Wahlverwandtſchaften.
in der J. G. Cottaischen Buchhandlung.
1809.
Wahlverwandtſchaften.
I. 1
Erſtes Kapitel.
Eduard — ſo nennen wir einen reichen
Baron im beſten Mannesalter — Eduard
hatte in ſeiner Baumſchule die ſchoͤnſte Stun¬
de eines Aprilnachmittags zugebracht, um
friſch erhaltene Pfropfreiſer auf junge Staͤm¬
me zu bringen. Sein Geſchaͤft war eben
vollendet; er legte die Geraͤthſchaften in das
Futteral zuſammen und betrachtete ſeine Ar¬
beit mit Vergnuͤgen, als der Gaͤrtner hinzu¬
trat und ſich an dem theilnehmenden Fleiße
des Herrn ergetzte.
Haſt du meine Frau nicht geſehen? frag¬
te Eduard, indem er ſich weiter zu gehen an¬
ſchickte.
I *[4]
Druͤben in den neuen Anlagen, verſetzte
der Gaͤrtner. Die Mooshuͤtte wird heute
fertig, die ſie an der Felswand, dem Schloſ¬
ſe gegenuͤber gebaut hat. Alles iſt recht ſchoͤn
geworden und muß Ew. Gnaden gefallen.
Man hat einen vortrefflichen Anblick: unten
das Dorf, ein wenig rechter Hand die Kir¬
che, uͤber deren Thurmſpitze man faſt hin¬
wegſieht; gegenuͤber das Schloß und die
Gaͤrten.
Ganz recht, verſetzte Eduard; einige
Schritte von hier konnte ich die Leute arbei¬
ten ſehen.
Dann, fuhr der Gaͤrtner fort, oͤffnet ſich
rechts das Thal und man ſieht uͤber die rei¬
chen Baumwieſen in eine heitere Ferne. Der
Stieg die Felſen hinauf iſt gar huͤbſch ange¬
legt. Die gnaͤdige Frau verſteht es; man
arbeitet unter ihr mit Vergnuͤgen.
[5]
Geh zu ihr, ſagte Eduard, und erſuche
ſie, auf mich zu warten. Sage ihr, ich
wuͤnſche die neue Schoͤpfung zu ſehen und
mich daran zu erfreuen.
Der Gaͤrtner entfernte ſich eilig und
Eduard folgte bald.
Dieſer ſtieg nun die Terraſſen hinunter,
muſterte, im Vorbeygehen, Gewaͤchshaͤuſer
und Treibebeete, bis er ans Waſſer, dann
uͤber einen Steg an den Ort kam, wo ſich
der Pfad nach den neuen Anlagen in zwey
Arme theilte. Den einen, der uͤber den
Kirchhof ziemlich gerade nach der Felswand
hinging, ließ er liegen um den andern ein¬
zuſchlagen, der ſich links etwas weiter durch
anmuthiges Gebuͤſch ſachte hinaufwand; da
wo beyde zuſammentrafen, ſetzte er ſich fuͤr
einen Augenblick auf einer wohlangebrachten
Bank nieder, betrat ſodann den eigentlichen
Stieg, und ſah ſich durch allerley Treppen
[6] und Abſaͤtze, auf dem ſchmalen, bald mehr bald
weniger ſteilen Wege endlich zur Mooshuͤtte
geleitet.
An der Thuͤre empfing Charlotte ihren
Gemahl und ließ ihn dergeſtalt niederſitzen,
daß er durch Thuͤre und Fenſter die verſchie¬
denen Bilder, welche die Landſchaft gleichſam
im Rahmen zeigten, auf einen Blick uͤberſe¬
hen konnte. Er freute ſich daran, in Hoff¬
nung daß der Fruͤhling bald alles noch reich¬
licher beleben wuͤrde. Nur eines habe ich zu
erinnern, ſetzte er hinzu: die Huͤtte ſcheint
mir etwas zu eng.
Fuͤr uns beyde doch geraͤumig genug, ver¬
ſetzte Charlotte.
Nun freylich, ſagte Eduard, fuͤr einen
Dritten iſt auch wohl noch Platz.
Warum nicht? verſetzte Charlotte, und
[7] auch fuͤr ein Viertes. Fuͤr groͤßere Geſell¬
ſchaft wollen wir ſchon andere Stellen be¬
reiten.
Da wir denn ungeſtoͤrt hier allein ſind,
ſagte Eduard, und ganz ruhigen heiteren
Sinnes; ſo muß ich dir geſtehen, daß ich
ſchon einige Zeit etwas auf dem Herzen habe,
was ich dir vertrauen muß und moͤchte, und
nicht dazu kommen kann.
Ich habe dir ſo etwas angemerkt, ver¬
ſetzte Charlotte.
Und ich will nur geſtehen, fuhr Eduard
fort, wenn mich der Poſtbote morgen fruͤh
nicht draͤngte, wenn wir uns nicht heut ent¬
ſchließen muͤßten, ich haͤtte vielleicht noch laͤn¬
ger geſchwiegen.
Was iſt es denn? fragte Charlotte freund¬
lich entgegenkommend.
[8]
Es betrifft unſern Freund, den Haupt¬
mann, antwortete Eduard. Du kennſt die
traurige Lage, in die er, wie ſo mancher an¬
dere, ohne ſein Verſchulden geſetzt iſt. Wie
ſchmerzlich muß es einem Manne von ſeinen
Kenntniſſen, ſeinen Talenten und Fertigkeiten
ſeyn, ſich außer Thaͤtigkeit zu ſehen und —
ich will nicht lange zuruͤckhalten mit dem was
ich fuͤr ihn wuͤnſche: ich moͤchte daß wir ihn
auf einige Zeit zu uns naͤhmen.
Das iſt wohl zu uͤberlegen und von mehr
als einer Seite zu betrachten, verſetzte Char¬
lotte.
Meine Anſichten bin ich bereit dir mitzu¬
theilen, entgegnete ihr Eduard. In ſeinem
letzten Briefe herrſcht ein ſtiller Ausdruck des
tiefſten Mismuthes; nicht daß es ihm an ir¬
gend einem Beduͤrfniß fehle: denn er weiß ſich
durchaus zu beſchraͤnken und fuͤr das Nothwen¬
dige habe ich geſorgt; auch druͤckt es ihn nicht
[9] etwas von mir anzunehmen: denn wir ſind
unſre Lebzeit uͤber einander wechſelſeitig ſo viel
ſchuldig geworden, daß wir nicht berechnen
koͤnnen, wie unſer Credit und Debet ſich ge¬
gen einander verhalte — daß er geſchaͤftlos iſt,
das iſt eigentlich ſeine Qual. Das Vielfache,
was er an ſich ausgebildet hat, zu Andrer
Nutzen taͤglich und ſtuͤndlich zu gebrauchen,
iſt ganz allein ſein Vergnuͤgen, ja ſeine Lei¬
denſchaft. Und nun die Haͤnde in den Schoos
zu legen, oder noch weiter zu ſtudiren, ſich wei¬
tere Geſchicklichkeit zu verſchaffen, da er das
nicht brauchen kann, was er in vollem Maa¬
ße beſitzt — genug, liebes Kind, es iſt eine
peinliche Lage, deren Qual er doppelt und
dreyfach in ſeiner Einſamkeit empfindet.
Ich dachte doch, ſagte Charlotte, ihm
waͤren von verſchiedenen Orten Anerbietun¬
gen geſchehen. Ich hatte ſelbſt, um ſeinet¬
willen, an manche thaͤtige Freunde und Freun¬
dinnen geſchrieben, und ſoviel ich weiß, blieb
dieß auch nicht ohne Wirkung.
[10]
Ganz recht, verſetzte Eduard; aber ſelbſt
dieſe verſchiedenen Gelegenheiten, dieſe An¬
erbietungen machen ihm neue Qual, neue Un¬
ruhe. Keines von den Verhaͤltniſſen iſt ihm
gemaͤß. Er ſoll nicht wirken; er ſoll ſich auf¬
opfern, ſeine Zeit, ſeine Geſinnungen, ſeine
Art zu ſeyn, und das iſt ihm unmoͤglich.
Jemehr ich das alles betrachte, jemehr ich
es fuͤhle, deſto lebhafter wird der Wunſch
ihn bey uns zu ſehen.
Es iſt recht ſchoͤn und liebenswuͤrdig von
dir, verſetzte Charlotte, daß du des Freundes
Zuſtand mit ſo viel Theilnahme bedenkſt; al¬
lein erlaube mir dich aufzufordern, auch dei¬
ner, auch unſer zu gedenken.
Das habe ich gethan, entgegnete ihr
Eduard. Wir koͤnnen von ſeiner Naͤhe uns
nur Vortheil und Annehmlichkeit verſprechen.
Von dem Aufwande will ich nicht reden, der
auf alle Faͤlle gering fuͤr mich wird, wenn er
[11] zu uns zieht; beſonders wenn ich zugleich be¬
denke, daß uns ſeine Gegenwart nicht die
mindeſte Unbequemlichkeit verurſacht. Auf
dem rechten Fluͤgel des Schloſſes kann er
wohnen, und alles andre findet ſich. Wie viel
wird ihm dadurch geleiſtet, und wie manches
Angenehme wird uns durch ſeinen Umgang,
ja wie mancher Vortheil! Ich haͤtte laͤngſt ei¬
ne Ausmeſſung des Gutes und der Gegend ge¬
wuͤnſcht; er wird ſie beſorgen und leiten.
Deine Abſicht iſt, ſelbſt die Guͤter kuͤnftig zu
verwalten, ſobald die Jahre der gegenwaͤrtigen
Paͤchter verfloſſen ſind. Wie bedenklich iſt
ein ſolches Unternehmen! Zu wie manchen
Vorkenntniſſen kann er uns nicht verhelfen!
Ich fuͤhle nur zu ſehr, daß mir ein Mann die¬
ſer Art abgeht. Die Landleute haben die
rechten Kenntniſſe; ihre Mittheilungen aber
ſind confus und nicht ehrlich. Die Studirten
aus der Stadt und von den Akademieen ſind
wohl klar und ordentlich; aber es fehlt an der
unmittelbaren Einſicht in die Sache. Vom
[12] Freunde kann ich mir beydes verſprechen; und
dann entſpringen noch hundert andre Verhaͤlt¬
niſſe daraus, die ich mir alle gern vorſtellen
mag, die auch auf dich Bezug haben und wo¬
von ich viel Gutes vorausſehe. Nun danke
ich dir, daß du mich freundlich angehoͤrt haſt;
itzt ſprich aber auch recht frey und umſtaͤndlich
und ſage mir alles was du zu ſagen haſt, ich
will dich nicht unterbrechen.
Recht gut, verſetzte Charlotte: ſo will ich
gleich mit einer allgemeinen Bemerkung anfan¬
gen. Die Maͤnner denken mehr auf das
Einzelne, auf das Gegenwaͤrtige, und das
mit Recht, weil ſie zu thun, zu wirken beru¬
fen ſind; die Weiber hingegen mehr auf das
was im Leben zuſammenhaͤngt, und das mit
gleichem Rechte, weil ihr Schickſal, das
Schickſal ihrer Familien, an dieſen Zuſammen¬
hang geknuͤpft iſt, und auch gerade dieſes Zu¬
ſammenhaͤngende von ihnen gefordert wird.
Laß uns deswegen einen Blick auf unſer ge¬
[13] genwaͤrtiges, auf unſer vergangenes Leben
werfen, und du wirſt mir eingeſtehen, daß
die Berufung des Hauptmanns nicht ſo ganz
mit unſern Vorſaͤtzen, unſern Planen, unſern
Einrichtungen zuſammentrifft.
Mag ich doch ſo gern unſerer fruͤhſten
Verhaͤltniſſe gedenken! Wir liebten einander
als junge Leute recht herzlich; wir wurden
getrennt: du von mir, weil dein Vater, aus
nie zu ſaͤttigender Begierde des Beſitzes, dich
mit einer ziemlich aͤlteren reichen Frau ver¬
band; ich von dir, weil ich, ohne ſonderli¬
che Ausſichten, einem wohlhabenden, nicht ge¬
liebten aber geehrten Manne meine Hand rei¬
chen mußte. Wir wurden wieder frey; du
fruͤher, indem dich dein Muͤtterchen im Beſitz
eines großen Vermoͤgens ließ; ich ſpaͤter, eben
zu der Zeit, da du von Reiſen zuruͤckkamſt.
So fanden wir uns wieder. Wir freuten uns
der Erinnerung, wir liebten die Erinnerung,
wir konnten ungeſtoͤrt zuſammen leben. Du
[14] drangſt auf eine Verbindung; ich willigte nicht
gleich: denn da wir ohngefaͤhr von denſelben
Jahren ſind, ſo bin ich als Frau wohl aͤlter
geworden, du nicht als Mann. Zuletzt wollte
ich dir nicht verſagen, was du fuͤr dein einzi¬
ges Gluͤck zu halten ſchienſt. Du wollteſt von
allen Unruhen, die du bey Hof, im Militaͤr,
auf Reiſen erlebt hatteſt, dich an meiner Sei¬
te erhohlen, zur Beſinnung kommen, des Le¬
bens genießen; aber auch nur mit mir allein.
Meine einzige Tochter that ich in Penſion,
wo ſie ſich freylich mannigfaltiger ausbildet,
als bey einem laͤndlichen Aufenthalte geſchehen
koͤnnte; und nicht ſie allein, auch Ottilien,
meine liebe Nichte, that ich dorthin, die
vielleicht zur haͤuslichen Gehuͤlfinn unter mei¬
ner Anleitung am beſten herangewachſen waͤre.
Das alles geſchah mit deiner Einſtimmung,
bloß damit wir uns ſelbſt leben, bloß damit
wir das fruͤh ſo ſehnlich gewuͤnſchte, endlich
ſpaͤt erlangte Gluͤck ungeſtoͤrt genießen moͤchten.
So haben wir unſern laͤndlichen Aufenthalt
[15] angetreten. Ich uͤbernahm das Innere, du
das Aeußere und was ins Ganze geht. Meine
Einrichtung iſt gemacht, dir in allem entgegen
zu kommen, nur fuͤr dich allein zu leben; laß
uns wenigſtens eine Zeit lang verſuchen, in wie
fern wir auf dieſe Weiſe mit einander aus¬
reichen.
Da das Zuſammenhaͤngende, wie du ſagſt,
eigentlich euer Element iſt, verſetzte Eduard;
ſo muß man euch freylich nicht in einer Fol¬
ge reden hoͤren, oder ſich entſchließen euch
Recht zu geben, und du ſollſt auch Recht ha¬
ben bis auf den heutigen Tag. Die Anlage,
die wir bis jetzt zu unſerm Daſeyn gemacht
haben, iſt von guter Art; ſollen wir aber
nichts weiter darauf bauen, und ſoll ſich nichts
weiter daraus entwickeln? Was ich im Gar¬
ten leiſte, du im Park, ſoll das nur fuͤr Ein¬
ſiedler gethan ſeyn?
Recht gut! verſetzte Charlotte, recht wohl!
[16] Nur daß wir nichts hinderndes, fremdes her¬
ein bringen. Bedenke, daß unſre Vorſaͤtze,
auch was die Unterhaltung betrifft, ſich ge¬
wiſſermaßen nur auf unſer beyderſeitiges Zu¬
ſammenſeyn bezogen. Du wollteſt zuerſt die
Tagebuͤcher deiner Reiſe mir in ordentlicher
Folge mittheilen, bey dieſer Gelegenheit ſo
manches dahin gehoͤrige von Papieren in Ord¬
nung bringen, und unter meiner Theilnahme,
mit meiner Beyhuͤlfe, aus dieſen unſchaͤtzba¬
ren aber verworrenen Heften und Blaͤttern
ein fuͤr uns und andre erfreuliches Ganze zu¬
ſammenſtellen. Ich verſprach dir an der Ab¬
ſchrift zu helfen, und wir dachten es uns ſo
bequem, ſo artig, ſo gemuͤthlich und heimlich,
die Welt, die wir zuſammen nicht ſehen ſoll¬
ten, in der Erinnerung zu durchreiſen. Ja
der Anfang iſt ſchon gemacht. Dann haſt du
die Abende deine Floͤte wieder vorgenommen,
begleiteſt mich am Clavier; und an Beſuchen
aus der Nachbarſchaft und in die Nachbar¬
ſchaft fehlt es uns nicht. Ich wenigſtens ha¬
[17] be mir aus allem dieſem den erſten wahrhaft
froͤhlichen Sommer zuſammengebaut, den ich
in meinem Leben zu genießen dachte.
Wenn mir nur nicht, verſetzte Eduard in¬
dem er ſich die Stirne rieb, bey alle dem,
was du mir ſo liebe oll und verſtaͤndig wie¬
derhohlſt, immer der Gedanke beyginge, durch
die Gegenwart des Hauptmanns wuͤrde nichts
geſtoͤrt, ja vielmehr alles beſchleunigt und neu
belebt. Auch er hat einen Theil meiner
Wanderungen mitgemacht; auch er hat man¬
ches, und in verſchiedenem Sinne, ſich ange¬
merkt: wir benutzten das zuſammen, und als¬
dann wuͤrde es erſt ein huͤbſches Ganze wer¬
den.
So laß mich denn dir aufrichtig geſtehen,
entgegnete Charlotte mit einiger Ungeduld,
daß dieſem Vorhaben mein Gefuͤhl wider¬
ſpricht, daß eine Ahndung mir nichts Gutes
weiſſagt.
I. 2[18]
Auf dieſe Weiſe waͤret Ihr Frauen wohl
unuͤberwindlich, verſetzte Eduard: erſt verſtaͤn¬
dig, daß man nicht widerſprechen kann, liebe¬
voll, daß man ſich gern hingiebt, gefuͤhlvoll,
daß man Euch nicht weh thun mag, ahndungs¬
voll, daß man erſchrickt.
Ich bin nicht aberglaͤubiſch, verſetzte Char¬
lotte, und gebe nichts auf dieſe dunklen An¬
regungen, inſofern ſie nur ſolche waͤren; aber
es ſind meiſtentheils unbewußte Erinnerungen
gluͤcklicher und ungluͤcklicher Folgen, die wir
an eigenen oder fremden Handlungen erlebt
haben. Nichts iſt bedeutender in jedem Zu¬
ſtande, als die Dazwiſchenkunft eines Dritten.
Ich habe Freunde geſehen, Geſchwiſter, Lie¬
bende, Gatten, deren Verhaͤltniß durch den
zufaͤlligen oder gewaͤhlten Hinzutritt einer
neuen Perſon ganz und gar veraͤndert, deren
Lage voͤllig umgekehrt worden.
Das kann wohl geſchehen, verſetzte Edu¬
[19] ard, bey Menſchen, die nur dunkel vor ſich
hin leben, nicht bey ſolchen, die ſchon durch
Erfahrung aufgeklaͤrt ſich mehr bewußt ſind.
Das Bewußtſeyn, mein Liebſter, entgeg¬
nete Charlotte, iſt keine hinlaͤngliche Waffe,
ja manchmal eine gefaͤhrliche, fuͤr den der ſie
fuͤhrt; und aus dieſem allen tritt wenigſtens
ſo viel hervor, daß wir uns ja nicht uͤberei¬
len ſollen. Goͤnne mir noch einige Tage, ent¬
ſcheide nicht!
Wie die Sache ſteht, erwiederte Eduard,
werden wir uns, auch nach mehreren Tagen,
immer uͤbereilen. Die Gruͤnde fuͤr und da¬
gegen haben wir wechſelsweiſe vorgebracht; es
kommt auf den Entſchluß an, und da waͤr' es
wirklich das beſte, wir gaͤben ihn dem Loos
anheim.
Ich weiß, verſetzte Charlotte, daß du in
zweifelhaften Faͤllen gerne wetteſt oder wuͤr¬
2 *[20] felſt; bey einer ſo ernſthaften Sache hinge¬
gen wuͤrde ich dieß fuͤr einen Frevel halten.
Was ſoll ich aber dem Hauptmann ſchrei¬
ben? rief Eduard aus: denn ich muß mich
gleich hinſetzen.
Einen ruhigen, vernuͤnftigen, troͤſtlichen
Brief, ſagte Charlotte.
Das heißt ſoviel wie keinen, verſetzte
Eduard.
Und doch iſt es in manchen Faͤllen, ver¬
ſetzte Charlotte, nothwendig und freundlich lie¬
ber Nichts zu ſchreiben als nicht zu ſchreiben.
Zweytes Kapitel.
Eduard fand ſich allein auf ſeinem Zim¬
mer, und wirklich hatte die Wiederhohlung
ſeiner Lebensſchickſale aus dem Munde Char¬
lottens, die Vergegenwaͤrtigung ihres beyder¬
ſeitigen Zuſtandes, ihrer Vorſaͤtze, ſein leb¬
haftes Gemuͤth angenehm aufgeregt. Er hatte
ſich in ihrer Naͤhe, in ihrer Geſellſchaft ſo
gluͤcklich gefuͤhlt, daß er ſich einen freund¬
lichen, theilnehmenden, aber ruhigen und auf
nichts hindeutenden Brief an den Hauptmann
ausdachte. Als er aber zum Schreibtiſch ging
und den Brief des Freundes aufnahm, um
ihn nochmals durchzuleſen, trat ihm ſogleich
wieder der traurige Zuſtand des trefflichen
Mannes entgegen; alle Empfindungen, die ihn
[22] dieſe Tage gepeinigt hatten, wachten wieder
auf, und es ſchien ihm unmoͤglich, ſeinen
Freund einer ſo aͤngſtlichen Lage zu uͤberlaſſen.
Sich etwas zu verſagen, war Eduard
nicht gewohnt. Von Jugend auf das einzige,
verzogene Kind reicher Aeltern, die ihn zu
einer ſeltſamen aber hoͤchſt vortheilhaften Hei¬
rat mit einer viel aͤltern Frau zu bereden
wußten, von dieſer auch auf alle Weiſe ver¬
zaͤrtelt, indem ſie ſein gutes Betragen gegen
ſie durch die groͤßte Freygebigkeit zu erwiedern
ſuchte, nach ihrem baldigen Tode ſein eigener
Herr, auf Reiſen unabhaͤngig, jeder Abwech¬
ſelung jeder Veraͤnderung maͤchtig, nichts Ue¬
bertriebenes wollend, aber viel und vielerley
wollend, freymuͤthig, wohlthaͤtig, brav, ja
tapfer im Fall — was konnte in der Welt
ſeinen Wuͤnſchen entgegenſtehen!
Bisher war alles nach ſeinem Sinne ge¬
gangen, auch zum Beſitz Charlottens war er
[23] gelangt, den er ſich durch eine hartnaͤckige, ja
romanenhafte Treue doch zuletzt erworben
hatte; und nun fuͤhlte er ſich zum erſtenmal
widerſprochen, zum erſtenmal gehindert, eben
da er ſeinen Jugendfreund an ſich heranziehen,
da er ſein ganzes Daſeyn gleichſam abſchlie¬
ßen wollte. Er war verdrießlich, ungeduldig,
nahm einigemal die Feder und legte ſie nie¬
der, weil er nicht einig mit ſich werden konnte,
was er ſchreiben ſollte. Gegen die Wuͤnſche
ſeiner [Frau] wollte er nicht, nach ihrem Ver¬
langen konnte er nicht; unruhig wie er war
ſollte er einen ruhigen Brief ſchreiben, es
waͤre ihm ganz unmoͤglich geweſen. Das na¬
tuͤrlichſte war, daß er Aufſchub ſuchte. Mit
wenig Worten bat er ſeinen Freund um Ver¬
zeihung, daß er dieſe Tage nicht geſchrieben,
daß er heut nicht umſtaͤndlich ſchreibe, und
verſprach fuͤr naͤchſtens ein bedeutenderes, ein
beruhigendes Blatt.
Charlotte benutzte des andern Tags auf
einem Spaziergang nach derſelben Stelle die
[24] Gelegenheit das Geſpraͤch wieder anzuknuͤpfen,
vielleicht in der Ueberzeugung, daß man einen
Vorſatz nicht ſichrer abſtumpfen kann, als wenn
man ihn oͤfters durchſpricht.
Eduarden war dieſe Wiederhohlung er¬
wuͤnſcht. Er aͤußerte ſich nach ſeiner Weiſe
freundlich und angenehm: denn wenn er, em¬
pfaͤnglich wie er war, leicht aufloderte, wenn
ſein lebhaftes Begehren zudringlich ward, wenn
ſeine Hartnaͤckigkeit ungeduldig machen konnte;
ſo waren doch alle ſeine Aeußerungen durch
eine vollkommene Schonung des andern der¬
geſtalt gemildert, daß man ihn immer noch
liebenswuͤrdig finden mußte, wenn man ihn
auch beſchwerlich fand.
Auf eine ſolche Weiſe brachte er Char¬
lotten dieſen Morgen erſt in die heiterſte Lau¬
ne, dann durch anmuthige Geſpraͤchswendun¬
gen ganz aus der Faſſung, ſo daß ſie zuletzt
ausrief: Du willſt gewiß, daß ich das was
[25] ich dem Ehmann verſagte, dem Liebhaber zu¬
geſtehen ſoll.
Wenigſtens, mein Lieber, fuhr ſie fort,
ſollſt du gewahr werden, daß deine Wuͤnſche,
die freundliche Lebhaftigkeit womit du ſie aus¬
druͤckſt, mich nicht ungeruͤhrt, mich nicht un¬
bewegt laſſen. Sie noͤthigen mich zu einem
Geſtaͤndniß. Ich habe dir bisher auch etwas
verborgen. Ich befinde mich in einer aͤhnli¬
chen Lage wie du, und habe mir ſchon eben
die Gewalt angethan, die ich dir nun uͤber
dich ſelbſt zumuthe.
Das hoͤr' ich gern, ſagte Eduard; ich
merke wohl, im Ehſtande muß man ſich
manchmal ſtreiten, denn dadurch erfaͤhrt man
was von einander.
Nun ſollſt du alſo erfahren, ſagte Char¬
lotte, daß es mir mit Ottilien geht, wie dir
mit dem Hauptmann. Hoͤchſt ungern weiß ich
[26] das liebe Kind in der Penſion, wo ſie ſich in
ſehr druͤckenden Verhaͤltniſſen befindet. Wenn
Luciane, meine Tochter, die fuͤr die Welt ge¬
boren iſt, ſich dort fuͤr die Welt bildet, wenn
ſie Sprachen, Geſchichtliches und was ſonſt
von Kenntniſſen ihr mitgetheilt wird, ſo wie
ihre Noten und Variationen vom Blatte weg¬
ſpielt; wenn bey einer lebhaften Natur und
bey einem gluͤcklichen Gedaͤchtniß ſie, man
moͤchte wohl ſagen, alles vergißt und im Au¬
genblicke ſich an alles erinnert; wenn ſie
durch Freyheit des Betragens, Anmuth im
Tanze, ſchickliche Bequemlichkeit des Geſpraͤchs
ſich vor allen auszeichnet, und durch ein an¬
gebornes herrſchendes Weſen ſich zur Koͤniginn
des kleinen Kreiſes macht; wenn die Vorſte¬
herinn dieſer Anſtalt ſie als eine kleine Gott¬
heit anſieht, die nun erſt unter ihren Haͤnden
recht gedeiht, die ihr Ehre machen, Zutrauen
erwerben und einen Zufluß von andern jungen
Perſonen verſchaffen wird; wenn die erſten
Seiten ihrer Briefe und Monatsberichte im¬
[27] mer nur Hymnen ſind uͤber die Vortrefflichkeit
eines ſolchen Kindes, die ich denn recht gut
in meine Proſe zu uͤberſetzen weiß: ſo iſt da¬
gegen, was ſie ſchließlich von Ottilien er¬
waͤhnt, nur immer Entſchuldigung auf Ent¬
ſchuldigung, daß ein uͤbrigens ſo ſchoͤn heran¬
wachſendes Maͤdchen ſich nicht entwickeln, keine
Faͤhigkeiten und keine Fertigkeiten zeigen wolle.
Das wenige was ſie ſonſt noch hinzufuͤgt iſt
gleichfalls fuͤr mich kein Raͤthſel, weil ich in
dieſem lieben Kinde den ganzen Character ih¬
rer Mutter, meiner wertheſten Freundinn,
gewahr werde, die ſich neben mir entwickelt
hat und deren Tochter ich gewiß, wenn ich
Erzieherinn oder Aufſeherinn ſeyn koͤnnte, zu
einem herrlichen Geſchoͤpf heraufbilden wollte.
Da es aber einmal nicht in unſern Plan
geht, und man an ſeinen Lebensverhaͤltniſſen
nicht ſo viel zupfen und zerren, nicht immer
was neues an ſie heranziehen ſoll; ſo trag ich
das lieber, ja ich uͤberwinde die unangenehme
[28] Empfindung, wenn meine Tochter, welche recht
gut weiß, daß die arme Ottilie ganz von uns
abhaͤngt, ſich ihrer Vortheile uͤbermuͤthig gegen
ſie bedient, und unſre Wohlthat dadurch ge¬
wiſſermaßen vernichtet.
Doch wer iſt ſo gebildet, daß er nicht
ſeine Vorzuͤge gegen andre manchmal auf eine
grauſame Weiſe geltend machte? Wer ſteht ſo
hoch, daß er unter einem ſolchen Druck nicht
manchmal leiden muͤßte? Durch dieſe Pruͤfun¬
gen waͤchſt Ottiliens Werth; aber ſeitdem ich
den peinlichen Zuſtand recht deutlich einſehe,
habe ich mir Muͤhe gegeben, ſie anderwaͤrts
unterzubringen. Stuͤndlich ſoll mir eine Ant¬
wort kommen, und alsdann will ich nicht zau¬
dern. So ſteht es mit mir, mein Beſter.
Du ſiehſt, wir tragen beyderſeits dieſelben
Sorgen in einem treuen freundſchaftlichen Her¬
zen. Laß uns ſie gemeinſam tragen, da ſie
ſich nicht gegeneinander aufheben.
[29]
Wir ſind wunderliche Menſchen, ſagte
Eduard laͤchelnd. Wenn wir nur etwas das
uns Sorge macht, aus unſerer Gegenwart
verbannen koͤnnen, da glauben wir ſchon,
nun ſey es abgethan. Im Ganzen koͤn¬
nen wir vieles aufopfern, aber uns im Ein¬
zelnen herzugeben, iſt eine Forderung, der wir
ſelten gewachſen ſind. So war meine Mut¬
ter. So lange ich als Knabe oder Juͤngling
bey ihr lebte, konnte ſie der augenblicklichen
Beſorgniſſe nicht los werden. Verſpaͤtete ich
mich bey einem Ausritt, ſo mußte mir ein
Ungluͤck begegnet ſeyn; durchnetzte mich ein
Regenſchauer, ſo war das Fieber mir gewiß.
Ich verreiſte, ich entfernte mich von ihr, und
nun ſchien ich ihr kaum anzugehoͤren.
Betrachten wir es genauer, fuhr er fort,
ſo handeln wir beyde thoͤrigt und unverant¬
wortlich, zwey der edelſten Naturen, die unſer
Herz ſo nahe angehen, im Kummer und im
Druck zu laſſen, nur um uns keiner Ge¬
[30] fahr auszuſetzen. Wenn dieß nicht ſelbſtſuͤchtig
genannt werden ſoll, was will man ſo nen¬
nen! Nimm Ottilien, laß mir den Haupt¬
mann, und in Gottes Namen ſey der Ver¬
ſuch gemacht!
Es moͤchte noch zu wagen ſeyn, ſagte Char¬
lotte bedenklich, wenn die Gefahr fuͤr uns
allein waͤre. Glaubſt du denn aber, daß es
raͤthlich ſey, den Hauptmann mit Ottilien als
Hausgenoſſen zu ſehen, einen Mann ohnge¬
faͤhr in deinen Jahren, in den Jahren — daß
ich dir dieſes Schmeichelhafte nur gerade unter
die Augen ſage — wo der Mann erſt liebe¬
faͤhig und erſt der Liebe werth wird, und ein
Maͤdchen von Ottiliens Vorzuͤgen? —
Ich weiß doch auch nicht, verſetzte
Eduard, wie du Ottilien ſo hoch ſtellen kannſt!
Nur dadurch erklaͤre ich mir's, daß ſie deine
Neigung zu ihrer Mutter geerbt hat. Huͤbſch
iſt ſie, das iſt wahr, und ich erinnre mich,
[31] daß der Hauptmann mich auf ſie aufmerkſam
machte, als wir vor einem Jahre zuruͤckkamen
und ſie mit dir bey deiner Tante trafen.
Huͤbſch iſt ſie, beſonders hat ſie ſchoͤne Augen;
aber ich wuͤßte doch nicht, daß ſie den min¬
deſten Eindruck auf mich gemacht haͤtte.
Das iſt loͤblich an dir, ſagte Charlotte,
denn ich war ja gegenwaͤrtig; und ob ſie gleich
viel juͤnger iſt als ich, ſo hatte doch die Ge¬
genwart der aͤltern Freundinn ſo viele Reize
fuͤr dich, daß du uͤber die aufbluͤhende ver¬
ſprechende Schoͤnheit hinausſaheſt. Es gehoͤrt
auch dieß zu deiner Art zu ſeyn, deshalb ich
ſo gern das Leben mit dir theile.
Charlotte, ſo aufrichtig ſie zu ſprechen
ſchien, verhehlte doch etwas. Sie hatte
naͤmlich damals dem von Reiſen zuruͤckkehren¬
den Eduard Ottilien abſichtlich vorgefuͤhrt,
um dieſer geliebten Pflegetochter eine ſo gro¬
ße Parthie zuzuwenden: denn an ſich ſelbſt,
[32] in Bezug auf Eduard, dachte ſie nicht mehr.
Der Hauptmann war auch angeſtiftet, Eduar¬
den aufmerkſam zu machen; aber dieſer, der
ſeine fruͤhe Liebe zu Charlotten hartnaͤckig im
Sinne behielt, ſah weder rechts noch links,
und war nur gluͤcklich in dem Gefuͤhl, daß
es moͤglich ſey, eines ſo lebhaft gewuͤnſchten
und durch eine Reihe von Ereigniſſen ſchein¬
bar auf immer verſagten Gutes endlich doch
theilhaft zu werden.
Eben ſtand das Ehpaar im Begriff die
neuen Anlagen herunter nach dem Schloſſe zu
gehen, als ein Bedienter ihnen haſtig entge¬
gen ſtieg und mit lachendem Munde ſich ſchon
von unten herauf vernehmen ließ. Kommen
Ew. Gnaden doch ja ſchnell heruͤber! Herr
Mittler iſt in den Schloßhof geſprengt. Er
hat uns alle zuſammengeſchrieen, wir ſollen
Sie aufſuchen, wir ſollen Sie fragen, ob es
Noth thue? Ob es Noth thut, rief er uns
nach: Hoͤrt ihr? aber geſchwind, geſchwind!
[33]
Der drollige Mann! rief Eduard aus:
kommt er nicht gerade zur rechten Zeit, Char¬
lotte? Geſchwind zuruͤck! befahl er dem Be¬
dienten: ſage ihm: es thue Noth, ſehr
Noth! Er ſoll nur abſteigen. Verſorgt ſein
Pferd, fuͤhrt ihn in den Saal, ſetzt ihm ein
Fruͤhſtuͤck vor; wir kommen gleich.
Laß uns den naͤchſten Weg nehmen, ſagte
er zu ſeiner Frau, und ſchlug den Pfad uͤber
den Kirchhof ein, den er ſonſt zu vermeiden
pflegte. Aber wie verwundert war er, als
er fand, daß Charlotte auch hier fuͤr das
Gefuͤhl geſorgt habe. Mit moͤglichſter Scho¬
nung der alten Denkmaͤler hatte ſie alles ſo
zu vergleichen und zu ordnen gewußt, daß
es ein angenehmer Raum erſchien, auf dem
das Auge und die Einbildungskraft gern ver¬
weilte.
Auch dem aͤlteſten Stein hatte ſie ſeine
Ehre gegoͤnnt. Den Jahren nach waren ſie
I. 3[34] an der Mauer aufgerichtet, eingefuͤgt oder
ſonſt angebracht; der hohe Sockel der Kirche
ſelbſt war damit vermannigfaltigt und geziert.
Eduard fuͤhlte ſich ſonderbar uͤberraſcht, wie
er durch die kleine Pforte herein trat; er
druͤckte Charlotten die Hand und im Auge ſtand
ihm eine Thraͤne.
Aber der naͤrriſche Gaſt verſcheuchte ſie
gleich. Denn dieſer hatte keine Ruh im
Schloß gehabt, war ſpornſtreichs durchs Dorf
bis an das Kirchhofthor geritten, wo er ſtill
hielt und ſeinen Freunden entgegen rief: Ihr
habt mich doch nicht zum beſten? Thut's
wirklich Noth, ſo bleibe ich zu Mittage hier.
Haltet mich nicht auf: ich habe heute noch
viel zu thun.
Da Ihr Euch ſo weit bemuͤht habt, rief
ihm Eduard entgegen; ſo reitet noch vollends
herein, wir kommen an einem ernſthaften Orte
[35] zuſammen, und ſeht wie ſchoͤn Charlotte dieſe
Trauer ausgeſchmuͤckt hat.
Hier herein, rief der Reiter, komm' ich
weder zu Pferde, noch zu Wagen, noch zu
Fuße. Dieſe da ruhen in Frieden, mit ihnen
habe ich nichts zu ſchaffen. Gefallen muß
ich mir's laſſen, wenn man mich einmal
die Fuͤße voran hereinſchleppt. Alſo iſt's
Ernſt?
Ja, rief Charlotte, recht Ernſt! Es iſt
das erſtemal, daß wir neue Gatten in Noth
und Verwirrung ſind, woraus wir uns nicht
zu helfen wiſſen.
Ihr ſeht nicht darnach aus, verſetzte er:
doch will ich's glauben. Fuͤhrt Ihr mich an,
ſo laß ich Euch kuͤnftig ſtecken. Folgt ge¬
ſchwinde nach; meinem Pferde mag die Er¬
hohlung zu gut kommen.
3 *[36]
Bald fanden ſich die Dreye im Saale zu¬
ſammen; das Eſſen ward aufgetragen, und
Mittler erzaͤhlte von ſeinen heutigen Thaten
und Vorhaben. Dieſer ſeltſame Mann war
fruͤherhin Geiſtlicher geweſen und hatte ſich
bey einer raſtloſen Thaͤtigkeit in ſeinem Amte
dadurch ausgezeichnet, daß er alle Streitig¬
keiten, ſowohl die haͤuslichen, als die nach¬
barlichen, erſt der einzelnen Bewohner, ſo¬
dann ganzer Gemeinden und mehrerer Guts¬
beſitzer, zu ſtillen und zu ſchlichten wußte.
So lange er im Dienſte war, hatte ſich kein
Ehpaar ſcheiden laſſen, und die Landescolle¬
gien wurden mit keinen Haͤndeln und Pro¬
ceſſen von dorther behelliget. Wie noͤthig
ihm die Rechtskunde ſey, ward er zeitig ge¬
wahr. Er warf ſein ganzes Studium darauf,
und fuͤhlte ſich bald den geſchickteſten Advoca¬
ten gewachſen. Sein Wirkungskreis dehnte
ſich wunderbar aus, und man war im Be¬
griff ihn nach der Reſidenz zu ziehen, um
das von oben herein zu vollenden, was er
[37] von unten herauf begonnen hatte, als er
einen anſehnlichen Lotteriegewinnſt that, ſich
ein maͤßiges Gut kaufte, es verpachtete und
zum Mittelpunct ſeiner Wirkſamkeit machte,
mit dem feſten Vorſatz, oder vielmehr nach
alter Gewohnheit und Neigung, in keinem
Hauſe zu verweilen, wo nichts zu ſchlichten
und nichts zu helfen waͤre. Diejenigen die
auf Namensbedeutungen aberglaͤubiſch ſind,
behaupten, der Name Mittler habe ihn ge¬
noͤthigt, dieſe ſeltſamſte aller Beſtimmungen
zu ergreifen.
Der Nachtiſch war aufgetragen, als der
Gaſt ſeine Wirthe ernſtlich vermahnte, nicht
weiter mit ihren Entdeckungen zuruͤckzuhalten,
weil er gleich nach dem Kaffee fortmuͤſſe.
Die beyden Ehleute machten umſtaͤndlich ihre
Bekenntniſſe; aber kaum hatte er den Sinn
der Sache vernommen, als er verdrießlich
vom Tiſche auffuhr, ans Fenſter ſprang und
ſein Pferd zu ſatteln befahl.
[38]
Entweder Ihr kennt mich nicht, rief er
aus, Ihr verſteht mich nicht, oder Ihr ſeyd
ſehr boshaft. Iſt denn hier ein Streit? iſt
denn hier eine Huͤlfe noͤthig? Glaubt Ihr,
daß ich in der Welt bin, um Rath zu ge¬
ben? Das iſt das duͤmmſte Handwerk das
einer treiben kann. Rathe ſich jeder ſelbſt
und thue was er nicht laſſen kann. Geraͤth
es gut, ſo freue er ſich ſeiner Weisheit und
ſeines Gluͤcks; laͤuft's uͤbel ab, dann bin ich
bey der Hand. Wer ein Uebel los ſeyn will,
der weiß immer was er will; wer was beſ¬
ſers will als er hat, der iſt ganz ſtaarblind
— Ja ja! lacht nur — er ſpielt Blindekuh,
er ertappt's vielleicht; aber was? Thut was
Ihr wollt: es iſt ganz einerley! Nehmt die
Freunde zu Euch, laßt ſie weg: alles einerley!
Das Vernuͤnftigſte habe ich mislingen ſehen,
das Abgeſchmackteſte gelingen. Zerbrecht Euch
die Koͤpfe nicht, und wenn's auf eine oder
die andre Weiſe uͤbel ablaͤuft, zerbrecht ſie
Euch auch nicht. Schickt nur nach mir, und
[39] Euch ſoll geholfen ſeyn. Bis dahin Euer
Diener!
Und ſo ſchwang er ſich aufs Pferd, ohne
den Kaffee abzuwarten.
Hier ſiehſt du, ſagte Charlotte, wie we¬
nig eigentlich ein Dritter fruchtet, wenn es
zwiſchen zwey nah verbundenen Perſonen nicht
ganz im Gleichgewicht ſteht. Gegenwaͤrtig
ſind wir doch wohl noch verworrner und
ungewiſſer, wenn's moͤglich iſt, als vor¬
her.
Beyde Gatten wuͤrden auch wohl noch
eine Zeit lang geſchwankt haben, waͤre nicht
ein Brief des Hauptmanns im Wechſel gegen
Eduards letzten angekommen. Er hatte ſich
entſchloſſen, eine der ihm angebotenen Stellen
anzunehmen, ob ſie ihm gleich keineswegs ge¬
maͤß war. Er ſollte mit vornehmen und
reichen Leuten die Langeweile theilen indem
[40] man auf ihn das Zutrauen ſetzte, daß er ſie
vertreiben wuͤrde.
Eduard uͤberſah das ganze Verhaͤltniß
recht deutlich und mahlte es noch recht ſcharf
aus. Wollen wir unſern Freund in einem
ſolchen Zuſtande wiſſen? rief er: Du kannſt
nicht ſo grauſam ſeyn, Charlotte!
Der wunderliche Mann, unſer Mittler,
verſetzte Charlotte, hat am Ende doch Recht.
Alle ſolche Unternehmungen ſind Wageſtuͤcke.
Was daraus werden kann ſieht kein Menſch
voraus. Solche neue Verhaͤltniſſe koͤnnen
fruchtbar ſeyn an Gluͤck und an Ungluͤck, ohne
daß wir uns dabey Verdienſt oder Schuld
ſonderlich zurechnen duͤrfen. Ich fuͤhle mich
nicht ſtark genug dir laͤnger zu widerſtehen.
Laß uns den Verſuch machen. Das einzige
was ich dich bitte: es ſey nur auf kurze Zeit
angeſehen. Erlaube mir, daß ich mich thaͤtiger
als bisher fuͤr ihn verwende, und meinen Ein¬
[41] fluß, meine Verbindungen eifrig benutze und
aufrege, ihm eine Stelle zu verſchaffen, die
ihm nach ſeiner Weiſe einige Zufriedenheit ge¬
waͤhren kann.
Eduard verſicherte ſeine Gattinn auf die
anmuthigſte Weiſe der lebhafteſten Dankbarkeit.
Er eilte mit freyem frohen Gemuͤth ſeinem
Freunde Vorſchlaͤge ſchriftlich zu thun. Char¬
lotte mußte in einer Nachſchrift ihren Bey¬
fall eigenhaͤndig hinzufuͤgen, ihre freundſchaft¬
lichen Bitten mit den ſeinen vereinigen. Sie
ſchrieb mit gewandter Feder gefaͤllig und ver¬
bindlich, aber doch mit einer Art von Haſt,
die ihr ſonſt nicht gewoͤhnlich war; und was
ihr nicht leicht begegnete, ſie verunſtaltete das
Papier zuletzt mit einem Tintenfleck, der ſie
aͤrgerlich machte und nur groͤßer wurde, in¬
dem ſie ihn wegwiſchen wollte.
Eduard ſcherzte daruͤber, und weil noch
Platz war fuͤgte er eine zweyte Nachſchrift
[42] hinzu: der Freund ſolle aus dieſen Zeichen die
Ungeduld ſehen womit er erwartet werde, und
nach der Eile womit der Brief geſchrieben,
die Eilfertigkeit ſeiner Reiſe einrichten.
Der Bote war fort und Eduard glaubte
ſeine Dankbarkeit nicht uͤberzeugender ausdruͤ¬
cken zu koͤnnen, als indem er aber und
abermals darauf beſtand: Charlotte ſolle ſo¬
gleich Ottilien aus der Penſion hohlen laſſen.
Sie bat um Aufſchub und wußte dieſen
Abend bey Eduard die Luſt zu einer muſica¬
liſchen Unterhaltung aufzuregen. Charlotte
ſpielte ſehr gut Clavier; Eduard nicht eben
ſo bequem die Floͤte: denn ob er ſich gleich
zu Zeiten viel Muͤhe gegeben hatte, ſo war
ihm doch nicht die Geduld, die Ausdauer
verliehen, die zur Ausbildung eines ſolchen
Talentes gehoͤrt. Er fuͤhrte deshalb ſeine Par¬
tie ſehr ungleich aus, einige Stellen gut,
nur vielleicht zu geſchwind; bey andern wieder
[43] hielt er an, weil ſie ihm nicht gelaͤufig waren,
und ſo waͤr' es fuͤr jeden Andern ſchwer ge¬
weſen ein Duett mit ihm durchzubringen.
Aber Charlotte wußte ſich darein zu finden;
ſie hielt an und ließ ſich wieder von ihm
fortreißen, und verſah alſo die doppelte Pflicht
eines guten Kapellmeiſters und einer klugen
Hausfrau, die im Ganzen immer das Maaß
zu erhalten wiſſen, wenn auch die einzelnen
Paſſagen nicht immer im Tact bleiben ſollten.
Drittes Kapitel.
Der Hauptmann kam. Er hatte einen
ſehr verſtaͤndigen Brief vorausgeſchickt, der
Charlotten voͤllig beruhigte. So viel Deutlich¬
keit uͤber ſich ſelbſt, ſo viel Klarheit uͤber
ſeinen eigenen Zuſtand, uͤber den Zuſtand ſei¬
ner Freunde, gab eine heitere und froͤhliche
Ausſicht.
Die Unterhaltungen der erſten Stunden
waren, wie unter Freunden zu geſchehen pflegt
die ſich eine Zeit lang nicht geſehen haben, leb¬
haft, ja faſt erſchoͤpfend. Gegen Abend ver¬
anlaßte Charlotte einen Spaziergang auf die
neuen Anlagen. Der Hauptmann gefiel ſich
ſehr in der Gegend und bemerkte jede Schoͤn¬
[45] heit welche durch die neuen Wege erſt ſichtbar
und genießbar geworden. Er hatte ein geuͤb¬
tes Auge und dabey ein genuͤgſames; und ob
er gleich das wuͤnſchenswerthe ſehr wohl kannte,
machte er doch nicht, wie es oͤfters zu geſche¬
hen pflegt, Perſonen die ihn in dem Ihrigen
herumfuͤhrten, dadurch einen uͤblen Humor,
daß er mehr verlangte als die Umſtaͤnde zu¬
ließen, oder auch wohl gar an etwas Voll¬
kommneres erinnerte das er anderswo geſehen.
Als ſie die Mooshuͤtte erreichten, fanden
ſie ſolche auf das luſtigſte ausgeſchmuͤckt, zwar
nur mit kuͤnſtlichen Blumen und Wintergruͤn,
doch darunter ſo ſchoͤne Buͤſchel natuͤrlichen
Weizens und anderer Feld- und Baumfruͤchte
angebracht, daß ſie dem Kunſtſinn der An¬
ordnenden zur Ehre gereichten. Obſchon mein
Mann nicht liebt, daß man ſeinen Geburts¬
oder Namenstag feyre, ſo wird er mir doch
heute nicht verargen, einem dreyfachen Feſte
dieſe wenigen Kraͤnze zu widmen.
[46]
Ein dreyfaches? rief Eduard. Ganz ge¬
wiß! verſetzte Charlotte: unſeres Freundes An¬
kunft behandlen wir billig als ein Feſt; und
dann habt Ihr beyde wohl nicht daran ge¬
dacht, daß heute Euer Namenstag iſt. Heißt
nicht einer Otto ſo gut als der andere?
Beyde Freunde reichten ſich die Haͤnde uͤber
den kleinen Tiſch. Du erinnerſt mich, ſagte
Eduard, an dieſes jugendliche Freundſchafts¬
ſtuͤck. Als Kinder hießen wir beyde ſo; doch
als wir in der Penſion zuſammenlebten und
manche Irrung daraus entſtand, ſo trat
ich ihm freywillig dieſen huͤbſchen laconiſchen
Namen ab.
Wobey du denn doch nicht gar zu gro߬
muͤthig warſt, ſagte der Hauptmann. Denn
ich erinnere mich recht wohl, daß dir der
Name Eduard beſſer gefiel, wie er denn auch
von angenehmen Lippen ausgeſprochen einen be¬
ſonders guten Klang hat.
[47]
Nun ſaßen ſie alſo zu dreyen um daſſel¬
bige Tiſchchen, wo Charlotte ſo eifrig gegen
die Ankunft des Gaſtes geſprochen hatte.
Eduard in ſeiner Zufriedenheit wollte die
Gattinn nicht an jene Stunden erinnern;
doch enthielt er ſich nicht zu ſagen: fuͤr ein
Viertes waͤre auch noch recht gut Platz.
Waldhoͤrner ließen ſich in dieſem Augen¬
blick vom Schloß heruͤber vernehmen, bejah¬
ten gleichſam und bekraͤftigten die guten Ge¬
ſinnungen und Wuͤnſche der beyſammen ver¬
weilenden Freunde. Stillſchweigend hoͤrten ſie
zu, indem jedes in ſich ſelbſt zuruͤckkehrte,
und ſein eigen Gluͤck in ſo ſchoͤner Verbin¬
dung doppelt empfand.
Eduard unterbrach die Pauſe zuerſt, in¬
dem er aufſtand und vor die Mooshuͤtte hin¬
austrat. Laß uns, ſagte er zu Charlotten,
den Freund gleich voͤllig auf die Hoͤhe fuͤhren,
damit er nicht glaube, dieſes beſchraͤnkte Thal
[48] nur ſey unſer Erbgut und Aufenthalt; der
Blick wird oben freyer und die Bruſt erwei¬
tert ſich.
So muͤſſen wir dießmal noch, verſetzte
Charlotte, den alten, etwas beſchwerlichen Fu߬
pfad erklimmen; doch, hoffe ich, ſollen meine
Stufen und Steige naͤchſtens bequemer bis
ganz hinauf leiten.
Und ſo gelangte man denn uͤber Felſen,
durch Buſch und Geſtraͤuch zur letzten Hoͤhe,
die zwar keine Flaͤche, doch fortlaufende frucht¬
bare Ruͤcken bildete. Dorf und Schloß hin¬
terwaͤrts waren nicht mehr zu ſehen. In der
Tiefe erblickte man ausgebreitete Teiche;
druͤben bewachſene Huͤgel, an denen ſie ſich
hinzogen; endlich ſteile Felſen, welche ſenk¬
recht den letzten Waſſerſpiegel entſchieden
begraͤnzten und ihre bedeutenden Formen auf
der Oberflaͤche deſſelben abbildeten. Dort in
der Schlucht, wo ein ſtarker Bach den Tei¬
[49] chen zufiel, lag eine Muͤhle halb verſteckt,
die mit ihren Umgebungen als ein freundli¬
ches Ruheplaͤtzchen erſchien. Mannigfaltig
wechſelten im ganzen Halbkreiſe den man uͤber¬
ſah, Tiefen und Hoͤhen, Buͤſche und Waͤlder,
deren erſtes Gruͤn fuͤr die Folge den fuͤllereich¬
ſten Anblick verſprach. Auch einzelne Baum¬
gruppen hielten an mancher Stelle das Auge
feſt. Beſonders zeichnete zu den Fuͤßen der
ſchauenden Freunde ſich eine Maſſe Pappeln
und Platanen zunaͤchſt an dem Rande des
mittleren Teiches vortheilhaft aus. Sie ſtand
in ihrem beſten Wachsthum, friſch, geſund,
empor und in die Breite ſtrebend.
Eduard lenkte beſonders auf dieſe die Auf¬
merkſamkeit ſeines Freundes. Dieſe habe ich,
rief er aus, in meiner Jugend ſelbſt gepflanzt.
Es waren junge Staͤmmchen, die ich rettete,
als mein Vater, bey der Anlage zu einem
neuen Theil des großen Schloßgartens, ſie
mitten im Sommer ausroden ließ. Ohne
I. 4[50] Zweifel werden ſie auch dieſes Jahr ſich durch
neue Triebe wieder dankbar hervorthun.
Man kehrte zufrieden und heiter zuruͤck.
Dem Gaſte ward auf dem rechten Fluͤgel des
Schloſſes ein freundliches geraͤumiges Quar¬
tier angewieſen, wo er ſehr bald Buͤcher, Pa¬
piere und Inſtrumente aufgeſtellt und geord¬
net hatte, um in ſeiner gewohnten Thaͤtigkeit
fortzufahren. Aber Eduard ließ ihm in den
erſten Tagen keine Ruhe; er fuͤhrte ihn uͤber¬
all herum, bald zu Pferde bald zu Fuße,
und machte ihn mit der Gegend, mit dem
Gute bekannt; wobey er ihm zugleich die
Wuͤnſche mittheilte, die er zu beſſerer Kennt¬
niß und vortheilhafterer Benutzung deſſelben
ſeit langer Zeit bey ſich hegte.
Das erſte was wir thun ſollten, ſagte der
Hauptmann, waͤre, daß ich die Gegend mit
der Magnetnadel aufnaͤhme. Es iſt das ein
leichtes heiteres Geſchaͤft, und wenn es auch
[51] nicht die groͤßte Genauigkeit gewaͤhrt, ſo bleibt
es doch immer nuͤtzlich und fuͤr den Anfang
erfreulich; auch kann man es ohne große Bey¬
huͤlfe leiſten und weiß gewiß, daß man fertig
wird. Denkſt du einmal an eine genauere
Ausmeſſung, ſo laͤßt ſich dazu wohl auch noch
Rath finden.
Der Hauptmann war in dieſer Art des
Aufnehmens ſehr geuͤbt. Er hatte die noͤthige
Geraͤthſchaft mitgebracht und fing ſogleich an.
Er unterrichtete Eduarden, einige Jaͤger und
Bauern, die ihm bey dem Geſchaͤft behuͤlflich
ſeyn ſollten. Die Tage waren guͤnſtig; die
Abende und die fruͤhſten Morgen brachte er
mit Aufzeichnen und Schraffiren zu. Schnell
war auch alles lavirt und illuminirt, und
Eduard ſah ſeine Beſitzungen auf das deut¬
lichſte, aus dem Papier, wie eine neue Schoͤp¬
fung, hervorgewachſen. Er glaubte ſie jetzt
erſt kennen zu lernen; ſie ſchienen ihm jetzt
erſt recht zu gehoͤren.
4 *[52]
Es gab Gelegenheit uͤber die Gegend,
uͤber Anlagen zu ſprechen, die man nach einer
ſolchen Ueberſicht viel beſſer zu Stande bringe,
als wenn man nur einzeln, nach zufaͤlligen Ein¬
druͤcken, an der Natur herumverſuche.
Das muͤſſen wir meiner Frau deutlich
machen, ſagte Eduard.
Thue das nicht! verſetzte der Hauptmann,
der die Ueberzeugungen anderer nicht gern mit
den ſeinigen durchkreuzte, den die Erfahrung
gelehrt hatte, daß die Anſichten der Menſchen
viel zu mannigfaltig ſind, als daß ſie, ſelbſt
durch die vernuͤnftigſten Vorſtellungen, auf
einen Punct verſammelt werden koͤnnten.
Thue es nicht! rief er: ſie duͤrfte leicht irre
werden. Es iſt ihr, wie allen denen, die ſich
nur aus Liebhaberey mit ſolchen Dingen be¬
ſchaͤftigen, mehr daran gelegen, daß ſie et¬
was thue, als daß etwas gethan werde. Man
taſtet an der Natur, man hat Vorliebe fuͤr
[53] dieſes oder jenes Plaͤtzchen; man wagt nicht
dieſes oder jenes Hinderniß wegzuraͤumen,
man iſt nicht kuͤhn genug etwas aufzuopfern;
man kann ſich voraus nicht vorſtellen was ent¬
ſtehen ſoll, man probiert, es geraͤth, es mis¬
raͤth, man veraͤndert, veraͤndert vielleicht was
man laſſen ſollte, laͤßt was man veraͤndern
ſollte, und ſo bleibt es zuletzt immer ein
Stuͤckwerk, das gefaͤllt und anregt, aber nicht
befriedigt.
Geſteh mir aufrichtig, ſagte Eduard, du
biſt mit ihren Anlagen nicht zufrieden.
Wenn die Ausfuͤhrung den Gedanken er¬
ſchoͤpfte, der ſehr gut iſt, ſo waͤre nichts zu
erinnern. Sie hat ſich muͤhſam durch das
Geſtein hinaufgequaͤlt und quaͤlt nun jeden,
wenn du willſt, den ſie hinauffuͤhrt. Weder
neben einander, noch hinter einander ſchreitet
man mit einer gewiſſen Freyheit. Der Tact
des Schrittes wird jeden Augenblick unter¬
[54] brochen; und was ließe ſich nicht noch alles
einwenden.
Waͤre es denn leicht anders zu machen
geweſen? fragte Eduard.
Gar leicht, verſetzte der Hauptmann; ſie
durfte nur die eine Felſenecke, die noch da¬
zu unſcheinbar iſt, weil ſie aus kleinen Theilen
beſteht, wegbrechen; ſo erlangte ſie eine ſchoͤn
geſchwungene Wendung zum Aufſtieg und zu¬
gleich uͤberfluͤſſige Steine, um die Stellen her¬
aufzumauern, wo der Weg ſchmal und ver¬
kruͤppelt geworden waͤre. Doch ſey dieß im
engſten Vertrauen unter uns geſagt: ſie wird
ſonſt irre und verdrießlich. Auch muß man
was gemacht iſt, beſtehen laſſen. Will man
weiter Geld und Muͤhe aufwenden, ſo waͤre
von der Mooshuͤtte hinaufwaͤrts und uͤber die
Anhoͤhe noch mancherley zu thun und viel
angenehmes zu leiſten.
[55]
Hatten auf dieſe Weiſe die beyden Freun¬
de am Gegenwaͤrtigen manche Beſchaͤftigung,
ſo fehlte es nicht an lebhafter und vergnuͤgli¬
cher Erinnerung vergangener Tage, woran
Charlotte wohl Theil zu nehmen pflegte. Auch
ſetzte man ſich vor, wenn nur die naͤchſten
Arbeiten erſt gethan waͤren, an die Reiſe¬
journale zu gehen und auch auf dieſe Weiſe
die Vergangenheit hervorzurufen.
Uebrigens hatte Eduard mit Charlotten
allein weniger Stoff zur Unterhaltung, be¬
ſonders ſeitdem er den Tadel ihrer Parkan¬
lagen, der ihm ſo gerecht ſchien, auf dem
Herzen fuͤhlte. Lange verſchwieg er was ihm
der Hauptmann vertraut hatte; aber als er
ſeine Gattinn zuletzt beſchaͤftigt ſah, von der
Mooshuͤtte hinauf zur Anhoͤhe wieder mit
Stuͤfchen und Pfaͤdchen ſich empor zu arbeiten;
ſo hielt er nicht laͤnger zuruͤck, ſondern machte
ſie nach einigen Umſchweifen mit ſeinen neuen
Einſichten bekannt.
[56]
Charlotte ſtand betroffen. Sie war geiſt¬
reich genug, um ſchnell einzuſehen, daß jene
Recht hatten; aber das Gethane widerſprach,
es war nun einmal ſo gemacht; ſie hatte es
recht, ſie hatte es wuͤnſchenswerth gefunden,
ſelbſt das Getadelte war ihr in jedem einzel¬
nen Theile lieb; ſie widerſtrebte der Ueber¬
zeugung, ſie vertheidigte ihre kleine Schoͤp¬
fung, ſie ſchalt auf die Maͤnner, die gleich
ins Weite und Große gingen, aus einem Scherz,
aus einer Unterhaltung gleich ein Werk ma¬
chen wollten, nicht an die Koſten denken, die
ein erweiteter Plan durchaus nach ſich zieht.
Sie war bewegt, verletzt, verdrießlich; ſie
konnte das Alte nicht fahren laſſen, das Neue
nicht ganz abweiſen; aber entſchloſſen wie ſie
war, ſtellte ſie ſogleich die Arbeit ein und
nahm ſich Zeit, die Sache zu bedenken und
bey ſich reif werden zu laſſen.
Indem ſie nun auch dieſe thaͤtige Unter¬
haltung vermißte, da indeß die Maͤnner ihr
[57] Geſchaͤft immer geſelliger betrieben und be¬
ſonders die Kunſtgaͤrten und Glashaͤuſer mit
Eifer beſorgten, auch dazwiſchen die gewoͤhn¬
lichen ritterlichen Uebungen fortſetzten, als
Jagen, Pferde Kaufen, Tauſchen, Bereiten
und Einfahren; ſo fuͤhlte ſich Charlotte taͤglich
einſamer. Sie fuͤhrte ihren Briefwechſel,
auch um des Hauptmanns willen, lebhafter,
und doch gab es manche einſame Stunde.
Deſto angenehmer und unterhaltender waren
ihr die Berichte, die ſie aus der Penſionsan¬
ſtalt erhielt.
Einem weitlaͤuftigen Briefe der Vorſtehe¬
rinn, welcher ſich wie gewoͤhnlich uͤber der
Tochter Fortſchritte mit Behagen verbreitete,
war eine kurze Nachſchrift hinzugefuͤgt, nebſt
einer Beylage von der Hand eines maͤnnli¬
chen Gehuͤlfen am Inſtitut, die wir beyde
mittheilen.
[58]
Nachſchrift
der Vorſteherinn.
Von Ottilien, meine Gnaͤdige, haͤtte ich
eigentlich nur zu wiederholen, was in meinen
vorigen Berichten enthalten iſt. Ich wuͤßte
ſie nicht zu ſchelten und doch kann ich nicht
zufrieden mit ihr ſeyn. Sie iſt nach wie
vor beſcheiden und gefaͤllig gegen andre; aber
dieſes Zuruͤcktreten, dieſe Dienſtbarkeit will
mir nicht gefallen. Ew. Gnaden haben ihr
neulich Geld und verſchiedene Zeuge geſchickt.
Das erſte hat ſie nicht angegriffen; die andern
liegen auch noch da, unberuͤhrt. Sie haͤlt
freylich ihre Sachen ſehr reinlich und gut,
und ſcheint nur in dieſem Sinn die Kleider
zu wechſeln. Auch kann ich ihre große Maͤßig¬
keit im Eſſen und Trinken nicht loben. An
unſerm Tiſch iſt kein Ueberfluß; doch ſehe
ich nichts lieber als wenn die Kinder ſich an
[59] ſchmackhaften und geſunden Speiſen ſatt eſſen.
Was mit Bedacht und Ueberzeugung aufge¬
tragen und vorgelegt iſt, ſoll auch aufgegeſſen
werden. Dazu kann ich Ottilien niemals
bringen. Ja ſie macht ſich irgend ein Ge¬
ſchaͤft, um eine Luͤcke auszufuͤllen, wo die Die¬
nerinnen etwas verſaͤumen, nur um eine
Speiſe oder den Nachtiſch zu uͤbergehen.
Bey dieſem allen kommt jedoch in Betrachtung,
daß ſie manchmal, wie ich erſt ſpaͤt erfahren
habe, Kopfweh auf der linken Seite hat,
das zwar voruͤbergeht, aber ſchmerzlich und
bedeutend ſeyn mag. Soviel von dieſem uͤbri¬
gens ſo ſchoͤnen und lieben Kinde.
Beylage
des Gehuͤlfen.
Unſre vortreffliche Vorſteherinn laͤßt mich
gewoͤhnlich die Briefe leſen, in welchen ſie
Beobachtungen uͤber ihre Zoͤglinge den Aeltern
[60] und Vorgeſetzten mittheilt. Diejenigen die an
Ew. Gnaden gerichtet ſind leſe ich immer mit
doppelter Aufmerkſamkeit, mit doppeltem Ver¬
gnuͤgen: denn indem wir Ihnen zu einer
Tochter Gluͤck zu wuͤnſchen haben, die alle
jene glaͤnzenden Eigenſchaften vereinigt, wo¬
durch man in der Welt emporſteigt; ſo muß
ich wenigſtens Sie nicht minder gluͤcklich preiſen,
daß Ihnen in Ihrer Pflegetochter ein Kind
beſchert iſt, das zum Wohl, zur Zufrieden¬
heit anderer und gewiß auch zu ſeinem eigenen
Gluͤck geboren ward. Ottilie iſt faſt unſer ein¬
ziger Zoͤgling, uͤber den ich mit unſerer ſo
ſehr verehrten Vorſteherinn nicht einig werden
kann. Ich verarge dieſer thaͤtigen Frau kei¬
nesweges, daß ſie verlangt, man ſoll die
Fruͤchte ihrer Sorgfalt aͤußerlich und deutlich
ſehen; aber es giebt auch verſchloſſene Fruͤchte,
die erſt die rechten kernhaften ſind, und die
ſich fruͤher oder ſpaͤter zu einem ſchoͤnen Le¬
ben entwickeln. Dergleichen iſt gewiß Ihre
Pflegetochter. So lange ich ſie unterrichte
[61] ſehe ich ſie immer gleichen Schrittes gehen,
langſam, langſam vorwaͤrts, nie zuruͤck. Wenn
es bey einem Kinde noͤthig iſt, vom Anfange
anzufangen, ſo iſt es gewiß bey ihr. Was
nicht aus dem Vorhergehenden folgt, begreift
ſie nicht. Sie ſteht unfaͤhig, ja ſtoͤckiſch vor
einer leicht faßlichen Sache, die fuͤr ſie mit
nichts zuſammenhaͤngt. Kann man aber die
Mittelglieder finden und ihr deutlich machen,
ſo iſt ihr das ſchwerſte begreiflich.
Bey dieſem langſamen Vorſchreiten bleibt
ſie gegen ihre Mitſchuͤlerinnen zuruͤck, die mit
ganz andern Faͤhigkeiten immer vorwaͤrts ei¬
len, alles, auch das Unzuſammenhaͤngende,
leicht faſſen, leicht behalten und bequem wie¬
der anwenden. So lernt ſie, ſo vermag ſie
bey einem beſchleunigten Lehrvortrage gar
nichts; wie es der Fall in einigen Stunden
iſt, welche von trefflichen, aber raſchen und
ungeduldigen Lehrern gegeben werden. Man
hat uͤber ihre Handſchrift geklagt, uͤber ihre
[62] Unfaͤhigkeit die Regeln der Grammatik zu
faſſen. Ich habe dieſe Beſchwerde naͤher
unterſucht: es iſt wahr, ſie ſchreibt langſam
und ſteif wenn man ſo will, doch nicht zag¬
haft und ungeſtalt. Was ich ihr von der
franzoͤſiſchen Sprache, die zwar mein Fach
nicht iſt, ſchrittweiſe mittheilte, begriff ſie
leicht. Freilich iſt es wunderbar, ſie weiß
vieles und recht gut, nur wenn man ſie fragt,
ſcheint ſie nichts zu wiſſen.
Soll ich mit einer allgemeinen Bemerkung
ſchließen, ſo moͤchte ich ſagen: ſie lernt nicht
als eine die erzogen werden ſoll, ſondern als
eine die erziehen will; nicht als Schuͤlerinn,
ſondern als kuͤnftige Lehrerinn. Vielleicht
kommt es Ew. Gnaden ſonderbar vor, daß
ich ſelbſt als Erzieher und Lehrer jemanden
nicht mehr zu loben glaube, als wenn ich
ihn fuͤr meines gleichen erklaͤre. Ew. Gna¬
den beſſre Einſicht, tiefere Menſchen- und
Weltkenntniß wird aus meinen beſchraͤnkten
[63] wohlgemeinten Worten das Beſte nehmen.
Sie werden ſich uͤberzeugen, daß auch an
dieſem Kinde viel Freude zu hoffen iſt. Ich
empfehle mich zu Gnaden und bitte um die
Erlaubniß wieder zu ſchreiben, ſobald ich
glaube, daß mein Brief etwas Bedeutendes
und Angenehmes enthalten werde.
Charlotte freute ſich uͤber dieſes Blatt.
Sein Inhalt traf ganz nahe mit den Vor¬
ſtellungen zuſammen, welche ſie von Ottilien
hegte; dabey konnte ſie ſich eines Laͤchelns
nicht enthalten, indem der Antheil des Leh¬
rers herzlicher zu ſeyn ſchien, als ihn die
Einſicht in die Tugenden eines Zoͤglings her¬
vorzubringen pflegt. Bey ihrer ruhigen, vor¬
urtheilsfreyen Denkweiſe ließ ſie auch ein ſol¬
ches Verhaͤltniß, wie ſo viele andre, vor ſich
liegen; die Theilnahme des verſtaͤndigen
Mannes an Ottilien hielt ſie werth: denn
[64] ſie hatte in ihrem Leben genugſam einſehen
gelernt, wie hoch jede wahre Neigung zu
ſchaͤtzen ſey, in einer Welt wo Gleichguͤltig¬
keit und Abneigung eigentlich recht zu Hauſe
ſind.
Viertes Kapitel.
Die topographiſche Charte, auf welcher
das Gut mit ſeinen Umgebungen, nach einem
ziemlich großen Maaßſtabe, charakteriſtiſch und
faßlich durch Federſtriche und Farben darge¬
ſtellt war, und welche der Hauptmann durch
einige trigonometriſche Meſſungen ſicher zu
gruͤnden wußte, war bald fertig: denn weni¬
ger Schlaf, als dieſer thaͤtige Mann, be¬
durfte kaum Jemand, ſo wie ſein Tag ſtets
dem augenblicklichen Zwecke gewidmet und
deswegen jederzeit am Abende etwas gethan
war.
Laß uns nun, ſagte er zu ſeinem Freun¬
de, an das Uebrige gehen, an die Gutsbe¬
I. 5[66] ſchreibung, wozu ſchon genugſame Vorarbeit
da ſeyn muß, aus der ſich nachher Pachtan¬
ſchlaͤge und anderes ſchon entwickeln werden.
Nur eines laß uns feſtſetzen und einrichten:
trenne alles was eigentlich Geſchaͤft iſt vom
Leben. Das Geſchaͤft verlangt Ernſt und
Strenge, das Leben Willkuͤhr; das Geſchaͤft
die reinſte Folge, dem Leben thut eine Incon¬
ſequenz oft noth, ja ſie iſt liebenswuͤrdig und
erheiternd. Biſt du bey dem einen ſicher,
ſo kannſt du in dem andern deſto freyer ſeyn;
anſtatt daß bey einer Vermiſchung das Sichre
durch das Freye weggeriſſen und aufgehoben
wird.
Eduard fuͤhlte in dieſen Vorſchlaͤgen einen
leiſen Vorwurf. Zwar von Natur nicht un¬
ordentlich, konnte er doch niemals dazu kom¬
men, ſeine Papiere nach Faͤchern abzutheilen.
Das was er mit andern abzuthun hatte, was
blos von ihm ſelbſt abhing, es war nicht ge¬
ſchieden; ſo wie er auch Geſchaͤfte und Be¬
[67] ſchaͤftigung, Unterhaltung und Zerſtreuung
nicht genugſam von einander abſonderte. Jetzt
wurde es ihm leicht, da ein Freund dieſe
Bemuͤhung uͤbernahm, ein zweytes Ich die
Sonderung bewirkte, in die das eine Ich
nicht immer ſich ſpalten mag.
Sie errichteten auf dem Fluͤgel des Haupt¬
manns eine Repoſitur fuͤr das Gegenwaͤrtige,
ein Archiv fuͤr das Vergangene; ſchafften alle
Documente, Papiere, Nachrichten, aus ver¬
ſchiedenen Behaͤltniſſen, Kammern, Schraͤn¬
ken und Kiſten herbey, und auf das geſchwin¬
deſte war der Wuſt in eine erfreuliche Ord¬
nung gebracht, lag rubricirt in bezeichneten
Faͤchern. Was man wuͤnſchte ward vollſtaͤn¬
diger gefunden als man gehofft hatte. Hier¬
bey ging ihnen ein alter Schreiber ſehr an
die Hand, der den Tag uͤber, ja einen Theil
der Nacht, nicht vom Pulte kam, und mit
dem Eduard bisher immer unzufrieden gewe¬
ſen war.
5 *[68]
Ich kenne ihn nicht mehr, ſagte Eduard
zu ſeinem Freund, wie thaͤtig und brauchbar der
Menſch iſt. Das macht, verſetzte der Haupt¬
mann, wir tragen ihm nichts Neues auf,
als bis er das Alte nach ſeiner Bequemlich¬
keit vollendet hat, und ſo leiſtet er, wie du
ſiehſt, ſehr viel; ſobald man ihn ſtoͤrt, ver¬
mag er gar nichts.
Brachten die Freunde auf dieſe Weiſe ihre
Tage zuſammen zu, ſo verſaͤumten ſie Abends
nicht Charlotten regelmaͤßig zu beſuchen. Fand
ſich keine Geſellſchaft von benachbarten Orten
und Guͤtern, welches oͤfter geſchah; ſo war
das Geſpraͤch, wie das Leſen, meiſt ſolchen
Gegenſtaͤnden gewidmet, welche den Wohl¬
ſtand, die Vortheile und das Behagen der
buͤrgerlichen Geſellſchaft vermehren.
Charlotte, ohnehin gewohnt die Gegen¬
wart zu nutzen, fuͤhlte ſich, indem ſie ihren
Mann zufrieden ſah, auch perſoͤnlich gefoͤr¬
[69] dert. Verſchiedene haͤusliche Anſtalten, die
ſie laͤngſt gewuͤnſcht, aber nicht recht einleiten
koͤnnen, wurden durch die Thaͤtigkeit des
Hauptmanns bewirkt. Die Hausapotheke,
die bisher nur aus wenigen Mitteln beſtan¬
den, ward bereichert, und Charlotte, ſowohl
durch faßliche Buͤcher als durch Unterredung,
in den Stand geſetzt ihr thaͤtiges und huͤlf¬
reiches Weſen oͤfter und wirkſamer als bisher
in Uebung zu bringen.
Da man auch die gewoͤhnlichen und dem¬
ungeachtet nur zu oft uͤberraſchenden Noth¬
faͤlle durchdachte; ſo wurde alles was zur
Rettung der Ertrunkenen noͤthig ſeyn moͤchte
um ſo mehr angeſchafft, als bey der Naͤhe ſo
mancher Teiche, Gewaͤſſer und Waſſerwerke,
oͤfters ein und der andre Unfall dieſer Art
vorkam. Dieſe Rubrik beſorgte der Haupt¬
mann ſehr ausfuͤhrlich, und Eduarden ent¬
ſchluͤpfte die Bemerkung, daß ein ſolcher Fall
in dem Leben ſeines Freundes auf die ſelt¬
[70] ſamſte Weiſe Epoche gemacht. Doch als die¬
ſer ſchwieg und einer traurigen Erinnerung
auszuweichen ſchien, hielt Eduard gleichfalls
an, ſo wie auch Charlotte, die nicht weniger
im Allgemeinen davon unterrichtet war, uͤber
jene Aeußerungen hinausging.
Wir wollen alle dieſe vorſorglichen An¬
ſtalten loben, ſagte eines Abends der Haupt¬
mann; nun geht uns aber das Nothwendigſte
noch ab, ein tuͤchtiger Mann, der das alles
zu handhaben weiß. Ich kann hiezu einen
mir bekannten Feldchirurgus vorſchlagen, der
jetzt um leidliche Bedingung zu haben iſt, ein
vorzuͤglicher Mann in ſeinem Fache, und der
mir auch in Behandlung heftiger innerer Ue¬
bel oͤfters mehr Genuͤge gethan hat als ein
beruͤhmter Arzt; und augenblickliche Huͤlfe iſt
doch immer das, was auf dem Lande am
meiſten vermißt wird.
Auch dieſer wurde ſogleich verſchrieben
und beyde Gatten freuten ſich, daß ſie ſo
[71] manche Summe, die ihnen zu willkuͤhrlichen
Ausgaben uͤbrig blieb, auf die noͤthigſten zu
verwenden Anlaß gefunden.
So benutzte Charlotte die Kenntniſſe, die
Thaͤtigkeit des Hauptmanns auch nach ihrem
Sinne und fing an mit ſeiner Gegenwart
voͤllig zufrieden und uͤber alle Folgen beruhigt
zu werden. Sie bereitete ſich gewoͤhnlich vor,
manches zu fragen, und da ſie gern leben
mochte, ſo ſuchte ſie alles Schaͤdliche, alles
Toͤdtliche zu entfernen. Die Bleyglaſur der
Toͤpferwaren, der Gruͤnſpan kupferner Gefaͤße
hatte ihr ſchon manche Sorge gemacht. Sie
ließ ſich hieruͤber belehren, und natuͤrlicher¬
weiſe mußte man auf die Grundbegriffe der
Phyſik und Chemie zuruͤckgehen.
Zufaͤlligen aber immer willkommenen An¬
laß zu ſolchen Unterhaltungen gab Eduards
Neigung, der Geſellſchaft vorzuleſen. Er
hatte eine ſehr wohlklingende tiefe Stimme
[72] und war fruͤher, wegen lebhafter gefuͤhlter
Recitation dichteriſcher und redneriſcher Ar¬
beiten, angenehm und beruͤhmt geweſen. Nun
waren es andre Gegenſtaͤnde die ihn beſchaͤf¬
tigten, andre Schriften woraus er vorlas
und eben ſeit einiger Zeit vorzuͤglich Werke
phyſiſchen, chemiſchen und techniſchen Inhalts.
Eine ſeiner beſondern Eigenheiten, die er
jedoch vielleicht mit mehrern Menſchen theilt,
war die, daß es ihm unertraͤglich fiel, wenn
Jemand ihm beym Leſen in das Buch ſah.
In fruͤherer Zeit, beym Vorleſen von Gedich¬
ten, Schauſpielen, Erzaͤhlungen, war es die
natuͤrliche Folge der lebhaften Abſicht, die der
Vorleſende ſo gut als der Dichter, der Schau¬
ſpieler, der Erzaͤhlende hat, zu uͤberraſchen,
Pauſen zu machen, Erwartungen zu erregen;
da es denn freylich dieſer beabſichtigten Wir¬
kung ſehr zuwider iſt, wenn ihm ein Drit¬
ter wiſſentlich mit den Augen vorſpringt. Er
pflegte ſich auch deswegen in ſolchem Falle
[73] immer ſo zu ſetzen, daß er Niemand im Ruͤ¬
cken hatte. Jetzt zu dreyen war dieſe Vor¬
ſicht unnoͤthig; und da es dießmal nicht auf
Erregung des Gefuͤhls, auf Ueberraſchung
der Einbildungskraft angeſehen war; ſo dachte
er ſelbſt nicht daran, ſich ſonderlich in Acht
zu nehmen.
Nur eines Abends fiel es ihm auf, als
er ſich nachlaͤſſig geſetzt hatte, daß Charlotte
ihm in das Buch ſah. Seine alte Ungeduld
erwachte und er verwies es ihr, gewiſſerma¬
ßen unfreundlich. Wollte man ſich doch ſol¬
che Unarten, wie ſo manches andre was der
Geſellſchaft laͤſtig iſt, ein fuͤr allemal abge¬
woͤhnen. Wenn ich Jemand vorleſe, iſt es
denn nicht als wenn ich ihm muͤndlich etwas
vortruͤge? Das Geſchriebene, das Gedruckte
tritt an die Stelle meines eigenen Sinnes,
meines eigenen Herzens; und wuͤrde ich mich
wohl zu reden bemuͤhen, wenn ein Fenſterchen
vor meiner Stirn, vor meiner Bruſt ange¬
[74] bracht waͤre, ſo daß der, dem ich meine Ge¬
danken einzeln zuzaͤhlen, meine Empfindungen
einzeln zureichen will, immer ſchon lange vor¬
her wiſſen koͤnnte, wo es mit mir hinaus
wollte? Wenn mir Jemand ins Buch ſieht,
ſo iſt mir immer als wenn ich in zwey Stuͤ¬
cke geriſſen wuͤrde.
Charlotte, deren Gewandtheit ſich in groͤ¬
ßeren und kleineren Zirkeln beſonders dadurch
bewies, daß ſie jede unangenehme, jede hef¬
tige, ja ſelbſt nur lebhafte Aeußerung zu be¬
ſeitigen, ein ſich verlaͤngerndes Geſpraͤch zu
unterbrechen, ein ſtockendes anzuregen wußte,
war auch dießmal von ihrer guten Gabe nicht
verlaſſen. Du wirſt mir meinen Fehler ge¬
wiß verzeihen, wenn ich bekenne was mir
dieſen Augenblick begegnet iſt. Ich hoͤrte von
Verwandtſchaften leſen, und da dacht' ich eben
gleich an meine Verwandten, an ein Paar
Vettern, die mir gerade in dieſem Augen¬
blick zu ſchaffen machen. Meine Aufmerk¬
[75] ſamkeit kehrt zu deiner Vorleſung zuruͤck; ich
hoͤre daß von ganz lebloſen Dingen die Rede
iſt, und blicke dir ins Buch, um mich wie¬
der zurecht zu finden.
Es iſt eine Gleichnißrede, die dich ver¬
fuͤhrt und verwirrt hat, ſagte Eduard. Hier
wird freylich nur von Erden und Mineralien
gehandelt, aber der Menſch iſt ein wahrer
Narziß; er beſpiegelt ſich uͤberall gern ſelbſt;
er legt ſich als Folie der ganzen Welt unter.
Ja wohl! fuhr der Hauptmann fort: ſo
behandelt er alles was er außer ſich findet;
ſeine Weisheit wie ſeine Thorheit, ſeinen
Willen wie ſeine Willkuͤhr leicht er den Thie¬
ren, den Pflanzen, den Elementen und den
Goͤttern.
Moͤchtet Ihr mich, verſetzte Charlotte,
da ich Euch nicht zu weit von dem augen¬
blicklichen Intereſſe wegfuͤhren will, nur kuͤrz¬
[76] lich belehren, wie es eigentlich hier mit den
Verwandtſchaften gemeint ſey.
Das will ich wohl gerne thun, erwiederte
der Hauptmann, gegen den ſich Charlotte ge¬
wendet hatte; freylich nur ſo gut als ich es
vermag, wie ich es etwa vor zehn Jahren ge¬
lernt, wie ich es geleſen habe. Ob man in
der wiſſenſchaftlichen Welt noch ſo daruͤber
denkt, ob es zu den neuern Lehren paßt,
wuͤßte ich nicht zu ſagen.
Es iſt ſchlimm genug, rief Eduard, daß
man jetzt nichts mehr fuͤr ſein ganzes Leben
lernen kann. Unſre Vorfahren hielten ſich an
den Unterricht, den ſie in ihrer Jugend em¬
pfangen; wir aber muͤſſen jetzt alle fuͤnf Jahre
umlernen, wenn wir nicht ganz aus der Mode
kommen wollen.
Wir Frauen, ſagte Charlotte, nehmen es
nicht ſo genau; und wenn ich aufrichtig ſeyn
[77] ſoll, ſo iſt es mir eigentlich nur um den
Wortverſtand zu thun: denn es macht in der
Geſellſchaft nichts laͤcherlicher, als wenn man
ein fremdes, ein Kunſt-Wort falſch anwen¬
det. Deshalb moͤchte ich nur wiſſen, in
welchem Sinne dieſer Ausdruck eben bey die¬
ſen Gegenſtaͤnden gebraucht wird. Wie es
wiſſenſchaftlich damit zuſammenhaͤnge, wollen
wir den Gelehrten uͤberlaſſen, die uͤbrigens,
wie ich habe bemerken koͤnnen, ſich wohl
ſchwerlich jemals vereinigen werden.
Wo fangen wir aber nun an, um am
ſchnellſten in die Sache zu kommen? fragte
Eduard nach einer Pauſe den Hauptmann,
der ſich ein wenig bedenkend bald darauf er¬
wiederte:
Wenn es mir erlaubt iſt, dem Scheine
nach weit auszuhohlen, ſo ſind wir bald am
Platze.
[78]
Seyn Sie meiner ganzen Aufmerkſamkeit
verſichert, ſagte Charlotte, indem ſie ihre Ar¬
beit bey Seite legte.
Und ſo begann der Hauptmann: an allen
Naturweſen, die wir gewahr werden, bemer¬
ken wir zuerſt, daß ſie einen Bezug auf ſich
ſelbſt haben. Es klingt freylich wunderlich,
wenn man etwas ausſpricht was ſich ohnehin
verſteht; doch nur indem man ſich uͤber das
Bekannte voͤllig verſtaͤndigt hat, kann man
mit einander zum Unbekannten fortſchreiten.
Ich daͤchte, fiel ihm Eduard ein, wir
machten ihr und uns die Sache durch Bey¬
ſpiele bequem. Stelle dir nur das Waſſer,
das Oel, das Queckſilber vor, ſo wirſt du
eine Einigkeit, einen Zuſammenhang ihrer
Theile finden. Dieſe Einung verlaſſen ſie
nicht, außer durch Gewalt oder ſonſtige Be¬
ſtimmung. Iſt dieſe beſeitigt, ſo treten ſie
gleich wieder zuſammen.
[79]
Ohne Frage, ſagte Charlotte beyſtimmend.
Regentropfen vereinigen ſich ſchnell zu Stroͤ¬
men. Und ſchon als Kinder ſpielen wir er¬
ſtaunt mit dem Queckſilber, indem wir es in
Kuͤgelchen trennen und es wieder zuſammen¬
laufen laſſen.
Und ſo darf ich wohl, fuͤgte der Haupt¬
mann hinzu, eines bedeutenden Punctes im
fluͤchtigen Vorbeygehen erwaͤhnen, daß naͤm¬
lich dieſer voͤllig reine, durch Fluͤſſigkeit moͤg¬
liche Bezug ſich entſchieden und immer durch
die Kugelgeſtalt auszeichnet. Der fallende
Waſſertropfen iſt rund; von den Queckſilber¬
kuͤgelchen haben Sie ſelbſt geſprochen; ja ein
fallendes geſchmolzenes Bley, wenn es Zeit
hat voͤllig zu erſtarren, kommt unten in Ge¬
ſtalt einer Kugel an.
Laſſen Sie mich voreilen, ſagte Char¬
lotte, ob ich treffe, wo Sie hinwollen. Wie
jedes gegen ſich ſelbſt einen Bezug hat, ſo
[80] muß es auch gegen andere ein Verhaͤltniß
haben.
Und das wird nach Verſchiedenheit der
Weſen verſchieden ſeyn, fuhr Eduard eilig
fort. Bald werden ſie ſich als Freunde und
alte Bekannte begegnen, die ſchnell zuſam¬
mentreten, ſich vereinigen, ohne an einander
etwas zu veraͤndern, wie ſich Wein mit Waſ¬
ſer vermiſcht. Dagegen werden andre fremd
neben einander verharren und ſelbſt durch
mechaniſches Miſchen und Reiben ſich keines¬
weges verbinden; wie Oel und Waſſer zu¬
ſammengeruͤttelt ſich den Augenblick wieder
aus einander ſondert.
Es fehlt nicht viel, ſagte Charlotte, ſo
ſieht man in dieſen einfachen Formen die
Menſchen, die man gekannt hat; beſonders
aber erinnert man ſich dabey der Societaͤten,
in denen man lebte. Die meiſte Aehnlichkeit
jedoch mit dieſen ſeelenloſen Weſen haben die
[81] Maſſen, die in der Welt ſich einander gegen¬
uͤber ſtellen, die Staͤnde, die Berufsbeſtim¬
mungen, der Adel und der dritte Stand,
der Soldat und der Civiliſt.
Und doch, verſetzte Eduard, wie dieſe
durch Sitten und Geſetze vereinbar ſind, ſo
giebt es auch in unſerer chemiſchen Welt Mit¬
telglieder, dasjenige zu verbinden, was ſich
einander abweiſt.
So verbinden wir, fiel der Hauptmann
ein, das Oel durch Laugenſalz mit dem
Waſſer.
Nur nicht zu geſchwind mit Ihrem Vor¬
trag, ſagte Charlotte, damit ich zeigen kann,
daß ich Schritt halte. Sind wir nicht hier
ſchon zu den Verwandtſchaften gelangt?
Ganz richtig, erwiederte der Hauptmann,
und wir werden ſie gleich in ihrer vollen
I. 6[82] Kraft und Beſtimmtheit kennen lernen. Die¬
jenigen Naturen, die ſich beym Zuſammen¬
treffen einander ſchnell ergreifen und wechſel¬
ſeitig beſtimmen, nennen wir verwandt. An
den Alcalien und Saͤuren, die, obgleich ein¬
ander entgegengeſetzt und vielleicht eben des¬
wegen, weil ſie einander entgegengeſetzt ſind,
ſich am entſchiedenſten ſuchen und faſſen, ſich
modificiren und zuſammen einen neuen Koͤrper
bilden, iſt dieſe Verwandtſchaft auffallend ge¬
nug. Gedenken wir nur des Kalks, der zu
allen Saͤuren eine große Neigung, eine ent¬
ſchiedene Vereinigungsluſt aͤußert. Sobald
unſer chemiſches Cabinet ankommt, wollen
wir Sie verſchiedene Verſuche ſehen laſſen,
die ſehr unterhaltend ſind und einen beſſern
Begriff geben als Worte, Namen und
Kunſtausdruͤcke.
Laſſen Sie mich geſtehen, ſagte Charlotte,
wenn Sie dieſe Ihre wunderlichen Weſen
verwandt nennen, ſo kommen ſie mir nicht
[83] ſowohl als Blutsverwandte, vielmehr als Gei¬
ſtes- und Seelenverwandte vor. Auf eben
dieſe Weiſe koͤnnen unter Menſchen wahrhaft
bedeutende Freundſchaften entſtehen: denn ent¬
gegengeſetzte Eigenſchaften machen eine inni¬
gere Vereinigung moͤglich. Und ſo will ich
denn abwarten, was Sie mir von dieſen ge¬
heimnißvollen Wirkungen vor die Augen brin¬
gen werden. Ich will dich — ſagte ſie zu
Eduard gewendet — jetzt im Vorleſen nicht
weiter ſtoͤren, und um ſo viel beſſer unter¬
richtet, deinen Vortrag mit Aufmerkſamkeit
vernehmen.
Da du uns einmal aufgerufen haſt, ver¬
ſetzte Eduard; ſo kommſt du ſo leicht nicht
los: denn eigentlich ſind die verwickelten
Faͤlle die intereſſanteſten. Erſt bey dieſen
lernt man die Grade der Verwandtſchaften,
die naͤhern, ſtaͤrkern, entferntern, geringern
Beziehungen kennen; die Verwandtſchaften
werden erſt intereſſant, wenn ſie Scheidun¬
gen bewirken.
6 *[84]
Kommt das traurige Wort, rief Char¬
lotte, das man leider in der Welt jetzt ſo oft
hoͤrt, auch in der Naturlehre vor?
Allerdings, erwiederte Eduard. Es war
ſogar ein bezeichnender Ehrentitel der Chemi¬
ker, daß man ſie Scheidekuͤnſtler nannte.
Das thut man alſo nicht mehr, verſetzte
Charlotte, und thut ſehr wohl daran. Das
Vereinigen iſt eine groͤßere Kunſt, ein groͤ¬
ßeres Verdienſt. Ein Einungskuͤnſtler waͤre
in jedem Fache der ganzen Welt willkommen.
— Nun ſo laßt mich denn, weil Ihr doch
einmal im Zuge ſeyd, ein Paar ſolche Faͤlle
wiſſen.
So ſchließen wir uns denn gleich, ſagte
der Hauptmann, an dasjenige wieder an,
was wir oben ſchon benannt und beſprochen
haben. Z. B. was wir Kalkſtein nennen iſt
eine mehr oder weniger reine Kalkerde, innig
[85] mit einer zarten Saͤure verbunden, die uns
in Luftform bekannt geworden iſt. Bringt
man ein Stuͤck ſolchen Steines in verduͤnnte
Schwefelſaͤure, ſo ergreift dieſe den Kalk und
erſcheint mit ihm als Gyps; jene zarte luf¬
tige Saͤure hingegen entflieht. Hier iſt eine
Trennung, eine neue Zuſammenſetzung ent¬
ſtanden und man glaubt ſich nunmehr berech¬
tigt, ſogar das Wort Wahlverwandtſchaft an¬
zuwenden, weil es wirklich ausſieht als
wenn ein Verhaͤltniß dem andern vorgezogen,
eins vor dem andern erwaͤhlt wuͤrde.
Verzeihen Sie mir, ſagte Charlotte, wie
ich dem Naturforſcher verzeihe; aber ich wuͤr¬
de hier niemals eine Wahl, eher eine Na¬
turnothwendigkeit erblicken, und dieſe kaum:
denn es iſt am Ende vielleicht gar nur die
Sache der Gelegenheit. Gelegenheit macht
Verhaͤltniſſe wie ſie Diebe macht; und wenn
von Ihren Naturkoͤrpern die Rede iſt, ſo
ſcheint mir die Wahl blos in den Haͤnden
[86] des Chemikers zu liegen, der dieſe Weſen zu¬
ſammenbringt. Sind ſie aber einmal bey¬
ſammen, dann gnade ihnen Gott! In dem ge¬
genwaͤrtigen Falle dauert mich nur die arme
Luftſaͤure, die ſich wieder im Unendlichen her¬
umtreiben muß.
Es kommt nur auf ſie an, verſetzte der
Hauptmann, ſich mit dem Waſſer zu verbin¬
den und als Mineralquelle Geſunden und
Kranken zur Erquickung zu dienen.
Der Gyps hat gut reden, ſagte Charlotte,
der iſt nun fertig, iſt ein Koͤrper, iſt ver¬
ſorgt, anſtatt daß jenes ausgetriebene Weſen
noch manche Noth haben kann bis es wieder
unterkommt.
Ich muͤßte ſehr irren, ſagte Eduard laͤ¬
chelnd, oder es ſteckt eine kleine Tuͤcke hinter
deinen Reden. Geſteh' nur deine Schalkheit!
Am Ende bin ich in deinen Augen der Kalk,
[87] der vom Hauptmann, als einer Schwefel¬
ſaͤure ergriffen, deiner anmuthigen Geſellſchaft
entzogen und in einen refractaͤren Gyps ver¬
wandelt wird.
Wenn das Gewiſſen, verſetzte Charlotte,
dich ſolche Betrachtungen machen heißt; ſo
kann ich ohne Sorge ſeyn. Dieſe Gleichni߬
reden ſind artig und unterhaltend, und wer
ſpielt nicht gern mit Aehnlichkeiten? Aber der
Menſch iſt doch um ſo manche Stufe uͤber
jene Elemente erhoͤht, und wenn er hier mit
den ſchoͤnen Worten Wahl und Wahlverwandt¬
ſchaft etwas freygebig geweſen; ſo thut er
wohl, wieder in ſich ſelbſt zuruͤckzukehren und
den Werth ſolcher Ausdruͤcke bey dieſem An¬
laß recht zu bedenken. Mir ſind leider Faͤlle
genug bekannt, wo eine innige unaufloͤslich
ſcheinende Verbindung zweyer Weſen, durch ge¬
legentliche Zugeſellung eines Dritten, aufgeho¬
ben, und eins der erſt ſo ſchoͤn verbundenen
ins loſe Weite hinausgetrieben ward.
[88]
Da ſind die Chemiker viel galanter, ſagte
Eduard: ſie geſellen ein viertes dazu, damit
keines leer ausgehe.
Ja wohl! verſetzte der Hauptmann: dieſe
Faͤlle ſind allerdings die bedeutendſten und
merkwuͤrdigſten, wo man das Anziehen, das
Verwandtſeyn, dieſes Verlaſſen, dieſes Ver¬
einigen gleichſam uͤbers Kreuz, wirklich dar¬
ſtellen kann; wo vier, bisher je zwey zu zwey
verbundene Weſen in Beruͤhrung gebracht,
ihre bisherige Vereinigung verlaſſen und ſich
aufs neue verbinden. In dieſem Fahrenlaſſen
und Ergreifen, in dieſem Fliehen und Suchen,
glaubt man wirklich eine hoͤhere Beſtimmung
zu ſehen; man traut ſolchen Weſen eine Art
von Wollen und Waͤhlen zu, und haͤlt das
Kunſtwort Wahlverwandtſchaften vollkommen
gerechtfertigt.
Beſchreiben Sie mir einen ſolchen Fall,
ſagte Charlotte.
[89]
Man ſollte dergleichen, verſetzte der
Hauptmann, nicht mit Worten abthun. Wie
ſchon geſagt! ſobald ich Ihnen die Verſuche
ſelbſt zeigen kann, wird alles anſchaulicher und
angenehmer werden. Jetzt muͤßte ich Sie mit
ſchrecklichen Kunſtworten hinhalten, die Ihnen
doch keine Vorſtellung gaͤben. Man muß
dieſe todtſcheinenden und doch zur Thaͤtigkeit
innerlich immer bereiten Weſen wirkend vor
ſeinen Augen ſehen, mit Theilnahme ſchauen,
wie ſie einander ſuchen, ſich anziehen, ergrei¬
fen, zerſtoͤren, verſchlingen, aufzehren und
ſodann aus der innigſten Verbindung wieder
in erneuter, neuer, unerwarteter Geſtalt her¬
vortreten: dann traut man ihnen erſt ein
ewiges Leben, ja wohl gar Sinn und Ver¬
ſtand zu, weil wir unſere Sinne kaum ge¬
nuͤgend fuͤhlen, ſie recht zu beobachten, und
unſre Vernunft kaum hinlaͤnglich, ſie zu faſſen.
Ich laͤugne nicht, ſagte Eduard, daß die
ſeltſamen Kunſtwoͤrter demjenigen der nicht
[90] durch ſinnliches Anſchauen, durch Begriffe mit
ihnen verſoͤhnt iſt, beſchwerlich, ja laͤcherlich
werden muͤſſen. Doch koͤnnten wir leicht mit
Buchſtaben einſtweilen das Verhaͤltniß aus¬
druͤcken, wovon hier die Rede war.
Wenn Sie glauben, daß es nicht pedan¬
tiſch ausſieht, verſetzte der Hauptmann, ſo
kann ich wohl in der Zeichenſprache mich
kuͤrzlich zuſammenfaſſen. Denken ſie ſich ein
A, das mit einem B innig verbunden iſt,
durch viele Mittel und durch manche Gewalt
nicht von ihm zu trennen; denken Sie ſich
ein C, das ſich eben ſo zu einem D verhaͤlt;
bringen Sie nun die beyden Paare in Beruͤh¬
rung: A wird ſich zu D, C zu B werfen,
ohne daß man ſagen kann, wer das andere
zuerſt verlaſſen, wer ſich mit dem andern zu¬
erſt wieder verbunden habe.
Nun denn! fiel Eduard ein: bis wir alles
dieſes mit Augen ſehen, wollen wir dieſe For¬
[91] mel als Gleichnißrede betrachten, woraus wir
uns eine Lehre zum unmittelbaren Gebrauch
ziehen. Du ſtellſt das A vor, Charlotte,
und ich dein B: denn eigentlich haͤnge ich
doch nur von dir ab und folge dir, wie dem
A das B. Das C iſt ganz deutlich der Ca¬
pitain, der mich fuͤr dießmal dir einigermaßen
entzieht. Nun iſt es billig, daß wenn du
nicht ins Unbeſtimmte entweichen ſollſt, dir
fuͤr ein D geſorgt werde, und das iſt ganz
ohne Frage das liebenswuͤrdige Daͤmchen Otti¬
lie, gegen deren Annaͤherung du dich nicht
laͤnger vertheidigen darfſt.
Gut! verſetzte Charlotte, wenn auch das
Beyſpiel, wie mir ſcheint, nicht ganz auf
unſern Fall paßt; ſo halte ich es doch fuͤr
ein Gluͤck, daß wir heute einmal voͤllig zu¬
ſammentreffen, und daß dieſe Natur- und
Wahlverwandtſchaften unter uns eine vertrau¬
liche Mittheilung beſchleunigen. Ich will es
alſo nur geſtehen, daß ich ſeit dieſem Nach¬
[92] mittage entſchloſſen bin, Ottilien zu berufen:
denn meine bisherige treue Beſchließerinn
und Haushaͤlterinn wird abziehen, weil ſie
heiratet. Dieß waͤre von meiner Seite und
um meinetwillen; was mich um Ottiliens
willen beſtimmt, das wirſt du uns vorleſen.
Ich will dir nicht ins Blatt ſehen, aber frey¬
lich iſt mir der Inhalt ſchon bekannt. Doch
lies nur, lies! Mit dieſen Worten zog ſie
einen Brief hervor und reichte ihn Eduarden.
Fuͤnftes Kapitel.
Brief
der Vorſteherinn.
Ew. Gnaden werden verzeihen, wenn ich
mich heute ganz kurz faſſe: denn ich habe
nach vollendeter oͤffentlicher Pruͤfung deſſen
was wir im vergangenen Jahr an unſern
Zoͤglingen geleiſtet haben, an die ſaͤmmtlichen
Aeltern und Vorgeſetzten den Verlauf zu mel¬
den; auch darf ich wohl kurz ſeyn, weil ich
mit Wenigem Viel ſagen kann. Ihre Fraͤu¬
lein Tochter hat ſich in jedem Sinne als die
erſte bewieſen. Die beyliegenden Zeugniſſe,
ihr eigner Brief, der die Beſchreibung der
Preiſe enthaͤlt die ihr geworden ſind, und
[94] zugleich das Vergnuͤgen ausdruͤckt das ſie
uͤber ein ſo gluͤckliches Gelingen empfindet,
wird Ihnen zur Beruhigung, ja zur Freude
gereichen. Die meinige wird dadurch einiger¬
maßen gemindert, daß ich vorausſehe, wir
werden nicht lange mehr Urſache haben ein
ſo weit vorgeſchrittenes Frauenzimmer bey uns
zuruͤck zu halten. Ich empfehle mich zu Gna¬
den und nehme mir die Freyheit naͤchſtens
meine Gedanken uͤber das was ich am vor¬
theilhafteſten fuͤr ſie halte, zu eroͤffnen. Von
Ottilien ſchreibt mein freundlicher Gehuͤlfe.
Brief
des Gehülfen.
Von Ottilien laͤßt mich unſre ehrwuͤrdige
Vorſteherinn ſchreiben, theils weil es ihr,
nach ihrer Art zu denken, peinlich waͤre das¬
jenige was zu melden iſt zu melden, theils
auch weil ſie ſelbſt einer Entſchuldigung be¬
[95] darf, die ſie lieber mir in den Mund legen
mag.
Da ich nur allzuwohl weiß, wie wenig
die gute Ottilie das zu aͤußern im Stande iſt,
was in ihr liegt und was ſie vermag; ſo war
mir vor der oͤffentlichen Pruͤfung einigermaßen
bange, um ſo mehr als uͤberhaupt dabey
keine Vorbereitung moͤglich iſt, und auch,
wenn es nach der gewoͤhnlichen Weiſe ſeyn
koͤnnte, Ottilie auf den Schein nicht vor¬
zubereiten waͤre. Der Ausgang hat meine
Sorge nur zu ſehr gerechtfertigt; ſie hat kei¬
nen Preis erhalten und iſt auch unter denen
die kein Zeugniß empfangen haben. Was ſoll
ich viel ſagen? Im Schreiben hatten andere
kaum ſo wohlgeformte Buchſtaben, doch viel
freyere Zuͤge; im Rechnen waren alle ſchnel¬
ler, und an ſchwierige Aufgaben, welche ſie
beſſer loͤſt, kam es bey der Unterſuchung nicht.
Im Franzoͤſiſchen uͤberparlirten und uͤberexpo¬
nirten ſie manche; in der Geſchichte waren ihr
[96] Namen und Jahrzahlen nicht gleich bey der
Hand; bey der Geographie vermißte man
Aufmerkſamkeit auf die politiſche Eintheilung.
Zum muſicaliſchen Vortrag ihrer wenigen be¬
ſcheidenen Melodieen fand ſich weder Zeit noch
Ruhe. Im Zeichnen haͤtte ſie gewiß den
Preis davon getragen: ihre Umriſſe waren
rein und die Ausfuͤhrung bey vieler Sorgfalt
geiſtreich. Leider hatte ſie etwas zu Großes
unternommen und war nicht fertig geworden.
Als die Schuͤlerinnen abgetreten waren,
die Pruͤfenden zuſammen Rath hielten und
uns Lehrern wenigſtens einiges Wort dabey
goͤnnten, merkte ich wohl bald, daß von Ot¬
tilien gar nicht, und wenn es geſchah, wo
nicht mit Misbilligung doch mit Gleichguͤltig¬
keit geſprochen wurde. Ich hoffte durch eine
offne Darſtellung ihrer Art zu ſeyn, einige
Gunſt zu erregen, und wagte mich daran
mit doppeltem Eifer, einmal weil ich nach
meiner Ueberzeugung ſprechen konnte, und
[97] ſodann weil ich mich in juͤngeren Jahren in
eben demſelben traurigen Fall befunden hatte.
Man hoͤrte mich mit Aufmerkſamkeit an;
doch als ich geendigt hatte, ſagte mir der
vorſitzende Pruͤfende zwar freundlich aber la¬
coniſch: Faͤhigkeiten werden vorausgeſetzt, ſie
ſollen zu Fertigkeiten werden. Dieß iſt der
Zweck aller Erziehung, dieß iſt die laute deut¬
liche Abſicht der Aeltern und Vorgeſetzten, die
ſtille nur halbbewußte der Kinder ſelbſt. Dieß
iſt auch der Gegenſtand der Pruͤfung, wobey
zugleich Lehrer und Schuͤler beurtheilt wer¬
den. Aus dem was wir von Ihnen verneh¬
men, ſchoͤpfen wir gute Hoffnung von dem
Kinde, und Sie ſind allerdings lobenswuͤrdig,
indem Sie auf die Faͤhigkeiten der Schuͤle¬
rinnen genau Acht geben. Verwandeln Sie
ſolche bis uͤbers Jahr in Fertigkeiten, ſo wird
es Ihnen und Ihrer beguͤnſtigten Schuͤlerinn
nicht an Beyfall mangeln.
In das was hierauf folgte hatte ich mich
ſchon ergeben; aber ein noch Uebleres nicht
I. 7[98] befuͤrchtet, das ſich bald darauf zutrug. Un¬
ſere gute Vorſteherinn, die wie ein guter
Hirte auch nicht eins von ihren Schaͤfchen
verloren, oder wie es hier der Fall war, un¬
geſchmuͤckt ſehen moͤchte, konnte, nachdem die
Herren ſich entfernt hatten, ihren Unwillen
nicht bergen und ſagte zu Ottilien, die ganz
ruhig, indem die andern ſich uͤber ihre Preiſe
freuten, am Fenſter ſtand: aber ſagen Sie
mir, ums Himmelswillen! wie kann man ſo
dumm ausſehen, wenn man es nicht iſt?
Ottilie verſetzte ganz gelaſſen: verzeihen Sie,
liebe Mutter; ich habe gerade heute wieder
mein Kopfweh und ziemlich ſtark. Das kann
niemand wiſſen! verſetzte die ſonſt ſo theil¬
nehmende Frau und kehrte ſich verdrießlich um.
Nun es iſt wahr: Niemand kann es wiſ¬
ſen; denn Ottilie veraͤndert das Geſicht nicht,
und ich habe auch nicht geſehen, daß ſie ein¬
mal die Hand nach dem Schlafe zu bewegt
haͤtte.
[99]
Das war noch nicht alles. Ihre Fraͤu¬
lein Tochter, gnaͤdige Frau, ſonſt lebhaft und
freymuͤthig, war im Gefuͤhl ihres heutigen
Triumphs ausgelaſſen und uͤbermuͤthig. Sie
ſprang mit ihren Preiſen und Zeugniſſen in
den Zimmern herum, und ſchuͤttelte ſie auch
Ottilien vor dem Geſicht. Du biſt heute
ſchlecht gefahren! rief ſie aus. Ganz gelaſſen
antwortete Ottilie: es iſt noch nicht der letzte
Pruͤfungstag. Und doch wirſt du immer die
letzte bleiben! rief die Fraͤulein und ſprang
hinweg.
Ottilie ſchien gelaſſen fuͤr jeden andern,
nur nicht fuͤr mich. Eine innre unangenehme
lebhafte Bewegung, der ſie widerſteht, zeigt
ſich durch eine ungleiche Farbe des Geſichts.
Die linke Wange wird auf einen Augenblick
roth, indem die rechte bleich wird. Ich ſah
dieß Zeichen und meine Theilnehmung konnte
ſich nicht zuruͤckhalten. Ich fuͤhrte unſre Vor¬
ſteherinn bey Seite, ſprach ernſthaft mit ihr
7 *[100] uͤber die Sache. Die treffliche Frau erkannte
ihren Fehler. Wir beriethen, wir beſprachen
uns lange, und ohne deshalb weitlaͤufiger zu
ſeyn, will ich Ew. Gnaden unſern Beſchluß
und unſre Bitte vortragen: Ottilien auf ei¬
nige Zeit zu ſich zu nehmen. Die Gruͤnde
werden Sie ſich ſelbſt am beſten entfalten.
Beſtimmen Sie ſich hiezu, ſo ſage ich mehr
uͤber die Behandlung des guten Kindes. Ver¬
laͤßt uns dann Ihre Fraͤulein Tochter, wie
zu vermuthen ſteht; ſo ſehen wir Ottilien
mit Freuden zuruͤckkehren.
Noch eins, das ich vielleicht in der Folge
vergeſſen koͤnnte: ich habe nie geſehen, daß
Ottilie etwas verlangt, oder gar um etwas
dringend gebethen haͤtte. Dagegen kommen
Faͤlle, wiewohl ſelten, daß ſie etwas abzuleh¬
nen ſucht was man von ihr fordert. Sie
thut das mit einer Gebaͤrde, die fuͤr den der
den Sinn davon gefaßt hat unwiderſtehlich
iſt. Sie druͤckt die flachen Haͤnde, die ſie in
[101] die Hoͤhe hebt, zuſammen und fuͤhrt ſie ge¬
gen die Bruſt, indem ſie ſich nur wenig vor¬
waͤrts neigt und den dringend Fordernden
mit einem ſolchen Blick anſieht, daß er gern
von allem abſteht was er verlangen oder wuͤn¬
ſchen moͤchte. Sehen Sie jemals dieſe Ge¬
baͤrde, gnaͤdige Frau, wie es bey Ihrer Be¬
handlung nicht wahrſcheinlich iſt; ſo gedenken
Sie meiner und ſchonen Ottilien. —
Eduard hatte dieſe Briefe vorgeleſen, nicht
ohne Laͤcheln und Kopfſchuͤtteln. Auch konnte
es an Bemerkungen uͤber die Perſonen und
uͤber die Lage der Sache nicht fehlen.
Genug! rief Eduard endlich aus: es iſt
entſchieden, ſie kommt! Fuͤr dich waͤre geſorgt,
meine Liebe, und wir duͤrfen nun auch mit un¬
ſerm Vorſchlag hervorruͤcken. Es wird hoͤchſt
noͤthig, daß ich zu dem Hauptmann auf den
rechten Fluͤgel hinuͤber ziehe. Sowohl Abends
als Morgens iſt erſt die rechte Zeit zuſam¬
[102] men zu arbeiten. Du erhaͤltſt dagegen fuͤr
dich und Ottilien auf deiner Seite den
ſchoͤnſten Raum.
Charlotte ließ ſich's gefallen, und Eduard
ſchilderte ihre kuͤnftige Lebensart. Unter an¬
dern rief er aus: es iſt doch recht zuvorkom¬
mend von der Nichte, ein wenig Kopfweh
auf der linken Seite zu haben; ich habe es
manchmal auf der rechten. Trifft es zuſam¬
men und wir ſitzen gegeneinander, ich auf
den rechten Elbogen, ſie auf den linken ge¬
ſtuͤtzt, und die Koͤpfe nach verſchiedenen Sei¬
ten in die Hand gelegt; ſo muß das ein Paar
artige Gegenbilder geben.
Der Hauptmann wollte das gefaͤhrlich fin¬
den; Eduard hingegen rief aus: nehmen Sie
ſich nur, lieber Freund, vor dem D in Acht!
Was ſollte B denn anfangen, wenn ihm C
entriſſen wuͤrde?
[103]
Nun, ich daͤchte doch, verſetzte Charlotte,
das verſtuͤnde ſich von ſelbſt.
Freylich, rief Eduard: es kehrte zu ſei¬
nem A zuruͤck, zu ſeinem A und O! rief er,
indem er aufſprang und Charlotten feſt an
ſeine Bruſt druͤckte.
Sechſtes Kapitel.
Ein Wagen der Ottilien brachte war an¬
gefahren. Charlotte ging ihr entgegen; das
liebe Kind eilte ſich ihr zu naͤhern, warf ſich
ihr zu Fuͤßen und umfaßte ihre Kniee.
Wozu die Demuͤthigung! ſagte Charlotte,
die einigermaßen verlegen war und ſie aufhe¬
ben wollte. Es iſt ſo demuͤthig nicht gemeynt,
verſetzte Ottilie, die in ihrer vorigen Stel¬
lung blieb. Ich mag mich nur ſo gern jener
Zeit erinnern, da ich noch nicht hoͤher reichte
als bis an Ihre Kniee und Ihrer Liebe
ſchon ſo gewiß war.
[105]
Sie ſtand auf und Charlotte umarmte ſie
herzlich. Sie ward den Maͤnnern vorgeſtellt
und gleich mit beſonderer Achtung als Gaſt
behandelt. Schoͤnheit iſt uͤberall ein gar will¬
kommner Gaſt. Sie ſchien aufmerkſam auf
das Geſpraͤch, ohne daß ſie daran Theil ge¬
nommen haͤtte.
Den andern Morgen ſagte Eduard zu
Charlotten: es iſt ein angenehmes unterhal¬
tendes Maͤdchen.
Unterhaltend? verſetzte Charlotte mit Laͤ¬
cheln: ſie hat ja den Mund noch nicht auf¬
gethan.
So? erwiederte Eduard, indem er ſich
zu beſinnen ſchien: das waͤre doch wunderbar!
Charlotte gab dem neuen Ankoͤmmling nur
wenige Winke, wie es mit dem Hausgeſchaͤfte
zu halten ſey. Ottilie hatte ſchnell die ganze
[106] Ordnung eingeſehen, ja was noch mehr iſt,
empfunden. Was ſie fuͤr alle, fuͤr einen Je¬
den insbeſondre zu beſorgen hatte, begriff ſie
leicht. Alles geſchah puͤnctlich. Sie wußte
anzuordnen, ohne daß ſie zu befehlen ſchien,
und wo Jemand ſaͤumte, verrichtete ſie das
Geſchaͤft gleich ſelbſt.
Sobald ſie gewahr wurde, wie viel Zeit
ihr uͤbrig blieb, bat ſie Charlotten ihre Stun¬
den eintheilen zu duͤrfen, die nun genau be¬
obachtet wurden. Sie arbeitete das Vorge¬
ſetzte auf eine Art, von der Charlotte durch
den Gehuͤlfen unterrichtet war. Man ließ
ſie gewaͤhren. Nur zuweilen ſuchte Charlotte
ſie anzuregen. So ſchob ſie ihr manchmal
abgeſchriebene Federn unter, um ſie auf einen
freyeren Zug der Handſchrift zu leiten; aber
auch dieſe waren bald wieder ſcharf geſchnitten.
Die Frauenzimmer hatten untereinander
feſtgeſetzt, franzoͤſiſch zu reden wenn ſie allein
[107] waͤren; und Charlotte beharrte um ſo mehr
dabey, als Ottilie geſpraͤchiger in der frem¬
den Sprache war, indem man ihr die Uebung
derſelben zur Pflicht gemacht hatte. Hier
ſagte ſie oft mehr als ſie zu wollen ſchien.
Beſonders ergetzte ſich Charlotte an einer zu¬
faͤlligen, zwar genauen aber doch liebevollen
Schilderung der ganzen Penſionsanſtalt. Ot¬
tilie ward ihr eine liebe Geſellſchafterinn, und
ſie hoffte dereinſt an ihr eine zuverlaͤſſige
Freundinn zu finden.
Charlotte nahm indeß die aͤlteren Papiere
wieder vor, die ſich auf Ottilien bezogen, um
ſich in Erinnerung zu bringen, was die Vor¬
ſteherinn, was der Gehuͤlfe uͤber das gute
Kind geurtheilt, um es mit ihrer Perſoͤnlich¬
keit ſelbſt zu vergleichen. Denn Charlotte
war der Meynung, man koͤnne nicht geſchwind
genug mit dem Character der Menſchen be¬
kannt werden, mit denen man zu leben hat,
um zu wiſſen, was ſich von ihnen erwarten,
[108] was ſich an ihnen bilden laͤßt, oder was man
ihnen ein fuͤr allemal zugeſtehen und verzei¬
hen muß.
Sie fand zwar bey dieſer Unterſuchung
nichts neues, aber manches Bekannte ward
ihr bedeutender und auffallender. So konnte
ihr z. B. Ottiliens Maͤßigkeit im Eſſen und
Trinken wirklich Sorge machen.
Das naͤchſte was die Frauen beſchaͤftigte
war der Anzug. Charlotte verlangte von Ot¬
tilien, ſie ſolle in Kleidern reicher und mehr
ausgeſucht erſcheinen. Sogleich ſchnitt das
gute thaͤtige Kind die ihr fruͤher geſchenkten
Stoffe ſelbſt zu und wußte ſie ſich, mit ge¬
ringer Beyhuͤlfe anderer, ſchnell und hoͤchſt
zierlich anzupaſſen. Die neuen, modiſchen
Gewaͤnder erhoͤhten ihre Geſtalt: denn indem
das Angenehme einer Perſon ſich auch uͤber
ihre Huͤlle verbreitet, ſo glaubt man ſie im¬
mer wieder von neuem und anmuthiger zu
[109] ſehen, wenn ſie ihre Eigenſchaften einer neuen
Umgebung mittheilt.
Dadurch ward ſie den Maͤnnern, wie von
Anfang ſo immer mehr, daß wir es nur mit
dem rechten Namen nennen, ein wahrer Au¬
gentroſt. Denn wenn der Smaragd durch
ſeine herrliche Farbe dem Geſicht wohl thut,
ja ſogar einige Heilkraft an dieſem edlen Sinn
ausuͤbt; ſo wirkt die menſchliche Schoͤnheit
noch mit weit groͤßerer Gewalt auf den aͤu¬
ßern und inneren Sinn. Wer ſie erblickt,
den kann nichts uͤbles anwehen; er fuͤhlt ſich
mit ſich ſelbſt und mit der Welt in Ueber¬
einſtimmung.
Auf manche Weiſe hatte daher die Ge¬
ſellſchaft durch Ottiliens Ankunft gewonnen.
Die beyden Freunde hielten regelmaͤßiger die
Stunden, ja die Minuten der Zuſammen¬
kuͤnfte. Sie ließen weder zum Eſſen, noch
zum Thee, noch zum Spaziergang laͤnger als
[110] billig auf ſich warten. Sie eilten, beſonders
Abends, nicht ſobald von Tiſche weg. Char¬
lotte bemerkte das wohl und ließ beyde nicht
unbeobachtet. Sie ſuchte zu erforſchen, ob
einer vor dem andern hiezu den Anlaß gaͤbe;
aber ſie konnte keinen Unterſchied bemerken.
Beyde zeigten ſich uͤberhaupt geſelliger. Bey
ihren Unterhaltungen ſchienen ſie zu bedenken,
was Ottiliens Theilnahme zu erregen geeignet
ſeyn moͤchte, was ihren Einſichten, ihren uͤbri¬
gen Kenntniſſen gemaͤß waͤre. Beym Leſen
und Erzaͤhlen hielten ſie inne, bis ſie wieder¬
kam. Sie wurden milder und im Ganzen
mittheilender.
In Erwiederung dagegen wuchs die Dienſt¬
befliſſenheit Ottiliens mit jedem Tage. Je
mehr ſie das Haus, die Menſchen, die Ver¬
haͤltniſſe kennen lernte, deſto lebhafter griff
ſie ein, deſto ſchneller verſtand ſie jeden Blick,
jede Bewegung, ein halbes Wort, einen Laut.
Ihre ruhige Aufmerkſamkeit blieb ſich immer
[111] gleich, ſo wie ihre gelaſſene Regſamkeit. Und
ſo war ihr Sitzen, Aufſtehen, Gehen, Kom¬
men, Hohlen, Bringen, wieder Niederſitzen,
ohne einen Schein von Unruhe ein ewiger
Wechſel, eine ewige angenehme Bewegung.
Dazu kam, daß man ſie nicht gehen hoͤrte,
ſo leiſe trat ſie auf.
Dieſe anſtaͤndige Dienſtfertigkeit Ottiliens
machte Charlotten viele Freude. Ein einziges
was ihr nicht ganz angemeſſen vorkam, ver¬
barg ſie Ottilien nicht. Es gehoͤrt, ſagte ſie
eines Tages zu ihr, unter die lobenswuͤrdi¬
gen Aufmerkſamkeiten, daß wir uns ſchnell
buͤcken, wenn Jemand etwas aus der Hand
fallen laͤßt, und es eilig aufzuheben ſuchen.
Wir bekennen uns dadurch ihm gleichſam
dienſtpflichtig; nur iſt in der groͤßern Welt
dabey zu bedenken, wem man eine ſolche Er¬
gebenheit bezeigt. Gegen Frauen will ich
dir daruͤber keine Geſetze vorſchreiben. Du
biſt jung. Gegen Hoͤhere und Aeltere iſt es
[112] Schuldigkeit, gegen deines Gleichen Artig¬
keit, gegen Juͤngere und Niedere zeigt man
ſich dadurch menſchlich und gut; nur will es
einem Frauenzimmer nicht wohl geziemen,
ſich Maͤnnern auf dieſe Weiſe ergeben und
dienſtbar zu bezeigen.
Ich will es mir abzugewoͤhnen ſuchen,
verſetzte Ottilie. Indeſſen werden Sie mir
dieſe Unſchicklichkeit vergeben, wenn ich Ih¬
nen ſage, wie ich dazu gekommen bin. Man
hat uns die Geſchichte gelehrt; ich habe nicht
ſo viel daraus behalten, als ich wohl geſollt
haͤtte: denn ich wußte nicht wozu ich's brau¬
chen wuͤrde. Nur einzelne Begebenheiten
ſind mir ſehr eindruͤcklich geweſen; ſo fol¬
gende:
Als Carl der Erſte von England vor ſei¬
nen ſogenannten Richtern ſtand, fiel der goldne
Knopf des Stoͤckchens das er trug herunter.
Gewohnt, daß bey ſolchen Gelegenheiten ſich
[113] alles fuͤr ihn bemuͤhte, ſchien er ſich umzu¬
ſehen und zu erwarten, daß ihm Jemand
auch dießmal den kleinen Dienſt erzeigen ſollte.
Es regte ſich Niemand; er buͤckte ſich ſelbſt,
um den Knopf aufzuheben. Mir kam das
ſo ſchmerzlich vor, ich weiß nicht ob mit
Recht, daß ich von jenem Augenblick an
Niemanden kann etwas aus den Haͤnden fal¬
len ſehn, ohne mich darnach zu buͤcken. Da
es aber freylich nicht immer ſchicklich ſeyn
mag, und ich, fuhr ſie laͤchelnd fort, nicht
jederzeit meine Geſchichte erzaͤhlen kann; ſo
will ich mich kuͤnftig mehr zuruͤckhalten.
Indeſſen hatten die guten Anſtalten, zu
denen ſich die beyden Freunde berufen fuͤhl¬
ten, ununterbrochenen Fortgang. Ja taͤglich
fanden ſie neuen Anlaß etwas zu bedenken
und zu unternehmen.
Als ſie eines Tages zuſammen durch das
Dorf gingen, bemerkten ſie mißfaͤllig, wie
I. 8[114] weit es an Ordnung und Reinlichkeit hinter
jenen Doͤrfern zuruͤckſtehe, wo die Bewohner
durch die Koſtbarkeit des Raums auf beydes
hingewieſen werden.
Du erinnerſt dich, ſagte der Hauptmann,
wie wir auf unſerer Reiſe durch die Schweiz
den Wunſch aͤußerten, eine laͤndliche ſogenannte
Parkanlage recht eigentlich zu verſchoͤnern, in¬
dem wir ein ſo gelegenes Dorf, nicht zur
Schweizer-Bauart, ſondern zur Schweizer-
Ordnung und Sauberkeit, welche die Benu¬
tzung ſo ſehr befoͤrdern, einrichteten.
Hier z. B., verſetzte Eduard, ginge das
wohl an. Der Schloßberg verlaͤuft ſich in
einen vorſpringenden Winkel herunter; das
Dorf iſt ziemlich regelmaͤßig im Halbzirkel ge¬
genuͤber gebaut; dazwiſchen fließt der Bach,
gegen deſſen Anſchwellen ſich der eine mit
Steinen, der andre mit Pfaͤhlen, wieder ei¬
ner mit Balken, und der Nachbar ſodann
[115] mit Planken verwahren will, keiner aber den
andern foͤrdert, vielmehr ſich und den uͤbrigen
Schaden und Nachtheil bringt. So geht der
Weg auch in ungeſchickter Bewegung bald
herauf, bald herab, bald durchs Waſſer, bald
uͤber Steine. Wollten die Leute mit Hand
anlegen, ſo wuͤrde kein großer Zuſchuß noͤthig
ſeyn, um hier eine Mauer im Halbkreis auf¬
zufuͤhren, den Weg dahinter bis an die Haͤu¬
ſer zu erhoͤhen, den ſchoͤnſten Raum herzu¬
ſtellen, der Reinlichkeit Platz zu geben und
durch eine ins Große gehende Anſtalt alle
kleine unzulaͤngliche Sorge auf einmal zu ver¬
bannen.
Laß es uns verſuchen, ſagte der Haupt¬
mann, indem er die Lage mit den Augen
uͤberlief und ſchnell beurtheilte.
Ich mag mit Buͤrgern und Bauern nichts
zu thun haben, wenn ich ihnen nicht geradezu
befehlen kann, verſetzte Eduard.
8 *[116]
Du haſt ſo Unrecht nicht, erwiederte der
Hauptmann: denn auch mir machten derglei¬
chen Geſchaͤfte im Leben ſchon viel Verdruß.
Wie ſchwer iſt es, daß der Menſch recht ab¬
waͤge, was man aufopfern muß gegen das
was zu gewinnen iſt! wie ſchwer, den Zweck
zu wollen und die Mittel nicht zu verſchmaͤ¬
hen! Viele verwechſeln gar die Mittel und
den Zweck, erfreuen ſich an jenen, ohne die¬
ſen im Auge zu behalten. Jedes Uebel ſoll
an der Stelle geheilt werden, wo es zum
Vorſchein kommt, und man bekuͤmmert ſich
nicht um jenen Punct, wo es eigentlich ſeinen
Urſprung nimmt, woher es wirkt. Deswe¬
gen iſt es ſo ſchwer Rath zu pflegen, beſon¬
ders mit der Menge, die im Taͤglichen ganz
verſtaͤndig iſt, aber ſelten weiter ſieht als auf
Morgen. Kommt nun gar dazu, daß der
eine bey einer gemeinſamen Anſtalt gewinnen,
der andre verlieren ſoll, da iſt mit Vergleich
nun gar nichts auszurichten. Alles eigentlich
[117] gemeinſame Gute muß durch das unumſchraͤnkte
Majeſtaͤtsrecht gefoͤrdert werden.
Indem ſie ſtanden und ſprachen, bettelte
ſie ein Menſch an, der mehr frech als be¬
duͤrftig ausſah. Eduard, ungern unterbrochen
und beunruhigt, ſchalt ihn, nachdem er ihn
einigemal vergebens gelaſſener abgewieſen hatte;
als aber der Kerl ſich murrend, ja gegen¬
ſcheltend, mit kleinen Schritten entfernte, auf
die Rechte des Bettlers trotzte, dem man
wohl ein Almoſen verſagen, ihn aber nicht
beleidigen duͤrfe, weil er ſo gut wie jeder an¬
dere unter dem Schutze Gottes und der Obrig¬
keit ſtehe, kam Eduard ganz aus der Faſſung.
Der Hauptmann, ihn zu beguͤtigen, ſagte
darauf: laß uns dieſen Vorfall als eine Auf¬
forderung annehmen, unſere laͤndliche Polizey
auch hieruͤber zu erſtrecken. Almoſen muß man
einmal geben; man thut aber beſſer, wenn
man ſie nicht ſelbſt giebt, beſonders zu Hauſe.
[118] Da ſollte man maͤßig und gleichfoͤrmig in al¬
lem ſeyn, auch im Wohlthun. Eine allzu¬
reichliche Gabe lockt Bettler herbey, anſtatt
ſie abzufertigen; dagegen man wohl auf der
Reiſe, im Vorbeyfliegen, einem Armen an
der Straße in der Geſtalt des zufaͤlligen
Gluͤcks erſcheinen und ihm eine uͤberraſchende
Gabe zuwerfen mag. Uns macht die Lage
des Dorfes, des Schloſſes, eine ſolche An¬
ſtalt ſehr leicht; ich habe ſchon fruͤher daruͤber
nachgedacht.
An dem einen Ende des Dorfes liegt das
Wirthshaus, an dem andern wohnen ein Paar
alte gute Leute; an beyden Orten mußt du
eine kleine Geldſumme niederlegen. Nicht der
ins Dorf hereingehende, ſondern der hinaus¬
gehende erhaͤlt etwas; und da die beyden Haͤu¬
ſer zugleich an den Wegen ſtehen die auf das
Schloß fuͤhren, ſo wird auch alles was ſich
hinaufwenden wollte, an die beyden Stellen
gewieſen.
[119]
Komm, ſagte Eduard, wir wollen das
gleich abmachen; das Genauere koͤnnen wir
immer noch nachhohlen.
Sie gingen zum Wirth und zu dem alten
Paare, und die Sache war abgethan.
Ich weiß recht gut, ſagte Eduard, indem
ſie zuſammen den Schloßberg wieder hinauf¬
ſtiegen, daß alles in der Welt ankommt auf
einen geſcheiden Einfall und auf einen feſten
Entſchluß. So haſt du die Parkanlagen mei¬
ner Frau ſehr richtig beurtheilt, und mir auch
ſchon einen Wink zum Beſſern gegeben, den
ich ihr, wie ich gar nicht laͤugnen will, ſo¬
gleich mitgetheilt habe.
Ich konnte es vermuthen, verſetzte der
Hauptmann, aber nicht billigen. Du haſt
ſie irre gemacht; ſie laͤßt alles liegen und trutzt
in dieſer einzigen Sache mit uns: denn ſie
vermeidet davon zu reden und hat uns nicht
[120] wieder zur Mooshuͤtte geladen, ob ſie gleich
mit Ottilien in den Zwiſchenſtunden hinauf¬
geht.
Dadurch muͤſſen wir uns, verſetzte Eduard,
nicht abſchrecken laſſen. Wenn ich von et¬
was Gutem uͤberzeugt bin, was geſchehen
koͤnnte und ſollte, ſo habe ich keine Ruhe bis
ich es gethan ſehe. Sind wir doch ſonſt
klug etwas einzuleiten. Laß uns die engli¬
ſchen Parkbeſchreibungen mit Kupfern zur
Abendunterhaltung vornehmen, nachher deine
Guts-Charte. Man muß es erſt problema¬
tiſch und nur wie zum Scherz behandeln, der
Ernſt wird ſich ſchon finden.
Nach dieſer Verabredung wurden die Buͤ¬
cher aufgeſchlagen, worin man jedesmal den
Grundriß der Gegend und ihre landſchaftliche
Anſicht in ihrem erſten rohen Naturzuſtande
gezeichnet ſah, ſodann auf andern Blaͤttern
die Veraͤnderung vorgeſtellt fand, welche die
[121] Kunſt daran vorgenommen, um alles das be¬
ſtehende Gute zu nutzen und zu ſteigern. Hie¬
von war der Uebergang zur eigenen Beſitzung,
zur eignen Umgebung, und zu dem was man
daran ausbilden koͤnnte, ſehr leicht.
Die von dem Hauptmann entworfene
Charte zum Grunde zu legen war nunmehr
eine angenehme Beſchaͤftigung, nur konnte
man ſich von jener erſten Vorſtellung, nach
der Charlotte die Sache einmal angefangen
hatte, nicht ganz losreißen. Doch erfand
man einen leichtern Aufgang auf die Hoͤhe;
man wollte oberwaͤrts am Abhange vor einem
angenehmen Hoͤlzchen ein Luſtgebaͤude auf¬
fuͤhren; dieſes ſollte einen Bezug aufs Schloß
haben, aus den Schloßfenſtern ſollte man
es uͤberſehen, von dorther Schloß und Gaͤrten
wieder beſtreichen koͤnnen.
Der Hauptmann hatte alles wohl uͤber¬
legt und gemeſſen, und brachte jenen Dorf¬
[122] weg, jene Mauer am Bache her, jene Aus¬
fuͤllung wieder zur Sprache. Ich gewinne,
ſagte er, indem ich einen bequemen Weg zur
Anhoͤhe hinauf fuͤhre, gerade ſoviel Steine,
als ich zu jener Mauer bedarf. Sobald eins
ins andre greift, wird beydes wohlfeiler und
geſchwinder bewerkſtelligt.
Nun aber, ſagte Charlotte, kommt meine
Sorge. Nothwendig muß etwas Beſtimmtes
ausgeſetzt werden; und wenn man weiß,
wieviel zu einer ſolchen Anlage erforderlich iſt,
dann theilt man es ein, wo nicht auf Wochen,
doch wenigſtens auf Monate. Die Kaſſe iſt
unter meinem Beſchluß; ich zahle die Zettel,
und die Rechnung fuͤhre ich ſelbſt.
Du ſcheinſt uns nicht ſonderlich viel zu
vertrauen, ſagte Eduard.
Nicht viel in willkuͤhrlichen Dingen, ver¬
ſetzte Charlotte. Die Willkuͤhr wiſſen wir
beſſer zu beherrſchen als ihr.
[123]
Die Einrichtung war gemacht, die Arbeit
raſch angefangen, der Hauptmann immer ge¬
genwaͤrtig, und Charlotte nunmehr faſt taͤg¬
lich Zeuge ſeines ernſten und beſtimmten Sin¬
nes. Auch er lernte ſie naͤher kennen, und
beyden wurde es leicht, zuſammen zu wirken
und etwas zu Stande zu bringen.
Es iſt mit den Geſchaͤften wie mit dem
Tanze; Perſonen die gleichen Schritt halten,
muͤſſen ſich unentbehrlich werden; ein wech¬
ſelſeitiges Wohlwollen muß nothwendig dar¬
aus entſpringen, und daß Charlotte dem
Hauptmann, ſeitdem ſie ihn naͤher kennen ge¬
lernt, wirklich wohlwollte, davon war ein ſiche¬
rer Beweis, daß ſie ihn einen ſchoͤnen Ruhe¬
platz, den ſie bey ihren erſten Anlagen beſonders
ausgeſucht und verziert hatte, der aber ſeinem
Plane entgegenſtand, ganz gelaſſen zerſtoͤren
ließ, ohne auch nur die mindeſte unangeneh¬
me Empfindung dabey zu haben.
Siebentes Kapitel.
Indem nun Charlotte mit dem Haupt¬
mann eine gemeinſame Beſchaͤftigung fand,
ſo war die Folge, daß ſich Eduard mehr zu
Ottilien geſellte. Fuͤr ſie ſprach ohnehin ſeit
einiger Zeit eine ſtille freundliche Neigung in
ſeinem Herzen. Gegen Jedermann war ſie
dienſtfertig und zuvorkommend; daß ſie es ge¬
gen ihn am meiſten ſey, das wollte ſeiner
Selbſtliebe ſcheinen. Nun war keine Frage:
was fuͤr Speiſen und wie er ſie liebte, hatte
ſie ſchon genau bemerkt; wieviel er Zucker
zum Thee zu nehmen pflegte, und was der¬
gleichen mehr iſt, entging ihr nicht. Beſon¬
ders war ſie ſorgfaͤltig, alle Zugluft abzuweh¬
ren, gegen die er eine uͤbertriebene Empfind¬
[125] lichkeit zeigte, und deshalb mit ſeiner Frau,
der es nicht luſtig genug ſeyn konnte, manch¬
mal in Widerſpruch gerieth. Eben ſo wußte
ſie im Baum- und Blumengarten Beſcheid.
Was er wuͤnſchte ſuchte ſie zu befoͤrdern, was
ihn ungeduldig machen konnte, zu verhuͤthen,
dergeſtalt, daß ſie in kurzem wie ein freund¬
licher Schutzgeiſt ihm unentbehrlich ward und
er anfing ihre Abweſenheit ſchon peinlich zu
empfinden. Hiezu kam noch, daß ſie ge¬
ſpraͤchiger und offner ſchien ſobald ſie ſich allein
trafen.
Eduard hatte bey zunehmenden Jahren
immer etwas Kindliches behalten, das der
Jugend Ottiliens beſonders zuſagte. Sie er¬
innerten ſich gern fruͤherer Zeiten, wo ſie ein¬
ander geſehen; es ſtiegen dieſe Erinnerungen
bis in die erſten Epochen der Neigung Eduards
zu Charlotten. Ottilie wollte ſich der beyden
noch als des ſchoͤnſten Hofpaares erinnern;
und wenn Eduard ihr ein ſolches Gedaͤchtniß
[126] aus ganz fruͤher Jugend abſprach, ſo behaup¬
tete ſie doch beſonders einen Fall noch vollkom¬
men gegenwaͤrtig zu haben, wie ſie ſich ein¬
mal, bey ſeinem Hereintreten, in Charlottens
Schooß verſteckt, nicht aus Furcht, ſondern
aus kindiſcher Ueberraſchung. Sie haͤtte da¬
zu ſetzen koͤnnen: weil er ſo lebhaften Ein¬
druck auf ſie gemacht, weil er ihr gar ſo
wohl gefallen.
Bey ſolchen Verhaͤltniſſen waren manche
Geſchaͤfte, welche die beyden Freunde zuſam¬
men fruͤher vorgenommen, gewiſſermaßen in
Stocken gerathen, ſo daß ſie fuͤr noͤthig fan¬
den ſich wieder eine Ueberſicht zu verſchaffen,
einige Aufſaͤtze zu entwerfen, Briefe zu ſchrei¬
ben. Sie beſtellten ſich deshalb auf ihre
Canzley, wo ſie den alten Copiſten muͤßig
fanden. Sie gingen an die Arbeit und ga¬
ben ihm bald zu thun, ohne zu bemerken,
daß ſie ihm manches aufbuͤrdeten, was ſie
ſonſt ſelbſt zu verrichten gewohnt waren.
[127] Gleich der erſte Aufſatz wollte dem Haupt¬
mann, gleich der erſte Brief Eduarden nicht
gelingen. Sie quaͤlten ſich eine Zeit lang mit
Concipiren und Umſchreiben, bis endlich
Eduard, dem es am wenigſten von ſtatten
ging, nach der Zeit fragte.
Da zeigte ſich denn, daß der Hauptmann
vergeſſen hatte ſeine chronometriſche Secunden-
Uhr aufzuziehen, das erſtemal ſeit vielen Jah¬
ren; und ſie ſchienen, wo nicht zu empfin¬
den, doch zu ahnden, daß die Zeit anfange
ihnen gleichguͤltig zu werden.
Indem ſo die Maͤnner einigermaßen in
ihrer Geſchaͤftigkeit nachließen, wuchs viel¬
mehr die Thaͤtigkeit der Frauen. Ueberhaupt
nimmt die gewoͤhnliche Lebensweiſe einer Fa¬
milie, die aus den gegebenen Perſonen und
aus nothwendigen Umſtaͤnden entſpringt, auch
wohl eine außerordentliche Neigung, eine
werdende Leidenſchaft, in ſich wie in ein Ge¬
[128] faͤß auf, und es kann eine ziemliche Zeit ver¬
gehen, ehe dieſes neue Ingrediens eine merk¬
liche Gaͤrung verurſacht und ſchaͤumend uͤber
den Rand ſchwillt.
Bey unſern Freunden waren die entſtehen¬
den wechſelſeitigen Neigungen von der ange¬
nehmſten Wirkung. Die Gemuͤther oͤffneten
ſich, und ein allgemeines Wohlwollen ent¬
ſprang aus dem beſonderen. Jeder Theil
fuͤhlte ſich gluͤcklich und goͤnnte dem andern
ſein Gluͤck.
Ein ſolcher Zuſtand erhebt den Geiſt, in¬
dem er das Herz erweitert, und alles was
man thut und vornimmt, hat eine Richtung
gegen das Unermeßliche. So waren auch die
Freunde nicht mehr in ihrer Wohnung be¬
fangen. Ihre Spazirgaͤnge dehnten ſich wei¬
ter aus, und wenn dabey Eduard mit Ottilien,
die Pfade zu waͤhlen, die Wege zu bahnen,
vorauseilte; ſo folgte der Hauptmann mit
[129] Charlotten in bedeutender Unterhaltung, theil¬
nehmend an manchem neuentdeckten Plaͤtzchen,
an mancher unerwarteten Ausſicht, geruhig
der Spur jener raſcheren Vorgaͤnger.
Eines Tages leitete ſie ihr Spazirgang
durch die Schloßpforte des rechten Fluͤgels
hinunter nach dem Gaſthofe, uͤber die Bruͤcke
gegen die Teiche zu, an denen ſie hingingen,
ſo weit man gewoͤhnlich das Waſſer verfolgte,
deſſen Ufer ſodann von einem buſchigen Huͤ¬
gel und weiterhin von Felſen eingeſchloſſen
aufhoͤrte gangbar zu ſeyn.
Aber Eduard, dem von ſeinen Jagdwande¬
rungen her die Gegend bekannt war, drang mit
Ottilien auf einem bewachſenen Pfade weiter
vor, wohl wiſſend, daß die alte, zwiſchen Fel¬
ſen verſteckte Muͤhle nicht weit abliegen konnte.
Allein der wenig betretene Pfad verlor ſich
bald, und ſie fanden ſich im dichten Gebuͤſch
zwiſchen mooſigem Geſtein verirrt, doch nicht
I. 9[130] lange: denn das Rauſchen der Raͤder ver¬
kuͤndigte ihnen ſogleich die Naͤhe des geſuchten
Ortes.
Auf eine Klippe vorwaͤrts tretend ſahen
ſie das alte ſchwarze wunderliche Holzgebaͤude
im Grunde vor ſich, von ſteilen Felſen ſo
wie von hohen Baͤumen umſchattet. Sie
entſchloſſen ſich kurz und gut uͤber Moos und
Felstruͤmmer hinabzuſteigen: Eduard voran;
und wenn er nun in die Hoͤhe ſah, und Ot¬
tilie leicht ſchreitend, ohne Furcht und Aengſt¬
lichkeit, im ſchoͤnſten Gleichgewicht von Stein
zu Stein ihm folgte, glaubte er ein himmli¬
ſches Weſen zu ſehen, das uͤber ihm ſchwebte.
Und wenn ſie nun manchmal an unſicherer
Stelle ſeine ausgeſtreckte Hand ergriff, ja
ſich auf ſeine Schulter ſtuͤtzte, dann konnte
er ſich nicht verlaͤugnen, daß es das zarteſte
weibliche Weſen ſey, das ihn beruͤhrte. Faſt
haͤtte er gewuͤnſcht, ſie moͤchte ſtraucheln, glei¬
ten, daß er ſie in ſeine Arme auffangen, ſie
[131] an ſein Herz druͤcken koͤnnte. Doch dieß haͤtte
er unter keiner Bedingung gethan, aus mehr
als einer Urſache: er fuͤrchtete ſie zu beleidi¬
gen, ſie zu beſchaͤdigen.
Wie dieß gemeint ſey, erfahren wir ſo¬
gleich. Denn als er nun herabgelangt, ihr
unter den hohen Baͤumen am laͤndlichen Ti¬
ſche gegenuͤber ſaß, die freundliche Muͤllerinn
nach Milch, der bewillkommende Muͤller Char¬
lotten und dem Hauptmann entgegen geſandt
war, fing Eduard mit einigem Zaudern zu
ſprechen an.
Ich habe eine Bitte, liebe Ottilie: ver¬
zeihen Sie mir die, wenn Sie mir ſie auch
verſagen. Sie machen kein Geheimniß dar¬
aus, und es braucht es auch nicht, daß Sie
unter Ihrem Gewand, auf Ihrer Bruſt ein
Miniaturbild tragen. Es iſt das Bild Ih¬
res Vaters, des braven Mannes, den Sie
kaum gekannt, und der in jedem Sinne eine
9 *[132] Stelle an Ihrem Herzen verdient. Aber ver¬
geben Sie mir: das Bild iſt ungeſchickt groß,
und dieſes Metall, dieſes Glas macht mir tau¬
ſend Aengſten, wenn Sie ein Kind in die
Hoͤhe heben, etwas vor ſich hintragen, wenn
die Kutſche ſchwankt, wenn wir durchs Ge¬
buͤſch dringen, eben jetzt, wie wir vom Fel¬
ſen herabſtiegen. Mir iſt die Moͤglichkeit
ſchrecklich, daß irgend ein unvorgeſehener Stoß,
ein Fall, eine Beruͤhrung Ihnen ſchaͤdlich und
verderblich ſeyn koͤnnte. Thun Sie es mir
zu Liebe, entfernen Sie das Bild, nicht aus
Ihrem Andenken, nicht aus Ihrem Zimmer;
ja geben Sie ihm den ſchoͤnſten, den heiligſten
Ort Ihrer Wohnung: nur von Ihrer Bruſt
entfernen Sie etwas, deſſen Naͤhe mir, viel¬
leicht aus uͤbertriebener Aengſtlichkeit, ſo ge¬
faͤhrlich ſcheint.
Ottilie ſchwieg, und hatte waͤhrend er
ſprach vor ſich hingeſehen; dann, ohne Ueber¬
eilung und ohne Zaudern, mit einem Blick
[133] mehr gen Himmel als auf Eduard gewendet,
loͤſte ſie die Kette, zog das Bild hervor,
druͤckte es gegen ihre Stirn und reichte es
dem Freunde hin, mit den Worten: heben
Sie mir es auf, bis wir nach Hauſe kom¬
men. Ich vermag Ihnen nicht beſſer zu be¬
zeigen, wie ſehr ich Ihre freundliche Sorg¬
falt zu ſchaͤtzen weiß.
Der Freund wagte nicht das Bild an
ſeine Lippen zu druͤcken, aber er faßte ihre
Hand und druͤckte ſie an ſeine Augen. Es
waren vielleicht die zwey ſchoͤnſten Haͤnde, die
ſich jemals zuſammenſchloſſen. Ihm war,
als wenn ihm ein Stein vom Herzen gefal¬
len waͤre, als wenn ſich eine Scheidewand
zwiſchen ihm und Ottilien niedergelegt haͤtte.
Vom Muͤller gefuͤhrt langten Charlotte
und der Hauptmann auf einem bequemeren
Pfade herunter. Man begruͤßte ſich, man
erfreute und erquickte ſich. Zuruͤck wollte man
[134] denſelben Weg nicht kehren, und Eduard
ſchlug einen Felspfad auf der andern Seite
des Baches vor, auf welchem die Teiche wie¬
der zu Geſicht kamen, indem man ihn mit
einiger Anſtrengung zuruͤcklegte. Nun durch¬
ſtrich man abwechſelndes Gehoͤlz und erblickte,
nach dem Lande zu, mancherley Doͤrfer, Fle¬
cken, Meyereyen mit ihren gruͤnen und frucht¬
baren Umgebungen; zunaͤchſt ein Vorwerk,
das an der Hoͤhe, mitten im Holze gar ver¬
traulich lag. Am ſchoͤnſten zeigte ſich der
groͤßte Reichthum der Gegend, vor und ruͤck¬
waͤrts, auf der ſanfterſtiegenen Hoͤhe, von da
man zu einem luſtigen Waͤldchen gelangte,
und beym Heraustreten aus demſelben ſich
auf dem Felſen den Schloſſe gegenuͤber
befand.
Wie froh waren ſie, als ſie daſelbſt ge¬
wiſſermaßen unvermuthet ankamen. Sie hat¬
ten eine kleine Welt umgangen; ſie ſtanden
auf dem Platze wo das neue Gebaͤude hin¬
[135] kommen ſollte, und ſahen wieder in die Fen¬
ſter ihrer Wohnung.
Man ſtieg zur Mooshuͤtte hinunter, und
ſaß zum erſtenmal darin zu vieren. Nichts
war natuͤrlicher, als daß einſtimmig der
Wunſch ausgeſprochen wurde, dieſer heutige
Weg, den ſie langſam und nicht ohne Be¬
ſchwerlichkeit gemacht, moͤchte dergeſtalt ge¬
fuͤhrt und eingerichtet werden, daß man ihn
geſellig, ſchlendernd und mit Behaglichkeit zu¬
ruͤcklegen koͤnnte. Jedes that Vorſchlaͤge, und
man berechnete, daß der Weg, zu welchem ſie
mehrere Stunden gebraucht hatten, wohl ge¬
bahnt in einer Stunde zum Schloß zuruͤck¬
fuͤhren muͤßte. Schon legte man in Gedan¬
ken, unterhalb der Muͤhle, wo der Bach in
die Teiche fließt, eine Wegverkuͤrzende und
die Landſchaft zierende Bruͤcke an, als Char¬
lotte der erfindenden Einbildungskraft einigen
Stillſtand gebot, indem ſie an die Koſten er¬
[136] innerte, welche zu einem ſolchen Unternehmen
erforderlich ſeyn wuͤrden.
Hier iſt auch zu helfen, verſetzte Eduard.
Jenes Vorwerk im Walde, das ſo ſchoͤn zu
liegen ſcheint, und ſo wenig eintraͤgt, duͤrfen
wir nur veraͤußern und das daraus Geloͤſte
zu dieſen Anlagen verwenden; ſo genießen
wir vergnuͤglich auf einem unſchaͤtzbaren Spa¬
zirgange die Intereſſen eines wohlangelegten
Capitals, da wir jetzt mit Mismuth, bey
letzter Berechnung am Schluſſe des Jahrs,
eine kuͤmmerliche Einnahme davon ziehen.
Charlotte ſelbſt konnte als gute Haushaͤl¬
terin nicht viel dagegen erinnern. Die Sache
war ſchon fruͤher zur Sprache gekommen.
Nun wollte der Hauptmann einen Plan zu
Zerſchlagung der Grundſtuͤcke unter die Wald¬
bauern machen; Eduard aber wollte kuͤrzer
und bequemer verfahren wiſſen. Der gegen¬
waͤrtige Pachter, der ſchon Vorſchlaͤge gethan
[137] hatte; ſollte es erhalten, Terminweiſe zahlen
und ſo Terminweiſe wollte man die planmaͤ¬
ßigen Anlagen von Strecke zu Strecke vor¬
nehmen.
So eine vernuͤnftige gemaͤßigte Einrich¬
tung mußte durchaus Beyfall finden, und
ſchon ſah die ganze Geſellſchaft im Geiſte die
neuen Wege ſich ſchlaͤngeln, auf denen und
in deren Naͤhe man noch die angenehmſten
Ruhe- und Ausſichtsplaͤtze zu entdecken
hoffte.
Um ſich alles mehr im Einzelnen zu ver¬
gegenwaͤrtigen nahm man Abends zu Hauſe
ſogleich die neue Charte vor. Man uͤberſah
den zuruͤckgelegten Weg und wie er vielleicht
an einigen Stellen noch vortheilhafter zu fuͤh¬
ren waͤre. Alle fruͤheren Vorſaͤtze wurden
nochmals durchgeſprochen und mit den neue¬
ſten Gedanken verbunden, der Platz des neuen
Hauſes, gegen dem Schloß uͤber, nochmals
[138] gebilligt und der Kreislauf der Wege bis da¬
hin abgeſchloſſen.
Ottilie hatte zu dem allen geſchwiegen,
als Eduard zuletzt den Plan, der bisher vor
Charlotten gelegen, vor ſie hinwandte und ſie
zugleich einlud, ihre Meinung zu ſagen, und
als ſie einen Augenblick anhielt, ſie liebevoll
ermunterte, doch ja nicht zu ſchweigen: al¬
les ſey ja noch gleichguͤltig, alles noch im
Werden.
Ich wuͤrde, ſagte Ottilie, indem ſie den
Finger auf die hoͤchſte Flaͤche der Anhoͤhe
ſetzte, das Haus hieher bauen. Man ſaͤhe
zwar das Schloß nicht: denn es wird von
dem Waͤldchen bedeckt; aber man befaͤnde ſich
auch dafuͤr wie in einer andern und neuen
Welt, indem zugleich das Dorf und alle Woh¬
nungen verborgen waͤren. Die Ausſicht auf
die Teiche, nach der Muͤhle, auf die Hoͤhen,
in die Gebirge, nach dem Lande zu, iſt außer¬
[139] ordentlich ſchoͤn; ich habe es im Vorbeygehen
bemerkt.
Sie hat Recht! rief Eduard: wie konnte
uns das nicht einfallen? Nicht wahr, ſo iſt
es gemeint, Ottilie? — Er nahm einen Bley¬
ſtift und ſtrich ein laͤngliches Viereck recht ſtark
und derb auf die Anhoͤhe.
Dem Hauptmann fuhr das durch die Seele:
denn er ſah einen ſorgfaͤltigen, reinlich gezeich¬
neten Plan ungern auf dieſe Weiſe verun¬
ſtaltet; doch faßte er ſich nach einer leiſen
Misbilligung und ging auf den Gedanken
ein. Ottilie hat Recht, ſagte er: Macht
man nicht gern eine entfernte Spazirfahrt,
um einen Kaffee zu trinken, einen Fiſch zu
genießen, der uns zu Hauſe nicht ſo gut ge¬
ſchmeckt haͤtte. Wir verlangen Abwechſelung
und fremde Gegenſtaͤnde. Das Schloß haben
die Alten mit Vernunft hieher gebaut: denn
es liegt geſchuͤtzt vor den Winden, und nah
[140] an allen taͤglichen Beduͤrfniſſen; ein Gebaͤude
hingegen, mehr zum geſelligen Aufenthalt als
zur Wohnung, wird ſich dorthin recht wohl
ſchicken und in der guten Jahrszeit die ange¬
nehmſten Stunden gewaͤhren.
Jemehr man die Sache durchſprach deſto
guͤnſtiger erſchien ſie, und Eduard konnte ſei¬
nen Triumph nicht bergen, daß Ottilie den
Gedanken gehabt. Er war ſo ſtolz darauf
als ob die Erfindung ſein geweſen waͤre.
Achtes Kapitel.
Der Hauptmann unterſuchte gleich am
fruͤhſten Morgen den Platz, entwarf erſt ei¬
nen fluͤchtigen, und als die Geſellſchaft an
Ort und Stelle ſich nochmals entſchieden hat¬
te, einen genauen Riß nebſt Anſchlag und
allem Erforderlichen. Es fehlte nicht an der
noͤthigen Vorbereitung. Jenes Geſchaͤft we¬
gen Verkauf des Vorwerks ward auch ſogleich
wieder angegriffen. Die Maͤnner fanden zu¬
ſammen neuen Anlaß zur Thaͤtigkeit.
Der Hauptmann machte Eduarden bemerk¬
lich, daß es eine Artigkeit, ja wohl gar eine
Schuldigkeit ſey, Charlottens Geburtstag
durch Legung des Grundſteins zu feyern. Es
[142] bedurfte nicht viel, die alte Abneigung Edu¬
ards gegen ſolche Feſte zu uͤberwinden: denn
es kam ihm ſchnell in den Sinn, Ottiliens
Geburtstag, der ſpaͤter fiel, gleichfalls recht
feyerlich zu begehen.
Charlotte, der die neuen Anlagen, und
was deshalb geſchehen ſollte, bedeutend, ernſt¬
lich, ja faſt bedenklich vorkamen, beſchaͤftigte
ſich damit, die Anſchlaͤge, Zeit- und Geld¬
eintheilungen nochmals fuͤr ſich durchzugehen.
Man ſah ſich des Tages weniger, und mit
deſto mehr Verlangen ſuchte man ſich des
Abends auf.
Ottilie war indeſſen ſchon voͤllig Herrinn
des Haushaltes, und wie konnte es anders
ſeyn, bey ihrem ſtillen und ſichern Betragen.
Auch war ihre ganze Sinnesweiſe dem Hauſe
und dem Haͤuslichen mehr als der Welt, mehr
als dem Leben im Freyen zugewendet. Edu¬
ard bemerkte bald, daß ſie eigentlich nur aus
[143] Gefaͤlligkeit in die Gegend mitging, daß ſie
nur aus geſelliger Pflicht Abends laͤnger drau¬
ßen verweilte, auch wohl manchmal einen
Vorwand haͤuslicher Thaͤtigkeit ſuchte, um wie¬
der hinein zu gehen. Sehr bald wußte er
daher die gemeinſchaftlichen Wanderungen ſo
einzurichten, daß man vor Sonnenuntergang
wieder zu Hauſe war, und fing an, was er
lange unterlaſſen hatte, Gedichte vorzuleſen,
ſolche beſonders, in deren Vortrag der Aus¬
druck einer reinen doch leidenſchaftlichen Liebe
zu legen war.
Gewoͤhnlich ſaßen ſie Abends um einen
kleinen Tiſch, auf hergebrachten Plaͤtzen:
Charlotte auf dem Sopha, Ottilie auf einem
Seſſel gegen ihr uͤber, und die Maͤnner nah¬
men die beyden andern Seiten ein. Ottilie
ſaß Eduarden zur Rechten, wohin er auch
das Licht ſchob, wenn er las. Alsdann ruͤckte
ſich Ottilie wohl naͤher, um ins Buch zu
ſehen: denn auch ſie traute ihren eigenen
[144] Augen mehr als fremden Lippen; und Edu¬
ard gleichfalls ruͤckte zu, um es ihr auf alle
Weiſe bequem zu machen; ja er hielt oft
laͤngere Pauſen als noͤthig, damit er nur
nicht eher umwendete, bis auch ſie zu Ende
der Seite gekommen.
Charlotte und der Hauptmann bemerkten
es wohl und ſahen manchmal einander laͤchelnd
an; doch wurden beyde von einem andern
Zeichen uͤberraſcht, in welchem ſich Ottiliens
ſtille Neigung gelegentlich offenbarte.
An einem Abende, welcher der kleinen
Geſellſchaft durch einen laͤſtigen Beſuch zum
Theil verloren gegangen, that Eduard den
Vorſchlag noch beyſammen zu bleiben. Er
fuͤhlte ſich aufgelegt ſeine Floͤte vorzunehmen,
welche lange nicht an die Tagesordnung ge¬
kommen war. Charlotte ſuchte nach den So¬
naten, die ſie zuſammen gewoͤhnlich auszufuͤh¬
ren pflegten, und da ſie nicht zu finden wa¬
[145] ren, geſtand Ottilie nach einigem Zaudern,
daß ſie ſolche mit auf ihr Zimmer genommen.
Und Sie koͤnnen, Sie wollen mich auf
dem Fluͤgel begleiten? rief Eduard, dem die
Augen vor Freude glaͤnzten. Ich glaube wohl,
verſetzte Ottilie, daß es gehn wird. Sie
brachte die Noten herbey und ſetzte ſich ans
Clavier. Die Zuhoͤrenden waren aufmerkſam
und uͤberraſcht, wie vollkommen Ottilie das
Muſikſtuͤck fuͤr ſich ſelbſt eingelernt hatte,
aber noch mehr uͤberraſcht, wie ſie es der
Spielart Eduards anzupaſſen wußte. Anzu¬
paſſen wußte iſt nicht der rechte Ausdruck:
denn wenn es von Charlottens Geſchicklichkeit
und freyem Willen abhing, ihrem bald zoͤ¬
gernden bald voreilenden Gatten zu Liebe, hier
anzuhalten, dort mitzugehen; ſo ſchien Otti¬
lie, welche die Sonate von jenen einigemal
ſpielen gehoͤrt, ſie nur in dem Sinne einge¬
lernt zu haben, wie jener ſie begleitete. Sie
hatte ſeine Maͤngel ſo zu den ihrigen gemacht,
l. 10[146] daß daraus wieder eine Art von lebendigem
Ganzen entſprang, das ſich zwar nicht tact¬
gemaͤß bewegte, aber doch hoͤchſt angenehm
und gefaͤllig lautete. Der Componiſt ſelbſt
haͤtte ſeine Freude daran gehabt, ſein Werk
auf eine ſo liebevolle Weiſe entſtellt zu ſehen.
Auch dieſem wunderſamen, unerwarteten
Begegniß ſahen der Hauptmann und Char¬
lotte ſtillſchweigend mit einer Empfindung zu,
wie man oft kindiſche Handlungen betrachtet,
die man wegen ihrer beſorglichen Folgen ge¬
rade nicht billigt und doch nicht ſchelten kann,
ja vielleicht beneiden muß. Denn eigentlich
war die Neigung dieſer beyden eben ſo gut
im Wachſen als jene, und vielleicht nur noch
gefaͤhrlicher dadurch, daß beyde ernſter, ſiche¬
rer von ſich ſelbſt, ſich zu halten faͤhiger
waren.
Schon fing der Hauptmann an zu fuͤh¬
len, daß eine unwiderſtehliche Gewohnheit ihn
[147] an Charlotten zu feſſeln drohte. Er gewann
es uͤber ſich, den Stunden auszuweichen, in
denen Charlotte nach den Anlagen zu kom¬
men pflegte, indem er ſchon am fruͤhſten
Morgen aufſtand, alles anordnete und ſich
dann zur Arbeit auf ſeinen Fluͤgel ins Schloß
zuruͤckzog. Die erſten Tage hielt es Char¬
lotte fuͤr zufaͤllig; ſie ſuchte ihn an allen wahr¬
ſcheinlichen Stellen; dann glaubte ſie ihn
zu verſtehen und achtete ihn nur um deſto
mehr.
Vermied nun der Hauptmann mit Char¬
lotten allein zu ſeyn, ſo war er deſto emſiger,
zur glaͤnzenden Feyer des herannahenden Ge¬
burtsfeſtes die Anlagen zu betreiben und zu
beſchleunigen: denn indem er von unten hin¬
auf, hinter dem Dorfe her, den bequemen
Weg fuͤhrte, ſo ließ er, vorgeblich um Steine
zu brechen, auch von oben herunter arbeiten,
und hatte alles ſo eingerichtet und berechnet,
daß erſt in der letzten Nacht die beyden Theile
10 *[148] des Weges ſich begegnen ſollten. Zum neuen
Hauſe oben war auch ſchon der Keller mehr
gebrochen als gegraben, und ein ſchoͤner
Grundſtein mit Faͤchern und Deckplatten zu¬
gehauen.
Die aͤußere Thaͤtigkeit, dieſe kleinen freund¬
lichen geheimnißvollen Abſichten, bey innern
mehr oder weniger zuruͤckgedraͤngten Empfin¬
dungen, ließen die Unterhaltung der Geſell¬
ſchaft, wenn ſie beyſammen war, nicht lebhaft
werden, dergeſtalt daß Eduard, der etwas
luͤckenhaftes empfand, den Hauptmann eines
Abends aufrief, ſeine Violine hervorzunehmen
und Charlotten bey dem Clavier zu begleiten.
Der Hauptmann konnte dem allgemeinen Ver¬
langen nicht widerſtehen, und ſo fuͤhrten bey¬
de, mit Empfindung, Behagen und Freyheit,
eins der ſchwerſten Muſikſtuͤcke zuſammen auf,
daß es ihnen und dem zuhoͤrenden Paar zum
groͤßten Vergnuͤgen gereichte. Man verſprach
[149] ſich oͤftere Wiederhohlung und mehrere Zu¬
ſammenuͤbung
Sie machen es beſſer, als wir, Ottilie!
ſagte Eduard. Wir wollen ſie bewundern,
aber uns doch zuſammen freuen.
Neuntes Kapitel.
Der Geburtstag war herbeygekommen und
alles fertig geworden: die ganze Mauer die
den Dorfweg gegen das Waſſer zu einfaßte und
erhoͤhte, eben ſo der Weg an der Kirche vor¬
bey, wo er eine Zeit lang in dem von Char¬
lotten angelegten Pfade fortlief, ſich dann die
Felſen hinaufwaͤrts ſchlang, die Mooshuͤtte
links uͤber ſich, dann nach einer voͤlligen Wen¬
dung links unter ſich ließ und ſo allmaͤhlig
auf die Hoͤhe gelangte.
Es hatte ſich dieſen Tag viel Geſellſchaft
eingefunden. Man ging zur Kirche, wo man
die Gemeinde im feſtlichen Schmuck verſam¬
melt antraf. Nach dem Gottesdienſte zogen
[151] Knaben, Juͤnglinge und Maͤnner, wie es an¬
geordnet war, voraus; dann kam die Herr¬
ſchaft mit ihrem Beſuch und Gefolge; Maͤd¬
chen, Jungfrauen und Frauen machten den
Beſchluß.
Bey der Wendung des Weges war ein
erhoͤhter Felſenplatz eingerichtet; dort ließ der
Hauptmann Charlotten und die Gaͤſte aus¬
ruhen. Hier uͤberſahen ſie den ganzen Weg,
die hinaufgeſchrittene Maͤnnerſchaar, die nach¬
wandelnden Frauen, welche nun vorbeyzogen.
Es war bey dem herrlichen Wetter ein wun¬
derſchoͤner Anblick. Charlotte fuͤhlte ſich uͤber¬
raſcht, geruͤhrt und druͤckte dem Hauptmann
herzlich die Hand.
Man folgte der ſachte fortſchreitenden
Menge, die nun ſchon einen Kreis um den
kuͤnftigen Hausraum gebildet hatte. Der Bau¬
herr, die Seinigen und die vornehmſten Gaͤ¬
ſte wurden eingeladen in die Tiefe hinabzu¬
[152] ſteigen, wo der Grundſtein an einer Seite
unterſtuͤtzt eben zum Niederlaſſen bereit lag.
Ein wohlgeputzter Maurer, die Kelle in der
einen, den Hammer in der andern Hand,
hielt in Reimen eine anmuthige Rede, die
wir in Proſa nur unvollkommen wiedergeben
koͤnnen.
Drey Dinge, fing er an, ſind bey einem
Gebaͤude zu beobachten: daß es am rechten
Fleck ſtehe, daß es wohl gegruͤndet, daß es
vollkommen ausgefuͤhrt ſey. Das erſte iſt
eigentlich die Sache des Bauherrn: denn wie
in der Stadt nur der Fuͤrſt und die Gemeine
beſtimmen koͤnnen, wohin gebaut werden ſoll;
ſo iſt es auf dem Lande das Vorrecht des
Grundherren, daß er ſage: hier ſoll meine
Wohnung ſtehen und nirgends anders.
Eduard und Ottilie wagten nicht bey die¬
ſen Worten einander anzuſehen, ob ſie gleich
nahe gegen einander uͤber ſtanden.
[153]
Das dritte, die Vollendung, iſt die Sorge
gar vieler Gewerken; ja wenige ſind, die nicht
dabey beſchaͤftigt waͤren. Aber das zweyte,
die Gruͤndung, iſt des Maurers Angelegen¬
heit, und daß wir es nur keck herausſagen,
die Hauptangelegenheit des ganzen Unterneh¬
mens. Es iſt ein ernſtes Geſchaͤft und unſre
Einladung iſt ernſthaft: denn dieſe Feyerlich¬
keit wird in der Tiefe begangen. Hier inner¬
halb dieſes engen ausgegrabenen Raums er¬
weiſen Sie uns die Ehre als Zeugen unſeres
geheimnißvollen Geſchaͤftes zu erſcheinen.
Gleich werden wir dieſen wohl zugehauenen
Stein niederlegen und bald werden dieſe mit
ſchoͤnen und wuͤrdigen Perſonen gezierten Erd¬
waͤnde nicht mehr zugaͤnglich, ſie werden aus¬
gefuͤllt ſeyn.
Dieſen Grundſtein, der mit ſeiner Ecke
die rechte Ecke des Gebaͤudes, mit ſeiner
Rechtwinkligkeit die Regelmaͤßigkeit deſſelben,
mit ſeiner waſſer- und ſenkrechten Lage, Loth
[154] und Wage aller Mauern und Waͤnde bezeich¬
net, koͤnnten wir ohne weiteres niederlegen:
denn er ruhte wohl auf ſeiner eignen Schwere.
Aber auch hier ſoll es am Kalk, am Bin¬
dungsmittel nicht fehlen: denn ſo wie Men¬
ſchen die einander von Natur geneigt ſind,
noch beſſer zuſammenhalten, wenn das Ge¬
ſetz ſie verkittet; ſo werden auch Steine de¬
ren Form ſchon zuſammenpaßt, noch beſſer
durch dieſe bindenden Kraͤfte vereinigt: und
da es ſich nicht ziemen will unter den
Thaͤtigen muͤßig zu ſeyn, ſo werden Sie
nicht verſchmaͤhen auch hier Mitarbeiter zu
werden.
Er uͤberreichte hierauf ſeine Kelle Char¬
lotten, welche damit Kalk unter den Stein
warf. Mehreren wurde ein Gleiches zu thun
angeſonnen und der Stein alſobald niederge¬
ſenkt; worauf denn Charlotten und den uͤbri¬
gen ſogleich der Hammer gereicht wurde, um
durch ein dreymaliges Pochen die Verbin¬
[155] dung des Steins mit dem Grunde ausdruͤck¬
lich zu ſegnen.
Des Maurers Arbeit, fuhr der Redner
fort, zwar jetzt unter freyem Himmel, ge¬
ſchieht wo nicht immer im Verborgnen doch
zum Verborgnen. Der regelmaͤßig aufgefuͤhrte
Grund wird verſchuͤttet, und ſogar bey den
Mauern die wir am Tage auffuͤhren, iſt man
unſer am Ende kaum eingedenk. Die Arbei¬
ten des Steinmetzen und Bildhauers fallen
mehr in die Augen, und wir muͤſſen es ſogar
noch gut heißen, wenn der Tuͤncher die Spur
unſerer Haͤnde voͤllig ausloͤſcht und ſich unſer
Werk zueignet, indem er es uͤberzieht, glaͤttet
und faͤrbt.
Wem muß alſo mehr daran gelegen ſeyn,
das was er thut ſich ſelbſt recht zu machen,
indem er es recht macht, als dem Maurer?
Wer hat mehr als er das Selbſtbewußtſeyn
zu naͤhren Urſach? Wenn das Haus aufge¬
[156] fuͤhrt, der Boden geplattet und gepflaſtert,
die Außenſeite mit Zieraten uͤberdeckt iſt; ſo
ſieht er durch alle Huͤllen immer noch hinein
und erkennt noch jene regelmaͤßigen ſorgfaͤl¬
tigen Fugen, denen das Ganze ſein Daſeyn
und ſeinen Halt zu danken hat.
Aber wie Jeder, der eine Uebelthat be¬
gangen, fuͤrchten muß, daß ungeachtet alles
Abwehrens, ſie dennoch ans Licht kommen
werde; ſo muß derjenige erwarten, der ins
Geheim das Gute gethan, daß auch dieſes wi¬
der ſeinen Willen an den Tag komme. Des¬
wegen machen wir dieſen Grundſtein zugleich
zum Denkſtein. Hier in dieſe unterſchiedlichen
gehauenen Vertiefungen ſoll verſchiedenes ein¬
geſenkt werden, zum Zeugniß fuͤr eine ent¬
fernte Nachwelt. Dieſe metallnen zugeloͤ¬
theten Koͤcher enthalten ſchriftliche Nachrich¬
ten; auf dieſe Metall-Platten iſt allerley
Merkwuͤrdiges eingegraben; in dieſen ſchoͤnen
glaͤſernen Flaſchen verſenken wir den beſten al¬
[157] ten Wein, mit Bezeichnung ſeines Geburts¬
jahrs; es fehlt nicht an Muͤnzen verſchiede¬
ner Art, in dieſem Jahre gepraͤgt: alles die¬
ſes erhielten wir durch die Freygebigkeit un¬
ſers Bauherrn. Auch iſt hier noch mancher
Platz, wenn irgend ein Gaſt und Zuſchauer
etwas der Nachwelt zu uͤbergeben Belieben
truͤge.
Nach einer kleinen Pauſe ſah der Geſelle
ſich um; aber wie es in ſolchen Faͤllen zu
gehen pflegt, Niemand war vorbereitet, Je¬
dermann uͤberraſcht, bis endlich ein junger
munterer Officier anfing und ſagte: wenn ich
etwas beytragen ſoll, das in dieſer Schatz¬
kammer noch nicht niedergelegt iſt; ſo muß
ich ein Paar Knoͤpfe von der Uniform ſchnei¬
den, die doch wohl auch verdienen auf die
Nachwelt zu kommen. Geſagt, gethan! und
nun hatte mancher einen aͤhnlichen Einfall.
Die Frauenzimmer ſaͤumten nicht von ihren
kleinen Haarkaͤmmen hineinzulegen; Riech¬
[158] flaͤſchchen und andre Zierden wurden nicht ge¬
ſchont: nur Ottilie zauderte, bis Eduard ſie
durch ein freundliches Wort aus der Betrach¬
tung aller der beygeſteuerten und eingelegten
Dinge herausriß. Sie loͤſte darauf die gold¬
ne Kette vom Halſe, an der das Bild ihres
Vaters gehangen hatte, und legte ſie mit lei¬
ſer Hand uͤber die anderen Kleinode hin, wor¬
auf Eduard mit einiger Haſt veranſtaltete,
daß der wohlgefugte Deckel ſogleich aufge¬
ſtuͤrzt und eingekittet wurde.
Der junge Geſell, der ſich dabey am thaͤ¬
tigſten erwieſen, nahm ſeine Rednermiene
wieder an und fuhr fort: wir gruͤnden dieſen
Stein fuͤr ewig, zur Sicherung des laͤngſten
Genuſſes der gegenwaͤrtigen und kuͤnftigen
Beſitzer dieſes Hauſes. Allein indem wir hier
gleichſam einen Schatz vergraben, ſo denken
wir zugleich, bey dem gruͤndlichſten aller Ge¬
ſchaͤfte, an die Vergaͤnglichkeit der menſchli¬
chen Dinge: wir denken uns eine Moͤglich¬
[159] keit, daß dieſer feſtverſiegelte Deckel wieder
aufgehoben werden koͤnne, welches nicht anders
geſchehen duͤrfte, als wenn das alles wieder
zerſtoͤrt waͤre, was wir noch nicht einmal
aufgefuͤhrt haben.
Aber eben, damit dieſes aufgefuͤhrt werde,
zuruͤck mit den Gedanken aus der Zukunft,
zuruͤck ins Gegenwaͤrtige! Laßt uns, nach be¬
gangenem heutigen Feſte, unſre Arbeit ſo¬
gleich foͤrdern, damit keiner von den Gewer¬
ken, die auf unſerm Grunde fortarbeiten, zu
feyern brauche, daß der Bau eilig in die
Hoͤhe ſteige und vollendet werde, und aus
den Fenſtern, die noch nicht ſind, der Haus¬
herr mit den Seinigen und ſeinen Gaͤſten
ſich froͤhlich in der Gegend umſchaue, deren
aller ſo wie ſaͤmmtlicher Anweſenden Geſund¬
heit hiermit getrunken ſey!
Und ſo leerte er ein wohlgeſchliffenes Kelch¬
glas auf Einen Zug aus und warf es in die
[160] Luft: denn es bezeichnet das Uebermaß einer
Freude, das Gefaͤß zu zerſtoͤren, deſſen man
ſich in der Froͤhlichkeit bedient. Aber die߬
mal ereignete es ſich anders: das Glas kam
nicht wieder auf den Boden, und zwar ohne
Wunder.
Man hatte naͤmlich, um mit dem Bau
vorwaͤrts zu kommen, bereits an der entge¬
gengeſetzten Ecke den Grund voͤllig herausge¬
ſchlagen, ja ſchon angefangen die Mauern
aufzufuͤhren, und zu dem Endzweck das Ge¬
ruͤſt erbaut, ſo hoch als es uͤberhaupt noͤthig
war.
Daß man es beſonders zu dieſer Feyer¬
lichkeit mit Brettern belegt und eine Menge
Zuſchauer hinaufgelaſſen hatte, war zum Vor¬
theil der Arbeitsleute geſchehen. Dort hinauf
flog das Glas und wurde von Einem aufge¬
fangen, der dieſen Zufall als ein gluͤckliches Zei¬
chen fuͤr ſich anſah. Er wieß es zuletzt herum,
[161] ohne es aus der Hand zu laſſen, und man
ſah darauf die Buchſtaben E und O in ſehr
zierlicher Verſchlingung eingeſchnitten: es war
eins der Glaͤſer, die fuͤr Eduarden in ſeiner
Jugend verfertigt worden.
Die Geruͤſte ſtanden wieder leer, und die
leichteſten unter den Gaͤſten ſtiegen hinauf,
ſich umzuſehen, und konnten die ſchoͤne Aus¬
ſicht nach allen Seiten nicht genugſam ruͤh¬
men: denn was entdeckt der nicht alles, der
auf einem hohen Puncte nur um ein Geſchoß
hoͤher ſteht. Nach dem Innern des Landes
zu kamen mehrere neue Doͤrfer zum Vorſchein;
den ſilbernen Streifen des Fluſſes erblickte
man deutlich; ja ſelbſt die Thuͤrme der Haupt¬
ſtadt wollte Einer gewahr werden. An der
Ruͤckſeite, hinter den waldigen Huͤgeln, erho¬
ben ſich die blauen Gipfel eines fernen Ge¬
birges, und die naͤchſte Gegend uͤberſah man
im Ganzen. Nun ſollten nur noch, rief einer,
die drey Teiche zu einem See vereinigt wer¬
I. II[162] den; dann haͤtte der Anblick alles was groß
und wuͤnſchenswerth iſt.
Das ließe ſich wohl machen, ſagte der
Hauptmann: denn ſie bildeten ſchon vor Zei¬
ten einen Bergſee.
Nur bitte ich meine Platanen- und Pap¬
pelgruppe zu ſchonen, ſagte Eduard, die ſo
ſchoͤn am mittelſten Teich ſteht. Sehen Sie —
wandte er ſich zu Ottilien, die er einige
Schritte vorfuͤhrte, indem er hinabwies —
dieſe Baͤume habe ich ſelbſt gepflanzt.
Wie lange ſtehen ſie wohl ſchon? fragte
Ottilie. Etwa ſo lange, verſetzte Eduard,
als Sie auf der Welt ſind. Ja, liebes Kind,
ich pflanzte ſchon, da Sie noch in der Wiege
lagen.
Die Geſellſchaft begab ſich wieder in
das Schloß zuruͤck. Nach aufgehobener Ta¬
[163] fel wurde ſie zu einem Spazirgang durch das
Dorf eingeladen, um auch hier die neuen An¬
ſtalten in Augenſchein zu nehmen. Dort hat¬
ten ſich, auf des Hauptmanns Veranlaſſung,
die Bewohner vor ihren Haͤuſern verſammelt;
ſie ſtanden nicht in Reihen, ſondern Fami¬
lienweiſe natuͤrlich gruppirt, theils wie es der
Abend forderte beſchaͤftigt, theils auf neuen
Baͤnken ausruhend. Es ward ihnen zur an¬
genehmen Pflicht gemacht, wenigſtens jeden
Sonntag und Feſttag, dieſe Reinlichkeit, dieſe
Ordnung zu erneuen.
Eine innre Geſelligkeit mit Neigung, wie
ſie ſich unter unſeren Freunden erzeugt hatte,
wird durch eine groͤßere Geſellſchaft immer
nur unangenehm unterbrochen. Alle viere
waren zufrieden ſich wieder im großen Saale
allein zu finden; doch ward dieſes haͤusliche
Gefuͤhl einigermaßen geſtoͤrt, indem ein Brief,
der Eduarden uͤberreicht wurde, neue Gaͤſte
auf morgen ankuͤndigte.
11 *[164]
Wie wir vermutheten, rief Eduard Char¬
lotten zu: der Graf wird nicht ausbleiben,
er kommt morgen.
Da iſt alſo auch die Baroneſſe nicht weit,
verſetzte Charlotte.
Gewiß nicht! antwortete Eduard: ſie wird
auch morgen von ihrer Seite anlangen. Sie
bitten um ein Nachtquartier und wollen uͤber¬
morgen zuſammen wieder fortreiſen.
Da muͤſſen wir unſre Anſtalten bey Zei¬
ten machen, Ottilie! ſagte Charlotte.
Wie befehlen Sie die Einrichtung? fragte
Ottilie.
Charlotte gab es im Allgemeinen an, und
Ottilie entfernte ſich.
Der Hauptmann erkundigte ſich nach dem
Verhaͤltniß dieſer beyden Perſonen, das er
[165] nur im Allgemeinſten kannte. Sie hatten
fruͤher, beyde ſchon anderwaͤrts verheiratet,
ſich leidenſchaftlich liebgewonnen. Eine dop¬
pelte Ehe war nicht ohne Aufſehn geſtoͤrt;
man dachte an Scheidung. Bey der Baro¬
neſſe war ſie moͤglich geworden, bey dem
Grafen nicht. Sie mußten ſich zum Scheine
trennen, allein ihr Verhaͤltniß blieb; und
wenn ſie Winters in der Reſidenz nicht zuſam¬
menſeyn konnten, ſo entſchaͤdigten ſie ſich
Sommers auf Luſtreiſen und in Baͤdern. Sie
waren beyde um etwas aͤlter als Eduard und
Charlotte und ſaͤmmtlich genaue Freunde aus
fruͤher Hofzeit her. Man hatte immer ein gu¬
tes Verhaͤltniß erhalten, ob man gleich nicht
alles an ſeinen Freunden billigte. Nur die߬
mal war Charlotten ihre Ankunft gewiſſer¬
maßen ganz ungelegen, und wenn ſie die Ur¬
ſache genau unterſucht haͤtte, es war eigent¬
lich um Ottiliens willen. Das gute reine
Kind ſollte ein ſolches Beyſpiel ſo fruͤh nicht
gewahr werden.
[166]
Sie haͤtten wohl noch ein paar Tage weg¬
bleiben koͤnnen, ſagte Eduard als eben Otti¬
lie wieder hereintrat, bis wir den Vorwerks¬
verkauf in Ordnung gebracht. Der Aufſatz
iſt fertig; die eine Abſchrift habe ich hier,
nun fehlt es aber an der zweyten und unſer
alter Canzelliſt iſt recht krank. Der Haupt¬
mann bot ſich an, auch Charlotte; dagegen
waren einige Einwendungen zu machen. Ge¬
ben Sie mir's nur! rief Ottilie, mit eini¬
ger Haſt.
Du wirſt nicht damit fertig, ſagte Char¬
lotte.
Freylich muͤßte ich es uͤbermorgen fruͤh
haben und es iſt viel, ſagte Eduard. Es
ſoll fertig ſeyn, rief Ottilie, und hatte das
Blatt ſchon in Haͤnden.
Des andern Morgens, als ſie ſich aus
dem obern Stock nach den Gaͤſten umſahen,
[167] denen ſie entgegen zu gehen nicht verfehlen woll¬
ten, ſagte Eduard: wer reitet denn ſo lang¬
ſam dort die Straße her? Der Hauptmann
beſchrieb die Figur des Reiters genauer. So
iſt er's doch, ſagte Eduard: denn das Ein¬
zelne, das du beſſer ſiehſt als ich, paßt ſehr
gut zu dem Ganzen, das ich recht wohl ſehe.
Es iſt Mittler. Wie kommt er aber dazu,
langſam und ſo langſam zu reiten?
Die Figur kam naͤher und Mittler war
es wirklich. Man empfing ihn freundlich, als
er langſam die Treppe heraufſtieg. Warum
ſind Sie nicht geſtern gekommen? rief ihm
Eduard entgegen.
Laute Feſte lieb' ich nicht, verſetzte jener.
Heute komm' ich aber den Geburtstag mei¬
ner Freundinn mit Euch im Stillen nachzu¬
feyern.
Wie koͤnnen Sie denn ſo viel Zeit gewin¬
nen? fragte Eduard ſcherzend.
[168]
Meinen Beſuch, wenn er Euch etwas
werth iſt, ſeyd Ihr einer Betrachtung ſchul¬
dig, die ich geſtern gemacht habe. Ich freute
mich recht herzlich den halben Tag in einem
Hauſe wo ich Frieden geſtiftet hatte, und
dann hoͤrte ich, daß hier Geburtstag gefeyert
werde. Das kann man doch am Ende ſelb¬
ſtiſch nennen, dachte ich bey mir, daß du
dich nur mit denen freuen willſt die du zum
Frieden bewogen haſt. Warum freuſt du
dich nicht auch einmal mit Freunden die Frie¬
den halten und hegen? Geſagt, gethan! Hier
bin ich, wie ich mir vorgenommen hatte.
Geſtern haͤtten Sie große Geſellſchaft ge¬
funden, heute finden Sie nur kleine, ſagte
Charlotte. Sie finden den Grafen und die
Baroneſſe, die Ihnen auch ſchon zu ſchaffen
gemacht haben.
Aus der Mitte der vier Hausgenoſſen,
die den ſeltſamen willkommenen Mann um¬
[169] geben hatten, fuhr er mit verdrießlicher Leb¬
haftigkeit heraus, indem er ſogleich nach Hut
und Reitgerte ſuchte. Schwebt doch immer
ein Unſtern uͤber mir, ſobald ich einmal ruhen
und mir wohlthun will! Aber warum gehe
ich auch aus meinem Character heraus! Ich
haͤtte nicht kommen ſollen, und nun werd' ich
vertrieben. Denn mit Jenen will ich nicht
unter Einem Dache bleiben; und nehmt Euch
in Acht: ſie bringen nichts als Unheil! Ihr
Weſen iſt wie ein Sauerteig, der ſeine An¬
ſteckung fortpflanzt.
Man ſuchte ihn zu beguͤtigen; aber ver¬
gebens. Wer mir den Ehſtand angreift, rief
er aus, wer mir durch Wort, ja durch
That, dieſen Grund aller ſittlichen Geſell¬
ſchaft untergraͤbt, der hat es mit mir zu
thun; oder wenn ich ihn nicht Herr werden
kann, habe ich nichts mit ihm zu thun. Die
Ehe iſt der Anfang und der Gipfel aller Cul¬
tur. Sie macht den Rohen mild, und der
[170] Gebildetſte hat keine beßre Gelegenheit ſeine
Milde zu beweiſen. Unaufloͤslich muß ſie
ſeyn: denn ſie bringt ſo vieles Gluͤck, daß alles
einzelne Ungluͤck dagegen gar nicht zu rechnen
iſt. Und was will man von Ungluͤck reden?
Ungeduld iſt es, die den Menſchen von Zeit
zu Zeit anfaͤllt, und dann beliebt er ſich un¬
gluͤcklich zu finden. Laſſe man den Augen¬
blick voruͤbergehen, und man wird ſich gluͤck¬
lich preiſen, daß ein ſo lange Beſtandenes noch
beſteht. Sich zu trennen giebt's gar keinen
hinlaͤnglichen Grund. Der menſchliche Zu¬
ſtand iſt ſo hoch in Leiden und Freuden ge¬
ſetzt, daß gar nicht berechnet werden kann,
was ein Paar Gatten einander ſchuldig wer¬
den. Es iſt eine unendliche Schuld, die nur
durch die Ewigkeit abgetragen werden kann.
Unbequem mag es manchmal ſeyn, das glaub'
ich wohl, und das iſt eben Recht. Sind
wir nicht auch mit dem Gewiſſen verheiratet?
das wir oft gerne los ſeyn moͤchten, weil es
[171] unbequemer iſt als uns je ein Mann oder
eine Frau werden koͤnnte.
So ſprach er lebhaft und haͤtte wohl noch
lange fortgeſprochen, wenn nicht blaſende Po¬
ſtillions die Ankunft der Herrſchaften verkuͤn¬
digt haͤtten, welche wie abgemeſſen von beyden
Seiten zu gleicher Zeit in den Schloßhof her¬
einfuhren. Als ihnen die Hausgenoſſen ent¬
gegen eilten, verſteckte ſich Mittler, ließ ſich
das Pferd an den Gaſthof bringen, und ritt
verdrießlich davon.
Zehntes Kapitel.
Die Gaͤſte waren bewillkommt und einge¬
fuͤhrt; ſie freuten ſich das Haus, die Zimmer
wieder zu betreten, wo ſie fruͤher ſo manchen
guten Tag erlebt und die ſie eine lange Zeit
nicht geſehn hatten. Hoͤchſt angenehm war
auch den Freunden ihre Gegenwart. Den
Grafen ſo wie die Baroneſſe konnte man un¬
ter jene hohen ſchoͤnen Geſtalten zaͤhlen, die
man in einem mittlern Alter faſt lieber als
in der Jugend ſieht: denn wenn ihnen auch
etwas von der erſten Bluͤthe abgehn moͤchte,
ſo erregen ſie doch nun mit der Neigung
ein entſchiedenes Zutrauen. Auch dieſes Paar
zeigte ſich hoͤchſt bequem in der Gegenwart.
Ihre freye Weiſe die Zuſtaͤnde des Lebens
[173] zu nehmen und zu behandlen, ihre Heiter¬
keit und ſcheinbare Unbefangenheit theilte ſich
ſogleich mit, und ein hoher Anſtand begraͤnzte
das Ganze, ohne daß man irgend einen Zwang
bemerkt haͤtte.
Dieſe Wirkung ließ ſich augenblicks in der
Geſellſchaft empfinden. Die Neueintretenden,
welche unmittelbar aus der Welt kamen, wie
man ſogar an ihren Kleidern, Geraͤthſchaften
und allen Umgebungen ſehen konnte, machten
gewiſſermaßen mit unſern Freunden, ihrem
laͤndlichen und heimlich leidenſchaftlichen Zu¬
ſtande, eine Art von Gegenſatz, der ſich je¬
doch ſehr bald verlor, indem alte Erinnerun¬
gen und gegenwaͤrtige Theilnahme ſich ver¬
miſchten, und ein ſchnelles lebhaftes Geſpraͤch
alle geſchwind zuſammenverband.
Es waͤhrte indeſſen nicht lange, als ſchon
eine Sonderung vorging. Die Frauen zogen
ſich auf ihren Fluͤgel zuruͤck und fanden da¬
[174] ſelbſt, indem ſie ſich mancherley vertrauten
und zugleich die neuſten Formen und Zu¬
ſchnitte von Fruͤhkleidern, Huͤten und der¬
gleichen zu muſtern anfingen, genugſame Un¬
terhaltung; waͤhrend die Maͤnner ſich um
die neuen Reiſewaͤgen, mit vorgefuͤhrten Pfer¬
den, beſchaͤftigten und gleich zu handeln und
zu tauſchen anfingen.
Erſt zu Tiſche kam man wieder zuſammen.
Die Umkleidung war geſchehen und auch hier
zeigte ſich das angekommene Paar zu ſeinem
Vortheile. Alles was ſie an ſich trugen war
neu und gleichſam ungeſehen und doch ſchon
durch den Gebrauch zur Gewohnheit und Be¬
quemlichkeit eingeweiht.
Das Geſpraͤch war lebhaft und abwech¬
ſelnd, wie denn in Gegenwart ſolcher Per¬
ſonen alles und nichts zu intereſſiren ſcheint.
Man bediente ſich der franzoͤſiſchen Sprache,
um die Aufwartenden von dem Mitverſtaͤnd¬
[175] niß auszuſchließen, und ſchweifte mit muth¬
willigem Behagen uͤber hohe und mittlere
Weltverhaͤltniſſe hin. Auf einem einzigen
Punct blieb die Unterhaltung laͤnger als bil¬
lig haften, indem Charlotte nach einer Ju¬
gendfreundinn ſich erkundigte und mit einiger
Befremdung vernahm, daß ſie ehſtens geſchie¬
den werden ſollte.
Es iſt unerfreulich, ſagte Charlotte, wenn
man ſeine abweſenden Freunde irgend einmal
geborgen, eine Freundinn, die man liebt, ver¬
ſorgt glaubt; eh' man ſich's verſieht, muß man
wieder hoͤren, daß ihr Schickſal im Schwan¬
ken iſt und daß ſie erſt wieder neue und viel¬
leicht abermals unſichre Pfade des Lebens be¬
treten ſoll.
Eigentlich, meine Beſte, verſetzte der
Graf, ſind wir ſelbſt Schuld, wenn wir auf
ſolche Weiſe uͤberraſcht werden. Wir moͤgen
uns die irdiſchen Dinge, und beſonders auch die
[176] ehlichen Verbindungen gern ſo recht dauerhaft
vorſtellen, und was den letzten Punct betrifft,
ſo verfuͤhren uns die Luſtſpiele, die wir im¬
mer wiederhohlen ſehen, zu ſolchen Einbildun¬
gen, die mit dem Gange der Welt nicht zu¬
ſammentreffen. In der Comoͤdie ſehen wir
eine Heirat als das letzte Ziel eines durch
die Hinderniſſe mehrerer Acte verſchobenen
Wunſches, und im Augenblick, da es erreicht
iſt, faͤllt der Vorhang und die momentane
Befriedigung klingt bey uns nach. In der
Welt iſt es anders; da wird hinten immer
fort geſpielt, und wenn der Vorhang wieder
aufgeht, mag man gern nichts weiter davon
ſehen noch hoͤren.
Es muß doch ſo ſchlimm nicht ſeyn, ſagte
Charlotte laͤchelnd, da man ſieht, daß auch
Perſonen die von dieſem Theater abgetreten
ſind, wohl gern darauf wieder eine Rolle
ſpielen moͤgen.
[177]
Dagegen iſt nichts einzuwenden, ſagte der
Graf. Eine neue Rolle mag man gern wie¬
der uͤbernehmen, und wenn man die Welt
kennt, ſo ſieht man wohl, auch bey dem Ehe¬
ſtande iſt es nur dieſe entſchiedene ewige Dau¬
er zwiſchen ſo viel Beweglichem in der Welt,
die etwas Ungeſchicktes an ſich traͤgt. Einer
von meinen Freunden, deſſen gute Laune ſich
meiſt in Vorſchlaͤgen zu neuen Geſetzen her¬
vorthat, behauptete: eine jede Ehe ſolle nur
auf fuͤnf Jahren geſchloſſen werden. Es ſey,
ſagte er, dieß eine ſchoͤne ungrade heilige
Zahl und ein ſolcher Zeitraum eben hinrei¬
chend um ſich kennen zu lernen, einige Kin¬
der heran zu bringen, ſich zu entzweyen und,
was das ſchoͤnſte ſey, ſich wieder zu verſoͤh¬
nen. Gewoͤhnlich rief er aus: wie gluͤcklich
wuͤrde die erſte Zeit verſtreichen! Zwey, drey
Jahre wenigſtens gingen vergnuͤglich hin.
Dann wuͤrde doch wohl dem einen Theil dar¬
an gelegen ſeyn, das Verhaͤltniß laͤnger dau¬
ern zu ſehen, die Gefaͤlligkeit wuͤrde wachſen,
I. 12[178] jemehr man ſich dem Termin der Aufkuͤndi¬
gung naͤherte. Der gleichguͤltige, ja ſelbſt der
unzufriedene Theil wuͤrde durch ein ſolches
Betragen beguͤtigt und eingenommen. Man
vergaͤße, wie man in guter Geſellſchaft die
Stunden vergißt, daß die Zeit verfließe, und
faͤnde ſich aufs angenehmſte uͤberraſcht, wenn
man nach verlaufnem Termin erſt bemerkte,
daß er ſchon ſtillſchweigend verlaͤngert ſey.
So artig und luſtig dieß klang und ſo
gut man, wie Charlotte wohl empfand, die¬
ſem Scherz eine tiefe moraliſche Deutung ge¬
ben konnte, ſo waren ihr dergleichen Aeuße¬
rungen, beſonders um Ottiliens willen, nicht
angenehm. Sie wußte recht gut, daß nichts
gefaͤhrlicher ſey, als ein allzufreyes Geſpraͤch,
das einen ſtrafbaren oder halbſtrafbaren Zu¬
ſtand als einen gewoͤhnlichen, gemeinen, ja
loͤblichen behandelt; und dahin gehoͤrt doch
gewiß alles was die eheliche Verbindung an¬
taſtet. Sie ſuchte daher nach ihrer gewand¬
[179] ten Weiſe das Geſpraͤch abzulenken; da ſie es
nicht vermochte, that es ihr leid, daß Ottilie
alles ſo gut eingerichtet hatte um nicht auf¬
ſtehen zu duͤrfen. Das ruhig aufmerkſame
Kind verſtand ſich mit dem Haushofmeiſter
durch Blick und Wink, daß alles auf das
trefflichſte gerieth, obgleich ein paar neue un¬
geſchickte Bedienten in der Livree ſtaken.
Und ſo fuhr der Graf, Charlottens Ab¬
lenken nicht empfindend, uͤber dieſen Gegen¬
ſtand ſich zu aͤußern fort. Ihm, der ſonſt
nicht gewohnt war im Geſpraͤch irgend laͤſtig
zu ſeyn, laſtete dieſe Sache zu ſehr auf dem
Herzen, und die Schwierigkeiten, ſich von
ſeiner Gemahlinn getrennt zu ſehen, machten
ihn bitter gegen alles was eheliche Verbin¬
dung betraf, die er doch ſelbſt mit der Baro¬
neſſe ſo eifrig wuͤnſchte.
Jener Freund, ſo fuhr er fort, that noch
einen andern Geſetzvorſchlag. Eine Ehe ſollte
12 *[180] nur alsdann fuͤr unaufloͤslich gehalten wer¬
den, wenn entweder beyde Theile, oder we¬
nigſtens der eine Theil, zum drittenmal ver¬
heiratet waͤre. Denn was eine ſolche Per¬
ſon betreffe, ſo bekenne ſie unwiderſprechlich,
daß ſie die Ehe fuͤr etwas unentbehrliches
halte. Nun ſey auch ſchon bekannt gewor¬
den, wie ſie ſich in ihren fruͤhern Verbin¬
dungen betragen, ob ſie Eigenheiten habe, die
oft mehr zur Trennung Anlaß geben als
uͤble Eigenſchaften. Man habe ſich alſo wech¬
ſelſeitig zu erkundigen; man habe eben ſo gut
auf Verheiratete wie auf Unverheiratete Acht
zu geben, weil man nicht wiſſe, wie die
Faͤlle kommen koͤnnen.
Das wuͤrde freylich das Intereſſe der
Geſellſchaft ſehr vermehren, ſagte Eduard:
denn in der That jetzt, wenn wir verheira¬
tet ſind, fragt Niemand weiter mehr nach
unſern Tugenden, noch unſern Maͤngeln.
[181]
Bey einer ſolchen Einrichtung, fiel die
Baroneſſe laͤchelnd ein, haͤtten unſre lieben
Wirthe ſchon zwey Stufen gluͤcklich uͤberſtie¬
gen, und koͤnnten ſich zu der dritten vorbe¬
reiten.
Ihnen iſt's wohl gerathen, ſagte der
Graf: hier hat der Tod willig gethan, was
die Conſiſtorien ſonſt nur ungern zu thun
pflegen.
Laſſen wir die Todten ruhen, verſetzte
Charlotte, mit einem halb ernſten Blicke.
Warum? verſetzte der Graf, da man ih¬
rer in Ehren gedenken kann. Sie waren be¬
ſcheiden genug ſich mit einigen Jahren zu be¬
gnuͤgen, fuͤr mannigfaltiges Gute das ſie zu¬
ruͤckließen.
Wenn nur nicht gerade, ſagte die Ba¬
roneſſe mit einem verhaltenen Seufzer, in
[182] ſolchen Faͤllen das Opfer der beſten Jahre
gebracht werden muͤßte.
Ja wohl, verſetzte der Graf: man muͤßte
daruͤber verzweifeln, wenn nicht uͤberhaupt in
der Welt ſo weniges eine gehoffte Folge zeig¬
te. Kinder halten nicht was ſie verſprechen;
junge Leute ſehr ſelten, und wenn ſie Wort
halten, haͤlt es ihnen die Welt nicht.
Charlotte, welche froh war, daß das Ge¬
ſpraͤch ſich wendete, verſetzte heiter: Nun!
wir muͤſſen uns ja ohnehin bald genug ge¬
woͤhnen, das Gute ſtuͤck- und theilweiſe zu
genießen.
Gewiß, verſetzte der Graf, Sie haben
beyde ſehr ſchoͤner Zeiten genoſſen. Wenn ich
mir die Jahre zuruͤckerinnere, da Sie und
Eduard das ſchoͤnſte Paar bey Hof waren;
weder von ſo glaͤnzenden Zeiten noch von ſo
hervorleuchtenden Geſtalten iſt jetzt die Rede
[183] mehr. Wenn Sie beyde zuſammen tanzten,
aller Augen waren auf Sie gerichtet und wie
umworben beyde, indem Sie ſich nur in ein¬
ander beſpiegelten.
Da ſich ſo manches veraͤndert hat, ſagte
Charlotte, koͤnnen wir wohl ſo viel Schoͤnes
mit Beſcheidenheit anhoͤren.
Eduarden habe ich doch oft im Stillen
getadelt, ſagte der Graf, daß er nicht beharr¬
licher war: denn am Ende haͤtten ſeine wun¬
derlichen Aeltern wohl nachgegeben; und zehn
fruͤhe Jahre gewinnen iſt keine Kleinigkeit.
Ich muß mich ſeiner annehmen, fiel die
Baroneſſe ein. Charlotte war nicht ganz
ohne Schuld, nicht ganz rein von allem Um¬
herſehen, und ob ſie gleich Eduarden von
Herzen liebte und ſich ihn auch heimlich zum
Gatten beſtimmte; ſo war ich doch Zeuge,
wie ſehr ſie ihn manchmal quaͤlte, ſo daß
[184] man ihn leicht zu dem ungluͤcklichen Entſchluß
draͤngen konnte, zu reiſen, ſich zu entfernen,
ſich von ihr zu entwoͤhnen.
Eduard nickte der Baroneſſe zu und ſchien
dankbar fuͤr ihre Vorſprache.
Und dann muß ich eins, fuhr ſie fort,
zu Charlottens Entſchuldigung beyfuͤgen: der
Mann der zu jener Zeit um ſie warb, hatte
ſich ſchon lange durch Neigung zu ihr aus¬
gezeichnet und war, wenn man ihn naͤher
kannte, gewiß liebenswuͤrdiger als ihr andern
gern zugeſtehen moͤgt.
Liebe Freundinn, verſetzte der Graf etwas
lebhaft: bekennen wir nur, daß er Ihnen
nicht ganz gleichguͤltig war, und daß Char¬
lotte von Ihnen mehr zu befuͤrchten hatte als
von einer andern. Ich finde das einen ſehr
huͤbſchen Zug an den Frauen, daß ſie ihre
Anhaͤnglichkeit an irgend einen Mann ſo lange
[185] noch fortſetzen, ja durch keine Art von Tren¬
nung ſtoͤren oder aufheben laſſen.
Dieſe gute Eigenſchaft beſitzen vielleicht
die Maͤnner noch mehr, verſetzte die Baro¬
neſſe; wenigſtens an Ihnen, lieber Graf,
habe ich bemerkt, daß Niemand mehr Ge¬
walt uͤber Sie hat als ein Frauenzimmer
dem Sie fruͤher geneigt waren. So habe
ich geſehen, daß Sie auf die Vorſprache ei¬
ner ſolchen ſich mehr Muͤhe gaben, um et¬
was auszuwirken, als vielleicht die Freun¬
dinn des Augenblicks von Ihnen erlangt
haͤtte.
Einen ſolchen Vorwurf darf man ſich
wohl gefallen laſſen, verſetzte der Graf;
doch was Charlottens erſten Gemahl betrifft,
ſo konnte ich ihn deshalb nicht leiden, weil er
mir das ſchoͤne Paar auseinander ſprengte,
ein wahrhaft praͤdeſtinirtes Paar, das ein¬
mal zuſammengegeben weder fuͤnf Jahre zu
[186] ſcheuen, noch auf eine zweyte oder gar dritte
Verbindung hinzuſehen brauchte.
Wir wollen verſuchen, ſagte Charlotte,
wieder einzubringen was wir verſaͤumt
haben.
Da muͤſſen Sie ſich dazu halten, ſagte
der Graf. Ihre erſten Heiraten, fuhr er
mit einiger Heftigkeit fort, waren doch ſo ei¬
gentlich rechte Heiraten von der verhaßten
Art; und leider haben uͤberhaupt die Heira¬
ten — verzeihen Sie mir einen lebhafteren
Ausdruck — etwas Toͤlpelhaftes; ſie verder¬
ben die zarteſten Verhaͤltniſſe, und es liegt
doch eigentlich nur an der plumpen Sicher¬
heit, auf die ſich wenigſtens ein Theil etwas
zu Gute thut. Alles verſteht ſich von ſelbſt,
und man ſcheint ſich nur verbunden zu haben
damit eins wie das andre nunmehr ſeiner
Wege gehe.
[187]
In dieſem Augenblick machte Charlotte,
die ein fuͤr allemal dieß Geſpraͤch abbrechen
wollte, von einer kuͤhnen Wendung Gebrauch;
es gelang ihr. Die Unterhaltung ward all¬
gemeiner, die beyden Gatten und der Haupt¬
mann konnten daran Theil nehmen; ſelbſt
Ottilie ward veranlaßt ſich zu aͤußern, und
der Nachtiſch ward mit der beſten Stim¬
mung genoſſen, woran der in zierlichen Frucht¬
koͤrben aufgeſtellte Obſtreichthum, die bunteſte
in Prachtgefaͤßen ſchoͤn vertheilte Blumenfuͤlle,
den vorzuͤglichſten Antheil hatte.
Auch die neuen Parkanlagen kamen zur
Sprache, die man ſogleich nach Tiſche beſuch¬
te. Ottilie zog ſich unter dem Vorwande
haͤuslicher Beſchaͤftigungen zuruͤck; eigentlich
aber ſetzte ſie ſich wieder zur Abſchrift. Der
Graf wurde von dem Hauptmann unterhal¬
ten; ſpaͤter geſellte ſich Charlotte zu ihm. Als
ſie oben auf die Hoͤhe gelangt waren, und
der Hauptmann gefaͤllig hinunter eilte um
[188] den Plan zu hohlen, ſagte der Graf zu Char¬
lotten: dieſer Mann gefaͤllt mir außerordent¬
lich. Er iſt ſehr wohl und im Zuſammen¬
hang unterrichtet. Eben ſo ſcheint ſeine Thaͤ¬
tigkeit ſehr ernſt und folgerecht. Was er
hier leiſtet, wuͤrde in einem hoͤhern Kreiſe
von viel Bedeutung ſeyn.
Charlotte vernahm des Hauptmanns Lob
mit innigem Behagen. Sie faßte ſich jedoch
und bekraͤftigte das Geſagte mit Ruhe und
Klarheit. Wie uͤberraſcht war ſie aber, als
der Graf fortfuhr: dieſe Bekanntſchaft kommt
mir ſehr zu gelegener Zeit. Ich weiß eine Stel¬
le, an die der Mann vollkommen paßt, und ich
kann mir durch eine ſolche Empfehlung, in¬
dem ich ihn gluͤcklich mache, einen hohen
Freund auf das allerbeſte verbinden.
Es war wie ein Donnerſchlag der auf
Charlotten herabfiel. Der Graf bemerkte
nichts: denn die Frauen, gewohnt ſich jeder¬
[189] zeit zu baͤndigen, behalten in den außeror¬
dentlichſten Faͤllen immer noch eine Art von
ſcheinbarer Faſſung. Doch hoͤrte ſie ſchon
nicht mehr was der Graf ſagte, indem er
fortfuhr: Wenn ich von etwas uͤberzeugt bin,
geht es bey mir geſchwind her. Ich habe
ſchon meinen Brief im Kopfe zuſammenge¬
ſtellt, und mich draͤngt's ihn zu ſchreiben.
Sie verſchaffen mir einen reitenden Boten,
den ich noch heute Abend wegſchicken kann.
Charlotte war innerlich zerriſſen. Von
dieſen Vorſchlaͤgen ſo wie von ſich ſelbſt uͤber¬
raſcht, konnte ſie kein Wort hervorbringen.
Der Graf fuhr gluͤcklicherweiſe fort von ſei¬
nen Planen fuͤr den Hauptmann zu ſprechen,
deren Guͤnſtiges Charlotten nur allzuſehr in
die Augen fiel. Es war Zeit, daß der Haupt¬
mann herauftrat und ſeine Rolle vor dem
Grafen entfaltete. Aber mit wie andern Au¬
gen ſah ſie den Freund an, den ſie verlieren
ſollte! Mit einer nothduͤrftigen Verbeugung
[190] wandte ſie ſich weg und eilte hinunter nach
der Mooshuͤtte. Schon auf halbem Wege
ſtuͤrzten ihr die Thraͤnen aus den Augen,
und nun warf ſie ſich in den engen Raum
der kleinen Einſiedeley und uͤberließ ſich ganz
einem Schmerz, einer Leidenſchaft, einer
Verzweiflung, von deren Moͤglichkeit ſie we¬
nig Augenblicke vorher auch nicht die leiſeſte
Ahndung gehabt hatte.
Auf der andern Seite war Eduard mit
der Baroneſſe an den Teichen hergegangen.
Die kluge Frau, die gern von allem unter¬
richtet ſeyn mochte, bemerkte bald in einem
taſtenden Geſpraͤch, daß Eduard ſich zu Otti¬
liens Lobe weitlaͤuftig herausließ, und wußte
ihn auf eine ſo natuͤrliche Weiſe nach und
nach in den Gang zu bringen, daß ihr
zuletzt kein Zweifel uͤbrig blieb, hier ſey eine
Leidenſchaft nicht auf dem Wege, ſondern
wirklich angelangt.
[191]
Verheiratete Frauen, wenn ſie ſich auch
untereinander nicht lieben, ſtehen doch ſtill¬
ſchweigend mit einander, beſonders gegen junge
Maͤdchen, im Buͤndniß. Die Folgen einer ſol¬
chen Zuneigung ſtellten ſich ihrem weltgewand¬
ten Geiſte nur allzugeſchwind dar. Dazu kam
noch, daß ſie ſchon heute fruͤh mit Charlot¬
ten uͤber Ottilien geſprochen und den Aufent¬
halt dieſes Kindes auf dem Lande, beſonders
bey ſeiner ſtillen Gemuͤthsart, nicht gebilligt
und den Vorſchlag gethan hatte, Ottilien in
die Stadt zu einer Freundinn zu bringen, die
ſehr viel an die Erziehung ihrer einzigen
Tochter wende, und ſich nur nach einer gut¬
artigen Geſpielinn umſehe, die an die zweyte
Kindesſtatt eintreten und alle Vortheile mit¬
genießen ſolle. Charlotte hatte ſich's zur Ue¬
berlegung genommen.
Nun aber brachte der Blick in Eduards
Gemuͤth dieſen Vorſchlag bey der Baroneſſe
ganz zur vorſaͤtzlichen Feſtigkeit, und um ſo
[192] ſchneller dieſes in ihr vorging, um deſto mehr
ſchmeichelte ſie aͤußerlich Eduards Wuͤnſchen.
Denn Niemand beſaß ſich mehr als dieſe Frau,
und dieſe Selbſtbeherrſchung in außerordentli¬
chen Faͤllen gewoͤhnt uns ſogar einen gemei¬
nen Fall mit Verſtellung zu behandeln, macht
uns geneigt, indem wir ſo viel Gewalt uͤber
uns ſelbſt uͤben, unſre Herrſchaft auch uͤber
die andern zu verbreiten, um uns durch das
was wir aͤußerlich gewinnen, fuͤr dasjenige
was wir innerlich entbehren, gewiſſermaßen
ſchadlos zu halten.
An dieſe Geſinnung ſchließt ſich meiſt eine
Art heimlicher Schadenfreude uͤber die Dun¬
kelheit der andern, uͤber das Bewußtloſe,
womit ſie in eine Falle gehen. Wir freuen
uns nicht allein uͤber das gegenwaͤrtige Ge¬
lingen, ſondern zugleich auch auf die kuͤnftig
uͤberraſchende Beſchaͤmung. Und ſo war die
Baroneſſe boshaft genug, Eduarden zur Wein¬
leſe auf ihre Guͤter mit Charlotten einzula¬
[193] den und die Frage Eduards: ob ſie Ottilien
mitbringen duͤrften, auf eine Weiſe die er
beliebig zu ſeinen Gunſten auslegen konnte,
zu beantworten.
Eduard ſprach ſchon mit Entzuͤcken von
der herrlichen Gegend, dem großen Fluſſe, den
Huͤgeln, Felſen und Weinbergen, von alten
Schloͤſſern, von Waſſerfahrten, von dem Ju¬
bel der Weinleſe, des Kelterns u. ſ. w. wo¬
bey er in der Unſchuld ſeines Herzens ſich
ſchon zum Voraus laut uͤber den Eindruck
freute, den dergleichen Scenen auf das friſche
Gemuͤth Ottiliens machen wuͤrden. In die¬
ſem Augenblick ſah man Ottilien heran kom¬
men, und die Baroneſſe ſagte ſchnell zu Edu¬
ard: Er moͤchte von dieſer vorhabenden
Herbſtreiſe ja nichts reden: denn gewoͤhnlich
geſchaͤhe das nicht worauf man ſich ſo lange
voraus freue. Eduard verſprach, noͤthigte ſie
aber Ottilien entgegen geſchwinder zu gehen,
und eilte ihr endlich, dem lieben Kinde zu,
I. 13[194] mehrere Schritte voran. Eine herzliche Freude
druͤckte ſich in ſeinem ganzen Weſen aus. Er
kuͤßte ihr die Hand, in die er einen Strauß
Feldblumen druͤckte, die er unterwegs zuſam¬
mengepfluͤckt hatte. Die Baroneſſe fuͤhlte
ſich bey dieſem Anblick in ihrem Innern faſt er¬
bittert. Denn wenn ſie auch das was an
dieſer Neigung ſtrafbar ſeyn mochte, nicht billi¬
gen durfte, ſo konnte ſie das was daran lie¬
benswuͤrdig und angenehm war, jenem unbe¬
deutenden Neuling von Maͤdchen keineswegs
goͤnnen.
Als man ſich zum Abendeſſen zuſammen
geſetzt hatte, war eine voͤllig andre Stimmung
in der Geſellſchaft verbreitet. Der Graf,
der ſchon vor Tiſche geſchrieben und den Bo¬
ten fortgeſchickt hatte, unterhielt ſich mit dem
Hauptmann, den er auf eine verſtaͤndige und
beſcheidene Weiſe immer mehr ausforſchte,
indem er ihn dieſen Abend an ſeine Seite
gebracht hatte. Die zur Rechten des Gra¬
[195] fen ſitzende Baroneſſe fand von daher we¬
nig Unterhaltung; eben ſo wenig an Eduard,
der erſt durſtig, dann aufgeregt, des Weines
nicht ſchonte und ſich ſehr lebhaft mit Ottilien
unterhielt die er an ſich gezogen hatte, wie
von der andern Seite neben dem Hauptmann
Charlotte ſaß, der es ſchwer, ja beynahe
unmoͤglich ward, die Bewegungen ihres Inn¬
ren zu verbergen.
Die Baroneſſe hatte Zeit genug, Beob¬
achtungen anzuſtellen. Sie bemerkte Char¬
lottens Unbehagen, und weil ſie nur Eduards
Verhaͤltniß zu Ottilien im Sinn hatte; ſo
uͤberzeugte ſie ſich leicht, auch Charlotte ſey
bedenklich und verdrießlich uͤber ihres Gemahls
Benehmen, und uͤberlegte, wie ſie nun¬
mehr am beſten zu ihren Zwecken gelangen
koͤnne.
Auch nach Tiſche fand ſich ein Zwieſpalt
in der Geſellſchaft. Der Graf, der den
13 *[196] Hauptmann recht ergruͤnden wollte, brauchte
bey einem ſo ruhigen, keineswegs eitlen und
uͤberhaupt laconiſchen Manne verſchiedene Wen¬
dungen, um zu erfahren was er wuͤnſchte.
Sie gingen miteinander an der einen Seite
des Saals auf und ab, indeß Eduard, auf¬
geregt von Wein und Hoffnung, mit Ottilien
an einem Fenſter ſcherzte, Charlotte und die
Baroneſſe aber ſtillſchweigend an der andern
Seite des Saals nebeneinander hin und
wieder gingen. Ihr Schweigen und muͤßiges
Umherſtehen brachte denn auch zuletzt eine
Stockung in die uͤbrige Geſellſchaft. Die
Frauen zogen ſich zuruͤck auf ihren Fluͤgel, die
Maͤnner auf den andern, und ſo ſchien die¬
ſer Tag abgeſchloſſen.
Elftes Kapitel.
Eduard begleitete den Grafen auf ſein
Zimmer und ließ ſich recht gern durchs Ge¬
ſpraͤch verfuͤhren, noch eine Zeit lang bey ihm
zu bleiben. Der Graf verlor ſich in vorige
Zeiten, gedachte mit Lebhaftigkeit an die
Schoͤnheit Charlottens, die er als ein Ken¬
ner mit vielem Feuer entwickelte. Ein ſchoͤ¬
ner Fuß iſt eine große Gabe der Natur.
Dieſe Anmuth iſt unverwuͤſtlich. Ich habe
ſie heute im Gehen beobachtet; noch immer
moͤchte man ihren Schuh kuͤſſen, und die
zwar etwas barbariſche aber doch tief gefuͤhlte
Ehrenbezeugung der Sarmaten wiederhohlen,
die ſich nichts beſſeres kennen, als aus dem
[198] Schuh einer geliebten und verehrten Perſon
ihre Geſundheit zu trinken.
Die Spitze des Fußes blieb nicht allein
der Gegenſtand des Lobes unter zwey vertrau¬
ten Maͤnnern. Sie gingen von der Perſon
auf alte Geſchichten und Abenteuer zuruͤck
und kamen auf die Hinderniſſe, die man ehe¬
mals den Zuſammenkuͤnften dieſer beyden Lie¬
benden entgegengeſetzt, welche Muͤhe ſie ſich
gegeben, welche Kunſtgriffe ſie erfunden, nur
um ſich ſagen zu koͤnnen, daß ſie ſich liebten.
Erinnerſt du dich, fuhr der Graf fort,
welch Abenteuer ich dir recht freundſchaft¬
lich und uneigennuͤtzig beſtehen helfen, als
unſre hoͤchſten Herrſchaften ihren Oheim be¬
ſuchten und auf dem weitlaͤuftigen Schloſſe
zuſammenkamen? Der Tag war in Feyerlich¬
keiten und Feyerkleidern hingegangen, ein
Theil der Nacht ſollte wenigſtens unter frey¬
em liebevollen Geſpraͤch verſtreichen.
[199]
Den Hinweg zu dem Quartier der Hof¬
damen hatten Sie ſich wohl gemerkt, ſagte
Eduard. Wir gelangten gluͤcklich zu meiner
Geliebten.
Die, verſetzte der Graf, mehr an den
Anſtand als an meine Zufriedenheit gedacht
und eine ſehr haͤßliche Ehrenwaͤchterinn bey
ſich behalten hatte; da mir denn, indeſſen
ihr euch mit Blicken und Worten ſehr gut
unterhieltet, ein hoͤchſt unerfreuliches Loos zu
Theil ward.
Ich habe mich noch geſtern, verſetzte Edu¬
ard, als Sie ſich anmelden ließen, mit mei¬
ner Frau an die Geſchichte erinnert, beſon¬
ders an unſern Ruͤckzug. Wir verfehlten den
Weg und kamen an den Vorſaal der Garden.
Weil wir uns nun von da recht gut zu fin¬
den wußten, ſo glaubten wir auch hier ganz
ohne Bedenken hindurch und an dem Poſten,
wie an den uͤbrigen, vorbey gehen zu koͤnnen.
[200] Aber wie groß war beym Eroͤffnen der Thuͤ¬
re unſere Verwunderung! Der Weg war mit
Matratzen verlegt, auf denen die Rieſen in
mehreren Reihen ausgeſtreckt lagen und ſchlie¬
fen. Der einzige Wachende auf dem Poſten
ſah uns verwundert an; wir aber im jugend¬
lichen Muth und Muthwillen ſtiegen ganz
gelaſſen uͤber die ausgeſtreckten Stiefel weg,
ohne daß auch nur einer von dieſen ſchnar¬
chenden Enakskindern erwacht waͤre.
Ich hatte große Luſt zu ſtolpern, ſagte
der Graf, damit es Laͤrm gegeben haͤtte:
denn welch eine ſeltſame Auferſtehung wuͤrden
wir geſehen haben!
In dieſem Augenblick ſchlug die Schlo߬
glocke Zwoͤlf.
Es iſt hoch Mitternacht, ſagte der Graf
laͤchelnd, und eben gerechte Zeit. Ich muß
Sie, lieber Baron, um eine Gefaͤlligkeit bit¬
[201] ten: fuͤhren Sie mich heute wie ich Sie da¬
mals fuͤhrte; ich habe der Baroneſſe das
Verſprechen gegeben ſie noch zu beſuchen.
Wir haben uns den ganzen Tag nicht allein
geſprochen, wir haben uns ſo lange nicht ge¬
ſehen, und nichts iſt natuͤrlicher als daß man
ſich nach einer vertraulichen Stunde ſehnt.
Zeigen Sie mir den Hinweg, den Ruͤckweg
will ich ſchon finden und auf alle Faͤlle werde
ich uͤber keine Stiefel wegzuſtolpern haben.
Ich will Ihnen recht gern dieſe gaſtliche
Gefaͤlligkeit erzeigen, verſetzte Eduard; nur
ſind die drey Frauenzimmer druͤben zuſammen
auf dem Fluͤgel. Wer weiß, ob wir ſie nicht
noch beyeinander finden, oder was wir ſonſt
fuͤr Haͤndel anrichten, die irgend ein wunder¬
liches Anſehn gewinnen.
Nur ohne Sorge! ſagte der Graf: die
Baroneſſe erwartet mich. Sie iſt um dieſe
Zeit gewiß auf ihrem Zimmer und allein.
[202]
Die Sache iſt uͤbrigens leicht, verſetzte
Eduard, und nahm ein Licht, dem Grafen
vorleuchtend eine geheime Treppe hinunter,
die zu einem langen Gang fuͤhrte. Am Ende
deſſelben oͤffnete Eduard eine kleine Thuͤre.
Sie erſtiegen eine Wendeltreppe; oben auf
einem engen Ruheplatz deutete Eduard dem
Grafen, dem er das Licht in die Hand gab,
nach einer Tapetenthuͤre rechts, die beym erſten
Verſuch ſogleich ſich oͤffnete, den Grafen auf¬
nahm und Eduard in dem dunklen Raum zu¬
ruͤckließ.
Eine andre Thuͤre links ging in Charlot¬
tens Schlafzimmer. Er hoͤrte reden und
horchte. Charlotte ſprach zu ihrem Kammer¬
maͤdchen: iſt Ottilie ſchon zu Bette? Nein,
verſetzte jene; ſie ſitzt noch unten und ſchreibt.
So zuͤnde Sie das Nachtlicht an, ſagte Char¬
lotte, und gehe Sie nur hin: es iſt ſpaͤt.
Die Kerze will ich ſelbſt ausloͤſchen und fuͤr
mich zu Bette gehen.
[203]
Eduard hoͤrte mit Entzuͤcken, daß Ottilie
noch ſchreibe. Sie beſchaͤftigt ſich fuͤr mich!
dachte er triumphirend. Durch die Finſter¬
niß ganz in ſich ſelbſt geengt ſah er ſie ſitzen,
ſchreiben; er glaubte zu ihr zu treten, ſie zu
ſehen, wie ſie ſich nach ihm umkehrte; er
fuͤhlte ein unuͤberwindliches Verlangen ihr
noch einmal nahe zu ſeyn. Von hier aber
war kein Weg in das Halbgeſchoß wo ſie
wohnte. Nun fand er ſich unmittelbar an
ſeiner Frauen Thuͤre, eine ſonderbare Ver¬
wechſelung ging in ſeiner Seele vor, er ſuchte
die Thuͤre aufzudrehen, er fand ſie verſchloſ¬
ſen, er pochte leiſe an, Charlotte hoͤrte nicht.
Sie ging in dem groͤßeren Nebenzimmer
lebhaft auf und ab. Sie wiederhohlte ſich
aber und abermals was ſie ſeit jenem uner¬
warteten Vorſchlag des Grafen oft genug bey
ſich um und um gewendet hatte. Der Haupt¬
mann ſchien vor ihr zu ſtehen. Er fuͤllte
noch das Haus, er belebte noch die Spazir¬
[204] gaͤnge und er ſollte fort, das alles ſollte leer
werden! Sie ſagte ſich alles was man ſich
ſagen kann, ja ſie anticipirte, wie man ge¬
woͤhnlich pflegt, den leidigen Troſt, daß auch
ſolche Schmerzen durch die Zeit gelindert wer¬
den. Sie verwuͤnſchte die Zeit, die es braucht
um ſie zu lindern; ſie verwuͤnſchte die todten¬
hafte Zeit, wo ſie wuͤrden gelindert ſeyn.
Da war denn zuletzt die Zuflucht zu den
Thraͤnen um ſo willkommner, als ſie bey ihr
ſelten ſtatt fand. Sie warf ſich auf den So¬
pha und uͤberließ ſich ganz ihrem Schmerz.
Eduard ſeinerſeits konnte von der Thuͤre nicht
weg; er pochte nochmals, und zum dritten¬
mal etwas ſtaͤrker, ſo daß Charlotte durch
die Nachtſtille es ganz deutlich vernahm und
erſchreckt auffuhr. Der erſte Gedanke war:
es koͤnne, es muͤſſe der Hauptmann ſeyn;
der zweyte: das ſey unmoͤglich! Sie hielt es
fuͤr Taͤuſchung; aber ſie hatte es gehoͤrt,
ſie wuͤnſchte, ſie fuͤrchtete es gehoͤrt zu ha¬
[205] ben. Sie ging ins Schlafzimmer, trat
leiſe zu der verriegelten Tapetenthuͤre. Sie
ſchalt ſich uͤber ihre Furcht: wie leicht kann
die Graͤfinn etwas beduͤrfen! ſagte ſie zu ſich
ſelbſt und rief gefaßt und geſetzt: Iſt jemand
da? Eine leiſe Stimme antwortete: Ich bins.
Wer? entgegnete Charlotte, die den Ton
nicht unterſcheiden konnte. Ihr ſtand des
Hauptmanns Geſtalt vor der Thuͤre. Etwas
lauter klang es ihr entgegen: Eduard! Sie
oͤffnete und ihr Gemahl ſtand vor ihr. Er
begruͤßte ſie mit einem Scherz. Es ward ihr
moͤglich in dieſem Tone fortzufahren. Er ver¬
wickelte den raͤthſelhaften Beſuch in raͤthſel¬
hafte Erklaͤrungen. Warum ich denn aber ei¬
gentlich komme, ſagte er zuletzt, muß ich dir
nur geſtehen. Ich habe ein Geluͤbde gethan,
heute Abend noch deinen Schuh zu kuͤſſen.
Das iſt dir lange nicht eingefallen, ſagte
Charlotte. Deſto ſchlimmer, verſetzte Eduard,
und deſto beſſer!
[206]
Sie hatte ſich in einen Seſſel geſetzt, um
ihre leichte Nachtkleidung ſeinen Blicken zu
entziehen. Er warf ſich vor ihr nieder und
ſie konnte ſich nicht erwehren, daß er nicht
ihren Schuh kuͤßte, und daß, als dieſer ihm
in der Hand blieb, er den Fuß ergriff und
ihn zaͤrtlich an ſeine Bruſt druͤckte.
Charlotte war eine von den Frauen, die
von Natur maͤßig, im Eheſtande, ohne Vor¬
ſatz und Anſtrengung, die Art und Weiſe
der Liebhaberinnen fortfuͤhren. Niemals reiz¬
te ſie den Mann, ja ſeinem Verlangen kam
ſie kaum entgegen; aber ohne Kaͤlte und ab¬
ſtoßende Strenge glich ſie immer einer liebe¬
vollen Braut, die ſelbſt vor dem Erlaub¬
ten noch innige Scheu traͤgt. Und ſo fand
ſie Eduard dieſen Abend in doppeltem Sinne.
Wie ſehnlich wuͤnſchte ſie den Gatten weg:
denn die Luftgeſtalt des Freundes ſchien ihr
Vorwuͤrfe zu machen. Aber das was Eduar¬
den haͤtte entfernen ſollen, zog ihn nur mehr
[207] an. Eine gewiſſe Bewegung war an ihr
ſichtbar. Sie hatte geweint, und wenn wei¬
che Perſonen dadurch meiſt an Anmuth verlie¬
ren, ſo gewinnen diejenigen dadurch unendlich,
die wir gewoͤhnlich als ſtark und gefaßt ken¬
nen. Eduard war ſo liebenswuͤrdig, ſo freund¬
lich, ſo dringend; er bat ſie, bey ihr bleiben
zu duͤrfen, er forderte nicht, bald ernſt bald
ſcherzhaft ſuchte er ſie zu bereden, er dachte
nicht daran, daß er Rechte habe und loͤſchte
zuletzt muthwillig die Kerze aus.
In der Lampendaͤmmerung ſogleich behaup¬
tete die innre Neigung, behauptete die Ein¬
bildungskraft ihre Rechte uͤber das Wirkliche.
Eduard hielt nur Ottilien in ſeinen Armen;
Charlotten ſchwebte der Hauptmann naͤher
oder ferner vor der Seele, und ſo verwebten,
wunderſam genug, ſich Abweſendes und Ge¬
genwaͤrtiges reizend und wonnevoll durchein¬
ander.
[208]
Und doch laͤßt ſich die Gegenwart ihr un¬
geheures Recht nicht rauben. Sie brachten
einen Theil der Nacht unter allerley Geſpraͤ¬
chen und Scherzen zu, die um deſto freyer
waren als das Herz leider keinen Theil dar¬
an nahm. Aber als Eduard des andern
Morgens an dem Buſen ſeiner Frau erwach¬
te, ſchien ihm der Tag ahndungsvoll herein¬
zublicken, die Sonne ſchien ihm ein Verbre¬
chen zu beleuchten; er ſchlich ſich leiſe von
ihrer Seite, und ſie fand ſich, ſeltſam genug,
allein als ſie erwachte.
Zwoͤlftes Kapitel.
Als die Geſellſchaft zum Fruͤhſtuͤck wieder
zuſammen kam, haͤtte ein aufmerkſamer Beob¬
achter an dem Betragen der Einzelnen die
Verſchiedenheit der innern Geſinnungen und
Empfindungen abnehmen koͤnnen. Der Graf
und die Baroneſſe begegneten ſich mit dem
heitern Behagen, das ein paar Liebende em¬
pfinden, die ſich, nach erduldeter Trennung,
ihrer wechſelſeitigen Neigung abermals ver¬
ſichert halten; dagegen Charlotte und Eduard
gleichſam beſchaͤmt und reuig dem Hauptmann
und Ottilien entgegen traten. Denn ſo iſt
die Liebe beſchaffen, daß ſie allein Recht zu
haben glaubt und alle anderen Rechte vor ihr
verſchwinden. Ottilie war kindlich heiter,
I. 14[210] nach ihrer Weiſe konnte man ſie offen nennen.
Ernſt erſchien der Hauptmann; ihm war bey
der Unterredung mit dem Grafen, indem dieſer
alles in ihm aufregte was einige Zeit ge¬
ruht und geſchlafen hatte, nur zu fuͤhlbar ge¬
worden, daß er eigentlich hier ſeine Beſtim¬
mung nicht erfuͤlle und im Grunde blos in
einem halbthaͤtigen Muͤßiggang hinſchlendere.
Kaum hatten ſich die beyden Gaͤſte entfernt,
als ſchon wieder neuer Beſuch eintraf, Char¬
lotten willkommen, die aus ſich ſelbſt heraus
zu gehen, ſich zu zerſtreuen wuͤnſchte; Eduar¬
den ungelegen, der eine doppelte Neigung fuͤhl¬
te ſich mit Ottilien zu beſchaͤftigen; Ottilien
gleichfalls unerwuͤnſcht, die mit ihrer auf
morgen fruͤh ſo noͤthigen Abſchrift noch nicht
fertig war. Und ſo eilte ſie auch, als die
Fremden ſich ſpaͤt entfernten, ſogleich auf ihr
Zimmer.
Es war Abend geworden. Eduard, Char¬
lotte und der Hauptmann, welche die Frem¬
[211] den, ehe ſie ſich in den Wagen ſetzten, eine
Strecke zu Fuß begleitet hatten, wurden ei¬
nig noch einen Spazirgang nach den Tei¬
chen zu machen. Ein Kahn war angekom¬
men, den Eduard mit anſehnlichen Koſten
aus der Ferne verſchrieben hatte. Man wollte
verſuchen, ob er ſich leicht bewegen und len¬
ken laſſe.
Er war am Ufer des mittelſten Teiches
nicht weit von einigen alten Eichbaͤumen ange¬
bunden, auf die man ſchon bey kuͤnftigen
Anlagen gerechnet hatte. Hier ſollte ein Lan¬
dungsplatz angebracht, unter den Baͤumen ein
architectoniſcher Ruheſitz aufgefuͤhrt werden,
wonach diejenigen die uͤber den See fahren,
zu ſteuern haͤtten.
Wo wird man denn nun druͤben die Lan¬
dung am beſten anlegen? fragte Eduard. Ich
ſollte denken bey meinen Platanen.
14 *[212]
Sie ſtehen ein wenig zu weit rechts, ſagte
der Hauptmann. Landet man weiter unten,
ſo iſt man dem Schloſſe naͤher; doch muß
man es uͤberlegen.
Der Hauptmann ſtand ſchon im Hinter¬
theile des Kahns und hatte ein Ruder ergrif¬
fen. Charlotte ſtieg ein, Eduard gleichfalls
und faßte das andre Ruder; aber als er eben
im Abſtoßen begriffen war, gedachte er Ottili¬
ens, gedachte daß ihn dieſe Waſſerfahrt verſpaͤ¬
ten, wer weiß erſt wann zuruͤckfuͤhren wuͤrde.
Er entſchloß ſich kurz und gut, ſprang wieder
ans Land, reichte dem Hauptmann das andre
Ruder und eilte, ſich fluͤchtig entſchuldigend,
nach Hauſe.
Dort vernahm er: Ottilie habe ſich ein¬
geſchloſſen, ſie ſchreibe. Bey dem angenehmen
Gefuͤhle, daß ſie fuͤr ihn etwas thue, em¬
pfand er das lebhafteſte Misbehagen ſie nicht
gegenwaͤrtig zu ſehen. Seine Ungeduld ver¬
[213] mehrte ſich mit jedem Augenblicke. Er ging
in dem großen Saale auf und ab, verſuchte
allerley und nichts vermochte ſeine Aufmerk¬
ſamkeit zu feſſeln. Sie wuͤnſchte er zu ſehen,
allein zu ſehen, ehe noch Charlotte mit dem
Hauptmann zuruͤckkaͤme. Es ward Nacht,
die Kerzen wurden angezuͤndet.
Endlich trat ſie herein, glaͤnzend von Lie¬
benswuͤrdigkeit. Das Gefuͤhl etwas fuͤr den
Freund gethan zu haben, hatte ihr ganzes
Weſen uͤber ſich ſelbſt gehoben. Sie legte
das Original und die Abſchrift vor Eduard
auf den Tiſch. Wollen wir collationiren?
ſagte ſie laͤchelnd. Eduard wußte nicht was
er erwiedern ſollte. Er ſah ſie an, er beſah
die Abſchrift. Die erſten Blaͤtter waren mit
der groͤßten Sorgfalt, mit einer zarten weib¬
lichen Hand geſchrieben; dann ſchienen ſich
die Zuͤge zu veraͤndern, leichter und freyer zu
werden: aber wie erſtaunt war er, als er
die letzten Seiten mit den Augen uͤberlief!
[214] Um Gotteswillen! rief er aus, was iſt das?
Das iſt meine Hand! Er ſah Ottilien an
und wieder auf die Blaͤtter; beſonders der
Schluß war ganz als wenn er ihn ſelbſt ge¬
ſchrieben haͤtte. Ottilie ſchwieg, aber ſie blickte
ihm mit der groͤßten Zufriedenheit in die Au¬
gen. Eduard hob ſeine Arme empor: Du
liebſt mich! rief er aus: Ottilie du liebſt
mich! und ſie hielten einander umfaßt. Wer
das andere zuerſt ergriffen, waͤre nicht zu un¬
terſcheiden geweſen.
Von dieſem Augenblick an war die Welt
fuͤr Eduarden umgewendet, er nicht mehr was
er geweſen, die Welt nicht mehr was ſie ge¬
weſen. Sie ſtanden vor einander, er hielt
ihre Haͤnde, ſie ſahen einander in die Augen,
im Begriff ſich wieder zu umarmen.
Charlotte mit dem Hauptmann trat her¬
ein. Zu den Entſchuldigungen eines laͤngeren
Außenbleibens laͤchelte Eduard heimlich. O
[215] wie viel zu fruͤh kommt ihr! ſagte er zu ſich
ſelbſt.
Sie ſetzten ſich zum Abendeſſen. Die Per¬
ſonen des heutigen Beſuchs wurden beurtheilt.
Eduard liebevoll aufgeregt ſprach gut von ei¬
nem Jeden, immer ſchonend, oft billigend.
Charlotte, die nicht durchaus ſeiner Meinung
war, bemerkte dieſe Stimmung und ſcherzte mit
ihm, daß er, der ſonſt uͤber die ſcheidende Ge¬
ſellſchaft immer das ſtrengſte Zungengericht er¬
gehen laſſe, heute ſo mild und nachſichtig ſey.
Mit Feuer und herzlicher Ueberzeugung
rief Eduard: Man muß nur Ein Weſen recht
von Grund aus lieben, da kommen einem die uͤbri¬
gen alle liebenswuͤrdig vor! Ottilie ſchlug die
Augen nieder, und Charlotte ſah vor ſich hin.
Der Hauptmann nahm das Wort und
ſagte: Mit den Gefuͤhlen der Hochachtung,
der Verehrung, iſt es doch auch etwas aͤhnliches.
[216] Man erkennt nur erſt das Schaͤtzenswerthe in
der Welt, wenn man ſolche Geſinnungen an Ei¬
nem Gegenſtande zu uͤben Gelegenheit findet.
Charlotte ſuchte bald in ihr Schlafzim¬
mer zu gelangen, um ſich der Erinnerung
deſſen zu uͤberlaſſen, was dieſen Abend zwi¬
ſchen ihr und dem Hauptmann vorgegangen
war.
Als Eduard ans Ufer ſpringend den
Kahn vom Lande ſtieß, Gattinn und Freund
dem ſchwankenden Element ſelbſt uͤberantwor¬
tete, ſah nunmehr Charlotte den Mann, um
den ſie im Stillen ſchon ſo viel gelitten hatte,
in der Daͤmmerung vor ſich ſitzen und durch
die Fuͤhrung zweyer Ruder das Fahrzeug in
beliebiger Richtung fortbewegen. Sie em¬
pfand eine tiefe, ſelten gefuͤhlte Traurigkeit.
Das Kreiſen des Kahns, das Plaͤtſchern der
Ruder, der uͤber den Waſſerſpiegel hinſchau¬
ernde Windhauch, das Saͤuſeln der Rohre,
[217] das letzte Schweben der Voͤgel, das Blinken
und Wiederblinken der erſten Sterne, alles
hatte etwas Geiſterhaftes in dieſer allgemeinen
Stille. Es ſchien ihr, der Freund fuͤhre ſie
weit weg, um ſie auszuſetzen, ſie allein zu
laſſen. Eine wunderbare Bewegung war in
ihrem Innern, und ſie konnte nicht weinen.
Der Hauptmann beſchrieb ihr unterdeſſen,
wie nach ſeiner Abſicht die Anlagen werden
ſollten. Er ruͤhmte die guten Eigenſchaften
des Kahns, daß er ſich leicht mit zwey Ru¬
dern von Einer Perſon bewegen [und] regieren
laſſe. Sie werde das ſelbſt lernen, es ſey
eine angenehme Empfindung manchmal allein
auf dem Waſſer hinzuſchwimmen und ſein
eigner Faͤhr- und Steuermann zu ſeyn.
Bey dieſen Worten fiel der Freundinn die
bevorſtehende Trennung aufs Herz. Sagt er
das mit Vorſatz? dachte ſie bey ſich ſelbſt:
Weiß er ſchon davon? vermuthet er's? oder
[218] ſagt er es zufaͤllig? ſo daß er mir bewußtlos
mein Schickſal vorausverkuͤndigt. Es ergriff
ſie eine große Wehmuth, eine Ungeduld; ſie
bat ihn, baldmoͤglichſt zu landen und mit
ihr nach dem Schloſſe zuruͤckzukehren.
Es war das erſtemal, daß der Hauptmann
die Teiche befuhr, und ob er gleich im Allge¬
meinen ihre Tiefe unterſucht hatte, ſo waren
ihm doch die einzelnen Stellen unbekannt.
Dunkel fing es an zu werden, er richtete ſei¬
nen Lauf dahin, wo er einen bequemen Ort
zum Ausſteigen vermuthete und den Fußpfad
nicht entfernt wußte, der nach dem Schloſſe
fuͤhrte. Aber auch von dieſer Bahn wurde
er einigermaßen abgelenkt, als Charlotte mit ei¬
ner Art von Aengſtlichkeit den Wunſch wieder¬
hohlte, bald am Lande zu ſeyn. Er naͤherte
ſich mit erneuten Anſtrengungen dem Ufer, aber
leider fuͤhlte er ſich in einiger Entfernung da¬
von angehalten; er hatte ſich feſt gefahren
und ſeine Bemuͤhungen wieder los zu kommen
[219] waren vergebens. Was war zu thun? Ihm
blieb nichts uͤbrig als in das Waſſer zu ſtei¬
gen, das ſeicht genug war, und die Freundinn
an das Land zu tragen. Gluͤcklich brachte er
die liebe Buͤrde hinuͤber, ſtark genug um
nicht zu ſchwanken oder ihr einige Sorge zu
geben, aber doch hatte ſie aͤngſtlich ihre Ar¬
me um ſeinen Hals geſchlungen. Er hielt ſie
feſt und druͤckte ſie an ſich. Erſt auf einem
Raſenabhang ließ er ſie nieder, nicht ohne
Bewegung und Verwirrung. Sie lag noch
an ſeinem Halſe; er ſchloß ſie aufs neue in
ſeine Arme und druͤckte einen lebhaften Kuß
auf ihre Lippen; aber auch im Augenblick
lag er zu ihren Fuͤßen, druͤckte ſeinen Mund
auf ihre Hand und rief: Charlotte, werden
Sie mir vergeben?
Der Kuß, den der Freund gewagt, den
ſie ihm beynahe zuruͤck gegeben, brachte Char¬
lotten wieder zu ſich ſelbſt. Sie druͤckte ſeine
Hand, aber ſie hob ihn nicht auf. Doch in¬
[220] dem ſie ſich zu ihm hinunterneigte und eine
Hand auf ſeine Schultern legte, rief ſie aus:
Daß dieſer Augenblick in unſerm Leben Epo¬
che mache, koͤnnen wir nicht verhindern; aber
daß ſie unſer werth ſey, haͤngt von uns ab.
Sie muͤſſen ſcheiden, lieber Freund, und Sie
werden ſcheiden. Der Graf macht Anſtalt
Ihr Schickſal zu verbeſſern; es freut und
ſchmerzt mich. Ich wollte es verſchweigen bis
es gewiß waͤre; der Augenblick noͤthigt mich
dieß Geheimniß zu entdecken. Nur in ſofern
kann ich Ihnen, kann ich mir verzeihen,
wenn wir den Muth haben unſre Lage zu
aͤndern, da es von uns nicht abhaͤngt unſre
Geſinnung zu aͤndern. Sie hub ihn auf und
ergriff ſeinen Arm um ſich darauf zu ſtuͤtzen,
und ſo kamen ſie ſtillſchweigend nach dem
Schloſſe.
Nun aber ſtand ſie in ihrem Schlafzim¬
mer, wo ſie ſich als Gattinn Eduards empfin¬
den und betrachten mußte. Ihr kam bey die¬
[221] ſen Widerſpruͤchen ihr tuͤchtiger und durchs
Leben mannigfaltig geuͤbter Character zu Huͤlfe.
Immer gewohnt ſich ihrer ſelbſt bewußt zu
ſeyn, ſich ſelbſt zu gebieten, ward es ihr auch
jetzt nicht ſchwer, durch ernſte Betrachtung
ſich dem erwuͤnſchten Gleichgewichte zu naͤ¬
hern; ja ſie mußte uͤber ſich ſelbſt laͤcheln,
indem ſie des wunderlichen Nachtbeſuches
gedachte. Doch ſchnell ergriff ſie eine ſeltſa¬
me Ahndung, ein freudig baͤngliches Erzit¬
tern, das in fromme Wuͤnſche und Hoffnun¬
gen ſich aufloͤſte. Geruͤhrt kniete ſie nieder,
ſie wiederhohlte den Schwur den ſie Eduar¬
den vor dem Altar gethan. Freundſchaft,
Neigung, Entſagen gingen vor ihr in heitern
Bildern voruͤber. Sie fuͤhlte ſich innerlich
wieder hergeſtellt. Bald ergreift ſie eine ſuͤße
Muͤdigkeit und ruhig ſchlaͤft ſie ein.
Dreyzehntes Kapitel.
Eduard von ſeiner Seite iſt in einer ganz
verſchiedenen Stimmung. Zu ſchlafen denkt
er ſo wenig, daß es ihm nicht einmal ein¬
faͤllt ſich auszuziehen. Die Abſchrift des
Documents kuͤßt er tauſendmal, den An¬
fang von Ottiliens kindlich ſchuͤchterner Hand;
das Ende wagt er kaum zu kuͤſſen, weil er
ſeine eigene Hand zu ſehen glaubt. O daß
es ein andres Document waͤre! ſagt er ſich
im Stillen; und doch iſt es ihm auch ſo
ſchon die ſchoͤnſte Verſicherung, daß ſein hoͤch¬
ſter Wunſch erfuͤllt ſey. Bleibt es ja doch
in ſeinen Haͤnden, und wird er es nicht im¬
merfort an ſein Herz druͤcken, obgleich ent¬
ſtellt durch die Unterſchrift eines Dritten!
[223]
Der abnehmende Mond ſteigt uͤber den
Wald hervor. Die warme Nacht lockt Edu¬
arden ins Freye; er ſchweift umher, er iſt
der unruhigſte und der gluͤcklichſte aller Sterb¬
lichen. Er wandelt durch die Gaͤrten; ſie
ſind ihm zu enge; er eilt auf das Feld, und
es wird ihm zu weit. Nach dem Schloſſe
zieht es ihn zuruͤck; er findet ſich unter Otti¬
liens Fenſtern. Dort ſetzt er ſich auf eine
Terraſſentreppe. Mauern und Riegel, ſagt
er zu ſich ſelbſt, trennen uns jetzt, aber unſre
Herzen ſind nicht getrennt. Stuͤnde ſie vor
mir, in meine Arme wuͤrde ſie fallen, ich in
die ihrigen, und was bedarf es weiter als
dieſe Gewißheit! Alles war ſtill um ihn her,
kein Luͤftchen regte ſich, ſo ſtill war's, daß
er das wuͤhlende Arbeiten emſiger Thiere un¬
ter der Erde vernehmen konnte, denen Tag
und Nacht gleich ſind. Er hing ganz ſeinen
gluͤcklichen Traͤumen nach, ſchlief endlich ein
und erwachte nicht eher wieder als bis die
[224] Sonne mit herrlichem Blick heraufſtieg und
die fruͤhſten Nebel gewaͤltigte.
Nun fand er ſich den erſten Wachenden
in ſeinen Beſitzungen. Die Arbeiter ſchienen
ihm zu lange auszubleiben. Sie kamen; es
ſchienen ihm ihrer zu wenig, und die vorge¬
ſetzte Tagesarbeit fuͤr ſeine Wuͤnſche zu gering.
Er fragte nach mehreren Arbeitern: man ver¬
ſprach ſie und ſtellte ſie im Laufe des Tages.
Aber auch dieſe ſind ihm nicht genug, um
ſeine Vorſaͤtze ſchleunig ausgefuͤhrt zu ſehen.
Das Schaffen macht ihm keine Freude mehr:
es ſoll ſchon alles fertig ſeyn, und fuͤr wen?
Die Wege ſollen gebahnt ſeyn, damit Otti¬
lie bequem ſie gehen, die Sitze ſchon an
Ort und Stelle, damit Ottilie dort ruhen
koͤnne. Auch an dem neuen Hauſe treibt er
was er kann: es ſoll an Ottiliens Geburts¬
tage gerichtet werden. In Eduards Geſin¬
nungen, wie in ſeinen Handlungen iſt kein
Maaß mehr. Das Bewußtſeyn zu lieben
[225] und geliebt zu werden treibt ihn ins Unend¬
liche. Wie veraͤndert iſt ihm die Anſicht von
allen Zimmern, von allen Umgebungen! Er
findet ſich in ſeinem eigenen Hauſe nicht mehr.
Ottiliens Gegenwart verſchlingt ihm alles:
er iſt ganz in ihr verſunken; keine andre Be¬
trachtung ſteigt vor ihm auf, kein Gewiſſen
ſpricht ihm zu; alles was in ſeiner Natur
gebaͤndigt war bricht los, ſein ganzes Weſen
ſtroͤmt gegen Ottilien.
Der Hauptmann beobachtet dieſes leiden¬
ſchaftliche Treiben und wuͤnſcht den traurigen
Folgen zuvorzukommen. Alle dieſe Anlagen,
die jetzt mit einem einſeitigen Triebe uͤbermaͤ¬
ßig gefoͤrdert werden, hatte er auf ein ruhig
freundliches Zuſammenleben berechnet. Der
Verkauf des Vorwerks war durch ihn zu
Stande gebracht, die erſte Zahlung geſchehen,
Charlotte hatte ſie der Abrede nach in ihre
Caſſe genommen. Aber ſie muß gleich in der
erſten Woche Ernſt und Geduld und Ordnung
I. 15[226] mehr als ſonſt uͤben und im Auge haben:
denn nach der uͤbereilten Weiſe wird das
Ausgeſetzte nicht lange reichen.
Es war viel angefangen und viel zu thun.
Wie ſoll er Charlotten in dieſer Lage laſſen!
Sie berathen ſich und kommen uͤberein, man
wolle die planmaͤßigen Arbeiten lieber ſelbſt
beſchleunigen, zu dem Ende Gelder aufneh¬
men, und zu deren Abtragung die Zahlungs¬
termine anweiſen, die vom Vorwerksverkauf
zuruͤckgeblieben waren. Es ließ ſich faſt ohne
Verluſt, durch Ceſſion der Gerechtſame thun;
man hatte freyere Hand; man leiſtete, da
alles im Gange, Arbeiter genug vorhanden
waren, mehr auf Einmal und gelangte gewiß
und bald zum Zweck. Eduard ſtimmte gern
bey, weil es mit ſeinen Abſichten uͤbereintraf.
Im innern Herzen beharrt indeſſen Char¬
lotte bey dem was ſie bedacht und ſich vorge¬
ſetzt, und maͤnnlich ſteht ihr der Freund mit
[227] gleichem Sinn zur Seite. Aber eben da¬
durch wird ihre Vertraulichkeit nur vermehrt.
Sie erklaͤren ſich wechſelſeitig uͤber Eduards Lei¬
denſchaft; ſie berathen ſich daruͤber. Charlotte
ſchließt Ottilien naͤher an ſich, beobachtet ſie
ſtrenger, und jemehr ſie ihr eigen Herz gewahr
worden, deſto tiefer blickt ſie in das Herz
des Maͤdchens. Sie ſieht keine Rettung,
als ſie muß das Kind entfernen.
Nun ſcheint es ihr eine gluͤckliche Fuͤgung,
daß Luciane ein ſo ausgezeichnetes Lob in der
Penſion erhalten: denn die Großtante, davon
unterrichtet, will ſie nun ein fuͤr allemal zu
ſich nehmen, ſie um ſich haben, ſie in die
Welt einfuͤhren. Ottilie konnte in die Pen¬
ſion zuruͤckkehren; der Hauptmann entfernte
ſich, wohlverſorgt; und alles ſtand wie vor
wenigen Monaten, ja um ſo viel beſſer. Ihr
eigenes Verhaͤltniß hoffte Charlotte zu Eduard
bald wieder herzuſtellen, und ſie legte das al¬
les ſo verſtaͤndig bey ſich zurecht, daß ſie ſich
15 *[228] nur immer mehr in dem Wahn beſtaͤrkte: in
einen fruͤhern beſchraͤnktern Zuſtand koͤnne
man zuruͤckkehren, ein gewaltſam Entbundenes
laſſe ſich wieder ins Enge bringen.
Eduard empfand indeſſen die Hinderniſſe
ſehr hoch, die man ihm in den Weg legte.
Er bemerkte gar bald, daß man ihn und
Ottilien auseinander hielt, daß man ihm er¬
ſchwerte ſie allein zu ſprechen, ja ſich ihr zu
naͤhern, außer in Gegenwart von mehreren;
und indem er hieruͤber verdrießlich war, ward
er es uͤber manches andere. Konnte er Otti¬
lien fluͤchtig ſprechen, ſo war es nicht nur ſie
ſeiner Liebe zu verſichern, ſondern ſich auch
uͤber ſeine Gattinn, uͤber den Hauptmann zu
beſchweren. Er fuͤhlte nicht, daß er ſelbſt
durch ſein heftiges Treiben die Caſſe zu er¬
ſchoͤpfen auf dem Wege war; er tadelte bitter
Charlotten und den Hauptmann, daß ſie bey
dem Geſchaͤft gegen die erſte Abrede handel¬
ten, und doch hatte er in die zweyte Abrede
[229] gewilligt, ja er hatte ſie ſelbſt veranlaßt und
nothwendig gemacht.
Der Haß iſt parteyiſch, aber die Liebe
iſt es noch mehr. Auch Ottilie entfremdete
ſich einigermaßen von Charlotten und dem
Hauptmann. Als Eduard ſich einſt gegen Ot¬
tilien uͤber den letztern beklagte, daß er als
Freund und in einem ſolchen Verhaͤltniſſe nicht
ganz aufrichtig handle, verſetzte Ottilie unbe¬
dachtſam: es hat mir ſchon fruͤher mißfallen,
daß er nicht ganz redlich gegen Sie iſt. Ich
hoͤrte ihn einmal zu Charlotten ſagen, wenn
uns nur Eduard mit ſeiner Floͤtendudeley ver¬
ſchonte: es kann daraus nichts werden und
iſt fuͤr die Zuhoͤrer ſo laͤſtig. Sie koͤnnen
denken, wie mich das geſchmerzt hat, da ich
Sie ſo gern accompagnire.
Kaum hatte ſie es geſagt, als ihr ſchon
der Geiſt zufluͤſterte, daß ſie haͤtte ſchweigen
ſollen; aber es war heraus. Eduards Ge¬
[230] ſichtszuͤge verwandelten ſich. Nie hatte ihn
etwas mehr verdroſſen: er war in ſeinen
liebſten Forderungen angegriffen, er war ſich
eines kindlichen Strebens ohne die mindeſte
Anmaßung bewußt. Was ihn unterhielt, was
ihn erfreute, ſollte doch mit Schonung von
Freunden behandelt werden. Er dachte nicht,
wie ſchrecklich es fuͤr einen Dritten ſey, ſich
die Ohren durch ein unzulaͤngliches Talent
verletzen zu laſſen. Er war beleidigt, wuͤ¬
thend um nicht wieder zu vergeben. Er fuͤhlte
ſich von allen Pflichten losgeſprochen.
Die Nothwendigkeit mit Ottilien zu ſeyn,
ſie zu ſehen, ihr etwas zuzufluͤſtern, ihr zu
vertrauen, wuchs mit jedem Tage. Er ent¬
ſchloß ſich ihr zu ſchreiben, ſie um einen ge¬
heimen Briefwechſel zu bitten. Das Streif¬
chen Papier, worauf er dieß laconiſch genug
gethan hatte, lag auf dem Schreibtiſch und
ward vom Zugwind heruntergefuͤhrt, als der
Kammerdiener hereintrat, ihm die Haare zu
[231] kraͤuſeln. Gewoͤhnlich, um die Hitze des Ei¬
ſens zu verſuchen, buͤckte ſich dieſer nach Pa¬
pierſchnitzeln auf der Erde; dießmal ergriff
er das Billet, zwickte es eilig und es war
verſengt. Eduard den Mißgriff bemerkend
riß es ihm aus der Hand. Bald darauf ſetzte
er ſich hin, es noch einmal zu ſchreiben; es
wollte nicht ganz ſo zum zweytenmal aus der
Feder. Er fuͤhlte einiges Bedenken, einige
Beſorgniß, die er jedoch uͤberwand. Ottilien
wurde das Blaͤttchen in die Hand gedruͤckt,
den erſten Augenblick wo er ſich ihr naͤhern
konnte.
Ottilie verſaͤumte nicht ihm zu antworten.
Ungeleſen ſteckte er das Zettelchen in die Weſte,
die modiſch kurz es nicht gut verwahrte. Es
ſchob ſich heraus und fiel, ohne von ihm bemerkt
zu werden, auf den Boden. Charlotte ſah
es und hob es auf, und reichte es ihm mit
einem fluͤchtigen Ueberblick. Hier iſt etwas
[232] von deiner Hand, ſagte ſie, das du vielleicht
ungern verloͤreſt.
Er war betroffen. Verſtellt ſie ſich? dachte
er. Iſt ſie den Inhalt des Blaͤttchens gewahr
geworden, oder irrt ſie ſich an der Aehnlichkeit
der Haͤnde? Er hoffte, er dachte das letztre.
Er war gewarnt, doppelt gewarnt, aber dieſe
ſonderbaren zufaͤlligen Zeichen, durch die ein
hoͤheres Weſen mit uns zu ſprechen ſcheint, wa¬
ren ſeiner Leidenſchaft unverſtaͤndlich; vielmehr
indem ſie ihn immer weiter fuͤhrte, empfand
er die Beſchraͤnkung in der man ihn zu hal¬
ten ſchien, immer unangenehmer. Die freund¬
liche Geſelligkeit verlor ſich. Sein Herz war
verſchloſſen, und wenn er mit Freund und
Frau zuſammen zu ſeyn genoͤthigt war, ſo
gelang es ihm nicht, ſeine fruͤhere Neigung
zu ihnen in ſeinem Buſen wieder aufzufinden,
zu beleben. Der ſtille Vorwurf, den er ſich
ſelbſt hieruͤber machen mußte, war ihm un¬
bequem und er ſuchte ſich durch eine Art von
[233] Humor zu helfen, der aber, weil er ohne
Liebe war, auch der gewohnten Anmuth er¬
mangelte.
Ueber alle dieſe Pruͤfungen half Charlot¬
ten ihr inneres Gefuͤhl hinweg. Sie war
ſich ihres ernſten Vorſatzes bewußt, auf eine
ſo ſchoͤne edle Neigung Verzicht zu thun.
Wie ſehr wuͤnſcht ſie jenen beyden auch
zu Huͤlfe zu kommen. Entfernung, fuͤhlte ſie
wohl, wird nicht allein hinreichend ſeyn, ein
ſolches Uebel zu heilen. Sie nimmt ſich vor
die Sache gegen das gute Kind zur Sprache
zu bringen; aber ſie vermag es nicht; die
Erinnerung ihres eignen Schwankens ſteht
ihr im Wege. Sie ſucht ſich daruͤber im All¬
gemeinen auszudruͤcken; das Allgemeine paßt
auch auf ihren eignen Zuſtand, den ſie aus¬
zuſprechen ſcheut. Ein jeder Wink, den ſie
Ottilien geben will, deutet zuruͤck in ihr eignes
Herz. Sie will warnen und fuͤhlt, daß ſie
[234] wohl ſelbſt noch einer Warnung beduͤrfen
koͤnnte.
Schweigend haͤlt ſie daher die Liebenden
noch immer auseinander, und die Sache wird
dadurch nicht beſſer. Leiſe Andeutungen, die
ihr manchmal entſchluͤpfen, wirken auf Ottilien
nicht: denn Eduard hatte dieſe von Charlot¬
tens Neigung zum Hauptmann uͤberzeugt, ſie
uͤberzeugt, daß Charlotte ſelbſt eine Scheidung
wuͤnſche, die er nun auf eine anſtaͤndige Weiſe
zu bewirken denke.
Ottilie getragen durch das Gefuͤhl ihrer
Unſchuld, auf dem Wege zu dem erwuͤnſchte¬
ſten Gluͤck, lebt nur fuͤr Eduard. Durch die
Liebe zu ihm in allem Guten geſtaͤrkt, um
ſeinetwillen freudiger in ihrem Thun, aufge¬
ſchloſſener gegen andre, findet ſie ſich in einem
Himmel auf Erden.
So ſetzen alle zuſammen, jeder auf ſeine
Weiſe, das taͤgliche Leben fort, mit und
[235] ohne Nachdenken; alles ſcheint ſeinen ge¬
woͤhnlichen Gang zu gehen, wie man auch
in ungeheuren Faͤllen, wo alles auf dem
Spiele ſteht, noch immer ſo fort lebt, als
wenn von nichts die Rede waͤre.
Vierzehntes Kapitel.
Von dem Grafen war indeſſen ein Brief
an den Hauptmann angekommen, und zwar
ein doppelter, einer zum Vorzeigen, der ſehr
ſchoͤne Ausſichten in die Ferne darwies, der
andre hingegen, der ein entſchiedenes Anerbie¬
ten fuͤr die Gegenwart enthielt, eine bedeu¬
tende Hof- und Geſchaͤftsſtelle, den Charakter
als Major, anſehnlichen Gehalt, und andre
Vortheile, ſollte wegen verſchiedener Neben¬
umſtaͤnde noch geheim gehalten werden. Auch
unterrichtete der Hauptmann ſeine Freunde
nur von jenen Hoffnungen und verbarg was
ſo nahe bevorſtand.
Indeſſen ſetzte er die gegenwaͤrtigen Ge¬
ſchaͤfte lebhaft fort und machte in der Stille
[237] Einrichtungen, wie alles in ſeiner Abweſen¬
heit ungehinderten Fortgang haben koͤnnte.
Es iſt ihm nun ſelbſt daran gelegen, daß
fuͤr manches ein Termin beſtimmt werde, daß
Ottiliens Geburtstag manches beſchleunige.
Nun wirken die beyden Freunde, obſchon
ohne ausdruͤckliches Einverſtaͤndniß, gern zu¬
ſammen. Eduard iſt nun recht zufrieden, daß
man durch das Vorauserheben der Gel¬
der die Caſſe verſtaͤrkt hat; die ganze Anſtalt
ruͤckt auf das raſcheſte vorwaͤrts.
Die drey Teiche in einen See zu ver¬
wandeln haͤtte jetzt der Hauptmann am lieb¬
ſten ganz widerrathen. Der untere Damm
war zu verſtaͤrken, die mittlern abzutragen,
und die ganze Sache in mehr als einem Sinne
wichtig und bedenklich. Beyde Arbeiten aber,
wie ſie ineinander wirken konnten, waren
ſchon angefangen, und hier kam ein junger
Architect, ein ehemaliger Zoͤgling des Haupt¬
manns, ſehr erwuͤnſcht, der theils mit An¬
[238] ſtellung tuͤchtiger Meiſter, theils mit Verdin¬
gen der Arbeit, wo ſich's thun ließ, die
Sache foͤrderte und dem Werke Sicherheit
und Dauer verſprach; wobey ſich der Haupt¬
mann im Stillen freute, daß man ſeine Ent¬
fernung nicht fuͤhlen wuͤrde. Denn er hatte
den Grundſatz, aus einem uͤbernommenen un¬
vollendeten Geſchaͤft nicht zu ſcheiden, bis er
ſeine Stelle genugſam erſetzt ſaͤhe. Ja er ver¬
achtete diejenigen, die, um ihren Abgang fuͤhl¬
bar zu machen, erſt noch Verwirrung in ihrem
Kreiſe anrichten, indem ſie als ungebildete
Selbſtler das zu zerſtoͤren wuͤnſchen, wobey ſie
nicht mehr fortwirken ſollen.
So arbeitete man immer mit Anſtrengung,
um Ottiliens Geburtstag zu verherrlichen, ohne
daß man es ausſprach, oder ſich's recht auf¬
richtig bekannte. Nach Charlottens obgleich
neidloſen Geſinnungen konnte es doch kein
entſchiedenes Feſt werden. Die Jugend Ot¬
tiliens, ihre Gluͤcksumſtaͤnde, das Verhaͤltniß
[239] zur Familie berechtigten ſie nicht als Koͤniginn
eines Tages zu erſcheinen. Und Eduard wollte
nicht davon geſprochen haben, weil alles wie
von ſelbſt entſpringen, uͤberraſchen und natuͤr¬
lich erfreuen ſollte.
Alle kamen daher ſtillſchweigend in dem
Vorwande uͤberein, als wenn an dieſem Tage,
ohne weitere Beziehung, jenes Luſthaus ge¬
richtet werden ſollte, und bey dieſem Anlaß
konnte man dem Volke ſo wie den Freunden
ein Feſt ankuͤndigen.
Eduards Neigung war aber graͤnzenlos.
Wie er ſich Ottilien zuzueignen begehrte; ſo
kannte er auch kein Maaß des Hingebens,
Schenkens, Verſprechens. Zu einigen Gaben,
die er Ottilien an dieſem Tage verehren wollte,
hatte ihm Charlotte viel zu aͤrmliche Vorſchlaͤge
gethan. Er ſprach mit ſeinem Kammerdiener,
der ſeine Garderobe beſorgte und mit Handels¬
leuten und Modehaͤndlern in beſtaͤndigem Ver¬
[240] haͤltniß blieb; dieſer, nicht unbekannt ſowohl
mit den angenehmſten Gaben ſelbſt als mit der
beſten Art ſie zu uͤberreichen, beſtellte ſogleich
in der Stadt den niedlichſten Koffer mit rothem
Saffian uͤberzogen, mit Stahlnaͤgeln beſchla¬
gen, und angefuͤllt mit Geſchenken einer ſolchen
Schale wuͤrdig.
Noch einen andern Vorſchlag that er
Eduarden. Es war ein kleines Feuerwerk
vorhanden, das man immer abzubrennen ver¬
ſaͤumt hatte. Dieß konnte man leicht verſtaͤr¬
ken und erweitern. Eduard ergriff den Ge¬
danken und jener verſprach fuͤr die Ausfuͤh¬
rung zu ſorgen. Die Sache ſollte ein Ge¬
heimniß bleiben.
Der Hauptmann hatte unterdeſſen, je naͤ¬
her der Tag heranruͤckte, ſeine polizeylichen
Einrichtungen getroffen, die er fuͤr ſo noͤthig
hielt, wenn eine Maſſe Menſchen zuſammen
berufen oder gelockt wird. Ja ſogar hatte er
[241] wegen des Bettelns, und andrer Unbequem¬
lichkeiten, wodurch die Anmuth eines Feſtes
geſtoͤrt wird, durchaus Vorſorge genommen.
Eduard und ſein Vertrauter dagegen be¬
ſchaͤftigten ſich vorzuͤglich mit dem Feuerwerk.
Am mittelſten Teiche vor jenen großen Eich¬
baͤumen ſollte es abgebrannt werden; gegen¬
uͤber unter den Platanen ſollte die Geſell¬
ſchaft ſich aufhalten, um die Wirkung aus
gehoͤriger Ferne, die Abſpiegelung im Waſſer,
und was auf dem Waſſer ſelbſt brennend zu
ſchwimmen beſtimmt war, mit Sicherheit
und Bequemlichkeit anzuſchauen.
Unter einem andern Vorwand ließ daher
Eduard den Raum unter den Platanen von
Geſtraͤuch, Gras und Moos ſaͤubern, und
nun erſchien erſt die Herrlichkeit des Baum¬
wuchſes ſowohl an Hoͤhe als Breite auf dem
gereinigten Boden. Eduard empfand dar¬
uͤber die groͤßte Freude. — Es war ungefaͤhr
I. 16[242] um dieſe Jahreszeit als ich ſie pflanzte. Wie
lange mag es her ſeyn? ſagte er zu ſich
ſelbſt. — Sobald er nach Hauſe kam, ſchlug
er in alten Tagebuͤchern nach, die ſein Vater,
beſonders auf dem Lande, ſehr ordentlich ge¬
fuͤhrt hatte. Zwar dieſe Pflanzung konnte
nicht darin erwaͤhnt ſeyn, aber eine andre
haͤuslich wichtige Begebenheit an demſelben
Tage, deren ſich Eduard noch wohl erinnerte,
mußte nothwendig darin angemerkt ſtehen.
Er durchblaͤttert einige Baͤnde; der Um¬
ſtand findet ſich: aber wie erſtaunt, wie er¬
freut iſt Eduard, als er das wunderbarſte
Zuſammentreffen bemerkt. Der Tag, das
Jahr jener Baumpflanzung iſt zugleich der
Tag, das Jahr von Ottiliens Geburt.
Funfzehntes Kapitel.
Endlich leuchtete Eduarden der ſehnlich er¬
wartete Morgen und nach und nach ſtellten
viele Gaͤſte ſich ein: denn man hatte die
Einladungen weit umher geſchickt, und manche
die das Legen des Grundſteins verſaͤumt hat¬
ten, wovon man ſo viel artiges erzaͤhlte, woll¬
ten dieſe zweyte Feyerlichkeit um ſo weniger
verfehlen.
Vor Tafel erſchienen die Zimmerleute mit
Muſik im Schloßhofe, ihren reichen Kranz
tragend, der aus vielen ſtufenweiſe uͤberein¬
ander ſchwankenden Laub- und Blumenreifen
zuſammengeſetzt war. Sie ſprachen ihren
Gruß, und erbaten ſich zur gewoͤhnlichen Aus¬
16 *[244] ſchmuͤckung ſeidene Tuͤcher und Baͤnder von
dem ſchoͤnen Geſchlecht. Indeß die Herrſchaft
ſpeiſte, ſetzten ſie ihren jauchzenden Zug wei¬
ter fort, und nachdem ſie ſich eine Zeit lang
im Dorfe aufgehalten und daſelbſt Frauen
und Maͤdchen gleichfalls um manches Band
gebracht; ſo kamen ſie endlich, begleitet und
erwartet von einer großen Menge, auf die
Hoͤhe wo das gerichtete Haus ſtand.
Charlotte hielt nach der Tafel die Geſell¬
ſchaft einigermaßen zuruͤck. Sie wollte keinen
feyerlichen foͤrmlichen Zug und man fand ſich
daher in einzelnen Partieen, ohne Rang und
Ordnung, auf dem Platz gemaͤchlich ein.
Charlotte zoͤgerte mit Ottilien und machte da¬
durch die Sache nicht beſſer: denn weil Ot¬
tilie wirklich die letzte war die herantrat, ſo
ſchien es als wenn Trompeten und Pauken
nur auf ſie gewartet haͤtten, als wenn die
Feyerlichkeit bey ihrer Ankunft nun gleich be¬
ginnen muͤßte.
[245]
Dem Hauſe das rohe Anſehn zu nehmen,
hatte man es mit gruͤnem Reiſig und Blu¬
men, nach Angabe des Hauptmanns, architec¬
toniſch ausgeſchmuͤckt, allein ohne deſſen Mit¬
wiſſen hatte Eduard den Architecten veranlaßt,
in dem Geſims das Datum mit Blumen zu
bezeichnen. Das mochte noch hingehen; allein
zeitig genug langte der Hauptmann an, um
zu verhindern, daß nicht auch der Name Ot¬
tiliens im Giebelfelde glaͤnzte. Er wußte
dieſes Beginnen auf eine geſchickte Weiſe ab¬
zulehnen und die ſchon fertigen Blumenbuch¬
ſtaben bey Seite zu bringen.
Der Kranz war aufgeſteckt und weit um¬
her in der Gegend ſichtbar. Bunt flatterten
die Baͤnder und Tuͤcher in der Luft und eine
kurze Rede verſcholl zum groͤßten Theil im
Winde. Die Feyerlichkeit war zu Ende, der
Tanz auf dem geebneten und mit Lauben um¬
kreiſeten Platze vor dem Gebaͤude ſollte nun
angehen. Ein ſchmucker Zimmergeſelle fuͤhrte
[246] Eduarden ein flinkes Bauermaͤdchen zu, und
forderte Ottilien auf, welche daneben ſtand.
Die beyden Paare fanden ſogleich ihre Nach¬
folger und bald genug wechſelte Eduard, in¬
dem er Ottilien ergriff und mit ihr die Runde
machte. Die juͤngere Geſellſchaft miſchte ſich
froͤhlich in den Tanz des Volks, indeß die
aͤlteren beobachteten.
Sodann, ehe man ſich auf den Spazir¬
gaͤngen zerſtreute, ward abgeredet, daß man
ſich mit Untergang der Sonne bey den Pla¬
tanen wieder verſammeln wolle. Eduard fand
ſich zuerſt ein, ordnete alles und nahm Abrede
mit dem Kammerdiener, der auf der andern
Seite, in Geſellſchaft des Feuerwerkers, die
Luſterſcheinungen zu beſorgen hatte.
Der Hauptmann bemerkte die dazu getrof¬
fenen Vorrichtungen nicht mit Vergnuͤgen; er
wollte wegen des zu erwartenden Andrangs
der Zuſchauer mit Eduard ſprechen, als ihn
[247] derſelbe etwas haſtig bat, er moͤge ihm die¬
ſen Theil der Feyerlichkeit doch allein uͤber¬
laſſen.
Schon hatte ſich das Volk auf die ober¬
waͤrts abgeſtochenen und vom Raſen entbloͤßten
Daͤmme gedraͤngt, wo das Erdreich uneben
und unſicher war. Die Sonne ging unter,
die Daͤmmerung trat ein, und in Erwartung
groͤßerer Dunkelheit wurde die Geſellſchaft
unter den Platanen mit Erfriſchungen be¬
dient. Man fand den Ort unvergleichlich
und freute ſich in Gedanken, kuͤnftig von hier
die Ausſicht auf einen weiten und ſo mannig¬
faltig begraͤnzten See zu genießen.
Ein ruhiger Abend, eine vollkommene
Windſtille verſprachen das naͤchtliche Feſt zu
beguͤnſtigen, als auf einmal ein entſetzliches
Geſchrey entſtand. Große Schollen hatten ſich
vom Damme losgetrennt, man ſah mehrere
Menſchen ins Waſſer ſtuͤrzen. Das Erdreich
[248] hatte nachgegeben unter dem Draͤngen und
Treten der immer zunehmenden Menge. Je¬
der wollte den beſten Platz haben und nun
konnte Niemand vorwaͤrts noch zuruͤck.
Jedermann ſprang auf und hinzu, mehr
um zu ſchauen als zu thun: denn was war
da zu thun wo Niemand hinreichen konnte.
Nebſt einigen Entſchloſſenen eilte der Haupt¬
mann, trieb ſogleich die Menge von dem
Damm herunter nach den Ufern, um den
Huͤlfreichen freye Hand zu geben, welche die
Verſinkenden herauszuziehen ſuchten. Schon
waren alle, theils durch eignes, theils durch
fremdes Beſtreben, wieder auf dem Trocknen,
bis auf einen Knaben, der durch allzu aͤngſt¬
liches Bemuͤhen, ſtatt ſich dem Damm zu
naͤhern, ſich davon entfernt hatte. Die Kraͤfte
ſchienen ihn zu verlaſſen, nur einigemal kam
noch eine Hand, ein Fuß in die Hoͤhe. Un¬
gluͤcklicher Weiſe war der Kahn auf der an¬
dern Seite, mit Feuerwerk gefuͤllt, nur lang¬
[249] ſam konnte man ihn ausladen und die Huͤlfe
verzoͤgerte ſich. Des Hauptmanns Entſchluß
war gefaßt, er warf die Oberkleider weg,
aller Augen richteten ſich auf ihn, und ſeine
tuͤchtige kraͤftige Geſtalt floͤßte Jedermann Zu¬
trauen ein; aber ein Schrey der Ueberraſchung
drang aus der Menge hervor, als er ſich ins
Waſſer ſtuͤrzte. Jedes Auge begleitete ihn,
der als geſchickter Schwimmer den Knaben
bald erreichte und ihn, jedoch fuͤr todt, an
den Damm brachte.
Indeſſen ruderte der Kahn herbey, der
Hauptmann beſtieg ihn und forſchte genau
von den Anweſenden, ob denn auch wirklich
alle gerettet ſeyen. Der Chirurgus kommt und
uͤbernimmt den todtgeglaubten Knaben; Char¬
lotte tritt hinzu, ſie bittet den Hauptmann
nur fuͤr ſich zu ſorgen, nach dem Schloſſe
zuruͤckzukehren und die Kleider zu wechſeln.
Er zaudert, bis ihm geſetzte verſtaͤndige Leute,
die ganz nahe gegenwaͤrtig geweſen, die ſelbſt
[250] zur Rettung der einzelnen beygetragen, auf
das heiligſte verſichern, daß alle gerettet
ſeyen.
Charlotte ſieht ihn nach Hauſe gehen, ſie
denkt, daß Wein und Thee, und was ſonſt noͤ¬
thig waͤre, verſchloſſen iſt, daß in ſolchen Faͤllen
die Menſchen gewoͤhnlich verkehrt handeln; ſie
eilt durch die zerſtreute Geſellſchaft, die ſich noch
unter den Platanen befindet; Eduard iſt be¬
ſchaͤftigt Jedermann zuzureden: man ſoll blei¬
ben; in kurzem gedenkt er das Zeichen zu
geben und das Feuerwerk ſoll beginnen; Char¬
lotte tritt hinzu und bittet ihn, ein Vergnuͤ¬
gen zu verſchieben das jetzt nicht am Platze
ſey, das in dem gegenwaͤrtigen Augenblick
nicht genoſſen werden koͤnne; ſie erinnert ihn,
was man dem Geretteten und dem Retter
ſchuldig ſey. Der Chirurgus wird ſchon ſeine
Pflicht thun, verſetzte Eduard. Er iſt mit
allem verſehen und unſer Zudringen waͤre nur
eine hinderliche Theilnahme.
[251]
Charlotte beſtand auf ihrem Sinne und
winkte Ottilien, die ſich ſogleich zum Weg¬
gehn anſchickte. Eduard ergriff ihre Hand
und rief: Wir wollen dieſen Tag nicht im La¬
zareth endigen! Zur barmherzigen Schweſter
iſt ſie zu gut. Auch ohne uns werden die
Scheintodten erwachen und die Lebendigen
ſich abtrocknen.
Charlotte ſchwieg und ging. Einige folg¬
ten ihr, andere dieſen; endlich wollte Niemand
der letzte ſeyn und ſo folgten alle. Eduard
und Ottilie fanden ſich allein unter den Pla¬
tanen. Er beſtand darauf zu bleiben, ſo
dringend, ſo aͤngſtlich ſie ihn auch bat, mit
ihr nach dem Schloſſe zuruͤckzukehren. Nein,
Ottilie! rief er: das Außerordentliche geſchieht
nicht auf glattem gewoͤhnlichen Wege. Dieſer
uͤberraſchende Vorfall von heute Abend bringt
uns ſchneller zuſammen. Du biſt die meine!
Ich habe dir's ſchon ſo oft geſagt und ge¬
[252] ſchworen; wir wollen es nicht mehr ſagen und
ſchwoͤren, nun ſoll es werden!
Der Kahn von der andern Seite ſchwamm
heruͤber. Es war der Kammerdiener, der
verlegen anfragte: was nunmehr mit dem
Feuerwerk werden ſollte. Brennt es ab! rief
er ihm entgegen. Fuͤr dich allein war es be¬
ſtellt, Ottilie, und nun ſollſt du es auch allein
ſehen! Erlaube mir an deiner Seite ſitzend,
es mit zu genießen. Zaͤrtlich beſcheiden ſetzte
er ſich neben ſie ohne ſie zu beruͤhren.
Raketen rauſchten auf, Kanonenſchlaͤge
donnerten, Leuchtkugeln ſtiegen, Schwaͤrmer
ſchlaͤngelten und platzten, Raͤder giſchten, je¬
des erſt einzeln, dann gepaart, dann alle
zuſammen, und immer gewaltſamer hinter¬
einander und zuſammen. Eduard deſſen Bu¬
ſen brannte, verfolgte mit lebhaft zufriedenem
Blick dieſe feurigen Erſcheinungen. Ottiliens
zartem, aufgeregten Gemuͤth war dieſes rau¬
[253] ſchende blitzende Entſtehen und Verſchwinden
eher aͤngſtlich als angenehm. Sie lehnte
ſich ſchuͤchtern an Eduard, dem dieſe Annaͤhe¬
rung, dieſes Zutrauen das volle Gefuͤhl gab,
daß ſie ihm ganz angehoͤre.
Die Nacht war kaum in ihre Rechte wie¬
der eingetreten, als der Mond aufging und
die Pfade der beyden Ruͤckkehrenden beleuch¬
tete. Eine Figur, den Hut in der Hand,
vertrat ihnen den Weg, und ſprach ſie um
ein Almoſen an, da er an dieſem feſtlichen
Tage verſaͤumt worden ſey. Der Mond ſchien
ihm ins Geſicht und Eduard erkannte die Zuͤge
jenes zudringlichen Bettlers. Aber ſo gluͤck¬
lich wie er war, konnte er nicht ungehalten
ſeyn, konnte es ihm nicht einfallen, daß be¬
ſonders fuͤr heute das Betteln hoͤchlich ver¬
poͤnt worden. Er forſchte nicht lange in der
Taſche und gab ein Goldſtuͤck hin. Er haͤtte
jeden gern gluͤcklich gemacht, da ſein Gluͤck
ohne Graͤnzen ſchien.
[254]
Zu Hauſe war indeß alles erwuͤnſcht ge¬
lungen. Die Thaͤtigkeit des Chirurgen, die
Bereitſchaft alles Noͤthigen, der Beyſtand
Charlottens, alles wirkte zuſammen und der
Knabe ward wieder zum Leben hergeſtellt.
Die Gaͤſte zerſtreuten ſich, ſowohl um noch
etwas vom Feuerwerk aus der Ferne zu ſe¬
hen, als auch, um nach ſolchen verworrnen
Scenen ihre ruhige Heimat wieder zu
betreten.
Auch hatte der Hauptmann, geſchwind
umgekleidet, an der noͤthigen Vorſorge thaͤti¬
gen Antheil genommen; alles war beruhigt
und er fand ſich mit Charlotten allein. Mit
zutraulicher Freundlichkeit erklaͤrte er nun,
daß ſeine Abreiſe nahe bevorſtehe. Sie hatte
dieſen Abend ſo viel erlebt, daß dieſe Ent¬
deckung wenig Eindruck auf ſie machte; ſie
hatte geſehen, wie der Freund ſich aufopferte,
wie er rettete und ſelbſt gerettet war. Dieſe
wunderbaren Ereigniſſe ſchienen ihr eine be¬
[255] deutende Zukunft aber keine ungluͤckliche zu
weiſſagen.
Eduarden, der mit Ottilien hereintrat,
wurde die bevorſtehende Abreiſe des Haupt¬
manns gleichfalls angekuͤndigt. Er argwohnte,
daß Charlotte fruͤher um das Naͤhere gewußt
habe, war aber viel zu ſehr mit ſich und ſei¬
nen Abſichten beſchaͤftigt, als daß er es haͤtte
uͤbel empfinden ſollen.
Im Gegentheil vernahm er aufmerkſam
und zufrieden die gute und ehrenvolle Lage
in die der Hauptmann verſetzt werden ſollte.
Unbaͤndig drangen ſeine geheimen Wuͤnſche
den Begebenheiten vor. Schon ſah er jenen
mit Charlotten verbunden, ſich mit Ottilien.
Man haͤtte ihm zu dieſem Feſt kein groͤßeres
Geſchenk machen koͤnnen.
Aber wie erſtaunt war Ottilie, als ſie
auf ihr Zimmer trat und den koͤſtlichen klei¬
[256] nen Coffer auf ihrem Tiſche fand. Sie
ſaͤumte nicht ihn zu eroͤffnen. Da zeigte ſich
alles ſo ſchoͤn gepackt und geordnet, daß ſie
es nicht auseinander zu nehmen, ja kaum
zu luͤften wagte. Muſſelin, Battiſt, Seide,
Shawls und Spitzen wetteiferten an Fein¬
heit, Zierlichkeit und Koſtbarkeit. Auch war
der Schmuck nicht vergeſſen. Sie begriff
wohl die Abſicht, ſie mehr als einmal
vom Kopf bis auf den Fuß zu kleiden: es
war aber alles ſo koſtbar und fremd, daß ſie
ſich's in Gedanken nicht zuzueignen getraute.
Sechzehntes Kapitel.
Des andern Morgens war der Haupt¬
mann verſchwunden, und ein dankbar ge¬
fuͤhltes Blatt an die Freunde von ihm zuruͤck¬
geblieben. Er und Charlotte hatten Abends
vorher ſchon halben und einſylbigen Abſchied
genommen. Sie empfand eine ewige Tren¬
nung und ergab ſich darein: denn in dem
zweyten Briefe des Grafen, den ihr der
Hauptmann zuletzt mittheilte, war auch von
einer Ausſicht auf eine vortheilhafte Heirat
die Rede; und obgleich er dieſem Punkt keine
Aufmerkſamkeit ſchenkte, ſo hielt ſie doch die
Sache ſchon fuͤr gewiß und entſagte ihm rein
und voͤllig.
I. 17[258]
Dagegen glaubte ſie nun auch die Gewalt,
die ſie uͤber ſich ſelbſt ausgeuͤbt, von andern
fordern zu koͤnnen. Ihr war es nicht un¬
moͤglich geweſen, andern ſollte das Gleiche
moͤglich ſeyn. In dieſem Sinne begann ſie
das Geſpraͤch mit ihrem Gemahl, um ſomehr
offen und zuverſichtlich, als ſie empfand, daß
die Sache ein fuͤr allemal abgethan werden
muͤſſe.
Unſer Freund hat uns verlaſſen, ſagte ſie:
wir ſind nun wieder gegen einander uͤber wie
vormals, und es kaͤme nun wohl auf uns
an, ob wir wieder voͤllig in den alten Zu¬
ſtand zuruͤckkehren wollten.
Eduard, der nichts vernahm als was
ſeiner Leidenſchaft ſchmeichelte, glaubte daß
Charlotte durch dieſe Worte den fruͤheren
Wittwenſtand bezeichnen und, obgleich auf
unbeſtimmte Weiſe, zu einer Scheidung
Hoffnung machen wolle. Er antwortete des¬
[259] halb mit Laͤcheln: Warum nicht? Es kaͤme
nur darauf an, daß man ſich verſtaͤndigte.
Er fand ſich daher gar ſehr betrogen, als
Charlotte verſetzte: Auch Ottilien in eine an¬
dre Lage zu bringen, haben wir gegenwaͤrtig
nur zu waͤhlen; denn es findet ſich eine dop¬
pelte Gelegenheit, ihr Verhaͤltniſſe zu geben
die fuͤr ſie wuͤnſchenswerth ſind. Sie kann
in die Penſion zuruͤckkehren, da meine Toch¬
ter zur Großtante gezogen iſt; ſie kann in
ein angeſehenes Haus aufgenommen werden,
um mit einer einzigen Tochter alle Vortheile
einer ſtandesmaͤßigen Erziehung zu genießen.
Indeſſen, verſetzte Eduard ziemlich gefaßt,
hat Ottilie ſich in unſerer freundlichen Geſell¬
ſchaft ſo verwoͤhnt, daß ihr eine andre wohl
ſchwerlich willkommen ſeyn moͤchte.
Wir haben uns alle verwoͤhnt, ſagte Char¬
lotte, und du nicht zum letzten. Indeſſen iſt
17 *[260] es eine Epoche, die uns zur Beſinnung auf¬
fordert, die uns ernſtlich ermahnt, an das
Beſte ſaͤmmtlicher Mitglieder unſeres kleinen
Zirkels zu denken und auch irgend eine Auf¬
opferung nicht zu verſagen.
Wenigſtens finde ich es nicht billig, ver¬
ſetzte Eduard, daß Ottilie aufgeopfert werde,
und das geſchaͤhe doch wenn man ſie gegen¬
waͤrtig unter fremde Menſchen hinunter ſtieße.
Den Hauptmann hat ſein gutes Geſchick hier
aufgeſucht; wir duͤrfen ihn mit Ruhe, ja
mit Behagen von uns wegſcheiden laſſen.
Wer weiß was Ottilien bevorſteht; warum
ſollten wir uns uͤbereilen?
Was uns bevorſteht iſt ziemlich klar, ver¬
ſetzte Charlotte mit einiger Bewegung, und
da ſie die Abſicht hatte ein fuͤr allemal ſich
auszuſprechen, fuhr ſie fort: Du liebſt Otti¬
lien, du gewoͤhnſt dich an ſie. Neigung und
Leidenſchaft entſpringt und naͤhrt ſich auch
[261] von ihrer Seite. Warum ſollen wir nicht
mit Worten ausſprechen, was uns jede Stunde
geſteht und bekennt? Sollen wir nicht ſoviel
Vorſicht haben, uns zu fragen, was das wer¬
den wird?
Wenn man auch ſogleich darauf nicht ant¬
worten kann, verſetzte Eduard, der ſich zu¬
ſammennahm; ſo laͤßt ſich doch ſoviel ſagen,
daß man eben alsdann ſich am erſten ent¬
ſchließt abzuwarten was uns die Zukunft leh¬
ren wird, wenn man gerade nicht ſagen kann,
was aus einer Sache werden ſoll.
Hier vorauszuſehen, verſetzte Charlotte,
bedarf es wohl keiner großen Weisheit, und
ſoviel laͤßt ſich auf alle Faͤlle gleich ſagen,
daß wir beyde nicht mehr jung genug ſind,
um blindlings dahin zu gehen, wohin man
nicht moͤchte oder nicht ſollte. Niemand kann
mehr fuͤr uns ſorgen; wir muͤſſen unſre eigenen
Freunde ſeyn, unſre eigenen Hofmeiſter. Nie¬
[262] mand erwartet von uns, daß wir uns in ein
Aeußerſtes verlieren werden, Niemand erwar¬
tet uns tadelnswerth oder gar laͤcherlich zu
finden.
Kannſt du mir's verdenken, verſetzte Eduard,
der die offne reine Sprache ſeiner Gattinn
nicht zu erwiedern vermochte: kannſt du mich
ſchelten, wenn mir Ottiliens Gluͤck am Herzen
liegt? und nicht etwa ein kuͤnftiges, das im¬
mer nicht zu berechnen iſt; ſondern ein gegen¬
waͤrtiges. Denke dir, aufrichtig und ohne
Selbſtbetrug, Ottilien aus unſerer Geſellſchaft
geriſſen, und fremden Menſchen untergeben
— ich wenigſtens fuͤhle mich nicht grauſam
genug, ihr eine ſolche Veraͤnderung zuzu¬
muthen.
Charlotte ward gar wohl die Entſchloſſen¬
heit ihres Gemahls hinter ſeiner Verſtellung
gewahr. Erſt jetzt fuͤhlte ſie, wie weit er ſich
von ihr entfernt hatte. Mit einiger Bewe¬
[263] gung rief ſie aus: Kann Ottilie gluͤcklich ſeyn,
wenn ſie uns entzweyt! wenn ſie mir einen
Gatten, ſeinen Kindern einen Vater entreißt!
Fuͤr unſere Kinder, daͤchte ich, waͤre ge¬
ſorgt, ſagte Eduard laͤchelnd und kalt; etwas
freundlicher aber fuͤgte er hinzu: Wer wird
auch gleich das Aeußerſte denken!
Das Aeußerſte liegt der Leidenſchaft zu
allernaͤchſt, bemerkte Charlotte. Lehne, ſo
lange es noch Zeit iſt, den guten Rath nicht
ab, nicht die Huͤlfe die ich uns biete. In
truͤben Faͤllen muß derjenige wirken und hel¬
fen der am klaͤrſten ſieht. Dießmal bin
ich's. Lieber, liebſter Eduard, laß mich ge¬
waͤhren! Kannſt du mir zumuthen, daß ich
auf mein wohlerworbnes Gluͤck, auf die ſchoͤn¬
ſten Rechte, auf dich ſo geradehin Verzicht
leiſten ſoll?
Wer ſagt das? verſetzte Eduard mit eini¬
ger Verlegenheit.
[264]
Du ſelbſt, verſetzte Charlotte: indem du
Ottilien in der Naͤhe behalten willſt, geſtehſt
du nicht alles zu, was daraus entſpringen
muß? Ich will nicht in dich dringen; aber
wenn du dich nicht uͤberwinden kannſt, ſo
wirſt du wenigſtens dich nicht lange mehr be¬
truͤgen koͤnnen.
Eduard fuͤhlte wie Recht ſie hatte. Ein
ausgeſprochnes Wort iſt fuͤrchterlich, wenn es
das auf einmal ausſpricht, was das Herz
lange ſich erlaubt hat; und um nur fuͤr den
Augenblick auszuweichen, erwiederte Eduard:
Es iſt mir ja noch nicht einmal klar, was
du vorhaſt.
Meine Abſicht war, verſetzte Charlotte, mit
dir die beyden Vorſchlaͤge zu uͤberlegen. Bey¬
de haben viel Gutes. Die Penſion wuͤrde
Ottilien am gemaͤßeſten ſeyn, wenn ich be¬
trachte, wie das Kind jetzt iſt. Jene groͤßere
und weitere Lage verſpricht aber mehr, wenn
[265] ich bedenke, was ſie werden ſoll. Sie legte
darauf umſtaͤndlich ihrem Gemahl die beyden
Verhaͤltniſſe dar und ſchloß mit den Worten:
Was meine Meynung betrifft; ſo wuͤrde ich
das Haus jener Dame der Penſion vorziehen
aus mehreren Urſachen, beſonders aber auch,
weil ich die Neigung, ja die Leidenſchaft des
jungen Mannes, den Ottilie dort fuͤr ſich ge¬
wonnen, nicht vermehren will.
Eduard ſchien ihr Beyfall zu geben, nur
aber um einigen Aufſchub zu ſuchen. Char¬
lotte, die darauf ausging etwas Entſcheiden¬
des zu thun, ergriff ſogleich die Gelegenheit,
als Eduard nicht unmittelbar widerſprach, die
Abreiſe Ottiliens, zu der ſie ſchon alles im
Stillen vorbereitet hatte, auf die naͤchſten
Tage feſtzuſetzen.
Eduard ſchauderte; er hielt ſich fuͤr ver¬
rathen und die liebevolle Sprache ſeiner Frau
fuͤr ausgedacht, kuͤnſtlich und planmaͤßig, um
[266] ihn auf ewig von ſeinem Gluͤcke zu trennen.
Er ſchien ihr die Sache ganz zu uͤberlaſſen;
allein ſchon war innerlich ſein Entſchluß ge¬
faßt. Um nur zu Athem zu kommen, um
das bevorſtehende unabſehliche Unheil der Ent¬
fernung Ottiliens abzuwenden, entſchied er ſich
ſein Haus zu verlaſſen, und zwar nicht ganz
ohne Vorbewußt Charlottens, die er jedoch
durch die Einleitung zu taͤuſchen verſtand,
daß er bey Ottiliens Abreiſe nicht gegenwaͤr¬
tig ſeyn, ja ſie von dieſem Augenblick an
nicht mehr ſehen wolle. Charlotte, die ge¬
wonnen zu haben glaubte, that ihm allen
Vorſchub. Er befahl ſeine Pferde, gab dem
Kammerdiener die noͤthige Anweiſung was er
einpacken und wie er ihm folgen ſolle, und ſo,
wie ſchon im Stegreife, ſetzte er ſich hin und
ſchrieb.
[267]
Eduard an Charlotten.
Das Uebel, meine Liebe, das uns befal¬
len hat, mag heilbar ſeyn oder nicht, dieß
nur fuͤhl' ich, wenn ich im Augenblicke nicht
verzweifeln ſoll, ſo muß ich Aufſchub finden
fuͤr mich, fuͤr uns alle. Indem ich mich
aufopfre kann ich fordern. Ich verlaſſe mein
Haus und kehre nur unter guͤnſtigern ruhi¬
gern Ausſichten zuruͤck. Du ſollſt es indeſſen
beſitzen, aber mit Ottilien. Bey dir will
ich ſie wiſſen, nicht unter fremden Menſchen.
Sorge fuͤr ſie, behandle ſie wie ſonſt, wie
bisher, ja nur immer liebevoller, freundlicher
und zarter. Ich verſpreche kein heimliches
Verhaͤltniß zu Ottilien zu ſuchen. Laßt mich
lieber eine Zeit lang ganz unwiſſend, wie ihr
lebt; ich will mir das Beſte denken. Denkt
auch ſo von mir. Nur, was ich dich bitte,
auf das innigſte, auf das lebhafteſte: mache
[268] keinen Verſuch Ottilien ſonſt irgendwo unter¬
zugeben, in neue Verhaͤltniſſe zu bringen.
Außer dem Bezirk deines Schloſſes, deines
Parks, fremden Menſchen anvertraut, gehoͤrt
ſie mir und ich werde mich ihrer bemaͤchtigen.
Ehrſt du aber meine Neigung, meine Wuͤn¬
ſche, meine Schmerzen; ſchmeichelſt du mei¬
nem Wahn, meinen Hoffnungen: ſo will ich
auch der Geneſung nicht widerſtreben, wenn
ſie ſich mir anbietet. —
Dieſe letzte Wendung floß ihm aus der
Feder, nicht aus dem Herzen. Ja wie er
ſie auf dem Papier ſah, fing er bitterlich zu
weinen an. Er ſollte auf irgend eine Weiſe
dem Gluͤck, ja dem Ungluͤck Ottilien zu lie¬
ben, entſagen! Jetzt erſt fuͤhlte er was er
that. Er entfernte ſich, ohne zu wiſſen was
daraus entſtehen konnte. Er ſollte ſie we¬
nigſtens jetzt nicht wiederſehen, ob er ſie je
wiederſaͤhe, welche Sicherheit konnte er ſich
daruͤber verſprechen? Aber der Brief war ge¬
[269] ſchrieben; die Pferde ſtanden vor der Thuͤr;
jeden Augenblick mußte er fuͤrchten Ottilien
irgendwo zu erblicken und zugleich ſeinen
Entſchluß vereitelt zu ſehen. Er faßte ſich;
er dachte daß es ihm doch moͤglich ſey, jeden
Augenblick zuruͤckzukehren und durch die Ent¬
fernung gerade ſeinen Wuͤnſchen naͤher zu
kommen. Im Gegentheil ſtellte er ſich Ottilien
vor, aus dem Hauſe gedraͤngt, wenn er blie¬
be. Er ſiegelte den Brief, eilte die Treppe
hinab und ſchwang ſich aufs Pferd.
Als er beym Wirthshauſe vorbeyritt, ſah
er den Bettler in der Laube ſitzen, den er
geſtern Nacht ſo reichlich beſchenkt hatte.
Dieſer ſaß behaglich an ſeinem Mittagsmahle,
ſtand auf und neigte ſich ehrerbietig, ja an¬
betend vor Eduarden. Eben dieſe Geſtalt
war ihm geſtern erſchienen, als er Ottilien
am Arm fuͤhrte; nun erinnerte ſie ihn ſchmerz¬
lich an die gluͤcklichſte Stunde ſeines Lebens.
Seine Leiden vermehrten ſich; das Gefuͤhl
[270] deſſen was er zuruͤckließ war ihm unertraͤg¬
lich; nochmals blickte er nach dem Bettler:
O du Beneidenswerther! rief er aus: du
kannſt noch am geſtrigen Almoſen zehren,
und ich nicht mehr am geſtrigen Gluͤcke!
Siebzehntes Kapitel.
Ottilie trat ans Fenſter als ſie Jemanden
wegreiten hoͤrte und ſah Eduarden noch im
Ruͤcken. Es kam ihr wunderbar vor, daß
er das Haus verließ, ohne ſie geſehen,
ohne ihr einen Morgengruß geboten zu
haben. Sie ward unruhig und immer
nachdenklicher, als Charlotte ſie auf einen
weiten Spazirgang mit ſich zog und von
mancherley Gegenſtaͤnden ſprach, aber des
Gemahls, und wie es ſchien, vorſaͤtzlich, nicht
erwaͤhnte. Doppelt betroffen war ſie daher,
bey ihrer Zuruͤckkunft den Tiſch nur mit zwey
Gedecken beſetzt zu finden.
[272]
Wir vermiſſen ungern geringſcheinende
Gewohnheiten, aber ſchmerzlich empfinden
wir erſt ein ſolches Entbehren in bedeutenden
Faͤllen. Eduard und der Hauptmann fehlten,
Charlotte hatte ſeit langer Zeit zum erſten¬
mal den Tiſch ſelbſt angeordnet, und es wollte
Ottilien ſcheinen als wenn ſie abgeſetzt waͤre.
Die beyden Frauen ſaßen gegen einander
uͤber; Charlotte ſprach ganz unbefangen von
der Anſtellung des Hauptmanns und von der
wenigen Hoffnung ihn bald wieder zu ſehen.
Das einzige troͤſtete Ottilien in ihrer Lage,
daß ſie glauben konnte, Eduard ſey, um den
Freund noch eine Strecke zu begleiten, ihm
nachgeritten.
Allein, da ſie von Tiſche aufſtanden, ſahen
ſie Eduards Reiſewagen unter dem Fenſter,
und als Charlotte einigermaßen unwillig fragte:
wer ihn hieher beſtellt habe; ſo antwortete
man ihr, es ſey der Kammerdiener, der hier
noch einiges aufpacken wolle. Ottilie brauchte
[273] ihre ganze Faſſung, um ihre Verwunderung
und ihren Schmerz zu verbergen.
Der Kammerdiener trat herein und ver¬
langte noch einiges. Es war eine Mund¬
taſſe des Herrn, ein paar ſilberne Loͤffel und
mancherley was Ottilien auf eine weitere
Reiſe, auf ein laͤngeres Außenbleiben zu deu¬
ten ſchien. Charlotte verwies ihm ſein Be¬
gehren ganz trocken: ſie verſtehe nicht was er
damit ſagen wolle; denn er habe ja alles
was ſich auf den Herrn beziehe, ſelbſt im
Beſchluß. Der gewandte Mann, dem es
freylich nur darum zu thun war, Ottilien zu
ſprechen, und ſie deswegen unter irgend ei¬
nem Vorwande aus dem Zimmer zu locken,
wußte ſich zu entſchuldigen und auf ſeinem
Verlangen zu beharren, das ihm Ottilie auch
zu gewaͤhren wuͤnſchte; allein Charlotte lehnte
es ab, der Kammerdiener mußte ſich entfer¬
nen, und der Wagen rollte fort.
I. 18[274]
Es war fuͤr Ottilien ein ſchrecklicher Au¬
genblick. Sie verſtand es nicht, ſie begriff es
nicht; aber daß ihr Eduard auf geraume
Zeit entriſſen war, konnte ſie fuͤhlen. Char¬
lotte fuͤhlte den Zuſtand mit und ließ ſie al¬
lein. Wir wagen nicht ihren Schmerz, ihre
Thraͤnen zu ſchildern, ſie litt unendlich. Sie
bat nur Gott, daß er ihr nur uͤber dieſen
Tag weghelfen moͤchte; ſie uͤberſtand den
Tag und die Nacht, und als ſie ſich wieder¬
gefunden, glaubte ſie ein anderes Weſen anzu¬
treffen.
Sie hatte ſich nicht gefaßt, ſich nicht er¬
geben, aber ſie war, nach ſo großem Verluſte,
noch da und hatte noch mehr zu befuͤrchten.
Ihre naͤchſte Sorge, nachdem das Bewußt¬
ſeyn wiedergekehrt, war ſogleich: ſie moͤchte
nun, nach Entfernung der Maͤnner, gleichfalls
entfernt werden. Sie ahndete nichts von
Eduards Drohungen, wodurch ihr der Auf¬
enthalt neben Charlotten geſichert war; doch
[275] diente ihr das Betragen Charlottens zu eini¬
ger Beruhigung. Dieſe ſuchte das gute Kind
zu beſchaͤftigen und ließ ſie nur ſelten, nur
ungern von ſich; und ob ſie gleich wohl wußte,
daß man mit Worten nicht viel gegen eine
entſchiedene Leidenſchaft zu wirken vermag, ſo
kannte ſie doch die Macht der Beſonnenheit,
des Bewußtſeyns, und brachte daher manches
zwiſchen ſich und Ottilien zur Sprache.
So war es fuͤr dieſe ein großer Troſt,
als jene gelegentlich, mit Bedacht und Vor¬
ſatz, die weiſe Betrachtung anſtellte: Wie leb¬
haft iſt, ſagte ſie, die Dankbarkeit derjenigen
denen wir mit Ruhe uͤber leidenſchaftliche
Verlegenheiten hinaushelfen. Laß uns freu¬
dig und munter in das eingreifen, was die
Maͤnner unvollendet zuruͤckgelaſſen haben; ſo
bereiten wir uns die ſchoͤnſte Ausſicht auf ihre
Ruͤckkehr, indem wir das was ihr ſtuͤrmendes
ungeduldiges Weſen zerſtoͤren moͤchte, durch
unſre Maͤßigung erhalten und foͤrdern.
18 *[276]
Da Sie von Maͤßigung ſprechen, liebe
Tante, verſetzte Ottilie; ſo kann ich nicht ber¬
gen, daß mir dabey die Unmaͤßigkeit der Maͤn¬
ner, beſonders was den Wein betrifft, ein¬
faͤllt. Wie oft hat es mich betruͤbt und ge¬
aͤngſtigt, wenn ich bemerken mußte, daß rei¬
ner Verſtand, Klugheit, Schonung anderer,
Anmuth und Liebenswuͤrdigkeit, ſelbſt fuͤr meh¬
rere Stunden, verloren gingen, und oft ſtatt
alles des Guten was ein trefflicher Mann her¬
vorzubringen und zu gewaͤhren vermag, Unheil
und Verwirrung hereinzubrechen drohte. Wie
oft moͤgen dadurch gewaltſame Entſchließungen
veranlaßt werden.
Charlotte gab ihr Recht; doch ſetzte ſie
das Geſpraͤch nicht fort: denn ſie fuͤhlte nur
zu wohl, daß auch hier Ottilie bloß Eduarden
wieder im Sinne hatte, der zwar nicht ge¬
woͤhnlich, aber doch oͤfter als es wuͤnſchens¬
werth war, ſein Vergnuͤgen, ſeine Geſpraͤchig¬
[277] keit, ſeine Thaͤtigkeit durch einen gelegentli¬
chen Weingenuß zu ſteigern pflegte.
Hatte bey jener Aeußerung Charlottens
ſich Ottilie die Maͤnner, beſonders Eduarden,
wieder heran denken koͤnnen; ſo war es ihr
um deſto auffallender, als Charlotte von einer
bevorſtehenden Heirat des Hauptmanns, wie
von einer ganz bekannten und gewiſſen Sache
ſprach, wodurch denn alles ein andres Anſehn
gewann, als ſie nach Eduards fruͤhern Ver¬
ſicherungen ſich vorſtellen mochte. Durch alles
dieß vermehrte ſich die Aufmerkſamkeit Otti¬
liens auf jede Aeußerung, jeden Wink, jede
Handlung, jeden Schritt Charlottens. Ottilie
war klug, ſcharfſinnig, argwoͤhniſch geworden
ohne es zu wiſſen.
Charlotte durchdrang indeſſen das Ein¬
zelne ihrer ganzen Umgebung mit ſcharfem
Blick und wirkte darin mit ihrer klaren Ge¬
wandtheit, wobey ſie Ottilien beſtaͤndig Theil
[278] zu nehmen noͤthigte. Sie zog ihren Haus¬
halt, ohne Baͤnglichkeit, ins Enge; ja, wenn
ſie alles genau betrachtete, ſo hielt ſie den
leidenſchaftlichen Vorfall fuͤr eine Art von
gluͤcklicher Schickung. Denn auf dem bishe¬
rigen Wege waͤre man leicht ins Graͤnzenloſe
gerathen und haͤtte den ſchoͤnen Zuſtand reich¬
licher Gluͤcksguͤter, ohne ſich zeitig genug zu
beſinnen, durch ein vordringliches Leben und
Treiben, wo nicht zerſtoͤrt, doch erſchuͤttert.
Was von Parkanlagen im Gange war,
ſtoͤrte ſie nicht. Sie ließ vielmehr dasjenige
fortſetzen, was zum Grunde kuͤnftiger Aus¬
bildung liegen mußte; aber dabey hatte es
auch ſein Bewenden. Ihr zuruͤckkehrender Ge¬
mahl ſollte noch genug erfreuliche Beſchaͤftigung
finden.
Bey dieſen Arbeiten und Vorſaͤtzen konnte
ſie nicht genug das Verfahren des Architecten
loben. Der See lag in kurzer Zeit ausge¬
[279] breitet vor ihren Augen, und die neu entſtan¬
denen Ufer zierlich und mannigfaltig bepflanzt
und beraſet. An dem neuen Hauſe ward alle
rauhe Arbeit vollbracht, was zur Erhaltung
noͤthig war, beſorgt, und dann machte ſie
einen Abſchluß da wo man mit Vergnuͤgen
wieder von vorn anfangen konnte. Dabey
war ſie ruhig und heiter; Ottilie ſchien es
nur: denn in allem beobachtete ſie nichts als
Symptome, ob Eduard wohl bald erwartet
werde, oder nicht. Nichts intereſſirt ſie an
allem als dieſe Betrachtung.
Willkommen war ihr daher eine Anſtalt,
zu der man die Bauerknaben verſammelte
und die darauf abzielte, den weitlaͤuftig ge¬
wordenen Park immer rein zu erhalten. Edu¬
ard hatte ſchon den Gedanken gehegt. Man
ließ den Knaben eine Art von heitrer Mon¬
tirung machen, die ſie in den Abendſtunden
anzogen, nachdem ſie ſich durchaus gereinigt
und geſaͤubert hatten. Die Garderobe war
[280] im Schloß; dem verſtaͤndigſten, genauſten
Knaben vertraute man die Aufſicht an; der
Architect leitete das Ganze, und ehe man
ſich's verſah, ſo hatten die Knaben alle ein
gewiſſes Geſchick. Man fand an ihnen eine
bequeme Dreſſur und ſie verrichteten ihr
Geſchaͤft nicht ohne eine Art von Manoͤver.
Gewiß, wenn ſie mit ihren Scharreiſen, ge¬
ſtielten Meſſerklingen, Rechen, kleinen Spa¬
den und Hacken und wedelartigen Beſen ein¬
herzogen; wenn andre mit Koͤrben hinterdrein
kamen, um Unkraut und Steine bey Seite
zu ſchaffen; andre das hohe große eiſerne
Walzenrad hinter ſich herzogen: ſo gab es ei¬
nen huͤbſchen erfreulichen Aufzug, in welchem
der Architect eine artige Folge von Stellun¬
gen und Thaͤtigkeiten fuͤr den Fries eines
Gartenhauſes ſich anmerkte; Ottilie hingegen
ſah darin nur eine Art von Parade welche
den ruͤckkehrenden Hausherrn bald begruͤßen
ſollte.
[281]
Dieß gab ihr Muth und Luſt ihn mit et¬
was Aehnlichem zu empfangen. Man hatte
zeither die Maͤdchen des Dorfes im Naͤhen,
Stricken, Spinnen und andern weiblichen Ar¬
beiten zu ermuntern geſucht. Auch dieſe Tu¬
genden hatten zugenommen ſeit jenen Anſtal¬
ten zu Reinlichkeit und Schoͤnheit des Dor¬
fes. Ottilie wirkte ſtets mit ein; aber mehr
zufaͤllig, nach Gelegenheit und Neigung. Nun
gedachte ſie es vollſtaͤndiger und folgerechter
zu machen. Aber aus einer Anzahl Maͤdchen
laͤßt ſich kein Chor bilden, wie aus einer
Anzahl Knaben. Sie folgte ihrem guten
Sinne, und ohne ſich's ganz deutlich zu
machen, ſuchte ſie nichts als einem jeden
Maͤdchen Anhaͤnglichkeit an ſein Haus, ſeine
Aeltern und ſeine Geſchwiſter einzufloͤßen.
Das gelang ihr mit vielen. Nur uͤber
ein kleines, lebhaftes Maͤdchen wurde immer
geklagt, daß ſie ohne Geſchick ſey, und im
Hauſe nun ein fuͤr allemal nichts thun wolle.
[282] Ottilie konnte dem Maͤdchen nicht feind ſeyn,
denn ihr war es beſonders freundlich. Zu
ihr zog es ſich, mit ihr ging und lief es,
wenn ſie es erlaubte. Da war es thaͤtig,
munter und unermuͤdet. Die Anhaͤnglichkeit
an eine ſchoͤne Herrinn ſchien dem Kinde Be¬
duͤrfniß zu ſeyn. Anfaͤnglich duldete Ottilie
die Begleitung des Kindes; dann faßte ſie
ſelbſt Neigung zu ihm; endlich trennten ſie
ſich nicht mehr und Nanny begleitete ihre
Herrinn uͤberall hin.
Dieſe nahm oͤfters den Weg nach dem
Garten und freute ſich uͤber das ſchoͤne Ge¬
deihen. Die Beeren- und Kirſchenzeit ging
zu Ende, deren Spaͤtlinge jedoch Nanny ſich
beſonders ſchmecken ließ. Bey dem uͤbrigen
Obſte, das fuͤr den Herbſt eine ſo reichliche
Aernte verſprach, gedachte der Gaͤrtner be¬
ſtaͤndig des Herrn und niemals ohne ihn her¬
beyzuwuͤnſchen. Ottilie hoͤrte dem guten alten
Manne ſo gern zu. Er verſtand ſein Hand¬
[283] werk vollkommen und hoͤrte nicht auf, ihr
von Eduard vorzuſprechen.
Als Ottilie ſich freute, daß die Pfropfreiſer
dieſes Fruͤhjahrs alle ſo gar ſchoͤn bekommen,
erwiederte der Gaͤrtner bedenklich: ich wuͤnſche
nur, daß der gute Herr viel Freude daran
erleben moͤge. Waͤre er dieſen Herbſt hier,
ſo wuͤrde er ſehen, was fuͤr koͤſtliche Sorten
noch von ſeinem Herrn Vater her im alten
Schloßgarten ſtehen. Die jetzigen Herren
Obſtgaͤrtner ſind nicht ſo zuverlaͤſſig als ſonſt
die Carthaͤuſer waren. In den Catalogen
findet man wohl lauter honette Namen.
Man pfropft und erzieht und endlich wenn
ſie Fruͤchte tragen, ſo iſt es nicht der
Muͤhe werth, daß ſolche Baͤume im Garten
ſtehen.
Am wiederhohlteſten aber fragte der treue
Diener, faſt ſo oft er Ottilien ſah, nach der
Ruͤckkunft des Herrn, und nach dem Termin
derſelben. Und wenn Ottilie ihn nicht ange¬
ben konnte, ſo ließ ihr der gute Mann nicht
[284] ohne ſtille Betruͤbniß merken, daß er glaube
ſie vertraue ihm nicht, und peinlich war ihr
das Gefuͤhl der Unwiſſenheit, das ihr auf
dieſe Weiſe recht aufgedrungen ward. Doch
konnte ſie ſich von dieſen Rabatten und Bee¬
ten nicht trennen. Was ſie zuſammen zum
Theil geſaͤt, alles gepflanzt hatten, ſtand nun
im voͤlligen Flor; kaum bedurfte es noch ei¬
ner Pflege, außer daß Nanny immer zum
Gießen bereit war. Mit welchen Empfindun¬
gen betrachtete Ottilie die ſpaͤteren Blumen,
die ſich erſt anzeigten, deren Glanz und Fuͤlle
dereinſt an Eduards Geburtstag, deſſen Feyer
ſie ſich manchmal verſprach, prangen, ihre
Neigung und Dankbarkeit ausdruͤcken ſollten.
Doch war die Hoffnung dieſes Feſt zu ſehen
nicht immer gleich lebendig. Zweifel und
Sorgen umfluͤſterten ſtets die Seele des guten
Maͤdchens.
Zu einer eigentlichen offnen Uebereinſtim¬
mung mit Charlotten konnte es auch wohl
nicht wieder gebracht werden. Denn freylich
[285] war der Zuſtand beyder Frauen ſehr verſchie¬
den. Wenn alles beym Alten blieb, wenn
man in das Gleis des geſetzmaͤßigen Lebens
zuruͤckkehrte, gewann Charlotte an gegenwaͤr¬
tigem Gluͤck, und eine frohe Ausſicht in die Zu¬
kunft oͤffnete ſich ihr; Ottilie hingegen verlor
alles, man kann wohl ſagen, alles: denn ſie
hatte zuerſt Leben und Freude in Eduard ge¬
funden, und in dem gegenwaͤrtigen Zuſtande
fuͤhlte ſie eine unendliche Leere, wovon ſie
fruͤher kaum etwas geahndet hatte. Denn
ein Herz das ſucht, fuͤhlt wohl daß ihm et¬
was mangle, ein Herz das verloren hat, fuͤhlt
daß es entbehre. Sehnſucht verwandelt ſich
in Unmuth und Ungeduld, und ein weibliches
Gemuͤth, zum Erwarten und Abwarten ge¬
woͤhnt, moͤchte nun aus ſeinem Kreiſe heraus¬
ſchreiten, thaͤtig werden, unternehmen und
auch etwas fuͤr ſein Gluͤck thun.
Ottilie hatte Eduarden nicht entſagt. Wie
konnte ſie es auch, obgleich Charlotte klug
genug, gegen ihre eigne Ueberzeugung, die
[286] Sache fuͤr bekannt annahm, und als ent¬
ſchieden vorausſetzte, daß ein freundſchaftliches
ruhiges Verhaͤltniß zwiſchen ihrem Gatten und
Ottilien moͤglich ſey. Wie oft aber lag dieſe
Nachts, wenn ſie ſich eingeſchloſſen, auf den
Knieen vor dem eroͤffneten Koffer und betrach¬
tete die Geburtstagsgeſchenke, von denen ſie
noch nichts gebraucht, nichts zerſchnitten, nichts
gefertigt. Wie oft eilte das gute Maͤdchen
mit Sonnenaufgang aus dem Hauſe, in dem
ſie ſonſt alle ihre Gluͤckſeligkeit gefunden hatte,
ins Freye hinaus, in die Gegend, die ſie
ſonſt nicht anſprach. Auch auf dem Boden
mochte ſie nicht verweilen. Sie ſprang in
den Kahn, und ruderte ſich bis mitten in den
See: dann zog ſie eine Reiſebeſchreibung her¬
vor, ließ ſich von den bewegten Wellen ſchau¬
keln, las, traͤumte ſich in die Fremde und
immer fand ſie dort ihren Freund; ſeinem
Herzen war ſie noch immer nahe geblieben,
er dem ihrigen.
Achtzehntes Kapitel.
Daß jener wunderlich thaͤtige Mann, den
wir bereits kennen gelernt, daß Mittler, nach¬
dem er von dem Unheil, das unter dieſen
Freunden ausgebrochen, Nachricht erhalten,
obgleich kein Theil noch ſeine Huͤlfe angeru¬
fen, in dieſem Falle ſeine Freundſchaft, ſeine
Geſchicklichkeit zu beweiſen, zu uͤben geneigt
war, laͤßt ſich denken. Doch ſchien es ihm
raͤthlich, erſt eine Weile zu zaudern: denn er
wußte nur zu wohl, daß es ſchwerer ſey, ge¬
bildeten Menſchen bey ſittlichen Verworrenhei¬
ten zu Huͤlfe zu kommen, als ungebildeten.
Er uͤberließ ſie deshalb eine Zeit lang ſich
ſelbſt; allein zuletzt konnte er es nicht mehr
[288] aushalten, und eilte Eduarden aufzuſuchen,
dem er ſchon auf die Spur gekommen war.
Sein Weg fuͤhrte ihn zu einem angeneh¬
men Thal, deſſen anmuthig gruͤnen baumrei¬
chen Wieſengrund die Waſſerfuͤlle eines immer
lebendigen Baches bald durchſchlaͤngelte bald
durchrauſchte. Auf den ſanften Anhoͤhen zo¬
gen ſich fruchtbare Felder und wohlbeſtandene
Obſtpflanzungen hin. Die Doͤrfer lagen
nicht zu nah an einander, das Ganze hatte ei¬
nen friedlichen Charakter und die einzelnen
Partieen, wenn auch nicht zum Malen, ſchie¬
nen doch zum Leben vorzuͤglich geeignet zu
ſeyn.
Ein wohlerhaltenes Vorwerk mit einem
reinlichen beſcheidenen Wohnhauſe, von Gaͤr¬
ten umgeben, fiel ihm endlich in die Augen.
Er vermuthete, hier ſey Eduards gegenwaͤrti¬
ger Aufenthalt, und er irrte nicht.
[289]
Von dieſem einſamen Freunde koͤnnen wir
ſoviel ſagen, daß er ſich im Stillen dem
Gefuͤhl ſeiner Leidenſchaft ganz uͤberließ und
dabey mancherley Plane ſich ausdachte, man¬
cherley Hoffnungen naͤhrte. Er konnte ſich nicht
laͤugnen, daß er Ottilien hier zu ſehen wuͤn¬
ſche, daß er wuͤnſche ſie hieher zu fuͤhren, zu
locken, und was er ſich ſonſt noch Erlaubtes
und Unerlaubtes zu denken nicht verwehrte.
Dann ſchwankte ſeine Einbildungskraft in al¬
len Moͤglichkeiten herum. Sollte er ſie
hier nicht beſitzen, nicht rechtmaͤßig beſitzen
koͤnnen, ſo wollte er ihr den Beſitz des
Gutes zueignen. Hier ſollte ſie ſtill fuͤr
ſich, unabhaͤngig leben; ſie ſollte gluͤcklich
ſeyn, und wenn ihn eine ſelbſtquaͤleriſche Ein¬
bildungskraft noch weiter fuͤhrte, vielleicht
mit einem Andern gluͤcklich ſeyn.
So verfloſſen ihm ſeine Tage in einem
ewigen Schwanken zwiſchen Hoffnung und
Schmerz, zwiſchen Thraͤnen und Heiterkeit,
I. 19[290] zwiſchen Vorſaͤtzen, Vorbereitungen und Ver¬
zweiflung. Der Anblick Mittlers uͤberraſchte
ihn nicht. Er hatte deſſen Ankunft laͤngſt
erwartet, und ſo war er ihm auch halb will¬
kommen. Glaubte er ihn von Charlotten ge¬
ſendet, ſo hatte er ſich ſchon auf allerley Ent¬
ſchuldigungen und Verzoͤgerungen und ſodann
auf entſcheidendere Vorſchlaͤge bereitet; hoffte
er nun aber von Ottilien wieder etwas zu
vernehmen, ſo war ihm Mittler ſo lieb als
ein himmliſcher Bote.
Verdrießlich daher und verſtimmt war
Eduard als er vernahm, Mittler komme nicht
von dorther, ſondern aus eignem Antriebe.
Sein Herz verſchloß ſich und das Geſpraͤch
wollte ſich anfangs nicht einleiten. Doch
wußte Mittler nur zu gut, daß ein liebevoll
beſchaͤftigtes Gemuͤth das dringende Beduͤrf¬
niß hat ſich zu aͤußern, das was in ihm vor¬
geht, vor einem Freunde auszuſchuͤtten, und
ließ ſich daher gefallen, nach einigem Hin- und
[291] Wiederreden, dießmal aus ſeiner Rolle her¬
auszugehen, und ſtatt des Vermittlers den
Vertrauten zu ſpielen.
Als er hiernach, auf eine freundliche
Weiſe, Eduarden wegen ſeines einſamen Le¬
bens tadelte, erwiederte dieſer: O ich wuͤßte
nicht, wie ich meine Zeit angenehmer zubrin¬
gen ſollte! Immer bin ich mit ihr beſchaͤftigt,
immer in ihrer Naͤhe. Ich habe den unſchaͤtz¬
baren Vortheil mir denken zu koͤnnen, wo
ſich Ottilie befindet, wo ſie geht, wo ſie ſteht,
wo ſie ausruht. Ich ſehe ſie vor mir thun
und handeln wie gewoͤhnlich, ſchaffen und
vornehmen, freylich immer das was mir am
meiſten ſchmeichelt. Dabey bleibt es aber
nicht: denn wie kann ich fern von ihr gluͤck¬
lich ſeyn! Nun arbeitet meine Phantaſie durch,
was Ottilie thun ſollte ſich mir zu naͤhern.
Ich ſchreibe ſuͤße zutrauliche Briefe in ihrem
Namen an mich; ich antworte ihr und ver¬
wahre die Blaͤtter zuſammen. Ich habe ver¬
19 *[292] ſprochen keinen Schritt gegen ſie zu thun, und
das will ich halten. Aber was bindet ſie,
daß ſie ſich nicht zu mir wendet? Hat etwa
Charlotte die Grauſamkeit gehabt, Verſprechen
und Schwur von ihr zu fordern, daß ſie mir
nicht ſchreiben, keine Nachricht von ſich geben
wolle? Es iſt natuͤrlich, es iſt wahrſcheinlich
und doch finde ich es unerhoͤrt, unertraͤglich.
Wenn ſie mich liebt, wie ich glaube, wie ich
weiß, warum entſchließt ſie ſich nicht, warum
wagt ſie es nicht, zu fliehen und ſich in mei¬
ne Arme zu werfen? Sie ſollte das, denke
ich manchmal, ſie koͤnnte das. Wenn ſich et¬
was auf dem Vorſaale regt, ſehe ich gegen
die Thuͤre. Sie ſoll hereintreten! denk' ich,
hoff' ich. Ach! und da das Moͤgliche un¬
moͤglich iſt, bilde ich mir ein, das Unmoͤgliche
muͤſſe moͤglich werden. Nachts wenn ich
aufwache, die Lampe einen unſichern Schein
durch das Schlafzimmer wirft, da ſollte ihre
Geſtalt, ihr Geiſt, eine Ahndung von ihr,
voruͤberſchweben, herantreten, mich ergreifen,
[293] nur einen Augenblick, daß ich eine Art von Ver¬
ſicherung haͤtte, ſie denke mein, ſie ſey mein.
Eine einzige Freude bleibt mir noch. Da
ich ihr nahe war, traͤumte ich nie von ihr; jetzt
aber in der Ferne ſind wir im Traume zu¬
ſammen, und ſonderbar genug, ſeit ich andre
liebenswuͤrdige Perſonen hier in der Nachbar¬
ſchaft kennen gelernt, jetzt erſt erſcheint mir
ihr Bild im Traum, als wenn ſie mir ſagen
wollte: ſiehe nur hin und her! du findeſt
doch nichts ſchoͤneres und lieberes als mich.
Und ſo miſcht ſich ihr Bild in jeden meiner
Traͤume. Alles was mir mit ihr begegnet,
ſchiebt ſich durch- und uͤbereinander. Bald
unterſchreiben wir einen Contract; da iſt ihre
Hand und die meinige, ihr Name und der
meinige, beyde loͤſchen einander aus, beyde
verſchlingen ſich. Auch nicht ohne Schmerz
ſind dieſe wonnevollen Gaukeleyen der Phan¬
taſie. Manchmal thut ſie etwas, das die
reine Idee beleidigt, die ich von ihr habe;
[294] dann fuͤhl' ich erſt, wie ſehr ich ſie liebe,
indem ich uͤber alle Beſchreibung geaͤngſtet
bin. Manchmal neckt ſie mich ganz gegen
ihre Art und quaͤlt mich; aber ſogleich ver¬
aͤndert ſich ihr Bild, ihr ſchoͤnes, rundes
himmliſches Geſichtchen verlaͤngert ſich: es iſt
eine andre. Aber ich bin doch gequaͤlt, unbe¬
friedigt und zerruͤttet.
Laͤcheln Sie nicht, lieber Mittler, oder,
laͤcheln Sie auch! O ich ſchaͤme mich nicht
dieſer Anhaͤnglichkeit, dieſer, wenn Sie wollen,
thoͤrigen raſenden Neigung. Nein, ich habe
noch nie geliebt; jetzt erfahre ich erſt, was
das heißt. Bisher war alles in meinem Le¬
ben nur Vorſpiel, nur Hinhalten, nur Zeit¬
vertreib, nur Zeitverderb, bis ich ſie kennen
lernte, bis ich ſie liebte und ganz und eigent¬
lich liebte. Man hat mir, nicht gerade ins
Geſicht, aber doch wohl im Ruͤcken, den
Vorwurf gemacht: ich pfuſche, ich ſtuͤmpere
nur in den meiſten Dingen. Es mag ſeyn,
[295] aber ich hatte das noch nicht gefunden worin
ich mich als Meiſter zeigen kann. Ich will
den ſehen, der mich im Talent des Liebens
uͤbertrifft.
Zwar es iſt ein jammervolles, ein ſchmer¬
zen- ein thraͤnenreiches; aber ich finde es mir
ſo natuͤrlich, ſo eigen, daß ich es wohl ſchwer¬
lich je wieder aufgebe.
Durch dieſe lebhaften herzlichen Aeußerun¬
gen hatte ſich Eduard wohl erleichtert, aber
es war ihm auch auf einmal jeder einzelne
Zug ſeines wunderlichen Zuſtandes deutlich
vor die Augen getreten, daß er vom ſchmerz¬
lichen Widerſtreit uͤberwaͤltigt in Thraͤnen aus¬
brach, die um ſo reichlicher floſſen, als ſein
Herz durch Mittheilung weich geworden war.
Mittler, der ſein raſches Naturell, ſeinen
unerbittlichen Verſtand um ſo weniger ver¬
laͤugnen konnte, als er ſich durch dieſen ſchmerz¬
[296] lichen Ausbruch der Leidenſchaft Eduards weit
von dem Ziel ſeiner Reiſe verſchlagen ſah,
aͤußerte aufrichtig und derb ſeine Misbilli¬
gung. Eduard — hieß es — ſolle ſich er¬
mannen, ſolle bedenken, was er ſeiner Man¬
neswuͤrde ſchuldig ſey; ſolle nicht vergeſſen,
daß dem Menſchen zur hoͤchſten Ehre gereiche
im Ungluͤck ſich zu faſſen, den Schmerz mit
Gleichmuth und Anſtand zu ertragen, um hoͤch¬
lich geſchaͤtzt, verehrt und als Muſter aufge¬
ſtellt zu werden.
Aufgeregt, durchdrungen von den peinlich¬
ſten Gefuͤhlen, wie Eduard war, mußten
ihm dieſe Worte hohl und nichtig vorkommen.
Der Gluͤckliche, der Behagliche hat gut Re¬
den, fuhr Eduard auf: aber ſchaͤmen wuͤrde
er ſich, wenn er einſaͤhe, wie unertraͤglich er
dem Leidenden wird. Eine unendliche Geduld
ſoll es geben, einen unendlichen Schmerz
will der ſtarre Behagliche nicht anerkennen.
Es giebt Faͤlle, ja es giebt deren! wo jeder
[297] Troſt niedertraͤchtig und Verzweiflung Pflicht
iſt. Verſchmaͤht doch ein edler Grieche, der
auch Helden zu ſchildern weiß, keineswegs,
die ſeinigen bey ſchmerzlichem Drange weinen
zu laſſen. Selbſt im Spruͤchwort ſagt er:
thraͤnenreiche Maͤnner ſind gut. Verlaſſe mich
Jeder, der trocknes Herzens, trockner Augen
iſt! Ich verwuͤnſche die Gluͤcklichen, denen
der Ungluͤckliche nur zum Spectakel dienen
ſoll. Er ſoll ſich in der grauſamſten Lage
koͤrperlicher und geiſtiger Bedraͤngniß noch
edel gebaͤrden, um ihren Beyfall zu erhalten;
und damit ſie ihm beym Verſcheiden noch
applaudiren, wie ein Gladiator mit Anſtand
vor ihren Augen umkommen. Lieber Mittler,
ich danke Ihnen fuͤr Ihren Beſuch; aber
Sie erzeigten mir eine große Liebe, wenn
Sie ſich im Garten, in der Gegend um¬
ſaͤhen. Wir kommen wieder zuſammen.
Ich ſuche gefaßter und Ihnen aͤhnlicher zu
werden.
[298]
Mittler mochte lieber einlenken als die
Unterhaltung abbrechen, die er ſo leicht nicht
wieder anknuͤpfen konnte. Auch Eduarden
war es ganz gemaͤß, das Geſpraͤch weiter
fortzuſetzen, das ohnehin zu ſeinem Ziele ab¬
zulaufen ſtrebte.
Freylich, ſagte Eduard, hilft das Hin-
und Wiederdenken, das Hin- und Wieder¬
reden zu nichts; doch unter dieſem Reden
bin ich mich ſelbſt erſt gewahr worden,
habe ich erſt entſchieden gefuͤhlt, wozu ich
mich entſchließen ſollte, wozu ich entſchloſſen
bin. Ich ſehe mein gegenwaͤrtiges, mein
zukuͤnftiges Leben vor mir; nur zwiſchen Elend
und Genuß habe ich zu waͤhlen. Bewirken
Sie, beſter Mann, eine Scheidung die ſo
nothwendig, die ſchon geſchehen iſt; ſchaffen
Sie mir Charlottens Einwilligung. Ich will
nicht weiter ausfuͤhren, warum ich glaube
daß ſie zu erlangen ſeyn wird. Gehen Sie
[299] hin, lieber Mann, beruhigen Sie uns alle,
machen Sie uns gluͤcklich!
Mittler ſtockte. Eduard fuhr fort: Mein
Schickſal und Ottiliens iſt nicht zu trennen
und wir werden nicht zu Grunde gehen.
Sehen Sie dieſes Glas! Unſere Namenszuͤge
ſind darein geſchnitten. Ein froͤhlich Jubeln¬
der warf es in die Luft; Niemand ſollte mehr
daraus trinken; auf dem felſigen Boden ſollte
es zerſchellen, aber es ward aufgefangen.
Um hohen Preis habe ich es wieder eingehan¬
delt und ich trinke nun taͤglich daraus, um
mich taͤglich zu uͤberzeugen: daß alle Verhaͤlt¬
niſſe unzerſtoͤrlich ſind, die das Schickſal be¬
ſchloſſen hat.
O wehe mir, rief Mittler, was muß ich
nicht mit meinen Freunden fuͤr Geduld ha¬
ben! Nun begegnet mir noch gar der Aber¬
glaube, der mir als das ſchaͤdlichſte was bey
den Menſchen einkehren kann, verhaßt bleibt.
[300] Wir ſpielen mit Vorausſagungen, Ahndungen
und Traͤumen und machen dadurch das all¬
taͤgliche Leben bedeutend. Aber wenn das Le¬
ben nun ſelbſt bedeutend wird, wenn alles
um uns ſich bewegt und brauſt, dann wird
das Gewitter durch jene Geſpenſter nur noch
fuͤrchterlicher.
Laſſen Sie in dieſer Ungewißheit des Le¬
bens, rief Eduard, zwiſchen dieſem Hoffen
und Bangen, dem beduͤrftigen Herzen doch
nur eine Art von Leitſtern, nach welchem es
hinblicke, wenn es auch nicht darnach ſteuern
kann.
Ich ließe mir's wohl gefallen, verſetzte
Mittler, wenn dabey nur einige Conſequenz
zu hoffen waͤre; aber ich habe immer gefun¬
den, auf die warnenden Symptome achtet
kein Menſch, auf die ſchmeichelnden und ver¬
ſprechenden allein iſt die Aufmerkſamkeit ge¬
richtet und der Glaube fuͤr ſie ganz allein
lebendig.
[301]
Da ſich nun Mittler ſogar in die dunklen
Regionen gefuͤhrt ſah, in denen er ſich immer
unbehaglicher fuͤhlte, je laͤnger er darin ver¬
weilte; ſo nahm er den dringenden Wunſch
Eduards, der ihn zu Charlotten gehen hieß,
etwas williger auf. Denn was wollte er
uͤberhaupt Eduarden in dieſem Augenblicke
noch entgegenſetzen? Zeit zu gewinnen, zu er¬
forſchen wie es um die Frauen ſtehe, das
war es, was ihm ſelbſt nach ſeinen eignen
Geſinnungen zu thun uͤbrig blieb.
Er eilte zu Charlotten, die er wie ſonſt
gefaßt und heiter fand. Sie unterrichtete ihn
gern von allem was vorgefallen war: denn
aus Eduards Reden konnte er nur die Wir¬
kung abnehmen. Er trat von ſeiner Seite
behutſam heran, konnte es aber nicht uͤber
ſich gewinnen, das Wort Scheidung auch nur
im Vorbeygehn auszuſprechen. Wie verwun¬
dert, erſtaunt und, nach ſeiner Geſinnung,
erheitert war er daher, als Charlotte ihm,
[302] in Gefolg ſo manches Unerfreulichen, endlich
ſagte: Ich muß glauben, ich muß hoffen, daß
alles ſich wieder geben, daß Eduard ſich wieder
naͤhern werde. Wie kann es auch wohl an¬
ders ſeyn, da Sie mich guter Hoffnung fin¬
den.
Verſteh' ich Sie recht? fiel Mittler ein
— Vollkommen, verſetzte Charlotte — Tau¬
ſendmal geſegnet ſey mir dieſe Nachricht! rief
er, die Haͤnde zuſammenſchlagend. Ich kenne
die Staͤrke dieſes Arguments auf ein maͤnn¬
liches Gemuͤth. Wie viele Heiraten ſah ich
dadurch beſchleunigt, befeſtigt, wieder herge¬
ſtellt! Mehr als tauſend Worte wirkt eine
ſolche gute Hoffnung, die fuͤrwahr die beſte
Hoffnung iſt die wir haben koͤnnen. Doch,
fuhr er fort, was mich betrifft, ſo haͤtte ich
alle Urſache verdrießlich zu ſeyn. In dieſem
Falle, ſehe ich wohl, wird meiner Eigenliebe
nicht geſchmeichelt. Bey Euch kann meine
Thaͤtigkeit keinen Dank verdienen. Ich komme
[303] mir vor, wie jener Arzt, mein Freund, dem alle
Kuren gelangen, die er um Gottes willen an
Armen that, der aber ſelten einen Reichen heilen
konnte, der es gut bezahlen wollte. Gluͤckli¬
cherweiſe hilft ſich hier die Sache von ſelbſt,
da meine Bemuͤhungen, mein Zureden fruchtlos
geblieben waͤren.
Charlotte verlangte nun von ihm, er ſolle
die Nachricht Eduarden bringen, einen Brief
von ihr mitnehmen und ſehen, was zu thun,
was herzuſtellen ſey. Er wollte das nicht
eingehen. Alles iſt ſchon gethan, rief er aus.
Schreiben Sie! ein jeder Bote iſt ſo gut als
ich. Muß ich doch meine Schritte hinwen¬
den wo ich noͤthiger bin. Ich komme nur
wieder, um Gluͤck zu wuͤnſchen, ich komme
zur Taufe.
Charlotte war dießmal, wie ſchon oͤfters,
uͤber Mittlern unzufrieden. Sein raſches We¬
ſen brachte manches Gute hervor, aber ſeine
I. 20[304] Uebereilung war Schuld an manchem Mislin¬
gen. Niemand war abhaͤngiger von augen¬
blicklich vorgefaßten Meynungen als er.
Charlottens Bote kam zu Eduarden, der
ihn mit halbem Schrecken empfing. Der
Brief konnte eben ſo gut fuͤr Nein als fuͤr
Ja entſcheiden. Er wagte lange nicht ihn
aufzubrechen, und wie ſtand er betroffen, als
er das Blatt geleſen, verſteinert bey folgender
Stelle, womit es ſich endigte.
„Gedenke jener naͤchtlichen Stunden, in
denen du deine Gattinn abenteuerlich als
Liebender beſuchteſt, ſie unwiderſtehlich an
dich zogſt, ſie als eine Geliebte, als eine
Braut in die Arme ſchloſſeſt. Laß uns in die¬
ſer ſeltſamen Zufaͤlligkeit eine Fuͤgung des Him¬
mels verehren, die fuͤr ein neues Band unſerer
Verhaͤltniſſe geſorgt hat, in dem Augenblick
da das Gluͤck unſres Lebens auseinander zu
fallen und zu verſchwinden droht.“
Was von dem Augenblick an in der
Seele Eduards vorging wuͤrde ſchwer zu
ſchildern ſeyn. In einem ſolchen Gedraͤnge
treten zuletzt alte Gewohnheiten, alte Neigun¬
gen wieder hervor, um die Zeit zu toͤdten
und den Lebensraum auszufuͤllen. Jagd und
Krieg ſind eine ſolche fuͤr den Edelmann immer
bereite Aushuͤlfe. Eduard ſehnte ſich nach aͤuße¬
rer Gefahr, um der innerlichen das Gleichge¬
wicht zu halten. Er ſehnte ſich nach dem Unter¬
gang, weil ihm das Daſeyn unertraͤglich zu
werden drohte; ja es war ihm ein Troſt zu
denken, daß er nicht mehr ſeyn werde und
eben dadurch ſeine Geliebten, ſeine Freunde
gluͤcklich machen koͤnne. Niemand ſtellte ſei¬
nem Willen ein Hinderniß entgegen, da er
ſeinen Entſchluß verheimlichte. Mit allen
Foͤrmlichkeiten ſetzte er ſein Teſtament auf:
es war ihm eine ſuͤße Empfindung, Ottilien
das Gut vermachen zu koͤnnen. Fuͤr Char¬
lotten, fuͤr das Ungeborne, fuͤr den Haupt¬
mann, fuͤr ſeine Dienerſchaft war geſorgt.
20 *[306] Der wieder ausgebrochne Krieg beguͤnſtigte ſein
Vorhaben. Militaͤriſche Halbheiten hatten ihm
in ſeiner Jugend viel zu ſchaffen gemacht; er
hatte deswegen den Dienſt verlaſſen: nun
war es ihm eine herrliche Empfindung, mit
einem Feldherrn zu ziehen, von dem er ſich
ſagen konnte: unter ſeiner Anfuͤhrung iſt der
Tod wahrſcheinlich und der Sieg gewiß.
Ottilie, nachdem auch ihr Charlottens Ge¬
heimniß bekannt geworden, betroffen wie Edu¬
ard, und mehr, ging in ſich zuruͤck. Sie
hatte nichts weiter zu ſagen. Hoffen konnte
ſie nicht, und wuͤnſchen durfte ſie nicht. Ei¬
nen Blick jedoch in ihr Inneres gewaͤhrt uns
ihr Tagebuch, aus dem wir einiges mitzu¬
theilen gedenken.
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CC-BY-4.0
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- Zitationsvorschlag für diese Edition
- TextGrid Repository (2025). Goethe, Johann Wolfgang von. Die Wahlverwandtschaften. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bhw9.0