[][][][][][][][]
C. G. CARUS.
[[I]]
Pſyche.
Zur
Entwicklungsgeſchichte der Seele.

Pforzheim,:
Flammer und Hoffmann.
1846.
[[II]]

Das dem Werke beigegebene Portrait des Verfaſſers iſt nach einem lebensgroßen Relief-Medaillon des
Profeſſors E. Rietſchel gezeichnet und geſtochen von Langer.

[[III]]

Vorwort.

Indem ich ein lange gehegtes, viel im Geiſte erwogenes‚
immer von Neuem durchdachtes Werk jetzt der Oeffentlichkeit
übergebe, kann ich nicht umhin einige Worte über das ſo
ſehr Verſchiedene menſchlicher Denkweiſen in Bezug auf die
hier vorliegende Aufgabe vorausgehen zu laſſen. Wer irgend
mit Aufmerkſamkeit im Leben um ſich geblickt hat, wer ge¬
achtet hat auf die unendlich mannichfaltigen Richtungen,
in welchen ſich der Geiſt des Menſchen bewegt wenn es
ſich darum handelt von göttlichen Dingen, und ſomit auch
von der Seele, eine beſtimmtere Auskunft zu verlangen oder
zu empfangen, Dem wird zuerſt auffallen, daß da, wo
man vorausſetzen möchte, ein tiefer Schmerz um das hier
obſchwebende Geheimniß, ja eine brennende Sehnſucht nach
der Löſung von Fragen, die das ganz eigentliche, das tief
Menſchliche zum Gegenſtande haben, müſſe überall der Menſch¬
heit inwohnen, man im Gegentheil finde und ſich nicht ver¬
bergen könne, in der bei weitem größern Menge menſchlicher
[IV] Naturen walte ein hoher Grad von Trägheit, um nicht zu
ſagen Gleichgültigkeit gerade in dieſen Beziehungen vor. —
Der Seelen, denen es ſchon in früher Zeit der Entwicklung
ihres Geiſtes keine Ruhe läßt dem eingebornen Streben nach
Selbſterkenntniß zu genügen, der Seelen, welche fortwährend
von innerm Sehnen getrieben nach der Speiſe ſich umthun,
welche ſchon Dante „das Brot der Engel“ nannte, ihrer
iſt immer nur eine kleine gezählte Menge vorhanden geweſen.


Hat ſich doch nun gar in unſern Tagen um den Men¬
ſchen eine eigene Künſtlichkeit des Lebens gehäuft! — und wie
der, welcher in einer tobenden Brandung ſchwimmt und
alle Sinne nur anſpannen muß um das rettende Ufer zu
erreichen, in dem Augenblicke an gar nichts Anderes denken
kann, indem ihm nun unwillkürlich alle Vorſtellungen weit
zurückgedrängt werden, die ihm ſonſt wohl die wichtigſten
waren, ſo finden ſich jetzt eine Menge von Menſchen der¬
geſtalt in das brauſende Treiben induſtrieller, commercieller,
ſtatiſtiſcher, ökonomiſcher und politiſcher Intereſſen einge¬
zwängt und feſtgehalten, daß irgend ein ruhiges Schauen in
ſich
, irgend ein tieferes Nachdenken über Das, was der Seele
zuletzt doch die wichtigſten Fragen ſein müſſen, fortan ihnen
faſt zur Unmöglichkeit wird. Nicht minder groß auf der
andern Seite iſt dann auch die Zahl Derer, in denen der
ſtäte Kampf mit der peinigenden Noth des Lebens, in denen
der Mangel aller geiſtigen Bildung und Nahrung, den Drang
jener höhern Sehnſucht und die Begierde nach Löſung jener
[V] höhern Aufgabe auf keine Weiſe mehr aufkommen läßt. Es
iſt alſo wirklich nur eine kleinere Anzahl, in welcher das
Bedürfniß, der Drang, das Suchen des Geiſtes nach Ver¬
ſtändniß ſeiner ſelbſt eine ganz weſentliche Lebensregung fort
und fort ausmacht, und an dieſe iſt es denn, daß die Bot¬
ſchaft dieſer Blätter ſich wendet, immer hoffend, daß auch aus
jener für jetzt unempfänglichen Menge Einzelne wieder auf¬
tauchen werden, in welchen das überall im Grunde liegende
Bedürfniß wieder erwacht und ſie nach dieſer Speiſe hin,
oder eigentlich in die Tiefe ihres eigenen Weſens hinein
drängen werde. — Aber auch die Seelen, welche übrig bleiben
mit dem vollen Sehnen und dem anhaltenden Suchen nach
Selbſtverſtändniß, ſie folgen nun in dieſen Beſtrebungen den
allerverſchiedenſten Wegen und Abwegen. Sollte ich die Ab¬
wege mit wenigen Worten charakteriſiren, ſo möchte ich ſchon
hier auf einen Unterſchied hindeuten, welcher in all den fol¬
genden Betrachtungen der Seele als der bedeutendſte und
folgenreichſte hervorgehoben werden muß, d. h. auf den Unter¬
ſchied der unbewußten und bewußten Regungen unſerer Seele.
Wir müſſen es nämlich einestheils als einen Abweg betrachten,
wenn verſucht wird das zuletzt doch immer in gewiſſer Be¬
ziehung geheimnißvolle und myſtiſche Gebiet der Seele mit
entſchiedener Gewalt durchaus vor dem bewußten Wirken des
Geiſtes vollſtändig zu entſchleiern, und in allen ſeinen Strah¬
lungen nachzuweiſen, ſo daß gleichſam das Geheimnißvolle
und Unbewußte derſelben als ſolches ganz aufgehoben und nicht
[VI] mehr geduldet werden ſoll; dagegen rechnen wir aber andern¬
theils die Richtung für nicht minder verfehlt und verloren,
welche der klaren vollkommen bewußten Erwägung der Offen¬
barungen der Seele, nicht das ihr durchaus gebührende
Recht einräumen will und im Gefühl und der Ahnung eines
durchaus Unbegreiflichen allein die genügende Beſtimmung
des Forſchers ſuchen möchte. Das letzte iſt der Abweg Derer,
welche Myſtiker genannt werden, als von welchen es genüge
Jakob Böhme genannt zu haben, dem bei einem wirklich
tiefen und ächten Gefühl, namentlich des Verhältniſſes der
Seele zu Gott, doch Alles abgeht, was eine höhere wiſſen¬
ſchaftliche, d. h. die zuletzt doch allein befriedigende Erkennt¬
niß fordern darf. In den erſten Abweg ſind viele unſerer
neuern Pſychologen aus Hegel's und Herbart's Schule
verfallen. — Nach meiner Ueberzeugung kann man nicht über
die Seele in rechtem Sinne verhandeln ohne dieſes Unbe¬
wußte und alſo auch dem trennenden abſondernden Verſtande
Unbekannte als indefiniſſabel, gleichſam als ein gegebenes x,
mit in die Rechnung der Begriffe aufzunehmen1, und eben
darum wird Niemand läugnen können, daß die Geſpräche eines
Plato, welche immer auf dieſem Unbewußten und Myſteriöſen
[VII] ruhen und immer wieder darauf Bezug nehmen, weit tiefer
in die Geheimniſſe des eigentlichen Seelenlebens eindringen,
als etwa das Compendium der Pſychologie eines Herbart.


Es iſt indeß hier keinesweges die Meinung, daß dieſe
Abwege bloß von Denen betreten würden, welche als Lehrer
und Schriftſteller dem Geheimniſſe des Seelenlebens nach¬
trachten, im Gegentheil finden wir, daß dieſe Verſchiedenheit
irrender Richtung auch durch Diejenigen durchgeht, welche,
öfter oder ſeltener, im ſtillen Umgange mit ſich ſelbſt die Ange¬
legenheit der Seele bedenken, oder mindeſtens daran denken.
Auch in dieſen Geiſtern ſchwanken die Vorſtellungen viel¬
fältig bald ganz und gar nach der Seite dunkler Gefühle,
und bereiten das vor, was man, wo es herrſchend wird, als
Schwärmerei bezeichnet, oder ſie ſchießen zeitig an zu gewiſſen
feſten hausbackenen Begriffen, nach welchen etwa das innere
Weſen des Menſchen ſo als eine Art von Uhrwerk gedacht
wird, in welchem die Seele nur als eins der künſtlich hinein¬
geſetzten Räder mit zählt. — Wer in dieſer Beziehung unter
Menſchen ſich umthun will, wird mitunter ſonderbare Vorſtel¬
lungen zu vernehmen bekommen, und man wird nicht ſelten
Anſichten hier gewahr werden können, welche in Bezug auf
die Seele von den Meinungen der Völker, welche das höchſte
Myſterium Gottes als irgend einen Fetiſch ſich vorſtellen,
ſehr wenig ſich unterſcheiden.


Doch wie es unter Wiſſenden und Lehrenden immer eine
gewiſſe Anzahl gegeben hat, welche das Bewußte ſorglich ver¬
[VIII] folgend und das Unbewußte ehrend, dem Geheimniſſe der
Seele ernſt und ſchön nachgeſtrebt haben, ſo ſind auch in der
nicht gelehrten Menge immer Seelen zu finden, die in ſolchem
Sinne mit Ernſt und Liebe dieſen hohen Dingen nach ihrer
Weiſe immer wieder ſich zuwenden, ſo oft ſie auch das All¬
tägliche des Lebens von dieſen Gedanken ablenken mußte.
Allen Denen nun, die in dieſer Richtung zu denken lieben,
mögen alſo die nachfolgenden Blätter beſonders empfohlen
ſein. Sie finden von vieljährigen Studien hier die eng
zuſammengedrängte Frucht, ſie werden bemerken, daß es dem
Verfaſſer im großen Sinne ernſt bei einer ernſten Aufgabe zu
Muthe war, und ſie werden zugeſtehen müſſen, daß er bemüht
war, Das, was in den reinſten Stunden in ſeiner Betrachtung
zur Reife gekommen, in der einfachſten Weiſe, immer in
möglichſt genetiſcher Folge, und frei von den Feſſeln ſchul¬
mäßiger Methoden, als treues Ergebniß viel erwogener In¬
tuition, hier wie in einem Sanctuarium niederzulegen. Sei
dann das ſo Gegebene in gleichem Sinne aufgenommen, und
von reiner Folge für das innere Leben Vieler! —


Carus.

[[1]]

Der Schlüſſel zur Erkenntniß vom Weſen
des bewußten Seelenlebens liegt in der Region
des Unbewußtſeins
. Alle Schwierigkeit, ja alle ſchein¬
bare Unmöglichkeit eines wahren Verſtändniſſes vom Ge¬
heimniß der Seele wird von hier aus deutlich. Wäre es
eine abſolute Unmöglichkeit, im Bewußten das Unbewußte
zu finden, ſo müßte der Menſch verzweifeln zum Erkennen
ſeiner Seele, d. h. zur eigentlichen Selbſterkenntniß zu
gelangen. Iſt dieſe Unmöglichkeit nur eine ſcheinbare, ſo
iſt es die erſte Aufgabe der Wiſſenſchaft von der Seele,
darzulegen, auf welche Weiſe der Geiſt des Menſchen in
dieſe Tiefen hinabzuſteigen vermöge.


Ehe jedoch dergleichen verſucht wird, iſt zu erwägen,
in wie fern denn wirklich das unbewußte Seelenleben die
Baſis des bewußten genannt werden dürfe?


Daß fortwährend der bei weitem größte Theil des
Reiches unſeres Seelenlebens im Unbewußtſein ruht, kann
der erſte Blick in's innere Leben uns lehren. Wir beſitzen
zu jeder Zeit, während wir nur einiger wenigen Vorſtel¬
lungen uns wirklich bewußt ſind, Tauſende von Vorſtellun¬
gen, welche doch durchaus dem Bewußtſein entzogen ſind,
welche in dieſem Augenblicke nicht gewußt werden und doch
da ſind, und folglich zeigen, daß der größte Theil des
Seelenlebens in die Nacht des Unbewußtſeins fällt.
Carus, Pſyche. 1[2] Späterhin, wenn der merkwürdige Kreislauf des Vorſtel¬
lungslebens zur Beſprechung kommen wird, den ich im
3. Bande meines Syſtems der Phyſiologie zuerſt in die
Lehren der Pſychologie eingeführt habe, werden wir erken¬
nen, daß man in dieſer Beziehung das Leben der Seele
vergleichen dürfe mit einem unabläſſig fortkreiſenden großen
Strome, welcher nur an einer einzigen kleinen Stelle vom
Sonnenlicht — d. i. eben vom Bewußtſein — erleuchtet
iſt. Schon dadurch alſo, daß der größte Theil der Ge¬
danken unſeres Bewußtſeins immer wieder im Unbewußt¬
ſein untergeht und nur zeitweiſe und einzeln wieder in's
Bewußtſein treten kann, iſt das unbewußte Seelenleben als
Baſis des bewußten charakteriſirt. Aber das Verhältniß
geht noch weit tiefer. Alles Seelenleben, die geſammte
Welt unſeres innerſten geiſtigen Daſeins, die wir ſehr
wohl in unſerem Bewußtſein von allem Aeußerlichen unter¬
ſcheiden, ſie ruht auf dem Bewußtloſen und bildet ſich nur
aus dieſem hervor. Der Menſch, als Individuum, lebt
nämlich in drei ganz weſentlich verſchiedenen Zuſtänden
ſein Leben:


  • 1, als nur mikroſkopiſch wahrnehmbares, aus concen¬
    triſchen Hüllen beſtehendes Ei,
  • 2, als innen im Ei Keimendes, d. i. Embryo, und
  • 3, als eigentlicher Menſch.

Das erſte iſt das ganz gebundene (latente) Daſein
eines dem geſunden mütterlichen Organismus in ſeinen
verborgenſten Tiefen von der Geburt an mitgegebenen
Keims — ſo noch untrennbar vom mütterlichen Leben, ſo
ohne alle wahrnehmbare Lebensveränderungen mehrere De¬
cennien hindurch immer nur ſich ſelbſt gleich, und ſo natürlich
auch ohne die mindeſte Spur höherer ſeeliſchen Lebensäuße¬
rungen. Hierauf, geweckt von eigenthümlichen Lebensein¬
wirkungen einer im Gegenſatze der mütterlichen ſtehenden
männlichen Seele, hebt die zweite Lebensperiode des
werdenden Kindes im Schoße der Mutter an. Nach den
[3] merkwürdigſten innern Geſetzen ſeines eigenſten unbewußten
Weſens gliedert ſich das urſprünglich Einfache in Gegen¬
ſätze, geſtaltet und vergrößert ſich der unendliche Reichthum
menſchlicher Bildung, aber — noch iſt dieſe Bildung ſehr,
ja ausnehmend verſchieden von der des reifen Menſchen.


Ein im Ei keimender, ein von Hüllen umgebener
Embryo, alle ſeine der ſpätern Wechſelwirkung mit der
Welt beſtimmten Organe noch nach dem Innern der Hüllen
gekehrt, ſo ſtellt er ſich dar in dieſer Lebensperiode, und
nichts iſt auch hier, was in dieſem Eigeſchöpf irgend ein
Aufdämmern eines Bewußtſeins verriethe. In unſerer ge¬
reiften Seele iſt daher auch nichts was irgend an und
für ſich eine Erinnerung jenes Lebens, eine Reminiscenz
aus unſerer zweiten Lebensperiode genannt werden könnte.
Alles Daſein iſt demnach dort ein, ob zwar unbewußt,
doch nach wunderbaren Geſetzen, fort und fort mit großer
Weisheit bildendes geſtaltendes Leben.


Mit der Geburt hebt die dritte und eigentlich
menſchliche
Lebensperiode an, und wie eine weite Außen¬
welt mit dem Organismus in mannichfaltige Wechſelwir¬
kung tritt, ſo dämmert allmählig in den dunkeln, bis dahin
bewußtloſen Regionen des Lebens, d. i. der Seele, eine
ſchwache Unterſcheidung des eigenen Seins vom fremden
Sein auf, und nach und nach und mit periodiſch immer
wiederkehrendem Verſinken in's unbewußte Leben, ent¬
wickelt ſich bei herannahender Lebensreife die eigenthümliche
Welt der ſelbſtbewußten, fühlenden, wollenden und erken¬
nenden Seele aus jenem frühern bewußtloſen Zuſtande.


Dies in ganz flüchtigem Umriſſe die Weſenheit unſerer
Entwicklung als Menſch, als Seele. Nur wenn wir uns
ſtreng an die Erkenntniß hievon feſthalten, nur wenn wir
uns hüten, hier irgend willkürlich etwas hinzuzudenken,
nur wenn wir treu und ausdauernd in uns ſchauen und
dazu gelangen — ich möchte ſagen, unſer Daſein
geiſtig zu reconſtruiren
— von dem bewußten Sein
[4] in's Unbewußte zurück, dürfen wir hoffen Das zu finden,
was ich im Eingange den Schlüſſel zur Erkenntniß des
bewußten Seelenlebens genannt habe, nämlich das Ver¬
ſtändniß des Unbewußten durch das Bewußtſein
.
Dieſer Weg der Betrachtung iſt ſchwer, aber nicht unmög¬
lich. Wir verfahren hier im Geiſtigen wie wir im Leib¬
lichen verfahren, wenn wir die organiſche Entwicklung,
die wir ſelbſt durchleben und doch nicht kennen, aus Be¬
obachtung eines Fremden ſtudiren und kennen lernen, und
dieſen Weg werden wir daher bei gegenwärtiger Unterſu¬
chung durchaus verfolgen.


Die älteren Forſcher, von Ariſtoteles an, obwohl
von den organiſchen Vorgängen menſchlicher bewußtloſen
Gliederung und Entwicklung ſo gut wie noch gar nicht
unterrichtet, ſind doch weit treuer auf dieſem Wege gegan¬
gen als die neueren. Die Seele erſcheint ihnen immer
zuerſt als eine bildende, geſtaltende, ernährende Weſenheit
des Lebendigen, in welcher das Erkennen allemal erſt ſpä¬
terhin ſich entwickelt. Ariſtoteles ſagt ſehr ſchön: „die
Seele ſei die erſte Wirklichkeit eines natürlichen
gegliederten Körpers
"1.


Der Irrthum und die Zerwürfniß trat in dieſe Lehren
erſt, als man vom Leben die Seele trennte, ja vom Leben
ſelbſt die abſtruſeſten Begriffe einzuführen ſuchte. Wenn man
bedenkt, daß am Ende des ſiebzehnten Jahrhunderts phyſiolo¬
giſche Anſichten, wie die eines Fr. Hoffmann, welcher die
Pflanzen als leblos betrachtete, weil ſie kein Herz beſäßen.
Anhänger fanden, ſo erklärt man ſich auch, daß man ſtreiten
konnte, ob die Thiere eine Seele hätten, und zu welcher Zeit
denn eigentlich in das Kind die Seele von außen einträte, ja
daß man einen Deus ex machina, die ſogenannte Lebens¬
kraft, aufſtellen durfte, aus deren Machtvollkommenheit der
Organismus entſtände und ſich erhielte, während die Seele
nur als ein erſt ſpäterhin in dieſes Gehäuſe eingeſetzter
[5] Fremdling betrachtet werden müſſe. Es war offenbar eines
Theils eine mißverſtandene theologiſche Richtung, welche es,
in dunkeln Geiſtern, als eine Entheiligung erſcheinen ließ,
daß daſſelbe, was in uns fühlt und denkt, auch unſere
Bildung und Ernährung leiten ſolle, eine Richtung, welche
nämlich in dieſer Verbindung zugleich den Grund einer
Unmöglichkeit erblickte, die Unſterblichkeit der Seele zu be¬
haupten. Darum alſo mußte ein Anderes als die Seele
thätig ſein, um die Organe unſeres Körpers zu entwickeln,
darum durfte die Frage entſtehen, ob Thiere, mindeſtens
die unvollkommneren, eine Seele beſäßen oder nicht, und
von einer Pflanzenſeele, da man kaum Leben den Pflanzen
zugeſtanden wiſſen wollte, war nun gar nicht zu ſprechen.
Eine Befangenheit dieſer Art muß jedoch um ſo mehr
Wunder nehmen, als die ſtrengſten Theologen der frühern
Zeit, ich erinnere nur an Thomas v. Aquino1, keinen
Anſtand nahmen, der Seele, ſo wie nach einer Richtung
hin das Letzte — das Erkennen — ſo gleichzeitig nach
einer andern Richtung das Erſte — das Ernähren und
Bilden — zuzutheilen, da von ihnen hierin um ſo weniger
ein Widerſpruch gegen eine Unſterblichkeitslehre erblickt wer¬
den konnte, als ſie voraus ahneten, es könne durch Das,
was wir Sterben nennen, in einer allerdings die organi¬
ſche Bildung mit bedingenden Seele, nur eine Umänderung
des Seelenlebens, nämlich eine Aufhebung einer gewiſſen
Richtung deſſelben, aber keineswegs ein vollkommenes Er¬
löſchen ihrer Grundidee geſetzt werden.


Indeß, wie geſagt, es war auch nur eines Theils
dieſer Grund, welcher es verhinderte, als erſte Wirklichkeit
eines natürlichen gegliederten Körpers die Seele anzuer¬
kennen; andern Theils war es die Scheidewand zwiſchen
Unbewußtem und Bewußtem, wodurch man bewogen wurde,
vom Bereich der Seele abzutrennen, was gänzlich außer¬
[6] halb des Bewußtſeins lag. Alſo weil wir kein Bewußtſein
davon haben, wie wir entſtehen, wie wir wachſen, wie
wir uns innerlich ernähren und umbilden, wohl aber ein
Bewußtſein haben von Allem, was in uns Sinnesempfin¬
dung, Vorſtellung und Willensregung heißt, ſo durften
nur die letztern Vorgänge allein der Seele wirklich ange¬
hören, während dagegen alles Andere von der Seele aus
unerklärlich blieb und deßhalb einem beſondern Thun, einer
eigenthümlichen unbekannten Potenz, einer ſogenannten Le¬
benskraft anheimfallen ſollte.


Das Bewußtſein, das klare Denken, oder mindeſtens
das Vermögen, deutliche Sinnesvorſtellungen zu haben
und dadurch beſtimmt zu werden, wurde im Stillen ſo
unfehlbar als ein Creditiv der Seele angeſehen, daß man
nichts als Seele gelten laſſen wollte, dem dieſes Ver¬
mögen nicht zugeſprochen werden konnte.


Was aber war die Folge, wenn man dieſer Täuſchung
ſich hingab und eine beſondere Lebenskraft einſetzte für die
bildend ernährenden Vorgänge des Organismus, und eine
beſondere Seele für Gefühl, Erkennen und Wollen? Man
führte zwei verſchiedene Seelen, oder zwei weſent¬
lich verſchiedene Grundkräfte
in den Organismus
ein, welcher ſich doch nach Entſtehung, nach Lebensrichtung
und Selbſtgefühl, als eine Einheit unbeſtreitbar erwies.
Denn Lebenskraft oder Bildungstrieb, wie man nun dies Et¬
was nennen will, wird immer und in jeder Aeußerung nicht
ein von außen Bewegtes, ſondern ein ſich aus ſich ſelbſt
Bewegendes ſein müſſen, und wird eben dadurch ein des
Göttlichen Theilhaftiges genannt werden müſſen, da es
dieſem ja überall eigen iſt, nicht bewegt zu werden, ſon¬
dern aus ſich ſelbſt ſich und Fremdes zu bewegen 1. Ein
[7] Anderes war jedoch nun auch im Weſentlichen nicht auszu¬
ſagen von der Seele ſelbſt, und es iſt leicht einzuſehen,
daß man ſich im ewigen Zirkel umhertreiben muß, wenn
man nach Merkmalen ſucht, um in dieſer Beziehung zwi¬
ſchen Lebenskraft und Seele zu bleibenden haltbaren Unter¬
ſchieden zu gelangen. Die Lebenskraft, man mag ſie ſich
noch ſo ſubtil oder noch ſo maſſiv denken als man will,
wird immer ein ſich aus ſich ſelbſt Bewegendes, ein In¬
dividuelles, ein nur vom Hauche des Göttlichen Getriebenes,
mit einem Wort, eine Art von Seele bleiben; die Seele,
man mag ſie nun in Gedanken noch ſo ſehr vom palpabeln
Organismus abſondern, und von dem, was man organi¬
ſches Leben nennt, unterſcheiden, ſie wird ſich immer in
unſerm Bewußtſein auf das Genaueſte mit allen Formen
unſers Lebens verknüpft zeigen, und wirklich ſind ja auch
daher einige Phyſiologen ſchon zu der ſehr natürlichen An¬
nahme gekommen: die Seele wäre am Ende nur eine ge¬
ſteigerte, in ihrer höchſten Wirkſamkeit erſcheinende, Lebens¬
kraft, wogegen ſogar nichts zu ſagen wäre, ſobald man
nur den rechten Begriff mit dieſem Worte verbinden will.


Es iſt indeß, um die Einheit und nicht die Zwei¬
heit
der unſerm ganzen Daſein zum Grunde liegenden
Weſenheit erfaßlich zu machen und ſcharf nachzuweiſen,
noch auf ein Anderes zu achten. Wenn man nämlich als
Beweis für die Verſchiedenheit der Seele von dem was
die Vorgänge des bildenden und ernährenden Lebens be¬
dingt, anführt, daß von letzterem nichts zum Bewußtſein
gelangen könne, ſo bedenkt man nicht, daß zwar Vieles
im Organismus vorgehe, was als ſolches wirklich und un¬
mittelbar nicht zum Bewußtſein kommt, daß aber doch nichts
in ihm vorgehe, was nicht mindeſtens mittelbar auf das
Bewußtſein Einfluß übe. Selbſt die ganz unbewußt ge¬
1[8] übten Vorgänge, wodurch im Embryo der Organismus
wächst und wird, enthalten ſie nicht alle Beziehung auf
das Bewußtſein, indem ſie die Organe ſchaffen, welche
künftig Vorſtellungen aufnehmen, bewahren und modificiren
ſollen? Noch mehr gilt dies aber von den Vorgängen,
welche wir künftig die partiell unbewußten nennen werden,
wie Blutlauf, Wachsthum, Abſonderung u. ſ. w., in dem
zum Bewußtſein gekommenen Menſchen; denn ſind ſie es
nicht, welche mittelbar auch hier das Bewußtſein in¬
fluenziren, und werden nicht auch hier manche unmittelbar
in krankhaften Zuſtänden dem Bewußtſein vorſtellig? — Auch
in dieſer Beziehung iſt es alſo vergeblich nach einer feſten
Scheidewand zwiſchen Seele und Lebenskraft zu ſuchen.
So unmöglich es überhaupt ſein würde, daß, wenn dieſe
beiden Energien etwas wahrhaft auch in jeder Art Ver¬
ſchiedenes wären, die Empfindungen des Sinnenlebens
der Seele zu Gute kämen, und die Seele ſelbſt wieder auf
den Leib zu wirken vermöchte, ſo gewiß iſt es, daß Alles
darauf uns hinweist, daß nur ein einiges Princip des
Lebendigen, nur ein ſich aus ſich ſelbſt Bewegendes
— eine Entelechie mit Ariſtoteles, oder eine Idee nach
Plato, oder eine Pſyche, eine Seele, mit einem Worte
ein Göttliches, nenne man es nun wie man wolle —
die Grundbedingung jeglicher Lebenserſcheinung und alſo
auch jeglicher Bildung ſein könne.


Man hat hiebei oftmals darauf aufmerkſam gemacht,
daß die Worte für dieſes geheime Princip alles Lebens ſo
gewöhnlich mit den Bezeichnungen für Athem und Hauch
zuſammenfallen, als Anima, Spiritus, Pneuma u. dgl.,
und hat geglaubt, daß hier nur von dem Athmen, als
einer der andauerndſten und unausgeſetzteſten Lebenserſchei¬
nung, dieſe bildliche Bezeichnung hergenommen ſei; ich
möchte indeß allerdings die Vermuthung hegen, daß die
Wahl dieſer Bezeichnung noch einen andern Sinn habe,
und daß hier bei weitem mehr als von dem Hauche und
[9] dem Athmen des Leibes, ſinnbildlich von dem Hauche
des Göttlichen
, welcher den Leib ſchafft, die Rede ſei.
Schon der ſehr merkwürdige Ausdruck der Geneſis: „und
Er blies ihm ein den lebendigen Odem in ſeine Naſe.
Und alſo ward der Menſch eine lebendige Seele,“ hat
offenbar dieſen Sinn, ſo wie das „Inſpiriren“ und das
„Inſpirirtſein“ nur hierauf bezogen werden kann. Sehr
ſchön ſchließt ſich dann dieſer Vorſtellungsweiſe an der Ge¬
danke, daß dasjenige Lebendige allein, aus welchem nun
auch dieſer göttliche Hauch vernehmbar als ein Göttliches
in That und Wort wieder hervor- und heraustöne — hin¬
durchtöne — (per-sonare wie die Stimme des antiken
Schauſpielers durch ſeine Maske) uns allein den Be¬
griff eines nach höherem Vernehmen (Vernunft) ſich
ſelbſt beſtimmenden Individuums, d. i. den einer Per¬
ſon
gebe.


So deutet denn Alles darauf hin, daß wir in jedem
irgendwie Lebendigen als das Eine, als das, wodurch ein
Lebendiges überhaupt bedingt iſt, als das, was wir als
Grund ſeiner Wirklichkeit zu betrachten haben, ein Gött¬
liches anerkennen
, welches wir als Urgrund dieſer
beſondern Erſcheinung mit dem Namen der Idee ſeines
Daſeins
, oder (ſo bald in dieſer Idee ſich irgend eine
Art des Bewußtſeins entwickelt hat) mit dem Namen der
Seele bezeichnen.


Das Vermögen unſeres Geiſtes, mittels deſſen wir
Vieles in Gedanken trennen dürfen, was in der Wirklich¬
keit nie getrennt ſein kann, erlaubt uns allerdings an
jeglichem Weſen zu unterſcheiden, wie Ariſtoteles ſagt: 1
„einen Theil als Stoff, was an und für ſich nicht ein
„beſtimmtes Etwas iſt; einen andern, Form und Geſtalt,
„nach welcher nun genannt wird ein Etwas, und drittens
„das, was aus dieſer beſteht. Es iſt aber der Stoff
„Möglichkeit, die Formbeſtimmung aber Wirklichkeit.“ Wo
[10] es ſich alſo von einem lebenden, d. h. ſich aus ſich ſelbſt
entwickelnden, erhaltenden, ernährenden, bewegenden Weſen
handelt, wird allemal das durch jenes Göttliche, in dem
wir den Urgrund ſeines individuellen Daſeins erkennen,
zunächſt Beſtimmte die Form ſein. Die Formbeſtimmung
aber, welche Ariſtoteles mit Recht als die Wirklichkeit
des Gegenſtandes bezeichnet, iſt auch das was, obwohl
immerfort modificirt, im Weſentlichen allein durch jenes
Göttliche während des ganzen Lebens feſtgehalten wird und
bleibend erſcheint, dahingegen der Stoff, das was Ari¬
ſtoteles die Möglichkeit nennt, in fortwährender Aende¬
rung iſt und immer entweicht und immer von andern erſetzt
werden muß. Nennen wir alſo das Göttliche, welches
den Urgrund eines individuellen Daſeins enthält, die Idee
oder die Seele; das Mögliche, an welchem dieſe Idee zur
Erſcheinung kommt, den Stoff oder Aether, und ſodann
die Wirklichkeit, als welche ſie ſich darlebt, die Form, ſo
haben wir allerdings drei Momente eines lebendigen
Daſeins
, von welchen wir aber wohl bedenken müſſen,
daß wir ſie nur im Verſtande als verſchiedene zu unter¬
ſcheiden vermögen, daß wir aber eine objektive Trennung
nie und nirgends unter ihnen annehmen dürfen. Eine
Form ohne irgend einen Stoff und ohne irgend eine Idee,
wodurch ſie beſtimmt würde, iſt ein Unding; ein Stoff,
der überhaupt da wäre, ohne in irgend einer Form da zu
ſein, iſt abermals ein Unding, und eine Idee, eine Seele,
welche nicht in irgend einer Form ſich bethätigte, kann
überhaupt kein Daſein haben. Eben darum iſt es als die
höchſte Entwickelung der ſich ſelbſt erkennenden Idee zu
betrachten, daß ſie fähig wird, dieſe Unterſcheidungen,
welche doch an ſich unmöglich ſind, zu denken, und eben
darum liegt auch wieder in dieſen Gedanken ſo viel Ge¬
fährliches, weil ſo leicht der Menſch verführt wird, ihm
irgend eine Realität doch wirklich zuzugeſtehen, in welchem
Falle jedoch alsbald dadurch nur eine abſtruſe und durch¬
[11] aus unbefriedigende Vorſtellung von der Welt und dem
Menſchen ſelbſt veranlaßt werden kann.


In dieſen Betrachtungen findet ſich ſonach zugleich der
recht eigentlich menſchliche, der für alles Gebahren mit
Wiſſenſchaft und Leben allein erleuchtete und erleuchtende
Standpunkt bezeichnet; denn daß ein Göttliches, ſich aus
ſich ſelbſt Bewegendes, Entwickelndes ſei, ſagt uns das
tiefinnerſte Weſen unſeres Geiſtes, ſo wie die Beobachtung
der Welt und eines jeglichen Lebendigen, eben ſo beſtimmt
als daß ein Stoff ſei, welcher in tauſendfältigen Formen
die Erſcheinungen unſeres inneren und äußeren Lebens
bedinge; auch iſt es uns geſtattet, zu deutlicherer Entwicke¬
lung unſeres Denkens jene urſprünglichen an und für ſich
ewig vereinigten Momente höchſten göttlichen Weſens im
Geiſte geſondert zu erfaſſen und zu benennen, und ein in
ſo weit Abſtrahiren von der Wirklichkeit iſt das wahre
Reich der uns zugänglichen Meta-Phyſik. Was dagegen
über dieſe Sonderungen hinausgeht, alle Verſuche, die
höchſten Verhältniſſe des Inbegriffs des Göttlichen — des
abſoluten Gottes — in ſeiner Nöthigung zur Offenbarung
in einer Welterſcheinung zu beſtimmen und zu erklären,
ſie werden immer jeder unmittelbaren Erkenntniß ent¬
behren, und werden ſich verlieren auf irgend eine Weiſe
in ſchwankende, nebelige und unfruchtbare Regionen.


Die gegenwärtigen Unterſuchungen ſollen durchaus auf
dem eben angedeuteten Standpunkte ſich behaupten: das
Göttliche in unſerm Innern
, in ſeiner Entfal¬
tung aus dem Unbewußten zum Bewußten zu
verfolgen
, ſoll unſere weſentliche Beſchäftigung im Fol¬
genden ausmachen, und wir ſprechen es nun nochmals
mit Beſtimmtheit aus, daß der Schlüſſel zu dieſer Erkennt¬
niß vom Weſen des bewußten Seelenlebens nur in der
Region des Unbewußtſeins aufgefunden werden könne.

[[12]]

I. Vom unbewußten Leben der Seele.

Es iſt eine eigene Empfindung, die wir haben, wenn
in unſerem ſelbſtbewußten Denken wir uns deutlich machen
mit welcher eigenthümlichen und hohen Geſetzmäßigkeit und
Schönheit, in uns und andern Lebendigen, lange vor
allem Denken, das Wirklichwerden und Erhalten unſerer
Geſtaltung geleitet wird. Je mehr wir hier in die Tiefen
der Bildungsvorgänge eindringen, um ſo höher ſteigt unſere
Ehrfurcht vor dieſem Walten! Wer die Schritt für Schritt
mit unverrückter Stetigkeit geſchehenden Kryſtalliſationen
der Urtheile nur eines einzigen Organismus verfolgt hat,
wer geſehen hat, wie durch unendliche Wiederholungen der
einzigen Urgeſtalt des mikroſkopiſchen erſten Eibläschens,
eine eigenthümliche Zellenbildung entſteht, welche überall
die Grundlage iſt, aus welcher dann Gefäße, Nerven,
Muskeln, Knochen, je nach beſtimmten Strahlungen und
Metamorphoſen, hervorgehen, dem muß allmählig verſtänd¬
lich werden, welch eine Weisheit, Macht und Schönheit,
noch ohne alles Selbſtbewußtſein, ein ſich indi¬
vidualiſirendes Göttliches zu offenbaren vermag. Es iſt
dann ſogar nicht zu vermeiden, daß wir zu der Frage
kommen: „Kann die freie Wirkſamkeit der ſelbſtbewußten
Seele zu einer Höhe ſich erheben, welche der Schönheit,
dem Reichthum der innern Vollendung deſſen gleich kommt,
[13] was ein unbewußtes Walten des ſeeliſchen Princips täglich
und ſtündlich vor unſern Augen entfaltet?“ — Alles was
über Verhältniß und Gegenüberſtehen von Natur und Kunſt
geſagt worden iſt, kann hieher gezogen werden, und immer
wird man ſich überzeugen müſſen, daß die innere Vollen¬
dung und höchſte Zweckmäßigkeit der Bildungen durch dieſes
Unbewußte, unendlich voranſteht Allem und Jedem was
der bewußte Geiſt in ähnlicher Weiſe hervorzubringen ver¬
mag. Ja wenn uns dann deutlich wird, daß Alles, was
wir die Wiſſenſchaft der bewußten Seele nennen, nur ein
Nachgehen und ein Aufſuchen der Verhältniſſe und Geſetze
iſt, welche fort und fort im unbewußten Walten des ver¬
ſchiedenen Lebendigen um und in uns, vom Weltkörper bis
zum Blutkörperchen, ſich bethätigen, ſo entſteht uns ein
eigener Kreislauf der Ideenwelt, welche aus dem Unbewußt¬
ſein bis zum Bewußtſein ſich entwickelt, und als ſolches
doch wieder zuhöchſt das Unbewußte ſucht und in dem mög¬
lichſten Verſtändniß deſſelben ſich erſt befriedigt findet.


Auch über den Menſchen ſelbſt gehen uns in dieſen
Betrachtungen merkwürdige Verhältniſſe auf. Wenn wir
uns nämlich überzeugt haben, daß die Bildung dieſes
unſeres Organismus, ganz abgeſehen von allem bewußten
Leben, was aus derſelben und in derſelben ſich ſpäterhin
entfalten ſoll, uns eine Vollendung, eine Mannichfaltigkeit,
eine innere Zweckmäßigkeit darſtellt, die wir in keinem an¬
dern Organismus in dieſer Art vorfinden, ſo muß dies
uns mit einer eigenen Ehrfurcht gegen den Menſchen über¬
haupt erfüllen, die noch ganz unabhängig ſein wird von
Dem, was der Menſch als bewußtes Individuum etwa
noch Beſonderes geworden iſt. In dem Individuum alſo,
welches als bewußter Geiſt noch ſo dürftig ſich entwickelt,
ja welches in ſich ſeine Würde als ein Selbſtbewußtes ganz
verloren hat, erkennen wir nichts deſtoweniger dann eine
Weisheit, eine Zweckmäßigkeit, ja eine gewiſſe Schönheit
des innern Lebens, die uns mit um ſo größerer Bewunderung
[14] erfüllen muß, je weiter wir ſelbſt in der Kenntniß dieſer
Erſcheinungen gekommen ſind.


Aus dieſer Verehrung, welche, auch ohne noch ganz in
die Erkenntniß übergegangen zu ſein, den Menſchen gegen
dieſes Unbewußte durchdringt und durchdringen muß, erklärt
ſich Vieles in den Vorſtellungen der Menſchheit und zwar
ſchon in den älteſten Zeiten. Die eigene Ehrfurcht vor der
Kindesnatur, noch ehe ein höheres ſelbſtbewußtes Leben in
ihr ſich entwickelt hat, die Scheu vor der Tödtung des
Menſchen, ja bei dem Hindu die Scheu vor Zerſtörung
alles animaliſchen Lebens, und bei ſo vielen Völkern ſelbſt
die Verehrung menſchlicher Bildung, ja ſogar mancher
Thiergeſtalten als ein Göttliches. Freilich, je weiter noch
die Erkenntniß zurück war, deſto mehr Mißverſtändniſſe
gaben ſich in dieſen Vorſtellungen kund, indem hier das
was nur ein Göttliches — ein einzelner Strahl des
einen von uns nur geahnten abſoluten Gottes war, oft
als ſelbſt Gottheit genommen wurde, und gerade hier hat
ſich denn überhaupt die Quelle des eigentlichen Irrthums
des Pantheismus eröffnet. Dieſer Pantheismus, die Mei¬
nung, daß vieles Einzelne ſchon eine abſolute Gottheit ſein
könnte, ſteht im vollkommenen Gegenſatz zu Dem, was
man vielleicht am beſten Entheismus, d. h. Erkennt¬
niß des Göttlichen in Allem
, zu nennen berechtigt
wäre, und ſo klar es ſein muß, daß dieſer Entheismus die
eigentliche alleinige geſunde Anſchauung der Welt bezeichnet,
ſo gewiß iſt es, daß ein vollkommener Pantheismus eigent¬
lich, gleich dem wirklichen Atheismus, zu abſurd iſt, als
daß er jemals bei nur einiger Entwickelung der Intelligenz
dem Menſchen im vollen Sinne des Wortes hätte genügen
können.


Uebrigens bewegt ſich noch unſere heutige Theologie,
gleich einer ſehr verbreiteten Art von Phyſiologie, bei der
Lehre von Dingen dieſer Art, in einem ſonderbaren Zirkel.
Es wird die Vortrefflichkeit und Weisheit des Göttlichen in
[15] den Naturbildungen und eben ſo in der Organiſation des
Menſchen anerkannt, ihr Studium wohl gar zur Vermeh¬
rung der Erkenntniß des Göttlichen überhaupt empfohlen,
und deſſen ungeachtet wird zwiſchen dieſem unbewußten
Walten eines ſich individualiſirenden Göttlichen und dem
bewußten Göttlichen, welches wir in der entwickelten menſch¬
lichen Seele gewahr werden, als zwiſchen zwei durchaus
Entgegengeſetzten unterſchieden. Jenes erſte Unbewußte wird
dann wieder, gegenüber der Seele etwa, als Lebenskraft
angeſprochen, und dieſe letztere erſcheint alsdann bald zu
einem bloßen Mechanismus herabgeſetzt, bald wird ſie wohl
auch als beſonders dämoniſch aufgefaßt, ſo daß zuletzt nicht
viel fehlte, man hätte ſie als Offenbarung des böſen,
ſataniſchen Princips dem bewußten Pſychiſchen als der
Offenbarung des guten und eigentlich divinen Princips
geradezu gegenübergeſtellt, während doch die innere wahr¬
haft göttliche Vollendung aller Productionen des erſtern
unbewußten Waltens nicht geläugnet werden kann. Dies
ſind Verirrungen die hier nur beiläufig angedeutet werden
ſollen, die aber eigentlich weiter von der Wahrheit ſich ver¬
lieren, als die des ſogenannten Pantheismus ſelbſt.


Ich ſagte nun aber ſchon im Eingange, daß es ſchwer
ſei in der Region des bewußten Seelenlebens den Begriff
vom unbewußten Leiden und Thun der Seele in der Wahr¬
heit zu erfaſſen, daß aber doch auch wiederum nur eben
hier der Schlüſſel zu einer wahren Pſychologie
gefunden werden könne
. Verſuchen wir daher zunächſt
dadurch uns zu fördern, daß wir Achtung geben, wie vieles
auch innerhalb des bewußten Zuſtandes unſerer Seele aller¬
dings nur als ein Unbewußtes ſich bewegt und vollendet.
So iſt es denn z. B. keinem Zweifel unterworfen, daß
die Muskeln, welche der Bewegung des Athemholens dienen,
durch die zu ihnen ſich verbreitenden Wirkungen des Nerven¬
lebens, der Willkür unſeres bewußten Seelenlebens gehorchen.
Wir können dieſe Bewegungen eine Zeitlang hemmen, wir
[16] können ſie abſichtlich beſchleunigen, unterbrechen, verſtärken
oder ſchwächen, und empfinden daran deren volle Abhängig¬
keit von unſerer ſelbſtbewußten Seele. Nichts deſtoweniger
geſchehen dieſe Bewegungen in der Regel und fortwährend,
unſer ganzes Leben hindurch größtentheils vollkommen
unbewußt
, und machen es uns verſtändlich, daß zwi¬
ſchen Bewußtſein und Unbewußtſein eine ſehr bewegliche
Gränze liegt, und daß das Bewußte wie das Unbewußte
Strahlungen einer und derſelben Einheit ſind. Noch auf¬
fallender vielleicht iſt dies bei allen Bewegungen, welche
irgend einer Kunſtfertigkeit dienen. Hier, ganz in der
Region des Bewußtſeins, und ausgeführt von durchaus der
Willkür unterworfenen Muskeln, iſt das was wir „Ein¬
lernen“, „Einübung“ nennen, gar nichts Anderes, als ein
Beſtreben, etwas das dem Bewußtſein angehört, wieder in
die Region des Unbewußtſeins zu bringen. Man denke ſich
den Klavierſpieler: jede einzelne Fingerſetzung, Finger¬
ſchnellung iſt urſprünglich willkürlich und muß zuerſt durch
abſichtlich einzeln gewollte Nervenſtrömung auf die geeigneten
Muskeln hervorgerufen werden. Wird ſie nun vielfältig
hervorgerufen und immer wieder erneut, ſo geht ſie all¬
mählig in ihrer beſondern Complication ganz in's Reich des
Unbewußtſeins über und wird dergeſtalt dem Bewußtſein
entzogen, daß ſie einzeln gar nicht mehr gedacht zu werden
braucht, ſondern daß die Vorſtellung vom Realiſiren ge¬
wiſſer Tonfolgen überhaupt ſchon genug iſt um ſie ganz
unbewußt in ihrer Geſammtheit und in jeder gewollten
Zeitfolge eben ſo ſicher hervorzurufen, wie die Athmungs¬
bewegungen ohne unſer Darandenken ſich folgen. Daſſelbe
iſt der Fall mit dem Erlernen unſerer weſentlichſten Orts¬
bewegung, dem Gehen, und ſo mit hundert Anderem; wor¬
aus ſich denn klärlich ergibt, daß im Können auf gleiche
Weiſe wie im Wiſſen, das Hinübergreifen aus dem
Bewußten ins Unbewußte
, zur Höhe menſchlicher
Vollendung wahrhaft gehört.


[17]

Letzteres iſt eine Bemerkung, welche die volle Beach¬
tung des Pſychologen verdient und bisher noch nicht in ge¬
nügendem Grade verfolgt worden iſt, obwohl E. Stahl
bereits auf Manches dieſer Art ſehr beſtimmt aufmerkſam
gemacht hat. Es iſt nämlich gewiß ſehr merkwürdig, daß
dem Thun, dem Können, der Kunſt des Menſchen, hier
ganz ähnliche Bahnen vorgezeichnet ſind, als dem Erkennen,
dem Wiſſen, der Wiſſenſchaft. Wie es eine um ſo
größere Höhe der Wiſſenſchaft bezeichnet, je tiefer das be¬
wußte Erkennen des Menſchen eindringt in das Wahr¬
nehmen der Ideen und Geſetze, welche unbewußt in unſerem
eigenen Organismus und in dem der Welterſcheinung um
uns her ſich bethätigen, wie es eben darum auch die höchſte
Aufgabe der Lehre von der Seele iſt in die Regionen ein¬
zudringen, wo das Seelenleben noch ganz ohne Bewußtſein
ſich wirkſam erweist, ſo wird auch ein jedes Können erſt
dadurch wirklich zur Kunſt, daß alles Thun, in ſo fern es
einem gewiſſen Zweck des Willens dienen ſoll, wieder an
und für ſich unbewußt vollzogen werde und eben dadurch
nun die höchſte Leichtigkeit jeder Production begünſtige, in¬
dem es nämlich nur dann erſt überflüſſig wird, daß die
Seele aller der einzelnen Willensäußerungen beſonders und
abſichtlich gedenke, welche nöthig ſind, irgend eine vorgeſetzte
That zur Ausführung zu bringen, ſo daß ihr jetzt, mit
dem Willen
ihn zu erreichen, allein der Zweck rein
und lebendig vorzuſchweben braucht, um friſch und leicht
die Kunſtthätigkeit zu Erreichung dieſes Zwecks in Gang
zu ſetzen.


Wenden wir uns übrigens wieder zu Dem, was wir
im bewußten Seelenleben das Wiſſen, das Erkennen nennen,
ſo verſtehen wir gegenwärtig auch, indem wir auf das
Hervorgehen deſſelben aus dem Unbewußtſein achten, warum
Plato ſchon alles Erkennenlernen darſtellte als ein Er¬
innern
, als ein „im Innern finden“; alſo da finden
wo bisher noch kein Wiſſen war, und wo dieſe
Carus, Pſyche. 2[18] Wahrheit, dieſer Gedanke, doch war, wie der unbewußte
Embryo in der bewußten Mutter; ein Vorgang wegen deſſen
eben Sokrates ſo oft das Entwickeln des Gedankens als
einen geburtshelferiſchen Akt angeſehen wiſſen will. Alles
dieſes deutet denn mit Beſtimmtheit auf die reiche eigen¬
thümliche Welt, die wir dunkel in unſerm Innern tragen,
und jedes Bedenken dieſer Art muß uns ſofort das merk¬
würdige Verhältniß zwiſchen Bewußtſein und Unbewußtſein
deutlicher geſtalten können. Ein noch helleres Licht kann
es übrigens hierauf werfen, wenn wir an das allmählige
Hervortreten angeborner beſonderer Richtungen der bewußten
Seele denken wollen. Hier zeigt ſich zugleich wie weit wir
in der Geſchichte der Idee unſeres Daſeins zurückgehen —
und eben alſo in das Reich des unbewußten Daſeins —
zurückgehen müſſen, wenn wir zur Auffindung der erſten
Gründe
der Beſonderheit dieſes Daſeins gelangen wollen.
Ich erinnere nämlich hier zuerſt daran, wie viel ganz eigen¬
thümliche Züge auch des bewußten Seelenlebens ſich von
Eltern auf Kinder fortpflanzen können, wie manche eigen¬
thümliche Richtungen des Geiſtes, manche beſondere Nei¬
gungen, manche Kunſtanlagen auf dieſe Weiſe das Eigen¬
thum von Perſonen werden, in welchen ſie noch überdies
oft ziemlich ſpät erſt wirklich hervortreten, obwohl ſie der
Anlage nach von Haus aus in ihnen vorhanden ſein mußten.
Jetzt mache man ſich nun aber anſchaulich, in welchem völlig
bewußtloſen Zuſtande die Seele ſich befindet zu der Zeit,
wo in den erſten Bildungsperioden des Eies dergleichen
Uebertragungen allein möglich waren. Man mache ſich
deutlich, wie hier in der Seele des Embryo, während ſie
einzig und allein als bildende, entwickelnde, Stoffe heran¬
ziehende und Stoffe vertheilende Macht ſich bethätigt, doch
unbewußter Weiſe alle jene ſpäter ſich kund gebenden Geiſtes¬
richtungen des bewußten Lebens ſchon wirklich vorgebildet
ſind! und man wird eins der merkwürdigſten und für die
Geſchichte des Verhältniſſes zwiſchen Bewußtſein und Un¬
[19] bewußtſein lehrreichſten Momente vor ſich haben. Gewiß,
an dergleichen muß es deutlich werden, wie durch und
durch unſer bewußtes Seelenleben auf der Region des
unbewußten ruht, und aus ihr hervorgeht, wie es ganz
eigentlich der erſte ſchaffende Akt der als Seele ſich dar¬
lebenden Idee iſt, noch ganz unbewußt die bewundernswürdige
Mannichfaltigkeit des Organismus zu begründen, und wie
auch dann, wenn in der Wiederſpiegelung der Idee in dieſer
Schöpfung, das Bewußtſein ſich erſchloſſen hat, die unbe¬
wußte Strahlung jenes Göttlichen, der unverſiegbare Born
iſt, aus welchem immer neue und neue Bereicherungen des
Bewußtſeins hervorgehen.


Gerade weil wir es alſo für ſo höchſt wichtig erkennen,
behufs der Wiſſenſchaft von der Seele, ſo tief als möglich
einzudringen in das Verſtändniß der bewußtlos in uns
waltenden Idee, wird es zunächſt hier unbedingt erfordert,
mit ſchäferen Zügen die Geſchichte des werdenden Organis¬
mus, und namentlich des menſchlichen zu zeichnen. Es iſt
hiebei insbeſondere nothwendig, die Weſenheit des Ent¬
wickelungsvorganges, dagegen nicht gerade alle einzelnen
Modificationen deſſelben, deutlich einzuſehen; eine Einſicht,
welche allerdings erſt durch die ſorgfältigen dem Laien durch¬
aus, und ſelbſt vielen Aerzten noch bisher ganz fremden
Unterſuchungen der neueſten Zeit möglich geworden iſt.
Nur aus dieſer Deutlichkeit der Einſicht wird auch der
Rückſchluß auf die Eigenthümlichkeit, mit welcher ein unbe¬
wußt bildendes Seelenleben ſich überhaupt bethätigt, wahrhaft
möglich werden. Hätte E. Stahl, dem ſchon im 17.
Jahrhundert der Gedanke kam: „Es ſei nur die Seele das
eigentlich Schaffende und Bildende des Organismus“, zu
ſeiner Zeit ſchon klarere Vorſtellungen von dieſem Bilden
und dem wahren Verhältniß einer Idee zu ihrem ſich
Darleben in einer Form erfaſſen können, und wäre er
nicht von reinern Anſchauungen immer noch durch die An¬
nahme einer gewiſſen Materialität der Seele zurückgehalten
[20] geweſen, ſo hätte ſchon ihm ſich die ganze Weſenheit dieſer
Verhältniſſe erſchließen müſſen. Ihm war nämlich der
Unterſchied des bewußten und unbewußten Seelenlebens
allerdings aufgegangen und ganz treffend ſagte er: „Das
Unbewußte und Unwillkürliche im Organismus geſchehe
zwar auch ratione oder λόγω, aber nicht ratiocinio oder
λόγιςμῷ‚ welche Erkenntniß ihn denn auch ſo erfüllte und
befriedigte, daß er mit einer gewiſſen Verachtung auf die
Phyſiologie ſeines Zeitgenoſſen F. Hoffmann herabblickte
und ſelbſt mit Leibnitz in entſchiedene Differenzen gerieth,
als welcher letztere zwar die Seele an und für ſich in ihrer
Immaterialität gewiß richtiger erfaßt hatte als er, allein,
da ihm nun wieder ihr Verhältniß zum Organismus ferner
lag, noch eine zweite Entelechie, die Kraft der Bewegung,
außer der Seele, im Organismus annahm, welche Stahl
allerdings verwerfen mußte, da ihm der Begriff der Ein¬
heit des Organismus einmal wahrhaft aufgegangen und
deutlich geworden war.


a.Vom Weſen der erſten Bildungsvorgänge des menſchlichen
Organismus.

Ein wahres Unheil, welches der Pſychologie daraus
erwuchs, daß in neuerer Zeit größtentheils Männer mit
ihrer Bearbeitung ſich beſchäftigten, welche von den Bil¬
dungsvorgängen und dem Leben des Organismus gar keine
oder nur höchſt unvollkommene, aus Büchern geſchöpfte
Begriffe hatten, lag darin, daß, wenn ſie ſich darüber
deutlich machen wollten, was ſie das Verhältniß von Seele
und Körper nannten, ihnen immer nur ein ungefähres
Bild von der geſammten gegliederten Mannichfaltigkeit des
erwachſenen
Leibes vorſchwebte, und daß ſie ganz der
rechten Vorſtellung ſeiner einfachſten früheſten Verhältniſſe
[21] ermangelten. Schon Ariſtoteles ſagt1: dieſerhalb
nun gehört für die Naturforſcher die Betrachtung über die
Seele, entweder überhaupt oder als ſo beſchaffene.“ Wie
ſollte auch das rechte Erkennen des Bewußten in uns her¬
vorgehen, wenn das Erkennen und Verfolgen des Unbe¬
wußten nicht vorhergegangen war, und wegen mangelnder
Vorkenntniſſe nicht vorhergehen konnte! So wie alſo in
der Morphologie nur durch das Studium der Entwicklungs¬
geſchichte die Lehre von dem Verhältniß und der Bedeutung
der Organe näher aufgegangen iſt, ſo wird man auch die
Art und Weiſe wie ein Göttliches — eine Idee — ein
Ur-Bild eines Seins vor allem Daſein — ſich in der
Wirklichkeit — in einem Abbilde darlebt, und welche Ver¬
hältniſſe dann fortwährend zwiſchen Urbild und Abbild be¬
ſtehen, nur dann genügend erkennen und durchſchauen,
wenn man die Verhältniſſe aufſucht, wo die Beziehungen
und Bildungen noch einfacher ſind, hingegen wird man ſie
weit ſchwerer erfaſſen, wo ſie bereits eine unendliche Man¬
nichfaltigkeit und Verwicklung wirklich erreicht haben.


Indem wir daher jetzt an dieſe Betrachtungen uns
begeben, ſo iſt ein Factum ſogleich als das wichtigſte vor¬
auszuſtellen und deutlich zu machen, von welchem allein
ſchon unendlich viel Licht für die Einſicht in alle ähnliche
Verhältniſſe erlangt werden kann, ein Factum, welches
allerdings erſt durch die neueſten Forſchungen wahrhaft
enthüllt iſt, und welches, wenn Männer wie Ariſtoteles
und E. Stahl damit bereits bekannt geweſen wären, das
Verſtändniß vom unbewußten Bilden der Seele ſchon ihnen
in vollerem Maße eröffnet haben würde. Dieſes Factum
heißt: die urſprüngliche vollkommene Gleichheit
aller Elementartheile des Organismus
; oder die
Wahrheit, daß alle Vergrößerung des Gliedbaues
im lebenden Körper bedingt werde durch unend¬
lich vielfältige Wiederholungen einer und der¬
[22] ſelben einfachſten Grundform
. Einfachſte aller
Geſtalten iſt aber die reine Sphäre — und ſo ſind es
unendlich kleinſte Hohlſphären, Bläschen, Urzellen, welche
als organiſche Einheiten (Monaden) die Vielgeſtaltigkeit
aller organiſchen Bildung begründen. Tauſend und tauſend¬
fältig verwirklicht, — ſetzt ſich alſo die Idee in ſolcher
Monas, und jede Urzelle des Organismus iſt ſonach immer
nur die Wiederholung jener erſten Urzelle — jenes Eikeims
— Eibläschens — womit der ganze Organismus begann,
eben deßhalb aber iſt auch jede dieſer Urzellen auf ihre
beſondere Weiſe der Ausdruck der Idee des Ganzen,
und dadurch auf ihre beſondere Weiſe eigenlebendig.
Man denke den Gedanken einer ſolchen Gliederung
recht durch, und man wird finden, daß hiemit in Wahr¬
heit ein ungeheurer Schritt zum Verſtändniß des Lebens
überhaupt und des Verhältniſſes der Seele zum geglieder¬
ten Leibe insbeſondere gethan iſt! — Gerade der Mangel
dieſer Erkenntniß war es, welcher die ältern Forſcher und
noch manche Neuere in abſurder Weiſe nach einem Sitze
der Seele
ſuchen ließ, als ob nur an einem Punkte,
gleich der Spinne in Mitten ihres Netzes, die Seele im
Organismus fixirt wäre und ſie von da aus das mecha¬
niſche Getriebe des Leibes in Bewegung ſetzte! — Wer
hingegen nur Das recht gefaßt hat, wie alle Grundform
des Organismus auf unzählbarer Wiederholung der einen
Grundform ruht, und wie jegliche Zelle die Wiederholung
des erſten Eikeims iſt, und wie ſie ſelbſt eben dadurch
immer wieder die Grundidee verwirklicht, oder eben dadurch
in ſich eigenlebendig iſt, der betrachtet nun ſchon mit ganz
andern Augen das aus all dieſen Wiederholungen ſich
erbauende Ganze. Erſt durch dieſe Vorſtellung wird aber
auch ein jeder höher entwickelter und insbeſondere der
menſchliche Organismus uns wahrhaft zum Begriffe
einer kleinen Welt
, eines Mikrokosmus, geſteigert;
ein Begriff, der außerdem von den Meiſten nur als ein
[23] Gleichniß, und folglich unzulänglich, gedacht werden kann.
Wenn wir dagegen uns deutlich machen, daß wirklich das
allererſte Keimbläschen des Organismus nur als ein ein¬
zelnes, als eine Monas, erſcheint, daß dann ſchon wäh¬
rend ſeiner erſten Weiterbildung Tauſende neuer ſolcher
Monaden aus dem Keimbläschen ſich entwickeln, ja daß
der ganze Leib des allmählig anſchießenden Embryo nur aus
wiederholten Bläschenformen — Zellen — beſteht, aus
denen erſt allmählig Hirn und Nerven, Muskeln und
Knochen, Sinnesorgane und Bildungs- und Ernährungs¬
organe nach einem höhern Plane der Totalität der Idee
ſich zuſammenreihen, während zugleich Millionen von raſt¬
los entſtehenden und vergehenden Monaden als Blutkörper¬
chen ſich kreiſend umhertreiben, ja daß auch von den bereits
zu größeren Gebilden angeſchoſſenen Urbläschen oder Zellen
während jeder Erdumdrehung wieder viele Tauſende auf¬
hören der Organiſation anzugehören, ſich ablöſen und zer¬
ſtört werden, während andere Tauſende immer wieder neu
ſich geſtalten und dem Beſtehenden ſich anſchließen, und
daß nun doch in jeder dieſer millionenfach dargebildeten
Zellen immer die urſprüngliche Lebensidee des Organismus
ſich auf eigenthümliche Weiſe verwirklicht hat, ſo wird in
uns nun erſt ein Begriff des Lebens erzeugt, den wir im
wahren Sinn einen würdigen nennen können, und der
uns den ſcheinbar einfachen und ruhig beharrenden leben¬
digen Leib als ein durchaus bewegtes Meer des ſteten
Vergehens und Werdens, ganz in gleichem Sinne etwa
wie ein Syſtem von Weltkörpern — kurz, wie ich oben
ſagte, wahrhaft als Mikrokosmus — darſtellt und beweiſet.
In dieſen Vorgängen alſo ſehen wir das erſte be¬
wußtloſe Wirken jener göttlichen Idee
, welche als
Seele ſich darleben ſoll, wie es hier unter gegebenen Be¬
dingungen an einer einfachen eiſtoffigen Flüſſigkeit hervor¬
tritt, und zwar mit derſelben Nothwendigkeit geſtaltend
hervortritt, als an dem ſchwebenden Waſſertropfen der
[24] Atmoſphäre bei verminderter Wärme die Idee einer ſechs¬
ſtrahligen Kryſtalliſation der Schneeflocke erſcheint, und
wir erkennen alsbald: dieſes erſte bewußtloſe Wirken, es
müſſe im Allgemeinen als ein zweifaches ſich kund geben;
eines Theils nämlich erſcheine es als ein ſich in einer
und derſelben Urgeſtaltung immerfort
, ſo lange
überhaupt ein Fortbilden des Organismus ſtattfindet, ſich
raſtlos wiederholendes
, ſich immer neu ſetzendes;
andern Theils ſei es ein höheres, die Darſtellung der
Geſammtheit
eines mannichfaltig gegliederten Organis¬
mus Bezweckendes. Man könnte alſo ſagen, es wiederhole
ſich hier am Stoffe ſelbſt der oben berührte Gegenſatz
von Stoff und Form noch einmal, indem die endloſe
Wiederholung der Urzelle in Millionen eigenleben¬
diger Monaden, oder Zellen, gleichſam den Stoff, das
Material des Organismus darſtellt, während die ver¬
ſchiedenartigen Modificationen
dieſer unendlichen
angehäuften Zellen nach dem höhern Schema unſerer
geſammten organiſchen Bildung erſt die Form, und da¬
durch — wie Ariſtoteles ganz richtig ſagt — „die Wirk¬
lichkeit der ganzen lebendigen Bildung
“ begründen.
Nicht bloß jedoch dieſe räumlich geſtaltenden Verhält¬
niſſe ſind hier wichtig zu beachten, ſondern eben ſo verdient
das Moment der Zeit unſere beſondere Aufmerkſamkeit.
Wäre nämlich die ſchaffende Thätigkeit dieſes Göttlichen in
uns, welches wir in ſeiner vollern Entwicklung mit dem
Namen der Seele bezeichnen, bloß eine ſchlagartig, nur
einmal wirkende, blitzartig erſcheinende und nicht in der
Zeit fortgehende, ſo unterſchiede ſie ſich in nichts von der
eigentlichen Kryſtalliſation oder der Geſtaltung eines Glie¬
des des Erdorganismus; aber ſie iſt in gewiſſem Maße
andauernd, ſie iſt umgeſtaltend, immer zerſtörend und neu
bildend, ſie iſt ſomit auch eben durch dieſe Wiederholungen
den Organismus erhaltend, und in dieſer unbewußten
Offenbarung eines höhern Organismus tritt dadurch eine
[25] höchſt merkwürdige Eigenſchaft hervor, welche ſich eben ſo
auf die Zeit bezieht, wie jenes erſte geſtaltende Moment
auf den Raum ſich bezog.


Dieſe Eigenſchaft iſt es nun, in welcher abermals
für die Entwicklung auch des höhern bewußten Seelen¬
lebens ſehr wichtige Bedingungen ſich ergeben. Wie näm¬
lich vorher ſich zeigte, daß hinſichtlich der räumlichen Er¬
ſcheinung des Organismus ſtets eine unendliche Menge von
Einzelnheiten, der Bildung einer höheren, einer Geſammt¬
form untergeordnet ſind, ſo iſt es jener fortſchreitenden erhal¬
tenden Wirkung, jenem zeitlichen Schaffen des unbewußten
Göttlichen im Organismus eigen und nothwendig, alle ein¬
zelnen Zeitmomente ſeiner Exiſtenz einem Höhern, einer allge¬
meinen Zeit ſeines Daſeins, unterzuordnen. Dieſes Göttliche
nämlich, welches als ſolches nothwendig auch am Prädicat
der Ewigkeit Theil hat, offenbart ſein Weſen ſtets, man
könnte ſagen: in einem Bruchtheile dieſer Ewigkeit, in einem
immerfort in Vergangenheit und Zukunft zerfallenden Zeit¬
theil, welchen wir gleichſam ſeine relative Ewigkeit,
d. i. ſeine Lebenszeit, nennen. Eben weil aber ſonach
jede Vergangenheit und jede Zukunft des lebenden Orga¬
nismus integrirende Theile eines Ganzen, nämlich Bruch¬
theile einer relativen Ewigkeit ſind, ſo müſſen ſie auch ſtets
in der allergenaueſten Beziehung auf einander
ſich verhalten, das Vorhergehende muß auf das Beſtimm¬
teſte auf das Folgende, und das Vorhandene eben ſo auf
das Vergangene deuten, und hierin liegt eben der höhere
Grund jener Beziehung der Zeiten, die wir ſpäter im
Bewußtſein als Erinnerung und Vorauſſicht bezeich¬
nen werden.


Indem daher alles Wachſen, alles Bilden, alles Zer¬
ſtören und alles ſich Wiederbilden — mit einem Worte —
alles dies unbewußte Werden immer die feſteſten und
allergenaueſten Beziehungen des Vorhergehenden auf das
Nachkommende, und des Nachgekommenen auf das Vor¬
[26] herdageweſene verräth, obwohl es doch ſelbſt nur in ſteter
Flucht zwiſchen Vergangenheit und Zukunft, ohne eigent¬
liche Gegenwart, ſich erweiſet, ſo muß dieſe Vorausſchau
und dieſe Erinnerung in ihm allerdings feſter und gewiſſer
als in der bewußten Sphäre genannt werden, und es
muß eine wichtige Aufgabe werden, hier, wo das Unbe¬
wußte der Seele erwogen werden ſoll, darzulegen, welche
Bewandtniß es mit dieſer unbewußten Erinnerung und
unbewußten Vorausſicht eigentlich habe. Erſt ſpäter wird
ſich dann ergeben, daß eine eigentliche Gegenwart,
d. h. das Finden eines wahren Haltpunktes zwiſchen Ver¬
gangenheit und Zukunft, erſt im bewußten Geiſte möglich
ſei, daß aber dann hierin auch überhaupt die Flucht der
Zeit überwunden und die Ewigkeit ergriffen werde. Hier
in der Entwicklung des bewußten Geiſtes iſt aber bei er¬
langter Gegenwart Vergangenheit und Zukunft dunkler,
während im Unbewußten zwar die eigentliche Gegenwart
fehlt, aber die Beziehungen zwiſchen Vergangenheit und
Zukunft um ſo inniger und gewiſſer ſind.


Jedenfalls iſt es nun von höchſter Wichtigkeit, daß
uns ganz und vollkommen deutlich werde, welche Bedeutung
in dieſer, im Dunkel des unbewußten Schaffens der Idee
verborgen liegenden, und doch ſo ganz genau ſich bewäh¬
renden Vorausſicht und Erinnerung enthalten ſei, und es
wird nöthig zuerſt hier etwas in's Einzelne einzugehen um
den Begriff davon ganz klar und vollſtändig aufzuerbauen.
Nur dann erſt wenn dies gelungen, wird es möglich ſein
ein Verſtändniß über dasjenige zu eröffnen, was davon
in das bewußte Leben der Seele übergeht, ja zu zeigen,
wie dieſes bewußte Leben nur eben erſt durch dieſes Pro¬
metheïſche und Epimetheïſche der unbewußt ſchaffenden
Idee ſich durch und durch begründet findet. Nicht ohne
tiefe Weisheit hatten ja ſchon die Griechen die Mythe vom
Prometheus und Epimetheus mit allem was höhere Aus¬
bildung der Menſchheit heißt in Verbindung geſetzt.


[27]

Die bisher ſo ganz unbeachtet gelaſſene Lehre von die¬
ſem Prometheſchen und Epimetheſchen des Unbewußten
wird uns aber am klarſten hervorgehen wenn wir zunächſt
unſere Blicke etwas ſchärfer richten auf die Geſchichte alles
unbewußten organiſchen Lebens, ſo auf das geheimnisvolle
ſtille Fortbilden der Pflanzenwelt, oder auf das unruhigere
bewegtere Leben und Treiben der Thierwelt. In jeder
Regung und in jeder Form werden wir hier, wenn wir
aufmerkſamen Geiſtes ſind, verſtehen können — da liege
überall Etwas verborgen, wodurch zurückgedeutet werde
auf ein Vergangenes, Vorherdageweſenes, und wodurch
vorbedeutet werde etwas weiter ſich Bildendes, etwas Zu¬
künftiges. So deuten die erſten Theilungen des Pflanzen¬
keims auf die Art und Stellung ſpäterer Blätter, ſo die
Blätter auf die Art und Stellung der Blumenkrone, und
ſo zeigt ſchon die erſte Anlage der Blüthe die beſtimmte
Gliederung eines Gebildes, aus welchem bei ihrem Lebens¬
anfange die ganze Pflanze hervorging und welches ihr,
obwohl unbewußt, doch ſo gut im Gedächtniß geblieben iſt,
um es auf ihrer Lebenshöhe wieder ganz zu reproduciren,
d. i. des Samenkorns. Ja, beobachten wir das Leben
näher, ſo ſehen wir, es müſſe durchaus in ſeiner Fort¬
ſtrebung ein Gefühl, eine unbewußte Erinnerung von
Dem vorhanden bleiben, was früher vorhanden war,
ſonſt erklärte ſich nicht wie auf der Spitze einer Entwick¬
lung, nach mannichfaltig durchlaufenen Phaſen etwas wie¬
derkommen könne, gerade ſo wie der Keim geſtaltet war,
von welchem die Bildung anhub (z. B. das Ei oder das
Samenkorn); und hinwiederum erkennen wir, es müſſe
eine beſtimmte, wenn auch unbewußte Vorahnung von
Dem in ihm leben, wohin ſein Bildungsgang ſich rich¬
ten, und was es anſtreben ſolle, ſonſt wäre der ſicher
fortſchreitende Gang, das regelmäßige Vorbereiten mancher
Erſcheinungen, die an ſich nur Durchgangsperioden bilden
können, und ſelbſt immer höhern Zwecken ſich unterordnen,
[28] ganz unerklärlich. Je mehr man ſich nun in alles Dieſes
hineindenkt, je beſtimmter man erkennt, daß mit einer
außerordentlichen Feſtigkeit das Nachgefühl des Vor¬
herdageweſenen
und das Vorgefühl des Kommen¬
den
ſich hier unbewußt ausſpricht, deſto mehr muß man
die Ueberzeugung gewinnen, daß Alles, was wir im be¬
wußten Leben Gedächtniß, Erinnerung nennen, und noch
weit mehr Alles, was wir in dieſer Region Vorausſehen,
Vorauswiſſen nennen, doch gar weit zurückbleibe hinter
der Feſtigkeit und Sicherheit, mit welcher in der Region
des unbewußten Lebens dieſes epimetheiſche und prome-
theiſche Princip, dieſes Erinnerungs- und Vorahnungs¬
vermögen, noch ohne alles Bewußtſein einer Gegenwart,
ſich geltend macht. Wenn in niederen Thieren die verloren¬
gegangene Gliedmaße ſich auf das vollkommenſte, gleich¬
ſam nach dem in unbewußter Erinnerung feſt gebliebenen
Bilde der verlorenen, wieder erzeugt, wenn in dem zuerſt
bloß mikroſkopiſchen menſchlichen Ei während ſeiner allmäh¬
ligen Entwicklung zum reifen Menſchen das Bild der
menſchlichen Organiſation überhaupt, ja der mütterlichen
oder väterlichen Organiſation insbeſondere dergeſtalt durch
Reihen von Jahren unvergeſſen bleibt, daß immer mehr und
mehr und in ganz allmähliger Folge das Bild jenes erſten
Stammes zuletzt wirklich deutlichſt wieder hervortritt, wenn
das ein Jahrtauſend trocken aufbewahrte Samenkorn die
Geſtalt der Pflanze, von welcher es ſtammt, mit der Deut¬
lichkeit feſthält, daß es dieſelbe, ſo wie Feuchtigkeit, Nahrung
und Wärme ihm geboten werden, mit allen Einzelnheiten
des mikroſkopiſchen Zellenbaues wieder darzuſtellen vermag,
ſo iſt ein mächtiges Epimetheiſches hier gar nicht zu
verkennen. Wenn andern Theils, während der Embryo
noch von der Atmoſphäre, in welche er ſpäter eintreten ſoll,
nicht die mindeſte Ahnung haben zu können ſcheint, in ihm
doch ſchon mit größter Vollſtändigkeit das wunderbare
Gewebe des Lungengebildes vorbereitet wird, in welches
[29] dieſe Atmoſphäre doch erſt nach der Geburt eindringen ſoll,
wenn die die Eier des Nachtſchmetterlings deckenden Ab¬
ſonderungen ſtärker ſich ergießen, ſo bald ein ſtrengerer
Winter bevorſteht, wenn die Samen ſo vieler Pflanzen
ihre Flugwerkzeuge, durch welche ſie ſpäterhin vom Winde
fortgetragen ſich verbreiten ſollen, ſchon lange zuvor inner¬
halb des Samenbehälters an ſich ausbilden, ſo deutet dies
Alles wieder die Macht des Prometheïſchen und die
Sicherheit des unbewußten Vorausſchauens auf das
Beſtimmteſte an.


Zwei große Thatſachen haben wir ſonach bis hieher
für die Kenntniß des innern Seelenlebens gewonnen: ein¬
mal, daß das, was in unſerer Seele als ein Unbewu߬
tes, wahrhaft ſchaffend das Abbild des Urbildes erzeugt,
den Bau dieſes Abbildes vollende, in dem es fort und
fort im Leben unendliche Wiederholungen des einen erſten
Typus der Monade, der Urzelle ſetzt, ſo daß ſonach in
dieſer Beziehung jeglicher Organismus in Wahrheit als
eine Welt raſtlos entſtehender und vergehender Monaden
erſcheint, als eine Welt von Einheiten, welche jedoch ſtets
wieder einer höheren Einheit untergeordnet ſind, und in
welcher alſo daſſelbe concentrirende Verhältniß der Vielheit
zur Einheit beſteht, worauf im höchſten Sinne alles Be¬
wußtſein des Geiſtes ruht. Ein andermal ſind wir auf
den ſtätigen innern Zuſammenhang zwiſchen Vergangenheit
und Zukunft in der Geſchichte dieſer unbewußten Offen¬
barung der Idee im Leben, als Organismus, aufmerkſam
geworden, und haben das Prometheïſche des Beginnen¬
den und das Epimetheïſche des Gewordenen kennen ler¬
nen, in ihm aber zugleich einerſeits die weſentlichſte Be¬
dingung dieſes Lebens, und andererſeits die Vorbereitung
zu Dem erkannt, was, wenn das Bewußtſein ſich erſchloſſen
hat, mit dem Namen der Erinnerung und des Vorher¬
wiſſens belegt wird.


Bei dem Allen iſt nun in dem Vorhergehenden noch
[30] bei weitem nicht erſchöpft, was der Wiſſenſchaft ſonſt aus¬
zuſagen bleibt vom Walten des Unbewußten der Seele in
allem Einzelnen einer menſchlichen Exiſtenz, es iſt vielmehr
ferner vom höchſten Intereſſe: 1, daß gezeigt werde auf
welche Weiſe nicht bloß im Ganzen und Allgemeinen das
Schaffen eines unbewußt ſich darlebenden Göttlichen Das
bedingt, was wir eine menſchliche Organiſation nennen,
ſondern daß, dieweil unendliche Regungen, Strahlungen,
Gliederungen und Entwicklungen auch der bewußten Seele
nur verſtändlich werden durch die innere Mannichfaltigkeit
organiſcher Gliederung, und durch die verſchiedenen Spie¬
gelungen, welche von hieraus ihr ſich ergeben, vor allen
Dingen auch ein mehr in's Einzelne gehendes Bild ent¬
worfen werde von der Entſtehung und Bedeutung dieſer
organiſchen Gliederung überhaupt. 2. Da vom unbewu߬
ten Walten der Idee in uns nicht bloß bedingt wird die
Erhaltung und Fortbildung eines einzelnen individuellen
Lebens, ſondern auch die Vervielfältigung der Individuen,
oder die Erhaltung und Fortbildung der Gattung — auch
dieſes aber in wichtigſter Rückwirkung ſteht auf das be¬
wußte geiſtige Leben der Seele, indem wir finden werden,
daß ein Bewußtſein nur ſich entwickeln könne unter Bedin¬
gung des Lebens des Individuums in der Mehrheit der
Gattung, ſo muß auch davon, wie die Idee unbewußter
Weiſe die Vervielfältigung der Gattung bewirkt, ſogleich
hier eine beſtimmtere Darſtellung gegeben werden. 3. Und
endlich gehört es noch hieher beſtimmter zu zeigen, was
in der Seele ſelbſt dann, wenn ein Bewußtſein ſich ent¬
wickelt hat, noch immer der geheimnißvollen Tiefe des
Unbewußtſeins anheimfalle. — Alles dieſes muß alſo jetzt
zunächſt allmählig zur Betrachtung kommen, bevor wir in
die Kreiſe eingehen, welche man ſonſt oftmals als allein
der Lehre von der Pſyche angehörig betrachtete, nämlich
in die Regionen des bewußten Geiſtes. Zunächſt
alſo folgt hier:

[31]

b. Betrachtung der erſten durch unbewußtes Walten der Idee geſetzten
Gliederung des Organismus in verſchiedene Syſteme.

Unter manchem Unverſtändlichen und Unverantwort¬
lichen mit dem die ältere Pſychologie ſich herumgetragen
hat, ſteht die Lehre vom Verhältniß zwiſchen Leib
und Seele
in ſo fern mit oben an, als man hierunter
nicht ſowohl das Verhältniß zwiſchen der Idee, dem gött¬
lichen Urbilde an und für ſich, und dem in ätheriſcher
Subſtanz ausgeprägten leiblichen Abbilde, auch an und
für ſich, im Sinne hatte, ſondern darunter vielmehr das
Verhältniß verſchiedener Regionen des Seelenlebens, wie
es ſich theils bewußter, theils aber unbewußter Weiſe
äußert, verſtand oder vielmehr wirklich nicht, oder doch
nicht recht verſtand. So rechnete man z. B. es als eine
Beziehung zwiſchen Leib und Seele, wenn man das Ver¬
hältniß darſtellte, welches beſteht zwiſchen den zum Be¬
wußtſein kommenden Denkfunctionen des Gehirns und den
bewußtloſen Verdauungsfunctionen des Magens; man ſagte:
das Denken der Seele werde influenzirt von dem Ernäh¬
rungsleben, der Geiſt von dem Blutleben des Leibes u. ſ. w.,
und bedachte nicht, daß man hier und in allen ähnlichen
Fällen gar keinen Gegenſatz von Seele und Leib, ſondern
nur einen Gegenſatz zwiſchen verſchiedenen bald bewußten,
bald unbewußten Regionen der ſich darlebenden Seele, oder
eines zeitlich und organiſch ſich darlebenden göttlichen Ur¬
bildes, vor ſich hatte. Dieſe fälſchlich ſogenannte Lehre
von Seele und Leib, zwei Factoren, deren Aufeinander¬
wirken übrigens ſo gar nicht zur Klarheit gebracht werden
konnte, hat allein ſchon unſäglichen Irrthum in der Pſy¬
chologie verbreitet, und ſie kann nur erleuchtet, und eigent¬
lich ganz beſeitigt werden, wenn die Lehre von der Glie¬
derung der verſchiedenen Lebensſphären und Syſteme des
Menſchen zu vollſtändiger Deutlichkeit gebracht wird; ich
[32] ſage beſeitigt, weil von dem, was wahrhaft Verhältniß
von Leib und Seele, Urbild und Abbild, genannt werden
kann, die Pſychologie am wenigſten Notiz zu nehmen
braucht. Der Pſychologie nämlich geht nur das Leben
an, das Leben in dem die Idee, die Seele ſich bethätigt,
darlebt; — in allem Lebendigen iſt aber Idee und äthe¬
riſche Subſtanz als ein actu überhaupt ewig untrennbares
immer nur in ungetrennter Einheit zu erfaſſen. Trennen
wir daher wirklich in Gedanken den Stoff, wie ihn Ariſto¬
teles nennt, von der Form des Lebens, nehmen wir alle
die chemiſchen Elemente, welche in ewiger Flucht durch die
Form des organiſchen Lebens hindurchziehen, geſondert in
Betrachtung, den Kohlenſtoff, das Calcium, den Sauer¬
ſtoff, Stickſtoff, Waſſerſtoff, das Natrium, Eiſen und
Chlor u. ſ. w., was hat das an und für ſich mit dem
Leben, was mit den Vorgängen der Seele und des Geiſtes
zu thun? Alles dies wird erſt im menſchlichen Sinne
lebendig dadurch, daß die Idee es erfaßt, daß ſie es zur
organiſchen Form
ordnet; aber alsdann und ſo lange
es dieſer Form dient, iſt es auch nicht mehr von dem
was Ariſtoteles die Form nennt, zu trennen, es iſt dieſe
Form überall Leib und Seele zugleich, und nur die
Verſchiedenheiten dieſer Form ſind es, die zuweilen fälſch¬
licher Weiſe als Leib und Seele ſich entgegengeſetzt
wurden.


Setzt man dagegen im gewöhnlichen Sinne Leib und
Seele einander entgegen, z. B. das Denken und die Re¬
gungen des Gefühls einerſeits, und die Muskelbewegung
und den Blutumlauf andererſeits, ſo hat man nur zwei
verſchiedene Sphären des einerſeits bewußten, andererſeits
unbewußten Seelenlebens, wo in jedem Idee und äther¬
hafte Subſtanz in untrennbarer Vereinigung wirken.


Gegen alle dieſe Irrthümer wird man geſchützt ſein,
wenn die Vorſtellung von der Gliederung der verſchiedenen
Lebensſphären genügend und vollſtändig gegeben iſt, die¬
[33] ſer Gliederung, wie ſie aus dem Walten eines Unbe¬
wußten allmählig, und nach höherer göttlicher Ordnung,
hervorgeht, und wie ſie immerfort, obwohl auch in innig¬
ſtem Vereinleben der Glieder, ſo erhalten wird. Man
muß nämlich auch hier damit anfangen einzuſehen, daß
alle Trennungen, die hier, etwa als einzelne organiſche
Syſteme, ausgeſprochen und aufgeſtellt werden, auch nur als
künſtliche zur Erleichterung des Ueberblicks und des Ver¬
ſtändniſſes zugegeben werden können. Es wäre abſurd zu
denken, daß ein Gefäßſyſtem, ein Nervenſyſtem, ein Ath¬
mungs- und Verdauungsſyſtem geſondert irgend eine
Realität haben könnten, nur in der Zuſammenwirkung, in
der Geſammtheit mit allen übrigen, ſind ſie wirklich. Hält
man aber dieſe Vorſtellung in ihrem tiefſten Grunde feſt,
ſo kann das Betrachten des einen nach dem andern, nicht
nur geſtattet werden, ſondern es wird dies hier ſogar vor¬
züglich nothwendig, um die verſchiedene pſychiſche Bedeu¬
tung, die Art wie jedes dieſer Syſteme ſich auf eine
beſondere Weiſe bald bewußt bald unbewußt im Leben der
höher entfalteten Seele geltend macht, zu möglichſter Deut¬
lichkeit zu bringen. Allerdings kann von dem ungeheuren
Material, welches die neueren Studien über Entwicklungs¬
geſchichte des Organismus geliefert haben, gegenwärtig nur
ein flüchtiger Ueberblick gegeben werden, aber geſagt muß es
doch dabei ſein, daß allerdings auch das kleinſte phyſiolo¬
giſche Factum nie ganz ohne pſychologiſche Bedeutung ſein
kann, und daß, je mehr der Pſycholog auch in dieſe Tiefen
hinabſteigt, er um ſo reichere Ausbeute für den Kreis
ſeines Wiſſens zu Tage fördern wird.


Worauf alſo zuerſt wir unſere Aufmerkſamkeit zu wen¬
den haben iſt der Vorgang, wie es geſchieht, daß
die einzelnen Strahlungen
, welche das orga¬
niſch ſich offenbarende göttliche Urbild enthält
,
in verſchiedenen organiſchen Syſtemen ſich dar¬
leben
. Zu erinnern iſt hiebei zunächſt wieder daran, daß
Carus, Pſyche. 3[34]alles und jedes Material der Bildung nur dadurch ge¬
geben wird, daß eben dieſelbe Urgeſtalt, dieſelbe Monade
oder Urzelle, in welcher die Lebensidee des Organismus zu
allererſt als mikroſkopiſcher Eikeim räumlich geſetzt iſt, im
Verlauf der Entwicklung unermeßliche Male ſich wiederholt,
ſo daß alſo zunächſt der werdende Organismus durch und
durch erſcheint als ein aus dem flüſſigen Element hervor¬
gehender Bau unzählbarer Urzellen oder Monaden, deren
jede in ſich eigenlebendig, wieder für ſich ihren Lebens¬
cyclus vollendet, entſteht, wieder vergeht und von neuen
Monaden erſetzt wird; Gebilde welche je näher dem Ur¬
beginn allgemeiner Bildung, um ſo mehr unter einander
vollkommen gleich ſind, je weiter davon, um ſo mehr und
mehr individuell beſonders modificirt und zu größeren Ge¬
bilden ſo verſchmolzen werden, daß ihre Individualität in
dieſen gänzlich untergeht. Immer ſtärkeres entſchiedeneres
Ausprägen der Individualität iſt ja überhaupt das Weſen
und das Ziel aller Offenbarung einer Idee. Indem ſo¬
nach gewiſſe Reihen dieſer Monaden die eine, andere aber
eine andere Strahlung der Idee darſtellen, treten in dem
auch räumlich mehr und mehr ſich ausdehnenden, und mehr
und mehr hie und da verſchmelzenden Bau dieſer Urzellen,
einzelne Lebenkreiſe hervor, die wir mit dem Namen orga¬
niſcher Syſteme bezeichnen und in welchen nun entweder
bloß eine Strahlung unbewußten Seelenlebens dargebildet
wird, oder die Erſcheinung einer künftig als Bewußtſein
ſich offenbarenden Strahlung des Seelenlebens prometheiſch
ſich vorbereitet.


Ehe wir jedoch alle dieſe beſonderen Entwicklungen
näher verfolgen, iſt noch auf eine Eigenthümlichkeit dieſer
Vorgänge aufmerkſam zu machen, welche für die Art des
Schaffens unſeres göttlichen Urbildes äußerſt bezeichnend
genannt werden muß; dieſe iſt: das Wunderbare,
Blitzähnlich Setzende, Schöpferiſche, Vergrößernde
aller erſten Geſtaltungen
(Kryſtalliſation) unſerer
und ähnlicher Organismen
.


[35]

Die Phyſiologie zählt hier Erſcheinungen auf, welche
für Jeden, der neu zu ſolchen Dingen hinzutritt, etwas
Mährchenhaftes haben müſſen. Es kann z. B. von der
Rapidität ſolcher Vorgänge einigermaßen einen Begriff
geben, wenn ich erwähne, daß unſer eigener Körper bei
ſeinem embryoniſchen Beginn in Zeit eines einzigen Mond¬
umlaufs um mehr als 500 Mal ſeiner Länge oder etwa
25000 Mal ſeines Umfanges ſich vergrößert, und daß er
ſogar noch im folgenden zweiten Mondumlaufe mindeſtens
um das 50fache an Maſſe zunimmt, während dabei zugleich
im Innern immer Zelle an Zelle ſich reihend, die äußere
Geſtalt des Leibes, wie die Gliederung der einzelnen innern
organiſchen Syſteme, fortwährend mit der außerordentlich¬
ſten Zweckmäßigkeit und Zartheit hergeſtellt wird. Die
mikroſkopiſche Beobachtung ſich entwickelnder thieriſcher Or¬
ganismen hat hier namentlich die Wiſſenſchaft erleuchtet,
und überall naturgemäße Vorſtellungen über die verhält¬
nißmäßig wahrhaft ungeheure Schnelligkeit ſolcher Bil¬
dungsgeſchichten verbreitet, und wenn wir dergleichen nun
im höhern Sinne bedenken, ſo muß es uns vollkommen
deutlich werden laſſen: welche außerordentliche Ge¬
walt auch in dieſer Beziehung ein ganz und
gar unbewußt ſich darlebendes Göttliches in
ſolchen Vorgängen zu äußern vermag
.


Schon dieſe dem göttlichen ſeeliſchen Princip eigene
Gewalt, dieſes abſolute Beherrſchen und Durchdringen des
Stoffes zu einer Zeit, wo dieſes Seeliſche nur ganz in
ſich verſenkt, gleichſam träumend bildet, oder, weil es noch
nicht in Gedanken denkt, in Formen denken muß, bringt
uns, wenn wir ihr nun recht mit Bewußtſein nachgehen,
einen großen Schritt näher zur Selbſterkenntniß und zum
Verſtehen unſerer Seele. Merkwürdig iſt es freilich, da¬
gegen auch gewahr zu werden, daß dieſe Schnelligkeit des
ſich Darlebens der Idee entſchieden abnimmt, je mehr
das eigentliche Ziel dieſes Lebens bereits für erreicht zu
[36] halten iſt. Schon das obige Beiſpiel zeigt, wie bald die
Rapidität des Entwicklungsproceſſes nachläßt, aber wenn
wir weiter der Geſchichte des Lebens nachgehen, ſo finden
wir noch vor dem erſten Viertheil der Lebenszeit Aufhören
allgemeinen Wachsthums und in ſpätern Zeiträumen mehr
und mehr Erſtarrung, Rückbildung und Verkümmerung;
Vorgänge, die dann ebenfalls nicht ermangeln in den Zu¬
ſtänden des bewußten Seelenlebens eine entſchiedene Wieder¬
ſpiegelung wahrnehmen zu laſſen, und welche beweiſen,
daß dem Unendlichen der Idee gegenüber, jede endliche
Offenbarung derſelben immer nur ein Unvollkommenes ſein
kann und über lang oder kurz ſich wieder in ſich auflöſen
und verlieren muß.


Verfolgen wir gegenwärtig weiter die Darbildung
beſonderer Syſteme und beſonderer Gebilde in dieſem orga¬
niſchen Werden, ſo iſt eine Erſcheinung noch beſonders
hervorzuheben, die zwar früher ſchon im Allgemeinen an¬
gedeutet wurde, aber wegen ihrer höhern geiſtigen Bedeu¬
tung jetzt noch näher zu bezeichnen iſt; wir meinen nämlich
das Verſchmelzen jener erſten gegebenen Einheiten, der
durch immer wiederholtes Setzen der Idee entſtandenen
Urzellen, zu immer höheren Ganzen. So gewiß es näm¬
lich iſt, daß Alles im Organismus mit dem Zellenbau
anfängt, ſo gewiß iſt es, daß in allen höheren Gebilden,
als da ſind: Nervenfaſern, Muskelfaſern, Gefäßen und
Membranen, dieſe Urzellen in fortgehender Bildung völlig
untereinander verſchmelzen, als einzelne untergehen, und
ſo das ſchon im Unbewußten zeigen, was zuletzt im Be¬
wußten eine höhere Lebensaufgabe wird, nämlich: das
Untergehen des Beſondern im Allgemeinen
. Merk¬
würdig und bedeutungsvoll iſt dabei jedoch, daß jene Ur¬
formen nicht überall ganz verſchwinden, ſondern an zweierlei
Stellen durchaus als ſolche verharren, nämlich da, wo
ein ganz Niederes, bloß Elementares dargeſtellt wird, ſo
im umlaufenden Blute als ſogenannte Blutkörperchen, ſo
[37] auch in den ſich immer erneuenden Zellen der Epithelien
u. ſ. w. einerſeits, und andererſeits da, wo das Elemen¬
tare als Höchſtes, als Urgebilde verharren muß, um in
einer gedankenhaften Polariſation durch die Idee ſtets fähig
zu bleiben, d. h. in Nerven und Hirn.


Letztere Bemerkung führt uns nun ſogleich zu dem
unter allen organiſchen Syſtemen der Pſychologie vor¬
züglich merkwürdigen, nämlich dem Nervenſyſtem. Wir
gewahren hier nicht nur im Menſchen, ſondern in der ge¬
ſammten Reihe aller eigentlichen Thiere, ſo bald das un¬
bewußte Walten des ſeeliſchen Princips, für den verſchiede¬
nen Bedarf leiblicher Exiſtenz, mehrfache organiſche Syſteme
aus der erſten halbflüſſigen Maſſe jener Urzellen hervor¬
gehen läßt, daß alsdann bei dieſem raſchen Fortſchreiten
einer immer weiter hervortretenden Gegenſetzung, an ge¬
wiſſen Stellen
doch die Subſtanz wirklich faſt ganz
in derjenigen zarteſten halbflüſſigen Weſen¬
heit
zurückbleibt, wie ſie zuerſt die Anlage für das All¬
gemeine des Organismus noch überall wahrnehmen ließ.
Hier iſt es dann wo eine Maſſe ſich anhäuft, welche, eben
weil ſie nicht in andere disparate Gebilde auseinander
weicht, weil ſie nicht organiſch wirklich zu Anderem polari¬
ſirt wird, die Fähigkeit behält immerfort durch die feinſte
geiſtigſte Strahlung der Idee, d. i. ſchon durch das un¬
bewußte Gefühl wie durch den bewußten Ge¬
danken
in ihrer Spannung geändert, polariſirt zu werden.
Faßt man dieſe Bedeutung einer ſolchen Bildung recht
gegenſtändlich auf, ſo wird man die ungeheure Wich¬
tigkeit derſelben
, und wie alle höhere ſeeliſche
Entwicklung im Leben nur auf dieſer Angel
ruht
, auf das Vollkommenſte begreifen müſſen, und eben
aus dieſem Grunde verſucht Jeder ganz vergeblich die Art
und Weiſe, wie eine Seele von höherer Energie ſich leib¬
lich darleben könne, ſich zum vollen Verſtändniß zu bringen,
wenn er nicht von dieſen Bildungsvorgängen zuvor die
[38] genügende Einſicht erlangt hat. Nur das in ſich noch höchſt
Indifferente, nur das zarteſte, halbflüſſige elementare Ma¬
terial des Organismus iſt es nämlich, welches geeignet
ſein kann, von den feinſten innern Strömungen, Regungen,
Differenzirungen, welche das ſich Einleben der Idee in die
Erſcheinung hervorruft, durch und durch beſtimmt und
durchdrungen zu werden; und wie eben darum, je mehr
dieſe Maſſe noch in der Anlage des ganzen Organismus
ſich zeigt, um ſo reißender die Schnelligkeit iſt, mit welcher
ſich eine mannichfaltige organiſche Bildung darin verwirk¬
licht, ſo kann auch eine Bildung, in welcher ſpäterhin,
ohne weitere organiſche Umänderung, jede leiſeſte Umſtim¬
mung des innern göttlichen Princips in nur veränderten
Strömungs- und Spannungsverhältniſſen innerer Energie
ſich darleben ſoll, nur eine ſolche ſein, welche jene halb¬
flüſſige Elementarzellſubſtanz während des ganzen Lebens
vollkommen erhält und darſtellt. Durch dieſe Erkenntniß
alſo werden wir in den Stand geſetzt nunmehr, ſeinem
innern Grunde nach, zu begreifen was in äußerer Beob¬
achtung die Erfahrung längſt deutlich herausgeſtellt hatte,
nämlich: daß die höhere oder niedere Dignität des gött¬
lichen Grundgedankens eines Organismus — mit einem
Worte — die mehr oder minder energiſche Seele deſſelben,
mehr als durch alles Andere — durch die Art und Anlage
ſeines Nervenſyſtems ſich charakteriſiren, und darin fort¬
während ſich bethätigen müſſe. Ob ein höherer Grad von
Centraliſation im Nervenſyſtem ſich darſtelle, ob in Maſſe
und Bildung, ein Theil deſſelben — das Hirn — an Maſſe
und verfeinerter Bildung überwiege über deſſen durch den
Organismus verbreitete Strahlen, ob dieſe Strahlen —
die Nerven — feiner und zahlreicher, oder gröber und
ſeltener gezogen ſind, das muß ſonach durchaus bezeichnend
und wichtig ſein für das Herbeiführen einer Möglichkeit
davon, daß im Leben der Seele diejenige Centraliſation
hervortrete, auf welcher hinwiederum allein, wie ſich ſpäter
ergeben wird, die Möglichkeit des Bewußtſeins ruht.


[39]

Eben weil nun aber im Nervenſyſtem das Urſprüng¬
lichſte, das Reinſte, gleichſam der Organismus im Orga¬
nismus gegeben iſt, ſo kann es auch nur zurückgezogen in
das Innerſte ſich darſtellen, ſo daß es hinfort unmöglich
mit dem was außerhalb des Organismus iſt, in unmittel¬
barer
Wechſelwirkung beſtehen kann. Aus dieſem Grunde
müſſen alſo einestheils Zwiſchenglieder ſich bilden, es müſſen
Bildungen entſtehen, welche die Bedeutung der Vermitt¬
lung
haben, Wirkung übertragen von Außen auf den
Nerven — hiezu ſind die Sinnesorgane beſtimmt —
(denn was unmittelbar, wie bei Verletzungen, den
Nerven berührt, erzeugt nur einen leidenden Zuſtand deſ¬
ſelben — den Schmerz) oder Gebilde, welche Wirkung
übertragen vom Nerven auf das Aeußere, und hiezu dienen
insbeſondere die Organe der Bewegung, die Muskula¬
tur
. Anderntheils werden aber auch Gebilde entſtehen,
welche jene Zurückgezogenheit des Nerven vervollſtändigen,
eine vollkommenere Iſolation deſſelben und namentlich ſeiner
Centralmaſſen darſtellen; und hiezu iſt das Skeleton
und namentlich das Nervenſkelet beſtimmt.


Schon hiedurch entſteht uns ſomit der Begriff einer
zum ſich Darleben der Seele nothwendig geforderten größern
Mannichfaltigkeit organiſcher Syſteme. Weil jedoch eine
ſolche Mannichfaltigkeit nur in der Zeit ſich allmählig dar¬
leben kann und ein ſteter Austauſch der Stoffe mit der
Außenwelt ihr für das materielle Sein eben ſo unentbehr¬
lich iſt wie die Wechſelwirkung mit der Außenwelt an
Empfindungen und Reactionen der Idee es für das geiſtige
Sein iſt, ſo müſſen für jenen Austauſch noch beſondere
Syſteme ſich entwickeln, ja gerade dieſe werden nothwendig
zuerſt beſtimmtere Form gewinnen. Die Theilung auch
dieſer dem materiellen Austauſch beſtimmten Syſteme, wel¬
chen jedoch, als eben ſo aus dem unbewußten Wal¬
ten der Idee
hervorgegangen, niemals die pſychiſche
Signatur fehlen kann, wird beſtimmt: einestheils durch
[40] Nothwendigkeit der Stoffaufnahme, anderntheils durch
Nothwendigkeit der Stoffausſonderung, und drittens durch
Nothwendigkeit der innern Stoffverarbeitung. Verdauungs¬
ſyſtem, Athmungs- und Abſonderungsſyſtem, und Gefä߬
ſyſtem gehen auf dieſe Weiſe in der Mannichfaltigkeit des
organiſchen Zellenbaues alsbald mit Beſtimmtheit hervor.
Da aber auch die Erſcheinung des individuellen Organis¬
mus an und für ſich eine vorübergehende zu ſein beſtimmt
iſt, und der Idee deſſelben nur durch unermeßliche Wieder¬
holungen von Generation zu Generation in der Idee der
Gattung
ein bleibenderes Daſein verliehen wird, ſo muß
dem Organismus, wie er ſelbſt aus einem vorhergegange¬
nen hervorwuchs, auch die Möglichkeit einer neuen Ge¬
neration einwohnen, wodurch denn abermals ein beſonderes
Syſtem, nämlich das der Fortbildung der Gattung, be¬
gründet wird. Durch dieſes Alles iſt ſonach nun mit einem
Male die Nothwendigkeit einer großen Mannichfaltigkeit der
organiſchen Bildung aufgedeckt, unter welcher jedoch immer
nur eines der Mittelpunkt, eines der höchſte Zweck aller
andern, und eines nur ſein wird, welches rein ſeeliſch,
welches die reinſte Form des ſich Darlebens eines Göttlichen
genannt werden kann — das Nervenſyſtem. Es iſt
außerordentlich wichtig für alles Verſtändniß des Seelen¬
lebens dieſe Verhältniſſe recht ſcharf zu faſſen. Wie Gott
durch die geſammte Welterſcheinung ſich offenbart, aber
nach unſerer Erkenntniß am reinſten in edeln menſchlichen
Naturen, ſo wieder die Seele, der göttliche Grundgedanke
des Menſchen, ſie offenbart ſich, lebt ſich dar zwar in der
vollen Geſammtheit des menſchlichen Organismus, aber am
unmittelbarſten im Nervenſyſtem deſſelben. Dieſe Verhält¬
niſſe muß man lange anſchauen, in tiefem innern Sinnen
in ſich ſelbſt zu erfaſſen beſtrebt ſein, und erſt dann kann
man ſie wohl zur deutlichern Erkenntniß bringen. Zuhöchſt
iſt freilich überhaupt unerläßlich, daß man über das Ver¬
hältniß von dem Ideellen, welches eine Erſcheinung urſach¬
[41] lich bedingt, und dem Materiellen, woran das Ideelle
zur Erſcheinung kommen kann, zur reinen und klaren Ueber¬
zeugung gekommen ſei. In meinem Syſtem der Phyſiolo¬
gie habe ich darauf hingewieſen, wie hier es ſei, wo die
Phyſik des Organismus in die Metaphyſik übergeht,
dieweil hier eine Trennung gedacht werden muß, welche
außerhalb und über der Wirklichkeit liegt. Die Wirklich¬
keit — wir ſelbſt — die Welt — Alles hat nur ein Da¬
ſein indem es zugleich und in untrennbarer Vereinigung
Idee und Subſtanz iſt. Nichtsdeſtoweniger vermögen wir
in unſerem eigenen ideellen Sein, in unſerem Geiſte zu
unterſcheiden, indem wir uns über die Natur ſtellen (meta¬
phyſiſch verfahren) zwiſchen dieſen beiden an ſich Untrenn¬
baren, und wir nennen nun das eine Idee — das Bild
des Seins vor allem Daſein — den Gottesgedanken —
das Urbild — als ſolches das ewig ſich ſelbſt gleiche, zeit-
und raumloſe — nur auf göttliche nicht auf räumliche
Weiſe Bewegte; das andere Subſtanz, oder beſſer (von
᾽αει ϑέω „in ewiger Bewegung ſein”) — Aether — das
ewig Bewegliche und ewig wirklich Bewegte, das Zeit und
Raum durch dieſe Bewegung Bedingende, und ſo halten
wir dann wohl einigermaßen in Gedanken auseinander
was in Wahrheit und Weſenheit ewig verbunden
und untrennbar vereinigt iſt1.


[42]

Hiebei iſt jedoch insbeſondere zu erinnern, daß dieſe
Untrennbarkeit von Idee und ätheriſcher Subſtanz keines¬
wegs dergeſtalt zu denken iſt, daß ein und ebendaſſelbe
Element immer und ewig, oder auch nur für längere Zeit,
einer und ebenderſelben Idee verbunden, oder immer von
ein und derſelben Idee beſtimmt ſei; — im Gegentheil
liegt es nothwendig im Begriffe der ewig beweglichen und
ewig wirklich bewegten ätheriſchen Subſtanz, daß ein ſtetes
Fliehen und Ziehen hier Statt finden, dieſelbe Idee in
immer neuem Aether ſich darleben müſſe, alſo daß immer¬
fort jegliche Idee durch ſtets andere Metamorphoſen des
Aethers, durch andere und immer neue Subſtanzen ſich
darlebe. So alſo ſtellt ſich uns dar ein ewiges Ziehen
und Fliehen der Elemente, bald langſamer, bald ſchneller,
bald unmerklich, bald maſſenweiſe, aber nie Stillſtand, nie
abſolutes Beharren, nie eine durchaus bleibende Vereini¬
gung derſelben Potenzen, und, mit einem Worte, hierin der
Grund der ewigen Verwandlung der Welt.


Ich kann hier allerdings nicht darauf eingehen, dieſe
Grundanſchauungen ausführlicher zu erörtern oder wohl gar
in Polemik gegen anders Denkende mich zu verlieren. Es
gibt Wahrheiten, die der Menſch in ſeinem Innern finden
muß — Wahrheiten zu denen der Menſch wie Göthe ein¬
mal ſagte „hinauf organiſirt“ werden muß, und wem das
nicht gekommen, dem wird man es von außen nicht be¬
weiſen können, und deßhalb ſei dies Alles dem Wahrheits¬
gewiſſen des Leſers überlaſſen; vielleicht gelingt es den fol¬
genden Darſtellungen des Seelenlebens, mehr und mehr davon
zu überzeugen, daß nur indem wir an dieſer Wurzel es faſ¬
ſen, ein reineres Verſtändniß auch hier erlangt werden kann.


Gehen wir jedoch zunächſt weiter in der durch ein Un¬
bewußtes geleiteten und beſtimmten Entwicklung der innern
Gegenſetzung und Gliederung des Organismus, ſo iſt auch
darauf beſonders zu achten, wie in den verſchiedenen orga¬
niſchen Syſtemen, deren Nothwendigkeit überhaupt wir oben
[43] dargelegt haben, zugleich gewiſſe eigenthümliche Richtungen
des Seelenlebens zur ganz beſonderen Erſcheinung kommen
müſſen. Wir fanden nämlich, daß rein als Selbſtzweck
des Seelenlebens allerdings nur das Nervenſyſtem angeſehen
werden konnte, während alle andere Syſteme ſich durchaus
auf die Verhältniſſe des Individuums zur Außenwelt be¬
ziehen. Nur das Nervenſyſtem iſt alſo rein ſee¬
liſch
, iſt in ſich ein indifferentes, ruhendes, ein nur eigen¬
thümliches, geheimnißvolles, den magnetiſchen und galvani¬
ſchen ähnliche Strömungen zeigendes Ganzes. Aber auch die
übrigen Syſteme mit ihren Gebilden, wie ſie alle aus einer
urſprünglichen, dem Halbflüſſigen des Nervenſyſtems weſent¬
lich gleichen allgemeinen Subſtanz ſich hervorbildeten, ent¬
ſtehen durch jenes unbewußte Walten der Idee und ihr ſich
Einleben im organiſchen Stoff, und auch ſie ſind in ſo
fern ſeeliſch — haben ein beſonderes, nur zuerſt unbe¬
wußtes Seelenleben
, und können mittels des be¬
wußten Lebens im Nervenſyſtem
ſpäterhin ebenfalls,
wenigſtens zum Theil, mit zum Bewußtſein gebracht wer¬
den. Es iſt gleich hier wichtig dieſen verſchiedenen Strah¬
lungen der ſeeliſchen Exiſtenz etwas näher im Einzelnen
nachzugehen, damit klar werde, wie hiedurch gewiſſe, ich
möchte ſagen beſondere Seelen, oder Seelenkreiſe
in der Seele begründet werden, auf deren richtiger Er¬
kenntniß hauptſächlich Das beruht, was man gewöhnlich,
und, wie bereits oben gezeigt worden iſt, mit Unrecht, die
Lehre von Wechſelwirkung zwiſchen Leib und Seele ge¬
nannt hat.


Jene beſonderen Provinzen alſo, in welche der Orga¬
nismus ſich gliederte, waren Obigem zufolge, nächſt denen
dem Nervenſyſtem am meiſten verwandten der Sinnen-
und Bewegungsgebilde und des Skeleton, die der
Ernährung, und zwar theils die der Stoffaufnahme
und der Stoffverbreitung, theils die der Stoff¬
zerſetzung
und Ausſtoßung. Die letzteren unterſcheiden
[44] ſich theils in ſolche, welche Aeußeres ertödten und zur
Ernährung verwenden
, wie die Gallenabſonderung
und ähnliche, theils in ſolche, welche durch ihr Abſondern
Inneres befreien und beleben, wie die Athmung. End¬
lich aber wird die Fortbildung der Gattung die Auf¬
gabe eines eigenthümlichen organiſchen Syſtems: — So
gewiß nun jede dieſer Provinzen, jedes dieſer Syſteme ent¬
ſteht
durch ein beſonderes unbewußtes Walten der
Seele
, ſo gewiß muß für jede derſelben ein beſonderes
Dominium in den eigenthümlich innerlichen
Regungen der Seele
vorhanden ſein und bleiben, und
wird dadurch dem Bewußtſein, wenn dieſes ſich entwickelt
hat, von hier aus eine eigenthümliche Färbung mittheilen
können. Auf dieſe Weiſe alſo werden entſtehen jene eigen¬
thümlich empfundenen Stimmungen des bewußten Seelen¬
lebens (Gefühle), welche von organiſchen Vorgängen,
die ſelbſt wieder nur durch gewiſſe unbewußte ſeeliſche Rich¬
tungen bedingt waren, auf das Bewußtſein reflektirt er¬
ſcheinen. Man kann dieſe Stimmungen als beſondere
Kreiſe betrachten, in denen ein und daſſelbe Gefühl bald
erhöht, bald vermindert, bald nach einer plus-, bald nach
einer minus-Seite ſich offenbart. Nur vorläufig wollen
wir die wichtigſten Vorgänge dieſer Art andeuten, ſpäter¬
hin wird ſich zu ausführlicher Betrachtung derſelben Ge¬
legenheit finden.


So liegt alſo z. B., was die Sphäre der Ernährung
betrifft, in ihrer pſychiſchen Seite vornämlich jenes Ge¬
fühl, das ſich in der plus-Seite auf lebensfriſche Behaup¬
tung der Exiſtenz, oder in der minus-Seite auf Ver¬
kümmerung und Elend derſelben gründet, als womit denn
ſelbſt im bewußten Seelenleben ſpäterhin eine große Man¬
nichfaltigkeit von Zuſtänden anhebt. Fülle eines kräftigen
Blutlebens und geſunde ſtarke Thätigkeit des Herzens im
Organiſchen iſt begleitet von einer, oder iſt vielmehr ſelbſt
eine unbewußte Stimmung der Seele, welche bei Entwick¬
[45] lung des Bewußtſeins als Muth und Lebensfriſche empfun¬
den wird. Umgekehrt wird geſunkenes Blutleben, größerer
Blutverluſt, Schwäche der Herzbewegung und Schlaffheit
ſeiner Textur, wiedergeſpiegelt im Pſychiſchen unter der
Form von Niedergeſchlagenheit, Furcht, Gefühl allgemeiner
Kraftloſigkeit und Unfähigkeit. — Leicht iſt es dabei auch
gewahr zu werden, daß es ganz gleich iſt von welcher Seite
her, ob rein vom Organiſchen oder rein vom Pſychiſchen
her, dieſe Umſtimmungen angeregt werten. Fortgeſetzter
durch Verhältniſſe erregter Zuſtand von Furcht und Klein¬
muth ruft die erwähnten kranken Zuſtände des Blutlebens
hervor und umgekehrt, und Alles zeigt an, wie ſehr wir
Urſache haben, immer und immerfort beides nur als Eins
zu betrachten. — Eben ſo iſt es mit der Sphäre der Stoff¬
aufnahme. Das Leben im Verdauungsſyſteme, durch welches
eine neue Fülle von Elementarſubſtanz in den Organismus
gebracht wird, iſt im Pſychiſchen ausgedrückt durch die Be¬
haglichkeit oder die Qual des eigentlichen Gefühls von
einem irgendwie wirklich gewordenen Daſein; Zuſtände welche
ſich im Angenehmen, im Gefühl der Sättigung, und im
Wohlgeſchmack, von dem was dieſen Zuſtand herbeiführt,
oder in dem Unangenehmen, durch Gefühl des Darbens, des
Hungers, des Durſtes und im widrigen Eindrucke derjeni¬
gen Elemente, welche der Ernährung nicht vollkommen ge¬
mäß ſind, offenbaren und ſo auch in die höchſte bewußte
Sphäre ſich fortpflanzen. Letzteres indeß immer nur in ſo
fern ein Nervenſyſtem mitwirkt; denn das was eigentlich
durſtet und hungert oder im Sättigungszuſtand lebt, iſt
keineswegs das Nervenſyſtem ſelbſt, d. h. die zum Bewußt¬
ſein ſich vorbereitende Seele, ſondern es ſind Modifikationen
des ganz Unbewußten, und hier alſo des Verdauungsſyſtems,
d. h. Modificationen desjenigen Lebensgebildes und der
Verwirklichung des unbewußten Seelenkreiſes, welcher den
Organismus mit neuen Stoffen zu verſorgen und zu durch¬
dringen beſtimmt iſt. Auch die Pflanze kann durſten oder
[46] geſättigt ſein, aber ſie hat nicht das Vermögen dies dunkle
Erfühlen zu irgend einer Art wahrer Empfindung zu ſtei¬
gern, und kommt darum weder zum Gefühl des Angeneh¬
men der Sättigung noch zum Gefühl des Unangenehmen
des Durſtes.


Man nimmt nun bei Betrachtungen dieſer Art ſo¬
gleich wahr, daß es der Sprache eigentlich an einem Worte
fehlt, dieſe Art Regungen des unbewußten Seelenlebens
als ſolche treffend zu bezeichnen. Wir müſſen die ſon¬
derbarſten Umſchreibungen machen, wenn wir uns eini¬
germaßen darüber zum Verſtändniß bringen wollen, was
wir hiebei eigentlich meinen. Es iſt auch ſehr natürlich,
daß dergleichen Bezeichnungen erſt ſpät in der Sprache ge¬
funden, oder vielmehr gebildet werden. Ich habe nämlich
ſchon oben darauf aufmerkſam gemacht, daß die Erkenntniß
des Unbewußten im Bewußtſein überall das Letzte und
Höchſte der Wiſſenſchaft eben ſo ſei, wie hinſichtlich des
Könnens die höchſte Kunſt nur da entſteht wenn das Kön¬
nen wieder unbewußt wird. Eben alſo weil nur erſt bei
den feinſten und tiefſten Unterſuchungen dieſes Eindringen
des Bewußten ins Reich des unbewußten Daſeins zur Auf¬
gabe wird, ſo tritt auch das Bedürfniß zu Wortbildungen
dieſer Art erſt ſpät in der Sprache hervor. Ich habe in
meinem Syſtem der Phyſiologie im Eingange des 3. Ban¬
des zuerſt ausführlicher hierauf aufmerkſam gemacht, und
dort vorgeſchlagen (nachdem ich gezeigt hatte, wie bereits
Baco ein Bedürfniß dieſer Sprachformen gefühlt hatte)
das Wort: „Erfühlung“ — perceptio — zu brauchen
und ſo das unbewußte Empfinden der noch bloß im orga¬
niſchen Bilden ſich darlebenden Seele ſprachlich zu bezeich¬
nen. Hat man ſonach dieſer Bezeichnung in phyſiologiſchen
und pſychologiſchen Dingen einmal das Bürgerrecht ertheilt,
ſo wird man ſich ſogleich in allen Betrachtungen wahrhaft
gefördert finden. Die Erfühlung der Seele im Leben
des Blutgefäßſyſtems oder des Verdauungsſyſtems iſt alſo
[47] das, was alle die Stimmungen eigentlich allein bedingt,
deren Reflex im bewußten Leben wir als Muth oder Klein¬
muth, als Sättigungsgefühl und Gefühl des Darbens
u. ſ. w. eben aufgeführt haben; denn obwohl wir im be¬
wußten Geiſt entſchieden dieſe Empfindungen ſelbſt durch
das Nervenſyſtem erhalten, ſo kann doch begreiflicherweiſe
deren Urſache nicht in ihm geſucht werden, und wieder
kann dieſe Urſache nichts anderes ſein, als jenes nun auf¬
genommene bewußtloſe Gefühl von dem Zuſtand in welchem
dieſe andern nicht nervoſen Syſteme ſich befinden. Die
Empfindung, das bewußte Gefühl, iſt allemal nur im
Leben des eigentlich allein rein ſeeliſchen Syſtemes, d. i.
im Nervenleben möglich, aber das Nervenſyſtem lebt eben
nicht bloß in ſich ſelbſt, ſondern iſt auch der Centralpunkt
für alle die übrigen Syſteme, durch welche es mit der
Außenwelt in Wechſelwirkung tritt; es kann deßhalb die
Zuſtände dieſer vermittelnden Syſteme in ſich aufnehmen,
leitet dadurch auch die Erfühlungen des einen auf das an¬
dere Syſtem über und iſt daher auch allein im Stande
deren Erfühlungen zu Empfindungen zu ſteigern.


Erfühlung alſo hat die Pflanze, Erfühlung hat jede
Urzelle, jedes nicht nervoſe Gebilde im Thier wie im Men¬
ſchen, ja ſelbſt die Empfänglichkeit des Nerven, ſo lange
noch keine vollkommene Centricität des Nervenlebens ent¬
wickelt, oder wenn ſie wieder aufgehoben iſt, kann nichts
anderes als Erfühlung ſein; ſo z. B. iſt vom Embryo
nicht zu ſagen er empfinde, und eben ſo wenig vom
Neugebornen ſo bald wie bei hirnloſen Mißgeburten die
Centralſtelle des Nervenſyſtems gar nicht ausgebildet wor¬
den war, es iſt vielmehr in beiden Fällen hier nur ein
unbewußtes Reizaufnehmen und Fortleiten — ein Erfühlen
— eine perceptio, aber keine senhatio vorhanden.


Ich will hiemit zugleich bemerken, daß eben ſo wie es
bisher an einer beſtimmten ſprachlichen Bezeichnung für
dieſe unbewußten Selbſtgefühle fehlte, wir auch für das,
[48] was ich oben die bewußtloſe Erinnerung des Or¬
ganismus von ſeiner Vergangenheit
, und die
eben ſo bewußtloſe Vorausſicht ſeiner Zukunft
nannte, kein beſtimmtes Wort beſitzen, und ein ſolches um
ſo mehr uns zu bilden ſuchen müſſen, damit ſpäterhin es
leichter werde darzulegen, wie im bewußten Daſein aus
dieſen Vermögen ſo vieles Andere ſich entwickelt und aus
dem Bewußtloſen
allmählig ſich weiter als Bewußtes
hervorbildet. Es iſt nun ganz intereſſant wahrzunehmen, daß
von dieſen prometheïſchen und epimetheïſchen Gefühlen, deren
Weſentlichkeit für den ganzen Bildungsproceß eines Organis¬
mus ich oben bereits erörtert habe, auch allein für das erſtere,
weil es überhaupt im Menſchen nie vollſtändig zum Bewußtſein
kommt, ſondern ſtets in ſeiner eigenthümlichen Dunkelheit
beſteht, ſich eine einigermaßen beſtimmte Bezeichnung, näm¬
lich das Wort: „Ahnung”, „Vorahnen” allerdings
längſt vorgefunden hat (obwohl auch dies immer noch ein
gewiſſes Bewußtſein vom Künftigen bezeichnet), dahingegen
das letztere, welches wir deutlicher in ſeiner bewußten
Form (der Erinnerung) kennen, welches aber in ſeiner
bewußtloſen Form früher nie beachtet worden iſt, einer
beſondern Benennung ganz entbehrt. Soll daher auch hier
eine eigene Wortbildung eintreten, ſo würde die Sprach¬
form „Innerung” für das bewußtloſe Erfühlen des
Vergangenen, ſo wie „Ahnung” für das bewußtloſe
Vor-Erfühlen des Kommenden, gewiß die zweckmäßigſte
ſein, und ich bemerke daher hier ein für alle mal, daß Er¬
fühlung
, Innerung, Ahnung in dieſem Maße und
zum Unterſchiede von Empfindung, Erinnerung und
Vorausſehen oder Vorahnen, in gegenwärtigen Be¬
trachtungen immer wo es die Gelegenheit ergibt, ſo ge¬
braucht werden ſollen.


Weitergehend in der Erwägung der Gliederung des
Organismus in ſeine beſonderen Syſteme und deren be¬
ſondere Erfühlungen, ſtellt ſich uns jetzt das Syſtem der
[49] Athmung und Abſonderung als das zunächſtliegende dar.
Beide ſind der Ernährung gewiſſermaßen entgegengeſetzt;
das erſtere hat die Bedeutung, das Innere mit friſchem Le¬
bensäther zu durchdringen, damit es immerfort wieder mit
Luſt im Allgemeinen ſich verflüchtige; im andern herrſcht ein
tropfbares Verfließen des Innern ſelbſt vor, und zwar oft
mit der Bedeutung Aeußeres zu ertödten, damit es alsdann
zur Ernährung des Ertödtenden diene. So auch ſtellt de߬
halb die pſychiſch erfühlende Seite bei dieſen beiden ganz
verſchieden ſich dar. Jenes dunkle Gefühl, welches, wenn
es zum Bewußtſein ſich drängt, als Muth, Thatkraft,
Freudigkeit, Leichtigkeit der Bewegung empfunden wird,
geht eben ſo von dem Athmungsſyſtem aus, ſo lang
es in freier reiner Thätigkeit beſteht, als ſein Gegenſatz,
die Furcht, die Zaghaftigkeit, die Angſt dann erſcheint,
wenn der Athem beklommen, beengt iſt. Ohne Athmung
würden uns die Erfühlungen, welche der Grund jener
benannten Gefühle ſind, gänzlich fremd bleiben, und je
mehr ein Geſchöpf von Athmung durchdrungen iſt, deſto
mehr wird es von dieſen Erfühlungen beherrſcht. Bei¬
ſpiele des letztern geben Inſekten und Vögel, von deren
nur durch ſtarke Athmung möglich werdenden Flatter¬
haftigkeit
wir ſogar eine Eigenthümlichkeit manches
menſchlichen Gefühls benannt haben. Was hinwiederum
die Abſonderung betrifft, ſo ſind die ein Aeußeres
ertödtenden, es dem Organismus aneignenden, hier die
bedeutungsvollſten. Wie dieſe Vorgänge ſelbſt weit ver¬
borgener und der Willkür entzogener ſind, als die Ath¬
mung, ſo bleiben auch ihre Erfühlungen ferner vom Be¬
wußtſein als die der letzteren, indeß gehen auch von hier aus
eine Menge unbewußter Erfühlungen ins Bewußtſein über
und nehmen dort eine ertödtende haſſende Färbung an.
Der Ausdruck einer bittern Stimmung iſt für die Bezie¬
hung auf die eigenthümlichen Erfühlungen des aufgeregten
Carus, Pſyche. 4[50] Leberſyſtems eben ſo charakteriſtiſch als jener Ausdruck der
Flatterhaftigkeit für die Sphäre der lebhafteſten Athmung.
Dergleichen Betrachtung des Gleichnamigen in dieſen Zu¬
ſtänden iſt recht geeignet das Hervorbilden des Bewußten
aus dem Unbewußten, wovon ſpäterhin noch weit ausführ¬
licher die Rede ſein muß, deutlicher zu machen, und nament¬
lich auch immer deutlicher einſehen zu lehren, was es mit
Dem zu bedeuten habe, was man insgemein als Einfluß
des Leibes auf die Seele und der Seele auf den Leib be¬
zeichnet; denn man erkennt hieran, daß damit gewöhnlich
nur ausgedrückt werden ſoll, der Einfluß eines organi¬
ſchen Syſtems auf das andere, und namentlich die Ein¬
wirkung dunkler Erfühlungen auf das bewußte Gefühl
und auf die erkennende Seele, und umgekehrt. Wird daher
z. B. durch Blutverluſt das Leben des Herzens und der
Gefäße und ſecundär auch das Leben der Lungen herab¬
geſtimmt, ſo iſt damit zugleich die minus-Seite in den
eigenthümlichen Erfühlungen dieſer Syſteme geſetzt, und in¬
dem dieſes nicht umhin kann in der Grund-Idee des Or¬
ganismus, von welcher ja dieſe Einzelnen nur Theil-Ideen
ſind, eine Umſtimmung hervorzubringen, verbreitet ſich auch
über die Region des bewußten Denkens, Fühlens und
Wollens eine entſchieden andere Stimmung, eine Stimmung
der Niedergeſchlagenheit, des Kleinmuthes und der Schwäche,
die bis zur Ohnmacht (dem Entſchwinden des Bewußtſeins)
gehen kann. In dergleichen tritt alſo keinesweges hervor
eine beſondere Herrſchaft des Leibes — als eines irgendwie
Selbſtſtändigen der Seele gegenüber — denn davon kann
um ſo weniger die Rede ſein, je mehr eingeſehen wird,
daß der Leib nur die Erſcheinung der Seele ſelbſt
iſt
— ſondern vielmehr eine gewiſſe Einwirkung des Blut-
und Athmungslebens auf das mehr rein ſeeliſche Nervenleben.


Endlich gibt zu Betrachtungen dieſer Art ganz beſon¬
ders Veranlaſſung die Sphäre des Geſchlechtslebens —
des Lebens für die Fortbildung der Gattung. In dieſem
[51] ſpäter als die übrigen ſich entwickelnden Syſteme ſoll der
Gegenſatz des individuellen Lebens zum Leben der Gattung
auf das entſchiedenſte hervorgehoben werden, in ihm ſondert
ſich das geſammte neue Geſchöpf von dem alten ab, in ihm
ruht daher alle Luſt eines neu ſich erſchließenden Lebens
und aller Schmerz eines untergehenden. Zugleich bildet
es mehr als die übrigen Syſteme, denen es nicht als Ein¬
zelnes zu Einzelnem entgegengeſetzt iſt, ſondern denen es,
in wie fern das Ganze reproducirend, als Einzelnes einer
Totalität gegenüber ſteht, auch eine größere Abgeſchloſſen¬
heit in ſich, und ſeine Erfühlungen können deßhalb in der
eigenthümlichſten Weiſe den geſammten Organismus be¬
herrſchen. In der Thierwelt ſehen wir deßhalb die ganze
individuelle Exiſtenz häufigſt nur von dieſem Syſtem ab¬
hängen. Das Thier gelangt zur Geſchlechtseinigung, und
in vielen Fällen iſt ſomit der Kreislauf ſeines Lebens ab¬
geſchloſſen. In der menſchlichen Seele liegt eben darum
in dieſer Region die Möglichkeit höchſter Steigerung inne¬
ren Wohlgefühls, innerer Luſt — wofür die Sprache ein
eigenes Wort gibt — „Wolluſt“ — welche nichts anderes
iſt als Mittheilung lebendigſter höchſter Erfühlung der un¬
bewußten Sphäre des Geſchlechtsſyſtems an die höchſte be¬
wußte Sphäre der Nerven; ja in der bewußten Seele
wird von hier aus, immer mehr ſich erhebend und vergei¬
ſtigend, die Möglichkeit der mächtigſten aller Leidenſchaften
— und gerade der, welche höchſtes Glück und höchſten
Schmerz einſchließt, gegeben, d. i. der Liebe.


Ueberblicken wir jetzt, nachdem nur kurz die Geſchichte
der Begränzung verſchiedener organiſchen Provinzen und
der verſchiednen Erfühlung einer unbewußten Pſyche gegeben
worden iſt, die Mannichfaltigkeit dieſer Thatſachen im Gan¬
zen, ſo ergeben ſich für die Lehre vom Leben der Seele
folgende wichtige Sätze:


1. Das unbewußte Walten der Idee beſtimmt eine
Gliederung der leiblichen Bildung in verſchiedene Syſteme,
[52] in deren jedem ein beſonderer Strahl des ideellen ſeeliſchen
Daſeins ſich verwirklicht.


2. Das eigentlich rein ſeeliſche Syſtem, aus deſſen
Erfühlungen bei einer höhern Concentration das Bewußt¬
ſein ſich allein entwickeln kann, iſt das Nervenſyſtem.


3. In jedem andern organiſchen Syſteme iſt die Seele
an und für ſich nur eines beſondern Kreiſes von bewußt¬
loſen Erfühlungen fähig, welche nur dadurch dem
Bewußtſein mitgetheilt werden können, daß Zweige des
rein ſeeliſchen Syſtems ſich mit in ſie einflechten, ihre
Erfühlungen aufnehmen und ſomit ſie dem Nervencentrum
zueignen.


4. In der Erkenntniß der urſprünglichen Mannich¬
faltigkeit dieſer Syſteme und ihrer beſonderen Erfühlungen
iſt ſonach der erſte Anhalt gegeben, um von der urſprüng¬
lich einem jeden höhern Seelenleben einwohnenden innern
Mannichfaltigkeit der verſchiedenen Seelenkreiſe eine
ſachgemäße Anſchauung zu erhalten. Lange ehe wir einer
Mehrheit von Vorſtellungen und Gefühlen uns bewußt
ſind, lebt die Seele bewußtlos als ein Mannich¬
faltiges ſich dar
, und nur die deutliche Einſicht in die
Verſchiedenheit dieſer ihrer Lebenskreiſe, welche erſt ſpät in
dem Gewahrwerden des eigenen Ich ihren Mittelpunkt
finden, kann uns vom Seelenleben überhaupt eine ange¬
meſſene Vorſtellung gewähren; kurz, wir müſſen uns auch
hier wieder von der Wahrheit jenes Satzes überzeugen,
mit welchem wir alle dieſe Betrachtungen eröffneten: „der
Schlüſſel zur Erkenntniß des bewußten Seelenlebens liegt
in der Region des Unbewußtſeins.“

c. Von dem weſentlich Unbewußten des Vorganges, durch welchen
innerhalb der Gattung die Individuen vervielfältigt werden.

Im Vorhergehenden iſt uns klar geworden wie in
Folge der unbewußten Werdeluſt einer göttlichen Idee
[53] ein in ſich mannichfaltiger Organismus wirklich wird,
und zwar wird, durch unermeßlichmaliges ſich ſelbſt Setzen
in Geſtalt einer Urform, einer Monade, einer Urzelle.
Wie nun aber aus einem Organismus ein oder mehrere
neue ſelbſtſtändige Organismen hervorgehen und immer
neue Ideen ſo ſich darleben können, damit die Gattung
erhalten werde, iſt ferner eine Frage, die ebenfalls der
Pſychologie von höchſter Wichtigkeit iſt, in wie fern dabei
und dadurch entſchieden werden muß auf welche Weiſe die
Vervielfältigung der Seelen gedacht werden darf. Wir
finden Geſchöpfe, in denen faſt jede Monade, jede Urzelle
ihres Innern, im Stande iſt, zu einem neuen ſelbſtſtändi¬
gen Organismus zu werden, wir finden andere, welche
durch einen Schnitt ſich theilen laſſen, jede Hälfte vervoll¬
ſtändigt ſich, und wo früher eine Seele waltete, äußern
ſich jetzt zwei Seelen. Dieſe Vorgänge erſcheinen beim
erſten Anblick höchſt geheimnißvoll. Kann eine Idee
ſich theilen
? Kann eine gewaltſam mechaniſche
Trennung
verurſachen, daß eine Seele zu zweien,
ja zu vielen wird? Dieſe Fragen müſſen erledigt ſein,
um nicht nur die unendliche Vervielfältigung der Seelen
des Thierreichs, ſondern auch das ſich Offenbaren von
mehr und immer mehr menſchlichen zum Bewußtſein be¬
ſtimmten Seelen zu begreifen.


Anfangen muß man hier damit, es ſich ganz deutlich
zu machen, in welchem Verhältniß die Gattung zum Indivi¬
duum überhaupt ſteht. Die Gattung (species) iſt nämlich
an und für ſich ein rein Ideelles, als Wirkliches, räumlich
vollſtändig Erſcheinendes, gar nicht exiſtirend, ſondern
in der Vielheit der Individuen allein immerfort ſich offen¬
barend. Dies Verhältniß der Gattung wiederholt ſich dann
gewiſſermaßen in dem des Individuums zu ſeinen elemen¬
taren Theilen den Urzellen. In der Entſtehung, Fortbil¬
dung, Zerſtörung und Wiederbildung dieſer Urzellen lebt
ſich nämlich das Erſtere fortwährend eben ſo dar, wie die
[54] Gattung ſich durch die Individuen darlebt, denn allerdings
würde eigentlich auch hier erſt der ganze Inbegriff aller
der Millionen ſolcher Monaden, welche doch immer wieder
ſchwinden und im Fortleben immer wieder entſtehen, das
eigentliche Individuum darſtellen, dahingegen das In¬
dividuum, welches wir als einzelne zeitliche Erſcheinung
erfaſſen (ich mag z. B. den Menſchen jetzt als Kind, jetzt
als Mann, jetzt als Greis betrachten), immer nur ein
Fragment
von dem ganzen ideellen Individuum bleibt.
Die Idee der Gattung lebt ſich alſo dar, indem ſie ſich
möglicherweiſe unendliche Male in einzelnen Individuen ver¬
wirklicht, ſo wie hinwiederum die Idee des Individuums
ſich darlebt, indem ſie ſich möglicherweiſe unendliche Male
als einzelne Urzelle, als Monas, ſetzt. Von Theilung
der Ideen kann daher bei Vervielfältigung der Individuen,
oder Monaden, eben ſo wenig die Rede ſein, als die Idee
eines Dreiecks ſich theilt dadurch daß eine Menge beſonde¬
rer Dreiecke wirklich werden. Wie übrigens jedes wirklich
werdende Dreieck, eben weil in ihm nun die Idee zeitlich
und räumlich in dem ſtets ziehenden Strome der Elemente
offenbar wird, und folglich unter immer etwas anderen
Verhältniſſen offenbar wird, auch allemal ſelbſt von jedem
andern wirklich gewordenen Dreieck in irgend etwas, wenn
auch vielleicht unendlich wenig, ſich unterſcheidet, ſo wird
auch jede Verwirklichung der Idee der Gattung als Indi¬
viduum, und jede Verwirklichung der Idee des Individuums
als Monade, irgend wie, wenn auch vielleicht unendlich
wenig von der andern ſich unterſcheiden. Nach dieſem
Allen kann man dieſe Wahrheiten nun in folgendem Satze
nochmals zuſammenfaſſen: Idee der Gattung, Idee des
Einzelweſens, und Idee der Monade, d. h. eines Elemen¬
targebildes des Einzelweſens, ſind überall zuerſt zu unter¬
ſcheiden. Jeder dieſer Ideen kommt die Möglichkeit zu,
ſich unendlich vielfältig zu offenbaren. Es kann in
einem Weſenkreiſe unendlich vielfache Gattungen,
[55] in einer Gattung unermeßlich viele Individuen,
in einem Individuum unermeßlich viele Monaden
geben. Je höher der Weſenkreis iſt, in welchem dieſe
Dreiheit verſchiedener Ideen ſich offenbart, deſto mehr wird
jede derſelben von der andern abweichen. In der Menſch¬
heit iſt jede Individualität weſentlich verſchieden von den
andern und von der Geſammtheit des Menſchengeſchlechts,
und jede Urzelle oder Monade wieder weſentlich verſchieden
von dem ganzen Menſchen.


Es iſt nun ferner klar, daß je höher ein Weſenkreis
iſt, um ſo beſtimmter die Individualität in ihm ſich offen¬
baren wird, und wenn wir in dieſer Beziehung einen Blick
werfen auf alles Lebendige um uns, ſo finden wir auch
hinſichtlich der Fortzeugung und immer neuen Verwirklichung
der Ideen allerdings ſehr merkwürdige und wichtige Unter¬
ſchiede. In den niederſten Organismen, wo alles See¬
liſche noch tief im Unbewußtſein ruht, iſt alles Wirkliche
auch noch dergeſtalt indifferent, daß zwiſchen Individuum
und Urzelle noch ein gar geringer Unterſchied beſteht. Soll
hier das Individuum vervielfältigt werden, ſo bedarf es
bloß entweder des gewaltſamen Abtrennens, oder des durch
eigenes unbewußtes Treiben der Idee geſchehenden Ablöſens
einer oder mehrerer Urzellen, und es verhalten ſich ſofort
dieſe einzelnen Urzellen eben ſo als ein Ganzes, als die
abgeſchlagenen Stücke von einem Stück Magneteiſen gleich
auch wieder wie das größere Stück ſich verhalten, ihren
beſondern Süd- und Nordpol und ihre beſonderen Anzie¬
hungen und Abſtoßungen zeigen u. ſ. w. Freilich wie
man auch von dem größern Stück Magneteiſen ſagen darf,
es ſei immer noch kein wirkliches Ganzes, kein Indivi¬
duum, ſondern nur ein Fragment von einem Gliede des
Erdorganismus, ſo haben auch Individuen, deren Erzeu¬
gung und Vervielfältigung ſchon auf ſolche Weiſe möglich
iſt, nur geringe Selbſtheit, und jede Entwicklung der Idee
zu irgend einer Art von Bewußtſein bleibt hier durchaus
[56] undenkbar. Merkwürdig iſt es indeß, daß eben wegen
dieſer niederen Bedeutung im Ganzen, die Leichtigkeit der
Production bloß durch Theilung und Abtrennung von Ur¬
zellen, mit der ungeheuern Vervielfältigung ſolcher Weſen
in ganz geraden Verhältniſſen ſteht. Hieher gehören näm¬
lich die Beiſpiele aus der Welt der Infuſorien, wo man
berechnen kann, daß ein Geſchöpf in der Reihe weniger
Stunden zu Millionen gleichartiger Geſchöpfe ſich ver¬
mehren kann, und Aehnliches mehr. Die Werdeluſt dieſer
Ideen, in Bezug auf Zahl der Einzelheiten, ſteht ſofort
durchaus in umgekehrtem Verhältniſſe zu der Macht und
Bedeutung der Individuen, die dadurch hervorgerufen werden.
Wenden wir uns dagegen zu den höhern Lebenkreiſen, zu
denen deren höchſter die Menſchheit ſelbſt iſt, ſo treffen wir
auf ein weſentlich anderes und ein ſehr merkwürdiges Ver¬
hältniß. Die höhere Energie der Idee des Individuums
iſt es dort, welche eine mächtige Verſchiedenheit ſetzt zwi¬
ſchen der Geſammtheit des Organismus und den Elemen¬
tartheilen deſſelben; eine Verſchiedenheit von welcher es die
Folge iſt, daß zwar wohl einzelne dieſer Elementartheile,
ſich vervielfältigend den eigenen Organismus fortzubilden
und zu ergänzen vermögen, ſchlechterdings aber nicht mehr
im Stande ſind allein und an und für ſich den ganzen
Organismus ſo zu wiederholen, wie es die Theilung der
Monaden-Infuſorie, oder das abgeſchnittene Stück der
Nais, oder die Sproſſe der Hydra vermochte. Um ſo
mächtiger beweist ſich dagegen hier die Idee der Gat¬
tung
, und ein neues Individuum kann immer nur ent¬
ſtehen indem die Idee der Gattung ſelbſt auf neue Weiſe
ſich ſetzt, weßhalb denn in der Wirklichkeit dieſes ſich Setzen
auch nur dadurch möglich wird, daß nicht aus einem In¬
dividuum hervorgehend, ſondern allemal nur durch das
Zuſammenwirken von zwei Individuen
, deren
Zweiheit nämlich jedesmal die Gattung reprä¬
ſentirt
(daher die Sprache ſehr feinſinnig das Wort
[57]Begattung“ gebildet hat) das Neue entſteht, und
zwar entſteht indem ein Elementartheil, d. i. eine Urzelle
des einen Individuums, den Begriff des Eikeims annimmt,
damit ſich nun daran nicht bloß ebendieſelbe Idee desjenigen
Organismus, von welcher dieſe Urzelle urſprünglich ein
Fragment war, ſondern ein beſonderer Ausdruck der Idee
der Gattung überhaupt darlebe und offenbare.


Während alſo in jenem erſten Falle wirklich das In¬
dividuum
zeugen und ſich vervielfältigen kann, indem
ſeine Idee immer neu in Elementartheilen ſich ſetzt, welche
nur abgetrennt zu werden brauchen um dieſelbe Idee wieder
als neuer Organismus zu offenbaren, ſo wird im zweiten
höhern Falle immer nur die Gattung, welche zu ihrer
Repräſentation allemal mindeſtens zweier Indivi¬
duen bedarf
, ſich zeugend und ſich vervielfältigend
verhalten. Macht man ſich dies Verhältniß recht deutlich,
ſo iſt daraus ſehr viel, theils für Verſtändniß der Bedeu¬
tung geſchlechtlicher Zeugung, theils für Verſtändniß des
höhern Lebenkreiſes überhaupt zu gewinnen. Daß die
Idee eines Organismus, welche nur offenbar werden kann,
indem ein an ſich bloß Ideelles — die Gattung — ſich
in ihr immer neu und eigenthümlich darlebt und ſetzt,
höherer Bedeutung ſein müſſe, als eine Idee, welche
ſchon an jedem Fragment ihres eigenen Organismus ſich
vervielfältigen, und neu, und doch immer wieder nur als
dieſelbe ſich darleben kann, iſt wohl an und für ſich
klar. Eben ſo aber ſtellt ſich geſchlechtliche Zeugung jetzt in
einer höhern Bedeutung dar, denn in ihr repräſentiren die
beiden wirklichen realen Organismen welche zeugen, ein
Ideales — die an und für ſich nie körperlich erſcheinende
Idee der Gattung, und geben ſo Gelegenheit, daß aber¬
mals eine oder mehrere der unendlichen Ideen von
Individuen, welche in dem Begriffe der Gattung enthalten
ſind, von nun an wirklich zur Erſcheinung kommen.


In dieſer Beziehung ſind denn überhaupt die Auf¬
[58] klärungen, welche die Fortſchritte neuerer Phyſiologie über
den Entwicklungsgang des Menſchen gegeben haben, ſehr
lehrreich, erhalten aber auch ſelbſt erſt von hier aus
ihre richtige Deutung. Es iſt nämlich merkwürdig, daß
in allen höhern, nur durch die Gattung zeugenden Ge¬
ſchöpfen, und namentlich im Menſchen, zuerſt ebenfalls
gewiſſe Urzellen ſich bilden, deren jede die Bedeutung hat,
künftig aus ſich hervor ein ganzes neues Individuum zu
entwickeln; es ſind die Eibläschen der weiblichen Ovarien.
In ſo weit ſcheinen alſo auch höhere Organismen jene
niedern zu wiederholen, wo einzelne Urzellen ſich abſondern
und in ihnen gleich die Idee des ganzen Geſchöpfes ſich
wieder darlebt; hier jedoch iſt nun von ſolcher unmit¬
telbaren
Entwicklung durchaus nicht mehr die Rede; nie
wird aus ſolcher Monade ein neues menſchliches Indivi¬
duum, wenn nicht zuvor der Inbegriff der Gattung ſich da¬
durch
an ihm geoffenbart hat, daß es mit mindeſtens einer
derjenigen lebendigen Urzellen, welche im männlichen Kör¬
per als Spermatozoen abgeſondert werden, in unmittel¬
baren, an und für ſich aber immer durchaus unbewußten,
Contakt kommt. Weiß man alſo, daß weder aus dem
Weibe noch aus dem Manne eigentlich das neue Indivi¬
duum hervorgeht, ſondern daß es als eine beſondere indi¬
viduelle Offenbarung der Idee der Gattung, nur durch ein
gewiſſes unbewußtes Zuſammenwirken beider geſetzt wird,
ſo daß immer aus zwei Factoren ein Drittes, als
durchaus Neues, Eigenthümliches, hervorgeht, ſo iſt ſofort
auch die merkwürdige Unabhängigkeit der neu ſich offen¬
barenden Idee von den beiden einzelnen zeugenden Ideen
zu begreifen. Schon jenes merkwürdige von Hufeland
aufgefundene Geſetz der Gleichzahl der Geſchlechter, in
welcher die Menſchheit unabhängig von ſo verſchiedenen
Verhältniſſen der Erzeugung immer erhalten wird, kann
nur hieraus verſtanden werden; und auch nur von hieraus
wird begreiflich, wie, obwohl einiges Verwandte immer
[59] von den zeugenden Seelen der neu offenbar werdenden
Idee mitgetheilt wird, doch jede neu hervortretende Idee
auch immer etwas, und oft ein äußerſt ſtark ausgeprägtes
Originales-Urſprüngliches verrathen muß.


Mit jedem Akt alſo, in welchem die Idee der Gat¬
tung der Menſchheit ſich verkörpert, wirklich wird, beginnt
auch wieder eine andere der unendlichen Ideen, welche in
der Geſammt-Idee der Menſcheit inbegriffen ſind, ſich
darzuleben, und daß die Art, wie in jenem Akt die
Menſchheit ſich realiſirt, ob ſie eine mächtige und bedeu¬
tende, oder ob ſie eine ſchwache und geringe ſei, von
größter Wichtigkeit bleibe, um eine Idee entweder von
großer Energie und Schönheit, oder von ſchwacher und
geringer Energie heranzurufen und in die Wirklichkeit
treten zu laſſen, iſt durchaus keinem Zweifel unterworfen.


Iſt es daher auf dieſe Weiſe im Allgemeinen deutlich
geworden, wie nur vermöge eines ebenfalls der Sphäre
unbewußten Seelenlebens angehörigen Vorganges (denn
was bei der Geſchlechtsvereinigung in die Sphäre des Be¬
wußtſeins der Zeugenden fällt, hat mit jenem Contakt,
wodurch das neue Leben bedingt wird, durchaus an und
für ſich nichts zu thun, dieſer letztere erfolgt auch übrigens
1–2 Tage ſpäter 1 als die Begattung und allemal nur
ganz im Innern des weiblichen Organismus) immer und
immer wieder Ideen aus der unendlichen Zahl der in der
Idee der Menſchheit einbegriffenen ſich darzuleben begin¬
nen, ſo iſt nun noch auf einige beſondere hiebei in Betrach¬
tung kommende Verhältniſſe fernerhin aufmerkſam zu machen.


Zuerſt nämlich bezeichnet es auch die höhere Dignität,
mit welcher ſich die Werdeluſt der Idee der Menſchheit
in immer neuer Verwirklichung ihrer Individuen bethätigt,
in Vergleich zu niederen Lebenkreiſen, daß einmal hier
[60] eine der Zahl nach weit beſchränktere Producti¬
vität
vorkommt; und ein andermal, daß hier die Mög¬
lichkeit des die Gattung repräſentirenden un¬
bewußten Aktes und Contaktes der erwähnten
Ur-Theile
, nur an eine gewiſſe Lebensreife der
Individuen und an das vorhergegangene Ent¬
wickeln des Bewußtſeins nothwendig geknüpft
iſt
. Jene ungeheure Vervielfältigung der Individuen, wo
eine und dieſelbe geringe Lebensidee in kurzer Zeit millio¬
nenfältig ſich vervielfacht, wie ſie entweder durch unmittel¬
bare Theilung und Abſonderung von Urzellen, oder auch
durch Zeugung ſich auf niederen Stufen des Thierreichs
geltend macht, iſt der Menſchheit ganz fremd, und wieder¬
holt ſich hier höchſtens und nur allein in der rapiden
Vermehrung der Urzellen innerhalb des Indivi¬
duums, namentlich in ſeinen erſten Lebensvorgängen (wo¬
von oben Erwähnung geſchehen) und eigentlich während
der ganzen Fortbildung des Organismus. Zweitens was
die Lebensreife betrifft, welche für die, die eigent¬
liche Zeugung bedingenden Individuen gefordert wird, ſo
tritt hier wieder ein ſehr merkwürdiges Verhältniß zwi¬
ſchen Bewußtem und Unbewußtem hervor. Wenn nämlich,
angeregt durch den ganz unbewußten Contakt der Urzellen,
eine neue Form der Idee der Menſchheit, und zwar zuerſt,
wie wir gefunden haben, ebenfalls ganz bewußtlos ſich
darzuleben beginnt, ſo iſt auf dieſen frühern Stufen
ihres ſich Darlebens, auf Stufen, wo geringere Organis¬
men ſchon maßlos ſich zu vervielfältigen beginnen, ſie an
ſich durchaus noch zeugungsunfähig, ſie muß viel¬
mehr nothwendig erſt zum vollen Bewußtſein entfaltet wer¬
den, und erſt dann wird ſie reif genug ſein, um auch
wieder in der Begegnung mit einer andern ebenfalls be¬
wußten Idee denjenigen unbewußten Contakt zu veranlaſſen,
durch welchen abermals eine neue Idee ins Leben gerufen
werden kann. Auch hier alſo erſcheint abermals dieſer
[61] Kreislauf vom Unbewußten durch das Bewußte und wieder
zum Unbewußten.


Endlich kann man nicht tiefer eingehen in die Be¬
trachtung der Art und Weiſe, wie unendliche Individuen
in der Menſchheit immer neu ſich verwirklichen, ohne be¬
müht zu ſein zugleich auch über die Urſachen der unge¬
heuren Verſchiedenartigkeit derſelben zur genaueren Einſicht
zu gelangen; denn wenn auch aus höheren Gründen klar
iſt, daß nichts Wirklichgewordenes in der Welt dem an¬
dern völlig gleich ſein kann, ſo tritt doch in menſchlichen
Seelen und menſchlichen Lebensformen eine Verſchiedenheit
hervor, die, wenn wir Millionen und Millionen verglei¬
chen, nur immer deutlicher und mächtiger ſich bemerklich
machen wird.


Ein genaueres Bedenken dieſer Verſchiedenheit menſch¬
licher Seelen wird uns dann lehren, es habe dieſelbe im¬
mer einen zweifachen Grund: einmal den, der in dem
urſprünglichen Gottesgedanken der Menſchheit

liegt, und einmal den, der gegeben wird durch die
Verhältniſſe
, unter welchen dieſe Gedanken
ſich darleben
. Die Idee der Menſchheit, als Gattung,
muß nämlich eben, in wie fern ſie eine Idee höherer gött¬
licher Energie iſt, als irgend ſonſt eine, von welcher wir
Erfahrung haben, allerdings ſchon in ſich unendliche Mög¬
lichkeiten individueller Ideen enthalten, und eben wegen
jener höhern Energie im Allgemeinen, wird auch das
Differente dieſer Individualitäten um ſo ſtärker bereits in
dieſem ſeinem urſprünglichen Gottesgedanken ſelbſt begrün¬
det ſein, ja es iſt eigentlich, eben ſo wie die größere Zahl
durch die Menge inbegriffener Einheiten von der geringeren
ſich unterſcheidet, eben ſo dieſes Enthalten einer größeren
Differenz von Einzelheiten das hauptſächlichſte Document
der höhern Energie des Grundgedankens der Menſchheit
überhaupt. Einen urſprünglichen Gegenſatz bemerken wir
zuerſt, welcher durch all dieſe Unendlichkeit der innerhalb
[62] der Menſchheit begriffenen einzelnen Ideen hindurchgeht,
es iſt ein Gegenſatz, in welchem ſich der höchſte Dualis¬
mus der Welt: Idee und Aether — Purusha und Pra¬
kriti der Hinduphiloſophie — Form und Stoff — wieder¬
holt, nämlich: der Gegenſatz des Männlichen und
Weiblichen
. Fortwährend weicht deßhalb in ihrer ſtätigen
Wiedergeburt die Menſchheit in zwei weſentlich gleich¬
zählige Hälften
des Männlichen und Weiblichen aus¬
einander, und fortwährend geht auch wieder dieſe Wieder¬
geburt ſelbſt, aus der ſtets ſich erneuenden Vereinigung
dieſer getrennten Hälften, auf diejenige unbewußte Weiſe
hervor, welche eben weiter oben auseinandergeſetzt worden
iſt. Nur in dieſer unerläßlichen Nothwendigkeit, ein höhe¬
res Ganzes zunächſt ſymmetriſch in zwei große Gegenſätze
innerhalb ſeiner Einheit zu ſcheiden, liegt eben der allein
zureichende Grund jener von Hufeland nur in ſeiner
theologiſchen Beziehung erkannten und zuerſt nachgewieſenen
merkwürdigen Gleichzahl der Geſchlechter, eine Gleichzahl
welche daher auch keinesweges allen übrigen Geſchlechtern
der Lebendigen eigen iſt, als in welchen das Uebergewicht
der Zahl bald auf die eine, bald auf die andere Seite
fallend gefunden wird.


Innerhalb dieſes erſten, durch die geſammte Menſch¬
heit gehenden Gegenſatzes treten fernerhin vielfältige andere
Gegenſätze hervor, und auch dieſe theils unmittelbar in der
Urſprünglichkeit der Idee der Individuen ſelbſt begründet,
theils durch die Verſchiedenartigkeit und Beweglichkeit des
Lebens überall erhöht und erweckt. Es bilden ſich ſo eine
Menge von Kreiſen in Kreiſen, immer aber ſtellt ſich als
ein beſtimmtes Geſetz hervor, daß je ſtärker das bewußte
Leben des Geiſtes ſich entwickelt, um ſo entſchiedener der
Gegenſatz zwiſchen den Individuen, und um ſo deutlicher
die Mannichfaltigkeit menſchlicher Naturen ſich hervorhebt.
Für jenen urſprünglichſten der Gegenſätze in der Menſch¬
heit, welcher ganz und gar durch das Unbewußte begründet
[63] iſt — für den Gegenſatz des Männlichen und Weiblichen
— folgt aus dieſem Geſetze, daß deßhalb, weil im Männ¬
lichen der höhere bewußte Geiſt insbeſondere ſich zu ent¬
wickeln beſtimmt iſt, auch die Verſchiedenheit der Indivi¬
duen im männlichen Geſchlecht ſtärker begründet und mehr
offenbart ſein muß, als im weiblichen; und eben ſo gilt
dieſes Geſetz für die Kreiſe der verſchiedenen Lebensalter,
ja für die weſentlich verſchiedenen, durch Einfluß der Erd¬
natur geſonderten Stämme der Menſchheit. Im indiffe¬
renteſten Alter der Kindheit ſind die Individuen noch weni¬
ger verſchieden, während im Lebensalter, wo der bewußte
Geiſt am kräftigſten hervortritt, die Individualitäten am
weiteſten auseinanderweichen, ſo wie ſie freilich eben darum
auch erſt in dieſer Zeit der ſtärkſten Anziehung gegeneinan¬
der fähig ſind. Was die Stämme der Menſchheit betrifft,
welche nach den vier ſtätig um die Erde kreiſenden Zuſtän¬
den des Planeten, nach Tag und Nacht, Morgen und
Abenddämmerung, in die vier großen Abtheilungen der
Tagvölker, Nachtvölker und öſtlichen und weſtlichen Däm¬
merungsvölker zerfallen 1, ſo ſind es natürlich die Tagvölker,
in welchen auch der Tag der Seele — das Bewußtſein —
am vollkommenſten ſich erſchließt, und darum weichen auch
unter ihnen die Eigenthümlichkeiten der Individuen am
ſtärkſten auseinander, während ſie in den Nachtvölkern
(Negern) ſchon in den urſprünglichſten Anlagen der Seele
entſchieden einförmiger gegeben ſind.


Fällt nun das Sinken der Schärfe der Individualität
je nach der Energie der Lebenkreiſe ſchon innerhalb der
Menſchheit ſehr auf, ſo wird es noch weit mehr auffallend,
wenn man von dieſem Standpunkt aus einen Blick wirft
auf die Lebenkreiſe der Thierwelt. Nur in der Menſchheit
herrſcht in dem was wir nach früherer Ableitung „die
Perſönlichkeit
“ nennen, noch die Spitze aller Indivi¬
dualilät; in der Thierwelt verſchwinden dagegen jene ur¬
[64] ſprünglichen Gegenſätze der Individualität mehr und mehr,
je geringer die Lebensidee der Gattungen wird; ein immer
entſchiedeneres Einerlei charakteriſirt eine endloſe Wieder¬
holung derſelben Lebensform, und ſogar der Gegenſatz des
Geſchlechts erlöſcht zuletzt in den tiefſten Regionen und er¬
hält ſich zuweilen nur noch im Gegenſatz der ſodann in einem
und demſelben Individuum vereinten Organe der Zeugung.


Es iſt aber geſagt worden, daß die ſtärkere individuelle
Verſchiedenheit der einzelnen Lebensformen nicht ganz
allein
durch die Eigenthümlichkeit des erſten Gottesgedan¬
ken gegeben ſei, ſondern daß die Wechſelwirkung mit an¬
dern Lebensformen — das was wir unter Conflict mit
der Außenwelt verſtehen — ebenfalls mächtigen Antheil
habe die Eigenthümlichkeit in der Art des ſich Darlebens
einer Idee ſtärker hervortreten zu laſſen. Auch hier jedoch
hängt es ganz beſonders von der innern höhern oder nied¬
rigern Bedeutung des Weſenkreiſes ab dem das Indivi¬
duum angehört, ob dergleichen äußere Verhältniſſe viel
oder wenig vermitteln können in Schärfung der Indivi¬
dualität. Je höher die Energie einer Idee, deſto weiter
greift ihre Geſchichte, und deſto größer iſt auch der Kreis
von Möglichkeiten innerhalb deſſen ihre Offenbarung ſich
umzuändern vermag.


Die Art und Weiſe alſo, wie ein Organismus wäh¬
rend ſeiner Ausbildung umgeben iſt, wie auf ihn gewirkt
wird, was zu ihm ſich fördernd und günſtig, oder hindernd
und ſchädlich verhält, kann und muß ſeine Eigenthümlich¬
keit auf das Bedeutendſte verändern, und wie ſeine räum¬
liche Erſcheinung, ſo wird auch ſein Seelenleben, und
zwar ſchon als unbewußtes, auf das merkwürdigſte umge¬
ſtimmt, je nachdem ſehr verſchiedene Einwirkungen auf
daſſelbe ſtattfinden. Alle Organismen, alle Seelen einer
höhern Ordnung haben daher auch einen größern Kreis
möglicher Ablenkungen und Schwankungen in ſich und um
ſich, und umgekehrt. Im Menſchen, in der einzelnen
[65] menſchlichen Seele, iſt die Verſchiedenheit ungeheuer, welche
bei derſelben urſprünglichen Anlage durch Verſchiedenheit
der Einwirkungen, und zwar ſchon durch Einwirkungen
während der Zeit der erſten unbewußten Bildung, veranlaßt
werden kann; im Inſekt, im Wurm und in allen einzelnen
Seelen ähnlicher geringerer Bedeutung können auch die
verſchiedenſten Einwirkungen keine große und ſehr weſent¬
liche Verſchiedenheit hervorrufen.


Mögen denn jetzt dieſe Betrachtungen genügen, um
von der Art und Weiſe wie Seele nach Seele in uner¬
meßlicher Reihe innerhalb der verſchiedenſten Gattungen
ſich offenbart, einen Begriff zu geben, und mögen ſie auch
von den Gründen, welche die Verſchiedenartigkeit der ein¬
zelnen Seelen beſtimmt, eine vorläufig befriedigende Nach¬
weiſung gewähren.

d.Von Dem, was in einer ihrer ſelbſt bewußt gewordenen Seele immer
noch dem Reiche des Unbewußtſeins angehört.

Wer den vorhergehenden Betrachtungen mit Aufmerk¬
ſamkeit gefolgt iſt, wer ſich nun deutlich gemacht hat, wie
wir ſelbſt — etwa wie ein Kryſtall unbewußter Weiſe nach
der Idee ſeiner geometriſchen Geſtaltung anſchießt — durch
ein gänzlich unbewußtes Walten der Idee, d. h. des urſprüng¬
lich Göttlichen in uns, werden, entſtehen und fort und fort
da ſind, der wird nun auch von der Macht, welche, neben
dem bewußten Geiſte, immerfort das Unbewußte in uns
haben und behalten muß, ſich bald näher überzeugen kön¬
nen. Dieſe Ueberzeugung nun im Einzelnen zu entwickeln
und zu kräftigen, wird insbeſondere die Aufgabe des gegen¬
wärtigen Abſchnittes ſein. Vor allen Dingen ſcheint es
aber für dieſen Zweck wichtig, ausführlicher darauf hinzu¬
weiſen, daß nicht bloß in einer Art, ſondern in meh¬
reren Formen das Unbewußte unſeres Seelen¬
lebens ſich bethätigt
.


Carus, Pſyche. 5[66]

Zum Theil konnte nämlich allerdings ſchon das Vor¬
hergehende auf dergleichen Verſchiedenheiten im Unbewußten
aufmerkſam machen; gegenwärtig aber, wo wir nun von
der Höhe des bewußten Geiſtes dorthin zurückblicken wollen,
und noch einmal alle Formen unbewußter Bethätigung des
eingebornen Göttlichen innerhalb unſers Weſens überſicht¬
lich zuſammen zu faſſen gedenken, kann es uns nicht ent¬
gehen, daß dergleichen Unterſcheidungen hier zur Vervoll¬
ſtändigung einer wiſſenſchaftlichen Erkenntniß nothwendig
gemacht werden müſſen.


Zuerſt nämlich werden wir genöthigt anzuerkennen,
daß es eine Region des Seelenlebens gebe, in welche wirk¬
lich durchaus kein Strahl des Bewußtſeins dringt — und
dieſe können wir daher das abſolut Unbewußte nennen.
Dieſes abſolut Unbewußte verbreitet ſich aber entweder noch
über alles Walten der Idee in uns allein, und dann
nennen wir es das Allgemeine. So fanden wir es
im embryoniſchen Daſein — es war das noch aus¬
ſchließend
in der Bildung Waltende der Idee, der
Idee, die wir ebendeßhalb eigentlich hier noch nicht mit
dem Namen — Seele — bezeichnen. Oder aber das ab¬
ſolut Unbewußte iſt nicht mehr allein und aus¬
ſchließend
der Charakter alles Seelenlebens, ſondern
es hat ſich zwar irgendwie ein Bewußtſein entwickelt, die
Idee iſt wirklich Seele geworden, aber auch hiebei ver¬
bleiben alle Vorgänge des bildenden zerſtörenden, und
wieder geſtaltenden Lebens ganz ohne Theilnahme des
Bewußtſeins, und ein ſolches Unbewußtes iſt daher nicht
mehr ein Allgemeines, ſondern nur ein Partielles.
Dem abſoluten oder ſchlechthin Unbewußten ferner, wie es
bald als allgemeines, bald als partielles erkannt wird, ſteht
gegenüber das relativ Unbewußte, d. h. jener Bereich
eines wirklich ſchon zum Bewußtſein gekommenen Seelen¬
lebens, welcher jedoch für irgend eine Zeit jetzt wieder
unbewußt geworden iſt, immer jedoch auch wieder ins
[67] Bewußtſein zurückkehrt, ein Bereich, welcher immerfort
ſelbſt in der ganz gereiften Seele den größten Theil der
Welt des Geiſtes umfaſſen wird, weil wir in jedem Augen¬
blick doch immer nur einen verhältnißmäßig kleinen Theil
von der ganzen Welt unſerer Vorſtellungen wirklich erfaſſen
und gegenwärtig halten können.


In den folgenden Betrachtungen wird es nun unſere
Hauptaufgabe ausmachen, das Verhältniß jenes abſoluten,
jedoch nur partiellen Unbewußten, wie es neben dem, was
zum Bewußtſein gelangen kann und wirklich gelangt, be¬
ſteht, ausführlicher zu ſchildern. Was das abſolute und
zwar allgemein Unbewußte der Seele während der embryo¬
niſchen Bildungsperiode betrifft, d. h. jenes wunderbare
Leben, wo die Idee als göttlicher Grundgedanke einer
ganzen menſchlichen Exiſtenz, ſo geheimnißvoll und ver¬
ſchloſſen in ſich ruhend, doch prometheïſch das ganze
merkwürdige Gebilde des Organismus entfaltet, in dem
ſpäterhin der bewußte Geiſt ſich regen und entwickeln ſoll,
ſo ruht auf ihm recht eigentlich der Schleier der Iſis,
der dem Bewußtſein ſich nie wahrhaft heben kann; nichts¬
deſtoweniger jedoch führt uns Analogie und Vergleichung
auch in dieſer Beziehung dahin, wiſſen zu können, daß
eine und dieſelbe Intelligenz dort wie hier waltet, und
zwar waltet als ein wahrhaft „unbewußtes Denken“.


Verſtändlicher wird allerdings ſchon dem bewußten
Geiſte Das, was wir oben das partiell Unbewußte
genannt haben; denn wenn einmal, in einer Weiſe von
welcher ſpäter zu reden iſt, der Strahl des Bewußtſeins
ſich entzündet hat, ſo macht dieſes auch ſogleich das hier
bezeichnete Unbewußte in uns weit mehr gegenſtändlich.
So etwa macht erſt das angezündete Licht uns die Nacht
in ihrer Dunkelheit recht deutlich und erkennbar. In den
Bereich dieſes partiell abſolut Unbewußten fällt dann im¬
mer noch Alles, was auch im Allgemeinen und abſolut
Unbewußten ihm angehörte — alle Bildungsvorgänge,
[68] Alles was Wachsthum, Ernährung, Blutleben, Athmung,
Abſonderung heißt, gehört ihm an, während an dem Sy¬
ſtem, welches wir das rein ſeeliſche genannt haben,
am Nervenſyſtem und den Sinnen, ausſchließend ſich der
Bereich des bewußten Seelenlebens vollſtändig entwickelt.
Dabei iſt übrigens nie zu verkennen, daß auch dieſe Form
des Unbewußten immer ein Strahl ſei derſelben Seele,
welche in anderer Region wirklich als Bewußtſein ſich offen¬
bart, und eben weil es wirklich derſelben Seele angehört,
ſo müſſen auch alle ſeine Umſtimmungen auf irgend eine
Weiſe durch alle Regionen des Seelenlebens überhaupt
hindurch, und alſo irgendwie doch ſelbſt im Bewußtſein
ſich geltend machen. Das, was wir die Gefühlswelt
des Geiſtes
nennen, wird hauptſächlich durch dieſe Re¬
flexe uns erklärlich. So finden wir alſo z. B. nur de߬
halb, daß ein vorherrſchendes Leben der Verdauung die
Beweglichkeit und Leichtigkeit des Vorſtellungslebens ſtört,
daß eine veränderte Stimmung des Blutlebens nicht ohne
Einfluß bleibt auf die Stimmung des Geiſtes u. ſ. w.,
weil das ſtärkere Anklingen aus jenen dunkeln Regionen
hinauf in die hellen Regionen des Bewußtſeins, ſich dort
nur zu beſtimmt in mannichfachen Gefühlen geltend macht.
Wie wir daher ſchon früher bemerkt haben, ſuchte man
gerade deßhalb oftmals, bei ungeläuterten Begriffen im
Ganzen, in ſolchen Wirkungen des Unbewußten und Be¬
wußten irrthümlicherweiſe nur Belege von den verſchiedenen
Arten des Verkehrs zwiſchen Leiblichem und Geiſtigem,
während man jetzt nach den vorausgegangenen Aufklärun¬
gen gar leicht gewahr werden kann, daß eigentlich immer¬
dar bei ſolchen Verhältniſſen einzig und allein vom Ver¬
kehr zwiſchen gewiſſen Regionen des unbewußten und
gewiſſen andern des bewußten Seelenlebens, welche beide
immer nur verſchiedene Strahlen deſſelben Göttlichen
und Einen
ſind, die Rede ſein darf. Die nahe Bezie¬
hung dieſes ſcheinbar geringem, d. h. des partiell Un¬
[69] bewußten, zu dem Höhern, d. h. zum reinen Bewußt¬
ſein, zum gereiften Geiſte, darf man ſich übrigens viel¬
leicht unter dem Bilde deutlich zu machen ſuchen, daß
man etwa vergleicht die Aeußerung des vollen bewußten
Seelenlebens der leuchtenden Spitze einer jener gothi¬
ſchen Dome, die das Auge durch den Reichthum ihrer
Verzierungen und das Himmelanſtrebende ihrer Geſammt¬
form anziehen, die aber weder in ihrer Schönheit leuchten
und ſich erhalten, noch in ihrer Höhe getragen werden
könnten, wenn nicht der unſichtbar tief in der Erde ruhende
Grund (hier das Gleichniß des vollkommen Unbewußten)
ſie überall ſtützte und die innere künſtliche Fügung des
Mauer- und Eiſenwerkes ſie durchaus befeſtigte. Wirklich
ganz auf dieſelbe Weiſe wie jene glänzende Außenſeite
vom unſcheinbaren Grunde eines Gebäudes, hängen alle
die hohen und höchſten Qualitäten des bewußten Seelen¬
lebens von tauſenderlei Beziehungen auf das Unbewußte
der Seele ab, und wie jene Spitze des Doms unrettbar
ſtürzt, wenn nur eine Eiſenklammer reißt oder ein Eck¬
ſtein des Grundes weicht, ſo verſchwinden auch ſofort die
glänzendſten Erſcheinungen des Geiſtes, wenn dem unbe¬
wußten Wirken der Seele, wie es etwa den Blutſtrom
des Herzens lenkt, oder den Wechſel der Athmung regiert,
nur das kleinſte Hinderniß entgegengeſtellt wird. Dies
Alles wird gewöhnlich keineswegs hinreichend bedacht, oder,
wenn es bedacht wird, einer beklagenswerthen Abhängigkeit
des Geiſtes vom Körper zugeſchrieben, während es doch
dem Auge, welches dieſe Erſcheinungen in ihrer Totalität
aufzufaſſen vermag, durchaus als ein ſchönes und noth¬
wendiges Zeichen der gemeinſamen Begründung beider
Sphären des Seelenlebens, der bewußten und unbewußten,
in einer und derſelben göttlichen Weſenheit
oder Idee erſcheinen muß.


Gewiß, es ſind dieſe Gegenſtände für die Möglichkeit
einer wahrhaft wiſſenſchaftlichen Pſychologie von der unge¬
[70] heuerſten Bedeutung, und eben deßhalb wird ein großer
Theil der gegenwärtigen Schrift es ſich ganz beſonders
zur Aufgabe machen, gerade hierüber ein helleres Licht zu
verbreiten.


Wir ſprechen es daher hier nochmals beſtimmt aus,
daß, wem es irgend gelingt in der auf der Höhe des
Unbewußten entwickelten bewußten Welt des Geiſtes, jene
wunderbaren und geheimnißvollen Vorgänge der unbewu߬
ten Welt der Seele nur einigermaßen zu erfaſſen, Vor¬
gänge auf welchen die bewußte Geiſteswelt gleich einem
leuchtenden Regenbogen auf einer dunkeln Regenwand,
nur leichtbeweglich ſchwebend ſich erhält — dem ſei ſchon
im Weſentlichen ſeiner Erkenntniß geholfen und dem wer¬
den unvermerkt, je mehr er in dieſe Gegenſtände eindringt,
um ſo bedeutendere Reſultate ſich ergeben.


Wende man daher zunächſt doch alle Aufmerkſamkeit
darauf, mit ſeinem bewußten Denken in die bewußtloſen
Vorgänge unſeres Seelenlebens mehr und mehr einzudrin¬
gen, rufe man ſich immer von neuem zurück, daß zu einer
Zeit embryoniſchen Lebens, wo doch ſchon alle höhere gei¬
ſtigen Anlagen potentiâ vorhanden ſein müſſen, und ſchon
die eigenthümliche Nerven- und[] Kopfbildung welche der
beſondere Träger dieſer Anlagen werden ſoll, großentheils
entfaltet iſt, die Seele in allem dieſem nur bewußtlos
waltet — und man wird dahin kommen dieſes Denken
der Seele ohne Bewußtſein
, im Bilden und Umbilden
unſeres Organismus, ſich gleichſam in das bewußte See¬
lenleben zu überſetzen. Sagte doch bereits Schelling
ſehr ſchön von dem Walten der Natur überhaupt: „Alle
Bewegung und Thätigkeit, alle Lebensregung, auch die
der Natur, ſei nur ein bewußtloſes Denken, oder geſchehe
in der Form des Denkens; je mehr in der Natur das
Geſetzmäßige ſich zeige, deſto geiſtiger erſcheine ihr Wirken;
die optiſchen Phänomene ſeien ſchon ganz eine Geometrie,
deren Linie das Licht ziehe, und die vollendete Theorie der
[71] Natur würde diejenige ſein, kraft welcher die ganze Na¬
tur ſich in eine Intelligenz auflöſe
.“ Und wer
könnte die Welt als Erſcheinung, als Offenbarung eines
Göttlichen anerkennen und nicht von der Nothwendigkeit
der innern Intelligenz alles Naturlebens tief durchdrun¬
gen ſein!


Man mache es ſich alſo gegenwärtig zuerſt recht voll¬
kommen deutlich, wie auch diejenige Seele, in welcher das
Licht des Selbſtbewußtſeins theilweiſe wirklich aufgegangen
iſt, doch allerdings bei weitem zum größern Theile
in der Nacht der Bewußtloſigkeit befangen bleibt. Unter¬
ſucht man alsdann weiter die Eigenthümlichkeit der ver¬
ſchiedenen Kreiſe dieſes Bewußtloſen, die Kreiſe des Bil¬
dungslebens, des fortgehenden Bauens und Zerſtörens,
und vergleicht ſie mit Dem, was wir als Bewußtes
überſchauen, ſo werden uns alsbald manche ſonſtige wich¬
tige Momente der Unterſcheidung des Bewußten vom Un¬
bewußten klar hervortreten, und zwar zuerſt wird man ſich
überzeugen, daß, ſo weit jenes Reich des Bewußtloſen
geht, auch die Nothwendigkeit herrſcht, während un¬
mittelbar mit dem Aufgehen des Bewußtſeins auch die
Freiheit ſich begründet. Von hieraus alſo datiren ſich
ſogleich Gegenſätze, welche für alles fernere Verſtändniß
des Seelenlebens von größter Bedeutung ſind. Alles was
bewußtlos in uns ſich urſprünglich bildet, lebt ſich dar als
Offenbarung eines Göttlichen, deſſen Beſtimmungsgrund
eben ſo außerhalb unſerer individuellen Exiſtenz liegt,
wie deſſen Erkenntniß auch nie von dem individuellen
Geiſte ganz erreicht wird. In dieſen Regionen iſt alſo
nicht von individuellem Willen die Rede und kann es nicht
ſein, denn der Wille ſetzt Erkennen voraus, und hier gibt
es noch kein Erkennen, vielmehr wird hier unbedingt eine
gewiſſe unſerm Erkennen und Willen fremde Nothwen¬
digkeit
geſetzt, welche, in ſo ferne ſie noch der alleinige
Beſtimmungsgrund für die zum größten Theil unbewußte
[72] Seele iſt, zugleich auch auf die Freiheit des zum Be¬
wußtſein entwickelten Antheils der Seele einen gewiſſen
Einfluß üben muß. Eben dadurch wird es dann geſetzt,
daß, ſo wie unſer ganzes pſychiſches Daſein immerfort
zwiſchen Unbewußtſein und Bewußtſein ſchwebt, auch ein
ſtetes Schwanken zwiſchen Willkür und Zwang, Freiheit
und Nothwendigkeit, uns unabänderlich im ganzen Leben
zugetheilt bleibt.


Wie groß demnach die Aufſchlüſſe ſind, welche von
dieſem Standpunkt aus für das geſammte Reich der Pſy¬
chologie ſich alsbald ergeben, wird Jeder ſofort ermeſſen,
der nur einmal verſucht hat ſich deutlich zu machen, wie
der Zwieſpalt zwiſchen Zwang und Willkür, oder Noth¬
wendigkeit und Freiheit durch das ganze Weltall ſich fühl¬
bar macht; und was gibt denn der, den ziehenden Welt¬
körpern und den brauſenden Elementen gegenüber, ſcheinbar
ſo ſchwachen und unbedeutenden Individualität des Men¬
ſchen dieſe mächtige Bedeutung und dieſe erhabene Stel¬
lung, wenn es nicht das Bewußtſein iſt, daß alle jene
ungeheuren Maſſen einem ſtummen Geſetze der Noth¬
wendigkeit
gehorchen, während dieſes eine Individuum
allein vom Lichte der Freiheit erleuchtet wird!


Aber wieder muß nun auch hier in Betrachtung kom¬
men, was oben zum Theil ſchon beſprochen worden war,
nämlich daß wir nur bedingterweiſe Urſache haben, die
Freiheit über das Reich der Nothwendigkeit zu erheben.
Es iſt nämlich bereits gezeigt worden, daß das Unbewußte,
und eben deßhalb durch Nothwendigkeit Beſtimmte, in ſich
wieder
, eben weil es ſeinem Weſen nach ein Göttli¬
ches
iſt, eine Sicherheit, eine Weisheit und Schönheit
enthält, zu welcher das Bewußtſein und Freie ſelbſt auf
ſeiner höchſten Höhe in dieſem Maße nie ganz gelangen
kann. Wo das bewußte Denken ſchwankt und zweimal
vielleicht das Falſche und einmal das Wahre trifft und das
Rechte will, da geht das unbewußte Walten der Idee mit
[73] größter Entſchiedenheit, und tiefer, in unſerm Sinne, un¬
bewußter Weisheit
ſeinen ganz gemeſſenen Gang, und
bildet ſein Weſen oft dar mit einer Schönheit, die in
ihrem ganzen Umfange von dem bewußten Leben nie erfaßt,
geſchweige denn nachgeahmt werden kann.


Erſt wenn alſo auf dieſe Weiſe im Bewußtſein und
in der Freiheit wieder die Ehrfurcht aufgeht gegen das
Unbewußte und Nothwendige, wird es möglich, allen die¬
ſen Betrachtungen diejenige Folge zu geben, welche wir
um ſo mehr fordern müſſen, da bereits früher deutlich
gemacht worden iſt, daß das Wiſſen, wenn es vom Be¬
wußtſein aus das Unbewußte durchdringt, eben ſo gewiß
ſein höchſtes Ziel erreicht, als das Können erſt dann zur
höchſten Kunſt wird, wenn es vom Bewußten aus wieder
ein Unbewußtes zu werden vermag.


Der Pſycholog hat ſich demnach in Bezug auf das
Reich des Unbewußtſeins vor allen Dingen deutlich zu
machen, in welch' vielfältiger, eigenthümlich combinirter,
durchaus von Innerung des Vorhergegangenen und Ahnung
des Kommenden durchdrungener Weiſe, die Lebens-Idee
unſeres Daſeins in den Vorgängen der Bildung und Um¬
bildung unſeres Organismus unausgeſetzt ſich bethätigt.
Je mehr er hier in die Erkenntniß des Einzelnen dieſer
unbewußten Welt eindringt, deſto wichtigere Reſultate wer¬
den ſich ihm ergeben. Eine der erſten Bemerkungen, die
ſich ihm da aufdringen, wird es ſein, daß die in ſich
ewige Weſenheit der Seele, ſich im Unbewußten in ſo
fern mehr
bethätigt als im Bewußtſein, als in jenem
kein Augenblick Stillſtand, keine Unterbrechung, ſondern
ein während des ganzen Lebens ſchlechthin unausgeſetzter
Zug der Thätigkeit erſcheint, dahingegen das Bewußtſein
nicht dieſer Stätigkeit fähig, ſondern aus Urſachen, die
bei Erwägung des bewußten Lebens in Betrachtung kommen
müſſen, einer periodiſchen Rückkehr ins Unbewußte bedürf¬
tig iſt, einer Rückkehr, welche wir mit dem Namen des
[74] Schlafes bezeichnen. Es folgt hieraus das merkwürdige
und — weil man dieſen Weg der Betrachtung bisher
überhaupt ganz vernachläſſigt hat — noch nie beſonders
gewürdigte Reſultat, daß im ganzen Bereich des unbe¬
wußten Seelenlebens der Begriff der Ermüdung
gar nicht exiſtirt
, ſondern daß derſelbe nur erſt da
auftritt, wo das Unbewußte mit dem Bewußten ſich beſon¬
ders combinirt findet, oder wo es ſich vom Bewußten allein
handelt. So ziehen alſo die Ströme der Flüſſigkeiten in
uns raſtlos fort, und unausgeſetzt ſchlägt der Puls
des Herzens, und athmen die Lungen, und ſondern die
Drüſen ab, und es iſt kein Stillſtand und keine Ermü¬
dung in allen dieſen Lebenserſcheinungen der unbewußten
Sphäre des Seelenlebens; ein Moment, was uns um
ſo merkwürdiger erſcheinen muß, wenn wir daran denken,
wie ſchnell andere Muskeln ermüden, wenn ſie lange in
Thätigkeit waren, und wie alle andern Vorgänge des
Bewußtſeins in uns, einer ſteten Unterbrechung und er¬
neuten Auffriſchung bedürfen. Aus demſelben Grunde
finden wir dann aber auch, daß eben ſo noch viele andere
Begriffe, welche vom bewußten Seelenleben entlehnt wurden,
auf das unbewußte durchaus keine Anwendung leiden, ſo
z. B. der Begriff des allmähligen Erlernens, der Ein¬
übung
, der Fertigkeit u. ſ. w.


Was nämlich irgend im Reiche des Unbewußten vor¬
geht, was eben dadurch der Nothwendigkeit angehört, das
bedarf keines mühſamen Erlernens, keiner Einübung um
es zur Fertigkeit zu bringen; leicht und unmittelbar wird
hier Alles geübt und vollbracht, was die Weſenheit gerade
dieſes beſtimmten Seins fordert, und wie der Kryſtall
gerade ſo anſchießt, weil er durchaus nicht anders kann,
ſo braucht deßhalb auch der höhere Organismus für ſeine
unbewußten Lebensvorgänge keine beſondere Vorbereitung,
vielmehr übt er ſie ohne Weiteres aus, weil ſie eben nur
ſo zu ſeiner Lebenseigenthümlichkeit gehören. Alles dieſes
[75] iſt zur naturgemäßen Beurtheilung des Seelenlebens von
außerordentlicher Wichtigkeit, und wird vorzüglich, wenn
wir zur Erwägung der Lebensvorgänge in der
Thierſeele
kommen, von höchſter Förderung für beſſere
Einſicht ſein können.


Wenn jedoch oben erwähnt wurde, daß Bewußtes
vom Unbewußten in demſelben Verhältniſſe, wie Freies
vom Nothwendigen ſich unterſcheide, ſo iſt damit keines¬
wegs bloß und allein von irgend einer That oder Thätig¬
keit des gereiften Lebens die Rede, ſondern wir müſſen
zugleich daran erinnern — was ſich weſentlich übrigens
ſchon aus der Geſchichte der durch ein abſolut und allgemein
unbewußtes Walten der Idee fortſchreitenden primitiven
Entwicklung des Organismus ergab — daß nämlich auch
die Nothwendigkeit und der Zwang, vermöge deren jedes
Individuum ein beſonderes und eigenthümliches ſein muß
und jede Seele nur als eine beſondere ſich entwickeln
kann, einzig und allein in dem Reiche des Unbewußten
entſpringe. Das iſt es ja ungefähr, was Göthe den
Dämon in uns nennt, von dem er ſagt:


„Nach dem Geſetz, wonach du angetreten,

So mußt du ſein, du kannſt dir nicht entflieh’n,

Und keine Zeit und keine Macht zerſtückelt

Geprägte Form, die lebend ſich entwickelt.“

In wie fern daher aus dem Vorigen klar iſt, daß
alles bewußte Seelenleben ſich nur aus dem ſchlechthin
Unbewußten der Idee allmählig hervorbildet, daß nur aus
der dunkeln Erfühlung das Selbſtgefühl und zuhöchſt das
Selbſtbewußtſein hervorgeht, wie aus der Innerung die
Erinnerung, und aus der nothwendigen Thätigkeit die freie
That, ſo muß gegenwärtig auch eingeſehen werden, wie
eine gewiſſe erſte nothwendige Eigenthümlichkeit des Unbe¬
wußten, die Bedingung werde, daß eben ſo nun auch alle
einzelnen Regungen der bewußten Seele vom Unbewußten
aus eine beſtimmte bleibende Färbung, eine gewiſſe noth¬
wendige Eigenthümlichkeit annehmen, und das iſt denn
[76] eben, was wir mit dem Namen der angebornen, d. h.
mit der leiblichen Organiſation in genauem und geradem
Verhältniß ſtehenden, Anlagen der Seele gewöhnlich
bezeichnen, und welche dann, in wie fern ſie allerdings
auch weſentlich im bewußten Seelenleben ſich geltend ma¬
chen, in der Abtheilung vom bewußten Seelenleben bald
zur nähern Beſprechung kommen werden.


Jedoch nicht bloß das ſchlechthin Unbewußte, in wie
fern es die Baſis iſt aus welcher ſpäter das Bewußtſein
ſich entfaltet, und in wie fern es auch noch neben dem
Bewußtſein beſteht, iſt in der Seele anzuerkennen, ſondern
auch das relativ oder ſecundär Unbewußte, in welches
das Bewußte periodiſch immer wieder zurückkehrt
.
Gleich dem durchaus Unbewußten wirken nämlich alle be¬
reits früher einmal zum Bewußtſein gelangten, dann aber
wieder unbewußt in der Seele ſchlummernden Gefühle und
Erkenntniſſe immerfort auf das bewußte Seelenleben, wie
auf das, was wir das abſolut unbewußte Seelenleben
genannt haben, ein; das Geordnete, Schöne — wohlthä¬
tig und fördernd — das Rohe und Unſchöne — ſtörend
und hindernd.


Finden wir nun dieſes ſecundär und nur periodiſch
Unbewußte mit dem primär und abſolut Unbewußten durch¬
aus in einem Leben der Seele vereinigt, und iſt das
abſolut Unbewußte eben das, was weſentlich die Bildung
und Umbildung des Organismus bedingt, ſo ergibt ſich
jetzt auch deutlich, warum ſolche einſt bewußte aber nun
ins Unbewußte wieder eingegangene Regungen der Seele
doch gar weſentlich und immerfort mit auf die Ernährung
und Fortbildung des Organismus Einfluß üben können
und müſſen. Ein Beiſpiel wird das, was wir hier mei¬
nen, klarer und verſtändlicher machen. Man denke ſich
den gebildeten zu einer geläuterten Anſchauung des Schö¬
nen und Wahren gelangten Menſchen. In ſeiner Seele,
deren abſolut unbewußtes Wirken bereits eine glückliche
[77] Organiſation ihm auferbaut und anerſchaffen hat und fort¬
während erhält, ruhen eine Menge von Vorſtellungen,
Empfindungen, Gedanken, von denen nur wenige zugleich
in einem Augenblick ihm ins Bewußtſein kommen; nichts
deſto weniger ſind doch alle dieſe jetzt nicht gewußten Schätze
ihm ſtets unverloren, und in jedem Augenblicke wirkt fort
und fort dieſer innere Reichthum auf die einzelnen bewu߬
ten Seelenregungen, welche gerade augenblicklich das Leben
herbeiführt, dergeſtalt ein, daß deren jede nun ebenfalls
nicht anders als ſchön und wahr ſein kann, eben weil die
Fülle des relativ unbewußten Seelenlebens durch und durch
gerade dieſen Charakter ſchon längſt hatte. Aber damit
nicht genug! dieſes relativ Unbewußte wirkt auch auf das
abſolut Unbewußte, welches dem Bilden und Umbilden des
Organismus vorſteht; die Bildung ſelbſt wird in einem
ſolchen Individuum eine andere, die Züge des Antlitzes
erhalten eine gewiſſe Klarheit, und das, was wir einen
edlen Ausdruck nennen, und ein Schimmer dieſes Einfluſſes
verbreitet ſich über die geſammte Organiſation. Man denke
ſich nun das Gegentheil: eine rohe in die niedrigſten In¬
tereſſen des Lebens verſunkene Individualität, ſchon durch
ihr primitives und abſolut Unbewußtes in einer gröbern
Organiſation entwickelt, gemein und unſchön in allen ihren
Anſchauungen und Gedanken; auch ſie wird ſich in jedem
Augenblicke nur weniger Vorſtellungen bewußt ſein, aber
die widerwärtige halb thieriſche Eigenthümlichkeit dieſes ge¬
ſammten relativ unbewußten Seelenlebens wird fort und fort
nicht nur alle einzelnen Aeußerungen der bewußten Pſyche
herabziehen und ihnen einen gemeinen unwürdigen Charakter
aufprägen, ſondern jenes relativ Unbewußte wird ſich dem
abſolut Unbewußten ebenfalls mittheilen (eigentlich iſt der
Ausdruck „mittheilen“ nur ein figürlicher um ſich verſtändlich
zu machen, da beide im Weſen doch nur Eines ſind),
und ſo wird dieſer Charakter nicht verfehlen der ſchon ur¬
ſprünglich minder glücklichen Organiſation einen noch gröbe¬
[78] ren, unedleren Ausdruck zu geben, die Züge werden ſich
dem Thieriſchen immer mehr zuneigen, ja die feſteſten Ge¬
bilde — wie das Skeleton — werden einen fremdartigen
Charakter erhalten.


Ich denke, man kann dieſen Betrachtungen unmöglich
mit Aufmerkſamkeit nachgehen ohne ſich zu überzeugen, daß
der hier eingeſchlagene Weg, d. h. die Art, ſtets den Be¬
ziehungen zwiſchen Bewußtem und Unbewußtem in der Ein¬
heit der Seele nachzugehen, allein uns zu einem tiefern
Verſtändniß des geſammten Seelenlebens bringen kann.
Vielfältige Erſcheinungen, welche außerdem uns durchaus
unverſtändlich bleiben müßten, werden auf dieſe Weiſe uns
klar und vollkommen faßlich, beſonders aber wird die Art,
wie auch Vorſtellungen, d. h. Regungen des bewußten See¬
lenlebens auf Bildungsvorgänge, d. h. auf Umſtimmungen
des bewußtloſen Seelenlebens, einwirken können, und
umgekehrt Bildungsverhältniſſe auf Vorſtellung ſtets wirken
werden, hieraus allein verſtändlich. Wir erläutern auch
dies ſogleich durch einige Beiſpiele. So iſt es eine be¬
kannte Erfahrung, daß nicht bloß die Empfindung, ſon¬
dern ſchon die lebhafte Vorſtellung bekannter Flüſſig¬
keiten, des Citronenſaftes etwa, eine vermehrte Abſonde¬
rung der Speichelflüſſigkeit eben ſo beſtimmt hervorruft,
wie andererſeits irgend ein Gegenſtand des Zorns faſt
augenblicklich Gallenergießung bewirkt, dergeſtalt, daß
dann ſelbſt andere milde Abſonderungen, z. B. bei Stil¬
lenden die Milch, ſofort auf dieſe Weiſe eine ſcharfe, ſelbſt
giftige Eigenſchaft annehmen können. In beiden Fällen er¬
folgen dieſe Umänderungen in der genannten Abſonderung
allerdings ganz unbewußt, aber doch immer nur deßhalb
weil bewußtes und unbewußtes Seelenleben zuletzt immer
weſentlich eins bleiben, und weil eben jene, die Verände¬
rung der Abſonderung bewirkende Umſtimmung des unbe¬
wußten Bildungslebens, ganz das Gleichnamige iſt
von dem was eben im Bewußtſein unter der Form jener
[79] Vorſtellungen gegenſtändlich wird. Die Gallenabſonderung,
die Giftbildung nämlich, ſind wirklich im Unbewußten das
Gleichnamige, von dem was im Bewußten der Zorn iſt,
und wird die zornmüthige Vorſtellung erregt, ſo ruft dies
in dem Unbewußten auch unmittelbar jene Abſonderungen
hervor. Eben ſo iſt es mit der Empfindung des pikanten
Geſchmacks, wodurch unmittelbar diejenigen Abſonderungen
aufgerufen werden, welche jene Schärfen allein zu neutrali¬
ſiren im Stande ſind. Es geht dies dann nothwendig
weiter; die wirkliche Geſchmacksempfindung mag nämlich
auch wohl noch gar nicht vorhanden ſein, wir brauchen nur
die Vorſtellung davon aufzuregen, — und ſofort, eben
weil dieſe Vorſtellung ganz genau verbunden iſt mit dem
unbewußten Leben jener Abſonderung, ſo iſt auch ſo¬
fort die Function des Abſonderns da, ſo bald die Vor¬
ſtellung erwacht. Eben ſo können nun auch umgekehrt dieſe
Regungen im Bewußtloſen anheben und auf das Bewußt¬
ſein reflectirend, in gewiſſen gleichnamigen Vorſtellungen,
gleichſam verklärt wieder erſcheinen. So wirkt z. B. eine
den Schlafenden afficirende, durch Kohlendunſt verdorbene
Atmoſphäre, hemmend auf den Athmungsvorgang der Lun¬
gen, und unmittelbar ſteigen im träumenden Bewußtſein
des Schlafenden ängſtliche Vorſtellungen auf, von Unge¬
heuern, die ſich erſtickend auf die Bruſt legen u. ſ. w.
Eben ſo ſind auch die ſämmtlichen, gewöhnlich ausſchließend
pſychiſch genannten Wirkungen der Medicamente (d. h.
ſolche, welche wie Opium, Hyoscyamus u. dergl. die be¬
wußte Sphäre des Seelenlebens afficiren) nur auf dieſe
Weiſe verſtändlich; ſie erregen nämlich im Bewußtloſen eine
Umſtimmung, welche der gleich iſt, die durch gewiſſe be¬
wußte pſychiſche Zuſtände ihrerſeits wieder im Unbewußten
hervorgerufen werden kann, und auf umgekehrtem Wege
alſo ruft nun das Medicament durch primäre Affection des
Bewußtloſen, ſecundär und polariſch die Aenderung im Be¬
wußtloſen hervor. Wir wiſſen nämlich, daß z. B. das
[80] dickere, mehr verkohlte, ſchlecht durchathmete Blut, durch
ſeine Beziehung zur Innervation, ſogleich einen bedrückten
in Schlaf übergehenden Zuſtand des Hirnlebens bedingt,
eben ſo wie andererſeits bedrückte Zuſtände des Geiſtes und
Gewöhnung an vieles Schlafen umgekehrt jene Blutbe¬
ſchaffenheit erzeugen. Setzen nun Opium und Hyoscya¬
mus in größeren Gaben einen mehr verkohlten Zuſtand des
Blutes, ſo werden ſie auch auf dieſe antagoniſtiſche Weiſe
ſogleich betäubend auf den Geiſt wirken u. ſ. w.


So wie wir jedoch früher die Nothwendigkeit und die
Unmittelbarkeit (d. h. das unmittelbare Thun und Können,
ohne zuvor nöthige Einübung und ohne nachkommende Er¬
müdung), als beſonders merkwürdige Attribute des urſprüng¬
lich Unbewußten haben kennen lernen, ſo iſt nun gegen¬
wärtig noch als ein weſentliches und ſehr wichtiges Attri¬
but aller unbewußten Seelenwirkung auch zu betrachten eine
merkwürdige Eigenſchaft deſſelben, für welche es uns er¬
laubt ſei, das Wort: Verallgemeinerung zu gebrau¬
chen, d. h. die im Unbewußten weſentlich beſtehende beſondere
innige Verbindung mit dem Allgemeinen der Welt — oder
wie man auch ſagen kann, das in ihm insbeſondere wahr¬
nehmbare ſo zu ſagen Einverleibtſein in das All¬
gemeine
.


Allerdings überzeugt ſich nämlich der erkennende Geiſt
ſehr bald davon, daß das Weltganze einen innern organi¬
ſchen Zuſammenhang hat und haben muß, und daß jeder,
wenn auch für gewiſſe Zeit als ein Einzelnes erſcheinende
Organismus, doch eigentlich nur ein Theil — ein Organ
— ein Theil-Organismus eines höhern Ganzen ſei. Nichts
deſto weniger iſt mit dem Erwachen dieſes erkennenden ſelbſt¬
bewußten Geiſtes das Gefühl der Individualität — des
für-ſich-ſeins — alſo des gewiſſermaßen abgeſondert-ſeins
vom Weltganzen unmittelbar gegeben — der Gegenſatz
zwiſchen einem Ich und einer Außenwelt tritt von dieſem
Moment an ſcharf hervor, eben ſo wie dadurch (wie wir
[81] früher bemerkten) der Gegenſatz von Nothwendigkeit und
Freiheit gegeben war. Das Unbewußte hingegen, obwohl
ſein Streben raſtlos dahin gerichtet ſein muß, eine gewiſſe
Selbſtſtändigkeit des eigenen Organismus zu behaupten,
damit eben auf der Spitze ſeines Daſeins der erkennende
Geiſt ſich aus ihm entwickle, iſt von dieſem ſchroffen Gegen¬
ſatze fern, — in ihm fluthet das allgemeine Daſein der
Welt noch unmittelbar fort, und in ihm regen ſich deßhalb
alle Faſern der Verbindung, durch welche das Einzelne
dem Ganzen überall und immerfort verknüpft iſt und ver¬
knüpft ſein muß. Dies nun ſorgfältig bei Betrachtung
der Organismen und namentlich in dieſer pſychologiſchen
Beziehung zu erwägen, iſt von der außerordentlichſten Wich¬
tigkeit. Je entfernter nämlich hienach irgend ein Organis¬
mus vom Selbſtbewußtſein bleibt, deſto geringer wird über¬
haupt ſeine Individualität ausgeprägt ſein, und deſto
unmittelbarer muß gedacht werden ſein unbewußtes Inbe¬
griffenſein in einem allgemeinen Organismus, ja deſto
abhängiger von deſſen Art ſich darzuleben wird er ſein,
und deſto mehr nur erfühlend, innernd und ahnend alle
Lebensvorgänge dieſes Allgemeinen. Eines Theils wird
nun, wenn wir dieſe Erkenntniß feſthalten, ſogleich ſehr
Vieles klar, was die Geſchichte der uns bekannten niedern
Organismen angeht: man verſteht, warum Protorganismen,
Pflanzen und niedere Thiere ganz und gar noch den Ver¬
änderungen des telluriſchen Lebens anheim gegeben ſind,
warum ihre innere Bildung, gleichſam unbewußt voraus¬
ſchauend, ſich immer angemeſſen den Stimmungen des Leben¬
kreiſes entwickelt in welchen ſie inbegriffen ſind, ſo daß an
ihnen z. B. manche Vorbedeutungen der atmoſphäriſchen
Veränderungen u. dgl. erkennbar werden von denen unſer
Bewußtſein ſchlechterdings an und für ſich eine nähere
Kenntniß nicht hat. Andern Theils ergeben ſich daraus
aber auch die merkwürdigſten Reſultate für die richtige Be¬
urtheilung der pſychiſchen Vorgänge unſeres eigenen Orga¬
Carus, Pſyche. 6[82] nismus. Es ergibt ſich nämlich daß, da auch unſre
Pſyche urſprünglich durchaus, und ſpäterhin immer noch
großentheils, auf der Stufe des Unbewußtſeins verharrt,
auch in ihr, in ſo weit ſie unbewußt iſt, nicht bloß die
eigenen Lebenszuſtände erfühlt und durch Innerung und
Ahnung, rück- und vorwärtsſchauend beſtimmt werden,
ſondern daß ſie, als Theil-Idee, zunächſt der Menſchheit,
und, entfernter, des Welt-Ganzen, bald näher, bald ferner
von allen Regungen der Seele der Menſchheit und der
Seelen der Welt unbewußterweiſe durchdrungen ſein muß.
Nöthig iſt es jedoch ſich auch hier gleich anfangs vollkom¬
men deutlich zu machen, daß dieſes Durchdrungenſein zum
Theil zwar nur in äußerſt entfernten Beziehungen vor¬
kommen kann, daß es aber doch allerdings in irgend einem
Grade wirklich und wahrhaft vorhanden ſein muß. Durch¬
zieht doch ſchon das, was mechaniſch zwiſchen den Maſſen
als Attraction ſich nachweiſen läßt, in ganz ähnlicher Weiſe,
bald merklich bald unmerklich, die Welt. Will man ſich
dies deutlich machen, ſo bedenke man, wie es z. B. keinen
Zweifel leide, daß, gleich wie das gegeneinander Graviti¬
ren, d. h. ſich wechſelſeitig Anziehen der Himmelskörper,
eine gewiſſe Thatſache iſt, eben ſo jede kleine frei ſchwebende
Maſſe die andere größre nach Verhältniß ihrer Maſſe an¬
zieht wie ſie von ihr angezogen wird. Der fallende Stein
alſo, d. h. der kleine in der Atmoſphäre ſchwebende Körper,
welcher von der ſo viel größern Erde ſo mächtig angezogen
wird, muß doch nicht minder ſeinerſeits auch die Erde an¬
ziehen, obwohl wir von dieſer Anziehung, ihrer unendlichen
Geringfügigkeit wegen, eben ſo wenig etwas wahrnehmen
können, als etwa von der Fortpflanzung der Erſchütterung
irgend einer künſtlichen Exploſion auf das Ganze der tel¬
luriſchen Maſſe, eine Fortpflanzung, worüber doch bereits
der engliſche Mathematiker Babagge ſo intereſſante, auf
das Unendliche einer jeden ſolchen Wirkung hinweiſende
Berechnungen angeſtellt hat. Auf ähnliche Weiſe iſt ſonach
[83] auch zu denken, daß das ganze Reich des unbewußten
Lebens in uns, von dem geſammten Lebenkreiſe der Menſchheit,
des Erdlebens, ja des Weltlebens, irgend wie afficirt wird
und afficirt werden muß, und zwar eben darum, weil es ja
entſchieden als ein integrirender Theil jener Geſammtheit
erſcheint, allein die Art wie dieſes Unbewußte afficirt wird,
muß freilich hiebei ganz unendlich verſchieden ſein. Wäh¬
rend z. B. von den Bewegungen der Weltkörper außerhalb
der Erde, mit Ausnahme der Sonne und des Mondes,
ſo wenig in die Erfühlung unſers Innern fällt, daß wir
es mit jenem Angezogenwerden der Erde gegen den fallen¬
den Stein vergleichen dürfen, und während die entfernten
Maſſen der Menſchheit unſerer Erfühlung ganz eben ſo
fremd bleiben, ſo wirken dagegen die Veränderungen der
elektriſchen und magnetiſchen Stimmungen unſres Planeten,
ſo wie die der Atmoſphäre, ganz eben ſo tief in unſer
unbewußtes Leben ein als die Umänderungen im Leben uns
ſo viel näher ſtehender Menſchen. Ja in dieſem Kreiſe ſind
demnach die Wechſelbeziehungen oft ſogar die allerweſent¬
lichſten, und doch ſind ſie ſämmtlich urſprünglich nur un¬
bewußt, obwohl unter gewiſſen Umſtänden ſehr wohl man¬
ches aus dieſem nächtlichen Reiche auch wirklich der bewu߬
ten Region ſich mittheilen kann, ſo daß man ſchon von hier
aus ahnen darf, was wir ſpäterhin näher auseinander zu
ſetzen haben werden, wie nämlich jenes ſonderbare Fern¬
ſchauen, im Traum oder Wachen, von Beziehungen auf Erd¬
oder Himmelsvorgänge, oder auf Schickſale der Menſchen,
jene ſonderbaren Erſcheinungen des magnetiſchen Rapports
zwiſchen Entfernten, und ſo Vieles was der gewöhnlichen
Pſychologie ein unerklärliches Räthſel geblieben iſt, nur
mittels dieſer Betrachtungen ſeinen vollkommnen Aufſchluß
erlangen kann. Bietet doch in dieſer Beziehung ſchon die
Betrachtung des embryoniſchen Lebens im Verhältniß zum
Leben der Mutter, ſehr merkwürdige Momente dar. In
dem noch verhüllten embryoniſchen Menſchen nämlich iſt das
[84] Bewußtſein überhaupt noch gar nicht erwacht, es waltet
noch das abſolut und allgemein Unbewußte durchaus, und
eben deßhalb iſt ſeine Beziehung auf den ihn umſchließen¬
den Lebenkreis der Mutter die innigſte. Unbewußt durch¬
dringen ein ſolches werdendes Individuum die Regungen
des mütterlichen Lebens und nur von hier aus wird uns
der merkwürdige, unter gewiſſen Bedingungen unleugbar ein¬
tretende Fall des ſogenannten Verſehens allein wahrhaft
verſtändlich, ein Vorgang der mehr als alles Andere es
deutlich macht, wie zart die Verbindung ſein kann, welche
zwei Leben untereinander verknüpft. Können wir doch ſchon
in unſerm bewußten Daſein gewahr werden, daß nicht
ſelten irgend eine auf einen beſondern Körpertheil ſich be¬
ziehende lebhafte Vorſtellung der bewußten Seele, in die¬
ſem Theile augenblicklich und unwillkürlich eine gewiſſe Em¬
pfindung oder ſelbſt eine beſtimmte Functionsänderung ſetzen
kann (Beiſpiele ſind die eigne Empfindung, die wir im Auge
haben können, wenn wir lebhaft uns denken, wie etwa ein
Meſſer ins Auge ſtechen würde, oder eben ſo die Empfindung
des Wäſſerns im Munde beim lebhaften Vorſtellen einer
durchſchnittnen Citrone u. dergl. m.), ſo zeigt ſich alſo,
noch viel weiter gehend, bei dem Verſehen der Schwangern
ſogar, daß eine lebhafte Vorſtellung der Mutter von irgend
einer Verletzung oder Verunſtaltung überhaupt, nicht ſo¬
wohl das durch Entwicklung des Bewußtſeins freier ge¬
wordene Leben der Mutter, hingegen ſehr entſchieden das
mit dem Leben der Mutter innig verknüpfte noch unbe¬
wußte Leben des Kindes afficiren kann, daß es dieſes
Leben wirklich afficirt und dort eine Verunſtaltung, der
geſehenen ähnlich, hervorbringt. Der Grund hievon liegt
alsdann offenbar nicht allein darin, daß das Bildungs¬
leben des Kindes überhaupt in weit größerer Zartheit und
Beweglichkeit noch beſteht, ſondern vielmehr und hauptſächlich
darin, daß das Unbewußtſein im Embryo noch ein abſo¬
lutes und vollſtändiges iſt, und daß darum jenes, was
[85] wir das Einverleibtſein mit dem Allgemeinen
oder Höhern
nannten, hier nothwendig am innigſten ſich
bewähren muß. Eben darum iſt ja das engliſche Sprich¬
wort gar nicht unwahr, welches ausſagt: „Die Erziehung
des Kindes beginne neun Monate vor der Geburt;“ denn
allerdings liegt es eben in jenem größern Unbewußtſein
und darum innigern Eingefügtſein in ein höheres Ganzes,
daß der Embryo nothwendig an allem mehr Theil nehmen
muß was die Mutter, in derem Schoße es ruht, bewegt,
als der geborne Menſch Theil nehmen kann an dem was
ſpäterhin um denſelben her ſich begibt. Wie wichtige An¬
wendungen übrigens von dieſem Geſetze ſich auch noch
außerdem für das pſychiſche Leben der Thierwelt ergeben
müſſen, iſt nun von ſelbſt klar.


Es folgt indeß auch noch für das bewußte menſchliche
Seelenleben aus dem Vorhergehenden weiter ein ſehr merk¬
würdiges, und bisher in dieſem Sinne noch gar nicht er¬
kannt geweſenes Reſultat. Da nämlich, wie oben erwähnt,
alles was dem bewußten Seelenleben angehört, nicht immer
im Bewußtſein verharrt, ſondern periodiſch ſtets wieder in
das Unbewußte eingeht, ſo muß nun auch für dieſes was
jetzt periodiſch unbewußt geworden iſt, jenes Geſetz für das
überhaupt Unbewußte ſeine Geltung erlangen, und beitra¬
gen, dieſes einmal im Bewußtſein Geweſene und ſpäter
wieder dahin Kommende, ſo lange es unbewußt iſt,
allemal mehr mit dem Allgemeinen in Rapport zu ſetzen
als es vorher war, und es dadurch immer in etwas
auch in ſich zu verändern
. Dieſe Bemerkung iſt ſo¬
gleich von ausnehmender Wichtigkeit für viele Vorgänge
des Seelenlebens. Jeder wird an ſich die Erfahrung machen,
daß irgend ein Eindruck, irgend eine Vorſtellung, wenn
ſie lange unbewußt in der Seele geruht hat und nun wie¬
der ins Bewußtſein gerufen wird, oder, nach der innern
geſetzmäßigen Bewegung des Seelenlebens (wovon auch
noch ſpäterhin die Rede ſein muß) von ſelbſt wieder er¬
[86] wacht, bei dieſem Wiederauftauchen nun immer in irgend
einer Beziehung anders geworden ſein wird und daß ſie
von da an nicht mehr vollſtändig der frühern Art gleiche.
In einzelnen Fällen iſt die Vorſtellung vielleicht in ſich
potenzirt worden, hat an Schönheit, Größe und Mannich¬
faltigkeit der Beziehungen gewonnen, in andern wird ſie
gleichſam zurückgegangen ſein und an Schönheit, Fülle und
Mächtigkeit verloren haben. Hier iſt nun, wo immer theils
die Beziehungen auf die Weſenheit des Individuums ſelbſt,
theils aber auch der innigere Rapport den alles unbewußte
Seelenleben mit der geſammten äußern Natur hat, auf die
Umbildung und Ausbildung der Vorſtellung hat einwirken
müſſen. Je edler und höher daher die Grundidee dieſes
Daſeins, je feiner und vielſeitiger der Rapport mit dem
Makrokosmus, deſto beſtimmter wird die Vorſtellung, der
Gedanke — durch jenes Verſenken ins Unbewußtſein an
Ausbildung zunehmen, je geringer die Idee und je ſchwä¬
cher der allgemeine Rapport, deſto eher kann auch die ein¬
zelne Vorſtellung hiedurch ein Rückſchreiten erfahren. Es
iſt darum nicht ohne tiefern Grund, wenn ſchon von vielen
Künſtlern — Dichtern — Denkern die Aeußerung gehört
wurde: „nur ein langes in der Seele Behalten eines
Grundgedankens zu irgend einem bedeutenden Werke habe
ihnen immer das Reifwerden deſſelben begünſtigt — und
jeder Verſuch einen ſolchen Gedanken zu ſchnell in einem
Kunſt- oder Wiſſenſchaftswerke zur wirklichen Darſtellung
zu bringen, habe immer der innern Vollendung eines ſol¬
chen Werkes geſchadet;“ denn wenn auch bei dergleichen
natürlich das öftere erneute bewußte Durchdenken das Werk
wirklich und weſentlich fördert, ſo iſt doch hiebei gewiß alle¬
mal noch mehr auf jenes unbewußte Wachſen der
Vorſtellung im Innern
zu gehen. Gilt es doch übri¬
gens auch nicht bloß von einzelnen Vorſtellungen, Gedan¬
ken und Gedankenfolgen, daß eine Rückkehr ins Unbewußte
ſie ſteigert und kräftigt, es gilt eben ſo vom Individuum
[87] überhaupt, von der geſammten Grundidee des Organismus.
Die alte Mythe vom Antäus, dem Sohn der Erde, wel¬
cher durch jede Berührung mit der Mutter neue Kräfte
gewann, wiederholt ſich, hinſichtlich des Unbewußten in
jedem Menſchen; namentlich beruht das für die bewußte
Seele unleugbar Erquickende des Schlafes, d. h.
eben der periodiſchen Rückkehr ins Unbewußſein, haupt¬
ſächlich auf dieſem Grunde. Wie oft wird man finden,
daß ein Gedanke, welcher uns nicht ganz deutlich werden
wollte, oder eine Beziehung die nicht aufgefunden werden
konnte, nach oft nur kurzem Verſinken in ruhigen Schlaf,
mit einem Male klar vor das Bewußtſein tritt, ja daß
ſelbſt einzelne Erinnerungen, welche vielleicht durch Länge
der Zeit verblichen waren, plötzlich nach einem ſolchen
kurzen Entſchwinden des Bewußtſeins wieder klar und
deutlich vor die Seele treten können: Alles Verhältniſſe,
welche nur verſtändlich werden dadurch, daß wir wiſſen,
es ſei im Unbewußten eine größere ſo zu ſagen Verall¬
gemeinerung des Lebens
herrſchend, und es müſſe
demnach, was in dieſes Unbewußtſein eintauche, auch
nothwendig irgendwie an dieſer Verallgemeinerung Theil
nehmen.


Nicht bloß indeß in Bezug der Zunahme des allge¬
meinen Rapports verändert ſich das bewußte Seelenleben
durch ſein Verſinken ins Unbewußtſein, ſondern die hiedurch
gewonnene Steigerung ſeiner Energie und Productivität hat
auch noch eine andere und ſehr weſentliche Beziehung.
Eben weil nämlich das Unbewußte das Urſprüngliche,
und weil ſein ſich Darleben am innigſten mit dem Allleben
verſchmolzen iſt, insbeſondere aber weil, wie wir oben ge¬
zeigt haben, im Unbewußten der Begriff der Ermü¬
dung gar nicht exiſtirt
, muß auch die Abſpannung,
die Ermüdung, welche alles bewußte Leben ergreift, wenn
ſeine Wirkſamkeit längere Zeit angedauert hat, nothwendig
alsbald vermindert werden ſo bald die Seele dieſes Bewußt¬
[88] ſein für einige Zeit gewiſſermaßen aufgibt und nun wieder
ganz in den Kreis des Unbewußtſeins zurückkehrt. Alle
Thätigkeit iſt nämlich hiedurch ſofort wieder gleichſam zur
urſprünglichen geworden, ſie iſt wieder eingetreten in die¬
jenige Form pſychiſchen Lebens, wo von keinem Erlernen,
Einüben, und Verlernen die Rede ſein kann, ſondern wo
Alles geſchieht aus eigner innerer d. i. göttlicher Macht¬
vollkommenheit; und hiemit iſt denn auch nothwendig ver¬
bunden, daß die Abſpannung, die Ermüdung, welche nur
da möglich wurde, wo das Einzelleben verſucht hatte, als
ein beſondres aus dem Zuge des Allgemeinen zeitweiſe ſich
hervorzuheben, hier nun unmittelbar, durch das Aufgeben
dieſer Einzelheit, wirklich wieder großentheils oder ganz
aufgehoben und beſeitigt werden muß. Die Thatſache, daß
nichts mehr von einer angeſtrengten bewußten Thätigkeit
der Seele wiederherſtellt, nichts mehr die eingetretene Ab¬
ſpannung des bewußten Seelenlebens vermindert als ein
oft nur kurzer Schlaf, die Thatſache der Kräftigung, die
unſer bewußtes Seelenleben alltäglich durch den regelmäßig
wiederkehrenden nächtlichen Schlaf erfährt, ja die That¬
ſache daß nach den heftigſten Aufregungen des bewußten
Lebens, nicht ſelten eine eintretende Ohnmacht — d. i. eben
ein zeitweiſes gänzliches Aufgeben des Bewußtſeins —
am allerbeſten das erſchöpfte Leben beruhigt und zu neuen
Kraft-Anſtrengungen wieder fähig macht, war lange be¬
kannt und die Aerzte hatten daraus gar manche wichtige
Folgerungen für ihre Kunſt gezogen, allein die Erklärung
eines ſolchen Vorganges fehlte und findet nun hier erſt ihre
vollkommne Nachweiſung.

e. Von Dem, was im unbewußten Seelenleben an krankhaften Zuſtänden
vorkommen kann.

Nachdem ſich bei den frühern Unterſuchungen ergeben
hatte, daß das primitive Unbewußte, in wie fern es die
[89] erſte Offenbarung der Idee, d. h. eines Göttlichen und aus
eigner Machtvollkommenheit Exiſtirenden zu nennen, keiner
Ermüdung fähig ſei, wie es keiner allmähligen Einübung
ſeiner Lebensthätigkeiten bedürfe, ſo fragt es ſich nothwen¬
dig nun, ob der Begriff des Krankſeins irgend
wie Anwendung auf dieſes Leben erleiden könne
?
In Wahrheit finden wir ſogleich, daß in dem primitiven
und abſolut Unbewußten von Krankheit durchaus nicht die
Rede ſein könne. Krankheit nämlich, in wie fern ihr Be¬
griff darauf ruht daß innerhalb eines Organismus neben
der das eigenſte Weſen dieſes Organismus bedingenden
Lebens-Idee, noch ein andres Princip, eine andre und
zwar fremde Idee, ſich geltend mache und daß dadurch
das dieſem Organismus insbeſondre eigne Leben beein¬
trächtigt und geſtört wurde, — ſetzt allemal eine gewiſſe
Freiheit
voraus den urſprünglich vorgezeichneten Le¬
bensgang zu verlaſſen, und von dem nicht mehr mit eiſerner
Nothwendigkeit vorgezeichneten Lebenswege auf irgend eine
Weiſe abzuweichen. Eben dieſes iſt der Grund davon
daß, je weiter wir in der Stufenleiter der Weſen zurück¬
gehen, je mehr wir uns von dem Begriffe der Freiheit
entfernen, wir um ſo mehr das Vorkommen von Krankheit
abnehmen ſehen. Unter allen uns bekannten Geſchöpfen
hat der Menſch das traurige Vorrecht, die größte Man¬
nichfaltigkeit von Erkrankungen aufzeigen zu können, in
der Reihe der Thiere ſchon nimmt die Häufigkeit des Er¬
krankens und die Mannichfaltigkeit der kranken Zuſtände
ab, in den Pflanzen iſt von den wichtigſten Krankheits¬
formen der höhern Geſchöpfe von Fieber und Entzündungen
gar nicht mehr die Frage, und in telluriſchen wie in den
kosmiſchen Organismen hört dann der Begriff von Krank¬
heit überhaupt völlig auf. In ganz gleichem Maße alſo,
wie die Idee des Lebens zum Bewußtſein, und eben dadurch
auch zur Freiheit ſich erhebt, wächst auch die Anlage und
die Wirklichkeit des Erkrankens; denn zerſtört werden,
[90] Sterben iſt zwar, weil ſie zeitlich und nicht ewig ſind, das
Schickſal aller Organismen, allein dergleichen geſchieht
alsdann eben ſo wenig durch Krankheit, als ein Menſch
durch Krankheit ſtirbt, wenn ihn der Sturz eines Felſens
zerſchmettert oder er ſonſt gewaltſamer Weiſe umkommt.
Deutet dies Alles ſonach darauf, daß das unbewußte
Seelenleben ſeinem Weſen nach nicht der Krankheit unter¬
worfen ſein ſollte, ſo ſcheint damit doch hinwiederum im
entſchiedenſten Widerſpruche zu ſtehen, daß im menſchlichen
Organismus gerade diejenigen Syſteme und Organe, welche
am wenigſten am Bewußtſein Theil haben und ganz durch
die unbewußte Pſyche regiert werden, weit häufiger und
mannichfaltiger erkranken als diejenigen, welche insbeſondre
zum Bewußtſein erwacht ſind. Bei weitem die größte
Häufigkeit des Erkrankens macht ſich nämlich bemerklich im
Blutleben, im Leben des Verdauungapparats, des Drüſen¬
ſyſtems, der Abſonderungsorgane u. ſ. w., und gerade die
am meiſten und eigentlich allein wahrhaft zum Bewußtſein
erwachten Lebensſphären — das Syſtem der Nerven mit
dem des Rückenmarks und Hirns, ſind weit ſeltner der
weſentliche Sitz von Krankheiten. Dieſer Widerſpruch iſt
indeß nur ein ſcheinbarer. Wir müſſen nämlich bedenken,
daß alle Krankheit eigentlich eine allgemeine iſt, daß, wenn
einmal es dazu kommt daß im vorher normalen Organismus
ein beſondrer Krankheitsorganismus ſich entwickelt, nichts
in erſterm vollkommen normal bleiben kann. Der Orga¬
nismus iſt eine Totalität, er iſt nur als ſolche über¬
haupt möglich
, und ſo bald deßhalb dieſe Totalität
nicht mehr von einem Princip bewegt wird, ſo bald in ihr
ein zweites fremdes Princip ſich geltend macht, ſo kann die
primitive Lebensidee auch nirgends mehr ſich ganz in ihrer
eigentlichen Weſenheit offenbaren, nirgends kann mehr ein
vollkommen ungetrübter normaler Zuſtand Statt finden.
Wo daher in uns nur immer eine ſcheinbar noch ſo lokale
Krankheit ſich entwickelt, nie iſt allein dieſes oder jenes
[91] Gebilde krank, ſondern der ganze Menſch iſt krank und nur
an dieſem oder jenem Theile beſonders leidend. Oft ſind
die Störungen im Allgemeinbefinden wirklich nur ſehr
gering, aber irgend einige Störungen — Kränkungen bis
zu einem gewiſſen Grade — müſſen nichts deſto weniger
überall vorhanden ſein, ſonſt könnte ja eben der Organismus
nicht wirklich und als ein Ganzes in ſich exiſtiren.


Hier iſt es nun aber, wo wir angemeſſen der Folge
in der Dignität der verſchiedenen Lebenkreiſe, welche in der
Geſammtheit des Organismus ſich finden, eine gewiſſe
Stufenfolge in der Dispoſition zum Erkranken gewahr
werden. Wir ſehen daß die höhern Lebenkreiſe, in welchen
ſich die Idee am reinſten und innigſten darlebt, der frem¬
den Idee des Krankheitsorganismus am meiſten widerſtre¬
ben, am entſchiedenſten ihre Integrität behaupten, während
die niedern Lebenkreiſe, die, durch welche mehr die Mög¬
lichkeit einer Wechſelwirkung mit der Außenwelt und der
ſtetigen Erneuerung der Elemente des Organismus gegeben
iſt, auch am meiſten dieſen Eindrücken der Außenwelt offen
ſtehen und am leichteſten einer fremden Idee ſich unter¬
ordnen. Es ſetzt daher ſchon einen hohen Grad von Krank¬
heit voraus, wenn das Nervenſyſtem, oder ſelbſt das Ge¬
hirn, alſo die eigenſte Region des bewußten Lebens auf
irgend bedeutendere Weiſe alterirt ſein ſoll; dahingegen bei
jedem, auch leichtern Erkranken die Thätigkeit des Blut¬
ſyſtems, der Ernährung, der Abſonderung u. ſ. w. ergriffen
zu ſein pflegt. Nicht alſo deßhalb weil dieſe Regionen
dem unbewußten Seelenleben dienen, ſondern weil im
einmal erkrankten Organismus, das Niedre und mehr der
Außenwelt hingegebene, welches eben die Region des unbe¬
wußten Seelenlebens iſt, auch mehr dem fremden Princip,
d. h. hier der Idee der Krankheit verfallen muß,
finden wir dieſe unbewußt lebende Regionen mehr der
Krankheit unterworfen als die bewußten. Eben ſo iſt nicht
das Höhere — das Bewußte in uns deßhalb weniger
[92] unmittelbar von Krankheit ergriffen, weil es das Bewußte
iſt, ſondern weil in ihm die Selbſtſtändigkeit, die Freiheit
des Organismus am entſchiedenſten ſich documentirt. Da¬
gegen zeigt ſich die innere göttliche Natur des Unbewußten,
ſein urſprünglich dem Begriffe der Krankheit Fremde-ſein,
ſeine urſprünglich unverſiegbare Geſundheit, und zugleich
ſeine eigenthümliche, wir möchten ſagen, unbewußte Weis¬
heit, namentlich darin, daß alle Bewegungen des
Organismus
, welche dem Princip der Krank¬
heit ſich entgegenſetzen
, und welche das kranke
Leben wieder zum geſunden Zuſtande zurückzu¬
führen ſtreben
, nur dem unbewußten Seelen¬
leben angehören
.


Hier kommen wir ſonach abermals auf eine ſehr merk¬
würdige Seite des Unbewußtſeins, und welche ebenfalls
von dieſem Standpunkt aus ein ganz neues Licht, und
zuerſt ihre wahrhafte Erklärung gewinnt, indem es ſich
zugleich hiedurch wieder auf's Deutlichſte herausſtellt, daß
Krankheit eigentlich über das Reich des wahrhaft unbewu߬
ten Seelenlebens keine Gewalt habe, und daß der Satz
vollkommen richtig ſei, daß der Begriff der Krankheit an
und für ſich, im durchaus unbewußten Walten eines Gött¬
lichen eben ſo wenig exiſtire, als im moraliſchen Sinne
der Begriff des Böſen; Beides, Krankheit ſowohl — das
phyſiſche Böſe — als das Böſe — das pſychiſche Kranke
— treten erſt auf mit dem Begriffe der Willkür,
der größern Selbſtſtändigkeit, der Freiheit. Wir ſagten
demnach, daß das unbewußte Pſychiſche in uns das ſei
was die Krankheit — obwohl es am meiſten durch dieſelbe
leidet — doch fortwährend am meiſten negire, ihr
am beſtimmteſten entgegenwirke und eben darum allmählig
ihre Vernichtung in tauſenden von Fällen herbeiführe.
Dahin gehört alſo nun keineswegs allein das was in die¬
ſer Beziehung vom Unbewußten zeitweiſe doch zu einem
dunkeln Bewußtſein kommt, und was wir mit dem Namen
[93]des Inſtinkts für Wahl der rechten Mittel zur
Selbſtheilung
zu bezeichnen pflegen, ſondern bei wei¬
tem mehr als dies jenes wunderbare innere und geheime
Regen des unbewußten Lebens, jene ſogenannte Na¬
turheilkraft, oder jener Arzt im Menſchen,
wodurch allmählig Krankheiten untergraben, wodurch
das, was die Aerzte „Kriſen“ nennen, herbeigeführt,
und wodurch oft mittels ganz eigenthümlicher Wendungen
organiſcher Thätigkeit, mit auffallender Schnelle die Ge¬
ſundheit wieder hergeſtellt wird. Eben darum treten dieſe
merkwürdigen Prozeſſe um ſo beſtimmter hervor, je mehr
das Bewußtſein zurückgedrängt iſt, je weniger es durch
Sinneseindrücke angeregt wird, je vollkommner ruhig und
ſtill in ſich gekehrt der Organismus verharrt. Oft muß
ſogar das Bewußtſein ganz ſchwinden, wie im tiefen
Schlaf oder in der Ohnmacht; und nun erſt treten dieſe
Erſcheinungen hervor. Dieſe Vorgänge ſind in jeder Be¬
ziehung, aber insbeſondere für den Arzt, wichtig, und kön¬
nen erſt, wenn man begriffen hat, daß eben das Bewußt¬
ſein eigentlich die Krankheit bedingt, und das abſolut Un¬
bewußte auch nichts von Krankheit weiß, vollkommen ver¬
ſtanden werden. Wie alſo bezüglich des Bewußtſeins wir
finden werden, daß unter allen klar gedachten und empfun¬
denen Vorſtellungen ein Dunkles aber am meiſten Beſtimmtes
und Feſtes, nicht Irrendes — das was wir daher ſehr be¬
zeichnend „das Gewiſſen“ nennen, zum Grunde liegt,
welches in Hinſicht der Abweichungen, welche das Böſe
genannt werden, immer wieder auf die rechte und reine
Mitte hinweist, ſo liegt das unbewußte organiſche Sein,
welches an ſich von Krankheit nichts weiß, zum Grunde für
Alles was gegen das Erkranken gerichtet, und die Geſund¬
heit immer wieder herzuſtellen bemüht iſt, und was wir
bisher gewöhnlich mit dem Namen der Naturheilkraft be¬
zeichnet finden. Es muß übrigens ausdrücklich bemerkt wer¬
den, daß dieſes unbewußte Walten für Herſtellung des
[94] Organismus in ſeinen geſunden natürlichen Zuſtand keines¬
wegs allein bei eigentlichen Krankheiten hervortritt, ſondern
daß es eben ſo bei jeder äußern Beſchädigung ſich geltend
macht. Eine Beſchädigung, eine Verletzung, ein Knochen¬
bruch iſt nämlich an ſich keine Krankheit, d. h. es iſt zwar eine
Kränkung des eigentlich dem Organismus angemeſſenen Le¬
bens, aber nicht in Folge einer eigenthümlichen fremden im
Organismus ſich mit einlebenden Idee einer Krankheit, ſon¬
dern in Folge gewaltſamer Einwirkungen irgend einer Macht
der Außenwelt geradezu. Jedoch Beides, die Schädigung
wie die Krankheit verlangt nun, und regt an ein beſtimm¬
tes Thun des beſchädigten oder gekränkten Organismus.
Die Vorgänge, welche auch zur Wiederherſtellung von einer
Beſchädigung, im unbewußten Leben angewendet werden,
ſind daher nicht weniger merkwürdig, als die der Heilwir¬
kung der unbewußten Pſyche in wirklichen Krankheiten, ja
ſie ſind von einer Weisheit, die auf jedem Schritte den
Arzt, der ihr ſorgfältig nachgeht, zur Bewunderung auf¬
fordert. Schon das einfache ſich Schließen eines verletzten
Gefäßes und die Stillung der Blutung iſt in dieſer Be¬
ziehung ein höchſt wichtiger Vorgang. Wie allmählig die
Strömung des Blutes in den verletzten Gefäßkanälen eine
andre Richtung annimmt und dadurch den Andrang gegen
die verletzten Stellen aufhebt, wie die Kanalwandung ſelbſt
ſich allmählig zuſammenzieht, wie durch Coaguliren des
Blutes das eigne Gebilde entſteht, welches man den Trom¬
bus nennt, und wie nun eigne Vegetationsprozeſſe angeregt
werden durch deren Einfluß, ohne daß irgend etwas davon
zum Bewußtſein kommt, die Verſchließung der Wunde beendigt
wird, während zugleich ganz neue Gefäßkanäle ſich bilden,
und der vielleicht durch die Verletzung zuerſt ganz unter¬
brochene Blutkreislauf in dem beſchädigten Theile auf ſolche
Weiſe vollkommen ſich herſtellt, fordert zu den vielfältigſten
Betrachtungen auf. Mit ähnlicher Merkwürdigkeit geht vor
ſich die Heilung eines Knochenbruchs, die Wiederanheilung
[95] abgetrennter Theile, und, in niederen Thieren, die Wieder¬
erſetzung gänzlich verlorner Glieder. Alles ſind eigen¬
thümliche Regungen der unbewußten Pſyche, und wenn ich
ſchon oben ſagte, daß eigentlich die höchſte Aufgabe des
Wiſſens nur ſein könne mit Bewußtſein in die Tiefen des
unbewußten Seelenlebens der Welt einzudringen, ſo iſt es
insbeſondre die Aufgabe des ärztlichen Wiſſens, dieſen un¬
bewußt heilkünſtleriſchen Regungen nachzugehen und ſie zum
Behuf ihrer möglichſten abſichtlichen Förderung, oft auch um
ſie in geeigneten Fällen möglichſt nachzuahmen und insbe¬
ſondre zu veranlaſſen, zur klarſten Kenntniß zu bringen.


Und ſo ſei denn dies für jetzt genug um ganz im All¬
gemeinen von der Beziehung der Krankheit zum unbewußten
Seelenleben eine angemeſſene Vorſtellung zu geben; wie wich¬
tige Seiten eine Geſchichte der Krankheiten ſelbſt, wenn ſie
von dieſem Standpunkt aus bearbeitet würde, darbieten
müßte, kann hier nur andeutend bemerkt werden.

[[96]]

II. Vom bewußten Leben der Seele.

Wenn es das erſte unergründliche Wunder zu nen¬
nen iſt, daß überhaupt eine Welt wirklich geworden, daß
ſie entſtanden — erſchaffen ſei— ſo iſt es das zweite
eben ſo nur überhaupt anzuerkennende, in ſeinen Folgen
zu betrachtende und in ſeinem Entſtehen eben ſo wenig zu
ergründende — daß es ein Bewußtſein gibt — daß
gewiſſe Ideen nicht bloß als Gedanken eines Höhern,
Göttlichen, Ewigen exiſtiren, ſondern daß dieſe Gedanken
ſelbſt in ſich unter gewiſſen Bedingungen zur Selbſtanſchau¬
ung, zum Bewußtſein, zum Wiſſen von der Welt, von
ſich, und von Gott gelangen können, und daß dadurch die
zweite
Welt entſtehen, in uns erſchaffen werden könne —
eine Welt nach der natürlichen Weltdie Welt
des Geiſtes
. Der Akt durch welchen in der Idee, in
dem was uranfänglich unbewußt, oder was daſſelbe für
uns iſt, im allgemeinen göttlichen Bewußtſein ſeiend und
waltend exiſtirt, das Bewußtſein ſich erſchließt,
das Bewußtſein vermöge deſſen die Idee, von dem Mo¬
ment des Bewußtwerden an, nicht mehr bloß ein Göttliches
iſt, ſondern auch als ein Göttliches ſich empfindet, und
die Möglichkeit erhalten hat, allmählig immer klarer von
der Welt, von ſich und von Gott zu wiſſen, dieſer Akt
wird für uns immer ein durchaus nicht weiter erklärlicher,
[97] ein nur anzuerkennender, in ſeinen Bedingungen und Folgen
zu erörternder, aber durchaus nicht in ſeinem letzten Grunde
nachweisbarer bleiben. — Das Bewußtſein tritt auf wie
es in der Geneſis heißt: „und es ward Licht!“ Wie das
Licht ward, auf welche Weiſe aus der abſoluten Dunkelheit
Licht wurde? iſt eben ſo wenig zu ſagen, als wie aus dem
abſoluten Unbewußtſein ein Bewußtſein hervorgeht. Bei
alle dem könnte man, zur Förderung des Verſtändniſſes,
dieſe Verhältniſſe der geiſtigen, durch das Bewußtwerden
begründeten Welt, in mancher Beziehung mit Verhältniſſen
der natürlichen, oder, wie wir auch ſagen können, ſinn¬
lichen Welt gar wohl vergleichen. Wie in dieſer letztern
auch nach allen Seiten hin Unendlichkeit und Unbeſtimm¬
barkeit liegt, ſo daß wir uns überall in der Mitte finden,
zwiſchen einem unendlich Kleinen und einem unendlich Gro¬
ßen, ja wie auch hier weder ein Anfang- noch ein End¬
punkt anzugeben iſt, ſondern wir nur mit dem zu gebahren
vermögen was in unſerer Nähe ſich befindet, ſo auch verhält
es ſich in der geiſtigen Welt, d. i. in der Welt unſers
Bewußtſeins. Der Anfangspunkt derſelben liegt für uns
in einer ganz unergründlichen Ferne und wir haben keinen
Begriff davon, und der Endpunkt — welcher das vollſtän¬
dige Erkennen eines höchſten Grundes aller Exiſtenz —
ein vollendetes Gottbewußtſein wäre, iſt ebenfalls
durchaus unerreichbar und unbeſtimmbar. Die ganz un¬
begränzte Approximation gegen beide Seiten hin iſt dage¬
gen durchaus frei gegeben, aber das eigentliche Erreichen
bei keinem dieſer Zielpunkte gedenkbar. Nur was in der
Mitte liegt — die Erwägung der Spiegelungen der na¬
türlichen Welt in der geiſtigen, und die Erörterung aller
innern Vorgänge des Geiſtes ſelbſt — dies allein wird
für immer die Aufgabe ihrer nähern und eigentlichen Er¬
kenntniß bleiben. Eben deßhalb iſt es auch nicht möglich
zwiſchen dem Zuſtande des Unbewußtſeins und des Bewußt¬
ſeins eine unmittelbare Vergleichung anzuſtellen. Deſto
Carus, Pſyche. 7[98] weniger iſt es jedoch dem Bewußtſein nicht nur unbenom¬
men den Bedingungen nachzuforſchen unter welchen in einem
Unbewußten das Wunder des Bewußtſeins ſich erſchließt,
ſondern es iſt ſogar die Möglichkeit davon daß die bewußte
Seele über ſich ſelbſt recht klar werde, ſo ſehr an die Be¬
achtung und Erforſchung der, freilich nur an ihren Zeichen,
und niemals unmittelbar zu erkennenden bewußtloſen See¬
lenzuſtände gebunden, daß wir auch in dieſer Beziehung
unſere ſämmtlichen Betrachtungen mit dem Worte beginnen
mußten: „Der Schlüſſel zur Erkenntniß des bewußten See¬
lenlebens liege in der Region des Unbewußten.“


a. Vom erſten Hervorbilden des Bewußtſeins aus dem Unbewußtſein.

Man ſollte meinen, jeder Menſch, weil er in ſich es
erlebt und erfährt, aus einem früher durchaus Unbewußten
ein Bewußtes zu werden, müſſe von dieſem Vorgange an
und für ſich ſo viel ſchon von ſelbſt wiſſen, daß es kaum
irgend einer wiſſenſchaftlichen Betrachtung dieſer Entwick¬
lung bedürfe. Dem iſt aber nicht ſo: jenes ſeltſame Ge¬
ſetz, von mir ſchon an mehrern Orten unter dem Namen:
„Geſetz des Geheimniſſes“ genannt und beſprochen — be¬
ſtimmt es, daß gerade manche der wichtigſten Vorgänge
unſers Lebens in ein undurchdringliches Dunkel gehüllt
bleiben. Wir mögen, noch ſo aufmerkſamen Geiſtes zurück¬
denkend, uns der früheſten Empfindungen unſerer Kindheit
zu erinnern ſuchen — immer wird die Art wie das Be¬
wußtſein in ſeinen früheſten Aeußerungen ſich zu erkennen
gibt — ich ſpreche nicht einmal von dem allererſten
überhaupt, wie ſchon bemerkt, ganz unerklärlichen Erwachen
deſſelben — ſich unſerer Vorſtellung durchaus entziehen. Die
Seele des Kindes, wenn ſie in ihrer Entwicklung noch nahe
iſt jenem erſten Erwachen, iſt noch zu unreif um irgend
auf Betrachtungen und Beſtrebungen dieſer Art einzugehen.


[99]

Ganz als ſollte ſie durchaus von jenem wunderbaren in¬
neren Vorgange ſich abwenden, ziehen die Spiegelungen
der äußern Welt ſie ganz und gar an ſich, und ſie ver¬
liert ſich dergeſtalt in dieſes Aeußere, daß man für dieſe
erſte Art des Bewußtſeins das Wort: „Weltbewußt¬
ſein
“ gebildet, und behauptet hat, daß das eigentliche
Bewußtſein erſt nach dem Weltbewußtſein ſich entwickle.
Streng genommen iſt indeß in dieſem Sinne dies Wort
nicht ganz zu rechtfertigen. „Bewußtſein“ drückt allemal
ein „Wiſſen“ aus, und ein Wiſſen ſetzt ein Wiſſendes vor¬
aus, und ein Wiſſendes, welches nichts von ſich, dem
Wiſſenden wüßte, wäre ein Unding, wäre ein Leuchtendes
in dem kein Licht wäre.


Ehe wir daher weiter gehen, werden wir über dieſe
für die Lehre des Hervortretens des Bewußten aus dem
Unbewußten ſehr wichtigen Begriffsbeſtimmungen uns ganz
ins Klare zu bringen haben. Man beachte ſonach Folgen¬
des: — Daß etwas von der Außenwelt afficirt werde, daß
es auf dieſe Erregung reagire, das kann vollkommen ohne
Bewußtſein geſchehen und ſetzt letzteres keineswegs voraus.
Alles und Jedes in der Welt, ein Planet zum andern,
ein Stein zum andern u. ſ. w. ſteht auf dieſe Weiſe ſchon
an und für ſich in Wechſelwirkung, Alles wirkt aufeinan¬
der, wird unter gewiſſen Bedingungen durch Einwirkungen
zu Gegenwirkungen beſtimmt, zeigt ſich eben dadurch als
ein integrirender Theil eines unendlichen kosmiſchen Or¬
ganismus, und kann dabei doch an und für ſich ein durch¬
aus Unbewußtes ſein. Die Möglichkeit irgend einer Art
von Bewußtſein ruht daher zu allererſt darauf, daß zwi¬
ſchen dem Aufnehmen der Einwirkung und dem Hervor¬
treten der Gegenwirkung, ein Mittleres, ein die Idee
des Individuums unmittelbar Repräſentiren¬
des
, und nach beiden Seiten hin, theils Einwirkung auf¬
nehmendes, theils Gegenwirkung beſtimmendes, ſich offen¬
barte, welches wir dann Gefühl — Gemeingefühl, und
[100] im höhern Grade Selbſtgefühl nennen. Erſt durch dieſes
ſich ſelbſt fühlen wird dann auch überhaupt ein Wiſ¬
ſen
, und zwar ein bald dunkleres, bald helleres, bedingt,
und ein ſolches wiſſendes oder bewußtes Leben der Seele
wird ſich nun in der Reihe der Weſen freilich auf ſehr
verſchiedenen Stufen offenbaren. Es gibt hier eine Stufe
die dem Unbewußtſein noch ſehr nahe ſteht, wo die Klar¬
heit der Vorſtellungen gering iſt, wo ſie nebelhaft in ein¬
ander verſchwimmen, und wo alſo auch die Vorſtellung
von einem Subjekt und die von den Objekten nur wenig
ſich von einander unterſcheidet. Hier kann man ſagen,
wiſſe die Seele nur überhaupt von einer Welt, ſie wiſſe
von ſich mit, als einem Theile dieſer Welt, ohne
ſich noch von dieſer Welt ſcharf zu unterſcheiden und ab¬
zuſondern, und auf dieſer Stufe alſo erſcheine ihr Bewußt¬
ſein als Weltbewußtſein. Die Idee nun, die dieſes
Weltbewußtſein dadurch erreicht, daß ihr die bald näher zu
erörternde organiſche Bedingung zu erfüllen gelang, ohne
welche keine Vorſtellung, und alſo auch weder Vorſtellung
von der Welt noch von dem eignen Ich ihr bleibendes Ei¬
genthum wird — eine ſolche Idee erſt bezeichnen wir über¬
haupt als Seele; bildet ſie ſich hingegen bis zum klaren
Bewußtſein vom eignen Daſein aus, ſo erhält ſie, in ſo¬
weit
ſie Selbſtbewußtſein erlangt, den Namen des Gei¬
ſtes
. Beide, Seele und Geiſt, dürfen daher keineswegs,
wie es oft in der Pſychologie dargeſtellt wurde, zwei neben
einander beſtehende Weſen genannt werden, ſondern wie
Seele die höher entwickelte Idee, ſo iſt Geiſt nur die höher
entwickelte Seele als ſolche. Aus alle dieſem geht ſomit
klärlich hervor, daß in ſo fern wir das Wort „Wiſſen“
nicht mit der Strenge definiren, daß es allemal das Selbſt¬
bewußtſein involviren muß, in ſo fern wir vielmehr auch
ein Wiſſen von der Welt überhaupt, das Wiſſende mit
inbegriffen, anerkennen, wir jenes dunkle allgemeine Wiſſen
gar wohl mit dem Namen des Weltbewußtſeins
[101] bezeichnen dürfen, welcher denn auch bisher ſo häufig hiefür
gebraucht worden iſt.


Stellen wir alſo nicht Weltbewußtſein dem Bewußtſein
überhaupt gegenüber, ſondern betrachten wir es nur als
die erſte Stufe irgend einer Art von Bewußtſein, als die
Stufe, welche der Idee von nun an den Namen der Seele
gibt, und von welcher aus dann die höhern Entwicklungen,
nämlich die des Selbſtbewußtſeins und zuhöchſt des Gott¬
bewußtſeins möglich werden, ſo dürfen wir keinen Wider¬
ſpruch beim Namen des Weltbewußtſeins fürchten, und
können vielmehr mit hinreichender Begründung den Satz
aufſtellen:


„Die erſte Beurkundung des Bewußtſeins
der Seele, unmittelbar nach dem bloß un¬
bewußten Zuſtande, erſcheint als Weltbe¬
wußtſein.“


Auch von dieſem frühern Zuſtand unſers Seelenlebens,
nämlich von dem bloßen Weltbewußtſein, wie es im neugebor¬
nen Kinde vorhanden iſt, haben wir, als zum Selbſtbe¬
wußtſein
entwickelte, d. h. als denkende Weſen, durch¬
aus keine unmittelbare Erfahrung mehr, und keine beſtimmte
Erkenntniß. Nur aus Analogie, aus möglichſt ſcharfer
Erfaſſung einzelner in uns hie und da vorkommender,
gegen das Unbewußtſein zurückſinkender Zuſtände, aus Be¬
obachtung des Kindes, und aus Verfolgung der in äußern
Zeichen ſich kund gebenden Seelenzuſtände der Thierwelt,
können wir einigermaßen innerhalb unſers eignen ſelbſtbe¬
wußten denkenden Lebens ein Bild erhalten von jenem zwar
bewußten, aber doch nur im Allgemeinen bewußten Zuſtande,
von jener Lebensform, in welcher doch einſt, und zwar
ganz zuerſt, unſer eignes Bewußtſein ſich documentirte.


Indem wir nun dieſes Alles zuſammenfaſſen und zu
einer concreten Darſtellung des ſich Bewußtwerdens zu ver¬
einigen beſtrebt ſind, werden wir doch zuvörderſt genöthigt
ſein näher einzugehen auf die Erwägung derjenigen irgend
[102] auszumittelnden Bedingungen, an welche in den
uns zugänglichen Bereichen des Lebens das
Auftreten irgend eines Bewußtſeins
, alſo zu¬
nächſt des Weltbewußtſeins unerläßlich geknüpft
iſt
. Vergleichen wir aber die verſchiedenen Lebendigen,
achten wir auf die Entwicklungsgeſchichte unſers eignen
Gliedbaues, und wir müſſen vor allen Dingen erkennen,
daß zuerſt nur unter der Bedingung einer gewiſſen
durch das Walten der noch unbewußten Idee entwickelten
Bildung, nur bei einer gewiſſen Anordnung des innern
Gliedbaues eines organiſchen Weſens, die Idee in ſich zum
Bewußtſein gelangen könne. Es muß namentlich ein Ge¬
bilde erſcheinen, an welchem die feinſten Polariſationen
des innern Grundgedankens des Ganzen immerfort ſich be¬
thätigen können, ein Gebilde, welches als ein rein ſee¬
liſches
, gleich der erſten organiſchen Urſubſtanz, durch¬
aus impreſſionabel bleibt von der Idee aus, ohne
jedoch durch dieſe Impreſſionen zu heterogenen Bildungen
umgeſtaltet zu werden; und ein ſolches Gebilde iſt, wie die
frühern Betrachtungen der verſchiedenen Syſteme zeigten,
nur das Nervenſyſtem. Hiebei muß nun allerdings,
wenn in dieſem Syſtem die erſte Bedingung des Bewußt¬
ſeins gegeben iſt, doch ſchon die primitive Idee gedacht
werden als von derjenigen Energie ſeiend, welche in ihrem
an der Subſtanz ſich Darleben, die Entwicklung eines ſol¬
chen Syſtems, eines Nervenſyſtems gefordert hat, und ſo¬
mit liegt immer der allererſte Grund zur Möglichkeit
eines Bewußtſeins doch wieder weſentlich in der Idee
ſelbſt; allein nichts deſto weniger iſt es gewiß, daß,
ſo weit uns Organismen bekannt ſind, bevor
nicht eben dieſe Ausbildung des Nervenſyſtems eine ge¬
wiſſe Reife erlangt hat, unmöglich irgend ein Bewußt¬
ſein, irgend ein Wiſſen vom eignen Zuſtande ſich aus¬
bilden könne. Der Grund davon liegt in Folgendem:
Nur wo ein Nervenſyſtem als eine beſondere primitive
[103] Darbildung der Idee wirklich geworden iſt, nur wo alle
die Regungen, welche die mehr heterogenen nicht nervigen
Gebilde des Organismus durch ihr eignes unbewußtes Le¬
ben oder durch die Einwirkungen der Außenwelt erfahren,
in ihm wiederklingen und ſo zu ſagen ſich concentriren,
wird die eine jener Bedingungen gegeben, welche voraus¬
geſetzt werden, wenn ſich das Wunder des Bewußtſeins
erfüllen ſoll. Ja es läßt ſich mit der größten Genauigkeit
Schritt für Schritt verfolgen, daß, je vollkommner durch
eignes prometheïſches unbewußtes Walten der Idee, im
Nervenſyſtem ſelbſt der Begriff der Concentration
dargeſtellt wurde, auch um ſo vollkommner die erſte Bedin¬
gung zur Entfaltung eines höhern Bewußtſeins gegeben ſei.
Damit jedoch im Nervenſyſtem wirklich der Begriff der
Concentration im vollen Sinne des Worts zur Darſtellung
kommen kann, wird auch innerhalb deſſelben noch eine be¬
ſondre Gegenſetzung gefordert, nämlich die Entwicklung der
Verſchiedenheit einer ganz im primitiven halbflüſſigen
zelligen Zuſtande bleibenden, und einer zwiſchen all dieſen
unendlichen Zellen oder Monaden die leitende Verbindung
herſtellenden linearen oder Faſerſubſtanz. Erſt durch dieſe
Bildung kann es möglich werden, daß, ſo wie das Nerven¬
ſyſtem das Centrum des höhern Organismus iſt, nun wieder
im Nervenſyſteme ſelbſt ein Centrum der Nervenmaſſe ge¬
ſetzt werde. Das Nervengebilde, welches dann die voll¬
kommenſte Concentration der primitiven halbflüſſigen Zellen¬
gebilde im Gegenſatze zu den durch den ganzen Organismus
ſich verbreitenden Faſergebilden darſtellt, bekommt bekanntlich
den Namen Gehirn, und dieſes wiederholt dann in ſich
ſelbſt noch auf die mannichfaltigſte Weiſe und in den ver¬
ſchiedenſten Anordnungen, den Gegenſatz von Faſerung und
primitiver Zellenſubſtanz. Auch in ſo fern alſo, als das
unbewußte Leben die Gebilde entfaltet, welche ein Bewußt¬
ſein überhaupt möglich machen, darf man ſagen das Un¬
bewußte
, d. h. das Unbewußte als ein Poſitives, die
[104] unbewußte Idee, ſei ſelbſt die erſte Bedingung des
Bewußten
.


Die zweite unerläßliche Bedingung zur Entwick¬
lung eines Bewußtſeins in der Seele iſt das Vorhan¬
denſein und Einwirken einer Außenwelt
auf den
Organismus. Ein vollkommen, ja ein bis auf einen ge¬
wiſſen Grad iſolirtes Lebendiges wird nie zum Bewußt¬
ſein gelangen. Erſt dadurch, daß ein Aeußeres den Or¬
ganismus afficirt, dadurch daß in ihm irgendwie eine
Umſtimmung, eine Anregung Statt findet, von welcher
auch das innerſte am meiſten ſeeliſche Gebilde, das Ner¬
venſyſtem, afficirt wird, Impreſſionen erhält, und darin
unmittelbar erkennt, daß dieſe Impreſſionen nicht aus dem
ſelbſteigenen innerſten Leben hervorgingen, entſteht zu¬
nächſt die unmittelbare und erſte Empfindung davon, daß
ein Aeußeres vorhanden ſei, daß ein gewiſſer Gegenſatz
beſtehe zwiſchen Aeußerm und Innerm, und daher alſo kann
man ſagen, es finde ſich das Bewußtſein gewiſſermaßen
zunächſt an dem Aeußern, und entfalte ſich eben darum
anfänglich als ein noch im Einzelnen unbeſtimmtes Wiſſen
von der Welt, das Individuum inbegriffen,
ehe es von ſich ſelbſt zu wiſſen lernt. Wenn daher
wir das Kind beobachten wenn ſein Selbſtbewußtſein ſich
entwickelt, ſo finden wir, daß es erſt ſpät zum Begriff des
Ich gelangt und daß die Perſonificirung der äußern Er¬
ſcheinungen ihm ſchon ziemlich geläufig iſt, ehe es zum
Auffaſſen der eignen Perſönlichkeit ſich erhebt. Kinder
ſprechen darum anfänglich noch von ſich meiſtens in der
dritten Perſon.


Eine dritte weſentliche Bedingung, unter welcher
allein Bewußtſein ſich entwickeln kann, iſt gewiſſermaßen
die Umkehrung der erſten. Nämlich wie auf dem prome¬
theîſchen unbewußten Vorausgebildetwerden des Nerven¬
ſyſtems zuerſt die Möglichkeit des Bewußtſeins ruhte, ſo
auf dem epimetheîſchen Feſtgehaltenſein aller
[105] Anregungen des Seelenlebens
, d. h. auf der Er¬
innerung
, alle Möglichkeit der höhern Ausbildung des
Bewußtſeins. Wenn in der Seele nicht feſt blieben die
Empfindungen von den mannichfachen Einwirkungen der
Außenwelt, wenn nicht dadurch es möglich würde gleich¬
zeitig
die Verſchiedenheit dieſer Einwirkungen anzu¬
ſchauen und dadurch zu einer Vergleichung derſelben zu
gelangen, um aus dieſer Vergleichung dann das Wiſſen
von einer Welt, im Gegenſatz zum Individuum, möglich
zu machen, ſo würde es nimmermehr ein Bewußtſein, nicht
einmal als bloßes Weltbewußtſein geben können. Um dies
Feſthalten, dieſe Erinnerung, recht zu verſtehen und in
ihrem nothwendigen Grunde zu begreifen, muß man daher
ſtets gegenwärtig haben, was früher davon geſagt iſt, daß
jedes Lebendige vermöge der in ihm ſich darlebenden Idee,
in wie fern dieſe ein Göttliches iſt, auch an dem Weſen
der Ewigkeit Theil haben, und daß eben deßhalb ſeine Ver¬
gangenheit und Zukunft in einer ſteten allgemeinen Gegen¬
wart ihm angehören müſſe. Wie nun hieraus im unbe¬
wußten Leben alle Fortſchreitung und Beziehung der Bildung
ſich erklärt, haben wir ſchon oben bemerkt. Es wird aber
fernerhin auch nur hieraus klar, daß, wenn ein eigentlich
ſeeliſches Gebilde, ein Nervenſyſtem ſich entwickelt hat,
wenn dieſes Gebilde, als das eigentliche Senſorium von
den Regungen der Außenwelt auf gleiche Weiſe wie vom
Regen der eignen Pſyche bewegt, oder um einen mehr be¬
zeichnenden Ausdruck zu brauchen polariſirt, — in den
Spannungsverhältniſſen deſſen was wir Innervation nen¬
nen — verändert wird, daß, ſage ich, nun auch dieſe Po¬
lariſationen nicht durch und durch vorübergehend ſein, ſon¬
dern in gewiſſem Maße bleibend — die vergangenen ſtets
gegenwärtig — verharren müſſen. Nicht mehr bloß dem
unbewußten Leben iſt es dann eigen, daß ihm der frühere,
ja der früheſte Zuſtand unverloren bleibt (wie wir z. B.
oben ſagten, daß die Pflanze auf ihrem langen Entwick¬
[106] lungsgange aus dem Samen zum Keim, zum Stengel
und zur Blüthe, nicht die Geſtaltung des erſten Samen¬
korns aus der unbewußten Innerung läßt, und daß ſie nur
deßhalb den Samen auf ihrer Lebenshöhe wieder ganz in
derſelben Form darbildet, von welcher ſie ausging), ſon¬
dern was dieſer Art in dem eigentlich ſeeliſchen Syſtem
bleibend wird, wird auch dadurch ein unverlierbares Eigen¬
thum der Pſyche und gehört nun dem Bewußtſein an, ja
wird eine der wichtigſten Bedingungen für alles Bewußtſein.
Allerdings ſetzt es ein tieferes Eingehen in die Lehren der
Phyſiologie voraus, wenn begriffen werden ſoll, wie an
eine höchſt feine Polariſation eines, noch dazu für uns viel¬
leicht nur mikroſkopiſch erkennbaren Theilchens der Hirnſub¬
ſtanz, ſich irgend eine ſtete Gegenwart einer lange vor¬
übergegangenen Erregung — alſo eben das, was wir nun
eine bleibende Vorſtellung nennen — knüpfen könne, aber
man hat ſich nur deutlich zu machen, welche Bewandtniß
es etwa mit dem Verhältniß der Sinnesempfindungen zu
den Erregungen der Sinnesnerven in den Sinnesorganen
hat, und man wird auch jenen Vorgang eher zu verſtehen,
eher zu faſſen im Stande ſein. Welch unendlich feine
Oscillation iſt es z. B. in den Hörnerven, welche für
uns in organiſcher Beziehung die erſte Bedingung
der Wahrnehmung etwa einer Symphonie, ja aller Rede
und alles Klanges iſt; welche unendlich feine Affectionen
erregt das Licht auf der innern Fläche der Netzhaut nach
Art der Vorgänge, welche im Daguerre'ſchen Proceß durch
das Licht auf der jodirten Silberplatte hervorgebracht wer¬
den, und doch iſt gerade dieſe ſo höchſt zarte Modification
das zunächſt Bedingende für alle die mannichfaltigen Wahr¬
nehmungen des Auges. Wer dergleichen nicht ſelbſt unter¬
ſucht hat, dem iſt nur zu rathen, daß er einmal das Auge
eines Thieres aufſchneide und die ſcheinbar einfache,
gleichmäßig weiche Netzhaut, die dem unbewaffneten Auge
faſt als bloßer grauer Schleim erſcheint, aufmerkſam betrachte.
[107] Er ſage ſich dann, daß an gewiſſe unendlich feine Polari¬
ſationen und Modificationen dieſer Subſtanz ſich alle Wun¬
der der Welt des Auges, als eine unerläßliche Bedingung
knüpfen, daß ſelbſt hier ſchon Bilder des Sehfeldes für
eine gewiſſe Zeit zurückbleiben und feſtgehalten werden kön¬
nen, und er lerne daran ſich die Möglichkeit begreiflich zu
machen, wie an gewiſſe noch feinere phyſiſche Spannungs-
Aenderungen der Maſſe jener Urgebilde der Hirnſubſtanz
pſychiſch die Entſtehung und das Bleibendwerden von Vor¬
ſtellungen gar wohl ſich knüpfen könne. Mindeſtens iſt klar,
daß man als einen ganz einfachen Verhältnißſatz es auf¬
ſtellen darf: „wie ſich verhalten die Sinnesempfindungen
zu den höchſt feinen, unſerer Beobachtung nicht weiter dar¬
ſtellbaren Umſtimmungen in den Nervengebilden der Sin¬
nesorgane, ſo verhält ſich das, was wir eine in¬
nere Vorſtellung des bewußten Seelenlebens
nennen
, zu gewiſſen höchſt feinen unſerer Beob¬
achtung nicht weiter darſtellbaren Umſtimmun¬
gen in den Urgebilden der Centralmaſſe des
Nervenſyſtems
, d. i. des Gehirns“ und ich bemerke
nur noch, daß man hiebei nicht außer Acht laſſen dürfe,
es ſeien dieſe Umſtimmungen in der Centralmaſſe weſentlich
bedingt durch Zuleitung der veränderten Innervationsſpan¬
nung der Faſern der Nerven von den Sinnesorganen aus.
Dieweil nun allerdings dieſe Gebilde und ihre Innerva¬
tionsſpannung während eines geſunden normalen Lebens
immerfort ſelbſt vorhanden bleiben, ſo exiſtiren auch jene
Umſtimmungen derſelben, d. h. jene Vorſtellungen in einer
ſteten Gegenwart, obwohl keinesweges immer als bewußte
Vorſtellungen, vielmehr immer periodiſch wieder unbewußt
werdend, und geben nun eben als bleibendes Eigenthum
der Pſyche, ihr Gelegenheit genug erſt zur Vergleichung
derſelben, zweitens dadurch wieder zur Abſtraction unter
mehrern, und zuhöchſt, indem endlich ein Inneres, Ur¬
ſprüngliches, Göttliches, als Richter zwiſchen verſchiedenen
[108] Reihen von Vorſtellungen auftritt, zum Urtheil über die
Vorſtellungen, ja zuletzt zur Erkenntniß dieſes vor¬
ſtellenden Innern ſelbſt
. Aus dieſem Allen wird
man ſonach ſich abnehmen können, daß ohne jenes epime¬
theïſche Vermögen der Seele, ohne das, was wir im Unbe¬
wußten „Innerung” und im Bewußten „Erinnerung” nennen,
das Bewußtſein eine Unmöglichkeit ſein würde, und daß
hierin ſomit in Wahrheit eine wichtige dritte Bedingung
des Bewußtwerdens liege.


Bei ſchärferer Erwägung ſind wir jedoch genöthigt
dieſen vorher erwogenen drei Bedingungen ſogleich noch
eine vierte hinzuzufügen. Nämlich es zeigt uns die
Vergleichung des verſchiednen Seelenlebens, und es ſagt
uns auch das eigne Urtheil, daß nicht bloß ein Vorhanden¬
ſein mehrfacher Vorſtellungen in bleibender Gegenwart über¬
haupt als Bedingung des Bewußtſeins betrachtet werden
könne, ſondern daß dieſe Mannichfaltigkeit von Vorſtellun¬
gen nothwendig ein gewiſſes Maß, einen gewiſſen Umfang
erreichen, eine größere und reichere ſein müſſe,
wenn es möglich ſein ſoll, daß das Wunder des Bewußt¬
ſeins ſich offenbare. Ein beſtimmtes abgemeſſenes
Maß kann natürlich hier nicht aufgeſtellt werden, aber daß
ein ſolches erfordert werde, leidet durchaus keinen Zweifel.
Im Kinde entwickelt ſich das Bewußtſein allemal erſt nach¬
dem ein gewiſſes Material in einem gewiſſen Umfang auf¬
geſammelt worden iſt, und im Idioten mit verkrüppelter
kleiner verkümmerter Hirnbildung, d.h. wo jene als orga¬
niſche Bedingung einer Vorſtellung anerkannte Maſſe der
Urgebilde der Hirnſubſtanz von Haus aus in zu geringer
Menge entſtanden war, wird eine hinreichende Mannich¬
faltigkeit von Vorſtellungen nie möglich; und wenn auch
da ein allgemeines Weltbewußtſein nicht fehlt, ſo wird doch
die höhere Form des Selbſtbewußtſeins in ſolchem Falle
nicht zur Offenbarung gelangen. Eben ſo wenig wird dies
bei den Thieren überhaupt, und insbeſondere bei den nie¬
[109] dern möglich ſein, wo die Entfaltung der Centralmaſſen
des Nervenſyſtems eine ſo beſchränkte Entwicklung zeigt
und auf den niederſten Stufen noch ganz fehlt, indem eine
gewiſſe Vielheit einzelner durch den Organismus vertheilter
Nervenmaſſen noch deren Stelle vertritt. Gerade darauf,
daß dem ſo iſt, beruht alſo die Wichtigkeit der Verſchieden¬
heit der Hirnbildung unter verſchiednen Thieren und unter
verſchiednen Menſchen. Die Phyſiologie, und namentlich
das, was man die Phyſik des Nervenſyſtems nennen könnte,
weist mit Beſtimmtheit nach, daß eine große Maſſe, aber
— wohl verſtanden! — normal gebildeter Urſubſtanz des
Hirns nothwendig vorausgeſetzt wird, wenn eine große
Maſſe von Vorſtellungen bleibendes Eigenthum der Pſyche
werden ſoll, und eben ſo wenig als Jemand mit einer
enggebildeten Bruſt und kleinen Lungen einer ſo kräftigen
Athmung fähig iſt als ein Anderer mit weiter, gewölb¬
ter Bruſt und ſtark ausgebildeten Lungen, ſo wenig iſt
ein Menſch mit kleinem Schädel und geringem Gehirn im
Stande einen ſolchen Reichthum von Vorſtellungen auf¬
zuſammeln als einer mit weitem regelmäßig gewölbten
Schädel und ſtark ausgebildetem Gehirn.


Auch hier hat man, wenn die Phyſiologie mitunter
ſchon früher ähnliche Verhältniſſe andeutete, über Abhän¬
gigkeit des Geiſtes vom Körper geklagt, man hat dergleichen
Reſultate daher mit einer gewiſſen Angſt betrachtet, man
hat von Materialismus geſprochen und die höchſten Intereſſen
der Menſchheit durch dergleichen Erkenntniſſe wahrhaft ge¬
fährdet geglaubt; doch eines Theils würden denn doch alle
dergleichen Nachtheile und Gefahren, wie man ſie nannte,
ertragen werden müſſen, ſo lange man nicht nachweiſen
könnte, daß die Erkenntniſſe ſelbſt irrig wären, andern
Theils aber werden dergleichen ſchiefe Anſichten immer nur
die Folge davon ſein, daß man von der Pſyche, d. h. der
Grundidee unſers Daſeins, eine verkehrte Vorſtellung hegt,
daß man einer ſogenannten Lebenskraft, ein beſondres
[110] fremdes Etwas ſtatuirte, was den Körper eigentlich baue
und ihn der Seele, zu einer, nicht immer eben paſſenden
Wohnung vorbereite, und daß man nicht begreifen wollte,
daß doch Alles, was wir Körper nennen, nichts als die
an der Subſtanz zu Stande gekommene Offenbarung und
Erſcheinung einer unbewußten Pſyche, d. i. der zuerſt nur
unbewußt waltenden Grundidee unſrer Exiſtenz ſei. Hat
man ſich deutlich gemacht, daß dieſe Idee, dieſes Göttliche
ſelbſt es iſt, von welcher es ausgeht, wie und auf welche
Weiſe der Organismus überhaupt und deſſen Nervenſyſtem
und Gehirn insbeſondre, geſtaltet werden ſolle, und daß
es ſonach von der höhern oder niedern Energie dieſer Idee
durchaus und weſentlich abhängt, ob die Maſſe der Urge¬
bilde des Hirns ſo reich und bedeutend ſich darbilden
ſolle, daß ein großes Vorſtellungsleben ſich daran entfalten
kann, ſo wird man erkennen, daß immer nur die Idee
ſelbſt
es iſt, deren freilich zuerſt rein unbewußtes
Walten die Form des ſpäter erſt ſich entfaltenden Bewußt¬
ſeins beherrſcht. Nicht die nur zu ſchwachem Selbſtbewußt¬
ſein entwickelte Seele des Idioten trägt, in wie fern ſie
ein ſchwaches Bewußtes geworden iſt, die Schuld ihrer
niedrigen Geiſtesſtufe, aber auch nicht der Leib und das
dürftig entwickelte Gehirn deſſelben, als ein irgendwie
Selbſtſtändiges und das Bewußtſein Beherrſchendes; ſon¬
dern die entweder urſprünglich geringe oder ge¬
waltſam von Außen beſchränkte Energie
dieſer
Lebensidee, und die geringe primitive Bedeutung dieſer zur
wirklichen Exiſtenz ſich entfaltenden Idee ſelbſt ſind der Ur¬
grund ſolcher unvollkommnen Entwicklung. Eben ſo iſt es im
umgekehrten Falle. Die urſprünglich mächtige Idee
bildet unbewußt prometheïſch, ein mächtiges normales Ge¬
hirn eines Organismus, mächtig genug um eine Menge
der verſchiedenartigſten Spannungsverhältniſſe, als phyſi¬
ſchen Ausdruck pſychiſcher Vorſtellungen, zu faſſen, und
aus der Vergleichung aller dieſer in einer Gegenwart ver¬
[111] harrenden Vergangenheit, entwickelt ſich nun mit Noth¬
wendigkeit die Erfaſſung einer höhern Gegenwart, ein
höheres Selbſtbewußtſein, ja Gottbewußtſein, welches nicht
durch Verdienſt der Seele als eines Bewußten, erreicht
wird, wohl aber zuweilen durch eine ſchlechte bewußte Ver¬
waltung der Pſyche in ihrem eignen Reiche, wieder ver¬
dunkelt und verdorben werden kann. Doch von allen dieſen
in ſehr vielen Beziehungen wichtigen Verhältniſſen muß
noch ſpäterhin ausführlicher die Rede ſein; hier war nur
zuvörderſt es darum zu thun deutlich zu machen, daß eine
gewiſſe quantitative und qualitative Entwick¬
lung
des Organiſchen eine unerläßliche Bedingung zum
ſich Bewußtwerden der Seele genannt werden müſſe.


So viel von den Bedingungen des Bewußtſeins. Be¬
trachten wir nun die Geſchichte ſeines allmähligen
Erwachens
.


Hier wäre es freilich ebenfalls wo Jeder nur in ſein
Inneres zu ſchauen brauchte um das ganze Bild dieſes
Vorganges gewahr zu werden, wenn eben das Auge ſich
ſelbſt ſehen und der Geiſt ſein eignes Werden zu ſchauen
vermöchte. Aber nur auf Beobachtung der Erſcheinung
an Andern, und auf die Analogie ſind wir gewieſen, und
dieſe zeigen uns Folgendes.


Den einzelnen Momenten der Entwicklung des bewu߬
ten Seelenlebens können wir nachgehen in zwei großen
Reihenfolgen: nämlich in der Heranbildung der Seele
in der Reihe der Thiere
, und in der Heranbil¬
dung der Seele und des Geiſtes im Kinde und
im Erwachſenen
.


1. Von Heranbildung der Seele in den Thieren.

Werfen wir zuerſt einen Blick auf die Geſammtheit
der epitelluriſchen Geſchöpfe, wie ihre vielgeſtaltige Erſchei¬
nung entſteht, und zwar entſteht durch ein völlig unbewußtes
Walten unendlicher Ideen, ſo müſſen wir ſogleich gewahr
[112] werden, wie wichtig die Verſchiedenheit iſt, welche wir
früherhin bemerklich gemacht haben, wo von der Art und
Weiſe die Rede war, wie überhaupt die Idee dazu gelange,
als ein Mannichfaltiges, als ein Organismus, ſich darzu¬
leben. Es wurde nämlich damals ſchon nachgewieſen, daß
eine zweifache Richtung in dieſem Walten unverkennbar ſei:
erſtens das Beſtreben die einfachſte — die Urgeſtaltung —
die Monas aller Bildung — die bläschenförmige mikroſko¬
piſche Hohlkugel — unzähligemal immer zu wiederholen —
ſich unzähligemal immer wieder ſelbſt zu ſetzen als Einheit,
und dadurch eine unbeſtimmbare Zahl von Einheiten dar¬
zubilden, oder, wie man es auch ausdrücken kann, eine
möglichſt große Vielheit der Erſcheinung zu ſchaffen; und
zweitens das Beſtreben, durch alle dieſe Mannichfaltigkeit
hindurch, das höhere Bild einer Geſammtheit feſtzuhalten
und an dieſer Mannichfaltigkeit eine Totalität darzuſtellen.
Ich ſagte nun die Beachtung dieſer zweifachen Verſchieden¬
heit ſei wichtig, dieweil in ihr der Grund davon zu ſuchen,
daß die Geſammtheit aller ſich im Bereiche unſerer Erkennt¬
niß entwickelnden Organismen entweder durch das Vor¬
herrſchen der einen oder der andern Richtung beſtimmt
werde. Von dem einen dunkeln Reiche jener ſonderbaren
einfachſten Geſchöpfe, welche ich als die Indifferenzregion
zwiſchen dem Reiche der Wanzen und dem Reiche der Thiere
— mit dem Namen der Protorganismen bezeichnet habe,
und deren Gebilde eben ſelbſt nichts als Monaden, als
einfache oft nur verſchiedenartig gegliederte und geformte
Zellen ſind, weichen jene zwei entgegengeſetzten Strahlungen
ganz nach den oberwähnten beiden Gegenſätzen aus einander.
Das Pflanzenreich beruht durch und durch, wie in
jeder einzelnen Pflanze, ſo auch in der Mannichfaltigkeit
ſeiner Geſtalten weſentlich auf endloſer Wiederholung einer
Grundform, es iſt durch und durch Zellenbau, ſich ins
Unendliche fort wiederholend, und deßhalb aus jeder ein¬
zelnen Zelle immer wieder möglicherweiſe das Ganze her¬
[113] vorbringend, und eben darum auch der Begriff der Totalität
nie vollkommen abſchließend. Schon der Laie, ohne ſich
des höhern Grundes bewußt zu ſein, trennt daher Theile
der Pflanze ab mit andern Vorſtellungen und Gefühlen
als bei einem Thiere, er wird jene gewiſſermaßen immer für
ein Stückwerk, und dieſes immer für ein Ganzes nehmen;
ein Blatt, eine Blume abzubrechen geſchieht mit Luſt, ein
Glied eines lebenden Thieres abzulöſen wird ihm jedesmal
ſchmerzlich ſein. Die Pflanze hat aus jenem Grunde keine
Eingeweide und keine in dem Sinne wie beim Thiere ver¬
ſchiedne Organe — es kann daher auch nicht, im Gegenſatze
zu weſentlich heterogen werdenden Organen, ein ſolches
Ur-Gebilde wie das Nervenſyſtem übrig bleiben; — kurz,
ſie bleibt weſentlich immer nur eine Vielheit von Ein¬
heiten
, es fehlt ihr ein ſolches inneres Centrum, wie es
das Thier hat, und, obwohl auch ſie nicht ohne eine ge¬
wiſſe Totalität ſein kann, ſo iſt der Begriff derſelben nie
dergeſtalt abgeſchloſſen wie im Thierreiche, woraus denn
einmal folgt, daß der Begriff höherer und niederer Or¬
ganiſation, welcher im Thierreiche ſo deutlich ſich zu erken¬
nen gibt, im Pflanzenreiche immer ſehr unvollkommen ſich
ausſpricht (es wird immer ſtreitig bleiben, welche man
als die höchſten Pflanzen betrachten ſoll); ein andermal
folgt, daß, indem der Pflanze ein wahrhaft centrales Syſtem
und dadurch ein vollkommnes Band der Einheit und Ganz¬
heit fehlt, von irgend einer Art des Bewußtſeins hier noch
keinesweges die Rede ſein könne. Wenn wir ſonach mit
dem Namen der Seele nur diejenige Idee zu bezeichnen
pflegen, in welcher irgend ein Bewußtſein wirklich ſich ent¬
wickelt hat, ſo ergibt ſich aus Obigem deutlich, daß von
der Pflanze noch nicht ausgeſagt werden könne, es ſei ihr
eine Seele gegeben. Auch hierin hat der natürliche Sinn
die Völker ganz richtig geführt, und weder in unſrer noch
in andern Sprachen iſt von einer Seele der Pflanzen
jemals die Rede geweſen, obwohl daß ein eigenthümliches
Carus, Pſyche. 8[114] göttliches Walten in jedem pflanzlichen Organismus ſchaffe
und bilde, keinesweges verkannt worden, vielmehr ſchon
von den Griechen, ganz gleich dem Walten in Quellen,
Seen, Lüften und Wolken, in eignen Göttergeſtalten der
Anſchauungsform näher gebracht worden iſt; wobei wohl
bemerkt werden muß, daß, wo die Idee ſelbſt zur Seele
ſich entfaltet wie im Thier, ſehr feinſinnig von jenen Völ¬
kern nie eine beſondre Göttergeſtalt hierfür erdichtet zu
werden pflegte.


Was nun das Thierreich betrifft, ſo iſt es recht merk¬
würdig, genau nachzuſpüren wie das Bewußtſein und mit
ihm der Begriff der Seele ſo ganz allmählig ſich her¬
vorbilde. Faſt noch mehr als in der Stufenfolge des
Thierreichs iſt dies wahrzunehmen, wenn wir der Entwick¬
lungsgeſchichte des einzelnen Thieres nachgehen. Nehmen
wir das Ei des Vogels, ſo iſt nicht zu läugnen, es ſei
die früheſte unvollkommenſte Form des Vogels ſelbſt, es
ſei lebendig, wenn auch oft eine längere Zeit hindurch im
Zuſtande eines latenten Lebens, aber alle Elemente ſeien
hier bereits vereinigt, welche gleichſam nur warten auf
Einwirkung einer äußern Wärme, komme ſie woher ſie
wolle, um alsbald in der ganzen Organiſation des Thieres
hervorzutreten. Nichts deſto weniger wird Niemand dem Ei
als ſolchem eine Seele zuſchreiben, ſo gewiß in ihm doch
ſchon die unbewußte Idee waltet. So bald hingegen dieſe
Idee ihre Eigenthümlichkeit darzuleben beginnt in der Glie¬
derung des embryoniſchen Organismus, ſobald dadurch die
Bedingungen erfüllt worden ſind, welche wir als unerlä߬
lich für Entwicklung eines Bewußtſeins geſetzt haben, näm¬
lich und namentlich die Darſtellung eines Nervenſyſtems
und der Mittel zum Verkehr deſſelben mit der Außenwelt,
ſo wird die Idee auch in ſich ſelbſt alsbald zur Seele ent¬
wickelt. Dem zum Vogel entwickelten Ei ſchreiben
wir nun eine Seele zu, während wir vom Ei noch nicht
ſagen durften, in ihm ſei eine Seele.


[115]

Es muß hieran deutlich werden, daß ſo beſtimmt auch
in abstracto der Unterſchied der Idee an ſich, und der zur
Seele entfalteten Idee, ausgeſprochen werden kann, doch
in concreto es ſchlechterdings unmöglich ſei, einen be¬
ſtimmten Zeitpunkt in der Entwicklungsgeſchichte des ein¬
zelnen Geſchöpfs, und alſo eben ſo wenig einen ſcharfen
Abſchnitt in der Reihenfolge der Thiere feſtzuſtellen, allwo
die Weſenheit der Seele mit einem Male an der Idee her¬
vortrete. Ungefähr eben ſo können wir in der Geſchichte
der Vegetation mit Beſtimmtheit ſagen, daß der Begriff
des Samenkorns ein andrer ſei als der der Pflanze ſelbſt,
und doch wenn wir nun ganz ſcharf angeben ſollten, wo
bei dem Keimen des Samens der Begriff des Samens
aufhöre und der der Pflanze anfange, ſo würden wir ein
Unmögliches verſuchen.


Dies Alles zuſammen genommen gibt uns allerdings
zu erkennen, daß, wenn wir über Heranbildung der Seele
in den Thieren Unterſuchungen anſtellen wollen, wir nicht
ſo wohl glauben dürfen den Anfangspunkt der Mani¬
feſtationen des Bewußtſeins ſelbſt finden zu können, ſondern
daß wir die Thatſachen eines unzweifelhaft bereits vorhan¬
denen Bewußtſeins aufſuchen, und ihrer Verſchiedenartigkeit
nach vergleichen müſſen, um ſo ein deutliches Bild davon
zu erhalten wie verſchiedenartig die Erſcheinungen eines
Seelenlebens ſein können, bevor doch in demſelben mittels
einer höhern Concentration, die Offenbarung eines Selbſt¬
bewußtſeins, und mit ihr die Erſchließung des Geiſtes
innerhalb des Seelenlebens zur Thatſache werde. Es muß
hier indeß gleich ebenfalls im Allgemeinen bemerkt werden,
daß es ſich mit dem Hervorgehen des Selbſtbewußtſeins
aus dem Weltbewußtſein auch wie mit dem Hervorgehen
des letztern aus dem Unbewußtſein verhalte, nämlich daß
ganz ſcharf den Anfangspunkt dieſer Entwicklung feſtzu¬
ſtellen unmöglich ſei. Obwohl ſich daher mit Beſtimmtheit
ausſprechen läßt: der ſelbſtbewußte Geiſt werde erſt dem
[116] Menſchen
gegeben, ſo treten doch ſchon die verſchieden¬
artigſten Selbſtgefühle, welche oft ſehr nahe an Selbſt¬
bewußtſein ſtreifen, bereits in den Thieren auf, und
auch im Menſchen iſt der Abſchnitt, wo eben in der Seele
der Geiſt geboren wird, durchaus nicht mit Schärfe feſt¬
zuſtellen.


Es fragt ſich daher jetzt zuerſt ganz im Allgemeinen:
auf welche Weiſe offenbart ſich im Thiere die zur Seele
gewordene Idee und in ihr irgend eine Art des Welt¬
bewußtſeins ?


Die Antwort iſt: „dadurch, daß die drei Strahlen
alles Seelenlebens, auf deren Entfaltung denn auch die
Möglichkeit alles Bewußtſeins ruht, d. i. Erkennen,
Fühlen, Wollen, zum erſten Mal hier in ihrer Son¬
derung auftreten
.“ Alles nämlich was irgend ein be¬
ſtimmtes Daſein hat, Alles worin unter irgend einer Form
ſich eine Idee darlebt, ja jedes Stück einer dieſer Formen,
wo auch nicht die entfernte Spur eines Bewußtſeins auf¬
taucht, hat, wie ſchon früher erwähnt wurde, ein gewiſſes
Verhältniß zu anderm Daſeienden, d. h. es wird auf ge¬
wiſſe Weiſe von andern afficirt, und afficirt wiederum
Anderes — allein eben alsdann auch durchaus ohne eine
Spur von Spontaneität. Der Stein wird vom Stein
fortgeriſſen und ſtößt Anderes — er kann erwärmt werden
und Anderes erwärmen, erleuchtet werden und leuchten, u. ſ. w.
aber immer iſt Einwirkung und Gegenwirkung unzertrenn¬
lich. Eben ſo verhält ſich jedes Individuum in deſſen Er¬
ſcheinung eine beſondre Idee ihren eigenthümlichen Lebens¬
kreis vollenden ſoll, aber in welchem noch ſchlechterdings
keine Art des Bewußtſeins ſich erſchloſſen hat. Der Wech¬
ſelwirkungen mit Anderen können ſehr vielfältige ſein, auf
ſehr verſchiedne Weiſe kann es von Außen in Anſpruch
genommen werden und Andres in Anſpruch nehmen, aber
Alles nur nach unbedingter Nothwendigkeit eines höhern
allgemeinen Lebens. So wird das Ei afficirt durch äußere
[117] Wärme, und mit Nothwendigkeit, ſo wie der rechte Wärme¬
grad einwirkt, komme er vom mütterlichen Thiere oder von
der Brutmaſchine, ſchießen die Zellen in der Keimfläche
an, entſtehen Auflöſungen und Neubildungen, kreiſen die
Säfte, zucken die Herzmuskeln und bildet ſich nach und
nach das ganze noch ſeelenloſe Geſchöpf — noch immer
allein der Nothwendigkeit gehorchend. Erſt wenn die
Bildung nun bis auf eine gewiſſe Höhe gelangt iſt, wenn
das Nervenſyſtem ſich mehr conſolidirt hat, und wenn
die Hülle geſprengt iſt, welche den Verkehr mit einem
größern Kreiſe der Außenwelt hinderte, tritt zwiſchen Ein¬
wirkung und Gegenwirkung ein Neues auf — wir nennen
es Gefühl, in ſeiner erſten unbeſtimmteſten Form Ge¬
meingefühl
; und ſo wie dieſes dritte, mittlere, zwi¬
ſchen
einem Aufnehmen von Außen, und Reagiren gegen
ein Aeußeres, ſich entwickelt hat, hört die unbedingte
Nothwendigkeit
aller Lebenserſcheinungen auf, und in
der zunächſt vom Nervenſyſtem beſtimmten Region iſt es
nun, allwo zum erſten Male ſich eine gewiſſe Unab¬
hängigkeit geltend macht, wo nun ein inneres Princip mit
einer gewiſſen Selbſtſtändigkeit auftritt, an welchem gleich¬
ſam gemeſſen wird, ob die Einwirkung die Gegenwirkung
zur Folge haben ſolle oder nicht. Von nun an iſt es nicht
mehr unbedingt nothwendig, daß der Einwirkung die Ge¬
genwirkung vollkommen entſpreche; eine kleine Einwirkung
kann eine ſtarke Gegenwirkung zur Folge haben und um¬
gekehrt; ein mittleres Beſtimmendes iſt aufgetreten — die
Idee dieſes Daſeins hat gewiſſermaßen nun erſt eine Re¬
präſentation, eine gewiſſe unmittelbare Geltung in der
äußern Erſcheinung erlangt. Dieſer Anfangspunkt des
Bewußtſeins, dieſer Punkt der erſten unmittelbaren Mani¬
feſtation der Seele, er iſt es, welcher mit der größten
Aufmerkſamkeit ins Auge gefaßt werden muß, wenn uns
die Entfaltung des Seelenlebens deutlich werden ſoll; hier
liegt das Urphänomen
aller dieſer Vorgänge, und
[118] wenn wir auch weder in uns noch in andern Geſchöpfen
von dieſem Anfangspunkte ſelbſt die Erfahrung gewin¬
nen können, ſo iſt doch — daß er ſein müſſe und wie
er es ſein müſſe, der gereiften Erkenntniß allerdings voll¬
kommen zugänglich.


Streng genommen könnte man demnach ſagen: die
Fortſchreitung in der Heranbildung des Seelenlebens beruhe
auf verändertem Zahlen-Verhältniß; denn wenn die
Idee an ſich die Eins, die Monas iſt, ſo wird ihre erſte
Offenbarung in der Wirklichkeit, aber immer noch als ein
Bewußtloſes, als eine Zweiheit erſcheinen, welche durch
Empfänglichkeit und Gegenwirkung ſich darſtellt, während
dagegen erſt ihre höhere Offenbarung im bewußten Indi¬
viduum, zur Dreiheit wird, welche zwar auch der Auf¬
nahme einer Einwirkung und der Ausführung einer Gegen¬
wirkung ſich eignet, welche aber zwiſchen beiden noch ein
Drittes enthält, nämlich ein beſondres dunkleres oder hel¬
leres Wiſſen vom eignen Zuſtande, ein Gefühl vom eignen
Daſein, und zwar als ein, Einwirkung und Gegenwirkung
allmählig immer entſchiedner Beherrſchendes.


Es muß nun aber gleich hier, wo dieſe Gliederung
uns zum erſten Male deutlich wird, noch ein höchſt merk¬
würdiges Moment in der Eigenthümlichkeit dieſes Dritten
hervorgehoben werden, nämlich daß dieſes Dritte und
eigentlich Höchſte
, dies worin die Idee ſich am
unmittelbarſten und zum erſten Male als ein
der Freiheit Fähiges kund gibt
, doch niemals
ganz an und für ſich
, ſondern immerfort nur
an den beiden andern Momenten
, nur an dem
die Einwirkung Aufnehmenden und Erkennen¬
den
, und an dem die Gegenwirkung Ausfüh¬
renden und Wollenden
, wirklich ſich kund gibt
und klar werden kann
. Jede Art des Selbſtgefühls
nämlich, jedes dunkle Wiſſen vom eignen Zuſtande, ja
jedes klarere Selbſtbewußtſein wird immer bedingt, theils
[119] durch eine Vielheit von Vorſtellungen, d. i. aufgenommnen
in der Seele bleibend gewordnen, erinnerten Sinnesein¬
drücken, welche nun gleichſam die Lettern bilden, deren die
Seele bedarf, um das Wort — „Ich“ — damit zu
ſchreiben oder daran zu leſen, theils durch eine Vielheit
ebenfalls erinnerter Willensakte, woran im Zuge des Be¬
gehrens und Liebens, oder im Beſtreben des Abſtoßens und
des Haſſens die Seele ihr Verhältniß zur Außenwelt kund
gibt. Wir mögen in irgend einem Gefühle, in irgend
einer Empfindung vom eignen Zuſtande verharren, — daß
wir in dieſem Zuſtande ſind, kann uns allemal nur klar
werden daran, daß alle Vorſtellungen, erinnerte und neu
eintretende, ein beſondres Colorit, eine eigne Stimmung
annehmen, und daß die Seele gerade gegenwärtig in einem
eignen Verhältniſſe des Anziehens und Abſtoßens ſich be¬
findet. Kurz, daß wir uns ſelbſt ſchauen und lieben ſetzt
ein ſchon vorhergegangenes anderweites nach Außen Sehen
und Begehren voraus; das Wiſſen vom Ich wird nur
möglich dadurch, daß es für uns eine Sprache gibt, in
welcher wir überhaupt zu denken im Stande ſind.


Wir ſehen hieran, daß wir auf dieſe Weiſe, und in
Verfolgung dieſer Betrachtungen auf einem andern Wege
abermals zum Verſtändniß des früher aufgeſtellten Satzes
kommen, daß nämlich ohne ein Syſtem, welches gleich dem
Nervenſyſtem das Bleibendwerden der Vorſtellungen ver¬
mittelt, die Entwicklung irgend eines Bewußtſeins ſchlech¬
terdings unmöglich bleibe. Nächſt dem wird ſich freilich
auch ergeben, daß je höher die Energie dieſes Mittlern —
des Selbſtgefühls iſt, um ſo mehr auch das Aufnehmen,
das Erkennen zur größern Schärfe, das Gegenwirken, das
Wollen, zur wahren Freiheit entwickelt wird.


Doch dieſes beruhe nun vorerſt auf ſich und werde
ſpäterhin weiter ausgeführt; gegenwärtig war nur zuvörderſt,
um die verſchiednen Stufen des Seelenlebens und insbe¬
ſondre des Bewußtſeins in der Thierwelt zweckmäßig
[120] verfolgen zu können, es unerläßlich, über die Art und
Weiſe, wie überhaupt ein Bewußtſein zu Stande komme,
und wo ſein Anfangspunkt liege, das Obige nothwendig
vorauszuſchicken.


Es kann hier nicht der Ort ſein eine ausführliche ver¬
gleichende Pſychologie oder pſychiſche Zoologie zu verſuchen,
ſondern aus der ungeheuern Menge und Mannichfaltigkeit
der Thierwelt greifen wir einzelne große bedeutungsvolle
Thatſachen heraus, und legen ſie hier neben einander, auf
daß daran klar werde, daß Manches aus dieſem Seelen¬
leben zwar auch im Menſchen ſich wiederholt, daß jedoch
in ihm ſodann aus jenem gleichſam Vorbereitenden, noch
ſo weit höhere Entwicklungen hervorgehen und erreicht wer¬
den können.


Die bedeutungsvollſte Theilung des Thierreichs, auch
in Beziehung auf ihr Seelenleben, iſt die der Waſſer- und
der Luftthiere. Alle Waſſerthiere, ſolche die ganz und
zeitlebens in dieſes dichtere embryoniſche Element verwieſen
ſind, zeigen verhältnißmäßig weit geringere Entwicklungen
des Seelenlebens als die Luftthiere. Die geringſten jener
Reihe ſind die wo ein ſtrahlenförmiges, den ganzen Körper
zur Einheit verknüpfendes Nervenſyſtem noch fehlt, wenn
auch unzweifelhaft einzelne Maſſen in der Subſtanz ſchon
die Bedeutung der Nervenmaſſe haben; hierhin gehören die
Akalephen. In ihnen iſt jenes mittlere, die Idee insbe¬
ſondere Offenbarende — das Gefühl — noch am dunkelſten
und das unbewußte Seelenleben herrſcht durchaus vor.
Eigentlich verbreitet ſich hier nur das, was ich weiter oben
und in meinem Syſtem der Phyſiologie, als Erfühlung —
Perceptio — bezeichnet habe und was wir als Vorberei¬
tung des wirklichen Gefühls anſehen dürfen, über die
geſammte organiſche Maſſe; das Gefühl des innern orga¬
niſchen Bedürfniſſes und zwar zunächſt die Nahrungsauf¬
nahme, und dann jede äußere zufällige Einwirkung, be¬
ſtimmen allein die Gegenwirkung des Geſchöpfs. Eine
[121] ſolche Gegenwirkung kann daher noch niemals den Namen
der Handlung erhalten, ſondern ſie erſcheint als Reſultat
des unbewußten Treibens oder Drängens der Idee, d. h.
des Triebes, in wie fern ſie nicht bloß einfache Reac¬
tion
iſt; beides Formen der Thätigkeit, welche auch in
höhern Thieren, ja im Menſchen in ſo weit vorkommen,
als die primitiv unbewußte Region ihres Seelenlebens reicht.
Das höchſte Thun der niedern Waſſerthiere iſt daher ent¬
weder zu vergleichen in höhern Geſchöpfen der Muskel¬
zuckung auf galvaniſchen oder ähnlichen Reiz, oder es ſteht
gleich ihren aus dem Triebe zur Fortpflanzung, oder zur
Nahrungsaufnahme unmittelbar hervorgehenden Thätigkeiten.
Alles Thun erſcheint daher auf dieſer Stufe noch als ein
mit derſelben Nothwendigkeit Beſtimmtes, wie etwa jenes
im Ei, wenn in ſeinem Innern durch die äußere Brut¬
wärme, jene innere Wechſelwirkung der Subſtanzen, zu
den verſchiedenſten Anziehungen und Abſtoßungen und zur
Gliederung des Zellbaues ſich veranlaßt findet, und man
möchte ſagen, daß auch in dieſer Beziehung dieſe Geſchöpfe,
wie ſonſt in mancher andern, den Namen der Eithiere ver¬
dienen. Der Reiz von Außen erregt die Zuſammenziehung,
die Annäherung eines zur Nahrung Tauglichen erregt die
Bewegung der Fangorgane, die es zum Munde führen,
und damit iſt um ſo mehr hiernach alle Aeußerung des
noch ſo dunklen Seelenlebens abgeſchloſſen, als die Gat¬
tung oft, wie bei Hydra, nur durch ein unmittelbares
knoſpenartiges Fortwachſen des alten Organismus zu neuen
jungen Organismen ſich erhält und vervielfältigt, und ſo
auch der Fortpflanzungstrieb nur als Wachsthum ſich äußert.
Wenig mehr entwickelt ſich ein Seelenleben in den
Weichthieren des Waſſers, mindeſtens in ihren tie¬
fern Ordnungen, den Aſcidien, Muſchelthieren und
Schnecken, und überall iſt das Reich des Unbewußtſeins
hier weit größer als das eines aufdämmernden Weltbewußt¬
ſeins. Das wichtigſte Phänomen im Aeußern iſt das Her¬
[122] vortreten des getrennten Geſchlechts, und die Vereinigung
der getrennten. Verſchiedne Individuen müſſen hier zuerſt
fühlen, daß ſie ſich gegenſeitig zum Leben bedürfen, daß
ſie nur in gewiſſen innigen Annäherungen die Spitze ihres
Daſeins, die höchſte Selbſtempfindung erreichen können.
Hier werden zuerſt Reihen von Begehrungen, abſichtlichen
Bewegungen, neuen Empfindungen rege, in welchen ſich
das innere Reich des Seelenlebens erweitert und bereichert;
und obwohl die Welt nur noch trübe und dunkel in dieſen
Seelen ſich ſpiegelt, ſo iſt es doch hier ſchon ein andres
Individuum derſelben Gattung, in welcher das erſtere
gleichſam, und freilich nur momentan und in keinem blei¬
benden Lebensverhältniſſe, einen Erſatz der Außenwelt findet,
ſo daß hier auf tiefſter Stufe und ganz organiſch nur
vorbedeutend hervortritt, was ſpäter im höchſten ſeeliſchen
Sinne im Menſchen ſich wiederholen kann, wenn ihm in
einer andern Seele der Erſatz für die geſammte Außenwelt
aufgeht. Im Allgemeinen bleibt jedoch auch die Erkenntniß
des Aeußern unvollkommen, das Gefühl dunkel und das
Thun immer noch weſentlich theils Reaction, theils Trieb.
Etwas freier offenbart ſich in anderer Beziehung die
Dignität der Seele in den höchſten der Weichthiere, den
Sepienarten, und dann in den Fiſchen. Die Welt
ſpiegelt ſich durch ſtärker entwickelte Sinnesorgane vielfacher
in ihnen; die Mannichfaltigkeit der Vorſtellungen muß
größer werden, die Beziehungen zwiſchen dem Individuum
und der Außenwelt werden zahlreicher, doch dafür tritt das
Geſchlechtsverhältniß wieder mehr zurück, denn eine wahre
Begattung iſt dieſen Geſchöpfen nur bei wenig Geſchlechtern
noch eigen, und eben dadurch geht ihnen alſo ab, das or¬
ganiſch nothwendige Wechſelverhältniß mit einem andern
gleichartigen Geſchöpfe, welches, wie bemerkt, in hohem
Grade entwickelnd und fördernd für das innerſte Seelen¬
leben ſein kann. An die Stelle dieſer unmittelbaren Be¬
ziehung zweier Geſchöpfe auf einander wie ſie im Geſchlechts¬
[123] verhältniß ausgedrückt iſt, tritt dagegen bei mehrern Gat¬
tungen hier ein gewiſſes heerdenweiſes Zuſammenhalten,
welches als weitere Fortbildung jener noch wirklichen orga¬
niſchen Verbindung zu betrachten iſt, wie wir ſie noch in
manchen maſſenweiſe zuſammengewachſenen Muſcheln, As¬
cidien und ſo vielen Polypen erblicken, und worin wir zu¬
gleich das Vorbild von dem finden können, was wir in
höhern Geſchöpfen als Geſelligkeitstrieb erkennen. Im
Ganzen iſt jedoch das heerdenweiſe Zuſammenhalten für
Bildung des Weltbewußtſeins weniger fördernd als das
paarige Geſchlechtsverhältniß, wie es beſonders in gewiſſen
Mollusken (den Schnecken) vorkommt, indem ſchon hier
vielfältige Beziehungen weniger bildend wirken als ein¬
fachere
aber innigere. Es liegt jedenfalls in dieſen Män¬
geln der Grund, daß eine Andeutung höhern Seelenlebens
auf dieſer Stufe noch gar nicht ſich erreicht findet, kein
Kunſttrieb, keine Anhänglichkeit, keine Spur irgend eines
beſondern Verſtändniſſes. Das Höchſte iſt daß bei den
Fiſchen ein gewiſſes magnetiſches Moment des Strebens
nach beſtimmten Weltgegenden in ihren merkwürdigen Zü¬
gen ſich offenbart, und zweitens, daß ſie dadurch, daß ſie
der Gewöhnung fähig werden (z. B. ſich zu beſtimmten
Zeiten auf den Ton einer Glocke zu verſammeln) die ent¬
ſchiedenſten Zeichen einer Erinnerung offenbaren.


Höher ſteigert ſich das Seelenleben im Reiche der Luft¬
thiere, und überall documentirt ſich dieſe Steigerung zu¬
meiſt dadurch, daß jenes Mittlere, das Gefühl des eignen
Daſeins, das Selbſtgefühl, beſtimmter hervortritt und ſich
zwiſchen das Empfinden und zuhöchſt das Verſtehen der
Außenwelt, welches indeß immer noch ein ganz nothwendi¬
ges, ein Trieb und kein freier Wille iſt, geſondert in
die Mitte ſtellt. Auch hier haben wir an dieſer Nothwen¬
digkeit einen guten Maßſtab die zunehmende Entfaltung
des Seelenlebens zu meſſen, und es iſt klar, daß es alle¬
mal eine höhere Stuft dieſes letztem andeutet, wenn auch
[124] nur in einer einzigen Aeußerung des Geſchöpfs eine
größere innere Spontaneität ſich verräth, als wenn
irgend eine merkwürdige aber ganz bewußtloſe, mehr rein
organiſche Thätigkeit, z. B. der Bau irgend eines Kunſt¬
werkes, ein künſtlicher Zellen- oder Netz- oder Neſtbau,
mit Nothwendigkeit immer auf dieſelbe Weiſe geübt wird.
Das letztere wird meiſtens ganz organiſch, oder, wie man
oft fälſchlich ſich auszudrücken pflegt, „mechaniſch“ hervor¬
treten. So bauen die Larven vieler Waſſerinſekten ſich
aus Sand oder Holzſtückchen eine künſtliche Röhre, eine
Art Hautſkelet, in welchem ſie ihre Reife und Metamor¬
phoſe erwarten, und dieſe Bildung geſchieht mit derſelben
Nothwendigkeit, mit welcher in Würmern, wie in der Ser¬
pula, eine Kalkröhre um das Thier aus abgeſondertem
Kalkſaft unfreiwillig anſchießt, oder das Hautſkelet der
Krebſe ſich wachſend erneut, oder eine verlorne Gliedmaße
in dem Thiere ſich erſetzt. Man könnte ſagen, bei jenen
künſtlichen kleinen Bauwerken bethätige ſich nur ein Schein¬
bewußtſein
; und wirklich es iſt oft ſchwer die Gränze
zu ziehen, wo hier das Wachſen, das rein organiſche Bil¬
den aufhört, und wo das künſtliche Bilden, der Kunſttrieb,
anfängt. Die beiden oben angegebenen charakteriſtiſchen
Momente für alles bewußtloſe, hier immer noch ſo ſehr
vorherrſchende Seelenleben — die Nothwendigkeit, und
das dem unbewußten Seelenleben eigne unmittelbare
Können
, ohne Einübung und ohne Gewöhnung — ſie
dürfen uns, wie geſagt, hier recht gut als Leitfaden und
Entſcheidung dienen. Uebrigens wird, ſo wie das Thier¬
reich aus dem Waſſer ſich erhebt, die Sinneswahrnehmung
freier und mannichfaltiger, und auch dadurch muß das
innere Seelenleben reicher werden und das Bewußtſein hö¬
her ſich entwickeln. Von beſondrer Förderung iſt es als¬
dann, daß hier faſt durchgängig die Geſchlechter frei ſich
gegenüber treten und wechſelſeitig ſich bedürfen, ja daß
hier zuerſt eine höhere Geſelligkeit von Vielen gleicher Art,
[125] und in einem wahren auf Erfüllung gemeinſamer Zwecke
gegründeten Vereinleben, das Vorbild der nur im Menſchen
erſt wirklich werdenden Verbindung Vieler zum Staate ab¬
gibt. Alles ſchwankt indeß immer noch zwiſchen unbedingter
Nothwendigkeit und geringer Willkür ſo ſehr hin und her,
ſelbſt in dem Lebenkreiſe der ſcheinbar intelligentſten Ge¬
ſchöpfe der niedern Klaſſen dieſer Reihe (man denke nur
an den Staat der Ameiſen und Bienen), daß dem Indi¬
viduum kaum noch Ahnungen einer beſondern pſychiſchen
Spontaneität zuzuerkennen ſind. Dafür ſind jedoch Er¬
ſcheinungen des Vereinlebens auf dieſer Stufe pſychologiſch
ſehr lehrreich, indem ſich an ihnen beſonders deutlich er¬
kennen läßt, daß eine ſehr beſtimmte, und auch in mancher
Beziehung freier gewordne Individualität der Idee in
einer Vielheit von Weſen
, ſich ſehr entſchieden dar¬
leben kann, während alle die beſondern Glieder dieſer
Vielheit eine weit ſchwächere pſychiſche Entwick¬
lung verrathen
. Die Idee der Gattung, von welcher
ſchon früher die Rede war, macht ſich nirgends mehr als
in ſolchen Vorgängen, als ein organiſches Ganzes, der
Idee des Individuums gegenüber, geltend. Nirgends beſſer
als hier kann man ſich daher auch darüber verſtändigen,
wie es keinesweges Bedingung ſei, daß eine Idee ſich
einzig und allein durch das Einzelne, was wir ge¬
meinhin einen Organismus — einen realen Organismus —
nennen, darleben müſſe, ſondern daß ſehr beſtimmte Fälle
und in Menge, vorkommen, wo eine Idee nur durch eine
Geſammtheit — einen ideellen Organismus — aus vielen
untergeordneten Organismen beſtehend, ſich darleben kann.
Eine Bemerkung, welche, um den höhern — die einzelnen
Menſchen insgeſammt einbegreifenden ideellen Organismus
der Menſchheit zu erfaſſen und zu verſtehen ſehr beachtet
zu werden verdient. Man ſtudire nur die Geſchichte eines
Bienenſtaates, die Weisheit darin herrſchender Anordnun¬
gen, das Heranziehen der Königin, das Umbringen der
[126] Drohnen, die regelmäßigen Auszüge neuer Generationen
u. ſ. w. und gewiß, der Gedanke einer überlegenden, vor¬
herwiſſenden und ſich erinnernden Seele des Ganzen
wird ſich dem unbefangenſten Ueberblick als unumgänglich
anzunehmen darſtellen, während jede einzelne Biene für
ſich genommen
, nur ſehr dunkle Spuren von Intelligenz
und Willkür, am wenigſten aber Ueberlegung und Beherr¬
ſchung der andern, kund geben wird.


Es iſt nun ſehr intereſſant zu verfolgen, wie in den
höhern Klaſſen der Luftthiere, namentlich in den Vögeln
und Säugethieren, aus der Nothwendigkeit und dem un¬
mittelbaren Können, das Willkürliche und die Mög¬
lichkeit eines Erlernens
, als Zeichen eines ſich höher
ſteigernden bewußten Lebens, allmählig hervortreten. Klar
iſt es, daß die kleinſte Fähigkeit etwas zu erlernen und
mit einiger Freiheit das Erlernte für ein noch ſo Einfaches
anzuwenden, ein Zeichen ſein wird von einer weit höhern
Seelen-Entwicklung als die unbewußt angeborne Fähigkeit
ein noch ſo Künſtliches, aber mit unbedingter Nothwendig¬
keit gefordertes zu vollbringen. In dieſer Beziehung hat
man bisher keinesweges genau genug unterſchieden; man
hat die ſogenannten Kunſttriebe, wodurch Bienen ihre Zel¬
len, Ameiſen ihre Höhlen, Vögel ihre Neſter und die
Bieber ihren Holzbau ausführen, viel zu ſehr als Zeichen
einer beſondern individuellen Intelligenz angeſehen, und
ſie zu ſehr den Werken der Abſicht und Freiheit, wie ſie
von ſelbſtbewußten Individuen ausgeführt werden können,
verglichen. Alles indeß was mit Nothwendigkeit auftritt,
was gleich gekonnt iſt, ohne erlernt zu werden, und
was immer im Weſentlichen auf eine und dieſelbe Weiſe
ſich wiederholt, trägt eben dadurch das Zeichen des unbe¬
wußten Seelenlebens und gehört demnach in eine ganz
andere Kategorie. Die Veranlaſſung, wodurch man ohne
Zweifel, ganz beſonders dahin geführt worden iſt, all die¬
ſem Thun ſo oft eine höhere Bedeutung beizulegen, iſt:
[127] daß bei der Ausführung deſſelben häufig eine Art von
Ueberlegung, eine gewiſſe Wahl, ein gewiſſes Geſchick in
Ueberwindung vorhandner Schwierigkeiten ſichtbar wird.
Es iſt, als ob das unbewußte urſprüngliche Können
zuweilen den Schein annähme, als wenn es ſich zum Be¬
wußtſein
erheben wollte; etwa ſo wie es bei dem Aus¬
üben eines bewußten Wollens (wie früher gezeigt wurde)
allerdings wirklich das Höchſte iſt, wenn dieſes Können
wieder ganz unbewußt wird. Fälle eines ſolchen her¬
vortretenden Scheinbewußtſeins ſind es, wenn z. B. die
Spinne ſchon den Ort für ihre Netzanlage mit Umſicht
auszuſuchen bemüht iſt, ſie ſpannt die Fäden ſo oder ſo,
je nachdem die vorhandene Oertlichkeit es fordert, ja wenn
es nach abwärts dem Rade an Spannung fehlt, ſo be¬
feſtigt ſie wohl, wie Weber einſt beobachtete, ein Stein¬
chen an einen herabhängenden Faden. Eben ſo wählen die
Bienen, die Weſpen, die Ameiſen, die Vögel die Orte für
die Anlegung ihrer Waben und Neſter, und umgehen dabei
mit ſcheinbarem Geſchick manche entgegentretende Schwierig¬
keit. Nichts deſto weniger findet ſich hierin nicht mehr ein
Beleg für den etwa bereits frei gewordnen Geiſt als in
hundert ähnlichen Zügen im Leben der Pflanzen. Man
unterſuche einen an einer Mauer aufkletternden Epheu, man
bemerke, wie die feinen Wurzelfäſerchen der Ranken ſchein¬
bar-ſorgfältig jede kleine Rauhigkeit aufſuchen und für ihr
Haften benutzen, man gebe Acht, wie ein aufſchießender
Pflanzenkeim, ſcheinbar abſichtlich ſich biegend, einem Steine
ausweicht, wie er ein morſches Holz, wohl durch eine auf¬
gefundne Spalte ſich zwängend, aus einander ſprengt, man
verfolge die Richtung der Wurzeln, wie ſie ſcheinen ab¬
ſichtlich Feuchtigkeit aufzuſuchen, indem ſie nur dorthin ſich
verlängern, wo Waſſer im Boden zu finden iſt, ja man
beachte viele der Züge unſers eignen unbewußten Lebens,
wenn deſſen eigenthümliche Thätigkeit Wunden heilt, Extra¬
vaſate aufſaugt u. ſ. w., und in dieſem Allen wird man
[128] ſich davon überzeugen können, daß hier eine Weisheit, eine
ſcheinbare Ueberlegung ſich offenbart, welche wir wohl oft¬
mals tiefer und merkwürdiger finden könnten, als Alles der
Art was im bewußten Geiſte ſich kund gibt und welches
man darum doch nicht dem höhern bewußten Seelenleben
gleich ſtellen darf. Schon im Eingange aller dieſer Be¬
trachtungen hatten wir es ja daher als eine wichtige Auf¬
gabe angeſehen, die Weisheit, das Epi- und Promethe¬
ſche, das Göttliche auch der unbewußten Idee, deutlich zu
machen, und man darf es daher auch nicht als eine Her¬
abſetzung anſehen, wenn wir jenen Regungen der Thier¬
ſeele die Beziehung auf ein ſelbſtſtändig Geiſtiges abſpre¬
chen; allein der Unterſchied ſelbſt iſt nichts deſto weniger
ſcharf hervorzuheben. Es darf uns alſo nicht befremden,
wenn in den Regungen der Thierſeele, welche wir die
Kunſttriebe nennen, noch außer dem Wunderbaren und
Scharfſinnigen, was ihnen ohnehin eigen iſt, noch beſon¬
dere nach Umſtänden hervortretende Züge von
ſcheinbarer Freiheit und Verſtändigkeit wahrgenommen wer¬
den; dieſe Züge ſind deßhalb doch um nicht mehr einem
wirklich zum Selbſtbewußtſein und zur Freiheit entwickelten
Seelenleben zuzurechnen, als jene erwähnten Phänomene
ſcheinbar beſondrer freier Wahl im Pflanzenleben, oder in
der Thätigkeit des unbewußten Theils unſrer eignen Seele,
wie ſie ſich geltend macht bei Herſtellung der geſunden In¬
tegrität unſers Daſeins.


Wir haben nun aber oben bemerkt, daß eben ſo, wie
es unmöglich ſei ganz ſcharf das Moment zu beſtimmen,
wo ſich die Weſenheit der Seele aus der der bloßen Idee
hervorbilde, eben ſo es unmöglich bleibe ganz ſcharf anzu¬
geben, wo das Eigenthümliche des Geiſtes, d. i. der
ſelbſtbewußten Seele, aus der nur zum Weltbewußtſein
gelangten Seele hervorgehe. Achten wir auf das Leben
der höhern Thiere, ſo treten dunkel ſchon viele, und klarer
in den höchſten Thieren doch manche Anzeichen einer ge¬
[129] wiſſen geiſtigen Entwicklung hervor, deren nähere Beſtim¬
mung darzulegen wir nun zu verſuchen haben. Auch in
dem geiſtigen Leben gibt es jedoch viele qualitative Ver¬
ſchiedenheit und höhere und niedrigere Grade derſelben.
Studiren wir dieſe Gradation aufmerkſam, ſo tritt uns ein
ſehr merkwürdiges Moment entgegen, welches allerdings
eigentlich erſt in den künftigen Abſchnitten eine nähere Er¬
örterung erhalten kann, von welchem wir aber doch nicht
unterlaſſen dürfen, ſchon hier bereits das Weſentlichſte im
Voraus zu erwähnen. Wir entdecken nämlich zuvörderſt in
der Geſchichte des ſich entwickelnden Geiſtes eine gewiſſe
Wiederholung der Geſchichte des ganzen Organismus, ein
allmähliges Wachſen und Zunehmen, und zwar insbeſondre
eine allmählige Hinanbildung von einem Kindes¬
alter zu einer Pubertät und zuhöchſt zum Pro¬
duciren neuer Ideen
. Wir finden daher daß zu¬
erſt der Geiſt gleichſam nur ſeine eigne Exiſtenz conſoli¬
dirt, daß er zuvörderſt nur das Verhältniß ſeiner Vorſtel¬
lungswelt ordnet, die Beziehung der einzelnen Vorſtellungen
unter einander regelt, kurz, daß er zuerſt die Beziehung
derſelben zur eignen Individualität verſtehen lernt, und
wir nennen ihn auf dieſer Stufe den Verſtand. Auf
einer höhern Stufe beginnt die Seele mit den verſtandenen
Vorſtellungen ſelbſtthätig zu gebahren, ſie eigenthümlich zu
combiniren und neue, ſo ihr niemals von Außen gebotene
Vorſtellungen daraus zu erzeugen, und dies iſt denn
gleichſam die treibende Jugendperiode des Geiſtes, wobei
eben Dasjenige in ihm vorgeht, was wir im realen Or¬
ganismus die Entwicklung der Pubertät nennen. Auf die¬
ſer Stufe geben wir dem Geiſte, in ſo fern er auf ſolche
Neues erzeugende Weiſe waltet und ſchafft, den Namen der
Phantaſie. — Endlich aber vernimmt der Geiſt in einer
Art, die wir erſt ſpäterhin deutlich machen können, das
Geheimniß der Einheit in der Vielheit, er vernimmt unter
dieſem Gebahren mehr und mehr von ſeiner eignen gött¬
Carus, Pſyche. 9[130] lichen Natur und von dem was als ein Göttliches allem
Sein zum Grunde liegt — kurz er gelangt zum Verneh¬
men der Idee d. i. zur Vernunft, und ſchauen wird er
von nun an mehr und mehr das Ewige, und es werden
ihm mehr und mehr Ideen deutlich herantreten, und indem
er dieſe zuerſt in der Vorſtellungswelt ſchärfer bezeichnet
und zuletzt ein Leben durch Wiſſenſchaft und Kunſt bethä¬
tigen lernt, entſteht ſo das im Geiſte, was wir die höhere
Productivität der Seele nennen.


Sei dies vorläufig nur vorbereitend und ganz im All¬
gemeinen angedeutet über die Entwicklung des Geiſtes! —
Jetzt kehren wir wieder zur Betrachtung der Seelen der
Thiere zurück um zu ſehen, von wo aus und wie weit
ſich ſchon hier eine Entwicklung des Geiſtes geltend
machen kann.


Schon die oberflächlichſte Erwägung der höhern Thier¬
ſeele nach obigen Vorausſetzungen muß aber ergeben, daß
nur die niedrigſte Stufe eines ſelbſtbewußten Geiſtes —
der Verſtand — hier hervortreten könne und wirklich
hervortritt, denn nirgends begegnen wir in der Thierwelt
noch Spuren von Dem, was wir als Phantaſie oder gar
als Vernunft bezeichnen dürfen. Was aber nun für die
ſchärfere Einſicht in das Seelenleben überhaupt hiebei als¬
bald als von großer Wichtigkeit ſich darſtellt, iſt, daß
genau in demſelben Verhältniß als die erſte
Stufe des Geiſtes auftritt
, jene merkwürdigen
Erſcheinungen eines mit beſondrer Weisheit
und Kunſt über die Organiſation hinaus
, als
Triebe
, ſich offenbarenden unbewußten Lebens,
ſogleich zurücktreten, und daß daher nun jene
ſchlagenden Thatſachen der Kunſttriebe
, Wan¬
derungstriebe u
. ſ. w., denen wir in den untern
Klaſſen begegneten
, um ſo mehr verſchwinden,
je mehr die erſten Aeußerungen einer verſtän¬
digen Seele bemerkt werden
.


[131]

Die erſten Andeutungen des Geiſtes, wie wir ſie bei
den Vögeln in der Fähigkeit zum Verſtehen der menſch¬
lichen Stimme, zur Unterſcheidung verſchiedner Perſonen,
zum Nachahmen fremder Laute, zum Erlernen einiger ihnen
von Natur fremden Bewegungen antreffen, ſchließen noch
nicht alle jene mit Nothwendigkeit geforderten unbewußten
Kunſttriebe und Zeichen einer gewiſſen, ſo zu ſagen, un¬
bewußten Intelligenz aus. Anders verhält es ſich dagegen
in den höhern mehr durchgebildeten Ordnungen der Säuge¬
thiere, den Pachydermen (Elephant und Pferd), den Wieder¬
käuern (Lama und Schaf), den reißenden Thieren (Hund)
und in den Vierhändern (Affe). Hier pflegen die Zeichen
jener höhern Offenbarungen des unbewußten Lebens ganz
zu verſchwinden, und es treten dagegen die Zeichen eines
beginnenden ſelbſtbewußten Lebens hervor in dem oft ſo
deutlichen Ueberlegen und Wählen zwiſchen zwei Gegenſtän¬
den, in der ſo merkwürdigen Bildſamkeit ihres Seelen¬
lebens durch den Menſchen, in dem ſo deutlichen Gedächt¬
niß, in der beſtimmten Anhänglichkeit an ein andres In¬
dividuum, und in den ſo wichtigen Merkmalen einer beſon¬
dern ausgeprägten Individualität jedes einzelnen Thieres
derſelben Art.


Bei dem Allen bleibt das Thier, auch das vollkom¬
menſte, im Geiſtigen ein Kind; es erreicht nie Das, was
ich oben die geiſtige Pubertät nannte, geſchweige denn
daß irgend von geiſtiger Productivität ſollte die
Rede ſein können. Hiebei iſt aber auf eine merkwürdige
Compenſation aufmerkſam zu machen. Das Thier nämlich
würde offenbar bei dieſer geringen Entwicklung des Geiſtes,
in vieler Beziehung in Erreichung ſeiner Lebenszwecke ge¬
fährdet ſein, gäbe nicht gerade das Vorherrſchen des Un¬
bewußten in ihm einen weſentlichen Erſatz. Wir haben
nämlich oben bemerklich gemacht, es liege im Unbewußten
eine gewiſſe Allgemeinheit des Daſeins, es ſei von tauſend
Regungen der Welt durchdrungen die dem bewußten Geiſte
[132] entgehen. Eben in wie fern nun dem Thiere die höhere
Geiſtesentwicklung verſagt iſt und das Unbewußte in ihm
mehr vorſchlägt, kann es nun auch unmittelbar ſehr Vie¬
les, und kennt und ſchaut traumartig eine Menge
von Verhältniſſen und Beziehungen, welche dem erwachten
höhern Bewußtſein des Menſchen gerade ſo nicht mehr
möglich ſind. Schon Cuvier brauchte daher einmal den
Ausdruck (ohne ihn jedoch eigentlich nach der ganzen Ent¬
wicklung ſeiner Begründung zu rechtfertigen): „das Thier
ſei, wenn man ſeine merkwürdigen Inſtinkte und Triebe
recht ſtudire, anzuſehen, als eine Art von Somnam¬
büle
.“ So wie alſo auf der niederſten Stufe des Thierreichs
und bei dem ſchwächſten Grade eines bloßen Weltbewußt¬
ſeins, alle Lebensbeſtimmung auch nach Außen größtentheils
nur vom Unbewußten ausgeht, ſo iſt auch bis in die höhern
Regionen des Thierlebens, weil auch da die Entwicklung
des Selbſtbewußtſeins immer nur unvollkommen zu Stande
kommt, die unbewußte Seite der Seele, durch ihre — ich
möchte ſagen — Unmittelbarkeit, von weſentlichem
Einfluſſe um die Erreichung der Lebenszwecke des Thieres
zu erleichten und das was wir hier die Kindheit ſeines
Geiſtes genannt haben, zu ſtützen und zu heben.


Es muß nun übrigens ſelbſt Das, was im Thiere
von Kindheit des Geiſtes erreicht wird, immer noch noth¬
wendig weſentlich verſchieden geachtet werden von der Kind¬
heit des Geiſtes, wie ſie im Menſchen ſich darſtellt, und
ich muß dabei gleich hier vorläufig auf eine noch keines¬
weges gehörig anerkannte Wahrheit aufmerkſam machen,
über welche wir bei Erörterung des menſchlichen Geiſtes
noch ausführlicher uns werden verbreiten müſſen. Es iſt
nämlich überhaupt zu wiſſen und als eine zweite vorausgrei¬
fende Bemerkung aufzuſtellen: daß Alles, was wir Verſtand,
Phantaſie, Vernunft nennen und als verſchiedene Stufen
geiſtiger Entwicklung bezeichnen keinesweges ein einiges
unabänderliches Etwas
, ſondern ein durchaus In¬
[133] dividuelles und vielfältigſt Verſchiednes ſei. Wir
haben uns allerdings ganz fälſchlich gewöhnt das beſondre
menſchliche Vermögen — Verſtand — Vernunft — mittels
deren wir gewiſſe allerdings an ſich ewige und unabänder¬
liche Wahrheiten uns anzueignen verſuchen, ſelbſt als ein
ewig ſich Gleiches
und Unabänderliches zu betrachten,
da es ſich doch mit ihnen verhält wie etwa mit dem Auge,
welches in jedem Menſchen und in jedem Thiere jenes eine
merkwürdige Spannungsverhältniß — Licht genannt —
jedesmal auf eine qualitativ verſchiedne und eigenthümliche
Weiſe anſchaut. 1 So ſehr nämlich auch, im Großen und
Weſentlichen faſt alle Anſchauungsweiſen der Augen über¬
einkommen, ſo ſieht doch ſtreng genommen Jeder nicht bloß
— was allbekannt iſt — ſeinen eignen Regenbogen, ſon¬
dern überhaupt ſeine eigne Licht- und Farbenwelt. Eben
ſo werde ich ſpäterhin darauf aufmerkſam machen, wie
unendlich verſchieden Das ſein kann, und — nach der
unendlichen Verſchiedenheit menſchlicher Individualitäten —
ſein muß, was wir Verſtand und Vernunft nennen, und
wie falſch die Vorſtellung ſei, jegliches Vermögen der Art
ſei ein Einiges in ſich Gleiches, von dem nur dem Einen
eine größere, dem Andern eine kleinere Quantität zugetheilt
worden ſei, und wobei die tauſendfältigen qualitativen Nu¬
ancen, welche Vermögen der Art in Verſchiednen zukommen,
ganz unbeachtet blieben. Wie geſagt, dies Alles muß ſpäter
noch zur genauern Erörterung kommen; hier ſoll nur darauf
aufmerkſam gemacht werden, welchen Einfluß die Erkennt¬
niß dieſer Wahrheit für das Verſtehen des Thierlebens
und namentlich der Thierſeele hat. Wer ſich in der Pſy¬
chologie des Thieres nicht los machen kann davon, daß
[134] der Geiſt in wie fern er im Thier ſich zu entwickeln beginnt
etwas weſentlich, und zwar qualitativ Anderes iſt als der
des Menſchen, wer hier nur an ein plus und minus denkt,
der wird nie zu einem nähern Verſtändniß gelangen. Es
iſt hier unbedingt nothwendig, davon auszugehen, das Thier
habe ſeinen beſondern Verſtand, eben ſo wie es
eine qualitativ entſchiedne eigenthümliche Seele habe, oder
— richtiger geſagt — iſt. Ja, nicht bloß überhaupt iſt
der Verſtand oder die erſte Stufe des Geiſtes im Thier
ein Eigenthümliches gegen die gleichnamige Facultät im
Menſchen, ſondern in jedem Thiere insbeſondre erhält dieſe
Stufe eine eigenthümliche Färbung, und iſt am Ende, wo
innerhalb der Art des Thieres ſelbſt eine beträchtliche Ver¬
ſchiedenheit der Individualität merklich wird, ſelbſt nach
dem Individuum verſchieden. Der Verſtand des Hundes
muß ſonach nicht nur etwa als ein qualitativ andrer be¬
trachtet werden als der des Pferdes, ſondern der Verſtand
des Jagdhundes iſt ein andrer als der des Pudels, und
wieder hier iſt zwiſchen dem Verſtehen verſchiedner Jagd¬
hunde und verſchiedner Pudel ein wichtiger und aus vielen
Zeichen merklicher Unterſchied vorhanden. Auf dieſem Stand¬
punkte erhalten wir alſo von den geiſtigen Zuſtänden des
höher entwickelten Thieres einen weſentlich andern Begriff,
als wenn wir ſie bloß als ein minus menſchlicher Zuſtände
betrachten wollten, und dieſe Anſicht erſt gewährt dem
Beobachter ſelbſt die geiſtige Freiheit, welche ihn fähig
macht, von alle den vielfältigen Nuancen, welche in der
Thierſeele vorkommen, doch einigermaßen den Begriff zu
gewinnen, obwohl es zuletzt immer unmöglich bleiben muß
von den Zuſtänden einer Thierſeele die volle und ganz an¬
gemeſſene Vorſtellung zu erhalten, da es uns oft ſchwer
genug fällt, ſelbſt in die Seele eines andern Menſchen nur
mit einiger Deutlichkeit uns zu verſetzen.


Uebrigens iſt es eine nothwendige Folge daß, ſo wie
die Seele des Thieres diejenige Stufe der Entwicklung er¬
[135] reicht, auf welcher ein gewiſſes klareres Verſtehen der
Außenwelt und ihrer Beziehung zum Individuum möglich
wird, kurz — wo Das hervortritt was wir als Ver¬
ſtand
bezeichnen, auch das Thun, die Gegenwirkung
gegen die Außenwelt freier, und das Gefühl vom eignen
Zuſtande deutlicher werden muß. In den höhern Thieren
gibt ſich daher nicht nur das Gefühl vom eignen Zuſtande
bereits deutlicher kund, Das, was wir Affekte — Ge¬
müthszuſtände nennen, Traurigkeit, Freude, Ausgelaſſen¬
heit, Furcht, Angſt, Muth, Zorn — laſſen ſich unter¬
ſcheiden, ja das Thier kann dahin gebracht werden, durch
gewiſſe in ihm erregte Vorſtellungen, z. B. durch die Vor¬
ſtellung vom Willen ſeines Herrn, ihm kund geworden oft
im bloßen Auffaſſen eines Blicks — dieſe Gemüthszuſtände
mit einer gewiſſen Willkür zu beherrſchen, die Furcht in
Muth, den Zorn in Ruhe oder in Furcht übergehen zu
laſſen. Eben ſo verrathen die Handlungen, das Thun von
hier an durchaus, daß nicht mehr allein eine äußere Ein¬
wirkung, ein Reiz, ſie unmittelbar als nothwendige Reac¬
tion hervorruft, oder nur ein Gemeingefühl ſie — in der
Form des Triebes — bedingt (obwohl beides hier ſowohl
als ſpäterhin ſelbſt im Menſchen vorkommt, ſobald es ſich
nicht von der irgendwie bewußten, ſondern von der unbe¬
wußten Sphäre des Lebens handelt), vielmehr werden ſie
von nun an durch Gemüthszuſtände, Erinnerungen und
eine gewiſſe Vergleichung und Beurtheilung aufgenommener
Vorſtellungen beſtimmt. Auf dieſe Weiſe kommen hier
Handlungen zu Stande, welche bereits denen des gereiften
Menſchen in vieler Beziehung ſich nähern können. Das
Thier rächt empfangene Mißhandlungen, iſt dankbar Dem,
der ſich ihm gütig bewieſen hat, läßt ſich (was beſonders
von ausnehmender Wichtigkeit iſt) erziehen, und ver¬
ändert und veredelt dabei nicht bloß ſein weltbewußtes
Seelenleben, ſondern zugleich, in Folge der Einwirkung
des Bewußten auf das Unbewußte, ſeine geſammte phyſiſche
[136] Conſtitution und ſeine äußere Geſtalt, jedoch alles Das nur
innerhalb eines gewiſſen Kreiſes, nur innerhalb der ihm
von Anbeginn gezogenen Gränzen. Wie es daher in der
Reihenfolge der höhern Säugethiergattungen formell aus¬
geſprochen iſt, daß auch die der Menſchengeſtalt am mei¬
ſten ſich nähernden im Affen, nur bis zu einer Carricatur
des Menſchen ſich erheben, ſo wird auch im Geiſtigen das
Thier, ſo mannichfaltig auch ſein Vorſtellungsleben ſich ge¬
ſtalten mag, ſo vielfach es dieſe Vorſtellungen combiniren
mag, ſo viel auch durch Erziehung in ihm ſich entwickeln
mag, immer innerhalb der geiſtigen Kindheit verweilen,
es nie zur geiſtigen Pubertät, zur Productivität, Phantaſie
und Vernunft bringen können.


Auch dieſe Erſcheinungen ſind gar zu oft bisher un¬
richtig beurtheilt worden. Man erkannte längſt eine ſehr
genaue Parallele zwiſchen dieſer unvollkommnern geiſti¬
gen Entwicklung und dem vom menſchlichen noch in ſo
vieler Beziehung entfernten Hirnbau, und folgerte daraus:
„die Gehirnbildung und eigentlich die des ganzen Orga¬
nismus hat ſich bei dieſen Geſchöpfen, in Folge einer ge¬
ringern Lebenskraft, nicht in dem Maße wie beim Men¬
ſchen geſtaltet, die Seele fand alſo nicht die Organe vor
welche ihr zu einer freiern und ſchönern Thätigkeit nöthig
waren und darum zeigen ſich nun ſchwächere Geiſteskräfte
und darum kommt es zu keinem Selbſtbewußtſein;“ gleich¬
ſam als ob die Seele immer dieſelbe ſei und hier nur wegen
der unvollkommnen Hirnbildung ſo unvollkommen ſich zu
äußern vermöchte, gleich einem Manne etwa, den man in
einen engen Küraß gezwängt hätte. Dieſe Art zu reflek¬
tiren müſſen wir durchaus unſtatthaft erklären und ablehnen,
da ſie vollſtändig ins Abſtruſe führt. Nein, in der un¬
endlichen Mannichfaltigkeit der Ideen ſind deren von höchſt
verſchiedenartiger Energie. Der göttliche Gedanke, welcher
das Wirklichwerden einer Thierheit bedingte, iſt und mußte
ſein in ſich ein anderer und niederer, als der der Menſch¬
[137] heit, und die niedere Idee des Thieres offenbart ſich eben
ſo unbewußt in der minder edlen Geſtaltung und Entwick¬
lung des Organismus überhaupt und des Hirns inbeſondre,
wie ſie bewußt als Seele geringer ſich offenbart, wenn
jenes unbewußte Walten das ihm geſteckte Ziel erreicht hat.
Nur wenn wir ſomit die weſentliche Einheit jenes Unbe¬
wußten und dieſes Bewußten einſehen und anerkennen, und
wenn wir von der unendlichen Mannichfaltigkeit der Ideen
und der damit geſetzten nothwendigen qualitativen Ver¬
ſchiedenheit jeder von der andern die Ueberzeugung gewon¬
nen haben, kann eine befriedigende und klare Anſchauung
der Welt uns aufgehen. Hiebei muß übrigens auch noch
einmal mit Beſtimmtheit ausgeſprochen werden, was ſich
eigentlich von ſelbſt verſteht, nämlich daß, wenn wir den
Ausdruck „höher oder niedriger“ von göttlichen Ideen und
„vollkommner oder unvollkommner“ von Organismen brau¬
chen, dies eine durchaus menſchliche und ganz ſubjektive
Bezeichnungsweiſe ſei. Im unendlichen Kreiſe göttlichen
Alllebens kann Jegliches in ſich nur als ein Voll¬
kommnes
geachtet werden 1, und in Wahrheit iſt in die¬
ſem Sinne zu ſagen, daß der Menſch nicht vollkomm¬
ner
ſei als das Infuſorium, und daß das ſcheinbar Nie¬
drigſte, in Gott und für die Geſammtheit der
Welt
eben ſo bedeutungsvoll und nothwendig ſei, als das
ſcheinbar Höchſte, — aber nicht ſo für den Stand¬
punkt des Menſchen
, und darum rechtfertigen ſich
jene Bezeichnungen.


Nach allem Vorhergehenden können wir ſonach das
Reſultat ausſprechen: das Höchſte, wozu die Thierſeele ſich
entwickelt, iſt der beſtimmtere Ausdruck einer geiſtigen In¬
dividualität
, d. h. einer Eigenthümlichkeit, welche in
[138] pſychiſcher Beziehung nicht bloß der Art zukommt, ſon¬
dern Individuum von Individuum unterſcheidet; aber das
Weſentlichſte, was ihm immer unerreichbar bleibt, iſt die
geiſtige Pubertät — mit einem Worte die Darſtellung der
Perſon. Ein Thier kann auch geiſtig ein Individuum
ſein, ſeine beſondre Art haben die Außenwelt zu erkennen,
ſich ſelbſt zu fühlen und gegen Aeußeres zu wirken; aber
es kann nie Das werden, was wir eine Perſönlichkeit,
einen Charakter nennen. Hier liegt die Annäherung, und
hier die ungeheure Scheidewand im Verhältniß zum Men¬
ſchen. Darum erreicht auch nur die Geſammtheit aller
Thiere den Begriff eines gewiſſen ideellen Organismus,
einer gewiſſen Perſönlichkeit — und das iſt Das, was wir
unter der Benennung der Thierheit zuſammenfaſſen.
Kein Einzelnes dieſer Geſchöpfe hingegen, nicht einmal die
Geſammtheit aller Individuen einer Art oder einer Ord¬
nung, kann zu dieſer Art von Perſönlichkeit ſich erheben.
Schon die Sprache würde es widerſinnig finden, wenn
von Pferdeheit, Hundeheit, Vogelheit die Rede ſein ſollte.
Dem Begriffe der Menſchheit und der Perſon des Men¬
ſchen kann nur der der geſammten Thierheit gegenüber
geſtellt werden.


Sehr merkwürdig iſt es übrigens daraus zu achten,
wie das Thier, welches innerlich ſo entfernt bleibt vom
Begriffe der Perſönlichkeit, und bei welchem auf den tief¬
ſten Stufen ſogar die Individualität zweifelhaft wird (wirk¬
lich wird man ſchwer darüber aufs Reine kommen, was
bei einer Gorgonia oder Pennatula eigentlich das In¬
dividuum iſt), auch äußerlich einen ſo ganz verſchied¬
nen Geſichtskreis der Welt hat. Je ſchwächer die Indivi¬
dualität, deſto weniger iſt von Weltauffaſſung dem Thiere
möglich. Es führt zu den merkwürdigſten Betrachtungen,
wenn man ſich deutlich macht, was für das im Schlamm
vergrabne Muſchelthier oder für den Wurm in der Erde
ſeine Welt heißt! Mit zunehmendem Weltbewußtſein
[139] und erſten Andeutungen des Geiſtes nimmt auf eine merk¬
würdige Weiſe auch der Begriff von der Welt des Thieres
zu. Der größte Geſichtskreis und die weiteſte Welt für
das Thier mag die Welt des Vogels ſein. Kein Thier
jedoch dehnt ſeine Welt aus, über die Erde hinaus,
und die größten Himmelskörper, deren Wirkung es em¬
pfindet, gehören ſeiner Vorſtellung nach (wie in der Kind¬
heit der Völker) immer nur zur Erdnatur. Auch dieſe
ganze Stufenfolge von immer zunehmender Ausdehnung
der Welt mit zunehmender Geiſtesentwicklung, wiederholt
ſich beim heranwachſenden Kind; auch uns wird die Welt
nach und nach immer weiter.


Wenden wir uns nun wieder zur Seelengeſchichte des
Thieres, ſo kann es, wie ſchon bemerkt, hier nicht zur
Aufgabe gemacht werden, eine ins Einzelne gehende Pſy¬
chologie der Thiere zu unternehmen, aber — da die bis¬
herigen Verſuche etwas der Art zu liefern, ſo ſehr unge¬
nügend geblieben ſind — ſo ſcheint es doch noch wichtig,
die Punkte hervorzuheben, welche insbeſondre zu berückſich¬
tigen ſein würden, wenn etwas Vollſtändigeres und mehr
Begründetes in dieſer Beziehung geliefert werden ſollte.
Ich hoffe ſie in nachſtehender Aufzählung zu beſſerer Ueber¬
ſicht bringen zu können. Es wäre nämlich zur ſcharfen
und genügenden Schilderung dieſer ſo verſchiednen Formen
des Seelenlebens unerläßlich:


1. Die Darſtellung der jeder größern Abtheilung
eigenthümlichen Art des unbewußten Seelenlebens,
in wie fern es durch Entwicklung des organiſchen Glied¬
baues und Lebens ſich offenbart. Denn es verhält ſich
hier ganz ſo wie Göthe in Beziehung auf das Licht
ſagt: „eigentlich unternehmen wir umſonſt das Weſen eines
Dinges auszudrücken. Wirkungen werden wir gewahr,
und eine vollſtändige Geſchichte dieſer Wirkungen umfaßt
wohl allenfalls das Weſen jenes Dinges. Vergebens be¬
mühen wir uns den Charakter eines Menſchen zu ſchildern;
[140] man ſtelle dagegen ſeine Handlungen, ſeine Thaten zu¬
ſammen, und ein Bild des Charakters wird uns entgegen¬
treten.“ Eben ſo bemühen wir uns vergebens die unbe¬
wußte Idee an ſich wie ſie das Daſein eines thieriſchen
Geſchöpfs bedingt darzuſtellen, aber wenn uns alle ihre
Offenbarungen in Bildung, Umbildung und Leben, ver¬
ſtändlich werden, ſo wird endlich dadurch unſerm Geiſte
die Idee ſelbſt vernehmbar geworden ſein. Auf dieſe Weiſe
darf man ſagen, es ſeien Zoologie, Zootomie und Zoophy¬
ſiologie eigentlich durchaus nur Theile der Zoopſychologie,
indem in aller leiblichen Geſtaltung und in allem leiblichen
Leben des Thieres, ſich zuhöchſt doch nur die Eigenthüm¬
keit gerade dieſer urſprünglichen Lebensidee kund gibt.


2. Würde hieher gehören die Darſtellung der in ver¬
ſchiednen, ſchon zu einem Weltbewußtſein entwickelten Gat¬
tungen vorkommenden verſchiedenartigen Offenbarungen des
unbewußten Seelenlebens in Form von Thätigkeiten,
welche zwar über die Gränze des innern organiſchen Le¬
bens hinausgehen, aber immer noch mit derſelben Noth¬
wendigkeit vollzogen werden, wie das unbewußte Bilden
ſelbſt. Die Thätigkeiten zerfallen in drei Arten von Trie¬
ben. Es ſind


a, theils ſolche, welche zu Handlungen anregen, wo¬
durch das innere bildende, umbildende, ſich fortpflanzende
Leben nothwendig bedingt iſt, ja ganz eigentlich erſt mög¬
lich wird. Hieher gehören die ſogenannten Naturtriebe
der Thiere — der Nahrungstrieb, der Athmungs¬
trieb
, der Fortpflanzungstrieb, aus welchen eine
Menge von Handlungen des Thieres, welche mit Noth¬
wendigkeit
geübt werden, hervorgehen.


b, theils ſolche, welche als Fortſetzungen des innern
bildenden und umbildenden Lebens erſcheinen, und gleichſam
nur die Organiſation des Geſchöpfs weiter ausdehnen
und ſie in gewiſſen Kunſtgebilden über die Gränzen des
eignen leiblichen Lebens hinausgehen machen. Hieher ge¬
[141] hören die ſogenannten Kunſttriebe der Thiere, z. B. das
Schaffen künſtlicher Röhrengebilde um die Oberfläche man¬
cher Inſektenlarve, wodurch ein Hautſkelet erſetzt wird, das
Bilden der Netze, wodurch Fangarme erſetzt werden, das
Bauen von Zellen oder von künſtlichen Brutſtätten für Eier
und Junge, durch welche gleichſam ein innerer organiſcher
Bildungsort für die Frucht z. B. ein Uterus erſetzt wird,
u. ſ. w.


c, theils endlich ſolche, in denen die Beziehung des
individuellen thieriſchen Lebens zum telluriſchen Leben her¬
vortritt, und hierhin gehört namentlich der ſogenannte Wan¬
derungstrieb
der Thiere, aus welchem die merkwürdigen
Züge der Inſekten, Fiſche, Vögel und einiger wenigen
Säugethiere hervorgehen.


Anmerkung. Schon hier iſt darauf aufmerkſam zu machen,
daß dergleichen Sonderungen, wie die der hier einzeln auf¬
geführten Triebe (Naturtriebe, Kunſttriebe, Wanderungs¬
triebe) nicht auf irgend eine Weiſe veranlaſſe an eine wirkliche
Theilung der Seele zu denken und die Abtheilungen der
Seele irgend wie zu localiſiren. Dieſes ſo häufig auftauchende
in ſo vielen Pſychologien, und auf ſo rohe Weiſe in der ſo¬
genannten Phrenologie erſcheinende Beſtreben, iſt nur ein
Zeichen davon wie ſchwer es iſt ſich im rein Geiſtigen von
aller Einmiſchung eines körperlichen und räumlichen Verhält¬
niſſes frei zu erhalten. Unwillkürlich wird ſo oft, wenn irgend
von verſchiednen Richtungen des Seelenlebens die Rede iſt, dieſer
Verſchiedenheit eine Art von palpabler Realität zugeſchrieben
und mit einem Male iſt alle wahrhafte Vorſtellung zerſtört.
Wenn irgend wo, ſo kommt hier Alles darauf an in geiſti¬
ger Erkenntniß — im Vernehmen der Idee — dazu ſich
zu erheben daß man die Möglichkeit und Wirklichkeit einer
Vielheit, innerhalb einer ungetrennten Einheit — einer ur¬
ſprünglichen Monas — feſt anſchauen lerne.


3. Und endlich würde es die Aufgabe einer wahren
Zoopſychologie ſein, eine beſtimmte Darſtellung zu geben
[142] des in verſchiednen Gattungen auf ſo verſchiedne Weiſe
aus dem unbewußten Seelenleben hervortretenden und gei¬
ſtig ſich offenbarenden bewußten Seelenlebens. Hiebei würde
namentlich hervorzuheben ſein, daß dieſes bewußte Seelen¬
leben ſich offenbare, theils auf negative Weiſe, indem es
mehr oder weniger die Nothwendigkeit des unbewußten
Seelenlebens ganz aufhebt oder doch bedeutend umändert;
theils auf poſitive Weiſe, indem ein mehr ſelbſtſtändig wer¬
dender Verſtand und Wille und ein deutliches ſich kund
gebendes Selbſtgefühl allmählig wirklich im Thiere her¬
vortritt.


Das erſtere, das negative Verhalten iſt beſonders
merkwürdig, bisher jedoch als ſolches weniger beachtet,
obwohl es ſehr einleuchtend ſein muß, daß gerade dadurch
daß ein früherhin Unabänderliches, ein früher unerläßlich
Gefordertes, nunmehr wenigſtens theilweiſe auch aufge¬
hoben werden kann, entſchieden ein Strahl der Freiheit
ſich geltend macht, welcher weſentlich geeignet ſein muß die
erſte Morgenröthe vom eigentlichen Reiche des Geiſtes zu
verkünden. Es kommen dann allerdings auch dieſe Nega¬
tionen erſt auf ſehr hohen Stufen vor, und wenn man
die Macht des Unbewußten, welches hier negirt wird, recht
empfinden will, ſo mache man es ſich nur recht deutlich
daß, wenn es z. B. möglich wäre, daß einer Biene es
einmal einfallen könnte, runde Zellen ſtatt ſechseckiger zu
bauen, oder einer Spinne, welche runde aus einer Spirale
gewobene Netze bilden muß, ein Netz von viereckiger Form,
gleich einem Fiſchernetze, zu weben, dies Erſcheinungen
ſein würden, die uns nicht minder überraſchen und betroffen
machen müßten, als wenn wir den Mond ſtatt in Oſten
im Weſten aufgehen ſähen.


Bei einer ausführlichern Betrachtung dieſer negativen
Einwirkung des erwachenden Bewußtſeins würde denn ins¬
beſondere zu erwägen ſein, wie gar verſchieden auf die
verſchiednen Richtungen des unbewußten Seelenlebens ſich
[143] beziehend dergleichen Verneinungen und Aufhebungen ſich
äußern können. Jedenfalls am wenigſten wird dies vor¬
kommen bei demjenigen unbewußten Walten der Idee, wo¬
durch der leibliche Organismus entſteht und ſich erhält.
Zwar verfeinert und veredelt unter gewiſſen Bedingungen
in den höchſten Klaſſen ſich auch dieſes Walten, und zwar
ungefähr in gleicher Art wie ſolche Veränderung eben auch
in Bezug auf menſchliche Bildung beſprochen wurde, als
welche entſchieden durch edleres höheres Seelenleben ver¬
feinert und verſchönt, durch niedrigeres gemeines Seelen¬
leben verſchlechtert und entwürdigt wird. Auch hier im
Thiere, ſage ich, geſchieht dergleichen durch Einwirkung
des Bewußten auf das Unbewußte — aber die Anregung
hiezu geht dann nicht von der Thierheit, nicht aus
der ſelbſtkräftigen geiſtigen Entwicklung und Selbſtbefreiung
des Geſchöpfs, ſondern allemal von der Menſchheit
aus, und auf höchſt merkwürdige und folgenreiche Weiſe
gewahren wir alsdann daß eine ſolche gegebne Befreiung
von dem Joche der Nothwendigkeit ſonſt gewöhnlicher Bil¬
dung (was man gemeinhin unter dem Ausdrucke der künſt¬
lichen Veredlung der Racen begreift) nur durch Unter¬
werfung
des Thieres unter die Herrſchaft des Menſchen
bewirkt wird. Dies Hervorgehen ſolcher größern Freiheit,
gegenüber dem Geſetze der Bildung, aus Unterwerfung
und Zucht, einer Befreiung, welche ſich entwickelt aus dem
Dienſte und dem Gehorſam, werden wir auch bei Betrach¬
tung der übrigen Form der Negation des Unbewußten durch
das Bewußte erkennen und in der Geſchichte der Menſchen¬
ſeele ſelbſt in anderer Form wiederfinden.


Die andre Reihe verſchiedener Richtungen des unbe¬
wußten Seelenlebens, welche ſich in den Naturtrieben, den
Kunſttrieben und den Wanderungstrieben darſtellt, vermag
gleichfalls nur in geringem Maße vom erwachten Weltbe¬
wußtſein negirt oder wenigſtens modificirt zu werden, und
in wie weit ſie es wird, geſchieht es faſt wieder allein in
[144] Folge der Unterwerfung unter die Herrſchaft des Menſchen,
und durch die Erziehung, ſelten nur dadurch daß durch
Gefühl des einen Triebes der andre negirt wird. So
lernt im erſten Falle der Jagdhund den Nahrungstrieb be¬
herrſchen, indem er vor dem Geflügel, das von Natur
ſeiner Beute beſtimmt iſt, ruhig ſtehen bleibt, oder indem
er verſagt die Nahrung ſelbſt anzunehmen, wenn ſie ihm
nicht auf die Weiſe, die man ihm anerzogen hat, gereicht
wird u. ſ. w., aber freilich iſt alles dies nicht eine wahre
Befreiung, im eignen Lichte der Freiheit hervorgegangen,
und trägt deßhalb auch dem eignen thieriſchen Seelenleben
keine weitern Früchte, ſondern wie es durch Herrſchgewalt
erlernt iſt, ſo wird es auch nur als Sklavendienſt geübt,
und immer gilt das Wort des Fauſt über den Pudel:


— „ich finde nicht die Spur
von einem Geiſt, und alles iſt Dreſſur!“

Im andern Falle befindet ſich das Thier, wenn es
durch den Fortpflanzungstrieb den Nahrungstrieb beherrſcht,
oder eine Nahrung die ihm ſelbſt zukommen könnte der Brut
zuträgt u. ſ. w.


Nach allen dieſen negativen Aeußerungen erwachenden
Bewußtſeins, würden nun die poſitiven in Betrachtung
kommen, deren Verſchiedenheit nothwendig weſentlich dadurch
beſtimmt werden muß, daß ſie entweder in der Sphäre der
Erkenntniß, oder der des Gefühls, oder der des Willens
ſich hervorthun. Von beſondrer Wichtigkeit ſind hier die
Aeußerungen des Seelenlebens welche ein Er¬
kennen
— nicht bloß ein unbewußt Hingezogenwerden oder
Abgeſtoßenwerden von irgend etwas — ſondern ein Auf¬
nehmen der Vorſtellung von irgend einem Aeu¬
ßern
um ſeiner ſelbſt willen — kund geben. Dieſe
Züge im Leben der höhern Thierwelt verdienen beſonders
das Studium des Pſychologen und ſind nur durch den
feinen Blick des Forſchers zu entdecken. Das Früheſte dieſer
Art verräth ſich vielleicht in Dem was man die Neugier
[145] der Vögel nennt. Die Art wie beſonders manche der über¬
haupt geiſtig mehr entwickelten Singvögel an eine ihnen
ungewohnte — mit keinem ihrer Natur- und Kunſttriebe
in Beziehung ſtehende Erſcheinung herankommen, der merk¬
würdige Blick ihres Auges, den man dann gewahr werden
kann, die Aufmerkſamkeit und die Wiederkehr, die ſie ſol¬
chem Gegenſtande widmen — ſie geben ein Vorbild von
Dem was im Menſchen zur geiſtigen, erkennenden, intelli¬
genten Anſchauung ſich entwickelt. Selbſt die Unterſcheidung
der Perſonen tritt in den Vögeln — beſonders zahmen
Papageien — ſehr deutlich hervor; und — was ſehr be¬
merkenswerth iſt — mit der auftretenden Erkenntniß er¬
ſcheint ſogleich, als unzertrennlicher Begleiter, auch der
Irrthum
— das Irren, das ſich Täuſchen, welches das
abſolut Unbewußte natürlich ausſchließt. Thiere dieſer Art
täuſchen ſich ſchon oft — ein zahmer Kakadu erſchrack oft
vor einer fliegenden Feder oder des etwas, und ſein ängſt¬
licher Blick verrieth, daß er ſie für einen Feind — etwa
für einen Raubvogel, hielt. Die Möglichkeit eines
Irrens aber iſt der erſte Schritt zur Erkenntniß
der Wahrheit
; auch wir lernen die Welt nur kennen
durch vieles Irren.


Alles Erkennen vergleicht übrigens friſch zugeleitete
Vorſtellungen mit länger ſchon bewährten, und ſetzt alſo
Erinnerung voraus. So erkennen denn und unterſcheiden
die höher entwickelten, dem Menſchen näher geſtellten Säu¬
gethiere noch beſtimmter die Sachen und Perſonen, ſie mer¬
ken ſich und erkennen Oertlichkeiten — z. B. Wege — mit
großer Präciſion, ſie lernen Worte verſtehen und behalten,
und wenn die Vögel ſchon Worte wiederholen, Melodien
lernen u. dgl., ſo iſt doch gerade hiebei ſchon wieder mehr
Unbewußtes einwirkend, ein Unbewußtes, welches, dieweil
es mehr auf directe Uebertragung der Gehörsempfindung
an die Stimmorgane hinweist — nicht ſo klares Verſtänd¬
niß des Aufgenommenen vorausſetzt und vorausſetzen kann,
Carus, Pſyche. 10[146] als z. B. beim Hunde die Art mit welcher er jedem an
ihn gerichteten leiſen Worte, ja oft jeder Miene ſeines
Herrn Verſtändniß und Folge zeigt. Dagegen iſt freilich
nicht zu vergeſſen daß auch das höchſte Erkennen, wie es
bei den Thieren vorkommt, immer nur ein ſehr ſubjektives
und egoiſtiſches bleibt und nie dazu ſich erhebt eine wahre
Objektivität zu erreichen, d. h. an der Erkenntniß
als ſolcher Freude zu haben
. Der einfache und
nothwendige Grund hievon iſt eben daß das Thier nie die
Pubertät des Geiſtes erreicht, nie der Produktivität der
Idee fähig wird; darum muß ihm das Wahrnehmen der
Idee in der Erſcheinung verſchloſſen bleiben, denn alle
Freude an wahrhaft objektiver Erkenntniß wird eben nur
möglich, indem der Geiſt die Idee der Erſcheinung ver¬
nehmen lernt. So, weil im Thiere die Idee der Schön¬
heit nicht ins Bewußtſein treten kann, wird das Thier nie
das Schöne der Welt gewahr werden. Ein Thier ſteht
z. B. der ſchönſten Gegend, dem reinſten Kunſtwerk durch¬
aus fühllos gegenüber und faßt eben ſo wenig die Schön¬
heit des Menſchen als die Art von Schönheit, die in ihm,
dem Thiere, ſelbſt ſich verkörpern kann.


Mit dem Erkennen zugleich entwickelt ſich das Selbſt¬
gefühl
, und eben dadurch wird erſt auf höhern Stufen
des Thierreichs das möglich, was wir Gemüthsbewegung
— Affekt nennen. Von einem Inſekt, einem Mollusk, einem
Fiſch können wir noch nicht ſagen, ſie ſeien fröhlich oder
traurig u. ſ. w., höchſtens der Affekt des Zorns tritt ſchon
ſehr früh hervor. In den höhern Thieren hingegen iſt faſt
die ganze Reihe von Affekten, in ſo fern ſie nicht, wie
etwa Liebe, Bewunderung — ein Vernehmen der Idee
vorausſetzen — deutlich unterſcheidbar. Freude, Trauer,
Abneigung, Zuneigung, Zorn, Furcht, Wuth u. ſ. w.
machen ſich ſehr beſtimmt kenntlich. Natürlich dürfen wir
auch hier nie uns dem Gedanken überlaſſen, als wären
dieſe Affekte im Thiere ganz dieſelben wie im ſelbſtbewu߬
[147] ten Menſchen. Die höhere Entwicklung, die erwachte Pro¬
duktivität, das Vernehmen der Idee in der Menſchenſeele,
gibt ihr durch und durch eine andere Färbung, ſchafft ſie
durch und durch zu einer andern, ſo daß ſelbſt das Unbe¬
wußte in ihr ein qualitativ andres iſt als im Thier, ge¬
ſchweige denn Das, was in die Region des Weltbewußt¬
ſeins gehört. (Man erinnere ſich hier deſſen was weiter
oben von der Eigenthümlichkeit des Verſtandes in jedem
Thiere und Menſchen als Beſonderm geſagt iſt.) Gewöhn¬
lich trugen deßhalb die frühern Beobachter viel zu viel vom
eignen Seelenleben in die Geſchichte des Seelenlebens der
Thiere, und gaben ſo oftmals auch der Darſtellung der
Affekte in ihnen eine zu menſchliche Färbung; und aller¬
dings iſt es ſchwer in dergleichen von ſich in ſo weit zu
abſtrahiren und das Verſetzen in eine durchaus andre Em¬
pfindungsweiſe immer nur approximativ zu erreichen.


Eine Art von Vorzug und doch eigentlich ein Verluſt
und Beweis der tiefen Stellung der Thierheit iſt es üb¬
rigens daß die Leidenſchaft in der Gefühlswelt des
Thieres noch durchaus nicht möglich iſt. Auch hier iſt die
zu geringe Objektivität des Thieres die Urſache und die
Erklärung dieſer Eigenthümlichkeit; denn die Leidenſchaft
ſetzt voraus, daß eine lebhafte Erfaſſung, eine gewiſſe Be¬
geiſterung der Seele für die Idee eines andern Individuums
oder für ein gewiſſes Thun in Bezug auf Individuen mög¬
lich ſei, und hiezu fehlt es dem Thier theils an Entwick¬
lung des Geiſtes überhaupt, theils insbeſondere an der
Möglichkeit des Vernehmens einer fremden Idee.


Noch mehr als die Gefühlsſphäre hängt auf das Ge¬
naueſte zuſammen mit der Erkenntniß — der Wille.
Wie es im Nervenſyſtem nachgewieſen werden kann, daß
es zwei verſchiedene Richtungen in der Strömung der In¬
nervation gibt — eine centrifugale und eine centripetale,
welche in geſunder Stimmung des Organismus ſich voll¬
kommen das Gleichgewicht halten, ſo ſoll auch Wollen, d. i.
[148] die Beiziehung des Innern auf Aeußeres, und Erkennen,
das Beziehen des Aeußern auf Inneres, ſich gegenſeitig
entſprechen und bedingen. Nichts deſto weniger iſt die Ener¬
gie beider nicht immer ſich gleich. Es findet ſich zuweilen
ein ſehr kräftiges, ſtarke Reaction hervorrufendes Wollen
bei mäßiger Energie der Erkenntniß und umgekehrt, und
im Allgemeinen darf man ſagen, daß, im Verhältniß gegen
die Menſchheit, das erſtere in der Thierheit der Fall ſei.
Das was wir, als höchſte Entwicklung des Willens, die
Willensfreiheit nennen, iſt eigentlich das Freiſein von an¬
dern Beſtimmungen zum Handeln, als denen, welche die
zum Vernehmen einer Idee entwickelte Erkenntniß als die
angemeſſenſten darſtellt. Jeder Wille der entweder von
einer neu aufgenommenen Vorſtellung, oder von einer, nach
dem ſpäter zu beſprechenden Kreislaufe der Vorſtellungen,
innerlich neu angeregten Vorſtellung unmittelbar beſtimmt
wird, ohne vorher an dem Maße einer Idee gemeſſen zu
ſein, iſt unfrei zu nennen, und indem das Thier der Er¬
kenntniß der Idee entbehrt, muß alſo nothwendig ſein Wille
durch ſein unfrei-Sein vom Willen des gereiften Menſchen
ſich gänzlich unterſcheiden. Das Höchſte, wozu es demnach
in dieſer Beziehung das Thier bringen kann, und wo dann
abermals eine gewiſſe Steigerung zwiſchen den verſchiede¬
nen Gattungen ſehr beſtimmt hervortritt, iſt „Willkür.“
Unter Willkür verſtehen wir nämlich die Eigenſchaft der
Seele, vermöge deren in gegebenem Falle die innere An¬
regung zu irgend einem Thun nicht unmittelbar durch den
äußern Reiz oder das innere organiſche Bedürfniß beſtimmt
wird, ſondern wo die Entſcheidung zur Thätigkeit, wenn
auch nicht an einer erfaßten Idee, aber doch an dem eig¬
nen Selbſtgefühle, und einem gewiſſen Erkennen davon,
ob das eine oder das andere Thun dieſem Selbſtgefühle
größere Luſt gewähren könne, abgemeſſen und gegeben wird.
So verſchmäht unter gewiſſen Umſtänden das Thier die
eine Nahrung und wählt eine andre, ſo wählt der Vogel
[149] unter mehrern Gelegenheiten zum Neſtanlegen eine die ihm
paſſender vorkommt, ſo folgt der Hund nicht dem Rufe der
einen ihm minder bekannten Perſon und folgt aufs Ge¬
naueſte dem Rufe einer andern u. ſ. w. Wie geſagt aber,
dieſe Willkür verſchwindet ebenfalls mehr und mehr, je
tiefer wir in der Reihe der Thiere herabſteigen. Auf den
tiefſten Stufen entſcheidet immer der augenblickliche Reiz
auch unmittelbar über das Thun, und wie die eine Pflanze
ihre Blüthe öffnet wenn Sonnenlicht einfällt, während die
andre im Sonnenlicht ſich ſchließt, oder wie in uns ſelbſt
der Muskel zuckt auf den galvaniſchen Reiz, ſo beſtimmt
und unwillkürlich zieht der Polyp ſich auf Berührung zu¬
ſammen, ſchließt die Muſchel ihre Schale, bohrt die Pholade
ihre Steinhöhle, fliegt die Motte nach dem Lichte u. ſ. w.
Es gehört eine ſehr feine Beobachtung dazu um auch
dieſe Seite der pſychiſchen Entwicklung in der Thierheit
ausführlich und in all ihren mannichfaltigen Nuancen zu
verfolgen, indeß glauben wir, daß einſtweilen die gegebe¬
nen Andeutungen wohl hinreichen könnten um ein allgemei¬
nes Bild davon zu erhalten, wie diejenige Entwicklung des
bewußten Seelenlebens, deren das Thier überhaupt fähig
iſt, aus dem Unbewußten hervor allmählig ſich vollende.
Es iſt daher nun zu andern Betrachtungen überzugehen.

2. Von Heranbildung der Seele und des Geiſtes im Kinde.

Wie man hie und da bei der morphologiſchen Ent¬
wicklungsgeſchichte des Thierreichs und des Menſchen dem
Irrthume nachgegeben hatte, daß die Geſtalt der höhern
Thiere und des Menſchen ſelbſt, in ihrer allmähligen Aus¬
bildung, wahrhaft durch alle die verſchiedenen Bildungs¬
ſtufen der niedern Thiere hindurchgehe, daß ſie als Infu¬
ſorium anfange, dann Mollusk, dann Wurm und Fiſch
werde u. ſ. w., ſo hat man zuweilen wohl auch bei Betrach¬
tung der ſeeliſchen Entwicklung des Menſchen die Anſicht
verfolgt, als ſei das erſte Seelenleben des Fötus oder
[150] neugebornen Kindes wirklich ein bloß thieriſches, und
als bilde es ſich nur allmählig erſt zur menſchlichen Eigen¬
thümlichkeit heran. Das Eine iſt ſo falſch als das Andre.
Wer an ſo etwas wirklich denken könnte, der hat das
Weſen der Idee nie begriffen, er hat das große Wort
nicht verſtanden:


„Nach dem Geſetz, wonach du angetreten,

So mußt du ſein, du kannſt dir nicht entfliehn!“

Allerdings können und müſſen die früheſten und
erſten Phaſen der Entwicklung
eines Weſens von
höherer Energie der Idee und zu reicherm Daſein beſtimmt,
immer einigermaßen ähnlich ſein den ſpätern Pha¬
ſen
eines Weſens von geringerer Energie der Idee und
zu ärmerm Daſein beſtimmt, aber dies können immer nur
Aehnlichkeiten, keine Gleichheiten ſein. Was die Form
und Geſtaltung betrifft, ſo widerlegt es denn auch die Be¬
obachtung durchaus und die erſte genaue Unterſuchung
der werdenden Organismen weiſt die Verſchiedenheit nach;
— nur das eine iſt wahr und verdient hier noch eine etwas
nähere Betrachtung, nämlich daß die allererſte ſichtbare Da¬
ſeinsform des menſchlichen Individuums als erſte mikroſ¬
kopiſche Keimzelle, von der Daſeinsform, in welcher auf
dieſer Stufe das niedrigſte thieriſche Individuum erſcheint,
kaum, oder gar nicht unterſchieden werden kann. Auf der
erſten Tafel des 5. Heftes meiner Erläuterungstafeln der
vergleichenden Anatomie habe ich die früheſten Eibläschen
ſehr verſchiedener Thiere zuſammengeſtellt, und wenn man
dieſe betrachtet und die der höhern und niederſten Geſchöpfe
ſo ſehr gleichförmig gebildet findet, ſo gibt dies eine ge¬
wiſſe Berechtigung zu denken, es exiſtire wirklich hier im
erſten Anfange der Bildung keine weſentliche Verſchiedenheit
unter den Thieren, welches man dann allerdings wieder
gewiſſermaßen auch für einen Grund der urſprünglichen
Gleichheit ſelbſt menſchlicher und thieriſcher Organiſation
halten könnte. Dem iſt aber doch nicht ſo, und wäre die
[151] Verſchiedenheit wirklich nicht actu vorhanden, ſo müßte ſie
immer potentia da ſein. Gewiß, das früheſte menſchliche
Ei wie das thieriſche, ſie ſind beide von kaum ſichtbarer
Kleinheit, beide ſind ſphäriſche mehrfach in einander ge¬
ſchachtelte Bläschen, allerinnerſt der ſogenannte Keimfleck,
darum das Keimbläschen, darum die Dotterblaſe, und
darum die Chorionblaſe, und ſelbſt dem bewaffneten Auge
wird es ſchwer möglich ſein die Eizelle im Ovarium eines
Kaninchens oder einer Kuh von der Eizelle im Ovarium
der Frau zu unterſcheiden, aber dies liegt bloß darin, daß
nothwendigerweiſe jede organiſche Bildung von der Dar¬
ſtellung der Hohlkugel ausgehen muß. Dieſe ideelle Hohl¬
kugel iſt aber, wie wir ſchon früher bemerkten, in Bezie¬
hung auf die unendlich verſchiedenen Weiterbildungen des
Organismus gleichſam der Mittelpunkt, von dem unendlich
viele Radien nach der Peripherie gedacht werden können.
Wie jeder dieſer Radien dann, je näher dem Mittelpunkte,
um ſo näher auch den Anfängen der andern Radien er¬
ſcheint, ſo auch iſt jene Reihenfolge der Entwicklung, um
ſo weiter zurück, um ſo mehr der Hohlkugel genähert; und
eben ſo wie nothwendig betrachtet, auch der Anfang jedes
Radius im Centrum mit den Anfängen aller andern mög¬
lichen Radien zuſammenfällt und doch, weil er gerade die¬
ſem
Radius angehört, ſelbſt ſchon im Centrum als ein
andrer zu denken iſt, ſo iſt auch die allererſte Keimzelle
des Eis allerdings überall nothwendig eine gleiche, aber
hinwiederum ſchon eben darum, weil ſie für jedes verſchie¬
dene Geſchöpf dem Anfange einer andern und beſondern
Entwicklungsreihe angehört, auch an ſich jedesmal als eine
andere zu denken.


Somit kann denn alſo auch jene Betrachtung der ur¬
ſprünglich ſcheinbaren Gleichheit erſten menſchlichen und
thieriſchen Keims ſchlechterdings kein Grund ſein eine wirk¬
liche erſte und vollkommene Gleichheit des menſchlichen
und thieriſchen Organismus zu behaupten.


[152]

Ganz in gleicher Weiſe ergibt ſich alsbald die Wahr¬
heit, daß die menſchliche Seele nicht etwa zuerſt bloß als
eine thieriſche ſich verhalte und erſt allmählig zur menſch¬
lichen werde, ſondern immer wird ſie in ihrem früheſten
Bethätigen ſich ſogleich als eine eigenthümliche und höhere
ſicher erkennen laſſen. Wie würde dann der Organismus
des werdenden Kindes ein ſo ganz anderer, wie würde ein
ſo eigenthümliches und ſchöneres Verhältniß vom Hirn und
Sinnesorganen und geſammter Gliederung ſich entwickeln,
wenn nicht die noch abſolut unbewußte ſo ganz andere und
höhere Idee an ihm ſich dergeſtalt offenbarte! Wie vielmehr
muß, wenn die Idee zum Weltbewußtſein ſich ſteigert, ſo¬
gleich ihre andre Weſenheit ſich zu erkennen geben! Welche
ganz andere Eigenthümlichkeit haben daher ſchon die erſten
dunkeln Aeußerungen pſychiſchen Lebens im Kinde, gegen
die des Thieres! Wie anders iſt der erſte auf die Mutter
gerichtete Blick des Auges, wie anders das erſte um die
Lippen des Kindes ſpielende Lächeln! In Allem kündigt
ſich an, es ſolle ſich hier offenbaren ein im Gegenſatz zur
Thierheit durchaus Neuesein Weſen durch wel¬
ches erſt eigentlich das Erdleben geiſtigen
Werth
, geiſtige Bedeutung erhält1 — mit einem
Worte gleichſam der erſte geiſtige Gedanke des Pla¬
neten
, das eigentliche Erwachen der Erde, ohne welches
alle ihre Erſcheinungen im dumpfen ſchweren gleichgültigen
Schlafe befangen bleiben.


Iſt ſomit die Idee des Menſchen zuvörderſt als eine
andere und durchaus neue anerkannt, ſo dürfen wir uns
nun zur Betrachtung der Art und Weiſe wenden, wie ſie
allmählig hervortritt und auf welche Weiſe ſie zur höchſten
Offenbarung ihres Weſens gelangt.


[153]

Wie früher bei der Thierheit ſind hier drei Stufen zu
unterſcheiden:


∙1, die Offenbarung der durchaus unbewußten Idee in
der Organiſation;


∙2, die Offenbarung der als Seele zum Weltbewußtſein
gelangten Idee, aber noch ohne Freiheit, mit Nothwen¬
digkeit gleichſam nur die Organiſation ſelbſt fortſetzend —
im Triebe;


∙3, die Offenbarung der Seele durch entwickeltes Selbſt¬
bewußtſein — im Geiſte. — Das Höhere und Spätere
wird auch hier immer das Niedere und Frühere mit um¬
faſſen und einſchließen.


Was die Offenbarung der Idee in der Or¬
ganiſation
betrifft, ſo iſt ſie es eigentlich, deren Ge¬
ſchichte das ganze Gebiet der Morphologie und
Phyſiologie des Menſchen
umfaßt. Es war ein
alter Fehlgriff daß man, anſtatt die Phyſiologie in dieſem
Sinne als einen Theil der Pſychologie abzuhandeln, die
Pſychologie gleichſam als Anhang der Phyſiologie darzu¬
ſtellen pflegte. Hier liegt allerdings eigentlich der Grund¬
irrthum, der alles tiefere Verſtändniß auch in der Phyſio¬
logie hinderte und auf den ich hier insbeſondere aufmerkſam
machen muß. Dieſer Irrthum iſt ſo eingebürgert in der
Betrachtung des Lebens, daß, obwohl die Bearbeitung mei¬
nes Syſtems der Phyſiologie ſchon ganz darauf gegründet
war, in allem und jedem Momente menſchlichen Lebens die
Entwicklung der Idee des Menſchen an der Organiſation
zu zeigen, doch ſelbſt dort noch jene ſo allgemein verbrei¬
tete Irrung mich hinderte, damals ſchon bei Ausarbeitung
dieſes Werkes geradezu in dem Sinne zu verfahren, daß
die Phyſiologie als Theil der Pſychologie dargeſtellt werden
müſſe. Vielleicht findet ſich noch ſpäter einmal Gelegenheit,
eben ſo wie hier die Pſyche, ſo alsdann die Phyſis
ganz ſcharf nach dieſem Standpunkte zu ordnen. Einſt¬
weilen muß daher gegenwärtig auf das Studium der bis¬
[154] herigen Morphologie und Phyſiologie verwieſen werden, und
ich erinnere abermals dabei an das oben angeführte Gleich¬
niß Göthe's vom Lichte: — Jede nähere Erkenntniß des durch
unbewußtes Walten der Idee ſich offenbarenden organiſchen
Lebens, wird nothwendig rückwirkend zur nähern Erkennt¬
niß und zum beſſern Verſtehen der Idee ſelbſt führen, nur
müſſen immerfort alle dieſe Geſtaltungen betrachtet und
gleichſam geleſen werden als eigenthümliche Hieroglyphen
in denen ein göttliches Wort ſich ausdrückt. Wie bedeu¬
tungsvoll wird dann insbeſondre die Geſchichte des Wachs¬
thums und der allmähligen Entwicklung des Menſchen in
ſolchem Sinne! — Zu beobachten, wie theils aus der unzäh¬
ligen Wiederholung der Monas des Urbläschens oder der
Zelle, die Maſſe des Organismus hervorgeht, theils wie
dieſe Maſſe ſodann durch Verſchmelzung oder Spaltung,
Umbildung oder Dehiscenz ſtets ſich weiter entwickelt, und
wie überhaupt durch fort und fort ſchaffende Gliederung
der einzelnen Gebilde eine eigenthümlich göttliche Idee
ihr unſichtbares Weſen, wie in ſichtbaren Lettern nieder¬
ſchreibt und räumlich verkündigt, dies Alles iſt nicht bloß
für den Phyſiologen ſondern eben ſo, ja eigentlich noch
weit mehr für den Pſychologen ein Gegenſtand ſich immer
wiederholender Bewunderung und immer erneuten Stu¬
diums.


Die zweite Stufe war die Entwicklung der Idee
zu einem vorbereitenden allgemeinen Bewußt¬
ſein
, einem Weltbewußtſein. Wir müſſen uns
hier zunächſt der Bedingungen erinnern, an welche über¬
haupt alles Bewußtſein geknüpft war. Die erſte iſt: Ent¬
wicklung einer fortwährend von der Idee aus impreſſiona¬
beln homogenen Subſtanz und zwar ohne daß dieſelbe durch
dieſe Impreſſionen zu heterogenen organiſchen Fortbildungen
angeregt werde — d. h. alſo Entwicklung und Reifen
eines Nervenſyſtems
. Die zweite Bedingung war
die Einwirkung einer Außenwelt auf den Organis¬
[155] mus und die Möglichkeit daß jene für die innere Idee
fortwährend impreſſionable Subſtanz dieſes auch ſei für
die Ideen der Außenwelt. Die dritte, daß dieſe Impreſ¬
ſionen des Nervenſyſtems nicht unmittelbar, wie ſie gekom¬
men ſind, ſchwinden, ſondern daß ſie bleibend werden
und verglichen werden können. Die vierte, daß um ein
höheres Bewußtſein möglich zu machen, eine gewiſſe
größere Menge
von dieſen Impreſſionen der Nerven¬
maſſe oder — wie wir nun kurz ſagen — Vorſtellungen
— in der Seele vorhanden bleibe. Von dieſen Bedingun¬
gen wird die erſte durch urſprüngliche Bildungsvorgänge
erfüllt, die zweite tritt erſt mit der Geburt ein, und von
da aus kann alſo auch die dritte erſt ſich geltend machen.
Die vierte wird noch ſpäter ſich verwirklichen, doch muß
die bedingende Möglichkeit dazu allemal in der Entwicklung
der Hirnmaſſe gegeben ſein. Nennen wir nun die Idee
erſt alsdann Seele, wenn mindeſtens eine Art des Be¬
wußtſeins in ihr erwacht iſt, ſo erkennen wir daß in jedem
Falle nur erſt nach der Geburt des Kindes ſie mit die¬
ſem Namen zu bezeichnen iſt, denn nur mit dieſem Akt
der übrigens eine vollſtändige Metamorphoſe des Geſchöpfs
einſchließt, indem dadurch zugleich der in Hüllen einge¬
ſchloſſene Fötalmenſch dieſe Hüllen abwirft und zum wah¬
ren Menſchen ſich umgeſtaltet, erfüllen ſich die weſentlichen
Bedingungen eines Bewußtſeins und zunächſt des Welt¬
bewußtſeins. Eben weil jedoch noch kein wahres Selbſt¬
bewußtſein ſofort und unmittelbar nach der Geburt möglich
iſt, tritt nun zuerſt auch im Neugebornen deutlich hervor,
daß noch wie in der Organiſation, ſo auch über die Or¬
ganiſation hinaus, mit Nothwendigkeit die Idee
wirkſam ſei, und dies gibt dann wieder ſeinem erſten Thun
allemal die Form des Triebes.


Von allen Trieben der Thierwelt entwickeln ſich indeß
im Menſchen (eben weil ſeine höhere Bedeutung für Selbſt¬
bewußtſein immerfort der Beſtimmung in der Form der
[156] Nothwendigkeit widerſtrebt) nur diejenigen, welche wir
Naturtriebe genannt haben, und zunächſt im Neugebor¬
nen der Nahrungstrieb, d. h. das Fortwirken der Idee
über die Organiſation hinaus, um mittels allgemeinen
Weltbewußtſeins zu finden, und mittels eines durch dies
Finden getriebenen Wollens an ſich zu nehmen, was der
Fortbildung des Organismus dient. Im Nahrungstriebe
wirkt beim Kinde die Seele ſo bewußtlos wie ſie wirkte,
indem ſie die Ernährungsorgane ſelbſt bildete; erſt ſpäter¬
hin entwickelt ſich auch im Beſtreben nach Aufnahme der
Nahrung ein mehr zum Bewußtſein kommendes Empfinden.
Die dritte Stufe endlich wird bezeichnet durch die
Entwicklung des Geiſtes im hervortretenden
Selbſtbewußtſein
, und auf dieſer Stufe erſt tritt nun
wieder die große Dreigliederung des höhern Seelenlebens
als Erkennen, Fühlen und Wollen mit Deutlichkeit
auseinander. Die Entwicklung der Seele zum Geiſte geſchieht
aber ſo wenig als alle andere ſchlagartig und in einem
Moment, ſondern allmählig, und in Maßgabe reicher ſich
anhäufender Vorſtellungen, und mittels deren Vergleichung
und deren Beurtheilung am Prüfſtein der Energie
der eingebornen Idee
. Hier iſt es nun wo in Folge
einer Spiegelung des Ich
, d. h. der eigenſten
Idee
, in den Vorſtellungen von einer Außen¬
welt
, zuerſt das Wunder eines Selbſtbewußt¬
werdens ſich ergibt
, dieſes Wunder welches an und
für ſich, ſo wie das Daſein einer Welt überhaupt, nur
anerkannt werden kann, aber keiner weitern Er¬
klärung
fähig iſt. Müſſen wir aber dies nun auch zu¬
geben, ſo iſt doch eben ſo in Beziehung auf Selbſtwußt¬
ſein und Hervortreten des Geiſtes darauf zu achten, unter
welchen Bedingungen
dieſes Wunder ſich begibt und
wirklich wird, als wir früher bei Erwägung des Bewußt¬
ſeins überhaupt beobachten mußten, daß aus Erforſchung
der Bedingungen ſeiner Offenbarung ein ſo viel helleres
[157] Licht über das Weſen dieſes Bewußtſeins ſelbſt ſich ergab.
Es iſt hiebei übrigens allerdings vorauszuſetzen, daß jene
erſtern Bedingungen nur Steigerungen der für Entwicklung
des Bewußtſeins im Allgemeinen gefundenen Bedingungen
ſein können, und ſo erkennen wir deren denn hier nament¬
lich zwei an.


Das Erſte nämlich, woraus ein Möglichwerden des
ſelbſtbewußten Geiſtes ſich ergibt, iſt eine Steigerung deſſen,
was als vierte Bedingung ſchon bei den Bedingungen des
Bewußtſeins überhaupt aufgeführt worden iſt; d. h. daß
eine Bildung und Geſundheit des Nervenſyſtems
und insbeſondere ſeiner centralen Maſſe vor¬
handen ſei
, welche möglich mache die Aufbehal¬
tung einer hinreichenden Menge unter einander
zu vergleichender Vorſtellungen
.


Es könnte daher in uns nie zum Selbſtbewußtſein,
d. h. zur Entwicklung eines Geiſtes kommen, wenn nur
eine verkümmerte ungeſunde Hirnbildung ſich dargelebt hätte,
und eben hierin liegt auch der Grund davon, daß eine be¬
ſonders kräftige Ausbildung des Geiſtes allemal weſentlich
mit bedingt ſein wird durch eine gewiſſe kräftigere Entwick¬
lung des Nervenſyſtems und insbeſondere des Gehirns. Es
iſt jedoch ausdrücklich hier abermals daran zu erinnern,
daß dieſe Bedingung ſchlechterdings nie als eine äußerliche,
als eine der Idee an ſich fremde, ſondern immer als eine
in ihr ſelbſt durchaus begründete gedacht werde, da es ja
immer nur das frühere unbewußte Walten der Idee ſelbſt
iſt welche dieſe Bildung ſchafft 1.


[158]

Die andere große Bedingung für die Entwicklung des
Geiſtes iſt wie für das Bewußtſein überhaupt das Vor¬
handenſein und Einwirken einer Außenwelt
,
aber nicht bloß einer Außenwelt an und für ſich, ſondern
des auch in einer Außenwelt ſich kund gebenden
bewußten Geiſtes
. Wir müſſen es als Thatſache an¬
erkennen, daß ein menſchliches Individuum allein, ohne
daß der Geiſt der Menſchheit — daß der Geiſt anderer
Individuen auf ihn wirke, durchaus nicht als ſolcher zur
Entwicklung gelangt. Das Kind allein ſich ſelbſt über¬
laſſen, geht entweder zu Grunde oder erlangt in ſeinem
Bewußtſein nur eine Entwicklung welche es dem Thiere
ähnlich werden, ja wohl unter das Thier ſinken läßt. Auf
das gut und insbeſondere hinſichtlich ſeines Nervenſyſtems
und Hirns gut organiſirte Kind (denn auch ein Kind z. B.
ohne Arme und Füße geboren, kann zum hellſten Bewußt¬
ſein gelangen) muß demnach geiſtiger Einfluß anderer
Menſchen wirken. Der Geiſt muß ſich am Geiſt entzünden
und keinesweges iſt dies immerfort und geradezu als ein
Mittheilen
zu betrachten, ſondern oftmals, ja zumeiſt,
macht dieſe Einwirkung dadurch ſich geltend, daß ſie eine
Gegenwirkung, eine entſchiedene Reaction hervorruft, und
daß dieſe Reaction durch Kräftigung des Geiſtes den Geiſt
bildet und fördert. Eine umſichtige Erziehung des Kindes
wird auf dieſes Verhältniß immer großes Gewicht legen,
und von ihm ſtets beſondern Nutzen ziehen.


In dieſer höchſt merkwürdigen, unabweisbaren Be¬
dingung der Entwicklung des Geiſtes im Kinde, nur unter
gegebner Bedingung des einwirkenden Geiſtes der Menſch¬
heit, wiederholt ſich alſo in höherer Potenz das Verhältniß
niederer Thiere, wo viele Individuen entweder geradezu nur
in feſter organiſcher Verbindung leben, wie an den Polypen¬
1[159] ſtöcken, oder wo ſie in ihrer Exiſtenz und ihren eigenthüm¬
lichen höhern ſeeliſchen Aeußerungen doch nur durch eine
enge geſellige Verbindung bedingt ſind, wie etwa bei den
Bienen. Finden wir doch, daß auch im Menſchen dadurch
daß ſeine geiſtige Entwicklung allemal nur in der Menſch¬
heit erfolgen kann, ſchon angedeutet werde, es ſolle dann
auch die Ausbildung des Bundes der Menſchheit — als
worin wieder der höchſte Begriff des Staates gegeben iſt —
doch zuletzt als die höchſte und größte Aufgabe des Geiſtes
ſelbſt immerfort betrachtet werden.


Dieſe Bedingungen alſo ſind es, unter welchen ſich in
der Seele des Kindes das Wunder des Geiſtes erſchließt.
Es iſt nicht ein Neues, was darin gegeben wird, aber es
iſt das Erfaßt-werden einer Gegenwart, in der bis dahin
nur im untrennbaren Fluſſe von Vergangenheit und Zu¬
kunft ſich offenbarenden Seele, es iſt ein wieder Concen¬
triren der in der Erſcheinung des Organismus offenbar
gewordenen, man möchte ſagen, aus einander gelegten Idee;
und wie etwa unmittelbar der Regenbogen da iſt und ſicht¬
bar wird ſo bald nur die Regenwand und die Sonne ge¬
geben ſind, ohne daß man ſagen könnte wie er allmählig
zu Stande komme, und wie auch dieſer kein neues Licht,
ſondern nur eben daſſelbe überall diffundirte Sonnenlicht
iſt, welches hier nur in unendlichen Tropfen ſich concentrirt
und ſo in der Geſammtwirkung das ſchöne Farbenbild er¬
zeugt, ſo iſt mit einem Male der Gedanke des Ich da,
ſobald das unbewußte Walten der Idee den merkwürdigen
lebendigen Bau des Organismus und insbeſondre des Ge¬
hirns begründet hat, und ſobald in dieſem Leben eine Außen¬
welt und insbeſondre eine geiſtig belebte Außenwelt, d. h.
eine oder mehrere andere Perſönlichkeiten, ſich ſpiegeln, ſo
daß dadurch fortan in dem Strome des ſtets halb vergang¬
nen halb zukünftigen Werdens, das Feſthalten einer
Gegenwart
, und in ihm eine Bürgſchaft der Ewigkeit,
erreicht werden kann.


[160]

Von dem Momente an, daß daher auf ſolche Weiſe
in der als Seele entfalteten Idee der erſte Gedanke ge¬
boren wird, von dem Momente an, daß ſomit der Geiſt
erſchloſſen iſt in der Seele — beginnt eine Entwicklung,
welche eben, weil die Seele nun nicht mehr bloß unbewußt,
als halb Vergangnes, halb Künftiges dahin zieht, ſondern
weil ſie fähig geworden iſt die Gegenwart zu erfaſſen
und dadurch, im Feſthalten des Moments die Zeit zu
überwinden
, auch nicht mehr eine bloß endliche, ſondern
eine unendliche ſein muß, da nur in einer ſolchen die Idee
ihre urſprünglich ewige göttliche Weſenheit vollkommen
bethätigen wird und kann.


Schon da wo von den Seelen der Thiere die Rede
war, iſt angedeutet worden, theils daß die Entwicklung
des Geiſtes in ihrem poſitiven Fortſchreiten gewiſſermaßen
die Geſchichte des Organismus wiederholt, indem ſie zu¬
nächſt einer geiſtigen Pubertät entgegengeht, um ſodann in
einer höhern Productivität ſich mehr und mehr zu bethätigen,
theils daß ſie negativ gegen gewiſſe frühere Offenbarungen
des Seelenlebens ſich verhalten müſſe. In letzterer Be¬
ziehung wurde ſchon erwähnt, daß eben aus dem Grunde
höherer Geiſtesentwicklung im Menſchen, das Hervortreten
beſondrer durch innere Nothwendigkeit gebotner Triebe im
hohen Grade beſchränkt ſein muß, und daß daher von
Kunſttrieben und Wanderungstrieben hier nicht mehr
die Rede ſein kann; ſpäterhin müſſen ſich dagegen noch
manche Betrachtungen darüber anſchließen, wie auch das
was wir die Naturtriebe genannt haben, auf gleiche
Weiſe wie das unbewußte Fortbilden der Organiſation ſelbſt,
von der höhern Fortbildung des Geiſtes auf eigenthümliche
Weiſe influenzirt und erhoben werden kann.


Was gegenwärtig die Entwicklung des Geiſtes an und
für ſich betrifft, ſo unterſchieden wir ſchon früher drei Perioden
derſelben: die erſte die des Verſtandes, die zweite die
der Phantaſie, die dritte die der Vernunft. Hier iſt
[161] es nun wo ſcharfe Selbſtbeobachtung, lebhaftes Zurückrufen
früherer ſchon mit Selbſtbewußtſein durchlebter Zuſtände
und genaue Beobachtung der Denk- und Handlungsweiſe
des kindlichen Alters uns zu einem ſehr vollkommnen Be¬
griffe dieſer merkwürdigſten aller Geſchichten verhelfen kann.
Sieht man ſich daher um in der Wiſſenſchaft von der Seele
und gewahrt auch hier ſo viel Unvollkommnes und Abſtruſes,
ſo kann man nicht verkennen daß ein gewiſſer Mißbrauch
des unterſcheidenden trennenden Verſtandes ſelbſt hier gar
vielfach geſchadet hat. Allerdings iſt die Schwierigkeit ein
Vielfaches und ſehr Verſchiednes doch immer innerhalb
einer Einheit
, und nie als ein wirklich außer ein¬
ander Seiendes
zu betrachten, ſehr groß — ſie iſt es
aber eigentlich mehr durch eine ſcholaſtiſche Verwöhnung,
als an und für ſich. Dem geſunden einfachen Sinn wird
es leichter als man glaubt, die Vielheit innerhalb der Ein¬
heit anzuerkennen, und nur aus der Verwöhnung des Ver¬
ſtandes geht jene mechaniſch trennende Richtung hervor,
welche kaum irgendwo mehr Verwirrung geſtiftet hat als
eben in der Lehre von der Seele. Ungefähr ſo wie ſich
nach den mehr verbreiteten Kenntniſſen in der Anatomie,
und der Einſicht, daß ſo viele einzelne Theile im lebendigen
Körper unterſchieden werden können, allmählig die Anſicht
in den Köpfen vieler Phyſiologen feſtſetzte, der Körper ſei
als ein Zuſammengeſetztes anzuſehen, und ſofort der
Gedanke daran ſich faſt verlor, daß alle dieſe Vielheit nur
innerhalb einer Einheit hervorgegangen ſei und nur
als immer weitere Gliederung und Theilung eines Einigen
begriffen werden könne, ſo auch in der Lehre von der Seele.
Indem man dazu gelangte in der als Geiſt entwickelten
Seele mehrere beſondere Richtungen als wirklich verſchieden¬
artige zu unterſcheiden, trennte man allmählig immer mehr
dieſelben als ſogenannte beſondere Vermögen und hatte
nun, ehe man ſich's verſah, eine Menge beſondrer Weſen,
die ſich nicht mehr zu einem einzigen wollten verbinden
Carus, Pſyche. 11[162] laſſen. — Wir betrachten es daher billig als erſte Bedingung
und als weſentlichſte Aufgabe bei der weitern Verfolgung
der Entwicklung des Geiſtes, daß ſtets feſtgehalten werde
wie die Seele in ſich als Gottgedanke, als göttliche Idee,
nur ein Ganzes und Untheilbares ſei, wie jede beſondre
neue Entwicklung derſelben immer die vorhergehende in ſich
begreife und umfaſſe, und wie zwar die mannichfaltigſten
Metamorphoſen und die verſchiedenſten Richtungen zur Offen¬
barung ihres Weſens gehören, eben weil ſie ſelbſt ein
Göttliches und Unendliches iſt und weil ſie deßhalb nie
ihrem Weſen in einer Richtung vollkommen genug thun
kann, wie aber nichts deſto weniger ſie durch und durch
ein einiges untheilbares Ganzes bleibe.


Dieſe Aufgabe iſt an ſich ſchwer genug zu erfüllen,
und wenn van Helmont erzählt, er habe, durch einen
Traum veranlaßt, drei und zwanzig Jahre in Sehnſucht
zugebracht ſeine Seele zu ſchauen, bis ihm endlich in einem
Momente das Glück geworden ſei, ſie als leuchtende ätheriſche
in einer ſeltſamen Hülle eingeſchloſſene Geſtalt zu erblicken,
ſo mag man dieſes ſein Schauen zwar zuletzt in die Reihe
der Hallucinationen verſetzen, aber nichts deſto weniger doch
in dieſem Sehnen ein Gleichniß finden, wie lange und an¬
haltend in gewiſſen Richtungen der Geiſt in ſeine eigne
Welt ſchauen muß, wenn ihm von gewiſſen Erkenntniſſen
das volle Licht aufgehen ſoll.


Von Jedem alſo, dem auch deutlich zur Erkenntniß
kommen ſoll, wie in der Einheit der höher entfalteten Seele
zugleich eine Vielheit vorhanden ſein müſſe, wird es un¬
umgänglich verlangt, daß er eines ſolchen Schauens ſich
befleißige, und nur bei voller Sammlung des Geiſtes wird
hier wie anderwärts alle Dunkelheit ſich verlieren. Das
Erſte und Unerläßlichſte aber, was nun insbeſondre vom
Geiſt begriffen werden ſoll, iſt, daß derjenige Höhenpunkt
der Seele, auf welchem ſie Geiſt wird, keinesweges aus¬
ſchließt, das, was wir in ebendemſelben Einen früher als
[163] Idee und als Seele bezeichnet haben: die Idee iſt noch
nicht Seele und die Seele noch nicht Geiſt, aber der Geiſt
iſt nur innerhalb der Seele und die Seele nur innerhalb
der Idee, und dieſe drei ſind nur eins bei aller Verſchie¬
denheit, und nur als in einem Einigen ſeiend, können ſie
verſtanden werden vom Geiſte. Daſſelbe müſſen wir uns
dann ſagen von jener Stufenfolge in der Entwicklung des
Geiſtes, welche wir Verſtand, Phantaſie und Vernunft ge¬
nannt haben, hinſichtlich der Sonderungen der drei Glieder
dieſer Reihe in unſrer Vorſtellung. Die vollkommne Nega¬
tion aller Endlichkeit, aller Schranke, aller innern Spal¬
tung, welche dem Weſen des Geiſtes deßhalb überhaupt
eignet, weil die Idee zum wirklichen Erfahren von einer
Gegenwart, und zur vollkommnen Bethätigung ihrer ur¬
ſprünglich ewigen Weſenheit nur gelangen kann, indem ſie
die Endlichkeit überwindet, ſie muß auch alle ſolche Thei¬
lungen aufheben. So lange freilich der Geiſt auf der Stufe
des Verſtandes noch hauptſächlich in dem Schauen der End¬
lichkeit, wie ſie die Sinnenwelt uns vorſtellig macht, ver¬
weilt, erſcheint es ihm als ein Wunder, daß etwas viel¬
fältigſt getheilt und doch ein Einiges ſein ſolle, wie er
hingegen mehr und mehr zum wahren Vernehmen ſeines
eignen Weſens — d. h. eben zur Vernunft und zum wahren
Selbſtbewußtſein — gelangt, hört ihm dies auf ein Wunder
zu ſein, und er empfindet ſich im Schrankenloſen, Ungetheilt-
Einem, Ewigen durchaus und allein in ſeinem wahren
Elemente.


An der rechten Erwägung dieſer Wahrheiten haben
wir nun zugleich den Maßſtab, um die Entwicklungsgeſchichte
des Geiſtes im Kinde zu meſſen. Das erſte Erwachen des
Selbſtbewußtſeins, der vergeiſtigten Seele, des Denkens,
in dem Gedanken des Ich, es iſt gleichſam das Gewinnen
eines erſten Haltepunktes in der Flucht des Daſeins, und
von dieſem Momente an, zieht nun alles in der Zeit raſt¬
los ſich Verwandelnde an dem einen Feſthaltenden vorbei,
[164] und iſt nun erſt im Stande als ein Wechſelndes in dieſem
einen Bleibenden ſich zu ſpiegeln. Erſt dieſes iſt dann,
was da ferner führt und ſoll führen, zu unendlichen Unter¬
ſcheidungen unendlicher Vorſtellungen; Vorſtellungen, welche
nun erſt, da es in der Seele ein Beharrendes gibt, auch
ſelbſt fortwährend vorhanden bleiben — ſo daß ſich denn
auch erſt von dieſem Momente an jenes früher erwähnte
unbewußte epimetheïſche Princip, als bewußter Epimetheus,
als Erinnerung bethätigen kann. — In ſolchem Unter¬
ſcheiden
beharrender Vorſtellungen iſt es denn namentlich,
daß das Weſen des Verſtandes ausgeſprochen und ge¬
geben wird, und iſt dabei ſehr merkwürdig recht genau
nachzugehen, wie dieſes innere Schauen der Verſchiedenheit
in der Seele des Kindes ſich allmählig ausbildet, ohne
daß doch zuvor noch irgend ein Bewußtſein von Einheit
und Ewigkeit vorgekommen und möglich geworden wäre.
Das Kind fängt an eine Menge Vorſtellungen zu unter¬
ſcheiden, das Gedächtniß iſt das friſcheſte und willigſte, die
Freude an dem immer neu Aufnehmen von Vorſtellungen
die allergrößeſte, aber fern iſt ihm noch Alles was auf
eine höhere Einheit der Erſcheinungen, ja der Welt über¬
haupt deutet, und obwohl nun ein Verſtand entwickelt iſt,
ſo iſt er doch eben deßhalb noch ein ſo viel geringerer als
der des gereiften Mannes. An dieſem Verhältniſſe können
wir nun ſogleich wieder ein anderes großes Geſetz beſtätigt
finden, welches, wie ſchon in der äußern organiſchen Welt,
ſo auch im Reiche der Seele gültig iſt; nämlich: daß,
wenn in irgend einem Individuellen überhaupt
eine Reihe von Entwicklungszuſtänden die Auf¬
gabe des Daſeins wird
, immer das Hervor¬
treten des Höhern zugleich zwar etwas von dem
vorausgegangenen Niedern negirt und vernichtet
,
aber auch, in ſo fern daſſelbe vorhanden bleibt,
es mit erhöht und veredelt. Es wird nämlich ſo¬
gleich, wenn wir vom Standpunkte höherer geiſtiger Ent¬
[165] wicklung aus unſere eigne frühere bloß verſtandesmäßige
Geiſtesbildung, oder die des Kindes überhaupt, betrachten
und erwägen, vollkommen klar, daß das was hier Ver¬
ſtand genannt wird, doch ein ganz andres iſt als was wir
in vollkommen gereifter Seele, bei höherer Vernunftan¬
ſchauung, als Verſtand bezeichnen. Verſtand des Kindes —
Verſtand des höhern vernünftigen zum Schauen des Ewigen
gelangten Geiſtes, ſind zwei ſehr verſchiedene, und
wir werden hier abermals an das erinnert, was ich ſchon
bei Betrachtung der Thierſeele erwähnte, und was wir bald
noch in anderer Beziehung zu beſprechen haben werden,
nämlich, daß der Verſtand, wie alle Strahlen des Geiſtes,
keinesweges überall eines und daſſelbe, ſondern ein höchſt
mannichfaltiges und überall individuelles ſei.


So entwickelt ſich alſo das Unterſcheiden und Verſtehen
von mehr und mehr Vorſtellungen im Kinde. Wie wir
früher bemerkten, daß der ſo merkwürdige Bau des Orga¬
nismus nur durch ein unzähliges immer ſich wiederholendes
Setzen einer Einheit, d. i. der mikroſkopiſchen Zelle, zu
Stande kommt, ſo erfahren wir hiebei in uns ſelbſt, daß
die nach der Unendlichkeit deutende Fortbildung des Orga¬
nismus des Geiſtes auch nur durch unzähliges ſich immer
wiederholendes Setzen von Vorſtellungen ſtets fortſchreitet
und mehr und mehr ſich vollendet. (Man hat nämlich da¬
bei immer zu bedenken, daß das, was wir eine Vorſtellung
nennen, eigentlich nur der Inbegriff des Verhältniſſes der
ganzen Seele zu irgend einem Objekt iſt, und daß wir
demnach allerdings eine Reihe von Vorſtellungen als ein
vielmaliges Setzen des jedesmaligen, in einem Verhältniß
der Seele zu dem Objekt der Vorſtellung ausgedrückten
Zuſtandes anzuſehen haben, wonach denn dieſer Vorgang
eben dem unzähligen ſich Setzen der Idee in den Urzellen
des Organismus allerdings vollkommen verglichen werden
kann.) Jemehr nun die Maſſe der Vorſtellungen wächſt,
um ſo mannichfaltiger werden die Combinationen, Thei¬
[166] lungen, Verſchiedenheiten, Aehnlichkeiten, Unterſcheidungen
zwiſchen denſelben und dem eigentlichen Ich, und auch hier
läßt ſich ſehr ſtreng die Vergleichung fortführen mit jenen
Ur-Theilchen des leiblichen Organismus, welche je mehr
ihre Maſſe wächſt um ſo verſchiedenartiger ſich verbinden,
fortbilden, hier zu Nervenfaſern, dort zu Muskelfaſern, da
zu Knochenzellen, dort zu Membranen und Drüſen werden,
und indem ſie ſo fortwachſen, neuen Dehiscenzen, Ver¬
einigungen oder Gliederungen Raum geben.


Alsbald regt ſich nun aber auch, ſo wie die Maſſe
der Vorſtellungen ſich mehrt, wie in ihnen deutlicher das
Bild der Individualität ſich ſpiegelt und die Vorſtellung
des Ich von den übrigen Vorſtellungen ſich unterſcheidet,
alſo das Selbſtbewußtſein aufgeht, im Innern
dieſer neuen Welt des Geiſtes die Entwicklung von Vor¬
ſtellung aus Vorſtellung. Nicht bloß neue Vorſtellungen
von Außen treten hinzu, ſondern das was wir die Pro¬
ductivität des Geiſtes nennen können, und was, wenn es
fort und fort ſich bethätigt, die Pubertät des Geiſtes
anzeigt, fängt ſich an zu offenbaren. Wir nennen dies
Vermögen zur Fortbildung im Geiſte die Phantaſie,
und merkwürdigerweiſe tritt eine ſolche geiſtige Pubertät
auch wirklich dann erſt deutlicher und am mächtigſten her¬
vor, wenn das Kind erwächst und wenn es der leiblichen
Pubertät ſich nähert. Durch die Phantaſie wächſt nun das
Reich des Geiſtes immer größer und immer gewaltiger,
obwohl auch hier wieder, wie beim Verſtande, zu bemerken
iſt, daß die Phantaſie, wenn ſie im heranwachſenden Kinde
auftaucht, noch ſehr weit abſteht von der großartig ſchaffen¬
den Phantaſie der gereifteſten Periode. Zugleich zeigt ſich
hier wieder, im Verhältniß zur vorigen Geiſtesſtufe, theils
ein gewiſſes Negiren, theils auch wieder eine nicht zu ver¬
kennende Steigerung. Die Phantaſie, das eigenmächtige
Produciren von Vorſtellungen, wird Veranlaſſung daß dieſe
mit den urſprünglichen ſich miſchen, ja daß ſie wohl auch
[167] mitunter verwechſelt werden, und namentlich ſo entſteht
Das, was das Verſtehen negirt d. h. das Irren. Die
Periode der Phantaſie iſt deßhalb ganz beſonders die Pe¬
riode des Irrthums
, und oft entſpringen auf dieſer
Stufe Irrungen, welche der ganzen ſpätern Entwicklung
eine beſondre Färbung, eine geſtörte Richtung mitgeben.
Nichts deſto weniger iſt es indeß auch gerade die Phantaſie,
welche, indem ſie die Mannichfaltigkeit, den innern Reich¬
thum des Geiſtes ſteigert, ein weites Feld für Uebung und
Entwicklung des Verſtandes eröffnet. Das Wichtigſte aber
was durch dieſe eigenthümliche Productivität für höhere
Entfaltung des Geiſtes — für das Vernehmen der Idee
der Einheit — für die Vernunft gegeben wird, liegt
darin, daß ſie das Individuum — welches an ſich dem
Univerſum gegenüber immer durchaus unzulänglich erſchei¬
nen müßte — gewiſſermaßen completirt. Würde nämlich
doch, um im höchſten Sinne zum Vernehmen der Einheit
des Alls zu gelangen, das Unmögliche vorausgeſetzt werden
müſſen, nämlich daß die Vorſtellungen von aller Mannich¬
faltigkeit im Geiſte erfaßt, und das Gemeinſame aller zu
einer Einheit zuſammen gezogen werden könnte, gleichwie
unendliche Strahlen der Sonne die Glaslinſe in einen
Brennpunkt zuſammen zieht. Jene Lückenhaftigkeit alſo, jene
Unzulänglichkeit des Individuums gegenüber dem All, dieſe
iſt es über welche es den Geiſt erhebt, daß er in ſich der
Production unendlicher Vorſtellungen fähig wird, daß er
auf dieſe Weiſe ein Unendliches, ein All in ſich gewahr
werden kann, daß das Entfernteſte und am meiſten Ent¬
gegengeſetzte der Wirklichkeit, ſich durch neue und immer
neue Productionen zu verbinden vermag, und daß ſomit
vorbereitet wird, was durch das bloße Aufnehmen und
Unterſcheiden der Vorſtellungen vom Aeußern nie erreicht
werden könnte, nämlich zur Erfaſſung der Einheit zu
gelangen. Auf dieſe Weiſe geſchieht es alſo wirklich, daß
die Phantaſie die Vorbereitung zu der höchſten Geiſtesſtufe —
[168] zur Vernunft wird, von hier aus iſt es zu erklären, daß
eine große ſchaffende — aber auch durch den Verſtand ge¬
regelte und vor Irrthum bewahrte Phantaſie, allezeit als
die erſte Bedingung einer höhern Vernunft und eines wahr¬
haft großen Geiſtes erkannt worden iſt, und darum iſt die
verſtändige Thätigkeit des Geiſtes allein, nimmermehr
im Stande zur Erkenntniß der höhern Einheit der Welt
zu gelangen. Dieſe Betrachtungen geben, wenn wir ihnen
etwas weiter nachgehen, die merkwürdigſten Aufſchlüſſe über
die Entwicklung der verſchiedenartigen Anſichten, die ſich in
der Menſchheit von der höchſten Einheit aller Ideen — von
Gott — erſchloſſen haben. Man gewahrt nämlich vielfältigſt,
daß vermöge eines gewiſſen Ueberſpringens der regelmäßigen
Fortſchreitung in der Thätigkeit des Geiſtes, das was eigent¬
lich, wie alsbald näher zu erörtern ſein wird, nur Gegen¬
ſtand der ganz gereiften Entwicklung der Vernunft ſein
kann, zuweilen ſchon erreicht werden, oder wenigſtens an¬
geſtrebt werden ſollte durch die Phantaſie allein, mit andern
Worten, durch die im eigentlichen Sinne noch nicht ganz
zur Vernunft gekommene Phantaſie. Auf dieſe Weiſe wird
dann die Idee des Göttlichen — die Vorſtellung von Gott —
gleichſam unreif zur Erkenntniß gebracht, und es ent¬
ſtehen die — ich möchte ſagen — Mißgeburten des Gött¬
lichen — die Fetiſche — Götzen — Götter — alle erſchaffen
nach dem Maßſtabe der Phantaſie und des Verſtandes, und
der heller oder dunkler aufdämmernden Vernunft noch geiſtig
unreifer Individuen. Man könnte ohne Zweifel von dieſem
Standpunkt aus eine eigne Stufenleiter der Religionen
verfolgen; denn wenn im Steinklumpen, den der Wilde
als Gott verehrt, die ungeheure Lücke, welche gegenüber der
Allheit hier beſteht und welche ein geringerer Verſtand nicht
als ſolche erkennt, durch eine kindiſche Phantaſie doch irgend¬
wie ausgefüllt und completirt wird, wobei freilich von Gott
nur ein monſtröſes Bild entſtehen kann, ſo iſt doch auch
die menſchliche Bildung und die Art von menſchlich-perſön¬
[169] lichem Bewußtſein, die ſo viele Monotheiſten ihrer Gottheit
beilegen, nicht minder auf Rechnung einer vorſchnellen phan¬
taſtiſchen Ausfüllung einer im Ganzen ſehr unzureichenden
Erkenntniß und mangelnden Ausbildung höchſter Vernunft
zu bringen. Und dieſe Wirkung der Phantaſie macht ſich
nicht bloß in Gegenſtänden der Religion, ſie macht ſich
eben ſo in Gegenſtänden der Wiſſenſchaft bemerklich, und
kann hier wie dort Mißgeburten zu Tage fördern, wenn
ohne das hinreichende Material, ſie allein die Lücken aus¬
füllt und ſie allein, ohne die Reife der Vernunft abzu¬
warten, den Bau des wiſſenſchaftlichen Kunſtwerks voll¬
führen will. Daher ſo gewiß ohne Phantaſie keine Religion
und kein Ganzes der Wiſſenſchaft, ſo gewiß auch kommen
unzählige Fehlgeburten in beiden durch eine falſch ange¬
wendete phantaſtiſche Productivität des Geiſtes zu Stande.


Ein Andres iſt es, wenn bei reich angeſammeltem Mate¬
rial der im Verſtande geordneten Vorſtellungen, die volle
Pubertät des Geiſtes eintritt, wenn das was der Unzu¬
länglichkeit menſchlicher Erfaſſung dem All gegenüber un¬
möglich bleibt, durch eine höhere Productivität des Geiſtes
ſich vollendet, wenn die neu ſich hervordrängenden Vor¬
ſtellungen großartig und ſchön und im Sinne der göttlichen
Gedanken der Welt ſind, ja wenn dieſe Gedanken alsdann
mit einer Klarheit ſich vollenden, daß wir erkennen, es
erſcheine darin etwas das in der Wirklichkeit in dieſer
Vollendung — in dieſer Abſtraction — nie gegeben ſein
kann; — dann reift auch an dieſer ſchaffenden Macht und
unter fortwährender Bethätigung derſelben die höchſte Ent¬
wicklungsſtufe des Geiſtes — die Vernunft.


Es iſt ſchon angedeutet worden, daß das Wort Ver¬
nunft
in unſrer Sprache ſinniger als in irgend einer,
von „Vernehmen“ abzuleiten ſei, d. h. vom Ver¬
nehmen der Idee
. Der Begriff, deſſen der Geiſt
ſchon auf der Stufe der Verſtandesbildung fähig iſt, iſt
unäquat wenn von der Idee die Rede iſt; denn eine Idee
[170] iſt ein Urſprüngliches, Ewiges, Göttliches, und kann als
ſolches nie ganz vollſtändig vom Vorſtellungsleben der Seele
umfaßt oder begriffen, ſondern nur erfaßt oder vernom¬
men
werden. Die Seele muß aber ſchon auf mächtige
Weiſe ſich entwickelt haben, wenn ſie des Vernehmens der
Idee fähig ſein ſoll; die Thierſeele kann es nie. Auch die
Menſchenſeele, obwohl ſie ihrer innern ewigen Weſenheit
nach, auch im unentwickelten Zuſtande bereits eine andere
und höhere iſt als die Thierſeele, wird erſt, nachdem ſie
die Stufenfolge des Verſtandes und der Phantaſie durch¬
gangen iſt, dieſes „Vernehmens“ (wir pflegen es hier wohl
auch ein „Schauen“ zu nennen) fähig. Erſt auf dieſer
höhern Stufe geht ihr auf, daß die Idee nicht nur eben
ſo gewiß, ja noch weit gewiſſer eine Wahrheit ſei als eine
unmittelbare Sinnesvorſtellung, oder der aus ſolcher ab¬
ſtrahirte Begriff, und eben darum auch vermag ſie erſt auf
dieſer Stufe die Idee ihres eignen Seins im höhern Selbſt¬
bewußtſein, und die eines höchſten Urquells aller Idee im
Gottbewußtſein zu vernehmen. Dieſes Vernehmen, dieſes
vernünftige Schauen, tritt auch als ein Wunder im Geiſte
hervor, wie der Geiſt ſelbſt als ein Wunder im Seelen¬
leben erſcheint, und wir vermögen oft mit ziemlicher Be¬
ſtimmtheit den Zeitpunkt in der Entwicklung unſers Geiſtes
anzugeben, in welchem uns zum erſten Male die Idee in
ihrer Ewigkeit und Wahrheit gegenſtändlich erſchienen war.
Ja wir würden ſogar über dieſen Zeitpunkt mit größerer
Beſtimmtheit uns ausſprechen können, wenn nicht dem
Menſchen, eben der höhern Energie ſeiner Seele wegen,
dieſes Beſitzthum ſo ganz und urſprünglich und eigenthüm¬
lich angehörte, daß ſelbſt dann, wenn er des Ergreifens
deſſelben noch lange nicht mit vollkommner Klarheit fähig
iſt, doch die Möglichkeit dieſes Beſitzes und dieſes Schauens
ihn immerfort, wie ein nur halb verhülltes Geheimniß,
umſchwebte.


Es verhält ſich hiemit wie mit der Hoheit der menſch¬
[171] lichen Seele überhaupt, die ſich bereits von Haus aus als
eine andere, von der Thierſeele ſich durchaus unterſcheidende
geltend macht, in der Schönheit menſchlicher Bildung, in
dem erſten Blick des kindlichen Auges — lange zuvor
ehe ſie noch zum wahren Bewußtſein gelangt. Eben ſo
umſchwebt die Idee, als ein Höheres, ſchon den kindlichen
Verſtand, ſo kündigt ſie ſchon ihre Gegenwart an in der
erwachenden Phantaſie, und drängt ſie, Geſtalten zu ſchaffen,
welche Symbole von Ideen ausdrücken; und eben darum
iſt es, daß es ſchwer, ja faſt unmöglich wird, die all¬
mählig immer deutlicher werdende Ahnung der Idee von
dem endlichen Schauen, und dem ſomit wahrhaften Er¬
wachen der Vernunft, mit vollkommner Schärfe zu ſondern
und als Lebensabſchnitt — den wichtigſten — feſtzuſtellen.
Dieſer Lebensabſchnitt iſt aber nur ein ſolcher zu nennen,
in wie fern er von dem frühern verſtändigen oder phan¬
taſtiſchen unterſchieden werden muß, keinesweges aber in¬
dem er etwa ein in ſich abgeſchloſſener wäre, denn er hat
vielmehr durchaus die Richtung auf ein Unendliches, nie zu
Erſchöpfendes — Ewiges. Auch iſt deßhalb kein Augen¬
blick Stillſtand in ihm, ſondern eine fortgeſetzte Entwick¬
lung und Entfaltung.


Es kann bei Erwägung dieſer Entwicklungsgeſchichte
des Geiſtes vollkommen deutlich werden, warum diejenige
Stufe des Geiſtes, welche wir Verſtand nennen, keine Be¬
weiſe
enthalten und gewähren kann für irgend eine wahr¬
hafte Idee. Die höchſte Idee — die Idee aller Ideen —
Gott — wird nie vom Verſtande in ihrer Nothwendigkeit
bewieſen werden können, und jener Sophiſt hatte ganz
recht, wenn er ſagte, nachdem man ihn für einen wohlge¬
führten Beweis vom Daſein Gottes belohnt hatte, für die
doppelte Belohnung ſei er ſogleich bereit auch das Nicht-
Daſein Gottes zu beweiſen. Aber eben darum, weil hier
Alles darauf ankommt auf das feinſte und reinſte in dem
innern Weſen des Geiſtes zu lauſchen, weil nur die volle
[172] Sammlung geiſtiger Thätigkeit hier zum wahrhaften Ver¬
nehmen führt, und weil der Menſch ſo ſelten dieſem Zu¬
ſtande ſich wahrhaft nähert und ihn doch nie ganz und
vollkommen erreicht, ſind die Aeußerungen der Menſchen
kaum je über etwas ſo vielgeſtaltig geweſen, als gerade
über die doch eigentlich höchſten Aufgaben des Lebens. Bei
dem Allen iſt es wieder ein ſchöner Zug der Sinnigkeit unſerer
Sprache, daß ſie das höchſte vernünftige Wiſſen, das Wiſſen
von der Idee, dadurch eigentlich als das Wiſſen ſchlechthin
betrachtet und anerkennt, daß ſie von dieſem Wiſſen das
Wort Weiſe-ſeinWeisheit bildet, und daß ſie den,
der von dem Vernehmen der Idee erleuchtet, nun alle Dinge
der Welt im Lichte der Idee ſchaut und würdigt — einen
Weiſen
nennt, und damit die wahrhaft höchſte Entwick¬
lung des Menſchen bezeichnet, die Entwicklung mit welcher
eigentlich ſeine irdiſche Exiſtenz abſchließen muß, da zu
weiterer Fortbildung in dieſer gegenwärtigen Daſeinsform
eine Möglichkeit überhaupt nicht gegeben iſt.


Auf dieſer Lebenshöhe iſt nun eigentlich der möglichſt
vollkommenſte Gegenſatz erreicht zu demjenigen Zuſtande,
wo das ganze menſchliche Daſein, wie in der fötalen Periode,
noch in abſoluter und allgemeiner Unbewußtheit verharrte.
Wenn zwar in letzterer alles Bewußtſein fehlt, und alle
und jede Lebensbewegungen nur durch das dunkle, aber
an und für ſich göttliche Streben der eingebornen Idee ge¬
leitet wurde, ſo können wir nicht ganz in gleichem Maße
von erſteren ſagen, daß nun Alles und Jedes im Menſchen
zum vollen und klaren Bewußtſein gekommen ſei, da (wie
der nächſte Abſchnitt im Einzelnen nachweiſen ſoll) auch
hier noch immer ſo viel des Unbewußten übrig bleibt, daß
ſogar fortwährend das Bewußtſein ſelbſt dadurch bedingt
wird; aber bei dem Allen iſt es doch ſehr merkwürdig, wie
weit
auf dieſer letzten Lebenshöhe das Bewußtſein ſeine
Strahlen werfen, und wie weit es das Unbewußte erleuch¬
ten kann! Die über ſich ſelbſt vollkommen klar gewordne
[173] Seele nämlich, lenkt nicht bloß von nun an ihre eigene
geiſtige Bewegung nach dem reinen Lichte höherer Erkennt¬
niß, ſondern die ganze natürliche Exiſtenz des Menſchen
hebt ſich auf eine höhere Stufe des Maßes und der Schön¬
heit hinauf. Durch das Bewußtſein wird in die großen¬
theils der unbewußten Sphäre angehörigen Funktionen eine
gewiſſe Ordnung und Geſetzmäßigkeit gebracht, welche ſo
leicht dann verletzt wird, wenn nicht mehr überall das nach
innern unabweisbaren Geſetzen herrſchende Unbewußtſein,
ſondern zwar ein Bewußtſein, aber ein noch nicht ganz
vom Lichte der Vernunft erleuchtetes obwaltet; ja es iſt
ſchon früher berührt worden, wie entſchieden eine höhere,
von geordnetem ſchönen Vorſtellen erfüllte Seeleneigenthüm¬
lichkeit ſelbſt auf das ſo ganz unbewußte Bilden zurück¬
wirkt und der Organiſation einen ſchönern und edlern Typus
nothwendig aufdrücken muß. Alſo nicht allein daß die freie
That des Geiſtes auf der Höhe der Weisheit eine
ſo ganz andre ſei als auf der Stufe des Verſtandes
oder der Phantaſie, ſondern daß das geſammte Leben,
vom Schlafen und Wachen an bis zum Aufnehmen der
Nahrung, der Art der Muskelbewegung, der Art der Athmung
und Abſonderung u. ſ. w., kurz das geſammte Regen der
Organiſation, einen edlern und freiern Charakter annehme,
muß es bezeichnen daß der Menſch hier auf eine Höhe ge¬
kommen ſei, auf welcher eine noch weitere Entwicklung im
Ganzen gegenwärtig nicht füglich mehr gedacht werden kann.
Laſſen wir daher für's erſte dieſe Betrachtungen, und gehen
nun über zu dem was zu ſagen iſt.

b. Von dem fortwährenden Bedingtſein des bewußten durch das unbe¬
wußte Seelenleben.

Während unſres ganzen Fortlebens als zum Selbſt¬
bewußtſein gekommene Weſen, wirkt das was wir früher
das abſolut Unbewußte genannt haben, zwar nicht als ein
[174] Allgemeines aber wohl als ein Partielles, immer im Stillen
in uns fort und iſt immer noch die erſte Bedingung unſerer
geſammten Lebenserſcheinung. Die frühern Betrachtungen
haben uns gezeigt, wie Alles was wir Ernährung, Wachs¬
thum, Fortbildung nennen, nur beſondere Strahlen ſind,
in welchen jenes Unbewußte ſich bethätigt, und wenn ſich
jetzt von ſelbſt ergibt, daß ſonach auch diejenigen Bildungen,
welche wir insbeſondere als Bedingung des erwachenden
Bewußtſeins erkannten, d. i. das Nervenſyſtem und Gehirn,
gleich allem andern, nur durch dieſes unbewußte Walten
der Idee in ihrer Integrität erhalten würden, ſo folgt
ſchon daraus, wie ſehr überhaupt Alles was wir bewußtes
Seelenleben nennen dürfen, ganz weſentlich als durch das
Unbewußte bedingt anzuſehen iſt.


Es wird nun aber eigentlich an die Wiſſenſchaft die
Aufgabe geſtellt, nicht bloß im Allgemeinen jene Bedingung
anzuerkennen, ſondern ſcharf im Einzelnen nachzuweiſen durch
welche Vorgänge auf der unbewußten Seite des Lebens die
beſondern Vorgänge des Bewußtſeins ſich namentlich be¬
dingt finden, oder mit andern Worten, welche phyſiſche
Proceſſe jenen pſychiſchen Strahlungen eben ſo zum Grunde
liegen, wie wir etwa von der Geſichtsempfindung nachzu¬
weiſen im Stande ſind, daß es nur höchſt feine Umſtim¬
mungen im Stande der Innervation eines kleinen Theils
der Netzhaut des Auges ſeien, wodurch die Vorſtellung
des Sehens bedingt werde. Dieſen Anforderungen kann
indeß bis jetzt die Wiſſenſchaft nur in einem gewiſſen be¬
ſchränkten Maße nachkommen, und es iſt ſehr die Frage,
ob überhaupt hier jemals eine ſo vollkommne Schärfe er¬
reicht werden wird, wie ſie in andern Zweigen der Phyſio¬
logie allerdings möglich iſt. Jenes früher ſchon erwähnte
Geſetz des Geheimniſſes, gerade für die höchſten
Aufgaben des Lebens, macht ſich in dieſem Bereiche ganz
beſonders geltend; was davon bis jetzt ſich mit größerer
Beſtimmtheit hat feſtſtellen laſſen, möchte Folgendes ſein.


[175]

Obwohl wir den geſammten Organismus geradezu
als leiblichen Ausdruck, als Phänomen der Grundidee
unſers Daſeins betrachten dürfen, ſo iſt doch, wie wir
früher nachgewieſen haben, in ſo weit als dieſe Idee zum
Bewußtſein kommt, nur das eigentlich ſeeliſche Gebilde die¬
ſes Organismus, das Gebilde in welchem ſich die halb¬
flüſſige, von der Idee aus durch und durch impreſſionable
Urſubſtanz am reinſten erhalten hat, das Nervenſyſtem,
ihr vorzüglichſtes Phänomen, ihre erſte ſinnliche Erſcheinung,
und dadurch eben auch die erſte Bedingung ihrer Offen¬
barung zu nennen. Von dieſem großen viel verzweigten
Gebilde ſind aber wieder nicht alle Theile in gleichem Maße
auf die höchſten Erſcheinungen des Seelenlebens bezüglich.
Eine Menge von äußern Zweigen dieſes Syſtems, alle
Nerven der Gliedmaßen, Nerven der großen Sinnesorgane
ſogar, können obliteriren, ja es kann ſelbſt der Stamm, aus
welchem die meiſten Nerven des Körpers ausgehen und in
welchen ihre Faſern zurücklaufen, das Rückenmark, von unten
auf weiter und weiter zerſtört werden (wobei freilich in Kur¬
zem das Leben überhaupt aufgehoben wird), ohne daß das
Vorſtellungsleben und das aus ihm hervorgehende Bewußt¬
ſein vernichtet wird; und alles dies beweist unwiderleglich,
daß in allen jenem Aeußern nicht die organiſch räumliche
Bedingung des Bewußtſeins gegeben iſt. So wie wir da¬
gegen die große Centralmaſſe des Nervenſyſtems, das Ge¬
hirn
, in welcher die größte Anhäufung der eigentlich pri¬
mitiven Nervenſubſtanz (d. i. der ſogenannten Belegungs¬
maſſe, welche aus halbflüſſigen Urzellen beſteht) ſich findet,
irgendwie beeinträchtigen, bedrücken oder verletzen, ſo wird
ſogleich auch das Vorſtellungsleben beeinträchtigt und bei
irgend einem höhern Grade der Verletzung, oder bei Krän¬
kung durch abnormes Leben, wird das Bewußtſein geſtört,
die Reihenfolge der in ihm fortwährend erſcheinenden Vor¬
ſtellungen in Unordnung gebracht und gehemmt, ja endlich
das Bewußtſein vollkommen aufgehoben. Hiedurch kann
[176] man ſofort mit größter Entſchiedenheit es ausſprechen, die
urſprüngliche
, von der Idee aus durch und
durch impreſſionable Subſtanz des Gehirns
,
ſei diejenige räumliche Offenbarung des Or¬
ganismus
, welche als nächſte Bedingung des
Bewußtſeins
, oder, wie man auch ſagen kann,
als Organ der höhern Offenbarung der Seele
betrachtet werden müſſe
, weßhalb alſo auch die
Verſchiedenheit der Seelen
, ſo wie durch ver¬
ſchiedne leibliche Organiſation überhaupt
, ſo
insbeſondre durch verſchiedne Organiſation ge¬
rade dieſes Gebildes ſich offenbaren muß
. — Es
iſt nun allerdings ſehr merkwürdig, daß in dieſem Organ
die Bildung, Umbildung und Fortbildung der Elementar¬
theile, nur durch die unbewußte Idee fortwährend verwirk¬
licht und erhalten wird, während auf eben dieſem Gebilde
zugleich die höchſte bewußte Entwicklung der Idee in dem
Strome der Vorſtellungen ſich ſpiegelt; allein wieder müſſen
wir, um die Möglichkeit dieſer Vereinigung zu begreifen,
erſtens an die frühere Bemerkung erinnern, daß ſchlechter¬
dings zwiſchen Idee, Seele und Geiſt, obwohl die letztern
höhere Entwicklungen der erſten ſind, keine irgend reale
Trennung beſtehe, ſondern daß durchaus ſtets dieſe drei
in einem zu denken ſind, und zweitens haben wir uns
wieder an die Sinnesnerven und eigentlich an das Dop¬
pelleben des geſammten Nervenſyſtems zu erinnern, wo
einestheils unaufhörlich die Fortbildung und Umbildung der
Nervenfaſer von Statten geht, während gleichzeitig, als
zweite Lebensäußerung, die Nervenfaſer mit Stetigkeit von
der Innervationsſtrömung durchzogen wird, in deren un¬
endlichen Modifikationen allein ſowohl Sinnesempfindung
als Anregung zur Bewegung begründet ſind. Wiederholt
ſich doch ein derartiges Zwiefachſein in Einem, ſelbſt im
künſtlichen Experiment! Setzen wir nämlich gewiſſe Metalle
mit Flüſſigkeiten in Berührung, daß eine Umbildung der¬
[177] ſelben (ein chemiſcher Proceß) zu Stande kommt, ſo ſind
in demſelben Augenblicke auch Erſcheinungen einer dynami¬
ſchen Strömung gegeben (galvaniſcher Strom). Man wird
finden daß auch hier die letztere auf ganz andre Weiſe als
die Miſchungsänderung ſich äußert und es werden ſonach
hier an der galvaniſchen Säule, gerade wie in jenen Ner¬
vengebilden ſtets zwei Akte in einem ſich zeigen.


Das letztere Beiſpiel iſt gewiß am geeignetſten um
begreiflich zu machen wie bei der eigenthümlichen Organi¬
ſation des Nervenſyſtems, gerade die Wechſelwirkung der
eigentlichen Nervenſubſtanz mit dem die Capillargefäße
derſelben durchſtrömenden und zum Theil als Bildungs¬
oder Lebensſaft aus dieſen Gefäßen durch Erosmoſe aus¬
tretenden Blute, das bedingt, was wir in der Phyſiologie
die Innervationsſtrömung nennen. In dieſer Innervations¬
ſtrömung nämlich finden wir eine Lebenserſcheinung, welche
wirklich ſehr viel Verwandtes mit elektriſcher oder galvani¬
ſcher Strömung hat, ja welche ſogar, bis auf einen ge¬
wiſſen Grad, auf das Galvanometer wirkt und ſelbſt die
Urſache thieriſcher Elektricität iſt. Wir unterſcheiden in die¬
ſer Strömung, wie nothwendig, eine centrifugale und eine
centripetale Richtung: die erſtere iſt die Bedingung aller
Perception äußerer Eindrücke oder innerer Erregungen, die
andre die aller, eine Bewegung hervorrufenden (motoriſchen),
und überhaupt aller auf andre Syſteme reagirenden Wir¬
kung; — aber beide ſetzen nicht etwa unumgänglich ein
ſchon entwickeltes Bewußtſein voraus, wohl aber ſind ſie
ſelbſt die Bedingungen jedes bewußten Seelenlebens,
wie denn dies auch ſchon früher bemerkt worden iſt. Be¬
reits im Fötalzuſtande, alſo noch lange bevor ein Weltbe¬
wußtſein, geſchweige denn ein Selbſtbewußtſein entwickelt
iſt, bethätigen ſich daher centrifugale und centripetale
Strömungen im Nerven auf das entſchiedenſte, denn man
bemerkt, daß ſchon der Fötus auf äußere Reize, die ohne
Carus, Pſyche. 12[178] Bewußtſein noch nicht als wahrhafte Empfindungen, ſon¬
dern nur als dunkle Erfühlungen (Perceptionen) vernom¬
men werden können, Bewegungen erfolgen läßt. Hieraus
kann man ſich denn allerdings deutlich machen, daß zwi¬
ſchen centripetalen und centrifugalen Innervationsſtrömun¬
gen im Verhältniß zu bewußten Empfindungen und Willens¬
akten immer noch etwa ein gleicher Unterſchied beſteht, wie
zwiſchen unbewußter Idee und bewußtgewordener Seele —
ein Unterſchied der nicht ein wahrhaft Anders-ſein bedeutet,
ſondern nur ein in ſich niedriger oder höher Entwickelt-ſein
Eines und Deſſelben anzeigt und ausdrückt.


Wenn es nun zwar anatomiſch, wegen der unendlichen
Zartheit der Gegenſtände, nicht möglich iſt, ein Ausgehen
vom, und ein Zurücklaufen zum Gehirn aller der Millio¬
nen von Primitivfaſern des Nervenſyſtems unmittelbar nach¬
zuweiſen, ſo haben wir doch darin, daß wir nirgends ein
freies Ende einer Primitivfaſer entdecken können, ſondern
daß die äußerſten Theile derſelben überall ſich ſchlingenför¬
mig umbiegen und daß wir dieſelben ſchlingenförmigen
Umbiegungen auch im Gehirn wahrnehmen, einen hinrei¬
chenden Grund, jede Primitivfaſer des Nervenſyſtems und
Hirns als eine oft ſehr lang geſtreckte Ellipſe zu betrach¬
ten, deren eine Umbiegung an der Peripherie, deren
andre zwiſchen der zellenförmigen Urſubſtanz des Hirns
liegt. 1 Faſſen wir daher nun weiter ins Auge was über
die beſondre Bedeutung der einzelnen Theile des Hirnbaues
in Bezug zu beſondern Strahlen des pſychiſchen bewußten
Lebens ſich ſagen läßt, ſo können wir als eine noch nähere
[179] Beſtimmung des obigen Satzes, vermöge deſſen das Hirn
überhaupt als Organ der höhern Offenbarung der Seele
zu betrachten war, hinzufügen: 1, im Hirn ſelbſt beſtehe
wieder ein Unterſchied der zellenförmigen Urſubſtanz und
der, theils vom übrigen Nervenſyſtem ein- und austretenden,
theils zwiſchen verſchiedenen Hirngebilden die Verbindung
herſtellenden Faſerſubſtanz. 2, da die Strömung
der Innervation nur an der Faſerſubſtanz er¬
folgt
und dort als centripetale die Empfindungen, und
als centrifugale die Reactionen beſtimmt, ſo iſt der vom
Nervenſyſtem ein- und austretenden Faſerſubſtanz des Ge¬
hirns allein, theils die Zuführung neuer Vorſtellungen
zum Bewußtſein, theils das Ausgehen irgend welcher Reac¬
tionen vom Bewußtſein nach Außen, als Bedingung zuzu¬
ſchreiben. Denken wir dieſe Faſerſubſtanz abgetrennt, ſo
würde unmöglich der Geiſt neue Vorſtellungen erhalten,
noch eine innere Erregung irgendwie nach Außen kund ge¬
ben können, und die Möglichkeit eigner weiterer Ausbildung
des Geiſtes würde hiemit ſogleich gänzlich aufgehoben ſein.
Ja man kann dieſem Satze mit aller Schärfe eines phyſi¬
kaliſchen Experiments nachgehen: Z. B. irgend eine Ver¬
letzung zerſtört beide Sehnerven, und von dieſem Moment
an erhält das bewußte Seelenleben keine neue irgend auf
Lichtwirkung bezügliche Vorſtellung; andererſeits werden
etwa Nerven zerſtört, welche zu Muskeln oder zu Stimm¬
werkzeugen ſich verbreiten, und von dieſem Augenblick an
hat die bewußte Seele nicht mehr die Macht nach dieſen
Seiten des Organismus durch Reactionen ſich zu bethä¬
tigen, u. ſ. w. 3, die urſprüngliche Subſtanz des
Nervenſyſtems und des Gehirns iſt überall die der Urbläs¬
chen, Urzellen — im kleinen Embryo gibt es noch keine
Art von Primitivfaſern des Nervenſyſtems, alles iſt nur
Bläschen- oder Zellbildung. Dieſe Subſtanz iſt es alſo
auch, in welcher das, was wir die eigenthümliche Hand¬
lung des Nervenſyſtems nennen — die Innervation — ur¬
[180] ſprünglich ſich erzeugen und von wo aus ihre Strömung
durch die Linien der Faſerſubſtanz beginnen und wohin ſie
zurückkehren muß; ſie ſelbſt iſt in ſich ruhend, und an
ſie knüpft ſich daher das was in innern Offenbarungen des
Seelenlebens bleibend iſt, d. h. das Verharren der
Vorſtellungen
. Auch dieſem Satze läßt ſich mit voller
Schärfe des Experiments nachgehen. Wir bemerkten näm¬
lich im obigen Beiſpiele, daß von dem Moment an, daß
die Sehnerven zerſtört ſind, keine neuen Geſichtsvorſtel¬
lungen mehr in die Seele eingehen; — dagegen iſt es eine
eben ſo ausgemachte Thatſache, daß auch dann, wenn keine
neuen Geſichtsvorſtellungen mehr eingehen, nichts deſto we¬
niger die frühern bewahrt werden, da dergleichen Per¬
ſonen noch lange Zeit die klarſten Geſichtsvorſtellungen in
ſich haben und behalten, da ſie namentlich ſehend ſich träu¬
men
können. Ja dieſes Behalten geht weiter! Perſonen,
welchen Gliedmaßen amputirt worden ſind, haben im Be¬
wußtſein ſo lebhaft die Vorſtellung dieſer Gliedmaßen, daß
ſie Schmerzen in denſelben zu empfinden glauben. Da es
nun unmöglich iſt, daß dieſes Verharren der Vorſtellung
in der bewußten Seele an die Faſerſubſtanz geknüpft ſei —
indem die obigen Sätze darthun, daß die Faſerſubſtanz nur
die Strömung der Innervation und das Zubringen neuer
Vorſtellungen, ſo wie das Anregen gewiſſer Reactionen
vermittelt, — ſo können wir nun den früheren Ausſpruch:
es ſei das Gehirn das räumliche Organ der höhern Offen¬
barung des Seelenlebens, noch dahin näher beſtimmen:
Im Hirn iſt die Urzellenſubſtanz mit der an
ihr entwickelten Innervationsſpannung eben
ſo die organiſche Bedingung der Möglichkeit
verharrender Vorſtellungen
, als die Faſerſub¬
ſtanz
, in ſo weit ſie als Fortſetzung des Rücken¬
marks und Nervenſyſtems zu betrachten iſt
, die
organiſche Bedingung iſt
, zugeführter Senſa¬
tionen und ausgehender Reactionen
, und die
[181] Verſchiedenheit des Vorſtellungslebens in ver¬
ſchiedenen Seelen
, wird und muß ſich daher
auch namentlich in der verſchiedenen Anordnung
und Maſſe dieſer Subſtanzen des Gehirns be¬
dingt finden
. Anzuerkennen iſt übrigens, daß nicht
bloß Faſerſubſtanz im Gehirn ſei, welche Fortſetzung äuße¬
rer Nervenſtrahlung iſt, ſondern daß auch Faſerſubſtanz und
zwar bedeutende, im ausgebildeten Hirn ſich finde, welche
dem Hirn ſelbſt angehört und in den mannichfaltigſten
Strahlungen die Verbindungen (Commissurae) herſtellt,
zwiſchen den verſchiedenſten Anhäufungen der primitiven
Zellſubſtanz. Noch kein Experiment hat hier nachweiſen
können, daß auch an dieſen Faſern Strömungen der In¬
nervation vorhanden ſeien; aber, wenn entſchieden ausge¬
macht iſt, was die pſychiſche Bedeutung der Bläschenmaſſe,
und was die der Faſermaſſe als Fortſetzung der Nerven
ſei, ſo kann eigentlich durchaus kein Zweifel darüber ob¬
walten: daß nämlich in der Faſermaſſe der Com¬
miſſuren die pſychiſche Bedeutung nur gegeben
ſei als organiſche Bedingung der tauſendfäl¬
tigen Beziehungen und Verbindungen vorhan¬
dener Vorſtellungen unter ſich
.


Hiemit wäre denn mindeſtens die pſychiſche Bedeutung
der drei weſentlichen Subſtanzen des Gehirns mit entſchie¬
dener Gewißheit nachgewieſen!


Dadurch alſo daß in Folge unbewußten Wirkens der
Idee die bläschenförmige Urſubſtanz des Gehirns und die
Faſerſubſtanz deſſelben entſteht, dadurch daß fortwährend
an dieſen Gebilden durch ihre Wechſelwirkung mit dem ſie
raſtlos durchziehenden Blute und den aus dieſem ausge¬
ſchiedenen Bildungsſäften, jene geheimnißvolle Potenz ſich
entwickelt, welche wir Innervation und Innervationsſtrö¬
mung nennen — dadurch iſt fortwährend, als durch
ein Unbewußtes
, das höhere bewußte Seelen¬
leben bedingt
, und es kann nicht irgend eine dieſer
[182] Bedingungen aufgehoben werden, ohne die Integrität des
bewußten Seelenlebens zu ſtören.


Eine andre Frage iſt es, ob man nachweiſen könne
daß gewiſſe Abtheilungen der Urſubſtanz des Gehirns,
gewiſſen Klaſſen von Vorſtellungen oder gewiſſen
Seiten, oder Strahlen des bewußten Seelenlebens über¬
haupt beſtimmt ſeien? Hier wird die Unterſuchung immer
ſchwieriger, und was mit Beſtimmtheit allein ſich nachwei¬
ſen läßt, iſt etwa Folgendes:


Obwohl wir wiſſen, daß die lebendige von Innerva¬
tion durchdrungene Bläschenmaſſe des Hirns die organiſche
Bedingung der bleibenden Vorſtellungen alles bewußten
Seelenlebens eben ſo beſtimmt darſtellt, als etwa die Ner¬
venmaſſe der Netzhaut des Auges die organiſche Bedingung
enthält für die Geſichtsvorſtellung, ſo können doch irgend
beſondere örtliche Verhältniſſe und Beziehungen zwiſchen
gewiſſen Vorſtellungen und gewiſſen Lagerungen von Bläs¬
chenſubſtanz eben ſo wenig nachgewieſen werden, als man
etwa in der Netzhaut einzelne mikroſkopiſche Partien für
roth, andere für blau, u. ſ. w. nachzuweiſen im Stande
iſt. Wir haben wirklich hier keinen Maßſtab, keine Regel,
keine Analogie mehr, die uns leiten könnte ſolche Verhältniſſe
auszufinden als eben jenes Verhältniß der Sinneswahr¬
nehmung zur weichen halbflüſſigen Ausbreitung der ner¬
voſen Subſtanz der Sinnesnerven. So ungeheuer alſo die
Kluft iſt, welche nach unſerm Erkennen dazwiſchen liegt,
wenn wir verbinden ſollen die weite Welt der Geſichts¬
wahrnehmungen, welche wir zu jeder Stunde in unſerm
Auge erfahren, mit der kleinen grauweichen Stelle der
Nervenhaut des Auges, an welcher alle dieſe unendlichen
Spiegelungen Statt finden, eben ſo groß iſt die Kluft
welche für uns dazwiſchen liegt, wenn wir die noch viel
weitere Welt unſers Geiſtes in Verbindung bringen ſollen
mit der weichen ſonderbar geformten Nervenſubſtanz des
Gehirns. Daß ſie da ſei, müſſen wir anerkennen, wie
[183] ſie da ſei, läßt für uns eine weitere Erkenntniß unmittel¬
bar nicht zu, weil eben hier das Erkennen ſelbſt ſeinen
Grund hat, und es unmöglich iſt daß das Auge ſich ſelbſt
ſieht.


Wir müſſen daher erwägen, ob uns die morphologi¬
ſche Entwicklung des Gehirns noch einen Anhalt darbietet
um irgend ſonſt eine lokale Beziehung hier nachweiſen zu
können. Nehmen wir dieſe Rückſicht, ſo ſtellt ſich noch
Folgendes heraus: Wir ſehen in den niedern Thieren, in
welchen nur ein allgemeines Weltbewußtſein ſich entwickelt
und von geiſtigem Erkennen und Freiheit des Willens noch
nicht die Rede iſt, die Stelle des Hirns immer nur durch
eine einzige ſphäriſche Maſſe dargeſtellt, aus welcher we¬
ſentlich nur das Paar der Sehnerven hervorgeht. In den
höhern Thieren, von den Fiſchen an, alſo in der Reihe,
an welche zuhöchſt menſchliche Bildung unmittelbar ſich an¬
ſchließt, und wo endlich der Geiſt in der Seele aufgeht,
und mit dem Erkennen auch das Wollen freier wird, wäh¬
rend immer noch eine weite dunkle Region des unbewußten
oder mir weltbewußten Seelenlebens übrig bleibt, iſt durch¬
aus, neben einer durchgehenden Theilung der Breite in
zwei symmetriſche Hälften, eine urſprüngliche nach der
Dimenſion der Länge gehende Dreigliederung des
Hirns und der ihn umſchließenden Schädelgebilde gegeben.
Ueberall, und allemal am deutlichſten in der erſten Anlage,
unterſcheidet man in letzterer Beziehung drei weſentlich ver¬
ſchiedene Hirnmaſſen: ein Vorhirn, Mittelhirn, Nachhirn.
Das Mittelhirn läßt dadurch, daß aus ihm noch die Seh¬
nerven hervorgehen, deutlich erkennen daß es dieſelbe Maſſe
ſei, welche in den niederen Thieren noch das ganze Hirn
ausmacht. Das Vorhirn iſt das, aus welchem die Ge¬
ruchsnerven hervorgehen, und an ihm bemerken wir auf
das beſtimmteſte, daß, ſo wie die Bedeutung des Thieres
ſich ſteigert, wie ſein Seelenleben mehr zum Bewußten,
zum Geiſt ſich entwickelt, und daher am allermeiſten im
[184] menſchlichen Organismus, es an Maſſe bei weitem am
ſtärkſten wird, daß ſeine Seitenhälften am beſtimmteſten ſich
zu zwei beſondern ſeitlichen nur noch durch Commiſſuren
verbundenen Hirnmaſſen ſondern, und daß dieſe zur Ein¬
heit verbundne Doppelmaſſe mehr und mehr zum wahren
und höchſten Centrum aller Nervengebilde wird. Das
Nachhirn iſt das, aus welchem die Hörnerven, d. h. die
Nerven welche dem Sinn für feinſte, man möchte ſagen am
meiſten vergeiſtigte Bewegung beſtimmt ſind, hervorgehen,
und welches ebenfalls in zwei Seitenhälften, welche jedoch
inniger verbunden bleiben, auseinander weicht, aber es iſt
auch das, welches dem Rückenmarke am nächſten liegt, d. h.
dem namentlich die Nervenleitung zu den Organen unſerer
Reaction nach außen, der Muskulatur der Glieder, ver¬
mittelnden Gebilde. Auch das Nachhirn erhält mit der
Steigerung der Bedeutung des Thieres und mit der mehr
energiſchen und verſchiedenartigen Reaction, eine immer
größere Entwicklung, während das auch in zwei Seiten¬
hälften getheilte Mittelhirn nie in höherm Grade ſich aus¬
bildet, vielmehr, je höher der allgemeine Typus iſt, um
ſo mehr ſich zwiſchen Vorhirn und Nachhirn verbirgt. —
Faſſen wir dies Alles ins Auge, ſo können wir ſchlechter¬
dings nicht läugnen daß die Bedeutung dieſer drei Hirne
oder drei Abtheilungen des Gehirns überhaupt, je eine ge¬
wiſſe verſchiedene und eigenthümliche ſein müſſe. Daß die
Maſſe, welche durch das unbewußte Walten der Idee als
Centrum aller Nerven, d. i. aller eigentlich ſeeliſchen Gebilde
geſetzt wird, nicht wie bei den mehr unbewußten Geſchöpfen
als einfache, ſondern vollkommen analog der hier in der
Seele ſich entwickelnden Dreiheit von ſelbſtbewußtem Er¬
kennen
und Wollen, neben dem auch hier noch vom
Unbewußten ausgehenden Fühlen, ebenfalls als eine
dreifache, oder eigentlich zweifach dreifache (weil in
allen drei Gebilden zwei ſich gleiche Hälften vorhanden ſind)
dargebildet wird, iſt jedenfalls ein Moment, woraus über
[185] Beſtimmung dieſer einzelnen Theile ſich wichtige Aufſchlüſſe
ergeben müſſen. Dabei hat man außerdem zu bedenken,
daß die früheſte Bildung des Hirns noch überhaupt keine
leitende Faſerſubſtanz, ſondern lauter gleichmäßige in ſich
ruhende Zellſubſtanz zeigt, und daß ſomit dadurch jeder
dieſer drei Theile weit weniger als ſpäterhin mit den üb¬
rigen urſprünglich verknüpft ſein kann, ſo daß wir dann,
jemehr wir die Entwicklungsgeſchichte des Hirns in der
Reihe thieriſcher Geſchöpfe erwägen, um ſo weniger be¬
zweifeln dürfen, daß in dieſer Dreitheilung die dreifältige
Strahlung der in höherer Bedeutung ſich entfaltenden Seele,
d. i. die Unterſchiede des unbewußten Gefühls, des bewu߬
ten höhern Erkennens und des bewußten Wollens und Wir¬
kens ſich organiſch angedeutet finde, eben ſo wie in der
ſeitlichen Zweitheilung (man könnte ſagen in drei rechte
und drei linke Hirnmaſſen) die allgemeine Symmetrie
der höhern Körpergebilde ſich wiederholt, und dem ſomit
vorgeſehen iſt, daß, wenn eine Seite beſchädigt oder zerſtört
wird, die andre deren Stelle zu erſetzen vermöge.


Stellt ſich alſo dieſe verſchiedene Bedeutung — dieſe
früheſte Symbolik des Geiſtigen im Leiblichen, in erſter
Bildung, wo noch die verbindende leitende Faſermaſſe
fehlt, ſo deutlich heraus, ſo muß doch auch ſelbſt in der
vollen Ausbildung des Organismus von dieſer örtlichen
Beziehung fortwährend etwas übrig bleiben, obwohl un¬
fehlbar je weiter die innere Entwicklung vorrückt auch um
ſo mehr durch tauſendfältige Leitungsſtrahlen alle Theile,
auch die beiden ſeitlichen Gehirne — verbunden, innigſt
verſchmolzen und verflochten werden, und um ſo weniger
an Oertlichkeit gebundene Verhältniſſe zwiſchen einzelnen
Regionen des Geiſtigen und Leiblichen ſich auszeichnen kön¬
nen. — Aus dieſem Grunde iſt es demnach zu erklären,
warum dagegen bei den Thieren, als in welchen noch im¬
mer nicht die höhere menſchliche Einheit vollſtändig erreicht
wird, ſelbſt das phyſiologiſche Experiment die Beziehung
[186] des Vorhirns auf Erkennen, die des Nachhirns auf Be¬
wegung und alle Art von Reaction, noch auf das beſtimm¬
teſte anzeigt. Thiere denen man die Hemiſphären (beide
Hälften des Vorhirns) wegnimmt, ſind wie im fortwäh¬
renden Schlaf, erkennen nichts mehr; Thiere denen man
das Nachhirn (das kleine Hirn) wegnimmt ſind durchaus
keiner geregelten Bewegung mehr fähig. Selbſt im Men¬
ſchen jedoch bleiben noch dieſelben Beziehungen deutlich er¬
kennbar. Druck, Verletzung und Krankheit der Hemiſphä¬
ren erzeugt immer noch vorzugsweiſe Störung des Erken¬
nens, und Druck, Verletzung und Krankheit des kleinen
Gehirns erzeugt noch vorzugsweiſe Störung der Willens¬
bewegungen, obwohl hier, und zwar je reifer der Orga¬
nismus entwickelt iſt, um ſo tauſendfältiger die innern
Beziehungen zwiſchen den Hirnmaſſen werden, und um ſo
weniger deßhalb hier noch irgend ein beſtimmteres Localiſiren
der drei Strahlen des Seelenlebens auf die drei Maſſen
des Hirns ſich bemerklich machen kann. Das letztere iſt es
vorzüglich wodurch demnach die Gall'ſche Organenlehre
des Gehirns als eine vollkommene Abſurdität ſich darſtellt, 1
und hierin liegt zugleich der große Unterſchied zwiſchen
dem, was ich als wiſſenſchaftliche Hirn- und Schädellehre
[187] aufgeſtellt habe von der Schädellehre des Wiener Phyſio¬
logen.


Es leuchtet nämlich ein, daß, wenn urſprünglich, d. h.
zu einer Zeit, wo im Hirn noch durchaus keine Leitungs¬
ſubſtanz entwickelt war, die Dreigliederung des Gehirns
der organiſche Ausdruck der dreifachen Strahlung der zu
höherer Entfaltung beſtimmten Seele genannt werden muß,
daß, ſage ich, auch in tauſendfältigen qualitativen und
quantitativen, wenn auch für unſere Sinnesſchärfe nicht
meßbaren Modificationen des Verhältniſſes zwiſchen dieſen
drei Hirnmaſſen die Verſchiedenheit verſchiedner Menſchen
angedeutet ſein muß. Nothwendig werden nämlich im Mehr
oder Weniger der einen gegen die andre, und aller wieder
in Bezug auf den Geſammtorganismus, die Art und Ener¬
gie jeder Pſyche überhaupt und die ihrer einzelnen Strah¬
lungen insbeſondere abgebildet und ausgeſprochen ſein. Die
beſondere Modalität, in welcher demnach in ſolcher Geſtal¬
tung die erſte Anlage für jedes Individuum gegeben iſt,
wird ſich allerdings dann auch durch die ſpätere Entfaltung
des Gehirns fortbilden, und es muß daher ſelbſt bei voll¬
endeter Reife noch unter verſchiedenen Menſchen ein tau¬
ſendfältig verſchiednes individuelles Verhältniß der Hirnbil¬
dung vorkommen; ein Verhältniß, in welchem bald die eine,
bald die andre Hirnmaſſe vorzüglich ausgebildet erſcheinen,
und welches dann ganz beſtimmt allemal mit einer beſon¬
dern pſychiſchen Individualität genau correſpondiren wird.
Allerdings iſt nun bereits bemerkt worden, wie im gereif¬
ten Zuſtande keinesweges die einzelnen Strahlen der Pſyche
nur an dieſe oder jene Hirnmaſſe gebunden erſcheinen kön¬
nen, ſondern wie die höhere Syntheſe des Hirnbaues dieſe
Trennungen wieder großentheils ausgeglichen habe, ſo je¬
doch, daß das Vorherrſchen der urſprünglichen Bedeutung
bei Verletzungen und Krankheiten der einzelnen Hirnmaſſen
ſich immer noch kenntlich machen muß. Dieſe Syntheſe
wird aber auf höherer Bildungsſtufe dadurch erreicht daß
[188] wir das Gewebe jenes merkwürdigen Gebildes, das wir
Gehirn nennen, tauſend und tauſendfältig durch die Aus¬
ſtrahlungen der Faſerbündel jener zarteſten halbflüſſigen
kryſtallhellen Primitivfaſern überall durchdrungen und ver¬
bunden finden. Alle und jede Lagerung primitiver Bläschen¬
ſubſtanz iſt mannichfaltig durch Leitungsbogen mit den meiſten
übrigen verknüpft, und ſo wie im höher gebildeten Geiſte
immer mehr und vollſtändiger alles Fühlen, Erkennen und
Wollen nur eine Einheit wird, ſo erſcheint auch das organiſche
Abbild dieſes Urbildes, daſſelbe Abbild, welches doch an
ſich zugleich wieder die Bedingung der Offenbarung
des Urbildes im Selbſtbewußtſein wird, immer mehr nur
als ein einiges Ganzes; als ein Ganzes deſſen Schädigungen
daher an jeder Stelle immer auf alle Strahlen des pſychiſchen
Lebens zugleich, und nur unter gewiſſen Umſtänden auf
eine oder die andre vorherrſchend wirken müſſen. So löst
ſich alſo jener ſcheinbare Widerſpruch vollſtändig, welcher
darin gegeben ſchien, daß einerſeits eine lokale Abſpiegelung
der drei Grundrichtungen der Seele und ihres jedesmaligen
individuellen Verhältniſſes unabweisbar vorhanden war, und
dann doch bei der vollendeten Entwicklung von Seele und
von Gehirn die hergeſtellte höhere ſynthetiſche Einheit wieder
faſt alle lokale Beziehung aufhebt. Wer dies Geheim¬
niß
recht begreift, der kann daran ſonach gewiß den mög¬
lichſt vollſtändigen Aufſchluß über die Art und Weiſe haben,
wie auch in dieſen höchſten Regionen unſers Lebens das
Bewußte durch ein Unbewußtes überall bedingt werde.


Damit jedoch hier, wo es nicht vermieden werden konnte,
die Lehren wie die Irrlehren der Cranioſkopie und Phreno¬
logie zu erwähnen, gleich auch in dieſer Beziehung noch
einige Aufſchlüſſe gefunden werden mögen, ſo will ich noch
beifügen, welche Bewandtniß es mit der Beziehung der
Schädelbildung auf das Gehirn hat. Im Allgemeinen muß
man bedenken, daß das Skelet oder noch beſtimmter, das
Nervenſkelet, entſteht in Folge des nothwendig geforderten
[189] Gegenſatzes einer am vollkommenſten erſtarrten conſolidirten
Maſſe, zu einer in jenem halbflüſſigen Urzuſtande alles
Organiſchen, am vollkommenſten Verweilenden. Es iſt daher
dieſes Erſtarrte überall in genauer Wechſelbeziehung mit
den Centralmaſſen des Nervenſyſtems, als in welchen eben
jener elementare Zuſtand des Organiſchen mit merkwürdiger
Reinheit erhalten wird. So viel Abtheilungen des Rücken¬
marks, in der Zahl der Nervenpaare ausgeſprochen, ſo viel
Wirbel des Rückgraths, ſo viel weſentliche Abtheilungen
des Hirns, durch die weſentlichen Nervenpaare der großen
Sinnesorgane bezeichnet werden, ſo viel weſentliche Wirbel
des Schädels gibt es. Von der ganzen Wirbelſäule des
Kopfſkelets alſo, welche aus ſechs Wirbeln und mehrern
Zwiſchenwirbeln beſteht, beziehen ſich die weſentlichſten und
größten, die drei eigentlichen Schädelwirbel genau auf die
drei Hauptmaſſen des Gehirns. — Auch hier iſt bei der erſten
Darſtellung dieſer Bildung im Embryo, oder in niedern
Thieren dieſe Beziehung die auch räumlich exakteſte, ſo
nämlich daß genau jede Hirnmaſſe in einem Schädelwirbel
enthalten iſt; in höhern Thieren und in ſpätern Perioden
der menſchlichen Entwicklung, alſo eben da, wo die Syntheſe
des Hirnbaues durch die Ausbildung der Leitungsfaſern
mehr und mehr die höhere Einheit des Ganzen herſtellt,
verſchmelzen nicht nur immer vollkommner die drei Wirbel
zu einer ſphäriſchen Knochenhöhle des Schädels, ſondern
es iſt auch nicht mehr ausſchließend jeder Wirbel bloß durch
die ihm beſtimmte Hirnmaſſe ausgefüllt, vielmehr wächſt
namentlich das Vorhirn (die Hemiſphären) angemeſſen der
immer mehr und mehr ſich erhöhenden Bedeutung der Er¬
kenntniß, zu einer ſolchen Ausdehnung an, daß es zuerſt,
nächſt dem Vorderhauptwirbel auch den des Mittelhaupts,
und endlich ſelbſt den des Hinterhaupts zum Theil mit er¬
füllt, obwohl immer dabei noch weſentlich Nachhirn im
Hinterhaupt und Mittelhirn im Mittelhaupt verbleiben. Bei
alle dem hält übrigens doch getreu das merkwürdige Ge¬
[190] bilde des Skeleton die urſprüngliche Gliederung des
eingeſchloſſenen hohen Nervengebildes feſt, und immerfort
ſtellt ſich die urſprüngliche mehr gleichgetheilte Dreifaltigkeit
des Hirns in den ziemlich gleich großen drei Wirbeln des
Schädels dar, nur daß letztere zu der einen Schädelhöhle
verwachſen, ſo wie die Hirnmaſſen durch die einigende ver¬
bindende Faſerbildung immer mehr ſynthetiſch zu einer Ein¬
heit verſchmelzen. Wie aber in den Verhältniſſen der drei
Hirnmaſſen unter einander bei einzelnen Individuen vom
Anfange an unendliche Variationen und Abweichungen ge¬
ſetzt ſind, ſo auch variirt ſchon bei höhern Thieren einer
Gattung, am meiſten aber beim Menſchen zwiſchen mehrern
Individuen das Verhältniß der drei Kopfwirbel unter ſich
und zum ganzen Organismus unendlich, und deutet da¬
durch ebenfalls auf die unendlichen Varietäten,
deren die menſchliche Perſönlichkeit fähig iſt
und fähig ſein muß, damit eben erſt in allen dieſen Ver¬
ſchiedenheiten die hohe Bedeutung des Mikrokosmus der
Menſchheit ſich vollkommen darleben könne.


Nothwendig muß uns alſo nun jeder dieſer drei knöcher¬
nen Wirbel zum Symbol werden, an welchem ſich allezeit
die Beſonderheit der von ihm urſprünglich allein umſchloſſe¬
nen Hirnmaſſe verräth, und mittelbar alſo auch zum
Symbol für den Strahl des Seelenlebens, der gerade
in dieſem Hirngebilde urſprünglich organiſch ſich darſtellte.
Nehmen wir Tauſende von menſchlichen Schädeln, ſo wird
nie und nirgends die Bildung aller dieſer einzelnen Ver¬
hältniſſe der Wirbel vollkommen gleich ſein, vielmehr werden
allemal die drei großen Wirbel gegen einander irgend wie
anders beſchaffen erſcheinen, wie denn auch jede geiſtige
Individualität von der andern ſich weſentlich unterſcheiden
muß. Freilich ſind dieſe Verſchiedenheiten des Symbols
wie die des Weſens hier oft ſehr fein, und wenn wir ver¬
ſuchen, dieſe Abweichungen der Schädelwirbel in Maßen
auszudrücken, ſo kann immer nur von einer Schätzung en
[191] gros
die Rede ſein und nur das beſonders Prägnante
wird ſich als meßbar darſtellen. Dagegen wird außer
dem eigentlich Meßbaren, allerdings auch noch die ganze
Art der Bildung dieſer Wirbel charakteriſtiſch ſein, die
Art ihrer Wölbung, die Linien ihres Umfangs, kurz nichts
ohne Bedeutung bleiben, aber vieles wird in Zeichen ge¬
ſchrieben ſein, die immer uns nur zum Theil verſtänd¬
lich werden können. Indeß ſchon dadurch, daß wir das
Meßbare
, die größern Verhältniſſe auffaſſen, wird für
Kenntniß der urſprünglichen Anlagen des Menſchen viel
gewonnen ſein, und darum verdient die Cranioſcopie alle
mögliche Ausbildung als beſondrer Zweig des Wiſſens,
und als wichtig in vieler Beziehung namentlich für das
Studium der Pſychologie.


Von ihr konnte hier nur ſo viel erwähnt werden, um
die Art, wie ſie wirklich und allerdings jetzt eine wiſſen¬
ſchaftliche Begründung gewonnen hat, deutlich zu machen.
Ueber das Weitere muß ich auf andere Schriften von mir
verweiſen.


Iſt nun aber eine Vorſtellung davon gewonnen (und
durch das Vorhergegangene wird es allerdings möglich ge¬
weſen ſein ſie zu gewinnen), auf welche Weiſe das Unbe¬
wußte in der Geſtaltung des Nervenſyſtems und in der
Entwicklung der Innervation die erſte Bedingung genannt
werden muß alles bewußten Seelenlebens, ſo fragt ſich nun
auf welche ſonſtige Weiſe noch das Unbewußte zu fernern
Bedingungen des Bewußtſeins werden kann?


Zuerſt iſt hier darauf aufmerkſam zu machen, daß
das Nervenſyſtem, welches wir bisher als erſte und haupt¬
ſächliche Bedingung des Bewußtſeins betrachten mußten, und
durch deſſen Primitivfaſern insbeſondre eine weſentliche Be¬
dingung neu aufzunehmender, dem Bewußtſein zuzuführender
Vorſtellungen gegeben war, daß dieſes Nervenſyſtem, ſage
ich, doch keinesweges an und für ſich geeignet iſt allein
und ohne Mitwirkung eines an ſich Unbewußten, neue Sinnes¬
[192] vorſtellungen aufzunehmen. Der blosgelegte oder durch¬
ſchnittene Nerv wird durch jede äußere Reizung nur auf
eine krankhafte Weiſe afficirt und die Vorſtellung, die wir
dadurch erhalten, hat nichts Objektives mehr, ſondern iſt
rein ſubjektiv, ſie iſt eine bloße Zuſtandsänderung — und
wird als Schmerz empfunden.


Damit alſo eine Sinnesvorſtellung zu Stande
komme iſt außer dem Nervenſyſteme noch ein in ſich unbe¬
wußtes Vermittelndes, ein Zwiſchenglied nothwendig, in
welches auf irgend eine Weiſe die Außenwelt lebendig ein¬
dringt, gleichſam ſich einlebt. Dieſes dadurch umgeſtimmte
Mittlere wird nämlich dann erſt vom Nervenleben erfaßt
und verſtanden, und erſt die von da aus veranlaßte und
durch Leitung der Primitivfaſern dem Centralorgane zuge¬
führte Aenderung der Innervationsſpannung ſpiegelt ſich
dann im Bewußtſein als Sinnesvorſtellung wieder. Soll
z. B. Geſchmacksempfindung entſtehen, ſo muß eine be¬
ſondre Einwirkung eines Schmeckbaren in das Epithelium
der Zunge Statt gehabt, ſie muß deſſen an ſich unbewu߬
tes Leben umgeſtimmt haben; und nun erſt wird der Ge¬
ſchmacksnerv, deſſen feinſte letzte Umbiegung am Epithelium
ſich endiget, die veränderte Lebensſtimmung dieſes Epithe¬
liums in einer Modification ſeiner Innervationsſpannung
peripheriſch aufnehmen und in demſelben Moment central
im Hirn abſpiegeln, ſo daß ſie dadurch als Geſchmacks¬
vorſtellung zum Bewußtſein kommt. Die blosgelegten En¬
den des Geſchmacksnerven würden von jeder äußern Be¬
rührung nur Schmerz empfinden, keine Geſchmacksvorſtellung
veranlaſſen. Aehnlich verhält es ſich aber bei allen den
andern Sinnesorganen, beim Geruch, beim Gehöre, bei
dem daguerrotypiſchen Proceß auf der Netzhaut u. ſ. w.


Auf dieſe Weiſe müſſen wir alſo erkennen daß jede Bereiche¬
rung des bewußten Lebens durch Sinnesvorſtellung nicht bloß
vom bewußten Nervenleben unmittelbar, ſondern zugleich von
einer mitwirkenden unbewußten Region des Lebens abhängt.


[193]

Indeß auch nicht bloß die eigentlichen Sinnesvorſtel¬
lungen, wodurch für uns eine Außenwelt zuerſt eigentlich
entſteht, ſondern auch alle die unzähligen Empfindungen
und Gefühle, von den verſchiedenen Zuſtänden und Stim¬
mungen, von Luſt und Unluſt unſers geſammten Daſeins,
entſtehen auf die Weiſe, daß Zuſtände des Unbewu߬
ten
vom Nervenſyſtem aufgenommen und ſo erſt zu einem
gewiſſen Bewußtſein gebracht werden. So entſteht alſo
das, wodurch all unſer bewußtes Leben ſo unendlich mo¬
dificirt wird, das was wir Gefühle, Gemüthsbewegungen
und zuhöchſt Leidenſchaften nennen, Regungen ohne welche
dem Seelenleben ſo zu ſagen die Farbe, das innere Prin¬
cip der Bewegung fehlen würde, alles dies wird ganz
weſentlich vom Unbewußten bedingt. Wir haben nämlich
früher ſchon bemerkt, daß der Menſch nicht bloß dadurch
ein Mikrokosmus iſt, daß er durch ein unermeßliches Setzen
und Wiederholen der erſten Monas, der erſten Eizelle, als
ein in dieſer Beziehung unermeßlicher Zellenbau erſcheint,
ſondern auch dadurch, daß er in eine gewiſſe Zahl unter¬
geordneter Lebenkreiſe, organiſcher Syſteme ſich gliedert, in
deren jedem ſich wieder eine eigenthümliche untergeordnete
Lebensidee bethätigt, ſo der Lebenkreis der Ernährung, der
Athmung, der Abſonderung, des Geſchlechts u. ſ. w. Alle
dieſe aber ſind in ſich unbewußt, aber haben nichts deſto
weniger ihre eigenthümliche ſeeliſche Seite, ihre pſychiſche
Signatur, und dieſe iſt es, welche in ihren verſchiedenen
Stimmungen dadurch in das Seelenleben und ſelbſt in
das Bewußtſein mit eingeht, daß jenes eigentlich ſeeliſche
Syſtem, das Nervenſyſtem, ſie mit ſeinen Leitungsfaſern
durchdringt und ſomit ihr beſondres Leben mit in den höch¬
ſten Lebenkreis d. h. in das bewußte Erkennen des Indi¬
viduums einführt. Jede beſondre Stimmung einer dieſer
untergeordneten Sphären wird alſo auf dieſe Weiſe im
Bewußtſein wiederklingen; der aufgeregte Zuſtand der Er¬
nährungsſyſteme, auf eine andre Weiſe als der der Sphäre
Carus, Pſyche. 13[194] des Geſchlechts, dieſer wieder auf andre Weiſe als der
Zuſtand der Blutbewegung und Athmung u. ſ. w. Die
Sprache hat nun ſchon dafür geſorgt, daß wir dieſe Re¬
gungen, welche der bewußten Seele auf ſolchem Wege
kommen, beſtimmt unterſcheiden von dem was ihr von den
Sinnesorganen aus zugeführt wird.


Wenn nämlich durch das letztere das bedingt wird,
was wir Vorſtellungen nennen, ſo bedingt dagegen,
wie bereits erwähnt, das was aus dieſen verſchiedenen
Lebenkreiſen des Unbewußten dem Bewußtſein zugebracht
wird, jene Zuſtände der Seele, welche mit dem Namen der
Gefühle bezeichnet werden, und man kann ſich nun wohl
überzeugen, daß auch hier nur der ganz ſcharf verfolgte
genetiſche phyſiologiſch-pſychologiſche Weg dazu führt, einen
klaren und wahrhaft angemeſſenen Unterſchied aufzuſtellen
zwiſchen dem was Gefühle und was Vorſtellungen genannt
werden ſoll. So iſt es denn jetzt erſt zu verſtehen, in wie
fern der Bereich der Gefühle in gewiſſer Beziehung weit
beſchränkter ſein muß als der der Vorſtellungen, denn in
den letztern ſpiegelt ſich die ganze unendliche äußere Welt
mit allen ihren ſtets wechſelnden Erſcheinungen, in den
erſtern dagegen bildet ſich nur ab die Stimmung der ver¬
ſchiedenen innern Sphären des endlichen Organismus.
Allerdings haben dafür die Gefühle in ſich wieder eine
eigenthümliche Unendlichkeit, und namentlich dadurch, daß
unendliche Grade der geringern oder größern Lebendigkeit
und Tiefe, und unendliche Combinationen verſchiedener Ge¬
fühle vorkommen können, einen Umfang, welcher dem der
Vorſtellungswelt wieder ganz gleich wird; allein immer
bleibt hier die auf- und abwärts zu durchlaufende Skala
im Ganzen dieſelbe, während die Welt der Vorſtellungen
nach immer neuen Seiten anwachſen kann. Die Ver¬
ſchiedenheit
beider Arten von Regungen der Seele läßt
ſich wirklich nicht beſſer vergleichen als mit dem Verſchie¬
denſein von Formen und Farben, und namentlich wird in
[195] dieſem Gleichniſſe auch ihr gleichzeitig Vorhandenſein,
ihr zum Theil ſich gegenſeitig bedingen (z. B. ſo daß die
Vorſtellung des Sterbens, der Trennung, des Krankſeins
am meiſten mit trüben ſchwermüthigen Gefühlen ſich ver¬
bindet) und doch auch wieder zum größern Theil ihr völlig
Unabhängigſein von einander, vollkommen verſtändlich.
Das worin beiderlei Seelenregungen ſich am nächſten ſte¬
hen, erſcheint beſonders darin, daß beiderlei Arten, einmal
vorhanden, auch an der ewigen Weſenheit der Seele ver¬
harrend Theil haben, d. h. daß ſie beide in der Erinne¬
rung vorhanden bleiben und theils abſichtlich wieder aufge¬
regt werden können, theils nach einem gewiſſen Kreislaufe
ſelbſt wiederkehren. Abſichtlich können jedoch dann die Ge¬
fühle nicht unmittelbar, ſondern nur mittels der ihnen
homogenen Vorſtellungen
wieder angeregt werden.
In Wahrheit ſind alle dieſe Verhältniſſe ſehr merkwürdig,
und es muß in einem ſpätern Abſchnitte die Geſchichte die¬
ſer Regungen uns noch im Einzelnen beſchäftigen. Gegen¬
wärtig kam es nur darauf an zu zeigen wie die Welt des
unbewußten Lebens in uns überhaupt in das bewußte Leben
eingehe und es beſtimme, womit übrigens keineswegs aus¬
geſchloſſen iſt, daß nicht auch das bewußte Leben wieder
auf das mannichfaltigſte das unbewußte wirklich und viel¬
fältigſt beſtimme, wovon nun im Folgenden ausführlicher
zu handeln iſt.

c. Von der Art und Weiſe wie das bewußte Seelenleben auf das
unbewußte einwirkt.

Die ganze Geſchichte der geſunden pſychiſchen Entwick¬
lung des Menſchen zeigt ein fortwährendes Wachsthum der
bewußten Region ſeines Seelenlebens und ein Zunehmen
des Beſtimmtwerdens des Unbewußten durch das Bewußte.
Das Reich des Unbewußten, welches früher alles Leben um¬
faßte, vermindert ſich von Stufe zu Stufe, und das was
[196] immer noch übrig bleibt, erfährt mehr und mehr den Ein¬
fluß des Bewußtſeins. Dieſes Fortſchreiten iſt darum be¬
ſonders höchſt merkwürdig, weil es auf ein Ziel deutet,
welches in dieſer Exiſtenz nicht erreicht werden kann, — wir
können nicht zu einem durch und durch bewußten
Leben in dieſer Lebensform gelangen; und offenbar iſt
hauptſächlich von dieſer Forderung aus der Glaube an
eine rein geiſtige Exiſtenz nach dem was wir Sterben nen¬
nen, in die Denkweiſe aller Völker, auf eine bald mehr
bald weniger erleuchtete Weiſe eingegangen. Was die
Wiſſenſchaft darüber auszuſagen hat, muß ſpäterhin
erwogen werden, gegenwärtig iſt nur der Gang zu verfol¬
gen, in welchem hier die Einwirkung des Bewußten auf
das Unbewußte ſich äußert.


In dieſer Beziehung müſſen wir dann zuerſt unter¬
ſcheiden die willkürliche und die unwillkürliche
Einwirkung. Zu der letztern gehört namentlich alles was,
wie ſchon früher erwähnt wurde, das Bildungsleben vom
bewußten Leben aus, an Beſtimmungen erfährt. Die Art
in welcher das Bewußtſein, der Geiſt, in einzelnen Indi¬
viduen ſich heranbildet, ob in ſchöner und edler, oder ob
in unſchöner und gemeiner Weiſe, wirkt auf das Ge¬
ſtalten der Erſcheinung des Menſchen mächtig
zurück
, gibt bald edlere, bald unedlere Formen, die wir
eben mit dieſen Namen belegen, weil längſt man erkannt
hatte, daß dieſe Erſcheinungen durchaus und allerdings ſym¬
boliſch
ſeien. Aber nicht bloß wirkt das Bewußte, welches
ja auch immer wieder theilweiſe zu einem relativen Unbe¬
wußtſein zurückkehrt, ſo auf das an ſich Unbewußte im All¬
gemeinen, ſondern auch partiell und lokal durchſtrömen den
Organismus fortwährend dergleichen Wirkungen, und der
Leiter und Träger derſelben kann natürlich kein andrer als
das Nervenſyſtem ſein. Das was wir nämlich oben über
die beſondre Welt der Gefühle geſagt haben, daß ſie da¬
durch entſtehen, daß die eigenthümliche innere Stimmung
[197] gewiſſer einzelner Lebenkreiſe unſers Mikrokosmus durch
das ſeeliſche Syſtem der Nerven hineingeleitet werde in
das Bewußtſein, kehrt ſich auch wieder um, indem ge¬
wiſſe Reihen von Vorſtellungen im Geiſte, wieder unmittel¬
bar das ihnen homogene Gefühl in der Seele erregen und
dieſes Gefühl nun abermals durch Nervenleitung jene ein¬
zelnen ihm entſprechende Lebenkreiſe afficirt. So z. B.
wenn im Geiſte die Vorſtellungen von Tod und Tren¬
nung wiederkehren, wird das ihnen entſprechende Gefühl
der Trauer, der Betrübniß, ebenfalls erwachen, und die
leitenden Primitivfaſern vom Hirn aus werden nun nach
denjenigen Organen hin eine Innervationsſtrömung bedin¬
gen, welche eben durch ihre eigenthümlichen und von außen
veranlaßten Verſtimmungen früher das Gefühl der Betrüb¬
niß in der Seele hervorrufen konnten; es wird alſo nicht
nur z. B. die Blutmetamorphoſe in dem gallbereitenden
Organe ſofort ungeſtimmt, ſondern ähnliche Abſonderungs¬
organe im Kopfe werden erregt, die Thränendrüſen ſon¬
dern ſofort ſtärker ab, das Weinen, das phyſiſche Symbol
innerlichſter Betrübniß, gibt ſich kund. Hier erkennt man
alſo recht deutlich wie verſchiedne Vorgänge in ſolchem Falle
mit einem Male in Bewegung geſetzt werden mußten: das
Anregen der Vorſtellungen und damit das wieder Anklingen
des Gefühls war das Erſte. Die damit verbundne Aen¬
derung in der Spannung der Innervation der Hirnmaſſe
begründet alsdann als Zweites eine reagirende centrifugale
Strömung in den zu Leben- und Thränendrüſen verbrei¬
teten Nerven, und unmittelbar wird dadurch als ein Drit¬
tes dort das veränderte Blutleben und die veränderte
Ausſcheidung hervorgerufen, und zwar ganz eben ſo her¬
vorgerufen als bei andern centrifugalen Innervationsſtrö¬
mungen in den Muskeln dort die Zuſammenziehung und
Bewegung hervorgerufen wird. Wie daher bei dem Vor¬
ſtellungsleben man ſagen konnte, es ſei die Nervenleitung
ſo genau die Bedingung neu hinzugeführter Vorſtellungen,
[198] daß man ſofort dieſe Zuleitung unmöglich machen kann,
wenn man die Nervenleitung zerſtört, ſo darf man ſagen,
es würde ſogleich jene unwillkürliche Rückwirkung des Ge¬
fühls auf die unbewußte Sphäre gehemmt, ſobald man die
dorthin gehende Nervenleitung aufzuheben vermag. So
z. B. alſo würde im obigen Falle, trotz des angeregten
Gefühls der Betrübniß in der Seele, die Thränen- und
Gallenänderung nicht erfolgen, wenn man die zu dieſen Ab¬
ſonderungsorganen ſich wendenden Nerven durchſchneiden oder
unterbinden könnte. Etwas der Art können wir wirklich
beobachten wenn bei Leiden der untern Rückenmarksgegend
die Innervationsſtrömung nach den Organen des Geſchlechts
gehemmt iſt. Wenn in ſolchem Falle in der Seele, durch
Vorſtellungen auf das Geſchlecht bezüglich, ein wollüſtiges
Gefühl angeregt wird, ſo wird doch die Erregung der Ge¬
ſchlechtsorgane, welche ſonſt unmittelbar bei Anregung jenes
Gefühls erfolgt, unbedingt ausbleiben, und zwar eben nur
weil jene Nervenleitung unterbrochen iſt.


In allen dieſen Dingen hatte man ſich bisher die
Vorſtellungsweiſe ſehr erſchwert, indem man immer nur
von den unerklärlichen Wirkungen von Seele auf Leib und
umgekehrt, und niemals davon handelte, daß hier doch
nur von Wirkung einer Sphäre der Pſyche auf eine
andre
, von Wirkung des Bewußten auf das Unbewußte,
und umgekehrt, die Rede ſein dürfe.


Aus dem Vorhergehenden kann nun eigentlich Alles
klar werden, was über die unwillkürliche Einwirkung der
bewußten Pſyche auf das Unbewußte zu bemerken iſt; alle
jene vielfältigen Strahlungen wodurch ganz unwillkürlich
und mannichfach die Erſcheinung unſers leiblichen Lebens
zum Symbol wird unſerer Vorſtellungs- und Gefühlswelt,
vom Erröthen der Schaam an bis zum Erbleichen in Folge
des Schrecks, und vom Lächeln des Mundes bei heitern
Vorſtellungen, bis zum Sträuben des Haars bei Furcht;
alles dies Unwillkürliche erklärt ſich bei weiterm Nachdenken
[199] vollſtändig nach den obigen Angaben. Was dagegen
die willkürliche Einwirkung des Bewußten auf das
Unbewußte betrifft, ſo iſt von ihr zu bemerken, daß ſie
theils eine direkte, theils eine indirekte ſein werde.
Aus der Kenntniß des innern Verhältniſſes und der ver¬
ſchiedenen Bedingungen des bewußten Seelenlebens kann
man aber leicht entnehmen daß, eben weil dieſe Sphäre
ſich aus dem Gebiete des Unbewußten gänzlich heraus- und
hervorgehoben hat, die völlig unmittelbaren Einwirkungen
deſſelben auf jenes Gebiet nur in ſehr beſchränktem Maße
möglich ſind. Niemand kann bloß durch ſeinen Willen
machen daß er beſſer verdaut, daß ſein Blut anders ſtrömt,
daß ſeine Abſonderung und Athmung anders von Statten
geht. Dagegen kann aber das bewußte Seelenleben — das
Denken — gar wohl unterſuchen und verfolgen, wie und
auf welche Weiſe die Bedingungen ſich verhalten, unter de¬
nen es möglich ſei, die Erſcheinungen des unbewußten Lebens
abzuändern, und dadurch wird es ihm dann allerdings
auch gelingen können abſichtlich dieſe Bedingungen entweder
herbeizuführen oder auch nicht herbeizuführen. Auf ſolche
Weiſe handeln wir z. B. wenn wir die Fortbildung, das
Wachsthum des Körpers unterſtützen oder auch ſchwächen,
indem wir entweder mehr Nahrungsſtoff dem Organismus
zuführen oder ſie ihm entziehen. Auf dieſe Weiſe verfahren
wir, wenn wir raſchern Blutlauf und vermehrte Innerva¬
tionsſtrömung anregen wollen, indem wir uns in wärmere
Temperatur bringen und anregende Getränke z. B. Wein,
genießen; — auf dieſen Regeln beruht endlich die ganze
Umſtimmung des unbewußten Lebens, deren wir durch
Medicamente fähig ſind. Ja, es regt zu den ſeltſamſten
Betrachtungen an, wenn wir uns überzeugen, daß auf
dieſe Weiſe die bewußte Pſyche durch abſichtliche Einwirkung
auf das Unbewußte, ſogar wieder auf ſich ſelbſt, auf
ihr eignes Vorſtellungs- und Gefühlsleben zurück wirken
kann und täglich und ſtündlich darauf bald niederdrückend,
[200] bald erhebend, bald dies oder jenes beſondre Gefühl an¬
regend, weſentlich zurückwirkt. So wird in dem obigen
Beiſpiele die erhöhte Temperatur und der Wein nicht nur
raſchern Blutlauf und regere Innervation bedingen, ſondern
dieſe Veränderungen im Unbewußten werden auch unmittel¬
bar ein anderes erhöhtes lebhafteres Gefühl in der bewu߬
ten Seele erzeugen und einen raſchern Strom lebhafterer
Vorſtellungen bedingen u. ſ. w. Erſt von hier aus wird
daher die wahre Aufgabe derjenigen Kunſt recht begreiflich,
welche wir Lebenkunſt nennen, und deren Zweck kein
anderer ſein kann, als eben die bewußte Welt des
Geiſtes ſowohl in dem Reichthume ſeines Vor¬
ſtellungs- als in der Schönheit und Tiefe ſei¬
nes Gefühllebens auf das möglichſt Vollkom¬
mene zu entwickeln
; denn man ſieht ein, wie zwar
eines Theils der bewußte Geiſt bloß und allein durch ſich
ſelbſt und in ſich ſelbſt in einem gewiſſen Umfange zu die¬
ſem Zwecke hinwirken kann, wie aber andern Theils eine
weſentliche Macht dieſer Lebenkunſt allerdings nur dadurch
gegeben wird, daß das Unbewußte mittels einer Art von
Erziehung und Lenkung vom Bewußten aus, immerfort alle
die Strahlungen wieder auf das Bewußte zurückwerfe, wo¬
durch dieſes ſelbſt in genügender Fülle und Harmonie des
innern Daſeins erhalten und gefördert werde. Nur unter
dieſer Bedingung wird dann der Geiſt ſelbſt diejenige Höhe
und Klarheit erreichen, welche er in einem ächt menſchlichen
Daſein allerdings zu erreichen vermag, und welche er nie
erreichen wird, wenn nicht das Unbewußte unſers leiblichen
Bildungslebens in ſchöner harmoniſcher Geſundheit ſich be¬
thätigt und ſeine Entfaltung unterſtützt. Natürlich muß
auch hier wieder daran erinnert werden, was wir ſchon im
Anfange unſerer Betrachtung des unbewußten Seelenlebens
erwähnt haben, nämlich daß „jedes Können erſt dadurch
wirklich zur Kunſt werde, daß alles Thun, in ſo fern es
einem gewiſſen Zweck des Willens dienen ſoll, wieder an
[201] und für ſich unbewußt vollzogen werde, damit es eben ſo
erſt die höchſte Leichtigkeit der Production begünſtige.“ Es
muß alſo auch die Lebenkunſt deßhalb nicht ein bloßes Be¬
rechnen und abſichtliches Bedenken bleiben, ſondern ſie muß
eben auch wieder zum Theil unbewußt werden, wenn ſie
den Namen der Kunſt wahrhaft verdienen und wirklich
die höchſten Reſultate gewähren ſoll.


Was die Möglichkeit der direkten Einwirkung des
Bewußten auf das Unbewußte betrifft, ſo beſchränkt ſie ſich
eigentlich im Weſentlichen auf die Möglichkeit dem Lebens¬
gange das Unbewußte und mit ihm dem Leben
überhaupt gewaltſam hemmend entgegenzutre¬
ten
, es geradezu zu verletzen, ja zu vernichten.
Daß das Bewußte jedoch ſich in ſo weit der Macht des
Unbewußten entziehen, in ſo weit ſich geradezu in Oppo¬
ſition zu ihm ſtellen kann, dazu gehört durchaus die Ent¬
wicklung der vollen Freiheit des Selbſtbewußtſeins,
und darum iſt alſo einzig und allein der zum Selbſtbe¬
wußtſein gereifte Menſch des Selbſtmordes fähig. 1
Es liegt hierin ein außerordentlich merkwürdiges Verhält¬
niß. Nämlich keinesweges als ſollte der Selbſtmord wirk¬
lich und nothwendig geübt werden, aber daß die Möglich¬
keit da ſei, daß das Leben, dieſe Schöpfung zuerſt doch
nur des Unbewußten aufgehoben werden könne wenn hin¬
reichende
Gründe dafür vorhanden ſind, damit iſt erſt
jene Nothwendigkeit, jener Zwang, welche recht eigentlich
das Zeichen und der Bereich des Unbewußten ſind, gebro¬
chen und gänzlich aufgehoben — und damit erſt iſt ſonach
auch erſt die unbedingte Freiheit des Bewußtſeins völlig
hergeſtellt. — Das iſt es worauf in jenen großen Worten
Shakespeare's gedeutet wird:


[202]
„Darin, ihr Götter, macht ihr Schwache ſtark,

Darin, ihr Götter, bändigt ihr Tyrannen;

Noch felſenfeſte Burg, noch eh'rne Mauern,

Noch dumpfe Kerker, noch der Ketten Laſt,

Sind Hinderniſſe für des Geiſtes Stärke,

Das Leben, dieſer Erdenſchranken ſatt,

Hat ſtets die Macht ſich ſelber zu entlaſſen.“

Mögen daher auch die Fälle, wo das bewußte Seelen¬
leben berechtigt iſt das unbewußte und ſomit ſeine eigne
Vorſtellungswelt zu vernichten, auf die allerwenigſten ſich
reduciren laſſen, ja möchte es in jedem einzelnen ſolchen
Falle immer noch faſt unmöglich bleiben die abſolute Noth¬
wendigkeit des Selbſtmordes darzuthun, eben wegen des
Geheimnißvollen und zuletzt doch Unergründlichen alles
Menſchenlebens, in welchem auch die ſcheinbar klarſte Er¬
kenntniß gewöhnlich nicht mit unbedingter Nothwendigkeit
nachzuweiſen vermag, daß wirklich alle andern Auswege
verſperrt ſind und verſperrt bleiben werden — immer würde
doch daß dieſe Möglichkeit gegeben iſt, ein un¬
ſchätzbares Gut und im eigentlichen Sinne die Spitze des
vollkommnen Freiſeins eines vollkommnen Selbſtbewußt¬
ſeins genannt werden müſſen. Wer dieſe Verhältniſſe recht
bedenken will, dem kann daran klar werden, warum in der
Geſchichte der Menſchheit theils einzelne Fälle des Selbſt¬
mordes bedeutender Menſchen ſehr hoch gehalten werden,
und warum theils die große Menge gewöhnlicher Selbſt¬
morde nur dem Mitleide (in ſo fern ſie von krankhaften
Seelenzuſtänden veranlaßt wird) oder der Verachtung ſich
preisgegeben finden (in ſo fern in ihnen ein nichtiges aufs
Aeußerſte geſunkenes Leben ausläuft). Jedes nicht voll¬
kommen zu rechtfertigende nicht bloß Vernichten, ſondern
überhaupt Schädigen des Unbewußten in uns, muß aber um
ſo mehr als ein Frevel erſcheinen, je mehr wir im Vor¬
hergehenden gelernt haben in demſelben das urſprünglich
Göttliche der Idee zu verehren.

[203]

d. Vom Rückkehren des bewußten Seelenlebens ins unbewußte.

Gleich von vorn herein müſſen wir hier unterſcheiden
die Rückkehr einzelner Vorſtellungen und Ge¬
fühle ins unbewußte Reich der Seele
bei doch
vorhanden bleibendem Bewußtſein im Allgemeinen, und das
periodiſche Rückkehren alles Bewußtſeins ins
Unbewußtſein
. Zunächſt werde das erſtere in Betrach¬
tung gezogen.


Es iſt bereits im Eingange dieſer Schrift des merk¬
würdigen Vorganges gedacht worden, den wir täglich und
ſtündlich vielfach in uns ſelbſt gewahr werden müſſen, näm¬
lich daß ein ſteter Wechſel der Vorſtellungen und (obwohl
dieſes in langſamerm Gange) der Gefühle, in und vor
unſerm Bewußtſein Statt findet. Ein ſolcher Wechſel iſt
nur dadurch möglich, daß ſtets einzelne Vorſtellungen wieder
uns unbewußt werden, während andre bis dahin unbewußte
und doch vorhandne, vor das Bewußtſein treten. — Dieſer
Kreislauf iſt theils ein vollkommen unwillkürlicher, theils
ein der Willkür unterworfner. — Was den unwillkürlichen
betrifft, ſo habe ich darüber als der Erſte in meinem Syſteme
der Phyſiologie 3. Th. geſprochen und gezeigt, daß wir
allerdings Grund haben ihn mit dem Kreislaufe des Blutes
auf eine gewiſſe Weiſe in Verbindung zu bringen. Ich
habe nämlich dargethan, daß wir gar wohl annehmen dürfen,
es ſtehe die Entwicklung des Nervenlebens, welche wir In¬
nervation nennen und deren Strömung mit der des Magnetis¬
mus oder Galvanismus viel Aehnliches hat, zu dem Blut¬
leben und namentlich der fortwährenden Endosmoſe und
Erosmoſe im Capillargefäßſyſtem des Gehirns ganz in
ähnlichem Verhältniß wie etwa die Entwicklung der galva¬
niſchen Strömung im genaueſten Verhältniß ſteht zu dem
chemiſchen Proceß der mit den Metallplatten in Berührung
gebrachten Salzlöſung. — Eben deßhalb findet es ſich alſo,
daß aufgehobne oder zu ſchwache Blutſtrömung gerade ſo
[204] wie übermäßig heftige, die Innervation ſogleich ſtört oder
ebenfalls aufhebt, und wir ſelbſt können es empfinden, daß
unſer Denken und geſammtes geiſtiges Leben in ſeiner In¬
tegrität nur dadurch bedingt wird, daß in reinem geregel¬
ten Gange der millionenfach zertheilte Blutſtrom unſer Hirn
durchzieht. — Eine einzige Störung hierin und unſere Ge¬
danken verwirren ſich, eine heftigere Störung, und das
Bewußtſein ſchwindet.


Dem der nun freilich ganz im Dunkel darüber iſt,
daß jenes unbewußte Leben des Blutes auf demſelben Gött¬
lichen ruht von welchem das bewußte Geiſtige bedingt iſt,
dem muß in Wahrheiten dieſer Art allemal eine furchtbare
Abhängigkeit dieſes Geiſtigen von jenem unbekannten Etwas,
was er Lebenskraft oder ſchlechthin Leibliches nennt, er¬
ſcheinen, eben weil er ja dann immerhin das Höchſte und
Reichſte in ſich an das Niedrigſte und Materiellſte gebunden
zu denken hat. 1 Iſt uns hingegen deutlich geworden, daß
wie das Bewußte ſo auch das Unbewußte in uns auf einem
und demſelben Göttlichen, auf einer und derſelben Idee
ruht und nur dadurch bedingt wird, ſo treten uns jene
Beziehungen in ganz andrer Weiſe im Geiſte entgegen,
wir fühlen uns überall auf höherem göttlichen Grunde, und
ſehen uns in jeder Beziehung erhoben und beruhigt.


Folgen wir jedoch zunächſt weiter den Beziehungen
des Blutlebens zur Innervation des Hirns, ſo finden wir
bald, daß ſo wie alle organiſche Vorgänge an einen ge¬
wiſſen Rhythmus gebunden ſind, dieſer Rhythmus auch in
[205] den Strömungen der Blutmaſſe auf vielfältige Weiſe ſich
bethätige, ja er gibt von hier aus ſogar Veranlaſſung zu
gewiſſen geregelten Bewegungen der ganzen Hirn¬
maſſe und auch der in ihren Höhlen befindlichen Flüſſig¬
keiten. Ein Heben und Senken des geſammten Hirns, be¬
dingt durch die rhythmiſch dem Athemholen entſprechende
größere oder geringere Anhäufung des Blutes in den Venen
des Hirns, geht durch das ganze Leben ununterbrochen fort,
und läßt ſich ſchon beim kleinen Kinde als ein langſames
Pulſiren auf der Scheitelfläche an der großen Fontanelle
fühlen. Kurz an alle dieſem iſt unverkennbar ein gewiſſes
rhythmiſches Verhalten der Blutmaſſe zur Hirnſubſtanz wahr¬
zunehmen, und wenn nun ausgemacht iſt, daß das Ent¬
binden und Erhalten der Innervation an der primitiven
Hirnſubſtanz vom Blutleben bedingt wird, und wenn eben
ſo gewiß iſt, daß dieſe Innervation in ihren tauſendfältig
verſchiedenartigen Spannungen hinwiederum das bedingt
oder ſelbſt iſt, was wir Vorſtellungs- und Gefühlsleben
nennen, ſo iſt offenbar von hier aus ein Weg gegeben um
zum Verſtändniß zu gelangen, warum immerfort in gewiſſer
rhythmiſcher Weiſe die Spannung der Innervation im Hirn
wechſelt, womit nothwendig auf irgend eine Art der un¬
willkürliche Wechſel von Vorſtellungen und Gefühlen ver¬
bunden iſt. — Es wird der Phyſiologie und Pſychologie
nie gelingen, ganz im Einzelnen nachzuweiſen, warum hie¬
bei gerade in dieſer oder einer andern Folge die Vor¬
ſtellungen ſich zum Bewußtſein drängen und wieder ins
Unbewußte zurückkehren, da wir früher ſchon gezeigt haben,
wie dunkel das Verhältniß der Hirnſubſtanz zum Vorſtel¬
lungsleben überall uns bleibt, aber die Wiſſenſchaft kann
ſich dabei beruhigen ſo weit hier vorgedrungen zu ſein,
und gezeigt zu haben, daß allerdings in das Leben der
Hirnſubſtanz ein rhythmiſches Princip eingeht, welches von
einem gewiſſen Moment im organiſchen Leben derſelben be¬
gründet war. — Halten wir uns daher jetzt an den Vor¬
[206] gang im Seelenleben ſelbſt, ſo iſt zunächſt die Thatſache
unabweisbar, daß in unſerm Vorſtellungsleben ein ſteter
Wechſel herrſchend iſt, daß unwillkürlich Vorſtellung auf
Vorſtellung ſich zum Bewußtſein drängt und andre uns
dafür immer wieder verſchwinden.


Verfolgen wir ſodann die Art und Weiſe wie die Vor¬
ſtellungen ſich aneinander reihen, ſo ſcheint beſonders die
Gleichzeitigkeit ihrer Aufnahme und die Gleich¬
artigkeit
derſelben hierüber die Beſtimmung zu geben.
Man hatte dies unter den Namen „Ideen-Aſſociation“ ge¬
bracht, und daß auch hieran die beſondern Verhältniſſe der
Innervationsſpannungen der Hirnmaſſe entſchiednen An¬
theil haben, iſt um ſo weniger zu bezweifeln, da auch hie¬
für beſondere Vorgänge in den Sinnesnervenausbreitungen
ſprechen, wo z. B. eine entſchiedne Farbe den polar ihr
gegenüberſtehenden Farbenton unwillkürlich hervorruft, ge¬
wiſſe Geſichtsbilder länger ſich vor den Augen ſchwebend
erhalten, oder ein Ton den andern fordert. Außerdem haben
aber Fälle von Hirnkrankheiten oder Hirnverletzungen es
auch ſattſam nachgewieſen, daß bei gewiſſen Störungen im
Hirn gewiſſe Reihen von Vorſtellungen verdunkelt werden
oder ganz verſchwinden. Nichts deſto weniger wird es immer
unmöglich bleiben eine ganz genaue Darſtellung davon zu
geben, wie es in dieſen Fällen zugehe, daß bei vermehrter
Anregung einer Innervationsſpannung allemal auch eine
beſtimmte andre mit angeregt werde, die Thatſache aber
muß man deſſen ungeachtet gelten laſſen.


Wie übrigens das unwillkürliche Erwachen, ſo iſt auch
das eben ſo unwillkürliche Entſchwinden, und doch Vor¬
handenbleiben einer Vorſtellung ein höchſt merkwürdiger Vor¬
gang. Vorſtellungen von Perſonen, Sachen, Gegenden u. ſ. w.
können uns zuweilen lange ganz entſchwunden ſcheinen, eben
ſo wie gewiſſe eigenthümliche Gefühle, und plötzlich erwachen
ſie wieder in ganzer Lebendigkeit und bezeugen dadurch daß
ſie eigentlich nie verloren waren. Hat man doch einzelne
[207] ſeltſame Beobachtungen gemacht, bei denen es ſchien als
ob ſich mit einem Male eine Helligkeit des Bewußtſeins
über ein ganzes Bereich des Vorſtellungslebens vorbereitete.
Solche Erfahrung machte einſt ein engliſcher Opiumeſſer
bekannt, dem es vor dem Eintritt der vollen narkotiſchen
Wirkung des betäubenden Mittels vorkam, als ob Alles,
was er je ins Bewußtſein aufgenommen hatte, mit einem
Male wie eine ſonnebeſchienene Gegend vor ihm ausge¬
breitet ſei. Auf gleiche Weiſe wird von einem jungen Mädchen
erzählt, der bei einem Sturz ins Waſſer vor dem Ver¬
lieren des Bewußtſeins daſſelbe geſchehen war. — Es iſt
nicht zu leugnen, daß auch in dergleichen das Bedingtſein
des Vorſtellungslebens von der Innervationsſpannung der
Hirnſubſtanz klar hervortritt. Wenn eine ſeltene plötzliche
Ausſtrahlung derſelben auf einmal alle Hirnſubſtanz durch¬
dringt, ſo ſpiegelt nothwendig auch das geſammte Vor¬
ſtellungsleben auf einmal ſich im Geiſte wieder; — faſt auf
gleiche Weiſe geben zuweilen in der Sphäre der Reaction
plötzliche Erregung der centrifugalen Innervationsſtrömung
in allen Muskelnerven, allgemeinen heftigen Starrkrampf.
Die Erregung der Innervation, welche hier vom Hirn nach
Außen wirkend den allgemeinen Krampf hervorruft, kann
in andrer Beziehung nach Innen gegen das Vorſtellungs¬
leben des Hirns ſtrahlend, das Aufflammen eines momentanen
allgemeinen Bewußtſeins hervorrufen.


Einen deutlichern Begriff uns davon zu machen, wie
die Exiſtenz einer Vorſtellung beſchaffen ſei, deren wir uns
nicht bewußt ſind und die uns doch unverloren iſt, wird
nie möglich ſein; erinnern können wir uns jedoch dabei an
das, was wir in der Phyſiologie ein latentes Leben
zu nennen gewohnt ſind. Wir treffen nämlich da auch auf
Zuſtände, wo alle wahrnehmbaren Lebensvorgänge, alle Er¬
ſcheinungen des Lebens aufgehoben ſind und das Leben doch
nicht erloſchen iſt (man denke nur etwa an das ein Jahr¬
tauſend liegende Samenkorn, deſſen Keimfähigkeit ſich doch
[208] bei dem erſten Zutreten von Feuchtigkeit und Wärme be¬
thätigt), und auf dieſe Weiſe ſind wir genöthigt auch dies
Entſchwinden einer Vorſtellung zu denken, wo jedes Er¬
ſcheinen der Vorſtellung aufgehoben, und doch die Vor¬
ſtellung ſelbſt unvernichtet vorhanden blieb; ein leiſer An¬
ſtoß — und ſie ſtellt ſich wieder dar. Ob nun aber doch
auch Vorſtellungen und Gefühle, welche auf dieſe Weiſe
ins Unbewußte zurückgegangen ſind, allmählig ſich ganz
verlieren können
, fragt ſich? Wir nennen eine Vor¬
ſtellung welche uns nicht möglich iſt wieder aus dem Un¬
bewußtſein ins Bewußtſein zu ziehen, vergeſſen, aber
wir erkennen zugleich an, daß hier ein relatives Ver¬
hältniß beſteht, denn oft tauchen Vorſtellungen, welche wir
für völlig vergeſſen hielten, plötzlich wieder auf — nament¬
lich bei gewiſſen ungewöhnlichen Zuſtänden — Krankheiten —
des Nervenlebens hat man dergleichen bemerkt, ſo daß wir
alſo immer von einem abſoluten Vergeſſen keinen Beweis
haben. Ohne Zweifel iſt hier das Wichtigſte, daß wir
unterſcheiden was der in ſich ewigen Weſenheit der Seele
aus den Vorſtellungen zu gute kommt, und was durch die
Organiſation des Hirns und ſeine eigenthümliche Innerva¬
tionsſpannung bedingt iſt. Könnte man ſagen, daß jegliches
Vorſtellen und Fühlen ganz allein der Idee an und für
ſich, nur der Seele ſelbſt, oder der zum Geiſt entwickelten
Seele angehörte, ſo müßte nothwendig alles und jedes
ſolches Vorſtellen auch an dem Prädicat des Ewigſeins
Theil haben, und es wäre dann auch gar nicht zu denken,
daß nur etwas davon dem Bewußtſein zeitlich entſchwinden
könnte. Dem iſt nun aber entſchieden nicht ſo. Alle die
obigen Betrachtungen mußten uns zur Ueberzeugung führen,
daß ganz unbezweifelt eben ſo wie die Sinneswahrnehmung
bedingt iſt durch eine eigenthümliche peripheriſche Modification
der Innervationsſpannung in der Ausbreitung der Sinnes¬
nerven, ſo die Vorſtellung bedingt wird durch eine eigen¬
thümliche centrale Modification der Innervationsſpannung
[209] im Gehirn. Zwiſchen der möglichen Dauer derſelben
Organiſation und Erhaltung derſelben Modification von
Innervationsſpannung, und der möglichen Dauer einer
Vorſtellung muß daher nothwendig ein gewiſſer Zuſammen¬
hang, ein Parallelismus, Statt finden, und wenn unleug¬
bar, ſobald einmal die Idee des Individuums durch die
Geſtaltung des Organismus ſich dargelebt hat, dieſer Ty¬
pus für die Zeit des Lebens im Weſentlichen erhalten blei¬
ben muß, obwohl immerfort innerlich in Schwankung und
in Auflöſung und Wiederbildung begriffen, ſo wird eigent¬
lich dadurch zugleich die Frage über vergeſſen oder nicht
vergeſſen können vollkommen entſchieden. Die am meiſten
abgeſchloſſenen Erfahrungen geben auch hierüber die oben
ſchon erwähnten Fälle vom Verluſt einzelner Sinnesorgane.
Wer das Geſicht verliert als zartes Kind, wenn noch die
Hirnmaſſe innerlich minder entwickelt und in raſcher
Umbildung begriffen iſt, der wird, wie ſich die frühere
Subſtanz des Gehirns umbildet, auch ſo vollſtändig alle
Geſichtsvorſtellungen vergeſſen, daß ihm deren auch in
Träumen nicht mehr erſcheinen werden, wer hingegen, ſchon
erwachſen, das Geſicht verliert, der vergißt die Vorſtellun¬
gen dieſes Sinnes im ganzen Leben nicht mehr völlig, und
träumt mindeſtens noch oft ſich als ſehend, obwohl doch
auch hier nach einer Reihe von Jahren ein Ablaſſen dieſer
Vorſtellungen und ein ſelteneres Auftauchen derſelben im¬
mer unverkennbar ſein wird. Ja ſelbſt die allgemeine
Erfahrung, daß wir aus den erſten drei Lebensjahren uns
als Erwachſene in der Regel ſchlechterdings nichts mehr zu
erinnern wiſſen, gehört hieher, und Viele werden ſogar
kaum bis ins fünfte Jahr zurückdenken können. Nehmen
wir nun noch hinzu, daß wieder in hohen Lebensjahren,
wenn eine krankhafte Erweichung des Gehirns (die Hirn¬
erweichung der Greiſe) Platz greift, allgemeine Vergeßlich¬
keit die unausbleibliche Folge davon iſt, ſo muß es hie¬
durch bis zur vollkommenſten Evidenz erwieſen ſein, daß
Carus, Pſyche. 14[210] das gänzliche Verlieren von Vorſtellungen nur in ſo
weit möglich ſei als die organiſche Bedingung ihres Be¬
ſtehens vollkommen aufgehoben wird; wo dieſe
Bedingung nicht aufgehoben iſt, da kann oft noch ſo lange
eine Vorſtellung im Unbewußtſein verharren und doch wird
ſie ſich einmal plötzlich wieder hervordrängen.


Wenn nun freilich das eben aufgefundne Reſultat un¬
ſerer Betrachtungen mit Entſchiedenheit erkennen läßt, daß
alle einzelnen Vorſtellungen und Gefühle an und für
ſich
, als beſondere, durch das Organiſche bedingte Re¬
gungen der Seele, die Organiſation ſelbſt nicht überdauern
können, daß ſie demnach als ſolche nicht an der ewi¬
gen Weſenheit der Seele Theil haben, ſo iſt es dagegen
durchaus daraus nicht zu folgern, daß das Vorſtellungs-
und Gefühlsleben überhaupt nicht einen Einfluß auf die
Grundidee unſers Daſeins habe, und wir werden es uns
eine beſondere Aufgabe ſein laſſen, dann, wenn vom Wachs¬
thum des Seelenlebens, und von dem was in der Seele
vergänglich und was ewig iſt, gehandelt werden ſoll, zu
zeigen, daß auch hierüber die Wiſſenſchaft weſentliche Er¬
leuchtung zu geben gar wohl im Stande ſei.


Endlich müſſen wir in dieſer Beziehung noch als einen
wichtigen Umſtand bemerken, daß wir zwar bis auf einen
gewiſſen Grad, namentlich durch Benützung der Vorſtellungs-
Aſſociation, im Stande ſind, willkürlich aus dem un¬
bewußten Zuſtande Vorſtellungen ins Bewußtſein zu rufen,
daß wir dagegen ſchlechterdings nicht vermögen mit Will¬
kür und direct bewußte Vorſtellungen ins Unbewußtſein zu
verſenken oder zu vergeſſen. Eine Kunſt des Gedächt¬
niſſes oder der Mnemonik kann es daher geben, aber keine
Kunſt des Vergeſſens. Der Grund davon liegt nahe ge¬
nug; denn Willkür und Abſicht kann eben nur unter
Bedingung des Bewußtſeins
vorkommen; das ins
Bewußtſein-rufen — das Poſitive — iſt daher ein Werk
des Geiſtes, — das Vergeſſen, das Negative, das ins
[211] unbewußte Leben Uebergehen, kann auch nur vom Unbe¬
bewußten, und ſomit auch nur vom Unwillkürlichen vermit¬
telt werden. Daß wir indirect auch hiefür etwas wirken
können, ergibt ſich aus dem was oben über mögliche Be¬
ſtimmung des Unbewußten durch das Bewußte bemerkt iſt.


Sei dies nun für jetzt genug geſagt von Rückkehr der
einzelnen Vorſtellungen ins Unbewußtſein, und wenden wir
uns gegenwärtig zur Betrachtung der periodiſchen
Rückkehr des Bewußtſeins überhaupt ins Un¬
bewußte
.


Eigentlich wiederholt ſich hier nur im Ganzen, was
wir zuvor im Einzelnen betrachtet haben. Ueberall iſt das
Unbewußtſein der primitive Zuſtand aller beſondern Idee
und alles Ideenhaften. Durch ſeine eingeborne innere
Macht und unter Einwirkung der Ideen der Welt, entwi¬
ckelt ſich allmählig in ihm das Bewußtſein, und ſpiegeln
ſich dann in ihm die Vorſtellungen. Wir haben aber ge¬
funden wie viel des relativ Unbewußten immer noch in der
Seele bleibt, wenn ſie in menſchlicher Weiſe ſich darlebt,
wie ſpät das höhere Bewußtſein ſich erſt entwickelt, und
wie eng ſelbſt dieſe Entwicklung an die ſtäte Bedingung
durch das Unbewußte geknüpft iſt. Daher iſt es dann zu
verſtehen, warum auch auf der vollen Höhe dieſer Art
des ſich Darlebens, der Zuſtand klaren Bewußtſeins der
Seele nicht ein unausgeſetzt andauernder, ſondern nur ein
abwechſelnd und rhythmiſch hervortretender ſein kann. Wir
nennen das klar Hervortreten des Bewußtſeins — Erwa¬
chen
Wach-ſein — das Wiedereinkehren in den Zu¬
ſtand des Unbewußtſeins — EinſchlafenSchlafen;
und es iſt ganz klar, daß dieſer rhythmiſch wechſelnde Zu¬
ſtand abermals nur die großen Perioden im ewigen Sein
der göttlichen Idee ſelbſt wiederholt, welche wir Leben und
Sterben nennen. Wir dürfen daher ſagen: wie ſich im
ewigen Sein der göttlichen Idee verhalte die Periode des
Lebens und Sterbens, ſo verhalten im zeitlichen ſich Dar¬
[212] leben der Idee als Seele ſich die Periode des Wachens
und Schlafens, und ſo verhalte ſich auch wieder im perio¬
diſchen Zuſtande des Wachſeins das bewußt Gegenwärtig¬
haben und das nur unbewußt-Beſitzen der einzelnen Vor¬
ſtellung, oder des einzelnen Gefühls. Die eine Periodicität
bedingt nothwendig die andre, und ſie erklären ſich wechſel¬
ſeitig.


Betrachten wir nun näher den Zuſtand des allgemeinen
Unbewußtſeins der Seele, den wir im Gegenſatz zum Wach¬
ſein — Schlaf nennen, ſo iſt zuvörderſt darauf aufmerkſam
zu machen, daß auch im menſchlichen Daſein ein durchaus
unbewußter Zuſtand, welchen wir das Vorbild des Schlafs
nennen müſſen, als der urſprüngliche ſich darſtellt. Er iſt
es der die eingeborne Idee in ihrem ganzen Embryonen-
Daſein als der bleibende umfängt, da hingegen das Wach¬
ſein erſt nach der Geburt anhebt, wenn ſämmtliche oben
dargelegte Bedingungen für Eintritt des Bewußtſeins er¬
füllt werden können. Der Organismus jedoch auch nach
der Geburt, befangen immerfort größtentheils im relativ
unbewußten Daſein, muß gleichſam einen beſondern Auf¬
ſchwung nehmen, eine beſondre Kraft anwenden, um zum
Wachſein zu gelangen, und im natürlichen Verhältniß be¬
darf er dazu, in wie fern er ein Planetariſches iſt, der
Empfindung einer höhern Einwirkung von dem Solaren,
alſo der Helligkeit des Tageslichts. Dieſer Anſpannung
iſt er deßhalb auch nur in einer gewiſſen Zeit fähig, und
im normalen Verhältniß kehrt er beim Entſchwinden des
Lichts wieder in einen dem urſprünglich allgemeinen Unbe¬
wußtſein ähnlichen Zuſtand zurück, und dies iſt nun der
Schlaf. Der Unterſchied des Schlafs vom abſolut unbe¬
wußten Zuſtande vor der Geburt liegt darin, daß, gerade
wie das Wach-ſein immer noch ein Unbewußtes, ſo er im¬
merfort ein vorhergegangenes Bewußtes involvirt, und eben
dadurch fähig wird immerfort Ahnungen, Einwirkungen von
dem in ihm eingeſchloſſenen Bewußten zu empfangen, wie
[213] das Wachen immerfort Ahnungen, Einwirkungen von dem
in ihm liegenden Unbewußten erhält. Erſt hiedurch alſo wird
der Schlaf wahrhaft nicht bloß zu einem Gegenſatze, ſondern
zu einer vollkommnen Umkehrung des Wachens.
Für die Geſchichte des Schlafs liegen abermals die
weſentlichſten Aufſchlüſſe in der beſondern Beachtung der
dabei eintretenden Vorgänge des Hirnlebens. Die frühern
Betrachtungen haben uns gezeigt, daß unter den drei Hirn¬
maſſen die mittlere insbeſondere das Centrum des unbe¬
wußten Lebens repräſentire, denn ſie iſt die Wiederholung
des einfachen Hirnknotens, welcher in den noch nicht zum
Selbſtbewußtſein gelangenden Geſchöpfen Alles darſtellt,
was von Hirn ſich entwickelt, und ſie erſcheint daher in
den höhern Thieren und im Menſchen ſtets um ſo weniger
entwickelt, je bedeutender die beiden andern Hirnmaſſen ſich
ausbilden. Nun iſt aber ſehr wichtig, daß gerade das Seh¬
nervenpaar von dieſem Mittelhirn ausgeht, denn eben da¬
rin
liegt einer der wichtigſten Gründe davon, daß es über¬
haupt im Nervenleben zu einem Erwachen kommt. Daß
nämlich gerade das mächtigſte ſolare Verhältniß, das Licht,
die peripheriſche Innervationsſpannung an einem Nerven¬
paare afficirt, durch welches das in ſich ruhende Nerven¬
leben da bewegt und erſchüttert werden muß, wo es das
Centrum für die geſammte unbewußte Region der Pſyche
zu ſein beſtimmt iſt, erklärt es insbeſondere warum eben
nichts ſo mächtig das Bewußtſein zuſammenhält und
nichts ſo ſehr dem Verſinken in das Unbewußtſein (dem
Schlaf) entgegenwirkt als eben das Licht. Mögen daher
auch bei der mehr und mehr ſich entwickelnden Einheit des
Hirnlebens alle andern Erregungen peripheriſcher Inner¬
vationsſpannung auf das Erwachen und Erhalten des
Wachſeins, Bezug haben, immerfort wird doch am mäch¬
tigſten und am naturgemäßeſten hier das Licht einwirken,
eben weil ſeine Wirkung insbeſondre und zunächſt da wie¬
derſtrahlt und erregt, wo ſonſt am meiſten in ſich ſelbſt
[214] zurückgezogen das in ſich Befangenſein des Unbewußten
brütet. — Erſt indem man ſich dieſe Verhältniſſe recht
deutlich macht, erkennt und verſteht man die wichtige Be¬
ziehung des Geſichtsſinnes und des Oeffnens und Schließens
der Augen, zum Verſchwinden ſo wie zum Wiederkehren
des Schlafs. Der Strahl des Lichts, der ſchon durch das
Augenlid hindurch die Netzhaut erregt, erweckt unbewußter¬
weiſe zum Oeffnen des Auges, und nun erſt ergibt ſich eine
ſtärkere peripheriſche Modification in der Innervations¬
ſpannung des Sehnerven, welche ſich wiederſpiegelt im
Mittelhirn und welche gleichſam erleuchtet die Nacht des
unbewußten Lebens, ja welche veranlaßt, daß von nun an
Erkennen und Wollen nur vom Brennpunkte des Selbſt¬
bewußtſeins aus ihre höhere Beſtimmung erhalten; — der
Menſch iſt erwacht
!


Aber früher ſchon iſt gezeigt worden, daß nur das
Unbewußte die Eigenſchaft hat, weder von Ermüdung er¬
griffen zu werden noch der Einübung zu bedürfen, dahin¬
gegen Alles was zum Bewußtſein ſich erhebt nach einer
gewiſſen Zeit in ſeiner Thätigkeit eine Abſpannung erfahren
muß, die wir als Ermüdung bezeichnen. So ermüdet denn
alſo auch jener höhere Grad von Innervationsſpannung,
welchen wir als Wachen bezeichnen, und hiedurch ermüdet
ferner alle die Reaction, welche über die geſammte Haltung
und Bewegung ſich im Wachen ausbreitet, die Spannung
läßt nach, und wieder umgekehrt kündet nun abermals zu¬
erſt im Auge ſich der Uebergang zum Schlafe an; trotz der
Einwirkung des Lichts verdunkelt ſich die Lichtempfindung,
die Augenlider ſchließen ſich, das Mittelhirn iſt wieder frei
von angeregter höherer Innervationsſpannung, das Unbe¬
wußtſein tritt wieder ganz in ſeine frühere Rechte; — der
Menſch ſchläft ein
.


Gewiß, wenn irgend etwas die eigenthümliche Art von
Selbſtſtändigkeit anſchaulich macht, welche das bewußte und
das unbewußte Reich des Seelenlebens in uns, einander
[215] gegenüber behaupten, ſobald überhaupt die Entwicklung der
Seele bis zur Entfaltung des bewußten Geiſtes und zur
Erſchaffung einer beſondern Welt der Vorſtellungen gediehen
iſt, ſo iſt dies die Vergleichung von Schlaf und Wachen.
Hier das Umfaßtſein alles Unbewußten vom Bewußtſein,
welches alle Vorgänge der unbewußten Seite durchdringt
und in ſich aufzunehmen ſtrebt, ſo wie unwillkürlich in ihr
immerfort das Unbewußte in dunkeln Gefühlen ſich kund
gibt, dort das Eingehen alles Bewußten in die Sphäre
des Unbewußten, ſo daß aber auch in ihm noch das Fort¬
ziehen einer Welt von Vorſtellungen und Gefühlen, aber
ohne Spontanetät der Erkenntniß und des Willens ſich
bethätigt. Dieſes Wechſelverhältniß iſt ſehr merkwürdig und
wer es recht durchdenken kann, dem entziffern ſich darin
alle Geheimniſſe des Schlaflebens. In ihm wiederholen
ſich nicht nur die ſtets zwiſchen Tag und Nacht wechſelnden
Zuſtände des Planeten, ſondern auch ein in den weſent¬
lichſten Lebensſäften unſers Organismus, im Blut, ſtets
wechſelnder Zuſtand von Nacht- und Tagſeite, von er¬
leuchtetem (durch Lungenathmung geröthetem) und von ver¬
dunkeltem (durch Wechſelwirkung mit der Subſtanz des
Körpers verkohltem) Blute.


Daß durch die, auch bei dieſem Verſunkenſein im Un¬
bewußten fortziehenden und rhythmiſch auftauchenden Vor¬
ſtellungen und Gefühle die Welt der Träume bedingt
wird, iſt aus dem Vorigen ohnehin klar; allein eben de߬
halb muß zunächſt uns die Frage beſchäftigen, gibt es
einen Schlaf ohne Traum? Die gewöhnliche Meinung
iſt: ein tiefer, feſter Schlaf ſchließe das Träumen aus,
allein wir müſſen hier zurückdenken an das was vom Ver¬
geſſen geſagt wurde, nämlich daß wir noch ſo lange uns
einer Vorſtellung nicht erinnern können und daß ſie doch
vorhanden ſein wird, ſo lange ihre organiſchen Bedingungen
nicht aufgehoben ſind. Eben ſo wird das rhythmiſche An¬
geregtwerden vorhandener Vorſtellungen und Gefühle nicht
[216] fehlen, ſo lange die von dem durchſtrömenden Blute ſtets
wechſelnd erhaltene Innervationsſpannung der Hirnſubſtanz
nicht aufgehoben iſt, aber einmal gränzt ſich um ſo ſchärfer
Schlaf und Wachen von einander ab, je tiefer der Schlaf
iſt, und um ſo weniger wird eine unmittelbare Erinnerung
von dem ins Wachen mit übergehen was während des
Schlafs als beſondere Vorſtellungsreihe in der Seele er¬
ſchaut worden iſt; und ein andermal iſt eine Verſchiedenheit
an Helligkeit des Vorſtellungslebens zu verſchiedenen Zeiten
und je nach verſchiedenen Stimmungen des Organismus,
ſowohl im Wachen als im Schlafen ganz unverkennbar
vorhanden. Iſt daher die Gränze und der Gegenſatz zwiſchen
Schlaf und Wachen weniger ſcharf hervorgehoben, und ſind
die Vorſtellungen von großer Helligkeit, ſo werden wir uns
der Träume als ſehr lebhafter erinnern; iſt der Gegenſatz
ſehr ſcharf ausgeprägt und iſt die Energie des Vorſtellungs¬
lebens gering, ſo wird nach dem Schlafe nichts von Träumen
in der Erinnerung zurückbleiben. Uebrigens iſt die Art der
Wirkſamkeit des Geiſtes in den Träumen ſehr merkwürdig.
Gehen wir tiefer ein, ſo finden wir, daß von den drei
Stufen der Entwicklung der Seele: Unbewußtſein, Welt¬
bewußtſein, Selbſtbewußtſein, nur die zweite, — das Be¬
wußtſein des fortgeſetzten Afficirtſeins von einer wirklichen
Welt, und hiemit natürlich auch alle Reaction gegen eine
wirkliche Welt, durch dieſes Umfangenſein des Bewußten
vom Unbewußten aufgehoben iſt, und daß uns nur noch
die Vorſtellungen von dieſer Welt übrig ſind, welche
indeß jetzt, da ſie des feſten Haltes an der wirklichen Welt
entbehren, auf das Willkürlichſte hin und her ſchwanken.
Das Selbſtbewußtſein kann die Seele, ſo lange ſie über¬
haupt die Bedingungen des Bewußtſeins erhält, nicht wieder
verlieren wenn ſie es einmal erlangt hat, und alſo beſitzt
ſie es auch im Traume; aber von den drei Stufen in denen
ſich der ſelbſtbewußte Geiſt entwickelt, Verſtand, Phantaſie
und Vernunft, kommen doch hier wieder eigentlich nur die
[217] beiden erſten in Wirkſamkeit, da, um daß der Geiſt des
Menſchen fähig ſei des Gebahrens in höchſter Weiſe,
d. h. eben als Vernunft, ein durchaus ungetrenntes gleich¬
zeitiges Walten nach allen Richtungen, alſo auch das Vor¬
handenſein eines wirklichen Wiſſens von der Welt, und
eben ſo der ſchön ſich darlebenden Baſis eines Unbewußten
unerläßlich iſt. Eben darum weil ſonach im Schlafe die
Seele doch nur unvollkommen wirkt, träumt der Vernünftigſte
oft Dinge, die im Lichte der Vernunft abſurd erſcheinen,
und darum iſt ſelbſt das Urtheil im Traum ſo unvoll¬
kommen, ſo daß manches, z. B. eine Rede die wir hielten,
oder einen Plan den wir träumend entwarfen, uns im
Traume ganz außerordentlich erſcheinen kann, während wir
dagegen, ſo bald wir uns an alles dieſes im Wachen er¬
innern, wir beides nur für unbedeutend zu erklären im
Stande ſind. Anders iſt es mit der Phantaſie, welche wie
ſie im jungen Menſchen vor dem Reifen der Vernunft,
mächtiger iſt, wie ſie da die gewaltigſten Lücken des Vor¬
ſtellungslebens mit einem Zuge ausfüllt und die verwegenſten
Geſtalten immer neu erſchafft, ſo auch im Traume in der
ungemeſſenſten Weiſe ſich bethätigt, und ſowohl ins Glänzende
und Prächtige — ſelten, und nur bei beſonderer Begabung,
ins rein Schöne (weil deſſen Erfaſſung die Vernunft
vorausſetzt) — als auch ins Frazenhafte ſich völlig ma߬
los ergeht. Von dieſer Seite iſt nun auch die eigenthüm¬
liche Poeſie der Traumwelt deutlichſt zu verſtehen. Es können
nämlich hier keine Vorſtellungsreihen willkürlich aufgerufen
werden, dieweil mit Aufhebung der Möglichkeit einer willens¬
kräftigen Thätigkeit nach Außen und mit Aufhebung der
höchſten Bethätigung des Geiſtes überhaupt, ein abſicht¬
liches
ins Bewußtſein-ziehen unbewußt gewordener Vor¬
ſtellungen ebenfalls aufgehoben iſt. Die Reihen der Vor¬
ſtellungen, welche auch im feſten Schlafe das Bewußtſein
durchziehen, ſie können daher nur auf zweierlei Weiſe be¬
ſtimmt werden: entweder durch die innern Aſſociationen,
[218] welche die Vorſtellungen ſelbſt unter ſich verbinden; daher
träumen wir oft in gewiſſer Weiſe fort was uns zuletzt
im Wachen beſchäftigt hat: haben wir Räubergeſchichten
gehört, ſo träumen wir wohl von Räubern u. ſ. w. — oder
die Gefühle, die aus unſern äußern Verhältniſſen oder
aus der Stimmung unſers Innern — d. h. unſers unbe¬
wußten Lebens und aus den beſondern Verhältniſſen, in
welchen die verſchiednen Provinzen unſers Organismus gerade
zu dieſer Zeit ſich gegen einander geſtellt finden, hervor¬
gehen, ziehen auch gewiſſe Vorſtellungsreihen heran; ſo
ſehen wir träumend bei ſorgenvoller oder gramerfüllter Seele
Reihen von Vorſtellungen, welche dieſem Gefühle ent¬
ſprechen, Leichen und Gräber u. dgl. — oder bei krank¬
haften Zuſtänden Bilder, in welchen dieſe Zuſtände ſelbſt
eine gewiſſe Form annehmen — bei Athmungsbeſchwerden
ein Ungeheuer das ſich uns auf die Bruſt legt, bei Fiebern
ein Feuer u. ſ. w. Indem alſo hier die Seele diejenigen
Vorſtellungen heranzieht, welche dieſen Gefühlen entſprechen,
verfährt ſie allerdings ganz gleich dem wachenden Poeten
der auch die Bilder aufruft und zur größten Deutlichkeit
zu bringen ſucht, welche den Gefühlen, die ihn innerlichſt
bewegen, möglichſt adäquat ſind. Auf dieſe Weiſe mögen
wir denn leichtlich einſehen, wie ein Theil der Traumdeutung,
welcher auf körperliche Leiden und deren Vorherverkündigung
ſich bezieht, ganz und gar durch dieſe Art von Poeſie be¬
dingt wird. Ein Mißverhältniß, welches zwiſchen Syſtemen
des Organismus ſich entwickelt, ein Krankheitsprincip, welches
unter denſelben ſich geltend macht, erregt ein beſonderes
Gefühl (man erinnere ſich, welches eben der Unterſchied
war zwiſchen zum Bewußtſeinkommen von Gefühlen und
von Vorſtellungen) und dieſes Gefühl beſtimmt nun eine
gewiſſe Reihe, eine gewiſſe Art von Vorſtellungen, deren
Bilder dann als poetiſche Symbole gerade dieſer Gefühle
und ſomit dieſer Mißverhältniſſe, dieſer krankhaften Zu¬
ſtände, betrachtet werden können. So kannte ich einen Mann,
[219] der regelmäßig, bevor eigenthümliche Anfälle von Bruſt¬
krämpfen ihn quälten, träumte von Katzen gebiſſen zu werden,
einen andern, dem immer vor einer gewiſſen Art von Kopf¬
ſchmerzen ſchwer einher trabende oder ihn anfallende Stiere
im Traume erſchienen, u. ſ. w. Dieſe Art der Traum¬
poeſie muß alſo auf ſolche Weiſe vollkommen verſtändlich
genannt werden.


Es gibt indeß noch eine andre Art von Poeſie, ja
von Seherkunſt des Traums, zu deren Verſtändniß das
Vorhergehende keinesweges zureicht, ſondern wobei an eine
früher ſchon gewonnene Erkenntniß zurück erinnert werden
muß. Als wir nämlich die verſchiedenen Eigenſchaften des
Unbewußten im Verhältniß zum Bewußten erörterten, mußte
auch erwähnt werden, daß das Unbewußte ein Allgemeineres
ſei, daß, wenn das Bewußte des Organismus erſt die
Individualität und zuhöchſt die Perſönlichkeit und Freiheit
erſcheinen laſſe, das Unbewußte des Organismus dagegen
ihn enger an das allgemeine Leben der Welt binde, ihn
gleichſam verallgemeinere, und daß er daher, als ein
Unbewußtes, eigentlich auch von allen Regungen der Welt
durchzogen ſei und daran Theil habe, ja daß in ihm nicht
allein Fernes und Nahes und überhaupt Räumliches, ſondern
auch Vergangenes und Zukünftiges und überhaupt Zeit¬
liches ſich durchdringe und begegne. Wiſſen wir nun, daß
der Schlaf ein eigenthümliches Befangenſein des Bewußt¬
ſeins im Unbewußten, mit Aufheben des Wiſſens von einer
wirklichen Welt und der Wirkſamkeit gegen eine ſolche, dar¬
ſtellt, ſo können wir auch begreifen wie in dieſem wunder¬
lichen Zuſtande allerdings die Seele, eben wegen ihres tiefern
Eingetauchtſeins im Unbewußten, mehr als in ihrem freien
bewußten Zuſtande participiren müſſe an jenem Miteinge¬
flochtenſein im Allgemeinen und an dem Durchdrungenſein
von allem Räumlichen und Zeitlichen, wie es dem Unbe¬
wußten überhaupt zukommt. Von hier aus wird uns dann
verſtändlich wie dem im Unbewußten befangenen Bewußten
[220] nun im Schlafe oder Traume gleicherweiſe manches zu¬
gänglich ſein könne, was im Wachen ihm nimmermehr er¬
reichbar ſein wird. Seit den älteſten Zeiten haben ſich
daher eine Menge von Erfahrungen gehäuft, welche auf das
Unzweifelhafteſte die Wirklichkeit und Wahrhaftigkeit ſolcher
Traumſchauungen beweiſen, und hat man ſich einmal auf
den rechten Standpunkt geſetzt, ſo kann hiebei nichts vor¬
kommen, was uns überraſchen, und wie man zu ſagen
pflegt „wunderbar“ erſcheinen müßte. Hängen doch alle
Ereigniſſe der Menſchheit, ja der Welt als ein großes un¬
ermeßliches Ganzes zuſammen, die größten ſowohl als die
kleinſten, und iſt es doch ganz natürlich und nothwendig,
daß ſo wie in unſerm eignen Organismus ſich oftmals die
merkwürdigſten Sympathien zwiſchen verſchiedenen Organen
zeigen, ſo auch in dieſem großen äußern Organismus die
unſichtbaren Fühlfäden unſers Innern gewiſſe Seiten mehr,
andere weniger umfaſſen, ſo daß die enger umfaßten dann
mit vollkommner Deutlichkeit, auch ohne von unſerm er¬
wachten Geiſte wahrgenommen zu werden, in unſerm Un¬
bewußten wiederklingen müſſen. Dieſe ſind es denn welche
erſchaut werden können, wenn der Geiſt im Unbewußten
umfangen ruht, und es iſt nur beſonders zu erwähnen,
daß auch hier noch eine gewiſſe Poeſie des Traumes ſich
geltend machen kann, ſo daß zwar manches Entfernte in
Zeit oder Raum wirklich als das was es iſt erfaßt wird,
während andres nicht unmittelbar, ſondern durch Vertauſchung
mit einer irgend wie aſſociirten Vorſtellung nur in Form
eines Symbols angeſchaut wird.


Von hier aus kann man ſich eigentlich Alles voll¬
kommen deutlich machen was an wahrhaften Thatſachen
des Traumlebens, ſei es im gewöhnlichen Schlafe, ſei es
im ſogenannten magnetiſchen, bekannt geworden iſt, und es
muß klar werden, daß ein gewiſſes „Fernſehen“ unter
dieſen Umſtänden für den Menſchen eben ſo etwas durchaus
Natürliches und Nothwendiges ſein wird, als dieſes Fern¬
[221] ſehen der viele Meilen weit im Kaſten fortgeführten Taube
natürlich iſt, welche nun, freigelaſſen, mit Beſtimmtheit
ſtets nach jener Richtung hinfliegt wo ihre Brutſtätte ſich
befindet. Eben darum mußten wir ja früher ſchon den
Ausdruck von Cuvier anführen, welcher die Thiere in ihren
merkwürdigen Vorgefühlen und Inſtinkten mit Somnam¬
bulen verglich.


Scheint es doch überhaupt bei dieſer Gelegenheit noch
unerläßlich, einige Bemerkungen über den erwähnten künſt¬
lich erregten magnetiſchen Zuſtand beizufügen, welcher jetzt
nach allem Vorhergegangenen leichter verſtanden werden wird.
Es iſt nämlich oben gezeigt worden, wie das Einſchlafen
erfolgt ſo bald ein höherer Grad von Ermüdung gegeben
iſt, und wie im geſunden Zuſtande die Ermüdung dadurch
erregt wird, daß in ſtärkern und anhaltenden Strömungen
der Innervation für den Zweck bewußten Vorſtellens und
willkürlichen Reagirens, dieſes Strömen ſelbſt ſich allmählig
erſchöpfe, und ſo das Unbewußte wieder das Bewußtſein
in ſich aufnehme und verſenke. Dieſes momentane Er¬
ſchöpfen der Innervation kann nun auf natürlichem Wege
geſchehen durch ſtarke und lange Reaction, namentlich Muskel¬
bewegung, und durch anhaltendes und überhäufendes Auf¬
nehmen von Sinnesvorſtellungen; dagegen auf künſtlichem
Wege es hervorzurufen, wird nur möglich, indem man
durch irgend eine directe Einwirkung auf das Nervenleben
dieſe Innervation veranlaßt, ſchneller von den nicht nervöſen
Gebilden abſorbirt zu werden. Hiezu iſt nun die Manipu¬
lation dienlich, welche man „Magnetiſiren“ nennt, d. h. ins¬
beſondere das vom Kopfe abwärts (alſo in der Richtung
der centrifugalen — ausſtrömenden Innervation) angewendete
Streichen, oft auch das bloße Händeauflegen. Daß hiebei
ein gewiſſes unmittelbares Ineinanderwirken der Nerven¬
ſyſteme des Magnetiſeurs und des Magnetiſirten Statt finden
müſſe, um jenes vermehrte Strömen der Innervation im
Magnetiſirten zu bewirken, iſt klar; man könnte es daher
[222] eine Art von Vermählung zweier Nervenleben nennen, und
in ſo fern hat auch das magnetiſche Verhältniß allerdings
etwas mit der Geſchlechtsliebe gemein, welche letztere eben¬
falls in ihren höchſten Stimmungen das Bewußte in das
Unbewußte eintaucht und verſenkt. Indem nun alſo das
Magnetiſiren die Strömungen der Innervation ſtark nach
der Peripherie leitet und dort ſie in andern Gebilden ſich
erſchöpfen läßt (eben deßhalb beruhigen ſich dabei Zuckungen
oder Schmerzen die von relativ zu ſtarker Innervation be¬
dingt wurden, und eben deßhalb erfolgen dabei peripheriſche
Abſonderungen, namentlich Schweiß), ſo ermüdet dabei das
bewußte Seelenleben und das Unbewußte tritt in ſeine
primitiven Rechte — der Menſch ſchläft ein. Es iſt nun
merkwürdig zu beobachten, indeß auch deutlich einzuſehen
und zu verſtehen, daß ein Schlaf auf dieſe Weiſe hervor¬
gerufen doch auch in mancher Beziehung ſich von dem bloß
durch natürliche Ermüdung hervorgerufenen Schlafe weſent¬
lich unterſcheiden wird. Ich kann hier nicht zu tief ins
Einzelne eingehen, allein ich brauche nur auf die Geſchichte
des Lebensmagnetismus ſelbſt zu verweiſen; das jedoch
will ich noch hervorheben, daß der magnetiſche Schlaf ent¬
ſchieden mehr für das erwähnte Fernſehen geeignet mache
als der natürliche, und der Grund hiervon iſt dieſer: Wie
gezeigt wurde, entſteht der Schlaf des Somnambulen und
das ſich Abſorbiren der Innervation, welches dieſen Schlaf
bedingt, in Folge einer vorhergegangenen ſo zu ſagen
Vermählung zweier Nervenleben. Das Nervenleben des
Magnetiſirten wird durch die Einwirkung eines andern
Stärkern gewiſſermaßen gewaltſam aus ſeiner Individualität
herausgezogen und aus ſeinem Einzel-ſein gegen ein Aeußeres
hingedrängt, ſo daß daher diejenige Verallgemeinerung des
Daſeins, welche wir der unbewußten Seele und dem Schlafe
überhaupt vindicirten, hier, indem ein ſtärkeres Nerven¬
leben ein ſchwächeres gewiſſermaßen überwältigt und an
ſich zieht, in dieſem Ueberwältigten nothwendig erhöht und
[223] vermehrt ſein muß. Ein ſolches Hervorrufen des Unbe¬
wußten alſo, eben weil es nicht durch die gewöhnliche Er¬
müdung entſteht, ſondern in der Somnambule gewaltſam
veranlaßt wird, durch ein ſtarkes Angezogen-werden ihrer
Innervationsſtrömung nach Außen 1 und der ſomit plötzlich
herabgeſetzten individuellen Freiheit des Bewußtſeins im
Innern, erſcheint eben dadurch nicht als ein gewöhnlicher,
ſondern als ein potenzirter, geſteigerter Schlaf, und eben
darum muß denn auch die Verallgemeinerung der Seele
ſich hier ſteigern und die Vorgefühle und Mitgefühle zu
Entfernten, müſſen ſich hier nothwendig mehr bemerkbar
machen als bei natürlich Schlafenden, als wodurch denn
nun allerdings der weſentliche Grund alles ſomnambulen
Fernſehens hinlänglich gegeben iſt. Es geht indeß auch
aus dem Vorigen deutlich hervor, was man von den De¬
clamationen zu halten habe, welche den ſomnambulen Zu¬
ſtand gerade wegen dieſer erhöhten weit ausgedehnten Sphäre
ſeiner Senſibilität als den höchſten menſchlichen, oder
— wie man wohl zu ſagen pflegt — überirdiſchen Zu¬
ſtand darſtellen. Wenn wir nämlich eingeſehen haben, daß
gerade die höchſte Entwicklung des Geiſtes die der Vernunft
ſei, und daß es von einem klaren vernünftigen Schauen
allein abhänge, wenn die edelſten Blüthen der Menſchheit,
die Wiſſenſchaft, die Kunſt und die freie edle That zur
Wirklichkeit werden ſollen, daß aber dieſes klare vernünftige
Schauen und Thun eine reine geſunde Folge geſammter
Entwicklung vorausſetze und fortwährend dieſe, ſo wie eine
freie vielſeitige Wechſelwirkung mit Welt und Menſchheit
[224] als Bedingung fordere, ſo ergibt ſich ſchon hieraus, daß
gewiß nicht in einem ſolchen weſentlich im Unbewußten be¬
fangenen Zuſtande die eigentliche Lebenshöhe der Menſch¬
heit gelegen ſein könne, ja es wird dies um ſo weniger
hier der Fall ſein, weil dieſer Schlaf allemal an gewiſſe
krankhafte Stimmungen des Organismus ſich anſchließt.
Bei dem Allen folgt dagegen insbeſondere aus dem, was
wir über das eigenthümlich Göttliche des Unbewußten ge¬
ſagt haben, aus ſeiner ungewußten Weisheit, Vollkommen¬
heit und Unmittelbarkeit, daß auch ein ſolches eigenthüm¬
liches Verſunkenſein des Selbſtbewußtſeins im Unbewußten,
wenn es nämlich in einer reinen Seele zu Tage komme,
gar wohl eine eigenthümliche Schönheit, Vollkommenheit
und Unmittelbarkeit zu zeigen im Stande ſei. Mag ein
ſolches Seelenleben daher auch nie ſofort in die That über¬
gehen (woraus ſich eben erklärt, warum aus dieſen Zu¬
ſtänden nie irgend ein Großes für Wiſſenſchaft, Kunſt und
thätiges Leben der Menſchheit hervorgegangen iſt und her¬
vorgehen wird), es wird nichts deſto weniger einen merk¬
würdigen Höhenpunkt des Menſchenlebens darſtellen. Man
könnte ſagen, daß wenn in der lebensthätigen Weisheit der
Höhenpunkt des geſunden Lebens erſcheine, ſo ſtelle ſich
dagegen im hellſehenden Schlafwachen in Wahrheit der
Höhenpunkt des kranken Lebens dar; und ich will nur
noch als ferneres Merkwürdiges beifügen, theils daß eben
deßhalb und weil durch alle Krankheit ein fortwährendes
Anſtreben zur Geſundheit hindurch geht, allezeit die höchſten
Aufgaben des hellſehenden Schlafwachens das Wiederfinden
der Geſundheit hat genannt werden müſſen, theils daß eben
deßhalb, weil der Gegenſatz des Unbewußten und Bewußten
in der Gliederung der Menſchheit wiederholt wird, durch
den Gegenſatz der weiblichen und männlichen Perſönlichkeit,
ein jeder höherer Grad des hellſehenden Somnambulismus
weſentlich dem weiblichen Geſchlecht eignet, und im männ¬
lichen Geſchlecht nur ausnahmeweiſe bei Knaben vorkommt.


[225]

Doch es ſei dies genug um Dasjenige anzudeuten
wodurch die Verſtändigung über die ſcheinbar ſo unerklär¬
lichen Zuſtände des Traumlebens allein vollkommen ge¬
lingen kann; es bleibt uns gegenwärtig noch ein andres
Moment in der pſychologiſchen Geſchichte des Schlafs zu
erörtern übrig, und dies iſt die wiederherſtellende, erneuende,
kräftigende Eigenthümlichkeit deſſelben. Man hat dies ins¬
gemein bloß durch das „Ausruhen“ zu erklären verſucht
und nicht bedacht, daß doch noch ein großer Unterſchied
bleibt zwiſchen Ausruhen und Schlafen. Wir können eben
ſo ſtill uns verhalten, eben ſo bequem liegen, und, wenn
uns der Schlaf flieht, werden wir nicht diejenige Kräftigung
und Wiederherſtellung empfinden als uns oft eine ganz
kurze Zeit feſten Schlafs gewährt. Es iſt alſo abermals
daran zu erinnern was wir von dem unbewußten Leben
überhaupt ausgeſagt haben, nämlich daß es, als ſolches
das nicht kenne was wir Ermüdung nennen, eben ſo wenig
als es, um eine Thätigkeit auszuüben, der Vorbereitung
und Einübung bedarf. Hierin liegt es alſo vorzüglich wenn
wir vom Schlafe, eben weil hier das Bewußte zeitweiſe
im Unbewußten untergeht, jene eigenthümliche Erquickung
erfahren, welche ihn zu einer unentbehrlichen Bedingung
unſers ganzen Daſeins werden läßt. Aber nicht bloß eine
vorübergehende Erquickung ſollen wir im Schlafe finden,
ſondern wir können theils durch dieſe, theils darum, weil
eigentlich das unbewußte Leben auch am entſchiedenſten die
Krankheit negirt (worüber ebenfalls früher das Nähere be¬
ſprochen worden iſt) auch von krankhaften Zuſtänden die
Heilung hier eher als im Wachen finden, und eben weil
dem ſo iſt, richtet ſich, wie ſchon oben bemerkt wurde, jenes
traumartige Erkennen, welches ſonderbarer Weiſe „Hell¬
ſehen“ genannt worden iſt, da es doch eben kein vollkommen
helles d. i. durchaus bewußtes Sehen iſt, ſobald es mit
einer gewiſſen Reinheit ſich entwickelt, ganz weſentlich gegen
Deutlichmachen der Mittel zur eignen Geneſung.


Carus, Pſyche. 15[226]

Der natürliche Schlaf und der künſtliche, magnetiſche
Schlaf ſind übrigens noch keineswegs die einzigen Zu¬
ſtände, bei welchen die Geſammtheit des bewußten Seelen¬
lebens von der Sphäre des Unbewußtſeins wieder umfangen
wird, ſondern noch auf mannichfaltige andre Weiſe können
Umnachtungen dieſer Art vorkommen. Für alle iſt es indeß
weſentlich, daß die Steigerung der Innervationsſtrömungen
von den Centralorganen — den phyſiſchen Bedingungen des
Bewußtſeins — abgeleitet und entweder den peripheriſchen
Regionen des Nervenſyſtems zugeleitet, oder überhaupt
momentan ganz erſchöpft werde. Das letztere iſt der Fall
in den tiefen Ohnmachten, welche bei Verblutungen vor¬
kommen, oder welche durch momentane Aufhebung aller
Innervationsſtrömung z. B. durch den Blitzſtrahl oder durch
beſondere Gifte, Opium, Blauſäure, Alkohol u. ſ. w. ein¬
treten; und in allen dieſen Fällen kann die Ohnmacht leicht
in wirklichen Tod übergehen. Aehnliches wird ferner bei
heftigen Gemüthsbewegungen vorkommen, welche entweder
in übermäßiger Erregung (unerwartete Freude) oder ge¬
waltigſter Depreſſion (großen Schreck) die Innervations¬
ſtrömungen momentan aufheben. Daſſelbe wird ferner ge¬
ſchehen, wo ein äußerer mechaniſcher Druck auf das Hirn
(namentlich auf beide Hälften des Vorhirns) die Innerva¬
tion daſelbſt lähmt, oder wo ein ähnlicher Druck durch
bedeutende Anhäufung des Blutes im Hirn, oder durch
Blutergießung über das Hirn (wie bei Congeſtionen und
Apoplexien) eine Lähmung bedingt, die auch hier leicht in
Tod übergehen kann. Eben ſo können ferner ſtarke Ab¬
leitungen der Innervationsſtröme gegen die Peripherie des
Nervenſyſtems vorübergehende Lähmung in den Centralſtellen
ſetzen und damit momentan das Bewußtſein aufheben. Auf
dieſe Weiſe wird z. B. ein heftiger Schmerz, eben ſo aber
auch ein Uebermaß des Entzückens z. B. im Geſchlechts¬
ſyſtem, Ohnmacht erzeugen können u. ſ. w. Endlich iſt auch
noch anzumerken, daß in ähnlicher Weiſe zuweilen auch be¬
[227] ſondre wichtige örtliche Vorgänge, als da ſind kritiſche Be¬
wegungen bei Krankheiten, Metaſtaſen, plötzlich auftretende
Ausſcheidungen u. ſ. w. Veranlaſſung zu Ohnmachten wer¬
den können; und ſo ſehen wir denn, auf wie viele und
mannichfaltige Weiſe es geſchieht, daß das bewußte Seelen¬
leben in das unbewußte zurückgedrängt werden kann.

e. Vom Wachsthume des Seelenlebens durch Lebensinnerung und
Lebensaüßerung.

Die vorausgegangenen Betrachtungen werden es deut¬
lich gemacht haben, mittels welcher Vorgänge die wunder¬
baren Gebilde und Strömungen des Nervenlebens Vor¬
ſtellungen und Gefühle in der bewußten Seele erregen, wie
dadurch wieder Willensakte veranlaßt werden und wie in
allen dieſen, ſtets wechſelnd und bewegt, die innere göttliche
Idee dieſes unſeres Daſeins ſich offenbart. Nicht irgend
tiefer können wir dieſe innere Welt von Bewegung be¬
denken ohne uns zu fragen, in wie weit denn durch dies
Alles auch in dem innerſten An-ſich-ſein der Idee
irgend etwas geändert werden könne und wirklich geändert
werde?


Dieſe Frage iſt eine der wichtigſten aber auch eine
der ſchwierigſten für die Beantwortung. Streng genommen
wird hiebei über den Werth des Lebens überhaupt ent¬
ſchieden, es wird entſchieden darüber ob die Idee unſers
Seins durch ihr ſich Darleben, für ihre Eigenthüm¬
lichkeit ſelbſt
ein Reſultat gewinnen könne oder nicht.
Sie greift zugleich genau ein in die ſpäter zu erwägende
Frage nach dem was in der Seele vergänglich und was
in ihr ewig ſei. Kommen wir zur Erörterung dieſer letztern
Frage, ſo werden wir uns überzeugen, was eigentlich ſchon
aus den Betrachtungen über das Bedingtſein des Bewußten
durch das Unbewußte hervorgeht, daß alles das, was durch
Modificationen leiblicher Gebilde und der Innervations¬
[228] ſtrömung insbeſondere, allein im Bewußtſein angeregt wird,
alſo Alles, was wir beſondere Vorſtellungen und Gefühle
nennen, in das Reich der Vergänglichkeit gehört, und daß
nur der Idee in ihrem An-ſich-ſein das Prädicat des
Ewigſeins zu vindiciren iſt. — Allerdings nun könnte dieſe
Erkenntniß, ſo wie die von der Eigenthümlichkeit und Be¬
ſonderheit eines jeden göttlichen Urbildes, dazu leiten ſich
dem Gedanken hinzugeben, daß an ſolchem Urbilde, weil
es eben als ein Beſonderes, ſein Eigenthümlich-ſein nie
aufgeben kann, das zeitliche Beſtehen und Vorübergehen
noch ſo vieler Vorſtellungen, Gefühle und Willensakte, irgend
etwas zu ändern doch nicht vermöge und daß, wie etwa
ein klarer Waſſerſpiegel immer dieſelbe Reinheit herſtellt,
wenn die Wellenbewegung ſeiner Oberfläche vorüber iſt, ſo
in dem tiefſten Grunde der Seele immer dieſelbe Stille
deſſelben Göttlichen wiederkehren müſſe ſobald die Lebens¬
bewegung vorüber wäre, welche eine Zeitlang auf dieſem
Grunde ſich geſpiegelt hatte, — dieſelbe Stille, wie ſie auch
vorhanden war, ehe eine ſolche Lebensbewegung anhub.


Die Beantwortung jener Frage kann ſich aber nament¬
lich auf zweierlei Gründe ſtützen: auf negative und poſitive.
Der negative Grund iſt: die ganze Geſchichte des zeitlichen
Lebens, wenn ſie nicht ein Reſultat, ein gewiſſes Facit für
die ewige Grundidee unſers Daſeins enthielte, wenn jedes
Leben nur wieder in ſich erfolglos, in denſelben Anfangs¬
punkt zurückliefe, von welchem es ausgegangen, es ent¬
behrte jedes vernünftigen Grundes, ja es wäre eigentlich
in ſich Lüge, weil Alles in uns darauf deutet und mit
Beſtimmtheit erwarten läßt, daß die tauſendfältigen Offen¬
barungen und Bethätigungen der Idee wirklich für den ewigen
Kern dieſes Daſeins eine gewiſſe Folge haben müſſen,
und weil dann doch in der Wahrheit dieſer Deutung nicht und
niemals entſprechen würde. Was aber die poſitiven Gründe
betrifft, welche allerdings beweiſen können, daß eine Steige¬
rung oder Minderung in der Energie dieſer unſerer innerſten
[229] Lebensidee wirklich als Folge des Lebens anzunehmen und
vorhanden ſei, ſo iſt zuerſt auf das unmittelbare Be¬
wußtſein des zu einer gewiſſen Höhe entwickelten Geiſtes
ſich zu berufen. Ein tief innerliches Wiſſen in uns gibt
uns das Zeugniß, es ſei in einer gewiſſen ſpätern Periode
dieſes beſondern zeitlichen Daſeins die innere Macht und
Freiheit unſers eigentlichen Weſens — d. i. eben der an
ſich-ſeienden Idee, — größer und bedeutender als in einer
gegebenen frühern Periode. Zweitens und namentlich aber
iſt hier der merkwürdigen Wiedergeburt zu gedenken, welche
die in ſich höhere Idee in dem Augenblicke erfährt als ſie
zum Selbſtbewußtſein gelangt. Die Idee welche, wie
wir zeigten, hiedurch mit einem Mal aus dem Reiche der
Nothwendigkeit heraustritt in das der Freiheit, ſie muß
von dieſem Moment an auch, obwohl ſie das eigentliche
Weſen ihres Seins — mit einem Worte ſich ſelbſt — nie
verlieren kann, in ſo weit frei ſein, daß ſie nicht mehr
ſich abſolut und in allen Beziehungen als eine und dieſelbe
zu beweiſen genöthigt ſein darf (ein ſolcher Zwang waltet
nur über den Ideen, welchen nie die Möglichkeit eines
Wiſſens von ſich ſelbſt zugewieſen war), ſondern daß ſie
von nun an einer Steigerung oder Minderung und einer
veränderten Beziehung zu Anderm fähig ſein wird. Aller¬
dings gibt auch eben darum letztere Betrachtung die Ueber¬
zeugung, daß nur von dem Augenblicke der Wiedergeburt
der Seele im gewonnenen Selbſtbewußtſein des Geiſtes an
von einem Wachsthum oder einem Sinken des An-ſich-ſeins
dieſer Seele die Rede ſein könne und es iſt auch nie
Jemanden beigekommen, ſchon von dem, was wir mit dem
Namen des allgemeinen Abſolut-Unbewußten bezeichnet haben,
und was prometheïſch unſere Organiſation entwickelt, irgend
eine Mehrung oder Minderung der Grundidee unſers Da¬
ſeins zu erwarten.


Dürfen, ja müſſen wir es nun nach dieſen Erörterungen
wirklich als eine unabweisbare Thatſache betrachten, daß
[230] die innerſte Idee unſers Daſeins — Das, was allein
ewig in uns ſein kann, durch dieſes beſondere zeitliche ſich
Darleben eine gewiſſe Modification, eine wirkliche Um¬
ſtimmung, eine Steigerung oder Minderung nothwendig
erfahren müſſe, ſo iſt nun zuerſt im Allgemeinen, welcher
Art
ſolche Modifikationen ſein können, ausführlicher dar¬
zuthun.


Schwer iſt es hier Dem, was nicht bloß über allem
Zeitlichen, ſondern ſelbſt noch über dem eigentlich Geiſtigen
ſteht, mit dem ganz im Zeitlichen ſich bewegenden Element
der Sprache nachzugehen, und wie ungefähr ſchon Dante
eigne neue Worte ſchaffen mußte, um das Eindringen des
Geiſtes in Gott, das tief innerliche ſich Aneignen der Idee,
einigermaßen auszudrücken (daher die Worte: „Inluiare“—
Inmiare“), ſo muß auch hier, wenn wir ſo tiefe Ge¬
heimniſſe aufzuſchließen wagen, der Leſer mit eignem tiefern
Geiſte den Andeutungen ſelbſt weiter nachgehen, die wir
hier nur in beſchränktem Maße zu geben im Stande ſind.


Aufmerkſames tieferes Schauen in dieſe Verhältniſſe
muß uns aber zuerſt darthun: jede beſondere Idee und ſo
auch die zum Selbſtbewußtſein entwickelte höhere Idee einer
menſchlichen Individualität, befinde ſich eines Theils gegen¬
über dem höchſten göttlichen Myſterium — Gott, — und
andern Theils gegenüber der unendlichen Vielheit derjenigen
Ideen, zu denen ſie ſelbſt gehört und deren Daſein Das
begründet, was wir mit dem Namen des All, — der Welt,
bezeichnen. Je nach dieſen beiden Richtungen alſo, wird
nun ſchon eine Möglichkeit hervorgehen, daß das innerſte
Weſen einer zur freien Selbſtbeſtimmung wiedergebornen
Idee ſich mehr oder weniger entwickle, und eine zwiefache
Art des ſich Annäherns oder Entfernens gegen andre Weſen¬
heit wird hieraus ſchon reſultiren. Die Richtung der Idee
gegen das höchſte Myſterium dürfen wir als Gottinnig¬
keit
, das ſich Abwenden von demſelben als Gottloſig¬
keit
bezeichnen; das mehrere Angezogenwerden von der
[231] Welt in ihrer ideellen Begründung wird ſich als Welt¬
innigkeit
, und das Abwenden von ihren Ideen und
Hingezogenwerden zu ihren bloß zeitlichen Offenbarungen
als Verweltlichung ausdrücken laſſen. Zu dieſen zwie¬
fach ſich entgegengeſetzten Richtungen kommt aber noch ein
Drittes hinzu; denn indem die Seele überhaupt durch das
Selbſtbewußtſein zur freien Selbſtbeſtimmung wiedergeboren
worden iſt, hat ſie ein gewiſſes Maß von Energie in ſich
gefunden, welches bald größer bald geringer zu ſein, und
welches ebenfalls in der Fortbildung des Lebens bald ſich
zu ſteigern bald ſich zu mindern vermag; wir können ein
Erhöhtſein im erſtern Sinne Selbſtinnigkeit, ein Ver¬
mindertſein im letztern Sinne Selbſtnichtigkeit nennen.
Nach dieſem Allen wird es alſo ohne Weiteres klar ſein,
daß in ſo fern die Grundidee der Seele durch ihr be¬
wußtes ſich Darleben
während eines zeitlichen Lebens,
ſehr mannichfaltig ſich zu modificiren vermag, ſie ſich er¬
höhen
werde in der Richtung der Gottinnigkeit, Selbſt¬
innigkeit und Weltinnigkeit, daß ſie aber ſinken werde in
der Richtung der Gottloſigkeit, Selbſtnichtigkeit und Ver¬
weltlichung; Richtungen welche nun übrigens unter ſich in
ſehr verſchlungenen Verhältniſſen auftreten, und ſomit auch
ein ſehr verſchiedenes Reſultat eines menſchlichen Lebens
für das ewige Weſen der Seele zurücklaſſen müſſen.


Hat man ſich demnach dieſe höchſten Zielpunkte und
Ergebniſſe eines zeitlichen Lebens der Seele für ihre ewige
Weſenheit, zuerſt zu vollkommner Klarheit und Gegenſtänd¬
lichkeit gebracht, ſo darf es fernerhin auch unternommen
werden, im Einzelnen zu verdeutlichen und anſchaulich zu
machen auf welchem Wege und auf welche Weiſe das
wodurch die Seele überhaupt im Leben ſich bethätigt, d. h.
das tiefinnerlichſte wodurch alle ihre Vorſtellungen, Gefühle
und Willensakte bedingt werden, irgend ein Reſultat jener
Art, ein aufwärts deutendes oder ein abwärts deutendes,
erreichen kann.


[232]

Entſchieden ſtellt es ſich bald hiebei dar, daß die drei
großen Strahlungen alles Seelenlebens, Erkennen, Fühlen
und Wollen, in der allergenaueſten Beziehung ſtehen zu
den genannten drei Richtungen möglicher Modificationen
des ewigen Weſens der Seele überhaupt. Im Allgemeinen
darf man ſagen der Reichthum des Erkennens, das
Aufnehmen — gleichſam Aſſimiliren immer neuer Ideen
durch die zunehmende Intelligenz — es nährt und ſteigert
insbeſondere die Mächtigkeit, die Unabhängigkeit, die Frei¬
heit der eignen Idee — alſo die Selbſtinnigkeit, —
eben ſo wie im Gegentheil der Mangel des Erkennens das
Unwiſſendſein, ein gewiſſes Verkommen der Idee, ein Sinken
ihrer Freiheit und Selbſtſtändigkeit, mit einem Worte ihre
Selbſtnichtigkeit fördert. Ferner der Reichthum des
Gefühls, die Wärme und Höhe ſeiner Entwicklung und
insbeſondere der Entwicklung des Höchſten — des — wie
wir es ſpäter nennen werden — Urgefühls, d. i. der Liebe,
es wird durch immer entſchiedeneres Hinwenden nach dem
Höchſten beſonders fördernd werden für die Gottinnig¬
keit
, ſo wie umgekehrt das ſich Verlieren an niedere und
unwürdige Gefühle z. B. an die Liebe des Unwürdigen,
oder an den Haß, die Gottloſigkeit des Weſens der
Seele herbeiführen muß. Nicht aber bloß das Erkennen
und das Gefühl fördern und reifen das Weſen der Seele,
ſondern noch von ganz beſonderer Macht iſt hiefür das
Ueben des Willens und das Ausführen der That. Dieſe
Regungen der Seele ſind es, an welchen im höhern Sinne
Das reift, was wir die Weltinnigkeit nannten, während
ein Verlieren in ein Thun ohne höhern Zweck, oder mit
niedern Beſtrebungen, dasjenige Sinken der Seele herbei¬
führt, welches wir mit dem Namen der Verweltlichung
belegt haben.


Es würde indeß ſehr einſeitig ſein, wenn wir dem
Gedanken Raum gäben, daß nur und allein je eine der
drei weſentlichen Strahlungen des Seelenlebens immer nur
[233] in einer der drei bezeichneten Richtungen das Weſen der
Seele wachſen oder verkommen ließe, im Gegentheil iſt hier
nur von einem vorwaltenden Einfluſſe die Rede, indem
mannichfaltig und nothwendig, wie alles Seelenleben doch
im Grunde nur ein einiges und untheilbares ſein kann,
ſo auch hier Alles wechſelſeitig ſich fördert oder retardirt.
So kann ein tieferes Erkennen nicht anders als hebend
und fördernd ſein der Gottinnigkeit, eben ſo wie die rechte
Weltinnigkeit, das rechte Wirken auf andere Ideen, un¬
denkbar iſt ohne höhere Erkenntniß. Nicht minder iſt kaum
zu ſagen, wie mächtig die rechte Bethätigung des Lebens
die Selbſtinnigkeit und dadurch auch Gottinnigkeit fördere;
das Bewußtſein einer durchgeführten großen That, der
würdigen Vollendung eines bedeutenden wiſſenſchaftlichen oder
Kunſtwerks, reift etwas in dem An-ſich-ſein der Idee des
Menſchen, das wiederum nicht bloß und allein durch das
Erkennen oder durch die Tiefe der Gefühle gereift werden
kann. Endlich darf eben ſo es ausgeſprochen werden, daß
Größe und Wärme des Gefühls allein es ſind, welche
durch das liebevolle Erfaſſen der mit uns zugleich in der
Welt ſich offenbarenden Ideen auch der Weltinnigkeit einen
höhern Sinn geben, eben ſo wie denn auch die Selbſt¬
innigkeit ihre rechte Weihe nur erſt von hieraus erhalten
kann. Es bedarf dabei nicht des Zuſatzes, daß in umge¬
kehrten, die Seele abwärts ziehenden Richtungen dieſe wechſel¬
ſeitigen Einflüſſe ſich gerade auf dieſelbe Weiſe geltend machen
müſſen: — Liebloſigkeit und niedres Gefühl überhaupt wird
Verweltlichung und Selbſtnichtigkeit eben ſo fördern wie
Unwiſſenheit die Verweltlichung und Gottloſigkeit, und wie
falſches und gemeines Thun die Gottloſigkeit und Selbſt¬
nichtigkeit entſchieden herbeiführt. So alſo treten hier die
verſchiedenſten Beziehungen hervor, und Jedem der mit
ſcharfem ſeelenforſchenden Blicke dem Entwicklungsgange ver¬
ſchiedener menſchlicher Leben nachgeht, werden ſich hier, von
jenen Grundſätzen geleitet, nicht nur die wichtigſten Ver¬
[234] hältniſſe offenbaren, ſondern es wird ihm zugleich von hier
aus ein Maßſtab gegeben ſein, die Höhe oder die Niedrig¬
keit des eigentlichen Kerns einer menſchlichen Individualität,
des Steigens oder Fallens des eigentlichen Weſens einer
Seele, zu meſſen.


Was nun die hier weiter zu verfolgenden Betrachtungen
angeht, ſo ſcheint es nöthig, daß über drei Gegenſtände ſie
ſich noch näher verbreiten, nämlich: über die Verſchiedenheit
des Wachsthums der Seele, wie ſie in verſchiednen Lebens¬
perioden ſich bethätigt, über die Verſchiedenheit dieſes Wachs¬
thums, wie ſie den beiden Geſchlechtern angemeſſen iſt, und
über die Höhenpunkte und Tiefenpunkte des innerſten ſeeliſchen
Daſeins, wie ſie als Zielpunkte dieſer Wandlungen ſich
erreichen laſſen.


Was das Wachsthum der Seele je nach den ver¬
ſchiedenen Perioden des Lebens betrifft, ſo iſt ſchon früher
geſagt worden, daß das Kind mit der Entwicklung des
Verſtandes beginne. Das Erkennen alſo iſt die Form
des Seelenlebens, welche, wie ſie während dieſes ganzen
Daſeins immerfort die innerſte Energie der Idee nährt, ſo
insbeſondere zuerſt das Bewußte entwickelt und fördert.
Dieſes Aufnehmen, Aſſimiliren (man könnte auch das
Dante'ſche Wort — inmiare — brauchen) von Vorſtellungen
und Ideen nährt und erſtarkt die Mächtigkeit der eignen
Idee eben ſo wie das Aſſimiliren der Elemente die Ge¬
ſtaltung, in welcher das Unbewußte ſich darlebt, erſtarken
läßt, und wenn auch die einzelnen Vorſtellungen als ſolche
eben ſo wenig ein für ewig bleibendes Eigenthum der Idee
ſein können als die aufgenommenen ätheriſchen Elemente
bleibendes Eigenthum des ätheriſchen Leibes ſind, ſo iſt
doch von ihnen eine bleibende Nachwirkung auf das
primitive Göttliche in uns insbeſondere nothwendig vor¬
handen. Das unbegränzte Bedürfniß der jungen Seele in
immer neuen Vorſtellungen gleichſam erſt das Material der
geiſtigen Welt des Gedankens aufzunehmen und ſich anzu¬
[235] eignen, es beweiſt die Nothwendigkeit ſich durch Erkennen
in der Selbſtinnigkeit zu ſteigern und mehr und mehr ſo
die Energie der Idee überhaupt zu erhöhen, denn der Geiſt
verlangt zuerſt, wie Archimedes, daß ihm gegeben werde
wo er ſtehe — wo er in ſich Grund finde — und dann
wird er das Aeußere bewegen. Obwohl daher die Seele
bis auf den Gipfel des Lebens des Fortſchreitens durch
Erkenntniß bedarf, nach dem Ausſpruche des Solon:

„Lernend ohn' Unterlaß ſchreit' ich im Alter voran“


ſo iſt doch dies Bedürfniß im Beginn des Lebens insbe¬
ſondere mächtig und ganz unabweisbar.


Um eine Stufe höher in der Entwicklung des Geiſtes
— auf der Stufe, wo das Unbewußte die Geſtaltung der
Reife der Pubertät näher bringt — da wo, wie ſchon
früher geſagt wurde, über den Verſtand die Phantaſie mächtig
wird, tritt mit Macht auch das Gefühl hervor und wirkt
mächtig auf das Wachsthum der Seele. Die eigenthüm¬
liche göttliche ſchaffende Macht des Unbewußten — des Un¬
bewußten welches eben durch das Gefühl ſich im Geiſte
geltend macht — ſie zeigt ſich recht eigentlich als das nährende
urſprünglich bedingende Princip, als das von dem alle
geiſtige Wärme des Seelenlebens ausgehen muß. Im Ge¬
fühl der Bewunderung, der Liebe, reift daher die Gott¬
innigkeit, wie am Erkennen die Selbſtinnigkeit — und die
höchſte Form des Bewußtſeins, das Gottbewußtſein, würde
ohne Gefühl nicht zur Entwicklung kommen.


Noch eine Stufe weiter, wenn die völlige Reife des
Lebens erreicht iſt, macht ſich mehr und mehr das Bedürf¬
niß der That fühlbar, und hier iſt es wo am Uebertragen
der innern Productivität auf die äußere Welt, am Schaffen
und Vollbringen, die Weltinnigkeit der eignen Idee ſich
erhebt und erwächſt. Iſt es doch merkwürdig wie dieſe
Lebensäußerung, mittels welcher die im Geiſte er¬
ſchaffenen Vorſtellungen, ja die in der Idee aufſteigenden
Ideen auf ähnliche Weiſe, wie die göttlichen Ideen durch
[236] Naturgeſtaltung, ſo dieſe durch Kunſtgeſtaltung und thätiges
Leben ſich verwirklichen, ganz eben ſo unerläßlich iſt für
das innere Wachsthum, als es jene Lebens-Innerung
war, bei welcher durch aufgenommene Vorſtellungen und
vernommene fremde Ideen das Innerſte der Seele wächst
und reift. Die Periode des Mannesalters iſt es alſo, welche
der Lebensäußerung, wie die der erſten Jugend, welche der
Lebensinnerung vorwaltend beſtimmt ſind; und wer dies
Alles in ſolcher Folge bedenken will, dem kann das voll¬
ſtändige Bild des Wachsthums der Seele nicht fehlen. Natür¬
lich muß nun auch hier bedacht werden, wie ſolche Trennungen
nie abſolut ſind, wie immer alle Strahlungen der Seele
in allen Perioden wirken, nur bald eine weniger bald eine
mehr; und dann kann auch deutlich werden, welches eigent¬
lich die Aufgabe der letzten Lebensperioden für Wachsthum
der Seele ſei, nämlich die der Ausgleichung, Beruhigung,
Läuterung und Vollendung in der Verbindung aller Strah¬
lungen der Seele zugleich.


In dieſer Geſchichte des Wachsthums der Seele in
verſchiedenen Perioden des Lebens kann man zugleich den
Schlüſſel finden um zu verſtehen auf welche Weiſe je nach
den einzelnen Perioden insbeſondere ein Sinken, ein Min¬
dern der Energie des An-ſich-ſeins der Seele Statt haben
könne. Es muß nämlich ein ſolches Reſultat beſonders
dann hervortreten, wenn in irgend einer Lebensperiode gerade
die Strahlung der Seele unentwickelt bleibt, welche eben
in ihr ſich beſonders ausbilden ſollte. Jetzt wird es alſo
verſtändlich werden, warum in der Seele, welcher in der
Kindheit die geiſtige Nahrung der Erkenntniß vorenthalten
blieb, in der, welche in höherer Jugend nicht auf die rechte
Weiſe von der Welt der Gefühle durchwärmt ward, und
in der, welche auf gereifter Höhe des Lebens nicht in kräf¬
tigem Thun, in der Lebendigkeit der That ſich bewährte,
am meiſten ein Zurückgehen und ein Sinken zur Selbſt¬
nichtigkeit, Gottloſigkeit und Verweltlichung Statt finden
[237] wird. Zugleich kann man nun begreifen, warum, je mehr
wirklich durch Kindheit, Jugend und Lebensreife hindurch
ganz angemeſſen ein ſchönes Wachsthum der Idee erreicht,
und je mehr ihr An-ſich-ſein bereits geſteigert worden war,
um ſo weniger ein Abfall derſelben wieder Statt finden
kann; — die Unmöglichkeit wächſt mit der Höhe. Es iſt
dies eine für die Geſchichte der Seele ſehr merkwürdige
Thatſache, und ſie erklärt ſich durch die Steigerung der
Eigenthümlichkeit des Göttlichen der Idee, welche in dem¬
ſelben Maße als ſie ſich dem Urquell des Göttlichen nähert,
immer mehr von ihm angezogen, immer mehr zum innern
Wachsthum angeregt, immer freier und liebevoller der Welt
zugewendet werden muß, und an welcher ſonach nichts mehr
dauernd haften kann, was in der entgegengeſetzten Richtung
ſie bewegen könnte. So leicht es daher zu begreifen iſt und
ſo vielfältig es die Erfahrung bewährt, daß eine ſchwächere
Individualität in den mannichfaltigen Begegniſſen des Lebens
von Stufe zu Stufe ſinkt, ſo ſchwer würde es fallen nur
zu denken, daß die gereifte Individualität eines Plato,
eines Göthe, eines Spinoza zur Niedrigkeit des Weſens
herabſinken könne. — Auch ſind darüber der Menſchheit
ſchon ſehr frühe gewichtige Vorſtellungen aufgegangen, und
namentlich iſt es merkwürdig wie durch Philoſophie und
Religion des alten Indiens ſchon der Gedanke von einem
Wachsthum der Seele zum Göttlichen, und von den mannich¬
faltigen in höhern Naturen doch zuletzt immer erfolgloſen
Verſuchungen, ſie auf dieſem Wege zurückzuwenden, ſich
hindurchzieht.


Umgekehrt wird nun freilich auch aus dem Vorher¬
gehenden folgen, daß wenn es eine Steigerung der Energie
der Idee gibt von wo ein Sinken unter die Unmöglichkeiten
gehöre, auch ein Sinken dieſer Energie vorkommen könne
und wirklich vorkomme, von welcher innerhalb dieſer Exiſtenz
ein Wiederaufſteigen unter die Unmöglichkeit gehört. Es
wird dies der Fall ſein, wenn durch völlige Verwilderung
[238] der Erkenntniß, durch Rohheit und Abſtumpfung des Gefühls
und durch Widerwärtigkeit der That die innere Machtvoll¬
kommenheit des An-ſich-ſeins der Idee in einem Grade
verloren iſt, daß von erneuertem Wachsthum überhaupt die
Frage nicht mehr ſein kann. Das göttliche Licht der Seele
kann wohl in dem ſorgfältig gepflegten Kinde des Negers
erweckt und verſtärkt werden, nicht mehr aber in der Ver¬
lornen Seele des alten in tiefſter Rohheit untergegangenen
Kannibalen. — In dieſem Sinne iſt alſo das drohende
Wort zu deuten: „Nulla est redemtio ex infernis.“


Die nächſte Aufgabe iſt, ſich deutlich zu machen in
welcher Weiſe eine Verſchiedenheit Statt finde im Wachs¬
thum der Seelen der verſchiedenen Geſchlechter. Es iſt weiter
oben gezeigt worden, auf welch merkwürdigem Geſetze es
beruht, daß die Offenbarung der Menſchheit immerfort in
die Verſchiedenheit der Ideen beider Geſchlechter ausein¬
anderweicht und immerfort aus der Syntheſe dieſer Anti¬
theſe ſich abermals neu erzeugt. Eben hierauf beruht der
urſprüngliche Gegenſatz, welcher die Seele des Mannes
von der des Weibes unterſcheidet, und ſo iſt denn auch
nothwendig die Art und Weiſe wie in beiden das An-ſich-
ſein der Idee während des Lebens zu- oder abnimmt,
weſentlich verſchieden. Anfangen muß das Wachsthum
beider allerdings mit dem Erkennen; denn indem nur am
Combiniren der allererſten Erkenntniſſe das Selbſtbewußt¬
ſein ſich entwickelt und durch das weitere Erkennen zunächſt
die innere Energie der Idee, die Selbſtinnigkeit, gehoben
zu werden beſtimmt iſt, ſo kann überall nur eben dadurch
der Grund gelegt werden zu einem Vordringen der Idee
überhaupt. Dagegen hinſichtlich der ſpätern Fortbildung,
wenn ſie im wahren und ſchönen Gange erfolgt, ſind ent¬
ſchieden dem männlichen Geiſte andere Bahnen angewieſen
als dem weiblichen, dem erſtern das ſtetige Vorwalten der
Erkenntniß und der That, dem letztern insbeſondere das
Vorwalten des Gefühles. Geht man dieſem Geſetze weiter
[239] im Einzelnen nach, ſo kann es zu den merkwürdigſten Be¬
trachtungen führen, namentlich wie einerſeits das Gefühl
durch Veranlaſſung zum Wachsthum in der Gottinnigkeit,
eben weil hier die objectiv höchſte Richtung unmittelbar an¬
geregt wird, die beiden andern Lebensrichtungen bis in ſo
hohem Grade zu erſetzen vermag, und andererſeits doch
wieder die eigentliche Macht und Höhe des Gefühls erſt
dadurch vollendet werden kann, daß ſie an der Intelligenz
reift und daß ſie durch die Gefühlsproductionen der Poeſie
und Kunſt wieder erſt zur wirklichen That wird. Wir
finden daher in erſter Beziehung wie in gewiſſen Fällen
einzig und allein das zur Gottinnigkeit ſich hinwendende
Gefühl der Frau ihr jene unmittelbare Beglückung und
ſchöne Selbſtläuterung ſchon gewähren kann, wodurch ihr
die tiefere männliche Einſicht und die kräftige männliche
That allerdings gewiſſermaßen erſetzt und entbehrlich ge¬
macht werden kann, und es iſt keine Frage, daß die oft¬
mals zu Tage gekommene eigenthümliche Schönheit der nur
von Liebe und Glauben gehobenen weiblichen Seele allein
auf dieſe Weiſe verſtändlich wird, während eine männliche
Seele, die bloß und allein durch Erkenntniß und That
die Energie ihres An-ſich-ſeins ſteigern möchte, doch immer
nur ein unvollkommnes Wachsthum zu erreichen im Stande
iſt. In andrer Beziehung müſſen wir jedoch auch zugeben,
daß ein männliches, durch Erkenntniß und That gereiftes
Gefühl an ſich doch wieder mächtiger ſein und in höherer
Weiſe die Gottinnigkeit reifen wird, als Alles, was dieſer
Art in der Seele der Frau entwickelt werden kann. Am
meiſten dürfte es übrigens ein lebenslängliches Wachsthum
der Idee in der Frau gefährden (weniger jedoch naturge¬
mäß, als wegen der meiſtens geringern an ſie gewandten
Geiſtesbildung), wenn in höhern Jahren bei ihr eine mangel¬
hafte Erkenntniß ſich fühlbar macht und dadurch die Fort¬
ſchreitung gehindert wird. Doch hievon zu ſprechen wird
noch ſpäterhin ſich Gelegenheit ergeben.


[240]

Endlich hatten wir die Aufgabe den äußerſten Höhen-
und Tiefenpunkt der Entwicklung der Seele in nähere Be¬
trachtung zu nehmen, oder zu zeigen durch welches Siegel
und welches Zeichen das höchſt geſteigerte oder das niedrigſte
An-ſich-ſein der Idee im Leben der Seele ſich offenbare.
Schon oben iſt geſagt: „das Bewußtſein des denkenden
Geiſtes laſſe gar wohl gewahr werden, daß zu einer ſpätern
und glücklich erreichten reifern Periode des beſondern zeit¬
lichen Daſeins, wirklich die innere Macht und Freiheit
unſers Weſens größer und bedeutender geworden ſei, und
es war dies als ein wichtiges Argument dafür aufgeführt,
daß die Lebensgeſchichte der Seele allerdings ein Reſultat
für das An-ſich-ſein der Idee zurücklaſſe.


Jetzt, nachdem wir die Geſchichte dieſer Steigerungen
oder Senkungen bereits im Einzelnen ins Auge gefaßt haben,
können wir nun auch den durch das Wachsthum erreichten
Zuſtand ſelbſt — die Höhe oder die Tiefe deſſelben — wie
er in der Idee ſich offenbart, näher zu bezeichnen unter¬
nehmen. Die merkwürdige und in vieler Beziehung ſo tief¬
ſinnige Eigenthümlichkeit unſerer Sprache kommt uns hiebei
wunderbar zu Statten, und deutet mehr als das in irgend
einer andern Sprache möglich wäre, den Weg an, den
unſere Betrachtungen zu nehmen haben. Da nämlich die
Seele, oder vielmehr die ihr Sein bedingende Idee, ein
Göttliches iſt, ſo muß eine jede Steigerung ihres Seins
die Göttlichkeit ihres Weſens um ſo mehr beurkunden; die
Offenbarung der Idee als Seele muß um ſo mehr
Seele ſein
, und ſo entſteht uns der Begriff der Seelig¬
keit
, als des eigentlich allein nur der Seele vollkommen
gemäßen
Zuſtandes, zugleich aber als desjenigen, in welchem
ſie in ſich ſelbſt jene höchſte Ruhe, Wahrheit und Klarheit,
jenes höchſte Glück des Seins beſitzt, derenthalben das Er¬
reichen dieſes Zuſtandes eben die höchſte Aufgabe einer jeden
ſeeliſchen Fortbildung zu nennen iſt. — Dabei iſt übrigens
zweierlei noch als beſonders merkwürdig zu erwähnen: erſtens
[241] daß die Seele, auf den verſchiedenen frühern Stufen ihres
Wachsthums ſchon immerfort (eben nach ihrem innern ewigen
Sein, in welchem die Zeiten eins ſind) weiß von dieſer
Seeligkeit, aber, nicht klar und beſtimmt, ſondern dunkel
und mehr ahnend, und daß ſie deßhalb in ihren beſondern
Zuſtänden viele erfährt, die ſie von weitem bereits für
jene Seeligkeit ſelbſt hält, von denen ſie aber, wenn ſie ſie
erreicht hat, immer noch gewahr wird, daß ſie nur Schein¬
bilder derſelben waren. (Dies iſt etwas, worüber ſchon
Dante in ſeinem Convito ſehr merkwürdige Anſchauungen
niedergelegt hat, indem er den Entwicklungsgang des innern
Menſchen einem Pilger vergleicht, der das Ziel ſeiner Reiſe
bald in Dieſem, bald in Jenem zu erblicken glaubt, immer
aber, wenn dahin gekommen, gewahr wird, daß das eigent¬
liche Ziel noch nicht erreicht war.) Wie tauſendfältige
merkwürdige Anwendungen dies auf die Geſchichte der Seele
leidet, läßt ſich ſchon hier im Allgemeinen erkennen und
wird noch im Verlaufe dieſer Betrachtungen oftmals deut¬
licher hervortreten. Das Zweite iſt, daß die Seele eigent¬
lich in ihrem tiefſten Innern nichts ſo gewiß weiß als die
Richtung auf dieſen höchſten ganz eigentlich ſeeliſchen Zu¬
ſtand, und daß ſie deßhalb in ihrem tiefſten Grunde immer¬
fort eine nur bald dunklere bald hellere Wahrnehmung da¬
von hat, ob ſie in gerader Richtung gegen dieſes Ziel ſich
bewegt, oder ob ſie davon abweicht und dieſer Richtung
entfremdet wird. Auch hier iſt ein treffliches Wort in unſerer
Sprache zu Handen, welches dieſes urſprüngliche Wiſſen —
dieſes gewiß Wiſſen ganz ſcharf bezeichnet, nämlich wir
nennen dieſe Eigenſchaft der Seele das Gewiſſen, und
dieſe Eigenſchaft unſerer Seele iſt es, welche daher uns
immer unterrichtet, in ſo fern wir dem tiefſten Weſen unſers
Geiſtes zu horchen geeignet ſind, ob wir wahrhaft auf dem
Wege zur Seeligkeit uns befinden oder nicht.


Aus Dem was nun hier ſo eben ausgeſagt worden
iſt, geht ferner unmittelbar hervor, wie ein der Seeligkeit
Carus, Pſyche. 16[242] entgegengeſetzter Zuſtand zu denken ſei; nämlich eben als
der der Seele ungemäßeſte — unglücklichſte — mit einem
Worte, als der der Trübſeeligkeit oder Unſeeligkeit.
Wenn die Magnetnadel Bewußtſein hätte, ſo würde der
Zuſtand derſelben, wenn man ihren Nordpol nach Oſten
oder Süden ſtellt, das ſein, was wir für die Menſchen¬
ſeele die Unſeeligkeit genannt haben, und von welcher wir
ſtreng genommen ſagen können, daß ſie das einzige wahr¬
hafte Unglück
ſei, ſo wie die Seeligkeit eigentlich das
einzige wahre Glück. Auch hier könnte man das, was
wir von den Scheinbildern des Glücks geſagt haben, voll¬
kommen umkehren und anwenden auf Scheinbilder des Un¬
glücks, da ſo Vieles von dem Menſchen für ein Unglück
gehalten zu werden pflegt was an ſich keins — mindeſtens
nicht das wahre iſt; und ſind doch überhaupt dieſe Schein¬
bilder von Glück und Unglück die ganz eigentlichen Irr¬
lichter der Seele, welche ſie vielfältig ſtören und hindern
das eine oder das andere in Wahrheit zu erkennen! ja es
läßt ſich behaupten, daß eben, weil der Seele, vermöge
ihres überall Durchdrungenſeins vom Unbewußtſein, ein
abſolutes Bewußtſein und alſo auch eine ganz vollkommene
Erkenntniß während ihres zeitlich ſich Darlebens unmöglich
fällt, die unbedingte Beſeitigung aller dieſer Schein¬
bilder im Leben nicht erreicht werden kann und alſo auch
nicht erreicht werden ſoll. Es iſt daher auch das noch
eine hübſche Eigenthümlichkeit unſerer Sprache, daß, da
ſonach die unbedingte Seeligkeit und Unſeeligkeit außerhalb
dem Bereiche dieſer Exiſtenz liegt, ſie für das, was deren
Stelle im Leben vertritt ein mittleres Wort — Glückſeelig¬
keit und Unglückſeeligkeit — beſitzt, wodurch denn Höhen¬
punkt und Tiefenpunkt des Wachsthums der Seele wäh¬
rend dieſer Zeitlichkeit für hinlänglich bezeichnet erachtet
werden kann.


Es wächst nun aber und nimmt ab die Seele in
ihrem An-ſich-ſein nicht etwa nur als ein Allgemeines,
[243] ſondern immer als ein Eigenthümliches und ganz Beſon¬
deres, und ſo iſt denn ferner zu ſprechen:

f. Von der Heranbildung der Seele zur Perſönlichkeit und zum
Charakter, und von der Verſchiedenheit der Seelen.

Schon im Anfange dieſer Betrachtungen iſt es einmal
beiläufig zur Erwähnung gekommen, was das Wort „Per¬
ſon“ eigentlich für einen Sinn habe, und wie dadurch be¬
zeichnet werden ſolle ein Weſen, welches nicht bloß von dem
Hauche des Göttlichen belebt — „inſpirirt“ — ſei, ſondern
durch welches hindurch und aus welchem hervor nun auch
wieder die eigenthümliche innere Göttlichkeit ſeiner beſondern
Natur deutlich und vernehmbar, wenn auch nicht immer
dem eigentlich Göttlichen angemeſſen, hervortönen (perso¬
nare
) und ſich kenntlich machen könne. Daher gibt es zwar
unendliche lebendige und unendliche belebte Weſen, aber von
Perſonen kennen wir nur die mit ſelbſtbewußten Seelen
entwickelten Menſchen.


Alſo nicht einmal der Menſch ſchlechthin iſt eine Per¬
ſon; der Embryo — das neugeborne Kind — ſie gehören
unter den Begriff des Menſchen, aber nicht unter den der
Perſon. Das was erſt den Menſchen zur Perſon macht,
was an der Seele die Perſönlichkeit entwickelt, iſt nur das
Erwachen des Selbſtbewußten, ſich in ſeiner Beſonderheit
erfaſſenden Geiſtes. Es iſt demnach gegenwärtig nicht ſo¬
wohl wie im vorigen Abſchnitt, das Wachsthum des An¬
ſich-ſeins der Idee überhaupt, ſondern die Art und Weiſe
wie die Seele gerade als dieſe beſondere ſich entwickelt, in
Betrachtung zu nehmen. Hiebei wären denn von Haus
aus, wie ſchon weiter oben angedeutet wurde, zwei ver¬
ſchiedene Anſichten möglich: die eine, welche davon ausginge
die Verſchiedenheit der hervortretenden Perſönlichkeit ganz
allein abhängig erſcheinen zu laſſen von der zeitlichen Ent¬
[244] wicklung des Menſchen, wie ſie nach der unendlichen Viel¬
geſtaltigkeit und dem raſtloſen Wechſel der Welterſcheinung
nie gerade von demſelben Verhältniſſe bedingt ſein kann und
dadurch alſo jedesmal nothwendig eine andre werden müßte,
wenn ſie auch, ihrem erſten An-ſich-ſein der Idee nach,
urſprünglich wirklich überall dieſelbe geweſen ſein möchte;
die andre, welche davon ausgeht die Verſchiedenheit der
hervortretenden Perſönlichkeit grundweſentlich ſchon im erſten
An-ſich-ſein der Idee begründet zu denken, und die zeit¬
liche Entwicklung unter allemal andern Verhältniſſen nur
als verſtärkend und modificirend einwirken zu laſſen. — Was
die erſte Anſicht betrifft, ſo ließ ſie ſich um ſo weniger
rechtfertigen, je entſchiedener es war, daß, obwohl die Er¬
ſcheinung und die Offenbarung deſſen was wir Perſönlich¬
keit, und noch mehr deſſen was wir Charakter nennen, ganz
weſentlich in die Region des bewußten Seelenlebens fällt,
doch die innern Bedingungen deſſelben hauptſächlich auf
demjenigen Theile ihres Weſens ruhen, welchen wir das
abſolut Unbewußte genannt haben. Es wird aber gerade
die unbewußte Region, weil ſie nicht in ſo ausgedehntem
Verkehr mit der Außenwelt ſteht als die bewußte, auch weit
weniger durch das Aeußere influenzirt, und ſie wird de߬
halb in ihrem Walten hauptſächlich die eingeborne Eigen¬
thümlichkeit und Beſonderheit ihrer Idee feſt halten und
nicht verfehlen dieſe Beſonderheit ſodann auch auf die be¬
wußte Region mit zu übertragen. Widerſpräche es daher
nicht überhaupt ſchon dem Begriffe von der nothwendigen
unendlichen Mannichfaltigkeit und dem nie ſich unbedingt
gleichmäßig Wiederholenden aller göttlichen Offenbarung,
daß unendliche Ideen beſonderer Individuen, innerhalb der
Idee der Menſchheit, alle einander an und für ſich abſolut
gleich ſein ſollten, ſo würde es durch die unendliche Ver¬
ſchiedenheit des noch unbewußten Waltens dieſer Ideen,
wovon es ja doch abhängt daß im Einzelnen nie eine menſch¬
liche Bildung der andern vollkommen gleich erſcheint, ſatt¬
[245] ſam erwieſen, daß die Grundideen ſelbſt hier urſprüng¬
lich
verſchieden gedacht werden müſſen.


Halten wir alſo den Gedanken feſt, daß innerhalb der
einen Idee der Menſchheit unendlich mannichfaltige indivi¬
duelle Ideen begründet ſeien, daß aber erſt das eigentliche
ſich Darleben derſelben ihre Individualität zu derjenigen
Reife zu bringen vermöge, wo wir den Ausdruck der Per¬
ſönlichkeit und des Charakters von ihr gebrauchen können,
ſo muß es nun eine beſondre Aufgabe werden dieſem Ent¬
wicklungsgange im Einzelnen nachzugehen, die verſchiedenen
Phaſen deſſelben näher anzugeben und die weſentliche Ver¬
ſchiedenheit der einzelnen Klaſſen gereifter Perſönlichkeiten
und Charaktere ſchärfer zu bezeichnen.


Zu einer merkwürdigen Betrachtung in dieſer Hinſicht
veranlaßt es aber zuvörderſt, wenn wir bemerken müſſen,
daß hinſichtlich der allmähligen Hervorbildung der Perſon
und des Charakters als geiſtiges Weſen, durchaus daſſelbe
Geſetz waltet, welches wir in der organiſchen leiblichen Her¬
vorbildung der Geſtalt anerkennen: nämlich das Fort¬
ſchreiten vom Unbeſtimmten zum Beſtimmten
,
vom Weichen zum Feſten, ja zum Erſtarrten einer¬
ſeits, und andrerſeits das im Bilden und Wachſen immer¬
fort Statt findende Umbilden
, das ſtätige Zer¬
ſtören und Untergehen und das ſtätige Neuerzeu¬
gen
. Dieſe vollkommene Gleichheit des Entwicklungsganges
gerade in den weſentlichſten Momenten, erklärt ſich freilich
ſogleich wenn wir berückſichtigen, daß beides aus einem,
d. i. aus derſelben Weſenheit der Idee hervorgeht, welche
nur im organiſch Leiblichen als ein ſchlechthin Unbewußtes
ſich bethätigt, während ſie im Geiſtigen als ein Selbſtbewu߬
tes waltet. Ueberhaupt iſt nie genug darauf zurückzuwei¬
ſen, daß nur Dem der dieſes eigenthümliche Verhältniß
zwiſchen Bewußtem und Unbewußtem richtig erfaßt und
lebendig begreift, ein rechtes Verſtändniß der Welt aufgehen,
und zugleich die Schranke verſchwinden kann, die ältere
[246] Vorſtellungen als eine abſolute und unüberſteigliche zwiſchen
Leiblichem und Geiſtigem aufgerichtet haben. Erſt durch
dieſen Begriff tritt uns die innere Uebereinſtimmung — ich
möchte ſagen die Wahrheit der Welt, in ihrer vollen Be¬
deutung entgegen, und wir ſehen ein, warum das Studium
der ſinnlich zu erfaſſenden Vorgänge der Natur ein ſo be¬
ſtimmtes Gleichniß gewährt der Vorgänge im geiſtigen Le¬
ben, und warum gerade das Irren und Abſchweifen im
Betracht des letztern um ſo weniger zu befürchten iſt, je
mehr der eigene Geiſt des Forſchers an dem leichter und
ſicherer zu verfolgenden Studium der Natur ſich herange¬
bildet hat.


Jene beiden Geſetze nun leiden die merkwürdigſten
Anwendungen auf die Geſchichte der Entwicklung einer Per¬
ſönlichkeit — eines Charakters. Nämlich nicht nur im All¬
gemeinen dringt es ſich uns auf, daß der Geiſt des Kindes
noch unbeſtimmter und eben deßhalb ſo viel leichter beſtimm¬
bar bleibe als der des Mannes, oder der leicht bis zum
Eigenſinn ſich erhärtende Geiſt des Greiſes, ſondern wir
verſtehen nun auch warum eine gewiſſe Weichheit, eine ge¬
wiſſe Beſtimmbarkeit der Seele eine unerläßliche Bedingung
iſt, wenn ſie eines längern Fortwachſens und einer tiefern
Durchbildung fähig bleiben ſoll. Es iſt dem Pſychologen
ſehr wichtig darauf zu achten, wie ausnehmend verſchieden
in Verſchiedenen die Ausdehnung der geiſtigen Entwicklung
iſt, wie gewiſſe Geiſter ſchon ſehr zeitig aufhören ſich fort¬
zubilden, ſehr zeitig zu einer gewiſſen Starrheit gelangen,
wo weitere Entfaltung, neues Hervorbilden, lebendiges
Aſſimiliren des Fremden, nicht mehr möglich ſind, wo nur
das einmal Gewohnte und Erlangte gültig und wirkſam
bleibt und das Verlangen völlig aufhört in neuen Regionen
ſich zu verſuchen. Dagegen finden ſich andere Individuali¬
täten, deren Geiſt fortwährend eine gewiſſe Weichheit be¬
hält, nie mit ſich abſchließt, nie fertig wird, darum zwar
nie gegen Irrthum und Schwankung ganz ſicher geſtellt
[247] erſcheint, aber dagegen auch raſtlos vorwärts getrieben
wird, immer neuen Metamorphoſen entgegen eilt, und ſo
zuletzt eine Weite und Größe erreichen kann, welcher wir,
wenn ſie mit innerer Wahrheit und Schönheit gepaart iſt,
ſtets die außerordentlichſten Leiſtungen für geſammte Menſch¬
heit zu verdanken gehabt haben. Unter den Menſchen iſt
von jeher zwiſchen dieſen verſchiedenen Naturen viel Un¬
frieden und Streit entſtanden und um ſo mehr, je grund¬
weſentlicher die Verſchiedenheit iſt, welche hier obwaltet, und
je weniger ſie alſo von irgend zufällig einwirkenden äußern
Verhältniſſen, ſondern jemehr ſie von erſter innerer Anlage
abhängt. Ein Gleichniß dieſes letztern Verhältniſſes ge¬
währt es, wenn wir in der Pflanzen- und Thierwelt ein¬
zelne Geſchöpfe erblicken, welche auf einem gewiſſen Punkte
entſchieden ihr Wachsthum abſchließen, dann fertig ſind und
niemals von da an zu einer Weiterbildung gelangen, wo¬
gegen andere je länger ihr Leben dauert, um ſo mehr ſich
vergrößern, ausbreiten und fortbilden; die erſtern laſſen
ſich durch nichts in der Welt über die ihnen beſtimmten
Höhenpunkte hinausbringen und bei den andern vermag
keine Macht ihre ſtäte Weiterentwicklung ganz zu hemmen,
ſo lange ihr Leben überhaupt nicht zerſtört werden ſoll. So
alſo auch in den Seelen — in den Geiſtern der Menſchen.
Die mit ſich zeitig Abſchließenden, feſt Gewordenen, rühmen
ſich ihrer Conſequenz, Zufriedenheit und Sicherheit, wäh¬
rend die Beweglichen und ſich ſtätig Fortbildenden ihnen
Härte, Einſeitigkeit und Zurückbleiben im Fortſchritt der
Menſchheit Schuld geben. Umgekehrt erfreuen die Letztern
ſich ihrer Empfänglichkeit und ihrer Metamorphoſen, ge¬
langen aber eben wegen ihrer ſtätigen Umwandlung nie zu
einem gewiſſen Genügen mit ihrem Schickſale, leben mehr
zwiſchen der Qual des Aufgebens und der Luſt des Auf¬
nehmens und Werdens in einem ſtets bewegten Zuſtande,
und die Feſtgewordenen werfen ihnen deßhalb gewöhnlich
ihre Weichheit, Unſtätigkeit, Wankelmüthigkeit, Unzufrie¬
[248] denheit und Untreue vor. — Verhältniſſe zwiſchen welchen
dann natürlich eine vollſtändige Ausgleichung und Be¬
freundung nie möglich iſt. Das Geheimniß des Gegen¬
ſatzes welchen Göthe in ſeinem Taſſo und Antonio ſo
ergreifend dargeſtellt, beruht ganz auf dem Gewahrwerden
dieſer urſprünglichen Verſchiedenheit der Geiſter im Kreiſe
der Menſchheit.


Eben ſo bietet ſich eine große Verſchiedenheit dar, je
nachdem die Beſtimmtheit in der Unbeſtimmtheit des Geiſtes
früher oder ſpäter hervortritt. Man möchte wohl voraus¬
ſetzen, daß je zeitiger die Perſönlichkeit, die beſtimmte In¬
dividualität des Geiſtes ſich hervorthue, deſto früher müſſe
ihr Wachsthum aufhören und jenes Feſtwerden, gleichſam
Erſtarren des Geiſtes eintreten, allein es muß hiebei in
Betrachtung gezogen werden, daß auch wieder, je prägnan¬
ter überhaupt die Energie des Geiſtes iſt, ſie auch um ſo
früher in ihrer Eigenthümlichkeit ſich andeuten wird, und
hieraus geht denn gewöhnlich gerade das umgekehrte Ver¬
hältniß hervor, eben weil die bedeutende Individualität das
Bedürfniß hat weiter hinaus als die unbedeutende ihr Wachs¬
thum auszudehnen. Aus dieſem Grunde zeigt ſich bei Na¬
turen, welche der Ausdruck einer energiſchen Idee ſind,
größtentheils ſchon in ganz jungen Jahren etwas Abſon¬
derliches, eine ſehr beſtimmte Anlage zu einer ſcharf aus¬
geprägten Perſönlichkeit, und deſſen ungeachtet wachſen ſie
geiſtig mit Macht und Ausdauer bis in ſpäte Lebensepochen
fort. Ob dabei die wirklich ſcharf ausgeprägte Perſönlich¬
keit, das was wir Charakter nennen, zeitiger oder ſpäter
hervortritt, hängt gewöhnlich von der beſondern Lebens¬
richtung, d. h. davon ab, ob mehr in den Regionen des
Erkennens, mehr in den des Gemüths, oder mehr in denen
des Willens und der That, die geiſtige Entwicklung fort¬
ſchreitet. Schon oben iſt davon die Rede geweſen, wie
ſelbſt auf das An-ſich-ſein der Idee, das Erkennen, das
Gefühl, die Willensregung, verſchieden wirke; hier muß
[249] es bemerkt werden, daß namentlich auch hinſichtlich der
Zeitigung der Schärfe des Charakters, die verſchiedene
Richtung weſentlich einwirkt. Das bedeutende Wort Göthe's:

„Es bildet ein Talent ſich in der Stille,
Sich ein Charakter im Geräuſch der Welt,“

findet hier vollkommene Anwendung. Es leidet nämlich kei¬
nen Zweifel, daß, wie etwa ſtarke Uebung der Muskulatur
die Umriſſe der Geſtalt entſchiedener herausbildet als Uebung
im Denken und im Sinnenleben, eben ſo die Richtung auf
das Thun — die Richtung gegen das, was wir oben die
Weltinnigkeit genannt haben, den Umriß der geiſtigen Ge¬
ſtalt — den Charakter — entſchiedener entwickeln als die
Richtung auf das Erkennen und das Gefühl. Es bleibt
ſogar in dem was wir Charakter nennen immerfort die
Richtung auf die Welt, auf thätiges Leben vorherrſchend,
und wir benennen deßhalb vorzüglich die verſchiedenen Cha¬
raktere nach dieſer Verſchiedenheit. Wir unterſcheiden einen
ſtrengen, einen ſanften, einen heftigen, einen argwöhni¬
ſchen und verſchloſſenen, oder einen offenen und redlichen
Charakter, u. ſ. w. und in allem dieſen iſt immer ganz
beſonders die Art und Weiſe, wie das Individuum ſich
thätig der Welt gegenüberſtellt, hervorgehoben. So iſt es
denn auch merkwürdig darauf zu achten, wie eine Perſön¬
lichkeit, deren Richtung im Ganzen mehr auf Erkennen und
auf Gefühlsleben gewendet iſt, eine ſehr hohe Entwicklung
erlangen kann, ohne doch zu einem ganz entſchiedenen Cha¬
rakter ſich durchzubilden; — Vieles in der Geſchichte aus¬
gezeichneter Dichter und Gelehrten erklärt ſich erſt aus die¬
ſem Geſichtspunkte vollkommen. Ueberblickt man aber noch¬
mals Alles, was wir hier über das Weſen der Entwicklung
des Geiſtes bis zum Charakter angeführt haben, ſo bleibt
wohl als ein beſtimmtes Reſultat übrig, daß die völlige
Ausbildung eines Charakters ſelten ohne eine gewiſſe Er¬
ſtarrung des Geiſtes ſich begeben wird, ja daß dieſes noch
weit unvermeidlicher der Fall ſein müßte, wenn nicht dem
[250] Fortſchreiten der Erkenntniß, alſo der möglichſten Schärfe
des bewußten Geiſtes gegenüber, das Gefühl mit ſeinen
Hebungen und Schwankungen die Seele immer wieder in
das Unbewußte zurückdrängte, und eben dadurch wieder das
weiche immerfort bildſame Element hervorhöbe. Nur auf
dieſe Weiſe geſchieht es, daß im äußerſten Männlichen doch
immer das Kindliche wieder hervorklingt und daß dieſe Ei¬
genthümlichkeit gerade als eine beſonders weſentliche für
höhere Entwicklung der Seele anzuerkennen ſei und wirk¬
lich ſchon früh anerkannt worden iſt, wird eigentlich durch
das alte Wort ausgeſprochen: „ſo ihr nicht werdet wie die
Kinder, könnt ihr nicht zum Himmelreich gelangen.“ —
Uebrigens dürfen wir es uns nicht verbergen, daß immer
eine ganz beſondere Energie des An-ſich-ſeins der Idee
dazu gehören werde, wenn bei vollkommen erreichter Schärfe
des Charakters, doch jene Eigenlebendigkeit der Seele fort¬
beſtehen ſolle, die einer in ſich fortgehenden immer weitern
Entwicklung fähig ſein kann. Dies Alles gibt zu Anwen¬
dung auf Studium und Vergleichung großer, in der Ge¬
ſchichte begründeter, oder in der Poeſie erſchaffener Charaktere
die reichlichſte Gelegenheit.


Wir wenden uns nun zur Betrachtung des zweiten
Bildungsgeſetzes für die Entwicklung des Geiſtes zur Per¬
ſönlichkeit und zum Charakter, zu Folge deſſen ein ſtätiges
Untergehen und Zerſtören einer Seits, und ein ſtätiges
Aufnehmen und Neubilden andrer Seits, von dieſem Wachs¬
thume des Geiſtes als unzertrennlich gefordert wurde. Auch
hier bieten ſich Reihen der merkwürdigſten Erſcheinungen
dar. Wer nur in ſeinem eignen Leben aufmerkſam zurück¬
blicken will, oder wer überhaupt gewohnt iſt dem Gange
ſeines Lebens mit Selbſtbewußtſein und ſtiller Selbſtbe¬
ſchauung zu folgen, wird ſonderbare Wahrnehmungen in
dieſer Art machen. Wie ziehende Wolkengebilde im ſtäten
Wandel begriffen, ſo die innern Zuſtände des Menſchen!
Neue Eindrücke drängen ſich zu, neue Gefühle werden an¬
[251] geregt, andere und neue Thätigkeiten gefordert; dagegen
kehren eine Menge von Vorſtellungen nicht nur immerfort
zeitweiſe ins Unbewußte zurück, ſondern werden auch nach
und nach ſeltener und endlich gar nicht mehr ins Bewußt¬
ſein zurückgerufen, werden vergeſſen und alle geiſtige Ge¬
ſtaltung wird eine andere. Nothwendig verlieren ſich dabei
auch ganze Reihen von Gefühlen, ſo manche Thätigkeiten
werden wenig oder nicht mehr geübt, und ſo wird das
geiſtige ſelbſtbewußte Individuum eben ſo durch ſtäte
Umwandlung, obwohl immer auf derſelben Baſis der Idee
ruhend, allmählig ein anders Erſcheinendes, gerade ſo wie
auch das unbewußte bildende Leben Alles was wir leibliche
Erhaltung und leibliches Wachsthum nennen, nur durch
ein ſtätes Zerſtören und Neuſchaffen erreicht. Auch dort
zeigt ſich übrigens eine fortwährende Einwirkung des Un¬
bewußten auf das Bewußte. Wir haben weiter oben nach¬
gewieſen, wie die verſchiedenen Regungen des unbewußten
Lebens unſers Organismus, die verſchiedenen Zuſtände ein¬
zelner Syſteme und Organe im Bewußtſein zwar nicht an
und für ſich, wohl aber durch Umſtimmung des Gefühls,
durch Regungen im Gemüthe ſich kund geben, und wir
wiſſen, daß eben dieſe Art von Umſtimmungen, gerade weil
ſie vom Unbewußten — vom Reiche der Nothwendigkeit —
ausgehen, auch eben darum mit ſolcher Entſchiedenheit im
bewußten Leben eine beſondere Gewalt üben. Unterliegen
alſo einmal die Regionen des Bewußtloſen ſo ganz den
eingeborenen Geſetzen und den Verhältniſſen zur Geſammt¬
heit der Welt, daß ihr in ſich gekehrtes Leben mit Noth¬
wendigkeit gleich den ſpiraligen Bewegungen der Weltkörper
ſich umſchwingt, und liegt es eben darin, daß in ihnen
mit der Fortſchreitung des Lebens, unter unausgeſetztem
Zerſtören und Wiederbauen allmählig Alles ein Anderes
wird, ſo begreift ſich leicht warum ſchon von hieraus be¬
dingt iſt, daß auch in der Fortbildung des immerfort von
Gefühlen durchdrungenen Geiſtes, dieſes Untergehen und
[252] Auftauchen und immer wieder Anderswerden ganz uner¬
läßlich bleibe. Was aber hierin der innere Grund des
Ruhens auf dem ſtets beweglichen und bewegten Unbe¬
wußten noch nicht ſattſam erklärt, das erklärt die ſtäte
Aenderung der äußern Verhältniſſe, der ſtäte Umſchwung
des Lebens der Menſchheit und der Welt, welche ſich zum
Theil im Bewußtſein ſpiegeln und nothwendig an deſſen
innern Anderswerden Theil haben.


Nicht genug alſo daß den Pſychologen die unendliche
Mannichfaltigkeit und Verſchiedenheit menſchlicher Seelen
und Charaktere nie aufhören kann zu beſchäftigen, ſo tritt
noch eine Steigerung dieſer Mannichfaltigkeit hervor da¬
durch, daß in jeder einzelnen Seele, in jedem einzelnen
Charakter noch ſo weſentlich verſchiedene Stadien ſich be¬
merklich machen. Auch in dieſer Beziehung wird uns alſo
der Menſch zum Mikrokosmus, da in ihm als Gattung
die geſammte unendliche Mannichfaltigkeit im Charakter der
verſchiedenſten Weſen der Welt ſich wiederholt und immer
wiederholen wird. Darum alſo dieſe ſo vielfach wieder¬
kehrende Ueberraſchung in der Geſchichte der Menſchheit,
daß wenn wir glauben nun endlich möge doch wohl die
Möglichkeit noch neuer, noch beſonderer Charaktere und
Geiſter erſchöpft ſein, doch immer wieder das Unerwartete,
bisher Unerhörte hervortreten kann, ein Unerwartetes wo¬
durch plötzlich, oft mittels einer einzigen Individualität, der
Geſchichte eine ganz neue Wendung gegeben worden iſt.
Eben darum läßt ſich auch, wenn verſucht werden ſoll
einen Geſammtüberblick und eine Eintheilung der Verſchie¬
denheit der Charaktere zu geben, immer nur maſſenweiſe
verfahren, und immer ſind Verzahnungen offen zu laſſen
um neue unerwartete Begegniſſe einzureihen. — Auch hier
ſtellt die Verſchiedenheit in ſo fern am leichteſten und ent¬
ſchiedenſten ſich dar als ſie auf dem Unbewußten ruht und
als ſie ſonach durch die Bildung des Organismus ſelbſt
angedeutet wird. Die Verſchiedenheit weiblichen und männ¬
[253] lichen Charakters und die Verſchiedenheit der Charaktere der
weſentlichen verſchiedenen Altersſtufen iſt daher die am erſten
und am deutlichſten ſich darſtellende. Daran würden ſich
anſchließen die Verſchiedenheiten der Charaktere der Men¬
ſchenſtämme und diejenige Verſchiedenheit, welche ſelbſt ei¬
nem und demſelben Stamme es aufprägt, wenn er in ſehr
verſchiedene Climaten ſich vertheilt. Andre Verſchiedenheiten,
welche mehr auf die bewußte Region wirken, ſtellen ſich
dann heraus wenn wir dem Einfluſſe den Lebensweiſe und
äußere Verhältniſſe üben, nachgehen; — durch alle dieſe
Einwirkungen hindurch jedoch dringt die Macht der in¬
nerſten, in dem An-ſich-ſein der Idee begründeten Eigen¬
thümlichkeit, und das, was von hier aus beſtimmt wird,
läßt ſich denn auch immer weniger unter irgend beſtimmte
Abtheilungen bringen, und zwar deßhalb weil gerade da
die Verſchiedenheit am meiſten ins Unendliche geht. — Im
Folgenden ſoll es keinesweges die Aufgabe ſein allen die¬
ſen Verſchiedenheiten im Einzelnen nachzugehen, zumal da
es keinem Zweifel unterworfen iſt, daß der Wiſſenſchaft
von der Seele nicht ſowohl das Vielerlei der Gegenſtände
von Wichtigkeit ſein kann, ſondern ihr um ſo reichere Re¬
ſultate hervorgehen werden, je mächtiger die geiſtige In¬
dividualität iſt, die ſie zum Studium vornimmt. Man
darf es ausſprechen, daß die genauere Erwägung aller der
verſchiedenen Phaſen, durch welche ſich ein großer ausge¬
zeichneter Menſch auf ſeine Höhe hinaufbildet, der Wiſſen¬
ſchaft hundertfältig mehr Ausbeute gewährt als die Ver¬
gleichung und das pſychologiſche Studium aller Neger¬
ſtämme, aller wilden öſtlichen und weſtlichen Dämmerungs¬
völker, oder noch ſo vieler roher geiſtesarmer Subjekte
unſers eignen Stammes. Auch hierin bewährt ſich der
große bedeutende Menſch — ich möchte ſagen zweifach und
dreifach als ein Mikrokosmus, daß er in einem — in ſich
— vereinigen kann, was ſonſt Viele — und oft nur un¬
vollkommen — darſtellen.


[254]

Bevor wir daher zu den Geſammtcharakteren, welche
namentlich in Verſchiedenheit des Geſchlechts und Alters
ſich äußern, den Uebergang machen, ſoll es uns beſchäf¬
tigen etwas ausführlicher jener ſeltnern über das gewöhn¬
liche Maß menſchlicher Eigenthümlichkeit ſich erhebenden
Charaktere zu gedenken, von denen man die einen Genien
oder „Urgeiſter", die andern einſeitig große Talente
oder „beſondre Geiſter" nennen könnte. Beide richtig
zu deuten, müſſen wir die Geſammtidee der Menſchheit uns
faßlich und verſtändlich zu machen ſuchen. Erſt wenn wir
in dem geſchichtlich ſich Darleben der Idee der Menſchheit
die Entwicklung eines großen ideellen Organismus erblicken,
kann es uns deutlich werden, daß gleichwie an einem jeden
leiblichen Organismus einzelne Organe von höherer Be¬
deutung und größerer Selbſtſtändigkeit erſcheinen, ſo auch
in der Menſchheit gewiſſe Individualitäten die beſondern
Träger großer Wendepunkte ihrer Geſchichte und ihres Le¬
bens darſtellen müſſen. Mit einem Worte, die Idee der
Menſchheit überhaupt concentrirt ſich in einzelnen Indivi¬
dualitäten mehr, in andern weniger (ſo hat im Organis¬
mus ein Organ mehr, das andere weniger die Bedeutung
des Ganzen) und nur diejenigen welche am meiſten eine
ſolche Bedeutung auf ſich gehäuft tragen, ſie waren es von
jeher, welche man als Urgeiſter bezeichnete; — ja der
Ausdruck „des Menſchen Sohn" für jene hohe urgeiſtige
Individualität, welche zuerſt das Evangelium der Liebe ih¬
rer Menſchheit zu verkündigen beſtimmt war, hat mir in
dieſer Hinſicht immer ganz beſonders tiefſinnig geſchienen.
Wir erkennen hieraus ſofort, daß, wenn es irgend ein be¬
ſonderes Siegel gibt, wodurch dieſe eigentlichen Urgeiſter
erkennbar waren, dieſes kein andres ſein kann als das
einer höhern Univerſalität. Der wahre Genius, der
eigentliche Urgeiſt, iſt nie ein bloß einſeitiger, in ihm er¬
weiſet ſich eine beſondere göttliche Macht, welche ihn überall,
wohin er ſich wendet, als mächtig, als wahr, als ſchaffend,
[255] als belebend darſtellt, und es hängt oft ſcheinbar nur von
geringen Umſtänden ab, ob mehr die eine oder mehr die
andere Seite ſeiner Wirkſamkeit ſich hervorheben ſoll. 1 Iſt
es daher auch ſeine Thätigkeit im Leben nur eine Richtung
weſentlich zu verfolgen, ſo wird das Siegel der Univerſalität
auch dieſer einzelnen Richtung unfehlbar aufgeprägt ſein;
er wird auch, wo er ein Einzelnes erfaßt, immer verſtehen
in ihm das Weltall ſich ſpiegeln zu laſſen. — Gerade das
Gegentheil hievon ſind die beſondern Geiſter oder die
großen Talente. Hier iſt es die höchſte Einſeitigkeit, in
welcher es möglich wird, daß keineswegs zwar die geſammte
Idee der Menſchheit, dafür aber um ſo gewaltiger eine
einzelne ganz ſpecielle Richtung derſelben, auf eine merk¬
würdige Weiſe zur Darbildung gelangt. — Die Urgeiſter
werden daher eine gewiſſe allgemeine, allen zukommende
eigenthümliche Weiſe verrathen und immer in gewiſſer
Weiſe ſich begegnen, während die beſondern Geiſter, in
welchen gewiſſermaßen alle beſondern Lebensäußerungen und
Lebensinnerungen eigenlebendig ſich verkörpern, in unzählig
verſchiedenen Strahlen auseinanderweichen. Dieſe ſeltſamen
Erſcheinungen, in denen oft wahre Verkümmerung aller
andern Geiſtesgaben, außer der einen deren Träger ſie
ſind, ſich kund gibt, dieſe Seelen, die bald bloße Rechen¬
maſchinen, bald nichts als Virtuoſen, bald nichts als Ge¬
dächtnißbücher, bald nichts als Gymnaſtiker oder Mecha¬
[256] niker u. ſ. w. ſind, haben allemal auch eine gewiſſe Be¬
deutung für die Menſchheit, aber eine entſchieden geringere
als die Urgeiſter. Durch die Verwechſelung beider iſt oft
eine arge Begriffsverwirrung geſchaffen worden. Wer die
oben gegebenen Merkmale beachtet, wird gegen dergleichen
geſichert ſein. Jene großen Talente dienen weſentlich nur
um die merkwürdige, oft faſt unglaubliche Perfektibilität
menſchlicher Eigenſchaften zu zeigen, und es geſchieht durch
ſie Manches was außerdem überhaupt nicht ausgeführt
werden könnte.


Uebergehend nun zu dem was man Geſammtcharaktere
nennen darf, indem es den allgemeinen Ausdruck gibt für
die Möglichkeit einer unermeßlichen Reihe verſchiedener ein¬
zelnen Charaktere, heben wir insbeſondre hervor den erſten
und wichtigſten Gegenſatz, nämlich den zwiſchen männ¬
lichen und weiblichen Charakteren
. Um dieſes,
die ganze Geſchichte der Menſchheit überall durchdringende
und bewegende Verhältniß einigermaßen zu begreifen, muß
man gleich damit anfangen es als ein Irrationales, nie
ganz Aufzulöſendes gelten zu laſſen; denn das, was in
beiden Geſchlechtern ſchon im Bereiche der abſolut unbe¬
wußten Seele gleichartig und doch verſchieden iſt, erſcheint
in ſich ſo außerordentlich verſchlungen und mannichfaltig,
daß gerade dadurch ſchon jedes Geſchlecht dem andern als
ein ſelten und zuhöchſt nur in der vollkommenſten Liebe
verſtändlich werdendes Geheimniß erſcheint, ja daß nament¬
lich darin ein großer Theil der Macht wechſelſeitiger Ein¬
wirkung, und Anziehung und gegenſeitigen Angezogen-werdens
gegen das andere Geſchlecht gegeben wird.


Wie tief daher auch der Mann eindringen mag um
die eigenthümliche Welt des weiblichen Seelenlebens ſich
deutlich zu machen, wie ſehr er auch die Macht ſeines Er¬
kennens geltend macht um das geiſtige Princip zu finden,
von welchem alles Fühlen, Denken und Wollen des Wei¬
bes bedingt iſt, und wie manches ihm auch hiebei wirklich
[257] verſtändlich werden mag — zuletzt bleibt doch ein Incom¬
menſurables nur durch ein anderes Incommenſurables, d. i.
nur durch das Geheimniß der Liebe zu löſendes übrig.
Nicht anders wird es meiſtens dem Weibe gehen in dem
Verſtändniß des Mannes, — und nur, indem man an¬
nehmen darf, daß bei dem erſten im Allgemeinen mehr das
durch das Unbewußte beſtimmte Gemüth vorwaltet und das
eigentliche Erkennen nicht in gleichem Maße die Aufgabe
des ganzen Lebens wird wie im Manne, tritt vielleicht ein
gewiſſes mehr unmittelbares Vernehmen der Geheimniſſe der
männlichen Seele — ein gewiſſes magnetiſches Ab-fühlen
hervor — welches, auch noch ohne jenes höchſte Incom¬
menſurable, in manchen Beziehungen das Seelenleben des
Mannes dem Weibe näher bringen wird als es im umge¬
kehrten Verhältniſſe gewöhnlich der Fall iſt.


Iſt es doch aus eben dieſem Grunde bisher Dichtern
immer vollkommner gelungen in Schilderung einzelner ganz
aus ihrer eignen Phantaſie hervorgegangenen Charaktere,
den Gegenſatz des Männlichen und Weiblichen in aus¬
nehmender Klarheit darzuſtellen, als es Pſychologen und
Philoſophen in wiſſenſchaftlichen Deductionen vermocht ha¬
ben. Der Dichter nämlich verhält ſich hier zum Wiſſen¬
ſchafter auch wie ein Weibliches zum Männlichen, und eben
weil es das Myſterium als ſolches, d. i. mehr unbewußt,
erfaßt, kommt er ihm oft näher als der letztere, wenn die¬
ſer nämlich überall von dem Grundſatze ausgeht, Alles
und Jedes ins klare Bewußtſein ziehen zu wollen. Freilich
was uns betrifft, ſo ſind wir der Meinung, daß dieſe letz¬
tere Anſicht überhaupt irrig ſei, und daß gerade die höhere
Erkenntniß jedem ſein Recht zu thun habe, das Bewußte
als ſolches mit größter Klarheit darſtellen, das Unbewußte
in ſeinem Dunkeln und Geheimnißvollen anerkennen und
aufnehmen müſſe, ſo wie eine bildliche Darſtellung etwa
nicht bloß Licht im Lichte gelten laſſen kann, ſondern erſt
durch Verbindung und kunſtgemäße Zuſammenſtellung von
Carus, Pſyche. 17[258] Licht und Dunkelheit wahrhafte Deutlichkeit erreicht. Daß
man dies bisher weniger eingeſehen und angewendet hat,
lag offenbar daran, daß man den wichtigen Satz, den wir
an die Spitze aller unſerer Betrachtungen ſtellen, und auf
den wir immer zurückkommen müſſen, ſich nicht zur Ueber¬
zeugung gebracht hatte, nämlich: „daß der Schlüſſel zur
Erkenntniß vom Weſen des bewußten Seelenlebens gelegen
ſei in der Region des Unbewußtſeins.“


Gehen wir nun auf dieſem Wege der Betrachtung
weiter, ſo erſchließt ſich alsbald ein Mehreres über die
Verſchiedenheit des männlichen und weiblichen Charakters;
es wird deutlich, daß das Weib eben vermöge eines ge¬
wiſſen Vorwaltens unbewußten Lebens auch feſter und un¬
mittelbarer an jenem Göttlichen haften bleibt, welches wir,
eben weil es durch das Erkennen nie ganz ermeſſen werden
kann, als ein Myſterium, und als den Urgrund und die
höchſte Bedingung alles Seienden verehren, während der
Mann bei ſeiner Aufgabe zur vollkommnen That des ſelbſt¬
bewußten Geiſtes hindurch zu dringen, leichtlich von dem
Haften an dieſem Myſterium ſich allzuweit entfernen kann.
Freilich wird auch der Mann einerſeits, wenn er im Stande
iſt die Region des Unbewußten mit in ſeinen Calcul immer¬
fort aufzunehmen, einer in jeder Beziehung höhern Ent¬
faltung der Seele und des Geiſtes fähig werden, als die
Frau; aber andrerſeits wird er unfehlbar, wenn er über
das Bewußte das Unbewußte ganz aufgeben will und in
einer einſeitigen egoiſtiſchen oder bloß weltlichen Richtung
ſein geiſtiges Leben zu einer gewiſſen Starrheit kommen
läßt, weit hinter der Lebendigkeit und Bildſamkeit des Weibes
zurückbleiben. Unter den Frauen bleibt daher in der Mehr¬
zahl, eben weil zuhöchſt überall ein für uns Unbewußtes
in der Tiefe der Erſcheinungen ruht, ein gewiſſes unbe¬
wußtes Abfühlen der innerſten geheimnißvollen Weſenheit
der Natur und des Geiſtes vorhanden, und ſie behalten
dadurch einen eigenthümlichen Fonds von Lebendigkeit und
[259] Bildſamkeit, welcher bei der Mehrzahl von Männern leicht
in einer gewiſſen trocknen Einſeitigkeit aufgeht, welche ſich
eben da gern und gewöhnlich entwickelt, wo der Region des
Unbewußten ihr Recht dauernd entzogen wird. Das was
wir daher Pedant und, wenn es ſich ohne alle geiſtige
Energie in einer dürftigen Beſchränkung des Lebens äußert,
Philiſter nennen, und was in der Geſellſchaft der Männer
in gar verſchiedenen Formen häufigſt ſich wiederholt, iſt
deßhalb in dieſer Weiſe den Frauen gänzlich fremd. Da¬
gegen hält ſich freilich auch wieder ihr Charakter in der
Regel mehr in einem engern und hergebrachten Gleiſe —
es wird ihnen ſelten möglich aus dem Gewöhnlichen heraus¬
zugehen, ſich ſelbſt ihren eignen Lebensweg mit Entſchieden¬
heit vorzuzeichnen, das eigentliche Concentriren des Lebens
auf einzelne als beſonders würdig erkannte Zwecke, iſt
dieſem Geſchlechte, mit wenigen Ausnahmen, faſt immer
verſagt, und nie iſt eine große Erfindung, durch welche
dem Genius der Menſchheit neue Bahnen ſich eröffnet hätten,
aus ihrem Geiſte hervorgegangen. — Von dem männlichen
Geiſte hinwiederum kann man ſagen, daß wenn es dem
Weibe nur ſelten gelingt zum höhern Bewußtſein, zur That
des freien ſelbſtbewußten Geiſtes hindurchzudringen, ſo be¬
zeichne es in ihm den Höhenpunkt des Geſchlechts, wenn
er im freien klaren Selbſtbewußtſein das Myſterium des
Unbewußten vollkommen mit umfaßt. Wie in der Wiſſen¬
ſchaft des Rechnens diejenigen Arten die höchſten ſind, welche,
wie die Algebra und der Infiniteſimalcalcul, mit unbe¬
kannten Größen (mit x) gleich wie mit bekannten gebahren,
ſo waltet derjenige männliche Geiſt am mächtigſten und
trägt an ſich den höchſten Charakter des Geſchlechts, welcher
bei einem im höchſten Sinne geklärten Bewußtſein, und
einem von bedeutender Individualität gehobenen Erkennen,
Fühlen und Vollbringen, von der Macht des Unbewußten
gänzlich durchdrungen iſt. Es iſt hiedurch auch beſonders,
wodurch Das ſich beurkundet, was wir den Genius
[260] nannten, denn auf merkwürdige Weiſe zeichnet ſich eben
ein ſolcher höher begabter Geiſt dadurch aus, daß bei aller
Freiheit und Klarheit ſeines ſich Darlebens, er von dem
Unbewußten, dem myſterioſen Gott in ihm, überall gedrängt
und beſtimmt wird, daß Anſchauungen ſich ihm ergeben er
weiß nicht woher, daß zum Wirken und Schaffen es ihn
drängt, er weiß nicht wohin, und daß ein Drang des Werdens
und Entwickelns ihn beherrſcht, er weiß noch nicht wozu.
Schon aus dem was hier über den Gegenſatz des
Charakters der Geſchlechter geſagt iſt, erklärt es ſich aber
ferner, daß wieder innerhalb eines jeden einzelnen Ge¬
ſchlechts die Verſchiedenheit der Charaktere ſehr ungleich ſein
müſſe. Es liegt in der größern Schärfe des bewußten
Lebens im Männlichen, daß hier eine weit größere Mannich¬
faltigkeit in dieſer Beziehung vorkommen wird als im Weib¬
lichen. Wenn wir uns zurückerinnern an das verſchiedene
Wachsthum des An-ſich-ſeins der Seele, theils in der
Richtung der Gottinnigkeit, theils der Selbſt- oder Welt¬
innigkeit, ſo fallen dem männlichen Geiſte vorwaltend die
beiden letztern Richtungen anheim, während dem weiblichen
vorwaltend die erſtere eignet, und auch hiedurch wird die
größere Mannichfaltigkeit der Charaktere und die ſchärfere
Zeichnung der Perſönlichkeit des Geiſtes in der männlichen
Natur erklärt. Iſt es doch die unmittelbare Folge höherer
Gottinnigkeit, alles Selbſtiſche immer mehr aufzugeben,
immer mehr mit aller Beſonderheit in einem Höhern unter¬
zugehen; dahingegen ſowohl die Entwicklung von Selbſt¬
innigkeit als die der Weltinnigkeit das ſchärfere Heraus¬
treten der Individualität fordert und insbeſondere noch da¬
durch es vermittelt, daß ſie zur thätigen Einwirkung auf
die Welt entſchieden veranlaßt wird, eine Art der Wirkung,
welche, wie ſchon bemerkt wurde, das vorzüglich entwickelt,
was wir Charakter nennen, und weßhalb auch die ver¬
ſchiedenen Bezeichnungen des Charakters (ein ſtarker, ein
ſchwacher, ein redlicher, ein falſcher Charakter u. ſ. w.)
[261] immer weſentlich von Verſchiedenheiten der That hergenom¬
men zu werden pflegen. Im Allgemeinen könnte man da¬
her wohl ſagen: der Charakter des Mannes entwickle ſich
mehr durch Thun, der des Weibes mehr durch Leiden, und
wirklich tritt die eigenthümliche Kraft und Schönheit des
weiblichen Charakters gewöhnlich mit einer beſondern Macht
da hervor, wo die Tiefe des Gemüthlebens durch vielfältige
Leiden geprüft worden iſt.


Endlich kann man aber auch nicht unbemerkt laſſen,
daß es beiden Geſchlechtern wegen dieſer Verſchiedenheiten
nicht gleich leicht wird die Eigenthümlichkeit ihres Charakters
bis an das Ende des Lebens in ihrer Höhe feſtzuhalten.
Es iſt nämlich früher gezeigt worden, wie weſentlich das
Wachsthum der Seele an die Zunahme der Erkenntniß ge¬
knüpft ſei, und wenn wir nun wahrnehmen, wie eben der
weiblichen Individualität dieſe Richtung weniger natürlich
ſei als der männlichen, ſo ergibt ſich daraus, in Verbindung
mit der in der bisherigen Stellung der Frauen begründeten
Abwendung derſelben von Gelegenheit zur Förderung der
Erkenntniß, warum ſo ſelten Individualitäten und Charaktere
bei hochbejahrten Frauen gefunden werden, welche eine ſchöne
ungehinderte Fortſchreitung im pſychiſchen Wachsthum be¬
urkunden, und warum ſo viel häufiger in dieſer Hinſicht
die Individualität des hochbejahrten Mannes befriedigend
genannt werden kann. — Doch es werden ſich noch manche
Züge zur Charakteriſtik der Geſchlechter und Perſonen geben
laſſen, wenn wir nun zur Geſchichte der beſondern Strah¬
lungen pſychiſchen Lebens übergehen.

g. Von den verſchiedenen Strahlungen des Seelenlebens.

Der Wiſſenſchaft von der Seele iſt kaum durch irgend
etwas mehr Nachtheil erwachſen, als durch das Trennen
der Seele in eine Menge von Kräften, Trieben und Eigen¬
ſchaften; denn nicht nur daß Das, was durchaus und
[262] allezeit als ein Einiges angeſehen werden ſollte, hiebei un¬
merklich in der Vorſtellung als ein innerlich Zerklüftetes
und Vielfaches erſchien, ſondern es entſtand zuletzt dadurch
in der Pſychologie der Begriff eines Zuſammengeſetztſeins
der Seele aus ſo verſchiedenartigen Gliedern, etwa ganz
eben ſo wie in der Lehre vom leiblichen Organismus die
Vorſtellung von Zuſammenſetzung der Theile und von einer
Maſſe von Kräften 1 vielfältigſte Verwirrung angerichtet hat.
Man muß dieſe Verirrungen um ſo ſeltſamer finden, da,
noch ganz abgeſehen von dem höhern Erſchauen der Vernunft,
es ſchon dem einfachen geſunden Sinn von Haus aus nicht
beikommt, dergleichen Trennungen vorzunehmen. Wer einen
Kryſtall betrachtet und wahrnimmt, daß er zugleich ſchwer
iſt, und daß er elektriſch iſt, daß er wohl ſelbſt leuchtet,
daß er eine gewiſſe Wärmetemperatur hat, daß er, in eine
ihm gleichnamige Auflöſung gelegt, ſich fortzubilden ſtrebt
u. ſ. w., dem fällt es nicht ein dieſe Eigenſchaften, dieſe
Thätigkeitsäußerungen zu trennen und zu denken, daß ſie
als verſchiedene und von einander geſonderte in dem Kryſtall
da ſein könnten, es iſt ihm ganz homogen alles dieſes in
Einem zu denken. Erſt mit einem gewiſſen Luxuriren des
Verſtandes tritt die Wirkung auf, welche dieſe Einheit auf¬
hebt, oder, wenn ſie ſie als eines denkt, ſie als eine Zu¬
ſammenſetzung aus Verſchiedenen ſich vorſtellt. — Gerade
ſo mit dem wie Plato ſagt „geſtalt- und farbloſen ge¬
dankenhaft“ Seienden der Idee und dem in ihr hervor¬
gehenden Weſen der Seele und des Geiſtes. Hier iſt nicht
und kann nicht ſein die Rede von Spaltungen und Ab¬
theilungen, und ſchon bei der Betrachtung der Heranbildung
[263] des höhern Bewußtſeins aus dem Unbewußten, mußten wir
ſtreng darauf achten, daß immer Alles in Einem ſeiend
feſtgehalten werde. Nur eine Strahlung nach verſchiedenen
Richtungen, ein Thun, ein Hinwirken zu verſchiedenen
Zwecken, ein Setzen immer mehr verſchiedener Verhältniſſe,
wird um ſo deutlicher hervortreten, je mehr zur Individua¬
lität, zur ſcharfen Ausprägung der Perſönlichkeit die Seele
ſich entwickelt, und zwar nothwendig deßhalb, weil in glei¬
chem Maße auch um ſo vielartiger die Beziehung wird,
welche jenes Eine zu andern Einheiten hat. Solche ver¬
ſchiedene Beziehungen alſo, ſolche verſchiedene Arten ſich
darzuleben, ſolche verſchiedene Strahlungen eines Einen und
Untheilbaren ſind es, die wir hier nun einer beſondern
Betrachtung unterwerfen, und jedenfalls iſt nun zuerſt dar¬
über genügende Deutlichkeit zu ermitteln, wie viel und welche
Strahlungen hier zuhöchſt aufgeſtellt ſein ſollen.


Die erſten und weſentlichſten Beziehungen der ihrer
ſelbſt bewußt gewordenen Seele ſind aber ohne Zweifel die
zu dem unbewußten Reiche ihres eignen Daſeins, die an¬
dern und gleichfalls weſentlichen die zur Welt der um und
neben ihnen ſich darlebenden Ideen. Alles was in der
Nacht des Unbewußtſeins unſere Seele in uns bildet, ſchafft,
thut, leidet, drängt und brütet. Alles was dort ſich regt,
nicht bloß unmittelbar am eignen Organismus ſich kund
gebend, ſondern eben ſo was angeregt iſt von Einwirkun¬
gen anderer Seelen und der geſammten Außenwelt, welches
Alles bald heftiger, bald milder auch unſer inneres unbe¬
wußtes Leben durchdringt, Alles dies klingt auf eine ge¬
wiſſe Weiſe aus dieſer Nacht des Unbewußtſeins auch hin¬
auf in das Licht des bewußten Seelenlebens, und dieſen
Klang, dieſe wunderbare Mittheilung des Unbewußten an
das Bewußte nennen wir — Gefühl. Gefühl, dieſe ganz
eigne Färbung der bewußten Seele, welche nun gleich den
wahrhaft bewußten Vorſtellungen ſich in dem ſelbſtbewußten
Geiſte einlebt und fortlebt, welche aber Alles was wir von
[264] der unbewußten Seele ausgeſagt haben, alle dieſe Unmit¬
telbarkeit, dieſe Nothwendigkeit, dieſes in ſich Vollendetſein,
und der Uebung und des Eingewöhnens nicht Bedürfende,
dieſes Unermüdliche, dieſes ganz Unwillkürliche und alles
dieſes Unergründliche mit dem durchaus Unbewußten theilt,
es iſt unbedingt der erſte Strahl, die erſte große eigen¬
thümliche Seelenrichtung, welche hier der Erwägung ſich
darſtellt. Ein anderes großes und mächtiges Reich, ja der
eigentliche Herd und Mittelpunkt des bewußten Seelenlebens,
iſt die Erkenntniß, die Welt klarer, beſtimmter, be¬
nannter Vorſtellungen, das Reich des Denkens, welches in
ſich in das Unendliche ſich fortgliedernd allerdings und ganz
ſtreng nach dem Cartes'ſchen Satze: „Ich denke, alſo
bin ich
“ zuerſt das Daſein des ſelbſtbewußten Geiſtes ſetzt
und verbürgt. Wenn die Welt des Gefühls auf dem ganz
Concreten ruht und durchaus im Subjectiven ſich hält, ſo
iſt die Welt der Erkenntniß durchaus auf Abſtraction ge¬
gründet und in ihr ſtrebt das Subject überall nach Objec¬
tivität und endlich zum ganz Allgemeinen. Wäre aber die
zum Bewußtſein gekommene Seele bloß Gefühl und Er¬
kenntniß, ſo müßte ſie, in ſich ſelbſt verſinkend, ſich aufgeben
und verlieren, denn keine Art von Beſtimmung des Aeußern
und Innern, kein Entſchluß und keine That würde als
Lebensreſultat jemals hervortreten und eben dadurch auch
alle Selbſtentwicklung — alles Wachsthum des An-ſich¬
ſeins der Idee — unmöglich werden. Das, was alſo im
unbewußten Leben der Seele als eins und untheilbar, inner¬
halb ſeiner Welt des Schaffens, Fortbildens, Leidens und
Thuns erſcheint, dieſe fortwährende Reaction gegen jede
Perception, dieſes ſtäte vom Leben untrennbare Thun, die¬
ſes worin nun wieder die Seele von dem durch Abſtraction
gewonnenen Allgemeinen wieder auf das ganz Be¬
ſondre
ſich richtet, es muß nun auch als ein Beſondres
unterſchieden werden, welches dem Gefühl und dem Erken¬
nen als Wille und That gegenübertritt, und obwohl zwar
[265] fort und fort durch jene beſtimmt und angeregt, doch durch¬
aus als eine eigenthümliche Strahlung des Seelenlebens
ſich darſtellt. Dieſer Wille, welcher zuerſt als Willkür
ſich ankündigt und zuhöchſt zur Freiheit der That er¬
wächst, er wirkt am wenigſten im Bereiche des Gefühls,
welches, wie geſagt, das in ſich Nothwendige und Unwill¬
kürliche aus der Nacht des abſoluten Unbewußtſeins mit
herübernimmt, dagegen durchdringt und beſtimmt er die
Sphäre der Erkenntniß durch und durch. Wenn wir daher
bedenken, daß alles Denken nur dadurch bedingt wird, daß
die Vorſtellungsreihen nach dem Lichte des ſelbſtbewußten
Geiſtes willkürlich und mit Freiheit aufgerufen und
in ihrer Folge beſtimmt werden, ſo darf man allerdings
den Willen und ſein Freiſein in ſo fern eben ſo als weſent¬
lichſte Bedingung aller Erkenntniß bezeichnen wie das Er¬
kennen wieder das Beſtimmende abgeben muß, um die
Wahl
im Willen möglich zu machen. Doch ſo weit von
den Unterſcheidungen dieſer Strahlungen im Allgemeinen!
die Geſchichte der Seele hat nun die Aufgabe jeglicher ein¬
zelnen ins Beſondere nachzugehen.


α. Zur Geſchichte der Gefühle.

Wie es gewiſſe zarte Gebilde unſers leiblichen Orga¬
nismus gibt, welche nur im ganz friſchen Zuſtande, und
nur bei der allerſchonendſten Behandlung dem Auge ſichtbar
gemacht werden können, während jeder Verſuch ſie als ab¬
geſtorbene länger noch aufzubewahren ſcheitert und jede rohere
quetſchende Behandlung ſie augenblicklich zerſtört, 1 ſo unge¬
fähr iſt es im Leben der Seele mit der Welt der Gefühle,
deren Eigenthümlichkeit auch nur bei einer gewiſſen Unmit¬
[266] telbarkeit und Friſchheit, und nur bei feiner und ſchonender
Behandlung, zu einem reinen Reſultate für das Auge der
Wiſſenſchaft gebracht werden kann. Schroffe Diſtinctionen,
vielfältige ſchematiſche Abtheilungen und Unterabtheilungen,
verrücken nirgends leichter den eigentlichen Standpunkt und
die ſachgemäße Auffaſſung als bei dieſen feinen, immer
etwas nebelhaften, aus dem Unbewußten hervortauchenden
Gegenſtänden!


Suchen wir demnach, uns immer im Ganzen und
Lebendigen haltend, zuerſt nur nach einem gewiſſen Moment
der Orientirung, ſtreben wir die Himmelsgegenden dieſer
Welt zu erfaſſen, ſo finden wir auch hier einen Süden
und Norden, einen Aufgang und Niedergang, — wir nennen
ſie Freude und Trauer und Liebe und Haß. In
den wunderbarſten Schwankungen und Beugungen bewegt
ſich die Magnetnadel des Gefühls zwiſchen dieſen vier weſent¬
lichen Theilpunkten am Horizonte der pſychiſchen Welt, und
wie aus verhältnißmäßig ſo ganz wenig Lettern eine Un¬
endlichkeit verſchiedener Worte gebildet werden kann, ſo iſt
die Zahl der Stimmungen unſers Gemüthes unermeßlich,
welche aus den Combinationen dieſer vier Grundregungen
mit der eigenthümlichen Welt verſchiedener benannter und
bewußter Vorſtellungen hervorgehen kann. Jedenfalls iſt
es deßhalb die erſte Aufgabe einer Geſchichte der Gefühls¬
welt jene vier grundweſentlichen Gefühle in ihrer Ent¬
ſtehung, Fortbildung, ihrer Periodicität, ihrem Verhältniß
zu andern und zum geſammten Menſchen, in ihren krank¬
haften Abſchweifungen und in ihrem endlichen Erlöſchen
und Vergehen, in nähere Betrachtung zu nehmen, zuletzt
aber jener mittlern Zuſtände zu gedenken welche, ähnlich
dem Zenith und Nadir, in der mittlern Höhe oder Tiefe
des Himmels gleich fern von allen vier Theilpunkten des
Horizontes eines bewegten Gemüthes ſich halten und doch
die Empfänglichkeit für jeden derſelben mehr oder minder
ſich bewahren.


[267]
1. Die Geſchichte der Freude.

Wie mächtig für Entſtehung dieſes Gefühls das un¬
bewußte Regen der Seele in den Bildungsvorgängen des
Organismus iſt, zeigt das entſchiedene Vorherrſchen deſſelben
in den Jahren lebendigſter Entwicklung und Jugend. Nicht
bloß dem heißen oft gewitterſchwangern Tage geht die roſige
Eos voran, ſondern auch einem heißen ſtürmiſchen, ſo wie
einem geſchäftigen langweiligen ſpätern Leben die roſige
Freudenzeit der Jugend, während in reifern Jahren auch
ein Göthe in ſeinen versus memoriales ſagen mußte:


Jubilate iſt ein ſeltner Fall.“

Wie alle die übrigen primitiven Gefühle entſteht jedoch
auch die Freude aus zweifacher Wurzel, einmal ganz aus
der Nacht des Unbewußten und ein andermal aus der
Tagſeite des bewußten Vorſtellungslebens. Je erfriſchter
die Geſundheit, je günſtiger die Verhältniſſe des Organis¬
mus zur Außenwelt, je raſcher und normaler alle Lebens¬
functionen, deſto günſtiger für Entwicklung des Freudege¬
fühls von dieſer Seite, iſt die Stimmung, und dies Alles
wirft um ſo mächtiger ein, je weniger noch die Seele
als ſelbſtbewußter Geiſt ſich entwickelt hat. Je mehr hin¬
gegen das Bewußtſein ausgebildet iſt, je vollkommener die
Seele im Denken ſich bethätigt, um ſo mehr wird auch
das Freudegefühl nur aus dieſen Quellen aufſteigen und
verhältnißmäßig kräftiger nach der unbewußten Seite ſich
mittheilen, als die Aufregung des Unbewußten allein Macht
hat im Bewußtſein wiederzuklingen. Daher die ſo unend¬
lichen Verſchiedenheiten freudiger Erregung in verſchiedenen
Altern und bei verſchiedenen Individualitäten. Das Kind,
das junge Mädchen, ſchon nicht ganz ſo der Knabe, ſie
können von Freude erfüllt ſein, ſie wiſſen nicht warum;
ihre Züge ſind freudig verklärt, ein heiteres Lachen um¬
ſpielt den Mund, die Augen leuchten mehr als ſonſt, und
alles Fragen nach einer Urſache würde vergeblich ſein, oder
[268] die angegebenen Urſachen — in ſo weit ſie nämlich be¬
wußterweiſe erkannt werden können — würden es uns kaum
glaublich erſcheinen laſſen, daß ſie wirklich dieſe Freude er¬
regen konnten. In Wahrheit iſt auch die Phyſiognomie
der mehr im Unbewußten gegründeten Freude eine ſo viel
andere als die weſentlich im Bewußtſein gegründete. Dem
geübten Auge des Menſchenkenners werden dieſe mit Worten
ſchwer zu bezeichnenden Unterſchiede nicht entgehen, und
vielleicht wird er die Verſchiedenheit am meiſten dadurch
andeuten, daß er die Phyſiognomie der letztern als die
geiſtigere bezeichnet. Es iſt merkwürdig dagegen wie eben
dieſe weſentlich aus bewußten Vorſtellungen hervorgehende
Freude ſelbſt bei wahrhaften Leiden des Unbewußten, bei
Kränklichkeit und Hinfälligkeit der Organiſation, ſtrahlend
durchbrechen kann, und wie ſehr ſie in ihren Motiven ſich
ſteigert, je höher das An-ſich-ſein der Idee gediehen und
je klarer die Erkenntniß geworden. Namentlich gibt die
erwähnte Steigerung der Motive hier zu weitläufigen Be¬
trachtungen Anlaß. Das Höchſte iſt offenbar wenn im
Geiſte aufgegangen iſt die volle Wahrnehmung, das Ver¬
nehmen der Idee, und wenn dieſes Vernehmen die Freudig¬
keit der Seele entzündet. Die Freude des Forſchers wenn
er ausrufen darf: „ich habe es gefunden!“ die Freude des
Dichters, des Künſtlers wenn er den Göthe'ſchen Aus¬
druck anwenden darf: „es iſt eine Idee zu mir getreten,“
die Freude des Liebenden wenn ihm die tiefſte innere Idee
des geliebten Weſens vernehmbar wird — ſie gehen ganz
aus der bewußten Seele hervor, aber auch über das un¬
bewußte Leben verbreiten ſie einen wunderbaren Schimmer,
verändern die Züge des Antlitzes und den Glanz des Auges,
nach eigenthümlichen, noch lange nicht enthüllten Geſetzen.
Kurz, ſchon in dieſen Betrachtungen enthüllt ſich uns eine
ſehr mannichfaltige Entſtehung der Freude und wir nehmen
wahr in welcher Menge verſchiedener Formen dieſes Gefühl
auftreten könne. Eben dadurch iſt auch die ſo verſchiedene
[269] Fortbildung deſſelben bedingt; denn wenn in einzelnen Fäl¬
len, und namentlich wo es bloß im unbewußten Leben ſeine
Entſtehung hatte, das Gefühl einer ſchnell erlöſchenden
Glut gleicht und beſondere innere Steigerungen und Ent¬
wicklungen nicht erkennen läßt, ſo wird es dagegen in an¬
dern Fällen, und zwar je mehr es auf dem Bewußtſein
ruht, einer eigenthümlichen Steigerung und Ausbreitung
fähig ſein, und kann zuletzt wohl dahinauf gebildet werden,
daß es den eigenthümlichen Farbenſchimmer, welchen wir
Freudigkeit“ nennen, über ein ganzes Leben ausbrei¬
tet, ein Ziel welches, eben weil es nur bei einer gewiſſen
innern Aufklärung, Sicherheit und Läuterung der Seele
erreicht werden kann, zu den ſchönſten Aufgaben gerechnet
werden muß für das, was man mit dem Namen der Le¬
benkunſt bezeichnen darf.


Was wir nun hier ausgeſprochen haben über die ver¬
ſchiedne Dauer des Freudengefühls, gibt uns Veranlaſſung
auch der Periodicität zu gedenken, welche wir an dieſen
wie an andern Gefühlen überall bemerken. Wie zuhöchſt
Alles in dieſem Daſein an einem gewiſſen Rhythmus, an
ein Steigen und Fallen und wieder Steigen geknüpft iſt,
ſo auch die Welt der Gefühle. Was die Freude betrifft,
ſo iſt ihre Periodicität entſchieden um ſo mächtiger, je mehr
ſie vom unbewußten Leben bedingt wird. Auch in dieſer
Beziehung darf man nur Kinder beobachten, um ſich zu
überzeugen, wie oft nach kurzer Dauer die Freude — und
ohne äußern beſondern Grund — erliſcht, ja wohl in ihr
Gegentheil umſchlägt, und oft eben ſo plötzlich ſich wieder
entzündet. Ein allgemeines Geſetz dieſer Periodicität wird
ſich nie nachweiſen laſſen, weil die Bedingungen zu indi¬
viduell ſind, aber im einzelnen Falle wird es allerdings
oft möglich ſein, Vorgänge im unbewußten Leben aufzu¬
finden, welche als erregende Factoren des Gefühls ſich be¬
weiſen. Mancherlei bedeutende Winke für die Kunſt das
Leben in höherer und ſchöner Weiſe zu führen, laſſen ſich
[270] aus dieſen Betrachtungen entnehmen; es läßt ſich begreifen
warum alle Verſuche die Freude ins Uebermäßige auszu¬
dehnen, ſo ſehr ins Gegentheil führen, warum allerdings
zu rechter Zeit und am rechten Ort die angenehme Erregung
der unbewußten Sphäre eine durch bewußte Vorſtellungen
begründete Freude ſteigern wird, warum aber alle Verſuche
die Freude bloß auf Erregung des unbewußten Lebens zu
gründen, ſo ſehr unvollkommene und ſchnell ſchwindende
Reſultate geben müſſen, u. ſ. w.


Zu erwägen iſt ferner das Verhältniß der Freude zu
andern Gefühlen und zur geſammten Perſönlichkeit des
Menſchen. In Bezug auf andere Gefühle iſt ſie theils
ausſchließend, theils gern ſich verbindend. Nicht nur ihr
Gegentheil nämlich, die Trauer, ſchließt ſie natürlich aus,
ſondern auch der Haß iſt mit der Freude eben ſo unver¬
träglich, als im Gegenſatze eine liebevolle Geſinnung da¬
durch gerne herbeigeführt zu werden pflegt. — Auch eine
eigne Beziehung zur thätigen Seite des Lebens iſt nicht zu
verkennen. Die Productivität iſt leichter, die täglichen Auf¬
gaben des Lebens werden raſcher gelöst, und wenn auch
die höhern Productionen der Seele eigentlich vorzugsweiſe
dem ruhigen mittlern Zuſtande des Gefühlslebens angehö¬
ren, ſo iſt doch die Freude beſonders geeignet das Gerin¬
gere, ich möchte ſagen, den Stoff des Lebens, woran die
Seele, ſeiner Maſſe wegen, oft zu erlahmen droht, mit
Leichtigkeit zu bewältigen. Merkwürdig iſt ſodann die Rück¬
wirkung freudiger Vorſtellungen auf das Unbewußte und
insbeſondre auf gewiſſe Regionen deſſelben. Am entſchie¬
denſten bewegt wird durch bewußtes Empfinden des Glücks
die Sphäre des Gefäßlebens und des mit ihm in ſo ge¬
nauer Beziehung ſtehenden Athmens. Lebhafterer Herzſchlag,
freieres Strömen des Blutes in ſeinen feinſten Wegen und
leichteres ſchnelleres Athmen, ſo wie ſie, im Unbewußten
entſtanden, das Bewußte zur Freude ſtimmen, werden auch
wieder an ſich erregt, wenn das Bewußte freudige Vor¬
[271] ſtellungen erfaßt; ja man muß jene Erregungen geradezu
die unbewußte Freude des Organismus ſelbſt nennen, wie
man etwa metaphoriſch von einer Pflanze ſagt: ſie grüne
und blühe freudig. — Einer beſondern Erwähnung verdient
übrigens noch jene beſchleunigte Athembewegung, welche
der Freude ganz eigentlich charakteriſtiſch iſt — das Lachen.
Das Lachen iſt nichts anderes als ein beſchleunigtes ſto߬
weiſes Athmen und anerkannt iſt es, daß es vom Gefühl
lebhafter Freude unzertrennlich ſei, obwohl es immer merk¬
würdig bleibt, daß, je mehr die Freude geiſtiger Art iſt, um
ſo mehr es geradezu Modificationen des wahren Athmens
zu ſein aufhört, und um ſo mehr ſich bloß auf eine in den
Geſichtszügen hervortretende Andeutung des Lachens
— auf das Lächeln — ſich beſchränkt, anzeigend, daß eine
gewiſſe Vergeiſtigung der Freude jener mehr palpabeln
Vorgänge nicht mehr bedürfe. Aus ſeiner Abſpiegelung
im Unbewußten ergeben ſich übrigens ſo manche heilende
Wirkungen dieſes Gefühls, aber auch, unter Umſtänden,
bei plötzlichem Eintritt in ſchwachen kranken Organismen,
gefährliche Ueberreizungen und Ueberſtrömungen. — Endlich
iſt in Bezug auf den ganzen Menſchen noch des Mitthei¬
lenden der Freude zu gedenken. Die Freude, das Lachen,
hat gleich der Trauer, etwas Anſteckendes, und daß die
Menſchheit in ſich wieder ein Ganzes, ein ideeller Orga¬
nismus iſt, mag zwar auch ſonſt an vielem Großen und
Gemeinſamen erkannt werden, aber auch, bei dieſer und
ähnlichen Mittheilungen, in dem ganz unwillkürlichen, man
darf ſagen organiſchen Fortgehen und Uebertragen von
Erkenntniſſen, Gefühlen und Willensregungen von Seele
zu Seele, beweiſet ſich jene Einheit auf das deutlichſte.


Was die krankhaften Abſchweifungen des Freudegefühls
betrifft, ſo erſcheinen ſie überall da wo es mit Heftigkeit
und dabei ideenlos heraustritt. In jedem Falle der Art
empfinden wir ſolche Aeußerungen unmittelbar als unſchön,
und anſtatt daß die reine unbewußte Freude des Kindes,
[272] in welchem die Idee noch nicht gefordert wird, oder auch
die lebhafteſte aber von der Idee durchdrungene Freude
des Gereiften, ſelbſt freudig und mittheilend auf uns wirkt,
wird jene wilde und rohe Freude uns durch und durch ab¬
ſtoßend und widerlich erſcheinen. Die Sprache macht auch
hier noch eine feine Nuance, denn wenn das reine Freude¬
gefühl auch mit dem Ausdrucke der Luſt bezeichnet werden
kann, und wenn in der Luſt gleichſam das Element aus¬
geſprochen iſt, in dem die von heitern Vorſtellungen und
glücklichen Regungen des unbewußten Lebens erfüllte Seele
ſchwebt, ſo gibt dagegen das abgebogene Wort „Luſtig¬
keit
“ ſogleich einen Begriff, welcher einen Ueberſchlag ins
Abſurde oder Krankhafte anzeigt und den vollkommenen
Gegenſatz bildet zu dem ſchönen Begriff der „Freudigkeit“
den wir oben als eine wahrhafte Steigerung der Freude
erkennen mußten.


Endlich in Bezug auf das Erlöſchen, das Aufhören
der Freude, müſſen wir beachten, daß es, gleich dem Ent¬
ſtehen derſelben von zwei verſchiedenen Seiten ausgehen
kann, d. i. vom Unbewußten oder Bewußten. Auch in der
hellſten zum vollſten Bewußtſein gelangten Seele ergeben
ſich da beſondere Vorgänge. Ohne daß wir uns irgend
eines Grundes bewußt ſind, überzieht oft den Geiſt eine
eigenthümliche trübe Stimmung, unter welcher, wie am
Firmament das Sonnenlicht hinter einem dichten Nebel,
alle Freudigkeit aus unſerer Seele entweicht, und wir
erkennen dann ſpäter entweder daß irgend eine ſtörende
hemmende Einwirkung im unbewußten Leben ſchon einge¬
treten war, welche vielleicht alsbald in wirkliche Krankheit
ausbricht, oder auch das Unbewußte unſers Daſeins, weil
es zugleich eben das Verallgemeinernde iſt, empfindet mag¬
netiſch gewiſſe entfernte für uns unglückliche Begebenheiten,
und ſeit alten Zeiten gelten daher dergleichen plötzliche un¬
freiwillige Trübungen häufig als ahnungsvoll. Wie
nun hier das Unbewußte ins Bewußte hinüberwirkt, ſo
[273] wirken wieder betrübende, Trauer erregende erkannte Vor¬
ſtellungen ins Unbewußte, und das Erlöſchen der Freude
kündigt ſich an im Verlangſamen von Puls und Athmen,
die Strömungen des Blutes ziehen ſich aus den zarteſten
Gefäßnetzen der Oberfläche zurück und der Menſch erbleicht,
das Auge wird matt, kurz Alles wendet ſich ins Gegen¬
theil. Die Freude iſt vorüber.

2. Die Geſchichte der Trauer.

Zwiſchen Freude und Trauer findet ein ganz eigen¬
thümlicher Gegenſatz Statt; es zeigt ſich nämlich, daß kei¬
nesweges beide auf ganz gleicher Linie ſtehen, ſondern die
letztere ſinkt gegen einen gewiſſen minder würdigen Zuſtand
der Seele zurück, und es geht dies ſo weit, daß, wie
etwa bei uns „traurig“ auch wohl für verkümmert, ver¬
ächtlich gebraucht zu werden pflegt, im Italieniſchen „tristo“
oft mit bösartig gleichbedeutend genommen wird. Geht
man dem Grunde dieſer Begriffsverwandtſchaft nach, ſo
kommt man darauf, daß in der Trauer eine gewiſſe Op¬
poſition und Unzufriedenheit in Bezug auf den nothwendi¬
gen organiſchen Gang der Weltordnung verborgen liege,
und daß deßhalb nothwendig in demſelben Grade als es
groß und bedeutend geachtet wird, wenn das, was wir
„Freudigkeit“ genannt haben, ſich der ganzen Seele be¬
mächtigt und unter keinerlei Umſtänden, weder bei widrigen
Begebenheiten und peinlichen Erfahrungen, noch bei körper¬
lichen Krankheiten, von uns weicht, eben ſo es geringer
und minder würdig erſcheint, wenn durch dergleichen Ver¬
anlaſſungen Trauer oder Traurigkeit in der Seele eine
vorherrſchende Stimmung wird.


Wenden wir uns zur Geſchichte der Entſtehung der
Trauer, ſo finden wir auch hier, daß es ein Hervortreten
derſelben aus zwei verſchiedenen Regionen, der bewußten
und unbewußten gebe, und ſo zwar, daß ſie gleich der
Freude, von beiden Regionen her um ſo leichter entſtehen
Carus, Pſyche. 18[274] wird, je ſchwächer die Energie und je ſtärker die Senſibi¬
lität des Individuums iſt, erkennen aber im Gegentheil,
daß wenn nun die höhere Freudigkeit um ſo leichter erreicht
wird und um ſo bleibender iſt, je mächtiger die Individua¬
lität war, dagegen die Trauer und bleibende Traurigkeit
gerade unter ſolchen Verhältniſſen um ſo weniger zur herr¬
ſchenden Stimmung werden kann. Das was wir früher
das ſcheinbare Unglück genannt haben, ſpielt nämlich
eine weſentlichſte Rolle bei der Entſtehung der Trauer, in
ſo fern ſie vom bewußten Leben ausgeht, und wenn auch
nicht zu läugnen iſt, daß eben ſo das ſcheinbare Glück einen
ſehr weſentlichen Theil an Entſtehung der Freude habe, ſo
iſt es doch gerade die eigentliche Aufgabe des Wachsthums
der Seele, das Wahre überhaupt, und alſo auch das
wahre Glück zu erreichen, das wahre Unglück durch und
durch von ſich zu entfernen, das ſcheinbare Unglück aber
als ſolches zu erkennen, wodurch letzterm dann eben die
Macht genommen iſt, das in der Seele zu erregen, was
wir Trauer nennen. Wie jedoch ebenfalls früher ausge¬
ſprochen wurde, daß in dieſem zeitlichen Daſein wir von
den Scheinbildern des Glücks und Unglücks nie ganz frei
werden können und ſollen, ſo wird auch die Trauer uns
nie ganz fehlen dürfen, und die größere Reife des Men¬
ſchen und ſomit auch die höhere Würdigkeit der Trauer
wird nun dadurch ſich anzeigen, daß nur würdige und
bedeutende Vorſtellungen, als ſolche die auf ein wahres
Unglück deuten, das Gefühl der Trauer erregen und ver¬
ſtärken. Wenn alſo die Betrachtung eines gehinderten, vor¬
ſchnell gehemmten Wachsthums im An-ſich-ſein einer Idee,
oder das Sinken einer Seele gegen das wahre Unglück —
die Unſeeligkeit — oder wenn die Trennung des Verein¬
lebens mit einer ein wahrhaftes Complement unſers Daſeins
bildenden Seele das Gefühl der Trauer erregt, ſo liegt
auch darin eine gewiſſe Macht und Würdigkeit, und der
Menſch in dieſem zeitlichen Daſein kann und ſoll ſich dieſer
[275] Trauer nicht entziehen. Wen hingegen unbedeutende flüch¬
tige Aeußerlichkeiten durch ihren Verluſt in Trauer verſenken,
dem zählt man dies allerdings nach als Zeichen geringer
ſeeliſcher Entwicklung.


Es iſt jedoch noch beſonders hervorzuheben, daß das
eigentliche Gefühl der Trauer keinesweges bloß durch Er¬
kennen des Trauererregenden in uns entſteht, ſondern daß
immer zugleich das Durchdringen der unbewußten Sphäre
gefordert wird, damit der Zuſtand von Erkenntniß zum
Gefühl
werde. Fragen wir aber wo insbeſondere der
Antheil ausgeſprochen ſei, den das Unbewußte an der Trauer
nimmt, ſo finden wir ihn vorzüglich in demjenigen Walten
der unbewußten Seele, welche das Blutleben beſtimmt, und
nicht ohne tiefes Wahrheitsgefühl haben die Völker von
jeher das Herz für weſentlich betheiligt gehalten bei Freude
wie bei Trauer. Freilich, ſo lange man den leiblichen
Organismus als ein an ſich Seelenloſes betrachtete, gleich¬
ſam wie einen Mechanismus an dem nur die dahineinge¬
ſetzte Seele gewiſſe Fäden anzöge um ihn zu Bewegungen
anzuregen, und ſo lange die Lehre vom unbewußten See¬
lenleben ſelbſt ein unbekanntes Kapitel in der Geſchichte
der Seele war, konnte man nicht den Gedanken faſſen in
der Bildung und Strömung des Blutes ſelbſt ein unbe¬
wußtes Seelenleben verehren zu ſollen. Wer aber hiemit
hinreichend ſich vertraut gemacht hat, wem dieſe Erkennt¬
niſſe aufgegangen ſind, dem wird auch Blutlauf und Herz¬
ſchlag zu unbewußtem Denken, und die Welt der Gefühle
erſcheint ihm großentheils nur als ein Wiederklingen der
verſchiedenen Stimmungen dieſer organiſchen Kreiſe im
ſelbſtbewußten Geiſte. So iſt es alſo falſch, zu ſagen: die
Trauer wirkt einen langſamern Herzſchlag, ein Bleichen
der Haut durch Zurückziehen der Blutſtrömung aus den
feinſten Netzen der Oberfläche, ein minder gut bereitetes
Blut, ein langſameres ſchluchzendes Athmen u. ſ. w., ſon¬
dern es ſoll heißen: die Trauer iſt theilweiſe eben alles
[276] dieſes ſelbſt, und dadurch, daß dieſe unbewußten Vorgänge
auf eigenthümliche Weiſe im ſelbſtbewußten Geiſte wieder¬
klingen, entſteht im Verein und durch gleichzeitige Vorſtel¬
lungen des Unglücks, das was wir Trauer nennen. Erſt
auf dieſe Weiſe verſtehen wir vollkommen, wie, auch wenn
in unſerer Vorſtellungswelt beſtimmte Veranlaſſungen zur
Trauer fehlen, eine ganz von außen kommende Krankheit,
welche die Organe der Blutumbildung — namentlich das
Zerſetzungsorgan aller Blutkörperchen — die Leber — in
leidenden Zuſtand verſetzt, ſchon an und für ſich eine traurige
ſchwermüthige Stimmung nicht nur in ſich begreift, ſondern
zum Theil ſelbſt iſt; wir verſtehen, wie die mangelhafte Blut¬
bildung der Bleichſucht als trübe niedergeſchlagene Stimmung
im Bewußtſein anklingen muß, und wiederum wie ein plötz¬
lich im Vorſtellungsleben hereinbrechendes Unglück, unmit¬
telbar Lähmung des Herzens und Stockung des Blutlaufs
bedingen kann u. ſ. w. Eine beſondere Erſcheinung aber,
welche noch ganz eigenthümlich am Organismus die höhern
Grade der Trauer eben ſo unausweichbar bezeichnet wie
das Lachen die Freude, iſt das Weinen, und wieder iſt
auch hier die phyſiologiſche Bedeutung ſehr merkwürdig.
Das Blutleben, der unbewußte Herd freudiger und trau¬
riger Gefühlswelt, hat nämlich zwei Pole: die Athmung,
in welchem es ſich ſtätig erneut und bildet, und die Ab¬
ſonderung, in welcher es ſtätig untergeht und ſich zerſetzt.
Wie daher das Lachen als beſchleunigte, regeres Blutleben
fördernde Athembewegung, der Freude ſich eignet, ſo wird
das Weinen, als eigenthümliche Abſonderung, zum Symbol
der Trauer; denn auf geheimnißvolle Weiſe wiederholen
ſich im Haupte die Vorgänge des übrigen Leibes, und wie
im Geruchsorgane eine Wiederholung der Bruſtreſpiration
erſcheint, ſo kommen im Auge gewiſſe Vorgänge der Ver¬
dauungsregion zur Wiederdarbildung, und ſo zeigen ſich
Störungen derſelben in veränderter Beſchaffenheit der Pupille
und Bindehaut des Auges. Deßhalb alſo auch die geheime
[277] Beziehung zwiſchen Thränendrüſe und Leber, von denen
hier natürlich die erſtere in ihrer geiſtigern Region ſchneller,
obwohl eben ſo unbewußt, die Umſtimmung empfindet, welche
das Unbewußte überhaupt erfährt, und ſo geſchieht es, daß
wir als leibliches Symbol des Gefühls der Trauer keines
kennen, welches in ſeiner ſtummen Sprache beredter er¬
ſcheint als die Thräne.


Was die Periodicität betrifft, ſo ſind auch in der
Trauer dergleichen Verhältniſſe unverkennbar, und eben weil
durch alles Unbewußte eine rhythmiſche Bewegung ſtätig ſich
hindurchzieht, ſo wechſeln in unſerer großentheils unbewußten
Seele trübere mit heitern Stimmungen, ſelbſt bei der kräf¬
tigſten Durchbildung des ſelbſtbewußten Geiſtes, um vieles
mehr jedoch allerdings, je weniger kräftig das Bewußtſein
entwickelt iſt. Die Einflüſſe, welche periodiſch, vom Unbe¬
wußten aus, die Trauer erregen, können natürlich höchſt
mannichfaltig ſein. Weſentlich wirken dahin ſchon die Ver¬
änderungen der Atmoſphäre. Trübe neblige Tage und kalte
Feuchtigkeit bringen entſchieden derartige Stimmungen her¬
vor, gewiſſe Klimate ſtimmen mehr dafür, andere weniger,
ja es iſt merkwürdig, wie viele innere Vorgänge der Ent¬
wicklung im Menſchen auf dieſe Weiſe eigenthümlich ein¬
wirken. Der melancholiſche Hang, welcher mitten in blühen¬
der Jugend den Menſchen zuweilen ergreift, die Schwer¬
muth, welche an manche Evolutionen im weiblichen Leben
ſich knüpft, ſie deuten ſämmtlich auf einen derartigen Zu¬
ſammenhang. Man kann dieſes unwillkürliche oft ahnungs¬
volle Eintreten der Trauer — dies plötzlich Ueberziehen der
Seele mit Wolken, nicht beſſer ausdrücken, als Shakespeare
es thut, dem überhaupt die Welt der Gefühle ſo tief er¬
ſchloſſen war, wenn er den Antonio ſagen läßt:


„Fürwahr, ich weiß nicht, was mich traurig macht:

Ich bin es ſatt; ihr ſagt, das ſeid ihr auch.

Doch wie ich dran kam, wie mir's angeweht;

Von was für Stoff es iſt, woraus erzeugt;

Das ſoll ich erſt erfahren.“ —
[278]

Aus dem Vorhergehenden ergibt es ſich übrigens gar
wohl, welches das Verhältniß dieſes Gefühls zum ganzen
Menſchen ſein muß. Das Brüten über traurige Empfin¬
dungen lähmt die Thätigkeit im Allgemeinen und zerſtört
die Fülle des bildenden Lebens; die Uebergänge ſolcher Zu¬
ſtände in gefahrvolle Krankheiten ſind daher etwas, das
dem Arzte häufig genug vorkommt. Von andern Gefühlen
iſt der Haß der Trauer im Ganzen näher verwandt als
die Liebe, und leicht verbindet ſich, insbeſondere in kleinern
Seelen, mit der Trübe des Gemüths auch die bittere menſchen¬
feindliche Stimmung, während in größern Seelen die Trauer
hinwiederum gegen das Gefühl des Erhabenen ſich wendet,
und dann das hervorbringt, was die Griechen mit dem
Namen des Pathos bezeichneten, und als höchſte Aufgabe
der Tragödie betrachteten. Dieſe letztere Eigenthümlichkeit
der Trauer iſt es zugleich, wodurch die merkwürdige Be¬
ziehung des Schmerzes und der Trauer auf poetiſche Pro¬
ductivität dem Pſychologen ſich verdeutlicht. Man darf es
nämlich als eine bekannte Erfahrung betrachten, daß in
Menſchen, welche ſonſt wenig Phantaſie und gar keine
Neigung zu dichteriſchen oder künſtleriſchen Productionen
zeigen, oft mit einem Male und mit einer gewiſſen Gewalt¬
ſamkeit ein Beſtreben hervortritt, in irgend einem poetiſchen
Werke, ſei es in Ton oder Wort oder Bild, das Innerſte
ihres Weſens auszuſprechen und kund zu thun, wenn ein
großer Schmerz über ſie gekommen und eine wahre und
tiefe Trauer ſie beherrſcht. Es gilt zwar von andern Ge¬
fühlen auch, daß ſie eine ſolche Productivität des bewußten
Geiſtes erwecken, aber in dieſer Stärke nur noch von der
Liebe, und ſelbſt von dieſer zum Theil auch deßhalb, weil
die Liebe ihrem ganzen Weſen nach von einer nie ganz zu
befriedigenden und darum immer etwas Schmerzliches in
ſich tragenden Sehnſucht durchdrungen und erfüllt iſt. Unter
vielen Völkern kann man eben aus jener Urſache entſchieden
nachweiſen, daß die erſten Anfänge der Poeſie, die erſten
[279] Mythen, die erſten Lieder und Geſänge einen eigenthüm¬
lichen ſchwermüthigen düſtern melancholiſchen Charakter haben,
und wenn man noch in der Neuzeit die frei aus innerer
poetiſcher Nöthigung entſtehenden Kunſtwerke ſondern wollte
in ſolche, die aus überfließender Luſt und Freudigkeit, und
ſolche, die aus innerm Schmerz und als Errettung aus
trüben Stimmungen entſtehen, ſo würde die große Mehr¬
zahl durchaus auf die Seite der letztern fallen. Die Er¬
klärung dieſer Erſcheinung liegt unzweifelhaft eben in den
im Vorhergehenden ausgeſprochenen Worten: nämlich es
ſucht die in Betrübniß befangene Seele, in ihrem innern
Drange nach Glückſeeligkeit, eine Errettung von dem ihrem
innern Weſen unangemeſſenen Zuſtande, und ſie ruft auf
zu dieſem Zwecke die in ihr verborgene productive Kraft —
die Phantaſie, theils um ſich aus Vorſtellungen eine Welt
zu ſchaffen, über deren beglückende Weſenheit der Schmerz
ihres gegenwärtigen Daſeins vergeſſen werden kann, theils
auch nur, um ihren eignen trüben und unglücklichen Zu¬
ſtand ſich vollkommen gegenſtändlich zu machen. In dieſem
Gegenſtändlich-werden liegt aber deßhalb eine ſo große Be¬
ſchwichtigung, weil es als eine Spiegelung wirkt und da¬
durch dasjenige gewährt, welches wir weiter oben ſchon für
das Wachsthum der Seele ſo bedeutend nennen mußten —
die Erkenntniß. Alles Erkennen nämlich, alles wahr¬
hafte Wiſſen iſt etwas ſo Erhabenes, daß es eben darum,
wie in ihm überhaupt das Letzte und Höchſte der Entwick¬
lung der Seele erreicht wird, auch mächtig und eigenthüm¬
lich befreiend und beglückend auf die Seele wirken muß,
und ſo liegt eben ſchon darin, daß der Geiſt durch eine
eigenthümliche Productivität der Phantaſie etwas zu er¬
ſchaffen vermag, woran er ſich ſelbſt klar werden kann,
eine beſondere Beglückung und eine merkwürdige Errettung
aus der Dunkelheit des Zuſtandes der Trauer.


Schon auf dieſe Weiſe gewährt alſo dieſes ſich Gegen¬
ſtändlichmachen eine gewiſſe Errettung aus dem Zuſtande
[280] des Schmerzes, aber es wirkt noch mehr und zwar de߬
halb, weil im Lichte der Erkenntniß auch immer deutlicher
werden muß, was irgend von bloßen Scheinbildern
des Unglücks in der Seele die Trauer erregt hatte, und
was demnach eine wahre Trauer eigentlich nicht verdient.


Es bleiben uns noch die krankhaften Abſchweifungen
und das Erlöſchen der Trauer zu erwägen. Die erſtern
werden auch hier nur, wie bei der Freude, ſich ergeben,
wenn da, wo Bewußtſein gefordert wird, das Gefühl ideen¬
los ins Ungemeſſene herrſcht. Je weniger alſo die Trauer
bloßer Ausdruck der unbewußten Stimmung des Organis¬
mus, und je mehr ſie, in wie fern auf Vorſtellungen ge¬
gründet, durch recht weſenloſe Scheinbilder von Unglück
angeregt wird, um ſo mehr iſt ſie als krankhaft und un¬
würdig einer höhern Entwicklung zu betrachten. Daß ſie,
wenn bedeutende Verſtimmungen des Organismus obwalten
und namentlich das Blutleben in hohem Grade bedrückt iſt,
wenn Verbildungen der Leber ſich entwickeln und auch ihrer¬
ſeits auf dem Nervenleben laſten, dergeſtalt im Uebermaße
hervortreten kann, daß ſie als Geiſteskrankheit erſcheint, in
welcher dann, finſter in ſich gekehrt, unter Weinen und tiefer
Schwermuth, zuweilen eine ganze Exiſtenz elend dahinſchleicht,
beſtätigen ärztliche Erfahrungen nur zu oft, ja oftmals
entſpringt aus ſolchen Stimmungen jener krankhafte Selbſt¬
mord, von welchem früher bereits die Rede war.


Was das Erlöſchen der Trauer betrifft, ſo wird auch
dies halb vom Unbewußten, halb vom Bewußten gegeben.
Es iſt merkwürdig zu beachten, wie gewiſſe Umſtimmungen
im Unbewußten, wenn das Bewußtſein nicht zu entſchieden
dagegen ſtreitet, ſofort die Trauer zu vernichten im Stande ſind!

„Und Sorgenbrecher ſind die Reben!“


heißt es nicht ohne guten Grund von einem edlen Wein,
denn wunderbar zerſtreuen ſich oft gramvolle Gedanken und
trübe Stimmung auch ohne Veränderung äußerer Verhält¬
niſſe, wenn es gelingt dem Blutleben einen friſchern Auf¬
[281] ſchwung zu geben. Wie deßhalb auch ſchon Bewegung,
zumal Bewegung in friſcher freier ſonniger Luft, entſchieden
auf Zerſtreuung des Grams wirkt, iſt eine bekannte Er¬
fahrung; ja daß der bald mehr heitere, bald mehr trübe
Charakter ganzer Nationen durch ähnliche Einflüſſe des
Klimas mit bedingt werde, leidet keinen Zweifel, und ſo
kann oft eine Veränderung des Aufenthaltortes allerdings
weſentlich mitwirken, um bleibende trübe Stimmung zu ver¬
drängen. Will man ſich im Einzelnen die Vorgänge deut¬
lich zu machen verſuchen, unter welchen die Trauer ver¬
ſchwindet, wenn heitere bewußte Vorſtellungen und glück¬
liche Ereigniſſe die Freude wieder herbeiführen, ſo muß
man immer daran denken, wie alles Vorſtellungsleben auf
eigenthümlich geheimnißvolle Weiſe an gewiſſe unmeßbare
Aenderungen der Innervationsſpannung des Hirns unab¬
weislich geknüpft iſt, man muß ſich deutlich machen, wie
Millionen mikroſkopiſcher Primitivfaſern vom Hirn aus, als
eben ſo viele Conductoren der Innervation, durch den ge¬
ſammten Körper ſich verbreiten, wie alſo die veränderte
Spannung der Hirn-Innervation im Moment auch mittels
dieſer Conductoren peripheriſch überall da hervortreten muß,
wohin die Qualität der centralen Spannung ſie vorzüglich
gerichtet hatte, und wie alſo Vorſtellungen, welche die heitere
Seite des Gefühls in Anſpruch nehmen, eben darum, weil
die Heiterkeit des Unbewußten in nichts anderm ſich äußern
kann als in freierm friſchern Blutleben, regere Bildung
und kräftige Athmung, unmittelbar dieſe Aeußerungen
hervorrufen müſſen, dieweil die centrale Aenderung der
Innervation auch die peripheriſche bedingt.


Wem ſonach dieſes einmal deutlich geworden iſt, der
wird nun auch unſchwer begreifen, wie verändertes Vor¬
ſtellungsleben die leiblichen Erſcheinungen der Trauer auf¬
hebt, und wie umgekehrt freudige Umſtimmung des Unbe¬
wußten die Vorſtellungen der Trauer im Bewußtſein zer¬
ſtreuen helfen kann.

[282]
3. Die Geſchichte der Liebe.

Wenn man Freude und Trauer in gewiſſer Beziehung
als paſſive und ſubjective Gefühle bezeichnen kann, indem
ſie mehr in ſich ruhen und ohne beſtimmte Begehrungen
oder Ablehnungen nach außen erſcheinen, ſo treten dagegen
Liebe und Haß als active und zugleich mehr objective Ge¬
fühle auf, da ihr innerſtes Weſen darauf beruht, entſchieden
aus ſich herauszugehen, entſchieden das Geliebte anzuziehen
und von ihm angezogen zu werden, und eben ſo entſchieden
das Verhaßte zurückzuſtoßen und ſich von ihm zurückſtoßen
zu laſſen. Beide active Gefühle erhalten dadurch allemal
eine gewiſſe Gewaltſamkeit, und können in einzelnen Fällen
zu einer Heftigkeit ſich ſteigern, unter welcher das ganze
Daſein des Menſchen zuſammenbricht, ja, des damit ver¬
bundenen Schmerzes, der daran geknüpften Leiden wegen
nennen wir dann Liebe und Haß nicht mehr Gefühle, ſondern
Leidenſchaften. Freude und Trauer können nicht zur
Leidenſchaft werden, und ſelbſt von den beiden activen iſt
das Poſitive ſo weit mächtiger, aber auch ſo weit mehr
zum Uebergang in Leidenſchaft geeignet, als das negative.


Uebernehmen wir jetzt tiefer einzudringen in die Ge¬
ſchichte des mächtigſten aller Gefühle, in die der Liebe, ſo
muß vor allen Dingen lebendig feſtgehalten werden, daß,
wie jedes, ſo auch dieſes, und namentlich dieſes, nur halb
auf dem Bewußtſein und zur andern Hälfte auf dem Un¬
bewußtſein ruht. Wenn wir nun im Bewußtſein etwas
in ſeinen Eigenſchaften unterſuchen, und, weil wir dieſe
als vortrefflich erkennen, unſer Gefallen daran empfinden
und wohl auch, eben dieſer Vortrefflichkeit wegen, wünſchen
dieſem Gegenſtand nahe zu bleiben und ihn bleibend um
uns zu haben, ſo iſt das Unbewußte in uns dabei durch¬
aus unbetheiligt; aber eben darum iſt auch alsdann von
Liebe ſchlechterdings nicht die Rede. Liebe ſetzt alſo nothwen¬
dig voraus ein tieferes Ergriffenſein zugleich des Unbe¬
[283] wußten unſerer Seele
, und hier liegt das Myſterium,
das bei der Liebe tauſendfältig empfunden, von wahrhaften
Dichtern in ſeiner vollen Macht begriffen und dargeſtellt,
aber von den Forſchenden faſt nie mit in Erwägung ge¬
zogen worden iſt, wenn von dem Erkennen des Weſens
der Liebe die Rede war.


Vor Allem iſt es indeß nöthig, daß wir beachten wie
verſchiedenartig
der Gegenſtand der Liebe ſein könne:
— Die Univerſalität und Macht dieſes Gefühls ſpricht ſich
auch hierin aus, eine Univerſalität und Macht, deren das
andere objective Gefühl, der Haß, niemals fähig iſt. Durch
unbewußten Zug und bewußte Erkenntniß kann nämlich
eben die Liebe in Wahrheit das Geringſte und hinwiederum
das Höchſte umfaſſen; vom Hangen am Boden und an der
Wohnſtätte, am Stein und Metall, von der Liebe zu Pflanzen
und Thieren, wendet ſie ſich, als zum eigentlichen Mittel¬
punkte ihrer Exiſtenz, zur Liebe zum Menſchen, der
Liebe zu ſich ſelbſt, zu Freunden, Eltern, Geſchwiſtern, Kindern,
und zumeiſt zur Liebe des andern Geſchlechts, und ſteigert ſich
endlich bis zur Liebe zu Gott. Nach dieſen verſchiedenen
Gegenſtänden nimmt ſie ſelbſt unendliche verſchiedene Nüancen
an, und breitet einen Reichthum und eine Mannichfaltigkeit
von Zuſtänden aus, welche erſchöpfend zu beſchreiben und
zu erklären gänzlich unmöglich wird. Faſſen wir daher
Das zunächſt ausſchließend und nahe ins geiſtige Auge,
was wir den wahren Mittelpunkt dieſes Gefühls, ich möchte
überhaupt ſagen, das Urgefühl nennen dürfen, und was
auch die Sprache oft ausſchließend mit dem Namen der
Liebe bezeichnet, d. h. die Liebe der Geſchlechter gegen ein¬
ander, und wir werden, eben weil dem ſo iſt, daran das
Weſen dieſes Gefühls am lebendigſten zu begreifen ver¬
mögen, ſo daß es dann leichter werden wird, über die
geringeren Zweige wie über die höchſte Blüthe deſſelben
mit wenigen Andeutungen genügende Erkenntniß zu ver¬
breiten: — Niemand wird indeß auch jenes tiefſte und innigſte
[284] Gefühl in Betrachtung angemeſſen verfolgen können, wenn
er nicht ausgeht von Erwägung jenes mächtigſten Gegen¬
ſatzes, den ein geheimnißvolles unbewußtes Walten der Idee
der Menſchheit in der Zweiheit der Geſchlechter prometheïſch
dargebildet hat, und deſſen große Bedeutung für Fortbildung
der Gattung weiter oben entwickelt worden iſt. Daran
nämlich, daß in jeder einzelnen Verwirklichung die Menſch¬
heit nach zwei organiſch entgegengeſetzten Polen, als Männ¬
liches und Weibliches, auseinanderweichen muß, um gerade
aus dieſer Trennung und in der Wiedervereinigung der¬
ſelben ſich ſelbſt immerfort neu zu erzeugen, iſt das weſent¬
liche Myſterium geknüpft, auf welchem und aus welchem
die Blüthe der Liebe, von welcher hier jetzt die Rede iſt,
allein hervorgehen kann. Dieſen merkwürdigen Gegenſatz
muß man vor allen Dingen ſich möglichſt verdeutlichen,
damit es anſchaulich werde, wie, in Folge eines tiefen unbe¬
wußten Waltens, zwei Daſeinsformen der Menſchheit immer¬
fort neu dargebildet werden, welche eben durch ihre Ver¬
ſchiedenheit innerhalb einer gewiſſen Gleichartigkeit (und hierin
liegt das Grundweſen aller Sympathie) ſich mit der größten
Macht anziehen, mit der lebhafteſten Sehnſucht ſuchen, 1 und
zuhöchſt nun in ihrem ſich Finden und in einander Ueber¬
gehen, die Befriedigung ihres Daſeins erreichen. Schon
die Geſchichte der ganz unbewußt oder nur mit dunklem
Weltbewußtſein ſich darlebenden andern Organismen iſt höchſt
bedeutungsvoll für dieſe Vorgänge. Das höchſte Gebilde
der Pflanzenwelt, die Blüthe, zerfällt in polare Organe,
[285] welche wir hier ſchon männlich und weiblich nennen; endlich
vereinigen ſich dieſe Gegenſätze in der Verſtäubung der
Antheren und der Tod der Blüthe tritt unmittelbar ein.
Eben ſo iſt für das geſammte Thierreich die Vereinigung
der Geſchlechter die Spitze des Daſeins, und Millionen
von Geſchöpfen leben nur bis zu dieſem Höhenpunkt ihrer
Exiſtenz, und in ihrem gegenſeitig in einander Untergehen
erreichen ſie, was ſonderbarer Weiſe in einer uralten all¬
mählig mit den größten Wunderlichkeiten unterwachſenen
Religion der Menſchheit — dem Buddhaismns — auch dem
Menſchen als die höchſte Seeligkeit dargeſtellt wird — die
Vernichtung.


Auch in der Menſchheit tritt nun etwas Aehnliches
hervor; denn wenn wir ſagten, daß ſie ſelbſt ſich immer¬
fort in der Vereinigung der entgegengeſetzten Individuen
wieder erzeuge, ſo geht daraus unmittelbar hervor, daß
dieſe Individuen nothwendig gerade in dieſer Vereinigung
auch wieder den erſten Grund ihres Unterganges finden,
da jede Wiedererzeugung die Vernichtung vorausſetzt, wie
denn ſchon das Beſtehen unſers eigenen Organismus nur
an die raſtlos wiederkehrende Neubildung geknüpft iſt, welche
wiederum erſt möglich wird durch die raſtloſe Selbſtzerſtö¬
rung. Nun iſt aber ferner zu bedenken, daß die Menſchheit
ſich von allen uns ſonſt bekannten Kreiſen des Lebendigen
unterſcheidet durch die unendlich verſchiedene Ausprägung
der Individualität, daß daher auch der urſprüngliche Ge¬
genſatz der Menſchheit in den Geſchlechtern in unermeßlich
verſchiedene Formen ſich ausdrücken muß, und daß alſo
(wie ganz ſcharf erwieſen werden könnte) wirklich jedes
Individuum eines Geſchlechts
, eigentlich auch nur
ein einziges ihm ganz vollkommen in der Gleich¬
artigkeit entgegengeſetztes Individuum des
andern Geſchlechts
auffinden kann. (Daher ſchon die
alte halb-humoriſtiſche Mythe des Plato von den auseinan¬
dergetrennten Ur-Menſchen, deren Hälften nun überall
[286] ſehnſüchtig ſich ſuchten.) In dieſen Verhältniſſen liegt es
alſo, daß lange bevor etwas von eigentlichem Liebesgefühl
zum Bewußtſein kommt, Beziehungen des Individuums
zu anderen beſtehen, daß ein Drang, eine Sehnſucht,
ein Suchen vorhanden iſt, welches mit Nothwendigkeit tief
in der unbewußten Region der Seele wurzelt, welches zu¬
erſt in ſeiner ganzen Unbeſtimmtheit nur traumartig ſich
ahnen läßt, und welches doch dahin deutet das Indivi¬
duum zu erreichen, das ſich anzueignen, in dem unter¬
zugehen, welches nicht nur in der Geltung und im Allge¬
meinen ſeinen organiſchen Gegenſatz bildete, ſondern welches
ihm allein ganz ſpeciell die Erfüllung ſeines Daſeins
gewähren könnte. Schon hier tritt nun ein wichtiges Mo¬
ment zur beſtimmten Geſchichte der Liebe hervor, denn es
zeigt ſich alsbald, daß je individueller und feiner die Or¬
ganiſation einer Individualität iſt, um ſo weniger ſie die
Befriedigung ihres tief eingebornen Verlangens und Seh¬
nens bloß in der Gattung, bloß in der Erfaſſung und
Aneignung des überhaupt geſchlechtlich Entgegengeſetzten
finden kann, ſondern um ſo mehr die auch nur gerade
ihm entgegengeſetzte Individualität ſuchen, und mit aller
Macht anſtreben muß. Ja es wird ſich in dem Streben
nach dieſer Befriedigung ſogar oftmals das wieder erge¬
ben, was oben ſchon von dem Streben nach der Seeligkeit
geſagt worden iſt, nämlich daß auch in dieſem Suchen die
vielfältigſten Irrthümer
vorkommen, daß mehrfache
Scheinbilder des eigentlichen allein gemäßen Gegen¬
ſatzes dem Suchenden begegnen, welche zeitweiſe für das
eigentliche Ziel gehalten werden, und welche immer wieder
Verblaſſen, wenn es gelingt und beſchieden iſt, daß der
wahrhaft das ganze Daſein ausfüllende Gegenſtand endlich
wirklich erreicht wird. Dies Suchen, dieſes Anſtreben,
dieſe Sehnſucht bietet übrigens in den beiden Geſchlechtern
manche Verſchiedenheit dar. Man könnte vielleicht ſagen,
der Mann, deſſen ſtärkere Intelligenz und Willenskraft
[287] das Gefühl etwas mehr verſchleiert und verdeckt, experi¬
mentire mehr in ſeinem Suchen und ſei eben dadurch, und
weil er mehr den Sinnen und der Erkenntniß vertraut,
öfteren Irrthümern unterworfen, während das Weib (wie
ſchon oben erwähnt) in ſeinem vorwaltenden Unbewußten,
mit der Wünſchelruthe des Gefühls — mehr einem Rhab¬
domanten ähnlich — im Leben umwandelt und darum wohl
häufiger als der Mann es erfährt, daß ihr Inneres erſt
da
, und oft vor ihrem deutlichen Erkennen, vollkommen
ergriffen und von Liebe entzündet wird, wo das eigentliche
Urbild ihr entgegentritt.


Aus dieſem Allen folgt nun, daß um das Weſen der
Liebe zu begreifen, wir allemal mit der unbewußten
Nothwendigkeit
beginnen müſſen, und eben darin, in
dieſem Unbewußten, liegt nun die große Gewalt, die ganze
Unmittelbarkeit, die hohe Vernunft, das eigentliche Recht,
und hinwiederum die Schwäche, der Mangel an Verſtand und
Geſetz, und überhaupt der ſtäte Widerſpruch, wie er zwiſchen
Unbewußtem und Bewußtem immer beſtehen wird. — Es
begreift ſich nun auch die ſonderbare Wahrnehmung, welche
bisher von Dichtern mehr ausgeſprochen, als von Pſycho¬
logen erfaßt worden war, daß nämlich bei dieſem Gefühl
eintritt, was bei keinem andern in dieſem Maß vorkommt,
nämlich eine gewiſſe Verwunderung, ja ein Erſchre¬
cken
des bewußten Geiſtes über das Auftauchen dieſes
Gefühls und dem Unbewußten. Dante in ſeiner vita
nuova
vereinigt hier wie immer den Dichter und Philoſo¬
phen, wenn er bei Schilderung des erſten Aufflammens
der Liebe ſagt: „der Geiſt des Lebens, der in der verbor¬
genſten Kammer des Herzens wohnt, begann ſo heftig zu
erzittern, daß er in den kleinſten Pulſen ſich ſchrecklich offen¬
barte, und zitternd ſprach er die Worte: Ecce deus for¬
tior me veniens dominabitur mihi.“ — Allerdings näm¬
lich muß dem bewußten Geiſte jede ſehr heftige Ueberfluthung
durch eine beſondere Regung des unbewußten Lebens, oder
[288] der unbewußten Seele, ein gewiſſes Erſchrecken und Er¬
ſtaunen geben, weil ihm, d. h. der zu größerer Selbſt¬
ſtändigkeit gekommenen Seele, hier etwas mitgetheilt, ja
obtrudirt wird, was ſeinem innerſten Weſen doch eigentlich
fremd iſt; aber in keinem Falle kann dies ſo mächtig wir¬
ken als bei der Liebe, als welche nicht nur den bewußten
Geiſt überhaupt mit Unbewußtem überwältigt, ſondern auch
die geſammte Individualität gegen die einer fremden Seele
hinreißt, und ſolchergeſtalt zwiefach die Exiſtenz des bewu߬
ten ſelbſtſtändigen Geiſtes bedroht. Nichts deſto weniger iſt
dieſem Erſchreckenden und Drohenden auch wieder ſeine
vollkommene Beſchwichtigung vorbereitet, wenn endlich in
dem bewußten Geiſte nun die Erkenntniß aufgeht, daß die
eigentliche Erfüllung des geſammten Seelenlebens und ſo¬
mit eine eigenthümliche Seeligkeit, doch eigentlich
erſt in dem Finden und Erfaſſen, ja Durchdringen einer
andern Seele gegeben ſein kann, einer Seele in welcher eben
das wahrhafte Complement des eigenen Daſeins zur Er¬
ſcheinung gekommen iſt. Freilich, daß dieſe Befriedigung
wirklich zu Stande komme, ſetzt voraus, daß kein bloßes
Scheinbild des wahrhaften in Gleichartigkeit Entgegen¬
geſetztem es ſei, welches das Gefühl erregt, und daß im
Individuum ſelbſt noch die volle Lebendigkeit des
Daſeins
vorhanden ſei, welche eine ſolche Sehnſucht nach
dem Finden dieſes Gegenſatzes bedingt. Wie mannichfaltig
daher die Bewegungen der menſchlichen Seele ſind, welche
ſich begeben wenn ein Widerſtreit des Bewußten gegen das
Unbewußte dadurch veranlaßt wird, daß der bewußte Geiſt
erkennen muß, es ſei mehr ein Scheinbild als das
Urbild des eigentlich gemäßen Gegenſtandes, wodurch, als
durch eine Täuſchung, das Liebesgefühl erregt worden ſei,
und es ſei etwa die Täuſchung entſtanden dadurch, daß
der allgemeine Gegenſatz des Geſchlechts für den wahrhaft
individuellen genommen worden, davon kann vielfältig die
innere Geſchichte aller der Menſchen Zeugniß geben, welche
[289] überhaupt viele Phaſen von Entwicklungszuſtänden ihres
geſammten Weſens erlebt haben. Ueberhaupt iſt hier gleich
mit darauf aufmerkſam zu machen, daß durch die mächtigen
Erregungen, welche das Liebesgefühl in der ganzen We¬
ſenheit des Menſchen hervorruft und durch den mannich¬
faltigen Widerſtreit, der ſich hiebei begibt, ſo wie durch
das Schwanken der Seele zwiſchen Glück der Befriedigung
und Unglück des nicht Befriedigtſeins, auf die merkwürdigſte
Weiſe zu der Entwicklung der Seele beigetragen werden
muß und wirklich beigetragen wird, und daß ſchon deßhalb
das Studium dieſer Zuſtände ſtets eine der wichtigſten Auf¬
gaben bleiben wird für die Geſchichte der Seele.


Was die andere Bedingung betrifft, unter welcher die
Seeligkeit der Befriedigung erreicht wird, ſo mußten wir
ſie ſetzen in die noch beſtehende volle Lebendigkeit
des Daſeins
; denn wenn überhaupt die ganze Welt der
Gefühle bei verminderter Lebendigkeit des Organismus ab¬
zublaſſen beginnt, ſo iſt namentlich das den Gegenſatz der
Geſchlechter vereinende Liebesgefühl als ſolches, ohne
dieſe Lebendigkeit durchaus undenkbar, und es iſt ſehr merk¬
würdig zu beachten wie auf dem ſcheinbar Niedrigen hier
ein ſehr Hohes nothwendig mit begründet iſt. So wenig
als der geſchlechtlich verkümmerte Mann, iſt daher die ge¬
ſchlechtsloſe, alſo nur ſcheinbare Frau dieſes Gefühls fähig,
und es hat mir immer eigene Betrachtungen gegeben, wenn
ich die Originalbriefe von Abälard und Heloiſe geleſen
habe, darauf zu achten wie bei ihm, dem gewaltſam zer¬
ſtörten Manne, bei ihm, der früher durch ſeine von Mund
zu Mund gehenden Geſänge und die ganze eigenthümliche
Liebesbegeiſterung in ſeiner Geſchichte, entſchieden gerade
dieſes Liebesgefühl heftig bethätigt hatte, nur noch ein
gewiſſer leerer Formalismus in den ſpäter geſchriebenen
Briefen ſich ausſpricht; während in ihren, unter dem
Nonnenſchleier geſchriebenen Briefen, die wahre Empfindung
der Liebe, in dem ganzen Verſtändniß der Nothwendigkeit
Carus, Pſyche. 19[290] ihres vollkommnen Untergehens in dem geliebten Weſen,
ſich kund gibt. — Eben daher iſt auch dieſes Gefühl mehr
als irgend ein anderes an eine beſtimmte Lebensperiode
gebunden, und ſo wenig das Kind deſſen fähig ſein
kann, ſo wenig ein weit vorgeſchrittenes höheres Alter; ja
eben deßhalb, weil im Allgemeinen das Weib früher ge¬
ſchlechtlich abſtirbt als der Mann, ſo wird in letzterem oft
in der ſpäteſten Lebensperiode das Liebesgefühl noch in voller
Macht hervortreten, während es in der hochbejahrten Frau
als fortbeſtehendes zu den ſehr ſeltenen Ausnahmen gehört.
Uebrigens bleiben in der Geſchichte der Liebe noch zwei
Momente ſehr charakteriſtiſch und merkwürdig: das eine iſt
die eigenthümliche excluſive Natur dieſes Gefühls, das
andere der Kreislauf und deſſen Bethätigung, wie es vom
Unbewußten
ausgehend, auch nur in der Wiederkehr
zum Unbewußten
ſeine Vollendung findet. In erſter
Beziehung finden wir nicht nur, daß die Liebe excluſiv iſt
in ihrem Gegenſtande, und zwar ſo, daß ſie ſelbſt durch¬
aus abweiſen möchte die gleiche Liebe Anderer zu demſelben
Gegenſtande, daß ſie ſelbſt nur in wahrhafter Lebendigkeit
gegen einen Gegenſtand ſich richten kann, und nicht min¬
der dieſelbe Einheit von ihr fordert, ſondern ſie iſt auch
excluſiv in der eigenen Seele, und drängt hinweg und hin¬
aus alle andern Gefühle, Beſtrebungen und Erkenntniſſe,
ſie will nur ſich ſelbſt, nur das Eine, welches alle und
jede Regung der Seele erfüllen ſoll, und nur in dieſer
Alleinherrſchaft wird ſie ſich in ihrer vollen Macht beweiſen
und auch nur ſo jene eigenthümliche Seeligkeit offenbaren,
welche als eine wunderbare Erſcheinung, eine gewiſſe Le¬
bensperiode dadurch verklären kann, daß ſie der indivi¬
duellen Exiſtenz die volle Befriedigung durch ein anderes
Daſein gewährt. Dies Excluſive der Liebe zeichnet ſie
entſchieden vor allen andern Gefühlen aus, und gibt ihr
übrigens etwas, wodurch ein Uebergang zur Monomanie
immer im höchſten Grade erleichtert wird. Was zweitens
[291] die Rückkehr des Bewußten zum Unbewußten betrifft, ſo iſt
es ausgeſprochen in der innern Nöthigung, welche
durch dieſes Gefühl gegeben iſt, die Vereinigung der Ge¬
ſchlechter anzuſtreben, und trotz Allem, was in der be¬
wußten Seele in Erkenntniß des Liebesverhältniſſes an
Glück geboten iſt, doch ſchlechterdings, als zur höchſten
Befriedigung eines eingebornen Verlangens, das Geheim¬
niß der organiſchen Verbindung zu fordern, deren höchſtes
Glück eben wieder als Hingeben, ja Löſen des Bewußtſeins
im Unbewußtſein empfunden wird. Dieſer Kreislauf wird
aber um ſo bedeutungsvoller, wenn wir bedenken, daß
eigentlich nur an ihn die Fortbildung der Menſchheit ge¬
knüpft ſeie, und nur von ihm es immer bedingt ſein
ſollte, daß aus einer eigenthümlichen Bildung des Frauen-
Organismus hervor, immer neue, wieder ſelbſtſtändige,
individuelle menſchliche Organismen ſich entwickeln. Wäre
es freilich denkbar, daß alle Fortbildung der Menſchheit
nur an dieſem Kreislaufe, d. h. durch ein zu wahrhaft
hohem und ſchönem Bewußtſein gekommenes, im Unbewußt¬
ſein des Liebesmyſteriums ſich vollendendes und immer
wieder im Bewußtſein auftauchendes Gefühl ſich entwickelte,
ſo würde allerdings eine andere Blüthe der Menſchheit die
Erde bevölkern als jetzt der Fall iſt, jetzt wo bei weitem
der allergrößte Theil der Menſchheit in ſeiner Fortbildung
an Verhältniſſe geknüpft iſt, welche von der höhern Be¬
deutung des Liebesgefühls nur zu weit entfernt ſind! Dem
Menſchenbeobachter erklärt ſich jedenfalls aus dieſen Ver¬
hältniſſen Vieles in der bald glücklichen bald unglücklichern
Individualität der Glieder verſchiedener Generationen.


Auch das Periodiſche im Liebesgefühl macht ſich in
hohem Grade geltend, und zwar bald weniger bald mehr,
nach den verſchiedenen, bald tiefern bald flachern Natu¬
ren. Je mehr die Flachheit vorwaltet, deſto mehr hängt
das Erwachen des Liebesgefühls von ſogenannten zufälli¬
gen Regungen des Unbewußten ab und iſt eben dadurch
[292] auch ganz der Periodicität deſſelben unterworfen; je mehr
das Weſen des Menſchen ein tiefſinnigeres und je voll¬
kommener die Würdigkeit des Gefühls auch im Bewußtſein
erkannt iſt, deſto mehr wird es dauernd die Seele erfüllen.
Bei alle dem iſt ein Steigen und Fallen, ein gewiſſes
rhythmiſches ſtärker- und ſchwächer-werden und wieder ſich
heben, unzertrennlich von dieſem Gefühl, und eben in dem
Rhythmus alles Lebens tiefbegründet. Ueberhaupt bewährt
ſich auch hierin das Geſetz der Spirale, auf welches
ich ſchon in meiner Phyſiologie 1 als auf ein Weſentliches
für alles Leben aufmerkſam gemacht habe, und welches ich
dort durch ein Schema erläutert, vollkommen. Mehrere
Umſchwingungen kommen unfehlbar auch in dieſer Beziehung
im Leben jedes Menſchen vor, aber eine nur wird die
höchſte ſein und doch kann auch dieſe, bei der ganzen Ei¬
genthümlichkeit unſerer Organiſation, bis zum Tode nur in
voller Pracht und Lebendigkeit dann ausdauern, wenn
dieſe Exiſtenz überhaupt früher vernichtet wird, dagegen
bei ſinkender allgemeiner Lebensenergie ihre volle Kraft
nicht bis in ein höheres Alter behaupten.


Sehr viel des Merkwürdigen bietet das Liebesgefühl
ferner in Beziehung zu andern Gefühlen und zum Men¬
ſchen überhaupt dar. Was das erſtere betrifft, ſo wird
ſogleich deutlich, daß von ihr, eben in wiefern wir die
Liebe überhaupt das machtvollſte Gefühl und die Liebe der
Geſchlechter insbeſondre das Urgefühl genannt haben,
die heftigſte Aufregung auch aller andern Gefühle erwartet
werden muß. In dem von heftiger Liebe ergriffenen Ge¬
müth wird weder das, was wir den Zenith, noch das,
was wir den Nadir der Gefühlswelt genannt haben, weder
das freie lebendige Gleichgewicht der Seele, noch die Apa¬
thie derſelben vorkommen, ſondern zwiſchen Freude und Be¬
trübniß, zwiſchen auch nach andern Richtungen ſich aus¬
breitender Liebe und zwiſchen Haß, wird die Magnetnadel
[293] des Seelenlebens um die ganze Windroſe der Gefühlswelt
in ſtäten Oscillationen ſich ſchwingen, bald von Qual,
bald von höchſter Freudigkeit erfüllt, weßhalb denn ſchon
die Alten vielfältigſt Bilder und Gleichniſſe für dieſen
Zuſtand erſannen, und namentlich den von Amor mit der
Fackel gequälten Schmetterling häufig als Symbol ſolcher
Zuſtände wiederholten. Aus eben dieſem Grunde quillt
ferner die mächtige Bedeutung der Liebe für Kunſt und
Poeſie, denn das Gefühlsleben iſt überhaupt das Bedin¬
gende aller Production dieſer Art, indem großentheils die
Seele nur dadurch das Gewicht dieſer Regungen erlangen
kann, daß ſie vermöge einer innern Nöthigung beſtrebt iſt
dieſelben gegenſtändlich — gleichſam unter Symbolen —
ſich zur Anſchauung zu bringen und ſie ſo in den Bereich
des vollen Bewußtſeins — in den Bereich der Erkenntniß
zu verſetzen, allwo dann ſogleich, wie ſchon bei der Ge¬
ſchichte der Trauer erwähnt wurde, das Stürmiſche ihrer
Bewegungen gebrochen iſt, und ein mehreres Gleichgewicht
der Gemüthswelt allmälig ſich wiederherſtellt.


Was die Beziehungen des Liebesgefühls
zum geſammten Menſchen
betrifft, ſo ſind ſie im un¬
bewußten wie im bewußten Leben von großer Mächtigkeit.
Im bewußten Leben drängen unabläſſig ſich Vorſtellungen
hinzu, welche den Gegenſtand der Liebe immer und immer
wieder zum Mittelpunkt machen, und welche auf die eigen¬
thümlichſte Weiſe ſich belebt zeigen. Sie regen verwandte
Vorſtellungen auf, die bleibenden bilden ſich zur größten
Gegenſtändlichkeit durch, und auch dadurch wird ſo das
Verwirklichen dieſer Vorſtellungen durch die That erleichtert
und die Productivität des Geiſtes weſentlich gefördert. Eben
ſo finden mehr oder weniger alle Beſtrebungen des Willens
in dieſer Richtung des Vorſtellungslebens nicht nur ganz
weſentlich ſich angeregt, ſondern oftmals auch dergeſtalt in
ihrer Energie geſteigert, daß Thätigkeiten zum Vorſchein
kommen, wie ſie ſonſt in gerade dieſer Individualität nie
[294] vorzukommen pflegten, und daß die Thatkraft mit einer
Macht und Ausdauer auftritt, wie ſie dieſelbe bei keiner
andern Gelegenheit erreicht.


Mächtig endlich ſind die Veränderungen, welche im
unbewußten Leben, d. h. dort wo die Wurzel alles
Liebesgefühls liegt, durch daſſelbe angeregt werden. Zuerſt
iſt die Welt der halb unbewußten Vorſtellungen, welche
wir Ahnungen, Träume, Wirkungen in die Ferne nennen,
nirgends ſo belebt als in der von Liebe bewegten Seele.
Die Verallgemeinerung im Unbewußten, von welcher ich
oben geſprochen hatte, vermöge welcher Alles in der Macht
des Unbewußtſeins Eingetauchte mehr in dem einen großen
Kreiſe allgemeinen Naturlebens feſtgehalten und verbunden
iſt, während alles zum Bewußtſein Gekommene mehr ſelbſt¬
ſtändig und abgeſondert ſich verhält, iſt für eben dieſe
Vorahnungen, Empfindungen in die Ferne und aus der
Ferne, für die mannichfaltigen Anziehungen, Abſtoßungen
und Nervenüberſtrömungen, wie ſie in der Gefühlswelt des
Liebenden vorkommen, die alleinige und hinreichende Er¬
klärung. Eben von hier aus verſteht man allein, daß, wie
mit der Geſammtheit der Welt, ſo und noch viel mehr mit
dem geliebten Gegenſtande, der Liebende in unbewußtem
Vereinleben beſteht, ſo daß eben deßhalb auch die wunder¬
barſten Ueberſtrömungen in die Ferne hier niemals uner¬
wartet ſein können. Aber auch die ganz unbewußt im leib¬
lichen Leben der Liebenden ſich begebenden Umſtimmungen
ſind ſtark und bedeutend; denn nicht genug, daß die hier
raſtlos wechſelnden Regungen von Freude und Trauer in
alle den verſchiedenen dieſe Gefühle charakteriſirenden
Strömungsänderungen des Blutſyſtems und aller Säfte ſich
darleben, ſo ergeben ſich noch theils in den mannichfaltigen
Strömungen der Innervation, theils in den Organen, welche
ganz eigentlich das Geſchlechtsleben repräſentiren, die wichtig¬
ſten Umſtimmungen durch dieſes Gefühl. Magnetiſch wirkt
ſelbſt in der feinſten und reinſten Organiſation die Nähe,
[295] ja oft der Gedanke und noch weit mehr ſchon die leiſeſte
Berührung unter Liebenden in dieſen Richtungen, und ſo
ſchamhaft auch der bewußte Geiſt vor dem Myſterium leben¬
digſter Erregung der Geſchlechts-Sphären ſich verhüllt, ſo
muß er doch im Stillen anerkennen, daß eben nur erſt
dann, wenn er ſelbſt in ſolchen unbewußten Aufregungen
wieder momentan gänzlich untergeht und ſich verliert (wie
die Sprache denn ſolche Zuſtände ſelbſt „ein Außer-ſich-
ſein“ nennt) der Kreislauf dieſes Gefühls vom Unbewußten
durch das Bewußte wieder zum Unbewußten vollſtändig be¬
ſchloſſen, und die eigentliche Befriedigung und Vollendung
des Liebesgefühls erreicht ſei. Die eigenthümlichſten und
tiefſinnigſten Verhältniſſe kommen hier dem mit Weihe
eintretenden Seelenkundigen entgegen: es wird ihm klar,
um wie viel reicher und mächtiger dieſes aus der Erregung
des Unbewußten ſich ergießende Glück des Außer-ſich-ſeins
werden müſſe, je höher vorher das Bewußtſein zur Ent¬
wicklung gekommen war, und er fühlt ferner, daß eben
hierin eine merkwürdige Nöthigung gegeben ſei, dem Ge¬
liebten gegenüber alle Selbſtheit möglichſt aufzugeben und
ſich eben in ſo fern auf das Tiefſte zu demüthigen. Beides
verlangt noch eine etwas nähere Erwägung. In dem Erſten
liegt ſchon der Grund, theils warum, wie überhaupt, ſo
auch in dieſem Punkte, insbeſondere der edlere Menſchen¬
ſtamm und der feiner entwickelte Menſch höher ſteht als
der mehr wilde unedlere Stamm und die rohere Individua¬
lität, theils aber auch, warum überhaupt die Vollendung
des Liebesbedürfniſſes nicht an die früheſte Entwicklungs¬
periode des Menſchen geknüpft ſein kann, und warum ſie
nur ſpäter erſt, ja mitunter ſehr ſpät, und bei höher ge¬
diehener geiſtiger Reife, dem Menſchen in ganzer Fülle er¬
ſcheint. In dem rohen und wilden Zuſtande der Menſch¬
heit iſt deßhalb nur ein wüſter Reiz und Rauſch, was der
höher entwickelten feineren Seele eine zarte und wunderbare
Verſchönung und Verklärung des menſchlichen Daſeins wird,
[296] und in dem unvollkommen entwickelten Menſchen muß eine
Aufregung zur verderblichſten Unnatur werden, welche in
dem gereiften Lebenszuſtande als eine wahre Beglückung
und Geſundheit fördernde Befriedigung erſcheint.


Was das Zweite betrifft, ſo muß zuerſt dieſe
Richtung des Liebesgefühls ſelbſt recht deutlich gemacht werden,
und es ſcheint mir dies kaum vollſtändiger erreicht werden
zu können als durch Mittheilung einer Stelle aus den ſchon
gedachten merkwürdigen Briefen von Heloiſe an Abälard.
So heißt es da: 1 „Nichts habe ich jemals, Gott weiß es, in
Dir geſucht, als Dich ſelber, nein nur Dich und nicht das
Deinige begehrend. Nicht den Bund der Ehe, nicht andere
Heirathsgüter habe ich erwartet, nicht meinen Willen und
meine Luſt, ſondern Deine zu erfüllen geſtrebt, wie Du es
ſelber weißt. Und wenn der Name der Gattin heiliger
und würdiger ſcheint, ſüßer war mir's immer, Deine Ge¬
liebte zu heißen, oder wenn Du nicht darüber zürnen willſt,
Deine Buhle oder Hetäre; damit, je tiefer ich mich
für Dich erniedrigte
, ich um ſo größere Huld
und Gnade bei Dir fände
, und den Glanz Deiner
Herrlichkeit weniger beleidigte.“ Wirklich iſt in dieſer Stelle
die ganze unbedingte Hingebung, Aufopferung, und folglich
auch Selbſtdemüthigung vollkommen ſo ausgeſprochen, wie
ſie aus dem bezeichneten Weſen des hier betrachteten Ge¬
fühls hervorgeht, ja dieſe Selbſtdemüthigung dieſer Liebe
iſt um ſo bedeutungsvoller, da ſie, die hier die Scham des
bewußten Geiſtes in ſeiner gänzlichen Hingebung, theils an
das Unbewußte in ſich, theils an die andere Seele über¬
windet, zugleich in dieſer Selbſtentäußerung eine eigen¬
thümliche Vorbereitung gewährt für noch höhere Formen
der Liebe. Einer jeden höhern menſchlichen Natur wird
nämlich in dem Verſinken und dem völligen Aufgehen in
einer andern Seele am deutlichſten ſich erſchließen das Ver¬
[297] ſtändniß des Allgemeinen und alles Göttlichen. Man darf
ſagen, eine ſolche Liebe ſei die erſte Erlöſung aus dem
Einzel-Sein und der erſte Schritt zur Wiederkehr in das
All, und aus dieſer Entäußerung von aller Selbſtheit gehe
am leichteſten hervor die unbedingte Hingebung an ein über
allem Bewußtſein ſchwebendes Göttliche, mit einem Worte
zu der Liebe zu Gott. Es iſt daher nicht unwichtig
zu bemerken, wie unverkennbar eben deßhalb Seelen, welchen
zu Theil geworden iſt das Liebesgefühl der Geſchlechter in
allen ſeinen Phaſen zu durchleben, gerade dadurch zugleich
oftmals beſonders gereift werden, in ſpätern Lebensperioden,
theils, wenn die Flamme des geſchlechtlichen Liebesgefühls
verglüht iſt, der vollkommenen Geiſtesliebe fähig zu
werden, theils mit ganzer Innigkeit die Liebe zu Gott
zu empfinden und zu erfahren.


Dieſe Betrachtung iſt es aber zugleich, die uns zur
Erkenntniß der wichtigſten Beziehung und Bedeutung der Liebe
überhaupt für den geſammten Menſchen vorbereiten kann.
Sprechen wir es nämlich im Allgemeinen aus, ſo beruht
alle höhere Entwicklung
, welche die Seele des
Menſchen überhaupt erreichen kann
, urweſentlich
auf der Liebe
. Nicht ohne Grund ſagt der Apoſtel: „und
wenn ich mit Menſchen- und Engelzungen redete und hätte die
Liebe nicht, ſo wäre ich ein tönendes Erz und eine klingende
Schelle;“ denn in ihrem tiefſten Weſen iſt die Liebe eigent¬
lich ſchlechterdings nichts Anderes als ein mächtiger,
Bewußtes und Unbewußtes durchdringender und
bewegender Zug nach Vervollſtändigung unſers
Daſeins nach höchſter und ſeeligſter Vollendung
unſerer eigenſten Exiſtenz
. Eben alſo, weil zunächſt
anzuerkennen iſt, daß die Geſchlechter in ihrem Einzelleben
und für-ſich-ſein ein Unvollſtändiges ſind, tritt die Liebe
der Geſchlechter mit dieſer, alle anderen irdiſchen Liebes¬
formen übertreffenden Gewalt und Nothwendigkeit hervor
und wird im naturgemäßen Gange der Entwicklung die
[298] Bedingung zu jeder höhern Ausbildung. Und doch iſt nicht
dieſe Liebesform deßhalb die allein fortbildende und ent¬
wickelnde, ſondern eben ſo iſt es die Liebe zu allen Welt¬
erſcheinungen, zum Boden auf dem wir erwuchſen und der
uns nährte, zum Geſtirn das uns leuchtete, zur Luft die
wir athmen, zur Pflanze und zum Baum, zu Thieren,
und insbeſondere zu den vielgeſtaltigen Erſcheinungen des
Menſchen: nur durch Liebe zu allen dieſem entſteht theils
die Luſt das Weſen der Erſcheinung zu durchforſchen, und
ſo wird die Erkenntniß genährt, theils die Luſt, in
Spiegelbildern dieſer Erſcheinung ihr inneres Weſen ſelbſt
neu wieder darzuſtellen, und auf dieſe Weiſe wird Poeſie
und Kunſt durch Liebe entwickelt. Wo keine Liebe iſt, wo
nicht nach irgend einer Richtung die Welt innig mit dem
Zuge der Liebe umfaßt wird, da wird auch die Seele un¬
fruchtbar bleiben und nicht zu Kunſt und Wiſſen, nicht zu
höherer Entwicklung gelangen, ſie kann nur ſein als „ein
tönendes Erz und eine klingende Schelle“. Wo dagegen die
Seele in der liebevollen Erkenntniß der Welt und in der
von Liebe durchdrungenen Beſtrebung zur Kunſt ſich ent¬
faltet hat, und wo ſie an der Liebe der Geſchlechter gereift
iſt, da wird ſich nun auch der Zug nach dem höchſten gött¬
lichen Urgrunde alles Lebens und aller Erſcheinung deut¬
licher und deutlicher hervorthun, da wird der Seele klar
werden, daß in Allem, was ſie vorher als ein Beſonderes
zu lieben glaubte und auch wirklich liebte, ſie doch eigent¬
lich unbewußterweiſe weſentlich das Höchſte, das alle dieſem
zum Grunde Liegende geliebt hat, und mit dieſer klareren
Erkenntniß wird ſie nun auch in ſich der höchſten Liebe —
der Liebe zu Gott — ſich bewußt werden. Hiebei iſt aber
wieder insbeſondere zu erinnern, daß, wie wir ſchon in der
früher betrachteten Entwicklungsgeſchichte der Seele bemerken
mußten, nicht die höhere Stufe etwa die vorhergehende
niedere ausſchließt oder vernichtet, ſondern vielmehr ſie ein¬
ſchließt, umſchließt, in ſich aufnimmt und dadurch auch ſie
[299] allerdings unmittelbar in ihrem Weſen vervollkommnet und
veredelt, — ſo auch dieſe höchſte Liebesform, die Liebe zu
Gott, keineswegs die Bedeutung haben kann, die früheren
Liebesformen auszuſchließen oder zu vernichten, ſondern daß
ſie vielmehr dieſelben einſchließen, umfaſſen und ſie ſelbſt in
ihrem Weſen vervollſtändigen und erhöhen wird. Der tie¬
fern Betrachtung wird es ſonach klar, daß die ächte Ent¬
wicklung des Menſchen an eine Durchbildung durch eine
Vielheit von Liebesformen geknüpft iſt, und daß, ſo wie
die Liebe zur Welt überhaupt, ſo insbeſondere die Liebe der
Geſchlechter, große und bedeutungsvolle Glieder in dieſer
Kette ſind, welche das Tiefſte an das Höchſte zu knüpfen
beſtimmt iſt, und welche das anfänglich mindeſt Seeliſche
zu dem vollkommen Seeliſchen, zur Seeligkeit hinaufzulei¬
ten allein vollſtändig vermag.


Wenn nun von dieſem Standpunkt aus die Frage
über Bedeutung der Liebe und beſonders auch der Liebe
der Geſchlechter allein wahrhaft entſchieden werden kann,
ſo wird zugleich von hieraus auch über das, was von
krankhaften Abſchweifungen der Liebe noch zu
ſagen wäre, ſeine alleinige und vollſtändige Löſung und
Entſcheidung erhalten. Wenn wir uns nämlich eben im
Vorhergegangenen wahrhaft überzeugt hatten, daß, eben ſo
wie die Liebe der Geſchlechter recht eigentlich das Herz und
der Mittelpunkt alles Liebesgefühls genannt werden darf,
die Liebe überhaupt auch das Herz der Gefühle, oder das
Urgefühl ſelbſt ſei, ſo muß dadurch zugleich unfehlbar die
Geſchichte des Kranken, des Schweren und Abnormen, gleich¬
ſam der Nachtſeite des Liebesgefühls eine wichtige Bedeu¬
tung erhalten. Die Sprache ſelbſt weiſt mit Beſtimmtheit
auf dieſe Wichtigkeit hin, indem ſie für alle in fieberhafter
Heftigkeit auftretende, und deßhalb gemeinhin ohne Unter¬
ſchied als krankhaft betrachtete Liebe, ein beſonderes Wort,
das Wort Leidenſchaft, (Passio) geſchaffen hat. Eine
gewiſſe Verwirrung beim Gebrauche dieſes Wortes iſt indeß
[300] nicht zu verkennen, denn bald verſtand man wirklich ein
Höheres darunter, ein heißes Erglühen der Seele
etwa für Wiſſen, für Kunſt, oder für eine ein an ſich nur
halbes einzelnes Daſein vollkommen ergänzende geliebte
Seele, ja ſelbſt für das Göttliche an ſich — bald wollte
man wieder ein gewiſſes ſich-fallen-Laſſen der
Seele
, ein gänzliches ſich Verlieren, ein Unwürdiges und
Gemeines damit bezeichnen. Dieſer Widerſpruch war zu
groß um ihn nicht gewahr zu werden, und nur nothdürftig
half man ſich damit, daß man die erſtern Zuſtände und
Beſtrebungen die höhern, die andern die niedern Lei¬
denſchaften zu nennen pflegte. Freilich wurde dadurch im¬
mer die Frage, was eigentlich in beiden wirklich Krank¬
haftes von Liebesgefühl vorhanden ſei, gar nicht hinlänglich
entſchieden, und man würde jedenfalls beſſer thun, die
ſogenannten niedern Leidenſchaften geradezu durch ein an¬
deres und beſonderes, glücklicherweiſe auch ſchon von der
Sprache dargebotenes Wort zu bezeichnen, ſie aber ſomit
dadurch als das eigentlich kranke, gänzlich von dem, was
bloß ſchmerzlich, bloß leidend iſt, abzuſcheiden. — Betrach¬
ten wir nämlich den Unterſchied dieſer Zuſtände ſchärfer,
ſo erkennen wir bald: was im höhern Sinne Lei¬
denſchaft
genannt wird, iſt eigentlich nur die Flamme
der Liebe an und für ſich
, welche (nach ihrer ſchon
früher erwähnten excluſiven Natur) auch in ihrer reinſten
und würdigſten Richtung nie ſich frei machen kann von
einem gewiſſen tiefen untilgbaren Schmerz der Seele,
einem Schmerz, welcher nur eben deßhalb von all dieſer
Liebe unzertrennlich ſein muß, weil keiner Art dieſes Stre¬
bens eine wahre und vollkommene Befriedigung doch irgend
jemals gewährt werden kann, und weil überall irgend ein
Stachel unbefriedigter quälender Sehnſucht zurückbleibt. Be¬
denke man alſo dieſe Leidenſchaft im höhern Sinne, oder
die Leidenſchaft ſchlechthin, oder auch was wir die ächte
Leidenſchaft nennen, wie ſie erſcheint in dem ausſchließenden
[301] Erglühen einer Seele für Wiſſenſchaft und Kunſt, ohne welche
eine große außerordentliche Leiſtung in keiner von beiden ge¬
denkbar iſt, oder in dem heftigen Erglühen eines vollkomme¬
nen Liebesgefühls zweier ſich gegenſeitig unerläßlichen und
ſich erſt wechſelſeitig vervollſtändigenden menſchlichen Naturen,
oder ſelbſt in der feurigen Gluth der Liebe zu Gott, welche
die Begeiſterung des Heiligen bedingt, — bei keiner dieſer
Liebesflammen wird es fehlen, daß nicht zugleich die Un¬
möglichkeit der vollen und unbedingten Genugthuung, die
Unzulänglichkeit unſers ganzen Daſeins und die Lückenhaftig¬
keit der menſchlichen Verhältniſſe, einen tiefen ſchmerzlichen
Zug, einen Zug ernſter Trauer hinzufüge zu aller Freudigkeit
und Seeligkeit, welche der Seele allerdings in ſolchem höhern
Liebesbeſtreben aufgehen kann und wirklich aufgeht. Aus
dieſer Urſache entſteht alſo allerdings ein Leiden, jenes
Pathos, welches allem heftigen und eben ſelbſt dem edelſten
Liebesbeſtreben den Namen der Leidenſchaft zugezogen hat.


In dieſem Leiden nun, in dieſer Leidenſchaft iſt
nichts wahrhaft Krankes; eben ſo wenig als ein bloßer
tiefer Schmerz, den wir empfinden, ein Druck, der auf uns
laſtet, ein Stich, der uns verletzt, eine Krankheit genannt
werden kann. Dieſer Zug des Liebeglühens alſo für Kunſt
oder Religion, oder für die wahrhaft zu liebende Seele,
für kein Scheinbild, dieſer Zug, welcher alle Kräfte der
Seele nach einem Punkte hinlenkt, und welchem wir doch
nie ganz genug thun, den wir doch nie ganz befriedigen
können, er kann zwar nicht ohne Schmerz oder Leiden ſein,
er kann ſogar etwas das irdiſche Daſein Zerſtörendes haben
(wie nicht bloß eine Krankheit, ſondern auch eine Ver¬
letzung, eine ſchmerzende Wunde den Menſchen tödten kann),
aber er verträgt ſich mit allem Edeln und Großen, er iſt
geſund und würdig in ſich, und in dieſem Sinne
wird die Leidenſchaft dem wieder verwandt, oder iſt ſelbſt
jenes Pathos (Pathema animi), welches ſchon bei den
Alten das eigentliche Element ihrer Tragödie ausmachte.


[302]

Was dagegen die ſogenannten niedern Leidenſchaften
betrifft, den heftigen Liebeszug, welcher die Seele erfaſſen
kann gegen ein ihrem eigentlichen göttlichen Weſen ganz
Unwürdiges, gegen irdiſches Beſitzthum, gegen äußerlichen
Glanz und Ruhm, und gegen bloß leibliche Genüſſe, ſo
verbindet ſich hier mit dem einzelnen Glück oder vielmehr
dem bloßen Scheinglück, welches Beſtrebungen dieſer Art
allein je erreichen können, unerläßlich ein gewiſſes dunkles
Bewußtſein innerer Erniedrigung
, eine innere
Seelenqual wirklicher Krankheit
, ein Leidenszu¬
ſtand, welcher ſich gar ſehr von dem Pathos der ächten
Leidenſchaft unterſcheidet, und gewöhnlich hier eben ſo viel
beiträgt zum Sinken und Zurückgehen der Seele, als
jenes Pathos zum Steigen und zum Wachſen der Seele
beitragen kann. In dieſem Sinne ſtehen wir alſo nicht
an, die ſogenannte Leidenſchaft des Geizes, der Völlerei,
der liebeleeren Geſchlechtsluſt, des Spiels, des Rennens
nach äußerlicher Auszeichnung, als eine wirkliche krank¬
hafte
, gleich einer ſchweren, das leibliche Leben gefähr¬
denden Krankheit, dem Leben der Seele Gefahr bringende
Abſchweifung der Liebe aufzuſtellen, und ſuchen wir nun
für dergleichen Abirrungen einen beſondern, von dem der
Leidenſchaften unterſchiedenen Namen aufzufinden, ſo können
wir einen beſſern nicht als den der Suchten, als mit
welchem Namen leiblicher Weiſe zerſtörende, das Leben auf¬
reibende Krankheiten, Waſſerſucht, Schwindſucht u. ſ. w.
bezeichnet zu werden pflegen, aufnehmen. Geldſucht, Ehr¬
ſucht, Spielſucht, Trunkſucht u. ſ. w. ſind demnach
jedenfalls beſſere Namen, als Leidenſchaft für das Geld,
die Ehre, das Spiel u. ſ. w.


Dieſe Suchten haben mit den wahren Leidenſchaften
Das gemein, daß ſie ebenfalls durchaus excluſiver Natur
ſind, ja ſie ſind es in gewiſſer Beziehung noch in weit
höherm Grade, und zwar deßhalb, weil bei dem Sinken
der Seele in ihrer Gefangenſchaft durch niedere Endzwecke,
[303] das Bewußte, die Erkenntniß allemal weſentlich mitſinken
muß, und Irrthum, ja bis zur vollen Geiſteskrank¬
heit
, mehr und mehr eindringen kann, während eine höhere
Leidenſchaft die Seele in vieler Beziehung reift und fördert,
und oftmals der wichtigſte Hebel wird, um die geiſtige
Entwickelung irgend einer Individualität zu fördern. Je
geringer, je unwürdiger alſo das Ziel iſt, welchem der in
einer dieſer Suchten Befangene nachſtrebt, deſto herab¬
würdigender und zerſtörender wird ſie auf das Seelenleben
wirken. So iſt daher die Trunkſucht, die Spielſucht
weit zerſtörender als etwa die Ehrſucht, als bei welcher
die Thatkraft doch immer auf eigenthümliche Weiſe ange¬
ſpannt zu werden pflegt, während in der erſtern Richtung
Gefühl, Wille und Erkenntniß nach und nach rettungslos
untergehen, und das, was früher etwa noch bloß Neigung
zum Genuſſe genannt werden kann, ſpäterhin in einem
wahren Bann untergehen muß.


Iſt nun in ſo fern dieſes Verhältniß deutlich geworden,
ſo bedarf es doch auch noch in Bezug auf das, was wir
im höhern Sinne Leidenſchaft genannt haben, einer
beſondern Erörterung. Erwägen wir nämlich auch dieſe
Zuſtände genauer, ſo müſſen wir bald wahrnehmen, daß
auch hier das Ziel nicht ganz allein die Geſundheit
der Liebe bedingen kann. Das ſchlagendſte Beiſpiel dieſer
Art wird ſogleich die höchſte Form der Liebe, die Liebe zu
Gott gewähren. In dem geheiligten Gemüth, welches durch
und durch nur in der Liebe gegen das höchſte göttliche
Myſterium erglüht, welches deßhalb die Qualen des Da¬
ſeins und der Unzulänglichkeit aller ihrer menſchlichen Be¬
ſtrebungen, neben der Seeligkeit jener Empfindung, mit
anhaltendem Schmerz erfüllen, wird nämlich allerdings die
ganze Schönheit jenes Pathos mit wahrer Vollendung her¬
vortreten aber zu welcher Karrikatur, zu welcher Verirrung,
zu welcher völligen Geiſteskrankheit kann nicht
auch dieſe Liebe führen und hat nicht ſchon oft wirk¬
[304] lich geführt! Gehen wir hier der Urſache einer ſolchen
krankhaften Liebe zu Gott tiefer nach, ſo finden wir, daß
dieſe Liebe, die im wahrhaften und geſunden Sinn allemal
eine gewiſſe höhere Reife der Seele vorausſetzt, eben damit
es möglich ſei das höchſte Myſterium auf eine recht würdige
Weiſe zu denken, namentlich dann in Abirrung und Krank¬
heit verfällt, wenn ſie in einer Seele mit Heftigkeit ſich
entzündet, ohne daß dieſe ſelbſt zuvor eine höhere Reife
erreicht, und irgend ein würdiges Erkennen des Göttlichen
erfaßt habe. Eine heftige Liebe des Göttlichen in ſolchem
unreifen Zuſtande mag dann ganz wohl verglichen werden
dem Hervortreten des Strebens nach der Geſchlechtsliebe,
ohne daß zuvor die eigentliche Reife des Geſchlechts erlangt
worden wäre. So wie dieſe letztere unter ſolchen Umſtänden
nicht anders als zur Unnatur und Krankheit führen kann,
ſo wird auch jene erſtere unter ſo unangemeſſenen Be¬
dingungen den Geiſt nur zu wüſter Schwärmerei, theo¬
ſophiſtiſchem Unſinn und vollkommener Verrücktheit bringen,
ja es iſt noch Das insbeſondere von ihr zu erwähnen,
daß, wenn die reine und ächte Liebe zu Gott eine unend¬
liche Milde und Duldung über den ſo Liebenden verbreitet,
dagegen dieſe krankhafte Liebe einen wahren Haß und Un¬
frieden gegen Alles nicht unmittelbar auf Gott ſich Be¬
ziehende hervorbringen und Unduldſamkeit, ja Vertilgungs¬
luſt gegen irgend Andersdenkende veranlaſſen muß.


Es kann nun hier gar nicht die Abſicht ſein, weiter
einzugehen auf die Schilderung jener Verirrungen, welche
eine ſo kranke Liebe zum Göttlichen aufzeigt; gerade an
ſolchen Schilderungen im Einzelnen iſt weder in den bis¬
herigen Pſychologien, noch in den Annalen der Irrenhäuſer
ein Mangel, — aber es kam nur darauf an, es deutlich
zu machen, daß es nicht genug ſei, daß heftig geliebt
werde
, und daß ein hohes Ziel geliebt werde, ſondern
daß es nöthig ſei, daß auch mit höherem Erkennen
und auf ſchöne Weiſe geliebt werde, wenn dieſe Liebe
[305] als eine geſunde und ächte, eben nur durch ihr Excluſives
und durch den Schmerz endlicher Unzulänglichkeit zur Lei¬
denſchaft werdende Liebe
erſcheinen ſoll. Hat man
hievon einmal an dieſem Beiſpiele die wahre Ueberzeugung
gewonnen, ſo wird man dies auch auf alle andere Liebe
und Leidenſchaft anwenden können. Es gibt keine Liebes¬
form, die nicht durch umnachtete Erkenntniß, und wenn ſie
unſchön angeſtrebt wird, auf gleiche Weiſe krank, und wie
man ſehr gut davon zu ſagen pflegt, unſinnig erſcheinen
könnte. Auf dieſe Weiſe geübt, wird die Liebe der Eltern
zu Kindern eine Affenliebe, auf dieſe Weiſe geübt, wird
die Liebe zu dem Geliebten eine Monomanie und Wuth,
und auf dieſe Weiſe kann ſelbſt die Liebe zur Wiſſenſchaft
und Kunſt geradezu zu einer Thorheit werden. In allen
dieſen Fällen haben wir das Recht, die Liebesleidenſchaft
als krank anzuſprechen, und wir ſehen daher, daß nicht
allein das niedere verwerfliche Ziel die Liebe abnorm und
krankhaft erſcheinen läßt, ſondern eben ſo ſehr der unreife
Zuſtand des Subjects und die Mangelhaftigkeit der Er¬
kenntniß, wie die Unſchönheit ihres Beſtrebens. Wer im
Leben um ſich blicken will, wird in dieſen Verhältniſſen
ſehr bald den Grund davon erkennen, daß Das, was hier
ächte und höhere Liebe genannt wird, ſo ſelten nur in der
Menſchheit vorkommt.


Es iſt nun aber ferner noch zu bemerken, daß ein
zwiefach ſchweres Erkranken des Liebevermögens noch da¬
durch bedingt werden kann, daß beide Formen mit einander
verbunden werden, daß ein unwürdiges Ziel auch noch auf
unſchöne Weiſe und bei ſchwer umnachteter Erkenntniß an¬
geſtrebt werde. Dieſe Fälle ſind die ſchwerſten, und da,
wo die erwähnten Suchten oder niedern Leidenſchaften ſchnell
zur Zerſtörung und zum Wahn- oder Blödſinn führen,
findet ſich gewöhnlich ein ſolches trauriges zwiefaches Zu¬
ſammenwirken.


Das Letzte, was endlich noch über das Erkranken des
Carus, Pſyche. 20[306] leidenſchaftlichen Liebeſtrebens im Allgemeinen aufgeſtellt
werden darf, iſt die Einwirkung ſtörender äußerer Einflüſſe.
Die Geſchichte jeder leiblichen Krankheit lehrt, daß wir
nicht bloß erkranken, weil allmählig eingetretene innere Ver¬
ſtimmungen endlich in einer beſondern Krankheitsform gleich¬
ſam Geſtalt gewinnen, ſondern daß gar manche Krankheiten
auch faſt allein durch äußere Einflüſſe entſtehen, welche auf
irgend bedeutende Weiſe den Gang der gewöhnlichen Lebens¬
begegnungen zu hemmen im Stande ſind. Ein ähnliches
Verhältniß findet auch bei der Liebesleidenſchaft Statt. Die
obigen Betrachtungen haben insbeſondere auf diejenige Art
der Liebeskrankheit hingewieſen, wo dieſelbe aus innerer
Mangelhaftigkeit der Seele oder Verirrung in der Art ihres
Ziels entſtand; allein gar wohl iſt zu bedenken, daß auch
hier ganz häufig äußere Einwirkungen ſich geltend
machen, und daß namentlich Hinderungen und Hemmungen,
welche einem heftigen, in ſich geſunden und im Bewußtſein
gerechtfertigten leidenſchaftlichen Streben entgegentreten, oft¬
mals das Gefühl des Schmerzes, der ohnehin durch die
Unzulänglichkeit unſers Daſeins immerfort auf gewiſſe Weiſe
leidend erhaltenen und gequälten Seele, zu einer Höhe treiben
können, daß entweder allgemeine Seelenverſtimmung und
Seelenkrankheit eintreten, oder bei einer nicht genug in ſich
gekräftigten Seele, die vorher geſunde und ächte Leidenſchaft
nunmehr in kranke und unſchöne Leidenſchaft — gleichſam
durch eine Art von Verzweiflung getrieben — übergehen kann.


Nach alle dieſen allgemeinen Erwägungen des krank¬
haften Liebesgefühls wird es nun dem Vorhergehenden an¬
gemeſſen ſein, insbeſondere noch von den krankhaften
Verſtimmungen der Liebe der Geſchlechter
zu
handeln. Wir erinnern uns aber, daß das Weſen einer
ſolchen geſunden Liebe zu ſuchen war eben in jener von
Ur-Anfang der Idee unſers Daſeins eingeprägten Sehn¬
ſucht nach Vervollſtändigung und Vollendung unſerer Seele,
und daß dieſe Sehnſucht, wie ſie urſprünglich nothwendig
[307] immer eine unbewußte iſt, auch die Bedeutung hat, in allen
ihren Regungen Bewußtes und Unbewußtes mit
gleicher Mächtigkeit zu durchdringen. Dieſem zu Folge iſt
es alſo die höchſte Geſundheit der Liebe eines zum andern
Geſchlechts, die Sehnſucht zu empfinden und deren Be¬
friedigung anzuſtreben, welche dem Manne im Weibe, und
dem Weibe im Manne die Vervollſtändigung ihres
Daſeins
gewährt, dergeſtalt, daß dadurch das Wachs¬
thum dieſer Seelen ermöglicht und wahrhaft gefördert werde,
und zwar ſo, daß daſſelbe feine Oscilliren zwiſchen
Unbewußtem und Bewußtem
, worauf jede ächt menſch¬
liche Exiſtenz ruhen muß, auch in dieſem Verhältniſſe durch
und durch gültig ſich erhalte. — Unter den verſchiedenen
krankhaften Abſchweifungen ſolcher Liebesleidenſchaft wird
daher genannt werden müſſen theils jede Verirrung der
Sehnſucht zuerſt gegen ungemäße, die Vervollſtändigung
der Seele unmöglich gewähren könnende Gegenſtände, theils
jede Aufhebung des ſchönen eigentlich menſchlichen Gleich¬
gewichts zwiſchen Bewußtem und Unbewußtem, indem dieſes
urlebendige Verhältniß entweder bloß zu einem Gedanken¬
dinge hinauf reflektirt, oder zu einem bloß animaliſchen Zuge,
in welchem zuletzt der Werth der Individualität ganz ver¬
loren geht und nur das Geſchlecht an und für ſich an¬
geſtrebt iſt, herabgezogen wird. — Sind nun in dieſen
Richtungen, welche Jeder ſich nach den gegebenen Andeu¬
tungen leicht im Einzelnen in Beiſpielen näher ausführen
wird, ſchon die eigentlichen falſchen Liebesformen ganz ins¬
beſondre ausgeſprochen, ſo muß doch auch noch darauf auf¬
merkſam gemacht werden, wie oft wahre Krankheitszuſtände
der Seele nun nicht bloß im Verlauf des einzelnen Lebens
aus jenem falſchen Liebesſtreben hervorgehen, ſondern wie
dieſe Krankheitszuſtände auch aus dem wahren und geſunden
Liebesbeſtreben und Liebesbedürfniß dann hervorgehen, wenn
Combinationen der Lebensverhältniſſe entſchieden hemmend
und ſtörend der Vollendung und Befriedigung jenes Be¬
[308] ſtrebens ſich entgegenſtellen. Hier iſt demnach ein weites
Feld gegeben für die Betrachtung der verwickeltſten Zu¬
ſtände des Menſchen, und von der leichteſten Verſtimmung
und Trübung des Gemüths bis zur heftigſten Erſcheinung
des Wahnſinns und der Raſerei, entwickeln ſich die mannich¬
faltigſten Begegniſſe bloß aus dieſen Urſachen. Auch dabei
muß aber wieder darauf aufmerkſam gemacht werden, daß,
etwa eben ſo wie wir früher bemerkten, daß die höheren Re¬
gionen des organiſchen Lebens verhältnißmäßig weit weniger
den Krankheiten unterworfen ſeien als die niedrigen, oder,
wie wir fanden, daß es eine gewiſſe Höhe des Seelenlebens
und Seelenwachsthums gebe, von wo aus ein Zurückſinken
und Abfallen ganz und gar unmöglich erſcheine, ſo auch
in der Liebe, je höhere Tonart in derſelben angeſchlagen
worden, und je höher die Entwicklung der vom Liebesbe¬
ſtreben ergriffenen Seele ſei, auch um ſo weit weniger
die äußern Lebensverhältniſſe eine irgend ihr Weſen beein¬
trächtigende, irgend Gefahr der Krankheit drohende Macht
beſitzen werden.


Eins muß indeß hier vor allen Dingen noch beſonders
in ſeinen Einwirkungen auf das Seelenleben erörtert werden,
ehe wir weiter gehen, und dies iſt die Geſchichte Deſſen,
was man insbeſondre „unglückliche Liebe“ zu nennen pflegt,
d. h. eine ſolche, welche dadurch, daß ſie einſeitig iſt,
daß ſie von der andern Seite keine Erwiederung findet,
mehr als die meiſten andern ſtörenden Einflüſſe des Lebens
einen krankhaften Seelenzuſtand oft genug herbeiführen wird.
Wenn wir indeß oben bereits nachgewieſen haben, daß
eigentlich unter allen möglichen höher entwickelten menſch¬
lichen Individualitäten immer nur zwei denkbar ſind, die
ſich im Gegenſatze des Geſchlechts, als Eros und Anteros,
vollkommen einander fordern, und vollkommen in einander
aufgehen, ſo leuchtet daraus auch hervor, daß, ſtreng ge¬
nommen, alles Liebesverhältniß, welches ohne wechſelſeitige
Erwiederung bleibt, nicht ein vollkommen normales, vielmehr
[309]ein Verhältniß zu einem Scheinbilde ſein wird,
daß hingegen eine Begegnung wirklich und vollkommen ſich
entſprechender Naturen niemals ohne wechſelſeitige Liebe bleiben
kann, und daß hier das Liebesverhältniß eben ſo un¬
abweisbar
hervortreten muß, als die Anziehung zwiſchen
Sonne und Planet oder Planet und Mond. Denkt man
daher dieſem Verhältniſſe genauer nach, ſo wird man ſich
überzeugen, daß Das, was insgemein als unerwiederte
Liebe eine „unglückliche“ genannt wird, richtiger zur Liebe
gegen Scheinbilder gerechnet werden müſſe, daß ſie deßhalb
ſtets als eine gewiſſe Verirrung anzuſehen ſei, und eben¬
deßhalb als ſolche auch leichter, durch irgend wie ſtörende
ſchädliche Einflüſſe heftig erregt, zur wirklichen Seelenkrank¬
heit führen kann, als dieſes bei einer auf wahrhafte wechſel¬
ſeitige Forderung gegründeten Liebe, welche nur äußere
Hemmniſſe erfährt, der Fall ſein wird. Im letztern Falle
wird nämlich ein ſtörendes Lebensverhältniß, wenn auch
manchen Schmerz und manche Trauer, doch weder ein wahres
Erkranken der Liebe, noch ein Erkranken der
Seele durch dieſelbe
herbeizuführen vermögen, viel¬
mehr wird das Gewißwerden der Begegnung mit der andern,
unter allen gedenkbaren, dem Weſen der Seele allein voll¬
kommen entſprechenden Idee, ein geiſtiges Wachsthum
entwickeln, gegen welches alsdann jede äußere Störung nie
anders als zuletzt doch machtlos ſich erweiſen kann. Anders
wird es ſich hingegen verhalten im Falle der „unglücklichen“
Liebe zu einem der Seele nicht wahrhaft adäquaten Weſen;
hier werden ſtörende, hemmende Verhältniſſe theils die in
ſich irrige Liebe reizen und antagoniſtiſch nur heftiger und
hartnäckiger machen, ja vielleicht bis zur Monomanie ent¬
wickeln, theils können ſie auch die Liebe in ſich bald zu
ſehr in die unbewußte — bloß leibliche — bald zu ſehr in
die bewußte — ſublimirt geiſtige Region werfen, ja wohl
auch das ganze Seelenleben, eben weil es hier den innern
Halt des durchaus Gemäßen und Wahren entbehrt, in eine
[310] wirklich kranke Stimmung verſetzen. Kurz, es liegen hier
dem Beobachter der Seele eine Menge von wichtigen Vor¬
gängen vor, welche nun erſt ſich werden klarer überblicken
und ſondern laſſen, und eben wegen des wichtigen Ein¬
fluſſes ſolcher Verhältniſſe auf menſchliches Leben, war es
nöthig, mindeſtens in ſo weit dieſen Erörterungen einen
etwas breitern Raum zu geſtatten.


Schließlich haben wir auch hinſichtlich des Gefühls der
Liebe der Vorgänge in der Seele zu gedenken, welche
das Aufhören
, das Erlöſchen deſſelben bedingen.
Es wird hiebei ſogleich deutlich, daß gewiſſe Liebesformen
es gibt, von welchen überhaupt ein nothwendiges Aufhören,
ein abſolutes Erlöſchen im Urgrunde der Seele nicht als
nothwendig gedacht werden darf, daß dagegen aber andere
ſind, in ſich ſelbſt ſo vergänglicher Natur, daß nicht nur
nothwendig mit dieſer zeitlichen Exiſtenz, ſondern oft ſchon
in ſehr kurzer Zeit, deren Aufhören erfolgen muß. Das
erſtere gilt von denjenigen Liebesformen, welche in der
Richtung des Wachsthums der Seele ſelbſt gelegen ſind.
Wie wir daher gefunden haben, daß ein inneres Fort¬
ſchreiten der Idee während ihres ſich Darlebens als be¬
wußter Geiſt gedenkbar iſt und wirklich gegeben wird, ein¬
mal in der Selbſtinnigkeit und dies durch die rechte Liebe
zu ſich ſelbſt, ein andermal in der Weltinnigkeit, und dies
durch die rechte Liebe zu Andern mit der eignen Idee zu¬
gleich ſich darlebenden Ideen und zumeiſt zu der ihr eignes
Weſen am meiſten vervollſtändigenden, und endlich in der
Gottinnigkeit, und dies durch die rechte Liebe zu Gott, — ſo
iſt auch klar, daß dieſe Strebungen, eben weil ſie mit der
Idee ſelbſt von gleicher Weſenheit ſind, auch von dem be¬
ſondern zeitlichen Daſein der Idee unabhängig gedacht werden
müſſen. Liebesformen dieſer Art werden alſo immer wieder
neu ſich bethätigen, ſo wie das bewußte Seelenleben ſich
entwickelt, und ein zeitweiliges Ruhen oder gleichſam In¬
ſich-gekehrt-ſein wird nur Statt finden, in ſo fern der be¬
[311] wußte Geiſt überhaupt wieder in ein unbewußtes Sein
zurückkehrt, und es ergibt ſich in ſo weit, daß in dieſen
Fällen ein eigentliches Erlöſchen nur dann Statt findet,
wenn im Allgemeinen ein Sinken der Seele, ein Rück¬
ſchreiten des An-ſich-ſeins der Idee ſich begibt. Was hin¬
gegen die vergänglichen Liebesformen betrifft, ſo müſſen alle
die nothwendig dahin gehören, welche nicht auf ein An¬
ſich-ſein der Idee, ſondern nur auf in ſich ſelbſt Vergäng¬
liches, eine bloße Erſcheinungsform, gerichtet ſind. In dieſen
Fällen pflegt entweder irgend ein neu erwachendes Gefallen
ein früheres und ſomit auch eine frühere Liebe zu ver¬
drängen, oder das weitere Fortwachſen der Seele macht in
ſich ſelbſt dergleichen Beſtrebungen erblaſſen und verſchwin¬
den. Jegliche Entwicklung einer Seele zeigt eine Menge
ſolcher oft ſehr ſchnell wieder ſchwindender Liebesformen,
von der Liebe des Kindes zu ſeinem Spielzeug an bis zur
Liebe zu äußerm Glanz und zu manchem Scheinbilde in
ſpäteren Perioden. Eine beſondere Betrachtung mag denn
auch hier noch dem Erlöſchen der Liebe der Ge¬
ſchlechter
, als einer der mächtigſten Liebesformen, ge¬
widmet ſein.


In dieſer Beziehung iſt aber früher ſchon angedeutet
worden, wie die Geſchlechtsliebe, eben wegen ihres weſent¬
lich mit Begründetſeins im Unbewußten, alſo auch weſent¬
lich der periodiſchen Umänderungen des Lebens mit Unter¬
worfenſeins, als ſolche nicht in den letzten Regionen des
Lebens ſich fortſetzen kann, ſondern allerdings in dieſer
Form in einer gewiſſen Lebenshöhe aufzuhören beſtimmt ſei.
Wenn jedoch die Liebe überhaupt, als das allein active und
poſitive Gefühl, als Das, was eigentlich der Hebel und
Beweger unſers ganzen höhern Seelenlebens und der Herz¬
ſchlag unſerer Gedankenwelt ſein ſoll, auch im Ganzen und
Allgemeinen von dem Leben nie getrennt werden darf,
von dem Leben, dem das Lieben, wie Liebe dem Leibe
ſchon nach der Sinnigkeit unſerer Sprache nur wie eine
[312] veränderte Form des Daſeins gegenüberſteht, ſo wird es
hinſichtlich der Liebe der Geſchlechter und ihres Erlöſchens,
entſprechend dem oben aufgeſtellten Geſetze, immer nur darauf
ankommen, wie viel dabei von Liebe zur gegenübergeſtellten
Idee an ſich und wie viel von einer Liebe zu einer bloßen
vergänglichen Erſcheinungsform darin inbegriffen iſt. Iſt
nämlich bei dem ächten Liebesgefühl überhaupt von keinem
eigentlichen Aufhören — keinem vollkommnen Erlöſchen —
ſondern, wie in unſerm ganzen Leben und Streben, nur
von Verwandlungen
die Rede, ſo wird auch jene
Liebesform, in welcher eine das Complement des eignen
Ich bildende Idee mit der vollkommenſten Innigkeit erfaßt
wird, nie und nimmermehr ein wahrhaftes Aufhören, ſondern
nur ein fortwährendes Verwandeln erfahren. Wie daher
die Erſcheinungsform der Idee überall eine unendlich mannich¬
faltige iſt, ſo muß denn auch in unendlich mannichfaltigen
Phaſen die Liebe immerfort offenbar werden, und ſie kann
alſo nur dann aufzuhören ſcheinen, wenn eben der Ueber¬
gang in eine andere Phaſe gefordert wird. Die Geſchlechts¬
liebe wird ſonach zwar nicht in alle Zeit hinaus fortbe¬
ſtehen können in ihrer vollen Beziehung auf die
unbewußte Lebensſphäre zur Fortbildung der
Gattung
, wohl aber wird ſie, ſo fern ſie eine ächte war,
immerfort anzudauern ganz eigentlich beſtimmt ſein, in Be¬
ziehung auf das gegenſeitige ſich Ergänzen und
das immer tiefere Verſtändniß zweier einander
zugewieſener und gegenſeitig ſich vervollſtän¬
digender Seelen oder Ideen
. Noch klarer werden
übrigens dieſe Verhältniſſe, wenn wir uns des Geſetzes
erinnern, welches wir über das Fortwachſen der Idee bereits
früher anerkennen mußten, nämlich, daß dieſes Fortwachſen
nicht anzunehmen ſei dergeſtalt, daß das Höhere das Niedere,
das Bewußte das Unbewußte vernichte und gänzlich auf¬
hebe, ſondern, daß das Höhere das Niedere in ſich auf¬
nehme, in ſich verkläre und in ſich umfaßt bewahre. Nun
[313] erkennen wir aber allerdings, es ſei nur das Material der
Erſcheinung, nur die thatſächliche Offenbarung der
höhern Idee im Aether, welche immerfort ſchwindet und
verlöſcht, während in dieſer Idee ſelbſt das Vermögen auf
bewußte Weiſe ſich zu offenbaren, keinesweges das Vermögen
des ſich immer neu Offenbarens auf unbewußte Weiſe aufheben
und tilgen, vielmehr alles dieſes in ſich in der Idee be¬
wahren, heben und erhalten wird. Wenden wir daher dieſe
Ergebniſſe an, um uns Das deutlicher zu machen, was die
Lehre von der Seele über die Liebesdauer zwiſchen Mann
und Weib darzulegen im Stande iſt, ſo werden wir ſagen
dürfen, daß, ſobald hier von einer höhern, das Individuum
wahrhaft vervollſtändigenden Liebesform die Rede war, der¬
geſtalt, daß beide Ideen nur erſt in ihrer Wechſelwirkung
des eigentlichen Fortwachſens ihres Weſens fähig wurden,
daß, ſage ich, alsdann in ihnen ſelbſt durchaus keine Noth¬
wendigkeit des Aufhörens ihres liebevollſten innigſten Ver¬
hältniſſes in der Zeit gedacht werden dürfe, und daß, wenn
auch beide immer tiefer in die Myſterien höherer Liebes¬
formen und insbeſondre immer mehr in die Liebe zu Gott
ſich verſenken werden, ja verſenken müſſen, doch auch bei
all' dieſem Fortwachſen, es als ein urſprünglich gefordertes
wechſelſeitiges Verhältniß unerläßlich bleibe, daß die innere
Umfaſſung ihres eigenſten Weſens immer um ſo mehr ſich
ſteigern müſſe, je weiter ſie ſelbſt fortgebildet werden. Mag
daher auch dieſe Durchdringung und Umfaſſung ſpäter aller¬
dings in immer andern Formen ſich äußern, und mehr und
mehr aus der Region des Unbewußten bei zunehmendem
Wachsthum der Seelen, in die Region des Bewußten, oder,
wie wir zu ſagen pflegen, rein Geiſtigen übergehen, ſo
wird doch, wie nun ſattſam dargethan worden iſt, auch
das reinſte Geiſtige, als ein Individuelles, immer nur zum
Theil als Bewußtes gedacht werden können, da es fort¬
während mit ſeiner andern unbewußten Hälfte im allge¬
meinen Göttlichen ruhen muß, und es wird alſo auch in
[314] Beziehung auf jenes Wechſelverhältniß beider Ideen ein
ſtätes Oscilliren zwiſchen Bewußtem und Unbewußtem jeden¬
falls unerläßlich ſein und in alle Ewigkeit bleiben. 1 Anders
iſt es freilich mit dem Liebesverhältniß zu einem Schein¬
bilde, als bei welchem es immer nothwendig gefordert wird,
daß bei fortgehendem Wachsthume der Seelen es ſich gänz¬
lich löſe und in fortrückender Entwicklung untergehe. Daß
nun allerdings die meiſten Verhältniſſe gewöhnlichen menſch¬
lichen Daſeins nur hieher gehören, mag denn freilich
als abermals eine der mannichfaltigen Unvollkommenheiten
der Menſchheit, wie ſie auf dieſem Planeten ſich darzuleben
beſtimmt iſt, keinesweges geläugnet werden.


Möge es denn ſomit gelungen ſein, an der Geſchichte
desjenigen Gefühls, welches oft ausſchließlich als Liebe
bezeichnet zu werden pflegt, gleichſam als an dem wichtigſten
Beiſpiele, die pſychiſchen Vorgänge des Liebegefühls im
Allgemeinen zur deutlichern Erkenntniß gebracht zu haben.
Wollte man alle die einzelnen Formen dieſes Gefühls, von
der immer nur auf einem Irrthum beruhenden Liebe zu
materiellen Beſitzthümern an, bis zur Liebe zur Natur über¬
haupt, zur Liebe zum Vaterlande, zu Kindern und Eltern,
zur Menſchheit und endlich bis zur Liebe zu Gott — nach
allen ihren Phaſen durchgehen und verfolgen, ſo würden
zwar allerdings nach allen Richtungen hin weſentliche Be¬
reicherungen der Pſychologie ſich ergeben können, doch würde
eine ſolche Ausführlichkeit zu ſehr den Raum für die gegen¬
wärtige Aufgabe überſchreiten. Wir wenden uns daher jetzt
zu der viel kürzer abzuhandelnden Geſchichte des in jeder
Beziehung letzten Gefühls, zur

[315]
4. Geſchichte des Haſſes.

Wenn uns die vorhergehenden Betrachtungen dahin
geführt haben, das Liebesgefühl anzuerkennen als „die ein¬
geborne Sehnſucht der Idee nach Vervollſtändigung und
Vollendung“, ſo können wir nun das Gefühl des Haſſes
eben ſo entſchieden bezeichnen als das eingeborne Wider¬
ſtreben der Idee gegen alles jener Sehnſucht nach
Vollendung entſchieden Ungemäße und ſich ihr Ent¬
gegenſetzende
. Die Liebe nannten wir daher ein poſitiv
actives Gefühl, den Haß müſſen wir als ein negativ actives
bezeichnen, und zwar als ein negatives in verſchiedener
Beziehung, einmal in wie fern es dieſes Ungemäße und
Hindernde entſchieden negirt, ein andermal aber auch in
wie fern ſelbſt ſein Object ein negatives iſt. Nicht, wie
in der Liebe nämlich, welche bloß nach dem allein Poſitiven,
dem Göttlichen, und zwar in allen ſeinen verſchiedenen,
bald recht, bald falſch erkannten Formen ſtrebt, iſt das,
was hier angeſtrebt wird, ein Poſitives, ſondern ſelbſt das,
was verneint wird, iſt ein Verneinendes, nämlich ein bald
wahr, bald falſch als das Göttliche verneinend Angenom¬
menes. So lange man in dem Wiſſen ſo kindiſch verfuhr,
dem poſitiven Princip des Göttlichen eben ſo ein poſitives
Princip des Teufliſchen gegenüber zu ſtellen, wie etwa in der
Kindheit der Phyſik man noch von einem beſondern Princip
der Kälte, gegenüber dem Princip der Wärme, handeln konnte,
ſo lange hätte man von dem Haſſe ſagen dürfen: er müſſe
von Haus aus allen Formen des Böſen, und im höchſten
Grade dem Teufel zugewendet ſein; — indeß derlei Unſinn
zerſtäubt im Lichte einer höhern philoſophiſchen Erkenntniß
und bedarf ſonach hier keiner weitern Beachtung; es geht
vielmehr aus dem Obigen und aus allen frühern Betrach¬
tungen hervor, daß der Haß überhaupt kein eigentliches
individuelles oder irgend perſönliches Object haben könne,
ſondern daß ſein angemeſſenes Object in Wahrheit nur ſein
[316] dürfe der Mangel des die Seele Fördernden, nur das Zurück¬
ſinken der Idee ſelbſt, ein Zurückſinken, welches irgendwie
anſtatt ihres geforderten ſtäten Vorwärtsdringens offenbar
wird, und worin alsdann gerade am meiſten die Tiefe und
Dunkelheit ihres ungöttlichen Zuſtandes erkannt wird.


Wie die Freude und die Trauer, ſo hat aber auch,
mit der Liebe, der Haß die Scheinbilder gemein, und
es wird derſelbe daher in einer Menge von Fällen als
widerſtrebendes, bekämpfendes, nach Zerſtörung trachtendes
Gefühl, von Objecten angeregt, welche für Negationen des
Göttlichen fälſchlich gehalten werden, und zwar allemal, je
unvollkommener das Wachsthum der Seele und je dunkler
noch die Erkenntniß iſt, um ſo mehr. Was iſt daher nicht
Alles von Menſchen gehaßt worden! — es iſt das eben ſo
wunderbar, als was Alles von Menſchen geliebt worden
iſt! — Aber in beiden Fällen wird durch höhere Fortbildung
der Seele der Menſch zum Verſcheuchen ſolcher Wahnbilder
geleitet und im glücklichſten Falle zur angemeſſenen Richtung
von Haß und Liebe geführt. Es iſt wirklich zuweilen, als
ob in dergleichen Verſuchen die Seele ſich erſt in dem Ent¬
wickeln und Zuſtandebringen dieſer Gefühle ſelbſt üben ſollte,
bevor ſie ihnen die rechten Objecte anzuweiſen im Stande ſei.


Betrachten wir nun auch dieſes Gefühl nach den ver¬
ſchiedenen Rückſichten wie die übrigen, und alſo zuerſt nach
ſeiner Entſtehung und Fortbildung. Der Haß ruht aber,
wie die Liebe, nur zum Theil im bewußten, zum andern
Theil im unbewußten Seelenleben. Was bloß in der ver¬
ſtändigen Erkenntniß als unrichtig, als irrthümlich unter¬
ſchieden wird, iſt darum noch nicht im Stande Haß zu
erregen; — der Haß entſteht nur, wenn gegen irgend Etwas
ein entſchiednes Widerſtreben auch im Unbewußten rege ge¬
worden iſt. Dieſe Miſchung von Unbewußtem und Be¬
wußtem iſt im Haß oft ſo ſeltſam als in der Liebe. Es
gibt Einwirkungen und Verhältniſſe, welche im Bewußten
gar nicht als etwas beſonders Störendes — Haſſenswürdiges
[317] anerkannt werden und welche eine innere tiefe Antipathie
erregen und umgekehrt. Dabei iſt auch hier oft merkwürdige
Gelegenheit, das Tiefe, die große Weisheit und Unfehlbar¬
keit des Unbewußten, von welcher wir früher geſprochen
haben, anzuerkennen, ja zu bewundern, und faſt Jeder wird
in ſeinem Leben an Vorkommniſſe ſich erinnern können, bei
welchen eine tiefe innere Antipathie, ein lebhaftes Gefühl
von Feindlichkeit und Haß ihm Verhältniſſe früher richtig
bezeichnete, bevor ſie die Erkenntniß wirklich als ſolche wahr¬
nahm, oder unglückliche Erfahrungen ſie beſtätigt hatten.


Iſt nun aber das Gefühl des Haſſes wirklich in ſeinen
beiden Wurzeln, der bewußten und unbewußten, begründet
und erſtanden, ſo gewahren wir es doch in uns ſelbſt alle¬
mal als etwas Bitteres, Unglückliches, Unſeeliges, und ſeine
Verwandtſchaft mit dem Gefühl der Trauer iſt daher ſchon
früher erwähnt worden. Es iſt jedoch auch hier wie bei
der Trauer zu bemerken, daß eine große Verſchiedenheit
beſtehe, ob der Haß wirklich von einem urbildlichen Ver¬
hältniſſe (wenn ſo zu ſagen erlaubt iſt), oder von einem
Scheinbilde angeregt worden ſei. Das Letztere, eben weil
es ſchon an und für ſich auf falſcher, ungemäßer, krank¬
hafter Richtung der Seele ruht, iſt allemal weit bitterer,
unſeeliger, als der höher in ſich gerechtfertigte Haß; jener
erſtere wird daher leichter zu einem wahrhaften Leidenszu¬
ſtande, und dieſer Haß wird daher um ſo viel eher Leiden¬
ſchaft
, als der letztere, welcher in ſich ſelbſt die geſundere
Natur bewahrt und nie die Heftigkeit des erſtern erreichen
wird, vielmehr bei höherer Entwicklung der Seele allemal
um ſo vollſtändiger ſchwindet. Dieſelbe höhere Entwicklung
alſo, welche uns immer unzugänglicher macht für die Trauer,
muß aus demſelben Grunde zuhöchſt uns unzugänglich machen
für den Haß, dieweil eingeſehen wird, daß zuletzt die höchſte
Weltordnung doch alle jene Unvollkommenheiten und Mängel,
und alle jene Entwicklung-hemmenden und ſtörenden Ver¬
hältniſſe, welche im Einzelnen ſo läſtig und haſſenswerth
[318] erſcheinen, als nothwendige Bedingungen des Ganzen in
ſich ſchließe, und daß es ein höchſt unphiloſophiſcher Satz
ſei, wenn geſagt wird: „Es muß Aergerniß kommen, aber
wehe dem, durch den Aergerniß kommt!“ Eben ſo daher,
wie vor dem höhern phyſiologiſchen Blicke auf das Univerſum,
trotz alles Strebens der Einzelnen, der Begriff des Todes
nicht beſtehen kann, ſondern nur ein allgemeines Leben er¬
kannt wird, ſo verſchwindet auch im Lichte jener Erkenntniß
nicht nur das Böſe, als beſonderes dämoniſches Princip,
als Satan, ſondern auch, trotz aller unglücklichen Thaten
der Einzelnen, hört der Begriff eines beſondern Sünd¬
haften
, eines beſondern haſſenswerthen Negativen — der
Sünde — auf. Der ſo erleuchteten Seele erſcheint nirgends
mehr ein wirkliches an ſich haſſenswerthes Object — und
aller Haß löst ſich in erbarmende Liebe. — Das Steigern
zu ſolcher Erkenntniß ſcheint in der Menſchheit erſt mit
Chriſtus aufgegangen zu ſein, und dieſe ganz eigentliche
große Erlöſung — dieſe Erlöſung vom Begriffe des Böſen
und vom Haß, von ihr kann noch in der Folgezeit manch'
großes Reſultat erwartet werden; denn je mehr erkannt
wird, wie die meiſte Noth der Menſchheit, und Alles, was
im Einzelnen den Namen des Sündhaften erhält, theils
von unvollkommenen Verhältniſſen des Vereinlebens, theils
von Verwilderung der Erkenntniß und des Gefühls abhängt,
und wie nothwendig, aber freilich auch um ſo mehr be¬
dauernswerth, bisher das Elend aus jenen Bedingungen
hervorgehen mußte, um ſo mehr wird eine Annäherung zu
allgemeiner Glückſeeligkeit von Fortbildung jener Erkenntniß
erwartet werden dürfen. Ganz das umgekehrte Reſultat
geht dagegen aus einer entgegengeſetzten Anſicht hervor.
Allerdings nämlich iſt es eben ſo möglich, daß wir, wie
man bei einer vereinzelten Naturbetrachtung etwa auf den
finſtern Gedanken von alleiniger Macht des Todes und all¬
gemeinem Sterben kommen muß, — indem das immer neue
Werden auch das immer wiederkehrende Aufhören des Ge¬
[319] wordenen bedingt, — im Ethiſchen zu dem Gedanken allge¬
meiner Sündhaftigkeit und des allgemeinen Böſen gelangen,
eben weil ja alle, auch die ſchönſten Offenbarungen der
einzelnen Ideen im Leben, gegen das Vollendete des Aller¬
höchſten gehalten, immer nur ein Unvollkommnes und bloß
Strebendes erſcheinen werden. Wo alſo dieſe Anſicht vor¬
waltet, ja wo alsdann ſelbſt der bewußte Geiſt durch ſein
Geknüpftſein an das Unbewußte als urſprünglich dem Böſen
verfallen, und das Unbewußte als durchaus ſündhaft an¬
geſchaut wird, da liegt denn auch die finſterſte, verderblichſte
Anſicht vom Leben, da dringt die Feindſeeligkeit und der
Haß tief in die Seele, und die Verirrung ſteigert ſich dann
ſelbſt bis zur völlig wahnſinnigen Annahme eines böſen
Göttlichen — eines Satan, womit endlich dem Elend der
Menſchheit in Haß und Zerwürfniß völlige Herrſchaft ein¬
geräumt wird. Doch eine ſolche Anſicht kann ſich nicht
halten; denn wie nothwendig die Einſicht allgemeinen Lebens
den abſoluten Tod aufhebt, ſo die allgemeine Liebe den Haß.
Würde es doch ganz unmöglich ſein, trotz jenes überall
Gewahr-werdens des Todes, alles Leben zu läugnen, oder
bei dem noch ſo verbreiteten Haß alle Liebe aufzuheben,
indem die Liebe Gottes und zu Gott unter allen Umſtänden
doch übrig bleiben muß. So wird es denn alſo bei zu¬
nehmender Erkenntniß auch immer entſchiedener gefordert
werden, allen Haß ſchwinden und trotz der immer lebhaft
erhaltenen Einſicht unendlicher Unvollkommenheit und Stö¬
rung, die allgemeine Liebe immer mehr herrſchen zu laſſen.
Freilich geht der Menſch auch im ſchönſten Falle hier durch
unendlich viele Gradationen, er kann und ſoll jene Höhe
nicht mit einem Male erreichen, und eben deßhalb gehört
das Empfinden eines lebhaften Widerſtrebens und gewalt¬
ſamen Ablehnens und Bekämpfens, mit einem Worte der
Haß, gegen Alles, was ſtörend und hemmend und hindernd
dem Fortſchreiten der Seele ſich irgend entgegenſetzen kann,
nothwendig zur Entwicklungsgeſchichte unſers geiſtigen Lebens,
[320] ſo daß wir denn durchaus uns überzeugt halten müſſen,
die erſprießliche Fortbildung der Seele ſei eben ſo wenig
denkbar ohne Wechſelzuſtände von Haß und Liebe, als ohne
die von Freude und Trauer.


Hat ſich aber ergeben, daß Liebe nicht bloß im be¬
wußten Anerkennen von irgend einer Vortrefflichkeit, ſondern
gleichzeitig im Durchdrungenſein des Unbewußten und der
Erregung und dem ſympathiſchen Zuge dieſes letztern be¬
ſteht, und iſt es auch anerkannt worden, daß bewußtes Er¬
kennen einer Störung und eines Widerwärtigen allein, nur
Mißbilligung, aber keinen Haß erzeugen wird, welcher letztere
nur dann entſteht, wenn zugleich das Unbewußte von der
lebhafteſten Antipathie gegen jenes Hemmende und Störende
durchdrungen iſt — denn nur auf dieſe Weiſe wird ja
überhaupt aus Erkenntniß das Gefühl — ſo fragt ſich auch
weiter, welche Regionen des unbewußten Seelenlebens ins¬
beſondere bei dem Verneinen des Haſſes in Anſpruch ge¬
nommen werden? — Jedenfalls nicht die erzeugenden, fort¬
bildenden, heranziehenden, ſondern die tödtenden, zerſtören¬
den, abſtoßenden. Alles, was in dieſer Richtung in den
dunkeln unbewußten Reichen unſers innern organiſchen Lebens
ſich regen kann, klingt augenblicklich an, wenn das Gefühl
wahrhaft ſich entzündet, welches wir Haß nennen. Das Zer¬
ſtörende richtet ſich hier mittelbar gegen das Aeußere, aber
eigentlich unmittelbar gegen ſich ſelbſt, ſo daß, wenn die
Liebe, wo gerade der Gegenſatz im organiſchen Leben auf¬
zurufen iſt, ſich bei Erreichung ihres Gegenſtandes und
voller Befriedigung, Leben fördernd und die Blüthe der
Geſundheit hervorrufend bewährt, der Haß in aller Be¬
friedigung und Erreichung und Verletzung ſeines Gegen¬
ſtandes, nur Zerſtörung des eignen Lebens und oft bittere
Krankheitszuſtände veranlaßt.


Es iſt aber ſchon früher erwähnt worden, daß die
Lebensſphäre, in welcher das wichtigſte Körperfluidum, das
Blut, ſich immerfort zerſtört und zerſetzt, die der Abſonderungs¬
[321] organe überhaupt, insbeſondere aber die des Leberkreislaufs
genannt werden muß. In dieſen Regionen äußert ſich alſo
auch der Haß insbeſondere, man ſagt figürlich: „das Blut
fange an zu kochen,“ und der Ausdruck iſt bezeichnend
genug, aber es kocht an ſeiner eigenen Zerſetzung, es kocht
aus den ſcharfen, die aufgenommene Nahrung vollends zer¬
ſetzenden Saft der Galle, es kocht aus den im Zorn (den
momentan aufflammenden Haß) bis zum Wuthgift ſcharf
werdenden Schaum des Speichels, und in dieſem Kochen
macht es die Selbſternährung der Elementargebilde aus dem
Blute eben ſo unmöglich, als dies während eines Fiebers
gelingt, und ſo magert ab durch anhaltend genährten Haß
die geſammte Bildung des Leibes.


Auch bei dieſem Gefühle bemerkt man übrigens, daß
bald die bewußte, bald die unbewußte Lebensſeite den erſten
Anſtoß zur Entwicklung deſſelben gibt. Wo keine höhere
Intelligenz entſchieden ſich entgegenſtellt, wird eine vielleicht
ganz von außen bedingte ſtärkere Gallenabſonderung ein
bitteres, haſſendes Gefühl über die Seele verbreiten, eben
ſo gewiß, als Veranlaſſung des Haſſes im bewußten Leben,
das unbewußte zu ſtärkerer, gereizter Leberthätigkeit erregt.


Aus dem Vorhergehenden läßt ſich nun auch leicht ab¬
nehmen, was über Verhältniß des Haſſes zu andern
Gefühlen
und zum geſammten Seelenleben ſich ergeben
müſſe. Von der Verwandtſchaft deſſelben zur Trauer iſt
bereits geſprochen worden, und eben ſo iſt deßhalb klar,
wie er die Freude ausſchließt, oder nur einer ſehr niedrigen
Abart derſelben, der Schadenfreude, nahe ſtehen kann.
Eine beſondere Betrachtung aber fordert ſein Verhältniß
zur Liebe. So ſehr man nämlich vorausſetzen möchte, daß
das eine dieſer beiden entgegengeſetzten Gefühle das andere
ausſchließen müſſe, ſo wenig iſt dies doch in Wahrheit der
Fall, und heftige Liebe und heftiger Haß finden ſich daher
nicht ſelten — nur nach verſchiedenen Richtungen wirkend, —
zugleich in der Seele vor; ja es iſt merkwürdig, wie in
Carus, Pſyche. 21[322] einer und derſelben Richtung das eine dieſer Gefühle oft
plötzlich in das andere umſpringen, wie aus Haß hef¬
tige Liebe und aus glühender Liebe nicht minder glühen¬
der Haß entſpringen kann. Auch hier hängt Alles von
dem Grade des Wachsthums der Seele und von Entwick¬
lung der Intelligenz ab. Es iſt leicht zu verſtehen, daß
eine höhere Stufe, welche Scheinbilder der Liebe und des
Haſſes mehr und mehr ausſchließt, und die Seele mehr zu
allgemeiner Freudigkeit und Liebe ſtimmt, ſolchem Wechſel
und ſolcher Zerwürfniß nicht mehr zugänglich ſein wird,
dagegen wird eines Theils immer es nothwendig und natür¬
lich bleiben, daß, wenn in irgend einer Richtung, und ſei
es auch in einer ganz edlen und gemäßen, lebendige Liebe
ſich entwickelt, Alles, was ſich dieſer Liebe beharrlich und
hemmend entgegenſtellt, und alles geringere, ſtörende und
ungemäße Verhältniß, mit kräftigem Widerſtreben, alſo mit
einer gewiſſen entſchiedenen Abneigung und einem Haß auf¬
gefaßt und betrachtet werden müſſe, andern Theils wird es
aber auch verſtändlich, welche ſcharf wechſelnde Gegenſätze
hier vorkommen können, indem etwa plötzlich erkannt wird,
daß ein Gegenſtand der Liebe, welcher für das Urbild ge¬
halten wurde, nur ein Scheinbild ſei, ſo daß die Seele
ihn nun entſchieden negirt, oder umgekehrt plötzlich etwas,
das vielleicht zuerſt durch die Macht ſeiner Erſcheinung an
und für ſich zur Gegenwirkung aufforderte, als wirkliches
Liebes-Urbild erkannt und nun mit aller Heftigkeit erſehnt
und erfaßt wird; Fälle, zu welchen das Leben die mannich¬
faltigſten Beiſpiele darbietet.


Das Verhältniß des Haſſes zu dem geſammten
Seelenleben
kann nun in gewiſſer Hinſicht ein fördern¬
des, in vielen andern nur ein ſtörendes genannt werden.
Fördernd iſt es in den frühern Entwicklungsperioden, um
manches Ungemäße, manches dem innerſten Weſen der Seele
zuwider Seiende ſtark zurückzuſtoßen und entſchieden abzu¬
weiſen. Merkwürdig iſt es dann, wie der Haß, oft in
[323] ähnlichem Maße wie die Liebe, die Kräfte ſteigert und ent¬
wickelt, man möchte ſagen, wie er als eine Uebung des
Willens, die zu übende Gewalt des Geiſtes reift und kräf¬
tigt. Störend wirkt er, weil er als ein im Allgemeinen
doch der Seele Ungemäßes, gewiſſermaßen vergiftend auf
das eigne Seelenleben zurückſchlägt, und zwar um ſo mehr,
je mehr er poſitiv wird, d. h. ſich gegen Individualitäten
und Scheinbilder wendet. Hier iſt es dann, wo wir den
Uebergang anknüpfen müſſen zur Erwägung der krank¬
haften Abſchweifungen
des Haſſes.


Man könnte aber zuerſt vielleicht ſich verleiten laſſen,
den Haß überhaupt als krankhafte Erſcheinung anzuſehen
und ihn gar nicht als in die Geſchichte geſunder Seelen¬
entwicklung gehörig anerkennen zu wollen. Hiebei würde
man jedoch etwa eben ſo irrig verfahren, wie Jemand, der
gewiſſe Organiſationsverhältniſſe allemal für krankhaft
erklären wollte, weil ſie es dann ſind, wenn ſie auf dieſe
Weiſe in reifer, völlig ausgebildeter Organiſation vorkom¬
men. Das Lebergebilde, das insbeſondre dem Haß ent¬
ſprechende, gibt hiezu ſogleich das vollſtändigſte Beiſpiel;
wir finden es, je jünger der Organismus, um ſo größer,
und das neugeborne Kind hat noch eine Leber, welche ver¬
hältnißmäßig
zum Ganzen ſo viel größer iſt, als im
Erwachſenen, daß man allerdings, wo ein ähnliches Ver¬
hältniß im Erwachſenen vorkommt, ſie als krankhaft be¬
trachten müßte. So alſo auch der Haß! In frühern Ent¬
wicklungsperioden iſt er unerläßlich, um von manchem Un¬
gemäßen uns zu befreien und die Kraft der Reaction zu
üben. In höherer Entwicklung ſoll er mehr und mehr
zurückweichen und zuhöchſt in allgemeiner Liebe ſich auflöſen.
Krankhaft wird alſo der Haß dann ſein, wenn theils
in frühern Perioden er noch ohne alle Regſamkeit bleibt
gegen das als ſchlecht, als niedrig und gemein Erkannte,
und wenn ſo die Seele in apathiſche Nichtigkeit und ſchläf¬
rige allgemeine Lauheit verſinkt; und krankhaft wird er auch
[324] wiederum ſein, wenn da, wo höhere Entwicklung bereits
erreicht ſein ſollte, und wo im Lichte höherer Erkenntniß
die Verſöhnung mit der Welt im Ganzen bei aller Er¬
kenntniß der Mangelhaftigkeit und Dürftigkeit im Einzelnen,
Platz gegriffen haben müßte, eine haſſende Geſinnung ſich
noch übermächtig hervorthut und ſo das Leben vergiftet.
Im letztern Falle fehlt es dann nur noch, daß etwa der
Irrthum von einem göttlichen böſen Princip vorhanden ſei,
daß dieſes Princip als in einzelnen Ideen ſich beſonders
bethätigend geglaubt wird, und die Schreckniſſe aller ganz
verfinſterten Seelenzuſtände, und namentlich der Hexen- und
Teufelsglaube und die Verfolgung derſelben, ſo wie die
Monomanie des Mordens können ſich ſehr leicht entwickeln.


Im Vorhergehenden liegt nun zugleich, was über
das Erlöſchen
, das Aufhören des Haſſes geſagt
werden möchte. Der Haß, als ein Negatives, ſoll all¬
mählig auch ſelbſt immer mehr negirt werden, und es iſt
alſo ſchon in der Ordnung der Entwicklungsgeſchichte, daß er
im geſunden Gange endlich aufhören muß. Immer wird von
dem dem Höhern Widrigen, dem Häßlichen, dem Gemeinen,
dem Falſchen die vollendetere Seele ſich abwenden, aber es
wird nicht mehr in Haß ſein, in Haß, der ſonſt auch die
unbewußte Region mit durchdringen mußte, ſondern in be¬
dauernder Liebe
. Wir können daher kurz ſagen, es
ſei der natürliche Tod des Haſſes
, unterzu¬
gehen in der Liebe
, und daß er wirklich erloſchen iſt,
wird ſich daran erkennen laſſen, daß jenes gleichzeitige An¬
ſprechen des Unbewußten, ſelbſt wo die Erkenntniß ver¬
neinen muß, nicht mehr Statt findet.

5. Von den gleichmäßigen Zuſtänden des Gemüthes.

Es gibt, wie ſchon bemerkt wurde, einen gewiſſen
mittlern Zuſtand der Gemüthswelt, in welchem weder die
Aufregung der Liebe noch des Haſſes, weder der Freude
noch der Trauer ſich ausdrückt. Dieſer mittlere Zuſtand
[325] iſt jedoch abermals ein zwiefacher, indem der eine die volle
Beweglichkeit des Gemüthes behauptet, die volle Wärme,
welche die Bedingung iſt aller verſchiedenen Gefühle, ſich
lebendig erhält, und nur in der Höhe bewußter Klarheit,
Freudigkeit und Liebe jenes ſchöne Gleichgewicht bewahrt,
welches die Seele zu allem Großen befähigt; dahingegen
der andere jene Beweglichkeit des Seelenlebens wirklich ver¬
loren hat, und allein in der Schwäche und Dumpfheit der
geſammten Lebensäußerungen die Urſache enthält, nicht zu
beſondern Gemüthsbewegungen veranlaßt zu werden. Nach
beiden Seiten hin gibt es ſehr verſchiedene Gradationen,
unter welchen ſcharfe Abgränzungen nicht weiter möglich
ſind. Den Höhenpunkt des reinen ſchönen Gleichgewichts
können wir faſt einen göttlichen nennen, während der Nieder¬
punkt des Lebloſen oder Fühlloſen der Seele an das Thieriſche
ſtreift. Keinesweges dürfen wir übrigens dieſe Zuſtände
dergeſtalt vertheilt glauben, daß jeder derſelben einer Seele
allein angehöre, ſondern wechſelnd mit oft heftigen Auf¬
regungen einzelner Gefühle herrſchen beide zu verſchiedenen
Zeiten und in verſchiedener Ausdehnung in der menſchlichen
Seele und tragen bei, die Farbenſcala ins Unendliche zu
variiren, in deren Schwingungen die Gemüthswelt ſich be¬
thätigt. Je höher die Individualität, je reifer das Wachs¬
thum, deſto mehr neigt ſich das geſammte Seelenleben zur
göttlichen Gleichmüthigkeit und Klarheit; je niederer die In¬
dividualität, je entſchiedener das Rückſinken, deſto näher liegt
die Möglichkeit des Unterganges in eine gefühlloſe thieriſche
Apathie.


Dabei würde es ein großer Irrthum ſein, wenn man
auch dieſe Höhen- oder Tiefenpunkte des Seelenlebens nur
vom Bewußten bedingt und nur im Bewußtſein begründet
denken wollte; der ächte höhere Gleichmuth ſowohl, als die
dumpfe und tiefe Apathie, gehen immer dergeſtalt aus der
Wurzel alles Seelenlebens hervor, daß ſie ſich gleichmäßig
im Bewußten und Unbewußten darſtellen, im erſtern durch
[326] Klarheit des Denkens und eine gewiſſe Stille der Seele,
hingegen bei der Apathie durch vollkommene Gedankenloſigkeit,
im andern hinſichtlich höhern Gleichmuthes durch Leichtigkeit
und Ruhe innern Lebens bei voller Kraft der Geſundheit,
und hinſichtlich der Apathie durch Trägheit, Stockung und
Schwäche. Man hat auch längſt die Bedeutung dieſer Zu¬
ſtände für Bewußtes und Unbewußtes gefühlt und erkannt,
obwohl nicht wiſſenſchaftlich nachgewieſen; denn man trennte
ganz richtig von dem wahren, in der geſammten ſchönen
und geſunden Organiſation auch des unbewußten Seelen¬
lebens begründeten Gleichmuthe, Das, was man den er¬
zwungenen, bloß anreflectirten genannt hat, welcher letztere
immer als ein Künſtliches und Unvollkommenes ſich dar¬
ſtellen mußte. Dieſer Unterſchied iſt jedenfalls ſehr wichtig,
denn ſowohl die Art, wie eine ſolche im ächten höhern auch
durch Unbewußtes begründeten Gleichmuth ſchwebende Seele
ſich offenbart, als die Art wie ſie das Aeußere aufnimmt,
wird von der erkünſtelten Art des Gleichmuthes welche nicht
ſo ſchön im Unbewußten ſich begründet findet, immer durch¬
aus abweichen. Shakespeare hat etwas hievon ange¬
deutet, wenn er dem Brutus, welcher die gewaltigſten
Schläge des Schickſals zwar lebendig empfindet, aber mit
höherm Gleichmuth erträgt, den heftigen gereizten Caſſius
gegenüberſtellt, von dem wir dann hören:


„Durch Kunſt hab' ich ſo viel hievon als Ihr,
Doch die Natur ertrüg's in mir nicht ſo.“

Jener ächte Gleichmuth, der ein reiches volles Leben
in tiefer Seele lebt, der von höherer Freudigkeit und um¬
faſſender Liebe durch und durch erwärmt wird, er iſt es
eigentlich, der das anzeigt, was wir Größe der Seele
nennen, und was deßhalb dieſen Namen insbeſondere ver¬
dient, weil dadurch der Menſch ſo ſehr innerlich ſich ver¬
größert, daß ihn die Wechſelfälle des Lebens nicht mehr
zu erſchüttern im Stande ſind. Dieſe Größe iſt es, in
welcher es ſich andeutet, daß es gewiſſe Ideen geben kann,
[327] die ſchon nach der Energie ihres An-ſich-ſeins mächtiger
ſind als alle andere, und dieſe Größe iſt es auch, welche,
wenn das An-ſich-ſein der Seele dahinangewachſen war,
ſchon den Alten das höchſte Reſultat eines Lebens ſchien
und welche ſo vielen ihrer Productionen eine eigene nie genug
zu bewundernde Macht und Schönheit aufdrückt, wobei man
jedoch nicht vergeſſen darf, einmal: daß eben dieſer Gleich¬
muth allerdings es auch iſt, der dieſen Productionen bei aller
Schönheit einen gewiſſen kältern Charakter aufdrückt, und
ein andermal, daß, eben weil im Alterthum jenes Urge¬
fühl der Liebe, von welchem ſtärkere Aufregungen der Seele
immer ausgehen werden, noch nicht wahrhaft in die Welt
eingetreten war, dort auch jener höhere Gleichmuth gleichſam
mehr angemeſſen und leichter zu erreichen erſcheinen mußte
als in ſpäterer und unſerer Zeit. In jenem Sinne daher,
wäre etwa ein Sophokles zu denken, dem im reifſten
Alter erſt die höchſten Tragödien gelingen! — Man ſtelle
daneben in Gedanken den Charakter eines Göthe'ſchen
Taſſo, wo mit ſo vielem Schönen und Tiefſinnigen die
höchſte Gereiztheit ſich verbindet, und das Bild der ver¬
ſchiedenen Zuſtände, die wir ſchildern wollten, wird um ſo
deutlicher hervortreten.


Der tiefe apathiſche Zuſtand, wo keine Beweglichkeit
des Gemüths möglich iſt, weil die lebendige Bedingung zu
Erregung nach verſchiedenen Richtungen fehlt, iſt oftmals
geradezu durch partielles Abſterben des unbewußten Lebens
und lähmende Krankheit bedingt, ſelten geht er vom be¬
wußten Leben aus, und nur vorhergegangene enorme Er¬
ſchütterungen des Gemüthlebens oder übermäßige Anſtrengun¬
gen in Wirkſamkeit nach Außen, bringen ihn dann hervor.


Endlich iſt zu bemerken, daß, wenn überhaupt der be¬
ſondere und ſchöne Gleichmuth nur auf der vollen Höhe
des Lebens erreicht werden kann, nämlich dann, wenn die
unruhigen Ueberfluthungen des unbewußten Lebens ſchon
naturgemäß ſich geebnet haben, es damit ausgeſprochen ſei,
[328] daß er den früheren Perioden ſchon deßhalb weniger ange¬
meſſen ſein könne, weil gerade dort die fortgehenden Os¬
cillationen des Gemüthlebens die weſentlichſten Momente ab¬
geben, um die Entwicklung und das Fortwachſen der Seele
zu fördern.

β. Zur Geſchichte der Erkenntniß.

Die Möglichkeit aller Erkenntniß ruht theils auf äußerm,
theils auf innerm Grunde. Der innere iſt die Idee ſelbſt,
das Göttliche in uns; denn wären wir nicht in Wahrheit
durch Gottes Gnade, lebte nicht gerade im normalen
Menſchen eine eigenthümliche Gottesidee ſich dar, ſo könnte
von Erkenntniß überhaupt nicht die Rede ſein, da Erken¬
nen eigentlich, wie die Griechen es längſt ausdrückten, nur
ein Er-innern iſt, d. h. nur darauf abzwecken kann,
daß der Menſch ſich innerlich ſelbſt mehr und mehr gewahr
werde; iſt doch nämlich das Göttliche ewig weſentlich ſich
ſelbſt gleich, und, wenn auch noch ſo tauſend und tauſend¬
fältig ſich offenbarend, ſo iſt doch die Möglichkeit
alles Wirklichen eigentlich in jeder göttlichen
Monas
, in jedem Theil-göttlichen enthalten,
dergeſtalt, daß, je mehr die Idee ihr eigenſtes ewig un¬
ergründliches Weſen in allen ſeinen Phaſen gewahr wird,
um ſo mehr ſie auch von aller göttlichen Offen¬
barung
überhaupt erkennen muß, und weiß. — Der
äußere Grund des Erkennens iſt der Conflict mit andern
Ideen. Keine Idee kann aber an und für ſich eine an¬
dere Idee vernehmen, 1 ſondern ſie vernehmen ſich nur in
wie fern ſie irgendwie ihr inneres Göttliche auch äußerlich
natürlich darleben. Die durch unbewußtes Wirken der Idee
ſich hervorbildenden Seiten des Organismus mittels welcher
ein zum Bewußtſein dringender Conflict mit den Offen¬
[329] barungen anderer Ideen möglich wird, nennen wir aber
die Sinne, und ſo wird es denn klar, daß, näher be¬
ſtimmt, wir auch ſagen dürfen, daß der zweite Grund al¬
ler Erkenntniß in den Sinnen gegeben ſei. — Es führt
nun zu ſehr merkwürdigen Betrachtungen, wenn wir weiter
erwägen, daß indeß auch das eigentlich Empfindende im
Sinnesorgan, d. i. der Sinnesnerv, doch niemals das
äußere Object unmittelbar wahrnimmt, ſondern (wie
die Phyſiologie mit größter Beſtimmtheit nachweist, ſ. mein
Syſtem d. Phyſ. 3. Bd. S. 146) daß wir im Nerven nur
Empfindung erhalten von einer gewiſſen Verän¬
derung der intermediären Subſtanz
, welche
zwiſchen den Endumbiegungen der Nerven und
der Außenwelt liegt
. Alles was wir Außenwelt nen¬
nen, d. h. was unſere Vorſtellung von einer ſolchen erregt,
iſt alſo, genau erwogen, nur ein Theil unſers eigenen
Organismus
, und es iſt nur eine Folgerung, ein
Schließen, daß etwas außer uns ſein müſſe, was die zur
Empfindung kommenden Veränderungen jener an und für
ſich unbewußten Zwiſchenſubſtanz anrege, wodurch wir die
Vorſtellung von einer Welt, oder von ſich offenbarenden
Ideen außer uns, erhalten. So betrachtet, kann man
alſo ſogar ſagen: der Grund aller Erkenntniß liege in
uns ſelbſt, nämlich einmal in der Idee ſelbſt, daß ſie eine
ſolche ſei, welche potentia ſich zum Bewußtſein erheben
kann, und ein andermal in der unbewußten Offenbarung
der Idee als Organismus, deſſen Umſtimmungen an und
für ſich in der Idee die Vorſtellung von einer Außenwelt
veranlaſſen können und wirklich veranlaſſen müſſen. 1


Je mächtiger alſo die eigene eingeborene Idee iſt und
je klarer und nachhaltiger die Sinne wirken und von je
[330] mehrern und mächtigern Ideen ſie die Wechſelwirkung der
eingeborenen Idee zuführen, deſto vollkommener ſind die
Bedingungen erfüllt, welche die Erkenntniß vorausſetzt und
um ſo höhere Stufe kann die Erkenntniß erreichen. Wir
können daher auch kurz ſagen: wenn das Gefühl genannt
werden darf das Gewahren des Zuſtandes der eigenen
Idee, ſo iſt das Erkennen zu nennen das Gewahren des
Verhältniſſes der Idee zu andern Ideen und
zur höchſten
. Das Gefühl ruht daher als ſolches zunächſt
allein in der eigenen Idee, die Erkenntniß iſt nicht zu
denken ohne das Verhältniß der eigenen Idee zu
andern
. Ein Erkennen der Idee bloß als Erkennen
ſeiner ſelbſt, iſt nicht denkbar, denn das unmittelbare Ge¬
wahren der Idee wird allein durch das Gefühl gegeben,
und wer demnach die Inſchrift des Tempels zu Delphi in
jener Weiſe verſtehen wollte, der würde ſie eben nicht ver¬
ſtehen.


Bei der Entwicklungsgeſchichte der Seele im Kinde iſt
verfolgt worden, auf welche Weiſe es geſchieht, daß das
Wunder des Geiſtes hervortritt, und wie dadurch, daß in
der Seele der erſte Gedanke erſcheint, der Anfang gege¬
ben iſt zu einer unendlichen Fortbildung. Wir haben zu¬
gleich dort zwiſchen drei Stufen der Entwicklung des Geiſtes
unterſcheiden müſſen, die wir Verſtand, Phantaſie und Ver¬
nunft genannt haben. — In die Geſchichte der Erkenntniß
gehört indeß weſentlich nur die Erwägung des Verſtandes
und der Vernunft; doch muß hier abermals darauf auf¬
merkſam gemacht werden, daß ſogleich verloren iſt, wer in
der Lehre von der Seele irgend abſolute Trennungen und
Scheidungen vornimmt, und wer nicht auch hier zur Er¬
faſſung und zum Feſthalten der untheilbaren Einheit inner¬
1[331] halb der Vielheit ſich erheben kann. So ſind denn daher
auch Verſtand, Phantaſie und Vernunft im Grunde un¬
theilbar eins. Denn, wenn wir Verſtand kurzweg als die
Erkenntniß der Erſcheinung, Vernunft als die Erkenntniß
des Weſens charakteriſiren, und Phantaſie als das durch
die erreichte geiſtige Pubertät möglich gewordene Productive
der [Seele], ſo iſt ſogleich auffällig und unverkennbar, daß
der Verſtand die Erſcheinung auch nicht begreifen würde,
wenn nicht die eigene eingeborne Idee ſchon den unbewußten
Zug gegen die mit ihr zugleich in Gott ſeiende Idee empfände
und ſomit, als ein Prometheus, die außer ihr ſeiende Idee
in ihrer Erſcheinung vorausahnete (deßhalb die Geſtal¬
tung der Sinnesorgane bewerkſtelligend), ehe ſie ſie noch
ſelbſt als Idee vernehmen kann; und andererſeits iſt auch
an und für ſich klar, daß eine Vernunft ohne gleichzeitigen
Verſtand nicht gedacht werden kann, weil eben die Erſchei¬
nung die Offenbarung der Idee iſt und die Erfaſſung die¬
ſer Offenbarung im Verſtande allein das Vernehmen der
Idee durch die Vernunft vorbereiten kann. Endlich aber
iſt wieder ſowohl Verſtand als Vernunft unmöglich ohne
eine Mitwirkung der Seele in dem Maße, wo wir ſie
Phantaſie nennen, denn nicht nur daß ſich ergibt, daß jede
Vorſtellung überhaupt nur durch eine eigenthümliche Pro¬
ductivität erzeugt wird, da wir unmittelbar nichts von
einer Welt außer uns erfahren, — ſondern wir müſſen uns
überzeugen, daß jeder Gedanke, in wie fern er nur durch
gewiſſe Symbole, die wir Worte nennen, dargeſtellt und
gegenſtändlich, gleichſam bildlich, ausgeführt werden kann,
eine Art von Kunſtwerk ſei, und daß er, als Kunſtwerk,
nur durch innere Productivität erſchaffen werden könne. — So
wirkt denn alſo ein künſtleriſches ſchaffendes Princip auch
in der ſcheinbar trockenſten und ſchärfſten Conſtruction des
Verſtandes und der Vernunft, ſo wie anderntheils wieder
kein Kunſtwerk geſchaffen werden kann und keine Aeußerung
wahrhafter Phantaſie zu denken iſt, welcher nicht zugleich
[332] irgend eine Erkenntniß der Erſcheinungen und ihres We¬
ſens eigenthümlich ſein müßte. Sprechen wir daher von
Verſtand und Vernunft als Beſondern und Einzelnen, wie
ſie zuhöchſt die Erkenntniß bedingen, ſo müſſen wir immer
bedenken, daß hier nur das Vorwaltende in gewiſſen
Richtungen des Seelenlebens ins Auge gefaßt werde, daß
aber nie von einem ſpecifiſch Verſchiedenen und ganz Ab¬
geſonderten die Rede ſein könne. Ja, es kann hier ſogleich
beigeſetzt werden, daß, geſchweige daß nicht die Phantaſie
von der Erkenntniß getrennt werden kann, auch die höhern
poſitiven Gefühle der Freude und Liebe ſich nicht von ihr
trennen laſſen. Plato ſagt ſehr ſchön, daß alle Philoſophie
(in dem Worte ſchon begriffen übrigens die Griechen die
Liebe mit ein, als Liebe der Weisheit) mit dem Bewundern
anfangen müſſe, und ſpricht damit aus, daß jenes freudige
Erſtaunen der Seele über den eingeborenen liebevollen Zug
unſers Weſens gegen das möglichſt tiefe Vernehmen an¬
derer Ideen, zur weſentlichen Quelle für alle höhere Er¬
kenntniß werde.


Geht man nun genauer im Einzelnen nach, wie die
Erkenntniß allmählig im Geiſte ſich entwickelt, ſo muß man
eine wichtige Thatſache vor Allem ſchärfer ins Auge faſſen,
nämlich wie alle Erkenntniß vorausſetzt, daß ein gewiſſer
Numerus, ein geiſtiges Aequivalent für Erſcheinung ſowohl
als Idee gefunden ſei, wodurch zwiſchen dieſen beiden für's
erſte ſo diſparaten Objecten eine Vermittelung und ein
Verſtändniß ſich ergeben könnte. Dieſer Numerus, dieſes
Aequivalent iſt — die Sprache. Erſcheinung und Idee
liegen, obwohl eins das andere bedingt, ſcheinbar ſo un¬
geheuer auseinander, daß wir unmöglich im Stande ſein
würden, beide im Geiſte zuſammen zu faſſen und damit
zu gebahren, wenn nicht das Wort dazwiſchen träte, das
Wort, welches gebildet wird aus dem Klange, d. h. dem
tief innerlichen Erzittern eines Dinges, in welcher inner¬
lichſten geheimſten Bewegung eben die Art des Weſens die¬
[333] ſes Dinges ſich verräth, ſo daß dieſer Klang, dieſes Wort,
gerade deßhalb nun als geiſtiges Symbol des Dinges ſelbſt
genommen werden kann. Eben weil dann dieſes Symbol
nicht mehr ein Ding ſelbſt iſt, kann es ferner aber auch,
wie es zuerſt nur Symbol der Erſcheinung war, auch
Symbol der Idee werden, und erſt wenn es bis dahin ge¬
ſteigert iſt, wird das möglich, was eben das Weſentliche
aller Erkenntniß iſt, nämlich Auffaſſen des Verhältniſſes
von Idee und Erſcheinung. Ohne Wort, ohne Sprache
alſo keine Erkenntniß, kein Wiſſen! Es verſteht ſich von
ſelbſt, daß hier das Wort nicht bloß als Klang und als
Symbol der Erſcheinung genommen iſt — ein ſolches Wort
können auch die Thiere ſprechen lernen, ſondern das Wort
zugleich als Symbol der Idee. Man kann ſogar wei¬
ter gehen und das Wort auch von dem Klange abtrennen,
indem man es bloß als ein geſchriebenes Zeichen betrachtet,
und immer noch kann es auch ſo Bedingung der Erkennt¬
niß werden. — Es würde nämlich allerdings bloß als
ſolches Zeichen
nicht entſtehen, und wenn es keine ge¬
ſprochene Sprache gäbe, würde auch keine geſchriebene ent¬
ſtanden ſein; iſt aber einmal das wunderbare Kunſtwerk
der Sprache erſchaffen und entſtanden, ſo kann es aller¬
dings auch ohne Klang, als Geſte oder Zeichen, unter Men¬
ſchen fortwirken und Erkenntniß bedingen, wie dieſes beim
Unterrichte von Taubſtummen auf die merkwürdigſte Weiſe
ſich darſtellt.


Alſo — mit einem Wort — nur daß ein Medium, ein
Tertium comparationis da ſei, in welchem Idee und Er¬
ſcheinung, dieſe beiden ſonſt ſcheinbar ewig unvereinbaren
und doch ſich durch und durch bedingenden Factoren, auf¬
gehen und ausgedrückt werden können, nur darauf kommt
es an und davon hängt es ab, daß Erkenntniß zu Stande
komme. — Das innere abſichtlich gewollte Bewegen der
Seele im Bereich nur eben dieſes Dritten, dieſes Numerus,
dieſer Algebra, dieſer ganz eigentlichen Buchſtabenrechnung
[334] im höhern Sinne, nennen wir — Denken. Im Denken
leben wir alſo weder mehr ganz in der Erſcheinung, noch ganz
in der Idee, und das Denken kann weder die eine noch
die andere an und für ſich vollkommen erfaſſen und erſetzen,
aber eben darum iſt es geeignet das Verhältniß beider
anſchaulich zu machen. Darin daher, daß das Gefühl
wirklich allein es iſt, in welchem der Zuſtand der Idee
und in dieſem Zuſtande alſo auch die Idee ſelbſt innigſt und
unmittelbar erfaßt wird, liegt ein erſt nun ganz deutlich zu
machender ungeheurer, im Stillen von jeder reicher ent¬
wickelten Seele längſt erkannter Vorzug des Gefühls vor
dem Denken. So iſt es wahr, daß kein Gedanke die Idee
Gottes, die Idee der Seele, ſo tief erfaſſen kann als das
unmittelbare Gefühl, allein das darf nicht als Vorwurf
betrachtet werden, ſondern es iſt nur die nothwendige Folge
des Unterſchiedes zwiſchen Gefühl und Gedanken.


Ueberhaupt gibt dieſes Verhältniß ſelbſt noch vieles
zu denken. Zuerſt muß aber doch darauf aufmerkſam ge¬
macht werden, daß auch das Gefühl ſeine Aequi¬
valente hat
, 1 ſeine Symbole, wodurch es in ſeiner
Beſonderheit ſich kund geben und von einem andern Geiſte
[335] erfaßt werden kann, und daß dieſe Aequivalente in ei¬
nem ſehr eigenthümlichen Verhältniſſe ſtehen zu den Ae¬
quivalenten der Idee und der Vorſtellung wie ſie das Kunſt¬
gebiet der Sprache in dem Worte darbietet. — Dieſe Ae¬
quivalente des Gefühls ſind theils unwillkürlich, und da¬
hin gehören die Umſtimmungen des eigenen nach außen ſich
offenbarenden unbewußten Lebens, wie ſie in Veränderung
der Züge des Antlitzes, in der Schwebung der Stimme,
in der veränderten Färbung und Temperatur der Haut, ja
in der unwillkürlichen Haltung des ganzen Körpers ſich
ausdrücken; theils ſind ſie willkürlich, und dahin gehört das
Kunſtgebiet der Töne — die Muſik, ja die Kunſt überhaupt.
— Will man dieſe beiden Kunſtgebiete, das der Sprache und
das der Muſik, in dieſer Beziehung ſorgfältig vergleichen, ſo
wird man zu ſehr intereſſanten Reſultaten gelangen. Vieles
haben beide gemein, vieles iſt auch jedem Gebiete eigenthüm¬
lich. Gemein haben ſie, daß ſie beide ſowohl in Lauten als in
Schriftzeichen ſich ausdrücken laſſen, und daß ſie beide bald
größter Klarheit und Erhabenheit, bald größter Verworren¬
heit und Gemeinheit dienen können, gemein haben ſie jedes
in ſich den merkwürdigen kunſtreichen Bau, den ihnen der
menſchliche Geiſt gegeben hat, gemein haben ſie auch das,
daß beide ihre höchſte Schönheit erſt erhalten, wenn ſie in
recht organiſcher in ſich nothwendiger Folge den Ausdruck
geben, hier für aufeinanderfolgende Stimmungen und
Schwebungen, des Gefühls, dort für an einander ſich rei¬
hende Vorſtellungen und Ideen. Eigenthümlich dagegen iſt
einem jeden Kunſtgebiete weſentlich die Art ſeines innern
organiſchen Baues, indem für die Sprache es dem Geiſte
freigelaſſen war, bald dieſe bald jene willkürlich erfaßten
Laute und Zeichen zu wählen um als Aequivalente der Vor¬
ſtellungen, Begriffe und Ideen zu gelten, während für die
Muſik die Wahl der Töne durch Naturgeſetze vorgeſchrieben
iſt, und für die geſammte Menſchheit ſie daher eben ſo ge¬
wiß überall eine und dieſelbe ſein muß, als es hinſichtlich
[336] der Sprache jedem Stamme der Menſchheit freigelaſſen
blieb ſich überall ſein eigenes Idiom zu bilden. Wer ſo¬
nach dieſe ſo ſehr verſchiedene Bedeutung von Sprache und
Muſik richtig erkannt hat, dem wird nicht ſchwer werden
darin das Verhältniß der Erkenntniß und des Gefühls voll¬
kommen wiederzuerkennen, und er wird einerſeits allerdings
finden, daß das Denken in Worten, zwar, wie es
den Geiſt überhaupt zuerſt ſetzt, auch allein das erneuerte
geiſtige Conſtruiren der Welt möglich macht, daß es jedoch
nichts deſto weniger derjenigen Unmittelbarkeit ermangelt,
deren das Gefühl und deſſen Aequivalent, die Muſik, in
ſo hohem Grade fähig iſt.


Iſt es doch eben ſo wenig zu verkennen, daß auch wie¬
der die Sinnesvorſtellung an und für ſich, und die Repro¬
duction derſelben in der Phantaſie, in Bezug auf Unmit¬
telbarkeit und Gegenſtändlichkeit, einen ungeheuren Vorzug
vor dem Denken habe, und daß kein Gedanke als ſolcher
die Kraft und Lebendigkeit einer unmittelbaren Sinnesvor¬
ſtellung erhalten kann; allein nichts deſto weniger wird doch
immer, eben weil zuletzt alles Leben nur durch ſtäte Mani¬
feſtation der Idee in der Erſcheinung bedingt iſt, der Ge¬
danke als das Tertium comparationis, oder das Aequi¬
valent beider, ein Etwas, wodurch im höhern Sinne auch
allein der Wiederaufbau der geſammten Welt im Geiſte zu
ermöglichen iſt und wodurch dann ſelbſt die Unmittelbarkeit
des Gefühls ſowohl als der Sinnesvorſtellung erſt vollen
Werth und Bedeutung erhalten kann. — Das Denken iſt
ſonach eine ſtäte Ausgleichung, eine immer ſich wiederholende
Syntheſe, ein ſtätes wechſelſeitiges Meſſen der Idee an
der Erſcheinung und der Erſcheinung an der Idee. 1


[337]

Je vollkommener daher die Erſcheinung auf die Idee
zurückgeführt wird, je mehr es zum Bewußtſein kommt, wie
eine ganze Kette ſich wechſelſeitig bedingender Erſcheinun¬
gen zuletzt durch eine gemeinſame Grundidee bedingt iſt,
deſto mehr iſt das gegeben, was wir Erklärung, und zu¬
höchſt befriedigte Erkenntniß nennen, und welches zu er¬
reichen ein tief dem menſchlichen Geiſte eingeborenes Be¬
1Carus, Pſyche. 22[338] dürfniß iſt, ein Bedürfniß durch deſſen Genugthuung der
Geiſt erſt wahrhaft entſteht und iſt. Wie deßhalb ſchon
früher bemerkt wurde, kann der Satz des Descartes:
„cogitoergosum“ nur erſt in dieſem Sinne gerecht¬
fertigt werden; denn freilich erſcheint es faſt abſurd, wenn
man das Denken als die Beweisführung dafür gelten laſ¬
ſen wollte, daß etwas exiſtirt, da ſo vieles exiſtirt, was
1[339] keinesweges denkt. Wenn man hingegen ſagt, daß der
Geiſt dadurch erſt zur Exiſtenz kommt, daß er denkt, oder
vielmehr, daß die Seele erſt dadurch, und in ſo weit, ſich
zum Geiſt entwickelt als ſie zu Gedanken gelangt und
die Erkenntniß erreicht, ſo hat das „cogitoergosum
einen Sinn, aber es heißt nicht mehr „weil ich denke, ſo
exiſtire ich überhaupt als ein Seiendes“ ſondern es heißt
„weil ich denke, weil meine Seele nun die Macht erlangt
hat, Idee und Erſcheinung in einem Dritten, dem Ge¬
danken, gemeinſam zu erfaſſen und mit dieſem Gemein¬
ſamen willkürlich zu gebahren, ſo bin ich nun nicht mehr
bloß Idee, bloß Seele, ſondern ich bin zugleich Geiſt.


Ich hoffe, daß es Jedem, der in dieſem Sinne ſeinen
eigenen innern Entwicklungsgang gehörig beachtet, deutlich
werden muß, was für eine Bewandniß es mit dem Weſen
und der Entwicklung der Erkenntniß habe, und es wird
ſich nun leichter verfolgen laſſen, theils was die Niedrig¬
keit und was die Höhe der Erkenntniß bezeuge, theils wel¬
ches das Verhältniß der Erkenntniß zu andern Richtungen
der Pſyche ſei, theils was man krankhafte Abſchweifungen
der Erkenntniß nennen könne, und welches Verhältniß
zwiſchen Erkenntniß und ſowohl dem äußern ſich Darleben
als der innerſten Idee unſers Weſens beſtehe.


Was die niedere und die höhere Erkenntniß betrifft,
ſo kann leicht begriffen werden, daß die Höhe um ſo mehr
dargethan wird, um ſo reiner und größer jenes Dritte,
die geiſtige Ausgleichung zwiſchen Idee und Erſcheinung
Enthaltende, d. i. die durch das Symbol der Sprache,
Idee und Erſcheinendes ſublimirend vereinigende Gedan¬
kenwelt
— ſich entwickelt hat. Der Ausdruck „Gedan¬
kenwelt
“ iſt hier ſehr bezeichnend, denn in Wahrheit hat
die Erkenntniß die Aufgabe allmälig das All der Welt in
dieſen ihren Aequivalenten ſich neu zu conſtruiren, gleich¬
ſam ſo die Welt noch einmal ſich zu erſchaffen, wie die
Seele ſich ſelbſt durch den erſten bewußten Gedanken zu
[340] einer geiſtigen Wiedergeburt bringt. Erſt wenn wir die
Erſcheinungen nicht bloß wie das Thier mehr anſtarren,
ſondern wenn wir ſie in den geiſtigen Aequivalenten der
Worte noch einmal uns zu erbauen, zu conſtruiren ver¬
mögen, dürfen wir ſagen, wir erkennen ſie, eben ſo wie
wir uns ſelbſt nicht eher erkennen als bis wir über uns
denken können. Da alſo, wo möglichſt alles dem Menſchen
Erſcheinende und auch nicht bloß das Gegenwärtige, ſon¬
dern, dem ewigen Weſen der Seele gemäß, auch das
Vergangene und Künftige ſo weit es ihr möglich iſt, ein¬
gegangen iſt durch die Verklärung des Gedankens
in das volle Bewußtſein des Geiſtes
, da wo der
Geiſt zugleich ſich ſelbſt und wo er das Göttliche
erſchaut hat
, da iſt diejenige Höhe der Erkenntniß er¬
reicht, welche, wenn ſie mit Reinheit des Gemüthes und
Freiheit des Willens ſich verbindet (und eine ſo vollkommene
Erkenntniß kann nicht ohne gleiche Entwicklung von Gemüth
und Willen gedacht werden) die Weisheit darſtellt, welche
man zu allen Zeiten als ein Zeichen höchſter Entwicklung
der menſchlichen Seele betrachtet hat.


Was den niedrigen Stand der Erkenntniß betrifft, ſo
ſind drei ſehr verſchiedene Verhältniſſe merkwürdig. Das
erſte iſt das Naturgemäße, nämlich die ſchwache Erkennt¬
niß für das erſte Lebensſtudium des Kindes. Dieſe In¬
differenz von Fühlen, Wollen und Erkennen, dieſe, ich
möchte ſagen, Einfachheit der Seele, iſt durchaus ſchön in
ſich. Hier ſoll das Reich des Gedankens noch nicht ſich
geltend machen, und ein ſcharfſinniger Gedanke ausge¬
ſprochen von einem kleinen Kinde wäre etwas Entſetzendes.


Daſſelbe was aber hier natürlich und ſchön iſt, wird
auf einer höhern Lebensſtufe, wo die Mittel zur Erkennt¬
niß entwickelt ſind, widerwärtig und krankhaft. Der Fall
iſt hier zwiefach: einmal iſt die Gedankenwelt in ſo fern
nicht das wahre vereinigende Sublimat von Sinnesvor¬
ſtellung und Idee, als die platte natürliche Vorſtellung
[341] ſchon faſt allein die Stelle des Gedankens vertreten ſoll,
und ein andermal ſind zwar Vorſtellung und Idee in
gleichem Grade in der Gedankenwelt mächtig, aber ſie ſind
nicht wahrhaft congruirend, und nicht das Homogene, nur
das Heterogene tritt zum Gedanken zuſammen. Das erſte
gibt diejenige Form der Niedrigkeit der Erkenntniß, welche
Bornirtheit, Dummheit, und im höchſten Grade Blödſinn
genannt wird, das andere diejenige, welche wir mit dem
Namen des Irrens, des Irrthums und im höchſten Grade
des Irrſeins bezeichnen. Im erſten Falle ſtarrt der Geiſt
leer und ideenlos in die Welterſcheinung hinein, wie das
Thier wird er nur von der jedesmal den Sinnen erſchei¬
nenden Aeußerlichkeit erfüllt und beherrſcht, und eben weil
der tiefe urſprüngliche Kern aller Erſcheinung, die Idee,
ihm fehlt, bleibt ihm die Erſcheinung ſelbſt unverſtändlich;
er hat die Natur und hat ſie doch auch nicht. Im
andern Falle exiſtirt zwar ein Gedankenzug, und oft mit
Lebhaftigkeit angeregt, ja es wird ſogar vorausgeſetzt, daß
wirklich zu einer gewiſſen Höhe das Reich der Erkenntniß
ſich bereits entwickelt habe, aber, da Urgrund und Folge,
Grundidee und Erſcheinung, nicht wahrhaft congruiren, ſo
gewährt der Gedanke keine Befriedigung — er iſt in ſich
nicht gewiß und kann dem Gewiſſen für Wahrheit nicht
genügen. Was jedoch hinſichtlich des Irrthums erwähnt
worden iſt, daß er doch wirkliches Denken immer voraus¬
ſetze, muß auch hinſichts der Dummheit bemerkt werden,
was gar nicht denkt, iſt eben ſo wenig der Dummheit
als des Irrſeins fähig, ja es iſt merkwürdig wie ein
Bornirtſein, ein Irrthum, in irgend einer Richtung auch
bei ſehr hoch entwickelter Erkenntniß nicht ganz zu fehlen
pflegt. Darf man doch ſagen, die mannichfaltigen Irr¬
thümer und das Gewahrwerden noch immer mannichfaltiger
Beſchränktheit des Geiſtes, iſt eins der mächtigſten Reiz¬
mittel das Wachsthum des Geiſtes immer zu ſteigern, gerade
wie der Dichter ſagt:


[342]
„Irrthum verläßt uns nie, doch führet ein höher Bedürfniß
Immer den ſtrebenden Geiſt, leiſe zur Wahrheit hinan,“

Was das Verhältniß der Erkentniß zum
Gefühl
und zum Willen betrifft, ſo gibt es auch zu ſehr
merkwürdigen Betrachtungen Anlaß. Im Allgemeinen pflegt
man das Denken — die Erkenntniß — als den Feind und
Zerſtörer des Gefühls zu betrachten und dem klar Denken¬
den ein minder lebendiges Gefühl zuzuſchreiben; dem iſt
aber nicht ganz ſo. Das Erkennen iſt allerdings gewiſſer¬
maßen wie der Prüfſtein aller Dinge, ſo der des Gefühls,
und in ſo fern alle dem ſehr gefährlich, was wir Schein¬
bilder des Gefühls und negative Gefühle genannt haben.
Bei der Geſchichte der Gefühle iſt darauf aufmerkſam ge¬
macht worden, daß Trauer und Haß im höchſten Sinne
unvereinbar zu nennen ſind mit dem Gewahrwerden der
Welt als der ſtätigen Offenbarung eines Göttlichen, und
da uns nun eben durch das Denken die Erkenntniß des
Göttlichen allein aufgehen kann, weil uns eben nur dieſes
Dritte zum Verſtändniß des Verhältniſſes zwiſchen Idee
und Erſcheinung verhilft, ſo wird, je tiefer die Erkennt¬
niß in das Weſen der Dinge eindringt, um ſo mehr der
Grund zu Haß und Trauer ſchwinden, und um ſo allge¬
meiner Freudigkeit und Liebe aufgehen. Dabei iſt nun
ferner wohl zuzugeben, daß das Denken ſelbſt durch ſein
— wenn ich einen platoniſchen Ausdruck hier anwenden
darf — farb- und ſtoffloſes Sein — durch ſeine in ſich
indifferente Weſenheit — einerſeits etwas an der Heftigkeit
des beſondern Gefühles mildern und daſſelbe mehr gegen
das, was wir den Zenith der Gefühlswelt genannt haben,
gegen jenes höhere in ſich Ruhen des Gefühls hindrängen
muß, dagegen iſt aber auch andererſeits nicht zu verkennen,
daß da, wo die Erkenntniß ſelbſt erſt die Größe und Schön¬
heit deſſen, was das Gefühl bewegt aufſchließt, die Macht
des Gefühles ſelbſt auch wieder weſentlich durch die Erkennt¬
niß gefördert wird, wie denn eben die höchſte Form der
[343] Liebe, die Liebe zu Gott, nur erſt durch die Tiefe der Er¬
kenntniß, zu der wahren heiligen Gluth aufſteigen kann,
und eben ſo die höchſte Freudigkeit des eigenen Seins erſt
aus dem tiefern Blick in das eigenſte Weſen der Seele
hervorgeht. Eben ſo verhält es ſich nothwendig umgekehrt
im entgegengeſetzten Falle, d. h. daß, je geringer die Er¬
kenntniß iſt, um ſo leichter Scheinbilder das Gefühl täuſchen,
und um ſo heftigere Aufregungen deſſelben veranlaſſen kön¬
nen, ſo daß dann auch unbezweifelt der größte Theil deſſen,
was in der Welt an Trauer und Haß, und oft genug auch
das was als Freude und Liebe gilt, nur von einer mangel¬
haften Erkenntniß bedingt wird und darum ſehr vergäng¬
licher und in ſich geringer Natur erſcheint. Dabei iſt je¬
doch keinesweges zu überſehen, daß, eben weil eigentlich
die Idee an ſich nur im Gefühl unmittelbar lebt und webt
und iſt (wodurch, wie oben geſagt wurde, das Gefühl
wieder über der Erkenntniß ſteht), das Gefühl doch auch
wieder eine gewiſſe von der Erkenntniß unabhängige Macht
hat, welche zuweilen vor, zuweilen nach der Erkenntniß
und zuweilen gegen alle Erkenntniß ſeine Schwingungen
beſtimmt. Es kommen daher wohl Fälle vor, wo die Er¬
kenntniß geradezu behauptet, daß das Gefühl nicht aufge¬
regt werden ſolle und eigentlich — verſtändig genommen —
gar nicht aufgeregt werden könne, und nichts deſto weniger
vielleicht ſchlagen die Wellen des Gefühls hoch auf; und wie¬
derum andere, wo die Erkenntniß alle Gründe aufzählt, warum
hier eine Aufregung des Gefühllebens eintreten müſſe, und
nichts deſto weniger bleibt das Gefühl vollkommen kalt; kurz
hier ſind die ſonderbarſten ſcheinbaren Widerſprüche in Menge
vorhanden. Im Ganzen iſt man immer geneigt anzunehmen,
das Gefühl ſei an ſich allemal das Irrende, aber, obwohl
krankhafte Abſchweifungen der Gefühlswelt häufig genug
vorkommen, ſo iſt es doch bei genauerer Erwägung keinem
Zweifel unterworfen, daß in dergleichen Conflicten auch gar
nicht ſelten ein Irrthum der Erkenntniß obwaltet.


[344]

Wir betrachten drittens das Verhältniß der Er¬
kenntniß
zum Willen, zum Vermögen thätiger Gegen¬
wirkung.


Alle bewußte That iſt aber ſo unmittelbar von Er¬
kenntniß bedingt, daß man zweifelhaft werden könnte, ob
überhaupt von einem Verhältniß zwiſchen Willen und Er¬
kenntniß die Rede ſein dürfe, oder ob beide durchaus eins
ſeien. Damit man ſich jedoch von erſterem überzeuge, darf
man nur beachten einmal, daß es auch ein unbewußtes
Thun, ein Thun ohne Erkenntniß gibt, und ein andermal,
daß dieſelbe Erkenntniß in verſchiedenen Individuen eine
verſchiedene Energie des Thuns hervorruft. Freilich macht
ſich, in je höherer Entwicklung wir das Seelenleben be¬
trachten, um ſo entſchiedener das Einsſein aller ſeiner
Strahlungen deutlich, und es iſt ſchlechterdings unmöglich
in unſerm Bewußtſein irgendwie eine ſcharfe Gränze zu
ziehen zwiſchen Erkennen, Fühlen und Wollen; denn in
jedem Moment unſers bewußten Daſeins gebahren wir
abſichtlich, alſo durch einen Willensakt, mit denen das
Licht der Erkenntniß in ſich tragenden Gedanken, und dieſe
Gedanken ſelbſt ſind wieder allemal gleichzeitig durchſtrömt
von irgend einer Färbung des Gefühls. Das, worin aber
innerhalb der Einheit zu gleicher Zeit doch auch die Drei¬
faltigkeit dieſes höhern Seelenlebens offenbar wird, ſind
die verſchiedenen Richtungen, oder wenn wir ſo ſagen wollen,
die verſchiedenen Verwendungen deſſelben. Das Moment
in der Seele, welches die Bedingung davon enthält, daß
irgend eine Erkenntniß oder irgend ein Gefühl zur That
werde, d. h. auf irgend eine Weiſe durch Wirkung nach
außen ſich bethätige, ſei es nun als Rede oder als Hand¬
lung, als Wiſſenſchaftsbau oder Kunſtwerk, oder als irgend
eine, das Verhältniß des Menſchenlebens ändernde That, es iſt
eine beſondere und eigenthümliche Strahlung unſers Innern
und wird als Wille bezeichnet, während jenes reine in
der Welt der Gedanken ſich Vertiefen, jedes tiefer in ſich
[345] gekehrte Fortdenken ohne alle Wirkung und ohne allen Zweck
nach außen, bloß behufs des vollſtändigern Verſtändniſſes
vom Verhalten zwiſchen Idee und Erſcheinung, das Reich
der Erkenntniß
bildet, und hinwiederum jedes ſich ſelbſt
Fortfluthenlaſſen auf der Woge der innerſten Zuſtandsän¬
derungen eigener Idee ohne beſtimmtes Nachdenken und ohne
Handlung nach außen die Welt des Gefühls umfaßt.
Freilich iſt in jeder Richtung allemal das Ganze mit inbegrif¬
fen, aber jedesmal in weſentlich umgeänderten Verhältniſſen;
ſo etwa iſt in jedem Sonnenſtrahl immer das ganze Sonnen¬
bild, und doch kann er hier als weißes, dort als blaues
oder rothes Licht erſcheinen. Es wird ſich nun erſt bei der
Geſchichte des Willens mit vieler Ausführlichkeit darlegen
laſſen, wie weſentlich dieſe Seelenrichtung ſich als eine
beſondere auszeichne und wie ſehr ſie unter Einfluß der
Erkenntniß geſtellt iſt; hier haben wir vorzüglich die Frage
zu erörtern, ob die Höhe der Erkenntniß der Willens¬
energie förderlich ſei oder nicht, und ob andererſeits Uebung
der Willenskraft der Höhe der Erkenntniß Eintrag thun
könne? Im gewöhnlichen Leben wird oft genug ein ge¬
wiſſer Antagonismus zwiſchen beiden angenommen, eine
ſehr reich entwickelte Erkenntniß für unvereinbar gehalten
mit entſchiedener Willenskraft und umgekehrt von dem Thä¬
tigen und handelnd Tüchtigen vorausgeſetzt, daß eine be¬
ſondere Höhe der Erkenntniß von ihm nicht wohl erreicht
werden könne.


In einem gewiſſen Sinne mag nun dieſer Gegenſatz
allerdings zuzugeben ſein, aber er iſt es keinesweges un¬
bedingt, denn ſonſt könnte man ihm den nicht minder und
eigentlich unzweifelhaft tiefer begründeten Satz entgegen¬
ſtellen, daß alle höhere Willenskraft und alle bedeutende
That nur durch große Höhe der Erkenntniß möglich ſei,
und hinwiederum wahrhaft reiche Erkenntniß nur möglich
werde in einem auch willenskräftig Tüchtigen und in der
That ſich Bewährenden.


[346]

Sehen wir alſo zu, wie dieſe ſcheinbaren Widerſprüche
ſich löſen!


Was das erſte betrifft über Unvereinbarkeit von höherer
Erkenntniß und mächtigem Wollen, ſo iſt an ein ähnliches
Geſetz zu erinnern wie beim Gefühl, nämlich daß eine ſehr
große Höhe der Erkenntniß ein gewiſſes In-ſich-ruhen,
eine höhere Indifferenz, ein durch und durch Befriedigt¬
ſein der Seele von dem unabläſſigen Schauen des Gött¬
lichen mit ſich bringe und eben dadurch, ſo wie es heftige
Stürme des Gefühls unmöglich mache, ſo auch beſondern
Trieb zum Handeln und beſondere Anſpannung der Willens¬
kraft für die ins Leben eingreifende That kaum mehr zu¬
laſſe. Dieſes höhere Aufgehen wieder im Unbewußten, oder
vielmehr die erreichte volle Gewißheit von der gleichen Gött¬
lichkeit des Unbewußten wie des Bewußten, bedingt ein
gewiſſes ſich Fortfluthenlaſſen im allgemeinen Meere des
Werdens und Seins, welches, eben weil das All — die
Totalität — ſo göttlich iſt — der Seele keine Nöthigung
mehr gibt die Individualität beſonders zu bethätigen. Hierin
liegt denn alſo der höhere Grund dieſer Unvereinbarkeit; —
es gibt indeß auch noch einen niedern Grund, welcher von
dem Thun ſelbſt entlehnt iſt und deutlich macht, daß eine
ſtäte, mehr durch äußere Veranlaſſung beſtimmte Willens¬
regung, dergeſtalt die Seele in Anſpruch nehmen muß, daß
eine Entwicklung höherer Erkenntniß nicht leicht mehr erreicht
werden wird. Was nun das andere betrifft, nämlich die
gleichzeitige und wechſelſeitige Steigerung von Wille und
Erkenntniß, ſo iſt an ſich klar nicht nur daß die That,
das Vollbringen in Wahrheit nur durch Erkenntniß, durch
das klare Bewußtſein und Urtheil, von welchen ſie hervor¬
gerufen wird, Werth bekommt, aber es iſt nicht das allein,
ſondern die höhere Erkenntniß und die vollkommenere Con¬
centration des Geiſtes übt und fördert auch die Entſchie¬
denheit und Macht des Willens. Das was Entſchloſſen¬
heit — Gegenwart des Geiſtes — genannt zu werden
[347] pflegt, und was überall, weil es auf der ſcharfen und
ſchnellen Beurtheilung vorliegender Verhältniſſe beruht, allein
die rechte Willenskraft bethätigt, iſt ohne reifere Erkennt¬
niß durchaus nicht möglich. Andererſeits iſt es auch wie¬
der unmöglich, daß die Erkenntniß wahrhaft reife, ohne
daß der Geiſt durch Wirkung nach außen ſich bewähre.
Streng genommen kann ja das ganze Leben nur in ſo
fern ſeinen Werth für das Wachsthum der Idee bekommen,
indem es das Mittel iſt, daß die Idee ſich bethätige; wäre
es möglich, daß eine Idee reifen könnte ohne Bethätigung,
ſo wäre das ganze Daſein überflüſſig.


So weit denn dieſe Verhältniſſe! — Was man krank¬
hafte Abſchweifungen
der Erkenntniß nennen könnte,
iſt eigentlich in dem ſchon inbegriffen was bei Betrachtung
der niedern Erkenntniß als Bornirtheit und Irrthum, und
in ihren äußerſten Graden als Blödſinn und Verrücktheit
erwähnt worden iſt. Beſonderer Bemerkung bedarf es in¬
deß, wie mächtig in dieſer Beziehung die Einwirkung des
unbewußten im bewußten Leben ſich darſtellt. Vielfältig
iſt ſchon gezeigt worden, wie die höchſte Blüthe bewußten
Geiſtes immer nur anzuſehen ſei als der ideelle Mittel-
und Höhenpunkt alles deſſen was zuvor, und was gleich¬
zeitig im Reiche des Unbewußtſeins der Idee vorgeht, und
wie ſonach fortwährend auch die reinſte Selbſt-Offenbarung
bewußten Geiſtes in der Erkenntniß bedingt werde durch
eine reine Stimmung der im Daſein des Organismus
waltenden unbewußten Idee. Wie demnach der Schwer¬
punkt eines Körpers ſich verändert und verrückt, wenn
eine Seite deſſelben auf einmal mehr als die andere be¬
laſtet wird, ſo kann auch der reine Strahl der Erkenntniß,
welcher in ſeinem eigenen innern Genügen und ſeiner
innern Freudigkeit das Siegel ſeiner Wahrhaftigkeit trägt,
nicht mehr als ſolcher gedacht werden, wenn bedeutendere
Störungen das Gleichgewicht unbewußten organiſchen Lebens
aufgehoben haben. Wie alſo das Auge bei der Gelbſucht
[348] nicht mehr die Anſchauung der Welt in rechter Färbung
erhält, ſo wird die Erkenntniß menſchlicher und göttlicher
Dinge durch aufgehobene Harmonie in den Regionen des
unbewußten organiſchen Lebens vielfältigſt geändert und
verſchoben. Dabei treten dann die ſonderbarſten Verhält¬
niſſe ein, die eben ſo unendlichen Streit über Recht-Erken¬
nen in der Menſchheit verurſacht haben und immer verur¬
ſachen werden. Es iſt nämlich ganz natürlich, daß Jedem,
eben weil die Erkenntniß ſtets jener höchſte ideelle Mittel¬
punkt gerade ſeines individuellen Daſeins iſt, auch gerade
ſeine Erkenntniß ihm zunächſt als die beſonders und wahr¬
haft begründete erſcheinen muß, ſo ſehr ſie vielleicht an
und für ſich verſchoben ſein mag, und ſelten nur, und be¬
ſonders dann erſt wenn das Gefühl mindeſtens den eigenen
nicht normalen Zuſtand errathen mehr als klar wahrnehmen
kann, kommt dann auch, eben wegen der höhern göttlichen
Weſenheit der Idee an und für ſich, dem Geiſte einiger
Zweifel, ob dieſe ſeine Erkenntniß die rechte ſei oder nicht,
und in dieſem Sinne kann man ſagen, daß die alte Frage:
„was iſt Wahrheit?“ nur beantwortet werde durch die For¬
derung jener delphiſchen Inſchrift: „erkenne dich ſelbſt!“


Es iſt nun allerdings eine wichtige Aufgabe der an¬
gewandten Pſychologie darauf zu achten, in welchen verſchie¬
denen Formen dieſe Verirrungen des bewußten Geiſtes in
Folge geſtörten Gleichgewichtes der unbewußten Sphäre
vorkommen können und wirklich vorkommen 1; die Zerwürf¬
niß und verſchiedenartige Erkenntniß in der Menſchheit kann
nur auf dieſe Weiſe begriffen werden, und von der finſtern
Lebensanſicht und umdüſterten Erkenntniß des Hypochonders,
von der leichtſinnigen Erfaſſung menſchlicher Verhältniſſe
und unſtäten Erkenntniß des ſanguiniſchen Jünglings, bis
zur Monomanie des von geſtörtem Leben des Pfortader¬
ſyſtems und Hirncongeſtionen gequälten Kranken und bis
[349] zur vollſtändigen Verrücktheit (ein ſehr bezeichnendes Wort
für den verrückten geiſtigen Schwerpunkt des bewußten Le¬
bens) bei ſich verbildendem oder entzündetem Hirn, möchte
ſich aus jenen Andeutungen wohl das Verſtändniß erörtern
laſſen. Freilich iſt es hiebei nothwendig, an das ſich zu¬
rück zu erinnern, was ich hier und an andern Orten über
die verſchiedene pſychiſche Signatur der einzelnen organiſchen
(unbewußten) Syſteme angemerkt habe, denn nur dadurch
wird man ſich deutlich machen, wie bei dieſer oder jener
Lebensſtörung der geiſtige Schwerpunkt, eben jener in der
Erkenntniß ruhende höhere Mittelpunkt des Seelenlebens,
aus ſeiner rechten Stelle verdrängt, und bald nach dieſer
oder jener Richtung, wo nun die Erkenntniß aufhört wahr¬
hafte Erkenntniß zu ſein, gleichſam verrückt werden kann.
Wie geſagt indeß, das Ausmitteln dieſer nicht mehr in
rechter und reiner Mitte ſich haltenden Erkenntniß und ihres
Verhältniſſes zur ächten und höchſten, an fremden Seelen
wie in der eigenen, iſt immer eine der ſchwierigſten Auf¬
gaben höherer Lebenkunſt, und ſelten werden Aufgaben dieſer
Art ohne die vielfältigſten Widerſprüche und Streitigkeiten
gelöst. Die Beachtung dieſer Widerſprüche und unlös¬
baren Streitigkeiten im Reiche der Erkenntniß, worauf es
beruht, daß die erwähnte Frage: „was iſt Wahrheit?“ nie
ganz vollſtändig entſchieden werden wird, iſt aber eben
darum ſo wichtig, weil ſie auf das Weſen der Erkenntniß
ſelbſt ein beſonderes helles Licht zu werfen im Stande iſt.
Würden wir nämlich durch die Erkenntniß die Idee un¬
mittelbar
(d. h. ohne ſie in jene Aequivalente der Worte
überſetzen zu müſſen) gewahr, ſo wäre ganz gewiß eine
ſolche Schwankung unmöglich, aber eben darum, weil das
Erkennen der Gedanken nur ein Combiniren verſchiedener
ſolcher Aequivalente, weil es eine Art von Buchſtabenrech¬
nung iſt, in welcher das Verhältniß der Ideen ausge¬
funden werden kann, während im Gefühl der Zuſtand
der Idee allein unmittelbar angeſchaut wird, bewegt ſich
[350] das erſtere in einem ſo weiten indefiniſſabeln Kreiſe. Wer
will durch alleiniges Wirken der Intelligenz die Nichtigkeit
eines abſoluten Idealismus darſtellen? wer will durch bloße
Schlußfolgen die Gewißheit Gottes finden? wer will allein
durch erkennende Gedanken von der eigenen Seele und ihrem
eigenthümlichen göttlichen Sein die Wahrhaftigkeit finden?
An dergleichen muß man ſich immer erinnern, um ſich zu
überzeugen, daß das wahre Wiſſen immer nur aus dem
Ganzen
der Seele hervorgehen kann.


So bliebe uns nun noch das Verhältniß der Er¬
kenntniß zum äußern ſich Darleben und der innern
Weſenheit der Seele zu erwägen
. In erſterer Bezie¬
hung iſt ein zwiefaches Einwirken der Erkenntniß zu erwägen:
ein bewußtloſes und ein bewußtes. Es iſt merkwürdig genug
und ſcheint faſt ein Widerſpruch, daß die Sphäre der Erkennt¬
niß auch unbewußt wirken könne, und doch iſt es ſo, und
erklärt ſich dadurch, daß ſie ſelbſt nie ganz und allgemein vom
Lichte des Bewußtſeins erleuchtet iſt, ſondern daß, wie frü¬
her erörtert worden iſt, auch im bewußten Geiſte immerfort
das bei weitem Meiſte im Unbewußtſein ruht. In ſo fern
hat alſo auch die Sphäre der Erkenntniß eine Seite, welche
ſtets in die des abſolut unbewußten Seelenlebens übergeht,
und in dieſer Beziehung iſt ſonach früher ſchon erwähnt
worden, daß eine ſtille aber unaufhörliche Einwirkung des
Standes der Erkenntniß auf das unbewußte Bildungsleben
unabweisbar vorhanden iſt. Wie daher ſchon insgemein
mit dem Ausdrucke eines denkenden Geſichts, einer gedan¬
kenvollen Stirn, eine gewiſſe eigenthümliche Modification
des Organismus angedeutet wird, welche ſymboliſch die
geheimen Vorgänge des Geiſtes offenbar macht, ſo kann
es dem ſchärfer gehenden Beobachter bald klar werden, mit
welcher Macht das höhere Licht der Seele auch in die
niederen dunkeln Regionen des Lebens ſcheint. Darum
verbreitet ſich eines Theils über das ganze Aeußere eines
geiſtig höher entwickelten Menſchen, ein gewiſſer feiner
[351] Schimmer und Hauch eines edlern Daſeins, welcher der
Form und Bewegung ſeines Körpers einen Charakter auf¬
drückt, den merkwürdiger Weiſe auch an Erkenntniß minder
Entwickelte unmittelbar als einen beſondern und diſtinguir¬
ten empfinden, und wenn man eines Theils ſagen darf,
daß es ſchlechterdings unmöglich ſei, daß dasjenige, was
wir höhere Schönheit des Leibes nennen, ſich jemals ent¬
wickeln könne, wenn nicht in der Grundidee dieſes Da¬
ſeins überhaupt eine höhere Tonart angeſchlagen ſei, ſo iſt
dagegen ſonderbar, daß hinwiederum eine plaſtiſch ganz
vollendete Schönheit jene Bethätigung der Erkenntniß auf
geiſtige Weiſe ſelten in ausgezeichnetem Maße zu geſtatten
ſcheint, vielleicht gerade deßhalb, weil gewiſſermaßen die
Erkenntniß in der Kryſtalliſation des Unbewußten ſo zu
ſagen untergegangen iſt, während in minder ausnehmend
ſchön gegliederter Organiſation gleichſam die lebendige Macht
der Seele und des Geiſtes eine minder gebundene, nie
ganz im Formellen untergegangene ſein wird. — Die Art
und Weiſe, nach welcher eine gewiſſe Entwicklung und Rich¬
tung der Erkenntniß in dieſer oder jener Gegend des Or¬
ganismus ſich kund gibt, iſt ſchwer zu verfolgen und wird
auch künftig eine der verwickeltſten Aufgaben der Phyſiologie
bleiben; hier hat man ſich vorläufig daran zu halten, daß
unbewußtes bildendes Leben der Seele in nächſter Beziehung
ſteht zu derjenigen unbewußten Region, in welche periodiſch
alles erkennende geiſtige Leben zurückſinkt, und daß, wenn
die Blüthe des letztern, der bewußte Geiſt, veredelt oder
verdumpft wird, auch das erſtere nothwendig dadurch in
ſich weſentlich modificirt werden muß. Uebrigens erklärt
der oben ausgeſprochene Gedanke über das Verhältniß der
leiblichen Schönheit zur Erkenntniß, nicht nur, warum über¬
haupt das was man plaſtiſch ſchöne Vollendung der Ge¬
ſtalt nennt, mehr eine räumliche Kryſtalliſation einer in
ſich bedeutenden Idee genannt werden darf, während dem
freien ſchönen Gebahren der Idee mit erkennenden Gedan¬
[352] ken jenes Untergehen in das plaſtiſch verharrende Schöne
weniger angemeſſen iſt, ſondern er gibt auch nähere An¬
deutung darüber, warum gewiſſe theils mehr auf Reaction,
theils mehr auf Production gerichtete Eigenthümlichkeiten
mit einer höhern Erkenntniß durchaus nicht ſtimmen. Jeder
fühlt unmittelbar, warum die Geſtalt eines farneſiſchen
Herkules ganz unmöglich zu vereinen iſt mit einer Seele,
welche im Geiſte die höhere philoſophiſche Erkenntniß errun¬
gen hat, und bedeutungsvoll genug iſt in dieſer Beziehung
ſchon die Mythe vom Herakles ſelbſt, als welcher mit all
ſeiner derben Gewalt doch der Sklave eines ſchwachen Man¬
nes blieb und nur aufgetragene Arbeiten ausführen konnte.
Eben ſo iſt es mit der leiblichen Productivität. Es iſt
außerordentlich was namentlich die Seherkunſt der Dichter
hierüber ſchon mit Beſtimmtheit ausgeſagt hat, ohne irgend
nähere wiſſenſchaftliche Conſtruction. Eine der ſchärfſten
Stellen hierüber iſt die bekannte in Shakespeare's Julius
Cäſar, wo Cäſar vom Caſſius ſagt:


„Laßt wohlbeleibte Männer um mich ſein,

Mit glatten Köpfen und die Nachts gut ſchlafen,

Der Caſſius dort hat einen hohlen Blick,

Er denkt zu viel: die Leute ſind gefährlich.“

Denn wer ſollte auf den erſten Blick glauben, daß
ſtärkere oder ſchwächere Ablagerung von Fett und Zellge¬
webe mit niedrigerer oder höherer Erkenntniß in Beziehung
ſtehen könnte, und doch iſt es ſo! ja, was ſonſt iſt denn
die Urſache, daß die weibliche Seele verhältnißmäßig we¬
niger für höhere Erkenntniß ſich eignet als die männliche,
als daß der weibliche Organismus mehr der unbewußten
leiblichen Productivität beſtimmt iſt als der männliche.


Noch entſchiedener und noch deutlicher als auf die Ge¬
ſtaltungs-Vorgänge des unbewußten Lebens wirkt die Er¬
kenntniß auf die in Gefühle und Bewegungen ausgehenden
Lebenserſcheinungen des Unbewußten. Eine höhere Erkennt¬
niß veredelt und erhöht, eine niedere Erkenntniß avilirt
und treibt ins Gemeine Alles was dem bildenden Leben
[353] angehört. Man könnte faſt ſagen, die Erkenntniß verhalte
ſich zu dieſen Vorgängen wie der Menſch zu den Thieren.
Wie die menſchliche Individualität, wie ich früher zeigte,
nicht nur durch ihre Einwirkung die Geſtalt des Thieres
verfeinern und verſchönern kann, ſondern auch die Idee im
Thierleben ſelbſt erweckt und dem ganzen Sein und Thun
dieſer Geſchöpfe ein höheres Siegel aufdrückt, ſo ungefähr
wirkt auf Athmungsbewegung (Klang der Stimme u. ſ. w.),
ſo wie auf Vorgänge der Ernährung (Eſſen und Trinken)
und auf die Vorgänge des Geſchlechtslebens, ja auf dieſes
ganz beſonders, eine höhere reinere Intelligenz eben ſo er¬
hebend, verfeinernd — mit einem Wort — weihend —
als eine niedere Erkenntniß herabziehend und verſchlech¬
ternd.


Hier iſt nun übrigens der Punkt, wo das bewußtloſe
Einwirken der Erkenntniß übergeht in das bewußte, und
wo neben dem ganz unwillkürlichen und ſich ganz von ſelbſt
und abſichtslos ergebenden Ueberwirken höherer Erkenntniß
in die niederen leiblichen Offenbarungen der Pſyche, ein
abſichtliches Regieren und eine Art von Erziehung des Ge¬
ringern durch das Höhere anhebt. Alles was im höhern
Sinne Kosmetik — d. h. die Erziehung des Körpers
zur Schönheit, Alles was Hygiaſtik — d. h. Erzie¬
hung des Körpers zur Geſundheit, und Gymnaſtik
oder Erziehung zur Schönheit und Kraft der Bewegung
genannt werden kann, fällt nun ſchon durchaus in den
Bereich des vollkommen bewußten und abſichtlichen Einwir¬
kens des erkennenden Geiſtes in den leiblichen Zuſtand des
Menſchen. Welche außerordentliche Reſultate das Einwirken
dieſer drei Richtungen der Erkenntniß in der Entwicklung
des höhern Menſchlichen hervorbringen kann, und wie elend
und beklagenswerth menſchliche Exiſtenz zuſammenſinkt, wenn
dieſe Strahlen ihr ganz und gar entzogen ſind, lehrt die
Geſchichte des Menſchen auf jedem Blatte. — Die Griechen
ſind auch hier wieder die erſten, welche mit vollen friſchen
Carus, Pſyche, 23[354] Zügen an ſolchen Quellen getrunken haben, und es iſt eine
Aufgabe der immer höher zu dem Reich der Wahrheit ſich
fortbildenden Menſchheit, in ſpätern Perioden alle dieſe
Vorzüge wieder zu vereinigen mit Manchem, was in jenem
beglückten Volke noch nicht hatte zum Durchbruch kommen
können.


So viel denn von dem, was wir unter dem Einfluſſe
der Erkenntniß auf äußeres ſich Darleben der Idee zuſam¬
menfaſſen konnten; das was ſich vom Einfluſſe der Er¬
kenntniß auf das Weſen, auf das An-ſich-ſein der Idee
ausſprechen läßt, fällt zuſammen mit dem, was früher ſchon
über das Wachsthum der Idee dargeſtellt worden iſt. —
Auf keinen Fall kann es dem Wiſſenden verborgen bleiben,
daß die Erkenntniß, d. i. das Gewahrwerden des
Verhältniſſes der Ideen unter ſich und zur Er¬
ſcheinung
, die erſte und weſentlichſte Bedingung ſei, da¬
mit eine innere Steigerung, ein höheres Wachsthum der
eigenen Idee möglich werde. Man hat ſich nur an die
oben gegebene Bedeutung des „cogitoergosum“ zu er¬
innern, zu bedenken, daß die Entwicklung der Seele zum
Geiſt nur in dem Moment erſt Statt hat, als ſie ſelbſt
durch jenes Gebahren mit den wunderbaren Aequivalenten
der Idee und deren ſinnlicher Offenbarung, welches wir
„Denken“ nennen, zuerſt in den Stand geſetzt wird, wie
andere ſo auch die eigene Idee vernehmen zu lernen, und
man kann nicht in Zweifel ſein, welchen mächtigen Einfluß
die Erkenntniß auf die Entwicklung des An-ſich-ſeins der
Seele haben müſſe. Die vernachläſſigte Erkenntniß kann
nicht anders als mindern und ſchwächen, die geſteigerte
und klarer werdende kann nicht anders als erheben und
kräftigen die Energie der Idee — das Höchſte des Men¬
ſchen. — Und ſo möge denn dieſes Alles für jetzt hin¬
reichen die Geſchichte der Erkenntniß deutlich gemacht zu
haben.

[355]

8. Zur Geſchichte des Willens.

Ein Wollen, eine Willkür, und zuhöchſt ein freier
Wille, werden in der menſchlichen Seele nur dadurch denk¬
bar, daß ſchon durch das unbewußte Walten der Bildung,
leibliche Organe ſich ihr entwickeln, welche ein beſtimmtes
Thun, eine Wirkung nach außen möglich machen. Nur
einer Seele, welcher die Möglichkeit eines beſtimm¬
ten Thuns
gegeben iſt, kann ein beſtimmter Wille zu¬
kommen; es wächſt die Willensſtärke deßhalb zunächſt mit
der Entwicklung und Kräftigung dieſer Gebilde, und ſie
nimmt ab mit der Schwäche oder der Verkümmerung der¬
ſelben. — Die Phyſiologie weist nach, daß als ſolche
Träger des Activen im Organismus angeſehen werden
müſſen, zunächſt die den centrifugalen Strom der Inner¬
vation leitenden Primitivfaſern der Nerven, und ſecundär
die durch dieſe Strömungen angeregten Bewegungs- und
Sinnesorgane. So lange dieſe Gebilde daher — wie wir
dies in niederſten Organismen, und jedem erſten embryo¬
niſchen Zuſtand der höhern finden, — noch in einer nicht
vollkommen getrennten indifferenten Zellſubſtanz ruhen, ſo
lange iſt von Willkür und noch weniger von freiem Wil¬
len die Rede, ſondern nur mit Nothwendigkeit erfolgt
auf einen angebrachten Reiz die augenblickliche Reaction,
etwa eine Zuſammenziehung oder dergleichen. Erſt wo die
Scheidung aller Subſtanzen vollendet und in der das Be¬
wußtſein bedingenden Entwicklung nervoſer Elementarſub¬
ſtanz des Hirns die eigentliche Selbſtſtändigkeit des Orga¬
nismus begründet iſt, tritt zwiſchen Reiz und Gegenwirkung,
wie früher ſchon gezeigt wurde, das Erkennen her¬
vor, und von dieſem Augenblick an muß nicht mehr die
Gegenwirkung unbedingt auf den Reiz folgen, und von
nun an kann auch, bloß durch die Erkenntniß oder das
Gefühl angeregt, ein Wollen ſich hervorthun, mit einem
Wort — erſt von hier an iſt von einer Willkür und zu¬
höchſt von einem freien Willen die Rede.


[356]

Man hat aus dieſem Grunde zuweilen, wie ſchon bei
der Lehre vom Erkennen bemerkt wurde, den Willen der¬
geſtalt mit dem Erkennen für vereint gehalten, daß man
beide zu trennen nicht für ſtatthaft erklären wollte. Hierauf
iſt zu erwiedern, daß überhaupt dadurch, daß das Eine die
Bedingung des Andern iſt, niemals erwieſen ſein kann,
daß beide eins ſein müßten, und daß hier, im Verhältniß
der Erkenntniß zum Willen, deutlich genug ein verſchiedenes
Sein ſich dadurch ergibt, daß beide in ihrer relativen
Höhe und Energie keinesweges durchaus einander als ſich
gleichſtehende bedingen; denn die Willenskraft kann bei der¬
ſelben Erkenntniß ſehr ſinken (ein Erkrankter, ein von Blut¬
verluſt Erſchöpfter wird nicht mehr dieſelbe Willensmacht
haben wie vorher, obwohl er noch derſelbe Erkennende iſt),
und die Energie des willkürlichen Wollens kann bei ganz
geſunkener Erkenntniß (z. B. im Wahnſinn) eine ſehr ge¬
waltige ſein. Iſt doch auch gezeigt worden, wie deßhalb
das jeder Seele eigene Verhältniß des Willens zur Er¬
kenntniß ſehr beſtimmt in dem jedesmaligen Verhalten der
Nervengebilde des Hirns, und ſelbſt dadurch wieder, kranio¬
ſkopiſch genommen, in dem der Schädelwirbel, ſich aus¬
ſpricht, ſo daß Stärke des Willens durch ſtärkere Entwick¬
lung von Nachhirn und Rückenmark und von Hinterhaupt¬
wirbel gewöhnlich entſchieden ſich verräth.


Hiedurch muß übrigens nun auch klar geworden ſein,
daß, eben ſo wie ohne entwickeltes Bewußtſein noch nicht
vom Willen die Rede iſt, ſo auch der entwickelte Wille
nicht in das abſolut unbewußte Reich der Seele hinüber¬
zuwirken vermag, oder vielmehr, daß er es nur mittelbar
und indirect zu erreichen im Stande iſt, wie hierüber ſchon
in einem frühern Abſchnitte von dem Einfluſſe des bewu߬
ten auf das unbewußte Seelenleben das Nähere angeführt
worden iſt. Hiebei iſt jedoch nicht zu vergeſſen, daß auch,
ſchon in dem Kreiſe des eigentlich bewußten Lebens, der
Wille ſehr beſtimmte Schranken findet. Wir können nicht
[357] nur nicht ins Ungemeſſene fort ausführen, was wir wollen,
ſondern ſelbſt anhaltend fort zu wollen iſt uns verſagt
wegen des immer wieder eintretenden Zurückſinkens alles
bewußten Lebens ins Unbewußte. Es führt daher zu eigenen
Betrachtungen, wenn man bedenkt, wie dieſes Feſſeln des
Willens dann auch ſelbſt in die Traumwelt übergeht, und
nichts häufiger in dieſer Nachtſeite des Seelenlebens vor¬
kommt, als irgend ein vergebliches Beſtreben, ein ſich frei
machen Wollen und nicht Können, ein ängſtliches Bedrängt¬
ſein bei Unmöglichkeit ſich zu löſen u. ſ. w. — Achtet man,
ſage ich, recht auf alle dieſe ſonderbaren Erſcheinungen
unſers Innern, ſo kann es kaum zweifelhaft ſein, daß ſchon
in jener uns ſo eigenthümlich bewegenden Mythe vom ge¬
feſſelten Prometheus nichts Anderes gemeint ſei, als dieſes
Ringen der Seele, als dieſe Qual eines doch in ſo vielen
Beziehungen gehemmten, gebundenen Willens. 1 Daher das
hohe Pathos dieſer Mythe, in welcher es im Bilde anſchau¬
lich wird, wie der eigenthümliche göttliche vorausſchauende
Geiſt des Menſchen, in ſeiner Gebundenheit an das ſtarre
Naturgeſetz, qualvoll im Innern ſich abmüht, bis durch
höhere Einwirkung der zerfleiſchende Adler getödtet und in
der Entwicklung des Geiſtes zur Höhe vollendeten Erkennt¬
niſſes, im freien Schauen des Göttlichen, der Prometheus
ſeiner Feſſeln enthoben und unter die Seeligen geführt wird.
Wollen wir uns hier zuvörderſt mit der Entwicklungs¬
geſchichte des Willens beſchäftigen, ſo kann darunter nur
verſtanden werden das Hervorgehen deſſelben aus dem zu¬
erſt ganz willenloſen Zuſtande der Seele, und deſſen all¬
mählige Hinaufbildung zum freien Willen. Hiebei bedarf
es jedoch zuvörderſt noch der genauern Beſtimmung über
das, was wir freien Willen zu nennen berechtigt ſind.
Schon die vorhergehenden Betrachtungen über die vielfälti¬
gen Beſchränkungen und Hemmungen menſchlichen Wollens
[358] zeigen, daß eine ganz vollſtändige Freiheit, d. h. Unbe¬
ſchränktheit deſſelben, ganz undenkbar ſei; wir müſſen alſo
damit anfangen, daß wir mit dem Worte „Freiheit“ hier
einen andern Sinn verbinden als den der abſoluten Will¬
kür, und dieſer kann denn kein anderer ſein als der des
Befreit-ſeins von dem nicht Gemäßen. Der eigent¬
liche Sinn der Freiheit des Willens wäre alſo demnach:
Freiſein von einer Anregung des Wollens durch bloß Zu¬
fälliges, Unweſentliches, d. h. Ungöttliches, und dagegen
völliges Befriedigtſein des Wollens in der Richtung auf
das Urweſentliche, ewig ſich ſelbſt Gleiche, durchaus Gött¬
liche. Hieraus geht nun allerdings hervor, daß, ſo wie
ſchon alles willkürliche Wollen irgend eine Art von be¬
wußtem Erkennen vorausſetzt, ſo daß das wahre Freiſein
des Willens nur gedacht werden kann, in wie fern das
vollkommenſte Bewußtſein und die reinſte Erkenntniß des
Göttlichen erreicht iſt, eben damit nur die Richtung auf
dieſes Göttliche das Beſtimmende des Willens werde.


Eine nähere Beobachtung des menſchlichen Entwick¬
lungsganges kann nun aber zeigen, auf wie verſchiedenen
Stufen, durch mannichfaltige Formen des Wollens hindurch,
Formen, welche wir bald Begehren, oder wenn es mit
Heftigkeit auftritt, Begier nennen, oder welche Eigen¬
willen
und Willkür genannt werden, je weniger dieſes
Wollen von Erkenntniß erleuchtet iſt, die Seele zur wirk¬
lichen Freiheit des Willens ſich heranbildet. In all dieſen
verſchiedenen Stufen des Willens iſt nun das Erkennen
der entſchiedene Regulator, und Vieles, was wir im vorigen
Abſchnitt über das ſich Entwickeln der Erkenntniß ausge¬
ſprochen haben, findet deßhalb auch hier ſeine Anwendung.
Iſt aber auch das Erkennen das eigentlich Leitende, Geſetz¬
gebende des Willens, ſo iſt es doch keinesweges das allein
Anregende, das allein die Energie des Willens Beſtim¬
mende; in dieſer Beziehung macht ſich vielmehr wieder jenes
Unbewußte mit Macht geltend, welches auf niederſter Stufe,
[359] da, wo mit jeder Art des Bewußtſeins auch der Wille
fehlte, allein alle Gegenwirkung beſtimmt hatte; aber es
macht ſich nicht geltend als Unbewußtes ſchlechthin, ſondern
in der Form des Gefühls. Weſentlich aber ſind es jene
Gefühle, welche wir eben deßhalb die activen nannten, der
Haß und die Liebe, welche, und zwar wieder in ſehr ver¬
ſchiedenen Stufen und Graden, den Willen anregen und
bald ſtärker, bald ſchwächer erſcheinen laſſen. Wenn daher
auch der Ausſpruch jenes Franzoſen 1: „Aimer c'est vou¬
loir et vouloir c'est aimer,“
zu allgemein iſt, ſo ſpringt
doch die genaue Beziehung, welche zwiſchen den activen
Gefühlen und der Willensenergie beſteht, auf das Deut¬
lichſte ins Auge. Mittelbar iſt freilich auch hier der Ein¬
fluß der Erkenntniß unverkennbar, da es von ihm abhängt,
ob jene Gefühle von einem Urbilde oder von Scheinbildern
bewegt werden, und ob mehr und mehr allein das höhere,
das poſitive Gefühl, die Liebe, ihren beſtimmenden Einfluß
geltend machen könne, oder ob Haß und Trauer in ähnliche
geringere Gefühle beſtimmend einwirken ſollen; da aber,
wie wir gefunden haben, die Freiheit des Willens nichts
anderes ſein kann, als das Freiſein deſſelben von jeder
ungemäßen Beſtimmung, und das immer mehr und zuhöchſt
allein Beſtimmtwerden durch das unbedingt Höchſte — das
Göttliche — und da ferner das Göttliche wieder nicht er¬
kannt werden kann, ohne zugleich dergeſtalt die Liebe der
Seele zu erregen, daß nur in ihm dieſes Urgefühl ſeinen
höchſten Zielpunkt und die ganze Erfüllung ſeines Weſens
erreiche, ſo verſtehen wir jetzt allerdings, warum die eigent¬
liche Vollendung des Willens eben ſo ſehr von der Er¬
kenntniß als von der Liebe bedingt ſein muß. Wir können
uns daher auf keinen Fall verbergen, daß der Wille zu
ſeiner wahren Vollendung eben ſo ſehr der Liebe als der
Erkenntniß bedürfe, und wir erklären uns daher, daß ein
Willensakt — eine That — welche bloß durch Erkenntniß
[360] abgewogen und entſchieden ſind, allemal eine Stufe tiefer
ſtehen werde, als ein Willensakt und eine That, welche
nächſt der Erkenntniß zugleich durch eine höhere Liebe be¬
ſtimmt wurden.


Ueberhaupt tritt aber in dieſer beſtimmenden Einwirkung
des Gefühls für den Willen, noch viel Merkwürdiges her¬
vor, und wenn wir an die Unmittelbarkeit des Ge¬
fühls gedenken, durch welche daſſelbe gewiſſermaßen über
die Erkenntniß ſich erhebt, während es durch ſein Dunkeles,
oft Schwankendes und ſehr Individuelles ſich wieder der¬
ſelben bedeutend unterordnet, ſo erkennen wir wohl, wie
ein nur durch augenblickliches Gefühl angeregtes Wollen
und Thun, einmal eben ſo ſehr mit Größe und Schönheit
hervortreten kann, als es in andern Fällen wieder als ein
Uebereiltes, Unſchönes und Niedriges erſcheinen wird. Ein
merkwürdiger Kreislauf vom Unbewußten durch das Be¬
wußtſein abermals zum Unbewußten, tritt hier auf ent¬
ſchiedene Weiſe hervor. Auf niederſter Stufe der noch ganz
unbewußten Seele wirkt nämlich der Reiz der Sinnes¬
empfindung — oder eigentlich Erfühlung unmittelbar die
Reaction — die That. — Bei entwickeltem Selbſtbewußtſein
hingegen wird die Sinnesempfindung am Gedanken abge¬
meſſen und erwogen, und danach entſcheidet ſich nun der
Wille, überlegend, auf welche Weiſe die Beförderung eines
mehr der Seele gemäßen Zuſtandes — einer gewiſſen Glück¬
ſeeligkeit — ſicherer erreicht werden könne. Bei innerer Er¬
höhung des in ſeinem Weſen allemal insbeſondere vom
Unbewußten aus bedingten Gefühllebens endlich, wird zwar
die Sinnesvorſtellung, welche die Situation für die Willens¬
entſcheidung darbietet, zunächſt auch im Bewußtſein erwogen,
der Wille ſelbſt aber durch das erhöhte Gefühl, und alſo
weſentlich wieder mittels des Unbewußten, bedingt.


Wie es daher davon abhängt, daß die höchſte Regung
des bewußten Geiſtes immer wieder ins Unbewußte über¬
ſchlagen muß, und die feinſte und reinſte Gliederung im
[361] erkennenden Geiſte um ſo mehr durch das vorausgegangene
Unbewußte bedingt iſt, je mehr der Geiſt das iſt, was
wir einen Genius, einen Urgeiſt nennen, ſo wirkt dieſer
Kreislauf auch ſtets wieder auf die rechte Würdigung der
verſchiedenen Willensakte zurück. Allerdings iſt nämlich viel¬
leicht für die größere Zahl der Fälle zuzugeben, daß die¬
jenige That, welche ohne durch unmittelbare Sinneswahr¬
nehmung und Gefühlsregung beſtimmt zu ſein, nur durch
Ueberlegung, d. h. innere Geiſtesbewegung nach dem Ma߬
ſtabe höherer Erkenntniß gewollt und gethan wird, höher
ſtehe, als die durch Sinneswahrnehmung und Gefühl un¬
mittelbar hervorgerufene; aber es iſt doch nicht zu vergeſſen,
daß, ſo hoch insgemein jenes freie Wollen über dieſem
letzterwähnten Wollen, welches in ſo fern wieder gewiſſer¬
maßen ein Müſſen wird, ſtehen mag, es nun doch wieder
über allem freien überlegten Wollen, ein noch höheres,
nach unmittelbarem ſich Anzeigen der Idee — d. i. des
Göttlichen — gemußtes Wollen gibt, eines, das überall
mit höherer innerer Nothwendigkeit ſich geltend macht, und
aus welchem von jeher die höchſten Thaten des Geiſtes
hervorgegangen ſind und immer hervorgehen werden. Dies
Letztere nämlich iſt die Art des Willens, welche bewegt wird
von einem höhern Unbekannten, es iſt die Art, welche man
meiſtens mit dem Namen der Inſpiration — der gött¬
lichen Begeiſterung
belegt hat, die Art, welche mit einer
innern Gewalt, von der keine Rechenſchaft weiter zu geben
iſt, unerläßlich drängt, daß das bald heller, bald dunkler
der Erkenntniß vorſchwebende Ziel des Wollens erreicht werde,
die Art des Wollens endlich, welche eben durch Mitwirkung
des Gefühls auch auf eine merkwürdige Weiſe die Macht
zur Vollführung gibt und erhöht, und ſo das ſchon alte
Wort erklärt: „der Herr iſt in den Schwachen mächtig.“ —
Daß alſo hinſichts des Willens auch eine ſolche Fortſchrei¬
tung ſei von dem unmittelbar „Gemußten“ bis zum freien
Willen, und dann bis zu dem wieder in einer höhern un¬
[362] bedingten Nöthigung ſeine Freiheit aufgebenden Willen, er¬
innert uns durchaus an die ſchon viel früher mitgetheilte
Bemerkung, welche darauf ſich bezog, daß alles Können
nur dadurch zur Kunſt werde, daß es aufhöre ein durchaus
bewußtes Können zu ſein; eine Bemerkung, die wir durch
das Beiſpiel des Klavierſpielers erläuterten, welcher erſt
dann die Kunſt des Spiels wirklich und vollſtändig beſitzt,
wenn die einzelnen, anfangs jede geſondert, mit Bewußt¬
ſein gewollten und vollführten Fingerſetzungen und Bewe¬
gungen durchaus wieder unbewußt geworden ſind, und eben
nur gewiſſermaßen unwillkürlich dann erſcheinen, wenn die
Idee der Muſik in der Seele lebendig aufgeht.


In dieſen Erſcheinungen des Seelenlebens zeigt ſich
übrigens, wenn wir es genauer bedenken, nur das Ver¬
hältniß wieder an, welches auch in andern Beziehungen in
der Natur ſich vielfältig wiederholt, nämlich das Verhältniß
eines Theil-Organismus zu einem höhern Geſammt-Orga¬
nismus. — Wie etwa an der lebendigen Seefeder die ein¬
zelne Thierblüthe gewiſſe Regungen, Erfühlungen, Bewe¬
gungen für ſich hat, andere aber nur von dem Leben des
ganzen Polypenſtocks regiert werden, ſo hat auch in ſo viel
höherm Lebenkreiſe der bewußte Geiſt des Menſchen nur
zum Theil ſein Erkennen, Fühlen und Wollen für ſich, zum
andern Theil aber theilt er dieſe Regungen mit dem Leben¬
kreiſe der Menſchheit, ja dem der Welt und allem in ihr
ſich offenbarenden Göttlichen. Es tritt hier das merkwür¬
dige Verhältniß ein, daß der bewußte Geiſt des Menſchen
überhaupt eines Theils nur zur Entwicklung, zur Selbſt¬
ſtändigkeit und ſomit auch zum freien Willen kommt durch
Vereinleben mit der Menſchheit, und daß doch auch andern
Theils gerade in dieſem Vereinleben das Moment gegeben
iſt, wodurch ſeine Selbſtſtändigkeit gewiſſermaßen wieder
aufgehoben wird, und in Bezug auf den Willen ein höheres
Müſſen mit in die ſcheinbare Willkür hereingreift, und
zwar um ſo mehr hereingreift und ſich geltend macht, je
[363] höher die Seele ſich entwickelt hat, und je mehr ſie über¬
haupt von Haus aus befähigt war. Dieſer letztere Um¬
ſtand iſt ganz beſonders wichtig und bisher keinesweges
genügend beachtet. Nur zu gewöhnlich hat man dafür ge¬
halten, daß die höhere Entwicklung durchaus eine möglichſt
vollkommene Selbſtbeſtimmung, einen in dieſer Beziehung
möglichſt freien Willen bewähren müſſe, und hat nicht
genug daran gedacht, daß, was von jeher Großes in der
Menſchheit geſchah, nicht ſowohl durch Willkür und ſelbſt¬
geſchaffenen Vorſatz, ſondern nach einem gewiſſen höhern
Müſſen, nach einer unabweisbaren Nothwendigkeit — man
nannte ſie bald Eingebung, bald Nöthigung des Dämons,
bald Drang des Genius — geſchehen iſt. Das dagegen
iſt gewiß, daß dieſe innere Willensfreiheit — das ſich Be¬
wußtgewordenſein einer willkürlichen Selbſtbeſtimmung als
vorbereitende Stufe vorausgegangen ſein muß
,
wenn jenes höhere Müſſen auf die rechte Weiſe eintreten,
und die unwillkürliche Selbſtbeſtimmung in einem höhern
Sinne Statt finden ſoll. Unmittelbar in einer ſich ſelbſt noch
nicht erkennenden und alſo auch noch keiner freien Selbſt¬
beſtimmung fähigen Individualität, kann zwar auch ein
höheres, nicht bloß von der Idee des eigenen Daſeins be¬
dingtes Müſſen einwirken, und wirkt am Ende auch alle¬
mal ein, da irgend eine einſeitige bloß von eigener Idee
geleitete Entwicklung unmöglich iſt, aber das Reſultat wird
ein anderes und weſentlich an perſönlichem Werth geringeres
ſein, als da, wo in dem wahrhaft frei gewordenen Geiſte
die höhere göttliche Nothwendigkeit einer beſtimmten Richtung
des Willens unbedingt ſich geltend macht.


Es bleibt gegenwärtig noch übrig einmal: das Ver¬
hältniß des Willens zum unbewußten ſich Darleben der
Organiſation zu unterſuchen, zweitens zu erwägen, was
als krankhafte Abſchweifung des Willens anzuſehen ſei, und
endlich die Wirkung des Willens für inneres Wachsthum
der Idee in Betrachtung zu nehmen.


[364]

In erſterer Beziehung iſt daran zu erinnern, wie ſchon
im unbewußten ſich Darleben der Idee, in der Entwicklung
aller der, für nach außen Offenbar-machen des innern
Wollens gegebenen Organe, die Beziehung ausgeſprochen
iſt, welche die reagirende, ſelbſtbeſtimmende Seite unſers
ſeeliſchen Weſens auf die Organiſation haben müſſe. Wie
es daher entſchieden der Fall ſein wird, daß da, wo in
erſter unbewußter Bildung gerade die Organe der reagiren¬
den Seite ſtärker in der Anlage vorhanden ſind, auch die
Willensenergie im Geiſte mächtiger hervortreten wird, ſo
wird auch umgekehrt viele Uebung des Willens dieſe Sei¬
ten der Organiſation heben und mehr ausbilden. Einer
beſondern Erwägung bedarf jedoch hier das Verhältniß des
Willens zu der reagirenden Seite in den Sinnesorganen;
namentlich pflegt das Auge, dieſes überhaupt ſo ſeeliſche
Organ, in dieſer Hinſicht von beſonderer Bedeutung zu
ſein. Dieſes Thun des Auges iſt weſentlich für alles
Sehen, denn ohne daſſelbe iſt kein beſtimmtes Sehen mög¬
lich; dieſes Thun äußert ſich aber dem Beobachtenden ins¬
beſondere im Blick, und eben darum iſt das Auge zugleich,
ſo wie es Gefühl und Erkenntniß verkündet, auch ein Spie¬
gel für die höhere oder niedere Willenskraft. Eben darum
aber liegt auch im Blick des Auges dieſe ſeltſame dämoniſche
Gewalt, und das für ſo viel Andere, ja ſelbſt für Thiere,
Beſtimmende und vollkommen Beherrſchende. Aus dieſem
Grunde iſt das Auge oftmals das, was den Willen des
Menſchen am unmittelbarſten verkündet, und es mag leicht¬
lich vorkommen, daß, wer den Worten und Thaten eines
Willenskräftigen wohl noch widerſtehen mag, vollkommen
überwunden werden kann, durch einen einzigen Blick. Ja
ich muß hier noch auf die merkwürdige zugleich antago¬
niſtiſche Stufenfolge aufmerkſam machen, welche, je nach
der höhern oder niedern Natur des Menſchen, in den Arten
ſich äußert wie der Wille deſſelben ſich in der Organiſation
offenbart, indem was in der niedern Weſenheit durch die
[365] Mechanik des allgemeinen Knochen- und Muskelſyſtems ſich
in ſtarken räumlichen Bewegungen thätig ausſpricht, in der
höhern Natur durch die Regierung der feinern Muskulatur
der Athmung, in der Sprache ſich verkündet, zuletzt aber
ſchon durch die Macht des ſeeliſchen Blicks nach außen ge¬
bietend hervortritt. Wer das Höhere beſitzt, wird dann
um ſo weniger von dem Niedern Gebrauch machen.


Betrachtet man ſodann noch im Einzelnen wie ſich der
Einfluß des Willens und ſeiner bald ſtärkern, bald ſchwächern
Anſpannung auf die organiſche Ausbildung und Entwicklung
der ihm insbeſondere unterworfenen Gebilde äußert, ſo be¬
merkt man abermals ein merkwürdiges Verhältniß des be¬
wußten Lebens zum unbewußten. Die Fortbildung und
organiſche Entwicklung dieſer Gebilde, z. B. der Muskel¬
faſer und Muskelnerven, iſt nämlich durchaus und allein
hinſichtlich der beſondern mikrologen Vorgänge des Wachs¬
thums, Sache des unbewußten Lebens, und eben deßhalb
von den Willensvorgängen an und für ſich ganz unab¬
hängig, da ſchon oben bemerkt worden iſt, daß unmittelbar
etwas zu unſerm Bildungsleben hinzuzuthun oder wegzu¬
nehmen außer dem Bereiche des bewußten Willens liegt;
gleichwohl ſehen wir eben im erwähnten Falle, daß der
Wille an und für ſich unmerklich und allmählig auf die
organiſche Bildung immerfort einwirkt, ein willkürlich mehr
geübtes Gebilde mehr wachſen läßt als ein nicht geübtes
u. ſ. w., und ſo finden wir denn auch hier wieder wie
überall, wie die meiſten Begränzungen nur ſcheinbar ſind
und eigentlich zuhöchſt doch Alles in nur einem Strome
des Werdens ſich bewegt. Iſt ja doch ſelbſt die Gränze
des direkten Willenseinfluſſes auf gewiſſe Regionen des
Bildungslebens nirgends eine ganz abſolute und unverrück¬
bare; denn Menſchen hat man beobachtet, welche einen
Willenseinfluß auf ihren Herzſchlag äußerten, gewiſſe Abſon¬
derungen willkürlich hervorrufen konnten u. ſ. w.


Was wir ferner als krankhafte Abſchweifungen des
[366] Willens aufführen können, dahin gehören nur theils Re¬
actionen ohne hinreichende Leitung der Erkenntniß oder die
ihr ungemäß ſind, theils Reactionen, welche zu viel und
unmittelbar da vom Unbewußten beſtimmt ſind, wo ſie es
nur vom Bewußten ſein ſollten. Wir nennen das kindiſch
und eigenwillig, wenn im gereiftern Menſchen Willens¬
regungen hervortreten, welche dem Lichte höherer Erkenntniß
entfremdet ſind, wenn z. B. mit Heftigkeit ungeeignete und
unzweckmäßige Nahrungsmittel begehrt werden, wenn Neigung
oder Abneigung ſogleich zu heftigen unangemeſſenen Willens¬
regungen ausſchlagen u. ſ. w., und dies aus keinem andern
Grunde, als weil eben im Kinde dieſe höhere Erkenntniß
noch fehlt und ſomit immerfort Willensbewegungen hervor¬
treten müſſen, welche ungeregelt und unangemeſſen wie ſie
ſind, hier zwar nicht anders ſein können, aber in gereifterer
Erkenntniß als krankhaft erſcheinen. In allen dieſen Be¬
ziehungen tritt ſonach die urſprüngliche innere Einheit von
Erkenntniß und Wille mit größter Deutlichkeit hervor.


Die andere Art regelwidriger Willensregungen, welche
recht insbeſondere den Namen der krankhaften Abſchweifungen
verdienen, weil ſie nur bei allgemein krankhaften Zuſtänden
vorzukommen pflegen, ſind die, welche da, wo nur das
Bewußtſein beſtimmen ſollte, vom Unbewußten beſtimmt
werden und dem Bewußten keine Folge leiſten. Es gehören
dahin alle unwillkürliche von Krankheitsreiz hervorgerufene
Bewegungen, die wir convulſiviſche nennen, und von wel¬
chen eine Form beſonders hier Erwähnung verdient, weil
ſie wieder innerhalb der Einheit des Geiſtes ſehr beſtimmt
auf jene divergente Strahlung oder gewiſſe Zweiheit deutet,
welche wir als Wille und Erkenntniß unterſcheiden, ja,
welche zum Theil auch noch zwiſchen dem Willen und der
Willensvollſtreckung einen beſondern Unterſchied zu erkennen
Gelegenheit gibt. Es gehören dahin die Fälle, wenn ent¬
weder ganz entgegengeſetzt dem Urtheile der Erkenntniß ein
Wollen hervortritt, welches niemals im normalen Zuſtande
[367] auf dieſes Urtheil der Erkenntniß folgen könnte (z. B. wenn
bei nach deutlicher Erkenntniß von Verhältniß zu Kindern
oder Geliebten ein unbeſiegbares Wollen hervortritt ſie zu
tödten) ſo wie diejenigen, welche auf ein ſo oder ſo beſchaf¬
fenes Wollen eine ganz andere thatſächliche Ausführung
folgen laſſen (wenn z. B. ſtatt daß ein Wort ausgeſprochen
werden ſollte, ein anderes geſprochen wird, oder ſtatt daß
nach einer Richtung gegangen werden ſollte, unwillkürlich
die Füße nach anderer Richtung ſich bewegen.) — Der
erſtere Zuſtand iſt immer Folge allgemeiner Geiſteskrankheit,
und dieſe Zuſtände bedürfen einer beſondern Erwägung aus
dem Ganzen, wovon ſpäter. — Hier war die Erwähnung
deſſelben nur in ſo fern unerläßlich, um zu zeigen, welche
wunderliche Verſchiebungen zwiſchen weſentlichſten Strahlun¬
gen des Geiſtes doch vorkommen können. Der andere
Zuſtand beruht immer auf einer irgend wie geſtörten Statik
der Innervationsſtrömungen. Bei alle dem iſt es eine ſehr
merkwürdige Erſcheinung, daß der Geiſt in dem Reiche
ſeiner eigenen Gebilde wirklich dergeſtalte Verwirrungen er¬
leben kann. Bedenkt man nämlich, welche Reihe von ſehr
complicirten Nervenſtrömungen und Muskelbewegungen das
Ausſprechen nur eines einzigen Wortes vorausſetzt, ſo iſt
damit, daß ein ſich unwillkürlich an die Stelle des gewollten
Wortes einſchiebendes Wort geſprochen werde, doch am Ende
eine eben ſo in ſich geregelte Folge von Bewegungen nöthig
als um das eigentlich beabſichtigte Wort zu ſagen. Nichts
deſto weniger kommt dieſes innerliche „ſich vergreifen“ gar
nicht ſelten vor und iſt immer als eine der ſonderbarſten
Abnormitäten des Willens aufzuführen.


Wir hören ferner noch von einem zu ſchwachen, von
einem zu heftigen Willen, und von einem böſen Willen
und haben zu bedenken, ob auch dieſe in der Betrachtung
des krankhaften Willens Platz finden müſſen? Genauer
erwogen, gehören dieſe Zuſtände der Seele zum bei weitem
größten Theile der Geiſtesrichtung der Erkenntniß und des
[368] Gefühls an. Am entſchiedenſten gilt das von dem böſen
Willen einer vom Haß geleiteten Erkenntniß, welche mit
möglichſter Umſicht erwägt, wie die Seele, entgegengeſetzt
ihrem eigenen wahren Glücke, das Unglück, den Schaden
Anderer herbeiführen möge, und, wenn ſie darüber zu einem
Reſultate gekommen iſt, daſſelbe ganz gleich einer höheren
vernunft-gemäßen [Handlung], will und ausführt. Was
den zu ſchwachen und zu ſtarken Willen betrifft, ſo iſt hier
zu unterſcheiden, ob man dabei das Maß der geiſtigen
Feſtigkeit und Freiheit ins Auge faßt, oder allein die Macht,
die Reaction. — Das erſtere greift durchaus in den Bereich
der Erkenntniß und iſt von ihr geradezu untrennbar. Die
innere Macht des Wollens bei dem zu verharren, was als
das Rechte einmal erkannt iſt, und das abzuweiſen, was
das durchaus Ungemäße iſt, kann nur von der Lebendigkeit
des klarſten Bewußtſeins und der vollſten Ueberzeugung
beſtimmt werden, und eben ſo iſt es im andern Falle die
Schwäche des Verſtandes und die Unvollkommenheit der
Unterſcheidung, welche in vielen Fällen und bei vielen Per¬
ſonen zugleich als Schwäche des Willens erſcheint, indem
ſie keine genügende Erkenntniß weder des Rechten noch des
Falſchen zuläßt, ſo den Grund irgend einer conſequenten
Leitung des Lebens aufhebt und das Individuum als ein
ſchwaches von jedem Winde hin und her gebogenes Schilf
darſtellt. Allerdings gibt es aber bei Abmeſſung von Stärke
oder Schwäche des Willens auch noch eine zweite Seite,
welche von dem Maße des organiſch begründeten Vermö¬
gens zur Reaction abhängt. Daſſelbe Individuum und
bei demſelben Grade der Erkenntniß hat vielleicht in dem
Augenblicke wo es ſich ſeiner vollen innern Geſundheit und
Kraft bewußt iſt, die entſchiedenſte Gewalt nur das Rechte,
ihm Gemäße zu wollen und zu vollbringen, — und in
einem andern Augenblicke, wo die Kraft des Organismus
gebrochen iſt, nach einem ſtarken Blutverluſt, oder bei
Krankheitsgefühl, oder bei größter allgemeiner Ermüdung,
[369] iſt auch die Macht des Willens gebrochen, die Seele läßt
das Unangemeſſene über ſich ergehen und es iſt ihr nicht
mehr möglich, das, was als das Rechte und Gemäße er¬
kannt iſt, mit Ernſt und Folge anzuſtreben. Vorgänge
dieſer Art deuten dann wieder mit großer Beſtimmtheit
darauf, den Willen als eine ganz beſondere Strahlung
unſers Seelenlebens anzuerkennen, und die Kenntnißnahme
von denſelben iſt ſehr wichtig, um ſo manche ſonſt problema¬
tiſche Fälle des Lebens zu verſtehen und ſich zu erklären.


Das letzte, was uns in der Erwägung der Willens¬
vorgänge beſchäftigen ſollte, iſt um die Einwirkung dieſer
activen reagirenden Seite des Seelenlebens auf die För¬
derung des innern Wachsthums der Idee. Ich habe ſchon
früher einmal geſagt, daß das ganze Leben des Menſchen
nur in ſo fern einen Werth haben kann, als es irgend
ein Reſultat, d. h. irgend eine Umſtimmung, irgend eine
Fortbildung desjenigen Ewigen und Göttlichen zurückläßt,
welches wir als die Grundidee unſers Daſeins oder die
Idee ſchlechthin bezeichnet haben. Müßten oder dürften
wir nicht annehmen, daß am Schluſſe eines durchgebildeten
menſchlichen Daſeins, dasjenige Etwas, jenes höhere gött¬
liche Bild unſers Seins von allem Sein, jene Idee, deren
Macht wir allein die Geſtaltung und Entwicklung unſers
geſammten Organismus zuſchreiben müſſen, in irgend einer
Beziehung anders, gereifter, beſſer, oder auch ſchlechter,
ſeeliger oder auch unſeeliger geworden wäre, als ſie es war
beim Beginn ihres ſich ſo, menſchlich und zeitlich, Dar¬
lebens, ſo wäre dieſe ganze Exiſtenz ein Scheinbild, ein in
ſich Nichtiges, eine Lüge. — Es iſt aber ferner gezeigt
worden, daß die eigentliche Exiſtenz des Geiſtes, d. i. das¬
jenige Daſein, in welchem nun auch eine Förderung oder
Hinderung, ein Wachsthum oder ein Zurückgehen der Idee
angenommen werden darf, nur anhebt mit dem Wunder
des Bewußtſeins. — Cogitoergosum. — Dieſe Exi¬
ſtenz nun, dieſes wahrhafte Sein des Geiſtes iſt von dem
Carus, Pſyche. 24[370] Willen unzertrennlich, denn nur ſo lange bin ich meiner
wahrhaft bewußt, als ich abſichtlich, d. h. durch fort¬
währende Willensthätigkeit
denke, und eben deßhalb
wäre es durchaus irrig, die Lehre vom Wollen und von
deſſen thatſächlicher Vollſtreckung nur auf das Handeln nach
außen zu bezeichnen, während doch jeder ſelbſtbewußte Ge¬
danke jedes frei und abſichtlich angeregte Denken, immer und
allemal nur durch einen Akt des Willens zu Stande kommt.
Je mächtiger daher der Wille iſt, je klarer er alles Vor¬
ſtellungsleben beherrſcht, und je mehr er nach den höchſten
Ergebniſſen der Erkenntniß das innere ſeeliſche Leben ſich
anhaltend bewegen läßt, deſto mehr nimmt an innerer Macht¬
vollkommenheit die Seele zu, und deſto mehr ſteigert ſich die
Energie der Idee. Eben ſo ſinkt dieſelbe nothwendig, bei gar
nicht oder ſchwach geübter Willensthätigkeit; das Bewußtloſe
wird wieder übermächtig, und der Geiſt, je weniger er
denkt
, um ſo weniger exiſtirt er. Aber es iſt nicht
das Denken allein, worin der Wille ſich offenbart und wo¬
durch das Wachsthum der Grundidee unſers Daſeins geför¬
dert oder gehindert werden kann, der Geiſt beweiſt ſeine eigen¬
thümliche göttlich ſchöpferiſche Macht insbeſondere durch die
Wirkungen und Umgeſtaltungen, die von ihm ausgehen
auf die Welt, in welcher er erſcheint, er beweiſt ſie durch
die That des Lebens — nicht bloß durch die That
des Gedankens
. Wie ſehr aber gerade durch die That
des Lebens der innerſte Menſch, die Grundidee unſers
Daſeins, zunehme, muß einem Jeden, der das Glück gehabt
hat irgend ein größeres tüchtiges Werk zu vollenden, ſein
eigenes Bewußtſein ſagen; es muß ihm ſagen, daß in
ſeiner That er ſelbſt ein Anderer geworden iſt, und wie durch
die freie That des Weibes, wenn ſie ſich dem Manne unter¬
wirft, daß er ſie erkenne, für immer etwas in ihrem eigenen
Daſein anders geworden iſt, ſo wird eigentlich der Mann
erſt wahrhaft zu dem, was wir Mann im vollen Sinne
des Wortes nennen, wenn eine freie That, die wahrhaft
[371] dieſen Namen verdient, ihm gelungen iſt. Alles dieſes iſt
denn auch bereits da, wo vom Wachsthum der Idee die
Rede war, näher erwogen worden.


Ueberlegt man übrigens die Einwirkungen des Willens
auf das innerſte Sein des Menſchen näher, ſo kann man
eine gewiſſe Uebereinſtimmung dieſes geiſtigen Verhältniſſes
mit der Einwirkung der Muskelbewegung auf die äußer¬
liche Geſtalt des Menſchen als erläuternde Parallele gar
wohl gelten laſſen. Wie eine anhaltende bedeutende Uebung
der Muskulatur den Conturen der Geſtaltung eine gewiſſe
Feſtigkeit und am Ende wohl ſelbſt Härte gibt, dahingegen
ein ſehr wenig gebrauchtes Muskelſyſtem die Umriſſe der
Geſtalt gleichſam zu erweichen ſcheint und nachgiebige unbe¬
ſtimmtere Formen gern veranlaßt, ſo iſt es mit dem Ein¬
fluſſe des Willens auf die innere geiſtige Geſtaltung des
Menſchen, auf das, was man als ſeinen Charakter, als
ſeine Perſönlichkeit bezeichnet. Geiſter, welche anhaltend
ſtreng und abſichtlich denken, noch mehr aber ſolche, welche,
wie man zu ſagen pflegt, fortwährend praktiſchen Zwecken
ſich widmen, d. h. immerfort ſich anſpannen die äußere
That des Lebens zu verfolgen, erhalten allmählig eine
gewiſſe Härte und Derbheit, welche ſie, ehe ſie es oft ſelbſt
merken, zu qualitativ Andern macht, welche ſie der Weich¬
heit des Gefühls beraubt, und je mehr ſie wirklich in die
That des Lebens ſich verſenken, ihnen zuletzt auch die That
des Gedankens entzieht. Umgekehrt werden Geiſter, welche ſich
faſt als willenlos anzeigen, oder abſichtlich lange fort auf
Uebung des Willens verzichten, eine Weichheit ihrer Offen¬
barung annehmen, ſich in die Gefühlsregion mehr und
mehr verſenken, und jede Kraft des Widerſtandes immer
mehr verlieren. Beweis genug, welche Macht der Wille
hat allmählig den innerſten Kern des Menſchen umzuſtim¬
men und zu verändern. Höchſte Aufgabe ächter Leben¬
kunſt kann es daher nur ſein, die von reinem Selbſt-
und Gottbewußtſein geſtimmte vollkommene Harmonie des
[372] Gefühls, des Erkennens und des Willens immerfort darzu¬
leben, und eben dadurch eine immer höhere Entwicklung der
Grundidee unſers Daſeins zu fördern und zu erreichen.

h. Von dem Verhältniß der Seele zu andern Seelen, zur Natur
und zu Gott.

Unter den vielen ſeltſamen Vorſtellungen, denen man
eine wiſſenſchaftliche Farbe zu geben verſucht hat, iſt wohl
die ſeltſamſte die des conſequenteſten Idealismus, welche
das Ich, von dem allein wir unmittelbar Erfahrung haben,
als das einzig Seiende annimmt, und die geſammte Welt¬
erſcheinung nicht als ein für ſich Seiendes, ſondern nur
als Vorſtellung dieſes Ich gelten läßt. Ich habe ſchon
früher erwähnt, daß dieſe Weltanſicht, ganz conſequent
feſtgehalten, in ſich wirklich unwiderleglich ſei, und daß es
ſo iſt, konnte recht klar zeigen, wie wenig diejenige Strahlung
der Seele, welche wir Erkenntniß nennen, allein im
Stande ſei, die eigentliche Wahrheit vollſtändig zu erfaſſen.
Das innerſte Wahrheitsgewiſſen einer jeden rein
und unbefangen entfalteten Seele, das Entſcheiden, welches
eben tiefer noch liegt als das bloße Erkennen, wird nichts
deſto weniger alsbald jene Annahme als durchaus irrig
erkennen, es wird vielmehr Gewißheit davon geben, daß
unendliche Ideen überhaupt und auch unendliche zur Ent¬
wicklung als Seele beſtimmte Ideen die Welt erfüllen, und
daß unſer eigenſtes innerſtes Grundweſen nur eine beſon¬
dere Monas im Kreiſe jener unendlichen Vielheit ſei, jener
Vielheit, ja Unendlichkeit, in welcher einem höchſten ewigen
Myſterium es gefallen hat ſich zu offenbaren.


Bei der Geſchichte der Erkenntniß iſt nun auch aus¬
führlich gezeigt worden, wie wir dazu kommen, obwohl wir
nur vom Zuſtande unſerer eigenen Idee die unmittelbare
Erfahrung haben können, doch von andern Ideen als der
unſern zu wiſſen, oder vielmehr auf deren Vorhandenſein
zu ſchließen. Der höchſt wunderbare, ſehr zuſammengeſetzte
[373] Vorgang dieſer Schlußfolge wiederholt ſich in unſerm Geiſte
in jedem bewußten Augenblicke, und wir gebahren damit
wieder eben ſo unbewußt, wie etwa die tauſend complicirten
Nervenſtrömungen und Muskelzuckungen ſich im Arme des
Klavierſpielers wiederholen, während er ſpielt und während
er, ohne jene einzelnen Willensakte beſonders ſich vorzu¬
ſtellen, bloß den Gang der Melodie, und an keine einzige
jener tauſendfachen Bewegungen denkt. — Angekommen nun
an der Stelle, wo wir gerade das Verhältniß der eigenen
Monas zu andern Ideen betrachtend erwägen, und wo uns
die mannichfaltigen Beziehungen bald hemmender, bald
fördernder Art klar werden ſollen, welche zu andern Seelen
ſich ergeben, ſcheint es jedenfalls nothwendig, in der Kürze
noch einmal den ganzen Vorgang in ſeinen weſentlichen
Momenten ſich zu vergegenwärtigen, durch welchen wir von
dem Vorhandenſein eines Aeußern, ja eines durch beſondere
Ideen beſtimmten Aeußern, Kunde empfangen. Man wolle
alſo daran ſich erinnern, erſtens, daß Alles was wir
ein wahrgenommenes Aeußeres nennen, allerdings nur die
durch den Conflict eines Aeußern mit dem unbewußten
Material unſers Organismus erregte Umſtimmung in die¬
ſem letztern iſt, eine Umſtimmung, welche ſogleich durch
eine vom Nerven vermittelte Beziehung derſelben auf die
bewußte Sphäre, zur Vorſtellung erhoben wird.
Zweitens wolle man daran gedenken, daß wir nur durch
eine gewiſſe beſondere Folge jener Umſtimmungen und unſe¬
rer Vorſtellungen davon, eine Folge, für deren Beſonderes
und Eigenthümliches wir eine beſtimmte Nothwendigkeit in
unſerm Innern ſelbſt nicht gegeben finden, gedrängt
werden, dieſen ſomit erlangten Vorſtellungen den Gedanken
eines nicht bloß uns Angehörigen, ſondern wo anders her
Wirkenden und uns Beſtimmenden unterzulegen, ſonach
alſo eine wirklich vorhandene und auf uns bezogene Außen¬
welt außerhalb unſers Seins anzunehmen; drittens end¬
lich, daß wir daran uns erinnern, daß nur jene deutliche
[374] Uebereinſtimmung, welche gewiſſe von außen erregte Vor¬
ſtellungen in ihrer eigenthümlichen Folge, mit der Geſetz¬
mäßigkeit unſers eigenen Geiſtes tief empfinden läßt, uns
beſtimmen kann, vorauszuſetzen, daß auch jene Einwirkun¬
gen nicht bloß in ſich zufällige waren, ſondern daß ihnen,
gleich wie unſerm innerſten Sein, eine eigene innere Nö¬
thigung, ein beſonderes inneres Göttliches, mit einem Worte
eine eigenthümliche, von der unſerigen verſchiedene Idee zum
Grunde liege. Ueberdenkt man, ſage ich, dieſen ganzen
ſo ſehr zuſammengeſetzten Vorgang, ſo wird man bald er¬
kennen, wie eigenthümlich und in ſich mannichfaltig bedingt
die Operation iſt, welche uns z. B. den Gedanken entſte¬
hen läßt, es ſei wirklich außer unſerer Seele eine andere
Seele vorhanden, welche auf uns wirkt, es ſtehe wirklich
ein anderer denkender, fühlender, wollender Menſch uns
gegenüber. Es kann denn ein gewiſſes Erſtaunen erregen,
wenn man gewahr wird, daß der Geiſt mit all dieſen ſo
complicirten Verhältniſſen ganz wie mit einer Einfachheit zu
gebahren im Stande iſt. — Ich ſehe die verwandte menſch¬
liche Individualität neben mir, wirke auf ſie und laſſe ſie
auf mich wirken, und denke für gewöhnlich keinesweges
daran, was Alles dazu gehört hat, damit mir, obgleich
ich eigentlich immer nur mich ſelbſt als ein ganz Umge¬
ſtimmtes unmittelbar empfinde, doch dieſe ganz beſtimmte
Erkenntniß vom Vorhandenſein einer fremden Individuali¬
tät aufgehen konnte. Habe ich mir indeß dieſes Alles auf
ſolche Weiſe einmal vollkommen deutlich gemacht, ſo darf
ich nun auch, — gleichſam alle dieſe verwickelten Vorgänge
überſpringend, — das Verhältniß meiner Seele zu andern
unmittelbar empfinden und feſthalten, und nunmehr darf
es mir denn auch eine Aufgabe werden, das Eigenthüm¬
liche, die Bedeutung und die Einwirkung dieſes Verhält¬
niſſes reiflicher zu erwägen und deutlicher darzulegen.


Es iſt aber eine in dieſen Blättern bereits-mehrfach
ausgeſprochene Wahrheit: die Entwicklung der Seele zum
[375] Geiſt, das Hervortreten höhern Bewußtſeins, und, mit
einem Wort, die eigentliche Menſchenwerdung, ſei nur un¬
ter Einwirkung der Menſchheit — d. h. unter Einfluß einer
oder mehrer anderer Seelen auf das Individuum gedenkbar
und möglich; — und ſo darf ich denn jetzt nur ferner
bemerken, daß mit dieſen Worten zugleich das ganze unge¬
heure Gewicht bezeichnet ſei, welches das Verhältniß
zu anderen Seelen
für die Seele ſelbſt immerfort hat
und haben muß.


Will man es ſich jedoch jetzt im Einzelnen deutlich ma¬
chen, auf welche Weiſe dies Verhältniß von Seele zu Seele
insbeſondere begründet werde, ſo muß man ſogleich wieder
auf den überall bedeutungsvollen Unterſchied zurückblicken,
daß alles Seelenleben ſich theils im unbewußten, theils im
bewußten Wirken offenbare, und wenn wir dieſes recht be¬
denken, ſo werden hieraus vier Arten der Beziehung der
Seelen auf einander ſogleich hervorgehen: 1, Wechſelwir¬
kung des einen Bewußten auf das Bewußte der andern
Seelen; 2, Wechſelwirkung des einen Unbewußten auf das
Unbewußte der andern; 3, Wechſelwirkung des einen Un¬
bewußten auf das Bewußte der andern; 4, Wechſelwirkung
des einen Unbewußten auf das Unbewußte der andern.


Die Mannichfaltigkeit von Regungen, Vorgängen,
Begegnungen, Erhebungen, Anziehungen, Abſtoßungen und
Depreſſionen, die ſich in dieſen verſchiedenen Verhältniſſen
begeben, iſt wahrhaft ungeheuer, denn alle Hiſtorie und
alles Menſchenleben ſpielt eigentlich nur in dieſen verſchie¬
denen Strahlungen. Es kann daher hier nicht die Aufgabe
ſein, zu ſehr ins Einzelne zu gehen, ſondern nur den Be¬
obachter menſchlicher Verhältniſſe darauf aufmerkſam zu
machen, aus wie viel verſchiedenen Fäden das Verhältniß
zwiſchen Seele und Seele ſich ſpinnt, welches man oft nur
ſo geradehin als ein einfaches zu nehmen gemeint iſt.


1. Die Beziehung zwiſchen Seelen von Be¬
wußtem zu Bewußtem
, ſie iſt diejenige, welche ins¬
[376] gemein als die weſentlichſte, von manchen unphyſiologiſchen
Pſychologen wohl gar als die alleinige aufgeführt wird.
Daß ſie in gewiſſer Hinſicht die bedeutendſte iſt, mag nicht
geläugnet werden, denn alle bildende, unterrichtende, leh¬
rende, ordnende, lernende, geiſtig vorwärts bringende und
Irrthum wie Wahrheit verbreitende Mittheilung geſchieht
nur, indem bewußte und gewollte Vorſtellungen einer Seele
in das erkennende Bewußtſein einer andern übergehen; — ob
dieſe Mittheilung hingegen an und für ſich die mächtigſte
zu nennen ſei, iſt ſehr in Zweifel zu ziehen, denn zu ge¬
ſchweigen alle die wunderbaren und geheimnißvollen Be¬
ziehungen, welche ganz im Unbewußten wurzelnd die man¬
nichfachen Verhältniſſe von Sympathie und Antipathie im
Leben begründen, ſo iſt nur daran zu erinnern, welche
halb ſelbſt vom Unbewußten und halb vom Bewußten aus¬
gehende Einwirkungen das Unbewußte im Kinde treffen
müſſen, damit nur überhaupt ein Bewußtſein ſich in ihm
entwickeln könne. Iſt nun aber auch aus dieſen Gründen
zuzugeben, daß im Augenblick der Wirkung ſelbſt, die Be¬
ziehung zwiſchen verſchiedenen Bewußten nicht von der Macht
und Tiefe iſt, welche die Verhältniſſe des Unbewußten cha¬
rakteriſirt, ſo tritt dagegen beim Verhältniß von Bewußten
zu Bewußtem ganz unerwartet eine neue und äußerſt merk¬
würdige Seite des Verhältniſſes von Seele zu Seele her¬
vor; nämlich das Vermögen aus den Schranken des zeit¬
lichen Daſeins herauszutreten und eine, nach menſchlichen
Begriffen ewige Wirkung, eine Wirkung der Seele oder
vielmehr des Geiſtes, nicht mehr bloß auf eine einzelne
verwandte Seele, ſondern auf den Geiſt der Menſch¬
heit
überhaupt zu erreichen. — Wie alſo früher ſchon
erwähnt wurde, daß eigentlich einzig und allein und mit
dem erſten Gedanken in der Seele der Geiſt geboren werde,
und daß erſt von hier an die Seele oder deren Grundidee
eines unbegränzten ſubjectiven Wachsthums fähig werde,
ſo iſt nun auch mit der Möglichkeit einer bewußten Wirkung
[377] der Seele auf andere bewußte Seelen, zugleich die Mög¬
lichkeit einer
gewiſſen objectiven Unendlichkeit, d. i.
eines ganz unbeſchränkten Fortlebens und Wirkens im Kreiſe
der Menſchheit in ganz undenkliche Zeit hinaus wahrhaft
gegeben. — Wie viele Geiſter zählen wir auf dieſe Weiſe
in der Geſchichte, welche als Perſonen längſt aus der Zahl
der Lebendigen geſchieden ſind, und welche in ihren Ge¬
danken, ihrer Gefühlswelt und in ihrem Wollen, noch
jetzt und noch in weite Zukunft hinaus ſich immerfort be¬
thätigen. Der ganze unermeßliche Kreis deſſen was wir
die innere höhere Bildung der Menſchheit nennen, ruht auf
dem unausgeſetzten Fortklingen und Fortleben geiſtiger Wir¬
kungen und geiſtiger That, welche weit oberhalb der Region
ſchnell vergänglicher Lebenszeiten der Einzelnen, zum Be¬
griff des Zeitloſen ſich erhoben haben, und ein ſtätes
Wachsthum der Idee der Menſchheit ſelbſt doch zuletzt allein
möglich machen. — Von welcher Gewalt und von welchem
Werthe daher dieſe bewußte Wirkung ſei, bedarf keiner
ausführlichen Auseinanderſetzung, denn alles Große und
Bedeutende, in wiefern es der Geſchichte unſers Ge¬
ſchlechts angehört, ruht nur auf ſolcher Baſis; aber ver¬
geſſen dürfen wir daher noch nicht, was ſich eigentlich nach
allem Vorhergegangenen von ſelbſt verſteht, daß nämlich
auch alle dieſe Wirkung in ihrer Wurzel keinesweges einzig
und allein dem bewußten und gewollten Gedanken, der
reinen Erkenntniß angehören kann, ſondern, daß doch auch
ſie in ihrem erſten Grunde, jedesmal abermals durch ein
unbewußtes die Entwicklung einer Organiſation ſetzendes
Walten der Idee, und durch tauſendfältige in jedem Leben
immerfort auf die Gedankenwelt fallende Spiegelungen
unbewußten Seelenlebens (der Gefühlswelt) als bedingt
anerkannt werden müſſe. Bieten doch hier dem Forſcher
über menſchliche Geiſteswelt die merkwürdigſten Verhältniſſe
ſich dar, und iſt es doch von jeher als eine wichtige pſy¬
chologiſche Aufgabe betrachtet worden, bei der Unterſuchung
[378] der lebendigen bewußten Wirkung eines bedeutenden Geiſtes
auf andere ſelbſtbewußte Geiſter, auszumitteln und aufzu¬
finden, was davon bedingt war im abſolut Unbewußten
(oder wie man ſonſt zu ſagen pflegte im Verhältniß ſeiner
leiblichen Organiſation) und in den Ereigniſſen ſeiner Ge¬
fühlswelt, was dagegen zum größten Theile und ſo weit
man überhaupt hier trennen darf, wirklich der vollkommen
bewußten und frei gewollten Thätigkeit ſeines Geiſtes an¬
gehörte. Freilich verlangt es eine ſehr feine Hand, dieſe
immer ſo vielfach verwobenen Fäden zu entwirren und ein¬
zeln nachzuweiſen! — Uebrigens gilt natürlich das, was
hier geſagt worden iſt, gleich wie von der Seele, von wel¬
cher die bewußte Wirkung ausgeht, ſo auch von der oder
denen, welche ſie aufnehmen. Auch bei letztern wird durch
dies Bewußte zuerſt zwar der bewußte Geiſt afficirt, allein
in vielen Fällen, und ebenfalls auf eine untrennbare Weiſe,
zugleich die unbewußte Seite ihres Daſeins, ihre Gefühls¬
welt, und alles dieſes muß uns immer wieder zuletzt auf
die an und für ſich untrennbare Einheit der Seele zurück¬
weiſen. — So viel ſei denn überhaupt von der Wirkung
bewußten Geiſtes auf bewußte Geiſter geſagt, welche in
wiefern ſie durch Klang und Wort, und Bild und That
ſich mittheilt, die bekannteſte und die, menſchliches Verein¬
leben überhaupt vermittelnde iſt. Wir gehen nun zu den
andern weniger beachteten über.


Im vollkommenſten Gegenſatze zu der vorigen ſteht
zunächſt 2, die Wirkung des Unbewußten einer
Seele auf das Unbewußte einer andern
. Wenn
die zuvor erwähnte Inſonderheit und zuhöchſt die Beziehung
von einer Monas auf viele, und vieler auf eine darſtellt,
ſo zeigt dagegen die jetzt zu betrachtende weſentlich und zu¬
höchſt nur das Verhältniß von Seele zu Seele; und wenn
jene auch auf ganz entfernt ſtehende und fremdartige See¬
len ſich erſtreckt, ja durchaus an keine Zeit ſich gebunden
zeigte, ſo daß eine Seele, deren Leib ſchon vor Jahrtau¬
[379] ſenden zerſtoben iſt, noch wie eine gegenwärtige auf mich
wirken kann, ſo iſt dieſe an eine möglichſt unmittelbare
und gleichzeitige Gegenwart gebunden und wird um ſo
inniger ſein, je entſchiedener die tiefe Verwandtſchaft zweier
Seelen begründet iſt. Dieſer Gegenſatz iſt nun wieder an
ſich außerordentlich merkwürdig; verfolgen wir ihn aber bis
zu ſeiner weiteſten Ausdehnung, ſo ergibt ſich dann wieder
eine gewiſſe Umkehrung der Verhältniſſe, indem einerſeits
das höchſte Gewahrwerden bewußter Wirkung wiederum
allein im Stande iſt, jenes engſte Verhältniß von Seele
zu Seele herbeizuführen, in welchem allein die unbewußte
Wechſelwirkung am mächtigſten ſich bethätigt, andererſeits
aber wieder ſich zeigt, daß gerade und insbeſondere durch
das unbewußte Ueberwirken von Seele in Seele das Ver¬
hältniß einer Seele zu vielen bedingt wird. Dieſe ſchein¬
baren Räthſel werden ſich ſogleich löſen, wenn wir dem
Gegenſtande näher treten.


Es bedarf nämlich nur geringer Ueberlegung, um ſich
zu überzeugen, daß die höchſte und innigſte Beziehung des
Unbewußten einer Seele auf das Unbewußte der andern
allemal irgend wie an das Gefühl der Liebe geknüpft ſein
muß. Was nicht durch irgend einen tiefern ſympathetiſchen
Zug einander verbunden iſt, ſei dieſer ſogar nur rein auf
organiſchen Gegenſatz gegründet, wird nur ſchwach als Un¬
bewußtes auf Unbewußtes wirken, dahingegen allemal die
tiefſten Erſchütterungen dieſer Regionen da hervortreten
müſſen, wo durch ein beſonderes lebendiges Liebesgefühl
Seele an Seele gebunden iſt: ja es iſt ſehr merkwürdig,
daß alsdann Beziehungen beobachtet worden ſind, welche
beweiſen, wie wenig ſogar ein weites Getrenntſein der
körperlichen Exiſtenz zweier Seelen Gewalt hat, dieſe Be¬
ziehungen zu ſtören. Manches der Art kommt von der
dunklen Gefühlsregion aus, mittels gewiſſer Spiegelungen
auf das bewußte Vorſtellungsleben, die wir bald als Ahnun¬
gen, bald als Träume bezeichnen, zur Erkenntniß, und
[380] merkwürdige Beiſpiele, wo auf dieſe Weiſe räumlich ent¬
fernte, aber ſich innerlich nahe Perſonen Wechſelwirkungen
empfanden, bei Erkrankung des Einen Angſtgefühl oder
Erkrankung des Andern eintrat, oder andere beſondere Stim¬
mungen der Gefühlswelt gleichzeitig ſich äußerten, ſind ja
häufig genug vorgekommen. Es iſt auch nicht nothwendig,
das bloß die Liebe der Geſchlechter eine ſolche Beziehung be¬
gründet habe, enger Freundſchaftsbund, oder das Verhältniß
von Zwillingsgeſchwiſtern u. ſ. w. ſtellt dergleichen Beiſpiele
ebenfalls auf. Daß hingegen die innigſte Beziehung vom
Unbewußten zu Unbewußten zwiſchen den verſchiedenen Ge¬
ſchlechtern vorkomme, iſt keine Frage. Die Spitze derſelben
tritt in der Zeugung hervor, denn eben hier iſt der
weſentliche innere Vorgang, alſo gerade der Vorgang, deſſen
Bedingungen und deſſen Natur erſt die neueſte Phyſiologie
an das Licht des Bewußtſeins hervorziehen konnte, ganz
dem unbewußten Leben anheim gegeben. Eben dieſerhalb iſt
es, daß ſelbſt die Wiſſenſchaft zwar wohl entſcheiden kann,
ob in Vereinigung zweier Naturen die Bedingungen ge¬
geben werden, an welchen die Möglichkeit des Hervorrufens
eines neuen Individuums hängt, aber ob in einem beſon¬
dern Falle, unter dieſen vollſtändig erfüllten Bedingungen
wirklich ein neues Individuum entſtehe oder nicht, wird
dann doch nichts deſto weniger für erſt allemal dem Be¬
wußtſein gänzlich entzogen bleiben. Es iſt ſodann auch das
noch hiebei merkwürdig, daß dieſe productive Beziehung von
Unbewußtem zu Unbewußtem, eben weil ſie mit dem Be¬
wußtſein gar nichts zu ſchaffen hat, wieder gewiſſermaßen
ganz unabhängig wird von dem, was man im höhern
Sinne die Liebe der Geſchlechter nennen darf. Dieſe letztere
nämlich, obwohl durch einen unbewußten Zug allemal weſent¬
lich mit bedingt, iſt, wie wir früher gezeigt haben, an und
für ſich doch wieder durchaus undenkbar, wenn nicht das
Bewußtſein ihr zuvor die eigentliche Weihe gegeben hat,
denn überall nur in dem Maße, als das Bewußtſein die
[381] Schönheit und Würdigkeit des Geliebten einzuſehen im Stande
iſt, in dem Maße wird ſich auch die Liebe entzünden können.
Schließt daher auch ihrer Seits die Liebe die wirkliche Pro¬
ductivität des ganz Unbewußten in Vervielfältigung der
Gattung nicht aus, ſo iſt ſie doch keinesweges weſentlich
damit zuſammenhängend, dagegen allerdings von weſent¬
lichſtem Einfluß auf Erhöhung des beglückenden Gefühls
wechſelſeitiger vollſter Hingebung. Die bloße Erzeugung
hingegen, als Wirkung allein zwiſchen Unbewußtem, kann
überall völlig ohne Liebe, ja faſt ohne Bewußtſein, eben
deßhalb aber auch ganz ohne jenes beglückende Glück, bloß
durch den vereinten Gegenſatz der Geſchlechter, erfolgen. —
Scheint es doch zuweilen ſogar, daß eine ſehr heftige,
immerfort nach Vereinigung ſtrebende Liebe eher jener realen
Productivität entgegenwirkend als fördernd ſei. Mag dies
nun aber auch zunächſt auf ſich beruhen, ſo iſt doch das
Geſagte ſchon hinreichend, einmal: zu zeigen, daß die leb¬
hafteſte und innigſte Wechſelwirkung zweier Unbewußten,
eben weil ſie auf ihrer höchſten Stufe nur durch die Liebe
möglich wird — dieſe aber wieder ohne höheres Bewußt¬
ſein nicht gedacht werden kann — zuletzt doch immer wieder
eben von dieſem Bewußtſein weſentlich abhängt, ein ander¬
mal aber darzuthun, daß ein Hervorrufen der Vielheit der
Menſchheit ſelbſt — welche Vielheit an ſich ſodann wieder
die Bedingung enthält aller bewußten geiſtigen Ausbildung
des einzelnen Menſchen — überall und durchaus bedingt
werde von gewiſſen Vorgängen, welche ſelbſt jedoch nur
dem Verhältniſſe von Unbewußtem zu Unbewußtem ange¬
hören. Auch hier gibt es alſo reichliche Gelegenheit zu be¬
merken, wie nach allen Richtungen hin die eigenthümlichſten
Verſchränkungen zwiſchen Bewußtem und Unbewußtem in
der Geſchichte der Seele vorkommen.


Eine beſonders merkwürdige Wirkung zwiſchen Unbe¬
wußtem und Unbewußtem zweier Seelen tritt ferner noch
hervor: theils in den Beziehungen, welche wir als Anti¬
[382] pathie und Sympathie ſchon mehrfach erwähnt haben, theils
in den Beziehungen des kranken Lebens, welche wir mit
den Worten der Anſteckung und magnetiſchen Heilswirkung
bezeichnen.


Was Sympathie und Antipathie betrifft, ſo wird dies
mit Recht ein Geheimniß genannt, weil es, eben in wie
fern es dem Unbewußten angehört, dem bewußten Seelen¬
leben immerdar in ſeiner Wurzel verborgen bleiben und
nur in ſeinen Wirkungen bemerklich werden wird. Darin
aber, wie die grundweſentliche Qualität der Idee iſt, und
darin, wie in Folge dieſes, in erſter ganz unbewußter
Bildung die feinſten Fäden der Organiſation geſponnen
und gewoben ſind, wird es zuletzt doch allemal weſentlich
geſucht werden müſſen, wenn, ganz unabhängig von aller
Reflexion, eine Anziehung oder Abſtoßung zwiſchen ver¬
ſchiedenen Perſonen ſich entwickelt. Irgend weitere Erklä¬
rungen ſind gemeinhin hier ganz unmöglich und nur als
Thatſachen manches merkwürdige Verhältniß anzudeuten,
kann hier die Aufgabe ſein. Wer aber hätte nicht in ſeinem
Leben hiefür manches Bedeutende erfahren! Der ſtille Zug,
welcher uns, wir wiſſen oft ſelbſt noch nicht warum, gegen
irgend eine Individualität hinzieht, jenes innerlichſte Ge¬
fühl, welches uns, bei zufälligem Begegnen mit Menſchen,
oft im erſten Augenblick empfinden läßt, mit dieſem iſt
dir ein tieferer Rapport beſtimmt, und mit jenem wirſt
du nie dich wahrhaft befreunden können, ſie ſind ſehr merk¬
würdig, und werden oft eigenthümlich durch Lebenserfahrung
beſtätigt; zumal dann, wenn wir verſuchen, dieweil der
Verſtand uns überredet: es ſei doch am Ende ein Verhältniß
mit letzterem möglich, und es ſei doch beſſer, von erſterem
ſich abzuwenden, dieſem Rathe wirklich zu folgen, das Leben
aber nachher nur zu ſehr beweiſt, wie recht das erſte
Gefühl hatte. 1 Auch tritt in einzelnen Fällen bei feinen
[383] Naturen wohl eine beſondere Senſibilität hervor, welche es
ihnen merkwürdig erſchwert, überhaupt die nächſte Nähe
anderer Individuen zu ertragen, außer gerade nur deſſen,
in welchem ſie allein eine vollkommene Gemäßheit dem eige¬
nen Weſen empfinden und mit welchem ein entſchiedener
Zug der Sympathie ſie verbindet. Die Nähe dieſes Letztern
wird dann freilich auch um ſo mächtiger und erfriſchend
belebender auf ſie wirken.


Es begreift ſich übrigens leicht, daß, was hier noch
von Anſteckung und magnetiſcher Heilwirkung zu ſagen iſt,
eigentlich nur als beſondere Modification deſſen aufgeführt
werden kann, was als Sympathie eben beſprochen worden
iſt. Beides, Anſteckung ſowohl, als heilende Lebensein¬
wirkung, kann deßhalb nur Statt finden, wenn eine ge¬
wiſſe Sympathie vorhanden iſt. Wo gar kein Verhältniß
dieſer Art beſteht, wird die Heilwirkung ſchon gar nicht
angeſtrebt werden, aber auch die Anſteckung wird nicht Statt
finden. So iſt z. B. kein Fall bekannt, daß die Epidemien
unter den amerikaniſchen Wilden auf Europäer übergingen.
Wie daher einerſeits zuweilen bei der leiſeſten Berührung,
ja bloß durch Wirkung in die Ferne, eine Krankheit mit¬
getheilt wird, ſo können in andern Fällen ſelbſt die heftig¬
ſten und leichteſt anſteckenden Krankheiten — wie die Peſt —
wenn jenes Verhältniß mangelt, bei noch ſo naher Be¬
rührung ohne Anſteckung bleiben.


Hinzugefügt muß indeß bei Erwähnung dieſer Fälle
1[384] noch werden, baß hier nicht ganz allein die Individualität
des Menſchen, ſondern daß (da eine Krankheit ein in ſich
gewiſſermaßen geſchloſſenes organiſches Ganzes iſt) auch
die Individualität der Krankheit in Betracht kommt. Nicht
jede Krankheit wird daher von dem einen Individuum dem
andern mitgetheilt werden. Es kann vorkommen, daß zwei
Individuen, die einen nahen Rapport zu einander haben,
ſich die eine Krankheit mittheilen, die andere aber nicht,
weil die eine Individualität zwar Anziehung gegen die eine
Krankheitsform hatte (das, was die Aerzte Prädispoſition
nennen), aber keinesweges gegen die andere.


Eben ſo verdient auch, ſowohl in Beziehung der Ueber¬
tragung von Anſteckung als Uebertragung von Heilswirkung,
hervorgehoben zu werden, daß nicht ausſchließend und allein
die unmittelbare Berührung zwiſchen den Organismen ſie
vermittle, ſondern daß auch fremde Stoffe, in ſo fern
ſie etwas von der Atmoſphäre des mittheilenden Organis¬
mus aufgenommen haben, dieſe Ueberwirkung vermitteln
können. So kann ein Kind, welches ein Kranker getragen,
in einem andern Menſchen die Krankheit erzeugen, und ſo
kann ein Tuch, was der Magnetiſeur an ſich trug, oder
das Waſſer, das er berührt hat, die Somnambule erregen
und heilen helfen. In dieſen Fällen ſcheint es zunächſt
auffallend, daß eine unbewußte ſeeliſche Wirkung auch an
einem fremden unbelebten Körper zu haften im Stande ſei.
Um dieſe Erſcheinungen zu verſtehen, muß zweierlei beachtet
werden: — einmal nämlich kann, was Uebertragung der
Krankheiten betrifft, wirklich ein abgelöſtes Urgebilde — eine
Zelle — des kranken Organismus auf einen andern durch
ein fremdes Mittelglied übergetragen werden und kann dann
dort fortkeimen und die gleiche Krankheit erzeugen. So
wirken z. B. die im Impfſtoff der Pocken ſchwimmenden
Zellen, auch wenn ſie auf Glas oder Fäden aufgetrocknet
waren, nachdem ſie in einen impffähigen Organismus ein¬
gehen, indem ſie dort wieder aufleben und ſich verviel¬
[385] fältigen. Ein andermal dagegen ſind es nicht losgelöste
Gebilde, ſondern es iſt die fortwährende dunſtförmige Auf¬
löſung eines Organismus ſelbſt und zumeiſt alſo ſein ſich
Auflöſen in der ihn umgebenden Luft, wodurch ſowohl
Heilswirkung als Anſteckung ſich erklärt. Jeder Organis¬
mus nämlich und zuhöchſt der menſchliche, bildet durch dieſes
immerfort unmerkliche Verdunſten — oder ſo zu ſagen Ver¬
weſen — einen eigenen kleinen Dunſtkreis um ſich, deſſen
Subſtanz kurz zuvor noch zum Organismus ſelbſt gehörte
und noch immer ſeine Eigenthümlichkeit in Etwas bewährt.
Dieſer Dunſtkreis erhält namentlich die von der Idee des
Organismus bedingten beſonderen Miſchungsverhältniſſe,
welche insbeſondere dem Geruchsſinn in ihrer Eigenthüm¬
lichkeit ſich verrathen, er bewahrt auch deſſen eigenthümliche
elektriſche Spannungen, und wie dieſe letztere überhaupt
doch nur Product der Innervationsſtrömungen ſind, ſo geht
auch Etwas ſelbſt von dieſer Innervationsſpannung mit auf
dieſen Dunſtkreis über und bildet das, was Humboldt
ſchon am Nerven eine ſenſible Atmoſphäre nannte. Sobald
man hievon nun einen deutlichen Begriff ſich geſchaffen hat,
ſo wird auch klar werden, daß mittels dieſer Atmoſphäre,
welche wieder an andern feſtern Subſtanzen haftet (ſo lange
ſie nämlich ſelbſt ſich noch nicht ganz verflüchtigt hat), aller¬
dings eine gewiſſe unbewußte Lebenswirkung des einen auf
das Unbewußte eines andern Organismus übertragen werden
kann. Hiedurch darf man ſonach, was weiter oben über
die eigenthümliche Bedeutung des magnetiſchen Einfluſſes
und der magnetiſchen Manipulation geſagt worden iſt, für
einigermaßen vervollſtändigt halten, und zugleich liegt hierin
das Verſtändniß für Alles, was man in der Geſchichte der
Reliquien und der Amulete als denjenigen Wahrheitskern
zu betrachten hat, welcher übrig bleibt, wenn man abſtreift,
was zu aller Zeit Aberglaube in reichlichem Maße darum
gehäuft hat.


Endlich iſt noch zu erwähnen, daß eben ſo wie bei
Carus, Pſyche. 25[386] der Anſteckung das Wirken zwiſchen zwei Unbewußten faſt
immer unwillkürlich und ſelbſt unbewußt iſt, — mit Ausnahme
der willkürlichen Krankheitseinimpfung, — ſo die Heils¬
wirkung, das Mittheilen der Geſundheit und Kräftigung,
faſt immer als magnetiſche Einwirkung nur durch bewußte
Willkür Statt findet. Es gibt jedoch auch in letzterer Be¬
ziehung eine unbewußte und unwillkürliche Mittheilung, und
es gehört dahin, was längſt bekannt iſt, daß nämlich die
Atmoſphäre junger lebensfriſcher Perſonen auf ältere ge¬
ſchwächte Individuen wohlthuenden Einfluß äußert, wie denn
auch umgekehrt wieder das ganz junge und zarte Kind bei
Unruhe und Schmerz oft augenblicklich den wohlthuenden
Einfluß empfindet, wenn es die Mutter nahe an ſich nimmt.
Und ſo weit alſo die Betrachtung unmittelbarer oder mittel¬
barer Ueberwirkung des Unbewußten einer Seele auf das
Unbewußte der andern!


Wir kommen nun dazu, drittens, die Wirkung des
Bewußten einer Seele auf das Unbewußte der
andern
zu betrachten. Dieſe Wirkung tritt beſonders mit
großer Mächtigkeit hervor in der Entwicklungsgeſchichte des
Menſchen, indem, je weniger noch das Bewußtſein in ihm
entfaltet iſt, um ſo mehr ſein Unbewußtes unmittelbar von
der bewußten Wirkung eines Andern afficirt werden kann.
Am ſchärfſten mag dies zu bemerken ſein im Verhältniß
der Mutter zu dem in ihrem Schoße oder an ihrer Bruſt
genährten Kinde, und das ſchlagendſte Beiſpiel unter allen
iſt das ſogenannte Verſehen oder die unmittelbare Ein¬
wirkung der zum lebhaften Bewußtſein der Mutter gekom¬
menen Vorſtellung auf die organiſche unbewußte Bildung
der Frucht. In dieſer Mächtigkeit, daß ſie geradezu den
Bau des Körpers abändern könne, tritt die Einwirkung
der bewußten Seele auf das Unbewußte einer andern ſonſt
nirgends hervor, und es wird auch, daß Etwas der Art
möglich ſei, nur erklärt durch den ſo ganz nahen Rapport,
den zwei Seelen dieſer Art zu einander haben. Es tritt
[387] dann nämlich die eine Seele in ein Verhältniß zur andern,
welches dem ähnlich iſt, welches in einer und derſelben Seele
das Unbewußte zum Bewußten hat, und wie wir alſo z. B.
unbewußt und unwillkürlich ein Wäſſern des Mundes empfin¬
den, wenn wir eine durchſchnittene Citrone denken, oder
wie wir einen Schmerz im Auge fühlen können, wenn wir
lebhaft denken, was ein ins Auge geſtoßenes Meſſer für
Folgen haben müßte, ſo wirkt dort die lebhaft aufgeregte
Phantaſie der Mutter zuweilen entſchieden auf die Bildung
der in ihrem Schoße reifenden Frucht. Schon entfernter
iſt die Einwirkung bei dem Nähren des Kindes an der
Bruſt, obwohl Beiſpiele dafür angeführt werden, daß die
Art des bewußten Seelenlebens, wie ſie ſich im Charakter
der Amme darſtellt, nicht ohne Einfluß auf die erſt unbe¬
wußte und dann auch im Bewußten ſich geltend machende
Entwicklung des Säuglings geblieben war.


Abgeſehen von dieſer Art des engſten Rapports zweier
menſchlicher Individualitäten, tritt im gewöhnlichen Leben
die Wirkung einer bewußten Seele auf das Unbewußte einer
andern meiſtens nur als eine mittelbare hervor und
zwar vermittelt entweder durch das Unbewußte der gebenden
oder durch das Bewußte der empfangenden Seele. Das
Erſte findet namentlich Statt bei jeder Art von ſogenannter
magnetiſcher Einwirkung, ſo wie bei der geſchlechtlichen, in¬
dem ein bewußtes Wollen der gebenden Seele eine Um¬
ſtimmung ſetzt in ihrer eigenen unbewußten Region, welche
letztere nun, mit der gleichnamigen Region der andern ab¬
ſichtlich in Contact gebracht, ihre eigene Anregung der andern
mittheilt. Das Andere, wo die bewußte Wirkung im Andern
zuerſt die bewußte und durch dieſe die unbewußte Region
afficirt, iſt die allergewöhnlichſte Art ſolcher Ueberwirkung,
und es iſt ſchon oben des merkwürdigen Umſtandes gedacht
worden, daß Einwirkungen dieſer Art durchaus nicht mehr
an Raum und Zeit gebunden ſind, denn auf dieſe Weiſe
erregen noch heute die Gedanken von Seelen, deren leib¬
[388] hafte Erſcheinung auf Erden ſchon ſeit Jahrhunderten vor¬
über iſt, Vorſtellungsreihen in uns, welche noch jetzt durch
unſer Bewußtſein auch auf unſer unbewußtes Leben, auf
unſern Blutlauf, auf unſere Abſonderungen u. ſ. w. wirken
können. Noch jetzt erregen die Geſänge Homers und die
Tragödien des Sophokles und Shakespeare's bald die un¬
bewußte ſchnellere Regung unſers Herzens, bald geänderte
Formen unſerer Athmung, bald die Abſonderung unſerer
Thränen, noch jetzt reizen die üppigen Schilderungen Arioſt's
und Boccaccio's unſere Sinne, und noch jetzt erfüllt Dante
mit Ugolino's Geſchichte uns unwillkürlich und unbewußt
mit einem Schauder unſerer ſympathiſchen Nerven; Beweis
genug, daß dieſe Wirkungen zu den in Wahrheit unerme߬
lichen gehören.


Wie weit, mit Ausnahme jener Beziehungen zwiſchen
Mutter und Kind, die Möglichkeit gehe einer unmittel¬
baren
Wirkung der bewußten Sphäre einer Seele auf
das unbewußte Leben einer andern, darüber iſt ſchwer im
Allgemeinen zu entſcheiden. Gewiß iſt es, daß zwiſchen
ſich nahe verbundenen, zu gemeinſamen Daſein herange¬
reiften Seelen die Beziehung ſehr genau werden kann;
ſchwer läßt ſich indeß hierüber irgend etwas geradezu in
Form einer pſychologiſchen Thatſache feſt hinſtellen. Kommt
es wirklich vor, daß z. B. die Gedanken einer Seele un¬
mittelbar etwa einen ſchnellern Herzſchlag und eigenthüm¬
liche Gefühlsſtimmung einer andern bewirken können, und
kommt es vor, daß die That oder das empfindliche Leiden
einer Seele, obwohl einer andern gar nichts davon be¬
wußt geworden iſt, unmittelbar doch in dieſer Seele eine
eigenthümliche Gefühlsanregung, die wir mit dem Worte:
„Ahnung“ belegen, hervorrufen kann, ſo iſt dadurch be¬
wieſen, daß auch auf dieſe Weiſe unmittelbare Ueberwirkung
der bewußten Sphäre einer Seele auf die unbewußte der
andern möglich iſt. Ich bin überzeugt, daß vielen fein¬
fühlenden Seelen entſchiedene Erfahrungen hierüber nicht
[389] fremd ſind; eben ſo beſtimmt überzeugt bin ich indeß, daß
ſelbſtiſchen, bloß verſtandesmäßig entwickelten Seelen der¬
gleichen ſchwerlich begegnet und eben deßhalb von ihnen
für Täuſchung und Aberglauben betrachtet werden muß.
Jedenfalls iſt indeß auch hier genau vor Augen zu be¬
halten, daß alle Erſcheinungen ſolcher Ueberwirkungen nur
erklärlich werden, indem man den Gedanken feſthält, es
ſei die Menſchheit in ſich ein höherer ideeller Organismus,
ein Organismus, in welchem alle die beſondern Indivi¬
dualitäten als Glieder eingeſchloſſen ſind. Erſt wenn das
eine Individuum zum andern in einem ähnlichen Verhält¬
niſſe gedacht iſt, wie im lebenden Körper ein Organ zum
andern, werden die letzterwähnten Ausſtrahlungen eben ſo
wie die oben erwähnten Anſteckungen und Heilwirkungen
begreiflich.


Das letzte der hier zu betrachtenden Verhältniſſe wird
nun ſein, viertens, das Einwirken des Unbewußten
der einen Seele auf das Bewußte der andern
.
Eigentlich gehört dahin der ganze mächtige Eindruck, welchen
die durch unbewußtes Leben allein ſich entwickelnde Geſtal¬
tung des Organismus auf den bewußten Geiſt eines Andern
machen kann und vielfältigſt wirklich macht. Alles, was
wir Körperform, Züge des Antlitzes, Blick des Auges
nennen, es iſt ja nur die äußere Symbolik, wodurch das
Tiefinnerliche einer in dieſen Geſtaltungen unbewußt walten¬
den Idee ſich ausſpricht, und wie groß, wie in vieler Hin¬
ſicht oft für ein ganzes Leben beſtimmend, kann die Ein¬
wirkung ſein, welche dieſe äußere ohne ihr Zuthun und
ohne ihr Wiſſen herangebildete Erſcheinung einer Seele auf
die bewußte Region einer andern ausübt! Hierüber iſt es
nicht nöthig, weitere Erläuterungen und Beiſpiele aufzu¬
führen. Es iſt indeß nicht bloß die feſte, bleibende Ge¬
ſtaltung, es iſt noch mehr vielleicht die ſtille, tiefe Er¬
zitterung unbewußter Gefühle, welche in dem Aeußern ſich
ſpiegelt, welche im Ton der Stimme unbewußt anklingt,
[390] und in Wärme, Duft und elektriſcher Spannung ſich kund
gibt, wodurch auch der bewußte Geiſt gerührt wird. Ueber¬
haupt iſt bei dieſer Gelegenheit abermals daran zu erinnern,
wie es diejenige Seite ſinnlicher Erkenntniß des bewußten
Geiſtes ſei, welche wir mit dem Namen des Geruchs be¬
legen, worin, eben weil ihr ſtets der in der Luft ſich auf¬
löſende Organismus vernehmbar wird, namentlich die Wahr¬
nehmung der Qualität unbewußter Exiſtenz einer andern
Seele gewährt wird. — Es findet ſich eine Stelle im zwei¬
ten Theil des Fauſt, die dieſes Eigenthümliche, noch ſelten
Verſtandene und noch gar nicht Ausgeſprochene, merkwürdig
zu Tage bringt. Es heißt da wo Paris erſcheinen muß
im Kreis der Damen:

„Zum Weihrauchdampf was duftet ſo gemiſcht,
Das mir das Herz im Innerſten erfriſcht?


eine andere:

„Fürwahr! es dringt ein Hauch tief ins Gemüth,
Er kommt von ihm!“


die dritte:


„Es iſt des Wachsthums Blüthe
Im Jüngling als Ambroſia bereitet
Und atmoſphäriſch rings umher verbreitet.“

Und ſo iſt denn eine ganz merkwürdige Reihe ver¬
ſchiedener Ueberwirkungen unbewußten Seelenlebens nicht
bloß zum eigenen Selbſtbewußtſein, ſondern auch zu dem
einer andern Seele entſchieden vorhanden. Streng genom¬
men könnte man auch dieſe Ueberwirkungen in mittelbare
und unmittelbare eintheilen; die erſteren würden die ſein,
wo das Unbewußte als ſolches dem andern Unbewußten ſich
mittheilt und durch dieſes erſt auf die Sphäre höhern
Bewußtſeins wirkt. Auf dieſe Weiſe dringen manche Regun¬
gen dunkler Gefühle magnetiſch erſt in eine andere Indivi¬
dualität über und kommen erſt dort auch zur Wahrneh¬
mung des Bewußtſeins. Am deutlichſten tritt dies wieder
bei krankmachenden magnetiſchen und ſexuellen Einwir¬
kungen hervor. Dort ſtrömt unbewußt von beiden Seiten
[391] die Wirkung über und kommt erſt auf dieſem Umwege
zum Bewußtſein. Die unmittelbare iſt zum Theil die,
welche oben erwähnt wurde, wo die bewußte Sinneswahr¬
nehmung kennen lehrt was Unbewußtes in der andern Seele
ſich regt, zum andern Theil könnte es wohl auch da, wo
eine innige Beziehung zwiſchen zwei Seelen beſteht, vor¬
kommen, daß geradezu in der einen Seele das in der Form
des Gedankens, alſo im Bewußtſein aufſtiege, was in der
andern Seele nur als unbewußtes Gefühl rege geworden war.


Wir gehen nun über zu Betrachtung des Verhält¬
niſſes der Seele zur Natur
. Streng genommen
hätten wir dieſen Abſchnitt gleich mit dem nächſtfolgenden
vom Verhältniß der Seele zu Gott zuſammenziehen ſollen,
denn was wir Natur nennen, die Welt die uns umgibt,
der Boden auf dem wir leben, das Waſſer das uns tränkt
und trägt, die Luft die wir athmen und die in tauſend¬
fältigen Spiegelungen und Wolkenformen uns entzücken
kann, der Wald der uns beſchattet, die Blume die uns
duftet, es ſind doch zuhöchſt nur unendlich wechſelnde Er¬
ſcheinungen ewiger Gedanken jenes einen höchſten Myſterium
welches wir Gott nennen. — Freilich würde das aber auch
noch weiter führen, denn am Ende iſt Alles, wir ſelbſt, die
Menſchheit die auf uns wirkt und für und durch welche wir
uns entwickeln, auch wieder nur Offenbarung der Gedanken
dieſes Einen, Höchſten, in deſſen tiefſtem Weſen aller Unter¬
ſchied und alle Mannichfaltigkeit zuletzt zur bloßen Einheit
des Abſoluten zuſammenſchwindet. Hier aber, wo es uns
gerade darum zu thun iſt, das Leben, die Offenbarung der
Seele in ihren verſchiedenſten Farbenbrechungen zu ver¬
folgen, müſſen wir dieſen metaphyſiſchen Standpunkt ver¬
meiden, wir müſſen den zumeiſt menſchlichen feſthalten, und
wir werden bald erkennen, daß allerdings in dieſem Sinne
genommen, eine merkwürdige und höchſt mächtige Wechſel¬
wirkung zwiſchen unſerer Seele und der uns umgebenden
Natur beſteht.


[392]

Auch hier wird es zunächſt unerläßlich zu unterſcheiden
zwiſchen den Beziehungen der Natur zum unbewußten
und den zum bewußten Leben der Seele. In den
erſten Bereich gehört die ganze Fluth der unzähligen Ein¬
wirkungen, durch welche wir in jedem Augenblick unſers
Daſeins uns erhalten, genährt, geſtört, belebt, erſchöpft,
geſtimmt und verſtimmt finden. Hygiaſtik, Diätetik und
Arzneimittellehre, Phyſiologie und Culturgeſchichte zählen
und erwägen für gewöhnlich alle dieſe Dinge, und es liegt
uns hier ganz fern auf irgend eine ſpecielle Würdigung
derſelben einzugehen; aber geſagt muß es doch werden, daß
keine dieſer Einwirkungen an die fein gegliederte leibliche
Offenbarung der Seele rühren kann, ohne auf irgend eine
Weiſe bald ſchwacher bald ſtärker, doch bis hinauf zu
klingen in die Region des vollſten bewußten geiſtigen Da¬
ſeins und Wirkens. — So etwa erſchüttert ein vor einem
Obſervatorium vorbeirollender Wagen allemal in etwas das
Fernrohr des in der Höhe beobachtenden Aſtronomen, wenn
auch ſonſt auf noch ſo feſten Grundlagen das Gebäude
ruht. Auch hier hatte ſonſt die abſolute Trennung eines
Leiblichen und Geiſtigen, als zweier durchaus und in jeder
Beziehung Verſchiedener, die Pſychologie ganz rathlos ge¬
macht, denn die Wirkung des einen auf das andere wurde
dadurch unbegreiflich, eine Schwierigkeit die uns jetzt nicht
mehr ſtören kann. Uebrigens mögen wir allerdings zwiſchen
den Einwirkungen der Natur, die weſentlich nur die unbe¬
wußte Seite unſers Seelenlebens treffen und denen, die
ganz dem Bewußtſein ſich zuwenden, eine beſtimmte Unter¬
ſcheidung eintreten laſſen, und berückſichtigen hier eben de߬
halb mehr die letztere, weil ſie allein dem reinen Gebiet
der Pſychologie angehört. Die erſtere iſt ſchon deutlicher
geworden durch das was früher über das Leben der ein¬
zelnen organiſchen Syſteme und Erkrankungen der Gefühle
geſagt iſt. Bei der Erörterung der andern iſt aber eben¬
falls anzumerken, daß ſie auch wieder großentheils gemiſcht
[393] iſt mit Einwirkungen auf die unbewußte Region unſers
Daſeins.


Als das gewaltigſte Verhältniß dieſer Art mögen wir
betrachten die Art und Weiſe wie das leibliche ſich Dar¬
leben unſerer Seele und unſers Geiſtes zu den Lebens¬
verhältniſſen des Planeten geſtellt iſt. Wir pflegen dies
unter dem Begriff der Natur des Bodens und des Klimas
zuſammenzufaſſen, und wie bedeutend dieſe Verhältniſſe
für Entwicklung und Wirkſamkeit des Geiſtes ſind, wer
wüßte das nicht! Ob unſere Sinne früh von Heiterkeit
und Helle des Himmels, Reinheit und Schöne der Luft,
milder Temperatur und großartiger Bildung von Land und
Gewäſſer angeſprochen werden, oder ob ſie von kalten
feuchten Nebeln umgeben ſind und bei Mangel an Licht
und reiner Luft verkümmern, das wird allemal eine ganz
weſentlich verſchiedene Bildung des Geiſtes geben! — ja
dieſe Verſchiedenheit würde noch viel ſchärfer hervortreten,
verſtände der erfindungsreiche Geiſt des Menſchen nicht ſich
Mittel zu ſchaffen, welche die Unvollkommenheiten des
Klimas in hohem Grade zu erſetzen, zu verbeſſern geeignet
ſind. Merkwürdig iſt jedoch alsdann, wie ſelbſt dieſe Mittel
ſich, ſo zu ſagen, ein neues beſſeres Klima zu ſchaffen
(durch Erfindung unſerer Heizungen, Erleuchtungen, Häuſer¬
einrichtungen u. ſ. w.), kurz dieſe gewiſſermaßen künſtliche
Natur — abermals auf eigene Weiſe auf Entwicklung un¬
ſers Geiſtes Einfluß übt. Die immer ſich ſteigernde Künſt¬
lichkeit unſerer ſocialen Denkungsweiſen, vieles von der
Ungeſundheit und Schwächlichkeit der modernen Geiſtes¬
richtungen, die von dem einfach rein Naturgemäßen immer
mehr abweichenden conventionellen Vorſtellungsarten, ſie
werden großentheils nur mit erklärlich durch die factice Na¬
tur, in welcher mehr und mehr die Menſchen ſich eingelebt
haben und immer tiefer einleben.


Wer auf dieſe Dinge genauer Achtung gibt, wird ſich
dann leicht überzeugen, daß jenes erſt in unſerer Zeit her¬
[394] vorgetretene Beſtreben ſich zeitweiſe wie zu einer Art von
Natur-Adoration hinauszuſtürzen in Wälder und Berge,
in Thäler und auf Felſen, wirklich gleichſam eine Art
von Inſtinkt iſt um ſich ein Heilmittel zu ſuchen gegen
die Krankheit des künſtlichen Lebens und die Einwirkung
deſſelben auf geiſtige Entwicklung. Gewiß liegt denn auch
eine eigenthümliche Wahrheit und Bedeutung in dieſem
Beſtreben, und es kann ein ſolches zeitweiſes Eintauchen
in freie Natur allerdings wahrhaft erfriſchend und mächtig
auf den Geiſt wirken; aber leider wird auch dieſe Richtung
durch die Art ihrer Ausführung oft genug zur entſchiedenen
Carricatur und verfehlt dann ihrer heilſamen Einwirkung
gänzlich.


Erwägen wir nun mehr im Einzelnen wie die Natur,
die uns umgibt, die Seele anſpricht und den Geiſt ent¬
wickelt, ſo wird begreiflich, daß dieſe Wirkung theils im
Allgemeinen durch die Gefühlsſeite und das Anklingen der¬
ſelben in tauſend verſchiedenen Saiten und von den ver¬
ſchiedenſten Richtungen aus bewirkt wird, theils aber dadurch
namentlich als Geiſtesbildung gefördert wird, daß in ihr
unendliche Gleichniſſe erſcheinen an deren Studium der
Menſch, wie das Kind an Fabeln, allmählig zur Erkennt¬
niß höherer Wahrheit heranzureifen beſtimmt iſt. Die
erſtere Einwirkung, welche durch das Gefühl das Bewußt¬
ſein in Anſpruch nimmt, geht durch unendliche Nüancen.
Wie mannichfaltig iſt nur die Einwirkung der Jahreszeiten,
welche dadurch den Menſchen in gemäßigten Klimaten eine
gewiſſe Univerſalität der Erdnatur gewähren, daß ſie an
einer und derſelben Stelle ihm gleichſam die Zuſtände der
verſchiedenſten Himmelsſtriche, von heißeſter Aequatorial¬
gegend bis zu den eiſigſten Polarregionen im Kreiſe raſtlos
vorüber führen, und dadurch ganz anders, man kann ſagen
irdiſch univerſeller, auf ihn wirken, als wenn ein und der¬
ſelbe Zuſtand der Atmoſphäre ihn immer umgäbe. Gewiß!
welchen eigenthümlichen Einfluß ſchon dieſer immer ſich wie¬
[395] derholende Cyclus von ſtrengerem In-ſich-gekehrt-ſein bei
winterlichen Zuſtänden, durch die belebend aufregende Wir¬
kung des Frühlings, zu der gewiſſen ſchön geſättigten Fülle
des Sommers, und zu den, halb erſterbenden, halb Künf¬
tiges vorbereitenden Ergebniſſen des Herbſtes, auf Gemüth
und Geiſt hervorbringt, iſt kaum zu berechnen. — Eine
ſchwächere ähnliche Einwirkung iſt von dem Wechſel der
Tageszeiten durchaus nicht zu verkennen. Die erfriſchende
Kühle und Helligkeit des Morgens wirkt mit eigenthüm¬
licher Elaſticität auf die Thätigkeit des Geiſtes, und manche
früher ihm unbewußte Idee tritt neu und ſcharf hervor
unter dem Einfluß der neu aufgegangenen Sonne. Einen
entſchiedenen Gegenſatz hiezu bildet dann die mehr poetiſch
ſchwärmeriſche Einwirkung des ſinkenden Abends, während
das Dunkel der Nacht dem Unbewußten eine momentane
Herrſchaft über das Bewußte zu leihen beſtimmt iſt, wenn
dagegen die Höhe des Tages den bewußten Verkehr von
Menſchen zu Menſchen namentlich und vielfältigſt begünſtigt.


Aehnliche Verhältniſſe geben ſich kund zwiſchen den
verſchiedenen Stimmungen der Witterung und dem Geiſte
des Menſchen. Perſonen von ſchwächerer geiſtiger Indivi¬
dualität können dadurch ſogar mit einer Gewalt angeſpro¬
chen werden, welche ihnen theilweiſe die freie Selbſtbeſtim¬
mung ihrer Thätigkeit zu rauben im Stande iſt, während
ſtärkere Naturen, indem ſie überhaupt mehr und mehr die
äußere Welt nur als das Element betrachten, in welchem
ſie ihre eigenthümlichen und beſondern Lebenszwecke auszu¬
führen und darzubilden haben, auch den Werth und den
erheiternden oder niederſchlagenden Einfluß dieſer Himmels¬
läufte, nur je nachdem ſie dieſen Zwecken förderlich ſind
oder nicht, zu bemeſſen gewohnt ſind.


Eine andere Seite, von welcher zwiſchen menſchlicher
Seele und Natur ein beſonderes Verhältniß ſich erſchließt,
iſt das der Erkenntniß, und in dieſer Beziehung iſt der
Einfluß ganz unberechenbar, den das Schauen der Natur
[396] hat auf geiſtige Entwicklung der Seele. Man darf ſagen:
daß, wie in ſich die Seele das Wunder des geiſtigen Bewußt¬
ſeins, nur ſich entwickelt unter Bedingung der Heranbildung
einer gewiſſen natürlichen Organiſation, ſo auch nun der
Geiſt ſelbſt den Reichthum, geſunder Gedanken und Erkennt¬
niſſe nur dann recht zu entfalten vermag, wenn er treu
und rein die Geſchichte der Natur um ihn her in dem
Weſen ihrer innern Folge in ſich aufnimmt. Dieſes reine
Verhältniß zur Natur iſt daher auch von jeher als ein
Heiliges in der Menſchheit von den Beſten verehrt worden,
und ganz eigen wirkt in dieſer Beziehung eine Stelle im
Euripides, welche auf eine Weiſe, wie ſie nur einem
alten Griechen kommen konnte, naiv und groß dieſes My¬
ſterium ausſpricht. Es iſt die Stelle des Hippolyt an
Artemis:


„Hier dieſen friſchgeflochtnen Kranz, o Herrſcherin!

Zum Schmuck aus unentweihten Fluren bring' ich Dir,

Wo nicht der Hirt zu weiden ſeine Heerde wagt,

Noch Eiſen eindrang jemals, nein die Biene nur

An unentweihter Frühlingsau' vorüberſchwärmt,

Und wo die Unſchuld Gärten pflegt mit Quellenthau,

Daß, wer nichts Angelerntes, ſondern von Natur

Den reinen Sinn für alle Weisheit inne hat,

Daraus darf pflücken; Sündern aber iſt's verſagt.“

Nur von hier aus iſt es daher zu verſtehen, warum
die Sprache auch von der Gedankenwelt den Ausdruck
„natürlich“ ſo hoch ſtellt und als das Siegel eines voll¬
kommen Angemeſſenen erkennt. Es iſt allerdings für die
nähere ſorgfältige Erwägung etwas außerordentlich Merk¬
würdiges, daß dieſelbe innere organiſche Folge, dieſelbe
tiefe Nothwendigkeit der Natur, welche es beſtimmt, daß
in der und der Richtung die Strömungen der Meere und
die Bewegungen der Geſtirne gehen, und daß der Fort¬
gang der Entwicklung eines Mooſes wie der einer Palme
nur gerade ſo und nicht anders ſich verhalten kann, daß
dieſe auch da herrſchen müſſen, wo eine wahrhaft ſchöne
Reihe von Gedanken ſich entfalten und im Geiſte ſich be¬
[397] feſtigen ſoll. So wie es daher Gedankenfolgen gibt, welche
wir eben darum harmoniſch und ſchön nennen, weil uns
unſer innerſtes Bewußtſein ſagt, daß dieſelbe Geſetzmäßig¬
keit und Nothwendigkeit und dieſelbe feine Gliederung in
ihnen herrſcht, welche wir in einem geſunden, natürlichen
Organismus bewundern, ſo gibt es auch wieder andere,
die durch ihre Unklarheit, Gezwungenheit und Verkehrtheit
uns den Eindruck eines verkrüppelten, verrenkten, unfertigen
oder verdorbenen Organismus geben, und die wir dann
als unnatürlich mit Recht bezeichnen. Dieſe Art natür¬
licher oder unnatürlicher Gedankenfolgen werden nun eben
allerdings im höchſten Grade durch das Verhältniß der
Seele zur Natur bedingt und gegeben, und hier iſt es
namentlich auch, wo die äußere Einwirkung und Erziehung
viel an der Seele geſtalten und leiten kann, und von wo
aus ganz beſonders das, was man Studium der Natur¬
wiſſenſchaften nennt, eine höhere pſychiſche Bedeutung erhält.


Es muß nämlich ganz gewiß einen weſentlichen Einfluß
auf das haben, was wir das Natürliche in den Gedanken¬
folgen des Geiſtes genannt haben, wenn wir früh ſchon
eine geſunde reine Anſchauung bekommen von dem innern
eigentlichen Naturleben, von der höhern göttlichen unbe¬
wußten Vernunft, die ſich im Entfalten einer Pflanze, wie
im Anſchießen des Kryſtalls und der Gliederung eines
werdenden thieriſchen Geſchöpfs offenbart, und es muß
dies deßhalb ſolchen Einfluß haben, weil auch hier jenes
frühere merkwürdige Verhältniß zwiſchen Bewußtem und
Unbewußtem ſich hervorthut, in welchem ſich ergab, daß,
wenn eines Theils das Unbewußte allerdings erſt dadurch
ſeine Höhe erreicht, daß es zum Bewußtſein ſich erhebe,
andern Theils doch auch das Bewußte wieder, in gewiſſer
Beziehung, zum Unbewußten zurückkehren müſſe, um zu
ſeiner Höhe zu gelangen; — fand ſich doch Alles, was
wir die freie That des bewußten Geiſtes als Kunſt ge¬
nannt haben, nur möglich, in ſo fern zuvor vieles geiſtige
[398] Regen und Thun wieder völlig unbewußt geworden war.
So nährt ſich denn gleichſam auch der bewußte Geiſt, und
insbeſondere während ſeiner frühern Entwicklung, gern und
erſprießlich an dem hohen unbewußten Walten der Natur
und wächst daran und daraus, wie unſer Organismus
leiblich von der Aufnahme natürlicher Körper ſich nährt
und wächst. Auf dieſe Weiſe iſt es alſo großentheils, daß
der am Naturleben herangebildete Geiſt jene ſchöne Folge
und reine Natürlichkeit gewinnen kann, welche dann alle
ſeine Gedanken durchdringt, regelt und bewegt, welche einen
wunderbaren Zauber über ihn zu verbreiten im Stande iſt,
und welche namentlich den Geiſt des griechiſchen Alterthums
durch ſo eigenthümliche hohe Schönheit auszeichnet. Von
hier aus leuchtet daher auch gar wohl ein, wie groß eigent¬
lich die Bedeutung des Naturſtudiums ſei, und warum zu
einer Zeit, wo der Menſch im Ganzen und Aeußerlichen
immer mehr aus dem reinen Verhältniß zur Natur heraus¬
gedrängt wird, und immer mehr den Einflüſſen einer eigenen
künſtlichen unerſprießlichen Natur anheim zu fallen droht,
gerade auf dem Studium der Naturwiſſenſchaft ein ſo mäch¬
tiger Troſt, eine ſo große Hoffnung beruhen muß. Dies
Studium iſt es nämlich, welches — recht angefaßt —
allein ein hilfreiches Gegengewicht gegen jene Unnatürlichkeit,
welches eine bewußte Hinleitung zur Natur zu geben und
welches im wahren höhern Sinne eine Gymnaſtik des Geiſtes
zu werden vermag, und daher alſo ſeine hohe Bedeutung! —
Freilich kann aber auch dieſes Studium völlig verleidet,
mißleitet und gerade zum Gegentheil ſeines Ziels gewendet
werden, nämlich dann, wenn es ganz zur Künſtlichkeit ge¬
wendet wird, und wenn es das Auswendiglernen ſyſtema¬
tiſcher Namen und Kennzeichen und ähnlichen eigentlich nur
als Nebenſache und als Nothbehelf für Unermeßlichkeit,
unentbehrlichen Kram, geradezu zur Hauptaufgabe alles
Strebens werden läßt!


Wo alſo das Naturſtudium ſolche Irrwege vermeidet
[399] und den bewußten Geiſt in Wahrheit nur auf jenes Gött¬
liche und Große des Unbewußten der Welt hinwendet, da
kann es vollkommen zum Palladium werden, daß die Seele
auch in aller Künſtlichkeit des äußern Daſeins das eigent¬
lich „Natürliche“ ihres Weſens und ihrer Gedanken nicht
verliere, vielmehr gerade daran immer mehr zu innerer
Vollkommenheit heranreife. Auch in dieſer Beziehung, wie
in ſo vielen andern, wird dann die Seele einen gewiſſen
Kreislauf vom Unbewußten durch das Bewußte zum Un¬
bewußten durchgehen, und die Beziehung und das Verhält¬
niß der Seele zur Natur kann jedenfalls — auf dieſe Weiſe
durch die Wiſſenſchaft vermittelt — ein höheres und innigeres
werden, als es da war, wo bloß ein dunkler unbewußter,
obwohl tief begründeter Zug den Geiſt mit der Natur ver¬
band. — In dieſer Beziehung kann man daher wohl die
Naturwiſſenſchaft wirklich als eine Bürgſchaft betrachten,
daß jene ſchöne Natürlichkeit des Gedankens, welche das
ſchönſte Siegel eines wahrhaft gebildeten Geiſtes iſt, nicht
untergehen könne, ſo weit auch eine überfeinerte und ver¬
künſtelte Cultur die Menſchheit zu umgarnen und fortzu¬
reißen raſtlos beſtrebt ſei. — Möge daher dieſer Wiſſen¬
ſchaft auch immer die rechte Richtung und rechte Weiſe be¬
wahrt ſein!


Das letzte und zugleich das erſte, das höchſte und zu¬
gleich das innigſte aller Verhältniſſe der Seele iſt endlich
das Verhältniß der Seele zu Gott. Auch
dieſes theilt ſich ſogleich und nothwendig in ein unbewußtes
und ein bewußtes.


In Ihm leben, weben und ſind wir,“ iſt der
alte, wahre und ewige Spruch, der uns mit einem Male
zuerſt das unbewußte Verhältniß der Seele zu Gott
vollkommen vergegenwärtigen muß! — Streng genommen
läßt ſich auch eigentlich dieſem Satze „in Ihm leben, weben
und ſind wir“ etwas Weiteres gar nicht zuſetzen, wenn
eben von dem unbewußten Verhältniſſe die Rede
[400] iſt; denn jenes höchſte, ewige Myſterium, jenes offenbare
Geheimniß der Gottheit, welches mich ſelbſt als Atom im
Unendlichen, Unermeßlichen erſchafft, erhält, durchdringt, be¬
lebt und aus einem Unbewußten und Gebundenen zu einem
Bewußten und in ſich Freien erwachſen läßt, wir ſind ihm
von Anfang an ſo eigen und ſo durch und durch einge¬
weiht und einvereint, daß das „Verhältniß“ hier zu einem
„Eingeboren-Sein“, einem „Theil-Sein“ wird. — Die
ganze Pracht und Schönheit menſchlicher Organiſation, un¬
bewußter menſchlicher Lebensentwicklung und unbewußten Le¬
bensverhältniſſes, der unendliche Reichthum unſerer innern
Gliederung, die tauſendfältigen Beziehungen, in welchen
unſer unbewußtes Leben zu Anderem, zur umgebenden Natur
und zu Sonne und Planeten ſteht, dies Alles iſt nur ein¬
zelne Offenbarung jenes ewigen höchſten Myſteriums in
und an uns, und ich darf daher hierüber nur auf ſo Vieles
zurückverweiſen, was bereits Gegenſtand der vorhergehenden
Betrachtungen geweſen iſt, denn in jenem Allen iſt eigent¬
lich myſtiſcher Weiſe zugleich gehandelt worden von dem
unbewußten Verhältniß der Seele zu Gott.


Wenden wir uns daher gegenwärtig zu dem bewu߬
ten Verhältniß der Seele zu Gott
. Hier tauchen
die merkwürdigſten und eigenthümlichſten Beziehungen her¬
auf. Der Geiſt des Menſchen, die zum Bewußtſein ge¬
kommene, ſich ſelbſt erkennende Seele, wie ſie eigentlich
wirklich erſt zum Daſein, zur wirklichen Gegenwart gelangt
durch den Gedanken (cogitoergosum), ſo ſtrebt ſie nun
auch danach, bei Betrachtung und Erkenntniß der Welt,
aus allem ewigen Wechſel derſelben, aus der ſtäten Flucht
der, halb nur als Vergangenheit, halb als Zukunft er¬
ſcheinenden Zeit, aus dem Meere des raſtlos untergehenden
und raſtlos ſich erneuernden Wirklichen, ſich zu erretten, und
zu Erfaſſung eines Ewigen, eines Unwandelbaren, mit
einem Wort, eines gegenſtändlich gewordenen Urgeiſtigen,
als höchſten Urgrundes aller jener Wirklichkeit und ihres
[401] ſelbſteigenen Daſeins zu gelangen, und dies nennen wir
das „Suchen der Seele nach Gott.“ Dieſes Suchen,
dieſes Sehnen, dieſe Sehnſucht, geht als ein Grundton
durch die ganze Geſchichte der zum Bewußtſein gekommenen
Menſchheit, und der Geiſt des Menſchen erkennt in ſeiner
eigenſten Tiefe, daß, wie theils das Gelangen zum erſten
Gedanken und zur Selbſterkenntniß, und theils das Ver¬
ſtändniß und vollſtändigſte Erkennen einer nächſt verwandten
Seele in der Liebe, die beiden erſten Bedingungen ſind zur
Befriedigung eines uns tief eingebornen Bedürfniſſes, ſo
endlich das Erfaſſen und möglichſte Durchdringen des ewigen
göttlichen Myſteriums, die dritte und höchſte Bedingung
vollkommner Befriedigung unſers Daſeins allein gewähren
kann. — Hier aber treten jedoch die wunderbarſten Ver¬
hältniſſe hervor; — wie das Sehnen nach vollkommenſter
Selbſterkenntniß ein tiefes und unermeßliches genannt werden
kann, und wie das Sehnen nach der vollen Genüge des
liebenden Erkennens auch durch viele Stufen hindurchgehen
muß und doch eine in aller Beziehung vollſtändige
Befriedigung nie erhalten wird, ſo iſt nun auch dieſes
Sehnen, dieſes Suchen nach Gott, nicht nur an die mannich¬
faltigſten Stufen der Entwicklung geknüpft und durch die
verſchiedenſten ſich zwiſchenſtellenden Scheinbilder erſchwert,
ſondern zugleich ſeinem Weſen nach überhaupt unergründ¬
lich und unendlich. Faſſen wir es mit einem Wort, ſo iſt
auch in dieſer Beziehung an die Anfangsworte dieſer Blätter
zu erinnern: „der Schlüſſel zur Erkenntniß vom Weſen des
bewußten Seelenlebens liegt in der Region des Unbewußt¬
ſeins.“ — Das Unergründliche und eigentlich Unerreichbare
des Sehnens nach Gott liegt nämlich darin, daß es hier
im wahrhafteſten Sinne zur Aufgabe des denkenden Geiſtes
wird: das Höchſte des bewußten Geiſtes in der
tiefſten Tiefe eines
für unsUnbewußten rein
untergehen oder vielmehr aufgehen zu laſſen
.
Wir dürfen es nämlich geradezu ausſprechen: das höchſte
Carus, Pſyche. 26[402] göttliche Bewußtſein, das Bewußtſein des Geiſtes Gottes
an und für ſich, iſt von uns nur zu denken als ein ſo
Unermeßliches, ſo Unendliches, ſo Allumfaſſendes, daß es
für ein ſo durchaus bedingtes und an Endliches geknüpftes
Bewußtſein als das menſchliche zuletzt allemal vollkommen
zuſammenfallen wird mit dem Myſterium des Unbewußten
ſelbſt; umgekehrt aber liegt eben deßhalb auch das, was wir
die Göttlichkeit des Unbewußten genannt haben, nur eben
in der Unermeßlichkeit und Unbegreiflichkeit eines höchſten
göttlichen Bewußtſeins.


Indem alſo der bewußte Geiſt des Menſchen, wenn
er ſich dieſem Verhältniß zu einem Höchſten, zu einem
für ihn Unermeßlichen, Unbewußten, durch und durch hin¬
geben und innigſt aufſchließen möchte, ſich unbedingt und
immerfort in einen eigenthümlichen myſtiſchen Gegenſatz von
Bewußtſein und Unbewußtſein vertieft findet, ſo kann er
auch nicht anders als hier, mit all ſeiner Sehnſucht einem
großen Geheimniß, einem ewigen Myſterium ſich gegenüber¬
geſtellt erblicken; einem Myſterium, an welchem er eben
ſo gut zerſchellen und rettungslos untergehen kann, als er
ſich daran im höchſten Grade zu erheben, aufzuklären und
für immer zu erretten im Stande iſt. Das erſtere wird
dann geſchehen, wenn er entweder durch Scheinbilder dieſes
Höchſten und Ewigen ſich irre machen, oder wenn er durch
die zum Wahnſinn führende Grübelei über die Ergründung
des doch an ſich Unergründlichen ſich verwirren läßt; das
andere hingegen kann ihm nur gelingen, wenn einmal er
den Muth hat das Unbewußte als ſolches anzuſchauen und
dem Unendlichen ſich als ſolchem innig hinzugeben, und
ein andermal wenn er vermag den Abgrund und das
Haltloſe eines durchaus Unermeßlichen und Geheimnißvollen
durch die Macht und Tiefe der Liebe zu erfüllen
und zu beſiegen, und auf dieſe Weiſe ein vollkommen ſchönes
und reines Verhältniß zu dieſem Myſterium zu erreichen.
Beides verlangt jetzt eine etwas ausführlichere Entwicklung.


[403]

Was in erſterer Beziehung die Scheinbilder des
Göttlichen
betrifft, ſo ſind alle und jede Verſuche der
Menſchheit, jenes höchſte, unermeßliche und abſolute My¬
ſterium zuſammen zu ziehen in den concreten Begriff eines
irgend Perſonificirten, immer nur eben ſo viele Beiſpiele
von Verirrung des menſchlichen Geiſtes geblieben, und der
Streit und die Zwietracht, welche dann entſtanden, wenn
die einzelnen Völker und Menſchen ſich eine Gottheit ſchu¬
fen nach ihrem Bilde, und jede Partei die ſeinige für
die allein rechte und ächte erklärte, haben ihre Spuren mit
blutigen Zügen auf jedes Blatt der Geſchichte tauſendfältig
gezeichnet. Wie gröblich die Scheinbilder für jenes höchſte
Myſterium oft gewählt werden, beweiſen die Fetiſche der
Wilden und die ungeheuerlichen Vorſtellungen und Götzen¬
bilder ſo vieler Zeiten und Völker, welche immer nur die
getreuen Spiegelbilder ſind von dem eigenen Zuſtande eines
ſolchen Stücks Menſchheit. Mag aber auch ein Verſuch
dieſer Art ſcharfſinniger ſein als der andere, einer auch
poetiſch tiefer gefaßt und ſchöner als der andere, ein Bild
Raphaels von der Gottheit edler und mächtiger als ein
chineſiſches Götzenbild, und die Deduction eines monothei¬
ſtiſchen Theologen von den Attributen der Perſon der Gott¬
heit verſtändiger als die Anrufung eines Prieſters des
Dalai Lama; allein ſtreng genommen und in der ernſteſten
und unbedingteſten Wahrheit, wiegen doch das eine eben
ſo leicht als das andere, und es iſt das eine eben ſo weit
abweichend von jenem, oben als das eigenſte Verhältniß
der Seele zu Gott bezeichnetem Untergehen oder vielmehr
Aufgehen des Bewußtſeins in einem höchſten für uns
abſoluten Unbewußten, als das andere.


Es hat übrigens etwas ſehr Merkwürdiges und oft
Rührendes, alle die verſchiedenen Phaſen zu verfolgen,
durch welche die Menſchheit in dieſer Beziehung durchgehen
mußte; — insbeſondere gewinnt der Naturcultus, die Ver¬
ehrung gewiſſer mächtiger Naturerſcheinungen erſt von die¬
[404] ſem Standpunkt eine tiefere Bedeutung. Es war nämlich
ganz natürlich und angemeſſen, daß, ſobald der Geiſt des
Menſchen die hohe Vernunft, welche in allem Unbewußten
um uns her ſchweigend ſich offenbart, gewahr zu werden
begann, in ihm aufſtieg die Ahnung von einem höchſten
Göttlichen, und, dieweil nun in dem unbewußten Walten
der Natur die ungeheure Macht dieſes höchſten göttlichen
Myſteriums ihm zuerſt doch einigermaßen fühlbar geworden
war, ſo mußte auch die Naturerſcheinung an und für ſich
ihm zuerſt zum Gegenſtande der Verehrung werden. Die
Wiederkehr des Bewußten zum Unbewußten deutete ſich hier
zuerſt, ich möchte ſagen, ſymboliſch an, und eben weil hin¬
ter dieſem Symbol, doch abermals unbewußt, eine hohe
Wahrheit verborgen ruht, hat es immer etwas Ergreifen¬
des, wenn wir die Anbetung und Verehrung einer noch
halb kindlichen Menſchheit ſich bald auf die Sonne, bald
auf die im Gewitter ſich offenbarenden elektriſchen Regungen
der Atmoſphäre, bald auf Mond und Geſtirne, wenden
ſehen. Dieſer Naturdienſt, ja die Verehrung von Quellen,
Flüſſen und Bäumen hat uns deßhalb ſogar etwas Un¬
ſchuldigeres und mehr zu Rechtfertigendes als die von thie¬
riſchen Geſchöpfen oder menſchlich ſein ſollenden Geſtalten,
und zwar eben nur deßhalb, weil in jenen Erſteren noch
ein reines Hinwenden des Bewußten gegen ein höchſtes
Unbewußtes vernehmbar wird, während in Letzteren dieſes
höchſte Unbewußte ſchon widernatürlich in ein unangemeſſe¬
nes concretes Bewußtſein eingezwängt erſcheint. Ebendaſ¬
ſelbe kommt auch der griechiſchen Mythologie zu Gute, denn
auch da wird es eigentlich keinesweges angeſtrebt das eine
höchſte unermeßliche Myſterium in einem concreten Be¬
griff, in eine irgendwie dargeſtellte Perſon einzuzwängen,
ſondern ihre Göttergeſtalten ſind nur Perſonificirungen ein¬
zelner Naturerſcheinungen, es iſt immerfort der Naturcul¬
tus ſelbſt, nur daß die einzelnen Aeußerungen des Unbe¬
wußten in der Natur, gleichſam auf die Weiſe zum
[405] Bewußtſein erhoben werden
, daß poetiſch ihnen die
Geſchichte des Menſchen ſelbſt angedacht wird, als welcher,
in der Entwicklung ſeiner Seele, jedesmal ebenfalls das
Heraufbilden vom Unbewußten zum Bewußten in ſich er¬
fährt, und es geſchieht auf dieſe Weiſe nur die Erhebung
des uns nähern einzelnen Unbewußten zum Bewußten, aber
es wird vermieden der unzuläſſige Verſuch, das eine höchſte
und ewige Myſterium in beſchränkte Geſtaltung einer Art
von menſchlichem Bewußtſein hinein zu zwingen, ein Fehl¬
griff von welchem monotheiſtiſche Religionen ſelten ſich frei
gehalten haben.


Es bedarf nun keiner ausführlichen Schilderung um
zu zeigen, wie alle dieſe Scheinbilder, und je roher, je
unzuläſſiger, um ſo mehr, vielfache Noth und blutigen
Streit und Zerwürfniß der Menſchheit gebracht haben, es
iſt dabei auch nun als merkwürdig zu gedenken, daß jener
falſche Monotheismus, z. B. der Juden und Türken, viel
mehr Unheil und Zwietracht verbreitet hat, als der milde
Naturcultus und die Verehrung der Naturgötter. In den
alten Griechen war nicht bloß Duldung, ſondern auch Ehr¬
furcht vor andern Religionen herrſchend, und wie ſticht dies
ab gegen die Vertilgungskriege und den Haß gegen Anders¬
gläubige, welche die Verehrer Jehova's und Allah's
ſo häufig gezeigt haben; und waren die Vertilgungskriege
ſo vieler die ſich Chriſten nannten von anderer Bedeutung
als jene Frevel? — Immer je abſtruſer, je mehr götzen¬
dienerhaftiger die Verehrung des Höchſten getrieben wurde,
deſto liebloſer und roher die Verfolgung der Andersdenken¬
den! Iſt es doch ein eigenthümlicher Zug der Menſchheit,
daß nur Seltene und Wenige der Begeiſterung für das
eigentlich Hohe und Wahre fähig ſind, dahingegen unend¬
lich häufiger eine falſche Begeiſterung für den Irrthum und
für das Niedrige gefunden wird!


Nicht aber bloß die Zwiſchenſtellung dieſer Scheinbil¬
der, das falſche ſich Objectiviren des Unbewußten als ein
[406] Bewußtes, wirkt ſtörend und unheilbringend auf die Menſch¬
heit, ſondern auch das falſche ſubjective Anwenden des
Bewußtſeins auf das höchſte Unbewußte, das Verfolgen
des dem Verſtande nicht Zugänglichen durch ein unausge¬
ſetztes Anſpannen des Verſtandes, das was wir Grübeln
nennen, und was leicht zum Wahnſinne führen kann, es
wirkt ſtörend, ja zerſtörend auf die Seele des Menſchen. —
Es gibt ein gewiſſes falſches Beſtreben, das nicht in con¬
crete Form zu Faſſende in dieſe zu zwängen, welches man
wohl vergleichen könnte dem eines Arithmetikers, welcher
dadurch das Geheimniß der Zahl zu erfaſſen beſtrebt wäre,
daß er durch immerfort Zählen die höchſte und letzte Zahl
zu finden verſuchte. Jedenfalls entſteht allemal auf dieſe
Weiſe ein falſches Verhältniß der Seele zu Gott, denn da
wo ihr Sammlung, Erhebung und Ruhe zu Theil werden
ſoll, entſteht ihr Zerſtreuung, Abſpannung und raſtloſes
vergebliches Mühen.


Wenden wir uns nun zu Betrachtung der andern
Seite des Verhältniſſes der Seele zu Gott, d. h. zu der
beglückenden, erhebenden! Es iſt geſagt worden zweierlei
ſei hiezu unerläßliche Bedingung: einmal den Muth zu
haben jenes höchſte Unbewußte als ſolches an¬
zuſchauen
und ſolchem Unendlichen, Unermeßlichen innigſt
ſich hinzugeben; ein andermal den Reichthum der Liebe
zu beſitzen
und durch deren Macht und Tiefe den Ab¬
grund und das durchaus Haltloſe eines uns bloß als My¬
ſterium erſcheinenden Unermeßlichen zu beſiegen und zu er¬
füllen. Was das erſte betrifft, ſo hat es nothwendig für
den beſchränkteren Geiſt des Menſchen etwas Ueberwälti¬
gendes, wenn er verſucht alle Kraft ſeines Denkens, Füh¬
lens und Wollens auf ein ſchlechthin Unfaßliches, durchaus
Unbeſchränktes, höchſtes Unbewußtes zu concentriren, und
ihm ſich ganz zu übergeben, es iſt gewiſſermaßen ein Wag¬
niß, es iſt, in ſeinem ganzen Umfange erfaßt, die höchſte
That
, deren der Menſch fähig iſt; aber eben deßhalb ge¬
[407] hört auch eine gewiſſe höhere Reife dazu, wenn ſie gelingen
ſoll. Jeder Menſch durchgeht daher in ſich, ſo zu ſagen,
die Geſchichte der Menſchheit auch in dieſer wie in ſo viel
anderer Beziehung; erſt ſpät und nur im Falle einer wirk¬
lich erreichten Reife, gibt er die Scheinbilder auf, in wel¬
chen ſich ihm anfänglich dieſes Unendliche zuſammendrängte,
und wagt es klarer und feſter auf ein an ſich Unendliches
zu blicken, eine Vorſtellung, welche ihm leichtlich zuerſt
gleich einer unabſehlichen Wüſte als ein Grauenhaftes,
mehr Schreckendes als Erhebendes erſcheinen wird. Eine
große eigene Erhebung der Seele muß ſonach hinzutreten,
wenn dieſes Dunkel ſich erhellen, wenn das Gefühl noth¬
wendiger unbedingter Hingebung an dieſes höchſte Gött¬
liche ihr nicht furchtbar, und alles eigene Daſein, alles
Ruhen auf ſich ſelbſt, zerſtörend erſcheinen ſoll. Allerdings
aber je reifer und größer in ſich der Geiſt wird, je mehr
eine weite und umſichtige Erkenntniß der Welt ihn erleuch¬
tet, um ſo näher tritt ihm dieſes Myſterium, um ſo mehr
erfüllt ihn die Hoheit der alles Unbewußte durchdringenden
und beſtimmenden Vernunft, die Schönheit aller reinen
Offenbarung jenes ewigen Geheimniſſes mit Freudigkeit
und Verehrung, und um ſo mehr kann ihm das eine
Quelle von Seeligkeit werden, was zuerſt eine troſtloſe
Wüſte ſchien. Bei alle dem, wie möchte die Erkenntniß
allein ausreichen jene unbedingte Hingebung an ein doch
nie ganz zu Erkennendes möglich werden zu laſſen, welche
wir als die höchſte That der menſchlichen Seele bezeichnet
haben, träte nicht hier das zweite hinzu — der Reichthum
und die Fülle der Liebe. Erſchloſſen muß ſie alſo ſein dieſe
Macht der Liebe in der Seele, durchgebildet muß ſie ſein
durch ihre verſchiedenen Stufen, deren die höhere immer
die vorausgehenden mit einſchließt, erwacht muß er ſein
dieſer ſehnſüchtige Zug, welcher den Geiſt vom egoiſtiſchen
Ruhen auf ſich ſelbſt herausdrängt und ihn mit einer noch
höhern Macht zu ſeinem und dem Urquell alles Deſſen,
[408] was ihn ſonſt irgend mit Liebe erfüllt, hinziehen kann, als
der erſte früheſte Zug war, welcher die Kindesſeele an die
der Mutter heftete, wenn das höchſte Verhältniß der Seele
zu Gott möglich werden ſoll, nämlich die Liebe zu Gott.
— Wir müſſen erſt das Concrete haben lieben lernen, be¬
vor wir der Liebe des Abſtracten fähig werden, und nur
erſt, wenn daher an der Liebe überhaupt die Seele heran¬
gereift iſt, kann ihr die innere Nöthigung aufgehen auch
den Urquell alles Deſſen, was wir irgend erkennen und
lieben können, jenes Myſterium in welchem wir leben, we¬
ben und ſind, mit inbrünſtiger Liebe anzuſtreben. Erſt in
dieſer Beziehung wird uns klar, warum das „Evangelium
der Liebe“ als es in die Welt trat, dieſe hohe Bedeutung
für die Geſchichte der ganzen Menſchheit haben konnte, und
in welchem Sinn ein begeiſterter Verkündiger dieſer Bot¬
ſchaft ſagen konnte: „Strebet nach der Liebe!“ Erſt
wenn dieſer inbrünſtige Zug in voller Kraft erwacht iſt,
ergibt ſich uns der Muth die Schauer jenes Myſteriums
zu überwinden und den Abgrund eines dunkeln Unerme߬
lichen mit Liebeskraft auszufüllen, und ſo erſt gleicht ſich
wieder aus die Kluft, welche die Seele zuerſt von ihrem
Urquell zu ſondern ſchien, ſo allein kann ihr in ihrem
unruhigen Streben vollkommene Befriedigung und Ruhe
kommen, und nur ſo vollendet es ſich, daß der Seele
durch die Liebe wahrhaft die „Erlöſung“ gewährt wird.


Bewegt es doch zu eigenen Gedanken, wenn man das
Leben des Menſchen überblickt und gewahr wird, daß es
ganz eigentlich, und ſelbſt im glücklichſten Falle, eine mit
wenigen vollkommen befriedigenden Momenten gemiſchte Kette
von Entbehrungen, von Unzulänglichkeiten und Mangel¬
haftigkeiten darbietet, daß es wahrhaft unmöglich ſcheint,
daß die Exiſtenz, ſelbſt und an und für ſich, ſo ſich geſtalten
könne, daß das höhere Bedürfniß der Seele wahrhaft und
auf eine bleibende Weiſe befriedigt werden möchte! —Noth¬
wendig regt uns dann die ſo gewonnene Erkenntniß an zu
[409] der Frage: „warum müſſen dieſe Unvollkommenheiten, dieſe
qualvollen Unzulänglichkeiten ſein? warum kann nicht das
Leben ſelbſt die Hoffnungen und Wünſche erfüllen, zu wel¬
chen es durch die unwillkürlich ſich erſchließende bedürfende
Erwartung ſich faſt für berechtigt erklären möchte? wa¬
rum ſollen die höchſten Güter dem Menſchen nur gezeigt,
und nie bleibend von ihm erlangt werden?“ — Aber ge¬
rade von aller Noth dieſer Fragen auf welche eine den
Verſtand ganz zufriedenſtellende Antwort nun einmal durch¬
aus fehlt, wie von alle dem Schmerz über die Noth des
Lebens ſelbſt, gibt es nur eben jeneErlöſung
durch das Erwachen und Feſthalten der unbedingten Liebe
zu jenem göttlichen höchſten Myſterium, in und aus wel¬
chem wir ſelbſt eben mit jenem höhern Bedürfniß hervor¬
gegangen ſind, und deſſen bodenloſen Abgrund wir nur
durch die Macht und Gewalt der Liebe zu erfüllen vermö¬
gen. Dieſe Liebe iſt es daher, welche die Seele gewiß
macht, daß jenes Myſterium, eben weil wir es entſchieden
als den Urquell alles Vorhandenen anzuerkennen haben,
auch der Urquell aller Wahrheit, Schönheit
und der Liebe ſelbſt ſei
, ſie iſt es, welche uns eben
deßhalb mit dem vollendeten Vertrauen erfüllt, daß eine
wirkliche Antwort und Rechtfertigung auf jene Fragen aller¬
dings vorhanden, wenn auch nicht ganz innerhalb unſerer
Erkenntniß vorhanden ſein müſſe, und ſie iſt es eben de߬
halb, welche in all unſerer Unruhe und unſerm Zweifel
uns allein Genüge und innere Ruhe gewähren kann. —
Solche Ruhe aber, einmal gewonnen, wirkt alsdann theils
den Geiſt auch heller zu erſchließen, damit er ſelbſt durch
den Schleier jenes Myſteriums hindurch mehr und mehr
noch von der Größe und Vernunft der Weltordnung er¬
kenne, und theils gewährt ſie auch erſt der Seele die Mög¬
lichkeit desjenigen wirklichen Glücks und derjenigen günſtigen
Begegnungen, welche das Leben doch zeitweiſe herbeizuführen
fähig iſt, mit ſolcher Sammlung und ſo ſicherm Erfaſſen
[410] der Gegenwart ſich zu erfreuen, und dabei alſo auch jener,
ſo zu ſagen irdiſchen oder zeitlichen Seeligkeit theilhaftig zu
werden, welche bei unruhiger verzweifelter Stimmung noth¬
wendig unbedingt verloren gehen muß. Beides bedarf viel¬
leicht noch einer etwas nähern Erörterung um über die
Wirkungen des erreichten ſchönen Verhältniſſes der Seele
zu Gott wahrhaft auf's Reine zu kommen. In erſter Be¬
ziehung iſt hier namentlich an die Erkenntniß zu erinnern,
welche ſich früherhin uns ſchon auf anderm Wege erſchloſ¬
ſen hatte, und welche uns lehrte, daß das Krankhafte und
Schlechte, das Zweckloſe, Peinliche und Mangelhafte, wel¬
ches die weſentliche Noth des Lebens herbeiführt und den
freien höhern Geiſt beſchränkt, beläſtigt und quält, durch¬
aus nicht im Unbewußten der Welt gegründet
ſei
, ſondern erſt mit dem Lichte unſers Bewußtſeins ſich
ergebe. Das Unbewußte an und für ſich alſo, eben die
reine Offenbarung eines Göttlichen, konnte gar nicht er¬
kranken, war frei vom Böſen und war eben dadurch ohne
alle Schuld an jener dem bewußten Geiſte nur zu ſehr
fühlbar werdenden Noth des Lebens. Jedenfalls hat es
nämlich etwas weit mehr Beruhigendes und Genügendes,
wenn wir uns überzeugen, daß die Uebel und die Qual
des Lebens gleichſam erſt künſtlich durch das Eintreten
menſchlichen Bewußtſeins zu Stande kommen, und daß erſt
der Menſch, in ſeinem oft ſeltſamen Streben zu höherer
Entwicklung ſich hindurch zu arbeiten, alle die Krankheiten
und Widerwärtigkeiten wirklich erſchafft, welche ihm nach¬
her zu ſo harter Qual gereichen, als wenn wir die Krank¬
heit und das Böſe in dem Weſen des Unbewußten ſelbſt
zu ſuchen genöthigt wären. Wohl wird deßhalb das
Peinliche des Lebens an ſich, auch ſo zwar, oft genug nicht
minder ſcharf empfunden, allein einmal bleibt dann die
Hoffnung, daß, je weiter, nicht bloß der Menſch, ſondern die
Menſchheit im Ganzen ſich heranbilde, auch mehr und mehr
von dieſem Verkehrten, Beläſtigenden, Quälenden bei Seite
[411] geräumt und mehr und mehr eine höhere Freiheit des Da¬
ſeins hergeſtellt werden könne, und ein andermal wird durch
dieſen Standpunkt ſelbſt eine Einſicht in die Verhältniſſe
des Lebens gefördert, welche für die Vollendung einer äch¬
ten Lebenkunſt unfehlbar die richtigſten Einſichten gewähren
muß.


Was nun zweitens zu ſagen wäre über höhere und
rechte Erfaſſung Deſſen, was an Glück und Gemäßheit
der Seele, oder, wie die Sprache es ſchön ausdrückt, See¬
ligkeit, das gebrechliche Leben heranführen kann, ſo iſt
einmal klar, daß überhaupt nur deßhalb eine bereits er¬
worbene Ruhe und Klarheit der Seelenſtimmung fähig
machen kann eine äußere günſtige Conſtellation zu empfin¬
den, weil ſie ſelbſt ſchon ein Glück iſt und überhaupt nur
Glück das Glück empfangen kann (wird doch wahres Un¬
glück das wahre Glück eben ſo wenig aufnehmen als Schat¬
ten das Licht); und ein andermal wird dieſe höhere Ruhe,
die aber freilich immer eben in ſich wieder die höchſte Le¬
bendigkeit ſein muß, mittels der der Seele freier gegebenen
Umſicht und Ueberſicht des Lebens, weſentlich beitragen,
durch richtigere Erwägung der Verhältniſſe zur Natur und
zu Menſchen, vieles an Glück herbeizuführen, was der
innerlich unfreien, aus ihrem rechten Verhältniß zu Gott
herausgetretenen Seele nothwendig und unwiederbringlich
verloren geht. Der alte Spruch: „denen die Gott lieben,
müſſen alle Dinge zum Beſten dienen,“ leidet hier ſeine
volle Anwendung, und es gibt zu eigenen Betrachtungen
im Leben Veranlaſſung, wenn wir die tantaliſchen Qualen
ſo vieler Menſchen betrachten und erwägen, denen ſich von
vielen Seiten glückliche Verhältniſſe in Fülle herzuneigen
ſcheinen und welche, ohne jene innere Sammlung, im Ueber¬
fluſſe verſchmachten und in einer Art von raſtloſer Verzweif¬
lung ihr Leben verlieren; — das Ganze was in der neueren
Literatur unter dem karrikirten Namen des Weltſchmerzes bis
zum Ekel wiederholt worden iſt, ruht nur auf dieſer Baſis.


[412]

Doch das Wichtigſte und zugleich das Geheimnißvollſte
in der Lehre vom Verhältniß der Seele zu Gott — das
dem wir nur mit einer gewiſſen Ehrfurcht ſelbſt im Denken
nahen ſollen, iſt nun noch übrig zu erwägen, nämlich das
was wir die Wechſelwirkung — das Ueberwirken von der
Seele auf jenes höchſte Myſterium und das Ueberwirken
dieſes höchſten Myſteriums auf die Seele nennen dürfen.
Daß ein ſolches Ueberwirken gewiß wahr und vorhanden
ſei, daß die Seele Gott etwas ſein könne, und Gott un¬
mittelbar die zum Bewußtſein entwickelte Seele influenzire,
dafür ſpricht a priori das Geſetz der in gewiſſem Maße
beſtehenden Gleichartigkeit des Weſens, und dafür ſpricht
der höhere Inſtinkt der geſammten zum Bewußtſein erwachten
Menſchheit. — Was die in gewiſſem Maße vorhandene
Gleichartigkeit des Weſens anbelangt, ſo ſchließen wir durch
daſſelbe Recht auf ſie, wodurch wir veranlaßt werden, die
Seele ſelbſt als ein Göttliches und in ihrem innerſten tiefſten
Grunde, ebenfalls als ein Myſterium zu betrachten. Sie
kann aber nicht ein Göttliches ſein, ohne mit dem Urgrunde
alles Göttlichen in einer thatſächlichen Beziehung zu ſtehen;
eben ſo gewiß als, gleichnißweiſe und ganz im Materiellen,
der Stein nicht ein Irdiſches ſein kann, ohne von der Erde
angezogen zu werden und ſeinerſeits auch wieder die Erde
anzuziehen. — Mag daher in Beziehung auf die thätige
Wechſelwirkung zwiſchen der Seele und Gott auch noch ein
unermeßlicheres und weit unſaglicheres Verhältniß beſtehen
als zwiſchen dem fallenden Steine und der Erde, welche,
indem ſie den Stein anzieht und fallen macht, auch allemal
von ihm in irgend einem Grade angezogen werden muß
— ſo iſt doch, daß irgend ein thätiges Ueberwirken auch
in dieſer höchſten geiſtigen Sphäre vorhanden ſei, vor dem
Richterſtuhle höchſter Erkenntniß und reinſten Wahrheit¬
gewiſſens durchaus unläugbar. — Was dann aber betrifft
den erwähnten durch alle Menſchheit-Geſchichte gehenden
höhern Inſtinkt, ſo zeigt er ſich an, theils in dem, was von
[413] den älteſten Zeiten her geſagt worden iſt von der: „Kraft
des Gebetes
“, theils in dem, was mit den Worten „gött¬
liche Hilfe“ — „Gnadenwahl“ — „Akt der Gnade Got¬
tes“ — vielfältig verehrend gerühmt worden iſt. Gehen
wir dieſen tiefſinnigen Lehren weiter im Einzelnen nach, ſo
muß vor allen Dingen hervorgehoben werden, daß hier der
Grad des Wachsthums und der geiſtigen Entwicklung (der
Gottinnigkeit), welchen die Seele erreicht hat, unfehlbar nur
eben ſo der Maßſtab der innigern oder minder innigen
Wechſelwirkung ſein kann, als jene Anziehung und jenes
Angezogenwerden des fallenden Steines um ſo mächtiger
iſt je größer und dichter ſeine Maſſe. — Sammlung der
Seele, Läuterung derſelben in immer höherem und reinerem
Concentriren auf das ihr allein recht Gemäße, kräftigeres
Wachsthum der Grundidee ihres Seins und Wirkens, das
allein kann ihr die Möglichkeit gewähren eine lebendigere
Wechſelbeziehung zum Höchſten zu erreichen. Freilich löst
ſich auch hier zuletzt Alles in den Nebel eines Geheimniſſes
auf; Niemand lebt, der da ſagen könnte, ſo und ſo weit
geht das, was die reinſte geſammeltſte Aufrichtung der Seele
zu Gott vermag und wirklich erreicht, theils um den eigen¬
thümlichen höhern Anklang, im Weſen des Göttlichen ſelbſt,
ſich zu erſtreben, theils eine beſondere Rückwirkung dieſes
Göttlichen auf ſich zu gewinnen, und ſo und ſo weit
geht ſie nicht; aber daß etwas der Art ſei, daß höchſt
eigenthümliche Vorgänge dieſer Art im tief innerlichſten
Leben der Seele immer von Zeit zu Zeit in der Geſchichte
der Menſchheit bemerkbar geworden ſind, dies beſteht und
wird immer wieder von einzelnen Erleuchteten anerkannt
werden, und wenn noch ſo vielfältig in der im Tagesleben
verſunkenen Menge die Wahrhaftigkeit deſſelben vergeſſen
werden könnte.


Was ſich nun aber darüber vom rein pſychologiſchen
Standpunkte aus ſagen läßt, möchte Folgendes ſein. Das
Aufrichten der ganzen geſammelten zum Bewußtſein ent¬
[414] wickelten Seele, als Vernunft, als Gefühl und als Wille, auf
und zu jenem höchſten göttlichen Myſterium, bezeichnen wir
als Anbetung, als Gebet. Es wäre höchſte Vermeſſen¬
heit ausſprechen zu wollen, was dieſe Seelenrichtung jenem
ewigen Myſterium ſelbſt ſei, daß ſie ihm indeß etwas ſein
muß, iſt gewiß — ſchon weil eben Alles und Jedes alſo
auch der Anbetende in ihm ſelbſt lebt, webt und iſt, und
der ganze Akt alſo in ſo fern zu einem innern Vorgange
des Göttlichen wird. Was hingegen dieſes Aufrichten der
Seele ihr ſelbſt iſt und ſein muß, darüber läßt ſich
noch einiges Mehrere allerdings ausſprechen. Es iſt und
muß nämlich eine ſolche Sammlung, ein ſolches, ich möchte
ſagen, Condenſiren der höchſten Geiſtesblüthe, wenn es
wirklich mit voller innerer Freiheit, Schönheit und Wahr¬
heit geſchieht, von einer beſondern Rückwirkung ſein auf
das Wachsthum der Seele, auf Läuterung des Gefühls,
Kräftigung des Willens, und Klarheit des Geiſtes über¬
haupt. Dies iſt daher eben das Wachſen und Kräftigen
in der Anbetung, deren Erſcheinung durch die Geſchichte
aller höhern menſchlichen Naturen geht, und welches Wachs¬
thum durch dieſes ſich Nahen zu Gott, unter den verſchie¬
denſten Symbolen dargeſtellt, und in den mannichfaltigſten,
bald tiefſinnigen, bald abſtruſen Allegorien und Gleichniſſen,
in den verſchiedenſten Religionen und in den Schriften aller
Myſtiker, meiſt ſymboliſch, dargeſtellt worden iſt, durch
Symbole, welche bei denjenigen bald ihre Löſung finden
werden, welche klar und einfach das was aus den obigen
Betrachtungen ſich ergibt, ſich zu eigen gemacht haben.


Was nun noch insbeſondere die Rückwirkung jenes
höchſten Myſteriums gegen die Lenkung des eigenen Lebens
der Seele des Anbetenden betrifft, ſo iſt deßhalb dem
Menſchen faſt unmöglich irgend ein Beſonderes dieſer
Art von dem allgemeinen Durchdringen, Erhalten und
Beleben zu unterſcheiden, weil Alles, was man unter dem
Namen „beſondere Führung“, „Gebetserhörung“, „eigen¬
[415] thümliches Wirken der Vorſehung“ u. ſ. w. zuſammenzu¬
faſſen pflegt, wenn es auch uns im concreten Falle eine
ganz beſondere Einwirkung und ein eigenthümlicher Akt
göttlicher Gnade erſcheint, doch gar wohl auch nur als
ein gerade ſo nothwendiges Glied in der allge¬
meinen organiſchen Kette allgemeiner Weltordnung gedacht
werden kann. Eben in dieſer Beziehung liegt ja in allem
Unbewußten, wenn wir es nun ſorgfältig im Bewußtſein
verfolgen, jene hohe unendliche Weisheit! Wir mögen den
geheimnißvollen Gang der Bildung einer Pflanze erwägen,
wo mikroſkopiſch ſich Zelle an Zelle reiht, bis die Pracht
der Blüthe aus der Blatterfülle hervortritt, oder wir mögen
den wunderbaren Kriſen einer Krankheit nachgehen, in
denen mit einer ſtaunenswerthen ſcheinbaren Berechnung
die Vorgänge unbewußten Lebens dergeſtalt ſich ordnen,
daß ſie, durch zuweilen ganz unerwartete Erſcheinungen, das
Leben des Kranken retten, — immer haben wir hiebei ein
für uns Unbewußtes vor uns, welches ſcheinbar mit der
merkwürdigſten Berechnung und der tiefſinnigſten Abſichtlich¬
keit waltet. — Gerade ſo nun, wie zum Theil unerwartet,
zum Theil auch wohl vorhergeahnet, jene merkwürdigen
Kriſen der Krankheiten vorkommen, iſt es auch mit den
oft ſo ganz unerwarteten, und doch oft wie mit beſonderer
Abſichtlichkeit geleiteten Begegniſſen in den Schickſalen der
Seelen im Organismus der Menſchheit! An wunderbaren
geheimen Fäden bewegen ſich die Ereigniſſe, welche Leben
umgeſtalten, Seelen bewegen und Seelen entwickeln, und
oftmals tritt uns eine ſo deutliche Abſichtlichkeit, eine ſchein¬
bar ſo beſtimmte Berechnung der Verhältniſſe heraus, daß
wir dann wohl glauben hier den Fall einer außerge¬
wöhnlichen
Einwirkung von Oben annehmen zu dürfen,
obwohl wir, ſtreng genommen, an jene Weisheit des Un¬
bewußten gedenkend, keinesweges der Annahme eines Außer¬
gewöhnlichen hier bedürfen, und die harrende Sehnſucht
des Gebets dieſen Ereigniſſen dann nur etwa eben ſo ſich
[416] entgegendrängt wie jene Vorahnung des Kranken der heran¬
nahenden Kriſe vorhergeht. — Bei alle dieſem ziemt indeß
dem Menſchen mehr dankbare Verehrung als eine zu weit
ins Einzelne gehende Deutung! Es mag im Ganzen nicht
geläugnet werden, daß, ſo wie wir die Möglichkeit einer
gewiſſen
Einwirkung der höher entwickelten Seele auf
jenes höchſte Myſterium allerdings zugeben müſſen, ſo auch
ein beſonderes Antworten dieſes Höchſten auf die beſondere
Seele keinesweges außer dem Kreiſe der Möglichkeit liege;
ſehen wir doch auch ſonſt, daß ein unbewußtes göttliches
Walten durch den Einfluß des bewußten Geiſtes modificirt
werden kann (wenn wir obige Beiſpiele beibehalten, ſo
bemerken wir, daß auch wohl der Gang der Pflanzenent¬
wicklung und die Bildung der Blüthe durch veränderte Stel¬
lung zum Lichte geändert, und daß der Gang der Kriſis
einer Krankheit durch magnetiſche Einwirkung einer geſunden
Seele beſchleunigt werden kann u. ſ. w.), allein in wie
weit irgend ein Antworten dieſer Art eine Ausnahme, in
wie weit es ein Glied der allgemeinen Kette der Welt¬
ordnung ſei, das wird im einzelnen Falle zuhöchſt immer
eine Unmöglichkeit bleiben zu entſcheiden. Geſtehen wir uns
nur übrigens ein, daß es auch, abgeſehen von einer be¬
ſtimmten Entſcheidung jener Frage, im einzelnen Falle, an
ſich ſchon vollkommen der Seele genügen könne, nur eben
hindurchgedrungen zu ſein zu der klaren Ueberzeugung eines
unbedingten Ruhms in jenem höchſten geheimnißvollen Ur¬
quell, zu der entſchiedenſten Gewißheit höchſter Wahrheit,
Schönheit und Liebe in ihm, und zu dem vollkommenſten
Vertrauen, daß, je ſchöner, wahrer und liebevoller das
Geheimniß unſerer eigenen Seele entwickelt iſt, um ſo
mächtiger, inniger und wechſelwirkender, auch das Ver¬
hältniß der Grundidee unſers eignen Daſeins zu jenem
ewigen Ur-Sein ſich geſtalten werde, ja geſtalten müſſe.
Es iſt daher keinem Zweifel unterworfen, daß eben aus
dieſer Urſache die Spitze der geſammten Entwicklung unſers
[417] höhern Lebens, im Verhältniß der Seele zu Gott gelegen
ſei, und es kann vollſtändig begriffen werden, daß nur
von dieſer Höhe aus ſich dann auch nicht nur über die
Region des Bewußtſeins, ſondern auch über alles Unbe¬
wußte in uns, jener höhere Lebensathem ergießen könne,
welcher die erſte Bedingung zu derjenigen irdiſchen Be¬
glückung gibt, welche wir die Geſundheit der Seele nennen,
und welche die nun folgenden Unterſuchungen noch näher
zu beleuchten haben werden.

i. Von der Seelengeſundheit und Seelenkrankheit.

Vielleicht in keinem Theile der Pſychologie hat die
Nichtbeachtung des merkwürdigen Verhältniſſes von Be¬
wußtem zu Unbewußtem ſo viel Dunkel und Schwierigkeiten,
und ſo viel Irrthümer verbreitet, als in den Unterſuchungen
über Seelengeſundheit und Seelenkrankheit. Wir, in dem
hier gewählten und gerechtfertigten Gange, dürfen ſogleich
eine ganz andere und ſehr einfache Grundanſicht aufſtellen,
indem wir ſagen: wie im höchſten Sinne all' unſer Leben
ein Seelenleben iſt, ſo iſt auch in dieſem Sinne keine andere
Krankheit in uns denkbar als Seelenkrankheit. Eben darum
natürlich aber auch keine andere Geſundheit als Seelen¬
geſundheit!


Beides nämlich ſind ſich gegenſeitig bedingende Be¬
griffe. Nur was erkranken kann, kann auch auf das At¬
tribut der Geſundheit Anſpruch machen. Von Gott und
von dem unmittelbar Göttlichen, und eben ſo auch wieder
von dem ſchlechthin Unbewußten, z. B. dem Stein, iſt eben
ſo wenig auszuſagen, ſie ſeien krank, als ſie ſeien geſund,
und gerade deßhalb iſt die innerſte Monas der Seele, in
wie fern ſie ein Göttliches iſt, gleichfalls unbedingt frei
von beiden.


Fragt man nun beſtimmter: was iſt alſo das, was
an der Seele geſund oder auch krank ſein kann? ſo iſt zu¬
Carus, Pſyche. 27[418] vörderſt aus dem Vorhergehenden klar, daß hier nie ihr
innerſtes abſtractes An-ſich-ſein genannt werden dürfe —
dieſes iſt, wie es unſere Unterſuchungen über Wachsthum
und Rückbildung der Seele zeigten, nur überhaupt einer
Steigerung oder einer Minderung ſeiner göttlichen Energie
fähig; — ſondern das, was an unſerer Seele krank und
auch geſund ſein kann, iſt: die Erſcheinung der Seele
im Leben
, jenes geſammte Farbenbild (spectrum), wie
es geworfen wird durch den einen göttlichen Lichtſtrahl in
das dunkle, ätherhafte, ſubſtanzielle Daſein, ſo den Begriff
des Menſchen darſtellend. — In dieſen Worten darf man
denn ſchon enthalten denken den weſentlichen Schlüſſel, um
ſich die rechte Antwort zu holen auf die alten vielbeſproche¬
nen Fragen: ob die Seele erkranken könne? wie die leib¬
lichen Verbildungen die Seelenvorgänge afficiren können?
und wie ſelbſt äußere Einflüſſe, Arzneiſtoffe und Nahrung
Gewalt haben können, den Geiſt krank zu machen? u. ſ. w. —
Noch deutlicher aber werden die Begriffe hierüber werden,
wenn man auf das eigene Verhältniß achtet, welches be¬
ſteht zwiſchen Weſen und Erſcheinung der Seele überhaupt.
Wie nämlich Erſteres zwar allerdings der höchſte Grund
iſt auch jeder phyſiſchen, leiblichen Erſcheinung des Orga¬
nismus — des Schwerſeins — Warmſeins — Feſtſeins
u. ſ. w. — ſchlechterdings aber an und für ſich gar nichts
zu thun hat mit dieſen Erſcheinungen ſelbſt, ſo kann auch
diejenige Modification der Lebenserſcheinung der Seele, welche
wir Krankheit nennen, an und für ſich mit dem innerſten Weſen
der Seele ſchlechterdings nichts zu thun haben. Verhält es
ſich ja doch auf gleiche Weiſe rückſichtlich des Böſen der Welt,
mit jenem höchſten göttlichen Myſterium, in welchem alle
Dinge und wir ſelbſt leben, weben und ſind, und welches,
obwohl allerdings der Urgrund alles und jedes Daſeins,
doch an und für ſich durchaus nicht theilhaftig genannt
werden kann an dem, was wir Uebel und Krankheit der
Welt nennen. Ja, will man ſich dieſes Verhältniß des
[419] Weſens zur Erſcheinung noch durch ein Beiſpiel deutlich
machen, ſo möge man nur bedenken, wie der Begriff einer
mathematiſchen Figur, etwa eines Dreiecks, obwohl er den
Urgrund enthält von der Möglichkeit aller wirklich werden¬
den Dreiecke, doch durchaus nichts damit zu thun hat, ob
nun ein wirkliches Dreieck von Eiſen, von Holz oder von
Stein ſei, und eben ſo wenig damit, ob irgend ein Dreieck
verbogen wurde oder verdrückt ſei.


Sei denn ſo viel geſagt im Allgemeinen über Verhält¬
niß von Geſundheit und Krankheit zum Weſen der Seele!


Wir haben nun das, was im Leben der Seele wirk¬
lich von Geſundheit und Krankheit vorkommt, im Einzelnen
zu erwägen.


α. Von der Seelengeſundheit.

Auch hier wird uns ſogleich die Unterſcheidung des
Bewußten und des Unbewußten der Seele wichtige und
neue Reſultate gewähren. Unbewußt nämlich lebt ſich
die Monas unſers Daſeins zuerſt dar — das Unbewußte
iſt überall das Primitive, es iſt die Baſis, auf welcher erſt
das Bewußtſein ſich allmählig auferbaut, und wir ſind viel¬
fach inne geworden, daß die Erſcheinung bewußten Seelen¬
lebens nur dann in ſeiner Reinheit und Vollſtändigkeit ent¬
wickelt werden kann, wenn vorher eine Reinheit und Voll¬
endung der Entwicklung des Unbewußten gelungen war. —
Die erſte bedeutende Folgerung, die wir ſonach für den
uns hier beſchäftigenden Gegenſtand aus dieſer Erkenntniß
ziehen dürfen, iſt folgende: „Die Geſundheit des ge¬
ſammten Kreiſes unbewußten Seelenlebens iſt
die erſte Bedingung der Entwicklung eines voll¬
kommen geſunden bewußten Seelenlebens
.“ —
Ehe wir jedoch hierin weiter gehen dürfen, iſt zu fragen:
was iſt unter Geſundheit des abſolut unbe¬
wußten Seelenlebens zu verſtehen
.


Vor allen Dingen wird hier zurückzublicken ſein auf
[420] jene früheſte Lebensperiode, wo alles Daſein des Menſchen
noch ein durchaus Unbewußtes iſt — auf die Periode ſeiner
erſten Bildung. Wir nennen dort es einen geſunden Ent¬
wicklungsgang, wenn nach und nach in der rechten, der
eigenthümlichen Idee gerade dieſes Daſeins entſprechenden
Weiſe, in immer fortgehender Umbildung, die Organe
wachſen und ſich ausbilden, ohne dabei irgend geſtört zu
werden von Einwirkung beſtimmter Krankheiten, deren Ein¬
fluß gerade hier am erſten durch Störung normaler Form¬
verhältniſſe ſich zu äußern pflegt. Hier liegt nun freilich
ein Gegenſtand vor, bei dem es namentlich zu wünſchen
bleibt, daß derjenige, der ſich mit der Wiſſenſchaft von der
Pſyche beſchäftigen will, einen Begriff habe von der durch
Bildungskrankheiten bedingten Entſtehung alles Deſſen, was
man angeborene fehlerhafte Bildung nennt und was ſpäter¬
hin oft einen ſo weſentlichen Einfluß zeigt auf die Art der
Entwicklung des Geiſtes. Auch hier macht ſich die Wahr¬
heit jenes Ariſtoteliſchen Wortes wieder geltend: „Und
dieſerhalb nun gehört für den Naturforſcher die Betrachtung
über die Seele, entweder überhaupt oder als ſolche be¬
ſchaffene.“ — Gewiß! wem die Geſchichte ſolcher Bildungs¬
fehler (man nennt ſie nicht mit Unrecht vitiacongenita
gleichſam ihren moraliſchen Einfluß mit andeutend) ganz
fremd iſt, wer nicht weiß, wie klein oft die Störungen zu
ſein brauchen welche ganz falſche Geſtaltungen des Embryo
erzeugen, wem unbekannt iſt wie Entzündung des Hirns
im Fötus gewöhnlich veranlaſſe, daß das Kind mit Waſſer
im Hirn zur Welt kommt, oder daß ähnliche Krankheiten
der Bruſtorgane in dieſer Periode ſich entwickelnd, die Ur¬
ſache zu werden pflegen, daß angeborene Herzfehler ent¬
ſtehen, Mißbildungen, welche ein Leben voll Angſt — ganz
eigentliche Herzensangſt — herbeiführen, wie die vorher
erwähnten ein Leben ohne entwickelte höhere Intelligenz, —
wie ſoll dem klar werden, auf welche Weiſe ſchon in der Welt
des unbewußten Seelenlebens die weſentliche Baſis gegeben
[421] ſei, aus welcher ſpäterhin entweder eine volle Geſundheit
oder ein krankhafter Zuſtand des Geiſtes hervorgehen kann!


An dieſem Orte iſt es natürlich unmöglich alle dieſe
Dinge im Einzelnen zu verfolgen und darzulegen; aber
gewiß iſt es, daß nur die größtmögliche Verſtändniß aller
dieſer merkwürdigen Bildungsverhältniſſe im Stande ſein
kann auch die möglichſt deutliche Einſicht darein zu geben
wie ſehr Geſundheit des bewußten Geiſtes von
geſunder unbewußter leiblicher Entwicklung
be¬
dingt werde. Immer erſt alſo da, wo, nach Maßgabe der
Eigenthümlichkeit der Monas der Seele, durch ihr eigen¬
thümliches unbewußtes Wirken eine wahrhaft geſunde Ge¬
ſtaltung und Erhaltung des Organismus in der Fötus-
Periode hervorgegangen iſt, wird die Möglichkeit gegeben
ſein, daß auch in den ſpätern Perioden des Daſeins jener
geſetzmäßige, von Krankheit freie Lebensgang ſich entwickle,
den wir eben als leibliche Geſundheit, oder als Geſundheit
des unbewußten Seelenlebens bezeichnen.


Freilich ſind die Ergebniſſe einer geſunden erſten fötalen
Entwicklung nicht allein hinreichend, auch ſpäterhin die
Geſundheit des unbewußten Lebens zu bewahren, ſondern
geeignete Verhältniſſe müſſen von außen die Erhaltung der
Geſundheit begünſtigen, und insbeſondere wird es ſpäterhin
eine wichtige Aufgabe erwachten Bewußtſeins, nun, durch
die Intelligenz des Geiſtes, das Unbewußte zu bewahren
und zu ſchützen. Von da an hat alſo gleichſam das Be¬
wußte in uns den Dank abzutragen an das Unbewußte
aus dem hervor es ſich gebildet hat, und wie überhaupt
alle Schönheit, alle Kraft, alle Bedeutung des Geiſtes
nur erreicht worden iſt dadurch, daß vorher ein Unbewußtes
ſich ſchön und kräftig und bedeutend entfaltete, ſo muß nun
auch der Geiſt wieder alle Umſicht und alle Weisheit an¬
wenden um immerfort den ſo leicht zu ſtörenden Lebensgang
des Unbewußten ſeiner Seele zu erhalten und in ſeiner
Integrität zu hüten.


[422]

Uebrigens iſt allerdings zwiſchen dem ſpätern Lebens¬
gange und der erſten Entwicklung, hinſichtlich der unbewußt
vollzogenen Bildungsvorgänge, kein eigentlich weſentlicher
Unterſchied. All unſer Leben, in wie fern es unbewußt die
Bildung des Organismus erhält, iſt ein immer fortzeugen¬
des; wir leben nur indem wir immerfort ſterben und immer¬
fort neu erzeugt werden, und in ſo fern hat alſo die Leben¬
kunſt des bewußten Geiſtes, die ſpäterhin darüber wacht,
daß dies raſtloſe Sterben und Zeugen in uns mit Geſetz¬
mäßigkeit und Schönheit von Statten gehe, eigentlich und
im Weſentlichen nichts anderes zu thun als was die Mutter
vollbringt, welche, wenn ſie in ihrem Schoße ein neu¬
keimendes Leben trägt, darüber wacht, daß es nicht vor¬
zeitig getrennt und ſonſt geſchädigt werde.


Nach ſolchen Erörterungen werden wir nun die Frage:
„was iſt unter Geſundheit des abſolut unbewußten Seelen¬
lebens zu verſtehen?“ ganz kurz dahin beantworten dürfen:
ſie ſei das dem Urbilde gerade dieſes Menſchen
vollkommen angemeſſene Verhältniß in raſtlos
fortgehender Erzeugung
, Zerſtörung und ſtäten
Wiedererzeugung ſeiner zeitlichen leiblichen Er¬
ſcheinung
. Alles was wir Nahrungsaufnahme, Blut¬
bereitung, Ernährung, Athmung, Abſonderung, geſchlecht¬
liche Productivitat, Wärmebildung, Bedingung von Inner¬
vationsſtrömungen und Muskelregung nennen u. ſ. w., iſt
von obigem Verhältniß umſchloſſen, und wie ſehr von allen
dieſen Vorgängen, welche die göttliche Monas unſerer Idee
lange vor allem ſich Bewußtwerden und auch bei entwickeltem
Bewußtſein immerfort, ohne Mitwirkung deſſelben leitet, die
Geſundheit des bewußten Seelenlebens abhängt, wird ſich
alsbald ergeben.


Eines Umſtandes muß jedoch zuvor noch beſonders
gedacht werden, nämlich daß keineswegs der Begriff dieſer
Geſundheit etwas beſonderes zu thun habe mit der geringern
oder höhern Dignität der Seele an und für ſich. Auf die
[423] edlere und bedeutendere Natur iſt er eben ſo anwendbar
wie auf die niedere und gemeine, ja eben ſo gilt etwas
Aehnliches vom Thier. Es iſt daher ausdrücklich zu bemer¬
ken, daß die Bezeichnung Urbild des Menſchen hier nur von
der jedem Einzelnen zum Grunde liegenden beſonderen
Monas gilt, und daß, ſo ſehr verſchieden auch die Ideen
ſein mögen, doch für jede derſelben nur das ihr beſon¬
ders Angemeſſene der Erſcheinung
damit gemeint ſein
kann. Dabei iſt jedoch das allerdings zu bemerken, daß jeder
Organismus, je nach ſeiner beſondern Individualität, durch
denjenigen Zuſtand, den wir als Geſundheit des unbe¬
wußten Lebens gegenwärtig haben kennen lernen, allemal
in beſonders günſtiger Weiſe zur äußern Erſcheinung kommt;
alſo, wenn er auch dadurch nicht einen andern edlern Typus
annehmen kann, doch einen eigenthümlichen Schimmer gerade
ſeines Daſeins bekommen wird, ein Schimmer, welcher
ihm bei geſtörter Geſundheit fehlt und welcher dem bewußten
Geiſte einer andern Seele ſich ſtets durch eine beſondere Art
von Schönheit, gleichſam als durch ein äußeres Symbol
deutlich verrathen wird. So z. B. wird der eigene Schim¬
mer und Hauch, den wir über ein noch ganz zartes ge¬
ſundes Kind, oder über einen ſchlafenden erwachſenen
geſunden Menſchen verbreitet ſehen (wo alſo in beiden
Fällen die Wirkung innern Geiſtes ſich keinesweges geltend
machen kann), dem Wiſſenden ſogleich das Zeichen ſein der
dort waltenden geſunden unbewußten Seele; und ein eignes
Wohlgefallen, eine gewiſſe Freude daran wird uns aus
ſolcher Anſchauung unfehlbar hervorgehen. Außerdem wird
die Rückwirkung eines ſolchen Zuſtandes auf das eigene
Leben eine ſehr mächtige ſein; nur vermöge dieſes wird der
Organismus ſo ſelbſtſtändig, als es ihm überhaupt möglich
iſt, nur durch dieſen widerſteht er kräftiger gewaltſamen
zerſtörenden Einwirkungen von außen, nur durch dieſen
gewinnt er bedeutende Macht, ſelbſt ſeinerſeits beſtimmend
auf äußere Natur zu wirken und ſpäter im Dienſte des
[424] entwickelten Bewußtſeins das zu vollführen, was der Wille
des Geiſtes beſchließt. Natürlich iſt auch dieſe Rückwirkung
der Geſundheit ein Strahl mehr um den Schimmer zu er¬
höhen, welchen dieſe Eigenthümlichkeit über den Organismus
verbreitet, und dieweil dieſer gerade dadurch auch einer
heilſamern Einwirkung auf andere Organismen fähig wird,
kann er beitragen eine erfreulichere Erſcheinung zu gewähren.


Nachdem wir ſo das Eigenthümliche der Geſundheit
des unbewußten Seelenlebens erwogen haben, wird gegen¬
wärtig die Betrachtung der Geſundheit des be¬
wußten Seelenlebens
eine zweite Hauptaufgabe dieſer
Betrachtungen. Um zuerſt den Begriff dieſer Geſundheit
feſtzuſtellen, hat man ſich zu erinnern, daß die bewußte
Welt des Geiſtes ebenfalls ein eigenthümlich organiſch ſich
Entwickelndes, in ſtäter innerer Bewegung ſein Leben Be¬
thätigendes, ein niemals Fertiges und in ſich Abgeſchloſſenes,
ja ein in ſich Unendliches ſei, und daß man, wie vom
unbewußten Leben ausgeſagt wurde: es ſchwanke ſtets
zwiſchen immerfort Sterben und immerfort neu erzeugt
Werden, ſo vom Bewußten auszuſagen habe: es ſchwanke
ſtets zwiſchen dem wieder im Unbewußten untergehen und
wieder von neuem zum Bewußtſein geboren werden. Dieſe
Anſicht iſt deßhalb ſo wichtig, weil nur erſt, wenn man
gelernt hat auf dieſe Weiſe das innere Phänomen des Be¬
wußtſeins als ein raſtlos in ſich Bewegtes, immerfort
Untergehendes und Neuentſtehendes, ſtets ſich Fortbildendes
oder Rückbildendes anzuſchauen, man im Stande ſein wird
einen Begriff davon ſich zu machen, wie ſehr ein Aehnliches
von dem, was wir von der Geſundheit des unbewußten
Seelenlebens ausgeſagt haben, zugleich geltend ſei von der
Geſundheit des bewußten. Unter Geſundheit bewußten
Seelenlebens
, oder als Seelengeſundheit ſchlechthin (wie
man ſie wohl gewöhnlich im Gegenſatze zu der leiblichen
Geſundheit, oder der des unbewußten Seelenlebens zu
bezeichnen pflegt) iſt demnach zu verſtehen: das dem Ur¬
[425] bilde gerade dieſer beſondern ſeeliſchen Indivi¬
dualität vollkommen angemeſſene Verhältniß der
Lebensbewegungen des Denkens
, Fühlens und
Wollens
, in raſtlos fortgehendem Erzeugen, Un¬
tertauchen und Wiederhervorrufen der bewußten
Welt des Geiſtes
. — Bei dieſer Begriffsbeſtimmung
wird man ſich an das erinnern, was weiter oben über das
Natürliche“ in dem Leben der bewußten Seele geſagt
worden iſt. Gerade dieſes Natürliche iſt es nämlich auch
was das Denken, das Fühlen, das Wollen einer geſunden
Seele auszeichnet. Auch hiemit iſt noch durchaus kein be¬
ſonders edler und bedeutungsvoller Charakter der Seele
gemeint und bezeichnet, es kann vielmehr vorkommen und
kommt wirklich vor dieſe Geſundheit der Seele auf den
verſchiedenſten Stufen geiſtiger Energie, bei der rohen
Seele des Wilden, wie bei dem tief durchgebildeten Euro¬
päer, bei dem Kinde wie bei dem Manne und bei dem
Greiſe; aber wie wir ſagten, daß bei der Geſundheit des
unbewußten Lebens dieſer Zuſtand einen eigenen Hauch und
Schimmer über das leibliche Leben verbreite und ihre
Selbſtſtändigkeit und Energie ſteigere, ſo finden wir auch,
daß dieſe vorzugsweiſe ſogenannte „Seelengeſundheit“ nicht
nur gerade die Individualität des Geiſtes an welcher ſie
bemerkt wird, immer, ſo viel ſie deren fähig iſt, mit einem
gewiſſen Reiz umkleidet, ſondern daß ſie auch gerade die Selbſt¬
ſtändigkeit und das Vermögen zur That, das Können dieſer
geiſtigen Individualität auf das Maximum erhöht. Erſt
wenn man die Lehre von der Geſundheit der bewußten
Seele in dieſer Weiſe verſteht, daß man darunter den
normalen Gang aller innern Lebensbewegungen des Geiſtes
begreift, bekommt ſie einen beſtimmten Sinn und höhere
Bedeutung; man blickt dann auf die große innere Mannich¬
faltigkeit dieſer ganzen Region, man gedenkt des ſtäten
Wechſels von Untergehen und Aufgehen des Bewußtſeins,
und erhält nun ſo erſt gewiſſermaßen das Recht, ein ge¬
[426] ſundes und krankhaftes Verhalten in dieſem Wechſel der
Erſcheinung, ganz wie in der unbewußten Lebensſphäre,
zu unterſcheiden. Könnte man doch in Wahrheit ſämmt¬
liche Lebensbewegung des Unbewußten als da iſt Kreislauf
des Blutes, Athmung, geſchlechtliche Productivität, Ver¬
dauung, Aſſimilation, Ernährung und Abſonderung, gleich¬
wie Muskelkraft und Sinnesleben, im Geiſtigen wieder¬
finden und nachweiſen, und eine Diätetik des Geiſtes ganz
nach dieſen Prämiſſen aufſtellen, wobei denn immerfort der
Begriff eigentlicher geiſtiger Geſundheit mehr und mehr
veranſchaulicht werden müßte. In dieſem Sinne wird es
gleich fühlbar, daß der geſunde Geiſt, wenn er ſich geſund
erhalten ſolle, Nahrung, und zwar angemeſſene Nahrung,
aufnehmen müſſe, daß ein innerer Kreislauf von Vorſtel¬
lungen, und zwar eben ſo wenig mit fiebriſcher Heftigkeit
als mit ſchleppender Langſamkeit, von Statten gehen dürfe,
daß ein gewiſſes Durchathmen und Erfriſchen in reinen
höhern Gefühlen der bewußten Seele, auch abgeſehen von
geiſtiger Nahrung, unentbehrlich bleibe, und daß eine
eigentliche geiſtige Productivität, ein ſich Austhun der Seele,
unerläßlich erſcheine, wenn jenes innere Wechſelleben der
Pſyche im wahrhaft geſunden Gange verharren ſolle.


Erſt jetzt, nachdem wir in dieſen Betrachtungen, ſowohl
von der Geſundheit der unbewußten als der bewußten Seele
zu deutlichen und, wenn ich die ältern Pſychologien erwäge,
allerdings ganz neuen Begriffen gelangt ſind, iſt es Zeit
länger dabei zu verweilen, was von dem Verhältniß beiderlei
Geſundheitsformen unter einander auszuſagen ſein möchte.


Mit dem altbekannten Ausdrucke: „mens sana in
corpore sano
“ wird im Allgemeinen jenes vorzüglich er¬
wünſchte Verhältniß bezeichnet, wo gleichzeitig bewußtes und
unbewußtes Wirken der Seele im vollkommen geregelten
und natürlichen Gange verweilt, und hiemit wäre aller¬
dings das Ideal einer vollkommenen Geſundheit gegeben.
In ſo fern jedoch alle Geſundheit nur individuell ſein kann
[427] und für jeden einzelnen Menſchen ein beſonderes Verhältniß
der Mannichfaltigkeit ſeiner Erſcheinung darſtellt, würden
die verſchiedenen Arten vollkommener Geſundheit doch nie
unter ſich ganz gleich ſein, und bei der ſtäten Umbildung
des Organismus, welche er in der Entwicklung des Lebens
erfährt, iſt ſelbſt in einem und demſelben Individuum nie
dieſer Zuſtand, wenn er überhaupt mehrfältig und in
längeren Zeiträumen vorkommt, durchaus und immerfort
derſelbe. Dieſes ganz vollkommen geregelt ſein alſo, dieſes
ganz und durchaus Natürliche, kurz dieſes Ideal einer
Geſundheit iſt überhaupt, wie alles Vollkommene im Leben,
wenn es ja hie und da annähernd vorkommt, eine große
Seltenheit; es findet ſich vielmehr auch in dieſer Beziehung
die menſchliche Exiſtenz an eine fortwährende und höchſt
mannichfaltige Schwankung gewieſen, eine Schwankung,
welche ſich theils in Unvollkommenheiten bald der Geſund¬
heit des Bewußten, bald der des unbewußten Seelenlebens
bethätigen, bald in gewiſſem nicht gleichartigem Stande
der Geſundheit beider Sphären gegeneinander zu erkennen
geben wird. Ein vollkommenes Gleichgewicht zwiſchen
dieſen beiden Sphären gehört überhaupt zu dem faſt nie
Vorkommenden, ſondern wir finden faſt immer bald die
eine, bald die andere vorſchlagend. Beobachtet man nun
dergleichen Fälle genauer, ſo kann man dahin kommen
manch wichtiges Geſetz in dieſer Beziehung aufzuſtellen.
So iſt zuerſt unverkennbar, daß für das Wachsthum der
eigentlichen innern Monas der Seele, oder des An-ſich-
ſeins der Idee, in den früheſten Perioden der Lebensent¬
wicklung ein gewiſſes Vorwalten der Geſundheit
des Unbewußten
eben ſo wichtig und fördernd ſei, als es
in den ſpätern Perioden ein gewiſſes Vorwalten der Geſund¬
heit des bewußten Geiſtes wird. Gerade weil das Unbe¬
wußte eben das Primitive darſtellt, auf deſſen Boden gleich¬
ſam erſt die höhere Blüthe des Geiſtes ſich entfalten ſoll, und
gerade weil dieſe letztere nur dann kräftig und bedeutend
[428] hervortreten wird, wenn eine möglichſt geſunde Organiſation
und Function insbeſondere der höhern Nervengebilde erreicht
iſt, bedarf es gewiſſermaßen zu einer ſchönen menſchlichen
Entwicklung zuerſt des Vorwaltens der Geſundheit im Unbe¬
wußten. Leicht aber abzuſehen iſt es, daß ein fortdauerndes
Verhältniß derſelben Art da nicht mehr günſtig einwirken
könne, wo, wie in ſpäteren Perioden, das Vorherrſchen
des bewußten Geiſtes über alles Unbewußte in uns immer
mehr und mehr ganz eigentlich zur Aufgabe des Daſeins
geworden iſt. Es gibt hier zu eigenen Betrachtungen An¬
laß, wenn man findet, daß ſelbſt im regelmäßigen Gange
der Lebensentwicklung, auf einer gewiſſen Höhe, die Energie
der Geſundheit des Unbewußten, in der Mehrzahl etwas
nachzulaſſen beſtimmt iſt, während dagegen unausgeſetzt die
Klarheit und Reife des bewußten Geiſtes zunehmen ſoll
und wirklich, wenn deſſen Geſundheit bewahrt wird, immer¬
fort zunehmen wird. Mehr davon wird ſich noch ergeben,
wenn wir dazu kommen zu erwägen, was überhaupt an
der Seele vergänglich und was ewig ſei!


Ein zweites Geſetz in dieſer Beziehung läßt ſich ſodann
etwa ſo ausſprechen: — Bei der unendlichen Verſchieden¬
heit der innern Qualität der Seelen, der bald höhern und
göttlichern, bald geringern und recht eigentlich menſchlichen
Eigenthümlichkeit derſelben iſt das Vorwalten der Geſund¬
heit bald der einen, bald der andern Sphäre ihrer Er¬
ſcheinung von ſehr verſchiedener Bedeutung. Es zeigt ſich
nämlich das merkwürdige Verhalten, daß da, wo die
Qualität eine geringere und ich möchte ſagen rohere iſt,
in Wahrheit die Geſundheit und Schönheit der bewußten
Seele während der reifern Lebensperioden dadurch gehoben
werden kann, daß im Unbewußten eine geringere,
ja eine geſtörte Geſundheit vorkommt. Der eigene
Reiz und die gewiſſe geſunde Schönheit und Kraft des
Geiſtes, welche in dergleichen Individuen oft erſt bei leib¬
lichen Krankheiten hervortritt, auch zuweilen ſich wieder
[429] verliert, wenn die Leibesgeſundheit wieder in vollkommener
Blüthe ſteht, iſt eine ſehr merkwürdige pſychologiſche That¬
ſache. Wie häufig iſt es z. B. vorgekommen, daß junge
lebenskräftige Landmädchen, wenn die ſogenannten Ent¬
wicklungskrankheiten ſie befielen, in ſonderbare idiomagne¬
tiſche Zuſtände geriethen, in welchen dann eine Feinheit
des Geiſtes, eine Kraft der Gedankenfolge und eine Tiefe
des Gefühls hervortraten, welche ſich bald wieder verloren,
wenn dieſe Krankheiten vorüber waren. Eben ſo ſieht man
Aehnliches im männlichen Geſchlecht. Ein Fall, wo nach
einer Hirnverletzung mit Hirnverluſt eine feinere Art der
Intelligenz und ein höherer Ausdruck der Rede vorkam, iſt
mir namentlich bekannt. Auch hier verlor ſich dieſe höhere
geiſtige Geſundheit ſo wie die Heilung der Verletzung erfolgt
war. Uebrigens fühlt ja auch Jeder, daß die maſſive
Geſundheit des Unbewußten in einem Athleten nicht zugleich
vorkomme mit der höhern Geſundheit des Geiſtes in einem
tiefdenkenden Weiſen.


Wenn aber ſonach das Vorhergehende eine gewiſſe
Erhöhung des bewußten Geiſtes durch Krankheit des Unbe¬
wußten erklärte, ſo muß dagegen ein drittes Geſetz es aus¬
ſprechen, daß eine zu unvollkommene Geſundheit
des Unbewußten doch auch wieder die Geſundheit
eines höhern Bewußtſeins beeinträchtigen
und
dem Organismus des Denkens, Fühlens und Wollens in
ſeiner Lebensbewegung nicht geſtatten wird mit der Schön¬
heit, Kraft und Natürlichkeit zu erſcheinen, welche er unter
Bedingung einer größern leiblichen Geſundheit wohl zu zeigen
im Stande geweſen wäre. Bei allen ſehr bedeutenden
Naturen wird man daher finden, daß ein hoher Grad von
Geſundheit auch im Unbewußten, gleichſam die Stütze dar¬
bietet, damit wirklich alles das hindurchgeführt werden
könne, was eben eine ſolche Pſyche in der Productivität
ihres reichen Daſeins zur Offenbarung zu bringen hat, und
ſo liegt hierin abermals die Hinweiſung darauf, daß es
[430] immer eine der wichtigſten Aufgaben des Geiſtes ſein und
bleiben müſſe, über die Erhaltung und Bewahrung auch
des unbewußten Lebens ſorgfältig zu wachen.

β. Von der Seelenkrankheit.

Die Seelenkrankheiten in unſerm Sinne werden wieder
in die des unbewußten und die des bewußten Seelenlebens
zerfallen. Auch hier haben wir damit anzufangen uns
deutlich zu machen, was unter Krankheit des unbe¬
wußten Seelenlebens
zu verſtehen ſei.


Die mannichfaltigen Lebensoffenbarungen des Unbe¬
wußten, wie ſie fort und fort in der raſtloſen Umbildung,
Zeugung, Wiederzerſtörung und Wiedererzeugung der Sub¬
ſtanz des Organismus ſich zu erkennen geben, dieſes ſo
höchſt vielfältige ſtätige Thun welches wir bald als Athmung,
bald als Ernährung und Wachsthum, Blutumlauf, Abſon¬
derung, Fortpflanzung u. ſ. w. bezeichnen, ſie können und
müſſen, da ſie beſtändig mit unzähligen Einwirkungen der
Welt im Conflict ſtehen, oftmals auf das Mannichfaltigſte
geſtört werden. Eine ſolche Störung, eine ſolche Hemmung
iſt aber noch kein Krankſein. Dem Lungenleben kann die
nöthige reine Luft entzogen ſein, und das Athmen wird
unvollkommen und beengt, aber noch iſt der Menſch nicht
krank, dem Verdauungsleben können die Nahrungsſtoffe
entzogen werden, der Menſch hungert, dürſtet, und doch
iſt er noch nicht krank, und ſo durch alle dieſe einzelnen
Lebenserſcheinungen, die wir unbewußte oder bloß leibliche
Functionen nennen, hindurch! Krankheit iſt alſo ein gewiß
Neues, ein Etwas das entſteht und ſich nach eigenen Ge¬
ſetzen organiſch darlebt, als ein Erzeugniß ſolcher Conflicte
des Eigenlebens mit dem fremden Leben der Welt, und zwar
ſich darlebt an den einzelnen Lebenserſcheinungen, den leiblichen
oder geiſtigen Functionen ſelbſt. Dieſes Neue, dieſes Etwas,
dieſe Idee der Krankheit, welche erzeugt worden iſt als ein
gewiſſermaßen Paraſitiſches zwiſchen der Idee des Lebens
[431] einerſeits und den Ideen der Welt andererſeits, wächst,
lebt ſich dar, vervielfältigt ſich, ſtirbt ſelbſt oder tödtet den
Organismus nach beſtimmten ſehr merkwürdigen Geſetzen
und Verhältniſſen, von denen hier weiter die Rede nicht
ſein kann, und welche nur in ſo weit hier zu beſprechen
waren, als ſie uns über die Krankheitserſcheinungen auch
im Kreiſe des bewußten Seelenlebens Auskunft zu geben
im Stande ſind. Der Organismus alſo in deſſen Leben¬
kreiſe eine ſolche Krankheitsidee ſich eben darlebt, ihn nennen
wir krank, ſeine eigene Lebensidee iſt durch dieſes fremd¬
artige Leben geſtört, gekränkt, aber nichts deſto weniger
beſteht die innere Monas ſeines eigenthümlichen Daſeins
darum eben ſo gewiß und ſicher, als, wie wir oben bei¬
ſpielsweiſe ſagten, die Idee oder der Begriff des Dreiecks
ungeſtört derſelbe bleibt, ſo viel ich auch wirklich körperlich
dargeſtellte Dreiecke auflöſen oder verbiegen mag. Alles
Krankſein trifft ſonach immer nur die Erſcheinung der
urſprünglichen göttlichen Idee eines gewiſſen Lebens, nicht
die Idee ſelbſt
. Indeß auch an der Krankheit ſelbſt
können wir im ſchärfern Denken unterſcheiden ihre Grund¬
idee, ihre Monas, und die an den umgeänderten Erſchei¬
nungen des Organismus hervortretenden Zeichen oder
Symptome derſelben. Dieſe Monas der Krankheit iſt
natürlich eine ſolche, welche, da ſie nur an der Erſcheinung
anderer Ideen ſich darlebt, nie ſelbſt zu einem Bewußtſein
kommen kann, ſie wird ſtets eine unbewußte bleiben, eben
darum aber kann ſie auch nur im Unbewußten un¬
ſers Lebens erzeugt und geboren werden
. Unſer
bewußter Geiſt kann ein Unbewußtes nicht erzeugen, er
erzeugt und gebiert nur Gedanken, die ſelbſt auch wieder
nur für ein Bewußtes exiſtiren, das Bewußtloſe alſo
wird nur vom Unbewußten erzeugt
, und ſo kann
auch die in ſich unbewußte Idee der Krankheit nur
aus dem Unbewußten
unſers Weſens hervorgehen. —
Dieſe Betrachtungen ſind für alles Verſtändniß der Krank¬
[432] heit überhaupt, und beſonders auch für deren Verhältniß
zum bewußten Geiſte ſehr merkwürdig und folgereich, denn
zunächſt geht daraus hervor, daß, da das Krankſein ſeine
eigentliche Wurzel nur im unbewußten Seelenleben haben,
die Idee der Krankheit nur hier erzeugt werden kann,
eine eigenthümliche allein im bewußten Geiſte
wurzelnde Krankheit unmöglich ſei
, obwohl es
jedoch nie fehlen wird, daß die Strahlungen jedes kranken
Zuſtandes ſich ſofort über die ganze Seele — eben weil
dieſe durch und durch im Grundweſen ein Einiges iſt, ſich
verbreiten müſſen. Eben deßhalb alſo, weil die Wurzel
der Krankheit allemal im Unbewußten zu ſuchen iſt, ver¬
binden wir ſchon inſtinktmäßig mit dem Ausdrucke: „Krank¬
heit“ ſchlechthin nur den Begriff der im Walten und an
der Erſcheinung der unbewußten Seele ſich darlebenden
Krankheitsidee. Schlägt dagegen ein beſonderer Reflex
ſolches erkrankten unbewußten Lebens über auf den zur
Entwicklung gekommenen bewußten Geiſt, und zwar ſo, daß
die Störung des Geiſtes ein Hauptſymptom des Krankſeins
wird, ſo unterſcheiden wir auch ſogleich dieſes Krankſein
mit einem beſondern Namen: wir nennen ſie Seelen¬
ſtörung
, Geiſteskrankheit u. ſ. w. Aus dieſen Grün¬
den iſt alſo klar, daß man durchaus vom Begriff der
eigentlichen Krankheit zu trennen habe was als abnorme
Zuſtände rein im bewußten Leben ſich erzeugt, nämlich die
Zuſtände des Irrthums, der Fühlloſigkeit und des Laſters,
und daß höchſtens dieſe Zuſtände im figürlichen Sinne
als „moraliſche Krankheiten“ angeſehen werden dürfen.


Gegenwärtig kommt es uns nun darauf an, einen
Ueberblick von den weſentlich verſchiedenen Formen der See¬
lenkrankheit zu geben, einmal wie ſie im Unbewußten ent¬
ſtehend auch hauptſächlich in dieſer Region ſich verbreitet,
ein andermal wie ſie, zwar auch im Unbewußten entſpringend,
doch weſentlich an der Erſcheinung des bewußten Geiſtes
ſich darlebt. Das erſtere erſchließt das weite Reich
[433] der eigentlichen
, oder ſogenannten leiblichen
Krankheiten
, und dieſes Reich theilt ſich nach folgenden
drei Grundformen: Die erſte umfaßt das zahlreiche
Heer der „Fieber“. Hier ſehen wir gleichſam die Ur¬
krankheit
, welche die großen welthiſtoriſchen Epidemien
darſtellt, die welche über alle andere Krankheitsformen ſich
verbreiten kann und aus welcher ſo viele andere hervor¬
gehen. Die zweite umfaßt die verſchiedenen Formen der
Entzündung“ (die Secundärkrankheit, welche den
allgemeinen Fieberproceß im beſchränkten Organ wiederholt)
und die dritte ſtellt dar die „Verbildung“ (die Tertiär¬
krankheit
, welche erſt ſpäter zu den vorigen hinzuzutreten
pflegt und meiſt bleibend die Geſtaltung des Organismus
verändert). In allen dieſen Krankheiten erſcheint alſo eine
gewiſſe beſondere dem Eigenleben des Organismus fremde
Idee und lebt ſich paraſitiſch dar, und zwar allemal weſent¬
lich an der Erſcheinung der unbewußten Seele, ſei es nun,
daß überhaupt der bewußte Geiſt ſich noch nicht entwickelt hat
(wie im Fötus) oder daß er bereits wirklich erſchloſſen ſei
(wie im Erwachſenen). In Folge der Eigenthümlichkeit einer
ſolchen beſondern Idee und je nach Beſonderheit derſelben,
wird Alles was unbewußt ſonſt die Seele nach ihrem eigenen
innern Geſetz regelt, nun anderweitig und auf neue beſondere
Weiſe beſtimmt; Athmung, Blutumlauf, Verdauung, Ernäh¬
rung u. ſ. w. gehen nicht mehr wie ſonſt von Statten, ſon¬
dern an ihren vielfältigen oft ſehr ſeltſamen Modificationen
bringt ſich jetzt eben die fremdartige neue Idee zur Erſchei¬
nung, und vollendet an ihnen ihren Lebenkreis, ſo daß
erſt, wenn ſie dieſen durchlaufen und beſchloſſen hat, das
Eigenleben der eingeborenen Idee durch die gewohnten frü¬
hern Erſcheinungsweiſen abermals ſich kund geben kann.


Es iſt jedenfalls wichtig, daß man zuerſt von dieſen
weſentlich im Unbewußten ſich offenbarenden Krankheits¬
formen, welche in ihrer unermeßlichen Mannichfaltigkeit
das Hauptſtudium des Arztes abgeben, mindeſtens einen
Carus, Pſyche. 28[434] einigermaßen genügenden Ueberblick gewonnen habe, damit
man beſſer dann auch das zweite Reich, das Reich der¬
jenigen Krankheiten verſtehen lerne, welche hauptſächlich am
bewußten Geiſte ſich offenbaren und gemeinhin ausſchlie¬
ßend
Seelenkrankheiten“ genannt zu werden pflegen.


Um auch dieſes Feld richtig zu erfaſſen, muß bedacht
werden, daß, wie im unbewußten Leben Kreislauf des
Blutes, Umbildung, Athmung, Fortpflanzung u. ſ. w.
eigene Kreiſe des Daſeins bilden, eben ſo im bewußten
Geiſte, Gefühle, Vorſtellungen und Gedankenzüge ſo wie
Willensakte Lebenkreiſe darſtellen, welche im Ganzen oder
Einzelnen ebenfalls vielfältige Störungen und Hemmungen
im Conflict mit der Welt erleiden können. Auch hier ſind
dergleichen einzelne Störungen, die wir Leiden, Irrthümer,
falſches Wollen nennen, noch keine Krankheit an und für
ſich, wohl aber können und müſſen ſie Symptome — Zeichen
— alles Krankhaften werden, was den Geiſt erfaßt. Es
iſt nun bereits oben geſagt, daß die wirklichen Krankheiten,
ſie, in denen ſich eine eigenthümliche unbewußte Idee eines
beſondern paraſitiſchen Lebens offenbart, innerhalb des
bewußten Geiſtes eben ſo wenig entſtehen können, wie ein
Schatten innerhalb eines Lichtes, oder ein zweites Centrum
innerhalb eines Kreiſes, und daß nur als Analogon der¬
ſelben die ſogenannten moraliſchen Krankheiten, die „Suchten“
und „Laſter“ und das „Irrſal“ vorkommen. Wie nun aber
doch in eigener wirklich krankhafter Weiſe das bewußte
Seelenleben ergriffen werden kann, obgleich eine beſondere
unbewußte Krankheitsidee dort niemals erzeugt wird, das
begreift ſich, wenn man Folgendes bedenken will: Die
ganze Seele iſt in ſich immer ein Einiges — eine Monas
— wenn auch in ihr, als ein Höheres, der freie bewußte
Geiſt aus dem was als Unbewußtes verbleibt, ſich heraus¬
zubilden vermag. Eine jede Krankheit, auch die, welche
in ihren Symptomen ſich faſt ausſchließend an leiblichen
Vorgängen offenbart, wirkt daher — wenn in dieſer Seele
[435] bereits ein bewußter Geiſt entfaltet iſt — allemal in etwas
auch auf dieſen, — ſie ſchattet gleichſam dahinüber, ver¬
ſtimmt — trübt — ändert in irgend etwas das bewußte
Seelenleben; dieſe Trübung wird jedoch weder das Weſent¬
liche des Geiſtes ſtören, noch wird ſie bleibend ſein, ſondern
ſie ſchwindet zugleich mit der Krankheit vollkommen. Da¬
gegen geſchieht es aber auch, daß Krankheiten vorkommen,
welche nicht nur momentan und ſchwach jene höchſte Blüthe
der Seele, den bewußten Geiſt, trüben, ſondern daß ge¬
wiſſe ebenfalls im Unbewußten urſprünglich ſich darlebende
Krankheitsideen dergeſtalt ſich verhalten, daß ſie fortwährend
ihre ganze Macht dahin wenden, bleibende Störungen des
Hirnlebens zu veranlaſſen, dadurch anhaltend das Erkennen,
Fühlen und Wollen des Geiſtes qualitativ umändern und
ſo gleichſam Verrückungen des Geiſtes herbeiführen.
Um ſich dies Verhältniß durch ein Gleichniß deutlich zu
machen, erinnere man ſich etwa, daß an der Pflanze zwar
die Wurzel allemal ein weſentlicher und urſprünglicher Theil
iſt, daß aber, eben ſo wie einige Pflanzen faſt nichts als
Wurzel ſind, in andern dafür wieder faſt alles in Stängel
und Blätter aufzugehen ſcheint, ſo daß zuletzt (wie z. B.
im Fucus) die Wurzel zu einem an ſich kaum merklichen
Gebilde werden kann. Eben ſo iſt denn auch von der
Krankheitsidee zu ſagen, daß ihre eigentliche Zeugung im¬
mer der unbewußten Seele angehöre, und daß allemal hier
die Wurzel aller Krankheitserſcheinungen liege, daß aber
die Erſcheinungen der Krankheit ſelbſt ſich in ſo weit unter¬
ſcheiden, als in vielen Fällen zwar auch ſie weſentlich nur
auf das Unbewußte concentrirt bleiben, während dagegen
bei andern die ganze Ausbreitung derſelben ſich nach dem
bewußten Geiſt wendet, und dort in Denken und Fühlen
und Wollen die gewaltſamſten Umſtellungen, oder wie man
ſagt: Verrückungen, hervorbringt, indeß das Leben und
die Erſcheinungen der eigentlichen Wurzel nur in geringem
Maße ſich nach außen offenbaren. Das treueſte Bild ſolcher
[436] Verhältniſſe liegt in dieſem Gleichniſſe vor, und man wird,
wenn man ſich dahineindenkt, leicht begreifen, in welchem
Sinne das, was man insgemein mit dem Namen der
Geiſteskrankheiten oder Seelenſtörungen bezeichnet, über¬
haupt erfaßt werden muß; nämlich nicht als eigentliche
Krankheit des Geiſtes, ſondern als Krankheitser¬
ſcheinung am Geiſte
, eine Krankheitserſcheinung, welche
immer um ſo leichter hervortreten wird, je weniger der
Geiſt in ſich vorher zu ſeiner geſunden Höhe und Macht
ſich erhoben hatte und je mehr er ſchon vorher durch Irr¬
thum, unreines Gefühl und Thun, ſeiner eigentlichen gött¬
lichen Richtung entfremdet war.


Es iſt nun unſchwer zu verſtehen, daß eben ſo wie
vorübergehend faſt jedesmal ein Fieber oder eine Entzündung,
gewiſſe Phantaſien, Wahnbilder — gleichſam eine vorüber¬
gehende Geiſteskrankheit erzeugen muß, ſo gewiſſe chroniſche
Verbildungen, Veränderungen der Blutmaſſe u. ſ. w. vor¬
kommen werden, welche, indem ſie bleibend die Innerva¬
tionserzeugung im Hirn, die Leitungsfähigkeit der Nerven¬
faſer u. ſ. w. ändern, auch eine bleibende Umſtimmung im
Geiſte ſetzen, fortwährend die Erkenntniß, das Gefühl, den
Willen auf die wunderlichſte Weiſe alteriren und verſchieben,
und ſo das bedingen, was wir das zweite Reich der See¬
lenkrankheit, oder die Krankheitserſcheinungen am
Geiſte
— Wahnſinn, Melancholie u. ſ. w. nennen.
Wie geſagt, es wird aber — ob dieſe Wirkung auf den
Geiſt erfolgen ſoll oder nicht, auch hier davon abhängen,
bis zu welcher Höhe das Wachsthum der Seele, die Ent¬
wicklung des Geiſtes bereits vorgeſchritten war. Wie früher
ſchon gezeigt worden iſt, daß eine Höhe des Geiſtes vor¬
komme, von welcher ein Herabſinken nicht wohl mehr mög¬
lich ſei, ſo muß auch hier wiederholt werden, daß, um ſo
freier und größer der Geiſt bereits ſich entfaltet hatte, um
ſo weniger auch die Einwirkung der Krankheit auf den
Geiſt Macht habe, wahre Krankheitserſcheinung am Geiſte
[437] zu erzeugen. Es ergibt ſich daher von hier aus alsbald,
wie groß der Unterſchied ſei zwiſchen der Erkrankungs¬
fähigkeit der unbewußten und bewußten Seele. Das Unbe¬
wußte nämlich, obwohl durch und durch auf einem Göttlichen
und Ewigen ruhend, iſt, dieweil in ſeinen Offenbarungen
an das Vergängliche gewieſen, ein überall leicht Verletz¬
bares und leicht Erkrankendes: der ſtärkſte Organismus
eines Menſchen widerſteht, ſeiner auf dem Wirken des
Unbewußten ruhenden Geſtaltung nach, nicht einigen Tropfen
Blauſäure, oder einigen Gran Arſenik, oder einer ganz
kleinen Herzwunde, und, wenn dieſe Einwirkungen ihn
geradezu zerſtören, ſo gibt es hundert andere die hinreichen,
eine Krankheitsidee zu erzeugen, welche nun nach ihrer
Eigenthümlichkeit, und nicht mehr nach dem der eigenen Idee
des Organismus ein alsdann krank zu nennendes Leben dahin
leitet. Ganz anders iſt es mit dem bewußten Geiſte, wenn er
einmal zu ſeiner Reife gelangt iſt: er iſt in dieſer Beziehung
unverwundbar wie die Luft, er kann grimmige Leiden
und Schmerzen erdulden, er kann in den gewaltigſten An¬
ſtrengungen ringen — aber er hat, in wie fern er eine zum
Selbſtbewußtſein gelangte göttliche Idee iſt, den Gedanken
ſeiner eigenen Ewigkeit erfaßt, und er wird dadurch auch
in ſeinen Offenbarungen unſterblich — ja, was uns hier
nun beſonders angeht, er iſt auch aus dieſem Grunde an
und für ſich außer allem Bereich der Krankheit. Nur in
dieſem Sinne kann daher das ganz verſtändlich werden,
was man als höhere Macht des Geiſtes von jeher verehrt
hat! — Man wird von hier aus begreifen, warum dieſer
höhere bewußte Geiſt oft ſo ganz unberührt zu bleiben
ſcheint von den grimmigſten Leiden und Krankheiten ſeiner
eigenen unbewußten Seele, und in wie fern er einer Frei¬
heit genießt, die in den Schickſalen großer erleuchteter, im
Leben oft ſchwer geprüfter Naturen, ſo vielfältig zu bewun¬
dern geweſen iſt!


Nichts deſto weniger dürfen wir aber nur ſchärfer über
[438] Entwicklung und Verhältniſſe eines ſelbſt zu ſolcher Höhe
gelangten Geiſtes nachdenken um gewahr zu werden, wie
genau und eng die Verbindung iſt, in welcher auch er
während des Lebens mit allen unbewußten Strahlungen
der Seele immerfort bleibt. Wie wir früher ſagten, daß
es keine ſtärkere Regung des Unbewußten gebe, welche nicht
auf irgend eine Weiſe bis hinauf in die Höhe des Bewußt¬
ſeins ihre Schwingungen verbreite, ſo erkennen wir, daß
auch der kräftigſte hellſte Geiſt immerfort von dem Unbe¬
wußten ſeiner Seele unzertrennlich bleiben und fortwährend
von demſelben entſchieden influenzirt werden müſſe. Ein
Gift, welches das Unbewußte zerſtört, wird auch das
Bewußtſein umnachten, und eine Krankheit, welche im
Bewußtloſen ſich entwickelt, wird allemal in irgend einer
Weiſe Fühlen, Denken und Thun des bewußten Geiſtes
alteriren.


Freilich hat die Macht des im Bewußtſein erſtarkten
Geiſtes auch umgekehrt wieder einen großen Einfluß auf
das Unbewußte, es geht von ihm aus, wie oben ſchon bei
Betrachtung der Seelengeſundheit gezeigt wurde, daß durch
ſeine Wachſamkeit das Unbewußte behütet und bewahrt wird,
und man kann mit Entſchiedenheit ſagen, daß dieſe Macht
durchaus vermögen wird das Unbewußte wenigſtens in ſo
weit zu ſchützen, daß, wenn nicht alle Krankheit ihm fern
gehalten werden kann, doch diejenige ihm wirklich fern ge¬
halten wird, welche vom Unbewußten auf das Bewußtſein,
auf die Gedanken, Gefühle und Thaten des Geiſtes der¬
geſtalt hinüber wirken könnte, daß bleibende Verrückungen,
wahre Krankheitserſcheinungen dort ſich hervorthun dürften.
Der helle Geiſt eines Ariſtoteles, Kant, Leibnitz und
Aehnliche, wird daher nicht die Möglichkeit von Krankheit
aufheben, aber Bürge ſein daß Erſcheinungen von Geiſtes¬
krankheiten in ihm gewiß nicht vorkommen. Wo dagegen
eine geringere Energie des bewußten Geiſtes vorliegt, wo
derſelbe in derjenigen Periode des Lebens, in welcher er
[439] nach That und Gefühl und Gedanken gereift und erſtarkt
ſein ſollte, noch ſchwach und in Irrthum, in falſches Ge¬
fühl und ungeſundes Thun verſunken iſt, da werden Krank¬
heiten, welche im Unbewußten ſich entwickeln, nicht nur
allemal mit größerer Gewalt auf das Bewußtſein hinüber¬
wirken und wahre Krankheitserſcheinungen am Geiſte erzeu¬
gen, ſondern an und für ſich werden auch überhaupt Krank¬
heiten leichter entſtehen, weil diejenige Macht, welche das
Unbewußte zu behüten beſtimmt iſt, nur unvollkommen und
geſchwächt ſich darſtellt.


Ehe wir jedoch jenes zweite Reich der Seelenkrank¬
heiten, welches die am bewußten Geiſte ſich offenbarenden
umfaßt, noch ſo weit im Einzelnen erwägen, als es für
einen Ueberblick der geſammten Entwicklungsgeſchichte der
Seele hier nöthig iſt, bleibt noch übrig theils aufmerkſam
darauf zu machen, in welcher Beziehung gewiſſe ſehr erhobene
und geſunde Erſcheinungen am Geiſte mit gewiſſen wirk¬
lichen Krankheitserſcheinungen ſich ſehr nahe berühren, theils
noch insbeſondere anzudeuten, von welchen urſprünglich
bloß aufgeregten Zuſtänden des Geiſtes am leichteſten der
Uebergang ſich machen könne zu wirklichen geiſtigen Krank¬
heitserſcheinungen. In Beziehung auf das erſtere iſt es
ſehr merkwürdig, daß gewiſſe große ſelbſtſtändige Richtungen
des geſunden Geiſtes vorkommen, welche, eben weil auch
ſie die Kraft des Bewußtſeins in einzelnen Richtungen im
höchſten Grade concentriren, öfters Veranlaſſung gegeben
haben, daß zwiſchen manchem erhabenſten Wirken und
Schauen des Geiſtes und manchen entſchiedenen Formen
des Wahnſinns eine ſehr große Annäherung längſt, und
ſchon ſeit Plato, anerkannt wurde. Gewiß iſt die Gränze
ſolcher Zuſtände ſchwerer zu beſtimmen als es auf den erſten
Blick ſcheint, denn weder die in ſich richtige Folge, noch
auch die Höhe und Schönheit der Gedanken und Gefühle,
können hier allein allemal ausreichende Unterſcheidungs¬
merkmale darbieten. Zwiſchen dem in religiöſen Wahnſinn
[440] verfallenen Viſionär, welcher die Madonna von Engeln
umgeben erblickt, und einem Raphael dem ſie im Augen¬
blick der Kunſtbegeiſterung erſcheint und dem ſie bleibend
ihr Bild einprägt, ſcheint zunächſt der Unterſchied bei weitem
nicht ſo groß als zwiſchen Geiſteskranken und Geiſtesge¬
ſunden er gewöhnlich vorausgeſetzt wird. Bei näherer und
ſchärferer Erwägung tritt jedoch eine beträchtliche Verſchie¬
denheit alsbald hervor, und ſie gibt ſich, abgeſehen von
innerer verſchiedener Entwicklung der Zuſtände, auch nach
außen namentlich dadurch zu erkennen, daß jener kranken
Richtung allemal die Möglichkeit vollkommener und nach¬
haltiger Productivität durchaus abgeht. Nie wird der kranke
Viſionär ein Bild von ſeiner Viſion hinterlaſſen, welches,
wie die unſterbliche Schöpfung eines Raphael, auf Jahr¬
hunderte die Kraft eines großen geſunden Gedankens zur
Anſchauung bringt, und nie wird aus den Declamationen
einer wahnſinnigen Nonne, welche Hölle und Fegefeuer
ſieht, ein Werk hervorgehen wie die Divina comedia des
Dante. — Wenn es daher bei Plato heißt: „So viel
heiliger und ehrenvoller nun jenes Wahrſagen iſt als dieſes
Weiſſagen, dem Namen nach und der Sache nach, um ſo
viel vortrefflicher iſt auch nach dem Zeugniß der Alten ein
göttlicher Wahnſinn als eine bloß menſchliche Verſtändig¬
keit“; ſo iſt hier von keinem kranken Zuſtande, ſondern
von jener höhern Unfreiheit des Geiſtes die Rede, wo er
ſelbſt von einer höhern göttlichen Idee erfaßt, gewiſſer¬
maßen das Wirken für ſich und nach gewählten Zwecken
aufgibt, und nicht mehr von ſelbſtgewählten, ſondern von
gegebenen Zwecken, gleichſam wieder halb unbewußt,
fortgetrieben wird. Kurz der höhere, oder wie Plato ihn
ganz recht nennt, der göttliche Wahnſinn entſteht dann erſt,
wenn in dem Geiſte des Menſchen, d. h. in der zu ihrem
eigenen und wahren Centrum, dem Selbſtbewußtſein der
Idee gelangten Seele, das Walten einer aus dem großen
für uns unbewußten Myſterium der Welt eingedrungenen
[441] Idee ſich geltend macht und herrſchend wird; der niedere
oder eigentlich krankhafte Wahnſinn hingegen kommt zu
Stande, wenn eine beſondere, fremdartige, in der innern
Welt des Unbewußten entſtandene Krankheitsidee ſich zur
Herrſchaft bringt, und nicht nach den der Seele eigenen,
ſondern nach fremden Geſetzen die Erſcheinung des Orga¬
nismus leitet, und zwar dergeſtalt leitet, daß von dieſem
Unbewußten aus auch das Bewußtſein überzogen und ge¬
ſtört wird.


Was ferner die Uebergänge betrifft, welche von in ſich
noch geſunden, aber leidenſchaftlich aufgeregten Zuſtänden
der Seele zu Geiſteskrankheiten führen, ſo möchte darüber
noch Folgendes zu bemerken ſein. Je nach ihrer verſchie¬
denen Natur ſind nämlich allerdings und insbeſondere Ge¬
müthsbewegungen im Stande, durch den ſtarken Wieder¬
klang, den ſie allemal im Unbewußten haben, als wirklich
Krankheit-erzeugende Momente zu wirken, und es darf hie¬
bei als ein allgemeines Geſetz betrachtet werden, daß Krank¬
heiten, deren Idee im Unbewußten zuerſt von der Sphäre
des Bewußtſeins aus angeregt worden iſt, auch allemal in
ihrer innern Verbreitung und Entwicklung insbeſondere gern
gegen die bewußte Welt des Geiſtes hinüberſchatten. Es iſt
dies wie Schlag und Rückſchlag zu betrachten; Störungen
des Blut- und Ernährungslebens z. B., welche durch hef¬
tige und anhaltende Gemüthsbewegungen veranlaßt wurden,
werden allemal in ihrem Verlaufe leichter wieder gegen die
Erſcheinungen des Bewußtſeins hinübergreifen, und ſomit
leichter wirkliche Krankheitserſcheinungen des Geiſtes herbei¬
führen, als z. B. ähnliche Störungen im Blut- und Er¬
nährungsleben, welche aber nur durch phyſiſche Urſachen,
Erkältungen, Diätfehler u. ſ. w. urſprünglich bedingt worden
waren. Einen Fall dieſer Art gibt es alſo etwa, wenn
langer Kummer und Gram bereits das unbewußte Leben
geſtört haben und wenn nun irgend eine heftige Aufregung,
plötzlicher Schreck, Schmerz, oder des etwas, eine Krankheit
[442] erzeugt, welche jetzt ſofort ins bewußte Leben überſchlägt
und Melancholie oder Manie bedingt. Ophelia iſt ein ſolches
Beiſpiel und jedes Irrenhaus bietet eine Menge Unglück¬
licher dar, welche gerade auf dieſe Weiſe erkrankt ſind.
Ja von dieſem Standpunkt aus wird man nun auch ver¬
ſtehen, warum das, was wir oben moraliſche Krankheit
genannt haben, — das Verſunkenſein des Bewußtſeins in
Irrthum und Laſter — ſo oft ebenfalls den Uebergang in
Wahnſinn und Raſerei vorbereitet. Je weniger nämlich
die höhere Intelligenz als Licht der Seele erſcheint, je mehr
Verirrungen des Geiſtes, bald hie, bald dorthin, den Zug
ungeregelter Vorſtellungen leiten, deſto heftiger wird die
Aufregung des Gefühls werden, deſto mehr werden Schmerz,
Haß, Liebe, Freude, Trauer durch einander toben und deſto
leichter werden auch von hier aus zu der moraliſchen Krank¬
heit noch wahrhafte Krankheitserſcheinungen erſt des Unbe¬
wußten und dann des Geiſtes hinzutreten. Sonach ge¬
wahren wir allerdings, daß die Beachtung dieſer Ueber¬
gänge geſunder Geiſteszuſtände in kranke, manche wichtige
Aufſchlüſſe gewähren über viele einzelne Vorkommniſſe des
kranken Geiſtes und über Krankheitserſcheinungen am Geiſte
überhaupt. — Wir gehen nun über zu der

γ. Beſondern Erwägung der Krankheitserſcheinungen
am Geiſte
.

Es wird aber zunächſt für dieſe Krankheiten eine ganz
ähnliche Eintheilung ſich ergeben, wie die war, nach
welcher jene allein dem Unbewußten ungehörigen ſich ſon¬
derten: — Haben wir doch gezeigt, daß auch ſie nicht in der
zum höhern Bewußtſein gekommenen Seele an und für ſich,
ſondern eben nur in dem Unbewußten derſelben Wurzel
faſſen. Es wird demnach geben: 1. Urkrankheitser¬
ſcheinungen des Geiſtes
; ſie ſind die allgemeinen,
die, welche alle Strahlungen des Geiſtes zugleich beein¬
trächtigen, die dem Fieber beſonders ähnlichen und die ſich
[443] oft mit ihm verbinden — hieher gehört die Manie
das Raſen. 2. Sekundärkrankheitserſcheinun¬
gen
; ſie ſind die partiellen, die der Entzündung ähnlichen,
und hiehin gehört der Wahnſinn (die Monomanien,
die Narrheit und die Melancholie). 3. Tertiär¬
krankheitserſcheinungen
; es ſind die jedesmal einer
bedeutenden Verbildung des Hirns ſich anſchließenden: der
Blödſinn, Idiotismus, Cretinismus.


Raſerei, Wahnſinn und Blödſinn verhalten ſich dem¬
nach allerdings ganz wie Fieber, Entzündung und Ver¬
bildung, und die Verwandtſchaft der entſprechenden Zuſtände
iſt unverkennbar. Das Fieber, wie die Manie, ſind, wie
man zu ſagen pflegt, acute Zuſtände, verlaufen nach ge¬
wiſſen Perioden und in ziemlich beſtimmten Zeiten, führen
auch bald zu einer beſtimmten Entſcheidung, entweder in
Geneſung oder Tod, oder mittels Ueberganges in chroniſche
Zuſtände; auch wird man nie eine Manie finden, welche
nicht mit Fieberſymptomen, namentlich mit heftigen Auf¬
regungen des Gefäßſyſtems ſich verbände, ſo daß alſo hier
allemal beſonders deutlich hervortritt, wie ſehr immer bei
dieſem Krankſein das unbewußte Leben primitiv ergriffen
iſt. Merkwürdig iſt es übrigens, und für die Geſchichte
der ſogenannten Geiſteskrankheiten keinesweges früher hin¬
reichend benutzt, wie mehrere derſelben, und namentlich auch
die Manie, auf dem Wege des Experiments, und zwar
eben von Anregungen des unbewußten Lebens aus, hervor¬
gerufen werden können. Mehrere Gifte, namentlich das
aus dem Blüthenſtaube des Hanfs gewonnene, oder auch
Opiumrauch, werden in mittelmäßigen Geiſtern nicht ver¬
fehlen, die Erſcheinungen der Manie in ihrer ganzen Furcht¬
barkeit hervorzurufen, und geben gerade dadurch eine be¬
ſonders klare Einſicht in die Geneſis derjenigen Krankheiten,
welche ſich am Geiſte offenbaren.


Ganz derſelbe Fall iſt es mit dem andern Extrem
dieſer Reihe, dem Blödſinn, bei welchem ebenfalls das Be¬
[444] dingtſein von Zuſtänden des unbewußten Lebens ſo recht
einleuchtend hervortritt. Dieſer traurige Zuſtand, in welchem
das Hirn immer, entweder durch Mangelhaftigkeit erſter
Bildung, oder durch ſpätere Krankheit, ein irgendwie ver¬
bildetes (verkümmertes, waſſerſüchtiges, in der Subſtanz
verändertes) geworden iſt, kommt eben deßhalb auch als
ein doppelter vor, indem entweder überhaupt gar kein Strahl
des Geiſtes ſich entwickelt hat, oder der ſchon entwickelt ge¬
weſene wieder verdunkelt wurde. Sei indeß das eine oder
das andere, allemal wird doch irgend eine Alteration des
durch unbewußtes Leben zu Stande kommenden Hirnbaues
hier deutlich erkennbar ſein, und ſo dienen immer auch dieſe
Fälle, das zu bewahrheiten, was wir früher von den Be¬
dingungen des Bewußtſeins überhaupt geſagt haben. —
Denn war es auch bereits deutlich geworden, daß die Ent¬
wicklung des Bewußtſeins und an und für ſich genommen,
immer nur als ein Wunder erfaßt werden könne, und daß
wir nur die Bedingungen, unter welchen dieſes Wunder
ſich begebe, zu ermeſſen im Stande ſeien, ſo ſehen wir
doch hier es nun beſtimmt erwieſen dargethan, daß die
Kränkung dieſer Bedingungen auch ſofort die Offenbarung
des Geiſtes hemme, ja oft wirklich aufhebe.


Unter dieſen Bedingungen war nämlich die erſte die
Entwicklung eines beſondern eigenthümlich impreſſionabeln
Syſtems, d. i. des Nervenſyſtems, und die dritte: daß für
Ermöglichung des Aufbewahrens dieſer Impreſſionen und
Vergleichung derſelben ſtets genugſames Feld in einer reichen
und kräftigen Hirnbildung gegeben ſei. In dieſer Bezie¬
hung iſt es nun, daß die Fälle des Idiotismus beſonders
geeignet erſcheinen, zu zeigen, wie weſentlich namentlich
jene dritte Bedingung ſei. Auch hier würde es übrigens
leicht ſein (wenn überhaupt Verſuche ſolcher Art irgend ge¬
denkbar wären) durch Einwirkung auf erſte, an ſich unbe¬
wußte Bildung, in experimentellem Wege den Blödſinn ſelbſt
zu erzeugen, und ſo unſere Theorie zu beſtätigen; denn,
[445] wenn jedenfalls ſchon das künſtliche Verdrücken des Schädels
der Neugebornen bei amerikaniſchen Wilden der Entwicklung
eines höhern Bewußtſeins ungünſtig iſt, ſo dürfte mit Be¬
ſtimmtheit behauptet werden, daß eine allſeitige gewaltſame
Beſchränkung des Wachsthums des Hirns (etwa nach Art
der Beſchränkung des Wachsthums der Füße bei den Chineſen)
allemal und eben ſo nothwendig Idiotismus herbeiführen
müßte, als Stumpfſinn, Blödſinn und zuletzt Schwinden
des Bewußtſeins entſteht, wenn in ſpätern Jahren Hirn¬
erweichung oder Hirnwaſſerſucht ſich entwickelt hat.


Erwägen wir jetzt alles dies, ſo bleibt es merkwürdig
genug, daß, wenn man bei der Manie ſowohl, als beim
Idiotismus, die Thatſache nicht läugnen konnte, daß bei
dieſen beiden Endpunkten der Reihe geiſteskranker Zuſtände
die Wurzel des Uebels im Unbewußten, oder, wie man ge¬
wöhnlich zu ſagen pflegt, im Leiblichen liegt, man bei den
andern in der Mitte ſtehenden Leiden, d. i. in den ver¬
ſchiedenen Formen des Wahnſinns, hierüber ſo ſchwer zu
einer feſten Anſicht gelangen konnte. Das Verlaſſen eines
ſtreng genetiſchen Weges iſt auch hier die einzige Urſache
ſo vieler Irrthümer geweſen.


Allerdings aber iſt es auch wirklich eine ſeltſame und
den Beobachter ſelbſt leicht irre führende Erſcheinung die
einer in Wahnſinn befangenen Seele! — Alle Vorgänge
des unbewußten Lebens ſcheinen zuweilen für oberflächliche
Betrachtung in vollkommener Ordnung: der Menſch athmet,
nährt ſich und zerſtört ſich, wie ein Geſunder, ſein Puls
ſchlägt den richtigen Takt, und eben ſo ſcheinen auch ganze
Provinzen des geiſtigen Reichs in vollkommen geſetzmäßigem
Verhalten; das Denken und Fühlen erſcheint nach manchen
Richtungen hin ebenfalls ungeſtört, der Geiſt erkennt, ſchließt,
urtheilt, er entwirft oft mit vielem Scharfſinn beſtimmte
Plane und kann ſogar mit Conſequenz für deren Ausfüh¬
rung in der That ſich bewähren; plötzlich aber, nach andern
Richtungen hin, tritt nun mit einem Male ein ganz Fremd¬
[446] artiges, mit allem Wahrheitsgewiſſen Unvereinbares, ent¬
ſchieden Krankhaftes hervor! — Das eigentliche Mittelglied
dieſer Reihe, die Monomanie oder die ſogenannte fixirte
Idee, iſt unter dieſen vielfältigen Formen die beſonders
charakteriſtiſche und verdient vornehmlich ins Auge gefaßt
zu werden, wenn es vom Verhältniß dieſer Zuſtände ſich
handelt. 1 Wie jedoch überhaupt von irgend einem bloß
Lokalen, wirklich ſcharf Geſchiedenen, bloß Partiellen in der
Seele, als welche durch und durch auf einer Einheit beruht,
nicht die Rede ſein kann, ſo ergibt auch die genauere
Beobachtung eines jeden ſolchen Falles von Monomanie,
daß keinesweges hier etwa nur ein Strahl der Pſyche krank,
und alle andern geſund ſeien, ſondern daß in Wahrheit
durch eine eigenthümliche, an all' dieſem Leben ſich
offenbarende und nur einſeitig deutlicher werdende Krank¬
heitsidee, welche immer, als ſelbſt unbewußte, nur im Un¬
bewußten wurzeln kann, auch dieſe Zuſtände bedingt ſind.
Dem Auge des ſcharfſehenden, tiefer unterſuchenden Arztes
entgeht in dieſen Zuſtänden es nie, daß trotz dem Schimmer
von Geſundheit, der den Laien vielfältig täuſcht, allemal
eine wahre eigenthümliche Krankheit hier vorhanden iſt.
Modificirt doch alles Verhältniß der unbewußten Lebens¬
erſcheinungen ſich in Kranken dieſer Art auf beſondere Weiſe:
die eigenen Züge des Geſichts, der andere Blick, die andere
Haltung, wodurch ſolche Perſonen ſelbſt Laien auffallen,
ihr ſogar oft ſehr deutlich veränderter Geruch, und ihre
ſonderbar wechſelnde Temperatur, verrathen den Zuſtand
auf ähnliche Art, wie etwa eine Hektik ſich an jenen um¬
ſchrieben rothen Wangen und heißen Handflächen verräth,
welche Unwiſſende wohl für Zeichen der vollſten Geſundheit
zu nehmen gewohnt ſind. Die Modalität indeß, deutlicher
zu machen, wie nun Krankheiten, welche im Leiblichen ſo
[447] ſehr verdeckt erſcheinen, doch das Geiſtige ſo merkwürdig
umzuſtimmen im Stande ſind, dürfte vielleicht das Folgende
hinreichen.


Zuvörderſt muß man ſich dabei nothwendig in die
Gedanken zurückrufen, wie merkwürdig jeder Strahl be¬
wußten Lebens an eine gewiſſe, durch unbewußtes Schaffen
der Idee vorgebildete Geſtaltung unerläßlich geknüpft iſt.
Nur dadurch, daß jene eigenthümliche zarteſte Nervenſub¬
ſtanz des Hirns in primitiver Zellmaſſe und Primitivfaſern
ſich entwickelt hat, iſt eine weſentliche Bedingung alles Be¬
wußtſeins gegeben, und kein Gedanke, kein Gefühl, keine
Willensregung kann im Geiſte ſich begeben, die nicht mit
irgend wie feinen Umſtimmungen in der Spannung der
Innervationsſtrömungen dieſer Subſtanzen verknüpft wäre.
Man könnte faſt ſagen: ſo wie der Galvanometer in dem
Grade, als er die Magnetnadel abweichend zeigt, die Stärke
des elektriſchen Stroms im galvaniſchen Apparat anzeigt,
ſo iſt in der zum Bewußtſein gekommenen Seele jede ein¬
zelne Regung des Geiſtes die intellektuelle Seite einer irgend
beſondern Zuſtandsänderung in dem nervoſen Apparat des
Gehirns. Dieſe Verhältniſſe alſo, ſage ich, muß man ſich
gegenwärtig halten, um zu begreifen, wie beſtimmt gewiſſe
krankhafte Zuſtände des Unbewußten der Hirnbildung im
Bewußtſein auf eigenthümliche Weiſe ſich ſpiegeln oder dort
wiederklingen müſſen! — Ja es kann zur Deutlichkeit dieſer
im Ganzen ſchwierigen Vorſtellungen beitragen, wenn man
ſich erinnert, wie ganz eben ſo die Sinnesempfindungen in
den größern Sinnesorganen auf das Engſte an den Zu¬
ſtand ihrer nervoſen Gebilde geknüpft bleiben. Welch' außer¬
ordentlich feine Vorgänge in der Ausbreitung der Hör¬
nerven mögen es z. B. ſein, welche wir als Ohrenklingen
empfinden! — und eben ſo ſind es feinſte Umſtimmungen
in der Netzhaut des Auges und ihrer Innervationsſpannung,
welche als ſogenannte Augenſpectra Sinnesvorſtellungen er¬
zeugen, denen durchaus keine äußere Lichteinwirkung ent¬
[448] ſpricht. Noch viel zarter jedoch, und für Alles, was wir
wägbar und meßbar nennen, gänzlich unerreichbar, hat man
jene an und für ſich unbewußten Vorgänge zu betrachten,
in denen wir die leibliche Bedingung einer jeden geiſtigen
Regung vorausſetzen müſſen! Auch iſt hier auf dieſe früher
hinreichend beſprochenen Gegenſtände nur in ſo weit zurück¬
zugehen, als nöthig iſt, um deutlich zu machen, wie irgend
eine Krankheit, wenn ſie gerade in einzelnen Provinzen
jener elementaren Nervenſubſtanz beſondere bleibende Umſtim¬
mungen geſetzt hat, ſogleich auch auf gewiſſe Weiſe bleibende
Umſtimmungen in den geiſtigen Regungen herbeiführen müſſe.
Ungefähr eben ſo wie das Auge, in deſſen Retina eine viel¬
leicht noch ſo kleine Umbildung vorgegangen iſt, immer und
immer gewiſſe Farben, gewiſſe Figuren, gekörnte Schlangen,
Mouches volantes u. dergl. ſieht, ſo iſt klar, wie einer
menſchlichen Individualität, in deren unbewußt bildenden
Hirnleben gewiſſe bleibende Umänderungen vorgegangen ſind,
gewiſſe ihnen entſprechende Vorſtellungen immer und immer
wieder herangeführt werden können, ſo daß nun dadurch
eben ſo das geſunde, reine, willkürliche Denken gehindert
erſcheinen muß, als in anderer Weiſe ein ſolches Denken
nicht möglich ſein wird, wenn durch fortwährend äußeren
Lärm und Aufregung ſtets gewiſſe fremdartige Vorſtellungen
dem Geiſte aufgezwungen werden.


Nur von dieſem Standpunkt aus wird man alsdann
einigermaßen verſtehen können, wie alle jene ſonderbaren
Zuſtände erzeugt werden, welche nicht ſelten auf merkwür¬
dige Weiſe das Mittel halten zwiſchen irrigem Denken und
zwiſchen den erwähnten Täuſchungen der Sinnesorgane.
Den letztern, von denen wir als Beiſpiele die Augenſpectra
und das Ohrenklingen angeführt haben, nähert ſich am
meiſten das, was als „Hallucinationen“ bekannt iſt,
das Hören fremder Stimmen (gleichſam ein Ohrenklingen
des Gehirns; figürlich könnte man auch allen Wahnſinn ſo
nennen), das Schauen von Phantasmen u. ſ. w. Dem irr¬
[449] thümlichen Denken, demjenigen des geſunden Menſchen,
welcher nur ſeiner Gedankenfolge eine falſche Richtung ge¬
geben hatte, von welcher jedoch erläuternde, aufklärende
Vorſtellungen ihn bald bekehren können, nähert ſich dagegen
durch vielfältige Uebergänge von beiden Seiten die Mono¬
manie oder ſogenante „fixe Idee“, und ſelbſt in der letztern
kann wieder unterſchieden werden, ob dann der Geiſt vor¬
zugsweiſe kranken Gefühlen ſich hingibt, oder ob er nach
Verworrenen, unſeeligen Thaten ſtrebt. Beiſpiele der erſteren
ſind die religiöſe Monomanie, der falſche Liebeswahnſinn
(Erotomanie), die Monomanie der Vorſtellungen von Furcht
und Verfolgung u. ſ. w. Beiſpiele der andern die Mono¬
manie des Stehlens, des Mordens, der Geſchlechtsluſt u. ſ. w.
Wie ſehr übrigens alle dieſe Formen von Geſtörtſein des
Geiſtes gerade nur auf dieſe Weiſe zu betrachten und zu
verſtehen ſeien, geht auch aus der Erwägung ihrer oft ſo
plötzlichen Beendigung hervor, denn jene ſonderbaren Wahn¬
bilder, welche den Menſchen oft Jahre lang verfolgen und
durch keine noch ſo vernünftige Ueberredung zu verſcheuchen
waren, und dadurch nicht verſcheucht werden konnten, weil
ſie für den Kranken allerdings auf einer innern Wirklich¬
keit und Wahrheit beruhten, verſchwinden zuweilen mit einem
Male, ſo wie irgend eine wichtige und weſentliche innere
Aenderung des krankhaften Zuſtandes — eine Kriſis —
vorgeht. Das ganze Wirken des Arztes ſoll eben deßhalb
auch hier hauptſächlich darauf gerichtet ſein, dergleichen
Aenderungen zu veranlaſſen, gewohnte, aber jetzt unterdrückt
geweſene Abſonderungen herzuſtellen, kranke Zuſtände des
unbewußten Lebens zu beſeitigen, — und Hunderte von Fällen
zeigen, wie plötzlich oft die Klarheit des Geiſtes wieder
hervortrat und dieſe Wolkenbilder des Wahns verſcheucht
wurden, ſobald es gelang, in dem unbewußten Bildungs¬
leben der Hirnſubſtanz die wahre Integrität und Norm
wieder herzuſtellen. Muß man übrigens nicht auch dadurch,
daß man von dieſen kranken Zuſtänden auf das Geſunde
Carus, Pſyche. 29[450] zurückblickt, ſich ſogleich vollſtändig überzeugen, daß die
erſtern unmöglich im Geiſte ſelbſt — im Bewußtſein der
Seele wurzeln können! Der Geiſt iſt, wie er ſelbſt ge¬
worden, d. h. wie er durch das Denken die ewige Gegen¬
wart erreicht hat, auch zugleich das allein in ſich Gewiſſe,
und ſo nennt man denn auch dieſes Feſteſte im Geiſte das
Gewiſſen, und eben dieſer innern Gewißheit widerſpricht
es durchaus, daß aus dem Geiſte ſelbſt ein Irrſein her¬
vorgehen könne, denn das gerade iſt der Unterſchied zwiſchen
Irrthum und Irrſein, daß der erſtere immer allmählig von
ſelbſt, oder durch gegebene Aufklärung ſogleich ſchwindet,
das Irrſein aber, weil es im Unbewußten wurzelt, erſt ſich
verlieren kann, wenn das Unbewußte ſelbſt wieder über¬
haupt, oder mindeſtens, in ſo weit es Organ des Geiſtes
iſt, normal geworden iſt.


Möge nun das Geſagte hinreichen, um von der Ver¬
ſchiedenheit der einzelnen Formen dieſer Krankheitserſchei¬
nungen des Geiſtes eine Ueberſicht zu geben, und werfen
wir nun noch einen Blick auf die übrigen für unſern Zweck
wichtigen Momente derſelben! Zuerſt möchte die Art ihres
häufigern oder ſeltenern Vorkommens
bei gewiſſen
Seelen in Frage kommen. Im Allgemeinen iſt ſchon oben
bemerkt worden, daß Verſunkenheit des Geiſtes in Irrthum
und ein wüſtes Thun und Fühlen die Anlage zu dieſen
Krankheitserſcheinungen allerdings vermehrt, jedenfalls, weil
rückwirkend vom Bewußten auf das Unbewußte, das Bil¬
dungsleben des Hirns ſelbſt ſchon durch ſolche falſche Geiſtes¬
thätigkeit geirrt wird, und daß alſo verhältnißmäßig unter
ſtumpfſinnigen, rohen, ungebildeten Naturen mehr Geiſtes¬
kranke vorkommen müſſen, als unter höher gebildeten und
edler entwickelten; dagegen iſt es aber auch merkwürdig,
daß hinwiederum nur unter Bedingung eines gewiſſen
Grades
geiſtiger Entwicklung die Krankheitserſcheinungen
am Geiſte hervortreten, und daß in ſo weit, aber auch
nur in ſo weit, allerdings die mehrere Cultur die Zunahme
[451] der Geiſteskrankheiten begünſtigt. Im zarten Kindesalter
gibt es eben deßhalb nur eine Form, welche zeitig ſich
bemerklich macht, das iſt eben die, wo wegen Störung
unbewußten Bildungslebens im Hirn überhaupt keine geiſtige
Entwicklung möglich wird — der Blödſinn. Eben ſo wenig
iſt beim rohen Wilden von Krankheitserſcheinungen am Geiſte
zu bemerken, und alles dies deutet darauf, daß nicht ohne
eine gewiſſe Höhe geiſtiger Ausbildung der Reflex einer
Krankheit des Unbewußten auf das Bewußte vorkommen
kann — was denn auch ſehr natürlich iſt, denn damit
etwas irgend eine Veränderung erleiden könne, muß es
zuvörderſt überhaupt ſein. Können wir doch im Kreiſe
des ganz unbewußten Lebens ganz daſſelbe bemerken; ſo
pflegen ſich Bruſtkrankheiten erſt auszubilden in einem Alter,
wo die Entwicklung der Athemorgane ſich vollendet, Ge¬
ſchlechtskrankheiten erſt nach der Pubertät aufzutreten u. ſ. w.


Es führen uns dieſe Betrachtungen ferner auf die
Entſtehung der Krankheitserſcheinungen des Gei¬
ſtes
, und es muß hier ſogleich ein Moment zur Erwähnung
kommen, welches das Eingewurzeltſein derſelben im Unbe¬
wußten ſehr deutlich nachweist, nämlich die ſo vielfältig
beobachtete Erblichkeit derſelben. Es iſt nicht ſelten, Fa¬
milien zu finden, wo von Generation zu Generation immer
mehrere Perſonen dieſem beklagenswerthen Zuſtande anheim
fallen, und natürlich wäre auch dies nicht möglich, in ſo
fern nicht eben jene unbewußt entwickelte Geſtaltung, welche
eben am erſten von Eltern auf Kinder fortgepflanzt werden
kann, doch allemal zuletzt die weſentliche Urſache derſelben
enthielte. Die freie That des Geiſtes iſt jedem Individuum
als ſolchem eigen, nicht aber hat er ſich ſelbſt gegeben die
unbewußte Entwicklung ſeines organiſchen Daſeins.


Die ſonſtigen Momente, welche Entſtehung von Geiſtes¬
krankheiten bedingen können, liegen theils in der bewußten,
theils, und weſentlich zuletzt allemal, in der unbewußten
Sphäre; denn Jedem wird es bei näherm Erwägen ſo¬
[452] gleich einleuchten, daß in einem Individuum, deſſen unbe¬
wußtes Leben vollkommen geſund iſt, unter veranlaſſen¬
den äußern Umſtänden und durch falſche freiwillige Rich¬
tung des bewußten Lebens, zwar die heftigſten Aufregungen
der Gefühle und Verirrungen des Erkennens und Wollens
mancherlei Art vorkommen werden, aber nie das vorkommen
kann, was wir ganz eigentlich Krankheitserſcheinungen am
Geiſte nennen.


Auf welche Weiſe Verirrungen des bewußten Seelen¬
lebens (oder die ſogenannten moraliſchen Krankheiten) und
namentlich mittels heftiger Gefühlſaufregungen, Geiſtes¬
krankheiten veranlaſſen können, iſt früher ſchon bemerklich
gemacht worden; was es dagegen beſonders iſt, wodurch
vom Unbewußten oder ſogenannten Leiblichen aus Krank¬
heitserſcheinungen am Geiſte bewirkt werden können, dies
gehört eigentlich zu ſehr in den Bereich des Arztes, als
daß es hier ausführlich erwogen werden könnte; — nur
ganz im Allgemeinen ſei es daher bemerkt, daß alle Momente
dieſer Art entweder direct oder indirect auf Bildung und
Leben des Gehirns Bezug haben müſſen. Es iſt deßhalb
allerdings etwas ſehr Häufiges, eigenthümliche und mannich¬
faltige Verbildungen des Gehirns nicht bloß bei Idioten,
ſondern eben ſo bei unheilbar Wahnſinnigen, durch die
Section zu finden; wo jedoch dergleichen wirklich nicht
aufgefunden werden können, da liegt es entweder daran,
daß die Störung der Bildungsverhältniſſe ſo fein iſt, daß
ſie den Sinnen entgeht (und dies wird in einem Organ,
deſſen mikroſkopiſcher Bau noch immer großentheils ein Räthſel
iſt, und deſſen wichtigſte Lebenserſcheinungen, d. i. die Um¬
ſtimmungen der Innervationsſpannung, eben ſo wenig ſicht¬
bar gemacht werden können, als die magnetiſche Strömung
in einem Stück Eiſen, am häufigſten vorkommen), oder,
daß überhaupt das Hirnleben nur indirect ergriffen worden
war. Die Erklärung des Letztern gibt das Folgende. In¬
dem das Hirn nämlich die Bedeutung hat, den Herd zu
[453] bilden, wo alle primitiven Nervenfaſern zuhöchſt zuſammen
kommen, ſo machen ſich nothwendig Erſchütterungen auch
entfernteſter Organe, oder, wie man beſſer ſagen darf,
untergeordneter Lebenkreiſe, in jenem Herde ſofort und über¬
all fühlbar. Dabei iſt zugleich an die verſchiedene pſychiſche
Signatur dieſer einzelnen Lebenkreiſe insbeſondere zu er¬
innern, darauf aufmerkſam zu machen, wie der Lebenkreis
der Gallenorgane, der Organe des Kreislaufs, des Ge¬
ſchlechts-, Verdauungs- und Drüſenlebens jedesmal ſeine
beſondere Bedeutung in pſychiſcher Beziehung hat, und wie
namentlich die Gefühlswelt nur von dieſer Mannichfaltig¬
keit aus ihr eigenthümliches Colorit erhält, und durch alles
dieſes wird es denn mehr und mehr deutlich werden, wie
von dieſen Gegenden aus allerdings die ſeltſamſten Krank¬
heitserſcheinungen am Geiſte wohl zu Stande kommen können.
Wer in dieſer Beziehung dem ausführlicher nachgedacht
hat, was früher bei der Geſchichte der Gefühle und bei
der Lehre von der Einwirkung des Unbewußten auf das
Bewußte bemerkt worden war, der wird auch hier leichter
zu deutlichen Vorſtellungen gelangen, und es wird ihm klar
ſein, wie ein längeres Krankſein, und wie insbeſondere
wirkliche Verbildungen, z. B. der Leber, vermöge der ver¬
änderten Innervationsſpannung jener Primitivfaſern, welche
die Gallenorgane mit dem Hirn in Rapport ſetzen, eine
Empfindung von wirklichem Krankſein in dem unmittelbar
dem Vorſtellungsleben angehörigen Hirngebilde gar wohl
veranlaſſen kann; — deßgleichen, wie ſchlechte, krankhafte
Miſchungsverhältniſſe der Säftemaſſe, dieweil die Innerva¬
tion ſelbſt durch und durch ſtätes Ergebniß des Blutlebens
iſt, überall, und alſo auch im Hirn, eine nicht geſunde
und normale Innervation entwickeln muß, welche nothwendig
als krankhafte Stimmung im Bewußtſein ſich reflectiren
wird. (Daher kommt bei bleichſüchtigen Mädchen ſo häufig
Verrücktheit und Monomanie vor u. ſ. w.) Immer alſo,
je mehr derartige Verſtimmungen im unbewußten Leben vor¬
[454] gegangen ſind, welche im Hirn ſich reflectiren, deſto eher
werden Krankheitserſcheinungen am Geiſte zu Stande kom¬
men, und natürlich wird dieſe Wirkung um ſo eher ein¬
treten, wenn zu einem gewiſſen angeborenen, abnormen
Verhältniß unbewußten Lebens ein zufällig erlangtes noch
hinzutritt.


In wie fern nun aber auch ſonſt im unbewußten Seelen¬
leben ein Grund zur Entſtehung des Wahnſinns liegen
könne, iſt ebenfalls ſchon früher angedeutet worden. Im
Allgemeinen wird man nämlich nicht verkennen dürfen, daß
auch hier diejenige Seite, welche mehr des Unbewußten ent¬
hält, d. i. das Gefühl, auch weſentlicheres Krankheits¬
moment zu werden im Stande iſt; gibt doch jede Gefühls¬
richtung, ſei es Freude, Trauer, Liebe oder Haß, ſobald
ſie in ihrer letzten Höhe hervortritt, einen Zuſtand der Seele,
welcher durch ſein Ausſchließendes und gewiſſermaßen Ver¬
nichtendes an der Linie des Wahnſinns ſteht — eben ſo wie
die höchſte geiſtige Inſpiration — und welcher nur alsdann
und in ſo weit vom Wahnſinn ſich immerfort unterſcheidet,
als er ſelbſt Wahrheit in ſich enthält.


Wo dies alſo nicht der Fall iſt, wo das Gefühl nicht
von einem der Seele wahrhaft Angemeſſenen bewegt wird,
wo demnach ſchon von dieſer Seite die innere Gewißheit
und Wahrheit mangelt, wird um ſo leichter ein Erkranken
des unbewußten Lebens das Bewußte influenziren und die
Seele ſofort jene ſchmale Gränze zwiſchen Gefühlsaufregung
und Wahnſinn überſchreiten, ſo daß nun alsbald wirkliche
Krankheitserſcheinungen am Geiſte gegeben werden. Auf
dieſe Weiſe ſieht man alſo, von Gefühlsaufregungen aus¬
gehend, gar viele Fälle des Wahnſinns ſich entwickeln, doch
iſt nicht zu überſehen, daß allerdings auch von der Seite
der Erkenntniß und des Willens aus, die Anlage zum
Wahnſinn gegeben werden kann, denn einmal wird eine
langanhaltende, vielfach wiederholte Anſtrengung in Ver¬
folgung eines gewiſſen Gedankenzugs (z. B. mathematiſcher
[455] Probleme) zuletzt eben ſo den Prozeß der Innervation des
Hirns ſtören und krank werden laſſen, wie etwa das lange
Ausgeſtreckthalten der Arme indiſcher Heiligen die Muskeln
und Sehnen der Arme verkümmern läßt; und ein ander¬
mal kann das ſich ganz Hingeben an ein gewiſſes Wollen
und Thun ebenfalls zum Wahnſinn leiten, jedoch immer
nur dadurch, daß es ein ſolches Thun iſt, welches auch das
Unbewußte krank werden läßt, indem es ihm nicht den
Schutz und die Wachſamkeit gewährt, welche, wie wir oben
ſagten, das Bewußte dem Unbewußten ſchuldig iſt. So
z. B. begründen alſo frühe Ausſchweifungen des Geſchlechts
vielfältig Idiotismus, und ſo ſind die Irrenhäuſer erfüllt
mit Wahnſinnigen, welche traurige Opfer der Trunkſucht
darſtellen. In beiden Fällen iſt immer genau nachzuweiſen,
wie hiebei, durch gewiſſe bewußte Handlungen, das Unbe¬
wußte im Allgemeinen, und beſonders in gewiſſen Syſtemen,
erkrankte, und wie denn von hier aus das Hirnleben ſich
erſchüttert finden mußte.


Faſſen wir nun ferner die Dauer dieſer Krankheits¬
erſcheinungen am Geiſte ins Auge, ſo iſt im Allgemeinen
auszuſagen, daß ſie, zum größten Theile, über längere
Zeiträume des Lebens ſich ausdehnen. Es gibt zwar auch
kurzes, recht eigentlich acutes Irrſein, nämlich das, was
mit heftigen Fiebern bei Hirnentzündungen, was im Opium¬
rauſch u. ſ. w. vorkommt; da aber hier das Krankſein
immer vorherrſchend im Unbewußten ſeinen Cyclus durch¬
läuft, ſo pflegt man gemeinhin, aber ſehr unrechter Weiſe,
dieſe Fälle zu den ſogenannten Geiſteskrankheiten gar nicht
zu rechnen, obwohl durch eine ſolche Sonderung der Wiſſen¬
ſchaft nie ein wahrer Vortheil erwachſen konnte, da doch
alle Krankheit eigentlich jedesmal das Leben ganz in
Anſpruch nimmt, nur einmal die eine, ein andermal die
andere Seite mehr, und da doch immer nur erſt nach dieſer
Erkenntniß die Geſchichte der einzelnen Krankheiten voll¬
ſtändig begriffen werden wird. Wir hätten alſo, hinſicht¬
[456] lich der Dauer, allerdings zu unterſcheiden von dem kaum
nach Stunden zu meſſenden Wahnſinn des durch Hanftrank
oder Opiumrauch Berauſchten, den etwas längern, immer
noch acuten, aber nach Tagen zu zählenden Wahnſinn des
Nervenfieberkranken, bis zu dem Jahre dauernden Wahn¬
ſinn des vollkommen Verrückten. Wie geſagt, letztere Art
iſt im Ganzen die häufigere, weil ganz feine Verſtimmungen
im Unbewußten des Hirn- und Nervenlebens, welche alle¬
mal unerläßlich vorhanden ſein müſſen, wo das hervor¬
treten ſoll, was insgemein Geiſteskrankheit genannt wird,
meiſtens chroniſcher Art ſein werden, ja ſind dieſe Ver¬
ſtimmungen bis zu wahren bedeutenderen Verbildungen der
Subſtanz gediehen, ſo breiten ſie ſich auch wohl über ein
ganzes menſchliches Daſein aus, und bedingen endlich
geradezu eine lebenslängliche Dauer des Irrſeins. Alles
unbewußte Leben bewegt ſich jedoch nach gewiſſen geheimen
Geſetzen des Rhythmus und der Periodicität, und ſo werden
wir denn auch in ſeinen Erkrankungen überall ähnliche ge¬
ſetzmäßige Bewegungen bemerken, und aus dieſem Grunde
muß ſich dann auch die Dauer irgend eines Irrſeins ganz
nach dergleichen unbewußt durchlaufenen Perioden bemeſſen.
Wie daher wohl Nebel fallen, ſo fallen oft plötzlich aus
dem Kreiſe der Vorſtellungen hinweg jene ſeltſamen Ver¬
rückungen, und mit einem Male bethätigt ſich der Geiſt
wieder frei in dem Maße von Vorſtellungen und in der¬
jenigen Energie, welche ihm vor der Krankheit eigen war.


Faſſen wir daher dieſes Alles richtig auf, ſo wird jetzt
auch alsbald deutlich, in wie fern auf ſo ganz verſchiedene
Weiſe Geiſteskrankheiten ſich beendigen können. Als das
Erſte jedoch, was über den verſchiedenen Ausgang dieſes
Krankſeins zu bemerken iſt, und was klärlich aus der
früher bedachten Eigenthümlichkeit und Gewalt des Geiſtes
folgt, müſſen wir aufführen die Erkenntniß, daß der
krankhafte Zuſtand des Geiſtes an und für ſich
nie tödtlich wird
, noch werden kann. Auch dieſe
[457] einfache Wahrheit iſt, wie ſo vieles, was auf dieſe ſonder¬
baren Zuſtände Bezug hat, noch nie beſtimmt ausgeſprochen
worden, und nicht ſelten wird der Ausdruck gebraucht, daß
eine Geiſteskrankheit einen Kranken getödtet habe, obwohl
das natürliche Gefühl der Völker, die Sprache in ſo fern
immer richtig geleitet hat, daß man nie zu ſagen pflegte,
der Menſch ſei am Wahnſinn geſtorben, ſondern immer
nur, er ſei im Wahnſinn geſtorben. Der Wahrheit gemäß
iſt es nämlich, daß in ſolchen Fällen der Tod nur vom
unbewußten Leben ausgehend
erfolgt, wie in allen
übrigen Krankheiten, und auch dieſe Erkenntniß führt wieder
zur Anſchauung eines neuen und eigenthümlichen Geſetzes,
nämlich: daß, wie das Leben immer mit der unbewußten
Offenbarung der Seele anhebt, ſo es auch nur mit dieſer
unbewußten Offenbarung endigen könne, und dem Laufe
der Natur nach auch immer bloß dadurch endigen werde
(denn wenn der bewußte Geiſt im Selbſtmord die Be¬
dingungen abſichtlich herbeiführt, welche das Unbewußte zer¬
ſtören, ſo iſt dies immer ein Verhältniß gegen die Natur).
Geſchieht es alſo, daß Geiſteskranke ſterben, ſo wird dies
entweder dadurch geſchehen, daß irgend eine beſondere Krank¬
heit, ein Fieber, eine Entzündung, eine Apoplexie u. ſ. w.
hinzutritt, oder dadurch, daß daſſelbe Leiden des Unbe¬
wußten, welches, als ein Krankſein des Gehirns, ſeinen
Reflex auf die Vorgänge des Geiſtes geworfen hatte, ſich
ſo weit ſteigert, daß nun alle übrigen Lebenserſcheinungen
dadurch beeinträchtigt werden müſſen und unter der Form
von Hirnwaſſerſucht, Lähmung u. ſ. w. der Tod veranlaßt
wird. Eben ſo wie demnach das Sterben der Geiſteskranken
vom Unbewußten ausgeht, ſo muß nothwendig auch der
zweite mögliche Ausgang, der der Geneſung, weſentlich
vom Unbewußten bedingt werden. Ein in Irrthum ge¬
rathener Verſtand kann in ſich ſelbſt den Weg zur Wahr¬
heit finden oder darauf geleitet werden; ein in wüſtes,
laſterhaftes Thun verſunkenes Wollen kann, durch die
[458] Stimme des Gewiſſens gerührt, dieſe Bahn verlaſſen, oder
durch Erziehung gebeſſert werden, aber für den Wahn¬
ſinnigen gibt es auf dieſe Weiſe keinen Weg zur Geneſung.
Nur die Abweichung, welche vom Bewußtſein ausgegangen
iſt, kann auch durch das Bewußtſein zum Rechten zurück¬
geführt werden, und auch dieſes deutet abermals wieder
dahin, daß die Wurzel der Krankheitserſcheinungen am
Geiſte ſchlechterdings außerhalb des Geiſtes, d. h. im
Unbewußten, liege.


Die Geneſung kann daher auch in dieſen Krankheiten,
wie in allen andern, nur aus zwiefachen Quellen kommen:
einmal aus der innern, unerſchütterlichen Göttlichkeit der
Idee des Individuums überhaupt, welche anhaltend und
mit ſtätiger Macht die Eigenthümlichkeit des Lebens, das
Normale, herzuſtellen ſtrebt, und ein andermal aus dem
Lebensgange der jenes Normale ſtörenden Krankheit, welcher,
wie alles zeitliche Leben, ein endlicher iſt, d. h. in gewiſſen
Perioden ſich abwickeln und ſodann erlöſchen muß. Das
Zuſammenwirken dieſer beiden Momente iſt es, welches,
zuweilen unterſtützt und gefördert durch ein zweckmäßiges,
abſichtliches Einwirken von außen, im glücklichen Falle den
Geiſt wieder zu ſeiner vollen Klarheit zurückkehren läßt;
ein Vorgang, welcher am klarſten und einfachſten überſchaut
werden kann in jenen acuten Fällen, welche als Opium¬
rauſch oder Fieberwahnſinn aufgeführt worden ſind. Hier,
wo das leibliche Krankſein ſo durchaus vorherrſchend iſt,
laſſen ſich mit mehr Deutlichkeit die Momente unterſcheiden,
welche das Schwinden jener Umnachtungen des Geiſtes be¬
dingen. Deutlicher erkennt man die Perioden, in welchen
die Krankheit ſich zurückzieht und abklingt, und im ſelben
Maße tritt auch das Licht des Geiſtes wieder hervor. Immer
wird indeß im Weſentlichen die Geſchichte der Geneſung
vom jahrelang dauernden Wahnſinn durchaus keine andere
ſein, als die Geneſung von jenen acuten Fällen, nur daß
hier in Monaten vorgeht, was dort in Tagen verläuft.


[459]

Als einen dritten möglichen Ausgang der Krankheits¬
erſcheinungen am Geiſte iſt endlich des Ueberganges in
andere Krankheiten zu gedenken. Es iſt dies ein reiner
Metaſchematismus. Wie es der Arzt oftmals beobachtet,
daß etwa ein Aſthma ſich verliert, wenn Gicht in den Ge¬
lenken auftritt, oder, wie manche andere chroniſche Leiden
ſchwinden, wenn ein Fieber ausbricht, ſo kann auch gar
wohl eine Krankheit, welche die Organe des Denkens mit
belaſtete, dergeſtalt in ihrer Form ſich ändern, daß nun
andere Provinzen des Lebens der Sitz des Leidens werden,
und wirklich beobachtet man auf dieſe Weiſe ebenfalls, daß
Formänderungen des Krankſeins hervortreten, wo z. B.
Hautentzündungen, Gelenkgicht, Blutausſonderungen u. ſ. w.,
plötzlich die Befangenheit des Geiſtes löſen und ihn wieder
in ſeiner Integrität wirken laſſen, obwohl das unbewußte
Leben nichts deſto weniger immerfort im Ganzen krank bleibt.
Man ſieht demnach, daß dieſer Ausgang des Krankſeins,
welcher bei Wahnſinnigen gar nicht ſelten beobachtet wird,
pſychologiſch eigentlich keine neue Seite des Zuſtandes ent¬
hüllt, daß er vielmehr ebenfalls nur darauf zurückdeutet,
daß alle Krankheitserſcheinung am Geiſte im Unbewußten
wurzelt, und daß ſomit dieſe Vorgänge in praktiſcher Be¬
ziehung mehr für den Arzt als für den Pſychologen ein
beſonderes Studium verdienen.


Jetzt, nach allen vorhergegangenen Betrachtungen, wird
ſich auch von ſelbſt herausheben, was über die mögliche
Heilung
des Wahnſinns hier zu ſagen wäre. Die wich¬
tigſte Frage, welche die Irrenärzte vielfach beſchäftigt hat
und welche nie zu einer rechten Entſcheidung gelangen konnte,
ſo lange das eigentliche Verhältniß dieſer Zuſtände ſelbſt
unklar geblieben war, iſt: „ob die Heilung durch directe
Einwirkung auf das Bewußtſein, oder ob ſie durch Ein¬
wirkung auf das Unbewußte zu erzielen ſei?“ Das erſtere
Verfahren nannte man das rein pſychiſche, und es ſollte
ſich auf eine Art von Pädagogik beſchränken, das andere
[460] war das rein mediciniſche und begriff eine ärztliche Be¬
handlung, wie in allen andern Krankheiten. Wer uns nun
in den vorausgeſchickten Unterſuchungen mit Aufmerkſamkeit
gefolgt iſt, dem wird hierüber die Entſcheidung nicht ſchwer
werden. Wie ſchon oben bemerkt wurde, die reinſten und
ſchärfſten wiſſenſchaftlichen Deductionen von der Irrigkeit,
der in ſolchen Zuſtänden verfolgten Gedankenzüge, fruchten
dem Wahnſinnigen gar nicht; man kann einem Wahn¬
ſinnigen mit den beſten Gründen von ſeinem Wahnſinn
überzeugen wollen, und er wird nie ſich überzeugen laſſen,
denn er iſt wirklich in ſeiner Art im Recht, er kann nur
ſo, wie er thut, argumentiren, und auch dieſes beſtätigt
das ſo viel weniger abſolut Feſte der Erkenntniß, wovon
ſchon bei der Geſchichte der Erkenntniß die Rede war.
Eben ſo muß daher auch in dieſen Fällen alles Apoſtrophiren
des Gewiſſens vergebens bleiben, weil eben wirklich ein
Fremdartiges, ein im Unbewußten Begründetes, den Geiſt
gefeſſelt hält und ihn in eine andere Richtung gewaltſam
drängt. So wird es denn alſo klar, daß die erſte und
weſentliche Aufgabe ſolcher Heilung dem Arzte immer ſein
müſſe, in die Myſterien des unbewußten Lebens des Kranken
möglichſt tief einzudringen, ſich klar zu machen, in welchen
Richtungen das eigenthümliche dort entwickelte Leben der
Krankheit, ſeine, gleich einem unheimlichen Geſpinſt, das
Geſunde umſtrickenden Fäden gezogen hat, und nun bemüht
zu ſein, dieſe Fäden zu löſen und dieſem Fremden auf die
geeignete Weiſe entgegen zu wirken. Wie dann der Fieber¬
wahnſinn ſchwindet, wenn das Fieber ſelbſt unter zweck¬
mäßiger Heilswirkung gehoben iſt, wie die confuſen Ge¬
danken des Opiumrauſches ſich verlieren, wenn durch ge¬
eignete Gegenmittel die Einwirkung des Giftes neutraliſirt
war, ſo verlieren ſich chroniſche Geiſtesſtörungen oftmals
ſogleich, wenn die ſie bedingenden Stockungen des Pfort¬
aderſyſtems, Entmiſchungen des Blutes oder Hemmungen
gewohnter Ausſonderungen gehoben ſind. Freilich iſt es in
[461] vielen Fällen unendlich ſchwer, die feinen Fäden aufzufin¬
den, an welche die erſten Krankheitskeime ſich knüpfen, ja,
wenn ſie gefunden wären, liegen ſie oft in ſolchen Tiefen
der Organiſation, wohin direct die Heilwirkungen des Arztes
nicht reichen, und endlich in noch viel andern Fällen ſind
in dem Organe des Denkens ſelbſt Verbildungen einge¬
treten, welche auf keine Weiſe mehr ſich beſeitigen laſſen;
Urſachen genug, welche begreiflich machen, warum jene un¬
glücklichen Zuſtände ſo oft der Bemühungen des Arztes
ſpotten. Daß indeß nichts deſto weniger auch eine fortge¬
ſetzte Einwirkung auf das Bewußtſein beitragen kann, die
Heilung zu fördern, iſt ſehr natürlich und unſchwer zu
verſtehen. Wie etwa ein Inſtrument durch einen unerfahre¬
nen Spieler, der bald hie, bald da einen Ton greift,
welcher unharmoniſch zum andern klingt und die andern
Saiten unpaſſend erſchüttert, leicht verſtimmt wird, ſo kann
auch ein ungeordnetes hin- und herſchweifendes Denken,
indem es nachtheilig auch auf das an ſich unbewußte Hirn¬
leben wirkt, Gelegenheit zum Wahnſinn geben; eben de߬
halb muß aber auch ein Anhalten des irren Geiſtes, in
ſo weit
er es irgend vermag, geordnet zu denken,
wohlthuend und heilend einwirken, und ſo wird gewiß Alles,
was ein geregeltes Denken, Fühlen und Wollen der Irren
fördert, als ein weſentliches Moment zur Erleichterung der
Heilung wirken, wenn es auch niemals an und für ſich
die Heilung zu bewirken vermag. Das kann man jedoch
im Allgemeinen zugeben, daß, da die Ermittelung gerade
desjenigen Krankſeins im Unbewußten, welches ſeinen Re¬
flex auf das Bewußtſein fallen läßt, ſo ſchwer iſt, oftmals
auch gerade dahin ſchwer die ärztlichen Hilfsmittel reichen,
es kaum einem Zweifel unterliegen möge, daß im Ganzen
weit mehr Heilungen irrer und überhaupt noch heilbarer
Zuſtände durch die Natur allein, d. h. nur durch das
heilſame, immer ſtill zur Norm hinweiſende Streben des
Unbewußten, als durch die Kunſt bewirkt werden, und daß
[462] deßhalb allerdings in vielen Fällen die Anordnung eines
auf das bewußte Leben ſich beziehenden, vollkommen ange¬
meſſenen Regimens, eines der weſentlichſten Geſchäfte des
Arztes bleiben werde. — Doch es ſei genug dieſer Betrach¬
tungen, deren weitere Verfolgung ganz auf den Boden der
pſychiſchen Heilkunde gehören. Das eigentliche „Organon
dieſer Lehren ſcheint mir hiemit gegeben. Wichtig dagegen
iſt es, daß wir uns hier noch deutlich machen, in welchem
Verhältniß dieſe Krankheiten zur innerſten Fort¬
entwicklung der Seele
ſich befinden.


In dem Abſchnitte dieſer Schrift, in welchem wir die
wichtige Frage von dem Wachsthume der Seele in Er¬
wägung genommen hatten, waren wir zu dem inhaltſchweren
Reſultate gekommen, daß nur durch das Hervortreten des
Bewußtſeins in der Seele, d. h. alſo nur von der Er¬
ſcheinung des Geiſtes an, ein Wachsthum oder auch ein
Rückſchreiten der Grundidee unſers Daſeins möglich werde.
Wie weſentlich nachtheilig daher jedes Verhältniß, welches
eine freie Entwicklung und Fortbildung des Geiſtes un¬
möglich macht, oder mindeſtens für längere Zeit bedeutend
erſchwert und aufhält, auf das Wachsthum jener myſterioſen
Monas, in welcher wir die Grundbedingung jeder Seelen¬
regung anzuerkennen haben, einwirken müſſe, geht hieraus
ohne Weiteres hervor. In den Zuſtänden, welche insge¬
mein Seelenſtörungen oder Geiſteskrankheiten genannt worden
ſind, iſt der freie Wille, das freie Denken, die eigentliche
freie That des Geiſtes nicht mehr möglich, und ſo treiben
ſich denn Vorſtellungen und Gedanken, Gefühle und Be¬
gehrungen immer in einem und demſelben Kreiſe herum.
Der Grund, warum dieſe Freiheit nicht mehr möglich iſt,
liegt darin, daß das bewußte Seelenleben gleichſam im
Banne gehalten wird von einem Reflex, den das Unbe¬
wußte auf den Geiſt geworfen hat; daß aber dem ſo iſt,
daß ein Fremdartiges, nicht eine aus dem bewußten
Geiſte ſelbſt hervorgetretene Idee es iſt, welche dieſen Bann
[463] über alle Strahlen des Geiſtes gelegt hat, iſt von dem
weſentlichſten Einfluſſe auf das Ergebniß, welches eine Krank¬
heit dieſer Art für den Zuſtand der innerſten Monas der
Seele haben muß, ein Ergebniß, welches in ſeiner Eigen¬
thümlichkeit um ſo deutlicher hervortritt, wenn wir es mit
dem Ergebniß der bloß leiblichen Krankheit, oder mit den
freien Abirrungen des Geiſtes, welche man figürlich mora¬
liſche Krankheiten nennt, vergleichen wollen. In den letztern
beiden geht nämlich eine eigenthümliche Entwicklung aus
dem Innern der Seele ſelbſt frei hervor, ein gewiſſes, wenn
auch abnormes Streben, wird doch in ſeiner eigenthümlichen
Weiſe ſtark und entſchieden durchgeführt, und die Folge iſt,
daß, wenn ein ſolcher Zuſtand endlich abgelaufen und be¬
ſchloſſen iſt, die Seele ſich hier in ihrem bewußten, dort in
ihrem unbewußten Leben gereinigt, erfriſcht und gekräftigt
fühlt. Wie oft ſehen wir, daß nach einer regelmäßig ver¬
laufenen, wenn auch ſehr heftigen, fieberhaften Krankheit
der Menſch gleichſam verjüngt und neu gekräftigt erſcheint,
daß kleine oder auch größere Abnormitäten, mit welchen
ſein Organismus vielleicht lange ſchon beſchwert war, nach
einem ſolchen Sturme ſich vollſtändig verlieren, ſo daß man
in Wahrheit ſagen kann, die Krankheit habe die Geſundheit
erhöht. Eben ſo iſt es ein altes Wort, daß „ein Sünder,
der Buße thut, mehr werth ſei, als viele Gerechte“, d. h.
daß irgend ein noch ſo ſchwerer Irrthum, oder das Ver¬
lieren in ein noch ſo verwerfliches Thun, wenn die innere
Magnetnadel zu ihrem rechten Meridian zurückkehrt, und
das abnorme Treiben wirklich aus wiedergewonnenem, reinem
Bewußtſein abgeworfen worden iſt, eben dadurch zugleich
die Energie des innerſten Seins kräftigt und ein wahres
Wachsthum der Seele fördert. Gleiche Bedeutung hat daher
auch das Wort Göthe's: „Der Irrthum verhält ſich gegen
das Wahre, wie der Schlaf gegen das Wachen. Ich habe
bemerkt, daß man aus dem Irren ſich wie erquickt wieder
zu dem Wahren hinwende.“ — Dergleichen Läuterung und
[464] Erfriſchung liegt nun aber keinesweges in dem unſeeligen,
zwitterhaften Zuſtande der Geiſteskrankheit. Eben ſo wie
dies ſchon an der ſchnellſt vorübergehenden, acuteſten Geiſtes¬
ſtörung, welche wir „Rauſch“ nennen, zu gewahren iſt, daß
ſie, weit entfernt, den Geiſt höher und gekräftigt zurückzu¬
laſſen, vielmehr einen dumpfern, benommenen Zuſtand zu
hinterlaſſen pflegt, ſo gilt dies auch von den längern,
chroniſchen, ſogenannten Geiſteskrankheiten, und wir erken¬
nen daraus, daß ſie dem Wachsthum der Idee an und
für ſich durchaus feindlich ſich verhalten. Bleibt doch de߬
halb gewöhnlich bei Perſonen, welche längere Zeit geiſtes¬
krank waren, auch dann, wenn man ſie als hergeſtellt be¬
trachten darf, ein gewiſſer Beiſchmack ihres einſtigen kranken
Zuſtandes übrig, und ob nicht bei der fürchterlichſten dieſer
Krankheiten, bei dem vollkommenen Blödſinn, nach und
nach jenes ſchreckliche Sinken in der Energie der Idee ſelbſt
eintreten muß, welches wir bei dem moraliſchen Verwerfen
als eine Tiefe bezeichnet haben, von wo keine Erhebung
mehr möglich iſt (nulla redemtio ex infernis), wer will
dafür Bürge ſein! — Tröſtlich in dieſer Beziehung muß
es deßhalb ſein, was wir über die eigenthümliche Gewalt
eines höher entwickelten Geiſtes in den frühern Betrach¬
tungen erkannt haben, theils nämlich, daß er auf einer ge¬
wiſſen Höhe des Bewußtſeins von der Macht des Unbe¬
wußten insgeſammt und insbeſondere des Erkrankten, mehr
und mehr frei werde, und theils, daß überhaupt eine ge¬
wiſſe Höhe im Wachsthum der Energie der Idee ein ein¬
tretendes Sinken eben ſo unmöglich macht, als es in einer
gewiſſen Tiefe das erneute Aufſteigen ſein kann. Und an
dieſen Normen mag es denn genügen, um ſich im Einzelnen
über den Einfluß der Geiſteskrankheiten auf das Wachsthum
der Idee, die weiteren Betrachtungen ſelbſt zu entwickeln.

[[465]]

III.VonDem, was imUnbewußten undBewußten
der Seele vergänglich und was darin ewig iſt.

Von allen Fragen, die auf dem Gebiet der Seelen¬
kunde aufgeworfen worden ſind, hat keine mehr die Forſcher
beſchäftigt, ja die Menſchheit bewegt, als die über das
Ewige der Seele. Eine Ahnung, ein gewiſſes Glauben,
daß hier irgend ein Ewiges wirklich vorhanden ſei, wurzelt
tief in der Menſchheit, aber bei allem Glauben daran blieb
doch die Sehnſucht nach entſchiedener Gewi߬
heit
ungeſtillt, und die Vorſtellungen davon ſpiegelten
eigentlich immer nur den jedesmaligen Bildungszuſtand der
Individuen zurück. Faſt, ſo wie wir ſagen dürfen, daß
der Menſch vielfältigſt ſich ſeinen Gott nach ſeinem Bilde
erſchuf, ſo erſchuf er ſich die Vorſtellung von der Ewigkeit
ſeiner Seele je nach der Entwicklung ſeines Geiſtes. Von
den roheſten maſſivſten Vorſtellungen der Zuſtände, in wel¬
chen alle Aeußerlichkeiten der Seele dauernd erhalten wer¬
den ſollten, bis zu der ſublimſten Verfeinerung, ja faſt
Verflüchtigung jedes eigenthümlichen ſeeliſchen Daſeins in
der Ewigkeit, irrten die Gedanken der Menſchen ruhelos
von einer Vorſtellungsweiſe zur andern. Jedenfalls müſſen
wir, ſoll dem Gegenſtande das Mögliche abgewonnen wer¬
den, vor allen Dingen feſtzuſtellen ſuchen, welches der Be¬
griff des Ewigen überhaupt ſei und was wir unter dem
Ausdrucke „Ewigkeit“ zu verſtehen haben. Es iſt nicht un¬
Carus, Pſyche. 30[466] wichtig dabei das Wort ſelbſt zuerſt nach ſeiner Entſtehung
und nach ſeiner Wurzel zu beachten. Das Stammwort
aber iſt Ewa1 und merkwürdigerweiſe ſchließt ſchon dieſes
neben dem Begriff einer unendlichen Dauer, den Begriff
des „Geſetzes“ (daher auch das Wort Ehe) mit ein. Schon
durch dieſe Sprachform werden wir alſo darauf geführt an¬
zuerkennen, daß „ewig“ nur ausgeſagt werden könne von
dem, was gleich dem Begriffe des Geſetzes, nicht ſowohl
eine reale ſinnlich erſcheinende Exiſtenz hat, ſondern von
dem, was ein Gedankenhaftes — ein Abſtraktes iſt. Wei¬
ter nachdenkend, finden wir denn auch wirklich bald, daß
Alles, was da wird, d. h. auf irgend eine Weiſe anhebt,
entſteht, ſich ſeinem Weſen nach umbilden und ändern kann,
und deßhalb nur in einem durch die Zeit bedingten Daſein
erſcheint, als ſolches auch nicht ein Ewiges, ſondern nur
ein Zeitliches genannt werden darf. Wir kommen daher
auf dieſe Weiſe zu der Erkenntniß der Wahrheit, daß über¬
haupt nicht das, was da „wird“, ſondern nur das, was
da wahrhaft „iſt“, auf das Prädicat der Ewigkeit Anſpruch
machen darf.


Was da alſo wirklich „iſt“, was der ſtäten abſolut
ruheloſen Flucht von Vergangenheit und Zukunft, in
welcher alles ſogenannte Wirkliche eingeſchloſſen iſt, ſich
völlig entzieht und in einer wahren und unendlichen Ge¬
genwart verharrt, nur von dem können wir ausſagen, es
ſei ewig. — Ewig in dieſem Sinne iſt ſonach nur zuerſt
das höchſte göttliche Myſterium ſelbſt, und ewig in ſo fern
ſind die Ausſtrahlungen dieſes Myſteriums, die Ideen und
das Werden an ſich, d. h. die unendlichen ſtätigen Offen¬
barungen der Idee im Aether oder das Werdende ſchlechthin
und im Allgemeinen. Alles, was dagegen im Beſondern
wird, was in irgend einer Weiſe erſt in der Zeit entſteht,
nur in ihr ein Wirkliches, Anderes werden kann, trägt
auch eben deßhalb das Siegel der Vergänglichkeit an ſich.


[467]

Nachdem wir ſolchergeſtalt erkannt haben, was über¬
haupt Ewigſein heißt, und worin das Ewige vom Ver¬
gänglichen ſich unterſcheidet, mögen wir nun auch wagen
näher zu unterſuchen, was ewig ſei in der menſchlichen
Seele. In allen vorausgehenden Betrachtungen iſt es uns
aber klar geworden, daß der weſentliche Grund der Seele
ein göttliches Urbild ihres Seins von allem ihrem Sein —
eine Idee — genannt werden mußte. Daß alſo die Seele,
in wie fern und in ſo weit ſie eben ein ſolches göttliches
Urbild ſei, ewig ſein müſſe, iſt alſobald klar: denn das
einfachſte Nachdenken zeigt uns, daß auf eine Idee — ſie
ſei nun eine der höchſten oder eine der geringſten, der Be¬
griff der Zeit gar keine Anwendung finde. Man gedenke
nur etwa die Idee, oder, wie man es dort zu nennen
pflegt, — des Geſetzes einer mathematiſchen Geſtaltung —
z. B. der Idee des Dreiecks, und es wird ſogleich deutlich,
daß, obwohl alle nur irgend mögliche und wirklich gewor¬
dene Dreiecke nothwendig vergänglich ſein müſſen, die Idee,
das Geſetz dieſer Geſtaltung, ſchlechterdings mit der Ver¬
gänglichkeit, mit der Zeit überhaupt, nichts zu thun habe,
daß ſie ewig ſei. Nun iſt aber die ſich in einem Men¬
ſchen darlebende Seele, wie alles Frühere gezeigt hat, kei¬
nesweges bloß irgend eine allgemeine Idee gleich der
Idee, oder dem Geſetze, einer einfachen mathematiſchen
Geſtaltung, ſondern ſie iſt allemal die Idee gerade die¬
ſer beſondern und ſchlechterdings eigenthüm¬
lichen Perſönlichkeit
, denn alles Zufällige und Aeu¬
ßerliche des Lebens mag zwar wohl an der weitern Aus¬
bildung ſolcher Perſönlichkeit Theil haben, aber geſchaffen
kann doch dieſelbe zuhöchſt nur werden durch die gerade ſo,
und nur ſo, im höchſten göttlichen Myſterium gedachte Idee.
Hieraus folgt ſodann ohne Weiteres, daß die Grund¬
idee einer menſchlichen Seele nicht bloß ewig iſt
als Idee ſchlechthin
, ſondern daß in Obigem
zugleich die Urſache des Ewigſeins des Weſens
[468] gerade dieſer beſondern
, von allen anderen
Seelen verſchiedenen Seele gegeben ſei
.


Daß ſonach das Prädikat der Ewigkeit zukomme dem
innerſten Weſen der Seele, und nicht zwar dieſem Weſen
bloß als einem ſeel- und charakterloſen göttlichen Urbilde
des Menſchen überhaupt, ſondern gerade als dem
Urbilde dieſer beſondern menſchlichen Individualität, kann
ſofort irgend einem Zweifel nicht mehr unterworfen ſein.
Bevor wir aber ſodann weiter nachdenken, wie es ſich mit
dem Vergänglichen in der Seele verhalte, und in welcher
Beziehung nun dieſes zu dem Ewigen ſtehe, müſſen wir
auf einen Gegenſtand näher eingehen, welcher in Phi¬
loſophie und Pſychologie bisher ganz übergangen worden
iſt, und welcher doch gerade hier einer ausführlichen
Würdigung bedarf, weil erſt auf dieſem Grunde ſich die
Frage nach dem Verhältniſſe des Vergänglichen zum Ewi¬
gen wahrhaft wird beantworten laſſen. Dieſer Gegenſtand
iſt aber der weſentliche Unterſchied, welcher in dem tiefer
denkenden Geiſte nothwendig aufgehen muß zwiſchen zwei
großen unendlichen Reihen göttlicher Ideen überhaupt. —
Da wo von Wachsthum unſerer Seele die Rede war, iſt
nämlich ſchon ausführlich gezeigt worden, daß im innerſten
Weſen der höhern zum Bewußtſein beſtimmten und zum
Bewußtſein gelangenden Seele, d. h. in der ihr Sein be¬
dingenden göttlichen Idee, durchaus kein immerfort ewig
ſich-ſelbſt-gleich-ſein, ſondern, ſobald ihr freies Bewußtſein
ſich entwickelt hat, ein ſtätes Fortſchreiten, eine gewiſſe
ſtätige Bewegung, ein von ihrer Freiheit unzertrennliches,
entweder ſich dem Ur-Göttlichen näherndes oder ſich von
ihm entfernendes Regen Statt finde und Statt finden müſſe.
Eben ſo beſtimmt läßt uns aber der Geiſt erkennen, daß
unendliche andere Ideen ſind und in der Welt fort und
fort ſich bethätigen, von denen dieſe Regung, dieſes Frei¬
ſein, dieſes Fortſchreiten nicht ausgeſagt werden kann,
welche, ſo unendliche Male ſie ſich offenbaren, d. h. in der
[469] Wirklichkeit der Welt ſich darleben, immer nur als die¬
ſelben
ſich kund geben, welche dadurch ein Gebundenſein
erkennen laſſen, und dem Reiche der Nothwendigkeit ange¬
hören. Alles, was wir als Idee, oder Geſetz regelmäßiger
Geſtaltung erkennen, und alle Ideen, welche das Werden
unendlicher lebenden und doch nie zum Bewußtſein gelan¬
genden Geſchöpfe bedingen, gehören hieher.


Dieſen Unterſchied ſich vollkommen deutlich zu machen,
iſt nun in aller Beziehung wichtig, ganz beſonders aber
dann, wenn es ſich von Beſtimmung deſſen handelt, was
im bewußten Geiſte als ewig anerkannt werden muß. 1
Wir dürfen es ausſprechen: alles in unendlichen Reihen
fort und fort ſich Offenbaren bewußtloſer Ideen kann, da
ſie nie ihrer ſelbſt inne werden, nie zum Schauen ihres
eigenen Weſens geführt werden, auch ihnen ſelbſt auf keine
Weiſe zu Gute kommen, nichts an ihrem ewigen Sein
ändern, oder, wie man es auch ausdrücken darf, von ihrem
ſich Darleben wird nie ein beſonderes ſich Verewigendes
zurückbleiben. All das unendliche ſich immer wieder Offen¬
baren bewußtloſer Ideen wird deßhalb nie für ſie ſelbſt,
[470] ſondern nur für das höchſte ewige Myſterium Gottes, d. h.
für deſſen Willen ſich ſelbſt immer in ewiger „Werdeluſt“ 1 zu
bethätigen, eine Bedeutung haben, und wir erkennen ſomit,
was ſchon früher mehrfach ausgeſprochen wurde, daß das Reich
der Nothwendigkeit an und für ſich eine Fortſchreitung, eine
innere Steigerung oder Minderung ſeiner göttlichen Energie
nie und nirgends zulaſſe. Ganz vergeblich wäre es alſo,
von irgend einer der an die Nothwendigkeit gewieſenen
Ideen — (heben wir nun an von denen, welche bloß als
Geſetze mathematiſcher Geſtaltung erſcheinen, bis zu denen,
welche ſich in den unendlichen Arten bewußtloſer Geſchöpfe
lebend offenbaren) eine Fortbildung, ein Anderswerden, ein
ſich Weiterbeſtimmen denken zu wollen; mit unerſchütterlicher
Feſtigkeit in alle Ewigkeit hinaus, bleibt hier Alles ſich
ſelbſt gleich; nie in der unendlichſten Zeit oder in den ver¬
ſchiedenſten Formen und Offenbarungen des Daſeins wird
das Grundgeſetz einer Geſtaltung, das Weſen irgend eines
bewußtloſen Geſchöpfs anders werden; der Begriff der
Freiheit iſt in dieſen Regionen unbekannt. Anders dagegen
iſt es mit denjenigen Ideen, deren Bedeutung es iſt, ſich
ſelbſt gewahr zu werden, das Selbſtbewußtſein zu erreichen,
ſich ſelbſt gleichſam ſo noch einmal zu erſchaffen, und der¬
geſtalt einer mehreren oder minderen Entwicklung des We¬
ſens ihrer eigenen Göttlichkeit fähig zu ſein. — Auch eine
Idee dieſer Art wird ihr eigenes ewiges Weſen unendliche
Male darzuleben, ihrer eigenen innern göttlichen Werdeluſt
nach, beſtrebt ſein; auch ſie ſchließt als ein Höheres etwas
von dem Niederen, d. h. etwas von der Nothwendigkeit
und dem Gebundenſein der ewig im Unbewußtſein verhar¬
renden Ideen mit ein, und ihr anfängliches ſich Darleben
erſcheint auch abermals nur als ein Unbewußtes, aber als
[471] ein Unbewußtes, welches bei jedem neu ſich Darleben, wie
wir früher zeigten „prometheïſch“ das Bewußtſein vor¬
ahnet
, indem es die Bedingungen der Spiegelung, aus
welcher das Bewußtſein hervorgeht, und mittels welcher
die Seele zum Geiſt ſich entwickeln ſoll, mit Sicherheit er¬
ſchafft. Erſt alſo, wenn in einer Lebensoffenbarung ſolcher
Idee jene Bedingungen vollſtändig erfüllt ſind, wenn mit
dem erſten Gedanken das Weſen des Geiſtes ſich offenbart
und der Geiſt, in immer vollkommenerem ſich ſelbſt Klar¬
werden, auch immer entſchiedener wieder die ewige Gegen¬
wart ſeines Weſens erfaßt, tritt nun auch die weſentliche
Eigenthümlichkeit derſelben, die Freiheit hervor, und erſt
als freies Weſen vermag ſie ſich nun in ihrer Göttlichkeit
zu ſteigern oder in derſelben zu ſinken.


Wenn alſo die in ſich ewige Idee eines bewußtloſen,
nie zum Bewußtſein beſtimmten und gelangenden Weſens,
mag ſie nun durch allgemeine Werdeluſt alles Göttlichen
getrieben, noch ſo vielfältig lebend ſich offenbaren, nie
zum Schauen ihrer ſelbſt, nie zum eigentlichen Gewahr¬
werden der Ewigkeit ihres Weſens gelangt, ſo wird man
auch erkennen müſſen, daß an ihr und in allen ihren mög¬
lichen Lebensformen ſchlechterdings nichts ewig ſei als eben
ſie ſelbſt, als ein an-ſich-Seiendes. Alles was ſie
in ihrem ſich Darleben erfährt, oder vielmehr (da „erfah¬
ren“ ſchon ein Wiſſen von ſich vorausſetzt) unbewußt er¬
lebt, geht im Fluge zwiſchen Vergangenheit und Zukunft
vorüber und ſie ſelbſt iſt mit eiſerner Nothwendigkeit ewig
unverändert dieſelbe. — Gerade hierin liegt es auch, daß
die Vorſtellung einer Welt ohne bewußte, zum geiſtigen
Da-ſein und Frei-ſein erhobene Weſen, ſolch ein grauen¬
voller Gedanke iſt, und darin denken wir die Nothwendig¬
keit für das höchſte Myſterium ſelbſt begründet, freie, zum
Schauen des Ewigen berufene höhere Weſen zu ſchaffen.
Ja, man könnte in gewiſſem Sinne ſagen: die Welt ſelbſt
wird erſt eine Welt, indem ſie ſich in geiſtiger Freiheit
[472] eines Ewigen ſpiegelt, etwa ſo wie man ſagen kann: das
Licht entſteht erſt dadurch, daß ein Auge da iſt, welches es
als Licht empfindet; oder, ſchärfer ausgedrückt: nicht die
Sonne iſt's, die die Welt erleuchtet, ſondern das Auge!
Haben wir nun im Vorhergehenden auf den großen und
weſentlichen Unterſchied hingewieſen, welchen wir anzuer¬
kennen haben zwiſchen unendlichen, der Gebundenheit und
Bewußtloſigkeit anheimfallenden, und unendlichen zur Frei¬
heit und eigenem Bewußtſein beſtimmten Ideen, ſo wird
nun auch ein beiden unendlichen Reihen Gemeinſames
und Gleiches noch hervorgehoben werden müſſen, bevor wir
zu den Folgerungen uns wenden, welche für Erkenntniß
Deſſen, was in der Seele vergänglich oder ewig iſt, aus
Obigem gezogen werden dürfen. — Das Gemeinſame aber
für die Ideen beiderlei Art iſt: daß die einen wie die
andern
, alle in ſich ewig, alle aber auch der
Möglichkeit nach in unendlich vielfältiger Weiſe
zeitlich ſich zu offenbaren
, oder ſich darzuleben
beſtimmt und im Stande ſind
. — Demnach iſt alſo
nicht die Welt dergeſtalt entſtehend und ſeiend zu denken,
daß jeder einzelnen Offenbarung irgend einer Lebensform
auch allemal eine eigenthümliche und neue Idee zum Grunde
läge, und daß in jeder ſolcher erneuten Erſcheinung auch
eine neue wieder ins Unendliche ſich vervielfältigende Idee
aufträte, denn eine Vorſtellung dieſer Art, wo man die
Ideen mit jeder neuen Generation alles Werdenden aber¬
mals ſich vervielfältigend dächte, würde nicht minder ver¬
nunftwidrig ſein, als wenn man zu denken wollte wagen
eine Vervielfältigung der einen Gottheit, nur deßhalb,
weil ſie ſich ſelbſt in der Welt ſtets auf unendlich vielfältige
und immer neue Weiſe zur Erſcheinung bringt. — Zugleich
hieße es in Wahrheit die an ſich unläugbare Unendlichkeit
der Welt gleichſam zu einer vielfältigen Unendlichkeit
(d. h. zu einem Widerſpruche, denn vor irgend einer Viel¬
heit kann nur einmal ausgeſagt werden, ſie ſei un¬
[473] endlich) ſteigern, wenn man jeder neuen Lebensform als
Bedingung ihres Seins eine eigenthümliche, neue, und
doch ewige Idee andichten wollte. Von einem göttlichen
Urbilde kann niemals zugegeben werden, daß es an und
für ſich als ein neues aufträte, da es begreiflicherweiſe dem
Weſen des Ewigen widerſpricht, es irgend als ein früher
noch nicht Dageweſenes zu denken, als welches jede Idee
doch gedacht werden müßte, die erſt aus Theilung oder als
Vervielfältigung anderer Ideen entſtanden angenommen
würde. Mache man es ſich alſo hier nochmals recht deut¬
lich, daß nicht bloß zunächſt für alle bewußtlos ſich darle¬
benden, ſondern auch für die zur Freiheit des Bewußtſeins
beſtimmten Ideen das Beiſpiel gelte, welches wir oben
vom Geſetz einer mathematiſchen Geſtaltung hergenommen
hatten: daß nämlich, ſo wie das Geſetz des Dreiecks eines
und daſſelbe bleibt, obwohl unzählige Male immer und immer
wieder in der Wirklichkeit als zeitlich vergängliches Dreieck
dargeſtellt, ſo auch ſie, obwohl in ſich immer dem Weſen
nach dieſelben, doch in der Erſcheinung unendliche Male
ſich darzuleben vermögen.


Auf dieſe Weiſe alſo entſteht und vergeht und entſteht
immer wieder zunächſt die unendliche Mannichfaltigkeit der
im Unbewußtſein verharrenden Welt. Syſteme von Welt¬
körpern mit allen ihren unermeßlichen in der Nacht der
Bewußtloſigkeit verharrenden Geſchöpfen, wo immerfort Ge¬
neration an Generation ſich reiht, ſie zeigen nur eben ſo
viele wiederholte Offenbarungen von einen und denſelben
unendlichen in Gott gedachten Ideen, und wenn das Geſetz
einer Pflanzen- oder Thierform ins Unermeßliche immer
wieder in neuen Geſtaltungen ſich abbildet, ſo bleiben doch
die Urbilder in alle Ewigkeit dieſelben. Ganz auf dieſelbe
Weiſe iſt aber in dieſer Beziehung auch die unendliche Man¬
nichfaltigkeit in der Welt des bewußten Geiſtes zu denken!
Schon was wir früher erkannt haben von der Ewigkeit
jeder, nicht nur eine Seele ſchlechthin, ſondern jede einzelne
[474] Perſönlichkeit ihrem Weſen nach bedingenden Idee, macht
es begreiflich, daß eine ſolche, eben ihrer Ewigkeit nach,
nicht nur und allein in einem einzigen menſchlichen Daſein
ſich darleben könne, ſondern daß ſie für eine unendliche
Reihe von Daſeinsformen beſtimmt ſein müſſe. Die älte¬
ſten Anſchauungen der Menſchheit haben daher auch immer
etwas von dieſer Erkenntniß empfangen und in mannich¬
faltigen oft ſeltſamen Symbolen und Gleichniſſen wieder¬
gegeben; immer aber ſind es die altindiſchen Lehren von
der unendlichen Durchbildung der Seele durch unendliche
Daſeinsformen, welche in dieſer Beziehung, wie in vielen
andern höchſten Ergebniſſen der Philoſophie die Wahrheit
im durchſichtigſten Gewande gezeigt haben, und es iſt nicht
zu ſagen wie viel ſtoffartiger ſchon die Lehren griechiſcher
Philoſophen ſich geſtalten, welche die Ewigkeit der zur
Möglichkeit des Bewußtſeins beſtimmten Ideen in dem Ge¬
danken einer ſogenannten Seelenwanderung anſchaulich zu
machen verſuchten. Ueberhaupt wird man ſich bei der Er¬
wägung eines jeden ſolchen Verſuchs überzeugen, daß unſer
Geiſt zwar fähig iſt die Ewigkeit ſeines Weſens an und
für ſich zu erkennen, daß es aber durchaus vergeblich ſei,
von der Art und Weiſe wie die Grundidee unſerer Seele
und unſeres Geiſtes ſich ihrer Ewigkeit nach noch außer¬
halb der Gränzen des gegenwärtigen menſchlichen Daſeins
bethätigen könne, irgend eine beſondere und ausführlichere
Vorſtellung ſich erſchaffen zu wollen.


Nachdem wir alſo im Vorhergehenden dargeſtellt, was
überhaupt ewig und was vergänglich ſei, nachdem wir denn
erkannt hatten, daß die Grundidee gerade der eigenſten
Eigenthümlichkeit der Seele nothwendig als ewig zu denken
ſei, und nachdem wir aufmerkſam gemacht hatten auf den
ungeheuern Unterſchied, welcher beſteht zwiſchen der ewig
ſich ſelbſt gleichen, der Nothwendigkeit unterworfenen und
der zur Freiheit und Fortſchreitung beſtimmten Ideen, ſo
war denn ferner hervorzuheben geweſen, daß allerdings ein
[475] Gleichſein dieſer beiden Reihen in ſo fern beſtehe, als ſo¬
wohl die zum Bewußtſein beſtimmten, als die immerfort
im Unbewußtſein verharrenden Ideen, vermöge ihres ewigen
Weſens, immer von Neuem und unendliche Male ſich offen¬
baren können und müſſen. Alsdann erſt, alſo wenn alle
dieſe Gedanken ihrem ganzen Inhalt nach tief erfaßt und
verſtanden ſind, werden wir ſo weit ſein, anſtreben zu kön¬
nen die Löſung der Aufgabe von dem Vergänglichen und
dem Ewigen einer beſondern menſchlichen Seele, und wer¬
den befriedigende Ergebniſſe darüber zu hoffen berechtigt
ſein. Heften wir demnach mit möglichſter Schärfe unſer
geiſtiges Auge auf die Geſchichte unſers eigenen Seelen¬
lebens und erinnern wir uns zuerſt, daß auch die in un¬
ſerm Sein ſich darlebende Gottesidee nicht eine unter allen
Umſtänden von ſich wiſſende — allezeit ſelbſtbewußte iſt,
ſondern daß ſie in ſo fern zuerſt als ein Unbewußtes ſich
darlebt, als ſie, gemäß ihrem ewigen göttlichen Urbilde, das
zeitliche vergängliche Abbild des Leibes zunächſt bedingt und
hervorruft. — In ſo weit iſt ſie alſo zwar auch in Wahr¬
heit ein Ewiges, aber ein von ſeiner Ewigkeit nicht
Wiſſendes
. Würde daher die Entwicklung der Seele nur
bis zur Erſcheinung in dem embryoniſchen Leibe gelan¬
gen, in welchem die Bedingungen jener Selbſtſpiegelung,
aus welcher wunderbarer Weiſe das Selbſtbewußtſein her¬
vorgeht, noch nicht gegeben ſind, ſo ſtände ſie mit all jenen
immer ſich ſelbſt gleichen Wiederholungen des ſich Darle¬
bens göttlicher Ideen, aus deren Weſen die geſammte un¬
bewußte Welterſcheinung hervorgeht, ganz auf gleicher Stufe.
Das Gleichniß von der Idee des Dreiecks, welche unend¬
liche Male das Werden eines realen Dreiecks bedingt, das
zwar, wegen immer ſich ändernden Verhältniſſen der Er¬
ſcheinung, ſtets etwas anders als ein vorhergegangenes
ſein wird, dabei jedoch nie weſentlich aus dem Begriffe des
Dreiecks herausgehen kann, würde dann für die Offenba¬
rung des Weſens einer menſchlichen Seele in unendlichen
[476] menſchlichen Lebensformen eben ſo gut gelten, wie für die
Erſcheinung von Weltkörpern, Pflanzen und allen andern
bewußtloſen Geſchöpfen, d. h. es würden auch hier immer
nur endloſe vergängliche Abbilder eines und deſſelben ewigen,
aber von ſeiner Ewigkeit nicht wiſſenden Urbildes hervor¬
gehen.


Nun iſt aber das Verhältniß der ſich zeitlich darleben¬
den Idee des vollkommenen Menſchen nicht ſo, ſondern
höherer Art; ſie bedingt wirklich bei einer gewiſſen Reife
des Lebens jene Selbſtſpiegelung und ſomit jenes Selbſt¬
bewußtſein, wo der Geiſt den Gedanken faſſen kann: „mein
Weſen iſt ewig
“. Mit dieſem Gedanken tritt er denn
auch auf einmal heraus aus der Flucht von Vergangenheit
und Zukunft, in welcher alle andern Kreaturen eingezwängt
ſind, und umfaßt in ſich ein Beharrendes — eine Gegen¬
wart. Daß nun ein ſolches Gelangen zu einer innern
höhern Gegenwart, zugleich ein wahrhaftes Rückkehren zum
Ewigen, eine beſondere Intuition des Göttlichen, gleichſam
ein erneutes Einleben in das Göttliche ſei (ein Inluiare wie
Dante mit einem neugemachten Worte ſehr ſchön ſagt) und
daß eben deßhalb hierin die Energie der Idee zunehmen
müſſe, davon iſt bei der Lehre von dem Wachsthum der
Seele bereits ausführlich die Rede geweſen; jetzt haben wir
nur darüber uns zu faſſen, welchen beſondern Einfluß und
welche eigenthümliche Aenderung dieſes Erwachen des Be¬
wußtſeins in dem Ewigſein der Seele zu erzeugen im Stande
ſei. Wenn wir aber daran feſthalten, daß Alles, was da
wird vergänglich und zeitlich, Alles was wahrhaft da iſt,
ewig und unvergänglich ſei, ſo finden wir allerdings zu¬
nächſt, daß alle und jede beſondere Offenbarungen der ſo¬
wohl unbewußten als zum Bewußtſein gelangten Grundidee
unſers Weſens, ſei dieſe Offenbarung nun geſchehen in der
unbewußt gewordenen Geſtaltung des Leibes, oder in ge¬
wiſſen beſondern, allemal an beſtimmte Formen der Leiblich¬
keit geknüpften Vorſtellungen der Seele, ſie mögen Namen
[477] haben, welche ſie wollen, ſie mögen als Sinneseindrücke
und deren Erinnerung, als Klang- oder Zeichenerinnerun¬
gen (Worte), in denen wir denken, als beſondere Reflexe
des Unbewußten auf das Bewußte (Gefühle), oder als
beſondere Beſtimmungen zur Wirkung gegen Aeußeres (Wil¬
lensregungen) vorkommen, ſie alle, wie ſie in der Zeit
werden, ſie können als ſolche nicht ewig ſein. Scheinbar
erbarmungslos entblättert ſomit das höchſte Schauen der
Seele im Geiſt die Seele ſelbſt allerdings eines gewiſſen
Reichthums, einer ungeheuern Mannichfaltigkeit, welche
eben ſo oft zum Glück als zum Schmerz des Lebens gereichte.
Die Seele ſagt ſich ſelbſt: Alles und Jedes, was Du denkſt,
wie Du denkſt, was Du fühlſt, wie Du es fühlſt, was
Du lebſt und als was Du erſcheinſt, iſt nur eine zeit¬
weilige Offenbarung
und kann auf ewige Dauer
eben ſo wenig Anſpruch machen, als es von jeher war.
Haben doch ſchon die frühern Betrachtungen über das Be¬
dingtſein des Bewußten durch das Unbewußte gezeigt, wie
genau an die ſo ganz vergängliche Bildung und Inner¬
vationsſtrömung des Gehirns alle beſondern Vorſtellungen
des Geiſtes geknüpft ſind. Wenn nun aber den Geiſt ſelbſt
über dieſe Erkenntniß zuerſt ein gewiſſer Schauer ergreifen
will, und wenn wir uns zunächſt einer gewiſſen Trauer
nicht erwehren können über ſo unendlich Vieles was der
Vergänglichkeit anheimfällt, und über ſo Vieles, an dem
wir gerade im Leben unſere Entwicklung herangebildet
empfanden, ſo wird dagegen entſchieden ein Troſt, eine
Beruhigung darin gefunden werden, einmal, daß wir aus
der Geſchichte des Lebens ſelbſt die Ueberzeugung entnehmen,
es habe Alles, was uns entſtand im Daſein, Fühlen, Denken
und Wollen — nur erſt dadurch entſtehen können, daß ein
anderes Daſein, Fühlen, Denken, Wollen, vorher da war,
und daß dieſes Vorhergegangene auch als Zeitliches unterging,
es ſei alſo von jeher doch wieder eben dieſes Untergehen,
dieſer Verluſt, dieſes raſtloſe Zerſtörtwerden, gerade die
[478] Bedingung eines jeden neuen Gewinnes, jeder neuen Fort¬
bildung und Aufnahme geweſen, und es könne alſo nur
dadurch immer Neues Boden gewinnen, indem ihn das
Vorherdageweſene verliert; und in der Unendlichkeit der
Zeit könne nur auf dieſe Weiſe eine ſtäte, um mich ſo
auszudrücken, Verjüngung der Idee möglich werden. Ein
andermal iſt ſodann aber auch ſich gegenwärtig zu halten,
daß gerade der bewußte Geiſt, welcher allein den Schmerz
empfinden kann, um dieſe ſtäte Flucht des Vergänglichen
(denn alles Unbewußte iſt natürlich auch frei von allem
Schmerz um das ſtäte Vergehen ſeiner Erſcheinung) doch
auch eben er ſelbſt es iſt, der weſentlich die Einwirkung
dieſes Vergänglichen auf das An-ſich-ſein der Seele bedingt,
empfängt und bewahrt, und eben wieder dadurch gewiſſer¬
maßen dieſes Vergängliche, wenn auch nicht an und für
ſich, doch in ſeinen Folgen zu einem Ewigen erhebt.
Es iſt daher in dieſer Beziehung unerläßlich, ſich immer¬
fort an das zu erinnern, was früher über das Wachs¬
thum der Seele durch Lebensinnerung und Lebensäußerung
ſchon geſagt worden iſt; und wenn wir uns recht deutlich
machen wollen, in welchem Verhältniß das immerfort
Wechſelnde und durchaus Zeitliche unſers bewußten Seelen¬
lebens im Einzelnen, nach ſeinen mannichfachen Vorſtellun¬
gen, Gefühlen und Willensakten ſich befinde, zu dem tief
innerlichſt Bleibenden der Idee, ſo dürfen wir nur an
unſere eigene pſychiſche Entwicklung zurückdenken. Thun
wir das, ſo gewahren wir in unſerm Innern, daß Tau¬
ſende und Tauſende von Gefühlen, Vorſtellungen und
Willensakten aus unſerm Bewußtſein ſchlechterdings ent¬
ſchwunden ſind, welche in unſerm frühern Leben die
Mittel darſtellten, an denen unſere Seele allmählig heran¬
reifte, wir erkennen all jenes Einzelne deßhalb wahrhaft
verſchwunden, weil ſelbſt die unbewußt gewordenen Bildun¬
gen des Hirns, an welchen eine Zeitlang jenes Vergängliche
haftete, ſeitdem, im ſtäten Umſchwunge des Lebens, ſo
[479] ganz andere geworden waren. Nichts deſto weniger nun
iſt all dieſes Einzelne, ob zwar an ſich vergangen und
entſchwunden, doch auch wieder nicht ganz entſchwunden
und verloren, denn es hat uns in Wahrheit als einen
Andern
zurückgelaſſen, es hat, wie überhaupt an einer
vergänglichen Bildung des Unbewußten der erſte bewußte
Gedanke, und mit ihm der Geiſt ſich hervorhob, ſo auch
durch ſein Vergängliches, das Wachsthum des unvergäng¬
lichen An-ſich-ſeins der Idee geändert und gefördert, und
wir erhalten eben dadurch einen Beleg und ein Beiſpiel mehr,
wie etwas zugleich ein Vergängliches und doch zugleich
gewiſſermaßen ein Ewiges
ſein könne. Erkennen
wir aber dieſes an, von dem was wir zuvor als ein Zeit¬
liches und Vergängliches in unſerer Seele betrauert haben,
ſo wird zugleich dadurch, daß wir zur Ueberzeugung ge¬
langen, auch alle dieſe Flucht der Zeit bewege ſich auf
dem Grunde eines Ewigen, unzweifelhaft ein mächtiges
Gegengewicht gegen ſolchen Kummer gegeben.


Will man übrigens ſo ſchwierige Gegenſtände mit recht
geſammeltem Geiſte einer längern und ſchärfern Erwägung
unterwerfen, ſo kommt man wohl dahin, anzuerkennen,
daß namentlich die hier erörterte Ueberwirkung des Ver¬
gänglichen in das Ewige, eine Ueberwirkung, welche min¬
deſtens in ihren allgemeinſten Ergebniſſen (namentlich in ſo
weit ſie ſich innerhalb des Entwicklungsganges der Seele
ſelbſt anzeigte) ſich nie ganz verkennen laſſen konnte, von
jeher der wichtigſte Grund geweſen iſt dafür, daß zu aller
Zeit ein untrügliches tiefes Gefühl der Menſchheit, wenn
auch noch ſehr befangen in einer gewiſſen kindiſchen Unbe¬
holfenheit der Vorſtellungen, ſich nicht davon abbringen
ließ, auch den vergänglichſten Aeußerungen der Seele ein
gewiſſes Theil-haben an der Ewigkeit zu vindiciren. Glaubte
daher z. B. der nordamerikaniſche Wilde, ſelbſt die ver¬
gängliche Geſtaltung des Körpers, die doch im Leben ſchon
immerdar verwest und wieder neu erzeugt wird, werde
[480] nach dem Sterben verewigt und müſſe auch da noch auf
menſchliche Weiſe genährt werden; oder wandelte bei den
Griechen der Abgeſchiedene in der letzten Lebensgeſtaltung
unſterblich unter den Seeligen oder Verdammten u. ſ. w.,
ſo waren dies gewiſſermaßen doch nur allegoriſche Anwen¬
dungen jener geahneten Erkenntniß, während freilich die
zum Mannesalter gereifte Wiſſenſchaft (wenn von einem
Sein der Seele außerhalb dieſer Exiſtenz die Rede iſt)
zwar allerdings einestheils ſchonungslos Alles zu vernichten
ſcheint, was als neu Gewordenes an der Seele erſt im
Laufe des Lebens entſtand, dafür aber das wahrhaft ewige
Werden der Seele in Gott mit feſtem und unverlöſch¬
lichem Griffel verzeichnet.


Das Schwere für die Faſſungskraft des Geiſtes bei
dieſen Gegenſtänden liegt jedenfalls hauptſächlich darin, daß,
indem die Seele ſich ſehnt zur Gewißheit nicht nur ihrer
Ewigkeit überhaupt (welche ſie mit allen ihren ſelbſt unbe¬
wußten Ideen gemein haben würde), ſondern ganz vorzüg¬
lich und weſentlich zur Gewißheit von der Ewigkeit ihres
ſelbſtbewußten Geiſtes zu gelangen, ſie ſich doch zugleich
ſagen muß, daß alle die Vorſtellungen und alle die Aequi¬
valente der Vorſtellungen des Geiſtes, an denen eben dieſes
ſein Bewußtſein ſich entwickelt hat, und mittels welchen
die Seele ſelbſt erſt als Geiſt ſich offenbar geworden iſt,
durchaus mit der vergnüglichen Erſcheinung des Organismus
der allgemeinen Vergänglichkeit anheimfallen müſſen. Gewiß
wird indeß, wer immer das oben Geſagte von dem ihrem
Weſen nach ſich Verewigen auch der vergänglichen Erſchei¬
nung am Geiſte recht durchgedacht hat, ſchon hiedurch über
dieſen ſcheinbaren Widerſpruch hinwegkommen, indem er
erkennt und begreift, daß es eben bei der Frage nach dem
Ewigſein des bewußten Geiſtes nicht ſowohl auf die vor¬
übergehenden Spiegelungen des an ſich ſtets Wechſelnden
und alſo auch durchaus Vergänglichen ankommt, ſondern
daß die gewonnene Ueberzeugung von den Folgen, welche
[481] dieſe Spiegelungen für das An-ſich-ſein der Grundidee des
Geiſtes nothwendig haben müſſen, eine vollkommene Sicher¬
heit darüber geben, daß zwar die Art dieſes Bewußtſeins
ſich ändern könne und ändern müſſe, daß aber über den
bleibenden und unvergänglichen Grund dieſes
Bewußtſeins irgend ein Zweifel keinesweges be¬
ſtehen könne
.


Es iſt jedoch nicht einzig und allein das was oben
geſagt worden war, über das ſich Verewigen auch des
Vergänglichen der Seele an dem Weſen des ſelbſtbewußten
Geiſtes, wodurch und woraus uns die Ueberzeugung von
der Ewigkeit des eigentlich Höchſten in uns erwachſen kann,
ſondern noch eine zweite wichtige Reihenfolge von Be¬
trachtungen gibt es, welche hierüber in einer andern Richtung
ebenfalls zu dieſer Ueberzeugung, zu dieſer erſehnten Ge¬
wißheit führen kann und führen muß, und dieſe entſteht
uns alsdann, wenn von einem Sein der Seele außerhalb
dieſer Exiſtenz die Rede iſt, indem wir beſtrebt ſind, es
uns vollkommen deutlich zu machen, wie wir den Gegen¬
ſatz höchſten Grades der Ewigkeit eines ganz voll¬
endeten Bewußtſeins und Freiſeins
, ſodann wie
wir den tiefſten Grad eines in ſich gänzlich Un¬
bewußten und Gebundenſeins
, und wie wir endlich
ein Mittleres zwiſchen beiden, als das eigentlich
menſchliche Verhältniß
, zu denken haben. Hiebei wird
ſich dann ergeben, daß jener höchſte Grad allgemeinen voll¬
endeten Bewußtſeins nur vorausgeſetzt werden könne im
höchſten Myſterium des Göttlichen ſelbſt. Dieſes Göttliche,
deſſen Weſen unſerer Erkenntniß allezeit nur als ein großes
Geheimniß, als ein höchſtes allgemeines Unbewußtes erſchei¬
nen kann, iſt an und für ſich doch durchaus vorauszuſetzen
als überall und ſchlechthin in allen und jeden Offenbarungen
ſeines Weſens ſich ſelbſt ſchauend, ſich ſelbſt als ein Freies
und Ewiges erkennend. Es kann in ſolchem ſchlechterdings
nicht ausſchließend von gewiſſen einzelnen im Aether ſich
Carus, Pſyche. 31[482] geſtaltenden Offenbarungen abhängen, daß dieſes Göttliche
ſich ſelbſt ſchaue und erkenne, ſondern es iſt ſchlechterdings
vorauszuſetzen, daß in aller und jeder neuen Offenbarung
im Aether, auch dieſes Göttliche ſich ſelbſt ſtets auf eine
neue Weiſe anſchaue und erkenne, und wenn auch in ihm
ein ewiger Wechſel aller zeitlichen Offenbarungen doch Statt
findet und finden muß, ſo iſt immer der höchſte Grund all
dieſes Wechſels ſelbſt nur zu ſuchen und zu finden in der
Nothwendigkeit, die ganze unendliche Tiefe ſeines ewigen
Weſens in immerfort neu hervortretenden Erſcheinungen
raſtlos zu bethätigen, ohne daß durch dieſen Wechſel jedoch
die Vollkommenheit des ſich ſelbſt Erkennens irgendwie ge¬
fährdet ſein könnte. In jeder Verwandlung des Seins
alſo, trotz raſtloſer Vernichtung alles vorher Vorhandenen
und trotz immer neu Aufgehen eines noch nie ſo Dageweſenen,
ſpiegelt ſich ohne Aufhören, und unabhängig von all jenem
Wechſel, ein ewig klares Bewußtſein, und daß wir eine
ſolche höchſte aller Seeligkeiten mindeſtens zu denken ver¬
mögen, iſt das weſentlichſte Siegel jener Stufe der Seelig¬
keit, zu welcher auch der menſchliche Geiſt berufen und
erwählt iſt.


Den vollkommenen Gegenſatz zu ſolchem höchſten ſich
ſelbſt Durchſichtig- und Bewußt-ſein und zu ſolchem voll¬
endeten Freiſein, zeigten ſodann alle jene Ideen, welche
zwar nach höherer Nothwendigkeit, als in Gott gedachte,
unendlich vielfältig in der Erſcheinung der Welt ſich dar¬
leben, aber in ſich ſelbſt nie zum Bewußtſein ſich erheben.
Nehmen wir z. B. die Idee einer gewiſſen Kryſtallbildung,
ſo iſt es klar, daß, ſo tauſendfältig auch dieſes Urbild in
unendlichen Abbildern ſich darleben mag, wir daſſelbe doch
niemals als ſich ſelbſt erkennend und im Bewußtſein zur
Freiheit gelangend zu denken berechtigt ſind, und daß daher
auch für eine ſolche Idee alle jene unendlichen Offenbarun¬
gen ihres Weſens ſchlechterdings und ewig ohne irgend ein
Reſultat verbleiben werden. Zwiſchen dieſen beiden Extremen
[483] nun, welche wir als vollkommenſtes Unbewußtſein einer¬
ſeits und höchſtes Bewußtſein andererſeits eben bezeichnet
haben, liegt endlich als ein Mittleres die Art des Seins,
worin dasjenige göttliche Urbild, welches in Form einer
menſchlichen Seele ſich darlebt, ſich zu offenbaren beſtimmt
iſt. Eine eigenthümliche Miſchung des Unbewußten und Be¬
wußten iſt dieſem durch und durch feſtgeſetzt und beſtimmt,
und ein Vorwalten bald des einen, bald des andern,
ein Schwanken zwiſchen beiden, und auch ein ſtätes Be¬
dingtſein des einen durch das andere, iſt entſchieden was
in allen unſern Betrachtungen, bei jeder Lebensregung ſich
als ihm ganz weſentlich darſtellen und offenbaren muß.
Das Unbewußte in ihm iſt es, welches, gleich allen unbe¬
wußten Ideen der Welt, als integrirender Theil jenes
ewigen Myſteriums ſelbſt erſcheint, und welches eben darum
die ſchöpferiſche, das zeitliche vergängliche Abbild — den
Organismus — erſchaffende Gewalt haben wird (denn
alles Schaffen, alles organiſche Erzeugen kann nur unmittel¬
bar von dem höchſten Myſterium ausgehen, dem bewußten
Geiſte iſt allemal nur eine künſtliche Schöpfung anheim¬
gegeben) — das Bewußte dagegen iſt es, welches dann
wenn es in dieſer partiellen endlichen Schöpfung des Leibes
ſich ſpiegelt, ſich als ein Beſonderes, als ein Freies, als
ein Göttliches zu erkennen beſtimmt iſt. — Auch dieſes indi¬
viduell Bewußte theilt nun allerdings in gewiſſem Maße
die Eigenthümlichkeit höchſten Bewußtſeins, unabhängig zu
ſein in ſeinem Selbſtſchauen von der Vergänglichkeit und
Veränderlichkeit der Offenbarung in der erſchaffenen leib¬
lichen Form, und es beweist ſich dieſes, indem der Geiſt
als einer und derſelbe ſich erkennt, trotz der reißend dahin¬
ziehenden Metamorphoſe des Leibes. — Der Leib hört nicht
auf unterzugehen, dies war ſchon Plato deutlich, und nichts
deſto weniger und trotz dieſem ſtäten Sterben der Organi¬
ſation und ihrer raſtloſen Erneuerung, ſpiegelt doch der
eine bewußte Geiſt in dieſem ſtäten Wechſel ſich immer als
[484] einer und derſelbe, und erkennt nur diejenige Veränderung
an, welche innerhalb einer und derſelben Individualität
durch das Wachsthum der Seele, wie wir es früher be¬
ſprochen haben, gegeben werden kann. Hier haben wir
alſo eine Wahrheit, eine tief in unſerm Geiſte begründete
und in jedem Augenblicke ſich fühlbar machende Thatſache,
welche wir immer wieder hervorheben, auf welche wir immer
wieder zurückblicken müſſen, wenn wir über die Ewigkeit
unſers Geiſtes zu beſtimmten Begriffen, zu vollkommener
Gewißheit gelangen wollen! — Faſſen wir daher jetzt noch
einmal in ein Reſultat zuſammen, was alle dieſe vorher¬
gehenden Betrachtungen uns gelehrt haben, ſo möchte ich
ſagen: es enthalte die Grundidee unſerer Seele, d. i. jenes
ewige göttliche Urbild all' unſers Seins, in ihrem einen
Sein, eine zweifache Strahlung höchſten Urweſens, deren
eine als unbewußt ſchaffendes Göttliche die raſtloſen Me¬
tamorphoſen unſerer Erſcheinung bedingt und immer wieder
erſchafft, während die andere ſich als der in innerer
ſtätiger Gegenwart verharrende Geiſt, und als die frei¬
gewordene höhere Hälfte, gleichſam die Blüthe der andern,
beweist. — Das Bleibende des letztern ſpiegelt ſich zeit¬
weilig
an dem ſtäten Werden des erſtern, und dieſe
Spiegelung ſetzt deßhalb ſo das erſtere voraus, daß man
ſagen muß, ſie könne actu nur unter Bedingung der
Schöpfung des erſtern hervortreten, obwohl potentia ſie
allerdings immer und ewig innerhalb jener Idee, jenes
ewigen Urbildes des Menſchen, vorhanden und gegenwärtig
anzuerkennen ſei. — Muß nun aber die unbewußt ſchaffende
eine Strahlung unſers Weſens als ein Ewiges voraus¬
geſetzt werden, weil es ein Göttliches iſt und als ſolches
durch ſeine ſchöpferiſche, immerfort organiſch ſchaffende, den
Organismus erhaltende und immer wieder neu erzeugende
Macht ſich bewährt, ſo folgt daraus, daß es auch nicht
bloß einmal
, und bloß in dem kleinen endlichen
Kreiſe des Daſeins
, welchen wir ein menſchliches
[485] Leben nennen
, ſich offenbaren könne, ſondern daß
von ihm, als einem Ewigen, unendliche weitere Le¬
benkreiſe bedingt werden müſſen
, Lebenkreiſe von
welchen wir innerhalb der gegenwärtigen Exiſtenz irgend
eine nähere Erfahrung keinesweges zu erreichen im Stande
ſind. Dieſes nun feſtgeſetzt und klar gedacht, ſo folgt dar¬
aus weiter: jene potentia immer vorhandene Gegenſtänd¬
lichkeit des Ich, oder mit einem Worte, dieſes Weſen
der Ewigkeit des Bewußtſeins
, müſſe ſich verhalten
zur Unendlichkeit aller möglichen Erſcheinungsformen des
unbewußt Schaffenden
unſers Urbildes, genau ſo, wie
ſich verhält die bleibende Einheit unſers gegenwärtigen gei¬
ſtigen Bewußtſeins zu allen den flüchtig vorüberziehenden
Erſcheinungen dieſes beſondern leiblichen Daſeins. Jener
ewige Geiſt, welcher alſo der freiere, höhere, ſich ſelbſt
ſchauende Strahl des Göttlichen in uns iſt, er wird noth¬
wendig die Art ſeines Bewußtſeins auf ſehr verſchiedene
Weiſe erfahren, je nachdem die Lebenkreiſe, in denen das
unbewußt Schaffende ſeines Urbildes ſich bethätigt, verſchie¬
dene ſind (ſo etwa iſt auch ſchon in der einen Erſcheinungs¬
form, welche wir ein menſchliches Leben nennen, das Be¬
wußtſein des Geiſtes ein anderes als Kind, als Mann
und als Greis), aber der eigentliche Kern des Ich, das
eigentliche Individuelle des Geiſtes muß nun eben
deßhalb auch in allen möglichen Formen des ſich Darlebens
der Idee, abgeſehen von der Steigerung oder Minderung der
Energie, in ſich weſentlich eines und daſſelbe bleiben, gerade
eben ſo als während eines einzelnen Lebens dieſer unſer
Geiſt, trotz der ſtäten Umgeſtaltung unſers Körpers, doch im
Grunde überall und immerfort nur als einer und derſelbe ſich
darlebt, obwohl an der innern Energie ſeines An-ſich-ſeins
ſehr beſtimmt eine Minderung oder Mehrung ſtätig erfahrend.


Es ſcheint mir, daß Jeder, der dem Gedankengange,
welcher zu dieſem Reſultat uns gebracht hat, mit Samm¬
lung und Umſicht nachgegangen iſt, finden müſſe, er ſei
[486] höchſt einfach und klar, und führe uns mit einer ſolchen
Sicherheit, daß unſer innerſtes Wahrheitsgewiſſen über ſein
Ergebniß auf keine Weiſe in Zweifel bleiben kann. Deſſen
ungeachtet iſt es wichtig, theils über dieſes Ergebniß ſich
ſelbſt noch mehrfältig zu verſtändigen, theils zu beachten,
wie Erkenntniſſe dieſer Art ſich von jeher in den verſchie¬
denſten Formen in der Menſchheit geregt haben. In letz¬
terer Beziehung iſt namentlich ein Rückblick auf die Lehre
des Hindu's und auf das Zendſyſtem wichtig, als in wel¬
chen das Weſen der obigen Erkenntniß, wenn in mannich¬
faltiger Verhüllung, doch ſehr beſtimmt ſich verräth. Wer
es vermöchte, mit obiger Erkenntniß ausgerüſtet, hier die
Quellen ſelbſt anzugehen, nicht auf die vielfältigen ſpäteren
Auszüge und Ueberſetzungen ſich beziehen müßte, würde in
dieſer Hinſicht unfehlbar zu merkwürdigen Reſultaten gelan¬
gen. — So viel iſt gewiß, daß die Zend-Schriften und
Hindu-Lehre die Exiſtenz des Weſens der menſchlichen Seele
nicht bloß, wie die ſpäteren, jüdiſchen und chriſtlichen
Mythen, nach den Metamorphoſen dieſes irdiſchen Lebens,
im Tode, ſondern auch vor denſelben (vor ſeiner Er¬
zeugung) feſtſtellen. — Eine Vorſtellung von dem, was
wir mit dem Namen des Urbildes der Idee bezeich¬
nen, zeigt ſich aber in jenen Schriften unter dem Namen
Feruer. Es heißt bei Rhode1: „die Menſchen haben,
wie jedes andere irdiſche Weſen, ihre Feruer's, welche
von Ormuzd im Urbeginn der Dinge hervorgebracht wur¬
den, und die als ſelbſtſtändige Weſen Ormuzd im Kampfe
gegen Ahriman beim Anfange des dritten Zeitraums bei¬
ſtanden, und ihm den Sieg verſchafften; zur beſtimmten
Zeit ſteigen dieſe Feruer's vom Himmel herab, und ver¬
binden ſich mit einem menſchlichen Körper, und leben als
Menſchen.“ — Es wird deßhalb auch mehrfältig das Wort
Feruer und Oroué oder Oroneétché, welches Leben oder
Seele bedeutet, als ein und daſſelbe gebraucht, ſo wie auch
[487] wir in der Seele das Urbild, oder die Idee, als ihr
Weſentlichſtes anerkennen; es iſt jedoch der Feruer keines¬
weges bloß das Urbild der Seele, ſondern auch, wie aus
dem Folgenden erhellt, und wie es eben allein als ver¬
nunftgemäß von einem Urbilde gedacht werden muß, zu¬
gleich das Urbild des Körpers. Es heißt nämlich weiter 1:
Unter Feruer dachte man ſich denn das ganze Urbild des
Menſchen auch dem Körper nach; daher ſchrieb man
dem Feruer auch vor ſeiner Vereinigung mit dem wirk¬
lichen Körper eine menſchliche Geſtalt, und folglich auch
einen, obwohl unendlich feinen Körper zu. — In Letzterm
tritt nun wieder eine kindliche, das ganz Abſtrakte nicht zu
denken vermögende Vorſtellungsweiſe hervor.


Dagegen iſt Seele und Feruer wieder als eins ge¬
nommen, in jener, auch von Rhode angeführten, Stelle
des Bun-Deheſch, wo es heißt 2: „Wenn der Menſch ſtirbt,
ſo wird ſein Leib Staub, und die Seele kehrt zum Himmel
zurück.“ Auf weſentlich gleiche Weiſe betrachten auch die
Lehren der Hindu's die Ewigkeit der göttlichen Idee, welche
zeitlich als Seele ſich offenbart. Ich führe folgende Stelle
aus v. Bohlen (das alte Indien, 2. Theil, S. 324) in
dieſer Beziehung hier an: Ungeboren und ewig iſt auch die
inviduelle oder eingekörperte Seele (Sârîra) ein Theil der
Weltſeele, und von ihr emanirt, wie Funken von einer
brennend lodernden Flamme ſich trennen; in den Körper
eingeſchloſſen wird ſie thätig durch die Organe, wie ein
Künſtler ſeine Inſtrumente nimmt, um zu arbeiten; durch
den Körper und ſeine Organe wird ſie ebenfalls von
Empfindungen bewegt, und hat durch eben dieſelben eine
Neigung zum Guten oder Böſen, welches in unendlich
vielfacher Form, ohne Gottes Mitwirkung von Ewigkeit vor¬
handen iſt. Die Affekten aber, welche die individuelle Seele
treffen, haben keinen Einfluß auf das höchſte Weſen, deſſen
[488] Partikel ſie iſt, ſo wenig die Sonne afficirt wird, wenn
deren Bild im bewegten Waſſer zittert, denn durch die Ein¬
körperung iſolirt ſich die Partikel der Weltſeele, und die
Vereinigung mit dieſer findet erſt nach vollbrachter Wan¬
derung wieder Statt.“ — Bei weiterer Ausbildung der Vor¬
ſtellung von ſolcher Seelenwanderung trifft man denn frei¬
lich ſogleich wieder auf vielfältig Abſtruſes. Die Seele ſoll
mit verſchiedenen Scheiden umkleidet ſein, mit den feinſten
umhüllt verlaſſe ſie den Geſtorbenen u. ſ. w. — Merkwürdig
iſt es nur zu beachten, mit welcher Nothwendigkeit der
menſchliche Geiſt zu jeder Zeit zu dem Gedanken gedrängt
wurde, die ewige göttliche Idee ſeines Weſens könne ſich
unmöglich bloß in dem einen kurzen menſchlichen Daſein
darzuleben beſtimmt ſein. Dieſe Vorſtellungen ſind daher
auch gar nicht etwa bloß dem Orient eigen; überall, ſelbſt
in der dumpfen Seele nordamerikaniſcher Wilden, tauchen
ſie auf, und v. Bohlen citirt eine Vorſtellung dieſer Art,
da wo er ſagt 1: „Daher grub man bei einigen Wilden
Nordamerika's die Kinderleichen an den Heerſtraßen ein,
in der Hoffnung, es möchten vorübergehende Weiber die
jungen Seelen auffangen.“ — All dieſes kann natürlich
hier nicht als irgend eine Autorität erwähnt werden, aber
es iſt allemal merkwürdig, wie gewiſſe große tief im Be¬
wußtſein begründete Wahrheiten, welche in möglichſter
Reinheit und Schärfe darzuſtellen nur die Aufgabe ſtreng¬
ſter Wiſſenſchaft ſein kann, in dunkeln Begriffen und man¬
nichfaltigen Symbolen zu jeder Periode des Menſchheits¬
lebens ſich kund geben. In ſo fern kann man denn allerdings
auch ſagen, daß für den nach Gewißheit erkannter Wahr¬
heit ſich ſehnenden Geiſt, ſo lange er in ſeinem Schauen
ſelbſt noch nicht ganz feſt geworden iſt, eine Art von Be¬
weis a posteriori darin liegt, die mannichfaltig verhüllten
Formen jener Erkenntniß, wie ſie zu verſchiedenen Zeiten
in andern Seelen ſich erſchloſſen hatten, zu ſtudiren. Iſt
[489] es doch ſelbſt ſo mit der größten und bedeutendſten Aufgabe
des Geiſtes, mit der Erkenntniß eines höchſten göttlichen
Myſteriums! — Der in ſich, im Gottbewußtſein noch nicht
ganz feſt gewordenen Seele iſt es eine Art von Troſt und
Aufrichtung zu erfahren, auf welche Weiſe die Gotterkennt¬
niß bald heller bald trüber in Millionen anderer Seelen
ſich geſpiegelt hat, denn allerdings liegt darin immer das
Geheimnißvolle aller ſolchen Erkenntniſſe, daß man bald
gewahr werden muß, daß ſie immer nur mit einer gewiſſen
Beſchränkung in der Menſchheit ſich offenbaren kann, ganz
ſo wie es bei Plato heißt 1:


„Den Künſtler (poëta) und Vater dieſes Alls aufzu¬
finden, iſt ſchwierig; hat man ihn aber aufgefunden, ſo
iſt es doch unmöglich, ihn vor allen Menſchen zu nennen.“


Blicken wir aber demnach mit einer gewiſſen Freudig¬
keit auf die Zeugniſſe früheſter Zeiten, welche das Erkennen
der Ewigkeit unſers innerſten Weſens entſchieden ausſpre¬
chen, ſo muß freilich auch ſogleich Alles zwiefach unbefrie¬
digend erſcheinen, was in ſpäterer Zeit über eine Theorie
offenbar geworden iſt, welche bloß das, was in uns ge¬
boren und zeitlich entſtanden iſt, als unſterblich und
unvergänglich darzuſtellen bemüht war. Dieſe Lehre, welche
einer mit Erzeugung oder Geburt des Kindes erſt gewor¬
denen
Seele eine Unſterblichkeit, oder, wie man ſich auch
wohl unlogiſch ausdrückte, Ewigkeit vindiciren wollte, konnte
vor der Entſcheidung einer reinen Wiſſenſchaft des Geiſtes
durchaus keinen Halt zeigen, und konnte nur als ein Dogma
dem Glauben empfohlen bleiben. — Daß das, was wirklich
„ewig“ ſich erweiſen ſoll, keinen Anfang in der Zeit
haben dürfe, mußte bei einigermaßen ſchärferm Bedenken
an und für ſich deutlich ſein, und es blieb alſo nur das
Dilemma übrig, entweder eine unbedingte Ewigkeit unend¬
licher Ideen innerhalb des höchſten ewigen Myſteriums zu
denken, oder der Idee ſelbſt nur ein zeitliches Daſein zuzu¬
[490] geben. — Wir fühlen indeß ſogleich, daß es mit dem, was
wir unter dem erhabenen Weſen der Idee verſtehen, ſich
ſchlechterdings nicht vereinbaren laſſe, es in ſich ſelbſt nur
als ein Zeitliches zu denken, und ſo iſt denn die unbedingte
Nothwendigkeit vorhanden — weil eine halbe Ewigkeit an¬
zunehmen etwas ganz Abſurdes ſein würde — die Ewig¬
keit der Idee überhaupt und auch die Ewigkeit des An-ſich-
ſeins der menſchlichen Seele anzuerkennen.


Welches ſchönere und welches bedeutendere Ergebniß
kann aber der menſchliche Geiſt, in die Tiefe ſeines eigenen
Weſens ſchauend, ſich erringen, als daß ihm hell und un¬
widerlegbar aufgehe die Gewißheit der Ewigkeit und Gött¬
lichkeit ſeines innerſten Seins, und daß ihm, innerhalb
dieſes Zeitlichen zum Bewußtſein-Gelangens, vollkommen
klar werde die Möglichkeit einer unendlichen Entwicklung
durch immer neu Auftauchen eines eigenthümlichen Bewußt¬
ſeins aus dem immer wieder im Allgemeinen ſich verſen¬
kenden Unbewußten! — Indem wir übrigens in dieſem
Sinne und in dieſer Tiefe das Geheimniß der Ewigkeit
des An-ſich-ſeins der Seele des Menſchen erfaſſen, kommt
auch eine andere weſentliche Erkenntniß uns gleichſam von
ſelbſt entgegen, nämlich daß dieſes Ewige, wenn es
einmal wieder abgeſtreift habe die Form eines zeitlichen Le¬
bens, in ſeinem ganz reinen An-ſich-ſein nicht als ein
Bewußtes
ſondern als ein Unbewußtes gedacht werden
müſſe. — In dem reinen An-ſich-ſein der Seele nämlich iſt
jede Art von erſchloſſenem Bewußtſein undenkbar, und un¬
denkbar deßhalb, weil die vorgehenden Unterſuchungen mit
der entſchiedenſten Gewißheit die Bedingungen nachgewieſen
haben, unter deren Vorhandenſein allein das Wunder des Be¬
wußtſeins ſich erſchließen kann, und mit deren Aufgehoben¬
werden die Offenbarung des Bewußtſeins demnach ſo gewiß
ſchwindet, als die leuchtende Spitze eines Doms einſtürzt,
wenn das Fundament aus den Fugen weicht und zerbricht. —
Werden alſo gewiß und durchaus unzweifelhaft dieſe Be¬
[491] dingungen erſt nach und nach gegeben und erfüllt, während
die Idee unſers Weſens in irgend einer beſondern lebendigen
Entwicklung ſich darlebt, und werden ſie eben ſo unzweifel¬
haft wieder aufgehoben durch Vernichtung dieſer Lebensform,
ſo muß das An-ſich-ſein der Idee ſelbſt als außerhalb
alles individuellen Bewußtſeins
nothwendig ge¬
dacht werden. Wenn es daher unmöglich anders ſein kann,
als daß nach vollkommener Aufhebung ihres zeitlichen ſich
Darlebens die Idee wieder rein zu ihrem An-ſich-ſein zu¬
rückkehrt — nur das behaltend, was ſie an unmittelbarer
Steigerung oder Minderung der Energie dieſer Idee wäh¬
rend ihrer freien Offenbarung als Geiſt gewonnen oder
verloren hat, ſo muß man auch einſehen und deutlich be¬
greifen, daß dieſes eigentlich Ewige der Seele, dieſes reine
An-ſich-ſein der Idee, von dem ſie ausgeht und wohin ſie
immer wieder zurückkehrt, jenes Ewige, welches immer
wieder das Zeitliche gebiert, und immer wieder auch auf¬
gibt, daß dieſes als ſolches nicht ein Bewußtes, ſondern
nur ein Göttliches, Urſprüngliches, Unbewußtes
genannt werden dürfe. — Nichts deſto weniger iſt es aber
klar, daß das göttliche Urbild einer Seele in dieſem ſeinem
unbewußten An-ſich-ſein, nach einem ſchön vollendeten
menſchlichen Leben ein anderes und höheres ſein müſſe, als
es vor dieſem ſich Darleben war, und daß daſſelbe ſobald
es abermals neu in irgend beſonderer Lebensform ſich offen¬
bart, nun auch unfehlbar in höherm Sinne ſich offenbaren
werde, als es in jener vorhergehenden menſchlichen Exiſtenz
ſich beurkunden konnte, und umgekehrt; nur, wie geſagt,
liegen all dieſe Dinge ganz außerhalb des Kreiſes menſch¬
licher Erfahrung und laſſen daher nur zu, zu ſagen: ſie
müſſen ſein, aber nicht wie ſie ſein müſſen. Es iſt ferner
deutlich, daß das, was die Sagen der Völker in den ver¬
ſchiedenſten Geſtaltungen als „Auferſtehung zu neuem
Leben nach dem Tode
“ bezeichneten, ſonach ganz un¬
läugbar nur die ſymboliſche Darſtellung iſt der neuen
[492] Offenbarung einer Idee in irgend einem neuen
Leben
, und zwar immer wieder hervorgehend aus dem Zu¬
ſtande reinen An-ſich-ſeins, eben ſo wie unſer eigenes
Leben aus einer ähnlichen Offenbarung einſt hervorging. So¬
gar der in der Geſchichte der Menſchheit eben ſo verbreitete
Gedanke eines gewiſſen „Gerichts über die Seele nach
ihrer Auferſtehung
“ kann nur dann eine höhere Rea¬
lität bekommen, wenn wir bedenken wollen, daß die Art,
in welcher die Idee in einer nächſtfolgenden Lebensform ſich
bethätigen muß, nothwendig allemal bedingt ſein wird durch
die Art des Wachsthums, welches ihr während ihrer vor¬
hergegangenen bewußten Exiſtenz möglich geworden war;
daß alſo eine geſunkene Idee nur in geringerer, eine ge¬
ſtiegene Idee nur in höherer Lebensform ſich in der folgen¬
den Exiſtenz offenbaren könne. — Was übrigens jenes reine
An-ſich-ſein des Grundweſens der Seele betrifft, ſo würden
wir uns freilich ganz vergebens bemühen innerhalb unſers
bewußten Seelenlebens eine in den Aequivalenten der Worte
auszudrückende Form aufzufinden, durch welche ſich daſſelbe
vollſtändig bezeichnen ließe, und wir können daher nicht
anders als jenes Sein geradezu als ein ungewußtes
Unbewußtes
anerkennen. — Wenn wir jedoch Alle ſchon
den reinen geſunden traumloſen Schlaf, d. h. einen Zuſtand
unſerer Seele, welcher auch, verglichen mit dem Wach-ſein,
eine Art von Nicht-ſein iſt, als etwas Wünſchenswerthes,
in ſich eigenthümlich Beglückendes und für das neue Er¬
wachen Erfriſchendes anerkennen, ſo kann dies einigermaßen
eine Hindeutung ſein auf das, was das An-ſich-ſein der
Monas unſerer Seele ſowohl vor als nach einer zeitlichen
Form des Lebens erwarten läßt und wirklich gewähren
kann. 1 — So viel vielleicht allein und nicht mehr hier¬
über andeutend auszuſprechen, iſt der Wiſſenſchaft von der
Seele vergönnt; jeder Verſuch in irgend wie phantaſierei¬
[493] chen Bildern darüber weiter ſich zu ergehen, kann nur als
Verirrung betrachtet werden. Eben ſo wenig darf man
aber auch ſchließlich wagen etwas auszuſagen über die
höchſte innere Periodicität der Idee hinſichtlich ihres
Erwachens zum ſich von neuem Darleben als Seele und
der Dauer ihres dann wiederkehrenden in ſich Verſunken-
Seins als Idee an und für ſich. — Ahnen mögen wir,
daß auch hier, wie über die Dauer eines irdiſchen Seelen¬
lebens eine beſtimmte Norm geſetzt iſt, ſo auch über das
darauffolgende An-ſich-ſein irgend eine Norm beſtehe, ja
ahnen dürfen wir, daß in den ſich folgenden einzelnen
Lebenszuſtänden der Idee merkwürdige geſetzmäßige Folgen
und Fortſchreitungen Statt finden, bei welchen es nicht
unmöglich wäre, daß die ſchon uns erkennbaren tiefſinnigen
Verhältniſſe der Weltkörper-Syſteme als von weſentlicher
Bedeutung für dieſe Fortſchreitungen hervorträten: aber Alles
— Alles — löſt ſich hier in geheimnißvollen Nebel, und,
wenn wir dem Dichter geſtatten, hier frei auf ſeine Weiſe
ſich zu ergehen, ſo geziemt es der Wiſſenſchaft hier beſchei¬
den ihre Volumina zu ſchließen.


[]

Appendix A Druckfehler.


Seite 113, Zeile 1 von oben, ſtatt der lies: den.


„ 282, „ 9 von unten, „ nunnur.


„ 284, „ 17 von unten, „ nunnur.


„ 355, „ 1 von oben, „ 8 „ γ.


„ 467, „ 7 von oben, „ vonvor.


„ 474, „ 4 von unten, „ derden.


„ 474, „ 2 von unten, „ derden.


[]

Appendix B Inhalts-Verzeichniß.

  • Seite
  • Einleitung1
  • I. Vom unbewußten Leben der Seele12
  • a. Vom Weſen der erſten Bildungsvorgänge des menſchlichen
    Organismus20
  • b. Betrachtung der erſten durch unbewußtes Walten der Idee
    geſetzten Gliederung des Organismus in verſchiedene Syſteme31
  • c. Von dem weſentlich Unbewußten des Vorganges, durch
    welchen innerhalb der Gattung die Individuen vervielfältigt
    werden52
  • d. Von Dem, was in einer ihrer ſelbſt bewußt gewordenen
    Seele immer noch dem Reiche des Unbewußten angehört65
  • e. Von Dem, was im unbewußten Seelenleben an krankhaften
    Zuſtänden Vorkommen kann88
  • II. Vom bewußten Leben der Seele96
  • a. Von dem erſten Hervorbilden des Bewußtſeins aus dem Un¬
    bewußtſein98
  • 1) Von Heranbildung der Seele in den Thieren111
  • 2) Von Heranbildung der Seele und des Geiſtes im Kinde149
  • b. Von dem fortwährenden Bedingtſein des bewußten durch das
    unbewußte Seelenleben173
  • c. Von der Art und Weiſe, wie das bewußte Seelenleben auf
    das unbewußte einwirkt195
  • d. Vom Rückkehren des bewußten Seelenlebens ins unbewußte203
  • e. Vom Wachsthume des Seelenlebens durch Lebensinnerung
    und Lebensäußerung227
  • f. Von der Heranbildung der Seele zur Perſönlichkeit und zum
    Charakter, und von der Verſchiedenheit der Seelen243
  • g. Von den verſchiedenen Strahlungen des Seelenlebens261
  • Seite
  • α. Zur Geſchichte der Gefühle265
  • 1) Die Geſchichte der Freude267
  • 2) Die Geſchichte der Trauer273
  • 3) Die Geſchichte der Liebe282
  • 4) Die Geſchichte des Haſſes315
  • 5) Von den gleichmäßigen Zuſtänden des Gemüths324
  • β. Zur Geſchichte der Erkenntniß338
  • γ. Zur Geſchichte des Willens355
  • h. Von dem Verhältniſſe der Seele zu andern Seelen, zur
    Natur und zu Gott372
  • 1) Von dem Verhältniß der Seele zu andern Seelen375
  • 2) Von dem Verhältniß der Seele zur Natur391
  • 3) Von dem Verhältniß der Seele zu Gott399
  • i. Von der Seelengeſundheit und Seelenkrankheit4l7
  • α. Von der Seelengeſundheit419
  • β. Von der Seelenkrankheit430
  • γ. Beſondere Erwägung der Krankheitserſcheinungen am
    Geiſte442
  • III. Von Dem, was im Unbewußten und Bewußten der
    Seele vergänglich und was darin ewig iſt465
[][][]
Notes
1.
Erſt auf dieſe Weiſe wird die Betrachtung des Höchſten und Gött¬
lichen jene Einfachheit und Natürlichkeit erhalten, welche einſt Lichten¬
berg
ahnete, indem er die merkwürdigen Worte ſchrieb: „Sollte es denn
ſo ganz ausgemacht ſein, daß unſere Vernunft von dem Ueberſinnlichen
gar nichts wiſſen könne? — Sollte nicht der Menſch ſeine Ideen von Gott
eben ſo zweckmäßig weben können, wie die Spinne ihr Netz zum Fliegenfang?“
1.
Von der Seele, 2. Bd. 1. Cap.
1.
vae, intellectivae, appetitivae, motivae.
Er unterſcheidet in der Seele potentiae vegetativae, sensiti¬
1.
Hieher die ſchöne Stelle des Plato (Phaidros S. 245): „Jede
Seele iſt unſterblich. Denn das ſtets Bewegte iſt unſterblich, was aber
Anderes bewegt und ſelbſt von Anderem bewegt wird, und alſo einen
Abſchnitt der Bewegung hat, hat auch einen Abſchnitt des Lebens. Nur
alſo das ſich ſelbſt Bewegende
, weil es nie ſich ſelbſt verläßt,
1.
wird auch nie aufhören bewegt zu ſein, vielmehr Allem, was
ſonſt bewegt wird, iſt Dieſes Quelle und Anfang der Bewegung. Der
Anfang aber iſt unentſtanden
.“
1.
V. d, Seele (überſ. v. Weiße), 2. Bd. 1. Cap.
1.
Von der Seele, 1. Buch 1. Cap.
1.
Dieſen urſprünglichſten aller Gegenſätze, dieſen Gegenſatz von
Idee und ätheriſcher Subſtanz oder Aether, wie ich ihn nenne, hat auch
die urſprünglichſte aller Philoſophien — die indiſche — bereits beſtimm¬
teſt anerkannt, und es iſt wichtig daran zu erinnern, nicht als an eine
Autorität — denn vernünftige Erkenntniß kann Autorität nicht aner¬
kennen — aber nur um zu zeigen, daß ſo frühe ſchon ein ungetrübtes
Sinnen über das höchſte Räthſel der Welt zu einem Reſultate führen
mußte, wie es auch unſerer Zeit bei reifſter Ueberlegung nicht anders ſich
darbieten kann. Schon bei den Hindu's alſo wird unterſchieden (ſ. v.
Bohlen d. alte Indien Thl. 2. S. 311 ed. f.) 1) die ewige Materie,
die Natura naturans, der Aether — als Prakriti oder Mulaprakriti,
und 2) die Naturvernunft, die den Aether beſtimmende, bedingende Idee
— als Buddhi, auch wohl als Weltſeele Purusha. — Ja ſchon dort
hebt ſich aus dieſen beiden als ein Drittes — die Unterſcheidung des Ich,
das Selbſtbewußtſein (Ahankara) hervor.
1.
So viel Zeit vergeht im Menſchen, bis die Spermatozoen das
Eibläschen erreichen; bei manchen Thieren, wie beim Reh, vergehen
Wochen von der Begattung bis zu jenem Contakt, oder der eigentlichen
Befruchtung.
1.
Siehe mein Syſtem der Phyſiologie. 1. Bd. S. 118.
1.
Im 3. Bande meines Syſtems der Phyſiologie habe ich gezeigt,
daß die Fälle, wo ein Menſch etwa kein Blau ſieht, oder ein Andrer
nicht roth und grün unterſcheiden kann, nur das Maximum dieſer Ver¬
ſchiedenheit ſind, daß aber eigentlich kein Menſch gerade eben ſo
ſieht, als der andre, weil eben er ſelbſt ein Andrer, und auch kein Auge
dem andern vollkommen gleich iſt.
1.

So ſagt Dante ſehr ſchön:


„Chiaro mi fu allor, com' ogni dove
In Cielo è Paradiso, etsi la grazia


Del sommo bend'un modo nonvi piove.“


1.
Man könnte die menſchliche Individualität gar wohl der Zahl,
alle andere Individualität der Erde der Null vergleichen. Die letztere
allein, noch ſo gehäuft, bleibt immer null, während durch die Eins jede
Null als Decimalſtelle eine beſtimmte, und allemal eine beſondere Deu¬
tung bekommt.
1.
Wenn man ſich dieſes Verhältniß recht deutlich macht, ſo muß es
auffallen wie unklar der Vorwurf des Materialismus gedacht war, den
man ſo oft gegen Thatſachen obiger Art erhoben hat. Der Gedanke an
Materialismus trug nämlich immer erſt ein Fremdartiges hinein
— ihm zufolge hatte ein fremdes Etwas ein materielles Gebilde geſchaffen,
von dem man ſich vorſtellen ſollte, es ginge dem Geiſte nichts an, obwohl
man in jedem Augenblicke wahrnehmen mußte wie ſehr dadurch der Geiſt
bedingt ſei. Je tapferer nun trotz dem geglaubt wurde der Geiſt ſei von
den materiellen Gebilden ganz unabhängig, deſto verdienſtlicher wurde es
1.
gehalten, und freilich wäre das Bedingtſein des Geiſtes von einem wahr¬
haft
Fremdartigen etwas ganz Trauriges! — aber man ſieht welch' ein
Chaos falſcher Vorſtellungen hier vorliegt.
1.
Die anatomiſchen und logiſchen Gründe dafür daß wirklich alle
Primitivfaſern des Nervenſyſtems in dieſem Maße ſich verhalten, habe
ich im 3. Bande meines Syſtems der Phyſiologie dargelegt, und daß
dieſe Anſicht, obgleich man ſie mannichfaltig beſtritten hat, doch die allein
richtige ſei, iſt namentlich durch den Fund von Londsdale auf ſehr
merkwürdige Weiſe beſtätigt worden, als welcher ſah, daß in einer Mi߬
geburt, wo das Hirn nur noch eine häutige Blaſe darſtellte, die Nerven¬
wurzeln, welche man noch in dieſer Blaſenwand ein Stück verfolgen
konnte, dort überall deutlich zu Schlingen ſich umbogen.
1.
Es liegt hierin auch die Widerlegung der Anſicht jenes engliſchen
Phyſiologen, welcher der ſeitlichen Duplicität der Hirnmaſſen eine
ſolche Bedeutung beilegt, als werde dadurch gleichſam die Exiſtenz zwei
verſchiedner Gehirne und zugleich eines wahren Dualismus der Seele
nachgewieſen, ſo daß jedes Hirn für ſich denken und mit dem andern eine
Art von Dialog führen könne. — Allerdings iſt es wichtig darauf zu
achten, daß die Duplicität, welche ſich in allen höhern menſchlichen Or¬
ganen ausſpricht, ſo daß jeder Einzelne in dieſer Beziehung als ein zwei¬
fach Gerüſteter der Welt gegenüber geſtellt iſt, auch im Hirn ſich dar¬
ſtellt, allein wie das Sehen nur ein Vermögen iſt, obwohl in zwei
Augen
ſich äußernd, ſo iſt auch das Denken nur eines, obwohl die
Vorſtellungen zwiefach vorhanden ſind (ſchon in Folge der Duplicität der
ſie aufnehmenden höhern Sinnesorgane), und obwohl allerdings dadurch
klar werden kann, daß, wenn durch Krankheit einer ſeitlichen Abtheilung
des Hirnes, dort begründete Vorſtellungen mit alterirt werden, dies oft
veranlaſſen mag, daß eine Störung der Congruenz des Denkens dadurch
eben ſo veranlaßt wird, wie die Incongruenz beider Augen ein ſtörendes
Doppelſehen hervorbringen kann.
1.
Es iſt ein völliges Mißverſtehen, wenn man von einigen Thieren
geſagt hat, auch ſie ſeien des Selbſtmordes fähig; wenn z. B. die ge¬
quälte Klapperſchlange um ſich beißt und ſich ſelbſt mit beißt und am
eignen Gifte ſtirbt, ſo iſt dies natürlich nicht mit der überlegten Selbſt¬
tödtung des Menſchen zu vergleichen.
1.
Wie ich ſchon früher einmal bemerke, iſt in dieſer Beziehung bis
auf die neueſte Zeit ſonderbar genug mit dem Unbewußten in uns ver¬
fahren worden! — Ganz verkennend deſſen eigenthümliche innere Weis¬
heit und Schönheit, hat man es unter dem Namen des Leiblichen ſchlecht¬
hin — gleichſam als ein Verderbliches — Erz-Böſes — dem Bewußten
als gleichſam dem allein rein Göttlichen gegenüber geſtellt; und wenn es
die Aufgabe einer ächten Asketik wird zu ſorgen, daß Unbewußtes wie
Bewußtes nur auf ſchöne Weiſe ſich darlebe, ſo wurde es vielfach
die Aufgabe falſcher asketiſcher Beſtrebungen, das Unbewußte zu verderben
und elend zu machen, wobei dann freilich auch das Bewußte nothwendig
zu Schaden kommen mußte.
1.
Dieſes Anziehen der Innervationsſtröme eines Individuums durch
die ſtärkere Innervation eines Andern nach Außen iſt ſehr merkwürdig.
Sie wird durch die ſenſibeln Atmoſphären, welche die Innervation um
die räumlich begränzten Nervenſyſteme verbreitet, ſo wie durch die eignen
Organe der Handnerven (die pacciniſchen Nervenknötchen, gleichſam Con¬
denſatoren der Innervation) erklärt. Dieſes Angezogenwerden des ſchwächern
Nervenlebens durch das ſtärkere erinnert übrigens an die alte Benennung
des Bernſteins, welcher wegen ſeines elektriſchen Anziehens von Papier¬
flocken Harpaga — Räuber — genannt wurde.
1.

Ein ähnlicher Gedanke iſt von Carlyle ausgeſprochen worden:
„Der Held kann nach der Geſtalt der Welt, in der er ſich geboren fin¬
det, Dichter, Prophet, König, Prieſter, oder was Ihr wollt, ſein. Ich
bekenne, keinen Begriff zu haben von einem großen Manne, der es nicht
auf jede Weiſe ſein könnte. Er ſteht im erſten Verkehr mit dem Uni¬
verſum, ob auch die Andern alle damit ſpielten. Er beſitzt zuerſt und
vor Allen die Tugend der Wahrhaftigkeit. Er iſt Offenbarer von dem,
was wir zu thun, was wir zu lieben haben: denn beide Gebiete gehen
in einander über und können nicht getrennt werden.“


„Der große Grundcharakter iſt immer, daß der Mann groß ſei.
Das große Herz, das klare tiefſehende Auge, da liegt's, wer immer er
ſei und wo er ſtehe.“


On Heros, Hero- Worship and the heroic in history by Carlyle.
1.
Bis zu welchen Abſurditäten dergleichen in der Phyſiologie geführt
hat, davon kann folgende Periode eines Dr. G***** ein Beiſpiel geben:
„Zwei Kräfte ſind im geſunden menſchlichen Körper vorzugsweiſe thätig:
die eine iſt die das Verlangen nach feſter, und die andere die das Be¬
dürfniß nach flüſſiger Nahrung bewirkende Kraft (!), beide ſind mit ein¬
ander auch bei Vermittelung des Verdauungsgeſchäfts thätig und bilden
mit den noch übrigen Kräften (!) zuſammen die Verdauungskraft. (!)“
1.
Zu dieſen Gebilden gehören z. B. namentlich jene feinſten Pri¬
mitivfaſern im Rückenmark und Hirn, welche nur durch ſorgfältigſte Be¬
handlung unter dem Mikroſkope, und nur wenig Stunden nach dem Tode
ſichtbar gemacht werden können, und welche deßhalb, nachdem man ſich
Jahrhunderte mit Anatomie beſchäftigt hatte, erſt in dem neueſten Zeiten
entdeckt wurden.
1.
Dieſe Sehnſucht, dieſe mächtige Einwirkung des erſehnten Gegen¬
ſtandes auf den ſehnenden, hat im Phaidros bei Plato die ſchönſte Dar¬
ſtellung gefunden. Wie tiefſinnig das unbewußte Walten der Seele dabei
erfaßt iſt, geht auch daraus hervor, daß die Einwirkung des Schauens
des Geliebten auf Entwicklung und Erregung der Seele, dem Hervor¬
treiben des Gefieders, alſo eben einem unbewußten Geſtaltungsvorgange,
mannichfaltig verglichen wird. Seltſamer Weiſe war jedoch damals noch
die Gott beſtimmte Liebe der Geſchlechter nicht in ihrer höhern Bedeutung
erfaßt, und, vielleicht wegen einer zu geringen geiſtigen Entwicklung des
weiblichen Geſchlechts überhaupt, offenbarte ſich die heftigere Liebe noch
allein im Verhältniß von männlicher zu männlicher Natur.
1.
Syſtem der Phyſiologie. I. Bd. S. 286.
1.
Abälard und Heloiſe, ihre Briefe und die Leidensgeſchichte. V.
M. Carriere. Gießen 1844. S. 67.
1.
Es iſt ſehr merkwürdig, wahrzunehmen, wie auf dieſe Weiſe, gerade
bei höher ſich entwickelnden Naturen, das Daſein einer andern Seele recht
unumgänglich die ſtätige Bedingung ihres Fortwachſens ſein kann, ſelbſt
dann, wenn dieſes andere Daſein nicht mehr in den Kreis ihres eignen
zeitlichen Lebens fällt. — Die Art, wie Dante's weitere geiſtige Ent¬
wicklung ganz an den Gedanken an Beatrice gebunden war, kann ein
ungefähres Beiſpiel eines ſolchen Verhältniſſes geben.
1.
Von dem Daſein einer Idee an und für ſich, ohne irgend eine
Art von Offenbarung, können wir überhaupt ſchlechterdings keine Vor¬
ſtellung haben.
1.
Nur in dieſem Sinne hat das Schopenhauer'ſche Paradoxon:
„Die Welt iſt meine Vorſtellung“, und überhaupt aller Idealismus voll¬
kommen recht. Die Bürgſchaft für die Exiſtenz einer Außenwelt und
anderer Ideen außer der eigenen, liegt bloß in obigem Schluß, und wer
dieſen Schluß nicht gelten laſſen will, kann apodiktiſch nicht widerlegt
1.
werden. Ein Wiſſen jedoch, welches in dem Wahrheitsgewiſſen der Seele
gegeben iſt und welches Jedem vernehmlich werden kann, der es verneh¬
men will, ſagt uns, daß die Idee in Wahrheit nicht allein im All iſt,
ſondern daß innerhalb einer höchſten Idee unendliche Ideen ſind.
1.
Man darf eigentlich das Wort „Aequivalent“ ſo wohl in Bezug
auf die Erkenntniß als auf das Gefühl in einem doppelten Sinne brau¬
chen, zuerſt indem die Sprache wirklich ſubjectiv dem Geiſte, das Reich
der Töne wirklich ſubjectiv dem Gefühle das vertritt, was einmal als
Idee oder beſtimmte Vorſtellung, und ein andermal als Gefühl ange¬
ſchaut oder empfunden werden ſoll, ſo daß alſo durch dieſe Zeichen, dieſe
Symbole, erſt Erkenntniß und Gefühl wahrhaft zum Bewußtſein gelan¬
gen; zweitens aber hat Aequivalent auch eine objective Bedeutung, in¬
dem durch Wort oder Ton — durch Sprache oder Muſik — die Seele
wieder die innen erwachte Erkenntniß, wie das innen entzün¬
dete Gefühl
objectiv machen, nach außen kund geben kann. Sehr
merkwürdig iſt es, wie in dieſem Falle die Seele, namentlich hinſichtlich
des Gefühls, durch dieſes Kundmachen ſich vor der Uebermacht dieſer
Regung rettet! Alle Kunſt ſogar, auch die der Rede, nicht bloß die
Muſik — iſt in dieſem Sinne Aequivalent des Gefühls, und das
Schaffen der Kunſt beruhigt daher das Gefühl. — Doch auch die Er¬
kenntniß kann in dem Schwall der Worte ſich ſelbſt gleichſam ausgeben,
und eine Hohlheit des Geiſtes zurücklaſſen. Daher der Vorzug der Prä¬
ciſion!
1.

Man könnte die Frage aufwerfen, durch welches organiſche Moment
dieſes ſtäte Meſſen der Vorſtellung an der Idee und der Idee an der
Vorſtellung repräſentirt werde? — Es ergibt ſich aber, daß, nachdem wir
in der Molekularſubſtanz des Hirns das organiſche Moment der Vorſtellung,
und in den primitiven Faſern der Nerven die ſtäte Beziehung der Seele
zur Außenwelt erkannt haben, für die Beziehung der Vorſtellungen unter

1.

einander und zur Grundidee des eigenen Seins kein anderes organiſches
Subſtrat übrig bleiben könne, als jene die Syntheſe des Hirnbaues her¬
ſtellenden Leitungsbogen, durch welche alle Hirngebilde verbunden werden
und welche in den Commiſſuren ſich ſammeln. Eben weil dem ſo iſt,
zeigt ſich die enorme Verſchiedenheit des menſchlichen Hirns gegen das
thieriſche, mehr als in ſeiner relativen Größe durch den Reichthum ſyn¬
thetiſcher Faſern und die Stärke ſeiner Commiſſuren. Eben darum ſind
auch die Commiſſuren (ſog. Gewölbe und Hirnbalken) gerade ſo ſtark in
dem Vorhirn, dieweil eben dieſem die Bedeutung für Intelligenz beſonders
eigen iſt.


Fragen wir ferner, was iſt es, was im Hirnleben vorgeht während
wir denken
? ſo iſt die Antwort: ein unendlich verſchiedenartiges hin- und
wieder Strahlen der Innervation an den eigenthümlichen Leitungsfaſern
des Hirns. — Wenn ein verändertes Spannungsverhältniß eines vom Hirn
zu einem Muskel verlaufenden Nerven dort den Muskel zucken macht,
oder wenn eine vom Hirn ausgehende Erregung des Sehnerven im Auge
die ſubjective Empfindung einer Lichtentwicklung erweckt, ſo erregt eine
von einer Gegend der primitiven Hirnſubſtanz zu andern gehende erhöhte
Spannung eines Primitivfaſerbogens das ins Bewußtſein-treten (man
könnte figürlich auch ſagen das Leuchtend-werden) derjenigen Vorſtellung,
welche an die getroffene Stelle der Hirnſubſtanz geknüpft war. — Nun
werden jedoch Vorſtellungen nicht bloß auf ſolche abſichtliche Weiſe ins
Bewußtſein gerufen, ſondern ein reihenweiſes unwillkürliches Erwachen
von Vorſtellungen, welches einem gewiſſen verborgenen Geſetze folgt und
(wie ich ſchon im Syſtem der Pſychologie nachgewieſen habe) jedenfalls
mit dem Durchſtrömtwerden des Hirns vom Blute in Verbindung ſteht,
findet noch außerdem Statt, und erklärt allein die hinter und zwiſchen
allem abſichtlichen Denken, gleich Wolkengebilden unabſichtlich vorüber¬
ziehenden Gedankenbilder. Dieſe unwillkürliche Reihe kann nun aller¬
dings mit in das abſichtliche Denken hereingezogen werden, indeß ſtehen
beide doch gewiſſermaßen in umgekehrtem Verhältniſſe. Wenn das abſicht¬
liche Denken mit großer Schärfe und Anſtrengung betrieben wird, ſo ſind
die unabſichtlichen Gedankenbilder bläſſer und gleichſam ferner vorüber¬
ziehend, wenn dagegen das willkürliche Denken matt wird (z. B. vor dem
Einſchlafen), ſo drängen ſich die unwillkürlich vorüberziehenden Vor¬
ſtellungsreihen deutlicher und näher heran, ja ſie ſind es, welche im
Schlafe faſt die einzigen werden und das confuſe ſonderbare Weſen der
Träume herſtellen.


Wer ſich nun das recht deutlich machen will, daß, wirklich faſt eben
ſo wie durch abſichtliche Strahlungen der Innervation in den Muskel¬
nerven das Muskelzucken, ſo das abſichtliche Denken mittels willkürlich


1.

angeregtem Wechſel von Innervationsſtrahlungen in der eigenen Faſerſub¬
ſtanz des Gehirns bedingt wird, der wird unſchwer begreifen, warum das
eine ſo gut wie das andere bei längerer Fortſetzung ermüden muß. An¬
haltendes Strahlen der Innervation erſchöpft die Erzeugung derſelben
und die Subſtanz bedarf der Ruhe um mittels des Blutlebens wieder
neue Innervation zu erzeugen. Eben ſo wie aber dieſe abſichtlichen Be¬
wegungen der Hirn-Innervation Erſchöpfung erzeugen können, ſo ſind ſie
auch in ſo fern den Geſetzen alles Bewußten unterworfen, daß ſie ein¬
geübt
werden müſſen und durch Uebung ſich vervollſtändigen. Daher
alſo die Erſcheinung, daß der des Denkens Ungewohnte etwas gar nicht
oder nur mit großer Mühe Nach-denken oder begreifen kann, was ein
denkender Kopf“ faſt im Augenblicke überdenkt und begreift. Hier
iſt demnach eine unendliche Perfectibilität dem menſchlichen Geiſte vorbe¬
halten! — Dieſelben Geiſtesoperationen, die auf niederer Stufe ſchwer
und langſam vollzogen werden, weil gleichſam noch nicht ſofort die rechte
Modalität im Combiniren der Innervationsſtrahlungen erreicht werden
kann, geſchehen auf höherer Stufe mit der ungeheuerſten Schnellig¬
keit und Präciſion, ja es muß bemerkt werden, daß dieſe Schnelligkeit
deßhalb ſo ungeheuer werden kann, weil die Leitungsfähigkeit in der In¬
nervationsſpannung an und für ſich ganz unbegränzt iſt. Hat doch ſchon
die Schnelligkeit des galvano-magnetiſchen Telegraphen faſt kein Zeitmaß
mehr, und ſcheint doch nun gar die Schnelligkeit der Innervationsleitung
an der Primitivfaſer der Nerven völlig zeitlos zu ſein! Iſt es alſo nur
möglich die Aufeinanderfolge in Leitungsſtrahlungen der Primitivfaſern
des Hirns in möglichſt raſchem Wechſel zu entwickeln, ſo wird die Schnel¬
ligkeit des Denkens außerordentlich ſein, da jene Strahlungen an und für
ſich ſelbſt gar keine Zeit in Anſpruch nehmen.


Dieſe Betrachtungen können gar manches pſychologiſche Räthſel löſen.
Sieht man z. B. ein zur höchſten Meiſterſchaft geſteigertes Rechentalent
operiren, welches die ſchwerſten verwickeltſten Rechnungen und Zählungen,
wozu Andere viele Stunden brauchen, in wenig Minuten beendet, ſo iſt
dies keinesweges als eine Art von „Divination“ zu betrachten, ſondern nur
die Folge ungeheuer ſchneller Aufeinanderfolge der an und für ſich gar
keine Zeit bedürfenden Combinationen gewiſſer Innervationsſpannungen des
Hirns. Es tritt hier faſt derſelbe Fall ein, wie mit den Bewegungen
des Taſchenſpielers, die wir ihrer großen Schnelligkeit wegen gar nicht
mehr bemerken. Kurz es liegen hier Aufſchlüſſe der verſchiedenſten Art
verborgen, welche das Geheimniß des Hirnlebens in ſeiner Beziehung zum
Denken vollſtändig erläutern können, ſobald man nur einmal das We¬
ſentliche der Sache gefaßt hat.

1.
Ausführlicher wird davon bei der Lehre von Geſundheit und Krank¬
heit der Seele die Rede ſein.
1.
„Tief nachſinnend nag' ich wund mein Herz!“ ſagt Prometheus
bei Aeſchylus (der gefeſſelte Prometheus V. 435.)
1.
D'Arpentigny, Chirognomonie.
1.
Nicht bloß mit andern Menſchen, auch mit ganzen Lebensrichtungen
kann ein ſolches ſympathiſches oder antipathiſches Vorgefühl begegnen.
1.
So mußte ich an dieſe Vorgänge denken, indem ich mir aus der früheſten
Lebensgeſchichte eines bekannten außerordentlichen Talents für Zahlen¬
rechnung erzählen ließ. Dieſer Mann, bei welchem die ungeheuere innere
Praxis des Rechnens alle andern und auch die höhern Geiſtesrichtungen
abſorbirt hat, ſo daß eigentlich der höhere philoſophiſche und poetiſche
Menſch ganz in dem Rechner untergegangen iſt, erfuhr als kleiner Knabe,
wie ihm in der Schule die erſten Ziffern vorgeſchrieben wurden, ein
wahres Entſetzen davor, ſo daß er nicht zur Schule kam, und daß er
ſpäter erſt, durch Schläge zum Schulbeſuch und Rechnen angehalten,
ganz zur Rechnenmaſchine wurde. Dieſes erſte Entſetzen vor Etwas, das
ſpäter ſeine höhere Richtung völlig abſorbirt hat, mußte mir ſogleich be¬
deutungsvoll im obigen Sinne erſcheinen.
1.
Ein Werk, welches ſehr geeignet iſt, dergleichen einzelne wirkliche
Zuſtände dem Leſer recht anſchaulich zu machen, ſind die „Biographien
Geiſteskranker, von Dr. K. W. Ideler.“ Berlin 1841.
1.
W. Graff, Althochdeutſcher Sprachſchatz. 1. Bd. S. 506.
1.

Die einzige Stelle eines neuern Schriftſtellers, in welcher man
einen ſolchen Unterſchied gewiſſermaßen angedeutet finden dürfte, obwohl
vielleicht mehr mit dem ſelbſt in ſich noch halb unbewußten Voraus¬
ſchauen des Dichters, als mit dem Wiſſen des Philoſophen, iſt gegeben
in den merkwürdigen Worten in dem 2. Theile des Fauſt, wo es von den
Müttern, d. h. eben den Urbildern, den göttlichen Bildern alles Seins
von allem Sein heißt:


„Ein glühnder Dreifuß thut Dir endlich kund

Du ſeiſt im tiefſten, allertiefſten Grund,

Bei ſeinem Schein wirſt Du die Mütter ſehn,

Die einen ſitzen, andre ſtehn und gehn

Wie's eben kommt. Geſtaltung, Umgeſtaltung,

Des ewigen Sinnes ew'ge Unterhaltung,

Umſchwebt von Bildern aller Kreatur

Sie ſehn Dich nicht, denn Schemen ſehn ſie nur“ —

Der hier ausgeſprochene Unterſchied der Mütter (Urbilder) zwiſchen
ſitzenden, oder ſtehenden und gehenden kann nämlich philoſophiſch nur
verſtanden werden, indem man die erſten deutet: als die ewig ſich ſelbſt
gleichen in Nothwendigkeit gebundenen, und die andern als die fortſchrei¬
tenden in der Selbſtſchau zur Freiheit beſtimmten Ideen. — Ein Unter¬
ſchied, deſſen Wichtigkeit man weiterhin mehr und mehr begreifen wird.


1.
Dieſes ſchöne auch zuerſt von Göthe gebildete Wort verdient ſehr
die Einführung in die philoſophiſche Rede. Der Drang, das eigenſte
Liebesbeſtreben des Göttlichen, Ewigen, ſich zeitlich immer neu und un¬
endlich zu offenbaren, kann auf keinen Fall beſſer bezeichnet werden.
1.
Die heilige Sage des Zendvolks, S. 395.
1.
Ebendaſelbſt, Seite 397.
2.
Ebendaſelbſt, Seite 396.
1.
A. a. O. 1. Theil, Seite 170.
1.
Timäus Steph. 28.
1.
Schon Oken ſagte (Naturphiloſophie Seite 258): „Jedes Auf¬
wachen iſt ein Auferſtehen vom Tode. Ein neues Sympathiſiren.“

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Holder of rights
Kolimo+

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2025). Collection 1. Psyche. Psyche. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bhvs.0