[][][][][][][]
Wilhelm Meisters
Lehrjahre.
Ein Roman.
Erſter Band.
Berlin.
: Bey Johann Friedrich Unger.
1795.
[][[1]]

Wilhelm Meiſters
Lehrjahre
.

Erſtes Buch.

W. Meiſters Lehrj. A[[2]][[3]]

Erſtes Capitel.

Das Schauſpiel dauerte ſehr lange. Die
alte Barbara trat einigemal ans Fenſter und
horchte, ob die Kutſchen nicht raſſeln wollten.
Sie erwartete Marianen, ihre ſchöne Gebie¬
terin, die heute im Nachſpiele, als junger
Officier gekleidet, das Publikum entzückte,
mit größerer Ungedult, als ſonſt, wenn ſie
ihr nur ein mäßiges Abendeſſen vorzuſetzen
hatte; diesmal ſollte ſie mit einem Packet
überraſcht werden, das Norberg, ein junger
reicher Kaufmann, durch den Poſtwagen ge¬
ſchickt hatte, um zu zeigen, daß er auch in
der Entfernung ſeiner Geliebten gedenke.


A 2[4]

Barbara war als alte Dienerin, Ver¬
traute, Rathgeberin, Unterhändlerin und
Haushälterin im Beſitz, die Siegel zu er¬
öffnen und auch dieſen Abend konnte ſie
ihrer Neugierde um ſo weniger widerſtehen,
als ihr die Gunſt des freygebigen Liebhabers
mehr als ſelbſt Marianen am Herzen lag.
Zu ihrer größten Freude hatte ſie in dem
Packete ein feines Stück Neſſeltuch und die
neuſten Bänder für Marianen, für ſich aber
ein Stück Kattun, Halstücher und ein Röll¬
chen Geld gefunden. Mit welcher Neigung,
welcher Dankbarkeit erinnerte ſie ſich des
abweſenden Norbergs! wie lebhaft nahm ſie
ſich vor, auch bey Marianen ſeiner im beſten
zu gedenken, ſie zu erinnern, was ſie ihm
ſchuldig ſey und was er von ihrer Treue hof¬
fen und erwarten müſſe.


Das Neſſeltuch, durch die Farbe der halb¬
aufgerollten Bänder belebt, lag wie ein
[5] Chriſtgeſchenk auf dem Tiſchchen; die Stel¬
lung der Lichter erhöhte den Glanz der Gabe,
alles war in Ordnung, als die Alte den
Tritt Marianens auf der Treppe vernahm,
und ihr entgegen eilte. Aber wie ſehr ver¬
wundert trat ſie zurück, als das weibliche
Officierchen, ohne auf ihre Liebkoſungen zu
achten, ſich an ihr vorbey drängte, mit un¬
gewöhnlicher Haſt und Bewegung in das
Zimmer trat, Federhut und Degen auf den
Tiſch warf, unruhig auf und nieder ging
und den feyerlich angezündeten Lichtern kei¬
nen Blick gönnte.


Was haſt du, Liebchen? rief die Alte
verwundert aus. Ums Himmelswillen, Töch¬
terchen, was giebts? Sieh hier dieſe Geſchen¬
ke! Von wem können ſie ſeyn, als von dei¬
nem zärtlichſten Freunde? Norberg ſchickt
dir das Stück Mouſſelin zum Nachtkleide,
bald iſt er ſelbſt da; er ſcheint mir eifriger
und freygebiger als jemals.


[6]

Die Alte kehrte ſich um, und wollte die
Gaben, womit er auch ſie bedacht, vorwei¬
ſen, als Mariane, ſich von den Geſchenken
wegwendend, mit Leidenſchaft ausrief: fort!
fort! heute will ich nichts von allem dieſen
hören, ich habe dir gehorcht, du haſt es ge¬
wollt, es ſey ſo! Wenn Norberg zurückkehrt,
bin ich wieder ſein, bin ich dein, mache mit
mir was du willſt, aber bis dahin will ich
mein ſeyn, und hätteſt du tauſend Zungen,
du ſollteſt mir meinen Vorſatz nicht ausre¬
den. Dieſes ganze Mein will ich dem ge¬
ben, der mich liebt und den ich liebe. Keine
Geſichter! Ich will mich dieſer Leidenſchaft
überlaſſen, als wenn ſie ewig dauern ſollte.


Der Alten fehlte es nicht an Gegenvor¬
ſtellungen und Gründen; doch da ſie in fer¬
nerem Wortwechſel heftig und bitter ward,
ſprang Mariane auf ſie los und faßte ſie
bey der Bruſt. Die Alte lachte überlaut.
[7] Ich werde ſorgen müſſen, rief ſie aus, daß
ſie wieder bald in lange Kleider kommt,
wenn ich meines Lebens ſicher ſeyn will.
Fort, zieht euch aus! Ich hoffe das Mädchen
wird mir abbitten, was mir der flüchtige
Junker Leids zugefügt hat; herunter mit dem
Rock und immer ſo fort alles herunter, es
iſt eine unbequeme Tracht, und für euch ge¬
fährlich wie ich merke. Die Achſelbänder be¬
geiſtern euch.


Die Alte hatte Hand an ſie gelegt, Ma¬
riane riß ſich los. Nicht ſo geſchwind! rief
ſie aus: ich habe noch heute Beſuch zu er¬
warten.


Das iſt nicht gut, verſetzte die Alte. Doch
nicht den jungen, zärtlichen, unbefiederten
Kaufmannsſohn? Eben den, verſetzte Ma¬
riane.


Es ſcheint, als wenn die Großmuth eure
herrſchende Leidenſchaft werden wollte, er¬
[8] wiederte die Alte ſpottend: ihr nehmt euch
der Unmündigen, der Unvermögenden mit
großem Eifer an. Es muß reizend ſeyn, als
uneigennützige Geberinn angebetet zu wer¬
den. —


Spotte wie du willſt. Ich lieb’ ihn! ich
lieb’ ihn! Mit welchem Entzücken ſprech ich
zum erſtenmal dieſe Worte aus! Das iſt dieſe
Leidenſchaft, die ich ſo oft vorgeſtellt habe,
von der ich keinen Begriff hatte. Ja, ich
will mich ihm um den Hals werfen! ich will
ihn faſſen, als wenn ich ihn ewig halten
wollte. Ich will ihm meine ganze Liebe zei¬
gen, ſeine Liebe in ihrem ganzen Umfang ge¬
nießen. —


Mäßigt euch, ſagte die Alte gelaſſen:
mäßigt euch! Ich muß eure Freude durch
Ein Wort unterbrechen: Norberg kommt! in
vierzehn Tagen kommt er! Hier iſt ſein Brief,
der die Geſchenke begleitet hat. —


[9]

Und wenn mir die Morgenſonne meinen
Freund rauben ſollte, will ich mirs verber¬
gen. Vierzehn Tage! Welche Ewigkeit! In
vierzehn Tagen, was kann da nicht vorfal¬
len, was kann ſich da nicht verändern!


Wilhelm trat herein. Mit welcher Leb¬
haftigkeit flog ſie ihm entgegen! mit wel¬
chem Entzücken umſchlang er die rothe Uni¬
form! drückte er das weiße Atlaßweſtchen an
ſeine Bruſt! Wer wagte hier zu beſchreiben,
wem geziemt es, die Seeligkeit zweyer Lie¬
benden auszuſprechen. Die Alte ging mur¬
rend bey Seite, wir entfernen uns mit ihr
und laſſen die Glücklichen allein.


[10]

Zweytes Capitel.

Als Wilhelm ſeine Mutter des andern Mor¬
gens begrüßte, eröffnete ſie ihm, daß der
Vater ſehr verdrießlich ſey, und ihm den
täglichen Beſuch des Schauſpiels nächſtens
unterſagen werde. Wenn ich gleich ſelbſt,
fuhr ſie fort, manchmal gern ins Theater
gehe; ſo möchte ich es doch oft verwünſchen,
da meine häusliche Ruhe durch deine un¬
mäßige Leidenſchaft zu dieſem Vergnügen ge¬
ſtört wird. Der Vater wiederholt immer,
wozu es nur nütze ſey? Wie man ſeine Zeit
nur ſo verderben könne? —


Ich habe es auch ſchon von ihm hören
müſſen, verſetzte Wilhelm: und habe ihm
vielleicht zu haſtig geantwortet; aber ums
Himmelswillen Mutter! iſt denn alles un¬
[11] nütz, was uns nicht unmittelbar Geld in den
Beutel bringt, was uns nicht den allernäch¬
ſten Beſitz verſchafft? Hatten wir in dem
alten Hauſe nicht Raum genug? und war
es nöthig ein neues zu bauen? Verwendet
der Vater nicht jährlich einen anſehnlichen
Theil ſeines Handelsgewinnes zur Verſchöne¬
rung der Zimmer? Dieſe ſeidenen Tapeten,
dieſe engliſchen Mobilien ſind ſie nicht auch
unnütz? Könnten wir uns nicht mit geringe¬
ren begnügen? Wenigſtens bekenne ich, daß
mir dieſe geſtreiften Wände, dieſe hundert¬
mal wiederholten Blumen, Schnörkel, Körb¬
chen und Figuren einen durchaus unangeneh¬
men Eindruck machen. Sie kommen mir
höchſtens vor wie unſer Theatervorhang.
Aber wie anders iſts vor dieſem zu ſitzen!
Wenn man noch ſo lange warten muß, ſo
weiß man doch, er wird in die Höhe gehen,
und wir werden die mannigfaltigſten Gegen¬
[12] ſtände ſehen, die uns unterhalten, aufklären
und erheben. —


Mach' es nur mäßig, ſagte die Mutter:
der Vater will auch Abends unterhalten ſeyn,
und dann glaubt er, es zerſtreue dich, und
am Ende trag ich, wenn er verdrießlich wird,
die Schuld. Wie oft mußte ich mir das
verwünſchte Puppenſpiel vorwerfen laſſen,
das ich euch vor zwölf Jahren zum heiligen
Chriſt gab, und das euch zuerſt Geſchmack
am Schauſpiele beybrachte!


Schelten Sie das Puppenſpiel nicht, laſ¬
ſen Sie ſich Ihre Liebe und Vorſorge nicht
gereuen. Es waren die erſten vergnügten
Augenblicke, die ich in dem neuen leeren
Hauſe genoß, ich ſehe es dieſen Augenblick
noch vor mir, ich weiß, wie ſonderbar es
mir vorkam, als man uns, nach Empfang
der gewöhnlichen Chriſtgeſchenke, vor einer
Thüre niederſitzen hieß, die aus einem andern
[13] Zimmer herein ging. Sie eröffnete ſich; al¬
lein nicht wie ſonſt zum hin und wiederlau¬
fen, der Eingang war durch eine unerwarte¬
te Feſtlichkeit ausgefüllt. Es baute ſich ein
Portal in die Höhe, das von einem myſti¬
ſchen Vorhang verdeckt war. Erſt ſtanden
wir alle von ferne, und wie unſre Neugierde
größer ward, um zu ſehen was wohl blin¬
kendes und raſſelndes ſich hinter der halb
durchſichtigen Hülle verbergen möchte, wieß
man jedem ſein Stühlchen an und gebot uns
in Geduld zu warten.


So ſaß nun alles und war ſtill; eine
Pfeife gab das Signal, der Vorhang rollte
in die Höhe, und zeigte eine hochroth gemahl¬
te Ausſicht in den Tempel. Der Hoheprie¬
ſter Samuel erſchien mit Jonathan, und ihre
wechſelnden wunderlichen Stimmen kamen
mir höchſt ehrwürdig vor. Kurz darauf be¬
trat Saul die Scene, in großer Verlegenheit
[14] über die Impertinenz des ſchwerlöthigen
Kriegers, der ihn und die ſeinigen herausge¬
fordert hatte. Wie wohl ward es mir da¬
her als der zwerggeſtaltete Sohn Iſai mit
Schäferſtab, Hirtentaſche und Schleuder her¬
vorhüpfte und ſprach: Grosmächtigſter Kö¬
nig und Herr Herr! es entfalle keinem der
Muth um deßwillen; wenn Ihro Majeſtät
mir erlauben wollen, ſo will ich hingehen
und mit dem gewaltigen Rieſen in den Streit
treten. — Der erſte Akt war geendet und die
Zuſchauer höchſt begierig zu ſehen was nun
weiter vorgehen ſollte, jedes wünſchte die
Muſik möchte nur bald aufhören. Endlich
ging der Vorhang wieder in die Höhe. Da¬
vid weihte das Fleiſch des Ungeheuers den
Vögeln unter dem Himmel und den Thieren
auf dem Felde, der Philiſter ſprach Hohn,
ſtampfte viel mit beyden Füßen, fiel endlich
wie ein Klotz und gab der ganzen Sache
[15] einen herrlichen Ausſchlag. Wie dann nach¬
her die Jungfrauen ſangen: Saul hat Tau¬
ſend geſchlagen, David aber Zehntauſend!
der Kopf des Rieſen vor dem kleinen Über¬
winder hergetragen wurde, und er die ſchöne
Königstochter zur Gemahlinn erhielt; ver¬
droß es mich doch bey aller Freude, daß
der Glücksprinz ſo zwergmäßig gebildet ſey.
Denn nach der Idee vom großen Goliath
und kleinen David hatte man nicht verfehlt
beyde recht charakteriſtiſch zu machen. Ich
bitte Sie, wo ſind die Puppen hingekom¬
men? Ich habe verſprochen, ſie einem Freun¬
de zu zeigen, dem ich viel Vergnügen machte,
indem ich ihn neulich von dieſem Kinderſpiel
unterhielt.


Es wundert mich nicht, daß du dich die¬
ſer Dinge ſo lebhaft erinnerſt: denn du nahmſt
gleich den größten Antheil daran. Ich weiß,
wie du mir das Büchelchen entwendeteſt und
[16] das ganze Stück auswendig lernteſt, ich wur¬
de es erſt gewahr, als du eines Abends dir
einen Goliath und David von Wachs mach¬
teſt, ſie beyde gegen einander peroriren lieſ¬
ſeſt, dem Rieſen endlich einen Stoß gabſt
und ſein unförmliches Haupt auf einer gro¬
ßen Stecknadel mit wächſernem Griff dem
kleinen David in die Hand klebteſt. Ich
hatte damals ſo eine herzliche mütterliche
Freude über dein gutes Gedächtniß und dei¬
ne pathetiſche Rede, daß ich mir ſogleich vor¬
nahm, dir die hölzerne Truppe nun ſelbſt zu
übergeben. Ich dachte damals nicht, daß es
mir ſo manche verdrießliche Stunde machen
ſollte. —


Laſſen Sie ſich’s nicht gereuen, verſetzte
Wilhelm: denn es haben uns dieſe Scherze
manche vergnügte Stunde gemacht.


Und mit dieſem erbat er ſich die Schlüſ¬
ſel, eilte, fand die Puppen und war einen
Au¬[17] Augenblick in jene Zeiten verſetzt, wo ſie ihm
noch belebt ſchienen, wo er ſie durch die Leb¬
haftigkeit ſeiner Stimme, durch die Bewe¬
gung ſeiner Hände zu beleben glaubte. Er
nahm ſie mit auf ſeine Stube und verwahr¬
te ſie ſorgfältig.


W. Meiſters Lehrj. B[18]

Drittes Capitel.

Wenn die erſte Liebe, wie ich allgemein be¬
haupten höre, das Schönſte iſt, was ein Herz
früher oder ſpäter empfinden kann; ſo müſ¬
ſen wir unſern Helden dreyfach glücklich prei¬
ſen, daß ihm gegönnt ward, die Wonne die¬
ſer einzigen Augenblicke in ihrem ganzen
Umfange zu genießen. Nur wenig Men¬
ſchen werden ſo vorzüglich begünſtigt, indeß
die meiſten von ihren frühern Empfindungen
nur durch eine harte Schule geführt werden,
in welcher ſie, nach einem kümmerlichen Ge¬
nuß, gezwungen ſind, ihren beſten Wünſchen
entſagen, und das, was ihnen als höchſte
Glückſeligkeit vorſchwebte, für immer entbeh¬
ren zu lernen.


[19]

Auf den Flügeln der Einbildungskraft
hatte ſich Wilhelms Begierde zu dem reizen¬
den Mädchen erhoben, nach einem kurzen
Umgange hatte er ihre Neigung gewonnen,
er fand ſich im Beſitz einer Perſon, die er
ſo ſehr liebte, ja verehrte: denn ſie war ihm
zuerſt in dem günſtigen Lichte theatraliſcher
Vorſtellung erſchienen, und ſeine Leidenſchaft
zur Bühne verband ſich mit der erſten Liebe
zu einem weiblichen Geſchöpfe. Seine Ju¬
gend ließ ihn reiche Freuden genießen, die
von einer lebhaften Dichtung erhöht und er¬
halten wurden. Auch der Zuſtand ſeiner Ge¬
liebten gab ihrem Betragen eine Stimmung,
welche ſeinen Empfindungen ſehr zu Hülfe
kam; die Furcht, ihr Geliebter möchte ihre
übrigen Verhältniſſe vor der Zeit entdecken,
verbreitete über ſie einen liebenswürdigen
Anſchein von Sorge und Schaam, ihre Lei¬
denſchaft für ihn war lebhaft, ſelbſt ihre Un¬
B 2[20] ruhe ſchien ihre Zärtlichkeit zu vermehren;
ſie war das lieblichſte Geſchöpf in ſeinen
Armen.


Als er aus dem erſten Taumel der Freu¬
de erwachte, und auf ſein Leben und ſeine
Verhältniſſe zurückblickte, erſchien ihm alles
neu, ſeine Pflichten heiliger, ſeine Liebhabe¬
reyen lebhafter, ſeine Kenntniſſe deutlicher,
ſeine Talente kräftiger, ſeine Vorſätze ent¬
ſchiedener. Es ward ihm daher leicht, eine
Einrichtung zu treffen, um den Vorwürfen
ſeines Vaters zu entgehen, ſeine Mutter zu
beruhigen und Marianens Liebe ungeſtört zu
genießen. Er verrichtete des Tags ſeine Ge¬
ſchäfte pünktlich, entſagte gewöhnlich dem
Schauſpiel, war Abends bey Tiſche unterhal¬
tend, und ſchlich, wenn alles zu Bette war,
in ſeinen Mantel gehüllt, ſachte zu dem
Garten hinaus und eilte, alle Lindors und
Leanders im Buſen, unaufhaltſam zu ſeiner
Geliebten.


[21]

Was bringen Sie? fragte Mariane, als
er eines Abends ein Bündel hervorwies, das
die Alte, in Hoffnung angenehmer Geſchenke,
ſehr aufmerkſam betrachtete. Sie werden es
nicht errathen, verſetzte Wilhelm.


Wie verwunderte ſich Mariane, wie ent¬
ſetzte ſich Barbara, als die aufgebundene
Serviette einen verworrnen Haufen ſpannen¬
langer Puppen ſehen ließ. Mariane lachte
laut, als Wilhelm die verworrenen Dräte
auseinander zu wickeln und jede Figur ein¬
zeln vorzuzeigen bemühet war. Die Alte
ſchlich verdrüßlich bey Seite.


Es bedarf nur einer Kleinigkeit, um zwey
Liebende zu unterhalten, und ſo vergnügten
ſich unſre Freunde dieſen Abend aufs beſte.
Die kleine Truppe wurde gemuſtert, jede Fi¬
gur genau betrachtet und belacht. König
Saul im ſchwarzen Sammtrocke mit der gol¬
denen Krone wollte Marianen gar nicht ge¬
[22] fallen; er ſähe ihr, ſagte ſie, zu ſteif und pe¬
dantiſch aus. Deſto beſſer behagte ihr Jo¬
nathan, ſein glattes Kinn, ſein gelb und ro¬
thes Kleid und der Turban. Auch wußte ſie
ihn gar artig am Drate hin und her zu
drehen, ließ ihn Reverenzen machen und
Liebeserklärungen herſagen. Dagegen wollte
ſie dem Propheten Samuel nicht die mindeſte
Aufmerkſamkeit ſchenken, wenn ihr gleich
Wilhelm das Bruſtſchildchen anpries und er¬
zählte, daß der Schillertaft des Leibrocks
von einem alten Kleide der Großmutter ge¬
nommen ſey. David war ihr zu klein, und
Goliath zu groß, ſie hielt ſich an ihren Jo¬
nathan. Sie wußte ihm ſo artig zu thun,
und zuletzt ihre Liebkoſungen von der Puppe
auf unſern Freund herüber zu tragen, daß
auch dießmal wieder ein geringes Spiel die
Einleitung glücklicher Stunden ward.


Aus der Süßigkeit ihrer zärtlichen Träu¬
[23] me wurden ſie durch einen Lerm geweckt,
welcher auf der Straße entſtand. Mariane
rief der Alten, die, nach ihrer Gewohnheit
noch fleißig, die veränderlichen Materialien
der Theatergarderobe zum Gebrauch des
nächſten Stückes anzupaſſen beſchäftigt war.
Sie gab die Auskunft, daß eben eine Ge¬
ſellſchaft luſtiger Geſellen aus dem Italiäner
Keller neben an heraus taumle, wo ſie bey
friſchen Auſtern, die eben angekommen, des
Champagners nicht geſchont hätten.


Schade, ſagte Mariane: daß es uns nicht
früher eingefallen iſt, wir hätten uns auch
was zu Gute thun ſollen.


Es iſt wohl noch Zeit, verſetzte Wilhelm
und reichte der Alten einen Louisdor hin:
verſchaft Sie uns, was wir wünſchen, ſo ſoll
Sie’s mit genießen.


Die Alte war behend, und in kurzer Zeit
ſtand ein artig beſtellter Tiſch mit einer
[24] wohlgeordneten Collation vor den Liebenden.
Die Alte mußte ſich dazu ſetzen, man aß,
trank und ließ ſich’s wohl ſeyn.


In ſolchen Fällen fehlt es nie an Unter¬
haltung. Mariane nahm ihren Jonathan
wieder vor, und die Alte wußte das Ge¬
ſpräch auf Wilhelms Lieblingsmaterie zu
wenden. Sie haben uns ſchon einmal, ſagte
ſie, von der erſten Aufführung eines Pup¬
penſpiels am Weihnachtsabend unterhalten,
es war luſtig zu hören. Sie wurden eben
unterbrochen, als das Ballet angehen ſollte.
Nun kennen wir das herrliche Perſonal, das
jene großen Wirkungen hervorbrachte.


Ja, ſagte Mariane: erzähle uns weiter,
wie war dir’s zu Muthe?


Es iſt eine ſchöne Empfindung, liebe Ma¬
riane, verſetzte Wilhelm: wenn wir uns al¬
ter Zeiten und alter unſchädlicher Irrthümer
erinnern, beſonders wenn es in einem Au¬
[25] genblicke geſchieht, da wir eine Höhe glück¬
lich erreicht haben, von welcher wir uns um¬
ſehen und den zurückgelegten Weg über¬
ſchauen können. Es iſt ſo angenehm, ſelbſt¬
zufrieden, ſich mancher Hinderniſſe zu erin¬
nern, die wir oft mit einem peinlichen Ge¬
fühle für unüberwindlich hielten, und dasje¬
nige, was wir jetzt entwickelt ſind, mit dem
zu vergleichen, was wir damals unentwickelt
waren. Aber unausſprechlich glücklich fühl’
ich mich jetzt, da ich in dieſem Augenblicke
mit dir von dem Vergangnen rede, weil ich
zugleich vorwärts in das reizende Land
ſchaue, das wir zuſammen Hand in Hand
durchwandern können.


Wie war es mit dem Ballet? fiel die
Alte ihm ein. Ich fürchte, es iſt nicht alles
abgelaufen, wie es ſollte.


O ja, verſetzte Wilhelm: ſehr gut! Von
jenen wunderlichen Sprüngen der Mohren
[26] und Mohrinnen, Schäfer und Schäferinnen,
Zwerge und Zwerginnen, iſt mir eine dunkle
Erinnerung auf mein ganzes Leben geblie¬
ben. Nun fiel der Vorhang, die Thüre ſchloß
ſich und die ganze kleine Geſellſchaft eilte
wie betrunken und taumelnd zu Bette; ich
weiß aber wohl, daß ich nicht einſchlafen
konnte, daß ich noch etwas erzählt haben
wollte, daß ich noch viele Fragen that, und
daß ich nur ungern die Wärterin entließ,
die uns zur Ruhe gebracht hatte.


Den andern Morgen war leider das ma¬
giſche Gerüſte wieder verſchwunden, der my¬
ſtiſche Schleyer weggehoben, man ging durch
jene Thüre wieder frey aus einer Stube in
die andere, und ſo viel Abentheuer hatten
keine Spur zurückgelaſſen. Meine Geſchwi¬
ſter liefen mit ihren Spielſachen auf und ab,
ich allein ſchlich hin und her, es ſchien mir
unmöglich, daß da nur zwo Thürpfoſten ſeyn
[27] ſollten, wo geſtern noch ſo viel Zauberey ge¬
weſen war. Ach wer eine verlorne Liebe
ſucht, kann nicht unglücklicher ſeyn, als ich
mir damals ſchien!


Ein freudetrunkner Blick, den er auf Ma¬
rianen warf, überzeugte ſie, daß er nicht
fürchtete, jemals in dieſen Fall kommen zu
können.


[20[28]]

Viertes Capitel.

Mein einziger Wunſch war nunmehr, fuhr
Wilhelm fort, eine zweyte Aufführung des
Stücks zu ſehen. Ich lag der Mutter an,
und dieſe ſuchte zu einer gelegenen Stunde
den Vater zu bereden; allein ihre Mühe
war vergebens. Er behauptete, nur ein ſel¬
tenes Vergnügen könne bey den Menſchen
einen Werth haben, Kinder und Alte wü߬
ten nicht zu ſchätzen, was ihnen Gutes täg¬
lich begegnete.


Wir hätten auch noch lange, vielleicht
bis wieder Weihnachten, warten müſſen, hät¬
te nicht der Erbauer und heimliche Director
unſers Schauſpiels ſelbſt Luſt gefühlt, die
Vorſtellung zu wiederholen und dabey in
[29] einem Nachſpiele einen ganz friſch fertig ge¬
wordenen Hanswurſt zu produziren.


Ein junger Mann von der Artillerie, mit
vielen Talenten begabt, beſonders in mecha¬
niſchen Arbeiten geſchickt, der dem Vater
während des Baues viele weſentliche Dienſte
geleiſtet hatte und von ihm reichlich beſchenkt
worden war, wollte ſich am Chriſtfeſte der
kleinen Familie dankbar erzeigen, und machte
dem Hauſe ſeines Gönners ein Geſchenk mit
dieſem ganz eingerichteten Theater, das er eh¬
mals in müßigen Stunden zuſammen ge¬
baut, geſchnitzt und gemahlt hatte. Er war
es, der mit Hülfe eines Bedienten ſelbſt die
Puppen regierte und mit verſtellter Stimme
die verſchiedenen Rollen herſagte. Ihm ward
nicht ſchwer, den Vater zu bereden, der einem
Freunde aus Gefälligkeit zugeſtand, was er
ſeinen Kindern aus Überzeugung abgeſchla¬
gen hatte. Genug, das Theater ward wie¬
[30] der aufgeſtellt, einige Nachbarskinder gebe¬
ten und das Stück wiederhohlt.


Hatte ich das erſtemal die Freude der
Ueberraſchung und des Staunens, ſo war
zum zweytenmale die Wolluſt des Aufmer¬
kens und Forſchens groß. Wie das zugehe?
war jetzt mein Anliegen. Daß die Puppen
nicht ſelbſt redeten, hatte ich mir ſchon das
erſtemal geſagt, daß ſie ſich nicht von ſelbſt
bewegten, vermuthete ich auch; aber warum
das alles doch ſo hübſch war? und es doch
ſo ausſah, als wenn ſie ſelbſt redeten und
ſich bewegten? und wo die Lichter und die
Leute ſeyn möchten? dieſe Räthſel beunru¬
higten mich um deſto mehr, je mehr ich
wünſchte, zugleich unter den Bezauberten und
Zauberern zu ſeyn, zugleich meine Hände
verdeckt im Spiel zu haben und als Zu¬
ſchauer die Freude der Illuſion zu genießen.


Das Stück war zu Ende, man machte
[31] Vorbereitungen zum Nachſpiel, die Zuſchauer
waren aufgeſtanden und ſchwatzten durchein¬
ander. Ich drängte mich näher an die Thü¬
re und hörte inwendig am Klappern, daß
man mit Aufräumen beſchäftigt ſey. Ich
hub den untern Teppich auf und guckte zwi¬
ſchen dem Geſtelle durch. Meine Mutter
bemerkte es und zog mich zurück; allein ich
hatte doch ſo viel geſehen, daß man Freunde
und Feinde, Saul und Goliath und wie ſie
alle heißen mochten, in Einen Schiebkaſten
packte, und ſo erhielt meine halbbefriedigte
Neugierde friſche Nahrung. Dabey hatte
ich zu meinem größten Erſtaunen den Lieu¬
tenant im Heiligthume ſehr geſchäftig erblickt.
Nunmehr konnte mich der Hanswurſt, ſo
ſehr er mit ſeinen Abſätzen klapperte, nicht
unterhalten. Ich verlohr mich in tiefes
Nachdenken und war nach dieſer Entdeckung
ruhiger und unruhiger als vorher. Nach¬
[32] dem ich etwas erfahren hatte, kam es mir
erſt vor, als ob ich gar nichts wiſſe, und
ich hatte Recht: denn es fehlte mir der Zu¬
ſammenhang, und darauf kommt doch eigent¬
lich alles an.


Fünf¬[33]

Fünftes Capitel.

Die Kinder haben, fuhr Wilhelm fort, in
wohleingerichteten und geordneten Häuſern
eine Empfindung, wie ungefähr Ratten und
Mäuſe haben mögen: ſie ſind aufmerkſam
auf alle Ritzen und Löcher, wo ſie zu einem
verbotenen Naſchwerk gelangen können; ſie
genießen es mit einer ſolchen verſtohlnen
wollüſtigen Furcht, die einen großen Theil
des kindiſchen Glücks ausmacht.


Ich war vor allen meinen Geſchwiſtern
aufmerkſam, wenn irgend ein Schlüſſel ſtek¬
ken blieb. Je größer die Ehrfurcht war, die
ich für die verſchloſſenen Thüren in meinem
Herzen herumtrug, an denen ich Wochen und
Monate lang vorbeygehen mußte, und in die
ich nur manchmal, wenn die Mutter das
W. Meiſters Lehrj. C[34] Heiligthum öfnete, um etwas heraus zu ho¬
len, einen verſtohlnen Blick that; deſto ſchnel¬
ler war ich, einen Augenblick zu benutzen, den
mich die Nachläſſigkeit der Wirthſchafterin¬
nen manchmal treffen ließ.


Unter allen Thüren war, wie man leicht
erachten kann, die Thüre der Speiſekammer
diejenige, auf die meine Sinne am ſchärfſten
gerichtet waren. Wenig ahndungsvolle Freu¬
den des Lebens glichen der Empfindung,
wenn mich meine Mutter manchmal hinein¬
rief, um ihr etwas heraustragen zu helfen,
und ich denn einige gedörrte Pflaumen ent¬
weder ihrer Güte oder meiner Liſt zu dan¬
ken hatte. Die aufgehäuften Schätze über¬
einander umfingen meine Einbildungskraft
mit ihrer Fülle, und ſelbſt der wunderliche
Geruch, den ſo mancherley Spezereyen durch¬
einander aushauchten, hatte ſo eine leckere
Wirkung auf mich, daß ich niemals ver¬
[35] ſäumte, ſo oft ich in der Nähe war, mich
wenigſtens an der eröfneten Atmoſphäre zu
weiden. Dieſer merkwürdige Schlüſſel blieb
eines Sonntag Morgens, da die Mutter
von dem Geläute übereilt ward, und das
ganze Haus in einer tiefen Sabbathſtille lag,
ſtecken. Kaum hatte ich es bemerkt, als ich
etlichemal ſachte an der Wand hin und her
ging, mich endlich ſtill und fein andrängte,
die Thüre öfnete, und mich mit Einem
Schritt in der Nähe ſo vieler langgewünſch¬
ter Glückſeligkeit fühlte. Ich beſah Käſten,
Säcke, Schachteln, Büchſen, Gläſer mit ei¬
nem ſchnellen zweifelnden Blicke, was ich
wählen und nehmen ſollte? griff endlich
nach den vielgeliebten gewelkten Pflaumen,
verſah mich mit einigen getrockneten Äpfeln,
und nahm genügſam noch eine eingemachte
Pomeranzenſchaale dazu: mit welcher Beute
ich meinen Weg wieder rückwärts glitſchen
C 2[36] wollte, als mir ein paar nebeneinanderſte¬
hende Kaſten in die Augen fielen, aus deren
einem Dräte, oben mit Häkchen verſehen,
durch den übel verſchloſſenen Schieber her¬
aushingen. Ahndungsvoll fiel ich darüber
her; und mit welcher überirdiſchen Empfin¬
dung entdeckte ich, daß darin meine Helden-
und Freudenwelt aufeinander gepackt ſey?
Ich wollte die oberſten aufheben, betrachten,
die unterſten hervorziehen; allein gar bald
verwirrte ich die leichten Dräte, kam darüber
in Unruhe und Bangigkeit, beſonders da die
Köchin in der benachbarten Küche einige Be¬
wegungen machte, daß ich alles, ſo gut ich
konnte, zuſammendrückte, den Kaſten zuſchob,
nur ein geſchriebenes Büchelchen, worin die
Comödie von David und Goliath aufgezeich¬
net war, das oben aufgelegen hatte, zu mir
ſteckte, und mich mit dieſer Beute leiſe die
Treppe hinauf in eine Dachkammer rettete.


[37]

Von der Zeit an wandte ich alle verſtoh¬
lenen einſamen Stunden darauf, mein Schau¬
ſpiel wiederholt zu leſen, es auswendig zu
lernen, und mir in Gedanken vorzuſtellen,
wie herrlich es ſeyn müßte, wenn ich auch
die Geſtalten dazu mit meinen Fingern be¬
leben könnte. Ich ward darüber in meinen
Gedanken ſelbſt zum David und zum Go¬
liath. In allen Winkeln des Bodens, der
Ställe, des Gartens, unter allerley Umſtän¬
den, ſtudierte ich das Stück ganz in mich
hinein, ergriff alle Rollen, und lernte ſie aus¬
wendig, nur daß ich mich meiſt an den Platz
der Haupthelden zu ſetzen pflegte, und die
übrigen wie Trabanten nur im Gedächtniſſe
mitlaufen ließ. So lagen mir die großmü¬
thigen Reden Davids, mit denen er den über¬
müthigen Rieſen Goliath herausforderte, Tag
und Nacht im Sinne; ich murmelte ſie oft
vor mich hin, niemand gab Acht darauf, als
[38] der Vater, der manchmal einen ſolchen Aus¬
ruf bemerkte, und bey ſich ſelbſt das gute
Gedächtniß ſeines Knabens prieß, der von ſo
wenigem Zuhören ſo mancherley habe behal¬
ten können.


Hierdurch ward ich immer verwegener, und
rezitirte eines Abends das Stück zum grö߬
ten Theile vor meiner Mutter, indem ich
mir einige Wachsklümpchen zu Schauſpielern
bereitete. Sie merkte auf, drang in mich,
und ich geſtand.


Glücklicher Weiſe fiel dieſe Entdeckung in
die Zeit, da der Lieutenant ſelbſt den Wunſch
geäuſſert hatte, mich in dieſe Geheimniſſe
einweihen zu dürfen. Meine Mutter gab
ihm ſogleich Nachricht von dem unerwarte¬
ten Talente ihres Sohnes, und er wußte
nun einzuleiten, daß man ihm ein Paar
Zimmer im oberſten Stocke, die gewöhnlich
leer ſtanden, überließ, in deren einem wieder
[39] die Zuſchauer ſitzen, in dem andern die
Schauſpieler ſeyn, da denn das Proſcenium
abermals die Öfnung der Thüre ausfüllen
ſollte. Der Vater hatte ſeinem Freunde das
alles zu veranſtalten erlaubt, er ſelbſt ſchien
nur durch die Finger zu ſehen, nach dem
Grundſatze, man müſſe den Kindern nicht
merken laſſen, wie lieb man ſie habe, ſie
griffen immer zu weit um ſich; er meynte,
man müſſe bey ihren Freuden ernſt ſcheinen,
und ſie ihnen manchmal verderben, damit
ihre Zufriedenheit ſie nicht übermäßig und
übermüthig mache.


[40]

Sechstes Capitel.

Der Lieutenant ſchlug nunmehr das Theater
auf, und beſorgte das Übrige. Ich merkte
wohl, daß er die Woche mehrmals zu unge¬
wöhnlicher Zeit ins Haus kam, und vermu¬
thete die Abſicht. Meine Begierde wuchs
unglaublich, da ich wohl fühlte, daß ich vor
Sonnabends keinen Theil an dem, was zu¬
bereitet wurde, nehmen durfte. Endlich er¬
ſchien der gewünſchte Tag. Abends fünfe
kam mein Führer, und nahm mich mit hin¬
auf. Zitternd vor Freude trat ich hinein,
und erblickte auf beyden Seiten des Geſtel¬
les die herabhängenden Puppen in der Ord¬
nung, wie ſie auftreten ſollten; ich betrachtete
ſie ſorgfältig, ſtieg auf den Tritt, der mich
über das Theater erhub, ſo daß ich nun
[41] über der kleinen Welt ſchwebte. Ich ſah
nicht ohne Ehrfurcht zwiſchen die Bretchen
hinunter, weil die Erinnerung, welche herrli¬
che Wirkung das Ganze von auſſen thue,
und das Gefühl, in welche Geheimniſſe ich
eingeweiht ſey, mich umfaßten. Wir mach¬
ten einen Verſuch, und es ging gut.


Den andern Tag, da eine Geſellſchaft
Kinder geladen war, hielten wir uns trefflich,
auſſer daß ich in dem Feuer der Aktion mei¬
nen Jonathan fallen ließ, und genöthigt war,
mit der Hand hinunter zu greifen, und ihn
zu holen: ein Zufall, der die Illuſion ſehr
unterbrach, ein großes Gelächter verurſachte,
und mich unſäglich kränkte. Auch ſchien die¬
ſes Verſehn dem Vater ſehr willkommen zu
ſeyn, der das große Vergnügen, ſein Söhn¬
chen ſo fähig zu ſehen, wohlbedächtig nicht
an den Tag gab, nach geendigtem Stücke
ſich gleich an die Fehler hing, und ſagte, es
[42] wäre recht artig geweſen, wenn nur dies
oder das nicht verſagt hätte.


Mich kränkte das innig, ich ward trau¬
rig für den Abend, hatte aber am kommen¬
den Morgen allen Verdruß ſchon wieder
verſchlafen, und war in dem Gedanken ſelig,
daß ich, auſſer jenem Unglück, trefflich ge¬
ſpielt habe. Dazu kam der Beyfall der Zu¬
ſchauer, welche durchaus behaupteten: ob¬
gleich der Lieutenant in Abſicht der groben
und feinen Stimme ſehr viel gethan habe,
ſo perorire er doch meiſt zu affektirt und
ſteif; dagegen ſpreche der neue Anfänger ſei¬
nen David und Jonathan vortrefflich, be¬
ſonders lobte die Mutter den freymüthigen
Ausdruck, wie ich den Goliath herausgefor¬
dert, und dem Könige den beſcheidenen Sie¬
ger vorgeſtellt habe.


Nun blieb zu meiner größten Freude das
Theater aufgeſchlagen, und da der Frühling
[43] herbeykam, und man ohne Feuer beſtehen
konnte, lag ich in meinen Frey- und Spiel¬
ſtunden in der Kammer, und ließ die Pup¬
pen wacker durch einander ſpielen. Oft lud
ich meine Geſchwiſter und Kameraden hin¬
auf; wenn ſie aber auch nicht kommen woll¬
ten, war ich allein. Meine Einbildungskraft
brütete über der kleinen Welt, die gar bald
eine andere Geſtalt gewann.


Ich hatte kaum das erſte Stück, wozu
Theater und Schauſpieler geſchaffen und ge¬
ſtempelt waren, etlichemal aufgeführt, als es
mir ſchon keine Freude mehr machte. Dage¬
gen waren mir unter den Büchern des Gro߬
vaters die deutſche Schaubühne und verſchie¬
dene italieniſch–deutſche Opern in die Hände
gekommen, in die ich mich ſehr vertiefte und
jedesmal nur erſt vorne die Perſonen über¬
rechnete, und dann ſogleich, ohne weiters, zur
Aufführung des Stückes ſchritt. Da mußte
[44] nun König Saul in ſeinem ſchwarzen Sammt¬
kleide den Chaumigrem, Cato und Darius
ſpielen; wobey zu bemerken iſt, daß die
Stücke niemals ganz, ſondern meiſtentheils
nur die fünften Akte, wo es an ein Todtſte¬
chen ging, aufgeführt wurden.


Auch war es natürlich, daß mich die Oper
mit ihren manichfaltigen Veränderungen und
Abenteuern mehr als alles anziehen mußte.
Ich fand darin ſtürmiſche Meere, Götter, die
in Wolken herabkommen, und, was mich
vorzüglich glücklich machte, Blitz und Don¬
ner. Ich half mir mit Pappe, Farbe und
Papier, wußte gar trefflich Nacht zu machen,
der Blitz war fürchterlich anzuſehen, nur der
Donner gelang nicht immer, doch das hatte
ſo viel nicht zu ſagen. Auch fand ſich in
den Opern mehr Gelegenheit, meinen David
und Goliath anzubringen, welches im regel¬
mäßigen Drama gar nicht angehen wollte.
[45] Ich fühlte täglich mehr Anhänglichkeit für
das enge Plätzchen, wo ich ſo manche Freu¬
de genoß; und ich geſtehe, daß der Geruch,
den die Puppen aus der Speiſekammer an
ſich gezogen hatten, nicht wenig dazu bey¬
trug.


Die Dekorationen meines Theaters wa¬
ren nunmehr in ziemlicher Vollkommenheit;
denn, daß ich von Jugend auf ein Geſchick
gehabt hatte, mit dem Zirkel umzugehen,
Pappe auszuſchneiden, und Bilder zu illu¬
miniren, kam mir jetzt wohl zu ſtatten. Um
deſto weher that es mir, wenn mich gar oft
das Perſonal an Ausführung großer Sachen
hinderte.


Meine Schweſtern, indem ſie ihre Pup¬
pen aus- und ankleideten, erregten in mir
den Gedanken, meinen Helden auch nach und
nach bewegliche Kleider zu verſchaffen. Man
trennte ihnen die Läppchen vom Leibe, ſetzte
[46] ſie, ſo gut man konnte, zuſammen, ſparte ſich
etwas Geld, kaufte neues Band und Flit¬
tern, bettelte ſich manches Stückchen Taft
zuſammen, und ſchaffte nach und nach eine
Theater-Garderobe an, in welcher beſonders
die Reifröcke für die Damen nicht vergeſſen
waren.


Die Truppe war nun wirklich mit Klei¬
dern für das größte Stück verſehen, und
man hätte denken ſollen, es würde nun erſt
recht eine Aufführung der andern folgen;
aber es ging mir, wie es den Kindern öfter
zu gehen pflegt, ſie faſſen weite Plane, ma¬
chen große Anſtalten, auch wohl einige Ver¬
ſuche, und es bleibt alles zuſammen liegen.
Dieſes Fehlers muß ich mich auch anklagen.
Die größte Freude lag bey mir in der Er¬
findung, und in der Beſchäftigung der Ein¬
bildungskraft. Dieß oder jenes Stück inter¬
eſſirte mich um irgend einer Scene willen,
[47] und ich ließ gleich wieder neue Kleider dazu
machen. Über ſolchen Anſtalten waren die
urſprünglichen Kleidungsſtücke meiner Helden
in Unordnung gerathen und verſchleppt wor¬
den, daß alſo nicht einmal das erſte große
Stück mehr aufgeführt werden konnte. Ich
überließ mich meiner Phantaſie, probirte und
bereitete ewig, baute tauſend Luftſchlöſſer,
und ſpürte nicht, daß ich den Grund des
kleinen Gebäudes zerſtört hatte.


Während dieſer Erzählung hatte Maria¬
ne alle ihre Freundlichkeit gegen Wilhelm
aufgeboten, um ihre Schläfrigkeit zu verber¬
gen. So ſcherzhaft die Begebenheit von ei¬
ner Seite ſchien, ſo war ſie ihr doch zu ein¬
fach, und die Betrachtungen dabey zu ernſt¬
haft. Sie ſetzte zärtlich ihren Fuß auf den
Fuß des Geliebten, und gab ihm ſcheinbare
Zeichen ihrer Aufmerkſamkeit und ihres Bey¬
falls. Sie trank aus ſeinem Glaſe, und Wil¬
[48] helm war überzeugt, es ſey kein Wort ſei¬
ner Geſchichte auf die Erde gefallen. Nach
einer kleinen Pauſe rief er aus: es iſt nun
an dir, Mariane, mir auch deine erſten ju¬
gendlichen Freuden mitzutheilen. Noch wa¬
ren wir immer zu ſehr mit dem Gegenwärti¬
gen beſchäftigt, als daß wir uns wechſelſei¬
tig um unſere vorige Lebensweiſe hätten be¬
kümmern können, ſage mir: unter welchen
Umſtänden biſt du erzogen? Welche ſind die
erſten lebhaften Eindrücke, deren du dich er¬
innerſt?


Dieſe Fragen würden Marianen in große
Verlegenheit geſetzt haben, wenn ihr die Alte
nicht ſogleich zu Hülfe gekommen wäre.
Glauben Sie denn, ſagte das kluge Weib,
daß wir auf das, was uns früh begegnet,
ſo aufmerkſam ſind, daß wir ſo artige Be¬
gebenheiten zu erzählen haben, und, wenn
wir ſie zu erzählen hätten, daß wir der
Sache[49] Sache auch ein ſolches Geſchick zu geben
wüßten?


Als wenn es deſſen bedürfte! rief Wil¬
helm aus. Ich liebe dieſes zärtliche, gute,
liebliche Geſchöpf ſo ſehr, daß mich jeder Au¬
genblick meines Lebens verdrießt, den ich oh¬
ne ſie zugebracht habe. Laß mich wenigſtens
durch die Einbildungskraft Theil an deinem
vergangenen Leben nehmen! erzähle mir al¬
les, ich will dir alles erzählen. Wir wollen
uns wo möglich täuſchen, und jene für die
Liebe verlorne Zeiten wieder zu gewinnen
ſuchen.


Wenn Sie ſo eifrig darauf beſtehen, kön¬
nen wir Sie wohl befriedigen, ſagte die Al¬
te. Erzählen Sie uns nur erſt, wie Ihre
Liebhaberey zum Schauſpiele nach und nach
gewachſen ſey, wie Sie Sich geübt, wie Sie
ſo glücklich zugenommen haben, daß Sie
nunmehr für einen guten Schauſpieler gelten
W. Meiſters Lehrj. D[50] können? Es hat Ihnen dabey gewiß nicht
an luſtigen Begebenheiten gemangelt. Es iſt
nicht der Mühe werth, daß wir uns zur Ru¬
he legen, ich habe noch eine Flaſche in Re¬
ſerve; und wer weiß, ob wir bald wieder ſo
ruhig und zufrieden zuſammenſitzen?


Mariane ſchaute mit einem traurigen
Blick nach ihr auf, den Wilhelm nicht be¬
merkte, und in ſeiner Erzählung fortfuhr.


[51]

Siebentes Capitel.

Die Zerſtreuungen der Jugend, da meine
Geſpannſchaft ſich zu vermehren anfing, tha¬
ten dem einſamen ſtillen Vergnügen Eintrag.
Ich war wechſelsweiſe bald Jäger, bald Sol¬
dat, bald Reuter, wie es unſre Spiele mit
ſich brachten; doch hatte ich immer darin ei¬
nen kleinen Vorzug vor den andern, daß ich
im Stande war, ihnen die nöthigen Geräth¬
ſchaften ſchicklich auszubilden. So waren
die Schwerter meiſtens aus meiner Fabrik,
ich verzierte und vergoldete die Schlitten,
und ein geheimer Inſtinkt ließ mich nicht ru¬
hen, bis ich unſre Miliz ins Antike umge¬
ſchaffen hatte. Helme wurden verfertiget,
mit papiernen Büſchen geſchmückt, Schilde,
D 2[52] ſogar Harniſche wurden gemacht, Arbeiten,
bey denen die Bedienten im Hauſe, die etwa
Schneider waren, und die Nätherinnen man¬
che Nadel zerbrachen.


Einen Theil meiner jungen Geſellen ſah
ich nun wohlgerüſtet, die übrigen wurden
auch nach und nach, doch geringer, ausſtaf¬
firt, und es kam ein ſtattliches Korps zu¬
ſammen. Wir marſchirten in Höfen und
Gärten, ſchlugen uns brav auf die Schilde
und auf die Köpfe; es gab manche Mißhel¬
ligkeit, die aber bald beygelegt war.


Dieſes Spiel, das die andern ſehr unter¬
hielt, war kaum etlichemal getrieben worden,
als es mich ſchon nicht mehr befriedigte. Der
Anblick ſo vieler gerüſteten Geſtalten mußte
in mir nothwendig die Ritterideen aufreizen,
die ſeit einiger Zeit, da ich in das Leſen al¬
ter Romane gefallen war, meinen Kopf an¬
füllten.


[53]

Das befreyte Jeruſalem, davon mir Kop¬
pens Überſetzung in die Hände fiel, gab mei¬
nen herumſchweifenden Gedanken endlich ei¬
ne beſtimmte Richtung. Ganz konnte ich
zwar das Gedicht nicht leſen; es waren aber
Stellen, die ich auswendig wußte, deren
Bilder mich umſchwebten. Beſonders feſſelte
mich Chlorinde mit ihrem ganzen Thun und
Laſſen. Die Mannweiblichkeit, die ruhige
Fülle ihres Daſeyns, thaten mehr Wirkung
auf den Geiſt, der ſich zu entwickeln anfing,
als die gemachten Reize Armidens, ob ich
gleich ihren Garten nicht verachtete.


Aber hundert und hundertmal, wenn ich
Abends auf dem Altan, der zwiſchen den
Giebeln des Hauſes angebracht iſt, ſpazierte,
über die Gegend hinſah, und von der hinab¬
gewichenen Sonne ein zitternder Schein am
Horizont heraufdämmerte, die Sterne hervor¬
traten, aus allen Winkeln und Tiefen die
[54] Nacht hervordrang, und der klingende Ton
der Grillen durch die feierliche Stille ſchrillte,
ſagte ich mir die Geſchichte des traurigen
Zweykampfs zwiſchen Tancred und Chlorin¬
den vor.


So ſehr ich, wie billig, von der Partey
der Chriſten war, ſtand ich doch der heidni¬
ſchen Heldin mit ganzem Herzen bey, als ſie
unternahm, den großen Thurm der Belagerer
anzuzünden. Und wie nun Tancred dem
vermeynten Krieger in der Nacht begegnet,
unter der düſtern Hülle der Streit beginnt,
und ſie gewaltig kämpfen! — Ich konnte
nie die Worte ausſprechen:

Allein das Lebensmaß Chlorindens iſt nun voll,

Und ihre Stunde kommt, in der ſie ſterben ſoll!


daß mir nicht die Thränen in die Augen
kamen, die reichlich floſſen, wie der unglück¬
liche Liebhaber ihr das Schwert in die Bruſt
ſtöst, der Sinkenden den Helm löst, ſie er¬
[55] kennt, und zur Taufe bebend das Waſſer
holt.


Aber wie ging mir das Herz über, wenn
in dem bezauberten Walde Tancredens
Schwert den Baum trifft, Blut nach dem
Hiebe fließt, und eine Stimme ihm in die
Ohren tönt, daß er auch hier Chlorinden ver¬
wunde, daß er vom Schickſal beſtimmt ſey,
das was er liebt überall unwiſſend zu ver¬
letzen!


Es bemächtigte ſich die Geſchichte meiner
Einbildungskraft ſo, daß ſich mir, was ich
von dem Gedichte geleſen hatte, dunkel zu
einem Ganzen in der Seele bildete, von dem
ich dergeſtalt eingenommen war, daß ich es
auf irgend eine Weiſe vorzuſtellen gedachte.
Ich wollte Tancreden und Reinalden ſpielen,
und fand dazu zwey Rüſtungen ganz bereit,
die ich ſchon gefertiget hatte. Die eine von
dunkelgrauem Papier mit Schuppen ſollte den
[56] ernſten Tancred, die andre von Silber- und
Goldpapier den glänzenden Reinald zieren.
In der Lebhaftigkeit meiner Vorſtellung er¬
zählte ich alles meinen Geſpannen, die da¬
von ganz entzückt wurden, und nur nicht
wohl begreifen konnten, daß das alles aufge¬
führt, und zwar von ihnen aufgeführt wer¬
den ſollte.


Dieſen Zweifeln half ich mit vieler Leich¬
tigkeit ab. Ich diſponirte gleich über ein
paar Zimmer in eines benachbarten Geſpie¬
len Haus, ohne zu berechnen, daß die alte
Tante ſie nimmermehr hergeben würde; eben
ſo war es mit dem Theater, wovon ich auch
keine beſtimmte Idee hatte, auſſer daß man
es auf Balken ſetzen, die Couliſſen von ge¬
theilten ſpaniſchen Wänden hinſtellen und
zum Grund ein großes Tuch nehmen müſſe.
Woher aber die Materialien und Geräth¬
ſchaften kommen ſollten, hatte ich nicht bedacht.


[57]

Für den Wald fanden wir eine gute Aus¬
kunft: wir gaben einem alten Bedienten aus
einem der Häuſer, der nun Förſter geworden
war, gute Worte, daß er uns junge Birken
und Fichten ſchaffen möchte, die auch wirk¬
lich geſchwinder als wir hoffen konnten her¬
beygebracht wurden. Nun aber fand man
ſich in großer Verlegenheit, wie man das
Stück, eh die Bäume verdorrten, zu Stande
bringen könne. Da war guter Rath theuer,
es fehlte an Platz, am Theater, an Vorhän¬
gen. Die ſpaniſchen Wände waren das einzi¬
ge was wir hatten.


In dieſer Verlegenheit gingen wir wie¬
der den Lieutenant an, dem wir eine weit¬
läuftige Beſchreibung von der Herrlichkeit
machten, die es geben ſollte. So wenig er
uns begriff, ſo behülflich war er, ſchob in ei¬
ne kleine Stube, was ſich von Tiſchen im
Hauſe und der Nachbarſchaft nur finden woll¬
[58] te an einander, ſtellte die Wände darauf,
machte eine hintere Ausſicht von grünen Vor¬
hängen, die Bäume wurden auch gleich mit
in die Reihe geſtellt.


Indeſſen war es Abend geworden, man
hatte die Lichter angezündet, die Mägde und
Kinder ſaßen auf ihren Plätzen, das Stück
ſollte angehn, die ganze Heldenſchaar war
angezogen; nun ſpürte aber jeder zum er¬
ſtenmal, daß er nicht wiſſe, was er zu ſagen
habe. In der Hitze der Erfindung, da ich
ganz von meinem Gegenſtande durchdrungen
war, hatte ich vergeſſen, daß doch jeder wiſ¬
ſen müſſe, was und wo er es zu ſagen habe;
und in der Lebhaftigkeit der Ausführung
war es den übrigen auch nicht beygefallen:
ſie glaubten ſie würden ſich leicht als Helden
darſtellen, leicht ſo handeln und reden kön¬
nen, wie die Perſonen, in deren Welt ich ſie
verſetzt hatte. Sie ſtanden alle erſtaunt,
[59] fragten ſich einander, was zuerſt kommen
ſollte? und ich, der ich mich als Tancred
vorne an gedacht hatte, fing, allein auftre¬
tend, einige Verſe aus dem Heldengedichte
herzuſagen an. Weil aber die Stelle gar
zu bald ins Erzählende überging, und ich in
meiner eignen Rede endlich als dritte Perſon
vorkam, auch der Gottfried, von dem die
Sprache war, nicht herauskommen wollte;
ſo mußte ich eben unter großem Gelächter
meiner Zuſchauer wieder abziehen, ein Un¬
fall, der mich tief in der Seele kränkte. Ver¬
unglückt war die Expedition; die Zuſchauer
ſaßen da, und wollten etwas ſehen. Geklei¬
det waren wir, ich raffte mich zuſammen, und
entſchloß mich kurz und gut, David und Go¬
liath zu ſpielen. Einige der Geſellſchaft hat¬
ten ehemals das Puppenſpiel mit mir aufge¬
führt, alle hatten es oft geſehn, man theilte
die Rollen aus, es verſprach jeder ſein Be¬
[60] ſtes zu thun, und ein kleiner drolliger Junge
mahlte ſich einen ſchwarzen Bart, um, wenn
ja eine Lücke einfallen ſollte, ſie als Hans¬
wurſt mit einer Poſſe auszufüllen. Eine
Anſtalt, die ich, als dem Ernſte des Stük¬
kes zuwider, ſehr ungern geſchehen ließ.
Doch ſchwur ich mir, wenn ich nur einmal
aus dieſer Verlegenheit gerettet wäre, mich
nie, als mit der größten Überlegung, an die
Vorſtellung eines Stücks zu wagen.


[61]

Achtes Capitel.

Mariane, vom Schlaf überwältigt, lehnte
ſich an ihren Geliebten, der ſie feſt an ſich
drückte und in ſeiner Erzählung fortfuhr, in¬
deß die Alte den Überreſt des Weins mit
gutem Bedachte genoß.


Die Verlegenheit, ſagte er, in der ich
mich mit meinen Freunden gefunden hatte,
indem wir ein Stück das nicht exiſtirte zu
ſpielen unternahmen, war bald vergeſſen.
Meiner Leidenſchaft, jeden Roman, den ich
las, jede Geſchichte die man mich lehrte, in
einem Schauſpiele darzuſtellen, konnte ſelbſt
der unbiegſamſte Stoff nicht widerſtehen. Ich
war völlig überzeugt, daß alles was in der
Erzählung ergötzte, vorgeſtellt eine viel grö¬
[62] ßere Wirkung thun müſſe; alles ſollte vor
meinen Augen, alles auf der Bühne vorge¬
hen. Wenn uns in der Schule die Weltge¬
ſchichte vorgetragen wurde, zeichnete ich mir
ſorgfältig aus, wo einer auf eine beſondere
Weiſe erſtochen oder vergiftet wurde, und
meine Einbildungskraft ſah über Expoſition
und Verwicklung hinweg und eilte dem inte¬
reſſanten fünften Akte zu; ſo fing ich auch
wirklich an, einige Stücke von hinten hervor
zu ſchreiben, ohne daß ich auch nur bey ei¬
nem einzigen bis zum Anfange gekommen
wäre.


Zu gleicher Zeit las ich, theils aus eig¬
nem Antrieb, theils auf Veranlaſſung mei¬
ner guten Freunde, welche in den Geſchmack
gekommen waren Schauſpiele aufzuführen,
einen ganzen Wuſt theatraliſcher Productio¬
nen durch, wie ſie der Zufall mir in die
Hände führte. Ich war in den glücklichen
[63] Jahren, wo uns noch alles gefällt, wo wir
in der Menge und Abwechslung unſre Be¬
friedigung finden. Leider aber ward mein
Urtheil noch auf eine andere Weiſe beſtochen.
Die Stücke gefielen mir beſonders, in denen
ich zu gefallen hoffte, und es waren wenige,
die ich nicht in dieſer angenehmen Täuſchung
durchlas; und meine lebhafte Vorſtellungs¬
kraft, da ich mich in alle Rollen denken
konnte, verführte mich zu glauben, daß ich
auch alle darſtellen würde: gewöhnlich wähl¬
te ich daher bey der Austheilung diejenigen,
welche ſich gar nicht für mich ſchickten, und
wenn es nur einigermaßen angehn wollte,
wohl gar ein paar Rollen.


Kinder wiſſen beym Spiele aus allem al¬
les zu machen; ein Stab wird zur Flinte,
ein Stückchen Holz zum Degen, jedes Bün¬
delchen zur Puppe, und jeder Winkel zur
Hütte. In dieſem Sinne entwickelte ſich un¬
[64] ſer Privattheater. Bey der völligen Unkennt¬
niß unſrer Kräfte unternahmen wir alles,
bemerkten kein qui pro quo, und waren über¬
zeugt, jeder müſſe uns dafür nehmen, wofür
wir uns gaben. Leider ging alles einen ſo
gemeinen Gang, daß mir nicht einmal eine
merkwürdige Albernheit zu erzählen übrig
bleibt. Erſt ſpielten wir die wenigen Stücke
durch, in welchen nur Mannsperſonen auf¬
treten; dann verkleideten wir einige aus un¬
ſerm Mittel, und zogen zuletzt die Schwe¬
ſtern mit ins Spiel. In einigen Häuſern
hielt man es für eine nützliche Beſchäfti¬
gung und lud Geſellſchaften darauf. Unſer
Artillerielieutenant verließ uns auch hier
nicht. Er zeigte uns, wie wir kommen und
gehen, deklamiren und geſtikuliren ſollten;
allein er erntete für ſeine Bemühung mei¬
ſtens wenig Dank, indem wir die theatraliſchen
Künſte ſchon beſſer als er zu verſtehen glaubten.


Wir[65]

Wir verfielen gar bald auf das Trauer¬
ſpiel: denn wir hatten oft ſagen hören, und
glaubten ſelbſt, es ſey leichter eine Tragödie
zu ſchreiben und vorzuſtellen, als im Luſt¬
ſpiele vollkommen zu ſeyn. Auch fühlten
wir uns beym erſten tragiſchen Verſuche ganz
in unſerm Elemente, wir ſuchten uns der
Höhe des Standes, der Vortreflichkeit der
Charaktere, durch Steifheit und Affectation
zu nähern, und dünkten uns durchaus nicht
wenig; allein vollkommen glücklich waren
wir nur, wenn wir recht raſen, mit den
Füßen ſtampfen und uns wohl gar vor
Wuth und Verzweiflung auf die Erde wer¬
fen durften.


Knaben und Mädchen waren in dieſen
Spielen nicht lange beyſammen, als die Na¬
tur ſich zu regen, und die Geſellſchaft ſich in
verſchiedene kleine Liebesgeſchichten zu thei¬
len anfing, da denn meiſtentheils Comödie
W. Meiſters Lehrj. E[66] in der Comödie geſpielt wurde. Die glückli¬
chen Paare drückten ſich hinter den Theater¬
wänden die Hände auf das zärtlichſte; ſie
verſchwammen in Glückſeligkeit, wenn ſie
einander, ſo bebändert und aufgeſchmückt,
recht idealiſch vorkamen, indeß gegen über
die unglücklichen Nebenbuhler ſich vor Neid
verzehrten, und mit Trutz und Schadenfreude
allerley Unheil anrichteten.


Dieſe Spiele, obgleich ohne Verſtand un¬
ternommen und ohne Anleitung durchgeführt,
waren doch nicht ohne Nutzen für uns. Wir
übten unſer Gedächtniß und unſern Körper,
und erlangten mehr Geſchmeidigkeit im Spre¬
chen und Betragen, als man ſonſt in ſo frü¬
hen Jahren gewinnen kann. Für mich aber
war jene Zeit beſonders Epoke, mein Geiſt
richtete ſich ganz nach dem Theater, und ich
fand kein größer Glück, als Schauſpiele zu
leſen, zu ſchreiben und zu ſpielen.


[67]

Der Unterricht meiner Lehrer dauerte fort,
man hatte mich dem Handelsſtand gewidmet,
und zu unſerm Nachbar auf das Comptoir
gethan; aber eben zu ſelbiger Zeit entfernte
ſich mein Geiſt nur gewaltſamer von allem,
was ich für ein niedriges Geſchäft halten
mußte. Der Bühne wollte ich meine ganze
Thätigkeit widmen, auf ihr mein Glück und
meine Zufriedenheit finden.


Ich erinnere mich noch eines Gedichtes,
das ſich unter meinen Papieren finden muß,
in welchem die Muſe der tragiſchen Dicht¬
kunſt und eine andere Frauensgeſtalt, in der
ich das Gewerbe perſonifizirt hatte, ſich um
meine werthe Perſon recht wacker zanken.
Die Erfindung iſt gemein, und ich erinnere
mich nicht, ob die Verſe etwas taugen; aber
Ihr ſollt es ſehen, um der Furcht, des
Abſcheues, der Liebe und der Leidenſchaft
willen, die darin herrſchen. Wie ängſtlich
E 2[68] hatte ich die alte Hausmutter geſchildert mit
dem Rocken im Gürtel, mit Schlüſſeln an
der Seite, Brillen auf der Naſe, immer
fleißig, immer in Unruhe, zänkiſch und haus¬
hältiſch, kleinlich und beſchwerlich! Wie
kümmerlich beſchrieb ich den Zuſtand deſſen,
der ſich unter ihrer Ruthe bücken und ſein
knechtiſches Tagewerk im Schweiße des An¬
geſichtes verdienen ſollte!


Wie anders trat jene dagegen auf! Wel¬
che Erſcheinung ward ſie dem bekümmerten
Herzen! Herrlich gebildet, in ihrem Weſen
und Betragen als eine Tochter der Freyheit
anzuſehen. Das Gefühl ihrer ſelbſt gab ihr
Würde ohne Stolz; ihre Kleider ziemten ihr,
ſie umhüllten jedes Glied, ohne es zu zwän¬
gen, und die reichlichen Falten des Stoffes
wiederholten, wie ein tauſendfaches Echo, die
reizenden Bewegungen der Göttlichen. Welch
ein Contraſt! Und auf welche Seite ſich mein
[69] Herz wandte, kannſt du leicht denken. Auch
war nichts vergeſſen, um meine Muſe kennt¬
lich zu machen. Kronen und Dolche, Ketten
und Masken, wie ſie mir meine Vorgänger
überliefert hatten, waren ihr auch hier zuge¬
theilt. Der Wettſtreit war heftig, die Reden
beider Perſonen kontraſtirten gehörig, da
man im vierzehnten Jahre gewöhnlich das
Schwarze und Weiße recht nah an einander
zu mahlen pflegt. Die Alte redete, wie es
einer Perſon geziemt, die eine Stecknadel
aufhebt, und jene, wie eine, die Königreiche
verſchenkt. Die warnenden Drohungen der
Alten wurden verſchmäht; ich ſah die mir
verſprochenen Reichthümer ſchon mit dem
Rücken an: enterbt und nackt übergab ich
mich der Muſe, die mir ihren goldnen
Schleyer zuwarf und meine Blöße bedeckte. —


Hätte ich denken können, o meine Ge¬
liebte! rief er aus, indem er Marianen feſt
[70] an ſich drückte, daß eine ganz andere, eine
lieblichere Gottheit kommen, mich in meinem
Vorſatz ſtärken, mich auf meinem Wege be¬
gleiten würde; welch eine ſchönere Wendung
würde mein Gedicht genommen haben, wie
intereſſant würde nicht der Schluß deſſelben
geworden ſeyn! Doch es iſt kein Gedicht, es
iſt Wahrheit und Leben, was ich in deinen
Armen finde; laß uns das ſüße Glück mit
Bewußtſeyn genießen!


Durch den Druck ſeines Armes, durch die
Lebhaftigkeit ſeiner erhöhten Stimme, war
Mariane erwacht, und verbarg durch Lieb¬
koſungen ihre Verlegenheit: denn ſie hatte
auch nicht ein Wort von dem letzten Theile
ſeiner Erzählung vernommen, und es iſt zu
wünſchen, daß unſer Held für ſeine Lieblings¬
geſchichten aufmerkſamere Zuhörer künftig
finden möge.


[71]

Neuntes Capitel.

So brachte Wilhelm ſeine Nächte im Ge¬
nuſſe vertraulicher Liebe, ſeine Tage in Er¬
wartung neuer ſeliger Stunden zu. Schon
zu jener Zeit, als ihn Verlangen und Hoff¬
nung zu Marianen hinzog, fühlte er ſich
wie neu belebt, er fühlte, daß er ein anderer
Menſch zu werden beginne; nun war er mit
ihr vereinigt, die Befriedigung ſeiner Wün¬
ſche ward eine reizende Gewohnheit. Sein
Herz ſtrebte, den Gegenſtand ſeiner Leiden¬
ſchaft zu veredlen, ſein Geiſt, das geliebte
Mädchen mit ſich empor zu heben. In der
kleinſten Abweſenheit ergriff ihn ihr Anden¬
ken. War ſie ihm ſonſt nothwendig gewe¬
ſen, ſo war ſie ihm jetzt unentbehrlich, da er
mit allen Banden der Menſchheit an ſie ge¬
[72] knüpft war. Seine reine Seele fühlte, daß
ſie die Hälfte, mehr als die Hälfte ſeiner
ſelbſt ſey. Er war dankbar und hingegeben
ohne Gränzen.


Auch Mariane konnte ſich eine Zeitlang
täuſchen, ſie theilte die Empfindung ſeines
lebhaften Glücks mit ihm. Ach! wenn nur
nicht manchmal die kalte Hand des Vor¬
wurfs ihr über das Herz gefahren wäre!
Selbſt an dem Buſen Wilhelms war ſie
nicht ſicher davor, ſelbſt unter den Flügeln
ſeiner Liebe. Und wenn ſie nun gar wieder
allein war, und aus den Wolken, in denen
ſeine Leidenſchaft ſie emportrug, in das Be¬
wußtſeyn ihres Zuſtandes herabſank; dann
war ſie zu bedauern. Denn Leichtſinn kam
ihr zu Hülfe, ſo lange ſie in niedriger Ver¬
worrenheit lebte, ſich über ihre Verhältniſſe
betrog, oder vielmehr ſie nicht kannte; da
erſchienen ihr die Vorfälle, denen ſie ausge¬
[73] ſetzt war, nur einzeln: Vergnügen und Ver¬
druß löſten ſich ab, Demüthigung wurde
durch Eitelkeit, und Mangel oft durch au¬
genblicklichen Überfluß vergütet; ſie konnte
Noth und Gewohnheit ſich als Geſetz und
Rechtfertigung anführen, und ſo lange ließen
ſich alle unangenehme Empfindungen von
Stund zu Stunde, von Tag zu Tage ab¬
ſchütteln. Nun aber hatte das arme Mäd¬
chen ſich Augenblicke in eine beſſere Welt
hinüber gerückt gefühlt, hatte, wie von oben
herab, aus Licht und Freude ins öde, ver¬
worfene ihres Lebens herunter geſehen, hatte
gefühlt, welche elende Creatur ein Weib iſt,
das mit dem Verlangen nicht zugleich Liebe
und Ehrfurcht einflöst, und fand ſich äußer¬
lich und innerlich um nichts gebeſſert. Sie
hatte nichts, was ſie aufrichten konnte.
Wenn ſie in ſich blickte und ſuchte, war es
in ihrem Geiſte leer, und ihr Herz hatte kei¬
[74] nen Widerhalt. Je trauriger dieſer Zuſtand
war, deſto heftiger ſchloß ſich ihre Neigung
an den Geliebten feſt; ja die Leidenſchaft
wuchs mit jedem Tage, wie die Gefahr, ihn
zu verlieren, mit jedem Tage näher rückte.


Dagegen ſchwebte Wilhelm glücklich in
höheren Regionen, ihm war auch eine neue
Welt aufgegangen, aber reich an herrlichen
Ausſichten. Kaum ließ das Uebermaaß der
erſten Freude nach, ſo ſtellte ſich das hell
vor ſeine Seele, was ihn bisher dunkel durch¬
wühlt hatte. Sie iſt dein! Sie hat ſich dir
hingegeben! Sie, das geliebte, geſuchte, an¬
gebetete Geſchöpf, dir auf Treu und Glau¬
ben hingegeben; aber ſie hat ſich keinem Un¬
dankbaren überlaſſen. Wo er ſtand und
ging, redete er mit ſich ſelbſt, ſein Herz floß
beſtändig über, und er ſagte ſich in einer
Fülle von prächtigen Worten die erhabenſten
Geſinnungen vor. Er glaubte den hellen
[75] Wink des Schickſals zu verſtehen, das ihm
durch Marianen die Hand reichte, ſich aus
dem ſtockenden, ſchleppenden bürgerlichen Le¬
ben heraus zu reißen, aus dem er ſchon ſo
lange ſich zu retten gewünſcht hatte. Sei¬
nes Vaters Haus, die Seinigen zu verlaſſen,
ſchien ihm etwas leichtes. Er war jung und
neu in der Welt, und ſein Muth, in ihren
Weiten nach Glück und Befriedigung zu ren¬
nen, durch die Liebe erhöht. Seine Beſtim¬
mung zum Theater war ihm nunmehr klar;
das hohe Ziel, das er ſich vorgeſteckt ſah,
ſchien ihm näher, indem er an Marianens
Hand hinſtrebte, und in ſelbſtgefälliger Be¬
ſcheidenheit erblickte er in ſich den trefflichen
Schauſpieler, den Schöpfer eines künftigen
National–Theaters, nach dem er ſo vielfäl¬
tig hatte ſeufzen hören. Alles, was in den
innerſten Winkeln ſeiner Seele bisher ge¬
ſchlummert hatte, wurde rege. Er bildete
[76] aus den vielerley Ideen mit Farben der Lie¬
be ein Gemählde auf Nebelgrund, deſſen
Geſtalten freylich ſehr in einander floſſen;
dafür aber auch das Ganze eine deſto rei¬
zendere Wirkung that.


[77]

Zehntes Capitel.

Er ſaß nun zu Hauſe, kramte unter ſeinen
Papieren, und rüſtete ſich zur Abreiſe. Was
nach ſeiner bisherigen Beſtimmung ſchmeckte,
ward bey Seite gelegt, er wollte bey ſeiner
Wanderung in die Welt auch von jeder un¬
angenehmen Erinnerung frey ſeyn. Nur
Werke des Geſchmacks, Dichter und Critiker
wurden als bekannte Freunde unter die Er¬
wählten geſtellt; und da er bisher die Kunſt¬
richter ſehr wenig genutzt hatte, ſo erneuerte
ſich ſeine Begierde nach Belehrung, als er
ſeine Bücher wieder durchſah und fand, daß
die theoretiſchen Schriften noch meiſt unauf¬
geſchnitten waren. Er hatte ſich, in der völ¬
ligen Überzeugung von der Nothwendigkeit
ſolcher Werke, viele davon angeſchaft, und
[78] mit dem beſten Willen in keines auch nur
bis in die Hälfte ſich hinein leſen können.


Dagegen hatte er ſich deſto eifriger an
Beyſpiele gehalten, und in allen Arten die
ihm bekannt worden waren, ſelbſt Verſuche
gemacht.


Werner trat herein, und als er ſeinen
Freund mit den bekannten Heften beſchäftigt
ſah, rief er aus: Biſt du ſchon wieder über
dieſen Papieren? Ich wette, du haſt nicht
die Abſicht, eins oder das andere zu vollen¬
den! Du ſiehſt ſie durch und wieder durch,
und beginnſt allenfalls etwas neues. —


Zu vollenden iſt nicht die Sache des
Schülers, es iſt genug, wenn er ſich übt —


Aber doch fertig macht, ſo gut er kann.


Und doch ließe ſich wohl die Frage auf¬
werfen: ob man nicht eben gute Hoffnung
von einem jungen Menſchen faſſen könne,
der bald gewahr wird, wenn er etwas Unge¬
[79] ſchicktes unternommen hat, in der Arbeit
nicht fortfährt, und an etwas, das niemals
einen Werth haben kann, weder Mühe noch
Zeit verſchwenden mag.


Ich weiß wohl, es war nie deine Sache,
etwas zu Stande zu bringen, du warſt im¬
mer müde, eh’ es zur Hälfte kam. Da du
noch Direktor unſers Puppenſpiels warſt,
wie oft wurden neue Kleider für die Zwerg¬
geſellſchaft gemacht? neue Dekorationen aus¬
geſchnitten? Bald ſollte dieſes, bald jenes
Trauerſpiel aufgeführt werden, und höchſtens
gabſt du einmal den fünften Akt, wo alles
recht bunt durch einander ging, und die Leu¬
te ſich erſtachen.


Wenn du von jenen Zeiten ſprechen
willſt, wer war denn Schuld, daß wir die
Kleider, die unſern Puppen angepaßt und
auf den Leib feſt genäht waren, herunter
trennen ließen, und den Aufwand einer weit¬
[80] läuftigen und unnützen Garderobe machten?
Warſt du’s nicht, der immer ein neues Stück
Band zu verhandeln hatte, der meine Lieb¬
haberey anzufeuern und zu nutzen wußte?—


Werner lachte und rief aus: Ich erinnere
mich immer noch mit Freuden, daß ich von
euern theatraliſchen Feldzügen Vortheil zog,
wie Lieferanten vom Kriege. Als Ihr euch
zur Befreyung Jeruſalems rüſtetet, machte
ich auch einen ſchönen Profit, wie ehemals
die Venetianer im ähnlichen Falle. Ich fin¬
de nichts vernünftiger in der Welt, als
von den Thorheiten anderer Vortheil zu
ziehen.


Ich weiß nicht, ob es nicht ein edleres
Vergnügen wäre, die Menſchen von ihren
Thorheiten zu heilen. —


Wie ich ſie kenne, möchte das wohl ein
eitles Beſtreben ſeyn. Es gehört ſchon et¬
was dazu, wenn ein einziger Menſch klug
und[81] und reich werden ſoll, und meiſtens wird er
es auf Unkoſten der Andern.


Es fällt mir eben recht der Jüngling am
Scheidewege in die Hände, verſetzte Wilhelm,
indem er ein Heft aus den übrigen Papieren
herauszog: das iſt doch fertig geworden, es
mag übrigens ſeyn wie es will.


Leg es bey Seite, wirf es ins Feuer! ver¬
ſetzte Werner. Die Erfindung iſt nicht im ge¬
ringſten lobenswürdig; ſchon vormals ärger¬
te mich dieſe Compoſition genug, und zog
dir den Unwillen des Vaters zu. Es mögen
ganz artige Verſe ſeyn; aber die Vorſtel¬
lungsart iſt grundfalſch. Ich erinnere mich
noch deines perſonifizirten Gewerbes, deiner
zuſammengeſchrumpften erbärmlichen Sybille.
Du magſt das Bild in irgend einem elenden
Kramladen aufgeſchnappt haben. Von der
Handlung hatteſt du damals keinen Begriff;
ich wüßte nicht, weſſen Geiſt ausgebreiteter
W. Meiſters Lehrj. F[82] wäre, ausgebreiteter ſeyn müßte, als der
Geiſt eines ächten Handelsmanns. Welchen
Überblick verſchaft uns nicht die Ordnung,
in der wir unſre Geſchäfte führen! Sie läßt
uns jederzeit das Ganze überſchauen, ohne
daß wir nöthig hätten, uns durch das Ein¬
zelne verwirren zu laſſen. Welche Vortheile
gewährt die doppelte Buchhaltung dem Kauf¬
manne! Es iſt eine der ſchönſten Erfindun¬
gen des menſchlichen Geiſtes, und ein jeder
guter Haushalter ſollte ſie in ſeiner Wirth¬
ſchaft einführen.


Verzeih mir, ſagte Wilhelm lächelnd, du
fängſt von der Form an, als wenn das die
Sache wäre; gewöhnlich vergeßt ihr aber
auch über eurem Addiren und Bilanciren das
eigentliche Facit des Lebens.


Leider ſiehſt du nicht, mein Freund, wie
Form und Sache hier nur eins iſt, eins ohne
das andere nicht beſtehen könnte. Ordnung
[83] und Klarheit vermehrt die Luſt zu ſparen
und zu erwerben. Ein Menſch, der übel
haushält, befindet ſich in der Dunkelheit ſehr
wohl, er mag die Poſten nicht gerne zuſam¬
men rechnen, die er ſchuldig iſt. Dagegen
kann einem guten Wirthe nichts angenehmer
ſeyn, als ſich alle Tage die Summe ſeines
wachſenden Glückes zu ziehen. Selbſt ein
Unfall, wenn er ihn verdrießlich überraſcht,
erſchreckt ihn nicht; denn er weiß ſogleich,
was für erworbene Vortheile er auf die an¬
dere Waagſchale zu legen hat. Ich bin
überzeugt, mein lieber Freund, wenn du nur
einmal einen rechten Geſchmack an unſern
Geſchäften finden könnteſt, ſo würdeſt du
dich überzeugen, daß manche Fähigkeiten des
Geiſtes auch dabey ihr freyes Spiel haben
können.


Es iſt möglich, daß mich die Reiſe, die
ich vorhabe, auf andere Gedanken bringt.


F2[84]

O gewiß! Glaube mir, es fehlt dir nur
der Anblick einer großen Thätigkeit, um dich
auf immer zu dem unſern zu machen; und
wenn du zurück kommſt, wirſt du dich gern
zu denen geſellen, die durch alle Arten von
Spedition und Spekulation einen Theil des
Geldes und Wohlbefindens, das in der Welt
ſeinen nothwendigen Kreislauf führt, an ſich
zu reißen wiſſen. Wirf einen Blick auf die
natürlichen und künſtlichen Producte aller
Welttheile, betrachte wie ſie wechſelsweiſe
zur Nothdurft geworden ſind! Welch eine
angenehme geiſtreiche Sorgfalt iſt es, alles,
was in dem Augenblicke am meiſten geſucht
wird, und doch bald fehlt, bald ſchwer zu
haben iſt, zu kennen, jedem, was er verlangt,
leicht und ſchnell zu verſchaffen, ſich vorſich¬
tig in Vorrath zu ſetzen, und den Vortheil
jedes Augenblickes dieſer großen Cirkulation
zu genießen! Dieß iſt, dünkt mich, was je¬
[85] dem, der Kopf hat, eine große Freude ma¬
chen wird.


Wilhelm ſchien nicht abgeneigt, und Wer¬
ner fuhr fort: Beſuche nur erſt ein paar
große Handelsſtädte, ein paar Häfen, und
du wirſt gewiß mit fortgeriſſen werden.
Wenn du ſiehſt, wie viele Menſchen beſchäf¬
tiget ſind, wenn du ſiehſt, wo ſo manches
herkommt, wo es hingeht, ſo wirſt du es ge¬
wiß auch mit Vergnügen durch deine Hände
gehen ſehen. Die geringſte Waare ſiehſt du
im Zuſammenhange mit dem ganzen Handel,
und eben darum hältſt du nichts für gering,
weil alles die Cirkulation vermehrt, von wel¬
cher dein Leben ſeine Nahrung zieht.


Werner, der ſeinen richtigen Verſtand in
dem Umgange mit Wilhelmen ausbildete,
hatte ſich gewöhnt, auch an ſein Gewerbe,
an ſeine Geſchäfte mit Erhebung der Seele
zu denken, und glaubte immer, daß er es
[86] mit mehrerem Rechte thue, als ſein ſonſt ver¬
ſtändiger und geſchätzter Freund, der, wie es
ihm ſchien, auf das unreellſte von der Welt
einen ſo großen Werth, und das Gewicht
ſeiner ganzen Seele legte. Manchmal dachte
er, es könne gar nicht fehlen, dieſer falſche
Enthuſiasmus müſſe zu überwältigen, und
ein ſo guter Menſch auf den rechten Weg
zu bringen ſeyn. In dieſer Hoffnung fuhr
er fort: Es haben die Großen dieſer Welt
ſich der Erde bemächtiget, ſie leben in Herr¬
lichkeit und Überfluß. Der kleinſte Raum
unſers Welttheils iſt ſchon in Beſitz genom¬
men, jeder Beſitz befeſtiget, Ämter und ande¬
re bürgerliche Geſchäfte tragen wenig ein;
wo giebt es nun noch einen rechtmäßigeren
Erwerb, eine billigere Eroberung als den
Handel? Haben die Fürſten dieſer Welt die
Flüſſe, die Wege, die Häfen in ihrer Ge¬
walt, und nehmen von dem, was durch und
[87] vorbey geht, einen ſtarken Gewinn: ſollen
wir nicht mit Freuden die Gelegenheit er¬
greifen, und durch unſere Thätigkeit auch
Zoll von jenen Artikeln nehmen, die theils
das Bedürfniß, theils der Übermuth den
Menſchen unentbehrlich gemacht hat? Und
ich kann dir verſichern, wenn du nur deine
dichteriſche Einbildungskraft anwenden woll¬
teſt, ſo könnteſt du meine Göttin als eine
unüberwindliche Siegerin der deinigen kühn
entgegenſtellen. Sie führt freylich lieber den
Ölzweig als das Schwert; Dolch und Ket¬
ten kennt ſie gar nicht: aber Kronen theilet
ſie auch ihren Lieblingen aus, die, es ſey
ohne Verachtung jener geſagt, von ächtem
aus der Quelle geſchöpftem Golde und von
Perlen glänzen, die ſie aus der Tiefe des
Meeres durch ihre immer geſchäftigen Die¬
ner geholt hat.


Wilhelmen verdroß dieſer Ausfall ein we¬
[88] nig, doch verbarg er ſeine Empfindlichkeit;
denn er erinnerte ſich, daß Werner auch ſei¬
ne Apoſtrophen mit Gelaſſenheit anzuhören
pflegte. Übrigens war er billig genug, um
gerne zu ſehen, wenn jeder von ſeinem Hand¬
werk aufs beſte dachte; nur mußte man ihm
das ſeinige, dem er ſich mit Leidenſchaft ge¬
widmet hatte, unangefochten laſſen.


Und dir, rief Werner aus, der du an
menſchlichen Dingen ſo herzlichen Antheil
nimmſt, was wird es dir für ein Schauſpiel
ſeyn, wenn du das Glück, das muthige Un¬
ternehmungen begleitet, vor deinen Augen
den Menſchen wirſt gewährt ſehen! Was iſt
reizender als der Anblick eines Schiffes, das
von einer glücklichen Fahrt wieder anlangt,
das von einem reichen Fange frühzeitig zu¬
rückkehrt! Nicht der Verwandte, der Bekann¬
te, der Theilnehmer allein, ein jeder fremder
Zuſchauer wird hingeriſſen, wenn er die Freu¬
[89] de ſieht, mit welcher der eingeſperrte Schiffer
ans Land ſpringt, noch ehe ſein Fahrzeug es
ganz berührt, ſich wieder frey fühlt, und
nunmehr das, was er dem falſchen Waſſer
entzogen, der getreuen Erde anvertrauen
kann. Nicht in Zahlen allein, mein Freund,
erſcheint uns der Gewinn; das Glück iſt die
Göttin der lebendigen Menſchen, und um
ihre Gunſt wahrhaft zu empfinden, muß man
leben und Menſchen ſehen, die ſich recht le¬
bendig bemühen und recht ſinnlich genießen.


[90]

Eilftes Capitel.

Es iſt nun Zeit, daß wir auch die Väter
unſrer beiden Freunde näher kennen lernen;
ein paar Männer von ſehr verſchiedener Den¬
kungsart, deren Geſinnungen aber darin über¬
einkamen, daß ſie den Handel für das edel¬
ſte Geſchäft hielten, und beide höchſt auf¬
merkſam auf jeden Vortheil waren, den ihnen
irgend eine Spekulation bringen konnte. Der
alte Meiſter hatte gleich nach dem Tode ſei¬
nes Vaters eine koſtbare Sammlung von
Gemählden, Zeichnungen, Kupferſtichen und
Antiquitäten ins Geld geſetzt, ſein Haus nach
dem neuſten Geſchmacke von Grund aus auf¬
gebaut und möblirt, und ſein übriges Ver¬
mögen auf alle mögliche Weiſe gelten ge¬
macht. Einen anſehnlichen Theil davon hat¬
[91] te er dem alten Werner in die Handlung
gegeben, der als ein thätiger Handelsmann
berühmt war, und deſſen Spekulationen ge¬
wöhnlich durch das Glück begünſtigt wurden.
Nichts wünſchte aber der alte Meiſter ſo
ſehr, als ſeinem Sohne Eigenſchaften zu ge¬
ben, die ihm ſelbſt fehlten, und ſeinen Kin¬
dern Güter zu hinterlaſſen, auf deren Beſitz
er den größten Werth legte; ſo war er ein
beſonderer Freund vom Prächtigen, von dem
was in die Augen fällt, was aber auch zu¬
gleich einen innern Werth und eine Dauer
hat. In ſeinem Hauſe mußte alles ſolid
und maſſiv ſeyn, der Vorrath reichlich, das
Silbergeſchirr ſchwer, das Tafelſervice koſt¬
bar; dagegen waren die Gäſte ſelten, denn
eine jede Mahlzeit ward ein Feſt, das ſo¬
wohl wegen der Koſten als wegen der Un¬
bequemlichkeit nicht oft wiederholt werden
konnte. Sein Haushalt ging einen gelaſſe¬
[92] nen und einförmigen Schritt, und alles was
ſich darin bewegte und erneuerte, war gerade
das, was niemanden einigen Genuß gab.


Ein ganz entgegengeſetztes Leben führte
der alte Werner in einem dunkeln und fin¬
ſtern Hauſe. Hatte er ſeine Geſchäfte in der
engen Schreibſtube am uralten Pulte vollen¬
det; ſo wollte er gut eſſen, und wo möglich
noch beſſer trinken, auch konnte er das Gute
nicht allein genießen: neben ſeiner Familie
mußte er ſeine Freunde, alle Fremde, die nur
mit ſeinem Hauſe in einiger Verbindung
ſtanden, immer bey Tiſche ſehen, ſeine Stüh¬
le waren uralt, aber er lud täglich jemanden
ein, darauf zu ſitzen. Die guten Speiſen
zogen die Aufmerkſamkeit der Gäſte auf ſich,
und niemand bemerkte, daß ſie in gemeinem
Geſchirr aufgetragen wurden. Sein Keller
hielt nicht viel Wein, aber der ausgetrunke¬
ne ward gewöhnlich durch einen beſſern erſetzt.


[93]

So lebten die beiden Väter, welche öfter
zuſammen kamen, ſich wegen gemeinſchaftli¬
cher Geſchäfte berathſchlagten, und eben heu¬
te die Verſendung Wilhelms in Handelsan¬
gelegenheiten beſchloſſen.


Er mag ſich in der Welt umſehen, ſagte
der alte Meiſter, und zugleich unſre Geſchäf¬
te an fremden Orten betreiben; man kann
einem jungen Menſchen keine größere Wohl¬
that erweiſen, als wenn man ihn zeitig in
die Beſtimmung ſeines Lebens einweiht. Ihr
Sohn iſt von ſeiner Expedition ſo glücklich
zurück gekommen, hat ſeine Geſchäfte ſo gut
zu machen gewußt, daß ich recht neugierig
bin, wie ſich der meinige beträgt; ich fürchte,
er wird mehr Lehrgeld geben, als der Ihrige.


Der alte Meiſter, welcher von ſeinem
Sohne und deſſen Fähigkeiten einen großen
Begriff hatte, ſagte dieſe Worte in Hoffnung,
daß ſein Freund ihm widerſprechen und die
[94] vortrefflichen Gaben des jungen Mannes
herausſtreichen ſollte. Allein hierin betrog er
ſich; der alte Werner, der in praktiſchen
Dingen niemanden traute, als dem, den er
geprüft hatte, verſetzte gelaſſen: Man muß
alles verſuchen, wir können ihn eben denſel¬
ben Weg ſchicken, wir geben ihm eine Vor¬
ſchrift, wornach er ſich richtet; es ſind ver¬
ſchiedene Schulden einzukaſſiren, alte Be¬
kanntſchaften zu erneuern, neue zu machen.
Er kann auch die Spekulation mit der ich
Sie neulich unterhielt, befördern helfen, denn
ohne genaue Nachrichten an Ort und Stelle
zu ſammeln, läßt ſich dabey wenig thun.


Er mag ſich vorbereiten, verſetzte der alte
Meiſter, und ſobald als möglich aufbrechen.
Wo nehmen wir ein Pferd für ihn her, das
ſich zu dieſer Expedition ſchickt?


Wir werden nicht weit darnach ſuchen.
Ein Krämer in H***, der uns noch einiges
[95] ſchuldig, aber ſonſt ein guter Mann iſt, hat
mir eins an Zahlungsſtatt angeboten; mein
Sohn kennt es, es ſoll ein recht brauchbares
Thier ſeyn.


Er mag es ſelbſt hohlen, mag mit dem
Poſtwagen hinüber fahren, ſo iſt er über¬
morgen bey Zeiten wieder da, man macht
ihm indeſſen den Mantelſack und die Briefe
zurechte, und ſo kann er zu Anfang der
künftigen Woche aufbrechen.


Wilhelm wurde gerufen und man machte
ihm den Entſchluß bekannt. Wer war fro¬
her als er, da er die Mittel zu ſeinem Vor¬
haben in ſeinen Händen ſah, da ihm die
Gelegenheit ohne ſein Mitwirken zubereitet
worden! So groß war ſeine Leidenſchaft,
ſo rein ſeine Überzeugung, er handle voll¬
kommen recht, ſich dem Drucke ſeines bisheri¬
gen Lebens zu entziehen, und einer neuen ed¬
lern Bahn zu folgen, daß ſein Gewiſſen ſich
[96] nicht im mindeſten regte, keine Sorge in ihm
entſtand, ja daß er vielmehr dieſen Betrug
für heilig hielt. Er war gewiß, daß ihn
Eltern und Verwandte in der Folge für die¬
ſen Schritt preiſen und ſegnen ſollten, er er¬
kannte den Wink eines leitenden Schickſals
an dieſen zuſammentreffenden Umſtänden.


Wie lang ward ihm die Zeit bis zur
Nacht, bis zur Stunde, in der er ſeine Ge¬
liebte wieder ſehen ſollte! Er ſaß auf ſeinem
Zimmer und überdachte ſeinen Reiſeplan.
Wie ein künſtlicher Dieb oder Zauberer in
der Gefangenſchaft manchmal die Füße aus
den feſtgeſchloſſenen Ketten herauszieht, um
die Überzeugung bey ſich zu nähren, daß
ſeine Rettung möglich, ja noch näher ſey als
kurzſichtige Wächter glauben.


Endlich ſchlug die nächtliche Stunde; er
entfernte ſich aus ſeinem Hauſe, ſchüttelte al¬
len Druck ab, und wandelte durch die ſtillen
Gaſſen[97] Gaſſen. Auf dem großen Platze hub er ſei¬
ne Hände gen Himmel, fühlte alles hinter
und unter ſich, er hatte ſich von allem los
gemacht. Nun dachte er ſich in den Armen
ſeiner Geliebten, dann wieder mit ihr auf
dem blendenden Theatergerüſte, er ſchwebte
in einer Fülle von Hoffnungen, und nur
manchmal erinnerte ihn der Ruf des Nacht¬
wächters, daß er noch auf dieſer Erde
wandle.


Seine Geliebte kam ihm an der Treppe
entgegen, und wie ſchön! wie lieblich! In
dem neuen weißen Negligee empfing ſie ihn,
er glaubte ſie noch nie ſo reizend geſehen zu
haben. So weihte ſie das Geſchenk des ab¬
weſenden Liebhabers in den Armen des ge¬
genwärtigen ein, und mit wahrer Leiden¬
ſchaft verſchwendete ſie den ganzen Reich¬
thum ihrer Liebkoſungen, welche ihr die Na¬
tur eingab, welche die Kunſt ſie gelehrt hat¬
W. Meiſters Lehrj. G[98] te, an ihren Liebling, und man frage, ob er
ſich glücklich, ob er ſich ſelig fühlte?


Er entdeckte ihr was vorgegangen war,
und ließ ihr im allgemeinen ſeinen Plan,
ſeine Wünſche ſehen. Er wolle unter zu
kommen ſuchen, ſie alsdann abhohlen, er
hoffe, ſie werde ihm ihre Hand nicht verſa¬
gen. Das arme Mädchen aber ſchwieg, ver¬
barg ihre Thränen und drückte den Freund
an ihre Bruſt, der, ob er gleich ihr Verſtum¬
men auf das günſtigſte auslegte, doch eine
Antwort gewünſcht hätte, beſonders da er ſie
zuletzt auf das beſcheidenſte, auf das freund¬
lichſte fragte: ob er ſich denn nicht Vater
glauben dürfe? Aber auch darauf antwortete
ſie nur mit einem Seufzer, einem Kuſſe.


[99]

Zwölftes Capitel.

Den andern Morgen erwachte Mariane nur
zu neuer Betrübniß; ſie fand ſich ſehr allein,
mochte den Tag nicht ſehen, blieb im Bette
und weinte. Die Alte ſetzte ſich zu ihr, ſuch¬
te ihr einzureden, ſie zu tröſten; aber es ge¬
lang ihr nicht, das verwundete Herz ſo ſchnell
zu heilen. Nun war der Augenblick nahe,
dem das arme Mädchen wie dem letzten
ihres Lebens entgegen geſehen hatte. Konnte
man ſich auch in einer ängſtlichern Lage füh¬
len? Ihr Geliebter entfernte ſich, ein unbe¬
quemer Liebhaber drohte zu kommen, und
das größte Unheil ſtand bevor, wenn beide,
wie es leicht möglich war, einmal zuſammen¬
treffen ſollten.


Beruhige dich, Liebchen, rief die Alte:
verweine mir deine ſchönen Augen nicht! Iſt
G 2[100] es denn ein ſo großes Unglück, zwey Liebha¬
ber zu beſitzen? Und wenn du auch deine
Zärtlichkeit nur dem einen ſchenken kannſt;
ſo ſey wenigſtens dankbar gegen den andern,
der, nach der Art wie er für dich ſorgt, ge¬
wiß dein Freund genannt zu werden ver¬
dient.


Es ahndete meinem Geliebten, verſetzte
Mariane dagegen mit Thränen, daß uns
eine Trennung bevorſtehe; ein Traum hat
ihm entdeckt, was wir ihm ſo ſorgfältig zu
verbergen ſuchen. Er ſchlief ſo ruhig an
meiner Seite. Auf einmal höre ich ihn ängſt¬
liche, unvernehmliche Töne ſtammeln. Mir
wird bange, und ich wecke ihn auf. Ach!
mit welcher Liebe, mit welcher Zärtlichkeit,
mit welchem Feuer umarmt’ er mich! O
Mariane! rief er aus, welchem ſchrecklichen
Zuſtande haſt du mich entriſſen! Wie ſoll
ich dir danken. daß du mich aus dieſer Hölle
[101] befreyt haſt? Mir träumte, fuhr er fort, ich
befände mich, entfernt von dir, in einer un¬
bekannten Gegend; aber dein Bild ſchwebte
mir vor; ich ſah dich auf einem ſchönen Hü¬
gel, die Sonne beſchien den ganzen Platz,
wie reizend kamſt du mir vor! Aber es
währte nicht lange, ſo ſah ich dein Bild hin¬
unter gleiten, immer hinunter gleiten, ich
ſtreckte meine Arme nach dir aus, ſie reich¬
ten nicht durch die Ferne. Immer ſank dein
Bild und näherte ſich einem großen See, der
am Fuße des Hügels weit ausgebreitet lag,
eher ein Sumpf als ein See. Auf einmal
gab dir ein Mann die Hand, er ſchien dich
hinaufführen zu wollen, aber leitete dich ſeit¬
wärts, und ſchien dich nach ſich zu ziehen.
Ich rief, da ich dich nicht erreichen konnte,
ich hoffte dich zu warnen. Wollte ich gehen,
ſo ſchien der Boden mich feſt zu halten;
konnt’ ich gehen, ſo hinderte mich das Waſ¬
[102] ſer, und ſogar mein Schreyen erſtickte in der
beklemmten Bruſt. So erzählte der Arme,
indem er ſich von ſeinem Schrecken an mei¬
nem Buſen erholte, und ſich glücklich pries,
einen fürchterlichen Traum durch die ſeligſte
Wirklichkeit verdrängt zu ſehen.


Die Alte ſuchte ſo viel möglich durch ihre
Proſe die Poeſie ihrer Freundin ins Gebiet
des gemeinen Lebens herunter zu locken, und
bediente ſich dabey der guten Art, welche
Vogelſtellern zu gelingen pflegt, indem ſie
durch ein Pfeifchen die Töne derjenigen nach¬
zuahmen ſuchen, welche ſie bald und häufig
in ihrem Garne zu ſehen wünſchen. Sie
lobte Wilhelmen, rühmte ſeine Geſtalt, ſeine
Augen, ſeine Liebe. Das arme Mädchen
hörte ihr gerne zu, ſtand auf, ließ ſich an¬
kleiden, und ſchien ruhiger. Mein Kind,
mein Liebchen, fuhr die Alte ſchmeichelnd fort,
ich will dich nicht betrüben, nicht beleidigen,
[103] ich denke dir nicht dein Glück zu rauben.
Darfſt du meine Abſicht verkennen, und haſt
du vergeſſen, daß ich jederzeit mehr für dich
als für mich geſorgt habe? Sag mir nur
was du willſt, wir wollen ſchon ſehen, wie
wir es ausführen.


Was kann ich wollen? verſetzte Mariane;
ich bin elend, auf mein ganzes Leben elend,
ich liebe ihn, der mich liebt, ſehe, daß ich
mich von ihm trennen muß, und weiß nicht,
wie ich es überleben kann. Norberg kommt,
dem wir unſere ganze Exiſtenz ſchuldig ſind,
den wir nicht entbehren können. Wilhelm
iſt ſehr eingeſchränkt, er kann nichts für mich
thun. —


Ja, er iſt unglücklicherweiſe von denen
Liebhabern, die nichts als ihr Herz bringen,
und eben dieſe haben die meiſten Präten¬
ſionen.


Spotte nicht! der Unglückliche denkt ſein
[104] Haus zu verlaſſen, auf das Theater zu ge¬
hen, mir ſeine Hand anzubieten.


Leere Hände haben wir ſchon vier.


Ich habe keine Wahl, fuhr Mariane fort,
entſcheide du! Stoße mich da oder dort hin,
nur wiſſe noch eins: wahrſcheinlich trag’ ich
ein Pfand im Buſen, das uns noch mehr an
einander feſſeln ſollte, das bedenke und ent¬
ſcheide, wen ſoll ich laſſen? wem ſoll ich
folgen?


Nach einigem Stillſchweigen rief die Alte:
daß doch die Jugend immer zwiſchen den
Extremen ſchwankt! Ich finde nichts natürli¬
cher, als alles zu verbinden, was uns Ver¬
gnügen und Vortheil bringt. Liebſt du den
Einen, ſo mag der Andere bezahlen, es
kommt nur darauf an, daß wir klug genug
ſind, ſie beide auseinander zu halten. —


Mache was du willſt, ich kann nichts
denken; aber folgen will ich.


[105]

Wir haben den Vortheil, daß wir den
Eigenſinn des Directors, der auf die Sitten
ſeiner Truppe ſtolz iſt, vorſchützen können.
Beide Liebhaber ſind ſchon gewohnt, heimlich
und vorſichtig zu Werke zu gehen. Für
Stunde und Gelegenheit will ich ſorgen, nur
mußt du hernach die Rolle ſpielen, die ich
dir vorſchreibe. Wer weiß welcher Umſtand
uns hilft. Käme Norberg nur jetzt, da Wil¬
helm entfernt iſt! Wer wehrt dir, in den Ar¬
men des einen an den andern zu denken?
Ich wünſche dir zu einem Sohne Glück, er
ſoll einen reichen Vater haben.


Mariane war durch dieſe Vorſtellungen
nur für kurze Zeit gebeſſert. Sie konnte
ihren Zuſtand nicht in Harmonie mit ihrer
Empfindung, ihrer Ueberzeugung bringen; ſie
wünſchte dieſe ſchmerzlichen Verhältniſſe zu
vergeſſen, und tauſend kleine Umſtände mu߬
ten ſie jeden Augenblick daran erinnern.

[106]

Dreyzehntes Capitel.

Wilhelm hatte indeſſen die kleine Reiſe vol¬
lendet, und überreichte, da er ſeinen Han¬
delsfreund nicht zu Hauſe fand, das Em¬
pfehlungsſchreiben der Gattin des Abweſen¬
den. Aber auch dieſe gab ihm auf ſeine Fra¬
gen wenig Beſcheid; ſie war in einer hefti¬
gen Gemüthsbewegung, und das ganze Haus
in großer Verwirrung.


Es währte jedoch nicht lange, ſo vertrau¬
te ſie ihm (und es war auch nicht zu ver¬
heimlichen) daß ihre Stieftochter mit einem
Schauſpieler davon gegangen ſey, mit einem
Menſchen, der ſich von einer kleinen Geſell¬
ſchaft vor kurzem los gemacht, ſich im Orte
aufgehalten, und im Franzöſiſchen Unterricht
gegeben habe. Der Vater, auſſer ſich vor
[107] Schmerz und Verdruß, ſey ins Amt gelau¬
fen, um die Flüchtigen verfolgen zu laſſen.
Sie ſchalt ihre Tochter heftig, ſchmähte den
Liebhaber, ſo daß an beiden nichts Lobens¬
würdiges übrig blieb, beklagte mit vielen
Worten die Schande, die dadurch auf die
Familie gekommen, und ſetzte Wilhelmen in
nicht geringe Verlegenheit, der ſich und ſein
heimliches Vorhaben durch dieſe Sibylle
gleichſam mit prophetiſchem Geiſte voraus
getadelt und geſtraft fühlte. Noch ſtärkern
und innigern Antheil mußte er aber an den
Schmerzen des Vaters nehmen, der aus dem
Amte zurückkam, mit ſtiller Trauer und hal¬
ben Worten ſeine Expedition der Frau er¬
zählte, und, indem er, nach eingeſehenen
Briefe, das Pferd Wilhelmen vorführen ließ,
ſeine Zerſtreuung und Verwirrung nicht ver¬
bergen konnte.


Wilhelm gedachte ſogleich das Pferd zu
[108] beſteigen, und ſich aus einem Hauſe zu ent¬
fernen, in welchem ihm, unter den gegebenen
Umſtänden, unmöglich wohl werden konnte;
allein der gute Mann wollte den Sohn ei¬
nes Hauſes, dem er ſo viel ſchuldig war,
nicht unbewirthet und ohne ihn eine Nacht
unter ſeinem Dache behalten zu haben, ent¬
laſſen.


Unſer Freund hatte ein trauriges Abend¬
eſſen eingenommen, eine unruhige Nacht aus¬
geſtanden, und eilte frühmorgens ſobald als
möglich ſich von Leuten zu entfernen, die,
ohne es zu wiſſen, ihn mit ihren Erzählun¬
gen und Äuſſerungen auf das empfindlichſte
gequält hatten.


Er ritt langſam und nachdenkend die
Straße hin, als er auf einmal eine Anzahl
gewaffneter Leute durchs Feld kommen ſah,
die er an ihren weiten und langen Röcken,
großen Aufſchlägen, unförmlichen Hüten und
[109] plumpen Gewehren, an ihrem treuherzigen
Gange und dem bequemen Tragen ihres
Körpers ſogleich für ein Commando Land¬
miliz erkannte. Unter einer alten Eiche hiel¬
ten ſie ſtille, ſetzten ihre Flinten nieder, und
lagerten ſich bequem auf dem Raſen, um
eine Pfeife zu rauchen. Wilhelm verweilte
bey ihnen, und ließ ſich mit einem jungen
Menſchen, der zu Pferde herbeykam, in ein
Geſpräch ein. Er mußte die Geſchichte der
beiden Entflohenen, die ihm nur zu ſehr be¬
kannt war, leider noch einmal und zwar mit
Bemerkungen, die weder dem jungen Paare
noch den Eltern ſonderlich günſtig waren,
vernehmen. Zugleich erfuhr er, daß man
hieher gekommen ſey, die jungen Leute wirk¬
lich in Empfang zu nehmen, die in dem be¬
nachbarten Städtchen eingehohlt und ange¬
halten worden waren. Nach einiger Zeit
ſah man von ferne einen Wagen herbeykom¬
[110] men, der von einer Bürgerwache mehr lä¬
cherlich als fürchterlich umgeben war. Ein
unförmlicher Stadtſchreiber ritt voraus, und
komplimentirte mit dem gegenſeitigen Aktua¬
rius (denn das war der junge Mann, mit
dem Wilhelm geſprochen hatte) an der Grän¬
ze mit großer Gewiſſenhaftigkeit und wun¬
derlichen Gebärden, wie es etwa Geiſt und
Zauberer, der eine inner- der andere außer¬
halb des Kreiſes, bey gefährlichen nächtlichen
Operationen thun mögen.


Die Aufmerkſamkeit der Zuſchauer war
indeß auf den Bauerwagen gerichtet, und
man betrachtete die armen Verirrten nicht
ohne Mitleiden, die auf ein paar Bündeln
Stroh bey einander ſaßen, ſich zärtlich an¬
blickten, und die Umſtehenden kaum zu be¬
merken ſchienen. Zufälligerweiſe hatte man
ſich genöthigt geſehen, ſie von dem letzten
Dorfe auf eine ſo unſchickliche Art fort zu
[111] bringen, indem die alte Kutſche, in welcher
man die Schöne transportirte, zerbrochen
war. Sie erbat ſich bey dieſer Gelegenheit
die Geſellſchaft ihres Freundes, den man,
aus Ueberzeugung, er ſey auf einem capita¬
len Verbrechen betroffen, bis dahin mit Ket¬
ten beſchwert nebenher gehen laſſen. Dieſe
Ketten trugen denn freylich nicht wenig
bey, den Anblick der zärtlichen Gruppe
intereſſanter zu machen, beſonders weil der
junge Mann ſie mit vielem Anſtand beweg¬
te, indem er wiederholt ſeiner Geliebten die
Hände küßte.


Wir ſind ſehr unglücklich! rief ſie den
Umſtehenden zu; aber nicht ſo ſchuldig wie
wir ſcheinen. So belohnen grauſame Men¬
ſchen treue Liebe, und Eltern, die das Glück
ihrer Kinder gänzlich vernachläſſigen, reiſſen
ſie mit Ungeſtüm aus den Armen der Freu¬
de, die ſich ihrer nach langen trüben Tagen
bemächtigte!


[112]

Indeß die Umſtehenden auf verſchiedene
Weiſe ihre Theilnahme zu erkennen gaben,
hatten die Gerichte ihre Zeremonien abſol¬
virt, der Wagen ging weiter, und Wilhelm,
der an dem Schickſal der Verliebten großen
Theil nahm, eilte auf dem Fußpfade voraus,
um mit dem Amtmanne, noch ehe der Zug
ankäme, Bekanntſchaft zu machen. Er er¬
reichte aber kaum das Amthaus, wo alles in
Bewegung und zum Empfang der Flüchtlin¬
ge bereit war, als ihn der Aktuarius einhol¬
te, und durch eine umſtändliche Erzählung,
wie alles gegangen, beſonders aber durch ein
weitläuftiges Lob ſeines Pferdes, das er erſt
geſtern vom Juden getauſcht, jedes andere
Geſpräch verhinderte.


Schon hatte man das unglückliche Paar
auſſen am Garten, der durch eine kleine
Pforte mit dem Amthauſe zuſammenhing,
abgeſetzt, und ſie in der Stille hineingeführt.
Der[113] Der Aktuarius nahm über dieſe ſchonende
Behandlung von Wilhelmen ein aufrichtiges
Lob an, ob er gleich eigentlich dadurch nur
das vor dem Amthauſe verſammelte Volk
necken, und ihm das angenehme Schauſpiel
einer gedemüthigten Mitbürgerin entziehen
wollte.


Der Amtmann, der von ſolchen außeror¬
dentlichen Fällen kein ſonderlicher Liebhaber
war, weil er meiſtentheils dabey einen und
den andern Fehler machte, und für den be¬
ſten Willen gewöhnlich von fürſtlicher Regie¬
rung mit einem derben Verweiſe belohnt
wurde, ging mit ſchweren Schritten nach der
Amtsſtube, wohin ihm der Aktuarius, Wil¬
helm und einige angeſehene Bürger folgten.


Zuerſt ward die Schöne vorgeführt, die,
ohne Frechheit, gelaſſen und mit Bewußtſeyn
ihrer ſelbſt hereintrat. Die Art, wie ſie ge¬
kleidet war und ſich überhaupt betrug, zeigte,
W. Meiſters Lehrj. H[114] daß ſie ein Mädchen ſey, die etwas auf ſich
halte. Sie fing auch, ohne gefragt zu wer¬
den, über ihren Zuſtand nicht unſchicklich zu
reden an.


Der Aktuarius gebot ihr zu ſchweigen,
und hielt ſeine Feder über dem gebrochenen
Blatte. Der Amtmann ſetzte ſich in Faſſung,
ſah ihn an, räuſperte ſich, und fragte das
arme Kind, wie ihr Nahme heiße und wie
alt ſie ſey?


Ich bitte Sie, mein Herr, verſetzte ſie, es
muß mir gar wunderbar vorkommen, daß
Sie mich um meinen Nahmen und mein Al¬
ter fragen, da Sie ſehr gut wiſſen, wie ich
heiße, und daß ich ſo alt wie Ihr älteſter
Sohn bin. Was Sie von mir wiſſen wol¬
len, und was Sie wiſſen müſſen, will ich
gern ohne Umſchweife ſagen.


Seit meines Vaters zweiter Heirath wer¬
de ich zu Hauſe nicht zum beſten gehalten.
[115] Ich hätte einige hübſche Parthien thun kön¬
nen, wenn nicht meine Stiefmutter aus
Furcht vor der Ausſtattung ſie zu vereiteln
gewußt hätte. Nun habe ich den jungen
Melina kennen lernen, ich habe ihn lieben
müſſen, und da wir die Hinderniſſe voraus¬
ſahen, die unſerer Verbindung im Wege ſtun¬
den, entſchloſſen wir uns mit einander in der
weiten Welt ein Glück zu ſuchen, das uns
zu Hauſe nicht gewährt ſchien. Ich habe
nichts mitgenommen, als was mein eigen
war, wir ſind nicht als Diebe und Räuber
entflohen, und mein Geliebter verdient nicht,
daß er mit Ketten und Banden belegt her¬
umgeſchleppt werde. Der Fürſt iſt gerecht,
er wird dieſe Härte nicht billigen. Wenn
wir ſtrafbar ſind, ſo ſind wir es nicht auf
dieſe Weiſe.


Der alte Amtmann kam hierüber doppelt
und dreyfach in Verlegenheit. Die gnädig¬
H 2[116] ſten Ausputzer ſummten ihm ſchon um den
Kopf, und die geläufige Rede des Mädchens
hatte ihm den Entwurf des Protokolls gänz¬
lich zerrüttet. Das Übel wurde noch größer,
als ſie bey wiederholten ordentlichen Fragen
ſich nicht weiter einlaſſen wollte, ſondern ſich
auf das, was ſie eben geſagt, ſtandhaft berief.


Ich bin keine Verbrecherin, ſagte ſie.
Man hat mich auf Strohbündeln zur Schan¬
de hierher geführt; es iſt eine höhere Gerech¬
tigkeit, die uns wieder zu Ehren bringen ſoll.


Der Aktuarius hatte indeſſen immer ihre
Worte nachgeſchrieben, und flüſterte dem
Amtmanne zu: er ſolle nur weiter gehen,
ein förmliches Protokoll würde ſich nachher
ſchon verfaſſen laſſen.


Der Alte nahm wieder Muth, und fing
nun an, nach den ſüßen Geheimniſſen der
Liebe mit dürren Worten und in hergebrach¬
ten trockenen Formeln ſich zu erkundigen.


[117]

Wilhelmen ſtieg die Röthe ins Geſicht,
und die Wangen der artigen Verbrecherin
belebten ſich gleichfalls durch die reizende
Farbe der Schamhaftigkeit. Sie ſchwieg und
ſtockte, bis die Verlegenheit ſelbſt zuletzt ihren
Muth zu erhöhen ſchien.


Seyn Sie verſichert, rief ſie aus, daß
ich ſtark genug ſeyn würde, die Wahrheit zu
bekennen, wenn ich auch gegen mich ſelbſt
ſprechen müßte; ſollte ich nun zaudern und
ſtocken, da ſie mir Ehre macht? Ja, ich habe
ihn von dem Augenblicke an, da ich ſeiner
Neigung und ſeiner Treue gewiß war, als
meinen Ehemann angeſehen, ich habe ihm
alles gerne gegönnt, was die Liebe fordert,
und was ein überzeugtes Herz nicht verſa¬
gen kann. Machen Sie nun mit mir, was
Sie wollen. Wenn ich einen Augenblick zu
geſtehen zauderte, ſo war die Furcht, daß
mein Bekenntniß für meinen Geliebten ſchlim¬
[118] me Folgen haben könnte, allein daran Ur¬
ſache.


Wilhelm faßte, als er ihr Geſtändniß
hörte, einen hohen Begriff von den Geſin¬
nungen des Mädchens, indeß ſie die Ge¬
richtsperſonen für eine freche Dirne erkann¬
ten, und die gegenwärtigen Bürger Gott
dankten, daß dergleichen Fälle in ihren Fa¬
milien entweder nicht vorgekommen oder
nicht bekannt geworden waren.


Wilhelm verſetzte ſeine Mariane in die¬
ſem Augenblicke vor den Richtſtuhl, legte ihr
noch ſchönere Worte in den Mund, ließ ihre
Aufrichtigkeit noch herzlicher und ihr Be¬
kenntniß noch edler werden. Die heftigſte
Leidenſchaft, beiden Liebenden zu helfen, be¬
mächtigte ſich ſeiner. Er verbarg ſie nicht,
und bat den zaudernden Amtmann heimlich,
er mögte doch der Sache ein Ende machen,
es ſey ja alles ſo klar als möglich, und be¬
dürfe keiner weiteren Unterſuchung.


[119]

Dieſes half ſo viel, daß man das Mäd¬
chen abtreten, dafür aber den jungen Men¬
ſchen, nachdem man ihm vor der Thüre die
Feſſeln abgenommen hatte, hereinkommen
ließ. Dieſer ſchien über ſein Schickſal mehr
nachdenkend. Seine Antworten waren ge¬
ſetzter, und wenn er von einer Seite weni¬
ger heroiſche Freymüthigkeit zeigte, ſo em¬
pfahl er ſich hingegen durch Beſtimmtheit
und Ordnung ſeiner Ausſage.


Da auch dieſes Verhör geendiget war,
welches mit dem vorigen in allem überein¬
ſtimmte, nur daß er, um das Mädchen zu
ſchonen, hartnäckig läugnete, was ſie ſelbſt
ſchon bekannt hatte, ließ man auch ſie end¬
lich wieder vortreten, und es entſtand zwi¬
ſchen beiden eine Scene, welche ihnen das
Herz unſers Freundes gänzlich zu eigen
machte.


Was nur in Romanen und Komödien
[120] vorzugehen pflegt, ſah er hier in einer unan¬
genehmen Gerichtsſtube vor ſeinen Augen:
den Streit wechſelſeitiger Großmuth, die
Stärke der Liebe im Unglück.


Iſt es denn alſo wahr, ſagte er bey ſich
ſelbſt, daß die ſchüchterne Zärtlichkeit, die
vor dem Auge der Sonne und der Men¬
ſchen ſich verbirgt, und nur in abgeſonderter
Einſamkeit, in tiefem Geheimniſſe zu genießen
wagt, wenn ſie durch einen feindſeligen Zu¬
fall hervorgeſchleppt wird, ſich alsdann mu¬
thiger, ſtärker, tapferer zeigt, als andere
brauſende und großthuende Leidenſchaften?


Zu ſeinem Troſte ſchloß ſich die ganze
Handlung noch ziemlich bald. Sie wurden
beide in leidliche Verwahrung genommen,
und wenn es möglich geweſen wäre, ſo hätte
er noch dieſen Abend das Frauenzimmer zu
ihren Eltern hinüber gebracht. Denn er ſetz¬
te ſich feſt vor, hier ein Mittelsmann zu
[121] werden, und die glückliche und anſtändige
Verbindung beider Liebenden zu befördern.


Er erbat ſich von dem Amtmanne die
Erlaubniß, mit Melina allein zu reden, wel¬
che ihm denn auch ohne Schwierigkeit ver¬
ſtattet wurde.


[122]

Vierzehntes Capitel.

Das Geſpräch der beiden neuen Bekannten
wurde gar bald vertraut und lebhaft. Denn
als Wilhelm dem niedergeſchlagnen Jüng¬
ling ſein Verhältniß zu den Eltern des
Frauenzimmers entdeckte, ſich zum Mittler
anbot, und ſelbſt die beſten Hoffnungen zeig¬
te, erheiterte ſich das traurige und ſorgen¬
volle Gemüth des Gefangnen, er fühlte ſich
ſchon wieder befreyt, mit ſeinen Schwieger¬
eltern verſöhnt, und es war nun von künfti¬
gem Erwerb und Unterkommen die Rede.


Darüber werden Sie doch nicht in Verle¬
genheit ſeyn, verſetzte Wilhelm; denn Sie
ſcheinen mir beiderſeits von der Natur be¬
ſtimmt, in dem Stande, den Sie gewählt
haben, Ihr Glück zu machen. Eine ange¬
[123] nehme Geſtalt, eine wohlklingende Stimme,
ein gefühlvolles Herz! können Schauſpieler
beſſer ausgeſtattet ſeyn? Kann ich Ihnen
mit einigen Empfehlungen dienen, ſo wird
es mir viel Freude machen.


Ich danke Ihnen von Herzen, verſetzte
der andere; aber ich werde wohl ſchwerlich
davon Gebrauch machen können, denn ich
denke, wo möglich, nicht auf das Theater
zurück zu kehren.


Daran thun Sie ſehr übel, ſagte Wil¬
helm nach einer Pauſe, in welcher er ſich
von ſeinem Erſtaunen erholt hatte, denn er
dachte nicht anders, als daß der Schauſpie¬
ler, ſo bald er mit ſeiner jungen Gattin be¬
freyt worden, das Theater aufſuchen werde.
Es ſchien ihm eben ſo natürlich und noth¬
wendig, als daß der Froſch das Waſſer
ſucht. Nicht einen Augenblick hatte er dar¬
an gezweifelt, und mußte nun zu ſeinem Er¬
ſtaunen das Gegentheil erfahren.


[124]

Ja, verſetzte der andere, ich habe mir
vorgenommen, nicht wieder auf das Theater
zurück zu kehren, vielmehr eine bürgerliche
Bedienung, ſie ſey auch welche ſie wolle, an¬
zunehmen, wenn ich nur eine erhalten kann.


Das iſt ein ſonderbarer Entſchluß, den
ich nicht billigen kann; denn ohne beſondere
Urſache iſt es niemals rathſam, die Lebensart,
die man ergriffen hat, zu verändern, und
überdieß wüßte ich keinen Stand, der ſo viel
Annehmlichkeiten, ſo viel reizende Ausſichten
darböte, als den eines Schauſpielers.


Man ſieht, daß Sie keiner geweſen ſind,
verſetzte jener. —


Darauf ſagte Wilhelm: mein Herr, wie
ſelten iſt der Menſch mit dem Zuſtande zu¬
frieden, in dem er ſich befindet, er wünſcht
ſich immer den ſeines Nächſten, aus welchem
ſich dieſer gleichfalls herausſehnt! —


Indeß bleibt doch ein Unterſchied, verſetz¬
[125] te Melina, zwiſchen dem ſchlimmen und dem
ſchlimmern; Erfahrung, nicht Ungeduld,
macht mich ſo handeln. Iſt wohl irgend ein
Stückchen Brot kümmerlicher, unſicherer und
mühſeliger in der Welt? Beynahe wäre es
eben ſo gut, vor den Thüren zu betteln.
Was hat man von dem Neide ſeiner Mit¬
genoſſen, von der Partheylichkeit des Dire¬
ctors, von der veränderlichen Laune des Pu¬
blikums auszuſtehen? Wahrhaftig, man muß
ein Fell haben wie ein Bär, der in Geſell¬
ſchaft von Affen und Hunden an der Kette
herumgeführt und geprügelt wird, um bey
dem Tone eines Dudelſacks vor Kindern und
Pöbel zu tanzen.


Wilhelm dachte allerley bey ſich ſelbſt,
was er jedoch dem guten Menſchen nicht ins
Geſicht ſagen wollte. Er ging alſo nur von
ferne mit dem Geſpräch um ihn herum. Je¬
ner ließ ſich deſto aufrichtiger und weitläuf¬
[126] tiger heraus. — Thäte es nicht Noth, ſagte
er, daß ein Director jedem Stadtrathe zu
Füßen fiele, um nur die Erlaubniß zu ha¬
ben, vier Wochen zwiſchen der Meſſe ein
paar Groſchen mehr an einem Orte cirkuli¬
ren zu laſſen. Ich habe den unſrigen, der
ſo weit ein guter Mann war, oft bedauret,
wenn er mir gleich zu anderer Zeit Urſache
zu Mißvergnügen gab. Ein guter Akteur
ſteigert ihn, die ſchlechten kann er nicht los
werden; und wenn er ſeine Einnahme eini¬
germaßen der Ausgabe gleich ſetzen will; ſo
iſt es dem Publikum gleich zu viel, das
Haus ſteht leer, und man muß, um nur
nicht gar zu Grunde zu gehen, mit Schaden
und Kummer ſpielen. Nein, mein Herr, da
Sie ſich unſrer, wie Sie ſagen, annehmen
mögen; ſo bitte ich Sie, ſprechen Sie auf
das ernſtlichſte mit den Eltern meiner Ge¬
liebten! Man verſorge mich hier, man gebe
[127] mir einen kleinen Schreiber- oder Einneh¬
mer-Dienſt, und ich will mich glücklich
ſchätzen.


Nachdem ſie noch einige Worte gewech¬
ſelt hatten, ſchied Wilhelm mit dem Verſpre¬
chen, Morgen ganz früh die Eltern anzuge¬
hen und zu ſehen, was er ausrichten könne.
Kaum war er allein, ſo mußte er ſich in fol¬
genden Ausrufungen Luft machen: unglückli¬
cher Melina, nicht in deinem Stande, ſon¬
dern in dir liegt das armſelige, über das du
nicht Herr werden kannſt! Welcher Menſch
in der Welt, der ohne innern Beruf ein
Handwerk, eine Kunſt oder irgend eine Le¬
bensart ergriffe, müßte nicht wie du ſeinen
Zuſtand unerträglich finden? Wer mit ei¬
nem Talente zu einem Talente gebohren iſt,
findet in demſelben ſein ſchönſtes Daſeyn!
Nichts iſt auf der Erde ohne Beſchwerlich¬
keit, nur der innre Trieb, die Luſt, die Liebe
[128] helfen uns Hinderniſſe überwinden, Wege
bahnen, und uns aus dem engen Kreiſe, wo¬
rin ſich andere kümmerlich abängſtigen, empor¬
heben. Dir ſind die Breter nichts als Bre¬
ter, und die Rollen, was einem Schulknaben
ſein Penſum iſt. Die Zuſchauer ſiehſt du
an, wie ſie ſich ſelbſt an Werkeltagen vor¬
kommen. Dir könnte es alſo freylich einer¬
ley ſeyn, hinter einem Pult über liniirten
Büchern zu ſitzen, Zinſen einzutragen und
Reſte herauszuſtochern. Du fühlſt nicht das
zuſammenbrennende, zuſammentreffende Gan¬
ze, das allein durch den Geiſt erfunden, be¬
griffen und ausgeführt wird, du fühlſt nicht,
daß in den Menſchen ein beſſerer Funke
lebt, der, wenn er keine Nahrung erhält,
wenn er nicht geregt wird, von der Aſche
täglicher Bedürfniſſe und Gleichgültigkeit tie¬
fer bedeckt, und doch ſo ſpät und faſt nie
erſtickt wird. Du fühlſt in deiner Seele kei¬
ne[129] ne Kraft ihn aufzublaſen, in deinem eignen
Herzen keinen Reichthum, um dem erweckten
Nahrung zu geben. Der Hunger treibt dich,
die Unbequemlichkeiten ſind dir zuwider, und
es iſt dir verborgen, daß in jedem Stande
dieſe Feinde lauren, die nur mit Freudigkeit
und Gleichmuth zu überwinden ſind. Du
thuſt wohl, dich in jene Gränzen einer ge¬
meinen Stelle zu ſehnen; denn welche wür¬
deſt du wohl ausfüllen, die Geiſt und Muth
verlangt? Gieb einem Soldaten, einem
Staatsmanne, einem Geiſtlichen deine Ge¬
ſinnungen, und mit eben ſo viel Recht wird
er ſich über das Kümmerliche ſeines Standes
beſchweren können. Ja, hat es nicht ſogar
Menſchen gegeben, die von allem Lebensge¬
fühl ſo ganz verlaſſen waren, daß ſie das
ganze Leben und Weſen der Sterblichen für
ein Nichts, für ein kummervolles und ſtaub¬
gleiches Daſeyn erklärt haben? Regten ſich
W. Meiſters Lehrj. J[130] lebendig in deiner Seele die Geſtalten wür¬
kender Menſchen, wärmte deine Bruſt ein
theilnehmendes Feuer, verbreitete ſich über
deine ganze Geſtalt die Stimmung, die aus
dem innerſten kommt, wären die Töne dei¬
ner Kehle, die Worte deiner Lippen lieblich
anzuhören, fühlteſt du dich genug in dir
ſelbſt, ſo würdeſt du dir gewiß Ort und Ge¬
legenheit aufſuchen, dich in andern fühlen zu
können.


Unter ſolchen Worten und Gedanken hat¬
te ſich unſer Freund ausgekleidet, und ſtieg
mit einem Gefühle des innigſten Behagens
zu Bette. Ein ganzer Roman, was er an
der Stelle des Unwürdigen morgenden Ta¬
ges thun würde, entwickelte ſich in ſeiner
Seele, angenehme Phantaſien begleiteten ihn
in das Reich des Schlafes ſanft hinüber,
und überließen ihn dort ihren Geſchwiſtern,
den Träumen, die ihn mit offenen Armen
[131] aufnahmen, und das ruhende Haupt unſers
Freundes mit dem Vorbilde des Himmels
umgaben.


Am frühen Morgen war er ſchon wieder
erwacht, und dachte ſeiner vorſtehenden Un¬
terhandlung nach. Er kehrte in das Haus
der verlaßnen Eltern zurück, wo man ihn
mit Verwundrung aufnahm. Er trug ſein
Anbringen beſcheiden vor, und fand gar bald
mehr und weniger Schwierigkeiten, als er
ſich vermuthet hatte. Geſchehen war es ein¬
mal, und wenn gleich außerordentlich ſtrenge
und harte Leute ſich gegen das Vergangene
und Nichtzuändernde mit Gewalt zu ſetzen,
und das Übel dadurch zu vermehren pflegen,
ſo hat dagegen das Geſchehene auf die Ge¬
müther der meiſten eine unwiderſtehliche Ge¬
walt, und was unmöglich ſchien, nimmt ſo¬
gleich, als es geſchehen iſt, neben dem Ge¬
meinen ſeinen Platz ein. Es war alſo bald
I 2[132] ausgemacht, daß der Herr Melina die Toch¬
ter heirathen ſollte, dagegen ſollte ſie wegen
ihrer Unart kein Heirathsgut mitnehmen und
verſprechen, das Vermächtniß einer Tante,
noch einige Jahre, gegen geringe Intereſſen,
in des Vaters Händen zu laſſen. Der zwey¬
te Punkt, wegen einer bürgerlichen Verſor¬
gung fand ſchon größere Schwierigkeiten.
Man wollte das ungerathene Kind nicht vor
Augen ſehen, man wollte die Verbindung
eines hergelaufenen Menſchen mit einer ſo
angeſehenen Familie, welche ſogar mit einem
Superintendenten verwandt war, ſich durch
die Gegenwart nicht beſtändig aufrücken laſ¬
ſen, man konnte eben ſo wenig hoffen, daß
die fürſtlichen Collegien ihm eine Stelle an¬
vertrauen würden. Beide Eltern waren
gleich ſtark dagegen, und Wilhelm, der ſehr
eifrig dafür ſprach, weil er dem Menſchen,
den er geringſchätzte, die Rückkehr auf das
[133] Theater nicht gönnte, und überzeugt war,
daß er eines ſolchen Glückes nicht werth ſey,
konnte mit allen ſeinen Argumenten nichts
ausrichten. Hätte er die geheimen Triebfe¬
dern gekannt, ſo würde er ſich die Mühe
gar nicht gegeben haben, die Eltern überre¬
den zu wollen. Denn der Vater, der ſeine
Tochter gerne bey ſich behalten hätte, haßte
den jungen Menſchen, weil ſeine Frau ſelbſt
ein Auge auf ihn geworfen hatte, und dieſe
konnte in ihrer Stieftochter eine glückliche
Nebenbuhlerin nicht vor Augen leiden. Und
ſo mußte Melina wider ſeinen Willen mit
ſeiner jungen Braut, die ſchon größere Luſt
bezeigte, die Welt zu ſehen, und ſich der
Welt ſehen zu laſſen, nach einigen Tagen
abreiſen, um bey irgend einer Geſellſchaft ein
Unterkommen zu finden.


[134]

Funfzehntes Capitel.

Glückliche Jugend! glückliche Zeiten des er¬
ſten Liebesbedürfniſſes! Der Menſch iſt dann
wie ein Kind, das ſich am Echo ſtundenlang
ergötzt, die Unkoſten des Geſpräches allein
trägt, und mit der Unterhaltung wohl zufrie¬
den iſt, wenn der unſichtbare Gegenmann
auch nur die letzten Sylben der ausgerufe¬
nen Worte wiederholt.


So war Wilhelm in den frühern, beſon¬
ders aber in den ſpätern Zeiten ſeiner Lei¬
denſchaft für Marianen, als er den ganzen
Reichthum ſeines Gefühls auf ſie hinüber¬
trug, und ſich dabey als einen Bettler an¬
ſah, der von ihren Almoſen lebte. Und wie
uns eine Gegend reizender, ja allein reizend
vorkommt, wenn ſie von der Sonne beſchie¬
[135] nen wird, ſo war auch alles in ſeinen Augen
verſchönert und verherrlicht, was ſie umgab,
was ſie berührte.


Wie oft ſtand er auf dem Theater hin¬
ter den Wänden, wozu er ſich das Privile¬
gium von dem Direktor erbeten hatte! Dann
war freylich die perſpectiviſche Magie ver¬
ſchwunden, aber die viel mächtigere Zaube¬
rey der Liebe fing erſt an zu wirken. Stun¬
denlang konnte er am ſchmutzigen Lichtwagen
ſtehen, den Qualm der Unſchlitt-Lampen ein¬
ziehen, nach der Geliebten hinaus blicken,
und, wenn ſie wieder hereintrat und ihn
freundlich anſah, ſich in Wonne verloren
dicht an dem Balken- und Latten-Gerippe,
in einen paradieſiſchen Zuſtand verſetzt füh¬
len. Die ausgeſtopften Lämmchen, die Waſ¬
ſerfälle von Zindel, die pappenen Roſenſtöcke
und die einſeitigen Strohhütten erregten in
ihm liebliche dichteriſche Bilder uralter Schä¬
[136] ferwelt. Sogar die in der Nähe häßlich er¬
ſcheinenden Tänzerinnen waren ihm nicht
immer zuwider, weil ſie auf Einem Brete
mit ſeiner Vielgeliebten ſtanden. Und ſo iſt
es gewiß, daß Liebe, die Roſenlauben, Myr¬
thenwäldchen und Mondſchein erſt beleben
muß, auch ſogar Hobelſpänen und Papier¬
ſchnitzeln einen Anſchein belebter Naturen ge¬
ben kann. Sie iſt eine ſo ſtarke Würze, daß
ſelbſt ſchaale und ekle Brühen davon ſchmack¬
haft werden.


Solch einer Würze bedurft es freylich,
um jenen Zuſtand leidlich, ja in der Folge
angenehm zu machen, in welchem er gewöhn¬
lich ihre Stube, ja gelegentlich ſie ſelbſt an¬
traf.


In einem feinen Bürgerhauſe erzogen,
war Ordnung und Reinlichkeit das Element,
worin er athmete, und indem er von ſeines
Vaters Prunkliebe einen Theil geerbt hatte,
[137] wußte er, in den Knabenjahren, ſein Zim¬
mer, das er als ſein kleines Reich anſah,
ſtattlich auszuſtaffiren. Seine Bettvorhänge
waren in große Falten aufgezogen und mit
Quaſten befeſtigt, wie man Thronen vorzu¬
ſtellen pflegt, er hatte ſich einen Teppich in
die Mitte des Zimmers, und einen feinern
auf den Tiſch anzuſchaffen gewußt, ſeine Bü¬
cher und Geräthſchaften legte und ſtellte er
faſt mechaniſch ſo, daß ein niederländiſcher
Mahler gute Gruppen zu ſeinen Still-Leben
hätte heraus nehmen können. Eine weiße
Mütze hatte er wie einen Turban zurecht ge¬
bunden, und die Ermel ſeines Schlafrocks
nach orientaliſchen Coſtüme kurz ſtutzen laſ¬
ſen. Doch gab er hiervon die Urſache an,
daß die langen weiten Ermel ihn im Schrei¬
ben hinderten. Wenn er Abends ganz allein
war, und nicht mehr fürchten durfte, geſtört
zu werden, trug er gewöhnlich eine ſeidene
[138] Schärpe um den Leib, und er ſoll manchmal
einen Dolch, den er ſich aus einer alten
Rüſtkammer zugeeignet, in den Gürtel ge¬
ſteckt, und ſo die ihm zugetheilten tragiſchen
Rollen memorirt und probirt, ja in eben
dem Sinne ſein Gebet kniend auf dem Tep¬
pich verrichtet haben.


Wie glücklich prieß er daher in früheren
Zeiten den Schauſpieler, den er im Beſitz ſo
mancher majeſtätiſchen Kleider, Rüſtungen
und Waffen, und in ſteter Übung eines ed¬
len Betragens ſah, deſſen Geiſt einen Spie¬
gel des herrlichſten und prächtigſten, was die
Welt an Verhältniſſen, Geſinnungen und Lei¬
denſchaften hervorgebracht, darzuſtellen ſchien.
Eben ſo dachte ſich Wilhelm auch das häus¬
liche Leben eines Schauſpielers als eine Reihe
von würdigen Handlungen und Beſchäfti¬
gungen, davon die Erſcheinung auf dem
Theater die äuſſerſte Spitze ſey. Etwa wie
[139] ein Silber, das vom Läuter-Feuer lange her¬
um getrieben worden, endlich farbig ſchön
vor den Augen des Arbeiters erſcheint, und
ihm zugleich andeutet, daß das Metall nun¬
mehr von allen fremden Zuſätzen gereiniget
ſey.


Wie ſehr ſtutzte er daher Anfangs, wenn
er ſich bey ſeiner Geliebten befand, und durch
den glücklichen Nebel, der ihn umgab, neben
aus auf Tiſche, Stühle und Boden ſah. Die
Trümmer eines augenblicklichen, leichten und
falſchen Putzes lagen wie das glänzende
Kleid eines abgeſchuppten Fiſches zerſtreut in
wilder Unordnung durch einander. Die Werk¬
zeuge menſchlicher Reinlichkeit, als Kämme,
Seife, Tücher und Pomade waren mit den
Spuren ihrer Beſtimmung gleichfalls nicht
verſteckt. Muſik, Rollen und Schuhe, Wä¬
ſche und italieniſche Blumen, Etuis, Haar¬
nadeln, Schminktöpfchen und Bänder, Bü¬
[140] cher und Strohhüte, keines verſchmähte die
Nachbarſchaft des andern, alle waren durch
ein gemeinſchaftliches Element, durch Puder
und Staub, vereinigt. Jedoch da Wilhelm
in ihrer Gegenwart wenig von allem andern
bemerkte, ja vielmehr ihm alles, was ihr ge¬
hörte, ſie berührt hatte, lieb werden mußte;
ſo fand er zuletzt in dieſer verworrnen Wirth¬
ſchaft einen Reiz, den er in ſeiner ſtattlichen
Prunkordnung niemals empfunden hatte. Es
war ihm — wenn er hier ihre Schnürbruſt
wegnahm, um zum Klavier zu kommen, dort
ihre Röcke aufs Bette legte, um ſich ſetzen
zu können, wenn ſie ſelbſt mit unbefangener
Freymüthigkeit manches Natürliche, das man
ſonſt gegen einen andern aus Anſtand zu
verheimlichen pflegt, vor ihm nicht zu ver¬
bergen ſuchte — es war ihm, ſag’ ich, als
wenn er ihr mit jedem Augenblicke näher
würde, als wenn eine Gemeinſchaft zwi¬
[141] ſchen ihnen durch unſichtbare Bande befeſtigt
würde.


Nicht eben ſo leicht konnte er die Auf¬
führung der übrigen Schauſpieler, die er bey
ſeinen erſten Beſuchen manchmal bey ihr an¬
traf, mit ſeinen Begriffen vereinigen. Ge¬
ſchäftig im Müſſiggange ſchienen ſie an ihren
Beruf und Zweck am wenigſten zu denken,
über den poetiſchen Werth eines Stücks hör¬
te er ſie niemals reden, und weder richtig
noch unrichtig darüber urtheilen; es war
immer nur die Frage: was wird das Stück
machen? Iſt es ein Zugſtück? Wie lange
wird es ſpielen? Wie oft kann es wohl ge¬
geben werden? und was Fragen und Bemer¬
kungen dieſer Art mehr waren. Dann ging
es gewöhnlich auf den Director los, daß er
mit der Gage zu karg, und beſonders gegen
den einen und den andern ungerecht ſey,
dann auf das Publikum, daß es mit ſeinem
[142] Beyfall ſelten den rechten Mann belohne,
daß das deutſche Theater ſich täglich verbeſ¬
ſere, daß der Schauſpieler nach ſeinen Ver¬
dienſten immer mehr geehrt werde, und nicht
genug geehrt werden könne. Dann ſprach
man viel von Kaffeehäuſern und Weingär¬
ten, und was daſelbſt vorgefallen, wieviel
irgend ein Camerad Schulden habe und Ab¬
zug leiden müſſe, von Disproportion der
wöchentlichen Gage, von Cabalen einer Ge¬
genparthey, wobey denn doch zuletzt die große
und verdiente Aufmerkſamkeit des Publikums
wieder in Betracht kam, und der Einfluß des
Theaters auf die Bildung einer Nation und
der Welt nicht vergeſſen wurde.


Alle dieſe Dinge, die Wilhelmen ſonſt
ſchon manche unruhige Stunde gemacht hat¬
ten, kamen ihm gegenwärtig wieder ins Ge¬
dächtniß, als ihn ſein Pferd langſam nach
Hauſe trug, und er die verſchiedenen Vor¬
[143] fälle, die ihm begegnet waren, überlegte.
Die Bewegung, welche durch die Flucht ei¬
nes Mädchens in eine gute Bürgerfamilie,
ja in ein ganzes Städtchen gekommen war,
hatte er mit Augen geſehen, die Scenen auf
der Landſtraße und im Amthauſe, die Geſin¬
nungen Melinas, und was ſonſt noch vor¬
gegangen war, ſtellten ſich ihm wieder dar,
und brachten ſeinen lebhaften, vordringenden
Geiſt in eine Art von ſorglicher Unruhe, die
er nicht lange ertrug, ſondern ſeinem Pferde
die Sporen gab und nach der Stadt zueilte.


Allein auch auf dieſem Wege rannte
er nur neuen Unannehmlichkeiten entgegen.
Werner, ſein Freund und vermuthlicher
Schwager, wartete auf ihn, um ein ernſthaf¬
tes, bedeutendes und unerwartetes Geſpräch
mit ihm anzufangen.


Werner war einer von den geprüften, in
ihrem Daſeyn beſtimmten Leuten, die man
[144] gewöhnlich kalte Leute zu nennen pflegt, weil
ſie bey Anläſſen weder ſchnell noch ſichtlich
auflodern; auch war ſein Umgang mit Wil¬
helmen ein anhaltender Zwiſt, wodurch ſich
ihre Liebe aber nur deſto feſter knüpfte:
denn ungeachtet ihrer verſchiedenen Den¬
kungsart fand jeder ſeine Rechnung bey dem
andern. Werner that ſich darauf etwas zu
gute, daß er dem vortrefflichen, obgleich ge¬
legentlich ausſchweifenden Geiſt Wilhelms
mit unter Zügel und Gebiß anzulegen ſchien,
und Wilhelm fühlte oft einen herrlichen
Triumph, wenn er ſeinen bedächtlichen Freund
in warmer Aufwallung mit ſich fortnahm.
So übte ſich einer an dem andern, ſie wur¬
den gewohnt ſich täglich zu ſehen, und man
hätte ſagen ſollen, das Verlangen einander
zu finden, ſich mit einander zu beſprechen,
ſey durch die Unmöglichkeit, einander ver¬
ſtändlich zu werden, vermehrt worden. Im
Grun¬[145] Grunde aber gingen ſie doch, weil ſie beide
gute Menſchen waren, neben einander, mit
einander nach Einem Ziel, und konnten nie¬
mals begreifen, warum denn keiner den an¬
dern auf ſeine Geſinnung reduciren könne.


Werner bemerkte ſeit einiger Zeit, daß
Wilhelms Beſuche ſeltner wurden, daß er in
Lieblingsmaterien kurz und zerſtreut abbrach,
daß er ſich nicht mehr in lebhafte Ausbil¬
dung ſeltſamer Vorſtellungen vertiefte, an
welcher ſich freylich ein freyes, in der Gegen¬
wart des Freundes Ruhe und Zufriedenheit
findendes Gemüth am ſicherſten erkennen
läßt. Der pünktliche und bedächtige Wer¬
ner ſuchte anfangs den Fehler in ſeinem eig¬
nen Betragen, bis ihn einige Stadtgeſpräche
auf die rechte Spur brachten, und einige
Unvorſichtigkeiten Wilhelms ihn der Gewi߬
heit näher führten. Er ließ ſich auf eine
Unterſuchung ein, und entdeckte gar bald,
W. Meiſters Lehrj. K[146] daß Wilhelm vor einiger Zeit eine Schauſpiele¬
rin öffentlich beſucht, mit ihr auf dem Thea¬
ter geſprochen und ſie nach Hauſe gebracht
habe; er wäre troſtlos geweſen, wenn ihm
auch die nächtlichen Zuſammenkünfte bekannt
geworden wären; denn er hörte, daß Ma¬
riane ein verführeriſches Mädchen ſey, die
ſeinen Freund wahrſcheinlich ums Geld brin¬
ge, und ſich noch nebenher von dem unwür¬
digſten Liebhaber unterhalten laſſe.


Sobald er ſeinen Verdacht ſo viel mög¬
lich zur Gewißheit erhoben, beſchloß er einen
Angriff auf Wilhelmen, und war mit allen
Anſtalten völlig in Bereitſchaft, als dieſer
eben verdrießlich und verſtimmt von ſeiner
Reiſe zurückkam.


Werner trug ihm noch denſelbigen Abend
alles, was er wußte, erſt gelaſſen, dann mit
dem dringenden Ernſte einer wohldenkenden
Freundſchaft vor, ließ keinen Zug unbeſtimmt,
[147] und gab ſeinem Freunde alle die Bitterkei¬
ten zu koſten, die ruhige Menſchen an Lie¬
bende mit tugendhafter Schadenfreude ſo
freygebig auszuſpenden pflegen. Aber wie
man ſich denken kann, richtete er wenig aus.
Wilhelm verſetzte mit inniger Bewegung,
doch mit großer Sicherheit: du kennſt das
Mädchen nicht, der Schein iſt vielleicht nicht
zu ihrem Vortheil, aber ich bin ihrer Treue
und Tugend ſo gewiß als meiner Liebe.


Werner beharrte auf ſeiner Anklage, und
erbot ſich zu Beweiſen und Zeugen. Wil¬
helm verwarf ſie, und entfernte ſich von ſei¬
nem Freunde verdrießlich und erſchüttert,
wie einer, dem ein ungeſchickter Zahnarzt
einen ſchadhaft feſtſitzenden Zahn gefaßt und
vergebens daran geruckt hat.


Höchſt unbehaglich fand ſich Wilhelm,
das ſchöne Bild Marianens erſt durch die
Grillen der Reiſe, dann durch Werners Un¬
K 2[148] freundlichkeit in ſeiner Seele getrübt und
beynahe entſtellt zu ſehen. Er griff zum
ſicherſten Mittel, ihm die völlige Klarheit
und Schönheit wieder herzuſtellen, indem er
Nachts auf den gewöhnlichen Wegen zu ihr
hineilte. Sie empfing ihn mit lebhafter
Freude; denn er war bey ſeiner Ankunft vor¬
bey geritten, ſie hatte ihn dieſe Nacht erwar¬
tet, und es läßt ſich denken, daß alle Zwei¬
fel bald aus ſeinem Herzen vertrieben wur¬
den. Ja ihre Zärtlichkeit ſchloß ſein ganzes
Vertrauen wieder auf, und er erzählte ihr,
wie ſehr ſich das Publikum, wie ſehr ſich
ſein Freund an ihr verſündiget.


Mancherley lebhafte Geſpräche führten ſie
auf die erſten Zeiten ihrer Bekanntſchaft, de¬
ren Erinnerung eine der ſchönſten Unterhal¬
tungen zweyer Liebenden bleibt. Die erſten
Schritte, die uns in den Irrgarten der Liebe
bringen, ſind ſo angenehm, die erſten Aus¬
[149] ſichten ſo reizend, daß man ſie gar zu gern
in ſein Gedächtniß zurück ruft. Jeder Theil
ſucht einen Vorzug vor dem andern zu be¬
halten; er habe früher, uneigennütziger ge¬
liebt, und jedes wünſcht in dieſem Wettſtreite
lieber überwunden zu werden, als zu über¬
winden.


Wilhelm wiederholte Marianen, was ſie
ſchon ſo oft gehört hatte, daß ſie bald ſeine
Aufmerkſamkeit von dem Schauſpiel ab und
auf ſich allein gezogen habe, daß ihre Ge¬
ſtalt, ihr Spiel, ihre Stimme ihn gefeſſelt,
wie er zuletzt nur die Stücke, in denen ſie
geſpielt, beſucht habe, wie er endlich aufs
Theater geſchlichen ſey, oft, ohne von ihr be¬
merkt zu werden, neben ihr geſtanden habe;
dann ſprach er mit Entzücken von dem glück¬
lichen Abende, an dem er eine Gelegenheit
gefunden, ihr eine Gefälligkeit zu erzeigen,
und ein Geſpräch einzuleiten.


[150]

Mariane dagegen wollte nicht Wort haben,
daß ſie ihn ſo lange nicht bemerkt hätte; ſie
behauptete, ihn ſchon auf dem Spaziergange
geſehen zu haben, und bezeichnete ihm zum
Beweis das Kleid, das er am ſelbigen Tage
angehabt; ſie behauptete, daß er ihr damals
vor allen andern gefallen, und daß ſie ſeine
Bekanntſchaft gewünſcht habe.


Wie gern glaubte Wilhelm das alles!
wie gern ließ er ſich überreden, daß ſie zu
ihm, als er ſich ihr genähert, durch einen
unwiderſtehlichen Zug hingeführt worden,
daß ſie abſichtlich zwiſchen die Couliſſen ne¬
ben ihn getreten ſey, um ihn näher zu ſehen,
und Bekanntſchaft mit ihm zu machen, und
daß ſie zuletzt, da ſeine Zurückhaltung und
Blödigkeit nicht zu überwinden geweſen, ihm
ſelbſt Gelegenheit gegeben, und ihn gleichſam
genöthigt habe, ein Glas Limonade herbey¬
zuholen.


[151]

Unter dieſem liebevollen Wettſtreit, den
ſie durch alle kleine Umſtände ihres kurzen
Romans verfolgten, vergingen ihnen die
Stunden ſehr ſchnell, und Wilhelm verließ
völlig beruhigt ſeine Geliebte, mit dem feſten
Vorſatze, ſein Vorhaben unverzüglich ins
Werk zu richten.


[152]

Sechszehntes Capitel.

Was zu ſeiner Abreiſe nöthig war, hatten
Vater und Mutter beſorgt, nur einige Klei¬
nigkeiten, die an der Equipage fehlten, ver¬
zögerten ſeinen Aufbruch um einige Tage.
Wilhelm benutzte dieſe Zeit, um an Maria¬
nen einen Brief zu ſchreiben, wodurch er die
Angelegenheit endlich zur Sprache bringen
wollte, über welche ſie ſich mit ihm zu un¬
terhalten bisher immer vermieden hatte.
Folgendermaßen lautete der Brief:


„Unter der lieben Hülle der Nacht, die
mich ſonſt in deinen Armen bedeckte, ſitze
ich und denke und ſchreibe an dich, und
was ich ſinne und treibe, iſt nur um dei¬
netwillen. O Mariane! mir, dem glück¬
lichſten unter den Männern, iſt es wie
[153] einem Bräutigam, der ahndungsvoll, welch’
eine neue Welt ſich in ihm und durch ihn
entwickeln wird, auf den feſtlichen Teppi¬
chen ſteht, und, während der heiligen Ze¬
remonien, ſich gedankenvoll lüſtern vor die
geheimnißreichen Vorhänge verſetzt, woher
ihm die Lieblichkeit der Liebe entgegen ſäu¬
ſelt.


Ich habe über mich gewonnen, dich in
einigen Tagen nicht zu ſehen, es war leicht
in Hoffnung einer ſolchen Entſchädigung,
ewig mit dir zu ſeyn, ganz der deinige zu
bleiben! Soll ich wiederholen was ich
wünſche? und doch iſt es nöthig; denn es
ſcheint, als habeſt du mich bisher nicht
verſtanden.


Wie oft habe ich mit leiſen Tönen der
Treue, die, weil ſie alles zu halten wünſcht,
wenig zu ſagen wagt, an deinem Herzen
geforſcht nach dem Verlangen einer ewi¬
[154] gen Verbindung, Verſtanden haſt du mich
gewiß, denn in deinem Herzen muß eben
der Wunſch keimen; vernommen haſt du
mich in jedem Kuſſe, in der anſchmiegen¬
den Ruhe jener glücklichen Abende. Da
lernt ich deine Beſcheidenheit kennen, und
wie vermehrte ſich meine Liebe! Wo eine
andere ſich künſtlich betragen hätte, um
durch überflüſſigen Sonnenſchein einen
Entſchluß in dem Herzen ihres Liebhabers
zur Reife zu bringen, eine Erklärung her¬
vor zu locken, und ein Verſprechen zu be¬
feſtigen, eben da ziehſt du dich zurück,
ſchließeſt die halbgeöffnete Bruſt deines
Geliebten wieder zu, und ſuchſt durch eine
anſcheinende Gleichgültigkeit deine Bey¬
ſtimmung zu verbergen; aber ich verſtehe
dich! Welch ein Elender müßte ich ſeyn,
wenn ich an dieſen Zeichen die reine, un¬
eigennützige, nur für den Freund beſorgte
[155] Liebe nicht erkennen wollte! Vertraue mir
und ſey ruhig. Wir gehören einander an,
und keins von beiden verläßt oder ver¬
liert etwas, wenn wir für einander
leben.


Nimm ſie hin, dieſe Hand! feyerlich
noch dieß überflüſſige Zeichen. Alle Freu¬
den der Liebe haben wir empfunden, aber
es ſind neue Seligkeiten in dem beſtätig¬
ten Gedanken der Dauer. Frage nicht
wie? Sorge nicht! Das Schickſal ſorgt
für die Liebe, und um ſo gewiſſer, da Lie¬
be genügſam iſt.


Mein Herz hat ſchon lange meiner
Eltern Haus verlaſſen, es iſt bey dir, wie
mein Geiſt auf der Bühne ſchwebt. O
meine Geliebte! iſt wohl einem Menſchen
ſo gewährt, ſeine Wünſche zu verbinden,
wie mir? Kein Schlaf kömmt in meine
Augen, und wie eine ewige Morgenröthe
[156] ſteigt deine Liebe und dein Glück vor mir
auf und ab.


Kaum daß ich mich halte, nicht auffah¬
re, zu dir hinrenne und mir deine Einwil¬
ligung erzwinge, und gleich morgen frühe
weiter in die Welt nach meinem Ziele hin¬
ſtrebe. — Nein, ich will mich bezwingen!
ich will nicht unbeſonnen thörigte, verwe¬
gene Schritte thun; mein Plan iſt entwor¬
fen, und ich will ihn ruhig ausführen.


Ich bin mit Director Serlo bekannt,
meine Reiſe geht gerade zu ihm, er hat
vor einem Jahre oft ſeinen Leuten etwas
von meiner Lebhaftigkeit und Freude am
Theater gewünſcht, und ich werde ihm ge¬
wiß willkommen ſeyn; denn bey eurer
Truppe möchte ich aus mehr als einer Ur¬
ſache nicht eintreten, auch ſpielt Serlo ſo
weit von hier, daß ich anfangs meinen
Schritt verbergen kann. Einen leidlichen
[157] Unterhalt finde ich da gleich, ich ſehe mich
in dem Publiko um, lerne die Geſellſchaft
kennen, und hole dich nach.


Mariane du ſiehſt, was ich über mich
gewinnen kann, um dich gewiß zu haben;
denn dich ſo lange nicht zu ſehen, dich in
der weiten Welt zu wiſſen! recht lebhaft
darf ich mir’s nicht denken. Wenn ich
mir dann aber wieder deine Liebe vorſtelle,
die mich vor allem ſichert, wenn du meine
Bitte nicht verſchmähſt, ehe wir uns ſchei¬
den, und du mir deine Hand vor dem
Prieſter reichſt; ſo werde ich ruhig gehen.
Es iſt nur eine Formel unter uns, aber
eine ſo ſchöne Formel, der Seegen des
Himmels zu dem Seegen der Erde. In
der Nachbarſchaft, im ritterſchaftlichen,
geht es leicht und heimlich an.


Für den Anfang habe ich Geld genug,
wir wollen theilen, es wird für uns beide
[158] hinreichen; ehe das verzehrt iſt, wird der
Himmel weiter helfen.


Ja, Liebſte, es iſt mir gar nicht bange.
Was mit ſo viel Fröhlichkeit begonnen
wird, muß ein glückliches Ende erreichen.
Ich habe nie gezweifelt, daß man ſein
Fortkommen in der Welt finden könne,
wenn es einem Ernſt iſt, und ich fühle
Muth genug für zwey, ja für mehrere
einen reichlichen Unterhalt zu gewinnen.
Die Welt iſt undankbar, ſagen viele, ich
habe noch nicht gefunden, daß ſie undank¬
bar ſey, wenn man auf die rechte Art et¬
was für ſie zu thun weiß. Mir glüht die
ganze Seele bey dem Gedanken, endlich
einmal aufzutreten und den Menſchen in
das Herz hinein zu reden, was ſie ſich ſo
lange zu hören ſehnen. Wie tauſendmal
iſt es freylich mir, der ich von der Herr¬
lichkeit des Theaters ſo eingenommen bin,
[159] bang durch die Seele gegangen, wenn ich
die elendeſten geſehen habe ſich einbilden,
ſie könnten uns ein großes treffliches Wort
ans Herz reden. Ein Ton, der durch die
Fiſtel gezwungen wird, klingt viel beſſer
und reiner; es iſt unerhört, wie ſich dieſe
Burſche in ihrer groben Ungeſchicklichkeit
verſündigen.


Das Theater hat oft einen Streit mit
der Kanzel gehabt, ſie ſollten, dünkt mich,
nicht mit einander hadern. Wie ſehr wäre
zu wünſchen, daß an beiden Orten nur
durch edle Menſchen Gott und Natur ver¬
herrlicht würden! Es ſind keine Träume,
meine Liebſte. Wie ich an deinem Herzen
habe fühlen können, daß du in Liebe biſt;
ſo ergreife ich auch den glänzenden Ge¬
danken und ſage — ich wills nicht ausſa¬
gen, aber hoffen will ich, daß wir einſt
als ein Paar gute Geiſter den Menſchen
[160] erſcheinen werden, ihre Herzen aufzuſchlieſ¬
ſen, ihre Gemüther zu berühren, und ihnen
himmliſche Genüſſe zu bereiten, ſo gewiß
mir an deinem Buſen Freuden gewährt
waren, die immer himmliſch genennt wer¬
den müſſen, weil wir uns in jenen Augen¬
blicken aus uns ſelbſt gerückt, über uns
ſelbſt erhaben fühlen.


Ich kann nicht ſchließen, ich habe ſchon
zu viel geſagt, und weiß nicht, ob ich dir
ſchon alles geſagt habe, alles was dich
angeht; denn die Bewegung des Rades,
das ſich in meinem Herzen dreht, ſind kei¬
ne Worte vermögend auszudrücken.


Nimm dieſes Blatt indeß, meine Liebe,
ich habe es wieder durchgeleſen und finde,
daß ich von vorne anfangen ſollte, doch
enthält es alles, was du zu wiſſen nöthig
haſt, was dir Vorbereitung iſt, wenn ich
bald mit Fröhlichkeit der ſüßen Liebe an
dei¬[161] deinen Buſen zurückkehre. Ich komme
mir vor wie ein Gefangener, der in einem
Kerker lauſchend ſeine Feſſeln abfeilt; ich
ſage gute Nacht meinen ſorglos ſchlafen¬
den Eltern. — Lebe wohl, Geliebte! Lebe
wohl! Für dießmal ſchließ ich; die Augen
ſind mir zwey, dreymal zugefallen, es iſt
ſchon tief in der Nacht.»

W. Meiſters Lehrj. L[162]

Siebzehntes Capitel.

Der Tag wollte nicht endigen, als Wilhelm,
ſeinen Brief ſchön gefaltet in der Taſche, ſich
zu Marianen hinſehnte, auch war es kaum
düſter geworden, als er ſich wider ſeine Ge¬
wohnheit nach ihrer Wohnung hinſchlich.
Sein Plan war: ſich auf die Nacht anzu¬
melden, ſeine Geliebte auf kurze Zeit wieder
zu verlaſſen, ihr, eh’ er wegginge, den Brief
in die Hand zu drücken, und bey ſeiner Rück¬
kehr in tiefer Nacht ihre Antwort, ihre Ein¬
willigung zu erhalten, oder durch die Macht
ſeiner Liebkoſungen zu erzwingen. Er flog
in ihre Arme, und konnte ſich an ihrem Bu¬
ſen kaum wieder faſſen. Die Lebhaftigkeit
ſeiner Empfindungen verbarg ihm anfangs,
daß ſie nicht wie ſonſt mit Herzlichkeit ant¬
[163] wortete; doch konnte ſie einen ängſtlichen
Zuſtand nicht lange verbergen, ſie ſchützte
eine Krankheit, eine Unpäßlichkeit vor, ſie
beklagte ſich über Kopfweh, ſie wollte ſich
auf den Vorſchlag, daß er heute Nacht wie¬
der kommen wolle, nicht einlaſſen. Er ahn¬
dete nichts Böſes, drang nicht weiter in ſie;
fühlte aber, daß es nicht die Stunde ſey,
ihr ſeinen Brief zu übergeben. Er behielt
ihn bey ſich, und da verſchiedene ihrer Be¬
wegungen und Reden ihn auf eine höfliche
Weiſe wegzugehen nöthigten, ergriff er im
Taumel ſeiner ungenügſamen Liebe eines
ihrer Halstücher, ſteckte es in die Taſche, und
verließ wider Willen ihre Lippen und ihre
Thüre. Er ſchlich nach Hauſe, konnte aber
auch da nicht lange bleiben, kleidete ſich um,
und ſuchte wieder die freye Luft.


Als er einige Straßen auf und abgegan¬
gen war, begegnete ihm ein Unbekannter, der
L 2[164] nach einen gewiſſen Gaſthofe fragte; Wil¬
helm erbot ſich, ihm das Haus zu zeigen;
der Fremde erkundigte ſich nach dem Nah¬
men der Straße, nach den Beſitzern verſchie¬
dener großer Gebäude, vor denen ſie vorbey
gingen, ſodann nach einigen Polizey–Ein¬
richtungen der Stadt, und ſie waren in ei¬
nem ganz intereſſanten Geſpräche begriffen,
als ſie am Thore des Wirthshauſes anka¬
men. Der Fremde nöthigte ſeinen Führer
hinein zu treten, und ein Glas Punſch mit
ihm zu trinken, zugleich gab er ſeinen Nah¬
men an und ſeinen Geburtsort, auch die Ge¬
ſchäfte, die ihn hierher gebracht hätten, und
erſuchte Wilhelmen um ein gleiches Ver¬
trauen. Dieſer verſchwieg eben ſo wenig ſei¬
nen Nahmen, als ſeine Wohnung.


Sind Sie nicht ein Enkel des alten Mei¬
ſters, der die ſchöne Kunſtſammlung beſaß?
fragte der Fremde.


[165]

Ja, ich bins, ich war zehn Jahre als der
Großvater ſtarb, und es ſchmerzte mich leb¬
haft, die ſchönen Sachen verkaufen zu ſehen.


Ihr Vater hat eine große Summe Gel¬
des dafür erhalten.


Sie wiſſen alſo davon?


O ja, ich habe dieſen Schatz noch in Ih¬
rem Hauſe geſehen. Ihr Großvater war
nicht blos ein Sammler, er verſtand ſich auf
die Kunſt, er war in einer frühern glückli¬
chen Zeit in Italien geweſen, und hatte
Schätze von dort mit zurück gebracht, welche
jetzt um keinen Preis mehr zu haben wären.
Er beſaß treffliche Gemählde von den beſten
Meiſtern, man traute kaum ſeinen Augen,
wenn man ſeine Handzeichnungen durchſah;
unter ſeinen Marmorn waren einige un¬
ſchätzbare Fragmente; von Bronzen beſaß er
eine ſehr inſtructive Suite; ſo hatte er auch
ſeine Münzen für Kunſt und Geſchichte zweck¬
[166] mäßig geſammelt, ſeine wenigen geſchnitte¬
nen Steine verdienten alles Lob; auch war
das Ganze gut aufgeſtellt, wenn gleich die
Zimmer und Säle des alten Hauſes nicht
ſymmetriſch gebaut waren.


Sie können denken, was wir Kinder ver¬
loren, als alle die Sachen herunter genom¬
men und eingepackt wurden. Es waren die
erſten traurigen Zeiten meines Lebens. Ich
weiß noch, wie leer uns die Zimmer vorka¬
men, als wir die Gegenſtände nach und nach
verſchwinden ſahen, die uns von Jugend auf
unterhalten hatten, und die wir eben ſo un¬
veränderlich hielten, als das Haus und die
Stadt ſelbſt.


Wenn ich nicht irre, ſo gab Ihr Vater
das gelöſte Capital in die Handlung eines
Nachbars, mit dem er eine Art Geſellſchafts-
Handel einging?


Ganz richtig! und ihre geſellſchaftlichen
[167] Speculationen ſind ihnen wohl geglückt; ſie
haben in dieſen zwölf Jahren ihr Vermögen
ſehr vermehrt, und ſind beide nur deſto hef¬
tiger auf den Erwerb geſtellt; auch hat der
alte Werner einen Sohn, der ſich viel beſſer
zu dieſem Handwerke ſchickt, als ich.


Es thut mir leid, daß dieſer Ort eine
ſolche Zierde verloren hat, als das Cabinet
Ihres Großvaters war. Ich ſah es noch
kurz vorher, ehe es verkauft wurde, und ich
darf wohl ſagen, ich war Urſache, daß der
Kauf zu Stande kam. Ein reicher Edel¬
mann, ein großer Liebhaber, der aber bey ſo
einem wichtigen Handel ſich nicht allein auf
ſein eigen Urtheil verließ, hatte mich hierher
geſchickt, und verlangte meinen Rath. Sechs
Tage beſah ich das Cabinet, und am ſieben¬
ten rieth ich meinem Freunde, die ganze ge¬
forderte Summe ohne Anſtand zu bezahlen.
Sie waren als ein munterer Knabe oft um
[168] mich herum; Sie erklärten mir die Gegen¬
ſtände der Gemählde, und wußten überhaupt
das Cabinet recht gut auszulegen.


Ich erinnere mich einer ſolchen Perſon,
aber in Ihnen hätte ich ſie nicht wieder er¬
kannt.


Es iſt auch ſchon eine Zeit, in der wir
uns mehr oder weniger verändern. Sie hat¬
ten, wenn ich mich recht erinnere, ein Lieb¬
lings-Bild darunter, von dem Sie mich gar
nicht weglaſſen wollten.


Ganz richtig, es ſtellte die Geſchichte vor,
wie der kranke Königsſohn ſich über die
Braut ſeines Vaters in Liebe verzehrt.


Es war eben nicht das beſte Gemählde,
nicht gut zuſammengeſetzt, von keiner ſonder¬
lichen Farbe, und die Ausführung durchaus
manierirt.


Das verſtand ich nicht, und verſteh es
noch nicht; der Gegenſtand iſt es, der
[169] mich an einem Gemählde reizt, nicht die
Kunſt.


Da ſchien Ihr Großvater anders zu den¬
ken; denn der größte Theil ſeiner Samm¬
lung beſtand aus trefflichen Sachen, in denen
man immer das Verdienſt ihres Meiſters be¬
wunderte, ſie mochten vorſtellen was ſie woll¬
ten; auch hing dieſes Bild in dem äuſſerſten
Vorſaale, zum Zeichen, daß er es wenig
ſchätzte.


Da war es eben, wo wir Kinder immer
ſpielen durften, und wo dieſes Bild einen
unauslöſchlichen Eindruck auf mich machte,
den mir ſelbſt Ihre Kritik, die ich übrigens
verehre, nicht auslöſchen könnte, wenn wir
auch jetzt vor dem Bilde ſtünden. Wie jam¬
merte mich, wie jammert mich noch ein Jüng¬
ling, der die ſüßen Triebe, das ſchönſte Erb¬
theil, das uns die Natur gab, in ſich ver¬
ſchließen, und das Feuer, das ihn und ande¬
[170] re erwärmen und beleben ſollte, in ſeinem
Buſen verbergen muß, ſo daß ſein Innerſtes
unter ungeheuren Schmerzen verzehrt wird.
Wie bedaure ich die Unglückliche, die ſich
einem andern widmen ſoll, wenn ihr Herz
ſchon den würdigen Gegenſtand eines wah¬
ren und reinen Verlangens gefunden hat.


Dieſe Gefühle ſind freylich ſehr weit von
jenen Betrachtungen entfernt, unter denen
ein Kunſtliebhaber die Werke großer Meiſter
anzuſehen pflegt; wahrſcheinlich würde Ihnen
aber, wenn das Cabinet ein Eigenthum Ih¬
res Hauſes geblieben wäre, nach und nach
der Sinn für die Werke ſelbſt aufgegangen
ſeyn, ſo daß Sie nicht immer nur ſich ſelbſt
und Ihre Neigung in den Kunſtwerken geſe¬
hen hätten.


Gewiß that mir der Verkauf des Cabi¬
nettes gleich ſehr leid, und ich habe es auch
in reifern Jahren öfters vermißt; wenn ich
[171] aber bedenke, daß es gleichſam ſo ſeyn mu߬
te, um eine Liebhaberey, um ein Talent in
mir zu entwickeln, die weit mehr auf mein
Leben wirken ſollten, als jene lebloſen Bil¬
der je gethan hätten; ſo beſcheide ich mich
denn gern, und verehre das Schickſal das
mein Beſtes und eines jeden Beſtes einzulei¬
ten weiß.


Leider höre ich ſchon wieder das Wort
Schickſal von einem jungen Manne ausſpre¬
chen, der ſich eben in einem Alter befindet,
wo man gewöhnlich ſeinen lebhaften Neigun¬
gen den Willen höherer Weſen unterzuſchie¬
ben pflegt.


So glauben Sie kein Schickſal? Keine
Macht, die über uns waltet, und alles zu
unſerm Beſten lenkt?


Es iſt hier die Rede nicht von meinem
Glauben, noch der Ort auszulegen, wie ich
mir Dinge, die uns allen unbegreiflich ſind,
[172] einigermaßen denkbar zu machen ſuche; hier
iſt nur die Frage, welche Vorſtellungsart zu
unſerm Beſten gereicht. Das Gewebe dieſer
Welt iſt aus Nothwendigkeit und Zufall ge¬
bildet, die Vernunft des Menſchen ſtellt ſich
zwiſchen beide, und weiß ſie zu beherrſchen,
ſie behandelt das Nothwendige als den
Grund ihres Daſeyns, das Zufällige weiß ſie
zu lenken, zu leiten und zu nutzen, und nur,
indem ſie feſt und unerſchütterlich ſteht, ver¬
dient der Menſch ein Gott der Erde genannt
zu werden. Wehe dem, der ſich von Jugend
auf gewöhnt, in dem Nothwendigen etwas
Willkürliches finden zu wollen, der dem Zu¬
fälligen eine Art von Vernunft zuſchreiben
möchte, welcher zu folgen ſogar eine Religion
ſey. Heißt das etwas weiter, als ſeinem
eignem Verſtande entſagen, und ſeinen Nei¬
gungen unbedingten Raum geben? Wir bil¬
den uns ein, fromm zu ſeyn, indem wir ohne
[173] Überlegung hinſchlendern, uns durch ange¬
nehme Zufälle determiniren laſſen, und end¬
lich dem Reſultate eines ſolchen ſchwanken¬
den Lebens den Nahmen einer göttlichen
Führung geben.


Waren Sie niemals in dem Falle, daß
ein kleiner Umſtand Sie veranlaßte, einen
gewiſſen Weg einzuſchlagen, auf welchem
bald eine gefällige Gelegenheit Ihnen entge¬
gen kam, und eine Reihe von unerwarteten
Vorfällen Sie endlich ans Ziel brachte, das
Sie ſelbſt noch kaum ins Auge gefaßt hat¬
ten? Sollte das nicht Ergebenheit in das
Schickſal, Zutrauen zu einer ſolchen Leitung
einflößen? —


Mit dieſen Geſinnungen könnte kein
Mädchen ihre Tugend, niemand ſein Geld
im Beutel behalten; denn es giebt Anläſſe
genug, beides los zu werden. Ich kann mich
nur über den Menſchen freuen, der weiß,
[174] was ihm und andern nütze iſt, und ſeine
Willkür zu beſchränken arbeitet. Jeder hat
ſein eigen Glück unter den Händen, wie der
Künſtler eine rohe Materie, die er zu einer
Geſtalt umbilden will. Aber es iſt mit die¬
ſer Kunſt wie mit allen, nur die Fähigkeit
dazu wird uns angeboren, ſie will gelernt
und ſorgfältig ausgeübt ſeyn.


Dieſes und mehreres wurde noch unter
ihnen abgehandelt; endlich trennten ſie ſich,
ohne daß ſie einander ſonderlich überzeugt zu
haben ſchienen, doch beſtimmten ſie auf den
folgenden Tag einen Ort der Zuſammenkunft.


Wilhelm ging noch einige Straßen auf
und nieder; er hörte Clarinetten, Waldhörner
und Fagotte, es ſchwoll ſein Buſen. Durch¬
reiſende Spielleute machten eine angenehme
Nachtmuſik. Er ſprach mit ihnen, und um
ein Stück Geld folgten ſie ihm zu Maria¬
nens Wohnung. Hohe Bäume zierten den
[175] Platz vor ihrem Hauſe, darunter ſtellte er
ſeine Sänger, er ſelbſt ruhte auf einer Bank
in einiger Entfernung, und überließ ſich ganz
den ſchwebenden Tönen, die in der labenden
Nacht um ihn ſäuſelten. Unter den holden
Sternen hingeſtreckt war ihm ſein Daſeyn
wie ein goldner Traum. — Sie hört auch
dieſe Flöten, ſagte er in ſeinem Herzen; ſie
fühlt, weſſen Andenken, weſſen Liebe die
Nacht wohlklingend macht, auch in der Ent¬
fernung ſind wir durch dieſe Melodien zu¬
ſammen gebunden, wie in jeder Entfernung
durch die feinſte Stimmung der Liebe. Ach
zwey liebende Herzen, ſie ſind wie zwey
Magnetuhren, was in der einen ſich regt,
muß auch die andere mit bewegen, denn es
iſt nur Eins, was in beiden wirkt, Eine
Kraft, die ſie durchgeht. Kann ich in ihren
Armen eine Möglichkeit fühlen, mich von ihr
zu trennen? und doch, ich werde fern von
[176] ihr ſeyn, werde einen Heilort für unſere Liebe
ſuchen, und werde ſie immer mit mir haben.


Wie oft iſt mirs geſchehen, daß ich ab¬
weſend von ihr, in Gedanken an ſie verlo¬
ren, ein Buch, ein Kleid oder ſonſt etwas
berührte, und glaubte ihre Hand zu fühlen,
ſo ganz war ich mit ihrer Gegenwart um¬
kleidet. Und jener Augenblicke mich zu erin¬
nern, die das Licht des Tages wie das Auge
des kalten Zuſchauers fliehen, die zu genieſ¬
ſen Götter den ſchmerzloſen Zuſtand der rei¬
nen Seligkeit zu verlaſſen ſich entſchließen
dürften. — Mich zu erinnern? — Als wenn
man den Rauſch des Taumelkelchs in der
Erinnerung erneuern könnte, der unſere Sin¬
ne an himmliſchen Stricken gebunden aus
aller ihrer Faſſung reißt. — Und ihre Ge¬
ſtalt — — Er verlor ſich im Andenken an
ſie, ſeine Ruhe ging in Verlangen über, er
umfaßte einen Baum, kühlte ſeine heiße
Wan¬[177] Wange an der Rinde, und die Winde der
Nacht ſaugten begierig den Hauch auf, der
aus dem reinen Buſen bewegt hervordrang.
Er fühlte nach dem Halstuch, das er von
ihr mitgenommen hatte, es war vergeſſen, es
ſteckte im vorigen Kleide. Seine Lippen lechz¬
ten, ſeine Glieder zitterten vor Verlangen.


Die Muſik hörte auf, und es war ihm,
als wär’ er aus dem Elemente gefallen, in
dem ſeine Empfindungen bisher empor getra¬
gen wurden. Seine Unruhe vermehrte ſich,
da ſeine Gefühle nicht mehr von den ſanften
Tönen genährt und gelindert wurden. Er
ſetzte ſich auf ihre Schwelle nieder, und war
ſchon mehr beruhigt. Er küßte den meſſin¬
genen Ring, womit man an ihre Thüre
pochte, er küßte die Schwelle, über die ihre
Füße aus und ein gingen, und erwärmte ſie
durch das Feuer ſeiner Bruſt. Dann ſaß er
wieder eine Weile ſtille, und dachte ſie hin¬
W. Meiſters Lehrj. M[178] ter ihren Vorhängen, im weißen Nachtkleide
mit dem rothen Band um den Kopf in ſüßer
Ruhe, und dachte ſich ſelbſt ſo nahe zu ihr
hin, daß ihm vorkam, ſie müßte nun von ihm
träumen. Seine Gedanken waren lieblich,
wie die Geiſter der Dämmerung; Ruhe und
Verlangen wechſelten in ihm, die Liebe lief
mit ſchaudernder Hand tauſendfältig über
alle Saiten ſeiner Seele, es war, als wenn
der Geſang der Sphären über ihm ſtille
ſtünde, um die leiſen Melodien ſeines Her¬
zens zu belauſchen.


Hätte er den Hauptſchlüſſel bey ſich ge¬
habt, der ihm ſonſt Marianens Thüre öffne¬
te, er würde ſich nicht gehalten haben, wür¬
de ins Heiligthum der Liebe eingedrungen ſeyn.
Doch er entfernte ſich langſam, ſchwankte
halb träumend unter den Bäumen hin, woll¬
te nach Hauſe, und ward immer wieder um¬
gewendet; endlich als er’s über ſich vermoch¬
[179] te, ging, und an der Ecke noch einmal zurück
ſah, kam es ihm vor, als wenn Marianens
Thüre ſich öffnete, und eine dunkle Geſtalt
ſich heraus bewegte. Er war zu weit, um
deutlich zu ſehen, und eh er ſich faßte und
recht aufſah, hatte ſich die Erſcheinung ſchon
in der Nacht verloren, nur ganz weit glaub¬
te er ſie wieder an einem weißen Hauſe vor¬
bey ſtreifen zu ſehen. Er ſtund und blinzte,
und ehe er ſich ermannte und nacheilte, war
das Phantom verſchwunden. Wohin ſollt’
er ihm folgen? Welche Straße hatte den
Menſchen aufgenommen, wenn es einer war?


Wie einer, dem der Blitz die Gegend in
einem Winkel erhellte, gleich darauf mit ge¬
blendeten Augen die vorigen Geſtalten, den
Zuſammenhang der Pfade in der Finſterniß
vergebens ſucht, ſo war’s vor ſeinen Augen,
ſo war’s in ſeinem Herzen. Und wie ein
Geſpenſt der Mitternacht, das ungeheure
M 2[180] Schrecken erzeugt, in folgenden Augenblicken
der Faſſung für ein Kind des Schreckens ge¬
halten wird, und die fürchterliche Erſcheinung
Zweifel ohne Ende in der Seele zurück läßt;
ſo war auch Wilhelm in der größten Un¬
ruhe, als er an einen Eckſtein gelehnt, die
Helle des Morgens und das Geſchrey der
Hähne nicht achtete, bis die frühen Gewer¬
be lebendig zu werden anfingen, und ihn
nach Hauſe trieben.


Er hatte, wie er zurück kam, das uner¬
wartete Blendwerk mit den triftigſten Grün¬
den beynahe aus der Seele vertrieben; doch
die ſchöne Stimmung der Nacht, an die er
jetzt auch nur wie an eine Erſcheinung zu¬
rück dachte, war auch dahin. Sein Herz zu
letzen, ein Siegel ſeinem wiederkehrenden
Glauben aufzudrücken, nahm er das Hals¬
tuch aus der vorigen Taſche. Das Rauſchen
eines Zettels, der herausfiel, zog ihm das
[181] Tuch von den Lippen; er hob auf und
las:


»So hab ich dich lieb, kleiner Narre,
was war dir auch geſtern? Heute Nacht
komm ich zu dir. Ich glaube wohl, daß
dir’s leid thut, von hier wegzugehen; aber
habe Geduld, auf die Meſſe komm ich dir
nach. Höre, thu mir nicht wieder die
ſchwarz–grün–braune Jacke an, du ſiehſt
drin aus wie die Hexe von Endor. Hab’
ich dir nicht das weiße Neglige darum ge¬
ſchickt, daß ich ein weißes Schäfchen in
meinen Armen haben will. Schick mir
deine Zettel immer durch die alte Sibylle,
die hat der Teufel ſelbſt zur Iris beſtellt.»

[[182]][[183]]

Wilhelm Meiſters
Lehrjahre
.

Zweytes Buch.

[[184]][[185]]

Erſtes Capitel.

Jeder, der, mit lebhaften Kräften, vor un¬
ſern Augen, eine Abſicht zu erreichen ſtrebt,
kann, wir mögen ſeinen Zweck loben oder
tadeln, ſich unſre Theilnahme verſprechen;
ſobald über die Sache entſchieden iſt, wen¬
den wir unſer Auge ſogleich von ihm weg;
alles was geendigt, was abgethan da liegt,
kann unſre Aufmerkſamkeit keineswegs feſ¬
ſeln, beſonders wenn wir ſchon frühe der Un¬
ternehmung einen übeln Ausgang prophe¬
zeiht haben.


Deswegen ſollen unſre Leſer nicht um¬
ſtändlich mit dem Jammer und der Noth
unſers verunglückten Freundes unterhalten
[186] werden, die ihn befielen, als er ſeine Hoff¬
nungen und Wünſche, auf eine ſo unerwar¬
tete Weiſe, zerſtört ſah. Wir überſpringen
vielmehr einige Jahre, und ſuchen ihn erſt
da wieder auf, wo wir ihn in einer Art von
Thätigkeit und Genuß zu finden hoffen,
wenn wir vorher nur kürzlich ſo viel, als
zum Zuſammenhang der Geſchichte nöthig iſt,
vorgetragen haben.


Die Peſt, oder ein böſes Fieber raſen in
einem geſunden, vollſaftigen Körper, den ſie
anfallen, ſchneller und heftiger, und ſo ward
der arme Wilhelm unvermuthet von einem
unglücklichen Schickſale überwältigt, daß in
Einem Augenblicke ſein ganzes Weſen zer¬
rüttet war. Wie wenn von ohngefähr unter
der Zurüſtung ein Feuerwerk in Brand ge¬
räth, und die künſtlich gebohrten und gefüll¬
ten Hülſen, die, nach einem gewiſſen Plane
geordnet und abgebrannt, prächtig abwech¬
[187] ſelnde Feuer-Bilder in die Luft zeichnen ſoll¬
ten, nunmehr unordentlich und gefährlich
durch einander ziſchen und ſauſen; ſo gingen
auch jetzt in ſeinem Buſen Glück und Hoff¬
nung, Wolluſt und Freuden, Wirkliches und
Geträumtes auf einmal ſcheiternd durch ein¬
ander. In ſolchen wüſten Augenblicken er¬
ſtarrt der Freund, der zur Rettung hinzu
eilt, und dem, den es trift, iſt es eine Wohl¬
that, daß ihn die Sinne verlaſſen.


Tage des lauten, ewig wiederkehrenden
und mit Vorſatz erneuerten Schmerzens folg¬
ten darauf; doch ſind auch dieſe für eine
Gnade der Natur zu achten. In ſolchen
Stunden hatte Wilhelm ſeine Geliebte noch
nicht ganz verloren; ſeine Schmerzen waren
unermüdet erneuerte Verſuche, das Glück, das
ihm aus der Seele entfloh, noch feſt zu hal¬
ten, die Möglichkeit deſſelben in der Vor¬
ſtellung wieder zu erhaſchen, ſeinen auf im¬
[188] mer abgeſchiedenen Freuden ein kurzes Nach¬
leben zu verſchaffen. Wie man einen Kör¬
per, ſo lange die Verweſung dauert, nicht
ganz todt nennen kann, ſo lange die Kräfte,
die vergebens nach ihren alten Beſtimmun¬
gen zu wirken ſuchen, an der Zerſtörung
der Theile, die ſie ſonſt belebten, ſich abar¬
beiten; nur dann, wenn ſich alles an einan¬
der aufgerieben hat, wenn wir das Ganze
in gleichgültigen Staub zerlegt ſehen, dann
entſteht in uns das erbärmliche, leere Ge¬
fühl des Todes, nur durch den Athem des
Ewiglebenden zu erquicken.


In einem ſo neuen, ganzen, lieblichen
Gemüthe war viel zu zerreiſſen, zu zer¬
ſtören, zu ertödten, und die ſchnellheilende
Kraft der Jugend gab ſelbſt der Gewalt des
Schmerzens neue Nahrung und Heftigkeit.
Der Streich hatte ſein ganzes Daſeyn an
der Wurzel getroffen. Werner, aus Noth
[189] ſein Vertrauter, griff voll Eifer zu Feuer
und Schwert, um einer verhaßten Leiden¬
ſchaft, dem Ungeheuer, ins innerſte Leben zu
dringen. Die Gelegenheit war ſo glücklich,
das Zeugniß ſo bey der Hand, und wieviel
Geſchichten und Erzählungen wußt’ er nicht
zu nutzen. Er trieb’s mit ſolcher Heftigkeit
und Grauſamkeit Schritt vor Schritt, ließ
dem Freunde nicht das Labſal des mindeſten
augenblicklichen Betruges, vertrat ihm jeden
Schlupfwinkel, in welchen er ſich vor der
Verzweiflung hätte retten können, daß die
Natur, die ihren Liebling nicht wollte zu
Grunde gehen laſſen, ihn mit Krankheit an¬
fiel, um ihm von der andern Seite Luft zu
machen.


Ein lebhaftes Fieber mit ſeinem Gefolge,
den Arzeneyen, der Überſpannung und der
Mattigkeit; dabey die Bemühungen der Fa¬
milie, die Liebe der Mitgebohrnen, die durch
[190] Mangel und Bedürfniſſe ſich erſt recht fühl¬
bar macht, waren ſo viele Zerſtreuungen ei¬
nes veränderten Zuſtandes, und eine küm¬
merliche Unterhaltung. Erſt als er wieder
beſſer wurde, das heißt, als ſeine Kräfte er¬
ſchöpft waren, ſah Wilhelm, mit Entſetzen,
in den qualvollen Abgrund eines dürren
Elendes hinab, wie man in den ausgebrann¬
ten hohlen Becher eines Vulkans hinunter
blickt.


Nunmehr machte er ſich ſelbſt die bitter¬
ſten Vorwürfe, daß er, nach ſo großem Ver¬
luſt, noch einen ſchmerzloſen, ruhigen, gleich¬
gültigen Augenblick haben könne. Er ver¬
achtete ſein eigen Herz, und ſehnte ſich nach
dem Labſal des Jammers und der Thränen.


Um dieſe wieder in ſich zu erwecken,
brachte er vor ſein Andenken alle Scenen
des vergangnen Glücks. Mit der größten
Lebhaftigkeit mahlte er ſie ſich aus, ſtrebte
[191] wieder in ſie hinein, und wenn er ſich zur
möglichſten Höhe hinauf gearbeitet hatte,
wenn ihm der Sonnenſchein voriger Tage
wieder die Glieder zu beleben, den Buſen
zu heben ſchien, ſah er rückwärts auf den
ſchrecklichen Abgrund, labte ſein Auge an der
zerſchmetternden Tiefe, warf ſich hinunter,
und erzwang von der Natur die bitterſten
Schmerzen. Mit ſo wiederholter Grauſam¬
keit zerriß er ſich ſelbſt, denn die Jugend,
die ſo reich an eingehüllten Kräften iſt, weiß
nicht, was ſie verſchleudert, wenn ſie dem
Schmerz, den ein Verluſt erregt, noch ſo vie¬
le erzwungene Leiden zugeſellt, als wollte ſie
dem Verlornen dadurch noch erſt einen rech¬
ten Werth geben. Auch war er ſo über¬
zeugt, daß dieſer Verluſt der Einzige, der
erſte und letzte ſey, den er in ſeinem Leben
empfinden könne, daß er jeden Troſt verab¬
ſcheute, der ihm dieſe Leiden als endlich vor¬
zuſtellen unternahm.

[192]

Zweytes Capitel.

Gewöhnt, auf dieſe Weiſe ſich ſelbſt zu quä¬
len, griff er nun auch das übrige, was ihm
nach der Liebe und mit der Liebe die größten
Freuden und Hoffnungen gegeben hatte, ſein
Talent als Dichter und Schauſpieler, mit
hämiſcher Kritik von allen Seiten an. Er
ſah in ſeinen Arbeiten nichts als eine geiſt¬
loſe Nachahmung einiger hergebrachten For¬
men, ohne innern Werth; er wollte darin
nur ſteife Schulexercitien erkennen, denen es
an jedem Funken von Naturell, Wahrheit
und Begeiſterung fehle. In ſeinen Gedich¬
ten fand er nur ein monotones Sylbenmaaß,
in welchem, durch einen armſeligen Reim zu¬
ſammen gehalten, ganz gemeine Gedanken
und Empfindungen ſich hinſchleppten, und
ſo[193] ſo benahm er ſich auch jede Ausſicht, jede
Luſt, die ihn von dieſer Seite noch allenfalls
hätte wieder aufrichten können.


Seinem Schauſpieler-Talente ging es
nicht beſſer. Er ſchalt ſich, daß er nicht frü¬
her die Eitelkeit entdeckt, die allein dieſer
Anmaßung zum Grunde gelegen. Seine Fi¬
gur, ſein Gang, ſeine Bewegung und Dekla¬
mation mußten herhalten, und ſo ſprach er
ſich jede Art von Vorzug, jedes Verdienſt,
das ihn über das Gemeine empor gehoben
hätte, entſcheidend ab, und vermehrte ſeine
ſtumme Verzweiflung dadurch auf den höch¬
ſten Grad. Denn, wenn es hart iſt, der
Liebe eines Weibes zu entſagen, ſo iſt die
Empfindung nicht weniger ſchmerzlich, von
dem Umgange der Muſen ſich los zu reiſſen,
ſich ihrer Gemeinſchaft auf immer unwürdig
zu erklären, und auf den ſchönſten und näch¬
ſten Beyfall, der unſrer Perſon, unſerm Be¬
W. Meiſters Lehrj. N[194] tragen, unſrer Stimme öffentlich gegeben
wird, Verzicht zu thun.


Auf dieſe Weiſe hatte ſich unſer Freund
völlig reſignirt, und ſich zugleich mit großen
Eifer den Handelsgeſchäften gewidmet. Zum
Erſtaunen ſeines Freundes und zur größten
Zufriedenheit ſeines Vaters war niemand auf
dem Comtoir und der Börſe, im Laden und
Gewölbe thätiger, als er; Correſpondenz und
Rechnungen, und was ihm aufgetragen wur¬
de, beſorgte und verrichtete er mit größten
Fleiß und Eifer. Freylich nicht mit dem
heitern Fleiße, der zugleich dem Geſchäftigen
Belohnung iſt, wenn wir dasjenige, wozu
wir geboren ſind, mit Ordnung und Folge
verrichten, ſondern mit dem ſtillen Fleiße der
Pflicht, der den beſten Vorſatz zum Grunde
hat, der durch Überzeugung genährt und
durch ein innres Selbſtgefühl belohnt wird;
der aber doch oft, ſelbſt dann, wenn ihm das
[195] ſchönſte Bewußtſeyn die Krone reicht, einen
vordringenden Seufzer kaum zu erſticken
vermag.


Auf dieſe Weiſe hatte Wilhelm eine Zeit¬
lang ſehr emſig fortgelebt und ſich überzeugt,
daß jene harte Prüfung vom Schickſale zu
ſeinem Beſten veranſtaltet worden. Er war
froh, auf dem Wege des Lebens ſich bey
Zeiten, obgleich unfreundlich genug, gewarnt
zu ſehen, anſtatt daß andere ſpäter und
ſchwerer die Mißgriffe büßen, wozu ſie ein
jugendlicher Dünkel verleitet hat. Denn ge¬
wöhnlich wehrt ſich der Menſch ſo lange als
er kann, den Thoren, den er im Buſen hegt,
zu verabſchieden, einen Hauptirrthum zu be¬
kennen, und eine Wahrheit einzugeſtehen, die
ihn zur Verzweiflung bringt.


So entſchloſſen er war, ſeinen liebſten
Vorſtellungen zu entſagen, ſo war doch eini¬
ge Zeit nöthig, um ihn von ſeinem Unglücke
N 2[196] völlig zu überzeugen. Endlich aber hatte er
jede Hoffnung der Liebe, des poetiſchen Her¬
vorbringens und der perſönlichen Darſtellung,
mit triftigen Gründen, ſo ganz in ſich ver¬
nichtet, daß er Muth faßte, alle Spuren ſei¬
ner Thorheit, alles, was ihn irgend noch dar¬
an erinnern könnte, völlig auszulöſchen. Er
hatte daher an einem kühlen Abende ein
Kaminfeuer angezündet, und holte ein Reli¬
quienkäſtchen hervor, in welchem ſich hun¬
derterley Kleinigkeiten fanden, die er in be¬
deutenden Augenblicken von Marianen er¬
halten, oder derſelben geraubt hatte. Jede
vertrocknete Blume erinnerte ihn an die Zeit,
da ſie noch friſch in ihren Haaren blühte,
jedes Zettelchen an die glückliche Stunde,
wozu ſie ihn dadurch einlud, jede Schleife
an den lieblichen Ruheplatz ſeines Hauptes,
ihren ſchönen Buſen. Mußte nicht auf dieſe
Weiſe jede Empfindung, die er ſchon lange
[197] getödtet glaubte, ſich wieder zu bewegen an¬
fangen? Mußte nicht die Leidenſchaft, über
die er, abgeſchieden von ſeiner Geliebten,
Herr geworden war, in der Gegenwart die¬
ſer Kleinigkeiten wieder mächtig werden?
Denn wir merken erſt, wie traurig und un¬
angenehm ein trüber Tag iſt, wenn ein ein¬
ziger, durchdringender Sonnenblick uns den
aufmunternden Glanz einer heitern Stunde
darſtellt.


Nicht ohne Bewegung ſah er daher dieſe
ſo lange bewahrten Heiligthümer nach ein¬
ander in Rauch und Flamme vor ſich aufge¬
hen. Einigemal hielt er zaudernd inne, und
hatte noch eine Perlenſchnur und ein flohr¬
nes Halstuch übrig, als er ſich entſchloß, mit
den dichteriſchen Verſuchen ſeiner Jugend das
abnehmende Feuer wieder aufzufriſchen.


Bis jetzt hatte er alles ſorgfältig aufge¬
hoben, was ihm, von der frühſten Entwick¬
[198] lung ſeines Geiſtes an, aus der Feder ge¬
floſſen war. Noch lagen ſeine Schriften in
Bündel gebunden auf dem Boden des Kof¬
fers, wohin er ſie gepackt hatte, als er ſie
auf ſeiner Flucht mitzunehmen hoffte. Wie
ganz anders eröffnete er ſie jetzt, als er ſie
damals zuſammen band!


Wenn wir einen Brief, den wir unter
gewiſſen Umſtänden geſchrieben und geſiegelt
haben, der aber den Freund, an den er ge¬
richtet war, nicht antrift, ſondern wieder zu
uns zurück gebracht wird, nach einiger Zeit
eröffnen, überfällt uns eine ſonderbare Em¬
pfindung, indem wir unſer eignes Siegel
erbrechen, und uns mit unſern veränderten
Selbſt wie mit einer dritten Perſon unter¬
halten. Ein ähnliches Gefühl ergriff mit
Heftigkeit unſern Freund, als er das erſte
Paquet eröffnete, die zertheilten Hefte ins
Feuer warf, die eben gewaltſam aufloderten,
[199] als Werner hereintrat, ſich über die lebhafte
Flamme verwunderte, und fragte, was hier
vorgehe?


Ich gebe einen Beweis, ſagte Wilhelm,
daß es mir ernſt ſey, ein Handwerk aufzu¬
geben, wozu ich nicht geboren ward; und
mit dieſen Worten warf er das zweyte Pa¬
quet in das Feuer. Werner wollte ihn ab¬
halten, allein es war geſchehen.


Ich ſehe nicht ein, wie du zu dieſem Ex¬
trem kommſt, ſagte dieſer. Warum ſollen
denn nun dieſe Arbeiten, wenn ſie nicht vor¬
trefflich ſind, gar vernichtet werden?


Weil ein Gedicht entweder vortrefflich
ſeyn, oder gar nicht exiſtiren ſoll. Weil
jeder, der keine Anlage hat, das Beſte zu
leiſten, ſich der Kunſt enthalten, und ſich
vor jeder Verführung dazu ernſtlich in Acht
nehmen ſollte. Denn freylich regt ſich in
jedem Menſchen ein gewiſſes unbeſtimmtes
[200] Verlangen, dasjenige was er ſieht, nachzu¬
ahmen; aber dieſes Verlangen beweiſt gar
nicht, daß auch in uns die Kraft wohne, mit
dem, was wir unternehmen, zu Stande zu
kommen. Sieh nur die Knaben an, wie ſie
jedesmal, ſo oft Seiltänzer in der Stadt ge¬
weſen, auf allen Planken und Balken hin
und wieder gehen und balanciren, bis ein
anderer Reiz ſie wieder zu einem ähnlichen
Spiele hinzieht. Haſt du es nicht in dem
Zirkel unſrer Freunde bemerkt? So oft ſich
ein Virtuoſe hören läßt, finden ſich immer
einige, die ſogleich daſſelbe Inſtrument zu
lernen anfangen. Wie viele irren auf die¬
ſem Wege herum; glücklich wer den Fehl¬
ſchluß von ſeinen Wünſchen auf ſeine Kräfte
bald gewahr wird!


Werner widerſprach; die Unterredung
ward lebhaft, und Wilhelm konnte nicht
ohne Bewegung die Argumente, mit denen
[201] er ſich ſelbſt ſo oft gequält hatte, gegen ſei¬
nen Freund wiederholen. Werner behaupte¬
te, es ſey nicht vernünftig, ein Talent, zu
dem man nur einigermaßen Neigung und
Geſchick habe, deswegen, weil man es nie¬
mals in der größten Vollkommenheit aus¬
üben werde, ganz aufzugeben. Es finde ſich
ja ſo manche leere Zeit, die man dadurch
ausfüllen, und nach und nach etwas hervor¬
bringen könne, wodurch wir uns und andern
ein Vergnügen bereiten.


Unſer Freund, der hierin ganz anderer
Meynung war, fiel ihm ſogleich ein, und
ſagte mit großer Lebhaftigkeit:


Wie ſehr irrſt du, lieber Freund, wenn
du glaubſt, daß ein Werk, deſſen erſte Vor¬
ſtellung die ganze Seele füllen muß, in un¬
terbrochenen, zuſammen gegeizten Stunden
könne hervorgebracht werden. Nein, der
Dichter muß ganz ſich, ganz in ſeinen ge¬
[202] liebten Gegenſtänden leben. Er, der vom
Himmel innerlich auf das köſtlichſte begabt
iſt, der einen, ſich immer ſelbſt vermehrenden
Schatz im Buſen bewahrt, er muß auch von
auſſen ungeſtört mit ſeinen Schätzen in der
ſtillen Glückſeligkeit leben, die ein Reicher
vergebens mit aufgehäuften Gütern um ſich
hervorzubringen ſucht. Sieh die Menſchen
an, wie ſie nach Glück und Vergnügen ren¬
nen! Ihre Wünſche, ihre Mühe, ihr Geld
jagen raſtlos, und wornach? Nach dem, was
der Dichter von der Natur erhalten hat,
nach dem Genuß der Welt, nach dem Mit¬
gefühl ſeiner ſelbſt in andern, nach einem har¬
moniſchen Zuſammenſeyn mit vielen oft un¬
vereinbaren Dingen.


Was beunruhiget die Menſchen, als daß
ſie ihre Begriffe nicht mit den Sachen ver¬
binden können, daß der Genuß ſich ihnen
unter den Händen wegſtiehlt, daß das ge¬
[203] wünſchte zu ſpät kommt, und daß alles er¬
reichte und erlangte auf ihr Herz nicht die
Wirkung thut, welche die Begierde uns in
der Ferne ahnden läßt. Gleichſam wie einen
Gott hat das Schickſal den Dichter über
dieſes alles hinüber geſetzt. Er ſieht das
Gewirre der Leidenſchaften, Familien und
Reiche ſich zwecklos bewegen, er ſieht die
unauflöslichen Räzel der Mißverſtändniſſe,
denen oft nur ein einſylbiges Wort zur Ent¬
wicklung fehlt, unſäglich verderbliche Ver¬
wirrungen verurſachen. Er fühlt das Trau¬
rige und das Freudige jedes Menſchenſchick¬
ſals mit. Wenn der Weltmenſch in einer
abzehrenden Melancholie über großen Ver¬
luſt ſeine Tage hinſchleicht, oder in ausge¬
laſſener Freude ſeinem Schickſale entgegen
geht, ſo ſchreitet die empfängliche leichtbe¬
wegliche Seele des Dichters, wie die wan¬
delnde Sonne, von Nacht zu Tag fort, und
[204] mit leiſen Übergängen ſtimmt ſeine Harfe zu
Freude und Leid. Eingeboren auf den
Grund ſeines Herzens wächſt die ſchöne Blu¬
me der Weisheit hervor, und wenn die an¬
dern wachend träumen, und von ungeheuren
Vorſtellungen aus allen ihren Sinnen ge¬
ängſtiget werden, ſo lebt er den Traum des
Lebens als ein wachender, und das ſeltenſte,
was geſchieht, iſt ihm zugleich Vergangenheit
und Zukunft. Und ſo iſt der Dichter zugleich
Lehrer, Wahrſager, Freund der Götter und
der Menſchen. Wie! willſt du, daß er zu
einem kümmerlichen Gewerbe herunter ſteige,
er, der wie ein Vogel gebaut iſt, um die
Welt zu überſchweben, auf hohen Gipfeln
zu niſten, und ſeine Nahrung von Knospen
und Früchten, einen Zweig mit dem andern
leicht verwechſelnd, zu nehmen, der ſollte zu¬
gleich wie der Stier am Pfluge ziehen, wie
der Hund ſich auf eine Fährte gewöhnen,
[205] oder vielleicht gar an die Kette geſchloſſen
einen Meyerhof durch ſein Bellen ſichern?


Werner hatte, wie man ſich denken kann,
mit Verwunderung zugehört. Wenn nur
auch die Menſchen, fiel er ihm ein, wie die
Vögel gemacht wären, und ohne daß ſie
ſpinnen und weben, holdſelige Tage in be¬
ſtändigem Genuß zubringen könnten. Wenn
ſie nur auch bey Ankunft des Winters ſich
ſo leicht in ferne Gegenden begäben, dem
Mangel auszuweichen, und ſich vor dem
Froſte zu ſichern.


So haben die Dichter in Zeiten gelebt,
wo das Ehrwürdige mehr erkannt ward, rief
Wilhelm aus, und ſo ſollten ſie immer leben.
Genugſam in ihrem Innerſten ausgeſtattet
bedurften ſie wenig von auſſen; die Gabe,
ſchöne Empfindungen, herrliche Bilder den
Menſchen in ſüßen, ſich an jeden Gegenſtand
anſchmiegenden, Worten und Melodien mit¬
[206] zutheilen, bezauberte von jeher die Welt,
und war für den Begabten ein reichliches
Erbtheil. An der Könige Höfen, an den
Tiſchen der Reichen, vor den Thüren der
Verliebten horchte man auf ſie, indem ſich
das Ohr und die Seele für alles andere ver¬
ſchloß; wie man ſich ſelig preiſt und ent¬
zückt ſtille ſteht, wenn aus den Gebüſchen,
durch die man wandelt, die Stimme der
Nachtigall gewaltig rührend hervordringt!
Sie fanden eine gaſtfreye Welt, und ihr nie¬
drig ſcheinender Stand erhöhte ſie nur deſto
mehr; der Held lauſchte ihren Geſängen,
und der Überwinder der Welt huldigte einem
Dichter, weil er fühlte, daß, ohne dieſen, ſein
ungeheures Daſeyn nur wie ein Sturmwind
vorüberfahren würde; der Liebende wünſchte
ſein Verlangen und ſeinen Genuß ſo tauſend¬
fach und ſo harmoniſch zu fühlen, als ihn
die beſeelte Lippe zu ſchildern verſtand, und
[207] ſelbſt der Reiche konnte ſeine Beſitzthümer,
ſeine Abgötter nicht mit eigenen Augen ſo
koſtbar ſehen, als ſie ihm vom Glanze des,
allen Werth fühlenden und erhöhenden Gei¬
ſtes beleuchtet erſchienen. Ja, wer hat, wenn
du willſt, Götter gebildet, uns zu ihnen er¬
hoben, ſie zu uns herniedergebracht, als der
Dichter?


Mein Freund, verſetzte Werner nach eini¬
gem Nachdenken, ich habe ſchon oft bedauert,
daß du das, was du ſo lebhaft fühlſt, mit
Gewalt aus deiner Seele zu verbannen
ſtrebſt. Ich müßte mich ſehr irren, wenn du
nicht beſſer thäteſt, dir ſelbſt einigermaßen
nachzugeben, als dich durch die Widerſprüche
eines ſo harten Entſagens aufzureiben, und
dir mit der Einen unſchuldigen Freude den
Genuß aller übrigen zu entziehen.


Darf ich dir’s geſtehen, mein Freund, ver¬
ſetzte der andre, und wirſt du mich nicht lä¬
[208] cherlich finden, wenn ich dir bekenne, daß
jene Bilder mich noch immer verfolgen, ſo
ſehr ich ſie fliehe, und daß, wenn ich mein
Herz unterſuche, alle frühen Wünſche feſt, ja
noch feſter als ſonſt darin haften? Doch
was bleibt mir Unglücklichen gegenwärtig
übrig? Ach wer mir vorausgeſagt hätte, daß
die Arme meines Geiſtes ſobald zerſchmettert
werden ſollten, mit denen ich ins Unendliche
griff, und mit denen ich doch gewiß ein
Großes zu umfaſſen hofte. Wer mir das
vorausgeſagt hätte, würde mich zur Ver¬
zweiflung gebracht haben. Und noch jetzt,
da das Gericht über mich ergangen iſt, jetzt,
da ich die verloren habe, die anſtatt einer
Gottheit mich zu meinen Wünſchen hinüber
führen ſollte, was bleibt mir übrig, als mich
den bitterſten Schmerzen zu überlaſſen? O
mein Bruder, fuhr er fort, ich leugne nicht,
ſie war mir bey meinen heimlichen Anſchlä¬
gen[209] gen der Kloben, an den eine Strickleiter be¬
feſtigt iſt; gefährlich hoffend ſchwebt der
Abentheurer in der Luft, das Eiſen bricht,
und er liegt zerſchmettert am Fuße ſeiner
Wünſche. Es iſt auch nun für mich kein
Troſt, keine Hofnung mehr! Ich werde, rief
er aus, indem er aufſprang, von dieſen un¬
glückſeligen Papieren keines übrig laſſen. Er
faßte abermals ein Paar Hefte an, riß ſie
auf und warf ſie ins Feuer. Werner wollte
ihn abhalten, aber vergebens. Laß mich!
rief Wilhelm, was ſollen dieſe elenden Blät¬
ter? Für mich ſind ſie weder Stufe noch
Aufmunterung mehr. Sollen ſie übrig blei¬
ben, um mich bis ans Ende meines Lebens
zu peinigen? Sollen ſie vielleicht einmal der
Welt zum Geſpötte dienen, anſtatt Mitlei¬
den und Schauer zu erregen? Weh über
mich und über mein Schickſal! Nun verſtehe
ich erſt die Klagen der Dichter, der aus
W. Meiſters Lehrj. O[210] Noth weiſe gewordnen Traurigen. Wie lan¬
ge hielt ich mich für unzerſtörbar, für un¬
verwundlich, und ach! nun ſeh ich, daß ein
tiefer früher Schade nicht wieder auswach¬
ſen, ſich nicht wieder herſtellen kann; ich
fühle, daß ich ihn mit ins Grab nehmen
muß. Nein! keinen Tag des Lebens ſoll der
Schmerz von mir weichen, der mich noch zu¬
letzt umbringt, und auch ihr Andenken ſoll
bey mir bleiben, mit mir leben und ſterben,
das Andenken der Unwürdigen — ach, mein
Freund! wenn ich von Herzen reden ſoll —
der gewiß nicht ganz Unwürdigen ! Ihr
Stand, ihre Schickſale haben ſie tauſendmal
bey mir entſchuldigt. Ich bin zu grauſam
geweſen, du haſt mich in deine Kälte, in dei¬
ne Härte unbarmherzig eingeweiht, meine
zerrütteten Sinne gefangen gehalten und
mich verhindert, das für ſie und für mich
zu thun, was ich uns beiden ſchuldig war.
[211] Wer weiß, in welchen Zuſtand ich ſie ver¬
ſetzt habe, und erſt nach und nach fällt mir’s
auf's Gewiſſen, in welcher Verzweiflung, in
welcher Hülfloſigkeit ich ſie verließ. War’s
nicht möglich, daß ſie ſich entſchuldigen konn¬
te? War’s nicht möglich? Wieviel Mißver¬
ſtändniſſe können die Welt verwirren, wie¬
viel Umſtände können dem größten Fehler
Vergebung erflehen? — Wie oft denke ich
mir ſie, in der Stille für ſich ſitzend, auf
ihren Ellenbogen geſtützt. — Das iſt, ſagt
ſie, die Treue, die Liebe, die er mir zu¬
ſchwur! Mit dieſem unſanften Schlag das
ſchöne Leben zu endigen, das uns verband! —
Er brach in einen Strom von Thränen aus,
indem er ſich mit dem Geſichte auf den
Tiſch warf, und die übergebliebenen Papiere
benetzte.


Werner ſtand in der größten Verlegen¬
heit dabey. Er hatte ſich dieſes raſche Auf¬
O 2[212] lodern der Leidenſchaft nicht vermuthet. Et¬
lichemal wollte er ſeinem Freunde in die
Rede fallen, etlichemal das Geſpräch wo an¬
ders hinlenken, vergebens! er widerſtand
dem Strome nicht. Auch hier übernahm die
ausdauernde Freundſchaft wieder ihr Amt.
Er ließ den heftigſten Anfall des Schmer¬
zens vorüber, indem er, durch ſeine ſtille Ge¬
genwart, eine aufrichtige reine Theilnehmung
am beſten ſehen ließ, und ſo blieben ſie die¬
ſen Abend; Wilhelm ins ſtille Nachgefühl
des Schmerzens verſenkt, und der andere
erſchreckt durch den neuen Ausbruch einer
Leidenſchaft, die er lange bemeiſtert und
durch guten Rath und eifriges Zureden über¬
wältigt zu haben glaubte.


[213]

Drittes Capitel.

Nach ſolchen Rückfällen pflegte Wilhelm
meiſt nur deſto eifriger ſich den Geſchäften
und der Thätigkeit zu widmen, und es war
der beſte Weg, dem Labyrinthe, das ihn wie¬
der anzulocken ſuchte, zu entfliehen. Seine
gute Art, ſich gegen Fremde zu betragen, ſei¬
ne Leichtigkeit, faſt in allen lebenden Spra¬
chen Correſpondenz zu führen, gaben ſeinem
Vater und deſſen Handelsfreunde immer
mehr Hoffnung, und tröſteten ſie über die
Krankheit, deren Urſache ihnen nicht bekannt
geworden war, und über die Pauſe, die ihren
Plan unterbrochen hatte. Man beſchloß
Wilhelms Abreiſe zum zweytenmal, und wir
finden ihn auf ſeinem Pferde, den Mantel¬
ſack hinter ſich, erheitert durch freye Luft
[214] und Bewegung, dem Gebirge ſich nähern,
wo er einige Aufträge ausrichten ſollte.


Er durchſtrich langſam Thäler und Berge
mit der Empfindung des größten Vergnü¬
gens. Überhangende Felſen, rauſchende Waſ¬
ſerbäche, bewachſene Wände, tiefe Gründe
ſah er hier zum erſtenmal, und doch hatten
ſeine frühſten Jugendträume ſchon in ſolchen
Gegenden geſchwebt. Er fühlte ſich bey die¬
ſem Anblicke wieder verjüngt, alle erduldete
Schmerzen waren aus ſeiner Seele wegge¬
waſchen, und mit völliger Heiterkeit ſagte er
ſich Stellen aus verſchiedenen Gedichten, be¬
ſonders aus dem Paſtor fido vor, die an
dieſen einſamen Plätzen ſchaarenweis ſeinem
Gedächtniſſe zufloſſen. Auch erinnerte er ſich
mancher Stellen aus ſeinen eigenen Liedern,
die er mit einer beſondern Zufriedenheit rezi¬
tirte. Er belebte die Welt, die vor ihm lag,
mit allen Geſtalten der Vergangenheit, und
[215] jeder Schritt in die Zukunft war ihm voll
Ahndung wichtiger Handlungen und merk¬
würdiger Begebenheiten.


Mehrere Menſchen, die, auf einander fol¬
gend, hinter ihm herkamen, an ihm mit ei¬
nem Gruße vorbeygingen, und den Weg ins
Gebirge, durch ſteile Fußpfade, eilig fortſetz¬
ten, unterbrachen einigemal ſeine ſtille Unter¬
haltung, ohne daß er jedoch aufmerkſam auf
ſie geworden wäre. Endlich geſellte ſich ein
geſprächiger Gefährte zu ihm, und erzählte
die Urſache der ſtarken Pilgerſchaft.


Zu Hochdorf, ſagte er, wird heute Abend
eine Comödie gegeben, wozu ſich die ganze
Nachbarſchaft verſammlet.


Wie, rief Wilhelm, in dieſen einſamen
Gebirgen, zwiſchen dieſen undurchdringlichen
Wäldern hat die Schauſpielkunſt einen Weg
gefunden, und ſich einen Tempel aufgebaut?
und ich muß zu ihrem Feſte wallfahrten?


[216]

Sie werden ſich noch mehr wundern, ſag¬
te der andere, wenn Sie hören, durch wen
das Stück aufgeführt wird. Es iſt eine
große Fabrik in dem Orte, die viel Leute
ernährt. Der Unternehmer, der ſo zu ſagen
von aller menſchlichen Geſellſchaft entfernt
lebt, weiß ſeine Arbeiter im Winter nicht
beſſer zu beſchäftigen, als daß er ſie veran¬
laßt hat, Comödie zu ſpielen. Er leidet kei¬
ne Karten unter ihnen, und wünſcht ſie auch
ſonſt von rohen Sitten abzuhalten. So
bringen ſie die langen Abende zu, und heu¬
te, da des Alten Geburtstag iſt, geben ſie
ihm zu Ehren eine beſondere Feſtlichkeit.


Wilhelm kam zu Hochdorf an, wo er
übernachten ſollte, und ſtieg bey der Fabrik
ab, deren Unternehmer auch als Schuldner
auf ſeiner Liſte ſtand.


Als er ſeinen Nahmen nannte, rief der
Alte verwundert aus: ey, mein Herr, ſind
[217] Sie der Sohn des braven Mannes, dem ich
ſo viel Dank und bis jetzt noch Geld ſchul¬
dig bin? Ihr Herr Vater hat ſo viel Ge¬
duld mit mir gehabt, daß ich ein Böſewicht
ſeyn müßte, wenn ich nicht eilig und fröhlich
bezahlte. Sie kommen eben zur rechten Zeit,
um zu ſehen, daß es mir Ernſt iſt.


Er rief ſeine Frau herbey, welche eben ſo
erfreut war, den jungen Mann zu ſehen; ſie
verſicherte, daß er ſeinem Vater gleiche, und
bedauerte, daß ſie ihn wegen der vielen
Fremden die Nacht nicht beherbergen könne.


Das Geſchäft war klar und bald berich¬
tigt, Wilhelm ſteckte ein Röllchen Gold in
die Taſche, und wünſchte, daß ſeine übrigen
Geſchäfte auch ſo leicht gehen möchten.


Die Stunde des Schauſpiels kam heran,
man erwartete nur noch den Oberforſtmeiſter,
der endlich auch anlangte, mit einigen Jä¬
gern eintrat, und mit der größten Verehrung
empfangen wurde.


[218]

Die Geſellſchaft wurde nunmehr ins
Schauſpielhaus geführt, wozu man eine
Scheune eingerichtet hatte, die gleich am
Garten lag. Haus und Theater waren,
ohne ſonderlichen Geſchmack, munter und ar¬
tig genug angelegt. Einer von den Mah¬
lern, die auf der Fabrik arbeiteten, hatte bey
dem Theater in der Reſidenz gehandlangt,
und hatte nun Wald, Straße und Zimmer,
freylich etwas roh, hingeſtellt. Das Stück
hatten ſie von einer herumziehenden Truppe
geborgt, und nach ihrer eigenen Weiſe zu¬
recht geſchnitten. So wie es war, unterhielt
es. Die Intrigue, daß zwey Liebhaber ein
Mädchen ihrem Vormunde und wechſelsweiſe
ſich ſelbſt entreiſſen wollen, brachte allerley
intereſſante Situationen hervor. Es war
das erſte Stück, das unſer Freund nach ei¬
ner ſo langen Zeit wieder ſah; er machte
mancherley Betrachtungen; es war voller
[219] Handlung, aber ohne Schilderung wahrer
Charactere. Es gefiel und ergötzte. So ſind
die Anfänge aller Schauſpielkunſt. Der rohe
Menſch iſt zufrieden, wenn er nur etwas
vorgehen ſieht: der gebildete will empfinden,
und Nachdenken iſt nur dem ganz ausgebil¬
deten angenehm.


Den Schauſpielern hätte er hie und da
gerne nachgeholfen; denn es fehlte nur we¬
nig, ſo hätten ſie um vieles beſſer ſeyn
können.


In ſeinen ſtillen Betrachtungen ſtörte ihn
der Tabacksdampf, der immer ſtärker und
ſtärker wurde. Der Oberforſtmeiſter hatte
bald nach Anfang des Stücks ſeine Pfeife
angezündet, und nach und nach nahmen ſich
mehrere dieſe Freyheit heraus. Auch mach¬
ten die großen Hunde dieſes Herrn ſchlimme
Auftritte. Man hatte ſie zwar ausgeſperrt;
allein ſie fanden bald den Weg zur Hinter¬
[220] thüre herein, liefen auf das Theater, rann¬
ten wider die Acteurs, und geſellten ſich end¬
lich durch einen Sprung über das Orcheſter
zu ihrem Herrn, der den erſten Platz im
Parterr eingenommen hatte.


Zum Nachſpiel ward ein Opfer darge¬
bracht. Ein Portrait, das den Alten in ſei¬
nem Bräutigamskleide vorſtellte, ſtand auf
einem Altar mit Kränzen behangen. Alle
Schauſpieler huldigten ihm in demuthsvollen
Stellungen. Das jüngſte Kind trat, weiß
gekleidet, hervor, und hielt eine Rede in
Verſen, wodurch die ganze Familie und ſo¬
gar der Oberforſtmeiſter, der ſich dabey an
ſeine Kinder erinnerte, zu Thränen bewegt
wurde. So endigte ſich das Stück, und
Wilhelm konnte nicht umhin, das Theater
zu beſteigen, die Actricen in der Nähe zu
beſehen, ſie wegen ihres Spiels zu loben,
und ihnen auf die Zukunft einigen Rath zu
geben.


[221]

Die übrigen Geſchäfte unſers Freundes,
die er nach und nach in größeren und klei¬
neren Gebirgsorten verrichtete, liefen nicht
alle ſo glücklich, noch ſo vergnügt ab. Man¬
che Schuldner baten um Aufſchub, manche
waren unhöflich, manche leugneten. Nach
ſeinem Auftrage ſollte er einige verklagen;
er mußte einen Advokaten aufſuchen, dieſen
inſtruiren, ſich vor Gericht ſtellen, und was
dergleichen verdrießliche Geſchäfte noch mehr
waren.


Eben ſo ſchlimm erging es ihm, wenn
man ihm eine Ehre erzeigen wollte. Nur
wenig Leute fand er, die ihn einigermaßen
unterrichten konnten; wenige, mit denen er
in ein nützliches Handelsverhältniß zu kom¬
men hofte. Da nun auch unglücklicherweiſe
Regentage einfielen, und eine Reiſe zu Pferd
in dieſen Gegenden mit unerträglichen Be¬
ſchwerden verknüpft war; ſo dankte er dem
[222] Himmel, als er ſich dem flachen Lande wie¬
der näherte, und am Fuße des Gebirges, in
einer ſchönen und fruchtbaren Ebene, an ei¬
nem ſanften Fluſſe, im Sonnenſcheine, ein
heiteres Landſtädtchen liegen ſah, in welchem
er zwar keine Geſchäfte hatte, aber eben des¬
wegen ſich entſchloß, ein Paar Tage daſelbſt
zu verweilen, um ſich und ſeinem Pferde,
das von dem ſchlimmen Wege ſehr gelitten
hatte, einige Erholung zu verſchaffen.


[223]

Viertes Capitel.

Als er in einem Wirthshauſe auf dem Mark¬
te abtrat, ging es darin ſehr luſtig, wenig¬
ſtens ſehr lebhaft zu. Eine große Geſell¬
ſchaft Seiltänzer, Springer und Gaukler, die
einen ſtarken Mann bey ſich hatten, waren
mit Weib und Kindern eingezogen, und mach¬
ten, indem ſie ſich auf eine öffentliche Er¬
ſcheinung bereiteten, einen Unfug über den
andern. Bald ſtritten ſie mit dem Wirthe,
bald unter ſich ſelbſt, und wenn ihr Zank
unleidlich war, ſo waren die Äuſſerungen
ihres Vergnügens ganz und gar unerträglich.
Unſchlüſſig, ob er gehen oder bleiben ſollte,
ſtand er unter dem Thore, und ſah den Ar¬
beitern zu, die auf dem Platze ein Gerüſt
aufzuſchlagen anfingen.


[224]

Ein Mädchen, das Roſen und andere
Blumen herumtrug, bot ihm ihren Korb dar,
und er kaufte ſich einen ſchönen Strauß, den
er mit Liebhaberey anders band und mit
Zufriedenheit betrachtete, als das Fenſter ei¬
nes, an der Seite des Platzes ſtehenden, an¬
dern Gaſthauſes ſich aufthat, und ein wohl¬
gebildetes Frauenzimmer ſich an demſelben
zeigte. Er konnte ohngeachtet der Entfer¬
nung bemerken, daß eine angenehme Heiter¬
keit ihr Geſicht belebte. Ihre blonden Haare
fielen nachläſſig aufgelößt um ihren Nacken,
ſie ſchien ſich nach dem Fremden umzuſehen.
Einige Zeit darauf trat ein junger Menſch,
der eine Friſirſchürze umgegürtet, und ein
weißes Jäckchen an hatte, aus der Thüre
jenes Hauſes, ging auf Wilhelmen los, be¬
grüßte ihn und ſagte, das Frauenzimmer am
Fenſter läßt Sie fragen, ob Sie ihr nicht
einen Theil der ſchönen Blumen abtreten
wol¬[225] wollen? — Sie ſtehn ihr alle zu Dienſten,
verſetzte Wilhelm, indem er dem leichten Bo¬
ten das Bouquet überreichte, und zugleich
der Schönen ein Kompliment machte, wel¬
ches ſie mit einem freundlichen Gegengruß
erwiederte, und ſich vom Fenſter zurückzog.


Nachdenkend über dieſes artige Aben¬
theuer ging er nach ſeinem Zimmer die Trep¬
pe hinauf, als ein junges Geſchöpf ihm ent¬
gegen ſprang, das ſeine Aufmerkſamkeit auf
ſich zog. Ein kurzes ſeidnes Weſtchen mit
geſchlitzten ſpaniſchen Ermeln, knappe, lange
Beinkleider mit Puffen ſtanden dem Kinde
gar artig. Lange ſchwarze Haare waren in
Locken und Zöpfen um den Kopf gekräuſelt
und gewunden. Er ſah die Geſtalt mit Ver¬
wunderung an, und konnte nicht mit ſich ei¬
nig werden, ob er ſie für einen Knaben oder
für ein Mädchen erklären ſollte. Doch ent¬
ſchied er ſich bald für das letzte, und hielt
W. Meiſters Lehrj. P[226] ſie auf, da ſie bey ihm vorbey kam, bot ihr
einen guten Tag, und fragte ſie, wem ſie
angehöre? ob er ſchon leicht ſehen konnte,
daß ſie ein Glied der ſpringenden und tan¬
zenden Geſellſchaft ſeyn müſſe. Mit einem
ſcharfen, ſchwarzen Seitenblick ſah ſie ihn
an, indem ſie ſich von ihm losmachte, und
in die Küche lief, ohne zu antworten.


Als er die Treppe hinauf kam, fand er
auf dem weiten Vorſaale zwey Mannsper¬
ſonen, die ſich im Fechten übten, oder viel¬
mehr ihre Geſchicklichkeit an einander zu ver¬
ſuchen ſchienen. Der eine war offenbar von
der Geſellſchaft, die ſich im Hauſe befand,
der andere hatte ein weniger wildes Anſehn.
Wilhelm ſah ihnen zu, und hatte Urſache, ſie
beide zu bewundern, und als nicht lange dar¬
auf der ſchwarzbärtige nervige Streiter den
Kampfplatz verließ, bot der andere, mit vie¬
ler Artigkeit, Wilhelmen das Rappier an.


[227]

Wenn Sie einen Schüler, verſetzte dieſer,
in die Lehre nehmen wollen, ſo bin ich wohl
zufrieden, mit Ihnen einige Gänge zu wa¬
gen. Sie fochten zuſammen, und obgleich
der Fremde dem Ankömmling weit überlegen
war, ſo war er doch höflich genug zu verſi¬
chern, daß alles nur auf Übung ankomme,
und wirklich hatte Wilhelm auch gezeigt,
daß er früher von einem guten und gründli¬
chen deutſchen Fechtmeiſter unterrichtet wor¬
den war.


Ihre Unterhaltung ward durch das Ge¬
töſe unterbrochen, mit welchem die bunte Ge¬
ſellſchaft aus dem Wirthshauſe auszog, um
die Stadt von ihrem Schauſpiel zu benach¬
richtigen, und auf ihre Künſte begierig zu
machen. Einem Tambour folgte der Entre¬
preneur zu Pferde, hinter ihm eine Tänzerin
auf einem ähnlichen Gerippe, die ein Kind
vor ſich hielt, das mit Bändern und Flin¬
P 2[228] tern wohl herausgeputzt war. Darauf kam
die übrige Truppe zu Fuß, wovon einige auf
ihren Schultern Kinder, in abentheuerlichen
Stellungen, leicht und bequem daher trugen,
unter denen die junge, ſchwarzköpfige, düſtere
Geſtalt Wilhelms Aufmerkſamkeit aufs neue
erregte.


Pagliaſſo lief unter der andringenden
Menge drollig hin und her, und theilte mit
ſehr begreiflichen Späßen, indem er bald ein
Mädchen küßte, bald einen Knaben pritſchte,
ſeine Zettel aus, und erweckte unter dem
Volke eine unüberwindliche Begierde, ihn nä¬
her kennen zu lernen.


In den gedruckten Anzeigen waren die
mannichfaltigen Künſte der Geſellſchaft, be¬
ſonders eines Monſieur Narciß und der
Demoiſelle Landrinette herausgeſtrichen, wel¬
che beide, als Hauptperſonen, die Klugheit
gehabt hatten, ſich von dem Zuge zu ent¬
[229] halten, ſich dadurch ein vornehmeres Anſehn
zu geben, und größre Neugier zu erwecken.


Während des Zuges hatte ſich auch die
ſchöne Nachbarin wieder am Fenſter ſehen
laſſen, und Wilhelm hatte nicht verfehlt, ſich
bey ſeinem Geſellſchafter nach ihr zu erkun¬
digen. Dieſer, den wir einſtweilen Laertes
nennen wollen, erbot ſich, Wilhelmen zu ihr
hinüber zu begleiten. Ich und das Frauen¬
zimmer, ſagte er lächelnd, ſind ein paar
Trümmer einer Schauſpielergeſellſchaft, die
vor kurzem hier ſcheiterte. Die Anmuth des
Orts hat uns bewogen, einige Zeit hier zu
bleiben, und unſre wenige geſammelte Baar¬
ſchaft in Ruhe zu verzehren, indeß ein
Freund ausgezogen iſt, ein Unterkommen für
ſich und uns zu ſuchen.


Laertes begleitete ſogleich ſeinen neuen
Bekannten zu Philinens Thüre, wo er ihn
einen Augenblick ſtehen ließ, um in einem
[230] benachbarten Laden Zuckerwerk zu holen.
Sie werden mir es gewiß danken, ſagte er,
indem er zurück kam, daß ich Ihnen dieſe
artige Bekanntſchaft verſchaffe.


Das Frauenzimmer kam ihnen auf ein
paar leichten Pantöffelchen mit hohen Ab¬
ſätzen aus der Stube entgegen getreten. Sie
hatte eine ſchwarze Mantille über ein weißes
Negligee geworfen, das, eben weil es nicht
ganz reinlich war, ihr ein häusliches und
bequemes Anſehn gab; ihr kurzes Röckchen
ließ die niedlichſten Füße von der Welt
ſehen.


Seyn Sie mir willkommen! rief ſie Wil¬
helmen zu, und nehmen Sie meinen Dank
für die ſchönen Blumen. Sie führte ihn
mit der einen Hand ins Zimmer, indem ſie
mit der andern den Strauß an die Bruſt
drückte. Als ſie ſich niedergeſetzt hatten, und
in gleichgültigen Geſprächen begriffen waren,
[231] denen ſie eine reizende Wendung zu geben
wußte, ſchüttete ihr Laertes gebrannte Man¬
deln in den Schooß, von denen ſie ſogleich
zu naſchen anfing. Sehn Sie, welch ein
Kind dieſer junge Menſch iſt! rief ſie aus,
er wird Sie überreden wollen, daß ich eine
große Freundin von ſolchen Näſchereyen ſey,
und er iſt’s, der nicht leben kann, ohne ir¬
gend etwas Leckeres zu genießen.


Laſſen Sie uns nur geſtehn, verſetzte
Laertes, daß wir hierin, wie in mehrerem,
einander gern Geſellſchaft leiſten. Zum Bey¬
ſpiel, ſagte er, es iſt heute ein ſehr ſchöner
Tag, ich dächte wir führen ſpatzieren und
nähmen unſer Mittagsmahl auf der Müh¬
le. — Recht gern, ſagte Philine, wir müſſen
unſerm neuen Bekannten eine kleine Verän¬
derung machen. Laertes ſprang fort, denn
er ging niemals, und Wilhelm wollte einen
Augenblick nach Hauſe, um ſeine Haare, die
[232] von der Reiſe noch verworren ausſahen, in
Ordnung bringen zu laſſen. Das können
Sie hier, ſagte ſie, rief ihren kleinen Diener,
nöthigte Wilhelmen auf die artigſte Weiſe,
ſeinen Rock auszuziehn, ihren Pudermantel
anzulegen, und ſich in ihrer Gegenwart fri¬
ſiren zu laſſen. Man muß ja keine Zeit
verſäumen, ſagte ſie, man weiß nicht, wie
lange man beyſammen bleibt.


Der Knabe, mehr trotzig und unwillig
als ungeſchickt, benahm ſich nicht zum Be¬
ſten, raufte Wilhelmen, und ſchien ſo bald
nicht fertig werden zu wollen. Philine ver¬
wies ihm einigemal ſeine Unart, ſtieß ihn
endlich ungeduldig hinweg, und jagte ihn
zur Thüre hinaus. Nun übernahm ſie ſelbſt
die Bemühung, und kräuſelte die Haare
unſers Freundes mit großer Leichtigkeit
und Zierlichkeit, ob ſie gleich auch nicht zu
eilen ſchien, und bald dieſes bald jenes an
[233] ihrer Arbeit auszuſetzen hatte, indem ſie nicht
vermeiden konnte mit ihren Knieen die ſeini¬
gen zu berühren, und Strauß und Buſen ſo
nahe an ſeine Lippen zu bringen, daß er
mehr als einmal in Verſuchung geſetzt ward,
einen Kuß darauf zu drücken.


Als Wilhelm mit einem kleinen Puder¬
meſſer ſeine Stirne gereinigt hatte, ſagte ſie
zu ihm: ſtecken Sie es ein, und gedenken
Sie meiner dabey. Es war ein artiges Meſ¬
ſer; der Griff von eingelegten Stahl zeigte
die freundlichen Worte: gedenkt mein.
Wilhelm ſteckte es zu ſich, dankte ihr, und
bat um die Erlaubniß, ihr ein kleines Ge¬
gengeſchenk machen zu dürfen.


Nun war man fertig geworden. Laertes
hatte die Kutſche gebracht, und nun begann
eine ſehr luſtige Fahrt. Philine warf jedem
Armen, der ſie anbettelte, etwas zum Schla¬
ge hinaus, indem ſie ihm zugleich ein mun¬
teres und freundliches Wort zurief.


[234]

Sie waren kaum auf der Mühle ange¬
kommen, und hatten ein Eſſen beſtellt, als
eine Muſik vor dem Hauſe ſich hören ließ.
Es waren Bergleute, die, zu Zitter und Tri¬
angel, mit lebhaften und grellen Stimmen,
verſchiedene artige Lieder vortrugen. Es
dauerte nicht lange, ſo hatte eine herbeyſtrö¬
mende Menge einen Kreis um ſie geſchloſſen,
und die Geſellſchaft nickte ihnen ihren Bey¬
fall aus den Fenſtern zu. Als ſie dieſe Auf¬
merkſamkeit geſehen, erweiterten ſie ihren
Kreis, und ſchienen ſich zu ihren wichtigſten
Stückchen vorzubereiten. Nach einer Pauſe
trat ein Bergmann mit einer Hacke hervor,
und ſtellte, indeß die andern eine ernſthafte
Melodie ſpielten, die Handlung des Schür¬
fens vor.


Es währte nicht lange, ſo trat ein Bauer
aus der Menge, und gab jenem pantomi¬
miſch drohend zu verſtehen, daß er ſich von
[235] hier hinwegbegeben ſolle. Die Geſellſchaft
war darüber verwundert, und erkannte erſt
den, in einen Bauer verkleideten, Bergmann,
als er den Mund aufthat, und in einer Art
von Rezitativ den andern ſchalt, daß er
wage, auf ſeinem Acker zu handthieren. Je¬
ner kam nicht aus der Faſſung, ſondern fing
an, den Landmann zu belehren, daß er
Recht habe hier einzuſchlagen, und gab ihm
dabey die erſten Begriffe vom Bergbau.
Der Bauer, der die fremde Terminologie
nicht verſtand, that allerley alberne Fragen,
worüber die Zuſchauer, die ſich klüger fühl¬
ten, ein herzliches Gelächter aufſchlugen.
Der Bergmann ſuchte ihn zu rectificiren,
und bewies ihm den Vortheil, der zuletzt
auch auf ihn fließe, wenn die unterirrdiſchen
Schätze des Landes herausgewühlt würden.
Der Bauer, der jenem zuerſt mit Schlägen
gedroht hatte, ließ ſich nach und nach be¬
[236] ſänftigen, und ſie ſchieden als gute Freunde
von einander; beſonders aber zog ſich der
Bergmann auf die honorabelſte Art aus die¬
ſem Streite.


Wir haben, ſagte Wilhelm bey Tiſche,
an dieſem kleinen Dialog das lebhafteſte
Beyſpiel, wie nützlich allen Ständen das
Theater ſeyn könnte, wie vielen Vortheil der
Staat ſelbſt daraus ziehen müßte, wenn
man die Handlungen, Gewerbe und Unter¬
nehmungen der Menſchen von ihrer guten,
lobenswürdigen Seite und in dem Geſichts¬
punkte auf das Theater brächte, aus wel¬
chem ſie der Staat ſelbſt ehren und ſchützen
muß. Jetzt ſtellen wir nur die lächerliche
Seite der Menſchen dar; der Luſtſpieldichter
iſt gleichſam nur ein hämiſcher Controlleur,
der auf die Fehler ſeiner Mitbürger überall
ein wachſames Auge hat, und froh zu ſeyn
ſcheint, wenn er ihnen eins anhängen kann.


[237]

Sollte es nicht eine angenehme und würdige
Arbeit für einen Staatsmann ſeyn, den na¬
türlichen, wechſelſeitigen Einfluß aller Stän¬
de zu überſchauen, und einen Dichter, der
Humor genug hätte, bey ſeinen Arbeiten zu
leiten? Ich bin überzeugt, es könnten auf
dieſem Wege manche ſehr unterhaltende, zu¬
gleich nützliche und luſtige Stücke erſonnen
werden.


So viel ich, ſagte Laertes, überall wo ich
herumgeſchwärmt bin, habe bemerken kön¬
nen, weiß man nur zu verbieten, zu hindern
und abzulehnen; ſelten aber zu gebieten, zu
befördern und zu belohnen. Man läßt alles
in der Welt gehn, bis es ſchädlich wird, dann
zürnt man und ſchlägt drein.


Laßt mir den Staat und die Staatsleute
weg, ſagte Philine, ich kann mir ſie nicht
anders als in Perücken vorſtellen, und eine
Perücke, es mag ſie aufhaben wer da will
[238] erregt in meinen Fingern eine krampfhafte
Bewegung; ich möchte ſie gleich dem ehr¬
würdigen Herrn herunter nehmen, in der
Stube herumſpringen und den Kahlkopf aus¬
lachen.


Mit einigen lebhaften Geſängen, welche
ſie ſehr ſchön vortrug, ſchnitt Philine das
Geſpräch ab, und trieb zu einer ſchnellen
Rückfahrt, damit man die Künſte der Seil¬
tänzer am Abende zu ſehen nicht verſäumen
möchte. Drollig bis zur Ausgelaſſenheit,
ſetzte ſie ihre Freygebigkeit gegen die Armen
auf dem Heimwege fort, indem ſie zuletzt,
da ihr und ihren Reiſegefährten das Geld
ausging, einem Mädchen ihren Strohhut
und einem alten Weibe ihr Halstuch zum
Schlage hinaus warf.


Philine lud beide Begleiter zu ſich in
ihre Wohnung, weil man, wie ſie ſagte,
aus ihren Fenſtern das öffentliche Schauſpiel
[239] beſſer als im andern Wirthshauſe ſehen
könne.


Als ſie ankamen, fanden ſie das Gerüſt
aufgeſchlagen, und den Hintergrund mit auf¬
gehängten Teppichen geziert. Die Schwung¬
breter waren ſchon gelegt, das Schlappſeil
an die Pfoſten befeſtigt, und das ſtraffe
Seil über die Böcke gezogen. Der Platz
war ziemlich mit Volk gefüllt, und die Fen¬
ſter mit Zuſchauern einiger Art beſetzt.


Pagliaß bereitete erſt die Verſammlung
mit einigen Albernheiten, worüber die Zu¬
ſchauer immer zu lachen pflegen, zur Auf¬
merkſamkeit und guten Laune vor. Einige
Kinder, deren Körper die ſeltſamſten Verren¬
kungen darſtellten, erregten bald Verwunde¬
rung, bald Grauſen, und Wilhelm konnte
ſich des tiefen Mitleidens nicht enthalten,
als er das Kind, an dem er beym erſten
Anblicke Theil genommen, mit einiger Mühe,
[240] die ſonderbaren Stellungen hervorbringen
ſah. Doch bald erregten die luſtigen Sprin¬
ger ein lebhaftes Vergnügen, wenn ſie erſt
einzeln, dann hinter einander und zuletzt alle
zuſammen ſich vorwärts und rückwärts in
der Luft überſchlugen. Ein lautes Hände¬
klatſchen und Jauchzen erſcholl aus der gan¬
zen Verſammlung.


Nun aber ward die Aufmerkſamkeit auf
einen andern Gegenſtand gewendet. Die
Kinder, eins nach dem andern, mußten das
Seil betreten, und zwar die Lehrlinge zuerſt,
damit ſie durch ihre Übungen das Schauſpiel
verlängerten, und die Schwierigkeit der Kunſt
ins Licht ſetzten. Es zeigten ſich auch einige
Männer und erwachſene Frauensperſonen
mit ziemlicher Geſchicklichkeit; allein es war
noch nicht Monſieur Narciß, noch nicht De¬
moiſelle Landrinette.


Endlich traten auch dieſe aus einer Art
von[241] von Zelt, hinter aufgeſpannten rothen Vor¬
hängen hervor, und erfüllten durch ihre an¬
genehme Geſtalt und zierlichen Putz die bis¬
her glücklich genährte Hoffnung der Zu¬
ſchauer. Er, ein munteres Bürſchchen von
mittlerer Größe, ſchwarzen Augen und einem
ſtarken Haarzopf; ſie, nicht weniger niedlich
doch ſtark gebildet; beide zeigten ſich nach
einander auf dem Seile mit leichten Bewe¬
gungen, Sprüngen und ſeltſamen Poſituren.
Ihre Leichtigkeit, ſeine Verwegenheit, die
Genauigkeit, womit beide ihre Kunſtſtücke
ausführten, erhöhten mit jedem Schritt und
Sprung das allgemeine Vergnügen. Der
Anſtand, womit ſie ſich betrugen, die anſchei¬
nende Bemühungen der andern um ſie, ga¬
ben ihnen das Anſehn, als wenn ſie Herr
und Meiſter der ganzen Truppe wären, und
jedermann hielt ſie des Ranges werth.


Die Begeiſterung des Volks theilte ſich
W. Meiſters Lehrj. Q[242] den Zuſchauern an den Fenſtern mit, die
Damen ſahen unverwandt nach Narciſſen,
die Herrn nach Landrinetten. Das Volk
jauchzte, und das feinere Publikum enthielt
ſich nicht des Klatſchens, kaum daß man
noch über Pagliaſſen lachte. Wenige nur
ſchlichen ſich weg, als einige von der Truppe,
um Geld zu ſammlen, ſich mit zinnernen
Tellern durch die Menge drängten.


Sie haben ihre Sache, dünkt mich, gut
gemacht, ſagte Wilhelm zu Philinen, die bey
ihm am Fenſter lag, ich bewundere ihren
Verſtand, womit ſie auch geringe Kunſtſtück¬
chen, nach und nach und zur rechten Zeit an¬
gebracht, gelten zu machen wußten, und wie
ſie aus der Ungeſchicklichkeit ihrer Kinder und
aus der Virtuoſität ihrer Beſten ein Ganzes
zuſammen arbeiteten, das erſt unſre Aufmerk¬
ſamkeit erregte, und dann uns auf das an¬
genehmſte unterhielt.


[243]

Das Volk hatte ſich nach und nach ver¬
laufen, und der Platz war leer geworden,
indeß Philine und Laertes über die Geſtalt
und die Geſchicklichkeit Narciſſens und Lan¬
drinettens in Streit geriethen, und ſich wech¬
ſelsweiſe neckten. Wilhelm ſah das wunder¬
bare Kind auf der Straße bey andern ſpie¬
lenden Kindern ſtehen, machte Philinen dar¬
auf aufmerkſam, die ſogleich, nach ihrer leb¬
haften Art, dem Kinde rief und winkte, und
da es nicht kommen wollte, ſingend die
Treppe hinunter klapperte und es herauf¬
führte.


Hier iſt das Räthſel, rief ſie, als ſie das
Kind zur Thüre herein zog. Es blieb am
Eingange ſtehen, eben als wenn es gleich
wieder hinaus ſchlüpfen wollte, legte die
rechte Hand vor die Bruſt, die linke vor die
Stirn, und bückte ſich tief. Fürchte dich
nicht, liebe Kleine, ſagte Wilhelm, indem er
Q 2[244] auf ſie los ging. Sie ſah ihn mit unſicherm
Blick an, und trat einige Schritte näher.


Wie nennſt du dich? fragte er. — Sie
heißen mich Mignon. — Wie viel Jahre
haſt du? — Es hat ſie niemand gezählt. —
Wer war dein Vater? — Der große Teufel
iſt todt. —


Nun das iſt wunderlich genug! rief Phi¬
line aus. Man fragte ſie noch einiges; ſie
brachte ihre Antworten in einem gebrochnen
Deutſch und mit einer ſonderbar feyerlichen
Art vor, dabey legte ſie jedesmal die Hände
an Bruſt und Haupt, und neigte ſich tief.


Wilhelm konnte ſie nicht genug anſehen.
Seine Augen und ſein Herz wurden unwi¬
derſtehlich von dem geheimnißvollen Zuſtan¬
de dieſes Weſens angezogen. Er ſchätzte ſie
zwölf bis dreyzehn Jahre; ihr Körper war
gut gebaut, nur daß ihre Glieder einen ſtär¬
kern Wuchs verſprachen, oder einen zurück¬
[245] gehaltenen ankündigten. Ihre Bildung war
nicht regelmäßig aber auffallend; ihre Stirne
geheimnißvoll, ihre Naſe auſſerordentlich
ſchön, und der Mund, ob er ſchon für ihr
Alter zu ſehr geſchloſſen ſchien, und ſie manch¬
mal mit den Lippen nach einer Seite zuckte,
noch immer treuherzig und reizend genug.
Ihre bräunliche Geſichtsfarbe konnte man
durch die Schminke kaum erkennen. Dieſe
Geſtalt prägte ſich Wilhelmen ſehr tief ein;
er ſah ſie noch immer an, ſchwieg und ver¬
gaß der Gegenwärtigen über ſeinen Betrach¬
tungen. Philine weckte ihn aus ſeinem Halb¬
traume, indem ſie dem Kinde etwas übrigge¬
bliebenes Zuckerwerk reichte, und ihm ein
Zeichen gab, ſich zu entfernen. Es machte
ſeinen Bückling, wie oben, und fuhr blitz¬
ſchnell zur Thüre hinaus.


Die Zeit kam nunmehr herbey, daß unſe¬
re neue Bekannten ſich für dieſen Abend
[246] trennen ſollten, und redeten vorher noch eine
Spatzierfahrt auf den morgenden Tag ab.
Sie wollten abermals an einem andern Orte,
auf einem benachbarten Jägerhauſe, ihr Mit¬
tagsmahl einnehmen. Wilhelm ſprach dieſen
Abend noch manches zu Philinens Lobe, wor¬
auf Laertes nur kurz und leichtſinnig ant¬
wortete.


Den andern Morgen, als ſie ſich aber¬
mals eine Stunde im Fechten geübt hatten,
gingen ſie nach Philinens Gaſthofe, vor wel¬
chem ſie die beſtellte Kutſche ſchon hatten an¬
fahren ſehen. Aber wie verwundert war
Wilhelm, als die Kutſche verſchwunden, und
wie noch mehr, als Philine nicht zu Hauſe,
anzutreffen war. Sie hatte ſich, ſo erzählte
man, mit ein paar Fremden, die dieſen Mor¬
gen angekommen waren, in den Wagen ge¬
ſetzt, und war mit ihnen davon gefahren.
Unſer Freund, der ſich in ihrer Geſellſchaft
[247] eine angenehme Unterhaltung verſprochen
hatte, konnte ſeinen Verdruß nicht verbergen.
Dagegen lachte Laertes, und rief: ſo gefällt
ſie mir! das ſieht ihr ganz ähnlich! Laſſen
Sie uns nur gerade nach dem Jagdhauſe
gehen, ſie mag ſeyn, wo ſie will, wir wollen
ihretwegen unſere Promenade nicht ver¬
ſäumen.


Als Wilhelm unterweges dieſe Inconſe¬
quenz des Betragens zu tadeln fortfuhr, ſag¬
te Laertes: ich kann nicht inconſequent fin¬
den, wenn jemand ſeinem Character treu
bleibt. Wenn ſie ſich etwas vornimmt oder
jemanden etwas verſpricht, ſo geſchieht es
nur unter der ſtillſchweigenden Bedingung,
daß es ihr auch bequem ſeyn werde, den
Vorſatz auszuführen oder ihr Verſprechen zu
halten. Sie verſchenkt gern, aber man muß
immer bereit ſeyn, ihr das Geſchenkte wieder
zu geben.


[248]

Dieß iſt ein ſeltſamer Character, verſetzte


Nichts weniger als ſeltſam, nur daß ſie
keine Heuchlerin iſt. Ich liebe ſie deswegen,
ja ich bin ihr Freund, weil ſie mir das Ge¬
ſchlecht ſo rein darſtellt, das ich zu haſſen ſo
viel Urſache habe. Sie iſt mir die wahre
Eva, die Stammmutter des weiblichen Ge¬
ſchlechts; ſo ſind alle, nur wollen ſie es nicht
Wort haben.


Unter mancherley Geſprächen, in welchen
Laertes ſeinen Haß gegen das weibliche Ge¬
ſchlecht ſehr lebhaft ausdruckte, ohne jedoch
die Urſache davon anzugeben, waren ſie in
den Wald gekommen, in welchen Wilhelm
ſehr verſtimmt eintrat, weil die Äuſſerungen
des Laertes ihm die Erinnerung an ſein Ver¬
hältniß zu Marianen wieder lebendig ge¬
macht hatten. Sie fanden nicht weit von
einer beſchatteten Quelle, unter herrlichen al¬
[249] ten Bäumen, Philinen allein, an einem ſtei¬
nernen Tiſche, ſitzen. Sie ſang ihnen ein
luſtiges Liedchen entgegen, und als Laertes
nach ihrer Geſellſchaft fragte, rief ſie aus:
ich habe ſie ſchön angeführt, ich habe ſie
zum Beſten gehabt, wie ſie es verdienten.
Schon unterwegs ſetzte ich ihre Freygebigkeit
auf die Probe, und da ich bemerkte, daß ſie
von den kargen Näſchern waren, nahm ich
mir gleich vor, ſie zu beſtrafen. Nach unſrer
Ankunft fragten ſie den Kellner, was zu ha¬
ben ſey? der mit der gewöhnlichen Geläufig¬
keit ſeiner Zunge alles, was da war, und
mehr als da war, hererzählte. Ich ſah ihre
Verlegenheit, ſie blickten einander an, ſtot¬
terten, und fragten nach dem Preiſe. Was
bedenken Sie ſich lange, rief ich aus, die
Tafel iſt das Geſchäft eines Frauenzimmers,
laſſen Sie mich dafür ſorgen. Ich fing dar¬
auf an, ein unſinniges Mittagmahl zu be¬
[250] ſtellen, wozu noch manches durch Boten aus
der Nachbarſchaft geholt werden ſollte. Der
Kellner, den ich durch ein paar ſchiefe Mäu¬
ler zum Vertrauten gemacht hatte, half mir
endlich, und ſo haben wir ſie durch die Vor¬
ſtellung eines herrlichen Gaſtmahls dergeſtalt
geängſtigt, daß ſie ſich kurz und gut zu ei¬
nem Spatziergange in den Wald entſchloſ¬
ſen, von dem ſie wohl ſchwerlich zurück kom¬
men werden. Ich habe eine Viertelſtunde
auf meine eigene Hand gelacht, und werde
lachen, ſo oft ich an die Geſichter denke.
Bey Tiſche erinnerte ſie Laertes an ähnliche
Fälle; ſie kamen in den Gang, luſtige Ge¬
ſchichten, Mißverſtändniſſe und Prellereyen
zu erzählen.


Ein junger Mann, von ihrer Bekannt¬
ſchaft aus der Stadt, kam mit einem Buche
durch den Wald geſchlichen, ſetzte ſich zu
ihnen, und rühmte den ſchönen Platz. Er
[251] machte ſie auf das Rieſeln der Quelle, auf
die Bewegung der Zweige, auf die einfallen¬
den Lichter und auf den Geſang der Vögel
aufmerkſam. Philine ſang ein Liedchen vom
Kuckuk, welches dem Ankömmling nicht zu
behagen ſchien; er empfahl ſich bald.


Wenn ich nur nichts mehr von Natur
und Naturſcenen hören ſollte, rief Philine
aus, als er weg war, es iſt nichts unerträg¬
licher, als ſich das Vergnügen vorrechnen zu
laſſen, das man genießt. Wenn ſchön Wet¬
ter iſt, geht man ſpatzieren, wie man tanzt,
wenn aufgeſpielt wird. Wer mag aber nur
einen Augenblick an die Muſik, wer an’s
ſchöne Wetter denken? Der Tänzer intereſ¬
ſirt uns, nicht die Violine, und in ein paar
ſchöne ſchwarze Augen zu ſehen, thut einem
paar blauen Augen gar zu wohl. Was ſol¬
len dagegen Quellen und Brunnen, und alte
morſche Linden! Sie ſah, indem ſie ſo ſprach,
[252] Wilhelmen, der ihr gegenüber ſaß, mit ei¬
nem Blick in die Augen, dem er nicht weh¬
ren konnte, wenigſtens bis an die Thüre ſei¬
nes Herzens vorzudringen.


Sie haben Recht, verſetzte er mit einiger
Verlegenheit, der Menſch iſt dem Menſchen
das Intereſſanteſte, und ſollte ihn vielleicht
ganz allein intereſſiren. Alles andere, was
uns umgiebt, iſt entweder nur Element, in
dem wir leben, oder Werkzeug, deſſen wir
uns bedienen. Jemehr wir uns dabey auf¬
halten, jemehr wir darauf merken und Theil
daran nehmen, deſto ſchwächer wird das Ge¬
fühl unſers eignen Werthes und das Gefühl
der Geſellſchaft. Die Menſchen, die einen
großen Werth auf Gärten, Gebäude, Klei¬
der, Schmuck oder irgend ein Beſitzthum le¬
gen, ſind weniger geſellig und gefällig; ſie
verlieren die Menſchen aus den Augen, wel¬
che zu erfreuen und zu verſammlen nur ſehr
[253] wenigen glückt. Sehn wir es nicht auch auf
dem Theater? Ein guter Schauſpieler macht
uns bald eine elende, unſchickliche Dekoration
vergeſſen, dahingegen das ſchönſte Theater
den Mangel an guten Schauſpielern erſt
recht fühlbar macht.


Nach Tiſche ſetzte Philine ſich in das be¬
ſchattete hohe Gras. Ihre beiden Freunde
mußten ihr Blumen in Menge herbeyſchaf¬
fen. Sie wand ſich einen vollen Kranz, und
ſetzte ihn auf; ſie ſah unglaublich reizend
aus. Die Blumen reichten noch zu einem
andern hin, auch den flocht ſie, indem ſich
beide Männer neben ſie ſetzten. Als er un¬
ter allerley Scherz und Anſpielungen fertig
geworden war, drückte ſie ihn Wilhelmen
mit der größten Anmuth auf’s Haupt, und
rückte ihn mehr als einmal anders, bis er
recht zu ſitzen ſchien. Und ich werde, wie es
ſcheint, leer ausgehen? ſagte Laertes.


[254]

Mit nichten, verſetzte Philine. Ihr ſollt
Euch keinesweges beklagen. Sie nahm
ihren Kranz vom Haupte, und ſetzte ihn
Laertes auf.


Wären wir Nebenbuhler, ſagte dieſer, ſo
würden wir ſehr heftig ſtreiten können, wel¬
chen von beiden du am meiſten begünſtigſt.


Da wär’t ihr rechte Thoren, verſetzte ſie,
indem ſie ſich zu ihm hinüberbog, und ihm
den Mund zum Kuß reichte; ſich aber ſo¬
gleich umwendete, ihren Arm um Wilhelmen
ſchlang, und einen lebhaften Kuß auf ſeine
Lippen drückte. Welcher ſchmeckt am beſten?
fragte ſie neckiſch.


Wunderlich! rief Laertes. Es ſcheint als
wenn ſo etwas niemals nach Wermuth ſchmek¬
ken könne.


So wenig, ſagte Philine, als irgend eine
Gabe, die jemand ohne Neid und Eigenſinn
genießt. Nun hätte ich, rief ſie aus, noch
[255] Luſt, eine Stunde zu tanzen, und dann müſ¬
ſen wir wohl wieder nach unſern Springern
ſehen.


Man ging nach dem Hauſe, und fand
Muſik daſelbſt. Philine, die eine gute Tän¬
zerin war, belebte ihre beiden Geſellſchafter.
Wilhelm war nicht ungeſchickt, allein es fehl¬
te ihm an einer künſtlichen Übung. Seine
beiden Freunde nahmen ſich vor, ihn zu un¬
terrichten.


Man verſpätete ſich. Die Seiltänzer
hatten ihre Künſte ſchon zu produziren an¬
gefangen. Auf dem Platze hatten ſich viele
Zuſchauer eingefunden, doch war unſern
Freunden, als ſie ausſtiegen, ein Getümmel
merkwürdig, das eine große Anzahl Men¬
ſchen nach dem Thore des Gaſthofes, in
welchem Wilhelm eingekehrt war, hingezo¬
gen hatte. Wilhelm ſprang hinüber, um zu
ſehen, was es ſey, und mit Entſetzen erblickte
[256] er, als er ſich durch's Volk drängte, den
Herrn der Seiltänzergeſellſchaft, der das in¬
tereſſante Kind bey den Haaren aus dem
Hauſe zu ſchleppen bemüht war, und mit
einem Peitſchenſtiel unbarmherzig auf den
kleinen Körper losſchlug.


Wilhelm fuhr wie ein Blitz auf den
Mann zu, und faßte ihn bey der Bruſt.
Laß das Kind los! ſchrie er wie ein Raſen¬
der, oder einer von uns bleibt hier auf der
Stelle. Er faßte zugleich den Kerl mit einer
Gewalt, die nur der Zorn geben kann‚ bey
der Kehle, daß dieſer zu erſticken glaubte,
das Kind losließ, und ſich gegen den An¬
greifenden zu vertheidigen ſuchte. Einige
Leute, die mit dem Kinde Mitleiden fühlten‚
aber Streit anzufangen nicht gewagt hat¬
ten, fielen dem Seiltänzer ſogleich in die
Arme, entwaffneten ihn, und drohten ihm
mit vielen Schimpfreden. Dieſer, der ſich
jetzt[257] jetzt nur auf die Waffen ſeines Mundes re¬
duzirt ſah, fing gräßlich zu drohen und zu
fluchen an, die faule unnütze Kreatur wolle
ihre Schuldigkeit nicht thun; ſie verweigere
den Eiertanz zu tanzen, den er dem Publiko
verſprochen habe; er wolle ſie todtſchlagen,
und es ſolle ihn niemand daran hindern.
Er ſuchte ſich los zu machen, um das Kind,
das ſich unter der Menge verkrochen hatte,
aufzuſuchen. Wilhelm hielt ihn zurück, und
rief: du ſollſt nicht eher dieſes Geſchöpf we¬
der ſehen noch berühren, bis du vor Gericht
Rechenſchaft giebſt, wo du es geſtohlen haſt;
ich werde dich auf’s äuſſerſte treiben, du
ſollſt mir nicht entgehen. Dieſe Rede, wel¬
che Wilhelm in der Hitze, ohne Gedanken
und Abſicht, aus einem dunklen Gefühl, oder
wenn man will, aus Inſpiration ausgeſpro¬
chen hatte, brachte den wüthenden Menſchen
auf einmal zur Ruhe. Er rief: was hab’
W. Meiſters Lehrj. R[258] ich mit der unnützen Kreatur zu ſchaffen!
Zahlen Sie mir, was mich ihre Kleider ko¬
ſten, und Sie mögen ſie behalten, wir wol¬
len dieſen Abend noch einig werden. Er
eilte darauf, die unterbrochene Vorſtellung
fortzuſetzen, und die Unruhe des Publikums
durch einige bedeutende Kunſtſtücke zu be¬
friedigen.


Wilhelm ſuchte nunmehr, da es ſtille ge¬
worden war, nach dem Kinde, das ſich aber
nirgends fand. Einige wollten es auf dem
Boden, andere auf den Dächern der benach¬
barten Häuſer geſehen haben. Nachdem man
es aller Orten geſucht hatte, mußte man
ſich beruhigen, und abwarten, ob es nicht
von ſelbſt wieder herbey kommen wolle.


Indeß war Narciß nach Hauſe gekom¬
men, welchen Wilhelm über die Schickſale
und die Herkunft des Kindes befragte. Die¬
ſer wußte nichts davon, denn er war nicht
[259] lange bey der Geſellſchaft; erzählte dagegen
mit großer Leichtigkeit und vielem Leichtſinne
ſeine eigenen Schickſale. Als ihm Wilhelm
zu dem großen Beyfall Glück wünſchte, deſ¬
ſen er ſich zu erfreuen hatte, äuſſerte er ſich
ſehr gleichgültig darüber. Wir ſind gewohnt,
ſagte er, daß man über uns lacht, und unſre
Künſte bewundert; aber wir werden durch
den auſſerordentlichen Beyfall um nichts ge¬
beſſert. Der Entrepreneur zahlt uns, und
mag ſehen, wie er zurechte kömmt. Er beur¬
laubte ſich darauf, und wollte ſich eilig ent¬
fernen.


Auf die Frage, wo er ſo ſchnell hin wol¬
le? lächelte der junge Menſch, und geſtand,
daß ſeine Figur und Talente ihm einen ſoli¬
dern Beyfall zugezogen, als der des großen
Publikums ſey. Er habe von einigen Frauen¬
zimmern Botſchaft erhalten, die ſehr eifrig
verlangten, ihn näher kennen zu lernen, und
R 2[260] er fürchte, mit den Beſuchen, die er abzule¬
gen habe, vor Mitternacht kaum fertig zu
werden. Er fuhr fort mit der größten Auf¬
richtigkeit ſeine Abentheuer zu erzählen, und
hätte die Namen, Straßen und Häuſer an¬
gezeigt, wenn nicht Wilhelm eine ſolche In¬
diſcretion abgelehnt und ihn höflich entlaſſen
hätte.


Laertes hatte indeſſen Landrinetten unter¬
halten, und verſicherte, ſie ſey vollkommen
würdig, ein Weib zu ſeyn und zu bleiben.


Nun ging die Unterhandlung mit dem
Entrepreneur wegen des Kindes an, das un¬
ſerm Freunde für dreyßig Thaler überlaſſen
wurde, gegen welche der ſchwarzbärtige hef¬
tige Italiener ſeine Anſprüche völlig abtrat;
von der Herkunft des Kindes aber weiter
nichts bekennen wollte, als daß er ſolches
nach dem Tode ſeines Bruders, den man,
wegen ſeiner auſſerordentlichen Geſchicklich¬
[261] keit, den großen Teufel genannt, zu ſich ge¬
nommen habe.


Der andere Morgen ging meiſt mit Auf¬
ſuchen des Kindes hin. Vergebens durchkroch
man alle Winkel des Hauſes und der Nach¬
barſchaft; es war verſchwunden, und man
fürchtete, es mögte in ein Waſſer geſprun¬
gen ſeyn, oder ſich ſonſt ein Leid angethan
haben.


Philinens Reize konnten die Unruhe un¬
ſers Freundes nicht ableiten. Er brachte ei¬
nen traurigen nachdenklichen Tag zu. Auch
des Abends, da Springer und Tänzer alle
ihre Kräfte aufboten, um ſich dem Publiko
auf’s Beſte zu empfehlen, konnte ſein Ge¬
müth nicht erheitert und zerſtreut werden.


Durch den Zulauf aus benachbarten Ort¬
ſchaften hatte die Anzahl der Menſchen auſ¬
ſerordentlich zugenommen, und ſo wälzte ſich
auch der Schneeball des Beyfalls zu einer
[262] ungeheuren Größe. Der Sprung über die
Degen und durch das Faß mit papiernen
Böden machte eine große Senſation. Der
ſtarke Mann ließ zum allgemeinen Grauſen,
Entſetzen und Erſtaunen, indem er ſich mit
dem Kopf und den Füßen auf ein Paar aus¬
einander geſchobene Stühle legte, auf ſeinen
hohlſchwebenden Leib einen Ambos heben
und auf demſelben, von einigen wackern
Schmiedegeſellen, ein Hufeiſen fertig ſchmie¬
den.


Auch war die ſogenannte Herkules-Stär¬
ke, da eine Reihe Männer auf den Schul¬
tern einer erſten Reihe ſtehend, abermals
Frauen und Jünglinge trägt, ſo daß zuletzt
eine lebendige Pyramide entſteht, deren Spitze
ein Kind auf den Kopf geſtellt, als Knopf
und Wetterfahne ziert, in dieſen Gegenden
noch nie geſehen worden, und endigte wür¬
dig das ganze Schauſpiel. Narciß und Lan¬
[263] drinette ließen ſich in Tragſeſſeln auf den
Schultern der übrigen durch die vornehmſten
Straßen der Stadt unter lautem Freuden¬
geſchrey des Volks tragen. Man warf ihnen
Bänder, Blumenſträuße und ſeidene Tücher
zu, und drängte ſich, ſie ins Geſicht zu faſ¬
ſen. Jedermann ſchien glücklich zu ſeyn, ſie
anzuſehn, und von ihnen eines Blicks gewür¬
digt zu werden.


Welcher Schauſpieler, welcher Schriftſtel¬
ler, ja welcher Menſch überhaupt würde ſich
nicht auf dem Gipfel ſeiner Wünſche ſehen,
wenn er durch irgend ein edles Wort oder
eine gute That einen ſo allgemeinen Ein¬
druck hervorbrächte? Welche köſtliche Em¬
pfindung müßte es ſeyn, wenn man gute,
edle, der Menſchheit würdige Gefühle eben
ſo ſchnell durch einen elektriſchen Schlag
ausbreiten, ein ſolches Entzücken unter dem
Volke erregen könnte, als dieſe Leute durch
[264] ihre körperliche Geſchicklichkeit gethan haben;
wenn man der Menge das Mitgefühl alles
Menſchlichen geben, wenn man ſie mit der
Vorſtellung des Glücks und Unglücks, der
Weisheit und Thorheit, ja des Unſinns und
der Albernheit entzünden, erſchüttern, und
ihr ſtockendes Innere in freye, lebhafte und
reine Bewegung ſetzen könnte! So ſprach
unſer Freund, und da weder Philine noch
Laertes geſtimmt ſchienen, einen ſolchen Dis¬
kurs fortzuſetzen, unterhielt er ſich allein mit
dieſen Lieblingsbetrachtungen, als er bis ſpät
in die Nacht um die Stadt ſpazierte, und
ſeinen alten Wunſch, das Gute, Edle, Große
durch das Schauſpiel zu verſinnlichen, wie¬
der einmal mit aller Lebhaftigkeit und aller
Freyheit einer losgebundenen Einbildungs¬
kraft verfolgte.


[265]

Fünftes Capitel.

Des andern Tages, als die Seiltänzer mit
großem Geräuſch abgezogen waren, fand ſich
Mignon ſogleich wieder ein, und trat hinzu,
als Wilhelm und Laertes ihre Fechtübungen
auf dem Saale fortſetzten. Wo haſt du ge¬
ſteckt? fragte Wilhelm freundlich, du haſt
uns viel Sorge gemacht. Das Kind ant¬
wortete nichts, und ſah ihn an. Du biſt
nun unſer, rief Laertes, wir haben dich ge¬
kauft. — Was haſt du bezahlt? fragte das
Kind ganz trocken. — Hundert Dukaten, ver¬
ſetzte Laertes, wenn du ſie wieder giebſt,
kannſt du frey ſeyn. — Das iſt wohl viel?
fragte das Kind. — O ja, du magſt dich
nur gut aufführen. — Ich will dienen, ver¬
ſetzte ſie.


[266]

Von dem Augenblicke an merkte ſie ge¬
nau, was der Kellner den beiden Freunden
für Dienſte zu leiſten hatte, und litt ſchon
des andern Tages nicht mehr, daß er ins
Zimmer kam. Sie wollte alles ſelbſt thun,
und machte auch ihre Geſchäfte zwar lang¬
ſam und mit unter unbehülflich, doch genau
und mit großer Sorgfalt.


Sie ſtellte ſich oft an ein Gefäß mit
Waſſer, und wuſch ihr Geſicht mit ſo großer
Emſigkeit und Heftigkeit, daß ſie ſich faſt
die Backen aufrieb, und Laertes erfuhr durch
Fragen und Necken, daß ſie die Schminke
von ihren Wangen auf alle Weiſe los zu
werden ſuche, und über dem Eifer, womit ſie
es that, die Röthe, die ſie durchs Reiben
hervorgebracht hatte, für die hartnäckigſte
Schminke halte. Man bedeutete ſie, und ſie
ließ ab, und nachdem ſie wieder zur Ruhe
gekommen war, zeigte ſich eine ſchöne brau¬
[267] ne, obgleich nur von wenigem Roth erhöhte
Geſichtsfarbe.


Durch die frevelhaften Reize Philinens,
durch die geheimnißvolle Gegenwart des Kin¬
des, mehr als er ſich ſelbſt geſtehen durfte,
unterhalten, brachte Wilhelm verſchiedene
Tage in dieſer ſonderbaren Geſellſchaft zu,
und rechtfertigte ſich bey ſich ſelbſt durch eine
fleißige Übung in der Fecht- und Tanz-
Kunſt, wozu er ſo leicht nicht wieder Gele¬
genheit zu finden glaubte.


Nicht wenig verwundert, und gewiſſer¬
maßen erfreut war er, als er eines Tages
Herrn und Frau Melina ankommen ſah,
welche, gleich nach dem erſten frohen Gruße,
ſich nach der Directrice und den übrigen
Schauſpielern erkundigten, und mit großem
Schrecken vernahmen, daß jene ſich ſchon
lange entfernt habe, und dieſe bis auf weni¬
ge zerſtreut ſeyen.


[268]

Das junge Paar hatte ſich nach ihrer
Verbindung, zu der, wie wir wiſſen, Wil¬
helm behülflich geweſen, an einigen Orten
nach Engagement umgeſehen, keines gefun¬
den, und war endlich in dieſes Städtchen
gewieſen worden, wo einige Perſonen, die
ihnen unterwegs begegneten, ein gutes Thea¬
ter geſehen haben wollten.


Philinen wollte Madam Melina, und
Herr Melina dem lebhaften Laertes, als ſie
Bekanntſchaft machten, keinesweges gefallen.
Sie wünſchten die neuen Ankömmlinge gleich
wieder los zu ſeyn, und Wilhelm konnte
ihnen keine günſtige Geſinnungen beybrin¬
gen, ob er ihnen gleich wiederholt verſicherte,
daß es recht gute Leute ſeyen.


Eigentlich war auch das bisherige luſtige
Leben unſrer drey Abentheurer durch die Er¬
weiterung der Geſellſchaft auf mehr als eine
Weiſe geſtört; denn Melina fing im Wirths¬
[269] hauſe (er hatte in eben demſelben, in wel¬
chem Philine wohnte, Platz gefunden) gleich
zu markten und zu quängeln an. Er wollte
für weniges Geld beſſeres Quartier, reichli¬
chere Mahlzeit und promptere Bedienung
haben. In kurzer Zeit machten Wirth und
Kellner verdrießliche Geſichter, und wenn die
andern, um froh zu leben, ſich alles gefallen
ließen, und nur geſchwind bezahlten, um
nicht länger an das zu denken, was ſchon
verzehrt war; ſo mußte die Mahlzeit, die
Melina regelmäßig ſogleich berichtigte, jeder¬
zeit von vorn wieder durchgenommen wer¬
den, ſo daß Philine ihn, ohne Umſtände, ein
wiederkäuendes Thier nannte.


Noch verhaßter war Madam Melina
dem luſtigen Mädchen. Dieſe junge Frau
war nicht ohne Bildung, doch fehlte es ihr
gänzlich an Geiſt und Seele. Sie deklamir¬
te nicht übel, und wollte immer deklamiren;
[270] allein man merkte bald, daß es nur eine
Wortdeklamation war, die auf einzelne Stel¬
len laſtete, und die Empfindung des Ganzen
nicht ausdruckte. Bey dieſem allen war ſie
nicht leicht jemanden, beſonders Männern,
unangenehm. Vielmehr ſchrieben ihr diejeni¬
gen, die mit ihr umgingen, gewöhnlich einen
ſchönen Verſtand zu; denn ſie war, was ich
mit Einem Worte eine Anempfinderinn
nennen möchte; ſie wußte einem Freunde,
um deſſen Achtung ihr zu thun war, mit
einer beſondern Aufmerkſamkeit zu ſchmei¬
cheln, in ſeine Ideen ſo lange als möglich
einzugehen; ſo bald ſie aber ganz über ihren
Horizont waren, mit Extaſe eine ſolche neue
Erſcheinung aufzunehmen. Sie verſtand zu
ſprechen und zu ſchweigen, und ob ſie gleich
kein tückiſches Gemüth hatte, mit großer Vor¬
ſicht aufzupaſſen, wo des andern ſchwache
Seite ſeyn möchte.


[271]

Sechstes Capitel.

Melina hatte ſich indeſſen nach den Trüm¬
mern der vorigen Direction genau erkundigt.
Sowohl Dekorationen als Garderobe waren
an einige Handelsleute verſetzt, und ein No¬
tarius hatte den Auftrag von der Directrice
erhalten, unter gewiſſen Bedingungen, wenn
ſich Liebhaber fänden, in den Verkauf aus
freyer Hand zu willigen. Melina wollte die
Sachen beſehen, und zog Wilhelmen mit
ſich. Dieſer empfand, als man ihnen die
Zimmer eröffnete, eine gewiſſe Neigung dazu,
die er ſich jedoch ſelbſt nicht geſtand. In ſo
einem ſchlechten Zuſtande auch die gekleckſten
Dekorationen waren, ſo wenig ſcheinbar auch
türkiſche und heidniſche Kleider, alte Karika¬
tur–Röcke für Männer und Frauen, Kutten
[272] für Zauberer, Juden und Pfaffen ſeyn moch¬
ten; ſo konnt’ er ſich doch der Empfindung
nicht erwehren, daß er die glücklichſten Au¬
genblicke ſeines Lebens in der Nähe eines
ähnlichen Trödelkrams gefunden hatte. Hät¬
te Melina in ſein Herz ſehen können, ſo
würde er ihm eifriger zugeſetzt haben, eine
Summe Geldes auf die Befreyung, Aufſtel¬
lung und neue Belebung dieſer zerſtreuten
Glieder zu einem ſchönen Ganzen herzuge¬
ben. Welch ein glücklicher Menſch, rief
Melina aus, könnte ich ſeyn, wenn ich nur
zwey hundert Thaler beſäße, um zum An¬
fange den Beſitz dieſer erſten theatraliſchen
Bedürfniſſe zu erlangen. Wie bald wollt’
ich ein kleines Schauſpiel beyſammen haben,
das uns in dieſer Stadt, in dieſer Gegend
gewiß ſogleich ernähren ſollte. Wilhelm
ſchwieg, und beide verließen nachdenklich die
wieder eingeſperrten Schätze.


Me¬[273]

Melina hatte von dieſer Zeit an keinen
andern Diskurs als Projecte und Vorſchlä¬
ge, wie man ein Theater einrichten, und da¬
bey ſeinen Vortheil finden könnte. Er ſuch¬
te Philinen und Laertes zu intereſſiren, und
man that Wilhelmen Vorſchläge, Geld her¬
zuſchießen, und Sicherheit dagegen anzuneh¬
men. Dieſem fiel aber erſt bey dieſer Gele¬
genheit recht auf, daß er hier ſo lange nicht
hätte verweilen ſollen; er entſchuldigte ſich,
und wollte Anſtalten machen, ſeine Reiſe
fortzuſetzen.


Indeſſen war ihm Mignons Geſtalt und
Weſen immer reizender geworden. In allem
ſeinem Thun und Laſſen hatte das Kind et¬
was ſonderbares. Es ging die Treppe we¬
der auf noch ab, ſondern ſprang; es ſtieg
auf den Geländern der Gänge weg, und eh'
man ſich’s verſah, ſaß es oben auf dem
Schranke, und blieb eine Weile ruhig. Auch
W. Meiſters Lehrj. S[274] hatte Wilhelm bemerkt, daß es für jeden
eine beſondere Art von Gruß hatte. Ihn
grüßte ſie, ſeit einiger Zeit, mit über die
Bruſt geſchlagenen Armen. Manche Tage
war ſie ganz ſtumm, zu Zeiten antwortete
ſie mehr auf verſchiedene Fragen, immer ſon¬
derbar, doch ſo, daß man nicht unterſcheiden
konnte, ob es Witz oder Unkenntniß der
Sprache war, indem ſie ein gebrochnes mit
franzöſiſch und italieniſch durchflochtenes
Deutſch ſprach. In ſeinem Dienſte war das
Kind unermüdet, und früh mit der Sonne
auf; es verlor ſich dagegen Abends zeitig,
ſchlief in einer Kammer auf der nackten Erde,
und war durch nichts zu bewegen, ein Bette
oder einen Strohſack anzunehmen. Er fand
ſie oft, daß ſie ſich wuſch. Auch ihre Klei¬
der waren reinlich, obgleich alles faſt doppelt
und dreyfach an ihr geflickt war. Man ſag¬
te Wilhelmen auch, daß ſie alle Morgen
[275] ganz früh in die Meſſe gehe, wohin er ihr
einmal folgte, und ſie in der Ecke der Kirche
mit dem Roſenkranze knien und andächtig
beten ſah. Sie bemerkte ihn nicht, er ging
nach Hauſe, machte ſich vielerley Gedanken
über dieſe Geſtalt, und konnte ſich bey ihr
nichts beſtimmtes denken.


Neues Andringen Melinas um eine Sum¬
me Geldes, zur Auslöſung der mehr erwähn¬
ten Theatergeräthſchaften, beſtimmte Wil¬
helmen noch mehr, an ſeine Abreiſe zu den¬
ken. Er wollte den Seinigen, die lange nichts
von ihm gehört hatten, noch mit dem heuti¬
gen Poſttage ſchreiben, er fing auch wirklich
einen Brief an Wernern an, und war mit
Erzählung ſeiner Abenteuer, wobey er, ohne
es ſelbſt zu bemerken, ſich mehrmal von der
Wahrheit entfernt hatte, ſchon ziemlich weit
gekommen, als er, zu ſeinem Verdruß, auf
der hintern Seite des Briefblatts ſchon eini¬
S 2[276] ge Verſe geſchrieben fand, die er für Ma¬
dam Melina aus ſeiner Schreibtafel zu co¬
piren angefangen hatte. Unwillig zerriß er
das Blatt und verſchob die Wiederholung
ſeines Bekenntniſſes auf den nächſten Poſt¬
tag.


[277]

Siebentes Capitel.

Unſre Geſellſchaft befand ſich abermals bey¬
ſammen, und Philine, die auf jedes Pferd,
das vorbey kam, auf jeden Wagen, der an¬
fuhr, äuſſerſt aufmerkſam war, rief mit gro¬
ßer Lebhaftigkeit: unſer Pedant! da kommt
unſer allerliebſter Pedant! Wen mag er bey
ſich haben? Sie rief und winkte zum Fenſter
hinaus, und der Wagen hielt ſtille.


Ein kümmerlich armer Teufel, den man
an ſeinem verſchabten, graulich-braunem
Rocke und an ſeinen übelconditionirten Un¬
terkleidern für einen Magiſter, wie ſie auf
Akademien zu vermodern pflegen, hätte hal¬
ten ſollen, ſtieg aus dem Wagen, und ent¬
blößte, indem er Philinen zu grüßen den
Hut abthat, eine übelgepuderte, aber übri¬
[278] gens ſehr ſteife Perrücke, und Philine warf
ihm hundert Kußhände zu.


So wie ſie ihre Glückſeligkeit fand, einen
Theil der Männer zu lieben und ihrer Liebe
zu genießen; ſo war das Vergnügen nicht
viel geringer, das ſie ſich ſo oft als möglich
gab, die übrigen, die ſie eben in dieſem Au¬
genblicke nicht liebte, auf eine ſehr leichtfer¬
tige Weiſe zum Beſten zu haben.


Über den Lärm, womit ſie dieſen alten
Freund empfing, vergaß man auf die übri¬
gen zu achten, die ihm nachfolgten. Doch
glaubte Wilhelm die zwey Frauenzimmer
und einen ältlichen Mann, der mit ihnen
hereintrat, zu kennen. Auch entdeckte ſich’s
bald, daß er ſie alle drey, vor einigen Jah¬
ren, bey der Geſellſchaft, die in ſeiner Vater¬
ſtadt ſpielte, mehrmals geſehen hatte. Die
Töchter waren ſeit der Zeit heran gewach¬
ſen; der Alte aber hatte ſich wenig verän¬
[279] dert. Dieſer ſpielte gewöhnlich die gutmü¬
thigen, polternden Alten, wovon das deut¬
ſche Theater nicht leer wird, und die man
auch im gemeinen Leben nicht ſelten antrift.
Denn da es der Character unſrer Landsleute
iſt, das Gute ohne viel Prunk zu thun und
zu leiſten; ſo denken ſie ſelten daran, daß
es auch eine Art gebe, das Rechte mit Zier¬
lichkeit und Anmuth zu thun, und verfallen
vielmehr, von einem Geiſte des Widerſpruchs
getrieben, leicht in den Fehler, durch ein
mürriſches Weſen, ihre liebſte Tugend im
Contraſte darzuſtellen.


Solche Rollen ſpielte unſer Schauſpieler
ſehr gut, und er ſpielte ſie ſo oft und aus¬
ſchließlich, daß er darüber eine ähnliche Art
ſich zu betragen im gemeinen Leben ange¬
nommen hatte.


Wilhelm gerieth in große Bewegung, ſo¬
bald er ihn erkannte, denn er erinnerte ſich,
[280] wie oft er dieſen Mann neben ſeiner gelieb¬
ten Mariane auf dem Theater geſehen hat¬
te; er hörte ihn noch ſchelten, er hörte ihre
ſchmeichelnde Stimme, mit der ſie ſeinem
rauhen Weſen in manchen Rollen zu be¬
gegnen hatte.


Die erſte lebhafte Frage an die neuen
Ankömmlinge, ob ein Unterkommen aus¬
wärts zu finden und zu hoffen ſey? ward
leider mit nein beantwortet, und man mußte
vernehmen, daß die Geſellſchaften, bey denen
man ſich erkundigt, beſetzt, und einige davon
ſogar in Sorgen ſeyen, wegen des bevorſte¬
henden Krieges auseinander gehen zu müſ¬
ſen. Der polternde Alte hatte mit ſeinen
Töchtern aus Verdruß und Liebe zur Ab¬
wechſelung ein vortheilhaftes Engagement
aufgegeben, hatte mit dem Pedanten, den er
unterwegs antraf, einen Wagen gemiethet,
um hieher zu kommen, wo denn auch, wie
ſie fanden, guter Rath theuer war.


[281]

Die Zeit, in welcher ſich die übrigen über
ihre Angelegenheiten ſehr lebhaft unterhiel¬
ten, brachte Wilhelm nachdenklich zu. Er
wünſchte den Alten allein zu ſprechen,
wünſchte und fürchtete von Marianen zu
hören, und befand ſich in der größten Un¬
ruhe.


Die Artigkeiten der neuangekommenen
Frauenzimmer konnten ihn nicht aus ſeinem
Traume reiſſen; aber ein Wortwechſel, der
ſich erhub, machte ihn aufmerkſam. Es war
Friedrich, der blonde Knabe, der Philinen
aufzuwarten pflegte, ſich aber diesmal leb¬
haft widerſetzte, als er den Tiſch decken und
Eſſen herbeyſchaffen ſollte. Ich habe mich
verpflichtet, rief er aus, Ihnen zu dienen,
aber nicht allen Menſchen aufzuwarten. Sie
geriethen darüber in einen heftigen Streit.
Philine beſtand darauf, er habe ſeine Schul¬
digkeit zu thun, und als er ſich hartnäckig
[282] widerſetzte, ſagte ſie ihm ohne Umſtände, er
könne gehn, wohin er wolle.


Glauben Sie etwa, daß ich mich nicht
von Ihnen entfernen könne? rief er aus,
ging trotzig weg, machte ſeinen Bündel zu¬
ſammen, und eilte ſogleich zum Hauſe hin¬
aus. Geh, Mignon, ſagte Philine, und
ſchaff uns, was wir brauchen; ſag es dem
Kellner, und hilf aufwarten.


Mignon trat vor Wilhelm hin, und frag¬
te in ſeiner lakoniſchen Art: ſoll ich? darf
ich? und Wilhelm verſetzte: thu mein Kind,
was Mademoiſelle dir ſagt.


Das Kind beſorgte alles, und wartete
den ganzen Abend mit großer Sorgfalt den
Gäſten auf. Nach Tiſche ſuchte Wilhelm
mit dem Alten einen Spatziergang allein zu
machen; es gelang ihm, und nach mancher¬
ley Fragen, wie es ihm bisher gegangen?
wendete ſich das Geſpräch auf die ehmalige
[283] Geſellſchaft, und Wilhelm wagte zuletzt nach
Marianen zu fragen.


Sagen Sie mir nichts von dem abſcheu¬
lichen Geſchöpf! rief der Alte, ich habe ver¬
ſchworen, nicht mehr an ſie zu denken. Wil¬
helm erſchrak über dieſe Äußerung, war aber
noch in größerer Verlegenheit, als der Alte
fortfuhr, auf ihre Leichtfertigkeit und Lieder¬
lichkeit zu ſchmählen. Wie gern hätte unſer
Freund das Geſpräch abgebrochen; allein er
mußte nun einmal die polternden Ergießun¬
gen des wunderlichen Mannes aushalten.


Ich ſchäme mich, fuhr dieſer fort, daß ich
ihr ſo geneigt war. Doch hätten Sie das
Mädchen näher gekannt, Sie würden mich
gewiß entſchuldigen. Sie war ſo artig, na¬
türlich und gut, ſo gefällig und in jedem
Sinne leidlich. Nie hätt’ ich mir vorgeſtellt,
daß Frechheit und Undank die Hauptzüge
ihres Characters ſeyn ſollten.


[284]

Schon hatte ſich Wilhelm gefaßt gemacht,
das Schlimmſte von ihr zu hören, als er
auf einmal mit Verwunderung bemerkte, daß
der Ton des Alten milder wurde, ſeine Rede
endlich ſtockte, und er ein Schnupftuch aus
der Taſche nahm, um die Thränen zu trock¬
nen, die zuletzt ſeine Rede völlig unter¬
brachen.


Was iſt Ihnen? rief Wilhelm aus. Was
giebt Ihren Empfindungen auf einmal eine
ſo entgegengeſetzte Richtung? Verbergen Sie
mir es nicht, ich nehme an dem Schickſale
dieſes Mädchens mehr Antheil als Sie glau¬
ben, nur laſſen Sie mich alles wiſſen.


Ich habe wenig zu ſagen, verſetzte der
Alte, indem er wieder in ſeinen ernſtlichen,
verdrießlichen Ton überging ich werde es
ihr nie vergeben, was ich um ſie geduldet
habe. Sie hatte, fuhr er fort, immer ein
gewiſſes Zutrauen zu mir; ich liebte ſie wie
[285] meine Tochter, und hatte, da meine Frau
noch lebte, den Entſchluß gefaßt, ſie zu mir
zu nehmen, und ſie aus den Händen der
Alten zu retten, von deren Anleitung ich mir
nicht viel Gutes verſprach. Meine Frau
ſtarb, das Project zerſchlug ſich.


Gegen das Ende des Aufenthalts in
Ihrer Vaterſtadt, es ſind nicht gar drey
Jahre, merkte ich ihr eine ſichtbare Traurig¬
keit an; ich fragte ſie, aber ſie wich aus.
Endlich machten wir uns auf die Reiſe. Sie
fuhr mit mir in Einem Wagen, und ich be¬
merkte, was ſie mir auch bald geſtand, daß
ſie guter Hoffnung ſey, und in der größten
Furcht ſchwebe, von unſerm Director ver¬
ſtoßen zu werden. Auch dauerte es nur kur¬
ze Zeit, ſo machte er die Entdeckung, kün¬
digte ihr den Contract, der ohnedies nur
auf ſechs Wochen ſtand, ſogleich auf, zahlte
was ſie zu fordern hatte, und ließ ſie, aller
[286] Vorſtellungen ungeachtet, in einem kleinen
Städtchen, in einem ſchlechten Wirthshauſe
zurück.


Der Henker hole alle liederliche Dirnen!
rief der Alte mit Verdruß, und beſonders
dieſe, die mir ſo manche Stunde meines Le¬
bens verdorben hat. Was ſoll ich lange er¬
zählen, wie ich mich ihrer angenommen, was
ich für ſie gethan, was ich an ſie gehängt,
wie ich auch in der Abweſenheit für ſie ge¬
ſorgt habe. Ich wollte lieber mein Geld in
den Teich werfen, und meine Zeit anwenden,
räudige Hunde zu erziehen, als nur jemals
wieder auf ſo ein Geſchöpf die mindeſte Auf¬
merkſamkeit zu wenden. Was war’s? Im
Anfang erhielt ich Dankſagungsbriefe, Nach¬
richt von einigen Orten ihres Aufenthalts,
und zuletzt kein Wort mehr, nicht einmal
Dank für das Geld, das ich ihr zu ihren
Wochen geſchickt hatte. O die Verſtellung
[287] und der Leichtſinn der Weiber iſt ſo recht
zuſammengepaart, um ihnen ein bequemes
Leben, und einem ehrlichen Kerl manche ver¬
drießliche Stunde zu ſchaffen!


[288]

Achtes Capitel.

Man denke ſich Wilhelms Zuſtand, als er
von dieſer Unterredung nach Hauſe kam.
Alle ſeine alten Wunden waren wieder auf¬
geriſſen, und das Gefühl, daß ſie ſeiner Liebe
nicht ganz unwürdig geweſen, wieder lebhaft
geworden; denn in dem Intereſſe des Alten,
in dem Lobe, das er ihr wider Willen geben
mußte, war unſerm Freunde ihre ganze Lie¬
benswürdigkeit wieder erſchienen; ja ſelbſt
die heftige Anklage des leidenſchaftlichen
Mannes enthielt nichts, das ſie vor Wil¬
helms Augen hätte herabſetzen können. Denn
dieſer bekannte ſich ſelbſt als Mitſchuldigen
ihrer Vergehungen, und ihr Schweigen zu¬
letzt ſchien ihm nicht tadelhaft, er machte ſich
vielmehr nur traurige Gedanken darüber,
ſah[289] ſah ſie als Wöchnerin, als Mutter in der
Welt ohne Hülfe herumirren, wahrſcheinlich
mit ſeinem eigenen Kinde herumirren. Vor¬
ſtellungen, welche das ſchmerzlichſte Gefühl
in ihm erregten.


Mignon hatte auf ihn gewartet, und
leuchtete ihn die Treppe hinauf. Als ſie
das Licht niedergeſetzt hatte, bat ſie ihn, zu
erlauben, daß ſie ihm heute Abend mit einem
Kunſtſtücke aufwarten dürfe. Er hätte es
lieber verbeten, beſonders da er nicht wußte,
was es werden ſollte. Allein er konnte die¬
ſem guten Geſchöpfe nichts abſchlagen. Nach
einer kurzen Zeit trat ſie wieder herein. Sie
trug einen Teppich unter dem Arme, den ſie
auf der Erde ausbreitete. Wilhelm ließ ſie
gewähren. Sie brachte darauf vier Lichter,
ſtellte eins in jeden Winkel des Teppichs.
Ein Körbchen mit Eiern, das ſie darauf hol¬
te, machte die Abſicht deutlicher. Künſtlich
W. Meiſters Lehrj. T[290] abgemeſſen ſchritt ſie nunmehr auf dem Tep¬
pich hin und her, und legte in gewiſſen
Maaßen die Eier auseinander, dann rief ſie
einen Menſchen herein, der im Hauſe auf¬
wartete und die Violine ſpielte. Er trat mit
ſeinem Inſtrumente in die Ecke, ſie verband
ſich die Augen, gab das Zeichen, und fing
zugleich mit der Muſik, wie ein aufgezoge¬
nes Räderwerk, ihre Bewegungen an, indem
ſie Takt und Melodie mit dem Schlage der
Caſtagnetten begleitete.


Behende, leicht, raſch, genau führte ſie
den Tanz. Sie trat ſo ſcharf und ſo ſicher
zwiſchen die Eier hinein, bey den Eiern nie¬
der, daß man jeden Augenblick dachte, ſie
müſſe eins zertreten, oder bey ſchnellen Wen¬
dungen das andre fortſchleudern. Mit nich¬
ten! Sie berührte keines, ob ſie gleich mit
allen Arten von Schritten, engen und wei¬
ten, ja ſogar mit Sprüngen, und zuletzt
[291] halb kniend ſich durch die Reihen durch¬
wand.


Unaufhaltſam, wie ein Uhrwerk, lief ſie
ihren Weg, und die ſonderbare Muſik gab
dem immer wieder von vorne anfangenden
und losrauſchenden Tanze bey jeder Wieder¬
holung einen neuen Stoß. Wilhelm war
von dem ſonderbaren Schauſpiele ganz hin¬
geriſſen, er vergas ſeiner Sorgen, folgte je¬
der Bewegung der geliebten Creatur, und
war verwundert, wie in dieſem Tanze ſich
ihr Charakter vorzüglich entwickelte.


Streng, ſcharf, trocken, heftig, und in
ſanften Stellungen mehr feyerlich als ange¬
nehm, zeigte ſie ſich. Er empfand, was er
ſchon für Mignon gefühlt, in dieſem Augen¬
blicke auf einmal. Er ſehnte ſich, dieſes ver¬
laſſene Weſen an Kindesſtatt ſeinem Herzen
einzuverleiben, es in ſeine Arme zu nehmen,
T 2[292] und mit der Liebe eines Vaters Freude des
Lebens in ihm zu erwecken.


Der Tanz ging zu Ende; ſie rollte die
Eier mit den Füßen ſachte zuſammen auf
ein Häufchen, ließ keines zurück, beſchädigte
keines, und ſtellte ſich dazu, indem ſie die
Binde von den Augen nahm, und ihr Kunſt¬
ſtück mit einem Bücklinge endigte.


Wilhelm dankte ihr, daß ſie ihm den
Tanz, den er zu ſehen gewünſcht, ſo artig
und unvermuthet vorgetragen habe. Er
ſtreichelte ſie, und bedauerte, daß ſie ſich’s
habe ſo ſauer werden laſſen. Er verſprach
ihr ein neues Kleid, worauf ſie heftig ant¬
wortete: deine Farbe! Auch das verſprach
er ihr, ob er gleich nicht deutlich wußte, was
ſie darunter meyne. Sie nahm die Eier zu¬
ſammen, den Teppich unter den Arm, fragte
ob er noch etwas zu befehlen habe, und
ſchwang ſich zur Thüre hinaus.


[293]

Von dem Muſicus erfuhr er, daß ſie ſich
ſeit einiger Zeit viele Mühe gegeben, ihm
den Tanz, welches der bekannte Fandango
war, ſo lange vorzuſingen, bis er ihn habe
ſpielen können. Auch habe ſie ihm für ſeine
Bemühungen etwas Geld angeboten, das er
aber nicht nehmen wollen.


[294]

Neuntes Capitel.

Nach einer unruhigen Nacht, die unſer
Freund theils wachend, theils von ſchweren
Träumen geängſtigt, zubrachte, in denen er
Marianen bald in aller Schönheit, bald in
kümmerlicher Geſtalt, jetzt mit einem Kinde
auf dem Arm, bald deſſelben beraubt ſah,
war der Morgen kaum angebrochen, als
Mignon ſchon mit einem Schneider herein¬
trat. Sie brachte graues Tuch und blauen
Taffet, und erklärte nach ihrer Art, daß ſie
ein neues Weſtchen und Schifferhoſen, wie
ſie ſolche an den Knaben in der Stadt geſe¬
hen, mit blauen Aufſchlägen und Bändern
haben wolle.


Wilhelm hatte ſeit dem Verluſt Maria¬
nens alle muntere Farben abgelegt. Er hat¬
[295] te ſich an das Grau, an die Kleidung der
Schatten, gewöhnt, und nur etwa ein him¬
melblaues Futter oder ein kleiner Kragen
von dieſer Farbe belebte einigermaßen jene
ſtille Kleidung. Mignon, begierig ſeine Far¬
be zu tragen, trieb den Schneider, der in
kurzem die Arbeit zu liefern verſprach.


Die Tanz– und Fecht–Stunden, die un¬
ſer Freund heute mit Laertes nahm, wollten
nicht zum Beſten glücken. Auch wurden ſie
bald durch Melinas Ankunft unterbrochen,
der umſtändlich zeigte, wie jetzt eine kleine
Geſellſchaft beyſammen ſey, mit welcher man
ſchon Stücke genug aufführen könne. Er
erneuerte ſeinen Antrag, daß Wilhelm eini¬
ges Geld zum Etabliſſement vorſtrecken ſolle,
wobey dieſer auch wie vormals ſeine Unent¬
ſchloſſenheit zeigte.


Philine und die Mädchen kamen bald
hierauf mit Lachen und Lärmen herein. Sie
[296] hatten ſich abermals eine Spatzierfahrt aus¬
gedacht. Denn Veränderung des Orts und
der Gegenſtände war eine Luſt, nach der ſie
ſich immer ſehnten. Täglich an’ einem an¬
dern Orte zu eſſen, war ihr höchſter Wunſch.
Diesmal ſollte es eine Waſſerfahrt werden.


Das Schiff, womit ſie die Krümmungen
des angenehmen Fluſſes hinunterfahren woll¬
ten, war ſchon durch den Pedanten beſtellt.
Philine trieb, die Geſellſchaft zauderte nicht,
und war bald eingeſchifft.


Was fangen wir nun an? ſagte Philine,
indem ſich alle auf die Bänke niedergelaſſen
hatten.


Das Kürzeſte wäre, verſetzte Laertes, wir
extemporirten ein Stück. Nehme jeder eine
Rolle, die ſeinem Character am angemeſſen¬
ſten iſt, und wir wollen ſehen, wie es uns
gelingt.


Fürtrefflich! ſagte Wilhelm, denn in einer
[297] Geſellſchaft, in der man ſich nicht verſtellt,
in welcher jedes nur ſeinem Sinne folgt,
kann Anmuth und Zufriedenheit nicht lange
wohnen, und wo man ſich immer verſtellt,
dahin kommen ſie gar nicht. Es iſt alſo
nicht übel gethan, wir geben uns die Ver¬
ſtellung gleich von Anfange zu, und ſind
nachher unter der Maſke ſo aufrichtig, als
wir wollen.


Ja, ſagte Laertes, deswegen geht ſich’s
ſo angenehm mit Weibern um, die ſich nie¬
mals in ihrer natürlichen Geſtalt ſehen laſſen.


Das macht, verſetzte Madam Melina,
daß ſie nicht ſo eitel ſind wie Männer, wel¬
che ſich einbilden, ſie ſeyen ſchon immer lie¬
benswürdig genug, wie ſie die Natur her¬
vorgebracht hat.


Indeſſen war man zwiſchen angenehmen
Büſchen und Hügeln, zwiſchen Gärten und
Weinbergen hingefahren, und die jungen
[298] Frauenzimmer, beſonders aber Madam Me¬
lina, druckten ihr Entzücken über die Gegend
aus. Letztre fing ſogar ein artiges Gedicht
von der beſchreibenden Gattung über eine
ähnliche Naturſcene feyerlich herzuſagen an
allein Philine unterbrach ſie, und ſchlug ein
Geſetz vor, daß ſich niemand unterfangen
ſolle, von einem unbelebten Gegenſtande zu
ſprechen; ſie ſetzte vielmehr den Vorſchlag
zur extemporirten Komödie mit Eifer durch.
Der polternde Alte ſollte einen penſionirten
Officier, Laertes einen vacirenden Fechtmei¬
ſter, der Pedant einen Juden vorſtellen; ſie
ſelbſt wolle eine Tyrolerin machen, und über¬
ließ den übrigen ſich ihre Rollen zu wählen.
Man ſollte fingiren, als ob ſie eine Geſell¬
ſchaft weltfremder Menſchen ſeyen, die ſo
eben auf einem Marktſchiffe zuſammen komme.


Sie fing ſogleich mit dem Juden ihre
Rolle zu ſpielen an, und eine allgemeine
Heiterkeit verbreitete ſich.


[299]

Man war nicht lange gefahren, als der
Schiffer ſtille hielt, um mit Erlaubniß der
Geſellſchaft noch jemand einzunehmen, der
am Ufer ſtand, und gewinkt hatte.


Das iſt eben noch, was wir brauchten,
rief Philine, ein blinder Paſſagier fehlte
noch der Reiſegeſellſchaft.


Ein wohlgebildeter Mann ſtieg in das
Schiff, den man an ſeiner Kleidung und ſei¬
ner ehrwürdigen Miene wohl für einen Geiſt¬
lichen hätte nehmen können. Er begrüßte
die Geſellſchaft, die ihm nach ihrer Weiſe
dankte, und ihn bald mit ihrem Scherz be¬
kannt machte. Er nahm darauf die Rolle
eines Landgeiſtlichen an, die er zur Verwun¬
derung aller auf das artigſte durchſetzte, in¬
dem er bald ermahnte, bald Hiſtörchen er¬
zählte, einige ſchwache Seiten blicken ließ,
und ſich doch im Reſpekt zu erhalten wußte.


Indeſſen hatte jeder, der nur ein einzi¬
[300] gesmal aus ſeinem Character herausgegan¬
gen war, ein Pfand geben müſſen. Philine
hatte ſie mit großer Sorgfalt geſammlet, und
beſonders den geiſtlichen Herrn mit vielen
Küſſen bey der künftigen Einlöſung bedroht,
ob er gleich ſelbſt nie in Strafe genommen
ward. Melina dagegen war völlig ausge¬
plündert, Hemdenknöpfe und Schnallen, und
alles was Bewegliches an ſeinem Leibe war‚
hatte Philine zu ſich genommen. Denn er
wollte einen reiſenden Engländer vorſtellen,
und konnte auf keine Weiſe in ſeine Rolle
hineinkommen.


Die Zeit war indeß auf das angenehmſte
vergangen, jedes hatte ſeine Einbildungskraft
und ſeinen Witz auf’s möglichſte angeſtrengt,
und jedes ſeine Rolle mit angenehmen und
unterhaltenden Scherzen ausſtaffirt. So
kam man an dem Orte an, wo man ſich den
Tag über aufhalten wollte, und Wilhelm ge¬
[301] rieth mit dem Geiſtlichen, wie wir ihn, ſei¬
nem Ausſehn und ſeiner Rolle nach, nennen
wollen, auf dem Spatziergange bald in ein
intereſſantes Geſpräch.


Ich finde dieſe Übung, ſagte der Unbe¬
kannte, unter Schauſpielern, ja in Geſell¬
ſchaft von Freunden und Bekannten, ſehr
nützlich. Es iſt die beſte Art, die Menſchen
aus ſich heraus und durch einen Umweg wie¬
der in ſich hinein zu führen. Es ſollte bey
jeder Truppe eingeführt ſeyn, daß ſie ſich
manchmal auf dieſe Weiſe üben müßte, und
das Publikum würde gewiß dabey gewinnen,
wenn alle Monate ein nicht geſchriebenes
Stück aufgeführt würde, worauf ſich freylich
die Schauſpieler in mehreren Proben mü߬
ten vorbereitet haben.


Man dürfte ſich, verſetzte Wilhelm, ein
extemporirtes Stück nicht als ein ſolches den¬
ken, das aus dem Stegreife ſogleich compo¬
[302] nirt würde, ſondern als ein ſolches, wovon
zwar Plan, Handlung und Scenen-Einthei¬
lung gegeben wären, deſſen Ausführung aber
dem Schauſpieler überlaſſen bliebe.


Ganz richtig, ſagte der Unbekannte, und
eben was dieſe Ausführung betrifft, würde
ein ſolches Stück, ſobald die Schauſpieler
nur einmal im Gang wären, auſſerordentlich
gewinnen. Nicht die Ausführung durch
Worte, denn durch dieſe muß freylich der
überlegende Schriftſteller ſeine Arbeit zieren,
ſondern die Ausführung durch Gebährden
und Minen, Ausrufungen und was dazu ge¬
hört; kurz das ſtumme, halblaute Spiel,
welches nach und nach bey uns ganz verlo¬
ren zu gehen ſcheint. Es ſind wohl Schau¬
ſpieler in Deutſchland, deren Körper das
zeigt, was ſie denken und fühlen, die durch
Schweigen, Zaudern, durch Winke, durch
zarte anmuthige Bewegungen des Körpers
[303] eine Rede vorzubereiten, und die Pauſen des
Geſprächs durch eine gefällige Pantomime
mit dem Ganzen zu verbinden wiſſen; aber
eine Übung, die einem glücklichen Naturell
zu Hülfe käme, und es lehrte, mit dem
Schriftſteller zu wetteifern, iſt nicht ſo im
Gange, als es zum Troſte derer, die das
Theater beſuchen, wohl zu wünſchen wäre.


Sollte aber nicht, verſetzte Wilhelm, ein
glückliches Naturell, als das erſte und letzte,
einen Schauſpieler, wie jeden andern Künſt¬
ler, ja vielleicht wie jeden Menſchen, allein
zu einem ſo hochaufgeſteckten Ziele bringen?


Das erſte und letzte, Anfang und Ende
möchte es wohl ſeyn und bleiben; aber in
der Mitte dürfte dem Künſtler manches feh¬
len, wenn nicht Bildung das erſt aus ihm
macht, was er ſeyn ſoll, und zwar frühe
Bildung; denn vielleicht iſt derjenige, dem
man Genie zuſchreibt, übler daran als der,
[304] der nur gewöhnliche Fähigkeiten beſitzt; denn
jener kann leichter verbildet und viel hefti¬
ger auf falſche Wege geſtoßen werden, als
dieſer.


Aber, verſetzte Wilhelm, wird das Genie
ſich nicht ſelbſt retten, die Wunden, die es
ſich geſchlagen, ſelbſt heilen?


Mit nichten, verſetzte der andere, oder
wenigſtens nur nothdürftig; denn niemand
glaube die erſten Eindrücke der Jugend ver¬
winden zu können. Iſt er in einer löblichen
Freyheit, umgeben von ſchönen und edlen
Gegenſtänden, in dem Umgange mit guten
Menſchen aufgewachſen, haben ihn ſeine
Meiſter das gelehrt, was er zuerſt wiſſen
mußte, um das übrige leichter zu begreifen,
hat er gelernt, was er nie zu verlernen
braucht, wurden ſeine erſten Handlungen ſo
geleitet, daß er das Gute künftig leichter
und bequemer vollbringen kann, ohne ſich
ir[305] irgend etwas abgewöhnen zu müſſen; ſo
wird dieſer Menſch ein reineres, vollkomm¬
neres und glücklicheres Leben führen, als ein
anderer, der ſeine erſten Jugendkräfte im
Widerſtand und im Irrthum zugeſetzt hat.
Es wird ſo viel von Erziehung geſprochen
und geſchrieben, und ich ſehe nur wenig
Menſchen, die den einfachen aber großen
Begriff, der alles andere in ſich ſchließt,
faſſen und in die Ausführung übertragen
können.


Das mag wohl wahr ſeyn, ſagte Wil¬
helm, denn jeder Menſch iſt beſchränkt ge¬
nug, den andern zu ſeinem Ebenbild erzie¬
hen zu wollen. Glücklich ſind diejenigen da¬
her, deren ſich das Schickſal annimmt, das
jeden nach ſeiner Weiſe erzieht!


Das Schickſal, verſetzte lächelnd der an¬
dere, iſt ein vornehmer, aber theurer Hof¬
meiſter. Ich würde mich immer lieber an
W. Meiſters Lehrj. U[306] die Vernunft eines menſchlichen Meiſters hal¬
ten. Das Schickſal, für deſſen Weisheit ich
alle Ehrfurcht trage, mag an dem Zufall,
durch den es wirkt, ein ſehr ungelenkes Or¬
gan haben. Denn ſelten ſcheint dieſer genau
und rein auszuführen, was jenes beſchloſſen
hatte.


Sie ſcheinen einen ſehr ſonderbaren Ge¬
danken auszuſprechen, verſetzte Wilhelm.


Mit nichten! Das meiſte, was in der
Welt begegnet, rechtfertigt meine Meinung.
Zeigen viele Begebenheiten im Anfange nicht
einen großen Sinn, und gehen die meiſten
nicht auf etwas albernes hinaus?


Sie wollen ſcherzen.


Und iſt es nicht, fuhr der andere fort,
mit dem, was einzelnen Menſchen begegnet,
eben ſo? Geſetzt, das Schickſal hätte einen
zu einem guten Schauſpieler beſtimmt, (und
warum ſollt’ es uns nicht auch mit guten
[307] Schauſpielern verſorgen?) unglücklicherweiſe
führte der Zufall aber den jungen Mann in
ein Puppenſpiel, wo er ſich früh nicht ent¬
halten könnte, an etwas Abgeſchmackten Theil
zu nehmen, etwas Albernes leidlich, wohl
gar intereſſant zu finden, und ſo die jugend¬
lichen Eindrücke, welche nie verlöſchen, denen
wir eine gewiſſe Anhänglichkeit nie entziehen
können, von einer falſchen Seite zu em¬
pfangen.


Wie kommen Sie auf’s Puppenſpiel?
fiel ihm Wilhelm mit einiger Beſtürzung ein.


Es war nur ein willkürliches Beyſpiel;
wenn es Ihnen nicht gefällt, ſo nehmen wir
ein anderes. Geſetzt das Schickſal hätte ei¬
nen zu einem großen Mahler beſtimmt, und
dem Zufall beliebte es, ſeine Jugend in
ſchmutzige Hütten, Ställe und Scheunen zu
verſtoßen, glauben Sie, daß ein ſolcher
Mann ſich jemals zur Reinlichkeit, zum
U 2[308] Adel, zur Freyheit der Seele erheben werde?
Mit je lebhafterm Sinne er das Unreine in
ſeiner Jugend angefaßt, und nach ſeiner Art
veredelt hat, deſto gewaltſamer wird es ſich
in der Folge ſeines Lebens an ihm rächen,
indem es ſich, inzwiſchen daß er es zu über¬
winden ſuchte, mit ihm auf's innigſte ver¬
bunden hat. Wer früh in ſchlechter unbe¬
deutender Geſellſchaft gelebt hat, wird ſich,
wenn er auch ſpäter eine beſſere haben kann,
immer nach jener zurückſehnen deren Ein¬
druck ihm, zugleich mit der Erinnerung ju¬
gendlicher, nur ſelten zu wiederholender Freu¬
den, geblieben iſt.


Man kann denken, daß unter dieſem Ge¬
ſpräche ſich nach und nach die übrige Geſell¬
ſchaft entfernt hatte. Beſonders war Phili¬
ne gleich vom Anfang auf die Seite getre¬
ten. Man kam durch einen Seitenweg zu
ihnen zurück. Philine brachte die Pfänder
[309] hervor, welche auf allerley Weiſe gelöſt
werden mußten, wobey der Fremde ſich
durch die artigſten Erfindungen und durch
eine ungezwungene Theilnahme der ganzen
Geſellſchaft, und beſonders den Frauenzim¬
mern, ſehr empfahl, und ſo floſſen die Stun¬
den des Tages unter Scherzen, Singen, Küſ¬
ſen und allerley Neckereyen auf das ange¬
nehmſte vorbey.


[310]

Zehntes Capitel.

Als ſie ſich wieder nach Hauſe begeben woll¬
ten, ſahen ſie ſich nach ihrem Geiſtlichen um;
allein er war verſchwunden, und an keinem
Orte zu finden.


Es iſt nicht artig von dem Manne, der
ſonſt viel Lebensart zu haben ſcheint, ſagte
Madam Melina, eine Geſellſchaft, die ihn
ſo freundlich aufgenommen, ohne Abſchied zu
verlaſſen.


Ich habe mich die ganze Zeit her ſchon
beſonnen, ſagte Laertes, wo ich dieſen ſonder¬
baren Mann ſchon ehemals möchte geſehen
haben. Ich war eben im Begriff, ihn beym
Abſchiede darüber zu befragen.


Mir ging es eben ſo, verſetzte Wilhelm,
und ich hätte ihn gewiß nicht entlaſſen, bis
[311] er uns etwas Näheres von ſeinen Umſtän¬
den entdeckt hätte. Ich müßte mich ſehr ir¬
ren, wenn ich ihn nicht ſchon irgendwo ge¬
ſprochen hätte.


Und doch könntet ihr euch, ſagte Philine,
darin wirklich irren. Dieſer Mann hat ei¬
gentlich nur das falſche Anſehn eines Be¬
kannten, weil er ausſieht wie ein Menſch,
und nicht wie Hans oder Kunz.


Was ſoll das heißen, ſagte Laertes, ſehen
wir nicht auch aus wie Menſchen?


Ich weiß, was ich ſage, verſetzte Philine,
und wenn ihr mich nicht begreift, ſo laßt’s
gut ſeyn. Ich werde nicht am Ende noch
gar meine Worte auslegen ſollen.


Zwey Kutſchen fuhren vor. Man lobte
die Sorgfalt des Laertes, der ſie beſtellt hat¬
te. Philine nahm neben Madam Melina
Wilhelmen gegenüber Platz, und die übrigen
richteten ſich ein, ſo gut ſie konnten. Laertes
[312] ſelbſt ritt auf Wilhelms Pferde, das auch
mit heraus gekommen war, nach der Stadt
zurück.


Philine ſaß kaum in dem Wagen, als ſie
artige Lieder zu ſingen und das Geſpräch
auf Geſchichten zu lenken wußte, von denen
ſie behauptete, daß ſie mit Glück dramatiſch
behandelt werden könnten. Durch dieſe klu¬
ge Wendung hatte ſie gar bald ihren jungen
Freund in ſeine beſte Laune geſetzt, und er
komponirte aus dem Reichthum ſeines leben¬
digen Bildervorraths ſogleich ein ganzes
Schauſpiel mit allen ſeinen Akten, Scenen,
Characteren und Verwicklungen. Man fand
für gut, einige Arien und Geſänge einzuflech¬
ten; man dichtete ſie und Philine, die in al¬
les einging, paßte ihnen gleich bekannte Me¬
lodien an, und ſang ſie aus dem Stegreife.
Sie hatte eben heute ihren ſchönen, ſehr
ſchönen Tag, ſie wußte mit allerley Necke¬
[313] reyen unſern Freund zu beleben; es ward ihm
wohl, wie es ihm lange nicht geweſen war.


Seitdem ihn jene grauſame Entdeckung
von der Seite Marianens geriſſen hatte,
war er dem Gelübde treu geblieben, ſich vor
der zuſammenſchlagenden Falle einer weibli¬
chen Umarmung zu hüthen, das treuloſe Ge¬
ſchlecht zu meiden, ſeine Schmerzen, ſeine
Neigung, ſeine ſüßen Wünſche in ſeinem
Buſen zu verſchließen. Die Gewiſſenhaftig¬
keit, womit er dieß Gelübde beobachtete, gab
ſeinem ganzen Weſen eine geheime Nahrung,
und wenn ſein Herz nicht ohne Theilneh¬
mung bleiben konnte, ſo ward eine liebevolle
Mittheilung nun zum Bedürfniſſe. Er ging
wieder wie von dem erſten Jugendnebel be¬
gleitet umher, ſeine Augen faßten jeden rei¬
zenden Gegenſtand mit Freuden auf, und nie
war ſein Urtheil über eine liebenswürdige
Geſtalt ſchonender geweſen. Wie gefährlich
[314] ihm in einer ſolchen Lage das verwegene
Mädchen werden mußte, läßt ſich leider nur
zu gut einſehen.


Zu Hauſe fanden ſie auf Wilhelms Zim¬
mer ſchon alles zum Empfang bereit, die
Stühle zu einer Vorleſung zurechte geſtellt,
und den Tiſch in die Mitte geſetzt, auf wel¬
chem der Punſchnapf ſeinen Platz nehmen
ſollte.


Die deutſchen Ritterſtücke waren damals
eben neu, und hatten die Aufmerkſamkeit
und Neigung des Publikums an ſich gezo¬
gen. Der alte Polterer hatte eines dieſer
Art mitgebracht, und die Vorleſung war be¬
ſchloſſen worden. Man ſetzte ſich nieder.
Wilhelm bemächtigte ſich des Exemplars,
und fing zu leſen an.


Die geharniſchten Ritter, die alten Bur¬
gen, die Treuherzigkeit, Rechtlichkeit und
Redlichkeit, beſonders aber die Unabhängig¬
[315] keit der handelnden Perſonen wurden mit
großem Beyfall aufgenommen. Der Vorle¬
ſer that ſein Möglichſtes, und die Geſell¬
ſchaft kam ganz auſſer ſich. Zwiſchen dem
zweyten und dritten Akte kam der Punſch
in einem großen Napfe, und da in dem
Stücke ſelbſt ſehr viel getrunken und ange¬
ſtoßen wurde; ſo war nichts natürlicher, als
daß die Geſellſchaft, bey jedem ſolchen Falle,
ſich lebhaft an den Platz der Helden verſetz¬
te, gleichfalls anſtieß, und die Günſtlinge
unter den handelnden Perſonen hoch leben
ließ.


Jedermann war von dem Feuer des edel¬
ſten Nationalgeiſtes entzündet. Wie ſehr ge¬
fiel es dieſer deutſchen Geſellſchaft, ſich, ihrem
Character gemäß, auf eignem Grund und
Boden poetiſch zu ergötzen! Beſonders tha¬
ten die Gewölbe und Keller, die verfallenen
Schlöſſer, das Moos und die hohlen Bäume,
[316] über alles aber die nächtlichen Zigeunerſcenen
und das heimliche Gericht eine ganz un¬
glaubliche Wirkung. Jeder Schauſpieler ſah
nun, wie er bald in Helm und Harniſch,
jede Schauſpielerin, wie ſie mit einem großen
ſtehenden Kragen ihre Deutſchheit vor dem
Publiko produziren werde. Jeder wollte ſich
ſogleich einen Namen aus dem Stücke oder
aus der deutſchen Geſchichte zueignen, und
Madam Melina betheuerte, Sohn oder Toch¬
ter, wozu ſie Hoffnung hatte, nicht anders
als Adelbert oder Mathilde taufen zu laſſen.


Gegen den fünften Akt ward der Beyfall
lärmender und lauter, ja zuletzt, als der Held
wirklich ſeinem Unterdrücker entging, und der
Tyrann geſtraft wurde, war das Entzücken
ſo groß, daß man ſchwur, man habe nie ſo
glückliche Stunden gehabt. Melina, den der
Trank begeiſtert hatte, war der lauteſte, und
da der zweyte Punſchnapf geleert war, und
[317] Mitternacht herannahete, ſchwur Laertes hoch
und theuer, es ſey kein Menſch würdig, an
dieſe Gläſer jemals wieder eine Lippe zu
ſetzen, und warf mit dieſer Betheuerung ſein
Glas hinter ſich und durch die Scheiben auf
die Gaſſe hinaus. Die übrigen folgten ſei¬
nem Beyſpiele, und ohnerachtet der Proteſta¬
tionen des Wirthes, der herbeylief, wurde
der Punſchnapf ſelbſt, der nach einem ſolchen
Feſte durch unheiliges Getränk nicht wieder
entweiht werden ſollte, in tauſend Stücke ge¬
ſchlagen. Philine, der man ihren Rauſch
am wenigſten anſah, indeß die beiden Mäd¬
chen nicht in den anſtändigſten Stellungen
auf dem Kanape lagen, reizte die andern
mit Schadenfreude zum Lärm. Madam Me¬
lina rezitirte einige erhabene Gedichte, und
ihr Mann, der im Rauſche nicht ſehr liebens¬
würdig war, fing an auf die ſchlechte Berei¬
tung des Punſches zu ſchelten, verſicherte,
[318] daß er ein Feſt ganz anders einzurichten ver¬
ſtehe, und ward zuletzt, als Laertes Still¬
ſchweigen gebot, immer gröber und lauter,
ſo daß dieſer, ohne ſich lange zu bedenken,
ihm die Scherben des Napfs an den Kopf
warf, und dadurch den Lärm nicht wenig
vermehrte.


Indeſſen war die Schaarwache herbey ge¬
kommen, und verlangte ins Haus eingelaſſen
zu werden. Wilhelm, vom Leſen ſehr erhitzt,
ob er gleich nur wenig getrunken, hatte ge¬
nug zu thun, um mit Beyhülfe des Wirths
die Leute durch Geld und gute Worte zu be¬
friedigen, und die Glieder der Geſellſchaft in
ihren mißlichen Umſtänden nach Hauſe zu
ſchaffen. Er warf ſich, als er zurück kam,
vom Schlafe überwältigt, voller Unmuth,
unausgekleidet auf’s Bette, und nichts glich
der unangenehmen Empfindung, zu der er
des andern Morgens erwachte, und, als er
[319] die Augen aufſchlug, mit düſterm Blick auf
die Verwüſtungen des vergangenen Tages,
den Unrath und die böſen Wirkungen hin¬
ſah, die ein geiſtreiches, lebhaftes und wohl¬
gemeyntes Dichterwerk hervorgebracht hatte.


[320]

Eilftes Capitel.

Nach einem kurzen Bedenken rief er ſogleich
den Wirth herbey, und ließ ſowohl den
Schaden als die Zeche auf ſeine Rechnung
ſchreiben. Zugleich vernahm er nicht ohne
Verdruß, daß ſein Pferd von Laertes geſtern
bey dem Hereinreiten dergeſtalt angegriffen
worden, daß es wahrſcheinlich, wie man zu
ſagen pflegt, verſchlagen habe, und daß der
Schmidt wenig Hoffnung zu ſeinem Aufkom¬
men gebe.


Ein Gruß von Philinen, den ſie ihm aus
ihrem Fenſter zuwinkte, verſetzte ihn dagegen
wieder in einen heitern Zuſtand, und er ging
ſogleich in den nächſten Laden, um ihr ein
kleines Geſchenk, das er ihr gegen das Pu¬
dermeſſer noch ſchuldig war, zu kaufen, und
wir[321] wir müſſen bekennen, er hielt ſich nicht in
den Grenzen eines proportionirten Gegenge¬
ſchenks. Er kaufte ihr nicht allein ein Paar
ſehr niedliche Ohrringe, ſondern nahm dazu
noch einen Hut und Halstuch, und einige
andere Kleinigkeiten, die er ſie den erſten
Tag hatte verſchwenderiſch wegwerfen ſehen.


Madam Melina, die ihn eben als er
ſeine Gaben überreichte, zu beobachten kam,
ſuchte noch vor Tiſche eine Gelegenheit, ihn
ſehr ernſtlich über die Empfindung für dieſes
Mädchen zur Rede zu ſetzen, und er war
um ſo erſtaunter, als er nichts weniger als
dieſe Vorwürfe zu verdienen glaubte. Er
ſchwur hoch und theuer, daß es ihm keines¬
wegs eingefallen ſey, ſich an dieſe Perſon,
deren ganzen Wandel er wohl kenne, zu
wenden, er entſchuldigte ſich ſo gut er konnte
über ſein freundliches und artiges Betragen
gegen ſie, und befriedigte Madam Melina
W. Meiſters Lehrj. X[322] auf keine Weiſe, vielmehr ward dieſe immer
verdrießlicher, da ſie bemerken mußte, daß
die Schmeicheley, wodurch ſie ſich eine Art
von Neigung unſers Freundes erworben hat¬
te, nicht hinreiche, dieſen Beſitz gegen die
Angriffe einer lebhaften, jüngern und von
der Natur glücklicher begabten Perſon zu
vertheidigen.


Ihren Mann fanden ſie gleichfalls, da
ſie zu Tiſche kamen, bey ſehr üblem Humor,
und er fing ſchon an, ihn über Kleinigkeiten
auszulaſſen, als der Wirth hereintrat und
einen Harfenſpieler anmeldete. Sie werden,
ſagte er, gewiß Vergnügen an der Muſik
und an den Geſängen dieſes Mannes finden,
es kann ſich niemand, der ihn hört, enthal¬
ten, ihn zu bewundern, und ihm etwas we¬
niges mitzutheilen.


Laſſen Sie ihn weg, verſetzte Melina, ich
bin nichts weniger als geſtimmt einen Leyer¬
[323] mann zu hören, und wir haben allenfalls
Sänger unter uns, die gern etwas verdien¬
ten. Er begleitete dieſe Worte mit einem
tückiſchen Seitenblicke, den er auf Philinen
warf. Sie verſtand ihn, und war gleich be¬
reit, zu ſeinem Verdruß, den angemeldeten
Sänger zu beſchützen. Sie wendete ſich zu
Wilhelmen, und ſagte, ſollen wir den Mann
nicht hören, ſollen wir nichts thun, um uns
aus der erbärmlichen Langenweile zu retten?


Melina wollte ihr antworten, und der
Streit wäre lebhafter geworden, wenn nicht
Wilhelm den im Augenblick hereintretenden
Mann begrüßt und ihn herbeygewinkt hätte.


Die Geſtalt dieſes ſeltſamen Gaſtes ſetzte
die ganze Geſellſchaft in Erſtaunen, und er
hatte ſchon von einem Stuhle Beſitz genom¬
men, ehe jemand ihn zu fragen oder ſonſt
etwas vorzubringen das Herz hatte. Sein
kahler Scheitel war von wenig grauen Haa¬
X 2[324] ren umkränzt, große blaue Augen blickten
ſanft unter langen weißen Augenbraunen
hervor. An eine wohlgebildete Naſe ſchloß
ſich ein langer weißer Bart an, ohne die ge¬
fällige Lippe zu bedecken, und ein langes
dunkelbraunes Gewand umhüllte den ſchlan¬
ken Körper vom Halſe bis zu den Füßen,
und ſo fing er auf der Harfe, die er vor
ſich genommen hatte, zu präludiren an.


Die angenehmen Töne, die er aus dem
Inſtrumente hervorlockte, erheiterten gar bald
die Geſellſchaft.


Ihr pflegt auch zu ſingen, guter Alter,
ſagte Philine.


Gebt uns etwas, das Herz und Geiſt zu¬
gleich mit den Sinnen ergötze, ſagte Wil¬
helm. Das Inſtrument ſollte nur die Stim¬
me begleiten; denn Melodien, Gänge und
Läufe ohne Worte und Sinn, ſcheinen mir
Schmetterlingen oder ſchönen bunten Vögeln
[325] ähnlich zu ſeyn, die in der Luft vor unſern
Augen herum ſchweben, die wir allenfalls
haſchen und uns zueignen mögten; da ſich
der Geſang dagegen wie ein Genius gen
Himmel hebt, und das beſſere Ich in uns
ihn zu begleiten anreizt.


Der Alte ſah Wilhelmen an, alsdann in
die Höhe, that einige Griffe auf der Harfe,
und begann ſein Lied. Es enthielt ein Lob
auf den Geſang, pries das Glück der Sän¬
ger, und ermahnte die Menſchen, ſie zu ehren.
Er trug das Lied mit ſo viel Leben und
Wahrheit vor, daß es ſchien, als hätte er es
in dieſem Augenblicke und bey dieſem An¬
laſſe gedichtet. Wilhelm enthielt ſich kaum,
ihm um den Hals zu fallen, nur die Furcht,
ein lautes Gelächter zu erregen, zog ihn auf
ſeinen Stuhl zurück; denn die übrigen mach¬
ten ſchon halb laut einige alberne Anmer¬
kungen, und ſtritten, ob es ein Pfaffe oder
Jude ſey.


[326]

Als man nach dem Verfaſſer des Liedes
fragte, gab er keine beſtimmte Antwort, nur
verſicherte er, daß er reich an Geſängen ſey,
und wünſche nur, daß ſie gefallen möchten.
Der größte Theil der Geſellſchaft war fröh¬
lig und freudig, ja ſelbſt Melina nach ſeiner
Art offen geworden, und indem man unter
einander ſchwatzte und ſcherzte, fing der Alte
das Lob des geſelligen Lebens auf das geiſt¬
reichſte zu ſingen an. Er pries Einigkeit
und Gefälligkeit mit einſchmeichelnden Tönen.
Auf einmal ward ſein Geſang trocken, rauh
und verworren, als er gehäſſige Verſchloſſen¬
heit, kurzſinnige Feindſchaft und gefährlichen
Zwieſpalt bedauerte, und gern warf jede
Seele dieſe unbequemen Feſſeln ab, als er,
auf den Fittigen einer vordringenden Melo¬
die getragen, die Friedensſtifter prieß, und
das Glück der Seelen, die ſich wieder finden,
ſang.


[327]

Kaum hatte er geendigt, als ihm Wil¬
helm zurief: wer du auch ſeyſt, der du als
ein hülfreicher Schutzgeiſt mit einer ſegnen¬
den und belebenden Stimme zu uns kommſt,
nimm meine Verehrung und meinen Dank,
fühle, daß wir alle dich bewundern, und ver¬
trau uns, wenn du etwas bedarfſt.


Der Alte ſchwieg, ließ erſt ſeine Finger
über die Saiten ſchleichen, dann griff er ſie
ſtärker an, und ſang:


Was hör’ ich draußen vor dem Thor?

Was auf der Brücke ſchallen?

Laßt den Geſang zu unſerm Ohr

Im Saale wiederhallen!

Der König ſprach's, der Page lief,

Der Knabe kam, der König rief:

Bring ihn herein den Alten.
Gegrüßet ſeyd ihr hohe Herrn,

Gegrüßt ihr ſchöne Damen!

Welch reicher Himmel! Stern bey Stern!

Wer kennet ihre Namen?

[328]
Im Saal voll Pracht und Herrlichkeit

Schließt Augen euch, hier iſt nicht Zeit

Sich ſtaunend zu ergötzen.
Der Sänger drückt die Augen ein,

Und ſchlug die vollen Töne,

Der Ritter ſchaute muthig drein,

Und in den Schoos die Schöne.

Der König, dem das Lied gefiel,

Ließ ihm, zum Lohne für ſein Spiel,

Eine goldne Kette holen.
Die goldne Kette gieb mir nicht,

Die Kette gieb den Rittern,

Vor deren kühnem Angeſicht

Der Feinde Lanzen ſplittern.

Gieb ſie dem Kanzler, den du haſt,

Und laß ihn noch die goldne Laſt

Zu andern Laſten tragen.
Ich ſinge, wie der Vogel ſingt,

Der in den Zweigen wohnet.

Das Lied, das aus der Kehle dringt,

Iſt Lohn, der reichlich lohnet;

[329]
Doch darf ich bitten, bitt’ eins,

Laßt einen Trunk des beſten Weins

In reinem Glaſe bringen.
Er ſetzt es an, er trank es aus.

O Trank der ſüßen Labe!

O! dreymal hochbeglücktes Haus

Wo das iſt kleine Gabe!

Ergeht’s euch wohl, ſo denkt an mich,

Und danket Gott, ſo warm als ich

Für dieſen Trunk euch danke.

Da der Sänger nach geendigtem Liede
ein Glas Wein, das für ihn eingeſchenkt da
ſtand, ergriff, und es mit freundlicher Mie¬
ne, ſich gegen ſeine Wohlthäter wendend,
austrank, entſtand eine allgemeine Freude in
der Verſammlung. Man klatſchte, und rief
ihm zu, es möge dieſes Glas zu ſeiner Ge¬
ſundheit, zur Stärkung ſeiner alten Glieder
gereichen. Er ſang noch einige Romanzen,
und erregte immer mehr Munterkeit in der
Geſellſchaft.


[330]

Kannſt du die Melodie, Alter, rief Phi¬
line, der Schäfer putzte ſich zum Tanz?


O ja, verſetzte er, wenn Sie das Lied
ſingen und aufführen wollen, an mir ſoll es
nicht fehlen.


Philine ſtand auf, und hielt ſich fertig.
Der Alte begann die Melodie, und ſie ſang
ein Lied, das wir unſern Leſern nicht mit¬
theilen können, weil ſie es vielleicht abge¬
ſchmackt oder wohl gar unanſtändig finden
könnten.


Inzwiſchen hatte die Geſellſchaft, die im¬
mer heiterer geworden war, noch manche
Flaſche Wein ausgetrunken, und fing an ſehr
laut zu werden. Da aber unſerm Freunde
die böſen Folgen ihrer Luſt noch in friſchen
Andenken ſchwebten, ſuchte er abzubrechen,
ſteckte dem Alten für ſeine Bemühung eine
reichliche Belohnung in die Hand, die andern
thaten auch etwas, man ließ ihn abtreten
[331] und ruhen, und verſprach ſich auf den Abend
eine wiederholte Freude von ſeiner Geſchick¬
lichkeit.


Als er hinweg war, ſagte Wilhelm zu
Philinen, ich kann zwar in Ihrem Leibge¬
ſange weder ein dichteriſches noch ſittliches
Verdienſt finden; doch wenn Sie mit eben
der Naivität, Eigenheit und Zierlichkeit et¬
was ſchickliches auf dem Theater jemals aus¬
führen, ſo wird Ihnen allgemeiner lebhafter
Beyfall gewiß zu Theil werden.


Ja, ſagte Philine, es müßte eine recht
angenehme Empfindung ſeyn, ſich am Eiſe
zu wärmen.


Überhaupt, ſagte Wilhelm, wie ſehr be¬
ſchämt dieſer Mann manchen Schauſpieler.
Haben Sie bemerkt, wie richtig der dramati¬
ſche Ausdruck ſeiner Romanzen war? Gewiß
es lebte mehr Darſtellung in ſeinem Geſang,
als in unſern ſteifen Perſonen auf der Büh¬
[332] ne; man ſollte die Aufführung mancher
Stücke eher für eine Erzählung halten, und
dieſen muſikaliſchen Erzählungen eine ſinnli¬
che Gegenwart zuſchreiben.


Sie ſind ungerecht, verſetzte Laertes, ich
gebe mich weder für einen großen Schauſpie¬
ler noch Sänger; aber das weiß ich, daß,
wenn die Muſik die Bewegungen des Kör¬
pers leitet, ihnen Leben giebt, und ihnen zu¬
gleich das Maaß vorſchreibt; wenn Decla¬
mation und Ausdruck ſchon von dem Com¬
poſiteur auf mich übertragen werden: ſo bin
ich ein ganz anderer Menſch, als wenn ich
im proſaiſchen Drama das alles erſt erſchaf¬
fen, und Takt und Declamation mir erſt er¬
finden ſoll, worin mich noch dazu jeder Mit¬
ſpielende ſtören kann.


So viel weiß ich, ſagte Melina, daß uns
dieſer Mann in Einem Punkte gewiß be¬
ſchämt, und zwar in einem Hauptpunkte.
[333] Die Stärke ſeiner Talente zeigt ſich in dem
Nutzen, den er davon zieht. Uns, die wir
vielleicht bald in Verlegenheit ſeyn werden,
wo wir eine Mahlzeit hernehmen, bewegt er,
unſre Mahlzeit mit ihm zu theilen. Er weiß
uns das Geld, das wir anwenden könnten,
um uns in einige Verfaſſung zu ſetzen, durch
ein Liedchen aus der Taſche zu locken. Es
ſcheint ſo angenehm zu ſeyn, das Geld zu
verſchleudern, womit man ſich und andern
eine Exiſtenz verſchaffen könnte.


Das Geſpräch bekam durch dieſe Bemer¬
kung nicht die angenehmſte Wendung. Wil¬
helm, auf den der Vorwurf eigentlich gerich¬
tet war, antwortete mit einiger Leidenſchaft,
und Melina, der ſich eben nicht der größten
Feinheit befliß, brachte zuletzt ſeine Beſchwer¬
den mit ziemlich trocknen Worten vor. Es
ſind nun ſchon vierzehn Tage, ſagte er, daß
wir das hier verpfändete Theater und die
[334] Garderobe beſehen haben, und beides konn¬
ten wir für eine ſehr leidliche Summe haben.
Sie machten mir damals Hoffnung, daß Sie
mir ſo viel creditiren würden, und bis jetzt
habe ich noch nicht geſehen, daß Sie die
Sache weiter bedacht oder ſich einem Ent¬
ſchluß genähert hätten. Griffen Sie damals
zu, ſo wären wir jetzt im Gange. Ihre Ab¬
ſicht zu verreiſen haben Sie auch noch nicht
ausgeführt, und Geld ſcheinen Sie mir dieſe
Zeit über auch nicht geſpart zu haben; we¬
nigſtens giebt es Perſonen, die immer Gele¬
genheit zu verſchaffen wiſſen, daß es geſchwin¬
der weggehe.


Dieſer nicht ganz ungerechte Vorwurf traf
unſern Freund. Er verſetzte einiges darauf
mit Lebhaftigkeit, ja mit Heftigkeit, und er¬
griff, da die Geſellſchaft aufſtund und ſich
zerſtreute, die Thüre, indem er nicht undeut¬
lich zu erkennen gab, daß er ſich nicht lange
[335] mehr bey ſo unfreundlichen und undankba¬
ren Menſchen aufhalten wolle. Er eilte ver¬
drießlich hinunter, ſich auf eine ſteinerne
Bank zu ſetzen, die vor dem Thore ſeines
Gaſthofs ſtand, und bemerkte nicht, daß er
halb aus Luſt, halb aus Verdruß mehr als
gewöhnlich getrunken hatte.


[336]

Zwölftes Capitel.

Nach einer kurzen Zeit, die er, beunruhigt
von mancherley Gedanken, ſitzend und vor
ſich hinſehend zugebracht hatte, ſchlenderte
Philine ſingend zur Hausthüre heraus, ſetzte
ſich zu ihm, ja man dürfte beynahe ſagen,
auf ihn, ſo nahe rückte ſie an ihn heran,
lehnte ſich auf ſeine Schultern, ſpielte mit
ſeinen Locken, ſtreichelte ihn, und gab ihm
die beſten Worte von der Welt. Sie bat
ihn, er mögte ja bleiben, und ſie nicht in
der Geſellſchaft allein laſſen, in der ſie vor
langer Weile ſterben müßte; ſie könne es
nicht mehr mit Melina unter Einem Dache
ausdauern, und habe ſich deswegen herüber
quartirt.


Ver¬[337]

Vergebens ſuchte er ſie abzuweiſen, ihr
begreiflich zu machen, daß er länger weder
bleiben könne noch dürfe. Sie ließ mit Bit¬
ten nicht ab, ja unvermuthet ſchlang ſie ihren
Arm um ſeinen Hals, und küßte ihn mit
dem lebhafteſten Ausdrucke des Verlangens.


Sind Sie toll, Philine? rief Wilhelm
aus, indem er ſich loszumachen ſuchte. Die
öffentliche Straße zum Zeugen ſolcher Lieb¬
koſungen zu machen, die ich auf keine Weiſe
verdiene. Laſſen Sie mich los, ich kann
nicht und ich werde nicht bleiben.


Und ich werde dich feſt halten, ſagte ſie,
und ich werde dich hier auf öffentlicher Gaſſe
ſo lange küſſen, bis du mir verſprichſt, was
ich wünſche. Ich lache mich zu Tode, fuhr
ſie fort; nach dieſer Vertraulichkeit halten
mich die Leute gewiß für deine Frau von
vier Wochen, und die Ehemänner, die eine
ſo anmuthige Scene ſehen, werden mich ihren
W. Meiſters Lehrj. Y[338] Weibern als ein Muſter einer kindlich un¬
befangenen Zärtlichkeit anpreiſen.


Eben gingen einige Leute vorbey, und ſie
liebkoſte ihn auf das anmuthigſte, und er,
um kein Skandal zu geben, war gezwungen,
die Rolle des geduldigen Ehemannes zu ſpie¬
len. Dann ſchnitt ſie den Leuten Geſichter
im Rücken, und trieb voll Übermuth aller¬
hand Ungezogenheiten, bis er zuletzt verſpre¬
chen mußte, noch heute und morgen und
übermorgen zu bleiben.


Sie ſind ein rechter Stock, ſagte ſie dar¬
auf, indem ſie von ihm abließ, und ich eine
Thörin, daß ich ſo viel Freundlichkeit an
Sie verſchwende. Sie ſtand verdrießlich auf
und ging einige Schritte; dann kehrte ſie
lachend zurück, und rief: ich glaube eben,
daß ich darum in dich vernarrt bin, ich will
nur gehen und meinen Strickſtrumpf holen,
daß ich etwas zu thun habe. Bleibe ja, da¬
[339] mit ich den ſteinernen Mann auf der ſteiner¬
nen Bank wieder finde.


Dießmal that ſie ihm unrecht; denn ſo
ſehr er ſich von ihr zu enthalten ſtrebte, ſo
würde er doch in dieſem Augenblicke, hätte
er ſich mit ihr in einer einſamen Laube be¬
funden, ihre Liebkoſungen wahrſcheinlich nicht
unerwiedert gelaſſen haben.


Sie ging, nachdem ſie ihm einen leicht¬
fertigen Blick zugeworfen, in das Haus. Er
hatte keinen Beruf, ihr zu folgen, vielmehr
hatte ihr Betragen einen neuen Widerwillen
in ihm erregt; doch hob er ſich, ohne ſelbſt
recht zu wiſſen warum, von der Bank, um
ihr nachzugehen.


Er war eben im Begriff in die Thüre zu
treten, als Melina herbeykam, ihn beſchei¬
den anredete, und ihn wegen einiger im
Wortwechſel zu hart ausgeſprochener Aus¬
drücke um Verzeihung bat. Sie nehmen mir
Y 2[340] nicht übel, fuhr er fort, wenn ich in dem
Zuſtande, in dem ich mich befinde, mich viel¬
leicht zu ängſtlich bezeige; aber die Sorge
für eine Frau, vielleicht bald für ein Kind,
verhindert mich von einem Tag in dem an¬
dern, ruhig zu leben, und meine Zeit mit
dem Genuß angenehmer Empfindungen hin¬
zubringen, wie Ihnen noch erlaubt iſt. Über¬
denken Sie, und wenn es Ihnen möglich iſt,
ſo ſetzen Sie mich in den Beſitz der theatra¬
liſchen Geräthſchaften, die ſich hier vorfin¬
den. Ich werde nicht lange Ihr Schuldner
und Ihnen dafür ewig dankbar bleiben.


Wilhelm, der ſich ungern auf der Schwel¬
le aufgehalten ſah, über die ihn eine unwi¬
derſtehliche Neigung in dieſem Augenblicke
zu Philinen hinüberzog, ſagte mit einer über¬
raſchten Zerſtreuung und eilfertigen Gutmü¬
thigkeit: wenn ich Sie dadurch glücklich und
zufrieden machen kann, ſo will ich mich nicht
[341] länger bedenken. Gehn Sie hin, machen
Sie alles richtig. Ich bin bereit, noch die¬
ſen Abend oder morgen früh das Geld zu
zahlen. Er gab hierauf Melina'n die Hand
zur Beſtätigung ſeines Verſprechens, und
war ſehr zufrieden, als er ihn eilig über die
Straße weggehen ſah; leider aber wurde er
von ſeinem Eindringen ins Haus zum zwey¬
tenmal und auf eine unangenehmere Weiſe
zurück gehalten.


Ein junger Menſch mit einem Bündel
auf dem Rücken kam eilig die Straße her,
und trat zu Wilhelmen, der ihn gleich für
Friedrichen erkannte.


Da bin ich wieder! rief er aus, indem er
ſeine großen blauen Augen freudig umher
und hinauf an alle Fenſter gehen ließ; wo
iſt Mamſell? Der Henker mag es länger in
der Welt aushalten, ohne ſie zu ſehen!


Der Wirth, der eben dazu getreten war,
[342] verſetzte, ſie iſt oben, und mit wenigen
Sprüngen war er die Treppe hinauf, und
Wilhelm blieb wie auf der Schwelle einge¬
wurzelt ſtehen. Er hätte in den erſten Au¬
genblicken den Jungen bey den Haaren rück¬
wärts die Treppe herunterreiſſen mögen;
dann hemmte der heftige Kampf einer ge¬
waltſamen Eiferſucht auf einmal den Lauf
ſeiner Lebensgeiſter und ſeiner Ideen, und
da er ſich nach und nach von ſeiner Erſtar¬
rung erholte, überfiel ihn eine Unruhe, ein
Unbehagen, dergleichen er in ſeinem Leben
noch nicht empfunden hatte.


Er ging auf ſeine Stube, und fand Mi¬
gnon mit Schreiben beſchäftigt. Das Kind
hatte ſich eine Zeit her mit großem Fleiße
bemüht, alles, was es auswendig wußte, zu
ſchreiben, und hatte ſeinem Herrn und Freund
das Geſchriebene zu korrigiren gegeben. Sie
war unermüdet, und faßte gut; aber die
[343] Buchſtaben blieben ungleich, und die Linien
krumm. Auch hier ſchien ihr Körper dem
Geiſte zu widerſprechen. Wilhelm, dem die
Aufmerkſamkeit des Kindes, wenn er ruhigen
Sinnes war, große Freude machte, achtete
dießmal wenig auf das, was ſie ihm zeigte;
ſie fühlte es, und betrübte ſich darüber nur
deſtomehr, als ſie glaubte, dießmal ihre
Sache recht gut gemacht zu haben.


Wilhelms Unruhe trieb ihn auf den Gän¬
gen des Hauſes auf und ab, und bald wie¬
der an die Hausthüre. Ein Reiter ſprengte
vor, der ein gutes Anſehn hatte, und der
bey geſetzten Jahren noch viel Munterkeit
verrieth. Der Wirth eilte ihm entgegen,
reichte ihm als einem bekannten Freunde die
Hand, und rief: ey, Herr Stallmeiſter, ſieht
man Sie auch einmal wieder?


Ich will nur hier füttern, verſetzte der
Fremde, ich muß gleich hinüber auf das
[344] Gut, um in der Geſchwindigkeit allerley
einrichten zu laſſen. Der Graf kömmt mor¬
gen mit ſeiner Gemahlin, ſie werden ſich eine
Zeitlang drüben aufhalten, um den Prinzen
von * * * auf das Beſte zu bewirthen, der in
dieſer Gegend wahrſcheinlich ſein Hauptquar¬
tier aufſchlägt.


Es iſt Schade, daß Sie nicht bey uns
bleiben können, verſetzte der Wirth, wir ha¬
ben gute Geſellſchaft. Der Reitknecht, der
nachſprengte, nahm dem Stallmeiſter das
Pferd ab, der ſich unter der Thüre mit dem
Wirth unterhielt, und Wilhelmen von der
Seite anſah.


Dieſer, da er merkte, daß von ihm die
Rede ſey, begab ſich weg, und ging einige
Straßen auf und ab.


[345]

Dreyzehntes Capitel.

In der verdrießlichen Unruhe, in der er ſich
befand, fiel ihm ein, den Alten aufzuſuchen,
durch deſſen Harfe er die böſen Geiſter zu
verſcheuchen hofte. Man wies ihn, als er
nach dem Manne fragte, an ein ſchlechtes
Wirthshaus in einem entfernten Winkel des
Städtchens, und in demſelben die Treppe
hinauf bis auf den Boden, wo ihm der ſüße
Harfenklang aus einer Kammer entgegen
ſchallte. Es waren herzrührende, klagende
Töne, von einem traurigen, ängſtlichen Ge¬
ſange begleitet. Wilhelm ſchlich an die Thü¬
re, und da der gute Alte eine Art von Phan¬
taſie vortrug, und wenige Strophen theils
ſingend theils recitirend immer wiederholte,
konnte der Horcher, nach einer kurzen
[346] Aufmerkſamkeit, ungefähr folgendes ver¬
ſtehen :


Wer nie ſein Brod mit Thränen as,

Wer nie die kummervollen Nächte

Auf ſeinem Bette weinend ſas,

Der kennt euch nicht, ihr himmliſchen Mächte.
Ihr führt ins Leben uns hinein,

Ihr laßt den Armen ſchuldig werden,

Dann überlaßt ihr ihn der Pein;

Denn alle Schuld rächt ſich auf Erden.

Die wehmüthige herzliche Klage drang
tief in die Seele des Hörers. Es ſchien ihm,
als ob der Alte manchmal von Thränen ge¬
hindert würde fortzufahren; dann klangen
die Saiten allein, bis ſich wieder die Stim¬
me leiſe in gebrochenen Lauten dazwiſchen
miſchte. Wilhelm ſtand an dem Pfoſten, ſei¬
ne Seele war tief gerührt, die Trauer des
Unbekannten ſchloß ſein beklommenes Herz
auf; er widerſtand nicht dem Mitgefühl,
[347] und konnte und wollte die Thränen nicht zu¬
rück halten, die des Alten herzliche Klage
endlich auch aus ſeinen Augen hervorlockte.
Alle Schmerzen, die ſeine Seele drückten,
löſten ſich zu gleicher Zeit auf, er überließ
ſich ihnen ganz, ſtieß die Kammerthüre auf,
und ſtand vor dem Alten, der ein ſchlechtes
Bette, den einzigen Hausrath dieſer armſeli¬
gen Wohnung, zu ſeinem Sitze zu nehmen
genöthigt geweſen.


Was haſt du mir für Empfindungen rege
gemacht, guter Alter? rief er aus: Alles,
was in meinem Herzen ſtockte, haſt du los
gelöst; laß dich nicht ſtören, ſondern fahre
fort, indem du deine Leiden linderſt, einen
Freund glücklich zu machen. Der Alte woll¬
te aufſtehen und etwas reden, Wilhelm ver¬
hinderte ihn daran; denn er hatte zu Mit¬
tage bemerkt, daß der Mann ungern ſprach;
er ſetzte ſich vielmehr zu ihm auf den Stroh¬
ſack nieder.


[348]

Der Alte trocknete ſeine Thränen, und
fragte mit einem freundlichen Lächeln: wie
kommen Sie hierher? Ich wollte Ihnen die¬
ſen Abend wieder aufwarten.


Wir ſind hier ruhiger, verſetzte Wilhelm,
ſinge mir, was du willſt, was zu deiner Lage
paßt, und thue nur, als ob ich gar nicht hier
wäre. Es ſcheint mir, als ob du heute nicht
irren könnteſt, ich finde dich ſehr glücklich,
daß du dich in der Einſamkeit ſo angenehm
beſchäftigen und unterhalten kannſt, und da
du überall ein Fremdling biſt, in deinem
Herzen die angenehme Bekanntſchaft findeſt.


Der Alte blickte auf ſeine Saiten, und
nachdem er ſanft präludirt, ſtimmte er an
und ſang:


Wer ſich der Einſamkeit ergiebt

Ach! der iſt bald allein,

Ein jeder lebt, ein jeder liebt,

Und läßt ihn ſeiner Pein.

[349]
Ja! laßt mich meiner Qual!

Und kann ich nur einmal

Recht einſam ſeyn,

Dann bin ich nicht allein.
Es ſchleicht ein Liebender lauſchend ſacht,

Ob ſeine Freundin allein?

So überſchleicht bey Tag und Nacht

Mich Einſamen die Pein,

Mich Einſamen die Qual.

Ach werd’ ich erſt einmal

Einſam im Grabe ſeyn,

Da läßt ſie mich allein!

Wir würden zu weitläuftig werden, und
doch die Anmuth der ſeltſamen Unterredung
nicht ausdrucken können, die unſer Freund
mit dem abentheuerlichen Fremden hielt. Auf
alles, was der Jüngling zu ihm ſagte, ant¬
wortete der Alte mit der reinſten Überein¬
ſtimmung durch Anklänge, die alle verwand¬
te Empfindungen rege machten, und der Ein¬
bildungskraft ein weites Feld eröffneten.


[350]

Wer einer Verſammlung frommer Men¬
ſchen, die ſich, abgeſondert von der Kirche,
reiner, herzlicher und geiſtreicher zu erbauen
glauben, beygewohnt hat, wird ſich auch ei¬
nen Begriff von der gegenwärtigen Scene
machen können; er wird ſich erinnern, wie
der Liturg ſeinen Worten den Vers eines
Geſanges anzupaſſen weiß, der die Seele da¬
hin erhebt, wohin der Redner wünſcht, daß
ſie ihren Flug nehmen möge, wie bald dar¬
auf ein anderer aus der Gemeinde, in einer
andern Melodie, den Vers eines andern Lie¬
des hinzufügt, und an dieſen wieder ein drit¬
ter einen dritten anknüpft, wodurch die ver¬
wandten Ideen der Lieder, aus denen ſie
entlehnt ſind, zwar erregt werden, jede
Stelle aber durch die neue Verbindung neu
und individuell wird, als wenn ſie in dem
Augenblicke erfunden worden wäre; wodurch
denn aus einem bekannten Kreiſe von Ideen,
[351] aus bekannten Liedern und Sprüchen, für
dieſe beſondere Geſellſchaft, für dieſen Au¬
genblick ein eigenes Ganze entſteht, durch
deſſen Genuß ſie belebt, geſtärkt und erquickt
wird. So erbaute der Alte ſeinen Gaſt, in¬
dem er, durch bekannte und unbekannte Lie¬
der und Stellen, nahe und ferne Gefühle,
wachende und ſchlummernde, angenehme und
ſchmerzliche Empfindungen in eine Zirkula¬
tion brachte, von der in dem gegenwärtigen
Zuſtande unſers Freundes das Beſte zu hof¬
fen war.


[352]

Vierzehntes Capitel.

Denn wirklich fing er auf dem Rückwege
über ſeine Lage lebhafter, als bisher geſche¬
hen, zu denken an, und war mit dem Vor¬
ſatze, ſich aus derſelben heraus zu reiſſen,
nach Hauſe gelangt, als ihm der Wirth ſo¬
gleich im Vertrauen eröffnete, daß Made¬
moiſelle Philine an dem Stallmeiſter des
Grafen eine Eroberung gemacht habe, der,
nachdem er ſeinen Auftrag auf dem Guthe
ausgerichtet, in höchſter Eile zurück gekom¬
men ſey, und ein gutes Abendeſſen oben auf
ihrem Zimmer mit ihr verzehre.


In eben dieſem Augenblicke trat Melina
mit dem Notarius herein; ſie gingen zuſam¬
men auf Wilhelms Zimmer, wo dieſer, wie¬
wohl mit einigem Zaudern, ſeinem Verſpre¬
chen[353] chen Genüge leiſtete, dreyhundert Thaler, auf
Wechſel, an Melina auszahlte, welche dieſer
ſogleich dem Notarius übergab, und dage¬
gen das Document über den geſchloſſenen
Kauf der ganzen theatraliſchen Geräthſchaft
erhielt, welche ihm morgen früh übergeben
werden ſollte.


Kaum waren ſie auseinander gegangen,
als Wilhelm ein entſetzliches Geſchrey in
dem Hauſe vernahm. Er hörte eine jugend¬
liche Stimme, die, zornig und drohend, durch
ein unmäßiges Weinen und Heulen, durch¬
brach. Er hörte dieſe Wehklage von oben
herunter an ſeiner Stube vorbey nach dem
Hausplatze eilen.


Als die Neugierde unſern Freund herun¬
ter lockte, fand er Friedrichen in einer Art
von Raſerey. Der Knabe weinte, knirſchte,
ſtampfte, drohte mit geballten Fäuſten, und
ſtellte ſich ganz ungebährdig vor Zorn und
W. Meiſters Lehrj. Z[354] Verdruß. Mignon ſtand gegenüber und ſah
mit Verwunderung zu, und der Wirth er¬
klärte einigermaßen dieſe Erſcheinung.


Der Knabe ſey nach ſeiner Rückkunft, da
ihn Philine gut aufgenommen, zufrieden,
luſtig und munter geweſen, habe geſungen
und geſprungen bis zur Zeit, da der Stall¬
meiſter mit Philinen Bekanntſchaft gemacht.
Nun habe das Mittelding zwiſchen Kind
und Jüngling angefangen, ſeinen Verdruß
zu zeigen, die Thüren zuzuſchlagen, und auf
und nieder zu rennen. Philine habe ihm
befohlen, heute Abend bey Tiſche aufzuwar¬
ten, worüber er nur noch mürriſcher und
trotziger geworden; endlich habe er eine
Schüſſel mit Ragout, anſtatt ſie auf den
Tiſch zu ſetzen, zwiſchen Mademoiſelle und
den Gaſt, die ziemlich nahe zuſammen geſeſ¬
ſen, hineingeworfen, worauf ihm der Stall¬
meiſter ein paar tüchtige Ohrfeigen gegeben,
[355] und ihn zur Thüre hinausgeſchmiſſen. Er,
der Wirth, habe darauf die beiden Perſonen
ſäubern helfen, deren Kleider ſehr übel zuge¬
richtet geweſen.


Als der Knabe die gute Wirkung ſeiner
Rache vernahm, fing er laut zu lachen an,
indem ihm noch immer die Thränen die Bak¬
ken herunter liefen. Er freute ſich einige
Zeit herzlich, bis ihm der Schimpf, den ihm
der Stärkere angethan, wieder einfiel, da er
denn von neuem zu heulen und zu drohen
anfing.


Wilhelm ſtand nachdenklich und beſchämt
vor dieſer Scene. Er ſah ſein eignes In¬
nerſtes, mit ſtarken und übertriebenen Zügen
dargeſtellt, auch er war von einer unüber¬
windlichen Eiferſucht entzündet, auch er,
wenn ihn der Wohlſtand nicht zurückgehal¬
ten hätte, würde gern ſeine wilde Laune be¬
friedigt, gern, mit tückiſcher Schadenfreude,
Z 2[356] den geliebten Gegenſtand verletzt, und ſeinen
Nebenbuhler ausgefordert haben; er hätte
die Menſchen, die nur zu ſeinem Verdruſſe
da zu ſeyn ſchienen, vertilgen mögen.


Laertes, der auch herbey gekommen war,
und die Geſchichte vernommen hatte, beſtärk¬
te ſchelmiſch den aufgebrachten Knaben, als
dieſer betheuerte und ſchwur, der Stallmei¬
ſter müſſe ihm Satisfaction geben, er habe
noch keine Beleidigung auf ſich ſitzen laſſen;
weigere ſich der Stallmeiſter, ſo werde er ſich
zu rächen wiſſen.


Laertes war hier gerade in ſeinem Fache.
Er ging ernſthaft hinauf, den Stallmeiſter
im Namen des Knaben heraus zu fordern.


Das iſt luſtig, ſagte dieſer, einen ſolchen
Spaß hätte ich mir heut Abend kaum vor¬
geſtellt. Sie gingen hinunter, und Philine
folgte ihnen. Mein Sohn, ſagte der Stall¬
meiſter zu Friedrichen, du biſt ein braver
[357] Junge, und ich weigere mich nicht, mit dir
zu fechten; nur da die Ungleichheit unſrer
Jahre und Kräfte die Sache ohnehin etwas
abentheuerlich macht, ſo ſchlag ich ſtatt an¬
derer Waffen ein Paar Rappiere vor, wir
wollen die Knöpfe mit Kreide beſtreichen,
und wer dem andern den erſten, oder die
meiſten Stöße auf den Rock zeichnet, ſoll
für den Überwinder gehalten, und von dem
andern mit dem beſten Weine, der in der
Stadt zu haben iſt, tractirt werden.


Laertes entſchied, daß dieſer Vorſchlag
angenommen werden könnte; Friedrich ge¬
horchte ihm als ſeinem Lehrmeiſter. Die Rap¬
piere kamen herbey. Philine ſetzte ſich hin,
ſtrickte, und ſah beiden Kämpfern mit großer
Gemüthsruhe zu.


Der Stallmeiſter, der ſehr gut focht, war
gefällig genug, ſeinen Gegner zu ſchonen, und
ſich einige Kreidenflecke auf den Rock brin¬
[358] gen zu laſſen, worauf ſie ſich umarmten,
und Wein herbeygeſchaft wurde. Der Stall¬
meiſter wollte Friedrichs Herkunft und ſeine
Geſchichte wiſſen, der denn ein Mährchen
erzählte, das er ſchon oft wiederholt hatte,
und mit dem wir ein andermal unſre Leſer
bekannt zu machen denken.


In Wilhelms Seele vollendete indeſſen
dieſer Zweykampf die Darſtellung ſeiner eige¬
nen Gefühle; denn er konnte ſich nicht leug¬
nen, daß er das Rappier, ja lieber noch
einen Degen ſelbſt gegen den Stallmeiſter
zu führen wünſchte, wenn er ſchon einſah,
daß ihm dieſer in der Fechtkunſt weit über¬
legen ſey. Doch würdigte er Philinen nicht
eines Blicks, hütete ſich vor jeder Äuſſerung,
die ſeine Empfindung hätte verrathen kön¬
nen, und eilte, nachdem er einigemal auf die
Geſundheit der Kämpfer Beſcheid gethan,
auf ſein Zimmer, wo ſich tauſend unange¬
nehme Gedanken auf ihn zudrängten.


[359]

Er erinnerte ſich der Zeit, in der ſein
Geiſt durch ein unbedingtes hoffnungsreiches
Streben empor gehoben wurde, wo er in
dem lebhafteſten Genuſſe aller Art, wie in
einem Elemente ſchwamm. Es ward ihm
deutlich, wie er jetzt in ein unbeſtimmtes
Schlendern gerathen war, in welchem er nur
noch ſchlürfend koſtete, was er ſonſt mit vol¬
len Zügen eingeſogen hatte; aber deutlich
konnte er nicht ſehen, welches unüberwindli¬
che Bedürfniß ihm die Natur zum Geſetz ge¬
macht hatte, und wie ſehr dieſes Bedürfniß
durch Umſtände nur gereizt, halb befriedigt
und irre geführt worden war.


Es darf alſo niemand wundern, wenn er
bey Betrachtung ſeines Zuſtandes, und in¬
dem er ſich aus demſelben heraus zu denken
arbeitete, in die größte Verwirrung gerieth.
Es war nicht genug, daß er durch ſeine
Freundſchaft zu Laertes, durch ſeine Neigung
[360] zu Philinen, durch ſeinen Antheil den er
an Mignon nahm, länger als billig an ei¬
nem Ort und in einer Geſellſchaft feſtgehal¬
ten wurde, in welcher er ſeine Lieblingsnei¬
gung hegen, gleichſam verſtohlen ſeine Wün¬
ſche befriedigen, und ohne ſich einen Zweck
vorzuſetzen, ſeinen alten Träumen nachſchlei¬
chen konnte. Aus dieſen Verhältniſſen ſich
los zu reiſſen, und gleich zu ſcheiden, glaubte
er Kraft genug zu beſitzen. Nun hatte er
aber vor wenigen Augenblicken ſich mit Me¬
lina in ein Geldgeſchäft eingelaſſen, er hatte
den räthſelhaften Alten kennen lernen, wel¬
chen zu entziffern er eine unbeſchreibliche Be¬
gierde fühlte. Allein auch dadurch ſich nicht
zurück halten zu laſſen, war er nach lang hin
und her geworfenen Gedanken entſchloſſen,
oder glaubte wenigſtens entſchloſſen zu ſeyn.
Ich muß fort, rief er aus, ich will fort! Er
warf ſich in einen Seſſel, und war ſehr bewegt.


Mig¬[361]

Mignon trat herein und fragte, ob ſie
ihn aufwickeln dürfe? Sie kam ſtill; es
ſchmerzte ſie tief, daß er ſie heute ſo kurz
abfertigte.


Nichts iſt rührender, als wenn eine Liebe,
die ſich im Stillen genährt, eine Treue, die
ſich im Verborgenen befeſtiget hat, endlich
dem, der ihrer bisher nicht werth geweſen,
zur rechten Stunde nahe kommt, und ihm
offenbar wird. Die lange und ſtreng ver¬
ſchloſſene Knoſpe war reif, und Wilhelms
Herz konnte nicht empfänglicher ſeyn.


Sie ſtand vor ihm, und ſah ſeine Un¬
ruhe. — Herr! rief ſie aus, wenn du un¬
glücklich biſt, was ſoll Mignon werden? —
Liebes Geſchöpf, ſagte er, indem er ihre Hän¬
de nahm, du biſt auch mit unter meinen
Schmerzen. — Ich muß fort. — Sie ſah
ihm in die Augen, die von verhaltenen Thrä¬
nen blinkten, und kniete mit Heftigkeit vor
W. Meiſters Lehrj. A a[362] ihm nieder. Er behielt ihre Hände, ſie legte
ihr Haupt auf ſeine Knie, und war ganz
ſtill. Er ſpielte mit ihren Haaren, und war
freundlich. Sie blieb lange ruhig. Endlich
fühlte er an ihr eine Art Zucken, das ganz
ſachte anfing, und ſich durch alle Glieder
wachſend verbreitete — Was iſt dir Mig¬
non? rief er aus, was iſt dir? — Sie rich¬
tete ihr Köpfchen auf, und ſah ihn an, fuhr
auf einmal nach dem Herzen, wie mit einer
Gebährde, die Schmerzen verbeißt. Er hub
ſie auf, und ſie fiel auf ſeinen Schoos, er
druckte ſie an ſich, und küßte ſie. Sie ant¬
wortete durch keinen Händedruck, durch keine
Bewegung. Sie hielt ihr Herz feſt, und
auf einmal that ſie einen Schrey, der mit
krampfigen Bewegungen des Körpers beglei¬
tet war. Sie fuhr auf, und fiel auch ſo¬
gleich wie an allen Gelenken gebrochen vor
ihm nieder. Es war ein gräßlicher An¬
blick! — Mein Kind! rief er aus, indem er
[363] ſie aufhob und feſt umarmte, mein Kind,
was iſt dir? — Die Zuckung dauerte fort,
die vom Herzen ſich den ſchlotternden Glie¬
dern mittheilte; ſie hing nur in ſeinen Ar¬
men. Er ſchloß ſie an ſein Herz, und be¬
netzte ſie mit ſeinen Thränen. Auf einmal
ſchien ſie wieder angeſpannt, wie eins, das
den höchſten körperlichen Schmerz erträgt;
und bald mit einer neuen Heftigkeit wurden
alle ihre Glieder wieder lebendig, und ſie
warf ſich ihm, wie ein Reſſort, das zuſchlägt,
um den Hals, indem in ihrem Innerſten wie
ein gewaltiger Riß geſchah, und in dem Au¬
genblicke floß ein Strom von Thränen aus
ihren geſchloſſenen Augen in ſeinen Buſen.
Er hielt ſie feſt. Sie weinte, und keine
Zunge ſpricht die Gewalt dieſer Thränen
aus. Ihre langen Haare waren aufgegan¬
gen, und hingen von der Weinenden nieder,
und ihr ganzes Weſen ſchien in einen Bach
von Thränen unaufhaltſam dahin zu ſchmel¬
[364] zen. Ihre ſtarren Glieder wurden gelinde,
es ergoß ſich ihr Innerſtes, und in der Ver¬
irrung des Augenblickes fürchtete Wilhelm,
ſie werde in ſeinen Armen zerſchmelzen, und
er nichts von ihr übrig behalten. Er hielt
ſie nur feſter und feſter. — Mein Kind!
rief er aus, mein Kind! du biſt ja mein!
wenn dich das Wort tröſten kann. Du biſt
mein! ich werde dich behalten, dich nicht ver¬
laſſen! — Ihre Thränen floſſen noch im¬
mer. — Endlich richtete ſie ſich auf. Eine
weiche Heiterkeit glänzte von ihrem Geſich¬
te. — Mein Vater! rief ſie, du willſt mich
nicht verlaſſen! willſt mein Vater ſeyn! —
Ich bin dein Kind!


Sanft fing vor der Thüre die Harfe an
zu klingen; der Alte brachte ſeine herzlich¬
ſten Lieder dem Freunde zum Abendopfer,
der, ſein Kind immer feſter in Armen hal¬
tend, des reinſten unbeſchreiblichſten Glückes
genoß.

[][][]

Lizenz
CC-BY-4.0
Link zur Lizenz

Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Goethe, Johann Wolfgang von. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bhsv.0