Begriff der Wiſſenſchaftslehre
oder
der ſogenannten Philoſophie,
Einladungsſchrift zu ſeinen Vorleſungen
über dieſe Wiſſenſchaft
Im Verlage des Induſtrie-Comptoirs
1794.
Vorrede.
Der Verfaſſer dieſer Abhandlung wurde durch das
Leſen neuer Skeptiker, beſonders des Aeneſidemus,
und der vortreflichen Maimonſchen Schriften völ-
lig von dem überzeugt, was ihm ſchon vorher
höchſt wahrſcheinlich geweſen war: daſs die Phi-
loſophie, ſelbſt durch die neueſten Bemühungen
der ſcharfſinnigſten Männer noch nicht zum Range
einer evidenten Wiſſenſchaft erhoben ſei. Er glaub-
te den Grund davon gefunden, und einen leichten
Weg entdeck[t] zu haben, alle jene gar ſehr gegrün-
deten Anforderungen der Skeptiker an die kritiſche
Philoſophie vollkommen zu befriedigen; und das
dogmatiſche und kritiſche Syſtem überhaupt in
ihren ſtreitenden Anſprüchen ſo zu vereinigen, wie
durch die kritiſche Philoſophie die ſtreitenden An-
ſprüche der verſchiedenen dogmatiſchen Syſteme
A 2ver-
[IV] vereinigt ſind *). Nicht gewohnt, von Dingen zu
reden, die er noch zu thun hat, — würde er
ſeinen Plan ausgeführt, oder auf immer von ihm ge-
ſchwiegen haben; wenn nicht die gegenwärtige
Veranlaſſung ihm eine Aufforderung zu ſeyn ſchie-
ne, von der bisherigen Anwendung ſeiner Muſse,
und von den Arbeiten, denen er die Zukunft zu
widmen gedenkt, Rechenſchaft abzulegen.
Die folgende Unterſuchung hat auf keine an-
dere Gültigkeit Anſpruch zu machen, als auf eine
hypothetiſche. Daraus aber folgt gar nicht, daſs
der Verfaſſer ſeinen Behauptungen überhaupt nichts
anders, als unerwieſene Vorausſetzungen zum
Grunde
[V] Grunde zu legen vermöge; und daſs ſie nicht den-
noch die Reſultate eines tiefer gehenden, und fe-
ſten Syſtems ſeyn ſollten. Freilich verſpricht er ſich
erſt nach Jahren es dem Publikum in einer deſſel-
ben würdigen Geſtalt vorlegen zu können; aber
die Billigkeit, daſs man nicht abſprechen werde,
ehe man das Ganze geprüft habe, erwartet er ſchon
jetzt.
Die erſte Abſicht dieſer Blätter war die, die
ſtudierenden Jünglinge der hohen Schule, auf wel-
che der Verfaſſer gerufen iſt, in den Stand zu
ſetzen, zu urtheilen, ob ſie ſich ſeiner Führung
auf dem Wege der erſten unter den Wiſſenſchaften
anvertrauen, und ob ſie hoffen dürften, daſs er ſo
viel Licht über dieſelbe zu verbreiten vermöge, als
ſie bedürfen, um ihn ohne gefährliches Straucheln
zu gehen: die zweite, die Urtheile ſeiner Gönner
und Freunde über ſein Unternehmen einzuholen.
Für diejenigen, die weder unter die erſten,
noch unter die zweiten gehören, wenn ihnen die-
ſe Schrift in die Hände kommen ſollte, ſind fol-
gende Anmerkungen.
Der Verfaſſer iſt bis jetzt innig überzeugt, daſs
kein menſchlicher Verſtand weiter, als bis zu der
Grenze vordringen könne, an der Kant beſonders
A 3in
[VI] in ſeiner Kritik der Urtheilskraft, geſtanden, die
er uns aber nie beſtimmt, und als die letzte Grenze
des endlichen Wiſſens angegeben hat. Er weiſs
es, daſs er nie etwas wird ſagen können, worauf
nicht ſchon Kant, unmittelbar oder mittelbar, deut-
licher oder dunkler gedeutet habe. Er überläſst
e[s] den zukünftigen Zeitaltern das Genie des Man-
nes zu ergründen, der von dem Standpunkte aus,
auf welchem er die philoſophierende Urtheilskraft
fand, oft wie durch höhere Eingebung geleitet,
ſie ſo gewaltig gegen ihr letztes Ziel hinriſs. —
Er iſt eben ſo innig überzeugt, daſs nach dem ge-
nialiſchen Geiſte Kants der Philoſophie kein höhe-
res Geſchenk gemacht werden konnte, als durch
den ſyſtematiſchen Geiſt Reinholds; und er glaubt
den ehrenvollen Platz zu kennen, welchen die Ele-
mentar-Philoſophie des letztern, bey den weitern
Vorſchriften, die die Philoſophie, an weſſen Hand
es auch ſey, nothwendig machen muſs, dennoch
immer behaupten wird. Es iſt nicht in ſeiner Den-
kungsart irgend ein Verdienſt muthwillig zu ver-
kennen, oder es verkleinern zu wollen; er glaubt
einzuſehen, daſs jede Stuffe, die die Wiſſenſchaft
je beſtiegen hat, erſt beſtiegen ſeyn muſste, ehe ſie
eine höhere betreten konnte; er hält es wahrhaf-
tig nicht für perſönliches Verdienſt durch einen
glücklichen Zufall nach vortreflichen Arbeitern an
die Arbeit gerufen zu werden; und er weiſs, daſs
alles
[VII] alles Verdienſt, was etwa hierin Statt finden könn-
te, nicht auf dem Glücke des Findens, ſondern
auf der Redlichkeit des Suchens beruht, über wel-
che jeder nur ſelbſt ſich richten, und belohnen
kann. Er ſagte dies nicht um jener groſsen Männer
und um derer Willen, die ihnen gleichen; ſondern
für andere nicht ganz ſo groſse Männer. Wer über-
flüſſig findet, daſs er es ſagte, der gehört nicht
unter diejenigen, für welche er es ſagte. Auſſer je-
nen ernſthaften giebt es auch noch ſcherzhafte
Männer, die den Philoſophen warnen, ſich durch
die übertriebne Erwartungen von ſeiner Wiſſen-
ſchaft doch nicht lächerlich zu machen. Ich will
nicht entſcheiden, ob alle recht aus Herzensgrunde
lachen, weil ihnen die Jovialität einmal angeboren
iſt; oder ob es nicht welche unter ihnen giebt, die
ſich bloſs zum Lachen zwingen, um den weltun-
klugen Forſcher ein Unternehmen zu verleiden,
daſs ſie aus begreiflichen Gründen nicht gern ſe-
hen. *) Da ich, ſo viel mir bewuſst iſt, bis jetzt durch
Aeuſſerung ſolcher hohen Erwartungen ihrer Laune
noch keine Nahrung gegeben habe: ſo iſt es mir
vielleicht am erſten erlaubt, ſie, nicht um der Phi-
loſophen, und noch weniger um der Philoſophie,
ſondern um ihrer ſelbſt Willen zu bitten, das La-
chen ſo lange zu verhalten, bis das Unternehmen
A 4förm-
[VIII] förmlich miſslungen, und aufgegeben iſt. Mögen
ſie dann unſers Glaubens an die Menſchheit, zu
der ſie ſelbſt gehören, und unſrer Hofnungen von
den groſsen Anlagen derſelben ſpotten; mögen ſie
dann ihren Troſtſpruch: Es iſt der Menſchheit ein-
mal nicht zu helfen; ſo war es, und ſo wird es
immer ſeyn, — wiederholen, ſo oft ſie des Tro-
ſtes bedürfen!
[[9]]
Erſter Abſchnitt.
Ueber
den Begriff der Wiſſenſchaftslehre
überhaupt.
§. 1. Hypothetiſch aufgeſtellter Begriff der
Wiſſenſchaftslehre.
Um getheilte Partheyen zu vereinigen, geht man am
ſicherſten von dem aus, worüber ſie einig ſind.
Die Philoſophie iſt eine Wiſſenſchaft; dar-
über kommen alle Beſchreibungen derſelben ſo überein,
wie ſie über das Objekt dieſer Wiſſenſchaft ſich von ein-
ander trennen. Und wie, wenn die Trennung gerade
daher gekommen wäre, daſs der Begriff der Wiſſenſchaft
ſelbſt nicht ganz entwickelt war: und wenn jenes ein-
zige Merkmal völlig hinreichte, den Begriff der Philo-
ſophie ſelbſt zu beſtimmen?
A 5Eine
[10]
Eine Wiſſenſchaft hat ſyſtematiſche Form; alle
Sätze in ihr hangen in einem einzigen Grundſatze zu-
ſammen, und vereinigen ſich in ihm zu einem Gan-
zen — auch dieſes geſteht man allgemein zu. Aber iſt
nun der Begriff der Wiſſenſchaft erſchöpft?
Wenn jemand auf einem grundloſen und uner-
weiſslichen Satze, z. B. auf dem, daſs es in der [Luft]
Geſchöpfe mit menſchlichen Neigungen, Leidenſchaf-
ten und Begriffen, und ätheriſchen Körpern gäbe; eine
noch ſo ſyſtematiſche Naturgeſchichte dieſer Luftgeiſter
aufbaute, welches an ſich recht wohl möglich iſt —
würden wir ein ſolches Syſtem, ſo ſtreng auch in demſel-
ben gefolgert wird, und ſo innig auch die einzelnen [Thei-
le]deſſelben unter einander verkettet ſeyn möchten, für
eine Wiſſenſchaft anerkennen? Hinwiederum wenn
jemand einen einzelnen Lehrſatz oder eine Thatſache
anführt — etwa der mechaniſche Handwerker den Satz;
daſs auf einer Horizontallinie der Perpendikul zu bei-
den Seiten rechte Winkel habe; oder der unſtudierte
Bauer das Faktum: daſs der jüdiſche Geſchichtſchreiber
Ioſephus zur Zeit der Zerſtörung Jeruſalems gelebt ha-
be — ſo wird jederman zugeſtehen, derſelbe habe Wiſ-
ſenſchaft von dem geſagten; obgleich der erſtere nicht
den geometriſchen Beweis ſeines Satzes von dem erſten
Grundſatze dieſer Wiſſenſchaft an ſyſtematiſch fuhren,
noch der andere die hiſtoriſche Glaubwürdigkeit ſeiner
Angabe ſchulgerecht darthun kann, ſondern beide die
Sache nur auf Treu und Glauben angenommen haben.
Warum nennen wir nun jenes feſte Syſtem, das auf ei-
nem unerwieſenen, und unerweiſsbaren Satze beruhet,
nicht Wiſſenſchaft; und warum nennen wir die Kennt-
niſs
[11] niſs der zweiten, die in ihrem Verſtande mit keinem
Syſteme zuſammenhängt, Wiſſenſchaft?
Ohne Zweifel darum, weil das erſtere in aller ſei-
ner ſchulgerechten Form doch nichts enthält, das man
wiſſen kann; und die letztere ohne alle ſchulgerechte
Form, etwas ſagen, das ſie wirklich wiſſen und wiſſen
können. —
Das Weſen der Wiſſenſchaft beſtünde demnach in
der Beſchaffenheit ihres Innhalts, dieſer müſste wenig-
ſtens für den, der Wiſſenſchaft haben ſoll, gewiſs ſeyn;
es müſste etwas ſeyn das er wiſſen könnte: und die
ſyſtematiſche Form wäre der Wiſſenſchaft blos zufällig;
ſie wäre nicht der Zweck derſelben, ſondern blos etwa
das Mittel zum Zwecke.
Nemlich — wenn etwa aus irgend einer Urſache
der menſchliche Geiſt nur ſehr wenig gewiſs wiſſen,
alles andere aber nur meynen, muthmaſsen, ahnen,
willkührlich annehmen könnte, — aber doch, gleich-
falls aus irgend einer Urſache, mit dieſer engbeſchränk-
ten oder unſichern Kenntniſs ſich nicht wohl begnügen
könnte, ſo würde ihm kein anderes Mittel übrig blei-
ben, dieſelbe auszubreiten und zu ſichern, als daſs er
die ungewiſſen Kenntniſſe mit den gewiſſen vergliche,
und aus der Gleichheit oder Ungleichheit der erſtern
mit den letztern, auf die Gewiſsheit oder Ungewiſsheit
derſelben folgerte. Wären ſie einem gewiſſen Satze
gleich, ſo könnte er ſicher annehmen, daſs ſie auch ge-
wiſs ſeyen; wären ſie ihm entgegengeſetzt, ſo wüſste
er nunmehro, daſs ſie falſch wären, und er wäre ſicher,
von ihnen nicht länger getäuſcht zu werden. Er hätte,
wenn auch nicht Wahrheit, doch Befreyung vom Irr-
thum gewonnen. —
Ich
[12]
Ich mache mich deutlicher. — Eine Wiſſenſchaft
ſoll Eins, ein Ganzes ſeyn. Der Satz, daſs der Per-
pendikul auf einer Horizontallinie zwei rechte Winkel
mache, oder daſs Joſephus zur Zeit der Zerſtörung Jeru-
ſalems gelebt habe, iſt für den, der keine zuſammen-
hängende Kenntniſs von der Geometrie, oder Geſchich-
te hat, ohne Zweifel ein Ganzes, und in ſo fern eine
Wiſſenſchaft.
Aber wir betrachten auch die geſammte Geometrie,
und Geſchichte als eine Wiſſenſchaft, da doch Beide
noch gar manches andre enthalten, als jene Sätze, —
wie und wodurch, werden nun eine Menge an ſich
höchſt verſchiedener Sätze zu Einer Wiſſenſchaft, zu
Einem und eben demſelben Ganzen?
Ohne Zweifel dadurch, daſs die einzelnen Sätze
überhaupt nicht Wiſſenſchaft wären, ſondern daſs ſie
erſt im Ganzen, durch ihre Stelle im Ganzen, und
durch ihr Verhältniſs zum Ganzen es werden. Nie
aber kann durch bloſse Zuſammenſetzung von Theilen
ein etwas entſtehen, das nicht in einem Theile des
Ganzen anzutreffen ſei. Wenn gar kein Satz unter
den verbundnen Sätzen Gewiſsheit hätte, ſo würde
auch das durch die Verbindung entſtandene Ganze keine
haben.
Mithin müſste wenigſtens Ein Satz gewiſs ſeyn
der etwa den übrigen ſeine Gewiſsheit mittheilte; ſo
daſs, wenn, und in wie fern dieſer Eine gewiſs ſeyn
ſoll, auch ein Zweiter, und wenn, und in wie fern
dieſer Zweite gewiſs ſeyn ſoll, auch ein Dritter, u. ſ. f.
gewiſs ſeyn muſs. Und ſo würden mehrere, und an
ſich
[13] ſich vielleicht ſehr verſchiedene Sätze, eben dadurch
daſs ſie alle — Gewiſsheit, und die gleiche Gewiſsheit
hätten, nur Eine Gewiſsheit gemein haben, und da-
durch nur Eine Wiſſenſchaft werden. —
Der gewiſſe Satz — wir haben bis jezt nur Einen
als gewiſs angenommen — kann ſeine Gewiſsheit nicht
erſt durch die Verbindung mit den übrigen erhalten,
ſondern muſs ſie vor derſelben vorher haben; denn aus
Vereinigung mehrerer Theile kann nichts entſtehen,
was in keinem Theile iſt. Alle übrigen aber müſsten
die ihrige von ihm erhalten. Er müſste vor aller Ver-
bindung vorher gewiſs und ausgemacht ſeyn. Kein
einziger von den übrigen aber müſste vor der Ver-
bindung es ſeyn, ſondern erſt durch ſie es werden.
Hieraus erhellet zugleich, daſs unſere obige An-
nahme die einzige richtige iſt, und daſs in einer Wiſ-
ſenſchaft nur Ein Satz ſeyn kann, der vor der Verbin-
dung vorher gewiſs und ausgemacht iſt. Gäbe es meh-
rere dergleichen Sätze; ſo wären ſie entweder mit dem
andern gar nicht verbunden, und dann gehörten ſie
nicht zu dem gleichen Ganzen, ſondern machten Ein
oder mehrere abgeſonderte Ganze aus; oder ſie wären
damit verbunden. Die Sätze ſollen aber nicht anders
verbunden werden, als durch die Eine und gleiche
Gewiſsheit. Wenn Ein Satz gewiſs iſt, ſo ſoll auch
ein anderer gewiſs ſeyn, und wenn der Eine nicht ge-
wiſs iſt, ſo ſoll auch der andere nicht gewiſs ſeyn. Dies
könnte von einem Satze, der eine von den übrigen
Sätzen unabhängige Gewiſsheit hätte, nicht gelten; wenn
ſeine Gewiſsheit unabhängig ſeyn ſoll, ſo iſt er gewiſs,
wenn
[14] wenn auch die Andern nicht gewiſs ſind. Mithin wäre
er überhaupt nicht mit ihnen durch Gewiſsheit verbun-
den[.] Ein ſolcher vor der Verbindung vorher gewiſſer
Satz heiſst ein Grundſatz. Jede Wiſſenſchaft muſs ei-
nen Grundſatz haben; ja ſie könnte ihrem inneren Cha-
rakter nach wohl gar aus einem einzigen an ſich gewiſ-
ſen Satze beſtehen, — der aber dann freilich nicht
Grundſatz heiſsen könnte, weil er nichts begründete.
Sie kann aber auch nicht mehr als Einen Grundſatz
haben, weil ſie ſonſt nicht Eine ſondern mehrere Wiſ-
ſenſchaften ausmachen würde.
Eine Wiſſenſchaft kann [auſſerdem] vor der Verbin-
dung vorher gewiſſen Satze noch mehrere Sätze enthal-
ten, die erſt durch die Verbindung mit jenem als gewiſs
erkannt werden. Die Verbindung beſteht, wie eben
erinnert worden, darinn, daſs gezeigt werde, wenn
der Satz A gewiſs ſei, müſſe auch der Satz B — und
wenn dieſer gewiſs ſei, müſſe auch der Satz C u. ſ. f.
gewiſs ſeyn; und dieſe Verbindung heiſst die ſyſtema-
tiſche Form des Ganzen, das aus den einzelnen Thei-
len entſteht. — Wozu nun dieſe Verbindung? Ohne
Zweifel nicht um ein Kunſtſtück des Verbindens zu ma-
chen, ſondern um Sätzen Gewiſsheit zu geben, die an
ſich keine hätten; und ſo iſt die ſyſtematiſche Form nicht
Zweck der Wiſſenſchaft, ſondern ſie iſt das zufällige,
nur unter der Bedingung, daſs die Wiſſenſchaft aus
mehrern Sätzen beſtehen ſolle, anwendbare Mittel zur
Erreichung ihres Zwecks. Sie iſt nicht das Weſen der
Wiſſenſchaft, ſondern eine zufällige Eigenſchaft derſel-
ben. — Die Wiſſenſchaft ſei ein Gebäude; der Haupt-
zweck derſelben ſei Feſtigkeit. Der Grund iſt feſt, und
ſo
[15] ſo wie dieſer gelegt iſt, wäre der Zweck erreicht. Weil
man aber im bloſsen Grunde nicht wohnen, durch ihn
allein ſich weder gegen den willkührlichen Anfall des
Feindes, noch gegen die unwillkührlichen Anfälle der
Witterung ſchützen kann, ſo führt man auf denſelben
Seitenwände, und über dieſen ein Dach auf. Alle Theile
des Gebäudes werden mit dem Grunde, und unter ſich
ſelbſt zuſammengefügt, und dadurch wird das Ganze
feſt; aber man baut nicht ein feſtes Gebäude, damit
man zuſammenfügen könne, ſondern man fügt zuſam-
men, damit das Gebäude feſt werde; und es iſt feſt, in ſo
fern alle Theile deſſelben auf einem feſten Grunde ruhen.
Der Grund iſt feſt, und er iſt auf keinen neuen
Grund, ſondern er iſt auf den feſten Erdboden gegrün-
det. — Worauf wollen denn wir den Grund unſrer
wiſſenſchaftlichen Gebäude aufführen? Die Grundſätze
unſrer Syſteme ſollen und müſſen vor dem Syſteme vor-
her gewiſs ſeyn. Ihre Gewiſsheit kann in dem Umfange
derſelben nicht erwieſen werden, ſondern jeder in
ihnen mögliche Beweiſs ſetzt ſie ſchon voraus. Sind ſie
gewiſs, ſo iſt freilich alles, was aus ihnen folgt, auch
gewiſs: aber aus was folgt denn ihre eigene Gewiſsheit?
Noch mehr — wir wollen beym Aufbauen unſrer
Lehrgebäude ſo folgern: Wenn der Grundſatz gewiſs iſt,
ſo iſt auch ein beſtimmter andrer Satz gewiſs. Worauf
gründet ſich denn jenes So? Was iſt es, das den noth-
wendigen Zuſammenhang zwiſchen beiden begründet,
vermöge deſſen dem einen eben die Gewiſsheit zukom-
men ſoll, die dem andern zukommt? Welches ſind die
Bedingungen dieſes Zuſammenhangs; und woher wiſſen
wir, daſs ſie die Bedingungen, und die ausſchlieſsenden
Be-
[16] Bedingungen, und die einzigen Bedingungen deſſelben
ſind? und wie kommen wir überhaupt dazu, einen
nothwendigen Zuſammenhang zwiſchen verſchiedenen
Sätzen, und ausſchlieſsende, aber erſchöpfte Bedingun-
gen derſelben anzunehmen?
Kurz, wie läſst ſich die Gewiſsheit des Grund-
ſatzes an ſich; wie läſst ſich die Befugniſs auf eine be-
ſtimmte Art aus ihm die Gewiſsheit anderer Sätze zu
folgern, begründen?
Dasjenige, was der Grundſatz ſelbſt haben, und
allen übrigen Sätzen, die in der Wiſſenſchaft vorkom-
men, mittheilen ſoll, nenne ich den innern Gehalt des
Grundſatzes und der Wiſſenſchaft überhaupt; die Art,
wie er daſſelbe den andern Sätzen mittheilen ſoll,
nenne ich die Form der Wiſſenſchaft. Die aufgegebne
Frage iſt mithin die: Wie iſt Gehalt und Form einer
Wiſſenſchaft überhaupt, d. h. wie iſt die Wiſſenſchaft
ſelbſt möglich?
Etwas, worinn dieſe Frage beantwortet würde,
wäre ſelbſt eine Wiſſenſchaft, und zwar die Wiſſenſchaft
von der Wiſſenſchaft überhaupt.
Es läſst vor der Unterſuchung vorher ſich nicht
beſtimmen, ob die Beantwortung jener Frage möglich
ſeyn werde oder nicht, d. h. ob unſer geſammtes Wiſ-
ſen einen feſten Grund habe, oder ob es, ſo innig
unter ſich verkettet auch die einzelnen Theile deſſelben
ſeyn mögen, doch zuletzt auf Nichts beruhe. Soll
aber unſer Wiſſen einen Grund haben, ſo muſs jene
Frage
[17] Frage ſich beantworten laſſen, und es muſs eine Wiſ-
ſenſchaft geben, in der ſie beantwortet wird; und giebt
es eine ſolche Wiſſenſchaft, ſo hat unſer Wiſſen einen
Grund. Es läſst ſich demnach über die [Gründlichkeit]
oder Grundloſigkeit unſers Wiſſens vor der Unterſu-
chung vorher nichts ſagen; und die Möglichkeit der
geforderten Wiſſenſchaft läſst ſich nur durch ihre
Wirklichkeit darthun.
Die Benennung einer ſolchen Wiſſenſchaft, deren
Möglichkeit bis jetzt bloſs problematiſch iſt, iſt willkür-
lich. Wenn ſich jedoch zeigen ſollte, daſs der Boden,
der nach aller bisherigen Erfahrung für den Anbau der
Wiſſenſchaften brauchbar iſt, durch die ihm zugehöri-
gen bereits beſetzt ſey, und daſs ſich nur noch ein un-
angebautes Stück Land zeige, nemlich das für die Wiſ-
ſenſchaft der Wiſſenſchaften überhaupt; — Wenn ſich
ferner unter einem bekannten Namen (dem der Philo-
ſophie) die Idee einer Wiſſenſchaft vorfände, welche
doch auch Wiſſenſchaft ſeyn oder werden will, und
welche über den Platz, wo ſie ſich anbauen ſoll, mit
ſich nicht einig werden kann: ſo wäre es nicht un-
ſchicklich, ihr den aufgefundenen leeren Platz anzu-
weiſen. Ob man ſich bisher bei dem Worte Philoſo-
phie eben das gedacht habe oder nicht, thut überhaupt
nichts zur Sache; und dann würde dieſe Wiſſenſchaft,
wenn ſie nur einmal Wiſſenſchaft geworden wäre, nicht
ohne Fug einen Namen ablegen, den ſie aus übertrie-
bener Beſcheidenheit bisher geführt hat — den Namen
einer Kennerei, einer Liebhaberei, eines Dillettan-
tiſm. Die Nation, welche ſie erfinden wird, wäre es
wohl werth ihr aus ihrer Sprache einen Namen zu ge-
Bben
[18] ben *); und ſie könnte dann ſchlechthin die Wiſſenſchaft,
oder die Wiſſenſchaftslehre heiſſen. Die bisher ſoge-
nannte Philoſophie wäre demnach die Wiſſenſchaft
von einer Wiſſenſchaft überhaupt.
§. 2. Entwicklung des Begriffs der Wiſſen-
ſchaftslehre.
Man ſoll aus Definitionen nicht folgern: das heiſst
entweder, man ſoll daraus, daſs man ſich ohne Wider-
ſpruch in die Beſchreibung eines Dinges, welches ganz
unabhängig von unſrer Beſchreibung exiſtiert, ein ge-
wiſſes Merkmal hat denken können, nicht ohne wei-
tern Grund ſchlieſſen, daſs daſſelbe darum im wirkli-
chen Dinge anzutreffen ſeyn müſſe; oder man ſoll bei
einem Dinge, das ſelbſt erſt durch uns, nach einem
davon gebildeten Begriffe, der den Zweck deſſelben
ausdrückt, hervorgebracht werden ſoll, aus der Denk-
barkeit dieſes Zwecks noch nicht auf die Ausführbar-
keit deſſelben in der Wirklichkeit ſchlieſſen: aber nim-
mermehr kann es heiſſen, man ſolle ſich bei ſeinen gei-
ſtigen oder körperlichen Arbeiten keinen Zweck aufge-
ben, und ſich denſelben, noch ehe man an die Arbeit
geht, ja nicht deutlich zu machen ſuchen, ſondern es
dem Spiele ſeiner Einbildungskraft, oder ſeiner Finger
überlaſſen, was etwa herauskommen möge. Der Er-
finder der Aëroſtatiſchen Bälle durfte wohl die Gröſse
derſelben, und das Verhältniſs der darinn eingeſchloſ-
ſenen
[19] ſenen Luft gegen die Atmoſphäriſche, und den Grad
ihrer Schnelligkeit berechnen; auch noch ehe er wuſs-
te, ob er eine [Luftart] finden würde, die um den er-
forderlichen Grad leichter ſey, als die Atmoſphäriſche:
und Archimedes konnte die Maſchine, durch welche
er den Erdball aus ſeiner Stelle bewegen wollte, be-
rechnen, ob er gleich ſicher wuſste, daſs er keinen
Platz auſſerhalb der Anziehungskraft derſelben finden
würde, von welchem aus er ſie könnte wirken laſſen. —
So unſere eben beſchriebene Wiſſenſchaft. Sie iſt, als
ſolche, nicht etwas, das unabhängig von uns, und
ohne unſer Zuthun exiſtiere, ſondern das erſt durch
die Freiheit unſers nach einer beſtimmten Richtung hin
wirkenden Geiſtes hervorgebracht werden ſoll; wenn
es eine ſolche Freiheit giebt, wie wir gleichfalls noch
nicht wiſſen können. Beſtimmen wir dieſe Richtung
vorher; machen wir uns einen deutlichen Begriff da-
von, was unſer Werk werden ſoll! Ob wir es hervor-
bringen können oder nicht, das wird ſich erſt daraus
ergeben, ob wir es wirklich hervorbringen. Jetzt iſt
nicht davon die Frage, ſondern davon, was wir eigent-
lich machen wollen; und das beſtimmt unſere Defini-
tion.
1) Die beſchriebene Wiſſenſchaft ſoll zuförderſt
eine Wiſſenſchaft der Wiſſenſchaft überhaupt ſeyn. Jede
mögliche Wiſſenſchaft hat einen Gründſatz, der in ihr
nicht erwieſen werden kann, ſondern vor ihr vorher
gewiſs ſeyn muſs. Wo ſoll nun dieſer Grundſatz er-
wieſen werden? Ohne [Zweifel] in derjenigen Wiſſen-
ſchaft, welche alle möglichen Wiſſenſchaften zu begrün-
den hat. — Die Wiſſenſchaftslehre hätte in dieſer
B 2Rück-
[20] Rückſicht zweierlei zu thun. Zuförderſt die Möglich-
keit der Grundſätze überhaupt zu begründen; zu zei-
gen, wie, in wie fern, unter welchen Bedingungen,
und vielleicht in welchen Graden etwas gewiſs ſeyn
könne, und überhaupt, was das heiſſe — gewiſs ſeyn;
dann hätte ſie insbeſon[d]ere die Grundſätze aller mögli-
chen Wiſſenſchaften zu erweiſen, die in ihnen ſelbſt
nicht erwieſen werden können.
Jede Wiſſenſchaft, wenn ſie nicht ein einzelner ab-
geriſſener Satz, ſondern ein aus mehrern einzelnen
Sätzen beſtehendes [Ganze] ſeyn ſoll, hat ſyſtematiſche
Form. Dieſe Form, die Bedingung des Zuſammen-
hangs der abgeleiteten Sätze mit dem Grundſatze, und
der Rechtsgrund, aus dieſem Zuſammenhange zu fol-
gern, daſs die erſtern nothwendig eben ſo gewiſs ſeyn
müſſen, als der letztere, läſst in der beſondern Wiſſen-
ſchaft, wenn ſie Einheit haben, und ſich nicht mit
fremden, in ſie nicht gehörigen Dingen beſchäftigen
ſoll, ſich eben ſo wenig darthun, ſondern wird zur
Möglichkeit ihrer Form ſchon vorausgeſetzt. Eine all-
gemeine Wiſſenſchaftslehre hat alſo die Verbindlichkeit
auf ſich, für alle möglichen Wiſſenſchaften die ſyſte-
matiſche Form zu begründen.
2) Die Wiſſenſchaftslehre iſt ſelbſt eine Wiſſenſchaft,
Auch ſie muſs daher zuförderſt einen Grundſatz haben,
der in ihr nicht erwieſen werden kann, ſondern zum
Behuf ihrer Möglichkeit vorausgeſetzt wird. Aber
dieſer Grundſatz kann auch in keiner andern höhern
Wiſſenſchaft erwieſen werden; denn dann wäre dieſe
höhere Wiſſenſchaft die Wiſſenſchaftslehre, und dieje-
nige,
[21] nige, deren Grundſatz erſt erwieſen werden müſste,
wäre er nicht. Dieſer Grundſatz der Wiſſenſchaftslehre,
und vermittelſt ihrer aller Wiſſenſchaften und alles Wiſ-
ſens iſt daher ſchlechterdings keines Beweiſes fähig, d.
h., er iſt auf keinen höhern Satz zurück zu führen, aus
deſſen Vergleichung mit ihm ſeine Gewiſsheit erhelle.
Dennoch ſoll er die Grundlage aller Gewiſsheit abgeben;
er muſs daher doch gewiſs und zwar in ſich ſelbſt, und
um ſein ſelbſt willen, und durch ſich ſelbſt gewiſs
ſeyn. Alle andere Sätze werden gewiſs ſeyn, weil ſich
zeigen läſst, daſs ſie ihm in irgend einer Rückſicht
gleich ſind; dieſer Satz muſs gewiſs ſeyn, bloſs darum,
weil er ſich ſelbſt gleich iſt. Alle andere Sätze werden
nur eine mittelbare und von ihm abgeleitete Gewiſsheit
haben; er muſs unmittelbar gewiſs ſeyn. Auf ihn grün-
det ſich alles Wiſſen, und ohne ihn wäre überhaupt
kein Wiſſen möglich; er aber gründet ſich auf kein an-
deres Wiſſen, ſondern er iſt der Satz des Wiſſens
ſchlechthin — — Dieſer Satz iſt ſchlechthin gewiſs, d. h.,
er iſt gewiſs, weil er gewiſs iſt. Er iſt der Grund aller
Gewiſsheit, d. h., alles was gewiſs iſt, iſt gewiſs, weil
er gewiſs iſt; und es iſt nichts gewiſs, wenn er nicht
gewiſs iſt. Er iſt der Grund alles Wiſſens, d. h., man
weiſs, was er ausſagt, weil man überhaupt weiſs; man
weiſs es unmittelbar, ſo wie man irgend etwas weiſs.
Er begleitet alles Wiſſen, iſt in allen Wiſſen enthalten,
und alles Wiſſen ſetzt ihn voraus.
Die Wiſſenſchaftslehre muſs, in ſo fern ſie ſelbſt
eine Wiſſenſchaft iſt, wenn ſie nur nicht aus ihrem
bloſsen Grundſatze, ſondern aus mehrern Sätzen beſte-
hen ſoll, — und daſs es ſo ſeyn werde, läſst ſich dar-
B 3um
[22] um vorausſehen, weil ſie für andre Wiſſenſchaften
Grundſätze aufzuſtellen hat — ſie muſs, ſage ich, ſyſte-
matiſche Form haben. Nun kann ſie dieſe ſyſtematiſche
Form von keiner andern Wiſſenſchaft der Beſtimmung
nach entlehnen, oder der Gültigkeit nach ſich darauf
berufen, weil ſie ſelbſt für alle andere Wiſſenſchaften
nicht nur Grundſätze und dadurch ihren innern Gehalt,
ſondern auch die Form und dadurch die Möglichkeit der
Verbindung mehrerer Sätze in ihnen aufzuſtellen hat.
Sie muſs mithin dieſe Form in ſich ſelbſt haben, und ſie
durch ſich ſelbſt begründen.
Wir dürfen dies nur ein wenig zergliedern, um zu
ſehen, was dadurch eigentlich geſagt werde. — Dasje-
nige, von dem man etwas weiſs, heiſſe indeſs der Ge-
halt, und das, was man davon weiſs, die Form des
Satzes. (In dem Satze: Gold iſt ein Körper, iſt das-
jenige, wovon man etwas weiſs, das Gold und der
Körper; das was man von ihnen weiſs, iſt, daſs ſie in
einer gewiſſen Rückſicht gleich ſind, und in ſo fern eins
ſtatt der andern geſetzt werden könne. Es iſt ein be-
jahender Satz, und dieſe Beziehung iſt ſeine Form.)
Kein Satz iſt ohne Gehalt oder Form möglich. Es
muſs etwas ſeyn, wovon man weiſs, und etwas, das
man davon weiſs. Der erſte Satz aller Wiſſenſchafts-
lehre muſs demnach beides, Gehalt und Form haben.
Nun ſoll er unmittelbar und durch ſich ſelbſt gewiſs
ſeyn, und das kann nichts anders heiſſen, als daſs der
Gehalt deſſelben ſeine Form, und umgekehrt die Form
deſſelben ſeinen Gehalt beſtimme. Dieſe Form kann
nur zu jenem Gehalte, und dieſer Gehalt kann nur zu
jener
[23] jener Form paſſen; jede andre Form zu dieſem Gehalte
hebt den Satz ſelbſt und mit ihm alles Wiſſen, und je-
der andre Gehalt zu dieſer Form hebt gleichfalls den
Satz ſelbſt und mit ihm alles Wiſſen auf. Die Form
des abſoluten erſten Grundſatzes der Wiſſenſchaftslehre
iſt alſo durch ihn ſelbſt nicht nur gegeben, ſondern auch
als ſchlechthin gültig für den Gehalt deſſelben aufgeſtellt.
Sollte es auſſer dieſem einen abſolut-erſten noch meh-
rere Grundſätze der Wiſſenſchaftslehre geben, die nur
zum Theil abſolut, zum Theil aber durch den erſten
und höchſten bedingt ſeyn müſſen, weil es ſonſt nicht
einen einzigen Grundſatz gäbe: — ſo könnte das abſo-
lut-erſte in denſelben nur entweder der Gehalt oder
die Form, und das bedingte gleichfalls nur entweder
der Gehalt oder die Form ſeyn. Setzet, der Gehalt
ſei das unbedingte, ſo wird der abſolut-erſte Grund-
ſatz, der etwas in dem zweiten bedingen muſs, weil
er ſonſt nicht abſolut-erſter Grundſatz wäre, die Form
deſſelben bedingen; und demnach würde ſeine Form
in der Wiſſenſchaftslehre ſelbſt, und durch ſie, und
durch ihren erſten Grundſatz beſtimmt: oder ſetzet um-
gekehrt, die Form ſei das unbedingte, ſo wird durch
den erſten Grundſatz nothwendig der Gehalt dieſer Form
beſtimmt, mithin mittelbar auch die Form, in ſo fern
ſie Form eines Gehaltes ſeyn ſoll; alſo auch in dieſem
Falle würde die Form durch die Wiſſenſchaftslehre, und
zwar durch ihren Grundſatz beſtimmt. — Einen Grund-
ſatz aber, der weder ſeiner Form, noch ſeinem Gehalte
nach, durch den abſolut-erſten Grundſatz beſtimmt
würde, kann es nicht geben, wenn es einen abſolut-
erſten Grundſatz, und eine Wiſſenſchaftslehre, und ein
Syſtem des menſchlichen Wiſſens überhaupt geben ſoll.
B 4Mit
[24] Mithin könnte es auch nicht mehrere Grundſätze geben,
als drei; einen abſolut und ſchlechthin durch ſich ſelbſt,
ſowohl der Form, als dem Gehalte nach beſtimmten;
einen der Form nach durch ſich ſelbſt beſtimmten, und
einem dem Gehalte nach durch ſich ſelbſt beſtimmten. —
Giebt es noch mehrere Sätze in der Wiſſenſchaftslehre,
ſo müſſen alle, ſowohl der Form, als dem Gehalte nach,
durch den Grundſatz beſtimmt ſeyn. Eine Wiſſenſchafts-
lehre muſs demnach die Form aller ihrer Sätze, in ſo
fern ſie einzeln betrachtet werden, beſtimmen. Eine
ſolche Beſtimmung der einzelnen Sätze aber iſt nicht
anders, als ſo möglich, daſs ſie ſich ſelbſt wechſelſeitig
beſtimmen. Nun aber muſs jeder Satz vollkommen be-
ſtimmt ſeyn, d. i., ſeine Form muſs nur zu ſeinem Ge-
halte, und zu keinem andern, und dieſer Gehalt muſs
nur zu der Form, in der er iſt, und zu keiner andern
paſſen; denn ſonſt würde der Satz dem Grundſatze, in
ſo fern er gewiſs iſt, (S. oben) nicht gleich, und mithin
nicht gewiſs ſeyn. — Wenn nun alle Sätze einer Wiſ-
ſenſchaftslehre an ſich verſchieden ſeyn ſollen — wie
ſie es denn ſeyn müſſen, denn ſonſt wären es nicht
mehrere Sätze, ſondern ein und ebenderſelbe Satz meh-
reremale: — ſo kann kein Satz ſeine vollkommne Be-
ſtimmung anders, als durch einen einzigen unter allen
erhalten; und hierdurch wird denn die ganze Reihe
der Sätze vollkommen beſtimmt, und es kann keiner an
einer andern Stelle der Reihe ſtehen, als an der er ſteht.
Jeder Satz in der Wiſſenſchaftslehre bekommt durch ei-
nen beſtimmten andern ſeine Stelle beſtimmt, und be-
ſtimmt ſie ſelbſt einem beſtimmten dritten. Die [Wiſſen-
ſchaftslehre] beſtimmt ſich mithin durch ſich ſelbſt die
Form ihres Ganzen.
Dieſe
[25]
Dieſe Form der Wiſſenſchaftslehre hat nothwendige
Gültigkeit für den Gehalt derſelben. Denn wenn der
abſolut-erſte Grundſatz unmittelbar gewiſs war, d. i.,
wenn ſeine Form nur für ſeinen Gehalt, und ſein Ge-
halt nur für ſeine Form paſste. — durch ihn aber alle
möglichen folgenden Sätze, unmittelbar oder mittelbar,
dem Gehalte oder der Form nach, beſtimmt werden; —
wenn ſie gleichſam ſchon in ihm enthalten lägen; — ſo
muſs eben das von ihm gelten, was von jenem gilt, daſs
ihre Form nur zu ihrem Gehalte, und ihr Gehalt nur
zu ihrer Form paſſe. Dieſs betrift die einzelnen Sätze;
die Form des Ganzen aber iſt nichts anders, als die Form
der einzelnen Sätze in Einem gedacht, und was von
jedem einzelnen gilt, muſs von allen, als Eins gedacht,
auch gelten.
Die Wiſſenſchaftslehre ſoll aber nicht nur ſich ſelbſt,
ſondern auch allen möglichen übrigen Wiſſenſchaften
ihre Form geben, und die Gültigkeit dieſer Form für
alle ſicher ſtellen. Dieſes läſst ſich nun nicht anders
denken, als unter der Bedingung, daſs alles, was Satz
irgend einer Wiſſenſchaft ſeyn ſoll, ſchon in irgend ei-
nem Satze der Wiſſenſchaftslehre enthalten, und alſo
ſchon in ihr in ſeiner gehörigen Form aufgeſtellt ſei.
Und dieſes eröffnet uns einen leichten Weg zum Ge-
halte des abſolut-erſten Grundſatzes der Wiſſenſchafts-
lehre zurück zu gehen, von dem wir jetzt etwas mehr
ſagen können, als wir vorhin konnten.
Man nehme an, gewiſs wiſſen heiſſe nichts anders,
als Einſicht in die Unzertrennlichkeit eines beſtimmten
Gehalts von einer beſtimmten Form haben, (welcher
B 5nichts
[26] nichts weiter als eine Namenerklärung ſeyn ſoll, indem
eine Realerklärung des Wiſſens ſchlechterdings unmög-
lich iſt,): ſo lieſs ſich ſchon jetzt ungefähr einſehen, wie
dadurch, daſs der abſolut-erſte Grundſatz alles Wiſſens
ſeine Form ſchlechthin durch ſeinen Gehalt, und ſeinen
Gehalt ſchlechthin durch ſeine Form beſtimmt, allem
Gehalte des Wiſſens ſeine Form beſtimmt werden könne;
wenn nemlich aller mögliche Gehalt in dem ſeinigen
läge. Mithin müſste, wenn unſre Vorausſetzung rich-
tig ſeyn, und es einen abſolut-erſten Grundſatz alles
Wiſſens geben ſollte, der Gehalt dieſes Grundſatzes der-
jenige ſeyn, der allen möglichen Gehalt in ſich enthiel-
te, ſelbſt aber in keinem andern enthalten wäre. Es
wäre der Gehalt ſchlechthin, der abſolute Gehalt.
Es iſt leicht zu bemerken, daſs bei Vorausſetzung
der Möglichkeit einer ſolchen Wiſſenſchaftslehre über-
haupt, ſo wie insbeſondere der Möglichkeit ihres
Grundſatzes immer vorausgeſetzt werde, daſs im
menſchlichen Wiſſen wirklich ein Syſtem ſey. Soll ein
ſolches Syſtem darin ſeyn, ſo läſst ſich auch, unabhängig
von unſerer Beſchreibung der Wiſſenſchaftslehre er-
weiſen, daſs es einen ſolchen abſolut-erſten Grundſatz
geben müſſe.
Soll es kein ſolches Syſtem geben, ſo laſſen ſich
nur zwei Fälle denken. Entweder, es giebt überhaupt
nichts unmittelbar Gewiſſes; unſer Wiſſen bildet meh-
rere oder Eine unendliche Reihe, in der jeder Satz
durch einen höhern, und dieſer wieder durch einen
[höh]ern u. ſ. f. begründet wird. Wir bauen unſre
[Woh]nhäuſer auf den Erdboden, dieſer ruht auf einem
Elephan-
[27] Elephanten, dieſer auf einer Schildkröte, dieſer — wer
weiſs es, auf was, und ſo ins unendliche fort. —
Wenn es mit unſerm Wiſſen einmal ſo beſchaffen iſt,
ſo können wir es freilich nicht ändern, aber wir ha-
ben dann auch kein feſtes Wiſſen: wir ſind vielleicht
bis auf ein gewiſſes Glied in der Reihe zurückgegan-
gen, und bis auf dieſes haben wir alles feſt gefunden;
aber wer kann uns dafür einſtehen, daſs wir nicht,
wenn wir etwa noch tiefer gehen ſollten, den Ungrund
deſſelben finden, und es werden aufgeben müſſen?
Unſre Gewiſsheit iſt erbeten, und wir können ihrer
nie auf den folgenden Tag ſicher ſeyn.
Oder — der zweite Fall — unſer Wiſſen beſteht
aus endlichen Reihen, aber aus mehrern. Jede Reihe
ſchlieſst ſich in einem Grundſatze, der durch keinen
andern, ſondern bloſs durch ſich ſelbſt begründet wird;
aber es giebt ſolcher Grundſätze mehrere, welche, da
ſie ſich alle, und ſchlechthin unabhängig von allen übri-
gen begründen, keinen Zuſammenhang unter ſich
haben, ſondern völlig iſolirt ſind. Es giebt etwa meh-
rere angebohrne Wahrheiten in uns, die alle gleich
angebohren ſind, und in deren Zuſammenhang wir
keine weitere Einſicht erwarten können, da derſelbe
über die angebohrnen Wahrheiten hinaus liegt; oder
es giebt ein mannigfaltiges Einfaches in den Dingen
auſſer uns, das uns durch den Eindruck, den ſie auf
uns machen, mitgetheilt wird, in deſſen Zuſammen-
hang wir aber nicht eindringen können, da es über
das Einfachſte im Eindrucke kein noch einfacheres ge-
ben kann. — Wenn es ſich ſo verhält; wenn das
menſchliche Wiſſen an ſich, und ſeiner Natur nach
ſolches
[28] ſolches Stückwerk iſt, wie das wirkliche Wiſſen ſo vie-
ler Menſchen; wenn urſprünglich eine Menge Fäden
in unſerm Geiſte liegen, die unter ſich in keinem Punkte
zuſammenhängen, noch zuſammengehängt werden kön-
nen, ſo vermögen wir abermals nicht gegen unſre Na-
tur zu ſtreiten; unſer Wiſſen iſt, ſo weit es ſich er-
ſtreckt, zwar ſicher; aber es iſt kein einiges Wiſſen,
ſondern es ſind viele Wiſſenſchaften. — Unſre Woh-
nung ſtünde dann zwar feſt, aber es wäre nicht ein
einiges zuſammenhängendes Gebäude, ſondern ein
Aggregat von Kammern, aus deren keiner wir in die
andre übergehen könnten; es wäre eine Wohnung, in
der wir uns immer verirren, und nie einheimiſch wer-
den würden. Es wäre kein Licht darin, und wir
blieben bei allen unſern Reichthümern arm, weil
wir dieſelben nie überſchlagen, nie als ein Ganzes
betrachten, und nie wiſſen könnten, was wir ei-
gentlich beſäſsen; wir könnten nie einem Theil der-
ſelben zur Verbeſſerung des übrigen anwenden, weil
kein Theil ſich auf das übrige bezöge. Noch mehr,
unſer Wiſſen wäre nie vollendet; wir müſsten täglich
erwarten, daſs eine neue angebohrne Wahrheit ſich in
uns äuſſere, oder die Erfahrung uns ein neues Einfa-
ches geben würde. Wir müſsten immer bereit ſeyn,
uns irgendwo ein neues Häuschen anzubauen. — Dann
wäre keine allgemeine Wiſſenſchaftslehre nöthig, um
andre Wiſſenſchaften zu begründen. Jede wäre auf ſich
ſelbſt gegründet. Es würden ſo viele Wiſſenſchaften
geben, als es einzelne unmittelbar gewiſſe Grund-
ſätze gäbe.
Soll
[29]
Soll aber nicht etwa bloſs ein oder mehrere Frag-
mente eines Syſtems, wie im erſten Falle, oder meh-
rere Syſteme wie im zweiten, ſondern ſoll ein vollen-
detes und Einiges Syſtem im menſchlichen Geiſte ſeyn,
ſo muſs es einen ſolchen höchſten und abſolut-erſten
Grundſatz geben. Verbreite von ihm aus ſich unſer
Wiſſen in noch ſo viele Reihen, von deren jeder wie-
der Reihen u. ſ. f. ausgehen, ſo müſſen doch alle in
einem einzigen Ringe feſthangen, der an nichts befe-
ſtiget iſt, ſondern durch ſeine eigne Kraft ſich, und
das ganze Syſtem hält. — Wir haben nun, einen
durch ſeine eigene Schwerkraft ſich haltenden Erdball,
deſſen Mittelpunkt alles, was wir nun wirklich auf dem
Umkreiſe deſſelben, und nicht etwa in die Luft, und
nur perpendikular, und nicht etwa ſchiefwinklicht an-
gebaut haben, allmächtig anzieht, und kein Stäubchen
aus ſeiner Sphäre ſich entreiſſen läſst.
Ob es ein ſolches Syſtem, und, — was die Be-
dingung deſſelben iſt, — einen ſolchen Grundſatz gebe,
darüber können wir vor der Unterſuchung vorher nichts
entſcheiden. Der Grundſatz läſst ſich nicht nur als
bloſser Satz, er läſst ſich auch als Grundſatz alles Wiſ-
ſens nicht erweiſen. Es kommt auf den Verſuch an.
Finden wir einen Satz, der die innern Bedingungen
des Grundſatzes alles menſchlichen Wiſſens hat, ſo ver-
ſuchen wir, ob er auch die äuſſern habe; ob alles, was
wir wiſſen, oder zu wiſſen glauben, auf ihn ſich zu-
rückführen laſſe. Gelingt es uns, ſo haben wir durch
die wirkliche Aufſtellung der Wiſſenſchaft bewieſen,
daſs ſie möglich war, und daſs es ein Syſtem des menſch-
lichen Wiſſens gebe, deſſen Darſtellung ſie iſt. Gelingt
es
[30] es uns nicht, ſo iſt entweder überhaupt kein ſolches
Syſtem, oder wir haben es nur nicht entdeckt, und
müſſen die Entdeckung deſſelben glücklichern Nachfol-
gern überlaſſen. Geradezu behaupten, daſs es über-
haupt keines gebe, weil wir es nicht gefunden haben,
iſt eine Anmaaſsung, deren Widerlegung unter der
Würde der ernſten Betrachtung iſt.
Zwei-
[31]
Zweiter Abſchnitt.
Erörterung des Begriffs der Wiſ-
ſenſchaftslehre.
§. 3.
Einen Begriff wiſſenſchaftlich erörtern — und es iſt
klar, daſs hier von keiner andern, als dieſer höchſten
aller Erörterungen die Rede ſeyn kann — nenne ich
das, wenn man den Ort deſſelben im Syſtem der menſch-
lichen Wiſſenſchaften überhaupt angiebt, d. i., zeigt
welcher Begriff ihn ſeine Stelle beſtimmen, und wel-
chem andern ſie durch daſſelbe beſtimmt werden. Nun
aber kann der Begriff der Wiſſenſchaftslehre überhaupt
im Syſtem aller Wiſſenſchaften, eben ſo wenig einen
Ort haben, als der des Wiſſens an ſich, im Syſtem des
Wiſſens überhaupt: vielmehr iſt er ſelbſt der Ort für
alle wiſſenſchaftlichen Begriffe, und weiſet ihnen ihre
Stellen in ſich ſelbſt, und durch ſich ſelbſt an. Es iſt
klar, daſs hier nur von einer hypothetiſchen [Erörter-]
rung geredet werde, d. i. die Frag[e][ist][die:][vorausge-]
ſetzt, daſs es ſchon Wiſſenſchaf[ten][gebe][und daſs]
Wahrheit
[32] Wahrheit in ihnen ſey, (welches man von der allge-
meinen Wiſſenſchaftslehre vorher gar nicht wiſſen kann)
wie verhält ſich die aufzuſtellende Wiſſenſchaftslehre,
zu dieſen Wiſſenſchaften?
Auch dieſe Frage iſt durch den bloſsen Begriff der-
ſelben ſchon beantwortet. Die letztern verhalten ſich
zu den erſtern, wie das Begründete zu ſeinem Grunde;
ſie weiſen derſelben ihre Stellen nicht an; aber jene
weiſet ihnen allen ihre Stellen in ſich ſelbſt und durch
ſich ſelbſt an. Demnach iſt es hier bloſs um eine weite-
re Entwicklung dieſer Antwort zu thun.
Die Wiſſenſchaftslehre ſollte eine Wiſſenſchaft aller
Wiſſenſchaften ſeyn. Hierbei entſteht zuförderſt die
Frage: Wie kann ſie verbürgen, daſs ſie nicht nur alle
bis jetzt bekannten und erfundenen, ſondern auch alle
erfindbaren und möglichen Wiſſenſchaften begründet,
und daſs ſie das ganze Gebiet des menſchlichen Wiſſens
vollkommen erſchöpft habe?
Sie ſollte in dieſer Rückſicht allen Wiſſenſchaften
ihre Grundſätze geben. Alle Sätze demnach, die in
irgend einer beſondern Wiſſenſchaft Grundſätze ſind,
ſind zugleich auch einheimiſche Sätze der Wiſſenſchafts-
lehre; ein und ebenderſelbe Satz iſt aus zwei Geſichts-
punckten zu betrachten. Die Wiſſenſchaftslehre folgert
aus dem Satze, als einem in ihr enthaltenen weiter;
und die beſondere Wiſſenſchaft folgert aus dem gleichen
Satze, als ihrem Grundſatze, auch weiter. Alſo folgt
entweder in beiden Wiſſenſchaften das gleiche; alle be-
ſondere Wiſſenſchaften ſind nicht nur ihrem Grundſatze,
ſondern
[33] ſondern auch ihren abgeleiteten Sätzen nach in der Wiſſen-
ſchaftslehre enthalten; und es giebt gar keine beſondre
Wiſſenſchaft, ſondern nur Theile einer und eben der-
ſelben Wiſſenſchaftslehre; oder es wird in beiden Wiſ-
ſenſchaften auf verſchiedene Art gefolgert, welches
auch nicht möglich iſt, da die Wiſſenſchaftslehre allen
Wiſſenſchaften ihre Form geben ſoll: oder es muſs zu
einem Satze der bloſſen Wiſſenſchaftslehre noch Etwas,
das freilich nirgend anders her als aus der Wiſſenſchafts-
lehre entlehnt ſeyn kann, hinzukommen, wenn er
Grundſatz einer beſondern Wiſſenſchaft werden ſoll.
Es entſteht die Frage: welches iſt das hinzukommende,
oder — da dieſes hinzukommende die Unterſcheidung
ausmacht — welches iſt die beſtimmte Grenze zwiſchen
der Wiſſenſchaftslehre überhaupt, und jeder beſondern
Wiſſenſchaft.
Die Wiſſenſchaftslehre ſollte ferner in dergleichen
Rückſicht allen Wiſſenſchaften ihre Form beſtimmen.
Wie das geſchehen könne, iſt ſchon oben angezeigt.
Aber es tritt eine andere Wiſſenſchaft, unter dem Na-
men der Logik, mit den gleichen Anſprüchen uns in
den Weg. Zwiſchen beiden muſs entſchieden, es muſs
unterſucht werden, wie die Wiſſenſchaftslehre ſich zur
Logik verhalte.
Die Wiſſenſchaftslehre iſt ſelbſt eine Wiſſenſchaft,
und was ſie in dieſer Rückſicht zu leiſten habe, iſt oben
beſtimmt. Aber in ſofern ſie bloſse Wiſſenſchaft iſt, iſt
ſie Wiſſenſchaft von irgend Etwas; ſie hat einen Gegen-
ſtand, und es iſt aus dem obigen klar, daſs dieſer Ge-
genſtand kein andrer ſei, als das Syſtem des menſchlichen
CWiſ-
[34] Wiſſens überhaupt. Es entſteht die Frage: wie verhält
ſich die Wiſſenſchaft, als Wiſſenſchaft, zu ihrem Gegen-
ſtande, als ſolchem.
§. 4. In wie fern kann die Wiſſenſchaftslehre
ſicher ſeyn, das menſchliche Wiſſen überhaupt
erſchöpft zu haben?
Das bisherige wahre oder eingebildete menſchliche
Wiſſen, iſt nicht das menſchliche Wiſſen überhaupt.
Geſetzt, ein Philoſoph könnte daſſelbe wirklich umfaſst
haben, und durch eine vollſtändige Induktion den Be-
weiſs führen, daſs es in ſeinem Syſtem enthalten ſei,
ſo hätte er dadurch ſeiner Aufgabe noch bei weitem keine
Genüge gethan: denn wie wollte er durch ſeine Induk-
tion aus der bisherigen Erfahrung erweiſen, daſs auch
in der Zukunft keine Entdeckung gemacht werden könne,
die nicht unter ſein Syſtem paſſe? — Nicht gründlicher
würde die Ausflucht ſeyn, daſs er etwa nur das in der
gegenwärtigen Sphäre der menſchlichen Exiſtenz mög-
liche Wiſſen habe erſchöpfen wollen; denn wenn ſeine
Philoſophie nur für dieſe Sphäre gilt, ſo kennt er keine
mögliche andre, er kennt demnach auch die Grenzen
derjenigen nicht, die durch ſeine Philoſophie erſchöpft
werden ſoll; er hat willkürlich eine Grenze gezogen,
deren Wahrheit er kaum durch etwas anders, als durch
die bisherige Erfahrung erweiſen kann, welche durch
eine künftige Erfahrung ſelbſt innerhalb ſeiner vorge-
gebnen Sphäre immer widerſprochen werden könnte.
Das menſchliche Wiſſen überhaupt ſoll erſchöpft wer-
den, heiſst, es ſoll unbedingt und ſchlechthin beſtimmt
werden, was der Menſch nicht bloſs auf der jetzigen
Stuffe
[35] Stuffe ſeiner Exiſtenz, ſondern auf allen möglichen und
denkbaren Stuffen derſelben wiſſen könne *).
Dies iſt nur unter folgenden Bedingungen möglich:
zuförderſt, daſs ſich zeigen laſſe, der aufgeſtellte Grund-
ſatz ſei erſchöpft; und dann, es ſei kein anderer Grund-
ſatz möglich, als der aufgeſtellte.
Ein Grundſatz iſt erſchöpft, wenn ein vollſtändiges
Syſtem auf demſelben aufgebaut iſt, d. i., wenn der
Grundſatz nothwendig auf alle aufgeſtellten Sätze führt,
und alle aufgeſtellten Sätze nothwendig wieder auf ihn
C 2zurück-
[36] zurückführen. Wenn kein Satz im ganzen Syſtem vor-
kommt, welcher wahr ſeyn kann, wenn der Grund-
ſatz falſch iſt, oder falſch, wenn der Grundſatz wahr
iſt, ſo iſt dies der negative Beweiſs, daſs kein Satz zu-
viel in das Syſtem aufgenommen worden; denn derje-
nige, der nicht in das Syſtem gehörte würde wahr ſeyn
können, wenn der Grundſatz falſch, oder falſch, wenn
auch der Grundſatz wahr wäre. Iſt der Grundſatz ge-
geben, ſo müſſen alle Sätze gegeben ſeyn; in ihm und
durch ihn iſt jeder einzelne gegeben. Es iſt aus dem,
was wir oben über die Verkettung der einzelnen Sätze
in der Wiſſenſchaftslehre geſagt haben, klar, daſs dieſe
Wiſſenſchaft den angezeigten negativen Beweiſs unmit-
telbar in ſich ſelbſt und durch ſich ſelbſt führe. Durch
ihn wird erwieſen, daſs die Wiſſenſchaft ſyſtematiſch ſei,
daſs alle ihre Theile in einem einzigen Grundſatze zu-
ſammenhangen. — Die Wiſſenſchaft iſt ein Syſtem, oder
ſie iſt vollendet, wenn weiter kein Satz gefolgert wer-
den kann: und dies giebt den poſitiven Beweiſs, daſs
kein Satz zu viel in das Syſtem aufgenommen worden.
Die Frage iſt nur die: wann und unter welchen Bedin-
gungen kann kein Satz weiter gefolgert werden; denn
es iſt klar, daſs das bloſs relative und negative Merkmal:
ich ſehe nicht was weiter folgen könne, nichts beweiſt.
Es könnte wohl nach mir ein anderer kommen, wel-
cher da, wo ich nichts ſah, etwas ſähe. Wir bedürfen
eines poſitiven Merkmals, daſs ſchlechthin und unbe-
dingt nichts weiter gefolgert werden könne; und das
könnte kein anders ſeyn, als das, daſs der Grundſatz,
von welchem wir ausgegangen wären, das letzte Reſul-
tat ſey. Dann wäre klar, daſs wir nicht weiter gehen
könnten, ohne den Weg, den wir ſchon einmal ge-
macht
[37] macht, noch einmal zu machen. Es wird ſich bey ein-
ſtiger Aufſtellung der Wiſſenſchaft zeigen, daſs ſie dieſen
Kreislauf wirklich vollendet, und den Forſcher gerade
bey dem Punkte verläſst, von welchem ſie mit ihm aus-
ging, daſs ſie alſo gleichfalls den zweyten poſitiven Be-
weiſs in ſich ſelbſt und durch ſich ſelbſt führt *).
Aber, wenn auch der aufgeſtellte Grundſatz er-
ſchöpft, und auf ihn ein vollſtändiges Syſtem aufgebaut
iſt, ſo folgt daraus noch gar nicht, daſs durch ſeine
Erſchöpfung das menſchliche Wiſſen überhaupt er-
ſchöpft ſey; wenn man nicht ſchon vorausſetzt, was
erwieſen werden ſollte, daſs jener Grundſatz der Grund-
ſatz des menſchlichen Wiſſens überhaupt ſey. Zu je-
nem vollendeten Syſteme kann freylich nichts mehr
weder dazu noch davon gethan werden; aber, was
verhindert es denn, daſs nicht etwa in der Zukunft,
wenn auch bis jetzt ſich keine Spur davon zeigen ſollte,
durch die vermehrte Erfahrung, Sätze zu dem menſch-
lichen Bewuſstſeyn gelangen ſollten, die ſich nicht auf
jenen Grundſatz gründen, die alſo einen oder mehrere
andere Grundſätze vorausſetzen: kurz, warum ſollten
neben jenem vollendeten Syſteme, nicht noch eine oder
C 3meh-
[38] mehrere andere Syſteme im menſchlichen Geiſte beſte-
hen können? Sie würden freilich weder mit jenem
erſten, noch unter ſich ſelbſt den geringſten Zuſammen-
hang, den kleinſten gemeinſchaftlichen Punkt haben:
aber das ſollen ſie auch nicht, wenn ſie nicht ein ein-
ziges, ſondern mehrere Syſteme bilden ſollen. Es müſs-
te alſo, wenn die Unmöglichkeit ſolcher neuen Ent-
deckungen befriedigend dargethan werden ſollte, er-
wieſen werden, daſs nur ein einziges Syſtem im menſch-
lichen Wiſſen ſeyn könne. — Da dieſer Satz, daſs das
Syſtem ein einziges ſei, ſelbſt ein Beſtandtheil des
menſchlichen Wiſſens ſeyn ſollte, ſo könnte er ſich auf
nichts anders gründen, als auf den Grundſatz alles
menſchlichen Wiſſens, und nirgendsher bewieſen wer-
den, als aus demſelben. Hierdurch wäre nun, vor der
Hand wenigſtens, ſoviel gewonnen, daſs ein anderer,
etwa einmal zum menſchlichen Bewuſstſeyn gelangender
Grundſatz, nicht bloſs ein andrer, und von dem aufge-
ſtellten Grundſatze verſchiedener, ſondern auch ein dem-
ſelben gerade entgegengeſetzter ſeyn müſste. Denn unter
der obigen Vorausſetzung müſste im aufgeſtellten Grund-
ſatze der Satz enthalten ſeyn: im menſchlichen Wiſſen
iſt ein einiges Syſtem. Jeder Satz nun, der nicht zu
dieſem einigen Syſteme gehören ſollte, wäre von dieſem
Syſteme nicht bloſs verſchieden, ſondern ihm, inſofern
jenes Syſtem das einige ſeyn ſollte, ſogar entgegenge-
ſetzt, und müſste auf einem Grundſatze beruhen, in
welchem der Satz läge: Das menſchliche Wiſſen iſt nicht
ein einiges Syſtem. Man müſste durch weiteres Zurück-
ſchlieſſen auf einen dem erſten Grundſatze geradezu
entgegengeſetzten Grundſatz kommen; und wenn der
erſtere z. B. hieſſe: Ich bin Ich, ſo müſste der andere
heiſſen: Ich bin Nicht-Ich.
Aus
[39]
Aus dieſem Widerſpruche ſoll und kann nun nicht
geradezu die Unmöglichkeit eines ſolchen zweiten
Grundſatzes gefolgert werden. Wenn im erſten Grund-
ſatze der Satz liegt: das Syſtem des menſchlichen Wiſ-
ſens ſey ein einiges, ſo liegt freilich auch der darin,
daſs dieſem einigen Siſteme nichts widerſprechen müſſe;
aber beide Sätze ſind ja erſt Folgerungen aus ihm ſelbſt,
und ſo wie die abſolute Gültigkeit alles deſſen, was
aus ihm folgt, angenommen wird, wird ja ſchon an-
genommen, daſs er abſolut-erſter und einziger Grund-
ſatz ſei, und im menſchlichen Wiſſen ſchlechthin ge-
biete. Alſo iſt hier ein Zirkel, aus dem der menſch-
liche Geiſt nie herausgehen kann; und man thut recht
wohl daran, dieſen Zirkel beſtimmt zuzugeſtehen, da-
mit man nicht etwa einmahl über die unerwartete Ent-
deckung deſſelben in Verlegenheit gerathe. Er iſt fol-
gender: Wenn der Satz R erſter höchſter und abſoluter
Grundſatz des menſchlichen Wiſſens iſt, ſo iſt im menſch-
lichen Wiſſen ein einiges Syſtem: denn das letztere folgt
aus dem Satze R.: Da nun im menſchlichen Wiſſen ein
einiges Syſtem ſeyn ſoll, ſo iſt der Satz R, der wirk-
lich (laut der aufgeſtellten Wiſſenſchaft,) ein Syſtem be-
gründet, Grundſatz des menſchlichen Wiſſens überhaupt,
und das auf ihn gegründete Syſtem, iſt jenes einige
Syſtem des menſchlichen Wiſſens.
Ueber dieſen Zirkel hat man nun nicht Urſache
betreten zu ſeyn. Verlangen, daſs er gehoben werde,
heiſst verlangen, daſs das menſchliche Wiſſen völlig
grundloſs ſei, daſs es gar nichts ſchlechthin gewiſſes
geben, ſondern daſs alles menſchliche Wiſſen nur be-
dingt ſeyn, und daſs kein Satz an ſich, ſondern jeder
C 4nur
[40] nur unter der Bedingung gelten ſolle, daſs derjenige,
aus dem er folgt, gelte. Wer Luſt dazu hat, mag im-
mer unterſuchen, was er wiſſen würde, wenn ſein Ich
nicht Ich wäre, d. i., wenn er nicht exiſtirte, und
kein Nicht-Ich von ſeinen Ich unterſcheiden könnte.
§. 5. Welches iſt die Grenze, die die allgemeine
Wiſſenſchaftslehre von der beſondern durch ſie
begründeten Wiſſenſchaft ſcheidet?
Wir fanden oben (§. 3.) daſs ein und eben derſelbe
Satz nicht in dergleichen Beziehung ein Satz der allge-
meinen Wiſſenſchaftslehre und ein Grundſatz irgend
einer beſondern Wiſſenſchaft ſeyn könne; ſondern daſs
etwa noch etwas hinzukommen müſſe, wenn er das
letztere ſeyn ſoll. — Das, was hinzukommen muſs,
kann nirgend anders her, als aus der allgemeinen Wiſ-
ſenſchaftslehre entlehnt ſeyn, da in ihr alles mögliche
menſchliche Wiſſen enthalten iſt; aber es muſs dort
nicht in eben dem Satze liegen, der jetzt durch den
Zuſatz deſſelben zum Grundſatze einer Wiſſenſchafts-
lehre erhoben werden ſoll, denn ſonſt wäre er ſchon
dort Grundſatz, und wir hätten keine Grenze zwiſchen
der beſondern Wiſſenſchaft, und den Theilen der all-
gemeinen Wiſſenſchaftslehre. Es muſs demnach etwa
ein einzelner Satz der Wiſſenſchaftslehre ſeyn, der mit
dem Satze, der Grundſatz werden ſoll, vereinigt wird.
Da wir hier nicht einen unmittelbaren aus den Begrif-
fen der Wiſſenſchaftslehre ſelbſt entlehnten, ſondern
einen aus der Vorausſetzung, daſs es auſſer ihr wirk-
lich noch andre von ihr getrennte Wiſſenſchaften gebe,
entſpringenden Einwurf zu beantworten haben, ſo
kön-
[41] können wir ihn nicht anders, als gleichfalls durch eine
Vorausſetzung beantworten; und wir haben vor de[r]
Hand genug gethan, wenn wir nur irgend eine Mög-
lichkeit der geforderten Begrenzung aufzeigen. Daſs
ſie die wahre Grenze angebe — ob es gleich wohl der
Fall ſeyn dürfte — können und ſollen wir hier nicht
beweiſen.
Man ſetze demnach, die Wiſſenſchaftslehre ent-
halte diejenigen beſtimmten Handlungen des menſch-
lichen Geiſtes, die er alle, ſei er nun bedingt oder un-
bedingt, gezwungen und nothwendig vollbringt; ſie
ſtelle aber dabei als höchſten Erklärungsgrund jener
nothwendigen Handlungen überhaupt, ein Vermögen
derſelben auf, ſich ſchlechthin ohne Zwang und Nöthi-
gung zum handeln überhaupt zu beſtimmen; ſo wäre
durch die Wiſſenſchaftslehre ein nothwendiges und ein
nicht nothwendiges oder freyes Handeln gegeben. Die
Handlungen des menſchlichen Geiſtes, in ſo fern er
nothwendig handelt, wären durch ſie beſtimmt, nicht
aber in ſo fern er frey handelt. — Man ſetze ferner:
auch die freien Handlungen ſollten, aus irgend einem
Grunde beſtimmt werden, ſo könnte das nicht in der
Wiſſenſchaftslehre geſchehen, müſste aber doch, da von
Beſtimmung die Rede iſt, in Wiſſenſchaften, und alſo in
beſondern Wiſſenſchaften geſchehen. Der Gegenſtand
dieſer freien Handlungen könnte nun kein andrer ſeyn,
als das durch die Wiſſenſchaftslehre überhaupt gegebe-
ne Nothwendige, da nichts vorhanden iſt, das ſie nicht
gegeben hätte, und ſie überall nichts giebt, als das Noth-
wendige. Demnach müſste im Grundſatze einer beſon-
dern Wiſſenſchaft eine Handlung, die die Wiſſenſchafts-
C 5lehre
[42] lehre frei gelaſſen hätte, beſtimmt werden: Die Wiſſen-
ſchaftslehre gäbe dem Grundſatze das Nothwendige und
die Freiheit überhaupt; die beſondre Wiſſenſchaft aber
gäbe der Freiheit ihre Beſtimmung; und nun wäre die
ſcharfe Grenzlinie gefunden, und ſo bald eine an ſich
freie Handlung eine beſtimmte Richtung bekäme, ſchrit-
ten wir aus dem Gebiete der allgemeinen Wiſſenſchafts-
lehre, auf das Feld einer beſondern Wiſſenſchaft hin-
über. — Ich mache mich durch zwei Beiſpiele deutlich.
Die Wiſſenſchaftslehre giebt als nothwendig den
Raum und den Punkt als abſolute Grenzen; aber ſie
läſst der Einbildungskraft die völlige Freiheit den Punkt
zu ſetzen, wohin es ihr beliebt. Sobald dieſe Freiheit
beſtimmt wird, z. B. ihn gegen die Begrenzung des
unbegrenzten Raumes fortzubewegen, und dadurch
eine Linie *) zu ziehen, ſind wir nicht mehr im Gebie-
te der Wiſſenſchaftslehre, ſondern auf dem Boden einer
beſondern Wiſſenſchaft, welche Geometrie heiſst. Die
Auf-
[43] Aufgabe überhaupt, den Raum nach einer Regel zu be-
grenzen, oder die Conſtruktion in demſelben, iſt Grund-
ſatz der Geometrie, und ſie iſt dadurch von der Wiſſen-
ſchaftslehre ſcharf abgeſchnitten.
Durch die Wiſſenſchaftslehre ſind ein von den Ge-
ſetzen der bloſsen Vorſtellung ſchlechthin unabhängiges
Nicht-Ich, und die Geſetze nach denen es beobachtet
werden ſoll und muſs *), als nothwendig gegeben; aber
die Urtheilskraft behält dabei ihre völlige Freiheit, dieſe
Geſetze überhaupt anzuwenden oder nicht, oder bei
der [Mannigfaltigkeit] der Geſetze ſo wohl als der Gegen-
ſtände, welches Geſetz ſie will, auf einen beliebigen Ge-
genſtand anzuwenden, z. B. den menſchlichen Körper
als rohe, oder organiſirte, oder als animaliſch belebte
Mate-
[44] Materie zu betrachten. So bald aber die Urtheilskraft
die Aufgabe erhält, einen beſtimmten Gegenſtand nach
einem beſtimmten Geſetze [zu] beobachten, um zu ſehen,
ob und in wie fern er mit demſelben übereinkomme
oder nicht, iſt ſie nicht mehr frei, ſondern unter einer
Regel; und wir ſind demnach nicht mehr in der Wiſ-
ſenſchaftslehre, ſondern auf dem Felde einer andern
Wiſſenſchaft, welche die Naturwiſſenſchaft heiſst. Die
Aufgabe überhaupt, jeden in der Erfahrung gegebnen
Gegenſtand an jedes in unſerm Geiſte gegebnes Natur-
geſetz zu halten, iſt Grundſatz der Naturwiſſenſchaft:
ſie beſteht durchgängig aus Experimenten, (nicht aber
aus dem leidenden Verhalten gegen die regelloſen Ein-
wirkungen der Natur auf uns) die man ſich willkürlich
aufgiebt, und denen die Natur entſprechen kann oder
nicht: und dadurch iſt denn die Naturwiſſenſchaft ge-
nugſam von der Wiſſenſchaftslehre überhaupt geſchie-
den.
Alſo ſieht man ſchon hier — welches wir bloſs
im Vorbeygehen erinnern — warum bloſs die Wiſſen-
ſchaftslehre abſolute Totalität haben, alle beſondre Wiſ-
ſenſchaften aber unendlich ſeyn werden. Die Wiſſen-
ſchaftslehre enthält bloſs das Nothwendige; iſt dies in
jeder Betrachtung nothwendig, ſo iſt es daſſelbe auch
in Abſicht der Quantität, d. h., es iſt nothwendig begränzt.
Alle übrigen Wiſſenſchaften gehen auf die Freyheit, ſo
wohl die unſers Geiſtes, als die des von uns ſchlecht-
hin unabhängigen Nicht-Ich. Soll dieſes wirkliche
Freyheit ſeyn, und ſoll ſie ſchlechthin unter keinem Ge-
ſetze ſtehen, ſo läſst ſich ihr auch kein Wirkungskreis
vorſchreiben, welches ja durch ein Geſetz geſchehen
müſs-
[45] müſste. Ihr Wirkungskreis iſt demnach unendlich. —
Man hat alſo von einer erſchöpfenden Wiſſenſchaftslehre
keine Gefahr für die ins Unendliche fortgehenden Per-
fektibilität des menſchlichen Geiſtes zu beſorgen; ſie
wird dadurch gar nicht aufgehoben, ſondern vielmehr
völlig ſicher und auſſer Zweifel geſetzt, und es wird ihr
eine Aufgabe angewieſen, die ſie in Ewigkeit nicht
endigen kann.
§. 6. Wie verhält ſich die allgemeine Wiſſen-
ſchaftslehre insbeſondre zur Logik?
Die Wiſſenſchaftslehre ſoll für alle möglichen Wiſ-
ſenſchaften die Form aufſtellen: nach der gewöhnlichen
Meinung, an der wohl auch etwas Wahres ſeyn mag,
thut die Logik das gleiche. Wie verhalten ſich dieſe
beiden Wiſſenſchaften, und wie verhalten ſie ſich ins-
beſondere in Abſicht jenes Geſchäfts, das beide ſich an-
maaſsen? So bald man ſich erinnert, daſs die Logik
allen möglichen Wiſſenſchaften blos und allein die Form,
die Wiſſenſchaftslehre aber nicht die Form allein, ſon-
dern auch den Gehalt geben ſolle, ſo iſt ein leichter
Weg eröffnet, um in dieſe höchſtwichtige Unterſuchung
einzudringen. In der Wiſſenſchaftslehre iſt die Form
vom Gehalte, oder der Gehalt von der Form nie ge-
trennt; in jedem ihrer Sätze iſt beides auf das innigſte
vereinigt. Soll in den Sätzen der Logik die bloſse Form
der möglichen Wiſſenſchaften, nicht aber der Gehalt
liegen, ſo ſind ſie nicht zugleich Sätze der Wiſſenſchafts-
lehre; ſondern ſie ſind von ihnen verſchieden; und
folglich iſt auch die ganze Wiſſenſchaft, weder die Wiſ-
ſenſchaftslehre ſelbſt, noch etwa ein Theil von ihr; ſie
iſt, ſo ſonderbar dies auch bei der gegenwärtigen Ver-
faſ-
[46] faſſung der Philoſophie jemanden vorkommen möge,
überhaupt keine philoſophiſche, ſondern ſie iſt eine
eigne abgeſonderte Wiſſenſchaft, wodurch jedoch ihrer
Würde gar kein Abbruch geſchehen ſoll.
Iſt ſie dies, ſo muſs ſich eine Beſtimmung der Frei-
heit aufzeigen laſſen, durch welche zwiſchen ihr und
der allgemeinen Wiſſenſchaftslehre die Grenze gezogen
werde, und dieſe iſt denn auch leicht aufzufinden. In
der Wiſſenſchaftslehre ſind Gehalt und Form nothwen-
dig vereinigt. Die Logik ſoll die bloſse Form, vom Ge-
halte abgeſondert, aufſtellen; dieſe Abſonderung iſt an
ſich nicht nothwendig, ſondern ſie geſchieht blos durch
Freiheit; mithin muſs in der Logik die Freiheit be-
ſtimmt werden, eine ſolche Abſonderung vorzunehmen.
Man nennt ſie Abſtraktion; und demnach beſteht das
Weſen der Logik in der Abſtraktion von allem Gehalt
der Wiſſenſchaftslehre.
Auf dieſe Art wären die Sätze der Logik bloſs Form,
welches unmöglich iſt; denn es liegt im Begriffe des
Satzes überhaupt, daſs er beides Gehalt, ſo wohl als
Form habe. (§. 1.) Mithin müſste das, was in der Wiſ-
ſenſchaftslehre bloſse Form iſt, in der Logik Gehalt
ſeyn, und dieſer Gehalt bekäme wieder die allgemeine
Form der Wiſſenſchaftslehre, die aber hier beſtimmt als
Form eines logiſchen Satzes gedacht würde. Dieſe
zweite Handlung der Freiheit, durch welche die Form
zur Form der Form ſelbſt, als ihres Gehalts wird, heiſst
Reflexion. Keine Abſtraktion iſt ohne Reflexion; und
keine Reflexion ohne Abſtraktion möglich. An ſich be-
trachtet ſind beides Handlungen der Freiheit; wenn
ſie
[47] ſie aber gegenſeitig auf einander bezogen werden, ſo iſt
unter Bedingung der einen, die zweite nothwendig.
Hieraus ergiebt ſich das beſtimmte Verhältniſs der
Logik zur Wiſſenſchaftslehre. Die erſtere begründet
nicht die letztere, ſondern die letztere begründet die er-
ſtere: Die Wiſſenſchaftslehre kann ſchlechterdings nicht
aus der Logik bewieſen werden, und man darf ihr kei-
nen einzigen logiſchen Satz, auch den des Widerſpruchs
nicht, als gültig vorausſchicken; hingegen muſs jeder
logiſche Satz, und die ganze Logik aus der Wiſſen-
ſchaftslehre bewieſen werden; es muſs gezeigt werden,
daſs die in ihr aufgeſtellten Formen, wirkliche Formen
eines gewiſſen Gehalts in der Wiſſenſchaftslehre ſeyen.
Alſo entlehnt die Logik ihre Gültigkeit von der Wiſſen-
ſchaftslehre, nicht aber die Wiſſenſchaftslehre die ihrige
von der Logik.
Ferner, die Wiſſenſchaftslehre wird nicht durch
die Logik, aber die Logik wird durch die Wiſſenſchafts-
lehre bedingt und beſtimmt. Die Wiſſenſchaftslehre
bekommt nicht etwa von der Logik ihre Form, ſon-
dern ſie hat ſie in ſich ſelbſt, und ſtellt ſie erſt für die
mögliche Abſtraktion durch Freyheit auf. Im Gegen-
theil aber bedingt die Wiſſenſchaftslehre die Anwendung
der Logik: die Formen, die ſie aufſtellt, dürfen auf
keinen andern Gehalt angewendet werden, als auf den-
jenigen, den ſie ſchon in der Wiſſenſchaftslehre in ſich
faſſen — nicht nothwendig auf den ganzen Gehalt,
den ſie dort in ſich faſſen, denn dadurch würde keine
beſondre Wiſſenſchaft entſtehen, ſondern nur Theile
der Wiſſenſchaftslehre wiederhohlt werden, aber doch
noth-
[48] nothwendig auf einen Theil deſſelben, auf einen in
und mit jenem Gehalt begriffenen Gehalt. Auſſer jener
Bedingung iſt die durch ein ſolches Verfahren zu Stande
gebrachte Wiſſenſchaft ein Luftgebäude.
Endlich, die Wiſſenſchaftslehre iſt nothwendig —
nicht eben als deutlich gedachte, ſyſtematiſch aufgeſtellte
Wiſſenſchaft, aber doch als Naturanlage — die Logik
aber iſt ein künſtliches Produkt des menſchlichen Gei-
ſtes in ſeiner Freiheit. Ohne die erſtere würde über-
haupt kein Wiſſen und keine Wiſſenſchaft möglich ſeyn;
ohne die leztere würden alle Wiſſenſchaften nur ſpäter
haben zu Stande gebracht werden können. Die erſtere
iſt die ausſchlieſſende Bedingung aller Wiſſenſchaft; die
letztere iſt eine höchſt wohlthätige Erfindung, um den
Fortgang der Wiſſenſchaften zu ſichern und zu er-
leichtern.
Ich trage das hier ſyſtematiſch abgeleitete in Bei-
ſpielen vor:
A = A iſt ohne Zweifel ein logiſch richtiger
Satz, und in ſo fern er das iſt, iſt ſeine Bedeutung die:
wenn A geſetzt iſt, ſo iſt A geſetzt. Es entſtehen hier-
bei die zwei Fragen: Iſt denn A geſetzt? — und in
wiefern und warum iſt A geſetzt, wenn es geſetzt iſt;
wie hängt jenes Wenn und dieſes So überhaupt zu-
ſammen?
Setzet: A im obigen Satze bedeute ich, und habe
alſo ſeinen beſtimmten Gehalt, ſo hieſse der Satz zuför-
derſt: Ich bin Ich: oder, wenn ich geſetzt bin, ſo bin
ich
[49] ich geſetzt. Aber, weil das Subjekt des Satzes das abſolute
Subjekt, das Subjekt ſchlechthin iſt, ſo wird in dieſem ein-
zigen Falle, mit der Form des Satzes zugleich ſein inne-
rer Gehalt geſetzt: Ich bin geſetzt, weil ich mich geſetzt
habe. Ich bin, weil ich bin. — Die Logik alſo ſagt:
Wenn A iſt, iſt A; die Wiſſenſchaftslehre: Weil A iſt,
iſt A. Und hierdurch würde die Frage: Iſt denn A ge-
ſetzt? ſo beantwortet: Es iſt geſetzt, denn es iſt geſetzt.
Setzet: A in obigem Satze bedeute nicht das Ich,
ſondern irgend etwas anders, ſo läſst ſich aus dem obi-
gen die Bedingung einſehen, unter welcher man ſagen
könne: A iſt geſetzt; und wie man berechtigt ſei zu
ſchlieſsen: Wenn A geſetzt iſt, ſo iſt es geſetzt. — Nem-
lich der Satz: A = A gilt urſprünglich nur vom Ich; er
iſt von dem Satze der Wiſſenſchaftslehre: Ich bin Ich,
abgezogen; aller Gehalt alſo, worauf er anwendbar ſeyn
ſoll, muſs im Ich liegen, und unter ihm enthalten ſeyn.
Kein A alſo kann etwas anders ſeyn, als ein im Ich ge-
ſetztes, und nun hieſſe der Satz ſo: Was im Ich geſetzt
iſt, iſt geſetzt; iſt A im Ich geſetzt, ſo iſt es geſetzt,
(in ſo fern er nemlich geſetzt iſt, als möglich, wirklich,
oder nothwendig) und ſo iſt er unwiderſprechlich wahr,
wenn das Ich Ich ſeyn ſoll. — Iſt ferner das Ich ge-
ſetzt, weil es geſetzt iſt, ſo iſt alles, was im Ich geſetzt
iſt, geſetzt, weil es geſetzt iſt; und wenn nur A etwas
im Ich geſetztes iſt, ſo iſt es geſetzt, wenn es geſetzt
iſt, und die zweite Frage iſt auch beantwortet.
§. 7. Wie verhält ſich die Wiſſenſchaftslehre als
Wiſſenſchaft, zu ihrem Gegenſtande?
Jeder Satz in der Wiſſenſchaftslehre hat Form und
Gehalt: man weiſs etwas; und es iſt etwas, wovon
Dman
[50] man es weiſs. Nun aber iſt ja die Wiſſenſchaftslehre
ſelbſt die Wiſſenſchaft von etwas; nicht aber dieſes
Etwas ſelbſt. Mithin wäre dieſelbe überhaupt mit allen
ihren Sätzen, Form eines gewiſſen vor derſelben vor-
handenen Gehalts. Wie verhält ſie ſich zu dieſem Ge-
halte, und was folgt aus dieſem Verhältniſſe?
Das Objekt der Wiſſenſchaftslehre iſt nach allem
das Syſtem des menſchlichen Wiſſens. Dieſes iſt unab-
hängig von der Wiſſenſchaft deſſelben vorhanden, wird
aber durch ſie in ſyſtematiſcher Form aufgeſtellt. Was
iſt nun dieſe neue Form; wie iſt ſie von der Form, die
vor der Wiſſenſchaft vorher vorhanden ſeyn muſs, un-
terſchieden; und wie iſt die Wiſſenſchaft überhaupt
von ihrem Objekt unterſchieden?
Was unabhängig von der Wiſſenſchaft im menſch-
lichen Geiſte da iſt, können wir auch die Handlungen
deſſelben nennen. Dieſe ſind das Was, das vorhanden
iſt; ſie geſchehen auf eine gewiſſe beſtimmte Art; durch
dieſe beſtimmte Art unterſcheidet ſich die eine von der
andern; und dieſes iſt das Wie. Im menſchlichen Geiſte
iſt alſo urſprünglich vor unſerm Wiſſen vorher Gehalt
und Form, und beide ſind unzertrennlich verbunden;
jede Handlung geſchieht auf eine beſtimmte Art nach
einem Geſetze, und dieſes Geſetz beſtimmt die Hand-
lung. Es iſt, wenn alle dieſe Handlungen unter ſich
zuſammenhangen, und unter allgemeinen, beſondern,
und einzelnen Geſetzen ſtehen, für die etwanigen Beob-
achter auch ein Syſtem vorhanden.
Es
[51]
Es iſt aber gar nicht nothwendig, daſs dieſe Hand-
lungen wirklich der Folge nach in jener ſyſtematiſchen
Form, eine nach der andern, in unſerm Geiſte vorkom-
men; daſs die, welche alle unter ſich faſst, und das
höchſte, allgemeinſte Geſetz giebt, zuerſt, dann die,
welche weniger unter ſich faſst u. ſ. f. vorkommen; fer-
ner iſt auch das gar nicht die Folge, daſs ſie alle rein
und unvermiſcht vorkommen, ſo daſs nicht mehrere,
die durch einen etwanigen Beobachter gar wohl zu un-
terſcheiden wären, als eine einzige erſcheinen ſollten.
Z. B. die höchſte Handlung des menſchlichen Geiſtes ſei
die, ſeine eigene Exiſtenz zu ſetzen, ſo iſt gar nicht
nothwendig, daſs dieſe Handlung der Zeit nach die erſte
ſei, die zum deutlichen Bewuſstſeyn komme; und eben
ſo wenig iſt nothwendig, daſs ſie jemals zum reinen
Bewuſstſeyn komme, daſs der menſchliche Geiſt jetzt
fähig ſei, ſchlechthin zu denken: Ich bin, ohne zugleich
zu denken, daſs irgend etwas nicht Ich ſei.
Hierin liegt nun der ganze Stoff einer möglichen
Wiſſenſchaftslehre, aber nicht die Wiſſenſchaft ſelbſt.
Um dieſe zu Stande zu bringen, dazu gehört noch eine,
unter jenen Handlungen allen nicht enthaltene Hand-
lung des menſchlichen Geiſtes, nehmlich die, ſeine
Handlungsart überhaupt zum Bewuſstſeyn zu erheben.
Da ſie unter jenen Handlungen, welche alle nothwen-
dig, und die nothwendig alle ſind, nicht enthalten
ſeyn ſoll, ſo muſs es eine Handlung der Freiheit ſeyn. —
Die Wiſſenſchaftslehre entſteht alſo, in ſo fern ſie eine
ſyſtematiſche Wiſſenſchaft ſeyn ſoll, gerade ſo, wie alle
möglichen Wiſſenſchaften, in ſo fern ſie ſyſtematiſch
ſeyn ſollen, durch eine Beſtimmung der Freiheit;
D 2welche
[52] welche letztre hier insbeſondre beſtimmt iſt, die Hand-
lungsart des menſchlichen Geiſtes überhaupt zum Be-
wuſstſeyn zu erheben; und die Wiſſenſchaftslehre iſt
von andern Wiſſenſchaften nur dadurch unterſchieden,
daſs das Objekt der letztern ſelbſt eine freie Handlung,
das Objekt der erſtern aber nothwendige Handlun-
gen ſind.
Durch dieſe freie Handlung wird nun etwas, das
ſchon an ſich Form iſt, die nothwendige Handlung
des menſchlichen Geiſtes, als Gehalt in eine neue Form
die Form des Wiſſens, oder des Bewuſstſeyns aufge-
nommen, und demnach iſt jene Handlung eine Hand-
lung der Reflexion. Jene nothwendigen Handlungen,
werden aus der Reihe, in der ſie etwa an ſich vorkom-
men mögen, getrennt, und von aller Vermiſchung rein
aufgeſtellt; mithin iſt jene Handlung auch eine Hand-
lung der Abſtraktion. Es iſt unmöglich zu reflektiren
ohne abſtrahiert zu haben.
Die Form des Bewuſstſeyns, in welche die noth-
wendigen Handlungsart des menſchlichen Geiſtes über-
haupt aufgenommen werden ſoll, gehört ohne Zwei-
fel ſelbſt zu den nothwendigen Handlungsarten deſſel-
ben, ſeine Handlungsart wird in ſie ohne Zweifel ge-
rade ſo aufgenommen, wie alles, was darin aufge-
nommen wird: er hätte alſo an ſich keine Schwierig-
keit die Frage zu beantworten: woher denn zum Be-
huf einer möglichen Wiſſenſchaftslehre dieſe Form kom-
men ſollte. Aber, überhebt man ſich der Frage über
die Form, ſo fällt die ganze Schwierigkeit in die Frage
über den Stoff. — Soll die nothwendige Han[d]lungsart
des
[53] des menſchlichen Geiſtes an ſich in die Form des Be-
wuſstſeyns aufgenommen werden, ſo müſste ſie ſchon
als ſolche bekannt ſeyn, ſie müſste mithin in dieſe Form
ſchon aufgenommen ſeyn; und wir wären in einem
Zirkel eingeſchloſſen.
Dieſe Handlungsart überhaupt, ſoll nach dem obi-
gen durch eine reflektirende Abſtraktion von allem, was
nicht ſie iſt, abgeſondert werden. Dieſe Abſtraktion ge-
ſchieht durch Freiheit, und der menſchliche Geiſt wird in
ihr gar nicht durch blinden Zwang geleitet. Die ganze
Schwierigkeit iſt alſo in der Frage enthalten: nach wel-
chen Regeln verfährt die Freiheit in jener Abſonderung?
wie weiſs der menſchliche Geiſt, was er aufnehmen und
liegen laſſen wolle?
Das kann er nun ſchlechterdings nicht wiſſen,
wofern nicht etwa dasjenige, was er erſt zum Bewuſst-
ſeyn erheben ſoll, ſchon dazu erhoben iſt; welches ſich
widerſpricht. Alſo giebt es für dieſes Geſchäft gar kei-
ne Regel, und kann keine geben. Der menſchliche
Geiſt macht mancherlei Verſuche; er kommt durch
blindes Herumtappen zur Dämmerung, und geht erſt
aus dieſer zum hellen Tage über. Er wird Anfangs
durch dunkle Gefühle *) (deren Urſprung und Wirklich-
keit die Wiſſenſchaftslehre darzulegen hat) geleitet; und
wir hätten noch heute keinen deutlichen Begriff, und
wir wären noch immer der Erdklos, der ſich dem
D 3Boden
[54] Boden entwand, wenn wir nicht angefangen hätten
dunkel zu fühlen, was wir erſt ſpäter deutlich erkann-
ten. — Dieſs iſt denn auch die Geſchichte der Phi-
loſophie! und wir haben jetzt den eigentlichen
Grund angegeben, warum dasjenige, was doch in je-
dem menſchlichen Geiſte offen da liegt, und was je-
der mit Händen greifen kann, wenn es ihm deutlich
dargelegt wird, erſt nach mannigfaltigen Herumirren
zum Bewuſstſein einiger weniger gelangte. Alle Philo-
ſophen ſind auf das aufgeſtellte Ziel ausgegangen, alle
haben durch Reflexion die nothwendige Handlungsart
des menſchlichen Geiſtes von den zufälligen Be-
dingungen derſelben abſondern wollen; alle haben
ſie wirklich, nur mehr oder weniger rein, und mehr
oder weniger vollſtändig, abgeſondert; im Ganzen aber
iſt die philoſophirende Urtheilskraft immer weiter
vorgerückt und ihrem Ziele näher gekommen.
Da aber jene Reflexion, nicht in ſo ferne ſie
überhaupt vorgenommen wird, oder nicht, denn in
dieſer Rückſicht iſt ſie frei, ſondern in ſo fern ſie nach
Geſetzen vorgenommen wird, in ſo fern unter der Be-
dingung, daſs ſie überhaupt ſtatt finde, die Art derſel-
ben beſtimmt iſt — auch zu den nothwendigen Hand-
lungen des menſchlichen Geiſtes gehört, ſo müſſen die
Geſetze derſelben im Syſtem des menſchlichen Geiſtes
überhaupt vorkommen; und man kann hinterher, nach
Vollendung der Wiſſenſchaft, allerdings einſehen, ob
man denſelben Genüge geleiſtet habe oder nicht. Man
dürfte alſo glauben, daſs wenigſtens hinterher ein evi-
denter Beweiſs der Richtigkeit unſers wiſſenſchaftlichen
Syſtems, als eines ſolchen möglich wäre.
Aber
[55]
Aber die Reflexionsgeſetze die wir im Gange der
Wiſſenſchaft finden, wenn ſie auch mit denen, die wir
als die Regel unſers Verfahrens, hypothetiſch voraus-
ſetzen, übereinſtimmen, ſind doch ſelbſt das Reſultat
von ihrer vorherigen Anwendung; und es entdeckte
ſich hier ein neuer Zirkel: Wir haben gewiſſe Reflexi-
onsgeſetze vorausgeſetzt, und finden jetzt im Verlaufe
der Wiſſenſchaft die gleichen; alſo ſind die Vorausge-
ſetzten die einzig richtigen. Wenn wir andre voraus-
geſetzt hätten, ſo würden wir ohne Zweifel in der
Wiſſenſchaft auch andre gefunden haben; es fragt ſich
nur, ob ſie mit den vorausgeſetzten übereingeſtimmt
haben würden oder nicht; hätten ſie nicht mit ihnen
übereingeſtimmt, ſo war allerdings ſicher, daſs entwe-
der die vorausgeſetzten oder die gefundenen, oder am
wahrſcheinlichſten beide falſch waren. Wir können
alſo in dem Beweiſe hinterher nicht auf die angezeigte
fehlerhafte Art im Zirkel ſchlieſsen; ſondern wir ſchlieſ-
ſen aus der Uebereinſtimmung auf die Richtigkeit des
Syſtems. Dieſes iſt aber nur ein negativer Beweiſs,
der bloſse Wahrſcheinlichkeit begründet. Stimmen die
vorausgeſetzten und die gefundenen Reflexionen nicht
überein, ſo iſt das Syſtem ſicher falſch. Stimmen ſie
überein, ſo kann es richtig ſeyn. Aber es muſs nicht
nothwendig richtig ſeyn; denn obgleich, wenn im
menſchlichen Wiſſen nur ein Syſtem iſt, bey richtigem
Folgern eine ſolche Uebereinſtimmung ſich nur auf eine
Art finden kann, ſo bleibt doch immer der Fall möglich,
daſs die Uebereinſtimmung von ungefähr durch zwei
oder mehrere Uebereinſtimmung bewirkende unrichtige
Folgerungen hervorgebracht ſei. — Es iſt, als ob ich die
Probe, der Diviſion durch die Multiplikation mache.
D 4Be-
[56] Bekomme ich nicht die begehrte Gröſse als Produkt,
ſondern irgend eine andre, ſo habe ich ſicher irgendwo
[falſch] gerechnet; bekomm ich ſie, ſo iſt wahrſcheinlich,
daſs ich richtig gerechnet habe, aber auch bloſs wahr-
ſcheinlich; denn ich könnte in der Diviſion und Mul-
tiplikation den gleichen Fehler gemacht haben, etwa
in beiden geſagt haben 5 X 9 = 36. und ſo bewieſe die
Uebereinſtimmung nichts. — So die Wiſſenſchafts-
lehre; ſie iſt nicht bloſs die Regel, ſondern ſie iſt zu-
gleich die Rechnung. Wer an der Richtigkeit unſers
Produkts zweifelt, zweifelt nicht eben an dem ewig
gültigen Geſetze, daſs man den einen Faktor ſo vielmal
ſetzen müſſe, als der andre Einheiten habe; es liegt ihm
vielleicht eben ſo ſehr am Herzen als uns, und er zwei-
felt bloſs daran, ob wir es wirklich beobachtet haben.
Es bleibt demnach, ſelbſt bei der höchſten Einheit
des Syſtems, welches die negative Bedingung ſeiner
Richtigkeit iſt, noch immer etwas übrig, das nie ſtreng
erwieſen, ſondern nur als wahrſcheinlich angenommen
werden kann, nehmlich, daſs dieſe Einheit ſelbſt nicht
von ungefähr durch unrichtige Folgerung entſtanden
ſei. Man kann mehrere Mittel anwenden, um dieſe
Wahrſcheinlichkeit zu erhöhen; man kann die Reihe
der Sätze zu mehreren Malen, wenn ſie unſerm Ge-
dächtniſs nicht mehr gegenwärtig ſind, durchdenken;
man kann den umgekehrten Weg machen, und vom
Reſultate zum Grundſatze zurück gehen; man kann
über ſeine Reflexion ſelber wieder reflektiren u. ſ. f.
die Wahrſcheinlichkeit wird immer gröſser, aber nie
wird Gewiſsheit, was bloſse Wahrſcheinlichkeit war.
Wenn man ſich dabei nur bewuſst iſt, redlich ge-
forſcht
[57] forſcht *), und ſich nicht ſchon die Reſultate vorge-
ſetzt zu haben, ſo kann man ſich mit dieſer Wahr-
ſcheinlichkeit gar wohl begnügen, und darf von jedem,
der die Zuverläſſigkeit unſers Syſtems in Zweifel zieht,
fordern, daſs er uns die Fehler in unſern Folgerungen
D 5nach-
[58] nachweiſe; aber nie darf man auf Infallibilität Anſpruch
machen. — Das Syſtem des menſchlichen Geiſtes, deſſen
Darſtellung die Wiſſenſchaftslehre ſeyn ſoll, iſt abſolut
gewiſs und infallibel; alles, was in ihm begründet iſt,
iſt ſchlechthin wahr; er irrt nie, und was je in einer
Menſchenſeele geweſen iſt, oder ſeyn wird, iſt wahr.
Wenn die Menſchen irrten, ſo lag der Fehler nicht im
Nothwendigen, ſondern die reflektirende Urtheilskraft
machte ihn in ihrer Freiheit; indem ſie ein Geſetz mit
einem andern verwechſelte. Iſt unſre Wiſſenſchafts-
lehre eine getroffene Darſtellung dieſes Syſtems, ſo iſt
ſie ſchlechthin gewiſs [und] infallibel, wie jenes; aber
die Frage iſt eben davon, ob und in wie fern unſre
Darſtellung getroffen ſei; und darüber können wir nie
einen ſtrengen, ſondern nur einen Wahrſcheinlichkeit
begründenden Beweiſs führen. Sie hat nur unter der
Bedingung, und nur in ſo fern Wahrheit, als ſie getrof-
fen iſt. Wir ſind nicht Geſetzgeber des menſchlichen
Geiſtes, ſondern ſeine Hiſtoriographen; freilich nicht
Zeitungsſchreiber, ſondern pragmatiſche Geſchicht-
ſchreiber.
Hiezu kommt noch der Umſtand, daſs ein Syſtem
wirklich im Ganzen richtig ſeyn kann, ohne daſs die
einzelnen Theile deſſelben die völlige Evidenz haben.
Es kann hier und da unrichtig gefolgert, es können
Mittelſätze überſprungen, es können erweiſsbare Sätze
ohne Beweiſs aufgeſtellt oder unrichtig bewieſen ſeyn,
und die wichtigſten Reſultate ſind dennoch richtig.
Dieſs ſcheint unmöglich, es ſcheint, daſs eine haarkleine
Abweichung von der geraden Linie nothwendig zu einer
ſich in’s unendliche vergröſsernden Abweichung führen
müſſe;
[59] müſſe; und ſo würde es allerdings ſeyn, wenn der
Menſch bloſs ein denkendes, und nicht auch ein füh-
lendes Weſen wäre; und wenn nicht oft das Gefühl
durch Verurſachung einer neuen Verirrung von der ge-
raden Bahn des Räſonnements die alten Verirrungen
berichtigte, und ihn nicht wieder dahin zurückleitete,
wohin er durch richtige Folgerung nie wieder zurück-
gekommen wäre.
Alſo wird, wenn auch eine allgemeingeltende Wiſ-
ſenſchaftslehre aufgeſtellt werden ſollte, die philoſophi-
rende Urtheilskraft noch immer ſelbſt in dieſem Felde
an ihrer fortdauernden Perfektibilität zu arbeiten, ſie
wird noch immer Lücken auszufüllen, Beweiſse zu
ſchärfen, Beſtimmungen noch näher zu beſtimmen
haben.
Noch hab’ ich zwei Anmerkungen hinzu zu ſetzen:
Die Wiſſenſchaftslehre ſetzt die Regeln der Refle-
xion und Abſtraktion als bekannt und gültig voraus; ſie
muſs dieſs nothwendig thun, und ſie hat ſich deſſen
nicht zu ſchämen, oder ein Geheimniſs daraus zu ma-
chen, und es zu verſtecken, Sie darf ſich ausdrücken
und Schlüſſe machen, gerade, wie jede andere Wiſſen-
ſchaft; ſie darf alle logiſchen Regeln vorausſetzen, und
alle Begriffe anwenden, deren ſie bedarf. Dieſe Vor-
ausſetzungen geſchehen aber bloſs um ſich verſtändlich
zu machen, alſo ohne die mindeſte Folge daraus zu zie-
hen. Es muſs alles Erweiſsbare erwieſen, auſſer jenem
erſten und höchſten Grundſatze müſſen alle Sätze abge-
leitet
[60] leitet werden. So iſt z. B. weder der logiſche Satz der
Gegenſetzung (des Widerſpruchs, der alle Analyſe be-
gründet) noch der des Grundes (nichts iſt entgegenge-
ſetzt, das nicht in einem dritten gleich wäre, und
nichts iſt gleich, das nicht in einem dritten entgegen-
geſetzt wäre, welcher alle Syntheſis begründet) vom
abſolut-erſten Grundſatze, wohl aber von den beiden
auf ihm beruhenden Grundſätzen abgezogen. Die bei-
den letztern ſind zwar auch Grundſätze, aber nicht ab-
ſolute; es iſt nur etwas in ihnen abſolut. Dieſe Sätze
demnach, ſo wie die logiſchen Sätze, die auf ihnen
beruhen, müſſen zwar nicht bewieſen; aber abgeleitet
werden. — Ich mache mich noch deutlicher: daſs, was
die Wiſſenſchaftslehre aufſtellt, iſt ein gedachter und
in Worte gefaſster Satz; dasjenige im menſchlichen
Geiſte, welchem dieſer Satz korreſpondirt, iſt irgend
eine Handlung deſſelben, die an ſich gar nicht noth-
wendig gedacht werden müſste. Dieſer Handlung muſs
nichts vorausgeſetzt werden, als dasjenige, ohne wel-
ches ſie als Handlung unmöglich wäre; und das wird
nicht ſtillſchweigend vorausgeſetzt, ſondern es iſt das
Geſchäft der Wiſſenſchaftslehre, es deutlich, und be-
ſtimmt, und als dasjenige aufzuſtellen, ohne welches
die Handlung unmöglich ſeyn würde. Es ſei z. B. die
Handlung D — die vierte in der Reihe, ſo muſs ihr die
Handlung C vorher gehen, und als ausſchlieſſende Be-
dingung ihrer Möglichkeit erwieſen werden; und die-
ſer die Handlung B. Die Handlung A aber iſt ſchlecht-
hin möglich, ſie iſt ganz unbedingt, und mithin darf
und ſoll ihr gar nichts vorausgeſetzt werden. — Das
Denken der Handlung A aber iſt ganz eine andre Hand-
lung
[61] lung, die weit mehr vorausſetzt. Setzet, ſie ſei in der
Reihe der aufzuſtellenden Handlungen D, ſo iſt klar,
daſs zum Behuf derſelben A. B. C. vorausgeſetzt, und
zwar, da jenes Denken das erſte Geſchäft der Wiſſen-
ſchaftslehre ſeyn ſoll, ſtillſchweigend vorausgeſetzt wer-
den müſſen. Erſt im Satze D werden die Voraus-
ſetzungen des erſten erwieſen werden; aber dann wird
wieder mehreres vorausgeſetzt ſeyn. Die Form der
Wiſſenſchaft eilt demnach ihrem Stoff beſtändig vor;
und das iſt der oben angezeigte Grund, warum die
Wiſſenſchaft, als ſolche, nur Wahrſcheinlichkeit hat.
Das Dargeſtellte und die Darſtellung ſind in zwei ver-
ſchiedenen Reihen. In der erſten wird nichts uner-
wieſenes vorausgeſetzt; für die Möglichkeit des zwei-
ten, muſs nothwendig vorausgeſetzt werden, was ſich
erſt ſpäter erweiſen läſst.
Die Reflexion, welche in der ganzen Wiſſen-
ſchaftslehre, in ſo ferne ſie Wiſſenſchaft iſt, herrſcht,
iſt ein Vorſtellen; daraus aber folgt gar nicht, daſs alles,
worüber reflektirt wird, auch nur ein Vorſtellen ſeyn
werde. In der Wiſſenſchaftslehre wird das Ich vorge-
ſtellt; es folgt aber nicht, das es bloſs als vorſtellend,
bloſs als Intelligenz, vorgeſtellt werde: es können ſich
noch wohl andre Beſtimmungen darin auffinden laſſen.
[Das] Ich, als philoſophirendes Subjekt, iſt unſtreitig
nur vorſtellend; [das] ich als Objekt des Philoſophirens
könnte wohl noch etwas mehr ſeyn. Das Vorſtellen iſt
die höchſte und abſolut-erſte Handlung der Philoſophen,
als ſolchen; die abſolut erſte Handlung des menſchlichen
Geiſtes könnte wohl eine andre ſeyn. Daſs es ſo ſeyn
werde,
[62] werde, iſt vor aller Erfahrung vorher ſchon darum
wahrſcheinlich, weil ſich die Vorſtellung vollkommen
erſchöpfen läſst, und ihr Verfahren durchgängig noth-
wendig iſt; mithin einen letzten Grund ſeiner Noth-
wendigkeit haben muſs, der als letzter Grund keinen
höhern haben kann. Unter dieſer Vorausſetzung könnte
eine Wiſſenſchaft, die auf den Begriff der Vorſtellung
aufgebaut iſt, zwar eine höchſt nützliche Propädevtik
der Wiſſenſchaft, aber ſie könnte nicht die Wiſſen-
ſchaftslehre ſelbſt ſeyn. — So viel aber folgt aus der
obigen Angabe ſicher, daſs die geſammte Handlungsart
des menſchlichen Geiſtes, welche die Wiſſenſchaftslehre
erſchöpfen ſoll, nur in der Form der Vorſtellung — nur
in ſo fern, und ſo wie ſie vorgeſtellt werden — zum
Bewuſtſeyn gelangen.
Drit-
[63]
Dritter Abſchnitt.
Hypothetiſche Eintheilung der
Wiſſenſchaftslehre.
§. 8.
Der abſolut-erſte Grundſatz, da es nicht bloſs einen
Theil des menſc[h]lichen Wiſſens, ſondern das geſammte
Wiſſen begründen ſoll, muſs der ganzen Wiſſenſchafts-
lehre gemein ſeyn. Eintheilung iſt nur durch Gegen-
ſetzung möglich, deren Glieder aber doch einem
dritten gleich ſeyn müſſen.
Setzet, das Ich ſei der höchſte Begriff, und dem
Ich werde ein Nicht-Ich entgegen geſetzt, ſo iſt klar,
daſs der letztere nicht entgegengeſetzt werden könne,
ohne geſetzt, und zwar in dem höchſten Begriffenen,
dem Ich geſetzt zu ſeyn. Alſo wäre das Ich in zweyer-
lei
[64] lei Rükſicht zu betrachten; als dasjenige, in welchem
das Nicht-Ich geſetzt wird; und als dasjenige, welches
dem Nicht-Ich entgegengeſetzt, und mithin ſelbſt im
abſoluten Ich geſetzt wäre. Das letztere Ich ſollte dem
Nicht-Ich, in ſo fern beide im abſoluten Ich geſetzt
ſind, darin gleich ſeyn, und es ſollte ihm zugleich in
eben der Rückſicht entgegengeſetzt ſeyn. Dieſs würde
ſich nur unter der Bedingung eines dritten im Ich den-
ken laſſen, in welchem beide gleich wären, [und] dieſes
dritte wäre der Begriff der Quantität. Beide hätten
eine durch ihr entgegengeſetztes beſtimmbare Quanti-
tät *). Entweder das Ich wird durch das Nicht-Ich
(ſeiner Quantität nach) beſtimmt. Es iſt in ſo fern ab-
hängig; es heiſst Intelligenz, und der Theil der Wiſſen-
ſchaftslehre, welcher von ihr handelt, iſt ihr theoreti-
ſcher Theil. Er wird gegründet auf den von den
Grundſätzen abzuleitenden, und durch ſie zu erweiſen-
den Begriff der Vorſtellung überhaupt.
Aber [das] Ich ſollte abſolut, und ſchlechthin durch
ſich ſelbſt beſtimmt ſeyn: wird es durch das Nicht-Ich
beſtimmt, ſo beſtimmt es ſich nicht ſelbſt, und dem
höchſten und abſolut-erſten Grundſatze wird wider-
ſprochen. Um dieſem Widerſpruche auszuweichen,
müſſen wir annehmen, daſs das Nicht-Ich, welches
die Intelligenz beſtimmen ſoll, ſelbſt durch das Ich
das
[65] das in dieſem Geſchäfte nicht vorſtellend ſeyn, ſondern
eine abſolute Kauſalität haben würde, beſtimmt wer-
den. — Da aber eine ſolche Kauſalität das entgegenge-
ſetzte Nicht-Ich, und mit ihm die von demſelben ab-
hängige Vorſtellung gänzlich aufheben würde, mithin
die Annahme derſelben dem zweiten und dritten Grund-
ſatze widerſpricht, ſo muſs ſie vorgeſtellt werden, als
der Vorſtellung widerſprechend, als unvorſtellbar, als
eine Kauſalität die nicht Kauſalität iſt. Aber der Begriff
einer Kauſalität, die nicht Kauſalität iſt, iſt der Begriff
eines Strebens. Die Kauſalität iſt nur unter der Bedingung
einer geendeten Annäherung zum Unendlichen denk-
bar, welche ſelbſt nicht denkbar iſt — Dieſer als noth-
wendig zu erweiſende Begriff des Strebens wird dem
zweiten Theile der Wiſſenſchaftslehre zum Grunde ge-
legt, welcher der Praktiſche heiſst.
Dieſer zweite Theil iſt an ſich bei weitem der
Wichtigſte; der erſte iſt freilich nicht minder wichtig,
aber nur als Grundlage des zweiten, und weil dieſer
ohne ihn ſchlechthin unverſtändlich iſt. Im zweiten
bekommt der theoretiſche Theil erſt ſeine ſichere Be-
grenzung, und ſeine feſte Grundlage, in dem aus dem
aufgeſtellten nothwendigen Streben, die Fragen beant-
wortet werden: Warum müſſen wir unter der Beding-
ung einer vorhandenen Affektion überhaupt vorſtellen;
mit welchem Rechte beziehen wir die Vorſtellung auf
etwas auſſer uns, als auf ihre Urſache; mit welchem
Rechte nehmen wir überhaupt ein durchgängig durch
Geſetze beſtimmtes Vorſtellungsvermögen an: (welche
Geſetze nicht als im Vorſtellungsvermögen einheimiſch,
ſondern als Geſetze des ſtrebenden Ich, deren Anwen-
Edung
[66] dung durch die Einwirkung des gegenſtrebenden Nicht-
Ich auf das Gefühl bedingt wird, vorgeſtellt werden.)
In ihm wird eine neue durchgängig beſtimmte Theorie
des Angenehmen, des Schönen, und Erhabenen, der
Geſetzmäſsigkeit der Natur in ihrer Freiheit, der Got-
teslehre, des ſogenannten gemeinen Menſchenverſtan-
des, oder des natürlichen Wahrheitsſinnes, und endlich
ein Naturrecht, und eine Sittenlehre begründet, deren
Grundſätze nicht bloſs formal, ſondern material ſind.
Alles durch Aufſtellung dreier Abſoluten. Eines abſo-
luten Ich, und der ſelbſtgegebnen, unter Bedingung
einer Einwirkung des Nicht-Ich vorſtellbaren Geſetze;
eines abſoluten von allen unſern Geſetzen unabhängigen
und freien, unter der Bedingung, daſs es dieſelben po-
ſitiv oder negativ, aber immer in einem endlichen
Grade ausdrücke, vorſtellbaren Nicht-Ich; und einer
abſoluten, unter der Bedingung, daſs es eine Einwir-
kung des Nicht-Ich von einer Wirkung des Ich, oder
einem Geſetze unterſcheide, vorſtellbaren Vermögens
in uns, uns nach Maaſsgabe der Einwirkung beider,
ſchlechthin zu beſtimmen. Ueber dieſe drei Abſoluten
hinaus geht keine Philoſophie.
Es
[67]
Es iſt den akademiſchen Bürgern, deren Mitbürger in
kurzem zu ſeyn, ich mir zur Ehre ſchätze, aus den
Lektionsankündigungen bekannt, welche Vorleſungen
ich über die Wiſſenſchaft, deren Begriff ich hier zu
entwickeln ſuchte, zu halten gedenke; und ich habe
Ihnen darüber nichts weiter zu ſagen, als daſs ich hoffe,
Ihnen den Leitfaden für beide Theile derſelben als
Handſchrift für meine Zuhörer*) gedruckt in die Hände
liefern zu können. Die gewählten Stunden werde ich
nach meiner Ankunft an dem gewöhnlichen Orte an-
zeigen.
Ueber Einen Punkt nur bin ich Ihnen noch eine
Erklärung ſchuldig. — Die Wiſſenſchaften ſind, wie
Ihnen allen ohne Zweifel bekannt iſt, nicht zu einer
müſſigen Geiſtesbeſchäftigung, und für die Bedürfniſſe
eines verfeinertern Luxus erfunden. Dann gehörte
der Gelehrte gerade in die Klaſſe, in welche die leben-
den Werkzeuge des Luxus, der weiter nichts als Luxus
iſt, alle gehören, und ſelbſt in dieſer dürfte ihm der
oberſte Platz ſtreitig gemacht werden. Alles unſer For-
ſchen muſs auf den höchſten Zweck der Menſchheit, auf
die Veredlung des Geſchlechts, deſſen Mitglieder wir
ſind, ausgehen, und von den Zöglingen der Wiſſen-
ſchaft aus muſs, als vom Mittelpunkte, Humanitat im
höch-
[68] höchſten Sinne des Worts ſich rund um ſie herum ver-
breiten. Jeder Zuwachs, den die Wiſſenſchaft erhält,
vermehrt die Pflichten ihrer Diener. Es wird alſo im-
mer nothwendiger, folgende Fragen recht ernſtlich zu
beherzigen: Welches iſt die eigentliche Beſtimmung des
Gelehrten, auf welchen Platz in der Ordnung der
Dinge iſt er geſtellt, in welchen Verhältniſſen ſtehen die
Gelehrten unter ſich ſelbſt, gegen die übrigen Menſchen
überhaupt, und insbeſondre gegen die einzelnen Stände
derſelben, wie und durch welche Mittel können ſie den
Pflichten, die ihnen durch dieſe Verhältniſſe aufgelegt
ſind, am geſchickteſten Genüge thun, und wie haben
ſie ſich zu dieſer Geſchicklichkeit zu bilden? Dieſe
Fragen ſind es, die ich in den öffentlichen Vorleſungen,
welche ich unter der Benennung Moral für Gelehrte,
angekündigt habe, zu beantworten ſuchen werde. Er-
warten Sie von dieſen Unterhaltungen nicht eine ſyſte-
matiſche Wiſſenſchaft; dem Gelehrten fehlt es öfterer
beim Handeln, als beim Wiſſen. Vergönnen Sie viel-
mehr, daſs wir in dieſen Stunden, wie eine Geſellſchaft
von Freunden, die mehr als Ein Band vereinigt, uns
zum hohen feurigen Gefühl unſrer gemeinſchaftlichen
Pflichten ermuntern.
Appendix A
Einige Druckfehler der erſten zwei Bogen, die allein der Ver-
faſſer ſelbſt revidiren konnte.
S. 6 Z. 11 Vorſchritten, ſtatt: Vorſchriften.
— 16 — 13 Gehalt, ſtatt: Geſtalt.
— 17 — gegen Ende einer nicht übertriebenen, ſtatt: über-
triebener.
[[69]][[70]][[71]]
in welchem die Skeptiker ſich mit Recht auf die Seite der
Dogmatiker, und mit ihnen des geſunden Menſchenverſtandes,
der zwar nicht als Richter, aber als ein nach Artikeln zu
vernehmender Zeuge gar ſehr in Betrachtung kömmt, geſchla-
gen haben, dürfte wohl der über den Zuſammenhang unſrer
Erkenntniſs mit einem Dinge an ſich ſeyn; und der Streit dürf-
te durch eine künftige Wiſſenſchaftslehre wohl dahin entſchie-
den werden, daſs unſre Erkenntniſs zwar nicht unmittelbar
durch die Vorſtellung, aber wohl mittelbar durch das Gefühl
mit dem Dinge an ſich zuſammenhange; daſs die Dinge aller-
dings bloſs als Erſcheinungen vorgeſtellt, daſs ſie aber als Din-
ge an ſich gefühlt werden; daſs ohne Gefühl gar keine Vorſtel-
lung möglich ſeyn würde; daſs aber die Dinge an ſich nur
ſubjektiv, d. i. nur inwiefern ſie auf unſer Gefühl wirken, er-
kannt werden.
aus ihrer Sprache zu geben; und die Sprache ſelbſt, ſo wie
die Nation, welche dieſelbe redete, würde dadurch ein ent-
ſchiedenes Uebergewicht über alle andere Sprachen und Natio-
nen erhalten.
Philoſoph machen könnte! — Die eigentlichen Aufgaben des
menſchlichen Geiſtes ſind freilich, ſo wohl ihrer Anzahl, als
ihrer Ausdehnung nach unendlich; ihre Auflöſung wäre nur
durch eine vollendete Annäherung zum Unendlichen möglich,
welche an ſich unmöglich iſt: aber ſie ſind es darum, weil ſie
gleich als unendlich gegeben werden. Es ſind unendlich viele
Radien eines unendlichen Zirkels, deſſen Mittelpunkt gegeben
iſt; und ſo wie der Mittelpunkt gegeben iſt, iſt ja wohl der
ganze unendliche Zirkel, und die unendlich vielen Radien
deſſelben gegeben. Der eine Endpunkt derſelben liegt freilich
in der Unendlichkeit; aber der andre liegt im Mittelpunkte,
und derſelbe iſt allen gemein. Der Mittelpunkt iſt gegeben;
die Richtung der Linien iſt auch gegeben, denn es ſollen ge-
rade Linien ſeyn: alſo ſind alle Radien gegeben (einzelne
Radien aus der unendlichen Anzahl derſelben, werden durch
Eindrücke vom Nicht-Ich beſtimmt, als wirklich zuziehende;
aber nicht gegeben; gegeben waren ſie zugleich mit dem Mittel-
punkte.) Das menſchliche Wiſſen iſt den Graden nach unend-
lich, aber der Art nach iſt es durch ſeine Geſetze vollſtändig
beſtimmt, und läſst ſich gänzlich erſchöpfen.
führt Eins zu Allem, und Alles zu Einem. Sie iſt aber die ein-
zige Wiſſenſchaft welche vollendet werden kann; Vollendung
iſt demnach ihr auszeichnender Charakter. Alle andere Wiſſen-
ſchaften ſind unendlich, und können nie vollendet werden;
denn ſie laufen nicht wieder in ihren Grundſatz zurück. Die
Wiſſenſchaftslehre hat dies für alle zu beweiſen und den Grund
davon anzugeben.
des Geraden ſchon im Begriffe der Linie? Giebt es andre Linien
als gerade? und iſt die ſogenannte krumme Linie etwas andres,
als eine Zuſammenreihung unendlich vieler, unendlich naher
Punkte? Der Urſprung derſelben, als Grenzlinie des unend-
lichen Raums (von dem Ich, als Mittelpunkte werden unend-
lich viele unendliche Radien gezogen, denen aber unſre einge-
ſchränkte Einbildungskraft doch einen Endpunkt ſetzen muſs;
dieſe Endpunkte als Eins gedacht, ſind die urſprüngliche Kreis-
linie,) ſcheint mir dafür zu bürgen; und es wird daraus klar,
daſs, und warum die Aufgabe, ſie durch eine gerade Linie zu
meſſen, unendlich iſt, und nur in einer vollendeten Annäherung
zum Unendlichen erfüllt werden könnte. — Gleichfalls wird
daraus klar, warum die gerade Linie ſich nicht definiren läſst.
ſo wird es ſich doch zu ſeiner Zeit zeigen, daſs es ſich ſtreng
erweiſen läſst: daſs er ſelbſt erſt die Geſetze der Natur, die er
durch Beobachtung von ihr zu lernen glaubt, in ſie hineinge-
legt habe, und daſs ſie ſich, das kleinſte, wie das gröſste, der
Bau des geringfügigſten Grashalms, wie die Bewegung der
Himmelskörper, vor aller Beobachtung vorher aus dem Grund-
ſatze alles menſchlichen Wiſſens ableiten laſſen. Es iſt wahr,
daſs kein Naturgeſetz und überhaupt kein Geſetz zum Bewuſst-
ſeyn kommt, wenn nicht ein Gegenſtand gegeben wird, auf den
es angewandt werden kann; es iſt wahr, daſs nicht alle Ge-
genſtände nothwendig, und nicht alle in dem gleichen Grade
damit übereinkommen müſſen; es iſt wahr, daſs kein einziger
ganz und völlig mit ihnen übereinkommt, noch übereinkom-
men kann: aber eben darum iſt es wahr, daſs wir ſie nicht
durch Beobachtung lernen, ſondern ſie aller Beobachtung zum
Grunde legen, und daſs es nicht ſo wohl Geſetze für die von
uns unabhängige Natur, als Geſetze für uns ſelbſt [ſind], wie
wir die Natur zu beobachten haben.
des Richtigen oder das Genie in keinem geringern Grade be-
dürfe, als etwa der Dichter oder der Künſtler; nur in einer
andern Art. Der letztere bedarf des Schönheits- jener des Wahr-
heitsſinnes, dergleichen es allerdings giebt.
dern auch der Wahrheitsliebe. Ich rede nicht davon, daſs er
nicht durch ſeine Sophiſtikationen, deren er ſich ſelbſt wohl
bewuſst iſt, von denen er aber etwa glaubt, daſs ſie keiner
ſeiner Zeitgenoſſen entdecken werde, die ſchon vorausgeſetz-
ten Reſultate zu behaupten ſuchen ſolle; dann weiſs er ſelbſt
daſs er die Wahrheit nicht liebt. Doch iſt hierüber jeder eige-
ner Richter, und kein Menſch hat ein Recht, einen andern
Menſchen dieſer Unlauterkeit zu bezüchtigen, wo die Anzei-
gen nicht ganz offen da liegen. Aber auch gegen die un-
wilkührlichen Sophiſtikationen, denen kein Forſcher mehr aus-
geſetzt iſt, als der Erforſcher des menſchlichen Geiſtes, muſs er
auf ſeiner Hut ſeyn: er muſs es nicht nur dunkel fühlen, ſon-
dern es zum klaren Bewuſstſeyn und zu ſeiner höchſten Maxime
erheben, daſs er nur Wahrheit ſuche, wie ſie auch ausfalle
und daſs ſelbſt die Wahrheit, daſs es überall keine Wahrheit
gebe, ihm willkommen ſeyn würde, wenn ſie nur Wahrheit
wäre. Kein Satz, ſo trocken und ſo ſpitzfindig er ausſehe, muſs
ihm gleichgültig — alle müſſen ihm gleich heilig ſeyn, weil
ſie in das eine Syſtem der Wahrheit gehören, und jeder alle
unterſtützt. Er muſs nie fragen: was wird hieraus folgen?
ſondern ſeines Weges gerade fortgehen, was auch immer folgen
möge. Er muſs keine Mühe ſcheuen, und ſich dennoch beſtän-
dig in der Fähigkeit erhalten die mühſamſten und tiefſinnigſten
Arbeiten aufzugeben, ſo bald ihm die Grundloſigkeit derſel-
ben entweder gezeigt wird, oder er ſie ſelbſt entdekt. Und
wenn er ſich denn auch verrechnet hätte, was wäre es mehr?
was träfe ihn weiter, als das bis jetzt allen Denkern gemein-
ſchaftliche Loos?
tität (der Schranken) ſind ſchlechthin a priori. Aus ihnen
ſind durch Gegenſetzung und Gleichung alle übrigen reinen
Begriffe abzuleiten.
dern um der Kritik und ihrem Repräſentanten, dem Publikum
meine Achtung zu bezeigen.
- Lizenz
-
CC-BY-4.0
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- Zitationsvorschlag für diese Edition
- TextGrid Repository (2025). Fichte, Johann Gottlieb. Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bhth.0