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Hebbel’s
Maria Magdalene.
[]
[...]
[]
Maria Magdalene.

Ein bürgerliches Trauerſpiel
in drei Akten.

Nebſt einem Vorwort,
betreffend
das Verhältniß der dramatiſchen Kunſt zur
Zeit und verwandte Puncte


Hamburg,:
bei Hoffmann und Campe.
1844.

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Sr. Majeſtaͤt,
dem
König Christian dem Achten,
von Dänemark,

in tiefſter Ehrfurcht gewidmet.


[][]
Dem Dichter iſt es an- und eingeboren,

Daß er ſich lange in ſich ſelbſt verſenkt,

Und, in das inn’re Labyrinth verloren,

Des äußeren der Welt erſt ſpät gedenkt;

Und dennoch hat ihn die Natur erkoren,

Zu zeigen, wie ſich dieß mit dem verſchränkt,

Und es in klarem Bilde darzuſtellen,

Wie beide ſich ergänzen und erhellen.

[]
Denn nicht, wie wohl ein ird’ſcher Künſtler, ſpielend,

Wenn er zurück von ſeiner Tafel trat,

Dem Lieblingskind, das, lüſtern darnach ſchielend,

Schon längſt ihn ſtill um ſeinen Griffel bat,

Ihn freundlich darreicht, auf nichts And’res zielend,

Als daß es, träumend von gewalt’ger That,

Sein Meiſterſtück in todten, groben Zügen

Nachbilde, wie es kann, ſich zu vergnügen;

[]
Nur, mit ſich ſelbſt, in’s Einzelſte zerfließend,

Sich endlich auch doch concentriren muß,

Und, in dem Theil als Ganzes ſich genießend,

Den Anfang wieder finden in dem Schluß,

Der, ſich mit der Idee zuſammen ſchließend,

Ihr erſt verſchafft den höchſten Selbſtgenuß,

Den alle unter’n Stufen ihr verneinen:

Rein, ganz und unverworren zu erſcheinen;

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Nur darum hat ſie, ſtatt ihn zu zerbrechen,

Dem Menſchen ihren Zauberſtab vertraut,

Als ſie, bereit, ihr: es iſt gut! zu ſprechen,

Zum letzten Mal das Weltall überſchaut,

Und dieſer ſtellt nun, das Geſetz zu rächen

Am plumpen Stoff, dem ewig davor graut,

In den geſchloßnen erſten Kreis den zweiten,

Wo ſie nur noch harmoniſch ſich beſtreiten.

[]
Und, Anfangs ſchauernd vor der hohen Gabe,

Wird ſich der fromme Künſtler bald bewußt,

Daß er zum Dank ſich ſelbſt zu opfern habe,

Und ſteigt nun tief hinab in ſeine Bruſt;

Er fragt nicht, ob ihn auch die Nacht begrabe,

Er geht, ſo weit er kann, in banger Luſt,

Und führt ſein Narr im Wappen die Verſöhnung,

Er hofft nur kaum auf ſie, wie auf die Krönung!

[]
Doch, wenn er lange ſo den rothen Faden

Aus ſich hervor ſpinnt, der ihn führen kann,

So wird er plötzlich durch den Geiſt geladen:

Nun lege ihn in der Geſchichte an!

Dieß iſt ein wahrer Ruf von Gottes Gnaden,

Und wer nicht folgt, der zeigt, daß er zerrann!

Ich habe vorlängſt dieſen Ruf vernommen,

Da hab’ ich nicht geſäumt, ich bin gekommen.

[]
Und wie mein Blick ſich lenkte in das Weite,

War mir auch flugs die Sehnſucht eingeflößt,

Die äuß’re Welt zu ſchau’n in ihrer Breite,

Allein der Mittel ſah ich mich entblößt.

Doch gleich ſtand mir ein Genius zur Seite,

Und von der Scholle ward mein Fuß gelöſ’t,

Und was dieß hieß, das kann ich jetzt erſt wägen,

Wo ſich zur Frucht verdichten will der Segen.

[]
Du warſt es, Herr und Fürſt! Laß’ Dir’s gefallen,

Daß ich zum Danke jetzt dieß kleine Bild,

Vielleicht das einfach-ſchlichteſte von allen,

Worin ſich mir das Welt-Geſchick enthüllt,

Dir bringe, und, wenn ſich’s für Königs-Hallen

Auch ſchlecht nur eignet, ſey ihm dennoch mild!

Es iſt des neuen Frühlings erſtes Zeichen,

Und als das erſte durfte ich’s Dir reichen!

[[I]]

Vorwort.


Das kleine Vorwort, womit ich meine Genoveva
begleitete, hat ſo viel Mißverſtändniß und Wider-
ſpruch hervorgerufen, daß ich mich über den darin
berührten Hauptpunct noch einmal ausſprechen muß.
Ich muß aber ein aeſthetiſches Fundament, und
ganz beſonders einigen guten Willen, auf das We-
ſentliche meines Gedankenganges einzugehen, voraus-
ſetzen, denn wenn die Unſchuld des Worts nicht
reſpectirt, und von der dialectiſchen Natur der
Sprache, deren ganze Kraft auf dem Gegenſatz be-
ruht, abgeſehen wird, ſo kann man mit jedem
eigenthümlichen Ausdruck jeden beliebigen Wechſel-
Hebbel’s Maria Magdalene. a
[II] balg erzeugen, man braucht nur einfach in die Be-
jahung der eben hervorgehobenen Seite eine ſtill-
ſchweigende Verneinung aller übrigen zu legen.


Das Drama, als die Spitze aller Kunſt, ſoll
den jedesmaligen Welt- und Menſchen-Zuſtand
in ſeinem Verhältniß zur Idee, d. h. hier zu
dem Alles bedingenden ſittlichen Centrum, das wir
im Welt-Organismus, ſchon ſeiner Selbſt-Erhaltung
wegen, annehmen müſſen, veranſchaulichen. Das
Drama, d. h. das höchſte, das Epoche machende,
denn es giebt auch noch ein zweites und drittes,
ein partiell-nationales und ein ſubjectiv-
individuelles
, die ſich zu jenem verhalten, wie
einzelne Scenen und Charactere zum ganzen Stück,
die daſſelbe aber ſo lange, bis ein Alles umfaſſen-
der Geiſt erſcheint, vertreten, und wenn dieſer ganz
ausbleibt, als disjecti membra poetae in ſeine
Stelle rücken, das Drama iſt nur dann möglich,
wenn in dieſem Zuſtand eine entſcheidende Verän-
derung
vor ſich geht, es iſt daher durchaus ein Pro-
duct der Zeit, aber freilich nur in dem Sinne, worin
eine ſolche Zeit ſelbſt ein Product aller vorhergegange-
nen Zeiten iſt, das verbindende Mittelglied zwiſchen
[III] einer Kette von Jahrhunderten, die ſich ſchließen
und einer neuen, die beginnen will.


Bis jetzt hat die Geſchichte erſt zwei Kriſen
aufzuzeigen, in welchen das höchſte Drama hervor-
treten konnte, es iſt demgemäß auch erſt zwei Mal
hervorgetreten: einmal bei den Alten, als die an-
tike Welt-Anſchauung aus ihrer urſprünglichen Nai-
vetät in das ſie zunächſt auflockernde und dann
zerſtörende Moment der Reflexion überging, und
einmal bei den Neuern, als in der chriſtlichen
eine ähnliche Selbſt-Entzweiung eintrat. Das grie-
chiſche Drama entfaltete ſich, als der Paganismus
ſich überlebt hatte und verſchlang ihn, es legte den
durch alle die bunten Götter-Geſtalten des Olymps
ſich hindurchziehenden Nerv der Idee bloß, oder,
wenn man will, es geſtaltete das Fatum. Daher
das maaßloſe Herabdrücken des Individuums, den
ſittlichen Mächten gegenüber, mit denen es ſich in
einen doch nicht zufälligen, ſondern nothwendigen
Kampf verſtrickt ſieht, wie es im Oedyp den Schwin-
del erregenden Höhepunct erreicht. Das Shakſpearſche
Drama entwickelte ſich am Proteſtantismus und
emanzipirte das Individuum. Daher die furcht-
a*
[IV] bare Dialectik ſeiner Charactere, die, ſo weit ſie
Männer der That ſind, alles Lebendige um ſich her
durch ungemeſſenſte Ausdehnung verdrängen, und
ſo weit ſie im Gedanken leben, wie Hamlet, in
eben ſo ungemeſſener Vertiefung in ſich ſelbſt durch
die kühnſten entſetzlichſten Fragen Gott aus der Welt,
wie aus einer Pfuſcherei, herausjagen mögten.


Nach Shakſpeare hat zuerſt Goethe im Fauſt
und in den mit Recht dramatiſch genannten Wahl-
verwandtſchaften
wieder zu einem großen Drama
den Grundſtein gelegt, und zwar hat er gethan,
oder vielmehr zu thun angefangen, was allein noch
übrig blieb, er hat die Dialectik unmittelbar in
die Idee ſelbſt hinein geworfen, er hat den Wider-
ſpruch, den Shakſpeare nur noch im Ich aufzeigt,
in dem Centrum, um das das Ich ſich herum be-
wegt, d. h. in der dieſem erfaßbaren Seite deſſelben,
aufzuzeigen, und ſo den Punct, auf den die gerade,
wie die krumme Linie zurück zu führen ſchien, in
zwei Hälften zu theilen geſucht. Es muß Niemand
wundern, daß ich Calderon, dem Manche einen
gleichen Rang anweiſen, übergehe, denn das Cal-
deronſche Drama iſt allerdings bewunderungswürdig
[V] in ſeiner conſequenten Ausbildung, und hat der
Literatur der Welt in dem Stücke: das Leben ein
Traum! ein unvergängliches Symbol einverleibt,
aber es enthält nur Vergangenheit, keine Zukunft,
es ſetzt in ſeiner ſtarren Abhängigkeit vom Dogma
voraus, was es beweiſen ſoll, und nimmt daher,
wenn auch nicht der Form, ſo doch dem Gehalt
nach, nur eine untergeordnete Stellung ein.


Allein Goethe hat nur den Weg gewieſen, man
kann kaum ſagen, daß er den erſten Schritt gethan
hat, denn im Fauſt kehrte er, als er zu hoch hinauf,
und in die kalte Region hinein gerieth, wo das
Blut zu gefrieren anfängt, wieder um, und in den
Wahlverwandtſchaften ſetzte er, wie Calderon, vor-
aus, was er zu beweiſen oder zu veranſchaulichen
hatte. Wie Goethe, der durchaus Künſtler, großer
Künſtler, war, in den Wahlverwandtſchaften einen
ſolchen Verſtoß gegen die innere Form begehen
konnte, daß er, einem zerſtreuten Zergliederer nicht
unähnlich, der, ſtatt eines wirklichen Körpers, ein
Automat auf das anatomiſche Theater brächte, eine
von Haus aus nichtige, ja unſittliche Ehe, wie die
zwiſchen Eduard und Charlotte, zum Mittelpunkt
[VI] ſeiner [Darſtellung] machte und dieß Verhältniß be-
handelte und benutzte, als ob es ein ganz ent-
gegengeſetztes, ein vollkommen berechtigtes wäre,
wüßte ich mir nicht zu erklären; daß er aber auf
die Hauptfrage des Romans nicht tiefer einging,
und daß er ebenſo im Fauſt, als er zwiſchen einer
ungeheuren Perſpective und einem mit Katechismus-
Figuren bemalten Bretter-Verſchlag wählen ſollte,
den Bretter-Verſchlag vorzog und die Geburts-
wehen
der um eine neue Form ringenden Menſch-
heit, die wir mit Recht im erſten Theil erblickten,
im zweiten zu bloßen Krankheits-Momenten
eines ſpäter durch einen willkürlichen, nur nothdürf-
tig-pſychologiſch vermittelten Act curirten Indivi-
duums herabſetzte, das ging aus ſeiner ganz eigen
complicirten Individualität hervor, die ich hier
nicht zu analyſiren brauche, da ich nur anzudeuten
habe, wie weit er gekommen iſt. Es bedarf hof-
fentlich nicht der Bemerkung, daß die vorſtehenden,
ſehr motivirten Einwendungen gegen den Fauſt und
die Wahlverwandtſchaften dieſen beiden welthiſtori-
ſchen Productionen durchaus Nichts von ihrem uner-
meßlichen Werth abdingen, ſondern nur das Verhält-
[VII] niß, worin ihr eigener Dichter zu den in ihnen ver-
körperten Ideen ſtand, bezeichnen und den Punct,
wo ſie formlos geblieben ſind, nachweiſen ſollen.


Goethe hat demnach, um ſeinen eigenen Ausdruck
zu gebrauchen, die große Erbſchaft der Zeit wohl
angetreten, aber nicht verzehrt, er hat wohl
erkannt, daß das menſchliche Bewußtſeyn ſich erwei-
tern, daß es wieder einen Ring zerſprengen will,
aber er konnte ſich nicht in gläubigem Vertrauen
an die Geſchichte hingeben, und da er die aus den
Uebergangs-Zuſtänden, in die er in ſeiner Jugend
ſelbſt gewaltſam hingezogen wurde, entſpringenden
Diſſonanzen nicht aufzulöſen wußte, ſo wandte er
ſich mit Entſchiedenheit, ja mit Widerwillen und
Ekel, von ihnen ab. Aber dieſe Zuſtände waren
damit nicht beſeitigt, ſie dauern fort bis auf den
gegenwärtigen Tag, ja ſie haben ſich geſteigert und
alle Schwankungen und Spaltungen in unſerem
öffentlichen, wie in unſerem Privat-Leben, ſind auf
ſie zurück zu führen, auch ſind ſie keineswegs ſo
unnatürlich, oder auch nur ſo gefährlich, wie man
ſie gern machen möchte, denn der Menſch dieſes
Jahrhunderts will nicht, wie man ihm
[VIII] Schuld giebt, neue und unerhörte Inſtitu-
tionen, er will nur ein beſſeres Funda-
ment für die ſchon vorhandenen, er will, daß
ſie ſich auf Nichts, als auf Sittlichkeit und
Nothwendigkeit, die identiſch ſind, ſtützen
und alſo den äußeren Haken, an dem ſie bis
jetzt zum Theil befeſtigt waren, gegen den
inneren Schwerpunct, aus dem ſie ſich voll-
ſtändig ableiten laſſen, vertauſchen ſollen
.
Dies iſt, nach meiner Ueberzeugung, der welthiſtoriſche
Proceß, der in unſeren Tagen vor ſich geht, die
Philoſophie, von Kant, und eigentlich von Spinoza
an, hat ihn, zerſetzend und auflöſend, vorbereitet,
und die dramatiſche Kunſt, vorausgeſetzt, daß ſie
überhaupt noch irgend etwas ſoll, denn der bis-
herige Kreis iſt durchlaufen und Duplicate ſind vom
Ueberfluß und paſſen nicht in den Haushalt der Li-
teratur, ſoll ihn beendigen helfen, ſie ſoll, wie es
in einer ähnlichen Kriſis Aeſchylos, Sophocles,
Euripides und Ariſtophanes, die nicht von ungefähr
und etwa blos, weil das Schickſal es mit dem Thea-
ter der Athener beſonders wohl meinte, ſo kurz hin-
ter einander hervortraten, gethan haben, in großen
[IX] gewaltigen Bildern zeigen, wie die bisher nicht
durchaus in einem lebendigen Organismus geſättigt
aufgegangenen, ſondern zum Theil nur in einem
Scheinkörper erſtarrt geweſenen und durch die letzte
große Geſchichts-Bewegung entfeſſelten Elemente,
durcheinander fluthend und ſich gegenſeitig bekäm-
pfend, die neue Form der Menſchheit, in welcher
Alles wieder an ſeine Stelle treten, in welcher das
Weib dem Mann wieder gegenüber ſtehen wird, wie
dieſer der Geſellſchaft, und wie die Geſellſchaft der
Idee, erzeugen. Damit iſt nun freilich der Uebel-
ſtand verknüpft, daß die dramatiſche Kunſt ſich auf
Bedenkliches und Bedenklichſtes einlaſſen muß, da
das Brechen der Weltzuſtände ja nur in der Ge-
brochenheit der individuellen erſcheinen kann, und
da ein Erdbeben ſich nicht anders darſtellen läßt,
als durch das Zuſammenſtürzen der Kirchen und
Häuſer und die ungebändigt hereindringenden Flu-
then des Meers. Ich nenne es natürlich nur mit
Rückſicht auf die harmloſen Seelen, die ein Trauer-
ſpiel
und ein Kartenſpiel unbewußt auf einen
und denſelben Zweck
reduciren, einen Uebelſtand,
denn dieſen wird unheimlich zu Muth, wenn Spa-
[X] dille nicht mehr Spadille ſeyn ſoll, ſie wollen wohl
neue Combinationen im Spiel, aber keine neue Re-
gel, ſie verwünſchen den Hexenmeiſter, der ihnen
dieſe aufdringt, oder doch zeigt, daß ſie möglich iſt,
und ſehen ſich nach dem Gevatter Handwerker um,
der die Blätter wohl anders miſcht, auch wohl hin
und wieder, denn Abwechſelung muß ſeyn, einen
neuen Trumpf einſetzt, aber im Uebrigen die alt-
ehrwürdige Erfindung des Ur-Ur-Großvaters, wie
das Natur-Geſetz ſelbſt, reſpectirt. Hier wäre es
am Ort, aus dem halben Scherz in einen bittern
ganzen Ernſt überzugehen, denn es iſt nicht zu ſa-
gen, bis zu welchem Grade eine zum Theil unzurech-
nungsfähige und unmündige, zum Theil aber auch
perfide Kritik, ſich den erbärmlichen Theater-Ver-
hältniſſen unſerer Tage und dem beſchränkten Ge-
ſichtskreis des großen Haufens accomodirend, die
einfachen Grundbegriffe der dramatiſchen Kunſt, von
denen man glauben ſollte, daß ſie, nachdem ſich
ihre Kraft und Wahrheit vier Jahrtauſende hin-
durch bewährte, unantaſtbar ſeyen, wie das Ein-
maleins, verwirrt und auf den Kopf geſtellt hat.
Der Maler braucht ſich, und er mag dem Himmel
dafür danken, noch nicht darüber zu entſchuldigen,
[XI] daß er die Leinewand, aus der auch Siebbeutel ge-
macht werden könnten, bemalt, auch verlacht man
ihn noch nicht, wenn man ſieht, daß er auf die
Compoſition ſeines Gemäldes Mühe und Fleiß ver-
wendet, daß er die Farben, die ja doch auch ſchon
an ſich dem Auge ſchmeicheln, auf Geſtalten, und
die Geſtalten wieder auf einen inneren, für den
bloßen Gaffer nicht vorhandenen Mittelpunkt bezieht,
ſtatt das Farbenbrett ſelbſt mit dem eingerührten
Blau, Gelb und Roth, für das Gemälde zu geben,
oder doch den bunten Geſtalten- und Figuren-Tanz;
aber jene Kunſt, die, wie alles Höchſte, nur dann
überhaupt etwas iſt, wenn ſie das, was ſie ſeyn
ſoll, ganz iſt, muß ſich jetzt, wie über eine Narr-
heit, darüber hudeln laſſen, daß ſie ihre einzige,
ihre erſte und letzte Aufgabe, im Auge behält, ſtatt
es ſich bequem zu machen und für den Karfunkel
den Kieſel zu bieten, für ein tiefſinniges und un-
ergründliches Lebens-Symbol ein gemeines Le-
bens-Räthſel
, das mit der gelöſ’ten Spannung
in’s Nichts zerplatzt, und, außer Stande, auch nur
die dürftigſte Seele für einen Moment zu ſättigen,
Nichts erweckt, als den Hungerruf: was Neues!
[XII] was Neues! Ich ſage es Euch, Ihr, die Ihr Euch
dramatiſche Dichter nennt, wenn Ihr Euch damit be-
gnügt, Anecdoten, hiſtoriſche oder andere, es gilt gleich,
in Scene zu ſetzen, oder, wenn’s hoch kommt,
einen Character in ſeinem pſychologiſchen Räder-
werk aus einander zu legen, ſo ſteht Ihr, Ihr
mögt nun die Thränenfiſtel preſſen oder die Lach-
muskeln erſchüttern, wie Ihr wollt, um Nichts hö-
her, als unſer bekannter Vetter von Thespis her,
der in ſeiner Bude die Marionetten tanzen läßt.
Nur wo ein Problem vorliegt, hat Eure Kunſt
etwas zu ſchaffen, wo Euch aber ein ſolches auf-
geht, wo Euch das Leben in ſeiner Gebrochen-
heit
entgegen tritt und zugleich in Eurem Geiſt,
denn Beides muß zuſammen fallen, das Mo-
ment der Idee
, in dem es die verlorne Ein-
heit
wieder findet, da ergreift es, und kümmert
Euch nicht darum, daß der äſthetiſche Pöbel in der
Krankheit ſelbſt die Geſundheit aufgezeigt
haben will, da Ihr doch nur den Uebergang zur
Geſundheit aufzeigen und das Fieber allerdings
nicht heilen könnt, ohne Euch mit dem Fieber ein-
zulaſſen, denn dieſer Pöbel, der Euch über die Pa-
[XIII] rorismen, die Ihr darſtellt, zur Rechenſchaft zieht,
als ob es Eure eigenen wären, müßte, wenn er
Conſequenz beſäße, auch dem Richter, der dem Miſſe-
thäter das Verbrechen abfragt, um ſeine Stellung
zum Geſetz zu ermitteln, ja dem Geiſtlichen, der
Beichte hört, den Vorwurf machen, daß er ſich mit
ſchmutzigen Dingen befaſſe, und Ihr ſeyd für Nichts,
für gar Nichts, verantwortlich, als für die Behand-
lung
, die, als eine freie, Eure ſubjective Unabhän-
gigkeit vom Gegenſtand und Euer perſönliches Un-
vermiſchtſeyn
mit demſelben hervor treten laſſen
muß, und für das letzte Reſultat, ja auch das
Reſultat braucht nicht im Lanzen-Spitzen-Sinn die
Spitze Eures Werks zu ſeyn, es darf ſich eben ſo
gut als Ausgangspunct eines Characters hinſtellen,
wie als Ausgangspunct des ganzen Dramas, obgleich
freilich, wenn Letzteres der Fall iſt, das Drama der
Form nach einen höheren Grad von Vollendung
für ſich in Anſpruch zu nehmen hat. Man kann,
wenn man ſich genöthigt ſieht, über Dinge, die Nie-
mandem ohne innere Erfahrung ganz verſtändlich
werden, zu ſprechen, ſich nicht genug gegen Miß-
deutung verwahren; ich füge alſo noch ausdrücklich
[XIV] hinzu, daß man hier nicht an ein allegoriſches Her-
ausputzen der Idee, überhaupt nicht an die philoſo-
phiſche, ſondern an die unmittelbar in’s Leben ſelbſt
verlegte Dialectik denken muß, und daß, wenn
in einem Proceß, worin, wie in jedem ſchöpferiſchen,
alle Elemente ſich mit gleicher Nothwendigkeit bedin-
gen und vorausſetzen, überall von einem Vor und
Nach die Rede ſeyn kann, der Dichter (wer ſich für
einen hält, möge ſich darnach prüfen!) ſich jedenfalls
eher der Geſtalten bewußt werden wird, als der
Idee, oder vielmehr des Verhältniſſes der Geſtal-
ten zur Idee. Doch, wie geſagt, die ganze An-
ſchauungsweiſe iſt eine unzuläſſige, die aber noch
ſehr verbreitet zu ſeyn ſcheint, da, was aus ihr
allein hervorgehen kann, ſelbſt einſichtige Männer
nicht aufhören, mit dem Dichter über die Wahl ſei-
ner Stoffe, wie ſie es nennen, zu hadern, und da-
durch zeigen, daß ſie ſich das Schaffen, deſſen erſtes
Stadium, das empfangende, doch tief unter dem
Bewußtſeyn liegt und zuweilen in die dunkelſte
Ferne der Kindheit zurückfällt, immer als ein, wenn
auch veredeltes, Machen vorſtellen, und daß ſie in
das geiſtige Gebären eine Willkür verlegen, die ſie
[XV] dem leiblichen, deſſen Gebundenſeyn an die Natur
freilich heller in die Augen ſpringt, gewiß nicht
zuſprechen würden. Den Gevatter Handwerker,
deſſen ich oben gedachte, mag man ſchelten, wenn
er etwas bringt, was dem gnädigen Herrn
mit vielen Köpfen nicht behagt, denn der wackere
Mann kann das Eine ſo gut liefern als das An-
dere, er hat ſich, als er ſeine Anecdote aus-
wählte, bloß im Effect verrechnet und für Re-
chenfehler iſt Jedermann verantwortlich; dem Dich-
ter dagegen muß man verzeihen, wenn er es
nicht trifft, er hat keine Wahl, er hat nicht einmal
die Wahl, ob er ein Werk überhaupt hervorbringen
will, oder nicht, denn das einmal lebendig Gewor-
dene läßt ſich nicht zurück verdauen, es läßt ſich
nicht wieder in Blut verwandeln, ſondern muß in
freier Selbſtſtändigkeit hervortreten, und eine un-
terdrückte oder unmögliche geiſtige Entbindung kann
eben ſo gut, wie eine leibliche, die Vernichtung, ſey
es nun durch den Tod, oder durch den Wahnſinn,
nach ſich ziehen. Man denke an Goethes Jugend-
Genoſſen Lenz, an Hölderlin, an Grabbe.


Ich ſagte: die dramatiſche Kunſt ſoll den welt-
[XVI] hiſtoriſchen Proceß, der in unſeren Tagen vor ſich
geht, und der die vorhandenen Inſtitutionen des
menſchlichen Geſchlechts, die politiſchen, religiöſen
und ſittlichen, nicht umſtürzen, ſondern tiefer begrün-
den, ſie alſo vor dem Umſturz ſichern will, beendi-
gen helfen. In dieſem Sinne ſoll ſie, wie alle
Poeſie, die ſich nicht auf Superfötation und Ara-
beskenweſen beſchränkt, zeitgemäß ſeyn, in dieſem
Sinn, und in keinem andern, iſt es jede echte,
in dieſem Sinn habe auch ich im Vorwort zur
Genoveva meine Dramen als künſtleriſche Opfer
der Zeit
bezeichnet, denn ich bin mir bewußt, daß
die individuellen Lebens-Proceſſe, die ich darſtellte
und noch darſtellen werde, mit den jetzt obſchwe-
benden allgemeinen Principien-Fragen in engſter
Verbindung ſtehen, und obgleich es mich nicht un-
angenehm berühren konnte, daß die Kritik bisher
faſt ausſchließlich meine Geſtalten in’s Auge faßte,
und die Ideen, die ſie repräſentiren, unberückſich-
tigt ließ, indem ich hierin wohl nicht mit Unrecht
den beſten Beweis für die wirkliche Lebendigkeit die-
ſer Geſtalten erblickte, ſo muß ich nun doch wün-
ſchen, daß dieß ein Ende nehmen, und daß man
[XVII] auch dem zweiten Factor meiner Dichtungen einige
Würdigung widerfahren laſſen möge, da ſich natür-
lich ein ganz anderes Urtheil über Anlage und
Ausführung ergiebt, wenn man ſie bloß in Bezug
auf die behandelte Anecdote betrachtet, als wenn
man ſie nach dem zu bewältigenden Ideen-Kern,
der Manches nothwendig machen kann, was für
jene überflüſſig iſt, bemißt. Der erſte Recenſent,
den meine Genoveva fand, glaubte in jener Bezeich-
nung meiner Dramen eine der Majeſtät der Poeſie
nicht würdige Conceſſion an die Zeitungspoetik un-
ſerer Tage zu erblicken und fragte mich, wo denn
in meinen Stücken jene Epigrammatie und Bezüg-
lichkeit, die man jetzt zeitgemäß nenne, anzutreffen
ſey. Ich habe ihm hierauf Nichts zu antworten,
als daß ich die Begriffe der Zeit und des Zei-
tungsblatts
nicht ſo identiſch finde, wie er zu
thun ſcheint, falls ſein ſonderbarer Einwurf anders
ernſt gemeint und nicht bloß darauf gerichtet war,
mir die hier gegebene nähere Entwickelung meiner
vielleicht zu lakoniſch hingeſtellten Gedanken abzu-
dringen. Ich weiß übrigens recht gut, daß ſich
heut zu Tage eine ganz andere Zeitpoeſie in Deutſch-
Hebbel’s Maria Magdalene. b
[XVIII] land geltend macht, eine Zeitpoeſie, die ſich an den
Augenblick hingiebt, und die, obgleich ſie eigentlich
das Fieber mit der Hitzblatter, die Gährung im
Blut mit dem Hautſymptom, wodurch ſie ſich an-
kündigt, verwechſelt, doch, inſofern ſie dem Augen-
blick wirklich dient, nicht zu ſchelten wäre, wenn
nur ſie ſelbſt ſich des Scheltens enthalten wollte.
Aber, nicht zufrieden, in ihrer zweifelhaften epigram-
matiſch-rhetoriſchen Exiſtenz tolorirt, ja gehegt und
gepflegt zu werden, will ſie allein exiſtiren, und giebt
ſich, polternd und eifernd, das Anſehen, als ob ſie
Dinge verſchmähte, von denen ſie wenigſtens erſt be-
weiſen ſollte, daß ſie ihr erreichbar ſind. Man kann
in keinem Band Gedichte, denn gerade in der Lyrik
hat ſie das [Quartier] aufgeſchlagen, mehr blättern,
ohne auf heftige Controverſen gegen die Sänger des
Weins, der Liebe, des Frühlings u. ſ. w., die
todten wie die lebendigen, zu ſtoßen, aber die Herren
halten ihre eigenen Frühlings- und Liebeslieder zu-
rück, oder produciren, wenn ſie damit auftreten,
ſolche Nichtigkeiten, daß man unwillkührlich an den
Wilden denken muß, der ein Klavier mit der Axt
zertrümmerte, weil er ſich lächerlich gemacht hatte,
[XIX] als er es zu ſpielen verſuchte. Lieben Leute, wenn
Einer die Feuerglocke zieht, ſo brechen wir alle aus
dem Concert auf und eilen auf den Markt, um zu
erfahren, wo es brennt, aber der Mann muß ſich
darum nicht einbilden, er habe über Mozart und
Beethoven triumphirt. Auch daraus, daß die Epi-
gramme, die Ihr bekannten Perſonen mit Kreide
auf den Rücken ſchreibt, ſchneller verſtanden werden
und raſcher in Umlauf kommen, als Juvenalſche
Satyren, müßt Ihr nicht ſchließen, daß Ihr den
Juvenal übertroffen habt; ſie ſind dafür auch ver-
geſſen, ſobald die Perſonen den Rücken wenden oder
auch nur den Rock wechſeln, während Juvenal hier
nicht angeführt werden könnte, wenn er nicht noch
nach Jahrtauſenden geleſen würde. Als Goethe der
ſchönſten Lieder-Poeſie, die uns nach der ſeinigen
geſchenkt worden iſt, der Uhlandſchen, in einer übel-
launigen Minute vorwarf, es werde daraus nichts
„Menſchen-Geſchick Aufregendes und Bezwingen-
des“ hervorgehen, ſo hatte er freilich Recht, denn
Lilien-Duft iſt kein Schießpulver, und auch der
Erl-König und der Fiſcher, obgleich ſie Millionen
Trommelſchläger-Stückchen aufwiegen, würden im
b*
[XX] Krieg ſo wenig den Trompeter- als einen anderen
Dienſt verſehen können. Die Poeſie hat For-
men
, in denen der Geiſt ſeine Schlachten ſchlägt,
die epiſchen und dramatiſchen, ſie hat For-
men
, worin das Herz ſeine Schätze niederlegt,
die lyriſchen, und das Genie zeigt ſich eben da-
durch, daß es jede auf die rechte Weiſe aus-
füllt, indeß das Halb-Talent, das für die grö-
ßeren nicht Gehalt genug hat, die engeren gern
zu zerſprengen ſucht, um trotz ſeiner Armuth
reich
zu erſcheinen. Ein ſolcher, von einem total
verkehrt gewählten Geſichtspunkt aus gefällter Aus-
ſpruch, den Goethe ſelbſt in den Geſprächen mit
Eckermann ſchon modificirte, hätte der Kritik zu
Nichts Veranlaſſung geben ſollen, als zu einer
gründlichen Auseinanderſetzung, worin ſich Uhland
und der piepſende Ratten- und Mäuſekönig, der
ſich ihm angehängt hat, die „ſchwäbiſche Schule,“
von einander unterſcheiden, da ja nicht Uhland,
ſondern ein von Goethe unbeſehens für ein Mit-
glied dieſer Schule gehaltener ſchwäbiſcher Dichter
den Ausſpruch hervorrief. Es iſt hier zu dieſer
Auseinanderſetzung, die ſich übrigens um ſo eher
[XXI] der Mühe verlohnte, als ſich, wenn man bis zum
Prinzip hinabſtiege, wahrſcheinlich ergäbe, daß eine
gemeine Gemüths- und eine gemeine Reflexions-
Lyrik gleich nullenhaft ſind und daß ein Einfall
über den „Baum“ der „Menſchheit“, an dem die
„Blüthe“ der „Freiheit“ unter dem „Sonnenkuß“
des „Völkerlenzes“ aufbricht, wirklich nicht mehr
beſagen will, als ein Hausvater-Gefühl unterm
blühenden Apfelbaum, nicht der Ort, aber ich kann
nicht umhin, auf den Unterſchied ſelbſt drin-
gend aufmerkſam zu machen, um mich nicht in den
Verdacht zu bringen, als ob ich die melodieloſe
Nüchternheit, die zu dichten glaubt, wenn ſie ihre
Werkeltags-Empfindungen oder eine hinter dem
Zaun aufgeleſene Alte-Weiber-Sage in platte
Verſe zwängt, einer Rhetorik vorziehe, die zwar,
ſchon der ſpröden Einſeitigkeit wegen, niemals zur
Poeſie, aber doch vielleicht zur Gedanken- und,
wenn dieß gelingt, auch zur Characterbildung führt.
Man ſoll die Flöte nicht nach dem Brennholz,
das ſich allenfalls für den prophezeiten Weltbrand
aus ihr gewinnen ließe, abſchätzen, aber das ge-
meine Brennholz ſoll noch weniger auf ſeine einge-
[XXII] bildete Verwandtſchaft mit der Flöte dicke thun.
Es verſteht ſich von ſelbſt, daß ich nicht alle Schwa-
ben, und noch weniger bloß die Schwaben, zur
ſchwäbiſchen Schule rechne, denn auch Kerner ꝛc. iſt
ein Schwabe.


Vielleicht ſagt der Eine oder der Andere: dieß
ſind ja alte, bekannte, längſt feſtgeſtellte Dinge.
Allerdings. Ja, ich würde erſchrecken, wenn es ſich
anders verhielte, denn wir ſollen im Aeſthetiſchen,
wie im Sittlichen, nach meiner Ueberzeugung nicht
das elfte Gebot erfinden, ſondern die zehn vor-
handenen erfüllen
. Bei alledem bleibt Demjeni-
gen, der die alten Geſetztafeln einmal wieder mit
dem Schwamm abwäſcht und den frechen Kreide-
Commentar, mit dem allerlei unlautre Hände den
Grundtext übermalt haben, vertilgt, immer noch ſein
beſcheidenes Verdienſt. Es hat ſich ein gar zu ver-
dächtiges Gloſſarium angeſammelt. Die Poeſie ſoll
nicht bleiben, was ſie war und iſt: Spiegel des
Jahrhunderts und der Bewegung der Menſchheit im
Allgemeinen, ſie ſoll Spiegel des Tags, ja der
Stunde werden. Am allerſchlimmſten aber kommt
das Drama weg, und nicht, weil man zu viel,
[XXIII] oder das Verkehrte von ihm verlangt, ſondern weil
man gar Nichts von ihm verlangt. Es ſoll blos
amüſiren, es ſoll uns eine ſpannende Anecdote, al-
lenfalls, der Piquantheit wegen, von pſychologiſch-
merkwürdigen Characteren getragen, vorführen, aber
es ſoll bei Leibe nicht mehr thun, was im Shak-
ſpeare
(man wagt, ſich auf ihn zu berufen) nicht
amüſirt, das iſt vom Uebel, ja es iſt, näher be-
ſehen, auch nur durch den Enthuſiasmus ſeiner Aus-
leger in ihn hinein phantaſirt, er ſelbſt hat nicht
daran gedacht, er war ein guter Junge, der ſich
freute, wenn er durch ſeine wilden Schnurren mehr
Volk, wie gewöhnlich, zuſammen trommelte, denn
dann erhielt er vom Theater-Director einen Schil-
ling über die Wochen-Gage und wurde wohl gar
freundlich in’s Ohr gekniffen. Ein berühmter Schau-
ſpieler, jetzt verſtorben, hat, wie ihm von ſeinen
Freunden nachgeſagt wird, dem neuen Evangelium die
practiſche Nutzanwendung hinzugefügt, er hat alles
Ernſtes behauptet, daß der „Poet“ dem „Künſtler“
nur ein Scenarium zu liefern habe, welches dann
durch dieſen extemporirend auszufüllen ſey. Die
Conſequenz iſt hier, wie allenthalben, zu loben,
[XXIV] denn man ſieht doch, wohin das Amüſement-Princip
führt, aber das Sach-Verhältniß iſt dieß. Eine
Dichtung, die ſich für eine dramatiſche
giebt, muß darſtellbar ſeyn
, jedoch nur des-
halb, weil, was der Künſtler nicht darzuſtellen
vermag
, von dem Dichter ſelbſt nicht darge-
ſtellt wurde
, ſondern Embryo und Gedanken-
Schemen
blieb. Darſtellbar iſt nun nur das Han-
deln
, nicht das Denken und Empfinden; Gedanken
und Empfindungen gehören alſo nicht an ſich, ſon-
dern immer nur ſo weit, als ſie ſich unmittelbar
zur Handlung umbilden, in’s Drama hinein; dage-
gen ſind aber auch Handlungen keine Handlungen,
wenigſtens keine dramatiſche, wenn ſie ſich ohne die
ſie vorbereitenden Gedanken und die ſie begleitenden
Empfindungen, in nackter Abgeriſſenheit, wie Natur-
Vorfälle, hinſtellen, ſonſt wäre ein ſtillſchweigend
gezogener Degen der Höhepunct aller Action. Auch
iſt nicht zu überſehen, daß die Kluft zwiſchen Han-
deln und Leiden keineswegs ſo groß iſt, als
die Sprache ſie macht, denn alles Handeln löſ’t
ſich dem Schickſal, d. h. dem Welt-Willen gegen-
über, in ein Leiden auf, und gerade dies wird in
[XXV] der Tragödie veranſchaulicht, alles Leiden aber iſt
im Individuum ein nach innen gekehrtes Handeln,
und wie unſer Intereſſe mit eben ſo großer Befriedi-
gung auf dem Menſchen ruht, wenn er ſich auf ſich
ſelbſt, auf das Ewige und Unvergängliche im zerſchmet-
terten Individuum beſinnt und ſich dadurch wieder
herſtellt, was im Leiden geſchieht, als wenn er dem
Ewigen und Unvergänglichen in individueller Ge-
bundenheit Trotz bietet, und dafür von dieſem, das
über alle Manifeſtation hinausgeht, wie z. B. un-
ſer Gedanke über die Hand, die er in Thätigkeit
ſetzt, und das ſelbſt dann, wenn ihm der Wille
nicht entgegen tritt, noch im Ich auf eine hem-
mende Schranke ſtoßen kann, die ſtrenge Zurecht-
weiſung empfängt, ſo iſt das Eine auch eben ſo
gut darſtellbar, wie das Andere, und erfor-
dert höchſtens den größeren Künſtler. Ich wie-
derhole es: eine Dichtung, die ſich für eine dra-
matiſche giebt, muß darſtellbar ſein, weil, was der
Künſtler nicht darzuſtellen vermag, von dem Dich-
ter ſelbſt nicht dargeſtellt wurde, ſondern Embryo
und Gedanken-Schemen blieb. Dieſer innere Grund
iſt zugleich der einzige, die mimiſche Darſtellbarkeit
[XXVI] iſt das allein untrügliche Kriterium der poetiſchen
Darſtellung, darum darf der Dichter ſie nie aus den
Augen verlieren. Aber dieſe Darſtellbarkeit iſt
nicht nach der Convenienz und den in „ſteter
Wandlung“ begriffenen Mode-Vorurtheilen
zu bemeſſen, und wenn ſie ihr Maaß von dem
realen Theater entlehnen will, ſo hat ſie nach dem
Theater aller Zeiten, nicht aber nach dieſer
oder jener ſpeciellen Bühne, worin ja, wer kann
es wiſſen, wie jetzt die jungen Mädchen, vielleicht
noch einmal die Kinder das Präſidium führen, und
dann, ihren unſchuldigen Bedürfniſſen gemäß, dar-
auf beſtehen werden, daß die Ideen der Stücke nicht
über das Niveau von: quäle nie ein Thier zum
Scherz u. ſ. w. oder: Schwarzbeerchen, biſt du
noch ſo ſchön u. ſ. w. hinausgehen ſollen, zu fra-
gen. Es ergiebt ſich bei einigem Nachdenken von
ſelbſt, daß der Dichter nicht, wie es ein ſeichter
Geſchmack, und auch ein unvollſtändiger und früh-
reifer Schönheits-Begriff, der, um ſich bequemer
und ſchneller abſchließen zu können, die volle Wahr-
heit nicht in ſich aufzunehmen wagt, von ihm ver-
langen, zugleich ein Bild der Welt geben und
[XXVII] doch von den Elementen, woraus die Welt be-
ſteht
, die widerſpenſtigen ausſcheiden kann,
ſondern daß er alle gerechten Anſprüche befriedigt,
wenn er jedem dieſer Elemente die rechte Stelle
anweiſ’t, und die untergeordneten, die ſich
nun einmal, wie queerlaufende Nerven und Adern
mit im Organismus vorfinden, nur hervor tre-
ten
läßt, damit die höhern ſie verzehren.
Davon, daß der Werth und die Bedeutung eines
Dramas von dem durch hundert und tauſend Zu-
fälligkeiten bedingten Umſtand, ob es zur Auffüh-
rung kommt oder nicht, alſo von ſeinem äußern
Schickſal
, abhange, kann ich mich nicht überzeugen,
denn, wenn das Theater, das als vermittelndes
Organ zwiſchen der Poeſie und dem Publikum ſehr
hoch zu ſchätzen iſt, eine ſolche Wunderkraft beſäße,
ſo müßte es zunächſt doch das lebendig erhalten, was
ſich ihm mit Leib und Seele ergiebt; wo bleiben
ſie aber, die hundert und tauſend „bühnengerech-
ten“ Stücke, die „mit verdientem Beifall“ unter
„zahlreichen Wiederholungen“ über die Bretter ge-
hen? Und um von der Fabrik-Waare abzuſehen, wer-
den Shakſpeare und Calderon, die ja doch nicht bloß
[XXVIII] große dramatiſche Dichter, ſondern auch wahre
Theater-Schriftſteller geweſen ſein ſollen, geſpielt,
hat das Theater ſie nicht längſt fallen laſſen und
dadurch bewieſen, daß es ſo wenig das Vortreffliche,
als das Nichtige, feſt hält, geht daraus aber nicht mit
Evidenz hervor, daß nicht, wie diejenigen, die nur
halb wiſſen, worauf es ankommt, meinen, das fac-
tiſche Dargeſtelltwerden, das früher oder ſpä-
ter aufhört, ohne darum der Wirkung des Dich-
ters eine Gränze zu ſetzen, ſondern die von mir
aus der Form als unbedingt nothwendig abgeleitete
und ihrem wahren Weſen nach beſtimmte Darſtell-
barkeit
über Werth und Bedeutung eines Dramas
entſcheidet? Hiermit iſt nun nicht bloß die naive
Seidelmann’ſche Behauptung beſeitigt, von der ich
zunächſt ausging, und die eigentlich darauf hinaus-
läuft, daß ein poetiſches Nichts, das ſich in jeder
Façon, die der Künſtler ihm aufzudrücken beliebt,
noch beſſer ausnimmt, als in der von Haus aus
mitgebrachten, der Willkür des genialen Schau-
ſpielers freieren Spielraum verſtattet, als das zähe
poetiſche Etwas, an das er ſich hingeben muß;
ſondern es iſt damit auch all das übrige Gerede,
[XXIX] deſſen ich gedachte, auf ſein Körnlein Wahrheit
reducirt, es iſt gezeigt, daß der echte dramatiſche
Darſtellungs-Proceß ganz von ſelbſt und ohne
nach der Bühne zu blinzeln, alles Geiſtige
verleiblichen
, daß er die dualiſtiſchen Ideen-
Factoren
, aus deren Aneinanderprallen der
das ganze Kunſtwerk entzündende ſchöpferiſche
Funke hervor ſpringt, zu Characteren verdich-
ten
, daß er das innere Ereigniß nach allen ſeinen
Entwickelungsſtadien in einer äußeren Geſchichte,
einer Anecdote, auseinander fallen und dieſe Anec-
dote, dem Steigerungs-Geſetz der Form gemäß,
zur Spitze auslaufen laſſen, alſo ſpannend und
Intereſſe erweckend geſtalten, und ſo auch denje-
nigen Theil der Leſer- und Zuſchauerſchaft, der die
wahre Handlung gar nicht ahnt, amüſiren und
zufrieden ſtellen wird.


Kann aber, ich darf dieſe Frage nicht umgehen,
die ſo weit fortgeſchrittene Philoſophie die große
Aufgabe der Zeit nicht allein löſen, und iſt der
Standpunkt der Kunſt nicht als ein überwundener
oder ein doch zu überwindender zu betrachten? Wenn
die Kunſt Nichts weiter wäre, als was die Meiſten
[XXX] in ihr erblicken, ein träumeriſches, hin und wieder
durch einen ſogenannten ironiſchen Einfall über ſich
ſelbſt unterbrochenes Fortſpinnen der Erſchei-
nungswelt, eine gleichſam von dem äußeren Thea-
ter auf’s innere verſetzte Geſtalten-Komödie, worin
die verhüllte Idee nach, wie vor, mit ſich ſelbſt
Verſteckens ſpielt, ſo müßte man darauf unbedingt
mit Ja antworten, und ihr auflegen, die vier-
tauſendjährige Sünde einer angemaßten Exiſtenz mit
einem freiwilligen Tode zu büßen, ja ſelbſt die
ewige Ruhe nicht als einen, durch ihre erſt jetzt
überflüſſig gewordene Thätigkeit verdienten Lohn,
ſondern nur als ein ihr aus Rückſicht auf den von
ihr der Menſchheit in ihren Kinderjahren durch ihre
nicht ganz ſinnloſen Bilder und Hieroglyphen ver-
ſchafften nützlichen Zeitvertreib bewilligtes Gnaden-
geſchenk hinzunehmen. Aber die Kunſt iſt nicht bloß
unendlich viel mehr, ſie iſt etwas ganz Anderes,
ſie iſt die realiſirte Philoſophie, wie die
Welt die realiſirte Idee, und eine Philoſophie,
die nicht mit ihr ſchließen, die nicht ſelbſt in ihr zur
Erſcheinung werden, und dadurch den höchſten Be-
weis ihrer Realität geben will, braucht auch nicht
[XXXI] mit der Welt anzufangen, es iſt gleichgültig, ob
ſie das erſte oder das letzte Stadium des Lebens-
proceſſes, von dem ſie ſich ausgeſchloſſen wähnen
muß, wenn ſie ohne Darſtellung auskommen zu
können glaubt, negirt, denn auf die Welt kann ſie ſich,
als auf eine ſolche Darſtellung nicht zurück beziehen,
ohne ſich zugleich mit auf die Kunſt zu beziehen,
da die Welt eben erſt in der Kunſt zur Totalität
zuſammen geht. Eine ſchöpferiſche und urſprüng-
liche Philoſophie hat dieß auch noch nie gethan, ſie
hat immer gewußt, daß ſie ſich eine Probe, die die
von ihr nackt reproducirte Idee ſelbſt ſich nicht erſparen
konnte, nicht unterſchlagen darf, und deshalb in der
Kunſt niemals einen bloßen Stand-, ſondern ihren
eigenen Ziel- und Gipfelpunkt erblickt; dagegen iſt
es characteriſtiſch für jede Formale, und aus nahe
liegenden Gründen auch für die Jüngerſchaft jeder
anderen, daß ſie ſelbſt da, wo ſie lebendige Geſtalt
geworden iſt, oder doch werden ſollte, nicht aufhö-
ren kann, zu zerſetzen, und, gleich einem Menſchen,
der, um ſich zu überzeugen, ob er auch Alles das,
was, wie er aus der Anthropologie weiß, zum
Menſchen gehört, wirklich beſitze, ſich Kopf- Bruſt-
[XXXII] und Bauchhöhle öffnen wollte, die Spitze aller Er-
ſcheinung, in der Geiſt und Natur ſich umarmen,
durch einen zugleich barbariſchen und ſelbſtmörderi-
ſchen Act zerſtört. Eine ſolche Philoſophie erkennt
ſich ſelbſt in der höheren Chiffre der Kunſt nicht
wieder, es kommt ihr ſchon verdächtig vor, daß ſie
dieſelbe aus der von ihr mit ſo viel Mühe und
Anſtrengung zerriſſenen Chiffre der Natur zuſam-
mengeſetzt findet, und ſie weiß nicht, woran ſie ſich
halten ſoll; da ſtößt ſie aber zu ihrem Glück im
Kunſtwerk auf einzelne Parthieen, die (ſollten’s unter
einem Gemälde auch nur die Unterſchriften des Re-
giſtrators ſeyn!) in der ihr allein geläufigen Aus-
drucksweiſe des Gedankens und der Reflexion ab-
gefaßt ſind, weil entweder der Geiſt des Ganzen
dort wirklich nicht zur Form durchdrang, oder weil
nur eine, der Form nicht bedürftige, Copula hinzu-
ſtellen war; die hält ſie nun für die Hauptſache,
für das Reſultat der Darſtellung, um das ſich das
übrige Schnörkelweſen von Figuren und Geſtalten
ungefähr ſo herum ſchlinge, wie auf einem kauf-
männiſchen Wechſel die Arabesken, Merkur und
ſeine Sippſchaft, um die reelle Zahl, mit Eifer und
[XXXIII] Ehrlichkeit reiht ſie dieſe Perlen, Sentenzen und
Gnomen genannt, am Faden auf und ſchätzt ſie
ab; da das Reſultat nun aber natürlich eben ſo
kläglich ausfällt, als wenn man die Philoſophie
nach ihrem Reichthum an Leben und Geſtalt meſſen
wollte, ſo ſpricht ſie mit voller Ueberzeugung ihr
endliches Urtheil dahin aus, daß die Kunſt eine
kindiſche Spielerei ſey, wobei ja wohl auch, man
habe Exempel, zuweilen ein von einem reichen Mann
auf der Straße verlornes Goldſtück gefunden und
wieder in Cours geſetzt werde. Wer dieſe Schil-
derung für übertrieben hält, der erinnere ſich an
Kant’s famoſen Ausſpruch in der Anthropologie, wo
der Alte vom Berge alles Ernſtes erklärt, das poe-
tiſche Vermögen, von Homer an, beweiſe Nichts,
als eine Unfähigkeit zum reinen Denken, ohne jedoch
die ſich mit Nothwendigkeit ergebende Conſequenz
hinzuzufügen, daß auch die Welt in ihrer ſtammeln-
den Mannigfaltigkeit Nichts beweiſe, als die Un-
fähigkeit Gottes, einen Monolog zu halten
.


Wenn nun aber das Drama keine geringere,
als die weltgeſchichtliche Aufgabe ſelbſt löſen helfen,
wenn es zwiſchen der Idee und dem Welt- und
Hebbel’s Maria Magdalene. c
[XXXIV] Menſchen-Zuſtand vermitteln ſoll, folgt nicht daraus,
daß es ſich ganz an die Geſchichte hingeben, daß
es hiſtoriſch ſeyn muß? Ich habe mich über die-
ſen wichtigen Punct an einem andern Ort, in der
Schrift: Ein Wort über das Drama, Hamburg
bei Hoffmann und Campe, 1843, auf den ich hier
wohl verweiſen darf, dahin ausgeſprochen, daß das
Drama ſchon an und für ſich und ohne ſpecielle
Tendenz (die eigentlich, um recht geſchichtlich zu
werden, aus der Geſchichte heraus tritt, und die
Nabelſchnur, die jede Kraft mit der lebendigen Ge-
genwart verknüpft, durchſchneidet, um ſie an die todte
Vergangenheit mit einem Zwirnsfaden feſt zu binden)
hiſtoriſch und daß die Kunſt die höchſte Geſchicht-
ſchreibung ſey. Dieſen Ausſpruch wird Keiner, der
rückwärts und vorwärts zu ſchauen verſteht, an-
fechten, denn er wird ſich erinnern, daß uns nur
von denjenigen Völkern der alten Welt, die es zur
Kunſt gebracht, die ihr Daſeyn und Wirken in
einer unzerbrechlichen Form nieder gelegt haben, ein
Bild geblieben iſt, und hierin liegt zunächſt der nie
zu verachtende factiſche Beweis; er wird aber auch
erkennen, daß der ſich ſchon jetzt verſtrengernde hiſto-
[XXXV] riſche Ausſcheidungsproceß, der das Bedeutende vom
Unbedeutenden, das uns völlig Abgeſtorbene, wenn
auch in ſich noch ſo Gewichtige, von dem noch in
den Geſchichtsorganismus hinüber Greifenden ſon-
dert, ſich immer ſteigern, daß er die Nomenclatur
dereinſt einmal bis auf die Alexander und Napo-
leone lichten, daß er noch ſpäter nur noch die
Völker-Phyſiognomieen und dann wohl gar nur
noch die durch die Phaſen der Religion und Philo-
ſophie bedingten allgemeinſten Entwickelungs-Epochen
der Menſchheit feſthalten, ja ſogar, der Humor
kommt hier von ſelbſt, darum verzeihe man ihn, die
deutſchen Lyrici, die mit Niemand anſtoßen, der
ihnen nicht vorher die Unſterblichkeit einräumt, lieb-
los fallen laſſen wird; da nun aber die großen
Thaten der Kunſt noch viel ſeltener ſind, als die
übrigen, aus dem einfachen Grunde, weil ſie eben
erſt aus dieſen reſultiren, und da ſie ſich deshalb
langſamer häufen, ſo leuchtet ein, daß die Kunſt
in dem ungeheuren Meer, worin Welle Welle ver-
ſchlingt, noch lange Baken ſtecken, und der Nach-
welt den allgemeinen und allerdings an ſich un-
verlierbaren, weil unmittelbar im Leben aufgehen-
c*
[XXXVI] den, Gehalt der Geſchichte in der Schaale der
ſpeciellen Perioden, deren Spitze ſie in ihren
verſchiedenen Gliederungen bildet, überliefern, ihr
alſo, wenn auch nicht das weitläuftige und gleich-
gültige Regiſter der Gärtner, die den Baum pflanz-
ten und düngten, ſo doch die Frucht mit Fleiſch
und Kern, auf die es allein ankommt, und außer-
dem noch den Duft der Atmoſphäre, in der ſie
reifte, darbieten kann. Endlich freilich wird auch
hier der Punct der Unüberſehbarkeit erreicht werden,
Shakſpeare wird die Griechen, und was nach Shak-
ſpeare hervortritt, wird ihn verzehren, und ein neuer
Kreislauf wird beginnen, oder Kunſt und Ge-
ſchichte werden verſanden, die Welt wird fuͤr das
Geweſene das Verſtändniß verlieren, ohne etwas
Neues zu erzeugen, wenn ſich nicht mit größerer
Wahrſcheinlichkeit annehmen ließe, daß dem Plane-
ten mit dem Geſchlecht, das er trägt, die ſchöpferi-
ſche Kraft zugleich ausgehen wird. Die Conſequen-
zen dieſes Geſichtspunctes ergeben ſich von ſelbſt,
die Geſchichte, in ſo fern ſie nicht blos das allmä-
lige Fortrücken der Menſchheit in der Löſung ihrer
Aufgabe darſtellen, ſondern auch den Antheil, den
[XXXVII] die hervorragendern Individuen daran hatten, mit
Haushälterin-Genauigkeit ſpecificiren will, iſt wirk-
lich nicht viel mehr, als ein großer Kirchhof mit
ſeinem Immortalitäts-Apparat, den Leichenſteinen
und Kreuzen und ihren Inſchriften, die dem Tod,
ſtatt ihm zu trotzen, höchſtens neue Arbeit machen,
und wer weiß, wie unentwirrbar ſich im Menſchen
die unbewußten und bewußten Motive ſeiner Hand-
lungen zum Knoten verſchlingen, der wird die
Wahrheit dieſer Inſchriften ſelbſt dann noch in
[Zweifel] ziehen müſſen, wenn der Todte ſie ſich
ſelbſt geſetzt und den guten Willen zur Aufrichtig-
keit dargelegt hat. Iſt nun aber ſolchemnach das
materielle Fundament der Geſchichte ein von vorn her-
ein nach allen Seiten durchlöchertes und durchlöcher-
bares, ſo kann die Aufgabe des Dramas doch unmög-
lich darin beſtehen, mit eben dieſem Fundament,
dieſem verdächtigen Conglomerat von Begebenheiten-
Skizzen und Geſtalten-Schemen, einen zweifelhaf-
ten Galvaniſirungs-Verſuch anzuſtellen, und der
nüchterne Leſſing’ſche Ausſpruch in der Dramaturgie,
wornach der dramatiſche Dichter die Geſchichte, je nach
Befund der Umſtände, benutzen oder unbenutzt laſſen
[XXXVIII] darf, ohne in dem letzten Fall einen Tadel, oder
in dem erſten ein ſpecielles Lob zu verdienen, wird,
wenn man ihn nur über die Negation hinaus da-
hin erweitert, daß das Drama deſſenungeachtet
den höchſten Gehalt der Geſchichte in ſich auf-
nehmen kann und ſoll, in voller Kraft verbleiben,
am wenigſten aber durch Shakſpeare’s Beiſpiel, in
deſſen hiſtoriſchen Dramen die auf das Aparte zu-
weilen etwas verſeſſene romantiſche Schule plötzlich
mehr finden wollte, als in ſeinen übrigen, des grö-
ßeren Geſichtskreiſes wegen unzweifelhaft höher ſte-
henden Stücken, umgeſtoßen werden, denn Shak-
ſpeare ſcheuerte nicht etwa die „alten Schaumünzen“
mit dem Kopf Wilhelm’s des [Eroberers] der König
Ethelred’s wieder blank, ſondern mit jenem großar-
tigen Blick in das wahrhaft Lebendige, der dieſen
einzigen Mann nicht ſowohl auszeichnet, als ihn
macht, ſtellte er dar, was noch im Bewußtſeyn ſei-
nes Volks lebte, weil es noch daran zu tragen und
zu zehren hatte, den Krieg der rothen Roſe mit
der weißen, die Höllen-Ausgeburten des Kampfes
und die, in der deshalb ſo „fromm und maaßvoll“
gehaltenen Perſon Richmond’s aufdämmernden Seg-
[XXXIX] nungen des endlichen Friedens. Wenn dieß von aller
Geſchichte gilt, wie es denn der Fall iſt, ſo gilt
es noch ganz beſonders von der deutſchen; es
betrübt mich daher aufrichtig, daß bei uns, unge-
achtet ſo vieler ſchlimmer Erfahrungen, das Dra-
matiſiren unſerer ausgangs- und darum ſogar im
untergeordneten Sinn gehaltloſen Kaiſer-Hi-
ſtorien immer wieder in die Mode kommt. Iſt es
denn ſo ſchwer, zu erkennen, daß die deutſche Na-
tion bis jetzt überall keine Lebens- ſondern nur
eine Krankheits-Geſchichte aufzuzeigen hat, oder
glaubt man alles Ernſtes, durch das In Spiri-
tus Setzen
der Hohenſtaufen-Bandwür-
mer
, die ihr die Eingeweide zerfreſſen haben, die
Krankheit heilen zu können? Wenn ich die Talente,
die ihre Kraft an einem auf dieſem Wege nicht zu
erreichenden, obgleich an ſich hochwichtigen und reali-
ſirbaren Zweck vergeuden, nicht achtete, ſo würde
ich die Frage nicht aufwerfen. Es giebt hiefür
eine andere, freilich ſecundäre Form, die nicht ſo
ſehr, wie die dramatiſche, auf Concentration und
Progreſſion angewieſen iſt, und die durch die ihr
verſtattete Detailmalerei ein Intereſſe, das ſie im
[XL] Volk nicht vorfindet, ohne daß das Volk darum zu
ſchelten wäre, erwecken kann, die von Walter Scott
geſchaffene Form des hiſtoriſchen Romans, die in
Deutſchland keiner ſo vollſtändig ausgefüllt, ja er-
weitert hat, als Wilibald Alexis in ſeinem letzten
Roman: der falſche Woldemar. Auf dieſen Roman,
der, an Brandenburg anknüpfend, alle deutſche Ver-
hältniſſe der dargeſtellten wichtigen Epoche zur
Anſchauung bringt und Geſchichte giebt, ohne ſie
auf der einen Seite in Geſchichten aufzulöſen, oder
auf der anderen einem ſogenannten hiſtoriſchen Prag-
matismus die Fülle des Lebens und der Geſtalten
zu opfern, nehme ich hier zur Verdeutlichung mei-
ner Gedanken gern Bezug.


So viel im Allgemeinen. Nun noch ein Wort
in Beziehung auf das Drama, das ich dem Publi-
cum jetzt vorlege. Der Bänkelſängerſtab, vor dem
Immermann ſo gerechte Scheu trug, widert auch
mich an, ich werde daher nicht über mein Stück
und deſſen Oeconomie (obgleich ich einige Urſache,
und vielleicht auch einiges Recht dazu hätte, denn
man hat mir die Judith und die Genoveva faſt auf
den Kopf geſtellt, man hat mir in der Erſteren na-
[XLI] mentlich das Moment, worin ihr ganzes Verdienſt
liegt, die Verwirrung der Motive in der Heldin,
ohne die ſie eine Katze, wenn man will, eine heroi-
ſche, geworden oder geblieben wäre, und die Ablei-
tung der That aus eben dieſer Verwirrung, die
nur dadurch eine tragiſche, d. h. eine in ſich, des
welthiſtoriſchen Zwecks wegen nothwendige, zu-
gleich aber das mit der Vollbringung beauftragte
Individuum wegen ſeiner partiellen Verletzung des
ſittlichen Geſetzes vernichtende, werden konnte, zum
Vorwurf gemacht, mir alſo geradezu die Tugend
als Sünde angerechnet) ich werde nur über die Gat-
tung, zu der es gehört, reden. Es iſt ein bür-
gerliches Trauerſpiel
. Das bürgerliche Trauer-
ſpiel iſt in Deutſchland in Mißcredit gerathen, und
hauptſächlich durch zwei Uebelſtände. Vornämlich
dadurch, daß man es nicht aus ſeinen inneren,
ihm allein eigenen, Elementen, aus der ſchroffen
Geſchloſſenheit, womit die aller Dialectik unfähigen
Individuen ſich in dem beſchränkteſten Kreis gegen-
über ſtehen, und aus der hieraus entſpringenden
ſchrecklichen Gebundenheit des Lebens in der
Einſeitigkeit aufgebaut, ſondern es aus allerlei
[XLII]Aeußerlichkeiten, z. B. aus dem Mangel an
Geld bei Ueberfluß an Hunger, vor Allem aber aus
dem Zuſammenſtoßen des dritten Standes mit dem
zweiten und erſten in Liebes-Affairen, zuſammen
geflickt hat. Daraus geht nun unläugbar viel
Trauriges, aber nichts Tragiſches, hervor, denn
das Tragiſche muß als ein von vorn herein mit
Nothwendigkeit Bedingtes, als ein, wie der Tod,
mit dem Leben ſelbſt Geſetztes und gar nicht zu
Umgehendes, auftreten; ſobald man ſich mit einem:
Hätte er (dreizig Thaler gehabt, dem die gerührte
Sentimentalität wohl gar noch ein: wäre er doch
zu mir gekommen, ich wohne ja Nr. 32, hinzu-
fügt) oder einem: Wäre ſie (ein Fräulein
geweſen u. ſ. w.) helfen kann, wird der Ein-
druck, der erſchüttern ſoll, trivial, und die Wir-
kung, wenn ſie nicht ganz verpufft, beſteht darin,
daß die Zuſchauer am nächſten Tag mit größerer
Bereitwilligkeit, wie ſonſt, ihre Armenſteuer bezah-
len oder ihre Töchter nachſichtiger behandeln, dafür
haben ſich aber die resp. Armen-Vorſteher und Töch-
ter zu bedanken, nicht die dramatiſche Kunſt. Dann
auch dadurch, daß unſere Poeten, wenn ſie ſich ein-
[XLIII] mal zum Volk hernieder ließen, weil ihnen einfiel,
daß man doch vielleicht bloß ein Menſch ſeyn dürfe,
um ein Schickſal, und unter Umſtänden ein unge-
heures Schickſal haben zu können, die gemeinen
Menſchen, mit denen ſie ſich in ſolchen verlorenen
Stunden befaßten, immer erſt durch ſchöne Reden,
die ſie ihnen aus ihrem eigenen Schatz vorſtreck-
ten, adeln, oder auch durch ſtöckige Bornirtheit noch
unter ihren wirklichen Standpunct in der Welt
hinab drücken zu müſſen glaubten, ſo daß ihre Per-
ſonen uns zum Theil als verwunſchene Prinzen
und Prinzeſſinnen vorkamen, die der Zauberer aus
Malice nicht einmal in Drachen und Löwen und
andere reſpectable Notabilitäten der Thierwelt, ſon-
dern in ſchnöde Bäckermädchen und Schneidergeſel-
len verwandelt hatte, zum Theil aber auch als be-
lebte Klötze, an denen es uns ſchon Wunder neh-
men mußte, daß ſie Ja und Nein ſagen konn-
ten. Dieß war nun, wo möglich, noch ſchlim-
mer, es fügte dem Trivialen das Abſurde und
Lächerliche hinzu, und obendrein auf eine ſehr in
die Augen fallende Weiſe, denn Jeder weiß, daß
Bürger und Bauern ihre Tropen, deren ſie ſich eben
[XLIV] ſo gut bedienen, wie die Helden des Salons und der
Promenaden, nicht am Sternenhimmel pflücken und
nicht aus dem Meer fiſchen, ſondern daß der Hand-
werker ſie ſich in ſeiner Werkſtatt, der Pflüger ſie
hinter ſeinem Pflug zuſammen lieſ’t, und Mancher
macht wohl auch die Erfahrung, daß dieſe ſimplen
Leute ſich, wenn auch nicht auf’s Converſiren, ſo
doch recht gut auf’s lebendige Reden, auf das Mi-
ſchen und Veranſchaulichen ihrer Gedanken, verſte-
hen. Dieſe beiden Uebelſtände machen das Vorur-
theil gegen das buͤrgerliche Trauerſpiel begreiflich,
aber ſie können es nicht rechtfertigen, denn ſie fallen
augenſcheinlich nicht der Gattung, ſondern nur
den Pfuſchern, die in ihr geſtümpert haben, zur
Laſt. Es iſt an und für ſich gleichgültig, ob
der Zeiger der Uhr von Gold oder von Meſ-
ſing
iſt, und es kommt nicht darauf an, ob eine
in ſich bedeutende, d. h. ſymboliſche, Handlung ſich
in einer niederen, oder einer geſellſchaftlich höheren
Sphäre ereignet. Aber freilich, wenn in der heroi-
ſchen Tragödie die Schwere des Stoffs, das
Gewicht der ſich unmittelbar daran knüpfenden Re-
flexionen eher bis auf einen gewiſſen Grad für die
[XLV]Mängel der tragiſchen Form entſchädigt, ſo
hängt im bürgerlichen Trauerſpiel Alles davon
ab, ob der Ring der tragiſchen Form geſchloſ-
ſen
, d. h. ob der Punct erreicht wurde, wo uns
einestheils nicht mehr die kümmerliche Theilnahme
an dem Einzel-Geſchick einer von dem Dichter
willkürlich aufgegriffenen Perſon zugemuthet, ſondern
dieſes in ein allgemein menſchliches, wenn
auch nur in extremen Fällen ſo ſchneidend hervor-
tretendes, aufgelöſ’t wird, und wo uns anderntheils
neben dem, von der ſogenannten Verſöhnung un-
ſerer Aesthetici, welche ſie in einem in der wah-
ren
Tragödie — die es mit dem durchaus Un-
auflöslichen
und nur durch ein unfruchtbares
Hinwegdenken des von vorn herein zuzugebenden
Factums zu Beſeitigenden zu thun hat — unmög-
lichen
, in der auf conventionelle Verwirrun-
gen gebauten aber leicht herbei zu führenden
ſchließlichen Embraſſement der Anfangs auf Tod
und Leben entzweiten
Gegenſätze zu erblicken
pflegen, auf’s Strengſte zu unterſcheidenden Reſul-
tat
des Kampfes, zugleich auch die Nothwendig-
keit
, es gerade auf dieſem und keinem andern
[XLVI] Wege zu erreichen, entgegen tritt. In dem letzten
Punct, der Erläuterung wegen werde es bemerkt,
iſt die Ottilie der Wahlverwandtſchaften ein viel-
leicht für alle Zeiten unerreichbares Meiſterſtück und
gerade hierin, hierin aber auch allein, lag Goethe’s
künſtleriſches Recht, ein ſo ungeheures Schickſal
aus einer an den Oedyp erinnernden Willenloſig-
keit abzuleiten, da die himmliſche Schönheit einer
ſo ganz innerlichen Natur ſich nicht in einem ruhi-
gen, ſondern nur im allergewaltſamſten Zuſtande
aufdecken konnte. Hiernach, zu allernächſt z. B.
nach dem Verhältniß der Anecdote zu den im [Hin-
tergrund]
derſelben ſich mit ihren poſitiven und ne-
gativen Seiten bewegenden ſittlichen Mächten
der Familie, der Ehre und der Moral, wäre
denn auch bei meinem Stück allein zu fragen, nicht
aber nach der ſogenannten „blühenden Diction,“
dieſem jammervollen bunten Kattun, worin die Ma-
rionetten ſich ſpreizen, oder nach der Zahl der hüb-
ſchen Bilder, der Pracht-Sentenzen und Beſchreibun-
gen, und anderen Unter-Schönheiten, an denen arm
zu ſein, die erſte Folge des Reichthums iſt. Die
Erbfehler des bürgerlichen Trauerſpiels, deren ich
[XLVII] oben gedachte, habe ich vermieden, das weiß ich,
unſtreitig habe ich andere dafür begangen. Welche?
Das möchte ich am liebſten von den einſichtsvollen
Beurtheilern meiner Genoveva im Vaterland und in
den Blättern für literariſche Unterhaltung, denen
ich hier für ihre gründlichen und geiſtreichen Recen-
ſionen öffentlich meinen Dank ausſpreche, erfahren.


Paris, den 4. März 1844.


Friedrich Hebbel.

[[XLVIII]]

Perſonen:


  • Meiſter Anton, ein Tiſchler.

  • Seine Frau.

  • Klara, ſeine Tochter.

  • Karl, ſein Sohn.

  • Leonhard.

  • Ein Secretair.

  • Wolfram, ein Kaufmann.

  • Adam, ein Gerichtsdiener.

  • Ein zweiter Gerichtsdiener.

  • Ein Knabe.

  • Eine Magd.

Ort: eine mittlere Stadt.



[[2]][[3]]

Erſter Akt.


Zimmer im Hauſe des Tiſchlermeiſters.

Erſte Scene.


Klara. Die Mutter.

Klara.

Dein Hochzeits-Kleid? Ei, wie es Dir ſteht! Es
iſt, als ob’s zu heut gemacht wäre!


Mutter.

Ja, Kind, die Mode läuft ſo lange vorwärts, bis
ſie nicht weiter kann, und umkehren muß. Dies Kleid
war ſchon zehn Mal aus der Mode, und kam immer
wieder hinein.


Klara.

Diesmal doch nicht ganz, liebe Mutter! Die
Aermel ſind zu weit. Es muß Dich nicht verdrießen!


Mutter.

(lächelnd)

Dann müßt’ ich Du ſeyn!


1*
[4]
Klara.

So haſt Du alſo ausgeſehen! Aber einen Kranz
trugſt Du doch auch, nicht wahr?


Mutter.

Will’s hoffen! Wozu hätt’ ich ſonſt den Myrthen-
baum Jahrelang im Scherben gepflegt!


Klara.

Ich hab’ Dich ſo oft gebeten, und Du haſt es
nie angezogen, Du ſagteſt immer: mein Brautkleid
iſt’s nicht mehr, es iſt nun mein Leichenkleid, und
damit ſoll man nicht ſpielen. Ich mogt’ es zuletzt
gar nicht mehr ſehen, weil es mich, wenn es ſo weiß
da hing, immer an Deinen Tod und an den Tag er-
innerte, wo die alten Weiber es Dir über den Kopf
ziehen würden. — Warum denn heut?


Mutter.

Wenn man ſo ſchwer krank liegt, wie ich, und
nicht weiß, ob man wieder geſund wird, da geht Einem
gar Manches im Kopf herum. Der Tod iſt ſchreck-
licher als man glaubt, o, er iſt bitter! Er verdüſtert
die Welt, er bläſ’t all’ die Lichter, eins nach dem
andern, aus, die ſo bunt und luſtig um uns her
[5] ſchimmern, die freundlichen Augen des Mannes und
der Kinder hören zu leuchten auf, und es wird finſter
allenthalben, aber im Herzen zündet er ein Licht an,
da wird’s hell, und man ſieht viel, ſehr viel, was
man nicht ſehen mag. Ich bin mir eben nichts
Böſes bewußt, ich bin auf Gottes Wegen gegangen,
ich habe im Hauſe geſchafft, was ich konnte, ich habe
Dich und Deinen Bruder in der Furcht des Herrn
aufgezogen und den ſauren Schweiß Eures Vaters
zuſammen gehalten, ich habe aber immer auch einen
Pfenning für die Armen zu erübrigen gewußt, und
wenn ich zuweilen Einen abwies, weil ich gerade
verdrießlich war, oder weil zu Viele kamen, ſo war
es kein Unglück für ihn, denn ich rief ihn gewiß wieder
um und gab ihm doppelt. Ach, was iſt das [Alles][.]
Man zittert doch vor der letzten Stunde, wenn ſie
herein droht, man krümmt ſich, wie ein Wurm, man
fleht zu Gott um’s Leben, wie ein Diener den Herrn
anfleht, die ſchlecht gemachte Arbeit noch einmal ver-
richten zu dürfen, um am Lohntag nicht zu kurz zu
kommen.


[6]
Klara.

Hör’ davon auf, liebe Mutter, Dich greift’s an!


Mutter.

Nein, Kind, mir thut’s wohl! Steh’ ich denn nicht
geſund und kräftig wieder da? Hat der Herr mich
nicht bloß gerufen, damit ich erkennen mögte, daß
mein Feierkleid noch nicht fleckenlos und rein iſt, und
hat er mich nicht an der Pforte des Grabes wieder
umkehren laſſen, und mir Friſt gegeben, mich zu
ſchmücken für die himmliſche Hochzeit? So gnadenvoll
war er gegen jene ſieben Jungfrauen im Evangelium,
das Du mir geſtern Abend vorleſen mußteſt, nicht!
Darum habe ich heute, da ich zum heiligen Abend-
mahl gehe, dies Gewand angelegt. Ich trug es den
Tag, wo ich die frömmſten und beſten Vorſätze meines
Lebens faßte. Es ſoll mich an die mahnen, die ich
noch nicht gehalten habe!


Klara.

Du ſprichſt noch immer wie in Deiner Krankheit!


[7]

Zweite Scene.


Karl.

(tritt auf)

Guten Morgen, Mutter! Nun, Klara,
mögteſt Du mich leiden, wenn ich nicht Dein Bruder
wäre?


Klara.

Eine goldene Kette? Woher haſt Du die?


Karl.

Wofür ſchwitz’ ich? Warum arbeit’ ich Abends
zwei Stunden länger, als die Anderen? Du biſt im-
pertinent!


Mutter.

Zank am Sonntag-Morgen? Schäme Dich, Karl!


Karl.

Mutter, haſt Du nicht einen Gulden für mich?


Mutter.

Ich habe kein Geld, als was zur Haushaltung
gehört.


Karl.

Gieb nur immer davon her! Ich will nicht murren,
wenn Du die Eierkuchen vierzehn Tage lang etwas
magerer bäckſt. So haſt Du’s ſchon oft gemacht!
[8] Ich weiß das wohl! Als für Klaras weißes Kleid
geſpart wurde, da kam Monate lang nichts Leckeres
auf den Tiſch. Ich drückte die Augen zu, aber ich
wußte recht gut, daß ein neuer Kopfputz, oder ein
anderes Fahnenſtück auf dem Wege war. Laß’ mich
denn auch ein mal davon profitiren!


Mutter.

Du biſt unverſchämt!


Karl.

Ich hab’ nur keine Zeit, ſonſt —

(er will gehen).

Mutter.

Wohin gehſt Du?


Karl.

Ich will’s Dir nicht ſagen, dann kannſt Du,
wenn der alte Brummbär nach mir fragt, ohne roth
zu werden, antworten, daß Du’s nicht weißt. Uebri-
gens brauch’ ich Deinen Gulden gar nicht, es iſt das
Beſte, daß nicht alles Waſſer aus Einem Brunnen
geſchöpft werden ſoll.

(für ſich)

Hier im Hauſe glauben
ſie von mir ja doch immer das Schlimmſte; wie ſollt’
es mich nicht freuen, ſie in der Angſt zu erhalten?
Warum ſollt’ ich’s ſagen, daß ich, da ich den Gulden
[9] nicht bekomme, nun ſchon in die Kirche gehen muß,
wenn mir nicht ein Bekannter aus der Verlegenheit
hilft?

(ab).

Dritte Scene.


Klara.

Was ſoll das heißen?


Mutter.

Ach, er macht mir Herzeleid! Ja, ja, der Vater
hat recht, das ſind die Folgen! So allerliebſt, wie
er als kleiner Lockenkopf um das Stück Zucker bat,
ſo trotzig fordert er jetzt den Gulden! Ob er den
Gulden wirklich nicht fordern würde, wenn ich ihm
das Stück Zucker abgeſchlagen hätte? Das peinigt
mich oft! Und ich glaube, er liebt mich nicht einmal.
Haſt Du ihn ein einziges Mal weinen ſehen während
meiner Krankheit?


Klara.

Ich ſah ihn ja nur ſelten, faſt nicht anders, als
bei Tiſch. Mehr Appetit hatte er, als ich!


Mutter.

(ſchnell)

Das war natürlich, er mußte die ſchwere
Arbeit verrichten!


[10]
Klara.

Freilich! Und wie die Männer ſind! Die ſchämen
ſich ihrer Thränen mehr, als ihrer Sünden! Eine
geballte Fauſt, warum die nicht zeigen, aber ein wei-
nendes Auge? Auch der Vater! Schluchzte er nicht
den Nachmittag, wo Dir zur Ader gelaſſen wurde,
und kein Blut kommen wollte, an ſeiner Hobelbank’,
daß mir’s durch die Seele ging! Aber als ich nun
zu ihm trat, und ihm über die Backen ſtrich, was
ſagte er? Verſuch’ doch, ob Du mir den verfluchten
Span nicht aus dem Auge herausbringen kannſt, man
hat ſo viel zu thun und kommt nicht vom Fleck!


Mutter.

(lächelnd)

Ja, ja! Ich ſehe den Leonhard ja gar
nicht mehr. Wie kommt das?


Klara.

Mag er weg bleiben!


Mutter.

Ich will nicht hoffen, daß Du ihn anderswo ſiehſt
als hier im Hauſe!


Klara.

Bleib’ ich etwa zu lange weg, wenn ich Abends
[11] zum Brunnen gehe, daß Du Grund zum Verdacht haſt?


Mutter.

Nein, das nicht! Aber nur darum hab’ ich ihm
Erlaubniß gegeben, daß er zu uns kommen darf,
damit er Dir nicht bei Nebel und Nacht aufpaſſen
ſoll. Das hat meine Mutter auch nicht gelitten!


Klara

Ich ſeh ihn nicht!


Mutter.

Schmollt Ihr mit einander? Ich mag ihn ſonſt
wohl leiden, er iſt ſo geſetzt! Wenn er nur erſt
etwas wäre! Zu meiner Zeit hätt’ er nicht lange
warten dürfen, da riſſen die Herren ſich um einen
geſchickten Schreiber, wie die Lahmen um die Krücke,
denn ſie waren ſelten. Auch wir geringeren Leute
konnten ihn brauchen. Heute ſetzte er dem Sohn
einen Neujahrswunſch für den Vater auf, und erhielt
allein für den vergoldeten Anfangsbuchſtaben ſo viel,
daß man einem Kinde eine Docke dafür hätte kaufen
können. Morgen gab ihm der Vater einen Wink
und ließ ſich den Wunſch vorleſen, heimlich, bei ver-
ſchloſſenen Thüren, um nicht überraſcht zu werden
[12] und die Unwiſſenheit aufgedeckt zu ſehen. Das gab
doppelte Bezahlung. Da waren die Schreiber oben
auf und machten das Bier theuer. Jetzt iſt’s anders,
jetzt müſſen wir Alten, die wir uns nicht auf’s Leſen
und Schreiben verſtehen, uns von neunjährigen Buben
ausſpotten laſſen! Die Welt wird immer klüger,
vielleicht kommt noch einmal die Zeit, wo Einer ſich
ſchämen muß, wenn er nicht auf dem Seil tanzen kann!


Klara.

Es läutet!


Mutter.

Nun, Kind, ich will für Dich beten! Und was
Deinen Leonhard betrifft, ſo liebe ihn, wie er Gott
liebt, nicht mehr, nicht weniger. So ſprach meine
alte Mutter zu mir, als ſie aus der Welt ging, und
mir den Segen gab, ich habe ihn lange genug be-
halten, hier haſt Du ihn wieder!


Klara.

(reicht ihr einen Strauß)

Da!


Mutter.

Der kommt gewiß von Karl!


[13]
Klara.

(nickt; dann bei Seite)

Ich wollt’, es wäre ſo! Was
ihr eine rechte Freude machen ſoll, das muß von ihm
kommen!


Mutter.

O, er iſt gut und hat mich lieb!

(ab)

Klara.

(ſieht ihr durch’s Fenſter nach)

Da geht ſie! Drei Mal
träumt’ ich, ſie läge im Sarg, und nun — o die
boshaften Träume, ſie kleiden ſich in unſere Furcht,
um unſ’re Hoffnung zu erſchrecken! Ich will mich
niemals wieder an einen Traum kehren, ich will mich
über einen guten nicht wieder freuen, damit ich mich
über den böſen, der ihm folgt, nicht wieder zu äng-
ſtigen brauche! Wie ſie feſt und ſicher ausſchreitet!
Schon iſt ſie dem Kirchhof nah — wer wohl der
Erſte iſt, der ihr begegnet? Es ſoll Nichts bedeuten,
nein, ich meine nur —

(erſchrocken zuſammen fahrend)

Der
Todtengräber! Er hat eben ein Grab gemacht und
ſteigt daraus hervor, ſie grüßt ihn und blickt lächelnd
in die düſtre Grube hinab, nun wirft ſie den Blumen-
ſtrauß hinunter und tritt in die Kirche.

(Man hört
[14] einen Choral)

Sie ſingen: Nun danket Alle Gott!

(ſie
faltet die Hände)

Ja! Ja! Wenn meine Mutter geſtorben
wäre, nie wär’ ich wieder ruhig geworden, denn —

(mit einem Blick gen Himmel)

Aber Du biſt gnädig,
Du biſt barmherzig! Ich wollt’, ich hätt’ einen
Glauben, wie die Katholiſchen, daß ich Dir
Etwas ſchenken dürfte! Meine ganze Sparbüchſe
wollt’ ich leeren, und Dir ein ſchönes vergoldetes
Herz kaufen, und es mit Roſen umwinden. Unſer
Pfarrer ſagt, vor Dir ſeyen die Opfer Nichts, denn
Alles ſey Dein, und man müßte Dir das, was Du
ſchon haſt, nicht erſt geben wollen! Aber Alles, was
im Hauſe iſt, gehört meinem Vater doch auch, und
dennoch ſieht er’s gar gern, wenn ich ihm für ſein
eignes Geld ein Tuch kaufe, und es ſauber ſticke,
und ihm zum Geburtstag auf den Teller lege. Ja,
er thut mir die Ehre an und trägt’s nur an den
höchſten Feiertagen, zu Weihnacht oder zu Pfingſten!
Einmal ſah ich ein ganz kleines katholiſches Mädchen,
das ſeine Kirſchen zum Altar trug. Wie gefiel mir
das! Es waren die erſten im Jahr, die das Kind
bekam, ich ſah, wie es brannte, ſie zu eſſen! Dennoch
[15] bekämpfte es ſeine unſchuldige Begierde, es warf ſie,
um nur der Verſuchung ein Ende zu machen, raſch
hin, der Meßpfaff, der eben den Kelch erhob, ſchaute
finſter drein und das Kind eilte erſchreckt von dannen,
aber die Maria über dem Altar lächelte ſo mild, als
wünſchte ſie aus ihrem Rahmen heraus zu treten,
um dem Kind nachzueilen und es zu küſſen. Ich
that’s für ſie! Da kommt Leonhard! Ach!


Vierte Scene.


Leonhard.

(vor der Thür)

Angezogen?


Klara.

Warum ſo zart, ſo rückſichtsvoll? Ich bin noch
immer keine Prinzeſſin?


Leonhard.

(tritt ein)

Ich glaubte, Du wärſt nicht allein! Im
Vorübergehen kam es mir vor, als ob Nachbar’s
Bärbchen am Fenſter ſtände!


Klara.

Alſo darum!


[16]
Leonhard.

Du biſt immer verdrießlich! Man kann vierzehn
Tage weg geblieben ſeyn, Regen und Sonnenſchein
können ſich am Himmel zehn Mal abgelöſ’t haben,
in Deinem Geſicht ſteht, wenn man endlich wieder
kommt, immer noch die alte Wolke!


Klara.

Es gab andere Zeiten!


Leonhard.

Wahrhaftig! Hätteſt Du immer ausgeſehen, wie
jetzt, wir wären niemals gut Freund geworden!


Klara.

Was lag daran!


Leonhard.

So frei fühlſt Du Dich von mir? Mir kann’s
recht ſeyn! Dann

(mit Beziehung)

hat Dein Zahnweh
von neulich Nichts zu bedeuten gehabt!


Klara.

O Leonhard, es war nicht recht von Dir!


Leonhard.

Nicht recht, daß ich mein höchſtes Gut, denn
das biſt Du, auch durch das letzte Band an mich
feſt zu knüpfen ſuchte? Und in dem Augenblick, wo
[17] ich in Gefahr ſtand, es zu verlieren? Meinſt Du,
ich ſah die ſtillen Blicke nicht, die Du mit dem Se-
cretair wechſelteſt? Das war ein ſchöner Freudentag
für mich! Ich führe Dich zum Tanz, und —


Klara.

Du hörſt nicht auf, mich zu kränken! Ich ſah
den Secretair an, warum ſollt’ ich’s läugnen? Aber
nur wegen des Schnurrbarts, den er ſich auf der
Academie hat wachſen laſſen, und der ihm —

(ſie hält inne)

Leonhard.

So gut ſteht, nicht wahr? Das wollteſt Du doch
ſagen? O ihr Weiber! Euch gefällt das Soldaten-
Zeichen noch in der ärgſten Carricatur! Mir kam
das kleine, lächerlich-runde Geſicht des Gecken, ich
bin erbittert auf ihn, ich verhehle es nicht, er hat
mir lange genug bei Dir im Wege geſtanden, mit
dem Walde von Haaren, der es in der Mitte durch-
ſchneidet, wie ein weißes Kaninchen vor, das ſich hinter
den Buſch verkriecht.


Klara.

Ich habe ihn noch nicht gelobt, Du brauchſt ihn
nicht herab zu ſetzen.


Hebbel’s Maria Magdalene. 2
[18]
Leonhard.

Du ſcheinſt noch immer warmen Antheil an ihm
zu nehmen!


Klara.

Wir haben als Kinder zuſammen geſpielt, und
nachher — Du weißt recht gut!


Leonhard.

O ja, ich weiß! Aber eben darum!


Klara.

Da war es wohl natürlich, daß ich, nun ich ihn
ſeit ſo langer Zeit zum erſten Mal wieder erblickte,
ihn anſah, und mich verwunderte, wie groß und —


(ſie unterbricht ſich)

Leonhard.

Warum wurdeſt Du denn roth, als er Dich
wieder anſah?


Klara.

Ich glaubte, er ſähe nach dem Wärzchen auf
meiner linken Backe, ob das auch größer geworden
ſey! Du weißt, daß ich mir dies alle Mal einbilde,
wenn mich Jemand ſo ſtarr betrachtet, und daß ich
[19] dann immer roth werde. Iſt mir’s doch, als ob die
Warze wächſ’t, ſo lange Einer darnach kukt!


Leonhard.

Sey’s wie es ſey, mich überlief’s, und ich dachte:
noch dieſen Abend ſtell’ ich ſie auf die Probe! Will
ſie mein Weib werden, ſo weiß ſie, daß ſie Nichts
wagt. Sagt ſie Nein, ſo —


Klara.

O, Du ſprachſt ein böſes, böſes Wort, als ich
Dich zurück ſtieß und von der Bank aufſprang. Der
Mond, der bisher zu meinem Beiſtand ſo fromm in
die Laube hinein geſchienen hatte, ertrank [kläglich] in
den naſſen Wolken, ich wollte forteilen, doch ich
fühlte mich zurückgehalten, ich glaubte erſt, Du wärſt
es, aber es war der Roſenbuſch, der mein Kleid mit
ſeinen Dornen, wie mit Zähnen, feſthielt, Du läſterteſt
mein Herz und ich traute ihm ſelbſt nicht mehr, Du
ſtand’ſt vor mir, wie Einer, der eine Schuld ein-
fordert, ich — ach Gott!


Leonhard.

Ich kann’s noch nicht bereuen. Ich weiß, daß
ich Dich mir nur ſo erhalten konnte. Die alte
2*
[20] Jugendliebe that die Augen wieder auf, ich konnte ſie
nicht ſchnell genug zudrücken.


Klara.

Als ich zu Hauſe kam, fand ich meine Mutter
krank, todtkrank. Plötzlich dahin geworfen, wie von
unſichtbarer Hand. Der Vater hatte nach mir ſchicken
wollen, ſie hatte es nicht zugegeben, um mich in
meiner Freude nicht zu ſtören. Wie ward mir zu
Muth, als ich’s hörte! Ich hielt mich fern, ich wagte
nicht, ſie zu berühren, ich zitterte. Sie nahm’s für
kindliche Beſorgniß, und winkte mich zu ſich heran,
als ich mich langſam nahte, zog ſie mich zu ſich nieder
und küßte meinen entweihten Mund. Ich verging,
ich hätte ihr ein Geſtändniß thun, ich hätte ihr zu-
ſchreien mögen, was ich dachte und fühlte: meinet-
wegen liegſt Du ſo da! Ich that’s, aber Thränen
und Schluchzen erſtickten die Worte, ſie griff nach
der Hand meines Vaters und ſprach mit einem ſeligen
Blick auf mich: welch ein Gemüth!


Leonhard.

Sie iſt wieder geſund. Ich kam, ihr meinen
Glückwunſch abzuſtatten, und — was meinſt Du?


[21]
Klara.

Und?


Leonhard.

Bei Deinem Vater um Dich anzuhalten!


Klara.

Ach!


Leonhard.

Iſt Dir’s nicht recht?


Klara.

Nicht recht? Mein Tod wär’s, wenn ich nicht
bald Dein Weib würde, aber Du kennſt meinen
Vater nicht! Er weiß nicht, warum wir Eile haben,
er kann’s nicht wiſſen, und wir können’s ihm nicht
ſagen, und er hat hundert Mal erklärt, daß er ſeine
Tochter nur dem giebt, der, wie er es nennt, nicht
bloß Liebe im Herzen, ſondern auch Brot im Schrank
für ſie hat. Er wird ſprechen: wart noch ein Jahr,
mein Sohn, oder zwei, und was willſt Du antworten?


Leonhard.

Närrin, der Punkt iſt ja gerade beſeitigt! Ich
habe die Stelle, ich bin Caſſirer!


[22]
Klara.

Du biſt Caſſirer? Und der andere Candidat, der
Neffe vom Paſtor?


Leonhard.

War betrunken, als er zum Examen kam, ver-
beugte ſich gegen den Ofen, ſtatt gegen den Bürger-
meiſter, und ſtieß, als er ſich niederſetzte, drei Taſſen
vom Tiſch. Du weißt, wie hitzig der Alte iſt, Herr!
fuhr er auf, doch noch bekämpfte er ſich und biß ſich
auf die Lippen, aber ſeine Augen blitzten durch die
Brille, wie ein Paar Schlangen, die ſpringen wollen,
und jede ſeiner Mienen ſpannte ſich. Nun ging’s
an’s Rechnen, und, ha! ha! mein Mitbewerber rech-
nete nach einem ſelbſterfundenen Ein mal Eins, das
ganz neue Reſultate lieferte; der verrechnet ſich! ſprach
der Bürgermeiſter, und reichte mir mit einem Blick,
in dem ſchon die Beſtallung lag, die Hand, die ich
obgleich ſie nach Taback roch, demüthig an die Lippen
führte, hier iſt ſie ſelbſt, unterſchrieben und beſiegelt!


Klara.

Das kommt —


[23]
Leonhard.

Unerwartet, nicht wahr? Nun, es kommt auch
nicht ſo ganz von ungefähr. Warum ließ ich mich
vierzehn Tage lang bei Euch nicht ſehen?


Klara.

Was weiß ich? Ich denke, weil wir uns den
letzten Sonntag erzürnten!


Leonhard.

Den kleinen Zwiſt führte ich ſelbſt liſtig herbei,
damit ich wegbleiben könnte, ohne daß es zu ſehr
auffiele.


Klara.

Ich verſteh’ Dich nicht!


Leonhard.

Glaub’s. Die Zeit benutzt’ ich dazu, der kleinen
buckligten Nichte des Bürgermeiſters, die ſo viel bei
dem Alten gilt, die ſeine rechte Hand iſt, wie der
Gerichtsdiener die linke, den Hof zu machen. Verſteh’
mich recht! Ich ſagte ihr ſelbſt nichts Angenehmes,
ausgenommen ein Compliment über ihre Haare, die
bekanntlich roth ſind, ich ſagte ihr nur Einiges, daß
ihr wohl gefiel, über Dich!


[24]
Klara.

Ueber mich?


Leonhard.

Warum ſollt’ ich’s verſchweigen? Geſchah es doch
in der beſten Abſicht! Als ob es mir nie im Ernſt
um Dich zu thun geweſen wäre, als ob — Genug!
Das dauerte ſo lange, bis ich dies in Händen hatte,
und wie’s gemeint war, wird die leichtgläubige, mann-
tolle Thörin erfahren, ſobald ſie uns in der Kirche
aufbieten hört!


Klara.

Leonhard!


Leonhard.

Kind! Kind! Sey Du ohne Falſch, wie die Taube,
ich will klug, wie die Schlange ſeyn, dann genügen
wir, da Mann und Weib doch nur Eins ſind, dem
Evangelienſpruch vollkommen.

(lacht)

Es kam auch
nicht ganz von ſelbſt, daß der junge Herrmann in
dem wichtigſten Augenblick ſeines Lebens betrunken
war. Du haſt gewiß nicht gehört, daß der Menſch
ſich auf’s Trinken verlegt!


[25]
Klara.

Kein Wort.


Leonhard.

Um ſo leichter glückte mein Plan. Mit drei
Gläſern war’s gethan. Ein Paar Kameraden von mir
mußten ihm auf den Leib rücken. „Darf man gra-
tuliren?“ Noch nicht! „O, das iſt ja abgemacht!
Dein Onkel —“ Und nun: trink’, mein Brüderlein,
trink! Als ich heute Morgen zu Dir ging, ſtand er
am Fluß, und kukte, über’s Brückengeländer ſich leh-
nend, ſchwermüthig hinein. Ich grüßte ihn ſpöttiſch
und fragte, ob ihm etwas in’s Waſſer gefallen ſey.
„Ja wohl — ſagte er, ohne aufzuſehen — und es
iſt vielleicht gut, wenn ich ſelbſt nachſpringe.“


Klara.

Unwürdiger! Mir aus den Augen!


Leonhard.

Ja?

(macht, als wollt’ er gehen.)

Klara.

O mein Gott, an dieſen Menſchen bin ich ge-
kettet!


[26]
Leonhard.

Sey kein Kind! Und nun noch ein Wort im Ver-
trauen. Hat Dein Vater die tauſend Thaler noch
immer in der Apotheke ſtehen?


Klara.

Ich weiß Nichts davon.


Leonhard.

Nichts über einen ſo wichtigen Punct?


Klara.

Da kommt mein Vater.


Leonhard.

Verſteh’ mich! Der Apotheker ſoll nah am Con-
curs ſeyn, darum fragt’ ich!


Klara.

Ich muß in die Küche!

(ab)

Leonhard.

(allein)

Nun müßte hier Nichts zu holen ſeyn!
Ich kann es mir zwar nicht denken, denn der Meiſter
Anton iſt der Art, daß er, wenn man ihm aus Verſehen
auch nur einen Buchſtaben zu viel auf den Grabſtein
ſetzte, gewiß als Geiſt ſo lange umginge, bis er wie-
der ausgekratzt wäre, denn er würde es für unredlich
[27] halten, ſich mehr vom Alphabet anzueignen, als ihm
zukäme!


Fünfte Scene.


Der Vater, Meiſter Anton
(tritt ein).

Guten Morgen, Herr Caſſirer!

(er nimmt ſeinen Hut
ab und ſetzt eine wollene Mütze auf)

Iſt’s einem alten Manne
erlaubt, ſein Haupt zu bedecken?


Leonhard.

Er weiß alſo —


Meiſter Anton.

Schon geſtern Abend. Ich hörte, als ich in der
Dämmerung zum todten Müller ging, um dem Mann
das Maaß zur letzten Behauſung zu nehmen, ein
Paar von Seinen guten Freunden auf Ihn ſchimpfen.
Da dachte ich gleich: der Leonhard hat gewiß den
Hals nicht gebrochen. Im Sterbehauſe hörte ich das
Nähere vom Küſter, der eben vor mir gekommen war,
um die Wittwe zu tröſten und nebenbei ſich ſelbſt zu
betrinken.


Leonhard.

Und Klara mußte es erſt von mir erfahren?


[28]
Meiſter Anton.

Wenn es Ihn nicht trieb, der Dirne die Freude
zu machen, wie ſollt’ es mich treiben? Ich ſtecke in
meinem Hauſe keine Kerzen an, als die mir ſelbſt ge-
hören. Dann weiß ich, daß Niemand kommen kann,
der ſie wieder ausbläſ’t, wenn wir eben unſ’re beſte
Luſt daran haben!


Leonhard.

Er konnte doch von mir nicht denken —


Meiſter Anton.

Denken? Ueber Ihn? Ueber irgend Einen? Ich
hoble mir die Bretter wohl zurecht mit meinem Eiſen,
aber nie die Menſchen mit meinen Gedanken. Ueber
die Thorheit bin ich längſt hinaus. Wenn ich einen
Baum grünen ſehe, ſo denk’ ich wohl: nun wird er
bald blühen! Und wenn er blüht: nun wird er Früchte
bringen! Darin ſehe ich mich auch nicht getäuſcht,
darum geb’ ich die alte Gewohnheit nicht auf. Aber
über Menſchen denke ich Nichts, gar Nichts, nichts
Schlimmes, nichts Gutes, dann brauch’ ich nicht ab-
wechſelnd, wenn ſie bald meine Furcht, bald meine
Hoffnung täuſchen, roth oder blaß zu werden. Ich
[29] mache bloß Erfahrungen über ſie, und nehme mir ein
Beiſpiel an meinen beiden Augen, die auch nicht den-
ken, ſondern nur ſehen. Ueber Ihn glaubte ich ſchon
eine ganze Erfahrung gemacht zu haben, nun finde ich
Ihn hier, und muß bekennen, daß es doch nur eine
halbe geweſen iſt!


Leonhard.

Meiſter Anton, Er macht es ganz verkehrt. Der
Baum hängt von Wind und Wetter ab, der Menſch
hat in ſich Geſetz und Regel!


Meiſter Anton.

Meint Er? Ja, wir Alten ſind dem Tod vielen
Dank ſchuldig, daß er uns noch ſo lange unter Euch
Jungen herum laufen läßt, und uns Gelegenheit giebt,
uns zu bilden. Früher glaubte die dumme Welt, der
Vater ſey dazu da, um den Sohn zu erziehen. Um-
gekehrt, der Sohn ſoll dem Vater die letzte Politur
geben, damit der arme einfältige Mann ſich im Grabe
nicht vor den Würmern zu ſchämen braucht. Gott
Lob, ich habe in meinem Karl einen braven Lehrer,
der rückſichtslos und ohne das alte Kind durch Nach-
ſicht zu verzärteln, gegen meine Vorurtheile zu Felde
[30] zieht. So hat er mir noch heute Morgen zwei neue
Lehren gegeben, und auf die geſchickteſte Weiſe, ohne
auch nur den Mund aufzuthun, ohne ſich bei mir ſehen
zu laſſen, ja, eben dadurch. Erſtlich hat er mir ge-
zeigt, daß man ſein Wort nicht zu halten braucht,
zweitens, daß es überflüſſig iſt, in die Kirche zu gehen,
und Gottes Gebote in ſich aufzufriſchen. Geſtern
Abend verſprach er mir, es zu thun, und ich verließ
mich darauf, daß er kommen würde, denn ich dachte:
er wird dem gütigen Schöpfer doch für die Wieder-
herſtellung ſeiner Mutter danken wollen. Aber er
war nicht da, ich hatte es in meinem Stuhl, der
freilich für zwei Perſonen ein wenig eng iſt, ganz
bequem. Ob es ihm wohl ganz recht wäre, wenn
ich mir die neue Lehre gleich zu eigen machte, und ihm auch
mein Wort nicht hielte? Ich habe ihm zu ſeinem
Geburtstag einen neuen Anzug verſprochen, und hätte
alſo Gelegenheit, ſeine Freude über meine Gelehrig-
keit zu prüfen. Aber das Vorurtheil, das Vorurtheil!
Ich werde es nicht thun!


Leonhard.

Vielleicht war er unwohl —


[31]
Meiſter Anton.

Möglich, ich brauche meine Frau nur zu fragen,
dann hör’ ich ganz gewiß, daß er krank iſt. Denn
über Alles in der Welt ſagt ſie mir die Wahrheit,
nur nicht über den Jungen. Und wenn auch nicht
krank — auch das hat die junge Welt vor uns Alten
voraus, daß ſie allenthalben ihre Erbauung findet, daß
ſie bei’m Vogelfangen, bei’m Spatzierengehen, ja im
Wirthshaus ihre Andacht halten kann. „Vater unſer,
der Du biſt im Himmel!“ — Guten Tag, Peter,
ſieht man Dich bei’m Abendtanz? — „Geheiliget
werde Dein Name!“ — Ja, lach’ nur, Kathrine, es
findet ſich! — „Dein Wille geſchehe!“ — Hol’ mich
der Teufel, ich bin noch nicht raſirt! — Und ſo zu
Ende, und den Segen giebt man ſich ſelbſt, denn man
iſt ja ein Menſch, ſo gut, wie der Prediger, und die
Kraft, die vom ſchwarzen Rock ausgeht, ſteckt gewiß
auch im blauen. Ich habe auch Nichts dagegen, und
wollt Ihr ſogar zwiſchen die ſieben Bitten ſieben
Gläſer einſchalten, was thut’s, ich kann’s Keinem
beweiſen, daß Bier und Religion ſich nicht mit ein-
ander vertragen, und vielleicht kommt’s noch einmal
[32] als eine neue Art, das Abendmahl zu nehmen, in die
Liturgie. Ich alter Sünder freilich, ich bin nicht ſtark
genug, um die Mode mitzumachen, ich kann die An-
dacht nicht, wie einen Maikäfer, auf der Straße ein-
fangen, bei mir kann das Gezwitſcher der Spatzen
und Schwalben die Stelle der Orgel nicht vertreten,
wenn ich mein Herz erhoben fühlen ſoll, ſo muß ich
erſt die ſchweren eiſernen Kirchthüren hinter mir zu-
ſchlagen hören, und mir einbilden, es ſeyen die Thore
der Welt geweſen, die düſtern hohen Mauern mit den
ſchmalen Fenſtern, die das helle freche Welt-Licht nur
verdunkelt durchlaſſen, als ob ſie es ſichteten, müßten
ſich um mich zuſammen drängen, und in der Ferne
muß ich das Beinhaus mit dem eingemauerten Todten-
kopf ſehen können. Nun — beſſer iſt beſſer!


Leonhard.

Er nimmt’s auch zu genau.


Meiſter Anton.

Gewiß! Ganz gewiß! Und heute, als ehrlicher
Mann muß ich’s geſtehen, trifft’s nicht einmal zu, in
der Kirche verlor ich die Andacht, denn der offene
Platz neben mir, verdroß mich, und draußen, unter
[33] dem Birnbaum in meinem Garten, fand ich ſie wie-
der. Er wundert ſich? Sieh Er, ich ging betrübt
und niedergeſchlagen zu Hauſe, wie Einer, dem die
Ernte verhagelt iſt, denn Kinder ſind wie Aecker, man
ſä’t ſein gutes Korn hinein, und dann geht Unkraut
auf. Unter dem Birnbaum, den die Raupen abge-
freſſen haben, ſtand ich ſtill. „Ja — dacht’ ich —
der Junge iſt, wie dieſer da, leer und kahl!“ Da
kam es mir auf einmal vor, als ob ich ſehr durſtig
wäre, und durchaus in’s Wirthshaus müßte. Ich
betrog mich ſelbſt, mir war nicht um ein Glas Bier
zu thun, nur darum, den Burſchen aufzuſuchen und
auszuſchmählen, im Wirthshaus, das wußte ich, hätte
ich ihn ganz gewiß gefunden. Eben wollt’ ich gehen,
da ließ der alte, vernünftige Baum eine ſaftige Birne
zu meinen Füßen niederfallen, als wollt’ er ſagen:
die iſt für den Durſt, und weil du mich durch den
Vergleich mit deinem Schlingel verſchimpfirt haſt! Ich
beſann mich, biß hinein und ging in’s Haus.


Leonhard.

Weiß Er, daß der Apotheker nah am Concurs iſt?


Hebbel’s Maria Magdalene. 3
[34]
Meiſter Anton.

Was kümmert’s mich!


Leonhard.

So gar Nichts?


Meiſter Anton.

Doch! Ich bin ein Chriſt. Der Mann hat viele
Kinder!


Leonhard.

Und noch mehr Gläubiger. Auch die Kinder ſind
eine Art von Gläubigern.


Meiſter Anton.

Wohl dem, der Keins von Beiden iſt!


Leonhard.

Ich glaubte, Er ſelbſt —


Meiſter Anton.

Das iſt längſt abgemacht.


Leonhard.

Er iſt ein vorſichtiger Mann. Er hat ſein Geld
gewiß gleich eingefordert, als er ſah, daß es mit dem
Kräuterhändler rückwärts ging!


Meiſter Anton.

Ja, ich brauche nicht mehr zu zittern, daß ich es
verliere, denn ich habe es längſt verloren.


[35]
Leonhard.

Spaß!


Meiſter Anton.

Ernſt!


Klara.

(ſieht in die Thür)

Rief Er, Vater?


Meiſter Anton.

Klingen Dir ſchon die Ohren? Von Dir war
die Rede noch nicht!


Klara.

Das Wochenblatt!

(ab.)

Leonhard.

Er iſt ein Philoſoph!


Meiſter Anton.

Was heißt das?


Leonhard.

Er weiß Sich zu faſſen!


Meiſter Anton.

Ich trage einen Mühlſtein wohl zuweilen als
Halskrauſe, ſtatt damit in’s Waſſer zu gehen —
das giebt einen ſteifen Rücken!


3*
[36]
Leonhard.

Wer’s kann, macht’s nach!


Meiſter Anton.

Wer einen ſo wackern Mitträger findet, als ich
in Ihm zu finden ſcheine, der muß unter der Laſt
ſogar tanzen können. Er iſt ja ordentlich blaß ge-
worden! Das nenn’ ich Theilnahme!


Leonhard.

Er wird mich nicht verkennen!


Meiſter Anton.

Gewiß nicht!

(er trommelt auf einer Commode)

Daß
das Holz nicht durchſichtig iſt, wie?


Leonhard.

Ich verſteh’ Ihn nicht!


Meiſter Anton.

Wie einfältig war unſer Großvater Adam, daß
er die Eva nahm, ob ſie gleich nackt und bloß war,
und nicht einmal das Feigenblatt mitbrachte. Wir
Beide, Er und ich, hätten ſie als Landſtreicherin aus
dem Paradies herausgepeitſcht! Was meint Er?


Leonhard.

Er iſt ärgerlich auf Seinen Sohn. Ich kam,
Ihn um Seine Tochter —


[37]
Meiſter Anton.

Halt’ Er ein! Vielleicht ſag’ ich nicht Nein!


Leonhard.

Das hoff’ ich! Und ich will Ihm meine Meinung
ſagen! Sogar die heiligen Erzväter verſchmähten
nicht den Mahlſchatz ihrer Weiber, Jacob liebte die
Rahel und warb ſieben Jahre um ſie, aber er freute
ſich auch über die fetten Widder und Schaafe, die er
in ihres Vaters Dienſt gewann. Ich denke, es ge-
reicht ihm nicht zur Schande, und ihn übertreffen,
heißt ihn roth machen. Ich hätte es gern geſehen,
wenn Seine Tochter mir ein Paar hundert Thaler
zugebracht hätte, und das war natürlich, denn um ſo
beſſer würde ſie ſelbſt es bei mir gehabt haben, wenn
ein Mädchen das Bett im Koffer mitbringt, ſo braucht
ſie nicht erſt Wolle zu kratzen und Garn zu ſpin-
nen. Es iſt nicht der Fall — was thut’s? Wir
machen aus der Faſten-Speiſe unſer Sonntags-Eſſen,
und aus dem Sonntags-Braten unſern Weihnachts-
Schmaus! So geht’s auch!


Meiſter Anton.

(reicht ihm die Hand)

Er ſpricht brav, und unſer Herr
[38] Gott nickt zu ſeinen Worten, nun — ich will’s ver-
geſſen, daß meine Tochter vierzehn Tage lang des
Abends vergeblich bei’m Theetrinken eine Taſſe für
Ihn auf den Tiſch geſtellt hat. Und nun er mein
Schwiegerſohn wird, will ich Ihm auch ſagen, wo die
tauſend Thaler geblieben ſind!


Leonhard.

(bei Seite)

Alſo doch weg! Nun, ſo brauch’ ich mir
von dem alten Wärwolf auch Nichts gefallen zu laſſen,
wenn er mein Schwiegervater iſt!


Meiſter Anton.

Mir ging’s in jungen Jahren ſchlecht. Ich bin
ſo wenig, wie Er, als ein borſtiger Igel zur Welt
gekommen, aber ich bin nach und nach einer geworden.
Erſt waren all die Stacheln bei mir nach innen ge-
richtet, da kniffen und drückten ſie Alle zu ihrem Spaß
auf meiner nachgiebigen glatten Haut herum, und
freuten ſich, wenn ich zuſammen fuhr, weil die Spitzen
mir in Herz und Eingeweide drangen. Aber das
Ding gefiel mir nicht, ich kehrte meine Haut um,
nun fuhren ihnen die Borſten in die Finger und ich
hatte Frieden.


[39]
Leonhard.

(für ſich)

Vor dem Teufel ſelbſt, glaub’ ich!


Meiſter Anton.

Mein Vater arbeitete ſich, weil er ſich Tag und
Nacht keine Ruhe gönnte, ſchon in ſeinem dreizigſten
Jahre zu Tode, meine arme Mutter ernährte mich
mit Spinnen, ſo gut es ging, ich wuchs auf, ohne
etwas zu lernen, ich hätte mir, als ich größer wurde,
und doch noch immer Nichts verdienen konnte, wenig-
ſtens gern das Eſſen abgewöhnt, aber wenn ich mich auch
des Mittags zuweilen krank ſtellte und den Teller zurück-
ſchob, was wollte es bedeuten? am Abend zwang mich der
Magen, mich wieder für geſund zu erklären. Meine
größte Pein war, daß ich ſo ungeſchickt blieb, ich
konnte darüber mit mir ſelbſt hadern, als ob’s meine
eigene Schuld wäre, als ob ich mich in Mutterleibe
nur mit Freßzähnen verſehen, und alle nützliche Eigen-
ſchaften und Fertigkeiten, wie abſichtlich, darin zurück-
gelaſſen hätte, ich konnte roth werden, wenn mich die
Sonne beſchien. Gleich nach meiner Confirmation
trat der Mann, den ſie geſtern begraben haben, der
Meiſter Gebhard, zu uns in die Stube. Er runzelte
[40] die Stirn und verzog das Geſicht, wie er immer that,
wenn er etwas Gutes beabſichtigte, dann ſagte er zu
meiner Mutter: hat Sie Ihren Jungen in die Welt
geſetzt, daß er Ihr Naſe und Ohren vom Kopf
freſſen ſoll? Ich ſchämte mich, und legte das Brot,
von dem ich mir gerade ein Stück abſchneiden wollte,
ſchnell wieder in den Schrank, meine Mutter ärgerte
ſich über das wohlgemeinte Wort, ſie hielt ihr Rad
an und verſetzte hitzig, ihr Sohn ſey brav und gut.
Nun, das wollen wir ſehen, ſagte der Meiſter, wenn
er Luſt hat, kann er gleich, wie er da ſteht, mit mir
in die Werkſtatt gehen, Lehrgeld verlang’ ich nicht,
die Koſt bekommt er, für Kleider will ich auch ſorgen,
und wenn er früh aufſtehen und ſpät zu Bette gehen
will, ſo ſoll’s ihm an Gelegenheit, hin und wieder
ein gutes Trinkgeld für ſeine alte Mutter zu verdie-
nen, nicht fehlen. Meine Mutter fing zu weinen an,
ich zu tanzen, als wir endlich zu Wort kamen, hielt
der Meiſter ſich die Ohren zu, ſchritt hinaus und
winkte mir. Den Hut braucht’ ich nicht aufzuſetzen,
denn ich hatte keinen, ohne der Mutter auch nur
Adjes zu ſagen, folgt’ ich ihm, und als ich am näch-
[41] ſten Sonntag zum erſten Mal auf ein Stündchen zu
ihr zurück durfte, gab er mir einen halben Schinken für
ſie mit. Gottes Segen in des braven Mannes Gruft!
Noch hör’ ich ſein halbzorniges: Tonerl, unter die
Jacke damit, daß meine Frau es nicht ſieht!


Leonhard.

Kann Er auch weinen?


Meiſter Anton.

(trocknet ſich die Augen)

Ja, daran darf ich nicht
denken, ſo gut der Thränenbrunnen auch in mir ver-
ſtopft iſt, das giebt jedes Mal wieder einen Riß.
Nun, auch gut; wenn ich einmal waſſerſüchtig werde,
ſo brauche ich mir wenigſtens dieſe Tropfen nicht mit
abzapfen zu laſſen.

(mit einer plötzlichen Wendung)

Was
meint Er? Wenn Er den Mann, dem Er Alles ver-
dankte, einmal an einem Sonntag-Nachmittag auf eine
Pfeife Taback beſuchen wollte, und Er träfe ihn ver-
wirrt und verſtört, ein Meſſer in der Hand, daſſelbe
Meſſer, womit er ihm tauſendmal ſein Vesperbrot
abgeſchnitten, blutig am halſe, und das Tuch ängſt-
lich bis an’s Kinn hinaufziehend — —


[42]
Leonhard.

So ging der alte Gebhard bis an ſein Ende!


Meiſter Anton.

Der Narbe wegen. Und Er käme noch eben zur
rechten Zeit, Er könnte retten und helfen, aber nicht
bloß dadurch, daß Er ihn das Meſſer aus der Hand
riſſe und die Wunde verbände, ſondern Er müßte
auch lumpige tauſend Thaler, die Er erſpart hätte,
hergeben, und das müßte ſogar, um den kranken
Mann nur zur Annahme zu bewegen, ganz in der
Stille geſchehen, was würde Er thun?


Leonhard.

Ledig und los, wie ich bin, ohne Weib und Kind,
würde ich das Geld opfern.


Meiſter Anton.

Und wenn Er zehn Weiber hätte, wie die Türken,
und ſo viel Kinder, als dem Vater Abraham ver-
ſprochen waren, und Er könnte Sich auch nur einen
Augenblick bedenken, ſo wär’ Er — nun, Er wird
mein Schwiegerſohn! Jetzt weiß Er, wo das Geld
geblieben iſt, heute konnt’ ich es Ihm ſagen, denn
mein alter Meiſter iſt begraben, vor einem Monat
[43] hätt’ ich’s noch auf dem Sterbebett bei mir behalten.
Die Verſchreibung hab’ ich dem Todten, bevor ſie
den Sarg zunagelten, unter den Kopf geſchoben, wenn
ich ſchreiben könnte, hätt’ ich vorher ein: Ehrlich be-
zahlt! darunter geſetzt, unwiſſend, wie ich bin, blieb
mir Nichts übrig, als der Länge nach einen Riß in’s
Papier zu machen. Nun wird er ruhig ſchlafen, und
ich hoffe, ich auch, wenn ich mich einſt neben ihn
hinſtrecke.


Sechste Scene.


Die Mutter.

(tritt ſchnell ein)

Kennſt mich noch?


Meiſter Anton.

(auf das Hochzeitskleid deutend)

Den Rahmen, ja wohl,
der hat ſich gehalten, das Bild nicht recht. Es
ſcheint ſich viel Spinnweb darauf geſetzt zu haben,
nun, die Zeit war lang genug dazu!


Mutter.

Hab’ ich nicht einen aufrichtigen Mann? Doch,
ich brauch’ ihn nicht apart zu loben, Aufrichtigkeit
iſt die Tugend der Ehemänner.


[44]
Meiſter Anton.

Thut’s Dir leid, daß Du mit 20 Jahren beſſer
vergoldet warſt, als mit 50?


Mutter.

Gewiß nicht! Wär’s anders, ſo müßt’ ich mich
ja für Dich und mich ſchämen!


Meiſter Anton.

So giebſt Du mir einen Kuß! Ich bin raſirt,
und beſſer, wie gewöhnlich!


Mutter.

Ich ſage Ja, bloß um zu prüfen, ob Du Dich
noch auf die Kunſt verſtehſt. Das fiel Dir lange
nicht mehr ein!


Meiſter Anton.

Gute Hausmutter! Ich will nicht verlangen, daß
Du mir die Augen zudrücken ſollſt, es iſt ein ſchweres
Stück, ich will’s für Dich übernehmen, ich will Dir
den letzten Liebesdienſt erweiſen, aber Zeit mußt Du
mir laſſen, hörſt Du, daß ich mich ſtähle und vorbe-
reite, und nicht als Stümper beſtehe. Noch war’s
viel zu früh!


[45]
Mutter.

Gott ſey Dank, wir bleiben noch eine Weile bei-
ſammen.


Meiſter Anton.

Ich hoff’s auch, Du haſt ja ordentlich wieder
rothe Backen!


Mutter.

Ein poſſirlicher Menſch, unſer neue Todtengräber.
Er machte ein Grab, als ich heute Morgen über den
Kirchhof ging, ich fragte ihn, für wen es ſey. „Für
wen Gott will, ſagte er, vielleicht für mich ſelbſt,
es kann mir gehen, wie meinem Großvater, der auch
mal eins auf den Vorrath gemacht hatte, und in der
Nacht, als er aus dem Wirthshaus zu Hauſe kam,
hinein fiel und ſich den Hals brach.“


Leonhard.

(der bisher im Wochenblatt geleſen hat)

Der Kerl iſt
nicht von hier, er kann uns vorlügen, was ihm
gefällt!


Mutter.

Ich fragte ihn, warum wartet Er denn nicht, bis
man die Gräber bei Ihm beſtellt? Ich bin heute
[46] auf eine Hochzeit gebeten, ſprach er, und da bin ich
Prophet genug, um zu wiſſen, daß ich’s morgen noch
im Kopf ſpüren werde. Nun hat mir aber gewiß
Jemand den Tort angethan und iſt geſtorben. Da
müßt’ ich morgen bei Zeiten heraus und könnte nicht
ausſchlafen.


Meiſter Anton.

Hans Wurſt, hätt’ ich geſagt, wenn das Grab
nun nicht paßt?


Mutter.

Ich ſagte es auch, aber der ſchüttelt die ſpitzen
Antworten aus dem Aermel, wie der Teufel die Flöhe.
Ich habe das Maaß nach dem Weber Veit genom-
men, ſagte er, der ragt, wie König Saul, um einen
Kopf über uns Alle hinaus, nun mag kommen, wer
will, er wird ſein Haus nicht zu klein finden, und
wenn’s zu groß iſt, ſo ſchadet’s Keinem, als mir,
denn als ehrlicher Mann laß ich mir keinen Fuß über
die Sarglänge bezahlen. Ich warf meine Blumen
hinein und ſprach: nun iſt’s beſetzt!


Meiſter Anton.

Ich denke, der Kerl hat bloß geſpaßt, und das
[47] iſt ſchon ſündlich genug. Gräber im Voraus machen,
hieße vorwitzig die Falle des Todes aufſtellen; den
Hallunken, der es thäte, ſollte man vom Dienſt
jagen.

(zu dem leſenden Leonhard)

Was Neues? Sucht
ein Menſchenfreund eine arme Wittwe, die ein Paar
hundert Thaler brauchen kann? Oder umgekehrt die
arme Wittwe den Menſchenfreund, der ſie geben will?


Leonhard.

Die Polizei macht einen Juwelen-Diebſtahl be-
kannt. Wunderbar genug. Man ſieht daraus, daß
trotz der ſchlechten Zeiten noch immer Leute unter uns
leben, die Juwelen beſitzen.


Meiſter Anton.

Ein Juwelen-Diebſtahl? Bei wem?


Leonhard.

Bei’m Kaufmann Wolfram!


Meiſter Anton.

Bei — Unmöglich! Da hat mein Karl vor ein
Paar Tagen einen Secretair polirt!


Leonhard.

Aus dem Secretair verſchwunden, richtig!


[48]
Mutter.

(zu Meiſter Anton)

Vergebe Dir Gott dies Wort!


Meiſter Anton.

Du haſt recht, es war ein nichtswürdiger Gedanke!


Mutter.

Gegen Deinen Sohn, das muß ich Dir ſagen,
biſt Du nur ein halber Vater.


Meiſter Anton.

Frau, wir wollen heute nicht darüber ſprechen!


Mutter.

Er iſt anders, als Du, muß er darum gleich
ſchlecht ſeyn?


Meiſter Anton.

Wo bleibt er denn jetzt? Die Mittagsglocke hat
längſt geſchlagen, ich wette, daß das Eſſen draußen
verkocht und verbrät, weil Klara heimliche Ordre hat,
den Tiſch nicht zu decken, bevor er da iſt.


Mutter.

Wo ſollt’ er bleiben? Höchſtens wird er Kegel
ſchieben, und da muß er ja die entfernteſte Bahn
aufſuchen, damit Du ihn nicht entdeckſt. Dann iſt
[49] der Rückweg natürlich lang. Ich weiß auch nicht,
was Du gegen das unſchuldige Spiel haſt.


Meiſter Anton.

Gegen das Spiel? Gar Nichts! Vornehme Her-
ren müſſen einen Zeitvertreib haben. Ohne den Kar-
ten-König hätte der wahre König gewiß oft Langeweile,
und wenn die Kegel nicht erfunden wären, wer weiß,
ob Fürſten und Barone nicht mit unſern Köpfen
boſſeln würden! Aber ein Handwerksmann kann nicht
ärger freveln, als wenn er ſeinen ſauer verdienten
Lohn auf’s Spiel ſetzt. Der Menſch muß, was er
mit ſchwerer Mühe im Schweiß ſeines Angeſichts
erwirbt, ehren, es hoch und werth halten, wenn er
nicht an ſich ſelbſt irre werden, wenn er nicht ſein
ganzes Thun und Treiben verächtlich finden ſoll.
Wie können ſich alle meine Nerven ſpannen für den
Thaler, den ich wegwerfen will.


(Man hört draußen die Thürklingel.)

Mutter.

Da iſt er.


Hebbel’s Maria Magdalene. 4
[50]

Siebente Scene.


Gerichtsdiener Adam und noch ein Gerichts-
diener
(treten ein).

Adam.

(Zu Meiſter Anton)

Nun geh’ Er nur hin und bezahl’
Er Seine Wette! Leute im rothen Rock mit
blauen Aufſchlägen

(dies betont er ſtark)

ſollten Ihm
nie in’s Haus kommen? Hier ſind wir unſ’rer Zwei!


(zum zweiten Gerichtsdiener)

Warum behält Er Seinen
Hut nicht auf, wie ich? Wer wird Umſtände machen,
wenn er bei ſeines Gleichen iſt?


Meiſter Anton.

Bei Deines Gleichen, Schuft?


Adam.

Er hat recht, wir ſind nicht bei unſers Gleichen,
Schelme und Diebe ſind nicht unſers Gleichen!

(er
zeigt auf die Kommode)

Aufgeſchloſſen! Und dann drei
Schritt davon! Daß er nichts herauspractiſirt!


Meiſter Anton.

Was? Was?


Klara.

(Tritt mit Tiſchzeug ein)

Soll ich —

(ſie verſtummt.)

[51]
Adam.

(zeigt ein Papier)

Kann Er geſchriebene Schrift leſen?


Meiſter Anton.

Soll ich können, was nicht einmal mein Schul-
meiſter konnte?


Adam.

So hör’ Er! Sein Sohn hat Juwelen geſtohlen.
Den Dieb haben wir ſchon. Nun wollen wir Haus-
ſuchung halten!


Mutter.

Jeſus!

(fällt um und ſtirbt).

Klara.

Mutter! Mutter! Was ſie für Augen macht!


Leonhard.

Ich will einen Arzt holen!


Meiſter Anton.

Nicht nöthig! Das iſt das letzte Geſicht! Sah’s
hundert Mal. Gute Nacht, Thereſe! Du ſtarbſt,
als Du’s hörteſt! Das ſoll man Dir auf’s Grab
ſetzen!


Leonhard.

Es iſt doch vielleicht — —

(abgehend)

Schrecklich!
Aber gut für mich!

(ab).

4*
[52]
Meiſter Anton.

(Zieht ein Schlüſſelbund hervor und wirft es von ſich)

Da!
Schließt auf! Kaſten nach Kaſten! Ein Beil her!
Der Schlüſſel zum Koffer iſt verloren! Hei, Schel-
men und Diebe!

(er kehrt ſich die Taſchen um)

Hier find’
ich Nichts!


Zweiter Gerichtsdiener.

Meiſter Anton, faß Er Sich! Jeder weiß, daß
Er der ehrlichſte Mann in der Stadt iſt.


Meiſter Anton.

So? So?

(lacht)

Ja ich hab’ die Ehrlichkeit in
der Familie allein verbraucht! Der arme Junge!
Es blieb Nichts für ihn übrig! Die da —

(er zeigt
auf die Todte)

war auch viel zu ſittſam! Wer weiß,
ob die Tochter nicht —

(plötzlich zu Klara)

Was meinſt
Du, mein unſchuldiges Kind?


Klara.

Vater!


Zweiter Gerichtsdiener.

(Zu Adam)

Fühlt Er kein Mitleid?


Adam.

Kein Mitleid? Wühl’ ich dem alten Kerl in den
[53] Taſchen? Zwing’ ich ihn, die Strümpfe auszuziehen
und die Stiefel umzukehren? Damit wollt’ ich an-
fangen, denn ich haſſe ihn, wie ich nur haſſen kann,
ſeit er im Wirthshaus ſein Glas — Er kennt die
Geſchichte, und Er müßte Sich auch beleidigt fühlen,
wenn Er Ehre im Leibe hätte.

(zu Klara)

Wo iſt die
Kammer des Bruders?


Klara.

(zeigt ſie)

Hinten!


Beide Gerichtsdiener. (ab)

Klara.

Vater, er iſt unſchuldig! Er muß unſchuldig ſein!
Er iſt ja Dein Sohn, er iſt ja mein Bruder!


Meiſter Anton.

Unſchuldig, und ein Muttermörder?

(lacht)

Eine Magd.

(tritt ein mit einem Brief zu Klara)

Von Herrn Caſ-
ſirer Leonhard!

(ab)

Meiſter Anton.

Du brauchſt ihn nicht zu leſen! Er ſagt ſich von
Dir los!

(ſchlägt in die Hände)

Bravo, Lump!


[54]
Klara.

(hat geleſen)

Ja! Ja! O mein Gott!


Meiſter Anton.

Laß’ ihn!


Klara.

Vater, Vater, ich kann nicht!


Meiſter Anton.

Kannſt nicht? Kannſt nicht? Was iſt das?
Biſt du —


Beide Gerichtsdiener. (kommen zurück)

Adam.

(hämiſch)

Suchet, ſo werdet ihr finden!


Zweiter Gerichtsdiener.

(zu Adam)

Was fällt Ihm ein? Traf’s denn heute
zu?


Adam.

Halt Er’s Maul!

(Beide ab)

Meiſter Anton.

Er iſt unſchuldig, und Du — Du —


Klara.

Vater, Er iſt ſchrecklich!


[55]
Meiſter Anton.

(faßt ſie bei der Hand, ſehr ſanft)

Liebe Tochter, der Karl
iſt doch nur ein Stümper, er hat die Mutter umge-
bracht, was will’s heißen? Der Vater blieb am
Leben! Komm ihm zu Hülfe, Du kannſt nicht ver-
langen, daß er Alles allein thun ſoll, gieb Du mir
den Reſt, der alte Stamm ſieht noch ſo knorrig aus,
nicht wahr, aber er wackelt ſchon, es wird Dir nicht
zu viel Mühe koſten, ihn zu fällen! Du brauchſt
nicht nach der Axt zu greifen, Du haſt ein hübſches
Geſicht, ich hab’ Dich noch nie gelobt, aber heute
will ich’s Dir ſagen, damit Du Muth und Vertrauen
bekommſt, Augen, Naſe und Mund finden gewiß Bei-
fall, werde — Du verſtehſt mich wohl, oder ſag’
mir, es kommt mir ſo vor, daß Du’s ſchon biſt!


Klara.

(faſt wahnſinnig, ſtürzt der Todten mit aufgehobenen Armen zu
Füßen und ruft wie ein Kind)

Mutter! Mutter!


Meiſter Anton.

Faß’ die Hand der Todten und ſchwöre mir, daß
Du biſt, was Du ſein ſollſt!


[56]
Klara.

Ich — ſchwöre — Dir — daß — ich — Dir —
nie — Schande — machen — will!


Meiſter Anton.

Gut!

(er ſetzt ſeinen Hut auf)

Es iſt ſchönes Wetter!
Wir wollen Spießruthen laufen, Straß’ auf, Straß’
ab!

(ab.)

[[57]]

Zweiter Akt.


Zimmer im Hauſe des Tiſchlermeiſters.

Erſte Scene.


Meiſter Anton (ſteht vom Tiſch auf).
Klara (will abräumen).

Meiſter Anton.

Willſt Du wieder nicht eſſen?


Klara.

Vater, ich bin ſatt.


Meiſter Anton.

Von Nichts?


Klara.

Ich aß ſchon in der Küche.


Meiſter Anton.

Wer keinen Appetit hat, der hat kein gut Ge-
wiſſen! Nun, Alles wird ſich finden! Oder war
Gift in der Suppe, wie ich geſtern träumte? Einiger
[58] wilder Schierling, aus Verſehen beim Pflücken in’s
Kräuterbündel hinein gerathen? Dann thatſt Du klug!


Klara.

Allmächtiger Gott!


Meiſter Anton.

Vergieb mir, ich — Geh zum Teufel mit Deiner
blaßen Leidensmiene, die Du der Mutter des Hei-
lands geſtohlen haſt! Roth ſoll man ausſehen, wenn
man jung iſt! Nur Einer darf Staat machen mit
einem ſolchen Geſicht, und der thut’s nicht! Hei!
Jedem eine Ohrfeige, der noch Au ſagt, wenn er ſich
in den Finger [geſchnitten] hat! Dazu hat Keiner das
Recht mehr, denn hier ſteht ein Mann, der — Eigen-
lob ſtinkt, aber was that ich, als der Nachbar über
Deiner Mutter den Sargdeckel zunageln wollte?


Klara.

Er riß ihm den Hammer weg und that’s ſelbſt,
und ſprach: dies iſt mein Meiſterſtück! Der Kantor,
der eben mit den Chorknaben vor der Thür das
Sterbelied abſang, meinte, Er ſei verrückt geworden!


Meiſter Anton.

Verrückt!

(lacht)

Verrückt! Ja, ja, das iſt ein
[59] kluger Kopf, der ſich ſelbſt köpft, wenn’s Zeit iſt.
Der meinige muß dazu zu feſt ſtehen, ſonſt — Man
hockte in der Welt, und glaubte in einer guten Her-
berge hinter’m Ofen zu ſitzen, da wird plötzlich Licht
auf den Tiſch geſtellt, und ſiehe da, man iſt in einem
Räuberloch, nun geht’s piff, paff, von allen Seiten,
aber es ſchadet nicht, man hat zum Glück ein ſteiner-
nes Herz!


Klara.

Ja, Vater, ſo iſt’s!


Meiſter Anton.

Was weißt Du davon? Meinſt Du, Du haſt
ein Recht, mit mir zu fluchen, weil Dein Schreiber
davon gelaufen iſt? Dich wird ein Anderer Sonn-
tags-Nachmittags ſpatzieren führen, ein Anderer wird
Dir ſagen, daß Deine Backen roth ſind und Deine
Augen blau, ein Anderer wird dich zum Weibe neh-
men, wenn Du’s verdienſt. Aber, wenn Du nun
dreißig Jahre lang in Züchten und Ehren die Laſt
des Lebens getragen, wenn Du nie gemurrt, ſondern
Leid und Tod und jedes Mißgeſchick in Geduld hin-
genommen haſt, und dann kommt Dein Sohn, der
[60] Dir für Dein Alter ein weiches Kopfkiſſen ſtopfen
ſollte, und überhäuft Dich ſo mit Schande, daß Du
die Erde anrufen mögteſt: verſchlucke mich, wenn Dich
nicht ekelt, denn ich bin kothiger, als Du! — dann
magſt Du all’ die Flüche, die ich in meiner Bruſt
zurückhalte, ausſprechen, dann magſt Du Dein Haar
raufen und Deine Brüſte zerſchlagen, das ſollſt Du
vor mir voraus haben, denn Du biſt kein Mann!


Klara.

O Karl!


Meiſter Anton.

Wundern ſoll mich’s doch, was ich thun werde,
wenn ich ihn wieder vor mir ſehe, wenn er Abends
vor Lichtanzünden mit geſchorenem Kopf, denn im
Zuchthaus ſind die Friſuren nicht erlaubt, in die
Stube tritt und einen guten Abend herausſtottert und
die Klinke der Thür in der Hand behält. Thun werd’
ich etwas, das iſt gewiß, aber was?

(mit Zähneknirſchen)

Und ob ſie ihn zehn Jahre behalten, er wird mich
finden, ich werde ſo lange leben, das weiß ich, merk’
Dir’s, Tod, ich bin von jetzt an ein Stein vor Dei-
ner Hippe, ſie wird eher zerſpringen, als mich aus
der Stelle rücken!


[61]
Klara.

(faßt ſeine Hand)

Vater, Er ſollte ſich eine halbe
Stunde niederlegen!


Meiſter Anton.

Um zu träumen, daß Du in die Wochen gekom-
men ſeyſt? Um dann aufzufahren, und Dich zu packen,
und mich hinterdrein zu beſinnen und zu ſprechen:
liebe Tochter, ich wußte nicht, was ich that! Ich
danke. Mein Schlaf hat den Gaukler verabſchiedet
und einen Propheten in Dienſt genommen, der zeigt
mir mit ſeinem Blutfinger häßliche Dinge, und ich
weiß nicht, wie’s kommt, Alles ſcheint mir jetzt mög-
lich. Hu, mich ſchaudert’s vor der Zukunft, wie vor
einem Glas Waſſer, das man durch’s Microscop
— iſt’s richtig, Herr Cantor? Er hat mir’s oft
genug vorbuchſtabirt! — betrachtet hat. Ich thats
einmal in Nürnberg auf der Meſſe, und mogte den
ganzen Tag nicht mehr trinken! Den lieben Karl
ſah ich in der letzten Nacht mit einer Piſtole in der
Hand, als ich den Schützen näher in’s Auge faßte,
drückte er ab, ich hörte einen Schrei, aber vor Pul-
verdampf konnt’ ich nichts ſehen, auch als der Dampf
[62] ſich verzog, erblickte ich keinen zerſchmetterten Schädel,
aber mein Herr Sohn war inzwiſchen ein reicher
Mann geworden, er ſtand und zählte Goldſtücke von
einer Hand in die andere, und er hatte ein Geſicht
— hol mich der Teufel, man kann’s nicht ruhiger
haben, wenn man den ganzen Tag arbeitete und nun
die Werkſtatt hinter ſich abſchließt. Nun davor könnte
man aufpaſſen! Man könnte Gericht halten und ſich
nachher ſelbſt vor den höchſten Richter ſtellen.


Klara.

Werd’ Er doch wieder ruhig!


Meiſter Anton.

Werd’ Er doch wieder geſund! Warum iſt Er
krank! Ja, Arzt, reich’ mir nur den Trank der Ge-
neſung! Dein Bruder iſt der ſchlechteſte Sohn, werde
Du die beſte Tochter! Wie ein nichtswürdiger Ban-
querottirer ſteh’ ich vor dem Angeſicht der Welt, einen
braven Mann, der in die Stelle dieſes Invaliden
treten könne, war ich ihr ſchuldig, mit einem Schelm
hab’ ich ſie betrogen. Werde Du ein Weib, wie
Deine Mutter war, dann wird man ſprechen: an den
Eltern hat’s nicht gelegen, daß der Bube abſeits ging,
[63] denn die Tochter wandelt den rechten Weg, und iſt
allen Andern vorauf.

(mit ſchrecklicher Kälte)

Und ich will
das Meinige dazu thun, ich will Dir die Sache leich-
ter machen, als den Uebrigen. In dem Augenblick,
wo ich bemerke, daß man auch auf Dich mit Fingern zeigt,
werd’ ich —

(mit einer Bewegung an den Hals)

mich ra-
ſiren, und dann, das ſchwör’ ich Dir zu, raſir’
ich den ganzen Kerl weg, Du kannſt ſagen, es ſei
aus Schreck geſchehen, weil auf der Straße ein Pferd
durchging, oder weil die Katze auf dem Boden einen
Stuhl umwarf, oder weil mir eine Maus an den
Beinen hinauflief. Wer mich kennt, wird freilich den
Kopf dazu ſchütteln, denn ich bin nicht ſonderlich
ſchreckhaft, aber was thut’s? Ich kann’s in einer
Welt nicht aushalten, wo die Leute mitleidig ſeyn
müßten, wenn ſie nicht vor mir ausſpucken ſollen.


Klara.

Barmherziger Gott, was ſoll ich thun!


Meiſter Anton.

Nichts, Nichts, liebes Kind, ich bin zu hart gegen
Dich, ich fühl’s wohl, Nichts, bleib nur, was Du
biſt, dann iſt’s gut! O, ich hab’ ſo groß Unrecht
[64] erlitten, daß ich Unrecht thun muß, um nicht zu er-
liegen, wenn’s mich ſo recht anfaßt. Sieh, ich gehe
vorhin über die Straße, da kommt der Pocken-Fritz
daher, der Gaudieb, den ich vor Jahren in’s Loch
ſtecken ließ, weil er zum dritten Mal lange Finger bei
mir gemacht hatte. Früher wagte der Hallunke nicht,
mich anzuſehen, jetzt trat er frech auf mich zu und
reichte mir die Hand. Ich wollte ihm einen hinter
die Ohren geben, aber ich beſann mich und ſpuckte
nicht einmal aus, wir ſind ja Vettern ſeit 8 Tagen,
und es iſt billig, daß Verwandte ſich grüßen. Der
Pfarrer, der mitleidige Mann, der mich geſtern be-
ſuchte, meinte zwar, ein Menſch habe Niemanden zu
vertreten, als ſich ſelbſt, und es [ſey] ein unchriſtlicher
Hochmuth von mir, daß ich auch noch für meinen
Sohn aufkommen wolle; ſonſt müßte Adam es ſich
ſo gut zu Gemüthe ziehen, wie ich. Herr, ich glaub’s
gern, daß es den Frieden des Erzvaters im Paradieſe
nicht mehr ſtört, wenn Einer ſeiner Ur-Ur-Enkel zu
morden oder zu rauben anfängt, aber raufte er ſich
nicht die Haare über Kain? Nein, nein, es iſt zu
viel! Ich könnte mich zuweilen nach meinem Schatten
[65] umſehen, ob er nicht ſchwärzer geworden iſt! Denn
Alles, Alles kann ich ertragen und hab’s bewieſen,
nur nicht die Schande! Legt mir auf den Nacken,
was ihr wollt, nur ſchneidet nicht den Nerv durch,
der mich zuſammen hält!


Klara.

Vater, noch hat Karl ja nichts geſtanden, und
ſie haben auch nichts bei ihm gefunden.


Meiſter Anton.

Was ſoll mir das? Ich bin in der Stadt herum-
gegangen und habe mich in den Schenken nach ſeinen
Schulden erkundigt, da kam mehr zuſammen, als er
im nächſten Vierteljahr bei mir verdient hätte, und
wenn er noch dreimal ſo fleißig wäre, als er iſt.
Nun weiß ich, warum er immer zwei Stunden ſpäter
Feier-Abend machte, als ich, und warum er trotzdem
auch noch vor mir aufſtand, aber er ſah ein, daß
dies Alles doch Nichts half, oder es war ihm zu
mühevoll und dauerte ihm zu lange, da griff er zu,
als die Gelegenheit ſich bot.


Hebbel’s Maria Magdalene. 5
[66]
Klara.

Er glaubt von Karl immer das Schlimmſte, Er
hat es ſtets gethan! Weiß Er wohl noch, wie —


Meiſter Anton.

Du ſprichſt, wie Deine Mutter ſprechen würde, ich
will Dir antworten, wie ich ihr zu antworten pflegte,
ich will ſtillſchweigen!


Klara.

Und wenn Karl doch frei geſprochen wird? Wenn
die Juwelen ſich wieder finden?


Meiſter Anton.

Dann würd’ ich einen Advocaten annehmen, und
mein letztes Hemd daran ſetzen, um zu erfahren, ob
der Bürgermeiſter den Sohn eines ehrlichen Mannes
mit Recht in’s Gefängniß warf, oder nicht. Wär’
es, ſo’ würd ich mich beugen, denn was Jedem wider-
fahren kann, das muß auch ich mir gefallen laſſen,
und mußte ich es zu meinem Unglück auch tauſend
Mal theurer bezahlen, als Andere, es war ein Schick-
ſal, und wenn Gott mich ſchlägt, ſo falte ich die
Hände, und ſpreche: Herr, Du weißt warum! Wär’
es aber nicht, hätte der Mann mit der goldenen
[67] Kette um den Hals ſich übereilt, weil er an Nichts
dachte, als daran, daß der Kaufmann, der die Ju-
welen vermißt, ſein Schwager iſt, ſo würde ſich’s
finden, ob das Geſetzbuch ein Loch hat, und ob der
König, der wohl weiß, daß er ſeinen Unterthanen
ihre Treu’ und ihren Gehorſam mit Gerechtigkeit be-
zahlen muß, und der dem Geringſten unter ihnen ge-
wiß am wenigſten etwas ſchuldig bleiben will, dies Loch
ungeſtopft ließe. Aber, das ſind unnütze Reden! Der
Junge wird ſo wenig rein aus dieſem Prozeß hervor-
gehen, wie Deine Mutter lebendig aus ihrer Gruft.
Von dem kommt mir nun und nimmer ein Troſt,
darum vergiß Du nicht, was Du mir ſchuldig biſt,
halte Du Deinen Schwur, damit ich den meinigen
nicht zu halten brauche!

(er geht, kehrt aber wieder um)

Ich komme heut Abend erſt ſpät zu Hauſe, ich gehe
zu dem alten Holzhändler in’s Gebirge. Das iſt
der einzige Mann, der mir noch, wie ſonſt, in die
Augen ſieht, weil er noch nicht von meiner Schande
weiß. Er iſt taub, Keiner kann ihm was erzählen,
ohne ſich heiſer zu ſchreien, und auch dann hört er
Alles verkehrt, darum erfährt er Nichts.

(ab)

5*
[68]

Zweite Scene.


Klara.

(allein)

O Gott, o Gott! Erbarme Dich! Erbarme Dich
über den alten Mann! Nimm mich zu Dir! Ihm iſt nicht
anders zu helfen! Sieh, der Sonnenſchein liegt ſo
goldig auf der Straße, daß die Kinder mit Händen
nach ihm greifen, die Vögel fliegen hin und her,
Blumen und Kräuter werden nicht müde, in die Höhe
zu wachſen. Alles lebt, Alles will leben, Tauſend
Kranke zittern in dieſer Stunde vor Dir, o Tod,
wer Dich in der beklommenen Nacht noch rief, weil
er ſeine Schmerzen nicht mehr ertragen konnte, der
findet ſein Lager jetzt wieder ſanft und weich, ich
rufe Dich! Verſchone den, deſſen Seele ſich am tief-
ſten vor Dir wegkrümmt, laß ihm ſo lange Friſt, bis
die ſchöne Welt wieder grau und öde wird, nimm
mich für ihn! Ich will nicht ſchaudern, wenn Du
mir Deine kalte Hand reichſt, ich will ſie muthig
faſſen und Dir freudiger folgen, als Dir noch je ein
Menſchenkind gefolgt iſt.


[69]

Dritte Scene.


Der Kaufmann Wolfram.

(tritt ein)

Guten Tag, Jungfer Klara, iſt Ihr
Vater nicht zu Hauſe?


Klara.

Er iſt eben fortgegangen.


Wolfram.

Ich komme — — meine Juwelen haben ſich wieder-
gefunden.


Klara.

O Vater, wärſt Du da! Er hat ſeine Brille
vergeſſen, dort liegt ſie! Daß er’s bemerkte und um-
kehrte! Wie denn? — Wo? — Bei wem?


Wolfram.

Meine Frau — Sag’ Sie mir aufrichtig, Jung-
fer, hat Sie nicht auch ſchon etwas Wunderliches
über meine Frau gehört?


Klara.

Ja!


Wolfram.

Daß ſie —

(er deutet auf die Stirn)

Nicht wahr?


[70]
Klara

Daß ſie nicht recht bei ſich iſt, freilich!


Wolfram.

(ausbrechend)

Mein Gott! Mein Gott! Alles um-
ſonſt! Keinen Dienſtboten, den ich einmal in mein
Haus nahm, hab’ ich wieder von mir gelaſſen, Jedem
habe ich doppelten Lohn gegeben und zu allen Nach-
läſſigkeiten die Augen zugedrückt, um mir ihr Still-
ſchweigen zu erkaufen, dennoch — die falſchen, undank-
baren Creaturen! O meine armen Kinder! Bloß
Euretwegen ſuchte ich’s zu verbergen!


Klara.

Schelt’ Er Seine Leute nicht! Die ſind gewiß
unſchuldig! Seit das Nachbarhaus abbrannte, und
Seine Frau aus dem geöffneten Fenſter dazu lachte
und in die Hände klatſchte, ja ſogar mit vollen Backen
in’s Feuer hinüber blies, als wollte ſie es noch mehr
anfachen, ſeitdem hatte man nur die Wahl, ob man
ſie für einen Teufel, oder für eine Verrückte halten
wollte. Und das haben Hunderte geſehen.


Wolfram.

Es iſt wahr. Nun, da die ganze Stadt mein
Unglück kennt, ſo wäre es thörigt, wenn ich Ihr
[71] das Verſprechen abfordern wollte, es zu verſchweigen.
Höre Sie denn! Den Diebſtahl, wegen deſſen Ihr
Bruder im Gefängniß ſitzt, hat der Wahnſinn be-
gangen!


Klara.

Seine eig’ne Frau —


Wolfram.

Daß ſie, die früher die edelſte, mitleidigſte Seele
von der Welt war, boshaft und ſchadenfroh geworden
iſt, daß ſie jauchzt und jubelt, wenn vor ihren Augen
ein Unglück geſchieht, wenn die Magd ein Glas zer-
bricht, oder ſich in den Finger ſchneidet, wußte ich
längſt; daß ſie aber auch Sachen im Hauſe auf die
Seite bringt, Geld verſteckt, Papiere zerreißt, das
habe ich leider zu ſpät erfahren, erſt heute Mittag.
Ich hatte mich auf’s Bett gelegt und wollte eben
einſchlafen, da bemerkte ich, daß ſie ſich mir leiſe
näherte und mich ſcharf betrachtete, ob ich ſchon
ſchliefe. Ich ſchloß die Augen feſter, da nahm ſie
aus meiner über den Stuhl gehängten Weſte den Schlüſ-
ſel, öffnete den Secretair, griff nach einer Goldrolle,
ſchloß wieder zu und trug den Schlüſſel zurück. Ich
[72] entſetzte mich, doch ich hielt an mich, um ſie nicht
zu ſtören, ſie verließ das Zimmer, ich ſchlich ihr auf
den Zehen nach. Sie ſtieg zum oberſten Boden hin-
auf und warf die Goldrolle in eine alte Kiſte hinein,
die noch vom Großvater her leer da ſteht, dann ſah ſie
ſich ſcheu nach allen Seiten um und eilte, ohne
mich zu bemerken, wieder fort. Ich zündete einen
Wachsſtock an und durchſuchte die Kiſte, da fand ich
die Spielpuppe meiner jüngſten Tochter, ein Paar
Pantoffeln der Magd, ein Handlungsbuch, Briefe
und leider, oder Gott Lob, wie ſoll ich ſagen, ganz
unten auch die Juwelen!


Klara.

O meine arme Mutter! Es iſt doch zu ſchändlich!


Wolfram.

Gott weiß, ich würde den Schmuck darum geben,
könnt’ ich ungeſchehen machen, was geſchehen iſt!
Aber nicht ich bin Schuld! Daß mein Verdacht, bei
aller Achtung vor Ihrem Vater, auf Ihren Bruder
fiel, war natürlich, er hatte den Secretair polirt,
und mit ihm waren die Juwelen verſchwunden, ich
bemerkte es faſt augenblicklich, denn ich mußte aus
[73] dem Fach, worin ſie lagen, Papiere herausnehmen.
Doch es fiel mir nicht ein, gleich ſtrenge Maaßregeln
gegen ihn zu ergreifen, ich theilte die Sache nur vor-
läufig dem Gerichtsdiener Adam mit und erſuchte ihn,
ganz in der Stille Nachforſchungen anzuſtellen, aber
dieſer wollte von keiner Schonung wiſſen, er erklärte
mir, er müſſe und werde den Fall auf der Stelle
anzeigen, denn Ihr Bruder ſey ein Säufer und
Schuldenmacher, und er gilt bei dem Bürgermeiſter
leider ſo viel, daß er durchſetzen kann, was er will.
Der Mann ſcheint bis auf’s Aeußerſte gegen Ihren
Vater aufgebracht zu ſeyn, ich weiß nicht, warum,
es war nicht möglich, ihn zu beſchwichtigen, er hielt
ſich die Ohren zu, und rief, als er fortrannte: wenn
Er mir den Schmuck geſchenkt hätte, ich wäre nicht
ſo vergnügt, wie jetzt!


Klara.

Der Gerichtsdiener hat im Wirthshaus einmal
ſein Glas neben das meines Vaters auf den Tiſch
geſtellt und ihm dabei zugenickt, als ob er ihn zum
Anſtoßen auffordern wolle. Da hat mein Vater das
ſeinige weggenommen und geſagt: Leute im rothen Rock
[74] mit blauen Aufſchlägen mußten ehemals aus Glä-
ſern mit hölzernen Füßen trinken, auch mußten
ſie draußen vor dem Fenſter, oder, wenn’s regnete,
vor der Thür ſtehen bleiben und beſcheiden den Hut
abziehen, wenn der Wirth ihnen den Trunk reichte;
wenn ſie aber ein Gelüſten trugen, mit Jemandem
anzuſtoßen, ſo warteten ſie, bis der Gevatter Fall-
meiſter vorüber kam. Gott! Gott! Was iſt Alles
möglich auf der Welt! Das hat meine Mutter mit
einem jähen Tode bezahlen müſſen!


Wolfram.

Man ſoll Keinen reizen und die Schlimmen am
wenigſten! Wo iſt Ihr Vater?


Klara.

Im Gebirg beim Holzhändler.


Wolfram.

Ich reite hinaus und ſuch’ ihn auf. Beim Bür-
germeiſter war ich ſchon, leider traf ich ihn nicht da-
heim, ſonſt würde Ihr Bruder ſchon hier ſeyn, aber
der Secretair hat ſogleich einen Boten abgefertigt,
Sie wird ihn noch vor Abend ſehen.

(ab)

[75]

Vierte Scene.


Klara.

(allein)

Nun ſollt’ ich mich freuen! Gott, Gott!
Und ich kann Nichts denken, als: nun biſt Du’s allein!
Und doch iſt mir zu Muth, als müſſe mir gleich
etwas einfallen, das Alles wieder gut macht!


Fünfte Scene.


Der Secretair.

(tritt ein)

Guten Tag!


Klara.

(hält ſich an einem Stuhl, als ſollte ſie umfallen)

Der! O,
wenn der nicht zurückgekommen wäre —


Secretair.

Der Vater iſt nicht zu Hauſe?


Klara.

Nein!


Secretair.

Ich bringe eine fröhliche Botſchaft. Ihr Bruder
— Nein, Klara, ich kann in dieſem Ton nicht mit
Dir reden, mir däucht, Tiſche, Stühle, Schränke, all’
die alten Bekannten, — Guten Tag Du!

(er nickt
[76] einem Schrank zu)

Wie gehts? Du haſt Dich nicht ver-
ändert! — um die wir als Kinder ſo oft herumgehüpft
ſind, werden die Köpfe zuſammenſtecken, und den Narren
ausſpotten, wenn ich nicht ſchnell einen anderen anſchlage.
Ich muß Du zu Dir ſagen, wie ehemals, wenn’s
Dir nicht gefällt, ſo denke: der große Junge träumt,
ich will ihn aufwecken und vor ihn hintreten und mich


(mit Geberden)

hoch aufrichten, damit er ſieht, daß er
kein kleines Kind mehr vor ſich hat, — das war
Dein Maaß im elften Jahr!

(er deutet auf einen Schramm
ſtrich in der Thür)

— ſondern ein gehörig erwachſenes
Mädchen, das den Zucker auch dann erreichen kann,
wenn er auf den Schrank geſtellt wird. Du weißt
doch noch? Das war der Platz, die feſte Burg, wo
er auch unverſchloſſen vor uns ſicher war. Wir ver-
trieben uns, wenn er dort ſtand, die Zeit gewöhnlich mit
Fliegenklatſchen, weil wir den Fliegen, die luſtig ab-
und zuflogen, das unmöglich gönnen konnten, was wir
ſelbſt nicht zu erlangen wußten.


Klara.

Ich dächte, man vergäße ſolche Dinge, wenn man
hundert und tauſend Bücher durchſtudiren müßte.


[77]
Secretair.

Man vergißt’s auch! Freilich, was vergißt man
nicht über Juſtinian und Gajus! Die Knaben, die
ſich ſo hartnäckig gegen das A. B. C. wehren, wiſ-
ſen wohl, warum; ſie haben eine Ahnung davon,
daß, wenn ſie ſich nur mit der Fibel nicht einlaſſen,
ſie mit der Bibel nie Händel bekommen können! Aber
ſchändlich genug, man verführt die unſchuldigen Seelen,
man zeigt ihnen hinten den rothen Hahn mit dem
Korb voll Eier, da ſagen ſie von ſelbſt: Ah! und
nun iſt kein Haltens mehr, nun geht’s reißend ſchnell
bergunter bis zum Z., und ſo weiter und weiter, bis
ſie auf einmal mitten im Corpus juris ſind und mit
Grauſen inne werden, in welche Wildniß die ver-
fluchten 24 Buchſtaben, die ſich Anfangs im luſtigen
Tanz nur zu wohlſchmeckenden und wohlriechenden
Worten, wie Kirſche und Roſe zuſammenſtellten, ſie
hineingelockt haben!


Klara.

Und wie wird’s dann gemacht?

(abweſend, ohne
allen Antheil)

[78]
Secretair.

Darin ſind die Temperamente verſchieden. Einige
arbeiten ſich durch. Die kommen gewöhnlich in drei
bis vier Jahren wieder an’s Tagslicht, ſind dann aber
etwas mager und blaß, das muß man ihnen nicht
übel nehmen. Zu dieſen gehöre ich. Andere legen ſich
in der Mitte des Waldes nieder, ſie wollen bloß aus-
ruhen, aber ſie ſtehen ſelten wieder auf. Ich habe
ſelbſt einen Bekannten, der nun ſchon drei Jahre im
Schatten der Lex Julia ſein Bier trinkt, er hat ſich
den Platz des Namens wegen ausgeſucht, der ruft
ihm angenehme Erinnerungen zurück. Noch Andere
werden desparat und kehren um. Die ſind die Dümm-
ſten, denn man läßt ſie nur unter der Bedingung aus
dem einen Dickigt heraus, daß ſie ſich ſpornſtreichs
wieder in ein anderes hinein begeben. Und da giebt’s
einige, die noch ſchrecklicher ſind, die gar kein Ende
haben!

(für ſich)

Was man Alles ſchwätzt, wenn man
Etwas auf dem Herzen hat, und es nicht heraus zu
bringen weiß!


Klara.

Alles iſt heute luſtig und munter, das macht der
ſchöne Tag!


[79]
Secretair.

Ja, bei ſolchem Wetter fallen die Eulen aus dem
Neſt, die Fledermäuſe bringen ſich um, weil ſie füh-
len, daß der Teufel ſie gemacht hat, der Maulwurf
bohrt ſich ſo tief in die Erde ein, daß er den Weg
zurück nicht mehr findet und jämmerlich erſticken muß,
wenn er ſich nicht bis zur anderen Seite durchfrißt
und in Amerika wieder zum Vorſchein kommt. Heute
thut jede Korn-Aehre einen doppelten Schuß, und jede
Mohnblume wird noch einmal ſo roth, wie ſonſt, wenn
auch nur aus Schaam, daß ſie’s noch nicht iſt. Soll
der Menſch zurückbleiben? Soll er den lieben Gott
um den einzigen Zins betrügen, den ſeine Welt ihm
abwirft, um ein fröhlich Geſicht und um ein helles
Auge, das all die Herrlichkeit abſpiegelt und verklärt
zurück giebt? Wahrhaftig, wenn ich des Morgens
dieſen oder jenen Hocker aus ſeiner Thür hervor-
ſchleichen ſehe, die Stirn in Falten heraufgezogen
und den Himmel anglotzend, wie einen Bogen Löſch-
papier, dann denk’ ich oft: es giebt gleich Regen,
Gott muß, er kann nicht umhin, den Wolken-Vorhang
niederlaſſen, um ſich nur über die Fratze nicht zu
[80] ärgern. Man ſollte die Kerl’s als Hintertreiber von
Luſtparthieen, als Verderber des Erndtewetters, vor
Gericht belangen können. Wodurch willſt Du denn
für das Leben danken, als dadurch, daß Du lebſt?
Jauchze Vogel, ſonſt verdienſt du die Kehle nicht!


Klara.

Ach, das iſt ſo wahr, ſo wahr — ich könnte
gleich zu weinen anfangen!


Secretair.

Es iſt nicht gegen Dich geſagt, daß Du ſeit acht
Tagen ſchwerer athmeſt, wie ſonſt, begreif’ ich wohl,
ich kenne Deinen Alten. Aber Gott Lob, ich kann
Deine Bruſt wieder frei machen, und eben darum bin
ich hier. Du wirſt Deinen Bruder noch heut Abend
wieder ſehen, und nicht auf ihn, ſondern auf die
Leute, die ihn in’s Gefängniß geworfen haben, wird
man mit Fingern zeigen. Verdient das einen Kuß,
einen ſchweſterlichen, wenn’s denn kein anderer ſeyn
darf? Oder wollen wir Blindekuh darum ſpielen?
Wenn ich Dich nicht in zehn Minuten haſche, ſo geh’
ich leer aus, und bekomm’ noch einen Backenſtreich
obendrein.


[81]
Klara.

(für ſich)

Mir iſt, als wär’ ich auf einmal tauſend
Jahr alt geworden, und nun ſtünde die Zeit über
mir ſtill, ich kann nicht zurück und auch nicht vor-
wärts. O, dieſer feſtgenagelte Sonnenſchein und all
die Heiterkeit um mich her!


Secretair.

Du antworteſt mir nicht. Freilich, das vergaß
ich, Du biſt Braut! O Mädchen, warum haſt Du
mir das gethan! Und doch — habe ich ein Recht,
mich zu beklagen? Sie iſt, wie alles Liebe und Gute,
alles Liebe und Gute hätte mich an ſie erinnern ſollen,
dennoch war ſie Jahrelang für mich, wie nicht mehr
in der Welt. Dafür hat ſie — Wär’s nur wenig-
ſtens ein Kerl, vor dem man die Augen niederſchlagen
müßte! Aber dieſer Leonhard —


Klara.

(plötzlich, wie ſie den Namen hört)

Ich muß zu ihm —
Das iſt’s ja, ich bin nicht mehr die Schweſter eines
Diebes — o Gott, was will ich denn noch? Leon-
hard wird und muß — Er braucht ja bloß kein
Hebbel’s Maria Magdalena. 6
[82] Teufel zu ſeyn, und Alles iſt, wie vorher!

(ſchaudernd)

Wie vorher!

(zum Secretair)

Nimm’s nicht übel, Frie-
drich! — Warum werden mir die Beine auf einmal
ſo ſchwer!


Secretair.

Du willſt —


Klara.

Zu Leonhard, wohin denn ſonſt! Nur den einen
Weg hab’ ich auf dieſer Welt noch zu machen!


Secretair.

So liebſt Du ihn? Dann —


Klara.

(wild)

Lieben? Er oder der Tod! Wundert’s
wen, daß ich ihn wähle? Ich thät’s nicht, dächt’ ich
an mich allein!


Secretair.

Er oder der Tod? Mädchen, ſo ſpricht die Ver-
zweiflung, oder —


Klara.

Mach’ mich nicht raſend! Nenne das Wort nicht
mehr! Dich! Dich lieb’ ich! Da! Da! Ich ruf’s
Dir zu, als ob ich ſchon jenſeits des Grabes wan-
[83] delte, wo Niemand mehr roth wird, wo ſie Alle nackt
und frierend an einander vorbeiſchleichen, weil Got-
tes furchtbar heilige Nähe in Jedem den Gedanken
an die Anderen bis auf die Wurzel weggezehrt hat!


Secretair.

Mich? Noch immer mich? Klara, ich hab’s ge-
ahnt, als ich Dich draußen im Garten ſah!


Klara.

Haſt Du? O, der Andere auch!

(dumpf, als ob ſie
allein wäre)

Und er trat vor mich hin! Er oder Ich!
O, mein Herz, mein verfluchtes Herz! Um ihm,
um mir ſelbſt zu beweiſen, daß es nicht ſo ſey, oder
um’s zu erſticken, wenn’s ſo wäre, that ich, was
mich jetzt —

(in Thränen ausbrechend)

Gott im Himmel,
ich würde mich erbarmen, wenn ich Du wäre, und
Du ich!


Secretair.

Klara, werde mein Weib! Ich kam zu Dir, um
Dir noch einmal auf die alte Weiſe in’s Auge zu
ſehen. Hätteſt Du den Blick nicht verſtanden, ich
würde mich, ohne zu reden, wieder entfernt haben.
Jetzt biet’ ich Dir Alles an, was ich bin, und was
6*
[84] ich habe. Es iſt wenig, aber es kann mehr werden.
Längſt wäre ich hier geweſen, doch Deine Mutter
war krank, dann ſtarb ſie.


Klara. (lacht wahnſinnig)

Secretair.

Faſſe Muth, Mädchen. Der Menſch hat Dein
Wort. Das ängſtigt Dich. Und freilich iſt’s ver-
flucht. Wie konnteſt Du —


Klara.

O frag’ noch, was Alles zuſammen kommt, um
ein armes Mädchen verrückt zu machen. Spott und
Hohn von allen Seiten, als Du auf die Academie
gezogen warſt und Nichts mehr von Dir hören ließeſt.
Die denkt noch an den! — Die glaubt, daß Kinde-
reien ernſthaft gemeint waren! — Erhält ſie Briefe?
— Und dann die Mutter! Halte Dich zu Deines
Gleichen! Hochmuth thut nimmer gut! Der Leon-
hard iſt doch recht brav, Alle wundern ſich, daß Du
ihn über die Achſel anſiehſt. Dazu mein eignes Herz.
Hat er Dich vergeſſen, zeig’ ihm, daß auch Du —
o Gott!


[85]
Secretair.

Ich bin Schuld. Ich fühl’s. Nun, was ſchwer
iſt, iſt darum nicht unmöglich. Ich ſchaff’ Dir Dein
Wort zurück. Vielleicht —


Klara.

O, mein Wort — da!

(ſie wirft ihm Leonhards
Brief hin)

Secretair.

(lieſ’t)

Ich als Caſſirer — Dein Bruder —
Dieb — ſehr leid — aber ich kann nicht umhin, aus
Rückſicht auf mein Amt — —

(zu Klara)

Das ſchrieb
er Dir denſelben Tag, wo Deine Mutter ſtarb? Er
bezeugt Dir ja zugleich ſein Beileid über ihren jähen
Tod!


Klara.

Ich glaube, ja!


Secretair.

Daß Dich! Lieber Gott, die Katzen, Schlangen
und ſonſtigen Scheuſale, die Dir bei der Schöpfung
ſo zwiſchen den Fingern durchgeſchlüpft ſind, haben
Beelzebubs Wohlgefallen erregt, er hat ſie Dir nach-
gemacht, aber er hat ſie beſſer herausgeputzt, wie Du,
[86] er hat ſie in Menſchenhaut geſteckt, und nun ſtehen
ſie mit Deinen Menſchen in Reih und Glied und man
erkennt ſie erſt, wenn ſie kratzen und ſtechen!

(zu Klara)

Aber es iſt ja gut, es iſt ja vortrefflich!

(er will ſie
umarmen)

Komm! Für ewig! Mit dieſem Kuß —


Klara.

(ſinkt an ihn)

Nein, nicht für ewig, nur daß ich
nicht umfalle, aber keinen Kuß!


Secretair.

Mädchen, Du liebſt ihn nicht, Du haſt Dein
Wort zurück —


Klara.

(dumpf, ſich wieder aufrichtend)

Und ich muß doch zu
ihm, ich muß mich auf Knieen vor ihm niederwerfen und
ſtammeln: ſieh die weißen Haare meines Vaters an,
nimm mich!


Secretair.

Unglückliche, verſteh’ ich Dich?


Klara.

Ja!


Secretair.

Darüber kann kein Mann weg! Vor dem Kerl,
[87] dem man in’s Geſicht ſpucken mögte, die Augen nie-
derſchlagen müſſen?

(er preßt Klara wild an ſich)

Aermſte!
Aermſte!


Klara.

Geh’ nun, geh!


Secretair.

(für ſich, brütend)

Oder man müßte den Hund, der’s
weiß, aus der Welt wegſchießen! Daß er Muth
hätte! Daß er ſich ſtellte! Daß man ihn zwingen
könnte! Um’s Treffen wär’ mir nicht bange!


Klara.

Ich bitte Dich!


Secretair.

(indem er geht)

Wenn’s dunkel wird!

(er kehrt wieder
um und faßt Klaras Hand)

Mädchen, Du ſtehſt vor mir
— —

(er wendet ſich ab)

Tauſende ihres Geſchlechts
hätten’s klug und liſtig verſchwiegen, und es erſt dem
Mann in einer Stunde ſüßer Vergeſſenheit in Ohr
und Seele geſchmeichelt! Ich fühle, was ich Dir
ſchuldig bin!

(ab)

[88]

Sechſte Scene.


Klara.

(allein)

Zu! Zu, mein Herz! Quetſch’ Dich in
Dich ein, daß auch kein Blutstropfe mehr heraus
kann, der in den Adern das gefrierende Leben wieder
entzünden will. Da hatte ſich wieder was, wie eine
Hoffnung in Dir aufgethan! Jetzt erſt merk’ ich’s!


(lächelnd)

Nein, darüber kann kein Mann weg! Und
wenn — Könnteſt Du ſelbſt darüber hinweg? Hät-
teſt Du den Muth eine Hand zu faſſen, die —
Nein, nein, dieſen ſchlechten Muth hätteſt Du nicht!
Du müßteſt Dich ſelbſt einriegeln in Deine Hülle,
wenn man Dir von außen die Thür öffnen wollte —
Du biſt für ewig — O, daß das ausſetzt, daß
das nicht immer ſo fortbohrt, daß zuweilen ein Auf-
hören iſt! Nur darum dauert’s lange! Der Gequälte
glaubt auszuruhen, weil der Quäler einhalten muß,
um Odem zu ſchöpfen; es iſt ein Aufathmen, wie
des Ertrinkenden auf den Wellen, wenn der Strudel,
der ihn hinunterzieht, ihn noch einmal wieder ausſpeit,
um ihn gleich wieder auf’s Neue zu faſſen, er hat
Nichts davon, als den zwiefachen Todeskampf!


[89]

Nun, Klara? Ja, Vater, ich gehe, ich gehe!
Deine Tochter wird Dich nicht zum Selbſtmord trei-
ben! Ich bin bald das Weib des Menſchen, oder
— Gott, nein! Ich bettle ja nicht um ein Glück,
ich bettle um mein Elend, um mein tiefſtes Elend —
mein Elend wirſt Du mir geben! Fort — wo iſt
der Brief?

(ſie nimmt ihn)

Drei Brunnen triffſt Du
auf dem Weg zu ihm — Daß du mir an Keinem
ſtehen bleibſt! Noch haſt Du nicht das Recht dazu!

(ab)

[90]

Dritter Akt.


Zimmer bei Leonhard.

Erſte Scene.


Leonhard.

(an einem Tiſch mit Acten, ſchreibend)

Das wäre nun der ſechste Bogen nach Tiſch!
Wie fühlt ſich der Menſch, wenn er ſeine Pflicht thut!
Jetzt könnte mir in die Thür treten, wer wollte, und
wenn’s der König wäre — ich würde aufſtehen, aber
ich würde nicht in Verlegenheit gerathen! Einen
nehm’ ich aus, das iſt der alte Tiſchler! Aber im
Grunde kann auch der mir wenig machen! Die arme
Klara! Sie dauert mich, ich kann nicht ohne Unruhe
an ſie denken! Daß der eine verfluchte Abend nicht
wäre! Es war in mir wirklich mehr die Eiferſucht,
als die Liebe, die mich zum Raſen brachte, und ſie
ergab ſich gewiß nur darein, um meine Vorwürfe zu
[91] widerlegen, denn ſie war kalt gegen mich, wie der
Tod. Ihr ſtehen böſe Tage bevor, nun, auch ich
werde noch viel Verdruß haben! Trage Jeder das
Seinige! Vor allen Dingen die Sache mit dem klei-
nen Buckel nur recht feſt gemacht, damit die mir
nicht entgeht, wenn das Gewitter ausbricht! Dann
hab’ ich den Bürgermeiſter auf meiner Seite, und
brauche vor Nichts bange zu ſeyn!


Zweite Scene.


Klara.

(tritt ein)

Guten Abend, Leonhard!


Leonhard.

Klara?

(für ſich)

Das hätt’ ich nun nicht mehr
erwartet!

(laut)

Haſt Du meinen Brief nicht erhal-
ten? Doch — Du kommſt vielleicht für Deinen Va-
ter und willſt die Steuer bezahlen! Wie viel iſt es
nur?

(in einem Journal blätternd)

Ich ſollte es eigentlich
aus dem Kopf wiſſen!


Klara.

Ich komme, um Dir Deinen Brief zurück zu ge-
ben! Hier iſt er! Lies ihn noch einmal!


[92]
Leonhard.

(lieſ’t mit großem Ernſt)

Es iſt ein ganz vernünftiger
Brief! Wie kann ein Mann, dem die öffentlichen
Gelder anvertraut ſind, in eine Familie heirathen,
zu der

(er verſchluckt ein Wort)

zu der Dein Bruder ge-
hört?


Klara.

Leonhard!


Leonhard.

Aber vielleicht hat die ganze Stadt Unrecht? Dein
Bruder ſitzt nicht im Gefängniß? Er hat nie im
Gefängniß geſeſſen? Du biſt nicht die Schweſter
eines — Deines Bruders?


Klara.

Leonhard, ich bin die Tochter meines Vaters, und
nicht als Schweſter eines unſchuldig Verklagten, der
ſchon wieder freigeſprochen iſt, denn das iſt mein
Bruder, nicht als Mädchen, das vor unverdienter
Schande zittert, denn

(halb laut)

ich zittre noch mehr
vor Dir, nur als Tochter des alten Mannes, der
mir das Leben gegeben hat, ſtehe ich hier!


[93]
Leonhard.

Und Du willſt?


Klara.

Du kannſt fragen? O, daß ich wieder gehen
dürfte! Mein Vater ſchneidet ſich die Kehle ab, wenn
ich — heirathe mich!


Leonhard.

Dein Vater —


Klara.

Er hat’s geſchworen! Heirathe mich!


Leonhard.

Hand und Hals ſind nahe Vettern. Sie thun
einander Nichts zu Leide! Mach’ Dir keine Ge-
danken!


Klara.

Er hat’s geſchworen — heirathe mich, nachher
bring’ mich um, ich will Dir für das Eine noch dank-
barer ſeyn, wie für das Andere!


Leonhard.

Liebſt Du mich? Kommſt Du, weil Dich Dein
Herz treibt? Bin ich der Menſch, ohne den Du
nicht leben und ſterben kannſt?


[94]
Klara.

Antworte Dir ſelbſt!


Leonhard.

Kannſt Du ſchwören, daß Du mich liebſt? Daß
Du mich ſo liebſt, wie ein Mädchen den Mann lie-
ben muß, der ſich auf ewig mit ihr verbinden ſoll?


Klara.

Nein, das kann ich nicht ſchwören! Aber dies
kann ich ſchwören: ob ich Dich liebe, ob ich Dich
nicht liebe, nie ſollſt Du’s erfahren! Ich will Dir
dienen, ich will für Dich arbeiten, und zu eſſen ſollſt
Du mir Nichts geben, ich will mich ſelbſt ernähren,
ich will bei Nachtzeit nähen und ſpinnen für andere
Leute, ich will hungern, wenn ich Nichts zu thun
habe, ich will lieber in meinen eig’nen Arm hinein
beißen, als zu meinem Vater gehen, damit er Nichts
merkt. Wenn Du mich ſchlägſt, weil Dein Hund
nicht bei der Hand iſt, oder weil Du ihn abgeſchafft
haſt, ſo will ich eher meine Zunge verſchlucken, als
ein Geſchrei ausſtoßen, das den Nachbaren verrathen
könnte, was vorfällt. Ich kann nicht verſprechen,
daß meine Haut die Striemen Deiner Geißel nicht
[95] zeigen ſoll, denn das hängt nicht von mir ab, aber
ich will lügen, ich will ſagen, daß ich mit dem Kopf
gegen den Schrank gefahren, oder daß ich auf dem
Eſtrich, weil er zu glatt war, ausgeglitten bin, ich
will’s thun, bevor noch Einer fragen kann, woher die
blauen Flecke rühren. Heirathe mich — ich lebe
nicht lange. Und wenn’s Dir doch zu lange dauert,
und Du die Koſten der Scheidung nicht aufwenden
magſt, um von mir los zu kommen, ſo kauf’ Gift
auf der Apotheke, und ſtell’s hin, als ob’s für Deine
Ratten wäre, ich will’s, ohne daß Du auch nur zu
winken brauchſt, nehmen und im Sterben zu den
Nachbaren ſagen, ich hätt’s für zerſtoßenen Zucker
gehalten!


Leonhard.

Ein Menſch, von dem Du dies Alles erwarteſt,
überraſcht Dich doch nicht, wenn er nein ſagt?


Klara.

So ſchaue Gott mich nicht zu ſchrecklich an, wenn
ich komme, ehe er mich gerufen hat! Wär’s um
mich allein — ich wollt’s ja tragen, ich wollt’s ge-
duldig hinnehmen, als verdiente Strafe für, ich weiß
[96] nicht was, wenn die Welt mich in meinem Elend mit
Füßen träte, ſtatt mir beizuſtehen, ich wollte mein
Kind, und wenn’s auch die Züge dieſes Menſchen
trüge, lieben, ach, und ich wollte vor der armen Unſchuld
ſo viel weinen, daß es, wenn’s älter und klüger würde,
ſeine Mutter gewiß nicht verachten, noch ihr fluchen
ſollte. Aber ich bin’s nicht allein, und leichter find’
ich am jüngſten Tag noch eine Antwort auf des Rich-
ters Frage: warum haſt Du Dich Selbſt umgebracht?
als auf die: warum haſt Du Deinen Vater ſo weit
getrieben?


Leonhard.

Du ſprichſt, als ob Du die Erſte und Letzte
wärſt! Tauſende haben das vor Dir durchgemacht,
und ſie ergaben ſich darein, Tauſende werden nach
Dir in den Fall kommen und ſich in ihr Schickſal
finden: ſind die alle Nickel, daß Du Dich für Dich
allein in die Ecke ſtellen willſt? Die hatten auch
Väter, die ein Schock neue Flüche erfanden, als ſie’s
zuerſt hörten, und von Mord und Todtſchlag ſprachen;
nachher ſchämten ſie ſich, und thaten Buße für ihre
Schwüre und Gottesläſterungen, ſie ſetzten ſich hin
[97] und wiegten das Kind, oder wedelten ihm die Flie-
gen ab!


Klara.

O ich glaub’s gern, daß Du nicht begreifſt, wie
irgend Einer in der Welt ſeinen Schwur halten ſollte!


Dritte Scene.


Ein Knabe.

(tritt ein)

Da ſind Blumen! Ich ſoll nicht ſagen,
wovon.


Leonhard.

Ei, die lieben Blumen!

(ſchlägt ſich vor die Stirn)

Teufel! Teufel! Das iſt dumm! Ich hätte welche
ſchicken ſollen! Wie hilft man ſich da heraus! Auf
ſolche Dinge verſteh’ ich mich ſchlecht, und die
Kleine nimmt’s genau, ſie hat an nichts Anderes
zu denken!

(er nimmt die Blumen)

Alle behalt’ ich ſie
aber nicht!

(zu Klara)

Nicht wahr, die da bedeuten
Reue und Schaam? Haſt Du mir das nicht einmal
geſagt?


Klara. (nickt)

Hebbel’s Maria Magdalene. 7
[98]
Leonhard.

(zum Knaben)

Merk’ Dir’s, Junge, die ſind für
mich, ich ſtecke ſie an, ſiehſt Du, hier, wo das Herz
iſt! Dieſe, die dunkelrothen, die wie ein düſteres
Feuer brennen, trägſt Du zurück. Verſtehſt Du?
Wenn meine Aepfel reif ſind, kannſt Du Dich melden!


Knabe.

Das iſt noch lange hin!

(ab)

Vierte Scene.


Leonhard.

Ja, ſiehſt Du, Klara, Du ſprachſt von Wort-
halten. Eben weil ich ein Mann von Wort bin,
muß ich Dir antworten, wie ich Dir geantwortet
habe. Dir ſchrieb ich vor acht Tagen ab, Du kannſt
es nicht läugnen, der Brief liegt da.

(er reicht ihr den
Brief, ſie nimmt ihn mechaniſch)

Ich hatte Grund, Dein
Bruder — Du ſagſt, er iſt frei geſprochen, es
freut mich! In dieſen acht Tagen knüpfte ich ein
neues Verhältniß an; ich hatte das Recht dazu, denn
Du haſt nicht zur rechten Zeit gegen meinen Brief
proteſtirt, ich war frei in meinem Gefühl, wie vor
[99] dem Geſetz. Jetzt kommſt Du, aber ich habe ſchon
ein Wort gegeben und eins empfangen, ja —

(für ſich)

ich wollt’, es wär ſo — die Andere iſt ſchon mit Dir
in gleichem Fall, Du dauerſt mich,

(er ſtreicht ihr die
Locken zurück, ſie läßt es geſchehen, als ob ſie es gar nicht bemerkte)

aber Du wirſt einſehen — mit dem Bürgermeiſter
iſt nicht zu ſpaßen!


Klara.

(wie geiſtesabweſend)

Nicht zu ſpaßen!


Leonhard.

Siehſt Du, Du wirſt vernünftig! Und was
Deinen Vater betrifft, ſo kannſt Du ihm keck in’s
Geſicht ſagen, daß er allein Schuld iſt! Starre
mich nicht ſo an, ſchüttle nicht den Kopf, es iſt ſo,
Mädchen, es iſt ſo! Sag’s ihm nur, er wird’s ſchon
verſtehen und in ſich gehen, ich bürge Dir dafür!


(für ſich)

Wer die Ausſteuer ſeiner Tochter wegſchenkt,
der muß ſich nicht wundern, daß ſie ſitzen bleibt.
Wenn ich daran denke, ſo ſteift ſich mir ordentlich der
Rücken, und ich könnte wünſchen, der alte Kerl wäre
hier, um eine Lection in Empfang zu nehmen. Warum
muß ich grauſam ſein? Nur weil er ein Thor war!
7*
[100] Was auch daraus entſteht, er hat’s zu verantworten,
das iſt klar!

(zu Klara)

Oder willſt Du, daß ich ſelbſt
mit ihm rede? Dir zu Liebe will ich ein blaues
Auge wagen und zu ihm gehen! Er kann grob gegen
mich werden, er kann mir den Stiefelknecht an den
Kopf werfen, aber er wird die Wahrheit, trotz des
Bauchgrimmens, das ſie ihm verurſacht, hinunter
knirſchen und Dich in Ruhe laſſen müſſen. Verlaß’
Dich darauf! Iſt er zu Hauſe?


Klara.

(richtet ſich hoch auf)

Ich danke Dir!

(will gehen)

Leonhard.

Soll ich Dich hinüber begleiten? Ich habe den
Muth!


Klara.

Ich danke Dir, wie ich einer Schlange danken
würde, die mich umknotet hätte und mich von ſelbſt
wieder ließe und fort ſpränge, weil eine andere
Beute ſie lockte. Ich weiß, daß ich gebiſſen bin, ich
weiß, daß ſie mich nur läßt, weil es ihr nicht der
Mühe werth ſcheint, mir das Bischen Mark aus den
Gebeinen zu ſaugen, aber ich danke ihr doch, denn
[101] nun hab’ ich einen ruhigen Tod. Ja, Menſch, es
iſt kein Hohn, ich danke Dir, mir iſt, als hätt’ ich
durch Deine Bruſt bis in den Abgrund der Hölle hin-
unter geſehen, und was auch in der furchtbaren Ewig-
keit mein Loos ſey, mit Dir hab’ ich Nichts mehr
zu ſchaffen, und das iſt ein Troſt! Und wie der
Unglückliche, den ein Wurm geſtochen hat, nicht ge-
ſcholten wird, wenn er ſich in Schauder und Ekel die
Adern öffnet, damit das vergiftete Leben ſchnell aus-
ſtrömen kann, ſo wird die ewige Gnade ſich vielleicht
auch mein erbarmen, wenn ſie Dich anſieht, und mich,
was Du aus mir gemacht haſt, denn warum könnt
ich’s thun, wenn ich’s nimmer, nimmer thun dürfte?
Nur Eins noch: mein Vater weiß von Nichts, er
ahnt Nichts, und damit er nie etwas erfährt, geh’
ich noch heute aus der Welt! Könnt’ ich denken, daß
Du —

(ſie thut wild einen Schritt auf ihn zu)

Doch, das
iſt Thorheit, Dir kann’s ja nur willkommen ſeyn,
wenn ſie Alle ſtehen und die Köpfe ſchütteln und ſich
umſonſt fragen: warum das geſchehen iſt!


[102]
Leonhard.

Es kommen Fälle vor! Was ſoll man thun!
Klara!


Klara.

Fort von hier! Der Menſch kann ſprechen!

(ſie
will gehen)

Leonhard.

Meinſt Du, daß ich’s Dir glaube?


Klara.

Nein!


Leonhard.

Du kannſt Gott Lob nicht Selbſtmörderin werden,
ohne zugleich Kindes-Mörderin zu werden!


Klara.

Beides lieber, als Vater-Mörderin! O ich weiß,
daß man Sünde mit Sünde nicht büßt! Aber was
ich jetzt thu, das kommt über mich allein! Geb’
ich meinem Vater das Meſſer in die Hand, ſo trifft’s
ihn, wie mich! Mich trifft’s immer! Dies giebt
mir Muth und Kraft in all meiner Angſt! Dir
wird’s wohl gehen auf Erden!

(ab)

[103]

Fünfte Scene.


Leonhard.

(allein)

Ich muß! Ich muß ſie heirathen! Und
warum muß ich? Sie will einen verrückten Streich
begehen, um ihren Vater von einem verrückten Streich
abzuhalten; wo liegt die Nothwendigkeit, daß ich den
ihrigen durch einen noch verrückteren verhindern muß?
Ich kann ſie nicht zugeben, wenigſtens nicht eher, als
bis ich denjenigen vor mir ſehe, der mir wieder durch
den allerverrückteſten zuvorkommen will, und wenn der
eben ſo denkt, wie ich, ſo giebt’s kein Ende. Das
klingt ganz geſcheut, und doch — Ich muß ihr
nach! Da kommt Jemand! Gott ſey Dank, Nichts
iſt ſchmählicher, als ſich mit ſeinen eigenen Gedanken
abzanken müſſen! Eine Rebellion im Kopf, wo man
Wurm nach Wurm gebiert, und Einer den andern
frißt oder in den Schwanz beißt, iſt die ſchlimmſte
von allen!


Sechſte Scene.


Secretair.

(tritt ein)

Guten Abend!


[104]
Leonhard.

Herr Secretair? Was verſchafft mir die Ehre —


Secretair.

Du wirſt es gleich ſehen!


Leonhard.

Du? Wir ſind freilich Schulkameraden geweſen!


Secretair.

Und werden vielleicht auch Todeskameraden ſeyn!


(zieht Piſtolen hervor)

Verſtehſt Du damit umzugehen?


Leonhard.

Ich begreife Sie nicht!


Secretair.

(ſpannt eine)

Siehſt Du? So wird’s gemacht. Dann
zielſt Du auf mich, wie ich jetzt auf Dich, und drückſt
ab! So!


Leonhard.

Was reden Sie?


Secretair.

Einer von uns Beiden muß ſterben! Sterben!
Und das ſogleich!


Leonhard.

Sterben?


[105]
Secretair.

Du weißt, warum!


Leonhard.

Bei Gott nicht!


Secretair.

Thut Nichts, es wird Dir in der Todesſtunde
ſchon einfallen!


Leonhard.

Auch keine Ahnung —


Secretair.

Beſinne Dich! Ich könnte Dich ſonſt für einen
tollen Hund halten, der mein Liebſtes gebiſſen hat,
ohne ſelbſt etwas davon zu wiſſen, und Dich nieder-
ſchießen, wie einen ſolchen, da ich Dich doch noch
eine halbe Stunde lang für meines Gleichen gelten
laſſen muß!


Leonhard.

Sprechen Sie doch nicht ſo laut! Wenn Sie Einer
hörte —


Secretair.

Könnte mich Einer hören, Du hätteſt ihn längſt
gerufen! Nun?


[106]
Leonhard.

Wenn’s des Mädchens wegen iſt, ich kann ſie ja
heirathen! Dazu war ich ſchon halb und halb ent-
ſchloſſen, als ſie ſelbſt hier war!


Secretair.

Sie war hier, und ſie iſt wieder gegangen, ohne
Dich in Reue und Zerknirſchung zu ihren Füßen ge-
ſehen zu haben? Komm! Komm!


Leonhard.

Ich bitte Sie — Sie ſehen einen Menſchen vor
ſich, der zu Allem bereit iſt, was Sie vorſchreiben!
Noch heut Abend verlobe ich mich mit ihr!


Secretair.

Das thu’ ich, oder Keiner. Und wenn die Welt
daran hinge, nicht den Saum ihres Kleides ſollſt Du
wieder berühren! Komm! In den Wald mit mir!
Aber wohl gemerkt, ich faß’ Dich unter den Arm,
und wenn Du unterwegs nur einen Laut von Dir
giebſt, ſo —

(er erhebt eine Piſtole)

Du wirſt mir’s
glauben! Ohnehin nehmen wir, damit Du nicht in
Verſuchung kommſt, den Weg hinten zum Hauſe hin-
aus durch die Gärten!


[107]
Leonhard.

Eine iſt für mich — geben Sie mir die.


Secretar.

Damit Du ſie wegwerfen, und mich zwingen kannſt,
Dich zu morden, oder Dich laufen zu laſſen, nicht
wahr? Geduld, bis wir am Platz ſind, dann theil’
ich ehrlich mit Dir!


Leonhard.

(geht und ſtößt aus Verſehen ſein Trinkglas vom Tiſch)

Soll ich nicht wieder trinken?


Secretair.

Courage, mein Junge, vielleicht geht’s gut, Gott
und Teufel ſcheinen ſich ja beſtändig um die Welt zu
ſchlagen, wer weiß denn, wer gerade Herr iſt!

(faßt
ihn unter den Arm, Beide ab)

Zimmer im Hauſe des Tiſchlers. Abend.

Siebente Scene.


Karl.

(tritt ein)

Kein Menſch daheim! Wüßt’ ich das
Rattenloch unter der Thürſchwelle nicht, wo ſie den
Schlüſſel zu verbergen pflegen, wenn ſie Alle davon
[108] gehen, ich hätte nicht hinein können. Nun, das hätte
Nichts gemacht! Ich könnte jetzt zwanzig Mal um
die Stadt laufen und mir einbilden, es gäbe kein
größeres Vergnügen auf der Welt, als die Beine zu
brauchen. Wir wollen Licht anzünden!

(er thuts)

Das Feuerzeug iſt noch auf dem alten Platz, ich
wette, denn wir haben hier im Hauſe zwei Mal zehn
Gebote. Der Hut gehört auf den dritten Nagel,
nicht auf den vierten! Um halb zehn Uhr muß
man müde ſeyn! Vor Martini darf man nicht
frieren, nach Martini nicht ſchwitzen! Das ſteht in
einer Reihe mit: Du ſollſt Gott fürchten und lieben!
Ich bin durſtig!

(ruft)

Mutter! Pfui! Als ob ich’s
vergeſſen hätte, daß ſie da liegt, wo auch des Bier-
wirths Knecht ſein Nußknackermaul nicht mehr mit
einem Ja Herr! aufzureißen braucht, wenn er gerufen
wird! Ich habe nicht geweint, als ich die Todten-
glocke in meinem finſtern Thurmloch hörte, aber —
Rothrock, Du haſt mich auf der Kegelbahn nicht den
letzten Wurf thun laſſen, obgleich ich die Boßel ſchon
in der Hand hielt, ich laſſe Dir nicht zum letzten
Athemzug Zeit, wenn ich Dich allein treffe, und das
kann heut Abend noch geſchehen, ich weiß, wo Du
[109] um zehn zu finden biſt. Nachher zu Schiff! Wo
die Klara bleibt! Ich bin eben ſo hungrig, als dur-
ſtig! Heut iſt Donnerstag, ſie haben Kalbfleiſch-
Suppe gegeſſen. Wär’s Winter, ſo hätt’s Kohl ge-
geben, vor Faſtnacht weißen, nach Faſtnacht grünen!
Das ſteht ſo feſt, als daß der Donnerstag wieder
kehren muß, wenn der Mittwoch da geweſen iſt, daß
er nicht zum Freitag ſagen kann: geh’ Du für mich,
ich habe wunde Füße!


Achte Scene.


Klara. (tritt ein)

Karl.

Endlich? Du ſollteſt auch nur nicht ſo viel küſ-
ſen! Wo ſich vier rothe Lippen zuſammen backen,
da iſt dem Teufel eine Brücke gebaut! Was haſt
Du da?


Klara.

Wo? Was?


Karl.

Wo? Was? In der Hand!


Klara.

Nichts!


[110]
Karl.

Nichts? Sind das Geheimniſſe?

(er entreißt ihr
Leonhards Brief)

Her damit! Wenn der Vater nicht
da iſt, ſo iſt der Bruder Vormund!


Klara.

Den Fetzen hab’ ich feſt gehalten, und doch geht
der Abendwind ſo ſtark, daß er die Ziegel von den
Dächern wirft! Als ich an der Kirche vorbei ging,
fiel einer dicht vor mir nieder, ſo daß ich mir den
Fuß daran zerſtieß. O Gott, dacht’ ich, noch einen!
und ſtand ſtill! Das wäre ſo ſchön geweſen, man
hätte mich begraben und geſagt: ſie hat ein Unglück
gehabt! Ich hoffte umſonſt auf den zweiten!


Karl.

(der den Brief geleſen hat)

Donner und — Kerl, den
Arm, der das ſchrieb, ſchlag’ ich Dir lahm! Hol’
mir eine Flaſche Wein! Oder iſt Deine Spaarbüchſe
leer?


Klara.

Es iſt noch eine im Hauſe. Ich hatte ſie heim-
lich für den Geburtstag der Mutter gekauft und bei
Seite geſtellt. Morgen wäre der Tag —

(ſie wendet ſich)

[111]
Karl.

Gieb ſie her!


Klara. (bringt den Wein)

Karl.

(trinkt haſtig)

Nun könnten wir denn wieder anfan-
gen. Hobeln, Sägen, Hämmern, dazwiſchen Eſſen,
Trinken und Schlafen, damit wir immer fort hobeln,
ſägen und hämmern können, Sonntags ein Kniefall
obendrein: ich danke Dir, Herr, daß ich hobeln, ſägen
und hämmern darf!

(trinkt)

Es lebe jeder brave Hund,
der an der Kette nicht um ſich beißt!

(er trinkt wieder)

Und noch einmal: er lebe!


Klara.

Karl, trink’ nicht ſo viel! Der Vater ſagt, im
Wein ſitzt der Teufel!


Karl.

Und der Prieſter ſagt, im Wein ſitzt der liebe
Gott.

(er trinkt)

Wir wollen ſehen, wer recht hat!
Der Gerichtsdiener iſt hier im Hauſe geweſen —
wie betrug er ſich?


Klara.

Wie in einer Diebsherberge. Die Mutter [f]iel um
und war todt, ſobald er nur den Mund aufgethan hatte!


[112]
Karl.

Gut! Wenn Du morgen früh hörſt, daß der Kerl
erſchlagen gefunden worden iſt, ſo fluche nicht auf den
Mörder!


Klara.

Karl, Du wirſt doch nicht —


Karl.

Bin ich ſein einziger Feind? Hat man ihn nicht
ſchon oft angefallen? Es dürfte ſchwer halten, aus
ſo Vielen, denen das Stück zuzutrauen wäre, den
rechten heraus zu finden, wenn dieſer nur nicht Stock
oder Hut auf dem Platz zurückläßt.

(er trinkt)

Wer es
auch ſey: auf gutes Gelingen!


Klara.

Bruder, Du redeſt —


Karl.

Gefällt’s Dir nicht? Laß’ gut ſein! Du wirſt
mich nicht lange mehr ſehen!


Klara.

(zuſammen ſchaudernd)

Nein!


Karl.

Nein? Weißt Du’s ſchon, daß ich zur See will?
[113] Kriechen mir die Gedanken auf der Stirn herum, daß
Du ſie leſen kannſt? Oder hat der Alte nach ſeiner
Art gewüthet, und gedroht, mir das Haus zu ver-
ſchließen? Pah! Das wär’ nicht viel anders, als
wenn der Gefängnißknecht mir zugeſchworen hätte:
Du ſollſt nicht länger im Gefängniß ſitzen, ich ſtoße
Dich hinaus in’s Freie!


Klara.

Du verſtehſt mich nicht!


Karl.

(ſingt)
Dort bläht ein Schiff die Segel,

Friſch ſauſ’t hinein der Wind!

Ja, wahrhaftig, jetzt hält mich Nichts mehr an
der Hobelbank feſt! Die Mutter iſt todt, es giebt
Keine mehr, die nach jedem Sturm aufhören würde,
Fiſche zu eſſen, und von Jugend auf war’s mein Wunſch.
Hinaus! Hier gedeih’ ich nicht, oder erſt dann, wenn
ich’s gewiß weiß, daß das Glück dem Muthigen, der
ſein Leben auf’s Spiel ſetzt, der ihm den Kupfer-
Dreier, den er aus dem großen Schatz empfangen hat,
wieder hinwirft, um zu ſehen, ob es ihn einſteckt,
oder ihn vergoldet zurück giebt, nicht mehr günſtig iſt.


Hebbel’s Maria Magdalene. 8
[114]
Klara.

Und Du willſt den Vater allein laſſen? Er iſt
ſechszig Jahr!


Karl.

Allein? Bleibſt Du ihm nicht?


Klara.

Ich?


Karl.

Du! Sein Schooßkind! Was wächſt Dir für
Unkraut im Kopf, daß Du fragſt! Seine Freude
laß’ ich ihm, und von ſeinem ewigen Verdruß wird
er befreit, wenn ich gehe, warum ſollt’ ich’s denn
nicht thun? Wir paſſen ein für alle Mal nicht zu-
ſammen, er kann’s nicht eng genug um ſich haben,
er mögte ſeine Fauſt zumachen und hinein kriechen,
ich mögte meine Haut abſtreifen, wie den Kleinkinder-
rock, wenn’s nur ginge!

(ſingt)

Der Anker wird gelichtet,

Das Steuer flugs gerichtet,

Nun fliegt’s hinaus geſchwind!

Sag’ ſelbſt, hat er auch nur einen Augenblick an
meiner Schuld gezweifelt? Und hat er in ſeinem
[115] überklugen: Das hab’ ich erwartet! Das hab’ ich
immer gedacht! Das konnte nicht anders enden!
nicht den gewöhnlichen Troſt gefunden? Wärſt Du’s
geweſen, er hätte ſich umgebracht! Ich mögt’ ihn
ſehen, wenn Du ein Weiber Schickſal hätteſt! Es
würde ihm ſein, als ob er ſelbſt in die Wochen kom-
men ſollte! Und mit dem Teufel dazu!


Klara.

O, wie das an mein Herz greift! Ja, ich muß
fort, fort!


Karl.

Was ſoll das heißen?


Klara.

Ich muß in die Küche — was wohl ſonſt?

(faßt
ſich an die Stirn)

Ja! Das noch! Darum allein ging
ich ja noch wieder zu Hauſe!

(ab)

Karl.

Die kommt mir ganz ſonderbar vor!

(ſingt)

Ein kühner Waſſervogel

Kreiſ’t grüßend um den Maſt!

Klara.

(tritt wieder ein)

Das Letzte iſt gethan, des Vaters
8*
[116] Abendtrank ſteht am Feuer. Als ich die Küchenthür
hinter mir anzog, und ich dachte: Du trittſt nun nie
wieder hinein! ging mir ein Schauer durch die Seele.
So werd’ ich auch aus dieſer Stube gehen, ſo aus
dem Hauſe, ſo aus der Welt!


Karl.

(ſingt, er geht immer auf und ab, Klara hält ſich im Hintergrund)

Die Sonne brennt herunter,

Manch Fiſchlein, blank und munter,

Umgaukelt keck den Gaſt!

Klara.

Warum thu’ ich’s denn nicht? Werd’ ich’s nim-
mer thun? Werd’ ich’s von Tag zu Tag aufſchieben,
wie jetzt von Minute zu Minute, bis — Gewiß!
Darum Fort! — Fort! Und doch bleib’ ich ſtehen!
Iſt’s mir nicht, als ob’s in meinem Schooß bittend
Hände aufhöbe, als ob Augen —

(ſie ſetzt ſich auf einen
Stuhl)

Was ſoll das? Biſt Du zu ſchwach dazu?
So frag’ Dich, ob Du ſtark genug biſt, Deinen Va-
ter mit abgeſchnittener Kehle —

(ſie ſteht auf)

Nein!
Nein! — Vater unſer, der Du biſt im Himmel —
Geheiliget werde Dein Reich — Gott, Gott, mein
[117] armer Kopf — ich kann nicht einmal beten — Bru-
der! Bruder! — Hilf mir —


Karl

Was haſt Du?


Klara.

Das Vaterunſer!

(ſie beſinnt ſich)

Mir war, als
ob ich ſchon im Waſſer läge, und unterſänke, und hätte
noch nicht gebetet! Ich —

(plötzlich)

Vergieb uns
unſere Schuld, wie wir vergeben unſern Schuldigern!
Da iſt’s! Ja! Ja! ich vergeb’ ihm gewiß, ich denke
ja nicht mehr an ihn! Gute Nacht, Karl!


Karl.

Willſt Du ſchon ſo früh ſchlafen gehen? Gute
Nacht!


Klara.

(wie ein Kind, das ſich das Vaterunſer überhört)

Vergieb
uns —


Karl.

Ein Glas Waſſer könnteſt Du mir noch bringen,
aber es muß recht friſch ſeyn!


Klara.

(ſchnell)

Ich will es Dir vom Brunnen holen!


[118]
Karl.

Nun, wenn Du willſt, es iſt ja nicht weit!


Klara.

Dank! Dank! Das war das Letzte, was mich
noch drückte! Die That ſelbſt mußte mich verrathen!
Nun werden ſie doch ſagen: ſie hat ein Unglück ge-
habt! Sie iſt hinein geſtürzt!


Karl.

Nimm Dich aber in Acht, das Brett iſt wohl
noch immer nicht wieder vorgenagelt!


Klara.

Es iſt ja Mondſchein! — O Gott, ich komme
nur, weil ſonſt mein Vater käme! Vergieb mir, wie
ich — Sey mir gnädig — gnädig —

(ab)

Neunte Scene.


Karl.

(ſingt)
Wär gern hinein geſprungen,

Da draußen iſt mein Reich!

Ja! aber vorher —

(er ſieht nach der Uhr)

Wie viel
iſts? Neun!


Ich bin ja jung von Jahren,

Da iſt’s mir nur um’s Fahren,

Wohin? Das gilt mir gleich!

[119]

Zehnte Scene.


Meiſter Anton.

(tritt ein)

Dir hätt’ ich etwas abzubitten, aber
wenn ich’s Dir verzeihe, daß Du heimlich Schulden
gemacht haſt, und ſie noch obendrein für Dich bezahle,
ſo werd’ ich’s mir erſparen dürfen!


Karl.

Das Eine iſt gut, das Andere iſt nicht nöthig,
wenn ich meine Sonntags-Kleider verkaufe, kann ich
die Leute, die ein Paar Thaler von mir zu fordern
haben, ſelbſt befriedigen, und das werd’ ich gleich
morgen thun, als Matroſe,

(für ſich)

da iſt’s heraus!


(laut)

brauch ich ſie nicht mehr!


Meiſter Anton.

Was ſind das wieder für Reden!


Karl.

Er hört ſie nicht zum erſten Mal, aber Er mag
mir heute darauf antworten, was Er will, mein Ent-
ſchluß ſteht feſt!


Meiſter Anton.

Mündig biſt Du, es iſt wahr!


[120]
Karl.

Eben weil ich’s bin, trotz’ ich nicht darauf. Aber
ich denke, Fiſch und Vogel ſollten ſich nicht darüber
ſtreiten, ob’s in der Luft oder im Waſſer am beſten
iſt. Nur Eins. Er ſieht mich entweder nie wieder,
oder Er wird mich auf die Schulter klopfen und
ſagen: Du haſt recht gethan!


Meiſter Anton.

Wir wollen’s abwarten. Ich brauche den Ge-
ſellen, den ich für Dich eingeſtellt habe, nicht wieder
abzulohnen, was iſt’s denn weiter?


Karl.

Ich dank’ Ihm!


Meiſter Anton.

Sag’ mir, hat der Gerichts-Diener, ſtatt Dich
auf dem kürzeſten Weg zum Bürgermeiſter zu führen,
Dich wirklich durch die ganze Stadt —


Karl.

Straß’ auf, Straß’ ab, über den Markt, wie den
Faſtnachts-Ochſen, aber zweifle Er nicht, auch den
werd’ ich bezahlen, eh’ ich gehe!


[121]
Meiſter Anton.

Das tadle ich nicht, aber ich verbiet’ es Dir!


Karl.

Ho!


Meiſter Anton.

Ich werde Dich nicht aus den Augen laſſen, und
ich ſelbſt, ich würde dem Kerl beiſpringen, wenn Du
Dich an ihm vergreifen wollteſt!


Karl.

Ich meinte, Er hätte die Mutter auch lieb
gehabt.


Meiſter Anton.

Ich werd’s beweiſen.


Elfte Scene.


Der Secretair.

(tritt bleich und wankend herein, er drückt ein Tuch gegen
die Bruſt)

Wo iſt Klara?

(er fällt auf einen Stuhl zurück)

Jeſus! Guten Abend! Gott ſey Dank, daß ich
noch her kam! Wo iſt ſie?


Karl.

Sie ging zum — Wo bleibt ſie? Ihre Reden —
mir wird angſt!

(ab)

[122]
Secretair.

Sie iſt gerächt — Der Bube liegt — Aber auch
ich bin — Warum das, Gott? — Nun kann ich ſie
ja nicht —


Meiſter Anton.

Was hat Er? Was iſt mit ihm?


Secretair.

Es iſt gleich aus! Geb’ Er mir die Hand darauf,
daß Er Seine Tochter nicht verſtoßen will — Hört
Er, nicht verſtoßen, wenn ſie —


Meiſter Anton.

Das iſt eine wunderliche Rede. Warum ſollt’
ich ſie denn — Ha, mir gehen die Augen auf! Hätt’
ich ihr nicht unrecht gethan?


Secretair.

Geb’ er mir die Hand!


Meiſter Anton.

Nein!

(ſteckt beide Hände in die Taſche)

Aber ich
werde ihr Platz machen, und ſie weiß das, ich hab’s
ihr geſagt!


[123]
Secretair.

(entſetzt)

Er hat ihr — Unglückliche, jetzt erſt ver-
ſteh’ ich Dich ganz!


Karl.

(ſtürzt haſtig herein)

Vater, Vater, es liegt Jemand
im Brunnen! Wenn’s nur nicht —


Meiſter Anton.

Die große Leiter her! Haken! Stricke! Was
ſäumſt Du? Schnell! Und ob’s der Gerichtsdiener
wäre!


Karl.

Alles iſt ſchon da. Die Nachbarn kamen vor
mir. Wenn’s nur nicht Klara iſt!


Meiſter Anton.

Klara?

(er hält ſich an einem Tiſch)

Karl.

Sie ging, um Waſſer zu ſchöpfen und man fand
ihr Tuch.


Secretair.

Bube, nun weiß ich, warum Deine Kugel traf.
Sie iſt’s.


[124]
Meiſter Anton.

Sieh’ doch zu!

(ſetzt ſich nieder)

Ich kann nicht!


(Karl ab)

Und doch!

(ſteht wieder auf)

Wenn ich Ihn


(zum Secretair)

recht verſtanden habe, ſo iſt Alles
gut.


Karl.

(kommt zurück)

Klara! Todt! Der Kopf gräß-
lich am Brunnenrand zerſchmettert, als ſie — Vater
ſie iſt nicht hinein geſtürzt, ſie iſt hinein geſprun-
gen
, eine Magd hat’s geſehen!


Meiſter Anton.

Die ſoll ſich’s überlegen, eh’ ſie ſpricht! Es iſt
nicht hell genug, daß ſie das mit Beſtimmtheit hat
unterſcheiden können!


Secretair.

Zweifelt Er? Er mögte wohl, aber Er kann
nicht! Denk’ Er nur an das, was Er ihr geſagt
hat! Er hat ſie auf den Weg des Todes hinaus
gewieſen, ich, ich bin Schuld, daß ſie nicht wieder
umgekehrt iſt. Er dachte, als er ihren Jam-
mer ahnte, an die Zungen, die hinter ihm her-
ziſcheln würden, aber nicht an die Nichtswürdigkeit
[125] der Schlangen, denen ſie angehören, da ſprach
er ein Wort aus, das ſie zur Verzweiflung trieb;
ich, ſtatt ſie, als ihr Herz in namenloſer Angſt vor
mir aufſprang, in meine Arme zu ſchließen, dachte
an den Buben, der dazu ein Geſicht ziehen könnte,
und — nun, ich bezahl’s mit dem Leben, daß ich
mich von Einem, der ſchlechter war, als ich, ſo
abhängig machte, und auch Er, ſo eiſern er daſteht,
auch Er wird noch einmal ſprechen: Tochter, ich
wollte doch, Du hätteſt mir das Kopfſchütteln und
Achſelzucken der Phariſäer um mich her nicht erſpart, es
beugt mich doch tiefer, daß Du nun nicht an meinem
Sterbebett ſitzen und mir den Angſtſchweiß abtrocknen
kannſt!


Meiſter Anton.

Sie hat mir Nichts erſpart — man hat’s ge-
ſehen!


Secretair.

Sie hat gethan, was ſie konnte — Er war’s
nicht werth, daß ihre That gelang
!


Meiſter Anton.

Oder ſie nicht!


(Tumult draußen.)

[126]
Karl.

Sie kommen mit ihr —

(will ab)

Meiſter Anton.

(feſt, wie bis zu Ende, ruft ihm nach:)

In die Hinter-
ſtube, wo die Mutter ſtand!


Secretair.

Ihr entgegen!

(will aufſtehen, fällt aber zurück)

O!
Karl!


Karl.

(hilft ihm auf und führt ihn ab.)

Meiſter Anton.

Ich verſtehe die Welt nicht mehr!


(er bleibt ſinnend ſtehen)

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Appendix A

H. G. Voigt’s Buchdruckerei.


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CC-BY-4.0
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Hebbel, Friedrich. Maria Magdalene. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bht5.0