Critiſcher, Poetiſcher,
und andrer geiſtvollen
Schriften,
Zur Verbeſſerung
des Urtheils und des Wizes
in den Wercken
der Wolredenheit und der Poeſie.
Bey Conrad Orell und Comp.1741.
Von dem
Vorhaben und dem Endzwecke
dieſer
Sammlung.
DJe critiſchen Abhandlungen, welche
ſeit zwanzig Jahren, und vornehm-
lich im lezt vergangenen 1741ſten Jahr
von etlichen bekannten Kunſtrichtern dieſer
Stadt nach Schleſien und Sachſen, als das
Vaterland der deutſchen Muſen, geſchikt wor-
den, ſind daſelbſt nicht von jedermann mit
Abneigung Verachtung und Verdruſſe gele-
ſen worden. Etliche wenige abſonderliche
Perſonen haben mehr davon gehalten, als der
groſſe Haufen der Leſer. Sie haben zu ver-
ſtehen gegeben, daß ſie ſich fuͤr ſich ſelber, fuͤr
ihre Vaͤter, und das Vaterland ſchaͤmten,
)( 2daß
[] daß man bisher an ſchlechtem und verworre-
nem Zeuge, was Poeſie und Wohlredenheit
anlanget, mehr Geſchmakes gefunden, als
an dem Guten und Vortrefflichen, das man
in den Schriften Opizens, Hallers, und ihres
gleichen noch aufweiſen kan. Sie haben ſich
gefuͤrchtet, daß man ſie unter dem gemeinen
Haufen der deutſchen Leſer uͤberſehen, und mit
ihnen fuͤr gleich ſchuldig halten moͤgte; ſie
haben in den Urtheilen dieſer kunſtverſtaͤndi-
gen Schweizer nicht willkuͤrliche Ausſpruͤche,
ſondern die Stimme der Vernunft, die aus
der natuͤrlichen Empfindung und der nothwen-
digen Uebereinſtimmung der Vorſtellungen mit
dem menſchlichen Gemuͤthe redet, wahrgenom-
men und erkannt, und es hat ihnen oͤfters ge-
ſchienen, ſie erinnerten ſich der Wahrheiten
nur, die ſie von ihnen hoͤreten.
Jch habe Briefe von beruͤhmten iztlebenden
Maͤnnern geleſen, worinnen ſie ſich mit der
hoͤchſten Sorgfalt uͤber dieſen Punct erklaͤrt
haben. Einer von ihnen hat es mit dieſen
Worten gethan:
„Jch bitte von dem Leip-
„ziger-Geſchmak nicht zu urtheilen nach de-
„nen vielen ſchlechten Stuͤken, die hier her-
„auskommen. Sie ſind nirgend mehr ver-
„achtet, als ſelbſt in Leipzig, aber die Licenz
„iſt zu groß.„
Ein andrer, der ſelbſt ein
geſchikter Poet iſt, hat ſchon in 1724. die
aus-
[] ausdruͤkliche Klage daruͤber gefuͤhrt:
„Wa-
„rum ſind wir ſo ungluͤklich, daß die Zuͤr-
„chiſchen Kunſtrichter, ungeachtet ſie ihre
„Zuſammenkuͤnfte fortſezen, uns dennoch ih-
„re Arbeit mißgoͤnnt? Halten ſie uns alle
„fuͤr …? Oder glauben ſie wohl gar, daß
„wir alle von dem Geſchmake des … ſeyn?
„Wir haben beſſere Kenner in Leipzig, und
„darunter einige ſo aufgewekte Koͤpfe, und
„zugleich Grundgelehrte Leute ꝛc. ‒ ‒ ‒„
Jn einem andern Briefe entſchuldiget eben
dieſer die geringe Anzahl der Kenner gu-
ter Schriften auf eine ſcharfſinnige Weiſe:
„R … allein, ſagt er, kan vor eine gan-
„ze Menge dienen, denn er ſchreibt ſehr ſinn-
„reich, natuͤrlich und wohlflieſſend, und
„wenn man je hin und wieder einige Wort-
„ſpiele, oder etwas zu hochſteigendes bey
„ihm antrifft, ſo iſt es weniger dem Man-
„gel an gutem Geſchmak, als der Thorheit
„des gelehrten Poͤfels daſelbſt zuzuſchreiben,
„dem zu gefallen er dergleichen einflieſſen laſ-
„ſen muß, weil ſolche Leute ſonſt glauben,
„man koͤnne nicht ſcharfſinnig, oder, wie ſie
„ſagen, hoch ſchreiben, ſo bald ſie verſte-
„hen, was ſie leſen; da er doch ſonſt alle-
„zeit wieder die ſchwuͤlſtige hochtrabende
„Schreibart geſtritten, und in allen derglei-
)( 3„chen
[] „chen Meinungen ſich beſtaͤndig auf meine
„Seite geſchlagen.„
Wir haben hier zugleich eine Urſache, wa-
rum Maͤnner von geſundem Geſchmake, die
ſo reine Begriffe von ihrer Kunſt haben, den-
noch oͤfters derſelben zuwieder nach dem Ge-
ſchmake des Poͤfels ſchreiben.
Sie haben das Herz nicht, den Vorurthei-
len des vornehmen Poͤfels entgegen zu han-
deln, und der Meinung, welche den Schwang
nicht hat, beyzufallen. Ob ſie noch etwa
die Kuͤhnheit haben, die Augen aufzuthun,
und ſelbſt zu ſehen, ſo folgen ſie doch nicht
dem Beſſern, das ſie einſehen, ſondern dem
Sch immern; und mancher haͤlt es ſich vor
eine Schande
Imberbes didicere ſenes perdenda fateri.’
Darum hat Herr Weichmann ohne Zweifel
die allzuharten und ſchwuͤlſtigen Metaphoren,
die laͤppiſchen Wortſpiele und dergleichen Zeug,
mehrentheils freywillige Schwachheiten des
Verſtandes geheiſſen. Damit hat er zwar vor-
gehabt, die Scribenten, die dergleichen haben,
zu beſchoͤnigen, aber ſie nur ſtrafwuͤrdiger ge-
macht, gleichwie die Suͤnden, die mit Wiſ-
ſen und Vorſaz gethan werden, die ſchwerern
ſind.
Noch
[]
Noch einer von meinen Freunden, der zu
unſren Nachkindern eine ſo gute Hoffnung
traͤgt, als er von den gegenwaͤrtigen Zeiten
uͤbel denket, meinet, es werde denſelben eben
ſo unwahrſcheinlich vorkommen, daß ehmahls
gewiſſe theils waſſerſuͤchtige theils windduͤrre
Scribenten die Herrſchaft uͤber den Geſchmak
gefuͤhret haben, als es izo dem gemeinen
Schwarm unglaublich vorkoͤmmt, daß etliche
wenige Privatperſonen ſich wider das, was
allen, wie ſie ſagen, gefaͤllt, auflehnen duͤrf-
fen.
„Es moͤgte noch zu glauben ſeyn, ſagt
„er, daß um den Unterhalt und das Gluͤk
„bemuͤhete Leute, oder Lehrlinge, die der
„Ruthe nur erſt entronnen ſind, vornehmen
„Stuͤmpern und gefuͤrchteten Orbilen, bey-
„ſtimmeten, welche, uns zur Straffe, mit
„dem Wahnwiz geſchlagen worden, daß ſie
„ohne Geiſt und Gelahrtheit Poeten und
„Redner heiſſen wollen; aber daß ſo viele
„geſchikte Koͤpfe von Adel, von Stands-
„perſonen, von Maͤnnern, die in ihrem
„Ruhme und Gluͤke feſt ſtehen, ſolches nicht
„nur eine ſo lange Zeit ungeantet gelitten,
„ſondern ihnen noch mit ihrem Zujauchzen
„geheuchelt haben, meint er, waͤre eine Ge-
„faͤlligkeit, eine Hoͤflichkeit, die eben ſo wi-
„derſinnig ſey, als ſie ſchaͤdlich und ungerecht
„iſt. Kein Wunder, ſchließt er, wenn die
)( 4„Aus-
[] „Auslaͤnder daher Anlaß nehmen, ſo gar
„nachtheilige Meinungen von dem Geſchma-
„ke und dem Wize der Deutſchen uͤberhaupt
„zu faſſen, wie neulich der Autor der Briefe
„uͤber die Franzoſen und Deutſchen mit einem
„triumphierenden Thone an den Tag gegeben,
„und dem geſammten geiſtreichen Deutſch-
„land Hohn geſprochen hat.„
Die Hoͤflich-
keit iſt fuͤrwahr liebenswerth, ſie macht die
Wahrheit angenehm, und verſuͤſſet das Bit-
tere, ſo die Vorruͤkung unſrer geringern Ein-
ſicht mit ſich fuͤhrt; aber ſie wird zu einer nie-
dertraͤchtigen Unbilligkeit, wenn ſie die beſſere
Wiſſenſchaft in hoher Wuͤrde ſtehnden Schmie-
rern aufopfert: es iſt eine verraͤtheriſche Zag-
heit, die Wahrheit, die man erkennet, zu
verleugnen, zumahl wenn es weder das Gluͤk
noch den Kopf gilt. Fuͤrchtet man, daß es
den Ruhm koſten moͤgte, als der in der Ge-
walt derjenigen ſtehe, welche izo Beyfall und
Anſehen haben, und die uͤber die Preſſen,
uͤber die Buchhaͤndler, und die gelehrten Mo-
natſchriften meiſter ſind, ſo ſezt man zu viel
Mißtrauen in das Vermoͤgen der Geſchicklich-
keit, die ſich bloß mit ihrer eignen Staͤrke oh-
ne die Huͤlfe mechaniſcher Triebraͤder zu erhal-
ten vermag. Jndem man auf dieſe Weiſe
das Lob derer, mit welchen man umgehet,
zu unbedachtſam ſuchet, verſcherzt man den
Bey-
[] Beyfall der izo noch nicht gebohrnen Welt,
man zieht das hinfaͤllige Lob, das man bey Le-
ben genieſſet, dem beſtaͤndigen vor, das man
ſich erſt nach dem Tod erwerben koͤnnte; oder
vielmehr, man will lieber mit elendem Zeuge,
das izo gefaͤllt, ein eiteles Lob bey den meh-
rern erhalten, als ſich mit einem gegruͤndeten
Lob etlicher weniger begnuͤgen, die keine Zahl
ausmachen. Ein Lob, das wenn es gleich
von den Scribenten ihrer Nation auf den hoͤch-
ſten Gipfel der Schmeicheley erhoben wird,
von den mittelmaͤſſigen Schriftſtellern andrer
Nationen ihnen unter Augen auf die ſpoͤttlichſte
Weiſe vernichtet wird!
Dieſes iſt mithin eine Haupt-Urſache, daß
die aufrichtige und eben ſo großmuͤthige als bil-
lige Critick nicht ſo ſtarke Schritte zu ihrer
Vollkommenheit thut, als ohnedieß geſchehen
wuͤrde. Die ſchaͤdlichen Bemuͤhungen derje-
nigen, welche ihr allzu helles Licht ſcheuen,
mittelſt tauſend Kunſtſtreiche, hoͤniſcher Aus-
legungen, dreiſter Ausſpruͤche, poͤfelhafter
Schimpfreden, falſcher Auszuͤge, gelehrter Zu-
ſammenſchwoͤrungen, den freyen Durchbruch
critiſcher Schriften zu hemmen, behalten um
ſo viel leichter die Oberhand, und ihre Par-
tey iſt noch immer an der Anzahl, wie die Ge-
genpartey nur am Gewichte, uͤberlegen.
)( 5Wenn
[]
Wenn man denn wenigſtens Mittel und
Wege erfinden koͤnnte, den verderbten Wil-
len in beſagten Stuͤken zu verbeſſern, die zag-
hafte Furcht aus dem Wege zu raͤumen, die
Liebe zu dem Wahren anzuflammen, und die
Großmuth zu deſſen Verfechtung in die Her-
zen zu pflanzen, ſo wuͤrde der Geſchmak, wenn
der Verſtand mit Freyheit wuͤrkete, bald fei-
ner und allgemeiner werden. Wir wuͤrden
nicht ganze Jahrhunderte noͤthig haben, den-
ſelben bey uns auf den gewuͤnſchten Gipfel der
Verbeſſerung zu erheben. Man hat eine ſo
lange Zeit zu dieſem Werke in der erſten Vor-
rede zu den critiſchen Beytraͤgen in Leipzig ge-
fodert. Es heißt daſelbſt:
„Daß mehr als
„ein Jahrhundert dazu gehoͤre, wenn ein
„ganzes Volk aus ſeiner natuͤrlichen Rauhig-
„keit geriſſen werden ſoll. Opiz, der einen
„ganz andern Geſchmak bey den Deutſchen
„eingefuͤhrt, ſey noch nicht hundert Jahre
„todt, und wir ſeyn mit der Ausfuͤhrung ei-
„nes ſo groſſen Werckes, als die Verbeſſe-
„rung des Geſchmakes der Deutſchen iſt,
„kaum bis auf die Helfte gekommen.„
Was
vor eine Langſamkeit ſchreibt man hier den Deut-
ſchen zu, nicht ohne eine heimliche Beſchuldi-
gung einer ziemlichen Plumpheit? Laſſet uns
ein beſſeres Vertrauen zu der Geiſtes- und
Verſtandes-Fertigkeit unſrer Landsleute ha-
ben.
[] ben. Warum ſolten wir ſo viel Jahre zubrin-
gen, den Geſchmak zu ſuchen, der doch ſchon
gefunden iſt? Die Betrachtungen der Schrif-
ten der vortrefflichen auslaͤndiſchen Scribenten
ſowohl der alten als der neuen, wohluͤberlegte
Anmerckungen daruͤber, wovon ſie ſelbſt ſchon
gruͤndliche Lehrbuͤcher geſchrieben haben, leh-
ren uns viele Sachen, auf welche das eigne
Erfinden den fertigſten Geiſt ſehr langſam und
ſptaͤh gefuͤhrt haͤtte; man kan ſich in einem
Tage derer Kunſt- und Handgriffe bemaͤchti-
gen, welche den Erfindern viele Jahre Arbeit
und Nachſuchen gekoſtet haben. Wir wollen
darum der Hoffnung, dieſe allgemeine Verbeſ-
ſerung zum Stande gebracht zu ſehen, kein
ſolch entferntes Ziel ſezen, das weit uͤber un-
ſer Leben hinausreichet. Statt die Gemuͤ-
ther durch dergleichen zaghafte Ausrechnungen
niederzuſchlagen, wollen wir vielmehr unſer
Beſtes thun, und denn andern uͤberlaſſen nach-
zuſehen, wie weit wir es gebracht haben.
Jn dieſer Gemuͤthesverfaſſung iſt man auf
das Vorhaben gefallen, unter dem Titel ei-
ner eritiſch-poetiſchen Sammlung ein Werk
anzufangen, in welchem den Scribenten, die
zu unſren Zeiten mit Poeſie, Wohlredenheit,
Critick, Sprachlehre, umgehen, Lob und Ta-
del nach Verdienen zugetheilet wuͤrde; worin-
nen die Urtheile nicht auf die veraͤnderlichen
Em-
[] Empfindungen, die von Vorurtheilen regiert,
und von Gunſt, Furcht, Haß, angeſchuͤret
werden, ſondern auf die beſtaͤndig gleiche Na-
tur des Menſchen, und derſelben Verhaͤltniß
mit den vorgeſtellten Gegenſtaͤnden geſezet waͤ-
ren; wo man ein abſonderliches Auge auf die
ſchlimmen Kunſtgriffe richtete, die angewendet
werden, die Vorurtheile, woraus der elende
Geſchmack entſteht, bey Kraͤften zu erhalten,
und mittelſt derſelben das Monopolium in der
Poeſie und Wohlredenheit fortzufuͤhren. Die
Schweiz iſt zu dergleichen Vorhaben vor an-
dern Laͤndern bequem. Die Freyheit, die
daſelbſt im Staat regiert, erſtreket ihren nuͤz-
lichen Einfluß bis in die Schriften, die da-
durch einen gewiſſen Werth der Aufrichtigkeit
und der Großmuth bekommen. Die Entfer-
nung dieſer Landesgegend von dem Vaterlande
der Poeten und Redner, und von dem Ge-
biethe derer, welche ſich ihrer aus Liebe oder
Haß annehmen; der Vortheil eines Ortes,
wo man ſie nicht weiter kennt, als aus ihren
Schriften, und die Hochſchaͤzung oder Ver-
achtung derſelben allein nach der innerlichen
Beſchaffenheit formiert, macht uns eine ſiche-
rere Hoffnung zu unpartheyligen Urtheilen.
Und da mittelſt dieſer Sammlung ein Verfaſ-
ſer in den ſchweizeriſchen Gebuͤrgen, wie in
einem Hinterhalt, verborgen liegt, verſpricht
man
[] man ſich, daß die geſchickten Sachſen und
Schleſier, die das Elend einiger von ihren be-
ruͤhmteſten Scribenten erkennen, aber durch
den Strohm des groſſen Haufens, durch
Hoͤflichkeit, durch Freundſchaft, durch Schre-
ken, durch Furcht, genoͤthiget ſind, mit dem
Munde zu verehren, was ſie im Herzen ver-
lachen, dieſe Gelegenheit ergreiffen werden,
der Wahrheit Zeugniß zu geben, und einiger-
maſſen in der Ferne wieder gut zu machen,
was ſie in ihrer Heimath verderben. Dadurch
koͤnnen ſie die Nachwelt auf das allergewiſſe-
ſte uͤberzeugen, daß das verderbte Urtheil bey
den jeztlebenden Kunſtrichtern nicht allgemein
iſt; ſondern, ſo oft man zu unſern Zeiten
von dem uͤbeln Geſchmake der Deutſchen re-
det, eine billige Ausnahme von einer ſtarken
und ins Auge fallenden Anzahl gruͤndlicher und
vortrefflicher Kenner vorauszuſetzen ſey.
Man uͤberlaͤßt einem jeden, ſeiner Arbeit,
die er durch dieſen Weg bekannt machen will,
eine Form nach ſeinem Belieben zu geben,
doch wird man diejenigen Stuͤke am wertheſten
halten, worinnen der trukene Vortrag der
dogmatiſchen Lehre auf eine muntere Weiſe
belebet wird; und man wird den Schertz alle-
zeit hochachten, der aus der Sache ſelber her-
vorfließt, und nichts anders iſt, als eine kunſt-
reiche Vorſtellung des Laͤcherlichen, das in
der
[] der Materie enthalten iſt, und ſie in dem wah-
ren Licht vorſtellig macht. Das Geſpoͤtte ſteht
vornehmlich denen wohl an, welche zuerſt den
Grund der Thorheiten und Fehler, die ſie
izo zum Gelaͤchter machen wollen, durch ernſt-
liche Unterſuchungen in verknuͤpfter Ordnung
angezeiget haben. Denn es iſt nicht genug,
daß es ſchamroth mache, es muß daneben auch
unterrichten. Dergleichen Schertz iſt mit de-
nen Einfaͤllen eines Luſtigmachers, die keinen
andern Grund, als deſſen verkehrte Phanta-
ſie haben, gar nicht einerley.
Neben dieſen critiſchen, polemiſchen, und
ſatiriſchen Schriften wird man bedacht ſeyn,
geſchickte Muſter in allen Gattungen der
Dicht- und Redekunſt beydruͤken zu laſſen, da-
mit man nicht nur Regeln ſondern auch Exem-
pel gebe. Dieſe werden aus wohlgerathenen
Verſuchen, aus Entwuͤrffen zu groͤſſern Wer-
ken, aus Proben und beſondern Stuͤken be-
ſtehen, ſie ſeyn urſpruͤnglich von einem Deut-
ſchen verfertigt, oder nur aus einer auslaͤndi-
ſchen Feder geſchickt uͤberſezet; ſie ſeyn bisda-
hin ungedruͤckt, oder verdienen, da ſie ſchon
gedruͤckt, und dennoch aus Nachlaͤſſigkeit im
Vergeſſen geblieben ſind, an das Licht her-
vorgezogen zu werden.
Man
[]
Man gedenckt ſich mithin den Zaum nicht
ſo kurtz zu halten, daß man nicht nach Gele-
genheit der Umſtaͤnde auch ſolchen Werken
oder deren Beurtheilungen einen Platz in die-
ſer Sammlung einraͤumen werde, welche nach
ihrer Haupt-Abſicht zwar nicht zu den oben-
gedachten Kuͤnſten gehoͤren, die aber in ihrer
Ausfuͤhrung und Abhandlung einen ausneh-
menden Grad von Geiſt, Scharfſinnigkeit,
und Geſchicklichkeit, bliken laſſen.
Gelingt es alſo demjenigen, der die Auf-
ſicht uͤber dieſe Sammlung auf ſich genom-
men hat, ſo wird man darinnen nicht bloſſe
Verſicherungen von dem Vermoͤgen des Gei-
ſtes, und des Urtheiles, das die Deutſchen
noch im Verborgenen beſizen, und man
uns auf unſer Wort glauben muß, antreffen;
ſondern man wird den Beweiß deſſen im Wer-
ke und in der That vor Augen ſehen. Wer-
den ihm nur die muntern und verſtaͤndigen
Koͤpfe Deutſchlandes mit ihrer Beyhuͤlffe eini-
germaſſen an das Rad ſtehen, und ihm die
Staͤrke ihres Geiſtes und die Richtigkeit ihres
Verſtands in vortrefflichen Proben offenbaren
und bekannt machen, es ſey in poetiſchen Schrif-
ten durch die vielfaͤltige Ausuͤbung ihrer Kunſt,
oder in critiſchen Abhandlungen, worinnen die
Verſchiedenheit der Kunſt nach der Verſchie-
den-
[] denheit einer beſondern Materie in dem Gan-
zen und in den Stuͤken, in dem eigenen Lich-
te ihrer Trefflichkeit an den Tag geleget wird;
ſo wird ſolches das beſte Mittel ſeyn, denje-
nigen, welche unſrer Nation ihres Geſchma-
kes wegen uͤbels nachreden, den Mund zu ſto-
pfen.
Probe
[[1]]
Probe
Einer neuen Ueberſetzung
Johann Miltons
Verlohrnen Paradieſes.
Das erſte Buch.
SJnge, himmliſche Muſe, von dem er-
ſten Ungehorſam des Menſchen, und
der verbothenen Frucht, die mit dem
Verluſt Edens das Elend und den Tod in die
Welt gebracht hat, welche allda herrſchen ſoll-
ten, bis daß ein groͤſſerer Menſch uns zu Huͤlfe
kaͤme, und den gluͤckſeligen Sitz fuͤr uns wieder
eroberte. Du, welche auf dem geheimen Gi-
pfel Horebs oder Sinai den Schaͤfer unterwie-
ſen, der den erwehlten Saamen zuerſt gelehrt
[Critiſche Sam̃l.] Ahat,
[2]Johann Miltons
hat, wie der Himmel und die Erde im Anfange
aus dem Chaos entſprungen ſeyn, ſteige auf
mein Bitten von da, oder, wenn dir der Berg
Sion und die Bache Siloah, die ſo nahe an
dem goͤttlichen Orackel floß, angenehmer ſind,
von denſelben herunter, meinen kuͤhnen Geſang
anzuleiten, der mit einem mehr als mittelmaͤſſi-
gen Fluge uͤber den Aoniſchen Berg hinaus flie-
gen will, indem er Sachen auf die Spur gehet,
die niemand bisdahin weder in Proſa noch in
Reimen unternommen hat zu entdecken. Und
du vornehmlich, o Geiſt, der mehr von einem
aufrichtigen und reinen Hertzen haͤlt, als von
allen Tempeln, unterrichte du mich, denn du
weiſſeſt von dieſen Dingen, du wareſt zuerſt da-
bey gegenwaͤrtig, und ſaſſeſt einer bruͤtenden
Taube gleich mit ausgebreiteten Fluͤgeln auf
dem ungemeſſenen Abgrund; und machteſt ihn
fruchtbar. Erleuchte, was in mir dunckel iſt;
erhoͤhe und unterſtuͤtze, was niedrig iſt, daß
ich der Hoheit meines edeln Vorhabens gemaͤß
die
1
[3]Verl. Paradies. I. B.
die ewige Vorſehung vertheidigen, und die
Wege Gottes unter den Menſchen retten moͤge.
Sage zuerſt, denn der Himmel haͤlt vor dei-
nem Geſichte nichts verborgen, und der tiefe
Strich der Hoͤlle nichts; ſage zuerſt, was vor
eine Urſache bewog unſre groſſen Stammaͤltern
in ihrem gluͤckſeligen Stande, der von dem
Himmel ſo trefflich beguͤnſtiget worden, daß
ſie von ihrem Schoͤpfer abfielen, und ſeinen
Willen um einer einzigen Einſchraͤnckung we-
gen uͤbertraten, da ſie doch uͤbrigens Herren
der Welt waren? Wer beredete ſie zu dem
ſchaͤndlichen Aufſtand? Der hoͤlliſche Wurm.
Derſelbe betrog durch ſeine Liſt die Mutter des
menſchlichen Geſchlechts, von Mißgunſt und
Rachgier dazu angereizet, nachdem ſein Hoch-
muth ihn mit ſeinem ganzen Heere aufruͤhri-
ſcher Engel aus dem Himmel verjaget hatte;
weil er geſtrebet, ſich an Herrlichkeit uͤber ſei-
ne Geſellen zu erheben, und ſich getrauet,
vor dem Hoͤchſten, wenn dieſer ſich ihm wider-
ſetzete, zu beſtehen, ſo daß er in dem Himmel
mit einem ehrſuͤchtigen Endzwecke einen gottlo-
ſen Krieg und eine ſtoltze Schlacht angezettelt.
Ein eiteles Unternehmen! Die allmaͤchtige
Kraft warf ihn von der etheriſchen Buͤhne mit
einem graͤßlichen Fall und Brand flammend in
das bodenloſe Verderben hinunter; daſelbſt ſoll-
te derjenige in diamantenen Ketten und einem
ſtraffenden Feuer wohnen, welcher den Allmaͤch-
tigen zu einer Schlacht hatte auffordern doͤrf-
fen.
A 2Neun-
[4]Johann Miltons
Neunmahl das Zeitmaaß, mit welchem
die ſterblichen Menſchen Tag und Nacht zu meſ-
ſen pflegen, lag derſelbe mit ſeinen greulichen
Haufen beſieget, und welzete ſich in dem feuri-
gen Meerbuſem herum, ſinnlos, obgleich un-
ſterblich. Aber ſein Gericht verſparte ihn zu
mehr
2
[5]Verl. Paradies. I. B.
mehr Qual. Denn jezo plaget ihn der Gedan-
ke von der verlohrnen Gluͤckſeligkeit und der im-
merwaͤhrenden Pein. Er warf rund herum ſei-
ne giftvollen Augen, welche von einer hohen
Betruͤbniß und Schwachheit, die mit einem
verſtockten Stoltz und hartnaͤckigten Haſſe ver-
miſchet waren, Anzeige gaben. Er uͤberſieht
auf einmahl, ſo ferne als engliſche Blicke rei-
chen moͤgen, die traurige, wuͤſte und wilde Ge-
gend. Eine greuliche Tiefe, die zu allen Sei-
ten rund herum, wie ein groſſer Ofen, in Flam-
men ſtuhnd; jedoch ſchoß kein Licht von dieſen
Flammen, ſondern vielmehr eine ſichtbare Dun-
kelheit, bey welcher man Geſichter voll Jam-
mers, Landſchaften voll Kummers, erſchreck-
liche Schatten, erblickte; wo Friede und Ruhe
A 3nie-
3
4
[6]Johann Miltons
niemahls wohnen kan, die Hoffnung, die an
alle Orte koͤmmt, ſich niemahls einfindet; ſon-
dern Qual ohne Ende unaufhoͤrlich auf die Ein-
wohner zuſchlaͤgt, und eine feurige Suͤndflut
ſtroͤhmt, welche ſich von einem ewigbrennenden
Schwefel, der niemahls verzehret wird, unter-
haͤlt. Dieſen Platz hat die ewige Gerechtigkeit
fuͤr dieſe Rebellen zubereitet, ihnen hier in der
aͤuſſerſten Finſterniß ihr Gefaͤngniß verordnet,
und ihr Theil hier angewieſen, dreymahl ſo fer-
ne von Gott und dem Lichte des Himmels, als
der hoͤchſte Polus von dem Mittelpunct entfernt
iſt. O wie iſt dieſer Platz demjenigen ſo un-
gleich, von dem ſie fielen! Daſelbſt erkennet
er bald die Mitgeſellen ſeines Falls, die mit
Stroͤhmen und Wirbelwinden von ſtuͤrmeriſchem
Feuer uͤberſchwemmt lagen. Naͤchſt an ſeiner
Seite ſieht er ſich einen uͤberwerffen, der an
Macht und Boßheit zunaͤchſt auf ihn folgete, wel-
cher lange hernach in Paleſtina bekannt worden,
und Beelzebub geheiſſen ward. Denſelben re-
dete
5
[7]Verl. Paradies. I. B.
dete der Ertzfeind, der wegen ſeines Aufſtandes
in dem Himmel Satan genannt ward, mit
kuͤhnen Worten an, die das graͤßliche Still-
ſchweigen dergeſtalt unterbrachen.
Wenn du es biſt, o wie ſehr biſt du gefallen,
wie ungleich biſt du demjenigen, der in den gluͤck-
ſeligen Koͤnigreichen des Lichtes, mit einem uͤber-
ſchwenglichen Glantz bekleidet, heller als ſo viele
Myriaden Engel von den erhabenſten leuchtete;
wenn du derſelbe biſt, welchen ein freundſchaft-
liches Buͤndniß, gemeinſchaftliche Gedancken,
einerley Hoffnung und einerley Gefahr ehedeſſen
mit mir zu dem ruhmwuͤrdigen Unternehmen
verbunden, jezo das Elend in einem gleichen Nie-
derfall mit mir vereiniget, ſieheſt du, in wel-
che Tiefe, und von welcher Hoͤhe wir gefallen
ſind; ſo mercklich ward er mittelſt ſeines Don-
ners der ſtaͤrckere: Aber wer kannte zuvor die
Staͤrcke dieſes greulichen Werffzeuges? Doch
weder Furcht vor demſelben, noch vor einer
andern Sache, ſo mir der maͤchtige Ueber-
winder im Zorn anthun moͤgte, kan mir ange-
winnen, daß ich das geſchehene bereue, oder die
einmahl feſtgeſezten Gedancken aͤndere, ob ſich
gleich mein aͤuſſerlicher Glantz veraͤndert hat,
oder den Unwillen ablege, den die empfindliche
Verachtung meiner Verdienſte zuerſt bey mir
erreget, und mich vermocht hat, mit dem Maͤch-
tigſten anzubinden, und in den wilden Streit
ein unzehliges Heer gewaffneter Geiſter zu fuͤh-
ren, welche das Hertz hatten, ſeine Herrſchaft
zu verwerffen, mich ihm vorzuziehen, und ſeiner
A 4hoͤch-
[8]Johann Miltons
hoͤchſten Macht eine andere entgegenzuſetzen,
welche in den ebnen Feldern des Himmels
ſeinen Thron in einer zweifelhaftigen Schlacht
erſchuͤtterte. Geſezt, eine Schlacht ſey verloh-
ren, alles iſt darum nicht verlohren; der un-
uͤberwindliche Wille nicht, das Verlangen nach
Rache nicht, noch der unſterbliche Haß, und
der Vorſatz ſich zu keinen Zeiten zu unterwerf-
fen und zu ergeben; Und was heißt das an-
ders, als, nicht uͤberwunden ſeyn? Dieſen
Ruhm ſoll weder ſein Zorn noch ſeine Macht
jemahls von mir erzwingen, daß ich einen
flehenden Kniefall vor ihm thun, und ihn um
Gnade erſuchen, oder daß ich die Macht de-
rer vergoͤttern ſollte, welche die Furcht vor
meinem Arm noch neulich dahin gebracht, daß
ſie ein Mißtrauen in ſeine Oberherrſchaft ge-
ſetzet haben. Wahrhaftig, das waͤre etwas
niedertraͤchtiges, das waͤre mir eine groͤſſere
Schmach und Schande, als dieſer tiefe Hoͤl-
lenfall. Nachdem kraft des Schickſals die
Staͤrcke der Goͤtter und dieſes empyreiſche We-
ſen nicht abnehmen kan; nachdem wir, ver-
moͤge der Erfahrung in dieſem merckwuͤrdigen
Begegniß, an Kraft nichts abgenommen, an
Vorſichtigkeit ein groſſes zugenommen haben,
ſo koͤnnen wir jezo mit einer gluͤcklichern Hoff-
nung uns entſchlieſſen, mit Liſt oder Gewalt
einen ewigen Krieg mit unſrem groſſen Feinde
zu fuͤhren, und keinen Frieden jemahls mit
demſelben einzugehen, welcher jezo triumphiert,
und voller ungemeſſenen Freude die Herrſchaft
in
[9]Verl. Paradies. I. B.
in dem Himmel ohne einen Nebenbuhler be-
ſitzet.
Alſo ſprach der abtruͤnnige Engel und ruͤhm-
te mit Worten, obgleich mitten in der Pein,
groſſe Stuͤcke von ſich, aber inwendig ward er
von einer tiefen Verzweifelung gepfetzet. Sein
frecher Geſelle antwortete ihm dergeſtalt.
O Fuͤrſt, o Haupt mancher gethronten Macht
von Geiſtern, du, der die Schlachthaufen der
Seraphim angefuͤhrt, und in erſchrecklichen Be-
gegniſſen unerſchrocken den beſtaͤndigen Koͤnig
des Himmels in Gefahr geſetzet, und ſeine
hohe Oberherrlichkeit auf die Probe geleget
hat, ob die Staͤrcke, oder der Zufall, oder
das Verhaͤngniß etwas wider ſie vermoͤgten.
Doch ich ſehe und empfinde nur zuwohl den
grauſamen Ausgang dieſes Unternehmens, wel-
ches uns in einer traurigen Niederlage, und
ſchaͤndlichen Flucht des Himmels verluſtig ge-
machet, und dieſes groſſe maͤchtige Heer in
einer graͤßlichen Zerruͤttung ſo tief zu Boden
geſchlagen hat, als es moͤglich iſt, daß himm-
liſche Weſen und Goͤtter zu Grund gehen.
Denn das Gemuͤthe und der Geiſt bleiben un-
uͤberwindlich, und die Munterkeit erholet ſich
in kurtzem wieder, ob unſre Herrlichkeit gleich
gaͤntzlich erloſchen iſt, und unſer vormahls gluͤck-
ſelige Stand hier unter einem unendlichen E-
lende verſencket liegt. Aber wie haben wir es
dann, wenn unſer Obſieger, den ich jezo ge-
zwungen vor allmaͤchtig erkennen muß, weil
A 5kein
6
[10]Johann Miltons
kein geringerer als ein Allmaͤchtiger eine ſol-
che Macht, wie die unſrige war, haͤtte uͤber-
waͤltigen moͤgen, uns dieſen unſren Geiſt und
unſre Staͤrcke darum unverſehrt gelaſſen hat,
damit wir ſtarck genug ſeyn, unſre Pein zu
ertragen, und ſo unter ſeinem rachgierigen Zorn
aushalten moͤgen, oder damit wir ihm als
ſeine Sclaven, nach Kriegesrecht, deſto beſſe-
re Dienſte thun, was er auch vorhaben mag,
hier mitten in der Hoͤlle im Feuer arbeiten zu
laſſen,
7
8
[11]Verl. Paradies. I. B.
laſſen, oder damit wir in der finſtern Tiefe ſei-
ne Botſchaften hin und her tragen. Was kan
uns in ſolchem Fall unſre Staͤrcke, die wir
noch unvermindert fuͤhlen, und unſer Weſen,
das ewig iſt, nuͤtzen, wenn wir ewig in Pein
und Qual leben muͤſſen?
Demſelben antwortete der Ertzteufel mit
fluͤchtigen Worten: Gefallner Cherub, es iſt
allemahl eine elende Sache um die Schwaͤ-
che, man mag etwas zu thun oder zu leiden
haben; Aber deſſen verſichere dich, daß Gutes
thun nimmermehr unſer Werck ſeyn wird,
ſondern daß wir an Uebels thun unſer einziges
Ergetzen finden werden; weil es dem hohen
Willen deſſen entgegen iſt, dem wir widerſtre-
ben. Wenn denn ſeine Vorſichtigkeit aus
unſrem Boͤſen Gutes hervorzubringen trachtet,
ſo muͤſſen wir uns befleiſſen, dieſen Endzweck
umzukehren, und in dem Guten allemahl An-
laß zum Boͤſen zu finden: Welches uns oft
ſo wohl gelingen mag, daß es ihm, wenn ich
nicht irre, verdrieſſen, und ſeine geheimſten
Anſchlaͤge hintertreiben ſoll. Aber ſiehe, der zor-
nige Ueberwinder hat die Diener ſeiner Ra-
che und Verfolgung nach der Pforte des Him-
mels zuruͤcke geruffen, der Schwefel-Hagel,
der im Sturm nach uns geſchoſſen worden,
hat
9
[12]Johann Miltons
hat ſich zerſtreuet, und ſich in dieſen feurigen
Wellen geleget, die uns in unſrem Falle von
den Zinnen des Himmels empfangen haben;
und der Donner mit rothen wetterleuchtenden
Blitzen und ſtuͤrmeriſchem Grimme gefluͤgelt,
hat vielleicht ſeine Koͤcher an Pfeilen ausge-
laͤhrt, und hoͤret jezo auf durch die ungeheure
und ungemeſſene Tiefe zu bruͤllen. Laſſet uns
die Gelegenheit nicht verſchlafen, unſer Feind
mag ſie uns aus Verachtung, oder aus Gelin-
digkeit goͤnnen, weil er ſeinen Zorn an uns
geſaͤttiget hat. Sieheſt du jene fuͤrchterliche,
oͤde und verlaſſene Ebene, den Sitz der Ver-
zweifelung, laͤhr an Licht, ausgenommen, was
der Schimmer dieſer ſchwartzgelben Flammen
blaß und graͤßlich von ſich ſchießt? Laß uns
den Gang von dieſen erſchuͤtternden feurigen
Wellen dorthin wenden, daſelbſt auszuruhen,
wenn je die Ruhe daſelbſt Platz findet; daſelbſt
wollen wir unſre zu Boden geſchlagene Heeres-
macht wieder verſammeln, und mit einander
berathſchlagen, wie wir kuͤnftighin unſern Feind
am allermeiſten beſchaͤdigen, wie wir uns un-
ſers Verluſtes wieder erholen, wie wir dieſen
greulichen Jammer uͤberſtehen, was vor eine
Staͤrckung wir von der Hoffnung gewinnen,
und wenn das nicht angehet, was vor einen
Entſchluß wir von der Verzweifelung erhalten
moͤgen.
Alſo redete Satan mit ſeinem naͤchſten Bun-
desgeſellen, mit dem Haupt hoch uͤber den
Wellen, und mit Augen, die funkelnd blizeten;
ſeine
[13]Verl. Paradies. I. B.
ſeine uͤbrigen Glieder lagen vorwaͤrts auf der
Flut, in die Laͤnge und Breite ausgeſtrecket,
und nahmen ſchwimmend viele Hufen Feldes
ein, ſie waren in ihrer ungeheuren Groͤſſe
denen ungefugen Rieſen in den Fabeln gleich,
dem Titaniſchen Stamme, den Kindern der
Erden, die mit Jupiter Krieg fuͤhreten, dem
Briareus und dem Typhon, welche ſich in
der Hoͤle vor der alten Stadt Tharſus auf-
hielten, oder dem Leviathan, einem Seethie-
re, welches an Groͤſſe das ungeheureſte unter
allen denen Wercken des Schoͤpfers iſt, ſo
in dem Oceanus ſchwimmen. Wenn ihn et-
wann der Pilot eines kleinen verirrten Schif-
fes Nachts in der beſchaͤumten Norwegiſchen
See
10
[14]Johann Miltons
See ſchlafend findet, ſieht er ihn oft vor ein
Eiland an, und wirfft, wie die Seefahrer
erzehlen, den Ancker auf ſeine ſchuppigte Rinde
aus, und haͤlt ſich an ſeiner Seite hinter dem
Winde, ſo lange als die Nacht das Meer
unſicher macht, und der gewuͤnſchte Morgen
ſich zoͤgert. So weit in die Laͤnge ausgebrei-
tet lag der Ertzfeind auf dem brennenden Tei-
che, wie mit Feſſeln feſtgemacht, waͤre auch
nimmermehr von demſelben aufgeſtanden, oder
haͤtte nur ſein Haupt empor gehoben, wofern
ihn nicht der Wille und die Erlaubniß des
allesregierenden Himmels ſeinen eignen ſchwar-
zen Anſchlaͤgen wieder uͤberlaſſen haͤtte, auf daß
er durch wiederholte Uebelthaten die Ver-
dammniß nur mit deſto ſchwererer Laſt auf ſein
eignes Haupt weltzete, alldieweil er befliſſen
iſt
11
[15]Verl. Paradies. I. B.
iſt, andern Schaden zu thun, und vor Zorn
berſtend ſaͤhe, wie alle ſeine Boßheit alleine
dienete, den von ihm verfuͤhrten Menſchen mit
unendlicher Guͤte, Gnade und Gunſt zu uͤber-
ſchuͤtten, hingegen auf ihn ſelber dreyfache
Schmach, Entruͤſtung und Rache zu ziehen.
Jezo hebet er ploͤtzlich ſeinen maͤchtigen Coͤr-
per von dem Pful empor, an beyden Seiten
neigeten die zuruͤcke geſtoſſene Flammen ihre
ſcharfen Spitzen, und indem ſie ſich in Wel-
len uͤberweltzeten, oͤffneten ſie in der Mitte ei-
nen greulichen Thal. Hernach regieret er ſei-
nen Flug in der Hoͤhe mit ausgeſpanneten
Fluͤgeln, und ſchwebet in der dunckelbraunen
Luft, welche eine ungewoͤhnliche Laſt fuͤhlete,
bis er an das trockene Land hinunterſtieg;
wenn je Land war, was beſtaͤndig mit einem
gediegenen Feuer brannte, wie der See mit
einem fluͤſſigen ſiedet. Er ſchien an Farbe wie
ein Felſen, den die Macht eines unterirdiſchen
Windes vom Pelorus abgeriſſen hat, und in
einen andern Ort hintraͤgt, oder wie die be-
ſchaͤdigte Seite des donnernden Etna, deſſen
oͤligtes und hartzigtes Eingeweide, wenn es in
einen Brand koͤmmt, mit einer mineraliſchen
Wuth in die Hoͤhe ſchlaͤgt, die Macht der
Winde verſtaͤrcket, und einen verſengten Bo-
den, mit Rauch und Geſtanck gantz bedecket,
hinterlaͤßt. Eine ſolche Ruhſtatt fanden die
Solen der unſeligen Fuͤſſe. Sein naͤchſter Ge-
ſelle folgete ihm, und beyde ruͤhmten ſich, daß
ſie aus dem ſtygiſchen Pful als Goͤtter her-
aus
[16]Johann Miltons
ausgeſtiegen waͤren, kraft ihrer eigenen wie-
dererhaltenen Staͤrcke, nicht aus Verguͤnſti-
gung der oberſten Macht.
Jſt dieſes die Landſchaft, ſagte hernach der
verlohrne Ertzengel, iſt dieſes das Revier, die
Gegend, iſt dieſes die Wohnung, welche wir
mit dem Himmel vertauſchen muͤſſen; dieſe
leidige Pechſchwaͤrtze mit dem himmliſchen Lich-
te? Jch bin es zufrieden, nachdem derjenige,
der jezo der Hoͤchſte iſt, heiſſen und gebiethen
kan, was recht ſeyn ſoll. Es iſt am beſten,
wir ſeyn am weiteſten von dem entfernt, den
Vernunft und Billigkeit uns gleiche gemachet,
Gewalt uͤber diejenigen, die ſeines gleichen
waren, erhoben hat. Gehabet euch wohl
gluͤckſelige Felder, wo die Freude auf ewig
wohnet! Sey gegruͤßt abſcheulicher Ort,
ſey gegruͤßt unterſte Welt, und du, tiefeſte Hoͤl-
le, empfange deinen neuen Einwohner: Einen,
der ein Gemuͤthe mit ſich bringt, das weder
Ort noch Zeit zu aͤndern vermag. Das Ge-
muͤthe wohnet in ihm ſelbſt, und kan in ihm
ſelbſt einen Himmel aus der Hoͤlle, und eine
Hoͤlle aus dem Himmel machen. Was fra-
ge ich darnach, wo ich ſey, wenn ich beſtaͤn-
dig
12
[17]Verl. Paradies. I. B.
dig der vorige bin, und was ich ſeyn ſoll,
alles, nur alleine geringer, als der iſt, wel-
chen der Donner groͤſſer gemacht hat? We-
nigſtens werden wir hier frey ſeyn; der All-
maͤchtige hat hier nicht gebaut, was er uns
mißgoͤnnen ſollte, er wird uns von hier nicht
verjagen wollen: Hier moͤgen wir in Sicher-
heit regieren, und in meinem Sinn iſt Re-
gieren des Nachſtrebens werth, auch in der
Hoͤlle ſelbſt: Es iſt beſſer in der Hoͤlle zu re-
gieren, als in dem Himmel zu dienen. Aber
warum laſſen wir denn unſre getreuen Freun-
de, die ſich unſers Verluſtes mittheilhaftig ge-
macht haben, auf dem betaͤubenden Pful ſo
daniedergeſchlagen liegen, und ruffen ſie nicht
zu uns, daß ſie ihren Theil an dieſer unſeli-
gen Wohnung mit uns beziehen, oder daß
ſie noch einmahl mit neuvereinigten Waffen
verſuchen, ob im Himmel noch etwas koͤnne
erobert oder in der Hoͤlle noch etwas verloh-
ren werden?
Alſo ſagte Satan. Beelzebub antwortete
ihm dergeſtalt: Fuͤhrer dieſer glaͤntzenden Krie-
gesſchaaren, welche niemand als der Allmaͤch-
tige hat ſchlagen koͤnnen, wenn ſie nur deine
Stimme wieder hoͤren werden, ihr lebhafteſtes
BHoff-
13
[Critiſche Sam̃l.]
[18]Johann Miltons
Hoffnungs-Pfand, in Furcht und Noth, die
ſie ſo oft in der hoͤchſten Gefahr gehoͤrt, und in
dem harteſten Stande des Gefechtes, in allen
Anfaͤllen, wenn die Wuth raſete, vor ihr ſicher-
ſtes Wahrzeichen gehalten haben, ſo werden ſie
bald von neuen einen Muth faſſen, und wie-
der aufleben, wiewohl ſie jezo auf jener Feuer-
See mit betaͤubten und erſtarrten Sinnen, wie
wir ſelbſt unlaͤngſt, unter ſich gekehrt auf dem
Bauche liegen, das kein Wunder iſt, nachdem
wir von einer ſo erſchrecklichen Hoͤhe gefallen
ſind.
Er hatte kaum aufgehoͤret, als der hoͤhere
Teufel nach dem Geſtade zu gieng; er hatte ſein
ſchweres Schild von einer Etheriſchen Staͤh-
lung, maſſiv, breit, und rund, auf den Ruͤ-
ken geworffen; es hieng in einem weiten Um-
fange auf ſeinen Schultern, und war anzuſehen,
wie der Mond, deſſen Scheibe der Toſcaniſche
Kuͤnſtler des Abends von dem Gipfel des hohen
Feſole oder zu Valdarno durch ein optiſches
Glas beſchauet, damit er in ſeiner fleckigten Ku-
gel neue Laͤnder, Fluͤſſe, und Berge, entdecke.
Mit ſeinem Spieſſe verglichen, waͤre die laͤng-
ſte Tanne auf den Norwegiſchen Bergen, wel-
che fuͤr den Maſtbaum eines groſſen Admiral-
Schiffes gehauen wird, nur eine Ruthe. Er
ſtuͤtzete ſich auf denſelben indem er ſeine muͤhſa-
men Tritte auf dem brennenden Moraſt fortſe-
zete, nicht ſo gemaͤchliche Tritte, als auf dem
Lazur des Himmels; das ſengende Clima, mit
Feuer bewoͤlbet, ſchmiß daneben haͤftig auf ihn
zu.
[19]Verl. Paradies. I. B.
zu. Nichtsdeſtoweniger hielt er es aus, bis
er den Strand dieſer entflammten See erreichet
hatte, an demſelben ſtuhnd er ſtille und rief ſei-
ne Legionen; Engliſche Geſtalten, welche ſinn-
los uͤber einander geworffen lagen, ſo dicht als
die Blaͤtter im Herbſt, wenn die Baͤche in Val-
lombroſa, uͤber welchen die hetruriſchen Baͤu-
me hangende Sommerlauben ziehen, damit
uͤberſaͤet werden; und als das verzetelte Schilf,
das an den Kuͤſten des rothen Meers floß, da
Orion daſſelbe mit unbaͤndigen Winden peitſche-
te, und den Buſiris mit ſeiner memphiſchen
Reuterey unter die Wellen verſenckete, als ſie
B 2aus
14
[20]Johann Miltons
aus unredlicher Feindſchaft den Gaͤſten der Land-
ſchaft Goſen nachjagten, die jezo an dem ſichern
Ufer ihre ſchwimmenden Leichnahme und zerbro-
chenen Wagenraͤder ſahen; eben ſo dicht, ſo
verſtreuet, verzetelt und verlohren, lagen dieſe
gefallenen Engel, bedecketen den Pful, und wa-
ren vor Beſtuͤrtzung uͤber ihrer graͤßlichen Ver-
aͤnderung gantz auſer ſich ſelbſt. Er rief ſo laut, daß
die gantze hole Tiefe der Hoͤllen davon erſchallete.
Fuͤrſten, Herzoge, Kriegeshaͤupter, der Aus-
bund des Himmels, der unlaͤngſt euer war, je-
zo verlohren iſt, woferne ein ſolches Erſtaunen,
wie dieſes, ewige Geiſter uͤberfallen kan; oder
habet ihr dieſen Ort erwehlet, hier nach der
ſtrengen Arbeit des Gefechts eure muͤde Dapfer-
keit ausruhen zu laſſen, weil ihr vielleicht die Ru-
he
15
[21]Verl. Paradies. I. B.
he allhier ſo ſuͤß findet, als in den Thaͤlern des
Himmels; oder habet ihr geſchworen, daß ihr
den Ueberwinder in dieſer niedertraͤchtigen Stel-
lung anbeten wollet? Derſelbe ſieht jezt den
Cherub und Seraph mit weggeworffenen Waf-
fen und Fahnen in der Fluth ſich uͤberwerffen,
und warten bis ſeine ſchnellen Nachjager von den
Pforten des Himmels ihren Vortheil erblicken,
herunterſteigen und uns danieder treten, indem
wir ſo liegen; oder uns mit zuſammengeketteten
Donnerkeilen auf den Boden dieſes Golfo an-
heften. Erwacht, ſteht auf, oder euer Fall
muͤſſe in Ewigkeit waͤhren.
Sie hoͤreten ihn, ſchaͤmeten ſich, und fuhren
auf ihren Fluͤgeln auf, wie, wenn Leute, die
Amts wegen wachen ſollten, von jemandem,
den ſie fuͤrchten, ſchlaffend gefunden werden,
aufſpringen und ſich geſchaͤftig erzeigen, eh ſie
recht erwachet ſind. Mithin wurden ſie ihres
ſchlimmen Zuſtandes bald gewahr, und fuͤhleten
die tobende Pein. Doch gehorſamten ſie der
Stimme ihres Obriſten alſobald. Eine unzaͤh-
lige Menge, wie als der maͤchtige Stab des
Sohns Amrams an Egyptens boͤſen Tage uͤber
B 3die
16
17
[22]Johann Miltons
die See-Kuͤſte geſchwungen ward, und eine
pechſchwartze Wolcke von Heuſchrecken zuſammen
jagte, welche ſich nach dem Oſtwinde neigete,
und wie eine Nacht uͤber dem Koͤnigreiche des
gottloſen Pharaoh hieng, daß das gantze Land
am Nil verfinſtert ward. So unzaͤhlbar viele
boͤſe Engel ſah man unter dem Dache der Hoͤl-
len auf ihren Fluͤgeln ſchweben, oben, unten,
und auf den Seiten mit Feuer umſchloſſen; bis
daß ſie auf das gegebne Zeichen, als ihr groſſer
Sultan den Spieß ſchwaͤnckete, in geraden Li-
nien auf den feſten Bimsſtein herunterſteigen,
und die gantze Ebene anfuͤllen; eine Menge, der-
gleichen der volckreiche Norden niemahls aus
ſeinen kalten Lenden ausgeſchickt hat, damit ſie
uͤber den Rhein und die Donau ſetzeten, als ſei-
ne barbariſche Soͤhne vor Zeiten wie eine Waſ-
ſerfluth nach dem Suͤden kamen, und ſich bis un-
ter Gibraltar gegen den Lybiſchen Sand zu aus-
breiteten. Alſobald eilen die Haͤupter und Fuͤh-
rer von jeglichem Geſchwader und Haufen da-
hin, wo ihr groſſer Gebieter ſtuhnd; es waren
goͤttliche Geſtalten und Bildungen, uͤber die
menſchlichen erhoben, fuͤrſtliche Wuͤrden und
Hohei-
18
[23]Verl. Paradies. I. B.
Hoheiten, welche hiebevor in dem Himmel auf
Thronen ſaſſen, wiewohl ihre Nahmen jezo in
den himmliſchen Regiſtern nicht mehr geleſen
werden, ſondern nach ihrem Aufſtand in den
Buͤchern des Lebens ausgeloͤſchet und ausgetil-
get worden. Sie hatten auch die neuen Nah-
men noch nicht angenommen, welche ſie hernach
unter den Soͤhnen der Eva fuͤhreten, als ſie
aus hoher Zulaſſung Gottes, zur Pruͤffung der
Menſchen, den Erdboden durchwanderten, und
durch ihre Falſchheiten und Luͤgen den groͤſten
Theil des menſchlichen Geſchlechtes verfuͤhrten,
daß ſie von Gott ihrem Schoͤpfer abtruͤnnig wur-
den, und die unſichtbare Herrlichkeit deſſen, der
ſie gemachet hatte, in das Bild eines vernunft-
B 4loſen
19
[24]Johann Miltons
loſen Thiers verwandelten, und Teufel fuͤr Gott-
heiten anbeteten, die ſie mit zierlichen Religio-
nen voll bunten Gepraͤnges und Goldes aus-
ſchmuͤcketen. Damahls wurden ſie in dem Hei-
denthum unter mancherley Nahmen und man-
cherley Goͤtzenbildern weit und breit bekannt.
Nenne ſie Muſe bey ihren Nahmen, die ſie
damahls empfiengen; was vor hohe Fuͤrſten
kamen erſtlich, nachdem ſie in dieſem feurigen
Lager vom Schlafe erwachet waren, auf den
Ruf ihres groſſen Beherrſchers, nach ihrem
Rang, in guter Ordnung, zu ihm an den duͤr-
ren Strand, wo er ſtuhnd, da das gemeine
Heer
20
[25]Verl. Paradies. I. B.
Heer immittelſt auf dem weiten Feld in vermiſch-
ten Haufen ſtuhnd? Diejenigen waren die er-
ſten, welche lange hernach, als ſie aus dem Lo-
che der Hoͤllen herausgeſtiegen, auf ihren Raub
zu gehen, ihre Wohnungen zunaͤchſt bey dem
Sitze Gottes, ihre Altare neben ſeinem Altare
ſetzen durften, wo ſie unter den Heiden als Goͤt-
ter angebetet wurden, und ſich Jehovah, der
aus Sion donnerte, und zwiſchen den Cheru-
bim ſaß, an die Seite ſtellen durften; ja ihre
Greuel, ihre Statuen, mitten in ſein Heilig-
thum ſtelleten; und mit laͤſterlichen Dingen ſei-
ne heiligen Ceremonien und feyrlichen Feſttage
entheiligten, und mit ihrer Finſterniß ſeinem
Lichte trutzen durften. Zuerſt kam Moloch, ein
greulicher Koͤnig, mit Blut von geopferten Men-
ſchen, und mit Thraͤnen der Aeltern beſchmuͤzt,
welche doch das Geſchrey ihrer Kinder, die ſei-
nem grimmigen Bilde auf die gluͤhenden Armen
geleget wurden, vor dem lauten Gethoͤne der
Trummeln und Paucken nicht hoͤren konnten.
Der Ammonite verehrte ihn zu Rabba und in der
waſſerreichen Ebene daſelbſt, zu Argob und Ba-
ſan bis an den weit abgelegenen Fluß Arnon.
B 5Er
21
[26]Johann Miltons
Er begnuͤgte ſich mit dieſer verwegenen Nachbar-
ſchaft nicht, ſondern verfuͤhrte das weiſeſte Hertz
Salomons durch Liſt, daß er ihm auf dem aͤr-
gerlichen Berge dem Tempel Gottes gegen uͤber
einen Tempel bauete, und ſeinen Luſtwald, das
angenehme Thal Hinnon, zu einem Vorbild
der Hoͤlle machte, daher es auch Tophet, und
das ſchwartze Gehenna geheiſſen ward. Hier-
naͤchſt kam Chemos, das unkeuſche Schreck-
Bild der Soͤhne Moab; dieſer herrſchete von
Aroar bis nach Nebo, und weit gegen Suͤden
bis in die Wildniſſen von Abarim; zu Heſebon,
und Heronaim, in dem Koͤnigreiche Sihons,
den bluͤhenden Thal Sibma hinunter, der mit
Weinreben verhangen iſt, und zu Eleale, bis
an den Asphaltiſchen Teich. Peor war ſein
andrer Nahme, als er Jſrael in ihrem Anzuge
von dem Nile anreitzete, ihm wolluͤſtige Feſte
zu halten, welches ihnen viel Schmertzen geko-
ſtet. Dennoch erweiterte er nachgehends ſein
uͤppiges Reich bis zu dem Berge des Aergerniſ-
ſes und dem Hayne des moͤrderiſchen Molochs,
wo Wolluſt und Grauſamkeit neben einander
herrſcheten, bis daß der fromme Joſias beyde
von dar zur Hoͤlle jagte.
Mit dieſen kamen diejenigen, welche von dem
alten Graͤntze-Strohme Euphrates an, bis zu
dem Fluſſe, der Egypten von den Syriſchen
Landſchaften ſcheidet, mit einem gemeinen Nah-
men Baalim und Aſtaroth genannt wurden,
jene maͤnnliches, dieſe weibliches Geſchlechts.
Denn Geiſter koͤnnen nach ihrem Willen das
eine
[27]Verl. Paradies. I. B.
eine oder das andere Geſchlecht, oder beyde zu-
gleich an ſich nehmen; ſo zart und ungemengt
iſt ihr reines Weſen, nicht mit Gelencken und
Gliedmaſſen zuſammengeſchloſſen und geknuͤpft,
noch auf die zerbruͤchliche Staͤrcke der Beine ge-
gruͤndet, wie das verhinderliche Fleiſch; was
vor eine Geſtalt ſie aber an ſich nehmen, eine
ausgedaͤhnte, oder zuſammengezogene, eine
helle oder dunckle, koͤnnen ſie in ſelbiger ihr gei-
ſtiges Vorhaben bewerckſtelligen, und Wercke
der Liebe oder des Haſſes vollbringen. Um die-
ſe vertauſchte der Stamm Jſrael oft ſeine le-
bendige Staͤrcke, und ließ ſeinen heiligen Altar
unbeſucht, und buͤckete ſich hingegen vor unver-
nuͤnftigen Goͤttern zur Erden, welches machte,
daß er den Nacken eben ſo tief im Kriege buͤ-
ken, und vor den Spieſſen veraͤchtlicher Feinde
niederfallen mußte. Jn dieſem Haufen kam
auch Aſtoreth, welche die Phoͤnizier Aſtarte
nannten, eine Koͤnigin des Himmels mit wach-
ſenden Hoͤrnern; das Sidoniſche Frauenzim-
mer bezahlte des Nachts beym Mondſcheine vor
ihren glaͤntzenden Statuen ihre Geluͤbde, und
ſangen ihr Lobgeſaͤnge; ſie blieb auch in Sion
nicht unbeſungen, wo ihr Tempel auf dem aͤr-
gernden Berge ſtuhnd, der von dem verbuhl-
ten Koͤnig erbauet worden, deſſen ſonſt ſo groß-
muͤthi-
22
[28]Johann Miltons
muͤthiges Hertz durch den Reitz ſeiner ſchoͤnen
Abgoͤtterinnen zu ſchaͤndlichen Goͤtzen uͤbergieng.
Thammuz gieng gleich hinter ihr her, deſſen
jaͤhrliche Verwundung die Syriſchen Frauens-
perſonen auf den Libanon verſammelte, damit
ſie allda ſein ungluͤckſeliges Schickſal einen gan-
zen Sommer-Tag lang in verliebten Liedern
beweineten, da der ſanftflieſſende Adonis inzwi-
ſchen von ſeiner Geburts-Klippe purpurfarbe
in die See floß, wie ſie ſich einbildeten, von des
Thammuz Blut gefaͤrbet, welcher jedes Jahr
verwundet ward. Dieſe Liebesfabel ſezte die
Toͤchter Sions in eine gleiche Hitze; Ezechiel
ſah ihre ſchaͤumenden Luͤſte in dem heiligen Vor-
hofe, als ſein Auge im Geſicht die ſchnoͤde Ab-
goͤtterey des abtruͤnnigen Juda geſehen. Her-
nach kam einer, der im Ernſt weinete, als die
gefangene Bundslade ſeine thieriſche Statue
zerſtuͤmmelte, und ihm in ſeinem eigenen Tem-
pel Haupt und Haͤnde an dem Fuß-Geſimſe von
dem Rumpf hinwegſchlug, an welchem er den
Kopf anſtieß, und ſeine Anbeter zu Schanden
machete: Dagon war ſein Nahme, ein Meer-
Wunder, oberhalb ein Menſch, und untenher
ein Fiſch. Doch hatte er in der Stadt Azot ei-
nen hochaufgebauten Tempel, und ward auf
der gantzen Kuͤſte von Paleſtina, zu Gad und
Aſcalon, und Accaron, und an den Graͤntzen
der Stadt Gaza gefuͤrchtet. Jhm folgete Rim-
mon, der ſeinen anmuthigen Sitz in dem ſchoͤ-
nen Damaſcus hatte, an den fruchtbaren Ufern
des Abbana, und Pharphars, zweyer heller
Fluͤſſe.
[29]Verl. Paradies. I. B.
Fluͤſſe. Auch dieſer ſetzete ſich voller Verwe-
genheit wider das Haus des Herren; auf eine
Zeit verlohr er einen Ausſaͤtzigen aus ſeinem
Dienſt, und gewann hingegen einen Koͤnig;
nemlich den albern Achas, der ihn doch uͤber-
wunden hatte; denſelben uͤberredte er, daß er
Gottes Altar wegthat, und einen nach Syri-
ſcher Art dahin ſetzete, auf welchem er ſeine ver-
haßten Opfer brannte, und die Goͤtter, die er
uͤberwunden hatte, anbetete.
Nach dieſen erſchien eine Schaar, welche
unter den alten beruͤhmten Nahmen, Oſiris,
Jſis, Orus, und ihres Gefolges, des fanati-
ſchen Egyptens und ſeiner Prieſter mit ungeheu-
ren Verwandlungen und zauberiſchen Kuͤnſten
dergeſtalt ſpotteten, daß es ſeine herumirrenden
Goͤtter in verlarveten Geſtalten ſuchete, welche
vielmehr thieriſch als menſchlich waren. Die
anſteckende Seuche ergriff auch Jſrael, als ſie
an dem Oreb von dem geborgten Gold ein Kalb
macheten, und als der rebellierende Koͤnig dieſe
Suͤnde zu Bethel und zu Dan verdoppelte, und
ſeinen Schoͤpfer in einen graſenden Ochſen bil-
dete, denjenigen Jehovah, welcher in einer
Nacht, als er aus Egypten zog, im Voruͤber-
gehen mit einem Streiche die erſtgebohrnen
Soͤhne dieſes Landes, und alle ſeine bloͤckenden
Goͤtter, umgebracht.
Belial kam zulezt, der unzuͤchtigſte und groͤ-
beſte Geiſt, der von dem Himmel gefallen, der
das Laſter um des Laſters willen liebete; Jhm
war zwar kein Tempel aufgerichtet, und kein
Altar
[30]Johann Miltons
Altar raͤucherte ihm, aber wer wird oͤfter in
den Tempeln und beym Altar geſehen, wenn der
Prieſter zum Atheiſten wird, wie die Soͤhne
des Eli, welche das Haus Gottes mit unrei-
ner Luſt und Gewaltthaͤtigkeit anfuͤlleten? Er
regieret auch an den Hoͤfen, in Palaͤſten, und
in wolluͤſtigen Staͤdten, wo das Getuͤmmel der
Schwelgerey, und Unrecht, und Drangſal,
hoͤher, als ihre erhabenſten Thuͤrme, ſteigt.
Und wann die Nacht jezo die Gaſſen dunckel ma-
chet, ſo ſchwaͤrmen die Soͤhne Belials, von
Wein und Muthwillen geſpornet, auf denſel-
ben herum; Zeugen deſſen ſind die Gaſſen von
Sodom, und jene Nacht zu Gibea, da die
gaſtfreye Thuͤr eine Frau auf die Gaſſe hinaus-
ſtellte, damit eine aͤrgere Schande vermieden
bliebe.
Dieſes waren die vornehmſten an Rang und
an Macht; aller uͤbrigen zu gedencken, wuͤrde
zu weitlaͤuftig ſeyn, wiewohl ſie weit und fern
beruͤhmt waren; die Joniſchen Goͤtter, welchen
Javans Nachkommen goͤttliche Ehre angethan
haben, da ſie doch ſelber bekennten, daß ſie
nicht ſo alt waͤren, als Himmel und Erde, ge-
ſtalt ſie dieſe vor ihre Stammvaͤter ausgaben;
Titan, der erſtgebohrne Sohn des Himmels
mit ſeiner ungeheuren Brut, welchen Satur-
nus ſein juͤngerer Bruder ſeines Geburts-Rechts
beraubet, hernach von dem maͤchtigern Jupiter,
ſeinem eigenen und der Rhea Sohn, ein glei-
ches Maaß empfangen hat; ſo daß Jupiter das
Reich mit Gewalt uͤberkommen hat. Dieſe
waren
[31]Verl. Paradies. I. B.
waren erſtlich in Creta und auf Jda bekannt,
herrſcheten hernach auf dem beſchneyten Gipfel
des kalten Olympus in der mittlern Luft, ih-
rem hoͤchſten Himmel; oder auf der delphiſchen
Klippe; oder zu Dodona, und ſo weit die Graͤn-
zen des doriſchen Lands ſich erſtreckten. Andere
flohen mit dem alten Saturn uͤber Adria in die
heſperiſchen Landſchaften, und ſtreifeten uͤber
das celtiſche Land bis in die entlegenſten Jnſeln.
Alle dieſe und noch mehr kamen zu Schaaren,
aber mit niedergeſchlagenen und truͤben Blicken,
in welchen doch einige dunckle Funcken von Freu-
de glimmmeten, weil ſie ihr Haupt nicht aller
Hoff-
23
[32]Johann Miltons
Hoffnung beraubt ſahen, weil ſie ſich ſelbſt mit-
ten in dem Verluſt nicht verlohren ſahen. Ei-
ne zweydeutige Farbe bemahlete auch deſſel-
ben Gebehrden. Aber er holete ſeinen ge-
woͤhnlichen Hochmuth bald wieder hervor, und
richtete ihren ſinckenden Muth mit ſchwuͤlſtigen
Worten, die zwar den Schein einer Hoheit,
aber nicht das Weſen hatten, allmaͤhlig wieder
auf, und verjagte die Furcht aus ihren Hertzen.
Hernach befahl er, daß ſeine maͤchtige Stan-
darte unter dem kriegriſchen Gethoͤne der Lau-
ten, Trompeten und Paucken aufgeſtellt werde.
Dieſe ſtoltze Ehre gebuͤhrete dem Azazel von
Amtes wegen, einem geraden Cherub; welcher
ſtracks das Reichs-Panier von dem ſchimmern-
den Stabe abwickelte; daſſelbe leuchtete wie
ein Meteorum, als es in der Hoͤhe ausgebrei-
tet nach dem Winde flatterte; die Seraphiſchen
Wapen und Siegeszeichen glaͤntzeten von Gold
und Edelſteinen, womit ſie koͤſtlich blaſonniert
waren, und inzwiſchen hoͤrte man von dem klin-
genden Metall ein martialiſches Gethoͤne erſchal-
len, auf welches das Heer ein allgemeines Feld-
geſchrey empor ſandte, das die Kluft der Hoͤl-
len erſchuͤtterte, und drauſſen das Reich des
Chaos
24
[33]Verl. Paradies. I. B.
Chaos und der alten Nacht erſchreckete. Au-
genblicklich ſah man in dem duͤſtern Licht zehn-
tauſend Panniere in die Luft emporſteigen, und
von Aurora-Farbe ſchimmern; mit ihnen ſtieg
ein ungeheurer Wald von Spieſſen in die Hoͤhe;
und Helme, und Schilde erſchienen gedrange
und dichtgeſchloſſen, in einer Schlachtordnung
von einer unmenſchlichen Breite. Nun ziehen
ſie in einem vollkommenen Phalanx nach der do-
riſchen Melodie anmuthiger Floͤten und Pfeifen;
einer Melodie, welche die Helden des Alter-
thums auf den hoͤchſten Grad der Großmuth
erhub, wann ſie eine Schlacht antraten, und
ihnen an ſtatt der Wuth eine geſezte Dapferkeit
Cein-
25
[Critiſche Sam̃l.]
[34]Johann Miltons
einblies, die gantz entſchloſſen iſt, und ſich von
der Furcht des Todes weder zur Flucht noch zu
einem ſchaͤndlichen Abzug bewegen laͤßt; ſie iſt
mit einer Kraft begabet, die unruhigen Gedan-
ken mit ihrem feyrlichen Klange zu beſaͤnftigen
und zu ſtillen, und Angſt, und Zweifelmuth, und
Furcht, und Leid, und Pein, in ſterblichen und
unſterblichen Gemuͤthern zu vertreiben. Alſo
ſammelten dieſe Geiſter ihre vereinigten Kraͤfte
mit unverwandten Gedancken in eines, indem
ſie in tieſem Stillſchweigen unter dem Spiele
der Schalmeyen, welches ihnen ihre muͤhſamen
Tritte auf dem verbrandten Boden linderte,
heranwerts ruͤcketen. Und jezo, da ſie im Ge-
ſichte ſtehen, halten ſie; ein graͤulicher Fluͤgel
von erſchrecklicher Laͤnge, in blendenden Ruͤſtun-
gen, mit Schilden und Spieſſen verſehen, nach
der Weiſe des Alterthums; ſie warteten alſo
auf die Befehle ihres maͤchtigen Haupts. Der-
ſelbe laͤßt ſeine erfahrnen Augen alle Linien der
Schlachtordnung durchlaufen, und uͤberſieht
mit geſchwinden Blicken das gantze Heer, ſeine
geſchickte Stellung, die Geſichter und das An-
ſehen dieſer Krieger, die Goͤttern gleich ſahen;
zulezt uͤberzehlt er ſie. Und jezo blaͤhet ſich ſein
Hertz mit Hochmuth, und pochet verhaͤrtend
auf ſeine Staͤrcke: Denn ſeit der Menſch er-
ſchaffen worden, iſt niemahls eine ſolche Krie-
gesmacht zuſammengeſtoſſen, welche neben die-
ſer groͤſſer ſcheinen koͤnnte, als jene kleine Jn-
fanterie, die von den Kranichen bekriegt wird;
wuͤrde gleich das gantze Rieſen-Geſchlecht von
Phle-
[35]Verl. Paradies. I. B.
Phlegra mit denen heroiſchen Nationen, die zu
Theben und Jlium fochten, und auf beyden
Seiten mit Huͤlfs-Goͤttern untermiſcht waren,
in ein Heer zuſammengefuͤget, und wuͤrden uͤber-
dieß die Voͤlcker zu ihnen geſtellet, welche in
der Fabel oder dem Roman von Uthers Soh-
ne ſo viel Aufſehens machen, die Brittiſchen und
die Armoriſchen Ritter, nebſt allen andern, ge-
tauften und beſchnittenen, die vor Zeiten in
Aſpramont, und Montalban, Damaſco, Ma-
rocco, und Trapezunt Ritterſpiele gepfleget,
und welche Biſerta von dem Africaniſchen Ufer
herausgeſandt, als der groſſe Carl mit allen ſei-
nen hohen Fuͤrſten zu Fontarabia geſchlagen wor-
den. So weit uͤberſtieg dieſe Macht alle Ver-
gleichungen mit ſterblichen Kriegsheeren, den-
noch ſah ſie auf ihren furchtbaren Gebieter.
Derſelbe ſtach an Geſtalt und Gebehrdung uͤber
alle andern hervor, und ſtuhnd in der Hoͤhe,
wie ein Thurm; ſeine Bildung hatte ihren ur-
ſpruͤnglichen Glantz noch nicht gaͤntzlich verloh-
ren, und ſchien nicht ſchlechter, als eines Ertz-
C 2Engels,
26
[36]Johann Miltons
Engels, der gefallen war, und an einer Herr-
lichkeit, die zuvor uͤbermaͤſſig geweſen war,
verkuͤrtzet worden: Wie wenn die aufſteigende
Sonne mit verminderten Strahlen durch die
benebelte Horizontal-Luft hervorblickt, oder
in einer duͤſtern Verfinſterung hinter dem Mon-
den hervor eine ungluͤcksreiche Daͤmmerung auf
den halben Theil der Welt fallen laͤßt, und
die Monarchen in Sorgen ſetzet, daß Ver-
aͤnderungen erfolgen werden. Auf dieſe Wei-
ſe war der Ertzengel zwar verfinſtert, jedoch
an Glantz vortrefflicher als die andern alle.
Aber auf ſeinem Angeſichte waren von dem
Donner tiefe Narben eingegraben, und die
Sorge ſaß auf ſeinen erblaßten Wangen;
aber in ſeinen Augbraunen las man einen un-
gezaͤhmten Muth und einen geſezten Stoltz,
der
27
28
[37]Verl. Paradies. I. B.
der auf Rache laurete; ſein Auge war grim-
mig, doch gab es Zeichen einer nagenden Ge-
muͤthsleidenſchaft von ſich, wenn es ſeine Mit-
geſellen, oder beſſer zu ſagen, ſeine Nachfol-
ger betrachtete, die ſich ſeines Verbrechens
mittheilhaftig gemacht hatten, welche er hie-
bevor in einem ungleich andern Zuſtand der
Seligkeit geſehen, jezo auf ewig verurtheilt
ſah, ihr Loos in der Pein zu beziehen; Mil-
lionen Geiſter, die wegen ſeines Fehlers aus
dem Himmel ausgemertzet, und wegen ſeiner
Empoͤrung aus den ewigen Lichtern verſtoſſen
worden; wenn es ſah, wie ſie in ihrem ver-
welckten Glantz dennoch ſo getreu bey ihm ſtuhn-
den. Wie die herrlichen Staͤmme der Wald-
Cichen und der Berg-Fichten, wenn ſie das
Feuer vom Himmel getroffen hat, mit ver-
ſengtem Gipfel und verduͤrrt noch auf der ver-
brandten Heide ſtehen. Er war jezo bereit,
ſie anzureden; deßwegen ſchwenckten ſie ihre
gedoppelten Linien von Fluͤgel zu Fluͤgel, und
ſchloſſen ihn mit ſeinen Reichsfuͤrſten halbig
ein. Die Aufmerckſamkeit machte ſie ſtumm.
Dreymahl fieng er an, und dreymahl brach
C 3er
29
[38]Johann Miltons
er wider ſeinen hochmuͤthigen Willen in Thraͤ-
ner aus, ſolche, wie die Engel weinen, end-
lich
30
31
[39]Verl. Paradies. I. B.
lich fanden die Worte, mit Seufzern unter-
miſcht, einen Weg.
O ihr Myriaden unſterblicher Geiſter, o
ihr Heere, die ihres gleichen nicht haben, den
Allmaͤchtigen ausgenommen, mit welchem ſelbſt
ihr dennoch nicht ohne Ruhm gefochten habet,
wiewohl der Ausgang des Streits fuͤr euch
entſetzlich war, wie dieſer Platz und dieſe ent-
ſetzliche Veraͤnderung zu erkennen geben, wo-
von man nicht ohne Zorn reden kan: Alleine
was vor eine Gemuͤtheskraft, was vor eine
Gabe, das Kuͤnftige vorherzuſehen oder zu er-
rathen, konnte aus der tiefen Betrachtung
des Vergangenen oder des Gegenwaͤrtigen be-
fahren, daß eine ſolche vereinigte Goͤttermacht,
C 4welche
32
[40]Johann Miltons
welche ſo feſt ſtuhnd, wie dieſe, jemahls von
Abweiſung hoͤren koͤnnte? Und wer kan je-
zo noch, ſelbſt nach dem erlittenen Verluſt,
glauben, daß alle dieſe maͤchtigen Legionen,
deren Verweiſung den Himmel laͤhr gemachet
hat, nicht aus eigener Kraft wieder hinauf-
ſteigen, und ihren Geburts-Sitz wieder be-
ziehen werden? Mich anbelangend nehme ich
das gantze Heer des Himmels zum Zeugen, ob
ungleiche Anſchlaͤge an meiner Seite, oder
einige Gefaͤhrlichkeit, die ich haͤtte vermeiden
wollen, unſre Hoffnung ruckgaͤngig gemachet
habe. Nein, ſondern der, welcher in dem Him-
mel als ein Monarche herrſchet, war bisda-
hin in voller Sicherheit auf ſeinem Throne
geſeſſen, als einer, welchen ein altes Herkom-
men, eine lange Gewohnheit, und ein williger
Gehorſam darauf befeſtiget haͤtten, und fuͤhrte
ſeinen koͤniglichen Staat in vollem Pomp, hielt
uns aber ſeine Staͤrcke allezeit verborgen, und
eben
33
[41]Verl. Paradies. I. B.
eben dieſes veranlaſſete uns zu unſrem Unter-
nehmen, und verurſachete unſren Fall. Kuͤnf-
tighin kennen wir ſeine Macht, und kennen
die unſrige, inſoweit, daß wir nicht Urſache
haben, Streit an ihn zu ſuchen, noch wenn
ſolcher an uns geſucht wird, davor zu erſchre-
ken. Am vortraͤglichſten fuͤr uns wird wohl
dieſes ſeyn, daß wir dasjenige mit verdeckten
Anſchlaͤgen, durch Liſt oder Betrug, zu erhal-
ten trachten, was wir mit Gewalt nicht zu-
wege bringen koͤnnen; damit er endlich nichts-
deſtoweniger an uns erfahren moͤge, daß wer
ſeinen Feind durch Gewalt uͤberwindet, ihn
nur halb uͤberwunden habe. Der Raum mag
neue Welten hervorbringen; wie in dem Him-
mel durchgehends eine Sage gieng, daß er
ſolche in kurtzem erſchaffen, und ein Geſchlech-
te darein ſetzen wuͤrde, welchem er ſeine Gunſt
in einem gleichen Grade der Liebe, wie den Soͤh-
nen des Himmels zutheilen wuͤrde. Daſelbſt-
hin wollen wir unſren erſten Ausfall thun, und
geſchaͤhe ſolches gleich, ſie nur zu verkundſchaf-
ten, daſelbſthin oder ſonſt wohin; denn dieſe
hoͤlliſche Grube ſoll himmliſche Geiſter nicht
allezeit in Banden behalten, noch der Abgrund
ſie laͤnger mit Finſterniß bedecken. Aber dieſe
Gedancken muß eine groſſe Raths-Verſamm-
lung zur Zeitigung bringen. Zum Frieden iſt
keine Hoffnung uͤbrig, denn wer kan an Unter-
werffung gedencken? Derowegen muß man ſich
zum Krieg entſchlieſſen, zum Krieg, der entwe-
der offentlich oder verdeckt gefuͤhrt werden muß.
C 5Er
[42]Johann Miltons
Er ſagte ſo, und zur Beſtaͤtigung ſeiner
Worte flogen Millionen flammender Schwerd-
ter empor, welche die maͤchtigen Cherubim von
den Seiten zuͤcketen; der ploͤtzliche Schimmer
erleuchtete die Hoͤlle weit in die Runde; ſie
raſeten haͤftig wider den Hoͤchſten, und ſchlugen
ihre Waffen mit einem wilden Krieges-Ge-
thoͤne auf die klingenden Schilde, indem ſie
Hohn und Trutz nach dem Gewoͤlbe des Him-
mels hinaufſandten.
Nicht weit von da ſtuhnd ein Berg, deſſen
graͤßlicher Gipfel Feuer und wallenden Rauch
ausſpukete; die uͤbrigen Theile glaͤntzeten mit
einer funckelnden Rinde; ein ungezweifeltes Zei-
chen, daß er in ſeinem Schooſſe hartes mine-
raliſches Erzt fuͤhrete; das Werck des Schwe-
fels. Daſelbſthin eilete eine zahlreiche Bande
mit einer gefluͤgelten Eilfertigkeit. Wie wenn
Truppen Minierer mit Schaufeln und Spa-
then bewaffnet von einem koͤniglichen Heer-
zeuge aufbrechen, ein Lager abzuſtechen, oder
eine Schantze aufzuwerffen. Mammon fuͤhrete
ſie an, Mammon, der niedertraͤchtigſte Geiſt,
der
34
[43]Verl. Paradies. I. B.
der vom Himmel gefallen, der im Himmel ſelbſt
ſeine Blicke und Gedancken allezeit nur nieder-
waͤrts geneigt, und den Reichthum des Bodens
daſelbſt, geſchlagenes Gold, mehr bewundert hat-
te, als irgend andere goͤttliche und heilige Sa-
chen, die man in dem ſeligen Geſichte genieſſen
konnte. Durch ihn, und durch ſein Einblaſen
wurden die Menſchen zuerſt gelehrt den Mittel-
punct zu pluͤndern, und mit verruchten Haͤnden
das Eingeweide ihrer Mutter, der Erde, zu zer-
wuͤhlen, um ſolcher Schaͤtze willen, welche mit
beſſerm Nutzen verborgen laͤgen. Seine Rotte
hatte in dem Berge bald eine weite Wunde
geoͤffnet, und Rippen von Gold hervorgegra-
ben. Niemand verwundere ſich, daß der Reich-
thum in der Hoͤlle waͤchßt. Der Boden da-
ſelbſt iſt vor andern dieſes theuren Gifts wuͤr-
dig
35
36
[44]Johann Miltons
dig. Und hier moͤgen diejenigen, welche auf
menſchliche Dinge pochen, und voller Verwun-
derung von Babel und den Wercken der Egyp-
tiſchen Koͤnige reden, lernen, wie ihre vor-
nehmſten Denckmahle des Ruhms, der Macht,
und der Kunſt, von verworffenen Geiſtern ohne
Muͤhe uͤbertroffen werden, und in einer Stun-
de von dieſen verfertiget wird, was ſie ſchwer-
lich in einem Jahrhundert mit unaufhoͤrlicher
Arbeit und mit unzaͤhligen Haͤnden zu Stande
bringen. Unten auf der Ebene ſchmelzete ein
andrer Haufe in vielen zu dem Ende gemach-
ten Huͤtten, die unten mit Adern voll fluͤſſi-
gen Feuers, das aus dem See abgezapfet
ward, durchfahren waren, die rohen Klum-
pen Ertzes mit verwunderſamer Kunſt, ſonder-
te die unterſchiedlichen Gattungen, und ſchaͤum-
te die ſiedenden Schlacken ab. Ein dritter hat-
te immittelſt mancherley Formen in dem Bo-
den eingegraben, und durch ſeltſame Gaͤnge
aus den Schmeltzhuͤtten alle holen Rinnen an-
gefuͤllet; wie der Wind in einer Orgel aus
einem Blaſe-Brete in manche Reihe Pfeifen
gefuͤhrt wird. Urploͤtzlich ſtieg ein maͤchtig groſ-
ſes Gebaͤude, wie ein Jrrwiſch-Licht aus der
Erden, unter dem Schalle lieblicher Melodien
und
37
[45]Verl. Paradies. I. B.
und ſuͤſſer Stimmen, wie ein Tempel gebauet,
wo Pfeiler und doriſche Saulen in die Run-
de geſetzet, und guͤldene Hauptbalcken daruͤber
geleget waren; auch waren daran Karniſſen,
und Frieſen, mit erhobener Bilder-Arbeit,
nicht vergeſſen; und die gewoͤlbete Decke war
mit Gold-Blech uͤberzogen. Mit dergleichen
Pracht hatte weder Babylon noch das groſſe
Alcairo in ihrem groͤſten Flor gebauet, dem
Belus oder dem Serapis ihren Goͤttern, oder
ihren Koͤnigen zu Wohnungen, als Egypten
und Aſſyrien mit Reichthum und Gepraͤnge
auf einander eiferten. Die Saulen ſtuhnden
jezo feſt, in einer ſtattlichen Hoͤhe emporſtei-
gend, und alſobald oͤffnen die Thuͤren ihre eher-
nen Fluͤgel, und entdecken inwendig einen wei-L
ten Raum auf einem glatten und polirten E-
ſtrich. Von der gewelbten Decke hangen mit-
telſt einer magiſchen Kunſt viele Reihen bren-
nender Lampen und ſchimmernder Leuchter, mit
Naphta und Aſphalt unterhalten, und gaben
das Licht wie von einem geſtirnten Himmel
von ſich.
Die gantze Menge eilete voll Verwunde-
rung hinein, etliche lobeten das Werck, und
etli-
38
[46]Johann Miltons
etliche den Baumeiſter; ſeine Hand war in
dem Himmel von manchem gethuͤrmten hohen
Bau bekannt, wo gekroͤnte Engel ihren Sitz
hatten, und als Fuͤrſten auf Thronen ſaſſen,
weil der hoͤchſte Herr und Koͤnig ſie zu dieſer
Macht erhoͤhet, und ihnen die Herrſchaft uͤber
die glaͤntzenden Orden der Engel, einem jeden
ſeine eigene Hierarchie, anvertrauet hatte. Sein
Nahme war auch in dem alten Grecien nicht un-
bekannt, noch ohne Anbeter; und in dem Au-
ſoniſchen Lande nannten ihn die Menſchen Mul-
ciber; und ſie dichteten von ihm, wie er vom
Himmel gefallen, da ihn der erzoͤrnte Jupiter
uͤber die criſtallinen Zinnen des Himmels hin-
aus geworffen hatte, ſey er von Morgen bis
Mittags, und von Mittag bis zum Abend-
Thau, einen Sommertag lang, gefallen, und
mit der untergehenden Sonnen wie ein fallender
Stern von dem Zenith auf die Jnſel Lemnos in
dem Egeiſchen Meer geſuncken: Alſo ſagen ſie
aus Jrrthum, denn ſein Fall geſchah lange vor-
her mit dieſer aufruͤhriſchen Rotte; und mochte
ihm jezo nichts helfen, daß er in dem Himmel
hohe Thuͤrme gebaut, und er mochte ſich mit
keinem von ſeinen Ruͤſtzeugen retten, ſondern
ward quer uͤber Ecke in die Hoͤlle geſenckt, daß
er mit ſeiner arbeitſamen Geſellſchaft daſelbſt
bauete.
Jmmittelſt ward auf Befehl der hoͤchſten
Gewalt von gefluͤgelten Herolden mit furchtba-
ren Ceremonien, und bey dem Schall der Trom-
peten, in dem gantzen Heer ein feyrlicher Reichs-
tag
[47]Verl. Paradies. I. B.
tag ausgeruffen, der in Pandaͤmonium, der
Hauptburg Satans und ſeiner Reichsfuͤrſten
unverzuͤglich ſollte gehalten werden. Die Mah-
nungsbriefe lauteten, daß von jeder Bande,
und jedem gevierten Regiment der wuͤrdigſte er-
ſcheinen ſollte, welchen ſein Rang oder die Wahl
vor ſolchen erkennten. Zur Stunde kamen ſie
ſchaarweiſe mit einem zahlreichen Begleite von
hunderten und von tauſenden. Durch alle Zu-
gaͤnge war ein Gedraͤnge. Die Schloß-Thore
und die weiten Vorhoͤfe, die doch einem abge-
ſteckten Felde gleich ſahen, wo die kuͤhnen Kaͤm-
pfer ſich zu Pferde tummelten, und vor des
Soldans Buͤhne den beſten Rittersmann von
Panim zu einem Kampf auf Leib und Leben,
oder einem Ritt mit ſtumpfen Lanzen ausforder-
ten, wimmelten von dem herzudringenden
Schwarm, beydes auf dem Boden und in der
Luft, die von dem Geziſche ſauſender Winde
erklang. Wie die Bienen im Fruͤhling, wenn
die Sonne mit dem Stier durch den Himmel
faͤhrt, ihre volckreiche Jugend ſich in langen
Trauben um den Stock herum anhaͤngen laſſen,
da ſie inzwiſchen in dem friſchen Thau unter den
Bluhmen hin und her fliegen, oder auf der glat-
ten Plancke, der Vorſtadt ihrer Stroh-Feſtung,
die mit Balſam neuuͤberſtrichen iſt, ſpatzieren,
und von ihren Staats-Angelegenheiten reden.
So dicht ſchwaͤrmeten dieſe Luft-Voͤlcker, und
draͤngeten ſich, bis daß das Zeichen gegeben
ward. Darauf konnte man Wunder ſehen!
Diejenige, welche allererſt die rieſenmaſſigen
Soͤhne der Erden an Groͤſſe uͤbertraffen, ſind
jezo
[48]Verl. Paradies. I. B.
jezo kleiner als die ſchmaͤleſten Zwerge, und
draͤngen ſich, wiewohl ſie unzaͤhlig ſind, in einen
engen Raum zuſammen, ſie gleichen dem Volcke
der Pigmeen jenſeit des Jndiſchen Gebuͤrges,
und den zauberiſchen Aelfen, derer mitternaͤcht-
lichen Mummereyen ein Bauer, der ſich verſpaͤ-
tet hat, bey einem Wald oder einem Brunnen
ſieht, oder ſich traͤumen laͤßt, indem der Mond
herrſchend uͤber ſeinem Haupt ſteht, und jezo
ſeinen blaſſen Lauf naͤher gegen der Erden nim̃t;
alldieweil jene auf ihre Luſtbarkeiten und Taͤntze
erpicht ſind, und ſein Ohr mit einer lieblichen
Muſick ergetzen; ſo daß ihm ſein Hertz zu einer
Zeit vor Luſt und vor Furcht pochet. Alſo zo-
gen dieſe uncoͤrperlichen Geiſter ihre ungemeſſe-
nen Geſtalten in die duͤnneſten Formen zuſam-
men, und ſaſſen gantz geraume, wiewohl oh-
ne Zahl, mitten in dem Saale dieſes hoͤlliſchen
Palaſts. Aber weiter hinein, und in ihrem ei-
genen Maaß, ſich ſelber gleich, ſaſſen die groſ-
ſen ſeraphiſchen Herren und Cherubim, hinter
beſchloſſenen Schrancken in abgeſonderten Zim-
mern, auf guͤldenen Stuͤhlen, tauſend Halb-
goͤtter, in voller Anzahl. Nach einem kurtzen
Stillſchweigen und abgeleſenen Mahnungs-
Briefen ward jezo der groſſen Berathſchlagung
ein Anfang gemacht.
Alexan-
[[49]]
Alexander Popen
Verſuch
Von den
Eigenſchaften
Eines
Kunſtrichters
Durch
Hrn. Hofrath Drollinger
uͤberſetzet.
[[50]][[51]]
Verſuch
von den Eigenſchaften
eines
Kunſtrichters.
ES iſt ſchwer zu ſagen, worinnen mehr
Ungeſchicklichkeit begangen werde, im
uͤblen Schreiben, oder im uͤblen Urthei-
len. Doch iſt das letzte gefaͤhrlicher als das erſte.
Jenes ermuͤdet nur unſere Geduld, dieſes kan
auch den Verſtand in Jrrthum fuͤhren. Nur
wenige irren in jenem, aber in dieſem gar viele,
und werden allezeit zehen verkehrt urtheilen, fuͤr
einen der ungeſchickt ſchreibet. Ehedeſſen machte
ein Thor ſich allein ſelbſt zu ſchanden; nun macht
ein Thor in Verſen ſo viel andere in der Proſe.
Mit unſrem Urtheilen iſt es bewandt, wie
mit unſern Uhren. Keine koͤmmt mit der andern
juſt uͤberein. Und doch glaubt ein jeder der ſeini-
gen. Jnzwiſchen iſt gleichwohl ein richtiger Ge-
ſchmack bey einem Kunſtrichter eben ſo ſelten, als
das aͤchte Poetiſche Feuer bey einem Dichter.
D 2Beyde
[52]Verſuch von den Eigenſchaften
Beyde muſſen ihr Licht vom Himmel empfangen,
und der erſte muß zum Urtheilen eben ſowohl geboh-
ren ſeyn, als der lezte zum Schreiben. Nur die-
ſe ſollten andere unterrichten, (a) die ſelbſt groſſe
Meiſter ſind, und nur dieſe ſolten frey tadeln duͤr-
fen, die ſelber wohl geſchrieben haben. Es iſt
wahr, ein Scribent iſt von ſeinem Witze einge-
nommen: Aber iſt es der Kunſtrichter nicht auch
von ſeinem Urtheile?
Zwar was den erſten Samen der Beurthei-
lungskraft anbelangt, ſo finden wir ihn, nach
genauer Einſicht, bey den meiſten Leuten. Die
Natur giebt ihnen wenigſtens (b) ein glimmen-
des Lichtgen. Die Anfangszuͤge dieſer Faͤhigkeit
finden ſich richtig, obwol nur matt und ſchwaͤch-
lich in ihnen entworfen. Allein wie ein gar zu
ſchwacher Umriß, wenn er regelmaͤſſig iſt, durch
ein ungeſchicktes Uebermalen nur deſto mehr ver-
derbet wird, ſo wird auch die geſunde Ver-
nunft durch eine falſche Schulgelehrtheit verſtellet.
Manche werden in dem Jrrgarten der Schulen
verwirrt, und manche aus bloſſen Einfaͤltigen,
wozu ſie die Natur beſtimmt hatte, zu laͤcherli-
chen Thoren. Dieſer verliehrt die Vernunft,
weil er dem Witze nachjagt, und dann wird er
ein Kunſtrichter, um ſich ſelbſt zu vertheidigen.
Einer
[53]eines Kunſtrichters.
Einer haſſet alle Scribenten als ſeine Mitbuhler.
Ein anderer beneidet nur die aufgeweckten Gei-
ſter, wie ein Lahmer einen fertigen Taͤnzer. Die-
ſe ſaͤmtlich fuͤhlen eine juckende Begierde, andere
zu verlachen, und moͤchten gar zu gern auch hoͤh-
niſch ſeyn koͤnnen. Maͤvius ſchreibt dem Apollo
zum Aergerniſſe. Noch giebt es Leute, die noch
ſchlimmer urtheilen, als Maͤvius ſchreiben kan.
Mancher konnte im Anfang fuͤr einen aufge-
weckten Kopf, und dann gar fuͤr einen Dichter
mitlaufen. Bald will er ein Kunſtrichter ſeyn,
und da zeigt er ſich am Ende, als einen ausge-
machten Narren. Einigen fehlt es beydes an
Witz und an Urtheilskraft: Sie ſind wie die ſchwer-
laͤſtigen Maulthiere, weder Pferde noch Eſel.
Solcher halbgelehrten Witzlinge giebt es ſo viel
in unſerer Jnſul, als des halb ausgebildeten Un-
geziefers an den Ufern des Nils. Man weis
nicht, wie man dieſe unbeſtimmten Dinge nennen
ſoll, ſo ungewiß iſt ihr Geſchlechte. Alle zu er-
zehlen brauchte man hundert Zungen, oder einen
eitelen Witzling, der ihrer hundert muͤde machen
koͤnnte.
Jhr derohalben, die ihr Ruhm austheilen und
ſelbſt verdienen wollet, die ihr den ehrenvollen Na-
men eines Critici mit Rechte zu fuͤhren verlanget,
pruͤfet euch ſelbſt und eure Staͤrcke, und erforſchet
ja wohl, wie weit euer Verſtand, euer Ge-
ſchmack, und eure Wiſſenſchaft reichen. Wagt
euch nicht weiter als ihr Grund findet, ſondern
unterſcheidet vernuͤnftig und zeichnet den Punct
wohl aus, da Verſtand und Dummheit zuſam-
D 3men-
[54]Verſuch von den Eigenſchaften
mentreffen. Die Natur hat allen Dingen be-
queme Grenzen beſtimmt, und den Steigens be-
gierigen Witz des ſtolzen Menſchen weislich nie-
dergebogen. So wie die See, wenn ſie an ei-
nem Orte etwas an Lande gewinnt, am andern
weite Sandfelder zuruͤck laͤßt, ſo gehet es auch
mit unſerer Seele. Weil das Gedaͤchtniß darin-
nen vortrift, ſo fehlt es an den hoͤhern Kraͤften
des Verſtandes. Und wo die Strahlen der
warmen Einbildungskraft ſpielen, da pflegen die
zarten Bilder des Gedaͤchtniſſes hinweg zu ſchmel-
zen. Fuͤr einen Geiſt ſchickt ſich nur eine Wiſſen-
ſchaft. So groß iſt der Umfang der Kunſt, und
ſo enge ſind des Verſtandes Grenzen. Ja wir
muͤſſen uns nicht nur an eine einige Wiſſenſchaft,
ſondern offt allein an einzele Theile derſelben be-
ſchraͤncken. Sonſt geht es uns wie einem Mo-
narchen, der die bereits gemachten Eroberungen
verliehret, weil er aus Ehrgeitz immer neue ma-
chen will. Jeder wuͤrde ſeinen Poſten wohl be-
haupten, wenn er ſich nur an das hielte, was
er verſtehet.
Zuvorderſt folget der Natur und meſſet euer
Urtheil nach ihrem gerechten und unaͤnderlichen
Probmaaſſe. Sie irret niemahls. Sie iſt ein
klares, ein allgemeines, ein unwandelbares Licht.
Sie giebt allem Kraft, Leben und Schoͤnheit.
Sie iſt zugleich die Quelle, der Endzweck und
die Probregel der Kunſt. Aus ihrem Vorrath
nimmt die Kunſt alles, was ſie mit Rechte braucht.
Sie wircket ohne ſich zu zeigen und herrſchet ohne
Gepraͤnge. So macht es in einem ſchoͤnen Lei-
be
[55]eines Kunſtrichters.
be die darinnen verborgene Seele, wenn ſie ihn
mit Kraft und Lebensgeiſtern erfuͤllt, wenn ſie je-
de Bewegung regieret, jede Nerve unterhaͤlt,
und doch ſelbſt nicht ſichtbar iſt, als in ihren
Wirckungen. Bey manchem, der einen reichen
Vorrath an Witze vom Himmel bekommen, fin-
det ſich eben ſo viel Mangel ihn recht zu verwal-
ten. Denn Witz und Urtheilskraft ſind immer
im Zanke, obgleich eines dem andern wie Mann
und Weib zur Huͤlfe beſtimmet iſt. Es iſt ſchwe-
rer den Pegaſus zu leiten, als anzuſpornen, und
ſeine Hitze zu maͤſſigen, als ſeinen Lauf zu rei-
zen. Der gefluͤgelte Laͤufer iſt gleich einem edlen
Pferde. Er zeiget niemalen ein ſchoͤners Feuer,
als wenn man ihn vernuͤnftig zuruͤckehaͤlt.
Alle dieſe Regeln, welche die alten entdeckt und
nicht ſelbſt erſonnen haben, ſind immer die Na-
tur, aber die Natur in richtiger Lehrart. Die
freye Natur gleicht einer Monarchie. Sie wird
allein durch ſolche Geſetze beſchraͤncket, welche ſie
anfangs ſelbſten gegeben hat.
Hoͤret wie das gelehrte Griechenland uns ſeine
lehrreiche Regeln eroͤffnet, wann wir unſern Flug
zuruͤcke halten, wann wir ihm Freyheit geben
ſollen. Mich deucht, ich ſehe es, wie es uns ſei-
ne Soͤhne auf dem hoͤchſten Gipfel des Parnaſſus
zeiget, und die ſchweren Wege andeutet, die ſie
betreten hatten. Es haͤlt den unſterblichen Preiß
von ferne in der Luft, und reizet die andern, mit
gleichen Schritten auch dahin aufzuſteigen. Es
machte die richtigſten Regeln aus groſſen Exem-
peln, und nahm von den trefflichſten Geiſtern,
D 4was
[56]Verſuch von den Eigenſchaften
was ſelbige vom Himmel empfangen hatten. (c)
Ein edelgeſinnter Criticus fachte damals des Poe-
ten Feuer an, und lehrte die Welt, wie ſie mit
Vernunft bewundern ſollte. Die Critick war
der Muſen Aufwaͤrterin, welche fuͤr ihren Aufputz
Sorgetrug, um ſie dadurch liebenswuͤrdiger zu ma-
chen. Aber wie ſehr entfernten ſich nicht die nach-
folgenden Witzlinge von dieſer Abſicht? Die die
Muſe nicht gewinnen konnten, die buhlten mit
der Dienerin. Sie warfen ſich ſelbſt zu Herren
auf und fiengen an ein beſonders Gewerbe zu trei-
ben. Ja ſie kehrten wider die Dichter ihre ei-
genen Wafen und ermangelten niemals ihre Lehr-
meiſter am heftigſten zu haſſen. So macht es heu-
te ein Apotheker, wenn er aus des Doctors Re-
cepten gelernet hat, ſelbſt einen Doctor zu ſpielen.
Er wird ſo verwegen in der Ausuͤbung uͤbel ver-
ſtandener Regeln, daß er getroſt verſchreiben,
eingeben, und ſeinen eigenen Meiſter fuͤr einen
Narren ausſchreyen darf. Manche fallen wie
Raͤuber uͤber die Schriften der Alten und verhee-
ren mehr daran, als Zeit und Motten jemals
thun koͤnnen. Weil anderwerts ein trockener Re-
gelſchmied ohne einigen Erfindungsſchmuck mage-
re Recepte daher ſchreibt, wie man Gedichte
machen ſolle. Dieſe raͤumen die Vernunft hin-
weg um ihren Schulkram auszulegen, und jene
erklaͤ-
[57]eines Kunſtrichters.
erklaͤren einen Scribenten ſo kuͤnſtlich, daß nichts
vom Verſtande uͤbrig bleibt.
Jhr alſo, die ihr im Urtheilen die rechte Straſſe
brauchen wollet, bemuͤhet euch den Character je-
des Alten wohl zu erkennen. Ueberleget auf je-
dem Blatte die Fabel, den Jnhalt und den End-
zweck. Erforſchet ſeine Religion, ſein Vaterland,
den Geiſt und die Art ſeiner Zeiten. Liegen euch
alle dieſe Umſtaͤnde nicht auf einmal vor Augen,
ſo moͤget ihr wohl kluͤgeln, aber niemals mit Be-
ſtande urtheilen. Laſſet euch die Werke des Ho-
mers eure Bemuͤhung und eure Wolluſt ſeyn.
Leſet ſie bey Tage, und uͤberleget ſie bey Nacht.
Aus dieſen muͤſſet ihr euer Urtheil bilden, eure Be-
griffe nehmen, und alſo den Muſen aufwaͤrts bis
zu ihrem Urſprunge nachfolgen. Durchleſet den
Text ohnermuͤdet. Vergleichet ihn mit ihm ſelb-
ſten, und brauchet die Mantuaner-Muſe zur Aus-
legung daruͤber. Da der junge Maro erſtmals
von Koͤnigen und Schlachten ſang, (d) eh ihm
noch der warnende Phoebus ſein zitternd Ohr ge-
ruͤhret hatte, ſo glaubte er ſich vielleicht auch uͤ-
ber die Geſetze der Critick erhaben, und hielt ſichs
ſchimpflich, aus einem andern als der Natur
Brunnen zu ſchoͤpfen. Aber da er alles Stuck-
weiſe unterſucht hatte, da fand er, daß die Na-
tur und Homer einerley waren. Ueber dieſe
Wahrheit erſtaunet, bezaͤumte er ſein verwege-
nes Vorhaben, und ließ uns ein Werck, das
D 5nach
[58]Verſuch von den Eigenſchaften
nach den ſtrengſten Regeln ſo genau ausgearbei-
tet iſt, als ob der Stagyrite uͤber jede Zeile die
Aufſicht gefuͤhret haͤtte. Lernet hieraus eine behoͤ-
rige Hochachtung fuͤr die Regeln der Alten. Jh-
nen folgen iſt der Natur nachfolgen.
Jnzwiſchen giebt es doch auch Schoͤnheiten,
welche keine Regeln uns erklaͤren koͤnnen. Denn
nicht alle ſind Fruͤchte der Arbeit, einige muͤſſen
gluͤcklich gerathen. Die Dichtkunſt gleichet der
Muſick. Jn jeder ſind gewiſſe Annehmlichkeiten,
die man nicht nennen, die kein Unterricht lehren
und nur eine Meiſterhand erreichen kan. Die
Regeln ſind nur zu Befoͤrderung eines Endzwe-
kes gegeben. Erſtrecken ſie ſich zuweilen nicht
weit genug, (e) und man kan den Zweck durch
eine gluͤckliche Freyheit erhalten, ſo wird dieſe
Freyheit ſelbſt zur Regel. So weiß ſich der Pe-
gaſus, mit einem edlen Abſprung von der gemei-
nen Straſſe, einen naͤhern Weg zu finden. So
doͤrfen groſſe Geiſter unterweilen einen kuͤhnen
Flug, uͤber die Regeln, wagen, und erhabene
Fehler begehen, die ein rechtſchaffener Critikus
nicht verbeſſern darf. Mit tapferer Unordnung
unterfangen ſie einen Ausfall aus den gemeinen
Graͤnzen, und erbeuten Schoͤnheiten auſſerhalb des
Gebietes der Kunſt, die, ohne durch unſer Ur-
theil zu laufen, gerade ins Herze dringen, und
damit
[59]eines Kunſtrichters.
damit ihren ganzen Zwek auf einmal erreichen.
Alſo vergnuͤget unſer Auge zum oͤftern ein Gegen-
ſtand in der Ferne, der von der gemeinen Ord-
nung der Natur auch abweichet; ein hangender
Berg, ein ungeformter Felſen. Doch iſt in der
Dichtkunſt allezeit eine Sorgfalt und mitten im
Poetiſchen Raſen eine Beſcheidenheit noͤthig. Ha-
ben gleich die Alten ihre Regeln gebrochen, (wie
Koͤnige uͤber Geſetze diſpenſieren, die ſie ſelbſt ge-
geben,) ſo huͤtet euch doch dafuͤr ihr neuere. Oder
wenn ihr ja ein Geſetze uͤberſchreiten muͤſſet, ſo
uͤberſchreitet doch niemals ſeinen Endzwek. Thut
es ſelten, und nur aus Noth gezwungen, zum
wenigſten aber nicht ohne Vorgaͤnger, auf die
ihr euch beziehen koͤnnt. Sonſt macht euch die
Critik ohne einiges Bedencken den Proceß und
greift vermoͤge ihrer Geſetze auf euren Ruf und Na-
men.
Jch weis wohl, es giebt einbildiſche Geiſter, die
dergleichen freyere Schoͤnheiten auch in den Alten
fuͤr Fehler halten. Aber viele Bilder ſcheinen un-
formlich und misgeſtaltet, wenn man ſie Stuͤck-
weiſe oder zu nahe betrachtet, denen doch eine be-
hoͤrige Entfernung Form und Schoͤnheit giebt, im
fall ſie nur nach Licht und Stelle vernuͤnftig pro-
portionirt ſind. Ein kluger Feldherr muß ſeine
Voͤlcker nicht allezeit in regelmaͤſſige Haufen und
zierliche Ordnung ſtellen, ſondern ſich nach dem
Platze und der Gelegenheit richten. Er verbirgt
zuweilen ſeine Staͤrke und ſcheinet wol gar zu flie-
hen. Und ſo iſt es oft eine Kriegsliſt, was wir
fuͤr
[60]Verſuch von den Eigenſchaften
fuͤr einen Fehler halten. Aber Homerus ſchlaͤft
nicht, ſondern wir ſelbſten traͤumen.
Jhr groſſe Geiſter des Alterthums, eure Al-
tare ſind mit immer gruͤnenden Lorbeeren bedeckt.
Keine Raͤuberhand darf ſich ihrem Heiligthum naͤ-
hern. Sie ſind ſicher fuͤr Flammen und der noch
ſchaͤdlichern Wuth des Neides. Weder die ver-
wuͤſtende Wafen, noch ſelbſt die Zeit, die alles
verzehret, moͤgen ihnen ſchaden. Sehet, wie
aus jedem Welttheile eure Soͤhne euch Weyhrauch
bringen. Hoͤret, wie in allen Sprachen euch
uͤbereinſtimmende Loblieder erſchallen. Und billig
ſollen ſich alle Stimmen zu einem ſo gerechten Lo-
be vereinigen und das ſterbliche Geſchlecht in ein
Chor treten, euch zu erheben. Seyd verehret,
ihr triumphierende Dichter, in gluͤcklichern Ta-
gen gebohren, ihr unſterbliche Beſitzer eines allge-
meinen Ruhms. Eure Wuͤrde waͤchſt mit dem
Wachsthum der Zeiten, wie Stroͤme, die ſich
im Herabfallen vergroͤſſern. Bey Voͤlckern, die
noch ungebohren ſind, werden eure maͤchtige Nah-
men erthoͤnen, und noch ungefundene Welten ſol-
len euch einſt bewundern. O, moͤchte doch den
lezten den geringſten eurer Soͤhne, der euch mit
ſchwachen Fluͤgeln von ferne nachfleugt, der bren-
net, wenn er eure Wercke lieſt, aber, wenn er
ſchreibet, zittert, o moͤchte ihn doch ein Funcken
von eurem himmliſchen Feuer beleben, daß er die
eiteln Witzlinge die wenig bekannte Kunſt lehren
koͤnnte, eine hoͤhere Vernunft zu bewundern und
an ihrer eigenen zu zweifeln.
Unter
[61]eines Kunſtrichters.
Unter allen Urſachen, welche der Menſchen
fehlbares Urtheil verblenden, und den Verſtand
misleiten, iſt keine, die ein ſchwaches Haupt
gewaltſamer beherrſchet, als der Hochmuth, ein
unausbleiblicher Fehler der Thoren. Was im-
mer die Natur an wahrem Werthe verſaget, das
erſezet ſie mit einer Fuͤlle von duͤrftigem Stolze.
Es gehet in den Seelen zu, wie in den Leibern.
Wo Blut und Geiſter fehlen, da ſtrozet es von
Winden. Und wo der Witz mangelt, da kommt
uns der Hochmuth zu Huͤlfe, und fuͤllt die gantze
vernunftloſe Einoͤde aus. Doch wenn der Ver-
ſtand einmal dieſe Wolcke verjaget hat, ſo bricht
die Wahrheit herein mit einem unwiderſtaͤndlichen
Lichte. Trauet euch dahero ſelbſten nicht, ſon-
dern machet euch jeden Freund, ja jeden Feind
zu Nuze, um eure Fehler zu erkennen.
Ein ſeichtes Wiſſen iſt gefaͤhrlich. Schoͤpfet
tief aus dem Brunnen der Pierinnen, oder laſſet
ihn gar ungekoſtet. Trincken wir nur oben herab,
ſo bringt es den Schwindel ins Gehirne, aber
ſtarcke Zuͤge machen uns wider nuͤchtern. Die
Gaben der Muſen entzuͤnden uns beym erſten An-
blicke ſo ſehr, daß wir in unſrer verwegenen Ju-
gend ſogleich vermeinen, den Gipfel der Wiſſen-
ſchaften zu erſteigen. Denn unſer beſchraͤnckter
Geſichtskreis entdecket uns gar zu wenig, und
laͤßt uns die hinter ihm verborgene Weiten nicht
erkennen. Aber wenn wir weit er kommen, ſo
ſehen wir mit Erſtaunen, wie immer neue Schau-
plaͤtze unendlicher Wiſſenſchaften ſich hinter einan-
der entdecken. Eben ſo fangen wir freudig an,
die
[62]Verſuch von den Eigenſchaften
die aufgethuͤrmten Alpen zu beſteigen. Wir laſſen
Thaͤler unter uns, und meinen den Himmel ſchon
unter den Fuͤſſen zu haben. Es deucht uns, wir
haben ihren ewigen Schnee bereits uͤberſtiegen,
und die erſten Wolcken und Gebuͤrge ſcheinen uns
die letzten. Aber wenn wir dieſe erreichet haben,
wie erſchreckt uns nicht der ſtarcke Anwachs un-
ſerer Arbeit auf Wegen, die ſich immer verlaͤngern.
Eine neue Ferne ermuͤdet unſer wanderndes Auge.
Huͤgel blicken uͤber Huͤgel heraus und Alpen erhe-
ben ſich uͤber Alpen.
Ein vollkommener Richter lieſet jedes Werck
mit eben dem Geiſte, (f) worinnen es der
Verfaſſer geſchrieben hat. Er uͤberſiehet das gan-
ze und muͤhet ſich nicht einen geringen Fehler in
ſolchen Stellen zu finden, wo ſtarcke Triebe uns
bewegen und die Entzuͤckung uns anfeuert. Er
mag um dieſes bosheitsvollen ſchlechten Kuͤtzels
willen ſich nicht des edlen Vergnuͤgens berauben,
an Geiſt und Vernunft ſich zu ergoͤtzen. Aber in
einem Liede, worinnen weder Ebbe noch Fluth,
worinnen eine regelmaͤſſige Kaͤlte, eine gelehrte
Kraftloſigkeit herrſchet, welches um nicht zu feh-
len bey einerley ruhigem Tone verbleibet, finden
wir wohl nichts zu tadeln. Aber wir moͤchten
daruͤber ſchlafen. Jn geiſtreichen Schriften,
wie in der Natur, iſt das, was uns ruͤhret, nicht
die genaue Richtigkeit einzeler Theile. Was wir
Schoͤn-
[63]eines Kunſtrichters.
Schoͤnheit nennen, iſt nicht der Mund oder ein
Auge, ſondern die vereinte Kraft, der volle Jn-
halt von allen. So wenn wir einen praͤchtigen
Dom, der Welt, ja ſelbſten Roms gerechtes
Wunder erblicken, ſo pflegen uns nicht ſeine be-
ſondere Stuͤcke mit Unterſchied zu ruͤhren, alle zu-
ſammen ziehen unſere Blicke zugleich auf ſich.
Da ſehen wir keine ungeformte Hoͤhen, noch Laͤn-
gen, noch Breiten. Das Ganze iſt zugleich ſtoltz
und regelmaͤſſig.
Wer immer ein Werck ohne Fehler zu ſehen
gedencket, der gedencket etwas, das nie gewe-
ſen, nicht iſt, und niemals ſeyn wird. Jn je-
dem Wercke muß man auf den Zweck des Ver-
faſſers ſehen, den niemand uͤber deſſen eigene Ab-
ſicht erſtrecken kan. Und wenn er ſich bequemer
Mittel und einer richtigen Ausfuͤhrung bedient
hat, ſo ſind wir ihm Beyfall ſchuldig, zu troze
der geringen Maͤngel, die darinnen erſcheinen
moͤchten; denn, wie ein wohlgeſitteter Mann
im Umgange, ſo muß ein Scribent im Schreiben
oft kleine Fehler begehen, um groͤſſere zn vermei-
den. Verachtet die Regeln, die ein jeder Wort-
gruͤbler ſtellt. Es iſt euch eine Ehre, dergleichen
Kleinigkeiten nicht zu wiſſen. Mancher Critiſcher
Unterbedienter hat ſich dergeſtalt in ſein Aemt-
gen verliebt, daß er den Stat darnach meiſtern,
und das Ganze immer von einem Theile abhaͤngig
machen will. Sie ſprechen von Grundſaͤtzen, und
ruͤhmen nichts als richtige Begriffe, opfern ſie
aber alle einer einigen Thorheit auf, in die ſie ſich
verliebet haben.
Man
[64]Verſuch von den Eigenſchaften
Man ſagt, daß einſten der Ritter von Man-
cha einen Dichter auf dem Wege angetroffen und
ſich mit ihm uͤber die Grundregeln der Schaubuͤh-
ne unterhalten habe, mit eben ſo vernuͤnftigen Bli-
ken und geſchickten Ausdruͤckungen, als immer
Dennis thun koͤnnen. Sein Schluß war, daß
alle toll und wahnſinnig ſeyen, die ſich hierinnen
von des Ariſtoteles Vorſchrift entfernen. Der
Autor uͤber einen ſo geſchickten Richter erfreuet,
zog eine Tragoͤdie hervor und bat den Ritter um
ſeine Meinung. Er erklaͤrte ihm den Jnhalt der
Handlung, ihre Verwicklung, die Sitten und
die Leidenſchaften der Perſonen, die Einheit und
was nicht mehr. Alles, erinnerte er, waͤre ge-
nau nach den Regeln abgepaßt, wann nur ein
Ritterkampf daraus geblieben waͤre. Was,
ſchrie der Ritter, den Kampf auslaſſen! Ja,
oder wir muͤſſen dem Stagyriten abſagen. Nein
beym Himmel! Antwortete jener halb raſend.
Ritter, Schildtraͤger und Pferde muͤſſen alle auf
der Buͤhne erſcheinen. Aber die Buͤhne faßt kein
ſo groſſes Gedraͤnge. So baut eine neue, oder
ſpielt das Stuck auf einem offenen Plaze.
So macht es ein Kunſtrichter, der mehr Fuͤr-
witz als Kenntniß beſizet, der ſtaͤrcker an Eigen-
ſinn als Urtheilskraft, und mehr ſeltſam als ge-
nau im Geſchmacke iſt. Er hat gar zu enge Be-
griffe, und begehet aus Parteyliebe in Wiſſen-
ſchaften Fehler, wie viele in den Sitten.
Einige haben an nichts keinen Geſchmack, als
an ſpielenden Gedancken. Jede Zeile muß ihnen von
Flittergolde ſchimmern. Woran ſie ſich ergoͤzen,
das
[65]eines Kunſtrichters.
das ſind Wercke, worinnen nichts juſt und regel-
maͤſſig iſt, ein glaͤnzendes Chaos, ein wilder
Haufen von Einfaͤllen. Es gehet den Poeten wie
den Malern. Wenn ſie nicht geſchickt genug
ſind, die nackte Natur, und lebendige Annehm ich-
keiten zu bilden, ſo bedecken ſie alles mit Gold und
Edelſteinen, und verbergen ihre Schwaͤche un-
ter einem Haufen von Zierrathen. Aechte Schoͤn-
heiten in Schriften ſind nichts als die Natur zu
ihrem Vortheil gekleidet. (g) Etwas, das
man oft gedacht, aber nie ſowohl ausgedruͤckt hat-
te, deſſen Wahrheit wir beym erſten Anblike
empfinden. Ein Wiederſchein der Bilder unſe-
rer eigenen Seele. Wie der Schatten das Licht
angenehmer macht, ſo wird durch eine ſittſa-
me Einfalt die Lebhaftigkeit des Wizes erhoͤhet.
Dann ein Werck kan auch mehr Geiſt haben,
als ihm gut iſt, gleichwie der Ueberfluß an Blut
einem Leibe verderblich faͤllt.
Andere bekuͤmmern ſich allein um die Spra-
che, und ſchaͤtzen die Buͤcher, wie manches Frau-
enzimmer die Maͤnner, nur nach dem Aufputze.
Jhr Lobſpruch heißt immer: Die Schreibart iſt
vortrefflich. Die Gedanken nehmen ſie in De-
muth ſtets fuͤr gerechte Wahre. Jnzwiſchen ſind
doch die Worte wie das Laub: Wo ſie zu haͤuf-
fig ſind, da findet man ſelten viel Fruͤchte des
Verſtandes darunter. Eine falſche Beredſam-
keit ſpreitet, wie ein dreyekichtes Glas, ihre
[Crit. Sam̃.] EGau-
[66]Verſuch von den Eigenſchaften
Gaukelfarben rings herum aus, daß wir die
Natur nicht mehr erkennen. Alles glaͤnzet gleich-
lich; alles iſt ohne Unterſchied lebhaft. Aber ein
aͤchter Ausdruck iſt wie die unwandelbare Son-
ne, die alles was ſie beſcheint, erhellet und zieret,
die jeden Gegenwurf verguͤldet, aber keinen ver-
aͤndert. Der Ausdruck iſt die Kleidung der Ge-
danken. Je beſſer ſie ihnen anpaßt, je anſtaͤn-
diger koͤmmt ſie uns vor. Da hingegen ein nied-
riger Gedanke in praͤchtigen Woͤrtern ausge-
druckt einem groben Bauern gleichet, der in Koͤ-
niglichem Purpur einher tritt. Dann ein ver-
ſchiedener Jnhalt erfordert eine verſchiedene Schreib-
art, ſo wie nicht einerley Kleidung fuͤr das Land,
die Stadt und den Hof, geſchickt iſt. Einige
ſuchen Ruf und Nahmen durch alte Woͤrter. (h)
Sie ſind alt im Ausdruck, aber voͤllige Neulinge
im Verſtande. Dergleichen muͤhſeeliges Nichts
in einer ſo wunderſeltſamen Schreibart bethoͤret
die Ungelehrten und macht die Gelehrten lachen.
Sie ſind ſo ungluͤcklich als Fungoſo in der Comoͤ-
die (i) und meinen trefflich zu prangen, wenn ſie
in einer alten Kleidung erſcheinen, die ein galan
ter Hofmann ehdeſſen getragen hat. So ah-
men
[67]eines Kunſtrichters.
men ſie auch die groſſen Scribenten des Alter-
thums nicht beſſer nach, als Affen unſre Groß-
vaͤter, da ſie mit ihren Waͤmſtern bekleidet wer-
den. Jn den Woͤrtern und in der Mode hat ei-
nerley Regel ſtatt. Zu neu oder zu alt, iſt bey-
des gleich phantaſtiſch. Sey nicht der erſte, ein
neues Wort zu wagen, noch der lezte, ein altes
bey Seite zu legen.
Aber die meiſten beurtheilen ein Gedichte nach
dem Wohllaute. Gelind oder hart iſt ihnen gut
oder ſchlimm. Laß tauſend Annehmlichkeiten ſich
in der lebhafteſten Muſe vereinigen; die Thon-
ſuͤchtigen Thoren werden nichts als ihre Stimme
bewundern. Sie beſuchen den Parnaß nur um
das Ohr zu kuͤzeln und nicht den Verſtand zu beſ-
ſern, ſo wie mancher die Kirche nicht um der Pre-
digt, ſondern der Muſik willen beſuchet. Dieſe
ſehen auf nichts als gleiche Sylben; (k) Unbekuͤm-
mert, ob ein oͤfterer Zuſammenlauf der Lautbuch-
ſtaben das Ohr beleidige, ob die Flikwoͤrter das
beſte thun muͤſſen, und oft zehen niedrige Woͤrtgen
in einem abgeſchmakten Verſe kriechen. Einerley
Schellenklang gehet immer bey ihnen herum, mit
E 2ge-
(l)
[68]Verſuch von den Eigenſchaften
geſchwohrnen Reimen die man ſtets erwartet.
Die lezte und einige Strophe iſt hinten mit ei-
nem verſtandloſen Zeuge geſchmuͤkt, welches ſie
einen Gedanken nennen; und endet ſich mit ei-
nem unnoͤthigen Alexandriner, der wie eine ver-
wundete Schlange ſeinen langgeſtrekten Coͤrper
nachſchleppet. Laſſet ſolche ihre eigene dumme
Reimen austhoͤnen, und lernet ihr, eine maͤnn-
liche Anmuth von einer kraftloſen Weichlich-
keit wohl unterſcheiden. Preiſet den ungezwun-
genen Nachdruck einer Zeile, worinnen Den-
hams Staͤrke und Wallers Lieblichkeit ſich verei-
nigen. Eine leichtflieſſende Schreibart kommt
nicht von ungefehr; ſie wird durch Kunſt erwor-
ben, wie diejenige ſich am fertigſten bewegen,
welche tanzen gelernt haben. Es iſt aber nicht
genug, daß keine Haͤrtigkeit das Ohr beleidige.
Der Vers muß auch ein Echo des Verſtandes ſeyn.
Wenn Ajax ſich muͤhſam bearbeitet, eine Fel-
ſenlaſt umzuwelzen; ſo ſoll die Rede ſich mit
bemuͤhen; die Worte ſeyen langſam, arbei-
tend. Aber nicht ſo, wenn die Fluͤgel-ſchnel-
le Camilla uͤber ein Saatfeld daher fleugt, und
kaum die ſich nicht biegenden Aehren mit fluͤchti-
gem
[69]eines Kunſtrichters.
gem Fuſſe nur oben beſtreift. Hoͤre die verander-
lichen Thoͤne des Timotheus, wie ſie uns ruͤhren,
wie ſie den Regungen gebieten, wechſelweiſe zu
ſteigen und zu fallen. (m) Man ſchauet den
Sohn des Lybiſchen Jupiters nach jeder Tonver-
aͤnderung bald brennend von Ruhmbegierde,
bald weich von Liebe. Aus ſeinen wilden Bliken
funkeln jzt Wuth und Raſen, und jzt bricht er
in Seufzer aus, und zerſchmelzt in Thraͤnen.
Perſer und Griechen finden gleiche Regungen bey
ſich, und den Weltbezwinger bezwingen die Thoͤ-
ne. Noch jzo muͤſſen alle Herzen die Macht der
Muſik bekennen, und was einſt ein Timotheus
war, iſt jzt ein Dryden.
Fallet niemals aufs aͤuſſerſte und vermeidet den
Fehler derjenigen Koͤpfe, denen alles zu viel oder
zu wenig gefaͤllt. Haltet nicht alle Kleinigkeiten
fuͤr wuͤrdig euch daruͤber zu aͤrgern. Dergleichen
zeiget allezeit einen maͤchtigen Stoltz oder geringe
Vernunft an. Solche Koͤpfe ſind, gleich den
Maͤgen, gewiß nicht die beſten, die uͤber alles
ekeln und nichts verdaͤuen koͤnnen. Aber laßt auch
nicht jeden lebhaften Einfall euch ſogleich entzuͤken.
Denn ein Thor bewundert zu leicht, wo ein Ver-
nuͤnftiger nur beyfaͤllt. Wie Dinge uns groß
vorkommen, die wir durch einen Nebel anſehen,
ſo iſt auch die Dummheit immer geſchikt zum ver-
groͤſſern.
Einige verachten die franzoͤſiſchen Scribenten,
andere unſere eigene. Von dieſem werden nur die
E 3alten,
[70]Verſuch von den Eigenſchaften
alten, von jenem die neuen hochgeſchaͤzt. So
pflegt ein jeder den Wiz, wie den Glauben, nur
einer einigen kleinen Secte zuzueignen, und alle
auſſer ihr zu verdammen. Wie enge wollen die-
ſe die Seeligkeit einſchraͤnken und eine Sonne zwin-
gen, daß ſie nur an einem Ort hinſcheine, die
doch allgemein iſt, ſie ſublimiert nicht nur den
Wiz in warmen Sud-ſondern zeitiget auch Gei-
ſter in den kalten Nordlaͤndern. Wie ſie von
Anfang her die verlauffenen Alter beſchienen, ſo be-
leuchtet ſie noch das gegenwaͤrtige, und wird einſt
das lezte erwaͤrmen, obwohl ein jedes Ab- und Zu-
nahme kennet, und bald hellerer bald truͤberer
Tage gewahr wird. So fraget denn nicht, ob
etwas geiſtreiches alt oder neu ſey; ſondern tadelt
das ſchlimme und ſchaͤzet das gute beſtaͤndig.
Einige urtheilen niemals aus ſich ſelbſten. Sie
fangen die gemeinen Gaſſen-Urtheile auf und ſind
ewige Folger in ihren Schluͤſſen. Sie eignen ſich
einen alten ſinnloſen Ausſpruch zu, den ſie ſelbſt
niemalen erfunden haben. Andere urtheilen nach
dem Namen des Scribenten, und nicht nach ſei-
nem Werke. Der Mann iſts und nicht die
Schrift, die ſie ruͤhmen oder tadeln. Aber unter
dieſer knechtiſchen Heerde iſt der aͤrgſte, der in
ſeinem dummen Hochmuth ſich mit Standes-Per-
ſonen geſellet. Er gibt einen geſchwornen Kunſt-
richter an der Tafel eines Groſſen ab, der dem
gnaͤdigen Herren ſinnloſe Schriften zubringen
und austragen muß. Fuͤr was fuͤr ein elendes
Zeug wuͤrde nicht dieſes Madrigal gehalten wer-
den, wenn es einen hungrigen Lohn-Reimen-
ſchmied
[71]eines Kunſtrichters.
ſchmied oder mich zum Urheber haͤtte. Aber laßt
einen Lord ſich zum Vater der gluͤklichen Zeilen
bekennen. O wie ſchimmert es darinnen von Gei-
ſte, wie trefflich iſt die Schreibart geſchmuͤkt!
Vor ſeinem geheiligten Namen fliehen alle Fehler,
und jede erhabene Stanza iſt ſchwanger mit Ge-
danken.
So irret der Poͤbel im Nachahmen, wie oft
die Gelehrten, wenn ſie zu ſonderlich ſeyn wollen.
Der gemeine Haufen iſt ihnen ſo verhaßt, daß
wenn es ihm einmahl blindlings geraͤth, den rech-
ten Weg zu finden, ſie mit Vorſatz den Abweg
erwehlen; nicht anderſt als die Sectirer, die ſich
von den einfaͤltig glaubenden trennen, und nur
darum verdammt werden, weil ſie zu viel Wiz
haben.
Viele loben am Morgen, was ſie des Abends
ſchelten, und halten doch immer ihre lezte Mei-
nung fuͤr die beſte. Sie gehen mit ihrer Muſe
um, wie mit einer Buhlerin. Jn einer Stunde
wird ſie angebetet, in der andern mishandelt.
Jhre ſchwache Koͤpfe ſchlagen ſich wie unbefeſtigte
Staͤdte taͤglich zu einer andern Partie, und fal-
len bald der Vernunft bald der Unvernunft zu.
Fraget ſie warum. Sie ſprechen, daß ſie be-
ſtaͤndig kluͤger werden, ſie ſeyen heut allezeit kluͤ-
ger als geſtern. Wir ſind ſo klug geworden, daß
wir unſre Vaͤtter fuͤr Thoren halten, und unſre
noch kluͤgere Soͤhne werden ohnzweifentlich uns
auch dafuͤr erklaͤren. Als einſten die Schul-Theo-
logen unſre Eifersvolle Jnſel uͤberſchwemmt hat-
ten, da war der der groͤſte Grundgelehrte, der
E 4die
[72]Verſuch von den Eigenſchaften
die meiſten Spruͤche wußte. Der Glaube, die
Schrift, und alles ſchienen nur zum diſputieren ge-
macht, und keiner hatte Verſtand genug, ſich
wiederlegen zu laſſen. Nun ſchlafen Scotiſten
und Thomiſten im Frieden beyſammen, unter den
Spinnweben, (ihren nahen Anverwandten,) an
der Duksſtraſſe. Jſt der Glaube ſelbſt in ſo ver-
ſchiedenem Aufzug erſchienen, was Wunders daß
ſich auch beym Wize die Moden veraͤndern. Oft
muß die thoͤrichteſte Mode, die alles, was natuͤr-
lich und geſchikt iſt, verwirft, wenn ſie einmal den
Lauf hat, fuͤr baren Wiz gelten. Und ein Scri-
bente glaubt, es fehle ihm nimmer an Ruhm,
wenn er ſolange lebt, als es Thoren beliebt, ihm
zugefallen zu lachen.
Viele ſchaͤzen nur Leute von ihrer eigenen Par-
tie oder Gemuͤthsart, und machen ſich immer ſelb-
ſten der Welt zur Richtſchnur. Aus Eigenliebe
glauben wir das Verdienſt zu verehren, wenn
wir nur uns ſelbſt in andern ruͤhmen. Die Fac-
tionen unter den Gelehrten hangen von den Staats-
factionen ab, und der Unterſchied der Partien
verdoppelt den Privathaß zwiſchen ihren Zuge-
wandten. Stolz, Bosheit und Thorheit erhuben
ſich wieder Dryden in allerley Geſtalten, bald ei-
nes Prieſters, bald eines Kunſt- und bald eines
Moderichters. Doch das Geſpoͤtte vergieng und
die Vernunft blieb dennoch uͤber, denn ein wah-
res Verdienſt bringt ſich doch zulezt empor.
Koͤnnte er wiederkehren und noch einmal unſre
Blike beſeeligen, ſo wuͤrde es nicht fehlen, es
muͤßten neue Blakmoren und neue Milburnen ent-
ſtehen;
[73]eines Kunſtrichters.
ſtehen; ja ſolte der groſſe Homer ſein ehrenvolles
Haupt wieder empor heben, ſo wuͤrde auch Zoi-
lus ſich ohnverweilt aus dem Grabe aufrichten
muͤſſen. Der Neid verfolget das Verdienſt,
als deſſen Schatten; aber er zeiget auch, wie
der Schatten, ein Weſen an. Denn ein benei-
deter Wiz iſt wie die verfinſterte Sonne. Sie
beweiſet einen groben Stoff an dem Coͤrper, der
ihr entgegen ſteht, und nicht an ihrem eigenen.
Wenn dieſe Sonne gar zu kraͤftig ſtrahlet, ſo zie-
het ſie Duͤnſte in die Hoͤhe, die Anfangs ihren
Glanz verdunkeln. Aber eben dieſe Wolken ver-
herrlichen zulezt ihre Reiſe, ſie zeigen uns neue
Schoͤnheiten im Wiederſcheine, und vermehren
den Tag.
Sey du der erſte, ein wahres Verdienſt zu
loben. Wer warten will, biß es jedermann ruͤh-
met, der koͤmmt zu ſpaͤt mit ſeinem Lobe. Das
Leben unſrer heutigen Reimen waͤhret leider ohne
das zu kurtz. Wie billich iſt es denn, daß wir
ſie ſolches deſto eher genieſſen laſſen. Die guͤlde-
ne Zeit erſcheinet nun nicht mehr, da die alten
Weiſen, die Vaͤter des Wizes, uͤber tauſend Jah-
re lebten. Ein langer Nachruhm, unſer anderes
Leben, wird nun umſonſt gehofft. Sechzig eini-
ge Jahre ſind alles, worauf wir trozen koͤnnen.
Unſere Soͤhne entdecken die Maͤngel in ihrer Vaͤ-
ter Sprache, und was jezt Chaucer iſt, wird
Dryden werden. So bringt oft der getreue Pin-
ſel einen trefflichen Gedanken des Malers ins
Werk. Eine neue Welt entſtehet auf des Kuͤnſt-
lers Gebot, und die Natur wartet auf die Be-
E 5wegung
[74]Verſuch von den Eigenſchaften
wegung ſeiner Hand. Bald zeitigen die Farben,
und beginnen ſich angenehmer zu mildern. Alles
ſchmelzet lieblicher in einander und bringt erſt die
rechte Schoͤnheit von Schatten und Lichte hervor.
Aber wenn eben die Jahre dem Werke ſeine voͤl-
lige Reife gegeben, wenn jedes praͤchtige Bild
juſt anfaͤngt zu leben, ſo betriegen oft die verraͤthe-
riſchen Farben die ſchoͤne Kunſt, und die Wun-
dervolle Schoͤpfung erbleicht und verſchwindet.
Ungluͤcklicher Witz, der gleich den betrieg-
lichſten Dingen fuͤr die Mißgunſt, die er uns zu-
zieht, uns nie genug belohnet. Nur in der Ju-
gend bruͤſten wir uns mit ſeinem leeren Ruhme.
Aber wie bald iſt dieſe fluͤchtige Eitelkeit verloh-
ren, wie eine ſchoͤne Blume im fruͤhen Lenzen,
die friſch bluͤhet, aber eben im Bluͤhen verwelket.
Was iſt dieſer Witz, um den wir uns ſo bemuͤ-
hen? Ein Weib das der Eigenthuͤmer andern
uͤberlaſſen muß. Er macht uns die meiſte Unru-
he, wenn er am meiſten bewundert wird. Je
mehr wir geben, je mehr wird immer von uns
gefordert. Wir erwerben unſern Ruf zu muͤh-
ſam, und verliehren ihn gar zu leicht. Sicher,
einige zu beleidigen, aber niemals allen zu gefal-
len. Er iſt eine Sache, die die Boͤſen fuͤrchten,
und die Tugendhaften fliehen. Von Thoren wird
er gehaßt, und von Laſterhaften vernichtet.
Muß der Witz ſo viel von der Unvernunft lei-
den, o ſo ſollte doch die Wiſſenſchaft nicht auch
ſeine Feindin werden. Ehedeſſen belohnte man
einen groſſen Meiſter, und ruͤhmte zum wenigſten
diejenigen, die etwas wuͤrdiges nur unterfiengen.
War
[75]eines Kunſtrichters.
War gleich der Triumph nur einem Feldherren
vorbehalten, ſo gab es doch auch Kraͤnze, zur
Belohnung der Soldaten. Aber nun bemuͤhen
ſich die, ſo den Gipfel des Parnaſſes erreicht,
andere herunter zu ſtoſſen. Und weil die Eigenlie-
be jeden neidigen Scribenten beherrſchet, ſo ma-
chen ſie ſich mit ihrem Zanken den Thoren ſelbſt
zum Geſpoͤtte. Dem ſchlimmſten unter ihnen faͤllt
es immer am ſchwerſten, etwas zu loben. Denn
ein ſchlechter Scribente iſt eben ſo ein ſchlechter
Freund. Zu was fuͤr einem verwerflichen Ende
muß doch die Sterblichen die verdammte Ruhm-
ſucht beherrſchen! Auf was fuͤr ſchnoͤde Wege
verleitet ſie ſie nicht! O daß doch niemand mit
dem verderblichen Ehrdurſt prangen, noch in dem
Tadler den Menſchen verliehren moͤchte! Ein gu-
ter Verſtand ſollte immer mit einem guten Herzen
begleitet ſeyn. Denn irren iſt menſchlich, aber
vergeben goͤttlich. Doch wenn ja in edlen Ge-
muͤthern noch ſolche Hefen uͤberbleiben, die von
der ſchwarzen Galle und jaͤhrenden Saͤure noch
nicht gereiniget ſind, ſo laßt eure Wuth uͤber La-
ſter aus, die es mehr verdienen, und ſorget nicht,
daß es in dieſen Grundverderbten Zeiten euch
daran werde manglen. Garſtige Dinge ſollen
in Schriften nie keine Verſchonung finden, ſo ſehr
auch Wiz und Kunſt ſich bemuͤhen, ſie annehm-
lich zu machen. Aber wenn ſie dabey mit einer
plumpen Dummheit begleitet werden, ſo verdie-
nen ſie noch dazu die aͤuſſerſte Verachtung. Jn
jener fetten Zeit, da Wolluſt, Reichthum und
Ruhe im Flor waren, entſproß dieſes fruchtbare
Un-
[76]Verſuch von den Eigenſchaften
Unkraut und verbreitete ſich bald allenthalben he-
rum. Da war die Liebe die einige Beſchaͤftigung
eines muͤſſigen Monarchen, der ſelten im Rathe,
und niemals in den Waffen erſchien. Buhlerin-
nen regierten den Staat, und die Staats-Be-
dienten ſchrieben Comoͤdien. Man gab dem Wi-
ze Beſoldung und junge Lords waren damit verſe-
hen. Die Schoͤnen ſaſſen entzuͤkt bey der Oper
eines Hofmanns und keine Maſke ſchied unverbeſ-
ſert davon. Kein ſchamhafter Windfaͤcher wur-
de mehr empor gehoben, und Jungfrauen laͤchel-
ten uͤber das, woruͤber ſie zuvor erroͤtheten. Die
ſolgende Ausgelaſſenheit einer fremden Regierung
oͤffnete allen Hefen des frechen Socinus den
Damm. Dann wurde zuerſt die Sittenlehre der
Belgier erhoben. Wir bekamen ihre Religion
und ſie unſer Gold. Prieſter ohne Glauben re-
formierten die Nation, und lehrten eine angeneh-
mere Weiſe ſeelig zu werden, bey welcher freye
Unterthanen des Himmels auch ihre Rechte ver-
theidigen duͤrften. Denn ſonſt haͤtte Gott ſelbſten
zu Abſolut ſcheinen moͤgen. Man gewoͤhnte die
Kanzeln mit ihren heiligen Satiren ſparſamer
zu thoͤnen, und die Laſter wunderten ſich ihre
Schmeichler darauf zu erbliken. Hiedurch wur-
den unſere Titaniſche Witzlinge ſo kuͤhne, den
Himmel zu ſtuͤrmen, und die Preſſen aͤchzeten uͤ-
ber erlaubten Gotteslaͤſterungen. Auf dieſe Unge-
heure ſchieſſet eure Pfeile, ihr Buͤcherrichter.
Auf dieſe richtet euren Donner und erſchoͤpfet alle
eure Wuth. Doch meidet anbey den Fehler de-
rer, die, zum Aergerniſſe ſeltſam, einen Scribenten
mit
[77]eines Kunſtrichters.
mit Gewalt uͤbel verſtehen wollen, um boͤſes in
ihm zu finden. Einem angeſteckten ſcheint alles
angeſteckt, wie einem gelbſuͤchtigen Auge alles
gelb vorkoͤmmt.
Lernet derohalben auch die moraliſchen Tugen-
den eines Critici, denn die bloſſe Wiſſenſchaft iſt
nur die Helfte der Pflichten eines Richters. Es
iſt nicht genug an Witz, Kunſt und Gelehrtheit:
Es muͤſſen auch Wahrheit und Redlichkeit aus
allem, was wir reden, hervorbliken, damit jeder-
mann bewogen werde, nicht nur unſer Urtheil zu
ſchaͤzen, ſondern auch unſre Freundſchaft zu ſuchen.
Schweigetallezeit, wenn ihr noch an eurer Ein-
ſicht zweifelt, und ſeyd ihr wirklich gewiß, ſo
ſprecht doch als ob ihr euch nicht genug trauetet.
Es giebt Thoren, die in ihren unvernuͤnftigen
Machtſpruͤchen ſo halsſtarrig ſind, daß ſie mit
Gewalt fort irren wollen, wenn ſie einmal geir-
ret haben. Aber erkennet ihr eure vergangene
Fehler mit Freuden, und ſtellet jeden Tag eine
Critik uͤber den vorigen an.
Doch iſt es auch nicht genug, einen guten Rath
ſchlechthin zu ertheilen. Eine plumpe Wahrheit
ſtiftet mehr uͤbels als eine kuͤnſtliche Unwahrheit.
Man muß die Menſchen lehren, als ob man ſie
nicht lehrte, und Dinge, die ſie nie gewußt, ih-
nen vorbringen, als ob ſie ſie nur vergeſſen haͤt-
ten. Die Wahrheit findet keinen Eingang, wenn
die Hoͤflichkeit ſie nicht begleitet. Nur dieſes kan
den Vorzug unſrer Vernunft einem andern be-
liebt machen.
Seyd
[78]Verſuch von den Eigenſchaften
Seyd niemals ſparſam in Mittheilung eurer
Meinung. Kein Geitz iſt haͤßlicher, als wenn
man mit der Vernunft geizig iſt. Huͤtet euch daß
keine niedertraͤchtige Gefaͤlligkeit eure Aufrichtigkeit
befleke, und ſeyd nie ſo hoͤflich, daß ihr daruͤber
ungerecht wuͤrdet. Jhr duͤrft euch nicht fuͤrchten
einen Weiſen ſo leicht zu erzuͤrnen, denn niemand
laͤßt ſich lieber tadeln, als der geruͤhmt zu wer-
den verdienet.
Doch o wie gut waͤre es, wenn ein Kunſtrich-
ter ſich allezeit dieſe Freyheit ausnehmen duͤrfte!
Aber dem Appius ſteigt bey jedem Worte, das
ihr ſprecht, das Feuer in die Stirne. Er beſitzt
ſich nimmer, und drohet bereits mit fuͤrchterlichen
Bliken, wie ein grimmiger Tyrann auf einer al-
ten Tapezerey. Fuͤrchtet euch ja einen vorneh-
men Thoren anzutaſten, der die Freyheit hat,
ohne Einrede dumm zu ſeyn. Ein ſolcher wird,
wenn es ihm gefaͤllig iſt, ohne Geiſt und Witz
zum Poeten, und darf ſich graduiren laſſen, ohne
etwas zu wiſſen. Gefaͤhrliche Wahrheiten muß
man einem ohngluͤcklichen Satirenſchreiber, und
Schmeicheleyen einem eckelhaften Dedications-
ſchmiede uͤberlaſſen, deſſen Lobſpruͤchen die Welt
nicht mehr Glauben zuſtellt, als ſeinen Verſpre-
chungen, das Buͤcherſchmieren aufzugeben. Es
iſt zuweilen am beſten, wenn wir mit unſern
Strafpredigten inhalten und dumme Koͤpfe in Lie-
be bey ihrer Einbildung laſſen, denn wer kan ſo
lange ſchmaͤlen, als ſie ſchreiben koͤnnen? Sie
ſind wie Toͤpfe. Sie fangen an zu ſumſen, und
laſſen in ihrem ſchlaͤfrigen Laufe ſich ſo lange herum
peit-
[79]eines Kunſtrichters.
peitſchen, bis ſie zulezt gar entſchlafen. Ein fal-
ſcher Tritt reizet ſie nur wieder von vornen anzu-
fangen, wie ein liederliches Pferd, wenn es ge-
ſtolpert hat, ſtaͤrker anfaͤngt zu laufen. Was fuͤr
Schaaren von dieſen ohnbußfertigen Koͤpfen wer-
den nicht alt und grau in ihrer Bemuͤhung, mit
Sylben zu klingeln. Sie wollen mit Gewalt
Poeten ſeyn, und druken aus toller Reimſucht
ihr Gehirne bis auf die Hefen aus; ſie erpreſſen
auch die lezte truͤbe Tropfen ihres Verſtandes;
und reimen mit allem dem Raſen, das die Un-
vermoͤgenheit erweket.
Solche ſchandbare Dichter haben wir. Doch
giebt es gewiß eben ſo thoͤrichte und verwerfliche
Reimrichter. Ein hirnloſer Kopf, mit Laſten
von Folianten beſchwehrt, (n) voll von Bele-
ſenheit und leer an Wiſſen, erbauet ſein Ohr ſtets
mit ſeiner eigenen Zunge. Er ſcheinet immer ſich
ſelbſt zuzuhoͤren. Er lieſt alle Buͤcher uud taſtet
alle an, die er lieſt, von Drydens Fabeln, bis
auf Duͤrfeys Maͤhrgen herab. Nach ſeinem Aus-
ſpruche haben die meiſten Scribenten ihre Wer-
ke geſtohlen oder erkauft, und Garth hat ſein ei-
genes Diſpenſarium nicht ſelbſt geſchrieben. Nen-
net ihm eine neue Comoͤdie. Er iſt des Poeten
Freund.
[80]Verſuch von den Eigenſchaften
Freund. Ja er hat ihm ſeine Fehler gezeigt.
‒ ‒ ‒ Aber wenn wird ſich ein Poete
weiſen laſſen? Die heiligſte Staͤtte iſt nicht genug
fuͤr dieſen Thoren verwachet, und die Pauls-
Kirche iſt nicht ſichrer fuͤr ihnen, als der Pauls-
Kirchhof. Ja fliehet ihr zu den Altaͤren, ſo wer-
den ſie euch ſelbſt allda zu tode plaudern. Denn
Thoren dringen in Orte, die ſich die Engel ſcheuen
zu betreten. Die Vernunft trauet ſich nie zu
viel. Sie ſpricht allezeit mit einer ſittſamen Vor-
ſichtigkeit. Sie wagt ſich nie zu weit hinaus und
ſieht immer nach ihrem Heymath zuruͤke. Aber
die raſſelnde Unvernunft bricht mit vollem Knal-
len heraus. Sie ſtuͤrmet gerade vor ſich, ohn-
abgewandt, ohnwiderſtaͤndlich, und zerbirſtet
in ein Wetter mit Donnern und Krachen.
Jedoch wo finden wir heute einen geſchikten
Rathgeber? Einen Mann der willig zu lehren
und doch von ſeinem Wiſſen nicht aufgeblaſen iſt.
Den weder Gunſt noch Haß zu lenken vermoͤgen.
Der mit keinem dummen Vorurtheile beladen,
oder nur blindlings gut iſt. Gelehrt aber doch
wohlgeſittet, und wohlgeſittet aber doch aufrich-
tig dabey. Deſſen Feuer mit Sittſamkeit und
deſſen Strenge mit Gelindigkeit gemaͤſſiget. Der
einem Freunde ſeine Fehler freymuͤthig entdeken,
und auch am Feinde das Verdienſt aufrichtig ruͤh-
men kan. Der einen genauen doch nicht zu be-
ſchraͤnkten Geſchmak, und eine Kenntniß der Men-
ſchen ſowohl als der Buͤcher beſizet. Der einen
edlen Umgang und eine Seele hat, die kein Stolz
befleket. Der mit Freuden ruͤhmet, wenn er bil-
lig ruͤhmen kan.
So
[81]eines Kunſtrichters.
So waren ehedeſſen die Kunſtrichter. So war
die geringe Zahl der gluͤcklichen Geiſter beſchaffen,
welche Athen und Rom in jenen beſſern Zeiten ge-
kannt haben. Der maͤchtige Stagyrite fuhr am
erſten vom Ufer ab. Er ließ alle ſeine Seegel flie-
gen und durfte die Tiefen erkundigen. Er ſteuer-
te ſicher und kam weit in ſeinen Entdekungen,
vom Lichte des Maͤoniſchen Sterns geleitet. Die
Poeten, ein Volk, das lange Zeit ungebunden
lebte, und eine wilde Freyheit eifrig behauptete;
unterwarfen ſich ſeinen Geſezen; und fanden ſich
uͤberzeugt, daß derjenige billig dem Wize vorſte-
hen ſollte, der die Natur ſelbſt unter ſich gebracht
hatte.
Horaz entzuͤket uns immer mit einer ohnbemuͤ-
heten freyen Anmuth. Seine Reden beſſern un-
ſere Vernunft, ohne kuͤnſtliche Lehrart. Gleich
einem Freunde bringt er uns die ſchoͤnſten Begrif-
fe auf die leichteſte Weiſe vertraulich bey. Er
haͤtte beh ſeiner groſſen Staͤrke an Wiz und Ur-
theilskraft eben ſo meiſterhaft urtheilen duͤrfen, als
meiſterhaft er geſchrieben. Aber er ſang voll feu-
riger Bewegung und urtheilte in der ſanfteſten
Stille. Seine Regeln lehren uns nichts, als
was ſeine Werke wirklich in uns erregen. Wie
ſehr ſind nicht unſere heutige Kunſtrichter auf die
Gegenſeite gefallen. Jn ihren Urtheilen herrſchet
Wuth uͤnd Galle, aber in ihren Schriften das
waͤſſrigſte Weſen; und Dichter beſchimpfen den
groſſen Horaz nicht aͤrger, durch ihre ungeſchick-
ten Ueberſezungen, als Kunſtrichter, wenn ſie
ihn ſo verkehrt anfuͤhren.
[Crit. Sam̃.] FSiehe
[82]Verſuch von den Eigenſchaften
Siehe wie Dionyſius des Homers Gedanken
erheitert, wie er neue Schoͤnheiten aus jeder Zei-
le zieht. (o)
Jn dem lebhaften Petronius ſpielen Kunſt und
Einbildungskraft; das Wiſſen eines Gelehrten
mit dem ungezwungenen Weſen eines Hofmanns.
Jn des anſehnlichen Quintilianus reichem Wer-
ke finden wir die richtigſten Regeln mit der deut-
lichſten Lehrart vereinigt. So pflegen wir nuͤtzli-
che Wafen in einem Zeughauſe geſchickt einzuthei-
len und angenehm zu ordnen; damit ſie auf die-
ſe Weiſe nicht nur unſer Auge vergnugen, ſon-
dern auch im Nothfall deſto eher gefunden wer-
den koͤnnen.
Den erhabenen Longin haben alle Muſen be-
geiſtert, und ihren Criticum mit der Glut eines
Poeten belebt. Er iſt ein Richter voller Feuer,
und ein Eiferer in ſeinem Amte. Er urtheilt mit
Heftigkeit, aber allezeit gerecht. Sein eigenes
Exempel bekraͤftiget alle ſeine Geſeze, und er iſt
ſelber das groſſe Erhabene, das er abbildet.
Alſo fuͤhrten die Critici in einer langen Folge
eine gerechte Regierung. Sie beſchraͤnkten die
Ausgelaſſenheit, und ordneten die nuͤtzlichſten Ge-
ſeze. Die Wiſſenſchaften und Rom wuchſen zu-
gleich in ihrer Herrſchaft; und wohin die Adler
flogen, da folgten ihnen immer die Kuͤnſte nach.
Aber auch beyde wurden zulezt von einerley Fein-
den zerſtoͤret, und eine gleiche Zeit ſah Rom und
die Wiſſenſchaften fallen. Der Aberglaube ver-
band
[83]eines Kunſtrichters.
band ſich mit der Tyranney, und brachte die
Seelen, wie dieſe die Leiber, in die Knechtſchaft.
Man glaubte viel, aber verſtund wenig. Und
dumm ſeyn mußte, nach der damahligen Ausle-
gung, fromm ſeyn heiſſen. Dergeſtalten uͤber-
ſchwemmete eine zweyte Suͤndfluth die Wiſſen-
ſchaften, und die Muͤnche vollendeten, was die
Gothen angefangen hatten.
Zulezt kam Eraſmus; ein groſſer ſo oft ange-
griffener Nahme; der Prieſterſchaft Ruhm und
Beſchaͤmung! Der ſtemmte die wilde Fluth der
Barbarey und trieb die heiligen Vandalen von
der Schaubuͤhne.
Aber ſiehe! wie in Leons guͤldenen Tagen jede Muſe
von ihrer Ohnmacht erwacht, und ihren verwelckten Lor-
beerkranz wieder aufpuzt. Der Geiſt des alten Roms
uͤber deſſen Schutt ausgeſtrekt ſchuͤttelte den Raub von
ſich und hub ſein ehrenvolles Haupt empor. Dann er-
munterten ſich die Bildhauerey und ihre verſchwiſterte
Kuͤnſte von ihrem Schlafe. Steine eilten zur Form und
Felſen begunnten zu leben. Jeder neuaufſtehende Tem-
pel erſchall mit angenehmern Thoͤnen. Ein Raphael mal-
te, und ein Vida ſang. Unſterblicher Vida, (p) um
deſſen wuͤrdige Scheitel ſich die Lorbeere der Dichtkunſt
mit der Critik Epheu vereinigen. Cremona ſoll ewig mit
deinem Nahmen prangen und Mantuen am Ruhme wie
in der Lage am naͤchſten ſeyn.
Aber bald wurden die Muſen durch den Greuel der Wafen
aufs neue aus Latien vertrieben, und verlieſſen ihre al-
ten Graͤnzen. Denn verbreiteten ſich die Kuͤnſte durch die
ganze Norderwelt. Doch florierten die critiſchen Wiſſen-
F 2ſchaften
[84]Verſuch von den Eigenſchaften ꝛc.
ſchaften am meiſten in Franckreich. Ein Volck zum Die-
nen gebohren gehorchet den Geſezen, und Boileau herr-
ſchet daſelbſt an Horazen ſtatt. Aber wir muthige Britten
verachteten die fremden Geſeze und behaupteten unſren
Freyſtand mit unſren rohen Sitten. Verwegene und eif-
rige Verfechter der Freyheit des Wizes trozten wir die
Roͤmer wie vor Altem. Doch unter dem geringen Hau-
fen derer, die mehr Kenntniß und weniger Einbildung
hatten, wagten es einige, die beſſere Sache der Alten zu
vertheidigen und die Grundgeſeze des Wizes auch bey uns
herzuſtellen. Von dieſen war die Muſe, deren Regeln
und Exempel gelehret haben, daß das groͤſte Meiſterſtuͤk
der Natur ſey, wohl zu ſchreiben (q). So war Roſcom-
mon, das ſo gelehrte als tugendhafte Haupt, an Sitten
ſo edel als am Gebluͤte. Er kannte den Roͤmiſchen u. Grie-
chiſchen Wiz und keines Scribenten Verdienſt war ihm ver-
borgen, als nur ſein eigenes. So war zulezt auch Walſch der
Freund und Richter der Muſen, der ſo gruͤndlich zu ruͤh-
men als zu tadeln gewußt; Gelind gegen die Fehler nnd eifrig
fuͤr das Verdienſt; Das aufgeklaͤrteſte Haupt und aufrichtig-
ſte Herze. Empfange dieſen demuthsvollen Ruhm von mir,
dn werther beweinter Schatten; das einige was meine dank-
bare Muſe dir noch geben kan. Du haſt ſie in ihrer fruͤhen
Jugend die Thoͤne gelernet. Du haſt ihr die zarten Schwin-
gen beſchnitten und ihrem Fluge die gemeſſene Hoͤhe vorge-
ſchrieben. Nun, da ſie ihren Fuͤhrer verlohren, erkuͤh-
net ſie ſich nicht mehr zu ſteigen und wagt nur einen kur-
zen Ausflug in niedrige Gedichte. Vergnuͤgt, wenn die
Ungelehrten von ihr lernen ihre Maͤngel zu erkennen, und
die Gelehrten, dem was ſie bereits wiſſen, weiters nach-
zudenken. Das Tadeln hat ſie nie bekuͤmmert, und der
Ruhm nie zu ſehr gereizet. Sie erfreuet ſich, wenn ſie
loben kan, und iſt nicht furchtſam zu ſtrafen. Schmei-
cheln und Beleidigen ſind ihr gleich ſehr zuwider, und
wie ſie nicht ohne Fehler iſt, ſo ſchaͤmet ſie ſich auch nicht,
ſich zu beſſern.
Von
[[85]]
Von dem
Sinnreichen
und dem
Scharfſinnigen.
[[86]][87]
Von dem
Sinnreichen
und dem
Scharfſinnigen.
DJe deutſche Nation (*) iſt dem tiefſinnigen
Weltweiſen, Herren Chriſtian Wol-
fen, davor verbunden, daß ſie die gan-
ze Reihe derer Wiſſenſchaften, welche dienen das
wahre Beſte der Menſchen zu befoͤdern, und ſie
zu einer vernuͤnftigen Bewunderung der Werke
Gottes in der Natur aufzumuntern, ohne einen
Dollmetſcher leſen kan. Wer ſeine Schriften
F 4mit
[88]Von dem Sinnreichen
mit Aufmerkſamkeit nnd Nachdenken durchgehet,
geraͤth oͤfters in Zweifel, ob er die Reinigkeit der
Sprache, oder die Deutlichkeit der Begriffe,
oder die Gruͤndlichkeit der Beweiſe, oder die ge-
ſchikte Verknuͤpfung der Wahrheiten am meiſten
bewundern ſolle. Die Lehrart in denſelben hat et-
was Ungemeines, und wird vermuthlich die Fin-
ſterniß vertreiben, in welcher die Deutſchen bis-
dahin groͤſtentheils in Anſehen derjenigen Wiſ-
ſenſchaften getappet haben, zu welchen etwas
mehreres als die Geduld eins Laſtthieres erfodert
wird. Die Hoffnung, die ich desfalls auf den
innerlichen Werth dieſer Schriften geſezet habe,
hat einen ſo gewiſſen Grund, daß ich ſie nicht ſin-
ken laſſe, ungeachtet ich wohl ſehe, daß die An-
zahl derer noch ſehr gering iſt, welche die darin-
nen enthaltene Lehren mit Nuzen zu brauchen wiſ-
ſen. Dennoch hoffe ich, daß man in kuͤnftigen
Zeiten die groſſen und heilſamen Wirkungen der-
ſelben
(*)
[89]und dem Scharfſinnigen.
ſelben nicht ohne Erſtaunen verſpuͤhren werde,
wenn der Neid und die Boßheit, die ſich allen
nuͤzlichen Unternehmungen entweder durch offentli-
che Gewalt oder durch Liſt entgegen ſezen, von
der Zeit geſchwaͤchet, allmaͤhlich verſchwinden
werden. Mein Zwek erfodert, daß ich mit ei-
nem Exempel weiſe, was fuͤr einen guten Einfluß
ſeine Lehrſaͤze auf alle unſre Erkaͤnntniß haben
wuͤrden, wann man dieſelben nach ſeiner Abſicht
anwenden wollte.
Jch finde in den vernuͤnftigen Gedanken von
Gott, der Welt, und der Seele des Men-
ſchen eine ſo deutliche Beſchreibung, was der
Wiz ſey, daß wir ſie in der Unterſuchung des
Sinnreichen uͤberhaupt, vor den ſicherſten Leit-
faden gebrauchen koͤnnen.
Der Wiz, ſagt er, iſt eine Leichtigkeit die
Aehnlichkeiten der Dinge wahrzunehmen:
Wer hierzu aufgeleget iſt, den nennet man
Sinnreich. Dieſe Beſchreibung erklaͤret er an
einem andern Orte alſo.
„Wenn die Einbil-
„dungskraft andere Dinge hervorbringet, die
„man vor dieſem erkannt, welche mit den Ge-
„genwaͤrtigen etwas gemein haben: ſo erkennet
„man durch dasjenige, was ſie mit einander
„gemein haben, ihre Aehnlichkeit. Derowegen
„da die Leichtigkeit die Aehnlichkeiten wahrzuneh-
„men der Wiz iſt; ſo iſt klar, daß Wiz aus
„einer Scharfſinnigkeit und guten Einbildungs-
„kraft und Gedaͤchtniß entſtehet. Daher tref-
„fen wir bey denjenigen Wiz an, die viel behal-
„ten, und ſich leicht darauf beſinnen, oder,
F 5„wie
[90]Von dem Sinnreichen
„wie man zu reden pfleget, ein gutes Gedaͤcht-
„niß haben, wenn ſie zugleich auf die Sachen
„aufmerkſam ſind. Wiewohl er in einem gerin-
„gen Grade angetroffen wird, wo nicht Scharf-
„ſinnigkeit dazu koͤmmt. Nemlich wo es an
„Scharfſinnigkeit fehlet, da nimmt man nur
„Aehnlichkeiten wahr, die bald in die Augen
„fallen; hingegen wo man ſcharfſinnig iſt, da
„entdeket man Aehnlichkeiten, die nicht ein jeder
„gleich wahrnimmt. Jn dem erſten Falle kan
„man auch den Schein fuͤr das Weſen nehmen;
„in dem andern Falle aber iſt jederzeit eine wohl-
„gegruͤndete Aehnlichkeit vorhanden. Je mehr
„alſo einer Aehnlichkeiten zu entdeken weiß, je
„mehr hat er Wiz, und je ſinnreicher iſt er. Jn-
„gleichen je verborgenere Aehnlichkeiten einer ent-
„deken kan, je groͤſſer iſt ſein Wiz. Hingegen
„iſt einer mit geringem Wize begabet, wann er
„gar ſchwer Aehnlichkeiten entdeken kan, und
„ohne allen Wiz iſt, der nicht ſehen kan, wenn
„ein Ding dem andern aͤhnlich iſt.„
Jn den Anmerkungen uͤber das erwaͤhnte
Buch lehret Hr. Wolf ferner, wie dieſe Be-
ſchreibung des Wizes und derſelben Erlaͤuterung
zum Nuzen anzuwenden ſey:
„Was ich von
„dem Wize gelchret habe, dienet nicht allein die
„Redner und Poeten, auch Comoͤdien- und
„Tragoͤdien-Schreiber, ſondern auch ſelbſt die
„Autoren, welche die Diſciplinen und dahin
„gehoͤrige Sachen beſchrieben, zu beurtheilen,
„und bey denen Erfindern und ihren Erfindungen
„hat man auch darauf zu ſehen. Ja wenn man
„die
[91]und dem Scharfſinnigen.
„die Regeln der Redner-Kunſt, der Poeſie,
„der Kunſt zu erfinden, demonſtrativiſch unter-
„ſuchen ſollte, ſo wuͤrde man auch noͤthig haben,
„unterweilen dieſe Gruͤnde zu brauchen.„
Jch kenne keinen deutſchen Scribenten, der
ſich uͤber dieſe Materie deutlicher und gruͤndlicher
erklaͤret habe; und kan darum nicht begreifen,
warum die Kunſtlehrer, die das Sinnreiche in
den Schriften unterſucht haben, nicht auf dieſe
Grundſaͤze gebauet, ſondern lieber ihrem eigenen
verwirrten Kopfe gefolget haben. Der Verfaſ-
ſer der Haͤlliſchen Tadlerinnen hat ſich in die Ge-
fahr gewaget, dieſe Materie abzuhandeln. Er
hat ſeine Entdekungen derjenigen von ſeinen aufge-
fuͤhrten Perſonen, die er Phyllis getaufet, in die
Feder geleget. Jch habe dieſelben mit allem Fleiſ-
ſe erwogen, und beſtaͤndig Anlaß gefunden wahr-
zunehmen, wie leicht man ſich verirren koͤnne, wenn
man gute Anleitungen in den Wind ſchlaͤgt.
Phyllis eroͤffnet ihr Vorhaben ſchier zu Anfan-
ge des ſieben und dreiſſigſten St. mit folgenden
Worten: Jch habe vor dreyen Wochen ver-
ſprochen, meine Gedanken von einem ſinnrei-
chen Ausdruke im Reden und Schreiben mit-
zutheilen.; welche mir Anlaß zu einer Anmer-
kung geben, die aus den angefuͤhrten wolfiſchen
Grundſaͤzen natuͤrlich fließt, und die ganze Unter-
ſuchung erleichtert, nemlich, daß kein langes
Nachdenken erfodert werde, auszumachen, was
im Reden und Schreiben den Nahmen des Sinn-
reichen verdiene. Man nennet alles Sinnreich,
was uns gewiſſe Aehnlichkeiten zwiſchen unterſchie-
denen
[92]Von dem Sinnreichen
denen Dingen entdeket, es ſey, daß dieſe Aehn-
lichkeiten ihren wahren Grund haben und in der
Natur der Sachen weſentlich ſeyn, oder daß ſie
auf einem bloſſen Scheine beruhen. Das giebt
uns ſchon der bloſſe Urſprung des Wortes ſinn-
reich zu errathen. Sinnreich oder Geiſtreich iſt
eben ſo viel als reich an Sinnen oder Geiſt. Es
iſt eben nicht nothwendig, daß ein Einfall nach
dem guten Geſchmake ſey, wann er mit dem Bey-
wort Sinnreich oder Geiſtreich beleget werden ſoll.
Die Spiele der Phantaſie und was die Franzo-
ſen Eſprit faux \& mixte heiſſen, haben ein gleiches
Recht zu dieſem Titel. Es wird auch keine groſ-
ſe Geſchiklichkeit erfodert, in den Schriften das
Sinnreiche von dem Vernuͤnftigen oder Wahren,
welches alles allgemeine Benennungen ſind, zu
unterſcheiden.
Aber wie weit ſich die Graͤnzen des Scharfſin-
nigen erſtreken, worinnen die Natur deſſelben be-
ſtehe, und wie fern es von dem Sinnreichen un-
terſchieden ſey; dieſes ſind Fragen, derethalben
die Gelehrten annoch mißhellig ſind; und die ſo
eigentlich noch nicht eroͤrtert worden. Was der
Engellaͤndiſche Zuſchauer in dem zwey und ſechzig-
ſten St. davon geſagt, iſt noch das Klaͤreſte und
Gruͤndlichſte, das mir uͤber dieſe Materie zu Ge-
ſicht gekommen iſt; wiewohl auch ſeine Begriffe
noch ziemlich unbeſtimmt ſind, und die Stufen
und Graͤnzen des Scharfſinnigen nicht genug aus
einander ſezen. Jndeſſen iſt es zu meinem gegen-
waͤrtigen Vorhaben genung, daß ich die allgemei-
nen Grundregeln des Scharfſinnigen nach Herren
Wolfen
[93]und dem Scharfſinnigen.
Wolfen Anleitung in eine gewiſſere Ordnung
bringe.
Jch finde in ſeiner Metaphyſik eine eigene Be-
ſchreibung von dem Scharfſinnigen uͤberhaupt.
Es heißt auf dem 469ſten Bl.
„Wer viele Deut-
„lichkeit in den Begriffen der Dinge hat,
„und alſo genau herauszuſuchen weiß, wo-
„rinnen eines einem andern von ſeiner Art
„aͤhnlich, und worinnen es hinwiderum von
„ihm unterſchieden iſt; derſelbe iſt Scharf-
„ſinnig. Und alſo iſt die Scharfſinnigkeit die
„erſte Art der Vollkommenheit des Verſtandes,
„die ſich ſo wol auf die anſchauende, als figuͤrli-
„che Erkanntniß erſtrecket. Und demnach iſt ei-
„ner um ſo viel ſcharfſinniger, je mehr er in einer
„Sache, die er ſich vorſtellet, entdecken kan, als
„der andere. Und in der figuͤrlichen Erkanntniß
„kommt die Scharfſinnigkeit auf den hoͤchſten
„Grad, wenn man alles erklaͤren kan.„
Wenn
wir nun dieſe Beſchreibung mit den ſchon angefuͤhr-
ten Stellen zuſammenhalten, ſo koͤnnen wir in un-
terſchiedlichen Saͤtzen herausbringen, was den all-
gemeinen Character des Scharfſinnigen im Reden
und Schreiben ausmachet.
Erſtlich muß die Aehnlichkeit nicht allzu nahe ſeyn,
noch ſo, daß ſie jedermann leicht in die Augen faͤllt.
Es wird zum Exempel keine Scharfſinnigkeit er-
fodert, in gleichen Dingen Aehnlichkeiten zu ent-
decken.
Zweytens muß die Aehnlichkeit nicht allzu ent-
fernt ſeyn, ſo daß man Muͤhe hat, dieſelbe nach ei-
ner langen Betrachtung zu errathen. Sie muß
nicht
[94]Von dem Sinnreichen
nicht bloß in den Zufaͤllen eines Dinges geſucht
werden, z. E. in dem bloſſen Thone der Worte,
wie in den Wortſpielen, oder in der aͤuſſerlichen
Figur, wie in den Bilder-Reimen, oder in einer
blinden Verſezung der Buchſtaben und Sylben,
wie in dem Anagramma.
Drittens iſt in einem hohen Grade ſcharfſinnig,
was uns mehrere verborgene Aehnlichkeiten verſchie-
dener Dinge entdecket.
Folglich muß viertens das Scharfſinnige uns
groſſe, deutliche, und ergetzende Begriffe erweken.
Aus dieſen Grundregeln kan ſich ein jeder leicht
einen Begriff von dem machen, was in den Schrif-
ten ſcharfſinnig heißt. Gegen dieſelben will ich
nun die Entdeckungen der verkappten Phyllis un-
terſuchen. Denn wiewohl es das Anſehen hat,
als ob ihr Vorhaben nur auf das Sinnreiche gehe;
ſo iſt doch die Wahrheit, daß ſie dieſe Benennung
in der Bedeutung genommen hat, die an das Wort
Scharfſinnig gehaͤnget iſt: Woraus die Deut-
lichkeit ihrer Begriffe und ihre Kundſchaft von der
deutſchen Sprache, worauf ſie ſich doch am mei-
ſten einbildet, abzunehmen iſt.
Sie hat nachfolgende Stelle aus Canitzen Ge-
dichten vor das 37ſte Stuͤcke geſetzt.
Jn
[95]und dem Scharfſinnigen
Jn der erſten Zeile ſteht der Text des Poeten
verfaͤlſcht, die ungereimte Einſchiebung des Woͤrt-
leins redt, an ſtatt denkt, ſchwaͤcht und verderbt
den Sinn der gantzen Stelle. Die zweyte Zeile
hat mir den Betrug verrathen, und mich die wah-
re Lection errathen laſſen. Ohne Zweifel hat der
Poet mit den dreyen erſten Zeilen auf den bekann-
ten Vers des Horatz gezielet:
Scribendi recte ſapere eſt \& principium \& fons.
Aber durch den angeregten Wortwechſel wird der
gantze Gedancke des Poeten verderbt.
Jn dem Eingang macht ſie folgende Gloſſen uͤber
dieſe Stelle des deutſchen Poeten[:] Jn dieſen herr-
lichen Worten hat ein fuͤrtrefflicher Staats-
Miniſter ſchon zu ſeiner Zeit den Verfall einer
vernuͤnftigen und regelmaͤſſigen Schreibart be-
dauret. ‒ ‒ Dieſe Stelle handelt uͤberhaupt
von einer guten Schreibart, und wo ich nicht
irre, haͤlt ſie nachfolgende Regeln in ſich.
- 1. Ein Scribent muß natuͤrlich ſchreiben.
2. Er muß vernuͤnftig ſchreiben. 3. Er muß
in Vergroͤſſerungen und in Verkleinerungen
Maaß halten. Jch ſahe zwar, daß dieſe drey
Hauptregeln einer guten Schreibart ſo noth-
wendig ſind, daß ſie auch aus der ſinnreichen
Art nicht ausgeſchloſſen werden koͤnnen: Al-
lein es ſchien doch auſſer dieſen dreyen Stuͤcken
noch was mehrers zu einer ſinnreichen Schreib-
art zu gehoͤren.
Jch bin ſicher, daß der Poet in dieſen Verſen
nicht den Verfall der ſcharfſinnigen Schreibart be-
klaget; ſondern die Quelle des Unnatuͤrlichen ent-
decken
[96]Von dem Sinnreichen
decken will, welche er darinnen findet, daß man
ohne Gedanken und Vorbedacht auf das Papier
ſchmieret, was ein ungebundener oder finſterer Sinn
in die Feder floͤßt. Es kan hiermit aus ſeinen Ver-
ſen die einzige Regel herausgeleitet werden: Man
ſolle natuͤrlich ſchreiben, d. i. die Begriffe muͤſſen
ſich vor die Sachen, von welchen man reden oder
ſchreiben will, und die Worte vor die Begriffe
ſchicken. Jn dieſer Regel ſind die zwo andern,
die Phyllis ſo ſorgfaͤltig ſondert, ſchon begriffen.
Dieſe allgemeine Grundregel beziehet ſich auf alle
Gattungen der Schreibarten und giebt uns ein
allgemeines Kennzeichen an die Hand, die gute
Schreibart uͤberhaupt von der falſchen zu unter-
ſcheiden. Es iſt fuͤrwahr laͤcherlich, daß Phyllis
aus dieſer Stelle des Poeten mit Gewalt eine Be-
ſchreibung des Scharfſinnigen herausgruͤblen wol-
len. Aber ſie faͤhrt auf ihrem Wege fort, und
giebt ſich in dem Verfolge viele Muͤhe zu erweiſen,
daß die Schreibart, die nach dieſen Regeln ab-
gefaſſet iſt, noch nicht ſcharfſinnig zu nennen ſey.
Z. E. wenn der Herr von Beſſer in dem Le-
benslaufe ſeiner Gemahlin ſo anfaͤngt:
„wenn
„wir unſere Todten hertzlich beweinet und ih-
„re Gebeine ehrlich zur Erden beſtattet; ſchei-
„nen wir wol ihr ganzes Verlangen und unſ-
„re Pflicht erfuͤllet zu haben: aber der aller-
„nuͤzlichſte Liebesdienſt, den wir ihnen und
„uns leiſten koͤnnen, iſt, daß wir ihr Gedaͤch-
„niß zum Exempel der Lebenden bewahren,
„und wie wir aus ihrem Tode unſre Sterb-
„lichkeit erkennen; alſo auch aus ihrem ruͤhm-
„lich
[97]und dem Scharfſinnigen.
„lich gefuͤhrten Wandel uns zu dieſer unver-
„meidlichen Nachfahrt bereiten lernen:„
So
ſind dieſe Zeilen zwar nach den vollkommenſten
Regeln einer guten Schreibart abgefaſſet: ſie
ſind natuͤrlich; denn ich ſehe nichts gekuͤnſtel-
tes oder gezwungenes darinnen: ſie ſind ver-
nuͤnftig; denn alles, was er ſagt, iſt wahr, man
mag es betrachten, von welcher Seite man im-
mer will: ſie ſind endlich auch nicht voller gar
zu hochgetriebenen Vergroͤſſerungen. Doch
die Wahrheit zu ſagen, ſo ſind alle dieſe ſchoͤ-
nen Ausdruͤckungen noch nicht ſinnreich. Aber
wer iſt jemahls in dem Jrrwahne geſteckt, daß
alles was gut geſchrieben iſt, darum auch ſinnreich
oder ſcharfſinnig ſey? Jedermann ſiehet leicht, daß
die Beſſeriſche Stelle weder ſinnreich noch ſcharf-
ſinnig heiſſen kan. Der wahre Grund deſſen iſt,
weil darinnen keine Vergleichungen aͤhnlicher
Dinge vorkommen, indem ſie aus bloſſen Ver-
nnnfts-Saͤtzen zuſammengeſetzet iſt. Jm uͤbrigen
koͤmmt mir die Sprache, in welcher Phyllis dieſe
Stelle beurtheilt, gantz unverſtaͤndlich vor. Oder
was wollen dieſe Worte ſagen? Dieſe Zeilen ſind
natuͤrlich, denn ꝛc. ſie ſind vernuͤnftig, denn ꝛc.
ſie ſind endlich auch nicht voller gar zu hoch-
getriebenen Vergroͤſſerungen. Kan denn etwas
natuͤrlich und dennoch unvernuͤnftig, oder vernuͤnftig
und zugleich unnatuͤrlich ſeyn? Und ſind nicht alle
zu hochgetriebene Vergroͤſſerungen wider die Na-
tur?
Dieſer Stelle ſetzet ſie noch einiche an die Sei-
te, die nach ihrem Urtheile den Character des Sinn-
Greichen
[98]Von dem Sinnreichen
reichen an ſich haben; durch dieſen Gegenſatz in
ein klaͤrer Licht zu ſetzen, was ſie droben zu behaup-
ten geſucht hat, daß nemlich noch was mehrers zu
einem ſinnreichen Ausdrucke erfodert werde, als
daß ein Gedancke natuͤrlich und vernuͤnftig ſey.
Die erſte und zweyte ſind aus eben derſelben
Schrift des Herrn von Beſſer entlehnet. Das
nette und wolgeſittete Leipzig die Mutter und
Saͤugamme beydes der Muſen und Gratien.
Dieſe Stelle iſt ſinnreich, wegen der Aehnlichkeit
und Kraft der Sinnbilder; da Leipzig unter dem
Bildniß einer Mutter und Saͤugamme der Muſen
und Gratien vorgeſtellet wird. Die Muſen ſind
die Schutzgoͤttinnen der Gelehrten, die Gratien die
Goͤttinnen der Annehmlichkeit, beyden wurden von
den Dichtern Muͤtter und Saͤugammen zugeeignet;
und als eine ſolche wird Leipzig hier vorgebildet.
So bald ihr dieſe Aehnlichkeiten und Bilder auf-
loͤſet, und den Satz, der darunter ſtecket, mit ei-
gentlichen unverbluͤmten Worten ausdruͤcket, ſo
verliert ſich das Sinnreiche, aber damit auch die
Kraft des Ausdrucks. Der bloſſe einfaͤltige Satz
iſt folgender: Leipzig erzeuget, nehret und he-
get gelehrte und angenehme Leute. Aber das
wird mit groͤſſerer Deutlichkeit, Kraft und Nach-
druck geſagt, wenn man ſich ausdruͤckt, wie Beſſer
in dieſer Stelle gethan hat.
Die Stelle, die hiernaͤchſt aus eben demſelben
Autor angefuͤhrt wird, iſt von einer andern Art;
wenn er von dem Vater ſeiner Kuͤhlweinin ſchrei-
bet: Unter den fuͤnfzehen Kindern, mit denen
er von dreyen Ehefrauen das Vaterland berei-
chert
[99]und dem Scharfſinnigen.
chert, hat er auſſer einer bald nach der Geburt
wieder erblichenen Johannen, keine als dieſe
einzige Tochter erzeuget. So werden die Edel-
geſteine nur einzeln gefunden; und ſo ſparſam
war das Verhaͤngniß gegen denjenigen mit
Toͤchtern, der das gemeine Weſen zur Toch-
ter hatte. Dieſe Stelle iſt zwar ſinnreich; aber
nicht ſcharfſinnig, weil die Aehnlichkeiten in den
Vergleichungen allzuweit entfernt ſind. Jch will
gerne zugeben, daß Edelgeſteine nur einzeln gefunden
werden; aber einzele Toͤchter ſind nicht allemal Edel-
geſteine, u. es iſt eben keine Nothwendigkeit, daß die
Auferziehung ſchlimm ſeyn muͤſſe, wo viele Toͤchter
ſind. Man kan dieſe Edelgeſteine, ich meine wolgeſit-
tete Toͤchter, eben ſo oft in volckreichen Haushaltun-
gen antreffen, als wo nur einzele Toͤchter ſind. Fer-
ner; was iſt fuͤr eine groͤſſere Aehnlichkeit zwiſchen ei-
ner Tochter und dem gemeinen Weſen, als zwiſchen
einem Sohne und demſelben? Was heißt, das ge-
meine Weſen zur Tochter haben? Nichts anders,
als fuͤr die Wohlfarth deſſelben getreulich wachen
und ſorgen. Warum muß aber der ſo wenig Toͤch-
ter haben, dem die Wohlfarth des gemeinen We-
ſens angelegen iſt? Es iſt alſo dieſe Stelle, wie-
wol ſie ſinnreich iſt, dennoch ein froſtiges Spiel
der Einbildung, oder, des Geiſtes. Opitz hat
dieſes Sinnbild geſchickt angewendet, in dem
dritten B. der Poet. Waͤlder.
Das dritte Beyſpiel iſt aus des Herrn von Ca-
niz Klag-Rede uͤber die damahlige Brandenbur-
giſche Churprinceſſin Henriette genommen. Der
G 2Unter-
[100]Von dem Sinnreichen
Untergang eines Tytannen, entdecket ein Froh-
locken bey allen; daß auch ein ſterbender He-
rodes ſein Teſtament zu einem Blut-Urtheile
machen muß, damit, wo nicht ſein Abſchied,
doch zum wenigſten das Angedencken ſeiner
Grauſamkeit naſſe Augen verurſachen moͤge.
Da iſt nichts gemeiners, als daß man die Lob-
ſchriften und Ehrenpforten mit Fuͤſſen tritt,
daran Heucheley oder Zwang gearbeitet hat.
Dieſe vortreffliche Stelle iſt vielmehr ein Exempel
einer ſtarcken und nachdruͤcklichen, als einer ſcharf-
ſinnigen Schreibart; weil darinne keine Aehnlich-
keiten der Dinge vorkommen, hingegen kraͤftige
Ausdruͤckungen, die uns lebhafte und hohe Begrif-
fe erwecken. Der Untergang eines Tyrannen
entdecket ein Frolocken bey allen; dieſes laͤßt
euch gedencken, daß man beym Leben eines Ty-
rannen nur nicht einmahl die Freiheit hat, die Em-
pfindungen ſeines Hertzens an den Tag zu geben;
daß dieſes Frolocken ſchon zuvor in der Hoffnung
oder dem Wunſche der gedruͤckten Unterthanen ver-
borgen gelegen. Alſo ſtecket die gantze Kraft dieſes
Ausdrucks in dem Worte entdecken, und daß
dieſe Wuͤrckung dem Untergange zugeſchrieben
wird; ſobald ihr dieſes veraͤndert, ſo verliert ſich
bey gleichem Verſtande der Nachdruck dieſes Sa-
zes; wenn ihr z. E. ſaget: Ueber dem Tode ei-
nes Tyrannen entſtehet ein allgemeines Frolo-
ken. Dieſe Art des Ausdrucks iſt bey weitem
nicht von der Staͤrcke, als die, deren ſich Canitz
bedient hat. Von gleicher Art ſind auch folgende
Ausdruͤcke: Das Teſtament zu einem Blutur-
theil
[101]und dem Scharfſinnigen.
theil machen; Lobſchriften und Ehrenpforten,
daran Heucheley oder Zwang gearbeitet, mit
Fuͤſſen treten.
Nachdem Phyllis dieſe Exempel vorher geſetzt
hat, ſo war es nunmehr an dem, daß ſie uns die
Natur des Sinnreichen oder Scharfſinnigen ent-
deckte. Nun fraget ſichs, ſagt ſie, was zu ei-
ner ſo ſinnreichen Schreibart gehoͤre? Jch un-
terſtehe mich dieſes nicht auf einmahl und in
wenig Worten zu faſſen: ich will es derowegen
nach und nach in verſchiedenen Anmerckun-
gen erklaͤren. Das Wort ſinnreich ſelbſt ſcheint
ſchon anzudeuten, daß ein ſolcher Ausdruck
voller Witz und reich an Gedancken ſeyn muͤſſe,
ſo daß er einem Leſer viel Nachdenckens ver-
urſache. Jn dieſer erſten Anmerckung, was das
Sinnreiche ſey, wird an ſtatt daß ſie die Natur deſ-
ſelben erklaͤren ſolte, alles ſo bunt durch einander ge-
worfen, daß man mit groſſer Muͤhe den Sinn u.
die Unrichtigkeit derſelben errathen kan. Das Sinn-
reiche muß voller Witzſeyn. Das iſt ſoviel als, es
muß ſinnreich ſeyn. Erklaͤre ſie mir zuerſt was Witz
ſey, ehe ſie verlangt, daß ich ſie verſtehen ſolle. Jch
waͤre werth, daß man meiner lachte, wann ich einem,
der noch keinen deutlichen Begriff von dem Geld hat,
alſo erklaͤren wolte, was Geldreich ſey: Geldreich
iſt ein Menſch, der viel Geld beſitzet, oder deſſen Ki-
ſten voller Geld ſind. Das Sinnreiche muß dar-
nach reich an Gedancken ſeyn: Wann ſie durch
die Gedancken etwas anders verſtehet, als die
Wuͤrckungen des Witzes, ſo iſt dieſer Satz falſch;
denn die Vernunftſchluͤſſe gehoͤren eigentlich nicht
G 3zu
[102]Von dem Sinnreichen
zu dem Sinnreichen; oder zeige ſie mir z. E. die
reichen Gedancken (wann wir durch dieß Wort
Vernunftſchluͤſſe verſtehen,) welche in der erſten
Stelle aus Beſſers Schriften ſtecken. Drit-
tens ſoll das Sinnreiche viel Nachdenckens er-
wecken. Jm Gegentheil muß es vielmehr ſo deut-
lich ſeyn, daß der Leſer die Aehnlichkeit, die es vor-
ſtellet, ohne Muͤhe ſehen kan. Dahero iſt auch
die angefuͤgte Warnung, daß man nicht alle
Scribenten, die ſchwer zu verſtehen ſind, vor
ſinnreich ausgebe, gantz uͤberfluͤſſig. Denn
die dunckle und verworrene Schreibart iſt nicht dem
Sinnreichen entgegengeſetzt. Vielleicht geben uns
die folgenden Anmerckungen mehr Licht.
Das fuͤrnehmſte/ ſagt ſie ferner/ wird in der
ſinnreichen Schreibart wohl auf verbluͤmte
Gleichnißreden ankommen. Die oben erwehn-
ten Exempel beſtaͤtigen es/ und man kan noch
mehrere anfuͤhren. Doch iſt hiebey viele Be-
hutſamkeit noͤthig: die Gleichniſſe muͤſſen in der
That Gleichniſſe ſeyn; denn ein bloſſes gleich-
wie ‒ ‒ alſo/ macht es nicht aus; vielmehr muß
dieſes gantz vermieden werden/ wenn der Aus-
druck ſinnreich ſeyn ſoll. Die Gleichniſſe muͤſ-
ſen nicht gar zu gemein/ und bekannt ſeyn;
ſonſt ſind ſie unangenehm. Endlich muͤſſen ſie
auch weder von gar zu hohen/ noch gar zu
niedrigen Dingen hergenommen ſeyn. Die ver-
bluͤmte Gieichnißreden gehoͤren freylich zu dem Ge-
ſchlecht des Sinnreichen; aber insgemein alles ge-
hoͤret dazu, was durch die Vergleichung der Aehn-
lichkeiten, ſo zwiſchen den Dingen obſchweben, her-
ausgebracht werden kan. Darum iſt der Lehrſatz,
daß
[103]und dem Scharfſinnigen.
daß die offenbare Vergleichungen durch gleichwie-
alſo/ nicht ſinnreich waͤren, recht alber: Jch moͤch-
te nur auch einigen Beweiß fuͤr dieſe ſo verwegene
Meinung ſehen. Opitz z. E. ſchreibt in dem er-
ſten B. der P. W.
Nun wird mir niemand ſtreitig machen, daß
dieſe Verſe nicht nur ſinnreich, ſondern auch ſcharf-
ſinnig ſeyn, wiewol ſie ein offenbares Gleichniß in
ſich enthalten. Aber auch diejenigen Regeln, die
Phyllis von den Gleichniſſen vorſchreibet, haben
nicht uͤberall ihre Richtigkeit. Gleichniſſe muͤſſen
von bekannten Dingen hergenommen ſeyn, weil
ſie meiſtens erklaͤren ſollen. Und hohe Sachen
muͤſſen mit hohen, niedere mit niederen verglichen
werden. Jch kan mir keinen deutlichen Begriff
von den Superlativis machen: Gar zu gemein und
bekannt: Gar zu hoch und gar zu nieder. Sol-
che Scribenten, die keine gemeſſene und deutliche
Begriffe von den Dingen haben, ſind in ihren
Ausdruͤcken gantz unſtet und ungewiß.
G 4Die
[104]Von dem Sinnreichen
Die Exempel, welche Phyllis zur Beſtaͤtigung
ihrer Lehrſaͤze anfuͤhret, ſind wiederum von unglei-
cher Art. Das erſte aus Canitz verdienet den
Nahmen des Scharfſinnigen mit hoͤchſtem Rechte:
Die Tugend entgehet uns allemahl zur Unzeit/
und weil gemeiniglich auf einen ſchoͤnen Mor-
gen ein ſchoͤner Mittag folget; ſo giebt es ein
trauriges Anſehen/ wann die Sonne verdun-
kelt wird, eh ſie kaum halb uͤber unſern Horizont
geſtiegen. Der Mittag unſers Lebens iſt das
Mittel von dem menſchlichen Alter, in welchem
man noch ſo viele Lebens-Jahre vor ſich ſiehet,
als man ungefehr hinter ſich gelegt hat; wann nun
der Menſch in der beſten Kraft ſeiner Jahre ſtirbt,
iſt es dem ordentlichen Laufe nach was eben ſo uner-
wartetes, als wenn die Sonne mitten an dem Him-
mel, wo ſie zu Mittag ſtehet, verfinſtert wird, wel-
ches ſonſt erſt auf den Abend bey ihrem Untergang
zu geſchehen pflegt. Aber um ſo viel trauriger und
unerwarteter iſt das fruͤhzeitige Ableben einer tu-
gendhaften Perſon, als man mehr Urſachen hat,
ſich nach einem maͤſſigen und tugendhaften Leben
ein hohes Alter zu verſprechen, eben wie nach ei-
nem ſchoͤnen Morgen ein ſchoͤner Mittag zu fol-
gen pfleget. Die naͤchſtdarauf folgende Stelle
aus Hrn. von Beſſers Leichengedichten iſt von
einer vermiſchten Art. Die erſte Zeile:
iſt ſehr ſchwach; weil die Aehnlichkeit allzu ent-
fernt iſt. Purpur iſt die Kleidung koͤniglicher Per-
ſonen, und die Leibfarbe der Schoͤnen. Es iſt
zwar ſchade, daß die hohe Farbe des Purpurs durch
die
[105]und dem Scharfſinnigen.
die Abnuͤzung bleich gemachet wird: aber weit
mehr iſt zu bedauren, daß eine vornehme und ſchoͤne
Frauensperſon in dem Tode allen ihren Glantz und
Pracht auf einmal verlieren ſoll. Was Beſſer
hier in der verbluͤmten Gleichnißrede ſaget, iſt viel
ſchwaͤcher als ein bloſſer einfaͤltiger Ausdruk ſeines
Gedankens. Die zwo Zeilen, die auf dieſe folgen,
ſind von beſſerm Schrote.
Regenten, aber vornehmlich Monarchen, werden
mit dem Sonnenlichte verglichen. Bey ihrem Ab-
ſterben geſchiehet ſo viel als eine Finſterniß, weil
dadurch der gute Einfluß ihrer weiſen Regierung
einsmals gehemmet wird. Und wie geſchikt iſt
nicht der Gegenſaz: Fuͤrſten, aber dennoch Un-
terthanen der Vergaͤnglichkeit. Auch die lezte
Zeile in dieſer Stelle iſt in einem hohen Grade
ſinnreich:
Als wann der Tod beynahe maͤchtiger waͤre, als
Gott. Dennoch weil dieſe Redensart durch den
gemeinen Gebrauch faſt zu einem Spruͤchwort
geworden iſt, ſo verliert ſie die Kraft des Scharf-
ſinnigen.
Was izt ferner die Stelle anlanget, die aus
einer Huldigungsrede angefuͤhrt wird, ſo kan man
darinnen den Unterſcheid zwiſchen dem Sinnreichen
und dem Scharfſinnigen ohne Muͤhe wahrneh-
men: Jch will ſie darum uͤbergehen, damit die
Bogen nicht ohne Noth verſtaͤrkt werden. Laſſet
G 5uns
[106]Von dem Sinnreichen
uns demnach zu der Unterſuchung der noch uͤbrigen
Anmerkungen der Phyllis fortgehen: Jch fahre
alſo fort und mercke zum andern an/ daß ein
ſinnreicher Satz bißweilen nur in einem arti-
gen Vortrage einer ſehr leichten Wahrheit/
und gantz gemeinen Gedanckens beſtehe. Das
Sinnreiche erfodert eben keine hohen Gedanken;
aber was iſt ein artiger Vortrag? Es wird ſich
wol niemand vermeſſen, uns dieſes im Ernſte zu er-
klaͤren. Dieſe wortreiche, aber dabey ſinn- und
kraftloſe Lehrſaͤze wuͤrden mich bald bereden, daß
Phyllis einen Reifenrok truͤge. Doch es kan ſeyn,
daß ihre dunkle Begriffe aus den beygefuͤgten Exem-
peln ein beſſer Licht empfangen. Das erſte iſt eine
Aufſchrift aus Hrn. Rathsherrn Brockes vor-
trefflichen Buche, Jrdiſches Vergnuͤgen in Gott
betitelt; wovon die lezte Zeile alſo lautet:
Woruͤber die Jgfr. Phyllis dieſe Auslegung giebt:
Was iſt bekannter/ als daß ein Geitziger des-
wegen Hunger leidet/ weil er gern bis an ſein
Ende reich bleiben will: und doch hat Hr. Bro-
kes dieſes ſo ſchoͤn, lebhaft und neu ausgedruͤ-
ket, daß es mit unter die ſinnreicheſte Schreib-
art gehoͤrt. Jch gebe zu, daß der Ausdruck
ſinnreich ſey; die Urſache deſſen iſt, weil der Poet
mittelſt Vergleichung des Lebens und des Todes
eines Geitzigen dieſen ſinnreichen Gegenſatz her-
ausgebracht, daß er jenes armſelig zubringe, da-
mit er, wann es verlohren hat, und izt ohne Em-
pfindung iſt, den Nahmen eines reichen bekom-
me, welches die Auffuͤhrung eines Harpax recht
laͤcher-
[107]und dem Scharfſinnigen.
laͤcherlich machet. Und ich erklaͤre mich hier, wie
in parentheſi, daß ich geſchikten Gegenſaͤtzen den
Titel, daß ſie ſinnreich ſeyn, nicht abſpreche, maſ-
ſen ſie aus der Vergleichung zweyer Dinge, wel-
ches ein Werck der Einbildungskraft iſt, entſtehen.
Man muß mich demnach alſo faſſen, daß ich der
ſinnreichen Schreibart alles zueigne, was aus der
Vergleichung zweyer Dinge hergeleitet iſt; das-
jenige, was herauskoͤmmt, ſey nun gleich eine Ent-
deckung verborgener Aehnlichkeiten, oder verbor-
gener Ungleichheiten. Wiewol ich aber dieſen
Ausdruck des Hrn. Brockes fuͤr ſinnreich, ja fuͤr
ſcharfſinnig, gelten laſſe, muß ich gleichwol be-
kennen, daß ich die Scharfſinnigkeit, die er mir
entdecket, nicht Hrn. Brockes zuſchreibe, weil mir
dieſer Gegenſatz nicht neu; ſondern ſchon vorher
anderwaͤrts bekannt geweſen. Jch glaube auch
nicht, daß dieſer Poet, wann er die Staͤrke ſeines
Wizes beweiſen wollte, eine Stelle von dieſer Art
anfuͤhren wuͤrde; denn man muß ihm das Lob un-
ſtreitig laſſen, daß er in dem Scharfſinnigen, in-
ſonderheit was die Beſchreibungen der Natur und
die Wuͤrckungen der Dinge anbelanget, vortrefflich
ſey. Das zweyte Exempel iſt die bekannte Stelle
des HorazCarm. Lib. I. Od. 4. Pallida mors \&c.
Phyllis urtheilet davon alſo: Dahin gehoͤrt auch
folgendes: der Jnhalt iſt dieſer gemeine Saz:
Alle Menſchen muͤſſen ſterben: aber die Art
des Ausdruckes macht ihn ſinnreich.
Jch erinnere mich daß der Pater Buhurs in ſei-
nem
[108]Von dem Sinnreichen
nem critiſchen Wercke La maniere de bien penſer
dans les ouvrages d’eſprit betitelt, faſt gleiche Ge-
dancken von dieſer Stelle des Horaz hat. Jch
will ſeine Worte herſezen: La mort n’épargne per-
ſonne: Voila une penſée fort vraye \& qui ne l’eſt,
que trop par malheur; mais c’eſt une penſée bien
ſimple \& bien commune. Pour la rendre nouvel-
le en quelque façon, il n’y a qu’à la tourner de
la maniere qu’Horace \& Malhérbe ont fait. Der
Jnhalt dieſer Stelle iſt nicht: Alle Menſchen
muͤſſen ſterben; ſondern: Groſſe Herrn ſind
vor dem Tode ſo wenig geſichert/ als geringe
Leute; der Tod ſchont keinen. Die wahre
Urſache, daß dieſe Stelle ſcharfſinnig genannt wird,
iſt die Aehnlichkeit, welche ſie in der Vergleichung
eines Koͤnigs und eines Hirten, zwoer Perſonen,
die ſo weit von einander entfernt ſcheinen, als wi-
derwaͤrtige Dinge, entdecket; da ſie weiter nichts
mit einander gemein haben, ſind ſie doch in dem
Tode einander gleich.
Allein je weiter Phyllis in Entdeckung der Na-
tur des Sinnreichen fortzugehen vermeint, deſto-
mehr geraͤth ſie auf Abwege, welche ſie je laͤnger
je weiter von der Wahrheit entfernen. Oft/
faͤhrt ſie fort, geſchieht es, daß eine ſinnreiche
Rede ſich auf eine Zweydeutigkeit gruͤndet. Der
Herr von Beſſer ſchreibt an Melinden, daß
er ſie aufrichtig und nicht aus Begierde nach
ihrem Reichthum liebe:
Die
[109]und dem Scharfſinnigen.
Die beyden lezten Zeilen enthalten hier das Sinn-
reiche: und es entſtehet bloß aus der doppel-
ten Bedeutung des Worts Hertz. Wenn Me-
linde ſagt: Jch habe kein Hertz an dich zu ver-
ſchenken, ſo heiſt es ſo viel, ich bin dir nicht
gewogen. Wann er aber bittet, daß ſie auch
kein Hertz haben moͤge ihn zu haſſen, ſo meint
er das eigentliche Hertz: denn wenn man ſagt.
daß man jemanden gram ſey/ ſo wird in
keiner Redensart an das Hertz gedacht. Daß
zweydeutige Reden und Wortſpiele in dem weit-
laͤuftigten Sinne, den ich oben erklaͤrt habe, koͤn-
nen ſinnreich genennet werden, iſt nicht zu laͤug-
nen; wiewohl ſie von aͤuſſerſt verdorbnen Ge-
ſchmack ſind: Aber daß ſie zu dem Scharfſinni-
gen ſolten gerechnet werden, wie Phyllis in dieſer
Regel haben will, iſt abgeſchmakt. Das Exempel
iſt ein kahles gezwungenes und froſtiges Wort-
ſpiel. Man ſagt nicht ſchoͤn: Er hat fuͤr mich
ein Hertz, an ſtatt: Er iſt mir gewogen. Noch,
ſo hab auch keines, d. i. ſey nicht ſo kuͤhn, mich
zu haſſen.
Die lezte Anmerckung: Es giebt auch eine
Gattung ſinnreicher Gedancken, die in einer
geſchickten Vergroͤſſerung einer Sache beſte-
hen. Wenn dieſe Vergroͤſſerung aus einer Ver-
gleichung herkoͤmmt. Der Herr von Caniz lobt
von ſeiner hohen Verblichenen, daß ſich die
Lehrer ſelbſt uͤber ihre Wiſſenſchaft verwun-
dert, und daß auch die Unſtraͤflichſten durch
ihren Wandel erbauet worden. Jmgleichen
von ſeiner eigenen Gemahlin:
Man-
[110]Von dem Sinnreichen
Dieſe beyden Stellen ſind nicht nur ertraͤglich,
ſondern koͤnnen dem Buchſtaben nach verſtanden
werden. Aber wenn jemand von dem groſſen
Alexander geſchrieben: Er habe ein rechtes
Ertz-Hertz gehabt, in deſſen einem Winkel-
chen die gantze Welt ſo raͤumlich habe liegen
koͤnnen, daß noch ſechs andre Welten neben
ihr Platz genug gehabt haͤtten: das kan wol
ziemlicher Maſſen ausgeſchweiffet heiſſen. Die-
ſer Jemand iſt der beruͤhmte Spanier Balth. Gra-
cian. Der P. Buhurs fuͤhrt in ſeinem obener-
wehnten B. dieſe Stelle mit einichen Anmerkun-
gen begleitet an. Il traite le cœur d’Alexandre
d’Archicœur, dans un coin du quel tout ce mon-
de étoit ſi à l’aiſe, qu’il y reſtoit de la place pour
ſix autres. Grande fue el de Alexandro y el ar-
chicoraçon, pues cupo en un rincon del todo eſte mondo
holgadamente, dexando lugar para otros ſeis.
Avez-vous rien vû de plus recherché \& de plus
enflé?
Dieſes mag genug ſeyn den Leſern einen deutli-
chen Begriff davon zu machen, was in den Schrif-
ten uͤberhaupt ſinnreich, und was insbeſondere
ſcharfſinnig geheiſſen zu werden verdienet: Sie
koͤnnen daraus nicht allein lernen, woher die all-
gemeinen Grundſaͤze dieſer Schreibart muͤſſen ge-
holet, ſondern auch wie ſolche gebraucht werden
muͤſſen, wann man jede vorkommende Schrift be-
urthei-
[111]und dem Scharfſinnigen.
urtheilen will. Jns beſondere darf ich hoffen,
daß der Hr. Philologus, der im 34ſten St. die
Jgfr. Phyllis durch ſein ſchriftliches Anſuchen zu
dieſer ungluͤcklichen Unterſuchung des Scharfſinni-
gen veranlaſſet hat, allhier den vollſtaͤndigen Un-
terricht, den er bey den Schweizeriſchen Kunſt-
lehrern vergeblich geſucht, und von gedachter
Phyllis, das iſt, von ſeiner eigenen Scharfſin-
nigkeit (†), in die er ſehr verliebt iſt, umſonſt
erwartet hat, zu ſeiner Befriedigung antreffen,
und wenigſtens die Beſcheidenheit daraus lernen
werde, inskuͤnftige nicht mehr ſo vermeſſen zu ſeyn,
und ſich zu einem Richter des Scharfſinnigen auf-
zuwerffen, bevor er gelernet hat, was ſcharfſin-
nig iſt. Jch ſehe zwar eine einfaͤltige Aufrichtigkeit
in dem folgenden Bekaͤnntniß, womit er ſich im
Eingang verwahrt: Wundert euch nicht/ daß
mich dieſe Urſachen bewogen haben euch um
eure Gedanken von der ſinnreichen Schreib-
art zu erſuchen. Jch geſtehe es/ daß ich in ge-
wiſſen Faͤllen gar wol ſagen kan, welcher Ge-
dancke ſinnreich ſey oder nicht: allein wenn ich
eine Beſchreibung geben ſoll/ ſo will es nicht
fort. Jch habe oftmahls einen Streit gehabt/
ob dieſe oder jene Redensart in einem Scri-
benten ſinnreich ſey oder nicht, und ich finde,
daß man ſich ordentlich gantz andre Begriffe
davon macht/ als ich. Aber ich entdeke hernach
eine ſo viel groͤſſere Vermeſſenheit bey ihm, wenn
ich
[112]Von dem Sinnreichen
ich betrachte, mit was vor Eigenduͤnkel er als ein
vollmaͤchtiger Richter einem Autor die Kundſchaft
des Scharfſinnigen abſpricht, und dem andern zu-
erkennet, wie er eine Stelle als laͤcherlich verdam-
met, und hingegen eine andere eben ſo unbegruͤn-
det canoniſirt. Jch kan nicht faſſen, wie ſich die-
ſe Auffuͤhrung mit dem erſten Bekaͤnntniß reime.
Auf was vor einen Grund kan derjenige ſeine Ur-
theile von dem Scharfſinnigen bauen, der nach
eigenem Geſtaͤndniß nicht weiß, was ſcharfſinnig
iſt? Er muß es nothwendig riechen, oder ſchme-
ken, oder fuͤhlen. Oder es kan ſeyn, daß der Hr.
Magiſter eine von denen Magiſchen Maſchinen des
Hamburgiſchen Patrioten beſizt, mittelſt deren er
dieſe unterſchiedene Entdeckungen machet.
Laſſet uns noch mit einem Exempel darthun,
wie weit er es durch dieſe oder dergleichen Mittel
gebracht habe. Ein groſſer Niederſaͤchſiſcher
Poet/ ſind ſeine Worte in eben demſelben 34ſten
St. der Tadlerinnen/ deſſen Verdienſte zu
ſchmaͤlern ich nicht im Stande bin/ hat in ſei-
ner Paſſions-Geſchichte dieſe Aria:
Da ſind nun einige meiner Freunde in dieſe Re-
densart/ erbaͤrmlich ſchoͤn, ſo ſehr verliebt/ daß
ſie jeden Buchſtaben eines Ducatens werth ach-
ten. Es hilft gar nichts/ wann ich ihnen ſa-
ge/ daß dieſes ein gantz unnatuͤrlicher Aus-
druk ſey, den die Lateinercontradictionem in ad-
jectonennen. Jch frage ſie vergebens. Ob
ſie
[113]und dem Scharfſinnigen.
ſie denn wohl ein Frauenzimmer abſcheulich an-
genehm nennen wolten? Sie bleiben allezeit
dabey/ das erbaͤrmlich Schoͤne ſey was un-
vergleichliches/ und ſie beruffen ſich ihre Mei-
nung zu behaupten/ auf die Gluͤkwuͤnſche ande-
rer Poeten/ die dem Vater dieſes erbaͤrmlich
ſchoͤnen Ausdrucks deswegen gemacht worden.
Der Hr. Philologus haͤtte dieſe Stelle und ſei-
ne Freunde mit ſeinen poͤbelhaften Schertzen bil-
lig verſchonen ſollen: Denn ſein Geſpoͤtte laͤſt ſehr
abgeſchmakt, indem es etwas ſchoͤnes und geſchik-
tes anpakt. Es iſt natuͤrlich, daß die Betrach-
tung des Leidens des Heilands zwo gantz verſchie-
dene Wuͤrkungen oder Empfindungen in dem Ge-
muͤthe hinterlaͤſt. Die Betrachtung des Schmer-
zens oder die Groͤſſe des Leidens an ihm ſelbſt,
wuͤrket die Empfindung des Mitleidens, des Er-
barmens und der Traurigkeit. Aber wenn man
die Betrachtung auf deſſelben Folgen und Wuͤr-
kungen kehrt, ſo entſtehet nothwendig in dem Ge-
muͤthe eine Freude. Was uns ergezet oder belu-
ſtiget iſt nun ſchoͤn: Und es iſt erbaͤrmlich einen
Unſchuldigen an der Folter des Leidens zu ſehen.
Kan ich dann nicht mit Recht ſagen, der leiden-
de Heiland komme der Seele als erbaͤrmlich und
als ſchoͤn vor? Wenn ich z. E. eine ſchoͤne Frau
in einem mitleidenswuͤrdigen Zuſtande begriffen
ſehe, ſo darf ich mich mit gutem Grunde ausdruͤ-
ken: eine mitleidenswuͤrdige Schoͤne. Dem-
nach muß Hr. Philologus beſſer lernen was contra-
dictio in adjecto bey den Logicis ſey, denn die La-
teiner reden nicht ſo kauderwelſch. Freylich waͤ-
Hre
[114]Von dem Sinnreichen ꝛc.
re es abgeſchmakt, wenn man eine Frau abſcheu-
lich angenehm nennen wollte, denn dieſes ſind
nicht allein unterſchiedene, ſondern ſtreitende Din-
ge, diverſa, non oppoſita. Jch finde eine gleich-
maͤſſige Stelle in Opizens IV. B. der P. W. nicht
weit vom Ende der Oden, woraus ſich zeigt, daß
dieſer treffliche Poet keinen Abſcheu vor dergleichen
Gegenſaͤzen gehabt hat:
Solche haben in der That einen beſondern Nach-
druck, wenn ſie nur nicht weit her, wenn ſie nicht
gezwungen, und nicht unverſtaͤndlich ſind. Und
die Wahrheit zu bekennen, duͤnkte mich derjeni-
ge, den ich bißher vertheidiget habe, ein wenig
zu gekuͤnſtelt und zu dunkel, wenn ihm die naͤchſt
vorhergehende Zeile nicht zu Huͤlfe kaͤme, und ihn
in ein helles Licht ſezete.
Hans
[[115]]
Hans Sachs
Ein
Heldengedichte.
Mit einigen
Erklaͤrungen.
Virg. Eccl. 5.’
[[116]][117]
Vorrede des Verfaſſers(*)
an den Leſer.
MAs die Gelegenheit zu folgendem Gedich-
te gegeben (†), das hat man bey der
erſten Ausgabe deſſelben in einer langen
Vorrede weitlaͤuftig angefuͤhret. Wie man
aber von Natur geneigt iſt, allen Dingen ein
gewiſſes Maaß zu ſetzen; Alſo hat man anizo
dieſelbe auch gerne unterdruͤcken, und den Le-
ſer wegen einiger Oerter dieſes Gedichtes lieber
im Dunckeln laſſen, als die Thorheit eines an-
dern weiter ans Licht ſezen wollen (a). Man
H 3hat
61
[118]Hans Sachs
hat Schimpf mit Schertz; und ein kleines Son-
net mit einem gantzen Heldengedichte beantwor-
tet. Die Erfindung deſſelben hat man einem
Engliſchen Poeten abgelehnet (b); die mei-
ſten Einfaͤlle aber von ſich ſelber nehmen muͤſ-
ſen. Wie ſolches diejenige, denen die eigent-
liche Umſtaͤnde des Orts und der Sache be-
kannt ſind, gar leicht von ſich ſelber werden
erſehen haben. Es wuͤrden auch diejenige ihre
Muͤhe verliehren, die die angefuͤhrte Deutſche,
Welſche, Engliſche, und Franzoͤſiſche Oerter
den Hans Sachs betreffend, anderswo, als
in meinen Anmerckungen aufſuchen wollten.
Welches aber bey denen nicht zu beſorgen ſtehet,
die ſo gleich im erſten Anblicke verſpuͤhren wer-
den, daß auch eben dieſelbe nicht ohne ein ge-
wiſſes Abſehen geſchrieben worden ſind. Die
beſte ſatyriſche Schriften werden in Deutſch-
land von den wenigſten recht verſtanden, weil
wir zu weitlaͤuftig eingetheilet, und keine all-
gemeine groſſe Hauptſtadt haben, wornach ſich
alle andre richten (c), ſo daß in dieſem Stuͤke
die
64
[119]ein Heldengedichte.
die heutige Engliſche und Franzoͤſiſche Poeten
einen groſſen Vortheil vor uns haben. Sinte-
mahl die erſte gantz England in Londen, wie die
andre gantz Frankreich in Paris vor ſich finden.
Unterdeſſen ſo hat ſich ſeit der Zeit ein andrer ge-
H 4funden
65
[120]Hans Sachs
den (d), welcher ſich wieder Hans Sachſens
rechtmaͤſſigen Nachfolger empoͤret, und demſel-
ben die Folge der Herrſchaft ſtreitig machen
wollen; indem er in einem gantz kunterbunten
Buche ſo viel Keckheit, ſo viel Unverſtand und
ſo viel grobe und garſtige Frazen ſehen laſſen,
daß wenn man dieſen mit jenem vergleichen ſoll-
te, jener in der That wegen ſeines Verſtandes
vor einen Cato, wegen ſeines Wizes vor einen
Horatius, und wegen ſeiner Gelahrtheit vor
einen andern Varro wuͤrde gehalten werden.
Weil nun dieſer ſich gleichfalls geluͤſten laſſen,
hin und her groͤblich auf gewiſſe Leute zu ſticheln,
ſo war man ſchon auf die Gedanken gerathen,
einen zweyten Theil von Hans Sachs zu ſchrei-
ben, welchen man die Empoͤrung, wie den er-
ſten die Kroͤnung, wuͤrde genennet haben. Es
haͤtte an der Erfindung nicht gefehlet. Man
dachte aber hernach, daß man zwar unterwei-
len aus einem Schwan; niemals aber aus ei-
ner Ganß ein Schaugeruͤchte machte, und daß
es ſchon genug waͤre, denſelben mit einem paar
Ueberſchriften, dergleichen folgends der Ge-
ſchichte ein gewiſſer Edelmann wol ehe ſeinem
Koch vergeblich abgefordert, abzuſpeiſen. Haͤt-
te man nichts geſagt, ſo wuͤrden die Narren,
und haͤtte man zuviel geſaget, ſo wuͤrden kluge
Leute
[121]ein Heldengedichte.
Leute daruͤber gelachet haben. Ja wer weiß,
ob ſich nicht ſchon viele von dieſen leztern ver-
wundern, daß man ſchon ſo viel geſchrieben ha-
be. Es muͤſſen dieſelbe aber bedenken, daß
man niemals eine Thorheit nur halb begehen
muͤſſe.
Hans Sachs ein Heldengedichte.
H 5Mein
[122]Hans Sachs
Wenn
[123]ein Heldengedichte.
Die
[124]Hans Sachs
Die
[125]ein Heldengedichte.
Denn
[126]Hans Sachs
Be-
[127]ein Heldengedichte.
Daß
[128]Hans Sachs
Weil
[129]ein Heldengedichte.
JWeil
[Crit. Samml.]
[130]Hans Sachs
Er
[131]ein Heldengedichte.
J 2Dunk-
[132]Hans Sachs
Dunkle
Erklaͤrungen(†)
dieſes
Heldengedichts.
DJes ward Hans Sachs gewahr.) Wo
es dem Leſer nicht allbereit bekannt iſt,
ſo wird ihm hiemit zu wiſſen gethan,
daß Hans Sachs ein beruͤhmter Schuſter und
Pritſchmeiſter in Deutſchland geweſen, welcher
mit Verwunderung nicht allein Schuhe, ſon-
dern auch Fuͤſſe zu machen gewußt. Wie ſol-
ches nicht allein der großmaͤchtige Gregorio Leti
in ſeinem Coglione, davon er in Parentheſi ein
ganz
[133]ein Heldengedichte.
ganz Buch geſchrieben, mit dieſen Worten klar
und hell dargethan: Vaglia il vero, il più grande
Coglione che ſi ſia mai trovato fra i Poetaſtri nella
terra Tedescha, fù il chiamato Hans Sachs, und
wie die Worte ferner lauten; ſondern auch unſer
eigner Landsmann, und dem deßwegen ſo viel-
mehr zu trauen, der unvergleichliche Stephen
Hartkopf in ſeinem nunmehro nicht mehr zu be-
kommenden Gedichte von der Marcketenterey
mit dieſen Worten bezeuget:
Welche ſchoͤne und vortreffliche Verſe der in
den uralten deutſchen Gedichten wohlerfahrne
J 3und
(†)
[134]Hans Sachs
und gelehrte Franzoß, Jerome des Flibustiers,
Seigneur de la Rodomontade, alſo uͤberſezet:
Am allerſchoͤnſten aber und zwar ja ſo kurz hat
ſie der ſinnreiche und niemahls gnug geprieſene
Engliſche Ritter Thomas Cuckold alſo vereng-
liſcht:
Wie dann auch ſchon Virgilius dieſen Schuſter
und Poeten viel hundert Jahr zuvor im Geiſt
geſehen, als er dieſe nachdenckliche Worte ge-
ſchrieben:
Denn daß er auf einen ungeſchliffenen Poeten
mit dieſem lezten Verſe gezielet, iſt ſonnen-
klar; und daß er durch den erſten in Meldung
der Ochſen einen Schuſter verbluͤmter Weiſe
bezeichnen wollen, wird der nachdenckliche Leſer
ermeſſen koͤnnen, wenn er bedenket, daß man
aus Ochſenhaͤuten die Schuhſolen zu machen
pfleget.
Der
[135]ein Heldengedichte.
Der in der Dummheit Reich’, und Haupt-
ſtadt Lobeſan ꝛc.) Weil ſich dieſe Landſchaft in der
gemeinen Landkarte nicht befindet, ſo hat man
dem Leſer zur Nachricht vermelden wollen, daß
derſelben Einwohner die wahren Antipodes von
Utopia ſeyn: Und daß derohalben Papſt Boni-
facius einen gewiſſen Biſchoff unrechtmaͤſſiger
Weiſe lebendig verbrennen laſſen, dieweil er
Antipodes ſtatuirt.
Der ein verſtaͤndlich Wort vor Ungelahrtheit
haͤlt.) Wie Mendoza der vortreffliche Portu-
gieß einen unvergleichlichen Tractat de ſurdo
auditu; und der in den Grundgelehrten Schriften
der Mohren wohlverſirte Spanier Spinalonga
einen herrlichen Folianten de pulchra deformita-
te: Alſo ſcheinet es, daß der hochtrabende
Jtaliaͤner Cuſa ein ganz Buch de docta Igno-
rantia geſchrieben. Wie nun dieſen leztern Stel-
po in einer gewiſſen Vorrede cum elogio citiret;
alſo erhellet es aus deſſen Schriften, daß er
ein eifriger Fortpflanzer dieſer unwiſſenden Ge-
lahrtheit, oder gelahrten Unwiſſenheit ſey.
Sintemahl dieſelbe am beſten durch ungeheure
Worte, die man nicht verſtehet, begriffen wird.
Daß ein Orakel ſpricht.) Und dieſes nicht
ohne groſſe Urſach. Ja es iſt klar, daß die
Orakel nur Stuͤmper gegen Stelpo geweſen.
Denn wenn jene nur zweydeutig geſprochen; ſo
weiß dieſer ſo ſauber zu ſchreiben, daß man ihn
gar nicht verſtehen kan. Dat inania verba, dat
ſine mente ſonum.
Von der Pritſchmeiſterey.) Ob man unſe-
re alte Meiſter-Saͤnger deswegen Pritſchmei-
J 4ſter
[136]Hans Sachs
ſter genennet, weil ſie, wie die heutige Harle-
quins eine Pritſche an der Seite getragen, und
dieſe vielleicht alſo jenen den vielbedeutenden
Zierrath abgeborget; oder ob es darum geſche-
hen ſey, daß ihre Verſe wie die Pritſche geklap-
pert, uud wenn ſie die Leute damit Satyriſcher
Weiſe angegriffen, mehr Gepolter als Schmer-
zen verurſachet, ſolches ſtellen wir den Gelahr-
ten anheim. Dieſes aber iſt unſtreitig, daß
dieſelbe von undencklichen Jahren her in groſ-
ſem Ruffe geweſen, und die heutige fruchtbrin-
gende Geſellſchaft in der Dauer bey weitem uͤber-
troffen; biß endlich der (*) Schleſiſche Atti-
la mit der grauſamen Reinligkeit ſeiner Spra-
che, die von Alters hergebrachte loͤbliche Frey-
heit der Deutſchen ungeſchickt u. albern zu ſchrei-
ben zernichtiget; und ihnen nicht allein die un-
ertraͤgliche Sclaverey ſinnlich und verſtaͤndlich
in ihren Schriften zu ſeyn, ſondern auch Maaß
und Gewicht als eine Tyranniſche Schazung
auferleget. Wiewohl er dieſelbe ſo gar nicht
ausrotten koͤnnen, daß ſich nicht denn und
wenn noch ein neuer Pritſchmeiſter, als ein
aus der Aſche der vorigen hervorgekommener
Phoͤnix, hervor thun ſolte. Jedoch mit die-
ſem Unterſcheid, daß da die alte ihre untaugli-
che Waare nur nach dem Augenmaaß; dieſe
hergegen dieſelbe mit einer richtigen Elle meſſen.
Wie hievon in vielen Sprachen gelehrte Buͤ-
cher geſchrieben worden, welche diejenige zur
weitern Nachricht aufſchlagen koͤnnen, die nichts
anders zu thun haben.
So
[137]ein Heldengedichte.
So muſt ein Dudelſak ꝛc.) Daß Hans Sachs
auf dem Dudelſack, wie Stelpo auf dem Cla-
vier, zu ſpielen gewußt, ſolches hat der in
der hoͤchloͤblichen fruchtbringenden Geſellſchaft
ſo genannte Schaͤfer Hylas, in dem 31ſten Cap.
des 15den Buchs ſeines Poetiſchen Dudelſacks,
gar ſtattlich, obgleich beylaͤufig, aus dem mit
Ruhm vorher gemeldten Stephen Hartkopf er-
wieſen.
Und uns mit deinem Wahn und Aberwiz ent-
zuͤket.) Virgilius hat ohne Zweifel auf eine
gleiche Sache ſein Abſehn gehabt, als er geſa-
get:
Jch hoͤre mit Begier die Clytemneſtra ſingen.)
Dieſen Ort, wie auch zwanzig andre mehr die-
ſes Gedichtes; ja was noch mehr iſt, dieſe hier
gemachte Erklaͤrungen ſelbſt, denjenigen zu er-
klaͤren, welchen Stelpos Schriften ſamt ſeinen
weitlaͤuftigen und mit allen Sprachen angefuͤll-
ten Vorreden, wie auch alle Umſtaͤnde hieſiger
Gegend nicht bekannt ſind, wuͤrde mich weiter
fuͤhren, als ich zu gehen geſonnen bin. Deß-
halben finde ich vor rathſam hier ex abrupto,
und zwar mit folgendem wohlbekannten Verſe
zu ſchlieſſen:
Aus-
[138]Auszuͤge aus Hr. Breitingers
Auszuͤge aus Herr Prof. Brei-
tingers Widerlegung derLettres
ſur la Religion eſſentielle à l’homme,
diſtinguée de ce qui n’en eſt que l’ac-
ceſſoire.
DJeſe Widerlegung fuͤhrt folgenden Titel:
De principiis in examinanda \& defi-
nienda Religionis eſſentia, ex men-
te nuperi ſcriptoris Galli adhibendis, Ami-
ca Diſputatio. Autore Joh. Jac. Breitinge-
ro, Prof. Publ. Tiguri Helvetiorum, Li-
teris \& ſumtibus Conradi Orellii \& Socc.
MD CCXLI. Sie iſt in allem nicht ſtaͤr-
ker als 9. Bogen: Die Abſicht des Verfaſ-
ſers erforderte nicht mehr. Man ſchreibt ganze
Folianten vergebens, wann man auch nur ei-
nen einzigen Grundſaz, darauf ein Gegner bau-
et, unberuͤhrt ſtehen laͤſt, und wenige Blaͤter
koͤnnen im Gegentheile ganze Folianten zu nich-
te machen, wann die Schwaͤche ihrer Grund-
ſaͤze deutlich erwieſen wird. Es iſt wahr, man
hat alsdann kein Buch von der erſten Groͤſſe ge-
ſchrieben, aber dieſes iſt auch nicht immer noͤh-
tig, noch nuͤzlich.
Hr.
[139]Widerlegung der Relig. Eſſent.
II.
Hr. Breitinger ſezet ſeiner Schrift eine Vor-
rede fuͤr, die zur Einleitung dienet; ihr Jnn-
halt iſt dieſer: Das einfaͤltige und natuͤrliche
Weſen des chriſtlichen Glaubens iſt bald nach
der Apoſtel Lebzeiten durch vielerley abgeſchmak-
te K[uͤ]nſte und unerlaubte Abſichten, welche an-
gedeutet werden, gaͤnzlich verſtellt, und ſo ver-
derbt worden, daß es kein Wunder iſt, wann
dieſer heilige Glauben daruͤber in Verachtung
gekommen, wenn demſelben Sachen beygemeſſen
worden, woran dieſe elende Kuͤnſtler alleine
ſchuld waren, wenn man endlich von der Ge-
wißheit und Wichtigkeit deſſelben eben nicht viel
gehalten hat, weil uͤber denſelben ſo viele un-
gleiche Meinungen und Streite entſtanden, man
auch daneben an den Bekennern ſolcher Glau-
bensſaͤze ſo wenig Friedfertigkeit, Ehrlichkeit,
ꝛc. ꝛc. wahrnehmen koͤnnen. Fromme und ge-
lehrte Maͤnner konten darum ſeit der ſel. Re-
formation ihren Fleiß nicht beſſer anwenden, als
dieſe Schandfleken von der chriſtlichen Religion
abzuwiſchen, ſie in ihrer erſten Einfaͤltigkeit vor
Augen zu legen, das Gewiſſe und Wichtige von
dem
(*)
[140]Auszuͤge aus Hr. Breitingers
dem Dunklen, Uberfluͤſſigen, und zum Weſen
der Religion nicht gehoͤrenden zu unterſcheiden,
und deutlich zu zeigen, was jeder Punct zur wah-
ren Froͤmmigkeit fuͤr ein Gewicht und Einfluß
habe. Zu dieſen nun bekennt ſich der unge-
nannte Autor der franzoͤſiſchen Briefe uͤber die
weſentliche Religion des Menſchen, in welchen
er dieſelbe in ihrer natuͤrlichen Einfalt mit Weg-
ſchneidung alles deſſen, was nicht dazu gehoͤrt,
vorzuſtellen, und mithin die traurigen Folgen
ihrer Verderbung zu heben ſucht: Ob er aber
nicht allzu viel weggeſchnitten, und die Religion
in ſeinem Syſtema nicht von dem ihrigen ver-
liehre; iſt eine nothwendige Frage. Jndeſſen
geſtehet Hr. Breitinger dem ungenannten Ver-
faſſer gern nebſt vieler Geſchiklichkeit ein auf-
richtig gutes Abſehen zu, welches aber der
Wahrheit niemahls nachtheilig ſeyn muͤſte:
Anſehen und Abſicht, ſagt er, machen eine Sa-
che weder wahr noch falſch, weder nuͤzlich noch
unnuͤzlich: Folglich ſolle auch das Urtheil dar-
uͤber nicht auf dieſelben fuſſen. Man weiß
daß die Leute nicht allemal Urſach haben zu ge-
denken: Iſthæc commemoratio eſt quaſi exprobra-
tio immemoris officii.
Hierauf theilt Hr. Breitinger mit Beyſeite-
ſezung alles aͤuſſerlichen, das die Perſon, die Um-
ſtaͤnde, ꝛc. des Gegners angehen mag, ſeine Ar-
beit in zwey Stuͤcke; in die Betrachtung derjeni-
gen Grundſaͤze, welche der Ungenannte bey
der Unterſuchung der Religion, zur Regel und
zum Fundament ſezet; und in die Erwaͤgung
derjenigen Glaubenspuncten, welche nach Weg-
ſchaf-
[141]Widerlegung der Relig. Eſſent.
ſchaffung alles uͤberfluͤſſigen, wie derſelbe meint,
uͤberbleiben, und das Weſen der Religion aus-
machen.
III.
Die Religion iſt Wahrheit: Der Grund der
Wahrheit muß in der Natur und Beſchaffen-
heit der Sache ſelbſt liegen. Daher entſteht
der erſte Grundſaz des Verfaſſers; nemlich:
Da die Religion in einer Beziehung zwiſchen
Gott und den Menſchen beſteht, ſo muͤſſen die
Wahrheiten/ welche zur Religion gehoͤren, bey-
des in der Beſchaffenheit Gottes und der Men-
ſchen gegruͤndet ſeyn: Folglich muß jeder Saz/
der nicht in einem dieſer Stuͤke oder in bey-
den ſeinen Grund hat, oder denſelben wider-
ſpricht/ falſch ſeyn/ oder doch zum Weſen der
Religion nicht gehoͤren.
So wahr dieſer Grundſaz in ſich ſelbſt iſt,
ſo ſchwer iſt die Anwendung deſſelben, zu ei-
ner genauen Beſtimmung derjenigen Wahrhei-
ten, welche zur Religion mit Ausſchluß alles
andern gehoͤren: Wer dieſes thun wolte, muͤſte
nothwendig die Natur Gottes und der Men-
ſchen voͤllig kennen; das iſt, wiſſen was durch
die Natur beyder in Abſicht auf ihre Beziehung
gegen einander moͤglich ſey. Das ſezet Hr.
Breitinger dem Unbekannten entgegen, u. bringt
den gemachten Saz darum in ſolche Schran-
ken, in welchen er nuzbar wird: Nemlich, al-
les was demjenigen widerſpricht, das wir von
Gott und dem Menſchen deutlich als Wahrheit
erkennen, daſſelbe iſt falſch, ꝛc. Wie oft aber
hat
[142]Auszuͤge aus Hr. Breitingers
hat etwas nur den Schein des Widerſpruchs?
Wie ſehr irrete der, der keinen Unterſcheid mach-
te zwiſchen dieſen beyden Saͤzen, 1. die Ver-
knuͤpfung und Wahrheit der Dinge nicht ver-
ſtehen, und 2. gruͤndlich erkennen daß ſie einan-
der aufheben? Kan es dann, da wir die Na-
tur Gottes ꝛc. nicht genugſam kennen, nicht auch
in Abſicht auf die Religion Wahrheiten geben,
die mit allem Schein des Widerſpruchs doch
Wahrheiten bleiben, und von uns als ſolche
wuͤrden erkennt werden, wann wir ihren Zu-
ſammenhang mit andern einſahen? Sind wir
alſo im Stande nach der von dem Ungenannten
angegebenen Regel die Zahl und Beſchaffenheit
der Saͤze, welche zur Religion gehoͤren, gewiß
und genau zu beſtimmen? (*)
IV.
Laſſet uns ſehen wie derſelbe nun ſeinen Grund-
ſaz anwende: Er betrachtet erſtlich nach demſelben
die Natur Gottes und ſagt: Gott iſt ein Weſen
das ſich ſelbſt genugſam iſt; Folglich kan bey
der
[143]Widerlegung der Relig. Eſſent.
der Religion kein andrer Zwek ſeyn, als die
Befoͤrderung der Gluͤkſeligkeit der Menſchen;
Folglich ſtreitet eine jede Religion, deren Lehr-
ſaͤze in ſich ſchlieſſen, daß aus derſelben Gott ein
gewiſſer Nuzen zukomme, welchen er ſich als eine
Abſicht vorgeſtellt, mit den offenbaren Wahr-
heiten, die von Gott bekannt ſind. Da wird
leicht zugeſtanden, daß Gott ſich ſelbſt genug-
ſam ſey: Nemlich in dem Verſtande daß er
keine neue Vollkommenheit, die er noch nicht
gehabt, von auſſen bekommen, und ſeine Gluͤk-
ſeligkeit dadurch vermehrt werden, koͤnne: Es
iſt aber etwas anders ob mit dieſer Selbſt-
genugſamkeit Gottes nicht gar wohl beſte-
hen koͤnne, daß derſelbe in ſeinen Handlun-
gen gegen die Geſchoͤpfe ſeine eigene Vollkom-
menheiten, die er ſchon beſizt, offenbare, das
iſt,
(*)
[144]Auszuͤge aus Hr. Breitingers
iſt, ſo handle, wie es ihm nach dem ganzen
Umfang ſeiner Eigenſchaften geziemend iſt; und
ob in dieſem Falle dann nur bloß ſeine Guͤtig-
keit, in ſo fern ſie Guͤtigkeit iſt, in Betrach-
tung komme.
V.
Die Religion muß hernach auch kraft der
Natur des Menſchen moͤglich ſeyn. Was er-
kennt der Ungenannte hievon? Dieſes: Der
Menſch hat ein Vermoͤgen auf eine freye Wei-
ſe das Wahre, das Gute, und das Rechte,
von dem Gegentheile aller dieſer Stuͤcke, zu
unterſcheiden und zu erwehlen: Folglich ge-
hoͤret zur Religion nichts, deſſen Wahrheit ꝛc.
einem vernuͤnftigen Menſchen nicht klar und
deutlich vor Augen ligt. Folglich iſt dieſe Ein-
ſicht der Wahrheit, nemlich nach des Unge-
nannten Sinn, nicht nur die Erkaͤnntniß daß ein
Ding ſey, ſondern auch, wie und warum es
ſey, die Regel, nach der die Wahrheit, oder
Falſchheit der Religion zu beurtheilen iſt.
Es waͤre wol was darum zu geben, der Un-
bekannte haͤtte im Grund dieſer Folgen, den
er annimmt, recht: Nemlich daß der Menſch
durch den Gebrauch ſeiner natuͤrlichen Kraͤf-
te aus allen Eigenſchaften Gottes zuſammen,
und aus dem Verhaͤltniß der Menſchen, ge-
gen denſelben, genau beſtimmen koͤnnte, was
fuͤr und wie viel Saͤze zur Religion gehoͤren. (*)
Aber
[145]Widerlegung der Relig. Eſſent.
Aber das fragt ſich erſt; und nur wann es erwie-
ſen iſt, folgt was der Ungenannte nun ferner
wolte: Nemlich, a daß eine Offenbarung im
eigentlichen Verſtand nicht moͤglich ſey; b daß
Geheimniſſen, weder geoffenbaret, noch geglaubt
werden koͤnnen; und c daß der Glaube, und
die deutliche Erkaͤnntniß der Dinge, nicht un-
terſchieden ſeyn.
VI.
Jn den drey folgenden Abſchnitten zeiget da-
rum Hr. Breitinger, daß das Gegentheil die-
ſer Saͤze auf wahren Begriffen beruhe. Ei-
ne Offenbarung iſt eine deutliche Erklaͤrung
deſſen, was man aus der Natur der Sache,
durch Huͤlfe der Vernunft, nicht erkennen kan.
Die Moͤglichkeit dieſes Begriffs, in Anſehung
der goͤttlichen Offenbarung insbeſondere, iſt
erwieſen, wann man zugiebt, daß der goͤttli-
che Verſtand unendlich, der unſre aber ſehr
eingeſchraͤnket ſey, und dieſes fuͤraus in Abſicht
auf den Rath, und die Wege Gottes bey
unſerm Heil, als welche derſelbe nach einer un-
endlichen Weisheit, durch eine freye Wahl weh-
let. Nemlich, dieſe Wahl und das daher flieſ-
ſende Betragen Gottes, iſt in dem Meer der
ganzen Natur Gottes gegruͤndet. Kan man
nun nicht darthun, welches eigentlich diejenige
[Crit. Samml.] KWeiſe
(*)
[146]Auszuͤge aus Hr. Breitingers
Weiſe ſey, nach der, (*) und keiner andern,
es der goͤttlichen Natur mit dem Menſchen
diesfalls zu handlen geziemend ſey; was Gott
in beſondern Puncten muͤſſe wollen, daß ſie glau-
ben, und daß ſie thun; ſo hat man kein Recht
die Moͤglichkeit der Offenbarung deſſen zu laͤug-
nen, was man natuͤrlicher Weiſe nicht hat er-
kennen koͤnnen: Dies will darum nicht ſagen,
daß man etwas glauben muͤſſe, von dem man
nicht ſicher iſt, daß es geoffenbaret ſey, oder
welches zu glauben, wir nicht im Stande ſind.
Jn dieſe Claſſe aber gehoͤren gewiß diejenigen
Saͤze nicht, deren Grund, und innere Moͤg-
lichkeit wir nicht einzuſehen vermoͤgen.
VII.
Man bildet ſich leicht ein, was Hr. Breitin-
ger zu dem andren Saze des Ungenannten ſagen
werde, daß nemlich keine Geheimniſſe koͤnnen
geoffenbaret werden; darum nicht, weil es Ge-
heimniſſe, das iſt, Sachen ſeyn, die dunkel ſind,
den menſchlichen Verſtand uͤberſteigen, und al-
ſo
[147]Widerlegung der Relig. Eſſent.
ſo nicht geoffenbaret heiſſen koͤnnen, ſo lange
das, was dabey verborgen iſt, nicht entdeket
werde, wie hingegen was klar und deutlich iſt,
keine Offenbarung noͤthig habe. Der Unge-
nannte haͤlt ſich hier mit einem Wortſpiele auf:
Niemand, wenn er von geoffenbarten Geheim-
niſſen redet, verſtehet Saͤze, in ſo fern ſie ver-
borgen bleiben, ſondern ſolche deren Sinn und
Nuzen ihm, in ſo weit es noͤthig iſt, durch die
Offenbarung genug entdeket werden. Jſt es
nun ein Widerſpruch, etwas durch eine Of-
fenbarung entweder voͤllig oder in ſo weit klar
und deutlich machen, was aus keinen Grund-
ſaͤzen der Vernunft konnte hergeleitet werden?
Kan nicht ein ſolcher Saz, in ſo fern mir et-
was davon deutlich gemacht wird, eine geof-
fenbarte Wahrheit und in ſo fern noch anders
darinn verborgen bleibet, ein Geheimniß heiſ-
ſen? Z. E. wann die Weiſe und Moͤglichkeit
einer Sache nicht offenbar iſt. Gewiß bleibt
es wahr daß Seel und Leib in ihren Wuͤrkun-
gen uͤbereinſtimmen, daß wir hiemit etwas von
Seel und Leib erkennen, welches ſchon Nuzen
fuͤr uns haben mag, ob wir gleich nicht wiſſen,
wie es mit dieſer Uebereinſtimmung hergeht.
Jn ſo fern bleibt uns denn die Sache ein Ge-
heimniß: Aber in Anſehung deſſen, was davon
erkennt wird, iſt ſie klar und nuͤzlich genug.
Es laͤſt ſich wohl etwas fuͤr eine Offenbarung
halten, wann uns ſchon nicht ganz ausgemach-
te (*) Begriffe davon gegeben werden: Die
K 2Schran-
[148]Auszuͤge aus Hr. Breitingers
Schranken unſers Verſtands ſind zu ſolchen zu
enge. Wie kan man eine ſolche vollkommene
Offenbarung fodern? Und wir fuͤgen bey, was
haͤtte Gott fuͤr Urſache dazu gehabt; wann das,
was er offenbaret, zu dem Zweke, darum er es
offenbaret, genugſam und dienlich iſt, das an-
dere aber das verborgen bleibt, nichts dazu
thut?
VIII.
Soll die deutliche Einſicht in die Moͤglich-
keit der Wahrheit, das einige Beurthei-
lungs-Mittel der Religion ſeyn, ſo muͤſte der
Ungenannte nothwendig glauben und wiſſen,
zu einer und eben derſelben Sache machen. Es
klingt wunderlich: Nichtsdeſtoweniger wird es
von ihm behauptet. Der Glaube, ſagt er, iſt
eine Gewißheit, die ſich auf einen deutlichen
Begriff deſſen gruͤndet, was man von Gott und
ſeinen weſentlichen Eigenſchaften erkennen kan.
Warum ſo? Der Glaube beziehet ſich auf Gott;
dieſer Gegenſtand des Glaubens muß bekannt
ſeyn, der Grund aber dieſer Erkaͤnntniß, kan
nir-
(*)
[149]Widerlegung der Relig. Eſſent.
nirgend anderswo, als in dem Objecto ſelbſt
und dem Vermoͤgen des Menſchen daſſelbe zu
erkennen liegen.
Eine offenbare Vermiſchung zweyer ganz un-
terſchiedener Dinge, nemlich des Gegenſtands
des Glaubens, oder deſſen was man glaubt,
und des Fundaments oder Grunds, darum
man glaubt! Hr. Breitinger nimmt daher An-
laß den Unterſcheid der zwey Begriffe wiſſen,
und glauben, in das rechte Licht zu ſezen. Man
weiß das, deſſen Moͤglichkeit und unmittelba-
rer Zuſammenhang mit andern ſchon bekann-
ten Wahrheiten eingeſehen wird; und man
glaubt das, was mit den Wahrheiten welche
die Vernunft erkennt, nicht unmittelbar zu ſam-
menhaͤngt, ja oft mit denſelben ſcheint zu ſtrei-
ten, (doch in den geoffenbareten Wahrheiten
nur ſcheint, weil Gott kraft ſeines unendlichen
Verſtandes ihren Zuſammenhang mit allen an-
dern wohl erkennt,) und was wir hingegen
durch Mittel anderer Saͤze damit verknuͤpfen,
die uns nicht zeigen wie, wol aber daß ſie mit
denſelben zuſammenhangen, nemlich bey der Re-
ligion mit denen, daß Gott wahrhaftig, gerecht,
guͤtig ꝛc. ſey: Und gleichwie das zur Erlaͤuterung
von unſerm Hr. Verfaſſer angebrachte Beyſpiel
des glaubenden Abrahams geſchikt iſt, den
Unterſcheid dieſer zween Begriffe recht empfind-
lich zu machen; alſo glauben wir daß der Un-
bekannte ſelbſt eben wie andere Menſchen, nach
Beſchaffenheit der taͤglich vorkommenden Faͤl-
le, bald glaube, bald wiſſe, und ſo dieſem Un-
terſcheid Zeugniß gebe. Wann nun eine Of-
K 3fenba-
[150]Auszuͤge aus Hr. Breitingers
fenbarung uͤberhaupt, und ein geoffenbartes
Geheimniß insbeſondre, moͤglich ſind, auch wiſ-
ſen und glauben unterſchieden bleiben, ſo iſt
klar daß der Saz des Ungenannten, die Ein-
ſicht der Wahrheit, verſtehe nemlich in dem
angefuͤhrten Sinn, iſt die einige Regel nach
der die Religion zu beurttheilen iſt, falſch ſey.
IX.
Der Glaube kommt mit der menſchlichen Na-
tur gar wol uͤberein: Deſſelben thaͤtliche Er-
weiſung aber, in Religionsſachen, hat nicht
Plaz bis man weiß, daß eine Offenbarung
von Gott herkommt. Daß aber Gott diesfalls
etwas, und was er offenbaren wollen, erkennen
wir a priori(*) nicht: Man muß die Goͤtt-
lichkeit
[151]Widerlegung der Relig. Eſſent.
lichkeit einer Offenbarung aus den Merkmah-
len, die ſie mit ſich fuͤhrt, ſchlieſſen. Unſer
Hr. Verfaſſtr hat dienlich erachtet, eine kurtze
Anweiſung dieſer Kennzeichen zu geben. Unter
dieſelben gehoͤren die Wunderwerke; der Unge-
nannte haͤlt nichts davon, woruͤber Hr. Theol.
Zimmermann, und Hr. de Roches, gegen ihn
geſchrieben haben. Jndeſſen gehoͤrt dieſe Mei-
nung mit zu dem Syſtema deſſelben: Dann
er will bey der Religion lauter ſolche Saͤze ha-
ben, die jedem an ſich ſelbſt offenbar und deut-
lich ſind, dieſe aber erweiſen ſich durch ihre
K 4eigene
(*)
[152]Auszuͤge aus Hr. Breitingers
eigene Natur ſchon genug; und Wunderwer-
ke koͤnnen zu ihrer deſto mehrern Beglaͤubi-
gung nichts beytragen: Credimus; \& hoc no-
bis non altius(*)inſeret Ammon. Der Be-
ſchluß des erſten Theils dieſer Arbeit unſers
Hr. Verfaſſers wird mit einer geſchikten und
angenehmen Zuſammenfaſſung deſſen, was er
bisher abgehandelt, gemacht.
X.
Der andere Theil der gruͤndlichen Arbeit Hr.
Breitingers enthaͤlt in ſich die Betrachtung
der von dem Unbekannten uͤbriggelaſſenen Fun-
damentalartikel der Religion. Dieſelbige be-
ruhen alle auf dem Saze: Gott iſt ein We-
ſen, das ſich ſelbſt genugſam iſt. Dieſen wird
jedermann als wahr gelten laſſen: Nur fragt
es ſich, ob man das, was derſelbe gerne wol-
te, daraus herleiten koͤnne. Z. E., daß der-
ſelbe das Fundament der Religion ſey, und
daß jeder Saz der nicht daraus flieſſe, auch
nicht
[153]Widerlegung der Relig. Eſſent.
nicht zur Religion gehoͤre. Er ſchließt ja gar
keine Beziehung auſſer Gott in ſich ein. Wie
folget es? Gott iſt ſich ſelbſt genugſam: Hie-
mit hat er eine Welt erſchaffen, Menſchen dar-
auf ſezen muͤſſen ꝛc. Sachen ohne welche die
Religion nicht beſteht; die aber ja nicht aus
der Selbſtgenugſamkeit Gottes herflieſſen!
Vielmehr gruͤndet ſich keine einige Wuͤrkung
Gottes auſſer ihm auf dieſen Saz, (*) ſon-
dern es werden ganz andere Eigenſchaften da-
zu erfodert, aus denen man ſelbige verſteht.
Mithin iſt aller Nuzen dieſes Sazes, Gott iſt
ſich ſelbſt genugſam, bey der Unterſuchung der
Religion dieſer: Daß man als falſch verwerf-
fen muͤſſe, was mit demſelbigen ſtreitet. Wie
z. E. iſt, daß Gott durch ſeine Werke Vollkom-
menheit und Gluͤk zuwachſe, welches er zuvor
nicht gehabt ꝛc. Hingegen laͤſt ſich nicht ſchlieſ-
ſen, jeder Saz, den man nicht aus demſelben
herleiten kan, iſt falſch.
K 5Viel-
[154]Auszuͤge aus Hr. Breitingers
XI.
Vielleicht aber hat der Unbekannte es nicht
ſo eigentlich genommen, wann er geſagt, daß
dieſer Saz, Gott iſt ſich ſelbſt genugſam,
das Fundament der Religion ſey. Wenigſtens
ſezen diejenigen Religionspuncten, welche er uͤb-
rig laͤſt, mehr die Meinung voraus, daß der-
ſelben Gegentheile mit dieſem Saze ſtreiten,
als daß er ſie aus demſelben als deſſen Fol-
gen herleite. Er ſchließt nemlich ſo: Gott iſt
ſich ſelbſt genugſam: Darum kan er nichts
thun, um eigenen Vortheil zu erhalten. Jſt
dieſes, ſo hat er bey der Schoͤpfung ꝛc. nicht
ſeine eigene Ehre, ſondern nur der Menſchen
Gluͤk zum Zweke gehabt. Hiemit giebt es a
nur einen einigen Zwek Gottes in Anſehung der
Menſchen, der iſt ihre Gluͤkſeligkeit; b kan Gott,
deſſen Liebe und Wille unveraͤnderlich iſt, dieſes
ſeines Endzwekes nicht verfehlen; und c folget,
daß in Gott entweder keine Strafgerechtigkeit
Plaz
(*)
[155]Widerlegung der Relig. Eſſent.
Plaz habe, oder daß ſie von ſeiner Liebe nicht
unterſchieden ſey. Wie dieſe drey Folgen mit
ihrem Grunde zuſammenhangen, wird nun von
Hr. Breitinger naͤher unterſucht.
XII.
Bey dem erſten, Gott habe die Menſchen
in keinem andren Endzweke koͤnnen erſchaffen,
als ſie gluͤklich zu machen; mithin koͤnne auch
die Religion keinen andern vorausſezen ꝛc., wird
zugegeben, daß es eine Wuͤrkung der Guͤte Got-
tes geweſen, daß die Geſchoͤpfe aus dem Stan-
de der Moͤglichkeit, von Gott zur Wuͤrklichkeit
ſind gebracht worden. Man betrachtet nem-
lich da nur uͤberhaupt, wie durch dieſe Hand-
lung Gottes die Geſchoͤpfe eine Realitaͤt oder
Vollkommenheit erhalten, und er dieſelbe ih-
nen ohne eigennuͤzige Abſichten mitgetheilt;
allein es iſt hiemit noch nicht erwieſen, daß Gott
bey der Erſchaffung weiter nichts, als dieſe
ſeine Guͤte habe beweiſen wollen, und koͤn-
nen. Alle dieſe andern Abſichten aber die die
Eigenſchaft der Guͤte Gottes nicht aufheben,
ſind Gott weder ungeziemend, noch werden ſie
durch den Begriff des ſich ſelbſt genugſamen
Weſens ausgeſchloſſen.
Daß es nun dergleichen Abſichten wuͤrklich
gebe, iſt offenbar, wann man geſteht, daß
man aus den Nuzbarkeiten, welche aus dem
Weſen und der Natur der Dinge herflieſſen,
auf die goͤttliche Abſicht ſicher ſchlieſſen koͤnne.
Der Menſch iſt nemlich nicht nur ein Ge-
ſchoͤpfe uͤberhaupt; etwas das aus dem Stande
der
[156]Auszuͤge aus Hr. Breitingers
der Moͤglichkeit zur Wuͤrcklichkeit gebracht wor-
den, ſondern er iſt ſo gemacht wie er iſt, mit
ſolchen Vermoͤgen oder Kraͤften ausgeruͤſtet,
die ihn juſt zum Menſchen, und alſo zur Re-
ligion tuͤchtig machen. Nun fragt es ſich nicht
bloß, was Gott bewogen habe, dem Men-
ſchen das wuͤrkliche Seyn mitzutheilen, ſon-
dern warum er ihn ſo und nicht anderſt, mit
dieſem und keinem andern Vermoͤgen, Grade
der Kraͤfte ꝛc., erſchaffen habe. Kan man
anderſt antworten, als es ſey geſchehen, da-
mit er dieſelbigen gebrauche, Gott, ſich ſelbſt,
beyder Beziehung, zu erkennen, und ſein eige-
nes Gluͤck dadurch zu befoͤrdern? Daß er trach-
te dieſem herrlichen Muſter, deſſen Vollkom-
menheiten, und folglich die Urſache ſeiner hoͤch-
ſten Gluͤkſeligkeit in ſeinen Wercken an dem
Tage liegen, je laͤnger je naͤher zu kommen?
Dies ſind die Sachen, die aus der beſondern
Beſchaffenheit des Menſchen, aus den abſon-
derlichen Eigenſchaften, die ihm Gott mitge-
theilt, flieſſen. Da man nun dieſen Gebrauch
derſelben ſich nicht ohne den Begriff vor-
ſtellen kan, wie der Befoͤrderung des eigenen
Gluͤckes, alſo der herrlichen Eigenſchaften Got-
tes, die durch dieſes Mittel dem Menſchen of-
fenbar werden, ſo laͤſt ſich ja mit Recht ſagen,
gen, daß die Abſicht Gottes bey der Erſchaf-
fung des Menſchen doppelt geweſen, a die Offen-
barung ſeiner Vollkommenheiten (*) oder ſei-
ner
[157]Widerlegung der Relig. Eſſent.
ner Ehre, und b der Menſchen Gluͤck, wel-
ches aber eben durch die Erkaͤnntniß Gottes be-
foͤrdert wird, und alſo dieſe beyde Abſichten,
wiewohl eine nicht die andre iſt, unzertrennlich
beyſammen ſtehen. Jndeſſen da ſich der Un-
bekannte alle Muͤhe gegeben zu zeigen daß es
mit dem Begriffe der Selbſtgenugſamkeit ſtrei-
te, wann man ſage, Gott habe die Offen-
barung ſeiner Ehre zur Abſicht gehabt, ſo ent-
wickelt Hr. Breitinger den Begriff der goͤtt-
lichen Ehre, damit das Gegentheil klar wer-
de. Gott iſt die Liebe, die Liebe iſt eine Nei-
gung aus dem Anſchauen des Vollkommenen
Vergnuͤgen zu ſchoͤpfen, die goͤttliche Ehre iſt
die Wuͤrde aller Vollkommenheiten, welche
ſeine Natur ausmachen. Gott kennet ſie, hie-
mit liebet er ſeine Ehre. Gott iſt demnach auch
Liebe und Guͤtigkeit in Beziehung auf die Ge-
ſchoͤpfe. Dieſe Liebe iſt ohne Eigennuzen, das
iſt, durch die Erweiſung derſelben kommt ſei-
ner Natur keine neue Vollkommenheit zu, die
er nicht beſeſſen haͤtte: Da er aber nicht an-
derſt handeln kan, als wie es ihm geziemend
iſt, (*) oder wie es der ganze Umfang ſeiner
Voll-
(*)
[158]Auszuͤge aus Hr. Breitingers
Vollkommenheiten, die er ſchon beſizt, erfode-
ret, ſo hat er bey der Schoͤpfung und dem
ganzen uͤbrigen Betragen gegen die Menſchen
ja nicht anderſt koͤnnen als ſeine Ehre an den
Tag legen. Er hat vernuͤnftige Menſchen er-
ſchaffen, die mit dem Vermoͤgen ausgeruͤſtet
ſind, ſeine Vollkommenheiten zu erkennen, auch
ſo beſchaffen ſind, daß durch dieſe Erkaͤnntniß, die
Liebe und Nachahmung ſeiner Eigenſchaften, ihr
Gluͤck kan befoͤrdert werden: Er muß hiemit
gewollt haben daß ſeine Ehre offenbar werde.
Das aber, um deßwillen einer handelt, iſt,
ſein Zwek. Mithin muß Gottes Zwek auch
die Offenbarung ſeiner Ehre geweſen ſeyn; wo-
raus aber nicht er ſelbſt, ſondern ſeine ver-
nuͤnftige Geſchoͤpfe Vortheil haben, als de-
rer Gluͤk von dieſer Erkaͤnntniß entſpringet.
Und ſo ſtreitet es ja nicht mit einander, ſagen:
Gott iſt guͤtig ohne ſeinen eigenen Vortheil zu
ſuchen; Und ferner: Gott hat vernuͤnftige
Geſchoͤpfe erſchaffen, daß ſie ſeine Vollkom-
menheiten oder Ehre erkennen. Die Einwuͤrf-
fe welche der Unbekannte machet, beruhen al-
le
(*)
[159]Widerlegung der Relig. Eſſent.
le auf ſeinem unrichtigen Begriffe von der Offen-
barung der Ehre Gottes, ſo daß wer nur ver-
ſteht, der Sinn des Sazes, Gott hat die Of-
fenbarung ſeiner Ehre zum Zweke gehabt, ſey,
er habe wollen daß ſeine Vollkommenheiten er-
kannt, und ſeine Geſchoͤpfe dadurch gluͤklich werden,
ſich nicht daruͤber aufzuhalten hat; ſie fallen von
ſich ſelbſt weg. Wir wollen ſie darum nicht anfuͤh-
ren ſondern glauben, der Gegner werde obigen Be-
weis dieſer Sache um ſo viel eher muͤſſen gelten
laſſen, als er aus deſſelben eigenen Syſtema zu
ziehen iſt. Gott hat nach demſelben bey der Er-
ſchaffung der Menſchen nichts als ſeine Guͤte koͤn-
nen zu Rath ziehen. Die Menſchen werden gluͤk-
lich, wann ſie dieſe Guͤte Gottes erkennen, preiſen,
ihre Pflichten daraus herleiten ꝛc. Weil Gott der
Menſchen Gluͤck will, ſo hat er hiemit auch wol-
len, daß ſie ſeine Guͤte erkennen. Kan nun die
Offenbarung dieſer Eigenſchaft Gottes mit dem
Begriff eines ſich ſelbſt genugſamen Weſens wohl
beſtehen, warum nicht auch andrer Eigenſchaften,
die in Gott ſind, und nach welchen (die Guͤte
mit eingeſchloſſen) allen zuſammen die Art und Wei-
ſe der Handlungen Gottes hat muͤſſen beſtimmet
werden.
XIII.
Gott hat nach des Unbekannten Meinung kein
ander Fundament ſeiner Handlungen als die Guͤ-
tigkeit, und keine andre Abſicht, als des Men-
ſchen Gluͤck. Daraus ſchließt er, Gott werde hie-
mit ſeinen Endzweck erreichen und der Menſch un-
fehlbar
[160]Auszuͤge aus Hr. Breitingers
fehlbar zur Gluͤkſeligkeit gelangen; weil nemlich
Gott immer guͤtig bleibt, und eigener Vortheil oder
Nuzen ihm nicht im Wege ſtehet, dieſe Abſicht
zu erhalten.
Es fehlt, wie unſer Hr. Breitinger oben gezeiget,
nur an den Grundſaͤzen dieſes Schluſſes: Jſt es
nemlich nicht an dem, daß nur die Guͤte Gottes
ohne Schaden des Begriffs ſeiner Selbſtgenugſam-
keit, und des daher entſtehenden unintereſſierten Be-
tragens, auſſer ihm Plaz habe, ſo fragt es ſich
dann erſt, ob die andern Eigenſchaften Gottes, wel-
che er in ſeinen Werken eben ſo wenig, als ſeine
Guͤte verlaͤugnen kan, in Anſehung aller Men-
ſchen, ſo wie ſie ſind, und ſich auffuͤhren, die Guͤte
Gottes dergeſtalt beſtimmen, daß dieſelben noth-
wendig zur Gluͤckſeligkeit gelangen muͤſſen. Das
was der oben belobte Hr. Erneſti in ſeiner Diſſer-
tation de neceſſitate Revel. divin. von dem Ungrund
dieſes Schluſſes ſchreibet, iſt eben ſo buͤndig (*)
als hertzhaft. Hr. Breitinger laͤſt ihn fuͤr ſich re-
den, und die Sache kommt dahinaus: Die Men-
ſchen ſeyn viel zu ſchwach, zeigen zu koͤnnen, wie
Gott ſeine Macht, Guͤte ꝛc. in beſondern Faͤllen
erweiſen muͤſte. Es ſchiene ihnen oft, Gott habe das
oder jenes thun ſollen oder muͤſſe es thun, welches
er
[161]Widerlegung der Relig. Eſſent.
er weder thue noch gethan habe; weil es nemlich
die Eigenſchaften Gottes zu beſtimmen einen unend-
lichen Verſtand braucht, eben wie der iſt, nach wel-
chem Gott wuͤrklich handelt. Unſer Hr. Ver-
faſſer ſezt daher an dieſem Schluß des Unbekann-
ten mit Recht aus, a daß er die Guͤte Gottes
von ſeinen andern Vollkommenheiten abſondere (*)
und zur einigen Richtſchnur ſeiner Thaten mache,
als wann er nicht dem ganzen Umfang aller ſeiner
Eigenſchaften gemaͤß wuͤrken muͤſte; b daß er
nicht betrachte ob auch die Geſchoͤpfe in Anſehung
ihrer natuͤrlichen Beſchaffenheit und ihrer Auffuͤh-
rung dieſer Gluͤckſeligkeit allemal faͤhig ſeyn. Die
Menſchen ſind nemlich freye Geſchoͤpfe; und Gott
will ihr Gluͤck vermittelſt des rechten Gebrauchs
dieſer Freyheit: Fehlt es nun an ihrem Ort hie-
[Crit. Samml.] Lran
[162]Auszuͤge aus Hr. Breitingers
ran, wer will erweiſen, Gott ſey verbunden ſie
mit Gewalt oder mit Aufhebung ihrer Freyheit
gluͤcklich zu machen: Es komme dieſes und kein
anders mit ſeiner Weisheit und ganzen Natur uͤbe-
rein. Die Wuͤrkung ſeiner Liebe muͤſſe nothwen-
wendig ſo weit gehen, wann er ſoll Gott bleiben.
Ohne eine beſondere Offenbarung der Sache wird
man ſich hier vergebens bemuͤhen. Es will darum
auch nichts ſagen wann der Gegner ſezet, die Ehre
Gottes beſtehe in der Vollkommenheit und Gluͤk-
ſeligkeit der Menſchen; hiemit muͤſſe er ſie dazu
bringen, und der Menſch ſey kein vollkommenes
Werck Gottes wann er nicht gluͤklich (†) werde.
Dann beydes gruͤndet ſich auf den unerwieſenen
Saz, daß Gott in ſeinen Wuͤrkungen keine an-
dere Eigenſchaft zur Regel habe, als allein die Guͤ-
te, in ſo fern ſie ſolche iſt.
XIV.
Endlich iſt es um den Begriff der Gerechtigkeit
Gottes zu thun, welchen der Unbekannte nach ſei-
nen
[163]Widerlegung der Relig. Eſſent.
nen Grundſaͤzen darinn ſtellt, daß ſie der unveraͤn-
derliche Wille Gottes ſey, den Menſchen zum
Gluͤck zu bringen, und weil dieſes Gluͤck mit
der Ordnung verknuͤpfet iſt, ihn zuerſt wie-
der in die Ordnung zu ſezen: Dabey der Be-
griff von der Straffgerechtigkeit ausgeſchloſſen
bleibt, weil es ſeiner Meinung nach mit der Guͤ-
te Gottes ſtreitet, daß die Menſchen, obſchon ſie
ſich durch ihre eigene Schuld ungluͤcklich machen,
alſo bleiben. Dieſe Guͤte Gottes allein betrachtet,
iſt alſo auch in den Augen des Unbekannten der ei-
nige Grundſatz ſeiner Gerechtigkeit. Allein es
folget zuviel, und hiemit nichts hieraus. So haͤt-
te es ja auch mit dieſer Guͤte Gottes ſtreiten muͤſ-
ſen, daß Er zugelaſſen, daß die Menſchen von
der Ordnung durch die Suͤnde abwichen, und in
ſoweit als ſie in Unordnung gerathen ſind, ſchon
ungluͤcklich worden. Kan das damit beſtehen,
was hindert daß nicht ebenfalls damit beſtehen
ſollte, wann Gott es zulaſſen will, daß das Ue-
bel, welches aus der Suͤnde oder Unordnung fließt,
fortdaure. Der Menſch iſt frey; Und Gott lie-
bet die Ordnung: Kraft der Freyheit muß jener
koͤnnen uͤbels thun, und dadurch die Straffe deſ-
ſelben natuͤrlicher Weiſe ſich zuziehen. Kraft aber
der Liebe zur Ordnung, die darinn beſteht, daß
der Menſch durch die Erkaͤnntnuß der Ehre Got-
tes und Ausuͤbung deſſen, was daraus fließt, gluͤck-
lich werde, wird Gott gehindert, denſelben wi-
der ſeinen Willen zum Gluͤcke zu bringen, und ſeine
Guͤte zu erweiſen. Sie wird durch Weisheit ge-
L 2leitet
[164]Auszuͤge aus Hr. Breitingers
leitet, und in ſo fern heißt ſie Gerechtigkeit.(†)
Dieſe durch Weisheit geleitete Guͤte gehet alſo nicht
unmittelbar auf das Gluͤck der Menſchen, ſon-
dern ſie wird dadurch, daß ſie durch Weisheit ge-
leitet iſt, zur Liebe der Ordnung, und der Voll-
kommenheit. Gott liebet folglich die Menſchen
und befoͤrderet ihr Gluͤck, ſofern ſie der Ordnung
durch den rechten und vorgeſchriebenen Gebrauch
ihrer Kraͤfte nachkommen. Welches er Kraft
dieſer Vorſchrift, und Liebe zur Ordnung nicht
thun
[165]Widerlegung der Relig. Eſſent.
thun kan, wann ſie es unterlaſſen. Dann darinn
iſt Ordnung daß entgegengeſezte Handlungen auch
entgegengeſezte Wuͤrckungen haben. Und ſo weit
ſcheinet es daß der Unbekannte wohl gleicher Mei-
nung ſey, weilen er ſelbſt die Wiederherſtellung
der Ordnung als eine mit dem Gluͤck der Men-
ſchen verbundene Sache angegeben. Aber es iſt zu-
viel auch noch behaupten wollen, Gott muͤſſe dem Ue-
bel, das eine Hinderniß dieſes Gluͤcks iſt, nothwendig
ein Ende machen, und den Menſchen wieder in die
Ordnung, welche das natuͤrliche Mittel zu Erlangung
der Gluͤckſeligkeit iſt, bringen:
„nicht
[166]Auszuͤge aus Hr. Breitingers
„nicht wollen zu derſelben zuruͤckkehren? Soll
„Gott durch angewendete Gewalt die Freyheit
„ihres Willens aufheben? Kan Er ſogleich ohne
„Schaden ſeiner Heiligkeit vergeſſen, was von
„den Menſchen geſchehen, und das, was ih-
„nen darauf gebuͤhrt, aufheben? Oder kan Er
„auf gewiſſe Weiſe das geſchehene zu nicht geſche-
„henem machen? Gewiß das zeiget die Vernunft
„nicht; da trifft man ihre Graͤnzen an; und
„wann es moͤglich iſt, ſo muͤſſen wir es durch ei-
„ne goͤttliche Offenbarung erfahren.„
So druͤ-
ket unſer Hr. Verfaſſer ſeinen Sinn mit Hrn.
Buͤlfingers Worten aus, die am Ende ſeiner
Schrift von dem Urſprung und der Zulaſſung des
Uebels ſtehen; und beſchließt ſeine geſchickte Ar-
beit mit einer ſummariſchen Wiederhohlung ſeiner
bisher erklaͤrten Saͤze: Gott habe ohne Abſicht
eines eigenen Vortheils bey dem Werck der Er-
ſchaffung und der Vorſchrift der Religion die Er-
kaͤnntniß ſeiner Vollkommenheiten zum Funda-
ment des Gluͤcks der Menſchen gemacht: Miß-
brauche nun der Menſch ſeine Freyheit, und verfeh-
le alſo der ihm beſtimmten Gluͤckſeligkeit, ſo zeige
die Vernunft nicht, daß ihn Gott deſſen unge-
achtet muͤſſe, oder wolle gluͤcklich machen: Viel-
mehr ſcheine die Liebe der Ordnung, die in Gott iſt,
zu fordern, daß die Menſchen ſich ſelbſt, und de-
nen Straffen, welche ſie ſich zugezogen haben,
uͤberlaſſen werden. Die Betrachtung ſeiner unend-
lichen Guͤte koͤnnte zwar die Gedanken erwecken,
daß Er jenes thun wuͤrde. Allein da Gott nichts wol-
le als was ſeinen Eigenſchaften insgeſamt und mit-
hin
[167]Widerlegung der Relig. Eſſent.
hin ſeiner Ehre geziemend iſt, ſo koͤnne uns auch
unſer zu kurtzſichtige Verſtand nicht zeigen, ob
und wie weit es Gott gezieme, bey ſolcher Beſchaf-
fenheit ſeine Guͤte und Erbarmung zu erweiſen:
Aus welchem alſo die Groͤſſe der Gutthat, welche
uns durch die goͤttliche Offenbarung wiederfahren
iſt, erhelle.
[]
dichte groͤſtentheils aus der Welt der Geiſter hergenommen
war, welche den ſterblichen Menſchen verſchloſſen iſt, konn-
te der Poet keine Nachrichten davon haben, als aus der
Erzehlung eines von ihren geiſtlichen Einwohnern. Die-
ſes machte denn ſeine Anruffung gantz nothwendig. An-
dere Poeten, die von menſchlichen Begebenheiten reden,
duͤrften eben ſich nicht zu den Bewohnern des Himmels
wenden, ſie um Nachrichten von dem zu fragen, was auf
Erden, ihrem eigenen Wohnplatz, geſchieht, und wovon
ihnen die irdiſchen Menſchen genugſamen Bericht mitthei-
len koͤnnten.
ſagt nicht ſchlechtweg, neun Tage, weil er uns in den
Ort fuͤhren wollte, wo die Scena ſeiner Handlung lieget.
Jn der Hoͤlle giebt es keine Tage, es iſt daſelbſt lauter
Finſterniß, die nur durch die Flammen des feurigen Meer-
buſems etwas erleuchtet wird, daß man dabey ſehen kan;
daher ſie Milton eine ſichtbare Dunckelheit heißt; das iſt,
eine Dunckelheit, dabey man, wie in einer ſtarcken Daͤm-
merung, ein wenig Licht ſieht. Hr. Voltaire hat wider die
Meinung des Poeten dieſe ſichtbare Dunckelheit ſo verſtan-
den, daß es eine Dunckelheit waͤre, die man mit den
Augen ſehen koͤnnte. Uebrigens iſt es nicht ohne Nutzen,
daß Milton die Zeit beſtimmt, wie lange die Engel nach
ihrem Falle vom Himmel ſinnlos und ohnmaͤchtig gelegen
ſeyn. Dieſe Beſtimmung bringt viel mehr Leben und Wahr-
ſcheinlichkeit in ſeine Erzehlung, als wenn er auf eine un-
beſtimmte Weiſe geſagt haͤtte, ſie waͤren eine lange Zeit
in der Ohnmacht gelegen. Eine Ohnmacht von neun Ta-
gen ruͤhrt uns mehr, als eine lange Ohnmacht; und zei-
get uns einen Geſchichtſchreiber, der von dem, was er
erzehlet, genauere Nachrichten hat.
Waͤltzete ſich in dem feurigen Meerbuſem ſinnlos, ob-
gleich unſterblich) Magni beſchuldiget den Poeten, daß
er hier die Beraubung der Sinne mit den feurigen Wellen
zuſammengereimet habe. Allein das Herumwaͤltzen Sa-
tans und ſeiner Geſellen war nicht eine Wuͤrckung einer in-
nerlichen Kraft derſelben, ſondern der Gewalt, womit
ſie von dieſem wuͤtenden Sturmfeuer in dem Pful hin und
her
macht derſelben mit ihrer Unſterblichkeit. Von der Berau-
bung der Sinne iſt zwar nur noch ein Schritt bis zum Tod,
doch iſt ſie noch nicht der Tod ſelbſt. Der Poet konnte die
Erſchlagung der gefallenen Engel nicht nachdruͤcklicher vor-
ſtellen, als durch dieſen unempfindlichen Zuſtand, der
dem Tod und der Zerſtoͤrung ſo aͤhnlich iſt. Er ſtreitet mit
der Unſterblichkeit derſelben um ſo viel weniger, weil dieſe
die Unſterblichkeit nicht von einer eigenen Kraft, ſondern
von dem Willen des Schoͤpfers hatten.
lich unſichtbar, indem darinnen weder Maß noch Geſtalt
zu erkennen iſt; wenn ſie ſichtbar werden ſoll, ſo daß man
die Dinge einigermaſſen unterſche den kan muß ſie von ihrer
Dicke vieles verliehren. Alſo ſchwaͤcht das Beywort Sicht-
bar die Kraft der Bedeutung in dem Worte Dunckeiheit.
Feuer uͤberſchwemmt lagen) Der feurige Meerbuſem, der
flammende Ofen, die Suͤndflut von Feuer, der ewig-
brennende Schwefel, die aͤuſſerſte Finſterniß, die Wirbel-
winde von Feuer, ſind alles bekannte und gelaͤuftige Be-
griffe von der Hoͤlle. Mithin ſind ſie gantz irdiſch und coͤr-
perlich; ungeachtet die Dinge ſelbſt, wie die Weſen, auf
welche ſie wuͤrcken, von geiſtlicher Natur ſind. Was man
demnach zur Vertheidigung derſelben ſagen kan, dienet
zugleich zur Rechtfertigung der coͤrperlichen Geſtalten, in
welche die Einwohner dieſer geiſtlichen Gegenden verklei-
det werden.
Beel-
gebracht, daß ſeine Widerparte allmaͤchtig ſey. Wie ver-
kehrte Gloſſen auch Satan oͤfters uͤber die Gerechtigkeit,
Guͤte, und andere Eigenſchaften des Hoͤchſten machet,
ſo geſteht er ihm doch die Allmacht uͤberall zu. Dieſes
war eine Vollkommenheit Gottes, welche er ihm durch die
Waffen gezwungen einraͤumen mußte. Keine andere Be-
trachtung, als dieſe, konnte ihn unter der Schande der
erlittenen Niederlage aufrichten. Addiſon.
Wiewohl Beelzebub ſein Urtheil der Verdammniß ſchon
angetreten, ſo ſteht er doch der abſonderlichen Symptoma-
tum halber, ſo dieſelbe mit ſich fuͤhren moͤgte, in aͤngſt-
licher Ungewißheit. Satan hatte ihn mit der Vorſtellung
aufrichten wollen, daß ſie ihr empyreiſches Weſen in ſei-
ner vollen Starcke behalten haben, welches er dem Schick-
ſal einer unvermeidlichen Nothwendigkeit zugeſchrieben; al-
lein Beelzebub fand dagegen einzuwenden, daß der Hoͤch-
ſte, den er fuͤr den Meiſter des Schickſals erkennt, ſeine
eigenen Urſachen moͤgte gehabt haben, um derer willen
er ihnen ihre Staͤrcke ungekraͤnckt gelaſſen haͤtte. Er macht
jezo einige derſelben nahmhaft, die ſo beſchaffen ſind, daß
ſie Satans Troſt voͤllig uͤber einen Haufen ſtoſſen.
und her tragen) Die Botſchaften Gottes hin und her
tragen, heißt nichts anders, als, ſeine Befehle hier und
dar ausrichten. Beelzebub erkennt damit, daß der Hoͤch-
ſte ſeine Herrſchaft bis in die Hoͤlle ſelbſt erſtrecken werde.
het hier geiſtliche Weſen in coͤrperliche verwandelt. Der
Poet redet nicht anderſt davon, als wenn es wahrhafte
Leiber waͤren. Er konnte ſie den Sinnen und der Ein-
bildung auf keine andre Weiſe vorſtellig machen, als ſo
er ſie ſichtbar und coͤrperlich machete. Dieſes that er
durch eine poetiſche Schoͤpfung, nach welcher das Moͤgliche
ins Wuͤrckliche hinuͤbergebracht wird. Er hat ſeiner Kunſt
und ſeiner Abſicht eine vollkommene Gnuͤge gethan, wenn
er die Geſtalten und Verrichtungen ſeiner geiſtlichen Perſo-
nen alſo zugerichtet hat, daß ſie ihren Character und ihre
Geſchichte der Phantaſie auf eine empfindliche Weiſe vor-
ſtellen, und alle die Eindruͤcke darinnen hervorbringen,
welche zu der Abſicht des Poeten dienen koͤnnen. Die
Poeſie bekuͤmmert ſich eigentlich nicht um das Wahre des
Verſtands; es iſt ihr nur um die Beſiegung der Phantaſie
zu thun; darum begnuͤget ſie ſich an dem Wahrſcheinlichen,
welches auf das Zeugniß der Sinnen und der Phantaſie
gegruͤndet iſt.
Poeſie hat ein eigenes Recht auf die gemeine Sage, die
Maͤhrgen, und die Fabeln; maſſen dieſe gleichſam eine
Hiſtorie von dem zweyten Rang iſt, welche bey dem ge-
meinen Haufen der Menſchen eben ſo viel Glauben findet,
und ſo viel Anſehen hat, als die wahrhafte Geſchichte ſelbſt.
Denn dieſes iſt ſchon genug, die poetiſchen Vorſtellungen,
der Abſicht des Dichters gemaͤß, wahrſcheinlich zu machen.
Wer dieſes bey ſich betrachtet, wird die aberglaubigen
Dinge, die etwa von den Poeten zu ihrem Gebrauche an-
gebracht werden, vor nichts mehrers nehmen, als vor
apocryphiſche Geſchichten, vor Begegniſſen aus dem Rei-
che der Poeſie, vor Beſtrebungen und Fruͤchte der Ein-
bildungskraft und des Witzes. Das ſind diejenigen Ar-
ten des Vermoͤgens der Seele, deren Springfedern und
Triebraͤder der Poet mit ſeinen Gewichten und Schluͤſſeln
aufzieht, daß ſie ſpielen.
aus dem griechiſchen Spruͤchwort genommen, πόῤῥω Διός
τε καὶ κεραυνου̃. Bentley.
Sey gegruͤßt, abſcheulicher Ort) Die Gedancken
und Entſchluͤſſe Satans ſind ſo beſchaffen, wie es ſich vor
ein erſchaffenes Weſen von der erhabenſten und dabey ver-
kehrteſten Natur gehoͤrt. Addiſon.
ter den gottloſen Reden, in welche der raſende Geiſt hier
und dar losbricht, hat der Poet nichts einflieſſen laſſen, was
nicht bey ſeiner Erhabenheit ungereimt und unanſtoͤſſig iſt;
Denn ſeine Reden waren nur dem Scheine nach erhaben,
nicht in ihrem wahren Weſen, Addiſon.
tig auf ihn zu.) Satans Ankunft auf dem Geſtade von
zuſammengeronnenem Feuer iſt keine neue Straffe, wie Ma-
gni davor haͤlt, ſondern nur eine neue Art der Pein, die
in dem Urtheil ſeiner Verdammniß ſchon enthalten war.
Dieſes ward an ihm und ſeinen Mitgeſellen in tauſend ver-
ſchiedenen Veraͤnderungen vollſtrecket.
Und den Buſiris unter die Wellen verſenckete, ‒ ‒ ‒
und zerbrochenen Wagenraͤder ſahen) Milton wußte nichts
von der falſchen Zaͤrtlichkeit in dem Geſchmack einiger neu-
ren Kunſtrichter, welche in den Homeriſchen Gleichniſſen
dasjenige verwerffen, was ſie mit einem vielmehr laͤcher-
lichen, als artigen Ausdruck, einen langen Schwantz
heiſſen; die keinen uͤberfluͤſſigen Pinſelzug darinnen leiden
koͤnnen, nichts darinnen dulden wollen, was nicht in dem
Bild und dem Gegenbild in einem hohen Licht abſticht,
als ob eine kleine mahleriſche, lebhafte und anmuthige Zu-
gabe, die bey Gelegenheit einer ſchoͤnen Schilderey am
rechten Orte angebracht wird, in ſolchen Wercken ſchaͤd-
lich
Mittel der Phantaſie in Bewegung gebracht werden muß.
Seine Vergleichungen ſind nach Homers Manier verfaſſet,
und dieſes dienet ihnen zum Ruhme, weil ſie zugleich der
Natur derer gemaͤß ſind, auf welche ſie wuͤrcken ſollen.
Man hat uͤber dieſes beobachtet, daß der ſo genannte
Schwantz eines Gleichniſſes bey ihm oͤfters zum Grund ei-
ner neuen Vergleichung geleget wird, und daß er das vor-
hergehende mit dem nachfolgenden verbindet; dieſe Ver-
bindung koͤmmt deſto ſcharfſinniger heraus, weil wir auf
dieſe Weiſe zwey Gleichniſſe in einem bekommen. Von die-
ſer Art ſind neben dem gegenwaͤrtigen, das von den Chi-
neſen im zweyten B. welche ihre Rohrwagen mit Segel und
Wind forttreiben, und im vierten B. das von dem Feld
der Ceres, und andere mehr.
Weil ihr die Ruhe allhier ſo ſuͤß findet) Magni hat
nicht gemercket, daß Satan allein durch eine Jronie, oder
auch
gaͤntzliche Ohnmacht und ein voͤlliges Stillſtehen ihrer Kraͤfte
war.
leten die tobende Pein) Magni macht den laͤcherlichen
Schluß, weil ſie erſt jezo die Pein gefuͤhlt, ſeyn ſie zuvor,
als ſie noch in dem Pful ohnmaͤchtig gelegen waren, noch
nicht verdammt geweſen.
lichen erhaben) Der Poet konnte ihnen unter denen Ge-
ſtalten, die in das coͤrperliche Auge fallen, keine wuͤrdi-
gere zuſchreiben, als die menſchliche; dieſe leget er nicht
alleine den ſeligen Engeln, ſondern auch den verdammten
zu, welche ungeachtet ihrer Verdammniß dennoch Engel,
obgleich gefallene Engel, waren, fuͤrſtliche Wuͤrden und
Hoheiten, die unlaͤngſt im Himmei auf Thronen ſaſſen.
Er
heit ihres Gemuͤthes und Verſtandes, als in der Veraͤn-
derung ihrer aͤuſſerlichen Geſtalt, wiewohl er die Merckma-
le derſelben auch auf dieſen wahrzunehmen giebt. Da-
durch empfaͤngt die Vorſtellung derſelben einen vortreffli-
chen Grad der Erhabenheit. Die boͤſen Engel, die Dantes,
Taſſo, und Ceva, aufgefuͤhret haben, ſind dieſer Hoheit
durch ihre viehiſchen und garſtigen Geſtalten beraubet.
Stampano alcuni il ſuol di ferine ormeE’n fronte umana han chiome d’angui attorte,E lor s’aggira dietro immenſa codaChe quaſi sferza ſi ripiega e ſnoda.
Milton hat dieſe hochmuͤthigen Engel nicht alleine ſolcher
erniedrigender, und ihnen zu ihren feindſeligen und auf-
ruͤhriſchen Anſchlaͤgen nichts helfender Ungeſtalten entledi-
get, ſondern noch uͤberdieß allen Fleiß angewendet, daß
er die gemeine menſchliche Geſtalt, die er ihnen zutheilt,
erhuͤbe.
hier nicht einen bloſſen Kram von Gelehrſamkeit aus, die
dabey mit einer poetiſchen Annehmlichkeit vorgetragen wird,
damit er dem Leſer zeige, wie viel er wiſſe; ſondern er
macht uns naͤher mit dieſen gefallenen Engeln bekannt,
die in dem folgenden Buche zu unſrem Verderben eine ſo
ſchwartze und grauſame Berathſchlagung halten. Er hat
ein Mittel gefunden, uns die Erkenntniß derſelben durch
die Erfindung, daß ſie eben die heidniſchen Goͤtzen ſind,
die wir ſchon zuvor kennen, gewaltig leicht zu machen.
Und dieſe Erkenntniß dienet zu gleicher Zeit, uns in einen
gewiſſen Affect gegen ſie zu verſetzen, der uns reitzet, an
alle demjenigen Theil zu nehmen, was der Poet von ih-
rem Zuſtand, ihren Anſchlaͤgen und Verrichtungen, nach-
gehends erzehlet. Wir fangen jezo an, uns gegen ſie
zu partheyen. Daneben ſteht dieſe Muſterung ſehr ge-
ſchickt an dieſem Orte, die Aufmerckſamkeit, die durch ſo
viele ſeltſame Vorſtellungen und erhabene Begriffe ermuͤdet
worden, einigermaſſen zu erquicken.
Da das gemeine Heer immittelſt in vermiſchten Haufen
ſtuhnd) Der Poet laͤßt ſie eben die Ordnung, den Rang,
und
Stande gehabt hatten, wie aus dem fuͤnften und ſechsten
B. erhellet. Die gemeine Lehre von den Engeln lautet:
So ward die Geiſterwelt; verſchiedne Macht und Ehre,Entſchieden ſtuffenweis die unzaͤhlbaren Heere,Die ungleich ſatt vom Glantz des mitgetheilten LichtsJn langer Ordnung ſtehn, von Gott zum oͤden Nichts.
dienet, den Leſer zu der wunderbaren Zuſammenziehung
der Engliſchen Geſtalten in dem Saale des Pandaͤmonium
vorzubereiten, welche am Ende dieſes erſten B. gedichtet
wird.
ten Olympus in der mittlern Luft, ihrem hoͤchſten Himmel)
Dieſe und etliche andere dergleichen Stellen ſagen uns
deutlich genug, was Milton von den mythologiſchen Fa-
beln hielt. Man muß ſehr unbillig mit ihm umgehen,
oder von gar bloͤdem Verſtande ſeyn, wenn man den him-
melweiten Unterſchied, den er zwiſchen der Mythologie
und dem wahren Grund ſeiner eigenen Erdichtungen ma-
chet, nicht wahrnehmen kan. Wer ſieht nicht, wenn er
die mythologiſche Geſchichte mit einer hiſtoriſchen Art an-
fuͤhrt, daß er alsdann nur der Mund der alten Poeten
iſt, und in ihrem Nahmen das Wort fuͤhret? Es iſt ſo
ferne, daß er ſie damit beglaubigen wolle, daß er viel-
mehr an den meiſten Orten ihre Falſchheit andeutet, und
wo er dieſes nicht mit ausdruͤcklichen Worten thut, durch
ſeine Verkleinerung derſelben zu erkennen giebt, in welcher
Achtung und Anſehen ſie bey ihm ſtehen, und wie er ſie
vor bloſſe Vorſtellungen der Phantaſie gebrauche.
Jn welchen doch einige dunckle Funcken von Freude
glimmeten) Das war eine Freude nur in Abſicht auf die
vorige
die Verdammten; nach ihrer Sprache; weil ſie ihr Ober-
haupt nicht alle Hoffnung aufgeben ſahen, weil ſie ſich
ſelbſt wieder fuͤhleten, hielten ſie ſich vor gluͤcklicher, als
ſie erſt noch vermeint hatten, und empfanden daher eine
Luſt; die aber an ſich ſelbſt ſo eitel iſt, als der Grund,
worauf Satan ſeine Hoffnung gruͤndet, und ſo elend, als
ihr Zuſtand, in welchem ſie ſich wieder fuͤhlen.
ten B. in den Geſichtern, die Adam vor Augen geleget
worden, die Plaͤtze, die damahls noch ohne Nahmen
waren, bey ihren Nahmen genannt, ſo ſie nach der Zeit
empfangen haben; alſo hat er hier dieſer Melodie den Nah-
men gegeben, den ſie lange hernach in Griechenland be-
kommen hat. Es iſt ſo viel als wenn er geſagt haͤtte:
Von dieſer Art war nach der Zeit die Doriſche Melodie.
Was von der Wuͤrckung dieſer Melodie folget, iſt noch
bey weitem nicht zulaͤnglich, die hoͤlliſchen Geiſter, wie
Magni geglaubt hat, in einen Stand zu ſetzen, daß ſie
den ſeligen Engeln ſchier nichts mehr zu mißgoͤnnen hatten;
denn die Ruhe und Stille, ſo ſie in der Bruſt verurſach-
te, und die Verjagung der Angſt und der Pein, ſo ihr
durch eine poetiſche Vergroͤſſerung zugeſchrieben wird,
ſind nur fluͤchtige und betruͤgliche Symptomata, von keiner
Dauer und von keiner Sicherheit. Die unruhigen Gedan-
ken wurden nicht aus dem Wege geraumet, ſondern nur
eingeſchlaͤffert, der Schmertze nicht geheilet, ſondern nur
gebannet.
gefallen war)
ALCIMUS.’
Der einzige Milton hat die Vortrefflichkeit der Engliſchen
Natur gebuͤhrend in Acht genommen, indem er ſie an
den gefallenen Engeln ſelber in allen denen Stuͤcken vorge-
ſtellet hat, welche nur aͤuſſerlich ſind. Was vor einen
Begriff macht er uns nicht von Satans ehmahligen Glantz
und Herrlichkeit, den er auch nach ſeinem Fall ſo trefflich
glaͤntzend vorſtellet, indem er ſagt, daß nur das Ueber-
maß
Reſt von dem alten Glantze zeiget uns Satans Engliſche
Natur in der Hoͤlle ſelbſt, welche er mit ſeinem Heere ſtets
behalten, ein jeder hatte noch Glantz nach dem Grade,
auf welchem er ihn in den ſeligen Refieren des Himmels
beſeſſen, jedoch alle mit einander mit einiger Verminderung.
Miltons Hoͤlle bekoͤmmt durch dieſe natuͤrliche Vorſtellung
eine Majeſtaͤt, welche Dantes, Taſſo und Ceva, mit
ihren haͤßlichen und eckelhaften Vorſtellungen Satans und
ſeiner Engel uͤbel verderbt haben.
Gedicht zum erſten mahl ſollte gedruͤckt werden, fehlte nicht
viel, daß es von dem vorwitzigen Cenſor waͤre unterdruͤckt
worden. Derſelbe vermeinte in dieſem Gleichniß eine po-
litiſche Ketzerey und einen Hochverrath zu finden.
in Thraͤnen aus) Die Thraͤnen der Ungluͤcklichen, wenn
das Ungluͤck gleich eine verdiente Straffe iſt, ſo fern es
nur mit Reue begleitet iſt, vermoͤgen uns zum Mitleiden
zu bewegen. Hier empfinden wir ſolches durch die Kunſt
des Poeten gegen Satan und ſeine gefallenen Schaaren
ſelbſt, ungeachtet wir ſo gerechte und ſchwere Urſachen
haben, ſie als Gottes und unſre geſchwornen und boß-
hafte-
weil wir uns in den Gedancken in einerley Umſtaͤnde ſetzen,
wie der vorgeſtellten Perſonen ſind, und alſo denſelbigen das
Mitleiden zukommen laſſen, das wir fuͤr uns ſelber em-
pfinden wuͤrden; zumahl, da die Betrachtung dazu koͤmmt,
daß wir ſelber nur allzu leicht in eine gleiche Noth fallen
koͤnnen, oder gewiſſermaſſen darinnen begriffen ſind. Dem-
nach irren diejenigen ſehr, welche davor halten, daß die
Geſchichte der Engel nicht bequem ſey, die menſchlichen
Gemuͤther in Bewegung zu ſetzen; denn da wir durch die
Vorſtellung der boͤſen und feindſeligen Engel in derglei-
chen ſanften Affect, wie das Mitleiden iſt, geſetzet wer-
den, was vor ſuͤſſe Affecte werden nicht die Begegniſſe der
ſeligen Engel bey uns erwecken?
den Engeln nicht nur diejenige coͤrperliche Geſtalt angezo-
gen, welche die anſehnlichſte und bequemſte war, nemlich
die menſchliche, ſondern er hat dieſe noch ſehr verbeſſert
und verherrlichet. Jhre Schoͤnheit, Groͤſſe, Staͤrcke,
Munterkeit, Schnelligkeit, Unſterblichkeit, ſind uͤber-
menſchlich, nicht nur an den ſeligen, ſondern auch an den
gefallenen Engeln. Sie haben daneben die Kraft, ſich
auszudaͤhnen und zuſammenzuziehen; das maͤnnliche oder
das weibliche Geſchlecht an ſich zu nehmen; ſie leben durch
und durch in allen Theilen, ihr Leben beſteht nicht, wie
bey den gebrechlichen Menſchen, nur in dem Eingeweide,
dem Hertzen, Haupt, der Leber, oder den Nieren; in
denſelben iſt alles Hertz und Haupt, Auge und Ohr, Ver-
ſtand und Sinnen. Auf dieſen Begriff ſollen uns auch
die Worte fuͤhren, Thraͤnen, wie die Engel weinen; wo-
mit bey aller der Gleichheit zwiſchen unſrem und dem En-
gliſchen Coͤrper ein Unterſchied unter denſelben angedeutet
wird.
Text hat: Die Worte mit Seufzern unterflochten; wovon
Bentley ſagt, es uͤbertreffe alle menſchliche Geſchicklichkeit,
und komme Satan vor eigen zu. Daher er davor leſen
will, mit Seufzern unterbrochen. Seine Critick ſcheint
auf dem Grund zu beruhen, daß es in der That nicht an-
gehe, die Worte und die Seufzer unter einander zu flech-
ten. Alleine wer hat jemahls zur Rechtfertigung einer
Metapher gefodert, daß das, was verglichen wird, und
das, womit es verglichen wird, nur ein Ding und eben
daſſelbe ſeyn? Es iſt genug, daß die Bilder, die verwech-
ſelt werden, eine offenbare Aehnlichkeit mit einander ha-
ben. Der betruͤgliche Schein, da etwas fuͤr das andere
geſetzet wird, kan dem Verſtande dann nicht verborgen blei-
ben. Und wie will Bentley ſeine erwehlte Lesart anderſt,
als auf eben dieſe Weiſe beſchuͤtzen? Worte mit Seufzern
brechen und unterbrechen, iſt eben ſo wohl, als ſie unter-
flechten, eine Metapher, die etwas betruͤgliches in ſich hat,
und gehet in der That eben ſo wenig an.
ſchet) Die Urſache, die der Poet den Satan vorwenden
laͤßt, warum ihm und ſeinen Geſellen die Allmacht Gottes
verborgen geweſen, iſt zwar eine offenbare Falſchheit,
denn die Erſchaffung iſt eine ſo gute Probe der Staͤrcke
Gottes, als die Zerſtoͤrung; indeſſen fuͤhrt ſie bey dieſen
verkehrten Geiſtern ein deſto groͤſſeres Blendwerck mit ſich,
weil ſie auch die Erſchaffung leugneten; und ſich ruͤhme-
ten, daß ſie durch ihre eigene lebensreiche Kraft entſtan-
den, als der Lauf des Schickſals ſeinen Circkel in einen
vollen Ring geſchloſſen hatte, daß ſie die reife Frucht des
oberſten Himmels, ihres Geburtsplatzes, waͤren; wie ſie
gegen das Ende des fuͤnften B. zu vernehmen geben.
derwaͤrts geneigt) Nemlich die wenige Tage uͤber, wel-
che die ſataniſchen Rebellen in und nach ihrem Fall noch
in dem Himmel gelitten worden. Der Schritt zur Suͤnde
und zum Abfall iſt in dem Himmel geſchehen; man kan
nicht einmahl begreiffen, daß er an einem andern Orte
haͤtte geſchehen koͤnnen, weil man ſonſt die Engel, die
gefallen ſind, vor ihrem Fall aus dem Himmel verſtoſſen
muͤßte. Die Gluͤckſeligkeit und die Aufrichtigkeit der En-
gel
und iſt nicht an denſelben gebunden. Der Fall iſt in dem
Himmel gethan worden; und wenn die Hoͤlleverdammten
aus der Hoͤlle auf die Erde oder den Himmel ſelbſt geſezt
wuͤrden, ſo wuͤrden ſie nichts deſto ſeliger werden, ſie
braͤchten die Hoͤlle mit ihnen in alle Gegenden. Diejenige,
welche die Vorſtellung Mammons in gegenwaͤrtiger Stelle
getadelt, haben darinn geirret, daß ſie ſolche vor ſei-
nem Aufſtand verſtanden haben; welches Miltons Mei-
nung niemahls geweſen iſt.
geoͤffnet) Je kleiner einigen die folgenden Umſtaͤnde ſchei-
nen moͤgten, deſto mehr iſt Milton zu loben, daß er ſie
in einem ſo vortrefflichen Licht vorzuſtellen gewußt hat. Es
braucht Kunſt dazu, kleine Dinge ohne Niedrigkeit zu be-
ſchreiben.
Erden hervor) Da der Poet Perſonen von uͤbermenſchli-
chen Kraͤften vor ſich hat, welche ſeinen Bau ausfuͤhren,
hat er nicht verſaͤumt, das Wunderbare, das in dem epi-
ſchen Gedichte erfodert wird, durch die Vorſtellung einer
mehr als menſchlichen Arbeit vorzuſtellen.
waren) Die vollſtaͤndige Beſchreibung dieſes Gebaͤudes,
dienete dem Poeten an dieſem Orte unter andern, die
Leidenſchaften, wodurch das Gemuͤthe in der Betrachtung
der ſataniſchen Gedancken und Anſchlaͤge angeſtraͤnget wor-
den, durch eine geſchickte Veraͤnderung der Eindruͤcke zu
maͤſſigen.
facile intelligere poterit. Cicero ad Heren. lib. 4.
tione, quæ ſint in artibiis ac rationibus recta ac prava di-
judicant. Cic. de Orat. lib. 3.
inveniremus. Sed dicta ſunt omnia antequam præcipe-
rentur; mox ea ſcriptores obſervata \& collecta ediderunt.
Quintil.
vellit. Virgil. Eclog. 6.
quicquid est utilitas excogitavit. Non negabo autem,
ſic utile eſſe plerunque. Verum ſi eadem illa nobis aliud
ſuadebit utilitas, hanc, relictis magiſtrorum authorita-
tibus, ſequemur. Quintil. lib. 2. cap. 13.
ſolicitudinem. Nec per partes modo ſcrutanda ſunt o-
mnia, ſed perlectus liber utique ex integro reſumendus.
Quintil.
lime accipiunt animi, quod agnoſcunt. Quintil. lib. 8. c. 3.
est \& frivolæ in parvis jactantiæ. Quintil. lib. 1. c. 6.
Opus est ut verba à vetustate repetita neque crebra ſint
neque manifeſta; quia nihil eſt odioſius affectatione nec
utique ab ultimis repetita temporibus. Oratio, cujus
ſumma virtus eſt perſpicuitas, quam ſit vitioſa, ſi egeat
interprete? Ergo ut novorum optima erunt maximè ve-
tera, ita veterum maxime nova.
Quis populi ſermo eſt? Quis enim? Niſi carmi-
Nunc demum numero fluere, ut per læve ſeveros
Effugit junctura ungues: Scit tendere verſum
Non ſecus ac ſi oculo juncturam dirigat uno.
Perſius Sat. I.
vaſtam atque hiantem Orationem reddunt. Cic. ad He-
renn. lib. 4. Vide etiam Quintil. lib. 9. c. 4.
Ode by Mr. Dryden.
mas literas progreſſi falſam ſibi ſcientiæ perſuaſionem in-
duerunt. Nam \& cedere præcipiendi peritis indignantur
\& velut jure quodam poteſtatis quo fere hoc hominum
genus intumeſcit imperioſi atque interim ſævientes ſtulti-
tiam ſuam perdocent. Quintil. lib. 1. c. 1.
licher lateiniſcher Poet, der eine Dichtkunſt in Verſen ge-
ſchrieben. Er lebte zu den Zeiten Pabſt Leons des zehnten.
ter dem Titel Anklage des verderbten Geſchmakes Cri-
tiſche Anmerkungen uͤber den Hamburgiſchen Patrioten
und die Haͤlliſchen Tadlerinnen heraus, worinnen alles,
was in dieſen moraliſchen Blaͤttern ſeinen Urſprung in dem
Vermoͤgen des Wizes hat, mit derjenigen Freyheit un-
terſuchet und beurtheilet wird, welche eben ſo angenehm
als lehrreich iſt, wenn ſie auf die Wahrheit gegruͤndet iſt.
Dieſe Critik war ſchon im Jahr 1725. verfertigt, aber
durch verſchiedene Zufaͤlligkeiten an dem Druke gehindert
worden. Sie beruͤhrt nicht mehr als hundert Stuͤke des
Patrioren und vierzig der Tadlerinnen. Der Verfaſſer
hatte eine Fortſezung derſelben verſprochen, wo die Faͤ-
higkeit des Verſtands beſagter Moraliſten, ihre Gelahit-
heit, ihre Zuverſicht auf ihre Geſchiklichkeit, ihre Wiſſen-
ſchaſt
ſollen: Allein es iſt bey dem Verſprechen geblieben.
Da mithin in dem gedruͤkten Stuͤke die Urtheile nicht
auf das Duͤnkel des Kunſtrichters ausgeſprochen, ſon-
dern auf gewiſſe Grundſaͤze, die man jedesmal feſt ſe-
zet, gebauet werden, ſo glaube ich, daß mein Vorhaben
die Artilel deſſelben ſaͤmmtlich, oder die vornehmſten in
meiner Sammlung nach und nach wider aufzulegen, mei-
nen Leſern nicht unangenehm ſeyn werde, ungeachtet die
Wochenblaͤtter, welche Anlaß dazu gegeben haben, ſeit
etlichen Jahren die Gunſt und den Beyfall der eklern Deut-
ſchen verlohren haben. Jch will den Anfang mit dem Ab-
ſchnitte von dem Sinnreichen und dem Scharfſinnigen ma-
chen.
und die uͤbrigen Tadlerinnen verwandelt hatte, hat auch
die Perſon des Philologus an ſich genommen.
niſcher Staatsrath und Reſident in Paris.
Sonnet, weil der lezte den Lohenſteiniſchen Geſchmak geta-
delt hatte.
gedenket der Welt hiervon nicht mehrers zu offenbaren, als was
der Verfaſſer ihr nicht hat verbergen wollen, oder nicht genug
verborgen hat. Seine Abſicht erſtreket ſich nur auf die Le-
benden. Er will gerne die Todten ruhen laſſen, die we-
der Scham noch Unterricht mehr beſſern kan. Und er haͤlt die-
ſe ſatyriſche Schrift alleine hoch, in ſo ferne ſie geſchikt und poe-
tiſch geſchrieben iſt, nicht in ſo ferne ſie vor ein Zeitungsblat
angeſehen wird. Wiewohl er nun nicht in Abrede ſeyn kan,
daß Wernicke durch ſeinen anagrammatiſirten Stelpo Poſteln
gemeinet habe, ſo waͤre ihm doch lieber daß man ſolchen
kuͤnftig nur vor eine Symboliſche Perſon anſaͤhe, welche uͤber-
haupt den Character von einer gewiſſen Art unnatuͤrlicher Poe-
ten
Mac Fleckno die abgeſchmakten Poeten ſeiner Jnſel, wie
Wernike Hans Sachſen und Stelpo, auf eine heroiſch-co-
niſche Weiſe beſungen hat.
gemeinen groſſen Hauptſtadt, oder in einer nicht ſo volk-
reichen Stadt eines weitlaͤuftig eingetheilten Staates ſchrei-
ben, iſt der Gefahr unterworffen, daß ſeine Schriften in
allen
den heutigen Tag noch eine ziemliche Anzahl ſolcher Stel-
po antreffen werde, welche den erſten Stelpo nicht verleug-
nen koͤnnen; und darum hat er die Muͤhe genommen,
dieſe Satyre, die voll artigen Scherzes und lehrreicher Sti-
cheley iſt, aus dem Staube hervorzuziehen.
lichen hiſtoriſchen Begegniſſen, ſonderbaren Sitten und Ge-
wohnheiten, umſtaͤndlichen Gemaͤhlden der Sitten, Allu-
ſionen, perſoͤnlichen Schwachheiten, hinuntergelaſſen hat.
Denn wenn gleich zu der Zeit, da der Autor geſchrie-
ben, und an dem Orte, wo er ſeine Schriften an das
Licht geſtellet, jedermann von dieſen Sachen Wiſſenſchaft
gehabt hat, wenn die Perſonen, auf die er deutet, gleich
durchgehends bekannt geweſen ſind, ſo gerathen ſolche doch
mit dem Laufe der Zeit, und oͤfters nach wenig Jahren
gaͤntzlich ins Vergeſſen. Wer Satyren an einem groſſen
Koͤniglichen Hofe ſchreibt, hat desfalls keinen Vortheil vor
einem andern, der in einer vornehmen Handelſtadt eben
daſſelbe thut. Leute, die auſſer der allgemeinen groſſen Haupt-
ſtadt leben, haben ſelbſt bey Lebezeit des Verfaſſers ſo we-
nig Wiſſenſchaft von ſolchen Kleinigkeiten, als diejenige,
welche auſſer der Provinzialſtadt wohnen, von eben derglei-
chen Sachen, die darinnen niemanden verborgen ſind. Die
Umſtaͤnde von dieſer Art haben in der Hauptſtadt ſowohl
als in der Provinzialſtadt nach einer kurtzen Zeit einen Ge-
ſchichtſchreiber oder Ausleger vonnoͤthen. Alſo waͤren des
Boileau Satyren noch bey ſeinem Leben in vielen Stellen
unverſtaͤndlich geworden, wenn ſich nicht einer gefunden haͤt-
te, der ſich eine Arbeit daraus gemachet hat, daß er alle
die Kleinigkeiten darinnen, derer Wiſſenſchaft ſich den Nach-
kommen entzogen haͤtte, ſorgfaͤltig erklaͤret hat. Und wie
viele Sachen ſind in Horaz, Perſius, und Juvenal, zu unſrer
Zeit dunkel, welche zu ihren Zeiten der ganzen Roͤmiſchen Welt
bekannt waren. Dieſes iſt zwar ſehr verdrießlich, weil ſolche
moraliſche und perſoͤnliche Umſtaͤnde dienen, der Satyre Licht
und Leben in einem hohen Grade mitzutheilen, indem ſie die
Sachen gantz nahe vor das Geſicht bringen. Dennoch lei-
det der moraliſche Unterricht von der Dunkelheit, in welche ſie
mit der Zeit verfallen, keinen groſſen Abbruch, weil ſie nur
Nebenbegriffe geben, ohne welche die Hauptbegriffe nichtsde-
ſtoweniger wohl verſtanden werden.
Comedie auf Wernike gemacht hat, genannt: Der thoͤrichte
Pritſchmeiſter, worinnen er aus Wernike per anagr Weknarr
und Narrweke macht und lauter Jniurien vorbringt.
po ein hokrigtes Geſicht voller Kupfer und Finnen gehabt habe.
Naſe geſprochen habe. Jch bekuͤmmere mich hier nicht, ob
dieſe und dergleichen perſoͤnlichen Umſtaͤnde ihren hiſtoriſchen
Grund haben, oder nur von dem Satyrico zu ſtaͤrkerer Brand-
mahlung des Conterfaits erfunden worden ſeyn.
Dichtkunſt fuͤr die Deutſchen, wo er von den Hirtenlie-
dern handelt, ein groſſes Lob bey, und meint er habe in ſei-
nem Blumengarten viel Ehre eingeleget, obgleich die Verſe
zuweilen etwas hart ſeyn. Allein die Strophen, die er zur
Probe anfuͤhret, und vor ungemein ausgiebt, bekraͤftigen
vielmehr das Urteil unſers Satyrici.
mit er ſich aber in Geſellſchaft breit zu machen pflegte.
cher Componiſt, ohne deſſen Muſik Poſtels Singſpiele, wie
man ſagt, unmoͤglich haͤtten gefallen koͤnnen.
in Hamburg.
welche von einer Saͤngerinn, Nahmens Conradine, geſungen
ward, die eine Stimme wie eine Trompete hatte, und eine
vortreffliche Aetrice in wuͤtenden Partien war.
Saͤngerinn, Nahmens Riſchmuͤllerin, gemacht, die in trau-
rigen Stuͤcken nicht ihres gleichen hatte.
Tode verdammt.
die von einer Nahmens Schoberin recitirt ward, die von
einem ſehr luſtigen Humeur und ſchertzhaften Umgang war.
Die unterſtrichene Worte ſind aus Poſtels Verſen ſelbſt ge-
nommen. Jch will dieſe Entdeckungen nicht vor wichtiger
ausgeben als ſie ſind, und darum bekennen, daß ſie der
Schilderey des Satyrici eben kein viel groͤſſeres Licht mit-
theilen. Er hat uns den Character dieſer drey Nymphen
in einem ſo hellen Lichte vorgeſtellet, daß wir ſie aus ſei-
nen lebhaften Pinſelzuͤgen genugſam kennen lernen. Er hat
ferner den Gegenſaz zwiſchen ihrem Geſange, und dem Jn-
halt deſſelben, wie auch die Huͤlfe, ſo ſie dem Operndich-
ter leiſten, ſo ſinnreich angezeiget, daß uns der Stachel ſeiner
Satyre nicht verborgen bleibet. Was dieſes Gedicht ſchaͤzbar
macht, ſind nicht kleine Begegniſſe, und Umſtaͤnde, die es
uns in das Gedaͤchtniß braͤchte, es ſind Ausdruͤcke, Vorſtel-
lungen und Gemaͤhlde, die wir vor ſich ſelbſt hochſchaͤzen,
ohne daß dergleichen Hiſtoͤrgen etwas dazu helffen. Wir
halten noch heut zu Tage ſo viel von des Seneca Satyre
auf den Kaiſer Claudius, als man zu Rom zwey Jahre
nach ſeinem Abſterben davon gehalten hat.
ter Poſtel verliebt und auf Werniken eiferſuͤchtig war.
der
er hier angebracht, um durch ihre haͤßliche Benennung den
Stelpo noch laͤcherlicher zu machen. Auf dem Gaͤnſe-
markt ſteht das Opernhaus, daher er da die Kroͤnung an-
geſezt.
fuͤhrer ihre Gewoͤlber.
Schwulſt im offentlichen Druke zu widerſezen, welches Lob
ihm Herr Konig in ſeiner Unterſuchung des Geſchmakes mit-
getheilet hat.
war.
henſteins Dramatiſchen Stuͤcken Weisheit und Ordnung er-
bliket, ſcheint mir ſo gemacht zu ſeyn, daß es eben derglei-
chen in Poſtels Singſpielen entdecken ſollte. Wenn Wer-
nike eben ſo viel Guͤtigkeit fuͤr den leztern, als fuͤr die bey-
den erſtern gehabt haͤtte, ſo wuͤrde er vermuthlich wohl ge-
ſehen haben, daß ihre Urtheilskraft ſo wie Poſtels durch ſehr
enge Graͤnzen eingeſchranket geweſen, ſo daß ſie nicht viel
vor ihm zum voraus fodern koͤnnen.
ein Singſpiel geſchrieben, der Entſatz der Stadt Wien ge-
nannt, der aber einen beſſern Geſchmak hatte als Poſtel.
ſchrie-
ripides an. Dieſes iſt an ſich ſelbſt kein Verbrechen, aber
es wird leicht zu einem Verbrechen, wenn es ohne Urtheil,
Wahl, Abſicht, und Ordnung geſchieht. Denn ſo bald ein
Stuͤcke aus ſeinem Orte, wo es der Abſicht und den Um-
ſtaͤnden gemaͤß in Grad und Maaſſe wohlbeſtimmt war, her-
ausgenommen, und in einem andern Orte wieder eingeſchal-
tet wird, hat es nicht mehr die vorige Geſtalt, und Kraft,
und thut nicht mehr den vorigen Eindruck.
Gedanken, und der Schreibart, eben ſo merklich iſt, als in
Lohenſteins Trauerſpielen, oder Poſtels Opern, die Verſtei-
gung. Wer denn raͤth, denſelben nachzuahmen, damit man
die hohen Fehler vermeide, die dieſen beyden vorgeworffen
worden, der befiehlt, daß man ſich auf die Erde niederlege,
dem Fall vorzubiegen.
ſelbſt.
niken gemacht; und worauf dieſes gegenwaͤrtige Gedicht,
ſtatt der Antwort, verfertigt worden.
ſtand und falſchen Witz, den man zu unſern Zeiten in Lohen-
ſteins Schriften ausgeſezet hat, eben ſo wohl eingeſehen und
erkannt habe, allein er hat ihm geglimpfet damit er es mit
ſeinen Verehrern nicht gaͤnzlich verderbete.
Loͤwen und Schwan, Werniken aber einem Haſen vergli-
chen, der auf todten Loͤwen tanzt.
ſtige Partien von Poſtels Erfindung abzuſingen pflegte, und
dem zu gefallen der Poͤfel ſehr in die Opera lief.
den u. Anmerkungen zu ſeinen Singſpielen, item zu ſeiner Ju-
no, wo er aus allen Sprachen aͤhnliche Vorſtellungen, Nach-
ahmungen, Beſchreibungen, Alterthuͤmer, zuſammengetra-
gen, womit er unleugbar eine weitlaͤuftige Beleſenheit ge-
zeiget, der es aber an einem ordnenden Verſtande gefeh-
let hat, ſie auf eine geſchikte und angenehme Weiſe zu ge-
brauchen. Er hat meiſtentheils nur Stellen auf Stellen ge-
haͤufet, ohne daß er etwas von dem ſeinigen dazugethan,
weil er zu wenig Tuͤchtigkeit beſeſſen, das innre Weſen da-
von
Vergleichung der andern nach der beſondern Abſicht bey je-
der zu beſtimmen und auszumachen. Dazu koͤmmt, daß
er ſie zu ſeinen Opern angehaͤngt hat, deren Leſer zu der-
gleichen gelehrten Kram keinen Magen hatten. Mithin muß
ich der Wahrheit zum Behuf erinnern, daß dieſe Verſpot-
tung uͤber die Schnur geſpannt iſt. Denn geſezt daß Po-
ſtels Anmerkungen und Erklaͤrungen ziemlich unverdaut ſind,
daß ſie zu uͤberhaͤuft und am unrechten Orte angebracht ſind,
ſo zeigen ſie doch eine weitlaͤuftige, ſeltene, und nicht un-
brauchbare, oder der Aufmerkſamkeit unwuͤrdige Gelehr-
ſamkeit, welche zum wenigſten bequem war, den denkenden
deutſchen Leſern die Fußſpur der alten Poeten von weiten zu
weiſen. Und dieſes war die untadelbare Abſicht des Hrn.
Poſtels, die er uns in der Vorrede zur liſtigen Juno ge-
nugſam erklaͤret hat.
Grunde ganz theologiſch und voller metaphyſiſchen abgezo-
genen Begriffe iſt, ſo hat man doch deſtoweniger Beden-
ken getragen, dieſen Auszuͤgen aus derſelben in gegenwaͤr-
tigem
nigſte Verſtand darinnen von dem geſundeſten Wize in
dem Vortrage und der Ausfuͤhrung erhoͤhet wird, und
ſie alſo mit denen lebhaften Kuͤnſten, um die wir uns in
dieſer Sammlung eigentlich bekuͤmmern, durch ein merck-
liches Band zuſammenhaͤngt. Dazu koͤmmt noch, daß
der Leſer, dem Hr. Breitinger ſchon aus ſeinen critiſch-
poetiſchen Werken bekannt worden iſt, hier mit Vergnuͤ-
gen antreffen wird, was ihm die Faͤhigkeit deſſelben auch
in dieſer ernſtlichen Wiſſenſchaft zu erkennen geben kan.
oder auch gewiſſen Wuͤrckungen, von einem vernuͤnftigen
Weſen einige Eigenſchaften uͤberhaupt herleiten, Z. E.
Guͤte, Weißheit, Verſtand, Willen ꝛc. aber wann, was,
und wie, ein ſolches Weſen, nach dem Verhaͤltniß die-
ſer allgemeinen erkannten Eigenſchaften gegen ſich ſelbſt
und gegen die Dinge auſſer ſich, wuͤrken ſolle, da liegt
mehr Schwierigkeit: Weil es nicht ſo leicht angeht, die
Zahl, den Grad, das Verhaltniß dieſer Eigenſchaften gegen
einander und gegen andern Dingen zu beſtimmen. Ein
Kind weiß uͤberhaupt wohl daß ſeine Eltern gut, weiſe ꝛc.
ſind,
fehlen, die es nicht begreift, und meint ſie ſtreiten mit den
Eigenſchaften der Eltern, ſolten dieſelben wegen dieſer
Schwachheit des Verſtandes, die in dem Kind iſt, darum in
dieſen Eigenſchaften der Eltern, welche das Kind ſo uͤber-
haupt erkennt, ſchlechterdings nicht gegruͤndet ſeyn?
Es laͤßt ſich auch nicht ſagen; geſezt es ſeyn Wahrheiten,
ſo gehen ſie doch das Kind und beyderſeitige Relation ge-
gen einander nichts an. Denn dazu hat man eben ſo
wenig Grund, als zu laͤugnen, daß dieſelben mit de-
nen vom Kind uͤberhaupt erkannten Eigenſchaften der El-
tern uͤbereinkommen. Es iſt wohl wahr, es kan in Gott
noch viel Wahrheit ſeyn, die zur Religion nicht dienet;
aber darum folget nicht daß nicht viele Saͤze zur Religion
gehoͤren und in der Natur Gottes und der Menſchen ge-
gruͤndet ſeyn koͤnnen, deren innere Moͤglichkeit und Ver-
knuͤpfung mit andern Wahrheiten man nicht einſiehet;
weil die Natur Gottes und der Menſchen und beyder Thei-
le Beziehung gegen einander inſoweit unbekannt iſt.
ze geben koͤnne, die zur Religion gehoͤren, obſchon er der-
ſelben moͤgliche und unmittelbare Verknuͤpfung mit an-
dern
er ſpreche dem Menſchen das Vermoͤgen ab, einen Saz auf
das Anſehen eines andern fuͤr wahr zu halten, und ſein
Betragen darnach einzurichten, welches man glauben
heißt. Jn dieſem Fall wird ihm jedermann recht geben muͤſ-
ſen: Nur iſt ſchade, daß der Saz allzuſtarck wider die
taͤgliche Erfahrung anſtoͤßt.
dergleichen Wahrheiten zu erkennen die auf eine freye
Wahl gegruͤndet ſind: Jhr Grund machet ſie gewiß.
Gott hat z. E. dieſen Rathſchluß gefaſſet, handelt ſo
und nicht anderſt, in dem Reiche der Natur und der
Gnade, weil er die und nicht andere Gruͤnde dazu hat:
Dieſe erkennt er als die beſten, weilen er den hoͤchſten
Grad des Verſtands beſizet, und handelt darnach, weil
es ihm ſo geziemet. Allein wir ſind eben zu ſchwach in
beſondern Fallen die Application auf das, was Gott ohne
Abbruch ſeiner hoͤchſten Vollkommenheit thun ſoll, zu ma-
chen. Er wehlet aber allemahl das beſte, welches einzel iſt.
unſrer Seele entſtehen, der wird leicht zugeben daß man
von
das, was den Grund derſelben angeht ꝛc. erkennen koͤnne.
Es begegnet kaum daß zween Menſchen von einer Sache
voͤllig gleiche Begriffe haben: Weil ſie nemlich entweder
nicht die gleichen Beſtimmungen darinn wahrnehmen,
oder ihre Begriffe von eben denſelben Beſtimmungen doch
nicht gleich klar, oder deutlich ſind. Man ſehe Wolfen
Pſychologie nach, nnd was Hr. Reinbek in der 35ſten
Betrachtung uͤber die Augſp. Confeſſ. bey einem beſon-
dern Anlaß anfuͤhrt.
ſen und der Natur Gottes beſtimmete, wie bey der Beſchaf-
fenheit und Einrichtung der ganzen Welt nur dieſes die
einige Weiſe zu handeln waͤre, welche Gott geziemen koͤnn-
te; daß er nemlich eine Offenbarung geben, und daß die-
ſelbige juſt uͤber die oder dieſe Puncten gehen wuͤrde.
Denn ſo wuͤrde ſie erſt aus ihren unmittelbaren Gruͤnden
dargethan: Wer hat aber dißfalls des Herrn Gemuͤth er-
kennt? ꝛc. Es deucht uns deßwegen daß die Deutſche
Autoren, welche ſich in Diſputationen u. ganzen Tractaten
mit dergleichen Erweie Muͤhe machen, ſelbige wohl erſparen
koͤnnten. Das nur juͤngſt in den gelehrten Zeitungen von
Leipzig dem Hrn. Martin Knuzen, (welcher der Aufſchrift
ſeines Buchs nach neulich auch die Nothwendigkeit einer
geoffenbarten Religion nach mathematiſcher Lehrart aus
ohngezweifelten Gruͤnden dargethan) freygebig mitgetheil-
te Lob wird wenigſtens nicht auf dieſen abſonderlichen
Puncten zu ziehen ſeyn. Wer ſich uͤber dieſe Materie die
Muͤhe
Rath Wolf in ſeinem Werke Theolog: Natur. Tom. I.
davon ſchreibt, wuͤrde es nicht ohne Nuzen thun Die
Art wie er in ſeinen Erweiſen in Anſehung der goͤttlichen
Offenbarung zu Werke geht, ſezt den Saz voraus, den er
nur beylaͤuffig in N. ad §. 448. einflieſſen laͤßt: Num
qua detur Revelatio, a priori demonſtrari haudquaquam
poteſt, ſed a poſteriori conſtare debet, inquirendo ſcilicet
num qua alicubi proſtet. Es hat ihn aber der gruͤndlich
gelehrte Herr Erneſti in einer eignen und von unſrem Ver-
faſſer bey dieſem Anlaß angefuͤhrten kleinen Schrift: De
neceſſitate Revelationis divinæ diſputatio adverſus eos,
qui ejus cognitionem rationi humanæ aſſertum eunt. Lips.
1739. in 4. vortrefflich abgehandelt. Wir koͤnnen bey die-
ſer Gelegenheit nicht umhin, auch Meldung einer andern
Diſſert. des belobten Hrn. Erneſti zu thun, darinn er Saltum
in emendanda voluntate beſtreitet, welche Anno 1730.
zu Leipzig ans Licht gekommen iſt. Wer ſie mit Bedacht
und Luſt an dieſer Art Schriften lieſt, wird finden daß
ſie weder in Anſehung der gruͤndlichen Abhandlung der
Sache, noch der vortrefflichen und allgemeinen Nuzbarkeit
einer Anpreiſung bedarf. Es gibt wenig Erneſti. Wir
wuͤnſchen demſelben von Herzen Muſſe und Willen oͤfters
dergleichen Themata in das wahre Licht zu ſezen.
ſie immer waͤre) helffen, daß einer zum Exempel deſto fe-
ſter glaubte 2. mahl 2. ſeyn 4? Nichts.
Wann die Menſchen bey ihren angenommenen Saͤzen
eine Empfindung einer mehrern Gewißheit derſelben in dem
Fall haben, da ein andrer ſie bekraͤftiget, nemlich durch
andere als innere und die Natur der Sache ſelbſt ange-
hende Gruͤnde, ſo muͤſſen ſie in derſelben Zeit entweder
das Anſchauen der Wahrheit beyſeite geſezt haben, oder
es iſt bey ihnen noch ein heimliches Mißtrauen in Anſe-
hung der Wahrheit eines ſolchen Sazes uͤbrig geblieben.
Es wuͤrde nicht ohne Nuzen ſeyn, wenn ein geſchikter
Mann dieſe Materie ausfuͤhrlich und nach ihren Gruͤnden
abhandelte, weil man ſie oft anzuwenden Gelegenheit
hat.
auch ſeze, Gott wuͤrke gar nicht auſſer ſich: Folglich derſel-
be auch nichts in ſich ſchlieſſet, daraus zu verſtehen waͤre
warum Gott es thut. Eben wie er auf der andern Sei-
te auch feſt bleibt, wann ich ſeze, Gott habe eine Welt ꝛc.
erſchaffen. Kan er aber (wie der Unbekannte zugibt,) bey
dieſer Wuͤrkung Gottes, in ſo fern ſie von ſeiner Guͤte
determiniert worden, beſtehen, ſo iſt kein Grund vorhan-
den warum er nicht auch bey denen Wuͤrkungen deſſelben
ſollte beſtehen koͤnnen, welche von andern goͤttlichen Ei-
genſchaften z. Ex. der Liebe zur Ordnung, und moͤglich-
ſten Vollkommenheit in dem Ganzen, der Weißheit, (die
unter anderm insbeſondere auch die Faͤhigkeit der Geſchoͤ-
pfe betrachtet,) Heiligkeit ꝛc. beſtimmet werden. Hat
Gott nichts fuͤr ſich ſelbſt davon, wenn er guͤtig iſt, ſo
hat
lig ꝛc. iſt, und mit einem Wort, ſo wuͤrket, wie es ſeine Ei-
genſchaften insgeſammt und nicht nur die Guͤtigkeit, in
ſo fern ſie ſelbige iſt, erfordern Geſezt man richtete die
Frage gegen den Ungenannten ſo ein: Warum will Gott
guͤtig ſeyn und das Gluͤk ſeiner Geſchoͤpfe befoͤrdern? Fehlt
ihm ſelbſt dann etwas, wenn er es nicht thut? Er wird ſa-
gen muͤſſen daß Gott ohne Abbruch ſeiner Selbſtgenugſam-
keit, ſeine Guͤte erweiſen koͤnne. Warum ſoll es aber
denn mit derſelben ſtreiten, wann man fragt, warum will
Gott ſeine Weisheit, Heiligkeit, Liebe zur Ordnung ꝛc.
erzeigen? Fehlt ihm ſelbſt etwas, wann er es nicht thut?
Gewiß ſo wenig, als wenig es der Gegner in dem erſten
Fall zugibt.
habe das Vermoͤgen ſie zu erkennen, Gott habe aber daſ-
ſelbe ihm mitgetheilt daß er es gebrauche, und ſein Gluͤk
hange
den Grund der Geziemendheit an, der in Gott iſt (ratio-
nem ſubjectivam decentiæ). Warum will Gott ſeine Ehre
an den Tag geben und der Menſchen Gluͤk befoͤrdern?
Darum weil es ihm ſo geziemet. Und warum geziemet
es
kaͤnntniß Gottes ꝛc. ab, ſo fehlt es nicht daß Gott die Er-
kaͤnntniß ſeiner ſelbſt, welches ſeine Ehre heißt, hiedurch
zum Zwecke gehabt.
Er hat; den hoͤchſten Verſtand, die hoͤchſte Weisheit, Guͤ-
te, Macht ꝛc. Geſezt Er haͤtte ſie nicht: So verſteht man
nicht mehr warum er gehandelt, und warum ſo und nicht
anderſt. Da nun dasjenige geziemend iſt, davon ein
Grund in dem Weſen und den Eigenſchaften der Perſon
ligt; und man nicht verſteht daß Gott, und warum Er
ſich dieſen Endzwek vorgeſezt, wenn man nicht ſein We-
ſen und ſeine Eigenſchaften vorausſezt, ſo findet man in
ſo weit den Grund ſeiner Abſichten in der Beſchaffenheit
ſeiner Natur.
gar keine Welt habe erſchaffen ſollen, als eine ſolche, darin-
nen die pretendirte Gluͤkſeligkeit aller Menſchen nicht plaz
findet, wenn ſie die hoͤchſtmoͤglichen Vollkommenheiten in
ſich faſſen, oder ein Werk ſeynſoll, welches Gott nach dem
ganzen Umfang ſeiner Natur geziemend iſt. Es wird
aber ſchwer hergehen.
ten darum nicht wieder die Guͤte: Das iſt eben die hoͤchſt-
moͤgliche Guͤte, welche mit der hoͤchſten Weißheit ꝛc. beſte-
hen kan. Wann ein Kind nicht eines mehrern Genuſſes
der Guͤter faͤhig iſt, welche ſein Vater beſizt, als es iſt,
ſo iſt der Vater daran nicht ſchuld, er hoͤrt auch nicht
auf guͤtig zu ſeyn, weil ſeine Weißheit ihm nicht erlaubt
dem Kind mehrers zu geben. Und ein Richter ſtoͤßt darum
auch nicht wider die Guͤte an, wann er einen Schuldigen
ſtrafet, und dardurch ein groͤſſer Gutes in der ganzen
Geſellſchaft derer, die unter ihm leben, erhaͤlt, als
wann er es nicht thaͤte: Man wird ja nicht wollen daß
Gott ſolle guͤtig ſeyn, da wo es entweder Phyſice oder
Moraliter nicht moͤglich iſt. Es kan alſo in beſondern Faͤl-
len niemand beſſer wiſſen wie die Guͤte zu erweiſen, als der
welcher alle dieſe Phyſiſche und Moraliſche Moͤglichkeiten
einſiehet.
chem Recht auch auf andere Geſchoͤpfe als die Menſchen
ziehen; ja weil die beſondere Einſchraͤnkung des Weſens
einer jeden Creatur ein Hinderniß wird mehrerer Voll-
kommenheiten; aller deren nemlich die bey ſolcher Ein-
ſchraͤnkung des Weſens, wie ſie iſt, nicht moͤglich ſind, der
Mangel aber eines groͤſſern Gluͤks, in ſo fern es ein
Mangel iſt, ein Ungluͤk iſt, ſo kan nach dem Schluß des
Unbekannten z. Ex. das Thier ſagen, ich bin kein voll-
kommenes Werk Gottes, darum weil ich kein Menſch bin,
und dieſer, ich bin es nicht, weil ich kein Engel bin ꝛc.
rechtigkeit, ſo wie ſie uͤberhaupt gegeben wird, auch mit
dem Lehrgebaͤude des Ungenannten: Allein ſeiner Meinung
nach ſoll dieſe Weißheit nur dahin gehen, daß ſie den
einigen Endzwek der Gluͤkſeligkeit der Menſchen mit Aus-
ſchluß alles andern wiſſe zu erhalten. Und dieſe beſondere
Application der Sache wird ihm ſtreitig gemacht. Nemlich da
alles in der Welt mit einander in einer Verknuͤpfung ſtehet,
ſo iſt es moͤglich, daß durch die Zulaſſung eines Uebels,
die Reihe der kuͤnftigen Begegniſſen, welche mit dieſem
zugelaſſnen Uebel in Verknuͤpfung ſind, mehr Vollkom-
menheit in ſich ſchlieſſet, als wann es waͤre gehindert
worden. Geſezt nun, (dann dieſes eigentlich einzuſehen,
iſt das Werk eines unendlichen Verſtands, der die Ver-
bindungen und Wuͤrkungen der Dinge in jeden Umſtaͤn-
den kennet) daß durch eine fortdaurende Zulaſſung der
Straffen der Suͤnden, ſolche Vollkommenheiten erhal-
ten werden, die groͤſſer ſind als diejenige, welche bey
der Hinderung oder Aufhebung dieſer Strafen entſtanden
waͤren, ſoll in dieſem Fall der weiſe Gott ſie aufheben,
darum daß bey einichen Geſchoͤpfen einiche Unvollkommen-
heit damit nothwendig verknuͤpfet iſt, welche aber gegen
das in dem Ganzen zuerhaltende Gute gerechnet klein iſt?
Wie wenn zum Ex. einer auch jezo bey der gegebnen goͤtt-
lichen Offenbarung ſich nicht beſſern will? Wie wann es
mit
ſelben aus natuͤrlichen Gruͤnden, die aus ſeinem Zuſtand
herflieſſen koͤnnen, ſich je laͤnger je minder darzu neigen
wird? Wie, wann ein ſolcher Zuſtand des Boͤſen mit
dem Zuſtand z. Ex. der Seligen im Himmel, der Engel,
der Erden, und alles deſſen, was Gott auf derſelben
und anderſtwo vorhat, ſo zuſammenhaͤngt, daß es in
Anſehung dieſer Sachen nicht ſo ſeyn, und werden koͤnn-
te, wie es nach der Abſicht Gottes ſeyn, und werden
ſoll, ſo fern Gott den Zuſtand der Boͤſen aͤnderte; ſoll
Er dieſen zu gefallen dann lieber Wunderwerke thun?
Gewiß wenn er es ſchon nicht thut, ſo wird er darum
nicht zum unweiſen oder unguͤtigen Gott. Nicht jenes,
weil er Kraft ſeiner Weißheit den beſten Endzwek des
hoͤchſtmoͤglichen Guten in dem Ganzen durch die Zulaſ-
ſung des Uebels zu erhalten weiß; Nicht dieſes, weil
die hoͤchſte Guͤte bey der Erhaltung der hoͤchſtmoͤglichen
Vollkommenheit nothwendig miteingeſchloſſen iſt. Die
Schwachheit der Einſicht der Menſchen nimmt ihnen
das Recht, dieſe Guͤte Gottes darinnen zu ſezen daß Gott
ſie alle ohne weitere Abſichten ſolle gluͤklich machen. Laſ-
ſe man nur Gott ſorgen wie er gerecht ſeyn, das iſt, ſeine
hoͤchſte Guͤte durch die hoͤchſte Weißheit fuͤhren muͤße.
- License
-
CC-BY-4.0
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- Citation Suggestion for this Edition
- TextGrid Repository (2025). Bodmer, Johann Jakob. Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bhsz.0