[][][][][][][][]
Briefe
zu
Befoͤrderung der Humanitaͤt
.
[][]
Briefe
zu
Befoͤrderung der Humanitaͤt
.




Fünfte Sammlung.


Riga,: 1795.
bei Johann Friedrich Hartknoch.

[][]

Nachricht an den Buchbinder.


Der Buchbinder beliebe die Bogen mit der
eingeklammerten Signatur von (A) bis (K)
gleich nach dem Titel und Inhalt zu binden,
und dann die Bogen A, B, C, D, folgen zu
laſſen, ſo daß der 58. Brief auf den 57. ſo-
gleich folge. —



[][]

Inhalt
der fuͤnften Sammlung
.



  • Br. 54. Ueber Muͤllers Bekenntniſſe
    merkwuͤrdiger Maͤnner von ſich
    ſelbſt. Leibnitz Weiſſagung S. 1
  • — 55. Petrarca's Charakter und Ver-
    dienſte. Ideal ſeiner Laura. S. 11
  • — 56. Uriel Akoſta. Von Religions-
    verfolgungen und Beſchimpfungen
    der Religion wegen. Verdienſt
    der Maͤnner, die dagegen gewir-
    ket. Von Verbreitung der Hu-
    manitaͤt durch Briefe. S. 22
  • — 57. St. Pierre und Comenius.
    Verdienſte des letztern. Sein Auf-
    ruf zu Verbeſſerung der menſchli-
    chen Dinge. S. 31
  • Beilage. Haben wir noch das Pu-
    blicum und Vaterland der Alten.
    Eine Abhandlung. S. 52
  • Br. 58. Von den Meinungen der Voͤlker
    in den verſchiednen Zeitraͤumen ih-
    rer Geſchichte. Von Machiavells
    Fuͤrſten. S. 1
  • — 59. Fortſetzung der Materie. Hugo
    Grotius
    und ſeine Nachfolger. S. 14
  • — 60. Mehrere Gedanken von LeibnitzS. 20
  • — 61. Fortſetzung dieſer Gedanken. Von
    Spielen. Leibnitz Charakter. S. 32
  • — 62. Von der Art, wie Leibnitz in
    Deutſchland war. Seine Ver-
    dienſte. S. 42

[[1]]

54.


Der Wunſch unſres Freundes *) faͤngt
an in Erfuͤllung zu gehen; Bekenntniſſe
merkwuͤrdiger Maͤnner von ſich
ſelbſt
ſind in zwei Baͤndchen erſchienen,
die zu mehreren Hoffnung erwecken und
Hoffnung geben **)Petrarca, Augu-
ſtin, Uriel Acoſta, Franz Junius,
Comenius, Holberg, Leibnitz ſpre-
chen hier; alleſammt in der eignen Sprache
ihres Herzens und Geiſtes. Von Petrarca
Fuͤnfte Samml. (A)
[2] ſind ſeine drei Geſpraͤche uͤber ſich ſelbſt,
mein Geheimniß“ genannt, ganz
uͤberſetzt; Auguſtins Bekenntniſſe im
Auszuge. Acoſta'sexemplar vitae hu-
manae,
wie es Limborch, Franz Ju-
nius Lebensbeſchreibung, wie ſie Merula
bekannt gemacht, Comenius Bekenntniß
von ſich aus ſeinem Eins iſt Noth(unum
necessarium)
Holberg, Leibnitz aus
ihren Briefen. — Koͤnnen verſchiedene, alle-
ſammt merkwuͤrdige Maͤnner in einem enge-
ren Raum auftreten, und von ſich zeugen?


Ihrem eignen Zeugniſſe hat der Autor
mit Erzaͤhlung ihrer Lebensumſtaͤnde fort-
geholfen; wie, duͤnkt mich, nothwendig und
recht iſt. Was weiß ein Sterblicher, wer
oder wozu er da ſei? zu welchen Zwecken
ihn die Vorſehung in ihrem großen Plan
brauchen werde? Er ſchuͤttet ſein Herz aus,
in Freude oder meiſtens in Leid, vor Gott,
[3] vor ſich ſelbſt oder vor Menſchen; ſein
Auge blickt nieder zur Erde. Denn ſeiner
Schwaͤchen, ſeiner muͤhſamen, oft eiteln
Beſtrebungen, ſeines Kampfes mit ſich und
mit andern demuͤthig bewußt, zaͤhlet er
ſich kaum, und kann und darf nicht rech-
nen, was ſeine Ziffer zum großen Nenner
der Welt bedeute oder bedeuten werde?
Hier darf der Autor, der den Bekennenden
als Freund vorfuͤhrt, zumal wenn er Jahr-
hunderte nach ihm lebet, wohl ein Wort
uͤber ihn ſprechen, und auf der großen Ta-
fel der Weltbegebenheiten zeigen, wo er
ſtand? wo er kuͤnftig ſtehen moͤchte?


Petrarca war eine der zarteſten See-
len, die in menſchlichen Koͤrpern erſchienen,
Nicht ſeiner Sprache allein hat er jene
Formen ſuͤßer Sonnette und Canzonen, und
mit dieſen zugleich die erleſenſten Gedan-
ken der Provenzalen, ja jenes Ideal einer
(A) 2
[4] Liebe eingedruͤckt, die ſich mehr im Him-
mel als auf der Erde fuͤhlet. Sondern
fuͤr ganz Europa war er ein eifriger Er-
wecker der Alten; fuͤr Italien, fuͤr Rom
war er ein Patriot, deßgleichen es unter
den Petrarchiſten keinen mehr gab, und
was uͤber alles geht, ein ſtrenger Bearbei-
ter ſeines Herzens und Geiſtes. Seine
Briefe und andre lateiniſche Schriften ſind
eine eigentliche Schule der Bildung ſein
ſelbſt
, voll maͤnnlicher Unterhaltung. Eine
Seele dieſer Art, die allenthalben Ruhe
ſuchte und ſie nirgend fand, in einſamen
Selbſtgeſpraͤchen mit ihrem Schutzgeiſt ſpre-
chen zu hoͤren, mag freilich eitele Leſer er-
muͤden; Beobachter menſchlicher Sinnes-
arten aber werden ihr angenehm lauſchen,
und zarte Gemuͤther, wie Petrarca ſelbſt
war, wird er tief in ihr Inneres fuͤhren.
Dieſe Bekenntniſſe und die Nachrichten
[5] zu dem Leben des Petrarca
*) muͤſſen
Jedem, der fuͤrs ſtille Gemuͤth lieſet, eine
liebe Unterhaltung ſeyn.


Auguſtin, (der zweite Mann, den un-
ſer Autor in ſeinem Selbſtbekenntniſſe dar-
ſtellt,) war ein Kirchenvater; er iſts auch
in ſeinen Confeſſionen. Um die Seele eines
Kirchenvaters kennen zu lernen, von der
manche, die auf dieſen Namen ſchmaͤhen,
faſt keinen Begrif haben, muß man ſie le-
ſen. Die ganze Denkart, ja ich moͤchte
ſagen, der Witz, die Phantaſie, ſelbſt die
taͤuſchende Sophiſterei Auguſtins iſt in ihnen.
Unſer Autor iſt uͤber ihn nur kurz geweſen:
denn uͤber Auguſtin muͤßte man ein Buch
ſchreiben.


Welche Kaͤmpfe hat der arme Acoſta
ſich zugezogen! welche Verfolgungen der
redliche Junius ſtandhaft ertragen! Auch
[6] bei Comenius ſiehet man ſeinen zwar
nicht tiefdringenden, aber viel umfaſſenden
Geiſt, ſeinen allenthalben aufs Nutzbare,
auf Reform der Wiſſenſchaften und Schu-
len geſtellten Sinn. Ueber ihn, der fuͤr
ſein Zeitalter mehr als Baſedow war
und noch mehr haͤtte ſeyn koͤnnen, wuͤnſchte
ich, daß Jemand ausfuͤhrlicher ſpraͤche.


Holbergs Leben iſt aͤußerſt merkwuͤr-
dig und unterhaltend, wie es auch der
Mann ſelbſt war. In ſeiner Zeit und Lage,
nach einer ſolchen Jugend, hat er ungemein
viel geleiſtet; er riß ſich ſelbſt uͤber die
Denkart ſeines Landes hervor, und ward,
zwar in keiner Bemuͤhung ein Stern erſter
Groͤße, allenthalben aber ein freundlicher
Stern mitten im dichten Nebel. Manche ſei-
ner Schriften ſind noch jetzt ſehr lesbar, zu-
mal ſein Klimm und ſeine Briefe. Unter
den Alten waren ihm Plutarch und Lu-
[7]cian, Terenz, Ovid, Juvenal, Pe-
tron und Plinius, unter den Neuern
nebſt einigen Geſchichtſchreibern Grotius,
Bayle, le Clerc, Moliere die lieb-
ſten; man ſiehet die Spuren davon in ſei-
nen Schriften, in denen ſich nirgend ein
tiefer, allenthalben aber ein heller, lebhaf-
ter, vernuͤnftiger, moraliſcher Geiſt zeiget.


Leibnitz endlich — hier konnte unſer
Autor, der die bekannten Lebensumſtaͤnde
nicht wiederholen wollte, wenig ſagen:
denn die Geſchichte ſeines Geiſtes hat Leib-
nitz uns nicht ſelbſt geſchrieben. Er lebt
fuͤr uns in ſeinen Schriften, aus welchen
hier einige Umſtaͤnde zuſammengeſtellt ſind.
Hoͤren Sie von ihm eine Weißagung:


„Ich finde, daß ſolche (leichtſinnige, ir-
religioͤſe) Meinungen, indem ſie je mehr
und mehr unter Leuten von der großen
Welt, nach welchen ſich die uͤbrigen zu rich-
[8] ten pflegen, Liebhaber finden, und ſich in
die Modebuͤcher einſchleichen, alles zu der
General-Revolution, von welcher
Europa bedrohet wird, zubereiten, und die
Zerſtoͤrung alles deſſen vollenden helfen,
was von den edlen Grundſaͤtzen der Grie-
chen und Roͤmer, welche die Liebe des Va-
terlandes, des gemeinen Weſens und die
Sorge fuͤr die Nachwelt ihrem eignen Gluͤck,
ja ſelbſt dem Leben vorzogen, bis jetzt noch
uͤbrig geblieben iſt. Der Gemeingeiſt
(public spirit) vermindert ſich außerordent-
lich, kommt je mehr und mehr aus der
Mode, und wird noch mehr abnehmen,
wenn er aufhoͤrt, von einer guten Moral
und der wahren Religion, wie ſelbſt die
geſunde Vernunft ſie uns lehrt, unterſtuͤtzt
zu werden. Sogar die Beſſern von der
entgegengeſetzten Seite nehmen kein andres
Principium mehr als die Ehre an. Bei
[9] ihnen aber heißt ein Mann von Ehre
ſchon der, der nichts thut, was ſie fuͤr nie-
dertraͤchtig halten. Und wenn ſogar einer
aus Laune, oder um ſeine Ehrſucht zu be-
friedigen, Stroͤme Blutes vergießen und
alles uͤber einander werfen wuͤrde: ſo waͤre
ihnen das Alles nichts und ſelbſt ein He-
roſtrat wuͤrde ihnen ein Held ſeyn. Laut
macht man ſich uͤber die Liebe des Va-
terlandes luſtig; laut macht man die
laͤcherlich, die fuͤr das allgemeine Beſte
ſorgen; und zeigt jemand in der reinſten
Abſicht die traurigen Ausſichten, die ſich
uns fuͤr die Zukunft eroͤfnen, ſo iſt die
Antwort: „laß dieſe fuͤr ſich ſorgen.“ —
Leicht aber duͤrften ſolche Leute zuerſt das
Ungluͤck erfahren, welches ſie blos fuͤr an-
dre aufbewahrt glauben. Kommt man die-
ſer epidemiſchen Krankheit, deren uͤble Wir-
kungen bereits ſichtbar zu werden anfangen,
[10] noch in Zeiten vor: ſo laſſen ſich ihre Folgen
vielleicht noch hemmen. Nimmt ſie aber uͤber-
hand, ſo wird die Vorſicht die Men-
ſchen gerade durch die Revolution,
die daraus entſtehen muß, heilen,
und was auch kommen mag, am
Ende zum Wohl des Ganzen leiten
;
ob dies gleich ohne Zuͤchtigung Derer, die
durch ihre boͤſen Handlungen wider ihren
Willen zur Befoͤrderung des Guten beitru-
gen, weder erreicht werden wird, noch er-
reicht werden kann.“


Soweit Leibnitz. Wuͤnſchen Sie nicht,
daß unſerm Autor viele, auch ungedruckte
Bekenntniſſe merkwuͤrdiger Maͤn-
ner zukommen moͤgen? Wenn in unſerm
Vaterlande der moraliſche Gemeingeiſt, uͤber
deſſen Abgang Leibnitz klaget noch nicht ganz
ausgeſtorben iſt, ſo ſollte dieſer ihm ſolche in
ſein Sacrarium treuer Bekenntniſſe zufuͤhren.


[11]

55.


Angenehm hat mich der Name Petrarca
in Ihrem Briefe geweckt; er erinnerte mich
an die Zeiten, da ich, nicht etwa nur ſeine
Sonnette und Canzonen, ſondern die Nach-
richten aus ſeinem Leben*) und die
merkwuͤrdigſten ſeiner Schriften und Briefe
ſelbſt las. Welch eine falſche Idee hat
man gemeiniglich von Petrarca! wie falſch
waͤre auch die, wenn man ſich aus dieſen
[12] Selbſtgeſpraͤchen etwa nur eine bußfertige
Seele, oder einen mit ſich ſelbſt Unzufrie-
denen abzoͤge! Ganz ein andrer Geiſt lebte
in Petrarca.


Zuerſt trug er das große, unaustilg-
bare Gepraͤge der Liebe des Alter-
thums in ſeiner Seele; ein Gepraͤge, das
mir allenthalben ehrwuͤrdig iſt, wo ichs
gewahr werde, und das uns bei Ihm, zu
ſeiner Zeit, unter ſeinen Umſtaͤnden, in der
Anwendung, die Er davon machte, aͤußerſt
wohlthut. Die Griechen kannte er wenig,
und ſetzte ſie den Roͤmern nach; er ward
mit ihrer Sprache zu ſpaͤt bekannt, und da
er die Roͤmer als ſeine Landsleute anſah,
deren Glanz in Italien er wiederzuſehen
wuͤnſchte; ſo gab ihnen dieſes ſchon in ſei-
ner Seele einen Vorrang vor allen Voͤl-
kern der Erde. Nie haben ihre Redner,
Dichter und Weiſen einen eifrigern Schuͤ-
[13] ler gehabt, als Ihn, der nicht etwa nur
in der Sprache ihnen nachzubuhlen ſuchte,
ſondern ihren großen Sinn, ihre hohe
Gedankenweiſe
zur Seinigen machte.
Dies zeigen ſeine Schriften und Briefe,
ſeine Sammlungen von Beiſpielen der Vor-
welt, die Grundſaͤtze, an welche er ſich hielt,
mit welchen er andre troͤſtete oder weckte,
endlich ſeine lateiniſchen Geſpraͤche, Ge-
dichte und andre Einkleidungen, in denen
man bis zu ſeinen hoͤchſten Jahren hinauf
den Schuͤler der Alten wahrnimmt. Hier
klopft Petrarca jedem Juͤnglinge und
Mann auf die Schulter: „lieſeſt Du die
Alten alſo? wendeſt Du ſie alſo an?“ Pe-
trarca's lateiniſcher Styl mag unrein ſeyn;
ſeine Denkart war es nicht. Ein Freund
des Vaterlandes, wie Tullius und Cato,
weiß er die ſtrengen Grundſaͤtze eines Se-
neka durch die geſellſchaftliche Theilneh[-]
[14] mung und Gefaͤlligkeit des Horaz anmu-
thig zu mildern. Manche Briefe, in denen
er ſeine Schwachheiten liebenswuͤrdig be-
kennet und entſchuldigt, ja gleichſam mit
ſeinem eignen Herzen ſpielet, ſind ganz in
der Denkart Horaz geſchrieben; und eine
ſittliche Urbanitaͤt iſt der Charakter
aller ſeiner Schriften.


Dies Gefuͤhl alſo, nach welchem er ganz
unter den Alten lebte, webte den Faden
ſeiner Begebenheiten, und ward, wie man
ſagt, der Schmid ſeines Gluͤcks. Auf
eine niedrige Weiſe nach den Begriffen ſei-
ner Zeit ein Gluͤck machen, konnte und
wollte er nicht; er ſchlug dazu alle Gele-
genheiten aus, die er auch nicht zu brau-
chen gewußt haͤtte; dagegen erwarb er ſich
eine Liebe und Anhaͤnglichkeit, ein Anſehen
und einen Namen, uͤber welchen man froͤ-
lich erſtaunet. Welche Briefe und Anre-
[15] den, die er an Kaiſer, Koͤnige, Paͤpſte, Car-
dinaͤle, Biſchoͤfe und Fuͤrſten ſchrieb! und
welche Art, in der ſie aufgenommen wur-
den! Keine Veraͤnderung der paͤpſtlichen und
buͤrgerlichen Welt, die einigermaaßen ſein
Italien betraf, ging vor, ohne daß er den
lebhafteſten Antheil daran genommen haͤtte;
eben weil ſein Vaterland ſo ganz in ſeinem
Herzen wohnte. Vergleicht man in dieſem
Punkt, im Punkt der Achtung naͤmlich, die
man dem hellen Verſtande, der reinen Wiſ-
ſenſchaft Petrarca's erwies, ſeine Zeiten mit
den unſrigen; welche ſoll man barbariſch nen-
nen? Dort hatte man wenigſtens eine Ach-
tung fuͤr den Verſtaͤndigen, der, obwohl
blos ein Mann der Wiſſenſchaft und kein
Staatsdiener, bei oͤffentlichen Anlaͤßen an-
munterte, rieth, warnte, lehrte; jetzt wuͤrde
dem Petrarca ſelbſt ſchon der poetiſche Lor-
beerkranz auf ſeinem Schaͤdel allenthalben
[16] ein Stillſchweigen auflegen, wo er nicht zu
loben vermoͤchte. Und doch war es eben
und einzig dieſe Liebe und Achtung fuͤr
Wiſſenſchaften, die den Zeiten aufhalf,
ohne welche wir noch in der Barbarei laͤ-
gen. Wer ſiehet nicht noch jetzt das Bild
des Koͤniges Roberts von Neapel,
der edlen Colonna's und ſo mancher
andern ſeiner großen Freunde in Petrarca's
Schriften mit Liebe und Bewunderung an?
Wie in einem Traum lieſet man ihre freund-
ſchaftlichen Briefe und hoͤrt Petrarca's Zeug-
niſſe von ihnen; bis man durch Zeugniſſe
von andern, die nicht ſo dachten, eben auch
in denſelben Briefen unangenehm aus dem
Traume geweckt wird.


Endlich iſt das Ideal von Liebe,
das Petrarca mit ſich trug und in ſeinen
Gedichten mit unglaublicher Kunſt und
Sorgfalt ausbildete, gewiß die kleinfuͤgige
Idee
[17] Idee nicht, die man gewoͤhnlich ſich an
ihm denket. Laura moͤge in Perſon oder
zum leibhaften Petrarca geweſen ſeyn, wer
ſie wolle; dem geiſtigen Petrarca war ſie
eine Idee, an die er auf Erden und im
Himmel, wie an das Bild einer Ma-
donna, allen Reichthum ſeiner Phantaſie,
ſeines Herzens, ſeiner Erfahrungen, end-
lich auch alle Schoͤnheiten der Provenzalen
vor ihm, dergeſtalt verwandte, daß er ſie
in ſeiner Sprache zum hoͤchſten, ewigen
Bilde aller ſittlichen Weibesſchoͤn-
heit zu machen ſtrebte. Auf griechiſche
Weiſe konnte dies nicht geſchehen; eine
nackte Grazie oder eine Venus Urania
konnte und wollte Er nicht mahlen; er
waͤhlte alſo die Zuͤge, die in ſeinem Zeit-
geiſt, in der provenzaliſchen Poeſie, in den
Begriffen ſeiner Religion und ihren Dar-
ſtellungen als Stoff eines reinen weib-
Fuͤnfte Samml. (B)
[18]lichen Ideals ſittlicher Humanitaͤt
zerſtreuet dalagen, und bildete ſeine Ma-
donna daraus, die irrdiſche und himmli-
ſche Laura. Dieſe zeigte er in Wirkung
auf ſich, auf ſein eigen Herz, und zwar
in mancherlei Umſtaͤnden, in Wirkung auf
ſeine Schwachheiten ſowohl als auf die ed-
lere Seite ſeines Gemuͤths; hiedurch allein
ward ſie anziehend und belehrend. Denn
eine Schoͤnheit, die keine Liebe erregt, eine
Liebe, die nur Bewunderung iſt, und ohne
Kampf mit ſich, ohne Fehler und Schwach-
heiten ſeufzet, ſind ohne Reiz und Anwen-
dung. Von allem Sittlich-Schoͤnen im
weiblichen Charakter pfluͤckte Petrarca die
Bluͤthe, und wand ſeiner irrdiſchen Freun-
din, die er vielleicht nur hie und da in
ſeiner Jugend geſehen haben mag, die ei-
nes andern Mannes Weib und Mutter
von Kindern war, die dieſe Gedichte viel-
[19] leicht nicht verſtand, die wenigſten ſah:
(denn die ſchoͤnſten ſind nach ihrem Tode
gedichtet) einen unſterblichen Kranz um ihre
unſchuldige Schlaͤfe. Wer den Geſchmack
der provenzaliſchen Poeſie, wer die Beatrice
des Dante kennet, wird hieran nicht zwei-
feln, und die Muͤhe bedauren, die der Le-
bensbeſchreiber Petrarca's, ein Abkoͤmm-
ling der angeblichen Laura, auf die An-
wendung jedes Zuges, der ihre Perſon be-
treffen ſoll, gewandt hat. Jeder Liebhaber
kann und ſoll ſeine Laura in Petrarca's
Gedichten finden; er ſoll ſein Herz mit al-
len Schwachheiten auch darin finden und
die Laͤuterung wahrnehmen, die ein reiner
weiblicher Charakter im Gemuͤth ſowohl des
Juͤnglinges als des Mannes bewirken ſoll
und kann. Hiezu ſteht Laura da; und ich
wuͤßte nicht, ob es einen ſchoͤnern Zweck
der Poeſie der Liebe gebe? wenn ein-
(B) 2
[20] mal dieſe Gattung Poeſie da ſeyn ſoll.
Gegen die roͤmiſchen Dichter des Amors,
Horaz, Tibull, Properz macht Pe-
trarca, der Idee ſeiner verſi volgari nach,
keinen kleineren Unterſchied, als den er der
Sprache, den Nationen und Zeiten ſelbſt
nach machen mußte. Von unſern erotiſchen
Dichtern ſteht er in gleichem Maaße ge-
ſondert. Da es indeſſen doch wohl Nie-
manden zu verargen ſeyn wird, wenn er
in ſeine Liebe Gemuͤth bringet, und ſie
nicht blos als ein Werk des Beduͤrfniſſes
und der Convenienz betreibet: ſo ſehe ich
auch Petrarca's Laura als ein Ideal an,
das keinen Juͤngling verfuͤhren, das jedem
edelgeſchaffenen Juͤnglinge als ein Madon-
nen-Bild alter Zeiten in einer ſo ſchoͤnen
Sprache wohlthun wird. Die Empfindun-
gen Petrarca's in Anſehung der Freund-
ſchaft gegen Freunde waren dieſem Ideal
[21] nicht entgegen, und Italien, Rom, ſeine
Sprache, die Menſchheit waren ſeines Ge-
muͤths ewige Laura. Als ich in einer
ſchoͤnen Morgenſtunde den letzten Aufent-
halt ſeines irrdiſchen Daſeyns voruͤberfuhr,
umfing mich eine ſo ſuͤße Erinnerung ſei-
nes freundſchaftlichen Herzens und ganzen
Lebens, daß ich nicht anders als die letz-
ten Worte ſeines letzten Briefes ausrufen
konnte: valete amici, valete epiſtolae. Er
ſtarb im Jahr 1374; man weiß nicht recht,
wie und wann? gnug, daß man den ru-
higen Greis an ſeinem Pulte ſitzend todt
fand. Valete amici.



[22]

56.


So angenehm mir Petrarca war, ſo
weh that mir Uriel Acoſta in ſeinem
letzten Selbſt-Bekenntniß. Der arme
Jude, von Zweifeln uͤber ſeine Religion
ergriffen, gab alle Verhaͤltniſſe ſeiner edlen
Geburt, ſeines Gluͤckes und Standes auf,
ſuchte Ruhe hie und dort, fand an ſeinen
naͤchſten Verwandten die aͤrgſten Feinde,
und endigte damit, daß er als ein Neu-
aufgenommener in der Synagoge ſeiner
Glaubensgenoſſen, ſchimpflich-entbloͤßt, mit
Fuͤßen getreten, gepeitſcht, verſpeiet, es
[23] nicht laͤnger ertragen zu duͤrfen glaubte und
ſich ſelbſt den Tod gab. Die Aufſchrift
ſeines Urlaubes aus dem Leben, exemplar
humanae vitae
ruͤhreten mich von jeher;
und o moͤchte ein jeder, der von Menſchen
aus der Welt gedraͤngt, zuletzt noch einige
Worte fuͤr Menſchen zu ſchreiben, guten
Willen und Kraft hat, ſein Exemplar des
menſchlichen Lebens dem Exemplar des
Acoſta hinzufuͤgen! Die Menſchheit erhielte
damit eine Anzahl ſonderbarer Exemplare.


Von Kindheit auf iſt mir nichts ab-
ſcheulicher geweſen, als Verfolgungen oder
perſoͤnliche Beſchimpfungen eines Menſchen
uͤber ſeine Religion. Wen gehet dieſe, als
ihn ſelbſt und Gott an? ja, wer weiß
nicht, was an dem Wort Religion, ſo-
bald es innere Ueberzeugung und Gefuͤhl
betrift, fuͤr tiefe Skrupel und Schwierig-
keiten haften? Dem iſt Dieſes, einem
[24] andern Das aufs innigſte anſtoͤßig; zu
dieſem Ausdruck kann er ſich nicht ge-
woͤhnen, von jener fruͤh erfaßten Vorſtel-
lungsart auf keine Weiſe ſondern. An ihr
hangen ſeine moraliſchen Begriffe; an ihr
vielleicht ſeine vornehmſte Triebfeder, ja
ſein Ideal der Moralitaͤt ſelbſt. Dieſer
findet Zweifel, wo keiner ſie findet; die
ſchwarze, phantaſtiſche Fliege verfolgt ihn,
ohne daß ein andrer als Er ſie ſiehet.
Wie grauſam iſts alſo, wie unvernuͤnftig,
nutzlos und unmenſchlich, wenn ſich ein
Menſch, ein Gericht, eine Synagoge das
Verdammungs- das Verfolgungs-Urtheil
uͤber die Religion eines andern, waͤre er
auch ein Neger und Indier, anmaaßt!


Mit Schauder lieſet man Acoſta's Er-
zaͤhlung, Klagen und Seufzer, die er im
tiefen Schmerz uͤber die ihm, einem Ruͤck-
kehrenden, in einem Gotteshauſe zugefuͤgte
[25] peinliche Beſchimpfung ausſtoͤßt *), und die
mit dem traurigen Gefuͤhl der voͤlligen Ver-
laſſenheit und Ohnmacht enden: „hier habt
ihr die wahre Geſchichte meines Lebens,
und welche Perſon ich auf dem eiteln Schau-
platz dieſer Welt, in meinem unbeſtaͤndi-
gen und ungluͤcklichen Leben geſpielt habe.
Richtet nun [gerecht] und unpartheiiſch, ihr
Soͤhne der Menſchen; richtet frei und nach
der Wahrheit, wie es ſich Maͤnnern ge-
ziemt. Findet ihr etwas, das euch zum
Mitleiden hinreißt, ſo erkennt und beweint
das traurige Loos der Menſchheit, das
auch euch zu Theil geworden iſt.“ —


Dank der Menſchheit ſey allen Denen,
die ſo unertraͤgliche Laſten und Feſſeln, die
jede unziemende Beſchimpfung, jede kraͤn-
[26] kende Verfolgung, die Menſchen Men-
ſchen von goͤttlichen oder menſchlichen
Rechts wegen, ungeſcheuet, ja pflichtmaͤßig
und frohlockend anthaten, in ihr wahres
Licht ſtellten. Grotius, John Locke,
William Penn, Shaftesburi,
Bayle, Leibnitz, auch Spinoza,
Voltaire und mehrere nicht zu vergeſſen,
was fuͤr Geſinnungen ſie uͤbrigens in an-
dern Dingen haben mochten; in dieſem
Punct ſind ſie Friedensengel im Namen al-
ler Derer geworden, die, (um mich eines
ſchauderhaften Bildes der Apokalypſe zu
bedienen,) als Erwuͤrgte unter dem Altar
um Rache rufen, und in ihrem Blut weiße
Feierkleider begehren. Die Rache ſolcher
Verfolgungen iſt nie ausgeblieben und blei-
bet nie aus; es waͤre aber endlich Zeit,
daß wir aus beſſern Gruͤnden, als aus der
Furcht ſolcher Rache zum Gefuͤhl der Wahr-
[27] heit und Menſchlichkeit gelangten. Auch
unſern Deutſchen Rechtslehrern, Thoma-
ſius, Polykarp Leyſer, Hommel
u. f., die uͤber die mit Blut geſchriebenen
Carpzowſchen Geſetze hie und da die
Fackel der Vernunft angezuͤndet, und mil-
dere Grundſaͤtze in Gang gebracht haben,
werde Dank. Sie thaten, was ſie thun
konnten.


Vor andern, duͤnkt mich, ſind in Brie-
fen Geſinnungen der Humanitaͤt wirkſam
verbreitet worden, ſelbſt wo ſie das ſtrenge
Rechts- Staats- und Kirchenſyſtem noch
nicht aufnehmen durfte. In Briefen an
Freunde
ſchuͤttete mancher ſein Herz aus,
wie er es in Schriften zu thun nicht wagte,
und die Briefgeſtalt ſelbſt ward zur gluͤckli-
chen Form, milde Geſinnungen uͤber einzelne
Vorfaͤlle ſowohl, als uͤber Lehren und Per-
ſonen Freunden oder dem Publicum ver-
[28] ſtaͤndlich zu machen und ans Herz zu le-
gen. Holbergs Briefe gehoͤren auch in
dieſe Zahl; in England und Frankreich iſt
die Art eines humaniſirten Vortrages durch
Briefe ſehr ausgebildet worden, und hat
die nuͤtzlichſten Grundſaͤtze verbreitet. In
England z. B. fanden Plinius Briefe
eine gluͤckliche Aufnahme; die Erſten der
Nation buhlten ihnen nach. Selbſt die
erdichteten Briefe des Phalaris ſchaͤtzte
der Ritter Temple uͤbermaͤßig hoch, ſo
daß ſeit Addiſon ihre Wochenſchriften,
ſeit Richardſon ihre Romane vorzuͤglich
die Geſtalt der Briefe liebten. Die fran-
zoͤſiſchen Briefeinkleidungen vom Tuͤrki-
ſchen Spion an, bis zu den Perſi-
ſchen und ſo viel andern Briefen ſind
Jedermann bekannt; durch Einkleidungen
ſolcher Art gewann nicht nur die Sprache,
ſondern auch der denkende Geiſt Leichtig-
[29] keit und Freiheit. Ohne eine Abhandlung
oder Deduction ſchreiben zu wollen, konnte
man Gedanken, Empfindungen aͤußern,
ſeinen Verſtand berichtigen, ſein Urtheil am
Urtheile des Andern ſchaͤrfen und pruͤfen.
In Deutſchland hat aus mehrern Urſachen
dieſe Form meiſtens nur gelehrte Urtheile,
Trivialitaͤten oder Romane betreffen koͤn-
nen. — —


Ich wuͤnſchte eine Auswahl treffender
Stellen aus den wahren Briefen merk-
wuͤrdiger und großer Maͤnner; dem
Sammler der Selbſtbekenntniſſe, einem
Mann von reiner, fuͤrs wahre Wohl der
Menſchheit geſtimmten Denkart, moͤchte
ich ſie am liebſten empfehlen. Von Staats-
maͤnnern, Kirchenvaͤtern, Reformatoren,
Sektirern, von Gelehrten und Weiſen al-
ler Art iſt eine ſo ungeheure Menge Briefe
ans Licht gefoͤrdert worden, daß eine Aus-
[30] wahl ihrer eigenſten Meinungen und Ur-
theile uͤber Begebenheiten, Schriften, fremde
Meinungen und Handlungsarten die lehr-
reichſte Unterhaltung ſeyn muͤßte. Wer kann,
wer mag jetzt das große Epiſtelfach beruͤhm-
ter und nicht beruͤhmter Maͤnner mit gehoͤri-
gem Fleiße durchſtoͤren? und doch liegt ſo
manches Merkwuͤrdige, Angenehme und
Nuͤtzliche in ihm!



[31]

57.


Sie wuͤnſchten, daß Jemand uͤber den
menſchenfreundlichen Comenius ausfuͤhr-
licher ſpraͤche. Der beſcheidene Mann
ſpricht von ſich ſelbſt, (auch wo er es thun
ſollte und konnte, in ſeiner Kirchenge-
ſchichte der Boͤhmiſchen Bruͤder)
ſehr wenig; das Einzige Nothwendige
lag ihm zu ſehr am Herzen.


Wenn ich Einen Mann unſrer Nation,
(denn warum ſollte man Boͤhmen und
Maͤhren nicht zu Deutſchland rechnen?)
mit dem guten St. Pierre vergleichen
moͤchte: ſo waͤre es Comenius; und
[32] dies gewiß nicht zu ſeinem Nachtheil.
St. Pierre hat durch ſeine Schriften,
die, als ſie erſchienen, Wenige laſen, Meh-
rere ungeleſen verlachten, Andre auf eine
ſchale Art widerlegten, ja deren offenbarſte
Wahrheit ihm ſogar Verdruß zuzog, in
der Folge mehr Gutes gewirkt, als manche
blendende Schriftſteller ſeines Zeitalters,
die ihn aus der Akademie verwieſen. Seine
Traͤume von einem ewigen Frieden, von
einer beſſeren Verwaltung der Staaten,
von einer groͤßeren Nutzbarkeit des geiſtli-
chen Standes, von einer gewiſſenhaftern
Pflege der Menſchheit, ſelbſt ſeine politiſchen
Weiſſagungen, koͤnnen nicht immer Traͤu-
me eines honetten Mannes bleiben,
wie ſie damals ein duldender Miniſter
nannte. Wenn St. Pierre wieder auf-
ſtuͤnde, und gewahr wuͤrde, daß nicht blos,
(wie d'Alembert meint,) das Wort
bien-
[33]bienfaiſance und gloriole von ihm in der
Sprache ſeiner Nation geblieben, ſondern
daß ſeine Grundſaͤtze, ſeine Wuͤnſche, ſei-
ne Hoffnungen gewiſſermaaſſen der Geiſt
aller Guten und Wuͤrdigen in Europa
worden ſind; der kalte, trockene Mann
wuͤrde dabei nicht gleichguͤltig bleiben.
Wahrſcheinlich wuͤrde er gelaſſen ſagen:
„Die Zeit iſt ſchneller fortgeſchritten, als
ich es ihr zutraute.„


Unſer St. Pierre, Comentus,
hat eine andere Geſtalt. Er wurde zwar
auch in einem Labyrinth von Weiſſagun-
gen irre gefuͤhrt; (welches ihm zuletzt ſehr
leid that;) dieſe hatten auch eine viel ro-
here Geſtalt, als der politiſche Calcul des
St. Pierre, ſeiner Erziehung und ſei-
nen Lebensumſtaͤnden nach, haben konn-
te; in ihrem Ziel aber treffen beide zu-
ſammen, und dieſes iſt das Wohl der
Fuͤnfte Samml. (C)
[34] Menſchheit
. Ihm weihten beide, ob-
wohl auf den verſchiedenſten Wegen, alle
ihre Gedanken und Beſtrebungen; beiden
ſchien alles das entbehrliche Ueppigkeit
oder haͤßliche Unſitte, was nicht dahin
fuͤhrte. Beide haben eine ſchoͤne Klarheit
des Geiſtes, eine beneidenswuͤrdige Ord-
nung und Einfalt der Gedanken; ſie ſind
von allem Leidenſchaftlichen ſo fern und
los; es verdrießet ſie nicht, Eine Sache
oft, meiſtens mit denſelben Worten zu ſa-
gen, damit man ſie faſſen und ja nicht
vergeſſen moͤge, daß auch in dieſen lie-
benswuͤrdigen Fehlern ſie einander aͤhn-
lich erſcheinen. Der letzte Zweck ihrer Be-
muͤhungen iſt ganz derſelbe.


Comenius, wiſſen Sie, war der letz-
te Biſchof der Boͤhmiſchen Kirche. Er
lebte in den traurigen Zeiten des dreiſſig-
jaͤhrigen Krieges, da mit ihm ſo viele,
[35] viele Familien auf die haͤrteſte Weiſe ver-
trieben wurden; ſeit welcher Zeit dann
dieſe bluͤhenden Gemeinen nie mehr zu ei-
nigem, geſchweige zu ihrem alten Flor ge-
langten. Wollen Sie Ihr Inneres ſanft
und ſchrecklich erſchuͤttert fuͤhlen, ſo unter-
richten Sie ſich uͤber den Zuſtand dieſer
Gemeinen von ihrer Entſtehung an und
endigen mit dieſer traurigen Verſtoßung.
Keine Gemeine Deutſchlands iſt mir be-
kannt, die mit ſo reinem Eifer fuͤr ihre
Sprache, fuͤr Zucht und Ordnung bei ih-
ren Gebraͤuchen ſowohl, als in ihrem
haͤuslichen Leben, ja fuͤr Unterweiſung und
Aufklaͤrung im Kreiſe ihres Nothwendi-
gen und Nuͤtzlichen geſorgt, geſtritten, ge-
litten haͤtte, als dieſe. Von ihr aus ent-
ſprang jener Funke, der in den dunkelſten
Zeiten des haͤrteſten geiſtlichen Deſpotis-
mus Italien, Frankreich, England, die
(C) 2
[36] Niederlande, Deutſchland wie ein Feuer
durchlief, und jene vielnamigen Albigen-
ſer, Waldenſer, Lollarden u. f. weckte.
In ihr ward durch Huß und andre der
Grund zu einer Reformation gelegt, die
fuͤr ihre Sprache und Gegenden eine Na-
tionalreform haͤtte werden koͤnnen, wie
keine es in Deutſchland ward; bis auf
Comenius ſtrebte dahin der Geiſt dieſer
Slaviſchen Voͤlker. In ihr iſt eine Wirk-
ſamkeit, eine Eintracht und Tapferkeit ge-
zeigt worden, wie auſſer der Schweiz dieſ-
ſeit der Alpen nirgend anders; und es iſt
kaum zu zweifeln, daß wenn man ſich
vom zehnten, vierzehnten Jahrhundert an
dieſe Thaͤtigkeit nur einigermaaſſen unter-
ſtuͤtzt gedenket, Boͤhmen, Maͤhren, ja
uͤberhaupt die Slaviſchen Laͤnder an der
Oſtſeite Deutſchlands, ein Volk worden
waͤren, das ſeinen Nachbarn andern Nu-
[37] tzen gebracht haͤtte, als den es jetzt ſeinen
Oberherren zu bringen vermag. Die Un-
vernunft und Herrſchſucht der Menſchen
wollte es anders. Eine Ilias beweinens-
wuͤrdiger Umſtaͤnde tritt dem Geſchichtfor-
ſcher vor Augen, uͤber die der Freund der
Ordnung und des Fleißes ſeufzend erroͤ-
thet. Comenius betrug ſich bei Allem
mit der Wuͤrde eines apoſtoliſchen Lehrers.


Der Fluͤchtling nahm ſeine Jugendbe-
ſchaͤftigung vor; er ward ein Lehrer der
Jugend, aber in einer großen Ausſicht.
Seine Grundſaͤtze: „Kinder muͤßten
mit Worten zugleich Sachen ler
-
nen; nicht das Gedaͤchtniß allein,
ſondern auch der Verſtand und
Wille
, die Neigungen und Sitten
der Menſchen muͤßten von Kind
-
heit auf gebeſſert werden; und
hiezu ſei Klarheit
, Ordnung der
[38] Begriffe
, Herzlichkeit des Umgan-
ges vor Allem noͤthig“, dieſe Grund-
ſaͤtze ſind ſo einleuchtend, daß Jeder ſie in
Worten vorgiebt, ob er ſie gleich eben
nicht in Comenius Geiſt und Sinne be-
folget. Dieſer griff zur That; er gab ſei-
ne Janua, er gab einen Orbis pictus her-
aus, die zu ſeiner Zeit eine unglaubliche
Aufnahme fanden, in wenigen Jahren in
eilf Sprachen uͤberſetzt wurden, ſeitdem
unzaͤhliche Auflagen erlebt haben und ei-
gentlich noch nicht uͤbertroffen ſind: denn
haben wir jetzt nach anderthalbhundert
Jahren annoch ein Werk, das fuͤr unſre
Zeit voͤllig das ſei, was jene unvollkom-
menen Werke fuͤr ihre Zeit waren? Im
ganzen Nord-Europa erregte Comenius
Aufmerkſamkeit auf die Erziehung; der
Reichstag in Schweden, das Parlament
von England beachtete ſeine Vorſchlaͤge.
[39] Nach England ward er gerufen; von
Schweden aus ſprach der große Canzler,
Axel Oxenſtirn mit ihm; er ward zu
Ausarbeitung derſelben unterſtuͤtzt; und ob-
wohl, wie leicht zu erachten war, eine
Hauptreform der Erziehung in Come-
nius Sinn aus zehn Urſachen nicht zu
Stande kommen konnte, zumal im dama-
ligen Zeitalter hundert Ungluͤcksfaͤlle da-
zwiſchen kamen, ſo hatte Comenius da-
bei ſeine Muͤhe doch nicht ganz verloh-
ren. Seine Vorſchlaͤge (obgleich die mei-
ſten ſeiner Werke uns die Flamme geraubt
hat,) ſind ans Licht geſtellt, ja ſie liegen
groͤßtentheils, (ſo einfach ſind ſie,) in al-
ler Menſchen Sinne; nur erfordern ſie
Menſchen von Comenius Betriebſamkeit
und Herzenseinfalt zur Ausfuͤhrung. Wenn
er auflebte, und unſre neue Erziehung be-
trachtete, was wuͤrde der fromme Biſchof
zu mancher Marketenderei ſagen?


[40]

Sein Plan ging indeß noch weiter.
Er ſahe, daß keine Erziehungsreform ih-
ren Zweck erreichte, wenn nicht die Ge-
ſchaͤfte verbeſſert wuͤrden, zu denen Men-
ſchen erzogen werden; hier griff er das
Uebel in der Wurzel an. Er ſchrieb eine
Panegerſie, einen allgemeinen Aufruf
zu Verbeſſerung der menſchlichen
Dinge
, in welchem ihm St. Pierre
an Ernſt, und (ich moͤchte ſagen) an hei-
liger Einfalt ſelbſt nachſtehen moͤchte. Er
ladet aufs menſchlichſte dazu ein; meint,
es ſei ja Unſinn, Glieder heilen zu wol-
len, ohne den ganzen kranken Leib zu hei-
len; ein gemeinſchaftliches Gut ſei eine
Gemein-Freude; gemeine Gefahr fodre
auch gemeinſchaftliche Sorge, und ſchlaͤgt
Mittel zur Berathſchlagung vor. Die
menſchlichen Dinge, die er fuͤr ver-
derbt haͤlt, ſeyn Wiſſenſchaften, Re-
[41]ligion und Staatseinrichtung. Ih-
rer Natur nach bezeichneten ſie den Cha-
rakter unſres Geſchlechts, (Humanitaͤt,)
mithin die eigentliche Menſchheit, indem
Wiſſenſchaft den Verſtand, Religion den
Willen, die Regierung unſre Faͤhigkeit
zu wirken
, beſtimmen und beſſern ſollte.
Aller Menſchen Beſtreben gehe dahin:
denn jeder wolle wiſſen, herrſchen,
und genießen; edlere Seelen ſeyn nach
der edelſten Macht, der wahren Wiſ-
ſenſchaft, und einer unzerſtoͤrlichen
Gluͤckſeligkeit begierig; ſie zu befoͤrdern
opferten ſie Kraͤfte, Muͤhe, ihr Leben
ſelbſt auf. In uns liegen alſo ewige Wur-
zeln zu einem Baume der Wiſſen-
ſchaft, der Macht und des Gluͤcks;
Philoſophie ſolle uns Weisheit, politi-
ſche Einrichtung den Frieden, Religion
innere Seligkeit geben; dieſe drei
[42] Dinge ſeyn nur Eins; ſie koͤnnten nie von
einander, nie vom Menſchen geſondert
werden, ohne daß er ein Menſch zu ſeyn
aufhoͤre. Sie ziemten ihm allerwege und
allenthalben. —


Jetzt zeigt Comenius, wie und wo-
durch alle drei verderbt ſeyn? Der Ver-
ſtand werde von wenigen wenig ge-
braucht; der Wille unterliege den Begier-
den; man ſuche Reichthum, Ehre, Luſt,
Eitelkeiten, Schatten der Dinge;
man ſuche ſich außer- nicht in ſich ſelbſt.
Man wiſſe nicht, was man wollen,
thun, wiſſen ſolle; man theile ſich in phi-
loſophiſche, politiſche Religionsſecten; man
ſtreite, ohne einander zu uͤberzeugen, und
doch ſei es das einzige Zeichen, daß man
ſelbſt weiß, wenn man andre uͤberzeuget.
Die Weisheit werde in Buͤcher gekerkert,
nicht in der Bruſt getragen; unſre Buͤcher
[43] ſeyn alſo weiſe, nicht wir. Selten habe
man bei der Wiſſenſchaft einen wahren
Zweck; man lerne, um zu lernen, oder
noch zu thoͤrichtern Abſichten. Das Band
der Sprache ſei zerriſſen; und noch habe
keine einzige Sprache ihre Vollkommenheit
erreicht. Die Gebrechen, deren er die
Religion zeihet, fuͤhrt er nur kurz und
mit Bedauren an, da ſie zu offen am Ta-
ge liegen. In der Politie meint er:
nichts koͤnne regieren, als das Rechte,
niemand andre regieren, als der ſich ſelbſt
zu regieren weiß. Menſchen-Regierung
ſei die Kunſt der Kuͤnſte; ihr Zweck ſei
Friede. Mithin zeugen alle Kriege und
Unordnungen der menſchlichen Geſellſchaft,
daß dieſe Kunſt noch nicht daſei; weder
zu regieren, noch regiert zu werden wuͤß-
ten die Menſchen; von welchen Verderb-
niſſen er ſowohl die Urſachen, als die
[44] Schaͤndlichkeit und den Schaden klar
vorlegt. —


Von jeher, faͤhret er fort, ſei das Be-
ſtreben der Menſchen dahin gegangen, die-
ſen Uebeln abzuhelfen; und zeigt mit groſ-
ſem Verſtande, ſowohl was man bisher
dazu gethan und auf welchen Wegen man's
angegriffen habe, als auch weßhalb dieſe
Mittel unhinreichend oder unwirkſam ge-
blieben. Indeſſen ſei der Muth nicht auf-
zugeben, ſondern zu verdoppeln. Manche
Krankheiten tilge die Zeit; in der verdor-
benen Menſchheit ſei der Trieb zu ihrer
Verbeſſerung unaustilgbar, und auch in
den wildeſten Abwegen wirkſam. Nur
muͤſſe die Menſchheit ihr wahres Gute,
ſo wie die Mittel dazu, ganz und rein
kennen lernen; ſie muͤſſe von den Ketten
boͤſer Gewohnheiten befreiet werden, und
nicht eher nachlaſſen, bis ſie in einer All-
[45]gemeinheit zum Zweck gelange. Zu
dieſer Harmonie wirke ſelbſt der Haß der
Sekten, ihre bittre Verfolgungen und
Kriege gegen einander in Wiſſenſchaften,
Religion und Regierungsanſtalten; alles
zeige, daß eine große Veraͤnderung der
Dinge im Werk ſei. Ohne Uns koͤnne
dieſe Veraͤnderung keine Verbeſſerung wer-
den; wir muͤßten zu ihr und zwar auf
bisher unverſuchten Wegen, auf dem We-
ge der allgemeinen Einheit, Ein-
falt und einer freien Entſchlieſ-
ſung (Spontaneitaͤt) mitwirken. Der
Zweck der Einheit und allgemeinen
Verbindung
liege in unſerm Geſchlecht;
nur durch Einfalt koͤnne unſer Verſtand,
Wille und Handlungsweiſe von ihren Ver-
derbniſſen loskommen; dahin wieſe die ein-
traͤchtige Norm unſrer gemeinen Begriffe,
Faͤhigkeiten und Inſtincte; mittelſt dieſer,
[46] und dieſer allein kaͤme man ohne alle So-
phiſterei zum reinen Gute der Wahrheit.
Freiheit des Willens endlich ſei der
Charakter des Goͤttlichen in uns; Gott
zwinge nicht, und wolle nicht, daß Men-
ſchen gezwungen, ſondern gelehrt, geleitet,
unterſtuͤtzt werden. So weit wir vom
Wege der Einigkeit, Einfalt und
Sinnesfreiheit abgewichen ſeyn: ſo
ſei eine Ruͤckkehr dahin moͤglich, ſobald
wir uns nur vornaͤhmen, ohne Ausſchlieſ-
ſung Alles, fuͤr Alle, auf alle Art
und Weiſe
zu verbeſſern. In dieſen drei
Worten liege das ganze Geheimniß: (om-
nia, omnibus omnimode esse emendanda)

denn alle bisherige Vereitelung guter Be-
muͤhungen ſei blos daher gekommen, daß
man nicht Alles, nicht fuͤr Alle,
nicht auf alle Weiſe habe verbeſſern
wollen, ſondern zuruͤckbehalten, geſchont,
[47] geſchmeichelt und dadurch das Boͤſe oft aͤr-
ger gemacht habe. Das Studium zu par-
ticulariſiren ſei die ewige Grundlage
der Verwirrung; jeder rathe, ſorge fuͤr
ſich, fuͤr alle niemand. Man ſchaue ge-
woͤhnlich auch nicht rings umher, ſondern
dieſer auf dies, jener auf jenes; dafuͤr ſei
er entbrannt, und vergeſſe, hindere, ver-
achte alles andere. Am wenigſten habe
man den ganzen Apparat von
Kraͤften und Mitteln angewandt
,
deſſen die Menſchheit faͤhig iſt, ja
den ſie wirklich im Beſitz hat
.
Sehr ernſtlich begegnet Comenius den
Einwuͤrfen, daß eine allgemeine Verbeſſe-
rung unmoͤglich ſei, und ein Unternehmen
der Art zur Zerſtoͤrung aller bisherigen
Einrichtungen gereichen wuͤrde. Moͤglich
ſei ſie allerdings; das zeigte die Haushal-
tung der Natur, der Begrif der Kunſt,
[48] die Identitaͤt der Menſchheit; auf dem
Wege der Einfalt werde man die Moͤg-
lichkeit einer ſolchen Verbeſſerung wohl
finden: denn ſie liege allenthalben vor uns,
und die Einfalt ſelbſt ſei das wirkſamſte
Gegengift aller Verwirrung. Auch den
freien Willen der Menſchen glaubt Co-
menius auf ſeiner Seite zu haben, ſo-
bald man ſie nur nicht taͤuſchte, ſondern
in Allem fuͤr Alle rein ſorgte.
Nichts als das Schlechte wuͤrde zerſtoͤrt;
nur das Ueberfluͤßige wuͤrde hinweggethan;
das Gute bliebe, mit unendlich vielem,
neuen Guten vermehrt, verſtaͤrkt, verei-
nigt. Hiezu ladet er nun in der einfaͤltig-
ſten Herzensſprache die Menſchen ein; der
Biſchof ſpricht zur geſammten Menſchheit,
wie zu ſeiner Gemeine. —


Glauben Sie nicht, daß dergleichen
Utopiſche Traͤume, wie man ſie zu nennen
pflegt,
[49] pflegt, Nutzlos ſeyn: die Wahrheit, die
in ihnen liegt, iſt nie Nutzlos. Dem
Comenius konnte man ſagen, was der
Cardinal Fleury dem St. Pierre ſag-
te, da dieſer ihm ſein Project des ewigen
Friedens und des Europaͤiſchen Reichsta-
ges uͤberreichte: „Ein weſentlicher Artikel
iſt darinn vergeſſen, die Miſſionarien naͤm-
lich, die das Herz der contrahirenden Fuͤr-
ſten zu dieſem Frieden und zu dieſem
Reichstage diſponiren;“ allein wie St.
Pierre ſich bei ſeinem Projekt auf
den großen Miſſionar, die allge-
meine Vernunft, und ihre Die-
nerin, die Zeit, oder allenfalls die
Noth verließ; ſo wahrſcheinlich auch
Comenius. Er ſchrieb eine Con-
ſultation, (ich weiß nicht, ob er
ſie umhergeſandt habe) die ſogar erſt
dreiſſig Jahre nach ſeinem Tode gedruckt
Fuͤnfte Samml. (D)
[50] ward. *) Da ſie wenige Bogen enthaͤlt,
wuͤnſchte ich, daß ſie uͤberſetzt erſchiene,
wenn auch nur zum Zeichen, wie anders
man damals uͤber die Verbeſſerung der
Dinge ſchrieb, als man jetzt zu ſchreiben
gewohnt iſt. Fromme Wuͤnſche der Art
fliegen nicht in den Mond; ſie bleiben auf
der Erde, und werden zu ihrer Zeit in
Thaten ſichtbar. Es ſchweben nach Ari-
oſto's ſchoͤner Dichtung immerdar einige
[51] Schwaͤne uͤber dem Fluß der Vergeſſen-
heit; einige wuͤrdige Namen erhaſchen ſie,
ehe dieſe hineinſinken, und ſchwingen ſich
mit ihnen zum Tempel des Andenkens
empor. —


Ich lege Ihnen einen Aufſatz bei, der
mir Namenlos zukam; theilen Sie ihn
unſern Freunden mit. Er iſt nicht mit
Comeniſchem Geiſt geſchrieben; es laͤßt ſich
aber Manches daruͤber ſagen.


(D) 2
[52]

Haben wir noch
das Publicum und Vaterland
der Alten?


1.
Haben wir noch das Publicum der
Alten?


Um eine vorgelegte Frage zu beantwor-
ten, muß man ſie erſt verſtehen. Alſo:


Was iſt Publicum? Ein ſehr un-
beſtimmter Begriff, der, wenn man alle
Eigenheiten des einzelnen Gebrauchs und
Mißbrauchs ſeiner Benennung abſondert,
ein allgemeines Urtheil, wenigſtens
eine Mehrheit der Stimmen in dem
Kreiſe
, in welchem man ſpricht,
[53]ſchreibet oder handelt, zu bezeichnen
ſcheinet. Es giebt ein reales und idea-
les Publicum; jenes, das gegenwaͤrtig
um uns iſt, und uns ſeine Stimme wo
nicht zukommen laͤßt, ſo doch zukommen
laſſen kann; das ideale Publicum iſt zu-
weilen ſo zerſtreut, ſo verbreitet, daß kein
Luͤftchen uns aus der Entfernung oder
aus der Nachwelt, den Laut ſeiner Ge-
danken zufuͤhren mag. Bei jeder Gattung
des Publicums aber denket man ſich ein
verſtaͤndiges, moraliſches Weſen,
das an unſern Gedanken, an unſerm
Vortrage, an unſern Handlungen Theil
nimmt, ihren Werth und Unwerth zu ſchaͤ-
tzen vermag, das billiget oder mißbilliget,
das wir alſo auch zu unterrichten, eines
Beſſern zu belehren, in Anſehung ſeines
Geſchmacks zu bilden und fortzubilden uns
unterfangen duͤrfen. Wir muntern es auf,
[54] wir warnen; es iſt uns Freund und Kind,
aber auch Lehrer, Zurechtweiſer, Zeuge,
Klaͤger und Richter. Belohnung hoffen
wir von ihm nicht anders als durch Bei-
fall, in Empfindungen, Worten und Tha-
ten.


Unter den Alten verſtehet man in
Anſehung der Kunſt die Griechen, in An-
ſehung der Literatur Griechen und Roͤ-
mer, in Anſehung alles deſſen aber, wor-
uͤber das Publicum gefragt oder belehrt
werden kann, jede Nation, die in fruͤhe-
ren Zeiten auf uns gewirkt hat, mit der
wir uns hier oder dort in Anſehung ge-
faͤllter Urtheile zu vergleichen, zu meſſen
haben. Man ſiehet, daß in dieſem Ge-
ſichtspunkt ſowohl die Hebraͤer, als die
ſogenannten Barbaren des Mittelalters
von unſern Alten nicht ausgeſchloſſen
ſind: denn dieſe haben viele Meinungen
[55] unſres Publicums, und in Manchem ſei-
nen ganzen Geſchmack conſtituiret.


Wer ſind nun die Wir, die ſich mit
dieſen Alten vergleichen? Im Ganzen
moͤchte man die jetzige Generation der Men-
ſchen darunter verſtehen. Da dieſe doch
aber in einen Geſichtskreis oder gleichſam
in einen großen Saal beſchraͤnkt werden
muß, um Zuſchauerin, Hoͤrerin, Urtheile-
rin, Richterin zu werden: ſo wird dieſer
Kreis bald ſehr weit, bald ſehr enge ge-
nommen; ja vom weiteſten Kreiſe, den
unſre Einbildung kaum faſſen mag, wird
oft behauptet, was nur dem engeſten, ei-
nem ſehr auserleſenen Kreiſe gebuͤhret.
Aus Erfahrungen ſeiner Landes- und
Stadtwelt ſpricht man gemeiniglich fuͤr
die Chriſtenheit, fuͤr Europa, fuͤr Welt
und Nachwelt, an denen man ſich immer
eine myſtiſche Perſon oder Ver-
[56]ſammlung, eine aufgeklaͤrte oder auf-
zuklaͤrende Gemeinheit denket. Um allen
aus dieſer Verwirrung entſpringenden
Mißverſtaͤndniſſen zu entweichen, wird's al-
ſo noͤthig ſeyn, jedesmal den Geſichtskreis
zu beſtimmen, und in Abſicht jeder Fra-
ge, die an ein Publicum gelangt, Zeiten
und Voͤlker zu unterſcheiden.


I. Vom Publicum der Ebraͤer.


Das Ebraͤiſche Volk ward von ſeinem
Urſprunge an als ein genetiſches In-
dividuum, als Ein Volk betrachtet.
Der ſterbende Stammvater ſprach zu ſei-
nen Soͤhnen fuͤr die ganze Reihe zukuͤnf-
tiger Zeiten; ja ehe der Sohn des Stam-
mes gebohren war, geſchah ſchon dem
ganzen zukuͤnftigen Volk die Verheißung.
Als es in vielen Tauſenden um den Berg
Sinai gelagert daſtand, ſprach der Geſetz-
[57] geber im Namen ſeines Gottes zu ihm,
als zu Einer Perſon, die dieſes Got-
tes Knecht und gerettetes Kind ſei;
und da er vor ſeinem Lebensende dies Ge-
ſetz wiederholte, ließ er das Volk als Ei-
nen Mann geloben. Er foderte von ihm
Achtung und Liebe des Geſetzes als von
Einem moraliſchen Weſen. So
ſprachen alle Propheten, denen der Geſetz-
geber ausdruͤcklich Raum zu dieſer Stim-
me ans geſammte Volk, als an Ein
Eigenthum Gottes
gelaſſen hatte.
So klein der Kreis ſeyn mochte, in dem
mancher Prophet ſprach, oder zu ſeiner
Zeit ſchrieb, ſo groß wird er dieſer ſeiner
Idee nach. Der Bote ſeines Gottes ſpricht
zum Sohne Jacob, zum Knecht Iſrael
fuͤr alle Zeiten. Daher der hohe, weit-
ſchallende Ton des Patriotismus in den
Ebraͤiſchen Pſalmen und Propheten. Wo
[58] und in welcher Sprache ſein Nachhall er-
toͤne: er ergreift das Herz; ein Publicum
wird lebendig. Man findet ſich in einer
Verſammlung, in der Einer fuͤr Alle ſteht,
Alle fuͤr einen. Die Laſt der Gebote,
Segen und Fluch traͤgt das ganze Volk
auf ſeinen Schultern. Danklieder toͤnen
von Allen empor; auch uͤber die kleinſten
Begegniſſe des Individuum werden ſie an-
genommen, weil dies Individuum zum
ganzen Volk gehoͤret. So traͤgt in den
Beſtrafungen der Propheten jeder Iſraelit
die Schuld des Andern; der Troſt des An-
dern kommt auch ihm zuſtatten; gemein-
ſchaftliche Wuͤnſche, eine gemeinſchaftliche
Ausſicht erhebt das Herz des freudigen
und des gedraͤngten Volkes. Auch ſeit-
dem Iſrael unter alle Nationen zerſtreut
ward, iſt dieſer Prophetenton eines Na-
tionalpublicum nicht verhallet. Alle
[59] ſeine Geſaͤnge und Gebete ſprechen noch
zu Gott mit der Stimme eines verlohr-
nen Kindes, eines gedemuͤthigten Knech-
tes. Wenn ein Geiſt der Poeſie, der Leh-
re, der Ermahnung in dieſem Volke wie-
der aufleben ſollte, ſo kann er nicht anders
als in ſolchem Ton zum Volk ſingen und
reden.


Haben Wir dies Publicum der Ebraͤ-
er? Mich duͤnkt, jedes Volk habe es durch
ſeine Sprache. Dieſe iſt ein goͤttliches
Organ der Belehrung, Strafe und Unter-
weiſung fuͤr Jeden, der fuͤr ſie Sinn und
Ohr hat. Das Band der Zunge und des
Ohrs knuͤpft ein Publicum; auf dieſem
Wege vernehmen wir Gedanken und Rath,
wir faſſen Entſchlieſſungen, und theilen
mit einander Belehrung, Leid und Freu-
de. Wer in derſelben Sprache erzogen
ward, wer ſein Herz in ſie ſchuͤtten, ſeine
[60] Seele in ihr ausdruͤcken lernte, der ge-
hoͤrt zum Volk dieſer Sprache. Ich
vernehme noch Ottfrieds Stimme; die
Kern- und Biederſpruͤche mancher alten
Deutſchen, die den Charakter meines Volks
in ſich tragen, ſprechen zu mir; Kaiſer-
berg, Luther predigt mir noch; und
was auch von andern Nationen in meine
Mundart meiſterhaft uͤberging, iſt die
Stimme eines Publicums worden, zu
dem auch ich gehoͤre. Meine Stimme, ſo
ſchwach ſie ſei, bewegt auch Wellen dieſes
aͤtheriſchen Weltmeers. Von den Millio-
nen die Deutſch reden und leſen, werden
auch mich einige verſtehen und hoͤren,
waͤren es nur ſo viel als Perſius
ſich anmaaßet, aut duo aut nemo; auch
dieſe Zwei, lobend oder tadelnd, erregen
ihre Wellen weiter. Im Publicum der
Sprache hat ſogar der Niemand ein Ohr;
[61] er lernt von- oder an mir, und ſpricht
weiter. Und dies Publicum breitet ſich
fort, ſo lange die Sprache, ſelbſt mit Ver-
aͤnderungen, dauret, bis ſie verſtaͤndlich
zu ſeyn aufhoͤret. Kein Geſetz kann die-
ſen Fortgang verbieten, keine Macht ihn
aufheben, bis die Sprache vertilgt iſt;
und ehe dieſe vertilgt wird, dazu gehoͤren
allmaͤchtige Kraͤfte der Zeiten.


Nicht der Schriftſteller gehoͤret zu die-
ſem Publicum allein, ſondern auch der
muͤndliche Unterweiſer, der Geſetzgeber,
der Feldherr, der Redner und Ordner.
Mittelſt der Sprache wird eine Nation
erzogen und gebildet; mittelſt der Sprache
wird ſie Ordnung- und Ehrliebend, folg-
ſam, geſittet, umgaͤnglich, beruͤhmt, fleißig
und maͤchtig. Wer die Sprache ſeiner
Nation verachtet, entehrt ihr edelſtes Pu-
blicum; er wird ihres Geiſtes, ihres in-
[62] neren und aͤußeren Ruhms, ihrer Erfin-
dungen, ihrer feineren Sittlichkeit und
Betriebſamkeit gefaͤhrlichſter Moͤrder. Wer
die Sprache eines Volks emporhebt, und
ſie zum kraͤftigſten Ausdruck jeder Em-
pfindung, jedes klaren und edlen Gedan-
kens ausarbeitet, der hilft das weiteſte
und ſchoͤnſte Publicum ausbreiten, oder
in ſich vereinigen und feſter gruͤnden.


Daß unſer Deutſchland durch ſeine
Sprache ſich dies Publicum in ſolchem
Umfange, mit ſolcher Feſtigkeit gegruͤndet
habe, wie es haͤtte geſchehen moͤgen, iſt
ſehr zu zweifeln. Ganze Laͤnder ſind da-
von abgeriſſen; Provinzen und Kreiſe ver-
ſtehen einander kaum, nicht nur nicht in
Reden, ſondern oft ſelbſt nicht in Schrif-
ten. Was in manchen Gegenden fuͤr Witz
gilt, wird in andern als niedriger Scherz
verachtet; das Ganze hat ſo wenig einen
[63] gemeinſchaftlichen Schritt in der Kultur
gehalten, daß ſchwerlich eine Vorſtellungs-
art zu finden waͤre, die auf alle Theile
deſſelben, als auf Ein gemeinſames
Publicum
, mit gleicher Macht wirkte.
Nicht aber nur Provinzen und Kreiſe,
ſelbſt Staͤnde haben ſich von einander ge-
ſondert, indem ſeit einem Jahrhunderte
die ſogenannten obern Staͤnde eine voͤllig
fremde Sprache angenommen, eine frem-
de Erziehung und Lebensweiſe beliebt ha-
ben. In dieſer fremden Sprache ſind ſeit
einem Jahrhunderte unter den genannten
Staͤnden die Geſellſchaftsgeſpraͤche gefuͤhrt,
Staats-Unterhandlungen und Liebeshaͤndel
getrieben, oͤffentliche und vertraute Brie-
fe gewechſelt worden, ſo daß wer einige
Zeilen ſchreiben konnte, ſolche nothwendig
vormals italieniſch, nachher franzoͤſiſch
ſchreiben mußte. Mit wem man Deutſch
[64] ſprach, der war ein Knecht, ein Diener.
Dadurch alſo hat die Deutſche Sprache
nicht nur den wichtigſten Theil ihres Pu-
blicums verlohren, ſondern die Staͤnde
ſelbſt haben ſich dergeſtalt in ihrer Denk-
art entzweiet, daß ihnen gleichſam ein zu-
trauliches gemeinſchaftliches Or-
gan ihrer innigſten Gefuͤhle fehlet.
Beide ſind auf ihrem getrennten Wege
nicht ſo weit fortgeſchritten, als ſie in
Wirkung und Gegenwirkung auf einander
haͤtten kommen moͤgen, indem der Eine
Theil meiſtens an Phraſen, an Worten
ohne Gegenſtand, leer von innerer Bil-
dung hangen bleiben mußte; dem andern
hingegen bei aller Muͤhe des Fortſtrebens
ewig und immer eine Mauer entgegenge-
ſtellt war, an welcher leere Schaͤlle zuruͤck-
prallten. Ohne eine gemeinſchaftliche Lan-
des- und Mutterſprache, in der alle Staͤn-
de
[65] de als Sproſſen Eines Baumes erzogen
werden, giebt es kein wahres Ver-
ſtaͤndniß der Gemuͤther, keine ge-
meinſame patriotiſche Bildung,
keine innige Mit- und Zuſammen-
empfindung, kein vaterlaͤndiſches
Publicum mehr
. Entweder bequemt
man ſich nach der fremden Denkart des
Andern, und buhlt ohne Dank und Kraft
um deſſen leere Vorſtellungsweiſe, wie um
einen nichtigen Schatten; oder man ſpricht
und ſchreibt nicht fuͤr ihn; er iſt ein tod-
tes oder ein hinderndes, oft feindlich-wir-
kendes Glied der Gemeine. Wenn die
Stimme des Vaterlandes die Stimme
Gottes iſt, ſo kann dieſe zu gemeinſchaft-
lichen, allumfaſſenden, und aufs tiefſte
greifenden Zwecken nur in der Sprache
des Vaterlandes
toͤnen; ſie muß von
Jugend auf, durch alle Claſſen der Na-
Fuͤnfte Samml. (E)
[66] tion, an Herz und Geiſt erklungen ſeyn;
ſo nur wird durch ſie ein Publicum, ver-
ſtaͤndig und verſtanden, hoͤrend und hoͤr-
bar. Jede fremde bleibt eine entzweiende
Samariterſprache.


2. Publicum der Griechen.


Daß dem alſo ſei, wollen wir ſchoͤner
an den Griechen lernen. Wahrſcheinlich
war ihre Sprache Anfangs ſo ungebildet,
als jede Volksſprache in rohen Zeiten;
da ſtieg Calliope, da ſtiegen Goͤtter vom
Himmel hernieder. Merkur erfand die
Lyra; die Cither begleitete Apollo mit
herzerweckendem Geſange; mehreren Soͤh-
nen der Muſe folgte Baum und Fels,
es horchten ihnen Stroͤme; kurz, (ohne
Fabel zu reden,) Poeſie mit Muſik begleitet
erſchuf und bildete ſich ein Griechiſches
Publicum
, in einer feinern Sprache,
[67] und einer feineren Gedankenweiſe. Die
Fabelnamen Orpheus, Linus, Muſaͤ-
us ſind in Abſicht der Wirkung, die ſie
hinterlieſſen, keine Fabelnamen; die Form
ihrer Goͤtter- und Menſchengeſtalten, die
Melodie ihrer Weisheitſpruͤche und Lehren,
der rhythmiſche Gang ihrer Empfindun-
gen und Bilder ward dem Ohr, dem Ge-
daͤchtniß der Hoͤrenden eingepraͤget, und
ging von Munde zu Munde, endlich auch
in Schriften und Gebraͤuchen auf die ſpaͤtere
Nachwelt. Die Geſaͤnge, die Homer und
andre Rhapſoden in kleineren Kreiſen ſan-
gen, waren nicht verhallet; ſie kamen ge-
ſammlet nach Athen, ſie erklangen am Pa-
nathenaͤiſchen Feſte. Die Hymnen der Ho-
meriden, Lieder und Chorgeſaͤnge der ver-
ſchiedenſten Art, dichteriſche und muſikali-
ſche Wettſtreite zierten und kraͤnzten jede
Volksverſammlung, jedes oͤffentliche Spiel,
(E) 2
[68] jede feierliche Religions- und Staats-
handlung. So ward ein Publicum der
Griechen
fuͤr Poeſie; bald auch fuͤr Pro-
ſe. Herodot las ſeine Geſchichte dem
verſammleten Griechenlande, wie ſo viele
Dichter vor ihm ihre Gedichte groͤßeren
oder kleineren Kreiſen geſungen hatten:
denn ſelbſt die Gaſtmahle der Griechen
hatten eine Art froͤlicher Publicitaͤt, und
waren nicht ohne Muſen. Auf dieſem
Wege entſtand das Griechiſche Schau-
ſpiel, das allen ſeinen Theilen nach ein
Publicum vorausſetzte, und ein Publicum
vergnuͤgte. Auf dieſem Wege gelangte die
Griechiſche Kunſt zu ihrer Hoͤhe: die Mu-
ſe, die dem Kuͤnſtler ſeine reinen, hohen
Ideen eingab, hatte ſich auch Gelegenhei-
ten, Oerter und Plaͤtze geheiligt, wo ſie
ſolche mit Wuͤrde zeigen und einem dazu
geſtimmten Volk ſichtbar machen konnte.
[69] Selbſt in die Berathſchlagungen und Zaͤn-
kereien vor Gericht ging Redekunſt als
ein Haupterforderniß uͤber. Indem Alles
vorm Publicum verhandelt wurde, ſo ward
dies Publicum durch Rede gefeſſelt, durch
Kunſt der Rede gefuͤhrt und gelenket.


Haben Wir dies Publicum der Grie-
chen? Nein; und in mehreren Stuͤcken
iſts vielleicht gut, daß wir es nicht haben.
Wo uͤber Krieg und Frieden, uͤber Leben
und Tod der Beklagten, uͤber Verdienſt
und Belohnung die Kunſt der Rede ge-
bieten darf; wie vielen Verleitungen iſt
und bleibt die Seele eines unerzogenen
Volks ausgeſetzt, die mit ihrem ganzen
Urtheil im Ohre wohnet! Die Geſchichte
der Griechiſchen Republiken, inſonderheit
Athens, zeigt uns davon eine große Gal-
lerie fuͤrchterlich-ſchoͤn gemahlter Beiſpie-
le, bei deren Ueberblick mancher Nordlaͤn-
[70] der oft mit frohem Schauder ſagen wird:
„o der leichtſinnigen Griechen! Wohl uns!
dieſe Zeiten ſind voruͤber!„ Ein Gleiches
wird er vielleicht von den Religions- und
Staatsfeierlichkeiten, den oͤffentlichen Spie-
len, Taͤnzen, Uebungen und Wettkaͤmpfen,
vielleicht auch vom ganzen Theater in
Athen ſagen. Und allerdings gehoͤrt Alles
dorthin und in jene Zeiten.


Aber warum haͤtten wir denn ein The-
ater, wenn wir kein Publicum fuͤrs Thea-
ter haben moͤgen? Warum haͤtten wir
Kunſt, wenn es nicht die Griechiſche ſeyn
kann? Warum unterfingen wir uns, Ver-
gnuͤgungen des Geſchmacks zu haben, wenn
es kein Publicum des Geſchmacks geben
ſoll? Warum endlich ſpielen wir mit Mu-
ſik, Redekunſt, Poeſie und Sprache, wenn
dieſe nicht zu Zwecken angewandt werden,
zu denen ſie, allein und verbunden, ei-
[71] gentlich beſtimmt und geſchaffen ſind?
Ihrer Natur nach erfordern ſie
ein Publicum
; ohne ſolches ſind ſie
todt und begraben.


Ein Hymnus z. B. gehoͤrt ſeiner
Natur nach fuͤr eine Verſammlung.
Der Dichter, der dieſe nicht um ſich er-
blicket, nimmt Himmel und Erde, Waͤl-
der und Felſen zu ſeinen Zuhoͤrern und
Zeugen. Die Stimme eines Lyriſchen
Dichters
rufet ein Publicum an und
auf. Der Saͤnger, ja ſelbſt der Ge-
ſchichtſchreiber großer Begeben-
heiten fodert einen Kreis von Maͤnnern,
Weibern, Juͤnglingen und Kindern um
ſich her, denen ſeine Begebenheiten in Ohr
und Seele toͤnen. Sie oͤfnen ihm nicht et-
wa nur eine Buͤhne, auf der er in ihrem
Beifall ſeinen ganzen Ruhm ernte, ſon-
dern ihre Gemuͤther ſelbſt ſind ſeine Are-
[72]na, der Schauplatz, das Ziel, das Maas
ſeiner Wirkung. Die Scene, die der
Epiſche Dichter nicht alſo beſchreibt,
daß ſie den Augen des Zuhoͤrers ſichtbar
wird, alſo daß auch in der Seele der Han-
delnden mit gehaltenem Intereſſe alles vor
ſeinen Augen vorgehet, iſt keine Epiſche
Scene; die Begebenheit, die der Ge-
ſchichtſchreiber im Zuſammenhange ih-
rer Folgen, wo moͤglich auch ihrer Urſa-
chen, nicht alſo gegenwaͤrtig zu machen
weiß, daß dem Zuhoͤrer ſein eignes klares
Urtheil daruͤber reifet, iſt eine mangelhaft-
erzaͤhlte Geſchichte. Der Lyriſche Dich-
ter, der mit ſeiner Kunſt in der Seele
des Hoͤrenden nicht den Grad von Theil-
nehmung trift, auf den ſeine Kunſt als
auf den Punkt ihrer Vollkommenheit rech-
net, hat auf ein Nichts gearbeitet, und
verfehlt ſeine Wirkung. Alle dieſe Pro-
[73] ductionen alſo wollen ein Publicum,
aus welchem ſie gleichſam hervor- auf wel-
ches ſie zuruͤckgehen, aus welchem ſie die
Regel ihrer Kunſt nahmen.


Wo ſind nun in Deutſchland die Ode-
en unſrer Geſchichtſchreiber, unſrer Lyri-
ſchen und Epiſchen Dichter? Wo ſind die
Schulen, in denen man die edelſten Ge-
ſaͤnge den Juͤnglingen ans Herz legt, und
ſie nebſt den ſchoͤnſten claſſiſchen Stellen
der Alten nicht etwa blos declamirt, ſon-
dern in die Seelen ſchreibet? Nur was
ſelbſt Geſtalt hat, kann Geſtalt geben;
nur Flamme kann Flamme verbreiten.
Ein Athem aber kann auch aus Funken
eine Flamme wecken und viele todte Koh-
len entzuͤnden. An gluͤhenden Funken hat
es Deutſchland nicht gefehlet; ſie ſind aber
nie zur Flamme angefacht worden. Der
ſogenannte Minnegeſang war Hofge-
[74] ſchmack; er ging voruͤber. Die Zeiten der
Reformation brachten ſtehende Gefahr-,
dankende Lobgeſaͤnge in den Mund vie-
ler; ſie gingen mit der Gefahr voruͤber.
Der dreiſſigjaͤhrige Krieg weckte Stimmen
mancher Art fuͤr beide Partheien; die
Feldherrn der Ligue wurden eben ſowohl,
als die Feldherrn und Retter der Union
geprieſen, und unter den letzten ſind die
Namen eines Ernſt von Mansfeld,
Chriſtian von Anhalt, Johann
Ernſt und Bernhards von Wei
-
mar, Guſtav Adolphs, Georgs von
Baden
der deutſchen Muſe nicht fremde
geblieben. Leider aber iſt dieſe keine Toch-
ter Mnemoſynens, oder ſie iſt von
ihr zwiſchen Schlaf und Wachen erzeuget.
Nach dem Weſtphaͤliſchen Frieden vergaß
man aller Gefahr, und hat uͤber hundert
Jahre, dann und wann unſanft aufgeruͤt-
[75] telt, ſanft geſchlafen. Alle weckende Stim-
men, leiſe und lauter, ſind vergebens ge-
weſen; unſre Dichter waren oder hieſſen
Versmacher, Reimſchmiede; ſeit einem hal-
ben Jahrhundert las man Voltaire,
und ließ die Deutſche Geſchichte erroͤthen
und ſchweigen. Sie ſchweigt noch, und
darf an eine Geſchichte des Deut-
ſchen Geſchmacks, der Deutſchen
Cultur
, der Deutſchen Feſtivitaͤ-
ten und Luſtbarkeiten nicht ohne Be-
ſchaͤmung denken.


Auf dem Theater wird ein Publicum
oder ein Theil deſſelben einem andern Pu-
blicum zur Schau vorgeſtellt; offenbar war
dies die Idee der Griechen, im Trauer-
ſpiel mit dem Chor, im Luſtſpiel mit dem
einzeln- oder in Maſſe perſonificirten Vol-
ke. Theater und Zuſchauer hingen alſo
wie Bild und Abbild, wie Seele und Koͤr-
[76] per zuſammen; ſie wirkten an- und gegen
einander; Eins wurde durch das andre
gehoben und belebet. In Italien und
Frankreich (England kenne ich nicht) iſt
dies auf den beſten Buͤhnen auch alſo:
daher der Theatergeſchmack in dieſen Laͤn-
dern ſolang' umherirrte, bis er einen
Punkt der Vereinigung mit ſei-
nem Publikum fand, und ſich entwe-
der durch muſikaliſches oder durch drama-
tiſches Spiel in eine Mitte des Gebens
und Nehmens, des gegenſeitigen Genuſſes
und Belehrens ſetzte. Ich zweifle, ob
dies in Deutſchland, wenige Charaktere
und Scenen ausgenommen, je der Fall ge-
weſen. Daß man es wenigſtens auf die
Vereinigung und gegenſeitige Ausbildung
des Geſchmacks der Buͤhne und des Pu-
blicums ſehr ſpaͤt und aͤußerſt ſelten an-
geleget hat, iſt aus der Geſchichte des
[77] Deutſchen Theaters klar. Außer den alten
Myſterien, Kloſteragenden oder Marionet-
ten kam die Buͤhne als Hoffeierlich-
keit nach Deutſchland; das Volk ward
hinzugelaſſen, ſich an dieſen praͤchtig geklei-
deten Hof- und Staatsrevolutionen, die
hinter den Lichtern vorgingen, als Poͤbel
zu erbauen. An manchen Orten Deutſch-
lands hat die Buͤhne dieſe Hoftheater-
Geſtalt und Verwaltung beibehalten, und
ſtehet alſo ganz außer dem Gebiete
der Kunſt
, weil ſie zum Hof-Etiquet-
te gehoͤret. In andern Provinzen ziehen
Banden umher, (wie man die Schau-
ſpieler mit dem alten deutſchen Helden-
namen zuweilen noch jetzt nennet;) ſie ge-
hen, wie es die Deutſchen von jeher gern
thaten, aus Bande in Bande, und neh-
men Dienſte, nachdem ſie bezahlt und ge-
dungen werden; waͤre es nicht unvernuͤnf-
[78] tig und grauſam, von ihnen ein Ideal
der Kunſt, ein correſpondirendes Publi-
cum zu fordern? Einzelne Dichter und
Schauſpieler haben ſich, ich moͤchte ſagen
uͤber das Moͤgliche, hinaufgeſchwungen;
ſie konnten aber keine neue Welt um und
vor ſich ſchaffen; dieſe muͤſſen auffuͤhren,
was jene geben, wie ſie es mit andern
auffuͤhren koͤnnen, und wie am Ende
ihr Publicum gebietet. Da ich hier
keine Kritik des Theaters ſchreibe, ſo be-
merke ich nur Eins, daß bei uns, wie
mich duͤnkt, durchs Theater das Publicum
gebildet werden muͤſſe, nicht aber durchs
Publicum das Theater. Fuͤrs Theater
haben wir noch kein richtendes Publicum,
eben weil die theatraliſche Kunſt im Sin-
ne der Griechen die Kunſt der Kuͤnſte iſt,
von der ſelbſt nicht jeder Dichter, noch
weniger jeder Liebhaber, am wenigſten end-
[79] lich der ſich beluſtigende Poͤbel Begriff
hat. Schmeichelt man deſſen Gaum, und
beluſtiget ſich an ſeinem Beifall; ſo iſt
man am Rande; man verdirbt und ver-
derbet. Welche Raͤume aber haben wir
noch auszumeſſen, ehe nicht an ein gebil-
detes Publicum, ſondern nur an die Bil-
dung dieſes Publicum nach deutſcher Sit-
te und Lage zu gedenken iſt! Und doch
giebt es auſſer einem mit Sinn und
Wohlgefallen belebten
Schauſpiel
kein Schauſpiel; es wird ein Haus voll
Puppen oder wir ſind in ſchlechter Ge-
ſellſchaft.


Soll eine Nation keine Einbildungs-
kraft haben: ſo wolle man dieſe auch nicht
wecken; ſie ſchlummere. Wecket man ſie,
ſo bilde man ſie auch aus; man laſſe nur
Stuͤcke, die fuͤr ſie ſind, und dieſe auf
eine Weiſe auffuͤhren, daß man vom boͤ-
[80] ſen Geſchmack des Publicums nicht ab-
hange, ſondern dieſen Geſchmack ausrotte,
oder ihn zum Guten lenke. In Athen ent-
ſtand das Theater zu Aeſchylus Zeit
aus dem hohen Gefuͤhl der Freiheit und
des Sieges uͤber den großen Koͤnig; dies
Gefuͤhl ſtimmte die Seele zum Anblick an-
drer großen Begebenheiten, die tragiſch
vorgeſtellt wurden. In Frankreich und
England iſt das Theater, (die Modifica-
tionen der Zeit abgerechnet,) auf aͤhnliche
Weiſe entſtanden: denn wenn man von
großen Begebenheiten ſeiner Zeit hoͤrt oder
lieſet, ſo will man dieſe auch, durch Kunſt
bearbeitet, und von ihr vorgeſtellt, ſehen.
Das Publicum der Welt wird ſodann von
ſelbſt ein Publicum des Theaters. Gleicher-
geſtalt fodert die Komoͤdie, die Charaktere
und Sitten vorſtellt, eine anſchauende
Kenntniß der Nation, eine leichte Exſi-
ſtenz,
[81] ſtenz, eine ſich ſelbſt beſtimmende morali-
ſche Freiheit. Der duͤrftige Knechtesſinn
iſt eine mephitiſche Luft, in der jede Flam-
me erſtickt wird.


Die Philoſophie der Griechen
hatte eigentlich kein Publicum, wie die
Kuͤnſte; ihrer Natur nach hatte ſie deſſen
auch nicht noͤthig.


Die aͤlteſten Weiſen der Griechen wa-
ren Geſetzgeber; und wohl dem Volk, deſ-
ſen Geſetzgeber Weiſe ſind. Sokrates er-
ſchien in einer bedraͤngten Zeit: ſein Pu-
blicum waren Privatgeſellſchaften
oder einzelne Perſonen; ſeine Metho-
de war auf die Entwickelung der Grund-
ſaͤtze des Wahren, Guten und Schoͤnen
in dieſen einzelnen Perſonen berech-
net. Und dieſes duͤnkt mich ſei der Zweck
der wahren Philoſophie, Selbſtbildung.
Fuͤnfte Samml. (F)
[82] Der Lehrer kann und will dabei nur eine
Hebamme unſrer Gedanken, ein Mithel-
fer unſrer eignen, arbeitenden Kraͤfte wer-
den. Sokrates hatte ſeinen eignen Ge-
nius, der nachher nicht oft, aber doch hie
und da z. B. in Montaigne, Addi-
ſon, Franklin u. a. wieder erſchienen
iſt, und die eigne Bearbeitung des
menſchlichen Geiſtes und Willens

zum Zweck hatte. Von der Stimme des
Publicums haͤngt dieſe nicht ab; vielmehr
wird ſie oft durch ſolche behindert, daher
Socrates mit den Sophiſten, die das [Pub-
licum]
ſtimmten und mißſtimmten, faſt im-
mer im Streit lag.


Die Sokratiſche Philoſophie gedieh zu
mehreren Schulen; in dieſen gabs exote-
riſche und eſoteriſche Zuhoͤrer — aber-
mals ein Unterſchied, den die Natur der
Sache billigt. Ein großes, unausgeſon-
[83] dertes Publicum, das Metaphyſik ſpricht
und uͤber Metaphyſik entſcheidet, iſt ein
Ungeheuer; und wenn man von einer Na-
tion ſagen koͤnnte, ſie habe nie fuͤr etwas
als fuͤr Metaphyſik Enthuſiasmus gezei-
get, ſo ſagte man dieſer Nation nicht viel
Gutes nach. Xenophon und Plato
behandeln die Philoſophie ſehr vernuͤnftig;
allenthalben locken ſie ſolche als eine Bluͤ-
the des menſchlichen Geiſtes und menſchli-
cher Geſchaͤfte hervor. Der Denker Ari-
ſtoteles ſchrieb fuͤr kein anderes Publi-
cum, als fuͤr ſeine Schule; daher die gan-
ze Form ſeiner Schriften. Epikur und
Zeno gingen mit veraͤnderten Grundſaͤz-
zen auf gleichem Wege; jedem ihrer Schuͤ-
ler blieb es frei, die Metaphyſik ihrer
Secte an Stelle und Ort zu laſſen, da-
gegen aber die wahre, die praktiſche Phi-
loſophie fuͤr Leben und Publicum deſto
(F) 2
[84] kraͤftiger anzuwenden. Dies iſt der wah-
re Sokratismus.


Wenn eine Philoſophiſche Schule als
ſolche aufs Publicum wirken wollte, und
auch hie und da maͤchtig gewirkt hat,
wars der Pythagoraͤismus; wir wiſ-
ſen aber, wie es ihm erging. Und was
damals in kleinen zubereiteten Kreiſen
nicht geſchah, wenn wird es erfolgen?
Ein philoſophiſches Publicum iſt ein hoͤch-
ſtes Bild, zu welchem man ſtreben kann,
das man aber ja nirgend ganz und
realiſirt zu erblicken glaube.


Wo alſo die Griechen ſtanden, ſtehen
wir in Anſehung des Publicums mehr und
minder mit der Philoſophie noch jetzt;
jeder, der es ſeyn kann und werden will,
muß ſich ſelbſt zum Philoſophen bilden.
Der Lehrer haͤlt ihm die Wahrheit vor,
damit er ſich ſolche [autonomiſch] zueig-
[85] ne: denn Weisheit laͤßt ſich ſo wenig, als
Tugend und Genie von andern lernen.


Die Schulen der Philoſophie indeſſen,
blos als Handleiterinnen betrachtet, mit
welcher erſtaunlichen Macht koͤnnen ſie aufs
Publicum
wirken! Ein Lehrer der Phi-
loſophie, wie er ſeyn ſoll, hat ein Reich
uͤber menſchliche Seelen, in welchem er
maͤchtiger als ein Koͤnig gebietet. Er
pflanzt Grundſaͤtze, er giebt Ideen, er
ſtellt Ideale feſt, die nachher auf tauſend
Gedanken und Handlungen ſeiner Zuhoͤ-
rer, ja aller derer, auf welche ſie wirken,
erkannten und unerkannten Einfluß ha-
ben. Unſaͤgliche Wirkungen z. B. hat die
Stoiſche Philoſophie, der Epikureismus,
Platonismus, Pythagoraͤismus in der
Reihe der Dinge hervorgebracht und wird
ſie hervorbringen, wenn auch unter neuen
Namen, mit andern Modificationen und
[86] Formen. Solange es Vernunft und Wil-
len im Menſchen giebt: ſo lange wird es
ein verborgenes, ſtilles Publicum
fuͤr Philoſophie
geben; nur erwarte
man dieſes nie ſichtbar auf einem Markt,
oder in einer Schule.


Faſſen wir, was geſagt iſt, zuſammen:
(denn vom politiſchen Publicum der Grie-
chen wollen wir nicht reden,) ſo ergiebt
ſich, daß in Anſehung der Sprache, der
Kunſt und des Geſchmacks gegen die Grie-
chen, wie wir ſie jetzt nehmen, wir ei-
gentlich noch gar kein Publicum haben
und gehabt haben. Mit Wohlgefallen ha-
ben wir uns eine Cultur andichten laſſen,
von der ganze Staͤnde und Provinzen
durchaus nichts wiſſen; und ſchlummern
auf dieſem ertraͤumten Ruhme. Ich fuͤrch-
te und hoffe, daß uns die Zeit aus die-
ſem Schlummer wecken werde. Unſere
[87] Nation kennet ſich ſchwerlich, bald iſt es
Religions- bald politiſche Parthei, bald
die unuͤberſteigliche Grenze eines Standes
und Staͤndchens, was die Stimme, ja
ſogar nur den Gedanken an ein theilneh-
mendes Publicum, ſelbſt in Sachen des
Geſchmacks und der Bildung, geſchweige
des allgemeinen Intereſſe, theilet und auf-
haͤlt. Welche Werke der Wiſſenſchaft, des
Fleißes, der Vertheidigung Deutſchlands
oder irgend eines allgemeinen Nutzens ſind
zu Stande gekommen, zu denen der Bei-
tritt eines anſehnlichern und reicheren Pu-
blicums aus mehreren oder allen Provin-
zen noͤthig war? Die reichern Staͤnde ſind
dabei jederzeit am untheilnehmendſten ge-
blieben; und jene alten Einrichtungen, die
eigentlich doch fuͤr Wiſſenſchaften und Cul-
tur der Nation beſtimmt ſind, Domka-
pitel und Stifte, waren ſamt dem gan-
[88] zen Theile der Nation, der die Franzoͤſi-
ſche Cultur liebte, fuͤr Deutſche Wiſſen-
ſchaften gewoͤhnlich ganz todt; daher wir
denn, Trotz alles Privatfleißes, Trotz man-
cher kuͤhner Unternehmungen voll guten
Zutrauens, das dafuͤr buͤßen mußte, an
Dingen dieſer Art unſern Nachbarn, Brit-
ten und Franzoſen, ja ſelbſt Daͤnen und
Schweden weit nachſtehn. Die Deutſche
Litteratur, eine ruͤſtige Arbeiterin und Die-
nerin des Wiſſens, erſcheint in einem
Bettlermantel von Maculatur; ſie richtete
ſelten etwas mehr aus, als wohin Pri-
vatfleiß, einzelnes Genie reichet. Die un-
ſchaͤtzbaren Sammlungen der Kunſt, die
in vorigen Jahrhunderten ein voruͤberge-
gangner Hofgeſchmack zuſammengebracht
hat, ſtehen oft unter harten Geſetzen der
Clauſur, als Heiligenbilder da, anſchau-
bar, nicht immer brauchbar, noch weni-
[89] ger weckend, am wenigſten begeiſternd.
Ueber den Werth unſrer beſten Productio-
nen haben ſich die Stimmen unſres Pu-
blicums nach Jahren und Jahrhunder-
ten noch ſo wenig vereiniget, daß wenn
nicht Auslaͤnder den Ton angegeben und
mit Gewalt feſtgeſetzt haͤtten, ſelbſt uͤber
Leibnitz Verdienſt Deutſchland noch in
der groͤßeſten Unſicherheit waͤre. Indeſſen
geht der Weg der ſtillen Bildung fort.
Was uns nicht genommen werden konnte,
iſt Deutſche Sprache, Deutſcher
Verſtand und guter Wille
; dieſe
werden, wenn und ſobald ſie es vermoͤ-
gen, einmal ein deutſches Publicum bil-
den. Die Vernunft geht auch ihres
Weges fort und iſt in allen Zeiten und
Erdraͤumen nur Eine. Der Geſchmack
endlich iſt eine Nationalpflanze; wo ſie nicht
gepflegt wird, oder des Bodens und Kli-
[90] ma wegen nicht anders als in ſchlechten
Treibhaͤuſern aufkommen kann, da gehet
ſie durch Unfreundlichkeit des Himmels
unter. Have!


3. Publicum der Roͤmer.


Von dieſem werde ich nur wenig ſagen
duͤrfen. Was in ihm Kunſt und Geſchmack
war, ſtammte von den Griechen her, die
meiſtens auch ſeine Mithelfer blieben. Als
Ueberwinderin ſammlete Rom; ſie erfand
aber nichts Neues. Auch die Sprache der
Roͤmer bildete ſich nur durch die Griechen
zu einer reinen und ewigen Sprache.


Das Publicum alſo, das fuͤr die claſ-
ſiſche Denkart in Rom bluͤhete, war
ein erbeutetes, kuͤnſtliches Publicum; die
Einrichtung der Stadt ſelbſt war von ei-
ner Art, daß vielleicht keine Reichsſtadt
ſie ſich auf daurende Zeiten wuͤnſchen moͤch-
[91] te. Weder das Volk, noch der Senat
verdienen, auſſer der Ruͤckſicht, daß ſie
Herren der Welt werden wollten, und
waren, abſolute Hochachtung; einen Po-
pulus Romanus,
der mit roͤmiſcher An-
maaſſung fuͤr ſeine Stimme Brot und Cir-
cenſiſche Spiele begehret, wuͤnſchten wir
uns auch nicht. Eben ſo wenig Clienten
und Candidaten nach Roͤmiſcher Weiſe.
Alſo das Forum und den Senat an ſeine
Orte geſtellt, blieb denen Roͤmern, die
ein daurendes Publicum ſuchten, nichts
als was auch Wir haben, der Beifall
und die Stimme der erleſenſten
edlen Roͤmer
. Dieſe hoͤrten ihren Vor-
trag oder kauften ihre Rolle; ſie billigten
und mißbilligten, wie es ihnen gutduͤnkte.
Daß aber in den beſſern Stellen ihrer Ge-
dichte Lucrez und Catull, Horaz und
Virgil, Ovid, Tibull, Properz u.
[92] a. ſo claſſiſch-ausgearbeitet, vollendet und
ſchoͤn ſchrieben, zeigt, daß ſie ſich feinere
Vorbilder, ſchaͤrfere Leſer und ein hoͤheres
Publicum dachten, als viele unſrer Dich-
ter und Schriftſteller zu denken gewohnt
ſind. Ihre eigne Bildung, und die Hoͤ-
he, auf welcher Rom ſtand, trug dazu
bei. Der Geſchichtſchreiber Roms ſchrieb
die Geſchichte der Weltmonarchin; ihre
Dichter ſangen in der Roͤmiſchen Sprache;
in dieſer ſtellten ihre Rechtsverſtaͤndigen
Urtheile aus, als die Stimme ihrer groſ-
ſen Redner dahin war; — mit dem Allen
koͤnnen wir uns nicht gleichen. Wenn
aber unſre Sprache eine Schweſter der
Griechiſchen iſt, da die Roͤmiſche nur die
angenommene Tochter derſelben war: ſo
haͤtten wir, ſobald wir uns zur Roͤmiſchen
Denkart erheben koͤnnten, eine weitere
Laufbahn vor uns als Jene. Ueberwinder
[93] der Welt wollen wir nicht werden; was
aber in uns Roͤmiſchen oder (wenn dieſer
einſt groͤßere Name noch einen Werth hat,)
Deutſchen Charakter enthaͤlt, warum ſoll-
ten wir das einer Sprache nicht geben
koͤnnen, die einſt in viel roherem Zuſtan-
de auch eine Herrinn der Welt war?
Dichter und Geſchichtſchreiber, Rechtslehrer
und Geſetzgeber, warum wurdet ihr zu
ſolcher Zeit nicht auch wie Jene fuͤr ein
fortdaurendes Publicum Herren der Erde?


4. Publicum des Chriſtenthums.


Als der Urheber des Chriſtenthums ſei-
ne Stimme erhob, verbreitete er mit der-
ſelben ein Publicum uͤber die Voͤl-
ker. Er kuͤndigte ein ankommendes Reich
an, zu dem alle Nationen gehoͤren, und
das nicht in aͤuſſerlichen Cerimonien, ſon-
dern in Uebungen des Geiſtes, in Voll-
[94] kommenheiten des Gemuͤths, in Reinheit
des Herzens, in Beobachtung der ſtreng-
ſten Billigkeit und einer verzeihenden Lie-
be unter den Menſchen bluͤhe. Dahin zie-
len ſeine Reden, dazu ruͤſtete er andre
aus, und das Gebet, das er ſeine Schuͤ-
ler lehrte, iſt daruͤber ein bittendes Be-
kenntniß. „Es ſoll ein Reich zu uns kom-
men, in dem alles Ehrwuͤrdige geehrt,
jede heilige Pflicht gethan, und der Wille
Gottes auf Erden ſo willig und vollkom-
men vollbracht werde, wie ihn die ſeligen
Geiſter ausuͤben.“ Seine Stimme, die
Stimme ſeiner Boten in Lehren und Schrif-
ten erklang; es entſtand eine Gemeine,
ein chriſtliches Publicum unter mehreren
Nationen, das ſich zu dieſer Lehre, Pflicht
und Hoffnung bekannte.


Haben wir noch dies Publicum? Al-
lerdings; die kleinſte chriſtliche Verſamm-
[95] lung iſt ein Symbol der Einen allgemei-
nen Kirche, die unter hundert Voͤlkern
der Erde lebet. Dieſe war und iſt hie
und da mit Misbraͤuchen bedeckt, mit
Mißverſtaͤndniſſen umnebelt; der reine kla-
re Sinn der Stiftung dieſer Geiſtesver-
ſammlung, ihr auf alle Zeiten und zum
Gebaͤude der geſammten Menſchheit wir-
kender Zweck bleibt aber unverkennbar.
Nicht in der Prachtgeſtalt eines druͤckenden
ſtolzen Geſetzes; in der aufmunternden,
ſanften Geſtalt einer troͤſtenden Friedens-
botſchaft wirkt dies moraliſche Inſti-
tut auch zu den ſtrengſten Pflichten. Wo
zwei oder drei verſammlet ſind, lebt der
Stifter dieſer Verſammlung; im Inhalt
ſeiner Lehre ſelbſt liegt ihr Zweck, die
Auferbauung eines moraliſchen
Gebaͤudes
, bis zum Ende der Zei-
ten.


[96]

Es iſt traurig, wenn dieſer Zweck,
auf ein ſeiner Natur nach fortgehen-
des ewiges Publicum zu wirken,
hie und da verkannt wird, indem man
entweder Particular-Meinungen, ſogar
Speculationen ins Chriſtenthum miſchte,
die dazu durchaus nicht gehoͤren, oder den
todten Buchſtaben todtbuchſtaͤblich behan-
delt. Jedem Denkenden bleibe ſeine Pri-
vatmeinung uͤber Dies und Jenes; jeder
ſpeculative Kopf ſchmuͤcke ſein Lehrgebaͤu-
de mit ſeiner beſten Speculation aus;
nur die Chriſtenheit, als Publicum be-
trachtet, bleibe damit verſchonet. Die
Lehre und der Zweck des Stifters ſei oder
werde ein reiner Strom, der, was ihm
von National- und Particularmeinungen,
wie ein truͤber Bodenſatz anhing, mehr
und mehr niederſchlaͤgt und abſetzt. So
thaten es ſchon die erſten Boten des Chri-
ſten-
[97] ſtenthums mit ihren Juͤdiſchen Vorurthei-
len, je mehr ſie in die Idee eines chriſtli-
chen Publicums, eines Evangeliums fuͤr
alle Voͤlker eintraten; und es kann nicht
fehlen, daß dieſe Laͤuterung des Chriſten-
thums durch ſanfte oder rauhe Mittel
nicht mit den Jahrhunderten fortgehen
ſollte. Es iſt ſehr lehrreich, die Folge
zu bemerken, mit der ſich in der ſoge-
nannten Kirchengeſchichte die harte Huͤlſe
des Chriſtenthums gebildet, hie und da
aufgeloͤſet und jedesmal einen reicheren
Kern, einen feineren Samen der Fort-
pflanzung gewaͤhrt hat; ſo wird das Werk,
mit oder ohne Namen des Urhebers, fort-
gehen bis ans Ende der Zeiten. Manche
Formen ſind zerbrochen, andre werden
ſich aufloͤſen; nicht durch aͤuſſere Gewalt,
ſondern durch den innern treibenden Keim
ſelbſt, den die Sonne ruft, dem die gan-
Fuͤnfte Samml. (G)
[98] ze Natur ihre Staͤrke zuhauchet. Gluͤck-
lich, wenn man in ein Publicum tritt,
an welches dieſe Stimme in reinem
Klange toͤnet. Sie umfaßt alle Staͤnde,
dringt durch alle Gewoͤlbe und trift den
weſentlichen Punct der Menſchheit. Ueber
augenblickliche, enge Verhaͤltniſſe, ſelbſt
uͤber die Schranken der Faſſungskraft die-
ſer einzelnen Verſammlung hinweggeruͤckt,
ahnet man ein fortgehendes erleſenes Pu-
blicum und athmet die Aura einer rein-
moraliſchen Zukunft.


5. Publicum der Literatur.


Das Chriſtenthum hatte ein Band un-
ter Voͤlkern geknuͤpft, wie es durch die
Eroberungen Alexanders, der Roͤmer und
Hunnen nie geknuͤpft worden; ſeinem Zweck
nach ein Friedenſtiftendes Band, ſo
oft es auch zu Streit und Haͤndeln Gele-
[99] genheit gab oder gemißbraucht wurde.
In den Haͤnden der Vorſehung ward es
zugleich ein Band der Cultur, einer ge-
meinſchaftlichen Cultur der Voͤl-
ker. Wechſelſeitige Rechte und Pflichten
kamen dadurch zwar nicht in bleibenden
Gebrauch, doch aber in ein anerkanntes
Licht, in eine immer neu angefangene Ue-
bung. Die Voͤlker Europens wurden ſich
nicht nur bekannter, ſondern auch durch
gegenſeitige Beduͤrfniſſe, bei gemeinſamen
Zwecken und Beſtrebungen einander un-
entbehrlich; ihre Tendenz ward immer
mehr und mehr auf einen Punkt gerichtet.
Erfindungen kamen hiezu, die bei die-
ſen gemeinſchaftlichen Beduͤrfniſſen Ein
Volk vom andern borgte, worinn Eins
dem andern vorzueilen ſuchte; es entſtand
in ihrer Vervollkommnung ein Wett-
eifer unter den Nationen. Nun konnten
(G) 2
[100] nicht ſo leicht mehr Gedanken, Verſuche,
Entdeckungen, Uebungen untergehen, wie
in Zeitraͤumen der einſt von einander ge-
trennten Voͤlker; das Samenkorn, das
hier und jetzt keine Wurzel fand, trug ein
guͤnſtiger Zephyr auf einen mildern Bo-
den, wo es vielleicht unter neuem Namen
gedeihete. Im Druck der Zeiten und des
Klima ſchloſſen ſich Zuͤnfte zuſammen,
die mit gemeinſamer, oft etwas roher
Hand, dem Fleiß, der Thaͤtigkeit, allmaͤ-
lich auch der Erfindung und dem Geiſt
der Menſchen Schutz und Dauer verſchaff-
ten, die alſo, wiewohl ſie durch Privat-
leidenſchaften und druͤckende Verhaͤltniſſe
das Werk der Vorſehung oft zu hindern
ſchienen, zuletzt daſſelbe doch foͤrdern muß-
ten. Durch alles Reiben der Voͤlker, der
Geſellſchaften, Zuͤnfte und Glieder unter
einander erwuchs immer ein groͤſſeres
[101] oder feineres Publicum
, das in
Streit und Friede, in Liebe und Leid an-
einander Theil nahm. Auf dieſem Wege
bekam die rohe Kunſt, der vom Beduͤrfniß
erpreſſete Fleiß der Einwohner Europens
nicht nur dieſen ganzen Welttheil, ſondern
durch ihn auch alle Welttheile zum gemein-
ſchaftlichen Boden. Was fuͤr den Krieg
und Handel, fuͤr die Seefahrt und den
Luxus erfunden und ausgeuͤbt ward, ver-
breitete ſeine guten und ſchaͤdlichen Wir-
kungen auf alle Welttheile unſrer bewohn-
ten Menſchenerde; alle Voͤlker Europa's
greifen hiebei in einander und halten un-
ſern Erdball fuͤr das Publicum,
worauf ſie zu wirken haben.


Von fruͤhen Zeiten her ſind Schulen
und Univerſitaͤten ein Mittel geweſen,
fuͤr Kenntniſſe und Wiſſenſchaften ein Pu-
blicum zu verbreiten; ja ſie ſind es noch.
[102] Selbſt die Scharfſinnigen in mehreren geiſt-
lichen Orden fluͤchteten ſich hinter ihre
Schutzmauern, und breiteten von da aus
ihre Meinungen weit umher. Was man
nicht lehren durfte, daruͤber diſputirte man
nach akademiſchen Geſetzen, und uͤbte die
Denkkraft der Menſchen. Wiclef und
Luther ſchuͤtzte die Univerſitaͤt; und auch
Huß haͤtte ſie geſchuͤtzt, wenn er ſich nicht
auf das treuloſe Wort eines Kaiſers ver-
laſſen haͤtte. Mehr noch aber als Schutz
gab die Univerſitaͤt den Meinungen ihrer
Lehrer; auch Gewicht, Staͤrke, Ausbrei-
tung. Tauſende junger Leute aus ver-
ſchiedenen Laͤndern, in Jahren, da die
Seele alles mit Liebe erfaßt, da Juͤnglin-
ge den Lehrer nicht ohne Begeiſterung an-
ſehen, hoͤrten ihre Stimme, und trugen
ihr Wort, jeder in ſein Vaterland, zu ſei-
nem Geſchaͤfte. Jahre nach Jahren wech-
[103] ſeln dieſe Zoͤglinge der Univerſitaͤten; als
Schaaren von Zugvoͤgeln kommen ſie, rau-
ben das Wort des Lehrers und fliegen da-
mit in ihre Lande. Ein großes Ach-
tungswuͤrdiges Publicum! das
bildſamſte, Wirkungsreichſte, deſſen die
Menſchheit in ihrem jetzigen Zuſtande
faͤhig iſt, und welches noch lange, in
immer verbeſſerter Geſtalt, dauren moͤ-
ge. Die Jahre des Juͤnglinges auf der
Akademie ſind ihm Zeitlebens die lieb-
ſten Jahre; was er da mit Luſt zur
Wiſſenſchaft, im erſten Feuer der Be-
geiſterung, noch unbekannt mit Laſten
und Hinderungen des Lebens, oder mit
jugendlichem Muth dieſe verachtend, als
Beute des Wiſſens, als Regel der Ue-
bung annahm, das bleibt ihm lang' oder
immer ein froh erworbener Schatz, eine
heilige Regel.


[104]

Haben wir noch dies Publicum der
Schulen und Univerſitaͤten? Wir
habens noch, und es hat ſich (was man
auch ſagen moͤge) nicht verſchlimmert, ſon-
dern verbeſſert. Seltner treten jetzt die
rohen Heere erwachſener Streiter auf die-
ſes Feld des Wiſſens und Lernens; zartere
Juͤnglinge ſind es, in denen das Wort
des Lehrers auch zartere, deßhalb aber
nicht unkraͤftigere Wurzeln ſchlaͤgt. Wenn
ſie es nicht mit der Klinge behaupten, ſo
hangen ſie ihm deſto gewiſſenhafter an;
der Lehrer ſprach fuͤr ſie ſelbſt jugendlicher
und weckte ihr eignes Nachdenken, ihre
mit ihm wirkende Kraͤfte. Einſt lernte
man und behauptete; Er cultivirt und
beſſert. Statt des ehemaligen Sekten-
und Raufgeiſtes nehmen mehrere Univer-
ſitaͤten eine feinere Tendenz an, Geſell-
ſchaften der Wiſſenſchaft, pytha-
[105]goriſche Schulen zu werden, in denen
ſich die erleſenſten Juͤnglinge nicht zum
Wiſſen der Dictaten, ſondern zur Wiſſen-
ſchaft, zur Uebung und Kunſt ihres Le-
bens oder Geſchaͤfts bilden. Ein ſchoͤnes
Publicum, wenn der Lehrer den Werth
ſeines Geſchaͤfts fuͤhlet. Glaube niemand,
daß mit Wiclef, Huß, Luther dieſe
große Wirkung der Univerſitaͤten voruͤber
ſei; die Reformation auf ihnen in jeder
Wiſſenſchaft, Facultaͤt und Lehre iſt noch
nicht ſtillgeſtanden; ja ſie wird und kann
nicht ſtillſtehen, ſo lange Univerſitaͤten da
ſind. Mehrere Lehrer Einer Facultaͤt,
mehrere Facultaͤten, mehrere Univerſitaͤten
gegen einander ſind gemeiniglich in Wett-
ſtreit; dieſer Wettſtreit muß mit den Jah-
ren nicht abnehmen, ſondern wachſen. Je
mehr die Handwerkshinderniſſe geſchwaͤcht
werden (dies muͤſſen ſie nothwendig) je
[106] mehr das Werk der Akademien ein Werk
des Geiſtes und einer freien Uebung wird,
deſto mehr entzuͤndet ſich der Wetteifer
mit reinerer Flamme. Univerſitaͤten ſind
Wacht- und Leuchtthuͤrme der Wiſ-
ſenſchaft; ſie ſpaͤhen aus, was in der
Ferne und Fremde vorgeht, foͤrdern es
weiter, und leuchten andern ſelbſt vor.
Univerſitaͤten ſind Sammlungs- und
Vereinigungsplaͤtze der Wiſſen
-
ſchaft; aus ihrer Zuſammenſtellung und
gegenſeitigen Befehdung oder Befreundung
entſpringen dort und dann neue Reſultate.
Univerſitaͤten endlich ſollten die letzten
Freiſtaͤten und eine Schutzwehr
der Wiſſenſchaften
ſeyn, wenn ſolche
nirgend eine Freiſtatt faͤnden. Was al-
lenthalben verkannt wuͤrde, was im Ge-
ſchaͤft hie und da ſeine Stimme wehrlos
erhuͤbe, ſollte hier einer unpartheiiſchen
[107] Aufmerkſamkeit und eines Beiſtandes ge-
nieſſen, der von keinem Einfluß geſtoͤrt
wuͤrde. Irre ich nicht, ſo iſt dies mehr-
mals geſchehen; die Rathſchlaͤge der Leh-
rer haben Verfolgungen aufgehalten, die
die Rathſchlaͤge der Staatsweiſen nicht
unterdruͤcken mochten; und ſo ſehe ich auch
fuͤr die Zukunft Rathſchlaͤge der Lehrer auf
Univerſitaͤten hervorgehen, denen die Rath-
ſchlaͤge bloͤder Weiſen kaum beſtehen moͤ-
gen. Bis alſo die Univerſitaͤten ſich ſelbſt
unnoth machen, unterſtuͤtze man ihren
Werth; ihr Publicum wird noch lange
durch ein Beſſeres nicht erſetzt werden.
Zunaͤchſt gilt dieſes von den Univerſitaͤten
Deutſchlands; faſt ſind ſie die einzige Gat-
tung Deutſcher Inſtitute, die jedes
Ausland mit Recht ehret.


Ein noch groͤßeres Publicum hat uns
die Buchdruckerei verſchaffet; es iſt
[108] ſehr gemiſcht und faſt unuͤberſehlich. Wel-
che Muͤhe koſtete es in aͤltern Zeiten, Buͤ-
cher zu haben, mehrere zu vergleichen und
uͤber einen Inbegriff von Wiſſenſchaft zu
urtheilen! Jetzt uͤberſchwemmen ſie uns;
eine Fluth Buͤcher und Schriften, aus al-
len fuͤr alle Nationen geſchrieben. Ihre
Blaͤtter rauſchen ſo ſtark und leiſe um un-
ſer Ohr, daß manches zarte Gehoͤr ſchon
jugendlich uͤbertaͤubt wurde. In Buͤchern
ſpricht Alles zu Allem; niemand weiß zu
Wem? Oft wiſſen wir auch nicht, Wer
ſpreche? denn die Anonymie iſt die groſ-
ſe Goͤttinn des Marktes. Von einem ſol-
chen Publicum wußte weder Rom, noch
Griechenland; Guttenberg und ſeine
Gehuͤlfen haben es fuͤr die ganze Welt
geſtiftet.


Was iſt daruͤber zu ſagen? Dies, daß
es, ohngeachtet aller und der ſchnoͤdeſten
[109] Misbraͤuche, ein großes Geſchenk, ein un-
widerrufliches Privilegium fuͤr die menſch-
liche Geſellſchaft, und ein ungeheures Mit-
tel der Vorſehung ſei, deſſen Wirkungen
und Folgen noch nicht vor unſerm Auge
liegen. Was geſchehen iſt, koͤnnen wir
nicht zuruͤcknehmen; die Buchdruckerei iſt
da; nicht nur als Nahrungszweig fuͤr Han-
del und Arbeit, ſondern als eine Tuba
der Sprache
, ſo weit dies oder jenes
Product reichet. Alle Monarchen der
Welt, wenn ſie mit vereinten Kraͤften fuͤr
jede Druckerſtube traͤten, koͤnnten die ar-
me Familie dieſes Letternkaſtens, das Aſyl
und den Telegraph menſchlicher Gedanken
nicht zerſtoͤren. Ja wer wollte es zerſtoͤ-
ren, da es, nebſt einigem Boͤſem, ſo un-
ſaͤglich viel Gutes geſtiftet hat, und ſei-
ner unſchuldigen aber kraͤftigen Natur
nach nothwendig noch ſtiften wird. Der
[110] Redner uͤbertaͤubt mich; der Schriftſteller
ſpricht leiſe und ſanft; ich kann ihn be-
daͤchtig leſen. Der Redner blendet mich
mit ſeiner Geſtalt, mit ſeinem Gefolg und
Anſehn; der Schriftſteller ſpricht unſicht-
bar, und es iſt meine Schuld, wenn ich
mich von ſeinem Wortprunk hintergehen,
oder mir von ſeinem Geſchwaͤtz die Zeit
rauben laſſe; ich ſoll ihn pruͤfen, ich darf
ihn wegwerfen. Gegenſeits iſt auch frei-
lich das Irrſal und die Verfuͤhrung des
Redners voruͤbergehend und in einem Krei-
ſe beſchloſſen; das Gift und Irrſal des
Schriftſtellers, ſeine Ehre und Schande
dauret. Er ſelbſt kann ſie nicht, als et-
wa durch Beſſerung, durch Widerruf zu-
ruͤckrufen; und auch dadurch wird, was
geſchehen iſt, nicht ungeſchehen. Wer weiß,
ob dies Blatt des Widerrufs oder der
Widerlegung in die vorige Hand kommt,
[111] oder ob es dem Irrthum gleich wirket?
Das Publicum der Schriftſteller
iſt alſo von eigner Art; unſichtbar und
allgegenwaͤrtig, oft taub, oft ſtumm, und
nach Jahren, nach Jahrhunderten viel-
leicht ſehr laut und regſam. Verloren
und doch unverloren, ja unverlierbar iſt,
was man in ſeinen Schoos ſchuͤttet. Man
kann nie mit ihm abrechnen; ſein Buch iſt
nie geſchloſſen, der Proceß vor und mit
ihm wird nie beendet; es lernt immer,
und kommt nie zum letzten Reſultat.


Man hat dieſem Ewig-Unmuͤndigen
Vormuͤnder ſetzen wollen, die Cenſoren;
aber, wie die Erfahrung gezeigt hat, mit
fruchtloſer Muͤhe und meiſtens mit dem
widrigſten Erfolg. Der Unmuͤndige koſtet
am liebſten, was man ihm verſagte; er
ſuchet auf, was man ihm hinterhalten
wollte; das Verbot eines Vortrages an
[112] dies Publicum iſt gerade das Mittel,
ſelbſt einem unnuͤtzen Wort Anſehen, Ge-
wicht und Aufmerkſamkeit zu geben. Und
welcher beſcheidne Mann wird ein Vor-
mund des geſammten Menſchenverſtandes,
des Publicums aller Zeiten und
Laͤnder
zu ſeyn wagen? Laß jeden Wei-
ſen und Thoren ſchreiben nach ſeiner Wei-
ſe, wenn er in zweifelhaften Faͤl-
len nur ſich nennet, und niemand
perſoͤnlich beleidiget
.


Es ſei mir erlaubt, mich hieruͤber zu
erklaͤren. Der weiſeſte Cenſor, wenn er
auch die Stimme eines ganzen, ja des
aufgeklaͤrteſten Staates vorſtellt, kann in
Dem, was Lehre und Meinung betrifft,
ſchwerlich die Stimme des Publicums,
der ſich ein Schriftſteller freiwillig unter-
wirſt, auf- oder uͤberwiegen wollen.
Wenn ſein Urtheil auch die Weisheit Sa-
lomo's
[113] lomo's waͤre, wenn es die Klugheit aller
vergangenen Jahrhunderte enthielte, und
dem gepruͤften Verſtande einer großen Zu-
kunft voreilte: ſo fehlt ihm doch Eins,
die Legitimation hiezu: denn weder
die Vor- noch Nachwelt hat ihn daruͤber
beurkundet. Der Schriftſteller wird alſo
gegen ihn immer die Einrede haben, daß
er dem Urtheil der Welt vorgreife, daß er
ſich unbefugt eine Entſcheidung anmaaſſe,
die nur dem Publicum im weiteſten Sinne
des Worts gebuͤhret; er wird von dieſem
Papſt eines kleinen Staates an das all-
gemeine Concilium appeliren, das
allein und zwar nur in immer fortge-
henden Stimmen ein Richter des Wah-
ren und Falſchen ſeyn koͤnne. Wahr-
ſcheinlich werden ihm viele Stimmen bei-
treten; und bei dem groͤßeſten Recht wird
der Cenſor, der Form nach und um der
Fuͤnfte Samml. (H)
[114] Folgen willen, Unrecht behalten. Ich darf
nicht wiederholen, was man, wo es
Wahrheit gilt, uͤber Freiheit der Meinun-
gen, die nur widerlegt, nicht aber unter-
druͤckt werden duͤrfen, ſo oft und viel ge-
ſagt hat.


Wenn man alſo dem Publicum keine,
auch nicht die tolleſten Meinungen rauben
darf, indem der Staat, wo ſie ihm
falſch oder gefaͤhrlich ſcheinen, lieber ihre
offne Widerlegung veranlaſſen mag, da-
mit zum Vortheil der Welt die Finſterniß
vom Lichte beſiegt werde: ſo darf bei die-
ſer ungebundnen Freiheit, bei der Ach-
tung, die der Staat ſelbſt dem Publicum
erweiſet, da er ihm nichts vorenthaͤlt, was
irgend ein Schriftſteller ihm darbringt,
der Staat wohl auch fodern, daß jeder
Schriftſteller ſich nenne
, der dem
Publicum etwas darzubringen
[115] gutfindet
. Und zwar dies in allen
Schriften, uͤber jeden Gegenſtand: Recen-
ſionen fremder Buͤcher nicht ausgenom-
men. Denn wie haͤtte ich ein Recht,
Anonymie zu verlangen, wo ich mich vors
Publicum draͤnge, und zu ihm meine
Stimme erhebe? Einen freiwilligen Lehrer
der Welt und Nachwelt muß man kennen;
er muß ſich, wenn ihm Pflicht, Recht und
Wahrheit lieb iſt, nicht verbergen. Ein
Mann, der oͤffentlich ſpricht, ſtehet fuͤr
ſein Wort; ſonſt nennet man ihn einen
Feigen oder Luͤgner. Mit dieſem einzi-
gen leichten, wie mich duͤnkt nicht unge-
rechten Mittel, wie mancher Keckheit, wie
mancher Verlaͤumdung wuͤrde vorgebeugt,
die jetzt blos hinter der Anonymie Schutz
ſucht. Wie vorſichtiger, uͤberdachter und
gehoͤriger wuͤrde man zum Publicum ſpre-
chen, wenn man wuͤßte, daß man nicht
(H) 2
[116] ohne eigne Ehre oder Schande zu ihm
ſprechen koͤnnte! Und verdient das Publi-
cum, der ehrwuͤrdigſte Name, der genannt
werden kann, die Geſellſchaft aller
Guten und Edlen
, nicht dieſe Ach-
tung? Jeder Schriftſteller wuͤrde veran-
laßt, in der wuͤrdigſten Geſtalt vor ihm
zu erſcheinen, ſeine Stimme vor dieſem
großen Tribunal beſcheiden hoͤren zu laſ-
ſen, dagegen aber auch, was er weiſe be-
hauptet, ſtandhaft zu vertheidigen, ein
ehrlicher Bekenner zu ſeyn der von ihm
dem Publicum gemeldeten Wahr
-
heit. Jene Winkeltraͤgereien, aufgefan-
gene Geruͤchte, erſtohlne Perſonalitaͤten
verloͤren ſich von ſelbſt; kein Ehrliebender
wollte mit ſolcher Waare oͤffentlich am
Markt ſtehn, die ſchaͤndlich iſt und fuͤrs
Publicum nicht gehoͤret. In Griechenland
und Rom ſchaͤmte ſich kein Schriftſteller
[117] ſeiner Werke; auch unter uns darf ſich
kein Stand einer Schrift, wenn ſie gut
iſt, ſchaͤmen; dem hoͤchſten, wie dem nie-
drigſten Stande ſollte Anonymie nicht er-
laubt ſeyn, und uͤberhaupt dieſelbe fuͤr
das was ſie iſt, fuͤr Hinterliſt,
Schimpf, niedriges Gewerbe und
Feigheit gelten. Wer zum Publicum
ſpricht, ſpreche als ein Theil des Publi-
cums, alſo oͤffentlich, mit ſeinem Namen.


Noch ein viel Mehrers waͤre uͤber das
Verhaͤltniß des Schriftſtellers zum Publi-
cum zu reden. Jede Gattung der Scri-
benten ſchreibt fuͤr ihre Gattung Leſer,
die ſie ihr Publicum, ihre Welt nennen.
Aus froͤlichen oder traurigen Erfahrun-
gen, welche Schriften am meiſten gele-
ſen werden, kann man alſo auf den Ge-
ſchmack, auf das Maas der Bildung
des Publicums ſchlieſſen, dem dieſe Schrif-
[118] ten vor andern oder ausſchlieſſend wohl-
thun. Die mittelmaͤßigen, die leichten,
uͤppigen, luͤſternen finden natuͤrlich die mei-
ſten Leſer; viele geruͤhmte Schriftſteller ha-
ben nur durch Zeugniſſe anderer ihren
Ruhm erlangt, und ſtehn auf guten
Glauben
, ungeleſen, in den Bibliothe-
ken. Das Publicum hallet nur ihre Na-
men wieder. Deßhalb aber wird kein gu-
ter Kopf, wenn er es nicht des Bauchs
wegen thun muß, ſich unwuͤrdig, (wie
man ſagt,) zum Publicum herabſtim-
men, oder ſeinem luͤſternen, falſchen Ge-
ſchmack froͤhnen. Der Schriftſteller ſoll
das Publicum, nicht dies den Schriftſteller
bilden. Delila ſchnitt Simſon das Haar
ab, und uͤbergab ihn Kraftlos den Phili-
ſtern; ſie verſpotteten ihn und er mußte
vor ihnen ſpielen.


[119]

Nicht die Blaͤtter des Baums; die
Keime, Bluͤthen und Fruͤchte ſind ſein
edelſtes Erzeugniß. Nicht das zahlreichſte,
ſondern das verſtaͤndigſte Publicum iſt mit
ſeinem Beifall die Ehre des Schriftſtellers,
ſein Zweck und Lohn. Das Urtheil die-
ſer vielleicht wenigen Leſer dauert fort und
wirkt weiter. Oft findet ein Schriftſteller
dieſe Leſer nur nach ſeinem Tode; Minos
und Aeakus ſinds, die unpartheiiſch uͤber
ihn richten. Dem Homer ſchaffte Ly-
kurg und die Piſiſtratiden ein groͤße-
res, ein Attiſches Publicum; dem Mil-
ton Addiſon, Garrik dem Shake-
ſpear u. f. Nichts iſt angenehmer, als
einem verdienten Todten Gerechtigkeit zu
erweiſen, und uͤber ſeinem Grabe die
Stimme eines beſſeren dankbaren Publi-
cums zu werden. So hat Rouſſeau
nach ſeinem Tode die Ehre mit Wucher
[120] genoſſen, die Voltaire bei ſeinen Lebzei-
ten ſich zuzueignen wußte; und ſo giebts
bei allen Nationen andre Autoren, die
beruͤhmt ſind, andre die es zu ſeyn ver-
dienen.


An Liebe und Achtung gegen ſeine be-
ſten Schriftſteller, (wenige ausgenommen)
ſtehet Deutſchland ſeinen cultivirten Nach-
barn, Franzoſen, Englaͤndern, Italienern
nicht vor, ſondern nach; der groͤßere
Theil des Publicums kennet ſie nicht und
traͤgt wenigſtens ſie nicht eben in Herz
und Seele.


Haben wir alſo hierin (ich will nicht
ſagen, das Publicum der Alten, ſondern
nur) das Publicum der Franzoſen, Englaͤn-
der, Italiener? Wer dieſe Laͤnder kennet,
und Deutſchland kennet, antworte. An
den Schriftſtellern liegt es ſchwerlich; ſie
thaten was ſie konnten; manche vielleicht
[121] zu viel. An Charakter und an der Ver-
faſſung der Nation liegt es; an der Un-
kultur und Unkultivirbarkeit (wenn mir
zu Bezeichniß eines Barbarismus ein bar-
bariſches Wort erlaubt iſt) am falſchen
Geſchmack und der genetiſchen Rohheit
mancher Staͤnde und Lebensarten. Bei
weitem iſt unſre Sprache noch nicht ſo
gebildet, jedem Vortrage, jeder Art des
Wiſſenswuͤrdigen ſo zugebildet, als die
Sprachen unſrer Nachbarn; vielmehr ha-
ben wir mit einer benachbarten Nation zu
kaͤmpfen, daß ihre Sprache die unſere
nicht ganz vertilge. Erwache alſo, du
ſchlafender Gott, wenn du nicht etwa
dichteſt oder uͤber Feld gegangen biſt; er-
wache, Deutſches Publicum, und laß Dir
dein Palladium nicht rauben. Aus dem
traͤgen Schlummer, aus dem niedrigen
Stolz, der das Beſte wegwerfend verach-
[122] tet, aus der Anmaaſſung, die dem
Schlechtſten das Privilegium des Beſten
ertheilen zu koͤnnen glaubt, aus der nie
Theilnehmenden Kaͤlte, aus der voͤlligen
Seelenentfremdung, glaube mir,
wird nichts, und kann nichts werden. Die
Zeit, da das Alles galt, iſt voruͤber. Un-
ſanft aus dem Schlafe geruͤttelt, erwache
und zeige, daß du kein Barbar biſt, da-
mit man dir nicht als einem Barbaren
begegne. Deine Sprache, die Schweſter
der Griechiſchen, die Koͤniginn und Mut-
ter vieler Voͤlker, fuͤr ganz Europa haſt
du zu ſichern, auszubilden, zu be-
wahren.


Sollten wir aber blos in Reden und
Schriften, in Lehren und Hoͤren ein Pu-
blicum haben? keins fuͤr unſre Handlun-
gen? keins fuͤr unſer ganzes Daſeyn?
Kein Publicum, das auf uns wirkte, wor-
[123] auf wir durch unſer Beiſpiel, durch unſer
Vorbild ſchweigend wirken? Zweifle daran
niemand, ja auch daran niemand: daß
dieſe ſtille Wirkung in einem kleinen Krei-
ſe von maͤchtiger Wirkung ſei. Sie iſt
reell; in ihr iſt nichts Schein und Schmin-
ke. Der Kreis, in dem du lebeſt und
dein Geſchaͤft treibeſt, iſt dein Publicum;
ſei dies klein oder groß, du praͤgſt in daſ-
ſelbe das Bild deiner Exſiſtenz, deiner
Denk- und Handlungsweiſe. Hiemit
wirkſt du unvermerkt oder bemerket auf
die Deinen, die nach deinem Muſter oder
mit Einfluͤſſen von dir fortwirken, auf dei-
ne Mitarbeiter, Untergebene oder Vorge-
ſetzte. Leiſe oder ſtuͤrmiſch verbreiten ſich
alſo Wellen und Wogen mit und ohne
deinen Namen auf deine Zeitgenoſſen und
die Nachwelt fort. So haben zu allen
Zeiten die wuͤrdigſten Maͤnner auf ihr
[124] Publicum gewirket; ſie ſprachen mit der
ſtarken Stimme ihres thaͤtigen Beiſpiels,
und dachten nicht daran, daß im groͤßeren
Publicum ihr Name genannt wuͤrde. Das
ſchaͤrfſte und edelſte Publicum waren ſie
ſich ſelbſt, der Aufmunterer, Zeuge und
Richter ihrer Handlungen, ein Geſetz, das
in ihnen lebte. Wohl uns, wenn wir uns
dies Publicum ſind; wir haben ſodann
die laute, oft ſehr unſichre und unreine
Stimme der groͤßeren Welt nicht noͤthig.


II.
Haben wir noch das Vaterland
der Alten
?


Griechen und Roͤmern war das Wort
Vaterland ein Ehrwuͤrdig-ſuͤßer Name.
Wem ſind nicht Stellen aus ihren Dich-
tern und Rednern bekannt, in denen Soͤh-
ne des Vaterlandes ihm als einer Mut-
[125] ter kindliche Liebe und Dankbarkeit, Lob-
preiſungen, Wuͤnſche und Seufzer wei-
hen? Der Entfernete ſehnet ſich darnach
zuruͤck, hoffnungsvoll oder klagend ſchauet
er zur Gegend deſſelben hin, empfaͤngt die
Luͤfte, die daher wehen, als Boten ſeiner
Geliebten. Wiedergegeben dem Vaterlan-
de, umfaͤngt er es, und kuͤſſet ſeinen Bo-
den mit Thraͤnen. Der in der Entfer-
nung Sterbende vermacht ihm noch ſeine
Aſche; auch nur ein leeres Grabmahl des
Andenkens wuͤnſchet er ſich bei den Sei-
nen. Fuͤrs Vaterland zu leben hieß ihnen
der hoͤchſte Ruhm; fuͤrs Vaterland zu ſter-
ben der ſuͤßeſte Tod. Wer mit Rath und
That dem Vaterlande aufhalf, wer es ret-
tete und mit Kraͤnzen des Ruhms ſchmuͤck-
te, erwarb ſich einen Sitz unter den Goͤt-
tern; Himmels- und Erden-Unſterblich-
keit war ihm gewiß. Dagegen wer das
[126] Vaterland beleidigte, es durch ſeine Tha-
ten entehrte, wer es verrieth oder bekrieg-
te; in den Buſen ſeiner Mutter hatte der
das Schwert geſtoßen, er war ein Vater-
ein Kinder- ein Freundes- und Bruder-
moͤrder. Cariorem decet eſſe patriam no-
bis quam nosmet ipſos. Dulce et deco-
rum eſt, pro patria mori.
u. f. Haben
auch wir dies Vaterland der Alten? Und
welches ſind die geliebten Bande, die uns
daran feſſeln?


Der Boden des Landes, auf dem wir
gebohren ſind, kann fuͤr ſich allein dies
Zauberband ſchwerlich knuͤpfen; vielmehr
waͤre es die haͤrteſte aller Laſten, wenn
der Menſch, als Baum, als Pflanze, als
Vieh betrachtet, eigen und ewig, mit
Seele, Leib und allen Kraͤften dem Bo-
den zugehoͤren muͤßte, auf welchem er
die Welt ſah. Harte Geſetze gnug hat
[127] es uͤber dergleichen Erbeigenthuͤm-
lichkeit, Eigengehoͤrigkeit u. f. ge-
geben, und giebt es noch; der ganze Gang
der Vernunft, der Cultur, ja ſelbſt der
Induſtrie, und der Nutzberechnung gehet
dahin, dieſe gebohrne Sklaven eines Mut-
terleibes oder der Mutter-Erde mit ſanf-
tern Banden an ein Vaterland zu knuͤp-
fen, und ſie von der harten Scholle, die
ſie im Leben mit ihrem Schweiß, im To-
de mit ihrer Aſche duͤngen ſollen, allmaͤ-
lich zu entfeſſeln.


Als noch Nomadenvoͤlker in der Welt
umherzogen, wuͤſte Plaͤtze Zeitenlang inne-
hatten, und in dieſen ihre Vaͤter begru-
ben: da gab der Boden des Landes, den
dieſe Voͤlker beſaßen oder beſeſſen hatten,
Anlaß zum Namen eines Landes der
Vaͤter
. „An unſrer Vaͤter Graͤbern er-
warten wir euch“ rief man den Feinden
[128] zu: „auch ihre Aſche wollen wir ſchuͤtzen,
und unſer Land ſichern.“ So iſt der hei-
lige Name entſtanden, nicht als ob Men-
ſchen aus dem Boden entſproſſen waͤren.
Nur Kinder koͤnnen das Vaterland lieben,
nicht Erdegebohrne Knechte oder wie Wild
gefangene Sklaven.


Was uns im Vaterlande zuerſt er-
quickt, iſt nicht die Erde, auf die wir ſin-
ken, ſondern die Luft die wir athmen,
die vaͤterlichen Haͤnde, die uns aufneh-
men, die Mutterbruſt, die uns ſaͤuget,
die Sonne, die wir ſehen, die Geſchwi-
ſter, mit denen wir ſpielen, die freund-
lichen Gemuͤther, die uns wohlthun. Un-
ſer erſtes Vaterland iſt alſo das Vater-
haus, eine Vaterflur, Familie. In
dieſer kleinen Geſellſchaft leben die eigent-
lichen und erſten Freuden des Vaterlan-
des, wie in einem Idyllenkreiſe; in Idyl-
len
[129] len leibt und lebt das Land unſrer erſten
[Jugend]. Sei der Boden, ſei das Klima,
wie es wolle; die Seele ſehnt ſich dahin
zuruͤck, und je weniger die kleine Geſell-
ſchaft, in der wir erzogen wurden, ein
Staat war, je weniger ſich Staͤnde und
Menſchenclaſſen darinn trennten, um ſo
weniger Hinderniſſe findet die Einbil-
dungskraft, ſich in den Schoos dieſes Va-
terlandes zuruͤckzuſehnen. Da hoͤrten und
lernten wir ja die erſten Toͤne der Liebe;
da ſchloſſen wir zuerſt den Bund der
Freundſchaft, und empfanden die Keime
zarter Neigung in beiden Geſchlechtern;
wir ſahen die Sonne, den Mond, den
Himmel, den Fruͤhling mit ſeinen Baͤu-
men, Bluͤthen und damals uns ſo ſuͤße-
ren Fruͤchten. Der Weltlauf ſpielte vor
uns; wir ſahn die Jahreszeiten ſich waͤl-
zen, kaͤmpften mit Gefahren, mit Leid und
Fünfte Samml. (I)
[130] Freude — wir ſommerten und winterten
uns gleichſam in die Welt ein. Dieſe Ein-
druͤcke, moraliſch und phyſiſch, bleiben der
Einbildungskraft eingegraben; die zarte
Rinde des Baums empfing ſie, und ohne
gewaltſame Vertilgung werden ſie nur mit
ihm ſterben. Wer hat nicht die Seufzer
und Klagen geleſen, mit denen ſelbſt
Groͤnlaͤnder ſich von ihrem Jugendlande
entfernten, mit denen ſie aus der Cultur
Europa's durch alle Gefahren dahin zu-
ruͤckſtrebten? Wem toͤnen nicht noch die
Seufzer der Afrikaner ins Ohr, die aus
ihrem Vaterlande geraubt wurden? In
einfachen kleinen Geſellſchaften leb-
ten ſie da, in einem Idyllenlande der
Jugend.


Die Staaten, oder vielmehr Staͤdte
der Griechen, denen der Name des Va-
terlandes ſo theuer und lieb war, ſchloſ-
[131] ſen ſich unmittelbar an dieſe kleinen
Geſellſchaften
an; die Geſetzgebung
beguͤnſtigte dieſe, und leitete von ihnen
urſpruͤnglich ihre ganze Energie her. Es
war das Land der Vaͤter, das man
beſchuͤtzte, es waren Jugendgenoſſen, Ge-
ſchwiſter und Freunde, nach denen man
ſich ſehnte; den Bund der Liebe, den
Juͤnglinge ſchloſſen, billigte und nuͤtzte das
Vaterland. Mit ſeinen Freunden wollte
man begraben ſeyn, mit ihnen genießen,
leben und ſterben. Und da die edlen Vor-
fahren dieſer Staͤmme das Gemeinweſen,
zu dem ſie gehoͤrten, unter dem Schutz
der Goͤtter errichtet, mit ihrer Muͤhe und
Arbeit bezeichnet, mit ihrem Blute beſie-
gelt hatten: ſo ward den Nachkommen der
Bund ſolcher Geſetze, als ein morali-
ſches Vaterland heilig: denn hoͤher
ſchaͤtzten die Griechen nichts, als das Ver-
(I) 2
[132] dienſt der buͤrgerlichen Einrichtung,
dadurch ſie Griechen geworden, und uͤber
alle Barbaren der Welt erhoͤhet waren.
Die Goͤtter ihres Landes waren die
ſchoͤnſten Goͤtter; ſeine Helden, Geſetzge-
ber, Dichter und Weiſe waren in Einrich-
tungen, Liedern, Denkmalen und Feſten
unſterblich; hiemit prangten ihre oͤffentliche
Plaͤtze und Tempel; der Sieg der Grie-
chen uͤber die Perſer allein machte ihnen
ihr Land, ihre Verfaſſung, ihre Cultur
und Sprache zur Krone des Weltalls.
Im Aether ſolcher Ideen ſchwammen die
Griechen, wenn ſie den Namen des Va-
terlandes oft edel gebrauchten, oft auch
mißbrauchten. Mehrere Staͤdte theilten
dieſen Ruhm, jede auf ihre Weiſe. Und
was Rom ſich an ſeiner Weltbeherrſcherin,
dem Sammelplatz alles Sieges und Ruhms
dachte, davon zeigt die Roͤmiſche Geſchichte.


[133]

In die Zeiten Griechenlands oder Roms
ſich zuruͤckwuͤnſchen, waͤre thoͤricht; dieſe
Jugend der Welt, ſo wie auch das eiſer-
ne Alter der Zeiten unter Roms Herr-
ſchaft iſt voruͤber; ſchwerlich duͤrften wir,
wenn auch ein Tauſch moͤglich waͤre, in
dem was wir eigentlich begehren, bei dem
Tauſche gewinnen. Sparta's Vaterlands-
eifer druͤckte nicht nur die Heloten, ſondern
die Buͤrger ſelbſt und mit der Zeit andre
Griechen. Athen fiel ſeinen Buͤrgern und
Colonien oft hart; es wollte mit ſuͤßen
Phantomen getaͤuſcht ſeyn. Die Roͤmiſche
Vaterlandsliebe endlich ward nicht fuͤr
Italien allein, ſondern fuͤr Rom ſelbſt
und die geſammte Roͤmerwelt verderblich.
Wir wollen alſo aufſuchen, was Wir
am Vaterlande achten und lieben muͤſ-
ſen, damit wir es wuͤrdig und rein lie-
ben.


[134]

I. Iſts, daß einſt Goͤtter vom Him-
mel niederſtiegen, und unſern Vaͤtern dies
Land anwieſen? Iſts, daß ſie uns eine
Religion gegeben und unſre Verfaſſung
ſelbſt eingerichtet haben? Ueberkam durch
einen Wettkampf Minerva dieſe Stadt?
Begeiſterte Egeria unſern Numa mit Traͤu-
men? — Eitler Ruhm: denn wir ſind
nicht unſre Vaͤter. Sind auf Minerva's
heiligem Boden der großen Goͤttinn wir
unwerth, reimen ſich Numa's Traͤume
nicht mehr mit unſern Zeiten: ſo ſteige
Egeria wieder aus der Quelle, ſo laſſe
Minerva zu neuen Begeiſterungen ſich
vom Himmel hernieder.


Ohne Bilder zu reden, es iſt fuͤr ein
Volk gut und ruͤhmlich, große Vorfah-
ren, ein hohes Alter, beruͤhmte Goͤtter
des Vaterlandes zu haben, ſo lange dieſe
es zu edeln Thaten aufwecken, zu wuͤrdi-
[135] gen Geſinnungen begeiſtern, ſo lange die
alte Zucht und Lehre dem Volke gerecht iſt.
Wird ſie von dieſem ſelbſt verſpottet, hat
ſie ſich uͤberlebet, oder wird gemißbraucht;
„was hilft dir, (ruft Horaz ſeinem Va-
terlande zu,) ſtolzer Pontiſcher Maſt, was
hilft dir deine vornehme Abkunft? was
helfen dir die gemahlten Goͤtter an dei-
nen Waͤnden?„ Ein muͤſſig-beſeſſener,
von unſern Vorfahren traͤge-ererbter
Ruhm macht uns bald eitel und unſrer
Vorfahren unwerth. Wer ſich einbildet,
von Hauſe aus tapfer, edel, bieder zu ſeyn,
kann leicht vergeſſen, ſich als einen ſol-
chen zu zeigen. Er verſaͤumt nach einem
Kranze zu ringen, den er von ſeinen Ur-
ahnen an ſchon zu beſitzen glaubet. In
ſolchem Wahn von Vaterlands-Reli-
gions-Geſchlechts-Ahnenſtolze ging Ju-
[136] daͤa, Griechenland, Rom, ja beinah jede
alte maͤchtige oder heilige Staatsverfaſ-
ſung unter. Nicht was das Vaterland
einſt war, ſondern was es jetzt iſt, koͤn-
nen wir an ihm achten und lieben.


2. Dies alſo kann, auſſer unſern Kin-
dern, Verwandten und Freunden, nur
ſeine Einrichtung, die gute Verfaſſung
ſeyn, in welcher wir mit dem, was uns
das Liebſte iſt, gern und am liebſten le-
ben moͤgen. Phyſiſch preiſen wir die Lage
eines Orts, der bei einer geſunden Luft
unſerm Koͤrper und Gemuͤth wohlthut;
moraliſch ſchaͤtzen wir uns in einem Staat
gluͤcklich, in dem wir bei einer Geſetzmaͤ-
ßigen Freiheit und Sicherheit vor uns
ſelbſt nicht erroͤthen, unſre Muͤhe nicht
verſchwenden, uns und die Unſrigen nicht
verlaſſen ſehen, ſondern als wuͤrdige, thaͤ-
tige Soͤhne des Vaterlandes jede unſrer
[137] Pflichten ausuͤben und ſolche vom Blicke
der Mutter belohnt ſehen duͤrfen. Grie-
chen und Roͤmer hatten Recht, daß uͤber
das Verdienſt, einen ſolchen Bund geſtif-
tet zu haben, oder ihn zu beveſtigen, zu
erneuen, zu laͤutern, zu erhalten, kein
andres menſchliches Verdienſt gehe. Fuͤr
die gemeinſchaftliche Sache nicht der Un-
ſern allein, ſondern der Nachkommenſchaft
und des geſammten, ewigen Vaterlan-
des der Menſchheit zu denken, zu arbei-
ten und (großes Loos!) gluͤcklich zu wir-
ken: was iſt hiegegen ein einzelnes Leben,
ein Tagewerk weniger Minuten und Stun-
den?


Jeder, der auf dem Schiff in den
fluthenden Wellen des Meeres iſt, fuͤhlet
ſich zum Beiſtande, zur Erhaltung und
Rettung des Schiffs verbunden. Das
Wort Vaterland hat das Schiff am
[138] Ufer flott gemacht; er kann, er darf nicht
mehr, (es ſei denn, daß er ſich hinaus-
ſtuͤrze und den wilden Wellen des Meers
uͤberlaſſe) im Schiff, als waͤr' er am Ufer,
muͤſſig daſtehn und die Wellen zaͤhlen.
Seine Pflicht ruft ihn, (denn alle ſeine
Gefaͤhrten und Geliebten ſind mit ihm im
Schiffe) daß, wenn ein Sturm ſich em-
poͤrt, eine Gefahr droht, der Wind ſich
aͤndert, oder ein Schiff hinanſchleudert,
ſein Fahrzeug zu uͤberſegeln, ſeine Pflicht
ruft ihn, daß Er helfe und rufe. Leiſe
oder laut, nachdem ſein Stand iſt, dem
Bootsknecht, Steuermann oder dem Schif-
fer; ſeine Pflicht, die geſammte Wohl-
fahrt des Schiffes ruft ihn. Er ſichert
ſich nicht einzeln; er darf ſich nicht in den
Kahn einer erleſenen Ufergeſellſchaft, der
ihm hier nicht zu Gebot ſtehet, traͤumen;
er legt Hand an das Werk, und wird
[139] wo nicht des Schiffes Retter, ſo doch ſein
treuer Fahrgenoß und Waͤchter.


Woher kam es, daß manche einſt hoch
verehrte Staͤnde allmaͤlich in Verachtung,
in Schmach verſanken und noch verſin-
ken? Weil keiner derſelben ſich der gemei-
nen Sache annahm, weil jeder als ein be-
guͤnſtigter Eigenthums- oder Ehrenſtand
lebte; ſie ſchliefen im Ungewitter ruhig
wie Jonas, und das Loos traf ſie wie
Jonas. O daß die Menſchen bei ſehen-
den Augen an keine Nemeſis glauben!
An jeder verletzten oder vernachlaͤßigten
Pflicht hangt nicht eben eine willkuͤhrliche,
ſondern die nothwendige Strafe, die ſich
von Geſchlecht zu Geſchlecht haͤufet. Iſt
die Sache des Vaterlandes heilig und
ewig; ſo buͤßet ſich ſeiner Natur nach je-
des Verſaͤumniß derſelben, und haͤuft die
Rache mit jedem verdorbneren Geſchaͤft
[140] oder Geſchlechte. Nicht zu gruͤbeln haſt
du uͤber dein Vaterland: denn du wareſt
nicht ſein Schoͤpfer; aber mithelfen mußt
du ihm, wo und wie du kannſt, ermun-
tern, retten, beſſern, und wenn du die
Gans des Kapitoliums waͤreſt.


3. Sollte uns alſo nicht, eben im Sin-
ne der Alten, die Stimme jedes Buͤrgers,
geſetzt daß ſie auch gedruckt erſchiene, als
eine Vaterlandsfreiheit, als ein heiliges
Scherbengericht gelten? Der Arme konnte
vielleicht nichts thun, als ſchreiben, ſonſt
haͤtte er wahrſcheinlich etwas Beſſeres ge-
than; wollet ihr dem Seufzenden ſeinen
Athem, der ins wuͤſte Leere hinausgeht,
rauben? Noch werther aber ſind dem Ver-
ſtaͤndigen die Winke und Blicke Derer,
die weiter ſehen. Sie muntern auf, wenn
alles ſchlaͤft: ſie ſeufzen vielleicht, wenn
Alles tanzet. Aber ſie ſeufzen nicht nur;
[141] in einfachern Gleichungen zeigen ſie, ver-
moͤge einer unzweifelhaften Kunſt, hoͤhere
Reſultate. Wollet ihr ſie zum Schweigen
bringen, weil ihr blos nach der gemeinen
Arithmetik rechnet? Sie ſchweigen leicht,
und rechnen weiter; das Vaterland aber
zaͤhlte auf dieſe ſtille Rechner. Ein Vor-
ſchritt, den ſie gluͤcklich angaben, iſt mehr
als zehentauſend Cerimonien und Lobſpruͤ-
che werth.


Sollte unſer Vaterland dieſer Rechen-
kunſt nicht beduͤrfen? Sey Deutſchland
tapfer und ehrlich; tapfer und ehrlich ließ
es ſich einſt nach Spanien und Afrika,
nach Gallien und England, nach Italien,
Sicilien, Creta, Griechenland, Palaͤſtina
fuͤhren; unſre tapfren und ehrlichen Vor-
fahren bluteten da, — und ſind begra-
ben. Tapfer und ehrlich lieſſen die Deut-
ſchen innerhalb und auſſerhalb ihrem Va-
[142] terlande ſich, wie die Geſchichte zeigt,
dingen gegen einander; der Freund ſtritt
gegen den Freund, der Bruder gegen den
Bruder; das Vaterland ward zerruͤttet und
blieb verwaiſet. Sollte alſo auſſer der
Tapfer- und Ehrlichkeit unſerm Vaterlan-
de nicht noch etwas anders noth ſeyn?
Licht, Aufklaͤrung, Gemeinſinn; edler
Stolz, ſich nicht von andern einrichten
zu laſſen, ſondern ſich ſelbſt einzurichten,
wie andre Nationen es von jeher thaten;
Deutſche zu ſeyn auf eignem wohlbe-
ſchuͤtzten Grund' und Boden.


4. Der Ruhm eines Vaterlandes kann
zu unſrer Zeit ſchwerlich mehr jener wilde
Eroberungsgeiſt ſeyn, der die Ge-
ſchichte Roms und der Barbaren, ja man-
cher ſtolzen Monarchieen wie ein boͤſer
Daͤmon durchſtuͤrmte. Was waͤre es fuͤr
eine Mutter, die (eine zweite aͤrgere Me-
[143] dea) ihre Kinder aufopferte, um fremde
Kinder als Sklaven zu erbeuten, die ihren
eignen Kindern uͤber kurtz oder lang zur Laſt
werden? Ungluͤcklich waͤre das Kind des Va-
terlandes, das, dahingegeben oder verkauft,
ins Schwert laufen, verwuͤſten, morden
muͤßte, um eine Eitelkeit zu befriedigen, die
Niemanden Vortheil gebieret. Der Ruhm
eines Vaterlandes kann zu unſrer Zeit und
fuͤr die noch ſchaͤrfer richtende Nachwelt kein
andrer ſeyn, als daß dieſe edle Mutter
ihren Kindern Sicherheit, Thaͤtigkeit, An-
laß zu jeder freien, wohlthaͤtigen Uebung,
kurz die Erziehung verſchaffe, die ihr ſelbſt
Schutz und Nutz, Wuͤrde und Ruhm iſt.
Alle Voͤlker Europa's, (andre Welttheile
nicht ausgeſchloſſen,) ſind jetzt im Wett-
ſtreit, nicht der koͤrperlichen ſondern der
Geiſtes- und Kunſtkraͤfte mit ein-
ander. Wenn Eine oder zwei Nationen
[144] in weniger Zeit Vorſchritte thun, zu de-
nen ſonſt Jahrhunderte gehoͤrten: ſo koͤn-
nen, ſo duͤrfen andre Nationen ſich nicht
Jahrhunderte zuruͤckſetzen wollen, ohne ſich
ſelbſt dadurch empfindlich zu ſchaden. Sie
muͤſſen mit jenen fort: in unſern Zeiten
laͤßt ſichs nicht mehr Barbar ſeyn; man
wird als Barbar hintergangen, untertre-
ten, verachtet, mißhandelt. Die Weltepo-
chen bilden eine ziehende Kette, der zuletzt
kein einzelner Ring ſich widerſetzen mag,
wenn er auch wollte.


Vaterlaͤndiſche Cultur gehoͤrt
hiezu, und in dieſer auch Cultur der
Sprache. Was ermunterte die Griechen
zu ihren ruͤhmlichen und ſchwerſten Arbei-
ten? Die Stimme der Pflicht und des
Ruhmes. Wodurch duͤnkten ſie ſich vor-
zuͤglicher, als alle Nationen der Erde?
Durch ihre cultivirte Sprache und was
mit-
[145] mittelſt derſelben unter ihnen gepflanzt
war. Die imperatoriſche Sprache der
Roͤmer gebot der Welt; eine Sprache des
Geſetzes und der Thaten. Wodurch hat
eine nachbarliche Nation ſeit mehr als ei-
nem Jahrhunderte ſo viel Einfluß auf alle
Voͤlker Europa's gewonnen? Nebſt andern
Urſachen vorzuͤglich auch durch ihre im
hoͤchſten Sinne des Worts gebildete Na-
tionalſprache. Jeder der ſich an ih-
ren Schriften ergoͤtzte, trat damit in ihr
Reich ein und nahm Theil an ihnen. Sie
bildeten und mißbildeten; ſie befahlen, ſie
imponirten. Und die Sprache der Deut-
ſchen, die unſre Vorfahren eine Stamm-
Kern- und Heldenſprache nannten, ſollte
wie eine Ueberwundene den Siegeswagen
Andrer ziehn, und ſich dabei noch in ih-
rem beſchwerlichen Reichs- und Hofſtyl
bruͤſten? Wirf ihn weg, den druͤckenden
Fuͤnfte Samml. (K)
[146] Schmuck, du wider deinen eigenen Wil-
len eingezwaͤngte Matrone, und ſei, was
du ſeyn kannſt und ehemals wareſt, eine
Sprache der Vernunft, der Kraft und
Wahrheit. Ihr Vaͤter des Vaterlandes,
ehret ſie, ehret die Gaben, die ſie, unauf-
gefordert und unbelohnt, und dennoch
nicht unruͤhmlich darbrachte. Soll jede
Kunſt und Thaͤtigkeit, durch welche man-
cher dem Vaterlande gern zu Huͤlfe kom-
men moͤchte, ſich erſt wie jener verlohrne
Sohn auſſerhalb Landes vermiethen, und
die Frucht ſeines Fleiſſes oder Geiſtes ei-
ner fremden Hand anvertrauen, damit ihr
ſolche von da aus zu empfangen die Ehre
haben moͤget? Mich duͤnkt, ich ſehe eine
Zeit kommen —


Doch laſſet uns nicht prophezeien, ſon-
dern hinter Allem nur bemerken, daß
jedes Vaterland ſchon mit ſeinem ſuͤßen
[147] Namen eine moraliſche Tendenz ha-
be. Von Vaͤtern ſtammet es her; es
bringet uns mit dem Namen Vater,
die Erinnerung an unſre Jugendzeiten
und Jugendſpiele in den Sinn; es
weckt das Andenken an alle Verdiente vor
uns, an alle Wuͤrdige nach uns, denen
Wir Vaͤter werden; es knuͤpft das Men-
ſchengeſchlecht in eine Kette fortgehender
Glieder, die gegen einander Bruͤder,
Schweſtern, Verlobte, Freunde, Kinder,
Eltern ſind. Sollten wir uns anders auf
der Erde betrachten? Muͤßte ein Vater-
land nothwendig gegen ein andres, ja ge-
gen jedes andre Vaterland aufſtehn, das
ja auch mit denſelben Banden ſeine Glie-
der verknuͤpfet? hat die Erde nicht fuͤr
uns alle Raum? liegt ein Land nicht ru-
hig neben dem andern? Cabinette moͤgen
einander betruͤgen; politiſche Maſchienen
(K) 2
[148] moͤgen gegen einander geruͤckt werden,
bis Eine die andre zerſprengt. Nicht ſo
ruͤcken Vaterlaͤnder gegen einander;
ſie liegen ruhig neben einander, und ſte-
hen ſich als Familien bei. Vaterlaͤn-
der gegen Vaterlaͤnder im Blut-
kampf iſt der aͤrgſte Barbarismus der
menſchlichen Sprache.



[[1]]

58.


Leibnitz Weißagung iſt eine alte, be-
waͤhrte Wahrheit *). Eine Gemeinheit
ohne Gemeingeiſt kranket und erſtirbt; ein
Vaterland, ohne Einwohner die es lie-
ben, wird zur Wuͤſte, und ein Haus,
an Meeres Ufer, auf Sand gebauet,
als ein Platzregen fiel und ein Gewaͤſ-
ſer kam, und weheten die Winde und
ſtießen an das Haus, da fiel es und
thaͤt einen großen Fall, ſagt Chriſtus.


A
[2]

Daß dieſe Gebrechlichkeit zu Leibnitz
Zeiten nicht angefangen, ſondern ſich nur
merklicher gemacht habe, bewaͤhrt die Deut-
ſche, ja nach Verſchiedenheit der Voͤlker,
Verfaſſungen und Laͤnder, alle Geſchichte.
Leſen Sie, was Schmidt vom Zuſtande
der Deutſchen Nation vorm Anfange des
dreißigjaͤhrigen Krieges*) ſagt, und mit
Zeugniſſen beleget; nach dem Weſtphaͤli-
ſchen Frieden ward die Sache gewiß nicht
beſſer. In Sitten und Grundſaͤtzen, poli-
tiſch und moraliſch, ging alles mehr und
mehr nicht zu einer groͤßeren Conſiſtenz,
ſondern zu einer Aufloͤſung hin, die auch
von Moment zu Moment folgte. Daß
aber durch dieſes ſchleichende Fieber eine
neue Geſundheit, wenn gleich auf Ko-
[3] ſten leidender oder abgeſtorbener Glieder
bereitet werde, dies iſt ein des großen
Leibnitz wuͤrdiger Gedanke. Das menſch-
liche Geſchlecht iſt ein Phoͤnix; auch in
ſeinen Gliedern, ganzen Nationen, verjuͤn-
get es ſich, und ſteht aus der Aſche wie-
der auf.


Sehr uͤbel iſts, daß wir in der Ge-
ſchichte die Meinungen und Grund-
ſaͤtze der Voͤlker, die dort und dann
herrſchten
, ſo wenig bemerkt finden.
Man ſieht Erfolge, oft ſpaͤte Erfolge, und
muß die vielleicht laͤngſt im Verborgenen
wirkende Triebfeder truͤglich errathen. Noch
ſeltner werden in ihr dergleichen herrſchen-
de Meinungen und Grundſaͤtze in ihrer
Abſtammung und Fortpflanzung
genealogiſch
verfolgt; man ſieht ſie hie
und da wie Stroͤme aus der Erde brechen
und ſich, indeß ihr Lauf unter der Erde
A 2
[4] fortgeht, dem Auge verlieren. Am ſelten-
ſten ſind Geſchichtſchreiber mit wirklich
moraliſchem Blick uͤber Vorfaͤlle
und Perſonen
. So oft man von einem
Aegyptiſchen Todtengericht uͤber vergangene
Zeiten ſpricht, ſo ſelten uͤbt man es aus;
weil vielen Beſchreibern die Biegſamkeit
des Geiſtes, ſich in vergangene Zeiten zu
ſetzen, andern die Waage des Urtheils,
der moraliſche Sinn fehlet. Und feh-
let dieſer, oder iſt er ſchief und verdorben:
ſo wird die Geſchichte ſelbſt verderblich.
Ihr Urheber ſiehet mit falſchem Blick, er
waͤgt mit betruͤgeriſchen Gewichten.


Beiſpiele davon anzufuͤhren, erlaſſen
Sie mir: uͤber Juden, Griechen und Roͤ-
mer, uͤber Chriſten und Barbaren, uͤber
unſre und fremde Nationen ſind derglei-
chen in Menge vorhanden. Je taͤuſchen-
der geſchrieben, deſto verderblicher; und o
[5] wer mag den unmoraliſchen und un-
menſchlichen Stumpfſinn nennen,
mit dem man Helden, Thaten, Begeben-
heiten und Revolutionen unter Alten und
Neuen ſo oft knechtiſch anſtaunte, Lob und
Tadel wie ein gedungener Elender aus-
theilte, und die unſchuldig-Verfolgten zu-
weilen noch im Grabe verfolget. Eine
Geſchichte der Meinungen, der
praktiſchen Grundſaͤtze der Voͤlker

wie ſie hie und da herrſchten, ſich vererb-
ten und im Stillen die groͤßeſten Folgen
erzeugten, dieſe Geſchichte mit hellem,
moraliſchen Sinn, in gewiſſenhafter
Pruͤfung der Thatſachen und Zeugen geſchrie-
ben; waͤre eigentlich der Schluͤſſel zur Tha-
tengeſchichte. Wegelin, ein denkender
Geſchichtforſcher, hat dieſen Geſichtspunkt
oft im Blick; weil er aber zu ſyſtematiſch
denket, ſo verlieret er ſich auf der unge-
[6] heuren Bahn meiſtens in dunkeln zu all-
gemeinen Maximen *).


Und doch haͤngt von dieſem ſcharfge-
haltenen Augpunkt aller Nutzen der Ge-
ſchichte ab; die Figuren des Gemaͤldes
werden untreu, verworren und dunkel,
wenn man ihnen dies Licht raubet. Wie
viel z. B. iſt uͤber Machiavells Fuͤr-
ſten geſagt worden, und doch zweifle ich,
ob mit ausgemachtem Reſultate? indem
einige dies Buch fuͤr eine Satyre, andre
[7] fuͤr ein verderbliches Lehrbuch, andre fuͤr
ein wankendes, ſchwachkoͤpfiges Mittelding
zwiſchen beiden halten. Und ein Schwach-
kopf war wahrlich Machiavell nicht; er
war ein Geſchicht- und Welterfahrner, da-
bei ein redlicher Mann, ein feiner Beo-
bachter, und ein warmer Freund ſeines
Vaterlandes. Daß er den Werth und die
Form von mancherlei Staaten gekannt ha-
be, davon zeugen ſeine Dekaden uͤber
den Livius
, und daß er kein Verraͤther
der Menſchheit werden wollte, beweiſet
jede Zeile ſeiner andern Schriften, ſo wie
bis zum Alter hinan ſein gefuͤhrtes Leben.
Woher nun das Mißverſtaͤndniß dieſer
Schrift eines Schriftſtellers, der ſo be-
ſtimmt, rein und ſchoͤn zu ſchreiben wußte?
Woher, daß dies Mißverſtaͤndniß ſich zwei
Jahrhunderte erhalten, und den feinſten
Koͤpfen mitgetheilt hat, ſo daß ihm ſelbſt
[8] der große Verfaſſer des Anti-Machia-
vells nicht entkommen mochte? Und doch
ging das Buch zwei und ſiebenzig Jahre
umher, gebilligt und geleſen; niemand
fand darinn Arges. Machiavell hatte es
einem Fuͤrſten aus einem von ihm geliebten
Hauſe, dem Neffen eines Papſtes zugeſchrie-
ben, der ihn hochhielt, dem er damit ge-
wiß keine Schande machen wollte. Mich
duͤnkt, das ganze Mißverſtaͤndniß ruͤhre da-
her, daß man den Punkt nicht bemerkt,
auf welchem damals das Verhaͤlt-
niß der Politik und Moral ſtand.


Beide hatten ſich ſichtbar und voͤllig ge-
trennet. Die Zeiten Alexanders 6 und
Caͤſar Borgia waren zwar voruͤber;
aber auch Julius und Leo, Frank-
reich und Spanien, Florenz und die
kleinen Tyrannen von Italien, ja jenſeit
der Alpen wollte Niemand als Regent
[9] und Politiker Moraliſt ſeyn. Man lachte
die Tramontaner aus, die ins Regierungs-
weſen ſo enge Begriffe brachten: denn von
Erlangung oder Erhaltung der Macht, und
von den Mitteln dazu, inſonderheit von Ver-
ſchmitztheit und Klugheit ſei, glaubte man,
hier die Rede; nicht aber von Guͤte und
Weisheit. Die Religion, von der Moral
ganz abgeſondert, war ſelbſt Politik, de-
ren Hauptgeſetz uͤberhaupt die Staats-
raiſon, (la ragione del ſtato) deren Haupt-
maxime es war: Die Dinge, jedes zu ſei-
ner Zeit, im Punkt ſeiner Reife nutzen zu
koͤnnen; (conocer las coſas en ſa piato, en
ſa ſazon, y ſaber las lograr.)
Eine ſolche
Politik brachte Karl 5 nach Deutſchland;
daher er auch die Reformation nie anders
anzuſehen vermochte; eine ſolche uͤbten Koͤ-
nige, Fuͤrſten, Staatsminiſter. In allen
politiſchen Schriften war ſie anerkannt;
[10] faſt jede Stadt Italiens war Jahrhunderte
lang ihr Schauplatz geweſen, und war es
noch. Hier ſchrieb Machiavell ſeinen Pren-
cipe,
ganz in den Begriffen ſeiner Zeit,
ganz nach Vorfaͤllen, die damals jedermann
in Andenken waren. Aus dieſen hatte er
eben ſeine politiſchen Saͤtze abgezogen; und
belegte jeden derſelben mit Beiſpielen began-
gener Fehler. „Wenn dies Euer Handwerk
iſt, ſagt er gleichſam, ſo lernt es recht,
damit Ihr nicht ſo unſelige Pfuſcher bleibet,
als ich Euch zeige, daß Ihr ſeyd und wa-
ret. Ihr habt keinen Begrif, als von
Macht und Anſehn; wohl, ſo braucht
wenigſtens die Klugheit, die Euch zur
ſichern Macht, und Italien endlich einmal
zur Ruhe leitet. Ich habe Euch Euer
Werk nicht angewieſen; treibt Ihrs aber,
ſo treibet es recht.“ Daß dies die Hal-
tung der Gedanken in Machiavells gan-
[11] zem Buche ſey, wird jeder Unpartheiiſche
fuͤhlen.


Damit wird es nun weder Satyre,
noch ein moraliſches Lehrbuch, noch ein
Mittelding beider; es iſt ein rein poli-
tiſches Meiſterwerk fuͤr Italieni-
ſche Fuͤrſten damaliger Zeit, in ih-
rem Geſchmack, nach ihren Grund-
ſaͤtzen, zu dem Zwecke geſchrieben,
den Machiavell im letzten Capitel an-
giebt, Italien von den Barbaren,
(gewiß auch von den ungeſchickten Lehrlin-
gen der Fuͤrſtenkunſt, den unruhigen Pla-
gegeiſtern Italiens) zu befreien. Dies
thut er ohne Liebe und Haß, ohne Anprei-
ſung und Tadel. Wie er die ganze Ge-
ſchichte als eine Erzaͤhlung von Natur-
begebenheiten der Menſchheit an-
ſah: ſo ſchildert er hier auch den Fuͤrſten
als ein Geſchoͤpf ſeiner Gattung,
[12] nach den Neigungen, Trieben, und dem
geſammten Habitus, der ihm beiwohnet.
Nicht anders hatte er in ſeinen Dekaden
jede andre Regierungsform beaͤuget; nicht
anders hatte er ſeine ſechs Buͤcher von der
Kriegskunſt, ſeinen goldnen Eſel,
den Belphagor aus der Hoͤlle, der auf
Erden ein Weib nahm, ſeine Clitia und
Mandragola geſchrieben; er ließ jedes
Ding in ſeiner Art ſeyn, was es war oder
ſeyn wollte. Waͤren Sie hiemit noch nicht
befriedigt, ſo ſoll meinen redlichen Staats-
ſecretair ein Heiliger rechtfertigen,
der das, was Jener mit einer feinen Reis-
feder entwirft, mit einem Kirchenpinſel
ausmalet. Alſo ſpricht der H. Thomas
von Aquino
: — Doch ich mag meinen
Text mit den barbariſch-kraͤftigen Worten
des Kirchenvaters nicht entweihen. Leſen
Sie ſolche in Naudé Conſiderations poli-
[13] tiques ſur les coups d'état,
gleich im erſten
Kapitel. Ich wollte, daß dieſe kleine Schrift
des Naudé, die nach ſeiner Gewohnheit
voll Gelehrſamkeit iſt, uͤberſetzt und mit
dem zu ihr gehoͤrigen hiſtoriſchen Commen-
tar, den eine ſpaͤtere Ausgabe ſchon be-
ſitzt, begleitet erſchiene. Ohne ſarkaſtiſche
Anmerkungen, mit dem ruhigen Blick, mit
welchem Machiavell den Livius oder
Barbeirac die Moral der Kirchen-
vaͤter anſah, muͤßten auch Naudés Be-
trachtungen uͤber die Staatsſtrei-
che beaͤugt werden. Man blickte damit
in welchen dunkeln Abgrund der Zeiten!



[14]

59.


Nun aͤnderten ſich aber viele Dinge jen-
ſeit und dieſſeit der Alpen. Die Refor-
mation entſtand; ſie entlarvte den Unfug
der kirchlichen Politik ſo ſchrecklich, daß
immer auch einige, obgleich wenige Stra-
len auf die Staatspolitik fallen mußten.
Jeſuiten entſtanden, die ein feineres Ge-
webe zu ſpinnen, und die Cabinette ſchlauer
zu regieren wußten. Karl 5. machte in
Italien Ordnung; es kryſtalliſirten ſich die
kleineren Staaten, und nur den groͤße-
ren, einer Katharina von Medicis,
Heinrich 8., Karl 5., Philipp 2.
ſtand es frei, in der alten großen Machia-
[15] velliſchen Manier zu verfahren. Da end-
lich ſtand ein Jeſuit auf, klagte das Buch
an, und es wurde verdammt, 72 Jahr
nach ſeiner Erſcheinung. Machiavells
Syſtem ward verdammt, weil es von den
Staaten zu grob, von den Jeſuiten jetzt
feiner ausgeuͤbt ward: man wollte den al-
ten Meiſter nicht mehr anerkennen, der
dieſe Grundſaͤtze zu klar exponirt hatte und
war uͤberzeugt, der Juͤnger ſei jetzt uͤber den
Meiſter. Nicht ohne; dieſe Politik aber
ſtuͤrzte ſowohl den Juͤnger, als den Meiſter,
und o waͤre ſie fuͤr unſer Menſchengeſchlecht
endlich begraben! — Was iſt ein Prencipe
Machiavells ſeiner Natur und Gattung
nach? Der koͤnigliche Juͤngling, der einen
Anti-Machiavell ſchrieb, haͤtte einen
Anti-Prencipe ſchreiben ſollen, wie er ihn
auch nachher, (außer vielleicht in Faͤllen der
dringenden Noth oder der Convention) fuͤr
B 2
[16] Welt und Nachwelt ruͤhmlich gezeigt hat.
Vivre et mourir en Roi, war ſein großes
Wort der Pflicht und Ehre.


Zu deinem Grabe wallfahrtete ich einſt,
mein Anti-Machiavell, Hugo Gro-
tius. Du ſchriebſt kein Recht des Krieges
und Friedens: denn du wareſt kein Prinz;
du ſchriebſt „vom Rechte des Krieges
und Friedens
.“ Und zwar ſammleteſt
du dazu nur Collectaneen; nicht aus Ita-
lien und deiner Zeit allein, ſondern vorzuͤg-
lich aus den guten Alten, aus den Geſetzen
der Vernunft und Billigkeit, aus der Reli-
gion ſelbſt; woraus denn allmaͤlig ein
Recht der Voͤlker erwuchs, wie man
in den barbariſchen Zeiten es nicht hatte
erkennen moͤgen. Laß dich das Ungemach
nicht gereuen, heilige Seele, das du deiner
guten Grundſaͤtze und Bemuͤhungen wegen
hier erduldeteſt. Religionen haſt du nicht
[17] vereinigen koͤnnen, wie du es wollteſt; aber
Grundſaͤtze der Menſchen haſt du vereiniget,
und auch Voͤlker werden ſich einſt zu ihnen
verbinden.


Bei Guſtav Adolph fand man, als
er in einem Ausritt meuchelmoͤrderiſch ge-
fallen war, Grotius Buch im Zelte auf
ſeinem Tiſch aufgeſchlagen; die edelſten
Maͤnner in Schweden, Frankreich, Holland,
Deutſchland liebten und ehreten ihn; die
ganze Europaͤiſche Nachwelt iſt ſeine Ver-
buͤndete und Verbundne worden. Was
ſeitdem uͤber Recht der Voͤlker, uͤber
Natur- und Vernunftrecht geſchrie-
ben worden, gehet auf Grotius Bahn.


Nach ſo ungeheuren Fortſchritten der
Zeit konnte man freilich auch mit Inſti-
tution der Prinzen nicht auf Machia-
vells Wege bleiben. Er ſelbſt waͤre bei
veraͤnderten Zeitumſtaͤnden nicht darauf ge-
[18] blieben; und o haͤtten wir von Machia-
vell das Bild eines Fuͤrſten fuͤr unſre Tage!
Außer den Jeſuiten, die eine Politica de
Dios
noch lange trieben, ſtanden andere
Prinzenlehrer, la Motte le Vayer,
Nicole, Boßuet, Fenelon auf; wie
ihre Grundſaͤtze befolgt ſind, zeigt die Ge-
ſchichte. Nach den ſtuͤrmiſchen Zeiten, in
denen Languet, Milton, Hobbes
ſchrieben, gaben Algernon Sidnei,
Locke, Shaftesburi, Leibnitz mildere
Grundſaͤtze an, bis in unſern Tagen Rou-
ßeau's Contrat ſocial Wirkungen erregt
hat, an die ſein Verfaſſer ſchwerlich dachte.
Wie gern kehrt man aus dem Tumult die-
ſer Zeiten zu den friedlichen Geiſtern Gro-
tius, Locke, Leibnitz zuruͤck!


„Heil den Predigern der Menſchen-
rechte, ſagt ein neuerer Lehrer des Staats-
rechts; aber verſaͤumen ſie ja nicht, vorher
[19]Menſchenpflichten zu lehren. Um jene
in ihrem ganzen heiligen Umfange einzufuͤh-
ren, muͤſſen wir erſt eine Majoritaͤt von
Menſchen haben, die faͤhig ſind, dieſe in ih-
rem ganzen Umfange auszuuͤben.“ — Ich
lege Ihnen das kleine Buch bei *), aus dem
dieſe Stelle genommen iſt; Sie werden in
ihm noch weit mehrere dieſer Art finden.
Sein Verfaſſer verſpricht uns noch drei
Baͤndchen dieſer Art; wir wollen ihn bei ſei-
nem Wort halten.


[20]

60.


Auch Leibnitz unter den Propheten? *)
Was es mit den gewoͤhnlichen politiſchen
Prophezeiungen fuͤr eine Bewandſchaft habe,
wußte der ſcharfſinnige Mann beſſer als
jemand. „Auf Ausrechnungen fuͤr die Zu-
kunft, ſagt er in einem Briefe **), gebe
ich nichts. Jene Prophezeiungen, die man
in alten Buͤchern gefunden haben will,
ſind von denen geſchrieben, die die alten
Kriege zwiſchen Frankreich und England
[21] im Sinne hatten; die Erfahrung aber lehrt,
daß alle, die ſich an ſo Etwas gewagt ha-
ben, getaͤuſcht wurden. Zuweilen koͤnnen
dergleichen Prophezeiungen nuͤtzlich ſeyn,
dem Poͤbel, wie man es nennt, durch einen
frommen Betrug, Muth zu machen; bei
Verſtaͤndigen aber haben ſie ſo wenigen
Werth, daß ſie vielmehr dem Anſehen und
dem guten Ruf des Propheten Nachtheil
bringen, indem ſie keinen gruͤndlichen Be-
weis zulaſſen, ohne welchen doch ein red-
licher Mann, der ſeine Pflicht verſtehet,
nicht ſo leicht etwas behauptet. Gewiſſer
moͤchte ich, faͤhrt er fort, das vorausſagen,
daß, wenn in Deutſchland die Dinge nicht
beſſer gemacht werden, * * einen laͤngern
Widerſtand leiſten werde, als wir uns einbil-
den. Wir Deutſchen brauchen unſre Kraͤfte
nicht gnug. — — Statt alſo uns mit
ſchmeichelnden Prophezeiungen einzuſchlaͤ-
[22] fern, iſt guter Rath noͤthig, daß wir unſre
Nerven anſpannen, und mit Beiſeitſetzung
jeder Privatbehaglichkeit fuͤrs gemeine Beſte
ſorgen.“


An andern Orten indeß ſpricht er von
den Vorausſagungen kluger Maͤnner an-
ders. „In meiner Jugend, ſagt er *),
wollte ich eine Abhandlung davon ſchreiben,“
wobei er Seneka, Tacitus, Machia-
vell, Conring, Lotichius, Dach, zum
Beiſpiel anfuͤhret. Wir thun ihm alſo nicht
Unrecht, wenn wir noch einige Blicke ſei-
ner Ueberſicht uͤber die Dinge um ihn aus-
zeichnen. Er blickte weithin, er ſahe ſcharf
und ohne Galle: er war frohmuͤthig und
redlich.


[23]

„So oft ich, ſagt er *) zu ſeinem Freunde
Ludolf, den gefaͤhrlichen Zuſtand der
Dinge um uns her, und dabei unſre Traͤg-
heit, unſre verkehrten Rathſchlaͤge betrachte,
ſo oft ſchaͤme ich mich unſer vor den Augen
der Nachwelt. Offenbar geht es dahin aus,
daß in Europa ſich alles druͤber und drunter
kehre, und doch betraͤgt man ſich: als ob
alles in hoͤchſter Sicherheit ſei, und als ob
wir Gott ſelbſt zum Gewaͤhrsmann unſrer
Ruhe haͤtten. Ueber Kleinigkeiten ſtreitet
man; ums Große bekuͤmmert ſich niemand,
ſo daß es Eckel und Ueberdruß macht, an
die Geſchichte der gegenwaͤrtigen Zeit nur zu
denken. So gar ſehr beſtaͤtigen wir Deut-
ſchen die unguͤnſtigen Urtheile der Auslaͤnder
von uns durch unſer Betragen.“ —


[24]

— „Im Felde der Wiſſenſchaften ſtecken
wir noch in den erſten Wegen. Ein Schick-
ſal verhindert uns, daß wir die Schaͤtze
der Natur
nicht ſorgfaͤltiger aufſpaͤhen
und groͤßern Nutzen daraus ziehen. Ich
bin der Meinung, daß die Menſchen faſt
unglaubliche Dinge zu Stande bringen
koͤnnten, wenn ſie mehreren Fleiß anwende-
ten. Um ihre Augen aber iſt eine Binde ge-
zogen, und man muß die Zeit erwarten, da
alles reif ſei.“ *)


„Wie die Engliſche Societaͤt Natur-
verſuche zuſammentraͤgt: ſo ſollte eine
andre ſeyn, die Regeln des Lebens,
nuͤtzliche Bemerkungen und ver-
ſteckte Vorſchlaͤge, wie der Zuſtand
der Menſchen zu verbeſſern ſei
,
zuſammentruͤge. **)


[25]

„Aus den Schriftſtellern ſollte man aus-
ziehen, nicht nur was irgend nur Einmal,
ſondern von wem es zuerſt geſagt ſei. Hier
muß man von den aͤlteſten Zeiten anfangen,
doch aber nicht Alles erzaͤhlen, ſondern was
zum Unterricht des menſchlichen Ge-
ſchlechts dienet, auswaͤhlen. Wenn
die Welt noch tauſend Jahre ſteht, und ſo
viel Buͤcher wie heut zu Tage fortgeſchrie-
ben werden; ſo fuͤrchte ich, aus Bibliothe-
ken werden ganze Staͤdte werden, deren
viele dann durch mancherlei Zufaͤlle und
ſchwere Zeitumſtaͤnde ihr Ende finden wer-
den. Daher waͤre es noͤthig, aus einzelnen
und zwar den Original-Schriftſtellern, die
andre nicht ausſchrieben, Eklogen wie
Photius zu machen, und ihr Merkwuͤrdi-
ges mit den Worten des Schriftſtellers ſelbſt
zu ſammeln. Was aber merkwuͤrdig ſei,
kann, bei der großen Verſchiedenheit der
[26] Koͤpfe und der Wiſſenſchaften freilich nicht
Jeder beurtheilen.“


„Ich glaube, daß es bei euch viele ge-
ſchickte Maͤnner giebt. *) Indeſſen mache
ich einen großen Unterſchied zwiſchen gruͤnd-
lichen Kaͤnntniſſen, die den Schatz des
menſchlichen Geſchlechts vermeh
-
ren, und zwiſchen der Notiz von Thatſa-
chen, die man gemeiniglich Gelehrſamkeit
nennet. Ich verachte dieſe Gelehrſamkeit
nicht, deren Werth und Nutzen ich einſehe;
dennoch aber wuͤnſchte ich, daß man ſich
mehr an das Gruͤndliche hielte: denn es
giebt allenthalben zu wenig Perſonen, die
ſich mit dem Wichtigſten beſchaͤftigen.
Nichts iſt ſo ſchoͤn und ſo befriedigend, als
eine wahre Kaͤnntniß vom Syſtem
der Natur
zu haben. Wuͤrden viele dies
[27] Studium liebgewinnen, ſo wuͤrde man weit
gelangen, nicht nur in Ruͤckſicht auf Be-
quemlichkeit des Lebens und der Geſund-
heit, ſondern in Ruͤckſicht auf Weisheit,
Tugend und Gluͤck; ſtatt deſſen, daß man
ſich jetzt mit Kleinigkeiten abgiebt, die uns
ergoͤtzen, nicht aber vervollkommnen und
veredeln. Unter Vollkommenheiten rechne
ich nichts, als was uns auch nach dieſem
Leben bleiben kann; die Kaͤnntniß von factis
iſt wie die Kaͤnntniß der Straßen in London.
Sie iſt gut, ſo lange man dort iſt.“


„Das goͤttliche Naturlicht in uns
zu vermehren
, hat man dreierlei zu
thun noͤthig. *) Zuerſt ſammle man eine
Kaͤnntniß der vortreflichen Erfindungen, die
ſchon gemacht ſind; ſodann erforſche man,
was noch zu entdecken iſt; endlich bringe
[28] man Beides, das Erfundne und noch zu Er-
findende in Lobgeſaͤnge an den Urheber der
Natur, zu Erweckung der Liebe zu ihm und
zu den Menſchen. Waͤren die Sterblichen
ſo gluͤcklich, daß ein großer Monarch dieſe
drei Dinge einmal fuͤr ſein Werk anſaͤhe;
in zehn Jahren wuͤrde zur Ehre Gottes und
zum Wohl des Menſchengeſchlechts mehr
bewirkt werden, als wir ſonſt in vielen
Jahrhunderten ausrichten moͤchten.“


„Ich hatte im Sinn, mancherlei Ge-
danken, die das Wohl des Kaiſers und
des Reichs betreffen, unter dem Namen:
Deutſche Rathſchlaͤge“ ans Licht zu
ſtellen; es iſt aber verdrießlich, Worte in
den Wind zu verhauchen, und nach Art der
Declamatoren, die in Schulen uͤber die
beſte Form der Republik zu Athen oder
Karthago reden, Dinge vorzutragen, die
niemand anwendet. Die beſten Gedanken
werden
[29] werden veraͤchtlich, wenn man ſie oͤffentlich
hinſtellt; unſre Feinde werden dadurch mehr
gewarnt, als gebaͤndigt. Indeſſen beſitze
ich manches Ueberdachte, das auch großen
Maͤnnern wichtig geſchienen hat, und in
unſern Zeiten dem Ganzen ſehr nuͤtzlich
ſeyn koͤnnte. Vor allem bin ich mir der
Treue bewußt und der Liebe zum allgemei-
nen Beſten.“ *)


Gewiß verzeihen Sie mir, daß ich von
Leibnitz Weißagungen ſobald auf ſeine
Vorſchlaͤge uͤbergegangen bin; eines klu-
gen Mannes Weißagungen ſind Vorſchlaͤ-
ge des Beſſern. Nicht auf Viſionen,
ſondern auf Erfahrungen und auf jene
dauerhafte Vernunftprinzipien ſind ſie ge-
bauet, die auch in die fernſte Zukunft rei-
chen. Da gluͤcklicher Weiſe die Akademie
Fuͤnfte Samml. C
[30] der Wiſſenſchaften, deren Ruhmwuͤrdiger
Stifter Leibnitz war, in Manchem ſchon
zum erſten Plan deſſelben zuruͤckgekehrt iſt:
ſo waͤre es vielleicht gut, daß ſie in Allem
dahin zuruͤckkehrte, und aus Leibnitz
Schriften und Briefen ſaͤmmtliche Vor-
ſchlaͤge ſammlen ließe, die er zur Erwei-
terung der Wiſſenſchaften und zum Wohl
des menſchlichen Geſchlechts ſeinen Freun-
den oder der Welt offenbahrte. Ungeheuer
Vieles iſt ſeitdem noch nicht geſchehen,
was er zu thun ſich vornahm oder von
außen ausgefuͤhrt wuͤnſchte; er iſt uns in
dieſem Allen der naͤhere Baco, der mit
genauerer Kaͤnntniß der Sache, als der
Englaͤnder beſaß, die Luͤcken der Wiſſen-
ſchaften, die Maͤngel unſrer Erkenntniſſe
und Bemuͤhungen anſah und ſeine Ent-
wuͤrfe, mit Gruͤnden unterſtuͤtzt, zuweilen
ſehr vollſtaͤndig detaillirt hat. Jungen
[31] Maͤnnern wuͤrde ich daher ſeine Briefe und
Schriften nicht nur als eine reiche Fund-
grube von Gedanken, ſondern auch als
ein Directorium ihrer Bemuͤhungen an-
preiſen: wohin ſie ſtreben ſollen, was al-
lenthalben fuͤr die Menſchheit noch zu thun
ſei. Gluͤcklich iſt, wer einen ſolchen Weg-
weiſer fruͤhe gebrauchet.



[32]

61.


Oft habe ich zu unſern Zeiten gedacht:
„wenn Leibnitz lebte!“ Er lebt indeſſen
in ſeinen Schriften, und wir koͤnnen aus
ſeinen muntern Urtheilen, die ſich auf alles
Merkwuͤrdige ſeiner Zeit erſtreckten, auch
fuͤr jetzt viel Nutzen ziehen.


Sie wiſſen, mit welchem Eifer Leib-
nitz ſich um die Vereinigung der Religion
bewarb und verwandte. Fuͤr die damalige
Zeit blieb ſeine Muͤhe fruchtlos; indeſſen
ſelbſt das Fruchtloſe ſeiner Vorſchlaͤge,
die allenthalben voll Verſtandes waren, iſt
fuͤr uns lehrreich. Ein damaliger Regent
[33] wollte die Sache kuͤrzer angreifen, und eine
Vereinigung der Secten, nicht in Lehren,
ſondern in Gebraͤuchen, nicht mit gutem
Willen beider Theile, ſondern durch Be-
fehle, durch Zwang bewirken. Ein untuͤch-
tiger Rathgeber ſchrieb zu Beſchoͤnigung
dieſer Mittel ein Arcanum Regium in
pietiſtiſcher Form. Leſen Sie, wie ſich die
großen Friedensbefoͤrderer Leibnitz und
Molanus daruͤber erklaͤren; *) das Gut-
achten endigt alſo: „Der neuen Regel, daß
ein Evangeliſcher Fuͤrſt Papſt in ſeinem
Gebiet ſei, muß man nicht mißbrauchen.
Bei den verſtaͤndigen Katholiſchen ſelbſt iſt
ein allgemeines Concilium der Kirche, wo
nicht uͤber, doch nicht unter dem Papſte.“


Hoͤren Sie, was Leibnitz von Spie-
len urtheilt: „Ich wuͤnſchte, daß Jemand
[34] alle Arten von Spiel mathematiſch behan-
delte und ſowohl die Gruͤnde ihrer Regeln
und Geſetze, als ihre vornehmſten Kunſt-
ſtuͤcke angaͤbe. Unſaͤglich viel zur Erfin-
dungskunſt Brauchbares liegt in den Spie-
len. Und dieſes daher, weil die Menſchen
im Scherz ſinnreicher als im Ernſt zu ſeyn
pflegen: denn uͤberhaupt geht uns beſſer
von der Hand, was wir mit Luſt verrichten.*)


„Es koͤnnte ein Spiel ausgedacht wer-
den, das man das Spiel der Vorſorge
oder der Zufaͤlle nennen koͤnnte: wenn
Das geſchiehet
, was koͤnnte ſich zu-
tragen? Weil dieſe Zufaͤlle zum Theil
allgemein und auf vieles anzuwenden ſind,
muͤßte ein Geſetz ſeyn, ſolche bei einer
neuen Frage nicht wieder zu gebrauchen,
oder man koͤnnte die allgemeinen Zufaͤlle
[35] gar ausſchließen — und das Geſetz machen,
daß man nur Zufaͤlle anfuͤhre, die vermie-
den werden koͤnnen, ohne daß die Hand-
lung ſelbſt unterbleibe. Den moͤglichen Zu-
fall koͤnnte der Eine, das Mittel dagegen
ſein Nachbar ſagen u. f.“


„Man hatte vormals ein Fragſpiel:“
wozu iſt das Stroh gut? man koͤnnte
es das Spiel der Effecte, oder cui bono?
nennen. So koͤnnte ein Spiel der Urſa-
chen oder Mittel eingefuͤhrt werden, z.
B. womit kann dies oder das ge-
than werden? Solche Spiele ſchaͤrfen
den Verſtand und fuͤhren zu ernſthaft-
Gutem, da andre Poſſen nur zu ernſthaft-
Boͤſem fuͤhren.


„Man hat ein Gedaͤchtnißſpiel, da
man ſich uͤbt, etwas Auswendiggelerntes
ſchwer-Auszuſprechendes mit wachſender
Rede herzuſagen; dergleichen Spiele koͤnn-
[36] ten noch mehr erfunden werden, nicht zu
Vermehrung der Seelenkraͤfte allein, ſon-
dern auch zu Uebung der Tugenden. In
manchen Spielen iſt Beſcheidenheit, Maͤßi-
gung noͤthig, wie im Koͤnigsſpiel u. f.
Ich wollte, daß Commenius daran ge-
dacht haͤtte, da er ſein Buch: die Schule
ein Spiel
herausgab.“ *)


Bei unſern fuͤrchterlich-großen Zeit-
und Menſchenſpielen ſind Ihnen dieſe Leib-
nitziſche Gedanken nicht bisweilen eingefal-
len? Wenn Das geſchieht, was koͤnn-
te ſich zutragen? Wie kann es ver-
mieden werden? und wenn es ſich
zutraͤgt
, was hilft dagegen? Ferner:
wozu iſt das Stroh gut? cui bono
Dies oder Jenes? Das ganze Leben
der Menſchen iſt ein Spiel; wohl dem,
der es froh und mit Verſtande ſpielet.


[37]

Von Spielen zur Philoſophie. Die
Urtheile, die Leibnitz nicht nur uͤber die
Alten, ſondern auch uͤber die Scholaſti-
ker und die Reformatoren der Phi-
loſophie, uͤber Jordanus Brunus,
Campanella, Baco, Hobbes, uͤber
Grotius, Locke, Cartes, Puffen-
dorf, Shaftesburi u. f. faͤllet, ſind,
obwohl immer in ſeinem eignen Geſichts-
kreiſe, mit einer Unpartheilichkeit, einer
Milde und ſo allgemeinen Theilnehmung
entworfen, daß ich dieſes großen Gemuͤths
wegen Leibnitz gern zum Schutzgeiſt der
geſammten Philoſophie wuͤnſchte. Von hun-
dert merkwuͤrdigen Aeußerungen hieruͤber
hoͤren Sie Eine uͤber Cartes:


„Ich wuͤnſchte, daß trefliche Maͤnner
die leere Hoffnung, Oberherren im Reich
[38] der Philoſophie ſeyn zu koͤnnen, (arripien-
dae tyrannidis in imperio philoſophico)

aufgaͤben und den Ehrgeiz, eine Secte ſtif-
ten zu wollen, fahren ließen: denn eben
hieraus entſpringen jene ungeſchickte Par-
theilichkeiten, jene leere und eitle Buͤcher-
kriege, die der Wiſſenſchaft und dem Ge-
brauch der koſtbaren Zeit ſo ſehr ſchaden.
In der Geometrie kennt man keine Eukli-
dianer, Archimedianer, Apollinianer; alle
ſind von Einer Sekte, der Wahrheit zu
folgen, woher ſie ſich anbieten moͤge. Auch
wird niemand gebohren werden, der ſich
das ganze Patrimonium der Gelehr-
ſamkeit zueigne, der das ganze Menſchen-
geſchlecht an Geiſt uͤbertreffe und alle Sterne
um ſich her ausloͤſche wie die aͤtheriſche
Sonne. Wir wollen den Des-Cartes
loben, ja gar bewundern; deßhalb aber
wollen wir Andre nicht vernachlaͤßigen, bei
[39] denen ſich viele und große Dinge finden,
die Jener nicht bemerkt hat. —


„Nichts ſtehet dem Fortkommen der
Wiſſenſchaft ſo ſehr entgegen, als jener
Knechtsdienſt, in der Philoſophie eines An-
dern Gedanken zu paraphraſiren; und eben
dieſe Paraphraſir-Kunſt halte ich fuͤr die
Urſache, warum von den blos-Carteſianern
eben ſo wenig Neues und Ausnehmendes
geleiſtet werde, als von den Ariſtotelikern
geleiſtet worden, nicht aus Mangel des
Genies, ſondern des Sektengeiſts, der Par-
theiſucht halben. Wie naͤmlich unſre Ein-
bildungskraft, wenn ihr Eine Melodie al-
lein vorſchwebt, ſchwerlich und mit Muͤhe
zu einer andern uͤbergeht, wie Der, der
unablaͤßig einer geſchlagenen Straße folgt,
keine neuen Wege entdecken wird: ſo ſind
auch die, die Einem Autor ſich einverleiben,
leibhafte Knechte dieſes Autors, die er
[40] durch Gewohnheit in Dienſt und Beſitz hat;
zu etwas Neuem und Verſchiednem koͤnnen
ſie ihr Gemuͤth nicht erheben. Und doch
iſt bekannt, daß den Wiſſenſchaften nichts
ſo ſehr fortgeholfen hat, als die Verſchie-
denheit der Wege, auf denen man die
Wahrheit geſucht hat.“


Nichts verehre ich an Leibnitz mehr,
als dieſe große, unpartheiiſche Jugend-
ſeele, die bis ans Ende ſeiner Tage alles
mit Freuden aufnahm, was irgend der
Wiſſenſchaft diente. Keine Form wies er
veraͤchtlich ab; in Allem ſuchte er das Beſte.
Von ausſchließenden Leibnitzianern hatte
er ſo wenig Begriff, daß vielmehr ſeine
Schriften und Briefe darauf arbeiten, in
Zukunft alle Secten zu vernichten, aus
Alten und Neuen die Wahrheit zu lernen,
und auch einer ſonſt ſchlechten Schrift den
Beitrag nicht abzulaͤugnen, den ſie dem
[41] Gemeingute der Menſchheit liefert. Ich
wuͤnſchte, daß ſeine Gedanken, ſeine Urtheile
uͤber die verſchiedenſten Schriftſteller, in
ihrer ganzen großen Unpartheilichkeit fuͤr
Juͤnglinge ausgehoben, und als Leibnitz
Geiſt
, als die einzige, immer friſche und
neuſtroͤmende Quelle der Wiſſenſchaft dar-
geſtellt wuͤrde. Vor einigen Jahren er-
ſchien, wie mich duͤnkt, eine Schrift, die
der Geiſt des Herrn von Leibnitz
hieß; wahrſcheinlich aber iſts nicht der rechte
Geiſt geweſen, denn er iſt ohne Wirkung
bald verſchwunden. Doch was ſage ich
Wirkung? Hat Leibnitz auf die Deutſche
Nation gewirkt? Sogar ſeine Schriften
ſind von uns noch nicht geſammlet; und
nachdem ein Auslaͤnder ſie fuͤr uns zu ſamm-
len die Muͤhe nahm, haben wir ſie noch nicht
einmal ergaͤnzet.


[42]

62.


Wollen Sie ſich uͤberzeugen, daß Leib-
nitz auch bei ſeinen Lebenszeiten in Deutſch-
land eine ziemlich fremde Pflanze geweſen,
ſo leſen Sie das Leben, das ſein naͤchſter
Bekannter, Eckardt, von ihm geſchrieben;
ſeine Bekanntmachung haben wir dem ge-
lehrten Murr zu danken. *) Die bluͤ-
hende Aloe ſandte reiche Geruͤche um ſich
her; allenthalben wollte ſie Wurzeln ſchla-
gen, und neue Abſenker pflanzen. Es ge-
[43] lang ihr hie und da, ohngeachtet des ſtraͤu-
bigen Erdbodens: und waͤre Leibnitz die
Stiftung einer Akademie der Wiſſenſchaf-
ten zu Wien und Dresden ſo gegluͤckt,
wie ihm die Akademie zu Berlin gluͤckte,
welche unnennbar gute Folgen haͤtten ſich
ſeitdem verbreitet! Sein Geiſt lebte in ei-
ner idealiſchen Welt, im Reich aller den-
kenden, fuͤrs Wohl der Menſchheit wirken-
den Geiſter. Fuͤr dieſen großen Staat
ſchrieb er ſeine Aufſaͤtze, meiſtens auf Ver-
anlaſſung fremder Aeußerungen und unter-
hielt einen ſo ungeheuren Briefwechſel,
daß man ihn einen Mitarbeiter und Praͤſi-
denten der Geſammt-Akademie aller Euro-
paͤiſcher Wiſſenſchaften nennen koͤnnte. In
ſeinen naͤheren Verhaͤltniſſen aber war er
hier Canzlei-Reviſions-Rath, dort Ge-
ſchichtſchreiber des Fuͤrſtlichen Hauſes; hier
ſchrieb er fuͤr einen Pfalzgrafen, der Koͤnig
[44] von Pohlen werden, dort fuͤr Deutſche
Fuͤrſten, die Geſandte beim Friedensſchluß
haben wollten, u. f. Er unterhielt die Fuͤr-
ſten mit Curiosis, (wenn es auch nur ein
wunderbargeſtalteter Rehbock ſeyn ſollte,)
Fuͤrſtinnen mit ſinnreichen philoſophiſchen
Gedanken, Neugierige, mit dem was ſich
in andern Laͤndern zutrug; erfand fuͤr den
Bergbau Werkzeuge, Maſchinen, Wind-
muͤhlen, und — that doch nicht zur Gnuͤge.
Zwei Jahre vor ſeinem Tode ward dem
alten Mann nachdruͤcklich befohlen, die Hi-
ſtorie des Hauſes vor allen Dingen
fertig zu machen“ und als er begraben
ward, „war das Einzige zu verwundern,
(ſagt ſein getreuer Amanuenſis und College,
Eckard) daß da der ganze Hof ihm zu
Grabe zu folgen invitirt war, außer Mir
kein Menſch erſchienen, ſo daß ich dem
großen Mann die letzte Ehre einzig und
allein
[45] allein
erwieſen. *) Im Jahr 1695 ſchrieb
er an Burnet: „Unbequem iſt mirs, daß
ich nicht in einer Stadt wie Paris oder
London lebe, wo viele gelehrte Maͤnner
ſind, deren Huͤlfe man ſich bedienen, von
denen man lernen kann: denn viele Dinge
Fuͤnfte Samml. D
[46] ſind von der Art, daß Ein Menſch allein
ſie nie zu Stande bringen mag. Hier
findet man kaum jemand, mit dem zu
ſprechen iſt, oder vielmehr, es iſt hier zu
Lande nicht hofmaͤnniſch, ſich von gelehr-
ten Dingen zu unterhalten. „Noch das
Jahr vor ſeinem Tode hatte er ſich vor-
genommen, nach Paris zu reiſen und da
ſein Leben zu beſchlieſſen.„


„Weil er nicht zum Abendmal ging,
ſagt Eckardt, ſchalten die Prediger oft
oͤffentlich auf ihn; er blieb aber bei ſeiner
Weiſe. Gott weiß, was er vor Motiven
dazu gehabt, die gemeinen Leute hieſſen
ihn daher insgemein auf Platdeutſch Loͤ-
venix, welches qui ne croit rien heißet.“
Aus ſeinen Schriften und Bemuͤhungen
fuͤr die Vereinigung der Kirchen kennen
wir ſeine reinen und aufgeklaͤrten Reli-
gions-Grundſaͤtze gnugſam; gewiß kann
[47] man ihm nicht den Vorwurf machen, daß
er zu wenig geglaubt habe.


„Kurz vor ſeinem letzten Augenblick
wollte er noch etwas aufſchreiben. Als
ihm Papier, Tinte und Feder gereicht
wurden, fing er an zu ſchreiben, das er
aber nicht mehr leſen konnte, als er es
bei dem Licht durchſehen wollte. Er zer-
riß das Papier, warf es weg und legte
ſich zu Bette. Er verſuchte nochmals zu
ſchreiben, verhuͤllte ſich die Augen in ſeine
Schlafmuͤtze, legte ſich auf die Seite und
entſchlief ſanft, nachdem er ſein Ruhm-
volles Alter auf 70 Jahre, 4 Monathe
und 24 Tage gebracht hatte.„ Leſen Sie
Eckardts Lebensbeſchreibung; das barba-
rus hic ego ſum,
wird Ihnen manche
Seite ins Ohr fluͤſtern.


Fontenelle ſagt in ſeiner Lobſchrift
gar artig: aus vielen Herkules habe das
D 2
[48] Alterthum nur Einen Herkules gemacht;
Er ſehe keinen andern Rath, als den Ei-
nen Leibnitz in viele Gelehrte zu decompo-
niren: denn ſonſt wuͤrde bei dem beſtaͤn-
digen Uebergange von Schriften des ver-
ſchiedenſten Inhalts, alle zu Einer und
derſelben Zeit geſchrieben, dieſe unaufhoͤr-
liche Miſchung von Gegenſtaͤnden, die in
Leibnitz Kopf ſeine Ideen nicht verwirrte,
eine Verwirrung und ein embarras in ſein
Eloge bringen.„ Und doch wuͤnſchte ich
faſt, daß Leibnitzens Vaterland dieſen em-
barras,
dieſe paſſages brusques et fre-
quens d'un ſujet a un autre tout oppo-
ſé, qui ne l'embarraſſoient point,
in Leib-
nitzens Arbeiten nicht gebracht haͤtte; um
den Einen Herkules in mehrere Herkules
zu decomponiren. Wie anders konnte
Newton in England ſeine Werke vol-
lenden!


[49]

Sie wiſſen, daß Leibnitzens Verlaſſen-
ſchaft in der Landesherrlichen Bibliothek
zu Hannover aufbewahrt wird, und es iſt
zu erwarten, daß die Regierung, die fuͤr
alle und allerlei Wiſſenſchaften mehr als
irgend eine andre in Deutſchland thut und
gethan hat, einem dazu tuͤchtigen Manne,
unter gegebner buͤrgerlichen Treue, die
Bekanntmachung des Inhalts derſelben
auftrage. Der Einzige Band, den Ra-
ſpe mit Kaͤſtners Vorrede von daher
ans Licht ſtellte, iſt vielleicht mehr werth,
als Leibnitzens Theodicee ſelbſt; und wer
unternaͤhme es, fuͤr den kleinſten Zettel
Leibnitzens in Anſehung der Idee verant-
wortlich zu werden, die er darauf nur
hinwarf?


Dankbar erkenne ich jede Blume, die
eine wuͤrdige Hand nicht auf Leibnitz ver-
ſcharrte Aſche, ſondern dem ewigen Eh-
[50] renmahl ſtreuet, das er ſich ſelbſt errichtet
hat. Die Wolfiſche Schule, ſo ungleich
ſie ſeiner Denkart war, hat ihm gleichſam
ein Kenotaphium gebauet; durch ſie iſt eine
Klarheit der Begriffe und eine Praͤciſion
des Ausdrucks in unſre Sprache gebracht
worden, die ihr vorher unbekannt waren.
Sollte, da ihre Periode voruͤber iſt, Jemand
noch jetzt Bedenken tragen, Leibnitzens
Briefwechſel mit Wolf herauszugeben, der,
was er auch enthielte, dem Letztern nicht
anders als zur Ehre gereichen koͤnnte?


Auch auſſer dieſer Schule, wie jugend-
lich-lieb iſt mir Alles, was Leibnitz eh-
ret und in ſein Licht ſtellt! Jede Zeile,
die Kaͤſtner, in mancherlei Art und Form,
zur Ehre und zum Verſtaͤndniß ſeines
Landsmannes ſchrieb; von Cochius jede
kleine Abhandlung in der Akademie der
Wiſſenſchaften zu Berlin, (waͤren doch von
[51] ihm noch ungedruckte Abhandlungen vor-
handen!) ſind mir ſchoͤne Reſte von Phi-
loſophen der alten Zeit.


Hoͤren Sie was Leibnitz von ſeinem
Cenſorgeiſt ſaget: „Niemand hat weniger
Cenſorgeiſt, als ich habe. Sonderbar iſts;
aber mir gefaͤllt das Meiſte, was ich leſe.
Da ich naͤmlich weiß, wie verſchieden die
Sachen genommen werden, ſo faͤllt mir waͤh-
rend dem Leſen meiſtens bei, womit man den
Schriftſteller vertheidigen oder entſchuldi-
gen koͤnnte. Sehr ſelten iſts, daß mir im
Leſen etwas ganz misfaͤllt, obgleich frei-
lich dem Einen Dies, dem Andern Das
mehr gefallen moͤchte. — Ich bin einmal
ſo gebauet, daß ich allenthalben am lieb-
ſten aufſuche und bemerke, was Lobens-
werth iſt, nicht was Tadel verdienet.„
Koͤnnte der Geiſt der Philanthropie
ſelbſt billiger und milder denken?


[52]

Und doch, warum erfuhren eben die
friedliebenden, die billigſten Gemuͤther,
Erasmus, Grotius, Comenius,
Leibnitz ſo manchen uͤbeln Dank ihrer
Zeitgenoſſen? Die Urſache iſt leicht zu fin-
den: weil ſie Partheilos und jene mit Vor-
urtheilen befangene ſtreitende Partheien
waren. Dieſen gaben Unwiſſenheit, Ei-
gennutz, blindes Herkommen, gekraͤnkter
Stolz und zehn andre Furien das Streit-
gewehr oder den Dolch der Verlaͤumdung
in die Haͤnde; jene kaͤmpften friedlich hin-
ter dem Schilde der Wahrheit und Guͤte.
Der goldene Schild der Wahrheit und
Guͤte bleibt; ihre Streiter koͤnnen perſoͤn-
lich fallen, aber ihr Sieg iſt wachſend und
unſterblich.

Notes
*)
Briefe zur Befoͤrderung der Humanitaͤt.
Samml. 1. Br. 5.
**)
Winterthur 1791. 1793. von J. G. Muͤller.
*)
Lemgo 1774—1778.
*)
Memoires pour la Vie de Petrarque. Am-
ſterd. 1764.
3. Quartbaͤnde. Ihre Ueber-
ſetzung, Lemgo 1774. iſt ſehr gut und zweck-
maͤßig. A. d. H.
*)
Muͤllers Bekenntniſſe merkwuͤrdiger Maͤn-
ner, Bd. 2. S. 169. u. f.
*)
Comenii hiſt. fratrum Bohemorum:
accedit Ej. Panegerſia, de rerum huma-
nar. emendatione, edid. Buddeus Halae
1702.
Rieger in ſeiner Geſchichte der Boͤh-
miſchen Bruͤder fuͤhrt an, daß in der Wai-
ſenhausbibliothek zu Halle noch mehrere
Handſchriften von Comenius daſeyn ſollen;
waͤren nicht einige davon fuͤr unſre politiſch-
paͤdagogiſche Zeiten des Drucks werth?
A. d. H.
*)
Das Ende des 54ſten Briefes.
*)
Schmidts neuere Geſchichte der Deutſchen
B. 4. K. 9. u.
*)
Wegelin iſt ſeitdem geſtorben. Er ruhe
ſanft. Sein Geiſt hat viel gedacht, viel com-
biniret. Ich wuͤnſchte nicht, daß ſeine hin-
terlaſſenen Schriften untergingen; jeder ſei-
ner Aufſaͤtze iſt eine Sammlung unverarbei-
teter Gedanken, die wenigſtens immer eigne
Gedanken veranlaſſen, oder verbeſſern und
beſtaͤrken. Der große Koͤnig ſelbſt hat
ſeine Schriften geleſen und geehrt.
A. d. H.
*)
Schloͤzers allgemeines Staatsrecht. Goͤt-
tingen 1793.
*)
Beziehet ſich auf das Ende des 54ſten Briefes.
**)
Felleri Otium Hannov. p. 108.
*)
Epiſt. Leibnit. edit. Korthold. P. 1. p. 366.
Feller. ot. Hannov. p. 217.
*)
Feller. Ot. Hannov. p. 121.
*)
Feller. p. 412.
**)
Feller. 147.
*)
Feller. p. 27. an einen Englaͤnder.
*)
Feller. p. 19.
*)
Feller. p. 4. 5.
*)
Korthold. epiſt. Leibnit. T. i. p. 88.
*)
Feller. Ot. Hannov. p. 165.
*)
Korthold. epiſt. Leibn. Vol. III. p. 278.
*)
Korthold. epiſt. Leibn. Vol. III. p. 392.
*)
Murrs Journal zur Kunſtgeſchichte, Th. 7.
S. 123.
*)
Zur Erlaͤuterung dieſes Umſtandes wird in
den ſchaͤtzbaren Zuſaͤtzen zu Eckardts Lebens-
beſchreibung folgendes angegeben: „Der Koͤnig
war damals nicht mehr in Hannover. Der
Monarch ſtand eben nicht allzuwohl mit dem
Wiener Hofe und es mißfiel ihm, daß Leib-
nitz 1713 ohne Erlaubniß nach Wien gegan-
gen, und uͤber anderthalb Jahre außen blieb,
auch die Reichshofraths-Stelle angenommen
hatte. Se. Majeſtaͤt ſagten daher einſtmals,
da ein Huͤndchen, welches verlohren gegangen,
zu Hannover ausgetrommelt wurde, halb im
Scherz, halb im Ernſt: Ich muß wohl mei-
nen Leibnitz auch austrommeln laſ-
ſen, um zu erfahren, wo er jetzt ſtecken mag.“
— Eine merkwuͤrdige Erlaͤuterung.

License
CC-BY-4.0
Link to license

Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2025). Herder, Johann Gottfried von. Briefe zu Beförderung der Humanität. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bhx7.0