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Ardinghello
und die

gluͤckſeeligen Inſeln.

Eine
Italiaͤniſche Geſchichte
aus dem ſechszehnten Jahrhundert.

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Zweyter Band.

Lemgo,:
im Verlage der Meyerſchen Buchhandlung1787.
[]

Vierter Theil.


Ardinghello 2ter B. A
[[2]][[3]]
[figure]

Rom, Oktober.


Ich habe ſeit meiner letztern Begebenheit mit
Lucinden gerungen und gekaͤmpft, in
keine ſolche Thorheit wieder hinein zu gerathen;
aber alles muß ſeiner Natur folgen. Ich zittre
und knirſche mit den Zaͤhnen, daß es nicht an-
ders iſt: der Menſch hat keine Freyheit. Sieh
die Inſeln der Gluͤckſeeligkeit vor dir, mit vor
A 2Ver-
[4] Verlangen kochendem Herzen nach ihrer Luſt,
von uͤppigem Muth alle Nerven geſchwellt: und
widerſtehe mit kalter Ueberlegung der Gefahren,
die vielleicht auf dich warten, indeß der guͤnſtig-
ſte Wind uͤber dir in den Wipfeln hinſaͤuſelt!
Was iſt das, daß der Menſch ſo nach Ruhe
trachtet, und ſie hernach doch nicht leiden kann?
Daß das Ziel keins mehr fuͤr ihn iſt, ſo bald er
es erreicht hat, und er immer ein neues haben
muß? Ach, unſer Weſen hat keinen Frieden,
und Brand und Gluth in und uͤber alles iſt deſ-
ſen erſte Urkraft!


Wo ich gehe und ſtehe, ſchwebt ſie mir vor
Augen; ich ſtrecke meine Arme nach ihr aus,
und meine Fuͤße bewegen ſich von ſelbſt nach dem
Ort ihres Aufenthalts. In dieſen Kreis bin ich
wie gebannt, und mir ſcheint kein ander Licht.
O ſie iſt ſo ganz, was ich wuͤnſche! und alles
andre, was ich ſchon genoſſen habe, duͤnkt mir
nur ein Vorſchmack von der Fuͤlle ihrer Seeligkeit.
Flo-
[5] Fiordimona, o Fiordimona, mit dir moͤcht ich
ewig leben, und unaufloͤslich mich mit dir ver-
flechten! Du allein kannſt bey allen Reizen der
Schoͤnheit meine Freundin ſeyn; einen ſo hohen
kraͤftigen Geiſt hab ich bey deinem Geſchlechte
noch nicht gefunden.


Glaub indeſſen nicht, Benedikt, daß ich
mich aus Muße und Langerweile verliebe; ich
beſchaͤftige mich gerade mit den erſten Werken
der bildenden Kunſt, der alten und der neuern:
allein das Leben ſelbſt triumphirt uͤber alles, und
gewinnt im Gegentheil dadurch noch mehr
Staͤrke.


Der Oktober iſt hier wie Wetter aus dem
Paradieſe; jeder Tag heiter, und Feſt ſchon an
und fuͤr ſich. Ich habe mich auf eine Woche in
das Vatikan eingeſperrt, und genoͤſſe Goͤtterluſt,
wenn mein Herz ruhiger waͤre. Ich wohne
oben im Belvedere bey dem Manne, der die
Antiken in ſeiner Verwahrung hat; und die
A 3Aus-
[6] Ausſicht von meinem Zimmer iſt bezaubernd.
Rom liegt ſtill da, wie ein friedlich Ueberbleibſel
von der Herrſchaft der Welt; wie ein junger
Sproß ſteigt es hervor aus dem uralten hohlen
Stamme der ehemals erhabnen ungeheuern Eiche.
Voran gruͤnt das fruchtbare lange und breite
Thal, wodurch der Tyber ſtroͤmt, zwiſchen rei-
zenden Huͤgeln, die ſchoͤne Villen bekraͤnzen; und
in grauem Duft und blauer Ferne lagern ſich die
Gebirge von Sabina, Tivoli und Frascati ma-
jeſtaͤtiſch herum. Man ſieht ſo den Aufenthalt
von ſuͤßen Geſchoͤpfen vor ſich, mit denen man
auf allen Seiten, da und dort in die Hoͤhen, um
allein zu ſeyn, hinaus fluͤchten koͤnnte.


Die Nachwelt hat die groͤßten Meiſterſtuͤcke
der Mahlerey dem wilden und kuͤhnen Pabſt
Julius zu verdanken; und es iſt ein ſeltnes
Gluͤck, daß der Heftige einen ſo ſcharfen und
ſichern Blick fuͤr das Weſentliche hatte, und ſich
durch kein Gepraͤnge oder Hoͤflingsgeſchwaͤtz taͤu-
ſchen
[7] ſchen und irre fuͤhren ließ. Er erkannte das
wahre Talent, und verachtete dagegen allen Mo-
dekram. Die beruͤhmteſten Kuͤnſtler damaliger
Zeit hatten ſchon in den Stanzen die Waͤnde mit
allerley Larven bemahlt, woran vielleicht nach
ihren Regeln nichts auszuſetzen war: als Bra-
mante
den Raphael von ſiebzehn Jahren her-
beybrachte, daß auch er in einem Zimmer ſich
verſuchen moͤchte. Die alten Meiſter laͤchelten
hoͤhniſch, und ſpotteten unter ſich uͤber die Uner-
fahrenheit des Knaben. Der hohe Juͤngling
ließ ſich nicht ſtoͤren, und entwarf in ſeiner
Phantaſie, dem Schauplatz angemeſſen, vier
Bilder: von der Theologie, der Philoſophie,
Poeſie
und Gerechtigkeit, und legte gleich im
erſten Feuer Hand an die Theologie.


Die Philoſophie war noch nicht ganz vol-
lendet, als Julius von der Wahrheit und dem
Reiz der Gemaͤhlde ſo entzuͤckt wurde, daß er
auf der Stelle befahl, alles, was die andern
A 4ge-
[8] gemacht hatten, wieder herunter zu ſchlagen:
dieſer junge Menſch ſollte die Zimmer allein aus-
mahlen. Die alten Herrn ſchrien uͤber Tyran-
ney und Unverſtand: aber Welt und Nachwelt
hat dieſen harten Ausſpruch gerechtfertigt.


Ein ſolcher Schutz der Kunſt macht Ehre,
und keine Millionen, die man an Stuͤmper und
ein buntes Gemiſch von Kunſtſachen verſchwen-
det; indes der eigentliche Mann bey ſeiner Be-
ſcheidenheit entweder verborgen bleibt und darbt,
oder doch nur als ein gewoͤhnlicher Tagloͤhner ſein
Stuͤck Arbeit nebenher durch irgend eines Ver-
nuͤnftigen Emphelung von ohngefehr bekoͤmmt.


Die Theologie iſt ein geiſtig Bild der Re-
ligion; die vornehmſten Perſonen des alten und
neuen Teſtaments ſind hier beyſammen, jede
nach ihrem Charakter. Das Ganze ſtellt gleich-
ſam die chriſtliche Kirche vor im Werden.


Gott der Vater ſchwebt oben an als Archi-
tekt mit freundlichem Ernſt, daß alles ſo iſt, wie
ers
[9] ers haben wollte. Chriſtus ruht ſeelig auf einem
Wolkenthron in der Glorie der Ausfuͤhrung, die
Mutter voll Zaͤrtlichkeit neben ihm. Patriar-
chen, Juͤnger und Apoſtel umgeben ihn als ihren
Mittelpunkt, auf Wolken von Engeln getragen.
Und unten auf dem Erdboden handeln noch die
erſten Kirchenlehrer und Chriſten in der Grund-
lage des Gebaͤudes.


Die Hauptgeſtalten zeugen von der lebhaf-
teſten jugendlichen Einbildungskraft, und haben
wunderbare Beſtimmtheit in den Umriſſen. Die
vier großen Kirchenlehrer gehen mit ihrer Kraft
allen andern hervor. Wenn irgend ein Sterb-
licher zum Mahler gebohren war, ſo iſt es gewiß
Raphael. Seine Figuren ſind mit einer Quelle
von Leben hervorgefuͤhlt, und von einander un-
terſchieden bis auf eine eigne Art von Reiz im
Ausdruck.


Die Schule von Athen iſt eben ſo ein
geiſtig Bild der Philoſophen beyſammen. Py-
A 5thago-
[10] thagoras faͤngt an, Sokrates folgt, alsdenn
koͤmmt Plato mit dem Ariſtoteles, und weiter
Archimed. Die Gruppe des letztern mit den
vier Juͤnglingen iſt wirklich unausſprechlich ſchoͤn
und reizend, ein entzuͤckend Bild von einem
Meiſter mit ſeinen Schuͤlern; die Aufmerkſam-
keit zweyer, die Verwunderung und Begeiſte-
rung des Auf blickenden beſonders goͤttlich hinge-
zaubert, gerad im Momente, wo er die Erklaͤrung
des ſchweren Problems findet. Geſicht mit
ſamt dem Haar iſt von hoher Schoͤnheit und
Wahrheit. Archimed ſelbſt voll Schaͤrfe des
Verſtandes und Ueberlegung. Zeichnung und
Mahlerey uͤberall ſpricht den großen Meiſter von
heiterm Sinn. Der eine ſtudiert; der andre
begr iſt; der dritte hats begriffen und verwun-
dert ſich; und der vierte frohlockt, und moͤchte
Jemand, ders auch lernte.


Fuͤr ein Gymnaſium von Philoſophen waͤre
das Ganze ein wahrer Zauber, und wuͤrde je-
derzeit
[11] derzeit die Seele zur Empfaͤnglichkeit ſtimmen.
In verſchiednen Koͤpfen von Raphael herrſcht
eine Wirklichkeit, wobey man uͤber die friſche
Kraft ſeiner Phantaſie erſtaunen muß. Sein
heiliger Gregorius muß ein Theolog ſeyn, ſein
Pythagoras ein Philoſoph, und keine andre
Menſchen.


Der Parnaß iſt wieder ſo ein geiſtig Bild
der Poeſie. Homer improviſiert von Begeiſte-
rung hingeriſſen; Apollo iſt mit ſeinen ſchoͤnen
Augen verzuͤckt in himmliſche Phantaſien; Mu-
ſen, Laura, Sappho und die beſten Dichter,
die theatraliſchen ausgenommen, ſind dabey
zugegen.


Die Gerechtigkeit beſteht aus drey vor-
treflichen allegoriſchen Figuren: Klugheit, Staͤr-
ke zur Rechten, Maͤßigkeit zur Linken.


Dieſes Zimmer war ſeine erſte Arbeit zu
Rom; es bleibt aber doch das vorzuͤglichſte we-
gen Menge und Adel von Geſtalten. Seele
und
[12] und Auge jedes verſtaͤndigen und in der Welt
erfahrnen Menſchen muͤſſen ſich ſo recht daran
wie an ſuͤßem Kern weiden. Ueberall blickt da
und dort eine himmliſche Blume hervor, und je
tiefer man ſich mit ſeinem Stachel hineingraͤbt,
deſto nahrhafter Honig findet man. So hat
mich ſpaͤt noch erfreut ſein Evangeliſt Johan-
nes
in der Theologie, neben dem David, wel-
cher vor der Menge groͤßerer Figuren einem erſt
nach und nach mit ſeinem ſuͤßen Laͤcheln und
halbzugedruͤckten innigſeeligen Blick aus ſeiner
Engelsſchoͤnheit ins Herz blitzt. Das blonde
Haar wallt ihm reizend nieder auf die Schul-
tern, und er ſcheint einen Liebesbrief zu
ſchreiben.


Die Schule von Athen iſt mir das ange-
nehmſte von allen ſeinen Werken: eine ſolche
Fuͤlle von Heiterkeit und Ruhe koͤmmt mir dar-
aus entgegen; ob das Ganze im Grunde gleich
einen Streit vorſtellt, nehmlich den Sieg der
Ari-
[13] Ariſtoteliſchen Philoſophie uͤber die Platoniſche,
wie die triumphirenden und widerlegten Geſich-
ter zeigen. Alles neben den beyden großen Hel-
den ſcheint ſich darauf zu beziehen. Plato hat
zur Seite den Sokrates mit dem Alkibiades,
und den Pythagoras; Ariſtoteles den Kardinal
Bembo *) und Archimed. Wahrſcheinlich feh-
len deßwegen Epikur und Zeno mit ihrem An-
hange. Welche vollkommne Meiſterſtuͤcke ſind
darin Pythagoras, Sokrates, Plato, Ariſto-
teles, Archimed, oder Bramante mit dem jun-
gen Herzoge von Mantua! Alles iſt hier ſo Na-
tur, daß man die Kunſt vergißt und nicht an ſie
denkt: ſo voll und verliebt darein und fertig war
der Meiſter. Die Gruppen ſind ſchoͤn zuſam-
mengehalten, und jede richtet ſich nach dem
Phi-
[14] Philoſophen, der Unterricht ertheilt. In die
antiken Gewaͤnder hat er ſich gut hineingedacht,
und man merkt nichts gezwungnes.


Zuſammengedraͤngte Jahrhunderte machen
in jedem von den drey Gemaͤhlden ein einzig Bild
fuͤr die Phantaſie.


In dem Zimmer darauf thut der Genius
Raphaels, wenn ich mich ſo ausdruͤcken darf,
pittoreskere Fluͤge; iſt aber nicht mehr ſo reich an
hoher individueller Geſtalt.


Sein Heliodor iſt vielleicht die ſchoͤnſte
Allegorie neuerer Zeiten. Das Ganze theilt ſich
in drey Gruppen und thut große Wirkung.
Die Gruppe der Engel mit dem niedergeworfnen
Heliodor gehoͤrt unter Raphaels hoͤchſtes; ſie
ſind durchaus Natur in Geſtalt, Gebehrde, und
Bewegung; er hat ſie vermuthlich von feurigen
Roͤmiſchen Buben in Zorn und Sprung abge-
ſehn. Der Engel zu Pferde in der Kirche iſt
etwas ungereimt; aber er macht ein herrlich
Bild
[15] Bild von Schnelligkeit und unwiderſtehlicher
Gewalt. Heliodor und ſeine Gefaͤhrten ſchreyen;
und es gehoͤrt zur Schoͤnheit des Ganzen, ob ſie
gleich gegen die Theorie einiger Antiquaren dazu
den Mund aufthun muͤſſen.


Die Gruppe von Weibern neben dem Pab-
ſte, der von Schweizern nach der Natur ko-
pirt herein getragen wird, macht einen reizen-
den Kontraſt; die Koͤpfe der beyden Frauen, die
mit den Haͤnden zeigen, ſind die ſchoͤnſten, und
der dritte daneben hat einen wunderbaren Aus-
druck. Julius ſchaut voll Majeſtaͤt, als ob ſei-
ne Befehle gut ausgefuͤhrt wuͤrden.


Der Hoheprieſter in der Mitte am Altar
bittet in Zuverſicht und Ergebung. Der Bube,
welcher auf den Saͤulenfuß ſteigt, um recht zu-
zuſchauen, iſt ſehr pittoresk, wie uͤberhaupt alles
ſamt der Beleuchtung.


Dieß Gemaͤhlde gehoͤrt gewiß zu dem Vor-
treflichſten, was Raphael hervorgebracht hat:
und
[16] und zu der Zeit, wo ſo eben erſt die Franzoſen
von Italien hinausgetrieben waren, muß es
jederman innig ergoͤtzt haben. Man ſieht in-
zwiſchen deutlich, daß ihn ſeine Schuͤler an den
Nebenſachen halfen. Es iſt ein ungeheurer Un-
terſchied, wenn man Raphaelen nach den mei-
ſten gegenwaͤrtigen Mahlern ſieht; bey ihm lebt
alles und bedeutet, und greift ein ins Ganze.
Man koͤmmt bey ihm einmal wieder zu einem
verſtaͤndigen Menſchen.


Damit du aber ſiehſt, daß ich doch nicht ſchwaͤr-
me: ſo meld ich dir daneben, daß der bewun-
derte Attila gegenuͤber auf mich wenig Wirkung
macht. Ich finde darin kein recht zuſammen-
haͤngend Ganzes in der wirklichen Mahlerey und
den Charaktern, obgleich die Anlage treflich iſt,
und zuviel Kompliment auf Leo den zehnten,
deſſen Kopf ſich warlich zu keiner ſolchen Scene
ſchickt. Attila ſieht viel zu guͤtig aus fuͤr einen
Hunnenkoͤnig, ohnerachtet der ungefuͤhlten
Worte
[17] Worte von Griechenheit daruͤber; und Leo zu
feiſt fuͤr einen Heiligen. Die Apoſtel ſind zu
ſchwer, zu groß, und zu nah in der Luft fuͤr
ſchwebende Figuren, haben wenig Geſtalt, bit-
ten eher als daß ſie drohen ſollten, und halten
ihre Schwerter wie die Weiber.


Nichts deſto weniger bleibt das Gemaͤhlde
mit den Portraͤten, Pferden und verſchiednen
Gewaͤndern eine reizende Wandverzierung fuͤr
einen geiſtlichen Fuͤrſten; und es iſt darin immer
mehr natuͤrliche Geſtalt fuͤr Verſtand und Auge,
als vielleicht in hundert neuern.


Das Wunder bey der Meſſe ergoͤtzt be-
ſonders wegen Einheit und Mannichfaltigkeit
des Ausdrucks durch alle die verſchiednen Geſich-
ter, die meiſtens Portraͤte ſind; und zeigt ſo
recht Raphaels wunderbare Einbildungskraft.
Es iſt der lebendige Glaube. Der uͤberfuͤhrte
Prieſter, mit den Augen kaum blinzend und voll
Beſchaͤmung und Erſtaunen in den Lippen, und
Ardinghello 2ter B. BJu-
[18] Julius der Pabſt ſind hohe Meiſterſtuͤcke. Das
Ganze iſt am beſten gemahlt unter allen.


Petrus befreyt aus dem Gefaͤngniſſe iſt
ein angenehmes Spiel von Licht und Schatten,
wozu jedoch kein Raphael gehoͤrte, und das
Ganze gut entworfen; der erſchrockne Soldat auf
der Treppe meiſterlich.


In dieſem Zimmer merkt man ſchon, daß
Raphael ſeine Schuͤler bey ſeinen Arbeiten
brauchte; aber noch weit mehr in dem dritten
hinterſten, wo das meiſte von dieſen iſt.


Der Burgbrand iſt hier das vorzuͤglichſte.
Viele Geſtalten ſind darin vortreflich; nur war
die Scene ſelbſt eher ein Vorwurf fuͤr den Tizian
oder Correggio. Ueberhaupt aber ſind Wunder
eher fuͤr Poeſie, als bildende Kunſt; ſie taͤuſchen
das Auge ſelten, weil man natuͤrlicher Weiſe
nichts ſo geſehn hat.


Die Dirne mit dem Krug auf dem Kopfe
iſt eine goͤttliche Figur, eine Amazone unter den
moder-
[19] modernen Weibern, voll Leben und Friſchheit in
ihren Formen, und reizend in dem vom Wind
angewehten Gewande. Die knieenden Frauen
ſind gleichfalls treflich, und die Gruppe des
Sohns, des Aeneas, der ſeinen Vater rettet,
mit dem Buben daneben Meiſterwerk. Der
Tumult der Weiber und Kinder, weinend und
ſchreyend, flehend und erſchrocken, ergreift die
Phantaſie, und es gibt da ſchoͤne Geſtalten.
Jedoch iſt er am Nackenden geſcheitert; dieß
muß gut koloriert ſeyn, wenn es Wirkung her-
vorbringen ſoll. Der nackende Kerl, welcher
herab ſpringt, iſt ziegelfaͤrbig, und ſieht aus wie
geſchunden.


Leo der vierte, welcher auf das Evan-
gelium ſchwoͤrt.
Die Hauptfigur iſt das beſte
im Ganzen; man kann gutes Gewiſſen nicht
treflicher ausdruͤcken im großen, kraͤftigen, freyen
Charakter. Herrlicher Blick gen Himmel!
Außerdem ſind noch einige meiſterhafte Koͤpfe
B 2dar-
[20] darin; ſcharfer Verſtand, Getroſtheit, und
Verwunderung und Aufmerkſamkeit darum her,
und die Menge mit verſchiednen Empfindungen.
Es iſt reizend, uͤberall den tiefen Seelenklang
zu finden. Er war in der That ein klares ſtilles
tiefes Waſſer, worin ſich die beſte Natur rein
abſpiegelte.


In der Schlacht bey Oſtia iſt das beſte
der geharniſchte Soldat mit den gruͤnen Hoſen;
ein chriſtlicher Held. Das uͤbrige in dieſem
Stuͤcke iſt unbedeutend; der Pabſt ſelbſt hat eine
fromme Schaafsgeſtalt.


In der Kroͤnung Karls des großen
macht Karl ſelbſt eine einfaͤltige Figur, und paßt
ſo gut zu dieſer Scene, die mit viel Empfindung
und Feinheit ausgefuͤhrt iſt; er ſieht wie ein al-
ter Schweizerkorporal aus, und kniet mit abge-
ſtutztem Haare vor dem Pabſt.


Es ſind in dieſem Gemaͤhlde ganz vortrefli-
che Koͤpfe, beſonders unter den Biſchoͤffen und
gehar-
[21] geharniſchten Schweizern. Die Geſcheideſten
ſind am entfernteſten von ihm und um die Hand-
lung her, und zum Theil mit ernſthaftem und
heiterm Nachdenken. Die Biſchoffsmuͤtzen ſind
ſehr fatal fuͤr die Mahlerey; und ihr Weiß in
doppelter gerader Reihe beſonders im Vorder-
grunde grell. Die Einheit des Ganzen verbrei-
tet ſich bis auf die Saͤnger in der Ecke oben.
Die Kerl, welche Geſchenke tragen, ſilbernen
Tiſch und Gefaͤße, bringen Mannichfaltigkeit
hinein. Es iſt viel zuſammengedraͤngte Pracht
darin.


Im vierten und letzten Zimmer, beym
Eingang das erſte und groͤßte, iſt alles bloß nach
Raphaels Zeichnungen und Anlage, bis auf
zwey Figuren, die er ſelbſt in Oel ganz ausge-
mahlt hat: nehmlich die Gerechtigkeit und
Guͤtigkeit; welche, obgleich nur allegoriſch und
wenig bedeutend, doch mit ihrer Wahrheit und
Wirklichkeit alles von Julio Romano und Fat-
B 3tore
[22] tore niederſchlagen. Es koͤmmt einem vor, als
ob Raphaels warmes Leben kalt geworden waͤre;
er iſts, und iſts nicht mehr. Er ſelbſt iſt ganz
lebendig: hier ſinds nur ſeine Masken. Es
fehlt die Beſtimmtheit in allen Theilen, fehlen
die feinen entſcheidenden Zuͤge, die nur von der
ſchoͤpferiſchen Phantaſie allein unmittelbar in die
Hand quellen. Man muß ſich zwingen, die
Perſonen wirklich zu ſehen; bey ihm kann man
nicht anders.


Die Schlacht Konſtantins gehoͤrt mit
der Verklaͤrung unter Raphaels groͤßte Kompo-
ſizionen; ſie macht ein ſchoͤnes Ganzes und iſt
vortreflich angeordnet. Die Hauptfiguren gehen
gut hervor. Konſtantin druͤckt noch Zorn aus,
und die Freude regt ſich bey ihm uͤber den Sieg;
die Gruppe mit dem Reiter vor ſich, deſſen
Pferd er verwundet, iſt wohl ausgedacht. Der
Kopf des Maxentius ſtellt einen ſchlechten, grau-
ſamen und elenden Tyrannen dar uͤberhaupt,
wohl
[23] wohl meiſtens von Julio erfunden, und jetzt in
Verzweiflung und gaͤnzlicher Ohnmacht und der
Gefahr uͤberall umzukommen. Sein Pferd,
und wie er ſich beym Unterſinken im Waſſer
daran haͤlt, der Strom und die darin ſchwim-
men, in die Barke ſteigen wollen und ſie um-
werfen, iſt treflich. Sonſt ſind die Haufen viel-
leicht zu voll, der Feind zu fluͤchtig, ohne allen
Widerſtand; es bleibt aber doch die erſte Schlacht
wegen Wahrheit der Geſtalten. Die Gruppe,
wo einer vom Pferde heruntergebohrt wird, und
die des gefallnen Sohns mit der Fahne bey ſei-
nem Vater thun große Wirkung.


Die drey uͤbrigen Gemaͤhlde in dieſem Saale
kommen nach den andern wenig in Betrachtung.
Die Anrede Konſtantins mit dem erſcheinenden
Kreuz in der Luft iſt noch das beſte; ſie iſt nach
den Anreden Trajans auf Konſtantins Triumph-
bogen. Einige Portraͤte nur ziehen das Auge an
ſich, als die zwey Juͤnglinge unter Konſtantin.


B 4In
[24]

In der Schenkung Konſtantins ſind im
Vordergrunde auf beyden Seiten ein paar ſchoͤne
Gruppen von Weibern, ſamt denen, die ſich
durch die Saͤulen draͤngen.


Vor den Stanzen ſind die Logen, mit
lauter kleinen Gemaͤhlden aus dem alten Teſta-
mente, und am Ende mit einigen wenigen aus
dem neuen verziert. Raphael ſelbſt hat nur ein
paar Erker etwa ſelbſt fluͤchtig ausgemahlt, und
hier und da Hand angelegt; alles andre iſt von
ſeinen Schuͤlern nach ſeinen Zeichnungen. Und
ſo die Arabesken. Alles voll ſchoͤner reizender
Ideen. Ich betrachte dieſen Gang als die Schu-
le Raphaels im eigentlichen Verſtande, den
treflichen Meiſter unter ſeinen großen und kleinen
Schuͤlern; und es freut mich zu ſehen, wie ſie
die Schwingen verſuchen.


Man kann nicht wohl umhin, unter den
großen Meiſtern der neuern Zeit den Michel
Angelo
und Raphael oben an zu ſtellen; jenen
wegen
[25] wegen Richtigkeit im Nackenden und Erhaben-
heit ſeiner Denkungsart: doch hat er wenig Ge-
fuͤhl fuͤr ſchoͤne Form gehabt, und ein elendes
Auge fuͤr Farbe, und war arm an Geſtalt.


Raphael iſt lauter Herz und Empfindung,
und eine Quelle von Leben und Schoͤnheit, wie
je wenig Sterbliche. Edel und liebenswuͤrdig
und bereit, von ſeiner Fuͤlle mitzutheilen fuͤr
jederman, hat er die Gunſt und Bewunderung
von dem Kerne der Menſchheit erhalten. Alles
Nackende, was zu unſern Zeiten an Menſchen
ſichtbar iſt, beſitzt er in ſeiner Gewalt. An Ge-
ſtalt iſt keiner reicher als er, und darin fuͤhlt er
einige Gattungen von Seelenſchoͤnheit aufs le-
bendigſte. Die Farbe war ihm zu ſehr Oberflaͤ-
che; im Nackenden hat er aber doch oft ihren
Reiz gefuͤhlt, und beſonders bey Koͤpfen in hoͤch-
ſter Vortreflichkeit uͤbergetragen. Die Zaube-
reyen vom Helldunkel ſind ihm fremd. Sein
Fehler iſt ſeine Gefaͤlligkeit uͤberall, auch wo ſie
B 5nicht
[26] nicht ſeyn ſoll. Es ſcheint, als ob er nie ein
widerwaͤrtig Geſicht recht habe anſehen koͤnnen;
in ſeinen Koͤpfen von Attila und Heliodor, und
Moͤrdern ſchier, iſt Grazie und Gefaͤlligkeit.
Heldencharakter, welche fuͤr ſich beſtehen, einen
Apollo, Herkules, Jupiter, und dieſen aͤhnliche
unter Menſchen hat er nie oder hoͤchſt ſelten durch
bloße Kopie erreicht. Sein Nackendes in den
Theilen, die man nach unſern Sitten nicht ſieht,
iſt wie aller andern Neuern meiſt Abſchrift eines
Modells, doch freut einen darin ſeine feſte
Hand. Die Vollkommenheit unſrer beſten
Antiken kannt er nicht; und ſein Vortref-
lichſtes iſt warlich nicht das Wenige, worin
er ſie nachgeahmt hat. Dieß Nackende, wenn
er ſich auch noch ſo ſehr plagte, thut wenig
Wirkung, es iſt nicht wieder andre Natur
geworden, wie bey den Griechen; ausgenom-
men Kinder, Arme, Beine, Bruͤſte, Haͤnde,
Fuͤße.


Uebri-
[27]

Uebrigens ſieht man recht im Vatikan,
daß er mit den vorzuͤglichſten Perſonen ſeines
Zeitalters umging; und ihre Geſtalten, Mienen
und Gebehrden, Stellungen und Bewegungen,
und den Reiz in den Gewaͤndern ſeiner Kunſt
eigen machte. Welche Meiſterſtuͤcke Archimed,
Ariſtoteles, Plato, Pythagoras! ſeine Theolo-
gen und Kirchenlehrer! Um ſie ſo wohl zu faſ-
ſen, dazu gehoͤrt gewiß ein verliebter Umgang
mit großen Maͤnnern. Sappho, Laura, die
drey Muſen neben dem Apollo im Parnaß,
Pindar, Horaz, welche Geſtalten? Und wieder
welch ein unſchuldiges unbehuͤlfliches und doch
unbeſorgtes Weſen in ſeinen Kindern zum Bey-
ſpiel im Burgbrande!


Die Schoͤnheit von Ausdruck und Empfin-
dung hat er verſtanden, wie keiner. Auch dem
gemeinſten hat er immer einen Anſtrich von Em-
pfindung gegeben, ihn wie in Seele getunkt.
Er konnte faſt nichts anders machen; und die
gefuͤh-
[28] gefuͤhligen Gebehrden von inniger Ruͤhrung ſind
bey ihm zuweilen fuͤr den ſcharfen Denker bloße
Manier, und finden ſich, wo ſie ſich nicht hin-
ſchicken. Seine wahrhaftig ſchoͤne Seele hat ſich
von Kindheit an dazu gewoͤhnt.


Gefuͤhlvolle Geſtalten, die nicht ſprechen,
ſind aber auch der eigentlichſte Gegenſtand der
Mahlerey; wo dieſe nicht das Hauptwerk in ei-
ner hiſtoriſchen Kompoſizion ausmachen, ergreift
das andre wenig.


Die vorige Woche war eine Seeligſpre-
chung zu Sankt Johann im Lateran; und dabey
wurden Raphaels Tapeten ausgehaͤngt, das
Feſt zu ſchmuͤcken. Sie machen die andre große
Reihe von Gemaͤhlden aus, wenn man ſie ſo
nennen will, die ſich vor ihm hier befinden;
und belaufen ſich an die zwanzig Stuͤcke. Es
ſind Bilder aus dem Leben Jeſu, und der Apo-
ſtelgeſchichte. Raphael mahlte die Cartons da-
zu, wenig Jahre vor ſeinem Tode, auf Verlan-
gen
[29] gen Leo des zehnten; und ſie wurden in Flan-
dern unter Aufſicht zwey ſeiner guten dortigen
Schuͤler gewirkt.


Man trift darunter Vorſtellungen an von
hoher Vortreflichkeit und Schoͤnheit: bey eini-
gen aber gab er ſich freylich nicht viel Muͤhe;
doch erblickt man auch hierin einzelne Figuren,
die entzuͤcken. Er mußte ſich darauf einſchraͤn-
ken, was auf Tapeten Wirkung thut, und
konnte nicht ins Feine gehen, in die zarten Zuͤ-
ge, die oft ſo viel entſcheiden. Deßwegen hat
man vermuthlich auch aus einer ſchaͤndlichen
Nachlaͤſſigkeit die Originale zuruͤckgelaſſen; und
der Himmel weiß, wo ſie in den Nebellaͤndern
hingerathen ſind.


Der Kindermord, die Auferſtehung, die
Austheilung der Schluͤſſel, wo man dem Pau-
lus opfern will, derſelbe im Areopag, Petrus
der einen Gichtbruchigen heilt, der blinde
Zaubrer, der Fiſchzug gehoͤren unter die beſten.
Es
[30] Es iſt wunderbar, wie das Leben aus der groben
Materie hervorbricht und die Herzen ergreift;
und man wird ſelbſt zum gluͤcklichen ſeeligen
Kinde, wann das Volk ſo daran vorbey zieht,
da und dort ſtille ſteht, und ſich dieſes und jenes
ſchoͤne zeigt, ſich dabey der Religion freut, und
fromm und gut nach Hauſe geht.


Vor ſeinem Kindermorde muß jeder andre
Kuͤnſtler die Seegel ſtreichen. Ich habe man-
ches ſchoͤne Weib davor Thraͤnen vergießen ſehen,
ſo ruͤhrend iſt die Mutterliebe und die Unſchuld
der Kinder auf mancherley Art ausgedruͤckt. Die
Mutter, welche mit ausgebreiteten Armen und
flatternden Haaren im Schrecken flieht; welche
ſitzt und uͤber ihr todtes Kind weint; welche den
Moͤrder wuͤthend fortſtoͤßt, indeß das Kind ſich
an ſie feſt klammert: ſind goͤttliche Geſtalten.
Es iſt ein unendlicher Reiz von Leben, Bewe-
gung und Schoͤnheit in dieſem Stuͤcke, das aus
drey großen Tapeten beſteht.


Wie
[31]

Wie Petrus den Gichtbruͤchigen heilt, iſt
ein gleiches Meiſterſtuͤck, und hat die treflichſten
Naturgeſtalten zur Begebenheit, und macht
noch ein vollkommner Ganzes. Ein gleiches
wo dem Paulus geopfert wird; und wo Petrus
die Schluͤſſel empfaͤngt.


Wie Chriſtus auferſteht, iſt aͤußerſt ſinnlich
erfunden. Die Wache erſchrickt und flieht da-
von, wie vor einem Geſpenſte. Der Haupt-
mann mit dem Spieße, der im Entſetzen noch
tapfer aushalten will; und der Soldat, der ſich
vor Furcht an ihn ſchmiegt, und ein andrer mit
Schild und Armen uͤber dem Kopfe, und der,
welcher ausreißt, ſind Meiſterwerk. Die drey
Marien in der Ferne vollenden die Heiterkeit des
Ganzen.


Es laͤßt ſich wenig daruͤber ſagen, wenn man
nicht ſelbſt davor ſteht, und auf die Schoͤnheiten
hindeuten kann. Auch muß man vieles aus einer
naͤhern Bekanntſchaft mit Raphaelen nur ahnden.


Unter
[32]

Unter allen ſeinen theologiſchen Werken be-
haͤlt aber doch immer den Preis ſein letztes, die
Verklaͤrung, weil es gewiſſermaßen die Quint-
eſſenz aller ſeiner heiligen Gefuͤhle in ſich haͤlt,
den Zuſchauer in den Mittelpunkt der chriſtlichen
Religion zaubert, und die Vollkommenheit ſei-
ner Kunſt iſt. Schade nur, daß das Gemaͤhlde
die Haltung verloren hat, die Schatten alle
ſchwarz geworden, die feinen Tinten verſchwun-
den ſind, und die Luft keine gute Wirkung thut.
Inzwiſchen muͤſſen die Geſtalten der hohen
Menſchen, die hier verſammelt ſind, ſchon an
und fuͤr ſich ergreiffen. Jeder von den untern
Apoſteln moͤchte gern voll Gutherzigkeit helfen,
aber kann nicht. Auch die Nothleidenden ſind
edle Seelen; und die knieende Jungfrau mit
dem koͤniglichen Profil erhebt beſonders die
Scene. Der beſeßne Bube iſt ein gutes Kind;
der Kopf hat in der That den Ausdruck, als ob
ihm ein boͤſer Geiſt etwas angethan haͤtte, und
ſein
[33] ſein Arm iſt ein Meiſterſtuͤck von Wuth der
Quaal. Der Kopf des Weibes, welches ihn
mit der Hand haͤlt, voll Angſt und blaſſer Me-
lancholie, ruͤhrt bis zur Bangigkeit.


Oben auf dem Berge wird der goͤttliche
Juͤngling, der das menſchliche Geſchlecht von
ſeinem Elende befreyt, und auf welchen die un-
tern Gefaͤhrten zeigen, in Verzuͤckung emporge-
hoben vom Boden, und ihn umſchweben die
groͤßten Geiſter der Vorwelt herab vom Him-
mel. Die eingeſchlummerten Begleiter erwa-
chen auf der Anhoͤhe von der Gluth der Begei-
ſterung.


Jede Geſtalt iſt aͤußerſt rein und beſtimmt,
individuell, voll Phyſiognomie und Schoͤnheit in
großen Formen. Dabey ſind die Koͤpfe doch faſt
alle Natur aus der Roͤmiſchen Welt, und taͤu-
ſchen deßwegen ſo ſehr. Ein Fremder kann
es nicht ſo genießen, wie einer, der dieſe
kennt.


Ardinghello 2 B. CMan
[34]

Mit einem Wort, es iſt, was es ſeyn ſoll:
eine wahre Verherrlichung und Verklaͤrung;
die Doppelſcene, ſo vereinigt, fuͤllt den Moment
ſo maͤchtig, als die Mahlerey nur leiſten kann:
und was leere Kritiker tadeln, entzuͤckte gerade
den Meiſter bey der Erfindung, und macht den
Triumph der Kunſt fuͤr den Menſchen von Ge-
fuͤhl aus.


Man muß gewiß erſtaunen uͤber die große
Anzahl ſeiner Werke bey ſo kurzem Leben, und
ſeinem Hange zur Wolluſt; beſonders wenn
man das meiſte ſo gefuͤhlt und ausempfunden
ſieht. Bey bloßer Manier und Fabrik laͤßt ſich
große Anzahl leicht begreiffen, wo arme Suͤnder
denſelben Puppenkram, den kein Vernuͤnftiger
mehr erblicken mag, nur in andre Stellungen
verſetzen: aber alles Vollkommne, aus der Na-
tur hergehohlt, will reine volle Seele, und koſtet
Anſtrengung.


Ra-
[35]

Raphael hat ſich innig, von zarter Kindheit
an, als einzig liebes Kuͤnſtlerſoͤhnchen voll friſcher
Kraft ſelbſt zum Mahler in der Einſamkeit und
beym Leben in der Welt gebildet, und fruͤh ſich
angewoͤhnt, Geſtalten und Bewegungen derſel-
ben ſich in der Phantaſie zu ſammeln und vorzu-
ſtellen; und dieſe Uebung und Gewohnheit iſt
nach und nach bey ihm zur ſtaͤrkſten Fertigkeit ge-
worden. Seine Hand hat er gleichfalls geuͤbt,
wie Auge und Phantaſie, und dabey ſeines Gei-
ſtes Sphaͤre erweitert; und ſo iſt der goͤttliche
Juͤngling zum Vorſchein gekommen. Die
Hauptſache, worin er alle uͤbertrift, bleibt eben
die vollkommne Fertigkeit, ſich Geſtalten vorzu-
ſtellen, die Grund in der Natur haben, mit
Zweck und Abſicht. Daher die wunderbare
Menge ſeiner Gemaͤhlde. Das hoͤchſte in der
Mahlerey, Geſtalt, wobey ſich andre, zuweilen die
ſcharfſinnigſten Koͤpfe, vergebens abmartern, war
ſein leichteſtes, ging von ihm aus wie die Quelle.
C 2Aber
[36] Aber doch ſieht man bey ſeinen Kompoſizionen
deutlich allemal die Figuren, wo er ſich ange-
ſtrengt, und die wirkliche Natur nachgeahmt
hat. Er beſaß einen gar guten Volksverſtand,
und dachte und empfand bey jeder Geſchichte
gleich das natuͤrlichſte; und ſeine Geſtaltenphan-
taſie, und ſein kernhafter Styl, wo alles be-
ſtimmt iſt, machte das Ganze gleich lebendig.


Nach dieſem allen ſey ich mich doch genoͤ-
thigt, ein Gegenlied von dem Lob anzuſtimmen,
was ich dem Pabſt Julius gab. Es war ein
Gluͤck fuͤr Raphaelen, daß dieſer ſeiner Kunſt
Arbeit verſchafte, und vielleicht auch keins und
das Gegentheil; denn dadurch iſt er faſt zum
bloßen Kirchenmahler geworden. Das einzige
große Werk außer ſeinen theologiſchen Gemaͤhl-
den und Portraͤten iſt die Geſchichte der Pſyche
in der Farneſina
; und dieſe gehoͤrt, einzelne
vortrefliche Figuren ausgenommen, nicht unter
ſein Beſtes. Die Goͤtter und Goͤttinnen darin
machen
[37] machen einen großen Abſtand gegen die Antiken*).
Jedoch muß man zu ſeiner Entſchuldigung ſagen,
daß er das vom Apulejus ſo koſtbar erzehlte
Maͤhrchen ſchier Lucianiſch behandelte; das
Ganze iſt ein Mahlerſcherz, und ſtellt ein koket-
tes Weib vor, welches keine reizende Schwieger-
tochter haben will, und ſie endlich haben
muß.


Er und ſeine Schuͤler ſcheinen uͤberdieß ſich
auf Koſten des reichen Kaufmanns Chigi von
Siena, der aus verſchwenderiſcher Pracht bey
einer Mahlzeit fuͤr Kardinaͤle und Praͤlaten die
ſilbernen Gefaͤße, ſo wie ſie abgetragen wurden,
in den vorbeyfließenden Tyberſtrom werfen ließ,
ſich mehr nur einen Zeitvertreib gemacht zu ha-
C 3ben,
[38] ben, als daß ihnen, von der Vatikaniſchen
Strenge her, die Arbeit Ernſt geweſen waͤre;
und der welſche Amſterdammer mußte ihm dabey
noch ein Zimmer fuͤr ſeine Geliebte einraͤumen,
damit er ſie allemal gleich bey der Hand haͤtte,
ſo oft ihm die Luſt unter den wolluͤſtigen Zeich-
nungen der nackenden weiblichen Geſtalten zu ihr
ankaͤme.


Die Allegorien mit den Liebesgoͤttern iſt
das ſinnreichſte; Venus und Pſyche uͤbrigens
einigemal bezaubernd; Zevs und Amor beyſam-
men griechiſch empfunden; Merkur, und die
Grazie vom Ruͤcken Meiſterwerk. Und Johann
von Udine
hat bey ſeinen Blumen einen himm-
liſchen Fruͤhling genoſſen.


In ſeiner Galate neben dieſem Saal iſt
die Zaͤrtlichkeit und Empfindung der erſten Liebe
ausgedruͤckt; ſie hat viel Unſchuld im Blick,
aber noch etwas unreifes in der Geſtalt, und
ihr Geſicht iſt noch nicht ſo klar und rein, wie
zum
[39] zum Exempel die Koͤpfe in der Verklaͤrung.
Die drey fliegenden Buͤbchen ſchweben reizend in
ſchoͤnen Umriſſen.


In den Stanzen ſind zwar einige Gemaͤhl-
de, die nicht zur Kirchengeſchichte gehoͤren: al-
lein er mußte die Perſonen darin doch dem Orte
nach ſo fromm behandeln, daß ſogar Vaſari
ſeinen Plato und Ariſtoteles in der Schule von
Athen fuͤr die Apoſtel Petrus und Paulus an-
ſah, und ein andrer Unwiſſender dieſelben mit
dem heiligen Schein in Kupfer ſtach. Sein
Parnaß wuͤrde vermuthlich in einem Saale von
Arioſts Gartenhauſe ein ander und beſſer Werk
geworden ſeyn.


Und wie ſind die Zimmer alle an und fuͤr
ſich ſchon ſchlecht beleuchtet und angeordnet, mit
Mahlerey uͤberladen! Man ſollte faſt denken,
der Halbgott habe den groͤßten Theil ſeines Le-
bens mit ſeinen Schuͤlern hier gefangen geſeſſen,
und einem theologiſchen Tyrannen zu gefallen
C 4alle
[40] alle Waͤnde voll gepinſelt, um ihn zur Erloͤſung
zu bewegen.


Raphael hat durch dieſen Druck aͤußerſt
wenig und vielleicht nichts gemacht, wo ſein
ganzes Weſen mit allen ſeinen Gefuͤhlen und
Neigungen und Erfahrungen ins Spiel ge-
kommen waͤre, wo die Sonne ſeines himm-
liſchen Genius ganz auf einen Brennpunkt ge-
zuͤndet haͤtte.


Es iſt zwar wahr, aus der freyſten oder
ſchluͤpfrigſten Scene der Welt kann der Kuͤnſt-
ler eine Geſtalt in das froͤmmſte Gemaͤhlde
uͤbertragen; allein es geſchieht doch allemal mit
Zwang, der, anſtatt daß eine Begebenheit aus
der profanen Geſchichte oder Fabel die Phantaſie
erhoͤbe und begeiſterte, die eigentlich lebendigen
Zuͤge verwirrt und verunſtaltet, ſo daß ſie ihre
beſte Kraft verlieren. Wie wuͤrden Raphaels
Weiber, zum Exempel, dieſelben Geſtalten zu
ſeinem Kindermorde, zu ſeinen vortreflichen
Sy-
[41] Sybillen in der Kirche alla Pace, zu verſchied-
nen ſeiner Madonnen noch andre Wirkungen in
den Vorſtellungen aus dem Leben einer Sopho-
nisbe, Kleopatra, Kornelia, der Geſchichte des
Koriolan hervorbringen?


Es bleibt ausgemacht: Das Element der
großen Geiſter iſt die Freyheit; und wer ſie un-
terſtuͤtzen will, muß dieſe ihnen erſt gewaͤhren.
Aller Zwang hemmt und druͤckt die Natur, und
ſie kann ihre Schoͤnheit nicht in vollem Reize zei-
gen. Deßwegen die Athenienſer unter ihrer
Demokratie und Anarchie der hoͤchſte Gipfel der
Menſchheit.


C 5Rom,
[42]

Rom, November.


Ich freue mich, daß du mit mir auf gleichen
Lebenspfaden gehſt; und alſo leichter an meinen
Schickſalen Theil nehmen kannſt: nur iſt deine
Chiara von ganz andrer Art, als meine Fior-
dimona
; ſie hat mich nicht ſo lange ſchmachten
laſſen, ihrer Macht und Herrlichkeit bewußt.
Das hab ich noch nicht erfahren, in der Liebe ſo
von einem Weibe uͤberflogen zu werden. Ich
habe Nebenbuhler, und vielleicht gluͤckliche Ne-
benbuhler: nur ſchein ich der gluͤcklichſte zu ſeyn;
und dieß feſſelt mich an ihren Triumphwagen,
worauf die ſtolze junge Roͤmerin einherzieht wie
ein alter Sylla, nach den Siegen uͤber die groͤß-
ten Koͤnige der Erden, und die erſten Helden ſei-
nes Vaterlandes. Und ich fuͤhl es, ach ich fuͤhl
es, daß ſie mich ſo ganz unausſprechlich liebt!
Was das fuͤr eine Empfindung iſt, und wie es
mein Weſen in vollen Schlaͤgen durchkreuzt,
kann
[43] kann Niemand faſſen, als wer ſelbſt in Feuer
und Flammen unter einem ſolchen ſchrecklichen
Gewitter geſtanden hat.


Das erſtemal, als wir unſre Seelen verei-
nigten, geſchah in der Nacht auf den Raub, zwi-
ſchen Gebuͤſch und Geſtraͤuch, unter den ewigen
Lichtern des Himmels, auf dem Gipfel des Mon-
te Mario
. O Gott, wie war ich da in Reiz
verſunken und verloren! Ach, wenn es ein Le-
ben gibt, das ſo unaufhoͤrlich fortdauert, in wel-
cher Tiefe von Elend winden wir uns herum!
Sie riß ſich allzubald mit heißen Kuͤſſen los, da-
mit ihre Abweſenheit vom Ball, den ein Prinz
ihret wegen auf der Villa Melini gab, nicht be-
merkt wuͤrde; und ich wandelte außer mir, nicht
mehr derſelbe, noch lange zwiſchen den Baͤumen
herum, that Freudenſpruͤnge wie ein Knabe,
und jauchzte vor unfaßbarem Entzuͤcken hinab
in die Thaͤler des Tyberſtroms, daß alle Huͤgel
wiederhallten.


Du
[44]

Du ſollteſt ſie ſehen! eine erhabne Geſtalt,
die das Ausleſen hat; bey Luͤſternheit ſproͤdes
Weſen. Ein froh und edel wolluͤſtiger Geſicht
gibts nicht. Mit Adleraugen ſchaut ſie umher,
und bezauberndem, doch nicht lockendem Munde.
Das ſtolze Gewaͤchs ihres ſchlanken Leibes
ſchwillt unterm Gewand ſo reizend hinab, daß
man dieſes vor Wuth gleich wegreißen moͤchte;
und die Bruͤſte draͤngen ſich heiß und uͤppig her-
vor, wie aufgehende Fruͤhlingsſonnen. Wan-
gen und Kinn ſind in friſcher Bluͤthe, und bil-
den das entzuͤckendſte Oval, woraus das Licht
der Liebe glaͤnzt. O wie die braunen Locken im
Tanze bacchantiſch wallten, der himmliſche Blick
nach der Muſik und Bewegung in Suͤßigkeit
ſchwamm, die netten Beine in jugendlicher
Kraft ſich hoben, wie ſchnelle Blitze verſchwan-
den und wiederkamen! Doch warum beginn ich
ein unmoͤgliches Unternehmen! Der genießt das
hoͤchſte Loos des Daſeyns, den ihre zarten Arme
wie
[45] wie Reben umflechten; mehr hat kein Koͤnig und
kein Gott.


Ach, und ſie iſt mehr Wunder der Natur
noch am Geiſte! eine Kreatur, woruͤber ich zum
erſtenmal mit geheimen Ingrimm raſe, daß ſie
ſo vortreflich iſt. O laß mich! ruf ich zuweilen
fuͤr mich in Verzweiflung aus; doch muß ich
dem unbaͤndigen Zuge folgen, und unterliegen.
Ich habe nie geglaubt, daß eine Dirne der Art
mich in Ketten und Banden legen wuͤrde, und
tobe uͤber mich ſelbſt; aber Niemand weiß, was
ihm bevorſteht.


Ich will dir gleich den falſchen Wahn be-
nehmen, der bey dir aufſteigen wird. Sie iſt
reich, beſitzt ein unmaͤßiges Vermoͤgen, und hat
weder Vater, Mutter, noch Geſchwiſter. Ihr
Vater war der Sohn eines paͤbſtlichen Neffen,
und ſie iſt nun allein geblieben. Wie um ſie
geworben wird, kannſt du dir leicht vor-
ſtel-
[46] ſtellen; aber ſie will ihre Freyheit behaupten
und ſich platterdings nicht vermaͤhlen.


Kurz darauf bracht ich bequemer und freyer
eine ganze Nacht mit ihr zu in ihrem Schlafge-
mach, bis Morgenroth und Sonne die Blumen
ihrer Schoͤnheit beſtrahlten, und ich ſo ganz in
ungeſtoͤrtem Genuſſe mein Daſeyn mit allen
Sinnen darinnen wiegte. Welche Reden! wel-
che Gefuͤhle! wie ſchwand die Zeit dahin; wel-
cher ſuͤße Scherz, was fuͤr Muthwill, was fuͤr
Spiel, kindlich und himmliſch! Trunken und
lechzend taumelt ich von dannen. Wohl recht
hatte jener Weiſe: wenn man die Wolluſt dem
Leben abzieht, ſo bleibt nichts als der Tod uͤbrig.
Sie hat ſo ganz das, was Sappho bey Weibern
allein Grazie nennt, das Liebreizende, was ſo
oft den ſchoͤnſten und verſtaͤndigſten fehlt. Dieſe
verſteht die Kunſt zu lieben, und kennt die
Wirklichkeit der Sache mit allen ihren Mannich-
faltigkeiten; ſie iſt eine Virtuoſin darin, und
andre
[47] andre wiſſen dagegen kaum die Anfangsgruͤnde.
Bey ihr koͤnnte Sokrates mit allem ſeinem un-
endlichen Verſtande noch in die Schule gehen;
Natur ſelbſt uͤberſteigt alle Einbildung. O wie
ſie ſo bloß als erquickende Frucht an einem haͤngt,
als volle ſuͤße Traube, woran man mit durſtigen
Zuͤgen ſaugt: und dann wieder bezaubernde un-
uͤberwindliche Tyrannin iſt des Herzens und des
Geiſtes! Sicher bey ihrer Vollkommenheit be-
darf ſie die Zierereyen der andern nicht. Die
Grauſame begnuͤgt ſich, gleich der Spinne
nicht an einer Seele, und verlangt nicht, wie
ſie ſagt, gegen die Unmoͤglichkeit zu ſtreben; o ich
moͤchte thoͤricht werden!


„Laß uns aufrichtig ſeyn!“ ſprach ſie an
einem andern Abend im Spazierengehen nach
Saitenſpiel und Geſang bey meinen Liebkoſungen
und Klagen der Eiferſucht.


„Jedes muß ſich ſelbſt am beſten der Kraͤfte
zu ſeiner Gluͤckſeeligkeit bedienen, womit es auf
dieſe
[48] dieſe Welt ausgeſteuert worden iſt, und der Lage
und Sphaͤre, wohinein es bey ſeiner Geburt ge-
ſetzt wurde. Dieß hebt den Menſchen uͤber
Menſchen; und macht einen weit groͤßern Un-
terſchied zwiſchen den Graden ihres Genuſſes,
als zum Exempel zwiſchen den verſchiednen Wei-
nen und ihrem Geſchmack iſt, wo man nicht
glauben ſollte, daß ſie alle von derſelben Rebe
herkaͤmen. So waͤren die Koͤnige Halbgoͤtter,
und Loͤwen unter Rindern, wenn ſie ihre Stelle
zu gebrauchen wuͤßten *).“


„Ein Frauenzimmer iſt unklug, das mit
einer Geſtalt, die gefaͤllt, erwuchs, und Ver-
moͤgen beſitzt, wenn es ſich das unaufloͤsliche
Joch der Ehe aufbinden laͤßt. Eine Goͤttin
bleibt es, unverheurathet, Herr von ſich ſelbſt,
und hat die Wahl von jedem wackern Manne,
auf
[49] auf ſo lange ſie will. Es lebt in Geſellſchaft mit
den verſtaͤndigſten, ſchoͤnſten, witzigſten, und
ſinnreichſten; erzieht ſeine Kinder mit Luſt, als
freywillige Kinder der Liebe; erhoͤht ſich zum
Manne: da es hingegen im Eheſtande wie eine
Sklavin weggefangen worden waͤre, nichts mehr
vermoͤchte nach Geſetz und Gewohnheit, und
ſich endlich von dem kleinen Sultan ſelbſt, wel-
chem es ſich aufgeopfert haͤtte, verachtet ſehen
muͤßte; ohn einem andern Vortreflichen ſeine
Hochachtung wirklich auf eine ſeelenhafte Art,
nicht bloß mit Tand und Worten, erkennen geben
zu duͤrfen.“


„Ich werde dieß einem Prospero nicht
weiter auseinander zu ſetzen brauchen; und fer-
ner nicht, ob das Wohl des Staats oder Gan-
zen dadurch gewinnt oder verliert. Die etwa-
nige Suͤnde kann man ſich ja vergeben laſ-
ſen! und eigentlich iſt es bey uns nicht ein-
mal eine gegen das ſechſte Gebot: ſonſt wuͤr-
Ardinghello 2ter B. Dden
[50] den dieſe Lebensart fromme Regierungen nicht
geſtatten.“


„Was die Eiferſucht betrift: ſo iſt ſie ge-
wiß, wenigſtens auf eurer Seite, eine unnatuͤr-
liche Leidenſchaft, und entſteht ganz allein aus
armſeeliger Schwaͤche, Mangel, oder Vorur-
theil; Bruͤder und Helden, jeder werth ein
Mann zu ſeyn, ſollten ſich eine Freude daraus
machen, ein ſchoͤnes Weib gemeinſchaftlich zu
lieben. Der geringſte Genuß wird durch An-
theilnehmung mehrerer verſtaͤrkt, und gewinnt
dadurch erſt ſeinen vollen Gehalt: warum ſollt
es nicht ſo ſeyn bey dem groͤßten? Und iſt eine
junge Schoͤnheit nicht im Stande ihrer viele zu
vergnuͤgen? Verliert der eine etwas, wenn der
andre auch von der Quelle trinkt, woran er
ſchon ſeinen Durſt geloͤſcht hat? In einer guten
buͤrgerlichen Geſellſchaft ſollte platterdings auch
geſellſchaftliche Liebe und Freundlichkeit ſeyn;
allein wir koͤnnen uns von dem Krebsſchaden der
Vor-
[51] Vorurtheile vieler Jahrtauſende noch nicht hei-
len. Eins und eins iſt warlich nicht viel mehr
als einſiedleriſch und gegen die Natur; ſie be-
hauptet deßwegen auch immer ihre Rechte, wie
jeder weiß, der nicht ganz blind iſt. Bey der
großen Mannichfaltigkeit waͤr es Unſinn, jeder-
zeit von bloßem Brod zu leben. Jeder Menſch
exiſtirt fuͤr ſich, und in keinem andern; wenn
dieß die Natur gewollt haͤtte: ſo waͤren wir zu-
ſammengewachſen. Und gehts nicht ſo unter al-
len andern Gattungen von Thieren, Gras und
Kraut und Baͤumen? Jedes vereinigt ſich mit
dem andern nach Gelegenheit. O ihr Armſeeli-
gen, die ihr keinen Begriff von Leben und Frey-
heit habt und Großheit des Charakters! Daß
dieß die reine wahre Luſt iſt, mit ſeiner ganzen
Perſon, ſo wie man iſt, wie ein Element goͤtt-
lich einzig unzerſtoͤrbar, lauter Gefuͤhl und Geiſt,
gleich einem Tropfen im Ocean durch das Meer
der Weſen zu rollen, alles Vollkommne zu ge-
D 2nie-
[52] nießen, und von allem vollkommen genoſſen
zu werden, ohne auf demſelben Flecke kleben zu
bleiben. So bald etwas ganz genoſſen iſt, weg
davon! Dieß iſt das allgemeinſte Geſetz der
Natur, wodurch ſie ſich ewig lebendig und un-
ſterblich erhaͤlt.“


Ich erſchrack und erſtaunte uͤber dieſen Pin-
dariſchen Schwung; ſo weit hatt ich meine Phi-
loſophie noch nicht getrieben. Was lernt man
nicht in Rom? es bleibt gewiß in jeder Ruͤckſicht
die Hauptſtadt der Welt. Ich ſah ſie an, wie
ein junges Arabiſches Roß, das nie Zuͤgel und
Gebiß erfahren, mit flatternden Maͤhnen durch
die Fluren ſchweift und mit uͤppiger Kraft uͤber
alle Hecken und Graͤben ſetzt.


Sie laͤchelte uͤber meine Verwunderung,
milderte ihren feurigen kuͤhnen Adlerblick, faßte
mich zaͤrtlich bey der Hand, und fuhr fort:


„Wenn man mit euch Weiſen ſpricht: ſo
muß man wie Zeno und Plato reden, und ſich
dem
[53] dem Hoͤchſten naͤhern; ſonſt habt ihr nur Mit-
leiden mit uns Schwachen. Glaube nicht, daß
mein Herz aus mir ſprach; es waren nur Ab-
ſtractionen kalter Vernunft, und leichte Fluͤge
muthwilliger Phantaſie, dich zu necken und zu
warnen. O du biſt mein Abgott, ich werde dich
immer lieben, ſo lange du mir getreu bleibſt;
und habe keine Furcht vor einem andern, ſo lan-
ge du es ſeyn wirſt. Kennſt du etwa einen, der
ſo viel uͤber mich vermoͤchte, als du? ſo viel
uͤber mich vermocht haͤtte? Nur ſchweig und
verbirg, und laß uns unſre Gluͤckſeeligkeit im
Stillen genießen; denn du ſiehſt, ich bin von
Feinden umringt, die mich und meine Guͤter zur
Beute machen wollen.“


Alles dieß iſt Schatten und nichts ſchier ge-
gen das, was und wie ſie es geſagt hat, mit ei-
ner Leichtfertigkeit, und einem Spiel von Mie-
nen und Gebehrden, und Pauſen und Fragen
und Antworten und Erroͤthungen und Wegwen-
D 3dun-
[54] dungen des Geſichts, und als ob ihr manches
nur entſchluͤpfte, daß ich mich ſchaͤme, es hinge-
ſchrieben zu haben. Doch mag der bloße Inhalt
allein deiner Moral, wenn du noch die alte haſt,
genug zu ſchaffen geben; ich wenigſtens bin mit
meinem Latein am Ende, und denke keine Span-
ne weiter mehr daruͤber hinaus von den Wonne-
ſtrudeln des Paradieſiſchen Lebens bey meiner
Zauberin ergriffen und feſtgehalten.


Nach dieſem ſonderbaren Liebesgeſpraͤch iſt
noch ſonderbarer, daß ſie keiner Ausſchweiffun-
gen beſchuldigt wird, und alle Abbati nichts
wiſſen, die ſich an ihr blind ſchauen. Sie haͤlt
ſich eingezogen in ihrem Pallaſt auf, wenn ſie
ſich nicht auf ihren Landguͤtern befindet, und hat
eine alte Baſe bey ſich; und ſo fuͤhrt ſie die
Wirthſchaft mit ihren Kammerweibern und Be-
dienten. Sie weiß ſich ſo von jedem Ehrerbie-
tung und Gehorſam zu verſchaffen, daß ſie kei-
nes Mannes dazu bedarf, und ihr alter Vor-
mund,
[55] mund, den ſie noch erbt, gute Muße hat. Ent-
weder ihr Vater oder ihre Mutter muͤſſen außer-
ordentliche Menſchen geweſen ſeyn: ſonſt kann
ich es nicht begreiffen. Beyde ſind erſt vor we-
nig Jahren nach einander geſtorben.


Etwas von dem Raͤthſel kann dir noch das
erſte Geſpraͤch aufſchließen, wodurch ich mit ihr
bekannt wurde, welches wir zuſammen in einer
Geſellſchaft hielten, wohin ich kurz nach meiner
Ankunft den Kardinal begleitete. Es betraf die
drey großen Lichter der welſchen Litteratur, den
Dante, Petrarca, und Boccaccio. Von dem
letztern behauptete ſie, daß er am mehrſten
Menſch und der kluͤgſte, und, gegen die gewoͤhn-
liche Meinung, am mehrſten Dichter geweſen
waͤre. Aus ſeinen Novellen allein leuchte un-
endlich mehr Erfindungsgeiſt hervor, als in den
Werken der beyden andern; und dieß beſtimme
doch hauptſaͤchlich den Rang der Dichter. Vers
und Reim ſey nur Verzierung, wie Licht und
D 4Schat-
[56] Schatten bey der Mahlerey, und nicht das We-
ſentliche. Und auch in Charakter und Sprache
duͤrfe man ihn den guten Klaſſikern an die Seite
ſetzen.


Ich wand ihr dagegen verſchiednes ein, und
ſcherzte uͤber ihre Vertheidigung dieſes gefaͤhrli-
chen weiblichen Moraliſten. Sie zog ſich mit
unbeſchreiblicher Anmuth und lichtem Witz aus
der Schlinge; und beſchloß, er habe die Sit-
ten ſeiner Zeit geſchildert, und es gehoͤre zur
Vollkommenheit von Held und Heldin, alle
Wege und Abwege eines Landes zu kennen;
und es habe noch Niemand zum Vorwurf ge-
reicht, durch andrer Schaden klug zu werden.
„Ich betrachte die Komoͤdie des Dante, fuͤgte ſie
ernſthaft hinzu, eigentlich nur als eine Satyre
uͤber ſeine Feinde. Uebrigens war er ein Mann
wie ein Fels, welches auch ſeine Geſtalt zeigt,
voll hohen Ehrgeitzes. Der letztere hat ihn ver-
muthlich zu ſeiner unverſtaͤndlichen Theologie
und
[57] und Philoſophie verleitet; er wollte uͤber die be-
ruͤhmteſten Perſonen ſeines Zeitalters hervorra-
gen. Wenn er Kraft genug gehabt haͤtte, die
Modemaͤnner zu verachten, und einen beſſern
Plan zu ſeinem Gedichte waͤhlte, als ein ſo go-
thiſches Gewirr: ſo waͤr er vielleicht eine neue
Art Homer fuͤr uns. Er hat Staͤrke, Feuer,
tiefes Gefuͤhl, Einbildung und maͤnnliche Wuͤrde.
Die Schickſale nach ſeiner Verbannung ließen
ihm nicht Ruhe und Heiterkeit genug.“


„Petrarca geht zu viel in der Luft; doch
entzuͤckt nicht ſelten lauter und rein ſein himmli-
ſcher Geiſt, in guter Geſellſchaft gebildet. Al-
lein Boccaccio hat am mehrſten Natur, und war
am mehrſten unter ſeinen Menſchen: und hat
deßwegen auch am mehrſten gewirkt. Was an
ihm zu tadeln iſt, muß man billig auf Rechnung
ſeines Zeitalters ſetzen.“


Ich wuͤrde einen Mann wegen dieſer Ur-
theile nicht bewundert haben; aber ſie bezauber-
D 5ten
[58] ten mich von ſo ſchoͤnen aus zwey Perlenreihen
Zaͤhnen hervor. Was fuͤr innrer Gehalt gehoͤrte
nicht dazu, dieſelben in Beyſeyn eines Kardinals
auszuſprechen!


Es iſt ein Gluͤck fuͤr mich, daß ich ſie ſo
fand; mit ihr haͤtt ich die Thorheit begehen koͤn-
nen zu heurathen, und alle meine brennenden
Begierden und Hofnungen in ihrer Liebe daͤm-
pfen zu wollen. Bey den Grundſaͤtzen, die ſie
wenigſtens auszudenken im Stande war, wenn
ſie dieſelben auch nicht ausuͤben ſollte, wuͤrde
mir dieſes eine erſprießliche Ehe geworden ſeyn!
Inzwiſchen iſt wieder wahr, mit Verſtand kann
man alles anfangen; ſie wuͤrd es ſchon ſo ge-
macht haben, daß auf beyden Seiten nichts boͤ-
ſes erfolgt waͤre. Jedoch nur der fernſte Gedan-
ke, in einen gewiſſen Orden hinein zu gerathen,
treibt mich auf und von dannen.


Aber ich weiß ſelbſt nicht recht, woran ich
bin, und die Heilloſe foppt mich. Noch einen
Haupt-
[59] Hauptpunkt hab ich vergeſſen, dir zu erzehlen:
ſie macht und ſingt aus dem Stegreif vortrefliche
Verſe, mit einer ſo tonvollen ſilbernen Stimme,
daß ſie alle Augenblick eine Muſe auf dem Par-
naß, oder eine Sirene in den Fluthen vorſtellen
kann. Dieß bringt zwiſchen uns große Ergoͤtz-
lichkeit hervor in Einſamkeit und Geſellſchaft;
und ſie ſagt im Scherz, wir waͤren ſo fuͤr einan-
der geſchaffen, um die erſte Ehe ſtiften zu koͤn-
nen, wenn nicht ſchon ein ander Paar den Fluch
aller Ungluͤcklichen, die an dieſem Joche ziehn,
auf ſich geladen haͤtte.


Ach, wer weiß, wie dieß enden wird!
Mir iſt ſo warm in der Bruſt, daß michs wie
auf einem Punkt brennt, und dabey zuweilen
bange. Eine Gluth ſcheint mein innerſtes Leben
anzugreiffen und davon zu zehren; ich gehe her-
um wie ein Thier, das an einem Schuſſe blutet.
In Augenblicken fahr ich vor Schrecken zuſam-
men, wie ein junges Rind, dem der Loͤwe bruͤllt.
Ich
[60] Ich habe meine Freyheit verloren, und kann mich
nicht ermannen. Aber wenn ich meine Kraͤfte
anſpanne, kann ich noch einen Strick zerreißen.
Iſt ſie eine Semiramis, daß ich weit und breit vor
ihr in Suͤden und Norden keine Freyſtatt finde!
Gott im Himmel, daß ſie ſo allen Reiz haben muß,
wornach mir je geluͤſtete! Sie hat einen Blitz in
den Augen, womit ſie alles niederſchmettert.


Doch was raſe ich? bin ich nicht gluͤcklich,
emporgehoben zu den Sternen?


Der Wahnſinn muß dir in deiner Lage
gefallen.


Ich ſitze noch im Vatikan, weil ich hier am
bequemſten zu ihr komme. Von der Villa Me-
dicis iſt es zu weit, und ich befuͤrchte, man
moͤchte uͤber mein Ausbleiben Verdacht ſchoͤpfen,
und mich beobachten. Der Kardinal iſt ein
Schalk; o ich merke, daß er ſeinen Bogen
auch auf dieſes Ziel ſpannt, und ſeinen Pfeil
dahin richtet.


Mein
[61]

Mein Petrus iſt eine junge huͤbſche Mohrin
vom Senegal, die noch wenig Italiaͤniſch verſteht.
Fiordimona haͤlt ſie ſo in der Zucht, daß ſie bey
der geringſten Untreue befuͤrchten muß, auf der
Stelle niedergeſtoßen zu werden.


Die noch immer ſchoͤnen und heitern Mor-
gen bring ich im Belvedere zu, laͤſterlich! bloß
um mich zu zerſtreuen, und auf andre Gedanken
zu kommen. Aber Apollonios und Ageſander
verſtehen ihre Kunſt doch auch ſo, daß ſie mich
allemal fruͤh oder ſpaͤt mit ihrer Schoͤnheit und
Wahrheit an ſich locken und einnehmen. O wie
erhebt dieß meinen Geiſt, daß er ſolche Bruͤder
hat! Wir ſind ewig, unſterblich, bewegen uns
ſelbſt, und ſchaffen; nichts kann uns Schran-
ken ſetzen! Die Materie, die meinen freyen
Vogelflug hemmt, werf ich ab, ſo bald ich
will.


Ich bin fuͤr heut ins Schwaͤrmen hineinge-
rathen; Morgen mehr.


Rom,
[62]

Rom, Dezember.


Nach einigen Tagen Scirocco, der Regen in
Wolkenbruͤchen ergoß, hat ſich heute wieder eine
klare Tramontana eingeſtellt; Huͤgel und Thaͤ-
ler und Gebirge ſchweben weit und breit in lau-
ter erquickendem Himmel, und ein leichter
Aether hebt von der Erd’ empor und von dan-
nen. Dieß ſind meine letzten Stunden im Va-
tikan; ich will, ich muß nun ſcheiden. Ach,
ſcheiden von der Kunſt uͤberhaupt! ſie iſt meine
Beſtimmung nicht; ich habe mich nur jugend-
lich getaͤuſcht. Nach dem geheimen Gefuͤhl,
daß der Endzweck aller Exiſtenz iſt, gut zu ſeyn,
und Schoͤnheit zu genießen; und daß Gott ſelbſt
keine andre Gluͤckſeeligkeit habe: waͤhnt ich,
am erſten meine Beruhigung in der Mahlerey
zu finden; und arbeitete mich herum mit Traum
und Schatten. Mein Herz und Geiſt trachtet
nach einer kraͤftigern Nahrung, und findet dieſe
allein
[63] allein in der lebendigen Natur und Geſellſchaft
der Menſchen; in wirklichem Kampf und Krieg,
und Liebe und Friede mit denſelben. Wir ſind
die Quinteſſenz der Schoͤpfung fuͤr einander;
allein unſre Freunde und Feinde, und einer des
andern Beute; ſind fuͤr einander die hoͤchſte
Sphaͤre zu handeln.


Aber ach, Scheiden iſt der eigentliche Tod,
vor dem die Natur ſchaudert! mein Leben blutet,
und ich kann mich noch nicht ganz los reißen.
Waͤr ich Kuͤnſtler und Mitgenoß einer alten Re-
publik: ſo koͤnnt ich vielleicht ausharren, bis
mich der Schlangenſtrom der Ewigkeit wieder in
ſeine klare Fluth aufnimmt; oder als neuen
Schaum an ein ander Ufer im Weltall ſetzt.
Goldne Zeiten von Athen, wo ſeyd ihr hin?
werd ich keinen Schatten von euch auf dieſem
Erdenrunde wieder finden?


Doch, was ſag ich, Mitgenoß einer alten
Republik?


Haͤtt
[64]

Haͤtt ich in dem glaͤnzenden Zeitalter gelebt,
worin Sokrates aufwuchs: ſo haͤtt ich meine
Mahlerey gewiß noch eher als er ſeine Bildhaue-
rey verlaſſen, und ſie waͤre nicht einmal Spiel
fuͤr mich geweſen. Plutarch lallte freylich kin-
diſch, wie manches, nach, in ganz andern Um-
ſtaͤnden: „welcher gutartige Juͤngling wird
Phidias oder Polyklet ſeyn wollen
!“ Noch
brennt mich der Pfeil, den mir Demetri tief ins
Leben abdruͤckte.


Nach der Schlacht bey Plataia bis in den
Peloponneſiſchen Krieg hinein war Athen ein
halbes Jahrhundert das Rom von Griechen-
land; jeder Buͤrger uͤber die Inſeln und Klein-
aſien ſchien Fuͤrſt und Herr, und alle Kunſt ihm
unanſtaͤndig, die nicht zum Helden und Staats-
mann bildete.


Ueberhaupt aber hatte ſchon vorher Solon
mit ſeinen Fuͤnfhundertſchefflern, Reitern,
und Halbreitern
, und ſ. f., obgleich von der
Lage
[65] Lage der Sachen vielleicht dazu genoͤthigt, doch
aͤrgerliches Maaß und Gewicht fuͤr das Verdienſt
eingefuͤhrt: jeder war unedel, der nicht von ſei-
nen Renten lebte, er mochte mit goͤttlicher Wiſ-
ſenſchaft und Kunſt ſich ſeinen Unterhalt er-
werben.


Die erhabnen Sieger uͤber den großen Koͤ-
nig hatten Recht, ſich dieſen verwuͤnſchten
Maaßſtab vom Halſe zu ſchaffen; waͤre hernach
nur ihr Senat und Areopag bey ſeiner Wuͤrde
geblieben. Doch ich will hiervon nichts weiter
reden; Lukian hat es, mit dem treffendſten Wi-
tze in ſeinem Meiſterſtuͤcke, dem Zevs Tragikos,
genug laͤcherlich gemacht.


Der Lehrer des Weltbezwingers wies als-
denn nach der reinen Vernunft den Kuͤnſten im
Staat ihren Rang an; und ſagt: alle Kunſt iſt
unedel, die Leib und Seele der Gewandtheit
beraubt, ſich frey zu regen und zu bewe-
gen; folglich jede, wobey man ſitzen, oder
Ardinghello 2ter B. Ein
[66] in einer gezwungnen Stellung und Lage ſeyn
muß.


Die bildenden Kuͤnſte moͤchten freylich nach
dieſer Regel uͤbel wegkommen, beſonders die
Mahlerey, wenn die Arbeit dabey, wie Michel
Angelo behauptet, Kinder- und Weibermaͤßig iſt.
Jedoch auch ſelbſt die Philoſophie: wenn man
ſo viel leſen und ſchreiben muͤßte, als der Sta-
girit geleſen und geſchrieben hat; und noch mehr,
um ſo weit Freyheit der Seele die des Leibes
uͤberſteigt, die ehrwuͤrdigſten Aemter. Mein
Nachbar hier mit ſeiner dreyfachen Krone waͤre
der Hauptſklav; gebunden wie ein Wickelkind,
der alle Welt loͤſt!


Aber das beſte iſt, man weiß ſich bey die-
ſem allen ſchon ſchadlos zu halten, und verſteht
dieß nur auf wenige Tage und Stunden.


Uebrigens hatten die Griechen darin Recht,
daß derjenige ſich zum Handwerker erniedrigt,
welcher ſeine Kunſt des bloßen Gewinnſts wegen
eines
[67] eines andern beliebigen Befehlen unterwirft.
Das Werk behaͤlt hingegen auch wieder immer
ſeinen Rang; und eine Venus von Tizian bleibt
auf alle Weiſe eine Venus von Tizian, und ge-
raͤth nie an Werth von Erfindung und Arbeit
unter die Hoſen und Stiefeln von Schuſtern
und Schneidern. Selbſt die Geſetze der hohen
Ehre ſollen die Kunſt nicht zu ſtreng und gewalt-
ſam feſſeln; keiner iſt gleich am Ziele! jeder
hilft ſich fort nach den Umſtaͤnden, bis er dahin
gelangt, und einigermaßen herrſcht unter wenig
aͤchtem Gefuͤhl und einem Haufen Wahn und
Mode.


Fuͤr jetzt nur noch einige Zeilen als geringe
Spuren eines gluͤcklichen Aufenthalts in dem
wahrhaftigen Belvedere von innen und außen.


Wehmuͤthig muß man zwar das Haͤufchen
Ruinen betrachten, wenn man an die unzaͤhlba-
ren Schaͤtze des Alterthums denkt: an die hun-
dert metallne Koloſſen der Inſel Rhodos allein,
E 2oder
[68] oder die manchen hundert Meiſterſtuͤcke von Ly-
ſipp; geſchweige die Voͤlkerſchaften von Statuen
zu Delphi und Elis, die Pracht und Herrlichkeit
von Athen, Korinth, Gnid, Epheſos. Ein
Grieche vor den Roͤmiſchen Raͤubereyen wuͤrde
die heutigen Antiken insgeſamt gleichſam anſe-
hen, wie ein Lucull, von der Tafel aufgeſtanden,
ein paar verſchimmelte Brocken aus eines Bett-
lers Sack. Und doch ſchlagen ſie allen unſern
Stolz nieder, und zeigen uns deutlicher unſre
Barbarey, als irgend etwas, was uͤbrig geblie-
ben iſt.


Man begreift nicht wohl, wo die Alten die
Koſten nur der Materie hernahmen, binnen ſo
kurzer Zeit eine ſo große Menge von Kunſtwer-
ken aufzuſtellen: da heut zu Tag nicht die groͤßte
Monarchie zu leiſten im Stand iſt, was zum
Beyſpiel in dem kleinen Sizilien nur das Sand-
korn, das kaum bemerkbare Girgent, that. Die
Verwunderung des Xenophon, in den bluͤhend-
ſten
[69] ſten Zeiten der Kunſt, und wo die Griechen
ſchon ſelbſt von ihrer ſtrengen Lebensart ſehr ab-
gewichen waren, uͤber die Schwelgerey der Per-
ſer, daß ſie ihre Schlafzimmer mit Tapeten be-
legten *), damit der unnachgiebige Boden nicht
zu hart gegen ihre weichlichen Fuͤße anſtrebte,
kann uns einigermaßen den Schluͤſſel dazu ver-
leyhen. Hohe Selbſtſtaͤndigkeit des Menſchen,
Vergnuͤgen des Herzens, und Freude des Gei-
ſtes an Wahrheit und Schoͤnheit ging aller leeren
Pracht vor; die Staͤrke ſcheute den Kitzel
erſchlaffter Sinnen
. Und die kleinſte Re-
publik
, wo zu gemeinſchaftlicher Luſt jeder
ſo denkt und fuͤr ſeine Perſon ſich abbricht, kann
Berge verſetzen, und eine andre Natur
ſchaffen.


So glaͤnzt jedoch, zur Ehre unſrer Reli-
gion ſey es geſagt, die noch das einzige allgemei-
E 3ne
[70] ne Band iſt, ohne weitere Vergleichung mit
den Alten, auch jetzt manches aͤrmliche Staͤdt-
chen in Italien mit einem himmliſchen Bilde
von Raphael oder Correggio wie ein Stern her-
vor gegen ungeheure Reiche in Norden, naͤcht-
liche Wuͤſten, wo keine Schoͤnheit erſcheint.


Lyſipp, der wie Apelles in ſeiner Art den
hoͤchſten Gipfel der Kunſt erreichte, goß alle ſei-
ne Bilder aus Erz: weil der Geſang der entzuͤ-
ckendſte, wo die Muſik und die Poeſie die
vollkommenſte iſt, wo man die Sprache nicht
merkt; und ſo geht es oft in den bildenden
Kuͤnſten mit der Arbeit und der Materie, dem
Zeichen.


In den feyerlichen Werken des Phidias
und Polyklet von Gold und Elphenbein erſcheint
die Kunſt noch wie eine geſchmuͤckte unreife
Jungfrau: in denen des Praxiteles und Lyſipp
wie eine Phryne aus dem Bad hervor, alles
fremde verdunkelnde abgeworfen, in lebendiger
Voll-
[71] Vollkommenheit. Sie wollten die Formen,
das Wirkſame nur, gleichſam in die Seelen zau-
bern, das Weſentliche, ſchier unſichtbar dabey
wie die Goͤtter; und verbannten alle Pracht,
die das Auge abzieht und den Geiſt daͤmpft.


So gebrauchten die großen Mahler dieſer
Zeit nur die nothwendigſten Farben; und gleiche
Bewandtniß hat es mit den Reden des Demo-
ſthenes, der weit von dem nicht ſelten eitlen
Wortſchwall des Cicero entfernt iſt. Und ſo
findet man beym Sophokles und Euripides, die
fruͤher zur reinen Schoͤnheit gelangten, aͤu-
ßerſt wenig oder nichts von dem Spaniſchen
Pomp.


Uns iſt von den Meiſtern, welche die Kunſt
auf eine hoͤhere Stufe ſetzten, namentlich nichts
uͤbrig. Das meiſte ſind Bilder und Kopien von
Lehrlingen, die man auf die Gipfel der Tempel
und Pallaͤſte zu Rom und von deſſen Landhaͤu-
ſern ſtellte, welche mit der Zeit und in dem Ge-
E 4tuͤm-
[72] tuͤmmel des Kriegs und der Barbarey herunter-
ſtuͤrzten, zerſchmettert und im Schutt der ver-
wuͤſteten Gebaͤude begraben wurden. Nach lan-
gen Jahrhunderten graͤßlicher Nacht, die in die-
ſen Gegenden die Menſchheit benebelte, hat
man, wie nach Gold- und Silberminen, die
Wuͤnſchelruthe wieder auf ſie angelegt. Die
Kleinodien aber ſind faſt alle gleich zu Anfange
weggefuͤhrt worden, in Schiffbruͤchen und auf
ihrem urſpruͤnglichen Boden in Griechenland
ſelbſt in mancherley Zerſtoͤrungen verſchwunden.
Und doch haben wir daran genug, um wenig-
ſtens den Geſchmack zu bekommen; wie an etli-
chen, obgleich nicht den beſten, Flaſchen Reſt
Lacrima Chriſti und andrer koͤſtlichen Getraͤnke
von in Erdbeben untergegangnen Weinla-
gern.


Die Sache hat folgende Bewandtniß.


Die alte Kunſt theilte ſich in beſondre Klaſ-
ſen von Schoͤnheiten, und die großen Meiſter
beei-
[73] beeiferten ſich, das Ideal von jeder vollkommen
darzuſtellen. Wenn nun einmal das Hoͤchſte da
war: ſo blieb den andern nichts uͤbrig, als ein
aͤhnliches nachzumachen, wenn ſie in dieſer Klaſ-
ſe arbeiten ſollten. Man kann ſagen: Phidias
hat das Problem vom Jupiter aufgeloͤſt; und
ſein Bild davon genoß allgemeine Verehrung an
dem beruͤhmteſten Schauplatz. So gieng es mit
der Venus des Praxireles und Apelles, den be-
ruͤhmten Apollen, Merkuren, Junonen, Mi-
nerven, Amazonen; die andern mußten ihren
Weg einſchlagen, oder wurden nicht verſtanden
oder geachtet, wenn ſie dieſelben nicht uͤbertra-
fen. Ein guter Kopf ſchaut auch durch ſchwache
Nachahmungen der erſten erhabnen Maͤnner
Gefuͤhl fuͤr Form und eigenthuͤmliche Schoͤn-
heit jedes Ganzen.


Der Torſo, der Farneſiſche Herkules, der
(borgheſiſche) Fechter ſind zum Beyſpiel gewiß
hohe Meiſterſtuͤcke; doch finden wir die Namen
E 5ihrer
[74] ihrer ſich nennenden Arbeiter bey den Alten nicht
aufgezeichnet. Warum? ſie waren bloß Nach-
ahmer des ſchon erfundnen, und brachten nichts
neues hervor, um beſondre Aufmerkſamkeit zu
erregen. Und ſo koͤnnen wir noch in Rom den
Geiſt des Phidias, Polyklet und Praxiteles
ſchauen, ohne etwas von ihnen ſelbſt zu ha-
ben. Freylich wuͤrde fuͤr den innigen Wolluſt-
ſinn noch ein großer Unterſchied bey ihren Origi-
nalen ſeyn.


Die vier Statuen vom erſten Range der
alten Kunſt im Belvedere, und, nebſt wenigen
andern auf dem ganzen Erdboden, ſind der
Apollo, der Torſo, Laokoon, und ſo genannte
Antinous; nachdem der letztern doch einmal der
ehrenruͤhrige Name von blinden Antiquaren auf-
gehaͤngt iſt. Man hat dieſelben in Verſen und
Proſa bis zum Ekel beſchrieben, ihre Gipsab-
guͤſſe wie Apoſtel zu Tuͤrken und Heiden ver-
ſandt, jeder neue Ankoͤmmling traͤgt Anmerkun-
gen
[75] gen daruͤber in ſein Tagebuch ein: und bey allen
Predigern auf den Daͤchern ſind wir ſchlimmer
geworden; kein Leonhardt da Vinci, kein Mi-
chel Angelo, kein Raphael iſt mehr aufgeſtan-
den. Anſtatt das Licht zum Wegweiſer zu waͤh-
len, hat man ſich die Augen daran verblendet.


Das groͤßte Aufſehen hat der Laokoon ge-
macht; weil Plinius noch mitten unter allen
den hoͤchſten Meiſterſtuͤcken der Kunſt davon
meldet: er ſey ein Werk, allen andern der Mah-
lerey und Bildhauerkunſt vorzuziehen; und man
bey dem Alles-aus- und ab- und aufſchreiber
glauben duͤrfte, dieß ſey nicht ſeine eigne Lieb-
lingsmeinung, ſondern die Stimme des damali-
gen Roͤmiſchen Publikums geweſen.


Einige voll von den Wundern des Phidias,
Polyklet und Praxiteles gingen ſo weit, daß ſie
muthmaßten, der Laokoon moͤchte aus dem Zeit-
alter des Geſchichtſchreibers der Natur ſelbſt, und
ſein Lob ein gewoͤhnliches Gelehrtenkompliment
ſeyn;
[76] ſeyn; allein der Augenſchein zeigt jedem Er-
fahrnen, daß die Gruppe aus der ſchoͤnſten Bluͤ-
the der Kunſt ſtammt.


Sonderlinge wollten ſie im Schwindel des
Paradoxen, um vielleicht dem Vatikan wehe zu
thun, jedoch gar zur bloßen Kopie machen, weil
Plinius ferner ſagt: die allervortreflichſten
Kuͤnſtler haͤtten nach gemeinſchaftlich gepflognem
Rathe den Laokoon, Kinder und Drachen, alles
aus einem Block Marmor verfertigt; und ſie
beſtehen offenbar aus zwey Stuͤcken, und wenn
Ageſander und ſeine Freunde nicht Zeit und Ar-
beit vergebens verſchwenden wollten, aus meh-
rern, da der Sohn zur linken Seite ſonſt um einer
Taſchenſpielerey willen unſinnige Muͤhe wuͤrde
gekoſtet haben. Plinius ſah vermuthlich die
Gruppe aus einem niedrigen Standpunkt, und
die Fugen waren verſteckt, wie ſie bey dem
rechten Sohne noch ſind, wenn man nicht hin-
ſteigt; und es war ſchon in den alten Zeiten
Mo-
[77] Mode, daß die Aufſeher den Ankommenden
Maͤhrchen wie Religion vorſchwatzten; und der
Geſchichtſchreiber hat in der Eile viel unglaub-
lichre Fabeln ſich aufbinden laſſen, wenn er bey
ſeiner Lebensart noch nicht recht ausgeſchlafen
hatte. Inzwiſchen will ich dem wackern Manne
hier nicht zu Leibe gehn; er ſagt ſonſt Dinge mit
goͤttlichem Verſtand, und zuweilen erhabne Poe-
ſie. Sein Werk iſt wahrſcheinlich der erſte Zu-
ſammenraff des ungeheuern Ganzen, und die
Wolkenbruͤche von Feueraſche aus dem Veſuv
erſtickten ihn, bevor er nur die zweyte Hand dar-
an legte.


Es iſt wohl eine zu handgreifliche moraliſche
Unmoͤglichkeit, daß ein Kuͤnſtler, der ſo haͤtte
arbeiten koͤnnen, einige der kraͤftigſten Jahre ſei-
nes Lebens mit bloßem Nachmachen ohne weitern
Zweck ſollte verſchwendet haben; und daß die
Kopie, gerade wo das Original ſtand, durch ein
Wunder vom Himmel gefallen, und das Origi-
nal
[78] nal dafuͤr verſchwunden waͤre: um ſich bey Eroͤr-
terung dieſes ſylbenſtecheriſchen Verdachts laͤnger
zu verweilen.


Man hat bis jetzt das Lob des Plinius ent-
weder fuͤr bloß uͤbertrieben hingeſagt gehalten,
und ſich unter den verlornen hoͤchſten Meiſterſtuͤ-
cken der erſten Kuͤnſtler vom Phidias an bis zum
Lyſipp ungleich vortreflichre Bilder vorgeſtellt,
oder die Dichter haben nur den ſchoͤnen Ausdruck
der Vaterliebe in der Gruppe angeprieſen, und
der große Haufe hat mit ſeinen Augen uͤberhaupt
keinen rechten Endzweck aus der Vorſtellung
hohlen koͤnnen, und gedacht: es iſt ungluͤcklich
genug fuͤr uns, daß Loͤwen und Schlangen in
der Welt ſind, warum ſoll man einen guten
Mann mit ſeinen Kindern noch damit in Mar-
mor quaͤlen ſehen?


Es waͤr erfreulich, wenn man ſchon aus
der Theorie der Kunſt, und den bloßen Nach-
richten beweiſen koͤnnte, daß das Lob des Plinius
ge-
[79] gerecht ſey, auch ohne den Olympiſchen Jupiter
vor ſich zu haben.


Und gewiß, wem zuerſt die Idee von der Grup-
pe des Laokoon in der Seele aufging, und wer in
ſeinem Herzen, in ſeiner Hand Muth und Fertig-
keit genug fuͤhlte, ſie auszufuͤhren: der war zum
Bildhauer gebohren, wie Sophokles zum Dich-
ter. Man darf kein großer Pſycholog ſeyn,
um zu erkennen, daß das Ganze nur von einem
Weſen ſtammt, und daß die zwey andern Trium-
virn allein ihre Geſchicklichkeit dazu herliehen.


Die ſchoͤnſten Formen aller Art an der
Doppelgattung des menſchlichen Koͤrpers wa-
ren von dem feinſten Gefuͤhl, dem heiterſten
griechiſchen Sinn in den manchen tauſend
Statuen ſchier erſchoͤpft, als die Goͤtterkraft un-
ſers Geiſtes im Ageſander noch den kuͤhnſten
Flug begann, und alles uͤberſchwebte.


Der hohe Meiſter fand den herrlichſten
Vorwurf zu ſeinem Kunſtwerk in der griechiſchen
Reli-
[80] Religion, und umgriff damit Himmel und Erde.
Die Gruppe des Laokoon iſt von derſelben Gat-
tung wie die der Niobe; nur athmet daraus
mehr tragiſcher und bildender Geiſt. Leſen wir
zuerſt, was von ſeiner Geſchichte aufgezeichnet
ſteht im Hygin.


Laokoon, erzehlt dieſer, war ein Sohn
des Akoͤtes, Bruders des Anchiſes, und Prie-
ſter des Apollo.
Da er wider deſſen Willen
heurathete, und Kinder zeugte; und ihn alsdenn
das Loos traf, daß er dem Neptun am Geſtade
opfern ſollte: ſandte Apollo bey der Gelegenheit
von Tenedos her durch die Fluthen des Meers
zwey Drachen, damit ſie ſeine Soͤhne Anti-
phas und Thymbraͤos umbraͤchten. Laokoon
wollte denſelben Huͤlfe leiſten; wurde aber ſelbſt
umflochten und getoͤdtet. Welches die Phry-
gier deßwegen geſchehen zu ſeyn glaubten, weil
er einen Spieß in das Trojaniſche Pferd
warf.“


Ser-
[81]

Servius gibt jedoch die beſſere Erklaͤrung,
und ſagt: es ſey deßwegen geſchehen, weil er
ſeine Frau aus Unenthaltſamkeit im Tempel
des Apollo beſchlafen habe.


Das Ganze vom Laokoon zeigt einen Men-
ſchen, der geſtraft wird, und den endlich der
Arm goͤttlicher Gerechtigkeit erreicht hat; er ſinkt
in die Nacht des Todes unter dem ſchrecklichen
Gerichte, und um ſeine Lippen herum liegt noch
Erkenntniß ſeiner Suͤnden. Ueber dem rechten
Auge und dem weggezuckten Blick aus beyden iſt
der hoͤchſte Ausdruck des Schmerzens. Sein
ganzer Koͤrper zittert und bebt und brennt ſchwel-
lend unter dem folternden toͤdtenden Gifte, das
wie ein Quell ſich verbreitet.


Seine Geſichtsbildung mit dem ſchoͤnen ge-
kraͤuſelten Barte iſt voͤllig griechiſch, und aus
dem taͤglichen Umgange von einem tiefſchauenden
Menſchen weggefuͤhlt, und druͤckt einen geſcheid-
ten Mann aus, der wenig ander Geſetz, als
Ardingbello 2ter B. Fſei-
[82] ſeinen Vortheil und ſein Vergnuͤgen achtet, und
der dazu den beſten Stand in der buͤrgerlichen
Geſellſchaft gewaͤhlt hat; voll Kraft und Staͤrke
des Leibes und der Seele. Die zwey Buben
werden mit umgebracht, als Sproſſen vom alten
Stamme; das ganze Geſchlecht von ihm wird
vertilgt.


Es leidet ein maͤchtiger Feind und Rebell
der Geſellſchaft und der Goͤtter; und man ſchau-
dert mit einem frohen Weh bey dem fuͤrchterli-
chen Untergange des herrlichen Verbrechers.
Die Schlangen vollziehen den Befehl des Obern
feyerlich und naturgroß in ihrer Art, wie Erd-
beben die Laͤnder verwuͤſten.


Das Fleiſch iſt wunderbar lebendig und
ſchoͤn; alle Muskeln gehn aus dem Innern her-
vor, wie Wogen im Meere bey einem Sturm.
Er hat ausgeſchrien, und iſt im Begriffe, wie-
der Athem zu hohlen. Der rechte Sohn iſt hin,
der linke wird der Weile feſt gehalten, und die
Dra-
[83] Drachen werden bald hernach mit ihm vollends
kurzen Prozeß machen.


Selbſt die Schaamtheile des Alten richten
ſich empor von der allgemeinen Anſpannung,
Hodenſack und Glied zuſammengezogen; und
Hand und Fuß iſt im Krampfe. Die linke Seite
mag wohl zum hoͤchſten gehoͤren, was die Kunſt
je hervorgebracht hat.


Die Soͤhne haben gerade ſo viel Ausdruck,
als ihnen gebuͤhrt. Der eine iſt im Sterben
wie todt ſchon; und der andre leidet noch nicht
an Gift und Wunde, und entſetzt ſich bloß. Der
Vater zieht alle Aufmerkſamkeit auf ſich.


Der Gruppe fehlt ein Haupttheil, der rech-
te Arm des Laokoon. Michel Angelo wollte den-
ſelben anſetzen, hatte ſchon das Modell dazu ge-
macht, und angefangen, ihn in Marmor aus-
zuhauen; aber welcher andre will ſich in das le-
bendige warme Fleiſch und die ganze Natur hin-
einfuͤhlen? Er war ſo beſcheiden, und verwarf
F 2ſeine
[84] ſeine Arbeit. Es iſt Jammerſchade, daß der al-
te Arm verloren gegangen iſt, wegen des Zugs
der einen Schlange, und weil Laokoon damit
ſeine ſtaͤrkſte Kraft muß geaͤußert haben.


Dieſe flog mit grimmigem Satz rechts
her *) von oben herein, umflocht den aufgehob-
nen Arm, der ſie abhalten wollte, ſchwingt ſich
geſchwollen um den Ruͤcken herum, an der Seite
uͤber deſſen linken, und um den rechten Arm
des aͤltern noch lebendigen Sohns beym Ellenbo-
gen, windet ſich um den obern Arm, und
ſchlingt ſich dann um den untern wieder, und
macht einen ſchrecklichen Knoten darum her,
ſchießt nach der linken Huͤfte des Vaters mit
dem Kopfe, der ſie mit maͤchtiger Fauſt am Hal-
ſe noch ergriff, und ſetzt moͤrderlich den Zahn
ein. Alles Straͤuben, alle Rettung iſt verge-
bens,
[85] bens, und hoͤrt auf: es iſt geſchehen, die That
vollzogen.


Die andre Schlange faͤhrt linker Seite
her von unten auf durch die Beine, kuppelt
ſie wie Raub und Beute zuſammen, umſchlingt
dem Sohne rechts den linken Arm, und hinter
dem Ruͤcken herum den andern, und ſetzt ihm
den giftigen ſcharfen Zahn ein nach dem jungen
Herzen.


Der Vater ſank auf den kleinen Altar zu-
ruͤck, weil er ſich nicht mehr halten konnte; der
aͤltere Sohn linker Hand ſteht auf dem rechten
Beine, und der andre mit dem linken Fuß auf
den Zehen, und die Schlange haͤlt ihn oben an
den Altar gelehnt noch aufrecht. Alle warfen
die Gewaͤnder ab, zu entfliehen.


Man mochte die Gruppe in den Zeiten, fuͤr
welche ſie beſtimmt war, betrachten wie man woll-
te: ſo mußte ſie die ſtaͤrkſte Wirkung hervorbrin-
gen; entweder als Naturtrauerſpiel fuͤr das ganze
F 3menſch-
[86] menſchliche Geſchlecht: ein Vater, der bey Ret-
tung ſeiner Kinder umkoͤmmt; oder als Strafe
der Goͤtter. Und als Kunſtwerk konnt ihr kein
anders den Rang der erſten Klaſſe ſtreitig ma-
chen. Fuͤr uns bleibt ſie Naturtrauerſpiel, und
die Kreatur ſeufzt dabey im Innern uͤber die
nothwendigen Leiden auch des Guten und Ge-
rechten, und ſchaudert in ihr Unvermoͤgen, ihre
Unwiſſenheit zuruͤck.


Wenn man die Vorſtellungen, wo der Koͤr-
per leidet und das Leben vergeht, unter eine be-
ſondre Klaſſe bringen wollte: ſo moͤchte das Lob,
welches Plinius dieſer Gruppe ertheilt, wohl
am wenigſten koͤnnen beſtritten werden, und ſie
unter allen dieſer Art mit der Niobe oben anſte-
hen. Der an ſeiner Wunde Sterbende des
Kteſilas,
woran man ſehen konnte, wie viel
noch Seele uͤbrig war, gehoͤrte als einzelne Fi-
gur dahin; ſo wie der Hinkende, vielleicht Phi-
loklet, des Leontiniſchen Pythagoras, deſſen
Ge-
[87] Geſchwuͤres Quaal die Betrachtenden zu empfin-
den meinten; die verwundeten Amazonen,
bis auf den beruͤhmten Hund des Lyſipp im
Kapitol, der voll Schmerz und natuͤrlicher To-
desſchrecken in abgeſetztem Lauf und Haſt ſeine
Wunde leckte, und fuͤr welchen die Aufſeher mit
ihrem Leben ſtehen mußten.


Der letzte Akt unſers Drama hienieden
ſcheint vorzuͤglich ein Vorwurf der Mahlerey ge-
weſen zu ſeyn: Apelles that ſich darin hervor;
alle aber uͤbertraf der Landsmann Pindars Ari-
ſtides.
Koͤnig Attalus erkaufte einen Kran-
ken von ihm mit hundert Talenten; und Alexan-
der
ließ das Gemaͤhlde, wo die an ihren Wun-
den ſterbende Mutter das ſich anklammernde
Kind von der Bruſt abhielt, damit es kein
Blut ſaugte, nach ſeinem Geburtsort bringen.
In oben dieſes Meiſters Schlacht mit den
Perſern
von hundert Figuren war ohne Zweifel
manches vortrefliche dieſer Art. Die Farbe
F 4macht
[88] macht hier keine Kleinigkeit aus, und reißt, gut
aus der Natur empfunden, mit Gewalt zur
Taͤuſchung. Unter den neuern Werken mag
Peter der Maͤrtyrer von Tizian wohl hierin
oben anſtehen.


Fuͤr Sultane ſind dieß heilſame Bilder,
um ſie zuweilen an ihre Menſchlichkeit zu erin-
nern; und das groͤßte Meiſterſtuͤck davon ſtand
in den Kaiſerlichen Baͤdern an ſeinem rechten
Platz. Ich aber fuͤr mich muß aufrichtig geſte-
hen, daß ich in meinem Bad oder Schlafzimmer
ein Kunſtwerk erfreulichrer Art aufgeſtellt haben
moͤchte; waͤr es auch der verſtuͤmmelte Herkules,
an welchem meine Phantaſie noch oben drein
immer zu ſchaffen haͤtte: denn fuͤr beſtaͤndig moͤcht
ich die Gnidiſche Venus nicht.


Der Torſo iſt das hoͤchſte von einem Rin-
gerkoͤrper;
der Sohn der Wundernacht, aus
deſſen Armen ſich der dreyfache Geryon nicht los-
wand, ruht und ſitzt auf ſeinem Loͤwenfell.
Man
[89] Man findet nichts mehr uͤbrig von alter Kunſt,
wo Kernſtaͤrke ſchoͤner und vollfleiſchiger, und
alles in der lebendigſten Form mit dem feinſten
Wahrheitsgefuͤhl ſo abgewogen waͤre. Er ſenkt die
rechte Seite, und hatte den linken Arm in der
Hoͤhe. Das maͤchtige Bruſtbein iſt ſo zart ge-
halten und mit nerviger Fettigkeit uͤberzogen,
daß man es kaum merkt. Bruſt und Schultern
und Mark vom Ruͤcken herum ſitzen uͤber der
ſchlanken Mitte ganz unuͤberwindlich und erdruͤ-
ckend. Die Schenkel ſind lauter Kraft. Alles
iſt an ihm in Fluß und Bewegung in den aller-
gelindeſten Umriſſen. Man ſieht alle Theile,
und ihre Macht und Gewalt, jede Fieber iſt in
Regung: und doch tritt weder Muskel noch
Knochen ſcharf hervor. Es iſt recht das hoͤch-
ſte Vermoͤgen in hoͤchſter Beſcheidenheit und
Schoͤnheit.


Vielleicht hat er ein ſuͤßes Geſchoͤpf der Luſt
auf ſeinen Armen gewiegt; denn ſie trugen,
F 5und
[90] und die Zapfenloͤcher der Stuͤtzen ſind noch in
den Schenkeln. Gluͤckſeeligſte Sphaͤre der Welt
an dieſer Axe du von ihm Geliebte! du mußteſt
ganz in Entzuͤcken ſchweben und hangen, und
von aller andern Beruͤhrung frey und los ſeyn!
Doch dieß zum Scherze; ſo wie ich beym Deme-
tri behauptete: der fromme, zornige und ſchnell-
fuͤßige Achill Homers komme gegen dieſen Helden
nicht auf.


Der Farneſiſche Herkules hat den Cha-
rakter von einem Fauſtbalger, ſo feiſt und
breit und vollgenaͤhrt ſind die Formen gegen die
Ceſtusſchlaͤge. Seine Staͤrke faͤllt zentnermaͤßig
uͤber das Gefuͤhl eines heutigen ſchwachen Roͤ-
mers; aber auch außerdem macht er alle Welt
zu Hunden und Katzen gegen einen Loͤwen in ſei-
ner vollſten Kraft.


Er hat im Farneſiſchen Hof einen zu niedri-
gen Standpunkt; deßwegen ſchwillt die Bruſt
zu
[91] zu ſehr aus ihrer natuͤrlichen Großheit, und noch
Huͤften und Seiten.


Sein Kopf iſt vollkommen Eiſen und Stahl
unuͤberwindlichen Muthes, und unerbittſam im
Zaͤhneinſchmeißen.


Der Kuͤnſtler, welcher ihn erfand, ſcheint
ihn nach dem Ideale des Sophokles gebildet zu
haben, wo der Held aller Helden ein ganzes
Reich verheert, um Jolen in ſeine Gewalt zu
bekommen; Vater und Bruͤder ermordet, weil
ſie bey einem Beſuch ihren ſuͤßen Reiz ihm nicht
zum heimlichen Beyſchlafe geben wollten; Doͤr-
fer und Staͤdte verbrennt, und die Einwohner
als Sklaven gefangen fuͤhrt: ſo tobte in ihm die
Liebe.


Ich habe bey dieſer Gelegenheit zu guter
letzt nicht unterlaſſen koͤnnen, noch eine Skitze
nach dieſem, Sonnenmuth der Luſt von ſich
ſtrahlenden, jetzt meinem Lieblingsſtuͤcke unter
allen, des tragiſchen Dichters zu entwerfen, um
mir
[92] damit eine eigne Kopie von der heroiſchen Geſtalt
und dem Farneſiſchen Stier aufzubewahren.


Dieſer iſt das groͤßte Meiſterſtuͤck in Mar-
mor von allen Thieren aus der Zeit der Griechen.
Man kann kein natuͤrlicher Ochſenfleiſch ſehen,
und Myrons Kuh war vielleicht nicht beſſer.
Nur die Beine daran ſind neu, ſonſt iſt an ihm
ſelbſt alles wohl erhalten. Wahrhaftige wilde
Stiernatur in Stellung, Bewegung durch den
ganzen herrlichen Koͤrper! beſonders ſtrotzt die
Kraft wunderbar vom Hintern uͤber den Koͤnigli-
chen Ruͤcken. Schoͤnes Bild von Staͤrke, um
Heerden zum Preiſe davon zu tragen!


Die Skitze ſtellt den goͤttlichen Chor vor,
wo Herkules und der Fluß Acheloos als Rind,
beyde von Kraft geſchwellt, um Dejaniren mit
einander kaͤmpfen, welche in zarter Wohlgeſtalt
am fernglaͤnzenden Ufer ſitzt, und den Gatten
erwartet, ſchuͤchtern wie ein Kalb von der Mut-
ter fern: ob es der Sohn des Zevs ſeyn werde,
oder
[93] oder das vierfuͤßige Thier; indeß der Loͤwenwuͤr-
ger, nach langem Kriege, dieſem das gewaltige
Horn ausreißt.


Der erfreulichſte Genuß dieſer Werke iſt
fuͤr uns verſchwunden, weil wir keine Olympi-
ſchen Kaͤmpfe und Siege mehr daran ſehen.
Beyde Athenienſer verherrlichen mit dieſen ho-
hen Muſtern noch hier ihre Vaterſtadt; doch
moͤcht ich lieber der Apollonios des Torſo ſeyn,
als der Glykon des Farneſiſchen Keulenſchwin-
gers.


Der ſo genannte Antinous, welcher ei-
nen jungen Helden, vielleicht den Meleager vor-
ſtellt, wie man aus einem andern Bilde ſchließen
kann, das in Figur und Stellung aͤhnlich iſt,
wo unten zu den Fuͤßen der wilde Schweinskopf
ſich befindet, hat fuͤr uns unter den vier Haupt-
ſtatuen die mehrſte Wirklichkeit.


Eine aͤchte griechiſche jugendliche Schoͤnheit
voll geiſtigen Reizes, und ſuͤßer lieblichen Hoheit.
Er
[94] Er blickt empfindend zur Erde, als ob er ſich be-
ſaͤnne, zu welchem Maͤdchen er gehen wolle;
und Lippen, Stirn und Wangen und Kinn ſe-
hen recht kraͤftig, zartnervig und anhaltend im
Genuß aus. Die Formen am Unterleibe ſind
nicht klar hervor, und er muß im Ringen noch
zuſammengeſchlungen und ſeine Natur geuͤbt
werden. Die Bruſt, beſonders vom rechten
Arm her, ſchwillt milchig; und ich kenne nichts
verfuͤhreriſchers fuͤr ein Weib zur Umfaſſung.
Mit einem Wort, es iſt der ſchoͤnſte junge
Menſch unter allen alten Statuen. Der Bauch
allein iſt ein wenig zu flach gehalten, vielleicht
verhauen.


Will man auf eine andre Weiſe lieber: ſo
ſinnt der junge Held, wie er einen Kampf mit
dem beſten Verſtand abmachen ſoll. Der Zug
des Denkens iſt uͤber dem rechten Auge, wodurch
der Knochen ſchaͤrfer hervorkoͤmmt, als bey dem
linken; und das heroiſche ſitzt in der kraͤftigen
Stirn,
[95] Stirn, und dem gefaßten Blick, und den Lip-
pen, wo ſich das Gefuͤhl ſeiner bewußten Staͤrke
oͤfnet und hervorbluͤht. Wenn er ein Zeichen
haͤtte: ſo koͤnnte man ſich noch den Sohn der
Maja unter ihm vorſtellen, der ſeine Geſandt-
ſchaft uͤberdenkt. Es iſt ein himmliſches Bild,
und erregt auf jede Art entzuͤckende Gefuͤhle;
deſſen Schoͤnheiten am leichteſten und ſicherſten
in die neuere Kunſt uͤberzutragen ſind *).


So wie dieſer Juͤngling am mehrſten an
die Menſchheit grenzt; ſo iſt hingegen Apollo
ganz Gott, und es herrſcht eine Erhabenheit
durchaus, beſonders aber im Kopfe, die nieder-
blitzt; goͤttliche Schoͤnheit in allem von dem
nachlaͤſſig ſanftgewundnen Haare bis zu den
ſchlanken behenden Schenkeln und Beinen, ihre
geiſtigſte Bluͤthe, nicht die irrdiſche Fuͤlle.
Stand
[96] Stand und Blick, und Lippen voll Verachtung
geben ſeine Hoheit zu erkennen. Die Augen
ſind ſeelig, leicht aufzuthun und zu ſchließen, in
weiten Bogen. Sein kurzer ſchlank und zart
geformter Oberleib zu den langen Beinen macht
ihn zu einer ganz beſondern Art von Weſen, und
gibt ihm uͤbermenſchliches.


Ein erſtaunliches Werk von Erfindung und
Phantaſie! Das Problem iſt aufgeloͤſt: da ſteht
ein Gott, aus der Unſichtbarkeit hergehohlt, und
in weichem Marmor feſtgehalten fuͤr die Melan-
choliſchen, die ihr Leben lang nach einem ſolchen
Blicke ſchmachteten. Es iſt der hoͤchſte Verſtand
und die hoͤchſte Klugheit mit Zornfeuer und Ue-
bermacht gegen veraͤchtliches; darauf zweckt
alle Bildung. Was Apollo hat, iſt ihm ei-
gen, und laͤßt ſich wenig durch Nachahmen
uͤbertragen.


Auch deſſen Alterthum hat man angetaſtet,
und ihn zwar fuͤr keine Kopie, doch fuͤr ein
Werk
[97] Werk aus der Kaiſer Zeiten halten wollen; weil
der Marmor Karrariſcher zu ſeyn ſchien, welcher
kurz vor dem Plinius entdeckt wurde, und kein
Pariſcher, woraus die Griechen ihre mehrſten
Bildſaͤulen verfertigten.


Wenn man dieſes beweiſen koͤnnte: ſo waͤr
es wohl ausgemacht wahr; allein daran fehlt
viel. Der Pariſche iſt nicht durchaus gleich,
und man hat ſichre neuere Proben kommen laſ-
ſen, die von dem Marmor des Apollo im Korn
nicht unterſchieden ſind. Und ferner gibt es ſo
zarten Karrariſchen, daß er mit dem beſten Pa-
riſchen uͤbereinkoͤmmt. Und wo iſt der uͤbergroße
Marmorkenner, der von irgend einem Stuͤcke
ſagen will, gerade woher es ſey, da dieſer Stein
in jedem Klima zu finden iſt? Apollo hat nicht
das gelbliche Alter des Laokoon, und andrer
griechiſchen Bildſaͤulen; vielleicht weil er nicht
der Witterung ſo ausgeſetzt war. Er iſt augen-
ſcheinlich fuͤr einen beſtimmten Platz gemacht,
Ardinghello 2ter B. Gund
[98] und das Bild thut nur Wirkung, wenn man es
von der linken Seite im gehoͤrigen Standpunkt
betrachtet; von der rechten ſteht er da gerade wie
ein Seiltaͤnzer, ſo geſpannt, und ſein Kopf ſitzt
offenbar auf der rechten Schulter, viel zu weit
von der Mitte. Wenn man denſelben von ſei-
ner Richtung zurecht drehte: ſo waͤr es abſcheu-
lich. Aber von der linken Seite betrachtet,
wohin er ſchaut: iſt es Homeriſcher Apollogang;
man ſieht ihn fortſchreiten, ſieht das Geſicht
ganz, und der Kopf koͤmmt in die Mitte. Ein
wahrer Gott des Lichts dann, und der Muſen!
Man darf ſich ihm nicht viel naͤhern; er kann
keinen Flecken leiden, und man muͤßte bey ihm
immer haarſcharf geſcheidt ſeyn, und vernuͤnf-
tig ſich auffuͤhren: ſo erhaben iſt er uͤber die
Menſchheit.


Wenn man dieß einmal gefaßt und ſeine
Schoͤnheit im Ganzen genoſſen hat: ſo mag man
ſich hernach doch an ihm herumdrehen, wie man
will,
[99] will, und er bleibt ein erſtaunlich Werk von Voll-
kommenheit. Er iſt zwar lauter Ideal: nichts
deſtoweniger hat der Kopf Natur, die man geſe-
hen hat; welches der Ausdruck noch verſtaͤrkt.
Ein außerordentlicher Juͤngling gab gewiß den
Stoff dazu her, und der Kuͤnſtler brachte das
hoͤchſte und aͤußerſte von lebendiger Einheit
hinein.


Einige ſtolze Erdenſoͤhne koͤnnen dieß be-
wunderte und ſchier noch angebetete Bild nicht
ohne Verdruß und Widerwillen betrachten; und
behaupten: ihr Gefuͤhl empoͤre ſich allezeit, ſo
oft ſie ſich das Geſicht als griechiſch denken woll-
ten. Der Kopf des Perikles, und auch des
Alexander habe ſchon im bloßen Portraͤt viel
goͤttlichre Art von Erhabenheit; Apollo ſey da-
gegen eher hager und aͤrgerlich im Ganzen, und
es wittre daraus etwas von einem Roͤmiſchen
Kaiſerprinzen, etwas Neroniſches, das nicht
auf eigner natuͤrlicher Kraft beruhte; und dieß
G 2waͤre
[100] waͤre fuͤr ſie ein andrer Beweis, als der von
Marmor.


So verſchieden ſind die Meinungen der
Menſchen!


Gegen ſolche Atheiſten will ich nicht predi-
gen; ihr eigen Mißvergnuͤgen ſey ihnen Strafe,
und der Neid an andrer Freude.


Gewiß iſt, daß das Bild verliert, weil es
kein vollkommen Ganzes ausmacht, und man
nicht weiß, woruͤber der Gott zuͤrnt. Haͤtt er
zu einer Gruppe der Niobe gehoͤrt, wie er denn
in einer erhobnen Arbeit davon in Perſon auf
der einen Seite und ſeine Schweſter Diana auf
der andern ihre Pfeile abdruͤcken: ſo wuͤrden die
Unzufriednen mit ihm deſto mehr Mitleiden
mit der ungluͤcklichen reizenden Familie haben.
Doch iſt eher wahrſcheinlich, daß dem Mei-
ſter der Apollo des Leontiniſchen Pythagoras
vorſchwebte, welcher den Pythiſchen Drachen
erlegte. Und beyden war ohne Zweifel der Ho-
meri-
[101] meriſche, von den Gipfeln des Olymp herunter,
das Urbild.


Genug von dieſen Heiligthuͤmern!


Das eigentliche Kernleben der Kunſt dauert
vom Perikles bis zum Tod Alexanders; das
uͤbrige ſind Nachahmungen und Treib- und Ge-
waͤchshaͤuſer. Wenn man bedenkt, was die
Griechen binnen dieſer kurzen Zeit gethan haben,
ſo ſind wir ganz todt dagegen; welch eine Men-
ge von Statuen und Gemaͤhlden und Gedichten
nur fuͤr ſo ein kleines Volk! Welch eine Men-
ge von Helden, Philoſophen und Rednern! ſo
etwas kann nur in der heiterſten Gegend der
Welt bey der beſten Regierung vor ſich gehen.
Lyſipp allein hat mehr Bildſaͤulen verfertigt,
als alle neuere Bildhauer zuſammen; und jede
zeigte den Mann von hoher Schoͤpfungskraft.


Der Kuͤnſtler von gelaͤutertem Gefuͤhl, der
nicht bloß nach Brod und eitler Ehre trachtet,
ſondern ſich ſelbſt genug thun will, befindet ſich
G 3heut
[102] heut zu Tag in einem Zuſtande von immerwaͤh-
render Verzweiflung; er ſieht die Vollkommen-
heit vor ſich, und erkennt deutlich die Unmoͤg-
lichkeit, ſie zu erreichen. Und dieſe Wermuth
im Herzen mildert das allgemeinſte Lob nicht.
Es iſt damit nicht genug gethan, ein Bildchen
einzelner ſchoͤner Natur wegzufangen! Dieß
bleibt jedem Fremden, wie alles bloße Portraͤt,
unverſtaͤndlich, und er kann es nicht mit Saft
und Kraft genießen; vielweniger damit, daß er
ein Knie, einen Unterleib, eine Bruſt der Al-
ten wegſtiehlt, und gleichſam mit etlichen Phra-
ſen aus dem Demoſthenes oder Cicero ihre Spra-
che ſprechen und den großen Redner machen
will: die Vollkommenheit des Nackenden vom
Menſchen, als des hoͤchſten Vorwurfs der Kunſt,
und ſeiner mannichfaltigen Form und Bewegung
iſt unſerm Sinn von Jugend auf in der Wirk-
lichkeit verhuͤllt, oder zeigt ſich ganz und gar
nicht mehr in unſrer Welt.


Laß
[103]

Laß mich frey reden! Die Kunſt hat ſo
lange gedauert, als die Gymnaſien dauerten,
der Tanz Spartaniſcher, Chiiſcher Jungfrauen,
ihr Ringen ſelbſt mit den Maͤnnern, oͤffentliche
Sitte war, und die Prieſterinnen der Liebes-
goͤttin zu Athen und Korinth Religion feyerten.
In Venedig iſt von dem letztern noch ein Schat-
ten; und der Kuͤnſtler hat Jahr aus Jahr ein
immer eine Menge friſcher neuer Modelle, Au-
gen und Phantaſie wie Zeuxis zu Girgent zu
weiden. Deßwegen haben auch keine andre
Mahler ſolch weiblich Fleiſch wie Tizian und
Paul von Verona hervorgebracht; und der
Mahlerneſtor lebt an der Grenze von hun-
dert Jahren, da der goͤttliche Raphael auf
eigne Koſten ſein junges Leben einbuͤßen
mußte.


Bey einer gothiſchen Moral kann keine an-
dre als gothiſche Kunſt ſtatt finden. So lange
nicht ein Sokrates mit ſeiner Schule am hellen
G 4Tag
[104] Tag uͤber die Straße zu einer neuen reizenden
Buhlerin ziehen darf, um ihre Schoͤnheit in
Augenſchein zu nehmen: wird es nicht anders
werden. Es iſt wohl klar jedem, der Welt und
keine Welt hat, daß nicht die haͤßlichen dieſe Le-
bensart erwaͤhlen.


Vielleicht red ich hier bey manchem bittrer
gegen die Kunſt, als Demetri in ſeiner Laune;
allein gibt es eine Wirkung ohne Mittel? Die
ſchulgerechten Antiquaren ſprechen berauſcht von
der Venus des Praxiteles und ſeinem Liebes-
gott
: und mit Abſcheu von Phrynen und Ba-
thyllen
; wie die Thoren, die nicht wiſſen, was
ſie wollen. Freylich koͤmmt bey der geringſten
Unterſuchung das geheuchelte konvenzionelle Ge-
ſchwaͤtz zum Vorſchein, und die innre geheime
Denkungsart, wo ſich Drachen mit Tauben paa-
ren. Die heiligen Katharinen ſpazieren nicht
vom Wirbel bis zum Fuß nackend mit losgebund-
nen Haaren vor den Mahlern herum, und keine
Lu-
[105] Lukrezia laͤßt ſich ſo in der reinſten Beleuchtung
allein mit allen von einem Pinſel- und Palett-
mann in beliebige Stellung legen; und kein
Kuͤnſtler kann von ſo feſtem Gletſchereis ſeyn,
daß er bey Blicken von Sommerſonnen nicht
ſchmelzen ſollte. Und doch wollen die ehrwuͤrdi-
gen Herrn bey dem allgemeinen Menſchenver-
ſtand in keinen ſolchen Verdacht der Einfalt
kommen, daß ſie ſich auf die Seite der zuͤchtigen
Koer ſtellten, welche die bekleidete Venus vor-
zogen und kauften, da ſie die Wahl der nackten
Gnidiſchen hatten, und noch bis heut zu Tage
als Troͤpfe verlacht werden.


Hiermit ſehen wir das Nackende, außer
dem einzelnen von Geliebten am Menſchen je-
doch nur entweder frech, oder in unwegſamer Al-
bernheit; und die ſtaͤrkſte Einbildungskraft kann
es nicht ſo veredeln, daß es die freye gebildete
Natur des Alten haͤtte, wozu die edelſten und
weiſeſten und wohlgebildeſten des Volks von je-
G 5dem
[106] dem Alter auf den Ringplaͤtzen in unaufhoͤrlicher
immer neuer Abwechslung die Modelle abgaben.


Wenn wir nicht durch einen wunderbaren
Umlauf der Dinge irgendwo aus unſerm unmuͤn-
digen kindiſchen Weſen wieder zur reifen Menſch-
heit gelangen, und die Gymnaſien der Griechen,
ihre Spiele und Sitten vom neuen aufkommen:
ſo wird die ehemalige Kunſt auch verloren blei-
ben. Und dennoch haͤtten wir damit ihre Reli-
gion noch nicht, die fruchtbare Mutter der ſchoͤn-
ſten Geſtalten.


Wenn wir wenigſtens nur noch die Beklei-
dung der Alten haͤtten! Bey unſrer wirklichen
ſieht man meiſtens bloß den Schneider, und we-
nig oder nichts von der eignen Art des Menſchen
zu handeln und ſich zu bewegen, und den For-
men ſeines Gewaͤchſes; und alle Schoͤnheit er-
liegt und verſinkt unter den Falten und Wuͤlſten:
oder wird im Gegentheil ſteif gepreßt und ge-
ſchnuͤrt und mit eckichten haͤßlichen Lappen ohne
Zweck
[107] Zweck behangen. Die Lage der Unterkleider,
den Wurf der Maͤntel und Togen koͤnnen wir an
den Bildſaͤulen der Alten noch weit weniger
nachahmen, als die Form der Glieder; denn
uns fehlt dabey ganz die Natur. Wir ſuchen
uns zwar wie Amphibia mit eigen erfundner
mahleriſcher Tracht zu helfen: aber ſie bleibt faſt
immer eine bloße Ziererey, ohne Reiz und Wir-
kung fuͤr den, welcher Natur und Wahrheit
verlangt, und iſt aller Taͤuſchung zuwider.


Und obendrein noch ſind die Kuͤnſtler weit
uͤbler dran, wenn ſie den Gang der Alten ein-
ſchlagen wollen, als die Philoſophen, Redner,
Dichter; dieſe haben immer das unermeßliche
Reich der Natur und Sprache unter den Men-
ſchen vor ſich, und Geſetz und Gewohnheit
hemmt ſie weit minder. Wenn einer auch an
Vollkommenheit den Phidias, oder Polyklet,
Praxiteles, Lyſipp, Zeuxis und Apelles errei-
chen koͤnnte: was hat er vom nackten Menſchen
in
[108] in der Geſchichte, der heutigen Fabel, unſrer
Religion vorzuſtellen, das wahrſcheinlich und
natuͤrlich, nicht erkuͤnſtelt und bloß erlernter
fremder Kram waͤre? Das hoͤchſte iſt eine allge-
meine, ewig einerleye idealiſche Geſtalt von
Mann und Weib in jedem Alter ohne Zweck und
Charakter.


Nehmen wir zum Beyſpiel unſern Heiland
als den Hauptvorwurf zur Auszierung unſrer
Tempel! Was hat der menſchliche Koͤrper mit
dem Gott der Chriſten zu ſchaffen? Welche
Schoͤnheiten von Apollo, Merkur, anderm
griechiſchen himmliſchen Juͤngling oder wirkli-
chem Erdenſohn ſoll man, techniſch zu reden,
dem ganz außerordentlichen jungen Juden an-
bilden, ohne auf irgend eine Weiſe in Wider-
ſpruch zu gerathen? Jede griechiſche Gottheit
war nur ein Ideal einer beſondern Klaſſe menſch-
licher Vollkommenheit. Sein Bild iſt lediglich
ein Werk uͤbernatuͤrlichen Ausdrucks im Geſichte,
und
[109] und neue Art uͤbriger Schoͤnheit findet hier nicht
ſtatt. Der Kuͤnſtler macht vor den Leiden, und
ans Kreuz und beym Herunternehmen davon ei-
nen richtigen ordentlichen Leib, ſonſt hat die ei-
gentliche Kunſt da kein weiter Feld, hoͤhere For-
men aus der Natur zu ſchoͤpfen.


An gewiſſe Theile und ihre Beſtimmung
darf man gar nicht denken, und wie ſie bey an-
dern Menſchen nicht umſonſt ſind, und wirken:
geſchweige ſie langſam mit dem Reiz der alten
Kuͤnſtler bilden. Seine Geſtalt kann alſo nie
ein vollkommen freyes Ganzes, ein Werk
der erſten Klaſſe
werden.


Wollen wir in die griechiſche Fabel und
Geſchichte uͤbergehen, und unſre Vorſtellungen
daraus hernehmen: ſo erhalten wir meiſtens nur
einen verwirrten Nachklang; ein wahres Echo
ohne Sinn, das nur einzelne Sylben wiederhohlt.
Wer iſt außerdem ſo frech eitel, daß er ſich einbil-
den kann, einen beſſern Apollo als den Vatikani-
ſchen,
[110] ſchen, einen beſſern Herkules als den Torſo und
Farneſiſchen, eine ſchoͤnere Juno, Venus und ſo
weiter zu erkuͤnſteln, als die Alten? Und wird
es nicht ekelhaft, ſie oder auch nur einzelne For-
men davon immer und ewig zu kopieren, mit
den angewiesnen Plaͤtzen zu ſchaͤnden? ſteht nicht
faſt allemal der hohe ſtrahlende Purpurlappen
laͤcherlich und aͤrgerlich fuͤr den Erfahrnen in ei-
nem Harlekinsgewande?


Und doch thut es ſo weh, uns in unſrer Ar-
muth und Duͤrftigkeit einzuſchraͤnken! Wir bauen
gleichſam noch in den bildenden Kuͤnſten, wie zu
Konſtantins und den mittlern Zeiten: ſetzen aus
den zertruͤmmerten Tempeln und Pallaͤſten der
zuruͤckgewichnen Erdengoͤtter die Saͤulen aller
Ordnungen neben einander, und fuͤhren ein neues
Mauerwerk kindiſch, verzerrt und unfoͤrmlich,
ohne klare und dunkle Idee, wie es werden will,
darum her und daruͤber auf, im Schweiß und
der Affenfreude unſers Angeſichts.


Rom,
[111]

Rom, Dezember.


Nacht iſt doch die ſchoͤnſte Beruhigung von Ge-
ſchaͤften; wo die Phantaſie die freyeſten Fluͤge
thut, und der Menſch am mehrſten ſeiner ſelbſt
genießt. So raſte ich jetzt hier oben auf der
Villa Medicis in meinem Zimmer. Rom ſchlaͤft;
der blaue unermeßliche Aether ſchwebt daruͤber
wie eine Henne uͤber ihren Kuͤchlein, und blin-
kend hell Geſtirn erleuchtet ſeelig die Gegenden.
Alles iſt ſtill; nur plaͤtſchern angenehm die
Springbrunnen: heilige Symbole des ewigen
Lebens in der Natur.


Mit der Einbildung uͤberſchau ich unter mir
den alten Campus Martius in der lieblichen
Dunkelheit: und mir faͤngt das Herz ſtaͤrker an
zu ſchlagen, und Feuer rinnt durch meine Adern.
Hier balgt ſich die Roͤmiſche Jugend auf gruͤnem
Raſen herum im Schatten hoher Platanuſſe,
und treibt ihre kriegeriſchen Spiele; dort ſchwim-
men
[112] men ſie durch den ſchnellen tiefwirbelnden Tyber-
ſtrom, die Ufer hieben und druͤben mit ſchoͤnem
Geſtraͤuch bewachſen; und in der nahen Ferne
lagern ſich die Huͤgel von Monte Mario bis zu
Pietro Montorio in majeſtaͤtiſchem Kreiſe, wo
der Edeln Gefuͤhl mit erhebenden Schauern die
Geiſter von Brutuſſen, Kamillen und Scipio-
nen gegenwaͤrtig erkennt. Hier ſteigt der Son-
nenobelisk empor; dort die praͤchtigen Theater
vom Pompejus und Balbus, die traulichen Hal-
len, runden und hohen Mauſolaͤen, feyerlichen
Tempel. Die Vaͤter des Volks gehen auf und
ab in den kuͤhlen Haynen, und pflegen Rath
uͤber den Erdboden. Neben an prangen die ſchoͤ-
nen Gaͤrten.


Ich habe heute wieder einen ſchoͤnen Tag
gehabt! Es iſt ein unaufhoͤrlich Vergnuͤgen in
Rom zu ſeyn; man findet immer neues, was
von der Gewalt und Herrlichkeit des alten
Volks zeugt, und oft einen entzuͤckt oder erſchuͤttert.
Es
[113] Es iſt eine wahre Tiefe von Menſchheit: die
andern Staͤdte ſind dagegen wie erſt angepflanzt.
Beſonders reizen und ruͤhren vom Kapitol an die
ungeheuern Ruinen, welche die neuen Villen
mit ihren Pygnen, Lorbeern, Cypreſſen, und
beſtaͤndig gruͤnen Eichen ausſchmuͤcken.


Den Vormittag zog ich hier herum, und
ging dem erſten Urſprung dieſer heroiſchen Re-
publik nach; und gelangte von den Roſtris und
dem Tempel des Romulus am Monte Palatino,
gleich daneben in einem Winkel, zur Quelle der
Juturna
, die kryſtall hell gerade beym Anfang
der Cloaca maxima aufſprudelt, und ſich dahin-
ein nun ferner ungebraucht ergießt. Ich ſchoͤpf-
te mit der hohlen Hand daraus, und trank und
ward erquickt, und konnte nicht muͤde werden,
ſie rinnen zu ſehen. Ein heiliges Plaͤtzchen,
rundum verbaut und eingemauert! Die Waͤnde
ſind uͤberall mit breitblaͤtterigem Epheu uͤberzo-
gen und kleinem Geſtraͤuch bewachſen. Man
Ardinghello 2ter B. Hkennt
[114] kennt ſie nicht mehr vor den ſtolzen Waſſer-
leitungen; und gewiß war ſie doch die Haupt-
urſache, warum Romulus, oder vor ihm ein
junger Ausflug Griechen hier ſich anniſtete, da
in den jetzigen weiten Ringmauern ſich keine an-
dre Quelle befindet.


In ſchwaͤrmeriſchen Betrachtungen verloren
wand ich hernach in den Farneſiſchen Gaͤrten fuͤr
ſie einen Myrthenkranz mit allerley Blumen;
hohlte aus der Nachbarſchaft ein Gefaͤß mit
Milch und Honig, goß es in ſie aus, bekraͤnzte
ſie, und ſang ihr wehmuͤthig ein kurzes Trauer-
lied bey dem Opfer, das ſie Jahrtauſende nicht
genoß.


Ein Zuſammenklang von lauter ruͤhrenden
Gefuͤhlen wandelt ich nach Hauſe durch die drey
noch uͤbrigen Triumphpforten von den ehemali-
gen ſechs und dreyßigen. Ein ſolcher Freuden-
bogen, ausgeziert mit den ſchoͤnſten Lebensſcenen
deſſen, den man empfaͤngt, iſt doch ein ſo recht
ver-
[115] verliebter Gedanke. Herzlicher und dauerhaf-
ter kann ein Volk einem Helden keine Ehre
anthun.


Die Kunſt bleibt ein ſonderbares Ding; ſie
ſcheint ganz ihren Weg fuͤr ſich zu gehn. Wenn
man von ihrer Vortreflichkeit auf die Vortref-
lichkeit der Menſchen zu gleicher Zeit ſollte ſchlie-
ßen koͤnnen, und umgekehrt: welche Popanzen
muͤßten die Roͤmer zu Septimius und Konſtan-
tins Zeiten geweſen ſeyn gegen die unter Tra-
jans? Der Kontraſt iſt gar zu poſſierlich an des
chriſtlichen Kaiſers Bogen, wo die Bildhauer
unter ihm zu den Wechſelbaͤlgen ſeiner Geſchich-
ten die Meiſterſtuͤcke von Figuren aus einem
andern zum Ruhme des Siegers von Dazien hin-
eingeflickt haben. Was konnte Alexander dafuͤr,
daß er keinen Homer fand bey ſeinem Leben, uͤber-
haupt keinen großen Dichter, der ihn beſang?


Ferner iſt ruͤckwaͤrts gewiß, daß die Kunſt
bey gleich vortreflichen Menſchen nur nach und
H 2nach
[116] nach zur Hoͤhe wuchs; ſo ſchwer iſt es, alles
Lebendige vollkommen zu bilden, und nichts,
was noch ruͤhrt und reizt, auszulaſſen, und da-
fuͤr bloß mathematiſche Linien und Placken hin-
zuſtellen. Das Ganze wird nur nach und nach
gewonnen; das Individuelle lebendige gei-
ſtige
bleibt aber immer das, was den großen
Menſchen von dem andern unterſcheidet. Und
ſo kann einer zwar ein ungleich groͤßrer Kuͤnſtler
als ein andrer, aber ein weit kleinrer Menſch
ſeyn. So war der Jupiter und die Minerva
des Phidias wahrſcheinlich erhabner als manches
andre Bild, das nachher ein weit natuͤrlicher
Fleiſch und mehr lebendiges in der Materie hat-
te. Und darauf koͤmmts doch an, die unter-
ſcheidenden weſentlichen Zuͤge von jedem Dinge
beſtimmt zu faſſen, und dem Empfinder und
Denker gleich darzuſtellen. Das Hauptver-
gnuͤgen an einem Kunſtwerke fuͤr einen weiſen
Beobachter macht immer am Ende das Herz und
der
[117] der Geiſt des Kuͤnſtlers ſelbſt, und nicht die
vorgeſtellten Sachen.


Den Nachmittag ging ich nach der Rotun-
da
; ich hatte den Mann mit den Schluͤſſeln da-
hin beſtellen laſſen, um oben hinauf zu ſteigen.
Sie iſt das einzige Werk von alter Architektur,
was in Rom noch ganz iſt; das vollkommenſte
in ſeinen Verhaͤltniſſen, und praͤchtigſte dabey
wegen ſeiner Saͤulen auf dem Erdboden; die
Paulskirche erſcheint dagegen doch nur als
Flickwerk.


Wenn man in die Vorhalle tritt: ſo iſt es,
als ob man in das ſchoͤnſte Plaͤtzchen eines
Waldes von lauter hohen herrlichen Staͤmmen
kaͤme, die ein Gott zu einer Zeit gepflanzt
haͤtte.


Wie breit und maͤchtig einen dann das
Innre ſelbſt umfaßt und bedeckt, iſt lauter Ma-
jeſtaͤt; und feyerlich ſtehen unten die Saͤulen
umher, und der daͤmmernde Raum dahinter,
H 3wie
[118] wie das allerheiligſte der Gottheiten. Was dieß
fuͤr eine Ruh iſt! wie einen ſo nichts ſtoͤrt! wie
die Rundung mit Liebesarmen empfaͤngt, wie
ein leiſer Schatten einen umgibt, ſo daß man
das Gebaͤude ſelbſt nicht merkt! Oben Heiterkeit
und Freyheit, und unten Schoͤnheit. Ueberall
iſt der Tempel ſchoͤn und harmoniſch, man mag
ſich hinwenden, wo man will; uͤberall wie die
ſchoͤne Welt in ihren Kreiſen von Sonn und
Mond und Sternen. Endlich ſcheint alles le-
bendig zu werden, und die Kuppel ſich zu bewe-
gen, wenn man an dem reinen ſuͤßen Lichte des
Himmels oben durch die weite Oefnung ſich eine
Zeitlang weidet. So oft ich mich ſo ins Stille
hinſetze und meinem Gefuͤhl uͤberlaſſe, werd ich
da entzuͤckt, wie von einem Brunnquell unter
kuͤhlen Baͤumen zur heißen Zeit. Es iſt das
erhabenſte Gebaͤude, das ich kenne; ſelbſt
Schoͤpfung und nicht bloß Nachahmung. Die
Schoͤnheit voll Majeſtaͤt ſcheint alle Barba-
ren
[119] ren von der Verwuͤſtung zuruͤckgeſchreckt zu
haben.


Freylich hat man, was daran zu pluͤndern
war, ohne die Mauern niederzureißen und in
Schutt zu ſtuͤrzen, doch daraus und davon weg-
geraubt. Es ſtand hier eine Minerva aus Gold
und Elphenbein von der Hand des Phidias;
und eine beruͤhmte Venus, welche die halbe
Perle zum Ohrgehenke hatte, von der die andre
Haͤlfte Kleopatra trank, um den Antonius im
Verſchwenden zu uͤbertreffen; und die man fuͤr
ſich allein auf eine halbe Million Scudi ſchaͤtzte.
Konſtantin der dritte ſchleppte auch dieſe Bil-
der wahrſcheinlich mit den andern ſchoͤnſten Sta-
tuen nach Syrakus, ſo wie er die Silberplatten
ſamt dem Bronz- und Schmelzwerk herausſchla-
gen ließ, womit das Gewoͤlbe oben verziert
war.


Die urſpruͤnglichen Kapitaͤler von Erz nach
dem Plinius an den innern Saͤulen ſind hernach
H 4wie-
[120] wieder abgenommen worden, und mit weißem
Marmor gut ergaͤnzt, der dem Giallo antico
des Schaftes lieblich laͤßt. Davon ſind noch die
Baſen und das Geſims; das letztre mit Strei-
fen von Porphyr. Die erhaltnen aͤußern aber
von Granit, wie die koloſſaliſchen Saͤulen ſelbſt
gehoͤren unter die ſchoͤnſten der korinthiſchen Ord-
nung, die uͤbrig ſind; und machen mit den drey
freyſtehenden Saͤulen auf dem Campo Vaccino
und dem Bogen des Titus *) die Muſter hierin
aller neuern Baukunſt. Wo an einem Gebaͤude
keine Saͤulen ſind, fehlt gewiß die edelſte, ſtaͤrk-
ſte und ſchoͤnſte Form. Die korinthiſchen haben,
wenn die Blaͤtter rein gearbeitet ſind, am mehr-
ſten Leben und den groͤßten Reiz; und die gefug-
ten, welche die Rinde nachahmen, erhoͤhen noch
Natur und Leichtigkeit.


Der
[121]

Der Plan des Ganzen iſt zirkelrund; und
der Durchmeſſer davon enthaͤlt mit der Dicke der
Mauern zwey hundert und funfzig Palme, und
der Umfang ſieben hundert und funf und achtzig.
Die Mauern betragen acht und funfzig Palme.
Die Hoͤhe hat gerade die Breite des Bodens.
Der Bogen innen von der außen in der beſten
Proporzion viereckten Thuͤr den fuͤnften Theil
dieſes Maaßes; und der Bogen gegenuͤber, jetzt
vom Hauptaltar, iſt etwas groͤßer, wodurch der
Eingang unmerklicher erſcheint.


In der [Antike] trugen ohne Zweifel die Ka-
ryatiden, wovon Plinius ſpricht; jetzt ſind an
deren ſtatt kleine platte Saͤulen ohn einigen
Vorſprung mit einem Geſims daruͤber, worauf
die Kuppel ruht. Man glaubt wegen der Ar-
beit, daß die Veraͤnderung unter den Antoninen
und dem Kaiſer Pertinax geſchah. Es muß ein
paradieſiſcher Zauber an dem Auge des Himmels
geweſen ſeyn! Nun iſt das ehemalige junge bluͤ-
H 5hende
[122] hende Geſicht im reizenden Schmuck gewiſſerma-
ßen zur Matrone im Trauerſchleyer geworden;
doch dauert die erhabne Form noch und haͤlt die
Moden und Sitten aller Zeiten aus, wie wahre
Schoͤnheit.


Es iſt wohl klar und augenſcheinlich, daß
die Rotunda anfangs einen Theil der Baͤder des
Agrippa
ausmachte, gleichſam die ſtrahlende
Stirn derſelben; noch ſind die Ruinen davon
angemauert, und erſtrecken ſich weit dahinter.
Die praͤchtige Vorhalle wurde hernach hinzuge-
fuͤgt, und das Innre ausgeſchmuͤckt; und der
Tempel gehoͤrte alsdenn mit dem des Jupiter
Maximus auf dem Kapitol, und dem des Frie-
dens unter die erſten Wundergebaͤude Roms.
Agrippa wurde in einem Triumphwagen auf den
Giebel an dem Porticus geſtellt, aus Erz gear-
beitet; mit den zwey Loͤwen von Granit zu bey-
den Seiten, und der porphyrnen Urne mit ſei-
ner Aſche dazwiſchen, die jetzt noch unten vor
der
[123] der Halle ſtehen. Er ſchenkte ſeine Baͤder und
Gaͤrten dem Volke mit Einkuͤnften zur Unter-
haltung.


Der ſogenannte Tempel der Minerva Me-
dica,
eine der pittoreskeſten Ruinen bey der
Porta maggiore, war eben ein ſolcher Anfang
von Baͤdern; und noch eben ſo jetzt, die Kir-
che des heiligen Bernhardt von den Baͤdern
Dioklezians
. Sie kommen in der Hauptform
mit der Rotunda voͤllig uͤberein. Bey der uͤber-
ſchwenglichen Pracht durften die Goͤtter nicht
vergeſſen werden, und man errichtete ihnen
gleichſam dieſe Wachthaͤuſer voran als Beſchuͤ-
tzern. Das Pantheon war dem raͤcheriſchen
Jupiter, der Ceres, und allen Goͤttern ge-
widmet.


Ihre breiten Gewoͤlbe in weiten Bogen
leuchten gleich beym Eintritt Erhabenheit in die
Seele, die die unermeßliche Peterskirche dage-
gen mit ihrem ſchmalen und engen des mittlern
Schiffs
[124] Schiffs nie erregen wird, der eher einen Sarg
als einen Bogen vom freyen ſchoͤnen geſtirnten
Himmel Gottes nachahmt; weßwegen die Leute
ſich verwundern, daß ſie nicht erſtaunen.


Die Roͤmer liebkoſten den Sinn des Ge-
fuͤhls mit Baden, wie wir ohngefehr unſre Na-
ſen mit Duͤften, und unſre Zungen mit Bruͤhen
und Weinen. Sie fingen vom heißen an, und
gingen alsdenn alle Grade der Waͤrme durch
theils im Waſſer, theils in lauer Luft bis zum
kalten: Wolluſt, die alle verſchiedne Waͤrme der
Exiſtenz nachahmt, vom heißeſten Herzensge-
tuͤmmel der hohen Leidenſchaften bis zur friſchen
Beſonnenheit; alle Grade des phyſiſchen Ge-
fuͤhls, ohne das Seelenleben, das Geiſtige:
welches ſie ſich doch in gewiſſer Ruͤckſicht auch
vorphantaſieren konnten, indem ihre weiblichen
Schoͤnheiten ſich unter den Kaiſern, wenigſtens
zuverlaͤſſig vom Domizian an, oͤffentlich nackend
mit den Maͤnnern badeten. Sie ahndeten et-
was
[125] was vom Paradieſe und dem Stande der Un-
ſchuld, ohne die Buͤcher Moſis geleſen zu haben.
Und uͤberdieß hatten ſie gleich daneben ihre Fech-
terſpiele und Ringplaͤtze.


Die Thermen in Italien entſtanden aus
den Gymnaſien der Griechen; nur waren bey
dieſen die Leibesuͤbungen das vornehmſte, und
bey den Roͤmern das Baden. Darnach mußten
ſich die Architekten in der Anlage der Gebaͤude
richten.


Die Baͤder waren eigentlich der Hauptge-
nuß, den die ſtolzen Enkel des Romulus und
ſeiner Raͤuberbande von den Siegen ihrer Vor-
fahren uͤber die Welt hatten; und die Gebaͤude
dazu das hoͤchſte der Architektur, was wir mit
den aͤgyptiſchen Labyrinthen und einigen Tempeln
der Griechen in der Geſchichte der Menſchheit
kennen. Es war da alles, was das Leben freut
und angenehm macht, beyſammen. Wir koͤn-
nen uns, ohngeachtet der ungeheuern Ruinen,
wenig
[126] wenig davon vorſtellen, weil uns dieſe Gattung
Genuß ganz entruͤckt iſt. Wenn wir ein halbes
Saͤculum alter Roͤmer und Roͤmerinnen der er-
ſten Jahrhunderte erwecken koͤnnten: ſo wuͤrden
ſie ſich aus Ekel, langer Weile und Verzweif-
lung uͤber das heutige Elend binnen wenig Tagen
aufhenken.


Das Dachgewoͤlbe der Rotunda, mit ſtar-
kem Bley gedeckt, iſt, wie ſchon geſagt, aͤußerſt
flach gehalten; man ſteigt zur weiten Oefnung
auf wenig großen Stufen; rundum aber laufen
an die vierzig kleinere im Kreiſe. Wenn man
hinein ſchaut, koͤmmt das Innre einem vor, wie
ein runder hoher Thurm.


Als ich oben ſtand, mich umſah, und die
verkleinerten Leute auf den Straßen betrachtete:
wurd ich den Demetri gewahr, und rief ihm zu,
herauf zu kommen; welches er auch gleich that.


Demetri iſt ein wackrer Mann, viel Kern
mit wenig Schaale; der Menſch iſt bey ihm
recht
[127] recht durchgearbeitet und ins Reine gebracht.
Er herrſcht in Rom uͤber die Geiſter, mehr als
irgend ein andrer; genießt hohe Gluͤckſeeligkeit,
und iſt der Leithammel von einer Menge jungen
Leuten. Unter dieſen hab ich nicht wenig gefun-
den voll Lebensmuth und den groͤßten Faͤhigkei-
ten, genaue Bekanntſchaft mit ihnen errichtet,
und unbeſchreiblich Vergnuͤgen in ihrem Umgan-
ge genoſſen. Wie jammerts mich, daß ſo viel
herrliche Kraft wegen ſchlechter Regierungsver-
faſſung ungenutzt verſauren ſoll!


Im Neugriechiſchen bin ich bey ihm noch
ſehr gewachſen. Auch hat er mir manche dunkle
Stelle der griechiſchen dramatiſchen Dichter, be-
ſonders in den Choͤren, ins klarſte Licht geſetzt;
und meiſterhaften Unterricht uͤber den unendli-
chen Reiz ihrer Sylbenmaaße gegeben. Bey
ſeinem Brodgeſchaͤfte mit alten Handſchriften
ſind ihm eine Menge beßrer Lesarten aufgeſto-
ßen; und er koͤnnte wie ein andrer Herkules die
Aldi-
[128] Aldiniſchen und Juntiſchen Ausgaben ausmiſten,
wenn ihm der Sylbenkrieg am Herzen laͤge.


Ueberhaupt aber haͤlt er Ruhm fuͤr ein
nothwendig Uebel, wobey man leicht ſelbſt zur
Bildſaͤule auf dem Markte werden, und ſich end-
lich faſt nicht mehr regen und bewegen koͤnne.
Wirken, frey und maͤchtig handeln nach Art ſei-
ner Natur! Dieß ſey die allererſte und urſpruͤng-
lichſte Gluͤckſeeligkeit. Der Kernmenſch gebrau-
che Ruhm als Huͤlfstruppen; und ſtoße den einen
von ſich, wenn es ſeyn muͤßte, ſo bald er in eine
andre Sphaͤre ſchreite.


Nur einen Fehler kenn ich an ihm; und die-
ſer iſt, daß er in dem heilloſen Labyrinthe der Me-
taphyſik herumkreuzt. Du ſollſt hier in der Un-
terredung mit mir eine ſtarke Probe davon ſehen,
obgleich ihn noch nicht in ſeinem ganzen Weſen;
weil er ſich nach mir richten mußte, der ich hier-
in bloß meiner eignen Vernunft folge, ohne mich
mit andren Hypotheſen viel zu plagen. Wenn
er
[129] er muthwillig iſt, ſpricht er keinen Tag wie den
andern. Mich trieb er vorzuͤglich nur in dem an-
gegebnen Syſtem herum; und ſagte zuweilen ver-
wirrte hochtrabende Dinge, um auszuweichen,
oder vorzubereiten, und zu ſehen, was ich damit
anfing. Wenig Auserwaͤhlten reicht er auf die
letzt den Faden der Ariadne, den er andern,
wegen der heiligen Inquiſizion, bedaͤchtlich zu
verbergen weiß, die ihm die einzige eſoteriſche
Philoſophie vielleicht der alten Kirche bald mit
langſamer Gluth ausbraten wuͤrde; an deſſen
Sicherheit er aber ſelbſt noch ſcheint zu zweifeln.


Vielleicht macht dir eine und die andre ko-
miſch ernſthafte Behauptung gerade das mehrſte
Vergnuͤgen; da du wohl weißt, daß man hier
nur meinen kann, weil unſre Sinnen nicht bis
dahin dringen.


„Jetzt iſt wenig hier zu ſchauen, ſprach er,
wie er zu mir kam; aber zu mancher andern Zeit
moͤcht ich da geſtanden haben!“


Ardinghello 2ter B. JWir
[130]

Wir ſetzten und legten uns bald in die
Sonne, die das Dach angenehm erwaͤrmt hatte;
und ſagten erſt dieſes und jenes uͤber alte und
neuere Architektur. Der Schluß war, daß der
Zweck, der vom Plan und den großen Maſſen
an, bis aufs geringſte Einzelne und die Verzie-
rungen, aus allem rein hervorleuchte, die alten
von den neuern Gebaͤuden unterſcheide; wo
oft bloße nachgeahmte Kunſt und leere Schoͤn-
heit ſey, auch bey den beſten, ſonder Abſicht und
Nutzen. Uebrigens ließen wir doch dem Bra-
mante, Antonio da San Gallo, Michel
Angelo, Palladio
, und den andern großen Mei-
ſtern ihr gebuͤhrend Lob voͤllig angedeyhen; und
waren der Meinung, daß kein alter Architekt
vielleicht einen heroiſchern Pallaſt dem Caͤſar,
als der Pallaſt Farneſe, und einen lieblichern
glaͤnzendern der Kleopatra, als der Pallaſt
von Cornaro
zu Venedig wuͤrde haben erbauen
koͤnnen.


„Bey
[131]

„Bey unſern Kirchen, fuͤgte Demetri hin-
zu, worauf wir das mehrſte wenden, haben wir
die reizende Mannichfaltigkeit nicht der Alten;
Tempel des Jupiter, Apollo, Mars, Bacchus:
Tempel der Juno, Pallas, Diana, Venus.
Jeder machte ein eigen Ganzes in Plan, Verzie-
rung und Ausſchmuͤckung, und Gegend.“


Die Meiſter ſollten ſich mehr nach den Hei-
ligen richten, verſetzt ich, denen die Kirchen ge-
weyht werden. Der Pabſt, welcher die Rotun-
da hier allen Heiligen einweyhte, ſo wie ſie ehe-
mals allen Goͤttern geweyht war, ſcheint ſo et-
was im Sinne gehabt zu haben.


Es iſt doch ſonderbar, entfuhr mir hierbey,
daß die Griechen, das aufgeheiterte Volk, ſich
mit den Fabeln uͤber die Gottheit ſo ernſthaft,
und zuweilen ſo aberglaͤubiſch grauſam beſchaͤf-
tigen konnten; da ſie, der vielen andern
Weiſen nicht zu gedenken, einen Anaxagoras
hatten.


J 2„Grau-
[132]

„Grauſam, verſetzt er, ſind ſie in Verglei-
chung mit uns zu ihren guten Zeiten nur wenige-
mal geweſen. Und dann laſſen ſich Meinungen,
wo nicht offenbare Widerſpruͤche ſind, und das
Gewiſſe tief verborgen ſteckt, nicht ſo leicht weg-
arbeiten. Es haͤlt bey den ausgemachteſten
Dingen ſchwer, den großen Haufen unter einen
Hut zu bringen, wenn er ſich mit eingewur-
zelten Vorurtheilen dagegen ſtraͤubt; geſchweige
bey ſpekulativen Saͤtzen die freyeſte Nazion.“


„Mit den griechiſchen Gottheiten ging es
gewiſſermaßen wie mit vielen Woͤrtern in jeder
Sprache; wir haben einen deutlichen oder dun-
keln Sinn dabey, wiſſen aber ihren erſten Ur-
ſprung nicht, und wo ſie herſtammen; und jene
waren ſchon vor Moſen und den Propheten in
der aͤgyptiſchen Zeittiefe, ehe noch ein Trismegiſt
unter den Sterblichen die Buchſtaben erfand.
Homer hat damit ſeine Iliade ausgeziert, wie
mit Edelſteinen, Gold und Perlen; und zuwei-
len
[133] len lauter Schmuck gemacht, wie den Kampf des
Skamander mit dem Vulkan.“


„Religion wurde, duͤnkt mich, in der buͤr-
gerlichen Geſellſchaft zuerſt beſtimmt eingefuͤhrt,
um den Streit uͤber verſchiedne Verehrung der
Gottheit bey Familien zu verhuͤten *). Jeder
Staat oder Geſetzgeber ergriff eine Parthey der
Ordnung wegen; und ließ andern Republiken
und Selbſtkoͤpfen natuͤrlicher Weiſe ihre Frey-
heit, uͤber das Weltall zu denken, was ſie woll-
ten, wenn ſie nicht mit Fackel und Schwert ſei-
ne Verfaſſung ſtoͤrten.“


„Bey den Griechen mußt es einer ſehr arg
machen, wenn Richter und Volk Meinungen
dagegen ahnden ſollten. Was hat nur Ariſto-
J 3pha-
[134]phanes nicht fuͤr Witz uͤber die Goͤtter ausgegoſ-
ſen? Wir im heiligen Rom erſchrecken noch nach
Jahrtauſenden uͤber ſeinen Muthwillen, wenn
wir uns einmal mit der Phantaſie in deſſen Zei-
ten gedacht haben. Das Scherzen uͤber die Be-
wohner des Olymp mochten die Griechen, ſcheint
es, ſehr wohl leiden; nur durfte ſie einer nicht
mit Stumpf und Stiel ausrotten wollen, und
als Schwaͤrmer deren Bildſaͤulen zerſchlagen;
ohne ihnen dafuͤr andre Freuden, andern Zeit-
vertreib zu gewaͤhren. Jeder begriff an ſich
ſelbſt, daß ſich das Gefuͤhl der Wahrheit und
Falſchheit nicht ſo ganz baͤndigen laͤßt, wenn man
den Buͤrger nicht als bloßen Sklaven haben will.
Buͤrgerliche Ordnung ſoll nur Gewaltthaͤtigkeit
hemmen, und nicht den freyen Gebrauch der
Seelenkraͤfte: ſonſt bleibt der Menſch nicht
Menſch mehr, und wird zum Thier der Heerde;
verliert ſeine eigenthuͤmliche Gluͤckſeeligkeit und
allen Wetteifer, wie wir in den tyranniſchen
Staa-
[135] Staaten ſehen, wo die Natur auch ihre geiſtig-
ſten Gaben am reichlichſten ausſpendet, in den
Gefielden der Wahrheit und Schoͤnheit nach Luſt
immer weiter zu ſchreiten, und hienieden die
hoͤchſten Gipfel zu erſteigen, wo er Meer und
Land uͤberſchaut.“


„Die mehrſten Streitigkeiten uͤber Gott
kommen davon her, daß Layen ſelten wiſſen,
was ſie wollen; und Philoſophen meiſtens fuͤr
den eingefuͤhrten Glauben, ſeys unter Heiden,
Juden, Chriſten, ſich von ihm ein Ideal bil-
den, und ihn nicht annehmen und zu ergruͤnden
ſuchen, wie er in Natur ſich befindet; als ob er
ſich bey der Menge veraͤchtlich machte, wenn er
waͤre, was er iſt.“


Anaxagoras unter den Griechen gab mit
ſeinem Verſtandweſen fuͤr die folgenden Zeiten
hauptſaͤchlich dazu Anlaß. Das Syſtem des
Lehrers des Perikles und Euripides hat durch
ihr ſinnliches und gluͤckliches Zeitalter geherrſcht,
J 4trotz
[136] trotz den Schulwidrigen Behauptungen vielleicht
groͤßrer Scheidekuͤnſtler, erhielt ſich bis in die
chriſtlichen Jahrhunderte, und herrſcht gewiſſer-
maßen truͤb und dunkel wieder jetzt, obgleich die
erſte Quelle nun unbekannt geworden iſt. Er
ſtattete eine Weltſeele, die alle Materie der Ele-
mente durchdringt, und uͤber ſie Gewalt hat, in
dem in der Erde ſteckendſten Wurm und himmel-
hoͤchſten Adler dieſelbe *).


Sokrates verwarf alles Syſtem, ahnde-
te nur, und betete an in heiligem Stillſchweigen
nach ſeinem tiefſten Forſchen; verehrte uͤbrigens
die Gottheit nach den Landesgeſetzen unter man-
cherley Namen, ohne ſie naͤher zu beſtimmen;
und rieth ſeinen Freunden daſſelbe.“


„Dem
[137]

„Dem Plato, Ariſtoteles, und andern
Denkern aber war damit wenig gedient, und ſie
gingen ſo weit, als ſie nur vermochten. Jener
ſprach uͤber den allgemeinen Verſtand in erhab-
nen Dichtungen; und der kuͤhne Titan von Sta-
gira belagerte regelmaͤßig endlich nach den fein-
ſten Erfindungen der ſcharfſinnigſten Taktik; und
ſeine Anhaͤnger behaupten, er ſey in die innerſte
Feſtung eingedrungen. Darauf und daran muß
der herrliche, der in ſo vielem andern an der
Spitze der Menſchheit ſtand, gewiß geweſen
ſeyn.“


„Plato ſchreibt noch am Ende ſeiner Tage
den Geſtirnen den hoͤchſten Verſtand zu. An-
fangs bedacht er ſich lang uͤber die Sonne; und
konnte nur damit nicht ins Reine kommen, wie
wir lebten, und ſo hell im Geiſte ſaͤhen, wann
ſie unterginge und es Nacht waͤre *). Daß
J 5alles
[138] alles Lebendige erfrieren, zu todten Klumpen er-
ſtarren muͤßte, wenn nichts von ihren Strahlen
zuruͤckbliebe, wird ihm wohl einmal im Winter
die Bedenklichkeit gehoben haben. Vielleicht
ſchloß er gar noch ferner, daß alles Licht und al-
les Feuer und alle Waͤrme auf unſerm kleinen
Erdboden bloß in Materie gefahrne Strahlen
der goͤttlichen und der Geſtirne ſind, die jene,
von nichts gehemmt, durchdringen, regen, rich-
ten; woher alles einzelne Lebendige denn Bil-
dung, Form, und ſein Recht hat; bis ſie wie-
der von andern aufgenommen werden, oder ſich
ſelbſt abſondern in Ruͤckerinnerung der alten
uͤberſchwenglichen Wonne; und daß die Maſ-
ſen und Koͤrper, die deren am mehrſten enthal-
ten, die lebendigſten ſind. Wenigſtens iſt dieß
der Grundſtoff zu ſeinem glaͤnzenden theologi-
ſchen Syſtem, woruͤber Julian noch abtruͤn-
nig wurde.“


„Ue-
[139]

„Ueberhaupt hielten die mehrſten alten Phi-
loſophen das Feuer fuͤr das goͤttlichſte in der
Natur.“


„Die großen Dichter dieſer hohen Zeiten
fuͤr die Menſchheit, fiel ich ein, hatten um eine
Stufe natuͤrlichre Metaphyſik, und nahmen das
ſinnlichre und naͤhere. Sie meinten, wir ſchoͤpf-
ten die bewegende Kraft mit dem Athem, und ſie
ſey in der Luft befindlich, und nannten ſie
Zevs, nach dem woͤrtlichen Sinne, wodurch
ſie lebten
; und einige Philoſophen ſchlugen ſich
zu ihrer Parthey.“


Sophokles ſagt: „Zevs, der alles faßt,
in alles dringt, uns naͤher verwandt iſt, als
Vater, Mutter, Bruder, Schweſter.“ Und an ei-
nem andern Orte: „welcher Menſchen Uebermuth,
o Zevs, hemmt deine Macht, die der uralte
Schlaf nicht ergreift, und die unermuͤdlichen
Monden! Unalternd durch der Jahre Wechſel
nimſt du Herrſcher den ſtrahlenden Glanz vom
Olymp
[140] Olymp ein; dir iſt der Augenblick, die Zukunft,
und Vergangenheit unterthan.“


„Und Euripides ſagt gerade zu: „Siehſt
du uͤber und um uns den unermeßlichen Ae-
ther, der die Erde mit friſchen Armen rund um-
pfaͤngt? Das iſt Gott!“


„Und Ariſtophanes, ſein Antagoniſt, ruft
eben ſo aus: „Unſer Vater Aether, heiligſter,
aller Lebengeber!“


„Und Pindar ging ſchon vorher noch wei-
ter, und ſingt ſtolz in lyriſcher Begeiſtrung:
„Eins das Geſchlecht der Menſchen! Eins das
der Goͤtter! Alle beyde athmen von Einer
Mutter.“


„Nach der aͤlteſten Meinung ſeines Volks
glaubte Thales das Goͤttliche im Waſſer zu fin-
den, weil alles Lebendige ſich davon naͤhrt, und
aller Saame feucht iſt. Die Erde aber blieb im-
mer nur Pflanzſtaͤtte, die das Himmliſche durch
Wind und Regen empfaͤngt, und Thiere und
deren
[141] deren Nahrung damit gebiert; obgleich Mutter
aller, ſelbſt ohne Geiſt und Leben. Manche
hielten ſie nicht einmal fuͤr Element, ſondern wie
Heſiodos nur erſten Koͤrper.


„Alles kehrte zuruͤck, wo es herkam; was
von der Erde entſproß, zur Erde: das Himmli-
ſche wieder in die luſtſchwebenden aͤtheriſchen
Zaͤrtlichkeiten.“


„Doch, geſtehen wir es nur, wir tappen
damit noch in Nacht und Ungewißheit! wie die
Alten ſelbſt; von denen nur einer mehr oder
weniger als der andre dreuſt war mit ſeinen Be-
hauptungen. Ein beſtimmtes deutliches Syſtem
hieruͤber darf man bey keinem Sterblichen ſu-
chen; die groͤßten Weiſen haben fuͤr ſich keins
gehabt, und nicht klar geſehen, wie kein Menſch
die ganze Welt klar durchſchauen kann. Sie
nahmen gewiſſe Saͤtze an, und bauten darauf
hin; und wurden immerwaͤhrend von der Natur
wieder in Verwirrung geſetzt.“


„Ei-
[142]

„Eines jeden Gefuͤhl muß ihm ſagen, daß
er etwas getrenntes von einem Ganzen iſt, und
daß er ſucht, ſich wieder mit demſelben zu verei-
nigen. Als Menſchen ſuchen wir dieß am erſten
bey andern Menſchen zu bewerkſtelligen: die
Natur leitet den Mann zum Weibe, und das
Weib zum Manne. Beyde finden alsdenn doch
noch nicht dieß in ſich allein, und ſuchen ihr
Ganzes bey mehrern ihres Gleichen. Wo dieſer
Trieb lauter wirkt: die gluͤckſeeligſte Republik.
Aber auch hier wird der Menſch endlich ſeine freye
Vollkommenheit, ſein Ganzes nicht finden. Es iſt
alſo klar, daß uns entweder der Tod mit dieſem
vereinigt, oder doch naͤhert; oder nach mancher-
ley Durchwanderungen von Koͤrpern wieder da-
hin bringen muß. Aus dieſem Gefuͤhl ſtirbt ei-
ne Alkeſte fuͤr ihren Gatten, als der minder edle
Theil des Ganzen; und uͤbergibt ſich ein Regu-
lus freywillig Schmach und Leiden. Aus dieſem
Grunde ſieht man mehrere Menſchen, jeden
ſchier
[143] ſchier von demſelben Schlag und Gehalt, zuſam-
men fuͤr verſtaͤndiger an, und ein ganzes Volk
fuͤr die klare ausgemachte Weisheit; und wir
koͤnnen oft mit der ſicherſten Gewißheit von dem
Gegentheil und dem ſtaͤrkſten Vorſatz nicht auf
gegen die Macht der Taͤuſchung.“


„O wie lieb ich das, rief Demetri mir mit
lebendigern Augen froh laͤchelnd zu, wenn ſo ei-
ner aus dem andern Funken ſchlaͤgt! O koͤnnten
wir uns Licht machen, und einander einen Pha-
ros anzuͤnden in dieſem naͤchtlichen Meere, wo
Boreas und Suͤd und Oſt und Weſt verſchiedner
Meinungen ſtuͤrmiſch ungeſtuͤme Wogen waͤl-
zen! — wenigſtens einer den andern wie ein
noch ſcheues edles Roß vor den fuͤrchterlichen Ein-
bildungen auf allen Seiten herumfuͤhren.“


„Welches der Koͤnig der Elemente iſt:
Luft oder Feuer? waͤr alſo der Streit bey den
griechiſchen Dichtern und Philoſophen. Um das
Hoͤchſte und Edelſte zu ſeyn, muß er die Maſſen
aller
[144] aller andern durchdringen, Gewalt daruͤber ha-
ben; ſie an ſich ketten, und nach ſeiner eignen
Natur formen, und bewegen. Nach dieſem
Grundſatze wuͤrden die Dichter wohl den Philo-
ſophen nachgeben, und alle lebendige Weſen eine
Art von Flamme ſeyn; Feuer ſo uͤber Luft, wie
Bewegung des Lichts gegen Schall.“


„Auch war das Weſentliche zwey der aͤlte-
ſten Religionen des menſchlichen Geſchlechts in
der Mitte der zwey groͤßten Welttheile, Aſien
und Amerika, Verehrung der Sonne und des
Feuers; und ihre Frommen bemitleideten
die ſo mit geiſtiger Blindheit geſchlagnen,
daß ſie in Finſterniß nach Geſpenſtern herum-
tappen, vom Lichte der Natur, durch alle
Himmel daſſelbe, lieblich und freundlich und er-
waͤrmend hell lebendig umſtrahlt. Selbſt in Rom,
da edle Weisheit und Tapferkeit in ſeinem Senate
noch den Erdboden regierte, bewahrten jungfraͤu-
liche Haͤnde deſſen Gluth als das allerheiligſte.“


„Laſ-
[145]

„Laſſen wir aber auch noch einen Prieſter
des Zevs
mit ſeinem Pomp in dieſe Verſamm-
lung treten, und die Religion ſeines Volks
behaupten; weil wir einmal im erfreulichen
Schwaͤrmen der Phantaſie daruͤber ſind.“


„Thoren ihr alle! ruft er aus; die Welt
macht nur ein Ganzes, und ihr haltet euch an
den Theil. Alle verſchiedne Urweſen in der
Natur ſind goͤttlich, jedes ſo ewig als das andre,
und keins kann von dem andern herkommen und
geworden ſeyn.“


„Rein abgeſondert nennen wir ſie Ele-
mente; unter einander vermengt, fuͤr uns oh-
ne Ordnung und Schoͤnheit, nennen wir ſie
Materie.“


„Wie alle dieſe Kraͤfte zuſammengekom-
men ſind, ſich verbinden und ſcheiden, und al-
lerley Erſcheinungen hervorbringen, hat noch
kein menſchlicher Kopf fuͤr Sinn und Verſtand
erklaͤrt.“


Ardinghello 2ter B. K„Thun
[146]

„Thun wir den aͤußerſten Flug menſchlicher
Einbildungskraft, und nehmen Anfang an, wo
es nur immer moͤglich iſt.“


„Stellt euch das Chaos vor, das alle Goͤt-
ter, Menſchen, Thiere, Metalle und Steine
gebahr, wie einen unermeßlichen heißen Nebel
im unendlichen Raume, worin Sonnen und
Planeten noch zerſtaͤubt ſchwimmen mit den Mee-
ren, Erden und Luͤften!“


„Es begann die Zeit: Feuer und Luͤfte,
und Waſſer und Erden ſchieden ſich, und ein
gleichartiges Weſen geſellte ſich ſeiner ewigen
Natur nach zu dem andern. Die jungen Son-
nen waͤlzten ſich und wuchſen, bis jede ſich aus
ihrer Sphaͤre, gleich ewigen blendenden Gewit-
tern von lauter Blitzen und Wetterſtrahlen (wo-
von wir an unſern Wolken zuweilen nur winzige
dunkle Schatten ſehen) zuſammengeſammelt hat-
te, und beſaͤeten die Himmel. Die groͤbern
Maſſen ſanken unter, jede nach ihrem verſchied-
nen
[147] nen Grade; und machen nun die Planeten aus,
die immer ſchwebend herumtanzen, ſich wieder
mit dem holden Lichte zu vereinigen, aber wegen
ihrer Schweere nicht zum Anflug gelangen.“


„Und die Liebe ward gebohren, der ſuͤße
Genuß aller Naturen fuͤr einander, der ſchoͤnſte,
aͤlteſte und juͤngſte der Goͤtter, von Uranien der
glaͤnzenden Jungfrau, deren Zauberguͤrtel das
Weltall in tobendem Entzuͤcken zuſammenhaͤlt.
Und alle lebendigen Geſchoͤpfe erhaſchten in die-
ſem Getuͤmmel ihren Anfang; und vermehren
ſich nach alter Art immer wieder aus einem klei-
nen neuen Chaos von Elementen, nach An-
zahl, Maaß und Form der erſten Zuſammen-
ſetzung.“


„Das Element, das alles fuͤllt, das ſich
am freyeſten und ungebundeſten durch das Uner-
meßliche breitet, ohne welches nichts beſtehen
kann, was lebt, ſelbſt das Feuer nicht, iſt die
Luft. Wir Trismegiſten und Orpheuſſe gaben
K 2ihm
[148] ihm den Namen Zevs; und ſtellten dieſen den
Voͤlkern in Wolken auf einem Donnerwagen mit
dem flammichten zackichten Keil voll furchtbarer
Majeſtaͤt als deſſen Regenten vor; weil ſie nicht
bis zu dem Unſichtbaren gelangen, und Geſtalt
fuͤr den Sinn haben muͤſſen.“


„Sein erſtgebohrner Sohn, Licht und Feuer,
iſt Apollo, der Sonnengott.“


„Der Beherrſcher der Waſſer, Zevs Bru-
der, Neptun.“


„Den Erden, den Sammlungen unzehlba-
rer andrer Elemente, ſetzten wir das Heer der
uͤbrigen Goͤtter vor; und ertheilten dem dritten
Bruder Pluto in den Unterwelten den hoͤchſten
Scepter.“


„Eure Großvaͤter, die Pythagoraſſe und
Homere, haben hernach unſre kuͤhnen großen
Erfindungen angenehm und lieblich und erfreu-
lich ausgearbeitet, und die Phidiaſſe und Poly-
klete denſelben das Siegel aufgedruͤckt. Und ſo
waren
[149] waren die Urkraͤfte der Natur fuͤr die Phantaſie
geordnet, und jeder von ihren Lieblingskindern,
den Menſchen, ſchoͤne Tempel aufgeſtellt.“


Verwundert euch nicht, Freund, fuhr De-
metri fort, uͤber die Aſtronomiſchen Ketzereyen,
die ich meinen Prieſter ſagen laſſe! Es wird eine
Zeit kommen, und nach der Freyheit, womit die
großen Geiſter ſchon anfangen, ihre Fluͤgel zu
ſchwingen, kann ſie nicht mehr fern ſeyn, wo die
Sonne und die Fixſterne auch bey den Menſchen
ihren erhabnen Poſten behaupten werden, wie
in der Natur, und unſre kleine Erde mit den
andern Planeten um ihre Lebendigmacherinn
herumrollen wird *); es wird die Zeit kommen,
K 3wo
[150] wo der kleinſte Nebelſtern Sonne ſeyn wird,
und ein hellerer Morgen in unſern Kerker ein-
brechen; bis wir uns endlich alle Bande ab-
ſtreiffen, und des ewigen Daſeyns, unſers Ei-
genthums, als aͤchte Kinder Gottes genießen,
in unausſprechlicher Wonne, ſonder Grauſen
vor den armſeeligen Schreckwoͤrtern Tod und
Zerſtoͤrung.


Es war beſſer, daß Millionen Sonnen
ſind, um nur Zahl zu nennen, als eine, die zu
ungeheuer geweſen ſeyn wuͤrde! Die Billionen
Planeten haͤtten ſich zu oft darum her einander
verfinſtert, und die raſende Maſſe von Feuer ſie
verzehrt.


Alles Weſen beſteht aus unergruͤndlich Klei-
nem. Was unendlich klein iſt, kann nur we-
nig Kraft und Bewegung haben. Um freyer
und gewaltiger zu ſeyn, paart es ſich mit ſeines
gleichen, und vermehrt ſich bis zu Sonnen und
Planetenſphaͤren, die ſich durch die Himmel
waͤl-
[151] waͤlzen, und ſchweben fuͤr uns in unbegreiflicher
Fuͤlle von Wonne; paart ſich mit ſeines gleichem
und anderm, was es wie zum Fuhrwerk, oder
gleichſam Reitthier brauchen kann. Und dieß
hats auch wieder gut, indem es an der Luſt des
edlern Theil nimmt, und fuͤr ſeinen Dienſt reich-
lich verſorgt wird.


Das Zuſammengeſetzte aber aus Verſchied-
nem iſt in Betrachtung des Einfachen eine wahre
Kleinigkeit. Was ſind alle Voͤgel, Thiere und
Fiſche gegen die unermeßliche Luft, das blenden-
de Gewimmel der Geſtirne, und gegen Meere
und Erden in ihrer urſpruͤnglichen Reinheit?
Zuſammengerottete winzige Sonderlinge! Die
großen Maſſen allein leben und ſchweben in ewi-
ger angeſtammter Wonne und Gluͤckſeeligkeit:
nur wir Heterogenen leiden und ſind elend, und
plagen uns mit unſrer Erhaltung; immer in der
jaͤmmerlichen Furcht zu vergehen. Mitteldin-
ger zwiſchen Seyn und Nichtſeyn! Zuſammen-
K 4ge-
[152] geballte Grenzen des Verſchiednen! Die ſich mit
Traͤumen plagen, und ihre eigentliche Natur
nicht finden koͤnnen; und auf das kranke Ge-
winſel zerruͤtteter Kreaturen horchen, da uns
das ewige Licht in die Augen blitzt, Meere in
die Ohren rauſchen, und alles augenblicklich in
uns ſtrebt, ſich mit dem großen Maͤchtigen wie-
der zu vereinigen.


Die Thoren glauben, ſie kaͤmen einmal in
eine ganz andre Welt, wo keine Sonne waͤre,
weder Mond noch Sterne, noch Meer und
Land, wie bey uns; und ſie haͤtten vielleicht dort
doppelte goldne Huͤften, wie hier nur eine Py-
thagoras hatte.


Unſre Philoſophen nehmen ſich ſehr in Acht,
wenn ſie von Seele reden, auf Erde, Waſſer,
Luft und Feuer zu kommen; vermuthlich, um
ſich nichts zu vergeben. Nicht alſo die Griechen!
Wir zucken die Achſeln deßwegen uͤber ſie? je er-
habner der Mann, deſto eher der Kinder Spott!


Deme-
[153]

Demetris Wangen wurden roͤther in dieſem
lyriſchen Tumult; ich rief ihm zu: „Maͤßigt eu-
ren Schwung, wenn ich nachfolgen ſoll!“


„Etwas beſonders, Adler oder Menſch,
und zum Beyſpiel Alexander zu ſeyn nach gewon-
nenen Schlachten, fuͤgt ich leiſe hinzu, macht
doch auch große Freude, und koͤmmt einem an-
genehmer vor, als wenn man ſich zu unendlich
kleinen Theilchen von Erde, Luft, und Waſſer
und Feuer denkt. Jedes einzelne Weſen wird
ſeine Exiſtenz bloß durch andre gewahr; je reiner
es ſich damit vereinigt: deſto groͤßer wahrſchein-
lich ſeine Gluͤckſeeligkeit. Alles in der Natur
ſtrebt deßwegen, ſich in andres zu verbrei-
ten.“


Demetri. Bey ſolchem Einfachen gibts
kein Theilchen; jedes, wenn man ſich es auch
denkt, gehoͤrt ſo zum Ganzen, daß das Ganze
zuſammengenommen nichts beſſers iſt. Das
Theilchen iſt wie das Ganze, und das Ganze
K 5wie
[154] wie das Theilchen; eins wirkt und regt ſich wie
das andre, jedes Gefuͤhl blitzt durch das ganze
All. Was das eine angeht, das geht auch das
andre an; es iſt eins ſo maͤchtig, ſo ungeheuer
und unermeßlich groß, wenn man eine ſolche
Groͤße machen will, wie das andre. Die Mee-
re und Tiefen von urſpruͤnglichen Elementen ſind
es, woraus wir immer neu ſtroͤmen und zuſam-
menrollen; und unſre Urnatur iſt unendlich
goͤttlicher und erhabner, als das augenblicklich
zuſammengeballte Eins verſchiedner Kraͤfte; nach
dem hohen Plato nur eine Stockung im unſterb-
lichen Fluſſe der Gluͤckſeeligkeit.


Ardinghello. Aber daß etwas ſeyn muß,
was das Weltall zuſammenhaͤlt, iſt wohl klar
genug! eine unbekannte Urſache an und fuͤr ſich,
doch bekannt in ihren Wirkungen; ein Weſen,
das die andern Elemente zuſammenbaͤndigt von
ihrem Schlafe zum Leben, zur Exiſtenz, zur Har-
monie und Einheit.


Wenn
[155]

Wenn ich meinen Koͤrper betrachte, und
bedenke, daß ich ihn ſelbſt ſoll zuſammengearbei-
tet und gebildet haben, und doch nichts davon
weiß; oder welches einerley iſt, daß das erſte
Menſchenpaar dieß ſoll gethan haben: ſo duͤnkt
mir augenſcheinlich, daß ich nicht von mir ſelbſt
abhange, und daß eine unbekannte Urſach im
Spiel iſt. Anfang und Ende iſt fuͤr keines
Menſchen Kopf; und eben ſo unbegreiflich, wie
verſchiednes ein lebendiges Eins macht. Unſre
offenbare Willkuͤhr, der vorher beſtimmte End-
zweck aller unſrer Sinnen zum Beyſpiel, das
Forterhalten der Gattungen, bleibt unerklaͤrlich,
und uͤberſteigt die feinſte Philoſophie.


Demetri. Vielleicht wird ſich dieß noch
aufhuͤllen.


Wir erkennen uns bloß als Zuſammenſe-
tzung, als Wirkung und nicht als Urſache. Bey
uns iſt ſie mit unſerm Verſtand eins, und es fin-
det da kein Gezweytes ſtatt; bey andern Dingen
laͤßt
[156] laͤßt ſie vielleicht den Sonnenſtrahl, ſo wie ihn
unſer grobes Auge blickt, nicht in ihre Verbor-
genheit. Rein, exiſtiert ſie bloß in ihrer ur-
ſpruͤnglichen Vortreflichkeit, ſchwebt im Ge-
nuß ihrer ſelbſt: und vermiſcht, erkennt ſie nur
die Vermiſchung.


Liebe und Krieg iſt ewig auf den Grenzen
verſchiedner Natur; jene nennen wir Ordnung,
Leben, Schoͤnheit, und wie die Namen alle lau-
ten. Wie Kinder ſcheuen wir Tod und Verge-
hen; wir wuͤrden bey beſtaͤndiger Dauer in im-
mer einerley Zuſammenſetzung vor Langerweile
endlich auf ewiger Folter liegen in unſrer kleinen
Eingeſchraͤnktheit. Die Natur hat ſich aus eig-
nen Grundtrieben dieß Spiel von Werden und
Aufloͤſen ſo zubereitet, um immer in neuen Ge-
fuͤhlen ſeelig fortzuſchweben; und unſer Beruf
iſt, dieß zu erkennen, und gluͤckſeelig zu ſeyn.
Pythagoras hatte Recht: die Welt iſt eine Mu-
ſik! Wo die Gewalt der Konſonanzen und Diſ-
ſonan-
[157] ſonanzen am verflochtenſten iſt, da iſt ihr hoͤch-
ſtes Leben; und der Troſt aller Ungluͤcklichen
muß ſeyn, daß keine Diſſonanz in der Natur
kann liegen bleiben. Die hoͤchſten Granitfelſen
der Alpen und des Kaukaſus zermalmen endlich
die Regen des Himmels, und die Katarakten der
Eisdecken auf ihren Gipfeln; und unſre Jahr-
tauſende ſind Momente der Ewigkeit. Kommen
wir einmal zum Theil in den Mittelpunkt des
Ozeans und der Erdkugel: ſo kommen wir auch
in Sonnen und Geſtirne, und werden eins
damit.


Jedes Element hat nach hoͤhern und min-
dern Graden von Regſamkeit die Eigenſchaft zu
leben, zu empfinden; und die mancherley Pro-
porzion gibt jedem einzelnen Dinge ſeinen beſon-
dern Urcharakter. Dem Affen ein wenig Licht
und Luſt mehr im Urton: und er ſtuͤnd auf der
Leiter der Schoͤpfung uͤber den Homeren und Ze-
nonen; freylich alsdenn auch in andrer Geſtalt.
Unſer
[158] Unſer Gehirn ſcheint der hohe Rath der Republik
zu ſeyn, ſich augenblicklich zu bewegen, und die
neuen Erſcheinungen und Gefuͤhle der Sinnen
aufzunehmen, und darnach fuͤr das kleine Ganze
zu ſorgen.


Wer hat die Elemente ſo unterſucht, daß er
einem allein das Leben und Denken zuſchreiben
will? Warum ſollten nicht alle mehr oder min-
der dazu faͤhig ſeyn, und die ganze Natur leben,
denken, und empfinden?


Der Menſch macht ein Ganzes aus, und
es iſt alte Pedanterey, denſelben nur in zwey
ganz entgegengeſetzte verſchiedne Haͤlften zu thei-
len, wie man hernach bey allen Thieren und der
kleinſten Muͤcke thun muß. Aber Gewohnheit
zwingt alles unter ihre eiſerne tyranniſche Herr-
ſchaft, bis auf die ſich freywaͤhnendſten philoſo-
phiſchen Haͤupter, die davon nichts traͤumen.


Ardinghello. Auf einen Hieb faͤllt kein
Baum: geſchweige eine Zeder, die ſo viele Jahr-
hun-
[159] hunderte, durch alle bekannte Zeitalter ſteht, und
mit ihrem immer gruͤnenden Gipfel jedem Sturm
trotzt. Die Menſchen werden heut zu Tag
ſchwerlich glauben, daß das Beſte von ihnen nur
Sonne war, und die Planeten erleuchtete; ſie
ſind zu ſtolz dazu geworden. Geſchweige, daß
ihre Koͤrper nur eine gewiſſe Ordnung ſeyen,
Wohnungen, Gaſthoͤfe der Elemente, die au-
genblicklich durch ſie reiſten, ſich nur Momente
aufhielten, ſie lebendig, vollkommner und be-
quemer fuͤr die nachfolgenden machten.


Demetri. Und doch muß auch dem Duͤmm-
ſten auffallen, daß er alle Woche wenigſtens an-
der Fleiſch und Blut hat; daß ihn ſein Magen
jeden Tag ein paarmal an neuen Erſatz erinnert;
daß er ſtuͤndlich ſtirbt und wieder auferſteht;
immer etwas anders iſt, immer iſt wie das
Wetter, das er ſieht und einathmet. Und was
wollt ihr mit allen bekannten Zeitaltern? habt
ihr vielleicht den Ariſtoteles geleſen?


Ar-
[160]

Ardinghello. Seine metaphyſiſchen Schrif-
ten nur durchgeblaͤttert! theils, weil ſie mir zu
weitlaͤuftig, und gleich anfangs mit Fleiß dunkel
und raͤthſelhaft geſchrieben ſchienen; und theils,
weil ich fuͤr wahr hielt, was Xenophon beym
Eingange der Denkwuͤrdigkeiten vom Sokrates
meldet; nehmlich: die Metaphyſiker waͤren ihm
vorgekommen, wie Raſende, da die beruͤhmte-
ſten derſelben ſchnurſtracks ſich entgegenſtehende
Meinungen behaupten. Die ganze Wiſſenſchaft
ſey zu nichts nuͤtze; und er haͤtte ſich verwundert,
wie es ihnen nicht offenbar waͤre, daß unſer
Verſtand daruͤber nichts gewiſſes erfinden koͤnnte.
Die menſchlichen Dinge allein machten uns ge-
nug zu ſchaffen.


Demetri. Auch beym Sokrates iſt nicht
alles Gold! Dieß war zuverlaͤſſig in die Luft
geſprochen, ohne hinlaͤngliche Ueberlegung. Das
Allgemeine koͤnnen wir wiſſen, aber nicht das
Beſondre. Ohne Arbeit und Muth wird dem
Men-
[161] Menſchen nichts Großes verliehen. Wer weiß,
wie viele Jahrhunderte noch dazu gehoͤren, ehe
wir in Erkenntniß der Natur ſo weit gelangen,
als unſer Verſtand reicht, und das hoͤchſte Ziel
beruͤhren! Viele verzweifeln daran, nur et-
was Wahres zu finden, und wollen immer im
Finſtern herumtappen; aber es kommen Augen-
blicke, wo ſie erſchrecken, ein bloßes Nichts zu
ſeyn, ohne ſich mit der Natur zuſammen zu den-
ken. Harmonie mit dem Weltall iſt das hoͤchſte
Gut! und welcher gute Kopf will ſein Lebenlang
zu dem Geſindel gehoͤren, das die Wetterfahne
aller Meinungen iſt? Jeder muß hier endlich ſo
weit, als er kann; und es hilft da kein Straͤu-
ben. Unſre Beſtimmung, wenn wir eine haben
ſollen, kann keine andre ſeyn, als die verſchied-
nen Naturen des Weltalls in der Zuſammenſe-
tzung zu faſſen, woraus wir beſtehen. Der
Menſch ſelbſt iſt gleichſam eine herumwandelnde
Metaphyſik; wer wollte ſich nicht damit beſchaͤf-
Ardinghello 2ter B. Ltigen?
[162] tigen? Sie iſt die erſte und hoͤchſte aller Wiſſen-
ſchaften.


Wenn wahr iſt, wie es denn allen Schein
der Wahrheit an ſich traͤgt, was Alkibiades vom
Sokrates in Platons Gaſtmal erzehlt: ſo hat
auch hierin der, den das Orakel (vielleicht
hauptſaͤchlich deßwegen, was ihr eben aus den
Denkwuͤrdigkeiten von ihm angefuͤhrt habt!)
zum Weiſeſten erklaͤrte, doch auch hierin ſeine
Schuldigkeit beobachtet. Er ſtand einſt im freyen
Felde vom Morgen an, den ganzen Tag uͤber,
und die Nacht durch, unbeweglich auf einem
Flecke in dem allertiefſten Nachdenken verſunken
und verloren: und betete die Sonne an, als ih-
re reine volle Feuerſphaͤre uͤber die oͤſtlichen Gipfel
Strahlen des Lebens wehte.


In den geringſten Wiſſenſchaften und Kuͤn-
ſten herrſchen verſchiedne Meinungen; und es
iſt natuͤrlich, daß in der hoͤchſten die mehrſten
herrſchen, weil alle zum ſteilen Gipfel wollen,
und
[163] und nur aͤußerſt wenige dazu genug Athem in der
Bruſt, Staͤrke in den Knochen, und ausdauern-
den Muth und Verſtand gegen alle die Gefah-
ren haben, die in den halsbrechenden Pfaden
auf ſie lauern.


Nutzen? ſoll man denn alles des Mauls
und Magens wegen thun? und macht Erkennt-
niß der Wahrheit nicht ſchon an und fuͤr ſich
gluͤckſeelig? iſt ſie nicht die hoͤchſte Gluͤckſeelig-
keit? Gehoͤrt das Vergnuͤgen, die Freude nicht
zu Nutzen?


Freylich muß jeder den Weg endlich ſelbſt
machen. Es muß erſt einer wiſſen, wo der
Aetna liegt, eh er hinauf will. Und dann iſt
fuͤr uns die Reiſe durch die Scylla und Charyb-
dis die kuͤrzeſte; und durchaus zu Pferd iſt nicht
moͤglich. Oder: man muß ohngefehr ſo weit
ſeyn, als ſie ſelbſt waren, ehe man die Syſteme
großer Philoſophen vollkommen verſteht; und
ferner ſie nicht auf den erſten Seiten vollkommen
L 2be-
[164] begreiffen wollen; man muß ſie erſt ganz kennen,
ehe man nur etwas von ihnen in allem ſeinen
Verhaͤltniß einſieht.


Das Syſtem des Ariſtoteles liegt, es iſt
wahr, noch zum Theil da im Chaos; aber bin-
nen zwey tauſend Jahren hat ſich kein beßrer
Architekt gezeigt. Er trug allen philoſophiſchen
Reichthum jener gluͤcklichen Zeiten zuſammen,
und bruͤtete daruͤber wie ein Gott. Seine phy-
ſiſchen und metaphyſiſchen Werke ſind ein lang-
wieriges Studium, und es laͤßt ſich in einem
Geſpraͤche davon kein Auszug machen. Ihr
muͤßt ſie ſelbſt leſen; und es wird euch Luſt ſeyn,
zu ſehen, wie er die Natur herumarbeitet, und
bis auf ihre kleinſten Beſtandtheile zergliedert,
wenn ihr auch nur den Tiefſinn des Menſchen an
ihm bewundern ſolltet.


Fuͤr jetzt nur noch einige Rapſodien nach
ihm und gegen ihn; und Launen und Einfaͤlle.
Stellt euch das Univerſum wie eine Laute vor,
worauf
[165] worauf ich euch nach augenblicklicher Luſt und Liebe
vorphantaſiere. O nichts iſt reizender und lockender
dazu! es iſt der ſchoͤnſte Gegenſtand meiner Poeſie
in der Einſamkeit. O es macht mich gluͤcklich,
und mich uͤberlaͤuft wieder zuweilen ein menſch-
licher Schauder, wenn ich bedenke, was ich
vielleicht ſchon war, und ferner ſeyn werde! was
ich jetzt bin, und den folgenden Morgen, die
folgende Stunde ſchon, vom neuen anfange zu
ſeyn. Uebrigens genieß ich jeden Moment der
Spanne meines gegenwaͤrtigen Lebens ſo gut ich
kann; und ergebe mich Kleinigkeit in die Umwaͤl-
zungen der ungeheuern Maſſen.


Was Demetri darauf ferner ſagte, davon
mehr nur den Inhalt, als ſeine Worte; in ſo
weit ich denſelben gefaßt habe. Ich blieb bis
jetzt noch immer der Meinung des Sokrates,
daß auch die beſte Metaphyſik ein ſchoͤnes Ge-
baͤude ſey, welches bloß in der Luft ſchwebt;
und daß man ſich nur damit beſchaͤftigen muͤſſe,
L 3um
[166] um ſich nichts weiß machen zu laſſen, und ſei-
nem Vergnuͤgen in dieſer Ruͤckſicht ungeſtoͤrt
nachzuhaͤngen.


„Die Sinnen allein zeigen uns, begann er
vom neuen *), daß etwas außer uns da iſt:
Verſtand ſelbſt iſt die Wurzel der Sinne. Von
Sinn und Verſtand alle unſre Erkenntniß; und
was finden wir da?


In uns gekehrt, die wunderbare Sicher-
heit, daß wir Wirkliches und kein Nichts ſind,
und
[167] und allen Grund zu denken und zu handeln.
Außer uns, Sonne, Mond und Sterne im
unermeßlichen Aether, und Luft und Meer und
Land voll unzehlbarer lebendiger Dinge.


Doch ſolche Menge Verſchiedenheiten ent-
deckt nur das Auge, unſer reichſter, aber auch
flachſter Sinn; wir haben einen andern, der
tiefer dringt und zu einfachern koͤmmt, das Ge-
fuͤhl. Kein Thier kann ohne daſſelbe, aber ohne
die andern Sinnen beſtehen.


Und dieſer Sinn erkennt?


Warm, und Kalt, und Feucht, und
Trocken
.


Nichts weiter! denn alles Uebrige faͤllt in
Eins von dieſen; daraus beſteht die unendliche
Mannichfaltigkeit des Weltalls.


Doch werden wir auch mit dieſem ſo maͤch-
tig ergreiffenden Sinne nur Oberflaͤchen gewahr;
allein tiefer in die Natur der Dinge koͤnnen wir
nicht eindringen, wenn wir nicht ſie ſelbſt werden.
L 4Und
[168] Und dann hoͤrt aller Sinn auf; wir ſind es
ſelbſt, und ſchweben im Genuß ohne alle wiſſent-
liche Unterſcheidung.


Warm und trocken iſt das Feuer. Warm
und feucht die Luft. Kalt und trocken die Erde.
Kalt und feucht das Waſſer. Mit Flamme und
Eis faͤngt Stockung und Zerſtoͤrung an, dar-
aus keine Zeugung.


Wenn Feuer ſich in Luft verwandelt:
braucht es nur die Feuchtigkeit anzunehmen;
und ſo wenn Waſſer ſich in Erde: nur die
Trockenheit. Waſſer wird Luft durch die
Waͤrme; Luft wird Waſſer durch die Kaͤlte.
Feuer verwandelt ſich in Erde durch die Kaͤlte;
Erde in Feuer durch die Waͤrme. Leicht iſt
dann der Uebergang einer Natur in die andre,
und leicht Werden und Zeugen. Wenn aber
Feuer Waſſer werden ſoll, und Waſſer Feuer;
Luft Erde
, und Erde Luft. Dann iſt ein
doppelter Damm durch zu ſtuͤrmen; allein der
Schleich-
[169] Schleichweg iſt bald gefunden. Feuer wird erſt
entweder Luft oder Erde; und ſo bleibt der
Uebergang auch bey den andern immer leicht.


Daraus alle die ſonderbaren Erſcheinungen!
und ſo veraͤndert ſich ewig in ſich die Welt, be-
gattet ſich mit ſich ſelbſt, und bringt neue Ge-
ſchoͤpfe hervor, und Blumen und Fruͤchte.


Dieß ſind die vier Elemente, die der ge-
meine Menſchenverſtand durch alle Zeiten aner-
kannt hat; und ſie ſind die Grundverſchiedenhei-
ten nicht nur fuͤr das Gefuͤhl, ſondern auch fuͤr
die uͤbrigen Sinne, die alle verſchiedene Abarten
deſſelben ſind, und darauf beruhen.


Daß die Luft wieder ſo verſchieden ſeyn koͤn-
ne, als wir die Erde erkennen, wer will dieß
leugnen? und ſo das Waſſer, und vielleicht noch
das Feuer; wer hat die Elemente ſo unterſucht?
und wie wenig wiſſen wir noch von den Erden?
Genug, daß der Uebergang eines Elements in
das andre gefunden iſt.


L 5Doch,
[170]

Doch, warum ſuchen wir Vervielfaͤltigung
der Elemente! es hat Philoſophen gegeben, die
behaupteten, daß das Weltall, welches wir zu-
ſammen mit einem Namen Natur nennen,
durchaus Eins und daſſelbe ſey; die alle Evidenz
leugneten, um ihren Verſtand an einem Mut-
terweſen zu weiden, das bloß reiner Stoff, und
nichts von allem andern iſt, was wir kennen,
ſondern alles zugleich in jedem Punkte; andern
Menſchen ſchier eben ſo undenkbar, wie Alles
aus Nichts, und Nichts aus Allem, das es auch
bedeutet.


Die aͤlteſten der Art blieben jedoch noch bey
einem Elemente. Heraklit meinte, das Feuer
ſey der gemeinſchaftliche Quell aller Dinge: und
Thales das Waſſer; beyde aus dem heitern
Jonien, von den Griechen, ſonderbarlich! fuͤr
die fruͤheſten aͤchten philoſophiſchen Koͤpfe aner-
kannt; und der erſte als Stammvater aller ei-
gentlichen Weisheit zum Sprichwort bey ihnen
durch
[171] durch alle Zeiten geworden. Das organiſche
Waſſer, zum Beyſpiele der Menſch, erſauffe in
dem einfachen Waſſer; und das organiſche Feuer
verbrenne in dem Feuer, das die Luſt verliert,
etwas anders zu ſeyn. Feuer, Luft, und Erde
ſey Waſſer; und Waſſer ſey Erde, Luft und
Feuer, und alles Eins und daſſelbe. Feuer ſey
heiß und kalt; und Waſſer ſey naß und
trocken.


Andre ſuchten in der Folge den Widerſpruch
wenigſtens im Ausdrucke zu vermeiden; und ſetz-
ten fuͤr irgend ein Element uͤberhaupt: Eins iſt
Alles, und Alles Eins
.


Nach dem Ariſtoteles war Xenophanes
der erſte, der dem Weſen ſeine eigentliche
Reinheit gab
; aber auch nichts weiter daruͤber
beſtimmte, ſondern nur mit erhabner Stirn in
den unermeßlichen Aether hin ſchaute, und ſagte:
Das Eins iſt Gott.


Par-
[172]

Parmenides, ſein Schuͤler, bruͤtete nach
ihm mehr daruͤber, und ſuchte zu beweiſen, daß
Weſen der Vernunft nach nothwendig nur Eins
ſeyn koͤnne; fuͤr die Sinnen aber muͤſſe man zwey
Urſachen: Kalt, und Warm annehmen. Kalt
ſey das Unweſen, und Warm das Weſen.
Andre ſetzten dafuͤr das Dicke und Duͤnne;
nehmlich das Weſen dehne ſich aus, und ziehe
ſich ein; und daraus alles Werden und Zeugen,
alle Erſcheinungen. Wenn es ſich verduͤnne,
werd es Luft und Feuer; und verdickt ſey es
Erde und Waſſer; aber alles im Grund Eins
und daſſelbe.


Ardinghello. Wenn alſo die unendliche
Ausdehnung, außer den einzeln Bewegungen,
durchaus ſich einmal recht einzoͤge: ſo wuͤrden
wir vielleicht alle zuſammen mit ihr den aller-
groͤßten Stein ausmachen, und die Welt
als ein Diamant im leeren Raume han-
gen.


Deme-
[173]

Demetri. (ein ander Geſicht annehmend.)
Wer weiß, was geſchehen kann! Zeit hat ſie
nun in der Ewigkeit genug dazu, zur Kurz-
weil ſich in allerley Geſtalten zu verwandeln.


Dieſe Philoſophen gaben uͤbrigens keine Ur-
ſache der Veraͤnderung an, und ließen noch Ruh
und Bewegung uneroͤrtert.


Wer beweiſen will, daß aus Einem alles
ſey, muß erſt darthun, daß aus Allem Eins
werde; und ſo weit hat es noch keine Chemie
gebracht.


Wenn bloß Eins iſt: ſo muß es in Ruhe
ſeyn; denn ohne Reiz keine Bewegung, und
das Gleichfoͤrmige reizt nicht. —


In den Elementen liegen die Quellen der
Bewegung. Sie iſt allen eigen, und keins hat
ſie als einen beſondern Vorzug; nur ſcheint das
Feuer einen weit hoͤhern Grad von Reizbarkeit
dazu zu haben, als Erde, Luft, und Waſſer. Alles
in der Natur regt ſich von ſelbſt und hat Frey-
heit,
[174] heit, Erkenntniß und Begierde. Jeder Theil,
den wir von einem ihrer unvermiſchten Ganzen
annehmen, hat alle innerliche Eigenſchaften des
Ganzen; ihre Weſen ſind unendlich zart, ver-
breiten und verlieren ſich in einander, unergruͤnd-
lich allen unſern Sinnen. Je mehr das Kleine
einerley Art beyſammen: deſto groͤßer ſeine
Macht und Staͤrke; und ſo kann Erde, Luft,
oder Waſſer das Feuer uͤberwaͤltigen; und ſo
unterliegt beym Menſchen der ſo genannte Geiſt
der Materie. Doch nur im Einzeln kann dieß
geſchehen; denn im Weltall ſelbſt herrſcht Geiſt
unermeßlich und ohne Schranken. Geiſt bringt
die Welt in Ordnung und Schoͤnheit nach ſeiner
Natur, und ſelbſt in uns fuhr er deßwegen; und
dadurch hat der Menſch Gewalt uͤber den Erd-
boden.


Bewegung iſt Wirkſamkeit der Kraft auf
einen Gegenſtand. Wo Kraft und Gegenſtand
iſt, iſt auch Bewegung. Wo doppelte Kraft
auf
[175] auf einander wirkt: Liebe oder Krieg, Neues-
werden, oder Abprallung.


Gedanke iſt Anfang und Ziel der Bewe-
gung; Anfang, und Mittel und Ende der Be-
wegung zuſammen Handlung. Alles in der Na-
tur hat das Vermoͤgen, zu denken und zu em-
pfinden, und das Selbſtgefuͤhl iſt Grund und
Boden; denn alles, was iſt, hat Kraft, wo-
durch es iſt, was es iſt.


Und folglich hat das Syſtem des Anaxago-
ras
ſeinen guten Grund in der Natur. Ver-
ſtand hat die Welt gebildet: nur in allem auf
ſeine eigne Art. Verſtand iſt pruͤfende und un-
terſcheidende Faſſung des Ganzen; Verſtand,
in der Zuſammenſetzung, das Meer, wohin alle
Empfindungen laufen, ſich begegnen, und ſich
laͤutern; und beſteht ſelbſt nur aus empfinden-
der Kraft. Er iſt der eigentliche Kern jedes ein-
zelnen Lebendigen, jedes Ganzen; das ſchlech-
terdings an und fuͤr ſich mit einer erſten Empfin-
dung
[176] dung beginnen, und ſich mit gleichartigen und
andern Weſen paaren, und hernach zuſammen-
ſchaffen und bilden mußte. Wenn nun Ver-
ſtand urſpruͤngliche Empfindung iſt: ſo iſt er auch
der Schoͤpfer von allem Individuellen.


Der erſte Trieb in jedem Lebendigen iſt das
Vergnuͤgen, oder nicht allein und vereinzelt zu
ſeyn. Der zweyte, weitere Erkenntniß und
groͤßere Kraft zugleich: dadurch erhob ſich die
vereinzelte Natur vom Wurm an bis zum erhab-
nen, freyen, vielfaſſenden und verbindenden
klaren Menſchen, der deßwegen die Sprache
und alle Kuͤnſte erfand. Der dritte ungeheure,
der alles ungluͤcklich macht, die ganze Welt zu
erkennen, und ſie ſeyn zu wollen; und in der
That tobt immer das dunkle Gefuͤhl in uns auf,
ſie einmal geweſen zu ſeyn, und wieder zu
werden.


Ardinghello. Ich erſtaune uͤber eure kuͤh-
[n]en Behauptungen, und es wird mir vieles
Nach-
[177] Nachdenken koſten, deren Wahrheit oder Falſch-
heit zu finden.


Wenn Feuer ſich in Luft verwandelt: bleibt
es Feuer oder nicht? und ferner; ſo wie nur ei-
ne gewiſſe Materie iſt, die Licht hat, und eine,
die Ton hat: ſo kann es ja auch eine geben,
wenn man das Wort hierbey brauchen darf, die
nur denkt und Verſtand hat, Urſache der Bewe-
gung iſt, immer wirkt und nie leidet, bis das
ganze Gebaͤude um ſie her zuſammenfaͤllt.


Demetri. Wenn Feuer ſich in Luft ver-
wandelt: ſo entſteht eben ein neues Ganzes aus
Luft und Feuer. Und ſo ſind wir ſelbſt ein Gan-
zes aus verſchiednen Elementen, ſo rein und har-
moniſch verſchmolzen, daß wir in uns bey geſun-
dem Zuſtande durch das feinſte Bewußtſeyn nichts
unterſcheiden.


Wenn nicht jede Art von Element ſich ſelbſt
regte und bewegte: ſo wuͤrde jeder Leichnam
Ardinghello 2ter B. Mewi-
[178] ewige Mumie ſeyn, und der Wind immer von
Oſten her wehen.


Was den Verſtand betrift: ſo nimt Ariſto-
teles ſelbſt, wie Plato, nach dem Anaxagoras,
deſſen Meinung ich freylich nach meinem eignen
Begriff erklaͤrte, eine eigne Materie fuͤr den
Verſtand an, und unterſcheidet ſie von aller an-
dern, und ſogar von der Seele, die, wie er
ſagt, im ganzen Koͤrper ſich befindet. Die Seele
des Auges iſt das Sehen; die Seele des Ohrs
das Hoͤren; und ſo die des Gefuͤhls das Fuͤhlen.
Die Seele des Baums iſt, daß er waͤchſt und
ſeine Nahrung mit den Wurzeln einſaugt. Sie iſt
in allem Lebendigen dieſelbe. Kraft in Ausuͤbung
iſt ihm Seele, und kein Koͤrper, kein Element
ohne Seele. Aber Verſtand hat ſeine eigne Na-
tur, behauptet er, die nicht leidet. Das Auge
kann verblendet, das Ohr betaͤubt werden; der
Verſtand hingegen von dem tiefſten Denken un-
befangen auf das leichteſte uͤbergehen. ([Viel]-
leicht
[179] leicht nur bey dem Fuͤrſten der Philoſophen!
Andre muͤſſen wenigſtens ein Schachſpiel dazwi-
ſchen ſetzen.) Und doch ſoll derſelbe ein beſonder
eigen Theilchen, wie er ſich ausdruͤckt, nur der
menſchlichen Seele ſeyn, und ſagt, diejenigen
haͤtten Recht, die ihn darin den Ort der For-
men
nennten; Denken, Urtheilen waͤre Auf-
nehmung, Schaffung von Formen
. Die
ſinnliche Kraft der Seele koͤnne nicht ohne Koͤr-
per beſtehen; der Verſtand aber davon abgeſon-
dert werden, er ſey ſich allein Materie. Nur
ſey er leidend und vergaͤnglich, inſofern er etwas
denke, und ſich an etwas erinnere; gleichſam
wie der Sonnenſtrahl, wenn er an den Din-
gen Farbe wird
. Das Denken aber und Er-
innern mache ſein Weſen nicht aus; an und fuͤr
ſich ſelbſt denk er nichts, und ſo ſey er unſterblich.


Folglich iſt die Seele, als Verſtand be-
trachtet, nur unſterblich, inſofern ſie nichts
denkt.


M 2Dieß
[180]

Dieß iſt wohl eine von den ſchwachen Sei-
ten ſeines Syſtems, um den Vorrang des Men-
ſchen vor andern Thieren zu erklaͤren; und hier-
in weicht er ab vom Anaxagoras, der ſeinen Ver-
ſtand allem Lebendigen zuſchreibt.


Wenn der Verſtand nur unſterblich iſt,
inſofern er nichts denkt: ſo iſt alle andre Mate-
rie auf eben die Weiſe unſterblich; nehmlich
inſofern ſie außer der Zuſammenſetzung gedacht
wird; und wenn ich den Verſtand auf eine an-
dre Art erklaͤren kann: ſo brauch ich keinen Gott,
den Knoten des Drama aufzuhauen. Kurz, es
iſt ein Schlupfwinkel, worin wir nicht weiter
kommen.


Der Beweis, womit Anaxagoras, Plato,
und Ariſtoteles das Daſeyn des Verſtandes
darthun, iſt: es muß ein Weſen geben, das
unvermiſcht iſt, und alles durchdringen kann,
damit es Gewalt daruͤber habe, und er-
kenne.


Fuͤrs
[181]

Fuͤrs erſte alſo iſt jedes Element in ſeiner
Reinheit unvermiſcht; und ſo Haufen Elemente
in ihrer Reinheit beyſammen.


Sind die Elemente an urſpruͤnglicher Fein-
heit verſchieden: ſo iſt, nach aller Erfahrung,
wahrſcheinlich das Feuer, oder Lichtelement
das feinſte. Folglich haͤtte das Feuer alle
Eigenſchaften, die ſie zu ihrem Verſtand er-
heiſchen.


Iſt dieß Seele, was, nach dem allgemei-
nen Begriff, andres durchdringt: ſo kann man
auch mehrere Arten von Seelen annehmen.
Feuer durchdringt die Luft; Luft und Feuer
durchdringen das Waſſer; und Feuer, Waſſer
und Luft durchdringen die Erde, und baͤndigen
ſie nach ihrem Wohlgefallen, und bequemen ſich
wieder als der Grundfeſte freundlich nach ihr.
Und ſo uͤberhaupt eins nach dem andern. Herr-
ſchen iſt Wohlthun; alle andre Gewalt Tyran-
ney. Wer weiß, ob der Gegenſatz von Feuer
M 3und
[182] und Erde nicht zu ſtark iſt; ob Erde nicht zu
grob und Feuer zu fein gegen einander ſind, um
vollkommen auf einander zu wirken? Ob nicht
Mittel dazwiſchen ſeyn muͤſſen? (wie zum Exem-
pel in den mildern Erdſtrichen; in Griechenland,
dem Klima der Schoͤnheit.)


Ueberhaupt ſagt uns alles, daß da die
hoͤchſte Vollkommenheit und Gluͤckſeeligkeit iſt,
wo die hoͤchſte Fuͤlle. Wenn die Zuſammenſe-
tzung ſo harmoniſch, ſo proporzioniert iſt, daß
jedes Element ſich regen kann nach ſeinen Kraͤf-
ten: entſteht der hoͤchſte Verſtand; eins er-
kennt das andre auf dieſe Weiſe am reinſten
und vollkommenſten. Und dieß moͤchte wohl
der Ariſtoteliſche Verſtand ſeyn, der durch alle
die feinen Roͤhren des menſchlichen Gebaͤudes
im Gehirne ſich abſondert; die reinſten Ver-
ſchiedenheiten von Feuer, Luft, und Waſſer
und Erde kommen hier lauter zuſammen, und
machen ein goͤttliches Ganzes, wie in unendli-
chen
[183] chen Maſſen die Welt iſt *). Bey den andern
Thieren ſondern ſie ſich nur nicht ſo rein und in
der Fuͤlle und Proporzion ab; von Urbeginn
durch den Druck der umgebenden Kraͤfte daran
verhindert.


Ardinghello. Aber die erſten Geſchoͤpfe
Paar und Paar, Thier und Menſch, und
Gras und Baum, wo leitet ihr und Ariſtoteles
dieſe her?


Demetri. Wie unſer Verſtand in der Zu-
ſammenſetzung Wiſſenſchaften und Kuͤnſte aus
verſchiednen Erfahrungen der Sinnen bildet,
aus Empfindungen, die mit Bewegung und
Sturm und Aufruhr in uns kommen, eine Ilia-
de, einen Oedip: ſo kann er auch von Anbeginn
M 4mit
[184] mit Huͤlfe der ganzen Natur die Geſtalten der
verſchiednen Gattungen gebildet haben. Man
muß bey Zeugung und Untergang allezeit auf
Elemente kommen, die unzerſtoͤrbar ſind, und
aus welchen alles zuſammengeſetzte wird.


Unſer Erdboden hat ohne Zweifel, nach
Vernunft und Naturgeſchichte, einmal in einer
weit gluͤcklichern Lage zu Entſtehung der Geſchoͤ-
pfe geſchwebt, als jetzt. Und wer weiß, ob
nicht die edelſten nach Aufhoͤrung derſelben un-
tergegangen ſind? Die Geſchoͤpfe ſind ihrer Na-
tur nach nicht in einem Lande, und wahrſchein-
lich nicht auf einmal entſtanden.


Ariſtoteles braucht gewoͤhnlich das Gleich-
niß: Der Menſch und die Sonne erzeugt den
Menſchen; doch erklaͤrt er ſich etwas deutlicher
hieruͤber in ſeiner Lehre von Gott und der Zeu-
gung. Und ſehen wir nicht, daß die Sonne
noch jetzt Urſache des Fruͤhlings und der Begat-
tung iſt? Warum ſollte ſie nicht auch im An-
fange
[185] fange bey den erſten Geſchoͤpfen Huͤlfe geweſen
ſeyn? Jedes Geſchoͤpf waͤchſt aus ſeinen Ele-
menten hervor, und die Sonne loͤſt mit ihrer
Waͤrme deren Kraͤfte, daß ſie frey wirken
koͤnnen.


Jedoch haben immer uͤber die Entſtehung
des Einzeln die alten Weiſen die ſonderbarſten
Meinungen behauptet. Einige nahmen fuͤr je-
des Geſchoͤpf ein verſchieden Element an; und
nicht allein fuͤr jedes Geſchoͤpf, ſondern fuͤr jedes
Glied deſſelben. Da waren zum Beyſpiel ver-
ſchiedne Elemente fuͤr den Menſchen, die ſich
wieder fuͤr Kopf und Hand und Fuß abtheilten;
und zerſtreut in der Natur lagen. Die Weiber
ſammelten dieſelben bey der Begattung in ſich,
wo ſie ſich alsdenn zu einem Ganzen vereinigten.
Freylich die leichteſte Art das Raͤthſel aufzuloͤſen!
wenn noch andre Schwierigkeiten dadurch geho-
ben wuͤrden. Wie geht es zu, daß ein Weib
immer ſo vollkommen alle Theile ſammelt, und
M 5nicht
[186] nicht bloß Kopftheile, oder Herztheile, oder
Arm und Beintheile? Und ſo genau alle von
derſelben Proporzion? Und wie halten ſich dieſe
Theile in den Speiſen auf, wovon ſie ſich naͤh-
ren? Das Herz eines Alexander in Tauben und
Haſen, und Prokoli und Blumenkohl, und an-
derm Fleiſch und Gemuͤße, wovon Olympia ihre
Mahlzeiten hielt? Der Kopf Homers in Huͤ-
nern und Gaͤnſen, und den Fiſchen des Joniſchen
Meers? Offenbare Albernheiten!


Andre glaubten, der Saame jedes Indi-
viduums waͤre von Ewigkeit im Weltall; und
folglich nur eine gewiſſe Anzahl von Menſchen-
kernen, Loͤwen- und Adlerkernen, die kommen
und wiedergehen, und jedesmal ſich in die vor-
handne Materie kleiden. Zum Beyſpiel: Alki-
biades war einmal da zu Athen, und ſo ein an-
dermal zu Rom, und Konſtantinopel, und
Lappland, und Peru. Es gehoͤrte nur Gluͤck
oder Ungluͤck dazu, daß er von dieſem oder jenem
Win-
[187] Winde da oder dorthin gefuͤhrt, und von einer
Koͤnigin oder Magd aufgefangen und gebohren
wurde; und ſeine Individualitaͤt aͤnderte ſich je-
desmal nach den Umſtaͤnden.


Dieſe Meinung hat weniger Schwierigkei-
ten. Aber aller Saame iſt zuſammen geſetzt:
und wie erhaͤlt ſich die Zuſammenſetzung in der
unaufhoͤrlichen Zermalmung deſſelben, die wir
bey allem Einzelnen in der Natur ſehen? Und
noch finden wir uͤberall, daß Saame wird, und
nicht iſt.


Im Gegentheil iſt ſehr wahrſcheinlich, daß,
wenn alles, was auf unſrer Erdkugel Menſch
werden koͤnnte, auf einmal wirklich Menſchen,
und unzehlbare Schaaren von Voͤlkern waͤre, und
man ſie an einen neuen Ort, in andre Planeten
verſetzte: daß, ſag ich, vielleicht wenig von der-
ſelben uͤbrig bleiben, und wir alsdenn erkennen
wuͤrden, daß ſie, ſamt allen Thieren, Pflanzen
und Baͤumen nur ein runder Klumpen Kirchhof
ge-
[188] geweſen ſey, wo die Lebendigen von den Todten
aßen. Und iſts nicht augenſcheinlich, daß im-
mer ein neu geſundes Paar aus den Fruͤchten von
wenig Hufen Landes alle andre Zonen bevoͤlkern
koͤnnte?


Kurz, jedes Einzelne iſt nur durch die zu-
ſammengeſetzte Form das, was es iſt; jede Art
von Weſen iſt ſich uͤbrigens gleich. Und die
Form entſteht durch die innre Proporzion ver-
ſchiednen Weſens mit Huͤlfe der aͤußern Dinge.


Ardinghello. Alſo koͤnnte die Erdkugel
moͤglicher Weiſe zu eben ſo ungeheuern Schaaren
Eſeln, Maulwuͤrfen, zu einem unendlichen Muͤ-
ckenſchwarm werden, als zu unzehlbaren Voͤl-
kern von Menſchen; und Mann und Weib ſind
weiter nichts als Anlaß zu neuen Maͤnnern und
Weibern, wozu ſich die Elemente von ſelbſt bil-
den? Der Menſch zum Beyſpiel iſt alſo nur
eine gewiſſe Proporzion verſchiedner Elemente?
Ein Knabe von dreyßig Pfund beſtund ohngefehr
aus
[189] aus ſechszehn Pfund Erden und Salzen, drey-
zehn Pfund Waſſern, und einem Pfunde
Luͤften und Feuern: und der einzige Unterſchied
zwiſchen ihm und einem Kaͤlbchen waͤre, daß
dieß etwa nur ein halbes Pfund Luͤfte und Feuer
zu ſeinen Beſtandtheilen habe! Dieß allein ver-
aͤnderte die Form, und machte Sokraten und
Platone zu Kaͤlbern, und Kaͤlber zu Platonen
und Sokraten?


Der Schluß daraus, iſt er nicht, daß alle
Geſchoͤpfe die Gegenſtaͤnde nur nach ihrer Form
empfinden und beurtheilen, und wir ſo vielerley
Wahrheit von demſelben Dinge haben, als ver-
ſchiedne Gattungen ſchon von Thieren ſind? Je-
des handelte und daͤchte nach ſeiner Form, und
haͤtte nach derſelben ſeine Begierden; und es gaͤ-
be uͤberhaupt keine allgemeine Wahrheit, und die
ganze Welt ſey ein Tollhaus?


Alſo waͤr es wohl keine Fabel mehr, daß
Medea einen Greis in kleine Stuͤcke zerhacken
und
[190] und wieder jung machen koͤnnte, wenn ſie nur
den gehoͤrigen Grad der Waͤrme traͤfe, wodurch
ſie ſich wieder zu einem harmoniſchen Ganzen zu-
ſammenzoͤgen?


Demetri. Richtig, mein Freund, wenn
ſie den gehoͤrigen Grad der Waͤrme traͤfe; und
wieder hinzubraͤchte alle Augenblicke, was vom
gehoͤrigen Weſentlichen abduͤnſtete, wie im Mut-
terleibe geſchieht, und die vorige Lebenszeit ſchon
abgedunſtet waͤre.


Die zuſammengeſetzte Form iſt nur das
Mittel: das Weſen ſelbſt erkennt, wie vom Ur-
beginn, die Wahrheit. Alle Sinnen faſſen nur
einſeitig: Verſtand das Ganze, und der reinſte
am vollſtaͤndigſten. Die Thiere ſind nur da-
durch verſchieden, wie der Menſch, daß ſie mehr
oder weniger, vollkommen gelaͤutert oder min-
der vollkommen, davon beſitzen. Und eben die-
ſer iſt die erſte gegebne Proporzion ihrer ganzen
Zuſammenſetzung.


Ar-
[191]

Ardinghello. Aber wieder alle Gattun-
gen von Thieren und Pflanzen, Paar und
Paar von dem Grashaͤlmchen an bis zum Men-
ſchen? Maͤnnchen und Weibchen, wie wollt ihr
dieß erklaͤren?


Macht der Verſtand in den Elementen al-
lein Mann und Weib: ſo muß einmal, nach
dem komiſchen Einfall des Ariſtophanes beym
Plato, Mann und Weib bey allen Gattungen
zuſammen gewachſen geweſen ſeyn, und ein Gan-
zes gebildet haben: ſonſt bleibts unerklaͤrlich,
wie die Geſchoͤpfe ſich aus ſich ſelbſt ſo ver-
ſchieden, und doch paarweiſe ſollten geformt
haben.


Demetri. Man kann gewiß leichter uͤber
dieſe Dinge ſchreiben, als ein Geſpraͤch fuͤhren!
Dort laͤßt man ſolche Fragen aus, und ich habe
noch bey keinem Weiſen hieruͤber eine Antwort
aus bloßer Vernunft gefunden. Weil ich aber
einmal, wie einſt der Platoniſche Sokrates, die
Loͤwen-
[192] Loͤwenhaut umgeworfen habe, ſo will ich aus-
halten.


Alles, was ich darauf ſagen kann (fuhr er
laͤchelnd fort) iſt folgendes. Wenn ich keine
Menſchen- und Eſelelemente, keine Naſen- und
Lippen- und Lefzenelemente anzunehmen Urſach
finde: ſo find ich es eher nothwendig, maͤnnliche
und weibliche Elemente in der Natur anzuneh-
men. Der Mann iſt der vollkommenſte, der
ganz aus maͤnnlichen Elementen zuſammengeſetzt
iſt: und das Weib vielleicht das vollkommenſte,
welches nur gerade ſo viel weibliche Elemente
hat, um Weib bleiben zu koͤnnen; ſo wie der
Mann der ſchlechteſte iſt, der gerade nur ſo viel
maͤnnliche Elemente hat, um Mann zu
heißen.


Maͤnnliche und weibliche Elemente machten
außerdem am begreiflichſten die Natur lebendig,
und erklaͤrten die ewige unaufhoͤrliche Bewegung,
und den wuͤthenden Trieb zur Begattung, welche
Ari-
[193] Ariſtoteles fuͤr die Beſtimmung jedes einzelnen
Dinges haͤlt, am beſten. Liebe, Hochzeit, Ehe
und Eheſcheidung: daraus beſtuͤnde die Welt.
Ferner waͤre das Raͤthſel aufgeloͤſt, welches noch
Niemand, ſo viel ich weiß, beruͤhrt hat, warum
von jedem Geſchlechte, faſt durch alle Thiere.
ohngefehr ſo viel von dem einen als andern ge-
bohren wuͤrden.


Wem dieß nicht gefallen ſollte, der koͤnnte
jedoch noch immer annehmen, daß zu einem
Ganzen ein Paar gehoͤrt, und daß der Verſtand
von Anfang an alles paarweiſe hervorgebracht
hat; ohne daß eben das Zuſammengewaͤchs mehr
als jetzt noͤthig war: in einer ſolchen bequemen
Lage von Materialien zu Schaffung ſeines maͤch-
tigern Ganzen befand er ſich.


Ardinghello. Ihr geht wie ein aͤchter
Kretenſer, Zoͤgling des Minos, mit dem ſchoͤnen
Geſchlecht um! ich glaube, daß ein Maͤdchen
wie ein Mann immer ein unnatuͤrliches Ding
Ardinghello 2ter B. Nſey,
[194] ſey, und daß die tapferſte Amazone ſelbſt unter
einer Phryne ſtehe. Ich will euch hieruͤber zu
keiner neuen Hypotheſe treiben; wiederhohlen
wir noch einmal euer Hauptſtuͤck.


So von allem wirklichen abgeſondert mag
es wohl endlich leicht ſeyn zu denken, Verſtand
des Menſchen hat den Menſchen hervorgebracht;
und eben ſo, Verſtand jedes Dinges hat das
Ding hervorgebracht, durch Huͤlfe einer Kraft,
die allem Raum ſchaft, ſich nach Willkuͤhr oder
Verlangen zu bewegen: allein ſich die Sache auch
nur einigermaaßen ſinnlich vorzuſtellen, iſt ge-
wiß ohne Vergleich ſchwerer.


Nehmen wir einmal, wie der Verſtand des
ungebohrnen erſten Kindes ſich das Auge gebildet
hat, nur eins fuͤrs erſte.


Wozu braucht er das Auge?


Zum Sehen.


Kann er nicht ſehen ohne daſſelbe?


Aller-
[195]

Allerdings; da er alles durchdringt, beruͤhrt
er an und fuͤr ſich auch gewiß die Sonnenſtrah-
len, oder wird ihre Wirkung gewahr auf Ober-
flaͤchen.


Was will er alſo damit?


In einen Koͤrper eingeſchloſſen ſich eine
Oefnung fuͤr dieſelben machen.


Gut. Warum ſchließt er ſich aber in einen
Koͤrper ein, da er ohne Auge ſehen kann? und
demnach auch ohne Ohren hoͤren, ohne Zunge
ſchmecken, ohne Naſe riechen, und ohne Finger
und andre Glieder fuͤhlen?


Es ſcheint, er iſt des Herumvagierens muͤ-
de, und will einmal einen ſtaͤten Punkt haben;
oder eine Porzion Verſtand haßt die andre, wie
ſich Spinnen, und verlangt abgeſondert ihr eigen
Neſt; oder er will weder unendlich groß noch
unendlich klein beyſammen bleiben, ſondern in
bequemer Anzahl und ergoͤtzlichem Maaße, wie
die feinen Wolluͤſtlinge unter Griechen und Roͤ-
N 2mern
[196] mern nur ſo und ſo viel Gaͤſte an ihren Tafeln
verlangten; oder uͤberhaupt, er kann die Mate-
rie in allen Arten von Zuſammenſetzungen nicht
beſſer genießen, als wenn er ſich ſelbſt in ſie hin-
einſteckt; oder endlich das Schickſal zwingt ihn
dazu, ob dieß gleich fuͤr ein Weſen, das alles
durchdringt, und folglich nicht gebunden werden
kann, ungereimt iſt. Kurz, dem mag ſeyn,
wie ihm will: er macht alles auf einmal zuſam-
men, ſich in groͤßerm Umfang, und wie Pyg-
malion, ſeine Geliebte. Nach euern Begriffen
iſt freylich Verſtand ſelbſt ſo verſchiedner Gat-
tung, als Elemente ſind; und nur einer iſt der
Koͤnig. Alſo der menſchliche Verſtand ſelbſt macht
einen Bund aus von verſchiednen Elementen;
und jedes praͤſidiert darin im Namen der uͤbrigen
ſeiner Gattung, und dringt auf beſondern und
eignen Genuß dafuͤr.


Warum aber iſt der Verſtand des Kin-
des, wenn es fertig, oder voͤllig ausgebildet
iſt,
[197] iſt, nicht mehr ſo geſcheidt, als er im An-
fang war?


Demetri. Das iſt er, und bleibt es;
durch alle Stufen des menſchlichen Alters derſel-
be; alle Theile, die abgehen, erſetzt er wieder,
und bedient ſich uͤberdieß ſeiner neuen Sinnen.
In der Kompoſizion ſelbſt, deren Urſprung ich
ſchon auf verſchiedne Weiſe beruͤhrte, muß er
freylich erſt Erfahrung ſich erwerben. Verſtand
koͤmmt von Stehen *); er muß alsdenn lange
vor den Dingen einer Gattung geſtanden haben,
ehe er ſie vollkommen mit ſeinen Sinnen durch-
erkennt, und ſich davon ein Ideal bildet.


Einige Alten behaupteten auch, daß er
ſchon lange ſtudiert habe, bevor er ein ſo herrli-
ches Ganzes wie den Menſchen auskluͤgelte; es
ließ ſich dieſes aus der auffallenden Aehnlichkeit,
N 3groͤ-
[198] groͤßern und mindern Vollkommenheit der Theile
von Thieren ſchließen. Die Pythagoraͤer nah-
men nach dem Ariſtoteles als einen Grundſatz
an: Speiſe und Raub iſt eher geweſen, als was
ſich davon naͤhrt; und wahrſcheinlich! je ausge-
arbeiteter die Speiſe: deſto leichter der Ueber-
gang zu hoͤherm Leben. Kein vernuͤnftiger Arzt
wird daran zweifeln, daß der Menſch ſelbſt die
beſte Koſt fuͤr den Menſchen waͤre. Wer weiß,
ob die Welt jetzt ſo vollkommen iſt, als ſie ſeyn
kann? Obgleich ewig, mag ſie doch Kind,
Juͤngling und Mann, Jungfrau und Matrone
zur Abwechslung werden; denn ſie iſt nicht ganz
vollkommen, ſo lange noch Unvollkommenheit
darinnen da iſt.


Ardinghello. Von Menſchenfreſſern alſo
haͤtten wir die eigentliche Verklaͤrung zu erwar-
ten, das tauſendjaͤhrige Reich? ein ſtarker Kon-
traſt mit den Schulen der Weiſen!


De-
[199]

Demetri. Aus dem ſcheuslichſten Duͤnger,
wenn ich ein verkehrtes Gleichniß brauchen darf,
wachſen die ſchoͤnſten Blumen und Fruͤchte. Wir
ſchaͤtzen unſern Koͤrper viel zu wenig; und doch
muß jeder fuͤhlen, daß ihn ein Haͤndedruck, Kuß
und Umarmung von einer ſchoͤnen Perſon ganz
anders ergreift, als der wohlſtyliſierteſte Cicero-
nianiſche Brief von bloßem Geiſt, oder einer,
die er nicht kennt.


Ardinghello. Wir ſchweiffen aus; wie-
der zur Sache!


Warum wiſſen wir aber nicht, daß der
Verſtand die Theile erſetzt, die er im Koͤrper
nicht feſt halten kann, und die demſelben durch
die Zeit abgehen?


Demetri. Wir wiſſen nur durch unſre
aͤußern groͤbern Sinnen; und dahin dringt
keiner.


Ardinghello. Erſtaunliche Richtigkeit,
und ein Gefuͤhl von Maaß, das das der Gold-
N 4wage
[200] wage Centillionenmal uͤberſteigt, gehoͤrt gewiß
dazu, ein Bein nicht kuͤrzer und laͤnger gleich
im Anfang zu machen, als das andre, und ſo
einen Arm wie den andern, und Auge wie Auge;
und ſo die Zaͤhne und die Rippen in hoͤchſt ge-
nauer Proporzion; und dann zu vergroͤßern und
zu erhalten! und dieß ſind nur grobe Sachen ge-
gen anders bey Inſekten.


Demetri. Er iſt auch nicht umſonſt ſo
fein! und es gelingt nicht immer; die Alkibia-
den und Phrynen ſind bey jeder Thierart
ſelten.


Ardinghello. Auf einer andern Seite be-
trachtet, iſts nun wieder gar nichts außerordent-
liches und erhabnes; weil er wie ein Affe alles
nur nachahmt, wie ers vor ſich findet, und gar
nichts aͤndert: ſo recht im alten Schlendrian der
lieben Gewohnheit verſunken und verloren. Er
gibt ſich gar nicht mehr die Muͤhe, etwas Neues
zu erdenken.


Deme-
[201]

Demetri. Woher wißt ihr das? Und
doch ſchon genug, wenn er ſich ſo wohl befindet!
er kann nicht mehr, als die Materie aufs beſte
verarbeiten, in die er koͤmmt. Die Natur geht
aͤußerſt langſam und bedaͤchtig in ihren Fortſchrit-
ten, ſie hat unendliche Jahrtauſende vor ſich;
und wir nur einen Augenblick Lebensdauer in der
Kompoſizion, ſie zu beobachten.


Ardinghello. [Mich] daͤucht, ihr haͤttet
ſchon geſagt, im Anfange waͤr alles beſſer gewe-
ſen. Vielleicht ſind wir doch von der Hoͤhe des
Bogens herunter!


Aber Freund, warum kann der Verſtand
den Koͤrper nicht umaͤndern, wenn er unge-
ſtaltet, haͤßlich, oder krank iſt? warum nicht
verjuͤngen?


Wolken, lieber Demetri, nichts als Wol-
ken und metaphyſiſche Traͤume! Nehmen wir
lieber doch noch die gewoͤhnliche Meinung an,
die ihr kurz vorhin verwarft. Ich glaube, daß,
N 5ſo
[202] ſo wenig ſich der Menſch jetzt ſelbſt hervorbringt,
er von Ewigkeit ſich nicht ſelbſt hervorgebracht
hat. Er iſt! aber es muß allezeit ein maͤchtiger
Weſen ihm den erſten Stoß und die Bequemlich-
keit zum vollen Daſeyn verſchaffen.


Die vier Ariſtoteliſchen Elemente allein wer-
den nie in allen moͤglichen Zuſammenſetzungen
mehr als die vier Ariſtoteliſchen Elemente ſeyn;
es gehoͤrt gewiß noch etwas anders zu meinem Ich
und deinem Du.


Wenn wir etwas ohne fernern Grund an-
nehmen, warum ſtraͤuben wir uns, alles, was
wir nicht anders erklaͤren koͤnnen, ohne fernern
Grund anzunehmen? Jedes Individuum iſt
von Ewigkeit der Form nach da in der Na-
tur, und von allem andern unterſchieden;
und keine Urform laͤßt ſich weder ſchaffen, noch
zerſtoͤren. Nur gehoͤrt ein hoͤher Weſen dazu,
ſie in die Bequemlichkeit zu ſetzen, daß ſie ſich
in ihre hoͤchſte Fuͤlle verbreite. Wie unendlich
vieles
[203] vieles wird bloß Bluͤthe, oder Frucht, ohne zum
Baume zu gedeyhen?


Auch gibt Ariſtoteles ſelbſt nicht undeutlich
zu verſtehen, daß er derſelben Meinung anhan-
ge; die menſchliche Seele, oder uͤberhaupt der
Menſch, deſſen Form ſie enthaͤlt, iſt ihm eine
von Ewigkeit fertige Vollkommenheit. Und ſo
war jedes lebendige Ding der Form nach, oder
in ſeinem erſten Keime unzerſtoͤrbar von Ewig-
keit da, und die Sonnenwaͤrme, oder ſein Gott,
loͤſt es nur von den Banden, und ſetzt es in
freye Wirkſamkeit, wo es ſo lange genießt und
leidet, als es ſich mit ſeinem neuen Umkreis hal-
ten kann, oder bis es die umgebenden Kraͤfte
wieder in ſeinen unzerſtoͤrbaren Punkt zuruͤck-
draͤngen. Deßwegen ſagt der Weiſe auch, es
gibt nur wenig Menſchen, die goͤttlichen Ver-
ſtand haben. Und gewiß, denen, in deren Ur-
kraft er nicht liegt, kann derſelbe keine Bildung
und Erziehung geben. Wer fuͤhlt dieß nicht
durch
[204] durch all ſein Weſen, wenn er einen [urſpruͤng-
lichen]
Laffen und Thoren vor ſich hat? er war
von Ewigkeit Thor, und weder Sparta noch
Rom wird ihn je zu einem Brutus oder Leoni-
das umſchaffen. Theophraſt konnte ſich in ſei-
nem neun und neunzigſten Jahre noch immer
nicht genug verwundern, woher unter demſelben
Himmelsſtriche, und bey derſelben Erziehung
die Menge von verſchiednen Charaktern herkaͤme.
So bald man dieß annimt, hoͤrt die Verwunde-
rung auf; oder verliert ſich in die Unbegreiflich-
keit alles Daſeyns, dem groͤßten aller Geheim-
niſſe.


Wir ſind, was wir ſind; und werden nie
etwas anders werden. Wohl dem, der edel und
herrlich iſt! er bleibt es ewig.


Demetri. Erhaben; wenns nur wahr waͤre,
und nicht dieſelben Schwierigkeiten ſtatt faͤnden!
Anaxagoras haͤtte ſchon kluͤger deßwegen in der
Verzweiflung alles: Knochen, Haare, Naͤgel,
Klauen
[205] Klauen fuͤr von Ewigkeit fertige Vollkommenhei-
ten gehalten, wenn dem Stagiriten bey der See-
le ſo etwas in Sinn gekommen waͤre, als ihr
von ihm meint. Schwerlich kann ein Arabiſcher
Hengſt je in Daͤnemark wieder gebohren werden;
und ein Epaminondas in einem Großmogulſchen
Serail! Inzwiſchen wird dieſer bezaubernde
ſtolze Glaube an perſoͤnliche Unſterblichkeit, die
man freylich alsdenn auch jedem Wurm wie Ale-
xandern und Caͤſarn zuerkennen muß, noch lan-
ge herrſchen.


Jedoch es iſt Zeit von dieſen Dunkelheiten
auf den Ariſtoteliſchen Gott zu kommen, den
Koͤnig der Elemente, der alles aufloͤſt, und aus
ſeiner Traͤgheit in die Freyheit zu handeln
ſetzt.


„Eine Bewegung, ſagt der Weiſe, muß
die erſte, oder muß ewig ſeyn, die durch keine
andre hat koͤnnen hervorgebracht werden. Sie
bedarf der Regung nicht von etwas anderm, ſon-
dern
[206] dern iſt ſelbſtſtaͤndig, immer in Wirklichkeit,
und nie bloß in Moͤglichkeit: ſonſt wuͤrde aller
Grund von Leben und andrer Bewegung fehlen.
Sie iſt ſchlechterdings nothwendig, und man muß
ſie an und fuͤr ſich annehmen.“


„Wir koͤnnen uns keine andre Bewegung
in ſich ſelbſt ewig denken, als die kreisfoͤrmige;
und kreisfoͤrmig iſt ſie der Vernunft und der
That nach.“


„Sie bewegt, von nichts bewegt, fuͤr ſich
das begehrliche und verſtaͤndliche.“


„In ihr ſchwebt der Himmel und die Na-
tur. Ihr Leben iſt das beſte, ſo wie wir es nur
kurze Zeit haben; denn ſie bleibt immer dieſelbe
welches uns unmoͤglich iſt. Ihre Wirkſamkeit iſt
Wolluſt; durch ſie iſt das Wachen, die Empfin-
dung, das Denken das erfreulichſte. Hofnun-
gen und Erinnerungen ſtammen davon.“


„Das Denken an und fuͤr ſich ſelbſt gehoͤrt
zum Beſten an und fuͤr ſich ſelbſt; und das ab-
gezo-
[207] gezogenſte zum Vortreflichſten. Der Verſtand
denkt ſich aber durch Annehmung von Verſtaͤnd-
lichem; und verſtaͤndlich wird er beruͤhrend und
denkend: ſo daß Verſtand und Verſtaͤndliches
daſſelbe; denn das Faſſende des Verſtaͤndlichen
und des Weſens iſt Verſtand. Er wirkt im Ha-
ben; ſo daß jenes mehr als dieſes, was der
Verſtand goͤttliches zu haben ſcheint, und die
Betrachtung iſt das Erfreulichſte und das
Beſte.“


„Wenn alſo Vollkommenheit iſt, wie wir
zuweilen beſchaffen ſind: ſo iſt Gott immer ver-
ehrungswuͤrdig; wenn hoͤheres: noch verehrungs-
wuͤrdiger. Und ſo verhaͤlt es ſich.“


„Auch herrſcht wahrhaftig Leben in ihm;
denn Wirkſamkeit des Verſtandes iſt Leben, und
er iſt die Wirkſamkeit. Die Wirkſamkeit aber
an und fuͤr ſich iſt ſein beſtes und immerwaͤhrend
Leben. Und wir ſagen, daß Gott ein immer-
waͤhrend beſtes lebendiges Weſen ſey; ſo daß
Gott
[208] Gott Leben und beſtaͤndige immerwaͤhrende Dauer
hat. Denn das iſt Gott.“ —


„Das Gute und Beſte iſt aller Natur
Zweck. Sie gleicht einer Armee mit ihrem Feld-
herrn, und das Wohl beſteht in der Ordnung.
Voͤgel, Thiere, und Pflanzen, und was ſchwimmt,
hat ſeine gewiſſe; keins aber ſcheint fuͤr ein-
ander, ſondern es iſt Eins, wofuͤr alles geord-
net iſt.“ —


— „Alles in der Natur hat wieder etwas
Boͤſes in ſich, inſofern es nicht das Eins iſt, auf
welches ſich alles bezieht. Wir alle nehmen An-
theil an Gott, und er macht das Ganze.“ —


Kurz, es iſt eine allgemeine Bewegung,
die alle Elemente zu ihrem Vergnuͤgen in Ord-
nung erhaͤlt, und macht, daß ſie ſich ihrer Na-
tur nach zu einzelnen Ganzen formen, und je-
dem von ſich mittheilt, wie ein Hausvater
ſeinen Kindern, Sklaven, und Thieren
.
Jedes iſt gluͤckſeelig nach Art ſeiner Beſtandtheile;
und
[209] und traͤgt ſo die Uebel ſeiner Zuſammenſetzung.
Gott allein iſt ewig im Genuß ſeines reinen We-
ſens, wie jedes nur die wenigen Momente ſeiner
hoͤchſten Kraft und Einheit.


Darauf folgert er: „es ſind ſo viel Goͤtter,
als ſelbſtſtaͤndige kreisfoͤrmige Bewegungen; der
Fixſternhimmel faßt ſie; und alle insgeſammt
machen nur Einen.“ —


Wenn Weſen verſchieden iſt: ſo muß wohl
eine Art davon das beſte und maͤchtigſte ſeyn. —


Die Sonne hatte ſich geneigt, und wir
ſtiegen vom Gewoͤlbe der Rotunda wieder
hinab.


Ich beſchloß auf der Treppe: jeder verſteht
ſich ſelbſt am beſten; und ſo mag auch Ariſtote-
les am beſten verſtanden haben, was wahres
und ertraͤumtes in ſeiner geſtirnten Nacht von
Worten liegt. Ueber Weſen, deſſen Begierde
und Scheu, Ruhe und Bewegung, und Entſte-
Ardinghello 2ter B. Ohen
[210] hen des Einzelnen werden wir uns noch lange
vergebens die Koͤpfe zerbrechen, und die erhaben-
ſten Maͤnner Schwachheiten vorbringen. Wenn
alles in der Welt ſo begreiflich waͤre, wie wir
verlangen: ſo wuͤrden wir nicht halb ſo gluͤcklich
leben, und vor langer Weile uͤber aller der Klar-
heit und Deutlichkeit vergehen. Es muͤſſen
Wunderdinge fuͤr uns ſeyn! Wir muͤſſen Raͤth-
ſel haben, wie die Kinder, um das, was in uns
denkt, damit zu beſchaͤftigen.


Wir traten wieder in das Pantheon. Und
um dieſe Zeit muß man es ſehen, wann die ſtille
Daͤmmerung ſich einſenkt! Da fuͤhlt man un-
ausſprechlich die Schoͤnheit des Ganzen; die
Maſſe wird noch einfacher fuͤr das Auge, und
erquickt es lieblich und heilig. Dann iſt es ſo
recht der weite hohe Schoͤnheitsvolle Zauber-
kreis, worin man von dem Erdgetuͤmmel in
die blauen heitern Luͤfte oben wegverzuͤckt
wird, und ſchwebt, und in dem unermeßlichen
Um-
[211] Umfange des Himmels athmet, befreyt von al-
len Banden.


Wir ſetzten uns in den ſuͤßeſten Punkt und
genoſſen.


Nach langer Stille umſchlang mich Deme-
tri zaͤrtlich, und ſagte einige Worte uͤber die ehe-
malige Minerva des Phidias (Tochter aus dem
Haupte des Zevs, Verſtand aus dem Weſen)
und die griechiſche Venus hier (Luſt der Sinnen,
Wonne des Daſeyns) — und fuhr geruͤhrt dann
weiter fort:


„Gott iſt entweder die ganze Natur; oder
ein Theil der Natur; oder die Natur beſteht
fuͤr ſich aus ewiger nothwendiger Bindung und
Loͤſung verſchiedner Weſen, und es iſt kein Gott,
ſondern lauter Schickſal.


Daß Gott die ganze Natur ſelbſt ſey, iſt
der aͤlteſte Glaube.


Daß er ein Theil der Natur ſey, der juͤn-
gere; das edelſte beſte Leben darin, wie Ariſto-
O 2teles
[212] teles ſagt; ein Weſen, das ſich von ſelbſt in ſich,
ſeinen Einheiten, wenn ich mich ſo ausdruͤcken
darf, immerfort bewegt, ganz aus Thaͤtigkeit
beſteht. Deſſen Charakter gerad es iſt, nie ge-
bunden zu werden, es ſey von was es wolle;
das lieber das Boͤſe freywillig thaͤte, als das Gute
gezwungen, wenn es ein Boͤſes fuͤr daſſelbe ge-
ben koͤnnte. Das vermoͤge dieſes Charakters al-
les andre loͤſt, was ſich ſeiner minder regſamen
Natur nach bindet; kurz, eine unendliche Unru-
he in der unendlichen Uhr der Zeit.


Anaxagoras fuͤhrte zuerſt dieſen Glauben
ein; Plato verſchoͤnerte ihn mit Dichtungen;
Ariſtoteles plagt ſich, denſelben in ein vernuͤnf-
tig Syſtem zu bringen, ſcheint aber mit ſich ſelbſt
daruͤber noch nicht einig.


Verſtand duͤnkt ihm das goͤttlichſte unter al-
lem, was wir kennen; und dieß zwar wegen
des Denkens, welches keine zufaͤllige Eigen-
ſchaft, ſondern immer rege Wirkſamkeit, ſelbſt-
ſtaͤndig
[213] ſtaͤndig Leben ſey, indem es dem Verſtande ſonſt
beſchwerlich werden muͤſſe.


Wenn aber der Verſtand das goͤttlichſte,
und ſelbſtſtaͤndige Wirkſamkeit ſeyn ſolle: ſo koͤnn
er, duͤnkt ihm ferner, nichts anders, als ſich
ſelbſt denken; denn er wuͤrde, wenn er etwas
anders daͤchte, zu einer bloß zufaͤlligen Eigen-
ſchaft, und koͤnnte denken, und nicht denken,
außer dem, daß er ſich erniedrigte.


Ich ſehe nicht ein, was uns ein ſolcher
Gott hilft, auf was fuͤr Art er alles bewegt,
wie er ſich den Geſchoͤpfen mittheilt. Und was
iſt dann Materie, was ſind Elemente? wo kom-
men ſie her? und wie ſind ſie mit ihm in Zu-
ſammenhang, Ordnung und Schoͤnheit? Wenn
die Natur ſelbſt lebt und wirkt und ihre noth-
wendige Art zu ſeyn hat, und alles Einzelne aus
ſich hervorgeht und ſich ſelbſt forthilft: wozu
brauch ich einen Gott? und welch ein Graͤuel,
im andern Fall, das hoͤchſte Lebendige, das ſich
O 3mit
[214] mit dem Tode gattet? Lauter Luͤcken und Maͤn-
gel, die nach ſeinem Syſtem nicht auszufuͤllen
ſind; und wobey wir wieder von vorn anfangen
muͤſſen.


Hypotheſen? und Hypotheſen? aber es
koͤmmt darauf an, welche die denkbarſte und
vernuͤnftigſte iſt! einer, der keine Luſt hat, auch
fuͤr ſich zu glauben, was man will; oder blinde
Fenſter der bloßen Ordnung wegen an einem
Gebaͤude vertraͤgt, wo gerade das beſte Licht her-
einbrechen und die ſchoͤnſte Ausſicht ſeyn ſollte,
kann nicht eher Ruhe finden.


Ardinghello (fuͤr ſich.) Die Muͤdigkeit
wirds ihn ſchon endlich lehren!


Demetri. Daß alles ewig iſt, in ſich ſeyn
wird, was es war: muͤſſen wir wohl ohne fer-
nern Grund annehmen; denn es iſt die Grenze
des Nichts.


Wie es aber verſchieden iſt? ſich bindet und
ſcheidet? Was alles will, und nicht will? Dar-
uͤber
[215] uͤber hat mir das Syſtem noch keines Philoſo-
phen Genuͤge geleiſtet.


Ruhe und Bewegung! Wer davon die ei-
gentlichen Urſachen entdeckte, wuͤrde den Kapi-
talſchluͤſſel zum Pallaſte der Wahrheit und ihrem
innerſten Kabinette finden.


Bewegung iſt Streben nach Genuß, oder
Flucht vor Leiden. Genuß iſt Beruͤhrung. Ru-
he, deren moͤglichſte Fuͤlle; und Werden eines
neuen Ganzen, das wieder nach Beruͤhrung
trachtet. So fuͤhlt ſich das Weſen, und tau-
melt von Zone zu Zone, durch alle Himmel des
Weltalls.


Nehmen wir die einfachſte Subſtanz von
Leben, die Einheit von irgend einem Element
an; und denken ſie uns allein und abgeſondert
weit außer der Welt in den leeren Raum
hin.


Vorſtellen kann ſie ſich nichts, weil ſie
nichts um ſich hat. Innerliches Leben, Verſtand
O 4in
[216] in Ausuͤbung, Gedaͤchtniß, Einbildung findet
nicht ſtatt, weil ſie ganz ohne Theile iſt, und
ſich nicht regen kann; ein Etwas wie das Nichts,
und der letzte Begriff von Tod; ein Punkt von
Sebſtbewußtſeyn mag in ihr [ſtecken].


Nun geſellen wir dieſer Subſtanz eine an-
dre zu:


Erſter Urſprung von Gefuͤhl.


Nehmen wir nach dem Demokrit in bey-
den Urform an, und denken ſie uns zum Exem-
pel vollkommen rund.


Und ſie werden nicht ſatt werden, ſich um
einander zu bewegen, und ſich zu beruͤhren.


Platt oder eckicht:


Und ſie werden an einander feſt hangen,
weil ſie nicht herumkoͤnnen.


Eckicht und rund beyſammen:


Vermiſchte Empfindung, Freude und Leid.


Denken wir nun das Weltall als himmel-
unendliche Menge ſolcher Subſtanzen mit ewi-
gem
[217] gem Streben nach neuem Genuß, an Stoff und
Feinheit und Form Centillionenfach verſchieden
und aͤhnlich und gleich; und daraus nothwendi-
ger Weiſe von ſelbſt die beſte Ordnung zur aller-
vollkommenſten und mannichfaltigſten Beruͤh-
rung; und wir werden, glaub ich, uns der Er-
klaͤrung des Raͤthſels naͤhern, und einigermaßen
obenhin begreiffen lernen, warum die Geſtirne
in Flammen ſich waͤlzen, die Winde raſen, die
Meere toben, die Erden feſt halten, und daß
der Strahl in einen Pulverthurm gluͤcklicher
ſeyn kann, als Herkules bey allen ſeinen Liebes-
haͤndeln.


Man koͤnnte auf dieſe Weiſe aber wohl
doch noch die ſonderbare Meinung des Xeno-
phanes
, und ſeiner Schuͤler Parmenides und
Meliſſos erklaͤren, daß Eins Alles, und Alles
Eins
ſey. Nehmlich, aller Grundſtoff iſt ſich
gleich, nur die Form ſeines unendlichen Weſens
verſchieden.


O 5Des
[218]

Des Exempels wegen; denn was wiſſen
wir beſtimmtes hieruͤber mit unſern groben Sin-
nen? in den Sonnen rund, in der Luft rund
und halbrund, im Meere platt und eckicht, in
der Erde platt. Und Platt kaͤme unſerm Ge-
fuͤhle kalt und trocken vor; und Rund in hefti-
ger Bewegung heiß und trocken, und ſo weiter.
Das Platte werde wieder platt und eckicht, Erde
Meer. Waſſer durch Ausduͤnſtung zu Wolken
und Regen. Und das Runde und Halbrunde
endlich ganz rund, wie auf unſrer Erde im Gro-
ßen ſich Berg und Thal und Erde umaͤndert.
Das Runde uͤbrigens herrſche wegen ſeiner leich-
ten Bewegung. Und ſo mache ſich das We-
ſen in moͤglichſter Luſt die Ewigkeit zu kurzer
Zeit.


Gewiß bleibts allemal, daß Verſchiedenheit
und Aenderung, die unſre Sinnen am Wirkli-
chen empfinden, und wir Qualitaͤt, Organis-
mos nennen, bloß in innrer Form beſteht; und
daß
[219] daß man ohne Form alles nur einerley, Ein We-
ſen denken muß.


Alle Form iſt ferner Wirkung, und kann
ſeyn und nicht ſeyn; das Weſen allein iſt noth-
wendig und ewig.


Wie dieß Eins aus ſeiner Formloſigkeit zu
Form gekommen waͤre, und ſich in unendliche
Geſtalten verwandelt? Wie geſagt, durch Stre-
ben nach Genuß, um lebendig zu ſeyn, aus Ekel
vor Tod, an ſonſt unendlicher langer Weile;
durch Bewegung, Ausdehnung und Anziehung,
bis ins innerſte uns freylich unbegreiflich, die
wir jedoch durch die ganze Natur wahrnehmen,
und Forſcher bis auf den Embryon verfolgen,
wo ſie Sinn und Erfahrung verlaͤßt. Wenn
wir Anfang von Zeit annehmen wollen: ſo ginge
ſie hier aus der Ewigkeit hervor, und es haͤtte
ſeine Richtigkeit: Gott ſchuf die Welt aus
Nichts.


Das
[220]

Das Problem waͤre aufgeloͤſt, wie die Welt
Eins ſey, und doch verſchieden; und Ruhe und
Bewegung in ihren erſten Lagerſtaͤtten ge-
funden.


Alſo ſinnlich und jedermann faßlich ge-
ſprochen!


Im Anfange war Alles Eins, das Weſen
ſo zart zerfloſſen, fein und duͤnn, wie der
Raum ſchier.


Und es regte ſich; da ward Form.


Aus der Unvollkommnen ging die Voll-
kommnere hervor; und ſo entſtanden die Ele-
mente: Waſſer, Luft, Erde, Feuer; Pflanzen,
Thiere, und Mineralien.


Alles wechſelt mit einander ab, und geht
wieder in das Eins zuruͤck. Vater Aether, al-
ler Lebengeber
!


Und ſo wird und vergeht ewig Alles,
was iſt.


Das
[221]

Das Holz zum Exempel brennt, und wird
Feuer, Rauch und Erde. Feuer und Rauch
wird Luft, und Luft wird Waſſer; und jedes
kehrt wieder zuruͤck, wo es herkam. Erde,
Waſſer, Luft und Feuer wird Pflanze; Pflanze
Thier; Thier und Pflanze das Herz einer
Victoria Colonna, der Kopf eines Macchia-
vell
. Form und Weſen, und Weſen und Form!
das ſind die zwey Pole des Weltalls, um welche
ſich alles herumdreht.


Die bildende Kraft liegt in dem Weſen,
und iſt ein Streben nach Genuß.


Es bleibt wahr, was den Alten ohne Sinn
ſo oft iſt nachgeſagt worden: Gott der groͤßte
Geometer
.


Wenn Weſen an Weſen ſich fuͤhlt, entſteht
das reinſte Bewußtſeyn.


Wenn es ſich zu den erſten Formen bildet,
entſteht das abgezogenſte Denken. Das Weſen
beruͤhrt ſich, und wird verſtaͤndig, indem es ver-
ſtaͤnd-
[222] ſtaͤndliches zu ſich nimt; und kann nichts anders
als ſich ſelbſt denken, wie Ariſtoteles tiefſinnig
ſagt. Denken uͤberhaupt iſt Verwandlung des
Weſens in Formen; und Weſen muß alles ſelbſt
werden, was es denkt.


Wenn Weſen ſich zu Idealen formt, ent-
ſteht Phantaſie.


Wenn es die Ideale in ſich, und die For-
men außer ſich befeſtigt, Gedaͤchtniß. Sonnen,
und Planeten und Kometen ſind nichts anders
in der großen Welt; Formen in Bewegung,
Denkmale von Leben.


Alle Gefuͤhle, alle Arten von Leidenſchaf-
ten, Schmerzen und Vergnuͤgen ſind nur ver-
ſchiedne Formen in dem Weſen.


Ohne dieſen fruchtbarſten aller Grundſaͤtze
von reinem Weſen und Form, ohne Continuum,
das alle moͤgliche Formen wird, ſcheint die ganze
Welt, aller Zuſammenhang, Erhalten, Wach-
ſen, Zeugen, Vergehen, der Menſch, ſein
Den-
[223] Denken und Empfinden, ſein Dichten und
Trachten, kurz, alle Art Verwandlung voͤllig
unerklaͤrlich.


Die Vollkommenheit des Weltalls beſteht in
allen moͤglichen Arten von Formen.


Alle Geſchoͤpfe ſind bloß Gedanken Gottes,
und des hoͤchſten Vergnuͤgens in ihrem Maaße
faͤhig.


Gott dachte: es werde Licht! und es
ward Licht.


Daß Gott demnach als Griechen gegen
ſich, die Trojaner, ſtreitet; als Paris ſich, die
ſchoͤne Helena, verfuͤhrt; Stier, und Hund
und Zwiefel, und das Veraͤchtlichſte, nach un-
ſern Begriffen, wird, ſich ſelbſt ißt und verdaut,
darf uns wenig kuͤmmern; denn dieſes folgt
wohl aus den meiſten eingefuͤhrten Syſtemen.
Die alten Aegyptier verehrten vielleicht Gott er-
habner, als der heutigen Menſchen Verſtand
reicht; und wir ſind gegen ſie, was unſre Haͤus-
lein
[224] lein gegen ihre Obelisken und Pyramiden. Gott
iſt unendlich Eins, und in jedem Punkt Eins,
und Eins in jedem angenommnen Maaße; das
dann Verhaͤltniß in Bewegung und Verbin-
dung nach ſeiner Realitaͤt und Form zu einan-
der hat.


Wie er unendlich wirkt und iſt, allgegen-
waͤrtig, erhaltend, und uͤber ſeine Schoͤpfung
erhaben, was weiß der Menſch! das geht
nicht in uns, wie er ein Ganzes ſey nichts au-
ßer ihm; ſolche Gewalt und Schoͤnheit iſt der
verſchwindenden Kleinheit allzu unermeßlich.
Wir erliegen; und koͤnnen nur anbeten, bewun-
dern und erſtaunen.


Aber den Grund und die Wahrheit von al-
lem andern Lebendigen haben wir in uns, wo-
von die Sinnen nur die Oberflaͤchen oder einzel-
ne Aeußerungen empfinden; oder das Weſen hat
die Regeln von allem in ſich, wie es verſchiednes
wird und iſt.


Weſen,
[225]

Weſen, als das erſte, ohne Form, und
Form in Bewegung, gedacht, iſt weder Ver-
ſtand noch Koͤrper, beyde koͤnnen nicht ohne Form
beſtehen, handeln nicht, ſondern ſind Handlung,
Weſen in Form; und Weſen an und fuͤr ſich in
beyden gleich. Jedes kann die Folge von dem
andern in dem Weſen ſeyn, wie ein Gedanke
von dem andern; denn beydes, Gedanke und
Koͤrper, ſamt deſſen Bewegung iſt von demſelben
Weſen That. Weſen vollendet ein zuſammenge-
ſetztes Ganzes in Folgen von Handlungen, eine
Salaminiſche Schlacht, einen Olympiſchen Ju-
piter, wie Geſchoͤpfe. Sein Bewußtſeyn, das
auf einmal alle Folgen faßt, gibt die Ein-
heit.


Daß Gott unendlichen Verſtand habe, und
unendliche Welten ausmache, ſcheint ein Wider-
ſpruch; denn alle Form iſt Schranke. Gewiß
duͤnkt mir ſchon, daß ich, und ſo jeder andre
Menſch, und jedes andre lebendige Geſchoͤpf
Ardinghello 2ter B. Pnicht
[226] nicht immer lauter Weſen in Form ſey. Die
Freyheit, etwas anzufangen, Urſache von einer
Wirkung zu ſeyn und nicht zu ſeyn, ſich von der
Stelle zu bewegen oder nicht zu bewegen, Form
anzunehmen und nicht anzunehmen, welche nicht
kann geleugnet werden, wenn nicht alles von
einem grundloſen Schickſale gepeitſcht handeln
ſoll, erfordert ein reines Weſen ohne Form, ei-
nen Mittelpunkt der Sammlung.


Und dieß iſt das Heilige (welches einige Al-
ten fuͤr Feuer, Urſprung der Lebenswaͤrme hiel-
ten, weil Feuer waͤre, Weſen in ſeine groͤßte
Freyheit verbreitet) wovon alles in jedem leben-
digen Eins ausgeht, ſinnlich wird und erſcheint,
und in deſſen Liebesſchooß ſich alles wieder ein-
ſenkt; vor deſſen Seyn und wunderbarer All-
macht, Despotismus und allertiefſten Gehor-
ſam jede Philoſophie verſtummt, nur erkennt:
es iſt; und ihm ſeine Art zu handeln ab-
lauert.


Man-
[227]

Manches in der erhabnen Beſchreibung des
Ariſtoteles von Gott ſcheint hierauf zu paſſen.


Dieß iſt das unbegreiflich goͤttliche, was in
allem lebendigen Einzeln verdaut, und Koͤrper
wieder zu reinem Weſen aufloͤſt, ſich ſelbſt und
dieſes wieder nach Form ſeines gegenwaͤrtigen
Eins verwandelt, neue derſelben Art erzeugt,
und auf deren immer groͤßere Vollkommenheit
und mehrere Freuden denkt.


Wenn Eins Alles iſt: ſo iſt jede Form deſ-
ſelben urſpruͤnglich freye Handlung; denn es
laͤßt ſich kein Grund denken, als ſeine Luſt, war-
um es aus ſich ſo mancherley wird. Und Allge-
nuß ſeiner Kraft iſt die hoͤchſte Freyheit.


Das Weſen hat alſo die Welt nach ſeiner
Luſt aus ſich erſchaffen, und in mannichfaltige,
fuͤr uns unendliche Formen geordnet. Wie?
und ob auf einmal, oder nach einander? koͤnnen
wir nicht ergruͤnden. So viel wiſſen wir, daß
ſich die Schoͤpfung durch immerwaͤhrende Erneue-
P 2rung
[228] rung immerfort erhaͤlt. Genug; die erſte Form
muß einen Anfang gehabt haben, weil keine noth-
wendig und ewig iſt. Unendliches laͤßt ſich nur
von Einem Weſen denken; und der Verſtand
kann nur in Einem ſeine Ruhe finden *).


Durch
[229]

Durch Wirken und Gegenwirken iſt das All
in ſchoͤnem Leben. Das Weſen aͤußert immer
ſeine Kraft; ſo wie immer die Sterne leuchten,
und um einander durch die Himmel ſchweben.
Auch wann wir ſchlafen, bewegen wir unſern
Erdball um ſeine Sonne. Wie vieles andre mag
das Weſen in uns thun, ohne daß wir uns deſ-
ſen bewußt ſind, und wofuͤr die Sinnen keine
Sprache haben! Unſre innige Vereinigung mit
dem Ganzen herrſcht immer fort, und wir ſind
nur zum Schein ein Theil davon; jedes beſon-
dre Ding ein Spiel, ein Muthwille des We-
ſens, und kann keinen Augenblick ohne das Gan-
ze beſtehen.


Das iſt eine ganz andre Hofnung, Sicher-
heit von Unſterblichkeit, wann ich Stuͤrme durch
die Athmoſphaͤre brauſen hoͤre, und in mir fuͤh-
le: bald wirſt auch du die Wogen waͤlzen, und
mit dem Meer im Kampf ſeyn! Wann ich den
Adler in den Luͤften ſchweben ſehe, und denke:
P 3bald
[230] bald wirſt auch du in maͤchtigem Fluge ſo uͤber
den Rund der Erde hangen! als Komet durch
die Himmel ſchweiffen, Sonne Welten begluͤ-
cken! und, ſtolzer Gedanke! wieder in das Meer
des Weſens der Weſen einſtroͤmen!


Aber auch das Veraͤchtlichſte werden?


Wer weiß alles, woran das Weſen ſeine
Freude hat? offenbar erſcheint es uns in unend-
lichen Geſtalten. Und dann koͤnnten wir noch
fuͤr ſo viel Genuß ein wenig leiden, fuͤr ſo lange
Herrſchaft kurze Zeit dienen.


Eins zu ſeyn, und Alles zu werden, was
uns in der Natur entzuͤckt, iſt doch etwas ganz
anders, als das Schlaraffenleben, welches, ver-
nuͤnftiger Weiſe und aller Erfahrung nach un-
denkbar, bezauberte Phantaſien ſich vorſtellen.


Und warum ſollten wir nicht in der
ewigen Natur noch verehren, was wir im-
mer wirkſam, ſchoͤn und gewaltig darin
empfinden? Die erſten Ausgeſandten, Die-

ner
[231]ner Gottes? uns ſinnlich vereinigen mit den
hoͤhern Schweſtern und Bruͤdern? Nur
Verſtand von Wenigen dringt durch all das
praͤchtige Getuͤmmel durch bis zum Throne
des Herrn! Warum wollen wir die Welt
nicht nehmen, wie ſie iſt?


Aber wir alle ſind uͤber kurz oder lang mit
der Gegenwart nicht zufrieden, und das Weſen
trachtet immer nach Neuem. —


So viel moͤgen wir wohl auch bey dem hart-
naͤckigſten Zweifler herausgebracht haben, daß
Etwas außer uns iſt, unermeßlich unſern Sin-
nen; und da Anfang aus Nichts der Realitaͤt
nach unmoͤglich iſt, nothwendig und ewig; und
daß dieß Weſen, bis auf das alleraͤußerſte aufge-
loͤſt, entweder durchaus einerley ſeyn muß, oder
verſchieden.


Wenn verſchieden: ſo muß eine Art davon,
wo nicht das hoͤchſte, beſte und maͤchtigſte, doch
wenigſtens ſo gut ſeyn, als die Art Weſen, die
P 4in
[232] in uns (und allem Lebendigen) denkt und Ver-
ſtand hat. Und wo nicht verſchieden: ſo muß es
wenigſtens wieder eben ſo gut ſeyn, da es alles
iſt. Und da wir augenſcheinlich nur geringe
Kleinigkeiten ſind gegen das Univerſalweſen
entweder unſrer Art,
oder das Weſen uͤber-
haupt
: ſo waͤr es arg, wenn wir es nicht als
etwas hoͤheres verehren wollten.


Das letztere waͤre dann die allerreinſte
Weltmonarchie.


Und darauf beruhte vielleicht (denn wer
kann die Farbenwechſelnden Einbildungen der
hohen Prieſter und Schriftgelehrten daruͤber be-
ſtimmt anſagen?) das Juͤdiſche Syſtem, und
das geheime Aegyptiſche, und noch das chriſtliche.
Jeſus, der Stifter des letztern, waͤre mit ſeiner
goͤttlichen Natur Symbol des unendlichen We-
ſens in Formen *); da das unendliche Weſen
ganz
[233] ganz und vollkommen, ohne Widerſpruch, kein
Menſch in Perſon ſeyn kann. Die alten Ae-
gyptier mochten bey Verehrung verſchiedner Ge-
ſchoͤpfe und Gewaͤchſe aͤhnliches denken. Und
noch andre alte morgenlaͤndiſche Religionen ſchei-
nen davon auszugehn.


Das erſtere waͤre entweder reine Weltari-
ſtokratie,
jedes Element nehmlich ſo goͤttlich als
das andre; wo nach dem Homer Juno, Neptun,
und Apollo den Zevs binden koͤnnten. Oder
Ariſtokratiſche Weltmonarchie; ein Element
unter den andern der Koͤnig. Oder Demokra-
tiſch Ariſtokratiſche Weltmonarchie;
Thiere
und Pflanzen ſchon der Form nach von Ewigkeit
da; wie ihr oben ſelbſt meintet.


P 5Aus

*)


[234]

Aus dieſem haben die Griechen ihre reizen-
den Dichtungen und ſchoͤnen Goͤttergeſtalten ge-
ſchoͤpft; und die erhabenſten Philoſophen dieſer
gefuͤhlvollen Nazion, wie ſelbſt Ariſtoteles und
Plato, konnten ſich davon nicht losmachen.
Wenn ein großer Haufe zuſammen glaubt, kann
er leicht einen guten Mann uͤberwaͤltigen! Durch
Leſung ihrer Meiſterſtuͤcke von Poeſie und Be-
redtſamkeit, und bezaubernden ſinnlichen Vor-
ſtellungen, wiſſen wir aus unſerm eignen Glau-
ben nicht mehr recht klug zu werden. Wer ihren
Nektar rein und unverfaͤlſcht von der athletiſch
ſchoͤnen Urſprache gekoſtet hat, kann ſich ſchwer-
lich in anderm Getraͤnke berauſchen. Die Namen
ihrer Gottheiten ertoͤnen noch immer von den Lip-
pen der Edlern des aufgeklaͤrten Europa, und er-
heitern die Geſichter der Zuhoͤrenden, auch ver-
hunzt und entſtellt.


Geſetzt noch das allerausſchweiffendſte und
letzte, es gaͤbe gar kein Univerſalweſen, die Welt
be-
[235] beſtuͤnde aus lauter untheilbaren Staͤubchen,
keins dem andern gleich,
die ſich gatten und
ſcheiden: ſo muͤßten wir doch billig Hochachtung
vor der wiewohl komiſchen und bunten ungeheu-
ern Menge haben; obgleich dieſe Meinung bey
keinem, der den Abgrund des Aethers anſchaut,
und fuͤhlt und denkt, Ernſt ſeyn kann, ſondern
ein grillenhaftes Nadelſpitzenſyſtem iſt.


Und dieß waͤre denn Weltdemokratie,
oder das eigentliche Atheiſtiſche Syſtem; wel-
chem nun wohl einige unentſchieden anhangen,
in der Verzweiflung, ſich Gott als ein freywir-
kendes Ganzes vorzuſtellen, da ſie alles in der
Natur verſchieden und in nothwendiger Verbin-
dung ſehen. Sie ſelbſt aber muͤſſen ſich folglich
als ein erſtaunliches Raͤthſel vorkommen, und,
auch noch ſo beſcheiden, mehr einbilden, als
Sonne, Mond und Sterne. —


Sich des Daſeyns freuen unter allen For-
men und Geſtalten, dieſe dazu vervollkommnen,
und
[236] und ſie zernichten, ſo bald ſie nicht mehr dazu
taugen, oder in Sklaverey taugen koͤnnen, und
alle Traurigkeit fliehen, predigt die Natur.
Und dann, nichts unnuͤtzes heiſchen und be-
ginnen.


Alles Weſen iſt frey, ſo bald es frey ſeyn
will; das iſt, es kann fuͤr ſich allein handeln,
und reißt ſich los, ſo bald es kein Vergnuͤgen
mehr in der Verbindung hat. Tyranney dauert
hoͤchſtens uͤberall nur bis auf den Grad, wo die
letzte Luft wegfaͤllt. Unſer kleines Ganzes ver-
liert ſich bald mit allen ſeinen Folgen im Unend-
lichen; aber Weſen kann von keinem Gott ver-
nichtet werden. Dieß iſt der Grundpfeiler des
Adels und der Staͤrke bey tiefen Gefuͤhlen. Zer-
truͤmmre mich tauſendmal mit Blitzen und Wet-
terkeilen! ich ſtehe immer jung wieder auf. Aber
du verlangſt nichts von mir, was ich dir verſa-
gen koͤnnte; und ich kann dir nichts zuwider thun.
Was ich thue, thu ich durch dich.


Ar-
[237]

Ardinghello. Ihr ſeyd auf eine andre
Weiſe zu der goͤttlichen Sicherheit und Furchtlo-
ſigkeit gekommen, weßwegen die Lehre des Epi-
kur ſo geſchwind um ſich griff; deſſen Atomen
nach Zufall, und abwechſelnder Luſt und Unluſt
alles hervorbringen und wieder zerſtoͤren, Men-
ſchen, Muͤcken und Elephanten, Fiſche und
Sterne; und womit er den beſchwerlichen Herrn
und Aufſeher, der alles beobachtet, und von al-
lem Rechenſchaft verlangt, aus der Natur ver-
bannte; den alberne Philoſophen und Phyſiker,
nach ſeinem Beduͤnken, zu Aufloͤſung ihrer Kno-
ten herbeygerufen, damit er niederſchlage, wenns
anziehen, und aufhebe, wenns in die Hoͤhe ſtei-
gen ſoll.


Das Beſte fuͤr den, der Zweifel hat, bleibt
immer, ſich zur Parthey der edelſten Menſchen
von allen Nazionen zu halten.


Ob dieſe aber den aͤltern oder juͤngern Glau-
ben gehabt habe, und habe; oder zu welchem
von
[238] von den drey Syſtemen ſich die Vernunft neige,
werden wohl allezeit die mehrſten gegenwaͤrtigen
Stimmen entſcheiden. Denn nothwendige ver-
ſchiedne Natur, die das zuſammengeſetzte bildet,
iſt nicht ſchwerer zu begreiffen, als Anfang deſ-
ſelben von Einem Weſen.


Wie hat ſich euer Eins geregt? vermuthlich
verſchieden! Vorher war es etwa in der Ariſto-
teleſſiſchen Bewegung, da ſich Leben nicht wohl
ohne Bewegung denken laͤßt. Und irgendwo!
denn ganz konnt es nicht Form werden. Und
welcher Theil Form und Koͤrper geworden waͤre,
den muͤßte wahrſcheinlich das Loos getroffen ha-
ben; denn Verſtand war noch nicht da, der
kann nur werden, wenn ſchon mehr Formen da
ſind, welche das Weſen in ſeinem Bewußtſeyn
vereinigt.


An Grenzenloſes will ich gar nicht denken;
denn unendliche — Realitaͤt — ſind ein paar
Woͤrter, die man wohl zuſammenſprechen und
ſchrei-
[239] ſchreiben, aber nicht denken kann. Und euer
formloſes Weſen, fein wie Aether und Raum
ſchier, muͤßte ſchon eine Luͤcke im Unendlichen
machen, wenn es ſich nur in einen Zentner Gold
zuſammenzoͤge; geſchweig in eine reiche Mine in
ganz Peru, da ging gewiß ein Sonnenſyſtem
Groͤße von Formloſigkeit zu Grunde. Und ich
ſeh euern Beweis noch nicht ein, daß keine
Form nothwendig und ewig waͤre, worauf le-
diglich euer Eins beruht. Die Frage woher?
bleibt ſo gut bey Einem Weſen, als bey meh-
rern; und wie ich Eins nothwendig und ewig
annehme, kann ich ihrer Centillionen annehmen.
Und dann muͤßt es ſich verzweiffelt plagen, eh
es die mancherley Qualitaͤten nur fuͤr unſre
Sinnen herausbraͤchte; wer weiß, ob es nicht
noch Geſchoͤpfe mit andern Sinnen gibt? Mit
einem redneriſchen Exempel von Holz in Feuer,
Rauch und Aſche; und, es laͤßt ſich nicht anders
erklaͤren, mit taͤuſchender, ſelbſt wahrhafter
Schil-
[240] Schilderung von dem Regenten in uns iſts nicht
genug gethan. Was den Verſtand, oder das
Weſen betrift, das in uns denkt: ſo koͤnnte Ana-
xagoras gar wohl Recht haben, und das feinſte
Weſen ſich nach den andern richten muͤſſen (die,
wie ihr ſelbſt bewieſen habt, nichts weniger als
todt ſind) wenn es dieſelben brauchen will, ohne
daß wir eben wiſſen, wie es zugeht. Man kann
freylich das Liebesgeheimniß nicht bis ins Inner-
ſte aufdecken, wie verſchiednes ein lebendiges
Eins wird, und ſo fortdauert, und zuſammen-
handelt; aber eben ſo ſchwer laͤßt ſich das We-
ſen, welches Gedanke und Verſtand, und das,
welches Koͤrper wird, als Eins erklaͤren. Qua-
litaͤt iſt ſo etwas ſonderbares, daß es bloße ver-
ſchiedne Art von Ausdehnung und Anziehung
nicht uͤberall hervorbringen kann. Der Ver-
ſtand bleibt dabey ein Blindgebohrner, trotz al-
ler moͤglichen Anwendung von Figur und Dauer;
und ſie iſt allein Gegenſtand der Empfindung.
Jede
[241] Jede voll Majeſtaͤt in urſpruͤnglicher Reinheit
eigne Subſtanz und Vollkommenheit der Natur,
welche Voͤlker von lebhaftem Sinn und ſcharfem
Gefuͤhl, deren Vernunft Urſachen fuͤr Augen
und Ohren mit Einbildungen nie ganz umtauſcht,
immer als goͤttlich verehrten; denn Glaube oh-
ne Empfindung iſt Grille. Ihr habt oben, um
eure Geſinnung auch mir ſo wie andern zu ver-
bergen, aus Scherz geſagt: Wer beweiſen will,
daß aus Einem Alles ſey, muß erſt darthun,
daß aus Allem Eins werde. Widerlegt euch nun
im Ernſte.


Und dann behaupten die Spoͤtter, Vorſe-
hung, Plan von Einer allmaͤchtigen Regierung
in der Welt waͤre nicht ſo auffallend ſichtbar;
und Propheten, Apoſtel und Geſchichte haͤtten
uns mehr dawider, als dafuͤr hinterlaſſen. Es
ſtuͤnde mit uns nicht beſſer, weil ſie da geweſen
waͤren, und ſie ſelbſt moͤchten lieber in Athen
zu den Zeiten des Perikles leben, und in dem
Ardinghello 2ter B. Qalten
[242] alten Rom, als in dem neuern, wo es auch
am froͤmmſten da zuging.


Ihr ſagt, der Verſtand koͤnne nur in Ei-
nem einzigen nothwendigen unendlichen Weſen,
das alles iſt, ſeine Ruhe finden? und ich weiß
nicht, wie es zugeht: mir klopft das Herz vor
Angſt, und ſauſen die Ohren, je laͤnger ich dar-
uͤber nachdenke. Es bleibt immer einerley, es
mag werden, was es will (ein Herr ohne Unter-
thanen, Widerſpruch! oder der ſelbſt ſich in ſei-
nen Geſchoͤpfen lobpreiſt, oder ſelbſt beſtraft)
und kann ſeinem Schickſal der graͤßlichen Einoͤde
nicht entrinnen; iſt ſchlimmer daran, als die al-
ten Feen in den Ritterbuͤchern, die ſich bey wi-
drigen Begebenheiten die Augen zerweinen, daß
ſie ſich nicht ermorden koͤnnen. Alle Luſt und Pracht
und Herrlichkeit der Welt wird zum Gaukelſpiel,
und ſchwindet zuruͤck, fuͤr uns in ein Unding.


Ariſtoteles ertrug nie ein ſolches Weſen, und
ſtraͤubt ſich dagegen aus allen Kraͤften; und mich
duͤnkt, der hohe, edle hatte Recht.


Es
[243]

Es faͤllt uns ſchwer, bey Betrachtung des
Weltalls Sinn und Verſtand in reiner und keu-
ſcher Verbindung zu bewahren. Die einen laſ-
ſen lediglich und allein nur Verſtand gelten, und
ziehen, wo moͤglich, alle Natur aus: und die
andern halten ſich zu ſehr an die ſinnlichen Vor-
ſtellungen, und taumeln mit ihrer Einbildungs-
kraft herum in Paradieſen und Hoͤllen. Hohe
Schoͤnheit iſt ein Gewaͤchs auf ſeltnem Boden,
und wird nur Gluͤcklichen zur Beute.


Und gluͤcklich die Geſellſchaft, die einen ſol-
chen freudenreichen Glauben nach Klima und
Verfaſſung fuͤr ihr Daſeyn auf dieſem Erdenrund
bekommen hat, oder ſelbſt erwaͤhlt! Sey er
auch, um alle zu befriedigen, eine myſtiſche
Kompoſizion von Weltmonarchie, Ariſtokratie,
und Demokratie. Ihr werden Maͤnner, die
mit der Natur und dem Volke gelind umgehn,
und ſie den Philoſophen hold ſeyn. Warum
ſollten wir, wenn das vorige Zeitalter barbariſche
Q 2Be-
[244] Begriffe hatte, uns auch damit ſchleppen? Der
Menſch kann nichts goͤttlichers als Verſtand er-
gruͤnden, muß man wohl der Schule des Ana-
xagoras zugeben; auch bleibt er in ihm mit Sin-
nen ſamt Vernunft die hoͤchſte Regel der Wahr-
heit, und gegen ihre vereinigten Ausſpruͤche gilt
weder Verjaͤhrung, Wunder, noch Zeugniß.


Je mehr man das Weltall und ſeine Ver-
bindung damit kennt: deſto vortreflicher die
Religion.


Und wer den reizbarſten, innigſten Sinn
fuͤr die Schoͤnheiten der Natur hat, ihre ge-
heimſten Regungen fuͤhlt, deren Maͤngel nicht
vertragen kann, und denſelben abhilft nach ſeinen
Kraͤften: der uͤbt aller Religionen Wahrſtes und
Heiligſtes aus. Sein Tempel iſt das unendliche
Gewoͤlbe des Himmels; ſein Feſt jede ſchoͤne
Sommernacht, ein herrlicher Aufgang; und
er bringt ſeine Opfer dar an Menſchen, an
Thiere, die ihrer beduͤrfen, an alles Lebendige.


Me-
[245]

Metaphyſik hat Gott allein, ſie iſt ſein
Ehrenamt! ſagte derſelbe Dichter Simonides,
welcher ſich ſo klug uͤber die Frage: was iſt
Gott? beym weiſen Hieron auffuͤhrte. Ariſto-
teles will dieß zwar nicht zugeben, und meint:
Gott waͤre nicht ſo neidiſch; ſie ſey die Glorie
des Menſchen, und es einem freyen Mann un-
anſtaͤndig, ſie nicht zu erforſchen. Plato aber,
ſonſt ſo ſtolz gegen die leichten gefluͤgelten heiligen
Dinger, wie er die Dichter nennt, geſtand,
obgleich bey einer andern Gelegenheit, demuͤthig:
Simonides habe ſelten Unrecht; er ſey ein ver-
ſtaͤndiger und goͤttlicher Mann geweſen.


In den Sonnenſyſtemen des Orion, der
Milchſtraße ſteigen wir vielleicht zu einer hoͤhern
Religion auf.


Demetri. Solch ein Angriff gefaͤllt mir!
Das iſt eine Gymnaſtik des Verſtandes, und auf
beyden Seiten Gewinn; entweder geuͤbte nack-
tere gelenkere Wahrheit, oder Befreyung von
Q 3dem
[246] dem ſchaͤdlichen Uebel der Falſchheit. Wer weiß,
was Menſchen ſind, und was er ſelbſt iſt, der
verwundert ſich weder uͤber Oſt noch Weſt, ſon-
dern unterſucht ferner fort getroſt, woraus ſie
beyde beſtehen.


Ardinghello. Aber die Saͤulen huͤllen ih-
re jungfraͤuliche Schoͤnheit ſchon ins Dunkel,
und oben iſt kaum noch Daͤmmerung. Der Pfoͤrt-
ner wartet, die Thuͤr zu ſchließen. Wer Unrecht
hat (druͤckt ich ihn zaͤrtlich und traulich bey der
Hand) will immer das letzte Wort behalten.


Demetri. Nur die Hauptpunkte! das
Uebrige ein andermal; welches uͤberdieß haupt-
ſaͤchlich auf eines jeden Gefuͤhl beruht, und wo-
mit hinuͤber und heruͤber Muthwille kann getrie-
ben werden.


Wie ich merke, habt ihr von Belvedere
noch nicht ganz Abſchied genommen! Inzwiſchen
ſpielt ihr treflich die Rolle, die ich bey der Pyra-
mide; nur daß ich ſchon da zu Hauſe war, wo
ihr vielleicht erſt einkehrt.


Ohne
[247]

Ohne Eins, das ſich in verſchiedne Formen
verwandelt, bleibt alles voͤllig unerklaͤrlich; ich
mag daruͤber nicht wiederhohlen, was ich ſchon
geſagt habe. Und dann:


Gott iſt nicht Menſch, Anthropomoryhit!
und ihr ſelbſt muͤßt eure Menſchheit ablegen,
wenn ihr denken wollt; und eure ſtolzen republi-
kaniſchen und Spartaniſchen Geſinnungen.


Und doch koͤnnen wir ſchon in unſerm Puͤnkt-
chen, Plaͤtzchen von Formen nach dem Ariſtote-
les, Ideen groß und klein, alſo irgendwo darin,
erdenken, umbilden, aufbewahren, und wieder
neu beleben. Reines Weſen kann in bloßem Be-
wußtſeyn harren, das iſt ſein Leben; aber auch
Formen in ſich ſchaffen und ſammeln, das iſt ſein
Geſchaͤft und ſeine Luſt.


Woher es iſt, unendlich? Wie es war
wuͤſt und leer? wie der erſte Gedanke in ihm
entſtand? und Koͤrper? hier iſts noch immer
finſter auf der Tiefe;
Abgrund, wir verſinken,
Q 4und
[248] und Abgrund! Ewigkeiten! Ewigkeiten! Kein
Untertaucher, nicht die beruͤhmteſten der Schu-
len von Syme*) vermochten zu entdecken.


Ariſtoteles hat nicht zu viel geſagt, wohl
Simonides. Aber Freunde werden wir ſeyn,
ſo lange wir leben; und ſeelige Stunden mit
einander haben.



[[249]]

Fuͤnfter Theil.


Q 5
[[250]][251]

Terni, Jenner.


Neid und Eiferſucht ſind die Dornen im
Roſengarten der Liebe.


Ich habe von Rom abreiſen muͤſſen, der
Herzog ruft mich zu Geſchaͤften. Aber ich er-
kenne wohl, der Kardinal wollte mich fort; er
hatte ſchon laͤngſt ein Auge auf mich, und fand
bey meinem Aufenthalte nicht ſeine Rech-
nung.


Ich reiſe vorwaͤrts, und meine Phantaſie
ruͤckwaͤrts; Herz und alle Freude iſt in Rom ge-
blieben. Zaͤhren des tiefſten Gefuͤhls rennen
unaufhaltbar hervor mit ihren letzten heißen
Seelenblicken; wir ſchieden aus gluͤhender
Um-
[252] Umarmung. O ſie liebt mich, groß und edel!
erhabnes Weſen!


Ich befinde mich hier in einer Waſſerwelt;
die Fluthen rauſchen, und Stroͤme ſtuͤrzen ſich
mit donnerndem Gebruͤll von den Gebirgen:
und doch iſt mein Sinn nur wie im Taumel ge-
genwaͤrtig. Das Wetter iſt außerordentlich lau
und warm fuͤr die Jahrszeit; aller Schnee auf
dem Apennin ſchmilzt. Die Nera iſt maͤchtig
angeſchwollen, und der koͤnigliche Velino reißt
ſich wie eine Suͤndfluth aus ſeinem See ſchraͤg
uͤbers Gebirg herab, ſetzt alle Gaͤrten und Felder
der Terner in Ueberſchwemmung, und verheert
ſie mit ſeinem Schutte.


Ruͤhrend iſt bey dem fuͤrchterlichen Schau-
ſpiel, wie die huͤlfloſen Menſchen ſo gut und
freundlich und geſellig gegen einander bey der all-
gemeinen Noth werden, und jeder erkennt, wie
wenig er fuͤr ſich ſelbſt vermag.


Im
[253]

Im ſchmalen Thal, an der Nera, vor
dem Einſchuſſe des Velino, liegt ein Doͤrfchen
von wenig Haͤuſern, Torroſina, wie in einem
kleinen Keſſel. Nachdem ich die ganze Lage be-
ſehen hatte: ſo fand ich, daß die Terner weit
weniger und faſt nichts leiden wuͤrden, wenn
man oben auf dem Gebirge den Velino dahin
fuͤhrte, daß er in die Felſenkluft, wo die Nera
furchtſam hervorſchleicht, ſich mit ſeinem Tartar
ſtuͤrzte. Außerdem gewaͤnnen ſie noch das ganze
breite Bett des Fluſſes an die zwey Miglien
lang fuͤr ihre Waldung; und der ſenkelrechte
Sturz ſelbſt wuͤrde an Hoͤhe und Schoͤnheit
ſeines gleichen nicht in Europa haben, da er
jetzt nur gemach ſchraͤg herab rauſcht. Weil aber
Grund und Boden den Torroſinern gehoͤrt: ſo
muͤßten ſie denſelben ihnen abkaufen; welcher
jedoch an und fuͤr ſich keinen Werth hat, da er
lauter Felſen iſt, und den etwannigen zukuͤnfti-
gen Schaden zu erſetzen verſprechen, der fuͤr ſie
ent-
[254] entſtehen koͤnnte, wenn die Nera bey großen
Waſſern vor der einbrechenden Gewalt des Ve-
lino ſollte zuruͤckgehalten werden.


Ich ging darauf in die Rathsverſammlung
von Terni, und machte mein Gutachten als
ein Werksverſtaͤndiger bekannt. Alle, keiner
ausgenommen, gaben dazu ihren Beyfall; und
dieſer und jener ſagte, daß er dieß ſchon laͤngſt
auch gedacht haͤtte. Und ſiehe da! man ſchick-
te kluge Redner zu den Torroſinern ab, und
der ganze Anſchlag wurde mit wenig Koſten
genehmigt.


Aus Furcht, daß es dieſen gereuen moͤch-
te, will man ſogleich Hand ans Werk legen,
und oben das kurze neue Bett ausgraben; wel-
ches ich dieſen Morgen half abſtecken.


Die Sache wegen Verlegung des Velino-
ſturzes iſt alt, und wurde ſchon zu Ciceros
Zeiten
[255] Zeiten verhandelt. Es ſcheint, die Torroſiner
ſind gutherziger geworden, daß ſie jetzt ſo bald
nachgaben; oder der große Schaden und Jam-
mer der Terner hat ſie mehr als jemals ergriffen
und zum Mitleiden bewogen; da ihr zukuͤnftiger
Verluſt gegen dieſer ihren doch nur aͤußerſt klein
ſeyn kann, und verguͤtet werden wird.


Peru-
[256]

Perugia, Jenner.


Ich ſtreiche durch alle die himmliſchen Ge-
genden ohne rechten Genuß; und nur ergreift
mich noch des Waſſerelements Sturm und
Aufruhr, und die Luft mit ihren Gewittern und
Wetterſtrahlen.


Der Ort enthaͤlt einen Schatz von Gemaͤhl-
den; und ſie, und die praͤchtig gepflaſterten
Straßen und ſchoͤnen Pallaͤſte und Tempel zei-
gen allein noch den ehemaligen Wohlſtand der
Freyheit.


Fuͤr jetzt fluͤchtige Anzeige einiger Raphaele
auf meinem Wege.


Fulizno hat deren zwey, die allein werth
ſind, in dieß Paradies zu reiſen. Im Nonnen-
kloſter delle Contezze ein Altarblatt, welches
die Madonna vorſtellt vom Himmel hernieder
ſchwebend, wie ſie der heilige Franziskus, Hie-
ronymus, Johannes der Taͤufer,
und ein
Kar-
[257]Kardinal anbeten. Es iſt aus des Meiſters be-
ſter Zeit. Welche Geſtalten, welche Charakter!
Wie iſt alles ſo rein bis aufs Haar beſtimmt!
aͤchte klaſſiſche Arbeit.


Der Kopf der Madonna iſt eine der ſchoͤn-
ſten welſchen weiblichen Koͤpfe. Wie klar die
Stirn, wie reizend das lichte Kaſtanienhaar
nach den Ohren weggelegt, der braͤunliche Schley-
er wie ſanft und lieblich, in den holden hernieder
blickenden Augen welche Guͤte! wie ſchoͤn die
großen Augenlieder, vollen jugendlichen Wan-
gen mit Schaamroͤthe uͤberzogen, wie jung-
fraͤulich wie ſuͤß der voͤllige Mund, das zarte
Kinn, und die Naſe wie edel herein! welch ein
ſchoͤnes Oval, und wie reizend auf der rechten
Seite herum im Schatten gehalten! wie reizend
ſchwellen die Bruͤſte unter dem rothen ſittſamen
Gewand hervor!


Welch eine feurige, eifrige Froͤmmigkeit
und Wahrheit im Kopfe des Heiligen von Aſſiſi,
Ardingbello 2ter B. Rund
[258] und welch ein ſchoͤner kniender Akt! Wie kraͤftig
der Kopf des heiligen Hieronymus gemahlt,
und in welchem feyerlichen Ernſte von Betrach-
tung! Johannes iſt ein aͤchter wilder Eremit,
der ſich nicht auf buͤrgerliche Hoͤflichkeiten ver-
ſteht, und dreuſt ſagt, was er denkt. Der Kar-
dinal
bloß Portraͤt voll Bewunderung.


Der Engel unten mit dem Taͤfelchen iſt
treflich gemahlt, nur weiß man nicht, was er
ſoll, weil man vergeſſen hat, es darauf zu
ſchreiben.


Das Kolorit in den Koͤpfen iſt taͤuſchend
abgewechſelt, wie die Natur thut. Die Figu-
ren ſind alle in Lebensgroͤße, und die Madonna
noch daruͤber, um ſie zur erſten Perſon zu erhe-
ben. Sie iſt am lebendigſten, und wirft Glanz
um ſich, wie Sonne. Unten iſt freyes Feld
und ein Flecken, wo die Heiligen ſich beyſammen
befinden, ſie anrufen und anbeten, und in Be-
trachtung verloren ſind.


Im
[259]

Im Dom eben hier am Ende des linken
Kreuzgangs ein Halbbogen, worin Madonna
mit dem kleinen Chriſtus zur linken und dem
kleinen Johannes zur rechten vor ſich; zwey
holde nackte Buͤbchen in ſchoͤner Bewegung.
Hinter ihr zur rechten der heilige Joſeph, und
zur linken der heilige Antonius, und auf bey-
den Seiten neben ihr zwey Jungfrauen. Alle
ſind in knieender Stellung, außer den Kindern.
Die drey Weiber haben trefliche Gewaͤnder; be-
ſonders iſt das Maͤdchen zur linken, von wel-
chem man den bloßen linken Fuß ſieht, ganz
wolluſterregend und goͤttlich, ſo zeigt ſich das na-
ckende, und die ſchoͤne Form des Unterleibs, der
vollen Huͤften und Schenkel; das Gewand
macht eine ungekuͤnſtelte Falte zwiſchen den
Schenkeln, und zieht ſich im knien an; das
luͤſterne Auge des Meiſters ſah dieſen Reiz der
Natur ab. Die jungen Bruͤſtchen ſchwellen
lockend uͤber dem Guͤrtel hervor. Die Kleidung
R 2von
[260] von allen dreyen iſt roth, griechiſch, wie leichte
Hemder.


Die Geſichter ſind voll Huld; und die
Madonna hat beſonders etwas muͤtterlich ſuͤßes
in Aug und Mund, und blickt in ſtiller Entzuͤ-
ckung nieder.


Alle ſind vertieft in die Kinder, die auf
einander kindlich zeigen, und ſich freuen. Der
Kopf des heiligen Joſeph iſt zugleich gemahlt wie
vom Tizian nebſt dem herrlichen Ausdruck. Der
heilige Antonius allein weicht ſehr von den an-
dern ab, und iſt mittelmaͤßig durchaus, als ob er
ihn nur weggejagt haͤtte, um fertig zu werden.
Alles andre iſt mit Liebe entworfen, und es
herrſcht die ſtille Raphaeliſche Empfindung.


Nach Rom kann man Raphaelen zu Peru-
gia am beſten kennen lernen. Das meiſte von
ihm iſt hier in der Kirche des heiligen Franziskus.
Ueberhaupt will ich dir in Perugia nur drey
Stuͤcke von ihm vorzuͤglich emphelen, eins aus
ſei-
[261] ſeinem Knabenalter, eins aus ſeiner Juͤngling-
ſchaft, und eins, das er wenig Jahre vor ſei-
nem Tode vollendete, in einem Nonnenkloſter
vor der Stadt, welches zum Theil alles uͤber-
trift, was er je aus ſich hervorgebracht hat;
das uͤbrige wirſt du leicht einmal ſelbſt finden.


Die zwey erſtern ſind bey den Franziska-
nern; das juͤngſte, in der Capella degli Oddi,
ſtellt vor die Himmelfahrt der Madonna. In
der Luft empfaͤngt ſie der Heiland, ihr Sohn,
mit Engeln die Muſik machen, und kroͤnt ſie;
unten ſtehen die zwoͤlf Apoſtel an ihrem offnen
Sarge. In der Einfaſſung, die auf dem Altar
ruht, ſind noch drey ganz kleine Gemaͤhldchen
angebracht: der engliſche Gruß, die Anbetung
der heiligen drey Koͤnige, und die Beſchneidung.
Alles ein himmliſcher Inbegriff einer Menge ſchoͤ-
ner Geſtalten, die in ſeiner Seele aufbluͤhten.


Der Kopf der Madonna iſt heilig und ſee-
lig im neuen Schauen; in einigen Engelsge-
R 3ſtal-
[262] ſtalten ſuͤße Anmuth, beſonders der mit der
Handtrommel eine wahre Volksluſt. Aber das
wunderbarſte ſind die zwoͤlf Apoſtel; welche Cha-
rakter ſchon Paulus, Petrus und Johannes!
Paulus hat viel von ſeinem Ariſtoteles; Jo-
hannes von dem aufblickenden Juͤngling beym
Bramante.


In dem erſten Gemaͤhldchen unten erſcheint
der Engel der Madonna in einem korinthiſchen
Tempel. Sie betet, und blickt erhaben vor ſich
hin, ohne ihn anzuſehen; in einem Landſchaͤft-
chen davor zeigt ſich Gott der Vater, und der
heilige Geiſt als Taube.


In der Anbetung der heiligen drey Koͤnige
ſind eine Menge Figuren, worunter einige voll
Ausdruck mit Erſtaunen. Die Huͤtte in zerfall-
nen Ruinen, und das Landſchaͤftchen iſt kindlich
angenehm und erfreulich.


Die Beſchneidung iſt das beſte unter den
kleinen. Ein Joniſcher Tempel; die zwey
Prie-
[263] Prieſter mit treflichen Koͤpfen voll Charakter
und Ausdruck, und die Seitenfiguren gefuͤhlt
und gedacht.


Das Ganze iſt freylich aͤußerſt hart, und
die Formen unausgebildet; alle Natur arbeitet
bey ihm nur auf das erſte Beduͤrfniß: Geſtalt,
los; aber das Weſentliche, wobey man das andre
bey Anfaͤngern uͤberſehen ſoll.


Das zweyte iſt die Abnehmung vom
Kreuze
. Das Gemaͤhlde hat zehn Figuren,
fuͤnf Maͤnner und fuͤnf Weiber, mit dem todten
Chriſtus und der in Ohnmacht geſunknen Mut-
ter; die viel groͤßer ſind als im vorigen, ohnge-
fehr zwey Drittel Lebensgroͤße.


Es iſt in zwey Gruppen geordnet; die eine
macht der von zweyen getragne Todte, und Jo-
ſeph von Arimathias, und Magdalena, und
hinten vermuthlich noch Johannes: und die
andre die Mutter mit den Jungfrauen; der den
Leichnam bey den Beinen haͤlt, verbindet ſie beyde.


R 4Die
[264]

Die Hauptfiguren leuchten gleich hervor,
der todte Juͤngling, die ſchoͤne Magdalena voll
Schmerz, und die Mutter. Beſonders aber iſt
die Gruppe der letztern das vortreflichſte. Alle
Geſtalten ſind voll Seele, jede lebt, und em-
pfindet dabey nach ihrem Charakter. Die Maͤd-
chen, welche die Mutter faſſen, ſind wie die
drey griechiſchen Grazien; vorzuͤglich hat das,
welches den Kopf derſelben haͤlt, eine Geſtalt ſo
tiefen großen Gefuͤhls und hoher Schoͤnheit
durchaus in Formen und Bekleidung, daß man
ſie gleich zu einer Euripidiſchen Polixena brau-
chen koͤnnte.


Ueber die ganze Scene verbreitet ſich ein
ſanftes Abendlicht.


Dieß war ſeine letzte Arbeit, bevor er nach
Rom kam; und man ſieht darin, wie ſich ſeine
Kunſt ſchon ihrer Vollkommenheit naͤhert. Sie
iſt das hoͤchſte aus dieſer Zeit von ihm.


Ich
[265]

Ich kann hier nicht unterlaſſen, ein Ge-
maͤhlde von Correggio anzufuͤhren, welches
dieſelbe Scene vorſtellt, und in der Johannis-
kirche zu Parma in einer Seitenkapelle befindlich
iſt. Nach meinem Gefuͤhl hat er alle uͤbertrof-
fen, und erhaͤlt den Preis, wie ein Sophokles:
ſo ſtreng und einfach und ruͤhrend, mit Ver-
laͤugnung ſeiner ſonſtigen bluͤhenden Farben-
pracht und laͤchelnden Manier behandelt er die
Begebenheit.


Erblaßt und ausgeſtreckt liegt der goͤttliche
Juͤngling da. Magdalena ſitzt an ſeiner Seite
und vergießt fuͤr ſich in Wehmuth verſunken heiße
Thraͤnen, wie eine untroͤſtlich Geliebte; und
der Schmerz der zaͤrtlichen Mutter an ſeinem
Haupte uͤber das entſetzliche Schickſal grenzt an
des Todes Bitterkeit. Ein truͤbes Regenlicht um
ſie her; alles in Lebensgroͤße.


Man ſoll nie bey Bewunderung des einen
ſchuͤlerhaft gegen andre ungerecht ſeyn. Raphael
R 5ſelbſt
[266] ſelbſt Maͤrtyrer fuͤr Amorn, hat ferner nie das
Entzuͤcken der Liebe, den hoͤchſten Vorwurf viel-
leicht fuͤr alle bildende Kunſt, mit ſo tiefem See-
lenklang und heitrer Phantaſie zugleich, ausge-
druͤckt, als der bey ſeinen Lebenstagen unberuͤhm-
te hohe Lombard, Arioſts Nachbar, in ſeiner
Jo; wenn ihm auch die antike kleine Leda,
mit der im Stehen ſich Zevs als Schwan be-
gattet (welche trefliche wolluͤſtige Gruppe ihr
zum Zeichen eurer freyen Denkungsart oͤffentlich
gerade vor dem Eingange der Markusbibliothek
aufſtelltet) Anlaß zur erſten Idee davon gegeben
haben ſollte.


Das dritte und Hauptgemaͤhlde von Ra-
phael zu Perugia iſt in dem Nonnenkloſter zu
Monte Luce, welches er drey Jahre vor ſeinem
Tode vollendete. Ein Altarblatt, die Figur voͤl-
lig in Lebensgroͤße.


Es ſtellt wie das erſte vor die Himmelfahrt
und Kroͤnung der Mutter Gottes; aber alle
Spur
[267] Spur von ſeines Lehrmeiſters enger und ſchmaler
Manier iſt hier verſchwunden. Die zwoͤlf Apo-
ſtel ſtehen um den Sarg, ſtatt der Madonna
mit Blumen, Roſen, Lilien, Nelken und Schaß-
minen angefuͤllt, und blicken erſtaunt auf, wo
ihr Sohn ſie von Wolken emporgetragen mit En-
geln empfaͤngt und kroͤnt.


Die Mutter iſt eine der friſcheſten weibli-
chen Geſtalten, noch bluͤhend wie eine Jung-
frau, doch voll edlem Ernſt, wie eine Matrone,
und heißer wunderbarer Empfindungen der See-
ligkeit, im Taumel neuer Gefuͤhle, wie vom
Erwachen, alles groß an ihr und herrlich ſchoͤn.
Sie faltet die Haͤnde kreuzweis an die Bruͤſte
und blickt durchaus geruͤhrt mit entzuͤcktem Aug
auf ihren Sohn. Ihr Geſicht iſt nach ihm hin-
gewandt, und man ſieht ganz die rechte Seite,
und vom linken Auge nur den heißen Blick;
große ſchwarze Augen mit einem zarten Bogen
Augenbrane, und dunkelblondes Haar unter
dem
[268] dem langen gruͤnen Schleyer, der ſich hinter dem
rechten Ohr hinabzieht.


Chriſtus iſt feurig im Geſicht, wie ein
Sonnenverbrannter Kalabrier aus ſeinem ſtar-
ken Bart um die Kinnbacken; und ſein ausge-
ſtreckter rechter Arm voll Kraft und Nerve, wo-
mit er ihr den Kranz aufſetzt. Der Engel mit
Blumen in der rechten an ihm hat einen Kopf
voll himmliſcher Schoͤnheit, ſonniglich entzuͤckt;
es ſcheint ihm uͤberall Glanz aus ſeinem Geſicht
hervorzubrechen.


Die Anordnung durchaus iſt reizend, und
bildet das ſchoͤnſte Ganze. Madonna iſt oben
in der Mitte, Chriſtus zu ihrer linken, an bey-
den ein Juͤngling von Engel bekleidet; unter
dieſen bey jedem ein zart nackend Buͤbchen; und
uͤber allen der heilige Geiſt in einem dichten Duft
von gelbem Himmelsglanz.


Die Auffahrt geſchieht ganz gemach auf ei-
ner dunkeln dicken Wolke mit lichtem Saum,
und
[269] und hat nicht das leichte Schweben, wie in an-
dern Gemaͤhlden davon; aber eben dadurch ge-
winnt die Handlung Natur und Majeſtaͤt. Ra-
phael hatte eine ſehr reine klare Empfindung,
die ihn minder fehlen ließ, als andrer ſcharfer
Verſtand.


Je laͤnger man den Chriſtus betrachtet,
deſto mehr findet man etwas uͤbernatuͤrlich goͤtt-
liches, das ſich nur guͤtig herablaͤßt; das demuͤ-
thige der Madonna vor ihm ſtimmt einen nach
und nach dazu. Es iſt etwas erſtaunlich maͤchti-
ges und gebieteriſches in ſeinem Weſen, das
mehr im Ausdruck liegt, als den Formen ſelbſt;
wunderbare Strenge und Guͤte mit einander
vereinbart. Ich habe noch wenig neuere Kunſt-
werke geſehn, die den Eindruck in der Dauer
immer tiefer und tiefer auf mich gemacht haͤtten.
Je mehr man nachdenkt und fuͤhlt und Geſtalt
nachgeht: deſto wahrer findet man dieſen Chri-
ſtuskopf. Ich kann von dieſem Gemaͤhlde nicht
weg-
[270] wegkommen, und moͤchte Tage lang mit Wonne
daran hangen. Hoher goͤttlicher Juͤngling der
du warſt, Raphael! Unſterblicher, empfang
hier meine heißeſte aufrichtigſte Bewunderung,
und nimm guͤtig meinen zaͤrtlichen Dank auf.
Es gehoͤrt unter das hoͤchſte, was die Mahlerey
aufzuzeigen hat, dieſe Mutter und dieſer Sohn,
und die vier Engel um ſie her; und ich kann
mich nicht von der Herz und Sinn ergreiffenden
Wahrheit und Hoheit wegwenden. Die zwey
Hauptfiguren ſind ganz wunderbar groß gedacht,
in der That pindariſche Grazie und des Theba-
ners Schwung der Phantaſie bis in die Drap-
perien, die maͤchtige Falten werfen. Welch ein
Arm, Chriſtus aufgehabner rechter mit den wei-
ten Aermeln! wie ganz vollkommen gezeichnet
und gemahlt, und welche wetterſtrahlende Wir-
kung thut er in der ganzen Gruppirung! und
wie beſcheiden zeigt ſich daneben das Nackende
der Mutter und fuͤllt leicht das blaue Obergewand!
So
[271] So kraͤftig hat er nichts anders gemahlt; und
nirgend anderswo ſind ſeine Formen ſo vollkom-
men reif, ſtark in der Art Schoͤnheit, die ihm ei-
gen war.


Die Apoſtel unten ſind ſchwach und matt
dagegen, und nur wie verwelkend ſterblich Fleiſch,
des Kontraſts wegen; aber durchaus vortrefliche
Maͤnnergeſtalten, beſonders Petrus und ein an-
drer im Vordergrunde, in Bewegung und Leben.


Mit denen in der Verklaͤrung ſind in drey
Gemaͤhlden allein ſechs und dreyßig Apoſtel;
und in jedem ſehen ſie anders aus, und keiner
wie der andre; und doch ſcheinen die meiſten
treflich zu ſeyn und zu paſſen.


Die Mahlerey iſt wie die Muſik; zu den-
ſelben Worten koͤnnen große Meiſter, kann einer
allein ganz verſchiedne Melodien machen, die
alle doch in der Natur ihren guten Grund haben:
es koͤmmt nur darauf an, wie man ſich den
Menſchen denkt, der ſie ſingt.


Neh-
[272]

Nehmen wir zum Beyſpiel ein Lied der
Liebe!


Bey denſelben Worten wuͤthet ein Neapo-
litaner: und ein andrer im Gletſchereiſe der Al-
pen bleibt ganz gelaſſen.


Außerdem lieben wenige immer uͤberein-
ſtark ſchon bey derſelben Perſon; und es wird
anders geliebt bey einer blonden und ſchwarzen,
einer Sizilianerin von zwoͤlf Jahren und
einer Nordiſchen Patriarchin. Und dieſe ſelbſt
lieben wieder anders Knaben, Juͤnglinge, Maͤn-
ner und Greiſe.


Dichter und Mahler und Tonkuͤnſtler neh-
men von allem dieſen das Vollkommenſte, was
am allgemeinſten wirkt; welches aber weder
Rechenmeiſter noch Philoſoph zu keinem Zeit-
alter beſtimmt feſtſetzen konnten. Und dieß
hat die Natur ſehr weislich eingerichtet; ſonſt
wuͤrde unſer Vergnuͤgen ſehr eingeſchraͤnkt ſeyn,
oder bald ein Ende haben.


Die
[273]

Die Kuppel des Correggio zu Parma in
der Johanniskirche, welche Chriſtus Himmel-
fahrt vorſtellt, gehoͤrt zu einer beſondern Gat-
tung der Mahlertaktik, und macht ein eigen
Kunſtwerk aus, das ſich mit dem des Raphael,
was mahleriſche Wirkung betrift, nicht verglei-
chen laͤßt, ohne dieſem Unrecht zu thun.


Man erſtaunt dort, wenn man in den
Kreis tritt, und wurzelt am Boden feſt, wie
bezaubert, und ſieht: einen wirklichen Juͤng-
ling von uͤbernatuͤrlichen Gaben in ferne Hoͤ-
hen ſteigen von dienſtbaren Sturmwinden em-
porgetragen, die liebkoſend mit ſeinem weiten
Purpurmantel ſpielen.


Selbſt Apelles und Zeuxis und die ganze
griechiſche Zunft wuͤrden dem Goͤtterfluge mit ent-
zuͤckender Bewundrung nachſchaun, und keiner
das Herz haben, zu ſagen: anch’ io ſon pit-
tore!


Ardinghello 2ter B. SFlo-
[274]

Florenz, Jenner.


Ich habe mich unterwegs laͤnger aufgehalten,
als ich wollte; und auf meinem Gute bey Cor-
tona
verſchiedne Anſtalten zu Pflanzungen, und
beßrer Einrichtung der Gebaͤude gemacht. Die
Kunſtſachen, die ich in Rom theils ankaufte,
theils ſchon bey dem Kardinal vorraͤthig fand,
waren vor mir angekommen.


Der Herzog empfing mich heiter und freund-
ſchaftlich, und bezeugte alsdenn ſeine große Freu-
de daruͤber; ſo wie Bianca, und die andern Da-
men und Herrn vom Hofe.


Man ſtand hier noch im Handel uͤber eine
nackende Venus vom Tizian, und wartete nur
auf meine Entſcheidung. Sie iſt ungezweifelt
ganz von ſeiner Hand; und der Kauf wurde
gleich richtig gemacht.


Jetzt laß ich in der Gallerie, die mein alter
Lehrmeiſter Vaſari erbaut hatte, ein Zimmer fuͤr
das
[275] das ausgeſucht vollkommenſte zubereiten, das
ſeines gleichen hernach wohl ſchwerlich in der
Welt haben wird, Belvedere ausgenommen.


Von der griechiſchen Venus will ich den
neuen untern linken Arm vom Ellenbogen an
wieder abnehmen laſſen, weil er allzuſchlecht er-
gaͤnzt iſt; der rechte von der Schulter an iſt
zwar auch nicht zum beſten, doch will ich noch
damit warten. Es iſt ein Wunder, daß dieß
hohe Meiſterſtuͤck ſo gluͤcklich brach, daß die Thei-
le nichts gelitten haben, und alle ſo gut in ein-
ander paſſen. Die Figur der Goͤttin ſelbſt ging
in dreyzehn Bruchſtuͤcke, und das Ganze in die
dreyßig Truͤmmern.


Der Kopf iſt am Halſe angeſetzt, und et-
was klein in Proporzion, wie aber bey andern
griechiſchen weiblichen Bildſaͤulen; jedoch ganz
von demſelben Marmor, derſelben Arbeit, der
Zug des Halſes paßt ſo treflich, und alles har-
moniert ſo bis auf die allerſchoͤnſten Fuͤßchen,
S 2daß
[276] daß an ſeiner Aechtheit zur Figur keinen Augen-
blick zu zweifeln iſt. Ein Geſicht voll hohem
Geiſt und Joniſcher Grazie! Die Naſe ſchießt
nur ein klein wenig von der Stirn ab, nicht den
dritten Theil wie ein Strahl im Waſſer. Der
Leib iſt die friſcheſte, kernigſte, ausgebildete
Wolluſt; Bruſt und Schenkel ſchwellen mar-
kicht vorn und hinten. Sie hat durchaus den
ſuͤßeſten uͤberſchwenglichen Reiz eines ſo eben reif
gewordnen himmliſchen Geſchoͤpfes vor der erſten
Liebesnacht; welches Vater Homer mit dem
Wunderguͤrtel hat ausdruͤcken wollen.


Sie hat ein Gruͤbchen im Kinn: Zeichen
von Fuͤlle und Kraft zugleich, und Reifheit der
goͤttlichen Frucht; und nur halberoͤfnete, oder
zugehaltne Augen, die das Innre nicht erkennen
laſſen wollen, ſproͤdiglich.


Kurz, es iſt Erſcheinung eines uͤberirrdi-
ſchen Weſens, von dem man nicht begreift, wo
es her koͤmmt; denn es hat hienieden keine Lei-
den
[277] den ausgeſtanden, alles iſt zur Vollkommenheit
ungeſtoͤrt an ihm geworden. Selbſt der ſchoͤnſte
und edelſte Juͤngling unter den Sterblichen
muß ſich vor ihm niederwerfen: und das hoͤchſte,
was er verlangen kann, iſt ein Moment, nicht
Huldigung auf ein ganzes Leben.


Schoͤnheit, zur Reife gediehen und gedey-
hend, noch ungenoſſen. Das ſich regendſte Le-
ben woͤlbt ſich ſanft hervor in unendlichen For-
men, und macht eine entzuͤckende ganze. Adel,
fuͤr ſich beſtehend, blickt aus den ſuͤßen luſtſeeligen
Augen, ein ſonnenheißer Blick von Liebesfuͤlle;
flammt die Stirn herab, ſchwebt auf dem
Munde, wo Stolz und Zaͤrtlichkeit zuſammen-
ſchmelzen.


Die Mitte des Oberleibs iſt kraͤftig, und
gar nicht duͤnn; die Schultern ſind voͤllig ſo
breit wie die Huͤften, und gehen noch daruͤber
hinaus, ſanft vom Halſe herab geſenkt. Der
Unterleib hat zwey zarte Einwoͤlbungen bis wo
S 3die
[278] die Hoͤhen der Freuden ſich heben. Die Schen-
kel ſteigen wie Saͤulen hernieder, und ver-
bergen den Eingang der Luſt mit einem gelinden
Druck.


Die Waden ſind ſtraff und voll bis an die
Kniekehlen ohne auszuſchweiffen.


Sie erſcheint von den Seiten her ſchmal,
und von dem Ruͤcken breit; alles Fleiſch lebt,
und nichts iſt leer und muͤſſig.


Aus dem Ganzen ſpricht jungfraͤulicher
Ernſt und Stolz, nichts lockendes; es iſt In-
begriff hoͤchſter weiblicher Liebesſtaͤrke. Sie
blickt auf, wie eine Jugendgoͤttin, von den edel-
ſten angebetet.


Sie erhaͤlt den erſten Preis unter den
weiblichen antiken Schoͤnheiten. Ihr Geſicht
ſchon fuͤr ſich, das gluͤcklich ganz unverſehrt blieb,
ergreift unausſprechlich reizend, mehr, als ir-
gend ein andres; iſt gewiß urſpruͤnglich in der
Natur ſelbſt voll Geiſt und hohem eigenthuͤmli-
chen
[279] chen Weſen aufgebluͤht, und ſtammt wahrſchein-
lich von einer Lais oder Phryne. Bey der Niobe
und ihrer ſchoͤnſten Tochter, bey der Juno, und
einer koloſſaliſchen Muſe in Rom mag man mehr
Erhabenheit finden: aber ſie haben den lautern
Quell von Leben nicht, der den Durſt nach aller
Art von Gluͤckſeeligkeit im Menſchen erquickend
ſtillt. Hier iſt alles beyſammen, Koͤrperreiz und
Seelenreiz, Feuer und Schnelligkeit der Empfin-
dung, und heller ausgebildeter Verſtand bey je-
dem Vorfall in der Welt.


Doch, was verſchwend ich Worte daruͤber;
komm und ſieh! und fuͤhle! und traure herzinnig-
lich, daß ſie nicht den Mantel von dir ſich um-
wirft, dich zu begleiten.


Tizians Venus wird eine ſchlimme Nach-
barin an ihr erhalten.


Dieſe iſt eine reizende junge Venezianerin
von ſiebzehn bis achtzehn Jahren, mit ſchmach-
tendem Blick, aufs weiße widerſtrebende Som-
S 4mer-
[280] merbett, im friſchen Morgenlichte, faſelnackend
vor innrer Gluth von aller Decke und Huͤlle,
bereit und kampfluͤſtern hingelagert, Wolluſt zu
geben und zu nehmen; die, anſtatt die Hand
vorzuhalten, ſchon damit die ſtechende und bren-
nende Suͤßigkeit der Begierde wie abkuͤhlt, und
mit den Fingerkoppen die regſamſten gefuͤhligſten
Nerven ihres hoͤchſten Lebens beruͤhrt.


Bezaubernde Beyſchlaͤferin und nicht Grie-
chenvenus; Wolluſt und nicht Liebe; Koͤrper
bloß fuͤr augenblicklichen Genuß.


Ihre Formen machen einen ſtarken Kon-
traſt mit der griechiſchen. Wie das Leben ſich
an dieſer in allen Muskeln regt und ſanft hervor-
quillt und hervortritt: und bey der Venezianerin
der ganze Leib nur eine ausgedehnte Maſſe macht!
Aber es iſt ſchier nicht moͤglich, ein ſchmeicheln-
der, und ſich ergebender, und ſuͤß verlangender
Geſicht zu ſehen.


Sie
[281]

Sie neigt den Kopf auf die rechte Seite,
ſonſt liegt ſie ganz auf dem Ruͤcken. Das linke
Bein in ſchoͤner Form iſt reizend geſtreckt, und
das erhobne rechte Knie laͤßt unten die ſuͤße Fuͤlle
der Schenkel ſehen. Der Kopf hat die Geſtalt
nach der Natur; iſt aber, hingelaſſen nachden-
kend mit dem zerfloßnen Koͤrper, matt und we-
nig gebildet gegen die Griechin.


Die Blumen in der rechten geben Hand
und Arm durch den Wiederſchein bezaubernde
Farbe, und druͤcken den Leib zuruͤck. Ihr Haar
iſt kaſtanienbraͤunlich und lieblich verſtreut uͤber
die rechte Schulter mit einem Streif auf den
linken Arm. Der Schatten an der Schaam
und die emporſchwellenden Schenkel davor im
Lichte ſind aͤußerſt wolluͤſtig, ſo wie die jungen
Bruͤſte. Die großen graͤulichtbraunen Augen
mit den breiten Augenbranen blicken in Feuchtig-
keit. Sie iſt lauter Huld es recht zu machen in
reizender ſoͤmmerlicher Lage; und gibt ſich ganz
S 5preis,
[282] preis, und wartet mit gierigem Verlangen
furchtſamlich auf den Kommenden. Man ſiehts
ihr deutlich an, daß das Jungfraͤuliche ſchon
einige Zeit gewichen iſt, und ſie ſcheint nur Be-
ſorgniß vor mehrern zugleich zu haben wegen der
Eiferſucht.


Tizian wollte keine Venus mahlen, ſondern
nur eine Buhlerin; was konnt er dafuͤr, daß
man dieſe hernach Goͤttin der Liebe taufte?
Sein Fleiſch hat allen Farbenzauber, iſt mit
wahrem jugendlichen Blut durchfloſſen; was er
darſtellen wollte, hat er beſſer als irgend ein an-
drer geleiſtet.


Unter den Antiken aber, die ich mitgebracht
habe, iſt ein himmliſcher Bube, ein junger
Apollo
, welcher ſtark mit der Goͤttin wetteifern
wird. Er lehnt ſich mit der linken an einen
Stamm mit uͤber den Kopf geſchlagner rechten;
die ganze Stellung iſt voll Reiz, beſonders der
ſchlanke Zug der rechten Seite. Das Geſicht
bluͤht
[283] bluͤht wonniglich ſeelig und edel in ſeiner Gottheit
auf. Das Leibchen iſt aͤußerſt zart gehalten, und
doch regt und bildet ſich alles. Es iſt eine wah-
re Wolluſt, Venus und ihn zugleich von hinten
zu ſehen, das weibliche und uͤppig buͤbliche des
Gewaͤchſes; Venus iſt ein Schwall von hinten,
etwas ſpeckicht: Apollo lauter ſuͤßer Kern. Eben
ſo kernfleiſchig ſpaltet ſich ſein Ruͤcken; die
Schenkel ſind am vollſten und ſchier zirkelrund.
Die zwey Haͤnde muß ich ergaͤnzen laſſen, und
noch die Naſe.


Der Ausdruck iſt bezaubernd; er empfindet
in ſich, und ſinnt in Stille. Erſte Ahndung
von Verlangen in Ungewißheit; und doch mit
dem entzuͤckendſten Blick der Liebe.


Zwey junge Ringer aus einem Block
Marmor gehoͤren unter die gelehrteſten Arbeiten,
die uns aus dem Alterthume uͤbrig ſind. Sie
ſind im ſchoͤnſten Moment eines Ringſpiels ver-
flochten, und es kann dazu keine auserleſenere
Stel-
[284] Stellung geben. Die angeſtrengten Sehnen zei-
gen ihre Kraft in hoͤchſter Staͤrke, und doch
nicht ſchroff, und nichts erſcheint gekuͤnſtelt,
wie unſre Meiſter ſchon bey Koͤrpern in Ruhe
prahlen.


Noch hab ich Bruchſtuͤcke von einem Mer-
kur,
wo zum Ganzen nur die Haͤnde fehlen.
Das Gewaͤchs iſt zart und ſchlank, der Kopf voll
Schoͤnheit und Kraft; und ſtellt einen klugen
ſinnreichen Juͤngling dar. Er traͤgt einen
Helm, wie einen Teller, mit Fluͤgeln; die
Haare waren abgeſchnitten, und es ſind kleine
Loͤckchen wieder daraus geworden.


Von Gemaͤhlden, deren viel ſind, will ich
dir nur ein Paar von Raphael anfuͤhren:


Pabſt Julius den zweyten. Man kann
nichts Wahres von Geſtalt ſehen; und wie ge-
mahlt! es haͤlt ſich neben dem beſten Tizian.
Erhabenheit und Scharfſinn im Nachdenken bil-
den ein Ideal von heiligem Vater. Welch ein
ge-
[285] gediegnes feſtes Feuer in der ganzen Arbeit!
Der ſchoͤne herabfließende Bart wie herrlich auf-
geſetzt! Haͤnde, Stellung im Stuhl mit beyden
aufgeſtuͤtzt, alles vortreflich. Es iſt die Natur.
Die Stirn iſt ſtark beleuchtet, und geht hervor,
und ſo faͤllt noch Licht auf den Bart; ein Mei-
ſterſtuͤck auch hierin.


Das zweyte iſt ganz klein, wenig uͤber ei-
nen Fuß lang und breit, und von ihm die groͤßte
Seltenheit; jedoch mit aller Liebe in ſeiner beſten
Zeit vollendet.


Gott Vater ſitzt auf einem Adler in den
Luͤften, von zwey Engeln, wovon beſonders der
rechter Hand wunderſchoͤn iſt, an den Armen
leicht gehalten; und unter ihm ſind die vier
Evangeliſten mit ihren Thieren; dann Wolken,
dann Erde mit Baͤumen. Um den Ewigen ver-
geht eine Glorie andrer gefluͤgelter Buben im
Glanze.


Der
[286]

Der Kopf iſt lauter Erhabenheit, ganz der-
ſelbe des Michel Angelo in der Capella Sixtina,
welcher die Sonne ſchaft. Das Nackende der
Bruſt bis auf die bekleideten Schenkel in ſeiner
Kleinheit vollkommen wie eine ſchoͤne Antike.
Er ſtuͤtzt die Fuͤße auf den gefluͤgelten Stier und
Loͤwen, und ſieht jovialiſch gut und ſtark und
maͤchtig in die Beſtien und Menſchen. Haar
und Bart fliegen im Winde. Ein himmliſch
Bildchen; reizende apokalyptiſche Laune!


Bianca freute ſich daruͤber kindlich; und ich
hab ihr damit ein Geſchenk gemacht, weil ichs
fuͤr mich erkaufte. Der Herzog nahm es uͤber-
gnaͤdig auf, und ſie druͤckte mir eifrig die Hand
dafuͤr.


Die Schlaue ſtellt ſich hoch ſchwanger. Jetzt
will er ihr einen Pallaſt in eine unſrer ange-
nehmſten Gegenden bauen laſſen; und ich wur-
de gerufen, alles zu beſorgen.


Flo-
[287]

Florenz, Februar.


Florenz gefaͤllt mir nicht mehr; ich gehoͤre nicht
zu dem Haſengeſchlechte, das nirgends am lieb-
ſten iſt, als wo es geheckt ward. Unſre großen
Maͤnner haben wir gehabt; Tacitus ſagt mit
Recht, daß nach der Schlacht bey Actium in
Rom kein großer Mann mehr aufſtand. Wo
der Buͤrger nichts mehr zu ſagen hat, da iſt es
mit der Vaterlandsliebe eitel Ziererey.


Ein ſo großer Freund ich auch von Geſchaͤf-
tigkeit bin: ſo ekelt mich doch die bloße Schuſter-
und Schneider- und Tuchknappengeſchaͤftigkeit
an. Romulus, der hohe Geiſt, verbot aus gu-
tem Grunde jedem Mitgenoſſen ſeiner Republik
die niedern Handwerke; und dieß wurde her-
nach ſo zur Sitte, daß noch jetzt im dritten
Jahrtauſend die Teutſchen und Spanier und
Franzoſen dieſelben ſchier allein noch in den Rui-
nen der alten Herrlichkeit treiben. Sokrates
wollte
[288] wollte den nicht zum Gefaͤhrten durchs Leben,
der auf Geld und Gut erpicht zu nichts edlerm
Muße haͤtte; und bey den ſtolzen Ottomanen
kann der Ueberwundne und Sklave noch heut zu
Tag alle Schuld deßwegen aufs Schickſal ſchieben.


Florenz macht einen ſtarken Kontraſt mit
Rom, alles regt und bewegt ſich, und laͤuft und
rennt und arbeitet; und das Volk koͤmmt einem
trotzig und uͤbermuͤthig und ungefaͤllig vor gegen
das Stille, Große und Schoͤne der Roͤmer.
Der Roͤmer uͤberhaupt hat gewiß einen hoͤhern
Charakter. Die Politiker moͤgen die menſchli-
chen Ameiſenhaufen ruͤhmen und preiſen ſo ſehr
ſie wollen, und dieſe ſelbſt auf ihre Arbeitſam-
keit ſich noch ſo viel einbilden: Maul und Ma-
gen, denn dieſerwegen geſchiehts doch, iſt war-
lich nicht, was den Menſchen uͤber das Vieh
ſetzt! Wo nicht gemeinſchaftliche Freyheit der
Perſon und des Eigenthums, und Rang in menſch-
licher Wuͤrde vor ſeinen Nachbarn, der erſte Trieb
und
[289] und das Hauptband einer buͤrgerlichen Geſellſchaft
iſt: veracht ich alles andre, und jedes Verdienſt
koͤmmt in kurze Berechnung.


Der Boden traͤgt freylich auch viel hierzu bey;
Rom hat das Mark von dem mittlern Italien,
und Toskana die Knochen, nach dem alten Sprich-
wort. Auch erhebt die Gegend nicht ſo, und Florenz
fehlen die majeſtaͤtiſchen Roͤmiſchen Fernen.


An unſerm Hofe herrſcht eine unertraͤgliche
Langeweile; alles muß ſich in den Ton des
Monarchen ſtimmen.


Der Miniſter iſt geſchwind ſchon ein Kame-
leon geworden, und nimt alle Modefarben an.
Verſchiedne von meinen angegebnen Einrichtun-
gen ſind wieder abgeaͤndert, und die andern wer-
den nachlaͤſſig betrieben. Alle Heilungsmittel
eines Hippokrates ſind vergeblich, wo die Natur
ſich nicht ſelbſt hilft. Ich muß auf und davon,
weil ich das Verderben nicht mehr mit Augen an-
ſehen kann. Wenn man nichts beſſers weiß: ſo
Ardinghello 2ter B. Tmag
[290] mag es ſich ertragen laſſen; o Griechenland und
Rom, wie gluͤcklich macht ihr unſre Phantaſie, und
elend unſer wirklich Leben! Aber wo ſoll ich hin in
dem ganzen jetzigen Italien? da iſt keine Ausflucht,
keine Sphaͤre fuͤr einen geſunden Kopf und Arm zu
handeln. Muth und Geſchick ſchmachtet uͤberall
ohne Gegenſtand und Ausuͤbung wie im Kerker.


Um noch einmal von dem leidigen Miniſter
zu reden: ſo hat der Fuchs ein paar beſtialiſche
Grundſaͤtze angenommen; von welchen der erſte
iſt: man duͤrfe nie geſcheidter ſcheinen, als der
Herr; und der zweyte: alle guten Koͤpfe, denn
jeder iſt ihm ein Dorn im Auge, beſonders Ge-
lehrten, in der Ferne halten.


Fuͤr einen, der gern im Truͤben fiſcht, haͤtte
ſie kein Macchiavell beſſer ausdenken koͤnnen.
Und bey den meiſten Hoͤfen erkennt man gleich
daraus, daß da keine Philippe, Alexander, Caͤ-
ſarn, und Markantonine herrſchen.


Es kann eben keiner hoͤher, als ihm die Fluͤ-
gel gewachſen ſind.


Flo-
[291]

Florenz, Februar.


Unſer Karneval iſt mit einer wirklichen unge-
heuern Tragikomoͤdie beſchloſſen worden, die mir
aber all mein Eingeweyde, Galle und Lunge und
Leber und Herz empoͤrt hat, ſo daß ich hier keine
bleibende Staͤtte mehr finde.


Bianca, wie ich dir ſchon geſchrieben habe,
ſtellte ſich die ganze gehoͤrige Zeit vom Herzoge
ſchwanger an, ſpielte ihre Rolle meiſterlich, und
waͤhlte dieß feſtliche Geraͤuſch, weil zugleich die
erkauften Weiber auf dem Lande die Mutter-
wehen nahe fuͤhlten, niederzukommen. Eine
Woche lang tragodierte ſie die Geburtsſchmerzen;
und der gute Herr war zitternd und zagend fuͤr
ihr Leben bange. Endlich trat gegen Mitter-
nacht die alte abgeſaͤumte Kupplerin von Amme
mit dem eben gebohrnen Knaͤblein, welchem der
Mund mit Wachs verklebt und verbunden war,
daß es nicht ſchreyen konnte, in einer Schachtel
T 2un-
[292] unter dem Mantel, wie mit Geraͤth, zur Thuͤr
in einem Nebenzimmer herein, und winkte das
verabredete Zeichen. Bianca rief alsdenn mit
Hand und Mund zum Herzoge, der mit dem
Kopf in Armen am Fenſter ſtand: „geht, geht,
o Theureſter! o weh! ich fuͤhle mich in der
Entbindung.“


Er ging freudig fort mit den eifrigſten
Wuͤnſchen.


Der Komoͤdie wurde bald ein Ende gemacht.
Die Alte that das Kind heraus, nachdem ſie
das Uebrige der Scene taͤuſchend zubereitet und
die Gebaͤhrerin laut genug geaͤchzt hatte, zog
ihm das Wachs aus dem Munde, und dieß fing
an zu ſchreyen. Sie eilte zum eingebildeten Pa-
pa, und zeigte und frohlockte: „Euch iſt ein Loͤ-
we, ein Loͤwe gebohren, ganz euer Gepraͤge!
O ſeh eure Hoheit das derbe gewundne Ge-
maͤchtchen, wie es den Heldenſaamen ver-
kuͤndigt!“


Ich
[293]

Ich beſchreib es dir Ariſtophaniſch, weil es
ſich gerade ſo zugetragen hat. Ihm war es Goͤt-
terwonne, etwas lebendiges von ſich zu erblicken,
was er noch nie ſchaute; und er kraͤhte vor Jubel,
gleichſam wie ein Hahn, ohne weiter ein Wort
hervorbringen zu koͤnnen.


Dieß iſt eine Poſſe, welche jedoch große
Folgen haben kann, die wir heiß durch die Kam-
merjungfer erfuhren. Dieſe und die Alte moͤgen
ſich vor der hochſtrebenden in Acht nehmen,
wenn ſie nicht bald den Styx und Phlegeton wol-
len ſieden und brauſen hoͤren.


Der andre Auftritt aber iſt graͤßlich.


Don Paolo, der Gemahl der Iſabella,
kam vor wenig Tagen von Rom, und nahm ei-
nen gewiſſen Scherz und Leichtſinn an uͤber ihre
vorige Auffuͤhrung, bis er ſie taͤuſchte, und ſie
froh ſich wieder mit ihm verſoͤhnt glaubte.


Gerade dieſelbe Nacht, wo Bianca ihre
Farſe ſpielte, ſo wunderbar fuͤgen ſich die Bege-
T 3ben-
[294] benheiten! fuͤhrte er ſie nach ſeinem Schlafge-
mach; ſie hatte zwar Anſtand, ihn zu begleiten,
und hielt einigemal ein; ihr Geiſt mochte ihr
Schickſal voraus ahnden! Doch folgte das ergie-
bige Geſchoͤpf endlich ſeinem Haͤndedruck, und
hielt die Racheheißen fuͤr Liebewaͤrme.


Im Zimmer umarmt er ſie, und kuͤßt ſie,
und ſinkt wie unenthaltſam mit ihr aufs Bett.
Als ſie auf der Breite deſſelben ſo hingeſtreckt
liegt: wird ihr hinten ein Strick um den Hals
geworfen von einem gedungnen Moͤrder, und ſie
mit langer Marter erdroſſelt. O du Elender!
warum nicht kurz mit Gift, mit einem Dolch-
ſtich, wenn du ſie doch aus der Welt ſchaffen
wollteſt?


Sie wurde die andre Nacht ſchon zu ihrer
Familie in die Kirche S. Lorenzo begraben;
und man ſprengte aus, ſie ſey ploͤtzlich an einem
Steckfluß geſtorben. Allein ihr ſchwarzes Geſicht
war
[295] war jedem, der ſie zu ſehen bekam, ein unver-
werflicher Zeuge der That.


Ihre Verwandten ſchweigen: aber Florenz
murrt laut, und bejammert das ſcheußliche Ende
ihres noch ſo bluͤhenden Lebens *).


T 4Merz,
[296]

Merz, bey Cortona.


Der Herzog hat mir erlaubt, den kuͤnftigen
Fruͤhling hier auf meinem Gute zu ſeyn; doch
unter der Bedingung, daß ich zuweilen nach
Florenz komme, und den ſchon angelegten Pal-
laſt der Bianca beſorge. Uebrigens hab ich dort
eine gute Parthey fuͤr mich zuruͤckgelaſſen, und
in manchem Hauſe lebt die Hofnung, mich zum
Gemahl und Schwiegerſohn zu erhalten.


Polyb und die Gegend iſt nun mein Ge-
ſchaͤft; und zur Abwechslung bau und pflanz ich.
Der deutliche Sinn mancher Woͤrter in der Tak-
tik der alten Griechen und Roͤmer hat mir an-
fangs bey ihm zu ſchaffen gemacht; doch bin ich
bald durchgedrungen, und damit zu Rande ge-
kommen. Dieß iſt ein Geſchichtſchreiber, wie
ſie ſeyn ſollen; der das verſtand, woruͤber er
ſchrieb, noch zur rechten Zeit lebte, und Men-
ſchen und Oerter kannte.


Unter
[297]

Unter allen Heldenzuͤgen ergreift mich kei-
ner ſo, wie der des Hannibal durch Italien;
und es geſchieht nicht bloß deßwegen, weil ich
Land und Boden und die Geſchichte der kriegen-
den Voͤlker beſſer kenne. Der des Alexander
durch Perſien iſt romantiſcher und hat mehr bar-
bariſches Getuͤmmel um ſich: aber der des Afri-
kaners hat mehr Einheit, Nerve, und Kernathle-
tengeiſt; und es iſt ein ganz ander großes Na-
turſchauſpiel, zwey ſolche Republiken ſich in den
Haaren liegen zu ſehn, als einen bloßen Darius
und Sohn Philipps.


Von ſeinem Satz an uͤber den wilden
ſchnellſtroͤmenden Rhodan unter Avignon, und
kuͤhnem Marſch durch die reißenden Wetterbaͤche,
uͤber den hundertjaͤhrigen Schnee und das ſchnei-
dende Eis der graͤßlichen tiefen Thaͤler und him-
melhohen Alpenklippen, duͤnkt mich in jeder
Schlacht nur ein Olympiſches Fauſtbalgerſpiel zu
ſehen. In der bey der Trebbia, am thraſy-
T 5meni-
[298]meniſchen See, beſonders am Aufidus, packt
er uͤberall mit ſeinem tapfer gebildeten Haufen
ſo gewandt ſeinen ſtarken ungelenken Gegner,
und wirft ihn zu Boden, und ſchlaͤgt ihm Zahn
und Naſe und Ohren und Backen in einen bluti-
gen Brey zuſammen. Er verſtand die Kunſt zu
ſiegen, wie keiner; behandelte Armeen von hun-
derttauſenden vor und mitten und nach der
Schlacht wie einen einzelnen Mann, an jedem
Fleck, bey jeder Schwaͤche voll Vorſicht, Be-
wegſamkeit, Muth und Schlauheit, und Ge-
genwart der Seele: bis auf ſo einfache Grund-
ſaͤtze hatte er das weitlaͤuftige Kriegshandwerk
von der erſten Jugend an gebracht. Halbgoͤtter
erkennt man erſt recht bey wichtigen Zeit-
punkten.


Welche Reihe Thaten nach einander! Was
ſind Millionen Menſchen gegen dieſen einen, die
ihr Leben lang nicht eine einzige ſolche Stunde
haben! Ein Heldengedicht moͤcht ich ſingen uͤber
ihn
[299] ihn von den Pyrenaͤen an bis wo die Scylla um
den Fuß des Apennin rauſcht.


Wie ein aͤchter unbezwinglicher raͤcheriſcher
Loͤwe ſtreift er Italien durch, reißt Rinder und
bloͤckende Heerden nieder; und das vom Homer
ſchon verbrauchte Gleichniß iſt zum erſtenmal
wahr geworden.


Das Roͤmiſche Volk, das ſeine Bildſaͤulen
in die Straßen ſtellte, wo ſie am furchtbarſten
geſehen wurden; und ſich hernach ſeinetwegen
noch an den Mauerſteinen von Karthago erei-
ferte: zeigt den Mann auch bey dem Feind, und
anders als die ungerechten Horaze und Liviuſſe;
und Virgil kruͤmmt dem Ueberwinder bey Kan-
naͤ mit ſeiner Hofſpoͤtterey der Dido kein
Haar.


Der Ausbund von Karthaginenſern ging
dem Roͤmiſchen Staatskoͤrper auf das Herz los;
und außerdem kannt er die Menſchen gut genug,
um zu wiſſen, daß jeder ſeine groͤßten Feinde in
der
[300] der Naͤhe hat: und fand es ſo bey den welſchen
Galliern.


Die Schlacht an meinem See ziert mir
hier die Gegend ganz anders aus, als Konſtan-
tins Schlacht vom Raphael das Vatikan. Die
furchtbaren Woͤrter, die wunderbar davon noch
immer uͤbrig geblieben ſind, als Ponte San-
guinetto
*), Oſſaja**), Spelonca***),
gehen mir immer wie eine Brandfackel in die
Seele, wenn ich da herumreite; ſo daß ich zu-
weilen vor Hitze und Ungeduld nicht auf dem
Pferde bleiben kann, und herunter in ein
Wirthshaus muß, um einen friſchen Zug zu thun
von Roͤmergrimm, der hier ins Graß biß, und
noch die Weinfelder duͤngt.


Treve,
[301]

Treve, April.


Ich ſchreibe dir im Fluge, weil ich dich kuͤnfti-
gen Sommer bey mir haben muß, um dir die
Schoͤnheit und den Reiz auch meiner Gegenden
zu zeigen, und ſie mit dir zu genießen; gluͤckli-
cher noch, als ich mit dir die Lombardey an dei-
nem Lago genoß. Mache dich bey Zeiten auf,
und kehre bey meiner Tante zu Florenz ein, wo
wir uns treffen werden.


Ich lag bey Paſſignano, nicht weit von
meiner Wohnung, auf einer fruchtbaren Anhoͤ-
he, wo man den See uͤberſchaut, unter hohen
Ulmen und Eichen, zwiſchen alten Oelbaͤumen
und Cypreſſen und bluͤhenden Wipfeln, den
neuen Geſang der Nachtigallen um mich, noch
fruͤh am Morgen; und that nichts, als hoͤren
und betrachten in Freude, wie ein Kind ohne
weitere Gedanken; doch ahndeten ſuͤße Regungen
in meinem Herzen entzuͤckende Dinge.


Und
[302]

Und ſieh!


auf einmal reitet aus dem Hohlwege,
mit einem Bothen voran, ein junger Ritter her-
vor auf einem kaſtanienfarben koͤniglichen Roſſe,
dem auf einem andern ein Mohr folgt. Eine
Engelsgeſtalt der Juͤngling, wie er naͤher kam
in rundem Hut mit Federbuſch, kurzem ſpani-
ſchen ſcharlachnen Mantel, Halbſtiefeln, die
vollen Schenkel und den ſchlanken Leib in wei-
ches Leder gekleidet, ein blitzend Schwert uͤber
den Ruͤcken an ſeinen Lenden, und Piſtolen im
Sattel.


Ich kannte das halbverſteckte Geſicht, und
wußte mich nicht drein zu finden. Iſt ſie es,
oder taͤuſch ich mich? fuhr ich ſchnell auf, wie
der reizende Ritter bald bey mir war.


Er erblickte mich, hielt ein mit laͤchelnder
Verwundrung, ſprang vom Pferde: und Fior-
dimona und ich hielten uns umſchlungen mit Won-
neglaͤnzenden Blicken, gierigen Seelenkuͤſſen.


Ich
[303]

Ich ſchrieb ihr noch von Florenz aus; auch
ſie begab ſich ohne weitere Nachricht auf eins ih-
rer Guͤter in der Nachbarſchaft, wovon ſie mir
nie etwas geſagt hatte; und kam nun mich zu
uͤberraſchen und zu einer Luſtreiſe abzuhohlen.
Zu Perugia, wo ſie den Tag zuvor eintraf, ſaß
ſie gegen Morgen noch in der Dunkelheit auf,
und war bey mir in wenig Stunden.


Sie blieb nur zwey Goͤttertage bey mir;
alles was zu Cortona Liebe fuͤhlen kann, gerieth
ſchon im Voruͤbergehen bey ihrer Annaͤherung in
eine ſolche Feuersbrunſt, daß wir uns ploͤtzlich
in der Stille davon machen mußten, damit mei-
ne Wohnung nicht wie Loths Haus belagert
wuͤrde.


Fiordimona veraͤnderte ihre Kleidung in
etwas, und ich gab ihr andern Hut und Man-
tel, um weniger bemerkt zu reiſen. Sie ſcherz-
te ſelbſt uͤber ihren vorigen Putz, und daß die
Weiber ihn nie vergeſſen koͤnnten; und ſo ver-
kapp-
[304] kappten wir noch ihre Mohrin. Ich nahm mei-
nen jungen treuen Schweizer Haͤl, einen Gems-
jaͤger aus Wallis von den Quellen des Rhodan
mit mir; und Paar und Paar zogen wir in der
Nacht ab. Vorher ſchrieb ich an den Herzog
eine nothwendige Luͤge; und an meine Tante um
ein paar ſtarke Wechſel.


Zu Perugia weideten wir uns inniglich,
nach eingenommenem Fruͤhſtuͤck, an den Raphae-
len, welcher ihr Liebling iſt, und den Werken
ſeines Lehrmeiſters. Ritten dann die Hoͤhen
herab nach den anmuthigen Thaͤlern, und uͤber
die Johannisbruͤcke, worunter der Tyberſtrom
reißend in rauſchenden wilden Fluthen wegſchießt;
und hielten Mittagsraſt auf dem ſchoͤnen Huͤgel
Aſſiſi im heiligen Kloſter.


Die Nacht blieben wir in Fuligno. Den
Morgen darauf zogen wir durch das reizende
Thal, das an mahleriſchen Schoͤnheiten und
Fruchtbarkeit ſeines gleichen naͤchſt der Lombardey
viel-
[305] vielleicht nur wenig auf dem ganzen Erdboden
hat; und ſchieden uns bey Treve abgeredeter
Maaßen.


Sie begab ſich wieder auf ihr Gut, welches
nicht weit davon liegt; und wo wir zuſammen
koͤnnen, wenn wir wollen.


Mein Luſtoͤrtchen hat die ſchoͤnſte Lage der
ganzen Gegend, und iſt an einen runden nicht
hohen Berg die Haͤlfte herum gebaut, der einen
weiten Olivenwald ausmacht. Die Menſchen
ſcheinen ſich wie Voͤgel in die Baͤume mit ihren
Haͤuſern obenhin geniſtet zu haben. Man uͤber-
ſieht von hier aus das ganze Thal von Spoleto
bis Fuligno, Aſſiſi und Perugia; und der Fle-
cken heißt mit Recht der Redeplatz (la Ringhiera)
von Umbrien.


Fiordimona hat ihren Aufenthalt in uͤppi-
gen Gaͤrten von Fruchtbarkeit und Lieblichkeit
bey den Quellen des Clitumnus (le Vene),
die am Fuß des hoͤchſten Bergs im ganzen Um-
Ardinghello 2ter B. Ukreis,
[306] kreis, Campello, aus einem Felſen kommen
mit vielen uralten Feigenbaͤumen bewachſen in
unzehlbaren Spruͤngen. Es iſt ein unausſprech-
liches Vergnuͤgen, wie das klare, kryſtallhelle,
friſche geſunde Naß aufquillt, von der Macht zu
zarten Blaͤschen getrieben, unter dem erfreuli-
chen Schatten; alles innerlich ſich regt und be-
wegt, und die Fuͤlle von ſelbſt auf ebner Flaͤche
fortrinnt. Nahe dabey wallen ſie in Baͤchen zu
den Gaͤrten Fiordimonens hinein, und draͤngen
ſich da in einen lebendigen Teich zuſammen, deſ-
ſen Ufer hohe Ahornen, Pignen, Lorbeern,
Reben und Haſelſtauden beſchatten; und aus
dieſem ſtroͤmt der Clitunno ſchon ein anſehnlicher
Fluß, voll ſchneller Forellen, ſo daß ich in Ita-
lien keine ſo ſtarke Quellen kenne.


Etwa tauſend Schritte davon ſteht ein klei-
ner Tempel mit korinthiſchen Saͤulen zierlich
in der Ferne, obgleich aus ſpaͤtern Zeiten, dem
Flußgott zu Ehren, der den Roͤmern ihr Vieh
ſo
[307] ſo weiß machte. Auch haben wirklich alle Rin-
der dieſes Thals ein glaͤnzendes Silberweiß, und
ſind außerordentlich gutartig mit ihren ungeheu-
ern großen Hoͤrnern. Der Strom, denn dieſen
Namen darf man ihm wohl geben, bleibt das
ganze lange Thal durch kryſtallhell.


Ich gebe mich in meinem Wirthshauſe fuͤr
einen Mahler aus; und warlich iſt da genug
zu mahlen und zu zeichnen an Menſchen, Vieh,
und den Bergen mit ihren herrlichen Formen
und Tinten, wenn mir Zeit dazu uͤbrig bliebe.
Die ganze Naͤchte ſteck ich bey Fiordimonen, und
wir muͤſſen zuweilen unſern Brand bey der hei-
ßen Witterung in dem lieblichen See des Cli-
tunno abkuͤhlen, denn ſie ſchwimmt wie ein
Fiſch, von zarter Kindheit dazu angelehrt; wo
wir die Schwaͤne von ihrem Schlummer aufwe-
cken, deren ſie eine Heerde darauf hat. Dieſer
Koͤnig der Waſſervoͤgel iſt ihr Lieblingsvogel;
und wo gibt es auch einen ſchoͤnern? und ein lo-
U 2ckender
[308] ckender lebendiger Bild der Luſt, wenn ſie ihre
Haͤlſe umflechten, und Entzuͤcken leis kreiſchen
und zuſammengirren, und mit ihren Fluͤgeln
ſchlagen, daß der Geſang der Nachtigall davor
verſchwindet, und zu geſchwaͤtzigem und unauf-
hoͤrlichem Getoͤn wird. Die meiſten laͤßt ſie
wild fliegen; ſie kennen das Plaͤtzchen, und
kommen immer wieder.


Morgen geht die Woche ſchon zu Ende,
ſeitdem wir hier ſind; Himmel wie ſchnell! wir
wollten nur einen oder zwey Tage Halt machen,
aber es war gar zu erfreulich. Sie laͤßt alles
zuruͤck, und die Mohrin, und begleitet mich al-
lein. Uebermorgen in der Nacht brechen wir
heimlich auf, und ſtreichen weiter; im Hauſe
glaubt man, daß ſie nach Rom reiſe.


Terni,
[309]

Terni, May.


Ich bin im Himmelreiche! Wie ein paar kuͤh-
ne Adler jagen wir durch die weiten Luſtreviere!
Freyheit, Quellenjugend, und feurige Liebe und
Zaͤrtlichkeit!


Geſtern Abend kamen wir durch den rauhen
Wald und das wilde Gebirg von Spoleto hier
an; und dieſen Morgen ſind wir gleich nach
dem neuen Sturz des Velino in aller Fruͤhe
ausgezogen. Wir wollten ihn zuerſt von oben
betrachten.


Der Weg dahin iſt voll reizender Ausſich-
ten; die Berge woͤlben ſich immer einer hoͤher
als der andre weiter fort gen Himmel, um
gleichſam dieſes Paradies ganz von der irrdiſchen
Welt abzuſondern. Die Sonne ging eben auf,
als wir nach der Hoͤhe zu ritten, gerade uͤber
dem Gebirg den Felſenriß hinein, worin eine
U 3herr-
[310] herrliche See von befruchtendem Thaunebel in
der Mitte ſchwamm.


Der Waſſerfall iſt nur eine entzuͤckende
Vollkommenheit in ſeiner Art, und es mangelt
nichts, ihn hoͤchſt reizend zu machen. Ein ſtar-
ker Strom, der feindſeelig gegen ein unſchuldi-
ges Voͤlkchen handelte, muß ſich gebaͤndigt durch
einen tiefen Kanal ſtuͤrmend in wilden Wogen
waͤlzen, mit allerley ſuͤßem lieblichen Geſtraͤuch
umpflanzt, als hohen gruͤnen Eichen, Ahornen,
Pappeln, Cypreſſen, Buchen, Eſchen, Ulmen,
Seekirſchen; und in die graͤuliche Tiefe ſenkel-
recht an die zweyhundert Fuß hinab ſtuͤrzen,
daß der Waſſerſtaub davon noch hoͤher von unten
herauf ſchlaͤgt. Alsdenn tobt er ſchaͤumend uͤber
Felſen fort, breitet ſich aus, rauſcht zuͤrnend um
gruͤne Bauminſeln, und haſtig ſchießt er in den
Grund von dannen, zwiſchen zauberiſchen Gaͤr-
ten von ſelbſtgewachsnen Pommeranzen, Zitro-
nen, und andern Frucht- und Oelbaͤumen.


Sein
[311]

Sein Fall dauert ſieben bis acht Sekunden,
oder neun meiner gewoͤhnlichen Pulsſchlaͤge von
der Hoͤhe zur Tiefe. Das Aufſchlagen in den
zuruͤckſpringenden Waſſerſtaub macht einen he-
roiſch ſuͤßen Ton, und erquickt mit nie gehoͤrter
donnernder Muſik und Veraͤndrung von Klang
und Bewegung die Ohren; und das Auge kann
ſich nicht muͤde ſehen.


Fiordimona jauchzte vor Freude in das all-
gewaltige Leben hinein, und rief außer ſich un-
ter dem brauſenden Ungeſtuͤm: „es iſt ein Kunſt-
werk ſo vollkommen in ſeiner Art, als irgend
eins vom Homer, Pindar, oder Sophokles,
Praxiteles und Apelles, wozu Mutter Natur
Stoff und Hand lieh.“


Gewiß aber laͤßt es ſich mit keinem andern
vergleichen, und iſt einzig in ſeiner Art; die
große Natur der herrlichen Gebirge herum, der
friſche Reiz und die liebliche Zierde der den Sturz
vor dem Fall umfaſſenden Baͤume, das einfache
U 4Ganze,
[312] Ganze, was das Auge ſo entzuͤckt, auf einmal
ohne alle Zerſtreuung; ſo wolluͤſtig verziert, und
doch ſo voͤllig wie kunſtlos, naͤhrt des Menſchen
Geiſt wie lauter kraͤftiger Kern.


Wir ſaßen alsdenn wieder auf, und ritten
dem Velino oben weiter entgegen, bis wir eine
kleine Stunde vor dem Sturz an ſeinen See ka-
men, worin er ſich klar waͤſcht. Die Mannich-
faltigkeit des Stroms von hier aus, der bald
langſamere bald ſchnellere Lauf, das mit ſchoͤner
Waldung eingefaßte Bett uͤberall, der See in
ſeiner Rundung von einem Amphitheater ſich
nacheinander verlierender hoͤchſter Gebirge umla-
gert; alles, das fruchtbare Thal der Scene,
der ehemalige Streit der Nachbarn um ihn
macht dieſen Waſſerfall immer wunderbarer und
ergreiffender.


Man hat ihn ſchon abgemahlt und zeigte
mir geſtern bey unſrer Ankunft die Kopie von
dem Original. Aber gemahlt bleibt er immer
ein
[313] ein armſeliges Fragment ohn alles Leben; weil
kein Anſchauer des Gemaͤhldes, der die Natur
nicht ſah, ſich auch mit der bluͤhendſten Phanta-
ſie das hinzuzudenken vermag, was man nicht
andeuten kann. Und uͤberhaupt iſt es Frech-
heit von einem Kuͤnſtler, das vorſtellen zu wol-
len, deſſen weſentliches bloß in Bewegung be-
ſteht. Tizian zeigt kluͤglich allen Waſſerfall nur
in Fernen an, wo die Bewegung ſich verliert und
ſtille zu ſtehen ſcheint.


Terni ſelbſt, das Vaterland des erſten Ge-
ſchichtſchreibers Tacitus, liegt aͤußerſt angenehm
zwiſchen lauter Gaͤrten. An der Nordſeite er-
hebt ſich noch ein Bogen von Huͤgeln mit luſtigen
Landhaͤuſern, meiſtens zwiſchen Oelbaͤumen, die
einen kleinen Wald ausmachen.


Aus der Nera, worin der Velino ſeinen
Namen verliert, werden eine Menge Kanaͤle
abgeleitet, die die Stadt und alles Land herum,
U 5unter
[314] unter immer lebendigem Rauſchen, zur hoͤchſten
Fruchtbarkeit bewaͤſſern.


Tivoli hatte einen ſo großen Reiz fuͤr die
alten Roͤmer, weil es nahe an Rom lag, und
wegen der weiten Ausſicht in die Ebnen herum
bis ans Meer. Es hat etwas feyerliches, was
Terni nicht hat. Aber dieß hat im Grunde groͤ-
ßere Natur um ſich her, und laͤßt an Fruchtbar-
keit mit Tivoli gar keine Vergleichung zu; dieſes
iſt duͤrres und oͤdes Land meiſtens, und Terni
lauter Mark.


Die Roͤmer verſtunden zu leben! ſie genoſ-
ſen den wahren Reiz von jedem, und wußten zu
waͤhlen aus tauſenderley Erfahrungen. Scipio
der juͤngere
waͤhlte Terni, deſſen Landſitz man
noch zeigt; der aͤltere Cajeta; und ſeine erhab-
ne Tochter Kornelia das Miſeniſche Vorge-
birg
, welche letztern Oerter wegen des Meers
freylich uͤber alles gehen; denn nichts iſt doch
leben-
[315] lebendiger als das Meer, und hat mehr Man-
nichfaltigkeit und Bewegung. O wie freu ich
mich, das alte gluͤckſeelige Bajaͤ bald zu
finden!


Die Terner erweiſen uns alle Ehre, und
dieß ſetzt Fiordimonen nicht wenig in Verlegen-
heit; ſie befuͤrchtet erkannt zu werden; und au-
ßerdem wollen ſich ihre muthwilligen Bruͤſte,
ſtolz auf ihre junge Schoͤnheit, mit aller Kunſt
nicht vollkommen verbergen laſſen. Dieß macht
mich oft laͤcheln, und ſie erroͤthen. Wir bege-
ben uns deßwegen platterdings in keine ſitzende
Geſellſchaft, und ſind gegen Abend wieder nach
dem Waſſerfall unten hin geritten; morgen eilen
wir weiter.


Unten iſt man recht der Mutter Natur im
Schooß, und genießt die Hoͤhen und Tiefen der
Erde, ihr Schaffen und Wirken, und die Fuͤlle
ihres Lebens. Ein enges Thal von neuen und
aͤußerſt
[316] aͤußerſt reizenden Kontraſten; welſche Milde
und Schweizerrauheit vereinbart. Himmelan-
ſtrebende Gebirge, donnernder Waſſerſturz, her-
einbrauſende wilde Fluthen; und daneben: die
zarten Pommeranzen- und Oelbaͤume, Lorbeern-
gaͤnge, ſuͤße Reben und Feigen; und mitten
drin im Felſen eine Kapelle der heiligen
Roſalia
, die Bildſaͤule der Heiligen, die auf
einem weichen Lager ruht, mit Blumen bekraͤnzt,
um ſie her leisſchwebende Engel.


Por-
[317]

Portici, Junius.


Die Freude laͤuft mir durch alle Glieder, daß
du mich beſuchen willſt; o ein Goͤtterjahr dieß
Jahr in meinem Leben! Ich habe meiner Tan-
te ſchon geſchrieben, Quartier fuͤr dich bereit zu
halten; bey meiner Ankunft hoff ich dich zu Flo-
renz zu treffen. Die naͤchſten Tage werden wir
von hier abreiſen.


Von unſern Abentheuern haͤtt ich dir ſo
viel zu erzehlen, daß ich jetzt nicht wuͤßte, wo
ich anfangen ſollte; ich verſpar es bis wir Her-
zen und Seelen muͤndlich gegen einander aus-
ſchuͤtten. O welch ein Jubel, mit dir noch durch
die bezaubernden Plaͤtze von Umbrien zu ſtrei-
chen! Fiordimona und ich ſind nun voͤllig ein
Weſen, ſo zuſammengeſchmolzen von tauſendfa-
chem Entzuͤcken; alles hohe und ſchoͤne, kuͤhne
und heroiſch erduldende der menſchlichen Natur
iſt in ihr vereinbart. Endlich werden wir denn
doch
[318] doch noch das Band der Ehe der buͤrgerlichen
Ordnung wegen tragen; aber warlich nicht deß-
wegen, daß es uns zuſammen halten ſoll. O
ſie iſt der gluͤckliche Hafen aller meiner ſtuͤr-
miſchen Wuͤnſche! Wir kennen uns nun von
innen und außen bis auf unſre geheimſten Re-
gungen.


Unſre Reiſe war eine immerwaͤhrende Au-
genluſt. Wir haben den Weg uͤber Monte Caſ-
ſino
genommen. Hier fuͤhlt man erſt recht die
Schoͤnheit von Italien, und hat ſinnlich vor
ſich, wie ſich der Apennin in ſeiner ganzen Ma-
jeſtaͤt durch deſſen Mitte lagert, zur Erfriſchung
mit ſeinen luftigen und waldichten Gipfeln fuͤr
den Sommer und reizenden Thaͤlern und Ebnen
an beyden Meeren fuͤr den Winter. In weiten
Kreiſen thuͤrmt ſich immer ein Gebirg uͤber das
andre, und das Farbenſpiel geht in unendlichen
Hoͤhen und Tiefen durch alle Toͤne in ſuͤßen und
furchtbaren Harmonien.


Der
[319]

Der heilige Benedikt hat treflich fuͤr ſeine
Schaar geſorgt, und die Moͤnche zu Monte
Caſſino
leben wie die Fuͤrſten. Jeder hat ſeine
drey Bedienten, das Koſtbarſte vom Lande zu
eſſen und zu trinken und ſchlaͤft in weichen Bet-
ten auf Stahlfedern. Das Uebrige verſteht ſich
von ſelbſt; aus Vorſorge bereitete ich meiner
Fiordimona eine Krankheitsſchminke, und gab
ſie fuͤr meinen Bruder, einen Saͤnger aus, der
ſeiner Geſundheit wegen in die Baͤder von Bajaͤ
zoͤge. Und kaum ſo ſind wir durchgekommen;
denn die ſchelmiſchen Faune witterten doch die
bluͤhende Geſundheit und das Fleiſch wie Man-
delkern unter dem angeſtrichnen Gelb.


Ihr praͤchtiges Kloſter liegt auf einem ſtei-
len Abſatze von einem der hoͤchſten Berge, von
unten wie eine Burg des Zevs, nur daß umge-
kehrt von oben das Wetter des Jahrs wenigſtens
ein paarmal da einſchlaͤgt, und wird in kurzer
Ferne von einem ſtolzen Amphitheater von Ge-
birgen
[320] birgen umgeben, wo die Sonne bey ihrem Un-
tergang immer neue zauberiſche Schauſpiele her-
vorbringt.


Wir haben uns nur einen Tag zu Neapel
ſelbſt aufgehalten, und ſind gleich aufs Land hie-
her gezogen, wenn man es Land nennen kann;
denn Portici iſt gleichſam nur Vorſtadt: bewoh-
nen den Garten einer jungen Wittwe, von Ta-
rent gebuͤrtig, die mit Recht den lieblichen Na-
men Candida Grazioſa fuͤhrt, im beſten Punkt,
dieß wirkliche Paradieß zu beſchauen; denn von
Neapel aus iſt das goͤttliche Meer zu einge-
ſchloſſen.


Die Stadt ſelbſt ſieht man hier am wahr-
ſten und beſten; ſie iſt ſo recht ein Sitz des Ver-
gnuͤgens, voll Adel, voll der lebhafteſten Men-
ſchen, rundum in Schoͤnheit und Fruchtbarkeit!
zu ſtrenger und erhabner Weisheit iſts faſt nicht
moͤglich, hier zu gelangen. Zur linken die rei-
zende Kuͤſte von Sorrent; dann die Fahrt nach
Ely-
[321] Elyſium Sizilien; dann die Inſel der Freuden
des Tiberius, Capri; dann die unendlichen
Gewaͤſſer breit und offen, wo ſich das Auge ver-
liert; und daneben und daruͤber hin die alten
Feuerauswuͤrfe der Inſel Iſchia, und Procida,
und den entzuͤckenden Strich Huͤgel des Pauſi-
lipp, und das Gebirg der Kamaldolenſer; wel-
che bezaubernde Mannichfaltigkeit! darunter wie-
der das Gemiſch von unzehlbaren Felſenhuͤtten
von Neapel, wo eine halbe Million Menſchen
ſich guͤtlich thun; und bey uns, hinter dem ſchuͤch-
ternen Portici, in ſchrecklicher Majeſtaͤt Veſuv.
Ein aͤchter Wonneſchaͤumender Becher rundum
dieſer große Meerbuſen!


Hier ſchwimmt alles und ſchwebt in Luſt,
im Waſſer, am Ufer, und auf den Straßen.
Die Feuermaſſen ſcheinen dieß Land der Sonne
naͤher zu ruͤcken; es ſieht ganz anders, als die
uͤbrige Welt aus. Gewiß waren alle Planeten
ehemals ſelbſt Sonnen, und ſind nun ausge-
Ardinghello 2ter B. Xbrannt,
[322] brannt, und Neapel iſt noch ein Reſt jener ſtol-
zen Zeiten. Man glaubt in der Venus, im
Merkur, einem hoͤhern Planeten zu wohnen.
Immerwaͤhrender Fruͤhling, Schoͤnheit und
Fruchtbarkeit von Meer und Land, und Geſund-
heit von Waſſer und Luſt.


Gleich die erſte Woche haben wir uns mit
der ganzen Gegend und der beſondern Art Men-
ſchen bekannt gemacht; und den dritten Tag
ſchon waren wir oben auf dem Vulkan, und ge-
noſſen den Anblick der hoͤchſten Gewalt in ſeinem
Krater, die man auf Erdboden ſchauen kann.
Die Riſſe von unten heraus, trichterfoͤrmig,
gehen uͤber alle Macht von Wetterſchlaͤgen, auf-
fliegenden Pulverthuͤrmen und Einbruͤchen ſtuͤr-
menden Meeres. Erdbeben, die Laͤnder bewe-
gen, wie Winde Waſſerflaͤchen, ſind dagegen
nur ſchwache Vorboten. Man glaubt in die
Wohnung der Donnerkeile wie ein Schlangen-
neſt hineinzuſehen, ſo blitzſchnell iſt alles aus
uner-
[323] unergruͤndlicher Tiefe geriſſen, von Metall be-
ſpritzt und Schwefel beleckt: ein entzuͤckend ſchaue-
rig Bild allerhoͤchſter Wuth.


Sein Gipfel beſteht aus lauter Schlacken;
dieß gibt ihm von fern eine haarichte Rieſenge-
ſtalt. Dann waͤchſt lauter Heyde; und dann in
der Mitte fangen Gaͤrten und Baͤume an.


Der Veſuv iſt augenſcheinlich ein uralter
Berg, deſſen Krater einſt zuſammenſtuͤrzte, wo-
von die Riſſe noch an der Somma zu ſehen ſind.
Alsdenn hat er ſich vom neuen durch viele Aus-
bruͤche wieder aufgethuͤrmt. Vorher war es ein
einziger Berg; jetzt mag er nicht ſo ſchoͤn mehr
ſeyn, aber deſto furchtbarer.


Wir ſind mehr als einmal oben geweſen,
ſo hat uns dieß Schauſpiel und die Ausſicht
ergoͤtzt.


Unſer Aufenthalt im Garten der Candida
hat uns großes Vergnuͤgen gewaͤhrt, aber auch
viel von unſrer Freyheit benommen; und iſt Ur-
X 2ſach,
[324] ſach, daß wir fruͤher zuruͤckreiſen, als wir woll-
ten. Neben an bewohnt einen andern die Ge-
liebte des Sohns vom Vicekoͤnig, eine reizende
Spanierin, kaum ſechszehn bis ſiebzehn Jahre
alt, ſogenannte Graͤfin von Coimbra. Dieſe
brennt vor Leidenſchaft gegen Fiordimonen; und
Candida hat ſich mit weniger Geſchmack, aber
beſſerm Inſtinkt in mich und meinen jungen
Bart vergafft. Beyde ſind wir ſo belagert.
Coimbra iſt eiferſuͤchtig auf mich, und Candida
auf Fiordimonen, und der Sohn vom Vicekoͤnig
ward es endlich auf uns beyde, und ſchoͤpfte Ver-
dacht gegen alle. Die Komoͤdie fing ſich damit an.


Wir kauften gleich bey unſrer Ankunft
in Neapel eine Laute und Zithar zum Zeitver-
treib; und die erſte Nacht in Portici hielten
wir einen Wechſelgeſang. Coimbra ward ent-
zuͤckt ſchon von der Stimme Fiordimonens, die,
moͤcht ich ſagen, wie ein Arm ſo ſtark aus ihrer
Kehle ſtroͤmt mit aller Geſchmeidigkeit und
Man-
[325] Mannichfaltigkeit, vom leiſen Lispel bis zum
Sturm, und in Laͤufen von erſtaunlichem Um-
fang, jeder Ton perlenrein und herzig.


Den andern Abend hoͤrten wir ein Lied von
unſrer Nachbarin, wozu ſie ſich auf einem Pſal-
ter begleitete. Ihre Stimme iſt nur ſchwach, ein-
fach, und von wenig vollen Toͤnen, aber ſilbern
und ſuͤß von Empfindung; was ſie ſang, war ein
Meiſterſtuͤck ſpaniſcher Poeſie, und wir haben
davon nur die erſten Strophen behalten.


Quando contemplo el cielo

de innumerables luces adornado;

y miro hazia el ſuelo

de noche rodeado

en ſueño y en olvido ſepultado:

El amor y la pena

deſpiertan en mi pecho un anſia ardiente,

deſpide larga vena

los ojos hechos fuerte,

O[ ]loarte, y digo al fin con voz doli[e]nte:

X 3Mo-
[326]
Morada de grandeza

templo de claridad y hermoſura,

el alma, que a tua alteza

Naciò, que desventura

la tiene en eſta carcel baxa eſcura? —

Der
[327]

Der Juͤngling war vermuthlich bey ihr;
denn wir hoͤrten hernach ſprechen und ſeufzen
und Stille zu Kuß und Umarmung in der dich-
ten Laube.


Ach, es war in der That ein ſchoͤner Abend!
kuͤhlender Duft ſenkte ſich nieder, und huͤllte
nach und nach das Gebirg ein, alles wurde ver-
wiſcht und Form daͤmmerte nur unten, indeß
oben die reinen vollkommnen Sterne blinkten.
Wir meinten, wir muͤßten uns ſogleich mit dem
Liede der holden Spanierin empor heben, und
unſre Stelle verlaſſen. Es iſt unten doch alles
ſo Nichts, wenn es nicht von dem klaren himm-
liſchen Licht ſeine Geſtalt empfaͤngt!


Dann ging der ſtille Mond am wilden dam-
pfenden Veſuv auf; dunkel lag das Meer noch in
Schatten, und erwartete mit unendlichen leiſen
plaͤtſchernden Schlaͤgen ſeine Ankunft. Die Men-
ſchen kuͤhlen ſich ab in den Fluthen, machen Cho-
rus, und ſcherzen und genießen weg ihr Daſeyn.


X 4Es
[328]

Es iſt entzuͤckend, wie man die Erde mit
ſich gen Oſten unaufhaltbar fortrollen ſieht, und
die ganze Harmonie des Weltalls fuͤhlt!


„Du biſt gluͤcklich Mond, ſeufzte Fiordi-
mona; du laͤufſt deine Bahn ewig fort, dein
Schickſal iſt entſchieden!“


„Ach Gott, wer wuͤßte, was das Licht
waͤre, das ſo ſchoͤn leuchtet, und es erkennen
koͤnnte! es iſt doch gewiß ein heilig Weſen;
und todt iſt es nicht, weil es ſich ſo ſchnell fort-
bewegt!“


„O wer in den großen Maſſen, Himmel
und Meer und Mond und Sternen, Frescobal-
di, an deinem liebevollen Herzen immer ſo
ſchweben koͤnnte! Was dieß fuͤr eine Ruh und
Seeligkeit iſt! man athmet ſo recht aus und
ſchoͤpft mit jedem Zuge Luſt und Erquickung!“


Denke noch zu ſolchen Wonnelauten, un-
mittelbar von ihren Quellen, Kuß und Blick und
Umarmung der Erhabnen!


Colm-
[329]

Coimbra machte hernach mit uns Bekannt-
ſchaft, und redt uns zuerſt an, als wir einander
auf einem Spaziergange begegneten; ein durch-
aus gefuͤhlig zartes Weſen, worin aber kuͤhne
Blitze von Leidenſchaften herumkreuzen. Woͤrt-
liche Liebeserklaͤrung erfolgte bald, wie Fiordi-
mona ſich zu unerfahrner Juͤngling bey Haͤnde-
druck und ſchmachtenden Seufzern und Blicken
bezeugte. Fiordimona ſpielte ihre Rolle treflich,
um ſich nicht erkennen geben zu duͤrfen, und
Thaͤtlichkeiten bis zu unſrer Fortreiſe abzuhalten;
und wir ſind waͤhrend der Zeit in der ganzen Ge-
gend herumgeſtrichen, und wenig anders zu Hau-
ſe geblieben, als zu ſchlafen. Von Quartier
wollten wir nur im hoͤchſten Nothfall aͤndern,
wegen Anlaß vielleicht zu gefaͤhrlichen Auftritten.


Am meiſten ſind wir zu Bajaͤ, am Pau-
ſilipp, und einige Tage an der Kuͤſte von Sor-
rento geweſen. Von allen dieſen Zaubereyen
muͤndlich weitlaͤuftig.


X 5Zu
[330]

Zu Bajaͤ iſt ein Wunder der Natur an dem
andern; und in der alten Roͤmer Zeiten war
noch dabey ein Wunder der Kunſt an dem an-
dern, wovon die herrlichen Ruinen außer den
Beſchreibungen der Dichter zeugen. Was der
Archipelagus ſeyn muß, wo das immerwaͤhrende
Leben ſo um unzehlbare Inſeln herumwallt,
wie hier nur um drey oder vier? Gluͤckliche
Griechen! wenigſtens zwey Drittel bewohnten
und bewohnen noch ſchoͤne Seekuͤſten.


Das Grabmal Virgils, an deſſen Aecht-
heit man keinen Grund zu zweifeln hat, iſt in
der That ein ruͤhrender Winkel, der innerſte
Punkt des alten Parthenope; der Mittelſitz der
Ruhe von der See her, die Spitze des Winkels
von der Bucht. Ich wuͤnſchte ſelbſt an einem
ſolchen Ort meine Aſche; ohne Pomp, ſtill, ein
kleines Gemaͤuer. Es liegt gerad am Pauſilipp
in der Hoͤhe uͤber der vor Alters durchgehauenen
Grotte nach Pozzuolo. Die Pignen ſchienen
alle-
[331] allemal voll Ehrfurcht ſich zu ſeinem Schatten zu
neigen, und nur leis zu bewegen, um ſeinen
Schlummer nicht zu ſtoͤren. Es iſt ſchoͤn, eine
ſolche Stelle zu haben, wo ſich die Erinnerungen
an einen großen Menſchen alle lieblich zuſammen-
ſammeln!


Das Denkmal an der mit ſo warmer und
heller Empfindung gewaͤhlten Staͤtte iſt mit
mancherley Geſtraͤuch bekraͤnzt; Epheu, und
wilde Weinranken ſchlingen ſich uͤberall herum;
und auf der Decke ſelbſt, wo in den vielen Jahr-
hunderten ſich eine Schicht Erdreich feſtgeſetzt
hat, gruͤnt es am dichteſten. Ein Lorbeer ſteigt
in der Mitte ſtolz hervor, der nur nicht lange
dauern wird, weil alle Reiſenden, Dichter,
Prinzen und Damen davon abbrechen, um An-
theil an dem Ruhme des Unſterblichen zu haben.


Man genießt hier Neapel und den erfreuli-
chen Meerbuſen in einem der ſchoͤnſten Geſichts-
punkte.


Sor-
[332]

Sorrent liegt von Bergen eingeſchloſſen
in einem kleinen Thal, das die Form wie ein
Hufeiſen hat. Es iſt das bezaubernſte Plaͤtz-
chen des weiten Paradieſes der Gegend, wohin-
ein das Meer noch eine beſondre kleine Bucht
macht. Deſſen Ufer ſind hohe ſenkelrechte Fel-
ſen, ſo daß es wie auf einer Buͤhne ſich zeigt.
Man muß aus der See eine halbe Stunde lang
auf einem Wege von Terraſſen hinanſteigen.
Die niedlichen Haͤuſer und Pallaͤſtchen ſtecken in
einem Gartenwald von Oel-Pommeranzen-Zi-
tronen- und Fruchtbaͤumen; hier wachſen die
koͤſtlichſten Melonen.


Der Veſuv iſt davon in ſeiner einfachſten,
allergroͤßten, und furchtbarſten Geſtalt zu ſehen,
ſo ſtolz und erhaben, daß die hoͤchſten Alpen da-
vor verſchwinden. Er ſieht aus wie ein Weſen,
das ſich ſelbſt gemacht hat, alles andre iſt wie
Koth dagegen; und der Dampf aus ſeinem of-
nen Rachen iſt im eigentlichſten Verſtand entſetz-
lich
[333] lich ſchoͤn. An keinem andern Orte moͤcht ich
ſeine Feuerauswuͤrfe betrachten; es muß ein
wahres Bild raſender Hoͤlle ſeyn. Unten am
Fuß ſind die Menſchen mit ihren Wohnungen
wie unſchuldige Laͤmmer, die er ſich zur Beute
herſchleppte; und die alte Mutter die See zieht
vergebens zaͤrtlich rauſchend heran, ſie zu
retten.


Ein entzuͤckender Morgen, wie wir wieder
Portici hinuͤber ſchifften! ein leichter Nebel deck-
te daſſelbe wie eine zarte Bettdecke. Auf dem
Gewaͤſſer waren tauſend Nachen, die unbeſorg-
ten Fiſche zu fangen, welche aus ihren Tiefen
ſich dem neuen Lichte naͤherten. Leiswallend,
wie ein unermeßlicher Lebensquell, verlor ſich
das Meer in ein Chaosdunkel, woraus Capri
kaum ſichtbar in grauem Duft noch hervortrat.
In blaſſem Purpur roͤthete ſich auf den Apenni-
nen der Himmel, und der Vulkan athmete
ſchrecklich der Sonn entgegen in majeſtaͤtiſcher
Ruhe
[334] Ruhe ſeinen ſchweren Dampf aus, der ſich an
den Seiten herabwaͤlzt. Und nun ſteigt ſie
empor in Strahlengluth vollkommen und un-
veraͤnderlich, der Geiſt ihrer Welt, die alles
mit Liebe faßt, und in ihrem Glanze ſpielen die
Wellen.


Was mir uͤbrigens an Neapel doch nicht ge-
faͤllt, iſt, daß man weder Sonne noch Mond,
und Morgen- und Abendſtern im Meer auf- und
untergehen ſieht.


Nachſchrift.


Wir muͤſſen fort, noch heute. Coimbra
brennt in lichterlohen Flammen, und drang ge-
ſtern in einem herzbrechenden Briefe darauf,
Fiordimona ſolle ſie entfuͤhren. Candida ſchlich
ſich dieſe Nacht, aller feinen Wendungen uͤber-
druͤſſig, in mein Zimmer ſchier nackend, und
uͤber-
[335] uͤberraſchte mich mit Fiordimonen, deren Ge-
ſchlecht ſie erkannte. Und Haͤl, der ſo treue,
daß er ſelbſt ſeinen Genuß bey dem Kammer-
maͤdchen der Spanierin dran gibt, verkuͤndigt
uns Mord und Tod, und die ausgeſtellten
Wachten und Poſten des getaͤuſchten Lieb-
habers.


Ardinghello 2ter B. YDie-
[336]

Dieſen letztern Brief erhielt ich erſt zu Flo-
renz
von ſeiner Tante, einer jungen Wittwe
ohne Kinder, voll Geiſt und Anmuth im Um-
gang und mannichfaltigen Reizen. Ardinghello
war noch nicht wieder gekommen bey meiner
Ankunft daſelbſt; und ſie ertheilte mir anfangs
uͤber ſein Ausbleiben zweifelhafte Nachrichten
von fuͤrchterlichen Begebenheiten, die ſich her-
nach nur zu gewiß beſtaͤtigten. Doch vorher et-
was von mir, und meiner Reiſegeſellſchaft! ich
habe aus ſeinen Briefen alles weggelaſſen, was
meine Angelegenheiten betraf, um die Ge-
ſchichte nicht zu verwickeln und weitlaͤuftig zu
machen.


Auch ich ſtand auf dem Punkte, mich zu
verheurathen, als meine Geliebte von der Seu-
che weggerafft wurde, die von Trient nach
Ve-
[337] Verona, und von da nach Venedig kam, und
ſich hernach durch die Lombardey verbreitete.
Ich folgte nun mit Begier der Einladung meines
Freundes, um mich von den traurigen Gegenſtaͤn-
den zu entfernen; und ſagte davon Caͤcilien.


Sie konnte gleich vor Ungeduld nicht blei-
ben, die Reiſe mit zu machen. Noch hatt ich
ihr immer nicht entdeckt, daß ich Alles von ihr
und Ardinghellon wußte; ich ſcheute die Lage,
in welche mich dieß verſetzen wuͤrde. Nur gab
ich ihr zuweilen von ihm Nachricht, mit Ver-
ſchweigung ſeiner Liebesgeſchichten; und ſie
hatten ſich auch einander ſelbſt geſchrieben,
welche Briefe mir aber nicht in die Haͤnde ge-
kommen waren: ſo daß ich nicht wußte, was
fuͤr Wendungen er bey ihr brauchte, und wie ſie
zuſammen ſtanden. Ich mochte mich nicht mehr
drein miſchen, und einem Tauben predigen; ließ
aber nun doch, gewiſſermaßen dazu genoͤthigt,
der Sache ihren baldigen Ausgang.


Y 2Caͤ-
[338]

Caͤcilia beredete gleich ihren Vater und ihre
Mutter zu einer Wallfahrt nach Loretto.
Von ihren Bruͤdern war einer zu Corfu, und
der andre blieb zu Hauſe. Und ſo brachen wir
denn in der Geſchwindigkeit zuſammen auf. Sie
nahm ihr Soͤhnchen mit, einen kleinen Engel.
Wie ein Vogel, der dem neuen Fruͤhling zueilt,
war alles an ihr.


„O unſern Ardinghello muß ich doch auch
gleich ſehen!“ hieß es zu Florenz. Das Ge-
ruͤcht war ſchon in der Stadt, daß er einen
jungen Anverwandten des Pabſts ermordet,
und ſich darauf aus dem Staube gemacht habe.
Ich ſagt es ihr gerade zu, damit ſie bey keinem
andern durch ihre Leidenſchaft Verdacht erregte.
„O Gott!“ war ihr Wort; und blaß wie eine
Lilie, und verſtummend begab ſie ſich bey Seite.
Ihre Eltern befuͤrchteten darauf, ſie habe die
Krankheit. Sie litt Todesqualen, als ſie fer-
ner erfuhr: die That ſey um Mitternacht vor
dem
[339] dem Pallaſte der Fiordimona geſchehen. Die
ungluͤckliche liebte ihn wahrhaftig, und von
Grund der Seele.


Sonderbarer Weiſe hielt ſich in demſelben
Gaſthofe Fulvia mit ihrem Gemahl auf; ſie
hatten Genua wegen der buͤrgerlichen Unruhen
verlaſſen, worin ſchon verſchiedne Edle dort ihr
Leben einbuͤßten. Ein allgemeines Strafgericht
ſchien wirklich uͤber Italien nach dem Ausſpruch
der Gottesgelehrten wegen ſeiner Suͤnden und
Bosheiten verhaͤngt. Auch ſie fuͤhrte ihr Soͤhn-
chen, das ſie aus voller muͤtterlichen Liebe ſelbſt
ſaͤugte, bey ſich. Eine wahrhafte Bacchantin-
figur, wie von einem griechiſchen Basrelief,
oder einer alten Gemme weg ins wirkliche Leben
gezaubert! Die Gluth ſchlug aus ihren ſchwarzen
Augen, und ihre Lippen ſchienen berauſcht zu
duͤrſten. Auch ſie mußte das Geruͤcht von Ar-
dinghellon erfahren haben. Doch lief dabey noch
ein andres herum: der Kardinal, Bruder des
Y 3Groß-
[340] Großherzogs, habe den Anverwandten des
Pabſts ermordet, und nicht Ardinghello. Die-
ſer ſey entwichen vermuthlich, um nicht in Ver-
haft genommen zu werden, und die Schuld fuͤr
den maͤchtigen Kardinal zu buͤßen. So ſchweb-
ten wir zwiſchen Furcht und Hofnung.


Fulvia machte ſich nach Rom auf, obgleich
vor kurzem erſt aus dem Kindbette, und von
der von Genua nach Florenz gemachten Reiſe
ermuͤdet; und wir bald ihr nach, um an die
Quelle zu gelangen. Ich ging gleich zu Deme-
trin, welcher von nichts weiter etwas wiſſen
wollte, als was jedermann ſagte; ob ich ihm
gleich meine Freundſchaft mit Ardinghellon aus
deutlichen Proben anzeigte. So ſchlau und
ſicher betrug er ſich. Auch glaub ich, daß Ar-
dinghellos Tante der ganzen Begebenheit kundig
war; aber beyde liebten ihn ſchier wie ſich ſelbſt,
und bey ſolchen Gefahren kann man nicht genug
behutſam ſeyn.


In
[341]

In Rom erfuhren wir noch, daß der Kar-
dinal ſich dieſelbe Nacht, wo der Anverwandte
des Pabſts ſey ermordet worden, die Haͤnde
und Arme von zwey der geſchickteſten Chirurgen
habe verbinden laſſen, die ihm mit ſtarken
Wunden waͤren verhauen geweſen. Tags dar-
auf hab er und Fiordimona Wache vor ihre
Zimmer bekommen, ſeyen aber bald wieder
davon befreyt worden; nur haͤtte der Pabſt
ohne weitere Unterſuchung Fiordimonen von
Rom verbannt, und auf ihre Guͤter verwieſen.
Die Sache laͤge ſo vertuſcht, und man laure
Ardinghellon doch als dem Thaͤter auf, und
habe Kundſchafter aller Orten nach ihm aus-
geſandt.


Gewiſſere Nachricht konnten wir nicht
erhalten. Wir reiſten von Rom ab nach Lo-
retto, und hielten uns Sommer und Herbſt in
den Gebirgen des Apennin auf; Caͤcilia und
ich mit tiefer Trauer in der Seele, daß der
Y 4Kar-
[342] Kardinal unſern Liebling heimlich moͤchte aus
dem Wege geraͤumt haben. Nach und nach
wurden wir vertrauter uͤber dieſen Punkt, ſie
geſtand mir endlich von ſelbſt ihre Leidenſchaft
und faßte Muth auf meine tiefe Treue; weinte
wie ein Kind uͤber ihre unſeeligen Schickſale,
und daß ſie endlich hatte, wo ſie ihr angeſchwoll-
nes Herz erleichtern konnte. So umſchlang
uns beyde das Band einer vertrauten und inni-
gen Freundſchaft.


Endlich im November erſt empfing ich ei-
nen Brief von dieſem, der ſchon im Auguſt
geſchrieben, aber von Demetri oder ſeiner
Tante, denn von der letztern kam er zu mir,
verſpaͤtet worden war. Mir duͤnkte, als
ob ich von einem fuͤrchterlichen Traum er-
wachte, und den Glanz der Morgenroͤthe
ſchaute, als ich die Zuͤge ſeiner Hand er-
blickte.


Brin-
[343]

Brindiſi, Auguſt.


Meine widerwaͤrtigen Schickſale erheben mich
mehr, als daß ſie mich niederſchlagen ſollten;
je ſtaͤrker der Widerſtand: deſto gedrungner und
geſchwellter regt ſich alles in mir. Ich glaubte
ſchon in Genuß und Ruhe zu ſeyn, und jetzt erſt
beginnen meine Arbeiten. Ich ſeh in ein neues
Leben hin, und das hohe Getuͤmmel ergreift
meine Sinnen. Gut, daß ich nicht wie ein
Kind hinein komme! Das Leben des Juͤng-
lings iſt Liebe: das Leben des Mannes Verſtand
und That.


Ach, daß ich dich nicht noch einmal ſpre-
chen durfte! Wir kamen bey Nacht zu Rom an;
ich ſchickte Haͤlen mit meinen Pferden voraus,
und wollte mit Fiordimonen auf ihr Gut alle
Vene
nachfahren, um uns dort zu vermaͤhlen.
Sie hatte deßwegen in der Stadt verſchiednes
zu beſorgen und mitzunehmen; aber es iſt alles
Y 5nun
[344] nun zerſtoͤrt und zerriſſen. Ich verſteckte mich
auf die drey oder vier Tage bey Demetrin, da-
mit mich der Kardinal nicht wittern moͤchte;
ſie hatte mir manches erzehlt, wie er ſie mit ſei-
ner Liebe verfolgte, und daß ſie ihn nicht leiden
koͤnnte.


Die zweyte Nacht kam ein fuͤrchterliches
Donnerwetter ohne Regen uͤber Rom, und es
ſchmetterte Schlag auf Schlag, als ob alles un-
tergehen ſollte. Statt daß ich ſonſt große Freu-
de an dieſen Naturbegebenheiten habe, und mich
daran nicht ſatt hoͤren und ſehen kann, wurde
mir dießmal ſelbſt bang im Herzen. Der
Menſch iſt ein ſonderbares Weſen, und voller
dunkeln Gefuͤhle, die kein Philoſoph aufklaͤrt;
es war gewiß Ahndung deſſen, was mir bevor-
ſtand. Ich warf meinen Mantel um mich,
und nahm den bloßen Degen auf alle Gefahr
unter den Arm, und ging fort, um Fiordimo-
nen in der ſchrecklichen Nacht nicht allein zu
laſ-
[345] laſſen; in ihrem Pallaſte waren den Sommer
uͤber nur ein paar alte Bedienten und Frauen
zuruͤckgeblieben. Sie hatte mir den Schluͤſſel zu
einer Seitenthuͤr gegeben. Ich eilte, und ging
oft wieder langſam, und hielt im Schritt ein.
Endlich kam ich in das kleine Gaͤschen an den
Garten, wo ihr Schlafzimmer iſt, und wurde
ploͤtzlich angefallen mit einem Dolchſtoß in die
Seite. Ich ſprang zuruͤck, Blitze machten die
Finſterniß hell und zum Tage; erblickte den
Moͤrder, der mir nicht ausweichen konnte. Er
rennte noch einmal auf mich zu, mich zu unter-
laufen: und ich ſtieß ihn auf der Stelle nieder.
Bey dieſem allen wurde kein Wort ausgeſprochen,
indeß der Donner um uns bruͤllte, daß die Erde
droͤhnte.


Kaum war dieß vorbey, und ich im Be-
griff, den Leichnam wegzuſchleppen: ſo tritt eine
andre verkappte Geſtalt auf, und ſetzt mit Ty-
gerſpruͤngen auf mich ein, daß ich mit Noth den
Au-
[346] Augenblick erhaſche, mich zur Wehre zu ſtellen.
„Vermaledeyte Brut!“ hoͤrt ich die Stimme
meines Kardinals, der in die vorgehaltne Klinge
mit der Bruſt lief, die ich bepanzert fuͤhlte.
Erſtaunt und erſchrocken uͤber alle die Folgen
that ich nichts, als ihn von mir abhalten, ge-
brauchte meine ganze Staͤrke, und war bald ſo
gluͤcklich, daß ich ihm den Degen herausſchlug,
hieb ihn auf die Haͤnde, womit er in Raſerey
mein Gewehr faſſen wollte, ſchonte ſein Leben,
und lief dann davon; und durch Nebenwege
wieder zu Demetrin.


Dieſem erzehlt ich gleich, was geſchehen
war, und vertraute ihm das hauptſaͤchlichſte mei-
ner Geſchichte mit Fiordimonen; und ſein gro-
ßer edler Charakter erhielt hier Gelegenheit, ſich
zu zeigen. Er verbarg mich unerforſchlich, und
half mir die folgende Nacht fort, nachdem wir
erfuhren, daß der Ermordete, den wir zuerſt
fuͤr einen Banditen hielten, ſelbſt Vetter des
Pabſts
[347] Pabſts der juͤngere B **** ſey. Auch dieſer
war wuͤthend in Fiordimonen verliebt, ob ſie mir
gleich nie etwas von ihm geſagt hat. Meine
Wunde ging nur geſtreift uͤber die Rippen weg;
das Stichblatt vom Degen im Arm hielt den
Stoß auf, und wir brauchten dazu keinen Chi-
rurgen. Tolomei verkleidete ſich mit mir in ei-
nen Franziskaner; und ſo ſind wir die Pontini-
ſchen Suͤmpfe zu Fuß durch, und von Capua
durch Kalabrien nach Brindiſi. Heroen, aͤchte
wie Theſeus und Perithoos, wie Oreſtes und
Pylades, Demetri und er. O der Menſch kann
groß ſeyn in jedem Zeitalter, und das edle in
ſeiner Natur bleibt immer irgendwo noch auf
Erdboden!


Fiordimona dauert mich; was kann das
Feuer dafuͤr, daß es brennt? Demetri hat kur-
ze Nachricht vom fernern Erfolg an Tolomeien
nach Brindiſi gegeben, unter andern Dingen,
die er ihm meldete, dieß wie im Vorbeygehen,
wenn
[348] wenn ohngefehr der Brief ſollte aufgefangen
werden: Sie und der Kardinal haben des Mor-
des wegen Arreſt bekommen. Um alles noch zu
thun, was ich kann, hab ich ſelbſt an den heili-
gen Vater geſchrieben, und an den Großherzog,
und noch an den Kardinal; und ihnen allen die
Natuͤrlichkeit und Nothwendigkeit der Begeben-
heit, und meine Unſchuld vorgeſtellt.


Und nun dann hinein in die Waſſerwelt;
o wie klopft mir das Herz! O Vaterland, Va-
terland, daß ich dich in Ketten und Banden ſe-
hen muß und von dir ſcheiden! Lebe wohl, ſchoͤ-
nes Italien, lebe wohl! lebe wohl, Venedig,
Genua
und Rom! O du warſt es werth, ſtolzes
Land, vor allen andern einmal die Herrſchaft
uͤber die Welt zu haben!


Umarm und kuͤſſe Caͤcilien ſtatt meiner;
das himmliſche Geſchoͤpf wird an keines andern
Bruſt beſſer aufgehoben und gluͤcklicher ſeyn, als
der meines Freundes. Befuͤrchtet keine Suͤnde;
der
[349] der groͤßte der Halbgoͤtter gab Jolen mit der
empfangnen Frucht ſeiner Liebe ſeinem eignen
Sohne zur Gattin. Lucinde, du allein brennſt
mich auf dem Herzen; aber ich will alle Verfol-
gungen des erzuͤrnten Himmels dulden, wenn
ichs buͤßen kann.


Lebt wohl ihr Hoͤhen des Apennin und ihr
entzuͤckenden Thaͤler! Wohl du koͤniglicher Po,
und du Tyber und Arno! ach, und ihr klaren
Quellen des Clitumnus! Ein guͤnſtiger Wind
ſchwellt die Seegel, und ich flieg Jonien entge-
gen. Ich reiße mich von eurem Herzen, o all
ihr Lieben, um eurer wuͤrdig zu ſeyn.


Ardinghello.


Fiordimona war leider an allem Schuld;
ſie mochte nun erkennen, wohin ihr ſchoͤnes
Syſtem fuͤhre. Sie hatte vermuthlich erſt dem
Nef-
[350] Neffen des Pabſts Gehoͤr gegeben, und hatte
dann dem Kardinal Gehoͤr gegeben: und ſuchte
beyde los zu werden, wie ſie Ardinghello mit
ganz andrer Luſt und Freude, und Schoͤnheit
und Inbrunſt an ſich feſſelte; und dieſer ließ
ſich in jugendlichem Taumel von ihren uͤber-
ſchwenglichen Reizen fangen. Die verwegne
Reiſe nach Neapel machte ſie wahrſcheinlich deß-
wegen, um die erſtern ganz von ſich abzubrin-
gen, welche vielleicht auch den Weg zu den
Quellen des Clitumnus wußten; und den Ar-
dinghello in aller moͤglichen Luſt ungeſtoͤrt zu ge-
nießen. Ein Weib kann ſeine Natur nicht ver-
laͤugnen: ſie kam den folgenden Winter mit
Zwillingen von beyderley Geſchlecht nieder; und
fand es doch ihrem Stande gemaͤß, den Vater
derſelben als Gemahl zu beſitzen.


Die Mohrin mußte unter den heftigſten
Drohungen ohne Zweifel dem Kardinal ihre
Reiſe mit Ardinghellon anzeigen, konnte aber
nicht
[351] nicht ſagen, wohin. Und zu Rom und alle
Vene
wurde voll Rache auf ihre Zuruͤckkunft ge-
lauert. In der Leidenſchaft hatte das zaͤrtliche
Paar ſeine Maaßregeln nicht behutſam genug
genommen.


Ardinghello wurde allgemein bedauert;
und auch Fiordimonen tadelte man nicht ſehr:
ſie machten mit einander das vollkommenſte
Paar aus, das man weit und breit haͤtte finden
koͤnnen. Das Verſtaͤndniß der letztern mit dem
Neffen und dem Kardinal ließ ſich durch den
Ausgang nur muthmaßen, und blieb außerdem
im Verborgnen; ihre ſeltne Schoͤnheit, und
hohe Naturgaben, und Reichthuͤmer ſprachen
uͤbrigens fuͤr ſie, und das Geſchwaͤtz der Wei-
ber hielt man fuͤr Neid und gewoͤhnliche Laͤſte-
rung. Jeder Triumph hat ſeine Schmaͤhlieder
vom Poͤbel hinter drein; dieß iſt in der Natur.
Der Mann im Purpurhute ſchwieg hieruͤber
weislich, und ſagte nicht mehr, als was er
Ardinghello 2ter B. Zſagen
[352] ſagen mußte, ins Ohr dem Richter. Ich habe
hernach in lauter neuem Vergnuͤgen vergeſſen, ſie
hieruͤber auszuforſchen.


Von den Guͤtern des Ardinghello wurde
nichts eingezogen, der Kardinal mußt es doch
groß finden, daß er ſein Leben ſchonte, da er es
in ſeiner Gewalt hatte; und ſeine Tante uͤber-
nahm deren Verwaltung, als Schweſter ſeines
Vaters. Sie verkaufte einen Theil davon und
tilgte die Schulden; der edle hatte manchem
Mann von Talent aus der Noth geholfen, und
in eine bequemere Verfaſſung geſetzt, welches
nun bekannt wurde.


Erſt den Fruͤhling darauf erhielt ich wieder
kurze Nachricht von ihm; ein Brief war un-
terdeſſen mit einem Venezianiſchen Schiffe ver-
loren gegangen, das im Sturm bey Corfu ſchei-
terte.


Im
[353]

Im Hafen zu Scio. May.


All mein Weſen iſt Genuß und Wirkſamkeit;
heiter der Kopf, immer voll heller Gedanken,
reizender Bilder und bezaubernder Ausſich-
ten, und das Herz ſchlaͤgt mir wie einer jun-
gen Bachantin im erſten ganz freyen Liebes-
taumel.


Diagoras durchſtreicht mit mir den Archi-
pelagus, damit ich jeden gefaͤhrlichen Paß und
alle Haͤfen kenne. Von Smyrna ſind wir aus-
gelaufen, den langen Golfo durch, nach My-
tyleni, Tenedos
, an den Dardanellen her-
um, nach Stalimene, den herrlichen Poſten
Skyros, und von hier ferner in jeden guten
Hafen der Cykladen. Jetzt ſind wir an den
Kuͤſten von Aſien, und werden bis Rhodos,
in den Golfo von Makri ſeegeln, und von
dort nach Aegypten. Die Arbeit wird mir
leicht; denn er hat von ſeinem Alten die treflich-
Z 2ſten
[354] ſten Karten, woran wir wenig verbeſſern
koͤnnen.


Ueberall weiß mein edler Fuͤhrer, wo die
neuern Helenen, Aspaſien und Phrynen ſte-
cken, und hat mit mancher ſchon in Korſaren-
ehe *) gelebt; Liebesgoͤtter umgaukeln uns, ſo
oft wir einlaufen.


Demetri hat einen gluͤcklichen Geburts-
ort gehabt. Scio iſt die ſchoͤnſte Stadt aller
griechiſchen Inſeln; und die Rebenhuͤgel und
Thaͤler und Gaͤrten zwiſchen den Gebirgen im
Innern des Landes, mit ihren Pomeranzen,
Zitronen und Granatenhaynen von klaren herab-
ſtuͤrzenden Baͤchen erfriſcht und belebt, ſind ent-
zuͤckend und bezaubernd.


Jedoch ſo ſchoͤn iſt alles, wie du laͤngſt
weißt, unter dieſem ſeeligen Himmel; faſt im-
mer-
[355] merwaͤhrender Fruͤhling, und fuͤr die Sommer-
hitze kuͤhle Naͤchte; dichte Schatten, ſpielende
Seeluͤfte, Menge von Quellen, und Ueberfluß
an geſunden und erquickenden Fruͤchten.


Paradies der Welt, Archipelagus, Morea,
Karien und Jonien, o daß ich wuͤrdig werde,
eurer ganz zu genießen!


Die Griechen ſind noch immer an Gehalt
und Schoͤnheit die erſten Menſchen auf dem
Erdboden; ihre Liebe zur Freyheit, und ihr
Haß gegen alle Art von Unterdruͤckung noch
eben ſo, wie bey den Alten. So bald ſie nur
ein wenig Luft bekommen von der ungeheuern
Maſſe des Schickſals, die ſie druͤckt, wie reg[t]
ſich alles, und iſt Leben und Feuer! und wie
halten ſie an, wie blitzſchnell durchdringt ihr
Verſtand bey Gefahr, uͤberſieht das Ganze,
und ſchlaͤgt den rechten Weg ein! Die Mai-
notten
auf den Gebirgen von Sparta ſind noch
nie bezwungen worden, ſie und Montenegriner,
Z 3Il-
[356] Illyrier und Karier Helden, wie ihre Urvaͤter
bey Plataia.


Kunſt und mildere Sitten ſind nur Ausbil-
dung, und machen weder eigentlichen Kern noch
Genuß aus.


Und der Hang zur Freude, zur Luſt, zu
Geſang und Tanz, wie klopft er dennoch eben
ſo in ihren Adern! und wie maͤchtig das Gefuͤhl
fuͤr Schoͤnheit!


O du und Caͤcilia, ihr meine Geliebten,
eilt hervor aus euern Suͤmpfen!


Ardinghello.


Im Herbſte ſchrieb er mir von Sizilien
aus, in deſſen Gewaͤſſern er herumkreuzte und
reiche Beute machte; „am Fuß der Saͤule des
Himmels des ſtuͤrmigen Aetna, aus deſſen hoh-
len
[357] len Eingeweyden die lauterſten Quellen uner-
gruͤndlichen Feuers geworfen werden.“


Mazal, der beruͤhmte Kalabreſer, das
Schrecken der mittellaͤndiſchen See, welcher
die tuͤrkiſche Flotte anfuͤhrte, und ſchon ver-
ſchiedene mal die Spanier ſchlug, hatte ihn
mit Freuden aufgenommen. Er that ſich bald
hervor durch Verſtand und Tapferkeit; be-
kam alsdenn eine Galeere unter ſeine Be-
fehle, worin meiſtens Italiaͤniſche Rene-
gaten und Griechen dienten; und es wurde
durch Vermittelung des Diagoras, des
Sohns vom Admiral, ſo unter der Decke
getrieben, daß er nicht einmal ſeinen Glau-
ben abſchwoͤren durfte, und man dieß fuͤr
geſchehen annahm. Er und dieſer junge Held,
ſein Todesbundesfreund, ſtreiften nun jeder
mit einem kleinen Geſchwader als raubluͤſterne
Adler an den Kuͤſten von Kalabrien, Sizilien,
und Spanien herum.


Z 4Den
[358]

Den Winter darauf machten ſie den An-
fang mit Ausfuͤhrung eines der kuͤhnſten und
feinſten Plane. Der alte Mazal, und beſon-
ders ſein Sohn, galten alles bey dem jungen
Sultan Amurath. Dieſe begehrten die In-
ſeln Paros und Naxos, um eine Italiaͤniſche
Kolonie hier anzulegen. Beyde waren durch
Krieg ſchier unbewohnt geblieben. Die wenig
uͤbrigen Griechen wollte man reichlich wegen
ihrer Beſitzungen entſchaͤdigen, und an andre
Oerter verpflanzen; und zwar deßwegen, weil
die Abkoͤmmlinge ihre eigne Religion auszuuͤben
verlangten, und damit weder ſtoͤren, noch dar-
in geſtoͤrt ſeyn wollten. Es waͤren in dieſem
Jahrhundert mancherley Sekten unter den
Chriſten entſtanden, die ſich einander bis aufs
Blut haßten und verfolgten; unter andern eine,
die ſich Todeslaͤugner nennten, und glaubten,
daß die Natur ein ewiger Quell von Leben,
und der Trieb alles Daſeyns Freude ſey; deren
Mei-
[359] Meinungen mit der Lehre Mahomeds in weſent-
lichen Punkten uͤbereinkaͤmen. Zu dieſer hiel-
ten ſich die edelſten und reichſten Juͤnglinge und
Frauenzimmer; und hoften am erſten unter ſei-
ner Herrſchaft Schutz.


Ein Held aus ihnen, einer von ihren An-
fuͤhrern, habe fluͤchten muͤſſen, diene bey ihnen,
und verrichte ſeinen Grundſaͤtzen gemaͤß die
tapferſten Thaten. Eine Menge wuͤrde dieſem
nachfolgen, wenn ſie Sicherheit fuͤr ihre Perſo-
nen, und ihr Eigenthum wuͤßten. Der große
Vortheil fuͤr ſein Reich dabey waͤre augenſchein-
lich; außerdem duͤrften wohl wenige Muſelmaͤn-
ner an Feuer im Gefecht gegen die ſogenannten
Orthodoxen ihnen gleich kommen.


Amurath wollte den Ardinghello ſe-
hen.


Dieſer trat auf in maͤnnlicher Jugend und
Schoͤnheit, kuͤhn, als ob er ſelbſt ein Sultan
Z 5waͤre,
[360] waͤre, und gefaͤllig, wie vor einer Semiramis.
Sie ſprachen Neugriechiſch mit einander, und
Amurath blieb von ihm bezaubert; ſie waren
ſchier von gleichem Alter, und Ardinghello
ſchmeichelte lieblich und maͤchtig ſeiner geheimſten
Denkungsart.


Sie erhielten, was ſie wollten.


Ardinghello ſchrieb gleich an Demetrin,
den er bey ſeiner Schwaͤche faßte. Jeder
Menſch, auch der feſteſte Charakter, hat ſei-
nen Grad von Schwaͤrmerey; die reinſte Ver-
nunft, ſo wie die geringſte Inſektenſeele, ihre
Ebbe und Fluth unter dem Mond. Und ſand-
te geheime ſichre Werber aus nach Venedig,
Genua, Florenz mit ſtarken Summen zu
Reiſegeldern. Er kannte die vortreflichſte Ju-
gend in allen dieſen Staͤdten; und ſein Name
ſchon allein war genug Verfuͤhrung.


Den neuen Fruͤhling bewegte ſich alles in
den luſtigen Inſeln. Sie befeſtigten zuerſt die
Haͤ-
[361] Haͤfen von Paros, und machten beſonders den
Hafen Nauſa, wo die groͤßten Flotten ſicher
liegen, ganz unuͤberwindlich. Demetri kam
bald mit zwey Schiffen voll jungen tapfern Roͤ-
mern und bluͤhenden Roͤmerinnen in den zaube-
riſchen Gegenden ſeiner Geburt an; und Kuͤnſt-
lern: Architekten, Bildhauern, Mahlern, aͤu-
ßerſt mißvergnuͤgt vorher uͤber ihren Lebenswan-
del; und hatte ſeinen Abzug mit wunderbarer
Klugheit bewerkſtelligt.


Sie brachen Marmor in den reichen Gaͤn-
gen des Bergs Kapreſſo zu Tempeln, oͤffentli-
chen Pallaͤſten, und Verſammlungshallen; das
alte Athen unter dem Perikles ſchien wieder
aufzuleben. Und es lebte wirklich und verklaͤrt
auf. Nach Vertrag und Uebereinkunft mit dem
Ardinghello und Diagoras predigte Demetri erſt
insgeheim Auserwaͤhlten ſeine neue Religion;
die mehrſten andern fielen hernach dieſen bald
bey, und endlich alle. Tolomei that Wunder
mit
[362] mit ſeiner Schoͤnheit und einſchmeichelnden
Zunge. Wir waren meiſtens lauter unbefangne
Jugend.


Ein neues Pantheon wurde der Natur
aufgefuͤhrt; ein Tempel der Sonne und den
Geſtirnen; ein Tempel der Erde; ein Tem-
pel der Luft, und einer auf einem Vorge-
birg in die See bin thronend dem Vater
Neptun
; und dann noch ein Labyrinth ange-
legt von Zedern und Eichen zur kuͤnftigen
ſchauervollen Nacht fuͤr Zweifler dem unbekann-
ten Gotte
. Der Tempel der Erde, der Tem-
pel der Luft, und das Labyrinth kamen nach
Naxos; der Tempel der Erde in ein entzuͤcken-
des Thal.


Waͤhrend der Zeit hatte Fiordimona den
groͤßten Theil ihrer Guͤter zu Gelde gemacht,
und uͤberraſchte mit einem kleinen Kaſtor und
einer kleinen Helena den gluͤcklichen Arding-
hello; ſie ward von der Coimbra begleitet,
die
[363] die ſich mit Liſt und Gewalt zu Neapel mit ihr
einſchiffte, und einer auserlesnen Schaar.


Ich konnte Caͤcilien nicht laͤnger widerſte-
hen, ihrem Gram und Kummer. Sie ſchien
dieſelbe nicht mehr, die ſie bey den großen Sce-
nen ihres Lebens war; aber eben dieß machte
ſie mir immer liebenswuͤrdiger. Nach dem
Tode meiner Braut und unſrer Reiſe glaubte
man in Venedig allgemein bey unſerm vertrau-
ten Umgange, und ſelbſt ihre Bruͤder und El-
tern, daß wir uns bald vermaͤhlen wuͤrden.
Sie verkaufte unter allerley Vorwand ihre reich-
ſten Guͤter; wir ſeegelten, wie zu einer Luſt-
reiſe, aus der alten Reſidenz des heiligen Mar-
kus nach Ankona; ſchifften uns dort ein nach
Smyrna, und kamen auch an. Welch ein
Auftritt, Ardinghello, Sie und ich! ſo hat
die Freude ihren Nektarrauſch noch in wenig
Herzen ergoſſen.


Alles
[364]

Alles ging nach Wunſch; nur Fulvia war
ungluͤcklich. Sie fluͤchtete auf einem Schiffe
Genueſer, dem man nachſetzte. Es kam bey
dem Golfo von Tarent zu einem moͤrderlichen
Gefechte, wo ſie die volle Ladung eines Moͤrſers
traf, und in Truͤmmern zerfleiſchte. Die jun-
gen Helden ſchlugen ſich jedoch durch, und lang-
ten an; und brachten zugleich die Nachricht:
Lucinde ſey zu Liſſabon, vermaͤhlt mit dem
Florio Branca, welchen der Koͤnig zum ober-
ſten Admiral ſeiner ganzen Schiffahrt gemacht
habe.


Gabriotto band dem Ardinghello nichts
auf, als er ihm erzehlte, ein Portugieſiſcher
Prinz ſey der wahre Vater von Lucinden.
Dieſer war vor kurzem auf den Thron geſtiegen,
und ließ nun die Provenzaliſche Frucht ſeiner
Liebe aufſuchen, weil er mit ſeiner Gemahlin
ohne Kinder blieb. Und Lucinde kam ſchon vor-
her in der kloͤſterlichen Einſamkeit wieder zu ſich
von
[365] von ihrer Leidenſchaft, wofuͤr ſie genug gebuͤßt
hatte; und ließ ihren wohl groͤßtentheils verſtell-
ten Wahnſinn. Sie ward wie im Triumph
mit einem praͤchtigen Schiff unter Bedeckung
von andern abgehohlt. Die Großen des
Reichs lagen der himmliſchen Schoͤnheit bald
zu Fuͤßen; aber das edle Herz waͤhlte bald ſeine
erſte Liebe.


Ihre Ehe war aͤußerſt gluͤcklich; ſie zeug-
ten viel Soͤhne und Toͤchter, von welchen jene
der Vater zu Helden bildete, und dieſe die Mut-
ter durch ihr unvergleichliches Beyſpiel zu trefli-
chen Wirthſchafterinnen, und frommen, zaͤrtli-
chen und keuſchen Frauen.


Ardinghellon war ein ander Loos beſchieden,
eine andre Gluͤckſeeligkeit, von mancherley Stuͤr-
men und Gefahren durchwuͤthet.


Mazzuolo brachte mit einem ſtarken Trupp
Florentinern Emilien noch in ſeine Arme, und
er
[366] er ſchien fuͤr jetzt Mahomed im Paradieſe bey
lebendigem Leibe.


Demetri ward zum Hohenprieſter der Na-
tur von allen einmuͤthig erwaͤhlt. Ardinghello
zum Prieſter der Sonne und der Geſtirne;
Diagoras zum Prieſter des Meers. Fiordimo-
na zur Prieſterin der Erde; und Caͤcilia zur
Prieſterin der Luft. Coimbra und ich pflegten
und warteten das Labyrinth.


Demetri und Ardinghello und Fiordimona
ſetzten Geſaͤnge auf aus dem Moſes, Hiob, den
Pſalmen, dem Hohenlied, und dem goͤttlichen
Prediger; und aus dem Homer, dem Pla-
to, und den Choͤren der tragiſchen Dichter, und
ihrer eignen Begeiſterung im Italiaͤniſchen fuͤr
ſich und die andern Prieſter und Prieſterinnen,
und die Gemeinde; und erfanden heilige Ge-
waͤnder in aͤchter alter Joniſcher Grazie und
Schoͤnheit. Und die Feyerlichkeiten ergriffen bey
dem Reize fuͤr Aug und Ohr noch mit den ſtar-
ken
[367] ken Bildern aus wirklicher Natur den ganzen
Menſchen, daß alle Nerven harmoniſch droͤhn-
ten wie Saiten, von Meiſtern geſpielt, auf
wohlklingenden Inſtrumenten. Alles leere Poͤ-
belblendwerk ward verworfen, und wir wandel-
ten in lauter Leben.


Darauf richteten wir unſre Staatsverfaſ-
ſung ein nach Rom und Griechenland; und
ſtudierten fleißig dabey die Republik des Lykurg,
des Plato, die Politik des Ariſtoteles, und den
Fuͤrſten vom Macchiavell, um uns vor dieſem
zu bewahren. Platons doppelten Buͤrgerſtand,
wo die eine Klaſſe die Ehrenſtellen haben, und
die andre den Ackerbau treiben ſoll, vermieden
wir weislich; behielten aber die Gemeinſchaft
der Guͤter gegen den Ariſtoteles. Der Haufen
Uebel, den wir dadurch verbannten, war allzu-
groß; und der ſcharfſinnige Pruͤfer aller zu ſei-
ner Zeit bekannten Republiken ſchien uns hierin
die Vorurtheile der Erziehung nicht genug ab-
gelegt zu haben. Inzwiſchen fand noch immer
Eigenthum ſtatt, nehmlich oͤffentliche Belohnun-
gen; und jedem blieb, was er mit ſich brachte,
bis ans Ende ſeiner Tage.


Ferner waren die Weiber nach dem erhab-
nen Schuͤler des Sokrates, jedoch auch nur
gewiſſermaßen, gemeinſchaftlich, und ſo die
Maͤnner; das iſt: jedes hatte voͤllige Freyheit
ſeiner Perſon; und alle Gewaltthaͤtigkeit wurde
Ardinghello 2ter B. A ahart
[368] hart beſtraft. Fuͤr gute Ordnung war dabey
wohl geſorgt; Maͤnner und Weiber wohnten
von einander abgeſondert. Den Weibern und
Kindern uͤberließen wir ganz Naxos, die ſchoͤn-
ſte Perle aller Inſeln, von den Alten ſchon we-
gen ihrer Fruchtbarkeit und Lieblichkeit das kleine
Sizilien genannt. Ihr Wein, und ihre
Fruͤchte haben an Koͤſtlichkeit ihres gleichen
nicht auf dem weiten Erdboden. Schade nur,
daß ſich jener nicht verfuͤhren, nicht einmal auf
die See bringen laͤßt, ohne ſogleich zu verderben.
Wahrer Nektar, dem Himmel unentwendbar!
Alles ſchien fuͤr uns, von der Natur ſelbſt,
ſchon vorherbereitet. Naxos hatte keinen Hafen
fuͤr Schiffe, nur die Barken der Verliebten
koͤnnen anlaͤnden: hingegen Paros deren
fuͤnf, rundum einen immer ſchoͤner als den
andern.


Fuͤr die Jugend, bevor ſie mannbar ward,
hatte man noch andre Einrichtungen getrof-
fen.


Auch die Weiber hatten Stimmen bey den
allgemeinen Geſchaͤften, und wurden nicht als
bloße Sklavinnen behandelt; doch nur zehn pro
Cent
in Vergleich mit den Maͤnnern. Fiordi-
mona, die unbegreiflich allein, wer kann des
Menſchen Charakter faſſen? dem Ardinghello
treu blieb, hatte dieß durchgeſetzt; wie noch an-
dres Amazonenhafte fuͤr ihr Geſchlecht, daß ſie
zum
[369] zum Beyſpiel auch Schiffe ausruͤſteten, und auf
Streifereyen ausliefen. Sie waren Mitglieder
vom Staate, obgleich die ſchwaͤchern; und ih-
nen blieb das Recht, gut oder nicht gut zu hei-
ßen, beſonders was ſie ſelbſt betraf. Uebrigens
war immer der Hauptunterſchied, daß die Maͤn-
ner erwarben, und ſie bewahrten.


So ſchwang die Liebe in allerhoͤchſter Frey-
heit ihre Fluͤgel; jedes beeiferte ſich ſchoͤn und
liebenswuͤrdig zu ſeyn, und konnte ſich weder
auf Geld und Gut, noch Pflicht und Schuldig-
keit verlaſſen. Was die Bevoͤlkerung betraf,
wollten wir uns in der Folge nach dem Sparta-
ner richten, von welchem die erſtaunte Prieſte-
rin zu Delphi nicht wußte, ob ſie ihn als Sterb-
lichen oder Gott begruͤßen ſollte; die Kinder ge-
hoͤrten dem Staate, und der Tod duͤnkte uns bey
weitem nicht das groͤßte Uebel.


Kurz, wir vermieden alle die Unbequemlich-
keiten, die Ariſtoteles, und zum Theil ſchon Ari-
ſtophanes in ſeiner weiblichen Volksverſammlung
bey ſolchen Einrichtungen beruͤhren.


Um jeden Tempel, auf Bergen und Anhoͤ-
hen, mit den Ausſichten auf die reizenden In-
ſeln umher, war ein ſchoͤner Hayn gepflanzt.
beſtimmt noch außer Feſten zur Erziehung der
Jugend. Neben an fuͤhrte man nach und nach
Gymnaſien auf. Wir hielten die Uebung des
Koͤrpers fuͤr die Hauptſache, welcher alsdenn die
A a 2Bil-
[370] Bildung des Geiſtes durch zweckvollen Unter-
richt und im Umgange leicht nachfolgt. Alle
Tugenden und Kuͤnſte muͤſſen ſich allemal nach
dem gegenwaͤrtigen Staate richten, wenn ſie
wirken und Nutzen bringen ſollen; oder uͤber-
haupt, jede Tugend nach der Perſon.


Binnen wenig Jahren hatten wir ſchon
alle Cykladen im Beſitz, und ſtarken Einfluß
auf dem feſten Lande. Bey den Griechen, faſt
durchgehends heitern Sinnes, rotteten wir in
geſellſchaftlichen Geſpraͤchen bald den Aberglauben
aus, und verſchaften ihren Geiſtlichen auf an-
ſtaͤndigre Weiſe Unterhalt. Die Tuͤrken, die
ſich um uns, mitten im Meer, wenig bekuͤm-
merten, ließen wir in der Meinung, die ver-
ſchiednen Tempel ſeyen nur fuͤr verſchiedne chriſtli-
che Heiligen; als fuͤr den Heiligen des Feuers, der
Waſſer, der Luͤfte. Ueberhaupt herrſchte uͤber
dieſen Punkt, die Fortpflanzung, und andre
bey uns unerhoͤrte Verſchwiegenheit; wir ſchie-
nen durchaus ein Orden dieſer Tugend. Auf al-
len Fall hielten wir uns des Schutzes vom Sul-
tan fuͤr verſichert.


Wir machten uns die geſellſchaftlichen Buͤr-
den ſo leicht wie moͤglich zu ertragen, und genoſ-
ſen alle Wonne dieſes Lebens unter dem milden
Himmelsſtrich bey den erſprießlichen und allge-
mein beliebten Geſetzen; und das Ganze fuͤgte
ſich immer lebendiger zuſammen, und wuchs zur
rei-
[371] reifen Schoͤnheit durch neue auserwaͤhlte An-
koͤmmlinge, worunter ſich die ſchoͤnſte und hel-
denmuͤthigſte griechiſche Jugend aus beyderley
Geſchlecht befand, die wir mit Behutſamkeit in
unſern Geheimniſſen einweyhten. Kriegeriſche
Schiffahrt, und Handlung zwiſchen Kleinaſien,
dem ſchwarzen Meer und den weſtlichen Laͤndern,
und hoͤchſte Freyheit, ſuͤßes Ergoͤtzen, und frohe
Geſchaͤftigkeit im Innern, darauf zweckte alles;
durch jene erhielten wir Sicherheit, und verdienten
Schutz; und durch beydes gewannen wir Skla-
ven und Sklavinnen und Ueberfluß an allen Be-
quemlichkeiten. Bey aller dieſer Seeligkeit glaub
ich jedoch, daß auf dem ganzen Erdboden kein
andrer Platz war, wo man ſich ſo wenig vor dem
Tode ſcheute.


Jeden Fruͤhling war allgemeine Verſamm-
lung, worin wir die noͤthigen neuen Einrichtun-
gen oder Abaͤnderungen fuͤr das ganze Jahr tra-
fen; ſie wurde mit feyerlichen Spielen und Luſt-
barkeiten beſchloſſen.


Kurz, wir kamen bey einander, ſo ver-
ſchieden auch mancher vorher dachte, in folgen-
den Grundbegriffen uͤberein: Kraft zu genießen,
oder welches einerley iſt, Beduͤrfniß, gibt jedem
Dinge ſein Recht; und Staͤrke und Verſtand,
Gluͤck und Schoͤnheit den Beſitz. Deßwegen
iſt der Stand der Natur ein Stand des Krie-
ges.


A a 3Das
[372]

Das Intereſſe aller, die ſich in eine Ge-
ſellſchaft vereinigen, bildet darauf Ordnung,
ſtiftet Geſetze, und innerlichen Frieden; alles
richtet ſich dabey, wie bey jedem andern lebendi-
gen Ganzen, immer nach den Umſtaͤnden.


Der beſte Staat iſt, wo alle vollkommne
Menſchen und Buͤrger ſind; und dieſem folgt,
wo die mehrſten es ſind. Hier wird kein Nero
gedeyhen! Derjenige Menſch und Buͤrger iſt
vollkommen, welcher ſeine und ſeines Staats
Rechte kennt und ausuͤbt.


Jedes hat fuͤrs erſte das Beduͤrfniß zu eſ-
ſen, zu trinken, mit Kleidung und Wohnung
ſich zu ſchuͤtzen und zu ſichern, die Wahrheit von
dem Nothwendigen einzuſehen, und wenn es
mannbar iſt, das der Liebe zu pflegen. Vermag
es nicht, ſich dieſes friedlich zu verſchaffen: ſo
darf es dazu die aͤußerſten Mittel brauchen;
denn ohne daſſelbe erhaͤlt es weder ſich, noch ſein
Geſchlecht.


Auf gleiche Weiſe geht es hernach mit den
Bequemlichkeiten und Freuden des Lebens. Ein
armer ſchwacher Staat mag ſich an dem erſten
rohen begnuͤgen; allein dieſes iſt zur Gluͤckſee-
ligkeit nicht hinlaͤnglich. Der ſtarke und tapfre
hat zu mehrerm Recht, eben weil er weitre
Beduͤrfniſſe hat. Das beſte Inſtrument gehoͤrt
dem beſten Virtuoſen; das koͤniglichſte Roß dem
muthigſten und geuͤbteſten Bereiter. Land fuͤr
The-
[373] Themiſtokleſſe und Scipionen, fuͤr Praxite-
leſſe und Horaze keinen Moͤnchen und Bar-
baren.


Wirkliche (nicht bloß eingebildete und er-
traͤumte) Gluͤckſeeligkeit beſteht allezeit in einem
unzertrennlichen Drey: in Kraft zu genießen,
Gegenſtand, und Genuß. Regierung und Er-
ziehung ſoll jedes verſchaffen, verſtaͤrken und
verſchoͤnern.


Der Krieg richtet graͤuliche Verwuͤſtungen
an, es iſt wahr; bringt aber auch die wohlthaͤ-
tigſten Fruͤchte hervor. Er gleicht dem Elemen-
te des Feuers. Es iſt nichts, was den Men-
ſchen ſo zur Vollkommenheit treibt, deren er faͤ-
hig iſt. Das goldne Jahrhundert der Griechen
kam nach den Schlachten gegen die Perſer.
Das goldne Jahrhundert der Roͤmer war mitten
unter ihren Buͤrgerkriegen, und ihr Geiſt fing
an zu erſchlaffen bey dem langen Frieden unter
Auguſten. Florenz ragt in den neuern Zeiten
hervor bey innerlichem Tumult und Aufruhr.


Die hoͤchſte Weisheit der Schoͤpfung iſt
vielleicht, daß alles in der Natur ſeine Feinde
hat; dieß regt das Leben auf! Sterben, iſt nur
ein ſcheinbares Aufhoͤren, und koͤmmt beym
Ganzen wenig in Betrachtung. Alles, was
athmet, und wenn es auch Neſtor wird, iſt oh-
nedieß in einer kurzen Reihe von Tagen nicht
mehr daſſelbe.


Ruh
[374]

Ruh und Friede iſt ein herrlicher Stand zu
genießen und ſich zu ſammeln; aber der Menſch,
ohne gereizt zu werden, traͤge, verſinkt dabey in
Unthaͤtigkeit. Beſſer, daß immer etwas da iſt,
das ihn aus ſeinem Schlummer weckt. Wir ſol-
len einander bekriegen, weil kein hoͤher Geſchoͤpf
es kann.


Was das ganze menſchliche Geſchlecht be-
trift, durch Meere und Gebirge und Klima,
durch Sitten und Sprachen abgeſondert, wel-
cher Kopf will es in Ordnung bringen? Die
Natur ſcheint ewig wie ein Kind in das Man-
nichfaltige verliebt, und will zu jeder Zeit deß-
wegen rund um die Erdkugel Scythen, Perſer,
Athen und Sparta.


Das beſondre Geheimniß unſrer Staatsver-
faſſung, welches nur denen anvertraut ward,
die ſich durch Heldenthaten und großen Verſtand
ausgezeichnet hatten, beſtand darin: der ganzen
Regierung der Tuͤrken in dieſem heitern Klima
ein Ende zu machen, und die Menſchheit wieder
zu ihrer Wuͤrde zu erheben. Doch vereitelte
dieß nach ſeeligem Zeitraum das unerbittliche
Schickſal.


[]

Appendix A Druckfehler im zweyten Bande.


  • S. 25 Z. 11 ſtatt an Menſchen leſe man am Menſchen.
  • ‒ 28 ‒ 16 ‒ vor ihm leſe man von ihm.
  • ‒ 35 ‒ 20 ‒ wie die Quelle l. m. wie Quelle.
  • ‒ 38 ‒ 9 ‒ die Allegorien l. m. die Allegorie.
  • ‒ 41 ‒ 2 ‒ Wirkungen l. m. Wirkung.
  • ‒ 52 ‒ 1 ‒ vollkommen l. m. Vollkommnen.
  • ‒ 56 ‒ 8 ‒ lichtem l. m. leichtem.
  • ‒ 58 ‒ 1 ‒ ſchoͤnen aus l. m. ſchoͤnen Lippen, aus.
  • ‒ 59 ‒ 15 ‒ einem l. m. einen.
  • ‒ 64 ‒ 15 ‒ ſchien l. m. ſchier.
  • ‒ 67 ‒ 15 ‒ eines l. m. meines.
  • ‒ 70 ‒ 10 ‒ wo die Muſik l. m. wo man die
    Muſik.
  • ‒ ‒ ‒ ‒ 12 ‒ es oft in l. m. es in.
  • ‒ 102 ‒ 11 ‒ der Alten l. m. den Alten.
  • ‒ 103 ‒ 2 ‒ allein mit allen l. m. allein mit allein.
  • ‒ ‒ ‒ ‒ 16 ‒ unwegſamer l. m. unregſamer.
  • ‒ 128 ‒ 20 ‒ andren l. m. andrer.
  • ‒ 153 ‒ 2 ‒ Tumult l. m. Taumel.
  • ‒ 154 ‒ 6 ‒ machen l. m. annehmen.
  • ‒ 188 ‒ 20 ‒ beſtund l. m. beſtuͤnd.
  • ‒ 203 ‒ 19 ‒ derſelbe l. m. denſelben.
  • ‒ 218 ‒ 12 ‒ Thal und Erde l. m. Thal und Ebne.
  • ‒ 237 ‒ 13 ‒ herbeygerufen l. m. herbeyrufen.
  • ‒ 247 ‒ 7 ‒ wenn ihr denken l. m. wenn ihr ihn
    denken.
  • ‒ 251 ‒ 12 ‒ rennen l. m. rannen.
  • ‒ 256 ‒ 14 ‒ Fulizno l. m. Fuligno.
  • ‒ 365 ‒ 7 ‒ waͤhlte bald ſeine l. m. waͤhlte
    ſeine.

[][][][]
Notes
*)
Platonici artifices diſſerendi, non interpretes
naturae aut doctores ſapientiae;
war damals
die Meinung.
*)
Vielleicht ſprach Pouſſin bey dieſer Gelegen-
heit das folglich hoͤchſt einſeitige Urtheil aus,
daß Raphael gegen die Antiken ein Eſel waͤ-
re; denn was moͤchte er ſonſt ſelbſt ſeyn?
*)
Hieron beym Xenophon ſpricht daruͤber
anders aus Erfahrung.
*)
Kyropaͤdie 8 B. 8 K.
*)
Die Seiten ſind hier und uͤberall immer nach
dem Bilde genommen.
*)
Pouſſin hat es auch oft genug kopiert.
*)
Nebſt einigen Ueberbleibſeln in Griechenland,
die damals noch nicht bekannt waren.
*)
Religion ſelbſt koͤmmt nach dem Cicero
her von relegere, dem fleißigen Leſen deſſen,
was uͤber den Goͤtterdienſt war feſtgeſetzt wor-
den. Die dieß thaten, hießen religioſi.
*)
Seine Lehre findet man kurz beyſammen in
folgenden Worten des Plato: την των αλλων
απαντων φυσιν, ου πιςευεις Αναξαγορᾳ, νουν
και ψυχην ειναι την διακοσμουσαν και εχουσαν.

(Kratylos.)
*)
Sieh eben ſeinen Kratylos.
*)
Das Syſtem des Preußen Kopernikus
wurde am ſpaͤteſten im Kirchenſtaate ange-
nommen; und Galilei war zu dieſer Zeit
kaum gebohren. Man kann das folgende fuͤr
eine Prophezeyhung auf ihn halten.
*)
Ich habe dieſes jugendliche Geſpraͤch, eine
Streiferey in die Metaphyſik damali-
ger Zeit, wo Ariſtoteles noch auf
dem Throne ſaß
, des Zuſammenhanges
wegen nicht ausgelaſſen. Wohl uns, wenn
wir ein paar Jahrhunderte hoͤher ſtehen!
Ein Barbar aus Pommern, einer von der
Themſe haͤtte ſchon den tiefſinnigſten Grie-
chen viel vergeblichen Kopfbrechens erſparen
koͤnnen.
*)
Auch einige Alten hatten dieſe Idee; vom Licht
kaͤme das Auge, von der Luft das Ohr her,
vom Waſſer Geruch und Geſchmack, und von
der Erde das Gefuͤhl.
*)
Im Griechiſchen, was hier im Original ge-
braucht wird, von Schwimmen.
*)
Ueber Pro und Contra in dieſen Dingen ſind
wir jetzt durch gruͤndlich denkende Maͤnner,
die es ſich zum Hauptgeſchaͤfte machten, beſ-
ſer im Klaren. Demetri hat die Idee des
Xenophanes
(damals in Rom, wie es
ſcheint, noch ziemlich unbekannt) die ſchon
laͤngſt vor dieſem da war, und in den neuern
Zeiten (nach dem Carteſianiſchen Beweiſe) in
Europa, mit bewunderten Syſtemen daruͤ-
ber, allgemein angenommen wird, auf ſeine
Art behandelt. Ich wollte nichts daran um-
aͤndern, und den erſten rohen Entwurf laſ-
ſen; weil es immer wenigſtens ein kuͤnſtle-
riſches Vergnuͤgen macht, auch des Gering-
ſten eignen Gang wahrzunehmen.
*)
Das Intelligibile, wie Leibnitz in ſeiner
Ver-
*)
Vertheidigung der Dreyeinigkeit, per nova
reperta logica,
ſagt; ſo wie Gott der Vater
das Intellectivum; und der heilige Geiſt,
der von beyden ausgeht, die intellectio.
*)
Syme iſt das Vaterland der Untertaucher in
der Levante, eine kleine Inſel mit einer
Stadt bey Rhodi, dem großen Magazin
der Tuͤrkiſchen Seemacht. Niemand erhaͤlt
das Buͤrgerrecht, ohne vorher Beweiſe ſeiner
Geſchicklichkeit im Untertauchen gegeben zu
haben. Hernach werden ſie in die Haͤfen
weit und breit herum verſchrieben, und un-
tertauchen. Gleichſam Akademien und Hal-
len von Metavhyſikern; nur daß ſie bey ih-
rer auch gefaͤhrlichen Kunſt gluͤcklicher ſind,
und oͤfter verlornes ergruͤnden und feſt-
packen, als Plato und Leibnitz.
*)
Eine gleichzeitige handſchriftliche Chronik mel-
det dabey, jeder habe geſagt: che biſogna-
va aver rimediato prima, che il padre, e il
Granduca Francesco, il Cardinale, \& altri ſuoi
fratelli ſi ſerviſſero del mezzo ſuo per cavarſi
le lor voglie, e con le altre donne della cità
menandola tutta notte fuori veſtita da Uo-
mo; e voler poi, ch’ ella fuſſe ſtata ſanta
ſenza il marito.
Und macht den Beſchluß
mit ihr, nachdem ſie von den andern ſchier
ein gleiches erzehlt hat: e queſto fu il mi-
ſero fine delle figliole del Duca Coſmo de
Medici.
*)
Blutbruͤcke, gleichſam wie Po und Tyber-
bruͤcke.
**)
Knochenberg.
***)
Das Mordloch.
*)
Wenn ich den Himmel betrachte mit unzehl-

baren Sternen ausgeziert, und nieder auf

den Boden ſchaue von Nacht umgeben, in

Schlaf und Vergeſſenheit begraben:

So erwecken Kummer und Liebe in meiner

Bruſt eine heiße Bangigkeit, und die Au-

gen, zu Quellen geworden, vergießen einen

Bach von Thraͤnen, Oloarte, und ich ſag

endlich mit klagender Stimme:

Aufenthalt der Herrlichkeit, Tempel der

Klarheit und Schoͤnheit, welch ein boͤſes

Schickſal haͤlt die Seele, fuͤr deine Hoͤ-

hen gebohren, in dieſem tiefen dunklen

Kerker? —
*)
Iſt in den griechiſchen Haͤfen ſo im Gebrauch,
wie bey den Englaͤndern die Soldatenehe.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


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Kolimo+

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2025). Collection 1. Ardinghello und die glückseeligen Inseln. Ardinghello und die glückseeligen Inseln. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bhvw.0