich als Stat vollſtän-
dig organiſirt iſt. Zuerſt erſcheint dieſe Form ausgebildet in Nordamerika ſeit
1787, und iſt in der Schweiz 1848 nachgebildet worden. Das Statenreich iſt mehr
eine monarchiſche und daher in höherem Sinne einheitliche Zuſammenfaſſung
einer Mehrzahl von Einzelſtaten zu einem Geſammtſtate. Im Mittelalter hatte das
[87]Völkerrechtliche Perſonen.
deutſche Reich dieſen Charakter, bevor es ſeiner Auflöſung entgegen ging, und
heute noch das Türkiſche Osmanenreich. Der Norddeutſche Bund von
1867 läßt ſich nicht unter einen dieſer Begriffe unterbringen, indem er von allen
drei Grundformen etwas an ſich hat. Er iſt geſchichtlich aus einem Statenbund
(dem deutſchen Bund) durch die entſcheidende Führung einer mächtigen Monarchie
(des Preußiſchen Stats) und unter Einwirkung bundesſtatlicher Ideen entſtanden,
und trägt überall die Spuren dieſer Entſtehung an ſich. Er iſt ein Compromiß
der verſchiedenen idealen und realen Mächte, ſo jedoch, daß immerhin die Natur
des Statenreichs überwiegt.


71.

Sowohl der Geſammtſtat (der Statenverein) gilt völkerrechtlich als
Statsperſon als die Einzelſtaten.


Die Souveränetät des Geſammtſtates äußert ſich innerhalb des ver-
faſſungsmäßigen Bereiches der Geſammtheit und die der Einzelſtaten in
den Sonderangelegenheiten des einzelnen Landes.


Die Perſönlichkeit auch der Statenbünde zeigt ſich deutlicher noch im Völker-
recht als im Statsrecht. Die ſchweizeriſche Eidgenoſſenſchaft galt im europäiſchen Staten-
ſyſtem während Jahrhunderten als Ein Statsweſen, obwohl ſie in ſich ſelbſt
durchaus nicht als Stat organiſirt, ſondern nur ein dauernder Verband von ſouveränen
Staten war.


72.

In den Bundesſtaten und den Statenreichen wird die völkerrechtliche
Vertretung nach außen regelmäßig durch die Bundes- oder Reichsgewalt
beſtimmt und beſorgt. Indeſſen ſind auch Verträge der Einzelſtaaten unter
ſich oder mit fremden Staten zuläſſig, wenn gleich in den Schranken der
Verfaſſung und unter Aufſicht des Geſammtſtats.


In der Schweiz werden die Verträge der Cantone unter ſich Concordate
genannt. Der intercantonale Charakter derſelben iſt analog dem völkerrechtlichen der
Verträge unter fremden Staten, wird aber dadurch modificirt, daß die Cantone hin-
wieder bundesſtatlich verbunden ſind und daher der Bund eine Aufſicht über die
Concordate übt und dieſelben unter ſeinen Schutz ſtellt.


73.

In den Statenbünden gehört die diplomatiſche Vertretung regelmäßig
der Regierung der Einzelſtaten zu. Indeſſen iſt auch die Geſammtheit be-
rechtigt, ſich als Eine zuſammengeſetzte Statsperſon vertreten zu laſſen und
Verträge abzuſchließen.


[88]Zweites Buch.

In den Statenbünden tritt die Souveränetät der Einzelſtaten voller und ent-
ſchiedener hervor, als in den Bundesſtaten. Deßhalb wird in der Regel auch der
Geſantſchaftsverkehr vorzugsweiſe mit den Einzelſtaten gepflogen. Aber weil doch
der Statenverband wieder ein Intereſſe hat, ſich als völkerrechtliches Ganzes darzu-
ſtellen, ſo muß auch ihm die Befugniß gewahrt werden, gemeinſame Bundesgeſante
zu bezeichnen und bei ſich fremde Geſante zu empfangen. Bei dem deutſchen
Bunde
waren manche fremde Geſante accreditirt und in einzelnen Fällen ließ er
ſich durch einen gemeinſamen Bundesgeſanten auswärts vertreten.


74.

Wenn zwei oder mehrere Staten durch dasſelbe Statshaupt nur
vorübergehend geeinigt ſind, ſo werden ſie im Völkerrecht als zwei verſchiedene
Perſonen behandelt und haben demgemäß auf Conferenzen und Congreſſen
zwei oder mehrere Stimmen und können durch verſchiedene Geſante ver-
treten werden.


Beiſpiele treten ein, wenn ein Erbfürſt in einem andern Lande auf Lebens-
zeit zum Wahlfürſt gewählt wird. KarlV. war als römiſcher Kaiſer und deut-
ſches Reichsoberhaupt Vertreter des deutſchen Reiches und als König von Spanien
Vertreter Spaniens, ohne daß irgend eine nähere ſtats- oder völkerrechtliche Bezie-
hung dieſer beiden Staten zu einander eintrat.


75.

Iſt aber die Einigung unter Einem Statshaupt eine dauernde und
erſcheint die Verbindung der ſo geeinigten Staten als eine politiſche, wenn
auch noch nicht als eine ſtatsrechtlich organiſirte Lebensgemeinſchaft, ſo wird
dieſelbe völkerrechtlich wie ein Geſammtſtat betrachtet und in einer gemein-
ſamen Vertretung durch Eine Stimme dargeſtellt. Soweit indeſſen die
Verhältniſſe der einzelnen verbundenen Staten beſonders hervortreten, iſt
hinwieder eine beſondere Vertretung zuläſſig.


Von der Art ſind die fortdauernden Perſonalunionen durch dieſelbe fürſtliche
Dynaſtie. Frühere Beiſpiele ſind die urſprüngliche Perſonalunion des Erzherzog-
thums Oeſterreich
mit der Böhmiſchen und der Ungariſchen Krone, auch
die anfängliche Verbindung der Engliſchen mit der Schottiſchen und mit der
Iriſchen Krone, das heutige Verhältniß der Königreiche Schweden und Nor-
wegen
. Siehe oben zu § 70.


76.

Wenn die Souveränetät eines States abgeleitet erſcheint von der
Souveränetät eines andern Hauptſtates und in Anerkennung und in Folge
dieſer Ableitung eine theilweiſe Unterordnung jenes States unter dieſen
[89]Völkerrechtliche Perſonen.
fortdauert, ſo wird der eine Vaſallenſtat und der andere lehensherrlicher
oder oberherrlicher Stat genannt.


Die völkerrechtliche Selbſtändigkeit des erſtern wird durch die noth-
wendige Rückſicht auf den letztern beſchränkt.


Es ſind hier immerhin mancherlei Uebergangsſtufen von einer Gebundenheit,
welche den diplomatiſchen Verkehr des Vaſallenſtates mit andern Staten nur durch
Vermittlung des oberherrlichen States geſtattet, bis zu völlig freier Bewegung des
Vaſallenſtates denkbar. Die deutſchen Territorialſtaten des ſpätern Mittel-
alters waren ſolche Vaſallenſtaten, indem ſie ihre Regalien von dem deutſchen Könige
empfingen und von Kaiſer und Reich abhängig waren. Aber ſeit dem Weſtphäliſchen
Frieden war doch ihr Recht anerkannt, mit fremden Mächten Allianzen zu ſchließen.


In mancherlei verſchiedenen Rechtsverhältniſſen ſtehen die Vaſallenſtaten
der Türkei
, die mohammedaniſchen Fürſtenthümer Tunis und Tripolis, das
Vicekönigthum Aegypten, ſodann das chriſtliche Fürſtenthum Serbien und
die rumäniſchen Donaufürſtenthümer Moldau und Wallachei und das Fürſtenthum
von Montenegro zur hohen Pforte. Das frühere Königreich Neapel war nur
dem äußeren Scheiue nach gleichſam zum Zeichen der Ehrfurcht, ein Vaſallenſtat des
päpſtlichen Rom und in Wahrheit wurde es im europäiſchen Völkerrecht als ein
voll-ſouveräner Stat betrachtet und behandelt.


77.

Da die Souveränetät, in welcher ſich die Einheit und Hoheit des
States gipfelt, eine natürliche Tendenz zur Einheit hat, ſo iſt dieſe Spal-
tung derſelben in eine Oberherrliche und in eine Vaſallenſouveränetät nicht
dauerhaft. Entweder erheben ſich im Laufe der Zeit die Vaſallenſtaten zu
vollſouveränen Staten, indem die Oberherrlichkeit immer mehr zur bloßen
Form und ohnmächtig wird, oder der oberherrliche Stat zieht hinwieder
die verliehenen Hoheitsrechte an ſich und einverleibt ſich den Vaſallenſtat.


Die geſchichtliche Entwicklung beweist die Wahrheit dieſes Satzes. Im Mittel-
alter gab es eine große Maſſe von Vaſallenſtaten ſowohl in Europa als in Aſien.
Gegenwärtig ſind faſt alle verſchwunden, weil ſie in Einheitsſtaten umgewandelt worden
ſind. Nur in dem Türkiſchen Reiche iſt dieſer Umbildungsproceß noch nicht
zum Abſchluß gekommen. Das Völkerrecht muß dieſe natürliche Entwicklung beach-
ten und es ſoll ſie ſchützen, es darf ſie nicht dadurch hemmen wollen, daß es un-
haltbare Formen der ältern Rechtsbildung zu verewigen
ſucht.


78.

Die Souveränetät der Schutzſtaaten, das heißt der Staten, welche
im Gefühl ihrer Schwäche den Schutz eines mächtigeren States geſucht
[90]Zweites Buch.
und ſich der Schutzhoheit desſelben unterworfen haben, gilt ebenfalls als
Halbſouveränetät, weil ſie durch eine übergeordnete höhere Souveränetät
dauernd beſchränkt wird.


Die Schutzhoheit iſt inſofern ähnlich der Lehenshoheit, als der Schirmherr,
wie der Lehensherr eine übergeordnete Stellung behauptet. Aber es wird nicht von
jenem wie von dieſem die halbe Souveränetät des Schutzſtates abgeleitet, ſondern
nur um der Rückſicht auf den Schirmherrn willen die Souveränetät des Schutzſtates
beſchränkt. Auch dieſes Verhältniß trägt übrigens den Keim des Todes in ſich,
denn ein Stat, der ſich nicht ſelber ſchützen kann, verdient nicht ein ſelbſtän-
diger Stat
zu bleiben. Die Beiſpiele ſolcher Staten ſind daher wieder ſelten in
dem heutigen Statenſyſtem. Die Republik Krakau, welche unter der Schutzhoheit
der drei Oſtmächte, Oeſterreich, Rußland und Preußen, geweſen war, iſt 1846 von
Oeſterreich einverleibt; die Joniſchen Inſeln, ein Schutzſtat Englands, ſind
1864 mit Griechenland vereinigt worden. Wenn auch die Donaufürſten-
thümer
zunächſt Vaſallenſtaten der Ottomaniſchen Pforte zugleich Schutzſtaten der
europäiſchen Großmächte ſind, ſo dient dieſes Schutzverhältniß eher dazu, ihr Wachs-
thum zur Unabhängigkeit von der Türkiſchen Herrſchaft zu fördern, als ihre freie
Entwicklung zu gefährden.


79.

Den Colonialſtaten, welche dem Mutterſtate untergeordnet ſind, kann
ebenfalls eine beſchränkte Selbſtändigkeit zugeſtanden ſein, ſo daß ſie als
halbſouveräne Staten in beſondere völkerrechtliche Beziehungen treten.


Schon die große Entfernung vieler überſeeiſchen Colonien von dem Mutter-
ſtate macht im Intereſſe derſelben eine beſondere Regierung und daher auch eine be-
ſondere Repräſentation oft wünſchenswerth. Wenn daher auch urſprünglich das
Mutterland der alleinige Sitz der Souveränetät war, ſo erfordert das Wachsthum
der Colonie doch mit der Zeit eine Ausſtattung mit größeren Rechten freier Bewe-
gung. So entwickeln ſich die Colonien zu eigenthümlichen Statsweſen, ähnlich
den Schutzſtaten und ſcheiden ſich zuletzt wohl auch als neue vollſouveräne Staten
aus. Die Geſchichte von Amerika enthält in dieſer Hinſicht große Lehren auch für
das Völkerrecht. Als Vorbild einer guten Colonialpolitik darf die engliſche gegen-
über von Canada und Auſtralien ſeit den Reformen von Lord Durham
(1836) angeſehen werden.


80.

In ähnlichen Verhältniſſen theilweiſer Abhängigkeit von den Haupt-
ſtaten und theilweiſer Selbſtändigkeit ſtehen auch die mancherlei Neben-
länder.


Es kommt hier freilich vieles darauf an, wie dieſe Nebenländer beſchaffen
ſeien, ob die darin lebende Bevölkerung fähig ſei, ihre öffentlichen Intereſſen ſelb-
[91]Völkerrechtliche Perſonen.
ſtändig zu beſorgen, und ob ſie geneigt ſei, das ſo zu thun, daß dabei die Intereſſen
des Hauptſtates nicht verletzt werden. Wenn ſie unfähig und feindlich geſinnt iſt, ſo
wird ihr entweder überhaupt keine Selbſtändigkeit verſtattet oder dafür geſorgt wer-
den, daß die Verwaltung der beſonderen Landesintereſſen nicht der unterworfenen
Bevölkerung überlaſſen, ſondern von der dahin verpflanzten Colonie des Herrſcher-
volkes beſorgt werde. Da dieſe Nebenländer meiſtens durch Eroberung dem Haupt-
ſtate unterworfen worden ſind, wie z. B. die Oſtindiſchen Länder den Engländern,
Algier dem Franzöſiſchen State, ſo iſt es ſchwerer, dieſelben zu ſtatlicher Selb-
ſtändigkeit heranzubilden, als die eigentlichen Colonialländer.


C.Rechtsgleichheit.

81.

Jeder Stat iſt als Rechtsperſon dem andern State gleich. An dem
Völkerrecht haben alle Staten gleichen Antheil und gleichen Anſpruch auf
Achtung ihrer Exiſtenz.


Die Rechtsgleichheit der Staten iſt ebenſo zu verſtehen, wie die Rechtsgleich-
heit der Privatperſonen. Der Unterſchied der Größe, der Macht, des Ranges ändert
an der weſentlichen Gleichheit Nichts, welche in der Anerkennung aller dieſer Per-
ſonen als Rechtsweſen und der gleichmäßigen Anwendung der völkerrechtlichen
Grundſätze auf Alle beſteht.


82.

Kein Stat iſt berechtigt, die individuellen Kennzeichen eines andern
Stats — deſſen Namen, Wappen, Fahne, Flagge — ſich anzueignen oder
zu mißbrauchen.


In dieſen Zeichen ſpricht ſich die beſondere Perſönlichkeit eines Sta-
tes aus und jeder Stat hat ein Recht, in derſelben geachtet zu werden. Die Rechts-
gleichheit verwiſcht nicht die individuelle Verſchiedenheit, ſondern erkennt ſie an und
ſchützt ſie für Alle. Selbſtverſtändlich geht hier die ältere Wahl ſolcher Namen und
Zeichen der ſpäteren vor. So weit jene vollzogen iſt, muß dieſe ſie als bereits vor-
handenes Recht reſpectiren und darf keine Verwirrung ſtiften durch Aneignung der-
ſelben Namen und Zeichen.


83.

Jeder Stat hat gleichen Anſpruch darauf, als eine geiſtig-ſittliche
und als eine Rechtsperſon geachtet zu werden, und demgemäß auch ein
Recht auf Ehre. Die Verletzung der Statsehre begründet das Recht,
Genugthuung zu fordern.


[92]Zweites Buch.

Auch in dieſer Beziehung verhält es ſich mit den Staten ähnlich, wie mit
den einzelnen Menſchen. Der Menſch als ſolcher hat eine Würde und es gibt eine
gemeinſame Menſchenehre wie eine Statsehre, die im Verkehr mit Menſchen und
Staten nicht verletzt werden darf. Freilich kann auch ein Stat in einzelnen Fällen
eine unſittliche und eine geiſtig-niedrige Politik verfolgen, wie ein einzelner Menſch
zuweilen ſchlecht und dumm handeln kann; und natürlich wird dieſes Verhalten auch
einen Einfluß üben auf die öffentliche Meinung und auf das Vertrauen der übrigen
Staten. Aber der Rechtsanſpruch auf die allgemeine Statsehre wird dadurch ſo
wenig zerſtört, als das Recht jener Privatperſonen auf Anerkennung der gemeinen
Menſchenehre, durch einzelne Fehler. Die Menſchenehre ſtrahlt immer wieder neu
hervor aus der an ſich hohen Menſchennatur, dem Ebenbilde Gottes, und ebenſo die
Statsehre aus dem majeſtätiſchen Weſen des States, das heißt der einheitlichen und
männlichen Geſtaltung des Völkerlebens.


84.

Aus der perſönlichen Rechtsgleichheit der Staten folgt nicht gleicher
Rang derſelben noch das Recht eines jeden States, einen beliebigen hohen
Titel anzunehmen. Aber es ſteht einem jeden State zu, einen ſeiner Be-
deutung und Machtſtellung entſprechenden Titel zu wählen.


Die beiden Sätze, daß jeder Stat Anſpruch habe auf gleichen Rang, und
daß jeder Stat beliebige Titel annehmen könne, die man zuweilen aus der mißver-
ſtandenen Rechtsgleichheit gefolgert hat, ſind falſch. Denn der Rang, den ein
Stat in der Geſellſchaft der übrigen Staten einnimmt, iſt nicht eine einfache Wir-
kung ſeiner Perſönlichkeit, welche für alle Staten dieſelbe rechtliche Bedeutung hat,
ſondern er iſt die Wirkung der Machtſtellung und des Einfluſſes, welche verſchieden
ſind unter den Staten. Der Titel aber bezeichnet den Rang, den ein Stat unter
den andern einnimmt und kann eben deßhalb nicht willkürlich von jenem ohne Rück-
ſicht auf dieſe gewählt werden. Es war der Gipfel der Lächerlichkeit, als ein Neger-
häuptling auf Haiti den Kaiſertitel für ſeine Flitterkrone in Anſpruch nahm. Als
der Kurfürſt FriedrichI. von Brandenburg im Jahr 1700 den Königstitel an-
nahm, konnte die innere Berechtigung desſelben noch bezweifelt werden, aber die Ge-
ſchichte des Preußiſchen Stats hat ſeither alle Zweifel zerſtreut. Aehnlich verhält es
ſich mit der Annahme des Kaiſertitels durch Peter den Großen, welche nur ſehr
allmählich Anerkennung fand, (von dem deutſchen Kaiſer erſt 1744, von Frankreich
erſt 1762 und von Polen 1764) und in unſerm Jahrhunderte durch Frankreich
und Oeſterreich. Auf dem Aachener Congreß erklärten die fünf Großmächte aus-
drücklich in dem Protokoll vom 11. Oct. 1818, daß dem Wunſche des Kurfürſten
von Heſſen auf den Titel eines Königs nicht zu entſprechen ſei und daß ſie über-
haupt in Zukunft über andere Titelerhöhungen gemeinſam verhandeln wollen.


85.

Auf kaiſerlichen Rang und Titel haben nur diejenigen Staten einen
natürlichen Anſpruch, welche nicht eine bloße nationale, ſondern eine uni-
[93]Völkerrechtliche Perſonen.
verſelle Bedeutung haben für die Welt oder mindeſtens einen Welttheil
und inſofern Weltmächte ſind oder welche doch als Großſtaten verſchiedene
Völker in ſich einigen oder auf verſchiedene Völker einen ſtatlich beſtimmen-
den Einfluß haben.


Das charakteriſtiſche Merkmal des Kaiſerthums iſt das, daß es ſich als Stats-
autorität über den engen Geſichtskreis eines beſonderen Volkes und die engen Gren-
zen eines einzelnen Landes erhebt. Das Kaiſerthum hat einen weltgeſchichtlichen
Urſprung
und eine univerſelle Bedeutung in der Geſchichte. Daher darf
auch der Kaiſertitel nicht von der anmaßlichen Eitelkeit bloßer Volks- und Landes-
fürſten mißbraucht werden. Die fränkiſchen und die deutſchen Könige des
Mittelalter erhielten denſelben als römiſche Kaiſer und ſtanden als Verwalter des
Weltfriedens und der chriſtlichen Weltordnung (damals imperium mundi genannt)
an der Spitze der abendländiſchen Chriſtenheit. Der Ruſſiſche Czar Peter der
Große nahm den Kaiſertitel 1701 in der Abſicht an, die Erinnerung an das Oſt-
römiſche
Kaiſerthum zu erneuern. NapoleonI. wollte das Reich Karls des
Großen
in moderner Gewalt wieder aufrichten, als er 1804 den Kaiſertitel ſich
aneignete. Das Oeſterreichiſche Kaiſerthum (ſeit 1804) und das zweite franzöſiſche
(ſeit 1852) haben eine weniger univerſelle, aber doch nicht eine bloß nationale und
einzelſtatliche Bedeutung.


86.

Der Kaiſerliche Rang eines States iſt nicht bedingt durch den Kaiſer-
titel. Auch eine von Königen regierte Weltmacht hat Anſpruch auf kaiſer-
lichen Rang und ebenſo eine weltmächtige Republik.


Die Großbrittaniſche Krone hat den Königsnamen aber den Kaiſer-
lichen Rang. Keine andere ſteht ihr an univerſeller Bedeutung gleich. Nichts wird
die Bundesrepublik der Vereinigten Staten von Nordamerika hindern,
wenn ſie ſich als Weltmacht darſtellen will, Kaiſerlichen Rang anzuſprechen und zu
behaupten.


87.

Königlichen Rang haben die übrigen weſentlich auf ein Volk und
ein Land beſchränkten Staten von anſehnlichem Umfang und erheblicher
Bedeutung im Völkerverkehr.


Dahin rechnet man nach dem diplomatiſchen Gebrauch, außer den
Staten, deren Häupter als Könige völkerrechtlich anerkannt ſind, auch die
Republiken von ähnlicher Größe und Bedeutung und die vorhandenen Groß-
herzogthümer.


Schon im Mittelalter nahmen die Kurfürſten des heiligen römiſchen
Reichs deutſcher Nation für ſich denſelben Rang in Anſpruch, den die Könige der
[94]Zweites Buch.
andern chriſtlichen Völker hatten. Ueber ihnen allen erhoben ſich ja nach der Fiction der
mittelalterlichen Reichslehre in derſelben Weiſe die kaiſerliche Majeſtät und die
päpſtliche Heiligkeit.


88.

Es beſteht kein Rangvorzug der Königreiche vor den Republiken mit
königlichem Rang oder umgekehrt dieſer vor jenen.


Das höfiſche Ceremoniel kennt wohl den Vortritt der Könige vor den Groß-
herzogen, aber nicht einen Vortritt der Königsſtaten vor den königlichen Freiſtaten.
Die Macht und der politiſche Einfluß, welche die natürliche Grundlage auch für die
Rangordnung der Staten bilden, ſind von dieſem Verfaſſungsunterſchied unabhängig.
England hatte als Republik unter Cromwell eine größere Bedeutung aber kei-
nen andern Rang als zur Zeit des Königs KarlsI.; und die franzöſiſche
Republik
behauptete im Frieden von Campo-Formio 1797 denſelben Rang, wie
vormals unter den Bourboniſchen Königen.


89.

In allen weſentlichen Beziehungen ſtehen alle Königlichen Staten
unter einander und auch den Kaiſerlichen gleich. Insbeſondere kommt
allen das unbeanſtandete Recht zu, Botſchafter zu ſenden und zu empfan-
gen, königliche Embleme in Krone, Scepter, Wappen anzunehmen und
zu führen, im Ceremoniel und bei Unterzeichnung der Verträge auf dem
Fuße der Gleichheit behandelt zu werden. Die Fürſten dieſes Ranges geben
ſich im brieflichen Verkehr den Brudernamen.


Indeſſen erhalten nur die Könige als Statshäupter den Titel der
„Majeſtät“, nicht auch die übrigen Fürſten von Königlichem Rang, und es
haben jene vor dieſen den Vortritt.


Der Titel der Majeſtät, urſprünglich auf den Kaiſer beſchränkt, iſt ſeit dem
titelſüchtigen ſiebenzehnten Jahrhunderte auch auf die Könige ausgedehnt worden.
Jedenfalls paßt er nur zu einer Würde, welche mit dem Vollgenuß der vollkommenen
Regierungsſouveränetät verbunden iſt, aber nicht auf ſtatsrechtlich abhängige Könige.
Es wird aber wohl ſchwerer noch werden, die Titel zu ermäßigen, als die wirklichen
Hoheitsrechte zu vermindern.


90.

Unter Staten von gleichem Rang haben je die älteren den Vortritt
vor den jüngern. Ueberdem können die Rangverhältniſſe zwiſchen einzelnen
Staten durch Vertrag oder Obſervanz beſtimmt ſein.


[95]Völkerrechtliche Perſonen.

Die Verſuche, auf dem Aachener Congreſſe dieſe Dinge genauer völkerrechtlich
zu ordnen, ſind an den Schwierigkeiten geſcheitert, welche die Eitelkeit und die höfi-
ſchen Sitten jeder Uebereinkunft der Art in den Weg ſtellen.


Beſondere Verträge und Gebräuche finden z. B. Statt in einzelnen Ländern
bezüglich des Schiffsgrußes. Vgl. Phillimore, Intern. Law. Bd. II. § 34 ff.


91.

Die Verwantſchaft der Souveräne ändert das Rangverhältniß der-
ſelben nicht.


Protokoll des Wiener Congreſſes vom 19. März 1815. Art. V.: „Les
liens de parenté ou d’alliance de famille entre les Cours ne donnent aucun
rang à leurs employés diplomatiques. Il en est de même des alliances
politiques“.


92.

Halbſouveräne Staten (Vaſallenſtaten, Schutzſtaten, abhängige Ein-
zelſtaten) ſtehen jederzeit im Rang den übergeordneten oberherrlichen Sta-
ten, (Schutzmächten, Geſammtſtaten oder Hauptſtaten) nach.


Da die Unterordnung jener Staten unter dieſe ſogar eine ſtatsrechtliche iſt,
ſo folgt die Ueberordnung dieſer Staten im Rang von ſelber daraus. Es gilt das
z. B. von den Moldauiſchen Fürſtenthümern im Verhältniß zur Türkei, aber auch
von Pennſylvanien gegenüber den Vereinigten Staten und von Sachſen gegenüber
dem Norddeutſchen Bunde.


93.

Gegenüber dritten Staten nimmt der halbſouveräne Stat diejenige
Stellung ein, welche ihm ſeinem anerkannten Titel oder ſeiner anerkannten
Bedeutung in der Statenfamilie gemäß zukommt, neben und gleich voll-
ſouveränen Staten.


Der Grund liegt in der Regel der Gleichheit, welche überall eintritt, wo keine
beſonderen Gründe einen Unterſchied rechtfertigen. Den dritten Staten gegenüber
beſteht keine Unterordnung, und daher iſt auch der gleiche Rang am Platz. Wenn
alſo z. B. Virginien mit Braſilien einen Vertrag ſchließt, oder Sachſen mit
Oeſterreich, ſo iſt der Umſtand, daß jenes zu den Vereinigten Staten, dieſes zu
dem Deutſchen Nordbunde gehört, nur erheblich im Verhältniß zu der Bundes-
gewalt, aber nicht erheblich für die Rangſtellung gegenüber dem auswärtigen State.


94.

Die Rangerhöhung eines States bedarf, um allſeitig zu wirken, der
[96]Zweites Buch.
völkerrechtlichen Anerkennung der übrigen Staten, welche indeſſen nicht
willkürlich und ohne Grund verſagt werden darf.


Vgl. zu Art. 84. Die grundloſe Verweigerung der Anerkennung iſt zum
mindeſten ein Zeichen unfreundlicher Geſinnung und kann zur Beleidigung des Sta-
tes werden, der ſich emporgeſchwungen hat.


II. Statenſyſteme.


1. Gleichgewicht.

95.

Das Gleichgewicht unter den Staten beſteht nicht darin, daß dieſel-
ben gleich groß an Umfang des Gebiets und an Volkszahl und gleich
mächtig ſeien. Die Verſchiedenheit der Staten an Größe und Macht iſt
eine nothwendige Wirkung der natürlichen Unterſchiede des Bodens der
Volksindividualitäten und der geſchichtlichen Entwicklung.


Das Völkerrecht muß dieſe Verſchiedenheit anerkennen und darf ſie
nicht bekämpfen. Ihre Zerſtörung würde die Beſtimmung der Menſchheit
gefährden, welche auf der Wechſelwirkung verſchiedener Kräfte beruht.


Der Gedanke eines mathematiſchen Gleichgewichts war zu Anfang des
XVIII. Jahrhunderts beliebt. Man hoffte von ſeiner Verwirklichung die Sicherung
des Weltfriedens und die gründliche Beſeitigung jeder Gefahr von Univerſalmonarchie.
Der bekannte Vorſchlag des AbbéSaint Pierre: „Projet de la paix éternello“
von 1715 am Schluß des großen europäiſchen Krieges gegen das Uebergewicht
Frankreichs, ſucht dieſen Gedanken in einer neuen Karte Europas darzuſtellen. Aber
der Gedanke iſt ſchon deßhalb falſch, weil er die geiſtigen Charakterkräfte, die ſich
nicht abzählen laſſen, mißachtet und eine künſtliche Gleichheit da einrichten will, wo
die Natur große und dauernde Unterſchiede zeigt.


96.

Es iſt ferner keine Forderung des Gleichgewichts, daß die beſtehenden
Staten allezeit unverändert erhalten bleiben. Es gibt ein natürliches und
inſofern nothwendiges Wachsthum der Staten und ebenſo eine unvermeid-
liche Abnahme ihrer Kräfte und ihrer Wirkſamkeit. Das Völkerrecht muß
die umbildende Macht der Geſchichte anerkennen.


[97]Völkerrechtliche Perſonen.

Das Mittelalter war der Zerbröckelung der Nationen in kleine Fürſtenthümer
und Städte, zumal in Deutſchland und in Italien ſehr günſtig. Der Zuſtand war
erträglich, ſo lange der Verkehr gering, das nationale Bewußtſein ſchwach, die öffent-
lichen Bedürfniſſe klein waren und keine äußeren Gefahren die Exiſtenz dieſer
Stätchen bedrohten. In der neueren Zeit iſt das Alles anders geworden. Deßhalb
gingen die meiſten Kleinſtaten bereits unter und es bildeten ſich größere Volks-
ſtaten aus.


97.

Es iſt kein völkerrechtliches Geſetz, daß die Erweiterung eines Stats-
gebiets einen andern vielleicht rivalen Stat berechtige, auch ſeinerſeits eine
Vergrößerung zu verlangen.


In der ſtatlichen Praxis des vorigen Jahrhunderts hat man ſich oft auf dieſe
angebliche Folgerung aus dem Princip des Gleichgewichts berufen, um die Erobe-
rungsſucht mit einem ſcheinbaren Rechtsſatze zu bemänteln. So verlangte Oeſter-
reich
ein Stück der Türkei, weil Rußland ſich in Polen ausdehne. Die Thei-
lung Polens
unter die drei Nachbarmächte wurde auch mit ſolchen Argumenten
beſchönigt. Aber noch in unſerm Jahrhunderte iſt mit ſolchen Scheingründen viel-
fältig Mißbrauch getrieben worden. Man hat noch im Jahr 1803 deutſches Land
nach dem Ausdruck Fichte’s „zu Zulagen gemacht zu den Hauptgewichten in der
Wage des europäiſchen Gleichgewichts“. Sogar noch 1860 wurde die Annexion
Savoyens durch Frankreich wenigſtens nebenher mit dem großen Wachsthum
des Königreichs Italien zu rechtfertigen geſucht. Da das völkerrechtliche Gleichgewicht
nicht gleich große Staten, noch ein unveränderliches Größenverhältniß der vorhan-
denen bedeutet, noch bedeuten darf, ſo iſt eine derartige mathematiſche Anwendung
jenes Princips unzuläſſig. Die Exiſtenz und die Entwicklung der Völker und Sta-
ten darf nicht nach ſo plumpen Regeln beſchnitten und zugeſchnitten werden.


98.

Das wahre Gleichgewicht bedeutet das friedliche Nebeneinanderbeſtehen
verſchiedener Staten. Es wird gefährdet und geſtört, wenn das Ueber-
gewicht Eines States ſo unverhältnißmäßig zu werden droht, daß die
Sicherheit und Freiheit der übrigen Staten daneben nicht mehr fortbeſtehen
kann. In ſolchen Fällen ſind nicht bloß die zunächſt gefährdeten ſchwä-
cheren Staten, ſondern es ſind auch die übrigen ungefährdeten Staten
veranlaßt und berechtigt, das Gleichgewicht herzuſtellen und für ausreichen-
den Schutz desſelben zu ſorgen.


Es gilt dieſer Satz vorzüglich von der europäiſchen Statenfamilie,
welche den Fortbeſtand einer Anzahl ſelbſtändiger Staten als Grundbedingung ihrer
Wohlfahrt betrachtet. Daraus erklären ſich die zahlreichen und am Ende glücklichen
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 7
[98]Zweites Buch.
Allianzen wider die drohende Univerſalmonarchie zuerſt gegen Kaiſer KarlV.,
dann gegen König PhilippII. von Spanien, ſpäter gegen LudwigXIV. und
wiederum gegen Kaiſer NapoleonI., zuletzt wider die Ruſſiſche Oberherrſchaft in
Südoſteuropa. Aber nicht ebenſo ſcheint der Satz auf Amerika anwendbar, indem
die Vereinigten Staten offenbar ſchon zur leitenden Hauptmacht für den gan-
zen Welttheil geworden ſind. Wenn aber Amerika beſtimmt iſt, in die Vereinigten
Staten aufgenommen zu werden, ſo bedarf es dieſes Satzes nicht, wenn es aber
auch für Amerika wie für Europa nöthig erſcheinen ſollte, eine Statengenoſſen-
ſchaft von einander unabhängiger Staten
zu bilden, ſo wird der Satz
auch in das Amerikaniſche Völkerrecht aufgenommen werden müſſen.


99.

Das Streben nach einer auf die Uebermacht Eines Volkes geſtützten
Univerſalherrſchaft über die andern Völker iſt eine Gefährdung des Gleich-
gewichts und rechtfertigt den gemeinſamen Widerſtand der übrigen Staten.


Vgl. die vorige Anmerkung. Mit dieſer völkerrechtswidrigen Bedrohung ſelb-
ſtändiger und nicht zuſammengehöriger Staten darf nicht verwechſelt werden die Be-
drohung unhaltbarer Particularſtaten durch einen nationalen Groß-
ſtat
. Denn es kann die Einverleibung jener durch dieſen vielleicht eine nothwendige
Bedingung ſein für die Sicherheit der nationalen Exiſtenz und Geſammtwohlfahrt,
oder eine unvermeidliche Folge der nationalen Entwicklung eines Volks. Die Ge-
ſchichte Italiens im Jahr 1860, und die von Deutſchland im Jahr 1866
machen das klar. Das Gleichgewicht der italieniſchen und der deutſchen Particular-
ſtaten war überhaupt kein Gut von hohem und von dauerndem Werth und es konnte
leicht darauf verzichtet werden, wenn man ſtatt deſſen die unſchätzbare Errungen-
ſchaft eines nationalen States und eine würdigere Stellung in der Welt erhielt.


100.

Auch eine theilweiſe Uebermacht eines States kann die Sicherheit
und die Freiheit der andern Staten und damit das Gleichgewicht gefährden
und rechtfertigt den gemeinſamen Widerſtand der übrigen Staten, um die-
ſelbe zu beſchränken. Das gilt insbeſondere von einer übermächtigen
Seeherrſchaft eines States.


Ein Beiſpiel geben die Verträge der neutralen Staten zur Bekämpfung der
engliſchen Univerſalherrſchaft über die Meere.


2. Heilige Allianz.

101.

Die heilige Allianz vom Jahr 1815, welche auf das Princip der
[99]Völkerrechtliche Perſonen.
chriſtlichen Religion ein neues chriſtliches Völkerrecht begründen will, kann
nicht als modernes Völkerrecht gelten.


Die heilige Allianz, zu Paris von den drei Monarchen von Rußland, Oeſter-
reich und Preußen unterzeichnet 14/26. Sept. 1815, war ein Verſuch der Reſtaurations-
epoche, im Gegenſatze zu der franzöſiſchen Revolution, ein neues Völkerrecht zu be-
gründen. Die Grundgedanken waren zum Theil der religiöſen Ueberlieferung des
Mittelalters, zum Theil der Ruſſiſchen Weltanſicht entnommen. Eben deßhalb konn-
ten ſie weder das moderne Rechtsbewußtſein, noch die Bedürfniſſe der civiliſirteren
Völker befriedigen. Sie gehörten einem frühern Standpunkte der Entwicklung an
und waren daher ungeeignet, den Fortſchritt der Neuzeit zu leiten und zu ordnen.
Vgl. den Artikel Heilige Allianz im Deutſchen Statswörterbuch von Bluntſchli und
Brater.


102.

Indem ſie das Völkerrecht ausſchließlich auf die Religion gründet,
verkennt ſie den Unterſchied von Religion und Recht; indem ſie nur auf
chriſtliche Völker anwendbar iſt und die nicht-chriſtlichen Staten außer die
menſchliche Weltordnung verſetzt, verengt ſie die Wirkſamkeit des Völker-
rechts; indem ſie Chriſtus als den „alleinigen Souverain der geſammten
chriſtlichen Nation“ bezeichnet, geräth ſie auf die Abwege der Theokratie,
welche dem politiſchen Bewußtſein der europäiſchen und der civiliſirten
Völker überhaupt fremd und unerträglich iſt; indem ſie die patriarchaliſchen
Ideen zu Statsprincipien erhebt, paßt ſie nicht zu der Denkweiſe und den
Bedürfniſſen der politiſch erzogenen und frei gewordenen Menſchheit.


Man kann den frommen Geiſt, der dieſes Actenſtück beſeelt, ehren und ſich
des großen Fortſchrittes erfreuen, welcher in der proclamirten Verbrüderung der
Staten der verſchiedenen chriſtlichen Confeſſionen auch im Gegenſatz zum Mittelalter
liegt, das nur die Chriſtenheit Einer Confeſſion als eine berechtigte Völkerfamilie
anerkannte, alle Ungläubigen oder Andersgläubigen aber ausſchloß und verdammte.
Aber die oben genannten Mängel ſind ſo groß, daß das Werk trotz der wohlwollen-
den Abſichten ſeiner Gründer nicht gelingen konnte.


Die Beſtimmungen der heiligen Allianz ſind durch die Wiſſenſchaft als unzu-
reichend und theilweiſe irrthümlich im Princip und durch die ſeitherige europäiſche
Geſchichte als unausführbar und unwirkſam erwieſen worden.


Die geſammte Entwicklung des Rechts- und des Statsbegriffs ſowohl im
Alterthum als in der Neuzeit bei ſämmtlichen Statsvölkern widerſpricht der theokra-
tiſchen Statslehre, welche der heiligen Allianz zu Grunde liegt. England und der
Papſt ſind derſelben von Anfang an nicht beigetreten; und die anderen europäiſchen
Staten haben ſich ſeither theils ausdrücklich davon losgeſagt, theils ſtillſchweigend
dieſelbe fallen gelaſſen. Die geſammte Verfaſſungsbildung der neuen Zeit wird von
menſchlichen Rechtsideen beſtimmt. In dem Orientaliſchen Kriege von 1854—1856
7*
[100]Zweites Buch.
ſtand Rußland, der Stifter der heiligen Allianz, ganz iſolirt, nicht bloß den feind-
lichen Weſtmächten England und Frankreich, ſondern ebenſo dem übelwollenden
Oeſterreich und dem neutralen Preußen gegenüber; von der verſprochenen wechſel-
ſeitigen „assistance aide et secours“ (Art. 1 des Vertrags) war Nichts mehr zu
verſpüren.


3. Pentarchie.

103.

Der in Aachen 1818 befeſtigte Verband der fünf europäiſchen Groß-
ſtaten England, Frankreich, Oeſterreich, Preußen und Rußland bedeutet
nicht einen feſten völkerrechtlichen Senat für Europa, ſondern nur, daß
dieſe Staten zur Zeit die Macht haben und es als gemeinſame Aufgabe
erkennen, bei der Regulirung der europäiſchen Angelegenheiten mitzuwirken.


Die Wiener Congreßacte wurde außer den genannten Staten auch von
Spanien und Portugal und dem Könige von Schweden und Norwegen
unterzeichnet. Aber man gewöhnte ſich, beſonders ſeit dem Congreß von Aachen,
auf welchem Frankreich vollends wieder in die „brüderliche“ Gemeinſchaft der alliirten
Mächte aufgenommen ward, jene fünf mächtigſten Staten als europäiſche Pentarchie zu
betrachten. Die fünf Mächte beſaßen über zwei Drittheile des europäiſchen Bodens
und umfaßten beinahe drei Viertheile der europäiſchen Geſammtbevölkerung. In der
militäriſchen Macht waren ſie den übrigen europäiſchen Staten noch mehr überlegen.
Dennoch war dieſe Vereinigung nur ein unvollſtändiges Bild der wirklichen Zuſtände
von Europa. Die romaniſchen Staten waren im Verhältniß zu den germaniſchen
zu wenig, die mittleren und kleineren Staten gar nicht berückſichtigt. Wenn aber
ein Stat berechtigt erſcheint zu exiſtiren, ſo kann ihm das Recht nicht abgeſprochen
werden, in der Verſammlung der Statengenoſſenſchaft auch eine Stimme zu haben
und ſei es unmittelbar ſei es mittelbar vertreten zu ſein. Die ſogenannte Pentarchie
mag als Anfang einer Organiſation Europas, aber ſie kann nicht als ihre Vollen-
dung betrachtet werden.


104.

Die Zahl der europäiſchen Großſtaten iſt nicht abgeſchloſſen. Es
können neue hinzutreten, indem ſie ſtark und ſo activ werden, daß ihre
Mitwirkung in den europäiſchen Angelegenheiten ohne allgemeine Gefahr
nicht zu entbehren iſt. Es können auch bisherige Großſtaten ſo ſchwach
werden, daß es ungefährlich und unnöthig erſcheint, dieſelben weiter bei-
zuziehen, wenn unter den Großſtaten über die europäiſchen Angelegenheiten
verhandelt wird.


[101]Völkerrechtliche Perſonen.

Offenbar hat gegenwärtig das Königreich Italien den nächſten Anſpruch
darauf, zu den europäiſchen Großſtaten gerechnet zu werden. Spanien, im ſech-
zehnten Jahrhundert noch die erſte europäiſche Großmacht, iſt durch die Mißregierung
ſeiner Könige und den verderblichen Einfluß der kirchlichen Reaction dermaßen ent-
kräftet und entgeiſtet worden, daß es in unſerm Jahrhundert nicht mehr als Groß-
ſtat angeſehen wurde. Das kann ſich aber wieder ändern. Ebenſo kann auch
Schweden, im ſiebzehnten Jahrhundert eine wirkliche Großmacht, wieder eine be-
deutendere Stellung erwerben, wenn es den Geiſt der Zeit verſteht. Die Bedeutung
Preußens unter den Großmächten war nach dem Krimkriege in ein bedenkliches
Schwanken gerathen, iſt ſeit dem Kriege von 1866 und ſeitdem es gewiß iſt, daß
das deutſche Volk nun in dem Könige von Preußen ſein Reichsoberhaupt und daher
vorerſt thatſächlich den deutſchen Kaiſer erkennt, ſehr gehoben worden. Alle dieſe
Aenderungen in den politiſchen Verhältniſſen der Staten wirken auch auf die Stel-
lung und den Einfluß zurück, welche dieſen Staten in der Organiſation Europas
zukommen.


105.

Jeder europäiſche Stat hat ein Recht darauf, daß ſeine beſondern
Angelegenheiten nicht von den Großſtaten gemeinſam verhandelt werden,
ohne daß er zu der Verhandlung eingeladen und zugezogen werde.


Aachener Protokoll vom 15. Nov. 1818: „Que si, pour mieux atteindre
le but ci-dessus énoncé (le maintien de la paix générale, fondé sur le re-
spect réligieux pour les engagements consignés dans les traités) les puis-
sances qui ont concouru an présent acte, jugeaient nécessaire d’établir des
réunions particulières, soit entre les augustes souverains eux-mêmes, soit
entre leurs ministres et plénipotentiaires respectifs, pour y traiter en commun
de leurs propres intérêts, en tant qu’ils se rapportent à l’objet de leurs dé-
liberations actuelles, l’époque et l’endroit de ces réunions seront chaque fois
préablement arrêtés au moyen de communications diplomatiques, et que, dans
le cas ou ces réunions auraient pour objet des affaires spécialement liées
aux interêts des autres états de l’Europe, elles n’auront lieu qu’à la suite
d’une invitation formelle de la part de ceux de ces états que les dites af-
faires concerneraient, et sous la réserve expresse de leur droit d’y partici-
per directement ou par leurs plénipotentiaires.“


106.

Das Recht des States, über deſſen Verhältniſſe in der Verſammlung
der europäiſchen Großſtaten verhandelt wird, zugezogen zu werden, erſtreckt
ſich auf alle Verhandlungen. Er ſteht dabei den Großſtaten nicht wie eine
Partei ihrem Richter, ſondern als vollberechtigte Perſon und weſentlich
gleichberechtigtes Mitglied der europäiſchen Statengenoſſenſchaft zur Seite.


[102]Zweites Buch.

Dieſer Grundſatz, welcher aus der völkerrechtlichen Stellung der europäiſchen
folgt, wurde auf den Congreſſen von Laibach (1821) und Verona (1822) nur
unvollſtändig, beſſer dagegen auf dem Pariſer Congreß (1856) beachtet.


107.

Wenn die Zuſtände eines States dem europäiſchen Frieden Gefahr
bringen oder ſeine Handlungen die allgemeine Sicherheit der europäiſchen
Staten bedrohen oder die Leiden ſeiner Bevölkerung der Civiliſation Europas
unwürdig und unerträglich erſcheinen, ſo ſind das nicht mehr beſondere
Angelegenheiten unr dieſes States, ſondern iſt die europäiſche Staten-
genoſſenſchaft berechtigt, auf Beſſerung hinzuwirken.


In der Zeit der Interventionspolitik zu Gunſten der legitimen Fürſtengewalt
wurde die erſte Bedingung einer Intervention arg mißbraucht, indem man da Ge-
fahren für die europäiſche Rechtsordnung erblickte, wo in Wahrheit nur eine natur-
gemäße Fortbildung des Verfaſſungsrechts zu finden war. Ein Beiſpiel der zwei-
ten
Bedingung iſt der Krieg der Weſtmächte gegen Rußland 1853—56, als Ruß-
land die Türkei überzog; und auf die dritte Bedingung hat man ſich wiederholt
im Intereſſe der chriſtlichen Bevölkerung der Türkei berufen. Das heutige Europa
darf nicht mehr dulden, daß die blutigen Ketzerverfolgungen oder die Hexengerichte
nach der Weiſe des Mittelalters erneuert werden. Die civiliſirte Menſchheit hat ein
Recht, die Fortſchritte der Menſchlichkeit gegen den Wahnſinn verblendeter Fanatiker
zu ſchützen. Vgl. unten Buch VII.


4. Allgemeine Congreſſe.

108.

Zur Zeit gibt es noch keine anerkannte Rechtsordnung für allgemeine
europäiſche Congreſſe und noch weniger für allgemeine Weltcongreſſe.


Die Inſtitution eines völkerrechtlichen Congreſſes, auf welchem die Häupter
und Vertreter der Staten zu gemeinſamer Berathung zuſammentreten, iſt noch in
ihren erſten mangelhaften und unſicher taſtenden Anfängen. Noch immer erſcheint
der Congreß von Wien 1814—15 als der bedeutendſte allgemein-europäiſche Con-
greß. Die folgenden Congreſſe von Aachen 1818, Troppau 1820, Laibach
1821 und Verona 1822 waren vorzugsweiſe nur Congreſſe der fünf europäiſchen
Großmächte. Der großartige Vorſchlag des Kaiſers NapoleonIII. vom Jahr 1863 zu
einem allgemeinen europäiſchen Congreß iſt bisher ohne Erfolg geblieben.
Aber die Idee der Congreſſe hat ſo ſicher noch eine große Zukunft, als die fortſchrei-
tende Menſchheit ſich mehr den friedlichen Mitteln zuwenden wird, um für den
Schutz und die zeitgemäße Fortbildung ihrer gemeinſamen Lebensordnung zu ſorgen.


[103]Völkerrechtliche Perſonen.
109.

Aus der völkerrechtlichen Exiſtenz der Staten und aus ihrer Bethei-
ligung an dem Schickſal der europäiſchen Statengenoſſenſchaft folgt das
natürliche Recht aller europäiſchen Staten, welche einen ſelbſtändigen völker-
rechtlichen Verkehr pflegen, zu einem allgemeinen europäiſchen Congreß zu-
gezogen zu werden und eine eigene Stimme zu führen.


Staten, welche nur im Bunde mit andern Staten eine völkerrecht-
liche Exiſtenz behaupten können, ſind nicht zu individueller, ſondern nur
zur Geſammtvertretung berechtigt.


Nach dieſem Grundſatze ergingen am 4. Nov. 1863 die Einladungen des
Kaiſers NapoleonIII. an alle ſouveränen Staten Europas. „Jedesmal“, heißt
es in dem Einladungsſchreiben, „wenn ſtarke Stöße die Grundlagen der Staten
erſchüttert und deren Gränzen verändert haben, griff man zu feierlichen Transactionen,
um die neuen Elemente zu verbinden und die vollendeten Umgeſtaltungen zu ſich-
ten und zu heiligen“.


110.

Sind die auf einem allgemeinen europäiſchen Congreſſe verſammelten
Staten einig über völkerrechtliche Beſtimmungen, ſo ſind dieſelben für alle
europäiſchen Staten verbindliche Rechtsvorſchriften.


Vgl. oben §. 13. Das gilt auch für die Staten, welche nicht erſchienen ſind
und daher ihre Zuſtimmung nicht erklärt haben.


111.

Ein europäiſcher Congreß hat nicht die Autorität eines Weltcongreſſes,
aber wenn er einig iſt, ſo ſpricht er das derzeitige europäiſche Rechts-
bewußtſein auch bezüglich des allgemeinen Völkerrechts aus.


Darin liegt freilich keine genügende Sicherheit dafür, daß dieſe Ausſprache
auch von den außereuropäiſchen Staten als richtig anerkannt und beachtet werde.
So wurde bekanntlich von Seite der Vereinigten Staten von Amerika das Verbot
der Kaperei, zu welchem ſich der Pariſer Friedenscongreß von 1856 verſtändigt hatte,
nicht anerkannt, ſo lange nicht zugleich die tadelnswerthe Praxis der Seebeute eben-
falls verboten werde.


112.

Die Anerkennung und Wirkſamkeit allgemeiner Grundſätze des Völ-
kerrechts wird beſſer geſichert, wenn zu der Berathung und autoritativen
[104]Zweites Buch.
Feſtſtellung derſelben mit den europäiſchen Großſtaten auch die außereuro-
päiſchen Weltmächte, insbeſondere die amerikaniſchen Großſtaten, zuſammen-
treten und zuſammenwirken, d. h. wenn der Congreß als Weltcongreß
erſcheint.


Vgl. oben § 7.


113.

Auf den Statencongreſſen entſcheidet, in Ermanglung einer ſchützen-
den Organiſation, nicht die Meinung oder der Wille der Mehrheit. Die
Minderheit iſt nicht von Rechtswegen verpflichtet, ſich der Mehrheit unter-
zuordnen. Ein einzelner Stat kann möglicher Weiſe mit Recht ſeine ab-
weichende Meinung behaupten. Aber wenn die Mehrheit ſich für die
Nothwendigkeit eines allgemeinen Rechtsgrundſatzes erklärt, ſo iſt das immer-
hin ein beachtenswerthes Zeugniß für das derzeitige allgemeine Rechts-
bewußtſein der gebildeten Völker; und wenn gleich die Mehrheit keine for-
melle Herrſchaft hat über die Minderheit, ſo liegt doch in der Verletzung
eines Grundſatzes, den jene für einen allgemein verbindlichen Rechtsſatz
erklärt, eine ernſte Gefahr für den verletzenden Stat.


Wenn dereinſt die Congreſſe organiſirt ſein werden, dann wird auch eine Be-
ſchlußfaſſung mit Mehrheit möglich werden. Es iſt eine Unvollkommenheit des jetzi-
gen Rechtszuſtandes, daß der einzelne Stat allen andern gegenüber auch ſeine Willkür
als Recht behaupten kann, welche an die noch barbariſche Sitte der alten Germani-
ſchen Rechtsfindung erinnert, in welcher nicht die Mehrheit der Stimmen, ſondern
die Tapferkeit der Fäuſte entſchieden hat oder an das berüchtigte Veto der einzelnen
Polniſchen Magnaten, welche das Zuſtandekommen der Geſetze zu hindern vermocht
hat. Aber wie gefährlich die einfache Einführung des Mehrheitsprincips ohne Ga-
rantien gegen den Mißbrauch wäre, zeigt ſchon der Hinblick auf den Gegenſatz der
Verfaſſungen. Wollte die monarchiſche Mehrheit der europäiſchen Staten die repu-
blikaniſche Schweiz nach monarchiſchen Grundſätzen bemeſſen, ſo würde das offen-
bares Unrecht ſein, ebenſo wie die Beurtheilung des Ruſſiſchen Stats nach den con-
ſtitutionellen Syſtemen der übrigen europäiſchen Staaten unrichtig wäre.


114.

Die gegenwärtige Uebung, wornach auf den Congreſſen nur die
Regierungen der Staten vertreten ſind, ſtimmt nicht zu dem repräſentativen
Charakter des modernen Statsrechts und iſt keineswegs ohne Gefahr für
die Verfaſſungen der einzelnen Staten.


Jener Widerſpruch und dieſe Gefahr laſſen ſich heben oder ermäßigen:


  • a) durch Vollmachten auch von Seite der Volksvertretung der Einzelſtaten,

[105]Völkerrechtliche Perſonen.
  • b) durch den Vorbehalt nachträglicher Genehmigung von Seite der geſetz-
    gebenden Gewalt in den Einzelſtaten,
  • c) durch die Verantwortlichkeit der Miniſter und Geſanten für ihre Stimm-
    führung auf den Congreſſen.

Die Anwendung der parlamentariſchen Vertretung auch auf völkerrechtliche
Congreſſe wird noch lange ein idealer Wunſch bleiben. Inzwiſchen können aber die
Volksvertretungen dafür ſorgen, daß nicht durch auswärtige Verhandlungen die ver-
faſſungsmäßigen Rechte ihres Volkes verletzt oder die beſonderen Intereſſen ihres
Landes geſchädigt werden. In England und in den Vereinigten Staten iſt dieſe
Sorge ſchon ſeit langem geübt worden und mit Erfolg, wie manche Beiſpiele zeigen.
Lediglich deßhalb iſt die engliſche Krone der Heiligen Allianz nicht beigetreten und
mehr als einmal hat der amerikaniſche Senat die diplomatiſchen Verabredungen
durch ſeine Einſprache unwirkſam gemacht.


[[106]][[107]]

Drittes Buch.
Völkerrechtliche Organe.


I. Die Statshäupter.


1. Repräſentationsrecht der Statshäupter.

115.

Das Statsrecht beſtimmt, wer die Statsperſönlichkeit nach außen
darzuſtellen berechtigt und verpflichtet ſei und unter welchen Bedingungen
und Beſchränkungen.


Die Bildung der nöthigen Organe, um den Stat zu leiten und im Namen
des States zu handeln, iſt die Aufgabe der Statsverfaſſung. Das Völkerrecht hat
den Stat zu nehmen, wie er iſt und beſtimmt nicht die Verfaſſung der Staten. Ob
Jemand durch Erbrecht oder durch Wahl auf den Thron erhoben wird, iſt für die
Frage der Repräſentation im Völkerrecht unerheblich. Vgl. oben § 18.


116.

In der Regel hat die wirkliche Statsregierung (qui actu regit)
das völkerrechtliche Repräſentationsrecht auszuüben.


In dem helleniſchen Alterthum konnte es in Frage kommen, ob nicht der
Volksverſammlung das Repräſentationsrecht zukomme. In den modernen Staten
wird überall die Repräſentation nach Außen als Aufgabe und Recht der eigentlichen
Statsregierung betrachtet.


Eine Statsregierung kann aber nur inſofern von andern Staten als wirk-
lich
betrachtet werden, als ſie in der That regiert, nicht wenn ſie bloß Anſprüche
darauf erhebt, die Regierung zu übernehmen.


[108]Drittes Buch.
117.

Wer in einem Lande die Regierungsgewalt erwirbt, wird in Folge
deſſen im völkerrechtlichen Verkehr als Organ der Statsperſönlichkeit be-
trachtet. Mit einem ſiegreichen und im Lande anerkannten Uſurpator
können für den Stat verbindliche Verträge abgeſchloſſen werden.


Die europäiſchen Mächte haben ſo abwechſelnd mit dem Protector Cromwell
und ſpäter wieder mit dem König KarlII. und nach der Vertreibung Jacobs II.
mit dem Könige WilhelmIII. für England verbindliche Verträge abgeſchloſſen;
ebenſo mit der franzöſiſchen Directorialregierung, mit NapoleonI., mit
dem gewaltſam reſtaurirten König LudwigXVIII., mit Ludwig Philipp,
und wieder mit der republikaniſchen Regierung nach 1848 und mit NapoleonIII.
für Frankreich, ohne näher zu prüfen, ob dieſe verſchiedenen Statshäupter in correcter
Rechtsform zur Regierung gelangt ſeien. Die wirkliche Regierung iſt allein in der
Lage, für den regierten Stat zu handeln, weil ſie allein im Beſitz der Mittel iſt,
um wirkſam zu handeln. Die Repräſentation iſt nur ein Theil, nur eine einzelne
Aeußerung der Regierungsthätigkeit überhaupt. Da der Stat eine lebendige Perſon
und nicht ein todtes Syſtem von formellen Rechten iſt, ſo kann er nur von dem
vertreten werden, welcher in dem Stat und an der Spitze des States als lebendiges
Statsorgan dem State dient, d. h. nur von dem, der wirklich die Regierungsgewalt
ausübt oder ausüben läßt.


Wie innerhalb des States der thatſächlichen Regierung, dem „actually King“
gehorcht wird und gehorcht werden muß (Engliſche Parlamentsacte von Heinrich VII.
1494), ſo erſcheint nach außen die thatſächliche Regierung des Volks und Landes
als deren natürliche Vertreter. In einer Note vom 25. März 1825 conſtatirte der
engliſche Miniſter die allgemeine Uebung der europäiſchen Staten, mit den Regie-
rungen de facto in völkerrechtlichen Verkehr zu treten. Vgl. PhillimoreII. 19.
Auch die römiſche Kirche hat trotz ihrer legitimiſtiſchen Neigungen in neuerer Zeit,
dieſelbe Maxime im Verkehr mit den Staten behauptet. Papſt GregorXVI. hat
es in einer feierlichen Erklärung vom Aug. 1831 (bei Heffter Völkerr. Anhang.
IV.) als ein Bedürfniß und einen alten Gebrauch der Kirche bezeichnet, daß dieſelbe
mit denen verhandle „qui actu summa rerum potiuntur“, aber ſich zugleich da-
gegen verwahrt, daß darin eine Anerkennung ihrer Rechtmäßigkeit liege. Indeſſen
iſt in der Aufnahme der völkerrechtlichen Beziehungen und in der Ertheilung der
gebräuchlichen Titel (König u. ſ. f.) doch die Anerkennung einer wirklichen Re-
gierung enthalten und es iſt das nicht ohne Wirkung auf die neue Rechtsbildung,
indem ſie die Zweifel gegen deren Beſtand vermindert oder vollends beſeitigt.


118.

Wer die Regierungsgewalt verliert, hört in Folge deſſen auf, der
völkerrechtliche Vertreter des States zu ſein.


[109]Völkerrechtliche Organe.

Mit einem entthronten Fürſten können keine den Stat verbindliche
Verträge abgeſchloſſen werden.


Das nicht mehr wirkliche Statshaupt, außer Stande zu regieren, kann eben
deßhalb den Stat auch nicht repräſentiren. JakobII. konnte nach ſeiner Flucht
und nachdem das Parlament ſeine Abſetzung in Form der angenommenen Abdankung
erklärt hatte, nicht mehr England vertreten, noch die Bourbonen Frankreich wäh-
rend ihres Exils. Dasſelbe gilt von den vertriebenen italieniſchen und deutſchen
Fürſten dieſer Tage. Selbſt wenn man annimmt, daß das Recht ſolcher entthronten
Fürſten noch nicht erloſchen und je nach Umſtänden wieder herzuſtellen ſei, ſo muß
doch, ſo lange dieſes Recht nicht ausgeübt werden kann, auch die daraus abgeleitete
Repräſentation ruhen. Die Zumuthung an ein Volk, daß es durch einen Fürſten
ſich verpflichten laſſe, der keine Macht mehr über dasſelbe beſitzt und außer Stande
iſt, für den Vollzug ſeiner Zuſagen zu ſorgen, iſt ungereimt.


119.

Daraus, daß ein Stat mit dem thatſächlichen Haupte eines States
in regelmäßigen Verkehr tritt, folgt nicht, daß er die Rechtmäßigkeit ſeiner
Erhebung, wohl aber, daß er die rechtliche Wirkſamkeit ſeiner gegenwär-
tigen Statsſtellung anerkenne.


Vgl. zu § 117. Es iſt daher möglich, obwohl nicht zweckmäßig, daß ein
Stat, wenn er eine neue Regierung anerkennt, zugleich ſeine Meinung über den
revolutionären Anfang der neuen Gewalt ausſpricht, wie das im Jahr 1861 in
einer Preußiſchen Note an das neue Königreich Italien geſchehen iſt.


120.

Die Legitimität oder Illegitimität des Urſprungs einer Statsregierung
iſt eine Rechtsfrage, voraus des Stats-, erſt in zweiter Linie des Völker-
rechts. Auch eine urſprünglich durch Rechtsbruch erhobene Regierung kann
aber rechtmäßig werden, wenn ſie im State dauernden Beſtand gewinnt
und allgemeine Anerkennung findet.


Im Gegenſatz zu dieſer Wahrheit hatte die Legitimitätspolitik der Congreſſe
von Laibach und Verona es für eine Aufgabe der europäiſchen Völkerfamilie erklärt
überall einzuſchreiten, wo in einem State der Geiſt der Revolution ſich rege und die
legitimen Fürſten in ihrem Beſitze der Gewalt auch wider die Völker zu ſchützen und
wiederherzuſtellen. Am klarſten ſpricht die damalige Tendenz die Circulardepeſche
des Fürſten von Metternich aus, datirt Laibach 12. Mai 1821. Es heißt
darin: „Les Souverains alliés n’out pu méconnaître, qu’il il n’y avait qu’une
barrière à opposer a ce torrent devastateur“ (— de la conjuration impie,

[110]Drittes Buch.
qui veut renverser ce qui existe —). Conserver ce qui est légale-
ment établi
, tel a dû être le principe invariable de leur politique, le point
de départ et l’objet final de toutes leurs résolutions. Jamais ces Monarques
n’out manifesté la moindre disposition de contrarier des améliorations réelles
ou la réforme des abus qui se glissent dans les meilleurs gouvernemens. —
Les changemens utiles ou nécessaires dans la législation et dans l’admini-
stration des États ne doivent émaner que de la volonté libre, de l’impulsion
réfléchie et éclairée de ceux que Dieu a rendu responsables du pouvoir.
Tout ce qui sort de cette ligne, conduit nécessairement an désordre, aux
bouleversemens, à des maux bien plus insupportables que ceux que l’on
prétend guérir. Pénétrés de cette vérité éternelle, les Souverains n’ont pas
hésité à la proclamer avec franchise et vigueur; Ils ont déclaré qu’en
respectant les droits et l’indépendance de tout pouvoir légitime, Ils régar-
daient comme légalement nulle et désauvouée par les principes qui constituent
le droit publique de l’Europe, toute prétendue réforme opérée par la révolte
et la force ouverte“.
Nach dieſen Legitimitätsgrundſätzen wurde in Piemont,
in Neapel, in Spanien intervenirt und die repräſentative Verfaſſung dieſer
Länder überall in die abſolute Monarchie zurückgeſchraubt. Aber weder gelang es,
dieſe Grundſätze gegen die ſüdamerikaniſchen Colonien, die ſich von den euro-
päiſchen Mutterſtaten losſagten, durchzuführen, indem die engliſche Regierung dieſe
Umbildung anerkannte, noch waren dieſelben in Europa auf die Dauer feſtzuhalten.
Zuerſt ſchon hinderten das Ruſſiſche Intereſſe, der Idealismus Frankreichs und das
liberalere Rechtsgefühl Englands die Anwendung derſelben auf die griechiſche
Revolution. Im Jahre 1830 ſchraken die Oſtmächte vor der Verantwortlichkeit und
Gefahr eines europäiſchen Krieges zurück und erkannten die gewaltſame Aenderung
der franzöſiſchen Dynaſtie und die Revolution Belgiens an. Seither ſind
noch eine Reihe von Regierungswechſeln in den Europäiſchen Staten erſt thatſächlich,
wenn auch im Gegenſatz zu dem Grundſatz der unangreifbaren Legitimität vollzogen,
und wenn ſie ſich als nothwendig und dauerhaft erwieſen, immer unbedenklicher von
allen europäiſchen Staten anerkannt worden. Der Fortſchritt, der in der Anerken-
nung der neuen Rechtsbildung je nach den Bedürfniſſen und der Entwicklung der
Völker liegt, iſt alſo ſeit den Zwanzigerjahren dieſes Jahrhunderts allgemein gemacht
und die ältere Lehre einer unveränderlichen Legitimität in die Rumpelkammer der
mittelalterlichen Antiquitäten verwieſen worden.


121.

Wenn es zweifelhaft iſt, ob eine Perſon wirkliches Statshaupt ge-
worden oder ob ſie noch wirkliches Statshaupt ſei, ſo kann auch die Be-
fugniß dieſer Perſon, den Stat nach Außen zu vertreten, von andern
Statsregierungen in Zweifel gezogen werden.


Bei Umwälzungen, welche einen Regierungswechſel zur Folge haben, tritt ge-
wöhnlich eine Zwiſchenzeit ein, in der es unſicher iſt, ob der bisherige Gewalthaber
[111]Völkerrechtliche Organe.
ſich nicht behaupten oder in Bälde ſeine einſtweilen erſchütterte Herrſchaft wieder
herſtellen könne und ob der neue Träger der Statsgewalt ſich in der neu eingenom-
menen Stellung befeſtigen werde. In dieſer Zwiſchenzeit kann es einer außerhalb
dieſer Parteikämpfe ſtehenden Regierung nicht verargt werden, wenn ſie auch im
Zweifel iſt, wen ſie als wahren Repräſentanten des betreffenden Stats zu betrachten
habe. Im Zweifel hat ſie ſich aber einer verbindlichen Verhandlung mit dem einen
und dem andern zu enthalten, denn es können nicht zugleich zwei verſchiedene Re-
gierungen
und daher zwei Vertreter Eines States beſtehn.


122.

Die Frage der Anerkennung einer auswärtigen Regierung wird in
den modernen Staten durchweg von den inländiſchen Regierungen ent-
ſchieden; und es haben ſich dann die Landesgerichte auch in internationalen
Proceſſen nach dieſem Entſcheide zu richten.


Es iſt das eine Folge der Repräſentativgewalt, welche in den modernen Sta-
ten von Europa und Amerika faſt überall ganz den Regierungen anvertraut iſt. Wo
aber eine Verfaſſung, wie die ſchweizeriſche Bundesverfaſſung (Art. 74. 4) dieſe
Anerkennung fremder Staten und Regierungen dem Geſetzgebenden Körper vorbehält,
da iſt natürlich nur dieſer und nicht die Regierung competent. Die Competenz der
ſtatlichen Organe wird durch das Statsrecht, nicht durch das Völkerrecht geregelt.


Die völkerrechtlichen Beziehungen der verſchiedenen Staten zu einander wür-
den übrigens verwirrt, wenn es den einzelnen Gerichten zuſtände, im Gegenſatze zu
dem Entſcheide der Statsregierung eine fremde Regierung ſei es nicht als zu Recht
beſtehend ſei es als berechtigt zu erklären. Phillimore (II. 23) führt manche
Urtheile der Engliſchen und Nordamerikaniſchen Gerichte an, welche dieſe Regel
beſtätigen.


123.

Die völkerrechtliche Perſönlichkeit eines States erleidet keine Aende-
rung, wenn gleich die Regierung desſelben einen Wechſel — und auch
dann nicht, wenn ſie einen gewaltſamen Wechſel — erfährt, vorausgeſetzt
nur, daß Volk und Land in ihrer Individualität fortbeſtehen.


Da nicht einmal die vollſtändige Wandlung der Statsverfaſſung die Fort-
dauer der Statsperſon verhindert (vgl. oben § 41. 42), ſo kann der Wechſel in der
Perſon und dem Syſtem der Regierung noch weniger eine ſo erſchütternde Wirkung
haben.


124.

Das wirkliche Statshaupt iſt berechtigt, auch die völkerrechtlich dem
[112]Drittes Buch.
State zukommende Ehre, Würde und Rangſtellung in Anſpruch zu nehmen
und den entſprechenden Titel zu führen.


Die Verweigerung ſolcher Titel wird mit Grund als eine Beleidigung betrach-
tet, wenn erſt die neue Regierung ſich als unzweifelhaft wirkliche Regierung betrachten
darf. Schon die leiſe Mißachtung, welche NapoleonIII. von Kaiſer Nikolaus
erfuhr, als dieſer in ſeinem Schreiben den üblichen Brudernamen (mon frère) unter-
ließ, iſt von dem Erſtern ſchwer empfunden und gerächt worden: und doch ließ ſich
da von keiner Rechtsverletzung ſprechen, ſondern höchſtens von einem Verſtoß gegen
die höfiſche Sitte, denn es war darin Napoleon ausdrücklich als wirkliches Statshaupt
der Franzoſen anerkannt worden.


125.

Die diplomatiſche Sitte fordert, daß die in regelmäßigem Verkehr
mit einander befindlichen Staten einander jeden Perſonenwechſel in dem
Statshaupt anzeigen. Die Unterlaſſung oder Verſchiebung dieſer Anzeige
iſt indeſſen nicht als Rechtsverletzung zu betrachten und hat keine Aende-
rung der Rechtsverhältniſſe zur Folge.


Zuweilen wird die Anzeige aus dem Grunde aufgeſchoben oder vermieden,
um unangenehme Erörterungen über die Rechtmäßigkeit der Aenderung zu vermeiden
und die ſtille Heilung der Zeit nicht zu ſtören. In dieſer Weiſe verfuhr die neue
Regierung des Königreichs Italien 1862/64 mit einer wohlberechneten Zurück-
haltung, um nicht die deutſchen Staten zu feindſeligen Gegenäußerungen zu veran-
laſſen und nicht der öſterreichiſchen Politik, welche dem neuen Stat die Anerkennung
verweigerte, willkommenen Anlaß zu Demonſtrationen zu geben.


2. Die Statshäupter als ſouveräne Perſonen.

126.

Die Frage, ob dem jeweiligen Statshaupt auch perſönliche Souve-
ränetät zukomme oder nicht, iſt zunächſt wieder eine Frage des Statsrechts,
nicht des Völkerrechts.


In der Regel wird dieſe Frage in den heutigen Monarchien bejaht,
und in den heutigen Republiken verneint. Der Fürſt wird als eine ſouve-
räne Perſon betrachtet, der republikaniſche Präſident nicht. Das war nicht immer
ſo und iſt nicht nothwendig ſo. Die alt-römiſchen Conſuln galten nicht minder als
ſouveräne Perſonen als die Könige der andern Völker; und zwiſchen den erblichen
Reichsfürſten des Mittelalters und dem gewählten Dogen der Republik Venedig
wurde in dieſer Hinſicht kein Unterſchied gemacht. Der Grund, weßhalb die heutigen
[113]Völkerrechtliche Organe.
Republiken ihren Regierungen dieſe perſönliche Eigenſchaft abſprechen, iſt der, ſie
wollen dieſelben fortwährend daran erinnern, daß ihre Gewalt eine abgeleitete, keine
urſprüngliche ſei, während die monarchiſchen Völker es lieben, die Hoheit des States
in der Majeſtät des Monarchen perſönlich darzuſtellen.


127.

Die Familien der Souveräne in den europäiſchen Staten werden
als „ſouveräne Familien“ bezeichnet und ſind unter ſich ebenbürtig.


Der Ausdruck ſouveräne Familie iſt freilich ungenau, denn der
Familie kommt keine Souveränetät zu, weder die urſprüngliche Statsſouveränetät,
noch die concentrirte Fürſtenſouveränetät. Vielmehr ſind alle ihre übrigen Glieder
Unterthanen des Stats und des Statshaupts.


128.

Wenn gleich der Präſident einer Republik nicht als Souverän gilt,
ſo kommen ihm dennoch, inſofern er als Repräſentant ſeines States er-
ſcheint, alle diejenigen Rechte zu, welche dem ſouveränen Repräſentanten
eines States gebühren.


Inwiefern er den Stat repräſentirt, iſt in ihm das Recht des States
zu ehren, den er darſtellt. Es gilt das auch von dem Rang und den beſondern
Ehren des republicaniſchen Stats im Verhältniß zu den monarchiſchen Staten.


129.

Die Unabhängigkeit eines States gegenüber andern Staten wird
durch die Unabhängigkeit des Statshauptes von fremden Statsgewalten be-
währt. Die Statshäupter ſind in der Regel keiner fremden Statshoheit
unterworfen, auch dann nicht, wenn ſie ein fremdes Statsgebiet betreten.


Die ſogenannte Exterritorialität, von der in dem folgenden Capitel
die Rede ſein wird, iſt eine weit getriebene Anwendung dieſes Grundſatzes, welche
die völkerrechtliche Beſchränkung der Statshoheit, die ſich im übrigen auf das ganze
Land ausdehnt, zu Gunſten der fremden Souveräne erklären und rechtfertigen ſoll.
Die Rückſicht auf die völkerrechtliche Sicherheit und Unabhängigkeit der
Vertreter der Staten hat hier das Uebergewicht erlangt über die Rückſicht auf die
beſondere ſtatsrechtliche Gebietshoheit.


130.

Die Souveräne können jedoch in fremdem Gebiet ihre Befreiung
von der dortigen Statsgewalt nur inſofern behaupten, als ſie


Bluntſchli, Das Völkerrecht. 8
[114]Drittes Buch.
  • a) daſelbſt als ſouveräne Perſonen bekannt und anerkannt ſind,
  • b) als ihnen der Eintritt in das fremde Land nicht unterſagt wor-
    den iſt, oder ſie nicht gemahnt worden ſind, dasſelbe wieder zu
    verlaſſen,
  • c) als die beiden Staten ſich im Frieden mit einander befinden.

Zu a) Wenn ein Souverän, während er in fremdem Lande iſt, entthront
wird, ſo kann ihm auch der Stat ſeines Aufenthaltsorts die Anerkennung entziehn
und er iſt nachher als Privatperſon zu betrachten. Wenn ein Fürſt nach ſeiner
Entthronung oder nach ſeiner Abdankung in ein fremdes Land zieht und daher nicht
mehr berechtigt erſcheint, den Stat zu repräſentiren, ſo hat er auch kein Recht auf
dieſe Ausnahmsſtellung. Als die Exkönigin Chriſtine von Schweden in Frank-
reich ihren Diener Monaldeschi tödten ließ (1657), war ſie dafür den franzöſiſchen
Gerichten verantwortlich, wenn gleich die franzöſiſche Regierung ſich darauf beſchränkte,
ſie deßhalb aus Frankreich zu verweiſen. Auch die Königin Marie Stuart war ſchon
Jahre lang von England nicht mehr als Königin von Schottland anerkannt, als
ihr der Proceß gemacht wurde.


Zu b) Jeder Stat iſt zunächſt ausſchließlich Herr ſeines Gebietes und braucht
daher nicht zu dulden, daß ſich in demſelben ein fremder Souverän gegen ſeinen
Willen feſtſetze
. Er kann daher demſelben je nach Umſtänden den Eintritt in
das Land verweigern, ohne eine Rechtsverletzung zu begehen und er kann denſelben
zum Austritt anhalten. Je nach Umſtänden kann aber darin nicht bloß eine Un-
freundlichkeit, ſondern ſogar eine Beleidigung erkannt werden, wenn ſolches in der
Abſicht geſchieht, die Ehre des betreffenden Stats oder ſeines Fürſten zu verletzen.


Zu c) Im Kriege kann der fremde Souverän, der als Feind zu betrachten iſt,
gefangen geſetzt werden. Die Gefangennahme des Kurfürſten von Heſſen durch
Preußen im Jahr 1866 war nicht, wie es in dem Manifeſt des Herzogs von Naſſau
vom 15. Juli heißt „ein in der Geſchichte der Civiliſation einzig daſtehendes Beiſpiel“.
Die Beiſpiele von kriegsgefangenen Fürſten ſind in der europäiſchen und in der
deutſchen Geſchichte nicht ſelten. Die Kriegsgefangenſchaft des Kaiſers NapoleonI.
iſt noch in friſcher Erinnerung der Mitlebenden. Vgl. unten § 142. 143.


131.

Wenn ein Souverän in einem fremden State ein Amt annimmt,
ſo wird er durch das Amt dem fremden State verpflichtet. Er iſt ver-
bunden, ſo lange er das Amt bekleidet, alle Pflichten desſelben auszuüben
und bleibt inſofern der fremden Statsgewalt untergeordnet.


In dieſer Lage ſind einzelne deutſche Fürſten, welche zugleich als Ge-
nerale in der Preußiſchen Armee dienen. Freilich iſt hier leicht ein Conflict möglich
zwiſchen der ſtatsrechtlichen Amtspflicht und der völkerrechtlichen
Selbſtändigkeit
, deſſen Löſung in Art. 132 gegeben wird.


[115]Völkerrechtliche Organe.
132.

Dem Souverän ſteht es jeder Zeit zu, das Amt in fremdem State
wieder zurückzugeben und ſeine ſouveräne Stellung wieder geltend zu
machen. Ebenſo ſteht es der fremden Statsgewalt frei, ihm das Amt
ohne Verzug wieder abzunehmen.


Vgl. darüber die vorige Anmerkung. Kommt es wirklich zum Conflict, ſo
iſt derſelbe dadurch zu beſeitigen, daß der Fürſt entweder ſich auf ſeine völker-
rechtliche Stellung zurückzieht
, indem er das fremde Statsamt niederlegt,
oder daß ihm das letztere abgenommen und er auf die völkerrechtliche Stellung
zurückgewieſen wird. Allerdings läßt ſich auch das Gegentheil als Löſung den-
ken, das Aufgeben der ſouveränen Stellung und das volle Uebergehen in den frem-
den Statsdienſt. Dann wird aber der Fürſt Privatmann und kommt nicht mehr
als ſouveräne Perſon in Betracht.


133.

Reist ein Souverän incognito in fremdem Lande, ſo wird ſeine
ſouveräne Eigenſchaft ignorirt und er als Privatperſon behandelt. Im
Nothfall aber kann er das Incognito ablegen und ſich als Souverän zu
erkennen geben. Von da an kann er die Rechte eines Souveräns an-
ſprechen.


Ein bekannter Fall iſt die Reiſe des Czars Peter von Rußland incognito
im Gefolge ſeiner Geſantſchaft nach Berlin.


134.

Wenn der Präſident einer Republik in fremdem Lande reiſt, ſo wird
er in der Regel als Privatperſon betrachtet und behandelt.


Inſofern er aber daſelbſt als Repräſentant ſeines States auftritt,
hat er dieſelbe Befreiung von der fremden Statsgewalt anzuſprechen, wie
ein Souverän in fremdem Lande.


Regel und Ausnahme drehen ſich um, je nachdem dem Statshaupt perſön-
liche Souveränetät
oder nur repräſentative Darſtellung der Stats-
ſouveränetät
zugeſchrieben wird. In der Monarchie iſt die ſouveräne
Erſcheinung die Regel, die Erſcheinung als Privatperſon die Ausnahme. In
der Republik iſt dieſe die Regel und jene die Ausnahme. Vgl. oben zu § 128.
Der Unterſchied der monarchiſchen und der republikaniſchen Verfaſſung begründet
keinen Unterſchied in den Rechten und Pflichten des völkerrechtlichen Verkehrs, der
durch die Statshäupter vermittelt wird.


8*
[116]Drittes Buch.
3. Vom Recht der Exterritorialität.

135.

Zu Gunſten fremder Souveräne oder überhaupt zu Gunſten der
Perſonen, welche einen Stat in fremdem Lande repräſentiren, wird, um
ihre Unabhängigkeit von einer andern Statsgewalt zu ſichern, in mancher
Beziehung fingirt, ſie ſeien außerhalb des fremden Landes (extra territorium),
gleich wie wenn ſie überallhin ihre Heimat mitzunehmen vermöchten.


Die Fiction der Exterritorialität iſt nicht der Grund der Exemtion von frem-
der Statsgewalt, welche jene Perſonen in fremdem Lande genießen, ſondern nur
eine bildliche Darſtellung dieſes Ausnahmerechts. Der wirkliche Grund liegt
in der völkerrechtlichen Achtung vor der Unabhängigkeit der repräſentirten Staten in
ihrem Verkehr mit einander. Vgl. § 129. Die Fiction wirkt deßhalb nur relativ,
ſie wirkt nicht über die wirklichen Gründe der Exemtion hinaus.


136.

Die exterritoriale Perſon wird der Statshoheit des einheimiſchen
States in der Regel nicht unterworfen, obwohl ſie thatſächlich in deſſen
Gebiet ſich aufhält.


Der einheimiſche Stat bleibt jedoch berechtigt zu fordern, daß die
exterritoriale Perſon hinwieder ſeine Unabhängigkeit, Sicherheit und Ehre
nicht verletze und die zur Erhaltung derſelben nöthigen Maßregeln zu
ergreifen.


Die Exemtion von der einheimiſchen Statsgewalt iſt nur ein negatives
Recht
, ſie hindert die Ausübung derſelben gegen die exterritoriale Perſon. Aber ſie
iſt nicht eine poſitive Befugniß des Exterritorialen, nun ſeinerſeits den Stat anzu-
greifen, der ihm jene Rückſicht und Gunſt erweist. Der Stat ehrt in dem fremden
Souverän einen Genoſſen ſeiner eigenen Souveränetät, aber er braucht nicht einen
offenbaren Feind in ſeinem Lande zu dulden. Es iſt wiederholt und mit Recht ge-
ſchehen, daß Geſante gefangen geſetzt wurden, weil ſie an einer Verſchwörung wider
die Regierung Theil nahmen, in deren Land ſie waren, z. B. der Schwediſche
Geſante in England 1716 (Wheatonhist. I. 308). Vgl. unten Abſch. II.


137.

Die exterritoriale Perſon iſt der Policeigewalt des einheimiſchen Sta-
tes nicht unterworfen. Die Policei darf keinen unmittelbaren oder mittel-
baren Zwang gegen ſie üben. Aber die Policei iſt nicht gehindert, die-
jenigen Maßregeln zu ergreifen, welche nöthig ſind, um Rechts- oder
[117]Völkerrechtliche Organe.
Sicherheitsgefährliche Handlungen der exterritorialen Perſon zu verhindern
und die exterritoriale Perſon iſt ihrerſeits verbunden, die allgemeinen
policeilichen Anordnungen und Einrichtungen des Landes nicht zu ſtören.


Wollte die exterritoriale Perſon z. B. Schießproben in ihrem Garten vorneh-
men, welche die Nachbarn bedrohten, oder ein Feuer anzünden, durch welches die
anſtoßenden Häuſer in Gefahr verſetzt würden, ſo wäre die Policei im Recht, das
zu hindern. Die Rückſicht auf die Würde des fremden Stats muß ſich vereinigen
laſſen mit der nothwendigen Sorge für die eigene Sicherheit. Die bau- und
feuerpoliceilichen Vorſchriften gelten daher auch für die Wohnungen der Ex-
territorialen.


138.

Die exterritoriale Perſon iſt nicht ſteuerpflichtig. Inwiefern aber
im Lande Gebühren erhoben werden für öffentliche Dienſtleiſtungen, ſo iſt
auch die exterritoriale Perſon, inſofern ſie dieſe Leiſtungen benutzt, nicht
von Rechts wegen von der Gebühr befreit.


Die Steuerbefreiung erklärt ſich zunächſt wieder aus der Verneinung
der Steuerhoheit des einheimiſchen States über den fremden Souverän. Dieſelbe
wird aber aus Courtoiſie zuweilen in weiterem Sinne geübt, als die rechtliche Con-
ſequenz des Princips fordert. Es verſteht ſich, daß der Exterritoriale keiner Ein-
kommens-
oder Vermögensſteuer, keiner Kriegs- oder Armenſteuer
unterworfen iſt und ebenſo, daß er Zoll- und Octroifreiheit genießt für die
Effekten und Waaren, welche er mit ſich führt oder zu ſeinem Gebrauche kommen
läßt. Aber zweifelhafter iſt ſchon die Befreiung von Weg- und Brücken-
geldern
, weil das Gebühren ſind für die Anlage und Unterhaltung der Wege und
Brücken. Indeſſen die Courtoiſie reicht gewöhnlich ſo weit. Nicht ebenſo verhält
es ſich mit den Taxen für Erwerb von Grundſtücken oder andern Sachen, oder
bezüglich der Gerichtsgebühren in Proceſſen, welche der Exterritoriale freiwillig
vor den einheimiſchen Gerichten führt oder führen läßt. Dieſe Gebühren werden
meiſtens gefordert und können jedenfalls gefordert werden. Selbſtverſtändlich ſind
auch die Poſtgebühren, die Telegraphengebühren, die Koſten für Be-
nutzung der Eiſenbahnen ohne Unterſchied, ob dieſe Anſtalten von Privaten
unternommen oder von Stats wegen beſorgt werden, nicht in jener Steuerfreiheit
inbegriffen. Wird der Exterritoriale zuweilen auch von den Briefporti befreit, ſo iſt
das eine ihm erwieſene Gefälligkeit, keine Rechtspflicht.


139.

Die Landesgerichte nehmen in der Regel keine bürgerliche Klage,
insbeſondere keine Schuldklage gegen die exterritorialen Perſonen an und
[118]Drittes Buch.
dürfen gegen dieſelben keine Zwangsmittel anwenden, weder gegen deren
Perſon, noch gegen deren Vermögen.


Es iſt das wieder nur eine Folge der perſönlichen Unabhängigkeit des Ex-
territorialen von anderer Statsgewalt. Die Civilgerichtsbarkeit iſt freilich
nur zum Schutz der Privatrechte und des Privatverkehrs eingeführt. Das Privat-
recht aber iſt ſeinem Weſen nach für Jedermann dasſelbe und hat mit Statsſouve-
veränetät nichts zu ſchaffen. Wenn der Souverän ein Haus ſich zufertigen läßt
oder ererbt, oder einen Miethvertrag eingeht, oder einen Wechſel ausſtellt, ſo erſcheint
er in allen dieſen Rechtsgeſchäften ganz ebenſo als Privatperſon, wie jeder Andere
und handelt in denſelben Rechtsformen, nach denſelben Grundſätzen, mit denſelben
Wirkungen. Als Privateigenthümer, als Privatgläubiger oder Schuldner iſt er in
keiner Weiſe Repräſentant des Stats, nicht Souverän. Wenn trotzdem die civiliſir-
ten Staten ihre Gerichte anweiſen, in der Regel keine Civilklage gegen die exterri-
torialen Perſonen anzunehmen, ſo liegt der Hauptgrund in der völkerrechtlichen
Rückſicht, daß die Durchführung der gerichtlichen Zwangsmittel (Arreſt,
Pfändung, Concurs, Verſilberung) gegen die privatrechtliche Perſon und ihr Ver-
mögen mittelbar auch ihre völkerrechtliche Unverletzlichkeit, Unabhängigkeit und
Ehre treffen und gefährden würde. Man zieht es daher vor, im Intereſſe der
Sicherheit und Würde des ſtatlichen Verkehrs von der ſtrengen Conſequenz des privat-
rechtlichen Grundſatzes abzuſehen, und will das Gericht nicht der Gefahr ausſetzen,
daß ſeine Autorität ſich machtlos zeige. Ueberdem kam dieſer Befreiung der Exter-
ritorialen von der Civilgerichtsbarkeit jene Fiction zu Statten, indem nun fingirt
wurde, ſie wohnen nicht innerhalb des Gerichtsbezirkes der inländiſchen Civilgerichte,
ſondern ihr Domicil liege in ihrer Heimat. Während daher im Mittelalter noch,
welches den privatlichen Charakter des Rechts mit Vorliebe betont, die privatrecht-
liche Klage gegen Fürſten unbedenklich überall an Hand genommen wurde, wo die
Gerichtsbarkeit an ſich begründet erſchien, ſo iſt dagegen in der neuern Zeit die
Exemtion der ſouveränen Perſonen auch von der fremden Civilgerichtsbarkeit allge-
meiner zur Uebung der gebildeten Völker geworden. Im Jahr 1827 hat ſich das
franzöſiſche Civilgericht von Havre ſogar, ungeachtet der abweichenden Meinung der
Statsanwaltſchaft, für incompetent erklärt, eine Civilklage gegen den Präſidenten der
Negerrepublik von Haiti an Hand zu nehmen. Vgl. PhillimoreII. App. IV.


140.

Ausnahmsweiſe wird die einheimiſche Gerichtsbarkeit der Civilgerichte
begründet:


  • a) inſofern die Klage auch dann hierorts anzubringen wäre, wenn
    der Exterritoriale in Wahrheit außer dem Lande wohnte und die
    Execution ohne Gefährdung der ſtatlichen Unabhängigkeit und
    Ehre durchzuführen iſt, wie insbeſondere bei Realklagen auf lie-
    gendes Gut;

[119]Völkerrechtliche Organe.
  • b) inſofern der Exterritoriale eine beſondere Privatſtellung z. B. als
    Kaufmann im Lande inne hat, oder ein einheimiſches Amt be-
    kleidet und daher in dieſen Eigenſchaften der inländiſchen und Ge-
    richtshoheit untergeordnet iſt;
  • c) wenn der Exterritoriale vertragsmäßig oder ſonſt in rechtlich
    wirkſamer Form die hieſige Gerichtsbarkeit anerkannt hat.

Auch in dieſen Ausnahmsfällen iſt jedoch der unmittelbare Zwang
gegen die Perſon (Perſonalverhaft) inſoweit zu unterlaſſen, als dadurch die
völkerrechtlichen Beziehungen verletzt werden könnten, und es hat ſich die
gerichtliche Execution auf vermögensrechtliche Zwangsmittel zu beſchränken.


Zu a) Die Vindication eines Grundſtücks, welches der Exterritoriale im
Beſitz hat, iſt nur vor den Landesgerichten durchzuführen, wo das Grundſtück wirk-
lich gelegen iſt. Ebenſo die Klagen am Nachbarrecht (z. B. wegen Waſſer-
ablauf) und auf oder gegen behauptete Dienſtbarkeiten. Dagegen für Arreſt-
klagen
kommt hinwieder die Rückſicht auf die gefährdete Würde und Freiheit des
Beklagten hemmend in Betracht, ſowie die Erwägung, daß die moderne Rechtsbil-
dung in Schuldklagen überhaupt nicht geneigt iſt, die gerichtliche Competenz der
inländiſchen Gerichte über auswärtige Souveräne oder Geſante zuzulaſſen.


Zu b) Wenn ein Statshaupt zugleich ein Handelsetabliſſement betreibt und
als Kaufmann an dem Handelsverkehr Theil nimmt, ſo hat er ſich in dieſer
Eigenſchaft des Vorzugs ſeiner Würde begeben und muß vor den Handelsgerichten
für ſeine Handelsgeſchäfte Rede ſtehen. Ebenſo hat der engliſche Master of rolls
in einem Proceß des entthronten Herzogs von Braunſchweig gegen den König von
Hannover und Herzog von Cumberland (13. Jan. 1844) ſein Urtheil dahin aus-
geſprochen: „I am of opinion, that his majesty the King of Hanover is and
ought to be exempt from all liability of beeng sued in the Court of this
country, for any acts done by him as King of Hanover, or in his character
of Sovereign Prince, but that, being a subject of the Queen, he is and ought
to be liable to be sued in the Courts of this country, in respect of any acts
and transactions done by him, or in which he may heve been engaged as
subject“. (Phillimore II. App. IV. S. 589).


Zu c) Wenn eine ſouveräne Perſon oder ein anderer Exterritorialer ſich die
Klage gegen ihn gefallen läßt, oder wenn er etwa ſelber eine Civilklage in dem
fremden Lande anſtellt, ſo muß er, oder ſein Vertreter ſich nach der Proceßord-
nung des anerkannten Gerichts
in dem Proceſſe fügen und kann für ſich
kein weiteres Privilegium anſprechen. Im letzteren Fall wird er ſich daher auch der
Eidesleiſtung nicht entziehen können, wo dieſe als nothwendig gilt, noch der Bezah-
lung der Proceßkoſten, wenn er unterliegt. Im Jahr 1828 entſchied das engliſche
Obergericht, daß fremde Souveräne ebenſowohl vor den Billigkeits- wie vor den
Rechtshöfen Klage führen können (PhillimoreII. App. IV. S. 548). In
einem andern Fall wurde ebenfalls in der Appellationsinſtanz von den rechtsgelehr-
[120]Drittes Buch.
ten Lords von England der Satz ausgeſprochen, daß ein fremder Souverän, wenn
er vor einem engliſchen Gerichte eine Klage verfolge, jedem andern Privatkläger gleich
zu behandeln, alſo je nach Erforderniß der Sache ihm auch der Eid aufzulegen ſei.
(Proceß zwiſchen dem Könige von Spanien und dem Hauſe Hullet and Widder.
Aug. 1833. PhillimoreII. App. IV. 3.) Auf eine Widerklage dagegen braucht
ſich der Exterritoriale nicht einzulaſſen, weil dieſelbe eine Klage iſt, und alle Gründe,
welche gegen die Zulaſſung von Klagen ſprechen, auch auf die Widerklage paſſen.


141.

Die exterritoriale Perſon iſt der Strafgerichtsbarkeit des einheimiſchen
States nicht unterworfen. Dieſer Stat hat aber das Recht, theils die
nöthigen Maßregeln zu ergreifen, um ein Vergehen des Exterritorialen zu
verhindern, theils von dem State des Exterritorialen Genugthuung zu for-
dern, wenn dieſer die Rechtsordnung des Landes in einer Weiſe verletzt,
welche an ſich zu ſtrafgerichtlicher Verfolgung berechtigt.


Auch dieſe Beſtimmung, welche durch den allgemeinen Gebrauch der civiliſir-
ten Völker beſtätigt wird, iſt ſinguläres Recht, weil dieſelbe die an ſich berechtigte
Wirkſamkeit der Strafrechtspflege hemmt. Es verhält ſich damit ähnlich wie mit
der ſtatsrechtlichen Unverantwortlichkeit der Souveräne. Aber es iſt zweckmäßig,
daran zu erinnern, daß es gefährlich iſt, die Haltbarkeit ſolcher Rechtsfictionen auf
eine zu harte Probe zu ſetzen.


142.

Wenn die exterritoriale Perſon in dem Lande feindliche Handlungen
verübt, ſo darf ſie von der einheimiſchen Regierung als Feind erklärt und
behandelt und im Nothfall gefangen genommen werden.


Das iſt nicht Anwendung des Strafrechts, ſondern des Kriegsrechts. Die
Gefangenſchaft iſt Kriegsgefangenſchaft, nicht Strafgefängniß. Vgl. oben zu § 130.


143.

Der einheimiſche Stat iſt jeder Zeit berechtigt, der exterritorialen
Perſon aus erheblichen Gründen das Gaſtrecht und damit die Fortdauer
der Exterritorialität zu kündigen.


Die Kündigung darf nicht auf einen kürzeren Termin geſtellt wer-
den, als es dem Exterritorialen möglich iſt, mit Sicherheit das Land zu
verlaſſen.


Vgl. oben zu § 130.


[121]Völkerrechtliche Organe.
144.

Wenn der Exterritoriale andere Perſonen in ihrem perſönlichen,
Familien- oder Vermögensrechte gewaltſam angreift oder ernſtlich bedroht,
ſo iſt auch ihm gegenüber die Nothwehr erlaubt.


PhillimoreII. 105. Der Gewaltthat darf man mit Gewalt begegnen,
und wenn in Folge der Nothwehr gegen widerrechtliche Gewaltthat der Exterritoriale
umkommt, ſo iſt das keine Verletzung des Völkerrechts. Das Recht der Nothwehr
iſt natürliches Menſchenrecht, welches von dem Völker- wie von dem Stats-
recht anerkannt werden muß, nicht unterdrückt werden darf.


145.

Die Exemtion von der einheimiſchen Statshoheit wird auch auf die
Familiengenoſſen, Beamten, Begleiter und Diener des Exterritorialen aus-
gedehnt. Sein Gefolge hat indeſſen nur einen mittelbaren Anſpruch auf
Exterritorialität, nicht um ſeiner ſelbſt willen, ſondern nur aus Rückſicht
auf den exterritorialen Gefolgsherrn.


Die Familiengenoſſen haben Theil an ſeiner Befreiung, inſofern ſie that-
ſächlich zu ihm gehören
, alſo in ſeinem Hauſe wohnen, aber nicht, wenn ſie
eine ſelbſtändige Stellung außerhalb ſeiner Familie behaupten. Im
letztern Fall ſind ſie fremde Privatperſonen gleich andern Fremden. Die Uebergänge
aus dem einen in den andern Zuſtand können freilich zu mancherlei Zweifeln den
Anlaß geben. Der Hauslehrer der Kinder des Exterritorialen gehört zu ſeinem Ge-
folge, aber die übrigen Lehrer am Ort, welche nur einzelne Lehrſtunden geben, ge-
hören nicht dazu.


146.

Der Exterritoriale darf nicht ſein Ausnahmerecht dazu mißbrauchen,
um Perſonen, welche im Lande gerichtlich oder policeilich verfolgt werden,
durch Aufnahme in ſein Gefolge der einheimiſchen Gerichts- oder Policei-
gewalt zu entziehen.


Ueberhaupt iſt das Privilegium im Sinn des guten Glaubens zu inter-
pretiren. Als ein Muſiker, um ſeinen Gläubigern zu entgehen, ſich in die Capelle
eines Bayriſchen Geſanten in London aufnehmen ließ, wurde dieſe Aufnahme von dem
engliſchen Gerichtshof als illuſoriſch behandelt, weil kein wirklicher bona-fide-Dienſt
nachgewieſen ſei. In ähnlicher Weiſe wurden noch gegen mehrere andere angebliche
Diener dieſes Geſanten verfahren, der offenbar das Privilegium zu einem ungebühr-
lichen Patronate mißbraucht hatte. Siehe die Fälle bei WildmannI. 124.


[122]Drittes Buch.
147.

Die Perſonen im Gefolge des Exterritorialen ſind in der Regel
ebenfalls von der Gerichtsbarkeit des einheimiſchen States befreit. Dieſer
Stat iſt aber berechtigt, von dem State des Exterritorialen zu fordern,
daß er den einheimiſchen Gläubigern oder andern einheimiſchen Klägern
Recht gewähre und wegen der im Lande verübten Vergehen und Verbre-
chen dieſelben beſtrafe.


Vattel (IV. § 124) berichtet über einen merkwürdigen Fall, der ſich in
England ereignete, als ein Edelmann im Gefolge des franzöſiſchen Botſchafters
Marquis von Rosny, ſpätern Herzogs von Sully, ſich einer Tödung ſchuldig machte.
Derſelbe wurde von dem Botſchafter zum Tode verurtheilt und die Hinrichtung der
engliſchen Juſtiz anheimgeſtellt, dann aber trat Begnadigung ein.


148.

Verübt eine Perſon aus dem Gefolge des Exterritorialen ein Ver-
gehen, ſo iſt der Letztere berechtigt, dieſelbe nöthigenfalls gefangen zu neh-
men und in ſeine Heimat zur Beſtrafung zu überſchicken.


Die Gefangennahme derſelben durch die einheimiſche Statsgewalt
zum Behuf der Ueberlieferung an den Exterritorialen oder deſſen Stat iſt
nicht Verletzung, ſondern Anerkennung dieſer mittelbaren Exterritorialität.


Die Gefangennahme geſchieht in dieſem Fall nicht in der Abſicht, die eigene
Gerichtsbarkeit auszuüben, auch nicht in der Meinung, den fremden Stat zu ver-
letzen, ſondern in dem Vorſatz, demſelben in der Ausübung ſeiner Gerichtsbarkeit
behülflich zu ſein.


149.

Es ſteht den Exterritorialen frei, ihr Gefolge der ortspoliceilichen
und gerichtlichen Autorität ebenſo unterzuordnen, wie die andern Bewohner
des Ortes es ſind. Keinenfalls dürfen die Gefolgsleute ungeſtraft Stö-
rungen der öffentlichen Ordnung des Orts verüben.


Wenn die Gefolgsleute des Exterritorialen Unterthanen des einheimiſchen
States ſelber ſind, ſo werden ſie gewöhnlich deſſen Jurisdiction unterſtellt. Es kann
das aber unbedenklich auch auf Angehörige des States, den der Exterritoriale reprä-
ſentirt, ausgedehnt werden, ſobald dieſer es zweckmäßig findet, denn ſie haben alle
kein perſönliches, ſondern nur ein abgeleitetes Recht auf Exterritorialität. Auf dem
Friedenscongreß zu Münſter in Weſtphalen am Schluß des dreißigjährigen Kriegs
kamen ſo die Geſanten überein, um die Rauf- und Streitluſt ihrer Gefolge im Zaum
[123]Völkerrechtliche Organe.
zu halten, dieſelben gemeinſam der Ortspolicei zu unterwerfen. Ueberhaupt iſt
eine allzu weite Ausdehnung der Exterritorialität für die Rechtsſicherheit und die
öffentliche Ordnung durchaus ſchädlich und nicht zu empfehlen. Das Völkerrecht for-
dert grundſätzlich nur, daß die Ehre und Freiheit der Staten in ihren Repräſen-
tanten geſchützt, und durchaus nicht, daß die Miſſethaten der Individuen
begünſtigt
werden.


150.

Die Exemtion des Exterritorialen erſtreckt ſich auch auf die Wohnung,
welche er inne hat, aber nicht auf den Grundbeſitz, welchen er als Privat-
mann bewirthſchaftet.


Wenn ein Souverän ein Gut in einem fremden Lande kauft, um ſeine
Capitalien darin anzulegen, und ſein Vermögen in ſolcher Weiſe zu bewirthſchaften,
nicht um daſelbſt als Souverän zu leben und den Stat repräſentiren zu laſſen, ſo
iſt kein Grund da, dieſes Gut als exterritorial zu betrachten. Nur inwiefern das
Hotel des Exterritorialen ſeiner Perſon als Wohnung dient und in Folge deſſen
ſeine repräſentative Stellung und Freiheit ſichert, gilt dasſelbe als exempt. Dann
darf es, ohne ſeinen Willen, nicht von der einheimiſchen Statsgewalt betreten
und durchſucht werden. Als die Ruſſiſche Finanzwache am 3. April 1752 in das
Hotel des Schwediſchen Geſanten in Petersburg eindrang und ein paar Diener des-
ſelben gefangen nahm, welche beſchuldigt waren, das Statsmonopol verletzt zu haben,
gab die Kaiſerin Eliſabeth dem beleidigten Geſanten volle Genugthuung wegen die-
ſer Verletzung des Völkerrechts. VattelIV. § 117.


151.

Die Wohnung des Exterritorialen darf nicht zum Aſyl mißbraucht
werden für gerichtlich Verfolgte. Der Exterritoriale iſt verpflichtet, ſolchen
Flüchtlingen die Aufnahme zu unterſagen, beziehungsweiſe dieſelben an die
ordentliche Gerichtsgewalt auszuliefern.


Oft wurde ein ſolches Aſylrecht behauptet und oft auch ausgeübt. Am wei-
teſten war dieſer Mißbrauch in Rom gediehen, wo auch die Kirchen ein Aſyl ge-
währten. Im Mittelalter dienten die zahlreichen Aſyle, welche in Herrenhöfen und
Kirchen und von Schutzheiligen gewährt wurden, um die wilde Verfolgung der
Blutrache, der Fehde und einer barbariſchen Juſtiz zu mäßigen. Mit einer civiliſir-
ten und einer wirkſamen Rechtspflege aber ſind dieſelben nicht mehr vereinbar.
Bynkershoek (de jure legatorum c. 21) hat den Beweis geführt, daß keinerlei
völkerrechtliche Rechtsgründe für ein derartiges Aſylrecht ſprechen. Seither iſt dieſe
Anſicht, die ſchon Hugo de Groot (II. 18, 8) vertrat, allgemein von der Wiſſen-
ſchaft anerkannt worden, wenn gleich einzelne Exterritoriale immer noch von Zeit
zu Zeit den Verſuch machten, auch ihr angebliches Aſylrecht auszuüben.


[124]Drittes Buch.
152.

Ebenſo iſt das Quartier, welches der Exterritoriale auf Reiſen be-
zogen hat und iſt der Wagen, in dem er fährt, zu Ehren ſeiner Sicher-
heit und Unabhängigkeit vor policeilicher oder gerichtlicher Gewaltübung
gefreit.


153.

Die Exemtion erſtreckt ſich auch auf das dem Exterritorialen gehörige
Mobiliar, welches zu ſeinem Gebrauche dient, wie insbeſondere Arbeits-
tiſche, Schränke, Kiſten und Kaſten, die Ausſtattung ſeiner Wohnung,
Wagen und Pferde.


Der alte techniſche Ausdruck für die Befreiung iſt: „Legatus instructus
et cum instrumento“.
Die Ausdehnung der Befreiung auch auf die Mobilien
ſichert beſonders auch die Acten und Correſpondenzen des Exterritorialen. Vgl.
unten Abſchnitt 8 dieſes Buches.


4. Die Familiengenoſſen der ſouveränen Perſonen.

154.

Die Ehegatten, Kinder und andere Anverwante einer ſouveränen
Perſon haben als ſolche kein Recht der Souveränetät, ſondern ſind Unter-
thanen.


Sie haben daher auch, wenn ſie in fremdem Lande ſind, keinen
Rechtsanſpruch auf Exemtion von der dortigen Statsgewalt noch auf Ex-
territorialität.


Alle dieſe Perſonen, ſelbſt der Gemal einer regierenden Königin, der nicht
zugleich Mitregent iſt, oder die Gemalin eines Königs, obwohl ſie den Titel Köni-
gin führt, ſind nicht Repräſentanten des States ſelbſt, noch Träger der Souveränetät,
alſo völkerrechtlich ohne Anrecht auf jene Privilegien, welche um der Souveränetät
oder Repräſentation des States willen zugeſtanden werden. Die Courtoiſie geht
aber hier zuweilen über die Rechtsnothwendigkeit hinaus und befreit zu-
weilen auch ſolche hohe Perſonen von manchen Beläſtigungen, deren andere Reiſende
ausgeſetzt ſind.


155.

Das Statsrecht beſtimmt zunächſt die Titel und den Rang, welche
dieſen Perſonen zukommen. Aber damit dieſe Titel und Rangſtufen im
völkerrechtlichen Verkehr beachtet werden, müſſen dieſelben dem herkömm-
lichen Gebrauche entſprechen oder, wenn ſie erhöht werden die Erhöhung
von den Mächten anerkannt worden ſein.


[125]Völkerrechtliche Organe.

Vgl. das Protokoll der fünf Großmächte auf der Conferenz zu Aachen
vom 11. Oct. 1818: „Les Cabinets preunent en même tems l’engagement de
ne recounaître à l’avenir aucun changement ni dans les titres des souverains
ni dans ceux de princes de leurs maisons sans en être préablement convenus
entre eux“.


156.

Die Gemalinnen der ſouveränen Fürſten führen in der Regel den-
ſelben Titel und haben denſelben Rang, wie dieſe, aber nicht ebenſo all-
gemein die Gemale von ſouveränen Fürſtinnen.


Die Gemalinnen der Kaiſer und Könige werden Majeſtäten genannt,
obwohl ihnen die eigentlichen Majeſtätsrechte nicht zuſtehn.


Prinz Albert erhielt als Gemal der Königin Victoria von England den
Königstitel nicht; dagegen wurde dem Herzog Ferdinand, ebenfalls aus dem
Hauſe Coburg, als Gemal der Königin Maria II. da Gloria von Portugal der
Königstitel verliehen.


157.

Den Prinzen der ſouveränen Häuſer kommt regelmäßig die nächſt-
folgende Rangſtufe in der Titulatur zu.


Aus Kaiſerlichen Häuſern der Titel Kaiſerliche Hoheit, aus Königs-
häuſern der Titel Königliche Hoheit, in Großherzoglichen Häuſern Hoheit,
der Erbprinz auch Königliche Hoheit, aus Herzoglichen Häuſern der Erbprinz Hoheit,
andere Verwante von herzoglicher oder fürſtlicher Abkunft Durchlaucht.


158.

Die Princeſſinnen von ſouveränen Häuſern pflegen den angeborenen
höheren Titel beizubehalten, wenn ſie in Folge ihrer Heirath nur einen
minderen Titel erhielten.


Die Gemalin eines Prinzen, welcher den Titel Hoheit führt, kann ſo den
Titel Kaiſerliche oder Königliche Hoheit führen, wenn ſie aus einem Kaiſer-
oder Königshauſe ſtammt.


[126]Drittes Buch.

II. Andere Organe des völkerrechtlichen Verkehrs.


5. Recht und Pflicht des völkerrechtlichen Verkehrs.

159.

Jeder Stat iſt als ſouveräne Perſon berechtigt, Geſante und andere
Agenten mit dem Auftrag zu ernennen, ſeinen Verkehr mit andern Staten
zu vermitteln.


Dieſes ſogenannte „active Geſantſchaftsrecht“ iſt eine Anwendung der
Souveränetätsrechte auf die völkerrechtlichen Beziehungen der Staten zu einander.


160.

In zuſammengeſetzten Staten (Statenbünden, Bundesſtaten, Staten-
reichen) wird dieſes Recht je nach der Verfaſſung derſelben entweder von
den Einzelſtaten und dem Geſammtſtate, oder nur von dieſem, oder vor-
herrſchend von jenen oder von dieſem geübt.


In der alten Deutſchen Reichsverfaſſung hatten die Landesherrn
das Geſantenrecht erworben, neben dem Kaiſer und Reich insgeſammt. Der deutſche
Bund
von 1815 erkannte das vorzugsweiſe Geſantenrecht der Einzelſtaten an,
ſchloß aber eine Geſammtvertretung nicht aus. Die Verfaſſung der Vereinigten
Staten
von Nordamerika von 1787 concentrirt das Geſantenrecht faſt ausſchließlich
in der Hand des Präſidenten, ebenſo die ſchweizeriſche Bundesverfaſſung
von 1848 in der des Bundesraths; beide Verfaſſungen ſchließen aber eine beſondere
außerordentliche Vertretung der Einzelſtaten nicht völlig aus, aber ordnen dieſelbe
der Aufſicht der Bundesgewalt unter. Auch einzelnen Türkiſchen Vaſallenſtaten iſt
ein beſchränktes Geſantenrecht zugeſtanden worden. Die Verfaſſung des norddeut-
ſchen Bundes
weiſt die völkerrechtliche Vertretung desſelben ausſchließlich der
Krone Preußen zu, hebt aber das Geſantenrecht der Einzelſtaten in ihren beſondern
Intereſſen nicht auf. (Art. 11).


161.

Ausnahmsweiſe wird das Recht, einen Geſanten zu ſenden, auch auf
die Vicekönige und die Statthalter entlegener Provinzen oder abhängiger
Länder übertragen.


Da dieſe Provinzen oder Länder eine beſondere relative Sonderexiſtenz
haben, ſo bedürfen ſie unter Umſtänden auch eine beſondere Vertretung. Da der
[127]Völkerrechtliche Organe.
Hauptſtat der großen Entfernung wegen nicht in der Lage iſt, dieſe Vertretung wirk-
ſam zu beſorgen, ſo iſt eine Uebertragung dieſes beſchränkten Geſantenrechts auf die
beſondere Provincial- oder Landesregierung nicht zu entbehren. Fälle der Art ſind
z. B. die Geſanten, welche von den engliſchen Regierungen in Oſtindien,
in Auſtralien, von der Holländiſchen Colonialregierung in Oſtaſien
verſendet werden. Es bedarf jedoch einer beſondern Ermächtigung von Seite der
ſouveränen Hauptregierung.


162.

Die Wahl des Geſanten oder Agenten ſteht dem Abſendeſtate frei.
Es wird keine beſtimmte Standeseigenſchaft erfordert.


Das Wahlrecht folgt wieder aus der Souveränetät des Abſendeſtats. Ein
beſtimmter Stand, etwa Adels- oder geiſtlicher Stand, iſt auch für die oberſten
Claſſen der Geſanten nicht erforderlich, ſo wenig als für andere oberſte Statsämter.
Ein Botſchafter aus bürgerlicher Familie hat genau dasſelbe Recht, wie ein
Botſchafter von fürſtlicher Abkunft, denn er repräſentirt in beiden Fällen nicht
ſeine perſönliche und Standeswürde, ſondern den Stat.


163.

Jeder Stat iſt in Folge des völkerrechtlichen Verbandes aller Staten
verpflichtet, den Geſanten eines andern völkerrechtlich anerkannten States
zu empfangen und anzuhören. Nur beſonders erhebliche Ausnahmsgründe
können eine Abweiſung rechtfertigen.


Die allgemeine Weigerung, Geſante zu empfangen, würde die Mög-
lichkeit eines völkerrechtlichen Verkehrs ausſchließen. Damit aber wäre der völker-
rechtliche Verband der Staten unwirkſam gemacht. Dagegen wird die Zulaſſung
ſtändiger Geſanten als ein Act des Friedens betrachtet und in Kriegszeiten
dieſer friedliche Verkehr gewöhnlich abgebrochen. Von der beſondern Weigerung,
eine beſtimmte Perſon zu empfangen, handelt § 164.


164.

Dem Empfangſtate ſteht es zu, gewiſſe ihm anſtößige Perſonen ſich
als Geſante oder Agenten zu verbitten.


Mit Grund erregt es Anſtoß, wenn ein Stat einen von einem andern State
früher wegen eines Verbrechens Beſtraften oder Verfolgten nun als ſeinen Geſanten
bei dieſem State accreditiren will; daher iſt in einem ſolchen Fall die Annahme
dieſer Perſon nicht zu erwarten. Bynkershoek (Quaest. Publ. II. v.) erwähnt
eines Falles, in dem England als Geſanten nach dem Hag einen Mann ſchickte,
welcher zuvor von der Holländiſch-Oſtindiſchen Compagnie verurtheilt worden war,
[128]Drittes Buch.
daß ihm die Zunge geſchlitzt werde. Derſelbe wurde anfangs widerrechtlich in Hol-
land gefangen geſetzt, dann aber mit Recht zurückgewieſen. Es iſt ſchon ein zurei-
chender Grund, ſich eine Perſon als Geſanten zu verbitten, die ſich zuvor durch be-
ſondere Gehäſſigkeit und Feindſchaft gegen den beſendeten Stat oder deſſen Haupt
hervorgethan hat. Dagegen wäre es unpaſſend, wenn etwa ein Stat überhaupt
keine bürgerlichen Perſonen oder keine Geiſtlichen, oder keine Frauen als Geſante
empfangen wollte; denn die Standes- oder Geſchlechtsunterſchiede bilden keine
rechtlichen Erforderniſſe
oder Hinderniſſe für das Amt eines Geſanten
und können auch keinen Grund zu perſönlichem Anſtoß geben.


165.

Ebenſo kann der Empfangſtat die Annahme eines perſönlich nicht
anſtößigen Geſanten dann verweigern, wenn derſelbe als Träger eines
das Recht oder die Ehre des Empfangsſtates verletzenden Miſſion erſcheint.


Eine wichtige Anwendung dieſes Satzes iſt die auf die päpſtlichen Le-
gate
und Nuncien, die nach den Kirchengeſetzen Vollmachten in Anſpruch neh-
men, welche mit dem Verfaſſungsrecht des beſendeten States nicht verträglich ſind.
In Folge deſſen wurde ſchon vor der Revolution am franzöſiſchen Hofe kein päpſt-
licher Geſanter angenommen, welcher nicht eine beſchränkte Vollmacht vorweiſen konnte.
Das franzöſiſche Statsbewußtſein geſtattete nicht, daß die päpſtlichen Geſanten die
Anſprüche und Anmaßungen der römiſchen Hierarchie mit den völkerrecht-
lichen Privilegien
der Geſanten decken und ausrüſten.


166.

Ferner gilt es als ein ausreichender Grund, die Annahme eines
Geſanten zu verbitten, welcher ein Unterthan des beſendeten States iſt.


Das war eine Zeit lang Maxime des franzöſiſchen und iſt noch Gebrauch
des ſchwediſchen Stats, keinen Geſanten zu empfangen, der Unterthan dieſer be-
ſendeten Staten war. Man ſcheut den Conflict zwiſchen den Rechten des Geſanten
auf Unabhängigkeit zu Ehren des States, den er repräſentirt und den Pflichten
gegen den Stat, dem er als Unterthan zugehört.


167.

Die völkerrechtliche gute Sitte verlangt, daß vor der Abſendung
eines Geſanten dem Empfangſtate davon Anzeige gemacht und die Perſon
genannt werde. Wird keine Einſprache gemacht, ſo wird angenommen,
der Genannte ſei dem Empfangſtate nicht anſtößig.


Durch dieſe Uebung wird auch eine ſchroffe Zurückweiſung vermieden. Es
genügt gewöhnlich, daß der zu beſendende Stat ſeine Bedenken gegen die fragliche
Perſon eröffnet, um den Abſendeſtat zu beſtimmen, eine andere Perſon zu wählen.


[129]Völkerrechtliche Organe.
168.

Iſt ein Geſanter einmal aufgenommen, ſo genießt er alle Rechte
und Ehren ſeiner Stellung und es darf nachträglich nicht eine Einſprache
gegen ſeine Perſon erhoben werden aus Gründen, welche ſchon zur Zeit
ſeines Empfangs vorlagen und bekannt ſein konnten.


169.

In der Annahme des Geſanten liegt die Anerkennung des Abſende-
ſtats, beziehungsweiſe der Statsregierung, welche denſelben bevollmächtigt,
durch den Empfangſtat.


Es widerſpricht der Einheit des States, der repräſentirt werden ſoll,
gleichzeitig zwei verſchiedene Geſante, den einen des vertriebenen Fürſten, der auf
Wiederherſtellung hofft, den andern des vielleicht durch Uſurpation zur Gewalt ge-
langten Fürſten, als Repräſentanten des Einen Stats zu empfangen. Indem der
Empfangſtat den einen oder den andern empfängt, erklärt er, daß er deſſen Voll-
machtgeber als das wirkliche Statshaupt betrachte. Die Annahme des Geſanten
der neuen Regierung iſt daher mit der Entlaſſung des Geſanten der alten Regierung
zu verbinden. Vgl. oben § 28 ff.


6. Claſſen und Arten der Geſanten. Diplomatiſcher Körper.

170.

Als Geſante werden diejenigen Perſonen betrachtet, welche von einem
State ermächtigt und dazu beglaubigt ſind, deſſen Rechte und Intereſſen
bei einem andern State zu vertreten.


Die Ermächtigung allein gewährt noch nicht die Stellung und Rechte eines
Geſanten; auch der geheime Agent iſt ermächtigt; es muß die Beglaubigung gegen-
über dem beſendeten State hinzutreten.


171.

Das heutige Völkerrecht unterſcheidet drei bis vier Claſſen von
Geſanten:


  • 1) die Botſchafter (ambassadeurs);
  • 2) die Geſanten im engern Sinn (envoyès) und die bevollmächtigten
    Miniſter;
  • 3) die Geſchäftsträger (chargés d’affaires).

Zwiſchen der zweiten und der dritten Claſſe nehmen die Miniſter-
reſidenten eine Mittelſtellung ein.


Bluntſchli, Das Völkerrecht. 9
[130]Drittes Buch.

Im Alterthum gab es nur Eine Claſſe von Geſanten, von den Römern
Legati genannt. In den weſentlichen Beziehungen ſind ſich auch heute noch alle
Claſſen gleich. Die Unterſchiede, welche ſeit dem fünfzehnten Jahrhundert nach und
nach aufgekommen ſind, haben vornehmlich einen Bezug auf die Hofſtellung, das
Ceremoniel und den Rang.


Auf dem Wiener Congreß wurde von den acht Mächten am 19. März
1815 ein Protokoll unterzeichnet, deſſen Artikel 1 die obigen 3 Claſſen unter-
ſcheidet:


„Les employés diplomatiques sont partagés en trois classes:
celle des ambassadeurs, légates ou nonces,
celle des envoyés ministres ou autres accrédités auprès des souverains,
celle des chargés d’affaires accrédités auprès des ministres chargés
des affaires étrangères“.


Dazu kam nun das Protokoll des Aachener Congreſſes der fünf
Großmächte vom 21. Nov. 1818, welches die vierte Zwiſchenclaſſe anerkannte: „Il
est arrêté entre les cinq cours que les ministres résidens accrédités auprès
d’elles formeront par rapport à leur rang une classe intermédiaire entre
les ministres du second ordre et les chargés d’affaires“.


172.

Botſchafter werden in der Regel nur von Staten von Königlichem
Rang abgeſendet und empfangen. Die Legati und Nuncien des Papſtes
haben den Rang der Botſchafter.


Die Botſchafter allein repräſentiren auch die äußere Würde des
Souverains, der ſie beglaubigt.


1. Die Beſchränkung der Botſchafter auf die Staten von königlichem Rang
beruht weniger auf einem feſten Rechtsgrundſatz als auf der Sitte und hat eine
natürliche Unterlage in den größeren für kleinere Staten unverhältmäßigen Koſten
ſolcher Vertretung. Da aber nur die Botſchafter die perſönliche Würde des Sou-
veräns repräſentiren, ſo iſt grundſätzlich nicht einzuſehen, weßhalb nicht auch ein
ſouveräner Herzog oder ein anderer Fürſt bei außerordentlichem Anlaß ſich nicht
ebenfalls in ſeiner perſönlichen Würde vertreten laſſen, d. h. daher nicht ebenfalls
einen Botſchafter ſenden dürfte, der dann freilich keinen höheren Rang behaupten
könnte, als ſein Vollmachtgeber beſitzt, alſo den Botſchaftern, welche Könige vertreten,
nachſtehen müßte.


2. Die Legati a latere oder de latere (die Cardinäle führen dieſen
Namen), oder die nuncii (Nicht-Cardinäle), welche der Papſt entſendet, haben
durchweg eher kirchliche als politiſche Miſſionen und repräſentiren daher den Papſt
vornehmlich in ſeiner Eigenſchaft als Hauptes der römiſch-katholiſchen Kirche. Die
Bedeutung und der Rang dieſer päpſtlichen Repräſentanten iſt daher unabhängig
von der Fortdauer eines Kirchenſtates.


Protokoll des Wiener Congreſſes vom 19. März 1815 Art. II.:
„Les ambassadeurs, légates ou nonces ont seuls le caractère représentatif“.


[131]Völkerrechtliche Organe.
173.

Die Geſanten der zweiten Claſſe werden wie die Botſchafter bei dem
Souverän des Empfangſtates perſönlich beglaubigt, aber repräſentiren nicht
zugleich mit dem State auch die perſönliche Würde (Dignität) des
Souveräns.


Die Internuncien des Papſtes werden ihnen gleichgeſtellt.


Vgl. zu Art. 172. Dahin gehören die ſogenannten bevollmächtigten
Miniſter
(plena potentia muniti), die außerordentlichen oder ordentlichen
Geſanten
, die Geſanten ſchlechtweg. Auch der Oeſterreichiſche „Internun-
cius“
zu Conſtantinopel gehört in dieſe Claſſe. Das iſt die eigentliche Haupt- und
Negelclaſſe, über welche ſich die Botſchafter um etwas erheben und welche die folgen-
den Claſſen nicht völlig erreichen.


174.

Die Geſchäftsträger werden nur bei dem Miniſterium der auswär-
tigen Angelegenheiten beglaubigt. Für die Rangſtufe iſt es unerheblich,
wenn ihnen der Titel Miniſter verliehen wird.


Dagegen erhalten die Miniſterreſidenten, welche bei dem Hofe be-
glaubigt werden, einen mittleren Rang zwiſchen der dritten und vierten
Claſſe.


Vgl. zu § 171.


175.

Die Eigenſchaft einer außerordentlichen Miſſion oder Vollmacht gibt
keinen höhern Rang.


Protokoll vom 19. März 1815 Art. III. „Les employés diplomatiques
en mission extraordinaire n’out à ce titre aucune supériorité de rang“.


176.

Unter einander nehmen die Geſanten einer jeden Claſſe ihre Rang-
ordnung nach dem Tage der officiellen Anmeldung ihrer Ankunft.


Ebenda Art. IV. „Les employés diplomatiques prendront rang entre
eux dans chaque classe d’après la date de la notification officielle de leur
arrivée. Le présent règlement n’apportera aucune innovation relativement
aux représentans du Pape“.


177.

Die Verwantſchaftsverhältniſſe unter den Höfen haben keinen Einfluß
auf den Rang ihrer Geſanten.


9*
[132]Drittes Buch.

Ebenda Art. VI. „Les liens de parenté ou d’alliance de famille entre
les Cours ne donnent aucun rang à leurs employés diplomatiques de chaque
classe“.


178.

Bei der Unterzeichnung von Acten und Verträgen unter mehreren
Staten, welche ſich das Alternat zugeſtehn, entſcheidet das Loos unter den
Miniſtern über die Reihenfolge der Unterſchriften.


Ebenda Art. VII. „Dans les actes ou traités entre plusieurs puissances
qui admettent l’alternat, le sort décidera entre les ministres, de l’ordre qui
devra être suivi dans les signatures“.
Statt deſſen wird oft die Reihenfolge
nach den Anfangsbuchſtaben der Statennamen gewählt, um jede Eiferſucht der
Stellung abzuſchneiden.


179.

Daraus, daß ein Stat ſtändige Geſante eines andern States em-
pfängt, entſteht keine Verpflichtung des letztern States, ebenfalls ſtändige
Geſante bei jenem State zu beglaubigen.


Es kann auch ein Stat, ohne ſeinem Rechte oder ſeiner Ehre etwas
zu vergeben, fremde Geſante von höherem oder geringerem Rang empfan-
gen, als er hinwieder abſendet.


Unter den Großmächten wird freilich das Intereſſe möglichſter Gleich-
heit
auch in der Repräſentation meiſt dahin wirken, daß ſie ſich durch Geſante von
gleich hohem Rang vertreten laſſen. Aber das iſt keine Rechtsnothwendigkeit. Die
Beiſpiele ſind nicht ſelten, in denen ein Stat einen Geſanten von höherem Rang
empfängt, als er abſendet, oder umgekehrt.


180.

Es gibt ſowohl ſtändige als nichtſtändige Geſante. Zu den letztern
gehört auch der Interimsgeſante, welcher für den ſtändigen, aber zur Zeit
abweſenden oder verhinderten Geſanten die Geſchäfte beſorgt.


Dieſer Gegenſatz hat keinen Einfluß auf den Rang des Geſanten, ſondern
nur auf die Dauer ſeiner Vollmacht.


181.

Die Ceremonialgeſanten (ministres d’étiquette, de cérémonie) ver-
treten lediglich die perſönlichen Beziehungen der Höfe und Regierungen und
bedürfen zur Vertretung in Statsgeſchäften einer beſondern Ermächtigung,
in Folge welcher ſie aufhören, bloße Ceremonialgeſante zu ſein.


[133]Völkerrechtliche Organe.

Solche Ceremonialgeſante werden oft zu gewiſſen Feierlichkeiten, bei Krö-
nungen, Heirathswerbungen, Vermählungen, Taufen
entſendet und
empfangen, oder zu Beglückwünſchungen. Auch die an den Papſt früher ge-
ſendeten legati reverentiae der katholiſchen Fürſten gehören hieher.


182.

Die gleichzeitig bei einer Regierung beglaubigten Geſanten aller
Claſſen bilden zuſammen den diplomatiſchen Körper (corps diplomatique).


Derſelbe iſt nicht eine juriſtiſche oder politiſche Perſon, ſondern ein
freier Verein verſchiedener Perſonen, aber er ſtellt die völkerrechtliche Ge-
meinſchaft der Staten dar und iſt berechtigt, den gemeinſamen Empfin-
dungen und Meinungen einen Ausdruck zu geben.


Darin liegt ein Keim einer völkerrechtlichen Organiſation, der ſich in der
Zukunft weiter entwickeln läßt. Die übereinſtimmende Meinungsäußerung des diplo-
matiſchen Körpers hat eine gewiſſe völkerrechtliche Autorität, die zu miß-
achten nicht ungefährlich iſt. Der Sitte nach führt gewöhnlich — wenigſtens bei
bloß formellen Aeußerungen des diplomatiſchen Körpers — der älteſte (d. h. am
längſten daſelbſt amtirende) Geſante das Wort. Es ſteht aber kein Rechtsgrund
der Bezeichnung eines andern Sprechers entgegen.


7. Anfang der diplomatiſchen Sendung.

183.

Dem Abſendeſtat gegenüber beginnt der Charakter eines Geſanten
ſchon mit der vollzogenen Ernennung. Im völkerrechtlichen Verkehr mit dem
beſendeten State wird die Eigenſchaft des Geſanten durch das Creditiv
beglaubigt.


184.

Das Creditiv iſt die ſchriftliche und förmliche Vollmacht, welche der
Geſante zum Behuf ſeiner Beglaubigung bei dem beſendeten State erhält
und demſelben mittheilt.


185.

Das Creditiv wird gewöhnlich in Form eines Beglaubigungsſchreibens
(lettre de créance) ausgeſtellt und in den obern Claſſen von Souverän
an Souverän, in der Claſſe der Geſchäftsträger von Miniſter an Miniſter
gerichtet.


[134]Drittes Buch.
186.

Schon vor Ueberreichung des Creditivs wird der Geſante, der ſich
durch ſeine Päſſe oder in anderer glaubhafter Form als ſolchen ausweist,
als eine völkerrechtlich beſonders geſicherte und begünſtigte Perſon behandelt,
aber erſt in Folge der Abgabe und Annahme des Creditivs erhält er dem
beſendeten State gegenüber volles Geſantenrecht ſeinem Range gemäß.


Das Völkerrecht muß den Geſanten ſchon unterwegs ſchützen, wenn er an
den beſendeten Hof reiſt. Aber erſt von der Ueberreichung des Creditivs an iſt er
wirklicher Geſanter bei dem beſendeten State. Bis dahin war er deſignirter Ge-
ſanter. Auf jenen völkerrechtlichen Schutz hat der Geſante auch in einem fremden
Lande, durch welches er reist, einen naturgemäßen Anſpruch. Die Ermordung
der franzöſiſchen Geſanten nach Venedig und Conſtantinopel in der Lombardei gab
dem Könige FranzI. einen gerechten Grund zu der ernſteſten Beſchwerde gegen
Kaiſer CarlV als über eine ſchwere Verletzung des Völkerrechts. Vgl. Vattel
IV. § 84.


187.

Der Ueberreichung des Creditivs geht die Notification der Ankunft
des Geſanten bei dem Miniſterium des Aeußern vorher. Von da an wird
der diplomatiſche Altersrang gerechnet (Art. 176).


Mit der Notification wird die Mittheilung einer Abſchrift des Creditivs ver-
bunden.


188.

Der Unterſchied der verſchiedenen Claſſen der Geſanten hat einen
Einfluß auf das bei der Ueberreichung und Annahme des Creditivs übliche
Ceremoniel und auf die perſönlichen Beziehungen am Hofe, aber iſt für
das ſtatliche Rechtsverhältniß ſelbſt nicht erheblich.


So läßt der Botſchafter ſeine Ankunft durch einen Cavalier der Geſantſchaft
oder ſeinen Secretair anmelden, die Geſanten zweiter und dritter Claſſe ſchreiben
unmittelbar an den Miniſter des Aeußern. Der Botſchafter wird mit Kanonen-
ſchüſſen bei dem feierlichen Empfang ſalutirt, die übrigen Geſanten nicht; u. dgl.


189.

Das Ceremoniel wird im Einzelnen durch die Landes- und Hofſitte
beſtimmt. Aber es iſt eine völkerrechtliche Pflicht des Empfangſtates, in
demſelben nichts anzuordnen, was die Ehre des Abſendeſtates verletzt oder
[135]Völkerrechtliche Perſonen.
den Rang desſelben herabſetzt. Dem Geſanten darf keine unwürdige
Zumuthung gemacht werden und jeder Geſante hat Anſpruch auf die vollen
regelmäßigen Ehren ſeiner Claſſe.


An deſpotiſchen, insbeſondere an orientaliſchen Höfen wird dem Statshaupte
oft eine abgöttiſche Verehrung bezeugt und es werden daher an die Geſanten der
fremden Staten zuweilen Zumuthungen gemacht, die mit der Würde freier Männer
ſich ſo wenig vertragen, als mit der Würde der repräſentirten Staten. Obwohl da-
her der beſendete Stat ſelber das äußere Ceremoniel beſtimmen kann, ſo iſt doch der
Geſante in ſeinem Recht, wenn er ſich derlei Zumuthungen nicht gefallen läßt.


190.

Die Beſuche der Geſanten und bei Geſanten und ebenſo die Ein-
ladungen zu Feſten und Tafeln fallen in den Bereich der Höflichkeit und
der Sitte, nicht in den des Völkerrechts, ſo lange dabei die Ehre und der
anerkannte Rang der Staten und ihrer Vertreter unverletzt bleiben.


Etiketteverſtöße ſind nicht an ſich beleidigend, ſondern nur, wenn darin die
Abſicht der Beleidigung offenbar wird. Im vorigen Jahrhundert hatten dieſe Dinge
noch mehr Bedeutung, als in unſrer Zeit.


8. Perſönliche Rechte und Pflichten der Geſanten.

191.

Die Geſanten haben das Recht der Unverletzbarkeit.


Wenige Sätze des Völkerrechts haben eine ſo frühe und allgemeine Anerken-
nung, nicht bloß unter den civiliſirten Staten, ſondern ſogar unter barbariſchen
Völkern gefunden, wie die Unverletzbarkeit der Geſanten. Im Alterthum waren dieſelben
unter den Schutz der Götter geſtellt und galten inſofern als personae sanctae.
Die Scheu vor den Göttern mußte damals noch die Ohnmacht des Völkerrechts er-
ſetzen. Die moderne Welt ſtellt ſie unter den Schutz des menſchlichen Völker-
rechts
. Vgl. darüber Hugo Grot. II. c. 18. 1.


192.

Der Stat, bei welchem die Geſanten beglaubigt ſind, iſt nicht bloß
verpflichtet, ſich jeder Gewaltübung gegen dieſelben zu enthalten, ſondern
auch dieſelben vor jeder Vergewaltigung zu ſchützen, welche ihnen von an-
dern Bewohnern des Landes droht.


[136]Drittes Buch.

Dem State liegt freilich auch gegen andere Perſonen die Pflicht ob, ſie wider
Gewaltthat zu ſchützen. Aber dieſe allgemeine Schutzpflicht wird zu Gunſten des
directen Völkerverkehrs mit Bezug auf die Geſanten geſteigert und gleichſam poten-
zirt. Der beſendete Stat hat darauf eine beſondere Sorge zu verwenden und je
nach Bedürfniß dem Geſanten eine außerordentliche Bedeckung oder Schutzwache zur
Sicherung beizuordnen.


193.

Die widerrechtliche Verletzung des Geſanten gilt zugleich als Ver-
letzung des repräſentirten States, und in ſchweren Fällen als Verletzung
auch der völkerrechtlichen Statengenoſſenſchaft überhaupt.


Alle Staten ſind dabei betheiligt, daß die Unverletzlichkeit der Geſanten aner-
kannt und geſchützt bleibe; daher ſind auch die übrigen Staten berechtigt, theils das
Begehren um Genugthuung des zunächſt betheiligten States zu unterſtützen, theils
ſogar von ſich aus auf Wiederherſtellung des Rechts und Sühne zu dringen. Vgl.
PhillimoreII. 142.


194.

Wird ein Geſanter in gerechter Nothwehr verletzt, ſo iſt kein Grund
zu völkerrechtlicher Beſchwerde da, denn Nothwehr iſt erlaubt.


Vgl. oben § 144.


195.

Ein Geſanter, der ſich in Gefahr begibt, iſt auch den Zufällen die-
ſer Gefahr ausgeſetzt; wenn er dabei verletzt wird, ſo iſt das keine Belei-
digung ſeines States und keine Verletzung des Völkerrechts.


Wenn er z. B., ohne die nöthige Vorſicht zu üben, ſich in einen aufrühreriſchen
Haufen begibt, und an dem Straßenkampfe Theil nimmt oder wenn er ſich auf ein
Duell einläßt und bei dieſer Gelegenheit verwundet oder gar getödtet wird, ſo trifft
dieſe Verletzung ihn nicht als Geſanten und daher auch nicht den von ihm repräſen-
tirten Stat. Es iſt das ein perſönlicher Unfall, für den nicht der Stat verant-
wortlich gemacht werden kann, der die Unverletzlichkeit des Geſanten zu ſchützen hat.


196.

Ueberdem kommt den Geſanten das Recht der Exterritorialität zu.
Dasſelbe erſtreckt ſich auch auf ihr Gefolge und ihre Wohnung (§ 135 ff.).


Die Lehre von der Exterritorialität wurde vornehmlich im Hinblick auf die
Ausnahmsſtellung der Geſanten ausgebildet.


[137]Völkerrechtliche Organe.
197.

Der beſondere Schutz und die Exemtion von der einheimiſchen Stats-
gewalt, welche den fremden Geſanten gewährt werden, beziehen ſich vor-
züglich auf ihre Papiere, Acten und Correſpondenzen.


198.

Demgemäß ſind auch die Curiere, welche mit amtlichen Depeſchen
von Geſanten und an Geſante geſchickt werden, vor policeilicher oder poli-
tiſcher Wegnahme ihrer Depeſchen geſichert.


199.

Die Verletzung des Briefgeheimniſſes bezüglich der amtlich bezeich-
neten Geſantencorreſpondenz iſt auch als Verletzung des Völkerrechts zu
mißbilligen.


Obwohl dieſe Anwendung des Grundſatzes ſelbſtverſtändlich iſt, ſo hat ſich
doch die Praxis mancher Staten ſo wenig darnach gerichtet, und ſich ſo oft durch
das politiſche Intereſſe verlocken laſſen, die Briefe zu durchſpähen, daß eben dieſer
Mißbrauch dahin geführt hat, wichtige Depeſchen in Chiffern zu ſchreiben und da-
durch unleſerlich für Dritte zu machen und überdem Depeſchen, die man beſſer
ſichern will, gar nicht mehr der Poſt auzuvertrauen, ſondern mit beſondern Curieren
zu verſenden.


200.

Mit der Wohnung des Geſanten iſt kein Aſylrecht verbunden. Viel-
mehr iſt der Geſante verpflichtet, wenn ein von der einheimiſchen Gerichts-
oder Policeigewalt Verfolgter ſich dahin geflüchtet hat, entweder den Flücht-
ling an die zuſtändige Behörde auszuliefern oder die Nachforſchung nach
demſelben auch in ſeiner Wohnung zu geſtatten.


Vgl. oben 77. Als ein engliſcher Botſchafter 1726 in Madrid ſich weigerte,
den in ſein Hotel geflüchteten Spaniſchen Miniſter, Herzog von Ripperda, auszu-
liefern, wurde derſelbe gewaltſam herausgeholt. Ueber die Form des Verfahrens
hatte England Grund zur Beſchwerde, aber in der Hauptſache war Spanien im
Recht (PhillimoreII. 204). In Martens Erzählungen (I. 217) findet ſich
ein Bericht über den vergeblichen Verſuch des engliſchen Geſanten in Stockholm, den
in ſein Hotel geflüchteten, wegen eines Statsverbrechens verfolgten Kaufmann Sprin-
ger zu retten (1747). Das Hotel wurde von ſchwediſchen Truppen umſtellt und der
Flüchtling mußte ausgeliefert werden. Der Geſante aber wurde abberufen, weil er
zu weit gegangen war in der Ausdehnung ſeines Schutzes.


[138]Drittes Buch.
201.

Ebenſo wenig kann der Geſante ſich auf die Freiheit ſeiner Equipage
berufen, um Flüchtlingen durchzuhelfen, welche er in ſeinen Wagen auf-
genommen hat.


Wenn in einem ſolchen Fall die einheimiſche Gerichts- oder Policeigewalt den
Wagen anhält und den Flüchtigen verhaftet, ſo iſt das keine Verletzung des Völker-
rechts. Ein Beiſpiel aus Rom führt Vattel an (IV. 119), indem ein franzöſiſcher
Geſanter vergeblich verſuchte, verfolgte Neapolitaner vor den päpſtlichen Wachen zu
retten.


202.

Der Geſante darf ſein Hotel nicht zu feindlichen Handlungen gegen
den Stat mißbrauchen laſſen, bei welchem er beglaubigt iſt. Verletzt er
dieſe Pflicht, ſo ſchützt ihn auch die Exterritorialität nicht vor denjenigen
Maßregeln, welche die Selbſterhaltung und Sicherung des beſendeten Sta-
tes erfordern.


Er darf alſo insbeſondere keine Verſammlungen von Verſchwornen daſelbſt
geſtatten, keine Waffenmagazine da einrichten, zur Unterſtützung eines Aufſtandes u. ſ. f.
Als der ſchwediſche Geſante in London an einer Verſchwörung gegen den König von
England Theil nahm, ließ dieſer den Geſanten verhaften und ſeine Papiere in Be-
ſchlag nehmen. Dieſes Verfahren wurde von den engliſchen Statsſecretären der
Diplomatie gegenüber, die anfangs Bedenken ausſprach, gerechtfertigt. Martens
Causes Célèbres I. 75. Vgl. auch VattelIV. 101.


203.

Der Geſante hat das Recht der freien Religionsübung in dem
Geſantſchaftshotel, zunächſt für ſich, ſeine Familie, ſein Gefolge und ſeine
Dienerſchaft.


Dieſes Privilegium des Geſanten hat ſeinen Werth großentheils verloren,
ſeitdem die Cultusfreiheit als allgemeines Recht die frühere Unduldſam-
keit in den meiſten civiliſirten Staten endlich verdrängt hat. Aber es iſt heute noch
von Bedeutung in den Staten, welche in dieſer Hinſicht hinter dem Fortſchritte der
Zeit zurückgeblieben ſind.


204.

Den Geſanten der oberen Claſſen wird allgemein ein ſogenanntes
Capellenrecht zugeſtanden, d. h. das Recht, in weiterem Sinne innerhalb
der exterritorialen Wohnung für den Gottesdienſt zu ſorgen.


[139]Völkerrechtliche Organe.

Ein völkerrechtlicher Grund, das Capellenrecht auf jene Claſſen zu beſchränken
und den Geſchäftsträgern zu verſagen, beſteht nicht. Dasſelbe iſt nur früher zu
Gunſten der vornehmern Geſanten geſtattet und anerkannt worden.


205.

In dem Capellenrecht iſt enthalten:


  • a) eine geſantſchaftliche Capelle für Cultuszwecke zu bauen und zu
    benutzen,
  • b) die Befugniß, einen beſondern, der Geſantſchaft beigeordneten
    Geiſtlichen (Prieſter, Prediger) für den Gottesdienſt zu halten,
  • c) das Recht, auch andere Perſonen, mindeſtens die Landsleute und
    Schutzbefohlenen des Geſanten, ſowie andere fremde Glaubensgenoſſen
    zur Theilnahme an dem geſantſchaftlichen Gottesdienſt zuzulaſſen.

Die neuere Rechtsbildung iſt wie überhaupt der Cultusfreiheit ſo auch einer
Ausdehnung des Capellenrechtes günſtig. Indeſſen kommt zuweilen noch ein Verbot
in einzelnen Staten für deſſen Unterthanen vor, den andersgläubigen Gottesdienſt
zu beſuchen. Gegenwärtig noch iſt es den Römern unterſagt, dem proteſtantiſchen
Gottesdienſt in der preußiſchen Geſantſchaftscapelle zu Rom beizuwohnen.


206.

Es iſt nicht nothwendig in dem Capellenrecht auch die Befugniß
inbegriffen, den Cultus nach außen hin öffentlich darzuſtellen, wie ins-
beſondere durch Glockengeläute, Proceſſionen, Erſcheinen des Geiſtlichen
außerhalb der eximirten Räume in der Tracht ſeines kirchlichen Amtes.


Innerhalb der Capelle dagegen und in dem Geſantſchaftshotel darf
der Geiſtliche ungehindert in der Amtstracht erſcheinen. Er darf daſelbſt
Taufen und Trauungen vollziehen und auf dem dazu gehörigen Begräbniß-
platze den Trauergottesdienſt abhalten.


Das Capellenrecht des Geſanten iſt zunächſt Hausrecht desſelben und er-
ſtreckt ſich deßhalb nicht auf den öffentlichen Cultus außerhalb des Geſantſchaftshotels
und ſeiner Zubehörde, der Capelle.


207.

Die vorübergehende Abweſenheit des Geſanten hindert die Fortdauer
des geſantſchaftlichen Gottesdienſtes nicht. Wird aber der geſantſchaftliche
Verkehr abgebrochen, ſo erliſcht auch das Capellenrecht.


[140]Drittes Buch.
208.

Die Familie, die Begleiter und Diener des Geſanten haben ebenfalls
freie Religionsübung innerhalb des Geſantſchaftshotels je nach ihrer Religion
und Confeſſion.


Es gilt das auch dann, wenn dieſe Perſonen eine andere Confeſſion
bekennen, als der Geſante ſelbſt. Die Capelle z. B. eines Preußiſchen Geſanten
kann proteſtantiſch ſein, während der Geſante ſelbſt katholiſch iſt.


209.

Der Geſante und ſein Gefolge ſind der Strafgerichtsbarkeit des be-
ſendeten States nicht unterworfen. Dieſer Stat aber iſt berechtigt, wenn
durch ſolche Perſonen die Rechtsordnung des Landes in ſtrafwürdiger Weiſe
verletzt worden iſt, auf diplomatiſchem Wege Genugthuung und je nach
Umſtänden Entſchädigung zu fordern.


Vgl. oben zu § 141 f.


210.

Verübt der Geſante ſelber eine ſtrafbare Handlung, ſo kann ſolches
der Regierung des Abſendeſtates angezeigt und Abberufung und Beſtrafung
des Geſanten gefordert werden. In ſchweren Fällen können auch dem
Geſanten ſofort die Päſſe zugeſtellt und er in kurzer Friſt aus dem Lande
weggewieſen werden. In Nothfällen und insbeſondere, wenn der Geſante
an hochverrätheriſchen oder feindlichen Handlungen gegen das Land theil-
genommen hat, bei dem er beglaubigt iſt, kann er, um die Anſprüche des
verletzten States auf Genugthuung zu ſichern, gefangen genommen werden.
Aber ſogar in dieſem Fall darf das einheimiſche Strafgericht nicht über
ihn richten.


Vgl. oben § 142. Ein Beiſpiel iſt die Gefangennahme des Prinzen von
Cellamare, Spaniſchen Geſanten in Paris, der ſich an einer Verſchwörung gegen
die damalige franzöſiſche Regierung betheiligt hatte, 1718. Manche Juriſten be-
haupteten früher, der Geſante verwirke das Privilegium durch ein ſchweres Verbre-
chen gegen den beſendeten Stat oder deſſen Souverän, aber die Meinung von Gro-
tius
, daß ſelbſt in ſolchen Fällen die Strafgewalt des beſendeten Stats nicht zur
Anwendung komme, iſt die herrſchende geworden. Weil hier leicht die völkerrecht-
lichen Beziehungen an einer empfindlichen Stelle verwundet werden, darf in ſolchen
Fällen nicht eine untergeordnete Behörde, ſondern nur die oberſte Autorität das
Nöthige anordnen.


[141]Völkerrechtliche Organe.
211.

Wird das Vergehn von einer Perſon aus dem Gefolge verübt, ſo
iſt der Geſante verpflichtet, mitzuwirken, daß der Angeklagte vor Gericht
geſtellt und wenn ſchuldig erfunden, geſtraft werde.


212.

Die Befreiung von der Strafgewalt des beſendeten States und die
Unterwerfung unter die Strafgewalt des Abſendeſtates erſtreckt ſich auch
auf ſolche Diener fremder Geſanten, welche Unterthanen des erſtern ſind.


Es kommt hier auf die Zeit an, in welcher die gerichtliche Verfolgung be-
ginnt. Gegen den wirklichen Diener des Geſanten — bona fides des Dienſtes wird
jederzeit vorausgeſetzt — wird ſie aus Rückſicht auf die völkerrechtliche Exemtion
vorerſt gehemmt beziehungsweiſe abgelenkt.


213.

Dieſe Befreiung erſtreckt ſich nicht auf Perſonen, welche ohne Amt
und ohne Dienſt lediglich aus freier Neigung oder Gewinnſucht ſich einer
Geſantſchaft anſchließen, noch auf ſolche, welche nur zum Scheine in ein
Dienſtverhältniß eintreten, in Wahrheit aber von dem Geſanten unabhängig
und nicht der Geſantſchaft beigeordnet ſind.


Vgl. oben § 146.


214.

Wenn der Geſante in Anbetracht, daß die unabhängige Stellung
der Geſantſchaft und die Intereſſen des Abſendeſtats nicht in Frage geſetzt
werden, Perſonen ſeines Gefolges oder ſeiner Dienerſchaft, die wegen eines
Vergehens entweder auf handhafter That ergriffen worden ſind oder ſonſt
in unverdächtiger Weiſe verklagt werden, der ordentlichen Landesgerichts-
barkeit zur Beurtheilung freiwillig überläßt oder überliefert, ſo iſt das
Gericht nicht durch völkerrechtliche Rückſichten gehindert, ſeine regelmäßige
Gerichtsbarkeit auszuüben.


Inwiefern hier der Geſante die Vorſchriften und Inſtructionen des Abſende-
ſtats gehörig beachtet habe, iſt eine Frage des Stats- nicht des Völkerrechts,
welche in den Bereich der Verantwortlichkeit fällt, die der Geſante ſeiner Regierung
ſchuldet. In der Regel darf der Geſante mit Rückſicht auf ſeine völkerrechtliche
Stellung und Aufgabe weder für ſich, noch für diejenigen Perſonen, welche mit den
[142]Drittes Buch.
öffentlichen Geſchäften des Amtes bekannt ſind, auf die Befreiung von der einheimi-
ſchen Strafgerichtsbarkeit verzichten und darf weder ſich, noch ſolche Perſonen zum
Schaden ſeiner Stellung und ſeiner Amtsthätigkeit dieſer Gerichtsbarkeit freiwillig
unterwerfen.


215.

Der einheimiſchen Statsgewalt iſt es nicht verwehrt, Perſonen, welche
zur Geſantſchaft gehören, wenn ſie auf handhafter That in Verübung
eines Vergehens ergriffen werden, vorläufig in Haft zu nehmen. Nur iſt
ſofort dem Geſanten davon Kenntniß zu geben und der Gefangene zu
deſſen Verfügung zu ſtellen.


216.

Dem Geſanten kommt wohl eine Disciplinargewalt über ſeine An-
gehörigen zu, aber in der Regel keine eigentliche Strafgerichtsbarkeit. Aus-
nahmen bedürfen einerſeits der Ermächtigung des Abſendeſtats, andrerſeits
der Zulaſſung des Empfangſtats.


Da der Ausſpruch auf Exterritorialität für ſich allein nur die Ausſchlie-
ßung
der fremden, an ſich berechtigten Strafgerichtsbarkeit, nicht aber die Aus-
übung
der eigenen Strafgewalt von Seite des Exterritorialen begründet, ſo
kann es auch nicht von dem Ermeſſen des Abſendeſtates allein abhängen, ſeinen Ge-
ſanten dieſe Gewalt zu übertragen. Der beſendete Stat kann ſich jede Ausübung
der Strafgewalt in ſeinem Gebiete durch einen Fremden verbitten. Der Geſante iſt
in der Regel nur zu denjenigen vorbereitenden Gerichtshandlungen er-
mächtigt, welche zur Sicherung des nachfolgenden Gerichtsverfahrens nöthig ſind.
Ausnahmsweiſe wird den fränkiſchen Geſanten und ſogar den Conſuln in der Türkei
und hinwieder muſelmänniſchen Geſanten in Europa eine Strafgerichtsbarkeit dort
über ihre chriſtlichen, hier über ihre mohammedaniſchen Landsleute zugeſtanden.


217.

Der Geſante kann den äußern Thatbeſtand des Vergehens, ſoweit
derſelbe innerhalb des exterritorialen Bezirks erkennbar iſt, conſtatiren, ſeine
Angehörigen einvernehmen und das einheimiſche Gericht auffordern, daß es
auch ſeinerſeits in ſeinem Bereich die Thatſachen feſtſtelle und Zeugen ein-
vernehme. Er kann die angeſchuldigte Perſon ſeines Gefolges verhaften
und für Ablieferung an das zuſtändige Gericht des Abſendeſtats ſorgen.


218.

Da der Geſante auch der Civilgerichtsbarkeit des Empfangſtates
[143]Völkerrechtliche Organe.
nicht unterworfen iſt, ſo darf er auch nicht vor Gericht geladen werden,
um eine Civilkage zu beantworten, noch darf irgend ein Gerichtszwang
gegen ſeine Perſon oder ſeine Habe ausgeübt werden.


Vgl. oben zu § 139. 140. In England iſt unter der Königin Anna am
21. April 1709 ein beſonderes Geſetz zum Schutz der Geſanten erlaſſen worden,
nachdem zuvor die Verhaftung eines Ruſſiſchen Geſanten wegen Schulden heftige
Beſchwerden des Czars Peter über Verletzung des Völkerrechts hervorgerufen hatte.
Das Geſetz wurde als Genugthuung für den beleidigten Ruſſiſchen Hof betrachtet.
Die Uebungen der Völker gehen in dieſer Befreiung der Geſanten von der Civil-
gerichtsbarkeit vielleicht weiter, als die inneren Rechtsgründe — insbeſondere die
Rückſicht auf die Würde, Sicherheit und Unabhängigkeit des repräſentirten States
es erfordern. Es iſt daher oft ſchon arger Mißbrauch von dieſem Privilegium ge-
macht worden, indem einzelne Geſante dasſelbe zu leichtfertigem Schuldenmachen
ausgebeutet haben und dann die Gläubiger zu Schaden gekommen ſind. Uebrigens
iſt der Geſante ſo wenig als ein ſouveräner Fürſt gehindert, eine Schuldfrage oder
eine andere bürgerliche Rechtsſtreitigkeit, freiwillig an ein Schiedsgericht oder ſelbſt
an das ordentliche Gericht des beſendeten Landes zu bringen und deſſen Urtheil an-
heim zu geben. Die Juriſten, welche ihn daran verhindern wollen, überſpannen
das Intereſſe des Abſendeſtates, für deſſen Würde und Sicherheit es je nach Um-
ſtänden ganz unerheblich ſein kann, derariige Civilproceſſe ausſchließlich der eigenen
Gerichtsbarkeit vorzubehalten. Ob der Geſante das thun dürfe oder nicht, iſt eher
eine Frage des Stats- als des Völkerrechts. Er iſt ſtatsrechtlich verpflichtet, die
Inſtruction zu befolgen, die er von ſeiner Regierung empfängt.


219.

Da die Gefolgsleute des Geſanten nicht um ihrer Perſon, ſondern
lediglich um der Geſantſchaft willen von der Civilgerichtsbarkeit des Landes
befreit ſind, in dem ſie ſich thatſächlich aufhalten, ſo kann der Geſante
verſtatten, daß dieſelben von dieſem Landesgericht belangt werden und es
kann unter dieſer Vorausſetzung das Gericht die Klage an Hand nehmen,
ohne Verletzung der völkerrechtlichen Rückſichten.


Vgl. oben zu § 149.


220.

Dem Geſanten ſteht in der Regel keine bürgerliche Gerichtsbarkeit in
Streitſachen zu über ſeine Angehörigen. Eine Ausnahme wird nur durch
beſondere Vollmacht des Abſendeſtats und durch Zulaſſung des Empfang-
ſtats begründet.


Vgl. oben § 216.


[144]Drittes Buch.
221.

Dagegen ſind in der Regel die Geſanten befugt, Acte der freiwilli-
gen Gerichtsbarkeit mit Bezug auf die Gefolgsperſonen und überdem mit
Bezug auf ihre Landsleute und Schutzbefohlenen vorzunehmen, ſoweit ein
derartiges Bedürfniß vorhanden iſt. Insbeſondere können ſie Unterſchriften
und Urkunden dieſer Perſonen amtlich beglaubigen, letzte Willenserklärungen
aufnehmen, bürgerliche Standesverhältniſſe (Geburt, Ehe, Tod) beurkunden
und im Intereſſe der Sicherſtellung von Verlaſſenſchaften ſchützende Maß-
regeln theils ergreifen, theils veranlaſſen.


Die freiwillige Gerichtsbarkeit hat weniger den Charakter der Gerichtshoheit
an ſich, als der gewaltloſen Rechtshülfe. Sie kann daher auch unbedenklich
von dem Empfangſtat zugeſtanden werden. Aus ähnlichen Gründen kann der Ge-
ſante auch Zeugenausſagen ſeiner Gefolgsleute zu Protokoll nehmen.


222.

Die Steuerfreiheit des Geſanten beruht nur inſofern auf Rechts-
nothwendigkeit, als ſie eine Folge der Befreiung derſelben von aller Stats-
hoheit des beſendeten States iſt. Ihre Ausdehnung über dieſes Maß
hinaus mag in den Sitten und in der Gaſtfreundlichkeit begründet ſein,
aber ihre Beſchränkung auf jenes Maß kann nicht als Verletzung des
Völkerrechts betrachtet werden.


Vgl. § 138. Im Einzelnen weichen die Sitten und Verordnungen der ein-
zelnen Staten von einander ab, und es iſt nach Heffters Ausdruck (Völkerr. 217)
„eine völlig gleichförmige Regel bei dieſem völkerrechtlichen Privilegium nicht erweis-
lich.“ Es iſt z. B. keine Verletzung des Völkerrechts, wenn von dem Geſanten wie
von andern Reiſenden Straßen- und Brückengelder gefordert werden, obwohl das
aus Höflichkeit oft unterlaſſen wird.


223.

Der Geſante iſt verpflichtet, die Zollbefreiung, deren er für die Be-
dürfniſſe ſeines Haushalts genießt, in gutem Glauben zu gebrauchen und
er darf dieſelbe weder zu eigenen Handelszwecken ausbeuten, noch zu Gun-
ſten dritter zollpflichtiger Perſonen mißbrauchen. Das Völkerrecht hindert
die Zollbehörden nicht, auch die Sendungen von Waaren an den Geſanten
einer Prüfung zu unterwerfen, wenn nur das Hotel des Geſanten und
diejenigen Räume (Statswagen, Archiv) verſchont werden, für welche er
[145]Völkerrechtliche Organe.
den beſondern Statsſchutz in Anſpruch nimmt und die Verſicherung gibt,
daß ſie keine zollpflichtigen Güter in ſich ſchließen.


Wenn der Geſante zugleich Kaufmann iſt, ſo ſind ſeine Handelswaaren der
gewöhnlichen Verzollung unterworfen.


224.

In allen zweifelhaften Fällen, wo Conflicte über die Ausdehnung
oder Beſchränkung der Exterritorialität mit fremden Geſanten drohen, ſol-
len die untern Landesbehörden es vermeiden, von ſich aus dem Entſcheide
der oberſten Regierungsautorität vorzugreifen und iſt durch Verhandlung
dieſer mit der Geſantſchaft ein freundliches Einverſtändniß anzuſtreben.


Es iſt das eine zur Verhütung ſchädlicher Streitigkeiten wichtige Maxime
Der Amtseifer der Unterbehörden ſieht leicht nur das Nächſte und beurtheilt das
nach dem gewöhnlichen Geſchäftsgang, während die Centralregierung einen weiteren
Horizont von höherem Standpunkte aus überſchaut und daher die Rückſichten von
Stat zu Stat richtiger zu würdigen verſteht. Der Geſante iſt berechtigt, bei einem
drohenden Conflicte mit einem Unterbeamten dieſen darauf hinzuweiſen, daß er
wohl thue, an höhere Behörde zu berichten und weitere Befehle abzuwarten.


225.

Der Geſante iſt verpflichtet, die Selbſtändigkeit und Ehre des States,
bei welchem er beglaubigt iſt, ſorgfältig zu achten. Er darf ſich nicht in
die innern Landesangelegenheiten ungebührlich einmiſchen, und hat ſich aller
autoritativen Acte zu enthalten, welche in den Bereich der Statshoheit des
beſendeten States eingreifen. Er ſoll alle Aufreizungen oder Drohungen
oder Beſtechungen unterlaſſen, durch welche die Freiheit des Volkes, die
Autorität der Regierung und die Ehrbarkeit des politiſchen Lebens gefähr-
det oder verletzt würden.


Bloße Meinungsäußerung und Ertheilung von guten Räthen bezüglich der
innern Politik, zumal im Privatverkehr, iſt nicht als unerlaubte Einmiſchung zu
betrachten. Aber immerhin iſt auch hier Mäßigung zu empfehlen, damit nicht der
Eindruck einer verſuchten Einmiſchung entſtehe, welche der fremden Macht und ihrem
Vertreter nicht zukommt. Die Grenze, welche die freie Beſprechung von ungebühr-
licher Zudringlichkeit unterſcheidet, kann nur durch den ausgebildeten Takt der Per-
ſonen inne gehalten werden.


226.

Ohne Ermächtigung des Abſendeſtats darf der Geſante weder Ge-
ſchenke noch Orden von dem Empfangſtate annehmen.


Bluntſchli, Das Völkerrecht. 10
[146]Drittes Buch.

Die repräſentative Stellung des Geſanten erfordert nicht allein, daß der Ge-
ſante ſich nicht durch perſönliche Ehren oder Vortheile von dem beſendeten State ge-
winnen laſſe, ſondern daß er auch den Schein einer ſolchen Gewinnung vermeide.
Aber wenn der Abſendeſtat darüber beruhigt iſt und ſeine Zuſtimmung gibt, ſo iſt
der Geſante auch nicht gehindert, eine Auszeichnung von dem beſendeten State an-
zunehmen.


9. Ende der diplomatiſchen Sendung.

227.

Wenn die diplomatiſche Sendung zu einem beſondern Zweck geſchehen
iſt, wie vorzüglich bei Ceremonialgeſanten, ſo wird dieſelbe durch Erfüllung
des Auftrags beendigt.


228.

Iſt der Geſante in fortdauernder Eigenſchaft beglaubigt, ſo wird
ſeine Geſantſchaftsſtellung gewöhnlich durch die Abberufung beendigt. Das
dem beſendeten State mitgetheilte Abberufungsſchreiben (lettre de rappel)
hebt die Geltung des Creditivs auf.


Dem Abſendeſtat ſteht es jederzeit frei, ſeinen Geſanten abzuberufen. Die
Abberufung kann aber erſt für den beſendeten Stat rechtsverbindlich wirken, wenn
ihm dieſelbe angezeigt worden iſt.


229.

Der Tod oder die Abdankung des abſendenden Souveräns hebt die
Wirkſamkeit des Creditivs nicht nothwendig auf.


Der Grund iſt, weil das Statshaupt fortdauert, wenn gleich die
Perſon des Fürſten wechſelt und das Statshaupt den Geſanten ermächtigt hat, nicht
das fürſtliche Individuum. Uebungsgemäß wird durch die Notification der
Thronfolge ohne Abberufung die Fortdauer des alten Creditivs von Seite des
Abſendeſtats beſtätigt.


230.

Wird dagegen der abſendende Souverän durch eine Statsumwälzung
entſetzt oder ſonſt gewaltſam entthront, ſo daß die Nachfolge nicht durch
die regelmäßige Thronfolge beſtimmt wird, ſo wird die Fortdauer des
[147]Völkerrechtliche Organe.
alten Creditivs als zweifelhaft betrachtet. Uebungsgemäß wird in ſolchen
Fällen ein neues Creditiv erwartet und gegeben.


Wenn aber der Abſendeſtat durch eine bloße Notification das alte Creditiv
beſtätigt und der Empfangſtat ſich dabei beruhigt, ſo beſteht kein völkerrechtliches
Hemmniß ſeiner Gültigkeit. Der Grund, weßhalb in dieſen Fällen anders gehandelt
wird, als in den vorigen Fällen, iſt der, daß ſolche Umwälzungen zugleich eine
Wandlung der Politik bedeuten und es daher zweifelhaft erſcheint, ob der von der
geſtürzten Regierung ernannte Geſante auch das Vertrauen der neuen Regierung
habe.


231.

Wenn der Souverän des Empfangſtates ſtirbt, bei welchem der
Geſante perſönlich beglaubigt war, ſo wird übungsgemäß ein neues Cre-
ditiv an den Thronfolger ausgeſtellt. Aber es gibt kein völkerrechtliches
Hinderniß, das alte Creditiv ſtatlich fortwirken zu laſſen.


Da der Stat und das Statshaupt dieſelben bleiben, wenn gleich die Perſon
des Fürſten geändert wird, ſo iſt auch hier kein nöthigender Rechtsgrund
vorhanden, um dem anerkannten Creditiv ſeine Wirkſamkeit zu entziehen. Nur die
diplomatiſche Sitte hat hier die Ausſtellung eines neuen Creditivs eingeführt,
wohl nur in der Abſicht, den Geſanten und ihren Regierungen einen Anlaß zu ver-
ſchaffen, um den Verkehr mit dem neuen Fürſten in feierlicher Weiſe einzuleiten.
Gegenüber dem Regierungswechſel in Republiken beſteht dieſe Uebung nicht, obwohl
das Rechtsverhältniß dasſelbe iſt.


232.

Wird der Souverän des Empfangſtates gewaltſam entſetzt, ſo iſt es
zweifelhaft geworden, ob der Geſante ferner bei ſeiner Perſon oder bei der
neuen Regierung beglaubigt ſei. Wenn der Abſendeſtat die letztere aner-
kennt, ſo wird eine Beſtätigung des alten Creditivs oder ſelbſt die Fort-
ſetzung des Geſchäftsverkehrs mit der neuen Regierung als genügend er-
achtet, um derſelben gegenüber die Fortwirkung des Creditivs zu ſichern.


Vgl. zu § 230. In ſolchen Fällen tritt oft anfangs ein Schwanken und eine
Unſicherheit darüber ein, ob der Geſante noch bei dem geſtürzten Souverän oder nun
bei der neuen Regierung beglaubigt ſei. Da beide ein Intereſſe haben, den Verkehr
fortzuſetzen, der erſtere in der Hoffnung auf Wiederherſtellung ſeiner Autorität, die
letztere in der Abſicht auf Sicherung ihrer neuen Stellung, ſo ſind beide bereit, die
Fortdauer des Creditivs zu gewähren und geneigt, in dieſem Sinne das Verhalten
der Geſanten auszulegen. Daher fordert keine von beiden Regierungen neue Credi-
10*
[148]Drittes Buch.
tive, ſondern hält ſich gerne an die ihrer Auffaſſung günſtigen Aeußerungen oder
Handlungen. Vgl. oben § 39 und unten § 237.


233.

Eine Aenderung in der Perſon des Miniſters des Auswärtigen übt
auch dann keinen Einfluß auf die Fortdauer des Creditivs aus, wenn
dasſelbe lediglich an das Miniſterium gerichtet war.


Das iſt der Fall bei den Creditiven der Geſchäftsträger.


234.

Bei ſchweren Verletzungen der Rechte oder der Ehre ſeines States
kann der Geſante, auch ohne ſeine Abberufung abzuwarten, ſeine Päſſe
fordern und den diplomatiſchen Verkehr abbrechen.


Seinem State gegenüber wird er freilich für eine ſolche Handlung verant-
wortlich
; und dieſe Rückſicht wird ihn daher gewöhnlich abhalten, ohne beſondern
Auftrag einen derartigen Riß zu conſtatiren. Für die äußerſten Fälle aber, ins-
beſondere wenn ein raſcher Verkehr mit der Abſenderegierung unterbrochen oder allzu
ſchwierig iſt, muß dieſes Recht des Geſanten doch anerkannt werden. Dasſelbe ab-
ſolut verneinen, hieße in ſolchen Fällen den repräſentirten Stat den größten Ge-
fahren und Beleidigungen vorerſt preisgeben.


235.

Bei ſchwerer Verſchuldung des Geſanten gegen den beſendeten Stat
und ebenſo in Folge eines ernſten Streites mit dem Abſendeſtat, kann die
beſendete Regierung dem Geſanten ebenfalls einſeitig ſeine Päſſe zurück-
ſtellen und ihrerſeits den diplomatiſchen Verkehr abbrechen.


Der Abbruch des Verkehrs und die Wegweiſung des Geſanten iſt nicht als
ein Act der Willkür in das beliebige Ermeſſen der beſendeten Regierung geſtellt,
ſondern es bedarf, um dieſe ſchweren Maßregeln völkerrechtlich zu rechtfertigen, eines
ernſten Grundes.


236.

Die Beförderung eines Geſanten zu höherer Rangclaſſe veranlaßt
übungsgemäß die Uebergabe eines neuen Creditivs. Aber inzwiſchen dauert
das Recht der Vertretung auf Grundlage des alten Creditivs fort.


Ein Rechtsgrundſatz liegt dieſer Uebung nicht zu Grunde. Würde der Ab-
ſendeſtat die Rangerhöhung einfach notificiren, ſo wäre der Empfangſtat nicht gehin-
dert, das für genügend zu erachten.


[149]Völkerrechtliche Organe.
237.

Eine bloße Unterbrechung der diplomatiſchen Sendung, welche die
Fortwirkung des Creditivs zweifelhaft macht, findet Statt:


  • a) in Folge von Streitigkeiten, welche noch nicht zum Abbruch aber
    zu einſtweiliger Einſtellung der diplomatiſchen Functionen führen,
  • b) bei Statsumwälzungen in einem der beiden Länder, deren Aus-
    gang noch ungewiß iſt,
  • c) wenn der Geſante in Folge perſönlicher Hinderniſſe vorübergehend
    außer Stande iſt, ſeine Thätigkeit fortzuſetzen.

In zweifelhaften Fällen der erſten und zweiten Claſſe hängt es immerhin
von dem Ermeſſen der Staten oder ihrer Geſanten ab, dieſen Zweifeln eine größere
oder geringere Wirkung zu verſtatten. In Fällen der dritten Art wird die Verhand-
lung mit Nothwendigkeit unterbrochen. Dahin gehört z. B. die Abſperrung der
Verbindung in Kriegszeiten, oder eine Krankheit des Geſanten, die ihn zur Vertre-
tung unfähig macht — ohne Zwiſchenvertretung — u. dgl. In dieſer Zwiſchenzeit
wird die Wirkſamkeit des Creditivs als ſuspendirt betrachtet. Wenn jedoch das
Hemmniß beſeitigt, oder die Ungewißheit zu Gunſten der Fortſetzung des diplomati-
ſchen Verkehrs gehoben wird, ſo tritt das alte Creditiv wieder in volle Kraft und
wird angenommen, es habe auch in der Zwiſchenzeit gegolten. Wird umgekehrt dieſe
Zwiſchenzeit durch den Abbruch des Verkehrs beendigt, ſo wird angenommen, das
ſuspendirte Creditiv ſei unwirkſam geblieben.


238.

Wird die diplomatiſche Sendung in friedlicher Weiſe durch Abberu-
fung des Geſanten beendigt und iſt derſelbe bei dem Souverän perſönlich
beglaubigt, ſo kann eine dem feierlichen Empfang entſprechende feierliche
Verabſchiedung des Geſanten ſtattfinden. Der Geſante erhält dann gegen
das Abberufungsſchreiben von dem Souverän des beſendeten Stats ein
Recreditivſchreiben (lettres de récréance) an den Souverän des Abſende-
ſtats, welches die Beendigung des bisherigen Repräſentationsverhältniſſes
beurkundet.


Jene Feierlichkeit und dieſes Recreditiv ſind aber nicht nothwendig,
um das frühere Creditiv außer Wirkſamkeit zu ſetzen.


239.

Unter allen Umſtänden, ſelbſt nach einer Kriegserklärung, hat der
Empfangſtat die Pflicht, dafür zu ſorgen, daß der ſcheidende Geſante un-
[150]Drittes Buch.
verſehrt das Statsgebiet verlaſſen könne. Wenn nöthig, hat er ihm be-
waffnete Bedeckung zum Schutze beizugeben.


Die Unverletzbarkeit des Geſanten iſt wie bei der Herreiſe ſo auch bei der
Rückreiſe zu wahren; und es iſt Pflicht des States, die Gefahren, welche ihm,
namentlich von aufgeregten Parteien drohen, durch ſeine Schutzmittel zu entfernen.
Dabei wird indeſſen vorausgeſetzt, daß der Geſante ohne Verzug, ſobald es die Natur
der Verhältniſſe geſtatten, zurückreiſe. Will er dauernd in dem Lande bleiben, in
dem er früher als Geſanter fungirt hat, ſo tritt er durchaus in die Stellung eines
Privatmanns zurück und hat keinen weitern Anſpruch auf einen beſondern qualifi-
cirten Schutz.


240.

Stirbt der fremde Geſante innerhalb des einheimiſchen Statsgebiets,
ſo pflegt übungsgemäß die eigene Kanzlei, oder wenn keine geeignete Perſon
in derſelben vorhanden iſt, eine befreundete Geſantſchaft die Verlaſſenſchaft
unter Siegel zu nehmen und einſtweilen ſicher zu ſtellen. Nur im Noth-
fall, wenn überall keine derartige Hülfe zur Stelle iſt, wird die Siegelung
von der einheimiſchen Behörde vorzunehmen ſein. Unter allen Umſtänden
aber hat ſich die fremde einſchreitende Behörde jeder Durchſuchung der
Geſantſchaftspapiere zu enthalten und ſich auf Sicherſtellung derſelben
zu beſchränken. Die Leiche darf in die Heimat des Geſanten abgeführt
werden.


III. Von den Agenten und Commiſſären.


241.

Bloße Beauftragte für nicht völkerrechtliche und nicht internationale
Angelegenheiten eines auswärtigen States haben keinen völkerrechtlichen
Charakter.


Dahin gehören z. B. Agenten zum Abſchluß eines Darlehens mit Privat-
gläubigern, zum Ankauf von Lebensmitteln, zur Beſtellung von Waffen in fremden
Fabriken u. dgl.


242.

Die geheimen Agenten, welche zwar in der Abſicht entſendet werden,
[151]Völkerrechtliche Organe.
die öffentlichen Intereſſen eines States in fremdem Lande zu wahren, aber
ohne als Statsbeauftragte daſelbſt amtlich bezeichnet zu werden, haben auch
wenn ſie ſich als geheime Agenten zu erkennen geben, keinen Anſpruch auf
einen beſondern völkerrechtlichen Schutz.


Sie werden nur als Privatperſonen, nicht als Repräſentanten des Stats be-
trachtet, und genießen daher nur den allgemeinen Rechtsſchutz für die Fremden über-
haupt. Dahin gehören auch diejenigen Perſonen, welche als Techniker oder Experten
die Einrichtungen in einem fremden Lande ſtudiren und darüber Bericht erſtatten
ſollen.


243.

Dagegen ſtehen öffentlich ermächtigte Perſonen (Agenten und Com-
miſſäre), welche ohne den Charakter von Geſanten zu haben, von einem
State oder von deſſen Behörden an einen andern Stat oder deſſen Behör-
den abgeſchickt werden, um gewiſſe öffentliche Geſchäfte daſelbſt abzumachen,
unter dem beſondern Schutze des Völkerrechts. Aber auf Exemtion von
der Gerichtsbarkeit und auf Exterritorialität haben ſolche Perſonen keinen
Anſpruch, wenn nicht und ſo weit nicht durch beſondere Vergünſtigung
des beſendeten States ihnen ſolches verſtattet worden iſt.


Solche Sendungen kommen auch in untergeordneten Zweigen der Policei-
oder Gerichtsverwaltung, in Angelegenheiten des Straßenweſens, der
Poſt- und Eiſenbahnverbindung, der Grenzregulirung, des Ufer-
ſchutzes
und Waſſerbaues, bei internationalen Induſtrieausſtellungen
u. ſ. f. vor. Weil ſie entweder eine völkerrechtliche Miſſion haben, inſofern die Be-
ziehungen von Stat zu Stat zu ordnen ſind, oder doch eine internationale und zu-
gleich amtliche Aufgabe in einem fremden State zu löſen berufen ſind, ſo verdienen
ſie eine beſondere Berückſichtigung des Völkerrechts.


IV. Von den Conſuln.


244.

Die Conſuln ſind nicht wie die Geſanten beglaubigte Vertreter frem-
der Staten im völkerrechtlichen Verkehr, aber ſie ſind anerkannte Vertreter
und Schützer des internationalen Privatverkehrs der Fremden im Inland,
[152]Drittes Buch.
beziehungsweiſe der Einheimiſchen im Ausland, innerhalb ihres Conſular-
bereichs.


Das Inſtitut der Conſuln, im Mittelalter aus den ſtädtiſchen Handels-
körperſchaften
hervorgegangen, hat eher eine geſellſchaftliche als politiſche,
eher eine internationale als zwiſchenſtatliche Bedeutung. Die Conſuln dienen
vorzüglich dem Privatverkehr der verſchiedenen Nationen auch in der Fremde, nicht
dem Verkehr der Staten.


245.

Die Conſuln erhalten, wenn ſie nicht zugleich Geſchäftsträger und
daher Geſante ſind, kein Creditiv, aber ein Patent von der Regierung,
welche ſie beauftragt. Dieſes Patent (lettre de provision) wird dem
Miniſterium des Auswärtigen in dem Lande mitgetheilt, wo das Conſulat
ſeinen Sitz hat.


Der Conſul bedarf keines Creditivs, weil er nicht ermächtigt iſt, für den Stat
als deſſen Vertreter zu handeln. Aber er bedarf eines Patents, weil er genöthigt
iſt, in dem fremden Lande den Auftrag ſeines States zu documentiren.


246.

Damit der fremde Conſul im Inland anerkannt und zu ſeiner
Wirkſamkeit legitimirt werde, iſt das ſogenannte Exequatur von Seite der
einheimiſchen Statsgewalt nothwendig, d. h. die Anweiſung an die untern
Orts- und Bezirksbehörden, mit dem Conſul ſo weit nöthig in amtlichen
Verkehr zu treten.


Das Exequatur iſt ein ſchriftlicher Auftrag der Statsregierung an die unter-
geordneten Behörden, den fremden Conſul in ſolcher Eigenſchaft anzuerkennen und
demgemäß zu behandeln. Bevor das Exequatur ertheilt iſt, darf der Conſul keine
amtlichen Functionen ausüben.


247.

Es hängt von der einheimiſchen Regierung ab, ob ſie in einzelnen
Städten die Errichtung von Conſulaten geſtatten wolle.


Auch dieſer Entſcheid beruht nicht auf bloßer Laune und Willkür. Wo ein
großer und bedeutſamer Handelsverkehr ſeinen feſten Sitz hat, wie insbeſondere in
den Seeſtädten, die zugleich Handelsſtädte ſind, da wird die Errichtung von Con-
ſulaten im Intereſſe dieſes Verkehrs ſchicklicher Weiſe nicht verſagt werden können
[153]Völkerrechtliche Perſonen.
und würde die unmotivirte Ausſchließung der Conſuln eines States, während andern
Staten die Errichtung von Conſulaten verſtattet würde, von jenem State mit Recht
als eine Beleidigung angeſehn.


248.

Ebenſo iſt die Landesregierung berechtigt, einer beſtimmten ihr
mißfälligen oder ungeeignet erſcheinenden Perſon das Exequatur zu ver-
weigern.


In dem Exequatur liegt auch die Anerkennung, daß der Conſul keine
ingrata persona ſei. Die Weigerung, das Exequatur einer beſtimmten Perſon zu
ertheilen, bedarf keiner Angabe der beſondern Gründe, aus welchen dieſe Perſon
mißfalle.


249.

Ob ein Conſul aus ſeiner Heimat geſendet oder unter den Bewoh-
nern des Conſulatsſitzes, und ſogar unter den Unterthanen des States,
wo das Conſulat gelegen iſt, ernannt werde, iſt für den Rang, wie für
die Rechte und Pflichten der Conſuln nicht erheblich.


Indeſſen werden den Conſuln, welche ausſchließlich oder doch vor-
zugsweiſe dem Conſularberufe leben und nicht ein Privatgewerbe als Haupt-
beruf betreiben, den Berufs- und Amtsconſuln eher die Privilegien der
diplomatiſchen Perſonen verſtattet, als den Conſuln, welche das Conſulat
nur als Nebengeſchäft verwalten.


Die Ausdehnung der Conſulatsgeſchäfte wird manchenorts ſo groß, daß die
Thätigkeit eines ganzen Manns erfordert wird und die Nation hat ein ſo großes
Intereſſe, die Rechte ihrer Angehörigen im Auslande ſorgfältig und unparteiiſch ge-
wahrt und umſichtig geſchützt zu wiſſen, daß dafür die bloße Nebenverwendung
eines Kaufmanns und ſeiner Commis nicht mehr genügt, ſondern die beſſer geſchulte
Thätigkeit von ordentlichen Beamten erfordert wird. So ausgedehnte Amtspflichten
werden von beſoldeten Berufsconſuln erfüllt. Die Verbeſſerung des Con-
ſularweſens beruht zu gutem Theil darauf, daß an den wichtigſten Verkehrsknoten
Berufs- und Amtsconſulate errichtet werden, an welche ſich dann eine Anzahl von
Nebenconſulaten der Kaufleute anſchließen. Die Engländer, die Nordameri-
kaner
und die Franzoſen haben die Nothwendigkeit beſoldeter Conſulate viel
früher begriffen, als die Deutſchen (Preußen) und die Schweizer. Vgl.
die Zuſammenſtellung bei Quehl d. preußiſche und deutſche Conſularweſen. Berlin
1863. S. 221.


[154]Drittes Buch.
250.

Die Conſuln ſind inſofern auch politiſche und diplomatiſche Agenten,
als ſie


  • a) beauftragt ſind, über die Erfüllung der Handels- und anderer
    Verkehrsverträge zu wachen und wenn widerrechtlich verfahren
    würde, die Ortsbehörden um Abhülfe anzugehen, beziehungs-
    weiſe ein höheres Einſchreiten ihrer Geſanten oder Regierung
    anzuregen,
  • b) als ihnen von ihrer Regierung aufgetragen wird, über die öffent-
    lichen Zuſtände auch des fremden Landes Bericht zu erſtatten,
  • c) als ſie beſondere politiſche Vollmachten erhalten.

Ihre amtlichen Acten und ihre Correſpondenz mit ihrer Regierung
oder ihrer Geſantſchaft oder andern Conſuln ſtehen unter dem Schutz des
Völkerrechts und dürfen von der einheimiſchen Statsgewalt nicht durchſucht
werden.


Es beſteht kein Hinderniß für den Stat, der Conſuln beſtellt, ſich derſelben
auch zu politiſcher Berichterſtattung zu bedienen. Da die Conſuln gewöhnlich
nicht in der Reſidenz, ſondern in einer Provincialſtadt wohnen und nicht mit der
dortigen Regierung, ſondern durchweg mit den Bürgern verkehren, ſo werden ihre
Wahrnehmungen einen andern Geſichtskreis und einen anderen Charakter haben als
die der Geſanten, aber ſie können trotzdem von hohem Werthe ſein für die Kenntniß
der Zuſtände und die Beziehungen ſowohl der betreffenden Staten als der Nationen.
Wichtiger aber als die politiſchen Berichte, die doch nur ausnahmsweiſe den Conſuln
obliegen, ſind die commerciellen Berichte, welche vorzugsweiſe in den Geſchäfts-
kreis der Conſuln gehören. Die Conſuln können für die Handels-, Verkehrs-
und Culturintereſſen ihrer Landsleute durch einfache Mittheilung ſtatiſtiſchen
Materials und ihrer eigenen Wahrnehmungen nach Umſtänden ſehr nützlich wirken.
Auch dieſe Seite der internationalen Wirthſchafts- und Culturpflege
iſt noch einer fruchtbaren Entwicklung fähig.


251.

Die Conſuln dürfen ihren Statsgenoſſen Päſſe in die Fremde aus-
ſtellen und ebenſo ihren dort erſcheinenden Statsfremden Päſſe in das
Statsgebiet, deſſen Auftrag ſie erhalten haben.


Der Paß iſt nur eine Legitimationsurkunde, ausgeſtellt zu Gunſten eines
Reiſenden, um denſelben dem Schutz der fernen Behörden zu empfehlen, und all-
fällige Hinderniſſe der freien Bewegung wegzuräumen. Da die Conſuln vornehmlich
die Intereſſen des Fremdenverkehrs zu wahren haben, ſo eignen ſie ſich zur Aus-
[155]Völkerrechtliche Organe.
ſtellung ſolcher Päſſe, die freilich in Folge des allgemeinen und leichter gewordenen
Verkehrs glücklicher Weiſe großentheils entbehrlich geworden ſind. Indeſſen hängt
es von dem beauftragenden State ab, dieſe Vollmacht der Conſuln zur Paßausſtel-
lung oder ſelbſt zum Paßviſa zu verweigern oder zu beſchränken. Die engliſchen
Conſuln z. B. ſind darin beſchränkt. Verordnung von 1846 § 29.


252.

Die Conſuln haben keine Gerichtsbarkeit zu üben, wenn nicht aus-
nahmsweiſe ihnen eine ſolche übertragen und in dem Lande ihrer Wirk-
ſamkeit anerkannt worden iſt.


Vom Mittelalter her haben die europäiſchen (fränkiſchen) Conſuln in der
Levante und in den Mohammedaniſchen Staten, vorzüglich an den Küſten des Mit-
telländiſchen Meeres eine derartige Ausnahmsſtellung. Auch in den Oſtaſiatiſchen Sta-
ten hat dieſelbe eine neue Anwendung erhalten. Vgl. unten § 269.


253.

In Streitigkeiten ihrer Landsleute können ſie zu Schiedsrichtern er-
wählt werden.


In dieſem Falle haben ſie dafür zu ſorgen, daß auf die Berufung gegen
ihren Spruch an die Ortsgerichte verzichtet werde. Ohne dieſe Clauſel iſt Gefahr
vorhanden, daß der Spruch des Conſuls, der vielleicht dem Landesrecht der Parteien
entſpricht, von den Ortsgerichten, die ein anderes Recht befolgen, verworfen und da-
durch auch die Stellung des Conſuls und das von ihm beachtete Recht ſeines States
compromittirt werden.


254.

Sie ſind berechtigt und verpflichtet, die Rechte abweſender und nicht
gehörig vertretener Statsgenoſſen in dem fremden Gebiete zu ſchützen, in-
dem ſie zu dieſem Behuf die erforderlichen Maßregeln ergreifen und ein-
leiten.


Sie haben weder imperium noch jurisdictio, aber eine Art von Patronat
und Procuratur in Nothfällen im Intereſſe ihrer Landsleute. Es iſt durchaus grund-
los und unpaſſend, dieſe internationale Rechtshülfe auf die Kaufleute und die Schiffs-
mannſchaft zu beſchränken. Die andern Reiſenden haben ganz denſelben Anſpruch
auf Schutz im Auslande, wie die Handelsleute.


255.

Sie können daher Verlaſſenſchaften ihrer Landsleute unter Siegel
[156]Drittes Buch.
ſtellen und Gelder desſelben, ſowie Waaren, Schuldtitel und andere Ver-
mögensſtücke in amtliche Verwahrung nehmen.


Unter „Landsleuten“ verſtehen wir in dieſem Zuſammenhang die Bürger
und Unterthanen des States, dem die Conſuln dienen, im weiteren Sinne werden
aber die Perſonen mitbegriffen, welchen der Stat im Ausland als ſeinen Schutz-
befohlenen und Schutzverwanten dieſelbe Hülfe gewährt.


256.

Wo es das Recht und die Intereſſen ihrer Landsleute erfordern und
dieſe verhindert ſind, für ſich ſelber zu ſorgen, können die Conſuln für
dieſelben bei den Orts- und Landesbehörden die zur Sicherſtellung derſel-
ben nöthigen Anträge ſtellen, Beſchwerden erheben, Proteſte einreichen.


Das Recht der Conſuln zur Vertretung für ihre ſchutzbedürftigen Landsleute
iſt freilich nur ein Nothrecht und beſchränkt ſich daher auch auf die Nothhülfe.
Die Conſuln ſind demnach nicht berechtigt, für dieſelben Speculationsgeſchäfte zu machen,
ſondern nur berechtigt, diejenigen Vorſichtsmaßregeln zu ergreifen, welche zur Er-
haltung ihres Vermögens und insbeſondere zur Abwendung von drohendem Schaden
dienen. Dagegen bedürfen ſie zu einer bloß ſchützenden Vertretung ſelbſt im Proceß
vor Gericht keiner beſondern Vollmacht. (Vgl. Kent Comment. I. S. 42.)


257.

Sie ſind als ermächtigt zu betrachten, in Nothfällen diejenige Hülfe
zu gewähren, welche erforderlich iſt, um ihren Landsleuten die Rückkehr in
ihre Heimat möglich zu machen oder hülfsbedürftigen Landsleuten in Noth-
fällen die unentbehrliche Unterſtützung auf öffentliche Koſten zu gewähren.


Die Conſuln vertreten die Statshülfe, die ſonſt innerhalb des Statsgebiets
in Nothfällen gewährt wird, in der Fremde. Durch ſie erſtreckt der Stat ſeine ret-
tenden Hände über den Erdboden hin. Aber keinenfalls reicht dieſe amtliche Sorge
über die Bedingungen und den Umfang der regelmäßig geübten Statshülfe hinaus;
denn es iſt kein Grund, die Bürger außerhalb ihrer Heimat beſſer zu ſchützen, als
in derſelben. Es darf daher die Ermächtigung zu ſolcher Hülfe nur unter ſehr
engen Bedingungen und in engem Umfang verſtanden und keineswegs auf eine all-
gemeine Unterſtützung aller Perſonen ausgedehnt werden, welche in dem fremden
Lande ſich nur ſchwer ernähren können und es vorziehen, auf öffentliche Koſten wie-
der heimzukehren.


258.

Die Conſuln der Seeſtädte und der an Flüſſen oder Binnenſeen
[157]Völkerrechtliche Organe.
gelegenen Städte, welche mit dem Seeverkehr in Verbindung ſind, üben
innerhalb gewiſſer Schranken eine Schiffspolicei aus bezüglich der Handels-
und Verkehrsſchiffe ihrer Landsleute.


Sie prüfen und viſiren die Schiffspapiere und ertheilen die erforder-
lichen Beſcheinigungen zum Ein- und Auslauf.


Dieſe Schiffspolicei findet ihre Schranken a) in der Policeihoheit des States,
in deſſen Gebiet ſich die Schiffe finden, b) in der Rückſicht auf die nationalen In-
tereſſen, welche von dem Conſul im Ausland zu wahren ſind, c) darin, daß dieſelbe
ſich nur „innerhalb des Schiffsraums“ geltend machen kann.


259.

Bei Streitigkeiten zwiſchen dem Schiffscapitän und den Schiffsleuten
(Matroſen oder Paſſagieren) üben ſie das Vermittleramt aus und ſind
berechtigt, erhebliche Thatſachen feſtzuſtellen und zu beurkunden, und uner-
läßliche Vorſichtsmaßregeln zu treffen zum Behuf des Rechtsſchutzes.


Dieſe vermittelnde Stellung wird von dem Conſul auf Anſuchen einer der
beiden Parteien eingenommen, die ſchiedsrichterliche (§ 253) nur im Einverſtändniß
beider Parteien. Das deutſche Handelsgeſetzbuch ertheilt den Conſuln ſogar eine
proviſoriſche Gerichtsbarkeit über die Schiffsmannſchaft (Art. 537).


260.

Die Gebiets- und Gerichtshoheit über die fremden Schiffe in ein-
heimiſchen Häfen kommt in der Regel dem einheimiſchen State zu. Aber
ſoweit die Streitigkeiten auf das Schiff und die darauf fahrenden Per-
ſonen beſchränkt ſind, die Ordnung des Landes oder Hafens nicht gefährdet
erſcheint und die einheimiſche Behörde nicht um ihr Einſchreiten angerufen
wird, kann der Conſul auch eine Disciplinargewalt üben und das Nöthige
im Intereſſe der guten Ordnung und des Friedens anordnen.


Es kann ein ſolches Einſchreiten des Conſuls wichtig werden z. B. in Fällen
von Inſubordination der Matroſen oder Unfügſamkeit der Paſſagiere auf den Schiffen
oder gegenüber von Willkürlichkeit, Grauſamkeit oder Sorgloſigkeit eines Schiffs-
capitäns. Der Conſul erſcheint dabei immerhin als eine ſtatlich anerkannte und er-
mächtigte Autorität, welche in Ermanglung der Landesautorität die ſtatliche Ordnung
und Sorge darſtellt und handhabt. Die Grenze ſolcher Disciplinargewalt iſt nicht
überall dieſelbe, ſie verſchiebt ſich nach den beſondern Landesſitten und Umſtänden.
In einem civiliſirten Lande wird ſie enger zu bemeſſen ſein, als an einer barbariſchen
Küſte oder unter Wilden, wo es überhaupt an einer wirkſamen Statsgewalt fehlt.
Vgl. unten IV. 323.


[158]Drittes Buch.
261.

Wenn Matroſen deſertiren, ſo kann der Conſul die Landesbehörden
angehen, daß dieſelben wieder eingefangen und auf das Schiff zurück-
gebracht werden.


Die Gefahren für die Schiffahrt und die daran geknüpften Intereſſen ſind in
dieſem Falle ſo groß, daß ſie einen perſönlichen Zwang gegen deſertirende Matroſen
rechtfertigen. Der Conſul iſt aber wieder berufen, in dieſem Nothfalle dem Schiffs-
führer hülfreich beizuſtehn.


262.

Die Conſuln ſind auf Begehr der Betheiligten verpflichtet, den See-
ſchaden ſowohl der großen (gemeinſchaftlichen) als der beſonderen Haverei,
ſoweit derſelbe aus dem thatſächlichen Zuſtande erſichtlich iſt, zu conſtatiren,
nöthigenfalls mit Zuzug von Sachverſtändigen und darüber Urkunde aus-
zuſtellen.


Als große Haverei verſteht man „alle Schäden, welche dem Schiff oder
der Ladung oder beiden zum Zweck der Errettung beider aus einer gemeinſamen
Gefahr von dem Schiffer oder auf deſſen Geheiß vorſätzlich zugefügt werden, ſowie
auch die durch ſolche Maßregeln ferner verurſachten Schäden und die Koſten, welche
zu dieſem Zweck aufgewendet werden“. Begriffsbeſtimmung des deutſchen Handels-
geſetzbuchs Art. 702. Die große Haverei wird von Schiff, Fracht und Ladung ge-
meinſchaftlich getragen. Anderer durch einen Unfall verurſachter Seeſchaden wird als
beſondere Haverei betrachtet (Deutſches Handelsg. Art. 703) und von den
Eigenthümern des Schiffs und der Ladung von jedem einzeln für ſich getragen.


263.

Sie ertheilen nach Bedürfniß Ermächtigung zu den nöthigen Schiffs-
reparaturen und wenn das Schiff ſeeuntüchtig iſt, ſelbſt zum Verkaufe
desſelben.


Natürlich wieder unter der Vorausſetzung, daß nicht der Schiffseigenthümer
ſelber zur Stelle iſt oder ſein Bevollmächtigter für ihn handeln kann.


264.

Im Falle eines Schiffbruchs in dem Bereich oder in der Nähe
ihres Conſulats ſind ſie ermächtigt, Alles zu verfügen, was nöthig iſt, um
die ſchiffbrüchigen Perſonen zu retten und von Schiff und Ladung möglichſt
viel Vermögen zu bewahren. Zu dieſem Behuf können ſie auch den Ver-
kauf der geborgenen Güter vornehmen und haben im Nothfall die Liqui-
dation zu beſorgen oder zu überwachen. Sie haben darüber durch Ver-
[159]Völkerrechtliche Organe.
mittlung ihrer Regierung den Betheiligten Rechnung abzulegen, und ſind
denſelben für getreue Geſchäftsführung verantwortlich.


Bei Schiffbrüchen wird das Bedürfniß einer Nothhülfe in höchſtem Maße
fühlbar. Um deßwillen wird auch die Thätigkeit der Conſuln hier beſonders ange-
ſtrengt, und ihre Vertretungsvollmacht in weiteſtem Umfange ausgelegt.


265.

Je nach ihrem Landesrecht ſind die Conſuln berechtigt, den Civil-
ſtand ihrer Landsleute zu beurkunden und die Standesregiſter zu führen.
Sie nehmen demgemäß Act von Geburten und Todesfällen ihrer Lands-
leute und wirken nach Umſtänden bei Eheſchließungen mit, an der Stelle
des bürgerlichen Beamten.


Ob und in welchen Formen die Conſuln auch die Functionen des Civilſtands-
beamten
im Auslande zu beſorgen haben, hängt freilich zunächſt von ihren beſon-
deren Inſtructionen und der Beſchaffenheit des Landesrechts ab, welches für die
Statsgenoſſen dieſe Dinge regelt. Wo die Civilſtandsbücher nach der Weiſe des
Mittelalters noch vorzugsweiſe oder ausſchließlich durch die Geiſtlichen beſorgt wer-
den, da wird jene Thätigkeit weniger in Anſpruch genommen werden, als wo das
Syſtem der bürgerlichen Standesbücher durchgeführt iſt.


266.

Nur ausnahmsweiſe, in Folge beſonderer Ermächtigung ihrer Stats-
gewalt, ertheilen ſie auch Volljährigkeitserklärungen.


Das iſt ein Act der Statsgewalt im Sinn der jurisdictio; und dieſe hat
der Conſul in der Regel nicht zu üben. Indeſſen wird angenommen, wenn der
ernennende Stat die Ermächtigung dazu gebe, habe der Stat des Conſulatsſitzes
kein Intereſſe, einer ſolchen — weſentlich privatrechtlichen — Verfügung entgegen
zu treten. Daher bedarf es keiner beſondern Erlaubniß desſelben.


267.

Den Conſuln wird das Recht der Exterritorialität nicht zugeſtanden.
Auch ſind ſie in der Regel von der Ortsgerichtsbarkeit nicht befreit. Sie
haben keinen beſondern Anſpruch auf Steuerbefreiung.


Weil ſie nicht den Stat repräſentiren, ſondern, wenn auch im Namen und
Auftrag eines fremden Stats hauptſächlich Privatintereſſen vertreten, ſo kom-
men ihnen die Privilegien der Geſanten nicht zu.


268.

Indeſſen erfordert die internationale und die völkerrechtliche Bedeutung
[160]Drittes Buch.
des Conſulats eine ſchonende Rückſicht auf die Würde des Amts und die
Sicherung ſeiner Wirkſamkeit. Insbeſondere iſt eine Verhaftung des Conſuls
nur im Nothfall zuläſſig und ſind ſeine Amtspapiere vor unberufener
Durchſicht zu bewahren.


Oefter iſt für die Conſuln die Befreiung von jeder Haft gefordert worden.
Indeſſen ohne zureichenden Grund. Wenn der Conſul eines Vergehens angeklagt
wird, ſo wird auf den Stat, der ihm das Amt übertragen hat, inſoweit Rückſicht
zu nehmen ſein, als die Intereſſen des Amts und die Ehre des Stats es erfordern;
weiter nicht. Im Uebrigen geht der Proceß in gewohntem Gange fort. Es wird
unter Umſtänden rathſam ſein, den Conſul nur in ſeiner Wohnung bewachen zu
laſſen, ſtatt in ein öffentliches Gefängniß abzuführen, bis auch der Auftrag gebende
Stat unterrichtet ſein und Vorſorge für eine andere Vertretung getroffen haben wird.


269.

Die Conſuln chriſtlicher Staten in nicht chriſtlichen Ländern erhalten
gewöhnlich weiter gehende Vollmachten auch der Gerichtsbarkeit und haben
dann Theil an einer ausgedehnteren Immunität, ähnlich den Geſchäfts-
trägern.


Der Grund liegt in der größeren Verſchiedenheit der ganzen Stats- und
Rechtsordnung. Sie läßt es als ein Bedürfniß erſcheinen, daß über die Unterthanen
der erſtern Staten nicht eine völlig fremdartige Gerichtsbarkeit geübt, ſondern ihre
Rechtsverhältniſſe mehr nach ihrem heimiſchen Rechte beurtheilt werden. Zu den
Conſulaten in der Levante und in den Mohammedaniſchen Staten des Mittel-
meers
kommen in neuerer Zeit auch die Conſulate in China und Japan und
auf den Inſeln des chineſiſchen und ſtillen Weltmeers hinzu. Dieſe Conſuln re-
präſentiren dann als Träger der Gerichtsbarkeit auch den Stat in höherm Grade
als die gewöhnlichen Conſuln, wenn gleich noch in minderem Grade als die eigent-
lichen Geſanten. Daher rechtfertigt ſich eine mäßige Ausdehnung der Privilegien der
Geſanten auf ſie.


270.

Es iſt Sache des Stats, welcher den Conſul beſtellt, ſei es demſel-
ben eine Beſoldung auszuſetzen, ſei es die Gebühren zu beſtimmen, welche
derſelbe für ſeine Verrichtungen erheben darf.


Die einen Conſuln ſind beſoldet, die andern nicht. Daß der Ernennungs-
ſtat
das zu beſtimmen hat, iſt ſelbſtverſtändlich. Aber auch das Recht, die Gebüh-
ren
für die Amtsverrichtungen feſtzuſetzen, ſteht dieſem State zu und es wird
darin nicht ein Eingriff in die ausſchließliche Finanzhoheit der Ortsregierung ge-
ſehen, weil dieſe Verrichtungen ſich immer nur auf fremde Perſonen beziehen, welche
die Thätigkeit des Conſuls in Anſpruch nehmen.


[161]Völkerrechtliche Organe.
271.

Ebenſo ordnet der Ernennungsſtat die Rangclaſſen ſeiner Conſuln.
Die Errichtung eines Generalconſulats, welchem andere Conſulate unter-
geordnet werden, bedarf der Zulaſſung des States, in dem dasſelbe ge-
gründet wird.


Die Unterſcheidungen der Generalconſuln, ferner der Conſuln erſter
und zweiter Claſſe und der Viccconſuln haben großen Theils ihre Bedeutung
in der verſchiedenen Rangſtufe, weniger in der Verſchiedenheit der Functionen und
Aufgaben. Indeſſen kann ein Verhältniß der Ueber- und Unterordnung ſtattfinden.
Insbeſondere üben die Generalconſuln gewöhnlich eine Aufſicht über die andern Con-
ſulate eines beſtimmten Bereiches aus; und nehmen die bloßen Conſularagenten
überhaupt keine ſelbſtändige Stellung ein, ſondern ſind Hülfsarbeiter eines
Conſuls.


272.

Die Conſuln ſind berechtigt, ihre Wohnung mit dem Wappen und
der Flagge ihres States zu bezeichnen und damit ihren völkerrechtlichen
Charakter auch dem Publicum gegenüber darzuſtellen.


273.

Die Statsgewalt, welche den Conſul beſtellt, kann jederzeit ihren
Auftrag zurückziehen. Solches iſt aber der Regierung des Aufnahmeſtates
anzuzeigen.


Damit erlöſcht auch die Wirkſamkeit des Exequatur von Rechtswegen.


274.

Ebenſo kann die Statsgewalt des Conſulatſitzes ihr Exequatur wider-
rufen, wenn dafür ernſte Gründe vorhanden ſind. Sobald dem Conſul
das zur Kenntniß gekommen iſt, hat er ſeine amtlichen Verrichtungen ein-
zuſtellen.


275.

Gehört der Conſul nicht dem Lande des Conſulatſitzes an, ſo iſt
der Aufnahmeſtat verpflichtet, auch für ſichern Wegzug des abberufenen
oder entlaſſenen Conſuls zu ſorgen.


Vgl. zu 125.


Bluntſchli, Das Völkerrecht. 11
[[162]][[163]]

Viertes Buch.
Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.


1. Bedeutung, Erwerb und Verluſt der Gebietshoheit.


276.

Die Statshoheit (Souveränetät) heißt in ihrer Anwendung auf
ein beſtimmtes, dem State zugehöriges Gebiet (Reich, Land) Gebietshoheit.


Die Gebietshoheit, als einzelne Anwendung der nach innen gerichteten
Souveränetät, iſt zunächſt ein Begriff des Statsrechts; aber inwiefern das Völ-
kerrecht dieſe Anwendung in den Verhältniſſen und Beziehungen der verſchiedenen
Staten anerkennt und ſchützt, erhält dieſelbe eine völkerrechtliche Bedeutung.


277.

In der Gebietshoheit liegt nicht das Eigenthum an dem Boden.
Inwiefern aber der Boden des Privateigenthums nicht fähig iſt, wie bei
öffentlichen Gewäſſern, Wüſten, Gletſchern und ähnlicher Wildniß, oder
wenn der Boden zwar des Eigenthums fähig aber noch nicht in Beſitz
genommen und zu Eigenthum erworben worden iſt oder wenn derſelbe
von den Beſitzern und Eigenthümern wieder verlaſſen worden und ins
Freie zurückgefallen iſt, inſoweit ſteht dem State, welcher die Gebietshoheit
hat, auch das Recht zu, über ſolchen Boden wirthſchaftlich zu verfügen, be-
ziehungsweiſe Eigenthum daran zu verleihen oder die Beſitznahme zu
gewähren.


11*
[164]Viertes Buch.

1. Die Gebietshoheit gehört dem öffentlichen, wie das Eigenthum dem Pri-
vatrecht
an und beide Arten der Herrſchaft treffen nicht zuſammen. Die Perſon, welcher
Gebietshoheit zukommt, iſt und kann nur ſein der Stat, weil nur der Stat die
öffentlichen Hoheitsrechte und daher öffentliche Herrſchaft hat. Dagegen das Eigen-
thum, welches nur Privatherrſchaft iſt, kommt umgekehrt nur den Privatper-
ſonen
zu, welche dasſelbe als Privatgut verwerthen können. Wenn der Stat zu-
fällig auch Privateigenthum hat, ſo hat er es nicht als Stat, ſondern ebenſo wie
jede andere Privatperſon und verfügt darüber in den Geſchäftsformen des Privat-
rechts.


2. Nur inſofern macht ſich die öffentlich-rechtliche Statsherrſchaft auch in
wirthſchaftlicher Richtung anſtatt des Eigenthums an ſolchem Boden geltend, an wel-
chem entweder Privateigenthum nicht möglich oder nicht (noch nicht oder nicht
mehr) vorhanden iſt. In der letztern Hinſicht freilich ſind zwei Meinungen mög-
lich und beide in der Rechtsbildung vertreten. Nach der einen iſt der eigenthums-
fähige
aber nicht im Eigenthum befindliche Boden als herrenloſe Sache zu
betrachten, welche durch freie Beſitznahme (occupatio) ins Eigenthum gelangt. Nach
der andern macht ſich die Gebietshoheit an dem eigenthümerloſen Boden nach allen
Seiten als urſprüglich ſtatliche Bodenherrſchaft geltend und kann daher
nicht Jedermann denſelben willkürlich ſich aneignen, ſondern bedarf man dazu der
Ermächtigung des Stats. War die erſte Meinung wenigſtens zum Theil in
dem alten römiſchen Recht anerkannt, ſo beherrſcht die letztere Meinung, welche
den germaniſchen Rechtsanſichten entſpricht, die moderne Welt. Am großartig-
ſten wird dieſelbe in den Colonien Englands und der Vereinigten Staten
von Nordamerika durchgeführt. Die Intereſſen einer geordneten und friedlichen
Beſitznahme und Cultivirung des Bodens werden offenbar durch die letztere Rechts-
bildung beſſer geſchützt und gefördert als durch die erſtere.


Der unwirthliche, des Eigenthums unfähige Boden kann auch nicht im
Eigenthum des Stats ſein, obwohl man die Hoheit des Stats darüber, insbeſondere
über die öffentlichen Gewäſſer oft Eigenthum nennt. Die Grenzen des wirthlichen
Bodens werden aber durch die fortſchreitende Cultur auf Koſten des unwirthlichen
Gebietes beſtändig erweitert, und umgekehrt durch ſchlechte Cultur und Vernachläſſi-
gung wieder verengert. Insbeſondere übt eine geordnete Bewäſſerung und Entwäſ-
ſerung einen mächtigen Einfluß aus auf die Culturfähigkeit des Bodens.


278.

An ſtatenloſem Land wird die Gebietshoheit erworben durch die
Beſitznahme einer beſtimmten Statsgewalt. Der bloße Wille, Beſitz zu
ergreifen, genügt nicht dazu, auch nicht die ſymboliſche oder ausdrückliche
Erklärung dieſes Willens, noch ſelbſt eine bloß vorübergehende Beſetzung.


Zur Zeit der großen europäiſchen Entdeckungen überſeeiſcher Länder meinte
man, ſchon die bloße Entdeckung unbekannter Länder ſei ein genügender Rechts-
titel für die behauptete Gebietshoheit. Während Jahrhunderten begründete die eng-
[165]Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
liſche Krone ihre Herrſchaft über den nordamerikaniſchen Continent damit, daß in
ihrem Auftrag ein kühner Seefahrer, der Venetianer Caboto zuerſt, im Jahre
1496, die amerikaniſche Küſte vom 56ſten bis zum 38ſten Grad nördlicher Breite
entdeckt habe, wenn gleich er nur der Küſte entlang gefahren war und in keiner
Weiſe das ungeheure Land beſetzt hatte. Nicht anders leiteten die Spanier und
Portugieſen ihr Recht im Süden und in Centralamerika zunächſt von ihrer Ent-
deckung her und die Vertheilung der neuen Welt unter die beiden Völker, welche der
Papſt AlexanderVI. im Jahr 1493 vornahm, war eine Schlichtung und Aus-
gleichung ihrer ſtreitigen Anſprüche, und eine Beſtätigung ihrer auf die Entdeckung
eher als auf die Beſitznahme gegründeten Anſprüche durch die vornehmſte Autorität
der Chriſtenheit. Die Entdeckung iſt aber nur ein Act der Wiſſenſchaft, nicht
der Politik und daher auch nicht geeignet, Statsgewalt zu begründen. Viel-
mehr beſteht die öffentlich-rechtliche Beſitznahme in der thatſächlichen Aus-
übung der ordnenden und ſchützenden Statsgewalt
, verbunden mit
dem Willen, das ſtatenloſe Land auf die Dauer ſtatlich zu beherrſchen. Die
Symbole der Herrſchaft, wie Auſpflanzen einer Fahne u. dgl. können dieſe Abſicht
klar machen, aber nicht den Mangel einer realen Statsherrſchaft erſetzen.


279.

Dieſe Beſitznahme kann auch im Auftrag oder mit Vollmacht einer
Statsgewalt durch Privatperſonen, insbeſondere durch Coloniſten vollzogen
werden, aber nur, indem ſie in dem bisher ſtatenloſen Lande eine öffent-
liche Gewalt aufrichten oder ſogar ohne vorherigen Auftrag, aber unter
der Vorausſetzung nachheriger Genehmigung durch die Statsgewalt.


Die Erweiterung der europäiſchen Statsherrſchaft in den außereuropäiſchen
Ländern iſt großentheils durch ſolche Vermittlung der Coloniſten bewirkt
worden, welche ſich in unbewohnten und verlaſſenen Gegenden anſiedelten und ihre
heimiſche Statsordnung dahin verpflanzten. Der vorherige Auftrag des durch ſolche
Vermittler Beſitz ergreifenden Stats kann unbedenklich durch die nachherige Geneh-
migung erſetzt werden. Es hindert nichts, in dieſer Beziehung die Analogie der
privatrechtlichen Occupation anzuwenden. Auch kann im Princip nicht beſtritten
werden, daß ſogar ohne Statsvollmacht und Statsgenehmigung eine ganz neue
Statenbildung
dadurch entſtehen kann, daß Auswanderer auf einer unbewohnten
Inſel einen neuen Stat gründen, wie es z. B. die ausgewanderten Norweger
auf Island während des Mittelalters gethan haben. Eine Reihe neuer Staten in
Nordamerika ſind in dieſer Weiſe durch Privaten gegründet worden und erſt ſpäter
iſt die Anerkennung, früher des europäiſchen Mutterſtats, ſpäter der Amerikaniſchen
Union hinzugekommen. Wenn aber neue Staten ſo entſtehen können, ſo können
noch eher vorhandene Staten in dieſer Weiſe erweitert werden.


280.

Iſt die ſtatenloſe Gegend im Beſitz und Genuß von barbariſchen
[166]Viertes Buch.
Stämmen, ſo dürfen dieſelben nicht willkürlich und gewaltſam von den
civiliſirten Coloniſten verdrängt werden, ſondern ſind zum Behuf geregelter
Anſiedlung von denſelben friedlich abzufinden. Zum Schutze der Anſied-
lung und zur Ausbreitung der Cultur darf der coloniſirende Stat ſeine
Statshoheit auch über das von Wilden beſeſſene Gebiet erſtrecken.


Es iſt die Beſtimmung der Erdoberfläche, der menſchlichen Cultur zu
dienen
und die Beſtimmung der fortſchreitenden Menſchheit, die Civiliſation
über die Erde zu verbreiten
. Dieſe Beſtimmung iſt aber nicht anders zu
erfüllen, als indem die civiliſirten Nationen die Erziehung und Leitung der wilden
Stämme übernehmen. Dazu iſt die Ausbreitung der civiliſirten Statsautorität noth-
wendig. Die wilden, ohne Stat lebenden Stämme kennen gewöhnlich das Grund-
eigenthum ſo wenig als den Stat, aber ſie benutzen das Land zu ihren Viehweiden
und Jagdgründen. Ein Recht der höher geſitteten Nationen, ſie zu vertreiben, läßt
ſich durch Nichts begründen, ſo wenig als ein Recht, ſie zu tödten und auszurotten.
Das natürliche Menſchenrecht erkennt voraus die Exiſtenz aller menſchlichen
Weſen
an und ſchützt das Leben und die erlaubten Genüſſe des Wilden ſo gut,
wie das Eigenthum der Civiliſirten. Im Mittelalter noch waren die Chriſten ſehr
geneigt, alle Nichtchriſten als rechtloſe Weſen zu betrachten und die Päpſte haben
freigebig den Königen das Recht zugeſtanden, alle nichtchriſtlichen Nationen, ſelbſt
wenn dieſe in Staten lebten, ihrer Herrſchaft zu unterwerfen. Selbſt die heutige
Praxis verfährt gelegentlich, freilich nicht mehr aus religiöſer Ueberhebung, noch ſehr
rückſichtslos gegen unciviliſirte Raſſen. Das richtige Verhalten iſt aber ſchon ziemlich
früh erkannt und auch angewendet worden, beſonders von den Puritanern in
Neu-England und William Penn in Pennſylvanien, welche den In-
dianern den Boden abkauften, den ſie urbar machen und zu Grundeigenthum ge-
winnen wollten. Wenn erſt die rechtliche Möglichkeit der Anſiedlung
gewonnen iſt und in Folge deſſen ſtatliche Menſchen da leben können, dann iſt
auch die Nothwendigkeit klar, daß dieſe Anſiedlung ſowohl des Statsſchutzes als
der Sicherung des Grundeigenthums bedarf und die Wege zur Erziehung auch
der wilden Nachbarn ſind eröffnet. Wenn Heffter (§ 70) zwar anerkennt, daß „der
Stat überhaupt ſeine Herrſchaft über die Erde ausdehne“, aber nicht zugibt, daß ein
beſtimmter Stat ſich ſtatenloſen Stämmen aufdringen dürfe, ſo heißt das ein theo-
retiſches Princip anerkennen, aber ſeine practiſche Anwendung verwerfen, denn „der
Stat überhaupt“ lebt nur in der Geſtalt beſtimmter Staten. Wenn die deutſche
Nation ihren Culturberuf erfüllen und nicht immer wie bisher ihre auswandernden
Nachkommen zur Auflöſung in fremde Nationen verurtheilen will, ſo wird auch ſie
dem Vorbild der civiliſirten Weſtvölker folgen und nicht bloß „in abstracto“ denken,
ſondern ihren Stat „in concreto“ coloniſirend und civiliſirend ausbreiten. Vgl.
VattelI. 1. 5. 81. PhillimoreI. 244 f.


281.

Kein Stat iſt berechtigt, ein größeres unbewohntes oder unſtatliches
[167]Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
Gebiet ſich ſtatlich anzueignen, als er ſtatlich zu ordnen und zu civiliſiren
die Macht hat, und dieſe Macht thatſächlich ausübt.


Der Rechtsgrund der Occupation liegt nur in der ſtatlichen Natur und Be-
ſtimmung des Menſchengeſchlechts. Indem ein Stat, wie das von England in
Nordamerika und in Auſtralien, von Spanien und Portugal in Südamerika
und von den Niederlanden auf den Inſeln des ſtillen Oceans geſchehen iſt
ſeine angebliche Statsherrſchaft über unermeßliche, unbewohnte, oder nur
von Wilden bewohnte Länder erſtreckt, die er in Wahrheit weder zu cultiviren
noch ſtatlich zu beherrſchen die Macht hat, ſo wird jene ſtatliche und Culturbeſtim-
mung nicht erfüllt, ſondern im Gegentheil ihrem Fortſchritt ein Hemmniß ent-
gegengeſtellt, indem andere Nationen verhindert werden, ſich da anzuſiedeln und
andere Staten verhindert, ſich daſelbſt civiliſirend einzurichten. Nur die wahr-
hafte
und dauernde Beſetzung iſt als wirkliche Occupation zu betrach-
ten, die bloße ſcheinbare Occupation kann höchſtens den Schein des Rechts, nicht
wirkliches Recht gewähren. Ein Stat verletzt daher das Völkerrecht nicht, wenn er ſich
einer Gegend bemächtigt, welche nur angeblich und ſcheinbar von einem andern Stat
früher in Beſitz genommen worden iſt. Wenn auch darüber leicht Streit entſtehen
kann zwiſchen den beiden Staten, ſo iſt das nur eine politiſche Rückſicht, die zu
erwägen, nicht eine rechtliche Schranke, die zu beachten iſt.


282.

Geſchieht die Beſitznahme von der Seeküſte aus, ſo wird angenom-
men, daß das hinter der Küſte liegende Binnenland inſoweit mitbeſetzt ſei,
als es durch die Natur, insbeſondere durch die ins Meer einmündenden
Flüſſe mit derſelben zu einem natürlichen Ganzen verbunden iſt.


Dieſer Grundſatz wurde von den Vereinigten Staten in einer Verhand-
lung mit Spanien über das Gebiet von Louiſiana am beſten ausgeſprochen. (Vgl.
PhillimoreI. 237.) Die europäiſchen Colonien gingen gewöhnlich von einem
Seehafen der Küſte aus, welcher dann als das eigentliche Centrum der ganzen
Colonie und der Herrſchaft über das Land angeſehen wurde. Eine engere Beſchrän-
kung iſt ebenſo unpractiſch, wie eine weitere Ausdehnung, jene weil die Civiliſation
und Statenbildung genöthigt iſt, von da aus ihre Macht zu erſtrecken und das Hin-
terland und Flußgebiet genöthigt iſt, auf dieſem Wege in den Verkehr mit andern
Nationen einzutreten, und dieſe, weil je größer die Entfernungen ſind und je weiter
die Länder ſich im Innern erſtrecken, auch der Zuſammenhang mit der Küſte ſchwä-
cher wird und ganz neue ſelbſtändige Verhältniſſe möglich ſind. Der obige Grund-
ſatz hat daher auch keine abſolute, ſondern nur eine relative Geltung. Wo große
Ströme, wie der Miſſiſippi, einen ganzen Continent durchfließen, kann aus dem
Beſitz der Mündung natürlich nicht die Herrſchaft über das ganze Flußgebiet
abgeleitet werden. In der alten Welt ſehen wir oft, daß umgekehrt von den Quel-
[168]Viertes Buch.
len der Flüſſe her allmählich das Statsgebiet ſich über deren Gebiet und bis an die
Mündung ausgedehnt hat. Von den Quellen des Indus und Ganges her iſt
die alte indiſch-ariſche Eroberung allmählich vorgedrungen bis ans Meer. Am
Oberrhein ſetzten ſich die alten Germanen früher feſt, als an den Ausläufen des
Rheins ins Meer und der öſterreichiſch-ungariſche Donauſtat iſt nicht im Beſitz
der Sulinamündungen. Die Behauptung engliſcher Publiciſten und Statsmänner,
daß England im Beſitz der amerikaniſchen Seeküſte auch eine Herrſchaft habe über
den ganzen nördlichen Continent Amerikas, von Meer zu Meer, war
offenbar phantaſtiſch übertrieben und wurde von den andern coloniſirenden Mächten
auch nicht anerkannt.


283.

Wenn zwei Staten von zwei benachbarten Punkten aus ſich coloni-
ſirend feſtſetzen und ſtatlichen Beſitz ergreifen und nicht durch die Rückſicht
auf den natürlichen innern Zuſammenhang zweier verſchiedener Flußgebiete
und eine Bergſcheide ihre Gebiete ſich naturgemäß unterſcheiden, ſo wird
eine mittlere Linie zwiſchen den beiden Gebieten als Grenze angenommen.


Vgl. Phillimore a. a. O. Selbſtverſtändlich kann vertragsmäßig auch
eine andere Grenzlinie verabredet werden.


284.

Das Statsgebiet iſt in der Regel unveräußerlich und untheilbar.


Die Veräußerlichkeit und die Theilbarkeit des Statsgebiets wider-
ſtreitet der organiſchen Natur der Dauerhaftigkeit und der Einheit des Stats. Weil
das Statsbewußtſein im Mittelalter wenig ausgebildet war und das Statsgebiet
wie ein im Eigenthum des Landesherrn befindliches Grundſtück betrachtet wurde, ſo
meinte man damals Territorien, wie Landgüter verkaufen und unter mehrere Erben
vertheilen zu dürfen. Freilich ſchon damals ſuchten die Stände oft ſolchen Uebeln
durch Verträge zu begegnen, welche ſie mit den Fürſten abſchloſſen. Aber nur all-
mählich iſt die richtige Regel erkannt und in das allgemeine Statsrecht der neuern
Zeit aufgenommen worden.


285.

Ausnahmsweiſe kann ein Stat einen Theil ſeines Gebiets aus poli-
tiſchen Gründen und in öffentlich-rechtlicher Form an einen andern Stat
abtreten.


Es iſt das nicht eine ſachliche, dem Privatverkehr entlehnte Veräußerung,
ſondern eine ſtatliche, in Inhalt und Form öffentlich-rechtliche Abtretung. Am
[169]Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
öfterſten kommt dieſelbe in Friedensſchlüſſen, nachdem ein Krieg die politi-
ſche Nothwendigkeit derſelben klar gemacht hat. Sie kann aber auch ohne Krieg aus
Einſicht in die politiſche Zweckmäßigkeit und freiwillig vollzogen werden. Eines der
merkwürdigſten und rühmlichſten Beiſpiele dieſer Art iſt im Jahr 1863 die Abtre-
tung der Joniſchen Inſeln an das Königreich Griechenland von Seite der
engliſchen Krone. Andere neuere Beiſpiele einer friedlichen Abtretung ſind die
Abtretungen Savoyens an Frankreich 1860 von Seite Italiens, die des
öſterreichiſchen Antheils an dem Fürſtenthum Lauenburg an Preußen
1865 und die der ruſſiſchen Beſitzungen in Nordamerika an die Vereinigten
Staten
1867.


286.

Die Rechtsgültigkeit einer derartigen Abtretung ſetzt voraus:


  • a) die zuſammenſtimmende politiſche Willenserklärung ſowohl des
    abtretenden als des empfangenden States,
  • b) die thatſächliche Beſitzergreifung von Seite des erwerbenden
    States,
  • c) mindeſtens die Anerkennung von Seite der politiſch berechtigten
    Völkerſchaft, welche das abgetretene Gebiet bewohnt und nun in
    einen neuen Stat übertritt.

Durch den Vertrag allein wird die Abtretung nicht vollzogen, ſondern nur
vorbereitet. Ohne Statsregierung gibt es keine Statshoheit. Die letz-
tere muß alſo durch die erſtere bewährt werden und das geſchieht durch die dauernde
Beſitzergreifung. Die Anerkennung der politiſch berechtigten Völkerſchaft iſt deß-
halb unerläßlich, weil dieſelbe nicht ein willen- und rechtloſer Gegenſtand der Ver-
äußerung iſt, ſondern ein lebendiger Beſtandtheil des Stats, und der Widerſtand der
Bevölkerung eine friedliche Beſitzergreifung unmöglich macht. Es genügt aber die
Anerkennung der Nothwendigkeit, und es iſt nicht nöthig, wenn auch wün-
ſchenswerth, die freie und freudige Zuſtimmung der Bevölkerung. Auch die Noth-
wendigkeit, der man ſich widerwillig und ungern, aber aus Einſicht in das Unver-
meidliche unterordnet, begründet in öffentlichen Verhältniſſen neues Recht. Dieſe
Anerkennung liegt daher ſchon in dem Gehorſam, welchen man der neuen Landes-
regierung erweist und in dem Unterlaſſen des Widerſtandes gegen dieſelbe.
Die freie Zuſtimmung dagegen iſt zugleich eine active Billigung der Abtretung.
Beſſer iſt es unzweifelhaft, wenn die letztere gewonnen werden kann und der erwer-
bende Stat nicht genöthigt iſt, ſich vorerſt mit der erſtern zu begnügen. Vgl. unten
§ 288. 289.


287.

Wird das ganze Statsgebiet abgetreten, ſo iſt das zugleich Unter-
[170]Viertes Buch.
gang des bisherigen Stats und Einverleibung desſelben in den erwerben-
den Stat.


Es iſt das daher ſtrenge genommen nicht mehr Abtretung, ſondern nur Ein-
verleibung
. Den Schein der Abtretung hat dieſelbe, inſofern ſie in Form der
Abtretung der Hoheitsrechte von Seite des bisherigen Fürſten an ein anderes Stats-
haupt geſchieht, wie z. B. in der rühmlichen Abtretung der Hohenzolleriſchen Fürſten-
thümer an die Krone Preußen. Aber dem Weſen nach iſt das Einverleibung, weil
im entſcheidenden Augenblick des Uebergangs nur Ein Stat übrig bleibt.


288.

Ohne Uebertragung des abtretenden Stats kann ein Statsgebiet,
oder ein Theil desſelben von einem andern State in Beſitz genommen und
rechtmäßig einverleibt werden:


  • a) in Folge der Verzichtleiſtung der bisherigen Statsgewalt auf die
    Statsherrſchaft,
  • b) in Folge der wohlbegründeten Beſeitigung der bisherigen Stats-
    gewalt durch die Bevölkerung und des freien Anſchluſſes derſelben
    an den erwerbenden Stat,
  • c) in Folge des nothwendigen Fortſchritts in der Entwicklung eines
    nationalen Stats.

In allen dieſen Fällen iſt die Anerkennung der neuen Statsgewalt
durch die politiſch berechtigte Bevölkerung des erworbenen Gebiets eine
Bedingung des rechtmäßigen Erwerbs.


1. Dieſe Anerkennung (vgl. zu § 189) iſt nicht nöthig zu thatſächlicher Un-
terwerfung und Beherrſchung, aber ſie iſt nothwendig, um dem neuen Erwerb den
Stempel des Rechts aufzudrücken. In der Anerkennung wird die dauernde Noth-
wendigkeit d. h. das Recht
der veränderten Zuſtände offenbar.


2. Dem ausgeſprochenen Verzicht ſteht das thatſächliche Verlaſſen des beſeſſe-
nen Gebietstheiles gleich.


Als die Römer ihre Beamten und ihre militäriſchen Stationen aus den
Germaniſchen Ländern hinter die Grenzwälle und den Rhein zurückzogen, war das
ein thatſächlicher Verzicht auf ihre Herrſchaft außerhalb dieſer Grenzen. Wenn ein
moderner coloniſirender Stat eine bisher beſetzte Inſel oder Küſtengegend, ohne für
den Statsſchutz zu ſorgen, verläßt, ſo kann ein anderer Stat rechtmäßiger Weiſe ſich
dieſes Gebiets bemächtigen.


3. Wohlbegründet iſt die Beſeitigung der bisherigen Statsherrſchaft, wenn
dieſelbe in einen ernſten und dauernden Widerſpruch gerathen iſt mit dem Recht oder
mit der Wohlfahrt der Bevölkerung, ſo daß die geſicherte Exiſtenz oder die Entwick-
lung derſelben eine Aenderung fordert, oder wenn dieſelbe nothwendig erſcheint, um
[171]Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
den Fortſchritt einer größeren (nationalen) Lebensgemeinſchaft möglich zu machen,
zu welcher die Bevölkerung ſich verwandt und zugehörig fühlt. Beiſpiele ſind in
neuerer Zeit die Beſeitigung des ſouveränen Fürſtenthums Neuchatel und
der Eintritt dieſes Cantons in den ſchweizeriſchen Bundesſtat, und noch
deutlicher die Einverleibung der italieniſchen Fürſtenthümer Toscana, Mo-
dena und Parma
in das Königreich Italien.


4. Wenn ſich ein neuer Stat bildet, vielleicht aus einer größern Zahl von
verbundenen alten Staten, oder aus Stücken derſelben, ſo entſteht immer zugleich eine
neue Gebietshoheit jenes Stats und eine theilweiſe oder gänzliche Verdrängung der
bisherigen Gebietshoheit der alten Staten. Die Grundſätze über neue Statenbildung
und Anerkennung neuer Staten (§ 28 ff.) finden ſomit hier wieder Anwendung.
Ganz wie die urſprüngliche Statenbildung, ſo iſt auch die Statsentwicklung, ſobald
ſie als nothwendig ſich erweist, geeignet, eine bisherige Gebietshoheit zu Gunſten
einer neuen Statshoheit zu beſeitigen. Dieſe Umgeſtaltung kann möglicher Weiſe
von der Bevölkerung der einverleibten Theile nicht gewünſcht werden und dennoch
nothwendig und deßhalb gerechtfertigt ſein. Die Säculariſation
der geiſtlichen Fürſtenthümer in Deutſchland und die Einverleibung ihrer
Gebiete in die benachbarten Staten zu Anfang dieſes Jahrhunderts, die gleichzeitige
Mediatiſirung zahlreicher bisher reichsunmittelbarer Herrſchaften, und wenig-
ſtens theilweiſe auch die im Jahr 1866 vollzogene Einverleibung von Hannover,
Kurheſſen, Naſſau, Schleswig-Holſtein
und Frankfurt in Preußen
ſind aus dieſer nothwendigen Entwicklung des modernen deutſchen
Statslebens
zu erklären. Indem ſich die Nation als Eins fühlt, und zum
Volke wird, ſchafft ſie ſich mit Recht die Bedingungen ihres ſtatlichen Geſammt-
lebens, und es ſteht den Theilen das Recht nicht zu, das Leben des
Ganzen zu verhindern
.


289.

Obwohl die Eroberung eines ſtatlichen Gebietstheils im Krieg zunächſt
in der Form kriegeriſcher Gewalt vollzogen wird, ſo begründet ſie dennoch
die Statshoheit über das eroberte Gebiet und wird als rechtmäßige Er-
werbart betrachtet, inſofern durch den Friedensſchluß oder auch ohne ſolchen
durch Aufhören des Widerſtandes und Anerkennung von Seite der politiſch
berechtigten Bevölkerung die Fortdauer des neuen Statsverbandes als noth-
wendig ſich darſtellt.


Von Alters her wird die Eroberung als Begründung einer neuen Stats-
hoheit des Siegers über das eroberte Gebiet betrachtet, und man beruft ſich dabei
auf den Consensus gentium. Trotzdem ſträubt ſich das feiner empfindende
Rechtsgefühl der heutigen Menſchheit gegen dieſe Annahme; denn die Eroberung
erſcheint zunächſt in der Geſtalt eines Gewaltacts und nicht als Rechtsact.
Die Gewalt iſt aber keine natürliche Rechtsquelle, ſondern umgekehrt das Recht hat
[172]Viertes Buch.
die Aufgabe, der Gewalt Schranken zu ſetzen. In der That hat die Eroberung, in-
ſofern ſie nur als phyſiſche Unterwerfung mit Gewalt unter die Herrſchaft des Sie-
gers erſcheint, für ſich die Kraft nicht, neues Recht zu ſchaffen, außer höchſtens das
vorübergehende Nothrecht des Kriegs. Damit die Eroberung Recht bil-
dend wirke, muß noch ein anderes rechtliches Moment zu dem der thatſächlichen
Ueberlegenheit des Siegers hinzukommen, es muß insbeſondere die Nothwendig-
keit der Umgeſtaltung
offenbar geworden ſein. Dann ergibt ſich daraus, daß
jene Gewalt ſelbſt nicht rohe und bloße Gewalt war, ſondern daß ſich in ihr die
Macht der natürlichen Verhältniſſe und ihrer Entwickelung gezeigt
habe, und in dieſer Macht iſt allerdings der ſtärkſte Trieb zu ſtatlicher Rechtsbildung
zu erkennen. Das wird im Friedensſchluß voraus klar gemacht; denn indem
die kriegführenden Parteien Frieden ſchließen, erkennen ſie die dauernde Nothwendig-
keit der im Frieden bekräftigten Ordnung an. Dem Frieden ſteht aber die Aner-
kennung
der Bevölkerung beziehungsweiſe das gänzliche Erlöſchen jedes Wider-
ſtands gleich. Die offenbar gewordene Unfähigkeit und Unmöglichkeit, den Kampf
fortzuſetzen oder zu erneuern, macht jene Recht bildende Macht ebenfalls offenbar.
Die Ausdehnung ſchon der alten Jüdiſchen Statshoheit über Paläſtina iſt in
grauſamſter und roheſter Form der Eroberung vollzogen worden und dennoch in
ihrem Erfolg anerkannt worden. Die Gründung der meiſten germaniſchen
Staten auf römiſchem Boden iſt ebenſo durch Eroberung geſchehen und öfter durch
Anerkennung der Bevölkerung als durch Friedensſchlüſſe beſtätigt worden.


290.

Auch wenn es an einem beſondern Rechtstitel für den Erwerb fehlt
oder ſogar erweislich die anfängliche Beſitznahme gewaltſam und mit Ver-
letzung des Rechts vollzogen worden iſt, aber der Beſitzſtand ſo lange Zeit
ruhig fortdauert, daß derſelbe nunmehr von dem Bewußtſein des Volks
als fortdauernd nothwendig anerkannt wird, ſo iſt anzunehmen, der ur-
ſprüngliche Gewaltzuſtand ſei von der reinigenden Macht der Zeit in den
entſprechenden Rechtszuſtand umgewandelt worden.


Eine Verjährung in dieſem Sinne, freilich ohne daß eine beſtimmte An-
zahl Jahre wie in der privatrechtlichen Erſitzung fixirt werden kann, und ohne daß
die privatrechtlichen Bedingungen dafür gelten, iſt völkerrechtlich geradezu unentbehr-
lich, wenn nicht die Entwicklung der geſchichtlichen Statenbildung und Statenerwei-
terung einer nie endenden Beſtreitung Preis gegeben werden ſoll. Dieſelbe iſt denn
auch in der Hauptſache ſchon von Hugo GrotiusII. 4,1 als nothwendig erklärt
worden. Nur indem die reinigende und Recht bildende Macht der Zeit anerkannt
wird, kann das Gefühl der Rechtsſicherheit unter den Völkern befeſtigt und der all-
gemeine Friede geſichert werden. Vgl. oben § 37. 38. PhillimoreI. 255 ff.


[173]Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
291.

Ueberhaupt iſt jede neue Statenbildung zugleich Begründung einer
neuen Gebietshoheit.


Vgl. darüber oben § 28 f. Die Gebietshoheit iſt nur eine einzelne Eigen-
ſchaft und Richtung der Statshoheit, und dieſe die folgerichtige Eigenſchaft der
Exiſtenz des Stats.


292.

Die Formen des privatrechtlichen Verkehrs und der privatrechtlichen
Willenserklärung in Kauf- und Tauſchverträgen, Zufertigung im Grund-
buch, Verpfändung, Erbeinſetzung und Vermächtniß, Erbvertrag, obwohl
im Mittelalter vielfältig auch auf die Landesherrſchaft angewendet, ſind
nicht mehr anwendbar auf den Erwerb moderner Statshoheit.


Ein Tauſch iſt heute noch möglich, aber nur in völkerrechtlicher und ſtats-
rechtlicher Form, z. B. in einem Friedens- oder einem andern Statsvertrag, nicht
mehr in privatrechtlicher Form. Der Verkauf dagegen, durch welchen auf der einen
Seite die Statshoheit veräußert und auf der andern Seite dafür eine Summe
Geldes bezahlt wird, iſt unſers Zeitalters unwürdig. Wohl aber laſſen ſich ſchick-
licher Weiſe auch mit ſtatsrechtlich und völkerrechtlich motivirten Abtretungen Geld-
leiſtungen verbinden
. Weil die Gebietshoheit kein Privatrecht, kein Eigenthum
iſt im privatrechtlichen Sinn, ſondern Statsrecht, ſo paſſen auch die von der Privat-
willkür benutzten Formen des Privatrechts nicht auf die Regulirung dieſer öffent-
lichen Verhältniſſe.


293.

Das Erbrecht dynaſtiſcher Häuſer kann inſofern noch den rechtmäßigen
Erwerb einer Statshoheit begründen, als dasſelbe zugleich als Thronfolge-
recht eine verfaſſungsmäßige Geltung hat oder die Anerkennung der poli-
tiſch berechtigten Bevölkerung hinzutritt.


Am längſten haben ſich die mittelalterlichen Anſichten eines Familienerbrechts
in den dynaſtiſchen Häuſern und vorzüglich noch in den Anſchauungen deut-
ſcher Volksſtämme
erhalten. In unſern Tagen glaubte man noch, freilich zum
Erſtaunen fremder Völker, in Deutſchland die Frage des Erbrechts in den Nord-
albingiſchen Herzogthümern Schleswig und Holſtein weſentlich aus dem verwickelten
Studium des mittelalterlichen Privatfürſtenrechts allein entſcheiden zu können. Das
Thronfolgerecht in dem modernen State aber iſt nichts als ein Stück Statsver-
faſſung
und ganz denſelben Umgeſtaltungen und Veränderungen ausgeſetzt wie
dieſe. Da Niemand einen privatrechtlichen Anſpruch auf die Regierung eines Volkes
[174]Viertes Buch.
hat, noch in dem entwickelten State haben kann, ſondern alle Thronfolge ſtatsrecht-
liche Succeſſion iſt, ſo legt die moderne Rechtsbildung den dynaſtiſchen Erbanſprüchen
nur dann Wirkſamkeit bei, wenn ſie auch in der Statsverfaſſung begründet ſind
oder allgemeine Anerkennung im Lande finden und keine öffentlichen Rechtsgründe
entgegenſtehen.


294.

Das beſtehende Statsgebiet kann erweitert werden durch Zuwachs,
insbeſondere durch Erhebung der Seeküſte durch Aufſchwemmungen, oder
durch künſtliche neue Anlagen und Bauten auf bisher unſtatlichem Boden.
Es kann ebenſo vermindert werden durch Verſenkung der Küſte, durch
Wegſchwemmung der Ufer und durch erneuerte Verödung und Rückzug der
ſtatlichen Cultur.


Die einen Erweiterungen und Verminderungen des Statsgebiets ſind eine
nothwendige Wirkung der Natur, die andern das freie Werk der
Menſchen
. Da das Meer nicht Statsgebiet, ſondern frei von jeder Statsgewalt
iſt, ſo verändert naturgemäß der Rückgang oder das Vordringen des Meers auch
den Umfang des Statsgebiets. Bedeutende Aenderungen der Art ſind noch in ge-
ſchichtlicher Zeit, größere freilich in vorgeſchichtlicher Zeit vorgekommen und im Klei-
nen ſind fortwährend Aenderungen wahrzunehmen. Die Veränderungen, welche der
Menſch durch Uferbauten oder durch Cultivirung am Wüſtenrande verwirkt, ſind
durchweg auf einen engen Raum beſchränkt.


295.

Wenn ſich neue Inſeln im Strome oder Fluſſe bilden, ſo gehören
ſie, abgeſehen von beſondern Verträgen, dem zunächſt gelegenen Uferſtate
zu. Entſtehen ſie in der Mitte des Fluſſes, ſo unterliegen ſie der Thei-
lung der beiden Uferſtaten nach der Mitte.


Aehnliche Grundſätze hat das römiſche und deutſche Privatrecht bezüg-
lich des Grundeigenthums auf der neuen Inſel ausgeſprochen (L. 7. § 3. D. de
adq. rer. dom.
SachſenſpiegelII. 56. § 2). Das Grundeigenthum iſt freilich
nicht die Grundlage der Statshoheit, und die Analogie ſeiner Grundſätze nur mit
Vorſicht auf das Statsrecht anzuwenden. So muß für dieſes der Satz anerkannt
werden, daß die neue Landbildung innerhalb der Grenzen eines States, auch wenn
ſie nachweisbar durch Wegſchwemmung fremden Bodens bewirkt und deßhalb dem
frühern Grundbeſitzer zu Eigenthum verbleiben würde, aus ſtatsrechtlichen Gründen
dennoch zu dem Gebiete gehört, in dem ſie entſteht; denn unmöglich kann ein Stat
ſich durch bloße Erdanſpülung von dem Ufer wegdrängen und einen fremden Stat
ſich da feſtſetzen laſſen, bloß weil das Eigenthum an den Erdſtücken von einem zum
[175]Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
andern Ufer verſetzt wird. Wer Eigenthümer ſei, iſt für die Statshoheit ganz gleich-
gültig, und weder die Ausdehnung ſeiner Macht noch die Sicherheit ſeiner Grenze
von der Frage, wem das Grundeigenthum gehöre, abhängig zu machen. Vgl. dar-
über auch OppenheimIII. 7.


Durch Neubildung von Inſeln kann überdem die Landesgrenze inſofern er-
weitert werden, als nun von dem Ufer der Inſel aus nach dem Meere hin der Stat
ſeine Macht weiter als bisher von dem Flußufer her erſtrecken kann. Ein Beiſpiel
einer ſolchen Erweiterung durch Inſelbildung in der Mündung des Miſſiſippi
führt Phillimore an I. 240. Der Uferſtat kann, ſchon um ſeiner Sicherheit
willen, nicht zugeben, daß die im Meere, d. h. auf ſtatenloſem Boden entſtandene
Inſel der freien Occupation, vielleicht einer rivaliſirenden Macht offen ſtehe, ſondern
vielmehr begründet die Statshoheit über das Flußgebiet und über die Mündung
des Fluſſes ein natürliches Anrecht auf die Beſetzung der Inſeln, die durch An-
ſchwemmungen des Fluſſes in bisher freiem Meer gebildet werden.


2. Grenzen des Statsgebiets.


296.

Wo zwei Statsgebiete zuſammenſtoßen, ſind die Nachbarſtaten ver-
pflichtet, die Grenzlinie gemeinſam zu ordnen und möglichſt klar zu be-
zeichnen.


Die Pflicht der Grenzbeſtimmung folgt aus dem friedlichen Nebeneinanderſein
der Staten. Jeder von beiden iſt berechtigt, bis an ſeine Grenze zu herrſchen und
jeder verpflichtet, nicht darüber hinaus in das Nachbargebiet überzugreifen. Daher
haben beide Recht und Pflicht, die Grenze, die ſie von einander ſcheidet und ihnen
gemeinſam iſt, auch gemeinſam ins Klare zu ſetzen. Die Analogie des privat-
rechtlichen
judicium finium regundorum findet hier Anwendung, immerhin
natürlich mit Berückſichtigung der Unterſchiede zwiſchen dem Grundeigenthum der
Privatperſonen und der öffentlich-rechtlichen Natur der Gebietshoheit. Als Grenz-
zeichen werden Markſteine oder Grenzpfähle geſetzt, Graben gezogen, eine Lichtung
durch den Wald hergeſtellt, Wälle und Mauern gebaut, ſchwimmende Tonnen be-
feſtigt u. dgl.


297.

Wenn ein Gebirgszug die Grenze bildet zwiſchen zwei Ländern, ſo
wird im Zweifel angenommen, daß der oberſte Berggrat und die Waſſer-
ſcheide die Grenze beſtimmen.


[176]Viertes Buch.

Die Bergzüge ſind ſehr oft Völkerſcheiden. Iſt die Höhe des oberſten Berg-
grats erreicht, ſo iſt zugleich die Waſſerſcheide gefunden. Wie die Waſſer zu Thal
fließen, und ſich da zu Bach und Fluß einigen, ſo ſammelt ſich auch der Verkehr der
Menſchen von allen umliegenden Höhen her in dem einigenden Thal. Frühe ſchon
haben aufgeweckte Nationen das bemerkt und daher an jener Linie die natürliche
Grenze
erkannt.


298.

Bildet ein Fluß die Grenze und iſt derſelbe nicht in den ausſchließ-
lichen Beſitz des einen Uferſtates gelangt, ſo wird im Zweifel angenommen,
die Mitte des Fluſſes ſei die Grenze.


Bei ſchiffbaren Flüſſen wird im Zweifel der Thalweg als Mitte
angenommen.


Weit öfter bilden die Flüſſe nicht die Grenze zwiſchen zwei Ländern, ſondern
dienen zur Verbindung und zum Verkehr der beiderſeitigen Uferbewohner. Gewöhn-
lich finden wir dieſelbe Nation und denſelben Stamm auf beiden Ufern
angeſiedelt. Daher fließen ſehr viele große Ströme und Flüſſe innerhalb des-
ſelben Statsgebiets
und gehören dann zu dieſem Statsgebiet. Der Nyl in
Aegypten, der Indus und Ganges in Indien, der Tigris und der Euphrat
in Aſſyrien, Medien und Perſien, der Po in Norditalien, die Weſer und die Elbe
in Norddeutſchland, aber auch der Miſſiſippi in den Vereinigten Staten von
Nordamerika u. ſ. f. gehörten faſt in allen Zeiten meiſtens auf beiden Seiten der-
ſelben Nation und demſelben State an. Auch der Rhein iſt auf beiden Ufern
von deutſchen Stämmen bewohnt, und die Donau fließt durch Bayeriſches, Oeſter-
reichiſches, Ungariſches und Türkiſches Gebiet. Aber zuweilen werden die Flüſſe aller-
dings zur Grenze benutzt zwiſchen zwei Ländern, ſei es weil verſchiedene Nationen
nur bis an den Fluß kamen, aber ſich nicht darüber hin wagten, ſei es weil haupt-
ſächlich militäriſche Gründe auf dieſe Art der Beſchränkung einwirkten. So zog ſich
das ſpätere römiſche Kaiſerreich auf die Südſeite der Donau und auf die
Weſtſeite vom Rhein zurück, um ſich beſſer gegen die Einfälle der Germanen zu
vertheidigen.


Die Flußgrenze iſt für die Vertheidigung des Gebiets inſofern nütz-
lich, als dem feindlichen Uebergang natürliche Hinderniſſe im Wege ſtehen, welche
durch die Kriegskunſt noch verſtärkt werden können. Sie iſt überdem inſofern auch
eine klare Grenze, als die Ufer, als je dem einen oder andern State angehörig,
ſcharf bezeichnet ſind. Aber im Uebrigen iſt die Flußgrenze nicht zweckmäßig,
weil die eigentliche Grenzlinie inmitten des Fluſſes beſtändig verwiſcht und auch
verändert wird und wenn die Flüſſe ſchiffbar ſind, die Schiffahrt ſich gerade auf
der Grenzlinie bewegt
, daher die Unterſcheidung der Statshoheit während der
Fahrt entweder zweifelhaft wird, oder nach andern Erwägungen als der Grenzlinie
beſtimmt werden muß. Man unterſucht daher gewöhnlich nicht, ob das Schiff eher
dießſeits oder jenſeits der Mittellinie ſich bewegt habe, wenn etwa die gerichtliche
[177]Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
Competenz über ein verübtes Vergehen zu ermitteln iſt, ſondern nimmt im Zweifel
an, daß je nachdem das Schiff dem einen oder andern Uferſtat angehöre oder auch
nur da ſtationirt ſei, die Gerichtsbarkeit des betreffenden Stats im Zweifel begrün-
det ſei. Der Thalweg ſelbſt gilt dann als eine gemeinſame Grenze. Mit
Unrecht wird er als neutral bezeichnet. Er gehört nicht keinem der beiden, ſondern
eher jedem der beiden Gebiete an, ſoweit das überhaupt möglich iſt. Er wird
daher von beiden Nationen frei zur Schiffahrt benützt, und keiner der beiden Staten
darf dieſen Gebrauch hemmen. Vgl. unten § 303.


2. Die Mitte des Fluſſes kann auch von dem feſten Uferrand aus be-
meſſen werden. In neuerer Zeit aber zieht man bei ſchiffbaren Flüſſen den Thalweg
vor, weil eben da der Hauptfluß ſich bewegt, welcher als Grenze dient. Der Aus-
druck iſt ſogar in den franzöſiſch geſchriebenen Friedensvertrag von Luneville vom
9. Febr. 1801 Art. III. übergegangen: „le Thalweg de l’Adige servant de ligne
de démarcation“
und iſt auch für die Rheingrenze zwiſchen Frankreich und Deutſch-
land anerkannt. Reichsdeputationsbeſchluß von 1853 § 30.


299.

Die Flußgrenze iſt inſofern veränderlich, als der Fluß ſein Bett
und ſeinen Thalweg gelegentlich verändert.


Wenn aber der Fluß ſein Bett ganz verläßt und eine neue Richtung
einſchlägt, dann bleibt das alte Flußbett die Grenze.


Die Veränderung des Thalwegs kann auch künſtlich durch Waſſerbauten be-
wirkt werden. Schon deßhalb, weil dadurch die gemeinſame Grenze afficirt wird,
darf kein Uferſtat willkürlich ſolche Uferbauten vornehmen, welche jene Aenderung
nach ſich ziehen. Wird dagegen die Flußcorrection in wechſelſeitigem Einverſtändniß
vollzogen, ſo wird unbedenklich auch der künſtlich veränderte Thalweg als Grenze
anerkannt.


Wenn der Fluß eine ganz andere Richtung nimmt und ein neues Bett gräbt,
ſo iſt das nicht mehr die unvermeidliche Wandelbarkeit der Flußgrenze, ſondern ein
neuer Einſchnitt in das eine oder andere unzweifelhafte Statsgebiet hinein in
Abweichung von der bisherigen Landesgrenze. Das darf natürlich keinen Gebiets-
verluſt des einen und keine Gebietserweiterung des andern Stats begründen. Vgl.
Hugo GrotiusII. 3. § 16.


300.

Inſoweit nicht die Nationalität eines Schiffes entſcheidend einwirkt,
ſteht beiden Uferſtaten eine concurrirende Gebietshoheit (Policeigewalt und
Gerichtsbarkeit) über die auf der Grenzlinie hinfahrenden Schiffe zu.


Vgl. zu § 298. 316.


301.

Ebenſo wird die Mitte eines Landſees als Grenze zwiſchen den ent-
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 12
[178]Viertes Buch.
gegengeſetzten Uferſtaten vermuthet, wenn nicht durch Verträge oder Uebung
eine andere Grenze beſtimmt iſt. Daneben wird die freie Schiffahrt auf
dem See für beiderlei Uferbewohner als Regel anerkannt.


Hier muß die Mitte von beiden Ufern ausgemeſſen werden, da es einen Thal-
weg nicht gibt, oder wenigſtens derſelbe nicht ebenſo deutlich iſt, wie bei Flüſſen.


302.

Bildet das freie Meer die Grenze des Statsgebiets, ſo wird ange-
nommen, der naſſe Küſtenſaum ſei noch ſo weit der Statshoheit unter-
worfen, als die Statsmacht vom Ufer her ſich darüber erſtreckt, alſo auf
Kanonenſchußweite.


Eine genauere oder engere Grenze, wie insbeſondere die von drei
Seemeilen von der Küſte — zur Zeit der Ebbe — kann vertragsmäßig
oder ſtatsrechtlich beſtimmt werden.


1. Dieſe Ausdehnung der Gebietshoheit über das feſte Land hinaus in den
Bereich des ſeiner Natur nach ſtatenloſen Meeres iſt freilich nur eine beſchränkte,
keine vollſtändige. Vgl. darüber unten § 310. 322 ff. Das Maß der Ausdehnung
iſt überdem ſeit Erfindung der weittragenden gezogenen Geſchütze erheblich größer ge-
worden; indeſſen iſt dieſe Erweiterung nur die natürliche Wirkung der geſteigerten Stats-
macht. Anfangs mochte der Hammerwurf, dann der Pfeilſchuß die engere
Grenze bezeichnen, dann kam die Erfindung und der große Fortſchritt der Feuer-
waffen
in einer Reihe von Abſtufungen von den unſichern und nur in kurzer
Flugbahn wirkenden erſten Geſchützen bis zu der ſcharf und weittreffenden gezo-
genen Kanone
der Gegenwart. Immer iſt der leitende Gedanke der: „Terrae
dominium finitur, ubi finitur armorum vis“.


2. Die Seegrenze von 3 Seemeilen iſt z. B. in den Verträgen zwiſchen
England und den Vereinigten Staten von Amerika vom 28. Oct. 1818
(Art. 1) und von Frankreich und England in dem Vertrag vom 2. Aug.
1839 (Art. 9 und 10) anerkannt. Vgl. Oppenheim Völkerrecht III. § 6.
PhillimoreI. 240.


303.

Wenn zwei Staten, welche an das freie Meer grenzen, einander ſo
nahe ſind, daß der Küſtenſaum je des einen Stats in den Küſtenſaum
des andern hinüberreicht, ſo ſind ſie verpflichtet, einander in dem gemein-
ſamen Gebiet wechſelſeitig den Küſtenſchutz zuzugeſtehen, oder über eine
Scheidelinie ſich zu vereinbaren.


Das Verhältniß der beiden Uferſtaten wird hier ähnlich wie in den Fällen
der Fluß- oder Seegrenze. Es tritt eine concurrirende Gebietshoheit ein.


[179]Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.

3. Oeffentliche Gewäſſer. Die Meeresfreiheit.


304.

Das Meer iſt von Natur zur Sonderherrſchaft ungeeignet und dem
gemeinen Gebrauch aller Nationen geöffnet. Das Meer iſt frei.


An dem offenen, freien Meer iſt keine Gebietshoheit eines einzelnen
States oder mehrer verbundener Staten möglich und zuläſſig.


Noch im ſiebzehnten Jahrhundert verſuchten es einzelne Staten, ſich eine
ausſchließliche Seeherrſchaft über beſtimmte Meere anzumaßen und
andern Nationen die Schiffahrt oder Fiſcherei daſelbſt zu verbieten. So z. B. Por-
tugal und Spanien in den Oſt- und Weſtindiſchen Meeren unter Berufung auf die
Verleihung des Papſtes. Auch England behauptete ein beſonderes Recht auf die
Meere zu haben, welche die britiſchen Inſeln umfließen. Gegen dieſe Anmaßung
erhob ſich Hugo Groot in ſeiner berühmten Schrift „mare liberum“ (Utrecht
1609) mit wiſſenſchaftlichen Gründen. Dem heutigen Rechtsbewußtſein der Menſch-
heit iſt die Freiheit des Meeres von jeder Statsherrſchaft nicht mehr zweifelhaft;
und die ſeefahrenden Völker üben dieſe Freiheit in allen Richtungen unangefochten
aus. In Folge deſſen iſt der größere Theil der Erdoberfläche allen Völkern
gemeinſam
und dient ſo dem menſchlichen Verkehr.


305.

Das heutige Völkerrecht geſtattet nicht mehr die Abſchließung eines
Meeres von dem Weltverkehr, welches von Natur oder durch menſchliche
Cultur der Schiffahrt zugänglich und mit der offenen freien See verbun-
den iſt, auch dann nicht, wenn jenes Meer von einem Statsgebiet um-
ſchloſſen iſt.


In alter Zeit war dieſe Regel noch nicht anerkannt. Die Phönizier und
Karthager betrachteten das mittelländiſche Meer großen Theils als ihre See,
ebenſo ſpäter die Römer. Dänemark machte eine Zeit lang ähnliche Anſprüche der
Herrſchaft über das Baltiſche Meer; die Republik Venedig wollte im Adriati-
ſchen
Meer allein herrſchen, die Republik Genua im liguriſchen Meer, die Türkei
behauptete, daß das Aegäiſche wie das Marmarameer ihr Eigenthum ſei,
Rußland weigerte fremden Nationen die Seefahrt auf dem ſchwarzen Meer.
Alle dieſe Prätenſionen mußten ſchließlich der ſteigenden Anerkennung der Meeres-
freiheit weichen. Durch die Pariſer Congreßacte von 1856 Art. II. iſt der Satz
ausgeſprochen worden: „La mer Noire est neutralisée, ouverte à la marine mar-
chande de toutes les nations“.


12*
[180]Viertes Buch.
306.

Geſchloſſene Meere werden nur inſofern anerkannt, als ſie für die
Schiffahrt vom offenen Meer her unzugänglich und von dieſem völlig ab-
getrennt ſind. Dieſelben ſind dann ähnlich, wie die Binnenſeen mit ſüßem
Waſſer, der Statshoheit unterworfen.


Ein von jeher anerkanntes Beiſpiel iſt das Todte Meer in Syrien. An
dem Kaspiſchen Meer begegnen ſich verſchiedene Nationen und Staten, aber eine
Verbindung mit dem Weltmeer iſt nicht da. Die Möglichkeit, daraus ein Ruſſiſches
Meer zu machen, liegt daher nicht ſehr ferne.


307.

Auf offenem Meere iſt ſowohl die Schiffahrt als die Fiſcherei für
alle Nationen und für Jedermann völlig frei.


Die Schiffahrt iſt zunächſt als Handels- und Verkehrsſchiffahrt frei.
Eben für den Weltverkehr iſt das Meer offen. Neben der Schiffahrt zum Verkehr
kommt als zweite Hauptnutzung des Meeres die Fiſcherei in Betracht. Auch in
dieſer Hinſicht hat kein Stat ein Recht, für ſeine Fiſcher ein Privilegium anzuſpre-
ſchen und die fremden Fiſcher davon auszuſchließen. Die reichen Schätze des Meeres
ſind der ganzen Menſchheit offen. Noch im achtzehnten Jahrhundert maßte ſich die
Krone Dänemark das ausſchließliche Recht der Fiſcherei an in den Gewäſſern der
Nordſee in der Nähe von Island und Grönland und gerieth darüber mit den
Vereinigten Staten der Niederlande in Streit. Auch die Beſchränkung dieſes Rechts
auf 15 Seemeilen von der Küſte weg, welche die däniſche Regierung ſchließlich zu-
geſtand, iſt durchaus ungenügend und wurde von den andern Staten nicht anerkannt.
In unſerm Jahrhundert entſtand wiederholt Streit zwiſchen England und den Ver-
einigten Staten von Nordamerika über die ergiebige Fiſcherei in den Gewäſſern von
Neufundland. Ein Vertrag vom 2. Auguſt 1839 geſtand den Amerikaniſchen
Fiſchern die Fiſcherei zu bis auf drei Meilen von der Küſte. Vgl. darüber Phil-
limore
I. 189 ff.


308.

Das Recht der freien Schiffahrt auf offenem Meere wird nicht ver-
letzt, ſondern nach Umſtänden geſchützt durch völkerrechtliche Beſchränkungen
der Kriegsmarine in beſtimmten Meeren.


Ein Beiſpiel iſt die Beſchränkung der Zahl der Ruſſiſchen Kriegs-
ſchiffe
im ſchwarzen Meer, welche der Pariſerfriede von 1856 angeordnet hat.


[181]Die Statshoheit im Verhaltniß zum Land. Gebietshoheit.
309.

Einer beſchränkten Gebietshoheit unterworfen ſind:


  • a) der das Land beſpülende Küſtenſaum (§ 212),
  • b) die Seehäfen,
  • c) die Meereseinbrüche,
  • d) kleinere zwiſchen zwei Vorſprüngen des Landes gelegene Buchten.

Die nahe Beziehung ſolcher Theile des Meeres zum Lande und zum Stat
rechtfertigt eine relative Ausdehnung der Gebietshoheit. Dieſelben werden als Zu-
gehörigkeit des Landes betrachtet, deſſen Macht und Schutz ſich darüber erſtreckt. Die
Sicherheit des States und ſeiner Rechtsordnung iſt dabei ſo offenbar intereſſirt, daß
der gewohnte Maßſtab der Kanonenſchußweite bei Buchten nicht immer als genügend
erachtet wird. Indeſſen iſt dieſe Ausdehnung doch nur da zuzugeſtehn, wo ihre
Gründe wirkſam ſind und nicht wo der Umfang der Bucht ſich weiter erſtreckt, und
lediglich als Theil des offenen Meeres erſcheint, wie z. B. in der Hudſons-Bai,
und in dem Meerbuſen von Mexico. Unbeſtritten iſt die Seeherrſchaft Eng-
lands zwiſchen der Inſel Wight und der Engliſchen Küſte, aber keineswegs gutzu-
heißen in dem ganzen Kanal oder in dem Meer zwiſchen England und Irland,
wenn gleich der engliſche Admiralitätshof die Lehre von den „Engen Meeren
(Narrow Seas) oft mit Erfolg über Gebühr ausdehnte und große Stücke des
offenen Meeres als ſogenannte „Königskammern“ (King’s chambers) in Be-
ſchlag zu nehmen verſuchte. Ebenſo kann die Herrſchaft der Türkei über die Meer-
engen der Dardanellen und des Bosphorus nicht bezweifelt werden, wenn
gleich das neuere Völkerrecht für die freie Schiffahrt auch durch dieſe Meerengen
ins ſchwarze Meer ſorgt.


310.

In Folge dieſer beſchränkten Gebietshoheit iſt der Stat berechtigt,
alle zum Schutze ſeines Gebietes und ſeiner Rechtsordnung nöthigen Maß-
regeln auch über dieſe Theile des Meeres auszudehnen, policeiliche Anord-
nungen zu treffen bezüglich der Schiffahrt und der Fiſcherei, aber er iſt
nicht berechtigt, im Frieden die Durchfahrt oder die Benutzung dieſer Ge-
wäſſer für die Schiffahrt willkürlich zu unterſagen oder mit Steuern zu
beſchweren.


So kann der Uferſtat im Intereſſe ſeines Zollſyſtems die fremden Schiffe
anweiſen, nur an beſtimmten Stellen zu landen und ſich des Verkehrs mit den
Küſtenbewohnern zu enthalten, im Intereſſe der Sicherheit die Annäherung von
bewaffneten Schiffen verhindern u. ſ. f. Selbſt Verbote der fremden Fiſcherei
kommen hier noch vor und werden anerkannt. Die Regulirung der Fiſcherei in
dieſen Gewäſſern iſt ganz unbedenklich.


[182]Viertes Buch.

2. Eine ſehr ſtarke und im Grunde ungerechte Benutzung der Seeherrſchaft
geſchah durch Dänemark, indem es während Jahrhunderten im Beſitz der beiden
Erdzungen, welche den Sundpaß einengen, auf der einzigen Fahrſtraße aus dem
baltiſchen Meere in die Nordſee den ſogenannten Sundzoll erhob. Den mittel-
alterlichen Rechtsanſichten war dieſe Zollerhebung nicht ebenſo anſtößig, wie dem
modernen Rechtsbewußtſein. Die europäiſchen Staten ließen ſich daher dieſe Belä-
ſtigung gefallen und ſuchten nur durch Verträge eine weitere Erſchwerung zu ver-
hüten. Erſt der offene und entſchiedene Widerſpruch der Vereinigten Staten von
Amerika nöthigte Dänemark über Ablöſung des Sundzolls zu verhandeln. Seit dem
Jahr 1857 iſt nun dieſe Beſchwerde der Schiffahrt von den übrigen Staten vertrags-
mäßig losgekauft und die freie Schiffahrt am 1. April 1857 hergeſtellt worden.


311.

Die Ströme und Flüſſe gehören, wenn ſie innerhalb eines Landes
fließen, zu dem Statsgebiet des Landes, wenn ſie zwiſchen zwei Staten
die Grenze bilden, im Zweifel je zur Hälfte bis in die Mitte den beider-
ſeitigen Uferſtaten zu.


Vgl. oben zu Art. 298.


312.

Schiffbare Ströme und Flüſſe, welche das Gebiet mehrerer Staten
durchfließen, begründen ein gemeinſames Recht und Intereſſe aller dieſer
Staten an der geordneten und freien Benutzung derſelben zur Schiffahrt.


Jeder der betheiligten Staten iſt verpflichtet, auf ſeinem Gebiet ſo-
wohl für die Offenhaltung des Fahrwegs für die Schiffe als für den
Unterhalt der Leinpfade zu ſorgen.


Es iſt das einer der wenigen Fortſchritte, welche die Entwicklung des Völker-
rechts hauptſächlich auf Betrieb des Preußiſchen Geſanten Wilh. v. Humboldt
den Verhandlungen des Wiener Congreſſes verdankt. Die Wiener Congreßacte
von 1815 Art. 108 lautet: „Les Puissances, dont les états sont séparés ou
traversés par une même rivière navigable, s’engagent à regler d’un commun
accord tout ce qui a rapport à la navigation de cette rivière. Art. 113.
Chaque état riverain se chargera de l’entretien des chemins de halage qui
passent par son territoire et des travaux nécessaires pour la même étendue
dans le lit de la rivière, pour ne faire éprouver aucun obstacle à la navi-
gation“.
Der Fluß bildet ein natürliches Band, welches die Länder verbindet, die er
durchfließt. Sein Gewäſſer ergibt ſich nicht völlig der Sonderherrſchaft eines Sta-
tes, es fließt weiter, unbekümmert um die ſtatliche Grenze. Es dient daher auch der
gemeinſamen Schiffahrt, ſoweit der Fluß ſchiffbar iſt. Es iſt nur eine An-
[183]Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
erkennung dieſer natürlichen Verhältniſſe, wenn die Rechtsordnung dieſen Zuſammen-
hang und dieſe Gemeinſchaft ſchützt, und nicht geſtattet, daß einer der Uferſtaten ein-
ſeitige Hemmniſſe bereite, ſondern vielmehr alle Uferſtaten verpflichtet, zur Erhaltung
der Schiffahrt die nöthigen Maßregeln (z. B. Reinigung des Flußbetts, Herſtellung
der Reckwege und Leinpfade) anzuordnen.


313.

Die Fluß- und Schiffahrtspolicei ſoll, ſoweit ſie gemeinſame Inter-
eſſen betrifft, auch gemeinſam nach denſelben Rechtsgrundſätzen geordnet
werden. Ausnahmen erfordern eine beſondere Begründung.


„Règlement pour la libre navigation des rivières. Art. II. La navi-
gation dans tout le cours des rivières indiquées —; du point où chacune
d’elle devient navigable jusqu’à son embouchure, sera entièrement libre et
ne pourra, sous le rapport du commerce, être interdite à personne, en se
conforment toutefois aux règlements qui seront arrêtés pour sa police d’une
manière uniforme pour tous, et aussi favorable que possible au commerce de
toutes les nations. Art. III. Le système qui sera établi, tant pour la per-
ception des droits que pour le manitien de la police, sera, autant que faire
se pourra, le même pour tout le cours de la rivière, et s’étendra aussi, à
moins que des circonstances particulières ne s’y opposent, sur ceux de ces
embranchemens et confluens qui dans leur cours navigable séparent ou tra-
versent différens états.“


314.

Wenn die ſchiffbaren Ströme oder Flüſſe mit dem offenen Meer in
Verbindung ſtehen, ſo ſind dieſelben den Schiffen aller Nationen im Frie-
den offen zu halten. Die freie Schiffahrt darf nicht zum Nachtheil ein-
zelner Nationen gehemmt, noch ungebührlich beläſtigt werden.


Die Wiener Congreßacte ſprach dieſen Grundſatz zunächſt nur für die
europäiſchen Flüſſe und nur unter der Vorausſetzung aus, daß ein Fluß durch
zwei
oder mehrere Statsgebiete fließt. Art. 109. „La navigation dans
tout le cours des rivières indiquées dans l’article précédent sera entièrement
libre.“
Aber ganz dieſelben Gründe, welche die freie Flußſchiffahrt in Europa als
völkerrechtliche Forderung rechtfertigen, finden auch auf die a merikaniſchen Ströme
und in allen Welttheilen Anwendung. Das neue völkerrechtliche Princip muß alſo
allmählich überall zur Geltung gebracht werden. Sodann iſt die Beſchränkung des
Grundſatzes auf die ſogenannten Gemeinflüſſe deßhalb unhaltbar, weil die
Schiffahrt auf dieſen nicht bloß für die Schiffe der Uferſtaten, ſondern für den
Weltverkehr frei iſt und nicht einzuſehen iſt, weßhalb die zwei oder mehreren
Uferſtaten verpflichtet ſein ſollen, fremde Schiffe zuzulaſſen, während ein einzelner
[184]Viertes Buch.
Flußſtat dieſelben an der Einfahrt verhindern könnte. Der Eine Stat, deſſen Ge-
biet der Fluß allein durchfließt, kann nicht mehr Rechte und keine größere Herrſchaft
haben, als die mehreren Uferſtaten an einem Gemeinfluſſe zuſammen. Es gibt kei-
nen innern Grund, weßhalb für fremde Nationen die Schiffahrt auf dem Rhein
freier ſein ſollte, als auf der Themſe, ſonſt müßte man zu der unſinnigen Schluß-
folgerung kommen, daß die Einigung eines ganzen Flußgebietes, das früher un-
ter mehrere Staten
getheilt war, in Einem Statsgebiete die Auf-
hebung der freien Schiffahrt für fremde Nationen nach ſich zöge, die zur Zeit der
Vielſtaterei als Völkerrecht gegolten hatte. So war z. B. der Miſſiſippi früher ein
Gemeinſtrom und iſt jetzt ganz in dem Gebiet der Vereinigten Staten. Ebenſo iſt
nun der Po ein italieniſcher Fluß, der früher ein Gemeinfluß geweſen war. Die
Freiheit der Weltſchiffahrt auf dieſen Flüſſen gründet ſich nicht auf die Betheiligung
mehrerer beſtimmter Staten an dem Flußufer und der Flußhoheit, ſondern auf den
Zuſammenhang des Fluſſes mit dem freien Meer und auf die Verbindung der Ge-
wäſſer, welche den Verkehr der Menſchen vermitteln. Die ins Meer mündenden
Ströme ſammt ihren Nebenflüſſen, welche ſie während ihres Laufes aufnehmen, ge-
hören
, ſoweit der Weltverkehr ſich darauf bewegt, zum Meer und es wirkt
deſſen Freiheit auf ihre Freiheit zurück
.


315.

Es dürfen nur ſolche Gebühren der Benutzung der dem Weltverkehr
offenen Gewäſſer auferlegt werden, welche als Gegenleiſtung für die An-
ſtalten, Werke und Arbeiten zu rechtfertigen ſind, für welche der Stat im
Intereſſe der Schiffahrt und eines geordneten Zuſtandes ſorgt. Ebenſo
dürfen die Vorſchriften über Stapel- und Landungsplätze nicht dazu miß-
braucht werden, durch Nöthigung zum Anlanden und Umladen die Schiff-
fahrt zu erſchweren.


Nur allmählich gelingt es, dieſe Folge des Princips der freien Schiffahrt zur
Geltung zu bringen und die zahlreichen Laſten, womit die mittelalterliche Landes-
hoheit den Verkehr beſchwert hat, abzuſchütteln. Einzelne Beſtimmungen bezüglich
der Gemeinflüſſe hat wieder die Wiener Congreßacte. Art. III.: „Les droits
sur la navigation seront fixés d’une manière uniforme, invariable et assez
indépendante de la qualité différente des marchandises pour ne pas rendre
nécessaire un examen détaillé de la cargaison autrement que pour cause de
fraude et de contravention. — Le tarif une fois réglé, il ne pourra plus être
augmenté que par un arrangement commun des états riverains ni la navi-
gation grévée d’autres droits quelconques, outre ceux fixés, dans le règle-
ment.“
Art. 114: „On n’établira nulle part des droits d’étappe, d’échelle ou
de relâche forcée.“
Selbſtverſtändlich iſt die Erhebung von Waarenzöllen
eine ganz andere Angelegenheit und hat grundſätzlich mit der financiellen Belaſtung
der Schiffahrt
nichts zu ſchaffen.


[185]Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
316.

Die Binnenſeen gehören ebenſo dem Statsgebiete zu, von dem ſie
umſchloſſen werden. Liegen dieſelben zwiſchen mehreren Staten, ſo werden
ſie analog den Strömen behandelt. Abgeſehen von beſondern Verträgen
und Verhältniſſen breitet jeder Uferſtat ſeine Statshoheit vom Ufer aus
bis in die Mitte des Sees. Die Benutzung des Sees iſt jedoch gemein-
ſam für die Schiffahrt aller Uferbewohner und wenn der See mit dem
Meere in ſchiffbarer Verbindung ſteht, auch für die Schiffahrt aller
Nationen.


Die Binnenſeen ſind gewöhnlich nur ausgebreitete und in Folge der Aus-
breitung ruhig gewordene Flußbecken. Daher iſt das Flußrecht auf dieſe Seen analog
auszudehnen, und der Zuſammenhang mit Fluß und Meer wohl zu beachten. Eine
Abgrenzung der Mittellinie iſt freilich hier noch ſchwieriger als auf Flüſſen und man
iſt aus practiſchen Gründen genöthigt, eine concurrirende Gewalt leichter zu-
zugeſtehen oder die Nationalität der Schiffe zu berückſichtigen. Vgl. oben zu § 300.


4. Schiffsrecht.


317.

Die Schiffe werden als ſchwimmende Gebietstheile des Landes be-
trachtet, dem ſie nach ihrer Nationalität angehören und deſſen Flagge ſie
zu führen berechtigt ſind.


Die völkerrechtliche Annahme, daß die Schiffe, welche von dem Lande her,
welchem ſie angehören, auf die offene See hinausfahren, gleichſam wandernde
oder ſchwimmende Theile des Territoriums ſeien, iſt ſchon ziemlich alt,
und hat einen natürlichen Grund in dem fortwirkenden nationalen Zuſammen-
hang
des Schiffs mit dem Land, der in der Flagge ſymboliſch dargeſtellt wird, in
dem Schutzbedürfniß des Schiffs gegen feindliche Angriffe und in der Ausdehnung
der nationalen Macht und des nationalen Verkehrs durch die Kriegs- und Handels-
marine. Daher iſt es auch ſehr wichtig, die Nationalität der Schiffe klar zu ſtellen.
Die engliſchen Juriſten ſträubten ſich einige Zeit gegen die Anerkennung jenes Satzes
bezüglich der Handelsſchiffe. Für Kriegsſchiffe war dieſelbe unvermeidlich, weil
in dem Kriegsſchiff die beſtimmte Statsmacht handgreiflich fühlbar war.
[186]Viertes Buch.
Aber die Angehörigkeit der Handelsſchiffe an den Stat, deſſen Flagge ſie führen,
iſt ebenſo unzweifelhaft.


318.

Wenn die Schiffe auf offener See fahren, ſo erſtreckt ſich die Gebiets-
hoheit ihres States ungehemmt auf den Bereich der Schiffe und den Theil
des Meeres, in welchem das Schiff ſich gerade befindet.


Eine bloße Folge dieſes Satzes iſt die Begründung der ſtatlichen Gerichts-
barkeit
in allen Vergehensfällen, welche ſich während der Seefahrt ereignen, und
die Ausſchließung einer fremden Gerichtsbarkeit. Das gilt aber nicht bloß von Ver-
gehen, die innerhalb des Schiffes, ſondern auch von ſolchen, welche etwa von ſchwim-
menden Schiffsgenoſſen um dasſelbe her verübt worden ſind.


319.

Wenn aber die Schiffe in ein fremdes Statsgebiet einfahren, indem
ſie in einem fremden Seehafen Anker werfen oder einen Strom oder Fluß
befahren u. dgl., ſo werden ſie der fremden Statshoheit ſo lange unter-
geordnet, als ſie ſich in deren Bereich aufhalten.


Die fremden Schiffe können ſich ſo wenig als fremde Reiſende der Statshoheit
entziehen, in deren Herrſchaftsbereich ſie gekommen ſind. Es gibt keinen Grund,
dieſe Statshoheit innerhalb ihres Gebiets zu hemmen, und fremden Schiffen Im-
munitätsrechte zuzugeſtehen. Die Policei des Hafenſtats erſtreckt ſich daher über
alle fremde Schiffe im Hafen und die Gerichte desſelben ſind competent zur Ver-
waltung der Rechtspflege, auch wenn die Schiffsleute Streit unter einander haben
oder ein Vergehen verüben, weil dieſelben ſich innerhalb dieſes Statsgebiets
befinden
.


320.

Indeſſen wirkt die Unterordnung der Schiffe und ihrer Mannſchaft
unter ihre nationale Statsgewalt inſoweit fort, als entweder das Völker-
recht dieſelbe verlangt oder die Statsgewalt des Aufenthaltsorts dieſelbe
gewähren läßt. Die Conſuln vermitteln jene Unterordnung unter die
nationale Statshoheit.


Vgl. oben § 260. Die franzöſiſche Jurisprudenz erkennt die fremde
Gerichtsbarkeit
in den Fällen an, wo lediglich unter den fremden Schiffs-
leuten
Streit iſt, ohne daß derſelbe die gemeine Ordnung und den Frieden ge-
fährdet, und ebenſo in Disciplinarfällen der Schiffsmannſchaft. So-
gar als ein Matroſe des amerikaniſchen Schiffs The Sally im Hafen von Marſeille
[187]Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
von einem Schiffsofficier verwundet wurde, weil er den Befehlen desſelben nicht fol-
gen wollte, überließ der Statsrath (1806) die Beurtheilung dem amerikaniſchen
Conſul. PhillimoreI. 349. Das Gutachten des Statsraths vom 20. Novbr.
1806 ſpricht darüber folgende Grundſätze aus: Considérant qu’un vaisseau neutre
ne peut être indéfiniment considéré comme lieu neutre et que la protection
qui lui est accordée dans les ports français ne saurait dessaisir à la juri-
diction territoriale, pour tout ce qui touche aux intérêts de l’état. — Qu’ainsi,
le vaisseau neutre admis dans un port de l’état est de plein droit soumis
aux lois de police qui régissent le lieu où il est reçu. — Que les gens de
son équipage sont également justiciables des tribunaux, du pays pour les
délits qu’ils y commettraient, même à bord, envers des personnes étrangères
à l’équipage, ainsi que pour les Conventions civiles qu’ils pourraient faire
avec elles; — Mais, que si jusque-là, la juridiction territoriale est hors de
doute, il n’eu est pas ainsi à l’égard des délits qui se commettent à bord
du vaissau neutre de la part d’un homme de l’équipage; — Qu’en ce cas,
les droits de la puissance neutre doivent être respectés, comme s’agissant
de la discipline intérieure du vaissau, dans la quelle l’autorité locale ne
doit pas s’ingérer, toutes les fois que son secours n’est pas réclamé ou que
la tranquillité du port n’est pas compromise.


321.

Ausnahmsweiſe gelten als exterritorial und von der einheimiſchen
Statsgewalt befreit


  • a) fremde Schiffe, welche ſouveräne Perſonen oder fremde Geſante
    an Bord haben und zu deren ausſchließlicher Verfügung ſind,
    (§ 150. 152),
  • b) fremde Kriegsſchiffe, inſofern ſie mit Erlaubniß des States in
    deſſen Eigengewäſſer eingelaufen ſind.

1. Die erſte Ausnahme iſt nur eine Anwendung der regelmäßigen Exterrito-
rialität der Souveräne und Geſanten und reicht eben deßhalb nicht über die ſonſti-
gen Grenzen derſelben hinaus. Wenn z. B. ein Souverain oder Geſante nur ein
Poſtſchiff benutzt neben andern Paſſagieren, ſo beſchränkt ſich ſeine Immunität
und Exterritorialität nur auf die Räume, die er mit ſeinem Gefolge und ſeinen
Effekten in Beſchlag genommen hat.


2. Die Exterritorialität der Kriegsſchiffe beruht noch weniger auf einer
naturrechtlichen Nöthigung als die Exterritorialität der Souveräne, ſondern iſt ein
Zugeſtändniß, welches die Seeſtaten einander wechſelſeitig und der Völkerſitte gemäß
gewähren, und hat ſeinen Grund nicht bloß in der gegenſeitigen Freundlichkeit, ſon-
dern vielmehr in der Schwierigkeit und Gefahr, die örtliche Policei- und Statsgewalt
gegenüber der wohl bewaffneten fremden Schiffsmannſchaft thatſächlich gelten zu ma-
chen. Die Grundbedingung dieſes Zugeſtändniſſes iſt aber immer die, daß dem frem-
[188]Viertes Buch.
den Kriegsſchiff der Einlauf in das Eigengewäſſer erlaubt worden iſt,
ebenſo wie die Privilegien fremder Souveräne im Inland die freiwillige Auf-
nahme
derſelben vorausſetzen. Dieſe Befreiung von der Ortsgerichtsbarkeit und
Ortspolizei bezieht ſich aber nur auf die Ordnung im Schiff und findet wieder ihre
natürliche Grenze, wenn etwa von dem Schiffe aus rechts- oder ordnungswidrige
Handlungen gegen die übrigen Schiffe oder die einheimiſche Bevölkerung verübt
würden. In dieſem Falle iſt die Ortsbehörde vollkommen berechtigt, die zum Schutze
des Hafens nöthigen Maßregeln zu ergreifen, nöthigenfalls auch das fremde Kriegs-
ſchiff aus dem Hafen wegzuweiſen. Ebenſo wenn die Mannſchaft des Kriegsſchiffs
auf dem Lande Vergehen verübt, kann dieſelbe der einheimiſchen Gerichtsgewalt
unterworfen werden. Indeſſen iſt in ſolchen Fällen dem Commandanten des fremden
Kriegsſchiffs ohne Verzug Anzeige zu machen und ein Einverſtändniß über die wei-
tere Verfolgung und Beſtrafung der Schuldigen, ſei es durch die Ortsgerichte, ſei es
durch die Juſtiz des fremden Kriegsſchiffs zu verſuchen. Die ſtrenge Conſequenz des
Rechts ſpricht für die Anwendung der Landesgerichtsbarkeit, aber die Rück-
ſicht auf die Völkerſitte und die freundlichen Beziehungen zu den auswärtigen Staten
empfiehlt öfter eine Ausdehnung der fremden Marinegerichtsbarkeit.


322.

Schiffe, welche bloß durch den Küſtenſaum eines fremden States
hindurch fahren, werden der Statshoheit des Küſtenſtates nur in ſo weit
vorübergehend unterworfen, als ſie die militäriſchen und policeilichen Ord-
nungen beachten müſſen, welche derſelbe zum Schutz ſeines Gebietes und
der Küſtenbewohner für nöthig erklärt hat.


Vgl. oben § 302. 310. Die Gerichtsbarkeit des Küſtenſtats er-
ſtreckt ſich in der Regel nicht anders auf dieſen Küſtenſaum, als ſoweit die Hand-
habung der Militär- und Policeihoheit das nöthig macht. In allen übri-
gen Beziehungen wird das Schiff betrachtet, als wäre es auf offener See, d. h. als
ein ſchwimmender Theil ſeines nationalen Stats.


323.

Die fremden Schiffe haben ſich der Hafenordnung und insbeſondere
den ſeepoliceilichen Vorſchriften über Lootſen, Remorqueurs, und den geſund-
heitspoliceilichen Anordnungen der Hafenobrigkeit zu fügen.


Bei dieſen Verordnungen ſind jedoch die verſchiedenen ſeefahrenden
Nationen nach denſelben Rechtsgrundſätzen zu behandeln.


Der erſte Satz iſt eine Folge des in § 319 ausgeſprochenen Princips.
Dahin gehören die Vorſchriften über die Signale der Annäherung, über
das Anlegen der Schiffe, Feſtmachen derſelben, Feuer an Bord, die La-
[189]Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
ternen, die Benutzung der Hafenanſtalten, aber auch die Verordnungen
der Sanitätspolicei zur Abwehr von anſteckenden Krankheiten, je nach Umſtän-
den die Nöthigung zu den Contumazanſtalten.


Der zweite Satz ſchützt das allgemeine Recht des Weltverkehrs gegen den
Mißbrauch der Policeigewalt zum Ausſchluß einzelner Nationen.


324.

Zunächſt iſt es das Recht eines jeden States, die Bedingungen feſt-
zuſetzen, unter denen er die Angehörigkeit (Nationalität) ſeiner Schiffe an-
erkennt, dieſelben ermächtigt, ſeine Flagge zu führen und ſie unter ſeinen
Schutz nimmt.


Wie es offenbar die Sache des Statsrechts iſt, die Bedingungen feſtzu-
ſetzen, unter denen ein Stat einzelne Perſonen und Familien in ſeine Statsgenoſſen-
ſchaft aufnimmt, ſo fällt ebenſo in den Bereich des Statsrechts auch die Feſtſetzung
der Bedingungen, unter denen ein Stat die Schiffe als ſtatsgenöſſig anerkennt.
Die Flagge iſt das Symbol und Kennzeichen dieſer Angehörigkeit zu
einem beſtimmten State. Indeſſen ſo einleuchtend jener Rechtsſatz iſt, ſo wird er
doch noch nicht vollſtändig anerkannt.


Auch die Wahl der Flagge iſt zunächſt Sache des betreffenden Stats
und nur inſofern völkerrechtlich beſchränkt, als nicht eine bereits vorhandene Flagge
gewählt werden darf. Die Flagge ſoll die verſchiedenen Nationen darſtellen und
unterſcheiden. Vgl. oben § 82.


325.

Auch den Binnenſtaten, nicht bloß den Küſtenſtaten ſteht das Recht
zu, nationale Schiffe zu haben und eine nationale Flagge zu führen.
Dagegen wird das Recht der freien Schiffahrt und der nationalen Flagge
nur denjenigen Völkern zugeſtanden, welche ihrerſeits die völkerrechtlichen
Pflichten anerkennen.


Wie alle Nationen an dem Welthandel Theil haben, ſo haben auch alle
an der freien Weltſchiffahrt Theil. Es beſteht kein Rechtsgrund, um irgend eine
Nation zu nöthigen, ſich für ihren Handel fremder Schiffe zu bedienen, ſtatt eigene
dazu zu verwenden. Wenn in neueſter Zeit in der Schweiz der Vorſchlag einer natio-
nalen Flagge gemacht wurde, ſo können keinenfalls Rechtsgründe der Annahme die-
ſes Vorſchlags im Wege ſtehen. Nur die Zweckmäßigkeit einer derartigen Neuerung
kann in Frage kommen, und je nach politiſchen Erwägungen kann ſie verſchieden
beurtheilt werden.


Dagegen wird den Schiffen barbariſcher Stämme, welche die Sicherheit
[190]Viertes Buch.
des Welthandels und der civiliſirten Schiffahrt gefährden, kein Recht der freien
Schiffahrt zugeſtanden und werden dieſelben auch auf offener See nicht geduldet.


Zuweilen wird die Flagge nur von einzelnen Städten geübt, ſogar zum
Unterſchiede von der Landesflagge, wie z. B. die Flagge von Roſtock ſich von der
Mecklenburgiſchen unterſcheidet. Indeſſen iſt das eher ein Ueberreſt mittelalterlicher
Zuſtände, als eine Erſcheinung des modernen Lebens und jedenfalls bedarf der be-
ſondere Gebrauch einer ſtädtiſchen Flagge der Erlaubniß und Anerkennung des
States, welchem die Stadt zugehört. Völkerrechtlich ſtehen doch nur die Staten
miteinander in unmittelbarer Verbindung.


326.

Zum Beweiſe der Nationalität dienen die öffentlich beurkundeten
Schiffspapiere, welche von dem Schiffscapitän nöthigenfalls vorzuweiſen ſind.


Als ſolche Schiffspapiere ſind in Uebung:


  • a) der Beilbrief, ein Zeugniß über den Bau und das Signalement des
    Schiffs. Er gibt Aufſchluß über die Herkunft (Bauart), das Bau-
    material, die Größe und den Namen des Schiffs, und dient auch dazu,
    die Identität des Schiffs erkennbar zu machen.
  • b) der Seebrief oder Seepaß, eine Legitimation zur Seefahrt unter
    nationaler Flagge. Derſelbe iſt meiſtens auf den Namen des Schiffs-
    führers (Capitäns)
    ausgeſtellt;
  • c) ein Eigenthumscertificat des Rheders;
  • d) die Muſterrolle(rolle d’équipage), Verzeichniß über die Schiffs-
    mannſchaft und deren Nationalität.

Es können auch in Einer Urkunde die meiſten oder alle vorgenannte Zwecke
zuſammen berückſichtigt werden. Das Einzelne gehört nicht der völkerrechtlichen,
ſondern der ſtatsrechtlichen Beſtimmung zu. Nur die Nothwendigkeit einer
authentiſchen Beurkundung der Nationalität iſt völkerrechtlich nothwendig.


327.

Nach bisheriger Uebung ſetzen auch die Seemächte ihrerſeits die Be-
dingungen feſt, unter welchen ſie die Nationalität fremder Schiffe innerhalb
ihres Gebietes (in Seehäfen und Flüſſen) anerkennen. Es darf das aber
nicht in ſo beſchränkender Weiſe geſchehen, daß dadurch der freie Schiffahrts-
verkehr einer fremden Nation unmöglich gemacht oder ungebührlich er-
ſchwert ſind.


Die gegenwärtigen Hafenordnungen gerade der großen Seemächte
ſind noch nicht ganz von dem engherzigen Geiſte der frühern Ausſchließung der
[191]Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
fremden Schiffe und der Begünſtigung der eigenen Schiffe befreit. Man wollte jenen
doch noch den Verkehr erſchweren, wenn gleich man denſelben nicht mehr verhindern
wollte. Die engliſche zur Zeit der Republik unter Cromwell erlaſſene Navi-
gationsacte
, damals für die Entwicklung der engliſchen Marine nützlich, war aus-
ſchließlich in dem Sonderintereſſe der engliſchen Rhederei und Schiffahrt erlaſſen.
Andere Staten ahmten dieſelbe nach und ſo hinderte jeder hinwieder den andern in
der freien Thätigkeit. Die neuere engliſche Navigationsacte vom
29. Juni 1849 beſeitigt einen Theil der alten Schranken, aber fordert immer noch
Nationalität des Schiffscapitäns und von ¾ der Mannſchaft, wofür es keine zurei-
chenden Rechtsgründe gibt. Es iſt nicht einzuſehen, weßhalb ein nationaler Rheder
nicht auch einen Fremden als Capitän oder fremde Matroſen anſtellen dürfte, indem
die Nationalität einer Fabrik oder einer Handelsfirma auch keinen Abbruch erleidet,
wenn fremde Techniker, Commis und Arbeiter von derſelben beſchäftigt werden. Die-
ſelbe weitgehende Forderung hat die franzöſiſche Geſetzgebung. Die Vereinigten
Staten
von Nordamerika fordern die Nationalität von ⅔ der Mannſchaft, Ruß-
land
dagegen nur ¼, und Preußen ſieht ganz ab von dieſem Erforderniß. Schon
dieſe Vergleichung zeigt, wie willkürlich dieſe Beſchränkung iſt. Am liberalſten iſt
das Preußiſche Seerecht, welches nur Angehörigkeit des Capitäns und
nationales Eigenthum des Schiffs fordert.


328.

Es beſteht kein völkerrechtliches Hinderniß für die einzelnen Staten,
auch urſprünglich fremden Schiffen in Friedenszeiten Aufnahme in die
eigene Nationalität zu gewähren oder dieſelben vorübergehend unter den
Schutz der eigenen Flagge zu ſtellen. Nur darf das nicht in betrügeriſcher
Abſicht geſchehen, noch zur Schädigung beſtehender Rechtsverhältniſſe damit
Mißbrauch getrieben werden.


Wie der Uebergang der Perſon aus einem Statsverband in einen an-
dern möglich iſt, ſo auch der Uebergang eines Schiffes in eine andere Nationa-
lität. Dem State kommt das Recht zu, die Bedingungen feſtzuſetzen, unter denen
er die Aufnahme eines bisher fremden Schiffes in ſeinen Verband geſtattet. Aber
auch hier, wie überhaupt im Staten- und Völkerverkehr iſt die bona fides zu be-
achten. Würde ein Stat fremden Schiffen nur in der Abſicht vorübergehend ſeine
Flagge geſtatten und dieſelben als ſeine Schiffe bezeichnen, um die Zollgeſetze des
befahrenen States zu umgehen und dieſen Schiffen Zollbefreiungen zuzuwenden, an
denen ſie ihrer wahren Nationalität nach keinen Antheil haben, ſo würde ſich der
letztere Stat das nicht gefallen laſſen müſſen.


In früherer Zeit wurden im Mittelländiſchen Meer oft die Schiffe der nord-
deutſchen Seeſtädte unter den Schutz der Däniſchen Flagge geſtellt, um dieſelben
gegen die Piratenſchiffe der muhammedaniſchen Küſtenſtaten zu ſichern, mit welchen
Dänemark, aber nicht die Hanſeſtädte Verträge hatten. Dieſe Leihe des Schutzes
[192]Viertes Buch.
hat nun für Deutſchland ihr Ende gefunden. Aber für Staten mit Handelsmarine
ohne Kriegsmarine können auch heute ähnliche Bedürfniſſe ſich zeigen.


329.

Der Gebrauch einer fremden Flagge ohne Erlaubniß des betreffenden
Stats iſt unterſagt und wird inſofern als Vergehen beſtraft, als darin
ſei es eine betrügeriſche, ſei es eine die Ehre des States gefährdende
Handlung zu erkennen iſt.


Sowohl der Stat, deſſen Flagge mißbraucht wird, als der Stat, welchem
gegenüber der Mißbrauch geübt wird, haben ein Recht und Intereſſe ſei es Beſtra-
fung zu fordern ſei es, ſoweit die Umſtände es verſtatten, ſelber die Strafgerichtsbarkeit
anzuwenden. Zuweilen werden aber fremde Flaggen ohne ſtrafbare Abſicht
aufgezogen, und dann iſt auch kein Grund, eine Strafe zu verhängen.


330.

Auf offener See ſollen ſich die begegnenden Schiffe in der Regel
rechts ausweichen. Jedoch ſind die Dampfſchiffe vorzugsweiſe verpflichtet,
den Segelſchiffen und vor dem Winde ſegelnde Schiffe den bei dem Winde
liegenden auszuweichen.


Alle dieſe Regeln haben nur einen relativen Werth und wird natürlich vor-
ausgeſetzt, daß das Ausweichen möglich ſei. Dann aber iſt es billig, daß das Schiff,
deſſen Bewegung leichter zu leiten und größer iſt, auch vorzugsweiſe aus-
weiche
. Die engliſche Schiffahrsacte von 1854 (17. u. 18. Vict. c. 104) enthält
darüber in § 296 die Regel: „the helms of both ships shall be put to port
so as to pass on the portside of each other“.


331.

In engem Fahrwaſſer ſollen die Dampfſchiffe, ſoweit es ſicher und
thunlich iſt, die Seite des Fahrwaſſers oder diejenige Mitte des Fahrwegs
halten, welche auf der Steuerbordſeite liegt.


Engl. Schiffahrsacte von 1854 § 296.


332.

Bei Nachtzeit, d. h. in der Zeit zwiſchen Sonnenuntergang und
Sonnenaufgang, ſollen die Segelſchiffe auf der Fahrt und wenn ſie an
Stellen ankern, wo eine Begegnung mit andern Schiffen ſtattfinden kann,
[193]Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
ein helles weißes Licht aufſtecken, Dampfſchiffe aber außer dem hellen wei-
ßen Licht auf dem Fockmaſt ein grünes Licht auf der Steuerbordſeite und
ein rothes Licht auf der Backbordſeite haben.


Das weiße Licht an der Maſtſpitze ſoll in dunkler Nacht und bei
klarer Luft wenigſtens auf 5 Seemeilen hin ſichtbar ſein.


Auch hier hat eine Verordnung der Brittiſchen Admiralität Grundſätze ausge-
ſprochen, welche im Verfolg von den andern Seeſtaten gutgeheißen und von der
Uebung angenommen worden ſind. Es dient die Beachtung derſelben wieder zur
Vermeidung eines gefährlichen Zuſammenſtoßes der Schiffe. Nach engliſchem Recht
kann der Eigenthümer eines durch den Zuſammenſtoß verletzten oder in den Grund
gebohrten Schiffs dann auf Schadloshaltung mit Erfolg gegen den Vertreter des
andern Schiffs klagen, wenn das zweite Schiff jene Vorſchriften mißachtet und den
Zuſammenſtoß verſchuldet hat und zugleich die Mannſchaft des erſten Schiffs den
nöthigen Fleiß vergeblich aufgewendet hat, um der Gefahr zu entgehn. Vgl. Abbott
(Lord Tenterden.) Treatise of the law relative to Merchant Ships and
Seamen. Ed.
10 bei W. Shee. London 1856. Ueber das deutſche Recht vgl.
das deutſche Handelsgeſetzbuch Art. 736 ff.


333.

Niemals darf einem in Seegefahr befindlichen Schiffe und deſſen
Mannſchaft der Weg zur Rettung nach dem Lande verſchloſſen noch die
Benutzung der zur Rettung vorhandenen öffentlichen Anſtalten verſagt
werden.


Heffter, Völkerrecht § 79. 1. Es iſt das ein Gebot der Menſchlichkeit,
welches die civiliſirten Staten als verpflichtend in neuerer Zeit wechſelſeitig anerken-
nen und deſſen Mißachtung zu gegründeten Reclamationen berechtigt. Auch den
barbariſchen Stämmen gegenüber, welche dieſe Menſchenpflicht verletzen, ſind die civi-
liſirten Staten berechtigt, dieſe Forderung mit Zwang durchzuſetzen. Ausführliche
Beſtimmungen über dieſe Pflicht enthält das engliſche Schiffahrtsgeſetz von
1854 § 439 f.


334.

Niemand darf ſich an den Perſonen oder an den Gütern der Schiff-
brüchigen vergreifen. Das ſogenannte Strandrecht wird als ein barbariſcher
und völkerrechtswidriger Mißbrauch nicht mehr geduldet.


Im Mittelalter noch waren die Schiffbrüchigen und ihre Güter der Gefahr
ausgeſetzt, von den Küſtenbewohnern als Beute behandelt zu werden. Die Perſonen
wurden oft zu Sclaven gemacht oder ihnen ein Löſegeld aufgezwungen, die Güter
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 13
[194]Viertes Buch.
wurden weggenommen. Man ſuchte dieſes Raubrecht damit zu vertheidigen, daß
die hülfloſen Fremden Feinde und als ſolche rechtlos und ihre Güter herrenlos ge-
worden ſeien. Die humanere Rechtsbildung der neuen Zeit verwirft dieſe Barbarei
und achtet auch in dem Fremden ſowohl das Recht der Perſon als das Eigenthum.


335.

Die Schiffstrümmer (Wrack) und die geſtrandeten Waaren ſind kein
Gegenſtand der freien Occupation, außer wenn die Eigenthümer in un-
zweideutiger Weiſe auf ihr Eigenthum verzichtet haben. Sie können von
den Eigenthümern jederzeit ſo lange angeſprochen werden, als nicht die
Eigenthumsklage verjährt iſt.


Dasſelbe Recht ſteht auch den Perſonen zu, welche auf dieſe Güter verſichert
ſind. Das engliſche Schiffahrtsgeſetz von 1854 § 477 verpflichtet die
ganze Ufergemeinde für den Schaden einzuſtehn, welcher von den Uferbewoh-
nern an dem Wrackgute verübt worden iſt, und bedroht überdem alle, welche ſich an
dieſer unerlaubten Wegnahme betheiligt haben, auch wenn kein anderes Vergehen
darin liegt, mit einer Geldbuße.


336.

Dagegen iſt ein mäßiger Anſpruch auf Rettungs- und Bergelohn
von Seite der rettenden und bergenden Uferbewohner wohl begründet.


Der eigentliche Bergelohn(Salvage) ſetzt einen Schiffbruch oder doch das
Verlaſſen des Schiffs in Seenoth durch die Schiffsmannſchaft voraus. In andern,
beziehungsweiſe mindern Fällen, in denen der Schiffsmannſchaft nur dritte Perſonen
zu Hülfe kommen, iſt nur von Hülfslohn die Rede. Vgl. über dieſen Unterſchied
das deutſche Handelsgeſetzbuch Art. 742. Der Ausdruck Rettungslohn be-
zieht ſich vorzüglich auf die Rettung von Menſchenleben. In allen dieſen Fällen
ſind die Perſonen, welche gewöhnlich mit eigener Gefahr und ſchwerer Arbeit hülf-
reiche Dienſte leiſten, berechtigt, einen Lohn zu fordern. Aber es darf dieſe Forde-
rung nicht ſo weit geſpannt werden, daß dieſelbe in der Praxis wieder zu einem
verdeckten Raubrecht wird. Es darf nicht auf das Unglück und die Noth der See-
fahrer ſpeculirt, ſondern nur Erſatz für nützliche Dienſte verlangt werden. Das
deutſche Handelsgeſetzbuch ſetzt für Bergelohn als äußerſtes Maß den dritten
Theil des Werthes der geborgenen Güter feſt, welches nur in einzelnen Ausnahmen
bis auf die Hälfte des Werthes erhöht werden darf, Art. 748. 749. Im Einzelnen
entſcheidet, wenn über das richtige Maß Streit entſteht, das richterliche Ermeſſen mit
billiger Erwägung aller Umſtände. Ebenda 744. Von einem Rettungslohn
für Menſchen
iſt in dem Geſetz nicht die Rede. Indeſſen, wenn auch das Leben
ein unſchätzbares Gut iſt, ſo iſt doch die Arbeit für Erhaltung des Lebens wohl zu
ſchätzen und es iſt zweckmäßiger, im Intereſſe der Lebensrettung, von Rechts wegen
[195]Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
für dieſen Lohn zu ſorgen, der aus dem geretteten Gut zu bezahlen iſt, als Alles
von dem guten Willen der Betheiligten abhängig zu machen. Die Beſtimmungen
der engliſchen Schiffahrtsacte von 1854 finden ſich Art. 458 f. Vgl.
v. Kaltenborn, Seerecht II. § 147. 148.


337.

Die Uferſtaten ſind völkerrechtlich verpflichtet, nicht bloß die zur Ret-
tung in Seenoth befindlicher Schiffe vorhandenen öffentlichen Anſtalten auch
im Dienſte der gefährdeten fremden Schiffe, ohne Unterſchied der Natio-
nalität oder Religion zu verwenden und die ſchiffbrüchigen Perſonen und
Güter möglichſt zu ſchützen und zu bewahren.


In England werden die Beamten, welche den Auftrag haben, die zur Ret-
tung und zum Schutze der gefährdeten Schiffe und ihrer Bemannung nöthigen Maß-
regeln anzuordnen, receivers genannt. Sie ſind berechtigt, die allgemeine Bei-
hülfe der Küſtenbewohner und der in der Nähe befindlichen Boote aufzurufen.
Schiffahrtsacte von 1854 § 439 f.


338.

Jeder Stat iſt berechtigt, für die Ausgaben, welche er zur Rettung
und zum Unterhalt des Lebens fremder Schiffbrüchiger gemacht hat, nöthi-
genfalls von deren Heimatsſtate Erſatz zu fordern, wenn dieſelben nicht in
der Lage ſind, dieſe Koſten ſelber ohne Verzug zu erſetzen. Vorbehalten
bleibt dem Heimatsſtate der Regreß auf die betheiligten Privatperſonen.
Die allgemeinen Anſtalten dagegen für Rettung Schiffbrüchiger, welche der
Stat getroffen hat, fallen auf ſeine Koſten, und es iſt dafür der andere
Stat nicht zum Erſatze verbunden.


Dieſe Erſatzforderung des States an den Stat hat ihren Grund in der ſub-
ſidiären Pflicht des States
, das Leben ſeiner Angehörigen im Nothfall zu
ſchützen, einer Pflicht, welche freilich noch immer nicht in dem Umfang anerkannt iſt,
wie ſie es verdiente. Indem der eine Stat für die Fremden in ihrer Noth ſorgt,
leiſtet er daher auch dem Heimatsſtate derſelben einen Dienſt und leiſtet das, was
dieſer nach natürlichem Recht in der Noth ſeiner Angehörigen für dieſelben zu leiſten
hätte. Wird dieſes Recht anerkannt, ſo wird eher und beſſer für Hülfe geſorgt, und
zugleich das richtige Verhältniß der Küſtenländer gegenüber den Binnenländern ge-
wahrt. Natürlich iſt der Küſtenſtat nicht genöthigt, jene Forderung geltend zu machen
und es ſprechen auch manche Gründe der Zweckmäßigkeit, freilich nur unter der
Vorausſetzung einer hohen Civiliſationsſtufe dafür, daß ein Küſtenſtat alle dieſe im
Intereſſe der Humanität auch für Fremde gemachten Verwendungen auf ſeine
13*
[196]Viertes Buch.
eigenen Koſten übernimmt. Wird dieſe Sorge wechſelſeitig von den Uferſtaten
geübt, ſo liegt darin im Großen auch wieder die Ausgleichung der Koſten.
Jedenfalls aber gehören die Rettungsanſtalten zu den policeilichen Einrichtun-
gen eines States, welche zunächſt dem eigenen Statszweck dienen und ſind daher
nicht in Anrechnung zu bringen.


339.

Keinem State kommt im Zuſtande des Friedens eine öffentliche
Gewalt über fremde Schiffe auf offener See zu. Die Flagge deckt das
Schiff.


Es iſt das die Conſequenz der beiden Sätze a) daß das offene Meer von
jeder beſondern Statsgewalt frei
iſt und b) daß die Schiffe ſchwim-
mende Theile ihres nationalen Statsgebiets
ſind. Auf jedem Schiff
dauert alſo das einheimiſche Recht und die einheimiſche Statsgewalt fort, wenn es
auf offener See iſt und von jedem Schiff iſt alſo fremde Statsgewalt ausge-
ſchloſſen.


340.

Dagegen iſt jeder Stat verpflichtet, für Beſchädigungen oder Belei-
digungen, welche durch die Mannſchaft ſeiner Schiffe gegen fremde Schiffe
oder deren Mannſchaft auf offener See verübt werden, den Klägern gutes
Recht zu halten. Auch auf offener See iſt die friedliche Rechtsordnung
wechſelſeitig zu achten und die gewaltſame Selbſthülfe nur in Nothfällen
geſtattet.


Die Statenloſigkeit des Meeres bedeutet nicht Rechtloſigkeit, ſondern
im Gegentheil friedliche Rechtsgemeinſchaft aller Nationen. Als Noth-
fälle, welche die Selbſthülfe im Gegenſatze zu der regelmäßigen Gerichtshülfe recht-
fertigen, gelten a) alle Fälle der Nothwehr (vgl. unten § 348) gegen böswilligen
Angriff, b) die Fälle, in denen zur eigenen Rettung gegen die Gefährdung
von Seite eines andern Schiffes, auch wenn dieſelbe nicht beabſichtigt und nicht als
Vergehen zu betrachten iſt, durchgreifende Maßregeln nothwendig erſcheinen, c) die
Fälle der vorherigen Rechtsverweigerung von Seite des fremden Stats.


341.

In Friedenszeiten iſt kein Stat berechtigt, fremde Schiffe in ihrer
Fahrt auf offener See aufzuhalten, noch ſie durch ſeine Officiere zu be-
ſuchen und Vorzeigung ihrer Papiere zu fordern oder gar ihre Schiffs-
räume durchſuchen zu laſſen.


[197]Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.

Da kein Stat eine Policeigewalt über fremde Schiffe auf
offener See hat
, ſo darf er auch keine Handlungen vornehmen, welche ſich nur
aus einem Rechte der Policeiaufſicht erklären und begründen ließen. Die fremden
Schiffe ſind durchaus nicht ſchuldig, anzuhalten, ſondern berechtigt, ohne Rückſicht auf
die Zumuthungen eines andern Schiffs ihre Reiſe fortzuſetzen. Zuweilen haben wohl
ſeemächtige Staten weiter gehende Anſprüche gemacht und gelegentlich eine Art von
Seepolicei auch über fremde Schiffe üben wollen. Aber es wird das heute nicht
mehr zugeſtanden und dieſe Anmaßung iſt wenigſtens thatſächlich ſelbſt von England
aufgegeben.


342.

Wenn jedoch die Mannſchaft eines fremden Schiffes in den Eigen-
gewäſſern eines States oder auf dem Lande ein Vergehen verübt hat und
deßhalb von der einheimiſchen Strafgerichtsbarkeit verfolgt wird, ſo darf die
Verfolgung gegen das fliehende Schiff über die Eigengewäſſer hinaus in
die offene See fortgeſetzt werden.


Iſt aber einmal das Schiff dieſer Verfolgung entgangen, ſo darf es
ſpäter nicht mehr auf offener See von den Schiffen des verletzten States
angegriffen werden.


Die Verfolgung auf die offene See hinein gilt dann nur als Fortſetzung
der in den Eigengewäſſern begonnenen Verfolgung und die Rechtfertigung die-
ſer wird auf jene ausgedehnt. Dieſe Ausdehnung iſt aber nöthig, um die Wirk-
ſamkeit des Strafrechts zu ſichern. Dieſelbe findet ihre nothwendige Grenze, wenn
die Verfolgung abgebrochen werden muß.


343.

Die Piratenſchiffe werden wegen ihrer Gemeingefährlichkeit nicht ge-
duldet. Sie haben keinen Anſpruch auf den Schutz der Flagge und
können jeder Zeit auch auf offener See angegriffen und weggenommen
werden.


Als Piraten-, Räuber-, Seeräuberſchiffe werden die Schiffe betrach-
tet, welche ohne Ermächtigung eines kriegführenden States auf Beute fah-
ren, ſei es auf Menſchenraub, ſei es auf Raub von Gütern (Schiffen
oder Waaren) oder auch auf böswillige Zerſtörung von fremden Gütern
ausgehen.


Schon Cicero erklärt den „pirata“ einen „communis hostis omnium“
(de offic. I.
3, 29). Die Seeräuber gelten als Feinde des Menſchen-
geſchlechts
und ihre Unterdrückung wird als ein Recht und eine Pflicht aller
[198]Viertes Buch.
civiliſirten Staten betrachtet. Deßhalb wird auch gegen Seeräuber das Recht der
freien Schiffahrt und der beſondern Nationalität nicht gewahrt. Das Intereſſe der all-
gemeinen Verkehrsſicherheit rechtfertigt die Beſchränkung der allgemeinen Schiffahrts-
freiheit. Die Seeräuber, welche jene fortwährend als Feinde bedrohen, dürfen ſich
nicht auf dieſe berufen.


In den meiſten Erklärungen des Begriffs wird die gewinnſüchtige Ab-
ſicht
der Seeräuber, der animus furandi, als Hauptmerkmal hervorgehoben. Die
meiſten Fälle des Seeraubes haben auch unzweifelhaft dieſen Charakter. Aber wenn
ein Schiff in der Abſicht ausfährt, fremde Schiffe, vielleicht einer verhaßten Nation
zu zerſtören und ihre Güter zu verſenken oder an dem Ufer Verheerungen anzu-
richten, die Häuſer in Brand zu ſtecken, und das Alles nicht aus Gewinnſucht, ſon-
dern aus Haß oder Rache, ſo wird auch ein ſolches Schiff als Piratenſchiff zu
betrachten ſein, weil die Gemeingefährlichkeit dieſelbe und das Verbrecheriſche ſolcher
Unternehmungen ebenſo offenbar iſt. Der Richter Jenkins erklärte folgende
3 Merkmale für nöthig zum Begriff des Seeraubs: a) gewaltſamer Angriff, b) Weg-
nahme fremden Guts, c) Erregung von Furcht des Veraubten. PhillimoreI.
§ 335. Dem zweiten Merkmal fügen Andere mit Recht zu oder Mord oder Men-
ſchenraub. Daß das dritte nothwendig ſei, darf billig verneint werden, denn die
Seelenſtimmung des Verletzten iſt für das Verbrechen ohne Bedeutung. Auch
wenn die Angegriffenen ſich nicht fürchten und den Kampf mit den Seeräubern ſieg-
reich durchfechten, ſind dieſe dennoch als Seeräuber zu beſtrafen.


344.

Wenn ein ernſter Verdacht beſteht, daß ein Schiff ein Räuberſchiff
ſei, ſo iſt jedes Kriegsſchiff eines jeden Stats als ermächtigt zu betrachten,
dasſelbe anzuhalten und zu unterſuchen, ob jener Verdacht begründet ſei.


Wenn einige Schriftſteller auch in dieſem Falle den Kriegsſchiffen das Recht
abſprechen, Seepolicei zu üben und ein verdächtiges Piratenſchiff anzuhalten, ſo ver-
kennen ſie das dringende Bedürfniß aller Nationen, von der Seeräuberei befreit zu
werden. Würde die ſonſtige Regel, daß kein Stat auf offener See über fremde
Schiffe eine Macht üben dürfe, abſolut feſtgehalten, ſo wäre damit die Verfolgung
der Seeräuber in den meiſten Fällen unmöglich gemacht. Jene Regel aber wird
anerkannt im Intereſſe der Sicherheit und Freiheit der friedlichen Seefahrer. In
demſelben Intereſſe wird derſelben die ergänzende Ausnahme hinzugefügt, daß
alle Staten gleichmäßig berechtigt ſind, die Raubſchiffe als Feinde zu verfolgen.
Zu dieſem Behuf müſſen ſie dieſelben auch ihrerſeits angreifen können, wenn ſie ſich
zeigen.


345.

Ergibt ſich bei der Prüfung, daß der Verdacht unbegründet ſei, ſo
[199]Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
iſt das angehaltene Schiff berechtigt, Genugthuung und je nach Umſtänden
Schadenserſatz zu fordern.


Es iſt das die Garantie gegen Mißbrauch jenes Verfolgungsrechts zum Nach-
theil der rechtmäßigen Schiffahrt.


346.

Erſcheint der Verdacht begründet, ſo wird das Räuberſchiff als Priſe
genommen. Dasſelbe kann in jeden Hafen eines civiliſirten States, nicht
nothwendig des Nehmeſtates, gebracht und daſelbſt die Mannſchaft vor
Gericht geſtellt und beſtraft werden. Das betreffende Priſengericht entſchei-
det auch über Schiff und Gut.


Dem Recht der Verfolgung, woran alle civiliſirten Staten gleichmäßig Theil
haben, entſpricht das Recht der Beſtrafung, worin wieder alle Staten concur-
riren
. Aber das gilt nur von der völkerrechtlich anerkannten Seeräuberei
und iſt keineswegs auf die Fälle auszudehnen, welche nur nach beſonderem
Landesgeſetz
als Piraterie behandelt werden. Für ſolche Fälle gelten die ge-
wöhnlichen Grundſätze der Gerichtsbarkeit. Vgl. Wheaton, Intern. Law. édit.
8. by H Dana.
Boſton 1866. § 124.


347.

Inſoweit keine andern Eigenthumsrechte als der Räuber ſelbſt in
Betracht kommen, wird das genommene Räuberſchiff ſammt der Bewaff-
nung und Ladung als gute Seebeute dem State zugeſprochen, deſſen
Schiff das Räuberſchiff genommen hat. Es hängt von dieſem State ab,
die Mannſchaft des Kriegsſchiffes dafür zu belohnen.


Es iſt das eine analoge Anwendung des Kriegsrechts auf Seebeute, welche
wieder damit erklärt wird, daß die Seeräuber Feinde aller Staten ſind.


348.

Wird ein Privatſchiff von einem Seeräuberſchiff angegriffen, aber dieſes
von jenem überwunden und iſt der Sieger außer Stande, die gefangenen
Räuber ſicher zu verwahren und nach einem geeigneten Seehafen, der in ſeiner
Richtung liegt, abzuliefern, ſo iſt derſelbe berechtigt, ſtandrechtlich über die
Räuber zu richten und ein Todesurtheil ſofort zu vollziehen. Es iſt jedoch
in ſolchen Fällen ein ſorgfältiges Protokoll über die Zuſammenſetzung und
[200]Viertes Buch.
die Verhandlung des Gerichts, die Ausſagen der Zeugen und die Verthei-
digung der Angeklagten aufzunehmen.


Die Vertheidigung der Handelsſchiffe gegen die Seeräuber iſt, wenn irgend
eine Ausſicht auf Erfolg vorhanden iſt, nicht bloß ein Recht, ſondern eine Pflicht der
Mannſchaft. (Vgl. Kaltenborn, Seerecht I. S. 181.) Es iſt das ein Fall be-
rechtigter Selbſthülfe
(oben § 243), in welchem die Gewalt des Capitäns ſich
bis zur Gerichtsgewalt ſteigert. „Es geht den Räubern an die Raa“, iſt die alte
Seemannsdrohung. Aber wenn hier der Selbſthülfe eine ſo eingreifende Wirkſamkeit
verſtattet wird, ſo iſt es auch eine Rechtspflicht derer, welche ſie üben, den Aus-
nahmefall genau und ſorgfältig zu conſtatiren, und zugleich eine Garantie gegen den
möglichen Mißbrauch jenes Nothrechts zu ungerechter Gewaltthat.


349.

Da kein Stat im Frieden berechtigt iſt, Seebeute zu machen, ſo
darf auch kein Stat im Frieden Schiffe ermächtigen, auf Beute auszu-
fahren. Geſchieht es dennoch, ſo macht ſich der Stat der Piraterie ſchul-
dig. Alle civiliſirten Staten ſind in dieſem Falle berechtigt, den Piraten-
ſtat als einen gemeinſamen Feind zu bekämpfen, und denſelben zu zwin-
gen, daß er für den verübten Schaden Erſatz leiſte, Genugthuung und
Garantien für künftige Beachtung des Völkerrechts gebe.


1. Während langer Zeit erniedrigten ſich die europäiſchen Staten dazu, an die
Piratenſtaten der nordafrikaniſchen Seeküſte Tribut zu bezahlen, um da-
durch für ihre Handelsſchiffe Sicherheit gegen den Seeraub zu erkaufen. Erſt in
unſerer Zeit iſt endlich das Mittelländiſche Meer von dieſer Gefahr befreit und hat
die unwürdige Duldung von Piratenſtaten nun aufgehört.


2. Auch in dieſen Fällen ſind die Kriegsſchiffe aller Staten veranlaßt und er-
mächtigt, ſolche Piratenſchiffe auf offener See anzugreiſen und wegzunehmen. Die
Mannſchaft derſelben kann aber in dieſem Falle, weil ſie die Erlaubniß ihres States
für ſich hat, nicht wegen Piraterie gerichtet werden, ſondern iſt in der Regel als
kriegsgefangen zu behandeln. So wurde von dem engliſchen Admiralitäts-
gerichtshof (Richter Sir Jenkins) im Jahr 1668 entſchieden, als Algieriſche Pi-
raten an der Iriſchen Küſte gefangen wurden. PhillimoreI. 355. Wildman
I. S. 202.


3. In dem großen amerikaniſchen Bürgerkriege erklärte der Präſident
Lincoln (19. April 1861) alle ſüdſtatliche Kaperſchiffe als Piratenſchiffe
und bedrohte dieſelben mit der Strafe der Seeräuber. Indeſſen erklärte ſich das
engliſche Oberhaus gegen dieſe Ausdehnung des Begriffs als nicht im Völkerrecht
begründet; und thatſächlich wurden auch in den Nordſtaten gefangene Seeleute ſolcher
Kaperſchiffe als Kriegsgefangene behandelt. WheatonIntern. Law. § 125. Anm.


[201]Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
350.

Wenn von Schiffsleuten eines nationalen Schiffes, d. h. eines Schiffes,
welches ſich nicht dem Verbande mit einem geordneten State entzogen hat,
auf offener See Raub oder Mord oder andere Verbrechen verübt werden,
ſo iſt die völkerrechtliche Gerichtsbarkeit über Seeräuber nicht begründet,
ſondern nur die ſtatsrechtliche des States, welchem das Schiff zugehört.


Anders iſt es, wenn die aufrühreriſche Schiffsmannſchaft eines unter natio-
naler Flagge fahrenden Schiffs nun ſich von der Statsordnung losgeſagt, und eigen-
willig Räuberei betreibt. Dadurch wird das Schiff zum Piratenſchiff. Ueber einen
Fall der Art aus den Chileſiſchen Gewäſſern berichtet PhillimoreI. 357.
Wenn gleich die von einem engliſchen Kriegsſchiff gefangene Mannſchaft an die Ge-
richte von Chili zur Beſtrafung überliefert wurde, ſo erachtete ſich doch der engliſche
Admiralitätshof ebenfalls für zuſtändig. Dagegen gilt für alle andern Verbrechen,
die nicht völkerrechtlich als Seeräuberei betrachtet werden, die ordentliche Gerichtsbarkeit.


351.

Das freie Meer darf nicht zur Zufuhr von Sclaven über See miß-
braucht werden.


Die Schiffe, welche gegen das völkerrechtliche Verbot Sclaven füh-
ren, unterliegen aber zunächſt der Gerichtsbarkeit des States, welchem ſie
angehören.


Das heutige Völkerrecht verwirft die Inſtitutionen der Sclaverei als einen
Widerſpruch des natürlichen Menſchenrechts. Vgl. darüber Buch V. Abſchnitt 1.
Früher galt der Handel insbeſondere mit farbigen Sclaven als erlaubt, und noch
in dem Frieden von Utrecht von 1713 ließ ſich England von Spanien aus-
drücklich das Recht zuſichern, eine beſtimmte Anzahl Negerſclaven alljährlich in die
Spaniſchen Colonien einzuführen. Seither hat das moderne Rechtsgefühl dieſen
Handel als ein Verbrechen gegen die Menſchlichkeit gebrandmarkt. Auf
dem Wiener Congreß erklärten am 8. Febr. 1815 im Anſchluß an den Zuſatz
des Pariſerfriedens zwiſchen England und Frankreich vom 30. Mai 1814 die
verſammelten Mächte ihr Verlangen „de mettre un terme au fléau qui avait si
longtemps désolé l’Afrique, dégradé l’Europe et affligé l’humanité“
und ver-
ſprachen einander beizuſtehen in der möglichſt baldigen „abolition universelle de
la traite des nègres“
(Wheatonhistoire I. 183). Auf den Congreſſen von
Aachen 1818 und Verona 1822 wurde die Abſchaffung des Negerhan-
dels
neuerdings im Princip ausgeſprochen. Vor allen andern Staten war Eng-
land
bemüht, dieſen ſchändlichen Seehandel zu unterdrücken und ſchloß mit einer
großen Anzahl von Staten darüber beſondere Verträge ab. Das Verzeichniß dieſer
Verträge gibt PhillimoreI. § 307. Von größter Bedeutung waren insbeſon-
[202]Viertes Buch.
dere die Verträge mit Frankreich (Verträge von 1831. 1833. 1845), mit Spa-
pien
(1817. 1822. 1835), mit Portugal (1826), mit den europäiſchen Nord-
und Oſtmächten Oeſterreich, Preußen und Rußland (1845), mit den Ver-
einigten Staten
von Nordamerika (1842).


In vielen Verträgen und Geſetzen wird dieſer verbotene Handel der See-
räuberei gleichgeſtellt
und werden die Sclavenſchiffe wie Piraten-
ſchiffe
bedroht. Indeſſen iſt dieſe Gleichſtellung durchaus nicht ſelbſtverſtändlich
und es läßt ſich der völkerrechtliche Begriff der Piraterie nicht ohne weiters auf ganz
andere Handlungen übertragen. Die Piraterie gefährdet die Sicherheit des geſamm-
ten Seeverkehrs, der Sclavenhandel bedroht den Seeverkehr gar nicht, ſondern bedroht
nur das Menſchenrecht in ſeiner eigenen Ladung. Die Piratenſchiffe erkennen keine
geordnete Statsgewalt über ſich an, die Sclavenſchiffe fahren unter nationaler Flagge.
Die Unterdrückung des Sclavenhandels hat daher auch nicht denſelben nationalen
Charakter wie die Verfolgung der Seeräuber. Deßhalb beſteht auch keine allge-
meine Concurrenz aller Staten
in der Gerichtsbarkeit über das weggenom-
mene Sclavenſchiff, ſondern iſt zunächſt die nationale Gerichtsbarkeit
begründet.


352.

Soweit durch Statenverträge ein Beſuchs- oder Durchſuchungsrecht
gegen die eigenen Schiffe fremden Kriegsſchiffen zu dem Behuf geſtattet
worden iſt, um verdächtige Sclavenſchiffe anzuhalten und je nach Umſtän-
den zur Verantwortung zu ziehen, iſt dieſelbe auszuüben.


Aber es verſteht ſich ein ſolches Recht nicht von ſelbſt, auch nicht
gegen Schiffe eines Stats, welcher die Zufuhr von Negerſclaven mit den
Strafen gegen Seeraub bedroht.


Die Schwierigkeit, das Verbot des Sclavenhandels auf offener See durchzu-
führen, ohne zugleich die völkerrechtliche Selbſtändigkeit der Flagge
und die freie Schiffahrt zu gefährden, iſt bei den diplomatiſchen Verhand-
lungen ſehr entſcheidend hervorgetreten. Als eine engliſche Parlamentsacte vom Jahr
1839 die engliſchen Kreuzer ermächtigte, auf verdächtige Portugieſiſche Sclavenſchiffe
zu fahnden, wurde dieſelbe vielſeitig als eine völkerrechtswidrige Anmaßung Englands
getadelt. Durch den Vertrag Englands mit Portugal von 1842 wurde ein
wechſelſeitiges Unterſuchungsrecht (right of search) zugeſtanden. In dem Ver-
trag der fünf europäiſchen Großmächte von 1841 war erklärt, daß die
Sclavenſchiffe „den Schutz der Flagge“ einbüßen und daß die Mächte ihren bevoll-
mächtigten Kreuzern das Recht wechſelſeitig zugeſtehn, jedes Schiff, das einer der be-
treffenden Nationen angehört, aus verſtändigen Verdachtsgründen zu unterſuchen.
Indeſſen ſoll dieſes Recht, „droit de visite“ genannt, nicht im Mittelländiſchen
Meer und nur bis zum 32° nördlicher und zum 45. Grad ſüdlicher Breite in dem
atlantiſchen Meere geübt werden. Indeſſen wurde dieſer Vertrag von dem franzö-
[203]Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
ſiſchen Könige nicht ratificirt, eben weil gegen dieſes Unterſuchungsrecht ſich ernſte
Bedenken erhoben. Die Diplomatie fing nun an, genauer zwiſchen einem Beſuchs-
recht, droit de visite
, im engern Sinn und einem Durchſuchsrecht,
droit de perquisition
, zu unterſcheiden. Endlich kam im Jahr 1845 ein
Vertrag zwiſchen England und Frankreich zu Stande, in welchem zwar das
alte Droit de visite (im weitern Sinn) aufgegeben, aber doch in Art. 7 beſtimmt
wurde, daß die beiderſeitigen Kreuzer an der afrikaniſchen Küſte ermächtigt ſeien, die
wirkliche Nationalität der Schiffe zu prüfen, welche unter engliſcher
oder franzöſiſcher Flagge fahren, und vielleicht nur unter dieſer Flagge ihren Sclaven-
handel oder andere Verbrechen zu verbergen ſuchen. Zu dieſem Behuf muß aber
natürlich das fremde Schiff doch beſucht und ſeine Papiere müſſen eingeſehen wer-
den. Ergibt ſich dabei, daß das Schiff wirklich einer Nation zugehört, deren Regie-
rung das Unterſuchungsrecht nicht anerkennt, ſo muß dasſelbe ohne Verzug verlaſſen
und jedenfalls über das ganze Verfahren genaues Protokoll geführt werden. Die
Inſtructionen der beiden Staten an ihre Kreuzer ſind genau und werden wechſelſeitig
mitgetheilt. Die lebhafteſte Einſprache machten die Vereinigten Staten von
Nordamerika gegen das Durchſuchungsrecht, indem ſie die Gefahr für die freie
Schiffahrt lebhaft betonten, welche eine derartige Seepolicei vorzüglich Englands zur
Folge haben würde. Der Präſident Webſter behauptete, daß das Droit de visite
und das rhigt of search bisher immer als dasſelbe Recht betrachtet und nur
als Kriegsrecht, nicht im Frieden anerkannt worden ſei. Die Vereinigten Staten
erklärten daher, ein derartiges Recht keiner Seemacht zuzugeſtehen. Dagegen ver-
ſtanden ſich die Vereinigten Staten dazu, an der afrikaniſchen Küſte gemeinſam mit
England Kreuzer zu halten, um den Sclavenhandel möglichſt zu verhindern. Man
ſieht, der Widerſpruch der Vereinigten Staten war von Einfluß auch auf das Ver-
halten von Frankreich. Auch mit Braſilien gerieth England über dieſe Seepolicei
im Jahr 1845 in Streit. Seither hat ſich die Gefahr einer ungebührlichen See-
herrſchaft Englands erheblich vermindert, indem auch andere Staten eine anſehnliche
Kriegsmarine inzwiſchen geſchaffen haben und England die Freiheit des Meers im
Princip und in deſſen Conſequenzen umfaſſender als früher anerkennt. Mir ſcheint,
daß ein wechſelſeitiges Beſuchsrecht gegenüber von Schiffen, welche verdäch-
tig ſind, eine falſche Flagge zu führen und zugleich als Sclavenſchiffe benutzt zu
werden, wenn dieſes Recht in wohlgeordneten Formen und mit den nöthigen Ga-
rantien gegen Mißbrauch ausgeübt wird, gefahrlos für den redlichen Schiffahrtsver-
kehr und dennoch ein nothwendiges Mittel ſei, das Verbot der Negerzufuhr wirkſam
zu machen. Das andere Mittel, eigene Kreuzer zu halten, welche fortwährend eine
Küſte beaufſichtigen, iſt zu koſtbar und in der Praxis ohne Anhalten der verdächtigen
Schiffe doch nicht durchzuführen. Der Beſuch des vermeintlichen Sclavenſchiffs hat
ſich jedoch fürs erſte auf die Prüfung der Nationalität des Schiffs zu
beſchränken und darf nur, wenn weitere Verdachtsgründe ſich ergeben,
zu einer Durchſuchung führen.


[204]Viertes Buch.

4. Von den Statsdienſtbarkeiten.


353.

Wenn die Gebietshoheit eines States zu Gunſten eines andern
States — oder ausnahmsweiſe auch zu Gunſten einer unter völkerrecht-
lichem Schutze ſtehenden Körperſchaft oder Familie — vertragsmäßig und
dauernd beſchränkt wird, ſo wird dieſe Beſchränkung Statsdienſtbarkeit
genannt.


Wir nennen diejenigen Beſchränkungen der Gebietshoheit, welche aus dem
völkerrechtlichen Zuſammenhang der Staten und aus der allgemeinen Natur der
Verhältniſſe mit Rechtsnothwendigkeit ſich ergeben, wie die Pflicht zum Geſanten-
verkehr und Fremdenſchutz, die Gewährung der freien Schiffahrt auf den großen
Strömen und am Küſtenſaum u. dgl. nicht Dienſtbarkeiten, weil ſie zu der regel-
mäßigen Rechtsordnung
gehören, weil hier die Statshoheit ſelbſt als ein da-
durch nothwendig beſchränktes Recht erſcheint. Die eigentlichen Statsdienſt-
barkeiten verſtehn ſich nicht von ſelber, ſondern bedürfen einer beſondern Begründung
im einzelnen Fall. Sie ſind ein jus singulare, für welches keine Vermuthung
ſpricht.


Die Analogie der privatrechtlichen Grundſätze über die ſogenannten Prädial-
ſervituten
darf nur mit Vorſicht angewendet werden, weil es ſich hier nicht um
Verhältniſſe handelt, welche der Wilkür von Privatperſonen anheimfallen,
ſondern um Zuſtände, bei welchen das Wohl der Völker betheiligt iſt. Die
Sicherheit und Unabhängigkeit der Staten iſt doch ein ganz anderes Ding als das
Grundeigenthum und daher eine Beſchränkung derſelben von ganz anderer Wirkung
als eine Privatſervitut.


354.

Der Begründung einer Statsdienſtbarkeit durch Vertrag ſteht die
Berufung auf unvordenklichen Beſitz gleich, inſofern aus der fortdauernden
Ausübung ſolcher Beſchränkung ohne Widerſpruch des beſchränkten States
auf die Anerkennung der Dienſtbarkeit durch dieſen geſchloſſen werden kann.


Es iſt unmöglich, die herkömmlichen Statsdienſtbarkeiten zu ignoriren,
aber man darf doch nicht leichthin derartige Beſchränkungen als urſprünglich
gewillkürte
annehmen. Vielmehr bedarf es eines ſtrengen Beweiſes dafür, daß
nicht etwa der beſchränkte Stat bloß gutwillig und aus Freundlichkeit für den Nach-
barn, aber ohne Rechtsverbindlichkeit ſich die thatſächliche Beſchränkung habe gefallen
laſſen, ſondern dieſelbe als nothwendig und bindend anerkannt habe.


[205]Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
355.

Die Statsdienſtbarkeiten beſtehen entweder darin, daß der dienende
Stat um derſelben willen verhindert wird, ſeine Statshoheit in einer be-
ſtimmten Richtung vollſtändig auszuüben oder darin, daß derſelbe genöthigt
wird, eine ſtatliche Action des fremden berechtigten States innerhalb ſeines
Gebietes zu dulden, die er ohne die Dienſtbarkeit verwehren dürfte.


Die erſtern Dienſtbarkeiten beſtehen im Nichtthun(in non faciendo) und
ſind von negativer Wirkung, die letztern dagegen ſind poſitiv und beſtehn im
Dulden eines Thuns(in patiendo) von Seite des berechtigten Stats.


356.

Negative Dienſtbarkeiten ſind:


  • a) die Beſchränkung eines States in der Größe ſeines Heeres
    oder in der Anlage und Zahl ſeiner Kriegsſchiffe oder in der von
    Feſtungen u. ſ. f.,
  • b) die Verpflichtung eines Stats, ſich jeder an ſich begründeten
    Gerichtsbarkeit über die Angehörigen des berechtigten States zu
    enthalten,
  • c) die Schranken, welche der Ausübung der Kirchenhoheit aus Rück-
    ſicht auf den berechtigten Stat geſetzt werden,
  • d) die theilweiſe Befreiung gewiſſer Körperſchaften, Stiftungen oder
    Stände von der Steuerpflicht in dem dienenden State, wenn
    dieſelbe mit Rückſicht auf einen berechtigten Nachbarſtat zugeſtan-
    den worden iſt,
  • e) die Verhinderung von Zollſtationen zu Gunſten des freien Grenz-
    verkehrs der Nachbarn.

Es ſind das nur einzelne Beiſpiele, welche öfter vorkommen und meiſtens in
Friedensverträgen näher beſtimmt oder bei Gebietsabtretungen vorbehalten worden
ſind.


357.

Beiſpiele von poſitiven Dienſtbarkeiten ſind:


  • a) das Recht eines fremden Stats, die inländiſchen Straßen zu
    ſeinen Truppenmärſchen zu benutzen (Etappenſtraßen),
  • b) das Recht eines fremden Stats, einen inländiſchen Gebietstheil
    unter Umſtänden mit ſeinen Truppen zu beſetzen,

[206]Viertes Buch.
  • c) das Recht eines fremden Stats, ſeine Gerichtsbarkeit oder Po-
    liceigewalt oder Steuerhoheit auf einen inländiſchen Gebietstheil
    auszudehnen,
  • d) das Recht, Zollſtationen daſelbſt anzulegen und zu unterhalten,
    Durchſuchungen dort vorzunehmen,
  • e) das Recht, Poſtanſtalten daſelbſt zu errichten und das Poſtregal
    auszuüben.

358.

Im Zweifel iſt allezeit zu Gunſten der dienſtfreien Statshoheit und
die anerkannte Dienſtbarkeit als ein Ausnahmerecht in beſchränkendem Sinne
zu interpretiren.


Je größer der Werth iſt, welchen die moderne Statsentwicklung der Ein-
heit und Freiheit
des Stats zuſchreibt, um ſo weniger günſtig werden dieſe
Dienſtbarkeiten betrachtet, welche immer jener Einheit Abbruch thun, indem ſie die
wenn auch beſchränkte Herrſchaft eines fremden States begründen, und immer dieſe
Freiheit hemmen, indem ſie den einheimiſchen Stat verhindern, ſeine Souveränetät
vollſtändig auszuüben. Sie ſind daher weit hinfälliger als die privatrechtlichen Ser-
vituten, indem ſie unter Umſtänden von einer neuen Statsentwicklung verdrängt und
beſeitigt werden. Vgl. § 359.


359.

Eine Statsdienſtbarkeit geht unter


  • a) durch einen Befreiungsvertrag des pflichtigen mit dem berechtigten
    Stat,
  • b) durch Verzicht des berechtigten Stats. Als Verzicht iſt auch ein
    über ein Menſchenalter fortgeſetzter Nichtgebrauch anzuſehen, wenn
    die Veranlaſſung zum Gebrauch wiederholt gegeben war,
  • c) wenn dieſelbe aufgehört hat, mit der Entwicklung des Völkerrechts
    verträglich zu ſein,
  • d) wenn dieſelbe mit der naturgemäßen Fortbildung der Statsver-
    faſſung oder mit den öffentlichen Zuſtänden und Bedürfniſſen des
    pflichtigen Landes unverträglich und deßhalb unleidlich und un-
    ausführbar geworden iſt.

Da das Statsrecht und ebenſo das Völkerrecht nur um der gemeinſamen
öffentlichen Bedürfniſſe willen
als nothwendige Ordnung der
öffentlichen Zuſtände
beſteht, ſo kann es auch im Einzelnen nicht aufrecht
[207]Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
erhalten werden, inſofern es mit der allgemeinen Entwicklung nicht zugleich fort-
dauern kann. Dieſe Entwicklung kann und darf nicht durch Verträge, welche einer
andern vergangenen Zeit angehören und damals einen Sinn hatten, der inzwiſchen
verloren gegangen iſt, verhindert werden. Denn das hieße die Staten und die
Menſchheit an der Erfüllung ihrer Beſtimmung verhindern und das Weſen des
Rechts ſelber verderben. In dieſer Weiſe ſind unzählige Statsdienſtbarkeiten, welche
im Mittelalter entſtanden waren und damals zu der herrſchenden Lehensverfaſſung
paßten, ſeit der Ausbildung des modernen States mit dem Lehensrechte untergegan-
gen. Wenn ein Stat in ſeinem Innern Einheit und Gleichheit der Rechtspflege
einführte und in Folge deſſen die patrimoniale Gerichtsbarkeit der Grundherrn ab-
ſchaffte, ſo ließ er ſich auch nicht abhalten, aus denſelben Gründen und einfach durch
ſeine Verfaſſungs- und Geſetzesreform die patrimoniale Gerichtsbarkeit eines fremden
Landesherrn in ſeinem Lande abzuſchaffen, welche mit jener grundherrlichen Gerichts-
barkeit des einheimiſchen Adels weſentlich identiſch und ganz eben ſo wenig mit den
modernen Grundſätzen der Rechtspflege verträglich iſt. In ähnlicher Weiſe iſt beſonders
ſeit der franzöſiſchen Revolution die vom Mittelalter überlieferte Verflechtung
verſchiedener Landeshoheiten auf demſelben Gebiete
gelöst und ein
einfacheres und gleichmäßigeres Rechtsverhältniß hergeſtellt worden.


[[208]][[209]]

Fünftes Buch.
Die Statshoheit im Verhältniß zu den Perſonen.


1. Schutz der perſönlichen Freiheit.


360.

Es gibt kein Eigenthum des Menſchen am Menſchen. Jeder
Menſch iſt Perſon, d. h. ein rechtsfähiges und mit Recht begabtes Weſen.


Dieſer natürliche Rechtsſatz, der ſchon von den römiſchen Juriſten erkannt
wurde, iſt während Jahrtauſenden von den meiſten Völkern gegen ihr beſſeres Ge-
wiſſen mißachtet und verdunkelt worden. Im Alterthum hat man ſich, um die un-
natürliche Sclaverei zu rechtfertigen, auf die gemeine Rechtsübung der Völker, das
jus gentium berufen. Nur ganz allmählich und langſam hat die europäiſche Civi-
liſation jenen ſchändlichen Mißbrauch der Gewalt des herrſchenden über den dienen-
den Menſchen, den man Eigenthum nannte und mit dem Eigenthum an Hausthieren
auf Eine Linie ſtellte, gemildert und endlich abgeſchafft und das natürliche Menſchen-
recht der Perſon anerkannt. Als bereits in Italien, in England und in Frankreich
die Eigenſchaft aufgehoben war, beſtand dieſelbe noch in einigen deutſchen Ländern
fort, und ſpäter als in Deutſchland, erſt in unſern Tagen wurde ſie in Rußland
beſeitigt. So bildete ſich nach und nach das europäiſche Recht aus, welches die
Sclaverei nicht mehr als wirkliches Recht in Europa gelten ließ, ſondern die per-
ſönliche Freiheit als Menſchenrecht ehrte. Nachdem die Vereinigten Staten von
Nordamerika ſich ebenfalls gegen die Sclaverei der Schwarzen erklärt und innerhalb
ihres Machtbereichs die widerſtrebenden Staten genöthigt haben, die perſönliche Frei-
heit und die bürgerlichen Rechte auch der dunkeln Raſſen anzuerkennen, iſt jenes
Menſchenrecht auch in Amerika durchgedrungen und nunmehr zu allgemeiner
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 14
[210]Fünftes Buch.
Anerkennung in dem Rechtsbewußtſein der chriſtlichen Welt gelangt. Die chine-
ſiſche Cultur in Oſtaſien hatte ſchon lange vorher denſelben natürlichen Rechtsſatz
anerkannt. Man darf daher in Zukunft nicht mehr wie bisher die Berufung auf
die Souveränetät einzelner Staten gelten laſſen, welcher es nicht verwehrt werden
dürfe, bei ſich die Sclaverei feſtzuhalten oder einzuführen. Höchſtens dürfen Ueber-
gangsbeſtimmungen, welche aus der herkömmlichen Sclaverei ſchrittweiſe zur perſön-
lichen Freiheit hinüberleiten, geachtet werden. Die Souveränetät der Staten darf
nicht mehr ſo ausgeübt werden, daß dadurch das höhere und allgemeinere
Recht der Menſchheit
vernichtet wird, denn die Staten ſind menſchliche Orga-
nismen und pflichtig, das allgemein erkannte Menſchenrecht zu reſpectiren.


361.

Das Völkerrecht erkennt kein Recht der Sclaverei an, weder wenn
Einzelne noch wenn Staten ſie behaupten.


Es iſt das nur der negative Ausdruck des obigen Princips der perſönlichen
Freiheit, welche das Völkerrecht anerkennt.


362.

Wenn fremde Sclaven den Boden eines freien States betreten, ſo
werden ſie ſofort von Rechts wegen als Freie betrachtet und ohne daß es
einer Freilaſſung des Herrn bedarf, auch gegen dieſen in ihrer Freiheit
geſchützt.


Die Luft des freien Stats macht noch ſchneller und entſchiedener frei,
als im Mittelalter die Luft der freien Stadt. Damals bedurften die eigenen
Leute, welche in die Stadt geflüchtet waren, einer Erſitzung der Freiheit von Jahr
und Tag und waren meiſtens vor Ablauf derſelben der Vindication der nachjagenden
Herrn ausgeſetzt. Wenn heute ein fremder Herr mit ſeinen Sclaven als Dienern
in ein freies Land kommt, wohin auch die Fahrt in freiem Schiffe auf offener See
gehört, ſo ſind die letztern berechtigt, gegen jede Gewalt des Herrn den Schutz der
Gerichte und je nach Umſtänden der Policei anzurufen. Dieſer Schutz wird unbe-
denklich gewährt, ohne daß der betreffende Sclavenſtat ſich deßhalb als über die
Mißachtung ſeines nationalen Rechts beſchweren kann, denn das Völkerrecht hält die
Sclaverei nirgends mehr für Recht.


363.

Es wird weder überſeeiſcher Handel mit Sclaven, noch werden
Sclavenmärkte geduldet.


[211]Die Statshoheit im Verhältniß zu den Perſonen.

Vielmehr iſt es das Recht und die Pflicht der civiliſirten Staten,
wo ſolche Mißbräuche noch geübt werden, deren Abſtellung zu fördern.


England gebührt der Ruhm, die Barbareskenſtaten zuerſt theils durch diplo-
matiſchen Einfluß, theils durch kriegeriſchen Zwang (Beſchießung von Algier im
Auguſt 1816) dahin gebracht zu haben, daß ſie auf die Chriſtenſclaven Verzicht lei-
ſteten, für Gegenwart und Zukunft. Auch Frankreich wirkte in derſelben Richtung.
Die europäiſche Diplomatie erreichte auch in Conſtantinopel ähnliche Zugeſtändniſſe.
Aber noch iſt die Sclaverei, und ſind ſelbſt die Sclavenmärkte abgeſehen von Süd-
amerika, wo ſie nun im Erlöſchen begriffen ſind, bei den rohen Nationen von
Mittelaſien und im Innern von Afrika, welche von der Bewegung der chriſtlich-
ariſchen Civiliſation bisher wenig berührt ſind und der Ausbreitung der Humanität
noch viele Hinderniſſe entgegenſetzen, noch in voller Uebung. Zuletzt werden aber
auch dieſe barbariſchen Raſſen oder halbbarbariſchen Nationen der wachſenden Macht
des humaner gewordenen modernen Völkerrechts ſich nicht entziehen können.


2. Von der Statsgenoſſenſchaft.


364.

Jedem Stat ſteht das Recht zu, ſelbſtändig feſtzuſetzen, unter wel-
chen Bedingungen ſeine Statsgenoſſenſchaft (Statsangehörigkeit) erworben
und verloren werde.


Es iſt das zunächſt eine innere Angelegenheit des States und daher
eine ſtatsrechtliche, nicht eine völkerrechtliche Frage. Aber inſofern als die An-
gehörigkeit eines Individuums zu einem beſtimmten State auch von fremden Staten
zu beachten iſt, ſchließen ſich internationale Wirkungen an den ſtatsrechtlichen Ent-
ſcheid an und hat ſich das Völkerrecht damit zu befaſſen.


Die Grundſätze, welche in den verſchiedenen Ländern beachtet werden, ſind
noch ſehr verſchieden. In den einen Staten wird vorzugsweiſe auf den perſön-
lichen Familienzuſammenhang
(Abſtammung und Ehe) geſehen, in den
andern mehr auf die örtliche Beziehung zum Lande (Geburtsort, Wohnort)
der Nachdruck gelegt. Vgl. Bluntſchli, Allgem. Statsrecht. Buch II. Cap. 20 (19).


365.

Im Zweifel wird angenommen, daß die Ehefrau durch die Heirat
in die Statsgenoſſenſchaft ihres Ehemannes eintrete, und daß die ehelichen
14*
[212]Fünftes Buch.
Kinder mit der Geburt und ſo lange ſie in dem väterlichen Hauſe leben,
der Statsgenoſſenſchaft ihres Vaters folgen.


Der Ehemann und der Vater als Haupt des Hauſes verbindet auch die Glie-
der des Hauſes, die Frau und die Kinder mit dem State, zu dem er gehört. Da-
bei wird jedoch vorausgeſetzt, daß die Ehe in dieſem State als rechtsgültig anerkannt
werde, und daß nicht etwa beſondere Vorbehalte gemacht und zugeſtanden worden
ſind oder andere geſetzliche Vorſchriften in einem Lande beſtehen. So gibt es Län-
der, welche wohl den ehelichen Kindern bei ihrer Geburt die Statsgenoſſenſchaft zu-
erkennen, aber nicht ohne weiteres geſtatten, daß dieſelben ihrem Vater folgen, wenn
derſelbe ſpäter ein anderes Statsbürgerrecht erwirbt.


366.

Die unehelichen Kinder erhalten, wenn ſie nicht von dem State des
geſtändigen oder ermittelten Vaters aufgenommen werden, das Heimatsrecht
in dem State der Mutter, aber folgen dieſer nicht in einen andern Stats-
verband nach, wenn ſie ſpäter durch Heirath eine neue Statsgenoſſenſchaft
erwirbt.


Der erſte Satz folgt aus der ſichern Abſtammung des Kindes von der
Mutter. Nur in der Ehe gilt die Abſtammung vom Vater als ebenſo ſicher und
entſcheidet überdem die Rückſicht auf die leitende Stellung des Vaters im Hauſe und
die bedeutſam hervortretende Beziehung desſelben zum State. Außer der Ehe und
außerhalb des Hauſes kann zunächſt nur die Abſtammung von der Mutter über die
Angehörigkeit zunächſt entſcheiden. Indeſſen nehmen manche Rechte der Einzelſtaten
auch die unehelichen Kinder in das Heimatsrecht auf, das der Vater beſitzt, wenn er
dieſelben als ſeine Kinder anerkennt oder ſogar, wenn er als Vater gerichtlich erwie-
ſen und erklärt worden iſt.


Der zweite Satz hat ſeinen Grund darin, daß die Mutter nicht als Haupt
ſondern als Glied der Familie in die Ehe kommt und damit in einen neuen
Statsverband eintritt, daher auch ihre Kinder nicht ſelbſtändig nachziehen kann.


367.

Es iſt möglich, daß Jemand einen feſten Wohnort in einem Lande
beſitzt und daſelbſt niedergelaſſen iſt, ohne in den Statsverband dieſes
Landes einzutreten und ebenſo, daß Jemand Grundeigenthum in einem
Lande erwirbt und bewirthſchaftet, ohne Statsgenoſſe daſelbſt zu werden.


Wenn Heffter § 59 alle „in einem Lande Domicilirten“ d. h. jeden, der
darin eine feſte häusliche Einrichtung für ſich getroffen hat (Landſaſſen im wei-
teſten Sinne des Wortes) als Statsangehörige nach völkerrechtlichen Grundſätzen be-
[213]Die Statshoheit im Verhältniß zu den Perſonen.
zeichnet, ſo geht er meines Erachtens zu weit. Es gibt in vielen civiliſirten Staten
eine große Anzahl anſäſſiger fremder Kaufleute, Fabrikanten u. ſ. f., welche nicht in
den Statsverband ihres Wohnorts aufgenommen ſind, ſondern in dem nationalen
Statsverband verbleiben, dem ſie vor ihrer Niederlaſſung in fremdem Lande ange-
hört haben. Die Niederlaſſung und der Gewerbsbetrieb geſchieht zunächſt aus pri-
vatrechtlichen
Motiven, und es iſt keineswegs nothwendig, daß damit die
ſtatsrechtliche Abſicht, aus einem Statsverband in einen andern überzugehen,
verbunden wird. Der Code civil (§ 17) erklärt ausdrücklich, daß die kaufmänniſche
Etablirung in einem fremden Lande im Zweifel nicht als Auswanderung anzuſehen
ſei. Sie geſchieht nicht „sans esprit de retour“.


368.

Jeder Stat iſt verpflichtet, ſeine Angehörigen wieder in ſeinem Lande
aufzunehmen, wenn ſie von andern Staten aus öffentlich-rechtlichen Grün-
den heimgewieſen oder zugeſchoben werden.


Die Heimweiſung und der Zuſchub findet hauptſächlich aus zwei Gründen
Statt, a) wenn die Individuen außer Stande ſind, ſich ſelber zu ernähren und der
Hülfe bedürfen, b) wenn dieſelben die Rechtsſicherheit in dem fremden Lande bedrohen.
Der Heimatsſtat kann ſich in beiden und in ähnlichen Fällen überhaupt nicht wei-
gern, ſeine Landsleute aufzunehmen, da ſie zu ſeinem Lande gehören. Eben darum
iſt auch die Strafe der Verbannung nur unter der Vorausſetzung durchzuführen,
daß die verbannten Perſonen ſich in der Fremde zu erhalten im Stande ſind und
nicht überall zurückgewieſen werden. In neuerer Zeit beklagen ſich die Vereinigten
Staten von Nordamerika und wohl noch andere außereuropäiſche Colonialſtaten dar-
über, daß die europäiſchen Staten ihre Gefängniſſe dadurch entleeren, daß ſie Ver-
brecher und liederliches Geſindel dorthin auswandern laſſen und ihre Ueberſiedlung
unterſtützen. Dieſe Beſchwerde iſt nicht ohne Grund und es entſtehen aus einer
ſolchen Praxis für die Colonien ernſtliche Gefahren. Die überſeeiſchen Staten können
ſich gegen ſolchen Mißbrauch ihres Gebiets dadurch wahren, daß ſie ihren Entſchluß
ankündigen, ſie werden ſolche Verbrechercoloniſten wieder in den abſendenden
Heimatsſtat zurückbringen
laſſen. Dazu ſind ſie ohne Zweifel berechtigt,
und der Heimatsſtat, der ſeine Angehörigen aufnehmen muß, wird in Zukunft nicht
mehr das fremde Land als einen bequemen Ort für Verbrecher-Coloniſten be-
trachten.


369.

Zur Vermeidung der Heimatloſigkeit iſt die Annahme begründet, daß
aus dem Wohnort in einem beſtimmten State oder ſelbſt aus lange fort-
geſetztem Aufenthalt in einem Lande, in Ermanglung anderer Gründe für
einen andern Statsverband, auf Statsangehörigkeit geſchloſſen werde.


[214]Fünftes Buch.

Heimatloſe werden die Perſonen genannt, deren Statsangehörigkeit un-
ſicher iſt. In der civiliſirten Statenwelt beſteht ein allgemeines Intereſſe, daß es
keine Heimatloſen gebe. Sie ſind eine Ausnahme von der wichtigen Regel, daß die
Individuen im Statsverbande leben und meiſtens auch eine Gefahr für die Sicher-
heit der Geſellſchaft. Daher die Verſuche, die Fälle der Heimatloſigkeit möglichſt zu
beſchränken. Die Convention der deutſchen Staten vom 15. Juni 1851
beſtimmt, daß jeder Stat Perſonen, welche keinem der Staten erweislich zugehören,
dann als Angehörige bei ſich aufnehmen müſſe, wenn dieſelben fünf Jahre lang als
Volljährige ſich in ſeinem Gebiete aufgehalten oder als Eheleute daſelbſt auch nur
ſechs Wochen lang gewohnt oder daſelbſt ihre Ehe geſchloſſen haben, eventuell, wenn
ſie in dieſem Lande geboren ſind. Der wechſelſeitige Zuſchub von heimatloſen Per-
ſonen von einem State zum andern iſt nicht bloß inhuman, ſondern auch mit Ge-
fahren für die Sittlichkeit und die Sicherheit verbunden und eine Quelle von un-
nützen Streitigkeiten zwiſchen den Nachbarſtaten.


370.

Wie der freie Menſch nicht an die Scholle gebunden iſt, ſo iſt auch
der freie Statsbürger nicht an das Land ſeiner Heimat gebunden.


Die Verhältniſſe in beiden Fällen ſind allerdings nicht gleich, denn im erſten
Fall wird nur das Verhältniß einer Perſon zu einer Sache, dem Grund-
ſtück gelöst und es iſt ſelbſtverſtändlich, daß der Sache kein Recht zukommt, die
Perſon an ſich zu feſſeln. Im zweiten Fall dagegen wird der Verband zwiſchen
dem einzelnen Statsgenoſſen und dem ganzen Stat gelöst, alſo der Verband
zwiſchen zwei Perſonen
, von denen überdem die letztere der erſtern übergeordnet
iſt. Indem die frühere Rechtsbildung dieſe Abhängigkeit betonte, ſprach ſie den ent-
gegengeſetzten Grundſatz aus, daß kein Statsgenoſſe willkürlich auf ſeine Statsange-
hörigkeit verzichten, beziehungsweiſe aus ſeinem Unterthanenverband austreten dürfe.
Heute noch hält das engliſche Statsrecht dieſen Grundſatz im Princip feſt, wenn
gleich es in der Praxis der Auswanderung keine ernſten Hinderniſſe bereitet. Viele
Statsrechte legen wenigſtens noch auf die Form der „Entlaſſung“ aus dem
Statsverband einen Werth. Aber allmählich hat doch die Anſicht Geltung erlangt,
daß es des States unwürdig ſei, ſeine Angehörigen wider Willen feſt zu halten, als
wären ſie Statshörige, und daß es für die heutige Civiliſation und den reicheren
Wechſelverkehr der Nationen weit erſprießlicher ſei, die volle Auswanderungs-
freiheit
anzuerkennen.


371.

Durch die vollzogene Auswanderung wird das Band gelöst, durch
welches der Auswanderer bisher mit ſeinem frühern Heimatlande verbun-
den war.


[215]Die Statshoheit im Verhältniß zu den Perſonen.

Die Auswanderung wird dadurch vollzogen, daß der bisherige
Statsgenoſſe ſein Heimatland in der Abſicht verläßt, die Statsgenoſſen-
ſchaft mit demſelben aufzugeben und von einem andern State in deſſen
Statsverband aufgenommen wird.


Es kann Jemand ſein Vaterland in der Abſicht verlaſſen, anderwärts ein
Etabliſſement zu gründen oder irgend einen Beruf zu treiben, ohne daß er die Ab-
ſicht hat, ſein Statsbürgerrecht aufzugeben. Das iſt nicht Auswanderung. Aber
auch die Abſicht allein genügt nicht zur Löſung des Bandes. Abgeſehen von der in
manchen Staten geforderten Entlaſſung aus dem Statsverband, iſt als entſcheidend
die Aufnahme in eine neue Statsgenoſſenſchaft anzuſehn. Denn es
beſteht ein allgemeines völkerrechtliches Intereſſe, keine neue Heimatloſigkeit aufkom-
men zu laſſen. Daher dauert die alte Statsgenoſſenſchaft in völkerrechtlichem Sinne
dennoch fort, bis die neue an ihre Stelle getreten iſt; aber auch nicht darüber
hinaus, gegen den Willen des Betheiligten, weil ſonſt leicht Conflicte zwiſchen den
beiden Staten entſtehen, die im Intereſſe des friedlichen Verkehrs zu vermeiden ſind.
Der neue Statsverband verdient deßhalb den Vorzug vor dem ältern, weil dieſer
nicht mehr, wohl aber jener mit dem Willen des Auswanderers und mit den that-
ſächlichen Verhältniſſen desſelben zuſammen ſtimmt. Die franzöſiſche Geſetzgebung
(Cod. civ. § 17) ſpricht das richtige Princip aus: „La qualité de Français se
perdra par la naturalisation en pays étranger.“


372.

Wenn der Auswanderer die Pflichten verletzt, welche er nach dem
Geſetze ſeines Landes zu erfüllen hat, bevor er auswandern darf, ſo kann
er von dem verlaſſenen State auch dann noch innerhalb deſſen Gerichts-
barkeit zur Rechenſchaft und Strafe gezogen werden, wenn er eine neue
Statsgenoſſenſchaft erworben hat, aber er hat trotzdem Anſpruch auf den
Schutz ſeines neuen Heimatſtats dafür, daß nicht durch jene Beſtrafung
ſein gegenwärtiger Rechtsverband mißachtet werde.


Nach Preußiſchem Rechte wurden ſo Preußiſche Auswanderer, welche ſich der
geſetzlichen Militärpflicht entzogen hatten, wenn ſie ſpäter wieder nach Preußen
zurückkamen, vor Gericht geſtellt und geſtraft. Darüber kam es mit den Vereinigten
Staten von Amerika wiederholt zu Erörterungen, indem ſich dieſe ihrer Einwanderer
und neuen Bürger annahmen. Der Conflict der beiden Staten läßt ſich, abgeſehen
von beſonderen Verträgen, nur dadurch löſen, daß jedem State ſein Recht
wird
, dem vormaligen Heimatſtate ſein Recht, die Fahnenflüchtigen wegen
der unbeſtreitbaren Pflichtverletzung zu ſtrafen, aber auch dem neuen Heimat-
ſtate
ſein Recht, nunmehr ſeinerſeits den Neubürger als ſolchen zu ſchützen und
deſſen militäriſche Dienſte vorzugsweiſe in Anſpruch zu nehmen.


[216]Fünftes Buch.
373.

In der Regel iſt jedes Individuum nur mit Einem State verbunden
und iſt die Statsgenoſſenſchaft wie das Statsbürgerrecht auf Ein Land
beſchränkt.


Die Natur der Statsgenoſſenſchaft, welche hinwieder eine Vorbedingung iſt
des Statsbürgerrechts, iſt ſo entſcheidend für das ganze perſönliche Rechtsverhältniß
und der Verband des Einzelnen mit dem State iſt ein ſo enger, daß eine Spaltung
der Einen Perſon nach zwei Staten hin oder eine zwiefache Verbindung derſelben
erhebliche Schwierigkeiten und ernſte Bedenken gegen ſich hat. Man kann ohne Be-
denken zugleich Mitglied verſchiedener Actiengeſellſchaften, aber nicht ebenſo leicht
Bürger in zwei Staten ſein. Daher iſt in manchen Ländern die geſetzliche Beſtim-
mung vorgeſchrieben, daß Niemand neu als Statsgenoſſe aufgenommen (naturaliſirt)
werde, wenn er nicht aus ſeinem bisherigen Statsverbande entlaſſen worden ſei.
Man will dadurch den möglichen Conflicten einer zwiefachen Statsgenoſſen-
ſchaft
entgehen. Aber es läßt ſich in dieſer Form nicht immer helfen, weil mög-
licher Weiſe der eine Stat die Entlaſſung verweigert, während der andere die Natu-
raliſation für gerechtfertigt und zweckmäßig hält.


In zuſammengeſetzten Staten (Bundesſtaten und Statenreichen)
kommt regelmäßig eine doppelte Beziehung der Statsangehörigkeit und des Stats-
bürgerrechts vor, einmal gegenüber dem Geſammtſtate und ſodann gegenüber dem
Einzelſtate. Dieſe beiden Verbände widerſtreiten ſich nicht, weil der zuſammengeſetzte
Stat in ſich ſelber denſelben Gegenſatz zwiſchen Einem Geſammtſtat und mehreren
Einzelſtaten friedlich zu einigen weiß.


374.

Ausnahmsweiſe können ein Einzelner und deſſen Familie mit zwei
oder mehreren einander fremden Staten als Statsgenoſſen verbunden ſein.


Wenn aus dieſer Doppelbeziehung ſich ein Conflict der Statsrechte
und der Bürgerpflichten ergeben ſollte, ſo wird angenommen, daß der
Statsverband vorzugsweiſe wirkſam ſei, in deſſen Lande der Doppelbürger
gegenwärtig wohnt und daß die Wirkſamkeit des Statsverbands ſuspendirt
ſei, in deſſen Lande der Doppelbürger zur Zeit nicht wohnt.


Vgl. die ähnliche Entſcheidung in § 371. Derartige Ausnahmen kommen unleug-
bar vor. Die ſtandesherrlichen Familien in Deutſchland gehören öfter gleichzeitig
dem Statsverbande zweier oder mehrerer deutſcher Staten an und ihre Häupter
haben dann Stimmrecht in den Erſten Kammern verſchiedener Staten. Ebenſo fin-
den ſich manche andere Beiſpiele, daß Angehörige eines Stats, ohne den Verband
mit ihrem alten Vaterland abzulöſen, in einen fremden Statsdienſt eingetreten und
in Folge deſſen auch Statsgenoſſen eines andern Stats geworden ſind. Ich
[217]Die Statshoheit im Verhältniß zu den Perſonen.
hatte früher angenommen, daß in dem Conflictfall das ältere Recht vorgehe. Aber
ich habe mich ſeither überzeugt, daß der Grundſatz der Auswanderungsfreiheit und
zugleich der thatſächlich nähere Verband mit dem State des Wohnorts als
entſcheidend anerkannt werden muß. Vgl. v. Bar, Internat. Privat- und Straf-
recht S. 88.


3. Hoheitsrecht und Schutzpflicht des States gegenüber ſeinen Stats-
genoſſen im Ausland.


375.

Der Stat iſt berechtigt, aus öffentlich-rechtlichen Gründen, insbeſon-
dere zur Erfüllung der Kriegspflicht, ſeine Angehörigen aus einem fremden
Lande weg- und heimzurufen.


Der fremde Stat iſt aber nicht verpflichtet, demſelben bei dem Voll-
zug dieſes Befehls beizuſtehen und ſolche Fremde aus ſeinem Gebiete weg-
zuweiſen.


Man nennt dieſen Recht jus avocandi. Es iſt eine Folge der Herrſchaft
des Stats über ſeine Angehörigen, aber dieſe Herrſchaft iſt nicht eine abſolute, ſon-
dern eine verfaſſungsmäßig beſchränkte. Es darf daher der Rückruf nicht
aus bloßer Laune geſchehen. Aber auch den wohl begründeten Rückruf braucht der
Aufenthaltsſtat nicht zu unterſtützen, da das ganze Verhältniß nur der Beziehung
des Statsgenoſſen zu ſeinem Heimatſtat angehört, der Aufenthaltsſtat aber kein In-
tereſſe daran und daher keinen Grund hat, die perſönliche Freiheit der fremden Rei-
ſenden oder derer, die ſich in ſeinem Gebiete aufhalten wollen, zu beſchränken.


376.

Die Steuerpflicht gegen den Stat wird in der heutigen Rechtsbil-
dung regelmäßig von dem Wohnort, und nicht von dem Statsverband
abhängig gemacht.


Ausnahmsweiſe aber kann der Heimatſtat von ſeinen im Ausland
lebenden Bürgern oder Angehörigen gewiſſe Steuern (z. B. Armenſteuern)
fordern. Wenn aber das geſchieht, ſo iſt der Stat des Wohnorts oder
Aufenthaltsorts in keiner Weiſe verbunden, bei der Steuererhebung mit-
zuwirken.


[218]Fünftes Buch.

Der Wohnort iſt der Centralort des perſönlichen Lebens, Wir-
kens, Genießens
der Steuerpflichtigen und ihres Haushalts. Um deßwillen
hält ſich der Stat, wenn er Steuern fordert, vorzugsweiſe an dieſen Ort. Die Bei-
treibung von Steuern im Auslande iſt überdem thatſächlich ſchwer durchzuführen,
weil der Stat dort keine Steuererheber hat und keine Zwangsmittel anwenden kann,
und der fremde Stat ſeine Anſtalten und ſeine Zwangsmittel ihm für ſolche Zwecke
nicht zur Verfügung ſtellt.


377.

Grundſtücke und Gewerbe werden in der Regel nur da verſteuert,
wo jene liegen und dieſe betrieben werden.


Der Stat, in dem dieſelben ſich befinden, hat gerade ein Intereſſe, ſich einer
Beſteuerung durch den fremden Stat zu widerſetzen, auch dann, wenn der Eigen-
thümer des Grundſtücks oder des induſtriellen oder Handelsetabliſſements ein Stats-
genoſſe dieſes letzteren States iſt. Denn doppelte Beſteuerung von demſelben
Steuerobject iſt Ueberbürdung desſelben mit Steuern, und wirkt in nationalwirth-
ſchaftlicher Hinſicht ſchädlich.


378.

Der Stat kann über die Statsgenoſſen in fremdem Lande ſeine
Gerichtsbarkeit nicht üben, wenn nicht ausnahmsweiſe der fremde Stat das
zugeſteht.


Beiſpiele ſolcher Ausnahmen ſiehe oben § 216. 220.


379.

Es hängt von der Landesgeſetzgebung ab, zu beſtimmen, inwiefern
die Privatgeſetze für die Statsgenoſſen auch im Auslande rechtsverbindlich
ſeien.


In der Regel wirkt auch die Civilgeſetzgebung nur innerhalb des Landes;
d. h. das ſogenannte Territorialprincip iſt entſcheidend. Das entgegengeſetzte
Perſonalprincip wirkt am eheſten in den perſönlichen und Familienverhält-
niſſen, wie z. B. den Bedingungen der Ehe, dem Vormundſchaftsrecht, dem geſetzlichen
Erbverband u. dgl.


380.

Der Heimatsſtat iſt berechtigt und im Verhältniß zu ſeiner Macht
[219]Die Statshoheit im Verhältniß zu den Perſonen.
auch verpflichtet, ſeinen Angehörigen im Ausland den den Umſtänden an-
gemeſſenen Schutz durch völkerrechtliche Mittel zu gewähren,


  • a) wenn der fremde Stat ſelber in völkerrechtswidriger Weiſe wider
    ſie verfahren hat,
  • b) wenn die Mißhandlung oder Verletzung jener Perſonen zwar
    nicht unmittelbar dem fremden State zur Laſt fällt, aber dieſer
    keinen Rechtsſchutz dagegen gewährt.

Der Heimatsſtat iſt in ſolchen Fällen berechtigt, von dem fremden
State Beſeitigung des Unrechts, Genugthuung und Entſchädigung, nach
Umſtänden auch Garantien gegen ähnliche Verletzungen zu fordern.


Fälle der Art ſind z. B.: Der fremde Stat nimmt die Reiſenden ohne Grund
gefangen, macht ſie zu Sclaven, nöthigt ſie zu einem andern Religionsbekenntniß,
beraubt ſie ihres Vermögens, behandelt ſie ſonſt in grauſamer Weiſe, verletzt an
ihnen die zum Schutz des Handels- und Fremdenverkehrs abgeſchloſſenen Verträge
oder die gute Sitte des internationalen Verkehrs. Nur die Staten, nicht die Privat-
perſonen ſind völkerrechtliche Perſonen im eigentlichen Sinne, aber auch dieſe haben
durch Vermittlung jener einen Anſpruch auf völkerrechtlichen Schutz.


Wird der Inländer im Auslande zunächſt nicht durch den fremden Stat
d. h. durch deſſen Organe (Beamte, Diener) oder der von der Statsgewalt begün-
ſtigten Bevölkerung in ſeiner Perſon oder ſeinem Vermögen verletzt, ſondern durch
Privatperſonen
, denen allein die Rechtsverletzung als Schuld angerechnet wer-
den kann, z. B. durch Räuber, Diebe, Raufer u. ſ. f., ſo tritt keineswegs in erſter
Linie der heimatliche Statsſchutz ein, ſondern es hat zunächſt der Stat, in deſſen
Gebiet die Rechtsverletzung geſchehen iſt, durch ſeine Rechtspflege für Beſeitigung des
Unrechts und je nach Umſtänden Beſtrafung der Verbrecher zu ſorgen. Mit gutem
Grunde würde dieſer Stat, dem allein die Gerichtsbarkeit in ſeinem Lande zukommt,
eine unzeitige Einmengung eines fremden Stats in die Verwaltung ſeiner Rechts-
pflege ſich verbitten. Der beleidigte oder verletzte Angehörige eines andern States
muß ſich demnach zunächſt an die Behörden des States um Rechtshülfe
wenden, in dem er wohnt. Nur wenn ihm der Rechtsweg abgeſchnitten und der
Rechtsſchutz verweigert wird, vorher nicht, iſt Grund zu einer Intervention ſeines
Heimatsſtates vorhanden. Man hat ſich hier vor zwei Extremen zu hüten, dem
einen, welches die Statsangehörigen im Ausland ſchutzlos der Bedrängniß und
Mißhandlung Preis gibt, — es war das bis auf die neuere Zeit die wohl begrün-
dete Klage der Angehörigen deutſcher Klein- und Mittelſtaten — und dem andern,
einer ungebührlichen Einmiſchung in die fremde Rechtspflege und Verwal-
tung zu Gunſten von Statsangehörigen, welche die diplomatiſche Unterſtützung da
anrufen, wo ſie gleich andern Privatperſonen nur berechtigt ſind, ordentliche Rechts-
mittel anzuwenden — eine Ueberſpannung des Statsſchutzes, die man nicht ohne
Grund zuweilen England vorgeworfen hat. Im erſtern Fall wird die Sicherheit
[220]Fünftes Buch.
der Privatperſonen im Ausland gefährdet, im zweiten die Rechtsgleichheit
der Staten
und die Selbſtändigkeit der Rechtspflege bedroht.


In allen dieſen Verhältniſſen wird übrigens bona fides vorausgeſetzt. Wenn
unter dem Schein der geordneten Rechtspflege die fremden Landesgerichte unſern
Statsangehörigen offenbar als rechtlos behandeln oder ſeiner Nationalität wegen be-
drücken, wenn ſie ihm nur ſcheinbar Rechtsſchutz gewähren, in Wahrheit aber ihn
der Verfolgung Preis geben, ſo iſt auch in ſolchen Fällen der Heimatsſtat berechtigt,
ſich ſeines Statsgenoſſen diplomatiſch anzunehmen. Nicht weil er einen Proceß ver-
liert, den er gewinnen zu müſſen meinte, auch nicht, weil vielleicht nach der Meinung
der einheimiſchen Juriſten das fremde Urtheil unrichtig iſt, hat er Anſpruch auf
Schutz des Heimatsſtats, ſondern nur, weil der fremde Stat in ihm das Völ-
kerrecht mißachtet
.


4. Hoheitsrecht und Rechtsſchutz gegenüber den Ausländern im
Inland.


381.

Kein Stat iſt berechtigt, den Fremden überhaupt die Betretung ſei-
nes Gebiets zu unterſagen und ſein Land von dem allgemeinen Verkehr
abzuſperren.


Der Schutz des friedlichen Verkehrs innerhalb der Menſchheit iſt
eine Pflicht des civiliſirten Völkerrechts. Die ältere Lehre, von der Souveränetät
des States ausgehend, folgerte daraus die Berechtigung der Statsgewalt, alle Frem-
den auszuſchließen. Aber die Staten ſind Glieder der Menſchheit und deßhalb ver-
pflichtet, die Verbindung der Menſchen zu achten, und ihre Souveränetät iſt kein
abſolutes Recht, ſondern ein durch das Völkerrecht beſchränktes Recht. Die allgemeine
Abſchließung von jedem Fremdenverkehr iſt in den verſchiedenen Zeitaltern von ein-
zelnen Staten verſucht worden, und nicht bloß von barbariſchen Stämmen, welche
alle Fremde als Feinde haſſen, ſondern von Culturvölkern, wie im Alterthum von
Aegypten, und in neuerer Zeit von Paraguay und Japan. Das heutige Völkerrecht
duldet aber dieſe Abſchließung nicht mehr. Vgl. oben § 163.


382.

Jeder Stat iſt berechtigt, einzelnen Fremden aus Gründen ſowohl
des Rechts als der Politik den Eintritt in ſein Land zu unterſagen.


[221]Die Statshoheit im Verhältniß zu den Perſonen.

Die Ausſchließung bedarf der Motivirung mit Gründen der ſtatlichen Ord-
nung und Sicherheit oder des öffentlichen Wohls. Sonſt wäre ſie im Widerſpruch
mit dem völkerrechtlichen Grundſatz des freien Verkehrs. Die Beurtheilung der
Gründe ſteht aber bei dem State, der innerhalb ſeines Gebiets die Statshoheit aus-
zuüben berufen iſt.


383.

Ebenſo iſt der inländiſche Stat berechtigt, aus öffentlichen Gründen
einzelne Fremde, welche ſich nur vorübergehend in ſeinem Lande aufhalten,
aus ſeinem Gebiete wegzuweiſen. Haben ſie aber einen feſten Wohnſitz
daſelbſt erworben, ſo genießen ſie auch den damit verbundenen erhöhten
Rechtsſchutz.


Das ſogenannte Droit du renvoi darf wieder nicht als ein abſolutes
Recht des States betrachtet werden, ſonſt wäre das Recht des allgemeinen Weltver-
kehrs neuerdings bedroht. Der Stat iſt kein abſoluter Herr weder über das Land
noch über die Menſchen im Lande. Auch in dieſer Hinſicht iſt die ältere Lehre zu
ſehr von der mittelalterlichen Vorſtellung des Eigenthums am Land und von
der abſolutiſtiſchen Idee einer unbeſchränkten Souveränetät mißleitet wor-
den. Meiſtens wird noch der Statsgewalt die Macht zugeſtanden, nach eigenem Er-
meſſen durch bloße Verwaltungs- und Regierungsacte über die Wegweiſung von
Fremden zu entſcheiden, ohne daß die davon Betroffenen einen genügenden Rechts-
ſchutz bei den Gerichten finden.


384.

Wird ein gehörig legitimirter Fremder ohne Grund verhindert, das
Land zu betreten oder grundlos oder in ungebührlicher Form weggewieſen,
ſo iſt ſein Heimatsſtat veranlaßt, wegen Verletzung des völkerrechtlichen
Verkehrs Beſchwerde zu führen und je nach Umſtänden Genugthuung zu
fordern.


In ſeinen Angehörigen kann auch der Stat verletzt werden, der berufen iſt,
ſie zu ſchützen. Die bloß willkürliche und gehäſſige Wegweiſung kann daher zu di-
plomatiſchen Erörterungen führen, und der Fremde, der davon betroffen wird, iſt
jedenfalls veranlaßt, die Beihülfe ſeines Conſuls oder die Dazwiſchenkunft ſeines
Geſanten anzurufen.


385.

Es iſt Sache der Landesgeſetzgebung, zu beſtimmen, ob und unter
[222]Fünftes Buch.
welchen Bedingungen Landesfremde Grundeigenthum erwerben und Handel
oder Gewerbe in dem Lande ſelbſtändig betreiben dürfen.


Das Völkerrecht entſcheidet darüber nicht, ſondern das Statsrecht, außer
wenn durch Statenverträge nähere auch dem andern Stat gegenüber bindende Be-
ſtimmungen getroffen ſind.


386.

Die Fremden haben einen rechtmäßigen Anſpruch auf den geſetzlichen
und landesüblichen Rechtsſchutz ihrer Perſönlichkeit, ihrer Familien- und
Vermögensrechte.


Im Alterthum und im Mittelalter verſtand ſich dieſes Recht der Fremden
keineswegs. Vielmehr wurden ſie als rechtloſe Leute betrachtet, wenn ſie nicht
unter den beſondern Schutz eines Gaſtfreundes oder Patrones oder eines Grundherrn
oder angeſehenen Bürgers geſtellt waren. Die Fremden von heute dagegen ſtehen
unter dem Schutze des humaner gewordenen Rechtes der civiliſirten Völker. Auch
der früher beliebte Vorzug der Einheimiſchen vor den Ausländern in der Geltendma-
chung von Forderungen und insbeſondere im Concurſe wird immer mehr als unge-
recht und der heutigen auf Gleichheit gegründeten Rechtsbildung zuwiderlaufend all-
mählich überall beſeitigt. Zunächſt freilich entſcheidet die Landesgeſetzgebung über
die Bedingungen und die Ausdehnung des den Fremden zukommenden Rechtsſchutzes.
Aber offenbare Unbill, welche der Stat gegen die Fremden üben wollte, würde Re-
clamationen der Staten rechtfertigen, welchen dieſelben angehören.


387.

Kein Stat iſt verpflichtet, fremden Perſonen Privilegien oder ſolche
perſönliche und Standesrechte zuzugeſtehn, welche mit der Verfaſſung und
den Grundrechten desſelben nicht vereinbar ſind. Vorbehalten bleiben die
Rechte ſouveräner Perſonen und ihrer Vertreter.


Ein Stat, deſſen Verfaſſung keinen Adel duldet, wie z. B. die Vereinigten
Staten von Nordamerika, kann daher auch fremden Adlichen keine beſondern Adels-
rechte zugeſtehen. Strenge genommen braucht aber auch ein Stat, in dem es noch
Adelsprivilegien gibt, dieſelben fremden Adlichen deßhalb nicht einzuräumen, weil die
Inſtitution des Adels von weſentlich öffentlich-rechtlichem Urſprung und ein Theil der
beſondern Statsverfaſſung iſt, welche als ſolche nicht auf ein anderes Land
übertragbar iſt. Indeſſen werden die Ehrenvorzüge, welche dem eigenen Adel zu-
kommen, der Sitte gemäß gewöhnlich auch den Fremden von ähnlicher Rangſtellung
eingeräumt, und auch inſofern eine möglichſt gleichmäßige Behandlung der Einhei-
miſchen und der Fremden angeſtrebt.


[223]Die Statshoheit im Verhältniß zu den Perſonen.
388.

Die Fremden ſind verpflichtet, die Verfaſſung und Rechtsordnung
des Landes zu beachten und dürfen dieſelben nicht verletzen. Sie ſind der
einheimiſchen Statsgewalt zwar nicht in Folge des Statsverbands aber
inſofern unterworfen, als dieſelbe allein in dem Lande Autorität und
Macht hat.


Die Exterritorialität, von der oben § 135 die Rede war, iſt eine Ausnahme
von der Regel, daß ſich die Gerichtsbarkeit und Polizeigewalt über Einheimiſche und
Fremde erſtreckt. Andere Ausnahmen gründen ſich zuweilen auf beſondere Verträge
oder auf Herkommen. Immerhin aber wirkt die Rückſicht darauf, daß die Fremden
nicht perſönlich dem State verbunden ſind, wo ſie gerade ſich aufhalten,
ſondern einem andern State angehören, ſehr bedeutend ein und vermindert und er-
mäßigt die Ausübung der einheimiſchen Statsgewalt gegen Fremde. Selbſt bei Ver-
waltung der Strafrechtspflege und der Policeigerichtsbarkeit verdient das vielleicht
mangelhafte Verſtändniß der einheimiſchen Vorſchriften und Sitten von Seite der
Fremden eine billige und ſchonende Rückſicht.


389.

Die Fremden, welche nur vorübergehend ihren Aufenthalt im Lande
nehmen, dürfen nicht zu den Landesſteuern beigezogen werden. Wohl aber
ſind ſie ſchuldig, die Gebühren für öffentliche Leiſtungen wie die Einhei-
miſchen zu bezahlen und es kann ihnen auch eine mäßige Gebühr für den
Aufenthalt auferlegt werden.


Die regelmäßige Steuerpflicht ſetzt entweder Statsangehörigkeit der
Steuerpflichtigen oder Landesangehörigkeit der beſteuerten Güter (in-
ländiſche Grundſtücke und Etabliſſements) voraus. In dieſen beiden Beziehungen
ſind die durchreiſenden Fremden nicht ſteuerpflichtig. Inwiefern dagegen von der
Verzehrung von Gütern mittelbar eine Steuer erhoben wird (Conſumtionsſteuer)
oder von der Bewegung der Handelsgüter Zölle bezogen werden, ſo treffen natürlich
dieſe Abgaben die Fremden, welche jene Güter conſumiren und zollbare Waaren ein-
oder ausführen, ganz ebenſo wie die Einheimiſchen.


390.

Fremde, welche im Lande anſäſſig ſind, oder Grundbeſitz im Lande
haben, ſind im Zweifel gleich Einheimiſchen den Landesſteuern und der
Grundſteuer unterworfen.


Vgl. oben § 280.


[224]Fünftes Buch.
391.

Landesfremde ſind im Inland nicht militärpflichtig. Vorbehalten
bleiben Nothfälle zur Vertheidigung eines Ortes wider Räuber oder
Wilde.


Die Militärpflicht iſt weſentlich politiſche Pflicht und daher von der
Statsgenoſſenſchaft nicht zu trennen. Wie den Fremden in der Regel nicht politiſche
Rechte eingeräumt werden, ſo dürfen ihnen auch nicht ſo ſchwere politiſche Pflichten
auferlegt werden. Würden die Fremden genöthigt, Militärdienſte in fremdem Lande
zu thun, ſo würden ſie unter Umſtänden genöthigt, für ihnen fremde Statsintereſſen
und gegen die politiſchen Intereſſen ihres Vaterlandes ihr Leben einzuſetzen, was
offenbar unnatürlich wäre. Selbſt wenn die Fremden anſäſſig im Lande ſind, ſo
dürfen ſie höchſtens zu ſolchen Militärdienſten herbeigezogen werden, welche den Zweck
haben, Perſonen und Eigenthum durch locale Kraftentwicklung zu ſchützen,
alſo zur Vertheidigung des Orts, aber nicht zu politiſcher Kriegsführung.


392.

Den Fremden muß der freie Wegzug jederzeit offen ſtehn.


Im Mittelalter war dieſes Recht auch in den europäiſchen Staten keineswegs
anerkannt. Heute wird es nur in barbariſchen Ländern noch beſtritten. Es folgt
aus dem natürlichen Recht des menſchlich-freien Verkehrs.


393.

Auch der Wegzug des Vermögens oder der Verlaſſenſchaft von
Fremden darf in der Regel nicht verwehrt, noch mit beſondern Steuern
oder Abzügen beläſtigt werden.


Bis in unſer Jahrhundert hinein galten in den meiſten europäiſchen Ländern
noch andere Grundſätze. Der Wegzug insbeſondere von Capitalvermögen
wurde noch vielfältig mit Abzugsſteuern beſchwert und noch mehr der Wegzug
von Verlaſſenſchaften. Die mittelalterlichen Landesherrn behaupteten öfter ein
ausſchließliches Recht auf die Verlaſſenſchaft der Fremden zu haben, welche ſich in
ihrem Territorium vorfand, ſelbſt mit Ausſchluß der ausländiſchen Erben. Man
nannte das jus albinagii, droit d’aubaine. War es nicht mehr möglich,
den Fremden ſelbſt als ein rechtloſes Weſen zu behandeln, ſo behandelte man doch
ſeine Verlaſſenſchaft als ein herrenloſes Gut. Unſere heutige Rechtsbildung erkennt
darin eine widerrechtliche Barbarei und gibt auch die ermäßigte Form der Abzugs-
ſteuern nicht mehr zu. In einer ſehr großen Anzahl von Statenverträgen ſind dieſe
Abzugsgelder vertragsmäßig während unſers Jahrhunderts abgeſchafft worden. All-
mählich iſt aber aus dieſem Vertrags- und Geſetzesrecht allgemeines interna-
[225]Die Statshoheit im Verhältniß zu den Perſonen.
tionales Recht geworden, ſo daß heute die Einführung ſolcher Abgaben als Ver-
letzung des internationalen Verkehrs empfunden und zu völkerrechtlichen Beſchwerden
der Staten Anlaß geben würde.


5. Ausführungspflicht und Aſylrecht.


394.

Jeder Stat iſt kraft ſeiner Selbſtändigkeit berechtigt, Fremden den
Aufenthalt in ſeinem Lande zu geſtatten.


Dieſes Recht des States, Fremde aufzunehmen und zu ſchützen,
kann ausgeübt werden, ungeachtet der Heimatsſtat derſelben ſeine Stats-
angehörigen zurückruft oder deren Auslieferung begehrt.


Vgl. oben § 375. Freilich läuft der Stat, welcher längere Zeit Fremden gegen
den Willen ihres Heimatſtats in ſeinem Lande Aufenthalt gewährt, die Gefahr, daß
der Heimatsſtat dieſelben ihrer Statsgenöſſigkeit für verluſtig erklärt und er genö-
ihigt wird, dieſelben nun zu behalten, beziehungsweiſe in ſeine Angehörigkeit aufzu-
nehmen.


395.

Eine Pflicht, flüchtige fremde Verbrecher oder eines Verbrechens an-
geklagte Flüchtlinge dem verfolgenden Gerichte auszuliefern, wird nur in-
ſofern anerkannt, als dieſelbe entweder durch beſondere Statenverträge
(Auslieferungsverträge) begründet oder zur Sicherung eines allgemeinen
Rechtszuſtandes als nothwendig erſcheint.


Im letztern Fall iſt die Auslieferungspflicht jedenfalls auf ſchwere
und gemeine Verbrechen beſchränkt, und ſetzt voraus, daß die Rechtspflege
des verfolgenden Stats hinreichende Garantien gebe für eine civiliſirte
Verwaltung der Gerechtigkeit.


Die Meinungen über die Auslieferungspflicht und das Aſylrecht
ſind noch ſehr getheilt ſowohl in der Statenpraxis als in der Wiſſenſchaft. Noch
machen ſich extreme Meinungen geltend. Zuweilen wird ein unbeſchränktes
Aſylrecht
der Staten behauptet, welches nur durch Auslieferungsverträge beſchränkt
werde. Die Vertheidiger dieſer Anſicht — Puffendorf, Martens, Story
und andere — führen dafür an, daß dieſe Flüchtlinge nicht die Rechtsordnung des
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 15
[226]Fünftes Buch.
Aſylſtats verletzt haben, und daher auch nicht von dieſem zu verfolgen ſeien, daß die
Strafgewalt ihrem Weſen nach territorial und nicht international ſei, daß
jedenfalls geringe Sicherheit für eine im Sinne des Aſylſtates geübte Juſtiz vor-
handen ſei und daß daher der Aſylſtat keine Veranlaſſung habe, einer fremden Ge-
richtsbarkeit zu dienen und keine Verpflichtung, ſeine Schutzhoheit zu beſchränken.


Aber auch für die entgegengeſetzte Meinung haben ſich jederzeit gewichtige
Stimmen erhoben, wie die von Grotius, Vattel, Kent u. ſ. f., welche auf das
allgemeine Intereſſe an der Handhabung der Gerechtigkeit und die Nothwendigkeit
der Beſtrafung der Verbrecher hinweiſen, auf die Gefahren aufmerkſam machen, welche
daraus für die Geſellſchaft entſtehen, wenn Verbrecher leicht einen Zufluchtsort fin-
den, in dem ſie ſich ſicher fühlen und von wo aus ſie ihre Angriffe auf die Rechts-
ordnung erneuern, und daraus die Pflicht der Staten ableiten, einander in
der wirkſamen Handhabung der Strafrechtspflege zu unter-
ſtützen
.


Meines Erachtens würde ein unbeſchränktes Aſyl die allgemeine menſch-
liche Rechtsordnung und Rechtsſicherheit bedrohen, zumal bei der Beweglichkeit der
heutigen Verkehrsmittel. Es iſt ein allgemeines Intereſſe, nicht ein bloßes Landes-
intereſſe, daß Mörder, Räuber, grobe Betrüger und große Diebe beſtraft werden.
Vortrefflich hat der franzöſiſche Miniſter Rouher (Rede vom 4. März 1866) die
Gründe für die Auslieferungspflicht mit wenigen Worten ausgeſprochen:
„Der Grundſatz der Auslieferung iſt der Grundſatz der Solidarität, der wechſelſeiti-
gen Verſicherung unter Regierungen und Völkern gegen ein überall drohendes Uebel
(contre l’ubiquité du mal)“.


Aber auch eine abſolute Auslieferungspflicht würde in manchen
Fällen die Intereſſen der Humanität und der Freiheit ernſtlich gefährden, und man
darf nicht vergeſſen, daß manche Verbrechen ausſchließlich den davon betroffenen Stat
und nicht die menſchliche Geſellſchaft verletzen und daß auch die Vertheidiger des
Aſyls gute Gründe anführen, auf welche innerhalb der nöthigen Schranken billige
Rückſicht zu nehmen iſt.


Wo die Statenverträge die Auslieferung im Einzelnen näher ordnen, und
das iſt in neuerer Zeit ſehr oft geſchehen, da kommen natürlich die vertrags-
mäßigen Beſtimmungen
zur Anwendung. Wenn keine Verträge binden, ſo
muß man ſich an die allgemeinen Rechtsgrundſätze halten. Da aber dieſe
heute noch nicht gleichmäßig und nicht allgemein anerkannt ſind, ſo hängt es that-
ſächlich
noch von dem Ermeſſen des Aſylſtates ab, zu beſtimmen, in wie
weit er ſich durch die allgemeine Rechtsordnung für gebunden erachte. Es iſt aber
möglich und ſogar wahrſcheinlich, daß allmählich einige Hauptgrundſätze in der civi-
liſirten Welt ſich allgemeine Billigung erringen und ſo weit das geſchieht, wird
dann die Willkür der einzelnen Staten beſchränkt.


396.

Den politiſchen Flüchtlingen darf jeder Stat freies Aſyl gewähren.
Der Aſyl gebende Stat iſt nicht verpflichtet, auf Begehren des verfolgenden
[227]Die Statshoheit im Verhältniß zu den Perſonen.
Stats dieſelben auszuliefern oder wegzuweiſen. Aber der Aſylſtat iſt ver-
pflichtet, nicht zu geſtatten, daß das Aſyl dazu mißbraucht werde, um die
die Rechtsordnung und den Frieden der andern Staten zu gefährden, und
völkerrechtlich verbunden, diejenigen Maßregeln zu treffen, welche nöthig
ſind, um ſolchen Mißbräuchen zu wehren.


Der von vielen Criminaliſten beſtrittene Gegenſatz der politiſchen und
der gemeinen Verbrechen wird in den neuern Statenverträgen und noch mehr in
der gegenwärtigen Statenpraxis anerkannt, und ſogar von ſolchen Staten, welche
eine allgemeine Auslieferungspflicht ſelbſt von politiſchen Verbrechern im Princip für
nothwendig erklären, thatſächlich dann gemacht, wenn ihre politiſchen Sympathien
den fremden Flüchtling decken. Die politiſchen Verbrechen beziehen ſich nothwendig
auf die Verfaſſung und die politiſchen Zuſtände eines beſtimmten
Stats
und ſind deßhalb für andere Staten kein Gegenſtand der Sorge. Eine
Solidarität der politiſchen Intereſſen beſteht nicht nothwendig und es iſt ebenſo
möglich, daß die politiſchen Grundſätze und Richtungen des verfolgenden und des
Aſylſtats einander widerſtreiten. Der verfolgte politiſche Verbrecher in einem Land
wird in einem andern Lande vielleicht als ein Märtyrer der Freiheit verehrt; und
die im Namen des Rechts verfolgenden Gewalthaber des einzelnen Stats werden
vielleicht in dem andern State als Unterdrücker des Rechts gehaßt. Selbſt wo die
Gegenſätze der Beurtheilung nicht ſo ſchroff auftreten, erinnert man ſich doch, daß
die Verwaltung der Rechtsflege in politiſchen Strafproceſſen nach dem Zeugniß der
Geſchichte leichter von den Leidenſchaften bald der Machthaber bald einflußreicher
Parteien mißleitet wird als die Strafgerichtsbarkeit über gemeine Vergehen und man
nimmt Rückſicht darauf, daß zuweilen ehrbare und edle Menſchen aus Vaterlands-
liebe die politiſche Rechtsordnung ihres Heimatſtats verletzt haben. Die Intereſſen
der Politik, der Gerechtigkeit und der Humanität vereinigen ſich daher,
um über die politiſchen Flüchtlinge den Schutz des Aſyls auszubreiten.


Aber indem der Stat den fremden politiſchen Flüchtlingen ein Aſyl gewährt,
iſt er nicht von der Pflicht entbunden, den Mißbrauch des Aſyls zu verhüten.
Das Aſyl ſchützt den Flüchtigen vor Verfolgung, aber es darf nicht zu einer ſichern
Stätte für die Fortſetzung des politiſchen Verbrechens werden. Der
Flüchtling findet hier Ruhe und einen Ort der Zuflucht in ſeiner Gefahr, aber er
darf nicht die Angriffe auf die Verfaſſung und das Recht ſeines States von da aus
ungeſtraft erneuern. Der Aſylſtat hat auch gegenüber dem Heimatsſtat desſelben
Rückſichten des Friedens und der Freundſchaft zu nehmen. Ein Stat, welcher den
fremden Räubern Schlupfwinkel eröffnet, aus denen ſie ihr verbrecheriſches Handwerk
mit beſſerem Erfolg und mit geringerer eigener Gefahr betreiben, macht ſich ſicherlich
einer ſchweren Verletzung der Nachbarpflichten ſchuldig; und nicht weniger wird ein
Stat, welcher auf ſeinem Gebiete feindliche Unternehmungen von fremden Flüchtlin-
gen gegen einen benachbarten Stat begünſtigt, dafür verantwortlich gemacht von dem
bedrohten State.


15*
[228]Fünftes Buch.
397.

Es ſteht jedem State zu, die Bedingungen feſtzuſetzen, unter welchen
er fremden Flüchtlingen ein Aſyl gewährt. Die Flüchtlinge ſelber haben
keinen Rechtsanſpruch auf Gewährung des Aſyls gegen den fremden Stat.


Der Flüchtling kann ſich nicht wie ein anderer Reiſender auf das Recht des
freien Verkehrs berufen, denn eine Grundbedingung dieſes Rechts iſt Unbeſchol-
tenheit der Reiſenden
. Kein Stat iſt verpflichtet, Verbrecher oder eines Ver-
brechens Angeklagte bei ſich aufzunehmen und zu dulden, weil ſolche Fremde auch die
Sicherheit ſeiner Bewohner oder unter Umſtänden des Stats ſelbſt gefährden. Es
gilt das auch von politiſchen Verbrechern. Aber wohl hat der Stat die moraliſche
Pflicht, dabei nicht inhuman zu verfahren. Die Zurückweiſung insbeſondere von
politiſchen Flüchtlingen oder gar ihre Auslieferung kann, ſelbſt wenn ſie keine Rechts-
verletzung iſt, doch eine tadelnswerthe Grauſamkeit ſein.


398.

Der Schutzſtat, welcher das Aſyl gewährt hat, iſt auch, wenn das-
ſelbe mißbraucht wird, berechtigt, und bei fortdauernder Gefahr für den
befreundeten Heimatsſtat des Flüchtlings auch verpflichtet, das Aſyl zu
entziehen oder inſoweit zu beſchränken, daß jene Gefahr beſeitigt wird.


In mindern Fällen wird eine ſchärfere Aufſicht über den Flüchtling
oder die Internirung desſelben von der Grenze weg, ins Innere des Landes
genügen, in ſchweren Fällen die Wegweiſung in vorgeſchriebener Richtung
nöthig ſein.


399.

Zur Auslieferung von Einheimiſchen an einen fremden Stat, in
deſſen Gebiet dieſelben ein Verbrechen verübt haben, iſt der Heimatsſtat
niemals verpflichtet.


Dieſe gegenwärtig auch von ſolchen Staten anerkannte Regel, welche eine
Auslieferungspflicht bei gemeinen Verbrechen annehmen, macht freilich dann eine be-
denkliche Lücke in das Strafrecht, wenn dieſelben im Inlande nicht für
ein auswärts begangenes Verbrechen zur Verantwortung gezogen werden können.
Sie bleiben in dieſem Falle ſtraflos, obwohl die allgemeinen Rechtsgrundſätze eine
Beſtrafung ihres Verbrechens erfordern. Aber man zieht es vor, dem Individuum
dieſen Glücksfall zuzugeſtehen, als die Statsgenoſſen einer fremden Strafgerichts-
barkeit zu überliefern.


[229]Die Statshoheit im Verhältniß zu den Perſonen.
400.

Die Auslieferung geſchieht in der Regel auf Koſten des States,
welcher dieſelbe begehrt. Die Geſtattung des Aſyls dagegen fällt dem
Schutzſtate allein zur Laſt.


Selbſtverſtändlich iſt nur von den nöthigen Koſten hier die Rede, welchen
ſich die Staten nicht entziehen können. Soweit die Flüchtlinge für ſich ſelber zu
ſorgen im Stande ſind, iſt von keiner Statspflicht die Rede.


401.

Die Auslieferung eines flüchtigen Verbrechers kann auch in bedingter
Weiſe gewährt werden.


Z. B. der ausliefernde Stat verlangt, daß der Ausgelieferte nur wegen
eines gemeinen, nicht auch wegen eines politiſchen Verbrechens geſtraft werde,
oder er liefert nur aus, wenn ihm die Zuſicherung ertheilt wird, daß keine Todes-
ſtrafe
verhängt werde. Der Stat, welcher auf ſolche Bedingungen hin den Aus-
gelieferten empfängt, iſt dann dem Auslieferungsſtat gegenüber verpflichtet, demgemäß
zu verfahren.


In der Regel wird die Auslieferung von dem verfolgenden State begehrt,
von dem Zufluchtsſtat gewährt. Es iſt aber auch möglich, daß dieſelbe von dieſem ange-
boten wird, ja ſogar, daß der Stat, dem dieß Anerbieten gemacht wird, die Ueber-
nahme des Flüchtlings als eine Verlegenheit zu vermeiden wünſcht. In ſolchen
Fällen kann ſich der Heimatſtat zwar nicht der Aufnahme ſeines Statsgenoſſen in
ſeinem Lande entziehen (oben § 368), aber wenn er dieſelben nicht weiter verfolgt, ſo
geht das den ausliefernden Stat nichts an.


[[230]][[231]]

Sechstes Buch.
Völkerrechtliche Verträge.


1. Erforderniſſe und Wirkſamkeit der völkerrechtlichen Verträge.


402.

Die Staten können als ſelbſtändige Perſonen ihre beſondern Rechts-
verhältniſſe auch durch Verträge unter einander ordnen, ſo daß daraus
eigentliches Vertragsrecht entſteht.


Verſchieden von dieſen Verträgen, welche beſonderes Vertragsrecht unter
den Vertragsparteien
begründen, iſt eine völkerrechtliche Uebereinkunft mehrer
Staten, welche eine allgemeine Rechtsregel ausſpricht. Im letztern Fall iſt
das pactum instar legis, und es entſteht ein Geſetz, wenn auch in der
vielköpfigen Form der Vereinbarung. Sehr viele Beſtimmungen der völkerrechtlichen
Congreſſe haben dieſen letztern und nicht den erſteren Charakter und begründen da-
her nicht conventionelles, ſondern nothwendiges Recht. Vgl. oben § 12.
13. In dieſem Buch iſt nur die Rede von dem eigentlichen Vertragsrecht.


403.

Jeder Stat kann als Perſon auch Vertragspartei werden, und jede
unabhängige Macht gilt im Völkerverkehr im Zweifel als vertragsfähig.
Wenn aber ein Stat in der Ausübung des Vertragsrechts verfaſſungs-
mäßig beſchränkt erſcheint, ſo iſt ſolche Beſchränkung auch im Verkehr der
Staten zu beachten.


[232]Sechstes Buch.

Wenn ein Stat der Schutzhoheit eines andern Stats unterworfen iſt, ſo
kann ihm das Recht, ſelbſtändig mit andern Staten Verträge abzuſchließen, gänzlich
oder theilweiſe entzogen ſein. Ebenſo ſind in den zuſammengeſetzten Staten
regelmäßig die Einzelſtaten ſehr erheblich in der Vertragsbefugniß beſchränkt, ſei es
indem ihnen unterſagt iſt, gewiſſe Verträge abzuſchließen, die ausſchließlich dem Ge-
ſammtſtate vorbehalten
ſind, z. B. Allianzen, Handels- und Zollverträge, ſei
es indem ſie genöthigt ſind, ſich der diplomatiſchen Organe des Geſammtſtates zu be-
dienen und der Zuſtimmung des Geſammtſtates bedürfen. Verträge, welche
im Widerſpruch mit dieſen Schranken abgeſchloſſen werden, ſind nicht verbindlich.


404.

Damit der Vertrag den Stat verbinde, müſſen die Perſonen, welche
denſelben im Namen des States abſchließen, zur Vertretung des States
ermächtigt ſein.


Es gilt das ſowohl von der Repräſentationsbefugniß des jeweiligen
Inhabers der Statsgewalt (oben § 116), als von der Vollmacht der
Geſanten
, welche den Vertrag unterhandeln und unterzeichnen (oben § 159 f.).


405.

Wird für einen Stat ein Vertrag von einer Perſon unterhandelt
und abgeſchloſſen, welche nicht dazu ermächtigt iſt, ſo wird der Stat ſo
lange nicht verpflichtet, als er nicht durch nachträgliche Gutheißung jenen
Mangel der Vollmacht hebt. Bis dahin ſteht auch der andern Vertrags-
partei der Rücktritt frei, wenn ſie nicht darauf verzichtet hat.


Man heißt Verträge, welche von nichtbevollmächtigten Vertretern,
gewöhnlich in der Hoffnung auf ſpätere Ratihabition abgeſchloſſen werden, Spon-
ſiones
; in Erinnerung an die perſönliche sponsio der alten Römer. Der Aus-
druck, welcher in Rom eine ſtrenge und formelle Vertragspflicht bedeutete, iſt freilich
nicht geeignet, derartige in ihrer Wirkſamkeit höchſt zweifelhafte Verträge zu bezeich-
nen, während wir im Gegenſatze zu den Römern die rechtsverbindlichen Ver-
träge der Staten pacta heißen.


406.

Wird der von einem nicht ermächtigten Vertreter abgeſchloſſene Ver-
trag von dem State nicht genehmigt, ſo iſt überall kein Vertrag zu Stande
gekommen.


Der Stat wird nicht verpflichtet, weil er nicht wirklich vertreten war,
und der Geſchäftsführer (sponsor) nicht, weil er kein Stat iſt und als Privat-
[233]Völkerrechtliche Verträge.
perſon nicht über öffentliche Rechte und Verbindlichkeiten verfügen kann. Wenn
er den andern Stat betrogen hatte, indem er ſich für ermächtigt angab, ohne er-
mächtigt zu ſein, ſo mag er dieſes Betrugs wegen verantwortlich gemacht und be-
ſtraft werden. Das hat mit der Gültigkeit des Vertrags nichts zu thun. — Das
alt-römiſche Fecialrecht befolgte andere Grundſätze. Der Sponſor haftete mit
ſeiner Perſon
für die Erfüllung des von ihm eingegangenen Vertrags und wurde
daher von dem nicht genehmigenden State zur Sühne an den andern Stat ausge-
liefert. Die moderne Rechtsbildung iſt inſofern conſequenter, als ſie die öffent-
lich-rechtliche Natur der Statenverträge
vollſtändiger beachtet. Würde
ein dritter Stat ohne Ermächtigung für einen andern Stat einen Vertrag
abſchließen, ſo würde er ſich allerdings als Stat verpflichten können, für die Ge-
nehmigung zu ſorgen.


407.

Hat der Stat Vortheil von dem Vertragsgeſchäft gezogen, das für
ihn, aber ohne ſeine Vollmacht abgeſchloſſen worden iſt, ſo iſt er im Fall
der Nichtgenehmigung des Vertrags verpflichtet, den ohne Grund empfan-
genen Vortheil, ſo weit das nach der Lage der Dinge möglich iſt, wieder
aufzugeben, beziehungsweiſe eine empfangene Bereicherung zurück zu er-
ſtatten.


Z. B. Der Unterhändler hat den Loskauf von Gefangenen vermittelt und
vorläufig eine Summe bezahlt. Wird der Vertrag nicht genehmigt, und werden die
Gefangenen zurückbehalten, ſo muß auch dieſe Summe wieder herausgegeben werden.
Oder ein Gouverneur einer Colonie geſtattet gegen zugeſicherte Handelsvortheile
einem andern State die Gründung eines Marineetabliſſements innerhalb der Colonie.
Wird der Vertrag nicht genehmigt, ſo iſt auch dieſes Etabliſſement wieder zu räu-
men. Hat aber ein Stat im Vertrauen auf die nachfolgende Genehmigung durch
den andern Stat einen momentanen Vortheil ſeiner Machtſtellung aus der Hand
gegeben, und wird der Vertrag nicht ratificirt, ſo iſt er ſelten in der Lage, jenen
Vortheil wieder zu gewinnen und muß die Folgen ſeiner unvorſichtigen Handlungs-
weiſe tragen. Das Beiſpiel der Samniter, welche das römiſche Heer in den Can-
diniſchen Päſſen gefangen hatten und nachdem Rom den Frieden nicht ratificirte,
ihr Uebergewicht nicht mehr herſtellen konnten, bleibt eine Warnung der Geſchichte.


408.

Es wird angenommen, die Willensfreiheit des States ſei nicht auf-
gehoben, wenn gleich der Stat in ſeiner Noth und Schwäche genöthigt iſt,
den Vertrag einzugehen, wie ihn ein übermächtiger anderer Stat ihm
vorſchreibt.


[234]Sechstes Buch.

Im Privatrecht hindert eine ernſte Drohung und die gewaltſame Nöthi-
gung die Gültigkeit des Vertrags. Im Völkerrecht aber wird angenommen, der
Stat ſelbſt ſei alle Zeit frei und willensfähig, wenn nur ſeine Vertreter
perſönlich frei ſind. Das Statsrecht erkennt auch ſonſt die Nothwendigkeit
der Verhältniſſe
als entſcheidend an; es iſt ſeinem Weſen nach die als noth-
wendig erkannte Ordnung der öffentlichen Verhältniſſe. Daher hindern zwingende
Einwirkungen, in denen ſich jene Nothwendigkeit offenbart, die Gültigkeit des Stats-
willens nicht, wenn er denſelben Rechnung trägt. Es gilt das insbeſondere auch
von Friedensſchlüſſen. Vgl. unten Buch VIII. Cap. 10. Würde man die Verträge
der Staten aus dem Grunde als ungültig aufechten können, daß der eine Stat aus
Furcht vor dem andern und durch deſſen Drohungen geſchreckt ohne freien Vertrags-
willen den Vertrag abgeſchloſſen habe, ſo gäbe es kein Ende des Völkerſtreits und
wäre niemals ein geſicherter Friedensſtand zu erwarten.


409.

Wenn jedoch die individuelle Willensfreiheit derjenigen Perſonen,
welche den Stat bei dem Vertragsſchluß vertreten, durch Geiſtesſtörung
aufgehoben oder durch Beſinnungsloſigkeit verwirrt oder durch Gewalt oder
ernſte und nahe Bedrohung gebunden iſt, dann ſind dieſelben nicht fähig,
für den Stat verbindliche Erklärungen abzugeben.


Wenn z. B. der Geſante, der zum Vertragsabſchluß ermächtigt iſt, wahnſin-
nig wird, oder wenn er ſo berauſcht iſt, daß er nicht mehr weiß, was er thut, ſo
iſt ſeine Unterſchrift nicht bindend. Ebenſo würde auch die Unterſchrift eines Sou-
veräns nicht den Stat verpflichten, wenn demſelben gewaltſam die Hand zum Unter-
zeichnen geführt oder er mit Lebensdrohung zur Unterſchrift genöthigt würde. Oder
wenn, wie das dem Polniſchen Reichstag widerfahren iſt, die nothwendige Zuſtim-
mung zu einem Vertrag damit erzwungen wird, daß die Rathsverſammlung mit
Truppen umſtellt und die Stimmenden mit dem Tode oder dem Gefängniß bedroht
werden, ſo iſt auch ein ſolcher Vertrag ungültig, nicht weil der Stat keinen freien
Willen hat, ſondern weil es den Vertretern des Stats an der nöthigen Willen-
freiheit fehlt.


410.

Die Rechtsverbindlichkeit der Statenverträge beruht auf dem Rechts-
bewußtſein der Menſchheit, und iſt ein nothwendiger Beſtandtheil der völ-
kerrechtlichen Weltordnung.


Verträge, deren Inhalt das allgemein anerkannte Menſchenrecht
oder die bindenden Geſetze des Völkerrechts verletzen, ſind deßhalb ungültig.


Der alte Streit über den Rechtsgrund der Verbindlichkeit der
Verträge dauert noch fort. Das Völkerrecht kann der Frage nicht damit entgehen,
[235]Völkerrechtliche Verträge.
daß es auf die Autorität eines Geſetzes hinweist, wie das wohl im Privatrecht oft
genügt. Meines Erachtens läßt ſie ſich nicht auf den freien Willen der Staten
gründen. Der Satz, daß die Willensfreiheit auch in der Freiheit ſich
zu binden
, zeigen und bewahren müſſe, iſt offenbar nicht richtig; denn die Willens-
freiheit für ſich allein bindet nur, weil ſie will und daher nur auf ſo
lange ſie will
. Sie erklärt die Wirkſamkeit des Willensacts, während der wir-
kende Wille fortdauert, aber nicht mehr, wenn der Wille wechſelt. Der freie Menſch
kann und darf ſeine Willensfreiheit nicht aufgeben, ſie begleitet ihn fort durch ſein
ganzes Leben, ſie iſt ein Theil ſeiner Exiſtenz, ſeiner Perſon. Er kann und darf
ſich nicht durch freien Willen um den freien Willen bringen, ſich nicht ſelber zum
Sclaven machen. Der individuelle Wille iſt überdem für ſich allein nicht Rechts-
bildend, nicht die erſte Urſache des Rechts. Wäre er es, ſo müßte alles Ge-
wollte
Recht ſein. Es müßte z. B. im Privatrecht möglich ſein, eine Ehe auf ein
Jahr zu ſchließen, Grundeigenthum ohne die Grundbücher zu übertragen, Wechſel-
verbindlichkeiten ohne die Wechſelform einzugehen. Das iſt aber ſo wenig im Privat-
recht wie im Völkerrecht der Fall. Die Rechtsverbindlichkeit der Verträge iſt alſo
nicht die nothwendige Wirkung der Willensfreiheit, ſondern ſetzt die Exiſtenz einer
nothwendigen, nicht von der Willkür geſchaffenen Rechtsordnung der Gemein-
ſchaft voraus. Der Willensact der einzelnen Perſonen, ſelbſt der Staten im Völ-
kerrecht, iſt demnach nicht die primäre, ſondern erſt eine ſecundäre Urſache der
Rechtsbildung. Der Einzelwille bewirkt Recht, nur gemäß und nur innerhalb
der gemeinſamen Rechtsordnung
. Die Verbindlichkeit der Verträge iſt
ſelber ein nothwendiger Rechtsſatz. Sie iſt nothwendig, weil ohne ſie kein ge-
ſicherter Rechtsverkehr und kein friedlicher Rechtszuſtand der Völker möglich wäre.
In ihr äußert ſich die nachhaltige fortdauernde Wirkung der Rechtsordnung.
Man nehme den guten Glauben weg in die Wahrhaftigkeit der völkerrechtlichen Er-
klärung und die Wirkſamkeit der ertheilten Zuſage und alle Rechtsſicherheit ſtürzt in
dem Widerſtreit der wechſelnden Meinungen und Intereſſen rettungslos zuſammen.
Die Willenserklärung noch iſt eine Aeußerung der Freiheit, das Halten des
Worts
aber iſt eine Forderung der Treue, welche bewahrt, was die
rechtmäßige Freiheit ſchafft.


411.

Dem anerkannten Menſchenrecht zuwider und daher ungültig ſind
insbeſondere Verträge, welche


  • a) die Sclaverei einführen oder verbreiten und ſchützen (§ 360 f.),
  • b) die Fremden als rechtlos erklären (§ 381 f.),
  • c) die freie Schiffahrt auf offener See verhindern (§ 307 f.),
  • d) Verfolgungen des Glaubens wegen anordnen.

Von den Fällen a—c war oben ſchon die Rede. Der vierte gehört erſt der
modernen Rechtsbildung an. Die gereifte Menſchheit legt mit Recht auf die religiöſe
[236]Sechstes Buch.
Freiheit einen ſo hohen Werth, daß ſie allgemeine Glaubensverfolgungen nicht mehr
als rechtsverbindlich betrachtet, ſelbſt wenn ſie durch Statsverträge verabredet wären.
Die Zeit der Kreuzzüge iſt vorbei. Anders freilich iſt’s, wenn eine Sekte, wie z. B.
die Mormonen, die bürgerliche Rechtsordnung, wenn auch aus ſcheinbaren oder wirk-
lichen religiöſen Motiven ernſtlich verletzt.


412.

Völkerrechtswidrig und deßhalb ungültig ſind z. B. Verträge


  • a) welche die Univerſalherrſchaft eines Einzelſtats über die Welt
    oder
  • b) die gewaltſame Unterdrückung eines friedlichen und lebensfähigen
    States bezwecken.

Vgl. oben § 98 f.


413.

Statenverträge, deren Inhalt das beſtehende Verfaſſungs- und Ge-
ſetzesrecht eines States außer Wirkſamkeit ſetzt oder abändert, ſind, wenn
ſie von der repräſentativen Statsautorität abgeſchloſſen worden ſind, nicht
von Anfang an als völkerrechtlich ungültig zu betrachten, aber ſie ſind
nach Umſtänden nicht vollziehbar und inſofern wird ihre Wirkung gehemmt.


Die Schwierigkeit iſt in dieſen Fällen nicht eine völkerrechtliche, denn das
Völkerrecht behaftet den Stat, deſſen Vertreter den Vertrag abſchließt und nimmt
an, es ſei Aufgabe der Statsgewalt, durch die nöthigen Aenderungen des Statsrechts
die völkerrechtlichen Zuſagen zu verwirklichen. Aber es iſt denkbar, daß innerhalb
des Landes
eine ſolche Beſtimmung Widerſtand findet und da gilt keineswegs
ein abſolutes Vorzugsrecht des Völkerrechts vor dem Statsrecht

in jedem Conflictfall. Sonſt könnte in der Form völkerrechtlicher Verträge alles
Verfaſſungsrecht des Landes entkräftet, und könnten alle geſetzlichen Freiheiten der Bür-
ger beſeitigt werden. Der ſtatsrechtlich begründete Widerſpruch gegen die Ausführung
ſolcher verfaſſungswidriger Vertragsbeſtimmungen muß alſo als ein rechtliches Hinderniß
ihrer Ausführung anerkannt und kann nicht durch bloße Gewalt durchbrochen, ſon-
dern muß in Rechtsform gelöst werden. Eine Ausnahme machen die Friedens-
verträge, mit Rückſicht auf die zwingende Nothwendigkeit, welche in ihnen zur An-
erkennung gelangt. Vgl. unten Buch VIII.


414.

Verträge, deren Inhalt älteren Verträgen mit andern Staten wider-
[237]Völkerrechtliche Verträge.
ſtreitet, ſind inſofern unwirkſam, als der früher berechtigte Stat ihrer
Ausführung entgegen tritt.


Solche Verträge ſind nicht an ſich ungültig. Wenn der Stat, deſſen ältere
Vertragsrechte durch Ausführung des neuen Vertrags verletzt werden, ſich dieſe Aen-
derung gefallen läßt, ſo ſind dieſelben vollwirkſam. Aber im Widerſtreit geht das
beſtehende (ältere) Vertragsrecht dem jüngern vor.


415.

Auch ungünſtige Vertragsbeſtimmungen und läſtige Verſprechen ſollen
gehalten werden. Vorbehalten bleibt das Recht eines States, ſich von
Verträgen loszuſagen, welche mit ſeiner Exiſtenz oder ſeiner nothwendigen
Entwicklung unverträglich ſind.


Die bloße Gefährlichkeit oder Schädlichkeit eines Vertrags hindert
ſeine Verbindlichkeit nicht. Würde man jedem Contrahenten geſtatten, ſich einer Ver-
tragspflicht zu entledigen, ſobald ihm dieſelbe läſtig erſchiene, ſo würde die Sicherheit
des Vertragsrechts gänzlich zerfallen, und damit die Fortdauer der Weltordnung aufs
höchſte gefährdet. Aber die Verbindlichkeit des Vertrags hat doch ihre natürliche
Grenze in den Grundrechten des States auf ſeine Exiſtenz und ſeine
nothwendige Entwicklung
. Im Conflict mit dieſen urſprünglichſten und un-
veräußerlichen Rechten muß das ſecundäre Vertragsrecht zurückſtehn.


416.

Die Gültigkeit der Statenverträge iſt von der Regierungsform der
contrahirenden Staten ſowie von der Religion der Staten oder ihrer Ver-
treter unabhängig.


Im Mittelalter nahm man an, Verträge mit Nichtchriſten (Ungläubigen)
binden nicht. Sogar im ſiebzehnten Jahrhundert noch wurde von der römiſchen
Curie und von katholiſchen Biſchöfen behauptet, daß die katholiſchen Fürſten nicht
verpflichtet ſeien, die den ketzeriſchen (proteſtantiſchen) Fürſten gegebenen Zuſagen zu
halten. Dem heutigen Völkerrecht iſt es nicht mehr zweifelhaft, daß die Vertrags-
pflicht eine allgemein-menſchliche Rechtspflicht ſei, welche Chriſten und
Muhammedaner, Juden und Buddhiſten gleichmäßig verbinde. Ebenſo iſt der Unter-
ſchied der Stats- und Verfaſſungsformen zwar erheblich für die Frage der Stellver-
tretung, aber nicht erheblich für die Gültigkeit der Verträge. Monarchien und Repu-
bliken, abſolute und conſtitutionelle Monarchien, Ariſtokratien und Demokratien kön-
nen ihre Verhältniſſe vertragsmäßig ordnen.


[238]Sechstes Buch.

2. Form der Verträge.


417.

Die bloße einſeitige Willenserklärung eines States, auch wenn ſie
einem andern State gegenüber geſchieht, wirkt nur inſofern als Vertrags-
erklärung, wenn


  • a) die Abſicht des erklärenden States, ſich durch die Erklärung zu
    binden, offenbar geworden und
  • b) jener Erklärung die Annahme des Verſprechens von Seite des
    andern States gefolgt iſt.

Wenn ein Stat in ſeinen diplomatiſchen Aeußerungen lediglich die freien
Entſchlüſſe mittheilt, die er auszuführen die Abſicht hat, ſo entſteht kein Vertrags-
recht, ſo wenig als durch die Mittheilung einer Privatperſon über ihre freien Vor-
ſätze. Es muß die Abſicht, ſich zu binden, ausgeſprochen ſein.


418.

Die ſogenannten Tractate, d. h. die Aufzeichnung deſſen, worüber
ſich die unterhandelnden Staten vorläufig verſtändigt haben, werden nur
als Entwurf zu einem Vertrage betrachtet und ſind daher noch nicht ver-
pflichtend.


Solche Punctationen und Tractate ſind nur ausnahmsweiſe verbindlich,
wenn die unterhandelnden Vertreter dieſe Verbindlichkeit ausdrücklich gewollt und zu-
geſtanden haben.


419.

Die Unterzeichnung des bereinigten Vertragsprotocolls oder der fer-
tigen Vertragsurkunde durch die bevollmächtigten Geſanten oder Agenten
der contrahirenden Staten wirkt für die vertretenen Staten verbindlich,
wenn dieſelbe ohne Vorbehalt und ohne Bedingung geſchehen iſt. Der
Vorbehalt der nachfolgenden Ratification der Statsgewalt wird aber unter
Umſtänden als ſelbſtverſtändlich vorausgeſetzt.


Wenn die Vertreter der unterhandelnden Staten ermächtigt ſind, die definitive
verbindliche Willenserklärung derſelben abzugeben, ſo muß auch ihre Erklärung bin-
den, und die Unterzeichnung des Vertragsprotokolls oder der Vertragsurkunde wird
als eine ſolche Vertragserklärung angeſehen. Das ſchließt freilich die Möglichkeit
[239]Völkerrechtliche Verträge.
mündlicher Verträge nicht aus; aber man wird, der Sitte gemäß, nicht geneigt
ſein dürfen, mündliche Verabredungen als bindende Verträge anzuerkennen und aus-
zulegen. Die ſchriftliche Vertragsform iſt gegenwärtig ſo allgemeine Uebung,
daß eine Abweichung davon und die Ausnahme eines mündlich abgeſchloſſenen Ver-
trags nur ſchwer Glauben findet und daher die vollſtändige Beweisführung ſchwie-
rig wird.


Der Vorbehalt der nachfolgenden Ratification wird oft ausdrücklich
gemacht und dann iſt es klar, daß die Unterzeichnung noch nicht definitiv bindet.
Aber derſelbe kann auch aus den Umſtänden als wirkliche Meinung der unterzeich-
nenden Vertreter geſchloſſen werden und wirkt dann ebenſo. Die vorbehaltene Aus-
wechslung der Vertragsurkunden
bedeutet gewöhnlich wieder den Vorbehalt
der Ratification, welche durch die Auswechslung der Urkunden erwieſen und voll-
zogen wird.


420.

Die grundloſe Verweigerung der Ratification kann zwar je nach
Umſtänden als eine Verletzung der ſchicklichen Rückſichten betrachtet werden,
das Vertrauen zu dem verweigernden State ernſtlich erſchüttern und die
freundlichen Beziehungen gefährden, aber ſie darf ſelbſt dann nicht als ein
Rechtsbruch erklärt werden, wenn der unterhandelnde Geſante innerhalb
ſeiner Vollmacht gehandelt und gemäß ſeinen Inſtructionen unterzeichnet
hat.


Einige ältere Publiciſten behaupteten, die Ratification dürfe nicht verſagt
werden, wenn der Geſante ſeine Vollmacht gezeigt und ſeine Inſtructionen nicht
überſchritten habe. Sie beriefen ſich dabei auf die Analogie des Privatrechts. Aber
bei der großen Wichtigkeit dieſer Statenverhältniſſe und bei der thatſächlichen Nöthi-
gung, den Geſanten allgemeine Vollmachten mitzugeben, damit ſie zweckmäßig unter-
handeln können, hat der Ratificationsvorbehalt doch den Sinn einer nochmaligen
Prüfung
.


421.

Wird die vorbehaltene Ratification ertheilt, ſo wird, abgeſehen von
andern Verabredungen, die Gültigkeit des Vertrags auf den Zeitpunkt der
vorherigen Unterzeichnung des Schlußprotokolls durch die Geſanten oder
Agenten der contrahirenden Staten zurückgeführt.


Dieſe Regel entſpricht der Völkerſitte. Sie hat aber auch einen natürlichen
Grund darin, daß durch die erſte Unterzeichnung alle Verhältniſſe gleichzeitig geord-
net werden, und die ſpätere, an verſchiedenen Tagen nachfolgende Ratification nur
[240]Sechstes Buch.
den Mangel der vollſtändigen Autoriſation hebt, welcher der ſofortigen Wirkung noch
im Wege war. Die Ratification wird daher in der Regel nach dem Willen der
Ratificanten auf den Zeitpunkt des früheren Abſchluſſes zurückbezogen.


Auch ohne förmliche Ratificationserklärung und ohne Auswechslung der Ver-
tragsurkunden iſt aus dem Vollzug des Vertrags oder aus andern concludenten
Handlungen
auf Ratification zu ſchließen.


422.

Völkerrechtliche Verträge können in jeder Form gültig abgeſchloſſen
werden, welche den Vertragswillen der contrahirenden Staten offenbar
macht.


Die ſchriftliche Form entſpricht der heutigen Uebung am beſten. Es kön-
nen aber unter Umſtänden auch mündliche Verträge, ja ſogar, wie insbeſondere
im Krieg durch Zeichen Verträge geſchloſſen werden. Vgl. oben zu 419.


423.

Die ſchriftliche Form kann durch gemeinſame Unterzeichnung eines
Protokolls oder durch Eine Vertragsurkunde, welche in mehreren Ori-
ginalexemplaren von den Bevollmächtigten oder den Häuptern der Staten
gemeinſam unterzeichnet wird, oder durch einſeitig unterzeichnete Erklärun-
gen der ſich verpflichtenden Staten an den berechtigten Stat vollzogen
werden.


Im letztern Falle muß die Abſicht ſich zu binden, klar gemacht ſein, ſonſt
iſt zu vermuthen, daß nur ein Act der freien Autorität zur Mittheilung ge-
langt ſei.


424.

Die Veröffentlichung der Verträge iſt keine Bedingung ihrer Gültig-
keit und Wirkſamkeit, wenn gleich die Beachtung öffentlicher Verträge beſ-
ſer geſichert iſt.


Geheime Verträge ſind noch immer unter gewiſſen Umſtänden unver-
meidlich, ebenſo geheime Beſtimmungen in Verträgen, die im übrigen veröf-
fentlicht ſind. Für die Bevölkerung freilich iſt der geheime Vertrag nicht verbindlich,
da ſie ihn nicht kennt, ſo wenig als ein geheimes Geſetz. Aber der Stat, welcher
den geheimen Vertrag kennt und ſich verflichtet hat, deſſen Inhalt zu vollziehen, iſt
dem andern State gegenüber ebenſo gebunden, wie durch einen offenen Vertrag.


[241]Völkerrechtliche Verträge.

3. Verſtärkung der Verträge. Garantieverträge.


425.

Der Eid fügt dem beſchworenen Vertrage nur eine religiöſe nicht
auch eine rechtliche Verſtärkung bei. Ebenſo hat die Bekräftigung mit dem
Ehrenwort nur eine moraliſche keine rechtliche Bedeutung.


Der Eid war noch im ſiebzehnten Jahrhundert im Gebrauch, kommt aber
heute faſt nur noch gegen barbariſche Völker vor, deren Rechtsverſprechen man nicht
vertraut, wenn es nicht durch die Furcht vor den angerufenen Göttern verſtärkt
wird. Da die Päpſte öfter die contrahirenden Statshäupter ihrer eidlichen Verpflich-
tung entbanden, ſo wurde zuweilen in den europäiſchen beſchwornen Verträgen die
Clauſel beigefügt, daß keine Eidesentbindung begehrt, oder daß dieſelbe,
wenn gewährt, ungültig ſein ſolle. Ein Beiſpiel der Spaniſche Ceſſions-
vertrag
vom Jahre 1703. Ein merkwürdiges Beiſpiel eines mit Königlichem
Ehrenwort bekräftigten Vertrags zwiſchen Frankreich und Spanien von 1659,
der nicht gehalten wurde, findet ſich bei Laurent„Études sur l’histoire de l’hu-
manité. XI.
424. 434.


426.

Werden zur Verſtärkung eines Vertrags Geiſeln gegeben, ſo kann
der berechtigte Stat die Geiſeln zurückhalten, bis der Vertrag vollzogen
oder der Vollzug hinreichend geſichert iſt. Wenn aber dieß geſchehen iſt,
ſo dürfen die Geiſeln nicht um anderer Forderungen willen an der Heim-
kehr verhindert werden. Auch wenn der Vertrag nicht erfüllt wird, ſo
darf den Geiſeln kein anderes Uebel zugefügt werden, als daß ihnen die
Freiheit der Heimkehr entzogen bleibt.


Wenn früher die Geiſeln ſogar am Leben bedroht wurden, inſofern der
Vertrag nicht erfüllt ward, ſo wird das ſchon lange nicht mehr als Rechtsübung,
ſondern als widerrechtliche Barbarei anſehen.


427.

Werden Geiſeln genommen, nicht gegeben, ſo iſt der Nehmer ver-
pflichtet, auf ſeine Koſten für angemeſſenen Lebensunterhalt der Geiſeln
zu ſorgen.


Bluntſchli, Das Völkerrecht. 16
[242]Sechstes Buch.
428.

Wird zur Verſtärkung einer Vertragsverbindlichkeit ein öffentlich-recht-
liches Unterpfand gegeben, indem dem berechtigten Stat die Beſitznahme
eines Platzes oder andern Gebietstheiles zur Sicherung eingeräumt wird,
ſo dauert das Recht dieſes Beſitzes ſo lange fort, bis der Vertrag voll-
zogen oder in anderer befriedigender Weiſe für den Vollzug geſorgt iſt.
Geht die Ausſicht auf Vertragserfüllung gänzlich unter, ſo wird ange-
nommen, die urſprünglich bloß pfandweiſe übertragene Gebietshoheit werde
zu dauerndem und nun eigenem Rechte der Statsgewalt, welche das
Gebiet thatſächlich beſitzt.


Nur von der öffentlich-rechtlichen Verpfändung der Gebiets-
hoheit
iſt hier die Rede. Auch ſie kam früher öfter vor, als heute; im Mittelalter
freilich nach Analogie der privatrechtlichen Verpfändung des Grundeigenthums,
in Form der Satzung und nicht ſelten zur Sicherung für Geldſchulden des verpfän-
denden Stats. Manche Gebietserweiterungen, beſonders der Städteſtaten des Mittel-
alters ſind ſo begründet und erreicht worden, daß denſelben benachbarte Herrſchaften
verpfändet und nicht wieder gelöst wurden. Das heutige Recht unterſcheidet ſchärfer
zwiſchen der ſtatlichen Verpfändung eines Gebiets und der privatrechtlichen Hypothek.
Die Entſtehungsform — dort Statenvertrag, hier Fertigung im Grund-
buch
—, der Inhalt — dort Beſitz der Gebietshoheit, hier Sachenbeſitz
— und die Wirkungen — dort im Nothfall Aneignung, hier gerichtliche
Verſteigerung
oder Zuſprechung — ſind verſchieden.


429.

Die gewaltſame Pfandnahme fremden Statsgebietes, zur Sicherung
für völkerrechtliche Forderungen an den Stat, dem dieſes Gebiet zugehört,
iſt nur unter denſelben Vorausſetzungen geſtattet, unter denen der Krieg
gerechtfertigt iſt, es wäre denn, daß dem Pfand nehmenden State die
Oberhoheit zuſtände über den bepfändeten Stat.


Wenn ſich der bepfändete Stat widerſetzt, ſo iſt der Krieg offenbar; wenn
nicht, ſo kann die Pfandnahme immer noch als Selbſthülfe im Frieden betrachtet
werden. Aber ſie erſcheint ſo ſehr in Form der Gewalt über fremdes Gebiet, daß das
Völkerrecht dieſelbe nicht als regelmäßiges Executionsmittel billigen kann, ſondern nur
dann, wenn es auch die gewaltſame Selbſthülfe im Krieg zulaſſen müßte.


430.

Die Erfüllung eines Vertrags kann auch im Ganzen oder in ein-
[243]Völkerrechtliche Verträge.
zelnen Artikeln unter die Garantie (Gewährſchaft) einer dritten Macht ge-
ſtellt und dadurch geſichert werden.


Dieſer Garantievertrag iſt ein acceſſoriſcher Nebenvertrag, durch
welchen der Hauptvertrag verſtärkt wird. Der Garant (Gewähre) erſcheint als ein
acceſſoriſcher Paciſcent. Zur Entſtehung dieſes Garantievertrags genügt daher nicht nur
die Willenserklärung des Garanten, ſondern es iſt auch die Zuſtimmung der Staten
erforderlich, deren Vertrag gewährleiſtet werden ſoll. Dieſe Art der Garantie kann
nicht aufgenöthigt werden, weil dadurch die Selbſtändigkeit des States gefährdet
würde, über den die Garantie ſich ſchützend erſtreckt.


431.

Wenn die Garantie eines dritten States nur zur Verſtärkung des
Hauptvertrags dient, ſo darf und ſoll der Garant nur dann einſchreiten
und ſeinerſeits auf Vertragserfüllung dringen, wenn


  • a) der vorgeſehene Fall des Bedürfniſſes einer Hülfe eingetreten iſt
    und
  • b) der Garant von der berechtigten Vertragspartei um Hülfe ange-
    rufen worden iſt.

Es ſind das die Folgen des Grundcharakters dieſes Garantievertrags als
bloßen Nebenvertrags, verbunden mit dem allgemeinen völkerrechtlichen Inter-
eſſe, gegen die Einmiſchung dritter Mächte und für die Selbſthülfe
der betheiligten Hauptparteien
. Der Garant darf daher nicht willkürlich
interveniren, wenn kein Bedürfnißfall vorliegt, alſo keine widerrechtliche Zögerung
oder Weigerung der Erfüllung vorhanden iſt, aber er darf es auch noch nicht, wenn
zwar ein äußerer Grund zum Einſchreiten ſich zeigt, aber die zunächſt berechtigte
Hauptpartei der Hülfe des Garanten nicht bedarf oder ſie nicht will, ſondern es
vorzieht, ſich ſelber zu helfen.


432.

Nur wenn der Garantievertrag als ſelbſtändiger Vertrag zum Schutz
einer allgemeinen völkerrechtlichen oder ſtatsrechtlichen Anordnung abgeſchloſſen
worden iſt, ſind die Garanten berechtigt, je nach Umſtänden auch von ſich
aus einzuſchreiten, wenn ihr eigenes Intereſſe an jener Anordnung verletzt
oder bedroht erſcheint.


Es ſind offenbar zwei verſchiedene Rechtsverhältniſſe, welche unter dem einen
Namen der Garantie zuſammengefaßt werden: a) der Nebenvertrag, durch wel-
16*
[244]Sechstes Buch.
chen der dritte Garant einer Vertragspartei Hülfe verſpricht (Bürgſchafts-
garantie), und
b) der Hauptvertrag, durch welchen eine Anzahl Mächte einen
völkerrechtlichen Rechtszuſtand unter ihren ſelbſtändigen Schutz nehmen
(Garantiebeſchluß). Im erſten Fall erſcheint die Pflicht und das Recht ab-
hängig von dem Recht des States, zu deſſen Gunſten die Garantie übernommen
worden iſt. Im zweiten Fall iſt ſie davon unabhängig, weil ſie überhaupt nicht
bloß oder nicht hauptſächlich für eine andere Hauptpartei, ſondern weſentlich aus
Gründen und Intereſſen der Garanten ſelber und von dieſen in ſelbſtändiger Weiſe
verabredet wird. Wenn z. B. ein Geſammtſtat den Beſtand und die Verfaſſung der
Einzelſtaten gewährleiſtet (garantirt), ſo iſt unter Umſtänden eine Intervention des-
ſelben gerechtfertigt, wenn gleich dieſelbe nicht angerufen worden iſt. Oder wenn
die europäiſchen Mächte die Neutralität Belgiens aus Gründen des allge-
meinen europäiſchen Intereſſes (Vertrag von 1839) oder die relative Selbſtändigkeit
der Donaufürſtenthümer (1856) garantirt haben, ſo wären die Garantiemächte
unzweifelhaft zum Einſchreiten gegen eine einzelne fremde Macht berechtigt, welche
jene Neutralität oder dieſe Selbſtändigkeit ernſtlich mißachtete, auch wenn ſie von
dieſen bedrohten Ländern nicht um Hülfe angerufen würden.


433.

Erſtreckt ſich die Garantie auf den Rechtsſchutz der Unterthanen eines
Stats, wie z. B. zur Erhaltung von beſondern Stiftungen und Anſtalten,
oder im Intereſſe der ungehemmten Religionsübung oder beſtimmter herge-
brachter Freiheiten, ſo können auch dieſe betheiligten Privatperſonen die
Hülfe der Garanten anrufen, aber nur, wenn zuvor ihre gerechten Be-
ſchwerden oder Begehren bei der eigenen Statsgewalt in dem ordentlichen
Rechtsverfahren angebracht, aber kein Rechtsſchutz gewährt worden iſt.


So weit die regelmäßigen ſtatsrechtlichen Mittel ausreichen, um
die Rechtsanſprüche der Statsangehörigen zu ſichern, darf nicht die völkerrecht-
liche Intervention
der fremden Garantiemacht angerufen werden, theils weil
Handhabung des Rechtsſchutzes zunächſt Sache des eigenen und nicht eines fremden
States iſt, theils weil jede Einmiſchung eines fremden Stats für die Selbſtändigkeit
und Freiheit des eigenen States gefährlich iſt, theils weil die Garantie des fremden
States ihrem Weſen nach nur eine ſubſidiäre Rechtshülfe iſt. Aber im
Nothfall darf auch dieſe Hülfe von denen angerufen werden, zu deren Gunſten die-
ſes völkerrechtliche Hülfsmittel verabredet worden iſt.


Der Garant iſt nicht verpflichtet, Hülfe zu leiſten, ſo lange der Hülfe Be-
gehrende der Hülfe nicht bedarf, und er bedarf ihrer nicht, ſo lange er im Stande
iſt, ſich ſelber zu helfen.


[245]Völkerrechtliche Verträge.
434.

Bei der Leiſtung der Hülfe darf der Garant nur völkerrechtlich er-
laubte und nur verhältnißmäßige Mittel anwenden.


Die Waffengewalt iſt nur als äußerſtes Mittel und nur dann zu rechtfertigen,
wenn die friedlichen Mittel nicht ausreichen.


435.

Keinenfalls darf der Garant mehr fordern, als die Hauptpartei ver-
langt, deren Anſpruch er nur unterſtützt. Aber er darf und ſoll die For-
derungen der Hauptpartei nur in dem beſchränkten Maße unterſtützen, in
welchem er dieſelben als berechtigt anerkennen muß.


Niemand iſt verpflichtet, mehr zu leiſten, als er verſprochen hat. Wenn da-
her der Hülfe begehrende Stat übertriebene Anſprüche erhebt und unzeitgemäße
Forderungen ſtellt, ſo kann dem Garanten nicht zugemuthet werden, dafür ſeine
Kräfte anzuſtrengen. Die Auslegung freilich darf auch nicht in die Willkür des
Garanten gegeben werden, ſondern ſoll bona fide geſchehen.


436.

Wird der Garant von beiden Hauptparteien angerufen, ſo hat er
ſeine Hülfe jeder Partei in ſo weit zu leiſten, als er ſich von ihrem Rechte
überzeugt.


437.

Wenn die garantirte Beſtimmung widerrechtlich iſt oder unausführ-
bar erſcheint, ſo iſt der Garant auch nicht verbunden, ſeine Beihülfe zu
ihrer Durchführung zu gewähren.


Da die Vertragsverbindlichkeiten überhaupt nur innerhalb der völkerrecht-
lich anerkannten und zu ſchützenden Rechtsordnung gelten, ſo ermäßigt ſich auch die
Hülfspflicht der Garanten. Fälle der Art ſind:


  • a) die garantirte Beſtimmung ſteht mit den Rechten eines dritten States,
    vielleicht aus einem älteren Vertrage, im Widerſpruch, und dieſer Stat
    widerſpricht die Ausführung jener;
  • b) ſie verletzt anerkannte Menſchenrechte, z. B. der perſönlichen Freiheit oder
    des freien Verkehrs;
  • c) ſie läßt ſich nicht mehr mit den Fortſchritten des Völkerrechts vereinigen,
    [246]Sechstes Buch.
    wie z. B. ſie will den Schiffahrtsverkehr auf Strömen verhindern, welche
    dem Weltverkehr neu eröffnet worden ſind;
  • d) die nothwendige Entwicklung und Wandlung der öffentlichen Rechts- und
    Statszuſtände läßt das Feſthalten an der älteren Vertragsbeſtimmung als
    unnatürlich und nicht mehr zeitgemäß erſcheinen.

438.

Den Hauptparteien, in deren Intereſſe der Garantievertrag als blo-
ßer Nebenvertrag abgeſchloſſen worden iſt, ſteht es allezeit frei, die Garan-
ten ihrer Währſchaftspflicht zu entbinden und damit den Garantievertrag
aufzulöſen.


Das gilt natürlich nicht von ſolchen Garantieverträgen, welche nicht als bloße
untergeordnete Nebenverträge zur Verſtärkung des Hauptvertrages eingegangen wor-
den ſind, ſondern eine ſelbſtändige Bedeutung auch im Intereſſe des Garanten haben.
Vgl. zu § 432.


439.

Haben zwei oder mehrere Garanten einen Vertrag gewährleiſtet, ſo
kann zunächſt jeder derſelben von den Betheiligten um Hülfe angerufen
werden. Aber der angerufene Garant iſt ſeinerſeits berechtigt, bevor er
einſeitige Hülfe leiſtet, ein Einverſtändniß mit den übrigen Garanten zu
verſuchen.


Sobald mehrere Garanten desſelben Vertrags vorhanden ſind, ſo beſteht min-
deſtens eine objective Verbindung derſelben, inſofern ſie denſelben ſtatlichen
Zweck
durch ihre Beihülfe erreichen ſollen, alſo im Ziel zuſammentreffen und dem-
nach auch in den Mitteln, mit denen das Ziel zu erreichen iſt, einander ergän-
zen und unterſtützen. Deßhalb iſt alle Zeit ein vorheriges Einverſtändniß zu ver-
ſuchen, ſo weit die Umſtände einen Aufſchub erlauben. Die Verbindung kann aber
auch von Anfang als perſönliche Gemeinſchaft der Garanten gewollt ſein und
dann darf nicht einſeitige Hülfe gefordert werden, ſo lange die Möglichkeit der Gemein-
hülfe offen bleibt. Vgl. darüber § 440.


440.

Iſt die Garantie zweier oder mehrerer Staten ausdrücklich als eine
gemeinſame nicht als eine mehrfache Einzelgarantie verabredet worden
(Collectivgarantie), ſo ſind die garantirenden Staten zugleich um Beiſtand
anzugehen oder zur Vertheidigung des garantirten Zuſtandes aufzurufen.
[247]Völkerrechtliche Verträge.
Der Garantiefall iſt gemeinſam von denſelben zu prüfen und ſo weit es
nöthig und thunlich erſcheint, gemeinſame Hülfe oder Abhülfe zu gewähren.
Können ſich die Garanten nicht unter einander verſtändigen, ſo iſt jeder
Einzelne berechtigt und bona fide verpflichtet, nach ſeinem Ermeſſen dem
Vertrag Folge zu geben.


Die Collectivgarantie findet ſich öfter, wenn ein völkerrechtlicher Zu-
ſtand durch dieſelbe geſchützt werden ſoll, z. B. zum Schutz der Neutraliſirung eines
Gebiets (Garantiebeſchluß) als zur Verſtärkung einer andern Hauptverpflichtung
(Bürgſchaftsgarantie), es widerſtreitet aber der bona fides, derſelben nur eine
moraliſche Bedeutung deßhalb beizulegen, weil es ſchwierig ſei, die Einſtimmigkeit
zu erzielen, und jeder einzelne Garant, zufolge ſeiner Souveränetät, die Macht habe,
durch ſeinen Widerſpruch eine gemeinſame Action zu verhindern. So unſicher die
völkerrechtlichen Verpflichtungen ſind, ſo darf ihre rechtliche Verbindlichkeit doch
nicht verkannt werden. Die Garanten, welche den garantirten Zuſtand, z. B. die
angefochtene Neutralität von Belgien nicht wider den Angreifer vertheidigen, obwohl
ſie das ſollen und können, erfüllen ihr Verſprechen nicht und handeln inſo-
fern rechtswidrig. Inſoweit ein gemeinſames Intereſſe der Collectiv-
garantie zu Grunde liegt, haben auch alle Betheiligten ein Recht, die andern
Theilnehmer zur Ausübung ihres Rechts und zur Erfüllung ihrer Pflicht zu mahnen.
Vgl. die Erörterungen über den Garantiebeſchluß der Londoner Conferenz von 1867
über die Neutralität des Großherzogthums Luxemburg.


441.

Wenn ein Stat für die Verbindlichkeiten eines andern States als
Bürge eintritt, ſo verpflichtet er ſich, ſelber für den andern Stat die Lei-
ſtung zu erfüllen, wenn dieſer in der Erfüllung ſeiner Vertragspflicht ſich
ſäumig erweist.


Der Garant iſt von dem eigentlichen Bürgen zu unterſcheiden. Jener verbindet
ſich, die verpflichtete Hauptpartei zur Erfüllung anzuhalten, beziehungsweiſe den Be-
rechtigten in der Durchführung ſeiner Forderung zu unterſtützen. Dieſer dagegen iſt
verpflichtet, ſelber ſubſidiär oder unter Umſtänden ſogar gleichzeitig neben
dem Hauptverpflichteten anſtatt desſelben die Leiſtung zu erfüllen. Die Bürgſchaft
kann eine privatrechtliche ſein, wenn ſie ſich auf Bezahlung einer Geldſchuld bezieht,
ſie kann aber auch öffentlich-rechtlich ſein, in dem ſie ſich auf einen öffentlich-recht-
lichen Inhalt bezieht.


[248]Sechstes Buch.

4. Arten der völkerrechtlichen Verträge.


442.

Als völkerrechtliche Verträge im eigentlichen Sinne gelten


  • a) voraus die ſogenannten Statenverträge, d. h. die Verträge zwi-
    ſchen zwei oder mehreren Staten von öffentlich-rechtlichem Inhalt;
  • b) ſodann die zwiſchen untergeordneten Aemtern oder Gliedern ver-
    ſchiedener Staten innerhalb ihrer Amts- oder Rechtsſphäre ab-
    geſchloſſenen Verträge über öffentliche Verhältniſſe.

1. In der erſten Claſſe erſcheinen die Staten ſelber als handelnde Ver-
tragsperſonen, in der zweiten Claſſe untergeordnete Gewalten oder Körperſchaften
im State, aber mit ſtatlicher Ermächtigung. Beiderlei Verträge haben einen öffent-
lich-rechtlichen Inhalt
. Es iſt das ſelbſt dann der Fall, wenn etwa ein
Statenvertrag für die privatrechtlichen Verhältniſſe der eigenen Landesangehörigen
in fremdem Lande ſorgt, denn er ordnet und ſchützt hier das Privatrecht mit ſtat-
licher Autorität, ähnlich wie in der Landesgeſetzgebung oder durch die ordentliche
Rechtspflege. Dagegen ſind Verträge von bloß privatrechtlichem Inhalt,
wenn gleich von zwei Staten abgeſchloſſen, nicht völkerrechtlich, weil inſofern die
Staten nicht als Staten, ſondern gleich Privatperſonen contrahiren. Von der Art
ſind z. B. Darlehns-, Kauf- und Miethverträge, wobei es ganz gleichgültig erſcheint,
ob Staten oder ob Privaten dieſelben contrahiren. — Aus ſolchen privatrechtlichen
Verträgen entſteht nur eine privatrechtliche Forderung oder Schuld, welche dem
Fiscus, als dem perſonificirten Privatvermögen des States zugehört.
Nur wenn ausnahmsweiſe ſolche Verträge unter den Schutz des Völkerrechts geſtellt
worden ſind, ſo daß ſie einen Beſtandtheil wirklicher Statenverträge bilden, oder
eine ſtatliche Garantie erhalten haben, dann fallen ſie inſofern in das Gebiet des
Völkerrechts.


2. Bloß partielle völkerrechtliche Verträge der zweiten Claſſe ſind z. B.
Verträge über Grenzregulirung, welche den Provinzialregierungen überlaſſen ſind,
gerichtliche Requiſitionen, denen Folge gegeben wird, ohne die Intervention der höch-
ſten Statsautoritäten, provincielle Flußregulirung, Verträge mit einzelnen Truppen-
commando’s über die Einquartierung, den Durchmarſch, die Ernährung der Trup-
pen, Verträge zwiſchen Nachbargemeinden verſchiedener Staten über Gemeindever-
hältniſſe u. dgl.


443.

Als uneigentliche völkerrechtliche Verträge, weil nicht beiderſeits durch
Staten geſchützt, gelten:


[249]Völkerrechtliche Verträge.
  • a) Verträge zwiſchen ſouveränen Perſonen oder Dynaſtien unter ſich
    oder mit fremden Staten über perſönliche oder dynaſtiſche An-
    ſprüche auf Landesregierung oder Thronfolge;
  • b) Verträge des States mit fremden Privatperſonen über öffentliche
    Rechtsverhältniſſe, wenn dieſelben ausnahmsweiſe unter den Schutz
    des Völkerrechts geſtellt ſind;
  • c) Verträge des States mit der Kirche über ſtats- und kirchenrecht-
    liche Verhältniſſe, insbeſondere die Concordate der Staten mit
    dem päpſtlichen Stuhl.

1. Zu a. Hieher gehören z. B. Verträge eines States mit einem ent-
thronten fremden Fürſten
über Wiedereinſetzung desſelben in die Herrſchaft,
Verträge zum Schutz einer beſtimmten Dynaſtie in dem Beſitz des Throns, oder
mit einem auf Herrſchaft verzichtenden Fürſten, oder Erbverträge
zwiſchen zwei Linien einer Dynaſtie oder zwei Dynaſtien, wenn dieſelben verſchie-
denen Staten angehören. Ein dynaſtiſches Hausgeſetz oder eine dynaſtiſche Erbver-
brüderung innerhalb desſelben States hat nur eine ſtatsrechtliche, keine völker-
rechtliche Bedeutung.


2. Zu b. Z. B. Die Verträge der deutſchen Staten mit der Familie Thurn
und Taxis
über das Poſtregal, ſo lange dieſelben unter den Schutz des deutſchen
Bundes geſtellt waren. Abgeſehen von ſolchem Schutz, der über die Hoheit und
Macht eines States hinaus wirkt, haben ſolche Verträge nur einen privatrecht-
lichen
, höchſtens einen ſtatsrechtlichen Charakter.


3. c. Die kirchlichen Concordate zwiſchen einzelnen Staten und dem
römiſchen Papſtthum als Haupt und Repräſentanten der römiſch-katholiſchen
Kirche ſind keine völkerrechtlichen Verträge im eigentlichen Sinn, weil der Papſt nicht
als Landesfürſt, ſondern als Kirchenhaupt dieſelben eingeht, alſo nur auf der
einen Seite ein Stat Vertragsperſon iſt, auf der andern die Kirche. Aber die Ana-
logie der völkerrechtlichen Verträge kommt inſofern zur Anwendung, als zwei weſent-
lich ſelbſtändige Mächte als öffentliche Perſonen mit einander über
öffentlich-rechtliche Dinge ſich vereinbaren. Der völkerrechtliche Schutz iſt bei dieſen
Verträgen ein unvollſtändiger, weil wohl der contrahirende Stat die Macht hat,
zum Schutz ſeines Rechts die völkerrechtlichen Mittel, nöthigenfalls die Gewalt, zu
gebrauchen, die Kirche dagegen dieſe Mittel nicht beſitzt und ſtatt derſelben andere
der religiöſen Autorität benutzen kann, welche nicht durch das Völkerrecht geordnet
werden. Sie bilden demnach eine eigenthümliche Gattung für ſich, auf welche
die Grundſätze der völkerrechtlichen Verträge nur mit Vorſicht überzutragen ſind.


Zunächſt ſind auch dieſe Concordate als rechtsverbindlich zu betrachten,
ſowohl für den Stat als für die Kirche. Aber dieſe Verbindlichkeit bleibt beſchränkt,
mehr noch ſogar als die Verbindlichkeit der eigentlichen Statenverträge, weil hier
neben den politiſchen auch die religiöſen Rückſichten in Betracht kommen. Von den
Vertheidigern des kirchlichen Standpunktes wird hier der Kirche das Recht vindicirt,
[250]Sechstes Buch.
jeder Zeit aus religiöſen Gründen kraft ihrer Gewiſſenspflicht von früheren
Verträgen ſich loszuſagen. Wenn das als ein ſelbſtverſtändliches Recht der religiö-
ſen Lebensgemeinſchaft behauptet wird, weil die religiöſe Gewiſſenspflicht ſich nicht
durch äußere Rechtsformen dauernd binden läßt, ſo entſpricht dem in derſelben
Weiſe ein einſeitiges Rücktritts- und Kündigungsrecht des Stats aus politiſchen
Gründen
und kraft ſeiner Pflicht, für das Volkswohl zu ſorgen. Muß der Stat
der Kirche jene Freiheit gewähren, ſo kann die Kirche dem State nicht dieſelbe Frei-
heit verſagen; und es iſt nur auf beiden Seiten bona fides zu verlangen. Ins-
beſondere können Dinge wohl dauernd und feſt rechtlich geordnet werden, welche der
religiöſen Betrachtung als indifferent, oder doch als nicht durch die religiöſen Pflich-
ten mit Nothwendigkeit beſtimmt erſcheinen, oder für die Exiſtenz und Fortentwick-
lung des Stats nicht verderblich ſind. Aber immer erſcheint um ſolcher Rückſichten
willen die Rechtsverbindlichkeit ſolcher Concordate nur als eine einſtweilige ge-
meinſame Regulirung
, welche zu wirken und zu binden aufhört, wenn eine
der beiden Vertragsperſonen kündigt.


444.

Weder die ungleiche Macht und Stellung der paciſcirenden Staten,
noch die ungleiche Belaſtung eines States zum Vortheil des andern iſt ein
Hinderniß für die Gültigkeit der völkerrechtlichen Verträge.


1. Es können für’s erſte gültige Statenverträge auch zwiſchen einer Schutz-
macht
und einem ſchutzbedürftigen State, zwiſchen einem oberherrlichen
und
einem Vaſallenſtate, zwiſchen einem Geſammt- und einem Einzel-
ſtate
geſchloſſen werden. Es wird zu völkerrechtlichem Vertragsrecht nicht Gleichheit
noch auch nur gleiche Unabhängigkeit der Staten vorausgeſetzt.


2. Fürs zweite iſt das Gleichgewicht der wechſelſeitigen Leiſtungen kein
nothwendiges Erforderniß der Statenverträge. Es iſt möglich, daß der mächtigere
Stat ſchwerere Pflichten übernehme, als der ſchwächere, z. B. die militäriſche Schutz-
pflicht. Bedenklicher freilich iſt es, wenn einem kleinen State von dem großen
ſchwere Leiſtungen zugemuthet werden, denen keine vertragsmäßige Gegenleiſtung
entſpricht. Indeſſen auch das foedus iniquum iſt ein rechtsgültiger
Vertrag
. Es kann darin die Nothwendigkeit der Lage ſich richtig
darſtellen.


445.

Dem Gegenſtande nach ſind die völkerrechtlichen Verträge ſo mannig-
faltig, als die Rechtsverhältniſſe ſind, in denen Staten mit Staten ſich
befinden können.


Nur einzelne Anwendungen ſind z. B. a)Grenzverträge, b) Verträge
über Abtretung von Statsgebiet, c)Succeſſionsverträge über die Regie-
[251]Völkerrechtliche Verträge.
rungsfolge, d) Verträge über Statsdienſtbarkeiten, e)Handelsverträge,
f)Zollverträge, g) Verträge über Poſt-, Eiſenbahn- und Telegraphen-
weſen
, h) Verträge über gemeinſame Statsinſtitutionen, i) Verträge
über die Freizügigkeit und das Paßweſen, über die Niederlaſſung,
k)Auslieferungsverträge, l)Bündniß und Bundesverträge,
m) Verträge während des Kriegs über Truppenaufnahme, Capitulatio-
nen, Auswechslung von Gefangenen, Waffenruhe
und Waffenſtill-
ſtand
u. dgl., n)Friedensverträge.


5. Von den Allianzen insbeſondere.


446.

Als Allianz wird ein Statenvertrag bezeichnet, durch welchen ein
Stat einem andern Stat für gemeinſame politiſche Zwecke ſeine Mitwirkung
und ſeinen Beiſtand verſpricht.


Oft ſind die Allianzen auf den Kriegszuſtand berechnet und dann ent-
weder Defenſivallianzen, inſofern ausſchließlich die Vertheidigung des gegen-
wärtigen Rechts- oder Beſitzſtandes beabſichtigt wird, oder Offenſivallianzen,
wenn auch ein Angriffskrieg vorgeſehen wird, oder beides zugleich, Defenſiv- und
Offenſivallianzen, Bündniſſe zu Schutz und Trutz. Eine Allianz kann ſich aber
auch auf politiſche Zwecke beziehn, die im Frieden zu erreichen ſind, ohne
Rückſicht auf einen Krieg. Von der Art ſind politiſche Allianzen zu gemeinſamer
Haltung und Einwirkung auf einem bevorſtehenden Congreß oder auch ohne ſolchen
in der diplomatiſchen Verhandlung und Richtung überhaupt. Immer aber hat die
Friedensallianz eine gemeinſame Politik und nicht etwa bloß einzelne gemeinſame
Einrichtungen oder Unternehmungen zum Zweck. In den letztern Fällen ſpricht
man wohl von Verbindungen zweier Staten, aber nicht von Allianzen im eigent-
lichen Sinne. Die ſogenannte heilige Allianz von 1815 (oben § 101) iſt ein
Beiſpiel einer umfaſſenden Friedensallianz.


447.

Die nothwendige Vorausſetzung der kriegeriſchen Allianzen iſt ein
gerechter Krieg. Verträge zu gemeinſamem Kriegsangriff, ohne rechtmäßige
Kriegsurſache, ſind völkerrechtswidrig und daher nicht verbindlich. Es be-
[252]Sechstes Buch.
ſteht keine Pflicht für den Alliirten in einem offenbar ungerechten Kriege
Hülfe zu leiſten.


1. Die Defenſivallianz wird abgeſchloſſen zur Vertheidigung entweder des
beſtehenden Rechts oder doch des Beſitzſtandes wider feindliche Gewalt. Es iſt nicht
erforderlich, daß dabei wenigſtens einer der Alliirten als künftige Kriegspartei gedacht
wird. Es kann auch eine bewaffnete Allianz der neutralen Staten ver-
einbart werden, zur Behauptung der Neutralität während eines Krieges zwiſchen
dritten Mächten und zum Schutz der Rechte der Neutralen. Von der Art war die
bewaffnete Neutralität der nordiſchen Seemächte von 1780.


2. Aber auch die Offenſivallianz darf wie der Krieg ſelbſt nur völkerrecht-
lich erlaubte Ziele anſtreben. Sie hat die Verfolgung gerechter Anſprüche entweder
im Sinne der beſtehenden Rechtsordnung oder im Sinne der nothwen-
digen Entwicklung
zum Zweck. Würde ſie abgeſchloſſen, lediglich um auf Er-
oberung auszugehen oder um mit vereinter Gewalt andere Staten zu unterdrücken,
ſo wäre ſie völkerrechtswidrig. (Vgl. oben oben § 98, 412.)


3. Inſofern iſt die ſtillſchweigende Vorausſetzung (clause tacite) einer jeden
Allianz auf den Kriegsfall, daß die kriegeriſche Hülfe völkerrechtlich erlaubt
ſei, d. h. daß die Partei, welche die Hülfe des Alliirten begehrt, berechtigt erſcheine,
entweder ſich zu vertheidigen oder anzugreifen. Niemals iſt der Alliirte ſchuldig,
auch dann Hülfe zu leiſten, wenn es ihm offenbar iſt, daß der Hülfe fordernde Stat
Unrecht verübt, ſei es indem dieſer rechtmäßige Forderungen zu erfüllen ohne
Grund verweigert, ſei es indem derſelbe ohne Grund einen andern Stat mit Gewalt
mit Krieg überzieht. In einem offenbar ungerechten Kriege die Hülfe verweigern,
das heißt nicht die Allianz brechen, ſondern die völkerrechtliche
Pflicht üben
.


448.

Die Pflicht der Alliirten, Hülfe zu gewähren, wird ermäßigt und
beſchränkt durch die nähere Pflicht der nothwendigen Selbſtvertheidigung.
Der Alliirte muß nur Hülfe leiſten, ſoweit er im Stande iſt, über Hülfs-
kräfte zu verfügen.


Es iſt das eine ſtillſchweigende Vorausſetzung der Allianzen. Einem Stat,
welcher alle ſeine Kräfte zuſammenhalten muß, um ſein eigenes Gebiet gegen feind-
lichen Angriff zu vertheidigen, kann man nicht zumuthen, daß er ſich ſelber Preis
gebe, um einem andern Stat Hülfe zu leiſten. Die Exiſtenz des eigenen
States zu bewahren
iſt die erſte und höchſte Pflicht jeder Statsgewalt.
Nur wenn es damit verträglich iſt, dürfen die Statskräfte für einen befreundeten
Stat eingeſetzt werden. Wenn das eigene Haus brennt, ſo gebietet die Pflicht der
Selbſterhaltung vorerſt da und nicht bei dem Nachbar zu löſchen. Es kann freilich
dieſer Satz mißbraucht und die Nothwendigkeit der Selbſthülfe als Vorwand benutzt
[253]Völkerrechtliche Verträge.
werden, um ſich der Pflicht zur Bundeshülfe zu entziehn. Das iſt oft ſchon geſche-
hen und wird wieder geſchehn. Aber ſo tadelnswerth der Mißbrauch iſt, ſo unent-
behrlich und unbeſtreitbar iſt jener Rechtsſatz ſelber, wenn er bona fide verſtanden
und angewendet wird. Wenn militäriſche Gründe einer wirkſamen Kriegsführung
verlangen, daß die Truppen aller Bundesgenoſſen zuſammengezogen und einſtweilen
das Gebiet eines States Preis gegeben werden, ſo widerſtreitet dieſe Forderung nicht
der obigen Regel, denn dieſe Maßregel gibt nicht der Bundeshülfe den Vorzug vor
der Selbſthülfe, ſondern ſchließt die Selbſthülfe in ſich. Wenn die Bundes-
genoſſen in Folge der Concentrirung aller ihrer Kräfte ſiegen, ſo wird auch jedem
verbündeten State am ſicherſten geholfen und das vorübergehende Leiden feindlicher
Beſitznahme am ſicherſten geheilt. Im Uebrigen gilt das Ultra posse nemo
tenetur
ganz vorzüglich, wenn Verbindlichkeiten der Staten in Frage ſind.


449.

Bei der Auslegung und Anwendung der Allianzverträge iſt beider-
ſeits mit ehrlicher Treue, in gutem Glauben und aufrichtiger Freundſchaft
zu verfahren.


1. Dieſe moraliſchen Rückſichten dürfen überhaupt bei der Interpretation der
Statenverträge nicht überſehen werden. Bei den Allianzen, die ein Freundſchafts-
verhältniß unter den Alliirten begründen, iſt es im höchſten Grade nöthig, daß die-
ſelben ſorgfältig beachtet werden. Wird der Glaube und das Vertrauen der Alliirten
auf aufrichtige Unterſtützung zerſtört, ſo iſt die Allianz eine todte Form, aus der
das Leben gewichen iſt, und muß zerfallen. Die Frage, ob wirklich der vorgeſehene
Fall eingetreten ſei, in welchem die Hülfe des Alliirten begehrt werden darf und ge-
leiſtet werden muß (der ſogenannte casus foederis), kann ſelten anders als
nach Erwägung aller Umſtände durch freies Ermeſſen entſchieden werden und dafür
iſt die bona fides unentbehrlich. Ebenſo ſind die Art, die Größe und die Dauer
der Hülfe in den Verträgen nicht leicht zum voraus genau zu fixiren und muß
man wieder mit bona fides das Bedürfniß und die verfügbaren Mittel beſtimmen.


2. Auch die Frage, inwiefern es gegen den guten Glauben und die Treue ver-
ſtoße, wenn ein Alliirter durch Unterhandlungen mit einem dritten State die Inter-
eſſen des andern Alliirten gefährdet oder verletzt, läßt ſich nicht durch eine formelle
Rechtsregel ohne moraliſche Erwägungen richtig entſcheiden. Die Treue der Al-
liirten
iſt jedenfalls nur als wechſelſeitiges Recht und gegenſeitige
Pflicht
aufrecht zu erhalten.


[254]Fünftes Buch.

6. Aufhören der Vertragsverbindſichkeit.


450.

Die Vertragsverbindlichkeit hört von Rechts wegen auf


  • a) wenn die verabredete Leiſtung abſchließen erfüllt iſt,
  • b) inſofern der Vertrag unter einer auflöſenden Bedingung geſchloſ-
    ſen worden iſt, durch Eintritt der Bedingung,
  • c) inſofern der Vertrag auf eine beſtimmte Zeitfriſt eingegangen
    worden iſt, mit Ablauf dieſer Zeitfriſt.

Dieſe Sätze enſprechen dem gewohnten Vertragsrecht, wie es auch in Privat-
verhältniſſen angewendet wird.


451.

Iſt ein Vertragsverhältniß zunächſt nur auf eine beſtimmte Zeit-
dauer abgeſchloſſen, ſo wird auch ohne ausdrückliche Erklärung die einſt-
weilige Fortſetzung dieſes Verhältniſſes über jene Zeitgrenze hinaus ver-
muthet, wenn thatſächlich demſelben weitere Wirkung gegeben wird.


Es iſt das eine ſtillſchweigende Vertragserneuerung, welche als
Fortſetzung des alten Rechtsverhältniſſes gilt. Sie wirkt aber nur unter der Voraus-
ſetzung des beiderſeitigen Einverſtändniſſes und iſt immerhin der freien Kündigung
ausgeſetzt.


452.

Ueberdem wird das Vertragsverhältniß durch eine auflöſende Willens-
übereinkunft beendigt.


Das Ende entſpricht dem Anfang. Wie durch Willensübereinkunft ein Ver-
tragsverhältniß geknüpft wird, ſo kann es durch eine ſolche auch wieder gelöst wer-
den. Der mutuus dissensus iſt die Negation des früheren mutuus con-
sensus
. Unter Umſtänden kann auch aus dem beiderſeitigen thatſächlichen Ver-
halten auf den Willen der Vertragsperſonen geſchloſſen werden, auseinander zu gehen
und den Vertrag aufzulöſen.


453.

Ebenſo hört eine Vertragsverbindlichkeit auf, wenn der Berechtigte
darauf Verzicht leiſtet.


[255]Völkerrechtliche Verträge.
454.

Durch einſeitige Kündigung einer Vertragspartei wird der Vertrag
nur dann beendigt, wenn entweder das Recht freier Kündigung vorbehal-
ten worden iſt, oder wenn ſich aus den Umſtänden ein Recht zur Kündi-
gung ergibt.


Die Natur des öffentlichen Rechts nöthigt dazu, in manchen Fällen ein
Recht zur Kündigung
anzunehmen, wo ein ſolches nicht vorbehalten worden iſt.
Bei den Statenverträgen iſt die Wohlfahrt der langlebigen Völker betheiligt, und es
darf nicht ein Geſchlecht die folgenden Geſchlechter für alle Zukunft binden. Wenn
gleich die jeweiligen Repräſentanten eines States dieſen ſelbſt und auf die Dauer
durch ihre Erklärungen verpflichten können, ſo muß man ſich doch daran erinnern,
daß dieſes Repräſentativrecht kein abſolutes iſt, und daß die Repräſentanten von
heute weder die Einſicht noch die Macht haben, die öffentlichen Zuſtände für die
Ewigkeit
zu ordnen. Ein Beiſpiel eines ſolchen ſelbſtverſtändlichen Kündigungs-
rechts ſiehe oben § 443, andere in den folgenden Artikeln.


455.

Wenn eine Vertragspartei ihre Verbindlichkeiten nicht erfüllt, oder
die Vertragstreue bricht, ſo iſt die verletzte Partei zum Rücktritt von dem
Vertrage berechtigt.


In dem gewohnten Vertragsrechte der Privatverträge findet ſich dieſe Regel
nur ausnahmsweiſe. Die Nichterfüllung begründet dort zunächſt eine Klage des Ver-
letzten auf Erfüllung, aber nur in wenigen Vertragsacten den freien Rück-
tritt
oder die Kündigung desſelben. Aber im Völkerrecht muß jene Regel an-
erkannt werden, ſchon weil es da an einem Richter fehlt, welcher den ſäumigen Theil
zur Erfüllung nöthigt, und die Selbſthülfe durch Krieg in allen Fällen bedenklich,
in vielen unthunlich und unwirkſam iſt.


456.

Wenn die thatſächlichen Zuſtände, welche die ausdrückliche oder ſtill-
ſchweigende Vorausſetzung und Grundlage der übernommenen Vertrags-
pflicht geweſen ſind, ſich im Laufe der Zeit in dem Maße ändern, daß
die Erfüllung der Vertragsverbindlichkeit unnatürlich oder ſinnlos geworden
iſt, ſo erliſcht ſolche Verbindlichkeit.


Zu weit gehen einzelne Völkerrechtslehrer, wenn ſie behaupten, daß die Clau-
ſel: „rebus sic stantibus“ ſtillſchweigend allen Verträgen der Staten beigefügt
[256]Sechstes Buch.
ſei, und daß demgemäß „rebus mutatis“ die Gebundenheit aufhöre. So weit
gefaßt würde der Satz alles Vertragsrecht ganz unſicher machen, da alle öffentlichen
Zuſtände ſich fort und fort mit der Zeit ändern. Aber auch das entgegengeſetzte
Extrem iſt zu verwerfen, wornach die Vertragspflicht unverändert fortdauert,
wie immer inzwiſchen die Zuſtände ſich ändern. Nicht jede Aenderung der Zuſtände
wirkt auf die Fortwirkung des Vertrags ändernd ein, aber gewiſſe Aenderungen
müſſen auch für dieſe Folgen haben. Dahin iſt voraus der Fall zu rechnen,
wenn ein beſtimmter öffentlicher Zuſtand die Vorausſetzung und
Grundlage eines Vertrages war, und nun ſo erhebliche Aenderungen erfährt, daß
er nicht mehr als Grundlage des ſpätern Rechtsverhältniſſes betrachtet werden kann,
dann ſtürzt mit der Baſis des Vertrags auch deſſen Wirkſamkeit zuſammen.
Z. B. Ein Vertrag, welcher die katholiſche oder proteſtantiſche Confeſſion der Bevöl-
kerung vorausſetzt, verliert ſeine Kraft, wenn die Bevölkerung zu einer andern Con-
feſſion übergeht. Ober ein Vertrag, welcher die republikaniſche oder monarchiſche
Verfaſſung eines Landes als Grundlage ſeiner Beſtimmungen vorausſetzt, wird un-
wirkſam, wenn das Land dieſe Verfaſſungsform mit einer andern entgegengeſetzten
vertauſcht.


457.

Ebenſo verlieren die Vertragsverbindlichkeiten ihre bindende Kraft,
wenn dieſelben mit der Entwicklung des anerkannten Menſchen- und Völ-
kerrechts in Widerſtreit gerathen ſind.


Vertragsbeſtimmungen, welche zur Zeit des Vertragsabſchluſſes als erlaubt
und rechtmäßig galten, z. B. der Ausbreitung der Sclaverei oder der Behinderung
der freien Schiffahrt, oder über Kaperſchiffe können unrechtmäßig werden, wenn im
Verlauf der Zeit humanere und freiere Rechtsgrundſätze zu allgemeiner Anerkennung
in der civiliſirten Welt gelangen.


458.

Ferner können Verträge, deren Beſtimmungen mit der als noth-
wendig erkannten Fortbildung der Verfaſſung eines States oder mit der
nothwendigen Wandlung des Privatrechts unverträglich geworden ſind, von
dieſem State gekündigt werden.


Das Vertragsrecht darf nicht zum bleibenden Hinderniß werden der
Entwicklung der Statsverfaſſung und Rechtsordnung eines Volkes. Um ſein Leben
zu bewahren und ſeine nothwendige Entwicklung zu ſichern, muß der Stat ſich von
Beziehungen zu andern Staten löſen können, welche er unter ganz andern Rechts-
grundlagen eingegangen iſt. Das beſtreiten, würde heißen, das Weſen der Form
opfern und die Vertragstreue bis zum Selbſtmord treiben, was der Natur und der
[257]Völkerrechtliche Verträge.
Beſtimmung der ganzen öffentlichen Rechtsordnung widerſpricht. So weit dürfen ſich
die folgenden Geſchlechter von den frühern nicht binden laſſen, und ſo weit können
dieſe auch nicht vernünftiger Weiſe jene binden wollen. Preußiſches Manifeſt
vom 9. October 1806: „Vor allen Tractaten haben die Nationen ihre
Rechte
“.


459.

Iſt die Erfüllung einer Vertragsverbindlichkeit dauernd unmöglich
oder unausführbar geworden, ſo wird der Verpflichtete von derſelben frei.


Das „ultra posse nemo tenetur“ kommt dem State hier zu Gute
und zwar nicht bloß dann, wenn die Erfüllung abſolut unmöglich geworden iſt,
ſondern auch dann, wenn ihre Erfüllung einen unverhältnißmäßigen Kraft-
verbrauch erfordern ſollte, oder an rechtlichen Hinderniſſen ſcheitern müßte. Vgl.
oben § 411 f.


460.

Der verpflichtete Stat kann angehalten werden, auch eine ihm läſtige
und nachtheilige Verbindlichkeit zu erfüllen, aber niemals darf ihm zuge-
muthet werden, daß er ſeine Exiſtenz oder ſeine nothwendige Entwicklung
der Vertragstreue zum Opfer bringe.


Würde die bindende Kraft der Verträge nur für vortheilhafte, nicht auch für
läſtige und nachtheilige Beſtimmungen anerkannt, ſo würde alles Vertragsrecht über-
haupt ſchwankend und unſicher. Aber die Laſt muß erträglich ſein und die Nach-
theile dürfen nicht bis zum Verderben des States ſelber geſteigert werden. Die Ver-
bindlichkeit der Verträge hat ihre Grenzen. Das gewillkürte Recht iſt immer
nur ſecundär, es ſetzt das nothwendige und urſprüngliche Recht des
Lebens voraus und darf daher nicht das Leben des States ſelber zerſtören. Es kann
nur gelten, ſoweit es mit dem Leben ſich vereinbaren läßt. Da alles Recht nur als
Ordnung und Bedingung des Geſammtlebens Werth und Sinn hat,
ſo gibt es kein Recht, das Geſammtleben zu verderben. Deßhalb ſind ſtatsver-
derbliche Verträge nicht verbindlich
und es hört ihre Wirkſamkeit in
dem Augenblick auf, in welchem dieſe Verderblichkeit offenbar geworden
iſt
.


461.

Die Gültigkeit der Verträge iſt nicht an die Fortdauer des Friedens-
ſtandes gebunden und hört nicht von Rechts wegen auf, wenn es unter
den Vertragsparteien zum Kriege kommt.


Bluntſchli, Das Völkerrecht. 17
[258]Sechstes Buch.

Die früher oft vertheidigte Meinung, daß der Krieg alle Verträge aufhebe
zwiſchen den Kriegsparteien, beruhte auf der willkürlichen und unrichtigen Voraus-
ſetzung, daß die Rechtsordnung überhaupt nur im Frieden gelte, und im Krieg der
angebliche Naturzuſtand der Rechtloſigkeit eintrete. Das Recht wirkt
aber auch im Kriege fort und daher gibt es keinen Rechtsgrund, aus welchem die
Kraft der Verträge von ſelber mit dem Krieg erlöſche. Die Ausführbarkeit
der Verträge wird durch den Krieg großentheils unterbrochen und gehemmt und
einzelne Verträge gehen im Kriege unter, wenn ihre Grundlagen durch den
Krieg zerſtört werden; aber nicht die Verträge überhaupt. Davon wird ſpä-
ter in Buch VIII. die Rede ſein.


[[259]]

Siebentes Buch.
Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herſtellung
desſelben.


1. Im Allgemeinen.


462.

Wenn ein Stat ſeine völkerrechtliche Verbindlichkeit gegen einen an-
dern Stat lediglich nicht erfüllt, ſo hat der berechtigte Stat die Wahl, ent-
weder die Erfüllung, beziehungsweiſe Schadenserſatz wegen Nichterfüllung
zu verlangen, oder von dem Vertragsverhältniß zurückzutreten, deſſen Be-
ſtimmungen nicht erfüllt worden ſind.


Auch im Völkerrechte bewährt ſich die Macht der Rechtsordnung dadurch, daß
aus der Verletzung derſelben neues Recht entſpricht. Das verübte Unrecht
wird zum Recht des Verletzten, je nach Umſtänden von dem Verletzer Wieder-
herſtellung, Entſchädigung, Genugthuung oder Strafe zu verlangen. Wenn das
Unrecht nur in der Nichterfüllung einer übernommenen Verbindlichkeit beſteht,
ohne Beleidigung und ohne Friedensbruch, ſo iſt das dem Civilunrecht vergleichbar,
welches die verletzte Privatperſon zur Civilklage berechtigt, womit ſie Wiederherſtellung
des Rechtszuſtandes (z. B. Herausgabe der Sache, Bezahlung der Schuld oder
Schadenerſatz) begehrt. Auch das Völkerrecht begnügt ſich in dieſen Fällen nur mit
der Beſeitigung des Unrechts und der Herſtellung des Rechts. Die
Alternative zwiſchen der Erfüllungs- oder Erſatzforderung auf der einen
und dem Rücktritt von dem Vertragsverhältniß auf der andern Seite iſt durch
die Schwierigkeit erklärt, jene erſte Forderung durchzuſetzen. Vgl. oben § 455.


17*
[260]Siebentes Buch.
463.

Wird die Ehre eines andern Stats verletzt oder ſeine Würde miß-
achtet, ſo iſt der beleidigte oder gekränkte Stat berechtigt, entſprechende
Genugthuung zu fordern.


Es unterſcheidet ſich dieſe Art der Rechtsverletzung von der vorhergehenden
durch den idealen Charakter des gekränkten Rechts und durch die tiefere Empfin-
dung des beleidigten Statsbewußtſeins. Die Genugthuung geht da-
her auch einen Schritt über die bloße Wiederherſtellung hinaus. Sie kann
nach Umſtänden in der Beſtrafung derjenigen Perſonen beſtehen, welche jene Belei-
digung begangen und die Würde des verletzten States mißachtet haben. Die Genug-
thuung kann nicht bloß gewährt, ſie kann unter Umſtänden auch genommen
werden. Die Art derſelben wird oft durch die Sitte beſtimmt. Unſittliches darf
man nicht verlangen.


464.

Beſteht die Verletzung in dem thatſächlichen Eingriff in das Rechts-
gebiet (Rechtsbruch) oder in widerrechtlicher Beſitzſtörung eines andern
States, ſo iſt der verletzte Stat berechtigt, nicht bloß Aufhebung des Un-
rechts und Wiederherſtellung des geſtörten Rechts- oder Beſitzſtandes bezie-
hungsweiſe Schadenserſatz zu begehren, ſondern überdem Genugthuung und
Sühne und je nach Umſtänden weitere Garantien gegen Erneuerung des
Rechtsbruchs zu fordern.


Der Rechtsbruch iſt eine ſchwerere Verletzung, als die bloße Nichterfüllung
und daher eher dem ſtrafbaren Unrecht der Privatperſonen zu vergleichen. Da es
aber im Völkerrechte keine eigentliche Strafgerichtsbarkeit gibt, ſondern die Selbſthülfe
des Völkerrechts noch auf derſelben Stufe ſich befindet, wie die alte Rache der in
ihrem Frieden verletzten Barbaren, ſo muß die Beſtimmung der Sühne großen-
theils dem Ermeſſen des verletzten States und den Verhandlungen mit dem Ver-
letzer überlaſſen werden.


465.

Wird der Rechtsbruch bis zu gewaltſamem Friedensbruch geſteigert,
ſo wird auch das Recht des verletzten States auf Züchtigung des Friede-
brechers erweitert.


Zwiſchen Rechtsbruch und Friedensbruch beſteht ein ähnlicher Unter-
ſchied, wie zwiſchen Vergehen und Verbrechen im Strafrecht, der ſchwer zu definiren
[261]Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herſtellung desſelben.
iſt und doch überall hervortritt und ſich bemerkbar macht, ein Unterſchied eher des
Grades, als der Art. Der gewaltſame Friedensbruch iſt um ſeiner Form willen
gefährlicher als anderer Rechtsbruch und verlangt daher auch eine energiſchere Gegen-
wirkung. Der Satz des Strafrechts, daß ideale Perſonen (Körperſchaften, universi-
tates
) nicht geſtraft werden können, findet im Völkerrecht keine Anerkennung. Ein
Stat, der einen Friedensbruch verübt, kann dadurch ſeine Exiſtenz in Gefahr bringen
und durch den Krieg, den er hervorruft, verſchlungen werden. Das aber iſt die
Strafe des Völkergerichts, das in der Weltgeſchichte ſeine Macht kund gibt.


466.

Wird die Verletzung ohne Ermächtigung oder Auftrag der Stats-
gewalt von Statsbeamten oder Privatperſonen verübt, ſo kann der verletzte
Stat nur fordern, daß der Stat, dem dieſe Perſonen angehören, ſie dafür
zur Rechenſchaft ziehe, und für Abſtellung des Unrechts, beziehungsweiſe
Beſtrafung der Schuldigen ſorge.


Es wäre offenbar ungerecht, die Miſſethat des Einzelnen, welche der
Stat weder veranlaßt noch erlaubt, dem nichtſchuldigen State als Schuld
anzurechnen. Aber dieſer Stat iſt doch verpflichtet, inſofern für ſeine Angehörigen
einzuſtehen, als er zu ſorgen hat, daß die völkerrechtlichen Beziehungen zu andern
Staten nicht durch ſeine Angehörigen mißachtet und verletzt werden. Er darf das
Unrecht auch nicht durch ſein Nichtsthun ſchützen und begünſtigen. Jede Conni-
venz
, welche er in dieſer Hinſicht übt, wird ihm ſelber zum Vorwurf und macht
ihn verantwortlich.


Das Alterthum ging darin weiter als das heutige Völkerrecht, daß jenes die
Forderung der Auslieferung ſchuldiger Perſonen an den verletzten Stat
gut hieß, damit dieſer dieſelben beſtrafe, während dieſes keine ſolche Pflicht der
Auslieferung mehr anerkennt. Wohl aber kann auch heute noch ein Stat ſich von
aller weiteren Verantwortlichkeit für die Vergehen ſeiner Angehörigen dadurch ent-
laſten, daß er die Schuldigen freiwillig dem verletzten State zur Beſtrafung
übergibt.


467.

Wenn ſich die Rechtspflege eines States unzureichend erweist, um
andere Staten gegen Verletzungen des Völkerrechts wirkſam zu ſchützen,
ſo wird der Stat ſelber dem verletzten State verantwortlich.


Die Beſtrafung eines Vergehens oder Verbrechens geſchieht im einzelnen Fall
nach Vorſchrift der im Lande geltenden Strafgeſetzgebung und Straf-
proceßordnung
. Die repräſentative Statsgewalt darf ſich in der Regel in die
Verwaltung der Strafrechtspflege nicht einmiſchen. Daher wird, wenn nicht für
[262]Siebentes Buch.
völkerrechtliche Vergehen ein anderes Verfahren vorgeſchrieben iſt, der ordentlichen
Strafjuſtiz auch in ſolchen Fällen die Beurtheilung überlaſſen werden müſſen. Der
verletzte Stat iſt zunächſt nicht berechtigt, eine Abweichung von dem ordentlichen
Gang der Rechtspflege zu fordern und er muß ſich’s gefallen laſſen, wenn der An-
geklagte freigeſprochen oder in eine geringere Strafe verurtheilt wird, als er für
gerecht hält. Dabei werden aber zwei Dinge immer vorausgeſetzt:


1) daß das Landesrecht in Harmonie ſei mit dem Völkerrecht und
auch den völkerrechtlichen Rechts- und Friedensbruch, wenn er von Privaten verübt
wird, mit Strafe bedrohe. Würde die Strafgeſetzgebung des Landes nicht dafür ſor-
gen, d. h. das Völkerrecht nicht anerkennen und nicht beachten, ſo wäre das unzwei-
felhaft dem State zum Vorwurf zu machen, für welchen das Völkerrecht verbind-
lich iſt, und die andern Staten wären in ihrem vollen Recht, wenn ſie die Ergän-
zung und Verbeſſerung der Landesgeſetzgebung forderten.


2) Der Stat iſt auch dafür verantwortlich, daß die Strafrechtspflege, ſoweit
ſie zum Schutz des Völkerrechts dient, bona fide gehandhabt werde. Die
bloß formelle Berufung auf ein rechtskräftiges Urtheil ſichert zwar immer den frei-
geſprochenen oder milde beſtraften Angeſchuldigten vor weiterer Strafe, aber nicht
immer auch den Stat vor jeder weiteren Forderung. Sollte ſich zeigen, daß die
Richter oder Geſchwornen ihre Pflicht, das Völkerrecht zu ſchützen, nicht geübt, ſon-
dern vielleicht ihren Landsmann oder die politiſche Partei in ungehöriger Weiſe
begünſtigt haben, ſo iſt das ſtatliche Connivenz; denn die Verwaltung der
Rechtspflege iſt eine ſtatliche Function, für welche der Stat ſelber völkerrechtlich ein-
zuſtehen hat. Keine Rechtspflege üben oder ſie ſchlecht üben, das iſt beides Miß-
achtung der völkerrechtlichen Pflicht, welche die Staten verbindet. Dafür wird wieder
der Stat verantwortlich gemacht. Eben deßhalb erfordert die Rechtspflege
bei völkerrechtlichen Beſchwerden eine ganz beſondere Sorgfalt und Gewiſſenhaftigkeit
und iſt es ganz zweckmäßig, entweder durch die Gerichtsorganiſation ſelber
dafür zu ſorgen, daß nur ſolche Behörden urtheilen, für deren Kenntniß des Völker-
rechts und für deren redlichen Willen, dasſelbe zu beachten, beſondere Garan-
tien
vorhanden ſind, oder doch die ordentlichen Gerichte auf dieſe ſchwere Pflicht-
übung und die eigenthümliche Gefahr der ſtatlichen Verantwortlichkeit beſonders auf-
merkſam zu machen, beziehungsweiſe ſie anzuweiſen, ſich mit der Repräſentativ-
gewalt des States ins Einvernehmen
zu ſetzen.


468.

Eine völkerrechtliche Verletzung kann auch dadurch verübt werden,
daß zwar nicht ein anderer Stat unmittelbar in ſeinem Rechte gekränkt,
ſondern deſſen Angehörige oder Schutzbefohlene völkerrechtswidrig behandelt
werden.


Vgl. oben § 380.


[263]Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herſtellung desſelben.
469.

Art und Maß der Entſchädigung, der Genugthuung, der Sühne
richten ſich nach der Art und dem Umfang der Verletzung. Je größer die
Schuld, um ſo ſchwerer ihre Folgen. Zwiſchen beiden iſt der Grundſatz
der Verhältnißmäßigkeit zu beachten. Uebertriebene Forderungen ſind
widerrechtlich.


Im Privat- und Strafrecht werden die Folgen des Unrechts zum voraus
geſetzlich geregelt. Im Völkerrecht fehlt es daran. Vielmehr iſt das Einzelne
dem Einverſtändniß oder dem Kampf der Parteien überlaſſen, die keinen Richter
über ſich haben. Man kann daher nur den allgemeinen Grundſatz der Verhält-
nißmäßigkeit
ausſprechen, welcher dem natürlichen Rechtsbewußtſein als noth-
wendig erſcheint. Bei Entſchädigungsforderungen iſt das ſelbſtverſtändlich und doch
haben auch da einzelne mächtige Staten zuweilen unverhältnißmäßige Summen ge-
fordert und die Forderung durchgeſetzt. Schwieriger iſt es, bei politiſchen Verlangen
das richtige Maß zu beſtimmen. Insbeſondere ſteigern ſich im Krieg die Anſprüche
ſo ſehr, daß der urſprüngliche Streitgegenſtand nicht mehr als maß-
gebend
zu betrachten iſt. Vgl. unten Buch VIII.


470.

Wenn für Ehrenkränkungen und Verletzungen der Statswürde Ge-
nugthuung gefordert wird, ſo darf doch dem dafür verantwortlichen State
keine mit der Fortdauer und Würde eines ſelbſtändigen States unverträg-
liche Demüthigung zugemuthet werden.


Je feiner das ausgebildete Ehrgefühl der civiliſirten Welt iſt, um ſo ſorg-
fältiger iſt dieſe Regel zu beachten. Im Verhältniß der ſtarken Staten wird dieſelbe
ſchon aus Klugheit eher beachtet; ſchwachen Staten wird leichter Ungebührliches auf-
genöthigt. Indeſſen kann ein Stat, der die perſonificirte Rechtsordnung
und Ehre eines Volkes iſt, eine offenbare Schmach nicht ertragen, ohne in ſeiner
Exiſtenz gefährdet zu werden. Daher muß das Völkerrecht, welches für den geſicher-
ten Fortbeſtand der Staten ſorgt, eine derartige Demüthigung eines Stats unter-
ſagen. Verdient ein Stat nicht mehr als eine ehrenhafte Perſon behandelt zu wer-
den, ſo iſt es beſſer, ihm überhaupt nicht mehr eine ſtatliche Selbſtändigkeit zuzu-
geſtehn.


471.

Wenn die Verletzung des Völkerrechts gemeingefährlich iſt, ſo iſt
nicht allein der verletzte Stat, ſondern es ſind die übrigen Staten, welche
[264]Siebentes Buch.
das Völkerrecht zu ſchützen die Macht haben, veranlaßt, dagegen zu wirken
und für Herſtellung und Sicherung der Rechtsordnung einzuſtehn.


Gemeingefährliche Verletzungen bedrohen die allgemeine Weltordnung
und regen in Folge deſſen alle Staten auf. Wie im Strafrecht die Popularklage
die Klage des Verletzten ergänzt und erſetzt hat, ſo hat aus einem ähnlichen Bedürf-
niß, den Weltfrieden und die Weltordnung beſſer zu ſichern, das Völkerrecht dieſe
erweiterte Rechtshülfe gebilligt. Zunächſt ſind alle Staten in gleicher Weiſe
berechtigt, aber man kann doch eine wirkſame Hülfe nur von den Staten erwarten,
deren Macht zu activer Politik ausreicht, in der Regel alſo nur von den Groß-
mächten
. Wenn in Europa eine Zeit lang die ſogenannte Pentarchie der fünf
europäiſchen Großmächte ſich vorzugsweiſe als Protectorat des Völkerrechts gerirt
hat, ſo findet das in dieſer Rückſicht eine relative Begründung.


472.

Von der Art ſind insbeſondere:


  • a) die Seeräuberei (Piraterie) (§ 343 f.),
  • b) die Beraubung und Rechtloserklärung der Fremden überhaupt
    (§ 381 f.),
  • c) die Zerſtörung der Weltverkehrswege (§ 307),
  • d) die Anmaßung einer ausſchließlichen Meeresherrſchaft (§ 100. 305),
  • e) die drohende Univerſalherrſchaft Eines States über die andern
    Staten und die Störung des allgemeinen Gleichgewichts (§ 98.
    99. 412),
  • f) der Bruch des Geſantenrechts (§ 191 f.),
  • g) der gewaltſame Ueberfall fremder Statsgebiete ohne Kriegsurſache
    (§ 481),
  • h) die Unterdrückung fremder und ſelbſtändiger Völker durch rohe
    Uebermacht (§ 81. 412),
  • i) die Einführung der Sclaverei (§ 361 f.),
  • k) die offenbare und grauſame Tyrannei wider Andersgläubige
    (§ 411).

Ueberhaupt kann jeder ſchwere und unzweifelhafte Bruch und offen-
bare Verhöhnung des Völkerrechts das Einſchreiten auch der übrigen nicht
unmittelbar betroffenen Staten veranlaſſen und rechtfertigen.


473.

Die übrigen Staten können in ſolchen Fällen ihre diplomatiſche Ver-
[265]Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herſtellung desſelben.
wendung eintreten laſſen und auf Beſeitigung des Unrechts dringen und
ſie können nöthigenfalls ſich verbünden und mit gemeinſamer Macht vor-
gehen, um dem anerkannten Völker- und Menſchenrecht Achtung und Gel-
tung zu verſchaffen.


In manchen Fällen ſchon hat die Verwendung des diplomatiſchen
Körpers
ausgereicht, um eine Verletzung des Völkerrechts zu beſeitigen. Zuweilen
half die Interceſſion einer Macht. Aber zuweilen ſind auch ernſtere Maßregeln
nöthig, wie die gemeinſamen Maßregeln, um die Seeräuberei zu beſtrafen und zu
verhindern, die Sclavenzufuhr zu hemmen, die Rechte der neutralen Staten zu be-
haupten, unmenſchliche Grauſamkeiten zu zügeln. Wiederholt haben die europäiſchen
Mächte in der Türkei intervenirt zum Schutz vorzüglich der chriſtlichen Bevölkerung.


2. Bruch der inneren Statsordnung. Intervention.


474.

Die fremden Staten werden durch das Völkerrecht in der Regel
nicht ermächtigt, in die Verfaſſungsſtreitigkeiten eines unabhängigen States
ſich einzumiſchen und gegen Statsumwälzungen zu interveniren.


1. Der Schutz der Verfaſſung eines States und ſeiner inneren Rechtsordnung
iſt eine innere Angelegenheit dieſes States und nicht Aufgabe des Völkerrechts.
Der Sturz einer Regierung, die Entthronung eines Fürſten, die Erhebung eines
Uſurpators, die Mißachtung verfaſſungsmäßiger Volksrechte iſt ein Bruch des beſte-
henden Statsrechts, aber an ſich nicht eine Verletzung des Völkerrechts,
d. h. der Beziehungen eines States zu andern Staten. Deßhalb iſt auch in der
Regel die Intervention fremder Staten in derartige Verfaſſungskämpfe und Umge-
ſtaltungen ein ungerechtfertigter Eingriff in die ſtatliche Selbſtändigkeit und eine
Gefährdung des allgemeinen Friedens und von dem Völkerrecht gemißbilligt. Die
bloße Verwandtſchaft der Dynaſtien oder die Gleichartigkeit der Intereſſen und
Stimmungen rechtfertigt dieſen Eingriff in ein fremdes Rechtsgebiet ebenſowenig,
als die politiſche Antipathie gegen die Partei, welche durch die Umwälzung zur
Herrſchaft kommt. Die Solidarität der Intereſſen muß ſich innerhalb
des Völkerrechts
bewegen, ſie darf nicht die völkerrechtliche Selbſtändigkeit der
Staten angreifen und verletzen. (Vgl. oben § 39 f.)


2. Die Praxis der europäiſchen Staten iſt freilich noch nicht in voller Ueberein-
ſtimmung mit dieſen natürlichen Rechtsgrundſätzen. Man hat ſeit hundert Jahren
[266]Siebentes Buch.
ſehr oft dagegen gefehlt. Indeſſen gerade die Geſchichte der zahlreichen Interventionen,
welche im Widerſpruch mit dem von Zeit zu Zeit dennoch anerkannten Princip voll-
zogen worden ſind, iſt geeignet, deſſen Richtigkeit ins Licht zu ſtellen. Die Folgen
dieſer Interventionen waren freilich ſehr verſchieden. Wenn die Intervention, wie
im Jahr 1791 der Alliirten gegen die Revolution in Frankreich auf einen Wider-
ſtand ſtieß, den ſie nicht zu bewältigen vermochte, ſo wurden die Leidenſchaften der
ſiegreichen Partei durch dieſelbe nicht gebändigt, ſondern nur heftiger gereizt. In
den meiſten Fällen aber ſiegte die überlegene Macht der intervenirenden Staten und
richtete die öffentlichen Zuſtände ſo ein, wie die Sieger es für zweckmäßig erachteten.
In den Zeiten der franzöſiſchen Republik wurden ſo um Frankreich her durch In-
terventionen Republiken geſchaffen, in der Periode des erſten Napoleoniſchen Kaiſer-
thums Napoleoniſche Vaſallenſtaten. Die Interventionen der abſoluten Mächte
Oeſterreichs in den Italieniſchen Staten, Frankreichs in Spanien ſtellten die abſolute
Monarchie her und beſeitigten die conſtitutionellen Schranken. Was hat all dieſe
gewaltſame Einmiſchung aber ſchließlich erreicht? War der Stat zu ſchwach, um
ſich dieſer fremden Einwirkung wieder zu entziehen, ſo wurde er nach und nach das
Opfer der Interventionen und verlor zuletzt ſeine ganze Selbſtändigkeit. Der Unter-
gang Polens iſt ein furchtbares Beiſpiel einer ſolchen Zerreißung und Tödtung eines
Stats. War das Volk, das ſich vorübergehend vor der Uebermacht beugen mußte,
lebenskräftig, ſo entzog es ſich, ſobald jener Druck aufhörte, wieder dieſer äußern
Beherrſchung. Die Directorialrepubliken nach franzöſiſchem Muſter hörten auf,
ſolche Republiken zu ſein, als das franzöſiſche Directorium geſtürzt ward, die Na-
poleoniſchen Vaſallenſtaten erhielten ſich nicht in dieſer Geſtalt, als der Kaiſer
Napoleon der europäiſchen Coalition erlag. Die abſoluten Monarchien in Italien und
Spanien wurden durch eine erneuerte Conſtitution beſchränkt, als die abſoluten Oſtmächte
außer Stande waren, ihnen zu Hülfe zu kommen. Nicht einmal die europäiſche
Wiedereinſetzung der Bourbonen in Frankreich und die in völkerrechtlicher Form
beſchloſſene Ausſchließung der Napoleoniden von dem franzöſiſchen Throne hatte
Beſtand. Die Freiheit der Völker, ſich ſelber die Form ihrer Ver-
faſſung zu geben
, konnte durch dieſe Interventionen eine Zeit lang gehemmt,
aber nicht auf die Dauer gebunden werden. Die natürliche Entwicklung
wurde vorübergehend geſtört und verſchoben, aber ſie machte ſich überall wieder gel-
tend, ſobald der künſtliche Druck nachließ, und ſo mußte es ſein, weil die natür-
liche Entwicklung
das große Geſetz des Statenlebens wie des Einzellebens iſt.


3. Auf den Congreſſen von Laibach 1821 und Verona 1822 wurde geradezu
das Princip der Intervention im Intereſſe der legitimen Fürſten-
gewalt
als ein neues Princip der europäiſchen Weltordnung proclamirt.
So in der Circularnote des Fürſten Metternich, Laibach 12. Mai 1821: „Les
changemens utiles ou nécessaires dans ia législation et dans l’administration
des États ne doivent émaner que de la volonté libre, de l’impulsion réfléchie
et éclairée de ceux que Dieu a rendus responsables du pouvoir. Tout ce
qui sort de cette ligne, conduit nécessairement au désordre, aux boulever-
semens, à des maux bien plus insupportables que ceux quel’on prétend
guérir. Pénétré de cette vérité éternelle les Souverains n’ont pas hérité

[267]Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herſtellung desſelben.
à la proclamer avec franchise et vigueur, ils ont déclaré qu’en respectant
les droits et l’indépendance de tout pouvoir légitime, ils regardaient comme
légalement nulle et désavouée par les principes qui constituent le droit
public de l’Europe, toutes prétendue réforme opérée par la revolte et la
force ouverte. Ils out agi, en conséquence de cette déclaration, dans les
évènemens de Naples, dans ceux du Piémont.“
Nur England proteſtirte da-
mals öffentlich gegen dieſe ungeheuerliche Theorie und Praxis, welche die Sicherheit
aller Staten und die Freiheit aller Völker bedrohe. Als die abſolutiſtiſchen Mächte
den Verſuch machten, dasſelbe Princip auch nach Amerika überzupflanzen und die
Spaniſchen Colonien mit Gewalt in dem Gehorſam gegen die europäiſchen Dynaſtien
feſtzuhalten, trat England durch ſeine Anerkennung der ſüdamerikaniſchen Republiken
dieſer Politik entſchloſſen entgegen und ſchützte in Gemeinſchaft mit der von den
Vereinigten Staten proclamirten Monroedoctrin die Regel der Nichtinter-
vention
.


4. Aber auch die europäiſchen Oſtmächte wurden bald inne, daß der vermeintliche
neue Grundſatz der legitimen Intervention auch in Europa nicht durchzuführen ſei.
Vergeblich drang Oeſterreich auf Intervention gegen die aufſtändiſchen Hellenen zu
Gunſten der legitimen Herrſchaft der hohen Pforte. Rußland fand es nicht mehr in
ſeinem politiſchen Intereſſe, den Don Quixotte der Legitimität zu ſpielen. Als dann
in Frankreich 1830 der legitime König Karl X. durch eine Revolution vertrieben
wurde, da wagten es die Oſtmächte nicht mehr, ihr Interventionsprincip anzuwen-
den. Sie traten nicht einmal der entgegengeſetzten Intervention Frankreichs ent-
gegen, welches die belgiſche Revolution gegen die legitime Gewalt des Königs der
Niederlande in Schutz nahm. Von da an war das Princip als ein europäiſches
aufgegeben und die ſpätern Interventionen in Italien, bald von Oeſterreich bald
von Frankreich vollzogen, wurden nicht mehr aus einem allgemeinen In-
terventionsrecht
abgeleitet, ſondern nur mit concreten Urſachenbegründet.
Die Nichtintervention wurde allmählich als die Regel anerkannt. Die Thron-
rede der Königin von England vom 5. Febr. 1861 ſpricht bezüglich Italiens
das richtige Princip aus: „Da ich glaube, daß man den Italienern die Ordnung
ihrer eigenen Angelegenheiten überlaſſen ſollte, ſo habe ich es nicht für Recht gehal-
ten, in jene Dinge thätig einzugreifen“. Wie Recht die engliſche Regierung hatte,
die franzöſiſche vor der Intervention in Mexico zu warnen (1861), hat der tragiſche
Ausgang des importirten neuen Kaiſerthums in Mexico (1867) gezeigt.


475.

Wenn ein Stat freiwillig die Intervention einer befreundeten Macht
anruft, oder mit der angebotenen Intervention derſelben einverſtanden iſt,
ſo iſt dieſelbe gerechtfertigt.


Wenn der Stat ſelber einwilligt, ſo beſteht kein Grund mehr, die Interven-
tion als unerlaubt zu betrachten, denn in dieſen Fällen wird die Selbſtändigkeit des
[268]Siebentes Buch.
States nicht mißachtet. In dieſem Sinne hat England zuweilen in Portugal
und haben die Schutzmächte Griechenlands in den Helleniſchen Angelegenheiten in-
tervenirt.


476.

Wird die Intervention einer fremden Macht von der bedrohten
Statsregierung angerufen, ſo hängt die Rechtmäßigkeit dieſes Begehrens
davon ab, daß die Statsregierung noch als vollberechtigtes Organ des
Statswillens und als wirklicher Repräſentant des States zu betrachten iſt.


Iſt die Regierung bereits ohnmächtig geworden im Lande, und läßt ſich ihre
gelähmte Macht nicht durch die eigenen Volkskräfte wiederherſtellen, ſo iſt dieſelbe
auch nicht mehr für ermächtigt zu halten, die bewaffnete Intervention eines andern
States herbeizuziehn und dadurch die Selbſtändigkeit des Stats und die Freiheit der
Bürger der Heeresgewalt einer fremden Macht Preis zu geben. Vgl. darüber die
Thronrede der König in von England vom 24. Jan. 1860 und oben § 116 f.
Ein aus dem Beſitz vertriebener Fürſt iſt jedenfalls nicht mehr zu ſolcher Stats-
repräſentation legitimirt und daher ſein Interventionsgeſuch nicht als
Statsact
zu betrachten.


477.

Noch weniger iſt eine Oppoſitions- oder eine aufſtändiſche Partei als
ermächtigt anzuſehen, die gewaltſame Intervention einer fremden Macht
Namens ihres States anzurufen.


Sind die beiden ſtreitenden Parteien darin einig, die Intervention einer
befreundeten Macht als Vermittler zu begehren oder gut zu heißen, dann freilich iſt
das als Meinung des ganzen States anzuſehen, und die Intervention gerecht-
fertigt. Aber die Oppoſitionspartei für ſich allein repräſentirt niemals den
Stat und kann daher auch nicht einen ſo ſchweren Eingriff von außen in die innern
Statsangelegenheiten rechtfertigen.


478.

Werden in Folge der Verfaſſungskämpfe das allgemein als noth-
wendig anerkannte Menſchenrecht oder das Völkerrecht verletzt, dann wird
auch eine Intervention zum Schutze desſelben aus denſelben Gründen ge-
rechtfertigt, wie das Einſchreiten des civiliſirten Staten überhaupt bei
gemeingefährlichen Rechtsverletzungen.


[269]Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herſtellung desſelben.

Vgl. darüber oben § 471. In ſolchen Fällen mag auch eine unterdrückte
Partei die Intervention anrufen, nicht im Namen des States, ſondern nach Maß-
gabe des Völkerrechts. Die Chriſten in der Türkei haben das wiederholt mit Erfolg
gethan.


479.

Wenn eine fremde Macht in unberechtigter Weiſe in einem Lande
intervenirt, ſo ſind die andern Staten berechtigt, dafür zu ſorgen, daß
dieſe Intervention wieder aufhöre und nicht zur Verletzung der Weltord-
nung mißbraucht werde und darüber zu wachen, daß dieſelbe nicht zu
ihrem Schaden ausgebeutet werde.


1. Die von Spanien her drohende Intervention in Portugal hat 1826
die Engländer zur Intervention bewogen, um die Portugieſiſche Conſtitution zu
ſchützen. Die Intervention Oeſterreichs im Kirchenſtat im Jahr 1831 hat Frankreich
veranlaßt, durch Beſetzung von Ancona eine Stellung dagegen zu nehmen. Gegen die
Ruſſiſche Intervention in der Türkei 1855 haben ſich die Weſtmächte verbündet
und den orientaliſchen Krieg unternommen. Der franzöſiſchen Intervention in
Mexiko traten die Vereinigten Staten 1866 entgegen.


2. Es iſt möglich, daß ein Stat ſeine Vertragsrechte zu wahren unternimmt,
indem er gegen Verfaſſungsänderungen intervenirt, welche jene verletzen. Dazu iſt
er berechtigt, aber das nur ſoweit, als er in den Schranken des Völkerrechts ſeine
Rechte zu vertheidigen das Recht hat. Insbeſondere hat die Beſeitigung von dyna-
ſtiſchen Thronfolgerechten durch eine Statsumwälzung zunächſt nur eine ſtatsrecht-
liche
und keine völkerrechtliche Bedeutung.


480.

In zuſammengeſetzten Staten beſtimmt die Unions- oder Bundes-
verfaſſung, inwiefern die Intervention der Central- oder Bundesgewalt in
die Verfaſſungsſtreitigkeiten der Einzelſtaten zuläſſig ſei.


Beiſpiele die zahlreichen Interventionen im deutſchen Bund, in den
Vereinigten Staten von Amerika, in der ſchweizeriſchen Eidgenoſſen-
ſchaft
.


[270]Siebentes Buch.

3. Minneverfahren.


481.

Wenn zwiſchen zwei Staten völkerrechtliche Conflichte oder Differenzen
entſtehn, die ſich auf friedlichem Wege ſchlichten laſſen, ſo iſt von Anfang
an nicht der Weg der Gewalt, ſondern der Weg der Minne einzuſchlagen.


Die Gewaltübung iſt nur in Fällen der Nothwendigkeit gerechtfertigt,
weil ſie für ſich ein Uebel und eine Gefahr für die friedliche Rechtsordnung ſel-
ber iſt.


482.

Als Mittel des Minneverfahrens unter den Parteien ſind hervorzu-
heben:


  • a) diplomatiſche Verhandlungen,
  • b) Verzicht auf die Durchführung eines behaupteten Rechts mit oder
    ohne Proteſt und Rechtsverwahrung für die Zukunft,
  • c) die freiwillige, wenn auch nur thatſächliche Berückſichtigung der
    Forderungen der Gegenpartei,
  • d) der Vergleich unter den Parteien.

1. Zu a. Zuweilen genügt ſchon die Mittheilung von Acten zur
Aufklärung, oder eine gründliche Rechtsausführung, oder eine einfache Vor-
ſtellung
oder Beſchwerde, die Aeußerung eines freundlichen Wunſches u. dgl.


2. Zu b. und c. Der Verzicht iſt ein einſeitiger Act, aber mit Rückſicht
auf das Verhältniß zur Gegenpartei. Inſofern gehören b) u. c) zuſammen. Der
Verzicht b) bedeutet Fallenlaſſen eines Rechtsanſpruchs, wenn auch viel-
leicht nur thatſächlich dadurch, daß demſelben gegenwärtig keine Folge gegeben wird.
Dem entſpricht die vielleicht ebenfalls nur thatſächliche, nicht principielle Ge-
währung der Forderungen
c) auf Seite des vermeintlich oder wirklich Verpflich-
teten. Die Rechtsverwahrung und der Proteſt haben den Zweck, die Ver-
zichtleiſtung oder Erfüllung gegen eine Auslegung ſicher zu ſtellen, welche der Han-
delnde vermeiden will und ſeine durch ſeine Handlung zweifelhaft gewordenen Rechte
möglichſt vollſtändig zu bewahren.


3. Zu d. Der Vergleich der Parteien ſetzt an die Stelle des ſtreiti-
gen Rechts nunmehr ein ſicheres Vertragsrecht. Zu der Vergleichsverhand-
lung können natürlich auch von beiden Seiten Commiſſäre ernannt und ermächtigt
werden.


[271]Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herſtellung desſelben.
483.

Das Minneverfahren kann auch durch die guten Dienſte (bons of-
fices
) einer dritten befreundeten Macht unterſtützt werden.


Die dritte Macht kann entweder von den beiden Parteien oder mindeſtens
von einer Partei um ihre guten Dienſte angerufen worden ſein, oder ſie kann
aus eigenem Antrieb dieſelben anbieten. Immer verwendet ſie nur ihren
moraliſchen Einfluß in der Abſicht, den Zwiſt freundlich auszugleichen. Sie gibt
gute Räthe, macht Vergleichsvorſchläge, empfiehlt beſtimmte Handlungen. Aber ſie
darf nicht drohen, ſo lange die Grenze des eigentlichen Minneverfahrens zu wah-
ren iſt.


484.

Selbſt bei ernſten Streitigkeiten zwiſchen verſchiedenen Staten, welche
zum Kriege zu führen drohen, erkennt das heutige Völkerrecht es als wün-
ſchenswerth, noch nicht als völkerrechtliche Pflicht dieſer Staten an, bevor
ſie zu den Mitteln des Krieges greifen, vorerſt die guten Dienſte einer
befreundeten Macht anzuſprechen.


Die noch ſchwache, nur empfehlende nicht verpflichtende Vorſchrift
hat auf dem Pariſer Congreß eine formelle Anerkennung der europäiſchen Groß-
mächte erlangt. Protokoll vom 14. April 1856: „Messieurs les Plénipotentiaires
n’hésitent pas à exprimer au nom de leurs gouvernemens le voeu que les
états entre lesquels s’éléverait un dissentiment sérieux, avant d’en appeler
aux armes, eussent recours, tant que les circonstances l’admettraient, aux
bons offices d’une puissance amicale“.


485.

Die guten Dienſte werden zur Vermittlung geſteigert, wenn eine
dritte unbetheiligte Macht im Einverſtändniß der Parteien die Minnever-
handlung leitet und eine Verſtändigung herbeizuführen unternimmt. Der
Vermittler ſoll eine urparteiiſche Stellung behaupten.


Es iſt möglich, daß eine Partei die „guten Dienſte“ einer neutralen Macht
annimmt, aber die „Vermittlung“ derſelben verwirft. Dem Vermittler kommt es
zu, billige Ausgleichungsvorſchläge zu machen. Er kann aber auch ſich für die Vor-
ſchläge einer Partei erklären, inſoweit er ſie für billig erachtet. Aber es widerſtreitet
der unparteiiſchen Natur des Vermittleramts, daß der Vermittler vorzugsweiſe die
Intereſſen einer Partei vertrete und gar Vortheile für ſich ſelber ausbedinge, obwohl
[272]Siebentes Buch.
auch das zuweilen geſchehen iſt. Ein Beiſpiel bei Laurent Études sur l’hist. de
l’humanité XI.
380.


486.

Daraus, daß die Parteien die Vorſchläge des Vermittlers annehmen,
folgt nicht ſeine Gewährleiſtung der Uebereinkunft.


Die Gewährleiſtung des Vermittlers ſetzt einen beſondern Garantievertrag
voraus. Vgl. § 430 f.


487.

Auch wenn eine Vermittlung angenommen worden iſt, beſteht kein
rechtliches Hinderniß für die Parteien, unmittelbar zu verhandeln und ſich
unter einander zu vereinbaren.


Die Vermittlung tritt nur hinzu, um die Verſtändigung der Parteien zu
befördern. Sie darf nicht zum Hinderniß dieſer werden. Der Vermittler
kann ſich nur dann über Mißachtung ſeiner Vermittlung beſchweren, wenn er durch
die Parteien getäuſcht wird oder ihm die Erfolge der unmittelbaren Verſtändigung
verheimlicht werden. Denn als anerkannter Vermittler hat er einen berechtigten
Anſpruch auf das Vertrauen der Parteien, ſo lange er ſein übernommenes
Amt unparteiiſch und mit Um- und Einſicht verwaltet.


4. Schiedsrichterliches Verfahren.


488.

Die ſtreitenden Parteien können auch die Erledigung ihres Streits
einem Schiedsgericht übertragen.


1. Iſt der Rechtsgrundſatz nicht ſtreitig, aber eine Thatfrage beſtritten, auf
welche jener Grundſatz Anwendung findet, ſo nennt man das arbitratio. Z. B. Die
Entſchädigungsflicht wird anerkannt, aber das Maß des wirklich eingetretenen Scha-
dens und daher das Maß der Entſchädigung iſt ſtreitig. Zu derartigen Schieds-
gerichten eignen ſich dann gewöhnlich ſachverſtändige Schätzer. Das Verfahren wird
daher zum Schätzungsverfahren.


2. Wenn dagegen das Recht ſelber ſtreitig iſt, alſo z. B. die Entſchädigungs-
[273]Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herſtellung desſelben.
pflicht, ſo wird das eigentliches arbitrium genannt. Es bedarf dann einer Rechts-
entſcheidung.


489.

In der Regel ſteht es den Parteien, welche ein Schiedsgericht be-
rufen, frei, zu beſtimmen, wem das Schiedsrichteramt übertragen werde.


1. Möglich iſt’s, daß ſchon zum voraus durch einen Statenvertrag das
ſchiedsrichterliche Verfahren angeordnet und ſelbſt die Perſonen der Schiedsrichter
bezeichnet oder doch die Art der Wahl regulirt iſt. Wenn das nicht geſchehen iſt,
dann müſſen im einzelnen Bedürfnißfall ſich die Parteien auch darüber vertragen.


2. Es können zu Schiedsrichtern, je nach dem Belieben der Parteien, ernannt
werden Statshäupter, oder beſtehende Gerichtshöfe, oder Privatperſonen (Rechts-
gelehrte), Juriſtenfacultäten, kirchliche Autoritäten, Ordenscapitel u. ſ. f. Werden
Statshäupter gewählt, ſo nimmt man als ſelbſtverſtändlich an, daß dieſelben
die Verhandlungen durch delegirte Zwiſchenperſonen leiten und den Schiedsſpruch
ausarbeiten laſſen können, aber der Schiedsſpruch wird in ihrem Namen und unter
ihrer Autorität verkündet. In manchen Fällen wird es daher nicht zweckmäßig ſein,
ſouveräne Perſonen zu Schiedsrichtern zu machen. Hat der Streit eine politiſche
Seite, oder ſind die politiſchen Intereſſen des ſchiedsrichterlichen States mit der
Stimmung und Haltung in einem der beiden Parteiſtaten verflochten, ſo iſt die
Gefahr zu beſorgen, daß der ſouveräne Schiedsrichter die eigenen politiſchen Motive
einwirken laſſe auf ſeine Amtsführung. Sind dagegen keine politiſchen Intereſſen
mit in Frage, und iſt daher für die Unparteilichkeit des zum Schiedsrichter gewähl-
ten Souveräns nichts zu fürchten, ſo haben die Parteien hinwieder keine Garantie
in den vielleicht unbekannten Perſonen, welche als geheime Räthe des Schiedrichters
die eigentlichen Geſchäfte beſorgen und den Spruch vorarbeiten. Sehr beachtenswerth
ſcheint mir der im Jahr 1866 in Nordamerika gemachte Vorſchlag, daß vorzugs-
weiſe angeſehene Publiciſten und Rechtsgelehrte aus den neutralen Staten
zu Schiedsrichtern gewählt werden ſollten, welche ihre wiſſenſchaftliche Ehre für eine
richtige und unparteiiſche Entſcheidung einzuſetzen haben. Wenigſtens wird eine
derartige Auswahl vorzüglich da paſſen, wo der Streit eine weſentlich vermögens-
rechtliche Seite
hat, wie bei Entſchädigungsfragen. Es wäre ein großer Fort-
ſchritt, wenn zum voraus eine Liſte von angeſehenen Vertretern der völker-
rechtlichen Wiſſenſchaft
und Kennern der völkerrechtlichen Praxis
gebildet würde, aus welcher dann in ſpäteren Streitfällen die Schiedsrichter ernannt
würden. Jedem anerkannten State müßte das Recht zuſtehen, je nach ſeiner Be-
völkerung eine Anzahl ſolcher Männer auf das allgemeine völkerrechtliche Verzeichniß
zu ſetzen.


490.

Vertragen ſich die Parteien nicht über gemeinſam zu ernennende
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 18
[274]Siebentes Buch.
Schiedsrichter, ſo iſt anzunehmen, jede Partei wähle ihre Schiedsmänner
frei, aber in gleicher Anzahl, wie die Gegenpartei. Iſt nicht verabredet,
wie der Obmann zu bezeichnen ſei, ſo ſteht es den beiderſeitigen Schieds-
richtern zu, entweder den Obmann gemeinſam zu wählen, oder einem
unparteiiſchen Dritten die Wahl desſelben anheim zu geben.


Zunächſt ſind die Parteien berechtigt, wie ein ſchiedsgerichtliches Verfahren,
ſo auch die einzelnen Schiedsrichter zu wählen. Das Völkerrecht kann nur einige
Regeln ausſprechen, die im Zweifel, wenn nicht von den Parteien anders beſtimmt
worden, als ſelbſtverſtändliche Meinung der Parteien betrachtet werden ſollen, weil
ſie der Natur der Dinge und der Völkerſitte entſprechen. Die Ernennung eines
Obmanns wird mindeſtens dann nothwendig, wenn die Schiedsrichter in glei-
chen Hälften ſich ſpalten, damit eine Mehrheit zu Stande komme. Sie iſt aber von
Anfang an zweckmäßig, um die Einheit des ganzen Verfahrens zu ſichern und
für eine unparteiiſche Leitung zu ſorgen. Wenn die Parteien nicht unter ſich, oder
wenn die Schiedsrichter nicht einig werden über die Wahl des Obmanns, ſo bleibt
nur die Ernennung durch einen Dritten übrig, z. B. eine neutrale Regierung oder
einen Gerichtshof. Da aber auch darüber, wer als Dritter zu erbitten ſei, die Er-
nennung des Obmanns vorzunehmen, die Parteien oder ihre Schiedsrichter ſich ver-
ſtändigen müſſen, ſo kann auch daran das ganze ſchiedsrichterliche Verfahren ſcheitern,
daß es zu jenem vorbereitenden Einverſtändniß nicht kommt.


491.

Das aus mehreren Perſonen beſtehende Schiedsgericht handelt ge-
meinſam als Ein Körper. Es vernimmt die Parteien und je nach Um-
ſtänden auch Zeugen und Sachverſtändige, prüft die erheblichen Thatſachen
und erhebt die erforderlichen Beweiſe.


Die Thätigkeit des Schiedsgerichts iſt, obwohl es ſeine Vollmacht nur von
den Parteien ableitet, dennoch eine richterliche und inſofern den Parteien ſelbſt
übergeordnete beziehungsweiſe für die Parteien verpflichtende. Die Pro-
ceßleitung
iſt bei dem Schiedsgerichte.


492.

Das Schiedsgericht gilt im Zweifel als ermächtigt, den Parteien
billige Vergleichsvorſchläge zu machen.


Ob das zweckmäßig ſei oder nicht, muß dem Schiedsgerichte zu erwägen
vorbehalten bleiben. Immerhin aber wird das Schiedsgericht ſich davor zu hüten
haben, daß es nicht durch den Vergleichsvorſchlag das Vertrauen in ſeine rechtliche
[275]Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herſtellung desſelben.
Beurtheilung oder in ſeine Unparteilichkeit untergräbt. Der Vergleichsvorſchlag gehört
dem Minneverfahren an, nicht dem Rechtsverfahren, für welches hauptſächlich
das Schiedsgericht ernannt iſt. Aber es kann dieſes entbehrlich machen.


493.

Der Spruch der Mehrheit gilt als Spruch des ganzen Schieds-
gerichts.


Bildet ſich keine Mehrheit, ſei es weil es an einem Obmann fehlt, deſſen
Beitritt zu einer der beiden Meinungen der in gleicher Zahl geſpaltenen Schieds-
richter den Ausſchlag gibt, oder der für ſeine eigenthümliche Meinung die Zuſtim-
mung der einen Hälfte der Schiedsrichter gewinnt, ſei es weil die individuellen
Meinungen aus einander gehen und die Schiedsrichter jeder auf ſeiner Minderheits-
meinung verharrt, und wird nicht etwa dadurch geholfen, daß die Meinung des
Obmanns für ſich allein entſcheide, ſo fehlt es an einem gültigen Rechtsſpruch und
das ſchiedsrichterliche Verfahren iſt erfolglos geblieben.


494.

Der Spruch des Schiedsgerichts wirkt für die Parteien, wie ein
Vergleich.


Es wird angenommen, daß die Parteien, welche die Entſcheidung ihres Streits
vertragsmäßig einem Schiedsgericht anvertraut haben, damit auch ihr eventuelles
Einverſtändniß
mit dem Spruch des Schiedsgerichts erklärt haben. In vielen
Fällen wird daher aus dem Spruch ein Vertragsrecht unter den Parteien ent-
ſtehn; in andern, wenn etwa einer Partei ein behauptetes Recht einfach abgeſpro-
chen worden iſt, wird das wirken, wie ein Verzicht derſelben.


495.

Der Spruch des Schiedsgerichts kann von einer Partei als ungül-
tig angefochten werden:


  • a) wenn und ſoweit das Schiedsgericht dabei ſeine Vollmachten
    überſchritten hat,
  • b) wegen unredlichen Verfahrens der Schiedsrichter,
  • c) wenn das Schiedsgericht den Parteien das Gehör verweigert oder
    ſonſt die Fundamentalgrundſätze alles Rechtsverfahrens offenbar
    verletzt hat,
  • d) wenn der Inhalt des Spruchs mit den Geboten des Völker-
    und Menſchenrechts unverträglich iſt.

18*
[276]Siebentes Buch.

Aber der Schiedsſpruch darf nicht aus dem Grunde angefochten
werden, daß er unrichtig oder für eine Partei unbillig ſei. Vorbehalten
bleibt die Berichtigung bloßer Rechnungsfehler.


1. Zu a. Wenn das Schiedsgericht über Rechtsverhältniſſe entſcheidet, welche
außerhalb der ihm ertheilten Vollmacht liegen, ſo iſt dieſer Entſcheid un-
gültig
.


2. Zu b. Würde z. B. nachgewieſen werden können, daß die Schiedsrichter von
einer Partei ſich haben beſtechen laſſen, damit ſie einen ihr günſtigen Spruch
thun, ſo wäre derſelbe anfechtbar.


3. Zu c. Das ſchiedsrichterliche Verfahren iſt Proceßverfahren und daher
zwar nicht einer beſtimmten Proceßordnung, aber den ſelbſtverſtändlichen Hauptgrund-
ſätzen aller Proceßordnungen unterworfen. Der Schiedsſpruch kann daher nicht
wegen bloßer Formfehler angefochten und für ungültig erklärt werden, aber wenn
in auffälliger und unzweifelhafter Weiſe jene Hauptgrundſätze verletzt worden ſind,
wenn z. B. den Parteien keine Gelegenheit gegeben worden iſt, ihre Behauptungen
zu vertreten und die des Gegners zu widerlegen, dann brauchen ſie ſich auch nicht
einen ſo willkürlichen Machtſpruch gefallen zu laſſen.


4. Zu d. Was nicht vertragsmäßig vereinbart werden darf, das darf auch nicht
durch einen Schiedsſpruch auferlegt werden.


5. Würde man dagegen verſtatten, einen Schiedsſpruch deßhalb anzufechten, weil
er die Intereſſen einer Partei ſchädige oder unbillig ſei, oder auf einer
irrthümlichen Rechtsanſicht beruhe, ſo käme es faſt niemals zu einer end-
gültigen Erledigung des Streits und der ganze Zweck des ſchiedsrichterlichen Verfah-
rens wäre vereitelt.


496.

In zuſammengeſetzten Staten (Statenbünden, Bundesſtaten, Staten-
reichen) werden die Streitigkeiten der Einzelſtaten unter ſich oder mit der
Bundes- oder Centralgewalt je nach Umſtänden an verfaſſungsmäßige
Schiedsgerichte oder an feſtgeordnete Bundes- oder Reichsgerichte zur Ver-
handlung und Entſcheidung verwieſen. Im erſtern Fall übt das Schieds-
gericht eine Gerichtsbarkeit aus, welche nicht bloß auf dem Compromiß der
Parteien, ſondern zugleich auf der Verfaſſung beruht.


In Deutſchland pflegt man dieſe Schiedsrichter Austräge zu nennen und
das Austrägeverfahren von dem gewohnten ſchiedsrichterlichen zu unterſcheiden.
In der That beſteht der Gegenſatz der Autorität. Die Austräge haben eine wahre
Gerichtsgewalt
, kraft des Verfaſſungsrechts, die andern Schiedsrichter dagegen
nur eine von dem Vertrage der Parteien abgeleitete Befugniß, für dieſelben zu ur-
theilen. Auch die Austräge können gewillkürt ſein, d. h. durch freie Ueberein-
[277]Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herſtellung desſelben.
kunft der Parteien gemeinſam bezeichnet, oder von den beiden Parteien je zur Hälfte
freigewählt ſein. Aber da die Parteien durch die Verfaſſung verpflichtet ſind, ihren
Streit an das Schiedsgericht zu bringen, ſo wählen ſie dieſe Austräge im Gedanken
an jene Rechtsnothwendigkeit und nicht aus völlig freier Willkür. Zur Wahl
überhaupt ſind ſie verpflichtet, nur die Perſonen können ſie frei wählen. Es iſt aber
ebenſo möglich, daß die Verfaſſung auch die Art der Wahl näher begrenzt, z. B.
aus einem beſtimmten Gerichtshof, aus einer zum voraus feſtgeſtellten Liſte von
geeigneten Perſonen, oder geradezu einer beſtimmten Behörde den Vorſchlag der
Schiedsrichter oder die Ernennung des Obmanns anheimgibt, z. B. einem beſtimm-
ten Gerichtshof oder der Bundes- oder Reichsregierung oder Repräſentation u. dgl.
Es iſt das dann ein Beſtandtheil des Bundes- oder Reichsſtatsrechts, aber von zwi-
ſchenſtatlicher
und inſofern völkerrechtlicher Bedeutung. Vgl. darüber
Aegidi Artikel Austräge in Bluntſchli und Brater Deutſchem Stats-
wörterbuch.


497.

Durch Statenverträge können ebenſo für vorgeſehene Streitigkeiten,
welche unter den von einander unabhängigen Staten entſtehen würden,
zum voraus nähere Vorſchriften über ein ſchiedsrichterliches Verfahren feſt-
geſetzt und das Schiedsgericht mit einer wirklichen Gerichtsbarkeit aus-
gerüſtet werden.


Beiſpiele der Art waren ſchon im Mittelalter ſehr häufig. Sie kommen auch
in neuerer Zeit vor, z. B. bei Handelsverträgen. Durch ſolche Anordnung wird
paſſend für eine friedliche Erörterung und Bereinigung von Streitigkeiten geſorgt,
für die es keine ordentlichen Gerichte gibt.


498.

Der Fortbildung eines geſicherten Völkerrechts bleibt es vorbehalten,
auch durch völkerrechtliche Vereinbarungen überhaupt für ein geordnetes
ſchiedsrichterliches Verfahren zu ſorgen, insbeſondere bei Streitigkeiten über
Entſchädigungsforderungen, ceremonielle Anſprüche und andere Dinge,
welche nicht die Exiſtenz und Entwicklung des States ſelbſt betreffen.


Die Beſtimmung des Pariſer Congreſſes von 1856, daß vor Beginn des
Kriegs die guten Dienſte einer befreundeten Macht angerufen werden möchten (oben
§ 484), kann als ein erſter Verſuch betrachtet werden, die friedliche Erledigung der
völkerrechtlichen Streitigkeiten zu begünſtigen. Die Zukunft wird in derſelben Rich-
tung hoffentlich noch entſchiedenere Fortſchritte machen. Bei einer Menge von Strei-
tigkeiten iſt es für Jedermann klar, daß der Krieg ein ganz unverhältnißmäßi-
ges
Mittel iſt, ſich Recht zu verſchaffen. Ein Stat, der um eine bloße Geldfor-
[278]Siebentes Buch.
derung durchzuſetzen, zum Kriege greift, gleicht jenem Bären der Fabel, welcher
ſchwere Steine nach der Fliege wirft, welche auf der Stirne des ſchlafenden Freun-
des ſpaziert und in der Abſicht die Fliege zu vertreiben, den Freund damit tödtet.
Es wäre nicht mehr zu früh für das humaner gewordene Rechtsbewußtſein der civi-
liſirten Welt, wenn endlich von einem Congreß der Staten für derartige Fälle der
Krieg unterſagt und ein ſchiedsrichterliches Verfahren zum voraus angeordnet würde,
durch welches ſolche kleine Händel billig geſchlichtet werden ſollen.


5. Zwangsmittel ohne Krieg: Selbſthülfe durch Repreſſalien,
Retorſion, Sperre.


499.

Wenn das Minneverfahren oder das ſchiedsrichterliche Verfahren den
Streit zweier Staten nicht erledigt oder unthunlich erſcheint, ſo iſt der
verletzte Stat zur Selbſthülfe berechtigt.


Wenn ein Stat, der ſich in ſeinem Recht verletzt fühlt, keine Beſeitigung
des Unrechts und keine Genugthuung erreichen kann durch Unterhandlungen oder in
Folge eines geordneten Rechtsverfahrens, ſo bleibt nur der Weg der Selbſthülfe
übrig, wenn er es nicht vorzieht, ſich das Unrecht gefallen zu laſſen und auf Genug-
thuung zu verzichten. Die Mittel der Selbſthülfe ſind wieder ſehr verſchieden, wenn
gleich ſie nun alle den Zwang und inſofern die Anwendung der ſtatlichen
Gewalt
in ſich ſchließen.


500.

Als völkerrechtlich zuläſſige Repreſſalien, ohne Krieg, gelten:


  • a) die Beſchlagnahme und nach Umſtänden Pfändung und Ver-
    ſilberung von gegneriſchem Statsvermögen innerhalb des eigenen
    Statsgebiets;
  • b) die Beſchlagnahme von Privatvermögen der Angehörigen des
    gegneriſchen Stats innerhalb des eigenen Gebiets, inſofern der-
    ſelbe ſich zuvor in widerrechtlicher Weiſe an dem Privatvermögen
    der eigenen Statsangehörigen vergriffen hat;
  • c) die Hemmung des Handels- und Poſtverkehrs, der Eiſenbahn-
    und Telegraphenverbindung, der Schiffahrt;

[279]Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herſtellung desſelben.
  • d) die Zurückweiſung oder Ausweiſung der Angehörigen des ver-
    letzenden Stats aus dem Gebiete des verletzten Stats;
  • e) die Zurückhaltung von Perſonen, welche den gegneriſchen Stat
    repräſentiren oder doch demſelben angehören, als Geiſeln;
  • f) die Gefangennahme von Perſonen, welche im Dienſte des Unrecht
    übenden Stats ſind oder ſelbſt von Privatperſonen, welche dem-
    ſelben angehören, wenn die eigenen Angehörigen zuvor von dem
    beleidigenden State widerrechtlich gefangen gehalten worden ſind;
  • g) die Weigerung, vertragsmäßige Leiſtungen ferner zu erfüllen und
    die Losſagung von beſtehenden Verträgen;
  • h) der Entzug der Privilegien oder ſelbſt des privatrechtlichen Rechts-
    ſchutzes gegenüber den Angehörigen des gegneriſchen Stats.

1. Die Mittel der Selbſthülfe werden Repreſſalien (von reprehendere,
nicht von reprimere abgeleitet) genannt, wenn dieſelben bezwecken, dem Recht ver-
letzenden Stat das Bewußtſein ſeines Unrechts dadurch klar zu machen, daß auch
ihm ein Uebel zugefügt wird, das er ebenfalls als Unrecht empfindet, und denſelben
durch dieſes Mittel zur Herſtellung des Rechts und zur Genugthuung zu bewegen.
Naturgemäß haben daher die Repreſſalien den Charakter der Wiedervergeltung
zum Zweck der Rechtshülfe und Rechtsnöthigung. Die Mittel im Einzelnen ſind
höchſt mannigfaltig und nicht vollſtändig zum voraus aufzuzählen. Sie ändern ihre
Geſtalt mit dem Wechſel des Lebens und der mannigfaltigen Erſcheinung des voraus-
gehenden Unrechts.


2. Zu a. Die Beſchlagnahme von gegneriſchem Statsvermögen iſt
eher anwendbar und zu rechtfertigen, als die von gegneriſchem Privatgut, weil nur
die Staten, nicht die Privaten mit einander ſtreiten, daher zunächſt die Selbſthülfe
nur gegen den Stat und nicht gegen die Privaten ſich zu wenden hat. Das ältere
Privatrecht der germaniſchen Völker geſtattete in ähnlicher Weiſe, zur Zeit einer noch
wenig ausgebildeten Gerichtshülfe, dem Privatgläubiger für eine geſtändige (gichtige)
oder erwieſene Schuld die Pfändung als Selbſthülfe gegen den Schuldner anzuwen-
den. Das heutige Völkerrecht iſt bezüglich der Gerichtshülfe noch ebenſo wenig ge-
ſichert, als das halbbarbariſche Privatrecht im Mittelalter; daher iſt dieſe Art der
Selbſthülfe, die in dem modernen Privatrechte in der Regel unterſagt iſt, im Völker-
recht noch nicht zu entbehren.


3. Zu b. Die Beſchlagnahme von Privatgut in der Abſicht dadurch
den Stat zu nöthigen, daß er von ſeinem Unrecht ablaſſe, iſt unter allen Umſtänden
ein höchſt bedenkliches Mittel der Selbſthülfe, denn es trifft weder die ſchuldigen
noch die verantwortlichen Perſonen, und übt auf den nicht betroffenen Stat, den man
nöthigen will, eine höchſt zweifelhafte, nur ſehr mittelbare Einwirkung aus. Gerecht-
fertigt wird ſie daher höchſtens als Gegenrecht, wenn zuvor der gegneriſche Stat
ähnliches Unrecht gegen Private verübt hat, welche auf den Schutz des eigenen
[280]Siebentes Buch.
Stats angewieſen ſind, und ſelbſt da erheben ſich gewöhnlich laute Klagen über
ungerechte Gewaltthat.


Cromwell hatte, nachdem ein engliſches Handelsſchiff an der franzöſiſchen
Küſte von den franzöſiſchen Behörden ſeines Erachtens in völkerrechtswidriger Weiſe
weggenommen und confiscirt worden war, zur Repreſſalie ſofort zwei franzöſiſche
Handelsſchiffe im Canal als Priſe wegnehmen laſſen. Die franzöſiſche Regierung ließ
ſich dieſe trotzige, die diplomatiſchen Verhandlungen rückſichtslos zur Seite ſchiebende
Eigenmacht gefallen, welche an das Sprichwort erinnert: Schlägſt du meinen Juden, ſo
ſchlage ich deinen Juden. Das Unrecht der Staten wurde auf keiner Seite gut
gemacht, aber auf beiden Seiten hatten es nichtſchuldige Privaten zu büßen.


Zu entſchiedenen Reclamationen gab das Verfahren des Königs FriedrichII.
von Preußen Veranlaſſung, welcher die Zahlungen der Schleſiſchen Landes-
ſchuld
an die engliſchen Gläubiger aus dem Grunde hemmte, weil England ſeines
Erachtens mit Unrecht Preußiſches Handelsgut als Priſe behandle. Die Denkſchrift
der engliſchen Kronjuriſten gegen dieſe Repreſſalie iſt berühmt geworden. Indeſſen
ſtanden ſich auch da engliſches und preußiſches Unrecht gegen Privaten gegenüber;
und wenn die Engliſchen Juriſten ſich für jenes auf hergebrachte Völkerſitte und
überkommene Theorien berufen konnten, ſo konnte ſich König Friedrich darauf ſtützen,
daß trotzdem jenes vermeintliche Priſenrecht offenbares Unrecht ſei und ſeine Maß-
regel nur als Repreſſalie demſelben die Wage halte und inſofern gerechtfertigt ſei.


Auch die Repreſſalien Englands gegen Griechenland in der ſogenannten
Pacifico-Angelegenheit (1850), indem zu Gunſten einer unberückſichtigt geblie-
benen Entſchädigungsforderung Pacifico’s griechiſche Kaufſchiffe mit Wegnahme be-
droht wurden, erregte damals in ganz Europa großes Aufſehen und vielfältige Miß-
billigung, ſelbſt im engliſchen Oberhaus.


4. Zu c. Die Hemmung des Handelsverkehrs als Repreſſalie geübt,
hat wieder ihre großen Bedenken, indem regelmäßig die Hemmung nach beiden Seiten
hin nachtheilig wirkt, alſo den zur Selbſthülfe ſchreitenden Stat, oder ſeine Bevöl-
kerung ebenſo ſchädigt, wie den gegneriſchen Stat und ſeine Unterthanen. Von der
eigentlichen Sperre wird weiter unten (506) näher die Rede ſein.


5. Zu d. Auch die Zurückweiſung der Angehörigen eines ver-
verletzenden Stats und noch mehr die Ausweiſung derſelben iſt eine äußerſt
harte, ſelten gerechtfertigte Maßregel der Selbſthülfe. Mit gutem Grund wurde gegen
die Anwendung derſelben durch die Oeſterreichiſch-Lombardiſche Regierung
(1856), welche alle Teſſiner plötzlich aus Mailand auswies, proteſtirt, zumal dieſe
Repreſſalie, welche eine Menge ſchuldloſer Privaten in ihrem Erwerb und in ihrer
Wirthſchaft empfindlich ſchädigte, durch kein Unrecht des Cantons Teſſin wider
Mailändiſche Privaten, ſondern nur durch politiſche Beſchwerden motivirt war.


6. Zu e u. f. Auch der Angriff auf die Freiheit nicht ſchuldiger Perſonen
kann nur zur Noth und nur unter der Vorausſetzung der Wiedervergeltung und des
Gegenrechts vertheidigt werden. Wenn ein fremder Stat zuvor unſere Geſanten
oder Statsgenoſſen widerrechtlich gefangen hält, ſo mag die einſtweilige Gefangen-
nahme ſeiner Geſanten und Unterthanen dazu dienen, ihm ſein Unrecht zum Bewußt-
ſein zu bringen und Abhülfe zu erreichen. Aber immer müſſen wir uns daran er-
[281]Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herſtellung desſelben.
innern, daß unſere Gefangenen nicht an jenem Unrecht ſchuld und überhaupt keine
Strafgefangenen ſind. Eher tritt die Analogie der Kriegsgefangenſchaft ein.


Zu g. Vgl. oben § 455.


501.

Die civiliſirte moderne Völkerſitte mißbilligt als barbariſch:


  • a) jede Grauſamkeit gegen einzelne, zumal ſchuldloſe Perſonen,
  • b) die ſtatliche Ermächtigung von Privatperſonen, Angehörige des
    gegneriſchen Stats zu fangen oder zu tödten oder das Vermögen
    derſelben zu zerſtören oder wegzunehmen.

1. Zu a. Auch wenn wilde Stämme unſere Statsgenoſſen grauſam miß-
handeln, verſtümmeln, tödten, ſo iſt es dennoch der civiliſirten Staten unwürdig,
ebenſo barbariſch gegen Angehörige jener Stämme zu verfahren, welche in ihre Ge-
walt gerathen. Das Geſetz der Talion darf nicht bis zur Barbarei geübt wer-
den. Als ſolche iſt auch die Hinrichtung nichtſchuldiger Perſonen ange-
ſehen. In dem Befreiungskriege der nordamerikaniſchen Colonien gegen England
kam noch ein ſolcher Fall vor. Der engliſche Hauptmann Lippencott ließ einen ge-
fangenen nordamerikaniſchen Officier hängen. Der engliſche General Clinton miß-
billigte das Verfahren und ſtellte ſeinen Untergebenen vor ein Kriegsgericht. Der
General Waſhington verlangte aber Auslieferung des Schuldigen und ließ, als dieſe
verweigert ward, zur Wiedervergeltung einen gefangenen engliſchen Officier, Namens
Argill, vor ein Kriegsgericht ſtellen und ebenfalls zum Tode verurtheilen. In-
deſſen gelang es den Bemühungen, vorzüglich der Königin von Frankreich, den-
ſelben zu retten und eine Begnadigung des Congreſſes zu erwirken. Vgl. Philli-
more
III. 150 f.


2. Zu b. Im Mittelalter kamen ſolche Ermächtigungen öfter vor und wur-
den für erlaubt gehalten. Eine Form derſelben, die Caperſchiffe in Kriegszeiten,
wurde ſogar bis in die neueſte Zeit geübt. Siehe unten Buch VIII. Mit Recht
aber verwirft das heutige Völkerrecht alle ſolchen Privatacte der Gewalt. Es fehlt
dabei an jeder Garantie, daß die Selbſthülfe mit Maß geübt werde.


502.

Die Wahl und der Umfang der Repreſſalien richtet ſich nach dem
gerügten Unrecht. Unverhältnißmäßige Repreſſalien ſind widerrechtlich.


Die Repreſſalien laſſen ſich nur als eine Art Nothwehr vertheidigen, in
Ermanglung beſſerer Rechtshülfe. Eben deßhalb ſind ſie nach dem Grund-
ſatz einer gerechten Wiedervergeltung zu beſtimmen und zu bemeſſen. Der Natur
der Dinge nach iſt freilich eine genaue Maßbeſtimmung nicht wohl einzuhalten, aber
das Grundprincip der Verhältnißmäßigkeit darf doch niemals unbeachtet
[282]Siebentes Buch.
bleiben. In dem obigen Pacificohandel (§ 500 Anm. 3.) wurde vornehmlich darüber
Klage geführt, daß die angedrohten Repreſſalien ganz unverhältnißmäßig ſeien.


503.

Zu Repreſſalien iſt nur der verletzte Stat, nicht aber die von der
Verletzung betroffene Privatperſon berechtigt.


Im Mittelalter nahm man an Privatrepreſſalien geringen Anſtoß,
wie man ja damals auch die Privatfehde für eine erlaubte Rechtshülfe anſah. Das
moderne Stats- und Völkerrecht geſtattet nur der geordneten Statsmacht öffentliche
Rechtsgewalt auszuüben. Nicht verletzte Staten dürfen nur dann zu Repreſſalien
greifen, wenn es eine gemeingefährliche Verletzung des Völker- und Menſchenrechts
zu rügen gilt.


504.

Die Repreſſalien dürfen nicht länger dauern, als bis das Unrecht,
welches dieſelben veranlaßt hat, wieder gutgemacht und geſühnt iſt.


Das folgt aus der Natur der Repreſſalien als einer ausnahmsweiſen
Selbſthülfe
gegen Unrecht. Der befriedete Rechtszuſtand erträgt daher die Fort-
dauer der Repreſſalien nicht.


505.

Die Retorſion bezweckt nicht, Unrecht zu rügen, ſondern iſt ein po-
litiſches Mittel, einer nachtheiligen Rechtsübung eines andern Stats ent-
gegen zu wirken.


1. Die Retorſion iſt nicht gegen Unrecht, aber gegen eine unbillige
Ausübung fremden Rechtes
gewendet. Z. B. Der Stat A gibt in ſeiner
Geſetzgebung den einheimiſchen Gläubigern einen Vorzug vor den Fremden. Oder:
In dem State A beſteht eine ſtrenge Zunftordnung, welche den Gewerbebetrieb der
Ausländer erſchwert. Oder das Zollſyſtem des States A erſchwert den Angehörigen
des States B den Handel mit den Angehörigen des States A. In allen dieſen
und ähnlichen Fällen iſt der Stat A in ſeinem formellen Recht. Er kann dieſe
Verhältniſſe nach ſeinem Ermeſſen ordnen. Aber ſeine Geſetze wirken ungünſtig auf
den Nachbarſtat B und deſſen Angehörige und werden zugleich von dieſem als un-
billig empfunden. Da hat die Retorſion des States B, welcher ähnliche für den
Stat A und deſſen Bürger ungünſtig wirkende Einwirkungen trifft, den Zweck, den
Stat A ſeine Unbill empfinden zu laſſen und ihn dadurch zu einer Beſſerung zu
[283]Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herſtellung desſelben.
bewegen. Der Stat A kann ſich nicht beklagen, wenn gegen ihn dasſelbe Princip
angewendet wird, nach welchem er den Stat B behandelt.


2. Eine bloße Rechtsverſchiedenheit, auch wenn ſie in einzelnen
Fällen dem einen oder andern Stat oder deſſen Bewohnern nützt oder ſchadet, be-
gründet keine Retorſion. Z. B. Im State A beſteht als Güterrecht der Ehegatten
die Fahrhabegemeinſchaft, und im State B das Syſtem der geſonderten Güter.
Oder im State A haben die Söhne ein beſſeres Erbrecht als die Töchter in der
Erbſchaft des Vaters, im State B ſtehen ſich die Kinder gleich u. dgl. Dieſe Ver-
ſchiedenheit hat nicht den Charakter der Unbill eines States gegen den andern Stat,
ſondern erklärt ſich aus verſchiedenen Rechtsanſichten und Rechtsübungen und wirkt
nur zufällig, nicht principiell, nur wechſelnd, nicht dauernd für den Nachbarſtat bald
ungünſtig, bald günſtig.


3. Die moderne Rechtsbildung liebt übrigens die Retorſion nicht. Als diplo-
matiſches Mittel der Verhandlung und Drohung läßt ſie ſich wohl gebrauchen, aber
ihre Ausführung gereicht oft dem Retorſion übenden State ebenſo zum Schaden wie
dem Retorſion leidenden. Ueberdem entſtellt der erſtere Stat ſeine Geſetzgebung
durch Retorſionsbeſtimmungen, deren Unbilligkeit und Unzweckmäßigkeit an ſich er
vollſtändig einſieht und die er meiſt in der ſehr unſichern Hoffnung einführt, den
Nachbarſtat dadurch zu beſſern.


506.

In Folge ſchwerer Rechtsverletzungen kann auch ohne Krieg eine
Verkehrsſperre (blocus) von der Statsgewalt gegen den verletzenden Stat
verhängt werden.


1. Die Verkehrsſperre unterſagt den Angehörigen des betroffenen Stats den
Eintritt in das Gebiet des ſperrenden Stats oder verhindert den Uebergang aus
dieſem Gebiet in jenes, oder ſie hemmt den Waarenverkehr von einem Gebiet zum
andern, oder die Ein- und Ausfahrt der Schiffe. Das Uebel iſt inſofern geringer
als das des Kriegs, als kein Blut vergoſſen wird; aber es unterbindet den freien
Umlauf der wirthſchaftlichen Güter und hemmt die Berührung der Menſchen. Es
wirkt in der Regel ebenſo ſchädlich für den ſperrenden Stat wie für das geſperrte
Land, denn aller Verkehr iſt zweiſeitig und wechſelnd.


2. Die Sperre kann zu Land und zur See angeordnet werden, Landſperre
und Seeblocade. Gewöhnlich werden beide nur im Kriegszuſtande geübt. Von
der Kriegsblocade wird weiter unten die Rede ſein IX. Cap. 5. Beiſpiele von
friedlichen Blocaden ſind die Blocade von England, Frankreich und Rußland gegen
die Türkiſch-Griechiſche Küſte 1827, die Blocade von Frankreich gegen Portugal 1831,
die von dem Miniſterium Thiers gegen die Schweiz angedrohte Landblocade (blocus
hermétique
) 1836, die franzöſiſche Blocade in Mexiko 1838.


[284]Siebentes Buch.
507.

Die neutralen Staten erkennen kein Priſenrecht an, wenn die See-
blocade nicht zugleich Kriegsblocade iſt, und ſind berechtigt, für die neu-
tralen Schiffe freie Ein- und Ausfahrt zu fordern.


Die Friedensblocade zur See gefährdet bei allgemeiner Durchführung
auch den Handel der Neutralen mit der blokirten Küſte, wofür kein Rechtsgrund
vorliegt. Die neutralen Staten haben daher guten Grund, dieſe Friedensblocade
in die engſten Schranken zu bannen. Wenn dieſelbe nur ein Zwangsmittel gegen
den Unrecht übenden Stat ſein ſoll, ſo darf dieſer Zwang nicht auch gegen die Neu-
tralen geübt werden. Nur der Krieg als Nothſtand rechtfertigt die ſtrengeren Grund-
ſätze, welche in dem Völkerrecht über die Blocade und das Priſenverfahren aufge-
kommen ſind, der Friedenszuſtand nicht. Im Jahre 1838 erhoben ſo die deutſchen
Hanſeſtädte Einſprache gegen die franzöſiſche Friedensblocade in Mexiko, und im
Jahr 1848 (1. März) erklärte ſich der franzöſiſche Statsrath gegen die Confiscation
der Schiffe bei der Friedensblocade.


419.

Die geſundheitspoliceiliche Verkehrsſperre zur Abwendung von Epi-
demien wird durch das Bedürfniß und durch ihren Zweck ſowohl näher
beſtimmt als beſchränkt.


Sie kann als Vorbeugungsmaßregel gegen die Einſchleppung und
Verbreitung menſchlicher oder thieriſcher Krankheiten nöthig werden, und je nach
Umſtänden zur Einrichtung von Contumazanſtalten führen. Soweit irgend
die Intereſſen der Geſundheitspflege es erfordern, müſſen alle dieſe Anſtalten und
Maßregeln von den verſchiedenen Nationen geachtet werden, welche dieſe Grenze
berühren.


509.

Das gewaltſame Embargo, wodurch fremde Schiffe einſtweilen in
Vorausſicht einer nahen Kriegseröffnung am Auslaufen verhindert werden,
iſt nur als Nothmaßregel und nur ſo weit gerechtfertigt, als das Kriegs-
recht ſie nachträglich gut heißt.


Man unterſcheidet das civile Embargo als eine Maßregel der hohen Stats-
policei ohne völkerrechtliche Bedeutung von dem Embargo als völkerrechtliche
Vorbereitungsmaßregel
für den erwarteten Krieg, welches daher als
eventuelle Kriegsmaßregel zu betrachten iſt. Der Zuſtand der zurück-
[285]Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herſtellung desſelben.
gehaltenen Schiffe (von embargar, anhalten) iſt einſtweilen zweifelhaft. Kommt
es nicht zum Krieg, ſo müſſen ſie wieder frei gegeben werden und in dieſem Fall
wird auch Entſchädigung zu gewähren ſein. Bricht der Krieg aus, ſo tritt bezüglich
der vorläufig in Beſchlag genommenen Schiffe das Kriegsrecht ein. Dann dient das
Embargo insbeſondere dazu, um für den Fall, daß der Feind ein übermäßiges
Priſenrecht in Anſpruch nimmt, ein Mittel zur Repreſſalie in der Hand zu haben.
Das Embargo wurde übrigens vielfach zu Gewalthandlungen mißbraucht, und ins-
beſondere wurde oft das Privateigenthum in völlig ungerechter Weiſe dadurch ver-
letzt. Zuweilen iſt durch Statenverträge das Embargo im Verhältniß der Vertrags-
ſtaten ausgeſchloſſen worden. Handelsvertrag von Preußen mit den Vereinigten
Staten
von Nordamerika vom 11. Juli 1799 Art. 16. Vgl. über eine Anwen-
dung des feindlichen Embargo durch England gegen Holland in nicht engliſchem
Gewäſſer, am Cap der guten Hoffnung, die Ausführung des Lord Stowell bei
PhillimoreIII. § 38.


[[286]][[287]]

Achtes Buch.
Das Kriegsrecht.


1. Begriff des Kriegs, Kriegsparteien, Kriegsurſachen und
Kriegserklärung.


510.

Krieg iſt bewaffnete Selbſthülfe einer ſtatlichen Macht im Widerſtreit
mit einer andern ſtatlichen Macht.


Zunächſt erſcheint der Krieg nicht, wie der gerichtliche Proceß in der Form
eines Rechtsmittels, ſondern in der furchtbaren Geſtalt eines phyſiſchen
Kampfes widerſtreitender Gewalten. Dieſe Erſcheinung des Kriegs hat, ohne Rück-
ſicht darauf, aus welchem Rechtsgrunde der Krieg unternommen und was für Kriegs-
ziele verfolgt werden, eine Menge auch von rechtlichen Wirkungen. Der Krieg iſt
immer eine gewaltſame Unterbrechung des friedlichen Zuſtands und des Friedens-
rechts und nur nothdürftig gelingt es dem Völkerrecht, ihn in beſtimmten Schranken
zu halten. Auch der ungerechtfertigte Eroberungskrieg oder ein Krieg aus
bloßem dynaſtiſchen Ehrgeiz oder aus nationaler Eiferſucht hat dieſe
tief in die öffentliche Rechtsordnung eingreifenden Folgen.


Dennoch beſteht ein großes humanes Intereſſe, den Krieg möglichſt als
Rechtshülfe aufzufaſſen und darzuſtellen, damit ſeine Anwendung beſchränkter
und die in ihm zu Tage tretende Gewaltthat geordneter werde. Vgl. §§ 511. 516 ff.


511.

In der Regel iſt der Krieg ein Rechtsſtreit zwiſchen Staten als
Kriegsparteien über öffentliches Recht.


[288]Achtes Buch.

Es widerſtreitet den civiliſirten Statszuſtänden, in denen für eine privatrecht-
liche Gerichtsbarkeit geſorgt iſt, daß über ſtreitiges Privatrecht Krieg geführt
werde. Im Mittelalter noch war es anders. Das Fehderecht war in der That
das Recht der bewaffneten Selbſthülfe auch bei Streitigkeiten zwiſchen Privatperſonen
über ihr Eigenthum. Es iſt durch die Durchführung der ſtatlichen Gerichtsbarkeit
verdrängt worden. Aber heute noch ſtehen die Völker, wenn ſie mit einander über
ihr öffentliches Recht ſtreiten, auf demſelben barbariſchen Standpunkt, wie im Mittel-
alter die Ritter und die Städte. Sie greifen zu den Waffen und ſchlagen zu, um
ſich ihr Recht zu verſchaffen. Das Völkerrecht hat noch einen weiten Weg zu machen,
bis es ihm gelingen wird, den Streit der Gewalt in einen wahren Rechts-
ſtreit umzubilden
.


512.

Eine bewaffnete Partei, welche nicht von einer beſtehenden Stats-
gewalt zur Gewaltübung ermächtigt worden iſt, wird dennoch inſofern als
Kriegspartei betrachtet, als ſie als ſelbſtändige Kriegsmacht organiſirt iſt
und an States Statt in gutem Glauben für öffentliches Recht ſtreitet.


1. Es iſt das zwar eine Ausnahme von der Regel, daß nur Staten Krieg
führen, aber wenn die politiſche Partei ſtatliche Zwecke verfolgt und wie eine Stats-
macht organiſirt iſt, ſo ſtellt ſie gewiſſermaßen den Stat dar. Das In-
tereſſe der Humanität fordert, daß im Zweifel eine ſolche Partei eher als Kriegs-
partei, nicht als eine Maſſe von Verbrechern behandelt werde. Indem ſie ſtark
genug iſt, ſich als öffentliche Macht, analog der Statsmacht zu behaupten, durch
ihre kriegsmäßige Organiſation auch Garantien der Ordnung gewährt, und
durch ihre politiſchen Ziele ihr ſtatliches Streben kund gibt, hat ſie auch einen
natürlichen Anſpruch darauf, einem ſtatlichen Heere ähnlich behandelt zu werden.
Die Gefahren der Gewaltübung werden dann nicht bloß für ſie ſelber, ſondern
ebenſo für ihre Gegner ermäßigt. Wird ſie dagegen nur ſtrafrechtlich verfolgt,
ſo wird dadurch der thatſächliche Kampf verwildert und es iſt Gefahr, daß die bei-
den ſtreitenden Parteien in die Barbarei verſinken und einander mit grauſamen
Repreſſalien zu überbieten ſuchen.


2. Von der Art ſind manche Unternehmungen von Freiſcharen, um eine
politiſche Umgeſtaltung zu erzwingen. Wenn dieſelben wie ein wohlgeordnetes Kriegs-
heer operiren, wie z. B. die deutſchen Freiſcharen unter Major Schill oder die
italieniſchen Freiſcharen, die mit Garibaldi nach Sicilien und Neapel zogen, ſo
iſt es angezeigt, ſie als Kriegspartei zu behandeln.


3. Am nöthigſten iſt es, den obigen Grundſatz bei Bürgerkriegen zur
Anwendung zu bringen, obwohl gerade da die Leidenſchaften am liebſten unter der
ernſten Maske der Gerechtigkeit ihren Haß und ihre Rachſucht beſſer verbergen und
ungehemmter wirkſam zu machen ſuchen. Die Partei, welche die obrigkeitliche Au-
torität für ſich hat, erklärt dann gern die Partei, welche ſich der Statsgewalt
[289]Das Kriegsrecht.
widerſetzt, als Hochverräther und Aufrührer. Aber auch die aufſtändiſche
Partei ſieht ſich meiſtens nach Rechtstiteln um, in der Abſicht, die Regierungspartei
als des Landesverraths und des Verfaſſungsbruchs zu beſchuldigen.
Wenn einmal die Strafgerichtsbarkeit ihre Macht verloren hat und thatſächlicher
Krieg um politiſche Ziele geführt werden muß, dann iſt es richtiger, auch das
Strafrecht in Beurtheilung der Kriegsparteien ruhen zu laſſen und dieſe politiſch
und militäriſch als Feinde zu betrachten und zu behandeln. Es iſt daher als ein
Fortſchritt des heutigen Völkerrechts zu betrachten, daß es geneigt iſt, ſowohl eine
aufſtändiſche Partei wie geordnete Freiſcharen als Kriegspartei zu behandeln, obwohl
es an ſtatlicher Ermächtigung fehlt, wenn dieſelben a) als Kriegsheer wohl geordnet
ſind, b) ſelber die Rechte des civiliſirten Kriegsrechts beachten und c) in gutem
Glauben für politiſche Ziele kämpft.


4. Am unbedenklichſten wird die Behandlung eines Kriegsheers, ohne Stat,
als Kriegspartei dann zugeſtanden, wenn ein Volk ſeine Heimat verläßt und
während es eine neue ſich zu verſchaffen ſucht, in Krieg verwickelt wird. Die
Römer haben ſo alle Zeit die auf der Wanderung begriffenen germa-
niſchen Völker
als Kriegsparteien betrachtet.


513.

Bloße Piraten und Räuber ſind niemals Kriegsparteien, wenn gleich
ſie als Kriegsmacht organiſirt ſind.


1. Gegen dieſelben wird nicht Krieg geführt, ſondern Strafgerichtsbarkeit ge-
übt, wenn gleich mit kriegeriſchen Mitteln. Weil dieſelben offenbar gemeine Ver-
brechen begehen, und es ihnen augenſcheinlich an gutem Glauben fehlt, ſo verlangt
das beleidigte allgemeine Rechtsgefühl die Beſtrafung, und gibt ſich nicht mit dem
Siege zufrieden. Die Italieniſchen Briganti ſind keine Kriegspartei, ſo wenig
als die alten Flibuſtier.


2. Dagegen wird ein Stat, welcher ſeinen Einwohnern Seeräuberei ver-
ſtattet, wie im Alterthum viele Seeſtädte im Mittelmeer, und bis in unſer Jahr-
hundert hinein noch die afrikaniſchen Raubſtaten, trotzdem zur Kriegspartei, wenn
er Krieg führt. Die einzelne völkerrechtswidrige Handlungsweiſe zerſtört nicht den
Rechtscharakter eines Stats, wenn ſie gleich ſeine Ehre befleckt.


514.

In zuſammengeſetzten Staten iſt der Krieg zwiſchen der beſtehenden
Statsgewalt des Geſammtſtats (Reichs- oder Bundesgewalt) und der
Truppenmacht der Einzelſtaten, wenn er den Schutz des Reichs- oder
Bundesrechts bezweckt, lediglich Executionskrieg, nicht ein völkerrechtlicher
Krieg zwiſchen gleichgeſtellten Staten. Indeſſen betrachtet das moderne
Völkerrecht beide Parteien im Intereſſe der Humanität als Kriegsparteien.


Bluntſchli, Das Völkerrecht. 19
[290]Achtes Buch.

1. Beiſpiele aus neuerer Zeit ſind der Schweizer Sonderbundskrieg
vom Jahr 1847 und der nordamerikaniſche Bürgerkrieg von 1861 bis
1865. Die Bundesgewalt bezeichnete zwar in beiden Kriegen die widerſtreitenden
Sonderbünde als ſtrafbare Rebellen, und verzichtete auch nicht völlig auf die Beſtra-
fung der Anſtifter und Führer der Rebellion. Aber trotzdem wurden die Truppen
der Einzelſtaten doch, und mit Recht, als wirkliche Kriegspartei behandelt und da-
durch der Schutz des civiliſirten Kriegsrechts über das ganze Kriegsfeld ausgedehnt.
Noch entſchiedener ſahen die auswärtigen Staten in beiden Mächten, die ſich bekrieg-
ten, wahre völkerrechtliche Kriegsparteien.


2. Auch in dem deutſchen Krieg von 1866 verſuchte es die Mehrheit des
Bundestags dem Krieg den Charakter eines Executionskriegs gegen Preußen beizu-
legen, aber ohne Glück. Preußen und Oeſterreich, die ſich um die Führung der
deutſchen Nation ſtritten, waren beide keine bloße Bundesſtaten, ſondern europäiſche
Mächte
und ihr Krieg daher ein völkerrechtlicher Krieg im vollen Sinn des
Worts. Von einer Anwendung einer bundesmäßigen Strafgerichtsbarkeit konnte
daher keine Rede ſein.


515.

Der Krieg iſt gerecht, wenn und ſoweit die bewaffnete Rechtshülfe
durch das Völkerrecht begründet iſt, ungerecht, wenn dieſelbe im Widerſpruch
mit den Vorſchriften des Völkerrechts iſt.


Es iſt das nicht bloß ein moraliſcher, ſondern ein wirklicher Rechtsſatz,
freilich vorerſt noch von geringer practiſcher Bedeutung, weil jede Kriegspartei die
Gerechtigkeit ihrer Sache behauptet und es an einem unparteiiſchen Richter fehlt,
welcher über die Wahrheit dieſer Behauptung entſcheidet. Indeſſen einige Wirkungen
hat dieſe Unterſcheidung doch, insbeſondere bezüglich der Allianzpflicht und
unter Umſtänden auch der Intervention bisher unbetheiligter Mächte.
Jene iſt nur für den gerechten Krieg zu fordern, dieſe gegen den ungerechten Krieg
erlaubt.


516.

Als rechtmäßige Urſache zum Krieg gilt eine ernſte Rechtsverletzung
oder eine gewaltſame Beſitzſtörung, welche dem zum Krieg greifenden
State widerfahren iſt oder womit er in gefährlicher Weiſe bedroht iſt,
oder eine ſchwere Verletzung der allgemeinen Weltordnung.


Die Gewalt von Menſch gegen Menſch geübt, iſt nur durch die Nothwen-
digkeit
zu rechtfertigen, die wir ihres ſittlichen Charakters wegen Recht nennen.
Der Krieg als Rechtshülfe ſetzt daher die Verletzung eines Rechts voraus, das
nur mit Gewalt zur Anerkennung zu bringen iſt, ganz ebenſo wie der gerichtliche
Proceß eine Rechtsverletzung vorausſetzt, welche die Klage begründet.


[291]Das Kriegsrecht.
517.

Als rechtmäßige Urſache zum Krieg iſt aber nicht bloß die Verletzung
geſchichtlich anerkannter und erworbener Rechte, ſondern ebenſo die unge-
rechtfertigte Behinderung der nothwendigen neuen Rechtsbildung und der
fortſchreitenden Rechtsentwicklung zu betrachten.


Die Nothwendigkeit der zeitgemäßen Neugeſtaltung des Stats muß ebenſo aner-
kannt und durchgeführt werden, wie der Beſtand des geſchichtlich gewordenen Rechts, ſo
lange es lebensfähig und zeitgemäß iſt, geſchützt werden ſoll. Wer die Verfechtung
des werdenden Rechts beſtreitet, der verkennt die lebendige Natur des Rechts und
hindert deren Fortbildung, welche mit der Entwicklung der Völker Schritt halten
muß, wenn das Recht ſeine Beſtimmung erfüllen ſoll. Es iſt eine eher kindiſche
als juriſtiſche Anſicht, daß ein Volk berechtigt ſei, für das dynaſtiſche Erbrecht eines
Fürſten Krieg zu führen, aber nicht berechtigt ſei, für ſeine nationale Einigung
zu den Waffen zu greifen, weil jenes Erbrecht in einer mittelalterlichen Urkunde
vorbehalten worden, die nationale Einigung dagegen durch eine traurige Geſchichte
bisher verhindert und gehemmt worden iſt. Dennoch hat dieſe wunderliche Meinung
im Jahr 1866 in Deutſchland manche Vertreter gefunden. Meines Erachtens iſt das
Recht eines Volkes, ſich die ſtatliche Geſtalt zu geben, deren es bedarf, um ſeine
natürliche Anlage zu entwickeln, ſeine Beſtimmung zu erfüllen, für ſeine Sicherheit
zu ſorgen und ſeine Ehre zu wahren, und daher ſein Recht, dafür nöthigenfalls zu
den Waffen zu greifen, ein ſehr viel heiligeres, natürlicheres und wichtigeres Recht
als irgend ein urkundliches Dynaſtenrecht.


518.

Das bloße Statsintereſſe für ſich allein rechtfertigt den Krieg nicht.


Eben weil in dem Krieg die Gewalt zwingend auftritt, ſind nur Rechts-
gründe
, nicht aber bloße Zweckmäßigkeitsgründe geeignet, denſelben zu
rechtfertigen. Es gibt freilich viele Kriege, welche ohne Rechtsnothwendigkeit, aus bloß
politiſchen
Motiven unternommen worden ſind, um das Anſehen einer Macht zu
vergrößern, eine politiſche Richtung zu hindern oder zu unterſtützen, günſtige Ver-
bindungen zu erreichen u. dgl. Aber als bloßes Mittel der Politik iſt der Krieg
durchaus verwerflich.


Völlig verſchieden von dieſer Frage iſt die andere, ob der Krieg, wenn er als
Rechtshülfe unternommen worden, nicht auch als politiſches Mittel benützt
werden dürfe. Das iſt meines Erachtens nicht zu tadeln. Im Gegentheil, die Be-
nutzung des Kriegs, um wenn er einmal da iſt, auch nützliche Zwecke zu erreichen,
ſchafft ein Aequivalent für die unvermeidlichen Kriegsübel und bringt die Völker
vorwärts.


19*
[292]Achtes Buch.
519.

Auch in einem ungerechten Krieg gelten dennoch die Vorſchriften
des Völkerrechts über die Art der Kriegsführung und die Rechte und
Pflichten der Kriegsparteien.


Ueber den Begriff des ungerechten, d. h. des nicht durch eine rechtmäßige
Kriegsurſache gerechtfertigten Kriegs vgl. oben zu § 516 bis 518. Die Vorſchriften
des Kriegsrechts ſind aber auch für den ungerechten Krieg bindend. Würde man
das nicht zugeben, und etwa gegen die Kriegspartei, welcher man vorwirft, ſie habe
keinen Rechtsgrund für ſich, ſtrengere und grauſamere Maßregeln ergreifen oder ihr
nicht dieſelben Rechte zugeſtehen, ſo würde der Krieg überhaupt wieder barbariſcher
werden; denn wie jede Partei gewöhnlich behauptet, nur ihr Recht zu verfechten, ſo
beſtreitet ſie gewöhnlich den Rechtsgrund der Gegenpartei. Das Kriegsrecht civiliſirt
den gerechten und den ungerechten Krieg ganz gleichmäßig. Nur weil es dieſe
Unterſcheidung nicht wirken läßt, ſichert es ſeine allgemeine Anwendung.


520.

Die rechtmäßige Kriegsurſache rechtfertigt den Krieg nur dann,
wenn die Herſtellung des Rechts und die entſprechende Genugthuung und
Sühne nicht auf friedlichem Wege ſicher und ohne Zögerung zu erreichen
ſind.


Daß man die Verhandlung über das ſtreitige Recht nicht mit dem Krieg be-
ginnen darf, war ſchon den antiken Völkern klar. Der Krieg iſt nicht das erſte,
ſondern das letzte Mittel, ſich Recht zu verſchaffen, im Grunde doch nur ein un-
ſicheres, mit den ſchwerſten Uebeln verbundenes Nothmittel.


521.

Wenn ein Stat einen Angriffskrieg beginnt, ſo iſt er ſchuldig, vorerſt
den Verſuch zu machen, ob nicht ſeine Forderungen ohne Krieg anerkannt
und erfüllt werden und ebenſo verbunden, vorher ſeinen Entſchluß zum
Krieg vor Eröffnung der Feindſeligkeiten anzukündigen.


Wird ein Angriffskrieg ohne Kriegsdrohung oder ohne vorherige Kriegs-
erklärung lediglich durch thatſächliche Ueberraſchung mit Feindſeligkeiten begonnen, ſo
wird dieſe Handlung von dem civiliſirten Völkerrecht gemißbilligt, es wäre denn,
daß ausnahmsweiſe das Völkerrecht die ſofortige Anwendung der Kriegsgewalt,
wie z. B. gegen Seeräuber geſtattet. In der Regel wird freilich die Verfolgung
der Seeräuber als Anwendung der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit,
[293]Das Kriegsrecht.
nicht als eigentliche Kriegsführung zu betrachten ſein. Aber ſie kann ſich unter Um-
ſtänden zum Kriege ſteigern, wenn die verfolgten Piraten Schutz bei einer ſtatlichen
Macht finden.


522.

Die Ankündigung des bevorſtehenden Kriegs kann durch Geſante
oder Herolde dem Gegner gegenüber förmlich erkärt oder ſie kann durch
ein allgemeines Kriegsmanifeſt aller Welt gegenüber eröffnet werden.


1. Die antike Rechtsübung der Römer betrachtete die feierliche Krie gs-
androhung
und ſodann die nachfolgende Kriegserklärung als eine Be-
dingung des gerechten Kriegs (bellum justum). Auch im Mittelalter mußte die
rechtmäßige Fehde drei Tage vor Beginn der Gewalt feierlich angeſagt werden.
Mit Rückſicht darauf erklären manche Publiciſten die vorherige Kriegserklä-
rung an den Feind
für ein Erforderniß eines civiliſirten Kriegsrechts.


2. Es läßt ſich nicht verkennen, daß ein ſolches formelles Verfahren, wenn
es allſeitig beachtet wird, für die Rechtsſicherheit nützlich iſt. Es wird dadurch der
Zeitpunkt genau conſtatirt, in dem der Friede aufhört und ein ausnahms-
weiſer Nothſtand des Kriegs eintritt. Das genau zu erfahren und ſicher zu wiſſen,
iſt aber für eine Menge von Rechtsverhältniſſen und Rechtsfragen von größter Wich-
tigkeit. Aber man darf ebenſo wenig überſehn, daß der neuere Kriegsgebrauch ſeit
mehr als einem Jahrhundert dieſe Form nicht mehr als nothwendige Bedingung
einer rechtmäßigen Kriegsführung beachtet. In der That kommt es denn auch nicht
auf dieſe beſondere Form der Kriegserklärung an, um den Entſchluß zum Krieg zu
verkünden und die Thatſache des Kriegs zu conſtatiren. Ganz dasſelbe kann durch
ein Kriegsmanifeſt erreicht werden, welches beides aller Welt und alſo auch dem
Feind gegenüber verkündet.


Das heutige Völkerrecht legt daher einem ſolchen Kriegsmanifeſt ganz dieſelbe
Bedeutung bei, wie der gegenſeitigen Kriegserklärung. Ueberhaupt iſt es geneigt,
die ganze Frage weniger formell zu betrachten, als die frühere Völkerſitte. Die
Rechtsklarheit hat dabei gelitten, aber die Intereſſen der Politik und der Kriegs-
führung haben ſich dabei beſſer befunden. Vgl. beſonders PhillimoreIII.
Cap. 5.


523.

In der Androhung, daß eine beſagte Handlung eines States als
Kriegsfall betrachtet und ſofortige kriegeriſche Maßregeln nach ſich ziehen
werde, liegt unter Umſtänden eine eventuelle Kriegserklärung.


Fälle der eventuellen Kriegserklärung ſind in der neueren Kriegs-
geſchichte nicht ſelten, ſo daß dann eine nochmalige Kriegserklärung oder ſelbſt ein
[294]Achtes Buch.
Kriegsmanifeſt als entbehrlich betrachtet wird. Wenn hiebei in bona fide verfahren
und nicht etwa der Gegner abſichtlich getäuſcht wird, um ihn unerwartet und plötz-
lich zu überfallen, ſo kann man dieſe Praxis nicht als völkerrechtswidrig verurtheilen.
Aber da der Mißbrauch nahe liegt und jede Unſicherheit über Frieden oder Krieg
ſchädlich wirkt, ſo iſt dieſe Methode, einer offenen Erklärung auszuweichen, nicht
empfehlenswerth und ihre Anwendung möglichſt auf ſolche Fälle zu beſchränken, in
denen raſcheſtes Handeln durchaus nöthig und zu einer gehörigen Erklärung keine
Zeit mehr iſt. Fälle ſolcher Art waren die Verhinderung der Spaniſchen Expedition
nach Sicilien im Jahr 1718 durch den Angriff der engliſchen Flotte, die Kämpfe
zur See zwiſchen engliſchen und franzöſiſchen Schiffen im Jahr 1788, während nur
die Kriegsſpannung klar, eine eigentliche Kriegserklärung noch nicht geſchehen und
noch nicht bekannt war. Weil man im Krieg auf Ueberraſchungen gefaßt ſein muß,
ſo ſind die Staten zur Zeit der Vorbereitung und Spannung auf den Krieg zur
Wachſamkeit veranlaßt, und fängt die militäriſche Nothwendigkeit, den Drohungen
des Feindes rechtzeitig zu begegnen, an mitzuwirken. Es iſt dann eine Aufgabe der
Politik, dieſe militäriſche Rückſicht mit der auf das Völkerrecht in Harmonie zu
bringen.


524.

Zum Vertheidigungskrieg bedarf es einer vorherigen Kriegserklärung
durch den Vertheidiger nicht. Die kriegeriſche Abwehr des kriegeriſchen
Angriffs macht die Kriegserklärung entbehrlich.


Der Vertheidiger iſt nicht gehindert, aber er iſt nicht verpflichtet, den Krieg
zu erklären. Auch er kann aber ſeinen Vertheidigungskrieg durch ein Manifeſt be-
gründen und erklären, und er wird in der Regel gut daran thun, ein ſolches Ma-
nifeſt zu erlaſſen.


525.

Es iſt nicht nothwendig, daß ein längerer Zeitraum zwiſchen der
Kriegsandrohung und dem Beginn der Feindſeligkeiten für Unterhandlun-
gen verſtattet werde. Aber der gute Glaube und die Rückſicht auf die
Regel des Friedens erfordern, daß dem Gegner ſoviel Zeit gegeben werde,
um noch den Ausbruch des Krieges durch raſche Nachgiebigkeit zu ver-
meiden.


Die gleichzeitige Kriegserklärung und Eröfſnung des Kriegs ohne vor-
herige unzweideutige Kriegsdrohung verſtößt nicht allein gegen die Intereſſen der
Humanität, ſondern auch gegen die rechtliche Natur des Kriegs, als der gewaltſamen
Rechtshülfe aus Noth. Siehe oben § 516 f. Aber es genügt unter Umſtänden eine
ganz kurze Friſt vielleicht von wenigen Tagen, wenn die Gefahr drängt, ſogar von
[295]Das Kriegsrecht.
wenigen Stunden; insbeſondere da, wo ſchon frühere ernſte Drohungen oder Kriegs-
ſpannungen vorausgegangen waren und es weſentlich davon abhängt, Gewißheit
über die Friedens- oder Kriegsentſchlüſſe des Gegners zu erhalten.


526.

Das bloße Anerbieten, über den Frieden zu unterhandeln oder ſo-
gar Genugthuung zu gewähren, hindert den Vollzug der Kriegsdrohung
nicht, wenn nicht zugleich verläſſige Garantien für wirkliche und ſofortige
Befriedigung gegeben werden.


Ein ſolches Anerbieten kann auch gemacht werden, um Zeit zu gewinnen
für vollſtändigere Kriegsrüſtung. Würde dasſelbe daher ein Hinderniß ſein für den
Beginn des Kriegs, ſo könnte das leicht nicht den Krieg, aber den Erfolg des
Kriegs
vereiteln.


527.

Die Kriegserklärung bezeichnet zugleich den Zeitpunkt der Kriegs-
eröffnung, wenn der Krieg nicht ſchon vorher thatſächlich durch Acte der
militäriſchen Gewalt begonnen worden iſt.


Die thatſächliche Kriegseröffnung beendigt unter allen Umſtänden den
bisherigen Friedenszuſtand, auch wenn noch keine Kriegserklärung erfolgt iſt. Aber
die Kriegserklärung eröffnet den Krieg ebenfalls, auch wenn die Feindſeligkeiten
noch nicht begonnen haben. Es entſpricht das theils der thatſächlichen Natur des
Kriegs, theils der ausdrücklichen Willensbeſtimmung der Kriegspartei. Die Frage
iſt beſonders wichtig für die Beurtheilung einzelner Acte der Gewalt, die nur im
Krieg, nicht im Frieden erlaubt ſind. Die Wegnahme von Priſen ſetzt den Beginn
des Kriegs voraus.


528.

Iſt der Krieg auch nur von einer Partei thatſächlich oder durch
Kriegserklärung begonnen worden, ſo iſt von dann an auch die andere
Partei berechtigt, das Kriegsrecht anzurufen und anzuwenden.


Es folgt das aus der gegenſeitigen Natur des Kriegs.


[296]Achtes Buch.

2. Wirkungen des Kriegszuſtandes im Allgemeinen. Kriegsziel.


529.

Die Kriegseröffnung hebt die Rechtsordnung nicht auf, auch nicht
im Verhältniß der kriegführenden Staten zu einander.


Aber ſie übt die Rechtsordnung verändernde Wirkungen aus


  • a) im Verhältniß der Staten, welche Krieg führen zu einander und
    zu ihren Bundesgenoſſen,
  • b) im Verhältniß zu den neutralen Staten,
  • c) mit Rückſicht auf die Angehörigen der Kriegsparteien oder die
    Bewohner des Kriegsfeldes.

1. Die ältere naturrechtliche Vorſtellung bildete ſich einen rechtloſen Natur-
zuſtand
ein, welcher aller Statenbildung vorausgehe, in welchem die
Menſchen wie die Thiere weder eigene Rechte haben, noch Rechte andern Menſchen
zugeſtehen, und Jeder ſo weit ſeinen Willen geltend mache, als er die phyſiſche Macht
beſitze. Die alten Naturrechtslehrer meinten, nur durch Friedens- und Geſellſchafts-
verträge werde dieſer Zuſtand eines bellum omnium contra omnes, des allgemeinen
Krieges Aller miteinander beſchränkt und ein vertragsmäßiger Rechtszuſtand
eingeführt und ſie behaupteten, wenn nun die Staten wider einander den Krieg
erklären, ſo bedeute das Rückkehr in jenen urſprünglichen völlig rechtloſen Kriegs-
zuſtand. Sie nahmen in Folge deſſen an, im Krieg werden keine Rechte mehr
anerkannt, ſondern herrſche nur die phyſiſche Gewalt. Dieſe ganze Anſicht wird von
der heutigen Rechtswiſſenſchaft als Irrthum verworfen.


2. Im Gegentheil, wir erkennen an, daß es natürliche Menſchenrechte
gibt, die im Krieg wie im Frieden zu beachten ſind, und daß die Rechtsordnung der
Welt und der einzelnen Völker in einer ſteten geſchichtlichen Entwicklung
begriffen iſt, welche nicht auf einmal durch einen Völkerſtreit abgebrochen und gänzlich
zerſtört werden kann. So wenig die Sprache und die Civiliſation einer Nation in
Folge einer Kriegserklärung plötzlich verſchwindet und in die urſprüngliche Roheit
und Barbarei zurückſinkt, ebenſo wenig kann die Rechtscultur, das Erzeugniß
einer Arbeit von Jahrhunderten
auf einmal wieder erlöſchen und ein Zu-
ſtand völliger Rechtloſigkeit an ſeine Stelle treten. Da der Krieg weſentlich Rechts-
hülfe
iſt, ſo darf er nicht die Rechtsordnung verneinen, welcher er
dienen will
.


3. Die Rechtsordnung im Ganzen bleibt alſo unverſehrt. Aber weil der Krieg
einen Nothſtand theils vorausſetzt, theils herbeiführt, übt er eine Reihe von Wirkun-
gen aus, welche das beſtehende Recht theilweiſe ſuspendiren, theil-
weiſe abändern
. Es tritt nun ein eigenthümliches Kriegsrecht ein,
welches als Ausnahmerecht das regelmäßige Friedensrecht modificirt.


[297]Das Kriegsrecht.
530.

Der Krieg wird zwiſchen den Staten geführt und nicht unter und
mit den Privatperſonen.


Die Erkenntniß dieſes großen Geſetzes, welches aus der Natur des völker-
rechtlichen Rechtsſtreites folgt, hat auf die Humaniſirung des Kriegs und auf die
Sicherung der Privatrechte die wohlthätigſten Wirkungen hervorgebracht. Vergleiche
darüber die Einleitung zu dieſem Werke. So lange freilich, wie im Alterthum, der
Einzelmenſch im State aufging, konnte dieſe Unterſcheidung nicht vollwirkſam werden.
Aber ſeitdem der Gegenſatz des öffentlichen und des Privatrechts klarer ge-
worden iſt und die neuere Rechtsbildung begriffen hat, daß die Privatperſon eine
Exiſtenz für ſich
habe, auch im Gegenſatz zum State, hat dieſelbe das ganze
aus dem Alterthum hergebrachte Kriegsrecht wohlthätig umgebildet.


531.

Die kriegführenden Staten ſind Feinde im eigentlichen Sinn, die
Privatperſonen dagegen ſind als ſolche nicht Feinde, weder unter einander
noch dem feindlichen State gegenüber.


Nur die Statsgewalt tritt mit Heeresmacht den feindlichen Staten ent-
gegen und unternimmt es, dieſelbe zu zwingen, daß ſie das von jener behauptete
Recht anerkenne oder auf ihre beſtrittenen Forderungen verzichte. Die Privaten als
ſolche ſind bei dieſem Streite nicht unmittelbar betheiligt, ſie ſind nicht Kriegs-
und nicht Proceßparteien, und eben deßhalb nicht Feinde im eigentlichen
und vollen Sinn des Worts. Der von den früheren Publiciſten, ſogar noch von
Kent (Comm. § 6, 7, 8) als allgemein anerkannt behauptete Satz: „Wenn der
Stat im Kriege ſei, ſo ſeien alle Bürger des Stats Feinde
“ iſt
offenbar falſch und darf daher nicht mehr gelten. Der Stat iſt eine andere Per-
ſon
als die Privatperſonen im State. Der Stat hat eine ihm eigenthümliche
Rechtsſphäre, das große Gebiet des öffentlichen Rechts, und die Privatper-
ſonen
haben ebenſo ein ihnen eigenes Rechtsgebiet, ihre perſönlichen
Familien- und Vermögensrechte, welches von dem Streit der Staten nicht unmittelbar,
ſondern nur mittelbar betroffen wird, über welches kein Streit zwiſchen den Sta-
ten iſt. Daher ſind die Privatperſonen nicht im eigentlichen Sinne Feinde. Sie
können trotz des Kriegs in den freundlichſten Beziehungen leben, der Verwandtſchaft,
der Wirthſchaft, des Verkehrs. Sehr wahr erklärte der berühmte franzöſiſche Miniſter
Portalis im Jahre VIII. bei der Inſtallation des Priſengerichtshofs: „Entre
deux ou plusieurs nations belligérantes, les particuliers dont ces nations se
composent, ne sont ennemis que par accident: ils ne le sont point comme
hommes, ils ne le sont même pas comme citoyens; ils le sont uniquement
comme soldats“.
Vgl. Heffter § 119.


[298]Achtes Buch.
532.

Inwiefern aber die Angehörigen eines States, der Krieg führt, als
Statsbürger oder Unterthanen der Statsgewalt öffentlich-rechtlich verpflich-
tet ſind, werden ſie auch von der Kriegsgewalt des Feindes betroffen und
inwiefern ſie perſönlich an dem Kampfe des States Theil nehmen, werden
ſie auch als mittelbare Feinde betrachtet und behandelt.


1. Der Stat gebietet, ſoweit das öffentliche Recht es gut heißt, und die öffent-
liche Wohlfahrt es erfordert, auch über die Kräfte ſeiner Bürger. Er legt
denſelben Kriegslaſten auf. Inſoweit hemmt natürlich die feindliche Kriegsgewalt,
ſoweit ihre Macht reicht, die Unterſtützung des Stats durch die Bürger und fordert
im Gegentheil, ſoweit das Völkerrecht es zuläßt, für ſich dieſe Unterſtützung.


2. Wenn ferner dem feindlichen State die Truppen des Stats — gleichviel ob
ſie nur aus Bürgern des Stats oder vielleicht auch aus fremden Söldnern beſtehen
— mit den Waffen entgegentreten, ſo erſcheinen dieſe Truppen thatſächlich
als Feinde
, und obwohl auch ſie nur im Auftrag und Dienſte des States Feind-
ſchaft üben, ſo werden ſie nun doch von den friedlichen Unterthanen des gegneriſchen
States unterſchieden und als Feinde im weitern Sinn des Worts (mittelbare
Feinde
) angeſehen. Als ſolche ſind ſie im Kampfe der Todesgefahr und beſiegt
der Kriegsgefangenſchaft ausgeſetzt.


533.

Der antike Satz, daß der Feind rechtlos ſei, wird von dem heutigen
Völkerrecht als unmenſchlich verworfen.


Vgl. zu 529. Die Menſchenrechte dauern auch im Kriege fort und ebenſo
die Privatrechte, ſoweit nicht der Nothſtand des Kriegs eine Beſchränkung nothwen-
dig macht.


534.

Ebenſo wird der Satz, daß wider den Feind Alles erlaubt ſei, was
dem Krieg führenden State nützlich erſcheint, von dem civiliſirten Völker-
recht als barbariſch mißbilligt.


Das Völkerrecht verbindet auch die Kriegsparteien während des
Kriegs als Glieder der Menſchheit und beſchränkt dieſelben in der Anwen-
dung der zuläſſigen Gewaltmittel.


Da der Krieg gewaltſame Rechtshülfe und ſein Endziel Herſtellung der
Rechtsordnung und des Friedens iſt, ſo muß auch die Kriegsgewalt die Schranken
[299]Das Kriegsrecht.
der regelmäßigen Rechtsnothwendigkeit beachten, und darf dieſelben nur dann und
nur inſofern überſchreiten, als die ausnahmsweiſe militäriſche Nothwendigkeit
es fordert. Treuloſigkeit und barbariſche Grauſamkeit ſind auch dann nicht gegen
den Feind erlaubt, wenn dieſelben für den Gang des Krieges vortheilhaft zu ſein
ſcheinen. Die ganze Exiſtenz des Kriegsrechts bedeutet Beſchränkung der
Kriegsleidenſchaft und der Kriegswillkür
.


535.

Ausrottungs- und Vernichtungskriege gegen lebens- und culturfähige
Völker und Stämme ſind völkerrechtswidrig.


1. Der Vertilgungskrieg gegen die abgöttiſchen Bewohner von Paläſtina,
welchen die alten Juden noch für eine heilige Pflicht hielten, wird von dem huma-
neren Rechtsgefühl der heutigen Welt als Barbarei getadelt und darf nicht mehr
wie ein nachahmungswürdiges Beiſpiel geprieſen werden.


2. Zur Zeit noch weniger empfindlich iſt das moderne Rechtsgefühl gegenüber
von wilden Stämmen. Das Völkerrecht ſchützt dieſelben nicht, weil man an-
nimmt, ſie gehören nicht zu den großen Völkerfamilien, aus denen die civiliſirte
Menſchheit beſteht, weil ſie keinen activen Antheil an der Handhabung des Völker-
rechts haben. Ich ſehe darin noch einen Mangel in dem heutigen Völkerrecht. Weil
die Wilden Menſchen ſind, ſo ſind ſie auch menſchlich zu behandeln und darf man
ihnen nicht alle Menſchenrechte abſprechen. Sie ſind vielleicht ſchwer an eine Rechts-
ordnung zu gewöhnen; ihre Erziehung zu geſitteten Menſchen iſt vielleicht ein un-
dankbares Geſchäft, das nur mit geringen Erfolgen die großen Mühen lohnt. Aber
es iſt dennoch die Aufgabe und die Pflicht der civiliſirten Völker, ſich auch dieſer Heran-
bildung der roheſten Stämme anzunehmen und ſie zu einem menſchenwürdi-
geren Zuſtand heranzubilden
. Nimmermehr darf es zugegeben werden,
daß die Jagd auf wilde Menſchen ebenſo Jedermann frei ſtehe oder auch von der
Statsgewalt erlaubt werden dürfe, wie die Jagd auf Füchſe und Wölfe.


536.

Das Kriegsziel wird durch die Kriegsurſache nur zum Theil be-
ſtimmt. Die Forderungen wachſen im Verhältniß der Opfer, welche für
den Krieg geleiſtet, und der Gefahren, welche mit dem Kriege übernommen
worden ſind. Der Sieg übt durch ſeine Bethätigung der wirklichen Macht
auch eine Recht bildende Kraft aus.


1. Das iſt der große Unterſchied zwiſchen andern Proceſſen und dem furcht-
baren Rechtsſtreit des Kriegs. Das gerichtliche Urtheil geht niemals über das Klage-
recht hinaus, es begnügt ſich, das Rechtsverhältniß, welches verletzt worden war,
wieder herzuſtellen. Die Proceßkoſten erſcheinen im Civilproceß als eine meiſt nur
[300]Achtes Buch.
unwichtige Nebenſache. Im Civilproceß werden aber auch die Proceßmittel, die
Streitſchriften und die Streitreden der Parteien in den bemeſſenen Schranken feſt-
gehalten, welche der Natur der Streitſache entſprechen. Sie greifen nicht über das
Klagbegehren und nicht über den Umfang der Einreden hinaus. Im Krieg der
Völker iſt das Alles anders. Der Krieg iſt ein ſo furchtbares Streitmittel, daß der-
ſelbe eine Menge von Wirkungen und Folgen nach ſich zieht, welche mit dem urſprüng-
lichen Streitobject nichts zu ſchaffen haben. Er macht Opfer an Gut und Blut
nöthig, die nicht ſelten viel größer ſind, als der Werth des ſtreitigen Rechts. Er
regt mit den Volkskräften auch die Volksleidenſchaften aus der Tiefe auf und ſtellt
das ganze künftige Verhältniß der ſtreitenden Staten in Frage. Nicht bloß über das
Recht, auch um die Intereſſen der Politik wird nun geſtritten. Es offenbaren ſich
im Krieg die lange gebundenen und verborgenen Kräfte, und verlangen nun ebenfalls
Beachtung. So wird der Krieg zu einem Entwicklungsmoment der Völker-
geſchichte
und in veränderter Geſtalt gehen aus ihm die Staten hervor.


2. Deßhalb iſt das Kriegsziel nicht ſo enge begrenzt, wie die Kriegs-
urſache
. Es erweitert ſich durch andere Momente, welche der Krieg ſelbſt dem
urſprünglichem Streitgegenſtand hinzufügt. Es handelt ſich meiſtens nicht mehr
allein um die Gewährung des anfangs ſtreitigen Anſpruchs oder die Anerkennung
des beſtrittenen Rechts, ſelbſt nicht bloß um die Entſchädigung für die erlittene Un-
bill und um die Genugthuung für die erfahrene Beleidigung. Man will auch
Sicherheit für die Zukunft und ſogar einen neuen Friedenszuſtand gewinnen,
welcher dem im Krieg bewährten Machtverhältniß entſpricht und der neuen Rechts-
bildung des Statenlebens zu zeitgemäßem Ausdruck dient.


3. Inſofern erſcheint der Krieg nicht als bloße Abwehr der Rechtsver-
letzung
und als ein Mittel der Wiederherſtellung des verletzten Rechts,
ſondern zugleich als eine treibende Kraft zu neuer Rechtsgeſtaltung.
Die Neugeſtaltung des Statslebens geht nun einmal nach dem Zeugniß der Ge-
ſchichte meiſtens unter Donner und Blitz, im Gewitterſturm vor ſich.


3. Kriegsrecht gegen den feindlichen Stat und in dem feindlichen
Statsgebiete.


537.

Der ſtändige diplomatiſche Verkehr zwiſchen den feindlichen Staten
wird, wenn er nicht ſchon vor der Kriegseröffnung abgebrochen worden
iſt, nun in Folge derſelben regelmäßig aufgehoben und die Geſanten wer-
den wechſelſeitig zurückgerufen oder zurückgeſchickt.


[301]Das Kriegsrecht.

Indeſſen kann der Geſantenverkehr ausnahmsweiſe auch während
des Kriegs fortgeſetzt oder neu angeknüpft werden.


1. Der Abbruch des Geſantenverkehrs geht oft der Kriegserklärung
voraus und wird dann als Einleitung zu dem drohenden Bruch des Friedenszuſtands
angeſehen. Derſelbe kann aber auch mit der Kriegserklärung verbunden werden.
Auf einer Rechtsnothwendigkeit beruht er nicht; denn es iſt kein innerer
Widerſpruch darin zu finden, daß zwei Staten über ein einzelnes Streitobject mit
einander kämpfen und zugleich in andern Beziehungen mit einander durch Geſante
friedliche Verhandlungen pflegen. Der Krieg kann ja durch Uebereinkunft localiſirt
und dadurch auf ein engeres Gebiet begränzt werden, als die beiderſeitige Stats-
herrſchaft reicht. Die wechſelſeitige Abberufung der Geſanten erſcheint daher
durchweg als ein freier, durch politiſche Erwägungen beſtimmter Act der Politik,
nicht als Rechtspflicht. Eben deßhalb iſt die Fortdauer der Geſantſchaft nicht unmög-
lich, trotz des Kriegs, und der Erneuerung des Geſantenverkehrs ſteht
auch während des Kriegs kein rechtliches Hinderniß im Weg. Dieſelbe kann ebenſo
den Frieden vorbereiten, wie früher die Abberufung den Krieg.


2. Als politiſcher Grund kommt neben der Abneigung, einen freundlichen
Geſchäftsverkehr fortzuſetzen, während man einander mit tödtlichen Waffen bekämpft,
hauptſächlich die Rückſicht in Betracht, daß man nicht in dem Centrum der eigenen
Stats- und Kriegsleitung eine Repräſentation des feindlichen Stats haben will,
welche dieſe Stellung gegen die dießſeitigen Statsintereſſen benutzen kann und allen
feindlichen Beſtrebungen zu einem Stützpunkte dient.


Nicht dieſelben Gründe ſprechen für die einſtweilige Aufhebung der con-
ſularen
Vertretung, welche weniger im Statsintereſſe als zu Gunſten des inter-
nationalen Privatverkehrs
thätig iſt. Es kommt daher eher vor, daß die
Thätigkeit der Conſuln ſogar des feindlichen Stats auch während des Kriegs unge-
hemmt fortgeſetzt wird, ſelbſtverſtändlich aber nur ſo lange, als der Stat ſein Exe-
quatur nicht zurückzieht. Ueber die Conſuln der neutralen Staten vgl. § 555.


538.

Auch die Vertragsverhältniſſe zwiſchen den Staten, welche Krieg
führen, werden nicht nothwendig durch die Kriegseröffnung aufgelöst oder
ſuspendirt.


Die Wirkſamkeit der Verträge wird während des Krieges nur in-
ſoweit gehemmt, als die Kriegsführung mit derſelben unvereinbar iſt.


Die eigens für den Kriegszuſtand geſchloſſenen Statenverträge gelan-
gen erſt im Kriege zu ihrer Wirkſamkeit.


1. Von vielen Publiciſten ward früher behauptet, daß der Krieg ipso
facto
die Verträge zwiſchen den kriegführenden Staten aufhebe
.
[302]Achtes Buch.
Auch in diplomatiſchen Actenſtücken findet ſich dieſe Behauptung oft, wie ein ſelbſt-
verſtändliches Recht ausgeſprochen. Offenbar iſt dieſelbe eine Folge jener falſchen
Grundanſicht, welche eine Zeit lang das Kriegsrecht verdorben hat, daß durch den
Krieg ein rechtloſer Naturzuſtand herbeigeführt werde. (Vgl. zu § 529). Sobald
man einmal erkannt hatte, daß der Krieg als Rechtshülfe nicht die Rechtsordnung
aufhebt, ſo überzeugte man ſich von der Verwerflichkeit jener älteren Lehre. Die
Thatſache des Kriegs kann ſo wenig alles Vertragsrecht zerſtören, als ſie die Rechts-
ordnung überhaupt aufhebt. Der Krieg kann ſogar als Mittel dienen, um einen
Stat zur Erfüllung ſeiner Vertragspflicht zu zwingen.


2. Sehr oft werden auch Verträge eigens für den Kriegsfall geſchloſſen,
wie z. B. über die Beſchränkung der Contrebande, über die Geſtattung des freien
Handels während des Kriegs, über Neutraliſirung eines Gebietstheils, zum Schutz
gewiſſer Anſtalten gegen die Kriegsgefahr, über die Priſengerichtsbarkeit. Da hat
man auch früher ſchon anerkannt, daß derartige Verträge trotz des Kriegs Gel-
tung haben, freilich im Widerſpruch mit jenem Grundirrthum. Es iſt aber eben ſo
wenig Grund, um die fortdauernde Rechtsgültigkeit anderer Verträge, die keinen
Bezug auf den Krieg
haben, im Princip zu verneinen, lediglich weil zwiſchen
den Staten über eine andere Rechtsfrage Streit iſt. Weßhalb ſollen z. B. vertrags-
mäßige Feſtſtellung der Grenze, oder die Verträge über Unterhaltung der Flußufer,
oder über die Freizügigkeit der Einwohner, über das Erbrecht und das Vormund-
ſchaftsrecht kraftlos werden, ungeachtet der Inhalt derſelben nicht ſtreitig geworden
iſt und dieſelben trotz des Kriegs ausgeführt werden können?


3. Verſchieden von der rechtlichen Ungültigkeit iſt die thatſächliche Wirk-
ſamkeit
der Verträge. Dieſe kann leicht durch den Krieg thatſächlich behindert
werden, unter Umſtänden ſchon deßhalb, weil der friedliche Verkehr zwiſchen den
Staten abgebrochen wird, oder weil die Kriegführung die Kräfte abſorbirt, welche im
Frieden für vertragsmäßige Leiſtungen verwendet wurden. Wenn z. B. der Stat A
ſich durch Vertrag mit dem State B verpflichtet hat, eine Eiſenbahn bis zu einem
beſtimmten Termin auszubauen, oder eine Flußcorrection auszuführen, ſo macht
wohl, wenn es vorher zwiſchen dieſen Staten zum Kriege kommt, in den meiſten
Fällen das Bedürfniß der Kriegsführung, welche alle financiellen Kräfte an ſich zieht,
den Vollzug jenes Vertrags unmöglich. Inſofern ſuspendirt der Krieg die
Wirkſamkeit vieler Verträge; und es bedarf dann oft im Frieden einer erneuer-
ten Regulirung dieſer Verhältniſſe. (Vgl. oben § 459.) Weil man das in man-
chen Fällen erfahren hatte, ſo meinte man die allgemeine Rechtsregel ausſprechen zu
dürfen, daß der Krieg die Wirkſamkeit der Verträge überhaupt verhindere.
Indeſſen geht auch dieſe Regel zu weit. Vielmehr iſt im einzelnen Fall zu prüfen,
ob die Natur des Kriegs zu einem Hinderniß für die Vertragserfüllung werde oder
nicht. Da die privatrechtliche Gerichtsbarkeit während des Kriegs auch den Angehö-
rigen des feindlichen Stats gegenüber fortdauert, ſo kann leicht bei Entſcheidung
eines Privatproceſſes das beſtehende Vertragsrecht für das richterliche Urtheil
maßgebend und daher wirkſam ſein.


[303]Das Kriegsrecht.
539.

Wenn ein Theil des feindlichen Statsgebiets — ein Platz, eine
Stadt, ein Bezirk, ein Land — von der gegneriſchen Kriegsgewalt beſetzt
wird, ſo verfällt dieſer beſetzte Theil ſofort dem Kriegsrecht des Heeres,
welches Beſitz ergriffen hat. Die Gegenwart der kriegführenden Truppen
in Feindesland wirkt auch ohne vorherige Erklärung.


Vgl. die Amerikaniſchen Kriegsartikel. 1. Die militäriſche
Beſitznahme
von Feindesland im Krieg ſchließt die militäriſche Autorität
in ſich. Man kann es daher den Bewohnern des beſetzten Gebietes nicht als Schuld
anrechnen, wenn ſie ſich nun den Befehlen dieſer Gewalt fügen. Im Gegentheil,
der Widerſtand gilt nicht mehr als berechtigt, wenn gleich er durch ſittliche Motive
der Vaterlandsliebe oder Treue gegen den heimatlichen Fürſten veranlaßt wird, ſon-
dern wird je nach Umſtänden ſchwer beſtraft. Es iſt das eine nothwendige
Wirkung des Kriegs
, in welchem ſich eine geordnete Statsmacht geltend macht,
die zugleich genöthigt iſt, für ihre Sicherheit zu ſorgen, damit ſie ihre Zwecke weiter
verfolgen und ſchließlich erreichen könne.


540.

Das Kriegsrecht ſuspendirt die Autorität der feindlichen Statsgewalt
in dem beſetzten Gebietstheil und ſetzt die militäriſche Autorität der be-
ſetzenden Macht an ihre Stelle.


Amerik. Kriegsartikel 2. Es gilt das ſowohl von der Geſetz-
gebenden Gewalt
als beſonders von der obern, im einzelnen Fall anordnenden
und befehlenden Regierungsgewalt. Wenn ſie weiter befehlen wollte, ſo würde
ſie nicht mehr auf Gehorſam rechnen dürfen und die Bewohner nur in einen un-
natürlichen Conflict der Neigung und der Pflicht und in eine höchſt gefährliche Lage
verſetzen; denn unmöglich kann die beſetzende Kriegsautorität es dulden, daß ihr
eine feindliche Gewalt in dem Bereich ihrer errungenen Herrſchaft entgegentrete. Die
militäriſche Autorität im Feindesland iſt zugleich Statsautorität und zwei
entgegengeſetzte Statsautoritäten
können nicht in demſelben Gebiete be-
ſtehen. Mit Nothwendigkeit wird die eine durch die andere aus der Ausübung
verdrängt. Vgl. unten § 544. Aber man geht zu weit, wenn man dieſe Suspen-
ſion auch auf das ganze beſtehende Landesrecht, ſowohl das öffentliche
als das Privatrecht ausdehnt. Vielmehr dauert die Rechtsordnung ſo weit fort,
als ſie mit den Kriegszuſtänden verträglich iſt und nicht von der Kriegsgewalt außer
Wirkſamkeit geſetzt wird.


541.

Der Befehlshaber über die beſetzenden Kriegstruppen kann die bür-
[304]Achtes Buch.
gerliche Verwaltung und Rechtspflege ganz oder theilweiſe in dem be-
ſetzten Gebiet fortdauern laſſen, wie in Friedenszeiten und wie vor der
Beſitznahme.


Aber dieſe Verwaltung muß hinwieder ſich den Anordnungen unter-
werfen, welche die militäriſche Nothwendigkeit und das Bedürfniß einer
wirkſamen Kriegführung fordern.


Amerik. Kriegsartikel 3. Die Intereſſen der allgemeinen
Sicherheit
und Wohlfahrt, für welche die ſtatlichen Policei- und Verwaltungs-
behörden und die Gerichte zu ſorgen haben, dauern auch im Kriege fort und bedür-
fen einer Befriedigung. Es iſt daher durchaus verkehrt, wenn die ganze Beamtung
und ſogar die Policeimannſchaft (Gensdarmerie) bei dem Vormarſchiren des feind-
lichen Heeres aus dem Gebiete, das es zu beſetzen im Begriffe iſt, weggezogen wer-
den, wie es noch 1866 in dem letzten Kriege von Oeſterreich in Böhmen geſchehen
iſt. Der Feind leidet dabei viel weniger, als die eigenen Landsleute, für welche ja
die Verwaltung eingeführt iſt. Dieſen gegenüber begeht die Landesregierung, welche
alle Anſtalten zum Schutz der öffentlichen Ordnung beſeitigt, ein ſchweres Unrecht.
Allerdings iſt aus politiſchen Motiven ein Unterſchied zu machen zwiſchen den Be-
amten und Angeſtellten, welche weſentlich verwaltende und denen, welche vor-
nehmlich politiſche Functionen hatten. Die erſtern haben keinen Grund, zu
flüchten, aber viele Gründe, in ihrem Amte auszuharren und ihre Verwaltung
im Orts- und Landesintereſſe fortzuüben
, wenn die feindliche Kriegs-
gewalt ſie nicht daran behindert. Die letztern dagegen mögen eher vor der Feindes-
gewalt weichen, welcher zu dienen ſie nicht verpflichtet ſind, und welche ihnen ſchwer-
lich die fortgeſetzte politiſche Leitung anvertrauen würde. Dieſe Unterſcheidung wirkt
aber eher politiſch als rechtlich und iſt ebendeßhalb eine fließende. Einzelne Ver-
waltungsbeamte, welche politiſch vorzüglich compromittirt ſind, mögen zureichende
Motive haben, die beſetzte Gegend und ihr Amt zu verlaſſen, wenn der Feind ein-
zieht, und umgekehrt auch politiſche Beamte nach Umſtänden es zweckmäßig finden,
zurück zu bleiben und die weiteren Entſchlüſſe der beſetzenden Kriegsgewalt abzu-
warten. Nur die Rechtsregel ſteht feſt: Bis zur Beſetzung haben die Beamten den
verfaſſungsmäßigen Anordnungen und Befehlen ihrer Regierung Gehorſam zu leiſten.
Nach vollzogener Beſetzung dagegen hört die Wirkſamkeit der frühern Autorität auch
für die Beamten auf und müſſen ſie ſich der Autorität der beſetzenden Kriegsgewalt
ſo weit fügen, als dieſelbe völkerrechtlich begründet iſt.


Am wenigſten werden von der Aenderung die Gemeinde- und überhaupt
alle Localämter betroffen. Da dieſelben eine rein-örtliche Aufgabe und Beziehung
haben, ſo laſſen ſie ſich nicht von dem Orte trennen und gerathen mit dieſem unter
die Autorität des Feindes.


542.

Die Träger der militäriſchen Autorität ſind nicht entbunden von
[305]Das Kriegsrecht.
den Geſetzen der Menſchlichkeit, der Gerechtigkeit, der Ehre und des civili-
ſirten Kriegsgebrauchs.


Militäriſche Tyrannei und Unterdrückung iſt nicht Ausübung, ſondern Miß-
brauch des Kriegsrechts
. Je größer die Ueberlegenheit der bewaffneten Macht
iſt über die unbewaffneten Bürger, deſto nöthiger iſt es, daß dieſelbe durch jene
menſchlichen Tugenden und Vorzüge veredelt und ermäßigt werde. Es iſt nicht ein
Zeichen militäriſcher Tapferkeit oder Ehre, wenn der Soldat ſeine Gewalt zur Un-
gebühr mißbraucht, ſondern nur ein Zeichen von unwürdiger Roheit, und es iſt der
Stolz einer civiliſirten Armee, Recht und gute Sitte zu achten. Eben dadurch un-
terſcheidet ſie ſich von barbariſchen Kriegern. Amerik. Kriegsart. 4.


543.

Das Kriegsrecht iſt weniger ſtreng zu handhaben in Plätzen und
Bezirken, deren Beſitznahme geſichert erſcheint und ſtrenger da, wo die
Gefahr des Kampfes um den Beſitz fortdauert und nahe iſt, am ſtrengſten
im Angeſicht des wirklichen Kampfes ſelbſt.


Am. Kr. 5. Dieſe Regel wirkt ſowohl auf die Beſtimmung kriegsrechtlicher
Anordnungen, als auf die Anwendung und Auslegung des Kriegsrechts. Die Stei-
gerung der Strenge iſt wie das ganze Kriegsrecht durch die militäriſche Nothwen-
digkeit und das Bedürfniß der Sicherheit bedingt. Wenn es ſich z. B. rechtfertigt,
im Angeſicht des gegenwärtigen Kampfs Häuſer von Privaten ganz in Beſitz neh-
men, mit Wegweiſung der Bewohner und vielleicht dieſelben niederzureißen, ſo
würde eine ſolche Maßregel, wenn ein localer Kampf an der Stelle noch völlig
ungewiß iſt, als barbariſch erſcheinen. Ebenſo wird die Hemmung alles Verkehrs,
unter Umſtänden durch militäriſche Vorſichtsmaßregeln geboten, ohne ſolches Bedürf-
niß ungerechtfertigt ſein.


544.

So weit die Beſitznahme der feindlichen Kriegsmacht reicht und ſo
lange ſie dauert, erſcheint die Regierungsgewalt des gegneriſchen States
verdrängt.


Inzwiſchen ſind die Bewohner der beſetzten Gebiete zu keinem Ge-
horſam gegen die verdrängte Regierung verbunden, aber genöthigt, der
thatſächlich herrſchenden Kriegsgewalt ſtatlichen Gehorſam zu leiſten.


Vgl. oben zu § 539. Die Beſitznahme eines Gebietstheils hört aber nicht
ſchon dadurch auf, daß die beſetzenden Truppen wegziehen. Wenn die Armee vor-
wärts marſchirt in Feindesland, ſo bleibt zunächſt das hinter ihr liegende
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 20
[306]Achtes Buch.
Gebiet in ihrem Beſitz, auch wenn ſie keinen Soldaten mehr dort ſtehen hat, und
zwar ſo lange, bis ſie entweder den Beſitz abſichtlich aufgibt, oder bis ſie wieder mit
Gewalt aus dem Beſitze verdrängt wird. Vgl. unten § 551.


545.

Die Kriegsgewalt kann allgemeine Verordnungen erlaſſen, Einrich-
tungen treffen, Policeigewalt und Steuerhoheit ausüben, ſoweit ſolches
durch das Bedürfniß der Kriegsführung geboten iſt, oder durch die Bedürf-
niſſe des beſetzten Gebietes und ſeiner Bewohner erfordert wird.


Sie hat ſich aber bis zu definitiver Regelung der Statsverhältniſſe
ſolcher geſetzgeberiſcher Acte möglichſt zu enthalten, durch welche die Verfaſ-
ſung geändert wird und darf die hergebrachte Rechtsordnung nur aus
dringenden Gründen außer Wirkſamkeit ſetzen.


1. Die Kriegsgewalt iſt weſentlich Nothgewalt und proviſoriſche Ge-
walt
. Daher ſind ihre Anordnungen durch die Nothwendigkeit bedingt und be-
ſchränkt, und nicht berufen, die dauernden Grundlagen des öffentlichen Rechts zu
verändern. Schon deßhalb ſoll ſie die beſtehende Verfaſſung und Geſetzgebung mög-
lichſt wenig antaſten und ihre Wirkſamkeit nur hindern, wo das militäriſche Be-
dürfniß es erfordert. Dieſe Beſchränkung kann freilich durch die Umſtände geboten
werden. Wenn z. B. das Vereins- und Verſammlungsrecht der Bewohner
durch die Verfaſſung gewährleiſtet iſt, ſo wird dennoch die feindliche Kriegsgewalt die
freie Ausübung desſelben nicht dulden können, ohne ihren Beſitz und ihre Sicherheit
zu gefährden. Auch die Preßfreiheit erleidet im Krieg nothwendige Beſchränkung.
Iſt durch die Verfaſſung eine jährliche Verſammlung der Volksvertretung
angeordnet, ſo werden auch dieſe Wahlen und wird die Verſammlung in dem beſetz-
ten Gebiete gewöhnlich gehemmt werden müſſen.


2. Wenn Befreiungskriege geführt werden, dann freilich liegt es oft im
Intereſſe der Kriegführung, ſo weit die Macht der Kriegsgewalt reicht, auch neue
Ordnungen vorläufig einzuführen, durch welche den bisher gedrückten Bewohnern des
beſetzten Landes beſſere Rechte verliehen und die Sympathien derſelben gewonnen
werden. Derartige Veränderungen haben die franzöſiſchen Revolutionskriege zu An-
fang dieſes Jahrhunderts mit ſich gebracht, aber auch der neueſte Bürgerkrieg in den
Vereinigten Staten von Amerika.


546.

Da der Kriegszuſtand ein Nothſtand und das Kriegsrecht ein Noth-
recht iſt, ſo können die militäriſch gerechtfertigten Anordnungen der Kriegs-
gewalt nicht aus dem Grunde als ungültig angefochten werden, daß ſie
der Verfaſſung oder dem Landesrecht widerſprechen.


[307]Das Kriegsrecht.

Beiſpiele der Art ſind in der Erläuterung zu § 545 gegeben. Das muß
aber ſogar von der Kriegsgewalt des eigenen Landes ebenſo gelten, denn
Noth kennt kein Gebot“.


547.

Soweit nicht die Kriegsgewalt beſondere abweichende Vorſchriften
erläßt, hat die bürgerliche und die Strafgerichtsbarkeit des Landes ihren
regelmäßigen Fortgang.


Die Einführung einer außerordentlichen kriegsgerichtlichen Rechtspflege
— des ſogenannten Standrechts — iſt nur aus dem Grunde einer
ernſten und dringenden Gefahr zuläſſig und iſt vorher öffentlich zu ver-
künden.


Am. Kr. 6. 1. Die Kriegsgewalt kann z. B. die Wirkſamkeit der geſetz-
lichen Schutzmittel gegen Verhaftungen (Habeas-Corpusacte) ſuspendiren oder auch
in Folge der Verkehrsſperre die Durchführung des Wechſelrechts hemmen u. dgl.
Vgl. zu § 545.


2. Die Einſetzung von Kriegsgerichten zur Ausübung des ſtandrecht-
lichen
Verfahrens iſt einer der ſchwerſten Eingriffe in die bürgerliche Freiheit und
Rechtsſicherheit, weil ſie eine Menge von Garantien aufhebt, welche das regelmäßige
Proceßrecht den Parteien gibt. Es kann daher nur durch die Noth gerechtfertigt
werden. Die friedlichen Bewohner aber dürfen den Gefahren desſelben nicht ausge-
ſetzt werden ohne vorherige öffentliche Warnung.


548.

Auch die ſtandrechtlichen Kriegsgerichte dürfen nicht nach Willkür
und nicht leidenſchaftlich verfahren, ſondern ſind verpflichtet, die Funda-
mentalgeſetze der Gerechtigkeit zu beachten. Insbeſondere ſollen ſie den
Angeſchuldigten freie Vertheidigung geſtatten, keine Tortur anwenden, den
Thatbeſtand wenn auch ſummariſch doch unparteiiſch prüfen und nur eine
verhältnißmäßige Strafe über den Schuldigen erkennen. Aber ſie ſind
nicht gebunden an die ſtrengeren Vorſchriften der gewöhnlichen Proceß-
geſetze.


Am. Kr. 12. Die Beſtellung dieſer Kriegsgerichte geſchieht nach den Vor-
ſchriften der Landesverfaſſung oder der militäriſchen Vorſchriften der einzel-
nen Länder
. Die obigen Grundſätze dagegen haben eine allgemein menſch-
liche
Bedeutung. Würden ſie verletzt, ſo würde das Standrecht aufhören eine
Rechtspflege zu ſein und würde zu einer Bethätigung zügelloſer Leidenſchaft
20*
[308]Achtes Buch.
werden. In den Amerikaniſchen Kriegsartikeln iſt auch der Satz enthalten, der ſich
einer allgemeinen Anerkennung empfiehlt: „Die Todesſtrafe darf ohne Erlaubniß
des Statshauptes nicht vollzogen werden, außer wo der Drang der Umſtände einen
ſchnelleren Vollzug fordert und dann nur mit Erlaubniß des oberſten Befehlshabers
der betreffenden Truppen“. Ueberdem machen dieſe Artikel darauf aufmerkſam, daß
die militäriſche Gerichtsbarkeit eine zwiefache Begründung habe, einmal in dem
Statsrecht des Landes für Aufrechthaltung der militäriſchen Ordnung und ſo-
dann im Völkerrecht für Fälle, die nicht ſchon nach Landesgeſetz ſtrafbar ſind,
für welche es daher einer beſondern Ermächtigung bedarf, das Kriegsrecht in dieſer
Form zu hanben. Das gilt vorzüglich in feindlichem Land.


549.

Die Kriegsgewalt darf alles das thun, was die militäriſche Noth-
wendigkeit erfordert, d. h. ſoweit ihre Maßregeln als nöthig erſcheinen,
um den Kriegszweck mit Kriegsmitteln zu erreichen und in Uebereinſtim-
mung ſind mit dem allgemeinen Recht und dem Kriegsgebrauch der civi-
liſirten Völker.


Am. Kr. 14. Im Grunde iſt das die entſcheidende Hauptregel für das
Recht der Kriegsgewalt. Was nothwendig ſei, ergibt ſich nur aus den Umſtänden.
So weit die Nothwendigkeit reicht, ſo weit reicht die Kriegsgewalt.
Darüber hinaus wird ſie rohe Willkür. Freilich iſt es nicht immer leicht, die Gren-
zen in der Praxis zu beſtimmen und es iſt unmöglich, hier nach formellen Merk-
malen zu verfahren. Wenn eine Armee keinen Mangel hat an Lebensmitteln, Klei-
dungsſtücken, Fuhrwerken u. ſ. f., ſo iſt ſie nicht in der Nothwendigkeit, weitere
Forderungen der Art an die Gemeinden oder die Privatperſonen zu ſtellen. Wenn
ſie dagegen Mangel leidet, ſo ſind je nach Umſtänden ſogar ſtarke Eingriffe in das
Privateigenthum ganz unvermeidlich. Niemals aber hört die Wirkſamkeit der
Moral
auf, geſetzt auch, die regelmäßige Rechtsordnung würde momentanen Scha-
den leiden. Schön ſagen die Amerikaniſchen Kriegsartikel (15): „Wenn die Männer
einander in offenem Krieg mit den Waffen bekämpfen, ſo hören ſie doch nicht auf
moraliſche Weſen zu ſein und bleiben den andern Menſchen und Gott verantwortlich
für ihre Thaten“.


550.

Dagegen verwirft das Kriegsrecht allen Wort- und Treubruch auch
gegen den Feind, alle unnöthige Grauſamkeit, alle Ausübung der Privat-
rache und alle die Handlungen der Gewinnſucht oder der Wolluſt, welche
überall als gemeine Verbrechen verboten und beſtraft werden, alle barba-
riſche Zerſtörung, alles was mit der Ehre der Truppen nicht vereinbar iſt.


[309]Das Kriegsrecht.

Am. Kr. 11. Vgl. unten 574. 575. Die Regel, daß auch dem Feinde
Treue zu halten ſei — Fides etiam hosti servanda — (§ 566) iſt
uralt, und es kann von dieſer natürlichen Menſchenpflicht keine prieſterliche Auto-
rität dispenſiren. Die Schranke der Ehre hat ſich von jeher als beſonders mäch-
tig erwieſen in civiliſirten Heeren, oft ſogar noch ſtärker als die Schranke des
natürlichen Rechts.


551.

Die Kriegsgewalt darf von den Beamten in Feindesland den Eid
eines zeitlichen Gehorſams fordern und ſie entlaſſen und fortweiſen, wenn
ſie denſelben verweigern. Der Gehorſam, den ſie der Kriegsgewalt ſchul-
den, iſt durch die Dauer der Beſitznahme beſchränkt.


Vgl. oben 540 und 544. Einen Unterthaneneid darf die Kriegsgewalt
nicht fordern, bevor die Eroberung dauernd geworden und durch den Frieden geſichert
iſt. Die Autorität der Kriegsgewalt in Feindesland iſt nur eine proviſoriſche,
durch den Kriegszuſtand bedingte. Aber es kann unter Umſtänden nöthig oder zweck-
mäßig ſein, daß die Beamten, welche ihre öffentlichen Functionen fortſetzen, eid-
lich verpflichtet werden, in der Zwiſchenzeit nichts gegen die Kriegsgewalt zu thun
und deren Anordnungen zu befolgen. Wenn dieſelben einen ſolchen, nur proviſoriſch
wirkenden Eid verweigern, ſo weist das auf die feindliche Geſinnung dieſer Beamten
hin und die Kriegsgewalt hat Urſache, denſelben mindeſtens jede öffentliche Autorität
zu entziehn.


Ueber die Dauer des proviſoriſchen Gehorſams vgl. zu § 544.


552.

Der Vertheidiger eines bedrohten Platzes ſoll die friedlichen Bewohner
rechtzeitig auf die Gefahren aufmerkſam machen, denen ſie ausgeſetzt wer-
den und darf ihrem Wegzug keine anderen Hinderniſſe in den Weg legen,
als welche die Sorge für die Kriegsführung nöthig macht.


553.

Wenn der Commandant eines feſten Platzes die unkriegeriſchen Be-
wohner in der Abſicht fortweist, um den Platz gegen den Feind länger
behaupten zu können, ſo kann dieſe Maßregel durch die militäriſche Noth-
wendigkeit gerechtfertigt ſein.


Aber auch der Belagerer kann ſich auf dieſelbe Nothwendigkeit be-
rufen, wenn er in der Abſicht, die Uebergabe des Platzes zu beſchleunigen,
[310]Achtes Buch.
jene Bewohner nicht wegziehen läßt. Greift der Belagerer zu dieſer zwar
extremen aber nicht völkerrechtswidrigen Maßregel, ſo iſt der Belagerte
genöthigt, den Aufenthalt der Bewohner wieder im Platze zu geſtatten.


Am. Kr. 18. Die Ausweiſung wird vorzüglich durch den Mangel an
Lebensmitteln
in dem befeſtigten Platz motivirt und die Zurückweiſung ebenſo
durch die Hoffnung begründet ſein, den Platz durch Aushungerung zur Ueber-
gabe zu nöthigen. Beide Maßregeln ſind gegenüber den friedlichen Bewohnern ſehr
hart, aber die letztere iſt noch härter, weil ſie dieſelben auch den größten perſönlichen
Gefahren ausſetzt. Nur die ſtrengſte militäriſche Nothwendigkeit vermag
dieſelbe zu rechtfertigen. Ohne dieſe muß es den Bewohnern frei ſtehen nach ihrer
eigenen Wahl, ſei es in dem Platze fort zu wohnen, ſei es denſelben zu verlaſſen.
Es liegt aber in der Natur der Dinge, daß die Ausweiſung unter Umſtänden von
den Belagerungstruppen verhindert werden kann. Wenn ſie verhindert wird, ſo
bleibt für den Commandanten des feſten Platzes nichts anderes übrig, als die Be-
wohner, die nicht wegkommen können, wieder aufzunehmen. Keine militäriſche Noth-
wendigkeit könnte es jemals rechtfertigen, daß dieſelben zwiſchen den beiden ſtreitenden
Kriegsgewalten wie zwiſchen zwei harten Mühlſteinen zerrieben werden.


554.

Die gute Kriegsſitte verlangt, daß der Belagerer, wenn es thunlich
erſcheint, vor dem Bombardement eines Platzes die Abſicht dazu ankündige,
damit die Nichtſtreiter, insbeſondere Weiber und Kinder entfernt oder ſonſt
in Sicherheit gebracht werden. Indeſſen kann Ueberraſchung mit einem
Bombardement nöthig ſein, um den Platz bald zu gewinnen und dann iſt
die Unterlaſſung jener Anzeige gerechtfertigt.


Am. Kr. 19. Es entſpricht dieſe Sitte dem Weſen des Kriegs als eines
Streites zwiſchen Stat und Stat, und nicht mit den Privaten. Möglichſte Schonung
dieſer iſt das Kennzeichen der civiliſirten Kriegsführung. Um die Bewohner großer
Städte möglichſt vor den Gefahren des Kriegs zu bewahren, werden daher dieſe
Städte meiſtens als offene Plätze dem Sieger überlaſſen und nicht als feſte
Plätze
gegen eine Belagerung vertheidigt. Aber auch im letztern Fall erfordert es
die Menſchlichkeit, daß die friedlichen Bewohner gewarnt werden, bevor die Stadt
beſchoſſen wird, wenn irgend der Gang des Krieges es geſtattet. Nur in den drin-
gendſten Fällen wird ein plötzlicher Ueberfall, verbunden mit einer raſchen Beſchießung
ſich als militäriſche Nothwendigkeit vertheidigen laſſen.


555.

Die Thätigkeit der fremden Geſanten und diplomatiſchen Perſonen,
[311]Das Kriegsrecht.
welche bei der feindlichen Regierung beglaubigt ſind, hört von Rechtswegen
für das beſetzte Gebiet auf.


Indeſſen pflegt die beſetzende Kriegsgewalt im Intereſſe des völker-
rechtlichen Verkehrs die neutralen Geſanten in dieſem Gebiete ebenſo zu
ſchützen und ihnen thatſächliche Wirkſamkeit zu geſtatten, wie wenn dieſelben
vorübergehend bei ihr beglaubigt wären.


Wird die Reſidenzſtadt vom Feinde eingenommen, ſo verlaſſen oft die
Geſanten auch der neutralen Staten den Ort ihrer bisherigen Wirkſamkeit und fol-
gen zuweilen dem Hofe nach, der ſich zurückzieht. Da ſie bei dem weichenden
Souverän
accreditirt ſind, ſo ſtehen ſie zunächſt nur mit ihm in einem völkerrecht-
lichen Verhältniß. Es iſt aber möglich, daß ſie den Befehl erhalten, an ihrem bis-
herigen Wohnſitz auszuharren, wenn gleich derſelbe in feindliche Gewalt gerathen iſt.
Da ſie bei der beſetzenden Kriegsgewalt nicht beglaubigt ſind, ſo können ſie
auch nicht ferner hier den diplomatiſchen Verkehr fortſetzen. Indeſſen liegt es ge-
wöhnlich im Intereſſe der feindlichen Kriegsgewalt, welche erobernd vorgeht, möglichſt
freundliche Beziehungen auch zu den anweſenden Geſanten der neutralen Staten zu
erhalten; daher wird dieſelbe ſelten gegen die Fortſetzung ihres Aufenthalts und ſelbſt
ihrer Thätigkeit Schwierigkeit machen und auch die Privilegien der Geſanten einſt-
weilen unbeſtritten fortwirken laſſen. Würde aber der Verdacht entſtehen, daß das
Bleiben eines Geſanten dazu mißbraucht würde, um der beſetzenden Kriegsgewalt
Verlegenheiten zu bereiten, ſo wäre dieſe nicht gehindert, den bei ihr nicht beglaubigten
Geſanten ohne Verzug wegzuweiſen.


556.

Auch die fremden Conſuln, welche von der feindlichen Regierung
ermächtigt worden ſind, im Lande thätig zu ſein, werden von der erobern-
den Kriegsgewalt in ihrer Wirkſamkeit möglichſt wenig beläſtigt, und ſo
behandelt, als ob ſie von der letztern inzwiſchen ermächtigt wären.


Vgl. zu § 537. Man nimmt an, das Exequatur wirke fort, ganz
ebenſo wie die Ernennung der Aemter, bis die feindliche Kriegsgewalt dieſe ruhige
Fortdauer der urſprünglichen Vollmacht durch eine entgegengeſetzte Erklärung abbricht.
Weil die Conſuln weſentlich für den internationalen Privatverkehr und
nicht für den völkerrechtlichen Verkehr der Staten ermächtigt ſind, ſo läßt ſich dieſe
Fortdauer der Conſularthätigkeit noch unbedenklicher gewähren, als die des Geſanten-
verkehrs.


[312]Achtes Buch.

4. Unerlaubte Kriegsmittel.


557.

Der Gebrauch vergifteter Waffen oder die Verbreitung von Gift-
ſtoffen und Contagien in Feindesland iſt völkerrechtswidrig.


Schon das uralte indiſche Geſetzbuch Manus (VII. 96) enthält dieſes
Verbot. Die Beachtung desſelben iſt ein Kennzeichen der civiliſirten Kriegs-
führung
im Gegenſatze zu der Kriegsübung mancher wilden Stämme, welche ſich
der vergifteten Pfeile bedienen. Die Verbreitung von anſteckenden Stoffen in Feindes-
land, um eine Epidemie dahin zu verpflanzen, iſt noch abſcheulicher, als der Ge-
brauch von vergifteten Waffen und ein abſolut unzuläſſiges Mittel, den Feind zu
ſchädigen.


558.

Ebenſo ſind unterſagt, Waffen, welche zweckloſe Schmerzen verur-
ſachen, wie Pfeile mit Widerhacken, gehacktes Blei oder Glasſplitter ſtatt
der Flintenkugeln.


Da der Krieg nur von Stat gegen Stat geführt wird, ſo ſind die Kriegs-
mittel beſchränkt auf die Mittel, den Widerſtand des feindlichen Stats zu brechen
und denſelben zum Nachgeben zu nöthigen. Jede unnöthige Grauſamkeit
iſt Barbarei
.


559.

Die Benutzung von Wilden, welche das Völkerrecht nicht achten,
zur Kriegshülfe, wird den civiliſirten Staten durch das Völkerrecht
verwehrt.


Die civiliſirte Kriegsführung duldet überhaupt die Barbarei nicht und darf
daher auch barbariſche Stämme nicht zu Kriegsgenoſſen machen. Dagegen iſt es
ihr nicht verwehrt, ſolche barbariſche Individuen oder Stämme, welche ſich den
Schranken des Völkerrechts fügen und den Anordnungen der civiliſirten Officiere
gehorchen, zu verwenden. Vgl. Wheaton (Dana)Elem. of intern. law. § 343.
n. II.


560.

Der guten Kriegsſitte widerſpricht das Schießen von Kettenkugeln
im Land- und von glühenden Kugeln und Pechkränzen im Seekrieg.


[313]Das Kriegsrecht.

Im Mittelalter verſuchte es der Papſt InnocenzIII., die Anwendung
von Wurfgeſchoſſen überhaupt gegen Chriſten zu unterſagen. cap. un X. de
sagittariis
(V. 15). Aber vergeblich. Die moderne Kriegsführung beruht gerade auf
den Schußwaffen. Auch geht man zu weit, wenn man alle tödtlichen Waffen,
welche maſſenhaft wirken, für völkerrechtswidrig erklärt. Weßhalb ſollten die
Waffen erlaubt ſein, durch welche einzelne Individuen getödtet werden, aber
die verboten, welche Reihen von Individuen bedrohen, da ja doch nicht gegen die
Individuen der Krieg geführt wird, ſondern gegen die Macht des feindlichen Stats?
Jede Kanonenkugel bedroht mehr als Ein Menſchenleben, die Kartätſchen werfen
ganze Scharen nieder und die ſchweren Kanonen der Strandbatterien und der Kriegs-
ſchiffe können ganze Schiffe in den Grund bohren; eine explodirende Mine kann
eine Menge Menſchen verſchütten, durch ein Branderſchiff auch ein feindliches Schiff
angezündet werden. Dennoch hält die Kriegsſitte dieſe Mittel für erlaubt, aber ſie
verwirft die Kettenkugeln (boulets à chaîne) und die Stangenkugeln
(boulets à bras) als barbariſch und nimmt an dem Beſchießen der Schiffe mit
glühenden Kugeln und dem Werfen von brennenden Pechkränzen in
das feindliche Schiff Anſtoß. Offenbar iſt die Kriegsſitte noch zu lax und zu grau-
ſam, und nicht etwa zu empfindſam und zu ängſtlich in ihrem Urtheil über Erlaubtes
und Unerlaubtes.


561.

Das Völkerrecht verwirft den Meuchelmord eines feindlichen Indi-
viduums als unerlaubtes Kriegsmittel.


Am. Kr. 148. Nicht bloß der Meuchelmord durch verrätheriſches Bei-
bringen von Gift, ſondern auch durch heimliches Nachſchleichen und Erdolchen oder
Erſchießen wird durch das Kriegsrecht nicht legitimirt, wenn gleich der Mörder oft
ſtraflos bleibt. Die Tödtung im Kampf iſt erlaubt, der Mord außerhalb
des Kampfes
iſt unehrlich und verboten, auch wenn er, wie z. B. die Ermordung
des feindlichen Feldherrn oder Fürſten für die eigene Kriegsführung nützlich iſt.
Der Unterſchied war ſchon den civiliſirten Völkern des Alterthums klar, bedurfte
aber von Zeit zu Zeit erneuerter Ausſprache, um nicht von den wilden Leidenſchaften
verkannt zu werden. Selbſt im Kampf iſt alles unnöthige Tödten der Feinde ver-
werflich.


562.

Auch die Achterklärung gegen einen Einzelnen, durch welche er als
rechtlos und vogelfrei der ſtrafloſen Mißhandlung und Tödtung von Jeder-
mann Preis gegeben wird, und die Ausſchreibung von Preiſen auf den
Kopf eines Menſchen werden von den civiliſirten Völkern als eine barba-
riſche Uebung mißbilligt.


[314]Achtes Buch.

Im Mittelalter war die Acht noch ein Hauptmittel des Strafrechts und
man ließ ſie daher im Kriege ohne Bedenken ebenfalls zu. Das heutige Kriegs-
wie das Friedensrecht erkennt die große Rechtsregel an: „Der Menſch iſt nie-
mals rechtlos“
, und kann daher jene Acht nicht mehr zugeſtehen. In anderem
Sinne freilich kann man heute noch von der Aechtung einer feindlichen Perſon reden,
inſofern als ſie entweder aus dem Lande gewieſen, oder der Verfolgung in der Ab-
ſicht ausgeſetzt wird damit man ſich ihrer bemächtige und ſie gefangen zur Stelle
bringe. Das kann aus politiſchen und militäriſchen Gründen als nothwendig er-
ſcheinen und inſofern gerechtfertigt werden. In den Napoleoniſchen Kriegen zu Anfang
des Jahrhunderts iſt wiederholt gegen politiſch bedeutende Männer, die als Feinde
erklärt und geächtet wurden, ſo verfahren worden. Eine ſolche Aechtung erinnert
an den atheniſchen Oſtracismus. Von der Art war auch die berühmte Aechtung
des Preußiſchen Miniſters Stein durch Kaiſer Napoleon I., aber auch die ſpätere
Aechtung Napoleons ſelbſt durch die alliirten Mächte.


563.

Das Völkerrecht verwirft überhaupt alle Anſtiftung zu Verbrechen,
auch wenn dieſelben der Kriegsführung nützlich wären. Aber es hindert
nicht, die Vortheile zu benutzen, welche durch die Verbrechen dritter Per-
ſonen der Kriegsführung zufällig dargeboten werden.


So wenig der Feldherr Mörder dingen darf, ebenſo wenig darf er zu
Brandſtiftung, Raub, Diebſtahl u. ſ. f. anſtiften. Das Völkerrecht achtet
auch im Kriege die gemeine Rechtsordnung und verabſcheut das Verbrechen.
Aber wenn durch den Mord eines feindlichen Heerführers das feindliche Heer in
Verwirrung gebracht, oder wenn durch eine Brandſtiftung ein Vertheidigungswerk
des Feindes zerſtört worden iſt, ſo ſind das für den Gegner vielleicht glückliche Er-
eigniſſe, die zum Siege zu benutzen ihm nicht verwehrt iſt. Die Rückſichten der
Ritterlichkeit, der Großmuth und der Ehre können auch in ſolchen Fällen eine haſtige
und ſchonungsloſe Ausbeutung ſolcher Vortheile als unanſtändig oder unedel dar-
ſtellen, aber das weniger empfindliche Recht läßt dieſelbe gewähren.


564.

Dagegen gilt die Aufforderung zu Handlungen, welche zwar in dem
feindlichen State als politiſche Verbrechen ſtrafbar, aber von dem Stand-
punkte ſeines politiſchen Gegners ehrenhaft ſind, und die Unterſtützung
ſolcher politiſcher Verbrecher im Feindeslande, als ein erlaubtes Mittel der
Kriegsführung.


1. Die Natur der eigentlichen politiſchen Verbrechen unterſcheidet ſich
darin von dem gemeinen Verbrechen ſehr weſentlich, daß dieſe das allgemeine
[315]Das Kriegsrecht.
Rechtsgefühl aller civiliſirten Völker tief verletzen und beleidigen, während jene
nur einem beſtimmten State gegenüber verübt werden und nur deſſen
Statsordnung betreffen. Dieſelbe Handlung kann daher in einem State ſchwere
Strafe verdienen, und von den benachbarten Völkern als eine rühmliche That geprie-
ſen werden. Auch in der modernen Kriegsführung kommt es oft vor, daß die ſym-
pathiſch geſinnte Partei in Feindesland oder eine unterdrückte Bevölkerung, welche
man durch den Krieg befreien will, zum Aufſtand angeregt, daß Zuzüger aus dem
Feindesland unter die Truppen aufgenommen werden, welche dasſelbe einnehmen
ſollen, daß mit einem Prätendenten, der Anſprüche auf die Regierung im Feindes-
land erhebt, Verbindungen angeknüpft und in der Abſicht unterhalten werden, die
feindliche Regierung im Innern ihres Landes in Gefahr zu bringen. Keine einzige
europäiſche oder amerikaniſche Kriegsmacht hat ſich ſolcher Mittel enthalten, wenn ſie
ſich ihr darboten und für die Kriegsführung nützlich erſchienen. Sowohl die Re-
volutions
- als die Reſtaurationspolitik hat ſich derſelben bedient; aber auch
die neueſte Befreiungs- und Nationalitätspolitik in Italien und Deutſch-
land hat dieſelben nicht verſchmäht. Die politiſchen Rückſichten ſind in
dieſer Beziehung ſo entſcheidend, daß die ſtrafrechtlichen in den Hinter-
grund treten
.


2. Dagegen wird die Aufreizung der feindlichen Officiere und Soldaten zur
Deſertion oder zum Verrath — wenigſtens in der Regel — für ein unerlaubtes
Kriegsmittel angeſehen, weil hier auch das allgemeine Intereſſe aller Staten an der
Aufrechthaltung der militäriſchen Ordnung und Disciplin ſo überwiegend
erſcheint, daß die politiſchen Rückſichten eine derartige Störung nur ſelten zu ent-
ſchuldigen vermögen.


565.

Die Liſt iſt im Kriege erlaubt und daher auch die Täuſchung des
Feindes nicht völkerrechtswidrig, ſogar nicht die Täuſchung durch Uni-
formen, Fahnen und Flaggen. Vor dem wirklichen Zuſammenſtoß aber
muß jeder Heereskörper unter ſeiner wahren Fahne und Flagge erſcheinen
und darf nur als offenbarer Feind fechten.


Im Kriege kämpfen Gewalt und Liſt bald gemeinſam, bald wider ein-
ander. Es iſt erlaubt, den Feind über die Stärke und die Bewegungen des Heeres
zu täuſchen, z. B. indem man durch Anzünden zahlreicher Wachfeuer die Anweſenheit
eines ſtarken Truppenkörpers glaublich macht, während die Truppen bereits abgezogen
ſind, oder indem ein geringes Streifcorps bald da, bald dort erſcheint und die Mei-
nung verbreitet, es ſeien zahlreiche Truppen in der Nähe. Ebenſo kann der Feind
durch eine ſcheinbare Flucht in einen Hinterhalt gelockt und da überfallen werden.
Die Liſt dient dazu, die phyſiſche Ueberlegenheit des Feindes durch ein geiſtiges
Gegengewicht zu vermindern oder zu überwinden. Bedenklich iſt allerdings die Be-
nutzung der Kennzeichen des feindlichen Heeres — Uniformen, Fahnen,
[316]Achtes Buch.
Flaggen — zur Täuſchung desſelben, um dasſelbe ſorglos zu machen und leichter
in Verwirrung zu bringen. Dieſe Art der Täuſchung darf nicht über die Vorberei-
tungen zum Kampf hinausgetrieben werden. In der Schlacht ſollen die Feinde
einander offen entgegenſtehn und nicht hinterrücks in der Maske des Freun-
des und Waffenbruders
der Feind den Feind anfallen.


566.

Auch dem Feinde muß man Treue halten. Der Bruch eines dem
Feinde im Kriege gegebenen Verſprechens iſt völkerrechtswidrig.


„Etiam hosti fides servanda“ iſt ein uralter Rechtsſatz ſelbſt des
antiken Völkerrechts (§ 550). Ohne Vertrauen auf die gegebene Zuſage und ohne
Treue iſt überhaupt kein geſicherter Rechtszuſtand unter den Völkern denkbar. Von
jeher hat der natürliche Rechtsſinn der Menſchen z. B. den Bruch des ertheilten
freien Geleites, oder der zugeſicherten Schonung bei Uebergabe eines feſten Platzes
oder des verſprochenen freien Abzugs als ein ſchweres Verbrechen an der menſchlichen
Rechtsordnung gebrandmarkt.


567.

Wenn der Feind die Schranken der guten Kriegsſitte mißachtet oder
völkerrechtswidrige Kriegsmittel anwendet, ſo ſind Repreſſalien geſtattet.
Indeſſen dürfen bei der Anwendung von Repreſſalien nicht die Grund-
gebote der Menſchlichkeit verletzt werden.


Vgl. oben § 499 f. Am. Kr. 27. 28. Die Barbarei des Feindes recht-
fertigt nicht die eigene Barbarei. Wenn Wilde die gefangenen Feinde zu Tode mar-
tern, ſo dürfen die civiliſirten Truppen die gefangenen Wilden höchſtens aus
Repreſſalie tödten
, aber nicht martern. Die feindliche Leidenſchaft des
Haſſes und der Rache ſucht ihre Miſſethaten zu beſchönigen, indem ſie ſich auf das
Recht der Repreſſalien beruft. Die Ausbildung eines humaneren Völkerrechts
fordert daher die Beſchränkung dieſes Nothrechts auf das wirklich Noth-
wendige. Würdiger iſt es, von demſelben möglichſt wenig Gebrauch zu machen.


[317]Das Kriegsrecht.

5. Recht und Pflicht der Kriegsgewalt gegenüber den feindlichen
Perſonen und den friedlichen Bewohnern in Feindesland. Quartier-
geben. Verwundete in der Schlacht. Kriegsgefangene. Geiſeln.
Auswechslung der Gefangenen. Entlaſſung auf Ehrenwort.


568.

Das moderne Völkerrecht der civiliſirten Völker erkennt kein abſo-
lutes Recht der Kriegsgewalt an weder über die friedlichen Bewohner in
dem feindlichen Lande, noch ſelbſt über die kriegeriſchen Angehörigen des
feindlichen Stats.


Vgl. die Einleitung S. 30 f. Am. Kr. 23. Eine große Zahl von ältern
Völkerrechtslehrern ſtellte noch den barbariſchen Grundſatz an die Spitze, daß dem
Feind wider den Feind Alles erlaubt
ſei. Bynkershoek ſpricht noch
von einem Recht des Siegers über Leben und Tod der Feinde und verſteht unter
Feinden alle Statsangehörigen des feindlichen Stats. Sogar Heffter behauptet
noch das überlieferte „Kriegsrecht auf Leben und Tod“ (§ 126) als eine vermeint-
liche Regel und ſucht nur die Anwendung desſelben zu beſchränken. Dieſes angeb-
liche
Recht des Siegers ſteht aber in offenbarem Widerſpruch mit dem
natürlichen Menſchenrecht
, welches im Krieg nicht aufhört, und mit der
natürlichen Beſchränkung aller Statsgewalt auf die Bedürfniſſe
des Gemeinlebens
der Menſchen, folglich auch mit der Beſchränkung der
Kriegsgewalt, welche nur Ausübung der Statsgewalt iſt. Dasſelbe hat auch keinen
Grund in dem Rechtsgrund des Kriegs, noch wird es durch den Zweck des Kriegs,
Herſtellung der Rechtsordnung und des Friedens gefordert. Es iſt eine ganze halt-
loſe Erfindung der Juriſten, welche der Wildheit der Kriegsgewaltigen mit einer
ungeheuerlichen Rechtsfiction zu Hülfe kommen wollten.


569.

Als feindliche Perſonen im eigentlichen activen Sinne gelten die,
welche an dem Kampfe der Staten perſönlich und in geordneter Weiſe
Theil nehmen, indem ſie zu dem Heere gehören und unter den Befehlen
der feindlichen Macht ſtehen.


1. In weiterem paſſiven Sinn ſind alle Angehörigen des feind-
lichen States den Folgen der Feindſchaft der Staten ausgeſetzt und inſofern paſ-
ſive Feinde
. Da aber nur die Staten die eigentlichen Kriegsparteien
ſind, ſo ſind im ſtrengſten Sinne des Wortes nur die Staten Feinde. Die Trup-
[318]Achtes Buch.
pen der Staten, welche die Feindſchaft im Auftrag des Stats thatſächlich aus-
üben, werden aber deßhalb ebenfalls als active Feinde betrachtet und behandelt.


2. Unerheblich iſt es, ob die Perſonen, welche zum Heere gehören, zugleich
Landesangehörige des feindlichen States oder Landesfremde ſind. Sobald
ſie ins Heer aufgenommen ſind, haben ſie Antheil an ſeinen Rechten und Pflichten
und an ſeiner feindlichen Stellung und Handlung. Es ſteht dem State frei, fremde
Truppen in ſeinen Sold zu nehmen, und dieſe ſind völkerrechtlich den nationalen
Truppen gleich.


570.

Die Parteigänger und die Freiſcharen werden inſofern als Feinde
betrachtet, als ſie zu ihrem Unternehmen von einer Statsmacht beauftragt
oder ermächtigt ſind oder wenigſtens in gutem Glauben an ihr politiſches
Recht eine Kriegsunternehmung wagen und als militäriſch geordnete Trup-
pen erſcheinen und handeln.


Am. Kr. 81. 1. Die autoriſirten Freicorps ſind, wenn gleich ſie
getrennt von dem eigentlichen Heereskörper einzelne Unternehmungen wagen, eben
weil ſie von der Statsgewalt autoriſirt und den Befehlen der Kriegsmacht unter-
worfen ſind, unzweifelhaft nach Völkerrecht den regelmäßigen Truppen gleich zu ach-
ten. Von der Art waren die Freicorps Garibaldi’s in den beiden Kriegen
Italiens mit Oeſterreich 1859 u. 1866.


2. Zweifelhafter iſt die Gleichſtellung der nicht autoriſirten Frei-
ſcharen
. Die ſtrengere Meinung betrachtet dieſelben durchweg als außerhalb
des Kriegsrechts ſtehend. Indeſſen überwiegt in neuerer Zeit die humanere Mei-
nung, daß ſolche Freiſcharen dann wie feindliche Truppen behandelt werden, wenn
ſie in militäriſcher Ordnung kämpfen und für politiſche Zwecke, nicht
wie Räuber aus Gewinnſucht oder aus Rache. Das Kriegsrecht auch gegen Feinde
iſt ſtreng genug; und wo die politiſchen Ideen und Intereſſen ſo maſſenhaft zum
Kampfe treiben, daß ſich geordnete Truppen bilden, da erſcheint es gerechter, das
politiſche Kriegsrecht und nicht das gemeine Strafrecht anzuwenden.
Ueberdem ſpricht dafür die Zweckmäßigkeit; denn die Gefahren und Leiden des
Kriegs werden vermindert durch die kriegsmäßige Behandlung der bewaffneten
Truppenkörper, und verſchärft und erhöht durch die criminaliſtiſche Bedrohung der
Freiwilligen. Ein berühmtes neueres Beiſpiel einer ſolchen militäriſch geordneten
Freiſchar, die ohne — wenigſtens ohne offene und anerkannte — Autoriſation
eines States Krieg führte, iſt der Feldzug Garibaldi’s gegen Sicilien und
Neapel im Jahr 1860.


571.

Perſonen, welche ohne ſtatliche Ermächtigung auf eigene Fauſt krie-
[319]Das Kriegsrecht.
geriſche Streifzüge machen und dann wieder willkürlich als Bürger ſich
gebaren und ihren Beruf als Kriegsleute verbergen, werden nicht als
öffentliche Feinde betrachtet und können nach Umſtänden als Räuber zur
Verantwortung und Strafe gezogen werden.


Am. Kr. 82. Bei ſolchen Unternehmungen iſt der militäriſche Charakter
nicht mehr offenbar und daher auch nicht entſcheidend. Möglich, daß auch hier
patriotiſche und politiſche Gedanken einwirken, aber die Gefahr der gemein-verbreche-
riſchen Handlungen — Mord, Mißhandlung, Raub, Diebſtahl — iſt hier ſo groß,
daß der Schutz der Strafgerichtsbarkeit nicht entbehrt werden kann. In einzelnen
Fällen mag durch die Gnade die Härte der Strafjuſtiz billig gemildert werden, in
den mehreren wird gerade die ernſte Strenge der Juſtiz die Rechtsſicherheit und den
Frieden am beſten herſtellen und befeſtigen.


572.

Ebenſo werden Freiſcharen, welche ohne ſtatliche Ermächtigung in
ſelbſtſüchtiger Abſicht kriegeriſche Gewalt üben und die Unternehmer von
Kaperſchiffen nicht als Feinde, ſondern als Verbrecher behandelt.


Im Alterthum wurden ſolche Abenteuerfahrten zur See und zu Land als
rühmlich betrachtet; und heute noch werden zuweilen im Orient unter Turkmannen
und Serben ſolche Raubzüge gegen die Ungläubigen und die Ketzer als preiswürdige
Heldenthaten gefeiert. Die civiliſirte Welt mißbilligt dieſelben aufs entſchiedenſte,
und erkennt darin durchaus ſtrafwürdige Verbrechen.


573.

Die friedlichen Bewohner in Feindesland, welche an dem Kampfe
keinen thätigen Antheil nehmen, unterliegen zwar den nothwendigen Wir-
kungen des Kriegs und müſſen der ſiegreichen Kriegsgewalt Gehorſam
leiſten, aber ſie ſind nicht als öffentliche Feinde zu betrachten und zu
behandeln.


Vgl. Einleitung S. 31. Von größter practiſcher Bedeutung iſt die Unter-
ſcheidung der friedlichen Bewohner des feindlichen States von dem Heere desſel-
ben. Erſt ſeitdem die friedliche Eigenſchaft derſelben erkannt und auch von der
feindlichen Kriegsgewalt beſſer als früher gewürdigt wird, iſt die Barbarei des Kriegs
einigermaßen gezähmt worden. So lange man noch alle Angehörigen des kriegfüh-
renden States gleichmäßig als Feinde anſah, ſchien jede Gewaltthat und Bedrückung
erlaubt. Die große Maſſe der Einwohner iſt aber in den meiſten Fällen ganz un-
ſchuldig an dem Streit der Staten, und fügt ſich dem Kriege nur, wie einer furcht-
[320]Achtes Buch.
baren Nothwendigkeit, die über ſie kommt, ohne an dem Kampf thätigen Antheil
zu nehmen. Selbſt in den Fällen, in welchen das ganze Volk für die höchſten natio-
nalen Güter und Intereſſen begeiſtert iſt, welche im Kriege errungen oder vertheidigt
werden, enthält ſich doch die Menge der Privaten jeder kriegeriſchen Handlung und
betreibt im Krieg wie vor dem Krieg ihre friedlichen Geſchäfte; Hirten und
Bauern, Handwerker und Krämer, Kaufleute und Fabrikanten,
Aerzte
und Lehrer ſuchen, ſo gut es geht, ihren Beruf fortzuſetzen und dieſer
Beruf hat keine feindlichen Eigenſchaften an ſich. Weßhalb denn ſollten ſie als
Feinde behandelt
werden, da ſie wie friedliche Leute leben? Der bloße
Statsverband, die Statsangehörigkeit rechtfertigt das nicht, denn der Krieg wird von
Stat gegen Stat geführt, nicht gegen die Privaten; und dieſelben Privaten, welche
heute dem State A angehören, werden, wenn die Kriegsmacht des States B ſiegreich
fortſchreitet, auch der öffentlichen Kriegsgewalt des Siegers gehorchen. Sie können
ſich dieſem Gehorſam nicht entziehen, wenn es ihnen auch ſchwer wird, ſich zu unter-
werfen, ſo lange ſie in dem Lande wohnen, über welches der Sieger ſeine Macht
erſtreckt hat. Der Sieger ergreift die Statsgewalt im Lande, und dieſer müſſen ſich
die einzelnen Bewohner fügen. Auch der Sieger zieht jetzt von ihren friedlichen
Arbeiten Vortheil für ſeine Herrſchaft. Es wird auch dem Heere leichter, ſich in
Feindesland zu ernähren und ſeine Bedürfniſſe zu befriedigen, wenn die friedlichen
Bewohner desſelben ungekränkt bleiben, wenn die Aecker bebaut werden und das
Vieh gezüchtet wird, wenn die Induſtrie brauchbare Güter hervorbringt und der
Handel ſie herbeiſchafft. Wird dagegen das Land barbariſch verwüſtet, ſo findet auch
der Sieger darin ſtatt der Nahrung und Unterſtützung nur unheimliche Verzweiflung
und gefährliche Rache.


In der Kriegsführung der civiliſirten Völker iſt die friedliche Natur der
Privaten früher — freilich nur theilweiſe — reſpectirt, als von den Publi-
ciſten begriffen
worden. Auch Vattel noch betont die alte Vorſtellung, daß
nicht bloß die beiden Völker, ſondern auch alle Angehörigen der beiden Staten
Feinde ſeien. Selbſt die Frauen und Kinder nimmt er nicht aus (III. § 70.
72). Freilich verlangt er eine größere Schonung derſelben, als der kämpfenden
Feinde (III. § 145). Aber die ganze Grundlage des Rechtsverhältniſſes wird ver-
dorben, wenn dasſelbe von dem Geiſte der Feindſchaft durchwühlt und verbittert
wird. Die humane Rechtsbildung drängt die Feindſchaft in die engſten Schranken
zurück und verſtattet dem Geiſte des Friedens und der wechſelſeitigen Lebensförderung
möglichſt viel Raum. Deßhalb hebt ſie mehr die friedlichen Eigenſchaften
der Privaten hervor, und legt darauf und nicht auf ihren ſtatsrechtlichen Verband
mit dem feindlichen State den Nachdruck. Als Privatperſonen ſind ſie
überall keine Feinde, als Statsgenoſſen aber nur ſo lange und nur in-
ſofern
, als noch die feindliche Statsgewalt über ſie öffentliche Macht übt,
von dem Augenblicke an nicht mehr, wo dieſe Statsgewalt durch den ſiegreichen
Gegner zurückgeworfen und verdrängt iſt. Aber nicht bloß der vordringende Sieger,
auch der zurückweichende Feind hat kein Recht, ſie nun als Feinde zu behandeln,
denn nicht ſie zwingen ihn zum Rückzug, indem ſie ſich des Kampfs enthalten, für
ihn ſind ſie nach wie vor friedliche Privatperſonen, über welche er eine Zeit lang
öffentliche Macht gewonnen und dann wieder verloren hat.


[321]Das Kriegsrecht.
574.

Weder die Kriegsgewalt noch die einzelnen ſiegreichen Krieger ſind
berechtigt, einzelne Perſonen willkürlich und zwecklos zu tödten, zu ver-
wunden, zu mißhandeln, zu quälen, zu Sclaven zu machen oder zu ver-
kaufen, die Frauen zu mißbrauchen oder ihre Keuſchheit zu verletzen.


Am. 16. 23. 42. Dieſe Beſtimmung gilt ganz allgemein, nicht bloß bezüg-
lich der friedlichen Privatperſonen, ſondern ſelbſt zum Schutz der feind-
lichen Perſonen
, obwohl dieſe während des Kampfs auch der Todesgefahr aus-
geſetzt ſind. Tödten des Feindes im Kampf, um den Widerſtand desſelben zu
brechen, iſt kriegsrechtlich erlaubt, weil nothwendig, aber Tödten ohne Kampf, ledig-
lich aus Blutdurſt oder Haß iſt auch den Soldaten gegen feindliche Soldaten nicht
erlaubt. Es gibt kein jus vitae ac necis gegen den Feind. Vgl. zu § 573 und
§ 579.


575.

Die Kriegsgewalt iſt verpflichtet, das Menſchenrecht auch in den
feindlichen Perſonen zu beachten und durch ihre Autorität zu ſchützen und
wenn ſolche Miſſethaten von Soldaten verübt werden, die Thäter zu
beſtrafen.


Die Kriegsführung im dreißigjährigen Kriege und ſelbſt in den Zeiten
Ludwigs XIV. war in Europa noch entſetzlich roh. Die ſcheußlichſten Mißhand-
lungen und Folterqualen, wie die Nothzucht an den Weibern kamen damals noch
häufig vor. Alle ſolche widerrechtliche und verwerfliche Grauſamkeit wird von der
heutigen Kriegsſitte und dem civiliſirten Kriegsrecht als barbariſch unterſagt.


576.

Es iſt wider das Völkerrecht, die Unterthanen der feindlichen Staten
zu nöthigen, daß ſie in den Kriegsdienſt der ſiegenden Macht eintreten, ſo
lange nicht die Eroberung vollzogen und die Beſitznahme des eroberten
Landes als dauerhaft und feſtbegründet erſcheint.


1. Wenn auch die feindliche Kriegsgewalt, indem ſie ſich eines Landes be-
mächtigt, die bisherige Statsautorität verdrängt und ſich an ihre Stelle ſetzt (vgl.
oben § 540 f.), ſo iſt doch während des Kriegs der proviſoriſche Charakter die-
ſer Beſitznahme zu beachten und es gilt als unrechtmäßig, die Bewohner des nur
vorläufig beſetzten Landes zum Kriegsdienſt gegen ihr bisheriges Vaterland zu zwin-
gen. Die ſittliche Wirkung des bisherigen und ſtatsrechtlich nicht zerſtörten
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 21
[322]Achtes Buch.
Statsverbandes dauert im Kriege einſtweilen noch fort, wenn gleich die rechtliche
Autorität
der bisherigen Statsgewalt durch die feindliche Beſetzung unterbrochen
und gehemmt iſt. Es iſt daher unnatürlich, unſittlich und widerrechtlich, den Stats-
angehörigen zuzumuthen, daß ſie nun auch activ gegen den Stat feindlich auftreten,
den ſie noch als ihr rechtmäßiges Vaterland betrachten dürfen. Es war daher völker-
rechtswidrig, als die engliſche Marine nach der Lostrennung der Vereinigten Staten
noch amerikaniſche Matroſen weggenommener amerikaniſcher Schiffe zwingen wollte,
auf engliſchen Kriegsſchiffen zu dienen. (Vgl. Laboulayehist. des États-Unis II.
p.
307.) Wenn ſich Freiwillige aus dem eingenommenen Lande an das Heer
des Siegers anſchließen, ſo iſt das eine ganz andere Sache.


2. Iſt aber die Eroberung vollzogen und die Souveränetät auf den
Sieger übergegangen, dann tritt das regelmäßige Unterordnungsverhältniß unter die
neue Statsgewalt auch in militäriſcher Hinſicht ein; und die geſetzliche Kriegs-
pflicht
wird auf die Bewohner des neu erworbenen Gebietes ausgedehnt, ohne
Rückſicht auf die frühere Statsgenoſſenſchaft derſelben.


577.

Die Religion und die Sprache, die Bildung und die Ehre der be-
ſiegten Feinde und der unterworfenen Privatperſonen ſind, ſo weit es die
Umſtände erlauben, zu ſchonen und wider Vergewaltigung zu ſchützen.


Am. 37. Auch darin beſteht ein großer Fortſchritt des modernen Völker-
rechts gegenüber den Anſchauungen des Mittelalters und den rohen Sitten, die noch
im vorigen Jahrhundert in Europa geübt wurden. Die Unterdrückung des
Cultus mit feindlicher Gewalt iſt Barbarei, es wäre denn, daß dieſer Cultus
ſelbſt die Menſchenrechte und die Geſetze der Sittlichkeit verletzte. Wie zähe die
bittern Erinnerungen an die Gräuel des dreißigjährigen Kriegs ſich in Deutſchland
erhalten haben, und wie ſchädlich die neuen Lehren ultramontaner Verketzerungsſucht
fortwirken, hat der deutſche Krieg des Jahres 1866 gezeigt. In vielen ſüddeutſchen Land-
gemeinden fürchteten die Proteſtanten eine neue Verfolgung ihrer Religion durch fanati-
ſirte Katholiken und umgekehrt waren manche katholiſche Gemeinden ganz erſtaunt, als
die ſiegreichen Preußen ihren Gottesdienſt mit Achtung behandelten. Erſt bei den
gebildeten Claſſen und bei den Regierungen hat der humane Grundſatz eine ſichere
Stätte gefunden, bedarf aber auch da noch einer weitern Ausbildung, insbeſondere
mit Rückſicht auf die Culturintereſſen der unterworfenen Bevölkerung.


578.

Die bewaffneten Feinde ſind den unvermeidlichen Gefahren des
Kampfes überhaupt ausgeſetzt und können auch im Einzelnkampf mit Recht
verwundet, verſtümmelt, getödtet werden. Die ſogenannten Nichtkämpfer
im Heere (Juſtiz- und Verpflegungsbeamte, Feldgeiſtliche, Aerzte, Marke-
[323]Das Kriegsrecht.
tender) können ſich dem Schickſal, das ihren Truppenkörper betrifft, nicht
entziehen und ſind auch den allgemeinen Gefahren des Kampfes der Heere
ausgeſetzt, aber ſie werden nur ausnahmsweiſe, vorzüglich aus Mißver-
ſtändniß und Nothwehr, in den Einzelkampf verwickelt.


Die Schlacht richtet ſich zunächſt nicht gegen einzelne Individuen,
ſondern gegen einen Heereskörper, deſſen Widerſtand überwunden werden ſoll.
Inſofern erſcheint es nicht Abſicht, ſondern Zufall, daß einer von den feindlichen
Kugeln getroffen werde; und es daher auch nicht möglich, die ſogenannten Nicht-
kämpfer
(non combattans) vor dieſer allgemeinen Gefahr zu bewahren, inſofern
ſie ſich innerhalb des Schußbereichs und unter den Kämpfern (combattans) be-
finden. Die Gefahren des Einzelkampfes dagegen von Mann gegen Mann ſind
möglichſt auf die letztere Claſſe einzuſchränken, welche den Widerſtand allein gewaltſam
aufrecht halten und daher überwunden werden muß. Die erſtere Claſſe von Per-
ſonen übt auch im Feld einen friedlichen Beruf aus und nimmt an dem per-
ſönlichen Kampf keinen Theil. Es iſt daher gegen die gute Kriegsſitte, dieſe Per-
ſonen einzeln anzugreifen und zu verwunden oder zu tödten. Indeſſen nicht immer
wird im Gedränge der Schlacht und bei Verfolgungen richtig unterſchieden und
Maß gehalten. Dann iſt es ſelbſtverſtändlich auch dem Nichtkämpfer erlaubt, ſich
zu vertheidigen. Dadurch kann auch er ausnahmsweiſe in den Einzelkampf hinein-
gezogen und vielleicht ſogar getödtet werden, vielleicht den Gegner tödten.


579.

Der civiliſirte Krieg darf nicht mehr auf wechſelſeitige Schädigung
und Tödtung gerichtet ſein, ſondern nur auf ein gerechtes Friedensziel.


Jede unnöthige Tödtung ſelbſt der bewaffneten Feinde iſt Unrecht.


Vgl. oben § 533. 568. 585. Am. 68. Früher faßte man den Krieg noch
ſo auf, als gelte es nun, dem Feinde möglichſt viel Schaden zuzufügen. Die
Schädigung des Feindes kann aber nicht Zweck des Krieges ſein, wenn gleich ſie
oft eine Folge des Krieges iſt, denn der Krieg iſt ein Rechtsmittel und ſein Ziel
muß daher ein neuer Friedens- und Rechtszuſtand ſein. Die Schädigung anderer
Menſchen iſt aber niemals eine Aufgabe der Rechtsordnung. Jene ältere Vorſtellung
war alſo noch barbariſch. Das Chriſtenthum, welches die Feinde als Brüder lieben
lehrt, und das Menſchenrecht, welches die Exiſtenz der Menſchen neben einander und
ihre Wohlfahrt ſichern will, verwerfen dieſelbe gleichmäßig. Die Tödtung auch be-
waffneter Feinde aus bloßem Muthwillen oder aus Haß und Rache iſt widerrechtlich.
Auch die feindlichen Soldaten dürfen nicht wie wilde Thiere dem Schuſſe der Jäger
preisgegeben werden. Das Menſchenleben darf nur aus höherer Nothwendigkeit,
nicht aus Leidenſchaft und zur Luſt angegriffen werden.


21*
[324]Achtes Buch.
580.

Der militäriſche Befehl, dem Feinde kein Quartier (keinen Pardon)
zu geben, darf nur aus Gründen der Wiedervergeltung (Repreſſalie) oder
in äußerſten Nothfällen insbeſondere dann gegeben werden, wenn es der
eigenen Sicherheit wegen unmöglich iſt, ſich mit Kriegsgefangenen zu be-
laſten, niemals aber aus Haß und Rache.


Am. 60. Kein Truppenkörper iſt berechtigt, zu erklären, daß er überhaupt
Quartier weder gebe noch annehme. Das wäre nicht mehr Kriegsführung, ſondern
mörderiſche Barbarei.


581.

Feindliche Truppen, welche ihrerſeits kein Quartier geben, haben auch
den Anſpruch verwirkt, daß ihnen Quartier gewährt werde.


Am. 62.


582.

Auch wenn das Quartier mit Recht verweigert wird, ſo dürfen doch
Feinde, welche unfähig geworden ſind, Widerſtand zu leiſten oder bereits
in der Kriegsgefangenſchaft ſich befinden, nicht getödtet werden.


Am. 61. Vgl. oben § 501.


583.

Truppen, welche in der Uniform oder mit den Fahnen oder Flaggen
ihrer Feinde fechten ohne ehrliche und offenbare Kennzeichen ihrer Partei-
ſtellung dürfen kein Quartier erwarten.


Am. 63. 65. Zuweilen werden erbeutete Uniformen und Waffen vom Feinde
zur eigenen Bekleidung und Ausrüſtung benutzt. Darin liegt kein Unrecht. Es
kann das ſogar zur Nothwendigkeit werden. Aber es dürfen dieſe Uniformen doch
nicht zur Täuſchung im Kampfe ſelbſt mißbraucht werden; daher ſind in ſol-
chem Falle die eigenen Feldzeichen (z. B. beſondere Armbinden) anzulegen, damit die
Feinde ſich wechſelſeitig erkennen. (Vgl. oben § 565.)


584.

Die eigene noch ſo lebhafte Ueberzeugung, daß der Feind für eine
[325]Das Kriegsrecht.
offenbar ungerechte Sache kämpfe, begründet niemals das Recht, den feind-
lichen Truppen das Quartier zu verweigern.


Die Kriegsparteien ſind faſt immer und ſogar leidenſchaftlich der Meinung,
daß ſie ſelber für eine gerechte Sache und ihre Feinde für eine ungerechte
Sache ſtreiten. Sogar wenn ſie von Anfang an noch Zweifel haben, werden durch
die Steigerung der Parteileidenſchaft während des Kriegs dieſe Zweifel meiſtens ver-
drängt, und der Glaube an das eigene Recht und das Unrecht des Feindes oft bis
zum Fanatismus erhitzt. Das Völkerrecht vermuthet auf beiden Seiten guten
Glauben
und kann der Ueberzeugung der einzelnen Parteien durchaus nicht den
Einfluß verſtatten, daß die humanen und das Menſchenleben ſchonenden Grundſätze
des Völkerrechts zur Seite geſchoben, und ein Vernichtungskampf gegen die feind-
lichen Truppen geübt werde.


585.

Feindliche Perſonen, welche die Waffen ſtrecken und ſich dem Sieger
ergeben, ſind zu ſchonen und dürfen weder verwundet noch getödtet, wohl
aber entwaffnet und zu Kriegsgefangenen gemacht werden.


Vgl. oben § 533. 568. 579. Schon in dem uralten Indiſchen Geſetzbuch
Manus (VII. 91 f.) iſt die Pflicht anerkannt worden, den Feind, der ſich ergibt,
zu ſchonen. Aber dieſe milde Geſetzgebung ſteht im Alterthum noch ſehr vereinzelt
als ein Zeugniß des früh in Indien erwachten humanen Rechtsbewußtſeins. Die
Römer erklärten ihre Benennung der Sclaven „servi“ davon, daß den beſiegten
Feinden das verwirkte Leben geſchenkt worden ſei, und meinten, die Sclaverei aus
ſolcher Schonung zu rechtfertigen. (Florentinus Instit. IX. L. 4. de statu
hom.: „Servi ex eo appellati sunt, quod imperatores captivos vendere ac
per hoc servare nec occidere solent“.
) Im Mittelalter noch wurden die gefan-
genen Feinde wie eine gute Beute betrachtet und ihnen, wie das heute noch die
Italieniſchen Briganten thun, ein möglichſt hohes Löſegeld ausgepreßt. Erſt die
moderne Kriegsführung iſt geſitteter geworden und hat den alten humanen Grund-
ſatz der Feindesſchonung wieder zu Ehren gebracht. Man braucht nur die
Aeußerung von Hugo Grotius (Buch III. Cap. 4) mit denen von Vattel
(III. § 139 u. 140) zu vergleichen, um den großen Fortſchritt in der Humanität
wahrzunehmen, welcher vom ſiebzehnten bis zum achtzehnten Jahrhundert gemacht
worden iſt; und doch ſpricht Vattel noch von einem Recht über Leben und Tod des
Feindes, das wir heute als Barbarei verneinen.


586.

Die Krankenwagen (Ambulancen) und Militärſpitäler werden als
[326]Achtes Buch.
neutral anerkannt und demgemäß von den Kriegführenden geſchützt und
geachtet werden, ſo lange ſich Kranke oder Verwundete darin befinden.


Die Neutralität würde aufhören, wenn ſolche Ambulancen oder
Spitäler mit militäriſcher Macht beſetzt wären.


Erſter Artikel des am 22. Aug. 1864 zu Genf abgeſchloſſenen Vertrags,
um das Schickſal der Verwundeten im Krieg zu verbeſſern
. Den
Anſtoß zu dieſem Vertrag, einer der edelſten Errungenſchaften der fortſchreitenden
Humanität, gab eine Schrift des Genfer Arztes Dunant, unter dem Titel:
„Souvenir de Solferino“, worin er die entſetzlichen Eindrücke ſchilderte, welche der
Beſuch des Schlachtfeldes von Solferino und der Militärſpitäler auf ihn gemacht
hatte. Der Präſident der Genfer Gemeinnützigen Geſellſchaft, Moynier, nahm
den Gedanken, daß die Krankenwagen zu neutraliſiren ſeien, auf und
beide Menſchenfreunde wendeten ſich nun an mehrere Regierungen, um deren Auf-
merkſamkeit auf die wichtige Frage zu lenken. Ueberall bildeten ſich Vereine zu
freiwilliger Krankenpflege für die verwundeten Krieger
und zur
Unterſtützung der Verwundeten. Ein Jahrhundert früher ſchon, am
7. Sept. 1759, war zwiſchen Frankreich und Preußen ein Vertrag zu Stande
gekommen, nach welchem die verwundeten Krieger geſchont und verpflegt werden ſol-
len. Damals ſchon wurden die Spitäler als Aſyle bezeichnet, welche auch im
Kriege heilig zu achten ſeien. Eine internationale Verſammlung von Commiſſären
vieler Staten bildete nun, unter dem Vorſitz des Generals Dufour, den Gedanken
der Neutraliſirung weiter aus auf die ganze Pflege der Verwundeten
und umgab ihn mit ſchützenden Garantien. So kam jener Vertrag zu Stande,
welcher ſofort im Namen der Staten Baden, Belgien, Dänemark, Frank-
reich, Großbrittanien, Heſſen-Darmſtadt, Italien, Niederlande,
Portugal, Preußen, Sachſen, Schweden
und Norwegen, Schwerin,
Spanien, Vereinigte Staten
von Amerika und Würtemberg zuge-
ſtimmt wurde. Erſt nach dem deutſchen Kriege von 1866 trat Oeſterreich bei. Auch
Rußland hat nun 1867 ſeine Zuſtimmung erklärt. Man darf daher wohl dieſen
Vertrag als den allgemeinen Ausdruck des heutigen Völkerrechts bezeichnen.


587.

Das Perſonal der Spitäler und Ambulancen für die Aufſicht und
den Geſundheits-, Verwaltungs- und Krankentransportdienſt, ſowie die
Feldprediger haben, ſo lange ſie ihren Verrichtungen obliegen und Ver-
wundete aufzuheben oder zu verpflegen ſind, Theil an der Wohlthat der
Neutralität.


Genfer Vertrag Art. 2.


[327]Das Kriegsrecht.
588.

Die im vorgehenden Artikel bezeichneten Perſonen können auch nach
der Beſitznahme durch den Feind in den von ihnen beſorgten Spitälern
oder Ambulancen ihrem Amte obliegen oder ſich zu dem Corps zurück-
ziehen, dem ſie angehören.


Wenn dieſe Perſonen unter ſolchen Umſtänden ihre Verrichtungen
einſtellen, ſo ſind ſie den feindlichen Vorpoſten von Seite des den Platz
inne habenden (beſitzenden) Heeres zuzuführen.


Ebenda Art. 3.


589.

Das Material der Militärſpitäler unterliegt den Kriegsgeſetzen und
die denſelben zugetheilten Perſonen dürfen daher bei ihrem Rückzug nur
die ihr Privateigenthum bildenden Sachen mitnehmen.


Dagegen verbleibt den Ambulancen unter gleichen Umſtänden ihr
Material.


Ebenda Art. 4.


590.

Die Landesbewohner, welche den Verwundeten zu Hülfe kommen,
ſollen geſchont werden und frei bleiben. Die Generale der kriegführenden
Mächte ſind verpflichtet, die Einwohner von dem an ihre Menſchlichkeit
ergehenden Rufe und der daraus folgenden Neutralität in Kenntniß zu
ſetzen.


Jeder in einem Hauſe aufgenommene und verpflegte Verwundete
ſoll dieſem als Schutz dienen. Wer Verwundete bei ſich aufnimmt, ſoll
mit Truppeneinquartierungen und theilweiſe mit allfälligen Kriegscontri-
butionen verſchont werden.


Ebenda Art. 5.


591.

Die verwundeten oder kranken Krieger ſollen, gleichviel welchem
Volke ſie angehören, aufgehoben und verpflegt werden.


[328]Achtes Buch.

Den Feldherren ſoll geſtattet ſein, die während des Kampfes Ver-
wundeten ſofort den feindlichen Vorpoſten zu übergeben, wenn die Um-
ſtände es erlauben und beide Theile zuſtimmen.


Diejenigen, welche nach ihrer Geneſung dienſtuntüchtig befunden
werden, ſind heimzuſchicken.


Die andern können ebenfalls nach Hauſe entlaſſen werden unter der
Bedingung, daß ſie für die Dauer des Krieges die Waffen nicht mehr
tragen.


Die Evacuationen und das ſie leitende (beſorgende) Perſonal wer-
den durch unbedingte Neutralität geſchützt.


Ebenda Art. 6.


592.

Eine auszeichnende und überall gleiche Fahne wird für die Spitäler,
Ambulancen und Evacuationen angenommen. Ihr ſoll unter allen Um-
ſtänden die Landesfahne zur Seite ſtehen.


Deßgleichen wird für das neutraliſirte Perſonal ein Armband zu-
gelaſſen, deſſen Verabfolgung jedoch der Militärbehörde überlaſſen bleibt.


Fahne und Armband tragen das rothe Kreuz auf weißem Grund.


Ebenda Art. 7.


593.

Die ſiegende Kriegsgewalt iſt berechtigt, Kriegsgefangene zu machen.


Die moderne Kriegsgefangenſchaft hat einen durchaus andern Charakter als
die antike und ſelbſt die mittelalterliche. Der Grundgedanke der antiken Kriegs-
gefangenſchaft war die Sclaverei, wenn nicht gar die Abſicht des Siegers, mit
den Gefangenen im Triumphzuge zu prunken und ihre Führer ſchließlich aus Rache
dem Tode zu weihen; das Mittelalter betrachtete die Gefangenen entweder als ein
Mittel, Löſegelder zu erpreſſen, oder geradezu als Gegenſtand der perſön-
lichen Rache. Das moderne Kriegsrecht ſieht in der Kriegsgefangenſchaft vorzüglich
ein Mittel, die feindliche Kriegsmacht zu ſchwächen und den Sieg
zu ſichern
.


594.

In der Regel ſind alle feindlichen Perſonen der Kriegsgefangenſchaft
[329]Das Kriegsrecht.
ausgeſetzt, friedliche Bewohner in Feindesland aber nur ausnahmsweiſe,
inſofern ſolches die Sicherheit des kriegführenden Heeres oder des krieg-
führenden States erfordert.


1. Am. 49. Weil nur diejenigen Perſonen, welche am Kriege thätigen An-
theil
nehmen, verhindert werden ſollen, die feindliche Macht zu verſtärken, ſind zunächſt
nur die Glieder des feindlichen Heereskörpers und voraus die Kämpfer der Kriegsgefan-
genſchaft ausgeſetzt, nicht aber die friedlichen Perſonen. Der obige Unterſchied zwiſchen
feindlichen und friedlichen Perſonen kommt hier wieder zur Wirkung.
Früher war man ſich deſſen weniger bewußt. Noch Vattel (III. § 148) erklärt
es zwar für eine löbliche Sitte der neueren Kriegsführer, daß ſie mindeſtens
Weiber und Kinder nicht mehr zu Kriegsgefangenen machen. Aber er meint,
das Recht der Generale, die Kriegsgefangenſchaft auf alle Angehörige des Feindes,
auch auf die friedlichſten Claſſen, zu erſtrecken, ſei nicht zu bezweifeln. Man würde
einen General, der ohne Grund, aus Laune die ganze Bevölkerung kriegsgefangen
machte, wohl für einen harten und rohen Mann halten, aber er würde das Völker-
recht nicht verletzen. Seither iſt aber die Sitte feſter und das Recht ſelbſt humaner
geworden. Jeder unnöthige und launenhafte Angriff auf die perſönliche
Freiheit, jede unbegründete Knechtung friedlicher Menſchen iſt eine Verletzung
des natürlichen Menſchen- und des humanen Völkerrechts.


2. Allerdings ſind auch ſolche Perſonen, welche nicht zum Heere gehören,
und im übrigen einem friedlichen Berufe leben, dann der Kriegsgefangenſchaft aus-
geſetzt, wenn ihre Freiheit zu einer Gefahr wird für die Kriegspartei, welche an dem
Orte die Macht hat. Dieſe iſt berechtigt, z. B. feindlich geſinnte Journa-
liſten
und Parteiführer ebenſo zu Kriegsgefangenen zu machen, wie feindliche
Officiere, weil ſie wie dieſe die Macht des Feindes ſtärken und vergrößern, oder der
herrſchenden Kriegsmacht Schwierigkeiten und Verlegenheiten bereiten. Die offenbar
activ-feindliche Geſinnung gibt Anlaß und Grund, ſich dieſer Feinde zu
bemächtigen. Vgl. zu § 596.


595.

Die Nichtkämpfer im Heere und ſelbſt ſolche Perſonen, welche ſich
dem Heere anſchließen, ohne dazu zu gehören, Berichterſtatter, Correſpon-
denten von Zeitungen, Lieferanten, können zu Kriegsgefangenen werden,
wenn ſich der Truppenkörper ergibt, an den ſie ſich angeſchloſſen haben,
oder ſie auf der Verfolgung ergriffen werden.


Am. 50. Indem ſich dieſe Perſonen dem Heereskörper anſchließen, werden
ſie in die Gefahren desſelben verwickelt, und können ſich nicht beſchweren, wenn ſie
wenigſtens vorläufig — als feindliche Perſonen betrachtet und
kriegsgefangen gemacht werden. Ein Grund aber, ſie als Kriegsgefangen zu be-
[330]Achtes Buch.
halten — (der Amerikaniſche Art. 50 geſteht der Kriegsmacht auch dieſes
Recht zu) — iſt doch nur dann vorhanden, wenn ihre Gefangenſchaft die Macht des
Feindes verſtärkt, oder mit ihrer Freigebung eine Gefahr für die Kriegsmacht ver-
bunden iſt. Jenes wird durchweg der Fall ſein, wenn Verpflegungsbeamte
der feindlichen Armee gefangen werden, dieſes zuweilen auch, wenn fremde Be-
richterſtatter
gefangen werden.


596.

Die Eigenſchaft einer ſouveränen oder diplomatiſchen Perſon befreit
nicht von der Gefahr der Kriegsgefangenſchaft, wenn dieſelben zu der
feindlichen Macht gehören oder Bundesgenoſſen derſelben ſind, oder wenn
dieſelben an der Kriegsführung ſich perſönlich betheiligt haben.


Am. 50. Die Kriegsgefangenſchaft des feindlichen Souveräns oder
des feindlichen Miniſters des Aeußern iſt meiſtens ein ſehr förderliches
Mittel, um eher einen günſtigen Frieden zu ſchließen. Ein Grund, dieſe Perſonen
von den Gefahren des Krieges zu befreien, iſt nicht vorhanden. Im Gegentheil, da
ſie gewöhnlich den Krieg verſchuldet oder doch entſchieden haben, ſo ziemt es ſich,
daß die Verantwortlichkeit des Kriegs vorzugsweiſe auf ihnen laſte und ſie die Ge-
fahren desſelben mit beſtehen. In ähnlicher Weiſe ſind auch die politiſchen
Regenten
und Führer der einzelnen Provinzen und Kreiſe eher der Gefahr
ausgeſetzt, zu Kriegsgefangenen gemacht zu werden, als die friedlichen Verwal-
tungsbeamten, Richter, Gemeinderäthe
.


597.

Wenn die Bevölkerung ſich in Maſſe zur Vertheidigung ihres
Landes erhebt, ſo wird dieſelbe als feindlich behandelt und kann kriegs-
gefangen werden.


Am. 51. Es gilt das überhaupt von jeder geordneten activen Theilnahme
durch die Bürger an der Kriegsführung. Die bethätigte Parteinahme zer-
ſtört die Eigenſchaft der Friedlichkeit und verwandelt die friedlichen Bürger in feind-
liche Perſonen.


598.

Kein Befehlshaber iſt zu der Drohung berechtigt, daß er die nicht
uniformirten Landſtürmer als Räuber behandeln werde.


Wenn aber eine feindliche Gegend von der Kriegsgewalt eingenommen
und beſetzt iſt, ſo gilt während dieſes Beſitzes ein Aufſtand als Verletzung
des Kriegsrechts und kann ſtrafrechtlich behandelt werden.


[331]Das Kriegsrecht.

1. Am. 52. Der Landſturm iſt in ſeinem Recht, wenn er ſich zur Ver-
theidigung des Landes erhebt. Er ſteht dann unter den Befehlen ſeiner Regierung
und ihrer Kriegsgewalt. Landſtürmer ſind dann, wie die Soldaten des ſtehenden
Heeres und der Landwehr, als feindliche Perſonen zu behandeln und können
kriegsgefangen werden. Das Kriegsrecht, nicht das Strafrecht, findet auf ſie An-
wendung.


2. Aber anders iſt es, wenn innerhalb des vom Feinde eingenommenen Ge-
bietes die Landſtürmer ſich gegen die Kriegsgewalt erheben, denn dieſe iſt, ſo lange
ſie im Beſitz des Gebietes iſt, als ermächtigt anzuſehn, die öffentliche Gewalt in
demſelben auszuüben. Sie kann daher einen Aufſtand nicht bloß wie einen feind-
lichen Widerſtand kriegeriſch bewältigen, ſondern die Schuldigen ſtrafrechtlich verfol-
gen. Das gilt auch von Aufſtänden im Rücken eines fortſchreitenden
Heeres
. Allerdings kann die Volkserhebung ſo groß werden, daß ſie die Grenzen
des Strafrechts überſchreitet, und eine neue kriegeriſche Macht ſchafft. Dann
kommen die obigen Grundſätze von § 512 zur Anwendung. Freilich ſind die
Kriegsmächte nicht immer geneigt, dieſe Milderung zuzugeſtehn. Indeſſen die öffent-
liche Meinung hat doch mit gutem Grund ſchon zur Zeit eines weniger humanen
Kriegsrechts es gemißbilligt, daß die franzöſiſchen Revolutionsheere gefangene Auf-
ſtändiſche in der Vendée und Napoleon I. den Tyrolerführer Andreas Hofer
ſtrafrechtlich haben erſchießen laſſen.


599.

Geiſtliche, Aerzte, Apotheker, Heilgehülfen dürfen, wenn ſie nicht am
activen Kampfe Theil nehmen, nicht zu Kriegsgefangenen gemacht werden,
es wäre denn, daß ſie verlangten, die Kriegsgefangenſchaft mit ihren
Truppen zu theilen, oder die Unterſtützung dieſer durch jene als nothwendig
erſcheint. Indeſſen ſind ſie auch in dieſen Ausnahmsfällen um ihres
friedlichen Berufes willen im Dienſte der Menſchheit mit möglichſter Scho-
nung und Rückſicht zu behandeln.


Am. 53. Vgl. oben § 587. 588. Die Neutraliſirung dieſer Per-
ſonen
bildet die Regel, aber ſie findet doch in den Bedürfniſſen der Verwundeten
und Kranken ſelbſt eine Grenze. Wenn die feindlichen Aerzte nach einer Niederlage
das Schlachtfeld verlaſſen wollten, wo vielleicht Hunderte von Verwundeten in Noth
ſind und dringend nach Hülfe ſchreien, ſo darf der Heerführer, in deſſen Gewalt ſie
gerathen, ihnen wohl zumuthen und ſie nöthigenfalls mit Gewalt dazu anhalten,
daß ſie ſich ihrer Pflicht nicht während der höchſten Noth entziehn. Immer aber
iſt ihnen möglichſt bald wieder volle Freiheit zu gewähren.


600.

Die Geiſeln, welche von dem feindlichen State oder der feindlichen
[332]Achtes Buch.
Bevölkerung geſtellt oder von der Kriegsgewalt aus dringenden Gründen
der Sicherheit genommen werden, ſind den Kriegsgefangenen ähnlich in
ihrer freien Bewegung gehemmt. Indeſſen wird der Entzug oder die Be-
ſchränkung ihrer Bewegungsfreiheit durch die Rückſicht auf den Zweck
näher beſtimmt und begrenzt, um deſſen willen die Geiſeln gegeben oder
genommen ſind.


Am. 54. Geiſeln (vgl. oben § 426) werden zuweilen während des Kriegs
gegeben in der Abſicht, für eine übernommene Leiſtung, z. B. für Bezahlung
einer Kriegscontribution, für Ueberlieferung eines feſten Platzes Sicherheit zu ge-
währen. Sie werden aber auch zuweilen genommen, um Sicherheit zu gewinnen
vielleicht für die Ruhe einer eingenommenen Stadt oder Gegend. Vorzugsweiſe
werden dann angeſehene Perſonen als Geiſeln verwendet, weil nur dieſe theils
durch ihren Einfluß auf die Bevölkerung, theils um der Rückſicht willen, welche die-
ſelbe auf jene Perſonen zu nehmen pflegt, eine perſönliche Gewähr zu geben im
Stande ſind. Solche Geiſeln ſind im weſentlichen nicht anders zu behandeln, als
die Friedensgeiſeln, nur wird eine größere Sorgfalt darauf zu nehmen ſein,
daß ſie ſich nicht der feindlichen Gewalt durch die Flucht entziehen.


601.

Kriegsgefangene ſind nicht Strafgefangene, ſondern Sicherheits-
gefangene. Sie dürfen nicht mißhandelt, noch gequält, noch zu unwürdigen
Handlungen gezwungen werden.


1. Am. 56. 75. Die feindlichen Perſonen haben rechtmäßig gehan-
delt
, als ſie am Kriege Theil genommen hatten, indem ſie dazu von Seite ihrer
Statsgewalt beauftragt oder ermächtigt waren. Sie dürfen daher von dem Sieger
nicht ſtrafrechtlich verfolgt werden. Kriegsgefangene werden ſie nur aus potitiſchen
und militäriſchen, nicht aus ſtrafrechtlichen Gründen. Eben deßhalb iſt es nicht
bloß barbariſch und grauſam, eines civiliſirten States nicht würdig, die Kriegs-
gefangenen zu mißhandeln, ſondern auch widerrechtlich, denn jede ungerecht-
fertigte Gewalt
, die gegen Andere geübt wird, iſt wider das Recht.


2. Schon auf dem Transport ſind daher die Kriegsgefangenen vor der Beleidi-
gung des vielleicht feindlich aufgeregten Pöbels zu ſchützen. Dann ſind ſie — wo
möglich — in feſten Plätzen, aber nicht in eigentlichen Gefängniſſen, unterzu-
bringen. Als die franzöſiſchen Gefangenen noch in den Jahren 1812 u. 1813 von
Rußland wie Verbrecher nach Sibirien transportirt wurden, war das eine Maß-
regel, welche der ältern Kriegspraxis wohl erlaubt ſcheinen mochte, aber dem heuti-
gen Rechtsbewußtſein nicht mehr entſpricht. Ebenſo war das Verfahren, welches
während des nordamerikaniſchen Bürgerkriegs in einem ſüdſtatlichen Gefängniß gegen
Kriegsgefangene der Union gehandhabt wurde, indem die Leute an Luft und Nah-
[333]Das Kriegsrecht.
rung heftigen Mangel litten und überdem noch roh behandelt wurden, wider das
Völkerrecht.


602.

Perſonen, welche wegen eines vor ihrer Kriegsgefangenſchaft ver-
übten Vergehens der Strafgerichtsbarkeit des Nehmeſtats unterworfen ſind,
können auch nachher von dem Gerichte verfolgt und beſtraft werden.


Am. 59. Die Kriegsgefangenſchaft macht natürlich nicht frei von der ohnehin
begründeten Verantwortlichkeit für Vergehen und Verbrechen, welche vor der Kriegs-
gefangenſchaft verübt worden ſind. Wenn z. B. Jemand, der zuvor in dem Nehme-
ſtat Werthpapiere unterſchlagen oder geſtohlen hatte, ſpäter Kriegsgefangener wird,
ſo wird er ebenſo der Verfolgung des Strafgerichts überliefert, wie wenn er in
dem eingenommenen State vorher einen gemeinen Mord begangen hatte.


603.

Die Kriegsgefangenen ſind nicht Gefangene des Individuums, dem
ſie ſich ergeben haben, ſondern des States. Sie können daher auch nicht
von jenem losgekauft und freigelaſſen werden, ſondern nur vom State.


Am. 74. Die Kriegsgefangenſchaft iſt Kriegsmittel des Stats, und
nicht Machtübung der Einzelnen. Sie beſteht nur zu Statszwecken, und nicht
zur Befriedigung von Privatintereſſen und Privatleidenſchaften. Daher kann nur
der Stat darüber verfügen. Die Kriegsgefangenen ſind abzuliefern an das Com-
mando, welches ordnungsmäßig und kraft ſeines Amts über das weitere Schickſal
derſelben entſcheidet.


604.

Kriegsgefangene ſind der Eingrenzung in eine Feſtung oder eine
Stadt oder einen anderen Ortsumfang und ſogar, wenn nöthig, dem Ge-
fängniſſe unterworfen, ſoweit die Intereſſen ihrer Sicherung es erfordern.


Am. 75. Das leitende Motiv der Eingrenzung darf nie das ſein, den
Kriegsgefangenen ein Leiden zuzufügen, ſondern immer nur das politiſch-mili-
täriſche
, dieſelben einſtweilen von der Theilnahme am Kampf fern zu halten und
durch den Gewahrſam, in dem ſie gehalten werden, den eigenen Sieg und einen
günſtigen Frieden zu fördern. Officieren, welche ſich auf Ehrenwort erklären, keinen
Fluchtverſuch zu machen, wird daher oft die Freiheit verſtattet, beliebig in einer
Stadt zu wohnen und ſich ſogar in der Umgegend frei zu bewegen. Die Feſthaltung
[334]Achtes Buch.
in einem Gefängniß iſt eine extreme Maßregel, zu welcher man insbeſondere
gegen ſolche Kriegsgefangene berechtigt iſt, welche ſich derſelben durch die Flucht
hatten entziehen wollen. Vgl. zu § 601.


605.

Der Nehmeſtat iſt verpflichtet, für die Ernährung und für die Ge-
ſundheit der Kriegsgefangenen ſoweit nöthig zu ſorgen.


Vgl. oben zu 601. Die Art der Ernährung wird durch die Landes-
und Volksſitte beſtimmt.


606.

Soweit die Kriegsgefangenen aus eigenen Mitteln für ihren Lebens-
unterhalt zu ſorgen im Stande ſind, iſt der Stat nicht dazu verpflichtet.


Sie können ihr mitgebrachtes Geld dazu verwenden oder ihren Credit benutzen.
Die Verpflichtung des Stats, ſie zu ernähren, beruht nicht auf einer Unterſtützungs-
pflicht an ſich, ſondern darauf, daß er das vermeintliche Recht über Leben und Tod
nicht hat, ſondern verpflichtet iſt, ihr Leben zu erhalten, für deſſen Unterhalt
ſie wegen der Gefangenſchaft außer Stande ſind, ſelber zu ſorgen.


607.

Die Kriegsgefangenen müſſen ſich allen den Anordnungen fügen,
welche der Nehmeſtat im Intereſſe ihrer ſichern Verwahrung für nöthig
erklärt.


Sie dürfen wohl gegen läſtige und unpaſſende Anordnungen der nähern Auf-
ſicht je an die übergeordnete Stelle Beſchwerde führen und auch ihre Wünſche
äußern
. Aber Widerſetzlichkeit kann nicht geduldet, ſondern muß ſofort unter-
drückt werden, wenn nicht für den Stat und ſeine Kriegsführung daraus ernſte
Gefahren und Nachtheile entſtehen ſollen.


608.

Dieſelben können auch inzwiſchen zu Arbeiten angehalten werden,
welche ihren bürgerlichen Verhältniſſen und ihrem Range angemeſſen er-
ſcheinen. Aber niemals dürfen ſie zur Theilnahme an dem Waffenkampf
zu Gunſten des Nehmeſtates angehalten werden. Auch dürfen ſie nicht
gezwungen werden, irgend welche Aufſchlüſſe zu geben oder Mittheilungen
[335]Das Kriegsrecht.
zu machen, welche die Intereſſen des States gefährden, welchem ſie gedient
haben.


Am. 76. 80. Die Verwendung zu angemeſſenen und verhältniß-
mäßigen Arbeiten
dient als Erſatz für die Koſten, welche der Stat auf den
Unterhalt der Kriegsgefangenen auszulegen genöthigt iſt. Es iſt das dem Weſen
nach nicht Strafarbeit, ſondern Erſatzarbeit. Die bona fides, welche die
Staten einander ſchulden, erfordert, daß man auch den Kriegsgefangenen nichts Un-
würdiges zumuthe; und moraliſch unwürdig wäre es, ſie zum Kampf wider ihr
Vaterland und ihre Stats- und Kriegsgenoſſen zu zwingen. Dagegen hat die
Arbeit an Feſtungsbauten, während der Kampf noch fern iſt, nicht dieſen Charakter
unmittelbarer Feindſeligkeit. Dazu können daher Kriegsgefangene wohl angehalten
werden. Vgl. oben § 576.


609.

Ein Kriegsgefangener, welcher entſpringt, kann bei der Verfolgung
auf der Flucht getödtet, aber er darf nicht, wenn er wieder eingefangen
wird, wegen des Fluchtverſuchs geſtraft werden.


1. Am. 77. Die Kriegsgefangenſchaft wird durch einen Act der feindlichen
Kriegsgewalt begründet, welche ihre Ueberlegenheit bewährt. Es iſt ein Unglück,
kriegsgefangen zu werden, aber es iſt kein Unrecht, ſich der Gefangenſchaft wie-
der zu entziehn, denn das heißt nur, die natürliche Freiheit wieder erwerben und
einer Demüthigung entgehn.


2. Flüchtige Kriegsgefangene können freilich wieder mit Gewalt ver-
folgt werden. Wenn die Flucht vereitelt und ſie wieder eingebracht werden, dann
iſt eine ſtrengere Bewachung, nach Umſtänden eine engere Einſchließung wohl
gerechtfertigt, aber nicht die Beſtrafung derer, welche kein Vergehen begangen, ſondern
nur einen menſchlich untadelhaften und kriegsrechtlich erlaubten
Verſuch gemacht haben, die verlorene Freiheit wieder zu gewinnen.


610.

Eine Verſchwörung unter den Kriegsgefangenen zu allgemeiner Be-
freiung kann wegen ihrer Gefährlichkeit kriegsgerichtlich beſtraft werden.
Ebenſo ein Complot unter den Kriegsgefangenen zum Aufruhr gegen die
beſtehenden Autoritäten. Sogar die Todesſtrafe iſt in ſchwereren Fällen
der Art gerechtfertigt.


Am. 77. Die Kriegsgefangenen ſind feindliche Perſonen, welche nur der
Uebergewalt ſich fügen. Jede gemeinſame Auflehnung derſelben iſt daher
[336]Achtes Buch.
von äußerſter Gefährlichkeit. Sowohl kriegeriſche als ſtrafrechtliche Mittel können
hier angewendet werden, um die Gefahr zu bewältigen. Werden die empörten
Kriegsgefangenen von Bewaffneten umſtellt und für den Fall, daß ſie nicht ſofort
zum Gehorſam zurückkehren, mit Erſchießen bedroht, ſo iſt das Erneuerung des
Kampfs, eine kriegeriſche oder, wenn man will, eine policeiliche Maß-
regel
, nicht Juſtiz. Aber die Gefährlichkeit ſolcher Verſchwörungen und Aufſtände
rechtfertigt auch ein ſtrafgerichtliches Einſchreiten der Kriegsgerichte.


611.

Wenn es einzelnen Kriegsgefangenen oder auch den Kriegsgefangenen
insgeſammt gelingt, zu entkommen und dieſelben Perſonen ſpäter wieder
kriegsgefangen werden, ſo können ſie wegen der frühern Flucht nicht ge-
ſtraft werden.


Am. 78. Sie können wohl ſorgfältiger verwahrt werden. Vgl. oben zu 604.


612.

Die Auswechslung der Kriegsgefangenen während des Krieges iſt
Sache der freien Convenienz der kriegführenden Staten. Ohne vorherigen
Vertrag iſt kein Stat verpflichtet, dieſelbe zu gewähren. Auch eine vor-
herige Verabredung verliert ihre Verbindlichkeit, wenn der andere Paciſcent
dieſelbe verletzt hat.


Am. 109. Das wechſelſeitige Intereſſe der beiden kriegführenden Parteien
beſtimmt dieſelben, zumal bei lange dauernden Kriegen, wohl, die beiderſeitigen
Kriegsgefangenen gegen einander auszuwechſeln. Sie vermindern dadurch die
Laſten der Unterhaltung und Bewachung, und verlieren nichts dabei, denn die Vor-
theile, welche eine Kriegspartei der andern gegenüber von dem Beſitze von Kriegs-
gefangenen erwartet, können erſt beginnen, wenn die eine Partei mehr Kriegs-
gefangene beſitzt, als die andere. Soweit ſich beide gleichſtehen, werden die Vor-
theile des Beſitzes aufgewogen und nur die Nachtheile bleiben beiderſeits. Aber eine
Pflicht, die Gefangenen umzutauſchen, beſteht nicht. Vielmehr bedarf es einer beſon-
dern Verſtändigung beider Parteien, um die Auswechslung vorzunehmen.


613.

Im Zweifel iſt anzunehmen, daß die Auswechslung Mann für
Mann, Rang für Rang, Verwundete für Verwundete gemeint ſei und daß
die Entlaſſenen wechſelſeitig für die Dauer des gegenwärtigen Krieges nicht
mehr zu Kriegsdienſten verwendet werden.


[337]Das Kriegsrecht.

Am. 105. Der Grundſatz der Gleichwerthung (Parität) entſpricht dem
natürlichen Rechtsſinn, welcher die feineren und beſtreitbaren Unterſchiede nicht be-
achtet wiſſen will. Es ſind daher auch Linienofficiere den Landwehroffi-
cieren
, und die Soldaten der verſchiedenen Waffengattungen einander gleich zu
ſtellen. Die Zeitfriſt, während welcher die Entlaſſenen nicht mehr am Kampfe Theil
nehmen dürfen, kann durch Vertrag näher beſtimmt werden. Gewöhnlich wird die-
ſelbe auf die Dauer des gegenwärtigen Kriegs beſchränkt und deßhalb darf das im
Zweifel als die Meinung der Partei vermuthet werden.


614.

Für Gefangene von höherem Rang werden in Ermanglung von
gegneriſchen Gefangenen desſelben Ranges je nach der Verabredung eine
Anzahl Gefangener von geringerem Range ausgewechſelt.


Am. 106. Die Schätzung iſt freilich ſehr willkürlich, ſie iſt aber nicht zu
entbehren, wenn der Zweck des gleichmäßigen Austauſches von Gefangenen er-
reicht werden ſoll. Das Nähere wird gewöhnlich durch Cartelverträge beſtimmt,
welche von den feindlichen Regierungen oder Befehlshabern abgeſchloſſen werden.


615.

Die Kriegsgefangenen haben die Ehrenpflicht, ihren wirklichen Rang
anzumelden und weder einen niedrigeren Rang in der Abſicht anzugeben,
ihrem State bei der Auswechslung einen Vortheil zuzuwenden, noch einen
höheren Rang zu behaupten, um eine beſſere Verpflegung zu erhalten.
Verletzungen dieſer Pflicht können beſtraft und eine gerechte Urſache werden,
die Entlaſſung ſolcher Gefangenen zu verweigern.


Am. 107. Der Nehmeſtat iſt jedenfalls berechtigt, eine derartige Täuſchung
disciplinariſch oder ſtrafrechtlich zu ahnden. Aber auch der heimiſche Commandant
kann den Untergebenen nach der Entlaſſung zur Verantwortung ziehen und beſtrafen.
Freilich wird der letztere weniger dazu veranlaßt ſein, wenn die Täuſchung in der
Angabe eines geringern Ranges, als wenn ſie in der Anmaßung eines höhern
Ranges beſtanden hatte.


616.

Die Ueberzahl von entlaſſenen Gefangenen mag durch ein entſpre-
chendes Löſegeld oder andere Gegenleiſtungen ausgeglichen werden. Solche
Verabredungen bedürfen aber im Zweifel der Genehmigung der oberſten
Autoritäten.


Bluntſchli, Das Völkerrecht. 22
[338]Achtes Buch.

Am. 108. Zu Gegenleiſtungen dient unter Umſtänden die Lieferung von
Nahrungsmitteln oder Kleidungsſtücken beſſer noch als Geld. Unter der oberſten
Autorität iſt aber nicht nothwendig die Statsregierung, ſondern auch der Höchſt-
commandirende der betreffenden Armee zu verſtehen.


617.

Kriegsgefangene können nach Umſtänden auch auf Ehrenwort ent-
laſſen werden.


Am. 119.


618.

Ehrenwort (Parole) bedeutet die Einſetzung der perſönlichen Ehre
und der ehrlichen Treue, die verſprochene Zuſage zu erfüllen, mit Rückſicht
auf welche die Entlaſſung gewährt iſt.


Am. 120.


619.

Die Abgabe des Ehrenworts iſt zwar ein individueller aber kein
bloßer Privatact, ſondern gehört dem öffentlichen Rechte an.


Am. 121. Der Gefangene kann nur ſein individuelles Wort geben
und nur ſeine perſönliche Ehre verpfänden. Inſofern iſt das eine individuelle
That; aber doch nicht ein Privatgeſchäft, denn er kann es wieder nur als Kriegs-
gefangener thun, d. h. aus einem völker- und kriegsrechtlichen Zuſtande heraus und
in der Abſicht dieſen zu löſen. Inſofern hat ſchon die Erklärung eine öffentlich-
rechtliche
Bedeutung. Noch entſchiedener tritt dieſe Bedeutung hervor in der
Annahme der Erklärung von Seite der Statsmacht und in der Entlaſſung
aus der Gefangenſchaft.


620.

Kein Kriegsgefangener kann zur Ertheilung des Ehrenworts gezwun-
gen werden und keine Regierung iſt verpflichtet, Kriegsgefangene auf Ehren-
wort hin frei zu geben. Die Kriegspartei kann aber durch eine allgemeine
Verordnung erklären, ob und unter welchen Bedingungen ſie Gefangene
auf Ehrenwort entlaſſen werde.


[339]Das Kriegsrecht.

Am. 132. 133. Aehnlich verhält es ſich mit der Ertheilung einer be-
ſchränkten Freiheit
an die Kriegsgefangenen, mit Bezug auf ihr Ehrenwort,
daß ſie dieſelbe nicht zur Flucht mißbrauchen werden. Einem gefangenen Officier
kann ſo verſtattet werden, in einer Stadt frei zu leben auf ſein Ehrenwort hin,
daß er den Umkreis derſelben nicht verlaſſen werde. Weigert er ſich, das Ehrenwort
zu geben, ſo iſt der Nehmeſtat veranlaßt und berechtigt, ihn in ſichern Gewahrſam
zu bringen.


621.

Soldaten können das Ehrenwort nur durch Vermittlung ihrer Of-
ficiere und auch dieſe nur mit Genehmigung ihres oberſten Officiers geben,
der zur Stelle iſt.


Am. 126. 127. Weil das ganze Verhältniß eine politiſche und vorzüg-
lich militäriſche Bedeutung hat, ſo bedarf es der Ermächtigung eines Officiers,
dem ein Commando übertragen iſt und darf nur, wenn ein ſolcher nicht da iſt, von
einem andern Officier eingegangen werden. Wenn kein Officier da iſt, dann freilich
können die Soldaten auch auf ihr perſönliches Ehrenwort hin entlaſſen werden.
Die Soldatenehre iſt nicht auf die Officiere beſchränkt. Wie man dem Eide der
Soldaten vertraut, ſo kann man auch ihrem Ehrenwort vertrauen. Aber die Sitte
des Ehrenworts beſchränkt ſich gewöhnlich auf die höher gebildeten Claſſen, und in-
ſofern kann es Bedenken haben, dasſelbe bei gemeinen Soldaten, ohne Officier,
zuzulaſſen.


622.

Während der Schlacht iſt die Entlaſſung auf Ehrenwort nicht zu-
läſſig und unwirkſam.


Am. 128. Wohl können ſich während der Schlacht Truppentheile als Kriegs-
gefangene ergeben, aber die Löſung des Verhältniſſes auf Ehrenwort hin wird als
der Kriegsſitte zuwider betrachtet. Das amerikaniſche Statut geht weiter. Es er-
klärt auch die Entlaſſung ganzer Truppenkörper nach der Schlacht auf Ehrenwort
für unzuläſſig und unverbindlich, und ebenſo die allgemeine Entlaſſung einer Menge
Gefangener mit der bloßen Erklärung, daß ſie auf Ehrenwort entlaſſen ſeien. Es
bedarf vielmehr eines beſondern perſönlichen Acts.


623.

Die gewöhnliche Einſetzung des Ehrenworts hat den Sinn, daß der
auf Ehrenwort Entlaſſene während des Kriegs nicht mehr gegen den ent-
laſſenden Stat kämpfen werde, außer es wäre für ihn ſpäter ein anderer
22*
[340]Achtes Buch.
Kriegsgefangener ausgewechſelt worden und in Folge deſſen das Recht der
Auswechslung maßgebend geworden.


Am. 130. Auch bei der Auswechslung kann dieſelbe Beſtimmung des
Nichtdienens verabredet oder auch ohne Verabredung gemeint ſein. Vgl. § 612.
Es ſind aber auch entgegengeſetzte Verabredungen möglich, in Folge deren die aus-
gewechſelten Gefangenen wieder in die Reihen der Armee eintreten dürfen.


624.

Das Verſprechen bezieht ſich nur auf den activen Felddienſt gegen die
entlaſſende Kriegspartei und ihre Bundesgenoſſen, nicht auf den innern
Militärdienſt und nicht auf civile oder diplomatiſche Dienſtleiſtungen, auch
nicht auf das Fechten wider andere Feinde.


Am. 130. Nur das Fechten wider die Kriegspartei gilt als Treu-
bruch und als ſtrafbarer Mißbrauch der zurückgegebenen Freiheit. Die auf Ehren-
wort entlaſſenen Officiere können aber zum Einexercieren von Rekruten,
oder zu Befeſtigungs- oder Bureauarbeiten verwendet werden, ohne daß
darin ein Treubruch erkannt wird.


625.

Ein Officier, welcher dem Ehrenwort zuwider gegen die entlaſſende
Kriegspartei ficht, kann um dieſes Treubruches willen, wenn er neuerdings
in die Gewalt derſelben geräth, kriegsgerichtlich geſtraft und ſogar zum
Tode verurtheilt werden.


Am. 130. Es iſt das ein ſchweres Vergehen gegen den Stat, der ihn frei-
gelaſſen hat, aber auch vor dem Ehrgefühl der eigenen Truppen nicht zu rechtfer-
tigen. Werden ſolche wortbrüchige Officiere wieder ergriffen, ſo können ſie vor
ein Kriegsgericht geſtellt und von dieſem verurtheilt werden. Freilich wenn der
Krieg zu Ende kommt, dann hört auch das Recht zur Verfolgung und Beſtrafung
ſolcher Verletzungen des Kriegsrechts auf. Man darf im Frieden nicht wieder auf
ſolche Straffälle zurückgreifen.


626.

Wenn die Regierung, welcher der auf Ehrenwort entlaſſene Officier
angehört, das Verſprechen nicht billigt, ſo iſt derſelbe verpflichtet, ſich wie-
der zur Kriegsgefangenſchaft zu ſtellen. Nimmt ihn der Feind nicht mehr
[341]Das Kriegsrecht.
als Gefangenen an, ſo iſt er von ſeiner Zuſage befreit und des Ehren-
wortes entbunden.


Am. 131. Er darf nicht etwa, geſtützt auf die Nichtgenehmigung, ſich als
thatſächlich frei betrachten und in ſeinen Truppenkörper wieder eintreten, ſondern er
muß ſich, da die Entlaſſung unwirkſam geworden iſt, nun wieder als Kriegs-
gefangenen
betrachten und ſich dem Feind wieder ſtellen. Nur dieſer
kann ihm die Freiheit wieder geben; ſie zu nehmen iſt Treubruch am Ehrenwort.


6. Verfahren gegen Deſerteure und Ueberläufer, Spione, Kriegs-
verräther, Wegeführer, Räuber, Marodeurs, Kriegsrebellen.


627.

Deſerteure, die wieder eingebracht werden, oder Ueberläufer zum
Feinde, welche wieder gefangen werden, ſind der ſtrafgerichtlichen Behand-
lung des Kriegsrechts unterworfen und können mit dem Tode beſtraft
werden.


Am. 1. Es iſt das, genau genommen, eher ein Satz des einheimiſchen
Strafrechtes
als des Völkerrechts. Indeſſen mag die Rückſicht darauf, daß
die Deſerteure, indem ſie ihrer Fahnenpflicht untreu werden, ſich gewöhnlich
in ein fremdes Land begeben und daß die Ueberläufer geradezu zum Feinde
übergehen, es rechtfertigen, daß dieſe Fälle auch in einer Darſtellung des Völker-
rechts erwähnt werden.


628.

Spione können, wenn ſie bei Erfüllung ihrer Abſicht ergriffen wer-
den, kriegsrechtlich mit dem Tode beſtraft werden, ohne Rückſicht darauf,
daß ſie aus Auftrag handelten und ob ihre Späherei von Erfolg war
oder nicht.


Am. 88. Der Grund der ſtrengen Beſtrafung der Spione liegt vorzüglich
in ihrer Gefährlichkeit für die Kriegsführung, verbunden mit der als nicht
ehrenhaft
betrachteten Handlungsweiſe der Spione, nicht darin, daß dieſelben
eine verbrecheriſche Geſinnung bethätigen. Wenn ſie im Auftrag ihres
States handeln, ſo können ſie in gutem Glauben ſein, eine Pflicht zu erfüllen; und
[342]Achtes Buch.
ſogar wenn ſie aus freiem Antrieb handeln, ſo kann auch hier der Patriotismus ſie
dazu treiben. Die Todesſtrafe ſoll zur Abſchreckung dienen. Der Kriegsgebrauch
hat ſie ſogar in der entehrenden Form des Hängens eingeführt. Aber ſie darf doch
nur als äußerſte Strafe in den gefährlichſten Fällen zur Anwendung kommen.
In ſehr vielen Fällen wäre ſie unverhältnißmäßig hart. Die neuere Praxis
iſt auch hier milder geworden und begnügt ſich oft mit geringen Strafen, inbeſon-
dere mit Verhaft. Ein bekanntes Beiſpiel der härteſten Strafe, die an einem höhern
Officier der feindlichen Armee vollzogen wurde, iſt die Hinrichtung des engliſchen
Majors André, des Generaladjutanten der Königlichen Armee, welcher in dem
nordamerikaniſchen Befreiungskriege von einem amerikaniſchen Kriegsgericht zum
Tode verurtheilt und trotz der Verwendungen der engliſchen Generale gehängt
wurde. Er hatte vergeblich darum gebeten, als Kriegsmann erſchoſſen zu werden.
Vgl. PhillimoreIII. 183 f.


629.

Als Spion wird betrachtet, wer heimlicher Weiſe oder unter trüge-
riſchen Vorwänden ſich in die Linien des Heeres in der Abſicht einſchleicht
oder begibt, um Erkundigungen einzuziehn, die für die Kriegsführung des
Feindes erheblich ſind, und dieſelben an den Feind mitzutheilen.


Am. 88. Die offen geübte Erkundigung kann zum Verrath mißbraucht
werden (vgl. § 631), aber ſie iſt nicht Spionerie. Der Makel des Anſtößigen und
Unehrenhaften, welcher der Spionerie anklebt, beruht auf der Heimlichkeit des
Verfahrens
und den trügeriſchen Vorwänden. Das — wenn auch heim-
liche — Erſpähen der feindlichen Rüſtungen und Waffenplätze vor dem Ausbruch des
Kriegs kann je nach Umſtänden policeilich geahndet, darf aber nicht als Spio-
nerie kriegsgerichtlich beſtraft werden. Nur im Kiege und nach Kriegsrecht gibt es
Spione. Auch dann aber muß man ſich hüten, allzuleicht auf Spionerie zu ſchlie-
ßen. In dem deutſchen Kriege von 1866 war die Spionenriecherei beſonders in
den ſüddeutſchen Heeren zu einer Manie geworden, welche eine Menge höchſt un-
ſchuldiger Perſonen momentan arg beläſtigte, aber ſchließlich doch nirgends ernſte
Folgen hatte.


630.

Militärperſonen, welche als erkennbare Feinde in die feindliche Linie
eindringen, wenn auch in der Abſicht, die Stellung und die Verhältniſſe
des Feindes zu erkundigen und Truppentheile, welche recognosciren, dürfen
wohl kriegsgefangen gemacht, nicht aber als Spione behandelt werden.


Die Entſendung von Recognitionspatrouillen gehört zu den erlaubten
und wechſelſeitig geübten Kriegsmitteln. Es können auch einzelne ortskundige Sol-
[343]Das Kriegsrecht.
daten dazu verwendet werden, und ſogar die Führer ſelbſt auf Recognoscirung
ausreiten. Die Abſicht iſt auch hier die Erkundung der Schwächen oder Stärken
der feindlichen Stellung und aller Bedingungen der militäriſchen Action. Dieſe
erlaubte Art der Beobachtung iſt nicht minder gefährlich als die Spionerie, aber
weil ſie als ein Beſtandtheil der Kriegsführung ſelber gilt, darf ſie auch vom Feinde
nicht ſtrafrechtlich behandelt werden.


631.

Auch wer ſolche Erkundigungen über die Kriegsführung, die ihm
auf geſetzlichem Wege oder in erlaubter Weiſe zugekommen ſind, zum
Nachtheil des Heeres, in deſſen Bereich er ſich befindet, an den Feind
mittheilt, wird als Kriegsverräther kriegsrechtlich und in ſchweren Fällen
mit dem Tode beſtraft.


Am. 89. 90. Dieſe Handlung kann zugleich ein gemeines Verbrechen
des Landesverrathes ſein, wenn ein Officier des Heeres, oder ein Civilbeamter
die ihm anvertrauten Kriegspläne dem Feinde verräth oder wenn der Bewohner
einer Stadt oder Feſtung den feindlichen Heerführern Mittheilungen in der Abſicht
zukommen läßt, die Eroberung der Stadt oder Feſtung zu erleichtern. Aber ſie kann
auch unter Umſtänden vorkommen, in denen das bürgerliche Strafgeſetz
kein Verbrechen findet, und dennoch der großen Gefährlichkeit wegen kriegsgericht-
lich
geſtraft werden. Vielleicht gehört der Verräther perſönlich dem State an, deſſen
Heer ſich als Feind nähert und macht ſeine Mittheilungen aus patriotiſcher Geſin-
nung. Trotzdem läuft er Gefahr, von dem am Ort herrſchenden Feind als Verräther
vor ein Kriegsgericht geſtellt und vielleicht erſchoſſen zu werden. Es hilft ihm nicht
einmal die Einwendung, daß die Kriegsgewalt, ohne wirkliche Landeshoheit zu be-
ſitzen, nur vorübergehend den Ort beſetzt habe. Dagegen beſchränkt ſich dieſe Straf-
befugniß der Kriegsgerichte auf die Fälle, in denen ein derſelben Kriegsgewalt, wenn
auch nur vorübergehend unterworfener Bewohner ihr zum Nachtheil dem Feinde
Mittheilungen gemacht hat, und darf nicht auf ſolche Fälle ausgedehnt werden, in
denen die Kriegsgewalt erſt nachher in den Beſitz des Ortes kommt, von dem aus
die Mittheilung gemacht worden iſt.


632.

Von der Strafe des Kriegsverraths wird auch der bedroht, welcher
aus einem von der feindlichen Kriegsmacht beſetzten Orte an ſein heimat-
liches Heer oder ſeine heimatliche Regierung Mittheilungen in der Abſicht
macht, die jene Orte beſetzende Kriegsmacht zu gefährden.


Am. 92. Vgl. zu § 631. Indeſſen wird in ſolchen Fällen die Strafe nur
[344]Achtes Buch.
aus dem kriegeriſchen Nothrecht zu rechtfertigen ſein. Die That ſelbſt kann nicht
als ehrlos gebrandmarkt werden.


633.

Wenn ein Spion oder Kriegsverräther glücklich zu ſeinem Heere
zurückkehrt, dem er zugehört, oder das ſeinem Vaterlande dient und ſpäter
wieder von dem Feinde gefangen wird, ſo wird er wegen ſeiner früheren
kriegsgefährlichen Handlung nicht mehr beſtraft, aber iſt als beſonders
gefährlicher Gefangener ſchärferer Ueberwachung ausgeſetzt.


Am. 104. Das Kriegsrecht iſt Nothrecht. Indem ſich der Spion oder der
Kriegsverräther der feindlichen Kriegsgewalt entzieht, hat er ſich auch der Stats-
gewalt des Feindes entzogen; und dieſe einmal erloſchen, lebt nicht wieder auf, ohne
eine neue wegen ihrer Gefährlichkeit für die Kriegsführung kriegsrechtlich ſtraf-
bare That.


634.

Wer freiwillig dem feindlichen Heere als Wegeführer ſich anbietet
und die Wege zeigt, wird als Kriegsverräther betrachtet und beſtraft.


Am. 95. 96. Auch hier iſt zu unterſcheiden zwiſchen dem gemeinen
Verbrechen des Landesverraths
, welches der gewohnten Strafjuſtiz dann
anheimfällt, wenn die Kriegsgewalt entweder nicht befugt oder nicht geneigt iſt, ein-
zuſchreiten und der bloß kriegsgerichtlich ſtrafbaren That, die an ſich kein
Verbrechen iſt, aber wegen ihrer beſondern Gefährlichkeit für die Kriegsführung ge-
ſtraft wird. Wenn z. B. der Bürger eines von dem Feinde beſetzten Ortes ſich als
Wegeführer einem vaterländiſchen Truppenkörper anbietet, damit derſelbe den Feind
überfalle und wieder verdränge, und wenn er bei dem Verſuch ergriffen wird, ſo
kann er von dem feindlichen Kriegsgerichte als Kriegsverräther verurtheilt und er-
ſchoſſen werden, obwohl er eine patriotiſche That zu vollziehen in guter Mei-
nung war und nicht zur Treue, ſondern nur zum Gehorſam vorübergehend
der feindlichen Kriegsgewalt verpflichtet war.


635.

Wer dagegen von den feindlichen Truppen genöthigt wird, als
Wegeführer die Wege zu zeigen, iſt auch vor dem Kriegsrecht gerechtfertigt.


Am. 93. 94. Der Einzelne kann der Kriegsgewalt nicht Widerſtand
leiſten und muß ſchließlich der Bedrohung ſich fügen; denn man darf nach menſch-
[345]Das Kriegsrecht.
lichem Recht Niemandem zumuthen, daß er eher zum Märtyrer werde und ſich eher
mißhandeln oder tödten laſſe, als der thatſächlichen Statsgewalt Folge leiſte. Alle
Armeen bedürfen der Wegeführer und alle wenden im Nothfall Drohung und Zwang
an, um dieſelben zu bekommen. Daher darf auch Niemand geſtraft werden, weil er
dieſer Nothwendigkeit ſich unterwarf.


636.

Wegeführer, welche die Truppen abſichtlich mißleiten, verfallen dem
Kriegsrecht dieſer Truppen und können mit dem Tode beſtraft werden.


Am. 97. Die große Gefahr, in welche die Truppen durch abſichtliche
Irreleitung gebracht werden können, rechtfertigt auch hier die militäriſche Strenge.
Die Kriegsgerichte müſſen ſich aber davor hüten, leichthin eine verrätheriſche Abſicht
des Wegeführers zu vermuthen, denn es iſt ſehr möglich, daß dieſer ſich ſelber ge-
täuſcht und ſich verirrt hat, während er die Abſicht hatte, den richtigen Weg zu
finden und zu ſuchen. In dieſem Falle darf er nicht geſtraft werden. Es bedarf
daher zur Beſtrafung des Irreführers eines Beweiſes der böſen Abſicht,
welche freilich nur aus den Umſtänden zu erſchließen iſt.


637.

Auch den diplomatiſchen Agenten iſt nicht geſtattet, während des
Kriegs aus dem von Truppen beſetzten Lande über die militäriſchen Zu-
ſtände und Vorgänge Mittheilungen nach außen zu machen, welche der
kriegführende Gegner zum Schaden der erſtern Kriegspartei benutzen kann.
Zuwiderhandelnde können ſofort weggewieſen und bei großer Gefahr ſogar
verhaftet und einſtweilen ſicher verwahrt werden.


Am. 98. Die privilegirte Stellung der diplomatiſchen Perſonen darf nicht
mißbraucht werden, um die Kriegsführung zu ſchädigen. Die Sicherheit dieſer
iſt eine ſo überaus wichtige Angelegenheit, daß ſelbſt ein Eingriff in das Privilegium
der Unverletzlichkeit der Geſanten und in ihre Exterritorialität gerechtfertigt erſcheint,
ſobald und in ſo weit derſelbe nöthig iſt, um die Kriegsführung gegen ſolche Ge-
fährdung zu ſchützen.


638.

Auch den fremden Beſuchern und Berichterſtattern iſt in dieſer Hin-
ſicht große Vorſicht zur Pflicht gemacht. Die Befehlshaber können ihnen
beſtimmte Mittheilungen unterſagen und nach Umſtänden eine Controle
[346]Achtes Buch.
ihrer Correſpondenzen anordnen, ſie in Folge der Mißachtung der nöthigen
Vorſicht wegweiſen oder wenn Gefahr vorhanden iſt, ſie in ſchweren Fällen
ungehöriger Mittheilung ſogar der kriegsgerichtlichen Beſtrafung überant-
worten.


1. Am. 98. Zuweilen werden Officiere neutraler Staten in der Ab-
ſicht dem Heere beigegeben, damit ſie den Gang des Krieges beobachten und die
Kriegsführung ſtudiren. Es hängt natürlich von den Kriegsführern ab, ob ſie die-
ſelben zulaſſen wollen oder nicht. Dieſe Officiere haben den Auftrag, an ihre Re-
gierungen zu berichten. Dabei iſt die Grenze nicht immer leicht zu finden zwiſchen
der unverfänglichen und daher erlaubten, und der gefährlichen und
daher verbotenen Mittheilung. Der nächſte Entſcheid darüber muß der Kriegs-
gewalt ſelber vorbehalten bleiben.


2. Aehnlich verhält es ſich mit den Berichterſtattern der Zeitungen,
ſei es aus neutralen Staten oder aus den kriegführenden Staten ſelber. Auch da
iſt große Vorſicht nöthig, damit nicht gefährliche Mittheilungen gemacht und dafür
die Correſpondenten zur Verantwortung gezogen werden.


639.

Couriere mit Depeſchen oder Boten mit mündlichen Aufträgen wer-
den, wenn ſie offen in ſolcher Eigenſchaft reiſen oder als Soldaten in
Uniform den Dienſt erfüllen und in die Gewalt des Feindes gerathen,
als Kriegsgefangene behandelt. Wenn ſie aber heimlich und nicht als
Soldaten erkennbar ſich durchzuſchleichen ſuchen, ſo ſind ſie zwar nicht als
Spione oder Kriegsverräther anzuſehen, aber ſie verfallen doch einer den
Umſtänden entſprechenden kriegsrechtlichen Beſtrafung.


Am. 99. Es gilt als ein durchaus ehrenvoller militäriſcher Auf-
trag
, in einen vom Feinde belagerten Platz von den Entſatztruppen her einen Boten
zu ſchicken oder umgekehrt. Trotz der Gefährlichkeit ſolcher Verbindung darf der Soldat,
welcher bei der Erfüllung ſeines Dienſtes von den feindlichen Wachen ergriffen wird,
doch nicht als Spion oder Verräther betrachtet und beſtraft, ſondern nur zum Kriegs-
gefangenen gemacht werden. Wenn aber Nichtſoldaten in heimlicher Weiſe
den Botendienſt übernehmen und heimlich ausführen, dann laufen ſie Gefahr, vor
ein Kriegsgericht geſtellt zu werden.


640.

Bösartige Verſuche, den Feind zu ſchädigen, welche nicht zu der
militäriſch geordneten Kriegsführung gehören, können wegen ihrer Gefähr-
[347]Das Kriegsrecht.
lichkeit kriegsrechtlich, in beſonders ſchweren Fällen ſogar mit dem Tode
beſtraft werden.


Am. 101. Hieher können z. B. das Abfangen der Kriegspoſten durch unbe-
rufene Perſonen und das Verbreiten falſcher Nachrichten gerechnet werden. Die
Kriegsführung muß ſich ſolcher feindlichen und nicht gerechtfertigten Schädigung er-
wehren und darf deßhalb im Nothfall eine abſchreckende Strenge eintreten laſſen.


641.

Bewaffnete Räuber oder andere Miſſethäter, welche auf eigene Fauſt
morden, verwunden, rauben, plündern, brennen, Brücken und Canäle zer-
ſtören, Eiſenbahnſchienen aufreißen, Telegraphendrähte abſchneiden, um den
Truppen Schaden zuzufügen oder unter dem Schein der Kriegsführung
ihren Leidenſchaften zu fröhnen, können, wenn ſie in die Gewalt der
Truppen fallen, kriegsrechtlich, in ſchweren Fällen mit dem Tode beſtraft
werden.


Am. 84. Hier concurrirt wieder ſehr oft, aber nicht immer, ein gemeines
Verbrechen
mit einer kriegsrechtlich ſtrafbaren That. Werden die Ein-
wohner eines Ortes zu gemeinſamer Abwehr des Feindes von der militäriſchen Ge-
walt aufgefordert und verüben ſie in Folge deſſen Thaten der Gewalt, ſo iſt das
kriegeriſche Action. Aber nicht als ſolche gilt es, wenn etwa die Einwohner die bei
ihnen einquartierten Soldaten im Schlafe überfallen und binden oder tödten, oder
wenn Parteigänger unter dem Scheine der autoriſirten Truppen Erpreſſungen üben
oder wenn fanatiſirte Weiber auf die einrückenden Feinde heißes Waſſer ausgießen.
Auch wenn ſolche Thaten vielleicht nicht aus einer verbrecheriſchen, ſondern einer
patriotiſchen Geſinnung verübt werden, ſo ſind ſie ihrer Verderblichkeit wegen
dennoch und weil ſie außerhalb der geordneten Kriegsführung geſche-
hen, kriegsrechtlich zu beſtrafen.


642.

Ebenſo unterliegen der kriegsrechtlichen Beſtrafung bis zur Todes-
ſtrafe die Marodeurs, welche den Truppen nachſchleichen und auf uner-
laubte Beute ausgehen.


Den Truppen folgt im Kriege ein Schwarm frechen und diebiſchen Geſindels
nach, welches ſich auf die Schlachtfelder ſtürzt, wie die Raben und unleidlichen
Unfug treibt. Dieſe Marodeurs beſtehlen die Leichen, morden auch wohl Ver-
wundete, um ſie zu berauben. Um ſie zu verſcheuchen und zu bändigen, hilft nur
[348]Achtes Buch.
eine gute Feldpolicei (Gensdarmerie) und die äußerſte Strenge einer raſchen militä-
riſchen Juſtiz.


643.

Auch die Kriegsrebellen, d. h. die, welche in einem von den Trup-
pen beſetzten Gebiete die Waffen gegen dieſelben oder gegen die von der
Kriegsgewalt niedergeſetzten Autoritäten ergreifen, können vor ein Kriegs-
gericht geſtellt und mit dem Tode beſtraft werden.


Am. 85. Derartige Aufſtände werden nicht bloß mit Waffengewalt unter-
drückt, ſondern auch, weil ſie nicht zur ordentlichen Kriegsführung gehören und um
ihrer Gefährlichkeit willen kriegsrechtlich beſtraft. Es gilt das auch dann,
wenn etwa die ganze Bevölkerung einer beſetzten Stadt oder Gegend aufſtehen ſollte,
während die feindlichen Truppen noch dieſe Orte beſetzt oder in ihrer Macht haben.
Die Aufſtändiſchen können ſich auch nicht damit gegen die herrſchende Kriegsgewalt
rechtfertigen, daß ſie ſich auf Befehle berufen, welche ſie von ihrer rechtmäßigen —
aber zur Zeit außer Beſitz geſetzten — Regierung erhalten haben.


7. Recht der Kriegsgewalt über das feindliche Vermögen und das
Vermögen der friedlichen Perſonen in Feindesland.


A.Im Landkrieg.

644.

Die ſiegende Kriegsgewalt eignet ſich nach Kriegsrecht alle öffentliche
Habe des Feindes an, ſo weit ſich ihre Macht erſtreckt. Vorbehalten
bleibt das Recht des Heimfalls an den Stat, dem dieſe Habe nach Friedens-
recht zugehört hat bis zur endlichen neuen Friedensordnung.


Am. 31. Als Feind im eigentlichen und vollen Sinne iſt nur der Stat
zu betrachten, gegen welchen der Krieg geführt wird (vgl. Einleitung S. 30 f.).
Dem Stat gegenüber wird heute noch eine Art Beuterecht inſofern anerkannt,
als die öffentliche Habe desſelben von dem feindlichen Sieger weggenommen und
angeeignet werden darf. Aber die rechtliche Grundlage desſelben iſt nicht mehr, wie
im Alterthum, die Anſicht, daß Feindesgut herrenlos (res nullius) und deßhalb
[349]Das Kriegsrecht.
der Occupation preisgegeben ſei, ſondern es wird im Gegentheil voraus-
geſetzt, gerade weil es dem feindlichen Stat zu gehöre, dürfe es demſelben
im Krieg weggenommen werden. Man ſieht darin ein kriegeriſch gerechtfer-
tigtes Zwangsmittel gegen den feindlichen Stat. Indeſſen ſogar innerhalb der
Habe des feindlichen Stats werden weitere Unterſcheidungen zur Beſchränkung der
feindlichen Wegnahme gemacht. Vgl. unten § 648 f.


645.

Insbeſondere ſind die Kriegscaſſen, Waffen und Waffenvorräthe,
Magazine mit Lebensmitteln, Transportmittel für das Heer und überhaupt
alles das Vermögen, welches der Kriegsführung unmittelbar dient, als
Kriegsbeute zu betrachten und fallen zur Verfügung und Benutzung dem
ſiegenden Heere zu, vorbehalten die beſondern Anordnungen der ſiegenden
Statsgewalt.


Am entſchiedenſten macht ſich nach der Natur und den Bedürfniſſen der
Kriegsführung das Recht der Wegnahme geltend mit Bezug auf die geſammte
Kriegsausrüſtung
des Feindes. Da greift die Kriegsgewalt zu, ſoweit ſie ſich
derſelben bemächtigen kann, ſelbſt ohne zu unterſuchen, ob dieſelbe nicht vielleicht
zum Theil Privatgut ſei. Wenn die Beziehung zur feindlichen Kriegs-
ausrüſtung
offenbar iſt, ſo verfallen alle derartigen Gegenſtände der Wegnahme
des ſiegenden Heeres, indem es eine der wichtigſten Aufgaben der Kriegsführung iſt,
den Feind zu entwaffnen. Es gilt das in neuerer Zeit auch von dem Material
der Eiſenbahnen
(Locomotiven, Perſonen- und Güterwagen), obwohl dasſelbe
vielleicht nicht Eigenthum des Stats, ſondern einer Privatgeſellſchaft iſt. Die Eiſen-
bahnen dienen doch dem öffentlichen Verkehr in eminenter Weiſe und ihre
Verwendung für die Kriegsführung zu Truppenmärſchen und Lieferungen von Lebens-
mitteln u. ſ. f. iſt ſo äußerſt wichtig, daß die Kriegsgewalt dieſelben wenigſtens pro-
viſoriſch als öffentliches Gut behandelt und es den Geſellſchaften überläßt, ſich deß-
halb im Frieden mit dem State, in deſſen Gebiet die Eiſenbahnen verbleiben, aus
einander zu ſetzen. Aehnlich verhält es ſich mit Waffenmagazinen, welche zur
Kriegsführung dienen, aber vielleicht einer Privatperſon gehören. Die Beſtim-
mung dieſer Sachen für Kriegszwecke bringt ſie in die Gefahr, von der Kriegsfüh-
rung weggenommen zu werden. Magazine von Lebensmitteln verfallen aber
nur dann dieſer Wegnahme, wenn ſie für Kriegszwecke, nicht aber, wenn ſie
zur Ernährung der friedlichen Bevölkerung beſtimmt waren. Natürlich
bleibt immer das Recht der Kriegsgewalt vorbehalten, für die nöthige Ernährung
des Heeres durchgreifende Sorge zu üben.


646.

Ebenſo iſt die ſiegende Kriegsgewalt berechtigt, ſich der öffentlichen
[350]Achtes Buch.
Gebäude und Grundſtücke in Feindesland zu den Zwecken der Kriegsfüh-
rung und zur Verwaltung der Statsgewalt einſtweilen zu bemächtigen
und die Einkünfte derſelben zu benutzen. Ob das Eigenthum an dieſen
liegenden Gütern auf den ſiegenden Stat übergehe, hängt von dem Frie-
densſchluſſe und insbeſondere davon ab, ob der ſiegende Stat dauernde
Hoheit über den Gebietstheil erwerbe, in welchem dieſe Güter gelegen ſind.


Es gilt das nicht bloß von Feſtungen, Caſernen und ähnlichen unmit-
telbar
der Kriegsmacht dienenden Gebäuden, ſondern ebenſo von Reſidenzen,
Miniſterialgebäuden, Amts-
und Rathhäuſern jeder Art. Auch über
die Einkünfte der Domänen kann die ſiegende Kriegsgewalt verfügen, ſoweit dieſelben
in ihren Bereich fallen. Aber das Eigenthum an dem liegenden Gute geht mit der
Beſitznahme noch nicht auf dieſelbe über, ſondern erſt dann und nur dann, wenn ſie
auch die Statshoheit endlich im Frieden erwirbt. Inwiefern der bisherige
Stat Eigenthümer
iſt, tritt der neue Stat, der die Gebietshoheit erwirbt,
an ſeine Stelle. Vgl. oben § 54.


647.

Die ſiegende Kriegsgewalt verfügt auch über die öffentlichen Ein-
künfte und Steuern, welche in dem eingenommenen Gebiete erhoben wer-
den, in dem Sinne jedoch, daß die regelmäßigen und unvermeidlichen
Ausgaben für die Verwaltung des Rechts und der öffentlichen Intereſſen
daraus fortbeſtritten werden.


Vgl. oben § 541. 547. Auch andere Caſſen, als die Kriegscaſſen, welche dem
State zugehören, können von dem Feinde weggenommen werden (§ 644). Aber die
civiliſirte Kriegsführung darf dieſe Gelder doch nicht ohne weiters als gute Priſe
behandeln. Es ſoll auch während des Kriegs für die Handhabung des Rechts
und eine geordnete Verwaltung geſorgt werden. Das iſt eine Forderung
des allgemeinen Rechts und zugleich ein Intereſſe der Kriegsführung ſelbſt. Die
Auflöſung aller Ordnung iſt ebenſo Barbarei, wie die Verwüſtung der Pflanzungen.
Soweit daher jene Gelder für dieſe öffentlichen Intereſſen beſtimmt und nöthig ſind,
ſoweit ſind ſie auch dafür zu verwenden. Ueberhaupt greift die civiliſirte Kriegs-
führung möglichſt wenig in die beſtehende Landes- und Gemeinde-
verwaltung
ein und nur dann, wenn ihre militäriſch-politiſchen Auf-
gaben es verlangen.


648.

Das Eigenthum der Kirchen, Spitäler, wohlthätigen Anſtalten, der
[351]Das Kriegsrecht.
Schulen, Univerſitäten, Akademien, Obſervatorien, Muſeen und anderer
Culturanſtalten iſt möglichſt zu ſchonen und das dazu gehörige bewegliche
Vermögen iſt nicht als öffentliche Habe des Feindes im Sinne des § 644
zu betrachten. Indeſſen übt der ſiegende Stat auch in dieſer Hinſicht einſt-
weilen die Rechte der verdrängten Statsgewalt aus.


Am. 34. Dieſe Anſtalten haben durchweg einen öffentlich-rechtlichen
Charakter und gehören großentheils auch dem State zu Eigenthum. Aber ihre Be-
ſtimmung iſt ſo entſchieden friedlich und ſie dienen ſo ſehr den örtlichen und den
allgemeinen Culturbedürfniſſen, daß es der civiliſirten Kriegsführung nicht
würdig und dem humaneren Rechtsbewußtſein der Gegenwart nicht zuläſſig erſcheint,
dieſelben feindlich zu behandeln. Vielmehr iſt ihre Schonung und Achtung hier die
Regel; und nur ausnahmsweiſe, ſoweit die Noth, z. B. das Bedürfniß Verwundete
unterzubringen, einen Eingriff erfordert, iſt derſelbe gerechtfertigt. Das Völkerrecht
kann nur den humanen Grundſatz ausſprechen, im Gegenſatz zu brutaler Gewalt-
übung. Im Einzelnen muß natürlich Vieles der Einſicht und dem Rechtsgefühl
der Commandirenden überlaſſen werden.


649.

Die muthwillige Zerſtörung oder Schädigung wiſſenſchaftlicher In-
ſtrumente oder Sammlungen, der Denkmäler und Kunſtwerke in dem ein-
genommenen Gebiete wird durch das civiliſirte Kriegsrecht nicht entſchuldigt,
ſondern iſt offenbare Barbarei.


Am. 35. Es iſt die Pflicht der Führer, welche nicht als Barbaren, ſondern als
civiliſirte Männer den Krieg leiten, daß ſie derartige Brutalität, welche die edeln
Güter der Menſchheit ſchädigt, ohne dem Kriegszweck irgend zu nützen, verhindern.
Niemals iſt zweckloſe Zerſtörung und Schädigung zu entſchuldigen.
Wenn ſogar noch in unſerm Jahrhundert Soldaten im Dienſte von europäiſchen
Culturvölkern durch gemalte Fresken Nägel in die Wand geſchlagen, Oelgemälde
zerſchnitten, Statuen verſtümmelt, Denkmäler zerſtört haben u. dgl., ſo hat unſere
Zeit Urſache, ſich deſſen zu ſchämen. Den Barbaren mag man das verzeihen, weil
ſie nicht wiſſen, was ſie thun, eine civiliſirte Armee darf ihre Ehre nicht damit be-
flecken. Vielleicht erſcheint die Aufnahme ſolcher Sätze in das Völkerrecht manchen
zu wenig juriſtiſch, und zu ſehr moraliſch. Ueber dieſes Bedenken kommen
wir leicht durch den Gedanken hinweg, daß die Rettung auch nur eines wahren Kunſt-
werks durch Verbreitung ſolcher humaner Grundſätze einen größern Werth hat, als die
juriſtiſche Enthaltſamkeit, welche dieſelben ruhig verſtümmeln und zerſtören läßt.


650.

Das heutige Völkerrecht verwehrt dem Sieger noch nicht, Kunſtwerke,
[352]Achtes Buch.
wenn es ohne Beſchädigung derſelben geſchehen kann, wegzunehmen und
anderwärts aufzuſtellen. Ueber das Eigenthum daran entſcheidet dann der
Friede. Aber es wird von der heutigen Völkerſitte nicht mehr geſtattet,
daß ſolche Kunſtwerke von dem Sieger während des Krieges verkauft,
verſchenkt oder in anderer Weiſe zu Privateigenthum gemacht werden.
Heute ſchon gilt die Wegnahme von wiſſenſchaftlichen Sammlungen,
Bibliotheken, Inſtrumenten zum Schaden der wiſſenſchaftlichen Cultur des
betreffenden Landes als eine Maßregel, welche wider die civiliſirte Völker-
ſitte verſtößt.


1. Am. 36. Unter dem Namen von Kriegstrophäen wurden früher wohl
Kunſtwerke und Kunſtſchätze von dem Sieger weggenommen und nach ſeiner
Hauptſtadt geſchleppt, um dieſe zu ſchmücken. Wie in alten Zeiten die Römer
Griechenland und die Vandalen Rom geplündert hatten, ſo haben in neuerer Zeit
noch die Franzoſen aus Italien eine Menge von Kunſtſchätzen nach Paris gebracht
und damit die Säle des Louvre und öffentliche Plätze geſchmückt. Obwohl dieſes
Verfahren den früheren Rechtsanſichten wenig anſtößig erſchienen und immerhin die
Aenderung im Eigenthum durch die Friedensſchlüſſe legitimirt war, ſo iſt es doch
als ein Fortſchritt in der Humaniſirung des Völkerrechts zu betrachten, daß die
alliirten Mächte im Jahr 1815 die franzöſiſche Regierung nöthigten, dieſe Kunſt-
erzeugniſſe wieder an die Länder zurückzuerſtatten, denen ſie vor der Wegnahme zu-
gehört hatten. Das künftige Völkerrecht wird wohl die Regel ausſprechen, daß
Kunſtwerke überhaupt kein Gegenſtand kriegeriſcher Erbeutung ſeien, denn ſie dienen in
keiner Weiſe der Kriegsführung, indem ſie in militäriſcher Beziehung ganz unbrauchbar
und als Zwangsmittel, um eher Frieden zu erhalten, ebenfalls ungeeignet ſind. Sie
zu verkaufen und das Geld für den Krieg zu benutzen, das iſt ebenfalls gegen alle
gute Sitte und eine offenbare Verletzung der Rückſicht auf die dauernden Cultur-
intereſſen des Landes
, welche der Krieg, als ein vorübergehendes Zwangs-
mittel, möglichſt ſchonen ſoll. Es iſt aber noch zu früh, dieſe Regel auszuſprechen,
da dieſelbe auch von den heutigen Staten der civiliſirten Welt noch nicht allgemein
anerkannt wird. Vgl. übrigens Wheaton, Intern. Law. § 352—354.


2. Man könnte daran denken, jener Regel die Ausnahme beizufügen, daß ſie
auf ſolche Kunſtwerke, die eine weſentlich politiſche Bedeutung haben, wie
vorzüglich die Siegesdenkmäler, keine Anwendung leide. Indeſſen ſogar in
dem Fall iſt es würdiger, die geſchichtliche Errichtung ſolcher Denkmäler zu
reſpectiren, und wenn in der Folge der Sieg ſich dem früher Beſiegten zuwendet,
die erforderliche Ergänzung und Correctur anzubringen, als das ältere
Kunſtwerk wegzunehmen.


3. Soweit darf man in der Ausſprache des heutigen Völkerrechts ſchon
gehen, daß die kriegsmäßige Wegnahme von wiſſenſchaftlichen Sammlungen und
Inſtrumenten nicht mehr als zuläſſig gilt. Dieſe Dinge können offenbar nicht als
„Trophäen“ benutzt werden, und ſie gehören als Culturſchätze den dauernden
[353]Das Kriegsrecht.
und friedlichen Culturintereſſen des Landes an. Unſere Univerſitätsſtadt Heidelberg
beklagt es heute noch als ein ſchweres, nicht hinreichend geſühntes Unrecht, daß ihre
handſchriftlichen Schätze als „Palatina“ von dem Bayeriſchen Eroberer der Stadt
weggenommen und dem römiſchen Papſt zur Bereicherung des Vaticans geſchenkt
worden ſind. Die Stadt Cöln freut ſich dagegen darüber, daß die Preußiſche Re-
gierung nach dem deutſchen Kriege von 1866 die Großherzoglich Heſſiſche im Frieden
vom 3. Sept. 1866 angehalten hat, die zur Zeit der Revolutionskriege von 1794
weggenommenen Werke der Cölner Dombibliothek zurückzuerſtatten.


651.

Die muthwillige Zerſtörung oder Schädigung der dem Verkehr ge-
widmeten Anſtalten ohne militäriſche Nothwendigkeit, wie insbeſondere der
Straßen, Brücken, Eiſenbahnen, Seehäfen, Leuchtthürme u. dgl. iſt wider-
rechtliche Barbarei.


In manchen Fällen wird die militäriſche Nothwendigkeit die Zer-
ſtörung ſolcher Werke rechtfertigen, z. B. um den Rückzug der Truppen gegen die
Verfolgung des Feindes zu decken oder den feindlichen Angriff ernſtlich zu erſchweren.
Aber bloß aus Uebermuth oder aus übertriebener Furcht darf das nicht geſchehn;
denn die Intereſſen des Verkehrs ſind auch nach dem Kriege von höchſter Bedeutung
für die Wohlfahrt der Völker, und der Krieg darf nur ſoweit Schaden anrichten,
als die Noth des Krieges und die Kriegszwecke es erfordern.


652.

Das Privateigenthum iſt auch im Kriege von Seite der ſiegenden
Kriegsgewalt zu reſpectiren und darf nur in Folge der militäriſchen Noth-
wendigkeit angegriffen werden.


Am. 38. Da der Krieg nicht gegen die Privaten, ſondern gegen
den Stat geführt wird und die Rechtsordnung auch im Kriege inſoweit fort-
beſteht, als nicht die militäriſche Nothwendigkeit ausnahmsweiſe eine Verletzung er-
fordert, ſo verſteht ſich die Schonung und Achtung des Privateigenthums
als Hauptgeſetz des civiliſirten Kriegsrecht. Es gilt das nach allen Seiten und
Richtungen hin. Damit wird der moderne Grundgedanke des natürlichen Rechts
ausgeſprochen, im entſchiedenſten Gegenſatz ſowohl zu dem antiken römiſchen Recht,
welches im Kriege kein Privateigenthum der Feinde, wie die Angehörigen
des feindlichen States genannt wurden, anerkannte als zu dem mittelalterlichen
Rechte, welches möglichſte Schädigung auch der feindlichen Unterthanen für
erlaubte Kriegsführung hielt. Nur die Rückſicht auf die militäriſche Noth-
wendigkeit
entſchuldigt und rechtfertigt eine Verletzung des Privateigenthums.
Wenn eine militäriſche Stellung erobert werden muß, ſo treffen die Kanonenkugeln
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 23
[354]Achtes Buch.
auch die Privathäuſer. Wird eine andere Stellung vertheidigt, ſo müſſen vielleicht
die Bäume eines Privatgartens umgehauen oder gar ein Privathaus niedergeriſſen
werden. Die Bewegung des Marſches und der Schlacht geht oft durch die Saat-
felder verheerend hindurch. Alle dieſe Schädigungen des Privateigenthums ſind Fol-
gen des kriegeriſchen Nothrechts. Inwiefern der einheimiſche Stat dafür den
Privateigenthümern Entſchädigung leiſten ſolle, iſt keine Frage des Völkerrechts,
ſondern eher des beſondern Stats- und Landesrechts, meiſtens auch der be-
ſonderen Landespolitik und der Finanzwirthſchaft. Der feindliche
Stat leiſtet keine Entſchädigung.


653.

Die herrſchende Kriegsgewalt iſt berechtigt, die durch die Kriegs-
führung nothwendig gewordenen Leiſtungen der Bevölkerung für die Ver-
pflegung und Transportirung der Truppen und des Kriegszeugs ſoweit
ohne Entſchädigung zu fordern, als dieſe Leiſtungen der Kriegsſitte und
Uebung gemäß als öffentliche Pflichten anzuſehen ſind.


1. Die Armee bedarf der Quartiere, der Lebensmittel, der Beklei-
dung
, der Transportmittel. Die neuere Sitte der civiliſirten Kriegsführung
iſt die, daß möglichſt durch vertragsmäßig bezahlte Lieferungen für
die Nahrung und Kleidung der Armee geſorgt wird. Indeſſen nicht immer langen
die beſtellten Transporte rechtzeitig an, oder ſie ſind überall nicht zu erwarten, oder
ungenügend. Unter Umſtänden kann es auch ungefährlich und zweckmäßig ſein, die
Steuerkräfte des beſetzten Landes für dieſe Zwecke anzuſpannen. Da die Kriegs-
gewalt auch die Kriegs- und Steuerhoheit ausübt, ſo weit ihre Gewalt ſich
thatſächlich erſtreckt, ſo kann ſie auch von der Bevölkerung dieſes Gebietes die erfor-
derliche Beihülfe für die Verpflegung der Truppen fordern.


2. Sie übt vorerſt das Recht der Einquartierung aus, wenn gleich zu-
nächſt durch Vermittlung der einheimiſchen Behörden und möglichſt den Landesein-
richtungen und Landesſitten gemäß. Beſondere Immunitäten und Privilegien ein-
zelner Perſonen oder Claſſen braucht ſie freilich nicht anzuerkennen. Ebenſo kann
ſie die Hauswirthe anhalten, den einquartierten Officieren und Soldaten ihren
Kräften gemäß und nach Bedürfniß die erforderliche Speiſe zu geben und den Ge-
meinden, ſoweit nöthig und ausführbar, Beiträge
von Fleiſch, Brod,
Hafer, Heu u. ſ. f. für die Ernährung von Mannſchaft und Pferden auferlegen.
Auch hier bildet das: „Ultra posse nemo tenetur“ eine natürliche Schranke
für die zugemutheten Leiſtungen, und übermäßige Anſprüche brauchen auch
dann nicht befriedigt zu werden, wenn es möglich wäre, ſie zu gewähren.


3. Ueberdem bedarf die Kriegsgewalt unter Umſtänden auch Kleidungs-
ſtücke
, beſonders Schuhe, für die Mannſchaft.


4. Sie kann endlich Wagen und Pferde requiriren zum Transport zu
der nächſten Station, auf welcher neue taugliche Transportmittel zu haben ſind.


[355]Das Kriegsrecht.

5. Alle dieſe Leiſtungen begründen je nach Umſtänden einen Anſpruch auf
Entſchädigung. Man muß hier unterſcheiden:


  • a) Leiſtungen, welche einfach aus Kriegs- und Steuerpflicht ohne
    Entſchädigung
    von der Bevölkerung gefordert werden können. Der
    Umfang derſelben wird entweder durch die Landesgeſetzgebung
    oder durch die Uebung beſtimmt. Im Einzelnen freilich wird immerhin
    Vieles der Discretion des Commando’s überlaſſen werden;
  • b) Leiſtungen, welche dieſes Maß überſchreiten und daher nach natürlichem
    Recht nur gegen Entſchädigung zu fordern ſind.

6. Freilich iſt dieſe Entſchädigungspflicht in der Praxis ſchwer zu
normiren und noch ſchwerer durchzuſetzen. Die feindliche Kriegsgewalt, welche jene
Leiſtungen für ihre Kriegszwecke bedarf und empfängt, wäre zunächſt veranlaßt,
den Gemeinden und den Privaten, gegen welche ſie nicht Krieg führt, den Werth zu
vergüten. Aber dazu fehlen ihr im Kriege oft die Geldmittel, und doch kann ſie
die Leiſtung nicht entbehren. Sie wird daher in manchen Fällen bloß den Em-
pfang beſcheinigen
und die Bezahlung in der Zukunft in Ausſicht ſtellen.
Ueberdem kann ſie ſich auf ihr vermeintliches Recht berufen, daß der gegneriſche
Stat
mit den Kriegskoſten auch dieſe Leiſtungen zu übernehmen und daher ſeinen
Gemeinden und Landesangehörigen gegenüber die Entſchädigung zu leiſten habe.
Aus dieſem Grunde wird ſie oft ihre Zahlungspflicht überhaupt beſtreiten, und die
Gläubiger an den gegneriſchen Stat verweiſen, dem dieſelben angehören. Dieſer
Stat aber erkennt ſeine Entſchädigungspflicht gewöhnlich wieder nicht an, weil er
die Beiträge nicht begehrt, noch empfangen
habe und weil er ſeinerſeits
die Meinung vertritt, daß der Krieg mit Unrecht gegen ihn geführt worden ſei. Er
betrachtet daher jene Belaſtung als ein Unglück, das mit dem Kriege verbunden
und von dem zu tragen ſei, den es betroffen habe. Nur aus Billigkeitsrück-
ſichten
und meiſt nur, wenn ſeine financiellen Verhältniſſe günſtig beſchaffen ſind,
läßt er ſich zur Entſchädigung, je nach ſeinem Ermeſſen, herbei. Der Friedensſchluß
ordnet das ſelten näher, und wenn er darüber ſchweigt, ſo werden damit alle An-
forderungen der Gemeinden und Privaten an den feindlichen Stat, welcher die Bei-
träge eingefordert hatte, höchſt unſicher und ihre Befriedigung ſehr unwahrſcheinlich.
Es bleibt denſelben dann kaum ein anderer Weg offen, als der, die billige Berück-
ſichtigung ihres Landes anzurufen.


654.

Das Völkerrecht erkennt kein Recht der Kriegsgewalt an, in feind-
lichem Lande von Gemeinden und Privaten andere als die für die Exiſtenz
und Thätigkeit des Heeres unentbehrlichen Leiſtungen zu verlangen. Ins-
beſondere hat die Auflage von reinen Geldcontributionen keine kriegsrechtliche
Begründung.


23*
[356]Achtes Buch.

1. Die Forderung von Geldcontributionen wurde in frühern Kriegen oft
damit gerechtfertigt, daß ſich mit der Bezahlung der Contribution die Städte oder
Gemeinden von der Gefahr der Plünderung oder Zerſtörung loskaufen. Allein das
civiliſirte Kriegsrecht erkennt kein Recht mehr an zur Plünderung und ebenſo wenig
ein Recht zu unnöthiger Zerſtörung. Es kann alſo auch nicht mehr von einem
Loskauf dieſes Rechts die Rede ſein. Zu andern Geldcontributionen, etwa zur
Füllung der Kriegscaſſe oder des Statsſchatzes oder gar zur Befriedigung der Genuß-
und Gewinnſucht der Führer iſt die Kriegsgewalt auch nicht berechtigt, denn ſie hat
keine willkürliche Gewalt über das Vermögen der Gemeinden und
Privaten
, gegen die ſie nicht Krieg führt. So wenig ſie die Bewohner des feind-
liches Landes zwingen darf, die Lücken ihres Heeres zu ergänzen und perſönliche
Kriegsdienſte zu leiſten, ebenſo wenig darf ſie die Bevölkerung zwingen, die erfor-
derlichen Gelder für ihre Kriegsführung zu bezahlen. Vgl. oben § 545. 576.


2. In manchen, ſogar noch neueren Kriegen, ſelbſt in der Preußiſchen Kriegs-
führung von 1866, ſind die richtigen Grundſätze nicht hinreichend beachtet und zu-
weilen ohne zureichenden Rechtsgrund Contributionen in Geld von eingenommenen
Städten erhoben worden. Das heutige europäiſche Rechtsgefühl kann ſich aber mit
ſolchen Reſten einer früheren barbariſchen Kriegsführung nicht mehr verſöhnen; es
wird durch jede unnöthige und ungerechte Härte gegen die friedliche Bevölkerung in
Feindesland gekränkt.


655.

Wenn die Kriegsgewalt in Ermanglung der geordneten Lieferung
von Lebensmitteln, Kleidern, Waffen und Geräthſchaften, deren das Heer
dringend bedarf, auf dem Wege des Zwangs Abtretung von Privateigen-
thum verlangt, ſo iſt der betreffende Statsfiscus zu angemeſſener Ent-
ſchädigung verpflichtet und die Kriegsgewalt hat daher dem Eigenthümer
eine Beſcheinigung über die abgelieferte oder abgenommene Habe zu
ertheilen.


Am. 38. Das Nothrecht des Kriegs rechtfertigt, ſoweit das unmittel-
bare Bedürfniß des Heeres reicht, wenn ſich die Beſitzer der erforderlichen Habe nicht
freiwillig zur Veräußerung herbeilaſſen, ſogar den gewaltſamen Eingriff
auch in das Privateigenthum, z. B. großer Grundbeſitzer oder Kornhändler, deren
Speicher mit Getreide oder mit Hafer und Heu gefüllt ſind, der Lederhändler und
Schuhmacher, die Vorräthe von Leder oder Schuhen haben u. ſ. f. Aber nur
gegen Entſchädigung
, für welche nach natürlichen Rechtsgrundſätzen zunächſt
der Fiscus des States haftet, welcher dieſe Habe wegnimmt und für ſeine
Intereſſen verwendet. Nur wenn dieſe Entſchädigungsforderung nicht durchzuſetzen iſt,
beſtimmen Billigkeitsrückſichten den Stat, in deſſen Gebiet die feindliche
Gewalt die Abtretung erzwungen hat, dafür ſubſidiär einzuſtehen. Vgl.
zu § 652.


[357]Das Kriegsrecht.
656.

Den Kriegsleuten iſt nicht erlaubt, Privateigenthum wegzunehmen
oder muthwillig oder aus Rachſucht zu ſchädigen. Handlungen der Art
werden ſtrenge nach Kriegsrecht beſtraft. Nur die unmittelbare Nothdurft
rechtfertigt ausnahmsweiſe die Aneignung der erforderlichen Nahrungsmittel
und Kleidungsſtücke, wenn nicht durch die Anordnung des Militärcommando’s
für die Befriedigung geſorgt iſt. Auch in ſolchen Fällen iſt in der Regel
der Werth zu erſtatten, ſoweit nicht die Quartierpflicht zu unentgeldlicher
Leiſtung nöthigt.


Die militäriſche Disciplin hat hier manche Mißbräuche, welche die
ältere Kriegsführung befleckt hatten, abgeſchafft oder doch ermäßigt. Mit Recht wird
jeder Diebſtahl oder Raub, von Soldaten im Quartier oder auf dem Marſch verübt,
ſtrenge beſtraft. Niemals darf die Wegnahme von Koſtbarkeiten, Uhren u. dgl.,
wohl aber aus Nothdurft die Wegnahme von Lebensmitteln, Brod und Fleiſch,
Hausthieren zum Schlachten u. dgl. geſtattet werden. Auch die Bier- und Wein-
häuſer dürfen ſo wenig, wie die Bäcker- und Metzgerläden der Plünderung oder
freier Beſitzergreifung preisgegeben werden, ſondern was da, über die Quartierlaſt
hinaus verabreicht oder nöthigenfalls genommen wird, das ſoll bezahlt werden.
Aber es iſt, insbeſondere auf ermüdenden Märſchen oder nach der Schlacht nicht
zu verhindern, daß nicht Hunger und Durſt zuweilen zu raſchem Zugreifen drän-
gen, welches freilich von der kalten Berechnung und Beurtheilung der privatrecht-
lichen oder ſtrafrechtlichen Logik als rechtswidrig erklärt werden müßte, und
dennoch von der Kriegsgewalt als unvermeidlich geduldet und geſchützt
wird.


657.

Das heutige Völkerrecht verwirft das ſogenannte Beuterecht im
Kriege als rechtswidrige Barbarei.


1. Vgl. oben § 652. Hugo Grotius (lib. III. cap. 6) ſetzt noch die
römiſche Anſicht, daß die Beute wider einen fremden Feind, d. h. wider alle
Statsangehörige des feindlichen Stats erlaubt, und nur im Bürgerkrieg unterſagt
ſei, als gemeines Völkerrecht voraus. Es war nur eine thatſächliche Ermäßigung
des Beuterechts, wenn das römiſche Recht den Truppen zur Pflicht machte, die
Beute jederzeit an den Stat abzuliefern, damit er darüber verfüge, deßhalb
eine Ermäßigung, weil die Soldaten ein geringeres Intereſſe hatten, Beute für den
Stat zu machen. Aber der Eigenthümer fand keinen Rechtsſchutz, indem er als
Feind rechtlos war und ſeine Sachen als herrenlos betrachtet wurden. Zu vollem
Durchbruch gelangt erſt in unſerm Jahrhundert und nicht ohne Widerſpruch vieler
[358]Achtes Buch.
und angeſehener Schriftſteller über das Völkerrecht, welche ſich ſchwer von dem über-
lieferten Grundſatz der Beute oder der ſtatlichen Confiscation losmachen können (vgl.
PhillimoreIII. § 75), der entgegengeſetzte Grundſatz, daß das Privateigen-
thum
zunächſt der friedlichen Perſonen, dann aber ſelbſt der feindlichen
Perſonen, auch im Kriege regelmäßig zu achten
und deßhalb das ver-
meintliche Beuterecht ein offenbares Unrecht ſei. Ein merkwürdiges Erkenntniß hat
der oberſte Gerichtshof der Vereinigten Staten im Jahr 1812 erlaſſen, in
dem der Uebergang aus dem alten Beuterecht in das neue Recht des Eigenthums-
ſchutzes deutlich erkennbar wird. Es wurde nämlich noch das Recht des Stats, das
in ſeinem Gebiet zur Zeit der Kriegseröffnung vorhandene Vermögen der feindlichen
Statsangehörigen zu confisciren, als hergebrachte Regel anerkannt, aber für die
Ausübung dieſes Rechts ein vorheriger Act der Geſetzgebung gefordert.
Offenbar wollte man auf einem Umweg das Privateigenthum ſichern, denn ein be-
ſonderes Geſetz war nicht da und wurde auch nicht erlaſſen. (Kent Comm. § 59.
60). Ein Keim zur Beſeitigung des Beuterechts iſt ſchon in der engliſchen
Magna Charta
von 1215 zu finden, indem ſie das Vermögen fremder Kauf-
leute in England auch im Kriege ſchützt, wenn Gegenrecht gehalten wird. Vgl.
unten zu § 669. Vgl. oben die Einleitung S. 38 und Berner Art. Beute im
deutſchen Statswörterbuch von Bluntſchli und Brater.


2. Die Beute iſt demgemäß nicht mehr als Regel erlaubt, ſondern nur aus-
nahmsweiſe
aus beſondern Gründen und in engſter Beſchränkung. Die wichtig-
ſten Fälle einer noch erlaubten Beute ſind:


  • a) die Habe des feindlichen States ſelbſt, § 645,
  • b) die Waffen und kriegeriſche Rüſtung der beſiegten feindlichen Perſonen,
    § 659. 660,
  • c) die Contrebande (Buch IX. Abſch. 4). Daneben noch, obwohl bereits
    angezweifelt
  • d) die Geſtattung, einen erſtürmten Platz zu plündern, § 661,
  • e) die Seebeute, § 664 f.

658.

Wenn der eine Stat an den andern feindlichen Stat eine Geld-
ſumme aus Darlehen oder einem andern Rechtsgrunde ſchuldet, ſo darf er
wohl während des Kriegs die Verzinſung und Bezahlung dieſer Schuld
verweigern, nicht aber, wenn er die Statsſchuld an Privatgläubiger ſchul-
det, welche dem feindlichen State angehören.


In dem bekannten Streit zwiſchen Preußen und England vom Jahr 1753
vertheidigte FriedrichII. die Beſchlagnahme der Schleſiſchen Statsſchuld zum Nachtheile
der engliſchen Gläubiger, worüber ſich die engliſchen Publiciſten als über eine ſchreiende
Verletzung des Völkerrechts beſchwerten, nur aus dem Geſichtspunkte der Repreſ-
[359]Das Kriegsrecht.
ſalien gegen das Unrecht, welches die engliſchen Kaper zur See gegen die Preu-
ßiſchen Kauffahrer begehen. Vgl. oben zu § 500.


659.

Ausnahmsweiſe iſt es den Kriegsleuten erlaubt, den von ihnen be-
ſiegten feindlichen Perſonen ihre Waffen und Pferde und andere zur krie-
geriſchen Ausrüſtung gehörige Sachen wegzunehmen und ſich ſelber als
Kriegsbeute anzueignen, aber nicht erlaubt, Geld oder Kleinodien des
Feindes zu erbeuten. Nur wenn der getödtete Feind ſolche Koſtbarkeiten
auf dem Schlachtfelde zurückläßt, ſo iſt es bei der völligen Ungewißheit,
wer der Erbe ſei und ob ſolche Habe für denſelben zu retten ſei, eher dem
Sieger geſtattet, dieſe Sachen ſich anzueignen, als ſie vergraben oder ver-
derben zu laſſen.


Das Einzelne beſtimmt in jedem Heer das Commando. Das Völkerrecht
ſpricht nur den allgemeinen Grundſatz aus, der bei dieſen Verordnungen nicht verletzt
werden darf, ohne gerechte Mißbilligung zu erfahren.


660.

Die erbeuteten Fahnen, Kanonen, Munitionswagen, Kriegscaſſen
und überhaupt alles öffentliche Kriegszeug dürfen niemals von einzelnen
Nehmern angeeignet werden, ſondern ſind an den Befehlshaber abzu-
liefern.


Am. 45. Das iſt ſeiner Beſtimmung nach öffentliches Kriegsgut und kommt
daher dem State, nicht dem Nehmer zu. Es iſt das der alte Grundſatz der römi-
ſchen praeda, der in dieſer Beſchränkung noch fortwirkt.


661.

Es gilt unter civiliſirten Völkern nicht mehr als gute Kriegsſitte,
um die Soldaten zur Erſtürmung eines Platzes oder Lagers aufzureizen,
ihnen die freie Plünderung des eroberten Ortes zu erlauben.


Man vertheidigt zuweilen dieſe verwerfliche Maßregel damit, daß unter Um-
ſtänden nur durch ſolche Anreizung der Gewinnſucht die Soldaten dazu gebracht
werden können, das Wagniß eines Sturmes zu unternehmen und den hartnäckigen
Widerſtand zu brechen und mit der Berufung auf die eigenen Verluſte an Gut und
Blut, die damit einigermaßen ausgeglichen werden. Aber dieſe Lappen verhüllen
[360]Achtes Buch.
nicht die nackte Barbarei der Maßregel. Es iſt auch militäriſch unehrenhaft, die
Soldaten dadurch zu ihrer kriegeriſchen Pflichterfüllung anzureizen, daß man ſie zu
Räubern macht und das offenbare Unrecht ſolcher Plünderung iſt in keiner Beziehung
ein Erſatz für das in ehrlichem Kriege vergoſſene Blut und aufgebrauchte Gut. Die
Privaten führen nicht Krieg und dürfen daher auch nicht der brutalen Raubſucht
preisgegeben werden.


662.

Inſoweit die Zerſtörung von Privateigenthum als bloße nothwendige
Folge der Kriegsführung ſelbſt erſcheint, iſt dieſelbe kein Unrecht, ſondern
als Unglück für die Privatperſonen zu betrachten.


Vgl. zu § 652. Möglicherweiſe werden einzelne Privateigenthümer ſehr hart
von den zerſtörenden Wirkungen des Kriegs betroffen, indem ihre Felder verwüſtet,
ihre Gebäude niedergeriſſen, ihre Wohnungen abgebrannt werden. Soweit dieſe
Uebel unvermeidlich erſcheinen, ſoweit muß der Eigenthümer dieſelben ertragen, wie
den Hagelſchlag oder wie die Ueberſchwemmung des ausgetretenen Stromes, wie den
Brand, den der Blitz entzündet hat. Es iſt das für ſie ein Unglück, nicht ein erlit-
tenes Unrecht. Daher haben ſie auch keine Rechtsforderung auf Entſchädigung
weder gegen den feindlichen Stat, deſſen Truppen die Zerſtörung gemacht haben,
noch gegen den eigenen Stat, auf deſſen Schutz ſie angewieſen ſind. Aber die Rück-
ſichten der Billigkeit ſprechen dafür, daß der letztere Stat, wenn ſeine Finanz-
kräfte dazu ausreichen, hinterher den Schaden, den Einzelne um ſeines Krieges
willen erlitten haben, wenigſtens in der Hauptſache vergüte.


663.

Muthwillige oder rachſüchtige Zerſtörung oder Schädigung von
Privateigenthum iſt ein Rechtsbruch und als ſolcher ſtrafbar.


Insbeſondere ſind die Brandſtiftung oder die Ausrodung von Cul-
turpflanzen, die Zerſtörung von Dämmen u. ſ. f., wenn ſie nicht durch
die militäriſche Nothwendigkeit gerechtfertigt werden, eine völkerrechtswidrige
Barbarei.


Schon Megaſthenes rühmt es den alten Indiern nach, daß ſie im
Kriege die Pflanzungen der Bauern verſchonen, während ſelbſt die civiliſirten Hel-
lenen
zuweilen die Oelbäume in feindlichem Gebiete umhauen (Laurent, hist.
de l’hum. I.
S. 132). Das claſſiſche Alterthum ſteckt noch tief in dieſer Barbarei
und das Mittelalter verſtand unter Kriegsführung vorzugsweiſe die möglichſte Schä-
digung auch des Privateigenthums in Feindesland. Erſt die ſpätere Kriegsführung
wird allmählich milder. Laurent (X. S. 387) hebt es rühmlich heraus, daß
[361]Das Kriegsrecht.
zuerſt im Jahr 1552 der franzöſiſche Marſchall Briſac einen Vertrag mit dem
Spaniſchen General durchgeſetzt habe, welcher die Baumpflanzungen gegen die unnütze
Verwüſtung ſicherte. Aber viel ſpäter noch trieben die Truppen LudwigXIV.
in dem Pfälzerkriege alle Gräuel barbariſcher Verwüſtung. Die heutige Kriegs-
führung mißbilligt das entſchieden. Freilich iſt auch jetzt noch der Rechtsſchutz der
Privateigenthümer gering gegen ſolche Miſſethaten der Truppen. Es bleibt ihnen
zunächſt kein anderes Mittel, als die Hülfe der Commandanten anzurufen, und nicht
immer ſind dieſelben geneigt, einzuſchreiten. Offenbar iſt in ſolchen Fällen der Stat
verpflichtet, ſich ſeiner Angehörigen anzunehmen und wo möglich bei dem Friedens-
ſchluß Entſchädigung zu fordern oder vorzubehalten.


B.Im Seekrieg.

664.

Feindliche Kriegsſchiffe können ſowohl auf offener See als innerhalb
der Eigengewäſſer der kriegführenden Staten jeder Zeit genommen und
ihre Mannſchaft kriegsgefangen gemacht werden.


Die Kriegsſchiffe ſind Kriegsmacht und Kriegsrüſtung und verfallen daher
der Wegnahme des Feindes. Inſofern ſteht das Seekriegsrecht dem Kriegsrecht zu
Lande (vgl. § 644. 645) völlig gleich.


665.

Obwohl auch der Seekrieg wider den Stat und nicht die Privat-
perſonen geführt wird und nach dem natürlichen und humanen Völkerrecht das
Privateigenthum im Seekrieg ebenſo geachtet werden ſollte wie im Land-
krieg, ſo iſt die gegenwärtige Statenpraxis auch mancher civiliſirten See-
mächte noch nicht in Uebereinſtimmung mit dieſen Grundſätzen und wird
von denſelben heute noch der Kriegsmarine ein ſogenanntes Recht der
Seebeute zugeſprochen gegen Schiffe, welche ein Privateigenthum von An-
gehörigen des feindlichen States ſind und gegen die darin befindlichen
Waaren ſolcher Perſonen.


Vgl. die Einleitung S. 40. Gegenwärtig noch hat die engliſche Regie-
rung ſich nicht entſchließen können, das Völkerrecht von dieſem böſen Flecken reinigen
zu helfen, wenngleich auch in England vorzüglich unter dem zunächſt betheiligten
Handelsſtande der Grundſatz der Gleichſtellung des Rechts im See- wie
im Landkrieg
eine wachſende Zuſtimmung erhält. Die Reſolutionen des Bremer
Handelsſtandes
vom 2. Dec. 1859 (abgedruckt bei Heffter Anl. IX.) geben
[362]Achtes Buch.
dem richtigen modernen Princip folgenden beredten Ausdruck: „In Erwägung, daß
die Unverletzlichkeit der Perſon und des Eigenthums die einzige Grundlage bildet,
auf welcher der geiſtige und materielle Austauſch der Völker ſicher gedeihen, auf wel-
cher Geſittung und Wohlſtand ſich frei entwickeln und ungefährdet in die entlegen-
ſten Gebiete der Erde dringen können, daß deßhalb von allen Nationen, die eine
Ehre darein ſetzen, als Vorkämpfer der Civiliſation zu gelten, dieſer Grundſatz auch
im Kriege heilig gehalten werden ſollte;


„in Erwägung, daß dem zuwider völkerrechtlich im Seekrieg noch geſtattet
wird, was am Lande ſelbſt als rohe Gewalt gebrandmarkt iſt, in friedlicher Aus-
übung ihres Berufes begriffene Privatperſonen ihrer Freiheit und ihres Eigen-
thums zu berauben, Handelsfahrzeuge nebſt ihrer Ladung wegzunehmen und zu zer-
ſtören, ihre Mannſchaft gefangen zu halten;


„in fernerer Erwägung, daß das Unrecht dieſes Verfahrens bereits allſeitig
in das Bewußtſein getreten, daß die von faſt ſämmtlichen Staten anerkannte De-
claration des Pariſer Congreſſes vom 16. April 1856 einer richtigen Anſchauung
Bahn zu brechen begonnen hat, daß ſie nicht nur die Intereſſen der Angehörigen
neutraler Staten, daß ſie das Eigenthum ſelbſt der Angehörigen kriegführender Staten
in dem Falle, wenn es ſich an Bord neutraler Schiffe befindet, in Schutz nimmt;
daß in Folge theils dieſes Vorganges, theils des offenkundigen Wunſches mancher
Regierungen, z. B. der Vereinigten Staten von Nordamerika, nach vollſtändiger
Beſeitigung des eingewurzelten Unrechts die allſeitige Anerkennung des Anſpruchs
von Handel und Schiffahrt treibenden Privatleuten auf Sicherheit für ſich und ihr
Eigenthum, ſoweit ſie den Bedingungen des Krieges nicht entgegenhandeln, weſentlich
erleichtert iſt;


„in Erwägung ſodann, daß dem gegenwärtig wieder zuſammentretenden
Congreſſe der Europäiſchen Großmächte die Aufgabe nahe liegt, das begonnene Werk
ſeiner Vorgänger zu vollenden und ſich durch völlige Verbannung der Willkür roherer
Zeiten aus den Normen des Seerechts ein ſegensreiches und ewiges Andenken in
den Annalen der Civiliſation zu ſtiften;


„in Erwägung endlich, daß zu dem Zwecke Alle, welche das eigene Intereſſe
oder eine warme Theilnahme am Fortſchritte des Rechts zunächſt dazu antrieb, laut
ihre Stimme erheben, und der eigenen Regierung, wie dem verſammelten Rathe
der Nationen, das einſtimmige Urtheil der gebildeten Welt verkünden ſollten;
„beſchließt die Verſammlung:


1. Die Unverletzlichkeit der Perſon und des Eigenthums in Kriegszeiten zur
See, unter Ausdehnung auf die Angehörigen kriegführender Staten, ſoweit die Zwecke
des Krieges ſie nicht nothwendig beſchränken, iſt eine unabweisliche Forderung des
Rechtsbewußtſeins unſerer Zeit.


2. Ein Hoher Senat der freien Hanſeſtadt Bremen iſt angelegentlich zu er-
ſuchen, dieſen Grundſatz vertreten und ſeine Durchführung, ſei es bei den verbün-
deten deutſchen Regierungen, ſei es bei den Mächten des Congreſſes, in Anregung
bringen zu wollen.


3. Der gleichſtimmige Ausſpruch und die gleichſtimmige Einwirkung auf ihre
Regierung von Seiten Aller, welchen die Durchführung jenes Grundſatzes im eigenen,
[363]Das Kriegsrecht.
wie im Intereſſe des Rechts und der Civiliſation am Herzen liegt, iſt möglichſt zu
erſtreben.


4. Zur Ausführung dieſer Beſchlüſſe wird ein Comité niedergeſetzt, welches
namentlich die Mittheilung derſelben an Einen Hohen Senat, an die Handelskammer,
an die hier reſidirenden Conſuln anderer Staten und in ausgedehntem Maße an
ſolche Kreiſe und Perſonen Deutſchlands und des Auslandes, die an der Wohl-
fahrt des Seeverkehrs eng betheiligt ſind, mit der Aufforderung übernehmen wird,
in gleichem Sinne thätig ſein zu wollen“.


In dem deutſchen Kriege von 1866 verzichteten Preußen und Oeſterreich auf
Priſen von Handelsſchiffen. Aber zu einer völkerrechtlichen Abſchaffung der Seebeute
iſt es bis jetzt leider noch nicht gekommen, wenn gleich die Hoffnung wächſt, daß
dieſelbe nicht mehr lange aufgehalten werden könne.


666.

Dieſes ſogenannte Seebeuterecht erſtreckt ſich nicht auf feindliches
Privatgut im Lande, ſondern iſt beſchränkt auf die feindlichen Schiffe und
das feindliche Gut in den Schiffen.


Gerade dieſer Gegenſatz der Behandlung zeigt, wie inconſequent das ganze
Verfahren iſt. Die dem Angehörigen des feindlichen States zugehörige Kauf-
mannswaare
iſt Gegenſtand der Seebeute, ſo lange ſie auf dem feindlichen Schiffe
ſich befindet, aber noch nicht, bevor ſie auf das Schiff geladen iſt, und nicht
mehr
, wenn ſie aus dem Schiff ausgeladen iſt. Die Docks und Magazine der
Seeſtädte ſichern die Waare vor der Beute, nur das Schiff nicht. Weßhalb nicht,
das iſt durch die gewöhnlich angeführten Vorwände nicht zu erklären. Das Schiff
iſt ja nur ein wandernder Theil des Landes; und inſofern es die Waaren auf-
nimmt und birgt, gleichſam ein ſchwimmendes Magazin. Es iſt daher unlogiſch,
das Privateigenthum an der Waare zu ſchonen, wenn es auf feſtem Lande,
und es als gute Beute zu behandeln, wenn es in einem Schiffe maga-
zinirt iſt
. Eher laſſen ſich Gründe dafür anführen, daß die Schiffe weggenom-
men werden, weil dieſe ihrer Natur nach auch der Kriegsführung dienen
können, ſei es zum Transport der Truppen, ſei es geradezu zum Seekrieg ſelber.
Die genommenen Schiffe ſind übrigens von dem Nehmer einem Priſengerichte zur
Beurtheilung zu übermitteln. Vgl. unten Buch IX. Cap. 6.


667.

Die Fiſcherboote der Angehörigen des feindlichen States dürfen nicht
als Priſe weggenommen werden.


In dieſer Ausnahme, welche die Kriegsſitte macht, und insbeſondere von den
franzöſiſchen Gerichtshöfen in weiteſtem Umfang geſchützt wurde (vgl. Heffter
[364]Achtes Buch.
§ 137), bricht das natürliche Recht durch, welches zur allgemeinen Regel zu werden
geeignet iſt. Wenn die Fiſcherboote zu kriegeriſchen Zwecken dienen, dann ſind ſie
der Wegnahme ausgeſetzt, aber nicht, ſo lange ſie von dem friedlichen Berufe
der Fiſcher
benutzt werden.


668.

Auch auf geſtrandete Schiffe und geborgene Güter erſtreckt ſich das
Priſenrecht nicht.


Freilich wenn das der Wegnahme ausgeſetzte Schiff auf der Flucht ſcheitert,
ſo kann der Nehmer ſich noch desſelben bemächtigen.


669.

Die gute Kriegsſitte erfordert, daß die feindlichen Handelsſchiffe nicht
mehr ſofort nach dem Ausbruch des Krieges durch unerwartete Wegnahme
überraſcht, ſondern denſelben eine Friſt gewährt werde, innerhalb welcher
ſie aus den feindlichen Häfen auslaufen und einen ſicheren Zufluchtsort
aufſuchen können.


Vor dem Krieg iſt die Wegnahme nicht erlaubt, ſondern höchſtens die Be-
ſchlagnahme (Embargo). Vgl. § 509. Aber es iſt offenbar ſehr hart, friedlich
geſinnte Kauffahrer, ohne vorherige Warnung, am Tage der Kriegseröffnung, zu
überfallen und ihre Schiffe und Ladung als Priſe wegzunehmen. Da ſträubt ſich
das heutige Rechtsgefühl ſtärker gegen die Anwendung des alten Satzes, daß die
Schiffe und Waaren der „Feinde“ der Confiscation verfallen. Ein völkerrechtlicher
Fortſchritt der Art iſt vornehmlich in dem Ruſſiſchen Kriege von 1854 gemacht wor-
den, indem die beiden Weſtmächte Frankreich und England den Ruſſiſchen Schiffen
in ihrem Bereich eine Friſt von 6 Wochen gaben, um ſich und ihre Ladung in
Sicherheit zu bringen. Man nennt dieſe Verſtattung Indult.


670.

Nach dem in Europa anerkannten Völkerrecht dürfen keine Kaper-
ſchiffe mehr zur Seebeute ermächtigt werden.


1. Die Kriegsſitte der Seeſtaten hatte ſich nicht da mit begnügt, durch ihre
Kriegsſchiffe den Handel der feindlichen Nation zur See möglichſt zu ſchädigen, zu
berauben und zu unterdrücken. Sie ſuchte dieſe Gefährdung des Handels noch da-
durch zu vergrößern, daß ſie die Raubſucht und den Haß der Privaten benutzte und
[365]Das Kriegsrecht.
Privatſchiffe ermächtigte, ebenfalls auf Seebeute auszufahren. Die Ermächtigung
wurde durch ſogenannte Kaperbriefe (Lettres of Marque) gegeben, und dieſe
legitimirten Raubſchiffe wurden Kaper genannt. Das Kaperſchiff erkannte zwar
die Autorität des Admirals an, welcher die Kriegsflotte commandirte, aber es bildete
doch nicht einen eigentlichen Beſtandtheil der Kriegsflotte, ſondern blieb eine Unter-
nehmung der Freibeuter. Es war das ein Privatkrieg, welcher neben dem mili-
täriſch geordneten Statskrieg herlief und die Garantien und Schranken der militäri-
ſchen Ordnung abſtreifte. Zu der mittelalterlichen Kriegsführung paßte das noch,
mit den humaneren Grundſätzen der modernen Welt kam es in ſchroffſten
Widerſpruch.


2. Seit dem vorigen Jahrhundert wurden daher verſchiedene Verſuche gemacht,
die Kaperei zu unterſagen. Zuerſt wurde in einem Vertrag, den Franklin als
Geſandter der Vereinigten Staten von Nordamerika mit Preußen unter
Friedrich dem Großen im Jahr 1785 abſchloß, beſtimmt, daß keine der beiden
Mächte im Fall eines Krieges Kaperſchiffe ausrüſten dürfe zur Schädigung des feind-
lichen Handels. Aber auch dieſer Artikel wurde bei der Reviſion des Vertrags von
1795 nicht wieder aufgenommen (Wheaton, Elem. § 358). Die in den Zwan-
zigerjahren unſers Jahrhunderts erneuerten Unterhandlungen unter den Seemächten
zur Abſchaffung der Kaperei waren erfolglos. Erſt auf dem Pariſer Congreß
von 1856 kam am 16. April eine gemeinſame Erklärung der europäiſchen Mächte
über das Seerecht in Kriegszeiten zu Stande, deren erſter Artikel lautet: „La
course est et demeure abolie“
. Die Erklärung wurde urſprünglich von den fünf
europäiſchen Großmächten England, Frankreich, Oeſterreich, Preußen
und Rußland, ſodann dem Königreich Sardinien (Italien) und der Türkei
unterzeichnet, erhielt aber ſpäter auch die ausdrückliche Zuſtimmung der übrigen
europäiſchen Staten und von manchen amerikaniſchen Staten. Offenbar enthält die
Erklärung nicht eigentliches (conventionelles) Vertragsrecht, ſondern
durch gemeinſame Anerkennung ausgeſprochenes nothwendiges
(Geſetzes) Recht. Als europäiſches Völkerrecht iſt nun der Grundſatz anerkannt
und kein europäiſcher Stat darf mehr davon zurücktreten und die alte Barbarei
erneuern.


3. Der allgemeinen Anerkennung aber des Grundſatzes ſteht hauptſächlich
noch im Weg, daß die Vereinigten Staten von Nordamerika ihre Zuſtim-
mung verſagten, und zwar nicht deßhalb, weil ſie die Kaperei guthießen, ſondern
deßhalb, weil ihnen die Kaperei ſo lange als Nothwehr unentbehrlich ſchien, als
nicht die Kriegsmarine ſelbſt auf die Seebeute gegen Kaufſchiffe verzichte. Sie
fanden, daß die Seeſtaten mit ausgedehnter Handelsmarine und geringer Kriegs-
marine durch die bloße Beſeitigung der Kaperei in eine höchſt ungünſtige Lage ver-
ſetzt werden gegen die Seeſtaten mit ſtarker Kriegsmarine, indem dieſe ihren See-
handel vernichten können, aber ſie ohne Hülfe von Privatſchiffen als Kapern nicht
ebenſo den feindlichen Handel. Frankreich, Preußen, Italien und Ruß-
land
waren bereit, auf den Amerikaniſchen Verbeſſerungsvorſchlag einzugehen und
die (widerrechtliche) Seebeute mit der Kaperei abzuſchaffen. Allein England ließ
ſich noch nicht dazu herbei. In dem nordamerikaniſchen Bürgerkrieg 1861 gaben
[366]Achtes Buch.
die Südſtaten Kaperbriefe aus; aber fremde Schiffseigner ließen ſich, abgemahnt
und gewarnt von ihren Regierungen, nicht darauf ein. Auch der Präſident der
Union wurde vom Congreß dazu ermächtigt, aber er machte von ſeiner Vollmacht
keinen Gebrauch (Wheaton, Elem. of int. law. § 359. Anm.).


671.

Auch inwiefern es noch durch die hergebrachte Uebung der Seemächte
als geſtattet erſcheint, Seebeute zu machen, iſt das doch nach europäiſchem
Völkerrecht nur wirklichen Kriegsſchiffen, die einen Beſtandtheil der Kriegs-
flotte bilden, erlaubt.


In der militäriſchen Unterordnung und Disciplin liegt eine gewiſſe Garantie
gegen Exceſſe, welche bei Kaperſchiffen gänzlich fehlt. Vgl. im übrigen zu § 665. 670.


672.

Das genommene Schiff muß in der Regel dem Priſengericht des
Nehmeſtats überliefert und von dieſem über die Rechtmäßigkeit der Priſe
entſchieden werden.


Die Priſengerichte dienen zur Controle über die Ausübung des Seerechts
in Kriegszeiten. Die Priſengerichtsbarkeit wird als Kriegsgerichts-
barkeit
zur See betrachtet. Neutrale Staten haben keine Priſengerichte. Vgl.
darüber unten Buch IX. Cap. 6. Die Beſetzung der Priſengerichte und das Ver-
fahren vor denſelben iſt noch immer ſtatsrechtlich geordnet. Aber das Recht,
welches ſie handhaben, iſt in erſter Linie völkerrechtlich. In der Regel ſollen
die genommenen feindlichen Schiffe in einen Hafen des Nehmeſtats aufgebracht und
da der Beurtheilung des Priſengerichtshofs unterworfen werden. Aber nicht immer
iſt das möglich, beſonders nicht, wenn der Krieg in entlegenen Gewäſſern geführt
wird. Dann müſſen dieſelben vorerſt in neutralen Häfen untergebracht wer-
den, inſofern ſolches von neutralen Staten geſtattet wird. Unzuläſſig iſt es, die
Zerſtörung des genommenen Schiffs damit zu entſchuldigen, daß die Häfen des
Nehmeſtats blokirt ſeien und daher die Aufbringung desſelben dahin unmöglich ge-
worden ſei. Der Mangel an Häfen dehnt nicht das Recht der Wegnahme aus.
Nur die äußerſte Noth könnte die Zerſtörung rechtfertigen. Als Maxime iſt dieſelbe
völkerrechtswidrig. Der nordamerikaniſche Bürgerkrieg von 1861—65 gab zur Er-
örterung dieſer Frage den Anlaß, indem ſüdſtatliche Kreuzer einen ſolchen Ver-
nichtungszug gegen Kauffahrer des Nordens unternahmen. Vgl. Clark in dem
Papers read before the Juridical society. London 1864.


[367]Das Kriegsrecht.
673.

Alle Seebeute gehört dem State, nicht der Mannſchaft des Nehme-
ſchiffs zu. Der Stat hat freies Verfügungsrecht darüber und kann den
Nehmern einen beliebigen Antheil daran einräumen oder auch ganz auf
die Annahme verzichten und Schiff und Waare wieder den Privatperſonen
zuſtellen, welche — abgeſehen von dem Beuterecht — als die rechtmäßigen
Eigenthümer derſelben anzuſehen ſind.


„Bello parta cedunt reipublicae“ (Bynkershoek). Auch in
England gilt es vorzugsweiſe als ein Recht der Krone, frei über die Beute zu
verfügen. Es iſt die Beute eine Folge des Kriegs und das Beuterecht eine Anwen-
dung des Kriegsrechts. Der Kriegsherr entſcheidet hier, wie in andern Fällen der
Kriegsleitung. Es iſt daher in ſeiner Macht, das erbeutete Schiff, wenn er ſolches
aus humanen oder aus politiſchen Gründen für zweckmäßig erachtet, wieder frei und
dem urſprünglichen Eigenthümer zurückzugeben, ohne daß der Schiffsmannſchaft,
welche ihr Leben und ihre Arbeit daran geſetzt hat, dasſelbe zu erbeuten, ein Recht
der Einſprache zuſteht. Vgl. die Urtheile der Lords Stowell und Brougham
bei PhillimoreIII. § 128. Ebenſo kann er einen beliebigen Antheil an der
Beute zur Belohnung der Mannſchaft des Nehmeſchiffs verwenden.


8. Verkehr und Verhandlungen unter den Kriegsparteien. Waffen-
ruhe. Waffenſtillſtand. Capitulation.


674.

Jeder Verkehr zwiſchen den von den feindlichen Kriegsheeren beſetzten
Gegenden iſt in der Regel unterſagt. Ausnahmen bedürfen der Geneh-
migung der Befehlshaber. Uebertretungen des Verbots werden je nach
Umſtänden ſtrenge beſtraft.


1. Am. 86. Die ältere, von Bynkershoek (Quäſt. I. 3) vertretene,
heute noch von Wildman, Wheaton, Phillimore vertheidigte Meinung
geht viel weiter. Sie nimmt an, durch die Kriegseröffnung werde aller Verkehr
zwiſchen den Ländern, die im Kriege ſind, grundſätzlich unterſagt. Dieſe Meinung
wird damit erklärt, daß die eigenen Unterthanen durch die Kriegserklärung aufgefordert
[368]Achtes Buch.
werden, dem Feinde möglichſt viel Uebel zuzufügen und daß die patriotiſche Pflicht
gebiete, mit dem Feinde ſeines Landes keine Gemeinſchaft zu pflegen. Indeſſen hat
Bynkershoek ſelber zugleich darauf aufmerkſam gemacht, daß die Handelsintereſſen
dem widerſtreben und daß deßhalb der Handel mit gewiſſen Waaren gewöhnlich er-
laubt und nur bezüglich anderer Waaren verboten werde. Da der Verkehr meiſtens
zweiſeitig iſt, ſo ſchädigt überdem der Abbruch alles internationalen Verkehrs
nothwendig beide Nationen, und ſchon dieſe Erwägung der Folgen des Verbots läßt die
Erlaſſung desſelben meiſtens als unzweckmäßig erſcheinen. Wäre jene Begründung
an ſich richtig, daß man den Feind möglichſt ſchädigen ſoll, was ſie offenbar nicht
iſt, ſo würde ſie doch in unſerm Falle nicht zutreffen, weil der ſich ſelber ins Fleiſch
ſchneidet, der den Feind mit dieſer Waffe verwunden will. Der ganze Grundgedanke
aber iſt falſch. Die Hemmung des Verkehrs verſteht ſich nur inſofern von ſelbſt,
als ſie eine Bedingung oder Folge der Kriegsführung, nicht der Kriegs-
erklärung iſt. Nur die militäriſchen Motive oder ausnahmsweiſe beſondere
politiſche Motive können ſie rechtfertigen. Die erſtern werden in der Ausnahme
vollkommen gewürdigt, die letztern bedürfen einer ſtatlichen Anordnung. Da
die Privatperſonen einander nicht bekriegen, ſondern als Privaten
mit einander im Frieden leben, ſo iſt nicht einzuſehn, weßhalb ſie nicht während
des Kriegs mit einander den friedlichen Verkehr fortſetzen können, der für beide
Nationen nützlich iſt und die Kriegsführung nicht gefährdet. Wenn der Bauer ge-
wohnt war, über die Grenze zur nächſten Mühle zu fahren, oder Weinberge und
Aecker jenſeits der Grenze beſitzt, weßhalb ſollte er nicht auch dann ſein Korn in
jene Mühle fahren, oder hier Weinleſe und Ernte halten dürfen, ſolange ihm das
nicht unterſagt wird. Auch dieſe Intereſſen der Wirthſchaft ſpielen hin und her in
den Grenzgegenden. Die Intereſſen der Fabrication und des Handels wirken weiter
und tiefer ins Land hinein, werden aber wieder durch einen Abbruch des Verkehrs
gewöhnlich nach zwei Seiten hin geſchädigt. Die natürliche Rechtsregel iſt alſo
nicht das Verbot, ſondern die Fortdauer des friedlichen Verkehrs.


2. Offenbar ſteht die Ausbreitung der entgegengeſetzten Regel bei den engliſch-
amerikaniſchen Schriftſtellern noch mit dem Princip in Verbindung, daß die Kauf-
fahrteiſchiffe
ſammt ihrer (feindlichen) Ladung der Seebeute ausgeſetzt ſind.
Wird dieſe Seebeute endlich aufgegeben, dann wird die Unhaltbarkeit eines allge-
meinen Handelsverbots auch zur See Jedermann einleuchten. Man wird dann auch
zugeben, daß die Geſtattung des Seehandels, außer nach den blokirten feindlichen
Häfen in dem Ruſſiſchen Kriege von 1854 (WheatonInt. L. § 315 Anm.) nicht
ein jus singulare iſt, ſondern den Aufgang eines humaneren Rechtsſatzes
bedeutet. Vgl. Heffter § 132. 133.


3. Aber die Regel des Verkehrs erfordert eine Beſchränkung. So weit die
Truppen wider einander im Felde ſtehn, muß der Verkehr zwiſchen den beſetzten
Gebieten
aufhören, denn ſeine Fortſetzung wird leicht zur Gefahr oder zum
Hemmniß für die Truppen. Weder Reiſende noch Briefe, noch Waaren dürfen daher
ohne Erlaubniß der Commandanten aus einem Gebiet in das andere hinüber.
Dieſe hemmende Folge der Kriegsführung gilt als ſelbſtverſtändlich, weßhalb
es gefährlich iſt, ohne militäriſchen Sicherheitspaß den Uebergang zu wagen. Ins-
[369]Das Kriegsrecht.
beſondere läuft der ſo Reiſende, wenn er offen verfährt, Gefahr, zurückgewieſen zu
werden, und wenn er ſich heimlich durchzuſchleichen ſucht, Gefahr, verhaftet zu
werden. Der Handelsmann iſt in Gefahr, daß ſeine Waaren mit Beſchlag belegt,
oder gar zur Strafe confiscirt werden. Wenn damit überdem eine Verrätherei
verbunden iſt, ſo kann eine ſchwerere Strafe, ſogar unter Umſtänden die Todesſtrafe
verhängt werden.


4. Außerdem kann der kriegführende Stat auch in weiterem Umfange
und überhaupt den Verkehr während des Kriegs verbieten, wenn er das für
nothwendig erachtet, um den Krieg mit Nachdruck zu raſchem Ende zu führen. Nur
verſteht ſich ſolche Allgemeinheit des Verbots nicht von ſelbſt. Iſt dasſelbe erlaſſen,
dann können noch in Form von ſogenannten Licenzen (Erlaubnißſcheinen)
für einzelne Perſonen und für gewiſſe Handels- oder Verkehrsbeziehungen Ausnahmen
verſtattet werden.


675.

Militäriſche Sicherheitspäſſe für Perſonen und Geleitſcheine für
Waaren werden von dem Befehlshaber der Truppen ausgeſtellt und ſichern
das Recht der betreffenden Perſonen, die militäriſchen Linien ungehindert
und ungefährdet zu paſſiren und der Frachtführer, die betreffenden Güter
ebenſo durchzuführen. Sie beruhen nicht auf perſönlicher Ermächtigung,
ſondern auf der Erlaubniß des Amts.


Dieſe Päſſe und Geleitſcheine beruhen im letzten Grund auf der Auto-
rität der Kriegs- beziehungsweiſe Statsgewalt. Sie bedürfen aber den Verhältniſſen
gemäß im Einzelnen der militäriſchen Controle. Es iſt je nach Umſtänden
aus militäriſchen Gründen nothwendig, der Erlaubniß im einzelnen Falle keine wei-
tere Folge zu geben, wenn Gefahr damit verbunden iſt. Auch die untern Befehls-
haber ſind oft ermächtigt, ſolche Scheine auszuſtellen, ſo jedoch, daß der obere Be-
fehlshaber deren Wirkſamkeit hemmen kann. Aber es wäre gegen die bona fides,
wenn ein Schein nicht weiter geachtet würde, weil er von einem Befehlshaber aus-
geſtellt worden iſt, der vielleicht nicht mehr am Leben oder doch durch eine andere
Perſon inzwiſchen im Commando erſetzt worden iſt. Die Erlaubniß iſt nicht von
der Perſon, ſondern von der amtlichen Stellung und Vollmacht deſſen
abhängig, welcher ſie gegeben hat.


676.

Der Sicherheitspaß gilt lediglich für die Perſon, welche darin genannt
iſt, und iſt nicht übertragbar.


Der Geleitſchein für den Güterverkehr iſt übertragbar, inſofern nicht
gegen die Perſon des Frachtfuhrmanns beſondere Bedenken vorhanden ſind.


Bluntſchli, Das Völkerrecht. 24
[370]Achtes Buch.

Sicherheitspäſſe dürfen daher nicht an andere Perſonen zum Ge-
brauche überlaſſen werden. Wenn eine politiſch oder militäriſch gefährliche Perſon
als Frachtfuhrmann verwendet wird, um mit Hülfe des Geleitſcheins in dieſer Ver-
kleidung ins feindliche Lager ſich hinüber zu retten und er wird entdeckt und trotz
des Geleitſcheins arretirt, ſo kann er ſich nicht über einen Treubruch beklagen, ſon-
dern liegt im Gegentheil ein je nach Umſtänden, insbeſondere wenn Spionerei
oder Verrätherei beabſichtigt iſt (vgl. § 683), kriegsgerichtlich zu beſtrafender
Mißbrauch jener Erlaubniß vor. Wohl kann aber der Paß außer der benannten
Perſon auch ihre Familie, Dienerſchaft, Gefolge, Geſellſchaft, wenn das angedeutet
iſt, ſchirmen. Nur darf auch hier nicht damit ſo Mißbrauch getrieben werden, daß
Perſonen, welche für gefährlicher betrachtet werden, als der genannte Paßinhaber,
unter die allgemeine Formel verſteckt werden.


677.

Die Wirkſamkeit des Sicherheitspaſſes und des Geleitſcheins reicht
ſoweit als die militäriſche Gewalt des Heeres reicht, alſo je nach Umſtänden
in feindliches Gebiet hinein, aber nicht über jenen Bereich hinaus.


Dieſe Urkunden beruhen auf militäriſcher Autorität und können
daher nur innerhalb der Grenzen wirken, in denen dieſelbe Gehorſam findet, nicht
aber in Gegenden Beachtung erwarten, in denen die feindliche Kriegsgewalt herrſcht.


678.

Iſt der Paß nur auf eine beſtimmte Zeitfriſt ertheilt, ſo erliſcht
ſeine Wirkſamkeit mit dem Ablauf der Zeitfriſt. Wenn jedoch der Träger
des Paſſes ohne ſeine Schuld durch höhere Gewalt verhindert war, durch
das beſetzte Gebiet hindurch zu kommen, ſo wird er zwar nicht durch den
Buchſtaben der Erlaubniß, aber durch ihren Geiſt ſoweit geſchützt, als es
die Umſtände geſtatten.


In allen Fällen iſt die bona fides zu berückſichtigen. Gerade in Kriegs-
zeiten können ſich dem Vollzug einer vielleicht auf wenige Tage oder ſogar auf eine
Anzahl Stunden beſchränkten Durchreiſe durch die Linien des Heeres ſo viele uner-
wartete Hinderniſſe entgegenſetzen, daß es durchaus unbillig wäre, die Zeitbeſchrän-
kung ohne Rückſicht auf ſolche Zufälle nach dem Wortlaute der Urkunde auszu-
legen.


679.

Auch während des Kriegs und auch dem Feinde gegenüber ſind
Verſprechen und Verträge in gutem Glauben zu halten, und das von
[371]Das Kriegsrecht.
dem Feinde erhaltene Vertrauen nicht zu mißbrauchen. Insbeſondere gilt
das von den Cartelverträgen, welche zwiſchen den Befehlshabern feindlicher
Truppen über Päſſe und Couriere, über den Poſt- und Telegraphen-
verkehr, über das Begräbniß der Todten, über die Bezeichnung und Be-
handlung der Parlamentärs, über die Behandlung oder Auswechſelung
oder den Loskauf von Kriegsgefangenen verabredet werden.


Die Rechtsgültigkeit und völkerrechtliche Verbindlichkeit der im Kriege abge-
ſchloſſenen Verträge iſt eine der wichtigſten Beſchränkungen der verderblichen Wildheit
des Kriegs. Ohne dieſelbe würden die kriegeriſchen Leidenſchaften zügellos walten
und der Krieg ſich nicht in einen geſicherten Friedenszuſtand verwandeln können.
Das Princip: „Etiam hosti fides servanda“ iſt ſchon im Alterthum
anerkannt worden. Vgl. oben zu § 550. Das Kanoniſche Recht hat dasſelbe
ebenfalls der Chriſtenheit im Mittelalter eingeſchärft. Dec. Grat. II. Causa 23.
Qu. 1. c.
3 (Auguſtinus): „Fides enim quando promittitur, etiam hosti ser-
vanda est, contra quem bellum geritur, quanto magis amico, pro quo pregna-
tur? Pacem habere debet voluntas, bellum necessitas, ut liberet Deus a neces-
sitate et conservet in pace. Non enim pax quaeritur, ut bellum excitetur,
sed bellum geritur, ut pax acquiratur“
.


Der Inhalt ſolcher Cartelverträge iſt ſo mannigfaltig, als die Bedürf-
niſſe der kriegführenden Parteien Befriedigung verlangen und Anerkennung des
Gegners erwarten.


680.

Die Cartelſchiffe genießen auf dem Hin- und Rückweg den Schutz
des Völkerrechts. Indeſſen iſt ihre Mannſchaft verpflichtet, ſich inzwiſchen
aller Handlungen der Feindſeligkeit zu enthalten und auch keinen durch
das Kriegsrecht unterſagten Verkehr zu treiben.


Die Cartelſchiffe machen ſich ſelber zunächſt als ſolche kenntlich, können
aber nur inſofern auf Achtung rechnen, als ſie bona fide die vertragsmäßige
Unterhandlung einleiten oder die Uebereinkunft ausführen. Vgl. PhillimoreIII.
§ 112.


681.

Die Parlamentäre d. h. die Perſonen, welche im Auftrag einer
Kriegspartei bei den Truppen der andern erſcheinen zum Behuf der Unter-
handlung mit dem Befehlshaber derſelben über Kriegsverträge, werden
24*
[372]Achtes Buch.
durch die Parlamentärflagge oder Fahne bezeichnet und genießen den
Schutz des Völkerrechts.


Die Parlamentäre ſind keine Geſante, weil ſie nicht von der Statsgewalt
und nicht zu Stellvertretern derſelben ernannt ſind, aber ſie dienen als Boten der
Kriegsparteien doch dazu, den Verkehr zwiſchen beiden in einzelnen Fällen und zu
beſtimmten Zwecken neu anzuknüpfen und eine Uebereinkunft der Gegner einzuleiten
oder abzuſchließen. Inſofern haben ſie eine ähnlich privilegirte Stellung.
Sie dürfen nicht zu Kriegsgefangenen gemacht, ſondern es muß ihnen freie und
möglichſt ſichere Rückkehr geſtattet werden.


682.

Der Befehlshaber der beſendeten Truppen iſt jedoch nicht verpflichtet,
unter allen Umſtänden und jederzeit einen feindlichen Parlamentär zuzu-
zulaſſen und anzuhören und er iſt berechtigt, Vorſicht zu gebrauchen und
Maßregeln zu treffen, damit der feindliche Parlamentär nicht ſeine An-
weſenheit zum Nachtheil der Kriegsführung benutze.


683.

Wenn es entdeckt und unzweifelhaft erwieſen wird, daß der Par-
lamentär ſeine privilegirte Stellung mißbraucht hat, um militäriſche Spio-
nerei zu betreiben oder gefährliche Verſchwörungen und Verrath anzuſtiften,
ſo verliert er den Anſpruch auf völkerrechtlichen Schutz und kann kriegs-
rechtlich beſtraft werden. Aber es bedarf eines völlig ſicheren, jedermann
erkennbaren Beweiſes der Schuld, damit nicht die Verurtheilung als Ver-
letzung des Völkerrechts betrachtet werde.


Am. 114. Der Parlamentär darf wohl, ohne Verletzung des Völkerrechts,
ſtrenge überwacht und von jedem weitern Verkehr, als mit dem beſendeten Be-
fehlshaber abgeſperrt werden. In manchen Fällen werden ihm die Augen
verbunden, damit er nicht Dinge wahrnehme, welche man vor dem Feinde verbergen
will. Denn iſt er einmal wieder zurückgekehrt, ſo iſt er durch Nichts verhindert,
über Alles zu berichten, was er wahrgenommen hat.


684.

Wird der Träger einer Parlamentärflagge unverſehens während
eines Gefechtes verwundet oder getödtet, ſo gibt das keinen Grund zur
[373]Das Kriegsrecht.
völkerrechtlichen Beſchwerde. Das bloße Erſcheinen der Parlamentärflagge
bedingt für ſich allein nicht nothwendig das Einſtellen des Feuers.


Am. 113. 116. Abſichtliche Verwundung oder Tödtung des ſichtbaren
Parlamentärs iſt eine ſchwere Verletzung des Völkerrechts (681). Die Truppen
müſſen es daher vermeiden, auf ihn zu ſchießen. Aber während des Kampfes gibt
es keine völlige Sicherheit. Wenn keinerlei mala fides mitwirkt, ſondern nur ein
unglücklicher Zufall ihn trifft, ſo darf man dieſen dem Feind nicht als Rechts-
bruch zur Laſt legen. In vielen und ſogar den meiſten Fällen wird das Feuer
überhaupt eingeſtellt, wenn das Erſcheinen der Parlamentärflagge oder zu Land die
Ankunft eines Parlamentärs auf die Neigung ſchließen läßt, zu verhandeln, öfter
ſogar auf die Abſicht des Feindes, ſich zu ergeben. Aber würde man genöthigt, in
allen Fällen, ſobald ein Parlamentär ſich zeigt, den Kampf abzubrechen, ſo würde
vielleicht der entſcheidende Moment des Sieges unbenutzt vorübergehen und der Sieg
ſelbſt wieder verloren oder die Verfolgung gelähmt werden. In ſolchen Fällen darf
die Annahme des Parlamentärs verweigert oder trotz der Unterhandlung mit dem-
ſelben der Kampf durchgeführt werden.


685.

Es iſt gute Kriegsſitte, die Spitäler und je nach Umſtänden auch
andere beſonders geheiligte Orte mit Schutzfahnen von beſonderer Farbe
zu bezeichnen, damit ſie eher von dem feindlichen Feuer geſchont werden.


Am. 115. Nur für die Spitäler iſt das als völkerrechtliche Pflicht durch
die Genfer Convention vorgeſchrieben. Vgl. oben § 592. Aber ähnliche Rückſichten
der Humanität können auch eine beſondere Rückſicht empfehlen. Immer aber gilt
es für eine ſchlechte und entehrende Handlung, wenn der Feind durch Ausſtecken
einer Schutzfahne, ohne innern Grund, zu täuſchen und etwa gar ſeine Angriffs-
ſtellung vorläufig beſſer zu ſichern ſucht. Solche Täuſchung berechtigt den Gegner,
der feindlichen Schutzfahnen nicht weiter zu achten und Repreſſalien zu nehmen.
Am. 117.


686.

Es kann auch von der feindlichen Kriegsgewalt ein beſonderer Schutz
bewilligt und je nach Umſtänden können von ihr Schutzwachen oder Schutz-
briefe gewährt werden, damit Perſonen und Sachen, z. B. wiſſenſchaftliche
Sammlungen und Kunſtwerke vor der kriegeriſchen Beſchädigung oder
Gefährdung gewahrt bleiben. Auch ſolche Schutzgebote ſind in guter Treue
zu beachten.


[374]Achtes Buch.

Am. 118. Es iſt das beſonders wichtig bei der Erſtürmung einer Stadt
oder eines befeſtigten Platzes, und kann je nach Umſtänden auch einzelnen angeſe-
henen Perſonen zu Gute kommen. Schon im Alterthum kommen manche Beiſpiele
der Art vor. Damals hatten ſolche Privilegien noch mehr als gegenwärtig zu be-
deuten, weil die heutige Kriegsführung überhaupt friedliche Perſonen und ihr Vermögen
weit weniger gefährdet, als die antike.


687.

Wenn die beiderſeitigen Befehlshaber über eine zeitweiſe und örtliche
Waffenruhe übereingekommen ſind, ſo haben die beiderſeitigen Truppen
inzwiſchen in guter Treue ſich jeder Feindſeligkeit zu enthalten.


Solche Waffenruhe wird gewöhnlich durch Parlamentäre begehrt und
zugeſtanden, oder gemeinſam verabredet. Es geſchieht das z. B. zum Behuf der
ungeſtörten Beerdigung der auf dem Schlachtfeld gebliebenen Krieger, oder
im Intereſſe der Feier eines Gottesdienſtes, oder auch um weitere Unter-
handlungen über einen Waffenſtillſtand oder Frieden
zu pflegen
u. ſ. f. Die bloß ſtillſchweigend eintretende Waffenruhe iſt zwar möglich, aber
wenig geſichert, weil ſie nicht den Charakter eines Vertrags hat. An und für ſich
berechtigt eine religiöſe Feier keineswegs, auf Waffenruhe zu ſchließen. Die Kriegs-
geſchichte iſt voll von Beiſpielen, daß an ſolchen Feſttagen der Kampf begonnen
wurde, und das Völkerrecht hindert das nicht. Im Mittelalter hemmte der Gottes-
friede
(treuga Dei) die Fortſetzung des Kampfes unter den chriſtlichen Völkern.
Das ganze Inſtitut aber, welches aufgekommen war, um die wilden, nie raſtenden
Fehden einigermaßen zu beſchränken, iſt im Mittelalter ſelber wieder außer Uebung
gekommen, als die Fehden verſchwanden und nur der große Krieg noch als Aus-
nahmszuſtand den regelmäßigen Frieden unterbrach.


688.

Ein eigentlicher und allgemeiner Waffenſtillſtand (trève), welcher
auf längere Zeit zur Einleitung des Friedens abgeſchloſſen wird, bedarf in
der Regel der Genehmigung der oberſten Statsgewalt. Die Ermächtigung
zum Abſchluß kann indeſſen auch einem diplomatiſchen Vertreter oder dem
Feldherrn übertragen werden.


1. Der Waffenſtillſtand im eigentlichen Sinne iſt ein Act der Sou-
veränetät
im eigentlichen und vollen Sinn, analog dem Friedensſchluß, und
kann daher nicht von untergeordneten Befehlshabern unternommen werden. Aller-
dings gelten auch dieſe, inwiefern ihnen ein relativ ſelbſtändiges Commando über-
tragen iſt, durch ihre Stellung für ermächtigt, im Nothfall und beſonders in ent-
[375]Das Kriegsrecht.
legenen Gegenden ſelbſt eine längere Waffenruhe abzuſchließen, deren Wirkung
dann aber auf die betreffende Gegend beſchränkt iſt. Zuweilen werden auch ſolche
Waffenruhen beſondere Waffenſtillſtände genannt, im Gegenſatze zu den
allgemeinen. Indeſſen iſt es zweckmäßiger, jenen Ausdruck auf die Acte zu
beſchränken, welche die Fortſetzung der kriegeriſchen Action überhaupt von Stat zu
Stat hemmen und nicht bloß an beſchränkten Stellen und zwiſchen einzelnen Truppen-
körpern.


2. Die Zeit, auf welche der Waffenſtillſtand abgeſchloſſen wird, iſt entweder
eine beſtimmte — bis zu einem Termin, auf eine Anzahl Wochen oder
Monate oder Jahre — oder eine unbeſtimmte bis zur Kündigung.


689.

Die bloß vorübergehende und örtliche Waffenruhe und ebenſo der
uneigentliche und beſondere Waffenſtillſtand wirken nur in dem bezeichneten
oder als maßgebend vorausgeſetzten Gebietsumfang, und für die daſelbſt
befindlichen oder da erſcheinenden Truppen, nicht aber für andere Kriegs-
felder und die dortigen Truppen.


Der eigentliche und allgemeine Waffenſtillſtand dagegen wirkt über-
haupt und überall verbindlich für die beiden Kriegsparteien und ihre An-
gehörigen.


Jene Waffenruhe und der beſondere Waffenſtillſtand ſind weſent-
lich militäriſche Maßregeln, der allgemeine Waffenſtillſtand iſt
weſentlich ein Statsact. Die Wirkung der erſtern iſt daher begrenzt durch die
beſondere Oertlichkeit, z. B. die Beſchießung einer Feſtung wird eingeſtellt,
die Fortſetzung einer Schlacht oder die feindliche Verfolgung wird abgebrochen, der
feindliche Einmarſch macht an einer beſtimmten Linie Halt u. dgl. Die Wirkung
des letztern erſtreckt ſich auf das ganze Land und die offene See. Soweit die
Statsmacht reicht, werden die Feindſeligkeiten eingeſtellt. Der allgemeine Waffen-
ſtillſtand iſt noch nicht der Friede, aber er hemmt die Gewalt des Krieges vollſtändig
und bereitet den Frieden ernſtlich vor.


690.

Die Befehlshaber ſind verpflichtet, ſo ſchnell als möglich von dem
Abſchluß des Waffenſtillſtands allen Truppen Kenntniß zu geben, und
dadurch das Aufhören der Feindſeligkeiten zu bewirken. Wenn in gutem
Glauben, daß der Krieg ungehemmt fortdauere, von einzelnen entlegenen
Truppenkörpern der Kampf nach dem Abſchluß fortgeſetzt wird, ſo kann
das nicht als Verletzung des Waffenſtillſtands betrachtet werden.


[376]Achtes Buch.

Es iſt möglich, daß die Truppen der einen Partei früher unterrichtet werden,
als die der andern Partei, welche vielleicht von ihrem Hauptquartier abgeſchnitten
iſt. In ſolchen Fällen ſind jene veranlaßt, dieſen davon Anzeige zu machen, aber
auch dieſe veranlaßt, die Wahrheit der Anzeige ſorgfältig zu prüfen, bevor ſie der-
ſelben Glauben ſchenken. Es gilt in allen dieſen Beziehungen nur die Eine durch-
greifende Regel der bona fides.


691.

Während der Waffenruhe und des Waffenſtillſtands iſt jede Partei
berechtigt innerhalb des von ihr beſetzten Gebietes Alles das zu thun, was
ſie im Frieden thun dürfte, ausgenommen ſolche auf die Kriegsführung
bezügliche Handlungen, welche der Feind, wenn der Kampf fortdauerte, zu
verhindern veranlaßt wäre. Sie darf daher außerhalb des eigentlichen
Kampffeldes neue Rüſtungen vornehmen, und Plätze befeſtigen, aber ſie
darf nicht innerhalb desſelben neue militäriſche Stellungen beziehen, oder
einen Rückzug der Truppen ausführen, noch in dem Bereich der feind-
lichen Geſchütze neue Werke anlegen oder die zerſtörten Werke wiederher-
ſtellen, ſei es zum Angriff, ſei es zur Vertheidigung. Sie darf auch nicht
einen Aufſtand erregen in dem von den feindlichen Truppen beſetzten
Gebiet, noch die Einwohner zur Uebergabe einladen.


Die Wirkungen der Waffenruhe und des Waffenſtillſtandes ſind weſentlich
negativ. Sie hemmen die kriegeriſche Action. Es darf alſo voraus nicht mehr
gekämpft
werden, das Feuer wird eingeſtellt. Es muß überhaupt jeder Angriff
unterlaſſen werden; auch die Vorwärtsmärſche auf feindlichem Gebiet werden ein-
geſtellt. Schwieriger aber iſt es, zu beſtimmen, ob und welche Vertheidigungs-
maßregeln
ebenfalls zu unterlaſſen ſind, denn auch das iſt kriegeriſche Action,
welche der Gegner zu hindern das größte Intereſſe hat, und welche er je nach ſeiner
Macht verhindern könnte, wenigſtens zu verhindern verſuchen würde, wenn
der Kampf fortgeſetzt würde. Der Waffenſtillſtand allein hält ihn zurück, entgegen-
zuwirken. Eben deßhalb darf auch der Gegner ſolche Handlungen inzwiſchen nicht
vornehmen; denn dürfte dieſer ſie unter dem Schutze des Waffenſtillſtands unge-
fährdet vollziehen, ſo würde der Waffenſtillſtand nicht gleichmäßig beide Parteien
zur Ruhe verweiſen, ſondern die eine begünſtigen und die andere benach-
theiligen
. Wenn alſo z. B. das eine Heer eine neue günſtigere Stellung vor
dem Feind beziehen und vielleicht befeſtigen wollte, was der Feind, wenn der Kampf
fortgeſetzt würde, verhindern könnte, ſo wäre das nicht Waffenruhe, ſondern eine
militäriſche Action, welche vielleicht für den erneuerten Kampf entſcheidend
würde. Wenn ferner bei der Belagerung einer Feſtung bereits eine Breſche ge-
ſchoſſen
und der vorbereitete Sturm durch eine Waffenruhe verſchoben wird, ſo
darf der Belagerte nicht während derſelben zum Nachtheil der Belagerer die Breſche
[377]Das Kriegsrecht.
wieder ſchließen und neue Werke erbauen, denn wäre die Waffenruhe nicht eingetre-
ten, ſo könnte der Belagerte dieſe Ausbeſſerung durch ſeine Geſchütze verhindern.
Ebenſo wenig darf der Belagerte inzwiſchen neue Truppen in die Feſtung wer-
fen, deren Anmarſch ohne die Waffenruhe der Feind zu verhindern verſuchte. Dagegen
wirkt die Ruhe immerhin ſtärkend für beide Theile, inſofern ſie ſich dabei von der
Anſtrengung des Kampfs erholen. Auch iſt keine Partei gehindert, fern von dem
eigentlichen Kriegsſchauplatz, wo daher eine Behinderung durch Feindesgewalt zunächſt
nicht möglich wäre, Truppen auszuheben, zu ſammeln, zum Kriege vorzubereiten.
Ausführliche Erörterungen darüber hat VattelIII. § 245 ff.


692.

In der Zwiſchenzeit darf die Kriegspartei wohl Plätze in Beſitz
nehmen, welche von dem Feinde aufgegeben ſind, aber nicht, was nur
zufällig von demſelben nicht beſetzt oder verwahrt iſt.


Vattel § 252: „C’est une hostilité que d’enlever à l’ennemi ce qu’il
prétend retenir“
.


693.

Ob es während des Waffenſtillſtandes den Bewohnern geſtattet ſei,
unbeläſtigt hin und her zu gehen zwiſchen den beiderſeits beſetzten Gebieten
und den Verkehr zu erneuern, hängt theils von den Umſtänden ab, unter
denen derſelbe geſchloſſen worden iſt, theils von der Erlaubniß oder dem
Verbot der Kriegsgewalt. Bei dauernden und allgemeinen Waffenſtill-
ſtänden wird die Freiheit des Verkehrs vermuthet.


Nur der allgemeine auf eine längere Zeit abgeſchloſſene Waffenſtillſtand iſt ein
Bild des Friedens, und daher im Zweifel der friedliche Verkehr während des-
ſelben überall geſtattet. Bei einer kurzen, zu beſtimmten Zwecken abgeſchloſſenen Waffen-
ruhe ſtehen oft die militäriſchen Rückſichten auf die mögliche und oft ſogar wahrſchein-
liche Erneuerung des Kampfs dieſer Freigebung des Verkehrs zwiſchen den beiden
von Truppen beſetzten Gebieten im Wege.


694.

Geht die Friſt zu Ende ohne Stundung der Waffenruhe, oder ohne
Erneuerung des Waffenſtillſtandes oder ohne Friedensſchluß, ſo bedarf es
keiner Kündigung, ſondern können die Feindſeligkeiten ſofort wieder auf-
genommen und fortgeſetzt werden.


Die Friſtbeſtimmung beſchränkt die Dauer der Waffenruhe und des
Waffenſtillſtands. Iſt die Friſt abgelaufen, ſo hört damit die Wirkſamkeit der Ver-
[378]Achtes Buch.
abredung auf. Wenn dagegen ein Waffenſtillſtand auf unbeſtimmte Zeit ab-
geſchloſſen worden iſt, ſo überwiegt hier die friedliche Stimmung ſo ſehr und ähnelt
derſelbe dem Frieden ſo ſehr, daß hier eine brüske Erneuerung des Kampfes unſtatt-
haft iſt.


695.

Wenn eine Partei die ſelbſtverſtändlichen oder die ausdrücklichen
Bedingungen der Waffenruhe oder des Waffenſtillſtandes mißachtet und
denſelben zuwiderhandelt, ſo iſt auch die Gegenpartei nicht weiter an die
Uebereinkunft gebunden und kann den Krieg auch ohne vorherige Kün-
digung erneuern und fortſetzen, es wäre denn, daß der Vertrag anders
beſtimmte.


Dieſe Regel folgt aus der Natur des Waffenſtillſtands, welcher nur Hemmung
des Kriegs iſt. Wenn eine Partei während desſelben Handlungen der Feindſelig-
keit begeht, ſo bricht ſie den Waffenſtillſtand, und hat daher kein Recht
mehr zu erwarten, daß der Gegner ſeinerſeits den Fortbeſtand desſelben achte.
Freilich kann dieſe Regel leicht mißbraucht werden. Die Frage nämlich, ob eine
Partei durch irgend eine Maßregel den Waffenſtillſtand gebrochen habe, kann zweifel-
haft ſein; und da es keinen unparteiiſchen Richter gibt, welcher dieſelbe rechtskräftig
entſcheidet, ſo kann eine Partei, welche den Krieg zu erneuern wünſcht, die Klage,
daß die andere Partei zuvor den Waffenſtillſtand gebrochen habe, zum Vorwande
nehmen, um ihren Vertragsbruch zu verdecken. Die öffentliche Meinung, welche bis-
her allein in ſolchen Fällen zu Gericht ſitzt, hält ſich an das Erforderniß der
bona fides
.


696.

Die Verletzung der Waffenruhe oder des Waffenſtillſtandes durch
eine Privatperſon, welche ohne Statsauftrag handelt und deren Handlung
auch nicht von der Kriegsgewalt gutgeheißen oder begünſtigt wird, recht-
fertigt nur die Forderung ihrer Beſtrafung und der Entſchädigung, aber
nicht die ſofortige Erneuerung der Feindſeligkeiten.


Auch wenn die Staten, beziehungsweiſe ihre Heere den Waffenſtillſtand ernſt-
lich und treu halten wollen, ſo können doch Private, vielleicht in der Abſicht
den Krieg wieder zu entzünden, Handlungen der Feindſeligkeit begehn,
z. B. einen Raubzug unternehmen, Gefangene machen und wegſchleppen, einzelne
Feinde tödten u. ſ. f. Für derlei Handlungen wird der Stat nur inſofern verant-
wortlich, als er ſie entweder hervorruft oder ſchützt und obwohl er es ſollte, nicht
[379]Das Kriegsrecht.
verhindert. Vgl. oben § 466. Mit Rückſicht auf die Gefahr des Kriegs wird in
ſolchen Fällen aber ein ernſtes Einſchreiten des Stats gegen ſolche böswillige Ver-
letzer der Waffenruhe oder des Waffenſtillſtandes gefordert. Wird dasſelbe verzögert
oder vernachläſſigt, ſo wird das ſchon als Begünſtigung der That gedeutet und
dieſe iſt in ihren Wirkungen dem Vertragsbruch des States ſelber gleich zu achten.


697.

Capitulation bedeutet die Ergebung eines Truppenkörpers oder Kriegs-
ſchiffs oder die Uebergabe eines bedrohten Platzes an die feindliche Kriegs-
macht. Die Capitulation kann unter Bedingungen und mit beſondern
Vorbehalten geſchehen, z. B. wenn nicht binnen einer Friſt Entſatztruppen
erſcheinen, oder mit Vorbehalt freien Abzugs der Beſatzung. Völkerrecht
und Kriegsehre fordern, daß dieſe Verabredungen in guter Treue gehalten
werden.


1. Die Capitulation wird meiſt in der Abſicht geſchloſſen, durch Auf-
geben eines erfolgloſen Kampfes unnützes Blutvergießen zu verhindern. Dieſe Abſicht
wird durch Aufhiſſen einer weißen Flagge oder Aufſtecken einer weißen Fahne
dem Gegner angezeigt, und dann gewöhnlich durch Parlamentäre über die Capitu-
lationsbedingungen unterhandelt.


2. Die Kriegsgeſchichte kennt leider manche Beiſpiele, daß die Capitu-
lationsbedingungen
von dem Sieger nicht beachtet wurden. Aber in allen
Zeiten hat der Rechtsſinn der öffentlichen Meinung ſolchen Treubruch verurtheilt.
Schlimm iſt es freilich, daß Beſchwerden darüber, die ihrer Natur nach völkerrechtlich
ſind, nur auf den mangelhaften und in Kriegszeiten überdem höchſt unſichern Schutz
des Völkerrechts
angewieſen ſind. Vgl. PhillimoreIII. § 122.


698.

Die Uebergabe auf Gnade und Ungnade berechtigt den Sieger nicht
mehr, die Uebergebenen zu tödten, wohl aber die Truppen, welche ſich
ergeben haben, kriegsgefangen zu machen.


Die bedingungsloſe Capitulation wird von Alters her ſo benannt. Das
ältere barbariſche Recht ſicherte den Uebergebenen nicht einmal das nackte Leben. Das
heutige humanere Völkerrecht erkennt dem Sieger kein ſolches vermeintliches jus
vitae ac necis
mehr zu. Vgl. oben zu 568. 579. 584.


699.

Der Befehlshaber der feindlichen Truppen, welche einen Platz be-
[380]Achtes Buch.
drohen oder belagern, gilt als ermächtigt, die Capitulationsbedingungen zu
bewilligen, ſoweit dabei die perſönliche Freiheit und das Eigenthum der
Truppen und der Bewohner des capitulirenden Platzes betheiligt erſcheinen,
oder es ſich um militäriſche Maßregeln handelt. Er darf aber nicht eigen-
mächtig Zugeſtändniſſe machen, welche ſich auf die politiſche Verfaſſung und
Verwaltung des Ortes beziehen.


Der Grund dieſer Unterſcheidung liegt einerſeits in den militäriſchen
Befugniſſen des Befehlshabers, Alles das zu thun, was zum Behuf der eigentlichen
Kriegsführung nöthig und zweckmäßig erſcheint, andrerſeits in der politiſchen
Statsgewalt, welche nicht an das Militärcommando übertragen iſt. Es iſt freilich
für die Ehre und den Credit eines Stats ſehr bedenklich, wenn ein Obergeneral
politiſche Zuſicherungen macht, welche nachher der Stat nicht zu erfüllen geneigt iſt.
Ein bekannter Fall der Art aus unſerm Jahrhundert iſt das unerfüllt gebliebene
Verſprechen des Lord Bentinck im Jahr 1814, die Unabhängigkeit und Freiheit
Genua’s anzuerkennen, während ſchließlich die engliſche Regierung die Stadt dem
Königreich Piemont zuerkannte. Vgl. darüber PhillimoreIII. § 123 (Rede
von Sir James Mackintoſh gegen ſolchen Treubruch). VattelIII. § 262.


9. Beendigung des Kriegs. Friedensſchluß.


700.

Der Krieg kann thatſächlich aufhören und ohne Friedensvertrag da-
durch in den Friedenszuſtand übergehen, daß die Feindſeligkeiten nicht
fortgeſetzt werden und der friedliche Verkehr wieder beginnt.


Der thatſächliche Beſitzſtand zur Zeit wenn der Krieg aufhört, wird
ſodann als Grundlage des Friedenszuſtandes betrachtet.


In dieſem Falle iſt immerhin der Zeitpunkt, in welchem der Krieg aufgehört
hat und der Friede wieder beginnt, unſicher. Nur allmählich ſtellt ſich das Gefühl
der Sicherheit wieder ein, wie z. B. nach dem Kriege zwiſchen Schweden und Polen
1716. Ebenſo iſt auch die Streitfrage, die zum Kriege geführt hat, gewöhnlich nicht
klar entſchieden, ſondern es behält jede Partei ihre urſprüngliche Rechtsbehauptung
ſich vor, ſoweit nicht durch die im Krieg herbeigeführten Thatſachen der Streit eine
factiſche Erledigung gefunden hat und nun durch das Aufgeben des Kampfs und
[381]Das Kriegsrecht.
den erneuerten Frieden anerkannt wird. Soweit alſo eine thatſächliche Umge-
ſtaltung
der Dinge unangefochten fortdauert, ſoweit gilt der status quo post
bellum res sunt
. Abgeſehen davon aber iſt der status quo ante bel-
lum res fuerunt
als maßgebend zu betrachten.


701.

Der Krieg kann durch Unterwerfung des beſiegten Feindes unter
den Sieger beendigt werden. Bleibt die beſiegte Partei auch nachher noch
als Stat fortbeſtehen, ſo werden die auferlegten Friedensbedingungen wie
ein Friedensvertrag betrachtet. Hört dieſelbe auf, ein Stat für ſich zu
ſein, ſo kommen die Grundſätze der Erweiterung des Statsgebiets bezie-
hungsweiſe der Vereinigung verſchiedener Statsgebiete zur Anwendung.
Die Eroberung begründet erſt in Folge der Ergebung oder des Friedens-
vertrages einen neuen friedlichen Rechtszuſtand.


Vgl. oben zu § 287. 289.


702.

Der Sieger kann in Folge der Unterwerfung des Beſiegten keine
andere Rechte über Land und Leute erwerben, als welche in der Natur
der Statsgewalt und der öffentlichen Rechtsordnung ihre Begründung und
Schranke finden. Die Statsgewalt geht auf ihn über, aber nicht mehr
als die Statsgewalt.


Es folgt das aus dem heutigen Begriffe des Stats, welcher nicht abſolute
Gewalt über Perſonen und Eigenthum bedeutet, ſondern nur öffentlich-rechtliche
und inſofern verfaſſungsmäßige Gewalt. Die Privatperſonen und ihre
Familien haben eine Exiſtenz für ſich, über welche der Stat nicht willkürlich ver-
fügen darf. Ebenſo iſt die Kirche nicht Statsſache. Das Alterthum dachte darüber
anders, wie auch die alt-römiſche Deditionsformel zeigt: LiviusI. 37.
„Rex interrogativ: Estisne vos legati oratoresqus missi a populo Collatino,
ut vos populumque Collatinum dederitis? Sumus. Estne populus Collatinus
in sua potestate? Est. Deditisne nos, populum Collatinum, urbem, agros,
aquam, terminos, delubra, utensilia, divina, humanaque omnia in meam po-
pulique Romani deditionem? Dedimus. At ego recipio“
. Der antike Stats-
begriff
iſt allumfaſſend und abſolut. Der moderne Statsbegriff
dagegen iſt im Gegenſatz zu der Kirche auf die politiſche Volksgemeinſchaft und mit
Beachtung des Privatrechts und der Privatfreiheit auf das öffentliche Recht
beſchränkt
, alſo relativ. Vgl. Bluntſchli Allg. Statsrecht S. 51. 64.


[382]Achtes Buch.
703.

Der Krieg wird regelmäßig beendigt durch den Friedensſchluß,
d. h. durch einen Vertrag zwiſchen den kriegführenden Staten, welcher die
Bedingungen und Beſtimmungen des erneuerten Friedenszuſtandes feſtſetzt.


Der Friedensvertrag iſt eine völkerrechtliche Rechtshandlung, welche den
Kriegszuſtand abſchließt und den Friedenszuſtand erneuert. Er ver-
kündet der Welt, woran ſie iſt. Die feindliche Geſinnung freilich kann er nicht ſo-
fort heilen, noch den Glauben an befeſtigte Zuſtände ſchaffen, aber das Rechtsver-
hältniß bringt er zur Klarheit und bezeichnet genau den Unterſchied der beiden
Rechtszuſtände.


704.

Die Uebermacht des Siegers hindert nicht die Gültigkeit des Friedens-
ſchluſſes, wohl aber der äußere Zwang gegen den bevollmächtigten Ver-
treter der Kriegspartei, welche über den Frieden unterhandelt.


Vgl. oben § 408.


705.

Das Verfaſſungsrecht der einzelnen Staten entſcheidet über die Frage,
wer und unter welchen Bedingungen er berechtigt ſei, Frieden gültig abzu-
ſchließen. Das Völkerrecht vermuthet, daß der jeweilige Träger der oberſten
Statsgewalt kraft ſeiner Repräſentativbefugniß dazu berechtigt ſei. Wenn
derſelbe aber nach dem in anerkannter Wirkſamkeit beſtehenden Statsrecht
ſeines Landes der Zuſtimmung der Volksvertretung oder eines andern
politiſchen Körpers bedarf, um wirkſamen Frieden zu ſchließen, ſo iſt dieſe
Beſchränkung auch völkerrechtlich zu beachten und die Rechtsgültigkeit und
die Ausführbarkeit des Friedenſchluſſes ſo lange in Frage geſtellt, als nicht
die nothwendige Zuſtimmung hinzutritt, oder in Folge der Verfaſſungs-
änderung als entbehrlich hinwegfällt. Indeſſen erfordert der gute Glaube
und die Rückſicht des Völkerrechts auf die mögliche Beſchränkung des
Kriegszuſtandes, daß auch inzwiſchen von Seite der Träger der Stats-
gewalt nichts gethan, angeordnet oder zugelaſſen werde, was geeignet iſt,
die hinterherige Gutheißung des von ihnen vorläufig verabredeten Friedens-
vertrags zu erſchweren oder zu verhindern.


[383]Das Kriegsrecht.

1. Die Eröffnung der Friedensunterhandlung kann durch eine der
beiden Kriegsparteien ſelber geſchehen, oder durch eine neutrale Macht, welche ent-
weder ihre guten Dienſte oder ihre Vermittlung anbietet. Vgl. oben § 483 f. Auch
im letzten Fall kann der Friedesabſchluß unmittelbar von den Kriegsparteien
vollzogen werden, damit der Vermittler nicht einen Vorwand zu ſpäterer Einmiſchung
erhalte.


2. Ein Fürſt, welcher durch den Krieg aus dem Lande verdrängt worden iſt
und keine thatſächliche Gewalt mehr im Lande hat, iſt nicht mehr berechtigt,
das Land zu repräſentiren
, ſondern kann nur über ſeine dynaſtiſchen Rechte
oder ſeine Anſprüche auf Wiedereinſetzung in die Gewalt, an dem Friedensſchluß
ſich betheiligen (§ 118). Es mag unter Umſtänden für den Sieger erwünſcht
und nützlich ſein, ſich mit ihm friedlich zu verſtändigen, um ſpätern Verwicklungen
vorzubeugen, aber der Friede kann auch ohne dieſen Verzicht vollſtändig hergeſtellt ſein.
Aehnlich verhält es ſich mit den Anſprüchen einer aus dem Lande vertriebenen republi-
kaniſchen Regierung.


3. In den meiſten Monarchien wird das Recht, Frieden zu ſchließen, als ein
Recht der Krone betrachtet, ſo jedoch, daß diejenigen Beſtimmungen des Friedens,
welche dem Lande Laſten auferlegen oder das beſtehende Verfaſſungs- oder Geſetzes-
recht ändern, der Zuſtimmung der Kammern bedürfen, damit ſie im Lande anerkannt
und ausführbar werden. In vielen Fällen wird ſich dieſe Zuſtimmung aber als
bloße Ratihabition des bereits Vollzogenen darſtellen, indem die Noth und das Be-
dürfniß, von den Gefahren und Leiden des Kriegs befreit zu werden, vorher ſchon
zum Vollzug der im Frieden gemachten Zugeſtändniſſe treibt. Nach dem Bundesrecht
der Vereinigten Staten bedarf der Friedensvertrag, um gültig zu werden, der Ge-
nehmigung des Präſidenten und der Zuſtimmung des Senats (nicht beider Häuſer
des Congreſſes), nach dem der ſchweizeriſchen Eidgenoſſenſchaft eines Beſchluſſes der
Bundesverſammlung.


706.

Wird in dem Friedensſchluß ein Theil des Statsgebietes abgetreten,
ſo gilt die Abtretung nach Völkerrecht als rechtsgültig, wenn gleich die
Verfaſſung des abtretenden Landes die Abtretung unterſagt, inſofern der
Stat ſeinen Widerſtand nicht fortſetzt, ſondern thatſächlich den Frieden
vollzieht und die feindliche Beſitznahme gewähren läßt.


In vielen Statsverfaſſungen wird das ganze Statsgebiet als einheitlich
und unveräußerlich erklärt und ſo jede Abtretung eines Stücks desſelben unter-
ſagt. Würde dieſe Beſchränkung der Regierung und der Kammern als abſolute
Regel auch bei den Friedensſchlüſſen feſtgehalten, ſo wäre in manchen Fällen überhaupt
kein Friede möglich, weil der Sieger auf die Abtretung nicht verzichtet und der Be-
ſiegte ſie nicht gewähren könnte. Es müßte alſo der Krieg bis zur Vernichtung des
Stats ſelber durchgeführt werden. Dadurch aber würde nicht bloß jene Verfaſſungs-
[384]Achtes Buch.
beſtimmung, ſondern mit der Exiſtenz des beſiegten Stats ſelbſt auch deſſen ganze
Verfaſſung zerſtört. Die Noth zwingt daher, unter Umſtänden trotz jenes ſtatsrecht-
lichen Hinderniſſes die Abtretung zu vollziehen, und das Völkerrecht erkennt dieſen
Vollzug als nothwendig und demgemäß als rechtmäßig an, im Intereſſe der
Beendigung des Kriegs und der Herſtellung des Friedens.


707.

Die Abtretung gibt der erwerbenden Statsgewalt alle Rechte, welche
die abtretende Statsgewalt gehabt hat, aber nicht mehr Rechte.


Das öffentliche Recht der Bevölkerung und des Landes wird durch
die Abtretung nicht aufgehoben, ſondern nur inſofern und inſoweit geän-
dert, als der neue Verband mit einem andern Stat eine Aenderung nöthig
macht. Im Uebrigen dauert es fort.


Vgl. oben § 701. 702. Die Verſetzung der Centralgewalt an eine andere
Stelle und die Verbindung des abgetretenen Gebiets mit einem andern State ſind
freilich ſo entſcheidende Umgeſtaltungen, daß ſie gewöhnlich eine gründliche und weit
wirkende Veränderung der Verfaſſung in jenem Gebiete nach ſich ziehen. Immer
iſt hier der Uebergang aus dem einen Recht in das andere ſchwierig und kaum
anders, als durch eine vorübergehende Ausnahmsgewalt (Dictatur) der
erwerbenden Statsgewalt auszugleichen. Das Völkerrecht ſpricht nur die Regel aus,
daß nicht das bisherige öffentliche Recht (in Gemeinden, Körperſchaften, Aemtern,
Gerichten, politiſchen Freiheiten u. ſ. f.) durch den bloßen Act der Abtretung erlöſche,
ſondern daß dasſelbe im Gegentheil, ſoweit die Einheit des neuen Statenverbands
und die Nothwendigkeit der öffentlichen Verhältniſſe es verſtatten, erhalten bleibe.
Die Vermuthung ſpricht für die Fortdauer, die Umänderung bedarf
einer Anordnung der neuen Statsgewalt.


708.

Der Friedensſchluß beendigt mit dem Kriege auch den bisherigen
Rechtsſtreit unter den kriegführenden Staten. Es dürfen nach demſelben
keine weitern Feindſeligkeiten geübt werden. Die Wirkſamkeit des Kriegs-
rechts hört auf und das Friedensrecht tritt wieder ein.


1. Der Friede beendigt auch dann den Rechtsſtreit, welcher zum Kriege
geführt hat, wenn er über denſelben keine ausdrückliche Entſcheidung trifft. Die
anfängliche Beſchwerde darf nicht nochmals zur Urſache eines zweiten Kriegs gemacht
werden. Vgl. unten 709. 713. WheatonInt. Law. § 544.


2. Die Beendigung des Kriegsrechts muß ſofort eintreten, inſoweit dasſelbe
zu feindlichen Handlungen ermächtigt. Aber es können nicht ebenſo auf den
[385]Das Kriegsrecht.
Tag alle Wirkungen der erſchienenen Kriegsgewalt abgebrochen werden. Wenn
das Heer zur Zeit des Friedensſchluſſes ſich in Feindesland befindet, ſo bedarf es
zum Wegzug einiger Zeit und kann inzwiſchen die Maßregeln ſeiner Sicher-
heit
nicht aufgeben. Es gibt alſo auch hier Uebergänge, welche das gänzliche
Erlöſchen des Ausnahmszuſtandes möglich machen. In allen dieſen Beziehungen
verlangt das Völkerrecht bona fides in der Ausführung des Friedens.


709.

Wenn nach Abſchluß des Friedens durch einzelne Heeresabtheilungen,
wenn auch in gutem Glauben, weil ſie noch nicht von dem Friedensſchluß
Kenntniß hatten, feindliche Handlungen verübt worden ſind, ſo iſt der
Zuſtand, wie er vor denſelben geweſen iſt, ſoweit möglich wieder herzu-
ſtellen, beziehungsweiſe Entſchädigung zu leiſten.


Der Friede iſt verbindlich für die kriegführenden Staten und daher auch
für ihre Heere, und ihre Statsangehörigen. Hugo GrotiusIII. 20.
§ 32: „Est enim pax actus civitatis pro toto et pro partibus“.
Wenn daher einzelne Truppenkörper, ohne den Frieden zu kennen, noch eine Stadt
oder eine Feſtung einnehmen, ſo müſſen ſie dieſelbe wieder räumen. Ebenſo wenn
nachher noch feindliche Schiffe als Priſe genommen werden, ſo ſind dieſelben wieder
frei zu laſſen.


710.

Mit dem Friedensſchluß iſt die Regel der Amneſtie verbunden, ſo-
weit nicht beſondere Vorbehalte eine Ausnahme begründen, d. h. es wird
in der Regel keine weitere Klage geſtattet wegen Schädigungen und Un-
bilden, welche von den Angehörigen einer Kriegspartei wider die Ange-
hörigen der andern Partei während des Kriegs verübt worden ſind.


1. Die Amneſtie iſt nothwendig, damit das Gefühl des Friedens ſich be-
feſtige. Würde es geſtattet, den Streit fortzuſetzen, ſo wäre immer wieder die Gefahr
da, daß die Parteien neuerdings zu den Waffen griffen und der Krieg wieder ent-
flammt würde. Wenn auch die Klagen über erlittene Unbill oder Schädigung zu-
nächſt gegen einzelne feindliche Perſonen gerichtet würden, ſo iſt doch hinter dieſen der
Stat, für den ſie kämpften. Je weniger die Kriegsführung den normalen Rechts-
zuſtänden entſpricht, und je gewaltſamer ſie vorgeht, um ſo leichter iſt hier Streit
und um ſo öfter ſind Klagen veranlaßt. Dieſen Streit und dieſe Klagen will die
Amneſtie mit Vergeſſenheit zur Ruhe bringen. In vielen Friedensverträgen wird ſie
ausdrücklich vorbehalten, in andern ſtillſchweigend als ſelbſtverſtändlich vorausgeſetzt.
Z. B. Wiener Congreßakte von 1815 Art. XI.: „Amnistie générale en
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 25
[386]Achtes Buch.
Pologne. Il y aura amnistie pleine, générale et particulière en faveur de
tous les individus de quelque rang, sexe, ou condition qu’ils puissent être“

und ausführlicher Art. XXII.: Amnistie générale en Saxe. Aucun individu
domicilié dans les Provinces qui se trouvent sous la domination de Sa
Majesté le Roi de Saxe ne pourra, non plus qu’aucun individu domicilié
dans celles qui passent par le présent Traité sous la domination de Sa
Majesté le Roi de Prusse, être frappé dans sa personne, dans ses biens,
rentes, pensions et revenus de tout genre, dans son rang et ses dignités,
ni poursuivi ni recherché en aucune façon quelconque pour aucune part
qu’il ait pu politiquement ou militairement prendre aux évènements qui ont
eu lieu depuis le commencement de la guerre terminèe par la paix conclue
à Paris le 30 Mai 1814“
.


2. Die Gründe der Amneſtie, welche immerhin die regelmäßigen Rechtsgrund-
ſätze in der Anwendung erheblich beſchränkt, liegt nur in der Rückſicht auf die ex-
ceptionelle Natur des Kriegs
und in dem allgemeinen Friedens-
bedürfniß
. Dieſelbe darf daher nicht darüber hinaus auch auf Zerſtörung ſolcher
Klagen wirken, welche mit dem Kriege nichts zu ſchaffen haben und deren Durch-
führung den Frieden nicht gefährdet.


Dahin gehören:


  • a)privatrechtliche Klagen aus Rechtsgeſchäften, z. B. Lieferungs-
    verträgen oder Gelddarlehen, Loskauf von Gefangenen, welche während
    des Kriegs abgeſchloſſen worden ſind,
  • b)privatrechtliche Klagen, welche aus einem ältern, vor dem Kriege
    abgeſchloſſenen Rechtsgeſchäft ſich ergeben,
  • c)privatrechtliche Klagen, welche aus einem Rechtsgrunde abgeleitet
    ſind, welche keinen Bezug auf die Kriegsführung hat und nicht zu den
    Handlungen feindlicher Parteileidenſchaft gehört.

Vgl. WheatonInt. Law. § 544. Heffter § 180.


711.

Die Amneſtie begreift in der Regel auch die Miſſethaten — Ver-
wundungen, Tödtungen, Mißhandlungen, Schädigungen des Eigenthums,
Plünderung —, die von Kriegsleuten verübt worden, aber während des
Kriegs nicht kriegsrechtlich zur Rechenſchaft gezogen worden ſind.


Die Ausſicht auf die künftige Amneſtie iſt freilich für die Rechtsſicherheit ſehr
bedenklich. Die Privaten haben deßhalb gegen militäriſche Exceſſe faſt keinen andern
Rechtsſchutz, als den die militäriſche Disciplin und die Kriegsgerichte
gewähren. Die Strafe, welche die Kriegsgerichte verhängen, wird aber durch die
Amneſtie nicht beſeitigt. Gewöhnlich ſchützt die Amneſtie auch die andern Perſonen,
außer den Kriegsleuten, welche ſich einer Rechtsverletzung aus Parteileidenſchaft
ſchuldig gemacht haben.


[387]Das Kriegsrecht.
712.

Soweit jedoch der Stat wegen im Krieg und ſelbſt von Kriegsleuten
verübter Verletzungen, die weder durch das Kriegsrecht noch durch den
civiliſirten Kriegsgebrauch gerechtfertigt oder entſchuldigt werden, ſondern
als gemeine Verbrechen ſtrafbar ſind, die Rechtsverfolgung gegen ſeine
Angehörigen geſtattet, findet jene Amneſtie keine Anwendung.


In der Praxis wird die Amneſtie oft in weiterem Umfange gewährt, als ſich
durch die Rückſicht auf ihre Gründe rechtfertigen läßt. Es beſteht kein Rechts-
grund
, weßhalb gemeiner Diebſtahl, eine Brandſtiftung aus bloßer Privatrache
oder Bosheit ungeſtraft bleiben ſollten, wenn der Stat, dem die Verbrecher ange-
hören, anerkennt, daß dieſe Verbrechen ſich auch durch die Parteileidenſchaften im
Krieg gar nicht entſchuldigen laſſen und ihre Verfolgung und Beſtrafung in keiner
Weiſe den Frieden gefährde
. Die übermäßige Ausdehnung der Amneſtie
erklärt ſich theilweiſe aus der älteren, nun als irrthümlich erkannten Anſicht, daß
der Krieg alles Recht der feindlichen Nation verneine, und eine Rückkehr in den
ſogenannten Urzuſtand der Rechtloſigkeit begründe. Seitdem das Völkerrecht aner-
kennt, daß auch im Kriege das Recht fortdauere, ſollte es wirkſamer als bisher für
Beſtrafung gemeiner Verbrechen ſorgen, damit die Privatperſonen beſſern Schutz für
ihre perſönlichen und Vermögensrechte erhalten.


713.

Die Amneſtie bezieht ſich nicht auf Rechtsverletzungen, die vor dem
Kriege verübt worden ſind und mit der Kriegsurſache in keiner Beziehung
ſtehen, ebenſo wenig auf Rechtsverletzungen, welche während des Kriegs
auf neutralem Gebiete von Angehörigen der kriegführenden Staten wider
einander verübt worden ſind.


1. In den erſtern Fällen gereicht weder die feindliche Erregtheit den
Thätern zu einiger Entſchuldigung, noch kommt die Rückſicht auf den Frieden den-
ſelben zu Statten. Wenn z. B. die Verfolgung eines Diebes oder Betrügers oder
Mörders wegen des Krieges eingeſtellt werden mußte, ſo kann dieſelbe nach dem
Friedensſchluß wieder erneuert werden.


2. In den zweiten Fällen kommt zwar den Thätern der mildernde Umſtand
zu Statten, daß ſie vielleicht aus Parteieifer gehandelt haben; aber der neutrale
Stat
, welcher keine Gewaltthat auf ſeinem Gebiete duldet, wird dieſelben dennoch
mit Recht, trotz der Amneſtie verfolgen, weil ſie ſeine Friedensordnung mißachtet
haben.


25*
[388]Achtes Buch.
714.

Aller frühere Streit wird durch den Frieden geſchlichtet und alle
frühern Verletzungen und Beleidigungen werden der Vergeſſenheit über-
liefert. Ein neuer Krieg darf nur durch neue Kriegsurſachen begründet
werden.


Vgl. oben § 708.


715.

Der öffentliche Beſitzſtand zur Zeit des Friedensſchluſſes wird, ſoweit
nicht darin abweichende Beſtimmungen getroffen ſind, als Grundlage der
erneuerten Friedensordnung betrachtet. Jeder Theil behält das Gebiet
nunmehr zu Recht, das er beſitzt.


1. Der Friedensvertrag kann auch eine andere Grundlage des neuen Friedens-
ſtandes feſtſetzen. Sehr oft greift man auf den Rechtszuſtand vor dem Ausbruch
des Krieges zurück und ſtellt denſelben wieder her. Es iſt das der ſogenannte
Status quo ante bellum sc. res fuerunt. Wenn das aber nicht geſchehen
iſt, ſo wird der gegenwärtige Beſitzſtand, d. h. der Status, quo bellum
res reliquit
als Grundlage angenommen. Man bezeichnet dieſen Grundſatz auch
in Erinnerung an das Interdict des römiſchen Prätors zum Schutz des Beſitzes
eines Grundſtücks gegen gewaltſame oder ſonſt rechtswidrige Störung als Uti
possidetis.
Dieſe Bezeichnung iſt freilich ungenau, theils weil es ſich hier nicht
um privatrechtlichen Grundbeſitz, ſondern um ſtatsrechtliche Gebietshoheit
handelt, theils weil das römiſche Interdict nur den Beſitz ſchützt (als interdictum
retinendae possessionis
), der völkerrechtliche Friedensſchluß dagegen nicht bloß
Beſitzverhältniſſe regulirt, ſondern auf deren Grundlage die Rechtsverhältniſſe
von neuem ordnet oder befeſtigt. Erſt durch den Frieden wird die Eroberung
und die gewaltſame Einverleibung aus einem Beſitzſtand in einen Rechtsſtand
umgewandelt. Vgl. oben § 50 u. 545.


716.

Die Kriegsgefangenſchaft erliſcht von Rechtswegen mit dem Friedens-
ſchluß, indem dieſelbe nur aus Kriegsrecht und nur als Kriegsmittel
geübt wird.


Vorbehalten bleiben die Maßregeln ſowohl einer geordneten Ueber-
gabe und Entlaſſung der vormaligen Gefangenen als der Sorge für Be-
zahlung der Schulden, welche dieſelben contrahirt haben.


[389]Das Kriegsrecht.

Vgl. oben § 593 ff. Unter Umſtänden wäre es gefährlich, die Kriegsgefan-
genen ohne weitere Disciplin und Aufſicht frei zu geben, es wird daher nöthig, ſie
unter militäriſcher Zucht der Heimat zuzuführen.


717.

Von dem Zeitpunkte des Friedensſchluſſes an dürfen in fremdem
Gebiete keine Kriegsſteuern und Requiſitionen mehr auferlegt, noch die
rückſtändigen eingefordert werden.


Es iſt das eine nothwendige Rechtsfolge des Friedens, welcher die weitere
Bethätigung des Kriegsrechts hemmt. Wäre noch eine Contribution oder Requiſition
erhoben worden, bevor das Commando den Friedensſchluß gekannt hat, ſo ſind die
Gelder zurückzuerſtatten und die bezogenen Naturalgegenſtände zu vergüten.


718.

Diejenigen Vertragsverhältniſſe unter den Staten, deren Wirkſamkeit
während des Kriegs ſuspendirt war, treten wiederum von Rechtswegen in
Wirkſamkeit, inſofern ſie nicht entweder durch den Friedensſchluß abgeändert
werden oder Dinge betreffen, welche durch den Krieg aufgelöst oder um-
gewandelt worden ſind.


1. Vgl. oben § 538. Einzelne Publiciſten nehmen an, die frühern Verträge
werden überhaupt nur inſofern wieder wirkſam, als ſie ausdrücklich neu be-
kräftigt
worden ſeien. Es iſt das die entgegengeſetzte Vermuthung. Dieſe Mei-
nung iſt enge mit dem Irrthum verwachſen, daß der Krieg alle älteren Rechtsver-
hältniſſe unter den Staten gänzlich auflöſe. Der Friede iſt aber nicht der Anfang
eines ganz neuen Rechtszuſtands, ſondern nur ein Knotenpunkt in der Geſchichte,
nicht eine urſprüngliche neue Rechtsſchöpfung, ſondern eine Entwicklungs-
phaſe der Fortbildung des Rechts
. Daher ſtellt der Friede die Ver-
bindung
wieder her mit dem vorübergehend durch den Krieg geſtörten Rechts-
zuſtand.


2. Wenn der Friedensvertrag ſich über die Erneuerung der früheren Ver-
träge ausſpricht, oder Abänderungen derſelben feſtſetzt, ſo iſt natürlich
dieſe Beſtimmung entſcheidend. Die Zweifel, was Rechtens ſei, erheben ſich nur,
wenn der Friedensvertrag darüber Stillſchweigen beobachtet. Darüber kann
leicht Streit entſtehen, weil der eine Stat das Stillſchweigen anders auslegt als
der andere. Ein bekannter Rechtsſtreit der Art fand zwiſchen England und den
Vereinigten Staten von Nordamerika Statt über die Fiſcherei an den engliſch-
amerikaniſchen Küſtengewäſſern. Durch den Vertrag von 1783 hatte England den
Fiſchern aus den Vereinigten Staten die „Freiheit“ zugeſtanden, gleich den engliſchen
[390]Achtes Buch.
Fiſchern an den engliſchen Küſten in Amerika die Fiſcherei auszuüben, und auch die
unbeſetzten Buchten und Häfen zu benutzen. In dem Frieden von Gent von 1814
war dieſer Vertrag mit Stillſchweigen übergangen worden. Die engliſche Regie-
rung behauptete nun, daß durch den Krieg jenes Zugeſtändniß, das die Natur
eines Privilegiums habe, erloſchen und im Frieden nicht wieder erneuert worden
ſei. Die Regierung der Vereinigten Staten dagegen behauptete, daß jener Vertrag
nur einen ältern beſtehenden Rechtszuſtand anerkannt und nicht ſingu-
läres Recht geſchaffen habe und daher auch nicht im Krieg untergegangen, vielmehr
im Frieden zu ungehemmter Wirkſamkeit gelangt ſei. Schließlich wurde in dem
Vertrag von 1818 der Streit dadurch ausgeglichen, daß innerhalb beſtimmter geo-
graphiſcher Grenzen die Fiſcherei an der engliſchen Küſte in Amerika den Fiſchern
aus den Vereinigten Staten geſtattet wurde. Vgl. die ausführliche Darſtellung bei
Wheaton, Intern. Law. § 269 — 274.


3. Sollen die früheren Verträge definitiv außer Wirkſamkeit bleiben, ſo müſ-
ſen dafür beſondere Gründe angeführt werden.


Solche Gründe ſind:


  • a) daß ihr Inhalt mit den Friedensbeſtimmungen nicht vereinbar ſei.
    Z. B. Aeltere Grenzverträge
    gelten fort, inſofern die Grenze
    durch den Frieden nicht verändert worden iſt und ſind erloſchen, ſoweit
    die Grenze eine andere geworden iſt;
  • b) daß der frühere Vertrag der Natur der Sache durch den Krieg nicht bloß
    in ſeiner Wirkſamkeit gehemmt, ſondern aufgelöst worden ſei.
    Z. B. Ein Allianzvertrag zwiſchen den beiden Staten, welche ſich
    bekriegt und durch den Krieg die Allianz gelöst haben. Es bedarf eines
    neuen Vertrags, wenn der alte Vertrag zerſtört iſt, und es genügt nicht
    die Beſeitigung des Hinderniſſes ſeiner Wirkſamkeit.

Heffter § 181 fügt bei: „Vertragsverpflichtungen, deren Erfüllung erſt noch
in Zukunft geſchehen ſollte, wo alſo noch eine Willensänderung in Betreff der
übernommenen Verpflichtung möglich war“. Ich ſehe den Grund dafür nicht ein;
denn der abgeſchloſſene Vertrag gilt fort, auch wenn der Wille eines Contrahenten
ſich ändern ſollte. Wenn z. B. der Stat A mit dem Stat B einen Vertrag ſchloß
über gemeinſame Herſtellung einer Eiſenbahn oder Brücke, und bevor der Bau voll-
zogen iſt, ein Krieg zwiſchen ihnen ausbricht, ſo wird die Ausführung wohl während
des Kriegs gehemmt, aber es ſteht der Erfüllung im wieder gewonnenen Frieden
Nichts mehr im Wege. Nur die Zeitfriſt wird mit Rückſicht auf die in Abrech-
nung fallende Zeit des Kriegs erſtreckt werden müſſen.


719.

Wird in dem Friedensvertrage die Rückgabe des im Kriege ein-
genommenen Gebietes verſprochen, ſo wird als Meinung der Vertrags-
parteien angenommen, daß das Rechtsverhältniß der Gebietshoheit wieder
anerkannt ſei, wie es vor der feindlichen Beſitznahme geweſen war, und
[391]Das Kriegsrecht.
daß das Land in dem thatſächlichen Zuſtande zurückgegeben werde, wie er
zur Zeit des Friedensſchluſſes beſchaffen iſt.


Die Beſitznahme im Krieg hatte die urſprüngliche Gebietshoheit nicht
zerſtört, ſondern nur unwirkſam gemacht und in Frage geſtellt. Der Friede
ſtellt ihre Wirkſamkeit wieder her. Natürlich nicht als eine neue, ſondern als die
alte Statsgewalt und daher mit Beachtung der verfaſſungsmäßigen Rechte und
Zuſtände. Aber eine vollſtändige Wiederherſtellung auch des thatſächlichen Zuſtands
iſt nicht möglich und nicht gerechtfertigt, denn die thatſächlichen Aenderungen des
Kriegs müſſen als eine Folge des Kriegs hingenommen werden.


720.

Für allfällige Beſchädigung während des Kriegs und während der
feindlichen Beſitznahme iſt keine Entſchädigung zu leiſten, aber es darf
nun auch keine weitere Beſchädigung vorgenommen werden. Für die in-
zwiſchen von der Kriegsgewalt erhobenen Einkünfte und Leiſtungen iſt kein
Erſatz zu leiſten, aber es dürfen nun auch die öffentlichen Caſſen nicht
weiter von dem Zwiſchenbeſitzer ausgebeutet werden, ſondern ſind zur Ver-
fügung der berechtigten Statsgewalt zu ſtellen.


Vgl. zu § 644 ff.


721.

Auch für Verwendungen, welche der Beſitzer inzwiſchen gemacht hat,
iſt kein Erſatz zu leiſten, wenn ſolcher nicht in dem Friedensvertrage vor-
behalten wird.


Wohl aber kann derſelbe wegnehmen, was er auf ſeine Koſten hin-
zugefügt hat, z. B. neue befeſtigte Werke und den Zuſtand wieder her-
ſtellen, wie er vor ſeiner Verwendung geweſen iſt.


Wenn der Beſitzer Bauten gemacht hat — z. B. er hat einen Spital ge-
baut oder neue Feſtungswerke angelegt, die bisherigen Werke reparirt u. ſ. f. —
ſo darf er dafür keine Entſchädigung fordern. Er hat inzwiſchen kraft der Kriegs-
hoheit gehandelt und Erſatzklagen ſind für die Kriegszeit im Frieden nicht zuläſſig,
es wäre denn, daß im Friedensſchluß Entſchädigung verſprochen worden wäre.


722.

Wird einfach Rückgabe eines Gebietes verabredet, ſo ſind auch die
[392]Achtes Buch.
dazu gehörigen Archive, Documente, Acten u. ſ. f. zurückzugeben, auch
wenn dieſelben inzwiſchen von dem Sieger weggeführt worden ſind.


Das Archiv gehört zum Land, gleichſam als Zubehörde, wie die Haus-
ſchriften zum Haus. Die natürliche Beziehung derſelben, ſowie der einzelnen Ur-
kunden und Actenſtücke zu den Rechtsverhältniſſen des Landes und der Verwaltung
der Statshoheit iſt hier ſo enge und ſo ſtark, daß das Hoheitsrecht jene Gegenſtände
anzieht und das Recht auf dieſe aus jenem Rechte folgt.


723.

Die Rückgabe anderer feindlicher Kriegsbeute, ſelbſt der wiſſenſchaft-
lichen und künſtleriſchen Sammlungen und der Denkmäler, die vor dem
Friedensſchluß weggebracht worden ſind, verſteht ſich nicht von ſelber, ſon-
dern iſt vertragsmäßig zu beſtimmen.


Vgl. oben § 650.


724.

Der Vollzug der Friedensbeſtimmungen ſoll ſofort, d. h. ſobald es
nach den Umſtänden möglich iſt, und in guten Treuen geſchehn.


1. Erſt die Ratification macht den Vertrag perfect. Erſt von dieſem
Tage an kann daher der Vollzug rechtlich gefordert werden. Gewöhnlich haben aber
die Feindſeligkeiten ſchon vorher aufgehört, während der Friedensverhandlung, die
durch einen Waffenſtillſtand eingeleitet worden iſt.


2. Oft enthält der Friedensvertrag auch genaue Termine für den Voll-
zug der Friedensbeſtimmungen, z. B. für die Räumung eines beſetzten Gebietes.


3. In allen Fällen aber gilt die Regel eines möglichſt raſchen Vollzugs,
damit der Nothſtand des Kriegs ſobald als möglich dem normalen Zuſtand des
Friedens weiche.


725.

Wird der Friedensſchluß, bevor er vollzogen iſt, wieder gebrochen,
ſei es durch thatſächliche Erneuerung der Feindſeligkeiten, ſei es indem der
Vollzug verweigert oder verhindert wird, oder dem Vertrag offenbar ent-
gegengehandelt wird, ſo iſt die andere Partei berechtigt, ſofort den Krieg
fortzuſetzen und zu handeln, wie wenn kein Friedensvertrag abgeſchloſſen
[393]Das Kriegsrecht.
worden wäre. Die unmögliche Erfüllung gilt nicht als Bruch des
Friedensſchluſſes.


1. Das Völkerrecht unterſcheidet zwiſchen dem Friedensbruch und der
Verletzung der im Friedensvertrag anerkannten oder durch den-
ſelben begründeten Rechte
. Der Friedensbruch kann nur in der erſten Zeit
nach dem Friedensſchluß und bevor der Friede zu beiderſeitiger Geltung gelangt
iſt, geſchehen. In dieſem Stadium des Uebergangs aus dem Kriegszuſtand in
den Friedenszuſtand gefährdet der Friedensbruch die ganze Exiſtenz des Friedens und
berechtigt die verletzte Partei, den Frieden als unwirkſam zu betrachten und dem-
gemäß den Krieg fortzuſetzen, bis es zu einem neuen und dann durch-
geführten Friedensſchluß kommt. Wird aber der Krieg, trotzdem daß einzelne
Beſtimmungen des Friedens nicht ausgeführt werden, nicht erneuert, kommt es trotz-
dem zu thatſächlicher Erneuerung des Friedenszuſtandes, wie z. B. nach dem Züricher
Frieden zwiſchen Oeſterreich und Italien von 1859, ſo ſpricht man nicht mehr von
Friedensbruch, wenn gleich die Beſchwerden über den Nichtvollzug des Friedens-
vertrags fortdauern und unter Umſtänden zu neuen ernſten Verwicklungen führen
können.


2. Die Verletzung des Friedensvertrags dagegen, zum Unterſchied
des Friedensbruchs ſteht rechtlich jeder andern Vertragsverletzung gleich, und kann,
wenn ſie ſchwer genug iſt und anders nicht geheilt wird, unter Umſtänden zu einem
neuen Kriege führen.


3. Das Ultra posse nemo tenetur gilt auch von der Nichtaus-
führung einzelner Friedensartikel. Wenn z. B. der Pragerfriede zwiſchen Oeſterreich
und Preußen vom 23. Auguſt 1866 dem „Verein der ſüddeutſchen Staten“ eine
„internationale unabhängige Exiſtenz“ zuſchrieb, ſo konnten doch dieſe Staten nicht
gezwungen werden, einen Verein zu bilden. Soweit dieſer Zwang völker-
rechtlich unmöglich und daher die Beſtimmung nicht ausführbar iſt, kann daher auch
nicht von Verletzung des Friedensvertrags die Rede ſein.


726.

Der Friedensvertrag bildet ein Ganzes. Der Bruch einer Friedens-
beſtimmung zieht den Bruch des Friedens nach ſich, wenn nicht in dem
Frieden anders beſtimmt iſt.


Vgl. WheatonInt. Law. § 550. Der Friedensſchluß kann beſtimmen,
daß die übrigen Artikel fortgelten ſollen, wenn auch einer derſelben nicht zur Aus-
führung komme.


[394]Achtes Buch.

10. Postliminium.


727.

Ohne Friedensſchluß können ein Land und eine Bevölkerung, ein-
zelne Perſonen und Güter, welche während des Kriegs in feindliche Ge-
walt gerathen waren, wieder von derſelben befreit werden und es kann
in Folge deſſen das frühere Rechts- und Beſitzesverhältniß wieder in un-
gehemmte Wirkſamkeit treten, wie wenn eine Störung nicht vorgekommen
wäre. Dieſe Wiederbelebung des durch die Kriegsgewalt geſtörten Zu-
ſtandes heißt Postliminium.


1. Der Ausdruck postliminium iſt dem römiſchen Recht entnommen,
hatte aber dort eine andere Grundlage und einen andern Sinn. Die Römer nahmen
an, daß durch die feindliche Gefangenſchaft der römiſche Bürger, ſo lange dieſelbe
dauere, ſeine Freiheits- und ſeine bürgerlichen Rechte verliere, daß er aber ſofort
ſein vorheriges Recht wieder erlange, wenn es ihm gelinge, ſich jener Gefangen-
ſchaft zu entziehn. Sie fingirten dann, er ſei niemals gefangen worden,
ſondern habe ſein Recht fortwährend erhalten, und nannten dieſe Fiction post-
liminium. § 5. J. Quib. mod. jus pot. solv. (I. 12): „Dictum autem post-
liminium a limine et post, ut cum qui ab hostibus captus in fines nostros
postea pervenit postliminio reversum recte dicimus; nam limina sicut in
domibus finem quemdam faciunt, sic et imperii finem limen esse veteres
voluerunt“.
Dieſes antike und privatrechtlichepostliminium hat nun auf-
gehört, weil die Kriegsgefangenſchaft nicht mehr die perſönlichen Rechte der Gefan-
genen zerſtört, ſondern nur vorübergehend ihre Ausübung hindert. Es bedarf daher
keiner Wiederherſtellung des Rechts in dieſen Fällen mehr.


2. Das moderne völkerrechtlichePostliminium der heutigen Zeit hat
vorzugsweiſe einen öffentlich-rechtlichen Charakter und wenn es auch privat-
rechtliche Wirkungen äußert, ſo ſetzt es nicht grundſätzlich eine vorherige Verneinung
des wieder herzuſtellenden Rechts durch die Kriegsgewalt, ſondern nur eine Behin-
derung ſeiner Ausübung voraus.


728.

Wird ein von dem Feinde beſetzter Gebietstheil von demſelben frei-
willig wieder geräumt oder wird derſelbe durch die befreundete Kriegsgewalt
wieder daraus verdrängt, ſo hört das feindliche Kriegsrecht ſofort auf und
es wird das frühere Rechtsverhältniß erneuert. Die vormalige Statsgewalt
tritt wieder in ihre Rechte und Pflichten ein.


[395]Das Kriegsrecht.

Die Autorität der feindlichen Kriegsgewalt beruht nur auf dem thatſäch-
lichen Beſitz
und dem Nothrecht des Kriegs (vgl. oben § 540 f.). Wenn
daher jene den Beſitz wieder verliert, ſo hört damit auch die Fortwirkung ihrer
Kriegshoheit auf. Wurde inzwiſchen die Landesverfaſſung ſuspendirt, ſo tritt ſie nun
wieder in volle Kraft. Das Hemmniß, welches der urſprünglichen Statsgewalt ent-
gegenſtand, iſt damit wieder entfernt.


729.

Geſchieht die Verdrängung des Feindes durch eine dritte Kriegsmacht,
welche weder die rechtmäßige Statsgewalt des befreiten Landes noch ein
Bundesgenoſſe desſelben, wohl aber im Kriege mit dem Landesfeinde iſt,
ſo verſteht ſich die Wiederbelebung der frühern Regierung und Verfaſſung
des Landes nicht von ſelber. Vielmehr iſt die befreiende Macht, welche
inzwiſchen die Kriegsgewalt handhabt, berechtigt, bei der neuen Regulirung
der öffentlichen Zuſtände mitzuwirken. Der Befreier darf aber nicht ohne
Rückſicht auf den Willen der Bevölkerung dauernd und willkürlich über
das fremde Gebiet einſeitig verfügen.


Würde man lediglich die Analogie des Privatrechts anwenden, ſo müßte ein-
fach das von einer dritten Macht befreite Gebiet an den Träger der legitimen Stats-
gewalt überlaſſen werden, wie der Dritte, welcher einem Räuber meine geraubte
Sache abjagt, dieſelbe mir herauszugeben hat. Aber die Analogie paßt nicht, weil
es ſich hier um öffentliche (politiſche) Verhältniſſe handelt. Die Statsgewalt,
welche die Macht nicht mehr beſitzt, ihr Gebiet zu ſchützen oder zu befreien, hat auch
kein ſicheres Recht mehr über das Gebiet; denn ein Volk und Land regieren
kann man nur mit Macht und Autorität, nicht ohne dieſelben. Ferner die fremde
Statsgewalt
, welche durch ihre Anſtrengungen und Opfer die Befreiung voll-
zogen und zugleich ihre Macht bewährt hat, den Feind aus dem Lande zu verdrängen,
hat ein natürliches Anrecht darauf, daß die neuen öffentlichen Verhältniſſe in dem
befreiten Lande mit Berückſichtigung auch ihrer politiſchen Intereſſen
neu geordnet
werden. Auch wenn ſie das Land nicht für ſich erobern wollte, ſo
wäre es doch völlig unnatürlich, ihr anzuſinnen, daß ſie lediglich für fremde In-
tereſſen ihre Volkskräfte verwende. Es bedarf alſo hier einer billigen Ausglei-
chung
der verſchiedenen Rechte und Intereſſen, ſowohl des Befreiers als des be-
freiten Landes. Ein Beiſpiel der Art bieten die Verhandlungen Preußens mit
dem Herzog Friedrich von Auguſtenburg über die Herzogthümer Schleswig und
Holſtein (1865 und 1866) nach der Befreiung derſelben von der Däniſchen
Herrſchaft. Vgl. Heffter § 188.


730.

Hat ein Volk, ohne Zuthun der vom Feinde vertriebenen Regierung
[396]Achtes Buch.
und ihrer Bundesgenoſſen ſich durch eigene Kraft von der feindlichen Herr-
ſchaft befreit, ſo kann die frühere Regierung nur mit ſeiner Zuſtimmung
nicht gegen ſeinen Willen in den Beſitz eintreten.


Durch dieſe Selbſtbefreiung bewährt ſich die ſtatliche Kraft des Volks im
Gegenſatze zu der Ohnmacht der Träger der Statsgewalt. Da das öffentliche Recht
weſentlich der Ausdruck der lebendig-politiſchen Kräfte im Volk iſt und ſein ſoll, ſo iſt
das Volk durchaus berechtigt, die Statsverfaſſung nach der Befreiung neu zu
ordnen
, entſprechend den offenbar gewordenen Verhältniſſen, und ſich nicht lediglich
durch die Hinweiſung auf eine zweifelhaft, weil eine Zeit lang unwirk-
ſam, gewordene Legitimität des ältern Rechts
daran verhindern zu
laſſen. Freilich üben die aufgeregten Völker in ihrem Eifer für die Herſtellung der
angeſtammten Dynaſtie in dieſem kritiſchen Moment zuweilen nicht die nöthige
Vorſicht aus für ihre Zukunft. Die Spaniſche, Italieniſche und die Deutſche
Geſchichte der Befreiung von der Napoleoniſchen Oberherrſchaft 1813 bis 1815
liefern manche Belege für die Wahrheit dieſer Bemerkung.


731.

Hat der Feind in der Zwiſchenzeit nicht bloß Kriegsrecht geübt,
ſondern ſich eine wirkliche Landesherrſchaft angemaßt, und inzwiſchen be-
hauptet, aber ohne daß dieſelbe durch einen Friedensſchluß beſtätigt und
zu anerkanntem Rechtszuſtand geworden iſt, ſo wird zwar nach der Ver-
drängung des feindlichen Uſurpators der vorherige Rechtszuſtand erneuert,
aber es können nicht alle einzelnen Regierungsacte des Zwiſchenherrſchers
als ungeſchehen betrachtet werden.


Vielmehr bleiben dieſelben, ſoweit ſie bloße Verwaltungs- und Ge-
richtsacte ſind oder eine privatrechtliche Bedeutung haben, in der Regel in
Kraft. Soweit ſie dagegen den Verfaſſungszuſtand des Landes ändern
oder einen weſentlich politiſchen Charakter haben, können ſie von der er-
neuerten Statsgewalt für unwirkſam erklärt werden.


1. Der Unterſchied zwiſchen politiſcher Regierung und Verwaltung
im engern Sinn (Adminiſtration) muß hier beachtet werden. Auch die poli-
tiſche Regierung wird inzwiſchen von der Kriegsgewalt und der Statsgewalt geübt,
welche im Kriege das Land eingenommen hat. Aber die reſtaurirte recht-
mäßige Landesregierung
, welche andere — oft geradezu feindliche — politiſche
Principien und Richtungen vertritt, iſt in keiner Weiſe an die politiſchen Anord-
nungen ihres Gegners gebunden. Die Politik ändert ſich mit der Aenderung des
entſcheidenden Centrums.


2. Dagegen die Verwaltungsacte — ohne politiſche Bedeutung —
[397]Das Kriegsrecht.
wirken in der Regel fort, und zwar ſowohl die Acte der Verwaltung im engern
Sinne
— die Finanzverwaltung, die Volkswirthſchaftspflege und
die Culturpflege inbegriffen — als die Acte der Rechtspflege — Urtheile
im Civil- und im Strafproceß —. Da die Zwiſchenregierung durch das
Kriegsrecht dazu ermächtigt war, die Verwaltung zu ordnen und zu leiten, da ferner
die Fortführung der Detailgeſchäfte nothwendig iſt im allgemeinen öffentlichen Inter-
eſſe und da endlich hier keine politiſche Bedenken im Wege ſtehen, ſo iſt die
Anerkennung des Geſchehenen eine natürliche Folge der Fortdauer des
Rechts und der nicht unterbrochenen ſtatlichen Functionen. Die Caſſation aller in
der Zwiſchenzeit erlaſſenen Urtheile der vielleicht in ihrem Perſonal veränderten
Gerichtsbehörden oder aller Verfügungen der neu beſetzten Policei- oder Finanzämter
wäre eine Verkennung des natürlichen Zuſammenhangs und der Bedürfniſſe des
Lebens und müßte eine Reihe von Verwirrungen und vielfältigen Schaden ſtiften.


732.

Die reſtaurirte Regierung iſt nicht verpflichtet, die Veräußerung von
Statsdomänen oder Renten, welche die feindliche Zwiſchenregierung vor-
genommen hat, oder Statsſchulden, welche dieſelbe für das beſetzte Land
contrahirt hat, als rechtsverbindlich anzuerkennen, ſondern berechtigt, jene
Statsgüter wieder an ſich zu ziehen und die Bezahlung dieſer Schulden
zu verweigern.


Durch die Beſitznahme im Kriege geht nicht die Statshoheit ſelber auf den
Sieger über, ſondern nur die Ausübung derſelben wird, ſoweit es die militäriſchen
Rückſichten erfordern, von ihm in die Hand genommen. Die bloß proviſoriſche
Zwiſchenregierung
iſt daher auch nicht zu dauernder Vertretung des
Landes berechtigt. Demgemäß wird ſie nicht befugt ſein, die Domänen zu ver-
äußern, noch Landesſchulden einzugehn. Die wiederhergeſtellte Regierung wird jene
Güter daher wieder vindiciren und die Anerkennung und Bezahlung dieſer Schulden,
ſoweit dieſelben nicht für das Land und ſeine Wohlfahrt verwendet worden ſind,
verweigern können. Obwohl dieſe Acte der Zwiſchenregierung zur Finanzwirth-
ſchaft
gehören, ſo haben ſie doch meiſtens einen eminent politiſchen Charakter
und ſoweit dieß der Fall iſt, braucht ſich die mit Gewalt aus dem Beſitze verdrängte
und dann wieder hergeſtellte Regierung jene Acte nicht gefallen zu laſſen.


733.

Wird aber die Eroberung durch die Anerkennung im Frieden voll-
zogen, ſo wird dadurch die Veräußerung der Domänen und die Ueber-
nahme von Landesſchulden bekräftigt, und wenn ſpäter durch neuen Krieg
die frühere Regierung reſtaurirt wird, ſo iſt ſie nicht mehr berechtigt, die
[398]Achtes Buch.
in der Zwiſchenzeit vollzogenen Rechtsgeſchäfte hinterdrein als ungültig zu
erklären und demgemäß zu behandeln.


Nur in den Fällen des § 732 kann von Postliminium geſprochen werden,
nicht in denen des § 733. Denn nur in jenen wird der urſprüngliche Rechts-
zuſtand
von den Hemmniſſen und Zweifeln der kriegeriſchen Zwiſchenzeit wieder
befreit, in dieſen iſt ein neuer Rechtszuſtand erwachſen, der ſpäter nicht mehr als
nicht vorhanden fingirt werden darf. Wenn einmal der Friede die Eroberung be-
ſtätigt, ſo iſt der Eroberer berechtigt, die Statshoheit zu üben und auch dritten
Perſonen gegenüber für das Land zu handeln. Der Unterſchied der beiden
Fälle tritt in dem bekannten Kurheſſiſchen Rechtsſtreit deutlich hervor. Der
Kurfürſt von Heſſen beſtritt nach ſeiner Reſtauration (2. Dec. 1813) die Gültigkeit
der Veräußerung von Domänengütern, welche die Weſtphäliſche Regierung nach ſei-
ner Verdrängung aus dem Beſitz (1806) vollzogen hatte und ſetzte ſich mit Gewalt
wieder in den Beſitz der veräußerten Güter. Innerhalb des Kurheſſiſchen Landes
freilich konnten die Privatkäufer nicht zu ihrem Rechte gelangen. Dagegen erkannte
die Preußiſche Regierung die Rechtsgültigkeit der geſchehenen Veräußerungen in ihrem
Gebiete an, weil das Königreich Weſtphalen im Frieden von Tilſit (9. Juli
1807) anerkannt und daher die Veräußerung von einer wirklichen Statsregierung
rechtskräftig gemacht worden ſei. Vgl. PhillimoreIII. § 573. In ähnlichem
Sinne wurde ein zweiter Proceß von dem Spruchcollegium der Juriſtenfacultät in
Kiel (24. März 1831) entſchieden. Auch dieſes Urtheil führte aus, daß der reſtau-
rirte Kurfürſt nicht ſeine vor dem Krieg beſeſſene Landeshoheit fortſetze, als wäre
nicht in der Zwiſchenzeit eine andere im Frieden anerkannte Regierung in Caſſel
geweſen. Ebenda III. § 572.


734.

Der reſtaurirte Fürſt iſt nicht verpflichtet, Veräußerungen oder andere
Verfügungen anzuerkennen, welche der feindliche Zwiſchenherrſcher bezüglich
der Privatgüter des erſtern vorgenommen hat. Wenn aber dieſe Rechts-
geſchäfte in Folge des Friedens conſolidirt worden ſind, ſo kann der reſtau-
rirte Fürſt dieſelben nachher nicht wieder anfechten.


Das fürſtliche Privatgut iſt in höherm Grade als das Privatgut an-
derer Perſonen im Kriege der Kriegsgewalt ausgeſetzt, weil der Fürſt als ſolcher eine
feindliche Perſon in beſonderem Sinne iſt (§ 569), und eine erhöhte Gefahr
beſteht, daß jene Güter zur Förderung der Kriegszwecke benutzt werden. Der Fürſt
iſt daher in Gefahr, daß nicht bloß die Domänen weggenommen, ſondern auch ſeine
Privatgüter von dem Feinde mit Beſchlag belegt werden. Gelangt er aber während
des Kriegs wieder in den Beſitz ſeines Gebiets, ſo kann er auch eine allfällige Ver-
äußerung durch den Feind als ungültig betrachten, weil der Feind zu keiner defini-
[399]Das Kriegsrecht.
tiven Verfügung berechtigt war. Der Friede aber legitimirt auch die im Kriege
geſchehenen unrechtmäßigen Handlungen der Kriegsgewalt, wenn er nicht darüber
ausdrücklich anders beſtimmt. Vgl. oben § 710.


735.

Die reſtaurirte Regierung iſt nicht berechtigt, für die Zwiſchenzeit
Verfügungen zu treffen mit rückwirkender Kraft, ſondern genöthigt, die
Folgen einer thatſächlichen Zwiſchenregierung, welche ſie nicht zu verhindern
vermochte, auch ihrerſeits zu tragen.


Vgl. oben zu § 733. Das Verfahren des 1813 reſtaurirten Kurfürſten
WilhelmI. von Heſſen und des 1814 reſtaurirten Königs Victor I. Emanuel
von Sardinien-Piemont, welche die ganze lange Zwiſchenzeit, in welcher ſie
ihrer Stammlande entſetzt waren, als nicht vorhanden fingirten, und alle
Zuſtände (auch die Beamtenſtellungen) wieder auf den Zeitpunkt zurückſchraubten, in
dem ſie die Herrſchaft verloren hatten, macht den Eindruck einer karikirten Legiti-
mität, die an Wahnſinn gränzt. Die großen Ereigniſſe der Geſchichte, welche die
Welt verändern, können nicht durch unnatürliche Fictionen als nicht geſchehen be-
trachtet werden.


736.

Das Postliminium tritt in öffentlichen Rechtsverhältniſſen nur
während des Kriegs in Wirkſamkeit und wird durch den Friedensſchluß
ausgeſchloſſen.


Der Friedensſchluß verwandelt die thatſächlichen Veränderungen, die während
des Kriegs entſtanden ſind und im Frieden beſtätigt werden, in einen anerkannten
Rechtszuſtand
, der daher nur durch neue Rechtsbildung, nicht durch bloße
Wiederherſtellung wieder geändert wird. Vgl. oben § 715.


737.

Kriegsgefangene können thatſächlich ihre Freiheit wieder gewinnen,
wenn ſie von der Kriegsgewalt befreit werden oder ſich ſelber befreien.
Dieſe Anwendung des Postliminium findet auch nach dem Friedensſchluß
Statt, wenn die Gefangenſchaft thatſächlich über denſelben hinaus fort-
dauerte.


Gefangene, welche ihre Freiheit durch Bruch ihres Ehrenworts wieder
gewonnen haben, können aber dem Feinde wieder ausgeliefert werden.


[400]Achtes Buch.

Vgl. oben § 609. Der Bruch des Ehrenworts iſt freilich zunächſt eine Ver-
letzung des Stats, dem das Ehrenwort gegeben worden iſt, aber ſo anſtößig, daß
auch der Stat, dem der Gefangene angehört, berechtigt iſt, einen ſo Befreiten zurück-
zuweiſen und dem Feind wieder zu überliefern.


738.

Das Postliminium der Privatperſonen hat die Bedeutung, daß ihre
perſönlichen Rechte, an deren Ausübung ſie durch die Kriegsgefangenſchaft
gehindert waren, nun wieder von ihnen ausgeübt werden können. Die
Vormundſchaft, die inzwiſchen für ſie beſtellt worden iſt, hört auf und ſie
treten in den perſönlichen durch keine Feindesgewalt gehinderten Genuß
ihres Vermögens wieder ein. Ihr Recht war aber auch während der Ge-
fangenſchaft nicht aufgehoben. Nach modernem Recht dauert die Ehe des
Kriegsgefangenen fort und kann er auch über ſein Vermögen gültig unter
Lebenden oder durch letzten Willen verfügen.


Da die heutige Kriegsgefangenſchaft die Vermögensrechte der Kriegsgefangenen
keineswegs aufhebt, ſondern nur ſie in der Verwaltung ihres Vermögens thatſächlich
hemmt, ſo bedeutet das moderne Postliminiumnicht wie das antike Wieder-
herſtellung des Rechts
, ſondern nur Beſeitigung jener Hemmniſſe.
Rechtlich
iſt der Kriegsgefangene nicht gehindert, über ſein Vermögen zu verfügen.
Er kann z. B. einen Verwalter beſtellen und ermächtigen, der in ſeiner Abweſenheit die
Wirthſchaft beſorge, einzelne Sachen veräußern, Verträge abſchließen, ein Teſtament
machen u. ſ. f. Nur thatſächlich werden manche Anordnungen wegen der Ver-
hinderung der Communication nicht ausführbar ſein. In allen dieſen Beziehungen
beruhte das römiſche Postliminium auf einer ganz entgegengeſetzten Rechtsgrundlage.
Der Kriegsgefangene hatte als ſolcher alle Rechte auch über ſein Vermögen verloren
und nur das Postliminium ſtellte dieſelben durch die Fiction wieder her, daß er
inzwiſchen nicht gefangen geweſen ſei.


739.

Das Postliminium wirkt ferner zu Gunſten des wieder wirkſam
gewordenen Grundeigenthums, wenn dasſelbe während des Kriegs dem
Eigenthümer durch die feindliche Kriegsgewalt entzogen und wieder unter
die Autorität des befreundeten States zurückgelangt iſt.


Wenn die feindliche Kriegsgewalt z. B. einzelne Privaten aus dem Beſitz
ihrer Häuſer und Güter verdrängt, und dieſelben für militäriſche Zwecke in ihren
Beſitz genommen hat, aber vor dem Krieg wieder aus dieſer Gegend zurückgeworfen
wird, ſo können die Privaten ſich unbedenklich wieder in den Beſitz ihres Eigenthums
ſetzen. Wären gar jene Güter inzwiſchen von der feindlichen Kriegsgewalt veräußert
[401]Das Kriegsrecht.
worden, ſo iſt die — nicht im Frieden ausdrücklich oder ſtillſchweigend beſtätigte —
Veräußerung ungültig und die Eigenthümer können vindiciren.


740.

Auch die beweglichen Sachen, welche von dem Feinde weggenommen
worden ſind, können bis zum Friedensſchluß von dem verletzten Eigen-
thümer zurückgenommen werden, wenn die feindliche Gewalt wieder ver-
drängt iſt. Vorbehalten bleiben die privatrechtlichen Beſchränkungen, welche
der dinglichen Verfolgung beweglicher Sachen im Wege ſtehen und die
Beſtimmungen zu Gunſten des redlichen Verkehrs, welche den Erwerber
ſchützen.


Wenn z. B. der Feind Vieh wegnimmt und wegtreibt, und im Verfolg der
Märſche oder des Kampfs den Beſitz desſelben wieder verliert, ſo hindert Nichts den
Eigenthümer, ſich ſeiner Hausthiere wieder zu bemächtigen, wenn er derſelben wieder
habhaft werden kann, auch dann nicht, wenn jene Wegnahme durch das Kriegsrecht
legitimirt war. Noch weniger Bedenken hat es natürlich, daß der Eigenthümer die
unrechtmäßiger Weiſe ihm entzogenen Sachen, wenn er dazu Gelegenheit findet, wieder
in ſeinen Beſitz nehme.


741.

Die Wiedernahme der als Priſe von dem Feinde weggenommenen
Schiffe iſt vor der Verurtheilung oder Zuſprechung des Priſengerichts
jederzeit geſtattet.


Vgl. darüber unten Buch IX. Cap. 6.


Bluntſchli, Das Völkerrecht. 26
[[402]][[403]]

Neuntes Buch.
Recht der Neutralität.


1. Begriff und Arten der Neutralität.


742.

Neutralität heißt Nichtbetheiligung an dem Kriege Dritter und daher
Behauptung der Friedensordnung für den eigenen Bereich.


Neutral heißen die Staten, welche weder Kriegspartei ſind noch zu
Gunſten oder zum Nachtheil einer Kriegspartei an der Kriegsführung
Theil nehmen.


Das Wort und der Begriff der Neutralität gehören vorzüglich der neuern
Rechtsbildung an. Hugo Grotius nennt noch die Neutralen medii; Byn-
kershoek „nonhostes
, quineutrarum partium sunt“. Die Ausbildung
des Rechts der Neutralität iſt eine der fruchtbarſten und nützlichſten Errungenſchaften
des neueren Völkerrechts; denn die neutralen Staten beſchränken die Uebel
des Kriegs
und ſchützen während des Kriegs, ſo weit es möglich iſt, das Recht
und die Intereſſen des Friedens
. In der Neutralität liegt die Ablehnung
und Vermeidung jeder Theilnahme am Krieg. Klüber: „Ein neutraler Stat iſt
weder Richter noch Partei“. Der neutrale Stat bleibt alſo im Frieden, während
die Kriegsparteien einander bekämpfen.


743.

Die neutralen Staten verzichten nicht auf ihr Kriegsrecht. Aber
ſie enthalten ſich, ſo lange ſie neutral bleiben, der Betheiligung am Kriege.


26*
[404]Neuntes Buch.

Das gilt auch von den Staten, welchen eine ſogenannte ewige Neutra-
lität
zugeſichert iſt. Verzicht auf das Recht des Kriegs wäre Selbſtentmannung,
wäre Verzicht des States darauf, ſeine Rechte mit den Waffen zu ſchützen und zu
vertreten, d. h. im Grunde Verzicht auf die ſelbſtändige Exiſtenz.


744.

Die thatſächliche Neutralität iſt die Grundbedingung des Rechts der
Neutralität.


Ein Stat, welcher ſich am Kriege betheiligt, iſt nicht neutral, ſondern er
wird ſelber Kriegspartei oder Bundesgenoſſe einer Kriegspartei oder Intervenient
im Krieg. Wenn er ſich nicht neutral verhält, ſo kann er auch nicht die
Rechte eines Neutralen
anſprechen. Der Krieg ſelber hat zunächſt eine that-
ſächliche
Bedeutung. Wer Krieg führt, iſt, weil er das thut, Kriegspartei und
wird von dem Gegner mit Recht als Feind betrachtet und behandelt.


745.

Es gibt eine nothwendige durch völkerrechtliche Acte und Verträge
garantirte ſogenannte ewige Neutralität einzelner Staten und eine frei-
willige auf friedlichem Entſchluß beruhende Neutralität der Staten.


Die Neutralität kann in dem Charakter eines States und in allgemeinen
Verhältniſſen eine fortwirkende Begründung haben und dann als ewige Neutra-
lität
erſcheinen. Von der Art ſind in Europa:


a) die Neutralität der Schweiz. Seit den unglücklichen italieniſchen
Kriegen zu Anfang des ſechzehnten Jahrhunderts hat die ſchweizeriſche Eidgenoſſen-
ſchaft ſich der Politik einer bleibenden Neutralität zugewendet, welche nur vorüber-
gehend in den Revolutionskriegen 1798—1803 und dann wieder zur Zeit der Re-
ſtauration 1814 verletzt worden iſt. Die Wiener Congreßacte Art. 84. 92.
und eine beſondere Beurkundung der Mächte vom 20. Nov. 1815 erkennen
es an, daß die fortwährende Neutralität der Schweiz in den politiſchen Intereſſen
von ganz Europa begründet ſei. Wenn man erwägt, daß die Schweiz mitten zwi-
ſchen großen nationalen Staten gelegen und ſelber aus Bruchtheilen der deutſchen,
franzöſiſchen und italieniſchen Nationalität zuſammengefügt iſt, daß ſie allein eine
republikaniſche Verfaſſung mitten unter den großen Monarchien behauptet, daß ſie
im Beſitz der Gebirgspäſſe und Uebergänge iſt aus einem großen Ländergebiet in
das andere, daß in ihr die großen Ströme und Thalöffnungen des Rheins, der
Donau (Inn), der Rhone und des Po (Teſſin) ihren Urſprung nehmen, ſo begreift
man ſowohl das ſchweizeriſche als das europäiſche Intereſſe, daß dieſes Centralland
Europa’s ein Friedensland und daher neutral bleibe. Vgl. Wheaton
Int. L. § 416—420.


b) Die immerwährende Neutralität des Königreichs Belgien, gemäß dem
Londoner Vertrag vom 15. Nov. 1831, wodurch ein Land, das während Jahr-
[405]Recht der Neutralität.
hunderten vorzugsweiſe zum Kriegsſchauplatz zwiſchen Frankreich und Deutſchland dienen
mußte, vor dieſen Gefahren geſichert und das europäiſche Kriegsfeld eingeengt werden
ſoll. WheatonInt. L. § 421.


c) Die Neutralität des Fürſtenthums Serbien zufolge des Pariſer Vertrags
vom 30. März 1866.


d) Die Neutralität des Großherzogthums Luxemburg nach dem Londoner
Vertrag von 1867.


746.

Es gibt eine vollſtändige und eine theilweiſe oder beſchränkte Neu-
tralität, indem ein Stat einer Kriegspartei vertragsmäßig zu einer be-
ſchränkten Hülfe verpflichtet ſein und dieſe Pflicht erfüllen kann, ohne ſich
im übrigen an dem Kriege zu betheiligen.


Ein Beiſpiel iſt das Recht der Schweiz, einige Savoyiſche Gebietstheile in
einem franzöſiſch-italieniſchen Kriege zu beſetzen und dadurch zu ſchützen, ein Recht,
welches freilich einen ganz andern Sinn hatte, ſo lange Savoyen zu Piemont ge-
hörte, als ſeitdem es eine franzöſiſche Provinz geworden iſt.


747.

Es kann ſogar zum Behuf der engeren Eingrenzung des Kriegs-
feldes ein Theil des Statsgebiets der Kriegspartei ſelbſt neutraliſirt d. h.
für neutral erklärt und dadurch von der Gefahr des Kriegs befreit werden.


Die Localiſirung des Kriegs beſchränkt die Leiden des Kriegs und iſt
daher ſehr zu empfehlen. Es kann das freilich nur thatſächlich geſchehen, wie
z. B. in dem Deutſch-Däniſchen Kriege von 1863/64 der Krieg auf das Herzogthum
Schleswig und Jütland beſchränkt war. Dann iſt das noch nicht wirkliche Neutra-
liſirung der übrigen Gebiete der Kriegsparteien und hängt es von dem Ermeſſen
der Heerführer ab, den Kriegsſchauplatz auch dorthin zu verlegen. Es kann das
aber durch Uebereinkunft auch rechtlich feſtgeſtellt werden, z. B. daß der Krieg
nur in den überſeeiſchen Colonien, nicht in Europa geführt werde, oder umgekehrt.
Während des Kriegs von Oeſterreich wider Frankreich und Italien wurde ſo der theil-
weiſe von den Franzoſen und theilweiſe von den Oeſterreichern beſetzte Kirchenſtat
neutraliſirt (1859). Die von den Parteien verabredete Eingrenzung des Kriegs-
feldes ſchließt alſo eine beſchränkte Neutraliſirung der übrigen Statsgebiete in ſich.


748.

Die Neutralität heißt eine bewaffnete, wenn der neutrale Stat in
der Abſicht zu den Waffen greift, ſeine Neutralität und damit ſeine Friedens-
rechte gegen jede Verletzung einer der Kriegsparteien zu ſchützen.


[406]Neuntes Buch.

Die bloße Rüſtung und ſelbſt die Truppenaufſtellung des neutralen
Stats bedeutet noch nicht Theilnahme am Krieg, ſondern nur Schutz des Friedens-
zuſtands gegen Uebergriffe einer der Kriegsparteien. Eine Neutralität, die nicht im
Nothfall mit den Waffen vertheidigt wird, iſt ein höchſt unſicheres Gut, und wird
leicht von der einmal losgebundenen Kriegsgewalt mißachtet, wenn ſie das in ihrem
Intereſſe findet.


2. Bedingungen der Neutralität und Pflichten der Neutralen.


749.

Es hängt in der Regel von dem freien Willen eines jeden States
ab, ob er in dem Kriege anderer Staten neutral bleiben oder ſich an dem
Kriege betheiligen wolle.


1. Wenn ein Krieg ausbricht, ſo können die zunächſt unbetheiligten Staten
entweder einer der Kriegsparteien, deren Sache ſie unterſtützen wollen, beiſtehn und
ſo ebenfalls in den Krieg eintreten, oder ſie können ſich ſolcher Theilnahme enthalten.
Im letztern Falle ſind ſie neutral. Die Neutralität bedarf nicht eines beſondern
Acts, ſondern verſteht ſich als Regel von ſelber, wenn nicht die Handlungen
eines Stats auf kriegeriſche Betheiligung hinweiſen.


2. Für die Staten mit fortwährender Neutralität gilt die obige
Vermuthung in erhöhter Stärke. Wenn dieſe Staten ſich, ohne zuvor ſelber
verletzt zu ſein
, bei einem Kriege anderer Staten betheiligen wollten, ſo
wäre das Verzicht nicht wie bei den andern Staten nur auf die gegenwärtige
Neutralität, ſondern zugleich auf die Vortheile der ewigen Neutralität.
Die übrigen Staten würden ſich nicht mehr durch die früheren allgemeinen Anord-
nungen beſtimmen laſſen, einen Stat, der wie die andern je nach ſeinem freien Er-
meſſen bald Theil am Kriege nimmt, bald ſich zurückhält, als einen vorzugsweiſe
und dauernd neutralen Stat zu betrachten und zu behandeln. Ein ſolcher Stat
würde dann eine abwechſelnde, bald kriegeriſche bald friedliche Politik treiben, nicht
mehr eine dauernd und ſpecifiſch neutrale. Vgl. unten § 752.


750.

Die Bundesgenoſſenſchaft mit einer Kriegspartei verpflichtet nicht
immer zur Theilnahme am Krieg. Die Bundesgenoſſenſchaft kann begrenzt
und die Behauptung der Neutralität mit derſelben vereinbar ſein.


[407]Recht der Neutralität.

Die deutſchen Staten, odwohl für Sicherung des deutſchen Bundesgebiets die
Bundesgenoſſen Oeſterreichs, verhielten ſich dennoch in dem Kriege Oeſterreichs gegen
Frankreich und Italien 1859 neutral und blieben ſogar in dem von Preußen und
Oeſterreich gegen Dänemark 1863/64 geführten Kriege in neutraler Haltung.


751.

Sogar wenn ein Bundesgenoſſe zur Unterſtützung einer Kriegspartei
verpflichtet iſt, aber ſich trotzdem jeder Theilnahme an dem Kriege enthält
und dieſen Willen der Gegenpartei ankündigt, ſo hat er einen Rechts-
anſpruch darauf, von derſelben als neutraler Stat geachtet zu werden.


Die bloße vertragsmäßige Allianz mit einem kriegführenden State
macht den Alliirten noch nicht nothwendig zum Feinde der andern Kriegspartei.
Wenn der Bundesgenoſſe ſeiner Allianz keine Folge gibt und ſeine neutrale
Geſinnung und Haltung offenbar
macht, ſo darf der Feind ſeines Alliirten
ihn nicht als Kriegspartei betrachten. Er beobachtet demſelben gegenüber das Recht
des Friedens und hat daher auch ein Recht auf Frieden. Die Frage, ob er dadurch
ſeine Bundespflichten gegen den Alliirten verletze, iſt nur zwiſchen ihm und
dieſem Alliirten zu löſen, ſie geht deſſen Gegner Nichts an.


752.

Auch wenn ein Stat durch Verträge oder allgemeine völkerrechtliche
Anordnungen zu ewiger Neutralität wie berechtigt ſo verpflichtet iſt, hört
er dennoch auf, neutral zu ſein, wenn er thatſächlich als Kriegspartei oder
für oder gegen eine Kriegspartei ſich am Kriege betheiligt.


Vgl. zu § 744 und 749. Wenn der fortwährend neutrale Stat zur Ver-
theidigung ſeines Rechts und daher auch ſeiner Neutralität Krieg führen muß, ſo
verzichtet er damit nur vorübergehend, nicht dauernd auf ſeine immerwährende
Neutralität. Wenn er dagegen ohne ſolche eigene Kriegsurſache ſich an dem Kriege
dritter Staten betheiligt, ſo iſt das ein Aufgeben ſeiner immerwährenden
Neutralität
.


753.

Neutralität bedeutet nicht Gleichgültigkeit und Unparteilichkeit gegen-
über den Kriegsparteien und dem Fortgang des Krieges.


Ein Stat kann ein lebhaftes Mitgefühl mit der einen Kriegspartei
haben und ſeinem Unwillen wider die andere Kriegspartei einen offenen Ausdruck
[408]Neuntes Buch.
geben und trotzdem neutral bleiben. Bloße Meinungen und Meinungs-
äußerungen über Recht und Unrecht und über die Gegenſätze der Politik ſind keine
kriegeriſchen Acte und keine Theilnahme am Krieg. Sie heben das Friedensver-
hältniß der Staten nicht auf, ſo wenig als derartige Urtheile und Aeußerungen von
Privatperſonen über Andere ſchon einen Proceß bedeuten. Wenn aus der Art und
Form der Meinungsäußerung eine Beleidigung erkennbar wird, ſo kann das zum
Streite und ſelbſt zum Kriege führen. Aber erſt muß dieſe Folge eintreten.
Bis dahin bleibt der Friedenszuſtand und mit ihm die Neutralität.


754.

Wenn ein Stat nur vorübergehend durch die Perſon des gemein-
ſamen Herrſchers mit einem andern State verbunden iſt, ſo iſt es möglich,
daß der eine Stat zur Kriegspartei wird und der andere Stat neutral
bleibt.


Da jeder von dieſen Staten eine Perſon für ſich iſt (§ 74), ſo kann auch
der eine Stat im Kriege ſein, der andere im Frieden leben. Es war nicht noth-
wendig, daß das Kurfürſtenthum Hannover in die engliſchen Kriege verwickelt werde,
als die Kurfürſten von Hannover zugleich Könige von England waren, ſo wenig
als früher die Niederlande genöthigt waren, ſich an den engliſchen Kriegen zu bethei-
ligen, als ihr Erbſtatthalter König von England geworden war. Jeder ſelbſtändige
Stat entſcheidet ſich ſelbſtändig, ob er den Frieden behalten oder in den Krieg ein-
treten wolle.


755.

Es kann auch der Fürſt eines States perſönlich als Officier im
Dienſte eines andern kriegführenden States an dem Kriege Theil nehmen
und trotzdem die Neutralität des States gewahrt bleiben, deſſen Fürſt
er iſt.


Indem er als Officier eines fremden feindlichen States an dem Kriege Theil
nimmt, gehört er, wie jeder andere Officier zu dem feindlichen Heere, und erſcheint
er nicht als Statshaupt, noch handelt er für ſeinen Stat. Perſönlich iſt er
nun der Kriegsgefangenſchaft, aber nicht ſein Stat dem Kriege ausgeſetzt.


756.

Da die thatſächliche Nichtbetheiligung am Kriege die natürliche
Vorausſetzung der Neutralität iſt, ſo iſt der neutrale Stat, wenn er die
[409]Recht der Neutralität.
Rechte der Neutralität behaupten will, verpflichtet, ſich jeder thatſächlichen
Unterſtützung einer Kriegspartei zu Kriegszwecken zu enthalten.


1. Die Pflichten der Neutralen ſind nicht Dienſtbarkeiten, welche ihnen
von andern Staten — insbeſondere den kriegführenden Staten — auferlegt werden;
dafür gäbe es keinen Rechtsgrund; dieſe Pflichten ſind nur naturgemäße Be-
dingungen
der Neutralität. Man kann nicht neutral d. h. im Frieden
bleiben, wenn man am Kriege Theil nimmt. Das Recht der Neutralität iſt
durch die neutrale Haltung bedingt. Ueber dieſen Grundgedanken kann kein
Zweifel ſein. Nur die Anwendung und Ausdehnung desſelben kann in Frage
kommen.


2. Die berühmte Proclamation der Amerikaniſchen Neutralität durch den
Präſidenten Washington vom 22. April 1793 in dem franzöſiſch-engliſchen Krieg
erklärt es als die Pflicht und das Intereſſe der Vereinigten Staten, ſich „freundlich
und unparteiiſch zu den beiden kriegführenden Mächten zu verhalten“ und ermahnt
alle Bürger, „ſich aller feindlichen Handlungen wider eine der beiden gänzlich zu
enthalten“. Die Art, wie er beiden Mächten gegenüber dieſe Neutralität trotz großer
Schwierigkeiten handhabte, trug vieles dazu bei, das Recht der Neutralität zu befe-
ſtigen und auszubilden. Vgl. WheatonInt. L. § 439 Anm. v. Dana und die
Schrift von Bemis: American Neutrality. Boſton 1866.


757.

Insbeſondere darf der neutrale Stat nicht einer Kriegspartei Truppen
liefern, noch Kriegsſchiffe zur Verfügung ſtellen, noch Subſidien für die
Kriegsführung bezahlen.


Die bewaffnete unmittelbare Beihülfe zur Kriegsführung iſt Theil-
nahme an der Kriegsführung, aber auch die mittelbare Unterſtützung der Kriegs-
führung durch Zahlung von Kriegsſubſidien iſt Betheiligung am Krieg und
mit der neutralen Haltung nicht verträglich.


758.

Wenn einzelne Angehörige des neutralen States ohne Statsauftrag
und ohne Statsermächtigung von ſich aus als Reisläufer und Parteigänger
einer Kriegspartei zulaufen und an der Kriegsführung Theil nehmen, ſo
iſt das nicht eine Verletzung der Neutralität, welche dem State zur Laſt
fällt, aber dieſe Perſonen haben nun auch nicht die Rechte von friedlichen
Perſonen anzuſprechen, ſondern ſind als Feinde zu betrachten.


[410]Neuntes Buch.

Die einzelnen Privaten repräſentiren nicht den Stat; daher kann auch ihre
perſönliche Theilnahme an einem fremden Kriege nicht als Betheiligung des States
angeſehen werden, dem ſie angehören. Der neutrale Stat darf nur nicht dulden,
daß auf ſeinem Gebiete ſich Freiwillige ſammeln und als militäriſche
Truppe
organiſiren, um von da aus dann einer der Kriegsparteien zuzuziehn.
Das wäre nicht mehr That von Einzelnen, ſondern bekäme, weil die Truppen-
bildung immer eine ſtatliche Machtentfaltung iſt, einen öffentlich-recht-
lichen
Charakter. Würde der Stat die Bildung von ſolchen Freiſcharen ge-
währen laſſen, ſo würde er offenbar die Kriegsführung der einen Partei durch ſeine
Connivenz unterſtützen und die Gegenpartei hätte Urſache, das als eine feindliche
Haltung zu betrachten. Die neutrale Stellung wäre aufgegeben. Wenn aber ſolche
Unternehmen heimlich vorbereitet werden, und der Stat, der es nicht hindert, da-
bei in bona fide iſt, kann man ihm dieſelben ſo wenig als das Reislaufen
Einzelner
zum Vorwurf machen.


759.

Wenn ein Stat durch frühere Verträge, welche nicht in der Vor-
ausſicht des eingetretenen Krieges zum Behuf der Unterſtützung einer
Kriegspartei abgeſchloſſen worden ſind, verpflichtet war, dem State, der
nun Kriegspartei geworden iſt, Truppen zu ſtellen, ſo wird die Anweſen-
heit dieſer Truppen in Feindesland und ſelbſt die Theilnahme derſelben
am Krieg nicht als Verletzung der Neutralität jenes States betrachtet,
wenn im Uebrigen die friedliche Geſinnung des letztern unzweifelhaft iſt
und er ſich ſtrenge innerhalb der Schranken ſeiner vertragsmäßigen Ver-
pflichtung hält.


Die gelieferten Truppen ſind feindliche Perſonen, aber der Stat, der
ſie nicht für dieſen Krieg geliefert hat, iſt nicht zum Feind geworden durch
Ausbruch des Krieges.


Die neutrale Schweiz war, ſo lange ſie durch ſogenannte Militärcapi-
tulationen
gebunden war, oft in dieſer Lage, indem die im Dienſte und Solde
einer fremden Macht ſtehenden Schweizertruppen an den Kriegen dieſer Macht Theil
nahmen, während die Schweiz ſelber ſich an dem Kriege gar nicht betheiligte. Es
kam ſogar nicht ſelten vor, daß ſolche ſchweizeriſche Werbetruppen in den beiden
feindlichen Heerlagern zu finden waren und genöthigt wurden, wider einander zu
kämpfen. Indeſſen iſt das immerhin ein Mißverhältniß, das zu aufrichtiger Neu-
tralität nicht paßt. Indem die ſchweizeriſche Bundesverfaſſung von 1848 nun alle
Militärcapitulationen unterſagt hat, ſchützt ſie die Neutralität der Schweiz beſſer
gegen derartige Zweifel. Ein anderes Beiſpiel einer Lieferung von Hülfstruppen
bei einer im übrigen fortdauernden neutralen Haltung hat Dänemark in dem
[411]Recht der Neutralität.
Schwediſch-Ruſſiſchen Kriege von 1788 gegeben. Die Correſpondenz darüber zwiſchen
Dänemark, welches an Rußland Schiffe und Truppen geliefert hatte und trotzdem
ſeine Neutralität behauptete, und Schweden, welches zwar dieſe Behauptung beſtritt,
aber thatſächlich dennoch Dänemark als neutralen Stat behandelte, ſiehe bei Phil-
limore
III. § 140.


760.

Kein Stat und daher auch kein kriegführender Stat iſt berechtigt,
in einem fremden, insbeſondere einem neutralen Stat wider den Willen
der Statsgewalt Truppen zu werben.


Die Truppenwerbung wie alle Truppenaushebung und Truppenſammlung
iſt voraus eine Aeußerung der Kriegshoheit, welche ausſchließlich der einhei-
miſchen Statsgewalt zuſteht. Die fremde Werbung, die nicht von dieſer geſtattet
worden, iſt daher eine Verletzung jener Statshoheit.


761.

Erlaubt der neutrale Stat ausſchließlich oder vorzugsweiſe einer Kriegs-
partei die Truppenwerbung in ſeinem Gebiet, ſo erſcheint dieſe Handlung
als Beihülfe zur Kriegsführung und demgemäß als Verletzung der
Neutralitätspflicht.


1. Indem der neutrale Stat die Werbung geſtattet, ſtellt er dem fremden
Stat einen Theil ſeiner militäriſchen Volkskräfte zur Verfügung. Geſchieht das nur
zu Gunſten einer Partei und daher wider die andere, ſo ergreift der bisher neu-
trale Stat dadurch ſelber Partei für jene wider dieſe, und gibt damit ſeine neutrale
Haltung auf. Vielleicht läßt ſich das der Gegner gefallen, ohne deßhalb jenen Stat
als Feind zu behandeln. Dann dauert trotzdem das Friedensverhältniß fort. Aber
der befeindete Stat braucht ſich das nicht gefallen zu laſſen, und kann
in Folge deſſen ſich weigern, länger jenen Stat als neutral anzuſehn.


2. Die Anwerbung von Truppen in fremdem Lande, ohne Erlaubniß
der Landesregierung
gilt daher als ein ſtrafbares Vergehen. Vgl. dar-
über das nordamerikaniſche Neutralitätsgeſetz vom 5. Juni 1794, be-
ſtätigt und ergänzt den 20. April 1818 Art. 2, das engliſche Geſetz British
foreign-enlistment Act
v. 3. Juli 1819 (59 Georg III. c. 69) § 2 und die
Rede Cannings im engliſchen Parlament bei PhillimoreIII. § 146 u. 147.
WheatonInt. L. § 439 und beſonders die Anmerkung dazu von Dana.


762.

Wenn der neutrale Stat beiden Kriegsparteien die Truppenwerbung
[412]Neuntes Buch.
in ſeinem Gebiete geſtattet, ohne eine derſelben vorzugsweiſe zu begünſtigen,
ſo iſt das zwar kein offenbarer Bruch der Neutralitätspflicht, aber die
völlige Unterſagung jeder fremden Werbung entſpricht beſſer und unzwei-
deutiger der neutralen Haltung.


Neutralität bedeutet nicht gleichmäßige Begünſtigung der beiden
Kriegsparteien
, ſondern Enthaltung von jeder Kriegstheilnahme.
Die Unparteilichkeit, welche ſich in jener äußert, hat einen zweideutigen und verdäch-
tigen Charakter, einmal weil es unnatürlich iſt, daß der Stat ſeine jungen Männer
in zwei feindliche Lager verlocken und dann wider einander kämpfen läßt, und ſo-
dann weil ſie nicht Enthaltung von jeder Parteinahme, ſondern eher gleichzeitige
Theilnahme
auf beiden Seiten iſt. Die frühere Praxis der ſchweizeriſchen
Eidgenoſſenſchaft
, mit verſchiedenen Mächten Militärcapitulationen abzuſchlie-
ßen und zuweilen den entgegengeſetzten Kriegsparteien Schweizertruppen zu liefern,
(zu § 759), hat zwar damals ihre Neutralität nicht aufgehoben, war aber ein ſehr
bedenklicher Vorgang, VattelIII. § 110. Dagegen PhillimoreIII. § 150.
„Ein Volk, welches beiden Kriegsparteien in Mannſchaft oder Geld Hülfe leiſtet, mag
unparteiiſch ſein, aber es iſt nicht neutral“.


763.

Der neutrale Stat darf nicht bloß ſelber keine Kriegsſchiffe einer
Kriegspartei liefern; er iſt auch verpflichtet, in guter Treue darüber zu
wachen und es zu verhindern, daß nicht auf ſeinem Gebiete durch Privat-
perſonen Kriegsſchiffe für eine Kriegspartei ausgerüſtet und derſelben über-
liefert werden.


1. Im Friedenszuſtand iſt der Verkauf von Kriegsſchiffen von Stat zu
Stat unbedenklich, und ebenſo die Lieferung ſolcher von Seite der Privatinduſtrie.
Dann ſind das friedliche Rechtsgeſchäfte. Aber während des Kriegs
liegt in der Ausrüſtung und Zuwendung von Kriegsſchiffen eine offenbare Unter-
ſtützung
und Verſtärkung der Kriegsgewalt. Inſofern dieſe Abſicht aus
den Umſtänden ſichtbar wird, iſt das kriegeriſche Beihülfe, die mit der neu-
tralen Haltung nicht verträglich iſt.


2. Schon das Neutralitätsgeſetz der Vereinigten Staten von Nord-
amerika von 1794 (revidirt 1819) enthält in Art. 3 eine Strafbeſtimmung gegen
alle Perſonen, welche „Schiffe ausrüſten und bewaffnen, oder dafür ſorgen, daß
Schiffe ausgerüſtet und bewaffnet werden in der Abſicht für einen fremden Stat zu
feindlichen Handlungen gegen einen andern Stat verwendet zu werden, der im Frie-
den iſt mit den Vereinigten Staten“. Dieſes Geſetz wurde unter der Präſidentſchaft
des Generals Washington erlaſſen, nachdem für Frankreich im Kriege mit Eng-
land in den amerikaniſchen Häfen Kreuzerſchiffe ausgerüſtet worden waren und die
[413]Recht der Neutralität.
engliſche Regierung darüber Beſchwerde geführt hatte, als über eine Verletzung der
Neutralität. Die Regierung der Vereinigten Staten erklärte die Beſchwerde für
gegründet, und das Geſetz ſchuf beſſere Garantien für die Bewahrung der Neutra-
lität. Vgl. die Schrift Dr. G. BemisAmerican Neutrality. Boſton 1866
(wo ſich die amerikaniſchen und engliſchen Geſetze abgedruckt finden). Der engliſche
Miniſter Canning berief ſich ſpäter auf das amerikaniſche Vorbild, um ſeinen
Landsleuten eine ebenſo ſorgfältige Beachtung der Neutralitätspflicht zu empfehlen.
Das engliſche Geſetz von 1819 enthält ein ähnliches Verbot.


3. Während der Unabhängigkeitskriege der amerikaniſchen Südſtaten gegen
Spanien und Portugal hatten die Bundesgewalten der Vereinigten Staten vielfäl-
tigen Anlaß, den Verſuchen entgegenzutreten, welche in dem Gebiete der Union ge-
macht wurden, den aufſtändiſchen Colonien durch Ausrüſtung von Kreuzerſchiffen zu
Hülfe zu kommen; und es war um ſo ſchwieriger für jene Behörden, die Pflichten
der Neutralität zu erfüllen, als die Sympathien der Nordamerikaniſchen Bevölkerung
naturgemäß ſehr entſchieden und ſehr lebhaft auf Seite der Aufſtändiſchen waren.
Vgl. Dana Anm. zu WheatonInt. Law. § 439 8. Ausg. S. 557 f.


764.

Sobald die Abſicht der Kriegshülfe offenbar wird, wenn auch vor-
erſt nur Vorbereitungen zur Ausrüſtung eines Kriegsſchiffs oder Caper-
ſchiffs getroffen werden, ſo iſt der neutrale Stat zum Einſchreiten ver-
pflichtet.


Es iſt nicht nöthig, daß das Schiff ſchon bewaffnet ſei. Wenn der Unter-
nehmer ſcheinbar ein Handelsſchiff ausrüſtet, aber die Abſicht, dasſelbe,
wenn es als ſolches ausgelaufen ſei, kriegeriſch zu bemannen und zu be-
waffnen
, nachgewieſen werden kann oder wenigſtens wahrſcheinlich iſt, ſo iſt das
eine nicht zu duldende Umgehung der Neutralitätsgeſetze. Iſt aber jene Abſicht nicht
vorhanden, ſo bewirkt auch die thatſächliche Verwendung eines Handelsſchiffs,
das auf neutraler Werfte gebaut worden, aber von einem Kaufmann in einem
kriegführenden State gekauft worden iſt, zu einem Kriegsſchiffe nicht eine Miß-
achtung der Neutralitätspflicht. Vgl. Wheaton a. a. O. S. 562. Anders iſt es,
wenn ein Kriegsſchiff lediglich als Artikel der induſtriellen Unternehmung
und des Handels, wenn auch an einen kriegführenden Stat, veräußert wird. Das
iſt wohl Kriegscontrebande, aber nicht Verletzung der Neutralitätspflicht.
Vgl. darüber den § 765.


765.

Ebenſo iſt es eine Verletzung der Neutralitätspflichten, wenn der
[414]Neuntes Buch.
neutrale Stat eine Kriegspartei mit Waffen oder anderem Kriegsmaterial
ausrüſtet oder ausrüſten hilft.


Wenn aber Privatperſonen ohne die Abſicht der Kriegshülfe, lediglich
in Form des Handelsgeſchäfts, Waffen oder Kriegsmaterial an einen
kriegführenden Stat veräußern, ſo laufen ſie zwar Gefahr, daß dieſe
Gegenſtände als Kriegscontrebande von der Gegenpartei weggenommen
werden, aber durch die Duldung des Handelsverkehrs mit Kriegscontre-
bande wird die neutrale Haltung des States, von dem aus jener Verkehr
betrieben wird, nicht verletzt.


1. Soweit die Ausrüſtung mit Waffen oder die Zuſendung von Waffen als
beabſichtigte Kriegshülfe ſich darſtellt, ſoweit iſt das ein feindlicher Act,
welcher mit neutraler Stellung ſich nicht verträgt. Dagegen der offene Handel
mit Waffen von Seite der Waffenfabriken und Waffenhändler iſt ſeiner Natur nach
ein friedliches Privatgeſchäft, welches ſowohl im Frieden als im Krieg in
gleicher Weiſe geübt wird. Dem Effekte nach freilich wirkt der Ankauf von Waffen
ganz ebenſo wie die Ausrüſtung mit Waffen. In beiden Fällen werden die In-
tereſſen der kriegführenden Partei dadurch gefördert. Daher kann ſich auch die
Abſicht der kriegeriſchen Beihülfe
, die den Neutralen durch das Völkerrecht
unterſagt wird, in die Form des friedlichen Handelsgeſchäfts, welches
völkerrechtlich den Neutralen nicht verwehrt wird, verſtecken. In den einzelnen Fällen
alſo kann man Zweifel haben, ob jene oder ob dieſes gemeint ſei, und dieſe Zweifel
müſſen aus den Umſtänden gelöst werden. Wird der Handel heimlich gemacht
und vollzogen, wird er nur einſeitig einer Partei gewährt, ſo darf wohl daraus
geſchloſſen werden, daß Kriegshülfe beabſichtigt und die Form des friedlichen Geſchäfts
nur zur Verbergung jener Abſicht gewählt worden ſei.


2. Wer Kriegscontrebande einer Kriegspartei zuführt, der ſetzt ſich der
Gefahr der Priſe aus (vgl. unten Cap. 4). Aber er verletzt nur die Kriegs-
intereſſen der einen Partei und verfällt inſofern ihrem Kriegsrecht. Der neutrale
Stat hat keinen Grund, die Lieferung von Kriegscontrebande auch ſeinerſeits zu
hindern. Bei den Verhandlungen vom Jahr 1793 über die nordamerikaniſche Neu-
tralität in dem franzöſiſch-engliſchen Krieg erklärte Jefferſon, das Recht der
Bürger, Waffen zu bearbeiten, zu verkaufen, auszuführen könne nicht durch einen
fremden Krieg aufgehoben werden. Aber die amerikaniſchen Bürger üben dasſelbe
auf ihre Rechnung und Gefahr aus. Wheaton a. a. O. S. 538.


766.

Der neutrale Stat iſt verpflichtet, Waffenſendungen im Großen,
welche nach den Umſtänden als Kriegshülfe erſcheinen, auf ſeinem Gebiete
möglichſt zu verhindern.


[415]Recht der Neutralität.

1. Man darf dem neutralen State nicht zumuthen, daß er die Verſchickung
von Waffen im Einzelnen und Kleinen verhindere. Das hat auf die Bezie-
hung von Stat zu Stat keinen Einfluß und die Durchführung einer ſolchen Obſorge
würde eine unverhältnißmäßige Anſtrengung der Behörden erfordern und unerträg-
liche Quälereien für die Bürger nach ſich ziehen.


2. Anders verhält es ſich mit der Zuſendung im Großen. Darin liegt durch-
weg eine thatſächliche Förderung einer Kriegspartei und meiſtens auch eine kriegeriſche
Beihülfe. Inſofern hat der neutrale Stat, um ſeine Nichtbetheiligung am Kriege
außer Zweifel zu ſtellen, ein Intereſſe, und ſoweit die Abſicht der Kriegshülfe
mindeſtens wahrſcheinlich
iſt, die Pflicht, der Ausführung ſolcher Sendung
entgegenzutreten.


767.

Die Geſtattung des freien Ankaufs von Lebensmitteln, wenn auch
für die Verproviantirung der kriegführenden Armee, iſt nicht als Begün-
ſtigung derſelben zu betrachten, wenn ſie allgemein iſt und gleichmäßig für
beide Parteien gilt.


Die Ernährung der Menſchen iſt unter allen Umſtänden ein friedliches
Geſchäft
, keine feindliche That. Der Handel mit Lebensmitteln, Schlachtvieh,
Getreide, Brod u. ſ. f. kann daher in der Regel nicht als kriegeriſche Beihülfe an-
geſehen werden. Nur wenn er der einen Partei gewährt aber der andern ver-
ſagt
, oder wenn die Lieferung von Lebensmitteln an die eine Armee als
Kriegsſubſidie
ſich darſtellen würde, dann würde die offenbare Parteinahme für
die eine Kriegspartei wider die andere die neutrale Haltung verletzen.


768.

Der neutrale Stat darf auch nicht einer Kriegspartei ein Geld-
darlehen machen, um ihr für den Krieg die erforderlichen Mittel zu ver-
ſchaffen und es widerſtreitet der Neutralitätspflicht, wenn er geſtattet, daß
im Lande eine Anleihe für eine Kriegspartei ausgeſchrieben oder ſonſt
Gelder zur Unterſtützung derſelben öffentlich geſammelt werden. Die Geld-
beiſchüſſe aber, welche Privatperſonen von ſich aus einer Kriegspartei leiſten,
gefährdet die Neutralität des States nicht.


1. Wenngleich Gelddarlehen in der Regel ebenfalls Friedensgeſchäfte
ſind, ſo iſt doch die Geldanleihe für Kriegszwecke ebenſo wie die Kriegs-
ſubſidie
(oben 756) eine offenbare Kriegshülfe, deren ſich die Neutralen ent-
halten müſſen. Das gilt aber auch von Privaten, welche die Kriegsanleihe machen.
[416]Neuntes Buch.
Es wird demnach keine Klage auf Erfüllung zugelaſſen. Vgl. die Erkenntniſſe in
der helleniſchen Anleihe von 1826 bei PhillimoreIII. § 151. Oberrichter
Beſt: „Es iſt wider das Völkerrecht, daß Perſonen, welche in dieſem Lande wohnen,
ſich auf Unterhandlungen einlaſſen, um Darlehusgelder zu erheben, welche beſtimmt
ſind, die aufſtändiſchen Unterthanen im Kriege gegen eine Regierung zu unterſtützen,
mit welcher wir befreundet ſind; und deßhalb iſt keine auf Erfüllung gerichtete
Klage zuzulaſſen“.


2. Meines Erachtens iſt jedoch nur die offenbare Kriegsanleihe nicht
zu dulden. Dagegen iſt eine Geldſammlung aus Gründen der Humanität,
z. B. zu Gunſten der Verwundeten, der vom Kriegsunglück betroffenen Familien,
der Bertriebenen, der Kriegsgefangenen u. ſ. f. durchaus nicht eine feindliche Hand-
lung, auch nicht wenn ſie ausſchließlich ſich auf die Angehörigen der einen Kriegs-
partei bezieht, und gefährdet die Neutralität nicht.


3. Das Ausſchreiben einer Kriegsanleihe hat, weil es öffentlich und in
der Abſicht geſchieht, die Parteinahme möglichſt auszubreiten, einen ähnlichen Cha-
rakter, wie die Werbung von Hülfstruppen. Deßhalb darf der neutrale Stat das
nicht dulden. Wenn aber einzelne Privatperſonen die kriegführende Macht
mit Geld unterſtützen, ſo iſt das dem Beitritt einzelner Freiwilliger zu
einer fremden Kriegsarmee zu vergleichen. Das ſind individuelle Handlun-
gen
, die der neutrale Stat nicht verhindern kann, und für die er nicht verantwort-
lich iſt. Es kann auch das durch die Strafgeſetze eines Landes verboten ſein. Aber
das Völkerrecht kümmert ſich nicht weiter darum.


769.

Der neutrale Stat darf nicht geſtatten, daß ſein Gebiet von einer
Kriegspartei zu Kriegszwecken benutzt werde.


Es iſt das der allgemeinſte Ausdruck eines Grundſatzes, deſſen nähere Aus-
führung ſich in den §§ 770 ff. findet. Der neutrale Stat muß ſein Gebiet
neutral erhalten
, was nicht geſchieht, wenn eine fremde Kriegspartei in dem-
ſelben Krieg führt oder ſich desſelben für die Kriegsführung bemächtigt.


770.

Es darf daher keiner Kriegspartei der Durchmarſch durch das neu-
trale Gebiet geſtattet werden.


Auch wenn der regelmäßige Weg, auf welchem die Staten, die nun zum
Kriege kommen, mit einander oder in ſich verbunden ſind, über das neutrale Gebiet
hinführt, ſo erfordert es dennoch die Pflicht der Neutralität, daß nun den feindlichen
Heeren der Durchmarſch verweigert werde. Der Durchmarſch der franzöſiſchen Trup-
pen über das neutrale Preußiſche Gebiet im October 1805 war eine Mißachtung der
[417]Recht der Neutralität.
preußiſchen Neutralität, und ebenſo der bewilligte Durchmarſch der Alliirten über
ſchweizeriſches Gebiet nach Frankreich im Jahr 1814 ein Aufgeben der ſchweizeriſchen
Neutralität.


771.

Wenn jedoch eine Verfaſſungspflicht oder eine Statsdienſtbarkeit oder
eine ohne Rückſicht auf einen bevorſtehenden Krieg begründete Vertrags-
pflicht des neutralen States beſteht, den Durchzug von Truppen einem
andern State zu geſtatten, der nun Kriegspartei iſt, ſo iſt die gemeſſene
Erfüllung dieſer Pflicht nicht als Unterſtützung dieſer Kriegspartei zu be-
trachten und es liegt darin keine Verletzung der Neutralitätspflicht.


Die Verfaſſungspflicht kann vorzüglich in zuſammengeſetzten Staten
die Einzelſtaten nöthigen, daß ſie die Truppen ihrer Bundesgenoſſen über ihr Gebiet
marſchiren laſſen, wie das z. B. den Rheinbundsſtaten im Jahr 1806 zur
Pflicht gemacht war. Ebenſo können einem State Etappenſtraßen im Frieden
und im Krieg geöffnet ſein. Ein Beiſpiel einer vertragsmäßigen Geſtattung
des Truppendurchzugs beſtand früher zu Gunſten des Großherzogthums Baden
gegenüber der Schweiz auf der Eiſenbahn von Conſtanz über Baſel. Da manche
Straßen und Eiſenbahnen die Grenzen verſchiedener Statsgebiete abwechſelnd durch-
ſchneiden, ſo iſt in manchen Fällen ein wechſelſeitiges Zugeſtändniß der Benutzung
derſelben auch für Truppentransporte durch die örtlichen Verhältniſſe motivirt, ohne
daß man daraus irgendwie auf Kriegshülfe zu ſchließen berechtigt iſt.


772.

Die Durchfahrt der Kriegsſchiffe durch das neutrale Küſtengewäſſer
gilt nur inſofern als Verletzung der Neutralität, als der neutrale Stat
dieſelbe den kriegführenden Mächten unterſagt hat.


Der Grund liegt darin, daß der flüſſige Küſtenſaum nur in beſchränktem
Sinne der Statshoheit des Uferſtats unterworfen, als Beſtandtheil des Meeres
aber der freien Schiffahrt aller Völker offen iſt. Daher iſt es auch nicht eine abſo-
lute Pflicht des neutralen States, dieſe Durchfahrt zu verhindern; aber er kann ſie
verhindern, weil er vom Ufer aus den Küſtenſaum beherrſcht. Die fremden Schiff-
fahrer ſind verpflichtet, ſich ſeinen policeilichen und militäriſchen Vorſichtsmaßregeln
auf dieſem Gebiete zu fügen. Vgl. oben § 309. 310. WheatonInt. Law.
§ 432.


773.

In die Eigengewäſſer (Seehäfen) aber darf der neutrale Stat die
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 27
[418]Neuntes Buch.
Kriegsſchiffe der feindlichen Parteien nicht einlaufen, noch über ſeine Ströme,
Flüſſe, Canäle hindurchfahren laſſen, außer zu offenbar friedlichen Zwecken
(Aufnahme von Lebensmitteln, Waſſer, Kohlen) oder im Nothſtand zur
Ausbeſſerung, nicht aber zum Behuf erneuerter oder verſtärkter Kriegs-
rüſtung.


1. Vgl. oben § 309 und 311. Amerikaniſches Neutralitätsgeſetz von
1818 Art. 5. Würde der neutrale Stat den feindlichen Kriegsſchiffen ſeine Häfen
öffnen
, ſo würde er damit die Kriegsführung derſelben unterſtützen, und würde
er denſelben ſeine Waſſerſtraßen zur Benutzung überlaſſen, ſo wäre das der
Einräumung der Landſtraßen für feindliche Truppenmärſche gleichzuſtellen. Das iſt
Kriegshülfe und als ſolche dem Neutralen nicht erlaubt.


2. Dagegen die Aufnahme der Kriegsſchiffe zu friedlichen Zwecken iſt
erlaubt, da der neutrale Stat im Frieden mit den kriegführenden Staten lebt,
wenn gleich mittelbar daraus auch Vortheil für eine Kriegspartei erwachſen kann.
Es iſt das der Geſtattung des Ankaufs von Lebensmitteln gleichzuſtellen. Vgl. oben
§ 767. Gewöhnlich wird den Kriegsſchiffen, wenn ſie Waſſer oder Kohlen ein-
nehmen oder Reparaturen vornehmen wollen und zu dieſem Behuf in den neutralen
Häfen zugelaſſen werden, nur eine ganz kurze Friſt (meiſtens nur von 24 Stunden)
verſtattet. Dana zu WheatonInt. L. § 429. Die Engliſche Geh.-Raths-
Verordnung
vom 31. Jan. 1862 beſtimmt, daß die feindlichen Kreuzer, welche
in die neutralen engliſchen Häfen einlaufen, binnen 24 Stunden dieſelben wieder
verlaſſen müſſen, außer wenn die Seenoth oder das Bedürfniß für die Nahrung
der Mannſchaft oder die Seefähigkeit des Schiffs zu ſorgen, einen längeren Aufenthalt
erfordert. Auch die Erlaubniß, Kohlen aufzunehmen, wird darin beſchränkt durch
die Rückſicht auf die Möglichkeit, zu einem andern Hafen zu gelangen.


774.

Verfolgte Truppentheile, die ſich auf neutrales Gebiet flüchten, darf
der neutrale Stat jederzeit aufnehmen, ihnen Nahrung verſchaffen und
jede menſchliche Hülfe gewähren, ohne dadurch ſeine Neutralität zu ge-
fährden.


Man nennt auch dieſes Recht des neutralen States Aſylrecht. Vgl. oben
§ 396. Die feindliche Verfolgung muß an der Grenze des neutralen States Halt
machen, denn das Gebiet desſelben iſt Friedensgebiet. Daher finden auch die ver-
folgten und verſprengten Krieger hier vorerſt Sicherheit und Ruhe. Indem der
neutrale Stat ſie aufnimmt und ſchützt, übt er ſein Friedensrecht und keineswegs
eine Kriegshülfe aus.


[419]Recht der Neutralität.
775.

Ebenſo darf der neutrale Stat den nothleidenden Kriegsſchiffen in
ſeinen Häfen Aufnahme und Schutz gewähren.


Auch das iſt Aſyl und Ausübung menſchlicher (nicht kriegeriſcher) Bei-
hülfe
, die immer erlaubt, weil Menſchenpflicht iſt.


776.

Der neutrale Stat hat aber dafür zu ſorgen, daß dieſe Handlung
der Menſchlichkeit nicht von den feindlichen Truppen mißbraucht werde,
um den Krieg von dem neutralen Gebiet aus zu erneuern oder fortzu-
ſetzen. Die flüchtigen Truppen und Kriegsſchiffe ſind daher in der Regel
zu entwaffnen und erſtere je nach Umſtänden von der Grenze zu entfernen
und zu interniren.


Würden ſich die flüchtigen Truppen auf dem neutralen Boden wieder ſammeln,
und dann neuerdings vielleicht an einer günſtigeren Stelle auf das Kriegsfeld ziehen
und den Kampf da wieder aufnehmen, ſo würden ſie das neutrale Gebiet für ihre
Kriegsführung ausbeuten
, was der neutrale Stat nicht dulden darf. Er
gewährt den Verfolgten Schutz, aber er begünſtigt nicht die Kriegsführung einer
Partei. Deßhalb die Regel der Entwaffnung und in manchen Fällen, beſonders
wo die Anweſenheit der Truppen in der Nähe der Kriegsgrenze gefährlich iſt, die
Internirung der Truppen in das Innere des Landes. Es iſt das nicht Kriegs-
gefangenſchaft, welche Friedensſtaten nicht üben, ſondern nur eine Maßregel der
politiſchen Policei.


777.

Der neutrale Stat darf ſein Gebiet nicht hergeben zum Stützpunkt
für kriegeriſche Unternehmen eines der Feinde, nicht für Waffenplätze,
Schiffsſtationen, Magazine für Kriegsvorräthe u. dgl., auch nicht zur Aus-
übung der Priſengerichtsbarkeit, er darf nicht dulden, daß auf ſeinem
Gebiete der Kampf fortgeſetzt, noch daß da Beute gemacht werde. Die
Verfolgung geſchlagener Truppen hört auf, wo das neutrale Gebiet
beginnt.


Die Gewährung des Gebiets zum Behuf kriegeriſcher Operationen wäre offenbar
Kriegshülfe. Am meiſten beſtritten iſt es, ob der neutrale Stat nicht geſtatten
27*
[420]Neuntes Buch.
dürfe, Priſen vorläufig in den neutralen Häfen zu ſichern; wie das die Vereinigten
Staten vor ihren Neutralitätsgeſetzen Frankreich vertragsmäßig geſtattet hatten.
Soweit das als eine Handlung der Sicherung des genommenen Schiffs gegen
die Gefahr des Untergangs zu betrachten iſt, ſo hat dieſes Bergen desſelben eine
durchaus friedliche Bedeutung. Inſofern aber die Einbringung des Schiffs in
den neutralen Hafen nur in der Abſicht geſchieht, die gemachte Beute zu deponiren
und möglichſt bald und bequem wieder auf neue Beute auszufahren, iſt das Be-
nutzung
des neutralen Gebiets zu Kriegszwecken, und dann nicht zu dulden.
Der neutrale Stat wird daher wohl thun, um alle Zweifel gegen ſeine neutrale
Haltung zu beſeitigen, die Aufnahme ſolcher Priſen überhaupt zu verweigern, außer
ſoweit die Seenoth und daher die Intereſſen der Humanität die Gewährung
eines Zufluchtsorts rechtfertigen. Ueberhaupt läßt ſich in der Entwicklung des Völker-
rechts ein Zug zu ſtrengerer und ſorgfältigerer Wahrung der Neutralität
nicht verkennen. Die heutige Welt nimmt leichter Anſtoß an irgend einer Begün-
ſtigung der Kriegsführung, als die Vergangenheit, welche geneigter war, die Sou-
veränetät des neutralen Stats in ausgedehntem Sinne anzuwenden. Manche frühere
Verträge geſtatteten daher die Einbringung der Priſen zum Verkauf in die neutralen
Häfen, während die neuere Praxis das eher verſagt. Vgl. Heffter § 147.


778.

Der neutrale Stat iſt verpflichtet, zur Wahrung ſeiner Neutralität
gegen Verletzungen durch Andere die erforderlichen Maßregeln zu ergreifen
und nöthigenfalls ſeine Statsmacht dafür einzuſetzen.


Die Staten ſind gegenüber andern Staten verantwortlich nicht bloß für
die Rechtsverletzungen, welche in ihrem Auftrag verübt worden ſind, ſondern auch
dafür, daß ſie Privatperſonen nicht hindern, in ihrem Gebiet oder von ihrem
Gebiete aus andere Staten zu verletzen. Der Stat muß dafür ſorgen, daß das
friedliche und freundliche Verhältniß zu andern Staten auch von ſeinen Angehörigen
und Einwohnern geachtet werde. Vgl. oben § 467.


779.

Man darf dem neutralen Stat nicht jede durch ſeine Angehörigen
oder Bewohner verübte Verletzung der Neutralitätspflichten zur Schuld
anrechnen, wohl aber eine offenbare Vernachläſſigung der Sorge für ſeine
Neutralität oder eine jede abſichtliche Begünſtigung des Neutralitätsbruchs.


So wenig ein Stat im Innern alle Verbrechen verhindern kann, ſo wenig
kann er jeden Friedensbruch nach Außen verhindern. Die völkerrechtliche Ver-
antwortlichkeit
des States reicht nicht weiter als ſeine Verſchuldung, und
[421]Recht der Neutralität.
dieſe iſt nur dann vorhanden, wenn der Stat entweder den Neutralitätsbruch her-
vorruft oder doch in feindlicher Abſicht begünſtigt oder wenn ihm eine grobe Fahrläſſig-
keit vorgeworfen werden kann, indem er es verſäumt, denſelben zu verhindern. Wenn
ihm z. B. angezeigt wird, oder er ſonſt es erfährt, daß ſich Truppen oder Freiſcharen
an der Grenze ſammeln, um einen feindlichen Einfall in das benachbarte Kriegsland
zu machen oder dem feindlichen Heere zuzuziehn, ſo wird er dieſe Schaaren zerſtreuen
und den Einfall verhindern müſſen, damit ihm nicht Connivenz mit dem Neutra-
litätsbruch vorgeworfen werde.


780.

Fällt der Neutralitätsbruch lediglich dritten Perſonen, nicht dem neu-
tralen State ſelbſt zur Laſt, ſo iſt der dadurch verletzte und geſchädigte
kriegführende Stat berechtigt, von dem neutralen State Abſtellung des
Unrechts, ſo weit es in deſſen Macht ſteht und je nach Umſtänden Be-
ſtrafung der Schuldigen, nicht aber deren Auslieferung zu fordern.


Die dritten Perſonen können ſein:


  • a) eine der Kriegsparteien ſelber,
  • b) Unterthanen oder Bürger des neutralen Stats,
  • c) Fremde Individuen in dem neutralen Gebiete.

Die Abſtellung des Unrechts iſt in allen Fällen Aufgabe des neutralen Stats.
Die Beſtrafung der Schuldigen wird in der Regel nur gegen die Individuen
durchzuführen ſein, welche in dem Bereich der neutralen Strafgewalt ſind. Die
Auslieferung der Einheimiſchen an eine fremde Strafgewalt wird von dem
heutigen internationalen Strafrecht nicht gebilligt; die Auslieferung der Fremden
iſt zwar zuläſſig, aber der Stat, der ſie — ohne die dringendſten Motive — gegen
politiſche Flüchtlinge vollzieht, würde ſich dem Vorwurf der Grauſamkeit und der
Inhumanität ausſetzen, weßhalb ſie von dem neutralen State nicht erwartet werden
kann. Vgl. § 398. 399.


781.

Hat der neutrale Stat den Bruch der Neutralität ſelbſt verſchuldet,
ſo iſt die dadurch verletzte Kriegspartei berechtigt, von demſelben Genug-
thuung und Entſchädigung zu fordern und in ſchweren Fällen die Neu-
tralität als erloſchen zu erklären und auch ſeinerſeits nicht weiter zu
beachten.


Die Verletzung der Neutralitätspflichten berechtigt keineswegs die verletzte
Kriegspartei, nun auch den neutralen Stat als Feind zu behandeln. In ſehr
vielen Fällen wäre eine ſolche Wirkung unverhältnißmäßig. Sie fällt lediglich
[422]Neuntes Buch.
in die Claſſe der Rechtsbrüche und Friedensſtörungen überhaupt. Vgl.
darüber § 464 f. Oft genügt, um die Verletzung gut zu machen, die bloße
Zuſicherung des neutralen Stats, in Zukunft die Neutralitätspflicht vollſtän-
diger zu erfüllen; in andern iſt die bloße Beſeitigung des Unrechts aus-
reichend. Nur in den ſchwerſten Fällen wird darin eine Kriegsurſache gegen
den neutralen Stat zu erkennen ſein.


782.

Auch wenn der neutrale Stat zwar Willens iſt, ſeine Neutralität
zu bewahren und ſich ſelber aller neutralitätswidrigen Handlungen enthält,
aber offenbar die Macht nicht hat, den fortgeſetzten Angriffen einer über-
legenen Kriegspartei gegenüber ſeine Neutralität dauernd zu behaupten
oder wieder herzuſtellen, ſo iſt auch die andere Kriegspartei nicht mehr ver-
flichtet, die Neutralität ſeines Gebiets in ihrer Kriegsführung zu beachten,
ſondern berechtigt, ohne Rückſicht darauf diejenigen Maßregeln zu ergreifen,
welche zur Kriegsführung nöthig ſind.


Die neutrale Geſinnung reicht nicht aus zur Neutralität. Dieſe muß
vielmehr thatſächlich beſtehn. Wenn daher eine Kriegspartei den Durchmarſch
durch das neutrale Gebiet erzwingt, ohne ſich um deſſen Neutralität zu kümmern,
oder ſich eines neutralen Platzes oder Hafens zu ihren Kriegsoperationen bemächtigt,
ſo iſt das einerſeits eine Verletzung der Rechte des Neutralen, aber andrer-
ſeits auch, wenn der Neutrale zu ſchwach iſt, um Widerſtand zu leiſten oder die
Verletzung wieder aufzuheben, für die andere Kriegspartei eine Veranlaſſung, das
bisher neutrale Gebiet als nicht mehr neutral, ſondern dem Feinde dienſt-
bar
zu betrachten und demgemäß innerhalb dieſes Gebiets dem Feinde eben-
falls mit Gewalt entgegenzutreten
.


3. Rechte der Neutraſen.


783.

Für den neutralen Stat dauert das Friedensrecht fort, auch im
Verhältniß zu den kriegführenden Staten.


[423]Recht der Neutralität.

Vgl. zu 224. Es iſt das freilich nur die Hauptregel, welche allerdings durch
die Rückſichten auf den Krieg einige Modificationen erleidet, wie z. B. bezüglich der
Enthaltung von jeder Kriegshülfe, des Blocaderechts, des Durchſuchungsrechts u. ſ. f.


784.

Die feindlichen Staten ſind verpflichtet, die Gebietshoheit der neutralen
Staten auch während ihres Krieges vollſtändig zu achten und ſich jeden
Eingriffs in dieſelbe zu enthalten, auch wenn das Bedürfniß der Kriegs-
führung denſelben verlangen ſollte.


Das Nothrecht der Kriegsgewalt iſt auf das Kriegsfeld be-
ſchränkt
. Es darf ſich nicht in das neutrale Gebiet hinein erſtrecken, denn
dieſes Gebiet iſt Friedensgebiet, in welchem die fremde Kriegsgewalt Nichts zu
befehlen hat.


785.

Wenn feindliche Truppen auf der Flucht das neutrale Gebiet errei-
chen, ſo iſt der neutrale Stat berechtigt, ſie vor der Verfolgung zu
ſchützen (774) und die Verfolger zurückzuweiſen. Er darf innerhalb ſeines
Gebietes die Kriegsgefangenen des Feindes und die gemachte Beute wie-
der frei geben.


786.

Wenn innerhalb der neutralen Eigengewäſſer von einem feindlichen
Schiff ein feindliches Schiff weggenommen worden iſt, ſo iſt der neutrale
Stat berechtigt, die Herausgabe der Priſe zu fordern und dieſelbe frei zu
geben.


1. Alle Wegnahmen innerhalb der neutralen Eigengewäſſer ſind
rechtswidrig, denn es ſind das feindliche Acte innerhalb des fremden Friedensgebiets.
Darin liegt immer eine Verletzung der neutralen Rechte. Der neutrale Stat iſt
daher berechtigt, die Wegnahme als ungültig zu behandeln und die Priſe frei zu
geben und ebenſo berechtigt, die Perſonen, welche ſeine Neutralitätsrechte verletzt
haben, wenn ſie ſich in dem Bereiche ſeiner Gerichtsgewalt finden, zur Verantwortung
und Strafe zu ziehen.


2. Einen merkwürdigen Fall, in welchem die obige Regel zur Anwendung
kam, berichtet Dana in der Anmerkung zu WheatonInt. L. § 428. Die
Mannſchaft eines amerikaniſchen Handelsſchiffs Cheſapeake empörte ſich während
[424]Neuntes Buch.
des Bürgerkriegs gegen den Capitän und trat als Caperſchiff in den Dienſt der con-
föderirten Südſtaten. Ein Kriegsſchiff der Vereinigten Staten verfolgte dasſelbe
und nahm es innerhalb der Brittiſchen Eigengewäſſer weg. Darüber beſchwerte ſich
die engliſche Regierung als über eine Verletzung ihrer neutralen Gebietshoheit. Der
amerikaniſche Miniſter Seward erkannte in einer Depeſche vom 9. Jan. 1864 an,
daß das Verfahren des amerikaniſchen Kriegsſchiffs nicht gerechtfertigt ſei nach der
Strenge des Rechts, wenn auch einigermaßen zu entſchuldigen durch den rühmlichen
Eifer, „offenbare Seeräuber zu ſtrafen“, und daß er daher dieſe Verletzung des
Völkerrechts und der freundlichen Beziehungen der beiden Staten bedaure und gegen
den Officier jenes Kriegsſchiffs disciplinariſch verfahren werde. Die engliſche Regie-
rung begnügte ſich mit dieſer Erklärung. Das genommene Schiff aber wurde den
Engliſchen Behörden zur Verfügung geſtellt, und ſchließlich den urſprünglichen Eigen-
thümern zurückgegeben.


3. Nur der neutrale Stat iſt zunächſt berechtigt, von dem krieg-
führenden Stat
die Herausgabe der Priſe, beziehungsweiſe die Wiederherſtellung
des frühern Zuſtands zu fordern, denn nur ſein Recht iſt durch die feindliche
Wegnahme verletzt worden, nicht aber der feindliche Eigner des genommenen
Schiffs. Allerdings kommt dieſe Befreiung dem Eigenthümer des genom-
menen Schiffs
zu Gute, da natürlich der neutrale Stat keine Anſprüche auf
dasſelbe erheben kann. Aber dieſe Wirkung iſt für ihn nur ein glückliches Ereigniß.
Wenn das genommene Schiff dem Priſengericht des Nehmers zugeführt worden iſt,
ſo hängt es daher von dem neutralen State ab, die Vertheidigung des Eigen-
thümers durch ſeine Beſchwerde zu unterſtützen. In dieſem Falle erkennt auch das
feindliche Priſengericht die Wegnahme als ungültig. Aber wenn der neutrale Stat
ſtillſchweigt und ſich die Verletzung ſeiner Gebietshoheit gefallen läßt, dann nimmt
man an, habe das Priſengericht keine Veranlaſſung, gegenüber einem feindlichen
genommenen Schiffe die Beſchwerde des Neutralitätsbruchs zu beachten, welche nur
dem neutralen State zuſteht. Vgl. WheatonInt. L. § 430.


787.

Die Verfolgung eines feindlichen Schiffes, das ſich in die Eigen-
gewäſſer eines neutralen States flüchtet, darf innerhalb dieſer Gewäſſer
nicht fortgeſetzt werden.


Die Praxis der Seemächte hat zwar dieſe Regel oft mißachtet und die neu-
tralen Staten haben dieſen Eingriff in ihre friedliche Gebietshoheit oft ungerügt
ertragen. Dennoch zwingt die Logik zur Verwerfung dieſer Praxis und findet die-
ſelbe in der Hitze des kriegeriſchen Eifers zwar eine pſychologiſche Erklärung, aber
keine Rechtfertigung. Vgl. WheatonInt. L. 429 und Anm. von Dana.


788.

Der neutrale Stat iſt berechtigt, feindliche Truppen, welche in ſein
[425]Recht der Neutralität.
Gebiet gewaltſam einbrechen, zu entwaffnen und gefangen zu nehmen.
Haben dieſelben im Auftrag des Befehlshabers gehandelt, ſo iſt der Stat,
dem ſie dienen, zur Genugthuung und Entſchädigung verpflichtet, haben
ſie eigenmächtig den Frieden gebrochen, ſo iſt der neutrale Stat berechtigt,
die einzelnen Schuldigen ſtrafrechtlich zu verfolgen.


Inwiefern die Führer der feindlichen Truppen im Auftrag ihres States han-
delten, muß der ſtrafrechtliche Standpunkt hinter dem entſcheidenden völker-
rechtlichen
zurücktreten. Dann liegt ein Friedensbruch von Stat gegen
Stat
vor. Wenn dagegen die Soldaten auf eigene Fauſt die Grenze gewaltſam
überſchreiten und den Frieden brechen, dann kann die gewohnte Strafgerichts-
barkeit
des neutralen Stats begründet ſein, indem jeder Stat berechtigt iſt, alle in
ſeinem Gebiete verübten Verbrechen und Vergehen zu beſtrafen. Zuweilen freilich
wird es der neutrale Stat auch in ſolchen Fällen vorziehn, die Schuldigen dem
kriegführenden State zur Beſtrafung zu überliefern, als ſelber die Strafgerichtsbarkeit
zu üben, beſonders dann, wenn die Schuldigen einem geordneten Heereskörper an-
gehören. Wenn ſie aber Räuber oder vereinzelte Abenteurer ſind, dann iſt die An-
wendung der Strafgerichtsbarkeit am Platz.


789.

Iſt die Verletzung des neutralen States lediglich aus Unkenntniß
der Grenze, nicht aus böswilliger Abſicht geſchehen, ſo iſt derſelbe nur ver-
anlaßt, die ſofortige Beſeitigung des Unrechts, Entſchädigung und die er-
forderlichen Maßregeln von dem verletzenden State dafür zu verlangen,
daß in Zukunft ſich nicht eine ähnliche Mißachtung der Neutralität wieder-
hole.


In manchen Grenzgebieten, zumal in Gebirgsgegenden und Wäldern, iſt die
Grenze ſchwer zu erkennen und daher ein Ueberſchreiten derſelben aus Irrthum
leicht möglich und zu entſchuldigen. Die Verletzung der Neutralität iſt dann nicht
beabſichtigt, vielleicht nicht einmal fahrläſſig, ſondern zufällig; und es bedarf nur
der einfachen Wiederherſtellung und Sicherung für die Zukunft.


790.

Iſt die Verletzung des neutralen Gebiets oder des neutralen Rechts
als ein verſchuldeter Rechts- oder Friedensbruch anzuſehen, ſo treten die-
ſelben Folgen ein, wie bei andern Rechts- und Friedensbrüchen (§ 464 f.).
Nur in den ſchwerſten Fällen iſt der neutrale Stat berechtigt, ſofort aus
[426]Neuntes Buch.
ſeiner Neutralität herauszutreten und ſei es ſelbſtändig, ſei es in Verbin-
dung mit der Gegenpartei des verletzenden Stats dieſen zu bekriegen. Die
bloße bewaffnete Vertheidigung des neutralen Gebiets und die Zurück-
weiſung eines kriegeriſchen Angriffs hebt den neutralen Charakter nicht auf,
ſondern bekräftigt ihn.


1. Vgl. oben Buch VII. Cap. 1. Aus der Verletzung der Neutralitäts-
rechte
durch eine Kriegspartei folgt noch nicht das ſofortige Recht des Neutralen
am Kriege Theil zu nehmen. Dieſe Folge wäre ebenſo unverhältnißmäßig,
wie die umgekehrte aus der Verletzung der Neutralitätspflichten (oben
§ 781). In den meiſten Fällen wird ein auf Genugthuung gerichtetes Ver-
fahren den Bedürfniſſen entſprechen. Im October 1864 fand ein den nordamerika-
niſchen Südſtaten dienendes Kreuzerſchiff Florida Aufnahme in dem Braſiliſchen
Hafen zu Bahia auf 48 Stunden, um die nöthigen Reparaturen vorzunehmen.
Dieſes Schiff wurde von einem Kriegsſchiff der Vereinigten Staten, Wachuſett, in
der Nacht angegriffen und genommen. Die Regierung von Braſilien forderte nun
Genugthuung für dieſen Bruch der neutralen Gebietshoheit. Die Unionsregierung
erkannte das Recht jener an, und erbot ſich, den Commandanten des Wachuſett vor
ein Kriegsgericht zu ſtellen, den nordamerikaniſchen Conſul in Bahia, der zu dieſem
Rechtsbruch geholfen hatte, zu entlaſſen und die gefangene Mannſchaft der Florida,
obwohl ſie dieſelbe als Seeräuber betrachte, frei zu geben. Da das Schiff ſelbſt in
Folge eines ſpätern Unglücks geſunken war, wofür die Vereinigten Staten keine Ver-
antwortlichkeit hatten, ſo war in dieſer Hinſicht die Herausgabe unmöglich geworden.
Mit dieſer Genugthuung erklärte ſich die Braſiliſche Regierung zufrieden. Vgl.
Dana zu WheatonInt. L. zu § 430.


2. Wenn aber der Friedensbruch, welchen der neutrale Stat durch eine
Kriegspartei erleidet, ſo groß und ſchwer iſt, daß derſelbe als unmittelbare
Kriegsurſache
gilt, ſo kann der neutrale Stat entweder ſelbſtändig einen
neuen und zweiten Krieg führen gegen den Friedensbrecher oder er kann, was
in den meiſten Fällen zweckmäßiger ſein wird, ſich mit den Feinden des
Friedensbrechers
zum Kriege verbünden und den bisherigen Krieg durch ſeine
Theilnahme erweitern.


3. In manchen Fällen wird die militäriſche Abwehr einer Neutralitäts-
verletzung die Wirkſamkeit der Neutralität bewahren. Dieſe iſt noch
nicht Krieg, wenn ſie auch mit Kriegsmitteln wirkt. Zum Kriege fehlt die feindliche
Abſicht. Die Friedensabſicht iſt hier entſcheidend und die Kriegsmittel werden
nur vorübergehend angewendet, um die friedliche Haltung des neutralen States zu
ſichern.


791.

Hat ein Hülfscorps des neutralen Stats (§ 736) an dem Kriege
[427]Recht der Neutralität.
ſich betheiligen müſſen und wird dasſelbe von dem Feinde in das neutrale
Gebiet hinein verfolgt, ſo begeht auch der Feind keine Verletzung der
Neutralität, wenn er die Verfolgung nicht an der Grenze ſtille ſtellt, ſon-
dern über die Grenze fortſetzt.


Die unvollſtändig neutrale Haltung rechtfertigt die entſprechende
unvollſtändige Achtung
der Neutralität. Solche unreine Zwitterverhältniſſe
zwiſchen Neutralität und Theilnahme am Krieg trüben die Reinheit der Friedens-
ordnung und des Kriegsrechts und ſind daher möglichſt zu vermeiden.


792.

Der neutrale Stat iſt berechtigt, Päſſe und andere Urkunden aus-
zuſtellen, welche auch bei den beiden Kriegsparteien auf öffentlichen Glauben
Anſpruch haben.


Der neutrale Stat lebt in Frieden und Freundſchaft mit beiden
Parteien. Daher werden auch ſeine Päſſe und andere Urkunden von denſelben
reſpectirt.


793.

Der neutrale Stat hat ein Recht, ſeinen Statsſchutz auch auf ſeine
Angehörigen und ihre Güter außerhalb des Statsgebiets ſo weit zu erſtrecken,
als das friedliche Völkerrecht dieſen Schutz rechtfertigt.


Die kriegführenden Mächte dürfen auch innerhalb des Kriegsfeldes
die neutralen Perſonen und die neutralen Güter nicht feindlich behandeln,
ſondern nur denjenigen gemeinſamen Anordnungen unterwerfen, welche
durch die Noth der Kriegsführung geboten ſind.


Wenn ſchon die Perſonen und das Eigenthum der friedlichen Angehörigen
des feindlichen States zu ſchonen ſind, ſoweit nicht das Bedürfniß der Kriegsführung
einen Eingriff erfordert und rechtfertigt, ſo gilt das in höherem Grade von den
neutralen Perſonen und Gütern. Denn hier tritt zu den allgemeinen
Rückſichten der Menſchlichkeit die beſondere Rückſicht auf die freundlichen Be-
ziehungen zu dem neutralen State
förderlich hinzu. Insbeſondere iſt die
Wegnahme neutraler Schiffe zum Behuf des Transports von Kriegsleuten und
Kriegsmaterial oder der Preſſung neutraler Perſonen zum Kriegsdienſt zur See
oder zu Land durch einen kriegführenden Stat eine ſchwere Verletzung der Rechte
des neutralen Stats.


[428]Neuntes Buch.
794.

Die neutrale Flagge ſchützt nicht bloß das neutrale Schiff, ſondern
ebenſo die feindliche Ladung desſelben, mit Ausnahme der Kriegscontre-
bande. Frei Schiff, frei Gut.


Der Satz, daß die neutrale Flagge, d. h. die Neutralität und Natio-
nalität des Schiffs zugleich die Ladung decke, obwohl dieſe Kaufleuten der
feindlichen Nation angehört, wurde zum erſten Mal in einem Holländiſchen
Vertrage mit Spanien im Jahr 1650 ausgeſprochen und erhielt zuerſt eine allge-
meinere Vertretung in den Grundſätzen, welche die bewaffnete Neutralität
vom Jahre 1780 während des engliſch-franzöſiſchen Kriegs, auf die Anregung des
Ruſſiſchen Cabinettes proclamirte. Die frühere Praxis der Seemächte (beſonders
Englands) hatte das feindliche Gut auf neutralem Schiffe mit Wegnahme bedroht,
oder gar (wie zuweilen Frankreich) das neutrale Schiff ſelber in die Gefahr der
Wegnahme gebracht, wenn und weil dasſelbe feindliche Waare führe. Indeſſen ge-
langte jener Satz damals noch nicht zu allgemeiner Anerkennung. Beſonders Eng-
land hielt die frühere Praxis feſt, und ſelbſt die Gerichte der Vereinigten Staten
betrachteten dieſe als unanfechtbar, ſolange nicht durch Verträge ein anderes und
allerdings beſſeres Recht hergeſtellt ſei. Die Statenverträge darüber waren ſehr ver-
ſchiedenartig, wodurch natürlich die Rechtsverwirrung vermehrt ward. So z. B.
hatten England und die Vereinigten Staten in einem Vertrag von 1794 den Grund-
ſatz anerkannt, daß das neutrale Schiff frei, aber die feindliche Waare darauf Gegen-
ſtand der Confiscation ſei; während dieſelben Vereinigten Staten in einem Vertrag
mit Frankreich von 1778, und einem ſolchen mit Preußen von 1785 die Regel:
Frei Schiff, frei Gut bekräftigt hatten. Im Jahr 1799 fanden darüder wieder aus-
führliche Verhandlungen zwiſchen den Vereinigten Staten und Preußen Statt und
nur dem zähen Feſthalten Preußens gelang es ſchließlich, das freiere Princip neuer-
dings in dem Vertrag von 1799 zu beſtätigen. (Vgl. darüber WheatonInt. L.
§ 456—469). Erſt der Pariſer Congreß von 1856 hat endlich dieſes Princip
zu einem allgemein anerkannten völkerrechtlichen Grundſatz erhoben, am 12. Juni:
„Le pavillon neutre couvre la marchandise ennemie à l’exception de la
contrebande de guerre“.
Das neutrale Schiff iſt neutrales Gebiet. So wenig
feindliches Gut in neutralem Land vom Feinde als Beute betrachtet werden darf, ſo
wenig nun auch auf neutralem Schiffe. Die Anerkennung dieſes Grundſatzes iſt
unzweifelhaft ein Fortſchritt der Civiliſation und eine wichtige Beſchränkung des an
ſich barbariſchen Rechts der Seebeute.


795.

Die neutralen Güter ſind auch auf feindlichen Schiffen vor der
Wegnahme geſchützt, außer wenn ſie in Kriegscontrebande beſtehn. Unfrei
Schiff, frei Gut.


[429]Recht der Neutralität.

Auch dieſer Satz iſt erſt durch den Pariſer Congreß von 1856, 12. Juli
allgemein anerkannt worden: „La marchandise neutre à l’exception de la contre-
bande de guerre n’est pas saisissable sous pavillon de guerre“.
Einzelne
Staten, welche früher durch die neutrale Flagge die feindliche Waare hatten decken
laſſen, waren zugleich der Meinung, daß folgerichtig die feindliche Flagge die neu-
trale Waare in die Gefahr der Wegnahme verwickle, und wendeten den Grundſatz
an: Unfrei Schiff, unfrei Gut, Enemy’s ships, enemy’s goods. Mehrere
Staten, wie vorzüglich Frankreich, waren überhaupt geneigt, die Verbindung von
neutralen mit feindlichen Beſtandtheilen als feindlich zu betrachten und vertheidigten
ebenfalls den Grundſatz: Feindliches Schiff, feindliches Gut. Andere Staten freilich
unterſchieden durchgreifend zwiſchen der feindlichen und der neutralen Eigenſchaft von
Schiff und Gut, und ſchonten das neutrale Gut auf feindlichem Schiff, wie ſie das
feindliche Gut auf neutralem Schiff der Priſe ausſetzten. Der ſpaniſche Consolato
del Marc
hatte für dieſen Fall die neutralen Kaufleute angewieſen, ſich mit dem
Nehmer des Schiffs über die Fracht zu verſtändigen, aber die neutrale Waare ſelber
für frei erklärt. Die engliſchen, holländiſchen und italieniſchen Gerichte ſprachen ſich
für denſelben Grundſatz aus, daß die neutrale Waare frei bleibe, während das feind-
liche Schiff der Wegnahme verfalle. In der Litteratur waren die Meinungen ebenſo
verſchieden.


Der Gedanke, daß in beiden Fällen die rechtliche Lage des Schiffs auch das
Schickſal der Ladung beſtimmen müſſe, iſt deßhalb nicht richtig, weil die Freiheit
von Schiff und Waare immer die natürliche Regel, die Wegnahme nur als
Noth- und Ausnahmerecht zu erklären und zu vertheidigen iſt, man aber dieſe
Ausnahme nicht über ihre natürlichen Grenzen, alſo nicht auf neutrales Frie-
densgut
ausdehnen darf. Die neutralen Handelsleute leben wie der neutrale Stat
mit den kriegführenden Staten in voller Freundſchaft mit den Schiffseigenthümern
dieſer Staten, und wenn ſie deren Schiffe mit ihrer Waare befrachten, ſo beeinträch-
tigen ſie damit die Rechte der kriegführenden Gegenpartei in keiner Weiſe. Ihre
Waare darf daher auch nicht Gegenſtand der Wegnahme werden.


796.

Die neutralen Staten können ihren diplomatiſchen Friedensverkehr
mit den kriegführenden Staten fortſetzen, ſoweit nicht die militäriſchen
Maßregeln vorübergehende Hemmniſſe bereiten.


Die neutralen Staten haben keinen Grund, ihre Geſanten abzuberufen, da
ſie mit den kriegführenden Staten in Freundſchaft bleiben. Aber der Krieg kann
thatſächlich die Verbindung theils der Perſonen, theils der Correſpondenz ſtören;
und dieſes Uebel müſſen ſich, ſoweit es unvermeidlich iſt, auch die neutralen Staten
gefallen laſſen.


[430]Neuntes Buch.
797.

Die neutralen Staten können auch den Kriegsparteien zur Vermitt-
lung von Unterhandlungen während des Krieges dienen und die diploma-
tiſche Vertretung für die Angehörigen einer Kriegspartei bei dem andern
feindlichen State übernehmen.


Vgl. oben § 485. Die neutrale Stellung erleichtert ſowohl die Vermittlung
als die Stellvertretung, weil der neutrale Stat mit beiden Kriegsparteien in Freund-
ſchaft iſt, aber ſelbſtverſtändlich bedarf dieſelbe dazu der Ermächtigung der Kriegs-
parteien.


4. Neutraler Handelsverkehr. Kriegscontrebande. Durchſuchungsrecht.


798.

Die Angehörigen der neutralen Staten ſind berechtigt, mit den An-
gehörigen der Kriegsſtaten während des Kriegs, wie im Frieden Handel
zu treiben. Der Kriegszuſtand unterbricht den Handelsverkehr nur inſo-
weit, als das Bedürfniß der Kriegsführung eine militäriſche Hemmung
erfordert.


Nur allmählich und mit ſteigender Macht kam dieſer Grundſatz zur Geltung.
Früher wurde oft der entgegengeſetzte Satz behauptet, daß der Kriegsſtat allen Han-
del, auch der Neutralen, mit dem Feindesland verbieten könne. Man wollte dadurch
dem Feinde möglichſt viel Schaden zufügen und ließ ſich von dieſem Eifer zu ſchä-
digen nicht einmal durch die Rückſicht abhalten, daß man damit zugleich die Neu-
tralen, mit denen man doch in Friede und Freundſchaft lebte, ebenſo empfindlich
ſchädige. Der Handel aber iſt ein Friedens- und nicht ein Kriegsgeſchäft,
und es iſt weder Grund noch Recht vorhanden, dieſes Friedensgeſchäft der Neutralen
mehr zu hemmen, als die militäriſche Nothwendigkeit es erfordert.


799.

Die Anwendung dieſer Regel des friedlichen Handelsverkehrs der
Neutralen wird nicht durch die Rückſicht ausgeſchloſſen, daß ein Kriegsſtat
[431]Recht der Neutralität.
einen beſtimmten Handelsverkehr erlaubt, den er vor dem Kriege nicht
geſtattet hat und vielleicht nach dem Kriege wieder beſchränken wird.


1. Dieſer Satz ſpricht ſich gegen die ſogenannte Regel von 1756 aus,
welche früher vorzüglich von den engliſchen Richtern und Juriſten gehandhabt
und vertheidigt worden iſt. Letztere Regel wurde zuerſt in dem engliſch-franzöſiſchen
Kriege ausgeſprochen, als die Franzoſen, welche durch die engliſche Marine verhindert
wurden, mit ihren überſeeiſchen Colonien den Handelsverkehr fortzuſetzen, den neu-
tralen Holländiſchen Schiffen erlaubten, dieſen Handel nun zu beſorgen, von dem vor
dem Kriege die Neutralen überhaupt ausgeſchloſſen worden waren. Manche Hollän-
diſchen Schiffe wurden nun von den engliſchen Kreuzern als Priſe aufgebracht und
ſammt ihrer Ladung verurtheilt. Damals freilich konnte man für dieſen Eingriff
in die Freiheit des neutralen Handels noch den Grund anführen, daß derſelbe nicht
überhaupt
den Neutralen geſtattet worden ſei, ſondern ausſchließlich den
Holländern und daß die Holländiſchen Schiffe gewiſſermaßen nur die Lücke der
franzöſiſchen Schiffahrt ausfüllen und das abgeſchloſſene Syſtem des franzöſiſchen
Handels im franzöſiſchen Intereſſe für die Kriegszeit bewahren. Die Regel wurde
aber ſpäter allgemeiner verſtanden und angewendet. Man führte dafür haupt-
ſächlich folgende Gründe an:


  • a) Die Neutralen können höchſtens verlangen, daß ihre herkömmliche
    Handelsverbindung
    (customary trade) mit den Ländern der
    Kriegsparteien nicht über die Nothdurft des Kriegs hinaus gehemmt,
    nicht aber, daß ihnen nun während des Krieges neue Handelswege
    in jene Länder eröffnet werden; ſie ſollen geſchont werden in ihren in
    der Friedenszeit angeknüpften Handelsbeziehungen, aber
    ſie ſollen nicht den Kriegszuſtand zu einer Erweiterung ihres
    Handels in Feindesland ausbeuten
    dürfen.
  • b) Würde man das geſtatten, ſo würde die Vertheidigungsfähigkeit
    des Feindes
    zum Schaden des Gegners vergrößert, was dieſer
    nicht zu dulden brauche.

2. Allein dieſe Gründe halten doch der Prüfung nicht Stand, und vermögen
die unbeſtreitbare Grundwahrheit, daß der Handel ein Friedensgeſchäft und
daher den Neutralen nicht zu verwehren, nicht zu entkräften. Die fried-
liche Natur des Handels wird durch den Krieg nicht aufgehoben und nicht geändert.
Daher iſt


  • a) kein Grund zwiſchen dem herkömmlichen Handel vor dem Krieg und
    dem neuen Handel während des Kriegs zu unterſcheiden und einer-
    ſeits die Fortſetzung des erſten zu geſtatten, aber andererſeits dieſen zu
    verbieten. Der Handel iſt nicht Bewahrung des Hergebrachten, ſondern
    ſucht fortwährend neue Wege und knüpft unabläſſig erweiterte Verbin-
    dungen an.
  • b) Wenn auch ausnahmsweiſe ſich im Kriege neue günſtige Chancen
    für die Neutralen ergeben, ſo darf man ihnen dieſe Vortheile um ſo
    [432]Neuntes Buch.
    weniger mißgönnen oder verſagen, als nothwendig für den neutralen
    Handel aus jedem Kriege auch zahlreiche Nachtheile entſpringen,
    die ſie ebenfalls tragen müſſen, obwohl ſie weder den Krieg verſchuldet
    haben, noch daran Theil nehmen, und welche ihnen durch die kriegeriſchen
    Entſchlüſſe und Thaten der Kriegsparteien zugefügt werden.
  • c) Das civiliſirte Kriegsrecht geſtattet überhaupt nicht mehr die friedlichen
    Privaten nur deßhalb beliebig zu ſchädigen, um die Hülfsquellen des
    Feindes zu zerſtören, ſondern erlaubt nur ſolche Schädigungen, welche
    durch das militäriſche Bedürfniß der Kriegsführung gerechtfertigt ſind.
    Das Blocaderecht und das Recht, die Contrebande zu verhindern, ſind
    Ausnahmen, die eher zu beſchränken, als analog auszudehnen ſind.

800.

Auch wenn der Küſtenhandel in Friedenszeiten ausſchließlich den
nationalen Schiffen vorbehalten und erſt während des Kriegs von einer
Kriegspartei den Neutralen eröffnet wird, ſo machen ſich die neutralen
Handelsſchiffe, welche dieſe Erlaubniß benutzen, keiner Verletzung der Kriegs-
rechte ſchuldig und dürfen von dem andern Kriegsſtate nicht deßhalb weg-
genommen werden, weil ſie einen verbotenen Handelsverkehr betreiben.


Vgl. zu § 798. 799. Der ſogenannte Küſtenhandel (Cabotage,
coasting rade
) — d. h. der Handel aus einem Hafen in den andern desſelben
States mit inländiſcher Ladung — war in früheren Zeiten oft ausſchließlich den
nationalen und keinen fremden Schiffen geſtattet. Das galt auch meiſtens als
Geſetz für den Handel aus dem Mutterſtat nach den überſeeiſchen Colonien
und umgekehrt. Der Krieg konnte nun dieſes Syſtem durchbrechen, und da der
nationale Verkehr an manchen Stellen gehemmt war, das Bedürfniß nach neutralem
Handel hervorrufen; während der feindliche, zur See mächtige Kriegsſtat das nicht
dulden wollte. Die engliſchen Juriſten — noch Phillimore (III. § 214 f.)
— vertheidigten dieſe Beſchränkung vorzüglich, während die amerikaniſchen und
allgemeiner noch die franzöſiſchen Rechtsgelehrten ſie beſtritten. Dieſelben
Gründe, welche gegen die Regel von 1756 ſprechen, nöthigen auch hier, dieſen
Binnenhandel der neutralen Schiffe als völkerrechtlich erlaubt und nur unter
Umſtänden ſtatsrechtlich beſchränkt anzuſehn. Da überdem heute dieſe engen
Schiffahrtsbeſchränkungen großen Theils dem Princip des freien Handelsverkehrs,
ohne Rückſicht auf Nationalität, haben weichen müſſen, ſo hat die ganze Frage viel
von ihrem practiſchem Intereſſe verloren.


801.

Die Zufuhr von Kriegscontrebande aber iſt kein Friedensgeſchäft.
[433]Recht der Neutralität.
Jede Kriegspartei iſt berechtigt, die Lieferung und die Zufuhr von Kriegs-
contrebande zu verhindern, auch wenn dieſelbe von Neutralen und auf
neutralen Schiffen beſorgt wird.


1. Die Freiheit des neutralen Handels darf nicht zu wirklicher Kriegs-
hülfe mißbraucht
werden, denn dieſe iſt im Widerſpruch mit wahrhaft neu-
traler Haltung
. Der Ausdruck Contrebande (urſpr. contra bannum,
wider das Verbot) ſtammt aus dem Mittelalter, als die Päpſte unter der Strafe
des Banns (der Excommunication) den Chriſten verboten, den Ungläubigen, welche
bekriegt wurden, Waffen zuzuführen. Die Rückſichten auf die offenbare Unter-
ſtützung einer Kriegspartei in ihrer Kriegsführung
überwiegt hier
über die Rückſicht auf die Handelsfreiheit der Neutralen. Der Kriegsſtat kann das
nicht dulden, ohne Gefahr für ſeine Kriegsführung, und iſt berechtigt, die Contre-
bande wegzunehmen, weil in ihrer Zufuhr die beabſichtigte Kriegshülfe offen-
bar wird.


2. Im Allgemeinen wird dieſer Grundſatz von allen civiliſirten, auch von
den neutralen Staten anerkannt, z. B. von der bewaffneten Neutralität von
1780 und von dem Pariſer Congreß von 1856. Aber über die Ausdehnung
des Begriffs der Contrebande und über die Mittel, ſie zu verhindern, war von jeher
viel Streit. England, als die größte Seemacht, war lange Zeit geneigt, jenen Be-
griff und dieſe Mittel möglichſt weit auszudehnen; und hinwieder die neutralen
Staten, welche vorzugsweiſe ihren Handel ſchützen wollten, ſuchten im Gegentheil
den Begriff möglichſt zu beſchränken und das Verfahren gegen neutrale Schiffe und
Güter, welchen Contrebande vorgeworfen wurde, zu ermäßigen. Allmählich haben
ſich die Anſichten genähert, obwohl ſie noch hin und her ſchwanken. Heute ſind alle
Seemächte zugleich ſtark intereſſirt, daß nicht im Seekrieg der neutrale Seehandel zu
ſehr beläſtigt und gefährdet werde, und keine iſt mehr davor ſicher, daß nicht eine
ſchroffe und übertriebene Anwendung der Mittel gegen die Contrebande auch ihre
Handelsintereſſen ſchwer verletze.


802.

Als Kriegscontrebande ſind zu betrachten diejenigen Sachen, welche
einer Kriegspartei zum Behuf und zur Unterſtützung der Kriegsführung
als Kriegsmittel und Kriegsausrüſtung zugeführt werden.


Daß die Zufuhr ſolcher Sachen als Contrebande zu beurtheilen ſei,
ergibt ſich aus dem Grundgedanken mit logiſcher Nothwendigkeit; und es kann nur
in Frage kommen, einmal ob wirklich im beſondern Fall gewiſſe Sachen der Kriegs-
führung als Mittel zudienen (§ 803) und ob die Abſicht der Kriegshülfe vorhanden
oder auch erforderlich ſei (§ 806), um die Wegnahme der Contrebande zu begrün-
den. Im Einzelnen kann die Thatfrage oder die Rechtsfrage ſtreitig ſein.


Bluntſchli, Das Völkerrecht. 28
[434]Neuntes Buch.
803.

Allgemein und abgeſehen von beſonderen Verträgen, welche andere
für die Vertragsparteien bindende Vorſchriften treffen, gehören hieher:


  • a) die Kriegswaffen, Kanonen, Flinten, Säbel, Kugeln, Pulver und
    ähnliche Kriegswerkzeuge;
  • b) aber auch Salpeter und Schwefel, die zur Pulverfabrication
    dienen;
  • c) Kriegsfahrzeuge;
  • d) feindliche Kriegsdepeſchen, die im Interſſe einer Kriegspartei
    transportirt werden.

1. Oft werden in Statenverträgen die Gegenſtände näher bezeichnet, welche
ausſchließlich als Contrebande behandelt werden dürfen. Aber dieſes Vertrags-
recht
gilt nur im Verhältniß der Vertragsparteien zu einander, nicht als allge-
meines Recht.


2. Zu a) Gewiſſe Sachen dienen ihrer Natur nach immer und nur
— oder doch gewöhnlich — der Kriegsführung, wie beſonders Waffen aller Art und
Kriegsinſtrumente. Dieſe ſind unzweifelhaft Contrebande. Indeſſen ſogar da iſt die
Aufzählung aller einzelnen Gegenſtände deßhalb nicht möglich, weil von Zeit zu
Zeit neue Kriegswaffen erfunden werden, welche weder in den Verträgen noch in
den Geſetzen vorher benannt werden konnten. Dem Pulver z. B. ſteht die
Schießbaumwolle gleich, obwohl ſie nicht genannt iſt, und ebenſo den Feuer-
ſteinen
und dem Zunder der alten Flinten die neueren metallenen Zünd-
hütchen
, die Patronenhülſen und die Einheitspatronen.


Wenn aber Verbandzeug und ärztliche Inſtrumente für die mili-
täriſche Krankenpflege zugeführt werden, ſo iſt das keine Contrebande, ſondern fried-
licher Verkehr, obwohl er auch dem Heere zu Gute kommt.


3. Zu b) Salpeter und Schwefel ſind freilich keine Waffen, aber ihre
Beziehung zur Pulverfabrication iſt eine ſo nahe, daß ſie deßhalb von allen
Völkern wie Kriegsmaterial betrachtet werden, wenn nicht ausnahmsweiſe ein an-
derer friedlicher Gebrauch dieſer Stoffe klar vorliegt. Auch die zweite bewaff-
nete Neutralität
von 1800 erwähnt dieſer Gegenſtände ausdrücklich als
Contrebande.


4. Zu c) Die kriegeriſche Natur der Kriegsfahrzeuge iſt zweifellos;
aber da auch Schiffe, welche bisher dem Handel dienten, in Kriegsfahrzeuge umge-
wandelt werden können, ſo kann es im einzelnen Fall zweifelhaft werden, ob ein
Schiff noch als Handelsſchiff frei, oder bereits als Kriegsſchiff Contrebande
ſei. Die letztern Zweifel können nur im einzelnen Fall nach Erwägung aller Um-
ſtände und Anzeichen entſchieden werden.


5. Zu d) Die ſogenannten Kriegsdepeſchen ſind unzweifelhaft wieder
Contrebande, z. B. Befehle des Feldherrn an einen detachirten Corpscommandanten
[435]Recht der Neutralität.
oder eine Flottenſtation zu kriegeriſchen Zwecken. Dagegen Friedensdepeſchen,
wohin auch die diplomatiſche Correſpondenz durchweg zu rechnen iſt, dür-
fen unbedenklich auf neutralen Schiffen ſicher verſendet werden. So z. B. wurde
das Bremer Schiff Atalante von dem engliſchen Richter Scott im Jahr 1808 ver-
urtheilt, weil es Kriegsdepeſchen von dem franzöſiſchen Gouverneur von Isle
de France an den franzöſiſchen Marineminiſter zu befördern übernommen hatte; da-
gegen die nordamerikaniſche Carolina in demſelben Jahr freigeſprochen, weil ſie
nur diplomatiſche Depeſchen des franzöſiſchen Geſanten in den Vereinigten Staten
an die franzöſiſche Regierung an Bord hatte. Siehe die Fälle bei Wheaton
Int. Law. § 504. Anm. von Dana. Auch in dem Krimmkriege von 1854 wur-
den von England und Frankreich die Neutralen davor gewarnt, daß ſie nicht
Kriegsdepeſchen befördern, indem derartige Verſuche von den Kriegsmächten nicht
geduldet würden.


804.

Was das neutrale Schiff zu eigenem Bedarf an Waffen und
Munition mit ſich führt, iſt nicht Contrebande.


Auch friedliche Handelsſchiffe führen gewöhnlich Schiffskanonen mit, und be-
dürfen, wenn ſie durch Seeräuber gefährdete Meere befahren, je nach Umſtänden einer
ausgiebigeren Selbſtbewaffnung. Das iſt unbeſtreitbares Recht der Neutralen und
darf daher nicht als verbotene Contrebande behandelt werden.


805.

Die Zufuhr von Gegenſtänden, welche auch dem friedlichen Gebrauche
zudienen, wie insbeſondere von Kleidungsſtücken, Geldſummen, Pferden,
Schiffsbauholz, Segeltüchern, Eiſenplatten, Dampfmaſchinen, Brennkohlen,
Privatſchiffen u. ſ. f. iſt in der Regel als erlaubt zu betrachten, und darf
nur ausnahmsweiſe als Kriegscontrebande behandelt werden, wenn ent-
weder die beſonderen Verträge ſie als ſolche bezeichnen oder wenn im ein-
zelnen Fall erweisbar iſt, daß die Zufuhr einen unmittelbaren Bezug auf
die Kriegsführung hatte und zugleich die Unterſtützung derſelben beabſichtigt
war, wie z. B. zur Uniformirung der feindlichen Truppen, zur Lieferung
von Kriegsſubſidien, zur Ausrüſtung der feindlichen Cavallerie mit Pferden,
zur Erbauung von Panzerſchiffen und Kriegsfahrzeugen, zum Transport
feindlicher Truppen. Die Vermuthung iſt jederzeit für den friedlichen
Gebrauch und gegen die Annahme von Kriegscontrebande.


Dieſes Gebiet der ſogenannten relativen Kriegscontrebande iſt vorzüglich
28*
[436]Neuntes Buch.
dem Zweifel und Streit ausgeſetzt. Soweit die Verträge Näheres beſtimmen,
ſind dieſelben anzuwenden. Abgeſehen aber von Vertragsbeſtimmungen bleibt nur
übrig, die Frage aus der Natur der Sache zu entſcheiden. Da gehen nun meines Er-
achtens die beiden extremen Meinungen zu weit. Die eine betrachtet ſolche für
die Kriegsführung
je nach Umſtänden brauchbare Gegenſtände in der Regel
als Contrebande, ſobald ſie dem Feinde zugeführt werden. Die Neu-
tralen können ſolche Gegenſtände, welche ſowohl im Frieden als im Krieg
brauchbar
ſind (res anticipis usus) zu Friedens- oder zu Kriegszwecken dem
feindlichen Lande zuführen. Erſteres iſt ein reines Friedensgeſchäft, letzteres
iſt Kriegshülfe. Jenes muß erlaubt ſein, dieſes wird von der Kriegspartei mit
Recht unterſagt. Es iſt aber kein Grund für die letztere Auslegung zu vermuthen.
Im Gegentheil, der friedliche Handel der Neutralen iſt die Regel, die Kriegshülfe
die Ausnahme. Oefter wird die entgegengeſetzte Meinung verfochten, daß dieſe
Gegenſtände niemals als Kriegscontrebande behandelt werden dürfen, ſondern
immer als erlaubter Handel gelten. Dieſe Meinung wird von manchen Pu-
bliciſten insbeſondere auch damit vertheidigt, daß die Unterſcheidung im einzelnen
Fall allzu ſchwierig und daß es gefährlich ſei, das Urtheil darüber der Kriegspartei
zu überlaſſen. Dieſer Einwand iſt richtig, aber er bezieht ſich nur auf die Organi-
ſation der Rechtspflege und das Rechtsverfahren und kann nicht die ſachliche Rechts-
frage entſcheiden, ob das Contrebande ſei oder nicht.


2. Wenn die Beſtimmung dieſer Waaren für die Kriegszwecke aus
den Umſtänden klar wird, und zugleich die Abſicht der Kriegshülfe, dann
kann man der Kriegsmacht unmöglich zumuthen, daß ſie ruhig zuſehe, wie die
militäriſchen Kräfte des Feindes verſtärkt werden, und der Neutrale
darf ſich nicht beklagen, wenn nun ſeine beabſichtigte Unterſtützung der
feindlichen Kriegsmacht nicht als ein Friedensgeſchäft, ſondern als unerlaubte
Kriegshülfe
behandelt wird, was ſie iſt. Wenn z. B. dem Feind Panzerplatten
zugeführt werden, ſo wirkt das ganz ähnlich, wie wenn ihm Panzerſchiffe geliefert
werden. Es iſt weſentlich einerlei, ob demſelben Säbel, oder ob ihm Klingen und
Handgriffe beſonders zugeführt werden. Kriegsſubſidien wirken in vielen Fällen
ſtärkender für das Heer, das ſie empfängt, als Pulver und Blei. Es kommt alſo
nur auf den Beweis an, einerſeits der Kriegsbeſtimmung, andererſeits der
Abſicht der Kriegshülfe. Beides muß aus der Erwägung aller Umſtände
bona fide geſchloſſen werden. Der neutrale und freie Handel wird hinreichend ge-
achtet, wenn man eher für als gegen denſelben vermuthet und zur Verurtheilung
den Schuldbeweis fordert.


806.

Es genügt keineswegs, daß derartige Gegenſtände nach den Um-
ſtänden für die Kriegsführung nützlich verwendet werden könnten und ver-
muthlich, wenn ſie an ihre Adreſſe gelangten, auch verwendet würden, um
dieſelben als Kriegscontrebande wegzunehmen. Es darf höchſtens in dieſem
[437]Recht der Neutralität.
Fall die Zufuhr dann thatſächlich gehemmt werden, wenn aus den Um-
ſtänden die Verwendung zur Kriegsführung als eine nahe und ernſte
Gefahr erſcheint.


1. Die Wegnahme der Kriegscontrebande rechtfertigt ſich als
Kriegsrecht nur dann gegen Neutrale, wenn dieſe Kriegshülfe gewähren, d. h. eine
feindliche Handlung begehen, nicht aber, wenn dieſe nur ein friedliches Han-
delsgeſchäft
vollziehn. Aber die Gefahr der Verwendung für die feindliche Kriegs-
führung und daher für die Verſtärkung des Feindes kann ſo groß und dringend
ſein, daß die kriegführende Macht veranlaßt iſt, ſolchen Verkehr in Kriegs-
zeiten zu verhindern
. Die Waare erſcheint dann zwar ohne Schuld ihres
Eigenthümers und ohne Schuld des Schiffers gleichſam als „zufällige“ Contre-
bande. Sie darf nicht confiscirt werden, weil keine Schuld dazu berechtigt,
aber ihre Verwendung zu Gunſten des Feindes darf gehindert werden, weil
das Bedürfniß der Kriegsführung es erfordert. Das gilt z. B. auch von der Zu-
fuhr von Brennkohlen in einen Seehafen, wo die feindliche Kriegsflotte vor Anker
liegt. Iſt dieſelbe beabſichtigt zur Ausrüſtung der Flotte, ſo wird ſie mit Recht
weggenommen, iſt ſie nicht beabſichtigt, aber würde derſelbe Effekt erreicht, wenn
man ſie ungehindert ihre Beſtimmung erreichen ließe, ſo iſt eine wirkſame Be-
ſchlagnahme, gegen Entſchädigung
der Eigenthümer, wohl gerecht-
fertigt.


2. Die Gerechtigkeit erfordert, daß hier das friedliche Handelsrecht und
das unvermeidliche Kriegsrecht mit einander ausgeglichen werden.
Der Handel hat nur den Gewinn, nicht den Sieg einer Kriegspartei vor Augen.
Den Kaufleuten iſt es gleichgültig, wozu ihre Waaren verwendet werden; ihnen
liegt nur daran, daß ſie zu möglichſt günſtigen Preiſen je nach Umſtänden verkauft
oder gekauft werden. Inſofern werden viele Verträge der Art nicht zur Kriegshülfe
gemacht, und nur wenn die Waare ihrer Natur nach ausſchließlich für den Krieg
beſtimmt iſt (§ 804) wird dieſe Einrede der Kaufleute nicht weiter zu beachten, ſon-
dern unbedenklich auf unzweifelhafte Contrebande zu ſchließen ſein. Bei
den Waaren ancipitis usus hat jene Einrede der friedlichen Abſicht einen guten
Sinn. Die Kriegsmacht aber muß umgekehrt dafür ſorgen, daß nicht die feindliche
Macht eine Verſtärkung erhalte, gleichviel ob die Abſicht derer, welche die Ver-
ſtärkung zuführen, friedlich oder feindlich ſei. Vgl. Dana Anm. zu
WheatonInt. L. § 501 und die engliſche Geheimerathsverordnung
vom 18. Febr. 1854 bei PhillimoreIII. § 266.


807.

Es iſt wider die gute Sitte, die Zufuhr von Lebensmitteln als
Kriegscontrebande zu behandeln, wenn gleich dieſelbe zur Ernährung des
feindlichen Heeres dient. Aber die Kriegsgewalt iſt berechtigt, einen bela-
[438]Neuntes Buch.
gerten Platz abzuſperren und durch thatſächliche Hemmung der Zufuhr auch
von Lebensmitteln die Uebergabe zu erzwingen.


Auch in dieſer Hinſicht ſtimmen die Meinungen der Schriftſteller und die
Beſtimmungen der Verträge nicht überein. In dem franzöſiſch-engliſchen Revolutions-
kriege ſuchte England den Kornhandel mit Frankreich, wenigſtens mit der franzö-
ſiſchen Regierung, zu verhindern. Indeſſen traf dieſer Verſuch auf den Widerſtand
der neutralen Staten, welche mit Recht entgegneten, daß die Ernährung der
Menſchen
ein weſentlich friedliches Geſchäft und daher und abgeſehen von
der Ausnahme der Blocade — nicht zu verhindern, und nicht als Contrebande zu
behandeln ſei. Auch das eigene Bedürfniß, Lebensmittel zu erwerben, rechtfertigt
nicht die Wegnahme neutraler Zufuhr von Seite der bedürftigen Kriegspartei.
Vgl. die Note des Grafen Bernſtorff vom Jahre 1793 bei PhillimoreIII.
§ 247.


808.

Der Handel mit Kriegsgeräthſchaften oder die fabrikmäßige Bear-
beitung derſelben iſt den neutralen Perſonen auf neutralem Boden nicht
durch das Völkerrecht verboten, auch nicht, wenn dieſelben von einer Kriegs-
partei gekauft oder beſtellt werden.


Aber es iſt Pflicht des neutralen Stats, zu verhindern, daß nicht
von neutralem Boden aus einer Kriegspartei Kriegshülfe geleiſtet werde
(766) und Recht der Kriegspartei, die Kriegscontrebande wegzunehmen
und die Verſtärkung der feindlichen Kriegsmacht zu verhindern.


Waffenfabriken, Pulverfabriken, Anſtalten für den Bau von Kriegsſchiffen
u. ſ. f. ſind wie der Handel mit ſolchen Gegenſtänden an ſich friedliche Geſchäfte
und ſie verändern ihre Natur auch im Kriege dritter Staten nicht. Das Völkerrecht
kümmert ſich erſt darum, wenn entweder die Abſicht der Kriegshülfe offenbar
wird, oder doch die Gefahr der thatſächlichen Förderung der feindlichen
Kriegsführung nahe erſcheint. Der neutrale Stat hat daher erſt von da an ein
Intereſſe einzuſchreiten, damit er ſich nicht dem gerechten Vorwurf ausſetze, daß er
ſein Gebiet zu feindlichen Handlungen mißbrauchen laſſe. Zu dieſem Behuf kann
und ſoll er je nach Umſtänden Sicherheit gegen den Mißbrauch fordern und wenn
es nöthig iſt, auch Beſchlag auf die Kriegsrüſtung legen.


809.

Die feindliche Kriegsmacht darf ſich der Contrebande während der
[439]Recht der Neutralität.
Zufuhr bemächtigen und dieſelbe als gute Priſe behandeln, aber ſie hat
kein anderes Strafrecht gegenüber den Neutralen auszuüben.


Da der Kriegsſtat außerhalb ſeines Gebiets — und das Meer gehört
nicht zu ſeinem Gebiet — keine Strafgerichtsbarkeit beſitzt, ſo darf er auch in dieſem
Falle die Kaufleute oder Schiffer, welche Contrebande führen, nicht ſtrafen. Die
Wegnahme der Contrebande iſt nur eine völkerrechtlich anerkannte Ausübung des
Kriegsrechts, nicht des Strafrechts
. Aber der neutrale Stat darf
wohl ſeine Angehörigen, welche ſeine Neutralität durch feindliche Handlungen in
Gefahr bringen, deßhalb zur Verantwortung und Strafe ziehn. Das iſt aber An-
wendung des einheimiſchen Strafrechts
, deſſen Natur auch dann ſtats-
rechtlich
bleibt, wenn es völkerrechtliche Rückſichten nimmt.


810.

Die Beſchlagnahme bezieht ſich auf das Frachtſchiff, welches die
Contrebande führt, nur inſofern, als es zum Vollzug der Wegnahme der
Contrebande erforderlich iſt, alſo nicht, wenn dieſelbe nur einen unter-
geordneten Theil der Ladung ausmacht und daher ausgeſchieden und für
ſich allein weggenommen werden kann. Das Schiff darf nur dann als
Priſe dem Nehmeſtat zugeſprochen werden, wenn der Schiffsherr gewußt
und geſtattet hat, daß das Schiff Contrebande zuführe.


Die Wegnahme und Confiscation des Schiffs wird nur durch Verſchuldung
gerechtfertigt. Vgl. oben zu § 806.


811.

Wenn die Verſchuldung des Eigenthümers der Contrebande nicht
aus den Umſtänden klar und dennoch die Beſchlagnahme derſelben wegen
der offenbaren Beſtimmung für die feindliche Kriegsführung gerechtfertigt
erſcheint, ſo hat der Nehmeſtat dem Eigenthümer den vollen Werth der
weggenommenen Gegenſtände zu erſetzen. In dieſem Falle iſt der weg-
nehmende Kriegsſtat als Zwangskäufer zu behandeln.


Obwohl hier kein mit Confiscation bedrohter Handel vorhanden, ſondern nur
die Behinderung der thatſächlichen — wenn auch nicht beabſichtigten —
Kriegshülfe gerechtfertigt iſt, ſo macht der Eingriff in die Intereſſen der Eigen-
thümer ihre Entſchädigung nöthig. Aus dieſem Grunde iſt die Analogie des
Zwangsverkaufs in dem völkerrechtlichen Gebrauch angewendet worden. Die
ältere Praxis unterſchied weniger ſorgfältig und war ſogar in ſolchen Fällen geneigt
[440]Neuntes Buch.
zur Confiscation. Die neuere Praxis dagegen iſt mäßiger geworden. Die engliſchen
Priſengerichte erkennen dem geſchädigten Eigenthümer über den realen Werth des ent-
zogenen Gutes noch 10% Gewinn zu und es iſt dieſe Beſtimmung auch in mehrere
Statenverträge aufgenommen worden, ſo in dem Vertrag zwiſchen England und den
Vereinigten Staten vom 19. Nov. 1794. Vgl. PhillimoreIII. § 267 f. und
beſonders das Erkenntniß des Lord Stowell, ebenda § 270.


812.

Der Kriegsſtat darf ſich keineswegs ſolcher Schiffe und Waaren
bemächtigen, welche zwar für die Kriegsführung brauchbar ſind, aber nicht
dem Feinde, ſondern einem neutralen Lande oder einem dritten Kriegslande,
mit welchem er aber im Frieden iſt, zugeführt werden.


In dieſen Fällen iſt auch nicht die Gefahr einer zufälligen Kriegs-
hülfe
und daher auch keine zufällige Contrebande vorhanden (806). In
den Verkehr der Neutralen mit andern Ländern als der Gegenpartei hat ſich der
Kriegsſtat in keiner Weiſe einzumiſchen.


813.

Wird aber die Fahrt nach einem neutralen Hafen nur in der Abſicht
unternommen, um auf dieſem Umwege ſicherer die Kriegsführung des
Feindes zu unterſtützen, ſo iſt das Contrebande und die Wegnahme gerecht-
fertigt.


Z. B. eine Schiffsladung mit Waffen und Munition aus Amerika fährt nach
dem neutralen Hamburg, während Petersburg der eigentliche Beſtimmungsort iſt
und die Abſicht, Rußland im Kriege mit England zu unterſtützen aus den Umſtän-
den erhellt. Oder in einem Kriege zwiſchen Deutſchland und Frankreich wird ein
Panzerſchiff aus England nach dem neutralen Holland geführt, zur Unterſtützung
einer der beiden Kriegsparteien.


814.

Die Beſchlagnahme kann auf dem Kriegsfelde, aber nicht in den
neutralen Eigengewäſſern von der Kriegsmacht vollzogen werden. Zu dem
Kriegsfelde wird auch die offene See inſofern gerechnet, als ſie zur Ver-
mittlung der Kriegshülfe dient.


Die neutralen Eigengewäſſer ſind ſo wenig als das neutrale Land
[441]Recht der Neutralität.
der Kriegspolicei der Kriegſtaten unterworfen. Es iſt bedenklich genug, daß man
dieſen geſtattet, auf offener See, die in Niemandes Herrſchaft iſt und allen
Nationen dient, neutrale Schiffe anzugreifen, wenn dieſelben Contrebande führen.
Aber auch das bedarf der Ermäßigung. In entlegenen Meeren, welche dem Kriegs-
ſchauplatz fern liegen und füglich nicht zur Kriegshülfe benutzt oder mißbraucht wer-
den können, darf der Kriegsſtat nicht neutrale Schiffe wegen Verdachts der Kriegs-
contrebande anhalten, ohne ſich den gerechten Beſchwerden der neutralen Staten aus-
zuſetzen. Vgl. unten § 819.


815.

Die Zufuhr von Kriegstruppen oder von militäriſchen Führern auf
neutralen Schiffen wird ebenſo als Kriegscontrebande behandelt, wie die
Zufuhr von Kriegsartikeln. Dieſe Truppen und Militärperſonen können
kriegsgefangen gemacht werden.


1. Die Zufuhr von Hülfstruppen iſt ſelbſtverſtändlich eine feindliche That
und Kriegshülfe, nicht minder als die Zufuhr von Waffen und Munition. Als
Truppen ſind auch bloße militäriſche Unterabtheilungen — z. B. ein
Trupp Soldaten mit einem Unterofficier — gemeint, nicht bloß größere Truppen-
körper, ebenſo Freiſcharenzüge.


2. Ganz dasſelbe gilt auch von Heerführern ohne Truppen. Es können
unter Umſtänden einzelne Generale oder Officiere für den Erfolg militä-
riſcher Operationen eine ebenſo große und noch größere Bedeutung haben, als grö-
ßere Maſſen von Soldaten.


816.

Wenn jedoch friedliche Auswanderer, obwohl ſie vielleicht die Abſicht
haben, ſich in dem kriegführenden Lande anwerben zu laſſen, demſelben
zugeführt werden, ſo iſt dieſer Transport doch nicht als durch das Kriegs-
recht unterſagt zu betrachten.


In dieſen Fällen liegt keine directe Beziehung zur Kriegsführung vor
und die indirecte iſt zu entfernt und unſicher, um als Kriegscontrebande ange-
ſehen werden zu können. Die Auswanderung iſt weſentlich eine friedliche That.
In einer Reihe von neueren Verträgen iſt das ſo beſtimmt. Die franzöſiſchen
Verträge z. B. haben noch 1858 folgende Formel: „Il est également convenu,
que la liberté du pavillon s’étend aux individus, qui seraient trouvés à bord
des bâtiments neutres, a moins qu’ils ne soient militaires, et alors
engagés au service de l’ennemi
“.
Die nordamerikaniſchen drücken
[442]Neuntes Buch.
das ſo aus: „unless they are officers or soldiers and in the ac-
tual service of the enemy“.
Vgl. Marquardſen. Der Trentfall.
Erlangen 1862. S. 61.


817.

Ebenſo wenig iſt es Contrebande, wenn ein neutrales Schiff fried-
liche Angehörige des feindlichen Landes, oder Geſante desſelben hin- oder
wegführt.


Die neutralen Staten ſind berechtigt, den Geſantenverkehr mit beiden Kriegs-
ſtaten zu unterhalten (796). Die Kriegspartei kann wohl verhindern, daß ein feind-
licher Geſanter über ihr Gebiet reiſe und ihn, wenn er es ohne ihre Erlaubniß
thut, als eine politiſch wichtige feindliche Perſon gefangen nehmen, oder als Geiſel
behandeln, aber ſie iſt nicht dazu berechtigt, gegen ein neutrales Schiff auf offener
See oder in neutralen Gewäſſern deßhalb Gewalt zu brauchen, weil es ſolche Per-
ſonen an Bord hat. Die Verhaftung der Geſanten des amerikaniſchen Südbundes
Maſon und Slidell auf einem engliſchen Poſtſchiff durch ein nordamerikaniſches
Kriegsſchiff im Febr. 1861 war daher nicht gerechtfertigt, und wäre auch dann nicht
zu entſchuldigen geweſen, wenn das neutrale Schiff aus einem feindlichen und nicht
aus einem neutralen Hafen gefahren wäre. Die Vereinigten Staten gaben denn
auch die Gefangenen frei, als ſich England über dieſe Verletzung des Völkerrechts
beſchwerte. Vgl. die zu § 816 citirte Schrift von Marquardſen und die Anm.
v. Dana zu WheatonInt. L. § 504.


818.

Neutrale Schiffe, welche den Transport von feindlichen Truppen
beſorgen, verlieren dadurch jeden Anſpruch auf den Schutz ihrer Neutralität
und werden mit Recht als gute Priſe behandelt, aber nur während ſie
dieſe feindliche Handlung vornehmen, nicht wenn dieſelbe vollzogen iſt,
alſo nicht auf dem Rückwege ohne Kriegsladung.


Der Transport von Truppen der feindlichen Macht, z. B. im
Krimmkriege der franzöſiſchen und engliſchen Truppen nach der Krimm iſt unzweifelhaft
eine Unterſtützung der Kriegsführung, und ſetzt daher die neutralen Schiffe, die ſich
dazu hergeben, der Wegnahme aus. Aber dieſe iſt wieder nur zuläſſig, wenn die-
ſelben auf der That ergriffen werden, nicht ſpäter, wenn ſie wieder auf friedlicher
Fahrt begriffen ſind.


819.

Zum Schutz gegen den Mißbrauch des freien neutralen Verkehrs
[443]Recht der Neutralität.
zur Unterſtützung einer Kriegspartei iſt jeder Kriegsſtat berechtigt, innerhalb
des Kriegsfeldes, wozu außer den eigenen und den feindlichen Eigen-
gewäſſern auch die offene See inſoweit gehört, als ſie für die Fahrt dahin
benutzt wird, auch die neutralen Schiffe während des Kriegs anzuhalten
und zu unterſuchen, ob ſie nicht Contrebande führen.


Die Durchſuchung iſt nicht geſtattet in den Eigengewäſſern neutraler
Staten und nicht in entlegenen Meeren.


Vgl. oben § 304 f. und zu § 814. Das Durchſuchungsrecht auf offener
See in Kriegszeiten iſt freilich eine erhebliche Beſchränkung des ſonſt allgemein an-
erkannten Grundſatzes, daß das Meer frei und keiner beſondern Statshoheit unter-
worfen ſei. Dasſelbe iſt aber durch das dringende Bedürfniß der kriegführenden
Staten, ſich gegen alle feindlichen Handlungen auch der Neutralen zu ſchützen, in
den Gebrauch des Seekriegs aufgenommen und auch von den Neutralen als Noth-
recht
des Kriegs zugeſtanden worden.


820.

Die Prüfung erſtreckt ſich auf die Statsangehörigkeit des Schiffes,
und auf die Beſchaffenheit, die Herkunft und die Beſtimmung der Ladung.


Nur nach Maßgabe ernſter Verdachtsgründe darf die Prüfung zu
einer Durchſuchung geſteigert werden, insbeſondere wenn ſich zeigen ſollte, daß
die Schiffspapiere falſch oder mit der gebrauchten Flagge im Widerſpruch ſind oder
aus den Umſtänden auf Verheimlichung und Täuſchung geſchloſſen werden kann.
Vgl. oben § 344 f. und unten § 822 ff.


821.

Berechtigt zu der Prüfung iſt der Kriegsſtat, beziehungsweiſe die
zum Vollzug ermächtigten Kriegsſchiffe.


822.

Zunächſt beſteht die Prüfung nur in der Einſicht der Schiffspapiere.


Nur wenn ernſte Verdachtsgründe ſich zeigen, darf eine Durchſuchung
der Schiffsräume ſelber vorgenommen werden; und nur wenn Contrebande
vorgefunden wird, darf das Priſenrecht geübt werden.


Vgl. zu § 820.


[444]Neuntes Buch.
823.

Der Stat, deſſen Kriegsſchiffe die Durchſuchung vornehmen, iſt dem
neutralen State dafür verantwortlich, daß bei der Prüfung und Durch-
ſuchung nicht mit ungebührlicher Gewalt und Härte verfahren werde.


Darin liegt das nöthige Correctiv gegen den Mißbrauch jenes Nothrechts.
Indem der Kriegsſtat auf offener See das neutrale Schiff anhält, greift er immer-
hin ein in die Freiheit und Selbſtändigkeit auch des neutralen Statsgebiets, zu
welchem der auf der See ſchwimmende Gebietstheil gehört. Damit iſt die Ver-
antwortlichkeit
desſelben gegenüber dem neutralen State begründet,
der ſich dieſen Eingriff nur mit Rückſicht auf das Nothrecht des Kriegs, nicht darüber
hinaus gefallen läßt. Die prüfende und durchſuchende Mannſchaft des Kriegsſchiffs
muß ſich erinnern, daß ſie, genau genommen, auf fremdem, neutralem Gebiete und
gegenüber von Perſonen ihre Controle übt, welche an ſich ihrer Statsherrſchaft nicht
unterworfen und als Freunde keinen feindſeligen Maßregeln ausgeſetzt ſind. Sie
hat daher auch die Rückſichten der Freundlichkeit (com ity) zu beobachten,
welche Staten, die im Frieden leben, einander ſchulden, und darf weder herriſch
noch gewaltthätig verfahren, ſo lange keine Verſchuldung des neutralen Schiffs offen-
bar iſt.


824.

Wenn der neutrale Stat durch Statsſchiffe die neutralen Handels-
ſchiffe begleiten läßt, und dem Kriegsſtate die Verſicherung gibt, daß die
begleiteten Schiffe keine Contrebande enthalten, ſo darf keine weitere
Durchſuchung vorgenommen werden, ſondern es hat ſich das feindliche
Kriegsſchiff zu begnügen, die Vollmacht des neutralen Geleitſchiffs und
durch deſſen Vermittlung die erforderlichen Aufſchlüſſe über die geleiteten
Schiffe zu empfangen.


Wenn der neutrale Stat ſelber die Aufſicht und Controle über die neu-
tralen Schiffe beſorgt und durch Mitſendung eines Statsſchiffs als Geleit-
ſchiffs
die Garantie dafür übernimmt, ſo hat er ein Recht darauf, daß nicht der
Kriegsſtat die Freiheit ſeiner Flagge und die Achtung ſeiner Selbſtändigkeit durch
eine Unterſuchung verletze, die nur aus Noth und nur um des Verdachtes der
Kriegshülfe willen von dem Völkerrecht geſtattet wird. Zwar iſt jenes Recht zu-
weilen, beſonders von England, beſtritten worden. Aber es hat doch guten Grund
in dem friedlichen Verhältniß der neutralen zu den Kriegsſtaten. Jene dürfen von
dieſen fordern, daß ſie ihrem ſtatlich bekräftigten Worte vertrauen. Die bewaffnete
nordiſche Neutralität von 1800 (womit zu vergleichen iſt der Vertrag zwiſchen
[445]Recht der Neutralität.
England und Rußland von 1801) hat den Grundſatz in folgenden Sätzen
ausgeſprochen:


Que la déclaration de l’officier commandant le vaisseau ou les vais-
seaux de la marine royale ou impériale, qui accompagneront le convoi d’un
ou de plusieurs bâtiments marchands, que son convoi n’a à bord aucune
marchandise de contrebande, doit suffire pour qu’il n’y ait lieu à aucune
visite sur son bord ni à celui des bâtiments de son convoi.


Pour assurer d’autant mieux à ces principes le respect dû à des sti-
pulations dictées par le désir des intéressés, de maintenir les droits impre-
scriptibles des nations neutres, et donner une nouvelle preuve de leur loyanté
et de leur amour pour la justice, les hautes parties contractantes preunent
ici l’engagement le plus formel, de renouveler les défenses les plus sévères
à leurs capitaines, soit de hautbord, soit de la marine marchande, de charger,
tenir ou recéler à leurs bords aucun des objets, qui, aux termes de la
présente convention, pourraient être réputés de contrebande et de tenir
respectivement la main à l’exécution des ordres qu’elles feront publier dans
leurs amirautés et partout où besoin sera, à l’éffet de quoi l’ordonnance,
qui renouvellera cette défense sous les peines les plus graves, sera imprimée
à la suite du présent acte pour qu’il n’en puisse être prétendu cause
d’ignorance.


Les hautes parties contractantes voulant encore prévenir tout sujet
de dissension à l’avenir limitant le droit de visite des vaisseaux marchands
allaut sous convoi, aux seuls cas où la puissance belligérante pourrait es-
suyer un préjudice réel par l’abus du pavillion neutre, sont convenus:


1. Que le droit de visiter les navires marchands appartenant aux
sujets de l’une des puissances contractantes et naviguant sous le convoi d’un
vaisseau de guerre de ladite puissance ne sera exercé que par les vaisseaux
de guerre de la partie belligérante, et ne s’étendra jamais aux armateurs,
corsaires ou autres bâtiments, qui n’appartiennent pas à la flotte impériale
ou royale de leurs Majestés, mais que leurs sujets auraient armés en
guerre.


2. Que les propriétaires de tous les navires marchands appartenant
aux sujets de l’un des Souverains contractants, qui seront destinés à aller
sous convoi d’un vaisseau de guerre, seront tenus, avant qu’ils ne reçoivent
leurs instructions de navigation, de produire au commandant du vaisseau de
convoi leurs passeports et certificats ou lettres de mer, dans la forme annexée
au présent traité.


3. Que, l’orsqu’un tel vaisseau de guerre, ayant sous convoi des na-
vires marchands, sera rencontré par un vaisseau ou des vaisseaux de guerre
de l’autre partie contractante qui se trouvera alors en état de guerre, pour
éviter tout désordre, ou se tiendra hors de la portée du canon, à moins
que l’état de la mer ou le lieu de la rencontre ne nécessite un plus grand
rapprochement; et le commandant du vaisseau de la puissance belligérante

[446]Neuntes Buch.
enverra une chaloupe à bord du vaisseau de convoi, où il sera procédé
réciproquement à la vérification des papiers et certificats, qui doivent con-
stater, d’une part que le vaisseau de guerre neutre et autorisé à prendre
sous son escorte tels ou tels vaisseaux marchands de sa nation, chargés de
telle cargaison et pour tel port; de l’autre part, que le vaisseau de guerre
de la partie belligérante appartient à la flotte impériale ou royale de leurs
Majestés.


4. Cette vérification faite, il n’y aura lieu à aucune visite, si les
papiers sont reconnus en règle, et s’il n’existe aucun motif valable de
suspicion. Dans le cas contraire le commandant du vaisseau de guerre
neutre (y étant dûment requis par le commandant du vaisseau ou des vais-
seaux de la puissance belligérante) doit amener et détenir son convoi pen-
dant le temps nécessaire pour la visite des bâtiments, qui le composent;
et il aura la faculté de nommer et de déléguer un ou plusieurs officiers pour
assister à la visite desdits bâtiments, la quelle se fera en sa présence sur
chaque bâtiment marchand, conjointement avec un ou plusieurs officier pré-
posés par le commandant du vaisseau de la partie belligérante.


5. S’il arrive que le commandant du vaisseau ou des vaisseaux de
la puissance en guerre, ayant examiné les papiers trouvés à bord, et ayaut
interrogé le maître et l’equipage du vaisseau, apercevra des raisons justes
et suffisantes pour détenir le navire marchand, afin de procéder à une
recherche ultérieure, il notifiera cette intention au commandant du vaisseau
de convoi, qni aura le pouvoir d’ordonner à un officier de rester à bord du
navire aussi détenu, et assister à l’examen de la cause de sa détention. Le
navire marchand sera amené tout de suite au port le plus proche et le plus
convenable appartenant à la puissance belligérante, et la recherche ultérieure
sera conduite avec toute la diligence possible.


825.

Ergibt ſich bei der Prüfung dieſer Papiere ein ernſter Verdacht von
Contrebande, ſo wird zwar ausnahmsweiſe die Durchſuchung des verdächtigen
Schiffes vorgenommen, aber es iſt dem geleitenden Statsſchiffe Gelegenheit
zu geben, bei der Vornahme derſelben repräſentirt zu ſein. Wird dann
nach der Meinung des Kriegsſchiffs Contrebande entdeckt, ſo iſt dem Com-
mandanten des Geleitſchiffes davon Anzeige zu machen, und dieſer kann
einen Officier beauftragen, der Stellung des vermeintlichen Contrebande-
ſchiffes vor das nächſte Priſengericht und der Verhandlung vor demſelben
im Intereſſe des neutralen Verkehrs beizuwohnen.


Der Kriegsſtat hat immerhin ſein ſelbſtändiges Recht und Intereſſe
zu wahren. Daher kann ihm nicht zugemuthet werden, daß die Berufung auf das
[447]Recht der Neutralität.
Zeugniß des neutralen Stats jede weitere Prüfung auch verdächtiger Schiffe abſolut
verhindere. Es iſt möglich, daß der neutrale Stat ſelber getäuſcht worden war und
ſeinerſeits nicht ſorgfältig genug geprüft hatte. Es iſt überdem noch eher möglich,
daß der Kriegsſtat und der neutrale Stat eine verſchiedene Meinung über die Aus-
dehnung des Begriffs Contrebande haben, und jener eine Ladung für Contrebande
hält, welche dieſer nicht als Contrebande anſieht. Da kommt es wieder darauf an,
den Conflict der Meinungen und Intereſſen auszugleichen. Da-
mit ſtimmen auch die Satzungen der bewaffneten Neutralität von 1800 (vgl. zu
§ 824) überein. Vgl. Heffter § 170. Ganz paſſend iſt die Beſtimmung des
engliſch-ruſſiſchen Vertrags von 1801: „It is in like manner agreed, that if any
merchant ships thus conveyed should be detained without just and sufficient
cause, the commander of the ships or ships of war of the belligerant power
shall not only be bound to make to the owners of the ships and of the
cargo a full and perfect compensation for all the losses, expenses, damages
and costs occasioned by such a detention, but shall, moreover, undergo
an ulterior punishment for every act of violence or other fault which he
may have committed, according as the nature of the case may require“.


826.

Dieſer Schutz des neutralen Geleitſchiffes erſtreckt ſich nur auf die
früher ſchon ausdrücklich und nach vorheriger Prüfung in den Geleitſchutz
aufgenommenen Handelsſchiffe und kann nicht erſt unterwegs angerufen
werden, wenn ein neutrales Schiff ohne dieſe Vorſicht die Fahrt unter-
nommen hat und nun befürchtet, durchſucht zu werden.


Schiffe, welche ſich erſt unterwegs an die geleiteten Schiffe (convoi) anſchlie-
ßen, ſind demnach als nicht durch das Geleite legitimirt der gewöhnlichen
Prüfung ausgeſetzt. Aber es bleibt auch in dieſem Falle dem Commandanten des
Geleites unverwehrt, einen Officier mitzuſchicken, damit er der Unterſuchung bei-
wohne.


[448]Neuntes Buch.

5. Blocade.


827.

Die Kriegsſtaten ſind berechtigt, im Intereſſe wirkſamer Kriegs-
führung feindliche Häfen, Feſtungen, unter Umſtänden eine beſtimmte feind-
liche Küſtenſtrecke gegen jede Handelsverbindung auch mit den Neutralen
abzuſperren.


1. Das Recht der Kriegsſtaten, einen Hafen oder eine Küſte des feindlichen
Gebiets für den Handel abzuſperren, zu blokiren, wird in Kriegszeiten von Alters
her geübt und völkerrechtlich anerkannt. Aber über den Grund dieſes Rechts gehen
die Meinungen aus einander. Die Uebung bezeugt nur die verbreitete Rechtsüber-
zeugung, aber erklärt dieſelbe nicht. Manche Publiciſten, wie Hübner, Ortolan
und Hautefeuille erklären ſie aus der ſouveränen Gewalt, welche die Kriegs-
macht über die feindlichen Küſtengewäſſer ergreife und ausübe. Aber einmal iſt
dieſe Gewalt (die Beſitznahme) nicht unbeſtritten, denn die blokirte Küſte ſelbſt iſt
meiſtens noch im Beſitze des Feindes, der ſeine Gewalt, ſoweit die Strandbatterien
ſchießen, auch über den Hafen und den Küſtenſaum behauptet und ausübt. Sodann
wird das Blocaderecht in das offene Meer hinein geübt, wo die Wachſchiffe ſtationirt
ſind und auf offenem Meere gibt es keine beſondere Souveränetät eines Stats gegen-
über andern Staten. Endlich erklärt die Gebietshoheit — zumal eine bloß provi-
ſoriſche — nicht das allgemeine Verbot des an ſich berechtigten, vielleicht vertrags-
mäßig geſchützten Handelsverkehrs.


2. Der Grund kann nicht in der Souveränetät, ſondern wieder nur in dem
Nothrecht des Kriegs gefunden werden. Die energiſche, auf raſchen Erfolg hin-
arbeitende Kriegsführung kann der Blocade nicht entbehren. Gewiß iſt jede Blocade
auch eine ſchwere Schädigung der neutralen Intereſſen, aber man nimmt
an, die Neutralen müſſen ſich dieſelbe als eine unvermeidliche Folge des Kriegs, wie
dieſen ſelber, gefallen laſſen, welcher die neutralen Intereſſen auch ſonſt vielfältig
verletzt. Schon Grotius und Bynkershoek, neuerlich auch Geßner (Droit
des Neutres.
Berlin 1865) erklären das Blocaderecht mit guten Gründen aus der
Kriegsnothwendigkeit. Gerade weil es Nothrecht iſt, muß es auf die
Fälle und das Maß der Noth eingeſchränkt werden.


828.

Die Neutralen ſind verpflichtet, eine wirkſame Blocade während des
Kriegs zu beachten.


Als wirkſam gilt dieſelbe, wenn der blokirende Kriegsſtat die Zu-
[449]Recht der Neutralität.
fahrt zu der blokirten Küſte durch eine ausreichende Macht fortwährend
und thatſächlich verhindert. Die bloße Erklärung der Blocade genügt
nicht.


1. In frühern Zeiten wurde das Blocaderecht von den Seemächten in viel
weiterem Umfange ausgeübt. Die allmähliche Einſchränkung des Blo-
caderechts
iſt ein Fortſchritt des neueren Bölkerrechts, weil ſie die Gewaltthaten
des Kriegs ermäßigt und den friedlichen Verkehr ſchützt. Insbeſondere behaupteten
die Seemächte früher, daß die bloße Erklärung der Blokade genüge, um den Handel
auch den Neutralen nach der als blokirt erklärten Küſte zu unterſagen. So hatte
z. B. England 1780 die ganze franzöſiſche Küſte und im Jahr 1806 der Kaiſer
Napoleon alle engliſchen Küſten in Blocadezuſtand erklärt. Auf dem Pariſer
Congreß
von 1856 wurde endlich (16. April) der früher ſchon von der erſten
bewaffneten Neutralität vertretene, aber auch von England und Frankreich 1854 im
Ruſſiſchen Krieg angenommene Grundſatz anerkannt: „Les blocus pour être obli-
gatoires, doivent être effectifs, c’est à dire maintenus par une force suffi-
sante pour interdire réellement l’accès du littoral de l’ennemi“.
Es wird alſo
nur die „effective“ (wirkſame), nicht die fictive (Papier blocus) See-
ſperre
anerkannt.


2. Ein Antrag, die bloße Handelsblocade, d. h. die Hemmung des
reinen militäriſch unverfänglichen Handelsverkehrs, überhaupt nicht
mehr zuzulaſſen, ſondern nur noch die militäriſche Blocade, d. h. welche den
Verkehr mit einer Feſtung oder einer militäriſch-wichtigen Seeſtation abſchneidet, iſt
bisher noch nicht zu weiterer Anerkennung gelangt. Man begreift es, daß die See-
mächte, deren Macht und Zwang weſentlich auf die Küſten beſchränkt ſind, ſich da-
gegen ſträuben, eine ſolche Beſchränkung anzunehmen, durch welche ihre Nöthigungs-
mittel ſehr erheblich vermindert würden. Vgl. Dana zu WheatonInt. L. § 510.
und oben zu § 673.


829.

Für wirkſam geſperrt iſt ein Hafen dann zu erachten, wenn die
Ein- und Ausfahrt entweder durch Kriegsſchiffe, welche vor dem Hafen
liegen, oder durch Landbatterien des blokirenden Stats verhindert werden.
Eine beſtimmte Anzahl von Kriegsſchiffen wird nicht erfordert, ebenſo
wenig als eine beſtimmte Anzahl von Kanonen der Landbatterie. Aber es
muß die vorhandene Kriegsmacht nahe und ſtark genug ſein, um nicht bloß
in einzelnen Fällen, aber auch nicht nothwendig in allen Fällen, ſondern
regelmäßig den Verkehr der Handelsſchiffe verhindern zu können.


Man muß ſich hier vor zwei extremen Auslegungen des Wortes „effective
Blocade“ hüten. Die eine überſpannt die Anforderung an dieſelbe, indem ſie
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 29
[450]Neuntes Buch.
nur die Sperre als wirkſam betrachten will, die allen Verkehr abſolut zu hin-
dern vermag, und jede Blocade als unwirkſam erklärt, wenn es auch nur Einem
Schiffe gelingt, unbemerkt und unaufgehalten hindurchzukommen. Das heißt von
der ſperrenden Kriegsgewalt Unmögliches verlangen. Eine andere ebenfalls ex-
treme Meinung begeht den entgegenſetzten Fehler, indem ſie die Wirkſamkeit des
Blocus zu leicht nimmt und ſchon eine gelegentliche Behinderung einzelner
Schiffe durch ein Kreuzerſchiff der Kriegsmacht für genügend erachtet. Das aner-
kannte Völkerrecht hält ſich in der Mitte zwiſchen dieſen Extremen. Die Ausnahme
einer glücklichen Ein- oder Ausfahrt trotz der Blocade macht dieſelbe nicht unwirkſam
und die Ausnahme einer unglücklichen Wegnahme eines neutralen Schiffs durch
einen Kreuzer macht dieſelbe nicht wirkſam. Es muß vielmehr nach dem Ausdruck
des Grafen Granville (16. Mai 1861) in Folge der Blocade wirklich ſchwierig
ſein, ungehemmt in den blokirten Hafen ein- oder aus demſelben auszulaufen. Es
muß eine ernſte und nahe Gefahr ſein, durch die Wachſchiffe hindurch zu kommen.
In dem nordamerikaniſchen Bürgerkrieg 1861—65 wurde die effective Blocade in
dieſem Sinne von den Vereinigten Staten gehandhabt und von den Neutralen
anerkannt.


830.

Weder iſt eine fingirte Blocade durch ein bloßes Decret, ohne die
thatſächliche Geltendmachung zuläſſig noch eine Blocade der Seehäfen durch
hin und her fahrende Kreuzer ohne dauernde Kriegsſtation.


Allerdings iſt auch heute noch die Blocade einer Küſte, nicht bloß ein-
zelner Seehäfen
möglich; und inſofern wird jene noch durch Kreuzer gehand-
habt, aber doch nur in Verbindung mit einer feſten Schiffsſtation, welche
regelmäßige Wache hält. Die bewaffnete Neutralität von 1780 hatte den Grundſatz
ſo ausgedrückt: „on accorde cette détermination (d’un port bloqué) qu’ à
celui où il y a, par la disposition de la puissance qui l’attaque avec des
vaisseaux arrêtés et suffisamment proches
un danger évident
d’entrer.
In dem Neutralitätsvertrag zwiſchen Rußland und England vom Jahr
1801 wurde dann dieſe Beſtimmung durch die nur ſcheinbar unerhebliche Wandlung
des Wörtchens et in das bedenkliche ou ſehr abgeſchwächt, und dem Mißbrauch
einer Blocade durch bloße Kreuzer wieder eine Thüre eröffnet. Vgl. Geßner
a. a. O. S. 167.


831.

Der Kriegsſtat iſt verpflichtet, die Blocade öffentlich und allgemein
zu erklären und davon auch ſoweit ſein regelmäßiger diplomatiſcher Verkehr
reicht, den neutralen Staten ſofort davon Anzeige zu machen, damit die-
[451]Recht der Neutralität.
ſelben ihre Handelsſchiffe rechtzeitig vor der drohenden Gefahr warnen
können. Die vorherige Kenntnißgabe iſt eine Bedingung der rechtmäßigen
Blocade. Wenn dieſelbe aber wegen der großen Entfernung des blokirten
Hafens unthunlich erſcheint, ſo daß die Anordnung der Blocade antecipirt
werden muß, ſo iſt jene Anzeige doch auch in dieſem Falle möglichſt zu
beſchleunigen.


1. Nur die Statsgewalt kann eine Blocade anordnen. Es iſt das ein
Act der Souveränetät. Da derſelbe aber auch für die Neutralen wichtige und ge-
fährliche Folgen hat, ſo iſt dieſe eingreifende Maßregel möglichſt bald den neutralen
Staten zur Kenntniß zu bringen. Dieſe würden mit vollem Recht ſich beſchweren
können, wenn ihre Schiffe, ohne vorherige Anzeige und Warnung von den blokirenden
Kriegsſchiffen des Kriegsſtats wegen Verletzung der Blocade weggenommen würden.
Zuweilen haben darüber Statsverträge nähere Beſtimmungen getroffen, z. B. der
engliſch-amerikaniſche von 1794.


2. Die antecipirte Blocade wird inſofern ſofort wirkſam, als den neu-
tralen Schiffen die Fahrt zu oder aus dem blokirten Hafen je nach Umſtänden ver-
wehrt oder doch erſchwert wird. Aber ſie darf nicht zur Wegnahme von neutralen
Schiffen führen, die in gutem Glauben ſind.


832.

Die Kenntnißgabe iſt aber auch direct in einzelnen Fällen an die
zur See befindlichen und ſich in gutem Glauben nähernden neutralen
Schiffe zu richten, damit dieſelben dadurch veranlaßt werden, nach einem
nicht blokirten Hafen zu ſteuern und ſo den Folgen der Blocade aus-
weichen.


1. Die Proclamation des Präſidenten Lincoln vom 19. April 1861
ſchreibt den Commandanten der Wachſchiffe vor: „Wenn ein neutrales Schiff ſich
nähere, dasſelbe ohne Verzug zu warnen, und die Warnung in die Schiffspapiere
eintragen zu laſſen. Würde das gewarnte Schiff ſpäter wieder verſuchen, trotz der
Blocade in den blokirten Hafen ein- oder aus demſelben auszulaufen, dann ſoll es
weggenommen werden“. Bei den gerichtlichen Verhandlungen darüber wurde indeſſen
anerkannt, daß die individuelle Warnung nur da eine Bedingung der Wegnahme
des Schiffs ſei, wo dasſelbe nicht ohnehin Kenntniß von der Blocade gehabt habe,
nur inſofern es in gutem, nicht wenn es in böſem Glauben ſei. Vgl.
Dana zu Wheaton § 518.


2. Eine Rechtsvermuthung, daß den neutralen Schiffen die Blocade
bekannt geworden ſei, beſteht nur inſofern, als dieſelben aus einem Hafen kommen,
in welchem die Blocade notoriſch bekannt war. Dieſe Notorietät verſteht ſich
für den blokirten Hafen, aber nicht ohne weiters für die neutralen Häfen.


29*
[452]Neuntes Buch.

3. Die Anzeige für ſich allein wirkt nicht, ſondern nur in Verbindung
mit der thatſächlichen Sperre. Würde alſo z. B. angezeigt, es ſeien ſämmtliche
Häfen einer Küſte blokirt, aber in Wahrheit nur die einen wirklich durch Blocade-
ſchiffe geſperrt, die andern nicht, ſo wäre das neutrale Schiff nicht gehindert, in
einen der letztern Häfen zu fahren.


833.

Die Blocade dauert nicht länger, als ſie wirkſam iſt.


Wenn die Kriegsſchiffe ihre Station verlaſſen und wegfahren, oder wenn die-
ſelben durch einen feindlichen Angriff vertrieben oder durch Stürme zerſtreut werden,
ſo iſt die Blocade nicht mehr wirkſam und damit hört auch die Verbind-
lichkeit der Neutralen auf
, die Blocade zu beachten. Die von engliſchen
Publiciſten öfter vertheidigte Meinung, daß die Neutralen es abwarten müſſen,
bis ſie eine Erklärung über die Aufhebung der Blocade erhalten, iſt im Wider-
ſpruch mit dem von dem Pariſer Congreß von 1856 anerkannten Grundprincip
und würde wieder zu einem bloß fictiven Blocus führen.


834.

Nur wenn die Störung der Blocade eine bloß momentane und
vorübergehende war und ohne Verzug durch Wiederherſtellung wieder be-
ſeitigt wird, ſo wird angenommen, die alte Blocade daure fort.


Die bloße vorübergehende Störung der Blocade iſt nicht Auf-
hebung
derſelben. Während der Störung, die nur einen thatſächlichen Charakter
hat, haben wohl die neutralen Schiffe eine glückliche Ausſicht, ungehemmt durchzu-
kommen. Aber die ſofortige Beſeitigung der Störung und Wiederherſtellung des
frühern Blocadezuſtands wird als Fortſetzung desſelben und nicht als eine neue
Blocade
betrachtet. Es bedarf alſo keiner neuen Notification. Anders iſt’s, wenn
die Blocade thatſächlich aufgegeben oder dauernd aufgelöst worden iſt.
Wird dieſelbe ſpäter wieder erneuert, ſo iſt das nicht mehr die fortgeſetzte alte, ſon-
dern eine neue Blocade.


835.

Die Bedingungen, unter welchen der Kriegsſtat ein neutrales Schiff
wegen Verletzung wegnehmen darf, ſind:


  • a) die Kenntniß des Neutralen von dem wirklichen Beſtand der
    Blocade,
  • b) das Schiff muß während des Verſuchs, die Blocade zu brechen,
    ergriffen worden ſein.

[453]Recht der Neutralität.

1. Zu a) Vgl. zu 829 u. 832. Das neutrale Schiff kann ſich aber nicht
allezeit damit ausreden, daß es zwar von der Blocade Kenntniß gehabt, aber vorerſt
habe nachſehen wollen, ob dieſelbe auch wirklich gehandhabt werde. Der Kriegsſtat
kann nicht zugeben, daß der Verſuch, die Blocade zu brechen, ſich hinter den Vorwand
dieſer Prüfung verſtecke, um ohne Gefahr der Wegnahme unternommen zu werden.
Nur wenn aus den Umſtänden, z. B. wegen der großen Entfernung, klar wird, daß
das kein bloßer Vorwand und Deckmantel ſei für die Durchfahrt trotz der Blocade,
iſt das neutrale Schiff frei zu erklären.


2. Zu b) So lange ſich das neutrale Schiff nur vorbereitet, vielleicht
noch im Hafen, um je nach Umſtänden die Fahrt zu wagen, darf es nicht ge-
nommen werden, weil es die Blocade noch nicht verletzt hat. Es kann noch
immer ſeinen Vorſatz ändern, und nicht ſchon der Wille, ſondern erſt die That
wird durch das Völkerrecht bedroht. Aus dieſem Grunde darf das Schiff auch, ſo
lange es in großer Entfernung von dem blokirten Hafen iſt, noch nicht weg-
genommen werden, denn noch kann es ſeinen Lauf ändern und die Blocade beachten.
Erſt wenn es ſich ſoweit annähert, daß darin der Verſuch offenbar wird, trotz
der Blocade durchzufahren, wird es der Wegnahme ausgeſetzt.


3. Bei der Beurtheilung dieſer Bedingungen des Blocaderechts und der Blo-
cadepflicht iſt voraus auf den guten Glauben (bona fides) zu achten, der
aus den Umſtänden erſchloſſen wird. Man darf nicht übeln Willen ver-
muthen
, aber ſich auch nicht durch die bloße Behauptung des guten
Glaubens irreführen
laſſen.


4. Die bewaffnete Neutralität von 1800 verſuchte es, noch ſtrengere Bedin-
gungen feſtzuſetzen, insbeſondere außer der vorherigen individuellen Warnung auch
den offenbaren Verſuch, „mit Gewalt oder Liſt“ — en emploiant la force ou
la ruse
— durchzudringen. Dieſe Beſtimmung wurde aber in den engliſch-ruſſiſchen
Vertrag von 1801 nicht aufgenommen und ein Beweis der verſuchten Gewalt oder
Liſt wird auch von der neueren Praxis nicht gefordert.


836.

Die blokirende Kriegsmacht iſt nicht berechtigt, ein neutrales Schiff
außerhalb der blokirten Gewäſſer zu nehmen, ſelbſt dann nicht, wenn das-
ſelbe der Blocade glücklich entkommen iſt.


Die Verfolgung freilich kann ſich über die blokirten Gewäſſer hinaus er-
ſtrecken, nicht aber darf der Angriff außerhalb dieſes Gebiets unternommen wer-
den. Die Blocade iſt nach ihrer Natur an eine beſtimmte Oertlichkeit gebunden.
Dort wird ſie gehandhabt und dort allein, nicht auf dem weiten Meer überhaupt
macht ſie ſich geltend. Das entkommene Schiff wird ſich daher davor hüten
müſſen, daß es nicht wieder auf dem Rückweg dem Blocadegeſchwader in die Hände
fällt. Aber wenn es nach der glücklichen Durchfahrt in einen nicht blokirten Hafen
eingelaufen iſt, ſo kann es ungehindert von da die neutrale Reiſe fortſetzen. Vgl.
[454]Neuntes Buch.
oben § 299. Indeſſen verfahren einige Seemächte auch in dieſer Hinſicht noch
ſtrenger und gewaltſamer. Auch die amerikaniſchen Gerichte erkannten noch in dem
letzten Bürgerkrieg das Recht der Wegnahme auf der Rückfahrt an; aber nicht
mehr, nachdem die Reiſe beendigt war. Dana zu Wheaton § 523.


837.

Die neutralen Schiffe, welche vor der Blocade in dem blokirten
Hafen lagen, haben ein Recht zu fordern, daß ihnen die ungehinderte
Ausfahrt geſtattet werde, wenn ſie nach einem unverfänglichen Beſtimmungs-
orte fahren, ohne Kriegscontrebande, mit Ballaſt oder mit einer Ladung,
welche ſie ſchon vor der Blocadeerklärung aufgenommen haben.


Die neuere Praxis iſt zuweilen noch milder und geſtattet den neutralen Schif-
fen, während einer beſtimmten Friſt, mit beliebiger Ladung, ausgenommen Contre-
bande, auszulaufen, ohne Rückſicht darauf, daß dieſelbe erſt nach der Erklärung der
Blocade aufgenommen worden. Die ſtrengere Praxis, welche eine neue Ladung von
feindlichem Gut unterſagt, iſt aber noch die Regel. Vgl. HautefeuilleDroit
des neutres II.
S. 214.


838.

Den neutralen Schiffen darf nicht zugemuthet werden, in der Noth
vor dringender Seegefahr in dem blokirten Hafen eine Zufluchtsſtätte zu
ſuchen.


Es iſt das ein Gebot der Menſchlichkeit, welche auch das Kriegsnothrecht
achten muß. Vgl. oben § 774.


839.

Ein neutrales Schiff, welches die Blocade verletzt, kann während
der verſuchten Verletzung weggenommen und confiscirt werden. Aber die
Mannſchaft verfällt keiner weiteren Strafe.


Eine eigentliche Strafgerichtsbarkeit ſteht dem Kriegsſtat wider die
Neutralen auf offener See nicht zu (oben § 827). Aber die Androhung der
Wegnahme
des neutralen Schiffs, wenn dasſelbe bei Verletzung der Blocade er-
griffen iſt, ſichert die Wirkſamkeit dieſer und wird inſoweit von dem Völkerrecht ge-
ſtattet. Der Blocadebrecher iſt dieſer Gefahr ausgeſetzt, nicht aber einem eigentlichen
Strafverfahren. Die Mannſchaft des neutralen Schiffs iſt daher auch nicht der
[455]Recht der Neutralität.
Kriegsgefangenſchaft unterworfen. Im Grunde war ihr Verkehr doch nur Friedens-
verkehr, nicht Kriegshülfe.


840.

Ebenſo unterliegt die Ladung ſolcher Schiffe der Beſchlagnahme und
der Confiscation, außer wenn der Eigenthümer der Waare es glaubhaft
machen kann, daß die Verletzung der Blocade gegen ſeinen Willen verſucht
worden ſei.


Wenn Schiff und Waare denſelben Eigenthümer haben, ſo iſt die Confis-
cation der Waare unbedenklich. Wenn aber dieſelben verſchieden ſind, ſo verſteht
ſich die letztere nicht mehr von ſelbſt, wie eine Folge der Wegnahme des Schiffs.
Aber man wird auch in den letztern Fällen nicht leicht annehmen dürfen, daß der
Eigenthümer der Waare unbetheiligt ſei bei der Verletzung der Blocade, welche
meiſtens in ſeinem Handelsintereſſe verſucht wird. Nur wenn nachgewieſen werden
kann, daß derſelbe von der Exiſtenz der Blocade nichts habe wiſſen können, als er
den blokirten Hafen zum Beſtimmungsort der Waare machte, oder daß er den Schif-
fer beſtimmt und nicht etwa nur zum Scheine anwies, die Blocade zu beachten und
trotzdem dieſer auf eigene Gefahr hin gegen ſeinen Auftrag die Blocade brechen
wollte, wäre es ungerecht, die ſchweren Nachtheile der Confiscation dem Eigenthümer
aufzuerlegen. Vgl. PhillimoreIII. § 318.


6. Priſengerichte.


841.

Die Beſchlag- und die Wegnahme ſowohl feindlicher Schiffe als
der neutralen Schiffe und ihrer Ladung iſt der Beurtheilung der Priſen-
gerichte unterworfen.


Das Priſengericht entſcheidet über die Rechtmäßigkeit der Priſe und
über die Folgen der Beſchlag- oder Wegnahme.


Die Einrichtung der Priſengerichte gibt einige, wenn auch eine unvollkommene
Gewähr dafür, daß auch im Seekrieg nicht bloß die Gewalt — ſondern das Recht
herrſche. Die Priſengerichte dienen zur Controle der gewaltſamen Beſchlag- und
Wegnahme, welche im Kriege gegen fremde (feindliche oder neutrale) Schiffe und
[456]Neuntes Buch.
Waaren geübt wird. Dieſelbe ſoll nach Rechtsgrundſätzen und durch Richter
geprüft
und je nach Umſtänden entweder beſtätigt oder verbeſſert werden.
Die Rückſicht auf die Neutralen hat hauptſächlich zur Ausbildung der Priſengerichts-
barkeit geführt, aber auch den Eigenthümern der feindlichen Nation kommt die Ein-
richtung gelegentlich zu Gute.


842.

Als zuſtändig wird in der Regel das Priſengericht des Nehmeſtates
betrachtet, auch wenn das aufgebrachte Schiff ein neutrales iſt, und ſogar
dann, wenn das neutrale Schiff wegen Führung von Kriegscontrebande
oder Verletzung der Blocade auf offener See genommen worden iſt.


Wenn das neutrale Schiff in den beſetzten Eigengewäſſern genommen
wird, ſo iſt die Zuſtändigkeit der beſetzenden Statsgewalt und ihrer Gerichtsbarkeit
ſchon aus allgemeinen Rechtsgrundſätzen erklärt. Eher erheben ſich Zweifel, wenn
die Wegnahme auf offener See geſchehen iſt, denn dieſe iſt nicht einer beſondern
Gebietshoheit unterworfen (§ 304), alſo auch nicht des Kriegsſtats. Man kann
überdem mit Grund das Bedenken erheben, daß die neutralen Schiffe in den Ge-
richten des Nehmeſtats
nicht genügende Garantien für eine unparteiiſche
Rechtspflege
zu finden vermögen, indem der Nehmeſtat ſelber Partei und bei
der Verurtheilung der aufgebrachten Schiffe intereſſirt iſt. Es bleibt eine Aufgabe
der zukünftigen Verbeſſerung des Völkerrechts, dieſen Mangel zu heben und beſſere
Garantien der Unparteilichkeit zu gewähren. Friedrich der Große hatte im Jahr 1753
eine preußiſche Commiſſion niedergeſetzt, welche die Urtheile der engliſchen Priſen-
gerichte gegen Preußiſche, damals neutrale, Schiffe nochmals prüfen und darüber
erkennen ſollte, wogegen freilich England als gegen eine unerhörte Neuerung Proteſt
erhob. Man verſuchte es auch einige Male mit Beſtellung gemiſchter Gerichte.
Gegenwärtig aber wird die ausſchließliche Zuſtändigkeit der Gerichte des Nehmeſtats
allgemein anerkannt. Man betrachtet ſie theils als eine Folge des Kriegs-
rechts
, welches die Kriegspartei zu gewaltſamem Eingreifen ermächtigt, theils als
eine Ermäßigung dieſes Rechts, indem es in der Vollziehung einer gerichtlichen
Controle unterworfen wird.


843.

Die Beſetzung und Ermächtigung des Priſengerichts iſt ein Act der
Souveränetät des Kriegsſtates, welcher die Priſengerichtsbarkeit übt.


1. Die Priſengerichte ſind außerordentliche Gerichtshöfe, welche
in Kriegszeiten ad hoc errichtet werden. Obwohl ihre Aufgabe eine völkerrechtliche
iſt, ſo iſt ihre Begründung und Beſetzung dennoch ſtatsrechtlich normirt. Deß-
halb iſt die Organiſation der Priſengerichte in den verſchiedenen Staten verſchieden;
[457]Recht der Neutralität.
und die Richter, welche dieſelben bilden, erhalten ihre Ernennung und Inſtruction
jederzeit von der oberſten Statsgewalt ihres Stats.


2. Die Einſetzung des Priſengerichts iſt eine Handlung des Kriegs-
rechts
. Die neutralen Staten ſetzen demgemäß keine Priſengerichte ein und ge-
ſtatten auch nicht, daß ein Kriegsſtat auf ihrem Gebiete Priſengerichtsbarkeit übe.
Auch wenn etwa der Kriegsſtat ſeine Geſanten oder Conſuln in dem neutralen
State ermächtigen wollte, Priſengerichtsbarkeit zu üben, ſo iſt der neutrale Stat
berechtigt, das zu hindern. Er duldet in ſeinem friedlichen Gebiete keine Kriegs-
anordnungen der Kriegsparteien.


844.

Das Priſengericht iſt auch dann zuſtändig, wenn der Nehmer das
genommene Schiff in Folge von Seenoth nicht in einen Hafen des eigenen
Stats hat bringen können, ſondern dasſelbe in einem neutralen Hafen
geſichert hat.


Die Aufbringung des genommenen Schiffs in den Seehafen, wo das Priſen-
gericht ſitzt, iſt nicht eine unerläßliche Vorbedingung des priſengerichtlichen Ver-
fahrens, wenn gleich ſie in der Regel als Einleitung dazu dient. In
manchen Fällen iſt dieſelbe nicht möglich, weil das genommene Schiff nicht mehr
ſeetüchtig iſt und man genöthigt iſt, für dasſelbe in einem neutralen Hafen Schutz
zu ſuchen.


845.

Aus dem Aſyl, welches der neutrale Stat dem feindlichen Nehmer
ſammt ſeiner Priſe gewährt, folgt nicht eine ſelbſtändige Gerichtsbarkeit
des neutralen Stats über die Rechtmäßigkeit der Priſe. Aber der neu-
trale Stat iſt nunmehr in der Lage, gegenüber von völkerrechtswidrigen
Wegnahmen den neutralen Eigenthümer beſſer ſchützen zu können.


1. Weil die Priſengerichtsbarkeit als eine Wirkung des Kriegsrechts
betrachtet wird, ſo kann nur ein Kriegsſtat, und nie ein neutraler Stat ſie
üben (vgl. zu 842. 843), alſo auch dann nicht, wenn ſich das genommene Schiff
innerhalb der neutralen Eigengewäſſer befindet, alſo der ordentlichen Gerichtsbarkeit
des neutralen Stats unterworfen iſt.


2. Aber eben aus dem letzten Grunde iſt der neutrale Stat auch in der
Lage, dem aufgebrachten Schiffe ſeinen ordentlichen Rechtsſchutz zuzuwenden,
inſofern gegen dasſelbe völkerrechtswidrig verfahren worden iſt. Er iſt nicht
verbunden
, ſeine Beihülfe dem fremden Priſengerichte zu gewähren. Würde
z. B. ein Kriegsſtat noch die Kaperei geſtatten, und ein von einem Kaper auf-
[458]Neuntes Buch.
gebrachtes neutrales Schiff würde in einen neutralen Hafen gebracht, ſo wäre der
neutrale Stat in ſeinem Rechte, wenn er die Auslieferung und Wegführung des
Schiffs verhinderte, ungeachtet vielleicht das Priſengericht die Wegnahme gutgehei-
ßen hat.


846.

Hat aber der Nehmer der Priſe in einen ihm feindlichen Hafen
flüchten müſſen, ſo ſetzt er dieſelbe der Repriſe aus, welche die Wirkſamkeit
der erſten Priſe aufhebt.


Iſt der feindliche Hafen im Beſitz des Kriegsſtats, der die Priſe gemacht hat,
ſo iſt freilich der Nehmer ſo lange geſichert, als dieſer Beſitz fortdauert, und wenn
inzwiſchen die Verurtheilung erfolgt, ſo wirkt dieſelbe ohne Hemmniß. Wenn aber
der Hafen im Beſitz des Feindes iſt oder vor der Verurtheilung wieder in den Beſitz
desſelben kommt, ſo hat der Feind das entgegengeſetzte Intereſſe, dem Nehmer die
Beute wieder wegzunehmen, und durch die Repriſe die Wirkſamkeit der Priſe zu
zerſtören.


847.

Die Priſengerichte haben bei ihren Entſcheidungen die Grundſätze
des Völkerrechts und die Geſetze und Verordnungen ihres Landes, ſo weit
dieſe mit jenen in Harmonie zu bringen ſind, zu beachten. Wenn beide
einander widerſprechen, ſo kann zwar das Priſengericht ſtatsrechtlich genö-
thigt werden, dem Landesgeſetze zu gehorchen. Aber es ſind die beſondern
Landesordnungen möglichſt ſo auszulegen und zu handhaben, daß ſie in
Uebereinſtimmung mit den allgemeinen Grundſätzen des Völkerrechts ver-
bleiben und immer wird der Kriegsſtat dem neutralen State gegenüber
verantwortlich, wenn die Vorſchriften des Völkerrechts zum Schaden des
neutralen Rechts mißachtet werden.


Der Widerſpruch zwiſchen der völkerrechtlichen Beſtimmung und der
ſtatsrechtlichen Organiſation und Beſetzung der Priſengerichte zeigt ſich
hier wieder. Die Priſengerichte ſollen das Völkerrecht handhaben und weſentlich
nach Völkerrecht urtheilen, und trotzdem können ſie ſich nicht frei machen von der
Unterordnung unter die ſouveräne Statsautorität, welche ſie ins Leben gerufen hat
und von der ſie abhängig bleiben. Würden ſie ohne Rückſicht auf die Priſenregle-
mente ihres Stats lediglich nach ihrem Verſtändniß des Völkerrechts dieſes anwen-
den, ſo wären ſie in Gefahr, von ihrer Statsregierung zur Verantwortung gezogen zu
werden. Würden ſie einfach die beſondern Vorſchriften ihrer Statsautorität anwen-
[459]Recht der Neutralität.
den ohne alle Rückſicht auf das Völkerrecht, ſo würden ſie ſich gegen ihren völker-
rechtlichen Beruf verfehlen. Es bleibt daher nur übrig, jeden Conflict möglichſt zu
vermeiden. Das geſchieht, wenn das Landesrecht im Geiſte des Völker-
rechts ausgelegt
wird. Iſt trotzdem ein Widerſpruch zwiſchen den beiden Rech-
ten vorhanden, der nicht zu verſöhnen iſt, ſo iſt das Gericht zwar verpflichtet, die
beſtimmte Vorſchrift ſeines Landesgeſetzes zu befolgen. Dann aber wird auch
der Stat, der ein völkerrechtswidriges Geſetz gegeben hat, dem neutralen State
verantwortlich, welcher durch dasſelbe in ſeinen Schutzangehörigen verletzt wird;
denn der neutrale Stat iſt nicht ſchuldig, ſich ein Verfahren gefallen zu laſſen,
welches im Widerſpruch iſt mit den anerkannten Grundſätzen des Völkerrechts. Der-
ſelbe kann von dem Nehmeſtat verlangen, daß er trotz des Spruchs ſeines Priſen-
gerichts das neutrale Schiff oder die neutrale Waare frei gebe, wenn ſolches nach
Völkerrecht geſchehen muß. Da das Völkerrecht für alle Staten verbindlich
iſt (§ 3), ſo darf das ſtatliche Geſetz nicht demſelben widerſprechen.
Vgl. Dana zu Wheaton, Intern. Law. § 388.


848.

Das Verfahren vor dem Priſengerichte richtet ſich in Ermanglung
völkerrechtlicher Vorſchriften nach der Proceßordnung des Nehmeſtats. Die
Neutralen haben aber ein Recht auf Vertheidigung und auf unparteiiſche
Rechtspflege.


1. Die Priſengeſetze und Priſenverordnungen der einzelnen Staten beſtimmen
das Nähere. Das Verfahren hat durchweg den Charakter einer Unterſuchung
von Amts wegen
. Der Priſenführer iſt verpflichtet, die Gründe, aus denen und
die Umſtände, unter welchen er das Schiff genommen hat, darzulegen und das
Priſengericht prüft ſodann die Schiffsurkunden, vernimmt den Schiffsführer und ſo-
weit nöthig die Mannſchaft des aufgebrachten Schiffs und ſtellt die Thatſachen feſt,
welche die Grundlage des Proceſſes bilden. Dieſes Vorverfahren geſchieht meiſtens
ſummariſch, nicht in Form einer gegenſeitigen Parteiverhandlung, ſondern durch
gerichtliche Commiſſionen.


2. Zuweilen wird, wie in Preußen, ein Statsanwalt beſtellt, der die
Anträge ſtellt, der nicht etwa die Intereſſen des Nehmers vertritt, ſondern eine un-
parteiiſche Haltung im Intereſſe der gerechten Erledigung der Prüfung behauptet.
Er iſt nicht advocatus fisci, ſondern patronus juris.


3. Ergibt ſich die Sache als unzweifelhaft, ſo kann ſofort geſprochen
werden. Insbeſondere iſt, wenn eine Freiſprechung erſolgen muß, dieſe ohne
Verzug auszuſprechen. Früher nahm man es mit den Verurtheilungen
ziemlich leicht. Die neuere Ausbildung des Rechts fordert hier ein ſorgfältigeres
Verfahren, welches dem bedrohten Eigenthümer des Schiffs oder der Ladung Gele-
genheit gibt, ſich gehörig zu vertheidigen. Sie können ihre Reclamationen
ſchriftlich einreichen und werden dazu von dem Gerichte aufgefordert. Ein contra-
[460]Neuntes Buch.
dictoriſches Verfahren iſt durchweg begründet, wenn irgend welche Zweifel über
die Schuld ſich zeigen und nicht die Schuld eingeſtanden wird.


849.

Der Nehmer iſt verpflichtet, ſofort nach ſeiner Ankunft in dem
Hafen, die Papiere des aufgebrachten Schiffs ſammt dem Protokoll über
die Nehmung dem Gericht zu übergeben und dieſem die Verfügung über
das Schiff, ſowie die Unterſuchung ſeines Verfahrens anheim zu geben.


Indem die Thätigkeit des Gerichts beginnt, hört die Gewalt
des Nehmers
über das Schiff auf. Voraus ſoll nun die That des Nehmers
und die Schuld des Schiffers geprüft und demgemäß weiter entſchieden werden.


850.

Der Spruch des Priſengerichts iſt für die Parteien verbindlich und
begründet formelles Recht.


Es iſt das eine Folge der anerkannten Zuſtändigkeit (§ 842). Daß
der Nehmer ſich dem Urtheil unterwerfen muß, iſt freilich ſelbſtverſtändlich, da das
Priſengericht von demſelben State autoriſirt iſt, dem er angehört. Aber daß auch
der fremde Neutrale das Urtheil als formelles Recht gelten laſſen muß, welches
vielleicht im Widerſpruch iſt mit ſeinem heimatlichen Landesrecht, das iſt eine Ano-
malie, denn die Souveränetät des Nehmeſtats erſtreckt ſich nicht über ihn. Nur das
Nothrecht des Kriegs erklärt die Ausnahme.


851.

Indeſſen iſt der Kriegsſtat, welcher das Priſengericht beſtellt hat,
dem neutralen State verantwortlich für offenbares Unrecht, welches das
Priſengericht im Widerſpruch mit dem Völkerrecht den neutralen Eigen-
thümern zugefügt hat. Die Berufung auf die Landesgeſetze, welche das
Priſengericht angewendet hat, befreit nicht von dieſer Verantwortlichkeit,
wenn durch das Landesgeſetz die natürlichen Rechte der Neutralen miß-
achtet worden ſind.


Entſteht darüber Streit zwiſchen dem Kriegsſtat und dem neutralen
Stat, ſo iſt dieſer Streit nach völkerrechtlichen Grundſätzen und zunächſt
durch Unterhandlung und friedliche Mittel zu ſchlichten.


[461]Recht der Neutralität.

1. Der neutrale Stat wird nicht als befugt erachtet, eine eigentliche Reviſion
des Proceſſes vorzunehmen. Seine Gerichte ſind keine Reviſions- noch
Appellations- noch Caſſationsinſtanzen gegenüber den Priſengerichten.
Nur dieſe ſind competent, über den einzelnen Fall zu urtheilen, die erheblichen That-
ſachen zu couſtatiren und zu würdigen, und über Freiſprechung oder Verurtheilung
zu entſcheiden. Dieſes Urtheil wirkt rechtskräftig ſowohl für den Nehmer als für
den Eigenthümer des genommenen Schiffs oder der genommenen Ladung (§ 850).
Aber der neutrale Stat hat ein Recht, zu fordern, daß dieſe ausnahmsweiſe
durch das Völkerrecht erlaubte Juſtiz dem Völkerrecht gemäß gehandhabt
und nicht zu völkerrechtswidriger Benachtheiligung ſeiner Angehö-
rigen mißbraucht
werde. Vgl. zu § 847. Dieſe Grundſätze ſind auch in den
Verhandlungen zwiſchen den Vereinigten Staten von Amerika und der Däniſchen
Regierung im Jahr 1830 beſtätigt worden. Vgl. WheatonInt. Law. § 397.


2. Wenn zwiſchen dem neutralen und dem Kriegsſtat ein völkerrechtlicher
Streit entſteht, ſo iſt derſelbe wie andere völkerrechtliche Streitigkeiten zu erledigen.
Vgl. Buch VII. Unter Umſtänden wird trotz der Verurtheilung durch das Priſen-
gericht der neutrale Stat die Beſchwerden des neutralen Stats dadurch berückſichtigen,
daß er die Priſe freigibt, oder dadurch, daß er an denſelben eine Entſchädigung zahlt
zu Gunſten der verletzten Eigenthümer.


852.

Wird die Nehmung als nicht rechtmäßig erfunden, ſo iſt Schiff und
Ladung ſofort den Eigenthümern frei zu geben.


Dabei wird natürlich ein rechtskräftiges Urtheil vorausgeſetzt. Durch
die Berufung an den Oberpriſenrath (Obergericht) kann die Wirkſamkeit
des angefochtenen erſtinſtanzlichen Urtheils gehemmt werden.


853.

Auch wenn die Nehmung nicht gutgeheißen wird, kann doch dem
Eigenthümer des genommenen Schiffs jede Entſchädigungsforderung dann
abgeſprochen und es können ihm ſogar die Koſten des Verfahrens auferlegt
werden, wenn das Schiff durch ſein Verhalten ſich verdächtig gemacht hat.


Auch in ſolchem Verhalten liegt eine Verſchuldung — zwar keine ſo
große, daß ſie die Wegnahme rechtfertigt, aber eine ſo genügende Urſache, um die
Aufbringung und Unterſuchung des verdächtigen Schiffs zu begründen.


854.

Wenn dagegen der Nehmer keinerlei Grund hatte zur Beſchlagnahme,
[462]Neuntes Buch.
ſo iſt er verpflichtet, die Proceßkoſten zu tragen und den Eigenthümer des
genommenen Schiffs und der Ladung zu entſchädigen. Ueber dieſe Ent-
ſchädigungsforderung entſcheidet das Priſengericht.


Unter dieſer Vorausſetzung bewirkt die Verſchuldung des Nehmers
ſeine Entſchädigungspflicht.


855.

Bloße Vermuthungen zu Gunſten des Nehmers und zum Nachtheil
der Neutralen ſind mit den Grundſätzen einer unparteiiſchen Rechtspflege
unvereinbar.


Die ältere Praxis mancher Seemächte war zu ſolchen Vermuthungen zu
Gunſten des Nehmers und wider das aufgebrachte Schiff geneigt. Das widerſpricht
aber den Grundprincipien aller Rechtspflege, welche ihrer beſchränkten Einſicht ein-
gedenk und nur mit äußern Mitteln wirkend nur die offenbare Schuld bedroht,
nicht die verborgene Sünde, und darf daher nicht von dem Völkerrecht gebilligt
werden, auch wenn die Völkerſitte ſolche Mißgriffe noch duldet. Die Schuld muß
alſo, wenn ſie beſtritten wird, erwieſen werden, ebenſo wie jede andere ſtraf-
bare Schuld.


856.

Wird die Nehmung gutgeheißen, ſo wird das Eigenthum an Schiff
und Ladung, in ſo weit als beide mit Recht genommen ſind, ſei es dem
Nehmeſtat mit Belohnung des Nehmers, ſei es dieſem ſelber je nach Um-
ſtänden mit gewiſſen Auflagen an den Nehmeſtat zugeſprochen. Nur die
genommenen Kriegsſchiffe und die Kriegscontrebande fallen jederzeit dem
Nehmeſtat, nicht dem Nehmer zu.


Der ganze Gedanke und die Erklärung des Priſenrechts weist auf das Noth-
recht des Krieges und daher die Kriegsgewalt hin. Niemand kann ein perſönliches
Beuterecht ausſprechen. Eben deßhalb hat auch die Statsautorität allein darüber
zu verfügen, wem die Priſe zufallen ſoll. Wenn der Nehmer dieſelbe zu Eigenthum
bekommt, ſo kann er dieſes Eigenthum nur von der Statsautorität, nicht von ſeiner
eigenen Arbeit ableiten. Der Stat kann es ihm ganz oder theilweiſe oder gar nicht
geben. Lord Stowell vgl. PhillimoreIII. § 128: „Prize is altogether a
creature of the Crown. No man has, or can have any interest, but what
he takes as the mere gift of the Crown; beyond the extent of that gift he
has nothing“.
Aber es können in einem Lande beſondere Maximen feſtgeſtellt
[463]Recht der Neutralität.
werden über die Bedingungen und das Maß der Belohnung des Nehmers, und das
Priſengericht des Landes richtet ſich in ſeinen Entſcheidungen darnach.


857.

Das Völkerrecht hindert nicht die Verſilberung der in neutralem
Hafen geborgenen Priſe zum Vollzug des Urtheils. Aber wenn der neu-
trale Stat gegen das Verfahren des Priſengerichts völkerrechtliche Beſchwer-
den zu führen hat, ſo iſt er, um ſein Beſchwerderecht zu ſichern, berechtigt,
auch dieſe Verſilberung zu unterſagen.


Vgl. zu § 845. 847.


858.

Die neutralen Eigenthümer haben das Urtheil des Priſengerichts
auch ihrerſeits in ſo weit anzuerkennen, als nicht der neutrale Stat, dem
ſie angehören, wegen völkerrechtswidrigen Verfahrens ſie zum Widerſpruch
ermächtigt.


Vgl. zu § 842. 845. 847. 848.


859.

Die in geordnetem Verfahren dem Nehmeſtat oder dem Nehmer
zugeſprochene Priſe kann nicht mehr durch Repriſe demſelben entzogen
werden, ſondern nur durch eine neue berechtigte Priſe des feindlichen
Nehmers.


Die Repriſe (Wiedernahme, recapture) iſt nur ſo lange möglich, als die
Priſe gleichſam in der Schwebe iſt. Wenn erſt dieſe durch den Spruch des Priſen-
gerichts in ihren Wirkungen vollendet worden iſt, dann hat die Priſe ſelber auf-
gehört. Das Schiff iſt nun in dem unzweifelhaften Eigenthum deſſen, dem es zu-
geſprochen iſt. Wenn ihm dasſelbe von dem Feinde wieder weggenommen wird, ſo
iſt das ganz ebenſo, wie wenn ihm ein anderes Schiff, das er urſprünglich durch
Kauf erworben hatte, weggenommen wird. Das iſt eine neue Priſe, und nicht
mehr eine Repriſe. Es folgt das aus dem gewohnheitsrechtlichen Satze, daß das
Urtheil des Priſengerichts Recht ſchaffe, auch für die betheiligten Parteien. Wenn
das aus irgend einem Grunde nicht der Fall iſt, dann liegt auch kein Grund vor, die
Anwendung der Repriſe auszuſchließen.


[464]Neuntes Buch.
860.

Vor der gerichtlichen Verurtheilung der Priſe kann dem Nehmer die
Priſe durch Repriſe wieder abgenommen werden. In dieſem Falle iſt
jedoch das neutrale Eigenthum von dem Wiedernehmer zu reſpectiren.


1. Bis das Priſengericht über die Priſe erkannt und dieſelbe verurtheilt hat,
iſt das Schickſal derſelben immer noch ungewiß, und noch kein formelles Recht des
Nehmeſtats oder des Nehmers an dem genommenen Schiffe oder der Waare vor-
handen. Bis dahin kann die Wirkſamkeit der Priſe, die zunächſt auf die Gewalt
der Kriegsmacht gegründet iſt, wieder ebenfalls durch Gewalt unwirkſam gemacht
werden. Es iſt das eine beſondere Anwendung des postliminium, eine in
integrum restitutio.
Die Beute wird dem Erbeuter wieder abgejagt.


2. Weil die Repriſe zunächſt nur negativ wirkt, als Verneinung der
Priſe, und nicht ſelber eine neue Priſe iſt noch ſein will, ſo muß der Wieder-
nehmer
(recaptor) auch das Eigenthum ſeinerſeits reſpectiren, das er aus der
feindlichen Wegnahme gerettet hat, und er kann nur, je nach Umſtänden, für die
Arbeiten und Opfer, welche er auf die Repriſe verwendet hat, eine angemeſſene Ent-
ſchädigung
(servaticium) verlangen, die zuweilen zur Vermeidung von Streit
und Beweis auf einen Achttheil (amerikaniſches Geſetz von 1800. Cap. 14.
und engliſches 17 Victor. c. 18) oder gar auf einen Drittheil des Werths
der Repriſe angeſetzt iſt. Schon der Consolato del Marse c. 287 hat dieſe
Regel anerkannt.


3. Manche Rechtsgelehrte und Landesordnungen beſchränken die Repriſe noch
mehr, z. B.: bis das genommene Schiff in einen ſichern Hafen gebracht worden iſt,
oder: in den erſten 24 Stunden nach der Wegnahme. Wo beſondere Geſetze das ſo
beſtimmen, müſſen dieſelben wohl geachtet werden. Die Natur der Dinge und die
gerechten Bedenken gegen jede Ausdehnung des Priſenrechts rechtfertigen meines Er-
achtens die Regel des Texts.


861.

Sobald der Friede geſchloſſen iſt, ſo hört auch alles Recht, Priſen
zu machen, auf. Die nach dem Friedensſchluß — wenn auch in gutem
Glauben — vollzogenen Nehmungen ſind ſofort wieder zurückzugeben.


Vgl. oben § 709.


862.

Die Priſengerichte ſind, wenn nicht der Friedensſchluß anders be-
[465]Recht der Neutralität.
ſtimmt, berechtigt, die vor demſelben anhängig gemachten Priſenproceſſe
auch nach demſelben fortzuführen und durch Urtheil zu erledigen.


Oft wird durch den Frieden beſtimmt, daß alle genommenen, aber noch nicht
verurtheilten Schiffe frei gegeben werden ſollen. Iſt das nicht geſchehen, ſo duldet
das herkömmliche Völkerrecht die Fortſetzung und Vollendung der Priſenproceſſe
auch nach dem Abſchluß des Friedens, obwohl gegen dieſelben das ernſte Bedenken
erhoben werden kann, daß die Priſengerichtsbarkeit nur Kriegs- und nicht Friedens-
gerichtsbarkeit iſt.


Bluntſchli, Das Völkerrecht. 30
[[466]][[467]]

Anhang.
Amerikaniſche Kriegsartikel der Vereinigten Staten von 1863.


30*
[[468]][[469]]

Instructions for the Government of Armies of the
United States in the field.


Section I.

Martial law — Military jurisdiction — Military necessity — Retaliation.


1.

A place, district, or country occupied by an enemy stands, in
consequence of the occupation, under the Martial Law of the in-
vading or occupying army, whether any proclamation declaring Mar-
tial Law, or any public warning to the inhabitants, has been issued
or not. Martial Law is the immediate and direct effect and con-
sequence of occupation or conquest.


The presence of a hostile army proclaims its Martial Law.


2.

Martial Law does not cease during the hostile occupation, ex-
cept by special proclamation, ordered by the commander-in-chief;
or by special mention in the treaty of peace concluding the war,
when the occupation of a place or territory continues beyond the
conclusion of peace as one of the conditions of the same.


[470]Anhang.
3.

Martial Law in a hostile country consists in the suspension,
by the occupying military authority, of the criminal and civil law,
and of the domestic administration and government in the occupied
place or territory, and in the substitution of military rule and force
for the same, as well as in the dictation of general laws, as far as
military necessity requires this suspension, substitution, or dictation.


The commander of the forces may proclaim that the admini-
stration of all civil and penal law shall continue, either wholly or
in part, as in times of peace, unless otherwise ordered by the mili-
tary authority.


4.

Martial Law is simply military authority exercised in accor-
dance with the laws and usages of war. Military oppresion is not
Martial Law; it is the abuse of the power which that law confers.
As Martial Law is executed by military force, it is incumbent upon
those who administer it to be strictly guided by the principles of
justice, honor, and humanity — virtues adorning a soldier even
more than other men, for the very reason that he possesses the
power of his arms against the unarmed.


5.

Martial Law should be less stringent in places and countries
fully occupied and fairly conquered. Much greater severity may be
exercised in places or regions where actual hostilities exist, or are
expected and must be prepared for. Its most complete sway is
allowed — even in the commander’s own country — when face to
face with the enemy, because of the absolute necessities of the
case, and of the paramount duty to defend the country against
invasion.


To save the country is paramount to all other considerations.


6.

6. All civil and penal law shall continue to take its usual
course in the enemy’s places and territories under Martial Law,

[471]Amerikaniſche Kriegsartikel der Vereinigten Staten von 1863.
unless interrupted or stopped by order of the occupying military
power; but all the functions of the hostile government — legislative,
executive, or administrative — whether of a general, provincial, or
local character, cease under Martial Law, or continue only with the
sanction, or if deemed necessary, the participation of the occupier
or invader.


7.

Martial Law extends to property, and to persons, whether they
are subjects of the enemy or aliens to that government.


8.

Consuls, among American and European nations, are not diplo-
matic agents. Nevertheless, their offices and persons will be sub-
jected to Martial Law in cases of urgent necessity only: their pro-
perty and business are not exempted. Any delinquency they commit
against the established military rule may be punished as in the
case of any other inhabitant, and such punishment furnishes no
reasonable ground for international complaint.


9.

The functions of Ambassadors, Ministers, or other diplomatic
agents, accredited by neutral powers to the hostile government, cease,
so far as regards the displaced government; but the conquering or
occnpying power usually recognizes them as temporarily accredited
to itself.


10.

Martial Law affects chiefly the police and collection of public
revenue and taxes, whether imposed by the expelled government or
by the invader, and refers mainly to the support and efficiency of
the army, its safety, and the safety of its operations.


11.

The law of war does not only disclaim all cruelty and bad
[472]Anhang.
faith concerning engagements concluded with the enemy during the
war, but also the breaking of stipulations solemnly contracted by
the belligerents in time of peace, and avowedly intended to remain
in force in case of war between the contracting powers.


It disclaims all extortions and other transactions for individual
gain; all acts of private revenge, or connivance at such acts.


Offences to the contrary shall be severely punished, and espe-
cially so if committed by officers.


12.

Whenever feasible, Martial Law is carried out in cases of in-
dividual offenders by Military Courts; but sentences of death shall
be executed only with the approval of the chief executive, provided
the urgency of the case does not require a speedier execution, and
then only with the approval of the chief commander.


13.

Military jurisdiction is of two kinds: first, that which is con-
ferred and defined by statute; second, that which is derived from
the common law of war. Military offences under the statute law
must be tried in the manner therein directed; but military offences
which do not come within the statute must be tried and punished
under the common law of war. The character of the courts which
exercise these jurisdictions depends upon the local laws of each
particular country.


In the armies of the United States the first is exercised by
courtsmartial; while cases which do not come within the „Rules
and Articles of War“, or the jurisdiction conferred by statute on
courts-martial, are tried by military commissions.


14.

Military necessity, as understood by modern civilized nations,
consists in the necessity of those measures which are indispensable
for securing the ends of the war, and which are lawful according
to the modern law and usages of war.


[473]Amerikaniſche Kriegsartikel der Vereinigten Staten von 1863.
15.

Military necessity admits of all direct destruction of life or
limb of armed enemies, and of other persons whose destruction is
incidentally unavoidable in the armed contests of the war; it al-
lows of the capturing of every armed enemy, and every enemy of
importance to the hostile government, or of peculiar danger to the
captor; it allows of all destruction of property, and obstruction of
the ways and channels of traffic, travel, or communication, and of
all withholding of sustenance or means of life from the enemy; of
the appropriation of whatever an enemy’s country affords necessary
for the subsistence and safety of the army, and of such deception
as does not involve the breaking of good faith either positively
pledged, regarding agreements entered into during the war, or sup-
posed by the modern law of war to exist. Men who take up arms
against one another in public war do not cease on this account to
be moral beings, responsible to one another, and to God.


16.

Military necessity does not admit of cruelty, that is, the in-
fliction of suffering for the sake of suffering or for revenge, nor of
maiming or wounding except in fight, nor of torture to extort con-
fessions. It does not admit of the use of poison in any way, nor
of the wanton devastation of a district. It admits of deception,
but disclaims acts of perfidy; and, in general, military neccessity
does not include any act of hostility which makes the return to
peace unnecessarily difficult.


17.

War is not carried on by arms alone. It is lawful to starve
the hostile belligerent, armed or unarmed, so that it leads to the
speedier subjection of the enemy.


18.

When the commander of a besieged place expels the non-
combatants, in order to lessen the number of those who consume

[474]Anhang.
his stock of provisions, it is lawful, though an extreme measure, to
drive them back, so as to hasten on the surrender.


19.

Commanders, whenever admissible, inform the enemy of their
intention to bombard a place, so that the non-combatants, and espe-
cially the women and children, may be removed before the bom-
bardment commences. But it is no infraction of the common law
of war to omit thus to inform the enemy. Surprise may be a
necessity.


20.

Public war is a state of armed hostility between sovereign
nations or governments. It is a law and requisite of civilized exi-
stence that men live in political, continuous societies, forming orga-
nized units, called states or nations, whose constituents bear, enjoy,
and suffer, advance and retrograde together, in peace and in war.


21.

The citizen or native of a hostile country is thus an enemy,
as one of the constituents of the hostile state or nation, and as
such is subjected to the hardships of the war.


22.

Nevertheless, as civilization has advanced during the last cen-
turies, so has likewise steadily advanced, especially in war on land,
the distinction between the private individual belonging to a hostile
country and the hostile country itself, with its men in arms. The
principle bas been more and more acknowledged that the unarmed
citizen is to be spared in person, property, and honor as much as
the exigencies of war will admit.


23.

Private citizens are no longer murdered, enslaved, or carried
off to distant parts, and the inoffensive individual is as little disturbed

[475]Amerikaniſche Kriegsartikel der Vereinigten Staten von 1863.
in his private relations as the commander of the hostile troops can
afford to grant in the overruling demands of a vigorous war.


24.

The almost universal rule in remote times was, and continues
to be with barbarous armies, that the private individual of the hostile
country is destined to suffer every privation of liberty and protection,
and every disruption of family ties. Protection was, and still is
with uncivilized people, the exception.


25.

In modern regular wars of the Europeans, and their descend-
ants in other portions of the globe, protection of the inoffensive
citizen of the hostile country is the rule; privation and disturbance
of private relations are the exceptions.


26.

Commanding generals may cause the magistrates and civil
officers of the hostile country to take the oath of temporary allegi-
ance or an oath of fidelity to their own victorious government or
rulers, and they may expel every one who declines to do so. But
whether they do so or not, the people and their civil officers owe
strict obedience to them as long as they hold sway over the district
or country, at the peril of their lives.


27.

The law of war can no more wholly dispense with retaliation
than can the law of nations, of which it is a branch. Yet civilized
nations acknowledge retaliation as the sternest feature of war. A
reckless enemy often leaves to his opponent no other means of se-
curing himself against the repetition of barbarous outrage.


28.

Retaliation will, therefore, never be resorted to as a measure
of mere revenge, but only as a means of protective retribution, and,

[476]Anhang.
moreover, cautiously and unavoidably; that is to say, retaliation shall
only be resorted to after careful inquiry into the real occurrence,
and the character of the misdeeds that may demand retribution.


Unjust or inconsiderate retaliation removes the belligerents
farther and farther from the mitigating rules of a regular war, and
by rapid steps leads them nearer to the internecine wars of savages.


29.

Modern times are distinguished from earlier ages by the exi-
stence, at one and the same time, of many nations and great govern-
ments related to one another in close intercourse.


Peace is their normal condition; war is the exception. The
ultimate object of all modern war is a renewed state of peace.


The more vigorously wars are pursued, the better it is for
humanity. Sharp wars are brief.


30.

Ever since the formation and coexistence of modern nations,
and ever since wars have become great national wars, war has come
to be acknowledged not to be its own end, but the means to obtain
great ends of state, or to consist in defence against wrong; and no
conventional restriction of the modes adopted to injure the enemy
is any longer admitted; but the law of war imposes many limitations
and restrictions on principles of justice, faith, and honor.


Section II.

Public and private property of the enemy — Protection of persons, and
especially women; of religion, the arts and sciences — Punishment of
crimes against the inhabitants of hostile countries.


31.

A victorious army appropriates all public money, seizes all
public movable property until further direction by its government,

[477]Amerikaniſche Kriegsartikel der Vereinigten Staten von 1863.
and sequesters for its own benefit or that of its government all the
revenues of real property belonging to the hostile government or
nation. The title to such real property remains in abeyance during
military occupation, and until the conquest is made complete.


32.

A victorious army, by the martial power inherent in the same,
may suspend, change, or abolish, as far as the martial power extends,
the relations which arise from the service, due, according to the
existing laws of the invaded country, from one citizen, subject, or
native of the same to another.


The commander of the army must leave it to the ultimate
treaty of peace to settle the permanency of this change.


33.

It is no longer considered lawful—on the contrary, it is held
to be a serious breach of the law of war—to force the subjects of
the enemy into the service of the victorious government, except the
latter should proclaim, after a fair and complete conquest of the
hostile country or district, that it is resolved to keep the country,
district, or place permanently as its own and make it a portion of
its own country.


34.

As a general rule, the property belonging to churches, to hos-
pitals, or other establishments of an exclusively charitable character,
to establishments of education, or foundations for the promotion of
knowledge, whether public schools, universities, academies of learning
or observatories, museums of the fine arts, or of a scientific character
—such property is not to be considered public property in the sense
of paragraph 31; but it may be taxed or used when the public
service may require it.


35.

Classical works of art, libraries, scientific collections, or precious
[478]Anhang.
instruments, such as astronomical telescopes, as well as hospitals,
must be secured against all avoidable injury, even when they are
contained in fortified places whilst besieged or bombarded.


36.

If such works of art, libraries, collections, or instruments belong-
ing to a hostile nation or government, can be removed without
injury, the ruler of the conquering state or nation may order them
to be seized and removed for the benefit of the said nation. The
ultimate owner-ship is to be settled by the ensuing treaty of peace.


In no case shall they be sold or given away, if captured by
the armies of the United States, nor shall they ever be privately
appropriated, or wantonly destroyed or injured.


37.

The United States acknowledge and protect, in hostile countries
occupied by them, religion and morality; strictly private property;
the persons of the inhabitants, especially those of women; and the
sacredness of domestic relations. Offences to the contrary shall be
rigorously punished.


This rule does not interfere with the right of the victorious
invader to tax the people or their property, to levy forced loans, to
billet soldiers, or to appropriate property, especially houses, land,
boats or ships, and churches, for temporary and military uses.


38.

Private property, unless forfeited by crimes or by offences of
the owner, can be seized only by way of military necessity, for the
support or other benefit of the army or of the United States.


If the owner has not fled, the commanding officer will cause
receipts to be given, which may serve the spoliated owner to obtain
indemnity.


39.

The salaries of civil officers of the hostile government who
[479]Amerikaniſche Kriegsartikel der Vereinigten Staten von 1863.
remain in the invaded territory, and continue the work of their
office, and can continue it according to the circumstances arising out
of the war—such as judges, administrative or police officers, officers
of city or communal governments—are paid from the public revenue
of the invaded territory, until the military government has reason
wholly or partially to discontinue it. Salaries or incomes connected
with purely honorary titles are always stopped.


40.

There exists no law or body of authoritative rules of action
between hostile armies, except that branch of the law of nature and
nations which is called the law and usages of war on land.


41.

All municipal law of the ground on which the armies stand,
or of the countries to which they belong, is silent and of no effect
between armies in the field.


42.

Slavery, complicating and confounding the ideas of property,
(that is of a thing,) and of personalty, (that is of humanity,) exists
according to municipal or local law only. The law of nature and
nations has never acknowledged it. The digest of the Roman law
enacts the early dictum of the pagan jurist, that „so far as the law
of nature is concerned, all men are equal.“ Fugitives escaping from
a country in which they were slaves, villains, or serfs, into another
country, have, for centuries past, been held free and acknowledged
free by judicial decisions of European countries, even though the
municipal law of the country in which the slave had taken refuge
acknowledged slavery within its own dominions.


43.

Therefore, in a war between the United States and a belli-
gerent which admits of slavery, if a person held in bondage by that
belligerent be captured by or come as a fugitive under the protection

[480]Anhang.
of the military forces of the United States, such person is imme-
diately entitled to the rights and privileges of a freeman. To return
such person into slavery would amount to enslaving a free person,
and neither the United States nor any officer under their authority
can enslave any human being. Moreover, a person so made free
by the law of war is under the shield of the law of nations, and
the former owner or State can have, by the law of post-liminy, no
belligerent lien or claim of service.


44.

All wanton violence committed against persons in the invaded
country, all destruction of property not commanded by the authorized
officer, all robbery, all pillage or sacking, even after taking a place
by main force, all rape, wounding, maiming, or killing of such in-
habitants, are prohibited under the penalty of death, or such other
severe punishment as may seem adequate for the gravity of the
offence.


A soldier, officer or private, in the act of committing such
violence, and disobeying a superior ordering him to abstain from it,
may be lawfully killed on the spot by such superior.


45.

All captures and booty belong, according to the modern law
of war, primarily to the government of the captor.


Prize money, whether on sea or land, can now only be claimed
under local law.


46.

Neither officers nor soldiers are allowed to make use of their
position or power in the hostile country for private gain, not even
for commercial transactions otherwise legitimate. Offences to the
contrary committed by commissioned officers will be punished with
cashiering or such other punishment as the nature of the offence
may require; if by soldiers, they shall be punished according to the
nature of the offence.


[481]Amerikaniſche Kriegsartikel der Vereinigten Staten von 1863.
47.

Crimes punishable by all penal codes, such as arson, murder,
maiming, assaults, highway robbery, theft, burglary, fraud, forgery,
and rape, if committed by an American soldier in a hostile country
against its inhabitants, are not only punishable as at home, but in
all cases in which death is not inflicted, the severer punishment
shall be preferred.


Section III.

Deserters — Prisoners of War — Hostages — Booty on the battle-field.


48.

Deserters from the American army, having entered the service
of the enemy, suffer death if they fall again into the hands of the
United States, whether by capture, or being delivered up to the
American army; and if a deserter from the enemy, having taken
service in the army of the United States, is captured by the enemy,
and punished by them with death or otherwise, it is not a breach
against the law and usages of war, requiring redress or retaliation.


49.

A prisoner of war is a public enemy armed or attached to
the hostile army for active aid, who has fallen into the hands of
the captor, either fighting or wounded, on the field or in the hospi-
tal, by individual surrender or by capitulation.


All soldiers, of whatever species of arms; all men who belong
to the rising en masse of the hostile country; all those who are atta-
ched to the army for its efficiency and promote directly the object
of the war, except such as are hereinafter provided for; all disabled
men or officers on the field or elsewhere, if captured; all enemies
who have thrown away their arms and ask for quarter, are prisoners
of war, and as such exposed to the inconveniences as well as entit-
led to the privileges of a prisoner of war.


Bluntſchli, Das Völkerrecht. 31
[482]Anhang.
50.

Moreover, citizens who accompany an army for whatever pur-
pose, such as sutlers, editors, or reporters of journals, or contractors,
if captured, may be made prisoners of war, and be detained as such.


The monarch and members of the hostile reigning family,
male or female, the chief, and chief officers of the hostile govern-
ment, its diplomatic agents, and all persons who are of particular
and singular use and benefit to the hostile army or its government,
are, if captured on belligerent ground, and if unprovided with a
safe-conduct granted by the captor’s government, prisoners of war.


51.

If the people of that portion of an invaded country which
is not yet occupied by the enemy, or of the whole country, at the
approach of a hostile army, rise, under a duly authorized levy, en
masse
to resist the invader, they are now treated as public enemies,
and if captured, are prisoners of war.


52.

No belligerent has the right to declare that he will treat every
captured man in arms of a levy en masse as a brigand or bandit.


If, however, the people of a country, or any portion of the
same, already occupied by an army, rise against it, they are vio-
laters of the laws of war, and are not entitled to their protection.


53.

The enemy’s chaplains, officers of the medical staff, apotheca-
ries, hospital nurses and servants, if they fall into the hands of the
American army, are not prisoners of war, unless the commander has
reasons to retain them. In this latter case, or if, at their own
desire, they are allowed to remain with their captured companions,
they are treated as prisoners of war, and may be exchanged if the
commander sees fit.


[483]Amerikaniſche Kriegsartikel der Vereinigten Staten von 1863.
54.

A hostage is a person accepted as a pledge for the fulfilment
of an agreement concluded between belligerents during the war, or
in consequence of a war. Hostages are rare in the present age.


55.

If a hostage is accepted, he is treated like a prisoner of war,
according to rank and condition, as circumstances may admit.


56.

A prisoner of war is subject to no punishment for being a
public enemy, nor is any revenge wreaked upon him by the inten-
tional infliction of any suffering, or disgrace, by cruel imprisonment,
want of food, by mutilation, death, or any other barbarity.


57.

So soon as a man is armed by a sovereign government, and
takes the soldiers oath of fidelity, he is a belligerent; his killing,
wounding, or other warlike acts, are no individual crimes or offences.
No belligerent has a right to declare that enemies of a certain class,
color, or condition, when properly organized as soldiers, will not be
treated by him as public enemies.


58.

The law of nations knows of no distinction of color, and if an
enemy of the United States should enslave and sell any captured
persons of their army, it would be a case for the severest retaliation,
if not redressed upon complaint.


The United States cannot retaliate by enslavement; therefore
death must be the retaliation for this crime against the law of
nations.


59.

A prisoner of war remains answerable for his crimes committed
31*
[484]Anhang.
against the captor’s army or people, committed before he was cap-
tured, and for which he has not been punished by his own autho-
rities.


All prisoners of war are liable to the infliction of retaliatory
measures.


60.

It is against the usage of modern war to resolve, in hatred
and revenge, to give no quarter. No body of troops has the right
to declare that it will not give, and therefore will not expect,
quarter; but a commander is permitted to direct his troops to give
no quarter, in great straits, when his own salvation makes it im-
possible
to cumber himself with prisoners.


61.

Troops that give no quarter have no right to kill enemies
already disabled on the ground, or prisoners captured by other troops.


62.

All troops of the enemy known or discovered to give no
quarter in general, or to any portion of the army, receive none.


63.

Troops wo fight in the uniform of their enemies, without any
plain, striking, and uniform mark of distinction of their own, can
except no quarter.


64.

If American troops capture a train containing uniforms of the
enemy, and the commander considers it advisable to distribute them
for use among his men, some striking mark or sign must be adopted
to distinguish the American soldier from the enemy.


65.

The use of the enemy’s national standard, flag, or other emblem
[485]Amerikaniſche Kriegsartikel der Vereinigten Staten von 1863.
of nationality, for the purpose of deceiving the enemy in battle, is
an act of perfidy by which they lose all claim to the protection of
the laws of war.


66.

Quarter having been given to an enemy by American troops,
under a misapprehension of his true character, he may, nevertheless,
be ordered to suffer death if, within three days after the battle, it
be discovered that he belongs to a corps which gives no quarter.


67.

The law of nations allows every sovereign government to make
war upon another sovereign state, and, therefore, admits of no rules
or laws different from those of regular warfare, regarding the treat-
ment ef prisoners of war, although they may belong to the army
of a government which the captor may consider as a wanton and
unjust assailant.


68.

Modern wars are not internecine wars, in which the killing of
the enemy is the object. The destruction of the enemy in modern
war, and, indeed, modern war itself, are means to obtain that object
of the belligerent which lies beyond the war.


Unnecessary or revengeful destruction of life is not lawful.


69.

Outposts, sentinels, or pickets are not to be fired upon, except
to drive them in, or when a positive order, special or general, has
been issued to that effect.


70.

The use of poison in any manner, be it to poison wells, or
food, or arms, is wholly excluded from modern warfare. He that
uses it puts himself out of the pale of the law and usages of war.


[486]Anhang.
71.

Whoever intentionally inflicts additional wounds on an enemy
already wholly disabled, or kills such an enemy, or who orders or
encourages soldiers to do so, shall suffer death, if duly convicted,
whether he belongs to the army of the United States, or is an enemy
captured after having committed his misdeed.


72.

Money and other valuables on the person of a prisoner, such
as watches or jewelry, as well as extra clothing, are regarded by
the American army as the private property of the prisoner, and the
appropriation of such valuables or money is considered dishonorable,
and is prohibited.


Nevertheless, if large sums are found upon the persons of pri-
soners, or in their possession, they shall be taken from them, and
the surplus, after providing for their own support, appropriated for
the use of the army, under the direction of the commander, unless
otherwise ordered by the government. Nor can prisoners claim,
as private property, large sums found and captured in their train,
although they had been placed in the private luggage of the
prisoners.


73.

All officers, when captured, must surrender their side-arms to
the captor. They may be restored to the prisoner in marked cases,
by the commander, to signalize admiration of his distinguished bra-
very, or approbation of his humane treatment of prisoners before
his capture. The captured officer to whom they may be restored
cannot wear them during captivity.


74.

A prisoner of war, being a public enemy, is the prisoner of
the government, and not of the captor. No ransom can be paid by
a prisoner of war to his individual captor, or to any officer in

[487]Amerikaniſche Kriegsartikel der Vereinigten Staten von 1863.
command. The government alone releases captives, according to rules
prescribed by itself.


75.

Prisoners of war are subject to confinement or imprisonment
such as may be deemed necessary on account of safety, but they
are to be subjected to no other intentional suffering or indignity.
The confinement and mode of treating a prisoner may be varied
during his captivity according to the demands of safety.


76.

Prisoners of war shall be fed upon plain and wholesome food,
whenever practicable, and treated with humanity.


They may be required to work for the benefit of the captor’s
government, according to their rank and condition.


77.

A prisoner of war who escapes may be shot, or otherwise
killed in his flight; but neither death nor any other punishment
shall be inflicted upon him simply for his attempt to escape, which
the law of war does not consider a crime. Stricter means of secu-
rity shall be used after an unsuccessful attempt at escape.


If, however, a conspiracy is discovered, the purpose of which
is a united or general escape, the conspirators may be rigorously
punished, even with death; and capital punishment may also be in-
flicted upon prisoners of war discovered to have plotted rebellion
against the authorities of the captors, whether in union with fellow-
prisoners or other persons.


78.

If prisoners of war, having given no pledge nor made any
promise on their honor, forcibly or otherwise escape, and are cap-
tured again in battle, after having rejoined their own army, they
shall not be punished for their escape, but shall be treated as

[488]Anhang.
simple prisoners of war, although they will be subjected to stricter
confinement.


79.

Every captured wounded enemy shall be medically treated,
according to the ability of the medical staff.


80.

Honorable men, when captured, will abstain from giving to
the enemy information concerning their own army, and the modern
law of war permits no longer the use of any violence against pri-
soners, in order to extort the desired information, or to punish them
for having given false information.


Section IV.

Partisans — Armed enemies not belonging to the hostile army — Scouts
— Armed prowlers—War-rebels.


81.

Partisans are soldiers armed and wearing the uniform of their
army, but belonging to a corps which acts detached from the main
body for the purpose of making inroads into the territory occupied
by the enemy. If captured, they are entitled to all the privileges
of the prisoner of war.


82.

Men, or squads of men, who commit hostilities, whether by
fighting, or inroads for destruction or plunder, or by raids of any
kind, without commission, without being part and portion of the
organized hostile army, and without sharing continuously in the war,
but who do so with intermitting returns to their homes and avo-
cations, or with the occasional assumption of the semblance of
peaceful pursuits, divesting themselves of the chrracter or appearance

[489]Amerikaniſche Kriegsartikel der Vereinigten Staten von 1863.
of soldiers—such men, or squads of men, are not public enemies,
and therefore, if captured, are not entitled to the privileges of pri-
soners of war, but shall be treated summarily as highway robbers
or pirates.


83.

Scouts or single soldiers, if disguised in the dress of the
country, or in the uniform of the army hostile to their own, em-
ployed in obtaining information, if found within or lurking about
the lines of the captor, are treated as spies, and suffer death.


84.

Armed prowlers, by whatever names they may be called, or
persons of the enemy’s territory, who steal within the lines of the
hostile army, for the purpose of robbing, killing, or of destroying
bridges, roads, or canals, or of robbing or destroying the mail, or of
cutting the telegraph wires, are not entitled to the privileges of the
prisoner of war.


85.

War-rebels are persons within an occupied territory who rise
in arms against the occupying or conquering army, or against the
authorities established by the same. If captured, they may suffer
death, whether they rise singly, in small or large bands, and whether
called upon to do so by their own, but expelled, government or not.
They are not prisoners of war; nor are they, if discovered and
secured before their conspiracy has matured to an actual rising, or
to armed violence.


Section V.

Safe-conduct — Spies — War-traitors — Captured messengers—Abuse of
the flag of truce.


86.

All intercourse between the territories occupied by belligerent
[490]Anhang.
armies, whether by traffic, by letter, by travel, or in any other way,
ceases. This is the general rule, to be observed without special
proclamation.


Exceptions to this rule, whether by safe-conduct, or permission
to trade on a small or large scale, or by exchanging mails, or by
travel from one territory into the other, can take place only accor-
ding to agreement approved by the government, or by the highest
military authority.


Contraventions of this rule are highly punishable.


87.

Ambassadors, and all other diplomatic agents of neutral powers,
accredited to the enemy, may receive safe conducts trough the terri-
tories occupied by the belligerents, unless there are military reasons
to the contrary, and unless they may reach the place of their desti-
nation conveniently by another route. It implies no international
affront if the safe conduct is declined. Such passes are usually
given by the supreme authority of the state, and not by subordinate
officers.


88.

A spy is a person who secretly, in disguise or under false
pretence, seeks information with the intention of communicating it
to the enemy.


The spy is punishable with death by hanging by the neck,
whether or not he succeed in obtaining the information or in con-
veying it to the enemy.


89.

If a citizen of the United States obtains information in a legi-
timate manner, and betrays it to the enemy, be he a military or
civil officer, or a private citizen, he shall suffer death.


90.

A traitor under the law of war, or a war-traitor, is a person
[491]Amerikaniſche Kriegsartikel der Vereinigten Staten von 1863.
in a place or district under martial law who, unauthorized by the
military commander, gives information of any kind to the enemy,
or holds intercourse with him.


91.

The war-traitor is always severely punished. If his offence
consists in betraying to the enemy anything concerning the condition,
safety, operations or plans of the troops holding or occupying the
place or district, his punishment is death.


92.

If the citizen or subject of a country or place invaded or con-
quered gives information to his own government, from which he is
separated by the hostile army, or to the army of his government, he
is a war-traitor, and death is the penalty of his offence.


93.

All armies in the field stand in need of guides, and impress
them if they cannot obtain them otherwise.


94.

No person having been forced by the enemy to serve as guide
is punishable for having done so.


95.

If a citizen of a hostile and invaded district voluntarily serves
as a guide to the enemy, or offers to do so, he is deemed a war-
traitor, and shall suffer death.


96.

A citizen serving voluntarily as a guide against his own
country commits treason, and will be dealt with according to the
law of his country.


[492]Anhang.
97.

Guides, when it is clearly proved that they have misled inten-
tionally, may be put to death.


98.

All unauthorized or secret communication with the enemy is
considered treasonable by the law of war.


Foreign residents in an invaded or occupied territory, or foreign
visitors in the same, can claim no immunity from this law. They
may communicate with foreign parts, or with the inhabitants of the
hostile country, so far as the military authority permits, but no
further. Instant expulsion from the occupied territory would be the
very least punishment for the infraction of this rule.


99.

A messenger carrying written despatches or verbal messages
from one portion of the army, or from a besieged place, to another
portion of the same army, or its government, if armed, and in the
uniform of his army, and if captured while doing so, in the territory
occupied by the enemy, is treated by the captor as a prisoner of
war. If not in uniform, nor a soldier, the circumstances connected
with his capture must determine the disposition that shall be made
of him.


100.

A messenger or agent who attempts to steal trough the terri-
tory occupied by the enemy, to further, in any manner, the interests
of the enemy, if captured, is not entitled to the privileges of the
prisoner of war, and may be dealt with according to the circum-
stances of the case.


101.

While deception in war is admited as a just and necessary
means of hostility, and is consistent with honorable warfare, the

[493]Amerikaniſche Kriegsartikel der Vereinigten Staten von 1863.
common law of war allows even capital punishment for clandestine
or treacherous attempts to injure an enemy, because they are so
dangerous, and it is so difficult to guard against them.


102.

The law of war, like the criminal law regarding other offences,
makes no difference on account of the difference of sexes, concerning
the spy, the war-traitor, or the war-rebel.


103.

Spies, war-traitors, and war-rebels are not exchanged according
to the common law of war. The exchange of such persons would
require a special cartel, authorized by the government, or, at a
great distance from it, by the chief commander of the army in
the field.


104.

A successful spy or war-traitor, safely returned to his own
army, and afterwards captured as an enemy, is not subject to punish-
ment for his acts as a spy or war-traitor, but he may be held in
closer custody as a person individually dangerous.


Section VI.

Exchange of prisoners — Flags of truce — Flags of protection.


105.

Exchanges of prisoners take place—number for number—rank
for rank—wounded for wounded—with added condition for added
condition—such, for instance as not to serve for a certain period.


106.

In exchanging prisoners of war, such numbers of persons of
inferior rank may be substituted as an equivalent for one of superior

[494]Anhang.
rank as may be agreed upon by cartel, which requires the sanction
of the government, or of the commander of the army in the field.


107.

A prisoner of war is in honor bound truly to state to the
captor his rank: and he is not to assume a lower rank than belongs
to him, in order to cause a more advantageous exchange; nor a
higher rank, for the purpose of obtaining better treatment.


Offences to the contrary have been justly punished by the
commanders of released prisoners, and may be good cause for refusing
to release such prisoners.


108.

The surplus number of prisoners of war remaining after an
exchange has taken place is sometimes released either for the pay-
ment of a stipulated sum of money, or, in urgent cases, of provision,
clothing, or other necessaries.


Such arrangement, however, requires the sanction of the highest
authority.


109.

The exchange of prisoners of war is an act of convenience to
both belligerents. If no general cartel has been concluded, it cannot
be demanded by either of them. No belligerent is obliged to ex-
change prisoners of war.


A cartel is voidable so soon as either party has violated it.


110.

No exchange of prisoners shall be made except after complete
capture, and after an accurate account of them, and a list of the
captured officers, has been taken.


111.

The bearer of a flag of truce cannot insist upon being admit-
[495]Amerikaniſche Kriegsartikel der Vereinigten Staten von 1863.
ted. He must always be admitted with great caution. Unnecessary
frequency is carefully to be avoided.


112.

If the bearer of a flag of truce offer himself during an enga-
gement, he can be admitted as a very rare exception only. It is
no breach of good faith to retain such a flag of truce, if admitted
during the engagement. Firing is not required to cease on the ap-
pearance of a flag of truce in battle.


113.

If the bearer of a flag of truce, presenting himself during an
engagement, is killed or wounded, it furnishes no ground of com-
plaint whatever.


114.

If it be discovered, and fairly proved, that a flag of truce has
been abused for surreptitiously obtaining military knowledge, the
bearer of the flag thus abusing his sacred character is deemed a spy.


So sacred is the character of a flag of truce, and so necessary
is its sacredness, that while its abuse is an especially heinous of-
fence, great caution is requisite, on the other hand, in convicting
the bearer of a flag of truce as a spy.


115.

It is customary to designate by certain flags, (usually yellow,)
the hospitals in places which are shelled, so that the besieging enemy
may avoid firing on them. The same has been done in battles, when
hospitals are situated within the field of the engagement.


116.

Honorable belligerents often request that the hospitals within
the territory of the enemy may be designated, so that they may be
spared.


[496]Anhang.

An honorable belligerent allows himself to be guided by flags
or signals of protection as much as the contingencies and the neces-
sities of the fight will permit.


117.

It is justly considered an act of bad faith, of infamy or fiend-
ishness, to deceive the enemy by flags of protection. Such act of bad
faith may be good cause for refusing to respect such flags.


118.

The besieging belligerant has sometimes requested the besieged
to designate the buildings containing collections of works of art, sci-
entific museums, astronomical observatories, or precious libraries, so
that their destruction may be avoided as much as possible.


Section VII.

The Parole.


119.

Prisoners of war may be released from captivity by exchange
and, under certain circumstances, also by parole.


120.

The term Parole designates the pledge of individual good faith
and honor to do, or to omit doing, certain acts after he who gives
his parole shall have been dismissed, wholly or partially, from the
power of the captor.


121.

The pledge of the parole is always an individual, but not a
private, act.


122.

The parole applies chiefly to prisoners of war whom the captor
[497]Amerikaniſche Kriegsartikel der Vereinigten Staten von 1863.
allows to return to their country, or to live in greater freedom
within the captor’s country or territory, on conditions stated in the
parole.


123.

Release of prisoners of war by exchange is the general rule;
release by parole is the exception.


124.

Breaking the parole is punished with death when the person
breaking the parole is captured again.


Accurate lists, therefore, of the paroled persons must be kept
by the belligerents.


125.

When paroles are given and received there must be an ex-
change of two written documents, in which the name and rank of
the paroled individuals are accurately and truthfully stated.


126.

Commissioned officers only are allowed to give their parole,
and they can give it only with the permission of their superior, as
long as a superior in rank is within reach.


127.

No non-commissioned officer or private can give his parole
except through an officer. Individual paroles not given through an
officer are not only void, but subject the individual giving them to
the punishment of death as deserters. The only admissible excep-
tion is where individuals, properly separated from their commands,
have suffered long confinement without the possibility of being pa-
roled through an officer.


Bluntſchli, Das Völkerrecht. 32
[498]Anhang.
128.

No paroling on the battle-field; no paroling of entire bodies
of troops after a battle; and no dismissal of large numbers of pri-
soners, with a general declaration that they are paroled, is permit-
ted, or of any value.


129.

In capitulations for the surrender of strong places or fortified
camps the commanding officer, in cases of urgent necessity, may
agree that the troops under his command shall not fight again du-
ring the war, unless exchanged.


130.

The usual pledge given in the parole is not to serve during
the existing war, unless exchanged.


This pledge refers only to the active service in the field,
against the paroling belligerent or his allies actively engaged in the
same war. These cases of breaking the parole are patent acts, and
can be visited with the punishment of death; but the pledge does
not refer to internal service, such as recruiting or drilling the re-
cruits, fortifying places not besieged, quelling civil commotions,
figthing against belligerents unconnected with the paroling belli-
gerents, or to civil or diplomatic service for which the paroled officer
may be employed.


131.

If the government does not approve of the parole, the paroled
officer must return into captivity, and should the enemy refuse to
receive him, he is free of his parole.


132.

A belligerent government may declare, by a general order,
whether it will allow paroling, and on what conditions it will allow
it. Such order is communicated to the enemy.


[499]Amerikaniſche Kriegsartikel der Vereinigten Staten von 1863.
133.

No prisoner of war can be foreed by the hostile government
to parole himself, and no government is obliged to parole prisoners
of war, or to parole all captured officers, if it paroles any. As the
pledging of the parole is an individual act, so is paroling, on the
other hand, an act of choice on the part of the belligerent.


134.

The commander of an occupying army may require of the civil
officers of the enemy, and of its citizens, any pledge he may con-
sider necessary for the safety or security of his army, and upon
their failure to give it he may arrest, confine, or detain them.


Section VIII.

Armistice—Capitulation.


135.

An armistice is the cessation of active hostilities for a period
agreed upon between belligerents. It must be agreed upon in
writing, and duly ratified by the highest authorities of the conten-
ding parties.


136.

If an armistice be declared, without conditions, it extends no
further than to require a total cessation of hostilities, along the front
of both belligerents.


If conditions be agreed upon, they should be clearly expressed,
and must be rigidly adhered to by both parties. If either party
violates any express condition, the armistice may be declared null
and void by the other.


137.

An armistice may be general, and valid for all points and
32*
[500]Anhang.
lines of the belligerents; or special, that is, referring to certain troops
or certain localities only.


An armistice may be concluded for a definite time; or for an
indefinite time, during which either belligerent may resume hostilities
on giving the notice agreed upon to the other.


138.

The motives which induce the one or the other belligerent to
conclude an armistice, whether it be expected to be preliminary to a
treaty of peace, or to prepare during the armistice for a more vi-
gorous prosecution of the war, does in no way affect the character
of the armistice itself.


139.

An armistice is binding upon the belligerents from the day of
the agreed commencement; but the officers of the armies are respon-
sible from the day only when they receive official information of
its existence.


140.

Commanding officers have the right to conclude armistices
binding on the district over which their command extends, but such
armistice is subject to the ratification of the superior authority, and
ceases so soon as it is made known to the enemy that the armistice
is not ratified, even if a certain time for the elapsing between gi-
ving notice of cessation and the resumption of hostilities should have
been stipulated for.


141.

It is incumbent upon the contracting parties of an armistice
to stipulate what intercourse of persons or traffic between the in-
habitants of the territories occupied by the hostile armies shall be
allowed, if any.


[501]Amerikaniſche Kriegsartikel der Vereinigten Staten von 1863.

If nothing is stipulated the intercourse remains suspended, as
during actual hostilities.


142.

An armistice is not a partial or a temporary peace; it is only
the suspension of military operations to the extent agreed upon by
the parties.


143.

When an armistice is concluded between a fortified place and
the army besieging it, it is agreed by all the authorities on this
subject that the besieger must cease all extension, perfection, or ad-
vance of his attacking works as much so as from attacks by main
force.


But as there is a difference of opinion among martial jurists,
whether the besieged have the right to repair breaches or to erect
new works of defence within the place during an armistice, this
point should be determined by express agreement between the
parties.


144.

So soon as a capitulation is signed, the capitulator has no right
to demolish, destroy, or injure the works, arms, stores, or ammunition,
in his possession, during the time which elapses between the signing
and the execution of the capitulation, unless otherwise stipulated in
the same.


145.

When an armistice is clearly broken by one of the parties,
the other party is released from all obligation to observe it.


146.

Prisoners, taken in the act of breaking an armistice, must be
treated as prisoners of war, the officer alone being responsible who

[502]Anhang.
gives the order for such a violation of an armistice. The highest
authority of the belligerent aggrieved may demand redress for the
infraction of an armistice.


147.

Belligerents sometimes conclude an armistice while their pleni-
potentiaries are met to discuss the conditions of a treaty of peace;
but plenipotentiaries may meet without a preliminary armistice; in
the latter case, the war is carried on without any abatement.


Section IX.

Assassination.


148.

The law of war does not allow proclaiming either an indivi-
dual belonging to the hostile army, or a citizen, or a subject of the
hostile government, an outlaw, who may be slain without trial by
any captor, anymore than the modern law of peace allows such
international outlawry; on the contrary, it abhors such outrage.
The sternest retaliation should follow the murder committed in con-
sequence of such proclamation, made by whatever authority. Civi-
lized nations look with horror upon offers of rewards for the assas-
sination of enemies as relapses into barbarism.


Section X.

Insurrection—Civil War—Rebellion.


149.

Insurrection is the rising of people in arms against their gov-
ernment, or a portion of it, or against one or more of its laws, or

[503]Amerikaniſche Kriegsartikel der Vereinigten Staten von 1863.
against an officer or officers of the government. It may be confined
to mere armee resistance, or it may have greater ends in view.


150.

Civil war is war between two or more portions of a country
or State, each contending for the mastery of the whole, and each
claiming to be the legitimate government. The term is also some-
times applied to war af rebellion, when the rebellious provinces or
portions of the State are contiguous to those containing the seat
of government.


151.

The term rebellion is applied to an insurrection of large ex-
tent, and is usually a war between the legitimate government
of a country and portions or provinces of the same who seek to
throw off their allegiance to it, and set up a government of their
own.


152.

When humanity induces the adoption of the rules of regular
war toward rebels, whether the adoption is partial or entire, it does
in no way whatever imply a partial or complete acknowledgment of
their government, if they have set up one, or of them, as an inde-
pendent or sovereign power. Neutrals have no right to make the
adoption of the rules of war by the assailed government toward
rebels the ground of their own acknowledgment of the revolted
people as an independent power.


153.

Treating captured rebels as prisoners of war, exchanging them,
concluding of cartels, capitulations, or other warlike agreements with
them; addressing officers of a rebel army by the rank they may
have in the same; accepting flags of truce; or, on the other hand,
proclaiming martial law in their territory, or levying war-taxes or
forced loans, or doing any other act sanctioned or demanded by the

[504]Anhang.
law and usages of public war between sovereign belligerents, neither
proves nor establishes an acknowledgment of the rebellious people,
or of the government which they may have erected, as a public
or sovereign power. Nor does the adoption of the rules of war
toward rebels imply an engagement with them extending beyond
the limits of these rules. It is victory in the field that ends the
strife and settles the future relations between the contending parties.


154.

Treating, in the field, the rebellious enemy according to the
law and usages of war has never prevented the legitimate govern-
ment from trying the leaders of the rebellion or chief rebels for high
treason, and from treating them accordingly, unless they are inclu-
ded in a general amnesty.


155.

All enemies in regular war are divided into two general clas-
ses; that is to say, into combatants and non-combatants, or unarmed
citizens of the hostile government.


The military commander of the legitimate government, in a war
of rebellion, distinguishes between the loyal citizen in the revolted
portion of the country and the disloyal citizen. The disloyal citizens
may further be classified into those citizens known to sympathize
with the rebellion, without positively aiding it, and those who, with-
out taking up arms, give positive aid and comfort to the rebellious
enemy, without being bodily forced thereto.


156.

Common justice and plain expediency require that the military
commander protect the manifestly loyal citizens, in revolted territo-
ries, against the hardships of the war as much as the common
misfortune of all war admits.


The commander will throw the burden of the war, as much
as lies within his power, on the disloyal citizens of the revolted
portion or province, subjecting them to a stricter police than the

[505]Amerikaniſche Kriegsartikel der Vereinigten Staten von 1863.
non-combatant enemies have to suffer in regular war; and if he
deems it appropriate, or if his government demands of him that
every citizen shall, by an oath of allegiance, or by some other ma-
nifest act, declare his fidelity to the legitimate government, he may
expel, transfer, imprison, or fine the revolted citizens who refuse to
pledge themselves anew as citizens obedient to the law and loyal
to the government.


Whether it is expedient to do so, and whether reliance can
be placed upon such oaths, the commander or his government have
the right to decide.


157.

Armed or unarmed resistance by sitizens of the United States
against the lawful movements of their troops is levying war against
the United States, and is therefore treason.


[[506]][[507]]

Appendix A Regiſter.


(S. = Seitenzahl in der Einleitung. Die übrigen Zahlen verweiſen auf die
Paragraphen. n. = Anmerkung.)



  • A.
  • Aachener Congreß 103.
  • „ Protokoll 105 n., 155 n., 171 n.
  • Abberufung von Geſandten 210, 228,
    238, 537.
  • Abbrechung des diplomat. Verkehrs 234,
    235, 237 n., 537.
  • Abſchließung, eines States gegen jeden
    Fremdenverkehr S. 25; eines Meeres
    vom Weltverkehr 305.
  • Abſolutismus 65.
  • Abtretung von Statsgebiet 46 ff., 706, 707.
  • Abzugsrecht S. 24.
  • Abzugsſteuern 393 n.
  • Aerzte, Apotheker u. ſ. w. S. 34; 578, 599.
  • Agenten: 159 ff.; völkerrechtliche 243,
    nicht völkerrechtliche 241, geheime 170 n.,
    242, 637.
  • Alexander II., Kaiſer, S. 20.
  • Alexander VI., Pabſt, S. 26; 278 n.
  • Allianz, heilige, S. 17. — 6 n. 1, 68 n.
    101, 102, 114 n., 446 n.
  • Allianz, bewaffnete, der neutralen Staten
    447 n. 1.
  • Allianzen: Begriff und Arten 446, 447,
    448, 98 n.
  • Allianzverträge, Auslegung und An-
    wendung der, 449.
  • Allianzpflicht 515 n.
  • Alternat 178.
  • Altersrang, diplomatiſcher 187.
  • Ambassadeur ſ. Botſchafter.
  • Ambulancen ſ. Krankenwagen.
  • Amneſtie 710—714.
  • André, engliſcher Major 628 n.
  • Anerkennung, eines neuen States 28 ff.
  • „ einer auswärtigen Re-
    gierung 122, 169.
  • Anerkennung, einer neuen Statsgewalt
    288, 289, 293.
  • Anfänge, des Völkerrechts, im Alter-
    thum S. 10 u. 11, im Mittelalter
    S. 12—15.
  • Annahme, eines Geſanten 169.
  • Annexionen 50.
  • Anſchluß der Bevölkerung eines States
    an einen andern Stat 288.
  • Anſiedlung 280.
  • Anzeige von der Abſendung eines Ge-
    ſanten 167.
  • Anzeigepflicht, des Perſonenwechſels im
    Statshaupt 125.
  • arbitratio, arbitrium 488 n. 1 u. n. 2.
  • Ariſtoteles S. 11.
  • Aſyl, Aſylrecht 151, 200, 394—398,
    400, 586 n., 774 n., 775 n., 845.
  • Aufleben des modernen Völkerrechts
    S. 15 ff.
  • Aufnahmepflicht des States gegen ſ. An-
    gehörigen 368, 401.
  • Aufſtand im Kriege 598.
  • Ausdehnung, räumliche, des Völkerrechts
    S. 17.
  • Auslieferung 200, 201, 395, 396, 399,
    400, 401, 466, 780.
  • Austräge, Austrägeverfahren S. 29;
    496 n.
  • Auswanderer, friedliche, 816.
  • Auswanderung 370—372.
  • Auswechslung von Kriegsgefangenen
    612—616, 623.
  • Auswechslung der Vertragsurkunden
    419 n.
  • Aus- und Zurückweiſung, fremder Stats-
    angehöriger 500.
  • Aus- und Zurückweiſung, von Bewoh-
    nern während einer Belagerung 553.


  • B.
  • Barbareskenſtaten 363 n.
  • Barbariſche Völker 425 n.
  • Beamte, des Heeres 578, 595.
  • Bedenken, gegen das Völker-R. u. deren
    Widerlegung S. 2—10.
  • Beendigung, des Krieges 700 ff.
  • Befreiung des V.R. von religiöſer Be-
    fangenheit S. 16.
  • Befreiungskriege 545 n. 2.
  • Beglaubigungsſchreiben 185.
  • Belagerer 553, 554.
  • Bergelohn 336.
  • Berichterſtatter im Felde 595, 638 n. 2.
  • Beſchlagnahme 500, 806 n. 1., 810, 811.
  • Beſeitigung einer Statsgewalt 288.
  • Beſitz, unvordenklicher 354.
  • Beſitznahme, militäriſche, von Feindes-
    land 539 ff., 576, 719.
  • Beſitzſtand, Wirkung des dauernden 290.
  • Beſitzſtörung, widerrechtliche 464.
  • Beſtrafung eines Geſanten 210.
  • Beſteuerung 376, 377, 389, 390.
  • Beſuche (und Einladungen) der (u. bei)
    Geſanten 190.
  • Beſuchsrecht, wechſelſeitiges, der Schiffe
    352.
  • Beuterecht im Landkriege: S. 38 u. 39;
    657, 659—61.
  • Beuterecht im Seekriege: S. 40. —
    15 n., 665 ff.
  • Bewohner, friedliche, in Feindesland
    573—575, 594.
  • Binnenſeen 306, 316.
  • Binnenſtaten 325.
  • Blocade, Blocaderecht, (blocus) S. 43;
    506, 827 ff.
  • Bombardement 554.
  • Botſchafter 171, 172.
  • Bourbonen 118 n.
  • Boten 639.
  • Bremer Seerechts-Agitation S. 44; 665 n.
  • Briefgeheimniß, Verletzung des 199.
  • Briganti 513 n. 1.
  • Bürge, der Stat als, 441.
  • Bürgerkriege 512 n. 3., 514 n. 1.
  • Bürgſchaftsgarantie 432 n., 440 n.
  • Buchten S. 27; 309.
  • Bund, deutſcher, 160 n.; norddeutſcher
    70 n., 160 n.
  • Bundesgenoſſenſchaft mit einer Kriegs-
    partei 750, 751.
  • Bundesſtat 70 ff., 160, 373.
  • Bundesverfaſſung, ſchweizeriſche 122 n.
    160 n.
  • Bynkershoek 14 n. 1, 151 n., 164 n.,
    568 n, 674 n. 1, 742 n.


  • C.
  • Caboto, Seefahrer, 278 n.
  • Cabotage ſ. Küſtenhandel.
  • Canning 30 n., 763 n. 2.
  • Carl II. 117 n.
  • Carl V. 186 n.
  • Capellenrecht 204—207.
  • Caper ſ. Kaper.
  • Capitulation 697—699.
  • Cartelſchiffe 680.
  • Cartelverträge 614 n. 679.
  • Casus fœderis 449 n. 1.
  • Chriſtenthum, deſſen Einfluß auf das
    Völkerrecht S. 12 ff.
  • Ceremonialgeſandte 181. 227.
  • Ceremoniel 171 n. 188. 189.
  • Clauſel: „rebus sic stantibus“ 456.
  • Codifikation, erſte nordamerikaniſche, des
    Kriegsrechts im Landkriege S. 5 ff.
    und Anhang.
  • Collektivgarantie 440.
  • Colonialſtaten 79.
  • Colonieen, ſüd- und nordamerikaniſche,
    29 n. 31 n. 120 n. 277 n. 2.
  • Coloniſten 279. 280.
  • Combattanten ſ. Kämpfer.
  • Commandant, eines feſten Platzes 552,
    553.
  • Commiſſäre, völkerrechtliche 243.
  • Concordate 26 n. 443.
  • Conferenzen 12 n. 1.
  • Conflikt der Statsrechte und Bürger-
    pflichten 374.
  • Conflikte, Entſcheidung der, über die
    Rechte der Exterritorialen 224.
  • Conflikte, Schlichtung der völkerrechtlichen
    481 ff.
  • Congreßakte, Wiener 53 n. 710 n. 1.
    745 a.
  • Congreſſe, allgemeine, S. 4. 12 n. 1,
    108—114.
  • Congreſſe, von Wien S. 19; 91. 108 n.;
    von Genf S. 35; von Aachen, Laibach
    und Verona S. 47; — 3 n. 2. 84 n.
    90 n. 106 n. 108 n. 120 n. 351 n.
    474 n. 3.
  • Connivenz, ſtatliche 466 n. 467 n. 2.
  • Consensus gentium 13.
  • Conſularagenten 271 n.
  • Conſulate, Conſule: im Allgemeinen
    S. 22; Begriff und Stellung 244;
    Patent 245; Exequatur 246. 248.
    556 n.; Errichtung 247: Arten 249;
    ſind diplomatiſche Agenten 250; Recht
    zur Ausfertigung von Päſſen 251;
    Gerichtsbarkeit 252. 259. 269; Schieds-
    richteramt 253. 259. 320; Schutzrecht
    (pflicht) 254—257; Schiffspolizei 258;
    Disziplinargewalt 260; Unterſtützung
    der Schiffsführer 261; Conſtatirung
    der Seeſchäden 262; Schiffsreparaturen
    u. Verkaufsrecht 263; Recht bei Schiff-
    brüchen 264; R. zur Führung der
    Standesregiſter 265; R. zur Erthei-
    lung der Volljährigkeit 266; Privi-
    legien der levantiniſchen Conſuln insbeſ.
    269; Beſoldung 270; Rangklaſſen-
    beſtimmung 271; Wappen- u. Flaggen-
    recht 272.
  • Continentalſperre S. 41.
  • Contrebande S. 45. ſiehe auch: Kriegs-
    contrebande.
  • Contributionen S. 39. ſ. auch: Geld-
    contributionen.
  • Contumazanſtalten 508.
  • Convocirung 824—826.
  • Courtoiſie 154 n.
  • Creditiv 183—187. 228—233. 236—238.
    245.
  • Cromwell 117 n. 500 n. 3.
  • Cultus, Unterdrückung des 577.
  • Curiere 198. 199. 639.

  • D.
  • Dante 5 n.
  • Decretum Gratiani S. 12. 679 n.
  • Deditionsformel, altrömiſche 702 n.
  • Defenſivallianzen 446 n. 447 n. 1.
  • Deſerteure 627.
  • Dienſte, gute (bons offices) S. 29;
    483, 484, 498 n.
  • Diplomaten, diplomatiſcher Körper S. 22;
    — 27, 182, 473.
  • Diplomatiſche Sendung, deren Ende
    227 ff., deren Unterbrechung 237.
  • Diplomatiſche Verhandlung 482.
  • Diplomatiſcher Verkehr 537, 796, 797.
  • Directorialregierung, franzöſiſche 117 n.
  • Donaufürſtenthümer 432 n.
  • Droit d’aubaine 393 n.
  • „ de perquisition 393 n.
  • „ du renvoi 383 n.
  • „ de visite 352 n.
  • Dufour, General 586 n.
  • Dunant, Genfer Arzt 586 n.
  • Durchfahrt 310.
  • Durchſuchungsrecht S. 45; 819—826.
  • Dynaſtie, Verträge eines States mit
    einer 43 n. 443 n. 1; — reſtaurirte
    Dyn. 44.

  • E.
  • Ehre, Verletzung der, eines States 463.
  • Eid u. Ehrenwort 425, 737.
  • Eigengewäſſer S. 28. 321 n. 2. 342;
    neutrale: 773, 786, 787, 814.
  • Einigung, nationale 517 n.
  • Einquartierung 653 n. 2.
  • Einverleibung 50 ff., 287, 288; 715 n.
  • Einzelkampf 578.
  • Einzelſtat 71, 444 n. 1.
  • Embargo 509, 669.
  • Enge Meere 309 n.
  • Entdeckung ſtatenloſer Länder 278.
  • Entlaſſung, eines Geſanten 169 n.
  • „ der Kriegsgefangenen, auf
    Ehrenwort 617—626.
  • Entſchädigungspflicht für Requiſitionen
    653, 655, 656.
  • Entſtehung eines neuen States 28 ff.
    279 n. 288 n. 4.
  • Entwaffnung, flüchtiger Truppen 776,
    einbrechender Truppen 788.
  • Entwicklung des Völkerrechts S. 10 ff.
  • Erbrecht, Erwerbgrund der Statshoheit
    293.
  • Erbverträge 443 n. 1.
  • Erfüllungs- und Erſatzforderung 462.
  • Eroberung 289, 576 n. 2, 715 n., 733.
  • Etappenſtraßen 771 n.
  • Etiketteverſtöße 190 n.
  • Exekutionskrieg 514.
  • Exemtionsrecht 139, 141, 154, 197,
    209, 218, 267.
  • Exequatur 246, 248, 273, 274. ſ. auch
    Conſuln.
  • Exterritorialität 129 n., 135—153, 196,
    216 n., 267, 321.

  • F.
  • Familie, ſouveräne 127.
  • Familiengenoſſen der ſouveränen Perſonen
    154—158.
  • Familiengenoſſen und Gefolge eines Ex-
    territorialen 145—149, 211—215, 219.
  • Fecialrecht, altrömiſches 406 n.
  • Fehderecht 511 n. 522 n. 1.
  • Feinde S. 31 und 35; 531—533, 569,
    578 ff., 594.
  • Feindesſchonung, Grundſatz der 585.
  • Feindliche Perſonen im eigentl. Sinne
    569, 570, 575, 578, 594.
  • Feldgeiſtliche S. 34. 578, 587, 599.
  • Fiſcherboote 667.
  • Fiſcherei, freie 307, 310, — an den
    engliſch-amerikaniſchen Küſtengewäſſern
    718 n. 2.
  • Fiskus 442 n.
  • Flagge 324. 325. 328. 329. 339. 343.
  • „ neutrale, deckt die feindliche Waare
    S. 42; 794.
  • Flagge (Fahne), weiße, Aufhiſſen und
    Aufſtecken derſ. 697 n. 1.
  • Flibuſtier 513 n. 1.
  • Flüchtlinge 395—400.
  • Flüſſe S. 27.
  • Fluß, als Grenze 298, 299.
  • Flußſchiffahrt 47.
  • Fluß- und Schiffahrtspolizei 313.
  • Flußzölle S. 28.
  • Fœdus iniquum 444 n. 2.
  • Franklin S. 41.
  • Freiheit, der Staten 8, 9, 64 ff.
  • „ perſönliche 360 ff.

[511]Regiſter.
  • Freiheit, religiöſe S. 21.
  • „ des Verkehrs S. 25.
  • „ der Schiffahrt S. 25 ff.
  • Freiſcharen 512 n. 2, 570, 572, 758 n.
  • Frei Schiff, frei Gut S. 43; 794.
  • Freizügigkeit S. 24.
  • Fremdenrecht S. 23 ff.; 381—394; 411,
    472.
  • Friede S. 9.
  • „ von Adrianopel (1829) S. 26;
    von Nanking (1842) S. 25; von
    Paris (1856) S. 26, S. 28, S. 29,
    S. 42, S. 43, S. 45; 305 n.,
    308 n.; von Paris (1814) S. 27;
    von Utrecht (1713) S. 19; 351 n.
  • Friedens-Allianzen 446 n.
  • „ -Blokade zur See 507.
  • „ -Bruch 465, 725, 726.
  • „ -Congreß, Pariſer (1856): S. 17.
    S. 26; 106 n., 111 n., 484 n.,
    498 n., 670 n. 2, 794 n., 795 n.,
    801 n. 2, 828 n. 1. ſiehe auch: Friede.
  • Friedens-Congreß, in Münſter 149 n.
  • „ -Schluß: 289, 703—709, 714—
    724; 731, 733, 734, 736, 861.
  • Friedens-Unterhandlung, Eröffnung der
    705 n. 1.
  • Friedens-Vertragsverletzung 725 n. 2.
  • Friedrich d. Große 500 n. 3, 658 n.,
    842 n.
  • Fürſten, entthronte 118, 443 n. 1.

  • G.
  • Garantie, Garantieverträge: 430—439,
    486.
  • Garantibeſchluß 432 n., 440 n.
  • Garibaldi 512 n. 2, 570 n. 1 und 2.
  • Gebietshoheit: Begriff 276; Inhalt 277;
    Subjekt 277 n. 1; Begründung 289,
    291, 293; Formen des Erwerbs 292;
    concurrirende der Uferſtaten 300, 303,
    304, 316; beſchränkte 309, 310; ſiehe
    auch: Statsdienſtbarkeiten. Ausdeh-
    dehnung auf Schiffe u. ſ. w. S. 27,
    — 318; Verpfändung derſ. 428.
  • Gebietsverminderung 46.
  • Gebirgszug, als Grenze 297.
  • Gefangennahme, eines Exterritorialen
    überhaupt 142, 500 e und f; eines
    Geſandten 136 n. 210; — eines Neu-
    tralitätsbrechers 788; — eines Sou-
    veräns 130 n., 142; diplomatiſcher
    Agenten 637.
  • Geiſeln 426, 427, 500 e, 600.
  • Geldcontributionen 654, 717.
  • Geleitſcheine 675—677.
  • Geleitſchiffe 824—826.
  • Gemal, Gemalin, fürſtlicher (e) 154 ff.
  • Gemeinflüſſe 314 n.
  • Gemeingefährliche Verletzungen des Völ-
    kerrechts 471—473, 478.
  • Generalconſuln S. 23, 271.
  • Genfer-Vertrag v. 1864: 586 n.
  • Gerichtsbarkeit, der Civilgerichte, über
    die Exterritorialen 140.
  • Germanen, das Völkerrecht der S. 14
    und 15.
  • Geſammtſtat (Statenverein) 71 ff., 432 n.,
    444 n. 1, 480, 496, 514.
  • Geſante: deren: Unverletzlichkeit S. 21 ff.;
    Einrichtung ſtändiger S. 22; völker-
    rechtl. Perſönlichkeit 27; Begriff 170;
    Klaſſen u. Arten 171 ff.; im Alter-
    thum 171 n.; ſtändige und nicht-
    ſtändige 180; Beginn des Charakters
    183 ff.; perſönliche Rechte u. Pflichten
    191 ff.; Disziplinargewalt über ihre
    Angehörigen 216, Gerichtsbarkeit über
    dieſelben 216 n., 217, 220, 221;
    Steuerfreiheit 222, 223; Abberufung
    228; Beförderung 236; Verabſchiedung,
    feierliche 238; Verlaſſenſchaft 240;
    Suspenſion ihrer Thätigkeit im Kriege
    555; neutrale Geſ. 555; Bruch ihrer
    Rechte 191 ff., 472.
  • Geſantſchaftsrecht, aktives 159 ff.
  • Geſchäftsträger (chargés d’affaires)
    171, 174, 233.
  • Geſetzesrecht 12 n. 2.
  • Geſetzgebung, völkerrechtl. S. 2—7.
  • Gewäſſer, Gemeinſchaft der S. 25 ff.
  • „ öffentliche 304 ff.
  • Gewalt, angebliche Herrſchaft der S. 9 ff.
  • Glaubensverfolgungen 411, 472.
  • Gleichgewicht 95—100.
  • Gottesfriede (treuga Dei) 687 n.
  • Gregor XVI. Pabſt 117 n.
  • Grenzen, des Statsgebiets 296 ff.
  • „ des Völkerrechts S. 17, —
    1 u. ff.
  • Grenzregulirungen 47.
  • Grenzverhältniſſe 42 n.
  • Grenzzeichen 296 n.
  • Groot (Grotius) Hugo de S. 16, S. 26,
    S. 31, S. 32; 1 n. 2, 16 n., 151 n.,
    210 n., 304 n., 657 n. 1, 709 n.,
    742 n.
  • Großſtat, nationaler, 99 n.
  • Grundlage des Völkerrechts S. 1 u. 2.
    1 u. ff.
  • Güter, geborgene, 668.

  • H.
  • Hafenordnungen 327 n.
  • Halbſouveränetät 78.
  • Hamilton S. 45.
  • Handel, mit Waffen u. dergl. 765.
  • Handelsconſuln S. 22 u. 23.
  • Handelsſchiffe, feindliche, 669.
  • Handelsverkehr, deſſen Hemmung, 500.
  • „ neutraler, 798 ff.
  • Handlungsfähigkeit der Staten 62 u. 63.
  • Häuſer, dynaſtiſche 293 n.
  • Hausrecht, des Geſandten 206 n.
  • Haverei 262.
  • Heffter 16 n., 367 n., 568 n., 718 n. 3.
  • Heimatsloſigkeit 369.
  • Heimfallsrecht S. 24.
  • Heinrichs’ VII., engliſche Parlamentsakte
    v. 1494: 117 n.
  • Hellenen, das Völkerrecht der, S. 10 u. 11.
  • Herrenloſe Sache 277 n. 2.
  • Hierarchie, römiſche, 165 n.
  • Hörigkeit, bäuerliche S. 19.
  • Hülfslohn 336 n.
  • Hülfstruppen, Zufuhr von 815.
  • Humanität, die, das Weſen der Civili-
    ſation 5 n.
  • Humboldt, Wilhelm von, S. 28, 312 n.

  • I.
  • Incognito 133.
  • Indult 669 n.
  • Innocenz III., Pabſt, 560 n.
  • Inſeln, neugebildete, 295.
  • Inſtruktion, für die Armeen der Ver-
    einigten Staten im Feld S. 5 u. 6
    und Anhang.
  • Interimsgeſandter 180.
  • International law 1 n. 2.
  • Internirung 398 n., 776.
  • Internuncius, öſterreichiſcher 173 n.
  • Internuncien, päbſtliche, 173.
  • Interpretation der Statenverträge 449.
  • Intervention, deren: Unzuläßigkeit im
    Allgemeinen 474; Geſchichte 474 n.
    2—4; Zuläßigkeit auf Anrufen 475—
    477; Zuläßigkeit ohne Anrufen 478,
    480, 515 n.; Abwehr durch die übrigen
    Mächte 479.
  • Intervention, des Heimatſtates 380 n.,
  • „ des Garanten 431 u. ff.
  • Interventionen, der heiligen Allianz, 68 n.
  • Interventionsrecht u. Politik 107, 120 n.
  • Italien, Königreich 104 n., 125 n.
  • Jakob II. 117 n., 118 n.
  • jus albinagii 393 n.
  • „ avocandi 375, 394.

  • K.
  • Kämpfer (combattans) 578, 594.
  • Kaiſerthum, römiſch-deutſches S. 15.
  • Kant S. 24.
  • Kanonenſchußweite 302, 309 n.
  • Kaperbriefe 670 n. 1.
  • Kaperei, Abſchaffung der, S. 41 u. 42,
    — 670 n. 2 u. 3.
  • Kaperſchiffe 349 n. 3, 501 n. 2, 572,
    670.
  • Katharina II. von Rußland S. 44.
  • Kent 16 n.
  • Kirche, römiſch-katholiſche, im Mittelalter
    26 n.
  • Kirchen, die chriſtlichen, ſind keine völker-
    rechtl. Perſonen i. engern Sinne 26.
  • Klüber 742 n.
  • Knechtſchaft, erbliche S. 19.
  • Königskammern 309 n.
  • Krankenwagen (Ambulancen) 586 ff.
  • Krieg S. 7, S. 9, S. 30; deſſen: Be-
    griff 510; gerechter, ungerechter, völker-
    rechtswidriger 447, 515, 519, 520,
    535; ſein Einfluß auf die Verträge 461.
  • Kriegs-Allianzen 446 n., 447.
  • „ -Anleihe 768.
  • „ -Artikel, nordamerik., ſ. Anhang.
  • „ -Ausrüſtung 57, 645, 664.
  • „ -Beute im Landkriege: 644—650,
    659.
  • Kriegs-Beute im Seekriege: 664; —
    Rückgabe derſelben 722, 723.
  • Kriegs-Contrebande S. 42, — 765, 794,
    795, 801, 802; abſolute 803; rela-
    tive 805, 806; dann noch 807—817.
  • Kriegs-Depeſchen 803 n. 5.
  • „ -Dienſt 576.
  • „ -Erklärung 521—525, 537.
  • „ -Eröffnung 525—528.
  • „ -Gefangene S. 35, 349 n. 2 u.
    3, 582, 585, 593—626, 639, 716,
    737, 738.
  • Kriegs-Gerichte, ſtandrechtliche, 547 n. 2,
    548.
  • Kriegs-Gewalt, Rechte und Pflichten der
    541—551; 568—577.
  • Kriegs-Laſten S. 39.
  • „ -Manifeſt 522, 524.
  • „ -Mittel 534; unerlaubte: 557—
    563, 566; erlaubte: 564, 565, 583.
  • Kriegs-Parteien 511—514, 530.
  • „ -Rebellen 643.
  • Kriegs-Recht S. 30 u. ff.; Ausübung
    desſ. 542, 543, 550; Mißbrauch desſ.
    542.
  • Kriegs-Rüſtung, iſt Gegenſtand des Beute-
    rechts S. 39.
  • Kriegs-Schiffe 321; nothleidende: 775,
    776.
  • Kriegs-Sitte, gute, 554, 560, 567,
    578 n., 622 n., 661, 685, 807.
  • Kriegs-Trophäen 650 n. 1 und 3.
  • „ -Urſachen 516—519, 536.
  • „ -Verräther 631—634, 639.
  • „ -Ziel 536.
  • „ -Zuſtand, Wirkungen des, 529 ff.
  • Kündigungsrecht, einſeitiges, eines Ver-
    trages 454, 458.
  • Küſten S. 26 u. 27.
  • „ -Gewäſſer, neutrale, 772.
  • „ -Handel (Cabotage) der Neu-
    tralen 800.
  • Küſten-Saum 302, 303, 309, 322.
  • „ -Schutz 303.
  • „ -Stat 322, 323, 325, 338.
  • Kurfürſten, Rang der, 87 n.
  • Kurheſſiſcher Rechtsſtreit 733 n.

  • L.
  • Landeskirche 26 n.
  • Landesverrath 631 n., 634 n.
  • Landſee, als Grenze 301.
  • Landſperre 506 n. 2.
  • Landſturm 597, 598.
  • Laurent S. 14; 425 n., 663 n.
  • Lebensmittel, Zufuhr von, 807.
  • Legaten und Nuncien, päbſtliche 165 n.,
    172.
  • Legati a (de) latere 172 n. 2.
  • „ reverentiæ 181 n.
  • Legitimität (Illegitimität) einer Stats-
    regierung 120.
  • Legitimitätspolitik 120 n.
  • Legitimitätsprinzip S. 47 u. ff.
  • Lehensherrlicher (oberherrlicher) Stat 76,
    77, 444 n. 1.
  • Leibeigenſchaft, Aufhebung der in Ruß-
    land, S. 20.
  • Leinpfad 312.
  • Licenzen (Erlaubnißſcheine) 674 n. 4.
  • Lieber, Profeſſor S. 5, S. 30.
  • Lincoln S. 5, 349 n., 3, 832 n., 1.
  • Localiſirung d. Krieges S. 44, 747.
  • Londoner Vertrag (v. 15. Nov. 1831)
    745, b. (v. 1867) 745 d.
  • Loos, Entſcheidung durch das, 178.
  • Losſagungsrecht (von den Concordaten)
    443 n. 3.
  • Ludwig XIV. S. 22.
  • Ludwig XVIII. 117 n.
  • Ludwig Philipp 117 n.
  • Lüneviller Friede 298 n. 2.

  • M.
  • Magna Charta, engliſche (v. 1215),
    657 n. 1.
  • Majeſtät (Titel) 89.
  • Manus Geſetzbuch 585 n.
  • Maria Stuart 130 n.
  • Marinegerichtsbarkeit 321 n.
  • Marketender 578.
  • Marode, Marodeurs S. 35, S. 39, 642.
  • Martens 200 n., 202 n.
  • Mediatiſirung 288 n. 4.
  • Meer, als Grenze 302.
  • Meer, Freiheit desſelben S. 26; 304,
    305.
  • Meere, geſchloſſene, 306.
  • Meereseinbrüche 309.
  • Mehrheitsbeſchlüſſe 10, 113.
  • Menſch, der einzelne 23.
  • Menſchenrechte S. 19; 529 n. 2, 533.
  • Metternich 120 n.
  • Militärcapitulationen 759 n.
  • Militärpflicht 391.
  • Militärſpitäler 586 ff., 685.
  • Miniſter, bevollmächtigte 171, 173 n.
  • Miniſterreſidenten 171, 174.
  • Minneverfahren 481—487.
  • Mittel, friedliche, des Völkerrechts S. 8.
  • Miſſion, außerordentliche, 175.
  • Mobiliar, eines Exterritorialen, 153.
  • Monroedoktrin 474 n. 3.
  • Montesquieu 7 n.
  • Mortara, Raub des, S. 21.
  • Moynier, Präſident 586 n.

  • N.
  • Napoleon I. 117 n., 130 n.
  • Napoleon III. 108 n., 109 n., 117 n.,
    124 n.
  • Nation 1 n. 2.
  • Nationalität, der Schiffe 324 u. ff.
  • Nationalſtat 288.
  • Naturzuſtand, angeblicher, 529 n. 1,
    538 n. 1.
  • Navigationsakte 327 n.
  • Nebenländer 80.
  • Nebenvertrag 430—432.
  • Neugeſtaltung e. States 517.
  • Neutralität im Allgemeinen S. 44 u. ff.;
    Begriff der N. 742, 743; Grund-
    bedingung d. N. 744; Arten der N.
    745—748; Bedingungen der N. 749
    u. ff.; Pflichten der Neutralen 756
    u. ff.; Rechte der Neutralen 783 u. ff.;
    Handelsverkehr d. Neutralen 798 ff.
  • Neutralität, Belgiens 432 n., 440 n.,
    745 b); Luxemburgs 440 n.,
    745 d); der Schweiz 745 a);
    Serbiens 745 c).
  • „ bewaffnete (von 1780 und
    1800) S. 44, 447 n. 1,
    794 n., 801 n. 2, 803 n.
    3, 824 n., 825 n., 830 n.,
    835 n. 4.
  • „ der Krankenwagen, Militär-
    ſpitäler u. ſ. w. 586—592.
  • Neutralitätsakte, engliſche (v. 1819) u.
    nordamerikaniſche (v. 1794 u. 1818)
    S. 45.
  • Neutralitätsbuch 779—781, 788—790.
  • Neutralitätsgeſetz der Ver. St. v. Nord-
    amerika 763 n. 2.
  • Nichterfüllung, der völkerrechtlichen Ver-
    bindlichkeiten 462.
  • Nichtinterventionsprincip 474 n. 3 u. 4.
  • Nichtkämpfer (non combattans) S. 34,
    578, 595.
  • Nikolaus I. Kaiſer 124 n.
  • Nomadenvölker 20.
  • Nothwehr, Recht der, 144, 194.
  • Notifikation, der Ankunft von Geſandten
    187; der Thronfolge 229.
  • Nuncien ſiehe Legaten.

  • O.
  • Occupation herrenloſer Sachen 277 n. 2.
  • „ geſtrandeter Waaren u. ſ. w.
    335.
  • „ ſtatenloſen Landes 278, 279
    —283.
  • Offene See — als Kriegsfeld 814.
  • Offenſivallianzen 446 n., 447 n. 2.
  • Officiere neutraler Staten 638 n. 1.
  • Organe, völkerrechtliche 115 ff.

  • P.
  • Pacifico-Angelegenheit 500 n. 3, 502 n.
  • pacta 405 n.
  • pactum instar legis 402 n.
  • Päbſte, deren völkerrechtliche Stellung im
    Mittelalter S. 12; 425 n.
  • Panin, ruſſiſcher Kanzler, S. 44.
  • Pardon, ſiehe Quartiergeben.
  • Pariſer-Vertrag vom 30. März 1866
    745 c.
  • Parlamentäre 681—684, 687 n., 697 n. 1.
  • Parlamentärflagge (Fahne) 681, 684.
  • Parole ſ. Ehrenwort.
  • Parteigänger 570.
  • Parteien, ſind nicht Subjekte des Völker-
    rechts im e. Sinne 24.
  • Partikularſtaten 99 n.
  • Päſſe 186.
  • Päſſe, militäriſche 675—678, 792.
  • Paßzuſtellung an einen Geſandten 210.
  • Patent, der Conſuln 245.
  • Penn, William 280 n.
  • Pentarchie 103—107, 471 n.
  • Perſonal, der Spitäler und Ambulancen
    587 u. ff.
  • Perſonalprincip 379 n.
  • Perſonalunion 51, 74, 75.
  • Perſonen u. Güter, neutrale, 793—795.
  • Perſonen, völkerrechtliche 17 u. ff.
  • Peter d. Gr., von Rußland 133 n.,
    218 n.
  • Pfandnahme, gewaltſame, 429.
  • Philimore 762 n.
  • Piraten, Piraterie 349, 351, 472, 513,
    521 n.
  • Piratenſchiffe 343—351.
  • Piratenſtaten 349.
  • Plätze, offene und feſte, 554 n.
  • Platen S. 11.
  • Plünderung 661.
  • Portalis 531 n.
  • Postliminium 727—741, 860 n. 1.
  • Präſident, einer Republik, 126, 128.
  • Praxis, ſtatliche, des vor. Jahres 77 n.
  • Praxis, ſtatsmänniſche, deren Einfluß auf
    das Völkerrecht S. 15; amerik. S. 46.
  • Preßfreiheit während des Kriegs 545 n. 1.
  • Preußen 104 n.
  • Prinzen und Prinzeſſinen, der ſouveränen
    Häuſer 157, 158.
  • Priſe, Priſenrecht, Priſengericht S. 45;
    346, 347; 500 n. 3, 507, 509 n.,
    527 n., 668, 672, 741, 777 n., 786,
    809—811, 818, 822, 825, 841 u. ff.
  • Privateigenthum, im Landkriege S. 36 ff.
    652, 653 u. ff.; im Seekriege: 665,
    666.
  • Privateigenthum, des States 58.
  • Privatgut, fürſtliches, 734.
  • Privatgut, deſſen Beſchlagnahme, 500.
  • Privatkrieg 670 n. 1.
  • Privatperſonen im Kriege 530, 531.
  • Privatrechte, Schutz derſelben durch das
    Völkerrecht S. 18.
  • Privatrepreſſalien 503 n.
  • Proteſt 482.
  • Protokolle, völkerrechtliche 12 n. 2.
  • Provincialſchulden 47.
  • Pufendorf S. 16, S. 31; 7 n.
  • Punktationen 418.

  • Q.
  • Quartiergeben 580—584.
  • Quellen, des Völkerrechts S. 3 u. ff.,
    10—16.

  • R.
  • Rang, der Staten 84 ff.
  • „ kaiſerlicher 86.
  • „ königlicher 87, 172.
  • „ der Familiengenoſſen eines Sou-
    veräns 155 u. ff.
  • „ der Geſandten 171 u. ff.
  • Rangerhöhung, eines States, 94.
  • Rangordnung, der Geſandten untereinan-
    der 176.
  • Ratifikation, der Verträge, 419—421.
  • Raubſtaten, afrikaniſche, 513 n. 2.
  • Räuber 571, 641.
  • Recht, der nationalen Entwicklung und
    der Selbſtbeſtimmung der Völker
    S. 46 u. ff.
  • „ conventionelles und nothwendiges
    402 n., 460 n.
  • „ internationales 1 n. 2.
  • „ der königlichen und kaiſerlichen
    Staten 89.
  • Rechtsbruch 464, 465.
  • Rechtsbücher, völkerrechtliche S. 6.
  • Rechtsgleichheit der Staten 81 u. ff.
  • „ der Völker 2.
  • Rechtspflege, völkerrechtliche S. 7—8.
  • Rechtsſchutz S. 7; ſtatlicher in der
    Fremde S. 24—25.
  • Rechtsverſchiedenheit, kein Grund zur Re-
    torſion 505 n. 2.
  • Rechtsverwahrung 482.
  • Recreditivſchreiben 238.
  • Recognitionspatrouillen 630.
  • Reichsverfaſſung, alte deutſche, 160 n.
  • Reihenfolge, der Staten, bei der Unter-
    zeichnung v. Akten u. Verträgen 178.
  • Reisläufer 758.
  • Religion und Recht 6 n. 2.
  • Religionsübung, Recht der Geſandten
    auf freie, 203, 208.
  • Repräſentationsrecht im Völkerrecht 115,
    116, 454 n.
  • Repreſſalien: S. 34; zuläſſige, ohne Krieg
    500; unzuläſſige 501.
  • „ Umfang der 502.
  • „ berechtigt dazu 503.
  • „ Dauer derſelben 504.
  • „ im Kriege 567, 580, 685 n.
  • Repriſe 846, 859, 860.
  • Requiſitionen 653, 717.
  • Reſtaurirte Regierung 731—735.
  • Retorſion 505.
  • Rettungsanſtalten 337, 338.
  • Rettungslohn 336 n.
  • Revolution, griechiſche, belgiſche, franzö-
    ſiſche 120 n.
  • Rheden S. 27.
  • Rheinſchiffahrt S. 27.
  • Richelieu S. 22.
  • Römer, das Völkerrecht der S. 11,
    512 n. 4.
  • Rücktrittsrecht vom Vertrage 455, 462,
    500 g.

  • S.
  • Säkulariſation 288 n. 4.
  • Saint Pierre, Abbé, 95 n.
  • Schätzungsverfahren 488 n.
  • Schiedsgericht, S. 8, S. 29 u. ff.; der
    Päbſte im M.-A. S. 12 u. ff.
  • Schiedsrichterliches Verfahren 488—498.
  • Schiffahrt, freie, S. 25 ff., 307, 308,
    310, 312, 314, 316, 325, 327, 411.
  • Schiffahrtsakte, engliſche (1854) 330 n.,
    333 n., 335 n., 336 n., 337 n.
  • Schiffahrtsgebühren 315.
  • Schiffe, geſtrandete 668.
  • Schiffe: Gebietstheile des Landes 317.
  • „ Handels- oder Kriegsſchiffe 317 n.
  • „ fremde 319, 323, 328, 339,
    341.
  • „ auf offener See 318.
  • „ Gerichtsbarkeit darüber 319,
    320. 322.
  • „ exterritoriale 321.
  • „ barbariſcher Stämme 325 n.
  • „ Papiere derſelben 326.
  • „ Ausweichen der 330.
  • „ Fahrregeln für die 331, 332.
  • „ „ in Seegefahr 333.
  • „ „ nationale 350.
  • Schiffbrüchige 334, 337, 338.
  • Schiffsrecht 317 u. ff.
  • Schill 512 n. 2.
  • Schleſiſche Landesſchuld 500 n. 3.
  • Schranken des Völkerrechts S. 17 u. ff.
  • Schutzfahnen 685.
  • Schutzhoheit 78, 403 n.
  • Schutzpflicht, der Staten gegenüber den
    Geſandten 192, 239, 275.
  • Schutzrecht u. Pflicht d. Staten, gegen-
    über ihren Angehörigen im Auslande
    380, 384, 468.
  • Schutzſtaten 78; deren Rang 92, 444 n. 1.
  • Schutzwachen, Schutzbriefe 686.
  • Schutz- und Trutzbündniſſe 446 n.
  • Schweden 104 n.
  • Seebeute 111 n.
  • Seeblokade 506 n. 2.
  • Seehäfen S. 27, 309.
  • Seeherrſchaft, angemaßte 304 n., 305 n.,
    310 n. 2, 472.
  • Seehoheit, angemaßte, d. Engländer S. 26.
  • Seekriegsrecht S. 40 u. ff.
  • Seepolizei, völkerrechtliche S. 20; 341 n.,
    344 n.
  • Seeraub, autoriſirter S. 41.
  • Seeräuber S. 35, 343.
  • Selbſtändigkeiten der Staten 8.
  • Selbſtändigkeiten, deren Beſchränkung 9.
  • Selbſtbefreiung eines Volkes vom Feinde
    730.
  • Selbſthülfe, gewaltſame, S. 7 ff., 429,
    448, 464, 449 ff., 510 ff.
  • „ zur See 340 n., 348.
  • Siegelung der Verlaſſenſchaft von Ge-
    ſanten 240.
  • Siegesdenkmäler 650 n. 2.
  • Sklavenhandel 351, 363.
  • Sklavenmärkte S. 20, 363.
  • Sklavenſchiffe 351.
  • Sklaverei, Verhalten der Römer, des
    Chriſtenthums dagegen S. 18
    —19.
  • „ die, im germaniſirten Europa
    S. 19.
  • „ in Amerika S. 19;
  • „ Verhalten der Engländer da-
    zu S. 19.
  • „ Erklärung des Wiener Con-
    greſſes dagegen S. 19, 351 n.
  • „ Verbot derſelben durch die V.
    St. v. N.-Amerika S. 19.
  • „ Maßregeln dagegen S. 20.
  • „ Aufhebung in Nordamerika
    S. 20, 15 n., dann 360,
    361, 362, 411, 472.
  • Sonderbundskrieg, Schweizer, 514 n. 1.
  • Souveräne, deren völkerrechtliche Per-
    ſönlichkeit 27; Verträge derſ. 443.
  • Souveränetät der Staten 64—80.
  • Souveränetätsrechte, des States, 68.
  • Spanien 104 n.
  • Spione, Spionerie S. 35, 628, 629,
    630, 633, 639, 683.
  • sponsiones 405 n.
  • Stämme, barbariſche, 280.
  • „ wilde, 535 n. 2, 557 n.
  • Standrecht S. 35. 348, 547, 548.
  • Stapel- und Landungsplätze 315.
  • Stat, der, Begriff S. 2.
  • Staten: Subjekte des Völkerrechts 17 u. ff.;
    Entſtehung und Anerkennung neuer
    [518]Regiſter.
    Staten 28 ff.; Untergang der St.
    46 ff.; völkerrechtliche Eigenſchaften
    der St. 62 ff.; halbſouveräne 78, 79;
    deren Rang 92, 93; Bildung neuer
    St. 279 n.; paciscirende 444; Sub-
    jekte des Krieges 530 ff.; neutrale
    St., deren bewaffnete Allianz 447 n. 1,
    deren Handel 507.
  • Statenbildung 28 n., 279 n.
  • Statenbünde 70 ff.; 160.
  • Statenbund, allgemeiner, 10 n.
  • Statenfamilie, europäiſche 98 n.
  • Statenfolge 46 ff.
  • Statenreiche 70 ff., 160, 373.
  • Statenſyſteme S. 96 u. ff.
  • Statenverträge 442, 489 n. 1, 497, 538.
  • Statsdienſtbarkeiten 42 n., 69, 353 u. ff.,
    771.
  • Statsehre, Recht auf, 83.
  • Statsgebiet: Eigenſchaften 284; Abtre-
    tungen von 46 ff., 285, 286, 287;
    Erweiterung und Verminderung desſ.
    294, 295; Grenzen desſ. 296—299.
  • Statsgenoſſen, im fremden Lande 378,
    379.
  • Statgenoſſenſchaft: Erwerb und Verluſt
    im Allgemeinen 364; der Ehefrau u.
    ehel. Kinder 365; der unehel. Kinder
    366; der Landſaſſen im weiteſten Sinne
    des Wortes 367; Auflöſung 371;
    zweifache 373, 374.
  • Statshäupter: deren völkerrechtliche Per-
    ſönlichkeit 27; als Schieds-
    richter 489 n. 2;
  • „ deren Repräſentationsrecht
    115—125.
  • „ die, als ſouveräne Perſonen
    126—134.
  • Statsintereſſe 518.
  • Statsperſönlichkeit: Repräſentant derſelben
    115, 116, 117.
  • Statsrecht, äußeres 1 n. 2.
  • Statsſchulden 59.
  • Statsumwälzungen 474.
  • Statsvermögen 54.
  • „ deſſen Beſchlagnahme 500.
  • Statthalter 161.
  • status quo (post und ante bellum)
    700 n., 715.
  • Steuerbefreiung der Exterritorialen 138.
    267.
  • Strandrecht 334. 335.
  • Straßen, offene, 47.
  • Ströme und Flüſſe S. 27; 311, 312,
    314.
  • Sühneverſuch 521.
  • Sundzoll, Aufhebung desſelben S. 26
    u. 27; 310 n. 2.

  • T.
  • Talionsprincip 501 n. 1.
  • Territorialprincip 379 n.
  • Thalweg 298, 299.
  • Thronfolge, Verträge über, 443.
  • Thurn- und Taxis, Familie, deren Poſt-
    regal 443 n. 2.
  • Titel, der Staten 84 ff.; der Familien-
    genoſſen eines Souveräns 155 ff.
  • Tödtung, unnöthige 579.
  • Tractate 418.
  • Truppentheile, verfolgte, 774, 776, 785.
  • Truppenwerbung 760—762.
  • Türkei, deren Aufnahme in’s europäiſche
    Völkerrecht S. 17; Schutz der chriſt-
    lichen Rajahs gegen dieſelbe S. 21.

  • U.
  • Ueberfall, gewaltſamer, fremder Stats-
    gebiete ohne Kriegsurſache 472, 481.
  • Uebergabe auf Gnade u. Ungnade 698.
  • Ueberläufer 627.
  • Ufer S. 26.
  • Uferbauten 47, 299 n.
  • Uferſtaten 288, 295, 299, 300, 301, 303,
    310 n., 312, 314, 316, 322, 337.
  • Unabhängigkeit, der Staten 64 u. ff.
  • Unfrei Schiff, frei Gut 795.
  • Unfrei Schiff, unfrei Gut 795 n.
  • Univerſalherrſchaft, Streben nach, 99
    100, 412, 472.
  • Unterdrückung, fremder Völker 81, 412,
    472.
  • Unterpfand 428.
  • Unterſuchungsrecht: gegen die Sklaven-
    ſchiffe S. 20; Widerſpruch der Ver.
    Staten und Frankreichs dagegen 352 n.;
    gegen verdächtige Schiffe 344, 345, 352.
  • Unterthaneneid 551.
  • Unterwerfung des beſiegten Feindes 701,
    702.
  • Unverletzbarkeit, Recht der, 191, 192,
    193, 239.
  • Uſurpator 117.
  • Uti possidetis 715 n.

  • V.
  • Vaſallenſtaten 76, 77; deren Rang 92,
    444 n. 1.
  • Vattel S. 33, S. 34, 147 n., 150 n.,
    201 n., 573 n., 585 n., 594 n. 1,
    692 n.
  • Veränderungen des Flußbettes u. Thal-
    weges 299.
  • Verbittung und Verweigerung der An-
    nahme eines Geſanten 164, 165, 166.
  • Verbrechen, politiſche, deren Unterſchied
    von gemeinen 564 n. 1.
  • Verbrecher, fremde, 395, 401.
  • Verdrängung des Feindes 728 u. ff.
  • Vereinigte Staten von Nordamerika 98 n.,
    111, 114 n., 160 n., 310 n. 2.
  • Vereins- u. Verſammlungsrecht während
    des Krieges 545 n. 1.
  • Verfahren, ſchiedsrichterliches S. 29 ff.,
    488 u. ff.
  • Verfaſſungsänderungen, innere, eines Sta-
    tes S. 46.
  • Verfaſſungsſtreitigkeiten 474.
  • Verfaſſungswandlung, deren Einfluß auf
    die völkerrechtlichen Verhältniſſe der
    Staten 39 ff.
  • Vergleich 482, 494.
  • Verhältnißmäßigkeit, Grundſatz der, zwi-
    ſchen Schuld und Folgen 469—502 n.
  • Verhandlungen, unter den Kriegsparteien
    679 ff.
  • Verjährung, völkerrechtliche 290 n.
  • Verkehr, friedlicher, Pflege desſ. S. 21 ff.;
    allgemeine Verkehrsgemeinſchaft S. 25;
    Verkehr zur See S. 27.
  • Verkehrsrecht, internationales, S. 24.
  • Verkehr, unter den Kriegsparteien 674 ff.
  • Verkehr, Recht u. Pflicht des völkerrecht-
    lichen 159 ff.
  • Verkehrsanſtalten, muthwillige Zerſtörung
    der, 651.
  • Verkehrsſperre (blocus) 506, 507, 508.
  • Verletzung eines Geſanten 193.
  • Vermittlung S. 29, 485—487.
  • Vermögen, feindliches, im Landkriege
    S. 36 ff.; im Seekriege S. 40 ff.
  • Verſuche, bösartige, zur Schädigung des
    Feindes 640.
  • Vertilgungskrieg 535.
  • Vertrag, völkerrechtlicher, 12 n. 2.
  • Verträge, zur Abſchaffung der Neger-
    ſklaverei 351 n.; über wechſelſeitiges
    Unterſuchungsrecht d. Schiffe 352.
  • Verträge, völkerrechtliche S. 5, 402 ff.;
    • Fähigkeit zur Abſchließung von, 403;
    • Erforderniſſe zur Gültigkeit derſ. 404
      —407, 416, 444;
    • Einfluß des Zwanges u. dgl. darauf
      408, 409.
    • Rechtsgrund der Verbindlichkeit der
      Vertr. 410;
    • ungültige Verträge insbeſondere 411,
      412, 474;
    • wirkungsloſe Vertr. 413, 414.
    • Losſagungsrecht von Vertr. 415.
    • Form der Vertr. 417 ff. — 424.
    • Verſtärkung der Vertr. 425 ff., 441.
    • Arten der Vertr. 442—445.
  • Vertragserneuerung, ſtillſchweigende, 451.
  • Vertragsrecht 3 n. 1, 12 n. 2, 494 n.
  • Vertragsverbindlichkeit, Aufhören der
    450—461.
  • Vertragsververhältniſſe, zwiſchen den Sta-
    ten, Einfluß des Krieges auf dieſe
    538; des Friedensſchluſſes auf dieſe 718.
  • Vertreter des Völkerrechts 5.
  • Verwaltung und Rechtspflege während
    des Krieges 541, 545, 547.
  • Verweigerung der Ratifikation der Ver-
    träge 420.
  • Verwundete im Kriege 582, 586, 590, 591.
  • Verzicht 288, 482, 494 n.
  • Veto 113 n.
  • Vicekönige 161.
  • Victor I. Emanuel König 735 n.
  • Viſitationsrecht, der Kriegsſchiffe gegen
    verdächtige Sklavenſchiffe S. 20.
  • Völkergericht S. 7.
  • Völkerrecht: Begriff S. 1 und 2 § 1;
    Keime desſelben bei den wilden und
    barbariſchen Stämmen S. 10; chriſt-
    liches S. 12; der Barbaren, Hellenen,
    Römer, Germanen S. 10 u. ff.; ſeine
    Befreiung von religiöſer Befangenheit
    S. 16 ff.; — Aufleben des modernen
    S. 15 ff.; Schranken desſelben S.
    17 ff.; Ausdehnung S. 17; Aufgabe
    S. 17 ff.; Begründung, Natur und
    Grenzen des Völkerrechts 1—16; con-
    ventionelles u. nothwendiges 13 n. 2.
  • Völkerrecht: Verletzungen desſ. und Ver-
    fahren zur Herſtellung desſ. 462 ff.
  • Vortritt 89 ff.

  • W.
  • Waare, neutrale, auf feindlichem Schiffe
    iſt freies Gut S. 43.
  • Waffenruhe 687—689, 691—696.
  • Waffenſtillſtand 688—696.
  • Waffenvorräthe 57.
  • Washington S. 45, 756 n. 2; 763 n. 2.
  • Wechſel der Regierung, Einfluß auf die
    völkerrechtliche Perſönlichkeit 123; auf
    die Fortdauer der Creditive 230—232.
  • Wechſel, des Miniſters des Aeußern, Ein-
    fluß auf die Creditive 233.
  • Wegeführer 634—636.
  • Wegnahme d. Kriegscontrebande 806 n. 1,
    808, 809, 813, 818.
  • Wegeweiſung, von Flüchtigen 398 n.
  • Wegweiſung, fremder Kriegsſchiffe 321 n.
  • „ e. Geſanten 210, 235, 637.
  • „ von Korreſpondenten 638.
  • Wegzug, freier, 392, 393.
  • Weltbürgerrecht S. 24, 23 n.
  • Weltcongreß 108, 111, 112.
  • Weltherrſchaft, Anſpruch der Päbſte darauf
    S. 13; der deutſchen Kaiſer S. 15, 412.
  • Weltordnung, Gefährdung der allge-
    meinen, 471, 472.
  • Weltſtat u. Weltgeſetzgebung 10 n., 22 n.
  • Weltſtröme, mehrſtatliche u. einſt. S. 29.
  • Weltverkehr 314 n.
  • Weltverkehrswege 307, 472.
  • Widerſtand, deſſen Erlöſchen 289.
  • Wienercongreß-Akte (v. 1815) S. 28 n.,
    103n., 312n., 314n., 315n.
  • „ -Protokoll 171 n., 172 n. 2,
    175n., 176n., 177n., 178n.
  • Wildfangsrecht S. 24.
  • Wilhelm I. Kurfürſt 735 n.
  • Wilhelm III. v. England 117 n.
  • Wiſſenſchaft, Einfluß der auf das Völker-
    recht S. 15.
  • Wohnort 367, 376.
  • Wohnung, Quartier, Wagen des Exter-
    ritorialen 150—152, 200, 201.
  • Wrack 335.
  • Würde, Mißachtung der e. States 453.

  • Z.
  • Zerſtörung von Privateigenthum im
    Kriege 662, 663.
  • Zurückhaltung der Geiſeln 426.
  • Zwangsabtretung, von Privateigenthum
    im Kriege 655.
  • Zwangsverkauf 811.
  • Zwiſchenregierung 44, 45, 731—735.

[][][]
Notes
*)
Dieſe Anſpielung wird durch folgende Stelle eines Briefes erklärt, den
Profeſſor Lieber am 23. Auguſt 1867 an Bluntſchli geſchrieben hatte: „Geſtern
wurde ich drollig und doch nicht unangenehm an Sie erinnert. Einer meiner Söhne
iſt in Neu-Mexiko ſtationirt, volle 2500 Meilen von hier, ich meine engliſche Meilen.
In einem Briefe, den ich geſtern erhielt, ſind die Worte: „Endlich iſt Bluntſchli
wieder da“. Bluntſchli? ſagen Sie. Ich habe die Gewohnheit allen Gegenſtänden
im Gebrauch Namen zu geben, und ſo haben auch die kleinen Meerſchaumpfeifen,
die ich mitunter rauche, ihre Namen. Eine heißt Sadowa; eine andere nannte ich
nach Ihnen. Ich gab ſie meinem Sohn beim Abſchiede, und ſie war auf dem langen,
ſchwierigen und gefährlichen Marſche abhanden gekommen. Endlich aber, wie Sie
ſehen, iſt Bluntſchli wieder aufgetaucht in jenen fernen wilden Bergen Neu-Mexikos.
Mein Sohn iſt ungefähr 150 engliſche Meilen von Santa Fè“.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Rechtsinhaber*in
Kolimo+

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Collection 1. Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bhxk.0